[][][]
Außuͤbung
Der
Vernunfft-Lehre/
Oder:
Kurtze/ deutliche und wohlgegꝛuͤndete
Handgriffe/ wie man in ſeinen Kopffe auf-

raͤumen und ſich zu Erforſchung der Wahrheit
geſchickt machen; die erkandte Warheit andern
beybringen; andere verſtehen und auslegen; von
anderer ihren Meinungen urtheilen/ und die Jrr-
thuͤmer geſchicklich widerlegen ſolle. Worinnen
allenthalben viel allgemeine heut zu Tage in
Schwang gehende Jrrthuͤmer angezeiget/
und deutlich beantwortet werden.
Nebſt einer Vorrede
Jn welcheꝛ deꝛ
Autordie Urſachen an-
zeiget/ worumb er auch auff des Realis de Vienna
ſeine Diſcurſus und Dubia uͤber die Introductio-
nem ad Philoſophiam Aulicam
nicht ant-
worten werde.

Halle/: Gedruckt bey Chriſtoph Salfelden/ Chur-
Fuͤrſtl. Brandenb. Hoff- und Regierungs Buch-
drucker im Hertzogthume Magdeburg.
[]

An
Seine Hochwohlgebohrne

Excellenz
Den
Chur-Brandenburgiſchen
Staats-
Miniſter
Hn. Eberhard
von Danckelman/
u. ſ. w. u. ſ. w.


[]
Hochwohlgebohrner/
Gnaͤdiger Herr

DJeſes iſt mein erſtes Buch/ das ich all-
hier in Halle verfertiget/ und der ſtu-
dir
enden Jugend im vorigen und
Anfange des jetzigen Jahres oͤffent-
lich erklaͤret/ nachdem Seine Chur-
Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit zu Branden-
burg
in Dero Gnaͤdigſten Schutz mich genom̃en/
und mir vergoͤnnet/ meine Collegia wie zuvorhero
in Leipzig geſchehen/ allhier frey und und ungehin-
dert zu halten. Ewrer Hochwohlgebohrnen Ex-
cellenz
Hoͤchſtguͤltigen Vorſprache habe ich dieſe
Freyheit und die derſelben beygefuͤgte Hohe Chur-
Fuͤrſtliche Gnade
guten Theils zu dancken/ und
habe mich dannenhero verbunden erachtet/ durch
dieſe unterthaͤnige Zuſchrifft Ewrer Hochwohlge-
bohrnen Excellenz als Hoͤchſtgedachter Seiner
Chur-Fuͤrſtlichen Durchlauchtigkeit
groſſen
Staats-Miniſter von meiner Lehre und Verrich-
tungen allhier Rechenſchafft zu geben/ nachdem ei-
ne unterthaͤnigſte Ehrfurcht mich abgehalten/ nach
a 2der
[] der an Seine Chur-Fuͤrſtliche Durchlauchtig-
keit
uͤberreichten unteꝛthaͤnigſten Dedication mei-
ner erſten allhier gehaltenen Diſputation, durch
unterthaͤnigſte Offerirung auch dieſes gegenwaͤr-
tigen Buchs meine vorhin gebrauchte Kuͤhnheit zu
vergroͤſſern. Jch kan zwar leichte zu vorherſehen/
daß ihrer viel meiner ſpotten/ und mir fuͤr eine Pe-
danter
ey auslegen werden/ daß ich mich nicht entſe-
hen/ Ewrer Excell. mit Zuſchreibung einer Logic
vor das Geſichte zu kommen/ da ich doch wohl ehe
vielleicht ſelbſt dieſes als eine Pedantiſche Thorheit
an andern getadelt/ wenn man Logicken und Meta-
phyſi
cken nach Hoffe bringen/ Staats-Miniſter
damit beſchencken/ und Sie zu Vertheydigern und
Schutz-Goͤttern dergleichen Schul-Weißheiten
machen wollen. Ja es kan gar leicht geſchehen/ daß
andere bey bloſſer Erblickung des Titels Gelegen-
heit nehmen werden/ bey Ewrer Excellenz mich in
uͤbeles Anſehen zu bringen/ daß ich bey nahe ein
gantzes Jahr allhier in Halle mit Profitirung dieſer
meiner Logic, davon gegenwaͤrtige Ausuͤbung der
andere Theil iſt/ zugebracht/ gleich als ob nicht Lo-
gicken genung in der Welt waͤren/ und nicht auff
allen hohen- und niederen Schulen von Collegiis
und Lectionibus Logicis alles wim̃elte/ die man
uͤberall umb ein ſehr geringes Geld haben koͤnte/ und
ich alſo der Chur-Fuͤrſtlichen mir erwieſenen Hohen
Munificenz hierdurch ſehr gemißbraucht haͤtte.
Alleine ich verhoffe in Gegentheil/ daß ich ohne eini-
ge ungeziemende Schmeicheley meiner ſelbſt/ von
dieſer meiner Logic, und ſonderlich von gegenwaͤr-
tiger Ausuͤbung derſelben ſagen koͤnne/ daß Sie ſich
nicht
[] nicht ſcheuen duͤrffe nach Hoffe zu kommen. Und
lebe hiernechſt des unterthaͤnigen Vertrauens/ daß
Ewre Excellenz ſelbſt das Urtheil von meiner Ar-
beit faͤllen werden/ daß ich das erſte Jahr nichts
nuͤtzlichers und beſſers haͤtte lehren koͤnnen/ wenn
Sie nur geruhen wollen/ dieſe meine unterthaͤnige
Zuſchrifft mit Gnaͤdigen Augen anzuſehen. Un-
ter Logicken und Logicken iſt ein groſſer Unterſcheid.
Die wahre Logic ſol nichts anders ſeyn als eine
Lehre/ wie man ſeine Vernunfft recht brauchen ſol-
le. Was iſt aber noͤtigers und nuͤtzlichers in der
Welt? Und wie kan der Menſch/ der dieſe Lehre
nicht begriffen hat/ in einiger menſchlichen Geſell-
ſchafft/ geſchweige denn bey Hoffe fort kommen?
Doch hat bißhero nun etliche hundert Jahr hero in
denen Teutſchen Hohen und Niederen Schulen
die gelehrte Welt dieſer Grund-Lehre der Wahr-
heit entbehren muͤſſen/ indem die auffgeblaſene und
Sophiſtiſche Syllogiſmus-Kunſt dieſes Titels der
Logic ohne einigen Grund und gantz unverſchaͤm-
ter Weiſe ſich angemaſſet/ weil ſie ſich nicht entbloͤ-
det vorzugeben/ ſie wolte jungen Leuten den Weg
weiſen die Wahrheit vermittelſt ihrer Vernunfft
zu finden/ und dennoch daneben offenbahr geſtan-
den/ daß die Erfindung der Wahrheit als ein finis
externus
nicht in ihren Vermoͤgen ſtehe. Wan-
nenhero etliche Hochgelehrte und Galante Maͤn-
ner von allerhand Nationen in dieſem/ das Sclavi-
ſche Joch der alten Jrrthuͤmer ſich von dem Halſe
werffenden Seculo uͤber dieſen Haupt-Mangel
theils ſich beklaget/ theils auch ſelbſten verſucht den-
ſelben durch ihre Arbeit zu erſetzen. Jch wil nur
a 3den
[] den wegen ſeiner herrlichen Wiſſenſchafften in der
Matheſi hochberuͤhmten Laußnitziſchen Edelmann
den Herrn von Tſchirnhauß anfuͤhren. Wie ſehr
hat er ſich bemuͤhet/ in ſeiner Medicina Mentis an
ſtatt der Syllogiſmus-Kunſt eine rechte Logic zu-
ſchreiben? Und hat dabeneben dafuͤr gehalten/ daß
dieſe ſeine wohlintentionirte Logic ſich nicht ſchaͤ-
men doͤrffte an den Galanteſten Hoffe in Franck-
reich zu kommen/ und fuͤr den allerſcharffſinnigſten
Koͤnig (denn worumb ſolten wir nicht die Tugend
auch an unſern allgemeinen Feinde ruͤhmen und
hochachten?) ſich zu præſentiren. Jch muß be-
kennen/ ich habe nach Leſung dieſes ſeines Buchs
am erſten rechtſchaffene Gelegenheit bekommen/
die Sache ein wenig reiffer zu uͤberlegen/ und in
meinen Kopffe auffzuraͤumen/ ob ich gleich allbereit
etliche Jahre hero die gantze Jurisprudenz nicht
ohne Applauſu der ſtudirenden Jugend gelehrt/
und dabey geſpuͤhret hatte/ daß mich auch meine
Widerſacher ſelbſt durchgehends fuͤr einen nicht
ungelehrten Philoſophum paſſiren lieſſen/ zumah-
len ich genungſame Proben abgeleget hatte/ daß ich
in der Syllogiſmus-Kunſt ſo wohl Præſidendo als
Opponendo meinen Mann/ auch ſo gar die Hel-
den dieſer Kunſt/ nie geſcheuet. Alleine ich habe
durch dieſe Methode ſeit vier Jahre her eine ſolche
Veraͤnderung meiner vorigen Concepte verur-
ſacht/ daß ich/ wenn ich das betrachte/ was ich ſeit
dieſer Zeit in meinem Kopffe ausgemuſtert/ mich
der Blindheit/ die ich zuvorhero in der Philoſophie
und Jurisprudenz gehabt/ von Hertzen ſchaͤme/
und die Welt bedaure/ die auff gleiche Weiſe durch
die
[] die Vorurtheile menſchlicher Autoritaͤt und Præ-
cipitanz
verfuͤhret/ noch darinnen ſtecket. Jch ha-
be die Eitelkeit der Syllogiſmus-Kunſt und der da-
durch erhaltenen Siege ſo deutlich erkennen lernen/
daß ſie mir nunmehro nichts anders als Kinder-
Spiele vorkommen. Jch habe hierneben alſobald
die Ausbeſſerung des Herrn Tſchirnhauß unter-
ſucht/ und weil ich dabey viel zweiffelhaffte Dinge
gefunden/ dieſe meine Zweiffel glimpflich und be-
ſcheiden in denen damahls heraus gegebenen Mo-
nat-Geſpraͤchen vorgetragen. Dieweil aber
Zweiffels ohne durch Verurſachung etlicher Miß-
goͤnſtiger mir an ſtatt einer erwarteten glimpfli-
chen/ eine ſehr harte Antwort worden/ und wir ſol-
cher geſtalt/ jedoch/ wie ich hoffe/ ohne meine
Schuld/ zimlich in einander gerathen/ habe ich mir
angelegen ſeyn laſſen/ ſelbſt zu Nutzen der ſtudiren-
den Jugend eine Logic ohne der Syllogiſmus-
Kunſt zu verfertigen/ und dabey mich befliſſen/ das-
jenige zu meiden oder zu aͤndern/ was mir bey des
Herrn von Tſchirnhauß Lehre verdaͤchtig und
zweiffelhafftig vorgekommen; maſſen ich denn je-
derzeit davor gehalten/ daß beſagter Autor, ſich
von den allgemeinen Jrrwege auff die rechte Heer-
Straſſe der Wahꝛheit gemacht/ ob er ſchon daſelbſt
dann und wann in etliche Abwege verfallen/ und ich
ihn alſo den Ruhm/ daß er mir hierinnen die Bahne
gebrochen/ und daß/ wenn es ohne ſeine auch nach
meiner Meinung zuweilen irrige Lehr-Saͤtze gewe-
ſen waͤre/ ich vielleicht an die denenſelben entgegen-
geſetzte Wahrheit nicht wuͤrde gedacht haben/ nicht
zu benehmen gedencke. Jch habe dannenhero in
a 4dem
[] dem erſten Theile meiner Vernunfft-Lehre gezei-
get/ wie ſo gar leichte die Erkaͤntniß der Wahrheit/
und die Erfindung neuer Wahrheiten in allen Di-
ſciplin
en ſey/ wenn man nur ſein Gemuͤthe von
dem hochſchaͤdlichen Vorurtheile menſchlicher Au-
torit
aͤt ſaubern/ und die dadurch eingewurtzelten
allgemeinen Jrrthuͤmer bey ſeit zu legen ſich reſol-
vir
en/ auch ſich das Leben mit der leidigen Syllogi-
ſmus-
Kunſt/ und der ohne Noth verwirreten allge-
meinen Lehre von der Demonſtration nicht ſauer
machen laſſen wolle. So gar daß auch Leute von
einem ſolchen Stande/ der ſonſt in gemeinen We-
ſen zu denen Staͤnden der ſo genandten Gelehrten
nicht gehoͤret/ ohne Muͤhe und Kopffbrechen/ und
ohne Behuff der Lateiniſchen Sprache/ der Weiß-
heit ſo wohl als die/ ſo man Gelehrte nennet/ koͤnnen
faͤhig werden. Meine Vernunfft-Lehre lieget fuͤr
jedermans Augen/ und habe ich nicht Urſache diß-
falls viel weitere Worte zu machen. Jn dieſem
andern Theil aber habe ich mir angelegen ſeyn laſ-
ſen/ vielfaͤltige allgemeine Jrrthuͤmer/ die man in
der Praxi der Logic zu begehen pfleget/ anzudeuten/
und zu beweiſen/ wie man dieſelben vermeiden ſol-
le/ auch die noͤtigſten und auff allen Univerſitaͤten
bißher nicht getriebenen Lehren zu ſuppliren/
durchgehends aber mich als einen freyen Philoſo-
phum,
der ſich zu keiner Secte ſchlaͤgt/ ſondern bloß
nach der Erkaͤntniß ſeiner Vernunfft gehet/ auffzu-
fuͤhren. Zu dieſem Ende habe ich in dem erſten
Capitel gewieſen/ wie man nach der Lehre des Car-
teſii
zwar anfangen muͤſſe bey Ausbeſſerung des
Verſtandes zu zweiffeln/ und ſich das allgemeine
Ge-
[] Geſchrey davon nicht abwendig machen laſſen
doͤrffe/ aber dabey habe ich doch gruͤndlich gezeiget/
daß Carteſius nicht recht habe/ wenn er behaupten
wolle/ man muͤſſe an allen zweiffeln/ ſondern daß
man nothwendig etliche Dinge als unſtreitige
Wahrheiten bey dieſem gelehrten Zweiffel aus-
ſetzen muͤſſe. Jch habe dargethan/ daß man nicht
alleine mit guten Gewiſſen und ohne Verletzung
des vierdten Gebots von der Lehre ſeinerPræ-
ceptorum
und Eltern abweichen koͤnne/ ſondern
auch ſolches/ wenn es die Wahrheit erfordert/ zu-
thun ſchuldig ſey. Jch habe behauptet/ daß unter
allen Kuͤnſten und Wiſſenſchafften keine edler und
nothwendiger ſey als die Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt.
Jn dem andern Capitel habe ich die Geſchwuͤre
der gemeinen Lehr-Art auff Hohen und Niedern
Schulen/ die als ein Krebs in gantz Europa umb
ſich gefreſſen/ anffgeſtochen/ und die ſonderlich jetzo
ſich hervorthuenden hoͤchſtſchaͤdlichen Jrrthuͤmer/
daß man gutes zu thun einen abſonderlichen
Beruff haben muͤſſe; daß man die Jrrenden
als ein heimliches Gifft nicht umb und neben
ſich leiden ſolle;
kraͤfftig beſtritten/ auch daneben
den bißher ungebahnten Weg gezeiget/ wie man
erwachſenen Leuten Luſt undAttentionzu
dem
Studiren machen muͤſſe/ und ihnen die
Weißheit ohne groſſe Muͤhe und nicht anders als
in einer ſtetswehrenden angenehmen Converſa-
tion
beybringen ſolle. Jn dem dritten Capitel
habe ich die Haupt-Lehre von der Kunſt und
Wiſſenſchafft auszulegen/
ohne welche kein Ju-
riſte,
und auff gewiſſe Maſſe auch kein Theologus
ſich
[] ſich fuͤr einen gelehrten Mann in ſeiner Facultaͤt
ausgeben; ja ohne welche man weder die von an-
dern gelehrte Wahrheit noch beygebrachten Jrr-
thuͤmer verſtehen und erkennen kan/ und welche alſo
ſo zu ſagen/ das rechte Auge der Gelahrheit iſt/ biß-
hero aber auff Univerſitaͤten entweder gantz un-
terlaſſen/ oder aber ohne Noth ſchwer und verdrieß-
lich oder wenig gelehret worden; in kurtze und deut-
liche auch leichte Lehr-Saͤtze und Anmerckungen
zuſammen gezogen. Jch hatte zwar in denen all-
bereit fuͤr etlichen Jahren herausgegebenen Inſti-
tutionibus Jurisprudentiæ Divinæ
dieſe Lehre/
mehrentheils nach Anleitung deſſen/ was Grotius
und der Herr von Pufendorff davon gelehret/ mit
vorgetragen/ auch daſelbſt angefangen zu erweiſen/
daß die allgemeine Regel der Juriſten/ die ſich auch
Grotius zu erklaͤren ſehr angelegen ſeyn laſſen: Fa-
vorabilia eſſe extendenda, odioſa reſtringenda,

gar nichts nuͤtze ſey; alleine weil allezeit die nach-
folgenden und reifferen Gedancken die beſten ſeyn;
als habe ich in beſagten dritten Capitel gegenwaͤr-
tiger Vernunfft-Lehre gewieſen/ daß es noch mehr
ſolche unnuͤtze Regeln gebe/ die aus dem falſchen
Vorurtheile entſproſſen/ als wenn die drey unter-
ſchiedenen Erklaͤrungs-Arten die man interpreta-
tionem declarativam, extenſivam \& reſtricti-
vam
zu nennen pfleget/ jede abſonderliche Regeln
von noͤthen haͤtte/ welches Vorurtheil ich ſelbſt in
meinen Inſtitutionibus Jurisprudentiæ Divinæ
noch nicht weggeleget gehabt. Und habe ich ſol-
cher geſtalt gar deutlich erwieſen/ daß es eben ſo eine
abſurde und vieldeutige Regel ſey/ wenn man vor-
gebe/
[] gebe/ man muͤſſe im Zweiffel die Worte in ei-
genen Verſtande nehmen;
noch mehr aber/
wenn man (es ſey nun im Juriſtiſchen oder Theo-
log
iſchen Controverſien/ welches letztere faſt jeder-
man bekandt iſt/) dieſes als einen Glaubens-Arti-
cul præſupponir
et; daß die Worte derer Te-
ſtamente und letzten Willen in eigentlichen
Verſtande genommen werden muͤſten/
da doch
viel tauſend Exempel gegeben werden koͤnnen/ dar-
iñen dieſe Regel trieget/ uñ vielleicht noch ihrer mehr
als derer/ die zu beſagter Regel gebracht werdẽ koͤn-
nen. Zugeſchweige daß ich/ ſo viel mir wiſſend/ in be-
ſagten Cap. zu erſt dieGeneralGrund-Regeln
Interpretationis Myſticægeleget/ und deren Un-
terſcheid ab interpretatione literali deutlich ge-
wieſen. Jn dem vierdten Capitel habe ich die
meiſten Brunnqvellen derer falſchen und be-
truͤglichen
Judiciorum, die auch die Gelehrten
und gantze Societaͤten von denen Buͤchern und
Autoribus zu faͤllen pflegen/ unter andeꝛn entdecket/
und endlich in dem letzten Capitel gewieſen/ daß
aus der irrigen Meynung/ daß dieDiſputationes
und Widerlegungen der Jrrthuͤmer mit dem
Kriege zu vergleichen waͤren/
aller Unfug und
boͤſes Weſen in denen Diſputationibus und
Streit-Schrifften der Gelehrten herruͤhre/ und
daß die Art und Weife deren ſich Chriſtus und die
meiſten Heyden wider ihre Widerſacher durch
Fragen zu
diſputiren bedienet/ viel nuͤtzlicher und
geſchickter ſey einen Jrrenden zu widerlegen/ und
ſeines Jrrthums zu uͤberzeugen/ als die uͤbliche So-
phiſti
ſche Syllogiſmus-Kunſt. Anderer vielfaͤl-
tigen
[] tigen zu Ausbeſſerung der uͤberall in Schwang ge-
henden Jrrthuͤmer dienenden Anmerckungen/ die
hin und wieder in dieſer Ausuͤbung der Vernunfft-
Lehre anzutreffen ſind/ anjetzo zu geſchweigen. Jch
zweiffele dannenhero nicht/ es werden unpartheyi-
ſche Gemuͤther/ die dieſes wohl uͤberlegen werden/
an ſiatt/ daß ſie mich wegen der Muͤhewaltung/ die
ich mir in Verfertigung und Profitirung der Ver-
nunfft-Lehre oder Logic genommen/ blâmiren
ſolten/ mich vielmehr loben/ und ſich zum wenigſten
unter denen Nachkommen welche finden/ die bey
der neuen Academie zu Halle/ welche Seine
Chur-Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit
allhier auf-
zurichten in Begriff iſt/ unter andern auch dieſes als
was ſonderliches anmercken werden/ daß dieſes die
erſte Academie in Teuſchland geweſen/ auff der
man an ſtatt der Sophiſtiſchen eine wahre Logicke
als den aͤchten Grund aller guten Wiſſenſchafften/
und zwar in Teutſcher Sprache offentlich profiti-
r
et. Ein mehrers zu meiner Vertheydigung anzu-
fuͤhren ſtehe ich deßwegen an/ damit es nicht das
Anſehen gewinne/ ob wolte ich unter dem Schein
mich zu vertheidigen/ mich vielmehro vermit-
telſt eines eitelen Ruhms groß machen. Wenn
ich dieſes letztere in Sinne gehabt haͤtte/ wuͤrde
ich gewißlich meinem Buche den insgemein ver-
achteten Titel einer Logic oder Vernunfft-Lehre
nicht gegeben/ ſondern durch einen praͤchtigen und
hochtrabenden Titel den Leſer anzulocken/ und
dadurch den Jnnhalt meines Buchs zu preiſen ge-
ſucht haben. Jch haͤtte ſolches eine Kunſt uͤ-
ber alle Kuͤnſte; Den Kern aller Weißheit;

Den
[]Den Grund aller Wiſſenſchafften/ oder auff
eine phantaſtiſchere/ aber doch gewoͤhnliche und
die Kaͤuffer anlockende Weiſe: Die Perl der Ge-
lahrheit/ den Braut-Schmuck der menſchli-
chen Seele; Den Eimer/ die Wahrheit aus
der Tieffe der Unwiſſenheit heraus zu ſchoͤpf-
fen; Den wahrhafftigen Stein der Weiſen;
Den in Teutſchland gebohrnen
Phœnix,Die
Ertz-Koͤnigin der Weißheit
u. ſ. w. nennen
koͤnnen. Aber ich habe nicht gewolt/ daß der Titel
das Buch/ ſondern das Buch den Titel verkauffen
ſolte/ und lieber unter einen verachteten Titel gute
Waare/ als ſchlimme unter einen hochtrabenden
dem Leſer vorſtellen wollen. Hiernechſt erkenne
ich auch gar wohl/ daß ich gantz nicht Urſache habe
mit meiner Philoſophie mich als einen gelehrten
Mann fuͤr andern Gelehrten zu ruͤhmen/ nachdem
ich in der That an mir ſelbſt erfahren/ daß die Ge-
lahrheit/ die man von denen Gelehrten lernet/ an
der Wahrheit und Weißheit mehr hinderlich als
befoͤrderlich ſey/ und daß/ wie man in Erforſchung
der Weißheit alle ſeine Locos Communes, ſeine
Eltern und Præceptores vergeſſen/ und nichts als
ſeinen eigenen Verſtand als eine Gabe GOttes
gebrauchen und anwenden muͤſſe; alſo auch ein
unſtudirter Mann/ er moͤge nun ein Soldate/
Kauffmann/ Hauß-Wirth/ ja gar ein Handwercks-
Mann oder Bauer/ oder eine Weibes-Perſohn
ſeyn/ wenn ſie nur die Præjudicia von ſich legen
wollen/ noch viel beſſere Dinge in Vortragungen
der Weißheitwerden thun koͤnnen/ als ich oder ein
anderer/ die wir wegen der allzulangen Gewohnheit
uns
[] uns von dem Abwege der Autoritaͤt/ und der leidi-
gen Buͤcher-Sucht wie gerne wir auch wollen/
nicht ſo fort loß zu reiſſen vermoͤgend ſind. Und
dieſer Unvollkommenheit wird man verhoffentlich
die wider meinen Willen annoch in dieſer meiner
Vernunfft-Lehre zuruͤck gebliebenen irrigen Mey-
nungen/ das darinnen enthaltene Gute aber nechſt
der Gnade GOttes der von Seiner Chur-Fuͤrſt-
lichen Durchlauchtigkeit
durch Ewrer Excel-
lenz Interceſſion
mir Gnaͤdigſt verſtatteten Frey-
heit/ der Wahrheit ungehindert und ohne Furcht
nach zu trachten zuſchreiben. Schließlich gleich-
wie ich meines Orts mich niemahlen dieſer Frey-
heit mißbrauchen/ ſondern mir ſelbſt die geſunde
Vernunfft/ die Tugend/ den Sr. Chur-Fuͤrſtli-
chen Durchlauchtigkeit
jederzeit ſchuldigſten un-
terthaͤnigſten Gehorſamb/ und den Ewrer Excel-
lenz
gehoͤrigen ſubmiſſen Reſpect hierinnen zu
Graͤntzen ſetzen werde; Alſo bitte ich unterthaͤnig/
Ewre Excellenz wolle dieſes mein geringes Buch
nicht ungnaͤdig auffnehmen/ und bey ferner weiti-
gen Continuirung Dero Hochſchaͤtzbaren Gnaͤdi-
gen Gewogenheit Sich jederzeit verſichern/ daß ich
in aller aufrichtigen Treue verharren werde


Ewrer Hochwohlgebohrnen
Excellenz

Unterthaͤniger
Gehorſambſter

Chriſtian Thomas.

[]

Vorrede.


Geehrter Leſer!

1.
JN der Vorrede des erſten Theils meiner
Vernunfft-Lehre habe ich fuͤrnehmlich da-
hin geſehen/ wie ich meine Urſachen anzei-
gen moͤchte/ worumb mit Rhegenio, der wieder
meine Introductionem ad Philoſophiam Auli-
cam
eine Logic zuſchreiben ſich vorgenommen/ ich
mich in keinen Schrifft-Wechſel einlaſſen wuͤrde/
weil ich nemlich befunden/ daß er in Hiſtoria Phi-
loſophica
gar nicht erfahren/ und die hypotheſes
der alten und neuen Philoſophen außer des eini-
gen Carteſii nicht inne gehabt/ dergleichen Leute
ich doch in der Vorrede zu meiner Introduction
gewarnet und gebeten hatte/ wieder mich nicht zu-
ſchreiben/ oder mich nicht zu verdencken/ wenn ich
ihnen nicht antworten wuͤrde. Und haͤtte ſolcher-
geſtalt dafuͤr gehalten/ man ſolte eines Theils dieſe
meine gute Introduction einmahl paſſiren laſſen/
zumahl da in der teutſchen Vernunfft-Lehre ich von
ſelbſt viel/ theils was die methode, theils auch zu
weilen was die Sache ſelbſt betrifft/ geaͤndert hat-
te/ oder es ſolte doch zum wenigſten derjenige/ der
ſich ferner daran reiben wolte/ ſich zuvor pruͤffen/
ob er mehr aus abſehen die Warheit zu befoͤrdern/
als aus Verlangung eiteler Ehre die Feder anſe-
tzen wolte/ und hernach auch ſeine Kraͤffte unterſu-
chen/ ob er nicht alleine die Urſachen wohl verſtehe/
worum die allgemeinen Logicken nichts zu achten
ſeyn/
[] ſeyn/ ſondern auch genungſamen Unterricht habe/
wie man auff eine neue Ausbeſſerung dencken/ oder
warum man lieber bey ſeinen natuͤrlichen Verſtan-
de ohne einige Ausbeſſerung bleiben muͤſſe. Nichts-
deſtoweniger hat ſich an verwichener Oſter-Meſſe
dieſes 1691. Jahres ein neuer Autor hervor ge-
than/ der unter dem entlehnten Nahmen des Rea-
lis de Vienna J. U. D. \& Philoſ. Stud. diſcurſus
\& dubia
uͤber beſagte meine Introduction heraus
gegeben/ und dieſelbe faſt durch und durch ſehr har-
te mit zunehmen ſich vorgenommen. Es ſoll die-
ſes Buch dem Titel nach zu Regensburg gedruckt/
und bey dem Autore verleget ſeyn; jedoch gibt es
die allgemeine ſage und andere wahrſcheinliche
Umſtaͤnde/ daß es zu Franckfurth an der Oder ſei-
nen Drucker und Verleger gefunden. Der Titel
verſpricht hiernechſt ſehr koſtbare und nuͤtzliche
Dinge/ weil dem Autori beliebet/ ſeine diſcurlus
\& dubia
dergeſtalt zu ruͤhmen: In qvibus de na-
tura \& conſtitutione Philoſophiæ diſſeritur, de
ratione Studiorum judicatur, \& in qvo conſi-
ſtat vera ſapientia oſtenditur.
Welche Ver-
heiſſung mich denn auch bewogen/ beſagte Diſcur-
ſus
mit deſto groͤſſerer Begierde zudurchgehen/
umbzufinden/ ob der Autor mich in dieſen zu der
wahren Weißheit/ der ich bißher etliche Jahre her
mit gebuͤhrenden Eyffer nachgetrachtet/ hochnoͤthi-
gen Stuͤcken eines Jrrthums uͤberfuͤhret/ und mir
einen beſſern Weg gewieſen. Aber ich habe ſo
fort in dem erſten geſchwinden Durchgang dieſes
Buchs ſo viel klare und deutliche Anzeigungen ge-
funden/ daß ich davon nicht anders als folgendes
Judi-
[]Judicium machen muͤſſen: Der Autor ſey/ was ſe[i]-
nen Verſtand betrifft/ ein Mann/ dem GOtt eine zim-
liche Capacitaͤt zu Erkaͤntniß der Wahrheit verliehen/
der aber dieſelbe mehr zu Erkaͤntniß etlicher allgemei-
ner Jrrthuͤmer angewendet/ als daß er den Urſprung
derſelbigen/ nemlich die Præcipitanz und Dependi-
rung von anderer Autoritaͤt unterſuchen und ſich da-
fuͤr huͤten/ oder auff die Erforſchung der Wahrheit
mit gnugſamer Auffmerckung ſich legen ſollen. Was
aber den Willen anlanget/ ſey er ein Mann/ der ſich
zwey widerwaͤrtige Affecten/ Liebe und Haß ohne ver-
nuͤnfftige Gruͤnde jaͤmmerlich hin und wieder reiſſen
laſſe/ und durch dieſelben angetrieben von einem Ex-
tremo
auff das andere falle/ auch ſeinen guten natuͤrli-
chen Verſtand dadurch dergeſtalt unterdruͤcken laſſen/
daß er durch ihren Antrieb Dinge ſchreibe/ derer er ſich
ſelber ſchaͤmen wuͤrde/ weñ er von dieſen Affecten be-
freyet waͤre; im uͤbrigen aber daß es ihm an Hertzhaff-
tigkeit nicht mangele die Wahrheit zu erforſchen/ und
wider jederman zu vertheidigen/ wenn beſagte beyde
Affecten ihn nicht antrieben/ dieſe ſeine Hertzhafftig-
keit oͤffters gantz unrecht zu Vertheidigung der Jrꝛthuͤ-
mer anzuwenden. Dieſes Judicium von ihm zu faͤl-
len/ haben mich folgende Urſachen bewogen; weil das
gantze Buch weiſet/ daß er 1. in der Hiſtoria Phyſica
und was ſonſten zu dieſem Studio gehoͤret/ auch zum
theil in Matheſi nicht gemeine und geringe Profectus
haben muͤſſe. 2. Daß er die eitelen Jrrthuͤmer der
Scholaſtiſchen Philoſophie, und ſonderlich der in de-
nen Schulen eingefuͤhrten Syllogiſmus-Kunſt gar
deutlich zu erkennen giebet/ und mit einer auffrichtigen
Hertzhafftigkeit befechtet. 3. Daß er dadurch ſich ver-
bfuͤh ren
[] fuͤhren laſſen/ die Logic gantz auszumertzen/ und bloß
auff eines jeden Menſchen ſeinen natuͤrlichen Ver-
ſtand ſich gruͤndend/ alle Logicken fuͤr unnoͤthig ja gar
ſchaͤdlich haͤlt. 4. Daß er ſelbſten groͤſten theils in ſei-
nen Diſcurſen mehr auff Oratoriſche Weiſe und Af-
fect
ens volle Worte/ als auff die Art eines ſittſamen
Logici diſputiret. 5. Daß er ſich nicht entfaͤrbet/ auf
Sophiſtiſche Art den Statum Controverſiæ hin und
wieder umbzukehren/ die Concepte zu vermiſchen/ die
Worte ſeines Gegners nach ſeinen Gefallen zu aͤn-
dern/ etliche auszulaſſen/ andere einzuruͤcken/ u. ſ. w.
6. Daß er durchgehends eine gar zu uͤbermaͤßige Liebe
zu den Teutſchen/ und einen gar zu uͤbermaͤßigen Haß
gegen die Frantzoſen blicken laͤſt. 7. Daß er mich zu-
weilen/ und zwar hauptſaͤchlich umb keiner andern Ur-
ſache/ als weil ich mir vorgenom̃en zu weiſen/ daß man
auch in Teutſcher Sprache gelehrte Sachen ſchrei-
ben koͤnne/ gar zu uͤbermaͤßig und auf eine irraiſonable
Weiſe lobt/ zum oͤffteꝛn aber uñ zwaꝛ wiedeꝛum̃ haupt-
ſaͤchlich deßhalben/ daß ich in meinen Schrifften einige
Gewogenheit gegen die Frantzoͤſiſche Nation ſpuͤren
laſſen/ mich gar zu ſcharff und wider Raiſon durchhe-
chelt. 8. Durchgehends aber daſſelbige gantz und gar
nicht præſtiret/ was ſein Titel verſpricht/ noch gruͤnd-
lich eroͤrtert/ was zu rechtſchaffener Erkaͤntniß der wah-
ren Weißheit/ und wie ein junger Menſch dieſelbe zu
erlangen/ ſein Studiren einrichten ſolle/ gehoͤre/ ſondern
vielmehr abermahlen von gar zu groſſer Paſſion gegen
die Phyſic und Matheſin eingenommen der andern
Wiſſenſchafften/ abſonderlich aber des alleredelſten
theils menſchlicher Weißheit/ der Sitten-Lehre bey
nahe gar druͤber vergißt. Jch brauche nicht/ daß ich zu
Behau-
[] Behauptung deſſen/ was ich von dieſem Autore biß-
her angefuͤhret/ etliche Oerter aus demſelben excerpl-
re/ in dem der unpartheyiſche Leſer ſelbiges auff allen
Blaͤttern/ ja bey nahe auff allen Zeilen haͤuffig antref-
fen wird. Und habe ich dannenhero bey dieſen Urſa-
chen mich ſo fort entſchloſſen/ ſelbiges Buch nicht zu be-
antworten/ nicht aus einen unzeitigen Hochmuth/ ſon-
dern weil ich vermeinet/ daß es keiner Antwort brau-
che/ ſondern daß ein raiſonablerLeſer von ſelbſt die
Unzulaͤngligkeiten der Gruͤnde des Autoris erkennen/
ein irraiſonabler aber/ und wider mich præoccupirteꝛ
auch durch die beſten Gruͤnde nicht werde zur Raiſon
gebracht werden koͤnnen/ worinnen mich nicht wenig
geſtaͤrckt/ daß ich glaubwuͤrdige Nachricht erhalten/
wie meine Wideꝛſacher ſelbſt zwar anfaͤnglich ſehr ge-
frohlocket/ als ſie dieſes Buch im Catalogo geſehen/
hernach aber bald von dieſer ihrer Freude nachgelaſ-
ſen/ als ſie geſehen/ daß der Autor ſein Vorhaben
nicht beſſer ausgefuͤhret.


2. Jedoch muß ich bekennen/ daß ich Verlangen
getragen den Autorem zu kennen/ und des Sinnes
Anfangs geweſen/ ihn zum wenigſten duꝛch ein Privat-
Schreiben den Urſprung ſeiner Præjudiciorum zu er-
kennen zu geben/ weil ich doch beſage des/ was beym 1.
und 2. Punct von ihm angemerckt/ nicht wenig gutes
an ihn geſpuͤhret; fo bald man mir ihn aber genennet/
bin ich auch hierinnen anders Sinnes worden. Deñ
ich habe ſo fort befunden/ daß er ſein Ebenbild ſo wohl
in dieſem Buche exprimiret/ daß ich mich faſt geſchaͤ-
met/ daß ich ihn nicht vor mich ſelbſt errathen/ weil er
mir in Leipzig ſo familiar geweſen/ daß er mir ſeine
meiſte Heimligkeiten vertraut/ ich ihn auch auſſer dem
b 2beſſer
[] beſſer als er vielleicht ſich ſebſt gekandt. Jch haͤtte a-
ber nicht geglaubt/ daß er ſich ſo viel Geduld nehmen
koͤnnen/ ein ſolch Buch zu verfertigen/ weil ich ſein In-
genium
fuͤr viel zu fluͤchtig hierzu gehalten/ auch ge-
meynet/ er ſolte als mein guter Freund/ und der taͤglich
Gelegenheit gehabt muͤndlich mit mir zu conferiren/
und mir meine Fehler zu zeigen/ auch/ als ich meine In-
troduction
zu Leipzig durch diſputiret/ mir darwider
zu opponiren/ zum wenigſten mich nicht ſo cavaliere-
ment
darinnen tractiret haben; So lieſſe mir auch
das Ungluͤck/ darinnen er damahls ſtacke als das
Buch heraus kame/ und noch nicht davon erlediget iſt/
nicht vermuthen/ daß er bey demſelben ſolte vermoͤ-
gend geweſen ſeyn/ an Edirung deſſelbigen zu dencken.
Nachdem ich aber vernommen/ daß er ſelbiges verfer-
tiget habe/ ehe er in dieſes Elend gerathen/ habe ich mir
keine andere Urſache einbilden koͤnnen die ihn hierzu
bewogen/ als weil ich ihn/ nachdem er ohne meinen
Vorbewuſt mich unter dem Namen des Ignatius
Menſifax
wider einen Paſqvillanten defendiret/
(worvon ich in der Dedication meiner Freymuͤthigen
Monatlichen Gedancken etwas mehrers Meldung
gethan) nicht/ wie er wohl verhoffet/ Danck genung
conteſtiret/ ſondern aus vielen gegruͤndeten Urſachen
vielmehr mein hertzliches Mißfallen daruͤber bezeiget/
auch ſonſten als einen guten Freunde zuſtehet/ ihn be-
ſcheiden jedoch offenhertzig wegen ſeiner allzuhitzigen
Condaite zuweilen gewarnet/ und zuvorher geſagt/
was es vor ein Ende damit nehmen wuͤrde. Dieweil
ich ihn denn allzuwohl kenne/ und geſpuͤhret/ daß er in
ſeinen einmahl gefaßten Meynungen incorrigibel
und in extremo gradu halsſtarrig/ auch umb keiner
andern
[] andern Urſache willen in das groſſe Ungluͤck in dem
er noch ſtecket/ und deſſen Ende er nicht ſehen kan/
gerathen; als wuͤrde eines theils ohnnoͤthig und
vergebens ſeyn/ wenn ich mich gleich befleißigen
wolte/ ihn die Præjudicia die er in ſeinem Buche
begangen/ noch ſo deutlich vor Augen zu legen/ theils
aber wuͤrden meine Widerſacher vielleicht Gele-
genheit nehmen mich zu blâmiren/ daß ich andere
bißher wider mich verfertigte Schrifften unbeant-
wortet gelaſſen/ dieſem Autori aber antwortete/
weil ich wuͤſte/ daß er in einem Zuſtande lebete/ der
ihm nicht wohl zulieſe fernerweit wider mich zu
ſchreiben/ weßhalben denn/ wenn ich gleich ſonſt
mir vorgeſetzt gehabt haͤtte/ dieſes Buch zu beant-
worten/ dieſe einzige Betrachtung genung ſeyn wuͤr-
de/ mich davon abzuhalten.


3. Ja ich habe mir uͤberhaupt vorgenommen/
wegen vieler Urſachen allen denen/ die noch kuͤnfftig
wider mich ſchreiben moͤchten/ wenig oder gar
nichts zu antworten/ es waͤre denn/ daß ich ſaͤhe/ daß
es die Wuͤrdigkeit der Lehre ſelbſt erfordere/ daß ich
dieſelbe in einer Beantwortung etwas deutlicher
ausfuͤhrete/ oder erkennete/ daß ein Autor nicht aus
Affecten/ ſondern aus bloſſer Liebe zur Wahrheit
wider mich geſchrieben haͤtte. Denn 1. nachdem
ich mir die Freyheit genommen/ in meinen Monat-
lichen Gedancken von denen neuen Autoribus oh-
ne Anſehen der Perſonen offenhertzig zu judiciren/
wuͤrde ich die geſunde Vernnnfft beleydigen/ wenn
ich andern nicht dergleichen Freyheit gegen mir
goͤnnen/ und alles was man wider mich ſchriebe/ be-
antworten wolte. 2. Kommen die widrigen Judi-
b 3cia
[]cia die man von mir gefaͤllet/ oder kuͤnfftig von mir
faͤllen moͤchte/ mit der Wahrheit uͤberein/ ſo habe
ich vielmehr Urſache meine Jrrthuͤmer abzulegen/
und meine Fehler zu verbeſſern als dieſelbigen zu
vertheydigen. Sind ſie aber der Wahrheit nicht
gemaͤß/ ſo gehen ſie weder mich noch meinen
Schrifften/ die oͤffentlich fuͤr jedermanns Augen lie-
gen/ an/ und wuͤrde ich alſo wunderlich thun/ wenn
ich mir ohne Noth eine Muͤhe auff den Hals laden
wolte. 3. Halte ich dieſes Schweigen auch fuͤr
ein Mittel meinen Feinden deſto eher das Maul zu
ſtopffen. Lieſſe ich mich einmahl weiter mit meinen
Widerſachern ein/ haͤtten ſie was ſie verlangten/
und wuͤrden ſie mir mit ihren Paſqvillen oder an-
dern Schrifften wider mich das Leben ſo ſauer ma-
chen/ daß ich meine ordentliche Arbeit dabey wuͤrde
verſaͤumen/ und doch einmahl mich ſtille zu ſchwei-
gen reſolviren muͤſſen. Schweige ich aber ſtille/
ſo bin ich dieſer Verdrießligkeit uͤberhoben/ und kan
meinen Gegnern wohl goͤnnen/ daß ſie ſich einbil-
den und ruͤhmen/ ſie haben mich ad ſilentium redi-
girt.
Die Wahrheit wird doch wohl Wahrheit
bleiben/ wenn ich ſie nur einmahl deutlich vorgele-
get/ ob ich mich gleich deßwegen nicht mit jederman
herumb beiſſe. 4. So kan ich auch hiermit dieje-
nigen realiter refutiren/ die mich in der Welt zu
diffamiren geſucht/ als ſey ich ſo ehrgeitzig und rach-
gierig/ daß ich niemand der mir contradicirte umb
und neben mich leyden koͤnte. Jch habe ja frey ge-
nung geſchrieben und dociret/ auch mich davon we-
der Furcht noch Liebe abhalten laſſen; aber gewiß
es iſt nichts anders als die Liebe zur Freyheit und
Wahr-
[] Wahrheit/ die mich hierzu bewogen/ und wenn ich
die erhalte/ ſo koͤnte ich gar wohl leiden/ wenn gleich
alle Tage ein anderer auff eben der Catheder wo
ich lehre/ gleich das Widerſpiel dociren ſolte; ja
ich wuͤrde meine Auditores ſelbſt vermahnen/ dieſe
Lectiones zu beſuchen. 5. Endlich wil ſich es
ferner nun nicht ſchickẽ/ nach dem/ was ich in gegen-
waͤrtiger Ausuͤbung im letzten Capitel von dem all-
gemeinen Mißbrauch der Streit-Schrifften aus-
fuͤhrlich und gegruͤndet gehandelt/ daß ich meinen
Auditoribus ſelbſt nicht hierinnen mit einem guten
Exempel vorgehen ſolte. Jedoch wolle niemand
meynen/ ob wolte ich wegen meiner Lehre niemand
Rede und Antwort geben. Jch bin ſolches nicht
alleine meiner Hohen Obrigkeit/ da es begehret
wird/ allezeit zu præſtiren willig/ ſondeꝛn weꝛde auch
einem jedweden der aus Liebe zur Wahrheit diß-
falls mit mir conferiren wil/ ſo viel Satisfaction
geben als er verlanget. Doch kan ich meine
Schwachheit nicht laͤugnen. Jn Schrifften ſol-
ches zu thun/ iſt wider mein Naturell, als der ich mit
dem Mangel behafftet bin/ daß ich mich zu nichts
weniger als zum Commercio literario ſchicke/ und
hierinnen durchgehends ein uͤbler Zahler bin/ indem
ich lieber einen gantzen Tag dociren/ oder ſonſt et-
was verrichten wil/ als daß ich einen eintzigen Brieff
nur eine vierteil Stunde beantworte/ und dannen-
hero bey dieſer Gelegenheit alle diejenigen/ denen
ich nun binnen etlichen Jahren dieſes Officium
humanitatis
ſchuldig geblieben/ oͤffentlich um̃ Veꝛ-
zeyhung bitte. Hingegen hoffe ich/ daß wenn je-
mand muͤndlich mit mir zu conferiren hat/ ein jed-
weder
[] weder mir das Zeugniß werde geben muͤſſen/ daß
ihn nicht allein zu allen Zeiten anhoͤre und gute Mi-
nemache/ ſondern auch offenhertzig und auffrichtig
mit alle dem was ich in meinem Kopffe und meiner
wenigen Biblioteqve habe/ diene. Ja ich ver-
ſpreche hiermit jederman/ der oͤffentlich mit mir we-
gen einiger meiner Lehre umb Liebe zur Wahrheit
Willen zu conferiren belieben tragen ſolte/ daß ich
zu allen Zeiten/ es ſey ſo offt als er es verlanget/
Teutſch oder Lateiniſch nach der Mode der einge-
fuͤhrten Syllogiſmus-Kunſt oder durch Frage und
Antwort hierzu mich bereit erfinden laſſen werde/
und hoffe/ man werde mit dieſen meinen Erbieten
zu frieden ſeyn koͤnnen/ weil ich nicht begreiffen kan/
was man von einem ehrlichen und die Wahrheit
liebenden Mann mehr prætendiren koͤnne/ auch
fuͤr mich niemahln eine groͤſſere Freyheit gegen die
von denen ich diſſentire/ verlangen wuͤrde. Jn
deſſen lebe wohl/ geehrter Leſer/ und erwarte auff
kuͤnfftige Oſter-Meſſe/ da GOtt Kraͤffte und
Geſundheit verleihen wird/ meine
Sitten-Lehre.


ENDE.

Der
[1]

Der Ausuͤbung
Der
Vernunfft-Lehre/
I. Hauptſtuͤck.
Von der Geſchickligkeit die
Warheit durch eigenes Nach-
dencken zu erlangen.
Jnnhalt.


Connexion und nothmendigkeit der Doctrin von Aus-
uͤbung der Vernunfft Lehre n. 1. 2. 3. Dieſer Lehre 5.
Theile n. 4. Die general methode hierinnen n. 5. War-
rumb man von der Geſchickli[g]keit der Warheit ſelbſt
nach zu dencken anfange n. 7. Pruͤfung des. Auditoris,
n.
8. (1.) Nach ſeinen Alter. We[l]ches Alter am ge-
ſchicklichſten zur Vernunfft-Lehre ſey n. 9. 10. 11. 12.
(2.) Nach ſeiner Luſt und Begie[r]de. Dieſe muß
nicht zu hitzig und ungedultig ſeyn/ n. 13. 14. 15. 16. Sie
muß von der Begierde zur Wollu[ſt] und Muͤßiggang
nicht uͤberwaͤltiget werden/ n. 17. 18. [1]9. 20. Sie muß
mit einer attention auff die Leh[r]en [d]es Lehrers
vergeſellſchafftet ſeyn/ n. 21. 22. (3.) m[it] ſelnem Muth
und courage wider die Feinde der Warheit und der
draus entſtehenden Gefahr n. 23. 24[.] Urſachen die ei-
nen jungen Menſchen darwider auffmunte[rn] ſollen/

An. 25.
[2]1. Hauptſt. von der Geſchickligkeit die
n. 25. 26. 27-Præcepta nach deren Anleitung man der
Warheit nach dencken ſoll. Beſtreite diepræjudi-
cia n.
28. (1.) insgeſamt/ das iſt: zweiffelen. 29.
was hierbey in acht zu nehmem. n. 30. Zweiffeln ge-
ſchicht entweder auff Sceptiſche oder Dogmatiſche wei-
ſe n. 31. die letzte Art gehoͤret hieher n. 32. 33. Es iſt
keine vernuͤnfftige Urſache/ warum man zweiffeln ſolle/
daß etwas wahr ſey n. 34. maſſen ſolches auch die klei-
nen Kinder gewiß erkennen n. 35. und im fortgehen-
den Al[t]er noch mehr vergewiſſert werden n. 36. Vor-
ſtellung der Urſachen/ warum̃ man bey reiffenden Ver-
ſtande anfangen ſolle an allen zu zweiffeln n. 37. derer
Nichtigkeit. Es folgt nicht/ was mich offte betrogen
hat/ kan mich allezeit betriegen n. 38. noch weniger a-
ber: was mich betriegen kan/ wird mich auch betrie-
gen n. 39. beydes wird mit einem Exempel von drey
Wuͤrffeln erklaͤret n. 40. 41. Eben weil du gewiß weiſt/
daß du dich offt betrogen haſt/ kanſt du nicht an allen
Dingen zweiffeln/ n. 42. 43. 44. Ja du kanſt nicht zweif-
feln/ wenn du nicht zugiebſt/ daß etwas wahr ſey n. 45.
Du darffſt nicht an allen Dingen zweiffeln/ ob du ſchon
noch nicht weiſt was wahr iſt n. 46. 47. 48. An was
vor Dingen man deñ zweiffeln muͤſſe? n. 49. 50. Nicht
an denen propoſitionibus die man alsbald begreifft.
z. e. daß man wache/ daß man Haͤnde und Fuͤſſe habe/
n. 51. 52. 53. [d]erer unzehlige exempel ſind n. 54. ſondern
an denen Grundwarheiten und concluſionibus remo-
tioribus n.
55. und zwart an jenen zu erſt n. 56. welches
insgemein negligir er wird/ n. 57. auch auff Acade-
mien n.
58. Wer ſie aber ſchon gelernet hat/ darff nicht
von neuen zweiffeln n. 59. 60. Unterſcheid zwiſchen
dem Zweiffel an denen principiis und concluſionibus
remotioribus n.
61. Etliche noͤthige Exempel derglei-
chen concluſionnm n. 62. Was demnach unter dem
Gebot/ daß man zweiffeln ſolle/ angedeutet werde/

n, 63.
[3]Warheit durch eigenes Nachd. zu erl.
u. 63. Nutzen dieſes Zweiffels n. 64. Was man fuͤr ei-
ne Ordnung in dem Zweiffel an concluſionibus remo-
tis
halten ſolle n. 65. Zweiffeln heiſt fragen und ſuchen
n. 66. nicht aber dasjenige daran man zweiffelt fuͤr
falſch halten n. 67. weil unter dieſen beyden Dingen ei-
ne contradictio iſt. n. 68. die Sceptici ſelbſt auch nicht
ſo weit gegangen n. 69. ferner ein groſſer Unterſcheid
iſt unter: etwas nicht fuͤr wahr/ und: ſolches fuͤr falſch
halten n. 70. anderer Unfoͤrmligkeiten zu geſchweigen
n. 71. 75. die dadurch nicht gehoben werden/ wenn man
ſich entſchuldiget/ es geſchehe dieſes nicht aus Ernſt/
ſondern nur ad interim n. 72. 73. 74. Nach unſerer Er-
klaͤrung treffen uns die meiſten Argumenta derer
nicht/ die da behaupten/ man ſolle nicht zweiffeln n.
76. aber wohl dasjenige/ daß man wider uns urgi-
ren
kan/ es ſey nicht recht an Gott zu zweiffeln n. 77.
Beantwortung dieſes Einwurffs. Der Kinder ih-
re Meinungen von GOtt gruͤnden ſich mehr anff
menſchliche autoritaͤt/ als auff rechte Grund-Warhei-
ten n. 78. Was das heiſſe/ daß die Verſicherung von
Gottes exiſtenz u. ſ. w. den Heyden ins Hertz geſchrie-
ben ſey n. 79. Deutliche Erweiſung/ daß der von uns be-
gehrte Z[w]eiffel von GOtt und Goͤttlicher Verſehung
mit nichten dahin fuͤhre/ daß ein Menſch auch nur auff
einen Augenblick ein Atheiſte ſeyn ſolle n. 80. 81. 82.
ſondern vielmehr daß er ſich von der Atheiſterey ent-
ferne n. 83. Die Scripta Anti-Atheiſtica und Theologia
naturalis
derer die dem Zweiffel zuwider ſeyn/ be-
weiſen in der That unſere Meinung n. 84. 85. 86.
(2.) inſonderheit das præjudicium autoritatis.ver-
traue auf keines Menſchen
autoritaͤtn. 87.
88. wovon auch die Obern/ Eltern und præceptores
nicht ausgenommen ſind n. 89. 90. Woher es komme/
daß die Pflicht gegen die Præceptores der Pflicht gegen
die Eltern gleich geachtet oder ihr wohl gar vorgezo-

A 2gen
[4]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
gen werde n. 91. Was unter dem Nahmen eines Præ-
ceptoris
zu begreiffen ſey/ von deſſen autoritaͤt man
nicht abweichen koͤnne? n. 92. wer unſer axioma laͤug-
net/ muß notwendig denen Menſchen eine Infallibili-
t
aͤt zuſchreiben/ n. 93. und kan nicht prætendiren, daß
ein anderer/ wider den er diſputiret, den Jrrthumb
ſeines Præceptoris verlaſſe n. 94. (3.) inſonderheit das
Præjudicium præcipitantiæ.Gib in deinermedi-
tation
auf alles wohl und genau achtung
n. 95. dadurch bringſt du dir eine attention zuwege n.
96. und ſchaͤrffeſt dein judicium, und befreyeſt dich
fuͤr vieler Gefahr n. 97. Die zwey letztere axiomata ha-
ben auch in Erforſchung wahrſcheinlicher Dinge ihren
Nutzen n. 98. Jn denenſelben muß man die Guͤltigkeit
der Zeugniſſe nicht auff die conceptus accidentales ex-
tendiren n.
99. wie ingemein geſchicht n. 100. welches mit
etlichen exempeln bewieſen wird n. 101. Die autoritaͤt
iſt nicht einmahl bey wahrſcheinlichen Zeugniſſen die
Richtſchnur meines Glaubens n. 102. zum exempel
in hiſtoriſchen Dingen n. 103. Nutzen der attention in
Beurtheilung wahrſcheinlicher Dinge n. 104. Das
andere Haupt-axioma. Nach Beſtreitung der Haupt-
præjudiciorumWehle dir unter denen
Wiſſenſchafften diejenige/ die dich zur
wahren Weißheit fuͤhret
n. 105. 106. Unter-
ſchiedliche Claſſen der Menſchlichen Wiſſenſchafften.
n. 107. 108. (1.) Die nuͤtzlichen n. 109. unterdenen die
vornehmſte iſt/ die auff die ewige Gluͤckſeligkeit gerich-
tet iſt n. 110. 111. der die Wiſſenſchafft die Gemuͤts-
Ruhe zu erlangen/ n. 112. 113. 114. und dieſer die Ge-
lahrheit die Geſundhelt ſeines Leibs zn erhalten/ n.
115. endlich aber die Lehre ſo mit den Guͤtern des
Gluͤcks zu thun hat/ ſolgen n. 116. (2) Die rechtmaͤſ-
ſig beluſtigenden. Was unter dieſen verſtanden wer-
de n. 117. und deren exempel n. 118. was ſie insgemein

fuͤr
[5]der Warheit nachzudencken.
fuͤr Nutzen haben n. 119. 121. abſonderlich aber die Hiſto-
rie,
die Mathematiſchen Wiſſenſchafften/ die Lehre
de decoro, und die luſtigen Theile der Phyſic n. 120.
Man muß uͤber dieſen ſtud iis die nuͤtzlichen nicht lie-
gen laſſen n. 122. wie vielfaͤltig geſchicht n. 123. (3.) Die
unrechtmaͤßig beluſtigenden n. 124. deren etliche das
præjudicium autoritatis ſtaͤrcken/ als die Scholaſtiſche
Metaphyſic n. 125. etliche der præcipitanz ſugen n.
126. als die Magiſchen Wiſſenſchafften n. 127. Was
von der Geomantia, Cabala u. ſ. w. zu halten ſey n.
128. 129. 130. 131. Ferner: Suche die wahre
Weißheit in dir.
n. 132. Lerne dich ſelbſt
erkennen
n. 133. nehmlich (1.) in Gegenhaltung
mit denen beſtien n. 134. (2.) mit andern Menſchen
n. 135. (3.) mit GOtt n. 136. nach Anleitung des drey-
fachen Standes eines Menſchen n. 137. wie viel Zeit
zu dieſer Erkaͤntniß gehoͤre n. 138. Wahrſcheinliche Din-
ge nutzen dem Menſchen bißweilen ja ſo viel als un-
ſtreitige Warheiten n. 139. bißweilen noch mehr. n. 140.


1.


WJr haben in dem Erſten Theil der
Vernunfft-Lehre bißhero zwar deut-
lich und ausfuͤhrlich genung gewie-
ſen/ was wahr/ falſch/ unerkant/ wahrſcheinlich
und unwahrſcheinlich ſey: So wohl auch in
welchen Dingen man eine gewiſſe/ klare und
deutliche Erkentniß erlangen koͤnne/ und daß
man in Erfindung neuer Warheiten nicht ſub-
til
kuͤnſteln/ ſondern vielmehr den natuͤrlichen
Trieb der geſunden Veruunfft folgen ſolle.
A 3So
[6]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
So haben wir auch endlich den Urſprung al-
ler Jrrthuͤmer verhoffentlich aus dem Grun-
de gezeiget. Gleichwohl wollen dieſe ſpecula-
tiones
noch nicht genung ſeyn fuͤr einen jun-
gen Menſchen/ der die Weltweißheit zu be-
greiffen gedenckt.


2. Denn die Vernunfft-Lehre ſoll die Men-
ſchen unterweiſen/ wie ſie ihren Verſtand
recht brauchen/ und andern Leuten damit
dienen ſollen.
Derowegen iſt es/ wie in allen
diſciplinis practicis, nicht genug/ daß man die
Sache die man ausuͤben foll/ uͤberhaupt verſte-
he/ und dieſelbe beſchreiben und eintheilen koͤn-
ne; ſondern man muß den Leuten auch Hand-
griffe
weiſen/ die ſie in der Ausuͤbung gebrau-
chen ſollen/ deſio ehe zu den erwuͤndſchten End-
zweck zu gelangen; maſſen ſolches aus dem
Exempel der Lehre von Fechten/ Dantzen/
Ballſpielen
und aller mechaniſchen Kuͤn-
ſte/
(der Sittenlehre und Politic zu ge-
ſchweigen) erhellet.


3. Bißher haben wir nur gewieſen/ wie
die Erkentniß der Warheit beſchaffen ſeyn
ſolte/
und wie leider an ſtatt derſelben der
Menſch mit Jrrthuͤmern angefuͤllet
iſt.
Wenn wir nun bey dieſer letzen Betrachtung
auffhoͤ-
[7]der Warheit nachzudencken.
auffhoͤren wolten/ wuͤrden wir gewiß einen
Lehrbegierigen Juͤngling hoͤchſt conſternirt
verlaſſen/ nicht anders als zum exempel ein
Dantzmeiſter/ weñ er einem der bey ihm dan-
tzen lernen wolte/ viel von denen zu der Dantz-
Kunſt gehoͤrigen terminis und Geſchickligkeit
des Menſchlichen Leibes vorſagte/ und hernach
ihm deutlich darthaͤte/ daß er ſehr ungeſchickt
dantze/ und keine cadence zu halten wiſſe/ und
wolte hernach den Lehrling dimittiren.


4. Wir haben oben Erwehnung gethan/
daß dieſer Theil der Vernunfft-Lehre 5. Stuͤ-
cke begreiffen werde/ 1. Wie man die Warheit
fuͤr ſich erforſchen und erkennen/ 2. die erkan-
te Warheit andern beybringen/ 3. anderer
Leute Meinungen verſtehen/ 4. von denen-
ſelben judiciren/ und 5. die irrigen wieder-
legen
ſolle.


5. Bey allen dieſen Dingen wird nichts
mehr noͤthig ſeyn/ als daß wir ſo wohl einige
noͤthige Handgriffe zeigen/ als auch die un-
tuͤchtigen
obwohl gewoͤhnlichen/ die man ins-
gemein zu brauchen pfleget/ dann und wann
bemercken.


6. Und zwar ſo fangen wir von der Ge-
ſchickligkeit die Warheit durch eigenes

A 4Nach-
[8]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
Nachdencken zu erforſchen/ billig an/ weil
dieſes eben das Stuͤcke der Vernunfft-Lehre
iſt/ welches weiſet/ wie man ſeinen Verſtand
recht brauchen
ſolle; maſſen denn die an-
dern 4. itzt erwehnten Theile lehren/ wie ich
mit meinen Verſtand andern dienen ſolle.
Wie ſoll ich aber andern dienen/ wenn ich
mir ſelbſt damit nicht helffen kan?


7. Zu dem ſo weiſet auch die weitlaͤufftige
Betrachtung derer Jrrthuͤmer im vorigen
Capitel/ daß ich in Ausuͤbung der Vernunfft-
Lehre allerdings von mir ſelbſt den Anfang ma-
chen/ und mir ſelbſt den Balcken aus dem Au-
ge ziehen muͤſſe/ weil ich befinde/ daß ich ja ſo
wohl voll Jrrthuͤmer ſtecke als andere Men-
ſchen.


8. Nun wohl dann/ fo wollen wir in GOt-
tes Nahmen ſehen/ was bey der eigenen me-
ditir
ung zu beobachten ſey. Aber ich muß dich
zufoͤrderſt betrachten/ ob du auch zur praxi
der Vernunfft-Lehre geſchickt ſeyſt/ oder du
muſt dich vielmehr ſelber pruͤfen/ ob du dasje-
nige/ was hierzu erfordert wird/ zu præſti-
r
en gedenckeſt.


9. Du ſieheſt noch ſehr jung aus/ und wie
ich von dir vernehme/ ſo biſt du erſt 17. Jahr
alt.
[9]der Warheit nachzudencken.
alt. Aber das hindert nicht/ ſondern iſt viel
mehr deſto beſſer fuͤr dich/ weil in dieſem Alter
der natuͤrliche Verſtand insgemein zu reif-
fen anfaͤngt. Je ſpaͤter man aber bey Reif-
fung des Verſtandes in ſeinem Kopffe auf-
zuraͤumen anfaͤngt/ ie ſchlimmer iſt es/ weil die
præjudicia ſo dann immer tieffer einwurtzeln/
dergeſtalt/ daß man ſo dann die groͤſte Muͤhe
anwenden muß/ ſie loß zu werden.


10. Derowegen iſt offenbahr/ das eines
Theils ein Kind keinen geſchickten Audito-
r
en der Vernunfft-Lehre/ oder des Haupt-
grundes der Weltweißheit abgeben werde/
weil wegen ermangelnder Reiffe des Verſtan-
des es weder die gantzen ideas in partes accu-
raté
einzutheilen/ oder die nimiam generalita-
tem axiomatum
zu begreiffen/ noch die præju-
dicia
zu erkennen faͤhig iſt/ ſondern wie oben
erwehnet/ die Præceptores derſelben ſolten ſich
nur bemuͤhen/ daß von denen concluſionibus,
die ad captum der Kinder ſind/ ihnen ſo viel
moͤglich keine Jrrthuͤmer beygebracht wuͤr-
den.


11. Anderes theils aber/ ſo iſt zwar ein al-
ter Mann
geſchickt genung die Grund-Ge-
ſetze der Vernunfft-Lehre zu begreiffen/ aber
A 5weil
[10]Das 1. H. von der Geſchickligkeit.
weil er in denen præjudiciis ſchon veraltert
iſt/ ſo verlanget er ſolches nicht/ ſondern haſſet
dieſelbigen vielmehr. Ja wenn er gleich die
Lehre von Erkentniß der Warheit voͤllig be-
griffe/ wuͤrde er doch zur Ausuͤbung derſelben
incapabcl ſeyn/ weil die kurtze Zeit die er noch
zu leben hat/ nicht zulaͤßt/ daß er nach und
nach von denen Jrrthuͤmern ſich befreye/ wie
er nach und nach darzu kommen iſt. Denn ſich
der in ſo langer Zeit befeſtigten Jrrthuͤmer auff
einmahl oder in kurtzer Zeit entledigen wollen/
iſt wider die geſunde Vernunfft.


12. Demnach iſt das mittelmaͤßige Alter/
als nehmlich zum wenigſten von 12. oder 14.
biß auff das hoͤchſte etliche und dreißig Jahr
am geſchickteſten durch Begreiffung der Ver-
nunfft-Lehre auch zugleich die von Jugend auff
eingeſaugten Jrrthuͤmer zu erkennen/ und
auch hernach dieſe Erkentniß auszuuͤben. Je-
doch iſt kein Zweiffel/ daß binnen dieſem ſpa-
tio
derjenige am geſchickteſten ſey/ der an er-
ſten darzu thut.


12. So iſt demnach dein Verſtand geſchickt
genung zu dieſer Ausuͤbung/ ſo wohl auch das
Vermoͤgen des Willens/ wenn du nur nicht
ſelbſt dich muthwillig daran hindern willſt/ ſon-
dern
[11]Der Warheit nachzudencken.
dern rechte Luſt und Begierde zu dieſer Aus-
uͤbung haſt; denn ohne dieſelbe wird alle unſe-
re Arbeit vergebens ſeyn.


14. Du ſprichſt wohl: An der Begierde
mangelt mir es nicht/ denn es wird mir ſchon
die Zeit zu lang/ daß du noch nicht mit denen
mir verſprochenen Vortheilen angefangen.


15. Aber es iſt nicht gut mein lieber Freund;
dieſe Begierde iſt fluͤchtig und taugt nicht
viel/ weil ſie keinen groſſen Beſtand haben
wird Haſtu ſchon veꝛgeſſen/ daß wir zu ende der
Vernunfft-Lehre geſagt haben/ daß eine der-
gleichen ungedultige Begierde die Uberei-
lung
gebehre.


15. Wer in ſeinen Kopff auffraͤumen will/
muß attent ſeyn. Die attention aber iſt
nichts anders/ als eine gedultige und fleißige
Betrachtung eines Dinges nach allen Thei-
len und Umbſtaͤnden. So ferne dieſe Be-
trachtung nun fleißig iſt/ wird ihr die Nach-
laͤßigkeit
entgegen geſetzt/ ſo ferne ſie gedultig
iſt/ leidet ſie keine Ungedult/ und folgends kei-
ne allzuhitzige Begierde. Derowegen pruͤf-
fe dich zufoͤrderſt/ ehe wir anfangen; ob du Fleiß
und Gedult genung bey dir befindeſt auszu-
halten.


17. Du
[12]Das 1. H. von der Geſchickligkeit

17. Du erkenneſt dannenhero/ daß du dich
uͤbereilet haſt/ und verſprichſt kuͤnfftig Fleiß
und Gedult zu haben. Aber weßhalben ey-
leſt du von mir und wilſt/ daß unſer diſcurs
erſt morgen ſolle ferner continuiret werden?
Du kanſt mir keine andere antwort geben/ als
daß der Herr ‒ ‒ ‒ gleich itzo zu dir ge-
ſendet/ und dich erſuchen laſſen zu ihm zu kom-
men/ weil eine Compagnie Cavalliers und
Dames ihn uͤberfallen/ damit du denſelben mit
einem Glaß Wein/ einen angenehmen Spiel
und beluſtigenden Dantz die Zeit ſolſt verkuͤr-
tzen helffen.


18. Jch muß von Hertzen uͤber dich lachen.
Jſt daß die groſſe Begierde zur Weißheit/ die
fuͤr einen Augenblick uͤber mich ungedultig
ward/ daß die Regeln derſelben nur eine klei-
ne Viertelſtunde ſolten auffgeſchoben wer-
den/ und wilſt nun dieſelbe ohne Urſache biß
morgen auffſchieben.


19. Ja ſprichſt du: Soll ich den alle menſch-
liche Geſellſchafft quittiren? ſoll ich unhoͤfflich
ſeyn und durch eine abſchlaͤgige Antwort mir
den Patron, ſo zu mir geſendet/ ja die gantze
Compagnie zum Feinde machen?


20. Mein Freund du triegeſt dich. Es iſt
nicht
[13]der Warheit nachzudencken.
nicht die Furcht einer Unhoͤffligkeit und Feind-
ſchafft/ die dich ſo von mir wegtreibet; Es iſt
deine Begierde zur Wolluſt und Muͤßig-
gang.
Man muß ja der Weißheit halber
nicht alle menſchliche Geſellſchafft meiden:
Man kan auch dann und wann eine Erge-
tzung haben. Aber man muß das Hertze nicht
dran haͤngen. Man muß der Ergetzung hal-
ber die Weißheit nicht hindan ſetzen. Aber die-
ſe Lection iſt dir itzo zu ſchwer zu practiciren.
Derowegen gehe nur hin/ ich will morgen und
allezeit bereit ſeyn/ weiter fort zu fahren.


21. Du ſchaͤmeſt dich/ und enderſt deine re-
ſolution,
und wilſt die Compagnie fahren laſ-
ſen. Daran thuſtu nun gar loͤblich/ und er-
weiſeſt dich als einen zu dem vorhabenden
Zweck nicht untuͤchtigen Schuͤler. Aber ich
muß mich auch als ein tuͤchtiger Lehrmeiſter
erweiſen. Du thuſt mit deiner reſolution dei-
nen Begierden eine Gewalt an/ aber dein Zu-
ſtand laͤßt noch nicht zu/ daß nicht deine Be-
gierden bey dieſer Gewalt deine Seele/ ja
deinen Verſtand verunruhigen ſolten. Und
alſo was wuͤrde es uns beyden helffen/ wenn du
zwar mit deinen Leibe hier bey mir gegen-
waͤrtig
waͤreſt/ deine Gedancken aber waͤ-
ren
[14]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
ren ſtets bey derCompagnie, die du meinet-
wegen quittireſt.


22. Derowegen muß ich auch dieſelben wie-
der in Ordnug bringen/ wenn ich dir vermelde/
daß ich eben umb dich zu pruͤfen meinen Diener
befohlen/ dir von dem Herrn ‒ ‒ ein com-
pliment
zu machen/ und dich zu ihn einzuladen/
welches nichts anders als ein erdichtes Werck
iſt/ weil der Herr ‒ ‒ ‒ jetzo nicht hier in der
Stadt/ ſondern uͤber Land auff ſeine Guͤter
gefahren iſt.


23. Hiernechſt pruͤffe dich ferner/ ob du auch
Muth und Courage genung habeſt dich der
Weißheit zu widmen. Denn wie ich bey Er-
klaͤrung des Urſprungs der Jrthuͤmer erweh-
net/ du wirſt dir nothwendig viel Feinde
machen/ die dir Verdruß genung anzuthun
ſich bemuͤhen werden.


24. Und zwar pruͤffe dich hierinnen wohl/
denn es iſt nicht genung/ daß du die Gefahr
fuͤr geringe haͤlſt/ und dich mit dem gemeinen
Spruch waffneſt; Rectè faciendo neminem
timeas
;
ſondern du wirſt Feinde kriegen/
die das Vermoͤgen und die Verſchlagenheit
haben werden/ dir groſſen Dampff anzuthun/
und es kan leicht kommen/ daß deine Freyheit/
deine
[15]der Warheit nachzudencken.
deine Ehre/ ja dein Leib/ und Leben/ ſelbſt
groſſe Gefahr laͤufft. Beſinne dich deſſen/ was
ich dir ohnlaͤngſt vom Tode des Socratis und
Petri Rami erzehlet.


25. Du zuͤckeſt die Achſeln/ und mich duͤn-
cket dein Muth duͤrffte dir beynahe wo nicht
gar entfallen/ doch ziemlich ſtutzig werden.
Dannenhero ermundere dich wieder/ und
laß dich dieſe Betrachtung an deinen guten
Vorhaben nicht hindern. Du wirſt eben der-
gleichen/ ja noch groͤſſeren Gefahren un-
terworffen ſeyn/ wenn du von dem Pfad der
Weißheit abtrittſt.


26. Ja du wirſt in der Lehre der Weißheit
lernen der Gefahr zu begegnen/ ihr Wi-
derſtand zu thun/ oder doch im Leiden ſelbſt zu
triumphiren/ da hingegen/ wo du die Weiß-
heit verlaͤſt/ du gleichſam blindling in die Ge-
fahr dich ſtuͤrtzen/ und dich zu allen tuͤchtigen
Widerſtand untuͤchtig machen wirſt.


27. Jch wolte wohl noch mehr ſagen. Die
Weißheit wird dir zeigen/ daß ein ſterbender
Socrates viel freudiger und muthiger ſey/
als ein Tyranne der ihn umbringen laͤſt; wenn
nicht itzo/ da du noch im Anfange biſt/ die Leh-
renoch ein wenig zu hoch fuͤr dich waͤre. Dero-
wegen
[16]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
wegen gedulte dich biß wir die Sitten-Lehre
durchgegangen ſind.


28. Nun wollen wir das Werck ſelbſt an-
greiffen. Miſte fuͤr allen Dingen deinen
Verſtand aus/ das iſt/ lege die Verhinderun-
gen weg/ und beſtreite die
præjudicia als
den Urſprung aller Jrrthuͤmer.


29. Fange erſt an ſie beyde zugleich zu
attaquiren. und weil du bißher zum oͤff-
tern erfahren/ daß du theils von andern Leu-
ten/ theils durch deine eigene præcipitanz biſt
betrogen worden/ ſo traue kuͤnfftig nicht mehr
ſo leichte/ ſondern fange an und Zweiffele.


30. Aber hier laß uns ein wenig ſtehen blei-
ben/ und dieſes Wort genau betrachten/ daß wir
nicht damit zu weit gehen/ und die Scrupel
welche die Vertheydiger der Jrrthuͤmer wi-
der dieſen Handgriff einſtreuen/ heben koͤn-
nen.


31. Zweiffeln heiſt entweder in ſeinem
Verſtande wancken oder fragen/ ob etwas
in der Welt
wahr oder falſch/ oder ob nicht
vielmehr alles nur zweiffelhafft/ oder auffs
hoͤchſte nur wahrſcheinlich oder unwahrſchein-
lich ſey: oder aber es heiſt: fragen/ welches
denn/
und ob dieſes oder jenes wahr oder
falſch/
[17]der Warheit nachzudencken.
falſch/ wahrſcheinlich oder unwahrſcheinlich
ſey. Zu deſto beſſerer Entſcheidung wollen
wir jenes ein dubium Scepticum, dieſes a-
ber ein dogmaticum nennen/ weil die Scepti-
ci
ſich einer Art zu zweiffeln bedienet/ und alle
die andern Philoſophi, die denen Scepticis wi-
derſprochen mit einen gemeinen Nahmen pfle-
gen Dogmatici genennet zu werden.


32. Wenn ich dich habe heiſſen zweiffeln/ ſo
wird dir die Vernunfft-Lehre ſchon zu verſte-
hen gegeben haben/ daß ich dadurch nur einen
dogmatiſchen/ mit nichten aber einen Scepti-
ſchen Zweiffel verſtanden habe/


33 Denn ich habe bald anfangs dieſes/ daß
etwas wahr ſey/
als ein eintziges poſtula-
tum præſupponiret
,
und erinnert/ daß ohne
daſſelbe man in Erforſchung der Weißheit
ohnmoͤglich fortkommen koͤnne.


34. Und wenn wir den Zuſtand des menſch-
lichen Geſchlechts nach Anleitung deſſen/ was
wir in den letzten Capitel der Vernunfft-Leh-
re davon geſchrieben/ wieder uͤberlegen/ ſo fin-
den wir/ daß der Menſch niemahlen eine ver-
nuͤnfftige Urſache
vorwenden koͤnne/ war-
um er zweiffeln ſolle/ ob etwas wahres in
der Welt ſey/
ſondern ſeine Seele verſichert
Bihn
[18]Das 1. H. Von der Geſchickligkeit
ihn allezeit von Jugend auff etlicher un-
ſtreitiger Warheiten/
daß wenn er dieſel-
ben leugnen wolte/ er ſich ſo dann nothwen-
dig alles Gebrauchs ſeiner Vernunfft unfaͤhig
machen wuͤrde.


35. Wir haben oben geſagt/ daß bey den
kleinen Kindern in denen erſten Jahren/
ob ſie gleich darinnen an capabelſten ſeyn/
daß man ſie unzehlige Jrrthuͤmer bereden
koͤnne; dennoch z. e. alle Muͤhe vergebens
ſeyn wuͤrde/ wenn man ſie bereden wolte:
das gantze ſey kleiner als das halbe/ das
ſchwartze ſey weiß; eine Katze ſey eine Maus
u.ſ.w.


36. Bey fortgehenden Alter/ da die Kin-
der bißweilen etliche Jrrthuͤmer/ derer man
ſie oder ſie ſich ſelbſt beredet/ entdecken/ erken-
nen ſie zugleich bey der Entdeckung/ daß
etwas gewiß wahr ſeyn muͤſſe. Denn wie
wolten ſie ſonſt ſagen koͤnnen/ daß ſie geirret
haͤtten/ wenn ſie geglaͤubet/ z. e. der heilige
Chriſt komme von Himmel; der Thurm ſey
rund/ der Steckel in Waſſer ſey krum/ wenn
ſie nicht verſichert waͤren/ daß es unſtreitig
wahr ſey/
daß die Menſchen den H. Chriſt a-
girt
en/ daß der Thurm viereckicht ſey/ daß der
Stecken gerade ſey/ u.ſ.w.


37. Ja
[19]der Warheit nachzudencken.

37. Ja endlich wenn der Menſch zu dem
Alter koͤmmt/ daß ſeine Vernunfft reiff iſt/
in ſeinem Kopffe auffzuraͤumen/ was ſolte ihn
wohl bewegen zu zweiffeln ob etwas wahr ſey?
Du wirſt vielleicht ſagen ſeine Jrrthuͤmer.
Denn weil er ſich ſo offte betrogen hat/
ſo kan er ſich auch wohl allezeit betrie-
gen. Und deßhalben muß er eine kleine
Zeit an allen zweiffen/ biß er eine unſtrei-
tige Warheit findet.


38. Aber bedencke doch/ was fuͤr einen
ſchlechten Schluß du machſt: Was mich ein-
mahl
(oder auch offte) betrieget/ kan mich
allzeit betriegen?
Jch wil dir nicht vorwerffẽ/
daß in allen Logicen dir von Jugend auff ein-
geplauet worden/ ja daß dir dein eigener Ver-
ſtand ietzt dieſen Augenblick auch wider deinen
Willen zuruffe/ daß von etlichen Exempeln
man keine allgemeine Regel machen koͤñe/ ſon-
dern ich will dir nur zu Gemuͤthe fuͤhren/ daß
ich auf eben dieſe Weiſe wider dich einen ſolchen
Schluß machẽ kan: Was mich einmal (oder
auch offte) der Warheit verſichert/ das kan
mich allzeit der Warheit verſichern/ und
folglich nimmer betriegen.
Antworte mir
was du wilſt auff dieſen Satz/ ſo wirſtu zugleich
den deinigen mit umſtoſſen.


B 239.
[20]Das 1. H. von der Geſchickligkeit.

39. Geſetzt aber ich raͤumete dir denſelben
ein/ wirſtu auch Urſache haben deswegen zu
ſchlieſſen/ daß du deßwegen an allen zweif-
fejn muͤſſeſt.
Es iſt ein groſſer Unterſcheid
unter betriegen koͤnnen/ und betriegen wer-
den.
Und dieſer Satz iſt ſehr unvernuͤnfftig:
Jch kan mich allezeit betriegen/Ergòwer-
de ich mich auch allezeit betriegen.
Frage
nur die regeln der allgemeinen Metaphyſic,
ſo fern dieſelbe noch gut und unbetrieglich iſt.


40. Nim ein klar Exempel: du kanſt
mit drey Wuͤrffeln einmahl und auff eine
einige manieralle Eß/ und auff vielerley ma-
nier
zehen oder eilff Augen werffen. Wuͤr-
deſt du aber nicht unklug raiſoniren, wenn du
daraus ſchlieſſen wolteſt/ daß du allemahl alle
Eß oder zehen Augen werffen koͤnteſt/ und
noch vielmehr/ daß du allemahl alle Eß oder
zehen Augen werdeſt werffen.


41. Ja ſo ungeraͤumt es waͤre/ wenn du
deßwegen gegen einen andern eine hohe Sum-
me
Geld ſetzen wolteſt/ daß du allemahl nach
einander alle Eß oder zehen Augen werffen
wolteſt/ wtil du ſie einmahl oder offte geworf-
fen; ſo ungereimt iſt es auch/ an allen deinen
gehabten Einbildungen oder Gedancken
zweif-
[21]der Warheit nachzudencken.
zweiffeln wollen/ weil du einmahl oder offt
von ihnen betrogen worden.


42. Derowegen wirſtu mir verzeihen/ daß
ich nicht alleine deinen Schluß nicht zugebe/
ſondern auff dieſe weiſe denſelben gantz umb-
kehre. Weil du gewiß weiſt/ daß dich dei-
ne Gedancken betrogen/ ſo kanſtu nicht
von allen Dingen zweiffeln/
ſondern nur
von etlichen.


43. Die unſtreitige Warheit iſt die Probe
des Betrugs und Jrrthumbs/ und du kanſt
keinen Jrrthumb erkennen/ wenn du nicht zu-
giebeſt/ daß das Gegentheil wahr ſey.


44. Und gedencke nur/ wenn du an allen
deinen bißher gehabten Gedancken zweiffeln
wolteſt/ ſo muͤſteſt du auch an denen zweiffeln:
Ob du dich bißher betrogen haͤtteſt. Auff
dieſe Weiſe aber riſſeſtu den Grund nieder/
der dich bewogen haͤtte an allen Dingen zu
zweiffeln.


45. Bedencke ferner die wahre Urſache/
weshalber ich zuvorher geſagt/ warumb du
zweiffeln ſolteſt; nehmlich daß du die præjudi-
cia attaquir
en koͤnteſt. Die præjudicia ſind
aber falſche Meinungen/ die dich von Erkent-
niß der Warheit abfuͤhren. Und alſo kanſtu
B 3nicht
[22]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
nicht einmahl zweiffeln/ wenn du nicht ein-
raumeſt/ daß etwas wahr ſey. Denn du
weiſt nicht einmahl was ein præjudicium iſt/
wenn du glaͤubeſt/ du koͤnneſt an allen Dingen
zweiffeln.


46. Aber du wilſt mich noch nicht ſo guten
Kauffs loß laſſen: ſondern du wendeſt noch fer-
ner gegen mich ein: Wenn ich nicht an allen
Dingen zweiffeln
ſoll/ ſo darff ich gar nicht
zweiffeln.
Denn ich ſoll deßhalben zweif-
feln/ daß ich die Warheit erkenne. Wann
ich dannenhero ſchon weiß/ daß etwas wahr
iſt/ ſo erkenne ich ja ſchon die Warheit/ ja
ich muß auch wiſſen welches das wahre ſey:
Denn ſonſt wuͤſte ich nicht/ daß etwas wahr
waͤre.


47. Du ſchlieſſeſt abermahl ſehr unfoͤrmlich/
du weiſt freylich/ daß etwas wahr ſey/ und
alſo weiſt du auch etwas das wahr iſt; aber
du weiſt deshalben nicht alles was in deinen
Gedancken wahr iſt/ und dieſes iſt die Urſach
warum du zweiffeln ſolſt.


48. Denn daß wir uns nunmehr auch zu
den Dogmatiſchen Zweiffel wenden: ob wir
gleich oben erwehnet haben/ daß wir vermoͤge
deſſelbigen zweiffeln/ ob dieſes oder jenes
wahr
[23]der Warheit nachzudencken.
wahr ſey/ ſo folget doch deshalben nicht/ daß
wir zweiffeln ſollen/ ob nichts wahr ſey; ſon-
dern indem ich dieſes oder jenes ſage/ zeige ich
alsbald an/ daß etwas aus genommen werden
muͤſſe/ an dem ich nicht zweiffeln doͤrffe.


49. Dieſes nun deſto deutlicher zu erken-
nen und zu begreiffen/ was das vor Dinge
ſeyn/
an denen ein Menſch/ der in ſeinen Kopff
auffraͤumen will/ mit fug zweiffeln koͤnne/
ſo muͤſſen wir aus der Vernunfft-Lehre wie-
derholen/ daß die Warheiten entweder die er-
ſten Grund-Warheiten/
oder daraus her-
geleitete Saͤtze und propoſitiones oder conclu-
ſiones
ſind.


50. Dieſe Saͤtze oder concluſiones nun ſind
entweder dergeſtalt beſchaffen/ daß deren un-
ſtreitige Warheit
alsbald und ohne einige
raiſonirung der Menſch verſichert wird/ weil
ſie mit denen Grund-Warheiten ohnmittel-
bar verknuͤpfft ſind: oder der Menſch braucht
hierzu eine Bedenck-Zeit/ weil ſie mit denen
Grund-Warheiten durch andere verknuͤpfft
werden/ und alſo der Menſch dieſe Ver-
knuͤpffung durch einige raiſonirung ſuchen
muß.


51. An denen Saͤtzen die er alſobald be-
B 4greifft
[24]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
greifft/ darff er nicht zweiffeln/ ja die innerli-
che beywohnende Verſicherung laͤſt ihn nicht
einmahl einen Zweiffel zu/ wenn er ſchon ſol-
ches gerne thun wolte. Denn es waͤre auch
vergebens durch einen Zweiffel ſuchen dasje-
nige zu begreiffen was man ſchon begreifft:
Z. e. daß dieſer Thurm viereckt/ dieſer Stock
gerade ſey/ daß zweymahl 3. ſechſe ſeyn/ daß
das gantze groͤſſer ſey als ein Theil u. ſ. w.


52. Dannenhero ſieheſtu verhoffentlich gantz
deutlich/ daß du mit deinen Zweiffel zu weit
gehen wuͤrdeſt/ wenn du zweiffeln wolteſt/ ob
du wacheteſt? Ob du Haͤnde oder Fuͤſſe
habeſt?
Ob die gemeineſten und leichteſten
mathematiſchenRegelnwahr ſeyn? Deñ
dieſe exempel ſind eben ſo gewiß/ nnd alſobald
zu begreiffen als jene.


53. Ja wenn du auch an dergleichen un-
ſtreitigen Warheiten zweiffeln wolteſt/ wuͤr-
deſtu nimmermehr zu Erkentniß der Grund-
Warheiten gelangen/ weil durch eben dieſel-
bigen der Menſch die Grund-Warheiten
findet.


54. Alle der gleichen propoſitiones nun muſt
du vondeinen Zweiffel ausnehmen/ und es iſt
nicht noͤthig/ daß man dir dieſelben ſpecificire,
weil
[25]der Warheit nachzudencken/
weil du ſie alſobald verſtehen wirſt/ wenn dir
eine vorkomt. Sie koͤnnen auch nicht ſpeci-
ficirt
werden/ weil ſie unzehlig ſind.


55. Derowegen bleiben die Grund-War-
heiten
und die concluſiones remotiores
noch uͤbrig. Beyde ſind es nun die du in dei-
nen Kopffe vermittelſt des dogmatiſchen
Zweiffels auffſuchen muſt.


56. Und zwar die Grund-Warheiten zu
erſt.
Denn wenn du dieſe nicht haſt/ kanſtu
die concluſiones remotiores nicht finden. Deñ
wie wir in der Vernunfft-Lehre erwehnet/ ſo
begreiffen die Grund-Warheiten alle andere
in ſich/ und die remotiores concluſiones wer-
den alsdenn erſt wahr zu ſein erkennet/ wenn
ſie mit den Grund-Warheiten verknuͤpfft
ſind.


57. Und dieſes mercke wohl. Denn ob-
ſchon die Sache an ſich ſelbſten klar und un-
ſtreitig iſt/ ſo wird ſie doch durchgehendsne-
gligiret,
und du kanſt dich wohl verſichern/
daß unter 1000. Gelehrten nicht 10. ſeyn die
ſich umb die prima Principia cognoſcendi be-
kuͤmmern/ ob ſie gleich alle 1000. ſich es blut-
ſauer werden laſſen die Zeit ihres Lebens neue
concluſiones remotiores zu erforſchen.


B 558. Ja
[26]Das 1. H. von der Geſchickligkeit

58. Ja wie viel ſind Univerſitaͤten/ in wel-
chen in 100. Jahren die Intelligentia nicht
profitiret worden/ ob gleich kein Jahr/ ja kein
Monat vergangen/ in dem man nicht der Ju-
gend vorgeſagt/ daß die Intelligentia ein ha-
bitus
(und zwar kein connatus ſondern acqui-
ſitus
) ſey primorum principiorum. Was
kanſtu aber bey dieſer Bewandniß von allen
denen Wiſſenſchafften halten/ die alſo von de-
nen Lehrern aus Mangel des Grundes in die
Lufft gebaut werden. Ja was kanſtu von
der gemeinen Logic halten/ die ſolcher geſtalt
ohne Grund iſt/ und doch die andern Wiſ-
ſenſchafften alle tragen will.


69. Und alſo haſtu darinen nunmehr fuͤr
andern billig einen Vortheil/ Weil ich dir in
der Vernunfft-Lehre allbereit dieſe Grund-
Warheiten dargethan
und erwieſen. Denn
weil du durch dieſe Erweiſung dieſelbe allbereit
begriffen/ wuͤrde es vergebens ſeyn/ an dem
was du allbereit begriffen von neuen zu zweif-
feln.


60. Jedoch weil an dem Grunde das mei-
ſte gelegen iſt/ kan es nicht ſchaden/ daß du das/
was du oben hiervon gelernet haſt/ fleißig re-
petir
eſt/ nicht zu dem Ende/ daß du eine biß-
her
[27]der Warheit nachzudencken.
her unbekandte Warheit erkennen lerneſt/ ſon-
dern daß du in der allbereit erkandten gewiſ-
ſer werdeſt.


61. Und alſo kanſtu auch hieraus noch ei-
nen andern Unterſcheid zwiſchen den Zweiffel/
durch den du die Grund-Warheiten/ und
zwiſchen den/ dadurch du die entferneten
concluſiones ſuchſt/ mercken. Zu jenen
brauchſtu nnr einmahl eine rechtſchaffene at-
tention,
und zwar nicht eben eine lange
Zeit..
Zu dieſen aber brauchſtu allemahl
bey einer ieden eine neue Auffmerckung und
Unterſuchung/ oder Zweiffel/ und zwar weil
immer eine concluſion von der Grund-war-
heit entferneter iſt/ als die andere/ ſo brauchſtu
auch mehr Zeit an einer zu zweiffeln als an
der andern.


62. Dergleichen concluſionum remo-
tiorum
ſind gleichfalls unzehlig und noch
vielmehr/ als der Saͤtze die alsbald begriffen
werden koͤnnen. z. e. Daß drey Winckel eines
Dreyangels ſo viel austragen als zwey gleiche
Winckel; Daß die Farben nicht weſentliche
Theile der ſubſtanz ſeyn/ u. ſ. w. Die noͤthig-
ſten ſind z. e.Daß ein GOtt ſey. Daß er
das Weſen aller Creaturen erhalte und

ver-
[28]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
verſorge: Daß der Menſch durch die Er-
haltung einer gleichmaͤßigen Bewegung
ſich am laͤngſten
conſervire/und daß alle
Bewegung/ die mit der vorigen
keine pro-
portion
hat/ ihn ſchaͤdlich ſey: Daß der
Menſch ohne Menſchliche Geſellſchaffte-
lende ſey: Daß alle Menſchen einander
gleich ſeyn/ u. ſ. w.


63. Derowegen wenn ich oben geſagt/ daß
du zweiffeln ſolteſt/ habe ich nichts ander ver-
ſtehen wollen/ als daß du fuͤr allen Dingen
ſolteſt anfangen (daferne du nicht ſolches ſchon
gethan haͤtteſt) Die Grund-Warbeiten und
principia ratiocinandiin deinen Kopff
auffzuſuchen/ und hernach alles was dir
von denen bißher gehabten Einbildungen

(von natuͤrlichen Dingen) vorkoͤmt/ aus-
mertzen/ wenn du ſieheſt/ daß es denen
Grund-Warheiten zuwider iſt/ oder in
Zweiffel laſſen/ ſo lange du nicht ſieheſt/
wie es mit denen Grund-Warheiten
ac-
curat
verknuͤpfft werden koͤnne/ oder als
unbekand ausſetzen/ wenn du ſieheſt/ daß
es denen Grund-Warheiten
nicht zuwi-
der ſey/ aber auch zugleich begreiffeſt/ daß
es mit ihnen nicht verknuͤpfft werdẽ koͤñe.


64. Auff
[29]der Warheit nachzudencken

64. Auff dieſe Weiſe wirſtu taͤglich neue
Jrrthuͤmer entdecken/
die du bißher aus
Leichtglaͤubigkeit oder Ubereilung dich beredet
hatteſt und wirſt anfangen deſtomehr deine vo-
rige Blindheit zu erkennen und zu begreiffen/
daß die Gelehrheit darinnen beſtehe/ wenig
Warheiten und ſehr viel Jrrthuͤmer zu ver-
ſtehen.


65. Und zwar bekuͤmmere dich anfangs
nicht ſehr/ wenn du die Grund-Warheiten
gefunden/ bey welcherconcluſione remo-
ta
dn anfangen ſolleſt auffzuraͤumen/ ſon-
dern nim nur die erſte die liebſte/ und derer du
nachzudencken die meiſte Luſt haſt. Denn
wenn du bald anfangs gar zu ſorgſam we-
gen der Ordnung die hier zu halten waͤre/ ſeyn
wolteſt/ wuͤrdeſt du nur verdruͤßlich und nach-
laͤßig in deinen guten Vorhaben werden. Zu
dem ſo braucht man auch in Auffputzung ei-
nes Zim̃ers uicht eben eine gewiſſe Ordnung/
ſondern du magſt zur Rechten oder Lincken/
hinten oder fornen anfangen/ wie es dir am
beſten duͤncket/ wen nur die Sachen die daſ-
ſelbige verunzieren ausgeſchaffet werden.


66. Ehe wir noch weiter gehen/ ſo vergiß
nicht/ daß zweiffeln nicht mehr heiſſe als
wan-
[30]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
wancken/ oder fragen; maſſen wir denn in der
Vernunfft-Lehre die zweiffelhafften Gedan-
cken nicht anders beſchrieben haben. Und
weil derjenige der nach was fraget/ ordentlich
auch etwas ſuchet; (Wannenhero auch bey
denen Lateinern quærere zugleich fragen und
ſuchen heiſt/) ſo kanſtu gar leichte begreiffen/
daß allhier in gegenwaͤrtiger materiezweif-
feln/ wancken/ fragen
und ſuchen eines ſey.
Und daß wenn ich geſagt/ daß du ſolt anfan-
gen zu zweiffeln/ ich nichts anders andeuten
wollen/ als daß du in deinen Kopff ſolſt an
fangen nach dem wahren und falſchen zu
fragen/ oder daſſelbige auffzuſuchen.


67. Bey dieſer Bewandniß nun laß dich
andere nicht verfuͤhren/ die dir etwa beybrin-
gen wollen/ daß alles dasjenige/ an dem du an-
fangs zweiffelſt/ von dir zugleich ad interim
fuͤr falſch gehalten/ und aus deinen Gedan-
cken ausgemertzet werden muͤſſe/ biß du das
principium cognoſcendi gefunden. Denn du
wirſt dich ſonſt in viele Verwirrungen ohne
Noth verwickeln.


68. Denn 1. iſt ohne Zweiffel/ daß wenn
man etwas fuͤr falſch haͤlt/ man ſolches nicht
thun koͤnne/ man halte denn die propoſitionem
con-
[31]der Warheit nachzudencken.
contradictortamſuͤr wahr. Wenn man a-
ber dieſes thut/ kan man nicht ſagen/ daß man
die Warheit noch ſuche/ ſondern man muß ſie
ſchon gefunden haben. Und alſo ſagt derjeni-
ge der zu mir ſpricht: Jch ſoll zweiffeln/ und
zugleich dasjenige woran ich zweiffele fuͤr falſch
halten/ in der That zu mir: Jch ſoll zugleich
zweiffeln und nicht zweiffeln/ zugleich die War-
heit ſuchen und nicht ſuchen/ oder die Warheit
ſuchen/ die ich mich doch ſchon verſichert/ daß
ich ſie gefunden.


69. 2. Gehet ein ſolcher Philoſophus/ der
doch vielleicht ſich hauptſaͤchlich vorgenommen
die Scepticos zu beſtreiten/ viel weiter als die
Sceptici ſelbſt iemahls gegangen. Denn die-
ſe indem ſie an allen zweiffelten/ hielten alles
fuͤr wahrſcheinlich oder unwahrſcheinlich/ nie-
mahln aber fuͤr unſtreitig falſch; denn ſonſt haͤt-
ten ſie nothwendig das Gegentheil fuͤr unſtrei-
tig wahr halten muͤſſen/ welches ihrem Haupt-
principio zuwider geweſen waͤre.


70. 3. Jſt ſehr wahrſcheinlich/ daß diejeni-
nigen die ſich dieſer methode gebrauchen/
gantz augenſcheinlich zwey unterſchiedene Din-
ge mit einander vermiſchen/ nehmlich/ etwas
nicht fuͤr wahr halten/ und etwas fuͤr falſch
hal-
[32]Das 1. H. von der Geſchickligkeit.
halten/ unter denen doch ja ſo ein mercklicher
Unteſcheid iſt/ als z. e. zwiſchen nicht ſehen und
blind ſeyn. Wer an etwas zweiffelt/ haͤlt
daſſelbige freylich ſo lange als er daran zweiffelt
nicht fuͤr wahr/ weil er ſolches weder fuͤr wahr
noch falſch haͤlt; aber eben dieſe raiſon verſi-
chert mich auch zugleich/ daß er es nicht fuͤr
falſch halten koͤnne.


71. 4. Sonſt iſt auch eine ziemliche Unfoͤrm-
ligkeit darinnen/ wenn man ſagt/ man ſolte
alles daran man zweiffelt/ und alſo nach der-
ſelben Meinung fuͤr falſch haͤlt/ aus ſeinem
Kopff ausſchuͤtten. Denn auff dieſe Art wuͤr-
de folgen/ weil eben dieſe Leute ſagen/ daß man
an allen Gedancken zweiffeln muͤſſe/ daß man
ale Gedancken ausſchmeiſſen/ und folglich ſich
einbilden muͤſſe/ der Kopff ſey mit Gritze
angefuͤllet/
oder habe doch zum wenigſten kein
Gehirne mehr.


72. Wolte man auch ſchon vorwenden/ daß
dieſes alles nicht aus Ernſt und mit dem
Vorſatz geſchehe/ daß man alles wahre zu-
gleich mit verſtoſſen/ und ſich auff ewig deſſen
berauben wolle/ ſondern daß es nur zu dem
Ende ad interim geſchehe/ damit man von
dem falſchen nicht etwan was ohnverſehens zu-
ruͤck
[33]Der Warheit nachzudencken.
ruͤcke laſſe/ und damit man hernach das wah-
re fein ſauber eines nach dem andern wiederho-
len koͤnne/ wie man etwa aus einem Koͤrblein
voller Perlen und Heckerling die Perlen nebſt
den Heckerling auszuſchuͤtten pfleget/ und
hernach die Perlen aus denen Spreuern eine
nach der andern auslieſet; ſo ſcheinet doch auch
dieſe methode nicht allzuwohl ausgeſonnen.


73. Denn wer wolte ſagen/ daß es wohl ge-
than ſey/ wenn eine Muter das Kind mit dem
Bade ins Waſſer ſchmeiſſen wolte/ zu dem
Ende/ damit ſie hernach das Kind alleine wie-
der heraus langete; oder wenn man Perlen
oder Edelgeſteine nebſt dem Unflat auff die
Gaſſe werffen wolte/ und hernach dieſelben
erſt eine nach der andern colligiren.


74. Zudem ſo ſchickt ſich das gebrauchte
Gleichniß von der Ausſchuͤttung der Per-
len hieher ſehr wenig/ weil in demſelbigen
derjenige/ der die Perlen von dem Heckerling
abſondern ſoll/ fuͤr ſich beſtaͤndig bleibt/ und
nicht mit weggeſchmiſſen wird. Alleine wenn
du alle Gedancken wegſchmeiſſen wilſt/ mit
was wilſtu denn hernach die zugleich mit weg-
geworffenen Warheiten wieder zuruͤck neh-
men.


C75. Und
[34]Das 1. H. von der Geſchickligkeit

75. Und dieſes iſt auch eben die 5. inconve-
nienz,
die man bey der bißher unterſuchten
methode mit anzumercken hat: Man ſoll an
allen zweiffeln/ man ſoll alles fuͤr falſch hal-
ten und wegſchmeiſſen/ biß man ein gewiß
principium raciocinandi gefunden bat. Denn
wie ſoll man dasprincipium raciocinan-
di
finden/ das man nebſt denen andern Din-
gen fuͤr falſch gehalten und mit weggeſchmiſ-
ſen hat.


76. Nachdem ich bißher die gegebene regul,
daß man bey Unterſuchung der Warheit an-
fangen zu zweiffeln muͤſſe/ zimlich anders als
ſonſten zu geſchehen pfleget/ erklaͤret/ hoffen
wir wohl/ daß die meiſten argumentader je-
nigen/
die zu Vetheidigung derer præjudicio-
rum
dieſen noͤthigen Zweiffel zu beſtreiten
ſich hoͤchlich angelegen ſeyn laſſen/ uns in ge-
ringſten nicht treffen werden/ weil ſie fuͤrnehm-
lich dahin zielen/ daß ſie erweiſen wollen/ man
ſolle nicht an allen Dingen zweiffeln/ und
man ſolle die Dinge an denen man zweiffelt/
nicht fuͤr falſch halten.


77. Gleichwohl ſcheinet die ſchwereſte Obje-
ction,
die man darwider einſtreuet/ uns ja ſo
wohl als die andern zu treffen. Wir haben
oben
[38[35]]der Warheit nachzudencken.
oben geſagt/ daß unter denen noͤthigſten Saͤ-
tzen/ von denen man zu zweiffelln muͤſſe anfan-
gen/ auch die ſeyn; daß ein GOtt ſey/ und
daß er das Weſen aller Creaturen er-
halte und ſie verſorge.
Wie nun? pflegt
man hierwider einzuwenden: So ſoll man dem-
nach auch an GOtt zweiffeln? da doch ein
Menſche von Jugend auff dieſe unſtreitige
Warheit verſichert iſt/ daß ein GOtt ſey/ und
daß er alle Creaturen erhalte und ſie verſorge;
und da dieſe Warheit auch denen Heyden ja
ſo wohl in das Hertze geſchrieben iſt/ daß ein
GOtt ſey/ als daß zweymal drey ſechſe ſind.
Auff dieſe Weiſe heiſt man ja ausdruͤcklich/ daß
ein vernuͤnfftiger Menſch zum wenigſten auff
eine zeitlang einAtheiſteſeyn muͤſſe. Jſt
dieſes aber nicht eine ſchoͤne Philoſophie die von
der Atheiſterey anfaͤnget!


78. Aber laß dich dieſes alles nicht irren.
Es wird ja wohl der Haupt-Satz von Gottes
exiſtenz und von der goͤttlichen Vorſorge al-
len Kindern
von was fuͤr Religion auch die-
ſelbigen ſeyn moͤgen/ von Jugend auff impri-
miret;
aber deßwegen folget noch lange nicht/
daß die Kinder dieſes eine unſtreitige War-
heit zu ſeyn verſichert
waͤren/ weil der mei-
C 2ſten
[36]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
ſten Menſchen ihre Wiſſenſchafft davon mehr
in der autoritaͤt ihrer Eltern oder anderer
Menſchen/ die ihnen ſolches beygebracht/ als
in denen darzu gehoͤrigen Grund-Warheiten
gegruͤndet iſt. Alles dasjenige aber/ was ſich
hauptſaͤchlich auff menſchliche autoritaͤt gruͤn-
det/ kan ſo lange als es keinen andern Grund
hat/ fuͤr keine unſtreitige Warheit ausgegeben
werden.


79. Und ob ſchon kein vernuͤnfftiger Menſch
laugnen wird/ daß der hoͤchſt noͤthige Lehr-Satz
von GOttes exiſtenz und von der goͤttlichen
Vorſorge allen Heyden in das Hertze ge-
ſchrieben
ſey; ſo folget doch noch lange nicht/
daß derſelbe eben ſo leichte und unmittelbar er-
kennt werde/ als daß zweymal drey ſechſe ſey/
oder daß dieſer Stock gerade und nicht krum
ſey. Denn alles dasjenige heiſt denen Men-
ſchen in das Hertze geſchrieben ſeyn/ zu deſſen
unſtreitigen Erkaͤntniß derſelbige aus natuͤr-
lichen Kraͤfften und Vermoͤgen ohne Beytrag
einer goͤttlichen Offenbahrung gelangen kan/
ob er ſchon hierzu oͤffters einer langwierigen
raiſonirung vonnoͤthen hat. Alſo iſt denen
Heyden auch nie in das Hertze geſchrieben/ daß
drey Winckel eines Triangels ſo viel austra-
gen
[37]der Warheit nachzudencken.
gen als zwey gleiche Winckel/ daß man ſein
Verſprechen halten muͤſſe/ daß derjenige/ der
den andern Schaden zufuͤget/ denſelben durch
gehoͤrige Satisfaction wieder zu erſtatten
ſchuldig ſey/ und nichts deſtoweniger hat der
Menſch eines ziemlich dauerhafften Zweiffels
und raiſonirung vonnoͤthen/ ehe er bey ſich die
Erkentniß erwecket/ daß dieſe Saͤtze unter die
unſtreitigen Warheiten gehoͤren.


80. Was endlich den Vorwurff derA-
theiſterey
betrifft/ will ich itzo nicht urgiren/
das zwar zu wuͤndſchen waͤre/ daß kein Menſch
iemahlen auch nur auff einen Augenblick A-
theiſti
ſche Gedancken hegete/ aber doch gleich-
wohl unſere armſelige Natur leider mit die-
ſen Unfall behafftet ſey/ daß nicht zu ver-
wundern/ wenn rohe Weltkinder dieſelbigen
zum oͤfftern fuͤhlen/ weil auch die aller froͤm̃-
ſten Leute oͤffentlich daruͤber geklaget/ daß ſie
zuweilen mit dergleichen Atheiſtiſchen Ge-
dancken
geplaget und verſuchet werden. Son-
dern ich will nur dieſes erinnern/ daß unſere
Philoſophie mit nichten erfordere/ daß ein
Menſch auch nur einen Augenblick einA-
theiſte
ſeyn ſolle.


81. Es iſt nicht zu laͤugnen/ daß ſehr viel un-
C 3ter
[38]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
ter denen alten und heutigen Gelehrten nicht
nur wider die Atheiſterey geſchrieben/ ſondern
auch immer einer den andern/ wider den er ei-
ne Feindſchafft traͤget als einen Atheiſten tra-
duciret
und verlaͤumbdet/ da doch unter hun-
derten oͤffters kaum ein eimger iſt/ der von der
Atheiſterey und was ein Atheiſte ſey/ ſich ei-
nen rechtſchaffenen und deutlichen concept ma-
che/ ſondern gemeiniglich ein unvernuͤnfftiger
Haß/ oder zanckſuͤchtige Rachgier zum Grun-
de dieſer harten Beſchuldigung geleget wer-
den. Wie aber unſers Vorhabens ietzo nicht
iſt/ dieſe materie ausfuͤhrlich und der Wuͤrde
nach zu eroͤrtern/ ſondern wir ſolches biß zu
einer andern Gelegenheit ausgeſetzt ſeyn laſ-
ſen wollen; Alſo koͤnnen wir gar leichtlich aus
demjenigen/ was dißfalls alle diejenigen/ ſo von
der Atbeiſterey geſchrieben/ einzuraumen
pflegen/
augenſcheinlich darthun/ daß dieſe
Beſchuldigung unſere methode und Lehr-Art
in geringſten nicht treffe.


82. Ein Atheiſte wird insgemein derjenige
genennet/ der laͤugnet/ daß man GOtt eini-
ge Ehre erweiſen muͤße/ weil er laͤugnet/
daß ein GOtt ſey/ oder daß eine goͤttliche
Vorſehung
ſey. Wenn wir aber oben be-
foh-
[39]der Warheit nachzudencken/
fohlen/ daß man unter andern Dingen auch
an GOtt und goͤttlicher Vorſehung zweiffeln
ſolle/ und daneben erinnert/ daß zweiffeln nichts
anders als fragen oder ſuchen heiſſe; ſo iſt ja
offenbahr/ daß wir dieſen Zweiffel nicht deß-
halben angeſtellt wiſſen wollen/ daß man Gott
und die goͤttliche Vorſehung verlaͤugnen ſol-
le/ welches allerdings auff eine Atheiſterey/ o-
der doch zum wenigſten auf einen der erſchreck-
ligſten Jrrthuͤmer hinaus lauffen wuͤrde; ſon-
dern wir begehren nur/ daß ein Menſch durch
dieſen noͤthigen Zweiffel nach GOtt fragen/
und ihn nebſt der Goͤttlichen Vorſehung
rechtſchaffen ſuchen ſolle/
das iſt/ daß er um
einen unumſtoßlichen Grund GOtt und ſei-
ne Vorſehung zu begreiffen ſolle bekuͤmmert
ſeyn.


83. Bey dieſer Bewandniß aber iſt ſo weit ge-
fehlet/ daß wir dadurch unſere Lehrlinge zu ei-
niger auch der ſubtileſten Atheiſterey diſpo-
nir
en ſolten/ daß wir vielmehr dieſelben eben
dadurch von allerAtheiſterey am weite-
ſten entfernen/
und ihnen den Weg zeigen/
nicht alleine ſich ſelbſt wider alle Atheiſtiſche
Gedancken zu waffnen/ ſondern auch der
Atheiſten ihre Thorheiten zu widerlegen; in
C 4dem
[40]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
dem nach dem allgemeinen Beyfall auch de-
rer/ die uns einer Atheiſterey beſchuldigen
wolten/ ſo wohl auch nach dem Ausſpruch
Goͤttlicher Warheit ſelbſt/ dieſes das vornehm-
ſte Kennzeichen eines Atheiſten iſt/ daß er nach
GOtt nichts frage/ noch ihn gebuͤhrend
ſuche.


94. Wolte aber ja allenfallseiner/ dem der
von uns begehrte Zweiffel noch nicht zu Sin-
ne will/ dich weiter pouſſiren, ſo darffſtu ihn
nicht mehr als ſeine eigene Theologiam na-
turalem
und ſeine Scripta Anti-Atheiſti-
ca
vorhalten/ als in welchen er ſich hoͤchſt ange-
legen ſeyn laͤſt/ durch allerhand Mittel und
Wege/ nehmlich per vias cauſalitatis, per-
fectionis \& negationis
die natuͤrliche Erkent-
niß von GOtt und ſeiner Vorſorge zu erwe-
cken und zu befeſtigen; welches alles unnoͤthig
ja hoͤchſt unfoͤrmlich ſeyn wuͤrde/ wenn dieſel-
ben ſo leichte als andere erſte und unſtreitige
Warheiten zu begreiffen waͤren.


85. Denn hat man wohl iemahlen geſe-
hen/ daß ein Philoſophus wegen der Erkennt-
niß dergleichen unſtreitigen Warheiten/ z. e.
daß zweymahl drey ſechſe ſeyn; daß dieſer
Stock gerade und nicht krum ſey; daß dieſer
Thurm
[41]der Warheit nachzudencken.
Thurm viereckicht ſey; daß der Schnee weiß
und nicht ſchwartz ſey u. ſ. w. eine ſo weitlaͤuf-
tige/ ſubtile und verwirrete diſciplin verfer-
tiget/ als die Theologia naturalis insgemein
gemacht wird.


86. Zu geſchweigen/ daß das eine von den
allergemeinſten Grund-Regeln in der Welt-
weißheit zu ſeyn pfleget/ daß man uͤber Din-
ge/ an denen kein Menſch Urſache zu
zweiffeln hat/ im geringſten nicht
diſpu-
tir
en ſolle. Woraus nothwendig folget/
daß alle diejenigen/ die ſich angelegen ſeyn laſ-
ſen mit ſo groſſer Hefftigkeit von dem Goͤtt-
lichen Weſen und ſeiner Vorſorge zu diſpu-
tir
en/ eben damit einraͤumen muͤſſen/ daß die-
ſe wichtige materievielen Zweiffeln unter-
worffen ſeyn muͤſſe/ denn ſonſt wuͤrden ſie ge-
wißlich die Atheiſten nur mit dem bekanten
Axiomate abfertigen: Contra negantem prin-
cipia non eſt diſput andum
,
welches ſie zweif-
fels ohne wider einem der laͤugnen wuͤrde/ daß
der Schnee weiß waͤre/ wuͤrden anfuͤhren.


87. Wenn du demnach durch dieſe Art/ und
durch den Anfang an allen Lehr-Saͤtzen/ die
von denen Grund-Saͤtzen entfernet ſind/ zu
zweiffeln/ beyderley præjudicia zugleich tapf-
C 5fer
[42]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
fer zu beſtreiten angefangen; ſo fahre ſo dann
ferner fort/ derer iedes abſonderlich hertzhafft
zu attaquiren/ und zwar erſtlich das præju-
dicium autoritatis,
wider welches du ſolcher
geſtalt folgende regel in acht zu nehmen haſt:
Verlaß dich in Erforſchung der Warheit
niemahlen auff die
autoritaͤt einiges Men-
ſchen/ er ſey auch wer er wolle/ wenn du
nicht eine innerliche Verſicherung bey dir
befindeſt/ daß die bißher geglaubte Be-
redung mit denen allbereit erkandten
Grundwarheiten nothwendig verknuͤpfft
ſey.


88. Denn du haſt in der Vernunfft-Lehre
allbereit gelernet/ daß die Warheit in Uberein-
ſtimmung der euſſerlichen Dinge und unſerer
eigenen/ nicht aber frembder Gedancken beſte-
he/ und daß man die Menſchliche autoritaͤt
weiter nicht als nur ein klein wenig in wahr-
ſcheinlichen Dingen/ die nicht zu unſtreitigen
Warheiten gebracht werden koͤnnen/ brauchen
muͤſſe.


89. Dannenhero laß dich das Geſchrey de-
rer/ denen ſehr viel dran gelegen iſt/ daß die
Welt nicht aus den gemeinen Jrrthuͤmern ge-
riſſen werde/ nicht irre machen/ wenn ſie dir die
Auto-
[43]der Warheit nachzudencken.
Autoritaͤt deiner Obrigkeit/ deiner Eltern o-
der Præceptorum vorhalten/ und dein
Gewiſſen aͤngſtigen wollen/ als wenn du das
natuͤrliche Recht groͤblich verletzeteſt/ wenn du
an der Warheit deſſen/ was von deinen Obern/
Eltern oder Præceptoren du gelehret worden
biſt/ zweiffeln und dich unterfangen wolteſt von
ihrer Meinung abzuweichen. Denn in dem
ich aller Menſchen/ ſie ſeyn auch wer ſie wol-
len/
erwehnet/ habe ich auch Obere/ Eltern
und Præceptores darunter begriffen/ weil die
itzo angefuͤhrte Urſache dieſelben ſo wohl als
andere Menſchen angehet.


90. Die Sittenlehre wir dir zeigen/ daß wir
zwar ſchuldig ſind/ unſer aͤuſſerlich Thun
und Laſſen
nach dem Willen unſerer Obern
und Eltern einzurichten/ und ihnen angeneh-
me Dienſte auch wohl mit Gefahr unſers Le-
bens zu leiſten; aber daß der Verſtand keinen
Geſetzen unterworffen ſey/ weil er von unſern
freyen Willen dependiret.


91. Was aber die Præceptores abſonder-
lich anlanget/ ſo laß dir doch uͤber dieſes deinen
Opponenten den Urſprung zeigen/ woher es
komme/ daß man die
obligationgegen
dieſelbe der Pflicht gegen die Eltern gleich

gemacht
[44]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
gemacht/ oder wohl gar dieſer vorgezo-
gen.
Gewißlich/ wenn du dich nicht mit
Teſtimoniis vieler Menſchen/ und zwar ſol-
cher/ die hierbey ein groſſes intereſſe gehabt/
wilſt abſpeiſen laſſen/ (welches doch ſehr laͤcher-
lich heraus kommen wuͤrde/ wenn man/ da
man in Beſtreitung menſchlicher autoritaͤt
begriffen iſt/ derſelbigen auf einige Weiſe ſeinen
Verſtand unterwerffen ſolte/) wird man dir
keinen andern Urſprung ſagen koͤnnen/ als daß
bey Verwilderung des menſchlichen Verſtan-
des/ diejenigen/ die unter dem affectirten
Schein einer ſonderlichen Weißheit ſich fuͤr an-
dern in Anſehen zu bringen getrachtet/ und a-
ber ohne eitele perſuaſion anderer Menſchen
ſolches zu thun unvermoͤgend geweſen/ kein
dienlicher Mittel gewuſt/ die menſchliche auto-
ritaͤt als einen Abgott auff den Thron Gottes
(der allein uͤber den menſchlichen Verſtand zu
gebieten hat) zu erheben/ als wenn man die
Obliegenheit gegen Præceptores der Pflicht ge-
gen die Eltern vorzoͤge/ und denen Lehrlingen
inculcirte/ daß es eine von den groͤſten Boß-
heiten ſey/ wenn ſich ein diſcipel unterſtehe von
denen Lehr-Saͤtzen ſeines Præceptoris im ge-
ringſten abzuweichen.


92. Hier-
[45]der Warheit nach zudencken

92. Hiernechſt kanſtu dich ferner bey denen/
die dich mit denen Præceptoren wollen zu
fuͤrchten machen/ erkundigen/ was denn un-
ter dem Nahmen eines
Præceptorisvon
deſſen Meinung man nicht abweichen ſol-
le/ verſtanden werde.
Ob auch z. e. ein
Fecht-Dantz- und Sprachmeiſter u. ſ. w dar-
unter zu rechnen ſey? Ob die Dorff-Schul-
meiſter und die denen Kindern das a. b. c. leh-
ren hieher gehoͤren? Ob nur diejenigen die um-
ſonſt informiren/ oder mit denen man der In-
formation
wegen einen contract macht? Ob
allein die Præceptores und Doctores publici o-
der auch privati? Ob allein diejenigen die bey
der alten Lehrart geblieben/ oder auch die/ die
von ihrer Præceptoren Meinung abgewichen/
dieſes privilegium prætendiren koͤñen? Ja end-
lich frage mit Ernſt; Ob ich alleine von derer
Præceptoren ihrer Meinung nicht abweichen
ſolle/ die mich wohl und rechtſchaffen informi-
ret
,
oder auch von denen nicht/ die mir Nar-
renpoſſen und Jrrthuͤmer beygebracht? Jch
will dich verſichern/ du wirſt auff dieſe Weiſe
deinen Antagoniſten bald loß werden/ oder er
wird ſich mit ſeinen Antworten im hoͤchſten
grad proſtituiren.


39. Und
[46]Das 1. H. von der Geſchickligkeit.

39. Und gewiß es kan nicht anders ſeyn/
diejenigen/ die da vorgeben/ man muͤße von der
Lehre der Obern/ Eltern oder Præceptoren
bey leibe nicht abweichen/ muͤſſen in ihren Ver-
ſtande gantz geblendet ſeyn/ weil ſie dieſen ihren
Lehr-Satz mit keiner andern raiſon wahr-
ſcheinlich machen koͤnnen/ wenn ſie nicht be-
ſagten Perſonen eineinfallibilitaͤt zuſchrei-
ben/
dergleichen Raſerey man keinen Heyden/
geſchweige denn einen Chriſten zu gute halten
wuͤrde/ weil man auch durch die Vernunfft er-
kennet/ daß die infallibilitaͤt GOtt allein zu-
komme.


94. Und mit was fuͤr Scham wollen ſolche
Leute prætendiren/ daß ein anderer/ den ſie ei-
nes Jrrthumbs beſchuldigen/ den er aber
von ſeinem
Præceptoreher hat/ denſel-
ben verlaſſen/
und ihrer Meinung beypflich-
ten ſolle/ wenn ſie nicht oͤffentlich die Nichtig-
keit ihrer Meinung bekennen und zugeben
wollen/ daß er gar wohl von ſeinen Obern diſ-
ſentiren
koͤnne.


95. Bey der Beſtreitung des præjudicii
præcipitantiæ
nim dieſe Regel in acht: Huͤ-
te dich/ daß du keiner Sache innerlichen
Beyfall als eineꝛ unſtreitigẽ Warheit ge-

beſt/
[47]der Warheit nachzudencken.
gebeſt/ wenn du dieſelbe nicht wohl uͤber-
leget/ und alle darzu gehoͤrige Umſtaͤnde
genau in acht genommen.


96. Denn auff dieſe Weiſe wirſt du nicht
alleine nach und nach dich von der Nachlaͤſ-
ſigkeit/
ſondern auch von der Ungedult be-
freyen/ und dir durchgehends in allen ſpecula-
tionen
eine rechtſchaffene gedultigeattenti-
on
zuwege bringen.


97. Gehet dir aber ſolches wegen der langen
Gewonheit dich zu uͤbereilen etwas ſauer ein/
ſo ſtelle dir nur vor/ daß die einmahl angewoͤh-
nete attentiondir dasJudiciumuͤberaus
ſchaͤrffen/
und dich faͤhig machen wird/ auch
die ſchwereſten und ſubtileſten Sachen/ die ein
anderer mit groſſer Muͤhe begreifft/ in einen
Augenblick gleichſam zu penetriren/ und daß/
wen es gleich muͤglich waͤre/ daß ohne dieſelbe
du par hazard viel Warheiten erhalten koͤn-
teſt/ dennoch ein einiger Jrrthum/ den du
aus præcipitanz fuͤr eine Warheit haͤlſt/ faͤhig
ſey/ nicht alleine tauſend andere Jrrthuͤ-
mer
nach ſich zu ziehen/ ſondern auch gar
nach Gelegenheit der Umbſtaͤnde dich in die
groͤſte Gefahr zu ſtuͤrtzen.


68. Dieſe zwey bißher vorgeſchriebene Re-
geln
[48]Das 1. H. von der Geſchickligkeit.
geln von Entbrechung menſchlicher autori-
taͤt und Angewehnung einer Auffmerckſam-
keit/ haben nicht allein ihren Nutzen in unter-
ſuchung unſtreitiger Warheiten/ ſondern
auch in Erkentniß wahrſcheinlicher Dinge.


99. Denn ob wir ſchon in der Vernunfft-
Lehre erwehnet/ daß die Erkentniß wahrſchein-
licher Dinge ſich ſehr offt in dem Zeugnuͤſſe
anderer Menſchen
gruͤnden muͤſſe/ ſo muſt
du doch wohl in acht nehmen/ daß dieſes nicht
weiter angehe als in Dingen/ die à ſenſioni-
bus alienis dependir
en. Aber huͤte dich/ daß
du in formirung deiner conceptuum acci-
dentalium
und derer daher ruͤhrenden pro-
poſitionum veroſimilium
nicht auch auff das
Zeugniß anderer Menſchen hauptſaͤchlich ſie-
heſt. Denn in dieſem Stuͤck muſt du auch
mehr auff deinen natuͤrlichen Beyfall/ als
auff anderer Leute autoritaͤt ſehen/ weil dir
dein Verſtand ja ſo wohl zu denen concepti-
bus accidentalibus
als zu denen eſſentialibus
oder ideis gegeben iſt.


100. Du muſt dich aber hierinnen deſto
mehr in acht nehmen/ iemehr du ſieheſt/ daß
insgemein darwider angeſtoſſen wird. Denn
du wirſt uͤberall uͤbehaupt hoͤren/ daß nicht nur
das/
[49]der Warheit nachzudencken.
das/ was unmitelbar von denen ſenſionibus a-
liorum dependiret
,
ſondern allepropoſiti-
ones,
die nicht zu einer unſtreitigen Warheit
gebracht werden koͤnnen/ fuͤr wahrſcheinlich
ausgeruffen werden/ wenn ſie von vielen oder
denen Weiſeſtendefendiret und behauptet
worden/ da doch dieſes nicht einmal in ſenſio-
nibus alienis
die Richtſchnur der Wahrſchein-
ligkeit ſeyn kan/ wie wir oben bewieſen ha-
ben.


101. So mangelt es auch an denen Exem-
peln
irriger Meinungen nicht/ die aus dieſen
falſchen Grunde hergeleitet werden. Wenn
nur ein Tacitus oder ein Gracian ein Poli-
t
iſch Axioma ſeinen Schrifften einverleibet/
ſo wird es ſchon als etwas ſonderliches admi-
riret
,
ob ſchon zuweilen es an ſich ſelbſten ſehr
unwahrſcheinlich iſt. Wenn ein beruͤhmter
Medicus eine Artzeney wider eine Kranckheit
recommendiret, wird dieſelbe ohne weitere
Unterſuchung von iederman angenommen.
Und wenn z. e.einPaulus ſagt: quod ſervi-
tutum uſus debeat eſſe perpetuus
,
oder ein
Triboniauus: qvod detur conditio mixta,
\& media inter caſualem \& poteſtativam
,
ſo
lieſſen ſich wohl viel Juriſten uͤber Vertheydi-
Dgung
[50]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
gung dieſer unfoͤrmlichen Meinungen den groͤ-
ſten Dampff anthun/ u. ſ. w.


102. Ja was die Erkaͤntniß derer Dinge
ſelbſt/ die von anderer Leute experienz depen-
diren
,
anlanget/ fo muß mein natuͤrlicher
Beyfall
der auff allen Menſchen gemeinen
propoſitionibus veroſimilibus gegruͤndet iſt/
beurtheilen/ ob das Zeugniß anderer Leute
wahrſcheinlich oder unwahrſcheinlich ſey; daß
dannenhero auch in dieſen Dingen nicht ein-
mahl die autoritaͤt anderer Menſchen die
vornehmſte Richtſchnur meines Glaubens
ſeyn kan; ſondern es muß dieſelbe auch eben-
maͤßig in mir ſelbſt geſucht werden.


103. Der Nutzen dieſer Anmerckung erei-
gnet ſich in Beurtheilung der Hiſtoriſchen
Erzehlungen/
als worinnen ein weiſer Mañ
nicht auff die Menge der Zeugen/ noch auff das
Ambt und Anſehen deſſen der es ſaget/ ſon-
dern auff gantz andere Umbſtaͤnde/ (davon
wir zu ſeiner Zeit ausfuͤhrlicher handeln wer-
den) reflectiret, ob gleich der gemeine Poͤbel
von jenen ſich einnehmen laͤſt/ und dadurch in
die fchaͤdlichſten Jrrthuͤmer ſich vertiefft.


104. So hat auch die Beobachtung recht-
maͤßiger
attention in Erkentniß wahrſchein-
licher
[51]der Warheit nachzudencken.
licher Dinge ihren Nutzen/ weil nicht alleine
man gar leichte dahinter kommen kann/ wenn
man ein wenig attent iſt/ ob ein Zeuge ent-
weder wegen ſeiner Nachlaͤßigkeit oder Boß-
heit ſuſpect ſey/ ſondern auch weil bey denen
conceptibus accidentalibus und propoſiti-
enibus veroſimilibus
ich der attention darzu
benoͤthiget bin/ daß ich beobachte welche znfaͤl-
lige Beſchaffenheit ſich bey denen meiſten in-
dividuis
oder ſpeciebus ereigene/ damit ich
nicht aus wenigen Exempeln ein axioma ve-
roſimile
mache. Z. e. Wenn eine Artzney ei-
nen Schmidt und einen Bauer am Fieber cu-
riret
haͤtte/ und ich wolte ſie indiſtinctè allen
Febricitanten recommendiren; Weñ ein Koͤ-
nig einen der ihm eine Lauß abnim̃t/ eine Be-
lohnung giebt/ und ein anderer wolte auch
auff gleiche Weiſe ſuchen ein Geſchencke zu
erwerben u. ſ. w.


105. Wann du nun auff ſolche Weiſe ei-
nige Zeit dich haſt angewoͤhnet vieler Jrr-
thuͤmer zu entledigen/ und fuͤr neuen zu huͤten/
ſo fange auch an unter denen Warheiten o-
der Wahrſcheinligkeiten/ die du allbereit er-
kenneſt/ oder noch kuͤnfftig zu erforſchen trach-
teſt/ eine abſonderung anzuſtellen.


D 2106. Der
[52]Das 1. H. von der Geſchickligkeit

106. Der Menſchliche Verſtand ob er gleich
leichte erkennen kan/ daß er unzehliche Dinge
nicht begreiffen moͤge; ſo erkennet er doch
auch/ daß das menſchliche Leben viel zu kurtz
ſey/ hinter alle Warheiten/ derer der Ver-
ſtand faͤhig iſt/ zu gelangen. Derowegen muß
der Menſch bey zeiten unter denen Kuͤnſten
und Wiſſenſchafften eine Ausſonderung
anſtellen/ damit er ſehe/ worauff er ſeine Ge-
dancken in Erforſchung der Warheit zufoͤr-
derſt zu richten habe.


107. Die Wiſſenſchafften die heut zu tage
in der Welt im ſchwange gehen/ ſind entwe-
der dahin gerichtet/ daß ſie den Nutzen des
menſchlichen Geſchlechts
befoͤrdern/ oder daß
ſie das Gemuͤthe mehr beluſtigen/ und zum
Studieren eine Luſt erwecken/ oder daß ſie we-
der nutzen noch auff eine vernuͤnfftige Weiſe
beluſtigen/ ſondern entweder das præjudici-
um autoritatis ſtabiliren,
oder aber den zur
præcipitanz geneigten menſchlichen Ver-
ſtand darinnen bekraͤfftigen/ und eine verbote-
ne Luſt
zuwege bringen.


108. Von allen und ieden dieſer itzt erzehl-
ter Claſſen etwas ausfuͤhrlich zu handeln/ iſt
itzo unſers Vorhabens nicht/ weil wir hierzu
einen
[53]der Warheit nachzudencken.
einen abſonderlichen diſcurs deſtiniret haben.
Jetzo wollen wir nur uͤberhaupt/ und ſo viel
zu gegenwaͤrtigen Capitel vonnoͤthen ſeyn
wird/ etwas davon reden/ und unſere Saͤtze
nur insgemein mit Exempeln ein wenig er-
laͤutern.


109. Wir haben zu anfang der Vernunft-
Lehre dargethan/ daß alle rechtſchaffene
Gelahrheit
dahin zielen ſoll/ damit der
Menſch dadurch ſeine eigene/ als auch ande-
rer Menſchen in gemeinen Leben und Wan-
del zeitliche und ewige Wohlfart befoͤrdern
moͤge. Dannenhero iſt wohl kein Zweiffel/
daß die nuͤtzlichen Wiſſenſchafften allen an-
dern fuͤrzuziehen ſind.


110. Und zwar weil wir in der Sitten-Lehre
erweiſen werden/ daß das dauer haffteſte Gut
entweder das beſte/ oder auch gar alleine ein
warhafftiges Gut ſey/ ſo folget abermahls
nothwendig daraus/ daß der Menſch mit al-
len Kraͤfften nach der Wiſſenſchafft/ die nach
einer ewigen Gluͤckſeligkeit ringet/ ſtreben
ſolle.


111. Dieweil aber die menſchliche Ver-
nunft fuͤr ſich von dieſer ewigen Gluͤckſeligkeit
nichts weiß/ ſondern einig und alleine dieſe
D 3Er-
[54]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
Erkentniß von der Goͤttlichen Offenbah-
rung
herruͤhret/ die wir oben erinnert haben/
daß man ſie mit dem natuͤrlichen Licht nicht
vermiſchen ſolle/ als ſtehet uns auch nicht zu/
in der Vernunfft-Lehre davon etwas weiter
zu erwehnen/ ſondern muͤſſen ſolches einer hoͤ-
hern Lehre anheim geſtellet ſeyn laſſen.


112. Die zeitliche Gluͤckſeligkeit des Men-
ſchen beſtehet in ſeiner Gemuͤths-Ruhe/
und in der Geſundheit ſeines Leibes/ ohne
deren keiner zwar der Menſch vollkommen
gluͤcklich zu achten iſt/ iedoch aber ans viel-
faͤltigen Urſachen/ die zu ſeiner Zeit ſchon ſol-
len erwieſen werdeu/ gar leichte dargethan
werden kan/ daß wenn ja der Menſch eine
von dieſen beyden Gluͤckſeligkeiten wiſſen
ſolte/ die Gemuͤths-Ruhe der Geſundheit
deßwegen vorzuziehen ſey/ weil ein geſunder
Menſch ohne die Gemuͤths-Ruhe recht mi-
ſer abel;
ein ungeſunder aber/ der die wahre
Gemuͤths-Ruhe beſitzet nur nicht vollkom̃en
gluͤcklich ſeyn wuͤrde.


113. Derowegen fließet wiederum hieraus
nothwendig/ daß unter denen Wiſſenſchaff-
ten/ die aus der geſunden Vernunfft hergelei-
tet werden/ die jenige die alleredelſte und vor-
nehm-
[55]der Warheit nachzudencken.
nehmſte ſey/ die uns zu der Gemuͤths-Ru-
he
fuͤhret.


114. Dieſes aber geſchicht auff zweyerley
Weiſe/ anfangs und hauptſaͤchlich/ daß der
Menſch ſich ſelbſten ſo vollkommen mache/
daß er innerlich dieſe Gemuͤths-Ruhe nicht
hindere; Hernach/ daß er alle aͤuſſerliche
Verhinderungen
ſo viel als moͤglich ab-
ſchneide. Jenes weiſet die Sitten-Lehre/
dieſes diePolitic, und auff gewiſſe maſſe ein
Theil derMathematic. Jenes iſt am noth-
wendigſten/ weil ohne demſelben die politi-
ſche Wiſſenſchafft nichts tauget.


115. Die Geſundheit des Leibes wird ent-
weder in der natuͤrlichen Vollkommenheit
erhalten/
oder aber wenn ſie verlohren ge-
hen will/ wieder in den vorigen Stand ge-
bracht.
Jenes ſoll in dem edelſten Theil
der
Phyſic, die von dem menſchlichen Coͤr-
per handelt/ und deswegen Anthropologia ge-
nennet wird/ gezeiget werden/ dieſes aber
lehret dieMedicin. Das erſte Stuͤck iſt
wieder das allernoͤthigſte/ und ſolte von allen
Menſchen ſtudiret werden/ ſo wird es aber
leider auch von denen Gelehrten negligiret,
zum wenigſten nicht practiciret.


D 4116. Und
[56]Das 1. H. von der Geſchickligkeit

116. Und weil der Menſch in einen ſolchen
Stande in dieſer Welt lebet/ daß er ohne die
Guͤter des Gluͤcks
weder die Geſundheit
ſeines Leibes rechtſchaffen erbalten/ noch ſein
Wohlwollen gegen andere Menſchen/ nach
ſeinem Verlangen und deren Beduͤrfftigkeit
bezeigen kan/ durch welches doch die Ge-
muͤths-Ruhe
in einen hohen Grad befoͤr-
dert wird; als muß er auch die Wiſſenſchaf-
ten/ die ihm zeigen wie er dergleichen Guͤter
erwerben/ und mit denenſelben rechtſchaffen
gebahren koͤnne/ nicht gantz aus den Augen ſe-
tzen. Und bieher gehoͤret die Rechen-Kunſt
und andere Theile der Mathematic, abſon-
derlich aber die Oeconomic oder Hauß-
haltungs-Kunſt.


117. Nun folgen die beluſtigendenStudia:
Es ſoll zwar keine Luſt fuͤr vernuͤnfftig geach-
tet werden/ die nicht auff einen Nutzen des
menſchlichen Geſchlechts ihr Abſehen richtet/
und hinwiederum/ wenn der rechte Gebrauch
der Vernunfft den Menſchen recht zu einen
Menſchen gemacht/ wird er auch erkennen/
daß kein nuͤtzlichesſtudium ſey/ das den
Menſchen verdruͤßlich mache/ und nicht auch
zugleich beluſtige; Ja daß die allernoͤthig-
ſten
[57]der Warheit nachzudencken.
ſten Studia am meiſten beluſtigen. Alleine
weil wir noch mit einen Menſchen zu thun ha-
ben/ der erſt anhebet ſich aus der Verderbniß
heraus zu reiſſen/ und alſo der rechtſchaffenen
Gemuͤths-Beluſtigung noch nicht faͤhig iſt/
ſondern nur die Luſt/ die denen Sinnligkeiten
am nechſten iſt/ empfindet; alß haben wir auch
oben in Benennung unterſchiedener Claſſen
der Wiſſenſchafften auff einen ſolchen Men-
ſchen und deſſen capacitaͤt muͤſſen unſer Ab-
ſehen richten/ und nach ſeiner Meinung à
potiori
die nuͤtzlichen und beluſtigenden Studia
einander entgegen ſetzen.


118. Hieher gehoͤren nun z. e. die Hiſtorie
und faſt alle Mathematiſche Wiſſenſchaff-
ten/
ſo feꝛn man in denenſelben tief zu ſpeculiren
Luſt hat/ fuͤrnehmlich aber die Geographie,
Optic, Mechanic
u. ſ. w. item die Lehre von
demDecoro oder der Artigkeit des menſchli-
chen Lebens/ und die meiſten Theile derPhy-
ſic.


119. Alle dieſe haben ihren Nutzen darin-
nen daß weil ſie nicht eben eines groſſen Kopff-
brechens brauchen/ und des Menſchen natuͤr-
liche curioſitaͤt in etwas vergnuͤgen/ ſie zugleich
unvermerckt denſelben angewehnen ſtille zu
D 5ſitzen
[58]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
ſitzen und eine attention zu haben/ welches
zweyſehr nothwendige Stuͤcke ſeyn die ernſt-
haffteren Studia zu befoͤrdern/ und zu denen-
ſelben eine Luſt zu erwecken.


120. Uber dieſes ſo iſt die Hiſtorie ein faſt bey
allen Wiſſenſchafften noͤthiges Instrument,
durch welche die allgemeinen Lehrſaͤtze koͤnnen
deutlich gemacht und erlaͤutert werden/ und
in welcher man die MenſchlichenAffecten
als in einem Abriß und Gemaͤhlde kennen ler-
net/ welches ſehr geſchickt macht die Sittenlehr
und Politic deſto leichter zu begreiffen. Die
MathematiſchenDiſciplinen aber/ weil ſie
ſich allezeit auff unſtreitige Warheiten gruͤn-
den/ ſchaͤrffen den Verſtand uͤberaus/ und præ-
pariren
ihn: daß er nicht alleine ſo leichte von
præjudiciis ſich nicht ferner einehmen laͤßt/ ſon-
dern auch/ daß es ihm nicht ſo ſauer wird andere
rechtſchaffene Wiſſenſchafften/ die ein tieffſin-
niges Nachdencken erfordern/ zu begreiffen;
andere vielfaͤltige Nntzen in vita civili zu ge-
ſchweigen. Die Lehre von der Artigkeit ge-
woͤhnet uns bey zeiten eine wohlanſtaͤndige
Hoͤffligkeit an/ und macht uns ſolchergeſtalt
bey andern Leuten angenehm. Die luſtigen
Theile der
Phyſic machen unſern Verſtand
gleich.
[59]der Warheit nachzudencken.
gleichfalls ſehr attent und auffmerckſam/ und
entdecken viel Geheimniße die die Geſundheit
des Menſchen erhalten und wiederbringen.


121. Und wenn ſie keinen andern Nutzen
haͤtten/ ſo waͤre doch dieſer alleinehochzu ach-
ten/ daß ſie den menſchlichen Verſtand gleich-
ſam ſtaͤrcken/
und ſeine natuͤrliche Kraͤffte
erhalten.
Denn gleich wie der Leib durch
ſtetige Arbeit abgemattet wird/ und dannenhe-
ro eine abwechſelnde ruhigere Bewegung ſich
wieder zu erquicken bedarff; alſo wird auch un-
ſer Verſtand durch langwierige meditation in
Unterſuchung des Weſens und der Beſchaf-
fenheiten der Dinge ziemlich entkraͤfftet/ und
erquicket ſich in dergleichen beluſtigenden Stu-
diis
wiederumb/ daß er folglich die ernſthaff-
ten Studia zn continuiren deſto munterer
wird.


122. Aber huͤte dich/ wenn du auff dieſe Stu-
dia
geraͤthſt/ daß du uͤber denenſelben die nuͤtz-
lichen nicht liegen laͤſt/
und dich einzig und
allein denen Beluſtigenden ergiebeſt/ denn wir
haben geſagt/ daß dieſe Wiſſenſchafften de-
nen ernſthafften nachzuſetzen
ſeyn. Dero-
wegen muſtu dich ihrer wie des Confects nicht
zu Stillung des Hungers/ ſondern allein zur
Er-
[60]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
Erfriſchung gebrauchen. Die Seele hat ſo
wohl ihren Muͤßiggang als der Leib. Und
wie nun derjenige ſeinen Leib zu aller Arbeit
ungeſchickt macht/ der nichts thut als Spielen/
Tantzen/ Trincken und ſeine Sinnligkeiten
beluſtigen; alſo macht auch derjenige ſich un-
tuͤchtig die rechte Weißheit zu erforſchen/ der
ſtets uͤber den Hiſtorien liegt/ der alle ſeine
Zeit zu Mathematiſchen Erquick-Sunden
macht/ der alle ſeine Sorgen nur dahin rich-
tet/ wie er galant und hoͤfflich ſeyn moͤge/ der
nur dahin bemuͤhet iſt/ wie er z. e. durch das
Feuer die Verwandelung natuͤrlicher Coͤrper
betrachte/ oder durch die Microſcopia den klei-
neſten Wuͤrmern ihre Haare oder Beinezeh-
le u. ſ. w.


123. Und zwar erwege dieſe Anmerckung
deſto fleißiger/ weil du befinden wirſt/ daß ſehr
viel von denen vornehmſten und beruͤhm-
teſten Leuten und Gelehrten ſolche Muͤſ-
ſiggaͤnger
ſind/ ja dieſes Ubel nicht einmahl
erkennen/ noch ſich einbilden/ daß ein Muͤſ-
ſiggang der Seelen ſey/
weil ſie vielleicht die
irrige Meinung hegen/ daß dieſes ein Muͤßig-
gang ſey/ wenn man gar nichts thue.


124. Bey denen uͤbrigen und auff eine un-
ver-
[61]der Warheit nachzudencken.
vernuͤnfftige und verbotene Weiſe beluſti-
gende
Wiſſenſchafften braucht es keiner neu-
en Erinnerung/ ſondern wenn wir oben nichts
mehr geſagt haͤtten/ als daß ſie die præjudicia
bekraͤfftigten/ waͤre es ſchon genung uns zu ver-
ſichern/ daß ein Warheit liebender Menſch
dieſelbe aͤrger meiden ſolte als die Peſt.


125. Zu denen Wiſſenſchafften die das præ-
judicium autoritatis
befeſtigen/ rechnen wir
alle diejenigen/ die keinen andern Zweck haben/
als mit ſubtilen vieldeutigen und unverſtaͤn-
digen Worten
die deutliche Warheit zu ver-
dunckeln/ und vermittelſt derſelben ſich von an-
dern vernuͤnfftigen Leuten in Buͤrgerlicher
Geſellſchafft abzuſondern/ und einen Anhang
zuwege zu bringen. Z. e.alle Wiſſenſchafften
der
Scholaſtiſchen Philoſophie, abſonderlich a-
ber Reginam Tenebrarum die heiligeMeta-
phyſic.


126. Zu denen die des Menſchen ſeine allzu-
hitzige Begierde neue Warheiten zu wiſſen/
und die dabey ſich ereignende Ungedult und
folglich auch ſeinepræcipitanz ſtaͤrcken zeh-
le ich alle Magiſche Wiſſenſchafften/ in wel-
chen der Menſch auf eine uͤbernatuͤrliche Wei-
ſe Warheiten zu wiſſen verlanget/ entweder
die
[62]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
die ſeinen Verſtand uͤberſteigen/ oder derer
Warheiten er ſonſt natuͤrlicher Weiſe mit groſ-
ſer Muͤhe wuͤrde erhalten koͤnnen/ als zukuͤnff-
tige und in verborgen geſchehene Dinge.


127. Und zwar iſt es in dieſem Fall einerley/
ob man bey dieſen Wiſſenſchafften gantz offen-
bahr dieſelbe von dem Teuffel oder ſeinen Die-
nern denen Zauberern oder alten Hexen zu ler-
nen verlange/ als wie das Cryſtallen ſehen/
das Sieblauffen
u. ſ. w. oder ob dieſelben ih-
ren Urſprung von der uhraͤlteſten Abgoͤtterey
nehmen/ als das Wahrſagen aus dem Ge-
ſtirne/
und das Nativitaͤt-ſtellen/ oder ob
man nicht eben daß was teuffeliſches mit un-
ter gehe erweiſen kan/ wenn man nur verſi-
chert iſt/ daß dieſe Wiſſenſchafften auff keinen
natuͤrlichen Grund-Regeln befeſtiget ſeyn/ als
die Chiromantie, die Geomantie, die
Cabala, die Traumdeute-Kunſt.


128. Denn geſetzt/ daß dieſe letzten vier
Wiſſenſchafften
alle auff ſolchen principiis
beruheten/ die auch von einer Goͤttlichen Of-
fenbahrung
herruͤhren/ und von der Goͤttli-
chen Providenz dependiren koͤnten; welches
[i]ch alles an ſeinen Ort geſtellt ſeyn laſſe/ und
weder bejahe noch verneine; ſo darff ich mir doch
nur
[63]der Warheit nachzudencken.
nur gewiß einbilden/ daß/ ſo lange als ich mei-
nen Verſtand und Willen nicht ausgebeſſert
habe/ ſondern annoch gleichſam in præjudiciis
ſtecke/ odeꝛ doch zum wenigſten mich von deꝛ an-
klebenden Unvollkom̃enheit nicht entlediget ha-
be/ ich eine groſſepræcipitanz begehẽ wuͤrde/
weñ ich mich goͤttlicher Offenbahrung wuͤrdig
ſchaͤtzen wolte; Ja weil ich noch nicht in den Zu-
ſtand bin/ daß ich das Kennzeichen/ ob eine
Offenbahrung goͤttlich ſey/ oder von einen an-
dern principio herkomme/ bey mir empfinde/
ſo wuͤrde ich mich augenſcheinlich in Gefahr
ſetzen/ in dieſem Stuͤck von dem Teuffel/ oder
von denen ich ſolche Kunſt lernen will/ hinter-
gangen zu werden.


129. Zu geſchweigen/ daß etliche von dieſen
Kuͤnſten ausdruͤcklich einen Menſchen erfor-
dern-der uͤber ſeineaffectenallbereittri-
umphiret
hat/ als wie die Geomantie, der-
gleichen der/ ſo der Warheit oder Weißheit
nachzutrachten anfaͤnget/ von ſich nicht ſagen
kan. Denn wenn er dieſes præſtiren koͤnte/
haͤtte er ſeine Studia allbereit abſolviret.


130. So zeiget auch die Kirchen-Hiſtorie,
daß dergleichen Kuͤnſte/ ſo ferne ſie von GOtt
kommen/ von denen Menſchen nicht muͤſſen
be-
[64]Das 1. H. Von der Geſchickligkeit
begierig geſucht werden/ ſondern ſie werden
von Gott denen Frommen als Gaben ſeiner
Gnade geſchenckt. Dannenhero kan man
auch daraus erkennen/ daß dieſelbigen zu er-
langen kein Lauffen und Muͤhe oder Geld
etwas beytraͤgt/ ſondern daß ich denenſelben
nicht naͤher kommen kan/ als wenn ich mich be-
muͤhe tugendhafft und from zu werden.


131. Denn ich halte dafuͤr/ ich werde weder
was unvernuͤnfftiges noch gottloſes behaup-
ten/ wenn ich von den Geomantiſten, Cabali-
ſten
u. ſ. w. kuͤrtzlich meine Meinung auff die-
ſe Weiſe eroͤffne/ daß ſo wenig als ich einen
Zigeuner oder andern liederlichen Kerl/
der noch in der Thorheit oder beſtialitaͤt ſte-
cket/ loben oder hoch achten und was von
ihm lernen wuͤrde/ wenn er gleich in derglei-
chen Wiſſenſchafften ſolche proben thaͤte/ die
gantze Laͤnder und Staͤdte be wunderten/ ſo
wenig wuͤrde ich auch einen fr om̃en Mann/
von deſſen Froͤmmigkeit ich gewiſſe Kennzei-
chen haͤtte/ tadeln/ oder als einen Zauberer
fliehen/ wenn ich ſaͤhe/ daß er aus der Hand/
aus denen Lineamenten des Geſichts/ aus
der Cabala und der Geomantie andern et-
was propheteyete. Und wenn ja allenfalls
die-
[65]der Warheit nachzudencken.
ja allenfalls dieſe meine Meinung iemand aͤr-
gernſo lte/ der darff nur bedencken/ daß man in
Beurtheilung der Traumdeuterey (mit wel-
cher ſie eine groſſe Verwandſchafft haben) ins-
gemein eben ſo argumentire, und einen groſ-
ſen Unterſcheid unter einen Joſeph oder
Daniel/
und unter denen Ægyptiſchen o-
der
Perſianiſchen Zauberern zu machen
pflege.


132. Wilſtu daß ich dir in einen kurtzen Be-
griff ſagen ſolle/ in was fuͤr einer Wiſſenſchafft
du die wahre Weißheit finden ſolteſt. Su-
che ſie nicht auſſer dir/ ſondern in dir ſel-
ber/
denn die Vernunfft-Lehre hat dir gezei-
get/ daß die criteria veritatis in dir ſelbſt ſeyn.


133. Damit du aber der Weißheit in dir
nicht verfehleſt/ darffſtn nichts mehr beobach-
ten/ als: Lerne dich ſelbſt erkennen.
Jn dieſer eintzigen Erkentniß ſteckt alle Weiß-
heit/ und ohne dieſelbe iſt alle Weißheit Thor-
heit. Aber wundere dich nicht wie es komme/
daß oͤffters unter tauſend Gelehrten kein
Weiſer iſt/
weil nicht nur niemaud die Lehre
von der Selbſt-Erkentniß practiciret, ſon-
dern wir leider in einem ſolchen Seculo leben/
darinnen die Leute/ die das Noſce teipſum in-
Ecul-
[66]Das 1. H. von der Geſchickligkeit
culciren fuͤr Fantaſten/ wo nicht gar fuͤr ſchaͤdli-
che Ketzer geachtet werden.


134. Es ſtecken aber hierunter hauptſaͤch-
lich dreyaxiomata welche zu der Selbſt-Er-
kentniß erfordert werden. (1.) Siehe unter
dich/ was zwiſchen dir und denen
Beſtien
fuͤr ein Unterſchied ſey; Das iſt: erhebe dich
aus dem Elende/ darein dich die præjudicia von
Jugend auff geſetzet/ und faſt elender als die
Beſtien gemacht haben/ und lerne wie du die
Geſundheit deines Leibs erhalten/ deine Affe-
cten
daͤmpffen/ und dich in eine rechte Ge-
muͤths-Ruhe ſetzen moͤgeſt.


135. (2.) Siehe neben dich/ was zwiſchen
dir und andern Menſchenfuͤr eine Gleich-
heit und Unterſcheid ſey;
Das iſt: betrachte
deine Pflicht mit denen du allen Menſchen die
mit dir in einer Geſellſchafft leben/ verpflichtet
biſt/ und leꝛne die Boßheit deꝛ Welt keñen/ damit
du dich fuͤr derſelbẽ ſo viel moͤglich/ huͤten kanſt.


136. (3.) Siehe uͤber dich auff GOtt;
das iſt: ‒ ‒ ‒ Aber hier muß die Ver-
nunfft ſchweigen/ und die Erklaͤrung des Axi-
omatis
der Gottes-Gelarheit uͤberlaſſen.


137. Alle dieſe drey Theile der wahren
Weißheit beziehen ſich auff den dreyfachen
Stand
[67]der Warheit nachzudencken.
Stand/ darinnen wir leben. Wir ſind Men-
ſchen/
wir leben in Buͤrgerlicher Geſell-
ſchafft/
wir ſind Chriſten/ und iſt immer ein
Stand die Thuͤr zum andern. Man muß
erſt lernen ein Menſch ſeyn/ ehe man zu der
buͤrgerlichen Pflicht oder zu denen officiis in
vita civili
ſich rechtſchaffen ſchickt und andere
Leute kennen will/ und wer noch nicht Menſch
und in vita ſociali intolerabel iſt/ wie will der
ein Chriſt ſeyn?


138. Wenn du in dieſen Stuͤcken der Welt-
weißheit recht vollkommen biſt/ ſo kanſtu
deine uͤbrige Zeit zu tieffſinnigenſpeculati-
onibus Phyſicis, Mathematicis
u. ſ. w. an-
wenden. Aber pruͤffe dich zuvor wohl/ ob du
in der Kentniß deiner ſelbſt vollkommen ſeyſt;
Denn es kan leicht kommen/ daß du mit dieſer
alleine die Zeit deines Lebens zu thun haſt.


139. Du kanſt noch dieſes einzige aus dem
was wir bißhero gehabt/ anmercken; daß ob
uns ſchon die Vernunfft Lehre gewieſen/ daß
unſtreitige Warheiten viel edeler ſeyn als
die Wahrſcheinligkeiten/ dennoch in Erler-
nung der Weißheit wir ja ſo wohl vieler Wahr-
ſcheinligkeiten als unſtreitiger Warheiten [b]e-
noͤthiget
ſeyn. Dieſe brauchſtu in Erltrnung
E 2deiner
[68]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
deiner affecten, und deiner natuͤrlichen Pflicht
gegen andere Menſchen. Der Wahrſchein-
ligkeiten
aber muſtu dich bedienen zu Erler-
nung deiner Geſundheit/ und Erkentniß ande-
rer Menſchen.


140. Ja lerne zugleich hieraus/ daß du den
Nutzen der Wiſſenſchafften nicht darnach
ſchaͤtzen
muͤßeſt/ ob derſelben principia wahr-
ſcheinlich oder unſtreitig wahr ſind; denn z. e.
Die Matheſis flieſſet aus unſtreitigen princi-
piis
her/ und du kanſt ſie doch nicht weiter in
dem gemeinen Weſen appliciren als zu con-
ſervir
ung der Guͤter des Gluͤcks; hergegen
fluͤßen die Lehre der Geſundheit und die Er-
kentniß anderer Menſchen/
ja auch deiner
eigenen Pflicht/ ſo ferne ſie von dem Willen an-
derer Menſchen dependiret, nur auß wahr-
ſcheinlichen Gruͤnden/ und nutzen doch im
Menſchlichen Geſchlecht mehr als alle ma-
themati
ſche wiſſenſchafften.


Das 2. Hauptſtuͤck/
Von der Geſchickligkeit an-
dern die Erkaͤntniß des wahren
beyzubringen.


Jnn-
[69]andern die Warheit beyzubringen.

Jnnhalt.
Connexio.Man iſt ſchuldig andern Leuten
mit ſeiner Erkentniß zu dienen.n. 1. Wenn
man ſchon keinen abſonderlichen Beruff darzu hat. n. 2.
Viele verneinen ſolches umb ihres eigenen intereſſe
willen n. 3. die ſich doch mit nichts als mit exempeln
und menſchlicher Gewalt ſchuͤtzen koͤnnen. n. 4. Die ge-
meine Ruhe wird durch unſere Meinung ſehr befoͤr-
dert. n. 5. Und ob dieſelbe ſchon erfordert; daß zur Leh-
re der Weißheit gewiſſe Perſonen erwehlet werden/
n. 6. ſo kriegen doch dieſelbe durch dieſen abſonderli-
chen Beruff nur eine groͤſſere Schuld/ nicht aber ein
jus prohibendi n. 7. welches mit den exempeln der
Soldaten/ Poſten u. ſ. w. erklaͤret wird. n. 8. oder ihr
jus prohibendi gehet nur auff gewiſſe Zeiten undoͤffent-
liche Orte. n. 9. Durch die promotiones Academicas
kriegt man kein Vermoͤgen zu Lehren/ fondern ein
Zengnuͤß ſeiner capacitaͤt. n. 10. Wo die Geſetze dir
das Lehren verdieten n. 11. darffſt du nicht darwieder
thun n. 12. du darffſt doch nach Gele; enheit andere die
ſich bey dir angeben umſonſt informiren, oder deinen
Nechſten mit deinen Schrifften nutzen n. 13. Wenn dir
aber auch dieſes nicht vergoͤnnet waͤre/ ziehe an einen
andern Ort n. 14. oder unterweiſe jederman in aller-
hand converſationen n. 15. Informireandere
nicht eher biß du ſelbſt was gelernet haſt

n. 16. Hierwider wird gemeiniglich augeſtoſſen n. 17.
wegen der Sprichwoͤrter: Qui nunquam malè, nun-
quam bene; Docendo diſcimus. n.
18. die doch nur
von denen reden/ die die Grund-Regeln der Warheit
allbereit erkennet haben n. 19. nicht aber von denen die
gar nichts wiſſen. n. 20. Allzuzeitliche Unterweiſung
anderer iſt hoͤchſtſchaͤdlich. n. 21. und die exempel denen
es nicht geſchadet/ ſind ſehr rar. n. 22. Warumb man

E 3in
[70]Das 2. H. Von der Geſchickligkeit
in dieſem Capitel Lectiones gebe/ andern die War-
heit beyzubringen n. 23. 24. 25. Diejenigen denen wan
die Warheit beybringen will/ ſind entweder kleine
Kinder
n. 26. fuͤr die di[ß] Capitel nicht geſchrieben
iſt. n. 27. Oder erwachſenene Leuten. 28. Und
zwar entweder Studenten oder Gelehrte n. 29. Fuͤr
jene gehoͤret mehrentheils eine muͤndliche Unterwei-
ſung/ mit dieſen communiciret man ſeine Erkentniß
In Schrifften. n. 30. 31. Allgemeine Lectiones:Rede
und ſchreibe deutlich.
n. 32. Die Deutligkeit be-
ſtehet in Worten n. 33. 34. in der Redens-Art. n. 35.
und in der Ordnung. n. 36. Jedoch wird wider dieſe
Lection ſo wohl von Lehrern n. 37. als von Zuhoͤrern
angeſtoſſen n. 38. Woher dieſer Jrrthumb ruͤhre. n. 39.
40. 41. 42. Zierliche Schreibart mu[ß] nicht eben dun-
ckel ſeyn. n. 43. Bißtreu undfidelin deiner
Unterweiſung
n. 44. Welche Lection ſehr ſelten
practiciret. n. 45. und die Untreue wohl oͤffentlich gar
beſchoͤniget wird. n. 46. zumahlen ſie gar alt iſt/ nnd da-
her die Philoſophia Ægyptiaca und Pœtarum entſtan-
den n. 47. Brauche gegen die Jrrenden dich
einer Freindligkeit und Vertrauligkeit.

n. 48. Alſo kanſtu ihnen deine Meinung nicht mit Ge-
walt auffdringen. n. 49. und muſt ſie auch unter dir lei-
den. n. 50. 51. Objection von anſteckenden Kranckbei-
ten/ heimlichen Gifft und raͤudigen Schafen. n. 52.
wir gruͤndlich beantwortet. n. 53. 54. 55. 56. Wider die-
ſe Lection wird insgemeln groͤblich augeſtoſſen/ indem
man die Jugend mit muͤrriſcher gravitaͤt informiren
will n. 57. auff die irrenden ſchaͤndet und ſchmaͤ[h]et n. 58.
die diſſentiren den biß auff den Todt verfolgt. n. 59. ſie
verlaͤumdet/ und nicht unter ſich dulten will n. 60. Ab-
ſonderliche Lectiones fuͤr die muͤndliche Unterwelſung:
Laß deine Lehrlinge deine Lehr-Saͤtze

nicht
[71]die Warheit andern beyzubringen.
nicht auswendig lernen.n. 61. Weil dadurch
zwar dem Gedaͤcheniß aber dem judicio nichts zuge-
het. n. 62. Und weil man damit nichts als leere Worte
begreifft. n. 63 Dieſe Lection wird gleichfalls wenig in
acht genommen. n. 64. Was von der arte mnemonev-
tica
zu halten ſey. n. 65. Ferner:Dictiredeinen
Zuhoͤrern wenig oder gar nichts.
n. 66.
Welches auch ſelten beobachtet wird. n. 67. Abſonder-
liche Lectiones wenn man wenig Zuhoͤrer hat. Un-
terſuche fuͤr allen Dingen ihre
capacitaͤt. n.
68. Ob ſie nehmlich ein munteres oder ſchlaͤfferiges In-
genium
haben. n. 69. Ob Sie Luſt zum Lernen haben
oder nicht n. 70. Ob ſie ſchon mit præjudiciis eingenom-
men ſind oder nicht? n. 71. Mercklicher Vortheil einen
jungen Menſchen zu informiren der einen natuͤrlichen
Verſtand hat/ und in keine Schule gegangen n. 72.
Jn Praxi bekuͤmmert man ſich um die capacitaͤt der Zu-
hoͤrer wenig n. 73. Man hat keine Gedult mit langſa-
men Ingeniis n. 74. Man tractiret die guten ingenia
nachlaͤßig. n. 75. Man bemuͤhet ſieh nicht junger Leute
attention zu erhalten n. 76. Vielweniger wo gar keine
Luſt zum ſtudiren iſt/ dieſelbe mit glimpff zu erwecken n.
77. Man haͤlt die Leute vor die Gelehrteſten/ die am
laͤngſten auff Schulen und Univerſitaͤten geweſen n.
78. Und der in der Jugend nicht in die Schule gegan-
gen und Latein gelernet habe/ ſey nicht vermoͤgend ge-
lehrt zu werden n. 79. Von denen Mitteln wie man
jungen Leuten eine Luſt zum ſtudieren machen ſolle n.
89. Warum es leichte ſey denen Kindern attention zu
erwecken/ und bey erwachſenen Leuten im Gegent heil
ſolches ſchwer zugehe n. 81. 82. 83. 84. 85. 86. Bey die-
ſen letzten muß man zufoͤrderſt die Urſachen erkennen/
die ihnen einen Eckel fuͤr dem ſtudiren machen n. 87.
Die ſind (1.) weil ſie das ſtudieren fuͤr ſchaͤdlich halten/
wegen der vielen Pedanten n. 88. und der uͤbeln Aca-

E 4de-
[72]Das 2. H. von der Geſchickligkeit.
demiſchen Sitten n. 89. Wodurch ſonderlich manierlich
erzogene Kinder von dem ſtudiren abgehalten werden
n. 90. (2.) Weil ſie ſich fuͤrchten dadurch von der Suͤſ-
ſigkeit der Wolluſt und des Muͤßiggangs abgezogen zu
werden n. 9[1]. Die Gefaͤhrligkeit dieſer Urſache/ und
Beſchwerligkeit ſelbe zu heben n. 92. (3.) Weil ſie nicht
erkennen/ was fuͤr ein Gut die Weißheit ſey/ und was
ſie fuͤr Nutzen ſchaffe n. 93. Niemand aber gerne es ſich
um nichts ſauer werden laͤſt. n. 94. (4) Weil man we-
gen ſeines Alters verzweiffelt etwas rechts zu lernen. n.
95. und man ordentlich das Gut haſſet/ an deſſen Er-
langung man verzweiffelt n. 96. (5.) Weil man gegen
junge Leute gar zu alberne Lehrarten braucht. n. 97.
wiewohl dieſer Urſache leicht abzuhelffen iſt. n. 98. Wie
man alle dieſe Urſachẽ heben ſolle n. 99. (1.) Die Furcht
fuͤr der Pedanterey/ und fuͤr den uͤbeln Academiſchen
Siltẽ. Die Weißheit iſt nicht an Academien gebunden n.
101. (2.) Die Liebe zur Wolluſt und Muͤſſiggang n. 102. (3)
Wieman erweiſen ſolle/ daß die Weißheit was ſehr gu-
tes uñ nuͤtzliches ſey n. 103. Die Eitelkeit der Gelehrten
muß wiederum der Weißheit ſelbſt nicht zugeſchrie-
ben werden n. 104. (4.) Daß niemand zur Weißheit
veraltert ſey n. 105. (5.) Daß man auch gnte Lehrarten
habe n. 106. Die andere Lection fuͤr wenig Zuhoͤrer:
Brauche dich einer angenehmen/ leich-
ten und nuͤtzlichen Lehr-Art
n. 107. Dieſe
ſcheinet wohl unmoͤglich zu ſeyn/ n. 108. aber ſie iſt viel-
mehr gantz leichte n. 109. Man ſoll nicht die gantze
Stuunde allein diſcuriren n. 110. Anch nicht leichte
zugeben/ daß die Zuhoͤrer den diſcurs nachſchreiben/
n. 111. Aber was denn zu thun? 112. Raiſonire mit dei-
nen Zuhoͤrern durch continuir liches Fragen und ant-
worten n. 113. Weitlaͤufftigere Erklaͤrung dieſer Lehr-
Art n. 114. 115. 116. 117. 118. und derſelben vielfaͤltiger
und ungemeiner Nutzen. n. 117. [...] Sonderlich aber der
ſtudirenden Jugend Luſt und [...]attention zu erwecken

n. 120.
[73]andern die Warheit beyzubringen.
n. 120. Warum man ſich aber derſelben ſo gar ſelten
bediene n. 121. Bey vielen Zuhoͤrern will dieſe methode
nicht angeben n. 122. Und dieſe ſind auch ordentlich
von unterſchiedener capacitaͤ/ n. 132. Bey denen man
ſich demnach aus Noth eines continuirlichen diſcur-
ſes
bedienen muß. n. 124. Hier aber mercke dieſe Lecti-
on: Accommodire
deinendiſcursnach
allerley
capacitaͤt der Zuhoͤrer/ und er-
wecke bey ihnen durch denſelben eine
Luſt zur Weißheit
n. 125. Erklaͤrung dieſer
Lection, wenn man uͤber ſeine eigene Lehr-Saͤtze diſcu-
riret. n.
126. 127. Und wenn man einen Autorem er-
klaͤret. n. 128. Man muß ſeinen Zuboͤrern auch ſonſt
acceß verſtatten n. 129. Und auff ihr Begehren ein E-
xamen
mit ihnen anſtellen n. 130. Abſonderliche Lecti-
on
in Beybringung wahrſcheinlicher Dinge: Man
ſoll zuſrieden ſeyn/ wenn die Lehrſaͤtze
hierinnen ſelten triegen
n. 131. 132. Gemeiner
Fehler/ daß man wahrſcheinliche Dinge zu demon-
ſtrationibus
bringen will n. 133. 134. oder an denſelben
zweiffelt/ wenn man darwider eine einige inſtanz ge-
ben kan n. 135. Wenn man die Warbeit endlich an-
dern in Schrifften beybringen will n. 136. ſind die-
ſes die fuͤr nehmſten Lectiones:Schreibe aus
deinem Kopffe und nicht aus andern
Buͤchern
n. 137. Gemeine Praxis iſt darwit er n. 138.
Erklaͤrung und Einſchraͤnckung dieſer Lection n. 139.
140. 141. Beſteißige dich einer angeneh-
men Schreibart/ und huͤte dich fuͤr lee-
ren Worten.
n. 142. Das iſt: Brauche keine Syl-
logiſmos
in Schrifften n. 143. 144. und binde dich
nicht an den merhodum cauſarum n. 145. 146. 147.
Leere Worte ſind verdruͤßlich n. 148. 149. 150. Selbe

E 5ſind
[74]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
ſind entweder eitel und ungeſchmackt/ aber unſchaͤd-
lich n. 151. oderverfuͤhreriſch als wie die geluͤnſtelten
Rhethoriſchen Schreibarten n. 152. die bey weiſen
Leuten denen Autoribus mehr ſchaden als heiſſen. n.
153. Verderbter Geſchmack der meiſten Gelehrten. n.
154.


1.
WEnn du in deinen Kopff auffgeraͤu-
met haſt/ ſo kanſtu nicht allein/ ſon-
dern du ſolt auch anderu Leuten mit
deiner Erkentniß dienen/ weil dich das Recht
der geſunden Vernunfft
verbindet/ mit dei-
nen Dienſten deines Nechſten Heil und Wol-
fahrt zu befoͤrdern. Was iſt aber wohl fuͤr ein
edlerer Dienſt/ als wenn ich andern Men-
ſchen zeige/ wie ſie die Finſterniß ihres Ver-
ſtandes vertreiben/ ja wie ſie rechte Menſchen
zu ſeyn anfangen ſollen.


2. Deßhalben laß dich nicht irre machen/
wenn man dir wolte einbilden/ du muͤßeſt zur
Fortpflantzung der Warheit einen abſonder-
lichen Beruff
haben/ und waͤre dannenhero
nicht nur unnoͤthtig/ daß du dich dißfalls bemuͤ-
heteſt/ ſondern du wuͤrdeſt auch wider dein
Gewiſſen
handeln/ wenn du dich in Mange-
lung dieſes Beruffs unterſtehen wolteſt/ die ir-
renden und unwiſſenden zu unterweiſen/ weil
die
[75]andern die Warheit beyzubringen.
die allgemeine Ruhe verletzet werden wuͤr-
de/ wenn die Unterweiſung iederman freyſtuͤn-
de/ und denen/ die hierzu abſonderlich beruffen/
nicht allein uͤberlaſſen wuͤrde.


3. Du darffſt dir nur kuͤhnlich einbilden/ daß
alle diejenigen/ die dich dadurch an deinen gu-
tes Vorſatz abhalten wollen/ ſolches zu keinem
andern Ende thun/ als weil ſie in denen allge-
meinen Jrrthuͤmern
noch gleichſam ver-
graben
ſtecken/ oder aber/ weil ſie vorſetzlicher
Weiſe das Reich der Finſterniß zu verthei-
digen
ſuchen/ und wohl erkennen/ daß demſel-
ben und dem præjudiciomenſchlicherauto-
rit
aͤt/ und folglich vielleicht ihren eigenenin-
tereſſe
und Anſehen kein groͤſſerer Schade
geſchehen koͤnte; als wenn man einen ieden/ der
was rechts gelernet hat/ ſeine Wiſſenſchafft
andern mitzutheilen vergoͤnnet.


4. Und gewiß/ wenn du an ſolche Leute be-
gehren wolteſt/ ſie ſolten dir doch gegruͤndete
Urſachen
vorbringen/ warum dieſes loͤbliche
Vorhaben unrecht ſeyn ſolte/ werden ſie dir
nichts mehr vorhalten/ als daß ſie dich auff die
gemeineexempel, die heut zu Tage vorkom-
men/ verweiſen/ indem beynahe durchgehends
die Freyheit zu Lehren dem der ſolche nicht mit
Gelde
[76]Das 2. H. von der Geſchickligkeit.
Gelde erkaufft hat/ verboten wird. Aber die-
ſer Scheingrund wird deinem Verſtand we-
nig ſchaden/ weil du gleich erkenneſt/ daß man
ſich bemuͤhe die Jrrthuͤmer menſchlicher au-
torit
aͤt durch menſchliche Gewalt zu ver-
theydigen/ und folglich daraus leicht abneh-
men kanſt/ daß/ wo es ſo zugehet/ die Weißheit
groſſe Noth leiden muͤſſe.


5. Denn wie ſolte wohl die allgemeine Ru-
he durch die Lehre der Weißheit in gering-
ſten koͤnnen verletzet werden/
da doch viel-
mehr dieſelbe die eintzige Stuͤtze des gemeinen
Weſens iſt/ und alle Verwirrungen/ aller
Zanck und Schaden wie in allen menſchlichen
Geſellſchafften/ alſo auch in der Republique
hauptſaͤchlich von der Erdultung auch der ge-
ringſten Jrrthuͤmer herruͤhret/ und in deſſen
Anſehen vielmehr zu wuͤndſchen waͤre/ daß al-
les Volck die Warheit lehrete.


6. Es erfordert ja wohl der allgemeine Nu-
tzen/ daß wie zu andern buͤrgerlichen Geſchaͤff-
ten alſo anch zur Lehre der Weißheit gewiſ-
ſe Perſonen erkieſet
werden/ denen alſo uͤber
den allgemeinen Beruff ein abſonderlicher ge-
geben/ und daß ſie fuͤr andern dieſen ihren Be-
ruff ins Werck ſetzen ſollen/ anbefohlen wird.
Aber dieſes iſt uns nicht zuwider.


7. Deñ
[77]andern die Warheit beyzubringen.

7. Denn du muſt erſtlich wiſſen/ daß die Ge-
ſetzgeber hierinnen nicht ſo wohl ihr Abſehen
dahin gerichtet/ daß andere deßwegen ſolten
ausgeſchloſſen ſeyn die Weißheit zu lehren/
und daß die erkornen oͤffentlichen Lehrer ein
eigen Gewerbe haben ſolten/ ſondern viel-
mehr/ daß ſie/ damit niemahln hierinnen ein
Mangel erfunden werde/ in dieſem hoͤchſtnoͤ-
thigen Stuͤcke den gemeinen Nutzen zu be-
foͤrdern/ ſolten ſchuldig ſeyn/ weßhalben ſie
auch dafuͤr aus den gemeinen Einkuͤnfften pfle-
gen beſoldet zu werden.


8. Alſo iſt es auch mit andern Aembtern
beſchaffen/ denn es wird niemand gewehret/ an-
dere Leute von einem Orte zu dem andern zu
bringen/ Reiſende wider die Gewalt der Moͤr-
der zu ſchuͤtzen/ im Kriege einen Voluntaire ab-
zugeben/ obſchon oͤffentliche Poſten angeord-
net ſind/ auch gewiſſe Straſſen-Bereuter uñ
Soldaten
unterhalten und beſoldet werden.


9. Und obſchon die allgemeine Ruhe erfor-
dert/ daß um erhaltung guter Ordnung willen
an oͤffentlichen Orten/ und zu gewiſſen Zei-
ten/
wie andere Aembter/ alſo auch die Lehre
der Weißheit durch die darzn verordneten
Perſonen alleine verrichtet werde; ſo iſt doch
dadurch
[78]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
dadurch denen andern nicht verboten/ ſolches
zu andern Zeiten inprivatZuſammen-
kunfften
zu verrichten/ ſo wenig als es vor
verboten zu achten/ andern/ um welche Zeit
es an der Uhr ſey nachricht zu geben/ obſchon
gewiſſe Stundenruffer beſtellet ſind/ die ſolches
oͤffentlich ausruffen muͤßen.


10. Ja es es ſcheinet/ daß da man angefangen
durch Mittheilung Academiſcher Wuͤrden
denen ſo ſolche erhalten/ unter andern Privi-
legien
auch die Macht zu Lehren zugeben/
man nicht ſo wohl dahin ſein Abſehen gerich-
tet/ daß man ihnen das Vermoͤgen und die
Freyheit geben wolte/ die Weißheit andern
mitzutheilen/ (denn das Vermoͤgen muß man
ſelbſt mitbringen/ und kan niemand von eini-
gen Menſchen gegeben werden/ wie ſchon zu
ſeiner Zeit der Roͤmiſche Keyſer Hadrianus er-
wogen; die Freyheit aber giebt einem iedwe-
den das Recht der Natur) als daß man ihnen
ein oͤffentliches Zeugniß von ihrer Tuͤch-
tigkeit
zum Lehren geben wollen/ weil doch
dem gemeinen Weſen etwas daran gelegen
iſt/ daß ſich des Lehrens nicht iederman unter-
fange/ der die Weißheit ſelbſt nicht gelernet hat.
Deßwegen aber iſt andern unverboten/ derer
Tuͤch-
[79]andern die Warheit beyzubringen.
Tuͤchtigkeit offenbahr und am Tage iſt/ oder
die dieſelbe durch andere proben an Tag geben
koͤnnen/ dasjenige was ſie wiſſen/ auch andern
gemein zu machen.


11. Geſetzt aber/ du lebteſt unter einen ſo ver-
derbten Stande/ da man dieſe Freyheit mit
Gelde erkauffen
muͤſte/ und da die Geſetze o-
der die Gewonheit unterſagte/ daß niemand/
als denen man es abſonderlich vergoͤnnet
haͤtte/ andere Leute lehren und unterweiſen
ſolten/ ſo bekuͤmmere du dich doch deßwegen
im geringſten nicht/ denn es gehet dir und dei-
ner Obliegenheit andern Menſchen zu die-
nen dadurch wenig oder gar nichts ab.


12. Du muſt aber dieſes bey leibe nicht alſo
verſtehen/ als wenn du ſolchen Geſetzen zu-
wider leben/
oder ihre Meinung durch eine
Sophiſtiſche Auslegungcavilliren ſolteſt;
denn die Sitten-Lehre wird dir zeigen/ daß
du auch unbilligen Geſetzen gehorchen muͤſ-
ſeſt/ und das folgende Capitel wird dir zu er-
kennen geben/ daß alle Sophiſtifche Auslegun-
gen unvernuͤnfftig ſind. Zu geſchweigen/ daß
wenn du dieſes thun wolteſt/ die Pedanten
und Vertheydiger der Jrrthuͤmer uͤber dich
frolocken/ und dich bey iederman als einen gott-
loſen
[80]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
loſen Kerl/ der der von GOtt ihm vorgeſetzten
Obrigkeit nicht pariren wolte/ ausſchreyen
wuͤrden.


13. Sondern du muſt meine Meinung al-
ſo begreiffen. Dergleichen Geſetze verbieten
dier niemahlen/ daß du deine Erkentniß der
Weißheit nicht andern mittheilen ſolteſt; ſon-
dern ſie verbieten dir nur/ daß du mit dieſer
Unterweiſung kein Geld verdienen ſolleſt;
Unterweiſe ſie demnach ohne Entgeld: oder
daß du nicht an einen oͤffentlichen Ort ande-
re Leute hierzu einladen ſolleſt; So unterwei-
ſe diejenigen/ die ſich freywillig bey dir ange-
ben: oder daß du nicht muͤndlich die Lehrbegie-
rigen unterrichten ſolleſt; thue es denn in
Schrifften.


14. Ja klagſtu/ man will es aber auch nicht
leiden/ das ich umſonſt und in meinem Hau-
ſe
andern was lehren ſoll/ oder es iſt mir auch
das Schreiben verboten. Es iſt nicht gut
mein Freund; aber deßwegen darffſt du dich
nicht bekuͤmmern/ wenn du nichts mehr zu
klagen haſt. Stehet dir die Welt nicht of-
fen? Und haben dir die Præceptores in deiner
Jugend nicht offte genung vorgeſagt: Patria eſt
ubicunque bene eſt.
Jngleichen: Artem quævis
terra alit.
u. ſ. w.


15. Lei-
[81]andern die Warheit beyzubringen.

15. Leidet es aber deine Gelegenheit wegen
vieler Umbſtaͤndt nicht dieſe reſolution zu faſ-
ſen/ verzage deßwegen nicht. Die Unter-
weiſung anderer Leute in der Tugend und
Warheit iſt nicht daran gebunden/ daß man
ſolches in Schrifften oder in Collegiis thue.
Sie erfordert kein auditorium, oder daß man
die/ ſo man unterweiſen will/ umb eine gewiſſe
Stunde zu ſich beſtelle/ ihnen Baͤncke ſetzen
laſſe/ und einen gewiſſen Autorem erklaͤre/
oder eine diſciplin ordentlich nacheinander
durchgehe. Es wird dir doch nicht verboten
ſeyn mit andern Leuten umzugehen. Da
haſtu nun tauſend Gelegenheiten fuͤr eine/ in
Spazierengehen/ bey der Mahlzeit/ auff
der Boͤrſe/ in Buchlaͤden// in Gewoͤlben/
bey viſiten/ und in Summa bey allenCon-
verſationen,
ſie moͤgen weit oder enge ſeyn/
ohne einige affectirung oder pedanterey dei-
ne Erkentniß andern mitzutheilen/ und ihnen
ihre eigene oder allgemeine Jrrthuͤmer zu er-
kennen zu geben. So machte es Socrates, der
doch viel vortrefflicher geweſen/ als alle Philo-
ſophi
nach ihm.


16. Jch habe hiernechſt nicht ohne Urſache
oben geſagt/ du ſolteſt andern Leuten etwas bey-
Fzubrin-
[82]Das 2. H. von der Geſchickligkeit.
zubringen alsdenn erſt dich unterfangen/ wenn
du in deinem Kopffe ſelbſt auffgeraͤumet.

Dieſes nun verſtehet ſich von ſich ſelbſten.
Denn wie kanſtu einen andern die Warheit
beybringen/ die du ſelbſt noch nicht gegruͤndet
weiſt. Mag auch ein Blinder einen andern
den weg weiſen?


17. Jedoch wirſtu auch unter hundert Leh-
rern zehen finden die dieſes in acht genommen?
Wie viel ſind ihrer vielmehr/ die noch allent-
halben alle Augenblicke andere unterwei-
ſen/ und doch ſelbſten nichts verſtehen/
weil
alle ihre Wiſſenſchafft/ wenn es hoch koͤmmt/
darinnen beſtehet/ daß ſie herſagen/ was ſie von
ihren Præceptoribus gehoͤrt und was ſie noch
in ihren MSS. oder andern Buͤchern finden/
und ſolcher geſtalt noch in dem præjudicio au-
toritatis
biß an den Halß ſtecken.


18. Jch weiß wohl/ es betreugt uns allen ge-
meiniglich/ daß uns von Jugend auff vorgeſa-
get wird: Qui nunquam malè nunquam
benè. Docendo diſcimus.
Und was der-
gleichen Weideſpruͤche mehr ſind/ durch die
uns auch wohl unſere Lehrer ſelbſt anfriſchen/
daß wir andere lehren ehe wir ſelbſt gelehrt ſind.
Aber ich weiß auch wohl/ daß dergleichen
Spruͤche
[83]andern die Warheit beyzubringen.
Spruͤche nur von denen reden/ die allbereit
angefangen haben in ihrem Kopffe auffzuraͤu-
men/ und gar zu lange Auffſchieben ſich mit
Lehren zu uͤben/ weil ſie gar zu mißtrauiſch in
ſich ſelbſt ſind.


19. Denn wenn wir geſagt/ daß man zuvor
auffraͤumen/ und ſelbſt die Warheit erkennen
ſolle/ ehe man andern dieſelbe beyzubringen
ſich unterfange/ verſtehen wir nur ſo viel/ daß
ein Menſch die Grundwarheiten derer
Dinge/
die er lehren will verſtehe/ und die
præjudicia autoritatis und præcipitantiæ
ernſtlich zu beſtreiten angefangen habe/ nicht
aber/ daß er alles was ein Menſch wiſſen kan/
vollkommen verſtehen muͤſſe. Denn er wird
die Zeit ſeines Lebens noch etwas zu lernen fin-
den.


20. Daß man aber durch erwehnte Spruͤ-
che diejenigen/ ſo noch in der Unwiſſenheit ſte-
cken/ auffmuntern will/ iſt eben ſo ungeſchickt/
als wenn (nach Art der Æſopiſchen Fabeln zu
reden) ein Sperling ſich damit unterfangen
wolte/ einen jungen Papegey vorzupfeiffen/
oder alß wenn man einen Kruͤpel oder Gicht-
bruͤchtigen
dadurch anmahnen wolte andern
vorzutantzen.


F 221. Es
[84]Das 2. H. von der Geſchickligkeit

21. Es iſt vielmehr zu befahren/ daß dieje-
nigen ſo allzuzeitig anfangen andere zu un-
terweiſen/
die einmahl eingeſogene præjudi-
cia
durch eine ſtetswaͤhrende præcipitanz im-
mer befeſtigen/ und ihren Verſtand gantz
confus, ſich aber ſelbſt dadurch untuͤchtig
machen/ daß ſie hernach nimmermehr zur Er-
kentniß der Warheit kommen. Und gewiß/
ich koͤnte dir ſelbſt viel exempel von ſonſt guten
ingeniis erzehlen/ die ſich bloß dadurch verdor-
ben/ daß ſie fliegen wollen ehe ihnen die Fluͤgel
gewachſen.


22. Und ob ſchon nicht zu laͤugnen/ daß zu-
weilen etliche gemuͤther aus dieſer Gefahr
heraus geriſſen
werden/ und wenn ſie allbe-
reit etliche Jahre ſelbſt blind und Blinden Lei-
ter geweſen/ ohnverſehens anfangen in ſich zu
gehen/ ihre Jrthuͤmer zu erkennen/ und hernach
andern mit ihrer Erkentniß zu dienen; ſo ſind
doch dieſeExempelſo rar/ daß einer wider
die regeln geſunder Vernunfft handeln wuͤr-
de/ wenn er mehr auff dieſelben/ als auff tau-
ſend exempel derer die in der Gefahr unterlie-
gen ſehen wolte; zumahlen bey dieſen raren e-
xempeln
Gott gemeiniglich durch wunderliche
und verdrießliche Mittel die ſich niemand ger-
ne
[85]andern die Warheit beyzubringen.
ne wuͤnſchet/ als Kranckheit/ Armuth/ Ver-
folgung
und ander Ungluͤck/ dieſe auſſeror-
dentliche Wuͤrckung vollbringet.


23. Nachdem̃ wir alſo bißher betrachtet/ daß
es vergoͤnnet ſey/ die erkannte Warheit andern
mitzutheilen/ und daß man ſolches zu thun/ ſich
nicht zuvor unterfangen ſolle/ biß man zuvor
ſeine Erkenntniß ſelbſten gepruͤffet/ ſcheinet
es nun wohl/ daß man in Anfehen der hierbey
noͤthigen Handgriffe nicht vonnoͤthen habe/
neue und abſonderlicheLectiones zu geben/
ſondern daß man nur dem andern/ dem man die
erkandte Warheit bey bringen will/ zeigen muͤſ-
ſe/ wie man dieſelbe bey ſich ſelbſt erfunden;
maſſen wir denn auch allbereit in der Ver-
nunfft-Lehre/ als wir von der Demonſtration
gehandelt/ dieſes erinnert haben. Und duͤrff-
ten dannenhero zum Uberfluß nur die daſelbſt
angefuͤhrten wenigen Anmerckungen allen-
falls allhier wiederholet werden.


24. Denn z. e. ich brauche keine andere me-
thode
einen andern den rechten Weg zu wei-
ſen/
als daß ich ihm die Keñzeichen gebe mit denẽ
ich ihn gefunden/ oder ihn zu unterrichten/ wie
er einen Berg hinauff klettern ſolle/ als daß
ich es ihm weiſe/ wie ich es gemacht habe; oder
F 3ihm
[86]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
ihm zu erkennen zu geben/ wie ich ein proble-
ma
in derMathematic und Rechen-Kunſt
reſolviret habe/ als daß ich ihm meine operati-
on
weiſe.


25. Gleichwohl iſt anderstheils nicht zu
laͤugnen/ daß nicht alleine die allgemeine Jrr-
thuͤmer/
die dabey/ wenn man andern die er-
kennte Warheit will gleichfalls zu erkennen
geben/ haͤuffig vorzugehen pflegen/ noch einige
Anmerckungen erfordern/ ſondern auch/ daß
es zuweilen ſich nicht allzuwohl ſchicken will/ die
methode, die man bey ſich ſelbſt gebraucht/
nach allen den genauſten Umſtaͤnden auch bey
andern in acht zu nehmen. Denn wie/ wenn
z. e. derjenige den du auff den rechten Weg
bringen wolteſt/ gantz auff einen andern Jrr-
weg
gerathen waͤre/ als auff welchen du dich
zuvorhero verirret gehabt? Wenn der andere
das klettern noch gar nicht gewohnet waͤ-
re? oder endlich/ wenn der andere dieopera-
tiones,
vermittelſt welcher du das auffgegebe-
ne problema reſolvirt, noch gar nicht verſtuͤn-
de? Als wenn du dich hierzu der Algebræ bedie-
net haͤtteſt.


26. Derowegen damit wir deſto ordentlicher
hierinnen verſahren/ præſupponiren wir/ daß
dieje-
[87]andern die Warheit beyzubringen.
diejenigen/ denen wir die erkannte Warheit
beybringen wollen/ entweder kleine Kinder
ſind/ oder erwachſene Leute.


27. Wiewohl aber wegen Unterweiſung
kleiner Kinder
ſehr viel zu erinnern waͤre/
indem die allgemeine Lehrart durchgehends ſo
wenig taugt/ daß ein vernuͤnfftiger Menſch/
der dieſes Unweſen mlt unpartheyiſchen Au-
gen anſiehet/ uͤber die Blindheit der Welt er-
ſchrickt; ſo haben doch von dieſem Ubel allbe-
reit ſo viel wackere und vortreffliche Leute vor
uns geſchrieben/ daß es nicht allein unnoͤthig
ſeyn wuͤrde/ dißfalls etwas zu erinnern/ ſon-
dern es wuͤrde auch eben ſo vergebens ſeyn/ ſo
vergebens die itztbeſagten Erinnerungen ge-
weſen/ weil die Ausuͤbung ſolcher Vorſchlaͤge
one den Beytrag der erwachſenen nicht geſche-
hen kan/ bey dieſen aber nichts zu hoffen iſt/
ſo lange dieſelben noch in denen præjudiciis ſte-
cken/ nnd niemand iſt der ſie heraus reiſt.


28. So iſt auch unſere gantze Philoſophie,
und ſonderlich die Vernunfft-Lehre fuͤr die er-
wachſenen
geſchrieben/ und wenn dieſe ein-
mahl gebeſſert uñ recht unterwieſen ſeyn/ wird
es ſich hernach mit Ausbeſſerung der gemeinen
Schulen gleichſam von ſich ſelbſt ſchicken.


F 429. Die
[88]Das 2. H. von der Geſchickligkeit

29. Die erwachſenen aber ſind zweyerley
Arten/ enweder/ denen ihr Verſtand erſt
reiff wird/
und die alſo noch anderer Huͤlffe
vonnoͤthen haben/ nehmlich/ die jungeStu-
den
ten/ oder aber derer ihr Verſtand ſchon
lange reiff geweſen/
und die allbereit in ihren
Kopffe auffgeraͤumet haben/ und warhafftig
Gelehrte Leute
ſind. Denn ob ſchon dieſe
die Grund-Regeln der Warheit wohl verſte-
hen/ ſo wiſſen ſie doch deßhalben nicht alle con-
cluſiones.
Denn es iſt keiner unter ihnen all-
wiſſend. Ja es iſt ſo zu rechnen kein Gelehr-
ter/ der nicht auff gewiſſe maſſe mehr und we-
niger wiſſe als andere.


30. Ferner ſo pfleget man die Erkentniß der
Warheit andern entweder in Schrifften zu
communiciren, oder aber durch einen muͤndli-
chen
diſcurs.


31. Ob nun wohl beyderley Arten koͤnnen
gebraucht werden/ man mag Lehrbegierige
Studenten oder gelehrte Leute fuͤr ſich haben/ in
Anſehen man zum oͤfftern fuͤr die ſtudierende
Jugend hauptſaͤchlich accommodirte Schriff-
ten verfertigt/ und ein Gelehrter mit dem an-
dern ſeine Erfindungen muͤndlich communici-
r
et; ſo geſchiehet es doch mehrentheils/ daß man
die
[89]andern die Warheit beyzubringen.
die Schrifften der gelehrten Welt widmet/
und die muͤndliche Unterweiſung ſchicket
ſich mehr fuͤr die ſtudierenden; maſſen denn
auch bekant iſt/ daß die muͤndliche Unterwei-
ſung am capabelſten ſey/ einen jungen Men-
ſchen vollkommen zu machen/ da hingegen/
wenn er nur fuͤr ſich etwas aus den Buͤchern
lernen will/ es ihn gemeiniglich zur Erfor-
ſchung der rechten Weißheit untuͤchtig macht.


32. Beydes in Schrifften und muͤndlicheꝛ
Unterweiſung/
beydes bey Gelehrten und
ſtudierenden gewoͤhne dich fuͤr allen Dingen
an/ daß du deutlich ſchreibeſt und redeſt.
Denn ie deutlicher du es den andern machſt/
ie eher wird er es begreiffen. Dieſes iſt aber
dein Zweck/ daß der andere deine Gedancken
erkennen und begreiffen ſolle.


33. Die Deutligkeit aber beſtehet theils in
Worten/ theils in der Redensart/ theils in
der Ordnung


34. Derowegen huͤte dich/ daß du nicht viel-
deutige Worte
brauchſt/ wo du eindeutige ha-
ben kanſt/ nicht figuͤrliche/ wo du die Sache
mit eigenen geben kanſt; es waͤre denn/ daß man
aus andern Worten alsbald ſehen koͤnte/ wel-
che Bedeutung du im Sinne habeſt/ oder die
F 5Sache
[90]Das 2. H. von der Geſchichligkeit
Sache koͤnte nicht anders als durch figuͤrliche
Wort ausgedruͤckt werden.


35. Huͤte dich ferner/ daß du in Beybrin-
gung der Warheit dich nicht eines hochtra-
benden/ dunckeln und zweydeutigen und
allzuweit von ei
nander geworffenenStyli
oder Redensart gebraucheſt; ſonſt wird man
dir vorſagen: Si non vis intelligi non debes
legi.


36. Endlich brauche eine leichte und na-
tuͤrliche Ordnung/
die dem Zuhoͤrer oder
Leſer eine Luſt erweckt/ und fange deßwegen
nicht von denen Concluſionibus oder von den
ſchwereſten/ ſondern vielmehr ordentlich von
denen principiis oder hypotheſibus an.


37. Jch weiß zwar wohl/ und die taͤgliche
Erfahrung wird dir es zeugen/ daß man ins-
gemein wider dieſe Anmerckung anzuſtoſ-
ſen pfleget/
und daß die Lehrer oder Scri-
bent
en nicht nur ſich befleißigen/ zweydeuti-
ge/ figurliche dunckele Worte und Redens-
arten
zu gebrauchen/ und damit einen hohen
und anſehnlichen Spaniſchen Stylum zu affe-
ctiren,
und eine ſonderliche Zierligkeit darin-
nen zu ſuchen/ ſondern auch zum oͤfftern mit
der methode zu kuͤnſteln/ und die hypotheſes
der-
[91]andern die Warheit beyzubringen.
dergeſtalt zu verſtecken/ daß man Muͤhe hat/
wenn man ein Buch etliche mahl durchleſen/
oder ſich ihrer information etliche Jahr bedie-
net/ zu verſtehen was ſie haben wollen/ oder
was der Grund ihrer Lehre ſey.


38. Wiederum pflegen auch die Zuhoͤrer
und Leſer gemeiniglich ſolche Autores hoch zu
achten/ und mit viel groͤſſerer Begierde zu le-
ſen/ als diejenigen/ ſo klar und deutlich geſchrie-
ben haben.


39. Aber dieſes Ubel kommt auff beyden
theilen daher/ daß die gantze Welt mit dem
hoͤchſtſchaͤdlichen Jrrthum eingenommen iſt/
daß zwiſchen Gelehrten und gemeinen Leu-
ten ein
ſolcher Unterſchied ſeyn muͤſſe/ daß die
Gelahrheit einen beſonderlichen Ehren-
ſtand
in dem gemeinen Weſen haben muͤſſe/
und daß dannenhero die Warheit/ die ſo
leichte iſt/ daß ſie auch von gemeinen Leuten
verſtanden werden koͤnne/ nichts tauge.


40. Derowegen wie dieſe unzeitige Ehr-
ſucht
gemeiniglich mit einem Neid vergeſell-
ſchafftet iſt; alſo gefaͤllt es ſolchen neidiſchen
Gemuͤthern wohl/ wenn ſie einen ſchweren und
dunckelen Autorem begreiffen koͤnnen/ und
freuen ſich/ wenn ſie ſehen/ daß andere/ die kei-
nen
[92]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
nen ſo penetranten Verſtand und judicium
haben/ denſelben nicht auch ſo wohl aſſequiren
koͤnnen.


41. Was die Zierligkeit der Schreibart
betrifft/ ſcheinet es/ daß man das Amt eines
Philoſophi und Redners gemeiniglich mit
einander zu vermiſchen pflege. Ein Redner
der ſich vorgenommen hat/ die Meinungen
der Menſchen nach ſeinen eigenen Vorhaben/
und nicht nach der Warheit zu lencken/ und ſie
was er will zu bereden/ muß freylich die affe-
cten
mit zierlichen/ verbluͤmten und ungemei-
nen Redensarten ruͤhren. Aber ein Philoſo-
phus
braucht bey darſtellung der Warheit/ die
am ſchoͤnſten iſt wenn ſie nackend iſt/ keine ſol-
che Schmincke: Und Socrates traͤgt dieſelbe
durch die allergemeinſte Gleichniſſe und exem-
pel
vor.


42. Wiewohl hieran die Leſer und Lehr-
linge
auch ſelbſten ſchuld ſeyn. Es iſt ein alt
Sprichwort: Mundus vult decipi. Sie wol-
len die Warheit nicht in ſich ſelbſt begreiffen/
ſondern von andern beredet/ und folglich auch
betrogen ſeyn. So muͤſſen ſich denn wohl die
Scribenten in dieſe Weiſe ſchicken/ und die zur
Betriegerey gehoͤrigen Mittel gebrauchen.


43. U-
[93]die Warheit andern beyzubringen.

43. Uber dieſes ſo iſt auch die Vorſtellung
der Warheit
deshalben nicht aller Zierligkeit
beraubet/ oder vielmehr es iſt kein nothwendig
Stuͤck zur Zierligkeit/ daß man dunckel
ſchreiben muͤſſe. Was iſt wohl netter geſetzt/
als des HerrnPufendorffs Schrifften. Aber
was iſt auch deutlicher? Und ich glaube/ man
werde in denen von meinem ſeeligen Vater
edirten Buͤchern gleichfalls eine zierliche leich-
tigkeit und Deutligkeit antreffen.


44. Wann wir bißhero von der Deutlig-
keit und deren nothwendigkeit geredet/ ſo ver-
ſtehet es ſich nun von ſich ſelbſt/ daß du auch
treu undfidelin deinen Unterweiſungen
ſeyn muſt/
ſie moͤgen nun ſchrifftlich oder
muͤndlich geſchehen; du magſt Gelehrte oder
Ungelehrte vor dir haben. Denn wie wilt du
deutlich ſeyn/ wenn du nicht fidel biſt? Jndem
ein untreuer Lehrmeiſter kein beſſer Mittel
weiß dem andern die Lehre ſauer zu machen/
alß daß er alles auff das dunckelſte und zwey-
deutigſte vorbringe-


45. Aber wo findeſtu viel ſolche Leute. Der
Eigennutz/ die Ehrſucht
und der Neid/ uͤ-
ber die wir nur itzo geklaget/ treibet viel Pro-
feſſores
und Scribenten an/ mit der wahren
oder
[94]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
oder deutlichen Erkentnuͤß/ und den rechten
Grund derſelben hinter dem Berge zu halten/
wenn ſie gleich dieſelbe wiſſen.


46. Ja man ſcheuet ſich nicht/ oͤffters dieſe
Untreue oͤffentlich zu beſchoͤnigen/ und iſt nichts
neues/ daß man von dergleichen Leuten hoͤret:
Ein guter Meiſter behaͤlt allzeit einen
Streich vor ſich. Man muß die Welt
auff einmahl nicht gar zu klug machen.
Die guten Kerle muͤſſen ſich es auch ſo
ſauer werden laſſen als ich habe thun muͤſ-
ſen/
u. ſ. w.


47. Und dieſe Untreue iſt beynahe ſo alt
als der Jrrthumb ſelbſt. Denn ſie hat die
Ægyptier beredet/ ihre Weißheit in Hiero-
glyphica
zu veꝛſtecken. Sie iſt Urſache an
allen
Fabeln der Grichiſchen und Lateini-
ſchen Poëten. Anderer exempel anietzo zu ge-
ſchweigen.


48. Endlich ſo bediene dich auch in Unter-
weiſung anderer wer ſie ſeyn/ oder auff was
weiſe du denenſelben die Warheit beybringen
wilſt/ einer angenehmen Freundligkeit
und Vertrauligkeit.
Der Verſtand des
Menſchen iſt nicht in ſeiner Willkuͤhr/ und
dannenhero keinen Zwang unterworffen. Und
wer
[95]andern die Warheit beyzubringen.
wer denſelben von denen Jrrthuͤmern reinigen
will/ muß es nicht anders machen/ als ein
Medicus mit ſeinem Patienten. Dieſer er-
zuͤrnet ſich nicht uͤber ihn/ wenn die gegebe-
nen und gebrauchten Artzneyen nicht anſchla-
gen wollen/ und er nicht geſund wird. Er
ſchilt ihn nicht/ wenn ſeine delicate Gewon-
heit ihm einen Eckel fuͤr der Artzney macht;
ſondern er giebt ihm freundliche und gute
Worte/ damit er eine Liebe und Vertrauen
gegen ſich bey denen Patienten erwecke. Wie
vielmehr erfordert dannenhero die cur des
Verſtandes eine dergleichen Freundligkeit/
weil die Zaͤrtligkeiten eines Patienten, und die
Kranckheit die er am Halſe hat/ zum oͤfftern
mehr von ſeiner eigenen Willkuͤhr ihren Ur-
ſprung genommen/ als die Unwiſſenheit oder
der [Jrthumb] anderer Menſchen.


49. Derowegen flieſſet hieraus nothwendig/
daß wir diejenigen/ die man unterweiſen will/
nicht verfolgen/ oder ihnen unſere Meinun-
gen mit Gewalt auffdringen muͤſſe.


50. Ja es folget ebenfalls hieraus/ daß es
ſehr ungeſchickt ſey/ wenn man diejenigen/ die
man eines Jrrthumbs beſchuldiget/ nicht un-
ter ſich leiden
will/ und will doch von ihnen
præ-
[96]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
prætendiren/ daß ſie ihren Jrrthumb ſollen
fahren laſſen.


51. Was wolte man wohl von einem Me-
dico
halten/ wen er in eine Stadt kaͤme/ und
wolte prætendiren/ es ſolten ſich alle patienten,
die doch mit einer langwierigen Kranckheit be-
hafftet waͤren/ daraus weg machen oder ſchleu-
nig geſund werden. Oder der keine Patien-
ten
um und neben ſich leiden wolte.


52. Jch weiß wohl/ daß man insgemein die-
ſen Schnitzer zu vertbeydigen anzufuͤhren pfle-
get: Daß man einen Unterſcheid unter gemei-
rien
und anſteckenden Kranckheiten ma-
chen muͤſſe. Fuͤr dieſen letzten habe man ſich
billig in acht zu nehmen/ und ſonderlich ſeine
anvertraute Lehrlinge/ daß dieſelbige nicht
von einem heimlichen Gifftinficiret wer-
den. Es ſey bekandt/ daß ein raͤudig Schaaf
die gantze Heerde raͤudig mache u. ſ. w.


53. Allein dieſe Entſchuldigungen halten
den Stich wohl ſehr ſchlecht. Je gefaͤhrli-
cher
der Jrrthumb iſt/ ie mehr erfordert un-
ſere natuͤrliche Pflicht/ unſern Fleiß anzuwen-
den/ andere davon zu entledigen. Und derje-
nige ſo ſich in der Peſt gebrauchen laͤſt/ verdie-
net deſto mehr Lob.


54. Zu-
[97]andern die Warheit beyzubringen.

54. Zudem ſo iſts auch unmoͤglich/ daß der
Jrrthumb der Warheit Schaden thun
koͤnne/
weil die Warheit den Jrrthumb ver-
treibet/ und alſo ſteckt zwar wohl ein irrender
einen andern irrenden an/ aber denjenigen/ der
einmahl die Warheit ergriffen/ kan er nicht
ſchaden.


55. Derowegen/ wenn du guten Gegen-
Gifft
haſt/ ſo kan dir und den deinen auch das
heimliche Gegen-Gifft der Jrrthuͤmer nicht
ſchaden. Oder aber/ du wirſt dich nicht in un-
gegruͤndeten Verdacht bringen/ daß du kein
rechter
Medicus, ſondern ein betruͤgeriſcher
Landfahrer und Quackſalber ſeyſt.


56. Deine Schaafe muͤſſen ſehr zur Rau-
de
geneigt ſeyn/ wenn ſie ſo leichte von andern
raͤudigen Schaafen angeſteckt werden: Und
ihr gantzer Leib muß von der materia peccante
ſehr angefuͤllt ſeyn/ wenn das heimliche Gifft
der Jrrthuͤmer
ſo leichte darinnen faͤngt.
Und alſo ſieheſt du/ daß du an dir und den dei-
nen noch genung zn curiren, und ihnen den
Splitter aus ihren Augen zu ziehen haſt/ ehe
du andern den Balcken ausnehmen/ und ſie
an ſchaͤdlichen Jrrthuͤmern curiren wilſt.


57. Alſo ſolte es nun wohl mit denen/ die ſich
Gder
[98]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
der Lehre und des Buͤcherſchreibens unter-
fangen wollen/ beſchaffen ſeyn. Aber ſiehe
dich doch ein wenig um/ wie es in der Welt her-
gehet? Etliche bilden ſich ein/ ſie wuͤrden umb
ihre gantze reputation kommen/ wenn ſie in
ihren Lehren ihren Auditoribuseine freund-
liche
mine machen/ und einen zulaͤßigen
Schertz
der eine Anzeigung einer Vertrau-
ligkeit iſt/ mit untermiſchen ſolten/ ſondern ie
muͤrriſcher und gravitaͤtiſcher ſie ſich dabey
anſtellen koͤnnen/ ie beſſer meinen ſie ſollen ihre
Lehren durchdruͤcken.


58. Andere ſchaͤnden und ſchmaͤhen in
ihren Schrifften wider die/ denen ſie die War-
heit beybringen wollen/ und bereden ſich/ ſie
koͤnnen es nicht kluͤger machen/ als wenn ſie
ſie durch alleprædicamentadurchhecheln.


59. Aber dieſes ſind noch die glimpfflichſten.
Die Magiſtrinoſtri zu Paris und Cölnverfol-
gen
den Ramum, Reuchlinum, Eraſmum, u.
ſ. w. gar biß auff den Todt/ und wenn es in ih-
ren Vermoͤgen ſtaͤnde/ zerriſſen ſie dieſe recht-
ſchaffene Leute mit denen Zaͤhnen.


60. Der gute Carteſius, Gaſſendus, Dig-
ly, Plato, Epicurus
u. ſ. w. werden entweder
als ſchaͤdlichenovatores, oder wohl gar als
gefaͤhr-
[99]andern die Warheit beyzubringen.
gefaͤhrliche vergifftete Lehrer bey der Ju-
gend ausgeſchrien/ und ſie inniglich gewar-
net/ ſich fuͤr dieſer Leute ihren Schrifften aͤr-
ger als fuͤr den aͤrgſten Giffte zu huͤten. Man
wolte/ wo es moͤglich waͤre/ gerne alle Carteſi-
aner
mit Rattenpulver vergeben/ oder ſie
doch zum wenigſten ausEuropahinaus ja-
gen.
Und ein Pedante bildet ſich ein/ wunder
was eꝛ fuͤr eine heroiſche That begangen habe/
wen er Carteſiumoͤffentlich von demCa-
theder religiret/
und aus Chriſtlichen Eifer
ſein Glaubens-Bekaͤntniß thut/ daß er bey
dem allein wahren und ſeligmachenden

(ich rede von einer zeitlichen Gluͤckſeligkeit)
Ariſtoteleleben und ſterben wolle. Und
ſtehet doch wohl dahin/ ob man den guten Ari-
ſtoteles
in denen Kranckheiten der Seelen und
des Verſtandes ſo viel nutzen koͤnne/ daß man
ein bewehrtes Plaſter fuͤr die Huͤhneraugen/
geſchweige denn ein geſund machend remedi-
um
wider das Podagra oder die Gicht von ihm
erlernen moͤge.


61. Was aber nun ferner inſonderheit die
muͤndliche
Unterweiſung junger Leute an-
langet/ ſo huͤte dich zuforderſt/ daß du ſie nicht
damit quaͤleſt/ daß ſie die Lehrſaͤtze/ die du ih-
G 2nen
[100]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
nen erklaͤhren wilſt/ auswendig lernen/
ſondern gewehne ſie an/ daß ſie ſie begreiffen
und verſtehen moͤgen.


61. Denn jenes uͤbet zwar das Gedaͤchniß/
aber es ſchwaͤchet das judicium, weil es mit
dem Menſchen mehrentheils ſo beſchaffen iſt/
daß was einem von dieſen beyden (dem Ge-
daͤchtniß und judicio) abgehet/ daß waͤchſet
dem andern zu. Nun iſt aber ſo zu reden ein
quintgen judicii hoͤher zu achten/ als ein
Pfund Gedaͤchtniß.


63. Und wenn man ein Ding auswendig
lernet/ bindet man ſich gar zu ſehr an die Wor-
te/
und indem man dieſes thut/ bekuͤmmert
man ſich nicht ſehr um die Sache ſelbſt. Da
im Gegentheil/ wenn man eine Sache verſte-
het/ man dieſelbe mit vielerley Worten weiß
fuͤrzubringen. Nun beſtehet aber/ wie wir
in der Vernunfft-Lehre begriffen/ die Wahr-
heit nicht in der Ubereinſtimmung unſerer
Gedancken mit den Worten/ ſondern mit der
Sache ſelbſt.


64. Aber ſiehe doch/ wie wider dieſe Lecti-
on
insgemein groͤblich angeſtoßen wird. Jch
will itzo von denen Kindern in Schulen nicht
reden/ die z. e. die regeln aus der Gram-
matic,
[101]andern die Warheit beyzubringen.
matic, Logic u. ſ. w. her beten/ wie die
Nonnen den Pſalter. Siehe nur wie man
die Jugend an die Compendia, Syntagmata,
an die verba und numerum legum, an die ver-
ba textus Ariſtotelici
u. ſ. w. bindet/ die ſie
oͤffters nicht anders als die Papegoye die Wor-
te/ ſo man ihnen gelernet/ herſagen.


65. Jch beſcheide mich ja wohl/ daß man
ſein Gedaͤchtniß uͤben muͤſſe/ und daß dem-
jenigen/ der von etwasperoriren ſoll/ ein
Handgriff oder ars mnemonevtica vonnoͤthen
ſey. Allein dieſes iſt eine groſſe Thorheit/ daß
man in denen artibꝰ mnemonevticis ſo viel
Pedantiſche und Fantaſtiſche Poſſen mit ein-
miſcht/ und daß man dieſe Kuͤnſte/ als ſonder-
liche Theſauros Sapientiæ ruͤhmet/ da ſie doch
zu nichts anders dienen/ als die Ordnung der
Dinge/
nicht aber die Dinge ſelbſt zu begreif-
fen. Ein junger Menſch kan ſein Gedaͤchtniß
uͤben; wenn er in Betrachtung derer Dinge
fein attent iſt.


66. Nach dieſen dictiredeinen Zuhoͤrern
wenig oder gar nichts.
Es iſt eine groſſe
Eitelkeit/ daß ein ieder Lehrer aus zehen Com-
mentariis
den eilfften zuſammen ſchreibet; und
ſind viele dictata elender als die geringſten Buͤ-
G 3cher.
[102]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
cher. Die Zeit iſt edel/ und weil du eine Sei-
te dictireſt, kanſtu viel Blaͤtter her diſcuriren.
So ſteckt auch ſchlechte Weißheit darhinder.
Denn dein Famulus koͤnte ja ſo wohl oder
wohl beſſer dictiren als du ſelbſt. Haſtu ja
was ſonderliches oder ungemeines/ ſo gieb es
deinen Zuhoͤrern abſonderlich abzuſchreiben o-
der laß es drucken.


67. Dieſe Anmerckung iſt ſo offenbahr/ daß
auch deshalben in vielen Univerſitaͤts Ord-
nungen
denen Profeſſoribus das leidige dicti-
ren
verboten iſt. Aber du kanſt nur in die Le-
ctiones publicas
gehen/ und ſehen/ wie ſie es
hier und da in acht nehmen. Die Urſache kanſt
du dir leicht einbilden. Denn/ wie itzt erweh-
net/ in dictiren iſt zwiſchen einem Gelehrten
und Ungelehrten ein ſchlechter Unterſcheid.


68. Nach dieſen bemercke auch/ ob du etliche
wenige Zuhoͤrer/
oder derer viel zugleich zu
unterweiſen haſt. Haſtu ihrer wenig/ z. e. 3.
4. 5. biß 10. ohngefehr; So unterſuche fuͤr
allen Dingen ihre
capacitaͤt/ ob ſie nehm-
lich einen muntern oder ſchlaͤffrigen Ver-
ſtand haben? Ob ſie Luſt zum lernen haben o-
der nicht? Ob ſie ſchon von denenpræjudiciis
ſehr eingenommen ſeyn oder nicht? Denn
wenn
[103]andern die Warheit beyzubringen.
wenn du ihnen was lehren wilſt/ muſtu dich
nach ihnen richten.


69. Einem munternIngenio darffſtu nur
ein Ding einmahl ſagen. Mit einem ſchlaͤff-
rigen
aber muſtu Gedult haben/ und dich nicht
verdrieſſen laſſen/ wenn es deine Lehren nicht
ſo geſchwinde begreifft. Denn du wirſt von die-
ſem in gegentheil den Vortheil haben/ daß es
das/ was es einmahl begriffen/ hernach nicht ſo
leichte wieder vergißt. Da im Gegentheil ein
munteres ingenium auch ſehr fluͤchtig iſt/ und
eine Sache/ die es bald begriffen/ auch bald
wieder vergißt. Derowegen muſtu dieſen vor-
zukommen bey einem muntern Verſtand die
Lehr-Saͤtze offte repetiren, und ſolcher Ge-
ſtalt ja ſo viel Muͤhe mit ihm haben/ als mit
einem ſchlaͤffrigen.


70. Hat ferner ein ingeniumLuſt zum
Lernen/
muſtu dir ſtets angelegen ſeyn laſſen/
dieſe Luſt zu erhalten/ und es nicht verdrießlich
zu machen. Hat es keine Luſt/ ſo wird alle
deine Muͤhe vergebens ſeyn/ wenn du bey ihm
nicht fuͤr allen Dingen die Luſt erweckeſt;
Denn ſonſten wird es niemahlen attent ſeyn/
ſondern ſeine Gedancken allezeit anderswo
haben. Wie will es aber ohne Gedancken
G 4die
[104]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
die Warheit begreiffen/ und ſich dieſelbige ein-
druͤcken.


71. Endlich wenn ein Verſtand von denen
præjudiciisnoch wenig eingenommen iſt/
ſo haſtu wenig Muͤhe/ weil du wenig auszu-
raͤumen findeſt; ſondern du darffſt nur den na-
tuͤrlichen Verſtand von ſich ſelbſt wuͤrcken laſ-
ſen/ und dann und wann/ ihn ein wenig len-
cken/ daß er nicht auff unrechte Wege verfalle.
Da hingegen/ wo diepræjudiciaeinge wur-
tzelt haben/
du beynahe zehenmahl ſo viel Zeit
auff derer Ausrottung anwenden muſt. Und
wenn du gleich denckeſt/ du habeſt den Verſtand
deines Lehrlings davon ſatſam gereiniget/ ſo
wirſtu doch befinden/ daß die præjudicia, ſon-
derlich das præjudicium autoritatis, und die
von Jugend auff angewehnte Lehre/ allezeit
wieder hervor kaͤumen und Wurtzel faſſen
wollen/ nicht anders als aus einem Dopff der
Geruch/ den er einmahl angenommen/ ſehr uͤ-
bel zu bringen iſt.


72. Denn z. e. Jch kann dich verſichern/ und
habe aus der Erfahrung/ daß ich mir einen
jungen Menſchen der von Jugend auff in kei-
ne Schule gegangen/
ob er gleich kein Wort-
latein gelernet/ wenn er nur ſonſten Luſt zum
ſtu-
[105]andern die Warheitbeyzubringen.
ſtudieren, und einen guten natuͤrlichen Ver-
ſtand hat/ in dreyen Jahren ohngefehr in der
wahren Weltweißheit/ und einem Menſchen
der ſich mannierlich in der Welt fortzubringen
gedencket/ noͤthigen Wiſſenſchafften/ weiter zu
bringen getraue/ als einen andern der ſchon
zehen Jahr auffUniverſitaͤten geweſen/
und daſelbſt fuͤr einen wackern und fleißigen
Studenten iſt gehalten worden/ in ſechs und
mehr Jahren.
Und dieſes aus keiner an-
dern Urſache/ als weil/ wie wir oben erweh-
net/ in denen Schulen und auff Univerſitaͤten
das præjudicium autoritatis ſo gar emſig
und eifferig befeſtiget und angeklam̃ert wird.


73. Aber ſiehe dich nun auch in der Welt
wieder nach Lehrern umb/ die die itzo erklaͤrte
Lection beobachten. Die meiſten bilden ſich
ein/ die Lehrlinge ſollen ſich nach ihnen rich-
ten/
und bekuͤmmern ſich alſo umb ihre capa-
cit
aͤt ſehr wenig; Sondern ſagen ihnen dasje-
nige/ was ihnen gut duͤncket her; Wohl gut
wenn ſie es faſſen. Wo nicht/ ſo laſſen ſie es
auch gut ſeyn.


74. Und wie hat man doch ſo wenig Ge-
dult mit langſamen
Ingeniis. Man ſchilt
ſie/ man ſtellt ihnen die muntern znm exempel
G 5vor/
[106]Das 2. H. Von der Geſchickligkeit
vor/ man beſchimpfft ſie u. ſ. w. Und hier durch
daͤmpfft man bey ihnen zugleich die Luſt zum
ſtudieren/ auch die Liebe und das Vertrauen
zu dem Lehrmeiſter.


75. Hingegen wie gehet man doch nachlaͤßig
mit guten
Ingeniis umb? Weil man ſie-
het/ daß ſie ein Ding bald faſſen/ ſo haͤlt man
nicht vor noͤthig daſſelbige zu repetiren. Man
mindert ihren Fleiß/ und vermehret ihren Hoch-
muth durch ein unzeitiges Lob und Schmeiche-
ley daß man ihnen giebet. Und dieſes iſt bey-
nahe die eintzige Urſache/ daß unter 1000. hur-
tigen Koͤpffen/ kaum aus 10. etwas rechtſchaf-
fenes wird/ da hingegen nicht wenig exempel
angefuͤhret werden koͤnten/ daß aus langſamen
Ingeniis hernach die beſten Leute werden.


76. Man bildet ſich zwar ein/ durch ein der-
gleichen Lob und Schmeicheley bey denen gu-
ten Ingeniis die Luſt zumſtudieren zu er-
halten;
aber gleich wie dieſelbe vielmehr eine
Verachtung der ſtudien zuwege bringet/ wel-
che die Liebe darzu nothwendig tilgen muß: al-
ſo bekuͤmmert man ſich nicht umb die rechten
Mittel die
attentionund Liebe zu denen
ſtudiisbey jungen Leuten taͤglich mehr an-
zufeuren.


77. Noch
[107]andern die Warheit beyzubringen.

77. Noch weniger aber iſt man beforget/
wie man bey denen Leuten/ die gar keine Luſt
oder Liebe zum
ſtudieren/ und folglich
auch keine
attentionmitbringen/ einige
mit Glimpff erwecken moͤge.
Denn ent-
weder man laͤſt ſie gehen/ und ſaget ihnen von
was man zu ſagen: wollen ſie es nicht anhoͤren
und auffmercken/ ſo mag der Schade ihre ſeyn.
Oder wenn es hoch koͤmmt/ ſo erzuͤrnet man
ſich uͤber ihre Nachlaͤßigkeit und ſchlechte Luſt
die ſie zum ſtudieren haben/ und richtet ſie aus/
oder ſperret ſie wohl ein/ daß ſie zu Hauſe blei-
ben muͤſſen; wodurch aber doch allenthalben
keine Liebe und attention erwecket/ ſondern
nur der Haß gegen die ſtudia vermehret wird.


78. Endlich iſt dieſes ein allgemeiner Jrr-
thumb in praxi, weil man meinet/ daß die la-
teini
ſche Sprache ein nothwendiges und we-
fentliches Stuͤck zur Gelahrheit ſey/ und daß/
wer nicht von Jugend auff in die Schule ge-
gangen/ und hernach auff einer mit vielen und
groſſen Ptivilegien verſehenen Univerſitaͤt
ſtudieret habe/ obnmoͤglich ein gelehrter Mann
ſeyn koͤnne; So bildet man ſich auch ein/ daß
ie laͤnger ein Menſch auff Schulen und
Academiengeweſen/ und daſelbſt fleißig
ſtu-
[108]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
ſtudieret/ iecapablerſey er unterwieſen
zu werden; ja er brauche keiner Unterwei-
ſung mehr/ ſondern ſey tuͤchtig andere zu
lehren.
Denn um keiner andern Urſache ſa-
ge ja iedermann von ihm/ daß er ſeine Studia
Scholaſtica
und Academica abſolviret habe/
und deßwegen ſey er Doctor oder Magiſter
worden/ daß er andern den vortrefflichen
Schatz ſeiner Weißheit mittheilen/ und nicht
weiter lernen ſolle.


79. Hingegen ſey ein anderer Menſch
der nicht in die Schule gegangen und
la-
tein
gelernet/ wenn er gleich noch ſo einen
guten natuͤrlichen Verſtand hat/
(wenn er
gleich z. e. ſein Frantzoͤiſch vollkommen ver-
ſtehet und die beſten Frantzoͤſiſchen Buͤcher
geleſen/ auch von Jugend auff in Hiſtoriſchen,
Geographiſchen/ auch wohl Mathematiſchen
Wiſſenſchafften etwas guts begriffen/) nicht
capabelein gelehrter Mann zu werden/
wenn er nicht erſt ein Jahr oder vier die latei-
ni
ſche Sprache lerne/ und zwar ſecundum re-
gulas artis/
daß er 1. die Vocabul, hernach 2.
den Donat, 3. die kleine/ und 4. die groſſe
Grammatic lerne; dann 5. die Colloquia
Corderi
oder Helviti exponire, 6. imitationes
und
[109]andern die Warheit beyzubringen.
und argumenta mache/ 7. den Cornelium
Nepotem, Curtium
oder Terentium zum we-
nigſten dreymahl durchnehme/ die Phraſes
draus excerpire, und auswendig lerne; und
wie etwa dieſe accurate methode, derer dritte
Theil kaum itzo erzehlet worden/ folgends
per leges Univerſales indenen Schulen einge-
fuͤhretiſt.


80. Gleich wie aber die Nichtigkeit dieſer
Meinung aus dem vorbergehenden allbereit
zur gnuͤge bekand iſt; alſo wollen wir uns nicht
aufhalten dieſelbe mit Worten zu wiederle-
gen/ ſondern wir wollen Gelegenheit erwar-
ten/ ſolches in der That zu leiſten/ und ietzo
noch mit wenigen etwas von denen Mitteln
erwehnen/ dadurch man einen jungen
Menſchen Luſt und
attentionzumſtudie-
ren
erwecken koͤnne/ weil dieſes ſehr ſchwer
zu ſeyn ſcheinet/ ſo gar/ daß auch unterſchie-
dene wackere Leute/ erwachſene Leute/ die kei-
ne Luſt zum ſtudieren mitbringen/ gleichſam
verlohren geben/ und ſo zu reden fuͤr todte
Leute annehmen.


81. Anfaͤnglich zwar iſt nicht zu laͤugnen/
daß in dieſem Stuͤck ein ziemlicher Unter-
ſchied zwiſchen kleinen Kindern und er-
wach-
[110]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
wachſenen Leuten ſey. Denn zu geſchwei-
gen/ daß bey kleinen Kindern die Begierde
unerkante Warheiten zu erforſchen viel groͤſ-
ſer
iſt als bey dieſen/ ſo iſt auch durchgehends
allen Kindern gemein daß ſie gerne ſpielen/
und ſolchergeſtalt/ wenn man ihnen die Lehren
die ſie faͤhig ſind/ ſo zu ſagen ſpielende beybrin-
get/ ſo kan man ihre Luſt zum lernen dadurch
uͤberaus anfeuren. Weßwegen auch zweif-
felsohne die Schulen in latein ludi literarii
genennet worden/ ob ſie gleich nach der heuti-
gen manier mit beſſern Rechte carnificinæ hieſ-
ſen.


82. Aber bey denen erwachſenen iſt die
Begierde hinter die unerkante Warheit zu
kommen ſchon ſo groß nicht als bey denen
Kindern/ weil ſie die albereit lange ange-
wohnheit zur Wolluſt und Muͤßiggang hier-
zu viel fauler und traͤger gemacht. Und ob
ſie ſchon/ wie leider zu beklagen/ die Zeit mehr
mit ſpielen verderben/ als noͤthig iſt/ ſo iſt doch
zwiſchen dem Spielen der Kinder/ und zwi-
ſchen dem ſpielen erwachſener Menſchen ein
groſſer Unterſcheid.


83. Die Kinder haben keine gewiſſe und
gleichſam durch eine durchgehende mode ein-
ge-
[111]andern die Warheit beyzubringen.
gefuͤhrte Spiele. Sondern ſie laſſen ſich von
denen erwachſenen/ denen ſie ohne dem alles
nachaͤffen/ gar leichte hierinnen vorſchreiben.
Und alſo koͤnnen dieſe die Spiele nach ihren
Gefallen erfinden und einrichten/ damit ſie
die Kuͤnſte die ſie denen Kindern dabey bey-
bringen wollen/ deſto beſſer darauff appliciren
koͤnnen/ zumahlen die Wiſſenſchafften deren
ein Kind faͤhig iſt/ ſich auch beſſer im Spielen
vorbringen laſſen als ernſthaffte Dinge.


84. Aber die erwachſenen haben Spiele/
die durch eine abſondeꝛliche Mode erwachſeneꝛ
Leute eingefuͤhret/ und derer manier von der
manier der Kinder-Spiele gantz entfernet iſt;
So ſind auch die Wiſſenſchafften eines er-
wachſenen Menſchen ein wenig fuͤr ſeine
Spiele zu ernſthafft.


85. Hierzu koͤmt noch ferner/ daß man de-
nen Kindern deßwegen ein Ding viel ehen-
der ſpielende beybringen kan/ weil ſie das
Spielen an ſich ſelbſt lieben/
und eine all-
gemeine intention haben/ damit nur die
Zeit
paſſiretwerde. Die erwachſenen
aber lieben gemeiniglich das Spielen nicht ſo
wohl die Zeit zu vertreiben/ als daß ſie damit
entweder Geld gewiñen oder ſich bey Frau-
en-
[112]Das 2. H. von der Geſchickligkeit.
zimmerinſinuiren, oder ſich bey groſſen
Herren
acceß machen moͤgen. Und alſo
variret ihre intention hierinnen unendlich.


86. Derowegen wuͤrde man vielmehr de-
nen erwachſenen attention und Luſt zum ſtu-
dier
en machen/ wenn man ihnen verſprechen
und ſie bereden koͤnte/ daß ſie dadurch ohne
groſſe Muͤhe viel Geld verdienen/ die Gunſt
eines gewiſſen Frauen-Volcks/ und die Gna-
de eines groſſen Herrn gewiß erlangen wuͤr-
den/ wie nehmlich ein Kind erkennet/ daß es
ohne groſſe Muͤhe mit Spielen und Lernen
die Zeit gewiß paſſiret. Wie aber jenes zu
verſprechen nicht in der Macht eines Lehreꝛs
ſtehet;
alſo wuͤrden auch erwachſene Leute/
wenn dieſer gleich ein dergleichen Verſprechen
thun ſolte/ bald die Nichtigkeit deſſelben be-
greiffen.


84. Dannenhero muß man bey erwachſe-
nen auff andere Mittel bedacht ſeyn/ ihnen
eine Luſt und attention zum ſtudieren zu ma-
chen. Dieſes wird aber nicht fuͤglicher ge-
ſchehen koͤnnen; als wenn man die Urſachen
betrachtet/ die ſie bewegen/ daß ſie einen Ab-
ſcheu fuͤr dem ſtudieren haben/ und hernach
auff die Mittelbedacht iſt/ wie dieſe Urſachen
gehoben werden koͤnnen.


88.
[113]andern die Warheit beyzubringen.

88. Die Urſachen nun/ warumb ein erwach-
ſener Abſcheu fuͤr dem ſtudiren hat/ ſind entwe-
der 1. Weil er dasſtudierenfuͤr ſchaͤdlich
haͤlt/
indem er ſiehet/ daß unter den Gelehr-
ten ſo ſchrecklich vielPedanten ſeyn/ denen
ihre eitele Einbildung beredet/ daß ſie groſſe
Monarchen waͤren/ wenn ſie eine Heerde Kna-
ben mit der Ruthe zu regieren haben/ und die
ſich vornehmen Land und Leute zu reformi-
ren
,
ob ſie gleich nicht capabel ſeyn ihre eigene
Fehler in Schulen zu verbeſſern oder nur zu
erkennen; und von dem gemeinen Buͤrger-
lichen Weſen/ das ſie reformiren wollen/ ſo
wenig verſtehen daß ſie ſich auch in der gering-
ſten erbaren Geſellſchafft extrem proſtituiren,
und ein honnêt homme ſie ohne Lachen kaum
anſehen kan.


89. Oder aber weil er ſiehet/ daß die Ju-
gend faſt durchgehends ſo uͤbele
mores
von demStudenten-Leben mit nach Hau-
ſe bringt/
daß man genung zu thun hat/ daß
man ſie ad vitam ſocialem \& civilem tuͤchtig
mache/ weñ man gleich etliche Jahr an ihnen
arbeitet/ wenn man ſie nicht von neuen gleich-
ſam gantz umbgieſet.


90. Dieſe Urſache iſt eine von den wichtig-
Hſten/
[114]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
ſten/ und die junge Leute/ ſonderlich diejenigen/
diemanierlich erzogen ſind/ koͤnnen nicht
anders als mit dem groͤſten Verdruß anſehen/
wenn man ſie aus einer artigen und galanten
Lebens-Art in ſo eine wilde und wuͤſte Geſell-
ſchafftveꝛſtoſſen will/ und weil ihr Verſtand
noch nicht erlaͤutert iſt die Sachen genungſam
zu unterſcheiden/ ſo kom̃en ihnen alle Wiſſen-
ſchafften und Kuͤnſte in der Geſtalt vor/ wie
der Scarron ſeine neun Muſen in Kupffer ſte-
chen laſſen/ oder ſie bilden ſich ein/ daß/ wenn
ſie ſtudiereten/ ſie eben ſolche Kerlen werden
muͤſſen/ wie des Sorels ſein Hortenſius und der
Barbon des Balzac ausſiehet.


91. Aber dieſe Betrachtung erwecket nur
gemeiniglich bey vornehmer Leute und artig
wohl erzogenen Kindern einen Eckel vor dem
ſtudieren. Hiernechſt aber iſt noch eine Urſa-
che/ warumb insgemein alle junge Leute/ ſie
moͤgen von was Stande ſeyn als ſie wollen/
die rechte Gelahrheit fliehen. Sie ſtecken al-
le im Muͤßiggang und Wolluſt/ (ob gleich ei-
ner mehr als der andere) und wir wuͤrden
trefflich unvernuͤnfftig handeln/ wenn wir uns
oder ſie ſelbſt bereden wolten/ daß ihnen ihr
Muͤßiggang und Wolluſt nicht ſanffte thun
ſolte.
[115]andern die Warheit beyzubringen.
ſolte. Weil ſie demnach aus verfinſterten Ver-
ſtande dieſe Wolluſt und den Muͤßiggang fuͤr
ihr groͤſtes Gut achten/ und von andern Leuten
hoͤren/ oder auch wohl bey ſich ſelbſt erkennen/
daß die Erkentniß der Weißheit und der Fleiß
den ſie drauff wenden ſollen/ ſie an der Genieſ-
ſung dieſes ihres eingebildeten Guts verhin-
dern/ oder ſie deſſen dermahleinſt gar berauben
werde. So koͤnnen ſie nach dem gegenwaͤrti-
gen elenden Zuſtand nicht anders als daß ſie 2.
Der Weißheit gram werden und ſie fuͤr ſchaͤd-
lich halten/ weil ſie ſehen/ daß dieſelbige ih-
rem liebſten Gut zuwider iſt/
nicht anders/
als ein Krancker oͤffters fuͤr einer Artzeney/ die
ſeinem Ubel hoͤchſt entgegen iſt/ ſolchen Eckel
kriegt/ daß er dieſelbige ohne Erbrechung und
Erſchuͤtterung nicht anſehen kan.


92. Dieſe Urſache gleich wie ſie die allerge-
meinſte und vornehmſte iſt/ die jungen Leuten
einen Verdruß fuͤr dem ſtudiren macht; Alſo
iſt ſie auch die allergefaͤhrlichſte/ weil es faſt
unmoͤglich ſcheinet/ ihnen dieſelbe zu beneh-
men. Denn wenn ſie gehoben werden ſoll/ ſo
ſcheinet es/ daß man ihren Willen zuvor curi-
ren
,
und ihnen zu der Tugend eine Luſt machen
muͤſſe. Nun iſt es aber unmoͤglich/ dem Men-
H 2ſchen
[116]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
ſchen zu der Tugend eine Luſt zu machen/ weñ
nicht erſt der Verſtand ausgebeſſert iſt. Und
der Verſtand kan nicht ausgebeſſert werden/
wenn man denen Leuten keine Luſt und atten-
tion
macht. Und alſo ſieheſtu/ daß wir uns
um einen Kreiß herumb aͤngſtigen/ und nicht
ſehen/ wo wir durchkommen koͤnnen. Aber
laß uns ietzo noch die andern Urſachen erwe-
gen/ die die jungen Leute von der Liebe zur Weiß-
heit abwendig machen.


93. Denn geſetzt/ daß ein junger Menſch e-
ben in der Wolluſt und Muͤßiggang noch nicht
ſo ſehr vertiefft ſey/ daß er ohne Verdruß davon
nicht wieder zuruͤcke gezogen werden koͤnte; ſo
iſt es doch kein Zweiffel/ daß es nicht genung
ſey/ ihme eine Luſt zum ſtudieren zu machen/
wenn er ſich daſſelbige nicht eben als was
ſchlimmes und ſchaͤdliches einbildet/ aber auch
dabey 3. Daſſelbige auch fuͤr nichts gutes
und nuͤtzliches haͤlt/
ſondern in ſeinen Werth
und Unwerth beruhen laͤſt/ zumahl wenn er ein
wenig die vielfaͤltigen bey der Gelahrheit
mit unterlauffenden Eitelkeiten
beobachtet/
und daß manchmahl ein Schuſter oder Schnei-
der/ oder ein noch wohl geringerer Mann/ der
einen guten natuͤrlichen Verſtand hat/ nach ſei-
nem
[117]andern die Warheit beyzubringen.
nem Stande weniger Thorheiten begehet und
viel vergnuͤgter lebet/ als mancher gelehrter
Mann/ den man doch nicht eben vor einen Pe-
danten
halten kan.


94. Dieſe Urſache iſt auch nicht ſo oben hin
zu tractiren, weil ſie zum wenigſten eine ſol-
che Wahrſcheinligkeit mit ſich fuͤhret/ daß wir
deßhalben junge Leute nicht fuͤr irraiſonabel
halten koͤnnen. Denn wie koͤnnen wir es ei-
nen jungen Menſchen zumuthen/ daß er es ſich
ſolle laſſen ſauer werden etwas zu erlan-
gen/ davon er keinen ſonderlichen Nutzen
ſiehet/
da doch das Intereſſe und Eigennutz der
groͤſte Zug iſt/ der die Menſchen antreibet/
keine Ungelegenheit und Verdruß zu ſcheuen.
Aber wir wollen ferner gehen.


95. Laß es ſeyn. Es erkenne ein Menſch
gleich auch die Vortreffligkeit der Weißheit.
Er ſehe ſeinen elenden Stand ſehr wohl/ er
trage auch Verlangen und wuͤndſche/ daß der-
ſelbe moͤchte geaͤndert werden. Alleine wie iſt
es moͤglich aus denen præjudiciis heraus zu
kommen und die rechte Weißheit zu erlernen?
Er hat allbereit 25. Jahr oder wohl mehr auff
den Halſe. Wie ein Ding zunimmt/ ſo ſoll es
auch wieder abnehmen. Soll er nun wieder
H 325.
[118]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
25. Jahr zubringen/ ehe er weiſe wird/ ſo wird
er ſeine beſten Jahre/ in den er dem gemeinen
Weſen am beſten dienen koͤnte/ in Erlernung
der Weißheit zubringen muͤſſen/ und hernach
im 50ſten Jahr unvermoͤgend ſeyn/ ſeinem Va-
terlande einige erſprießliche Dienſte zu leiſten/
zumahl da es noch ungewiß iſt/ ob er einmahl
ſo alt werden werde/ daß er das Studium der
Weißheit abſolviren koͤnne. Derowegen iſt
4 Die Verzweiffelung/ daß man zu alt ſey
die Weißheit zu begreiffen
offte Urſache
dran/ die bey jungen Leuten die Liebe zum ſtu-
dieren
hindert.


96. Man muß auch dieſe Urſache nicht
gantz veraͤchtlich halten/ ob ſie gleich eher zu
heben und lange nicht ſo ſchaͤdlich iſt als die vo-
rigen. Denn das iſt natuͤrlich/ daß ich ein Gut/
an deſſen Erhaltung ich verzweiffele/
wenn
ich anders nicht gar raſend werden will/ anfan-
gen muß zu haſſen/ oder doch daſſelbe fuͤr ver-
aͤchtlich
zum wenigſten zu halten.


97. Endlich wenn auch ein junger Menſch
gleich ein ſehnlich Verlangen traͤgt/ aus ſeinen
elenden Stande ſich heraus zu reiſſen/ und ſich
noch wohl getrauet durchzukommen; ſo man-
gelt es ihm doch oͤffters an guten Wegweiſern.
Er
[119]andern die Warheit beyzubringen.
Er findet ihrer wohl mehr als er verlanget/ die
ihn in ſeinen guten Vorſatz ſtaͤrcken/ und ihm
guͤldene Berge verſprechen/ wenn er aber Hand
anlegt/ ſo plaget man ihn mit ein hauffen Leſen
und Auswendig lernen. Man haͤlt ihn mit
vielen Dingen lange auff/ die er ſelbſt begreifft/
daß ſie nichts nuͤtze ſeyn. Man ſchreibet ihnen
methoden vor/ zu deren practicirung man des
Mathuſalæ ſein Alter haben muͤſte. Er ſucht
ſolchergeſtalt wohl etliche Jahr lang einen
rechtſchaffenen Mann/ und gehet von einem
zum andern/ aber er findet wohl ſchlimmere
als er zuvor gehabt/ jedoch will ſich kein beſſe-
rer finden. Derowegen ſo ſind es 5. die alber-
ne Lehrarten/
die junge Leute in Unterſuch-
ung der Warheiten verdruͤßlich machen/ und
die ein wenig glimmende Luſt und attention
zum ſtudieren, an ſtatt daß ſie dieſelbe anfeu-
ren ſolten/ ausloͤſchen und erſtecken.


98. Alleine dieſe Urſache muß von dir als
die allerleichteſte betrachtet werden/ weil in
denen erſten vieren der Mangel bey dem Lehr-
ling war/ bey dieſer aber es einig und alleine
bey dir
ſtehet/ den Verdruß deines Zuhoͤrers
zu lindern/ wenn du nehmlich ihn dergeſtalt
unterweiſeſt/ daß er nicht uͤber dich zu klagen
H 4hat
[120]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
hat/ und daß deine Unterweiſung faͤhig iſt/ ſeine
anfangende Begierde und attention immer je
mehr und mehr zu vergroͤſſern.


99. Aber wie ſind nun alle dieſe Verhinde-
rungen zu heben und auszutilgen? Nicht an-
ders/ als daß du mit guten Glimpff und
Freundligkeit jungen Leuten vorſtelleſt/ daß ſie
ſich entweder von der Gelahrheit einen gantz
falſchenconcept machen/ oder aber aus ei-
ner Ubereilung ihr Schluß nicht viel tauge.


100. Z. e. Die 1. wegen der groſſen Menge
der Pedanten einen Abſcheu fuͤr den ſtudiis
kriegen/ denen kanſtu fuͤrſtellen: Daß diePe-
dante
rey nicht der Weißheit/ ſondern den
Mißbrauch derſelben/ oder vielmehr der Thor-
heit/ die ſich vor Weißheit ausgiebt/ zuzuſchrei-
ben ſey. Die Weißheit ſey nicht murriſch/
ſauertoͤppiſch/ plump/ ſaͤuiſch/ tuͤckiſch/ wie die
Pedanterey/ ſondern artig/ freundlich/ hoͤfflich/
reinlich und offenhertzig; Ja man koͤnne die
Pedanterey nicht beſſer erkennen/ und ſich da-
fuͤr huͤten/ als wenn man ſich mit der rechtſchaf-
fenen Weißheit recht bekant mache. Und weder
Sorel noch Balzac wuͤrden die Pedanten ſo nach
dem Leben haben abbilden koͤnnen/ wenn ſie
nicht ſelbſten weiſe geweſen waͤren.


101. So
[121]andern die Warheit beyzubringen.

101. So muͤſſe man ſich auch nicht an die uͤ-
belen
moresdie man insgemein vonA-
cademien
mitzubringen pflege/ ſtoſſen/
ſondern man muͤſſe entweder ſolcheAcade-
mien
ſuchen/ (deren es durch GOttes Gna-
de ja noch etliche giebt) da die Profeſſores ſelbſt
hoͤfflich/ und die ſtudierende Jugend glimpff-
lich und beſcheiden tractiren, da man nicht pro-
feſſion
von liederlichen Leben mache/ ſondern
die meiſte Zeit denen ſtudieren obliege; da man
ſich des verfluchten duellirens nicht zu befah-
ren habe/ u. ſ. w. Oder aber/ man muß ſich nicht
einbilden/ daß die Weißheit anAcademien
gebunden ſey/ ſondern man finde uͤberall/ an
Hoͤffen/ in Staͤdten/ auff dem Lande hin und
wieder weiſe Leute/ bey denen man ſich in ſeinen
ſtudieren perfectioniren koͤnne. Ein einiger
Lehrmeiſter/ der geſchickt und treu ſey/ ſey viel
dienlicher als 20. ungelehrte oder widerwaͤrti-
ge/ als durch welche man nothwendig muͤſſe
confus werden. Man brauche keine privilegia
die allgemeine Jrrthuͤmer abzulegen und klug
zu werden/ ja die Ertheilung noch ſo groſſer pri-
vilegien
koͤnne weder den Lehrern noch den
Zuhoͤrern den geringſten grad von der Weiß-
heit mehr geben/ als ſie ſonſt haben. Und wer
H 5was
[122]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
was rechts gelernet habe/ werde niemahls von
dem Orte beruͤhmt/ ſondern er gebe vielmehr
Doͤrffern/ Staͤdten und Laͤndern einen beruf-
fenen Nahmen. u. ſ. w.


102. 2. Denen die deßwegen fuͤr dem ſtudie-
ren
einen Eckel haben/ weil ſie glauben/ daß die
Weißheit ihre Wolluſt und Muͤßiggang zu
wider ſey/ muſtu wegen obangefuͤhrter Urſa-
chen nicht vorhalten/ daß du ihnen alle Luſt und
Freude nehmen wolleſt/ oder daß ihre Luſt ei-
tel Thorheit ſey/ (denn dieſe lection wird ſie
in Anfang vielmehr von der Liebe zur Weißheit
alieniren,) ſondern du muſt dich ſie zu gewin-
nen ihnen etwas gleich ſtellen/ und ihnen die
vielfaͤltige Verdruͤßligkeiten zeigen/ die
ſie bey ihren Muͤßiggang und Wolluſt
haben/
und ihnen vorſtellen/ daß ſie kein recht
luſtig und muͤßig Leben
wuͤrden fuͤhren koͤn-
nen/ wenn ſie nicht der Weißheit ſich erge-
ben. Oder aber wenn du ſpuͤhreſt/ daß ſich ei-
nige Ehrgierde bey einen jungen Menſchen
blicken laͤſt/ muſtu ihn zeigen/ daß jemehr er ſich
in der Wolluſt und dem Muͤßigang verwi-
ckelt/ je weniger werde er ſich bey andern einige
Ehre zuwege bringen.


103. Bey dieſer Bewandniß aber wird es
dir
[123]andern die Warheit beyzubringen.
dir nicht ſchwer ſeyn/ auch 3. zu erweiſen/ daß
die Weißheit nicht alleine nichts boͤſes/ ſondern
auch wuͤrcklich was guts ſey/ weil man ohne
dieſelbe kein luſtig und freudig Leben fuͤhren/
auch nicht zu Ehren kommen koͤnne; ſondern
ſie die Weißheit ſey es/ die den Menſchen un-
terweiſe/ wie er allezeit und ſtetswaͤhrend ſich
vergnuͤgen und freudig machen ſolle/ wie er
ſich zu Ehren bringe/ wider die Gewalt ſei-
ner Feinde ſchuͤtze/ und anderer Leute Her-
tzen gewinne
ſein Gluͤck dadurch zu befoͤr-
dern. Und hieran muſt du dich bey dieſem An-
fang begnuͤgen laſſen; denn von der wahren
Gemuͤths-Ruhe/ die die ſiñlichen Luͤſte und die
Ehrſucht als groſſe Eitelkeiten verachtet/ hat
ein ſolcher junger Menſch noch keinen concept.


104. Was aber oben von denen Eitelkei-
ten/
derer viel Gelehrte/ die nicht Pedanten
ſind/ zugethan ſeyn/ angefuͤhret worden/ dar-
auff muſtu antworten/ daß es zwar an dem
ſey/ daß diejenigen/ die ſich in denen Wiſſen-
ſchafften am meiſten vertieffen/ offt viele Thor-
heiten begehen; aber dieſe muͤſſe man abermals
nicht der Weißheit/ ſondern deren Miß-
brauch
zuſchreiben/ wenn man nehmlich in der
Gelahrheit nicht ſo wohl auff die nuͤtzlichen als
belu-
[124]Das 2. H. von der Geſchichligkeit
beluſtigenden Wiſſenſchafften ſich leget/ oder
auch in denen nuͤtzlichen nicht ſo wohl das was
nuͤtzlich/ als was tieffſinnig und ſubtil iſt/ ſu-
chet. Und ſolchergeſtalt ſey es nichts abſurdes
zu ſagen/ daß ein Schuſter und Schneider/
der einen natuͤrlichen Verſtand hat/ und ſei-
nem Verſtande nach rechtſchaffen gemaͤß le-
bet/ viel gelehrter ſey/ als ein vornehmer und
dem Ruff nach Gelehrter/ der ſolches nicht
thut.


105. 4. Denen aber/ die wegen ihrer Jahre
verzweiffeln wollen/ daß ſie zu alt waͤren/ et-
was rechts zu lernen/ muſtu vorſtellen/ daß
man niemahls zu alt ſey die Weißheit zu ler-
nen/ denn daß ſie es bißher nicht weiter ge-
bracht/ ſey die Urſache/ weil ſie der Warheit
verfehlet/ und die Jrrthuͤmer/ weil ſie keine
rechtſchaffene connexion haben und vielfaͤltig
ſind/ viel ſchwerer zu faſſen ſind als die War-
heit/ die nur einig und gantz leichte iſt/ und daß
dannenhero bey ihnen nichts mehr erfordert
werde/ als daß ſie eine rechtſchaffene Begier-
de haben zur Warheit/ und daß ſie alle bißhe-
rigen Vorurtheile und autoritaͤten wegwerf-
fen/ und gleichſam alles/ was ſie bißher nur
in ſpem fortunæ oblivionis gelernet/ wiederum
ver-
[125]andern die Warheit beyzubringen.
verlernen/ oder vielmehr alsbald in Vergeſ-
ſenheit ſetzen/ und nichts als etliche wenige un-
ſtreitige Warheiten/ davon im erſten Capitel
geredet/ behalten/ denn wenn ſie dieſes zu
thun geſonnen waͤren/ wuͤrden ſie ſehen/ daß ſie
in zwey oder drey Jahren einen ſo wunderſa-
men Fortgang ſpuͤhren wuͤrden/ der ihnen zu-
vorhero ſelbſt unglaͤublich geſchienen/ und wuͤr-
den erkennen/ daß keine groͤſſere Urſache ſey/
warumb andere ſich ſo lange Zeit in Erlernung
der Warheit martern und quaͤlen/ und doch zu
nichts kommen/ als weil ſie von der autoritaͤt
ihrer Lehrer nicht anders als ein Schiff auff
dem Meere von dem Ungewitter immer von
einer Seite auff die andere geſchmiſſen wer-
den.


106. Und was endlich 5. diejenigen anlan-
get/ derer Luſt zum ſtudieren und attention
durch die uͤbeln Lehrarten verdruͤßlich ge-
macht wird/ denen muſtu nicht alleine vorſtel-
len/ daß es auch gute Lehrarten gebe/ die
die attention und Luſt umb ein merckl[i]ches
vermehren; ſondern du muſt dich auch dieſer
Lehrarten ſelbſt bedienen.


107. Damit du aber dieſes deſto beſſer be-
greiffen moͤgeſt/ ſo wollen wir/ nachdem wir
bißher
[126]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
bißher von der Erforſchung der capacitaͤt de-
rer Lehrlinge genung geredet/ uns auch nun-
mehro zu der andern lection wenden. Ge-
brauche dich einer ſolchen
methodein der
Unterweiſung deiner wenigen Zuhoͤrer/
durch die ihre
attentionerwecket/ ihre Luſt
zur Weißheit geſtaͤrcket/ ihr Verſtand
geſchaͤrffet/ die
præjudiciataͤglich beſtrit-
ten/ und die Grund-Warheiten im Ge-
gentheil taͤglich befeſtiget und gleichſam
unbeweglich gemacht werden.


108. Ja ſagſtu/ dieſe methode mag wohl ei-
ne vortreffliche gute Lehrart ſeyn. Aber ich
moͤchte gerne eine ſolche Lehrart ſehen/ da ohne
Quackſalberichte Pralerey alle dieſe requiſita
zuſammen anzutreffen waͤren. Gewiß/ wenn
man eine ſolche Lehrart wuͤſte/ ſie waͤre mit kei-
nem Werth wegen ihrer Vortreffligkeit zu be-
zahlen/ aber weil dieſes unmoͤglich iſt/ ſo
koͤmſtu mir mit deiner Lection nicht anders
fuͤr als ein Zigeuner/ der einen blutarmen
Bettler gute Warheit ſaget/ und ihm nichts
anders ſagt/ als: du viel Geld haſt/ du reich
biſt.


109. Allein mein lieber Freund/ die Sache
iſt gantz nicht ohnmoͤglich/ ja ſie iſt vielmehr
gantz
[127]andern die Warheit beyzubringen.
gantz leichte und augenſcheinlich/ und die
Lehrer ſolten ſich ſchaͤmen/ daß ſie dieſelbige
eine ſo lange Zeit unter die Banck geſteckt/
und an deren ſtatt anderer Lehrarten ſich
bedienet/ die freylich beſagte Zwecke nicht er-
halten/ ſondern vielmehr die Jrrthuͤmer zu er-
halten/ und das præjudicium autoritatis zu be-
feſtigen geſchickt ſeyn. Derowegen muſtu ſie
vor allen Dingen meiden.


110. Denn wie du hier wiederhohlen muſt/
was wir albereit oben erinnert/ daß man ſei-
nen Lehrlingen nichtsdictiren, oder ſie aus-
wendig ſolle lernen
laſſen; alſo mercke noch
ferner: haſtu wenig und außerleſene Zuhoͤrer/
lieber/diſcurirenicht die gantze Stunde
alleine.
Jch will zwar mit dieſer Lection das
diſcuriren nicht gantz verwerffen; aber ich weiß
doch wohl/ daß dadurch der Zweck eines treuen
Lehrmeiſters nicht ſo vollkommen erhalten
wird. Bey dem diſcuriren verhoͤret der Zu-
hoͤrer oͤffters das noͤthigſte/ und der Lehrer
kan des Zuhoͤrers dubia nicht propheceyen/
ja er bildet ſich manchmahl eine Sache leichte
ein/ und diſcuriret nur obenhin davon/ die
doch dem Zuhoͤrer dunckel iſt/ oder aber er haͤlt
ſich lange in diſcurſe uͤber einer Sache auff/ die
doch dem Zuhoͤrer bekant iſt.


111.
[128]Das 2. H. von der Geſchickligkeit

111. 6. So gieb auch nicht leichte zu/ daß
deine Zuhoͤrer dir deinen
diſcursnach-
ſchreiben.
Die Urſachen haben wir in der
Vorrede der Vernunfft-Lehre allbereit ange-
deutet. Jch ſage aber nicht leichte. Denn
wenn ein Auditor iſt/ der ſchon ein gut judici-
um
hat/ und geuͤbt iſt/ (welches aber ſehr rar
iſt) dem will ich es eben nicht widerrathen.


112. Du ſchuͤttelſt den Kopff und ſprichſt:
was ſoll ich denn machen/ wenn ich meine
Zuhoͤrer nichts ſoll laſſen memoriren, ſie nicht
examiniren, ihnen nichts dictiren, nicht diſcu-
riren
,
ſo werden wir gewiß beyde ſtum̃ ſeyn/
und einander anſehen muͤſſen/ biß uns bey-
den die Weißheit von ſich ſelbſt den Bauch auff-
blehet?


113. Nicht ſo hoͤhniſch/ mein lieber Freund/
ihr ſollet allerdings reden/ ihr ſollet alle beyde
reden/ du und dein Zuhoͤrer. Raiſonire
durchcontinuirliches Fragen und Ant-
worten mit deinen Zuhoͤrern.
Siehe die-
ſes iſt das groß Geheimniß/ daß du zuvor un-
ſchaͤtzbar hielteſt/ und ich theile dir daſſelbige oh-
ne Entgeld mit. Ja ich will dir noch mit weni-
gen die Bedeutung dieſer Lection und den
herrlichen Nutzen
derſelben erklaͤren.


114. Wenn
[129]andern die Warheit beyzubringen.

114. Wenn du deinen Zuhoͤrern den Auto-
rem
welchen du erklaͤren wilt/ oder deine eigene
Lehrſaͤtze zuvorhero zu uͤberleſen gegeben/ ſo fan-
ge alſobald daruͤber ein Examen an/ und frage
dieſelbigen/ nicht daß ſie die Worte herbeten/
ſondern unterſuche/ ob ſie die Meinung be-
griffen.
Laß ſie dir ſonderlich die definitiones
und axiomata herſagen/ und gib ihnen die
Freyheit/ daß ſie ſie mit ihren eigenen Worten
periphraſiren doͤrffen. Denn alsden ſieheſtu/
ob ſie deine Meinung begriffen// und kanſt ih-
nen deſto beſſer den Mangel/ woran ſie gefeh-
let haben/ zeigen.


115. Und deſto beſſer dahinter zu kom̃en/ pro-
ponire
ihnen Fragen/ die aus denen Lehrſaͤ-
tzen muͤſſen entſchieden werden. Antwortẽ ſie
recht/
und geben die Urſachen aus der defini-
tion
oder dem axiomate, ſo ſieheſtu daß ſie die-
ſelbe begriffen. Jedoch begnuͤge dich nicht leich-
te an denen definitionibus, wenn ſie nicht alle
darinnen enthaltene Worte deutlich erklaͤren
koͤnnen.


116. Antworten ſie nicht recht/ ſo fahre ſie
nicht an/ oder contradicire ihnen alsbald/ ſon-
dern laß ſie dir nur eine raiſon ſagen/ warum
ſie ſo antworten. Haſtu dieſelbe/ ſo bringe ſie
Idurch
[130]Das 2. H. Von der Geſchickligkeit
durch andere Fragen von Dingen/ die ihnen
ſehr bekant ſind/ dahin/ daß ſie ſich ſelbſt contra-
diciren
,
und ſolchergeſtalt die Thorheit ihrer
erſten Antwort erkennen muͤſſen.


117. Haſtu mehr Zuhoͤrer als einen/ ſo
frage uͤber einer quæſtion auch die andern Zu-
hoͤrer. Auff dieſe Art wirſtu leichtlich zweyer-
ley auch wohl dreyerley Meinungen uͤber eine
Frage heraus kriegen. Laß einen jeden die rai-
ſon
von ſeiner Antwort ſagen/ und die andern/
die derſelben zuwider ſind/ beantworten. Hilff
ihnen anfangs allen beyden/ und endlich gib
die rechte deciſion, und weiſe denen andern/ wor-
an es ihnen gefehlet.


118. Aber obſchon bey dieſer converſation
dein ordentlich Amt iſt zu fragen/ und der Zuhoͤ-
rer zu antworten/ ſo muſtu doch auch deinen
Zuhoͤrern vergoͤnnen zu fragen/
wenn ſie
nehmlich dubia uͤber deine Lehrſaͤtze haben/ und
dieſelbe nicht heben koͤnnen. Jedoch befleißi-
ge dich/ daß du ihnen alſobald durch neue Fra-
gen von bekanten Dingen ſelbſten zeigeſt/ wie
man auff dieſe dubia antworten ſolle.


119. Der Nutzen dieſer Lehrart iſt unbe-
ſchreiblich. (1.) iſt ſie leichte und angenehm/
ſo wohl fuͤr dich als deine Zuhoͤrer. Weder
du
[131]andern die Warheit beyzubringen.
du noch ſie duͤrffen einen diſcurs memoriren,
oder ſich bemuͤhen denſelben zu behalten. Sie
iſt nichts anders als ein Geſpraͤch zweyer
Freunde/ das nichts ſchlaͤffrigs in ſich hat/
und dabey niemand die Zeit lang wird. Und
ſolcher geſtalt macht ſie (2.) denen Zuhoͤrern
Luſt
zum ſtudieren, und erwecket oder erhaͤlt
ihreattention. Sie erforſchet (3.) ihre
Jrrthuͤmer und deren Urſprung/
und be-
nimmt ihn dieſelben von Grund aus. Sie be-
feſtiget (4.) die Erkentniß
der Warheit/ und
forciret ſie mit einer angenehmen Gewalt der-
ſelben beyzuflichten/ weil dieſelbige aus ihren
eigenen Antworten hergeleitet wird. Sie
ſchaͤrffet (5.) das
Judicium, indem ſie ſich ſol-
chergeſtalt angewehnen ex tempore von aller-
hand Dingen zu raiſoniren, und andern zu op-
poniren
,
oder die gegebene dubia zu heben. Sie
erhaͤlt (6.) zwiſchen den Lehrer und denen Zu-
hoͤrern eine ſtets waͤhrende Liebe und Ver-
trauen.
Man kan (7.) vermittelſt derſelben
in einem Jahr mehr als in vieren ſonſt aus-
richten. Dieſer und keiner andern Lehrart be-
dienete ſich vor dieſem Socrates, der gemeine
Vater der Weltweiſen.


120. Und wann ſonſt nichts waͤre/ als daß
I 2man
[132]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
man denen jungen Leuten Luſt zumſtudie-
ren
undattentionerweckte/ ſo waͤre ſie nur
deßhalben unſchaͤtzbar. Es iſt aber gantz of-
fenbahr/ daß ein junger Menſch ein verteuf-
felt Gemuͤth haben muͤſſe/ weñ man ein halbes
oder auffs laͤngſte ein gantzes Jahr alle Tage
nur eine Stunde auff dieſe Art mit ihm raiſo-
nir
et/ daß er nicht ſolte anfangen attent zu wer-
den/ und Luſt zu dem ſtudieren zu kriegen/ weñ
er ſiehet/ daß die Warheit ſo leichte ſey/ und daß
er dieſelbe ſelbſt bey ſich habe/ und vermoͤgend
ſey/ neue und zuvor unerkandte Warheiten zu
erfinden/ und wenn er binnen der Zeit/ ſo viel
allgemeine Jrrthuͤmer und deren Schaͤdlig-
keit hat zu begreiffen angefangen.


121. Fragſtu/ wie kommts denn/ daß bey-
nahe kein Menſch ſich derſelben bedienet?

Wundere dich nicht/ dieſe methode iſt des præ-
judicii autoritatis
ihr geſchworner Feind. An
dieſem præjudicio iſt vielen Lehrern das meiſte
gelegen. Hierzu koͤm̃t noch der Neid und Un-
wiſſenheit
der Lehrer. Aus dieſen Urſachen
hat das ſilentium Pythagoricum ſeinen Ur-
ſprung genommen/ und man pfleget wohl zu
Beſchoͤnigung dieſes Unweſens anzufuͤhren:
Ein Narre koͤnne mehr fragen/ als ze-
hen
[133]andern die Warheit beyzubringen.
hen Weiſe antworten. Oder das gewoͤhn-
liche aſylum ignor antiæ muß aus dem corpore
Juris
herhalten: Non omnium dari poteſt
ratio.
Und daher koͤmmts/ daß man junge
Leute ſo uͤbel vertragen kan/ wenn ſie in der Le-
ction
oder auſſer derſelben ihre dubia ihren Leh-
rern proponiren, und dieſelbigen ein wenig ur-
gir en.
Weñ es hoch koͤmmt/ ſo giebt man ihnen
ein Buch/ fuͤr deſſen Groͤſſe ſie erſchrecken/ oder
das ſie noch confuſer macht als ſie zuvor waren/
mit nach Hauſe/ oder laͤßt ſie ſonſt mit einer lan-
gen Naſe und vielen ſincerationen abziehen.
Vielweniger kan man diejenigen ertragen/ die
ſolches in einer oͤffentlichen diſputation thun.
Und iſt nichts neues/ daß junge lehrbegierige
Leute ausgefiltzet werden/ als wenn ſie eiteler
Ehre geitzig waͤren/ und in einer Sache Recht
haben wolten/ da es doch per præſcriptionem
longiſſimi temporis
hergebracht ſey/ daß die
Præceptores und Præſides ipſo Jure das Feld
behalten muͤſten.


122. Wir haben bißhero lange genung von
denen Lectionibus geredet/ die man zu beob-
achten hat/ wenn man wenig Zuhoͤrer hat.
Nun muͤſſen wir auch noch etwas wenigs er-
innern/ wie man ſich abſonderlich gegen viele
I 3ver-
[134]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
verhalten ſolle/ wenn die Anzahl 20. und mehr
iſt. Denn hier will es nicht wohl angehen/
daß man die bißhero geruͤhmtemethode
mit continuirlichen Fragen und examiniren
anbringe/ weil man ſehr langſam herum kom-
men/ und die Zuhoͤrer ſolchergeſtalt wenig Nu-
tzen davon haben/ auch nicht einmahl ſehr at-
tent
werden wuͤrden.


123. So muß auch ein Lehrer beobachten/
daß es nicht fehlen koͤnne/ daß nicht bey einer
Menge von Zuhoͤrern die ingenianothwen-
dig von unterſchiedener Gattung
und un-
gleicher capacitaͤt ſeyn muͤßen.


124. Weil es dann bey dieſer Bewandniß
nicht moͤglich iſt/ daß ein Lehrer præcisè nach
aller ihrer capacitaͤt ſich in Lehren auff das ge-
naueſte richten koͤnne/ auch allbereit zwar oben
erwehnet worden/ daß das continuirliche di-
ſcuriren
vielen inconvenientien unterworffen
ſey/ gleichwohl aber bey einer Menge Audi-
torum
man keinen beſſern Weg hat als das
diſcuriren, (denn das dictiren haben wir
ſchon oben als untuͤchtig gantz ausgemertzt/)
ſo kanſtu leicht abſehen/ daß man bey demdi-
ſcurs
ein ſolch temperament treffen muͤſſe/
daß man den vorgeſetzten Zweck doch zum we-
nig-
[135]andern die Warheit beyzubringen.
nigſten nur ſo viel als moͤglich iſt/ erlangen
moͤge.


125. Derowegen befleißige dich in deinen
diſcurs,daß du dich mit ſelbigen/ ſo wohl
nach denen/ die langſame als geſchwinde

ingeniahaben/ die von denen Jrrthuͤ-
mern viel oder wenig eingenommen ſind/
die da Anfaͤnger oder alte
Studenten
ſind/ richteſt/ und richte deine Redensart
alſo ein/ daß du damit die ſchlaͤffrigen auff-
weckeſt/ und ihnen allen eine Luſt macheſt/
die zu deiner
Lection deſtinirteStunden
zu beſuchen.


126. Das iſt: Erwege zufoͤrderſt/ ob du dei-
nen Zuhoͤrern deine eigene Lehrſaͤtze oder ei-
nen
Autorem erklaͤreſt. Jm erſten Fall
befleißige dich/ daß du allemahl voran das
Hauptweſen der gantzendiſciplinund ih-
ren Nutzen
deutlich und wohl erklaͤhreſt/
denn die Grund-Regeln derſelbigen durch
deutliche definitiones und axiomata wohl be-
feſtigeſt/ und ſie von allen objectionen der Wi-
derſacher befreyeſt; ferner bey denencontro-
verſien,
beyderley Meinungen kuͤrtzlich vor-
ſtelleſt/ und aus denen allbereit erklaͤhrten
Grund-regeln weifeſt/ wie dieſelbigen decidi-
I 4ret/
[136]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
rer/ und auff die Gegenſeitige Meinung ohne
Anſehung einiger autoritaͤt geantwortet wer-
den ſolle. Erwehle aber ſolche controver-
ſien,
die man im gemeinen Leben nutzen kan/
der andern entſchlage dich/ es waͤre denn/ daß
dieſelben dem gemeinen Jrrthum nach fuͤr ſehr
nuͤtzlich gehalten wuͤrden/ und du wolteſt denen
Zuhoͤrern die Eitelkeit dieſer Meinung dar-
thun.


127. Hierbey aber laß dich nicht verdrieſſen/
dann und wann einen angenehmen Schertz/
ein ungezwungen Hiſtoͤrgen/ ein anmuthig
exempel oder caſum mit unter zu miſchen/ weil
dadurch die Luſt undattention junger Leute
fuͤrtrefflich erhalten wird. Und alſo huͤte dich
fuͤr zweyen extremis, daß du nicht durch eine
Spaniſche undPedantiſchegravitaͤt deine
Zuhoͤrer verdruͤßlich machſt/ und daß du an-
ders theils durch einen groben oder unzeiti-
gen Schertz
die Ehrfurcht/ die man dir ſchul-
dig iſt/ nicht verminderſt/ ſondern daß du ein
ſolch temperament treffeſt/ dadurch allezeit
zwiſchen dir und deinen Zuhoͤrern eine ehrer-
bietige Liebe/ und vertrauliche Hochachtung er-
halten werde.


128. Erklaͤhreſtu ihnen aber einenAuto-
rem,
[137]andern die Warheit beyzubringen.
rem, ſo beobachte uͤber die obgemeldten An-
merckungen auch dieſes/ daß du einen kurtzen
diſcurs von demAutoreſelbſt/ ſeinem Ab-
ſehen und Lehrart/ von ſeinen Tugenden.
und Maͤngeln/ von ſeinen
Adverſariis u-
ſ. w. præmittireſt, abſonderlich aber von ſei-
nem
affect, den er in dem Buche/ das du er-
klaͤreſt/ blicken laͤſt. Denn gleichwie dieſes al-
les die Zuhoͤrer attent macht/ alſo hat die me-
ditation
von dem affect eines autoris einen uͤ-
beraus groſſen Nutzen/ ihn deſto beſſer zu ver-
ſtehen/ und wenn er geirret/ den Urſprung
ſeines Jrrthumbs zu erkennen.


129. Hiernaͤchſt aber vergoͤnne deinen Zu-
hoͤrern/ daß ſie auſſer der ordentlichen
Stunde einen
acceſſ zu dir haben koͤnnen/
ihre dubia dir vorzutragen/ oder wo ſie dich
allenfalls nicht haben recht aſſequiren koͤnnen/
dich zu fragen/ damit alſo der Mangel/ der bey
einen continuirlichen diſcurs ſich nothwendig
ereignet/ in etwas erſetzt werden moͤge.


130. Begehren ſie es auch von dir/ ſo kan es
nicht ſchaden/ wenn du dann und wann ein
examenmit ihnen anſtelleſt/ dadurch zu er-
fahren/ ob ſie deine Lehren recht gefaſſet haben.
Jedoch wirſtu dich wegen deſſen/ was wir all-
I 5bereit
[138]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
bereit oben erinnert haben/ huͤten/ daß du nicht
von ihnen forderſt deine Worte oder dictata
herzuſagen/ ſondern ihnen dißfalls ihren freyen
Willen laͤſſeſt. Denn es muß durch dieſes
examen nicht die memorie (wie man etwa die
Kinder den Pſalm herbeten laͤſt) ſondern das
judicium excolirt werden.


131. Derer bißher gegebenen Lectionum
kanſtu dich bedienen/ ſo wohl wenn du andern
unſtreitig wahre Dinge wilſt zu erkennen ge-
ben/ als wenn du wahrſcheinliche Sachen
ihnen beybringen wilſt. Aber bey dieſer letz-
ten Art nimm noch dieſes in acht. Gewehne
deine Zuhoͤrer in wahrſcheinlichen Din-
gen/ daß ſie daſelbſt keine unſtreitigen
Warheiten ſuchen/ ſondern zufrieden ſind/
wenn die Lehrſaͤtze ſehr ſelten triegen/ und
unter unterſchiedenen Meinungen dieſe
fuͤr die wahrſcheinlichſte halten/ bey der
der wenigſte Zweiffel/ oder die wenigſte
Gefahr iſt.


132. Die Urſachen dieſer Lection kanſtu nur
aus dem Hauptſtuͤcke des erſten Theils/ das
von wahrſcheinlichen Dingen handelt/ zuſam-
men ſuchen/ als worinnen faſt kein paragra-
phus
iſt/ der dir nicht die Warheit derſelben zu
erkennen geben ſolte.


133.
[139]andern die Warheit beyzubringen.

133. Gleichwohl wird insgemein darwider
angeſtoſſen. Die Weißheit iſt bey vielen gar
zu hoch geſtiegen/ daß ſie auch in Dingen/ die
zur
demonſtrationnicht gebracht werden
koͤnnen/ beynahe
mathematiſchedemon-
ſtrationes
ſuchen/ als zum exempel in ver-
gangenen und zukuͤnfftigen Dingen/ in der
Lehre von der Bewegung/ vom Urſprung der
Dinge/ von denen finibus und natuͤrlichen
Wuͤrckungen der Geſchoͤpffe auſſer dem Men-
ſchen/ von denen Geiſtern/ denen elementen,
meteoris
,
von dem Waſſer/ Feuer und Lufft/
von denen himmliſchen Coͤrpern/ da dir doch
das 11. Hauptſtuͤck der Vernunfft-Lehre wei-
ſen wird/ daß man in allen dieſen Sachen nur
wahrſcheinliche Dinge wiſſen koͤnne. Andere
gehen noch weiter/ und wollen die Jurispru-
denz
zur demonſtration bringen/ und in de-
nen Dingen/ die von der Willkuͤhr des Men-
ſen dependiren, und taͤglichen unzehlichen Veꝛ-
aͤnderungen unterworffen ſind/ eine Gewißheit
ſuchen.


134. Wiewohl wir dadurch diejenigen nicht
tadeln/ die ſich dergleichen Sachen zu einen
hohen
gradder Wahrſcheinligkeit oder zu
einer demonſtratione hypotbetica zu bringen
trach-
[140]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
trachten/ denn dieſes haben wir ſchon in der
Vernunfft-Lehre eingeraͤumet.


135. Wiederumb iſt nichts gebraͤuchlicher/
als daß in dergleichen materien diejenigen/ de-
nen man die Wahrſcheinligkeit zu erkennen ge-
ben will/ ſich oͤffters einbilden/ daß ſie genung Uꝛ-
ſache an der Warheit der Lehrſaͤtze/ ſo man dar-
innen zu geben pflegt/ zu zweiffeln haͤtten/
wenn ſie nur eine einigeinſtanz geben koͤñen/
in welchen dieſelbigen nicht angehen/ oder weñ
ſie nur ſehen/ daß es moͤglich ſey/ daß ſie dann
und wann triegen koͤnnen/ welches doch gewiß
ſehr unvernuͤnfftig gehandelt heiſt.


136. Es iſt nichts mehr uͤbrig/ als daß wir
noch etwas weniges von denen Schrifften
abſonderlich
erinnern/ von denen wir geſagt
haben/ daß man ſie gemeiniglich fuͤr Gelehrte
verfertige. Wiewohl nun hierbey ſehr viel
zu erinnern waͤre/ wegen der vielfaͤltigen Jrr-
thuͤmer/ die allenthalben in Buͤcherſchreiben
eingeriſſen/ ſo wollen wir doch jetzo nur die
vornehmſten Lectiones mit wenigen anmer-
cken.


137. Wilt du Buͤcher ſchreiben andern
die Warheit beyzubringen/ ſo ſchreibe aus
deinem eigenen Kopffe/ und nicht aus an-

dern
[141]andern die Warheit beyzubringen
dern zuſammen. Denn dein Vorhaben
iſt ja nicht der Welt zu weiſen/ was andere fuͤr
eine Erkentniß von der Warheit gehabt ha-
ben/ ſondern wie du ſie ſelbſten erkenneſt. Und
wenn du nicht vermoͤgend biſt aus deinem
Kopffe was zu ſchreiben/ ſo iſt es gewiß ein
Anzeichen daß du die Warheit ſelbſt noch nicht
begreiffeſt/ und folglich wider die Haupt-Lecti-
on
,
die wir im Anfang dieſes Haupſtuͤcks gege-
ben haben/ groͤblich anſtoͤſſeſt.


138. Und gewiß/ wenn die Leute insgemein
nicht wolten eher Buͤcher ſchreiben/ ehe ſie es
koͤnten/ ſo haͤtten wir nicht ſo unzehlig viel
Diſputationes, Compendia, Syſtemata,
Tractatus, Volumina
u. ſ. w. dieabsque
judicio
aus andernAutoribuszuſammen
geſchmieret ſeyn/
daß wenn man bey vielen
folianten die loca Autorum wegnaͤhme/ wuͤrde
das uͤbrige eigene Werck des Autoris kaum
manchmahl ein duͤnne ſedez Baͤndchen aus-
tragen.


139. Jch ſage aber mit Fleiß/ wenn du Buͤ-
cher ſchreibſt andern die Weißheit beyzu-
bringen.
Denn wenn deine intention iſt/
wahrſcheinliche/ als zum exempel hiſtori-
ſche Dinge/ oder auch von gelehrten Fra-
gen
[142]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
gen etwashiſtoriſcher weiſe zu beſchreiben/
oder auch die Widerſacher der Warheit zu
beantworten/
ſo beſcheide ich mich gar wohl/
daß du ſehr wohl thun wirſt/ wenn du derer
Scribenten ihre eigene Worte anfuͤhreſt/ wie-
wohl auch hierinnen ein judicium gebraucht
werden muß.


140. So will ich auch nicht darwieder ſeyn/
daß du/ wenn der Grund deines Buchs aus
deinem Kopff geſchrieben iſt/ dann und wann
deine Meinung mit der Beypflichtung ande-
rer Autorum oder aus denenſelben hergenom-
menen Exempelnausziereſt. Aber geden-
cke/ daß es ein bloſſer Zierath ſeyn muͤſſe/ und
dannenhero eine unzierliche Sache (z. e. ein
aus einem Scholaſtico mit 50. barbarisſimis
diſtinctionibus Metaphyſicis
angefuͤlleter locus)
nichts auszieren koͤnne/ uͤber dieſes auch ein jed-
weder Zierath etwasreelles, das ausgezie-
ret werden ſoll/ præſupponire.


141. Derowegen ſo laͤcherlich als es ſeyn
wuͤrde/ wenn mann gute Freunde zu Gaſte
bitten wollte/ und ſetzte ihnen lauter mit Blu-
men ſchoͤn ausgezierte leere Schuͤſſeln vor/

ſo laͤcherlich iſt es auch/ wenn man denen Ge-
lehrten in dem titel eines Buchs verſpricht von
einer
[143]andern die Warheit beyzubringen.
einer gelehrten materie zu ſchreiben/ und fin-
den hernach in dem Buche ſelbſt nichts als ſol-
chen Zierrath an. Es muͤſſen ſich ſolche Leute/
die nicht drey Zeilen von den ihrigen zuwege
bringen koͤnnen/ ſondern bloß die Oerter ande-
rer Scribenten connectiren, hernach nicht ver-
drieſſen laſſen/ wenn man ſie mit trunckenen
Leuten
vergleicht/ die nicht mehr gehen und
ſtehen koͤnnen/ ſondern ſich an den Waͤnden
nach Hauſe leſen muͤſſen/ und ſich/ wenn ſie
fallen wollen/ an alles halten/ was ihnen vor-
koͤmmt/ wenn es auch ein Strohhalm ſeyn
ſolte.


142. Ferner weil du in deinen Schrifften
dir vornehmem ſolſt/ das Gemuͤthe der Leſer
zu ſpeiſen/ ſo mache es wie ein guter Hauß-
wirth/ der richtet ſich nach dem Geſchmack
ſeiner Gaͤſte. Ob nun abeꝛ wohl der Geſchmack
des menſchlichen Verſtandes gar zu vielfaͤltig/
und dannenhero es unmuͤglich iſt/ allen recht
zu machen/ ſo muß man ſich doch befleißigen/
die Speiſe nicht auff eine ſolche Art zuzurich-
ten/ die insgemein zuwider iſt/ oder die denen
Speiſen ein groſſes Anſehen macht/ da doch
dieſelbigen nicht ſufficient ſeyn den appetit zu
ſtillen. Derowegen befleißige dich einer ſol-
chen
[144]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
chen Schreibart/ die vernuͤnfftig gelehr-
ten Leuten nicht unangenehm iſt/ und ih-
nen mehr Warheit als lehre Worte bey-
bringet.


143. Das iſt: Huͤte dich/ daß du in Schrif-
ten fuͤr gelehrte Leute nicht mit gantzen
Waͤgen von
Syllogiſmisauffgezogen
koͤmmſt/
und daß nicht auff allen Blaͤttern
Quicquid. Atqui. Ergo. Diſtinguo. Applico.
Limito. Probo Majorem. Concluſio eſt abſur-
da
u. ſ. w. zu leſen ſey. Denn gewiß die ge-
lehrte Welt iſt heut zu tage zu galant dazu/ daß
ſie an dieſen Diſteln/ die zwar eine angenehme
Speiſe ſeyn fuͤr die Maͤgen der Herrn Magi-
ſtrorum noſtrorum Colonienſium
,
einen Ge-
ſchmack finden ſolte. Und dieſer Zierath iſt
ja ſo unvernuͤnfftig/ als wenn ein Orator eine
oration ſchreiben/ und in dem text die regeln
aus der Grammatic, oder die figuren aus der
Rhethoric, die er angebracht haͤtte/ mit anfuͤh-
ren/ und dieſelben deutlich anzeigen wolte.


144. Aber ſiehe dich nur ein wenig in der
Welt umb/ ſo wirſtu gewiß befinden/ daß die
Magiſtri noſtri Colonienſes noch nicht ausge-
ſtorben ſind. Und iſt es deßwegen nicht noͤthig
dir exempel zu geben/ ſo wenig es noͤthig iſt/
dir
[145]andern die Waͤrheit beyzubringen.
dir exempel ſchwartzer Raben zu zeigen. So
heiſt es auch uͤber dieſes: Exempla ſunt odioſa.


145 Hiernechſt huͤte dich/ daß du dich zu-
mahl in denen Dingen/ die des Menſchen
Thun und Laſſen betreffen/ nicht an den in
Schulen eingefuͤhrten
methodum cau-
ſarum, adjunctorum, contrariorum,
bin-
den laͤſt/ oder ſo ſelten als es moͤglich iſt/ dich deſ-
ſen bedieneſt denn ob man ſchon denſelben nicht
gantz verwirfft/ ſo gehet doch dabey ſo viel Miß-
brauch vor/ den wir anderswo mit mehrern be-
ruͤhret/ daß dieſe methode gelehrten Leuten von
delicaten Geſchmack nicht anders als ver-
drießlich ſeyn kan.


146. Jſt es nicht wahr/ wenn einer dei-
ner guten Freunde des Sonnabends dich
mit einer anſehnlichen compagnie zu Ga-
ſte bittet/ und ſetzt dir nichts als Sauerkraut/
Hering/ Stockfiſch/
u. ſ. w. vor/ du und die
andern Gaͤſte wuͤrdet greulich murren/ wenn
euch der Wirth gleich ein groß compliment
machte/ daß in ſeinem Hauſe kein dies bratibi-
lis
ſey/ und daß ſeine Herrn Koſtgaͤngeꝛ/ worun-
ter viel vornehmer Leute Kinder waͤren/ dieſe
tractamente gerne aͤßen/ und die Finger dar-
nach leckten. Was woltet ihr aber erſt ſagen/
Kwenn
[146]Das 2. H von der Geſchickligkeit
wenn er euch rauchrichten Gritze/ und mit
ſtinckichten Fett gemachtes Waſſer muß
vorſetzte/ und mahnete euch an/ ihr ſoltet friſch
eſſen/ denn von Waſſer muß und Gruͤtze wuͤr-
de man groß und ſtarck.


147. Nun ſiehe dich wieder umb/ was man
dir fuͤr Trachten in den Diſput ationibus und
andern gelehrt ſeyn ſollenden Schrifften vor-
ſetzt/ und ob man nicht beynahe der abge-
ſchmackten Meinung ſey/ es koͤnne kein gelehrt
Buch geſchrieben werden/ daß nicht ſecundum
quatuor genera cauſarum
eingerichtet waͤre.
Und gewiß/ wirJuriſten haben ſelbſt nicht
Urſache/ uns in dieſem Stuͤcke vor andern Ge-
lehrten breit zu machen.


148. Endlich ſetze dem Leſer keine leeren
Worte
vor/ da nichts darhinter iſt. Denn
wie wolte dir es gefallen wenn man dich zu Ga-
ſte baͤte/ und legte dir kein Brodt vor/ oder ſetz-
te dir lauter Schau-Eſſen vor/ deren du nicht
genieſſen koͤnteſt.


149. Der Verſtand eines weiſen Mannes
iſt begierig Wahrheit in deiner Schrifft zu
finden/ und du kanſt ſeine Begierde nicht beſ-
ſer ſtillen/ als wenn du ihm dieſelbe mit Hauf-
fen giebſt/ und mit vergeblichen Worten
nicht
[147]andern die Warheit beyzubringen.
nicht auffhaͤlteſt/ oder mit verfuͤhriſchen Wor-
ten
ihn an Statt der Warheit Jrrthuͤmer bey-
bringen wilſt.


150. Denn ein Begieriger iſt ſeinem Wirthe
mehr verbunden/ wenn er ihm eine Schuͤſſel
voll ausgemachte Welſche Nuͤſſe vorſetzt/
als wen er ihm die Muͤhe uͤberlaͤſt/ den Kern
ſelbſt aus denen harten und unſauber machen-
den Schaalen hervor zu ſuchen. Wenn er ihm
aber anſtatt rechten Obſts Stein- oder
Wachs-Fruͤchte
vorſetzte/ wuͤrde gewiß der
Gaſt uͤbel zufrieden ſeyn/ wenn gleich dieſe ge-
kuͤnſtelte Fruͤchte noch ſo ſchoͤn ausſaͤhen.


151. Derowegen mercke/ daß die leeren
Worte
zweyerley ſeyn: Etliche ſind eitel und
ungeſchmack/
die doch der Warheit nicht eben
Schaden thun/ aber doch dieſelbe unangenehm
machen. Als wenn man auff allen Blaͤttern
und in allen paragraphis erinnert/ was man
bißher geſagt habe/ und kuͤnfftig ſagen wolle;
wenn man mit groſſem Wortgepraͤnge und
groſſen Umbſchweiff ſagt/ was man mit drey
Worten viel deutlicher haͤtte melden koͤnnen.


152. Etliche Worte ſind hierneben auch ver-
fuͤhriſch
und der Warheit ſchaͤdlich/ wenn
man ſich der Rhetoriſchen figuren bedienet/
K 2des
[148]Das 2. H. Von der Geſchickligkeit
des Leſers affect zu bewegen/ daß dasjeni-
ge/ was unſere Gruͤnde nicht zu thun vermoͤ-
gen/ er ſich ſelbſt durch unſere ſchoͤnen Worte
berede. Die Warheit gleichwie ſie ſelbſt na-
ckend iſt/ alſo braucht ſie des gekuͤnſtelten An-
ſtrichs der Redner-Kunſt nicht/ ſondern iſt fuͤr
ſich ſchoͤn genug. Und du muſt einen groſſen
Unterſcheid machen/ daß du mit vernuͤnfftigen
Leuten in deinen Schrifften zu thun haſt/ und
daß du nicht in willens biſt dem unverſtaͤndigen
Poͤbel etwas zu bereden.


253. Ja du wirſt dir ſelbſten durch dieſe
Schreibart bey weiſen Leuten mehr ſchaden
als nutzen.
Denn an ſtatt daß du vermei-
neſt ihre affecten zu ruͤhren/ werden ſie viel-
leicht deinen eigenen/ z. e. deinen Hochmuth/
deine Rachgier/ deine fleiſchlichen Begierden
dadurch kennen lernen/ an ſtatt daß du ihnen
zeigen wilſt/ daß du weiſe ſeyſt/ werden ſie dich
vielmehr fuͤr einenSophiſten halten.


154. Es iſt wohl wahr/ du wirſt viel finden/
die an eiteln und ungeſchmackten Worten/
noch mehr aber/ die an praͤchtigen und affe-
ctens-
vollen Redens Arten einen groſſen Ge-
fallen haben/ aber du wirſt ihrer auch finden/
die ein groß Belieben haben/ den Kern einer ſuͤſ-
ſen
[149]andern die Warheit beyzubringen.
ſuͤſſen Frucht ſelbſten aus unflaͤtigen Schalen
auszumachen/ und nochmehr/ denen nichts gut
ſchmecket/ was nicht Honigſuͤſſe und von Zu-
cker gleichſam verderbet iſt. Aber reinliche
Leute/ und die keinen verderbten Geſchmack
haben/ pflegen dieſes nicht zu thun. Gleich-
wie ſich nun ein guter Koch nach denſelben
richten muß/ alſo ſoll auch ein die Weißheit
liebender in ſeinen Schrifften ſich nicht nach
Pedanten oder zaͤrtlichen Nahmen Gelehrten
richten/ ſondern nach rechtſchaffenen Weiſen.
Ein weiſer Mann aber liebet allein die War-
heit. Und die Warheit iſt zwar reinlich/
aber ſie haſſet alle Schmincke.


Das 3. Hauptſtuͤck.
Von der Geſchickligkeit die
von andern vorgelegte Warheit odeꝛ
Jrrthuͤmer zu begreiffen
und verſtehen.


Jnnhalt
Connexion §. 1. 2. 3. 4 5. Denen drey Tugenden eines
Lehrers/ nehmlich der Deutligkeit/ Treue und
Freundligkeit/ §. 6. ſollen drey Tugenden des Zu-
hoͤrers correſpondiren/ nehmlich die attention, das
Vertr[a]uen und die Liebe. § 7. die er ſelbſt nicht
muth villig hindern muß. §. 8. Weil alsdenn/ wenn

K 3der
[150]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
der Lehrer das ſeine thut/ die Schuld hierinne ihm
alleine beyzumeſſen iſt. §. 9. und er dadurch nicht den
Lehrer/ ſondern ſich ſelbſt den groͤſten Schaden thut.
§. 10. auch damit die Deutligkeit/ die Treue und
die Freundligkeit des Lehrers erſticket. §. 11. Etliche
Lectiones fuͤr die Zuhoͤrer die gemeinen Fehler zu
meiden. §. 12. 1. Verſaͤume keine Stunde/
denn ſonſt binderſt du deine attention. §. 13. 2. Ent-
brich dich zur Zeit der Lehre alles deſ-
ſen/ was deine Gedancken verunruhigen
oder ſchlaͤfferig machen kan/
denn ſonſt
kanſt du wieder nicht attent ſeyn. §. 14. 3. Frage
deinen Lehrer bey Zeiten/ wenn du ei-
nen Zweiffel haſt/
denn dadurch gibſt du
ihm dein Vertrauen zu erkennen §. 15. 4. Su-
che nicht mit Fleiß Zweiffel in der Leh-
re/
denn dieſes thut ein Mißtrauiger §. 16. 5.
Thue was dir dein Lehrer rathet/ und
betriege ihn nicht mit Worten. 6. Ent-
zeug ihm die gebuͤhrende Ehrerbie-
tung nicht/
denn beydes erfodert die Liebe.
§. 17. 18. Tranſitio ad doctrinam de interpretatione.
§. 19. 20. 21. Dieſer Lehre Nutzen/ §. 22. und darn-
nen vorkommende gemeine Jrrthuͤmer §. 23. Be-
ſchreibung der Auslegung §. 24. 25. Die in engern
Gebrauch genommen wird. §. 26. fuͤr die Ausle-
gung geſchriebener Dinge §. 27. und zwar nicht ei-
gener §. 28. Ob die interpretatio avthentica der
doctrinali, oder dieſe jener nachgeben muͤſſe. §. 29.
30. Die Auslegung iſt nur umb eines andern Mei-
nung/ nicht aber umb die Warheit derſelben be-
kuͤmmert. §. 31. Sie hat mit dunckelen Reden zu
thun. §. 32. Deren Verſtand man aus andern deut-

lichern
[151]andere zuverſtehen.
lichern Zeichen erlangen muß. §. 33. Unterſcheid in-
terpretationis Grammaticæ \& Logicæ
§. 34. Wenn
die Duncke heit ſo groß/ daß man ſie gar nicht ver-
ſtehen kan/ ſo muß man das Auslegen bleiben laſſen.
§. 35. Vornehmſte Urſachen die eine Rede ſchwer zu
verſtehen machen. §. 36. Solches ruͤh[r]et entweder
aus der euſerlichen Geſtalt der Worte her. §. 37.
Wenn die Buchſtaben verzogen ſind. §. 38. Wenn
man abbreviaturen macht. §. 39. Wenn man eines
fuͤr das andere ſchreibet. §. 40. Wenn was ausge-
ſtrichen und corrigiret worden. §. 41. Wenn was
ausgelaſſen worden. §. 42. Wenn die commata und
puncta nicht recht geſetzet ſind. §. 43. Oder aus der
innerlichen Bedeutung derſelben 1. Wenn die Wor-
te gar zu alt ſind. §. 44. 2. Wenn man neue Worte
macht. §. 45. 3. Wenn man ſich fremder Worte
bedienet. §. 46. 4. Wenn die Worte zweydeutig
ſind/ und mehr als einen Verſtand haben. §. 47. 48.
49. 50. 51. 5. Wenn die Rede verrwirret iſt. §. 52.
53. 6. Wenn eine Rede der andern wiederſpricht.
§. 54. 55. Die Regeln einer guten Auslegung gruͤn-
den ſich nur auff Warſcheinligkeiten §. 56. Denn
weil durch deutliche Worte bey andern niemahlen
eine unſtreitige Erkaͤntnuͤß erwecket wird. §. 57. ſo
wird ſolches vie weniger durch die muthmaͤßliche
Auslegung dunckeler und zweydeutiger Worte ge-
ſchehen koͤnnen. §. 58. Ja zuweilen ſind die Muth-
maſſungen auff beyden Theilen ſo gleich/ daß ſie ein
ander gaͤntzlich die Wage halten. §. 59. Und alſo
thut man unrecht/ daß man uͤber der Auslegung zwey-
deutiger Worte mit andern heff[t]ig diſputiret §. 60.
61. Ein guter Ausleger muß einen guten und faͤhi-
gen Verſtand haben. §. 62. den er doch auff vieler-
ley Weiſe forthelffen kan. §. 63. Es ſind ſehr viel
Regeln/ darinnen man bey der Auslegung ſich

K 4gruͤn-
[152]Das 3. H. von der Geſchichligkeit
gruͤnden kan §. 64. I.Betrachte einesAu-
toris
ſeinen Stand undaffect §. 65. 66.
II.
Gib achtung von was und was er
rede.
§. 67. 68. 69. III.Betrachte das
vorhergehende und nachfolgende/ und
was er anders wo geſchrieben.
§. 70. 71.
Urſachen warum man zuweilen ſeine Meinung aͤn-
dert. §. 72. So dann iſt allezeit die letzte Meinung
fuͤr die rechte zu halten. §. 73. Es waͤre denn/ daß
man an dem letzten Orte nur obenhin von einer
Sache gehandelt/ und dieſelbe nicht recht bedacht
haͤtte. §. 74. Oder daß in Verneuerung der Con-
tracte
einer den andern zuvervortheilen geſucht haͤt-
te. §. 75. IV.Wehle denjenigen Ver-
ſtand/ der nicht unvernuͤnfftig iſt/ und
die Sache davon gehandelt wird/
nicht umſtoͤſſet.
§. 76. 77. Welche Regel ſon-
derlich die Juriſten in Teſtamenten brauchen. §. 78. Es
waͤre denn/ daß man ausdruͤcklich ſehe/ daß ein Menſch
haͤtte unvernuͤnfftig handeln und poſſen treiben wol-
len. §. 79. Man ſoll in Erklaͤrung eines Autoris
alle ſeine Worte gut auslegen/ ſo lange man ſol-
ches wahrſcheinlich thun kan. §. 80. V.Mache
die Auslegung ſo/ daß dieſelbe mit ei-
nes
AutorisGrund-Regeln/ oder mit
der Urſache/ warum er etwas will ge-
than haben/ uͤberein komme.
§. 81. 82.
Wenn er ſich nur nicht ſchein gruͤnde/ oder Schein-
Urſachen bedienet. §. 83. 84. Zu Erforſchung ſol-
cher Grund-Regeln und Urſachen muͤſſen wir uns
oͤffters neuer Muthmaſſungen bedienen. §. 85. Und
uns anderer ihre albereit gemachte Auslegungen

nicht
[153]andere zuverſtehen.
nich trren laſſen. §. 86. 87. So duͤrffen wir auch die-
ſe Regel nicht mißbrauchen/ wenn ein Geſetze der
draushergeleiteten Auslegung ausdruͤcklich zu wie-
her iſt. §. 88. 89. Oder wenn die Scribenten wieder
die conſeqventien/ die man aus ihren Grund-Saͤ-
tzen macht/ ernſtlich proteſtiren. §. 90. 91. Daß
man in Auslegung auff die orthographie und inter-
punctio
nachtung geben muͤſſe/ gehoͤret mehr zu der
interpretatione Grammatica. §. 92 Unterſchiedene
Arten der Auslegung § 93. Die Uberſetzung §. 94.
gehoͤret zu der interpretatione Logica. §. 95. Ein
Uberſetzer muß mehr auff den Verſtand als auff die
Worte ſehen. §. 96. Maͤngel der gemeinen Uber-
ſetzungen in das Lateiniſche oder Teutſche. §. 97.
Interpretatio Avthentica \& uſualis §. 98. Doctri-
nalis vel explicativa, vel mentalis. §. 99. Mentalis
vel declarativa, vel Extenſiva, vel Reſtrictiva.
§. 100.
101. 102. 103. Bey allen dieſen dreyen Arten kan man
die obigen Regeln brauchen. §. 104. Wiewohl ſie
nach Gelegenheit der unterſchiedenen Arten pflegen
mit unterſchiedenen Worten vorgebracht zu werden.
§. 105. 106. Gemeiner Jrrthumb der Juriſten, daß
jede Art der Auslegung von ietzterwehnten dreyen
ihre abſonderliche Regeln haben muͤſſe/ hat viel fal-
ſche und unnuͤtze Regeln zum Vorſchein gebracht.
§. 107. z. e. Bey der interpretatione declarativa:
Daß man bey entſtehenden Zweiffel
die Worte ſo lange in eigenen Ver-
ſtande nehmen muͤſſe/ biß eine
abſurdi-
taͤt draus folge. §. 108. Welcher Regel Nich-
tigkeit deutlich erwieſen wird. §. 109. 110. 111. 112.
ſo wohl auch einer andern/ die draus folget: Daß
man in denen Teſtaments Worten ordentlicher Wei-
ſe auff den eigenen Verſtand ſein Abſehen richten
muͤſſe/ §. 113. 114. Worzu dergleichen Regeln gem[iß]-

A 5braucht
[154]Das 2. H. von der Geſchickligkeit
braucht werden. §. 115. Ein ander Exempe/ in in-
terpretatione extenſiva \& reſtrictiva: Favorabilia
eſſe extendenda, odioſa reſtringenda.
§. 116. 117. 118.
Woraus noch andere falſche Regeln herſproſſen. §.
119. als: Beneficia Principis eſſe extendenda \& latè
accipienda
§. 120. Pœnales Leges \& Statuta parti-
cularia eſſe reſtringenda.
§. 121. 122. 123. 124. Wenn
die Auslegung unmoͤglich iſt/ muß man dieſelbe biel-
ben laſſen. §. 1[2]5. Nehmlich wenn man 1. das ge-
ſchriebene gar nicht leſen kan. § 126 2. Wenn die
Worte gar keine Bedeutung haben. §. 127 3. Wenn
fuͤr beyderley wiedrige Bedeutungen gleiche Muth-
maſſungen ſind. §. 128. 129. Manchmahl kan man
wohl beyderley Bedeutungen paſſiren l[a]ſſen. §. 130.
131. Erklaͤrung wie es moͤglich ſey/ daß eine Rede
zweyerley Verſtand haben koͤnne. §. 132. 133 134. 135.
136. Daß ein Autor ein gantz verborgenes Abſehen
haben koͤnne/ als er mit Worten zeiget. §. 137. Sen-
ſus myſticus
in denen Satyriſchen Schrifften. §. 138.
und in denen Fabeln. §. 139. Unterſcheid zwiſchen
der interpretatione literali \& Myſtica §. 40. Bey
dieſer muß man mit dem Autore wohl bekant ſeyn.
§. 141. und die Diſciplin, daraus die Lehre genom-
men iſt/ wohl verſtehen. § 1[4]2. Gemeine Jrrthuͤ-
mer circa interpretationem myſticam. §. 143. 144.
145. 146. 147. 4. Wenn der Wort Verſtand gantz
verwirret iſt. §. 148. 149. 5. Wenn ſich einer ſelbſt
oder ihrer zwey ausdruͤcklich wiederſprechẽ §. 150. Ge-
meine Jrrthuͤmer wieder dieſe Anmerckung. §. 151. 152.
Bey dergleichen unauffloͤßlichen uñ andern Faͤllen kan
ein Fuͤrſte wohl gewiſſe regulas interpretandi geben.
§. 153. Etliche Exempel hiervon aus denen Roͤmi-
ſchen Rechten. §. 154. 155. Unterſchied zwiſchen der
Interpretatione Legali \& Logica. §. 156. Solche
Regelu muͤſſen nicht unter die Falſchen gerechnet

werden
[155]andere zuverſtehen.
werden/ §. 157. Wenn man ſie nur nicht mißbraucht
§. 158. Man muß ſich nicht bemuͤhen Dinge auszu-
legen/ die keinen Nutzen haben. §. 159. 160.


1.


WJr haben oben geſagt/ daß wir in die-
ſem Buche davon handeln wolten/
theils wie man ſeinen Verſtand recht
brauchen/
theils wie man andern damit die-
nen
ſolle. Jenes hat das erſte Haupſtuͤck
gewieſen/ in welchem wir von der Geſchicklig-
keit gehandelt/ der Warheit nachzudencken.


2. Dieſes beſtehet entweder darinnen/ daß
wir andern die erkandte Warheit beybrin-
gen/
worvon wir im vorhergehenden
Hauptſtuͤck gehandelt/ theils daß wir ihnen
die Jrrthuͤmer benehmen/ oder die erkandte
Warheit wider diejenigen/ ſo an deren ſtatt
die Jrrthuͤmer verfechten/ vertheydigen/ wor-
von das letzte Hauptſtuͤck handeln wird.


3. Jn dem gegenwaͤrtigen wollen wir von
der Geſchickligkeit handeln/ wie man andere
verſtehen/
und das/ was von ihnen geſagt
wird/ begreiffen ſolle. Und wir koͤnnen die-
ſe Geſchickligkeit zu jedweden von jetztbeſag-
ten zwey Theilen bringen/ wie wir wollen/
denn die Uberſchrifft des Hauptſtuͤckes hat
gemeldet/ daß wir von der Geſchickligkeit ſo
wohl
[156]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
wohl die Warheit als den Jrrthum zu be-
greiffen reden wollen. Auff beyderley Wei-
ſe haben wir dieſe Betrachtung nicht fuͤgli-
cher als hieher ordnen koͤnnen.


4. Denn wollen wir ſie mit dem vorigen
Hauptſtuͤck connectiren, ſo iſt zwiſchen dem
Lehrmeiſter und dem Zuhoͤrer eine noͤthi-
ge relation, und wird ſich alſo nicht uͤbel ſchi-
cken/ wenn wir dem Zuhoͤrer in dieſem Ca-
pitel etliche Lectiones geben/ nachdem wir im
vorhergehenden von der Schuldigkeit eines
Lehrers geredet.


5. Wollen wir ſie mit dem letzten Haupt-
ſtuͤck verknuͤpffen/ ſo koͤnnen wir ſagen/ daß
wenn wir andern ihre Jrꝛthuͤmer benehmen/ o-
der die Warheit wider die Jrrthuͤmeꝛ verthey-
digen wollen/ wir (1.) die Jrrenden verſte-
hen/
und ihre Meinung recht einnehmen;
hernach (2.) davon urtheilen/ und (3.) die
Jrrthuͤmer in der That antaſten muͤſſen.
Von dem erſten handelt dieſes Hauptſtuͤcke/
von dem andern wird das folgende/ und von
dem dritten das letzte reden.


6. Was demnach erſtlich die Geſchickligkeit
betrifft die Warheit/ die uns von andern bey-
gebracht wird zu begreiffen/ ſo muͤſſen wir von
denen
[157]andere zu verſtehen.
denen Tugenden eines guten Zuhoͤrers et-
was reden/ nachdem wir im vorhergehenden
Capitel von denen Tugenden eines Lehrers
gemeldet/ und zwar dißfals ſonderlich dreyer-
ley recommendiret, die Deutligkeit/ Treu
und Freundligkeit.


7. Dieſe drey Tugenden eines Lehrers zie-
len zwar dahin/ andere drey Tugenden bey
denen Zuhoͤrern zu erwecken/ ohne welche
niemand geſchickt wird ſeyn/ etwas tuͤchtiges
zu lernen. Denn mit ſeiner Deutligkeit
bemuͤhet ſich ein Lehrer/ ſeinen Zuhoͤrer at-
tent
zu machen/ mit ſeiner Treue will er es
dahin bringen/ daß der Zuhoͤrer ein Vertrau-
en
zu ihn kriege/ mit ſeiner Freundligkeit ſu-
chet er des Zuhoͤrers Liebe zu erwecken; Je-
doch muß der Zuhoͤrer auch das ſeinige dar-
bey thun/
daß er dieſe attention, dieſes Ver-
trauen und dieſe Liebe befoͤrdere/ und nicht
muthwillig verhindere.


8. Denn wenn der Lehrer noch ſo ſehr ſich
angelegen ſeyn laͤſt/ ſeinen Zuhoͤrern die Weiß-
heit beyzubringen/ ſie wollen aber ſelbſt
nicht mit helffen/
oder widerſtreben freywil-
lig/ ſo wird ſo wenig ein erwuͤnſchter Zweck
zu hoffen ſeyn/ als wenn man ſichs noch ſo ſau-
er
[158]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
er werden ließe einen todten Coͤrper zu Pfer-
de zu bringen/ oder einem Patienten eine Ar-
tzeney einzuſchwatzen/ der ſich feſte vorgenom-
men haͤtte/ dieſelbe nicht zu brauchen.


9. Es iſt wohl wahr/ dieattention,das
Vertrauen und die Liebe iſt nicht allemahl
in unſerm Vermoͤgen/
aber eben darumb
haben wir geſagt/ daß ein Lehrer hierzu den
Anfang machen ſoll. Denn wenn er ſeines
Orts nicht deutlich/ treu und freundlich iſt/
ſo iſt der Zuhoͤrer guten theils entſchuldiget/
wenn er es auch an ſeinem Ort an attention,
Vertrauen und Liebe ermangeln laͤſt. Aber
wenn ein Lehrer alles in acht nimmt/ was
ihm zukoͤmmt/ ſo iſt die Schuld wohl eintzig
und alleine bey dem Zuhoͤrer/ wenn er dem
Lehrer nicht wiederumb mit attention, Ver-
trauen und Liebe begegnet.


10. Ja er wird hierdurch dem Lehrer nicht
ſo viel Verdruß als ſich ſelbſten Schaden
erwecken/
weil jener endlich/ wenn er das
ſeinige gethan/ in ſeinem Gemuͤthe ruhig blei-
bet/ und man ihme nichts imputiren kan/ ihme
auch endlich nichts abgehet/ weñ gleich der Zu-
hoͤrer nichts lernet; da hingegentheil dieſer Ko-
ſten/ Zeit und alles verlieret/ und kein groͤſſer
Elend
[159]andere zu verſtehen.
Elend auff der Welt ſeyn kan/ als weñ er von
der Weißheit und Tugend entbloͤſſet bleibet/
und ſich muthwillig in einen Zuſtand ſetzet/ der
nothwendig mit allen erdencklichen Ungluͤck
umbgeben ſeyn muß.


11. Ja ein ſolcher Zuhoͤrer muß ſich auch
beſorgen/ daß er mit ſeiner Nachlaͤßigkeit/
Mißtrauen und Verachtung ſeines Lehrers/
deſſen Deutligkeit/ Treue und Freund-
ligkeit erſtecket.
Denn ein Lehrer wird ver-
droſſen/ ſich ferner angelegen ſeyn zu laſſen/
ſeine Lehren deutlich zu machen/ wenn der Zu-
hoͤrer nachlaͤßig iſt/ und nicht achtung drauff
giebet. Und was nutzt einem Lehrer ſeine
Treue/ wenn der Zuhoͤrer ein ſtetes Miß-
trauen zu ihm hat. Ja wie kan er endlich
fortfahren freundlich und leutſelig gegen dem
Zuhoͤrer zu ſeyn/ wenn ihn dieſer nicht ach-
tet/ ſondern allen Verdruß anthut.


12. Weil dann guten Theils die Jugend
durch allgemeine Fehler und Jrrthuͤmer ver-
leitet/ ihre attention, Vertrauen und Liebe ge-
gen die Lehrer ohnbedachtſam hindert und un-
terdruͤckt/ wollen wir ihnen zu gute etliche
Lectiones geben/ ſich dadurch dieſer Fehler
zu entbrechen.


13. (1.)
[160]Das 3. H. von der Geſchickligkeit

13. (1.) Verſaͤume keine Stunde und
die geringſte Gelegenheit nicht/ da du von
deinem Lehrer etwas lernen kanſt.
Denn
weil die Warheit/ wie wir oben erwieſen/
ſtetswehrend mit einander verknuͤpfft iſt/ und
dieſe Kette zerriſſen wird/ wenn nur ein ei-
nig Gelencke daran mangelt/ ſo wird auch
die Luſt eines Zuhoͤrers/ und die Liebe zur
Weißheit vergeringert/ wenn er nicht ſtets-
wehrend beobachtet/ wie in der Weißheits-
Lehre immer eines aus dem andern gantz na-
tuͤrlich und ungezwungen herflieſſe/ ſondern
nur hin und wieder etwas erſchnapt/ daß er
nicht weiß/ wie es mit dem vorigen zuſammen
haͤngt. Ja er wird befinden/ daß eine eini-
ge Nachlaͤßigkeit derer immer mehr und mehr
nach ſich ziehet/ und deßhalben muß er ſich fuͤr
der erſten am meiſten huͤten.


14. (2) Bemuͤhe dich zu der Zeit/ wenn
du deinen Lehrer beſuchen ſolſt/ dich alles
desjenigen zu entbrechen/ was deine Ge-
dancken verunruhigen/ oder ſie verdrieß-
lich machen kan.
Denn wie wilſt du at-
tent
ſeyn/ wenn du deine Gedancken wo an-
ders haſt/ oder ſchlaͤffſt. Wie wilt du aber
deine Gedancken auff deinen Lehrer wenden
koͤn
[161]andere zu verſtehen.
koͤnnen/ wenn du deinen Leib mit vieler Spei-
ſe oder Tranck angefuͤllet/ oder mit einer ſtar-
cken Bewegung entkraͤfftet haſt/ wenn du aus
einer Geſellſchafft koͤmmſt/ darinnen es luſtig
hergegangen/ oder in der du dich mit jemand
uͤberworffen haſt.


15. (3.) Wenn du deinen Lehrer nicht ver-
ſteheſt/ oder bey ſeiner Lehre einen Zweiffel
haſt/ den du nicht heben kanſt/ ſo ſpahre
keine Zeit ihn deſſen zu berichten/ damit
er dich dieſes Zweiffels alſobald benehme.

Denn hiermit giebſtu ihn zu erkennen/ was du
fuͤr ein Vertrauen zu ſeiner Treue haſt/ und
huͤteſt dich zugleich/ daß kein Jrrthumb bey dir
einwurtzele.


16. (4.) Hingegen aber ſuche ja nicht mit
Fleiß und ohne Urſache an ſeiner Lehre
zu zweiffeln.
Denn dadurch kanſtu ihm
nichts anders zu verſtehen geben/ als daß du
kein Vertrauen zu ihn habeſt/ und daß du de-
nen/ die dir ehedeſſen ungegruͤndete Jrrthuͤmer
beygebracht/ mehr traueſt als ihm.


17. (5.) Bezeuge deinen Lehrer deine Lie-
be mehr mit der That/ und mit Verrich-
tung deſſen was er dir raͤthet/ als mit lee-
ren Worten.
Denn alle Liebe beſtehet mehr
Lin
[162]Das 3. H von der Geſchickligkeit
in Wercken als Worten. Und leere Worte
zeigen nothwendig eine Geringachtung deſſen
an/ dem man ſelbige giebet.


18. (6.) Erweiſe ihm alle erſinnliche Eh-
re/ und entzeuch ihm die Ehrerbietung
nicht/ die man ſeines gleichen erweiſet/
wenn man nicht ohnhoͤfflich ſeyn will.

Denn alle vernuͤnfftige Liebe/ auch unter glei-
chen Perſonen/ ſol mit einer Ehrerbietung
vergeſellſchafftet ſeyn/ geſchweige denn gegen ei-
nem Lehrer/ dem dieſer ſein Stand einen groſ-
ſen Vorzug vor ſeinem Zuhoͤrer giebt.


19. Das/ was wir bißher erwehnet/ gehet
diejenigen fuͤrnehmlich an/ derer muͤndlichen
Unterweiſung
du genieſſeſt. Was aber die-
jenigen betrifft/ aus derer Schrifften du pro-
fitiren
wilſt; ſo muſtu fuͤr allen Dingen die
Grundregeln wiſſen/ nach welchen man ande-
rer Leute Meinungen verſtehen ſoll. Wer dieſes
kan/ wird ein guter Ausleger (bonus In-
terpres
) und die Kunſt an ſich ſelber eine Ge-
ſchickligkeit was auszulegen
(habitus inter-
pretandi
) genennet.


20. Dieſe Regeln haſtu eben bey dem/ der
dich muͤndlich unterweiſet/ nicht vonnoͤthen/
weil du ihn allezeit ſelbſt fragen kanſt/ jedoch
wol-
[163]andere zu verſtehen.
wollen wir deßhalb mit niemand einen Streit
anfangen/ wenn er ſie auch dahin extendiren
will.


21. Sie nutzen uns auch zur Erkentniß der
Jrrthuͤmer/
und ſind dannenhero das vor-
nehmſte Abſehen gegenwaͤrtigen Capitels.


22. Zumahlen da insgemein dieſe doctrin
in der Vernunfft-Lehre/ dahin ſie gehoͤret/
ausgelaſſen/ und faſt nirgends getrieben
wird/ ohnerachtet die vornehmſten und hoͤchſten
Wiſſenſchafften dieſelben zum Grunde præſup-
poniren.


23. Da aber ja einige darvon geſchrieben/ oder
ſonſt hin und wieder dergleichen Regeln ange-
troffen werden/ ſo wird man doch befinden/
daß man guten Theils dieſelben ohne Noth
haͤuffet/
oder wohl gar falſche Regeln fuͤr
aͤcht und nuͤtzlich ausgiebet.


24. Damit wir nun die guten und nuͤtzli-
chen Regeln von denen ohnnoͤthigen deſto beſ-
ſer unterſcheiden koͤnnen/ muͤſſen wir zuvor-
hero das Weſen der Auslegung/ und was
dieſelbe eigendlich ſey/ ein wenig genauer be-
trachten.


25. Die Auslegung (interpretatio) iſt hier
nichts anders als eine deutliche und in wahr-
L 2ſchein-
[164]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
ſcheinlichen Muthmaſſungen gegruͤndete
Erklaͤhrung desjenigen/ was ein anderer
in ſeinen Schrifften hat verſtehen wollen/
und welches zu verſtehen etwas ſchwer o-
der dunckel iſt.


26. Und alſo ſieheſtu/ daß wir nicht alleine/
wie allbereit erwehnet/ die Auslegung in en-
geren
Verſtande als andere nehmen/ weil
wir nur von der Auslegung deſſen was in
Schrifften
dunckel iſt/ reden/ ſondern auch/
weil wir nur um die Erklaͤhrung deſſen/ was
andere geſchrieben/ beſorgt ſind.


27. Wiewohl kein Unterſcheid unter denen
Regeln ſeyn wird/ man mag des andern ſeine
geſchriebene oder muͤndlich vorgebrachte
Worte erklaͤren/ weil dieſe ſo wohl Anzeigun-
gen menſchlicher Gedancken ſind als jene/ und
die Auslegung bey beyden auff einerley Muth-
maſſungen gegruͤndet iſt.


28. Aber darinnen iſt ein groſſer Unterſcheid/
ob ich meine eigene Worte/ oder eines andern
ſeine erklaͤre. Denn weil ich meiner Mey-
nung am beſten bewuſt bin/ und dieſelbe zu er-
forſchen keine Muthmaſſungen vonnoͤthen ha-
be/ ſo brauche ich mich auch der Regeln nicht/
die ſich auff dergleichen Muthmaſſungen gruͤn-
den;
[165]andere zu verſtehen.
den; ſondern es heiſſet dißfalls: Jeder iſt ſei-
ner Worte beſter Ausleger.


29. Wiewohl auch dißfalls ein groſſer Un-
terſcheid
unter denen Perſonen zu machen iſt.
Ein Ober-Herr kan ſeine Worte auslegen/
auch wider die Regeln gemeiner Auslegung/
denn da heiſſet es: daß dieſe jener weichen muͤſ-
ſe/ qvod interpretatio doctrinalis debeat
cedere avthenticæ.


30. Aber wenn man mit ſeines gleichen zu
thun/ muß gemeiniglich die Auslegung deſſen
der die Worte geſchrieben/ denen Grund-Re-
geln der gemeinen Auslegung
gemaͤß ſeyn/
ſonſt wird er fuͤr einen Betruͤger oder Sophi-
ſten
gehalten.


31. Jch habe ferner geſagt: die Auslegung
ſolle erklaͤren/ was ein anderer habe verſtehen
wollen/
denn man iſt hier nicht ſo wohl be-
ſorgt/ die Warheit von eines andern ſeiner
Meinung/ als nur die Meinung an und vor
ſich ſelbſt zu erklaͤhren/ ſie mag nun wahr
ſeyn oder nicht. Nach dem weiteren Ver-
ſtande aber wuͤrde man z. e. denjenigen einen
Ausleger nennen/ der diepropoſitiones Eu-
clidis demonſtrirete.


32. Alle Auslegung hat mit dunckelen Re-
L 3den
[166]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
den zu thun/ denn wen ſie ſchon klar und deut-
lich waͤren/ brauchten ſie keiner Auslegung.


33. Denn ob wohl das menſchliche Geſchlecht
ſich der Worte als der deutlichſten Zeichen be-
dienet/ ſeine Gedancken und Meinung damit
zu verſtehen zugeben/ ſo geſchiehet es doch off-
te/ daß viel mehr Dinge als Worte ſind/ oder
weil ein Wort viele Dinge bedeutet/ oder aus
andern Urſachen/ daß man die Gedancken ei-
nes Menſchen aus andernſignis und Muth-
maſſungen erforſchen muß.


34. Dannenhero ſieheſtu alsbald/ daß ein
anders ſey die Worte erklaͤren ohne Anſe-
hung der Gedancken; ein anderes eine Mey-
nung eines Menſchen aus andern Umb-
ſtaͤnden als aus denen dunckelen Worten

erklaͤren. Jenes iſt ein Werck menſchlicher
Gedaͤchtniß/ und gehoͤret fuͤr die Gramma-
tic,
dieſes aber gehoͤret zu der menſchlichen
Vernunfft/ und alſo zur Vernunfft-Leh-
re.


35. Endlich habe ich geſagt/ die Auslegung
erklaͤre Dinge die ſchwer zu verſtehen ſind/
denn wenn ſie ſo gar dunckel waͤren/ daß man
durch keine Muthmaſſung die Meinung der-
ſelben erforſchen koͤnte/ ſo hoͤret die Bemuͤ-
hung
[167]andere zu verſtehen.
hung eines Auslegers auff/ weil kein Menſche
zu ohnmoͤglichen Dingen verbunden iſt.


36. Dieſes alſo deſto beſſer zu begreiffen/
wird es nicht undienlich ſeyn/ wenn man die
vornehmſten Urſachen/ warum eine Re-
de dunckel und ſchwer zu verſtehen iſt/
anzeiget.


37. So ruͤhret demnach die Dunckelheit
des Verſtandes einer Rede entweder aus der
aͤuſſerlichen Geſtalt/
oder aus der innerli-
chen Bedeutung
der Worte her.


38. Aus der aͤuſſerlichen Geſtalt/ wenn z.
e. derjenige ſo etwas geſchrieben/ die Buch-
ſtaben verzogen
haͤtte/ daß man einen gar
leicht fuͤr den andern leſen koͤnte. Als wenn
jener Medicus dem Patienten apium ver-
ſchrieben hatte/ und der Apothecker laſe opium.
Oder als wenn jener Kaͤyſer einem Fuͤrſten ge-
ſchrieben hatte/ daß er ihn nicht mit ewiger
Gefaͤngniß belegen wolte/ und der Fuͤrſt laſe
an ſtatt ewiger/ einiger.


39. Oder wenn man ſich in Schrifften eini-
ger abbreviaturen bedienet: als z. e. U. F. D.
z. ingleichen. V. R. W. wie wohl man derer
in Lateiniſcher Sprache mehr hat als in der
Teutſchen.


L 440.
[168]Das 3. H. von der Geſchickligkeit

40. Oder wenn im Abſchreiben/ oder in
Druck/ wie gar gewoͤhnlich iſt/ eines fuͤr das
andere
waͤre geſchrieben worden.


41. Oder wenn in einer Schrifft viel Din-
ge ausgeſtrichen
und corrigiret worden waͤ-
ren/ daß man ſolche nicht wohl leſen koͤnte.


42. Oder wenn entweder anfangs durch
Nachlaͤßigkeit des Schreibers oder des Dru-
ckers waͤre was ausgelaſſen/ oder hernach
durch laͤnge der Zeit unleſerlich worden.


43. Oder endlich weñ entweder keinecom-
mata
oder puncta zu einer Rede geſetzt wor-
den waͤren/ oder dieſelben nicht recht ſtuͤnden:
z. e. Cajusſoll 1000. Thl. haben wenn er
ſeine Tochter wird dem
Semproniozum
Weibe geben ſo ſoll ihm mein Erbe auch
meine Caroſſe und Pferde geben.


44. Was die Bedeutung der Worte an-
langet/ ſo kan derer Dunckelheit (1.) daher ent-
ſtehen/ wenn man alte Worte antrifft/ die
heut zu tage nicht mehr im gebrauch ſind. Als
das Hageſtoltzen-Recht. Eine Siedel.
Vehmen-Gericht.
Dem Frauenzimmer
hofieren. Alle Fehde hat nun ein Ende.
u. ſ. w.


45. (2.)
[169]andere zu verſtehen.

45. (2.) Wenn man aus unzeitiger Sin-
gulari
taͤt neue Worte macht/ das iſt/ wenn
man entweder von dem gemeinen Gebrauch
abweichet/ z. e. wenn einer durch die Edel-
geſteine Muͤhlſteine/
u. ſ. w. verſtuͤnde/ oder
machte aus allzugroſſer Zaͤrtligkeit neue Woͤr-
ter/ wie viele von unſern Hochteutſchen thun/
z. e. Hertzens-Schluͤſſel fuͤrclavicordium,
Tageleuchter fuͤr Fenſter/ Jungfer-Zwin-
ger
fuͤr Nonnen Cloſter/ Opffer-Tiſch fuͤr
Altar/ Ertz Koͤnig fuͤr Kayſer/ Luſt wan-
deln
fuͤr ſpatzieren gehen. Und man faͤnde
in einem Buche: Der Ertz-Koͤnig/ weil er
aus ſeinem Tage-Leuchter geſehen/ daß die
Sonne ſehr lieblich ſchiene/ Luſt wandelte
er in einen nahgelegenen Jungfer-Zwin-
ger/
und thate daſelbſt ſein Gebet fuͤr dem
Opffer-Tiſch.


46. (3.) Wenn man ſich fremder Woͤr-
ter
bedienet/ die in anderer Sprache wenigen
bekant ſind/ zumahl wenn es Kunſt-Woͤrter
ſind. Als wenn man ſagt: Eine Frau ſolle
dem SCto Vellejano renunciren. Dieſes
Ding hat mich ſehr echauffirt. Zu geſchwei-
gen wenn man aus Unverſtand und allzu-
groſſer affectation ſolche Woͤrter nicht ein-
mahl
[170]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
mahl recht anzubringen weiß. Als: Es iſt
ein galanter Pantoffel. Dieſer Menſch hat
groſſe Servilete. (civilitè) Er hat mich
uͤberaus coëffirt. (echauffirt) Die Madame
la
Dauphineſſe
iſt geſtorben/ u. ſ. w.


47. (4.) Mehrentheils aber koͤmt die
Dunckelheit der Worte aus jhrer Zweydeu-
tigkeit
her/ daß ein Wort viele Dinge bedeu-
tet. Bey dieſer Bewandnuͤß aber geſchiehet
es entweder/ daß die eine Deutung in eige-
nen/
die andere aber in Figuͤrlichen Ver-
ſtande genommen wird. z. e. Ein Fuchs. Jns
Graß beiſſen.
Oder beydes gehoͤret zum ei-
genen
Verſtande.


48. Und ſo dann iſt der eine Verſtand ent-
weder weitlaͤufftiger als der andere/ und
begreifft dieſen unter ſich z. e. Maͤnner und
Weiber/ (denn ſie werden zu weilen denen
Jung-Geſellen und Jungfrauen entgegen
geſetzt/ zuweilen nicht) Kinder (in erſten oder
andern Glied.) Die Gerichte (in Anſehen
hoher und niederer.) Soͤhne (ſo ferne ſie ent-
weder die Toͤchter mit begreiffen oder nicht:)
Alles vermoͤgen (gegenwaͤrtiges oder zukuͤnff-
tiges.) u. ſ. w.


49. Oder es begreifft kein Verſtand
den
[171]andere zu verſtehen.
den andern unter ſich. Als z. e. Die Roſe
(die Blume/ oder Kranckheit) Eigenthum
(des Hauſes und der Haare) dieſes iſt ein from-
mer Mann/ er laͤſt einen jeden bey ſeiner Frau
ſchlaffen ꝛc.


50. So macht auch zu weilen die groſſe
Kuͤrtze
der Worte eine Zweydeutigkeit/ wenn
etliche Worte ausgelaſſen ſind/ aus denen
man gar leichte die rechte Meinung verſtehen
koͤnte. z. e. Mein Erbe ſoll meinem Bruder
von meinem Silbergeſchirre 10. Becher ge-
ben welche er will. Er ſoll ihm 100. Thal.
geben/ wenn es ihm gelegen ſeyn wird.


51. Jedoch koͤnnen zu weilen auch uͤber-
fluͤſſige
Worte eine Dunckelheit verurſachen.
Z. e. ich vermache dir allen meinen Haus-
rath/ meine Tiſche und Baͤncke. Oder:
alle mein Vieh/ Schaffe und Rinder (und
haͤtte auch Schweine) u. ſ. w.


52. (5.) Macht den Verſtand einer Rede
ſehr zweiffelhafft/ wenn man ſich in einer Ver-
wirrung
befindet/ weil alle beyde Ausle-
gungen falſch ſcheinen. Es ſey nun daß die-
ſe Verwirrung (perplexitas) aus denen Wor-
ten ſelbſt
herruͤhre/ z. e. WennTitiusmein
Erbe ſeyn wird/ ſoll auch
Sejusmein E[r]-
be
[172]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
be ſeyn/ und wennSejusmein Erbe ſeyn
wird/ ſoll es auch
Titiusſeyn.


53. Oder das dieſe Verwirrung aus ge-
wiſſen Umſtaͤnden
herkaͤmen/ z. e. Das Ge-
ſetze will: Es ſoll einer geraubten Weibs-
Perſon frey ſtehen des Raubers Tod oder
ſeine Heyrath
zu erkieſen. Nun hat aber
einer zwey Jungfern geraubet/ davon wil
ihn die eine tod/ die andere zum Manne
haben. Oder: Wer in Kriege ſich tapffer haͤlt/
ſoll macht haben eine Gabe zu begehren.
Nun finden ſich ihrer zwey/ die begebren al-
lebeyde eine gewiſſe Jungfer.
Oder: Wer
einen Auffruhr anhebet/ ſoll mit dem Le-
ben geſtrafft
werden/ wer ihn ſtillet/ ſoll
von dem gemeinen Weſen belohnet werden.
Es hatte aber einer einen Auffruhr erwo-
cket/
und wieder geſtillet. u. ſ. w.


54. (6.) Endlich iſt auch keine geringe
Dunckelheit/ wenn eine Rede der andern wie-
derſpricht.
Dieſes geſchiehet entweder gantz
offenbahr/
wenn in einer Schrifft/ es ſey nun
an einem oder unterſchiedenen Orten/ etwas
bald bejahet/ bald verneinet wird. Oder nur
durch eine Folgerung/ wenn man zwey Din-
ge behauptet/ die doch aus wiederwaͤrtigen
Gruͤn-
[173]andere zu verſtehen.
Gruͤnden herkaͤmen; als z. e. wenn einer an
einem Orte bejahete: Es waͤre zu gelaſſen/
daß ein Fuͤrſt diſpenſiren koͤnne des Weibes
Schweſter
zu nehmen/ und an einem andern
Ort ſagte man: Der Fuͤrſt koͤnte ſelbſt nicht
ſeines Weibes Schweſter Tochter heyra-
then.


55. Manchmahl geſchiehet auch eine der-
gleichen ſtillſchweigende Wiederſprechung/
wenn ein Fall vorkoͤmmt/ der aus einer Re-
de zu behaupten/ und aus der andern zuver-
neinen ſcheinet/ z. e. Es iſt ein Geſetze: Man
ſolle einem der ſeinen Fuͤrſten das Leben ge-
rettet/
eine Ehren Seule auffrichten. Ein
ander Geſetze aber verboͤte/ daß man keiner
Weibs-Perſon
eine Ehren-Seule ſetzen ſol-
te/ und eine Weibs-Perſon haͤtte dem Fuͤr-
ſten das Leben gerettet.
Oder es waͤre
verbothen: Man ſolte am Sontage kein
Gewehr tragen/ und in Gegentheil gebothen/
daß wenn die Sturm-Glocke gelaͤutet
wuͤrde/
man alſobald mit dem Gewehr auff
dem Marckt erſcheinen ſolte. Und die Sturm-
Glocke wuͤrde des Sontags gelautet.

u. ſ. w.


56. Aber woher werden wir nun die Re-
geln
[174]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
geln nehmen/ uns derſelben in Auslegung
dunckeler Reden zu bedienen?
Hier iſt zu-
forderſt zu wiſſen/ daß wir dieſelben nimmer-
mehr auff unſtreitige Warheiten grunden
koͤnnen/ weil wir weder vermittelſt der allge-
meinen Sinnligkeiten anderer Menſchen ih-
re Gedancken unmittelbar begreiffen/ noch
durch dieideasoderabſtractiones die dem
gantzen Menſchlichen Geſchlecht gemein ſind/
eines andern ſeine Gedancken errathen koͤn-
nen. Sondern weil die Gedancken der Men-
ſchen unendlich von einander unterſchieden
ſind/ ſo hat eben aus der Urſache der Schoͤpf-
fer denen Menſchen die Rede eingepflantzet/
daß ſie damit als mit deutlichenSignis ein-
ander ihre Gedancken eroͤffnen.


57/ Nun iſt es aber mit der Natur des
Menſchen alſo bewand/ daß wenn ſchon die-
ſelbigen ihre Rede noch ſo deutlich einrichten/
dennoch bey andern dadurch keine unſtreiti-
ge
Erkaͤntnuͤß erwecket wird/ in dem wegen
der allgemeinen Boßheit es leichte geſchehen
kan/ daß ein Menſch anders redet/ als er ge-
dencket/ und ſolcher geſtalt wird auch aus de-
nen aller deutlichſten Reden der Menſchen/
wenn es hoch koͤmmt/ nichts anders als eine
de-
[175]andere zu verſtehen.
demonſtratio hypothetica erfolgen koͤn-
nen/ daß nemlich/ wenn anders ihre Worte
mit ihren Gedancken uͤbereinſtimmen/ dieſes/
was der Verſtand der Worte giebet/ ihre
wahre Meinung geweſen ſey. Wiewohl im
gemeinen Buͤrgerlichen Leben/ weil man die
Sache nicht hoͤher bringen kan/ dieſe Erkaͤnt-
nuͤß ſo viel als die Erkaͤntnuͤß einer unſtrei-
tigen Warheit
gelten muß.


58. Wenn aber die Reden/ derer ſich die
Menſchen bedienen/ ihre Gedancken zu entde-
cken/ dunckel oder vieldeutig ſind/ und wir
dannenhero/ wie obgemeldet/ aus andern Si-
gnis
und Muthmaſſungen ihre wahre Mei-
nung herfuͤr ſuchen muß; ſo kan es nicht feh-
len/ es muͤſſe dieſe interpretatio, die wir oben
Logicam genennet/ noch weniger als die
vorige (Grammatica) bey uns eine unſtrei-
tige Erkaͤntnuͤß
erwecken/ ſondern weiter
nicht/ als auff eine Wahrſcheinligkeit ihr Ab-
ſehen richten/ theils weil keine Muthmaſ-
ſung
oder conjectur unſtreitige Warheiten
zu wege bringen kan/ theils weil die andern
Signa, daher man ſolche Muthmaſſungen zu
nehmen pfleget/ noch mehrerninſtantien
unterworffen ſind/ als die deutlichen Reden/
theils
[176]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
theils weil es zum oͤfftern geſchiehet/ daß wenn
die Worte vieldeutig ſind/ man fuͤr eine jede
von dieſen vieldeutigen Auslegungen ein ver-
nuͤnfftige Muthmaſſung
anfuͤhren kan/ und
alle Kraͤffte ſeines Verſtandes anſtrecken muß
zubegreiffen/ welche Auslegung wahrſchein-
licher ſey/ ja zu weilen nach langer Uberle-
gung bekennen muͤſſe/ daß man nichtsde-
terminir
en koͤnne/ ſondern die Sache in
Zweiffel laſſen muͤſſe.


59. Dieſes mit einem Exempel zubeſtaͤr-
cken/ wollen wir eines aus der Grichiſchen
Hiſtorie oder Fabel nehmen. Als Paris und
Menelaus um die Helenam fechten wolten/
hatten ſie die Bedi[ng]nuͤs gemacht/ daß wer den
andern uͤberwinden wuͤrde/ der ſolte die He-
lenam
haben. Kurtz aber vor dem Streit
wurde dieſe condition auff folgende weiſe wie-
derhohlet/ daß der/ ſo den andern umbringen
wuͤrde/ die Helenam haben ſolte. Als es nun
zum Gefechte kahme/ und Paris ſahe/ daß er
nicht auskommen konte/ lief er darvon/ und
ließ dem andern das Feld. Menelaus wolte
haben/ die Richter ſolten ihm die Helenam
zuſprechen/ weil er den Paris uͤberwunden
haͤtte; Paris proteſtirete/ weil er noch lebete/
und
[177]andere zu verſtehen.
und von dem Menelaus nicht waͤre umbge-
bracht worden. Das hauptſaͤchlichſte was
allhier zu unterſuchen war/ beſtand darinnen:
Ob die Worte der widerholten Bedingniß
die Zweydeutigkeit der erſten Worte haͤtte
wollen deutlicher machen/ oder ob man in
derſelben des Umbringens nur exempels-
weiſe als der vornehmſten Art der Uberwin-
dung angefuͤhret habe. Fuͤr beyderley Mei-
nungen kan man wohlgegruͤndete Muthmaſ-
ſungen anfuͤhren/ die einander dergeſtalt die
Wage zu halten ſcheinen/ daß wenn man un-
partheyiſch von der Sache reden will/ man
die Entſcheidung muß in Zweiffel laſſen.


60. Bey dieſer Bewandniß aber muß man
ſich fuͤr dem allgemeinen Jrrthumb huͤten/ daß
weñ man uͤber Dingen/ die zur Interpretation
dunckeler oder zweydeutiger Worte gehoͤren/
mit andern diſputiret/ man bey leibe diejeni-
gen/ wider welche man ſtreitet/ nicht einer
Boßheit
beſchuldige/ oder eine andere Heff-
tigkeit
gegen ſie gebrauche/ wenn ihre Mei-
nung auch auff eine wahrſcheinliche Muth-
maſſung
gegruͤndet iſt/ wenn wir gleich deut-
lich erkennen/ daß unſeꝛe Muthmaſſung und
Auslegung beſſer und wahrſcheinlicher ſey/ als
Mdie
[178]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
die ihrige/ denn was koͤnnen die guten Leute
dafuͤr/ daß ſie nicht ſo einen geuͤbten und ſcharff-
ſinnigen Verſtand haben als wir.


61. Z. e. Beym Luciano wird erzehlet/ daß
einer ſich in dem Schloß eines Tyrannen ver-
ſteckt habe mit der Intention, dem Tyrannen
das Leben zu nehmen/ und ſein Vaterland in
Freyheit zu ſetzen/ als ihm aber des Tyrannen
ſein Sohn am erſten in Wurff kame/ brachte
er denſelbigen umb/ und ließ das Schwerd in
ſeinem Leibe ſtecken/ und verkroch ſich wieder.
Bald darauff/ als der Vater ſeinen Sohn ſo
jaͤmmerlich ermordet antraff/ ſchmertzte ihm
der Todt ſeines Kindes ſo ſehr/ daß er ſich ſelbſt
mit eben dem Schwerd erſtach. Hierauff nahm
der Thaͤter das blutige Schwerd/ lieff damit
unter das Volck/ und begehrte/ man ſolte die-
ſe ſeine That belohnen/ weil ein oͤffentlich Ge-
ſetz in derſelben Stadt vermochte/ daß man
einem/ der einem Tyrannen das Leben
nehmen wuͤrde/ beſchencken ſolte.
Und
entſtund alſo die Frage: Ob beſagtes Geſetze
auff dieſe ſeine That koͤnte appliciret werden.
Lucianus hat keinen Fleiß geſpahret/ die Aus-
legung des Geſetzes auff dieſes Kerls Seite zu
lencken; aber Eraſmus hat nicht weniger
Kunſt
[179]andere zuverſtehen.
Kunſt angewendet zu erweiſen/ daß man dem-
ſelben die geringſte Belohnung nicht ſchuldig
ſey. Ob nun wohl dieſes letzten ſeine Gruͤn-
de viel wahrſcheinlicher ſeyn/ und denen Regeln
einer guten Auslegung viel naͤher kommen/
ſo muͤſſen wir doch desbalben des Luciani ſeine
Meynung nicht fuͤr boßhafft ausruffen/ und
deswegen uns mit ihm/ wie die Capitler/ zan-
cken.


62. Gleichwie dannenhero zu aller Erfor-
ſchung wahrſcheinlicher Dinge theils ein ge-
ſchwinder und faͤhigeꝛ Verſtand/ theils aber eine
attention und Auffmerckungauff wahrſchein-
liche Regeln erfordert wird/ alſo iſt es auch mit
der Auslegung dunckeler und zweydeutiger
Worte beſchaffen. Ein geſchwinder und
faͤhiger Verſtand thut hierinnen ſehr viel/
und es wird ein jedweder Menſch bey ſich
ſelbſt wahrnehmen koͤnnen/ daß er zuweilen in
einem Augenblicke und gleichſam unverſehens
eine wohlgegruͤndete Muthmaſſung finde ei-
ne dunckele Sache zu erklaͤren/ der er wohl
zuvor noch ſo eifferig und nach allen Kunſt-
Regeln nachgedacht/ aber vergebens.


63. Jedoch iſt nicht zu laͤugnen/ daß man die
natuͤrliche Guͤte ſeines Verſtandes/ wie ſonſten/
M 2alſo
[180]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
alſo auch in dieſem Stuͤck/ durch eine fleißige
Ubung/
durch Leſung vielerhiſtorien, und
Unterſuchung derantiqvitaͤt/ durch Kentniß
aller in dem gemeinen Weſen vorkommenden
Kuͤnſte und Wiſſenſchafften/ durch eine ge-
naue Wiſſenſchafft derjenigen
diſciplin o-
der Handels/ wovon der/ den man auslegen
will/ redet/ und mit einem Worte durch Er-
lernung der allgemeinen Regeln menſchli-
cher Klugheit/
uͤberaus ſtaͤrcket und denſelbi-
gen forthilfft/ und wer mit allen dieſen guten
qvalitaͤten begabt iſt/ der verdienet erſt den
Tituleines rechtſchaffenenPolyhiſtoris o-
der Critici, den heut zu tage ein jeder Pedante
affectiret,
deſſen ſeine gantze Weißheit darin-
nen beſtehet/ wie er mit ſauerer Muͤhe und
Arbeit aus alten manuſcriptis die varias Le-
ctiones
eines Buchs zuſammen ſuche/ oder et-
wa die opera Ciceronis cum Notis variorum
edire.


64. Ferner/ gleichwie in andern Dingen
die Muthmaſſungen aus vielfaͤltigen und faſt
unzehligen Umbſtaͤnden pflegen hergenom-
men zu werden; alſo iſt leichte zu ermeſſen/ daß
man auch in der Lehre von der Auslegung die
gantze Kunſt nicht in wenig und gewiſſe Re-
geln
[181]andere zu verſtehen.
geln einſchlieſſen koͤnne/ weil die Veraͤnderung
des geringſten Umſtandes/ offte auch die Muth-
maſſung/ darauff ſich die Interpretation gruͤn-
det/ veraͤndern ſoll. Jedoch wollen wir die
vornehmſten/
und die ſehr offte vorzukom-
men pflegen/ unſern Zuhoͤrern mittheilen/ weil
wir verſichert ſind/ daß wenn ſie ſich in denen-
ſelben wohl uͤben werden/ das uͤbrige von ih-
rem guten Verſtande gar leicht werde ſup-
pliret
werden koͤñen/ auch hernachmahls et-
liche beleuchten/ derer ſich auch zum oͤfftern ge-
lehrte Leute bedienen/ und die doch den gering-
ſten Nutzen
nicht haben/ oder offenbahr
falſch ſind.


65. I.Betrachte anfaͤnglich die Perſon
deſſen/ der etwas redet/ das iſt/ ſeinen
Stand oder ſeinen
affect/und Zuneigung
wohl/ denn du wirſt dadurch groſſen Vor-
theil in Auslegung dunckeler Dinge er-
langen.
Denn was das Hertze voll iſt/ da-
von redet man gerne/ und die Worte haben
oͤffters unterſchiedene Bedeutung nach dem
Unterſcheid der Staͤnde der Menſchen.


66. Z. e. Wenn ein Stoicker von affecten
redet/ muß ich mir ſchon einen andern concept
davon machen/ als wenn es ein Philoſophus
M 3thut
[182]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
thut/ der einer andern Secte zugethan iſt. Weñ
ein Juriſte de genere \& ſpecie, de qvanti-
tate
u. ſ. w. was ſchreibet/ muß ich es ſchon an-
ders verſtehen/ als wenn ich dieſe Woͤrter in
den gemeinen Logicken finde. Wenn ein ver-
hurter Kerl von Liebe/ ein Ehrgeitziger von
Ehre redet/ habe ich ſchon Urſache eine andere
Auslegung zu machen/ als wenn es ein tu-
gendhaffter
Mann oder ein Chriſte thut.
Wenn man von einer Perſon redet oder ſchrei-
bet/ die mit andern Perſonen gleichen Nah-
mẽ fuͤhret/ verſtehe ich die darunter/ mit der der-
jenige ſo redet in Haß oder Freundſchafft ge-
ſtanden. Wenn ein Studente von ſeinem
Haußrathe redet/ hat es eine andere Bedeu-
tung/ als wenn es einer thut/ der eine andere
condition hat. Wenn man jemand zu alimen-
tiren
oder auszuſtatten verſpricht/ reflecti-
ret
man gemeiniglich auch auff die affection
und das Vermoͤgen deſſen/ der ſolches ſaget.


67. II.Gib wohl achtung/ von was ein
Autorzu reden ſich vorgenommen/ oder
auff was fuͤr eine Sache ſich das/ was er
redet/
ſchicke. Denn weil in allen Reden o-
der Propoſitionen eine Verknuͤpffung zwiſchen
dem ſubjecto und prædicato/ oder zwiſchen der
Sache
[183]andere zu verſtehen.
Sache/ von der man redet/ und der/ was von
einer Sache geredet wird/ ſeyn ſoll; ſo giebt
auch die deutliche Erkentniß des einen gar
leichte die Auslegung des andern/ das dunckel
iſt.


68. Z. e. Die Roſe riecht gut. Die Roſe
ſchmertzt. Die Frantzoſen ſind fuͤr Mons
geruͤckt. Die Frantzoſen haben ihm die Naſe
abgefreſſen. Titiusdenckt wie er ſich entſchuldi-
gen wolle. Der Hund denckt/ du werdeſt
ihn ſchlagen. Der Truthan wird boͤſe/ wenn
er was rothes ſiehet. Der Knabe wird boͤſe/
wenn ich ihm Naſenſtuͤber weiſe. Alſo hat das
Wort Erbe eine andere Bedeutung/ wenn
man von Lehn- oder allodial-Guͤtern redet.
Lieſe mir was aus dem Virgilio her. Der Vir-
gilius
iſt gantz unſcheinbar worden/ daß man
keine lineamenten faſt mehr daran erkennen
kan. Es iſt mein eigen Haar. Das Buch iſt
meine. Mein Erbe ſoll dem Cajo 6. Tiſch-
Becher/ welche er will/ zu meinem Andencken
geben: (die Natur derer Vermaͤchtnuͤße giebet
Muthmaſſung/ daß der Cajus die Wahl haben
ſolle.) Jch will dir meinen Hausrath Tiſche
und
Baͤncke ſchencken. Jch will dir meinen
Hausrath Tiſche und Baͤncke fuͤr 100. Thl.
verkauffen.


M 469. Ja
[184]Das 3. H. von der Geſchickligkeit

69. Ja man kan ſich auch dieſer Regel be-
dienen/ wenn etwas falſch geſchrieben oder
die Buchſtaben verzogen ſind/ oder man ſich
alter oder frembder Woͤrter bedienet hat. z. e.
Der Balbirer hat den gluͤcklich an der Hoſe
curiret. Die arme betruͤbte Frau gieng davon
und weinete Buttermilch. Es was ein jung
Mann/ der was ein groß hofierer der Mayd/
und ein groß Vogler. Als er einsmahls auff
dem Feld was/ und ſeinen Sperber auff der
Hand ſitzen hatte ꝛc. Einer der eine alte reiche
Frau um Geldeswillen heyrathet/ beluſtiget
ſich hernach gemeiniglich zu hauſe mitCaton.
Es iſt ein feiner manierlicher und ſerviler
Menſch. Der Kerl hat zwar eine gefaͤhrliche
entrepriſe vorgenommen/ aber ſie iſt doch
gluͤcklich abgelauffen. Nun iſt groß Fried
ohn unterlaß/ alle Fehde hat nun ein Ende.
u. ſ. w.


70. Mit der vorigen Regel hat die III. eine
nahe Verwandniß. Betrachte das vorher-
gehende und nachfolgende/ oder was ein

Autoranderswo geſchrieben mit Fleiß/ ſo
wirſtu ſeine Meinung deſto beſſer verſte-
hen.
Denn man muthmaſſet nicht unbillig/
daß ein Autor dasjenige/ von dem er einmahl
zu
[185]andere zu verſtehen
zu reden angefangen/ allezeit in ſeinen folgenden
Reden fuͤr Augen habe/ und ſelbiges alſo ſtill-
ſchweigend auch in denen folgenden Reden
darunter muͤſſe begriffen werden. So muth-
maſſet man auch nicht leichte/ daß ein Autor
ſeiner vorigen Meinung werde widerſprechen
und ſich contradiciren.


71. Z. e. Zu wiſſen/ daß heute acto Titius
Cajo
10. Scheffel Weitzen fuͤr zehen Thaler
verkaufft ꝛc. und hat der Herr Verkaͤuffer
verſprochen das Getreyde dem Herrn Kauf-
fer ins Hauß zu ſchicken/ dieſer aber binnen
acht Tagen das Geld unfehlbahr zu entrich-
ten. Es hat einer in einem Teſtament dem
Titio den dritten Theil an ſeinem Hauſe ver-
macht; und in denen Codicillis ſetzt er: Titius
ſolle uͤber den Theil an Hauſe noch 100.
Thal. haben. Julianus ſagt in l. 40. de hæ-
redibus inſtituendis,
daß der Subſtitutus in
dem daſelbſt befindlichen caſu ſolle 3. Viertel
von der Erbſchafft haben/ und Tribonianus,
der den § ult. de vulg. ſubſtit. bey nahe von
Wort zu Wort daraus geſchrieben/ ſagt/ der
Subſtitutus ſolle einen Theil von der Erb-
ſchafft kriegen. Dieſer Regel pflegen ſich ge-
ſcheide Juriſten zu bedienen/ wenn ſie in Aus-
M 5legung
[186]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
legung derer Geſetze auff dierubric achtung
geben/ oder wovon der JCtus, daraus das
Geſetze genommen iſt/ in dem Buche/ deſ-
ſen die Uberſchrifft er wehnet/
gehandelt ha-
be/ oder wenn ſie beobachten/ was anders-
wo
Paulus oder Ulpianus von einerley mate-
rie
geſchrieben/ weswegen der Labittus ſeinen
Judicem verfertiget hat.


72. Jch habe aber geſagt/ daß man nicht
leichte muthmaſſe/ daß ein
Autorſeiner
vorigen Meinung werde wiederſprechen.

Denn es iſt eine Anzeigung einer Unbeſtaͤn-
digkeit/ und waͤre einem Autori gar ſelten
ruͤhmlich/ wenn er in einer Schrifft ſo bald
von einer Meinung zur andern fallen ſolte.
Gleichwohl aber geſchiehet ſolches zu weilen/
daß ein Geſetzgeber ſeine Geſetze auffhebet/
ein Hausvater ſein Teſtament aͤndert/ ein
Scribent, wenn er erkennet/ daß er aus
Menſchlicher Schwachheit geirret/ oder wenn
er in wahrſcheinlichen Dingen einer Sache
beſſer nachgedacht/ ſeiner vorigen Meinung in
einer andern Schrifft wieder ſpricht/ und die-
ſes iſt vielmehr hoͤchlich an ihm zu loben/ weil
er dadurch zuverſtehen gibt/ daß er bemuͤhet
ſey/ ſeinen Verſtand von denen præjudictis
zu
[187]andere zu verſtehen.
zu ſaubern/ und daß er keine eitele Ehre in
einer unvernuͤnfftigen Hartnaͤckigkeit ſuche/
wiewohl ſonſten die Pedanten zu thun gewoh-
net ſind.


73. Wenn es nun der Augenſchein giebet/
daß ein Menſch ſeiner Meinung wiederſpro-
chen/
ſo iſt es vernuͤnfftig/ daß man ſeine letz-
te Meinung fuͤr ſeine rechte Meinung
muͤſſe annehmen/
und dieſes pfleget man
durchgehends in Erklaͤrung der Geſetze/ der
Teſtamente, der Contracte, und der Gelehr-
ten Schrifften/ die contradiction moͤge nun
in unterſchiedenen oder in einer einigen
Schrifft hervorblicken/ in acht zu nehmen/ und
dahero iſt die gemeine Redens-Art entſtanden/
daß die letzten Gedancken die beſten ſeyn.


74. Es waͤre denn/ daß man ſaͤhe/ daß ein
Menſche an dem letzten Orte nur gleich-
ſam obenhin eine Sache erwehnet haͤtte/ die
er anderswo hauptſaͤchlich zu vorhero zum
gegentheil ausgefuͤhret; denn da kan es ge-
ſchehen/ daß man dafuͤr haͤlt/ er habe das letz-
te mehr aus einer Unbedachtſamkeit/ als aus
einem Vorſatz ſeine vorige Meinung zu aͤn-
dern gethan/ dergleichen Exempel nicht we-
nig in denenInſtitutionibus Juris vor-
kommen.


75. Wel-
[188]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit

75. Welches deſtomehr zu præſummiren
iſt incontracten/ die wegen gewiſſer ſolen-
ni
taͤten offte verneuert werden muͤſſen/ ob-
gleich ſelten in dem Jnnhalt derſelben pfle-
get was geaͤndert zu werden/ zumahlen weil
gemeiniglich Muthmaſſungen dabey ſind/ daß
der eine Theil den andern habe uͤbervorthei-
len wollen. Alſo pfleget man in denen Le-
hen Rechten in Zweiffel nicht nach denen
letzten/ ſondern nach denen aͤlteſten Lehen-
Brieffen zu ſprechen.


76. IV.Unter zweyen Verſtanden und
Auslegungen einer Schrifft iſt allezeit
diejenige der andern vorzuziehen/ die mit
der geſunden Vernunfft uͤberein koͤmmt/
und daraus in dem Menſchlichen Thun
und Laſſen eine Wuͤrckung entſtehet/
wenn die andere unvernuͤnfftig waͤre/
oder wenn dadurch das
negotium,das
gehandelt wird/
keine Wuͤrckung erlan-
gete.
Denn alle Menſchen ſind vernuͤnfftig
und in ernſthafften Dingen ſchicket es ſich
nicht/ poſſerey zu treiben/ ſondern ſie wollen
vielmehr darinnen auch vor vernuͤnfftig ange-
ſehen ſeyn; Nun iſt es aber eine groſſe Unver-
nunfft
[189]andere zu verſtehen.
nunfft/ wenn man ein ernſtlich Geſchaͤffte ver-
gebens und umbſonſt treibet.


77. Z. e. Die Athenienſer machten einen
Bund mit den Boeotiern, darinnen ſie ſich
verpflichteten/ ſie wolten mit ihrem Kriegs-
Heere aus derBoeotierLande abziehen.
Hernach aber gaben ſie vor/ dieſes waͤre der
Boeotier Land nicht/ darauff ſie ihr Feldlager
gehabt haͤtten. Item ein Geſetze verbothe in ei-
ner Stadt bey harter Straffe/ daß keiner dem
andern auff der Straſſe blutruͤnſtig ma-
chen ſolte/ und ſolte man keine Entſchuldi-
gung disfalls von dem Thaͤter anneh-
men:
Nun hatte aber ein Balbirer einem
der auff der Gaſſe war kranck worden daſelbſt
zur Ader gelaſſen/ und ſeine Feinde verklag-
ten ihn/ daß er nach dieſem Geſetze geſtraffet
werden ſolte. Hieher gehoͤret auch die bekante
Hiſtorie von Protagorâ und Evathlo, derer
Streit die Areopagiten nicht entſcheiden kon-
ten. Denn nach unſerer Regel haͤtte man
vor den Protagoram ſprechen muͤſſen.


78. So wird auch dieſe Regel von denen
Jureconſultis ſehr offte in Auslegung der
Teſtamente inculciret/ daß man eines Men-
ſchen ſeinen letzten Willen ſo auslegen muͤſ-
ſe/
[190]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
ſe/ daß derſelbe beſtehe und ſeine Wirckung
habe. Dannenhero ſich Julianus umb ein
groſſes verſehen/ wenn er uͤber dieſen caſum
gefragt worden. Der Teſtator hatte geſagt:
WennTitiusErbe ſeyn wird/ ſollSe-
jus
Erbe ſeyn/ und wennSejusErbe ſeyn
wird/ ſollTitiusErbe ſeyn. Denn er
ſagt: das Teſtament goͤlte nicht/ weil es un-
moͤglich waͤre/ daß die conditiones koͤnten er-
fuͤllet werden/ da er doch haͤtte bedencken ſol-
len/ daß die Worte auch dieſen Verſtand an-
nehmen: Titius und Sejus ſollen alle beyde
meine Erben ſeyn/ und keiner ohne dem an-
dern Erben.
Gleich als wenn zwey gute
Freunde zuſammen ſpraͤchen: Wenn du
wilſt ſpatziren gehen/ ſo wil ich mit dir gehen/
und der andere machte dem erſten dieſes com-
pliment
hinwiederum.


79. Wenn aber andere Muthmaſſungen
weiſen/ daß ein Menſche habe wollen un-
vernuͤnfftig handeln oder poſſen treiben/

ſo macht man auch die Auslegungen dar-
nach. Alſo wenn ihrer zwey einander un-
moͤgliche Dinge
verſprechen/ oder unter
unmoͤglichen Bedingungen/
ſo gilt das
Verſprechen nichts.


80. De-
[191]andere zu verſtehen.

80. Derowegen ſoll man auch in Ausle-
gung gelehrter Schrifften allemahl einen
Autorem erklaͤren/ daß er nichts wieder die
geſunde Vernunfft/ er bare Sitten/ oder Got-
tes Wort gelehret habe/ ſo lange man ſeine
Worte auff eine vernuͤnfftige Weiſe ausle-
gen kan.


81. V.Man muß derjenigen Ausle-
gung folgen/ die mit denen Grund-Re-
geln/ die ein
Autorin ſeinen Schrifften
gegeben hat/ oder mit der Urſache/ war-
um er ein Geſetze gegeben oder mit an-
dern einen
contractgeſchloſſen oder ſonſt
etwas gethan hat/ uͤbereinkoͤmmt.
Die-
ſe Regel hat mit der vorigen eine ziemliche
Verwandnuͤß. Denn die geſunde Vernunfft
erfordert/ daß die concluſiones mit denen
Grund-Regeln verknuͤpfft ſeyn/ und wer in
ſeinem Thun und Laſſen die Mittel nicht
erkieſet/ die ſich zu ſeinen Vorhaben ſchicken/
der wird nicht fuͤr klug gehalten.


82. Z. e. Wenn ein Autor zum Grunde
ſeiner Lehre geſetzt haͤtte/ daß man in allen
ſeinem Thun und Laſſen die Tugend und den
allgemeinen Nutzen aller Menſchen fuͤr
Augen haben muͤſſe/ und ſagte an einem an-
dern
[192]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
dern Orte/ man muͤſſe die Ehre uͤber alles
ſchaͤtzen und nichts thun/ woraus man einen
Schaden
zugewarten haͤtte; ſo muß ich die-
ſen letzten Satz nicht alſo auslegen/ als ob er
dadurch den Ehrgeitz oder den Eigennutz
haͤtte etabliren wollen/ weil dieſe Auslegung
ſeiner Grund-Regel zu wieder iſt. Wenn
Carteſius ſagt/ daß die Grund-Regeln ſeiner
Philoſophie nur auff die ſpeculation, nicht abrr
auf das Menſchliche Thun und Laſſen
muͤſten appliciret werden: und ſagt hernach
an einem andern Orte daß man an allen
zweiffeln muͤſſe/
wo von man nicht eine klare
und deutliche Erkaͤntnuͤß habe; ſo muß ich
dieſen Satz nicht alſo auslegen/ daß er ha-
ben wolle/ ein Bauer ſolle ſeiner Obrigkeit
keine Contribution geben/ bevor er klar und
deutlich erkennete/ ob auch der Nutzen des
gemeinen Weſens ſolches erfordere/ oder ob
die Obrigkeit dieſe Contribution zu Nutzen
des gemeinen beſten werde anwenden. Al-
ſo wenn ein Fuͤrſte bey Leibes-Straffe ver-
boten haͤtte/ man ſolte kein Getraͤyde aus
der Stad oder dem Lande fuͤhren/ damit
keine Theurung entſtuͤnde/
ſo muß ich die-
ſes Geſetze alſo auslegen/ daß er nicht habe
ver-
[193]andere zu verſtehen.
verbieten wollen das Getraͤyde aus der
Stad in die Muͤhle zu fuͤhren/ daß ſolches
gemahlen werde/ daß er unter dem Wort
Getraͤyde Haber und Gerſte u. ſ. w. habe
begreiffen oder nicht begreiffen wollen/ nach-
dem darinnen eine Theurung zubefahren
oder nicht; ingleichen/ daß derjenige mit glei-
cher Straffe zu belegen ſey/ der das Mehl
aus dem Lande fuͤhret. Wann verbothen
iſt/ daß man keinen Pflug ſolle zu pfande
nehmen/ ſo verſtehet es ſich auch/ daß man
keine Pflug-Schaaren verpfaͤnden ſolle.
Wenn ein Vater-Moͤrder geſaͤckt werden
ſoll/ ſo hat dieſe Straffe auch ein Mutter-
Moͤrder
auszuſtehen. Weil es verbothen
iſt/ keinem aus ſeinem Hauſe mit Gewalt
fuͤr Gerichte zu fuͤhren/ ſo darff man auch
keinen aus ſeinem Zelte mit Gewalt hoh-
len. Wenn in einem Buͤndnuͤſſe geſetzt iſt/
man ſolle binnen 20. Meelen keine Stadt mit
Mauren
befeſtigen/ ſo darff man ſie auch
nicht mit Bollwercken umbgeben. Wenn
Titius Erbe ſeyn ſoll/ wenn das Kind mit
dem des Teſtatoris Frau ſchwanger gehet
fuͤr ſeinem Vater ſterben wird/ ſo kriegt
Titius auch die Erbſchafft/ wenn die Frau
Nabor-
[194]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
abortiret hat. Wenn ſich ihrer etliche/ die
auff einem Schiffe waͤren/ zuſammen vergli-
chen/ daß diejenigen/ die zur Zeit des Unge-
witters ſich daraus retirirten/ alles/ was ſie im
Schiffe haͤtten/ verlieren/ diejenigen aber/ die
darinnen bleiben/
daſſelbige behalten ſolten/
und es entſtuͤnde ſo ein hefftiger Sturm/ daß
ſich alle die im Schiffe waͤren ſalvirten/ biß
auff einen einzigen Kerl/ der ſo kranck waͤre/
daß er ſich nicht regen koͤnte/ ſo wuͤrde dieſer
dennoch das Schiff mit denen Waaren nicht
prætendiren koͤnnen.


83. Jedoch muß man wohl darauff bedacht
ſeyn/ zu erkennen/ ob die Grund-Regeln/ die der
andere ſetzt/ und die Urſache/ die er vorgiebet/
auch von dem/ den man erklaͤret/ mit Ernſt
gemeinet
ſind/ oder von ihm nur zum Schein
vorgebracht worden/ denn wo das letzte iſt/
darff man ſich in der Auslegung nicht daran
binden.


84. Z. e. Wenn gleich Spinoſa allenthalben
ſagt/ daß er einen GOtt glaube/ und GOttes
Weſen
demonſtriren wolle/ ſo ſehe ich doch
aus andern Umbſtaͤnden/ daß ſein GOtt nichts
anders iſt/ als der gantze Begriff aller Cre-
aturen/
und muß mich folglich auch in der
Aus-
[195]andere zuverſtehen.
Auslegung ſeiner darnach richten. So kom-
men auch dergleichen prætexte taͤglich in de-
nen Kries-
Manifeſten fuͤr. Und wenn ei-
ner in ſeinem Teſtamente verordnet/ ſeine aͤlte-
ſte Schweſter ſolle/ weil ſie aͤrmer waͤre/
fuͤr der juͤngſten 2000. Thl. zum voraus haben/
ſo darff man ihr deßhalben dieſe 2000. Thl.
nicht abſprechen/ wenn es ſich befindet/ daß ſie
nicht aͤrmer iſt.


85. Derowegen weil es beſagter maſſen zu-
weilen geſchiehet/ daß man denen gegebenen
Grund-Regeln und denen ausgedruͤckten Ur-
ſachen nicht trauen darff/ auch es ſich nicht ſel-
ten zutraͤgt/ daß ein Autor ſeinen Grund-
Satz nicht oͤffentlich blicken laͤßt/ oder denſel-
ben gar zu ſehr verſteckt/ auch ein Geſetzgeber/
oder der einen contract mit dem andern macht/
die Urſache ſo ihn hierzu bewogen/ nicht aus-
druͤcklich ſetzet; ſo muß man freylich ziemlich
verſchlagen ſeyn/ durch neue Muthmaſſuñ-
gen dieſelbe herfuͤr zu ſuchen.
Dieweil a-
ber dieſelben ſo gar veraͤnderlich ſind wegen der
Vielheit der Umbſtaͤnde/ ſo kan man dieſelben
nicht wohl in gewiſſe Regeln einſchlieſſen/ ſon-
dern es iſt vonnoͤthen/ daß zufoͤrderſt in Ausle-
gung gelehrter Schrifften/ man diejenige
N 2diſci-
[196]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
diſciplin wohl gelernet habe/ dahin die Schrifft
des Autoris, den wir verſtehen wollen/ gehoͤret/
und daß man die hiſtoriam Philoſophi-
cam
von denen unterſchiedenen Meinungen
der Philoſophen wohl verſtehe. Jn Erklaͤrung
der Geſetze aber muß man in derPolitic, und
in Erklaͤrung der contracte in gemeinen Le-
ben und Wandel
wohl erfahren ſeyn/ ſonſt
wird man gewiß wenig oder gar nicht fortkom-
men koͤnnen.


86. Und gleichwie wir ſehr offte erwehnet/
daß man ſich in Dingen/ die von der menſch-
lichen Vernunfft dependiren, an keine menſch-
liche autoritaͤt binden muͤſſe; alſo muͤſſen wir
auch in Unterſuchung des Grund-Satzes
eines Autoris/ oder der Urſache eines Geſe-
tzes nicht hauptſaͤchlich auff dasjenige ſehen/
was andere allbereit fuͤr eine Auslegung dar-
uͤber gemacht haben/ wenn ſie auch noch von
ſo groſſer autoritaͤt waͤren/ ſondern auff das/
was uns die Lehrſaͤtze allgemeiner Ver-
nunfft
beybringen/ hauptſaͤchlich unſer Ab-
ſehen richten.


87. Alſo muß ich nun z. e.denen Ausle-
gern des
Grotii, denen Commentariisuͤ-
ber das
Corpus Juris u. ſ. w. nicht trauen/
ſon-
[197]andere zuverſtehen.
ſondern meinen eignen Kopff dran ſtrecken;
Alſo kehre ich mich nichts daran/ wenn gleich
Ulpianus und Tribonianus ſagen/ daß dieſes die
Urſach ſey/ warumb der Uſufructuarius die
Kinder der Magd/ derer Gebrauch ihm ver-
macht iſt/ nich fuͤr ſich behalten koͤnne/ weil es
ſich nicht ſchicke/ daß ein Menſch den an-
dern Menſchen als eine Nutzung behalten
koͤnne.
Oder/ wenn Tribonianus anderswo
ſagt/ daß man ehedeſſen einen minderjaͤhrigen
nicht vergoͤnnet ſeinen Knecht ohne gewiſſe
Solennitaͤten frey zu laſſen/ weil die Freyheit
ein unſchaͤtzbares Gut ſey
u. ſ. w.


88. Wir muͤſſen aber auch allhier wieder-
hohlen/ daß unſere Regel nur eine Muthmaſ-
ſung
in der Auslegung mache/ und dannen-
hero nicht allenthalben darauff/ als auff eine
unbetruͤgliche Sache/ fuſſen. Dannenhero
wenn wir ſehen/ daß der Fuͤrſtunſere Ausle-
gung uͤber ſein Geſetze verwirfft/ und derer
Gegentheil gut heiſſet/ ſo muͤſſen wir nicht un-
billig nachgeben/ wenn gleich unſere Ausle-
gung mit denen gegebenen Regeln noch ſo wohl
uͤberein kaͤme. Denn da heiſt es alsdenn: Res
qvidem dura, ſed ita lex ſcripta eſt.


89. Alſo wenn verboten iſt/ daß eine Frau die
N 3Ehe-
[198]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
bruchs beſchuldiget worden/ keinen Knecht im
Teſtament frey laſſen koͤnne/ weil gemeinig-
lich die leibeignen Knechte Kuppler ſind/
und von dem Ehebruch Wiſſenſchafft ha-
ben/
ſo ſcheinet es wohl/ das dieſes Geſetz den-
jenigen Knecht nichts angehe/ der etliche Jahr
ſich an einen andern Orth auffgehalten/

und von dem angeſchuldigten Ehebruch nichts
wiſſen koͤnnen. Nichts deſtoweniger muß die-
ſe Auslegung paſſen/ wenn der Geſetzgeber
ſpricht/ daß man das Geſetze auch von dieſem
Kerl verſtehen ſolle.


90. Gleicherweiſe koͤnen wir auch wohl in
Auslegung gelehrter Schrifftenraiſoniren,
was fuͤr conſeqventien daraus folgen/ und
dem Autori dieſelben beymeſſen/ daß er dieſel-
ben vermoͤge ſeines Grundſatzes ebenmaͤßig
behaupten muͤſſe. Wenn er aber wider dieſe
conſeqventien proteſtiret, daß er damit
nichts zu thun haben wolle/ und ſeine Mei-
nung anders erklaͤret/ muͤſſen wir ihn mit
frieden laſſen/ ob wir gleich nicht begreiffen/
wie dieſe conſeqventien nicht aus dem Grund-
ſatze folgen ſolten/ auch eines und das andere
wieder ſeine Erklaͤrung zu ſagen haben/ wenn
dieſe nur nicht gantz offenbahrlich/ und daß es
alle
[199]andere zu verſtehen.
es alle Menſchen begreiffen/ cavillatoria iſt.
Denn weil mehrentheils dergleichen conſe-
qventien
nicht von unſtreitigen ſondern wahr-
ſcheinlichen Dingen/ oder doch zum wenigſten
durch wahrſcheinliche Schluͤſſe gemacht wer-
den ſo kanich nicht ſchlieſſen: Dieſes iſt mir
hoͤchſt wahrſcheinlich/
Ergòmuß es auch
einem andern hoͤchſtwahrſcheinlich vor-
kommen.
Oder: wenn ich desAutoris
Meinung beypflichtete/ wuͤrde ich dieſe
conſeqventienauch mit vertheydigen
muͤſſen. Derohalben muß er ſolches auch
thun.


91. Alſo wenn Carteſius ſagt/ man muͤſ-
ſe auch an GOtt zweiffeln/ und ſeine Wider-
ſacher ſagen: daß er dadurch nothwendig zum
wenigſten zu einen augenblicklichenAthei-
ſten
werden muͤſſe; und er wehret ſich hier-
wieder mit
Haͤnd und Fuͤſſen/ muß man ihn
mit frieden laſſen. Alſo wenn diejenigen/ die
da ſagen/ die Seele eines Kindes werde in dem
Beyſchlaff von der Seele der Eltern gleich-
ſam angezuͤndet/
denen die da ſagen/ daß
GOtt dieſelbe der Mutter nach einer gerau-
men Zeit der Empfaͤngnuͤß eingieſſe/ vor-
werffen/ daß nach ihrer Meynung Gott Ur-
N 4ſache
[200]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
ſache der Suͤnde ſey/ dieſe aber jene beſchuldi-
gen/ daß ſie die Seele fuͤr Coͤrperlich hal-
ten muͤſten/
gleichwohl beyde wider dieſe con-
ſeqventien proteſtiren/
ſo iſt es nicht mehr als
billig/ daß man dieſe Proteſtation gelten laſſe.


92. Dieſes waͤren alſo die vornehmſten Re-
geln/ derer man ſich meines Behalts bey einer
guten Auslegung zu bedienen hat/ und halte ich
dafuͤr/ daß derjenige/ der dieſes wohl und cum-
judicio
zu appliciren weiß/ fuͤr einen guten
Ausleger
werde pasſiren koͤnnen/ maſſen ich
denn glaube/ daß unter 100. Faͤllen/ die in der
Auslegung vorkommen/ kaum einer ſeyn wird/
der nicht aus einer von beſagten Regeln koͤnne
entſchieden werden. Denn daß andere ſagen/
man muͤſſe wohl achtung auff die orthogra-
phie
und auff die Interpunction, als die
commata, puncta u. d. g. geben/ iſt wohl an
dem/ aber es gehoͤret mehr zu der Interpre-
tatione Grammatica,
als Logica, denn wir
ſind umb die Auslegung auch ſolcher Worte
bekuͤmmert/ die falſch geſchrieben ſind/ und
darinnen die interpunctio ausgelaſſen oder
verruͤckt iſt.


93. So wird es demnach auch nunmehr
Zeit ſeyn zu betrachten/ wie vielerley arten
von
[201]andere zu verſtehen.
von derInterpretation und Auslegung ſeyn.
Wiewohl was die Regeln betrifft/ dieſe Ein-
theilungen darinnen keinen groſſen Nutzen ha-
ben werden; maſſen die Regeln/ derer wir er-
wehnet/ bey einer von denen folgenden Ar-
ten ſo wohl als bey der andern beobachtet
werden muͤſſen.


94. Derowegen geſchiehet die Auslegung
einer fremden Schrifft durch eine deutlichere
Beſchreibung des Verſtandes derſelben/ ent-
weder in eben derſelben Sprache/ darinnen
die Schrifft geſchrieben/ oder in einer andern
bekanteren Sprache/
und wird alsdenn
translatio oder eine Uberſetzung genennet.


95. Wiewohl nun von dieſer letztern Hue-
tius
ein gantzes Buch verfertiget/ auch unſer
Vorhaben nicht iſt/ hier mit mehrern davon
zu reden/ ſondern vielleicht bald anderswo beſ-
ſere Gelegenheit ſich hierzu ereignen moͤchte/
ſo wollen wir doch nur dieſes einzige hier an-
mercken/ daß eine Uberſetzung keine ſchlech-
ke
Interpretatio Grammatica ſey/ ſondern
vielmehr ad Interpretationem Logicam
gehoͤre/ und dannenhero derjenige/ der die
Grund-Regeln die er Auslegung nicht ver-
ſtehet/ keinen guten Uberſetzer geben koͤnne.


N 596. Und
[202]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit

96. Und ſolchergeſtalt iſt das vornehmſte
Stuͤck eines guten Uberſetzers/ daß er nicht
ſo wohl auff die Worte/ als auff den Ver-
ſtand
ſehe/ und denſelben hernach in der an-
dern Sprache/ wie es ſich am beſten ſchickt/ und
wie es die idiotiſmi einer jeden Sprache zulaſ-
ſen/ nach ſeinen Gefallen gebe/ doch ſolcherge-
ſtalt/ daß auch aus einer Uberſetzung kein com-
mentarius
werde.


97. Aber ſiehe nun die gemeineſten Uberſe-
tzungen der GriechiſchenAutorenin das
Latein
an/ ob ſie nicht anſtat einer Interpre-
tationis Logicæ
die Autores von Wort zu
Worte vertiren und deshalben recht verdrieß-
lich zu leſen ſind/ anders theils betrachte die U-
berſetzung der LateiniſchenScribentenin
die Teutſche Sprache/
ob nicht eben dasjeni-
ge auch bey denen meiſten und nechſt dem auch
noch dieſes zu erinnern ſey/ daß die Uberſetzer
qvoæd interpretationem Grammaticam (deñ
die Interpretatio Logica præſupponirt dieſelbi-
ge allezeit) desLateins, mehrentheils aber
auch nicht einmahl des Teutſchen maͤchtig
ſind.


98. Ferner pflegt man insgemein von drey-
erley Arten der Auslegung zu reden/ de
au-
[203]andere zu verſtehen
authentica, uſuali, und doctrinali. Alleine
die letzte gehoͤret nur zu unſern Zweck. Die
avthentica iſt die/ wenn man ſeine eigene
Worte auslegt/ und die uſualis kan gar wohl
auff gewiſſe Maſſe dahin gebracht werden/
weil durch dieſelbe ein Fuͤrſte gleichſam ſtill-
ſchweigend ſeine eigene Geſetze erklaͤret/ in-
dem der lang hergebrachte Gebrauch ſo viel
gilt als ein geſchrieben Geſetze.


99. Die Interpretatio doctrinalis nun
wird von unterſchiedenen in Explicativam,
Mentalem, Extenſivam \& Reſtrictivam,

eingetheilet. Alleine Explicativa iſt eigend-
lich diejenige/ die wir bißhero Interpretatio-
nem Grammaticam
genennet/ und gehet
uns nicht an/ weil wir nur mit der Mentali
zu thun haben/ welche nichts anders als In-
terpretatio Logica
iſt.


100. Sie iſt aber vel Declarativa, vel
Extenſiva, vel Reſtrictiva,
welche Ein-
theilung hergenom̃en iſt von der proportion
der Worte mit denen Gedancken deſſen/ deſ-
ſen Schrifften wir erklaͤren/ oder mit denen
zweiffelhafften Faͤllen/
davon die Frage iſt/
ob ſie zu dem mente des Autoris, qvem inter-
pretamur,
gehoͤren oder nicht.


101.
[204]Das 3. H. von der Geſchickligkeit

101. Wenn die Worte ſo weit ſeyn als die
Gedancken/
oder wenn der zweiffelhaffte
Fall
ad mentem gehoͤret/ und auch unter
denen Worten begriffen iſt/ ſo heiſt es inter-
pretatio declarativa,
z e. wenn man fraget/
ob die Worte in weitlaͤufftigen oder engen
Verſtande ſollen genommen werden.


101. Weñ die Worte enger ſind als die Ge-
dancken/
oder wenn der Zweiffelhaffte Fall
ad mentem eines Autoris gehoͤret/ aber nicht
unter denen Worten
begriffen iſt/ ſo heiſt die
Interpretatio extenſiva, z. e. wenn wir o-
ben erwehnet/ daß/ wenn verbothen iſt Getraͤy-
de
aus dem Lande zu fuͤhren/ auch verboten ſey
Meel auszufuͤhren.


103. Und endlich weñ die Worte weiter ſind
als die Gedancken oder weñ der zweiffelhaffte
Fall/
der zwar unter denen klaren Worten
begriffen iſt/ dennoch nicht ad mentem Auto-
ris
gehoͤret/ ſo heiſſet es/ interpretatio reſtri-
ctiva,
z. e. wenn ein frembder auff die Stadt-
mauern ſteiget/
ſoll er geſtrafft werden. Und
da der Feind gehling fuͤr die Stadt koͤmbt/ und
ſie belaͤgern will/ lauffen viele frembdt mit auff
die Mauren/ und helffen denſelben verja-
gen/
und man wil ſie beſtraffen.


104.
[205]andere zu verſtehen.

104. Bey allen dieſen dreyen Arten der
Auslegung braucht man wie nur kurtz zuvor
erwehnet alle obangefuͤhrte Regeln nach
Gelegenheit/ und iſt keine unter denenſelben/
die zu einer Art alleine gehoͤrete/ wiewohl es
geſchehen kan/ daß bey einer Regel man mehr
exempel, die bey einer ſpecie interpretationis
vorkommen/ geben koͤnne/ aber dieſe Anmer-
ckung waͤre mehr ſubtil, als daß ſie einen Nu-
tzen haben ſolte.


105. Wiewohl nicht zu laͤugnen iſt/ daß die
V.Regel bey allẽ dreyſpeciebusfaſt gleich
durchgehet/
weil wir eines Menſchen Mei-
nung nicht deutlich erkennen koͤnnen/ als wenn
wir die Urſache und den Qvell ſeines Vor-
habens oder Meinung wiſſen/ indem wir im
erſten Theil allbereit geſagt/ daß ſo wohl die
Jrrthuͤmer als die Warheiten mit einen ge-
wiſſen fundament verknuͤpfft ſind.


106. Dannenhero muſt du dich nicht betruͤ-
gen/ als ob es drey unterſchiedene Regeln
waͤren/ wenn du dreyerley Worte bey denen
drey Arten der Auslegung vorbringen hoͤreſt.
Bey der Interpretatione Declarativa heiſt
es: Verba explicanda ſunt ſecundum
rationem legis.
Bey der Extenſiva: Ubi
ea-
[206]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
eadem eſt ratio, ibi eadem eſt Juris di-
ſpoſitio:
Und bey der Reſtrictiva: Ceſſan-
te ratione, ceſſat etiam ipſius diſpoſitio.

Denn dieſe drey Regeln ſtecken alle in der 5ten
Regel/ die wir oben angefuͤhret.


107. Ja es ſcheinet gar/ daß die JCti eben
deßwegen die Auslegung in dieſe dreyſpe-
cies
eingetheilet/ weil ſie den Jrrthumb ge-
habt/ als wenn eine jedeSpeciesihre abſon-
derliche Regeln haben muͤſte/
aus welchen/
ob es gleich ſcheinet/ daß er gering ſey/ und
nicht viel zu bedeuten habe/ dennoch unter-
ſchiedene falſche und unnuͤtze Regeln ge-
macht ſeyn worden/ die zu nichts nuͤtze ſind/
als zu Zaͤnckereyen und zu Sophiſtereyen/
und zu aſylis ignorantiæ. Wir muͤſſen ſie
doch nun auch ein wenig beleuchten/ weil wir
ſolches oben verſprochen haben.


108. Bey der interpretatione declarati-
va
macht man ſich ſehr breit mit der Regel:
Verba in dubio propriè ſunt accipienda, niſi
inde ſequatur abſurdum.
Man muß die
Worte ſo lange in eigenen Verſtande neh-
men/ biß man ſiehet/ daß der eigene Ver-
ſtand etwas
abſurdesnach ſich ziehe.


109. Wenn man aber beym Lichte beſiehet/
was
[207]andere zu verſtehen.
was hinter dieſer Regel ſtecke/ wird man gar
leichte befinden/ daß man gantz offenbahr bey
derſelben interpretationem Grammaticam
\& Logicam
mit einander vermiſcht. Bey
der interpretatione Grammatica laſſe ich
es pasſiren/ daß in Uberſetzung der Worte/
die klar und deutlich ſeyn/ man nicht ohne
gnugſame Urſache von der eigenen Bedeu-
tung derſelben ſolle abweichen. Und bey die-
ſer Bewandniß muͤſte ſie vielmehr alſo heiſſen:
Verba ubi non eſt dubium, propriè ſunt ac-
cipienda.
Wenn aber der Verſtand dunckel
und zweydeutig iſt/ oder ſich bey der Ausle-
gung ſonſt ein nicht unvernuͤnfftiger ſcrupel
ereignet/ und wir koͤnnen denſelbigen nicht
durch die oben erklaͤrte Regeln heben/
wer-
den wir auch gewiß nicht vermoͤgend ſeyn/ mit
dieſer Regel etwas fruchthaͤrliches auszurich-
ten/ wenn wir aber durch die obigen Regeln
allbereit
den wahren Verſtand eines Autoris
erhalten haben/ ſo hilfft uns ja gewiß dieſe Re-
gel zu nichts/ ſondern ſie waͤre doch zum wenig-
ſten nur uͤberfluͤßig.


110. Zudem ſo iſt auch derſelbigen Nichtig-
keit bey der interpretatione mentali alſobald
daraus zu ſehen/ wenn man dieſelbe nur ein
wenig
[208]Das 3. H von der Geſchickligkeit
wenig mit deutlichern Worten erklaͤret.
Denn das in derſelben enthaltene Wort: ab-
ſurdum,
bedeutet entweder etwas unver-
nuͤnfftiges/
und das der allgemeinen Ver-
nunfft der Menſchen zu wieder iſt/ oder et-
was unbilliges/ das wieder/ die Geſetze
laufft.


111. Jn erſten Verſtande hieſſe dieſelbige
ſo viel. Wenn eine Redens-Art zweif-
felhafft iſt/ muß man dieſelbige ſo lange in
eigenen Verſtande nehmen/ biß man ſie-
het/ daß dieſe Auslegung unvernuͤnfftig
ſey/ das iſt/ mit denen obigen Regeln ei-
ner guten Auslegung nicht uͤbereinkom-
me.
Was hieße aber dieſes anders/ als das
man vor allen Dingen die Reden eines Auto-
ris
nach denen obigen Regeln examiniren
muͤſſe/ und alſo die gegenwaͤrtige nichts nuͤtze
ſey/ oder daß man ſich ihrer nur in interpre-
tatione
Grammatica
bedienen muͤſſe.


112. Jn dem andern Verſtande aber hieſ-
ſe ſie ſo viel: Man muß bey entſtehenden
Zweiffel die Worte ſo lange in eigenen
Verſtande nehmen/ biß man ſtehet/ daß
aus dieſer Auslegung etwas unbilliges
folge.
Und ſolchergeſtalt gehoͤrete ſie zwar
mehr
[209]andere zu verſtehen.
mehr ad interpretationem Logicam, aber
ſie waͤre gantz offen bahr falſch. Denn es
koͤnnen viel Exempel gegeben werden/ daß
der eigene und figuͤrliche Verſtand beyder-
ſeits nicht unbill[i]g waͤren/ und dannenhero
man entweder aus andern Muthmaſſun-
gen ſehen muͤſte/ ob der eigene Verſtand dem
figuͤrlichen vorzuziehen waͤre/ oder dieſelbi-
gen wohl gar wieſen/ daß der figürliche Ver-
ſtand alleine ſtat habe. z. e. Wenn einer dem
andern eine Apothecke verkaufft haͤtte/ wel-
ches Wort theils vor dem Ort/ darinnen
die medicamenta verwahret werden/ theils
vor die Medicamenta ſelbſt per metonymiam
genommen wird. Keine von beyden Be-
deutungen hielte etwas verbotenes in ſich.
Oder wenn ich ſpraͤche: Er hat mit einem
kalten Eiſen
ſein Leben geendiget. Er hat
dieſen Ort mit gewaffneter Hand einge-
nommen.


113. Gleiche Bewandnuͤß hat es auch mit
einer andern Regel/ die aus dem Jrrthum
der vorigen her gefloſſen/ denn ein Jrrthum iſt
niemahlen alleine. Man muß in Erklaͤ-
rung der Teſtamente und letzten Willen
die Worte des Teſtaments ſo lange in ei-

Oge-
[210]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
genen Verſtande nehmen/ biß die hoͤchſte
Noth uns davon abzuweichen antreibet.

Die Juriſten haben dieſelbige erſt auff die
Bahne gebracht/ aber ſie hat ſo wenig
Grund als die vorige. Und ich halte/ wenn
man nur ein wenig die Leges Pandectarum,
die von Teſtamenten handeln/ durchgehen
wolte/ ſo wuͤrde man befinden/ daß ja ſo viel
caſus drinnen enthalten waͤren/ in welchen
die Juriſten die Teſtaments-Worte figürlich/
als nach ihrem eigenen Verſtande/ ausgele-
get.


114. Und gleichwohl hat man auff dieſe
Regel gleich als auff eine unſtreitige War-
heit
ſo groſſen Grund gebauet/ daß man ſich
derſelben auch in denen ſchwereſten Streit-
Fragen
mit groſſer Zerruͤttung der allge-
meinen Ruhe bißhero bedienet hat/ und noch
bedienet.


115. Denn alle dergleichen Regeln in der
Lehre von der Auslegung ſind zu nichts taug-
licher als das leidige Gezaͤncke unruhiger
Koͤpffe zu unterhalten/ und dieſophiſte-
rey
en und die Unweißheit unter der Larve
einer ſonderlichen Weißheit zuverſtellen.


116. Und eben dieſes Abſehen hat auch
die
[211]andere zu verſtehen.
die Schein Regel/ deren man ſich in der inter-
pretatione
extenſiva \& reſtrictiva
zu be-
dienen pfleget. Favorabilia ſunt exten-
denda, odioſa reſtringenda.
Annehmli-
che Dinge muß man auff andere gleich-
falls ausdehnen/ aber verhaſte und ver-
drießliche ſo enge/ als man kan/ einſchraͤn-
cken.


117. Dieſe Regel iſt ſo gemein und ſo alt/
daß auch der ſcharffſinnigeGrotius, durch
den allgemeinen Gebrauch zweiffels ohne hin-
tergangen/ ſich hoͤchſt angelegen ſeyn laſſen/ die-
ſelbe deutlich zu machen/ und mit unterſchie-
denen Exempeln zu beſtaͤrcken/ da ſie doch
abermahls ohne die obigen Regeln gantz den
geringſten Nutzen nicht hat; ja da man die-
ſelbe nicht einmahl verſtehet/ noch weiß/ was ſie
haben will/ ſondern ſie wie eine waͤchſerne Na-
ſe hinkehret/ wo man ſie ſophiſtiſcher weiſe hin
haben wil.


118. Denn alle Dinge in der Welt haben
zweyerley Geſtalten und Anſehen/ ein gutes
und ein boͤſes/ und was einem annehmlich
und nuͤtzlich iſt/ iſt gemeiniglich dem andern
verdrießlich. Und wenn man gleich ſagen
wolte/ man muͤſte genau betrachten/ ob in einer
O 2Sache
[212]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
Sache die Annehmligkeit oder Verdrießligkeit
uͤberwege/ und dieſelbe darnach benennen/ ſo
iſt doch offenbahr/ daß man dieſe Uberwegung
ohne die obigen Regeln nicht erkennen koͤn-
ne. Wenn man aber die extenſion oder reſtri-
ction
nach Anleitung der obigen Regeln
macht/ was braucht man denn dieſer Regel/
die nur in bloſſen Worten beſtehet.


119. Jch weiß wohl/ daß die Juriſten oh-
ne Betrachtung der obigen Regeln gewiſſe
Exempel
von annehmlichen und verdrießli-
chen Dingen geben/ und daraus neue Regeln
oder vielmehr neue concluſiones aus der vo-
rigen Regel machen. Aber ich weiß auch/ daß
alle dieſe Regeln falſch ſeyn/ und gar nichts
heiſſen.


120. Denn ſie ſagen: Die Gutthaten
eines Fuͤrſten gehoͤren unſtreitig zu an-
genehmen Dingen/
und machen dannenhe-
ro dieſe Regel: Beneficia Principis ſunt
extendenda vel latè accipienda.
Aber
zu geſchweigen/ daß man viel Exempel an-
fuͤhren kan/ ſie auch dieſelben ſelbſt anfuͤhren/
darinnen dieſe Regel trieger/ ſo ſolte es mich
gut duͤncken/ wenn ich nur noch ein einig Exem-
pel haͤtte ſehen koͤnnen/ das ſich auff dieſelbige
ſchickte.


121. Wie-
[213]andere zuverſtehen.

121. Wiederum mangelt es ihnen auch an
Exempeln nicht von verdrießlichen Dingen/
von denen ſie ſagen/ daß man ſie ſo viel als
moͤglich einſchraͤncken/ und bey leibe keine in-
terpretationem extenſivam
zulaſſen muͤſſe.
Denn/ ſprechen ſie/ allepœnalGeſetze ſind
odiös, und ſtehet wohl mehr als einmahl in
dem Corpus Juris, daß man dieſelben nicht
extendiren ſolle.


122. Nicht weniger alle ſtatuta particu-
laria
ſind odiös, weil ſie denen allgemeinen
Rechten derogiren/ und es iſt ja mit den kla-
ren Worten in den heiligen Pandecten ent-
halten/ qvod ea, qvæ contra rationem Juris
communis ſint introducta, non producenda
ſint ad conſeqventias.


123. Nun iſt zwar ietzo meines Vorha-
bens nicht/ den Urſprung dieſer groſſen Jrr-
thuͤmer allhier weitlaͤufftig zu unter ſuchen/
oder ihnen auff ihre objectiones zu antwor-
ten/ ſondern ich will dir nur in einem deutli-
chen Exempel (nach dem man leichtlich 1000.
andere ſich einbilden kan) zeigen/ daß dieſe Re-
geln falſch ſeyn. z. e. Es iſt per ſtatutum
particulare
hergebracht/ daß kein Untertha-
ner bey 50. fl. Straffe einen Scheffel Ge-
O 3traͤy-
[214]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
traͤyde ohne der Obrigkeit vorwiſſen auſſer
ſeinem Dorffe verkauffen ſolle/ und man er-
tapt einen/ der Mehl verkaufft. Die geſun-
de Vernunfft und die 5. Regel/ die wir oben
gegeben/ verſichern uns/ daß von rechtswegen
der Unterthaner in dieſem Fall ſtrafffaͤllig
ſey/ und daß man/ unerachtet dieſes ein ſta-
tutum particulare
und lex pœnalis waͤre den-
noch interpretationem extenſivam hier muͤſ-
ſe ſtat finden laſſen.


124. Sprechen ſie: Ja dieſes iſt nur ein
Exempel und eineexception von unſerer
Regel/ nulla verò regula eſt ſine exceptio-
ne;
ſo bitte ſie doch gar inſtaͤndig/ daß ſie ſo gut
ſeyn/ und geben dir nur ein paar Exempel von
der ihrigen/ die du nicht aus denen obigen
Regeln/ wenn ihre deciſion anders recht iſt/
albereit decidiren kanſt.


125. Wenn nun durch die von uns oban-
gefuͤhrte Regeln/ oder wo ja deren noch etli-
che wenige tuͤchtige waͤren/ die wir uͤber ver-
hoffen ſolten verſehen haben/ die Dunckelheit
und Zweydeutigkeit einer Rede nicht geho-
ben
werden koͤnte/ ſo hoͤret/ wie wir allbereit
oben erwehnet/ das Ambt eines Ausle-
gers
auff/ und weil bey der klugen Welt
nichts
[215]andere zu verſtehen.
nichts unvernuͤnfftiger iſt/ als nach unmoͤg-
lichen Dingen
trachten/ oder unmoͤgliche
Dinge/ derer Unmoͤgligkeit ieder vernuͤnffti-
ger Menſch begreiffet/ vor moͤglich halten;
Als muſt du dich um ſo viel mehr fuͤr dieſen
groſſen Fehler huͤten/ ie mehr du ſieheſt/ daß
ſonſt gelehrte und vortreffliche Leute/ bloß aus
Veranlaſſung des præjudicii autoritatis dar-
ein gefallen.


126. Damit du dich aber deſto beſſer dafuͤr
huͤten koͤnneſt/ ſo will ich dir die vornehmſte
Arten
zeigen/ dadurch es zugeſchehen pfleget/
daß eine Schrifft nicht ausgeleget wer-
den kan.
Nehmlich 1. Wenn man das ge-
ſchriebene gar nicht leſen/ und mit keiner
Muthmaſſung erreichen kan/ wie die Worte
heiſſen ſollen.


127. 2. Wenn die geſch[ri]ebene oder ge-
druckten Worte gar keine Bedeutung ha-
ben. Wiewohl bey dieſen beyden Arten von
denen Gelehrten ſehr wenig pfleget angeſtoſ-
ſen zu werden/ in dem ſie ſich von ſelbſt verſte-
hen.


128. 3. Wenn die Worte zweyerley oder
mehrerern Auslegungen
unterworffen ſind/
die einander zu wieder ſind/ oder da man
O 4aus
[216]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
denen Umſtaͤnden ſiehet/ daß der Scribent,
oder die contrahirenden Perſonen nur eine
habe verſtehen wollen/ und man kan doch
durch keine gegruͤndete Muthmaſſung erken-
nen/ welche von beyden:


129. Wir haben ſchon oben ein Exempel
hiervon angefuͤhret/ nehmlich den Vergleich
des
Paris und Menelaus. Ein anders
koͤnte man daher nehmen/ wenn einer in ſei-
nem Teſtament geſagt haͤtte/ daß Titius ſei-
ner Kinder Vormund ſeyn ſolte/ und es waͤ-
ren zwey Titii,Vater und Sohn/ gegen
die der Verſtorbene gleiche Freundſchafft ge-
tragen haͤtte. Oder wenn er Titio etwas
vermacht haͤtte/ und es waͤren wohl 30. Titii
in der Stad.


130. Jch habe mit Fleiß geſagt/ daß die
Worte denn erſt ſollen fuͤr unmoͤglich auszu-
legen gehalten werden/ wenn beyde Bedeu-
tungen einander zuwie der waͤren/ oder ein
Scribentnur eine Bedeutung haͤtte ver-
ſtehen wollen.
Denn wenn die Bedeu-
tungen einander nicht zuwieder waͤren/ ſon-
dern gar wohl beyſammen ſtehen koͤnten/ oder
der Scribent haͤtte auff alle beyde/ die doch
unterſchieden waͤren/ ein Abſehen gehabt/ iſt
es
[217]andere zu verſtehen.
es kein Zweiffel/ daß man die Auslegung ſo
dann nicht unmoͤglich halten/ ſondern viel-
mehr beyde Auslegungen/ wenn man keine
Muthmaſſung finden kan/ welche der andern
fuͤrzuziehen ſey/ annehmen ſolle.


131. Z. e. Wenn ein Autor geſchrieben haͤt-
te: Daß man einem ſehenden Zeugen mehr
glauben muͤſſe als einem hoͤrenden:
kan
der hoͤrende Zeuge (wenn dieſe Regel in ge-
nere
geſetzt waͤre/ oder die Umſtaͤnde auff bey-
de Faͤlle koͤnten appliciret werden) genom-
men werden fuͤr einem/ der etwas ſelbſt ange-
hoͤret/ oder der es von hoͤren ſagen hat. Wenn
man ſpricht: Die Welt werde durch wie-
drige und unterſchiedene Meinungen
re-
gir
et/ kan man nach Gelegenheit unter dem
Wort Meinungen nicht alleine Wahrſchein-
ligkeiten/ ſondern auch handgreiffliche Jrr-
thuͤmer verſtehen.


132. Jch ſehe wohl zuvor/ du werdeſt ſpre-
chen/ wie das ſeyn koͤnne/ daß eine Rede
zweyerley Verſtand haben koͤnne/
weil
wir oͤffters erwehnet/ daß die Reden Anzei-
gungen der Gedancken waͤren/ und daß wir
damit dieſelbigen andern zuverſtehen geben
ſolten. Nun iſt es aber unmoͤglich/ daß ein
O 5Menſch
[218]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
Menſch zugleich an zwey Dinge geden-
cken/ oder zwey unterſchiedliche Gedan-
cken haben ſolle.
Ja wenn es vergoͤnnet
waͤre/ mit einem Worte zwey unterſchiedene
Gedancken dem andern zuverſtehen zugeben/
wuͤrden viel Leute durch dieſe Zweydeutigkeit
betrogen/ und alſo die menſchliche Geſell-
ſchafft groͤblich verletzet werden.


133. Alleine dieſer Einwurff hat nicht viel
auff ſich. Es iſt freylich wahr/ ein Menſch
kan nicht zugleich an zwey unterſchiedene Din-
ge gedencken/ aber es iſt auch gleichwohl nichts
geſchwinder als die Gedancken/ und im ge-
meinen Leben und Wandel nimmt man die
Augenblicke etwas weitlaͤufftiger/ daß ein
Menſch in denenſelben gar wohl zwey unter-
ſchiedene Dinge gedencken kan. Zu dem iſt
es ein groſſer Unterſchied: Jn einem Angen-
blick an zwey unterſchiedene Dinge geden-
cken/ und zwey unterſchiedene Gedancken
in einer Rede vorſtellen.


134. Hiernechſt aber iſt es freylich unrecht/
wenn ein Menſch durch die Zweydeutigkeit
ſeiner Worte andere Leute betriegen wolte/
weswegen auch im Handel und Wandel der-
gleichen Zweydeutigkeit nicht zu gebrauchen;
Aber
[219]andere zu verſtehen.
Aber deswegen muß man nicht uͤberhaupt
fuͤr unrecht ausſprechen/ wenn ein Autor in
ſeinen Reden auff zweyerley Verſtand zielet/
ſo wenig als man einem Medico fuͤrwirfft/
daß er unrecht gethan/ wenn er dem Patien-
ten die bittere Artzeney ſuͤſſe eingeſchwatzt/ ob
es gleich im Handel und Wandel verboten
iſt/ anders zu reden/ als man es meinet.


135. Zudem ſo fragen wir ietzo nicht: ob
es recht oder unrecht ſey/ wenn ein Autor
ſeine Worte auff zweyerley Art verſtehen
wolle/ ſondern ob derjenige etwas unver-
nuͤnfftiges
begehe/ der eines andern ſeine
Worte zu weilen in zweyerley Verſtande aus-
lege. Z. e. Wie offt geſchiehet es/ daß einer
dem andern zweydeutige Worte gibt/ die eine
gute und ſchlimme Auslegung zulaſſen/ und
hernach dem andern/ der ihn fragen laͤſt/ wie
er ſie wolle verſtanden haben/ zur Antwort
zu entbieten laͤſt/ er moͤge es nehmen/ wie
er wolle.


136. Wiewohl nicht zu laͤugnen iſt/ daß
mehrentheils ein Autor unter denen beyden
Verſtaͤnden/ in welchen ſeine Reden koͤnnen
ausgeleget werden/ auff den einen hauptſaͤch-
lich
gezielet/ welches man denn nach Anlei-
tung
[220]Das 3. H. von der Geſchickligkeit
tung obiger Regeln zuweilen aus andern
Umſtaͤnden abnehmen kan. z. e. Wenn einer
von Jrrthuͤmern redete/ und ſpraͤche: Mun-
dus regitur
opinionibus:
Oder wenn einer
dem andern ſagen laͤſt/ er ſolle es nehmen/
wie er wolle.


137. Ja es kan gar geſchehen/ daß (auſſer
Handel und Wandel) ein Scribent und Au-
tor
einen gantz andern Verſtand als die
Worte andeuten
in Sinne gehabt habe/
bey welchen man dannenhero wohl verſchla-
gen ſeyn muß/ denenſelben zu erforſchen/ weil
hierzu mehr Witz erfordert wird als zu dem
ſenſu literali, oder dem Verſtand der fuͤr Au-
gen lieget/
weswegen man ihn auch einen
heimlichen und verborgenen Verſtand/
allegoricum \& myſticum zu nennen pfle-
get.


138. Und dieſes geſchiehet gemeiniglich auff
zweyerley weiſe. Denn entweder intendiret
der Autor etwas herbes und unangenehmes
darunter zu verbergen/ oder nach Gelegenheit
wohl bitterer und beiſſender zu machen/ wenn
er in Satyriſchen Schrifften die Laſter lo-
bet/ oder in der general Beſtraffung derſelben/
oder in Erzehlung einer biſtorie von einer
andern
[221]andere zu verſtehen.
andern Perſon auff eine Perſon in ſpecie,
oder auff eine gantz andere/ als ſeine Worte
zeigen/ ſein Abſehen nimmt.


139. Oder er ſucht den Kern ſeiner guten
Lehre fuͤr die Einfaͤltigen lieblich und annehm-
lich zu machen/ als wie diefabeln,die auff
das menſchliche Leben und Wandel ge-
richtet ſind;
oder vielleicht aus Neid oder
andern Abſehen die Weißheit fuͤr denen Au-
gen des gemeinen Volcks zu verbergen; als
wie diePoëtiſchenFabelnund Gedichte/
die auff einen
ſenſum Phyſicum vel Chy-
micum
zielen.


140. Der Unterſchied duͤnckt mir zwiſchen
der Auslegung des ſenſus literalis \& myſtici
beſtehet darinnen. Zu jenen ſind die obbe-
ruͤhrten Regeln
gar zulaͤnglich/ daß auch da-
mit ein die Warheit liebender Menſch/ der
noch nicht eben ſo groſſe profectus in der Weiß-
heit hat/ ziemlich wird fortkommen koͤnnen/ aber
zu dieſen wird ein ſcharffſinniger Menſch/ oder
der ſchon die Weißheit in einen hohen grad be-
ſitzt/ erfordert; und zu Behuff der Auslegung
des myſtiſchen Verſtandes kan man unſere
obige Regeln eben nicht viel nutzen/ ſon-
dern man muß auff andere Dinge reflectiren.


141.
[222]Das 3. H von der Geſchickligkeit

141. Fuͤrnehmlich aber hilfft darzu viel:
Wenn man eine genaue Bekantſchafft mit
dem
Autorehat/ nicht allein in Satyriſchen
Schrifften/
daß man die hiſtorien wiſſe/ die et-
wa an dem Orte/ da er ſich auffgehalten/ paſſi-
ret
ſeyn; ſondern auch in Fabeln/ damit ich
aus ſeiner inclination zu dieſer oder jener di-
ſciplin judicire
,
ob er auff einen ſenſum Mo-
ralem, Chymicum
oder Phyſicum gezielet/ o-
der damit ich wenn ich ſonſten ſeine hypotheſes
in dieſer oder jener diſciplin weiß/ deſto eher
begreiffe/ was er in der Fabel fuͤr eine verbor
gene Warheit habe anzeigen wollen.


142. So iſt auch weiter noͤthig/ daß derjeni-
ge/ der einen ſenſum myſticum einer Fabel aus-
legen will/ diediſciplinaus der die Lehre ge-
nommen
und in der Fabel verſteckt iſt/ haupt-
ſaͤchlich verſtehe/
und nicht erſt ſuche/ in der-
ſelbigen etwas rechtes aus denen Fabeln zu be-
greiffen. Denn die Fabeln ſind dunckel/ und
muͤſſen von der Klarheit der Wiſſenſchafft er-
leuchtet werden: Wie wolte man nun mit dun-
ckelen Dingen die Dunckelheit ſeines Ver-
ſtandes vertreiben?


143. Derowegen muß man ſich hier wohl
huͤten/ daß man nicht aus allzu plumper Liebe
zu
[223]andere zu verſtehen.
zu der interpretatione myſtica ſich uͤbereile/
und von Sachen/ die man noch nicht be-
greifft/ die Fabeln auslegen wolle;
als wie
z. e. diejenigen thun/ die in dem ſie den Lapi-
dem Philoſophicum
ſuchen/ meinen/ ſie ha-
ben ihn in allen Fabeln des Ovidii gefunden/
da doch die Lebens-Art des Ovidii ausweiſet/
man koͤnne gar wahrſcheinlich fuͤr ihn ſchwe-
ren/ daß er kein guter Alchimist geweſen.
Und gemahnen mich dieſe Leute/ wie ein
Menſch/ der ſonſt etwas/ daß er noch nicht be-
ſeſſen/ begierig ſucht/ der ſucht es an allen Or-
ten/ und meinet oͤffters/ er ſehe die Sache/ und
habe ſie beynahe gefunden/ da er ſich doch meh-
rentheils ſehr betriegt.


144. So muſt du dich auch die Liebe zum
ſenſu myſtico nicht zu ſehr einnehmen laſſen/
einen zu ſuchen/ da keiner iſt; Wie viel ſind
Leute/ die in Satyriſchen Schrifften wieder
die intention des autoris Hiſtorien machen/
und die in Gedichten ſich bemuͤhen gewiſſe
claves zu verfertigen/ damit man das Abſe-
hen derſelbigen deſto genauer verſtehen koͤnne/
da doch gemeiniglich ein Dichter unter einer
Perſon wohl von zwantzig andern die Um-
ſtaͤnde zuſammen ſucht/ und mehr auff Gene-
ral-
[224]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
ral-Lehren/ als ſpecial facta ſein Abſehen
richtet.


145. Weiter huͤte dich auch/ daß dich die
Liebe zum ſenſu myſtico nicht antreibe/ eine
fabelauff drey oder mehrerley unter ſchie-
dene Abſehen auszulegen/
als wie man
zum Exempel aus denen fabeln des Ovidii
ſenſum Moralem, Chymicum \& Phyſicum
her-
aus zu klauben gewohnet iſt. Denn ein Au-
tor
zielet mehrentheils nur auff einen ſenſum
myſticum
,
nicht auff viele zugleich; und ſol-
cher geſtalt gibt derjenige/ der ſo viel ſenſus
myſticos
und mehr als einen aus einer Rede
ausleget/ zuverſtehen/ daß er in ſeiner Ausle-
gung ziemlich wancken und ſehr ungewiß ſeyn
muͤſſe.


146. Aber laſſe dich auch nicht aus allzu
unzeitigen Haß uͤbereilen/ daß du dieinter-
pretationem myſticam
gantz und gar
verwerffen wolteſt.
Denn wie dich ſo
viele Fabeln aus der morale uͤberzeugen/
die keinen andern als einen heimlichen
Verſtand haben koͤnnen; alſo kan auch
deine irrige Meinung auff nirgends an-
ders ſich gruͤnden/ als auff der entweder irri-
gen/ oder uͤbel verſtandenen/ und dannenhero
ſchon
[225]andere zu verſtehen.
ſchon oben verworffenen Regel; Daß man
von dem eigenen Verſtande der Worte
niemahlen abweichen ſolle.


147. Laß dich dieſe bißherige Digreſſion
nicht verdrieſſen/ noch fuͤr gar lang vorkom-
men/ denn du wirſt bey denen wenigen/ die de
interpretatione
geſchrieben haben/ wenig oder
nichts de ſenſu myſtico antreffen/ und wirſt doch
gar offte in Converſationen und Buͤchern
Diſcurſe von dieſer Sache pro \& contra hoͤren/
aus denen du dich verhoffentlich deſto beſſer wirſt
finden koͤnnen/ wenn du unſere bißherige An-
merckung hiervon etwas genauer betrachten
wirſt. Nun wollen wir weiter/ in denen Arten
fortfahren/ wegen welcher eine Schrifft nicht
ausgeleget werden kan.


148. Dieſes geſchiehet 4. Wenn der Wort-
Verſtand ſo verwirret iſt/ daß man keinen
vernuͤnfftigen Verſtand nach denen Regeln ei-
ner guten Auslegung daraus bringen kan. z. e.
Wenn einer alſo geſagt haͤtte: Wenn mein
Knecht nicht wird mein Erbe ſeyn/ ſol er
mein Erbe und frey ſeyn.


149. Hierbey aber nimb dich in acht/ daß du
den Verſtand einer Rede nicht ſo fuͤr gar ver-
wirret haͤltſt
wenn es derſelbige nicht iſt. Wir
Phaben
[226]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
haben ſchon oben hiervon ein Exempel gegeben/
wenn einer geſagthaͤtte: WennTitiusmein
Erbe ſeyn wird/ ſol
Cajusmein Erbe ſeyn/
und wenn
Cajusmein Erbe ſeyn wird/ ſol
es
Titiusſeyn; und gewieſen/ daß ſolches oh-
ne Urſache von den JCtis unter die verwirrten
Dinge gerechnet werde.


150. 5. So iſt auch endlich alle vernuͤnfftige
Auslegung vergebens/ weñ ein Autor, es ſey nun
an einen oder vielen Orten ſich ausdruͤcklich
widerſprochen hat/
ſo wenig es moͤglich iſt daß
man zwey Perſonen/ die einander widerſpre-
chen/ und par force nicht Friede machen wol-
len/ mit einander vereinigen koͤnne.


151. Aber ſo offenbar die Wahrheit dieſer
Anmerckung iſt/ ſo gar groͤblich und augen-
ſcheinlich wird dieſelbe in praxi auch von ſonſt
gelehrten Leuten hindan geſetzt/ und an derſel-
ben ſtatt die Thorheit umbarmet/ die die Ge-
lehrten auff zweyerley Weiſe verfuͤhret.


152. Denn entweder ſind ſie gantz verblen-
det/ und ſehen keineContradiction wo ſie
doch augenſcheinlich iſt/ und erdencken tauſend
Diſtinctiones die nichts heiſſen/ oder Caſus die
denen Autoren nie in Sinne gekommen. O-
der aber ſie ſehen wohl/ daß ſie auff dieſe Weiſe
nicht
[227]andere zu verſtehen.
nicht fortkommen koͤnnen/ und dannenhero
brauchen ſie an ſtatt vernuͤnfftiger Muthmaſ-
ſungen offenbahre Gewalt/ ſie ſtreichen nach
ihrem Gefallen aus/ was ihnen nicht anſtehet/
ſie machen aus einer bejahenden Rede eine ver-
neinende; Sie veraͤndern die ſigna diſtinctio-
nis
nach ihren Gefallen und ohne Raiſon, auſ-
ſer daß ſie ſich dieſer kahlen Entſchuldigung be-
dienen: Man muͤſſe eher alles zugeben/ als
daß man einraͤumen ſolte/ daß ein Autor ſich
ſelbſt/ oder einer dem andern contradiciret haͤt-
te. Und betrachten nicht/ daß ſie ſolcher geſtalt
aus Auslegern Gewaltthaͤter und Hencker an-
derer Worte und Gedancken werden/ uͤber die
ſie doch keine Gewalt haben.


153. Eine gantz andere Sache iſt es mit ei-
nem Fuͤrſten/ der/ gleich wie er Gewalt uͤber das
Thun und Laſſen ſeiner Unterthanen hat; Alſo
kan er auch aus ſonderlichen Urſachen befehlen/
daß die Worte ſeiner Unterthanen in ge-
wiſſen Faͤllen auff eine gewiſſe Art und
Weiſe ſollen ausgeleget werden/
ob ſchon zu
weilen dieſe Auslegung wider die obigen Re-
geln zu ſeyn ſcheinet/ oder man nicht eben ſehen
kan/ wie ſie daraus præcisè herkommen. Denn
es ſtehet in des Fuͤrſten Gewalt denen Unter-
P 2tha-
[228]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
thanen Geſetze vorzuſchreiben/ wie ſie ihren
Willen erklaͤren ſollen. So erfordert auch die
Ruhe des gemeinen Weſens/ daß ein Fuͤrſt aus
hoher Fuͤrſtlicher Macht etliche Regeln gebe/
die man in denen Faͤllen gebrauchen koͤnne/ weñ
beyderley Auslegungen der Worte nach denen
gemeinen Auslegungs-Regeln gleich wahr-
ſcheinlich ſeynd.


154. Z. e. Nach Roͤmiſchen Rechten wird
dafuͤr gehalten/ daß/ wann in einem letzten
Willen einem unter einer unmoͤglichen
und ſchaͤndlichen Bedingniß etwas ver-
macht waͤre/ daß man ihm daſſelbige pur
muͤſſe abfolgen laſſen/
und daß man die Aus-
legung ſo mache/ als ob das Bedingniß nicht
waͤre dazu geſetzt worden/ da doch nach denen
allgemeinen Regeln man vielmehr ſagen muͤſte/
daß der Verfertiger des Teſtaments ſeiner Er-
ben haͤtte ſpotten wollen.


155. So wird auch in zweiffelhafften Faͤllen
eines Contractsdie Auslegung allezeit wi-
der denjenigen gemacht/ der ſchuldig gewe-
ſen waͤre die Worte deutlicher zu ſetzen.

Dieſer wird aber dafuͤr gehalten/ daß er ſchul-
dig ſey ſeine Worte recht deutlich zu machen/
der uͤber die allgemeine Natur eines Contracts
ſich
[229]andere zu verſtehen.
ſich etwas bedinget oder verlaſſen haben wil.
Welche Regel zwar nicht denen obigen Regeln
zuwider iſt/ gleichwohl aber auch ſo offenbahrlich
nicht daraus kan hergeleitet werden.


156. Bey dieſer Bewandniß aber ſieheſtu/
daß dergleichen Regeln nicht hieher zur Lo-
gic
und zur Vernunfft-Lehre gehoͤren/ ſondern
der Jurisprudenz eigen ſeyn/ und aus derſel-
ben gelernet werden muͤſſen.


157. Du ſieheſt aber auch/ daß ſie nicht unter
die falſche Regeln gehoͤren/ weil die falſchen Re-
geln diejenigen ſeyn/ die weder in dem Verſtan-
de noch in denen Geſetzen gegruͤndet/ ſondern
beyden zuwider ſind.


158. Gleichwohl aber kan der Mißbrauch
derſelben verſchaffen/ daß ſie aus vernuͤnfftigen
Regeln unvernuͤnfftige werden/ wenn man ſich
nemlich derſelben als regularum interpretandi
communium
auſſer denen Teſtamenten und
Contracten/ oder in Auslegung derer Teſta-
mente oder Contracte ſolcher Perſonen/ die
demjenigen/ der dieſe Regeln gegeben/ nicht un-
terworffen ſind/ bedienet/ welches beydes nichts
neues iſt/ ſondern gar offte vorzukom̃en pfleget.


159. Endlich ſo huͤte dich auch/ daß du dir es
nicht ſauer werden laͤſſeſt in Auslegung ſol-
P 3cher
[230]Das 3. H. Von der Geſchickligkeit
cher Dinge/ die keinen Nutzen haben;
Denn du ſolſt dich der Auslegung bedienen zur
Weißheit dadurch zugelangen/ und alle Weiß-
heit/ wie wir zu Anfangs der Vernunfft-Lehre
præſupponiret/ ſol zum allgemeinen Nutzen des
menſchlichen Geſchlechts gerichtet ſeyn.


160. Aber du muſt dich auch hier die Exem-
pel gelehrter Leute nicht verfuͤhren laſſen.
Denn es iſt noch allzubekandt/ daß wenn z. e.
ein alter Stein aus einem alten Winckel her-
vor geſucht wird/ auff dem ein ſchlaffender Kna-
be auff einen Loͤwen liegt u. ſ. w. und die Worte
O. V. A. R. N. M. darumb eingehauen ſind/ daß
wohl gelehrte Leute von der Bedeutung deſſel-
ben gantze Buͤcher ſchreiben/ und auff einander
eyffrig ſind: Gleich ob mit dieſer Curioſitaͤt
der klugen und geſcheiden Welt das geringſte
gedienet waͤre/ und nicht bey dieſer Bewandniß
mit ja ſo groſſer Wahrſcheinligkeit koͤnte geſagt
werden/ daß obbeſagte Worte nichts anders als
dieſes bedeuteten: Otioſas Vanitates Autorum
Ridet Numen Maximum.
Oder wenn man
die Worte zuruͤcke leſen wolte: Maximum
Numen Ridendas Autorum Vanitates Odit.



[231]von anderer Meinungen zu urtheilen.

Das 4. Hauptſtuͤck/
Von der Geſchickligkeit von

anderer Meinungen zu urtheilen/
ob ſie wahr oder irrig ſind.


Jnnhalt.
Connexion n. 1. 2. Man hat hier nicht noͤthig neue Regeln zu
geben/ ſondern ſich nur fuͤr den gemeinen Jrrthuͤmern
zu huͤten n. 3. und zwar nicht in Beurtheilung von ande-
rer Meinungen und Schrifften uͤberhaupt n. 4. von der
Wichtigkeit und Nutzen der Materie derſelben n. 5. von
der Manier und Artigkeit dieſelbige fuͤrzutragen n. 6.
von der Erkaͤntniß der Gemuͤths-Neigungen aus denen
Schrifften; n. 7. ſondern bloß von der Wahrheit und
Jrrthumb anderer ihrer Meinungen n. 8. I. Lection:
Urtheile nicht von anderer Meinungen/
wenn du noch nicht von deinen eigenen
urtheilen kanſt.
n. 9. 10. II.Urtheile nicht
von Meinungen/ wenn du die
Diſciplinda-
hin ſie gehoͤren/ nicht wohl verſteheſt.

n. 11. Unterſchied dieſer beyden Regeln n. 12. was ei-
gentlich heiſſe eine Diſciplin wohl derſtehen n. 13. 14. Ob
man von Meinungen die zu einer Diſciplin oder Facultaͤt
gehoͤren/ darinnen man nicht promoviret hat/ urtheilen
koͤnne? n. 15. 16. 17. 18. Ein Schuͤler oder Auditor iſt
incapabel von anderer Meynungen zu urtheilen n. 19.
20. Jnsgemein wird wider dieſe beyde Regeln von de-
nen Gelehrten angeſtoſſen n. 21. Mißbrauch des ſtudii
circa notitiam Autorum n. 22. III.
Urtheile nicht
von einem Buche/ wenn du es nicht gele-
ſen haſt
n. 23. Jnsgemein pfleget man aus dem Ti-
tel von einem Buche zu urtheilen n. 24. Und zwar ent-

P 4weder
[232]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
weder aus der Materie n. 25. oͤffters auff eine thoͤrichte
Weiſe n. 26. 27. Oder aus dem Autore, worbey viel-
faͤltige Præjudicia vorzugehen pflegen; Als von deſſen
Ruhm und Autoritaͤt n. 28. 29. 30. Von deſſen Alter o-
der Tugend n. 31. Von deſſen Nation n. 32. Profeſſion
n.
33. Von der Secte der er zugethan n. 34. Von ſeinem
Stande und Vermoͤgen n. 35. Von dem Weiblichen
Geſchlechte n. 36. Von der Laͤnge oder Kuͤrtze der Zeit/
die ein Scribent in Verfertigung ſeines Buchs ange-
wendet n. 37. Von der Groͤſſe und Menge der Buͤcher
eines Autoris n. 38. Von der Raritaͤt der Buͤcher/ ihrer
Confiſcation, der Belohnung oder Beſtraffung des Au-
toris n.
39. Von denen Autoribus Anonymis und Pſeu-
donymis n.
40. u. ſ. w. n. 41. Man muß ein Buch gantz
durchleſen/ und zwar mit einer Attention, wenn man
davon urtheilen wil n. 42. Denen Excerptis aus ande-
rer Leute Schrifften iſt nicht zu trauen n. 43. Feurige
Ingenia koͤnnen wohl geſchwinde und gleichſam im
erſten Anblick von einem Buche uriheilen n. 44. IV.
Urtheile nicht von einem Buch/ wenn du
den
habitum interpretandinicht beſitzeſtn.
45. Dieſe Lection wird gar ſelten in acht genommen n.
46. Die Affecten hindern die Gelehrten mehrentheils/
daß ſie von frembden Buͤchern nicht recht judiciren n.
47. V.
Urtheile nicht/ wenn du ein Buch
mit
Affecten durchleſen haſtn. 48. Nemlich
mit Hochachtung oder Verachtung/ Liebe oder Haß des
Autoris n. 49. Dieſe Affecten bringet man entweder
mit/ ehe man noch die Buͤcher zu leſen anfaͤnget n. 50. 51.
Oder man wird davon uͤbereilet in dem man ſie lieſet
n. 52. 53. Kennzeichen eines Calumnianten der mit
Vorſatz die Schrifften gelehrter Leute uͤbel ausleget/
und ungegruͤndet davon urtheilet. n. 54—64.


1. Die-
[233]von anderer Meinungen zu urtheilen.

1.


DJeſes gegenwaͤrtige Hauptſtuͤck kanſtu
gleichmaͤßig wie das vorige auff zwey-
erley Weiſe
mit denen andern ver-
knuͤpffen/ weil es ſo wohl anweiſen ſol/ von der
Wahrheit zu urtheilen/ als von dem Jrrthumb.


2. So ferne es mit dem Jrrthumb zu
thun hat/ haben wir allbereit in dem vorigen
Hauptſtuͤck gewieſen/ wie es mit dem letzten ver-
knuͤpffet werden ſolle. Soferne es aber fuͤr-
nemlich auff die Erkaͤntniß der Wahrheit ge-
het/ koͤnnen wir ſagen/ daß ein weiſer und kluger
Menſch/ wenn er die Meinungen ſeiner ſo wol
lebenden als todten Lehrmeiſter wohl eingenom-
men/ hernachmahlen dieſelbigen ja ſo wohl/ als
ſeine eigene Meinungen auff dem Probierſtein
der geſunden Vernunfft ſtreichen und examini-
ren muͤſſe.


3. Und weil er dannenhero hierbey/ und
zwar ſo wohl bey Erkaͤntniß der Jrrthuͤmer als
der Wahrheit alles dasjenige in acht nehmen
muß/ was er bey ſeinen eigenen Meinungen
thun ſol/ ſo iſt nicht noͤthig/ daß wir hier viel
neue Regeln
geben/ ſondern es wird genung
ſeyn/ wenn wir die vielfaͤltigen Jrrthuͤmer be-
mercken/ die in Beurtheilung von anderer Leute
P 5Mei-
[234]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
Meinungen und Schrifften pflegen begangen
zu werden/ weil man die bißher erwieſenen
Regeln der Grund-Lehre nicht beobachtet/ ſon-
dern ſich von gantz handgreifflichen Præjudiciis
einnehmen und uͤbereilen laͤſt.


4. Dieſes deſto beſſer zu verſtehen/ muſtu
auff die Uberſchrifft unſers Hauptſtuͤcks wohl
Achtung geben. Denn wir haben nicht geſagt/
daß wir von der Geſchickligkeit von anderen
Meinungen uͤberhaupt zu urtheilen
han-
deln wollen/ ſondern abſonderlich nur davon/ ob
ſie wahr oder irrig ſind.
Derohalben muſtu
dich erinnern/ daß man von anderer Leute ihren
Meinungen die ſie ſo wohl muͤndlich als in
Schrifften vorgetragen/ auff unterſchiedene
Weiſe urtheilen koͤnne.


5. Denn anfaͤnglich kan man ein Urtheil ge-
ben von der Materie ſelbſt/ davon gehandelt
wird/ von derſelben Wichtigkeit und Nutzen/
in Anſehen des menſchlichen Geſchlechts u. ſ. w.
nach Anleitung deſſen was wir alsbald im erſten
Hauptſtuͤck der Vernunfft-Lehren von der Ge-
lahrheit uͤberhaupt/ ingleichen im 11. Haupt-
ſtuͤck daſelbſt von denen unterſchiedenen Claſſen
wahrer und wahrſcheinlicher Dinge/ wie nicht
weniger in dem erſten Hauptſtuͤck/ der gegen-
waͤr-
[235]von anderer Meinungen zu urtheilen.
waͤrtigen Ausuͤbung/ von Eintheilung derer
Kuͤnſte und Wiſſenſchafften geredet haben/ und
noch ferner in einem abſonderlichen Diſcurs von
denen unterſchiedenen Theilen und Diſciplinen
der Welt Weißheit abzuhandeln geſonnen ſind.
Wovon aber jetzo zu ſchreiben unſer Vorhaben
nicht iſt.


6. So pfleget man auch ferner insgemein
von der Manier mit der eine Schrifft oder
Diſcurs vorgetragen worden/ zu urtheilen; Ob
dieſelbige artig und ſcharffſinnig/ oder ver-
drießlich und abgeſchmackt ſey/ welches theils
aus denen Grund-Regeln der Rede-Kunſt/
theils aber auch aus denen Lehr-Saͤtzen der
Vernunfft-Lehre de Methodo hergenommen
werden muß/ ſo gleichfals jetzo zu unſern Vor-
haben nicht gehoͤret.


7. Ferner ſo kan man auch aus eines Men-
ſchen ſeinen Reden und Schrifften/ von ſeinen
Gemuͤths-Neigungen/ ſeinen Tugenden
und Laſtern/
und ob er ein auffrichtiger
Mann oder ein Heuchler ſey/
urtheilen.
Welche Wiſſenſchafft zwar ſehr edel und dane-
ben leichte/ ob ſchon ſehr wenigen bekandt iſt/
gleichwohl aber nicht zur Vernunfft-Lehre/ ſon-
dern zur Politic gehoͤret/ und aus Applicirung
der
[236]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
der Grund-Lehren/ die wir zu ſeiner Zeit daſelbſt
geben wollen muß erlernet werden.


8. So iſt demnach bloß unſer Vorhaben/ zu
zeigen/ wie man in Beurtheilung von der
Wahrheit oder den Jrrthumd eines andern
ſeiner Meynung ſich verhalten/ und die allge-
meinen vorurtheile/ ſo darinnen pflegen began-
gen zu werden/ vermeyden ſolle. Dieſe aber
werden wir verhoffentlich am deutlichſten vor-
ſtellen/ wenn wir nach Anleitung der Ordnung
die wir bißher in gegenwaͤrtiger Ausuͤbung be-
obachtet/ dieſelben unterſuchen.


9. Derowegen ſol dieſes die I. Lection ſeyn.
Urtheile nicht von andern Schriff-
ten oder Meinungen/ wenn du noch
nicht von deinen eigenen urtheilen
kanſt/
das iſt/ wenn du die Geſchickligkeit der
Wahrheit ſelbſt nach zudencken noch nicht beſi-
tzeſt/ und in deinem Kopffe noch nicht auffgeraͤu-
met haſt.


10. Denn wie wilſtu von andern urtheilen/
wenn du ſelbſt noch keinen Grund haſt nach dem
man urtheilen ſol/ ja wenn du ſelbſt eigentlich
davon zu reden noch kein Judicium haſt/ ſondern
von anderer Autoritaͤt dependireſt/ und dich in
deinen eigenen Dingen noch præcipitireſt.


11. II.Ur-
[237]von anderer Meinungen zu urtheilen.

11. II.Urtheile nicht von Schriff-
ten/ die zu einer abſonderlichen
Diſci-
plin
gehoͤren/ wenn du dieſeDiſciplin
ſelbſten nicht wohl verſteheſt.


12. Dieſe Regel iſt von der vorigen in ſo
weit unterſchieden/ daß derjenige/ der in ſeinem
Kopffe noch nicht auffgeraͤumet hat/ nicht capa-
bel
iſt von etwas zu judiciren/ da hingegen der
jenige/ der die Grund-Regeln von Erkaͤntniß
der Wahrheit wohl geleget hat/ deßhalben nicht
alſobald faͤhig wird von allen Dingen und von
denen ſpecial Diſciplinen zu judiciren/ es waͤre
denn daß er judiciren wolte/ ob der Autor wider
die allgemeinenprincipia ratiocinandi
darinnen angeſtoſſen haͤtte; Denn hiervon kan
er wohl urtheilen/ wenn er gleich die Diſciplin
davon gehandelt wird/ wenig oder nicht verſte-
het.


13. Und alſo muſtu nicht meynen/ daß du
eineDiſciplinwohl verſteheſt/ wenn du etli-
che Jahr Collegia uͤber dieſelbige gehalten/ und
wohl gar darinnen promoviret haſt/ auch in
examine optimè beſtanden biſt/ ſo ferne du der
Vernunfft-Lehre noch nicht maͤchtig biſt/ und
die Præjudicia nicht ausgeworffen haſt. Die-
ſes iſt zwar eine harte Anmerckung; Aber ſie
iſt
[238]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
iſt doch gantz offenbahr/ und flieſet aus dem Be-
weiß der erſten Regel gantz deutlich her.


14. Wiederumb darffſtu dich nicht hindern
laſſen von einer Diſciplin zu urtheilen/ in der du
verſichert biſt/ daß du eine gegruͤndete Erkaͤnt-
niß habeſt/ ob du gleich keine Collegia darinnen
gehalten/ oder darinnen nichtpromoviret/
oder auch wohl in einer andernpromovi-
ret haſt; Denn die Collegia beſuchen und in ei-
ner Diſciplin promoviren/ gibt oder nimmt der
wahren Gelahrheit nichts.


15. Man pfleget zwar wohl denen die von
Buͤchern judiciren die zu einer andern Diſci-
plin
gehoͤren/ als derjenigen/ darinnen ſie pro-
movir
et haben/ vorzuwerffen/ qvod falcem
mittant in alienam meſſem,
und daß ſie
ohne Beruff/ und wider ihren Beruff ur-
theileten.
Aber dieſe Einwuͤrffe/ ſo gemein ſie
ſind/ ſo unvernuͤnfftig ſind ſie auch.


16. Denn wer hat wohl einigen Gelehrten
eine Diſciplinzu eigen gegeben/ daß er ſie als
ſein proper Guth achten koͤnte/ da doch GOtt
den Verſtand einem Menſchen ſo wohl als dem
andern gegeben/ und den einen der Erkaͤntniß
nach ſo wenig als den andern eingeſchraͤnckt.


17. Was aber den Einwurff von dem
Man-
[239]von anderer Meinungen zu urtheilen.
Mangel des Beruffs anbelanget/ darauff
haben wir allbereit oben beym Anfang des an-
dern Capitels weitlaͤufftig geantwortet.


18. Endlich iſt dieſes auch eine groſſe Unver-
nunfft/ wenn man vermeinet/ ein Menſch der
in einer Facultaͤt oder Diſciplin promoviret
haͤtte/ habe dadurch einen Beruff erlanget
uͤber den er nicht ſchreiten duͤrffte. Denn es iſt
ja leider offenbahr/ daß dergleichen Promotion
nicht mit dem geringſten Grunde fuͤr einen
goͤttlichen Beruff ausgegeben werden koͤn-
ne/ ſondern faſt durchgehends ich wil nicht ſagen
dem leidigen Gelde/ ſondern nur menſchlicher
Willkuͤhr zugeſchrieben werden muͤſſe/ die dan-
nenhero ſich ſelbſt kein Geſetze geben kan/ zu-
mahlen da es ja niemand verboten iſt/ in allen
vier Facultaͤten zu promoviren/ auſſer daß man
einen ſolchen Menſchen etwan fuͤr nicht gar zu
geſcheide halten moͤchte/ daß er ſein Geld ohn-
nuͤtzlich und ohne Noth verſchleuderte.


19. Aus dieſen aber folget hinwiederumb/
daß du dich huͤten ſolſt von einer Schrifft nicht
zu urtheilen/ wenn du noch ein Schuͤler in
derſelben
Diſciplinbiſt; Denn ſo lange du
in dieſem Zuſtande biſt/ ſolſtu lernen und nicht
lehren. Einem Lehrer koͤmmt es eigentlich zu
von
[240]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
von Dingen die ſeiner Profeſſion ſind/ zu ur-
theilen.


20. Dannenhero ſo wenig man bey denen
Handwerckern es verſtattet/ daß die Lehr-Jun-
gen oder Geſellen ihre Urtheil von einem Mei-
ſterſtuͤcke geben/ ſo unfoͤrmlich iſt es auch/ wenn
einer der eine Diſciplin noch nicht ausgelernet/
von gelehrten Schrifften die dieſe Diſciplin an-
gehen/ ſein einfaͤltig Judicium ſagen wil.


21. Jedoch wird wider dieſe beyde Regeln
ins gemein groͤblich angeſtoſſen/ in dem jeder-
man von andern ihren Schrifften
judici-
ren wil/ da doch ein ſehr geringes und kleines
Haͤufflein/ auch unter denen Gelehrten ſelbſt/
die Vernunfft-Lehre recht verſtehen/ und in ih-
rem Kopffe auffgeraͤumet haben/ auch zum oͤff-
tern man von Buͤchern urtheilet/ die zu einer
Diſciplin gehoͤren/ die man gar nicht/ oder doch
ſehr confus verſtehet/ und man ſich beredet/ man
habe das Recht zu urtheilen erlanget/ wenn man
in einer Facultaͤt promoviret hat/ da doch heut
zu Tage faſt durchgehends der groͤſte Miß-
brauch mit denen Promotionibus vorzugehen
pfleget.


22. Ja es iſt leyder insgemein dahin kom-
men/ daß ihrer viele die Gelahrheit faſt eintzig
und
[241]von anderer Meinungen zu urtheilen.
und alleine darinne ſuchen/ daß ſie von denen
Autorenjudiciren wollen/ und alſo die Pfer-
de hinter den Wagen ſpannen. Denn wer
gelehrt iſt/ kan von andern urtheilen. Nun
wil aber jederman von andern urtheilen/ daß er
gelehrt ſcheine. Und ſolcher geſtalt bemuͤhet er
ſich ſo aͤmbſig/ eine notitiam Autorum zu ac-
qvirir
en/ und die gelehrte Welt iſt begierig ſol-
che Buͤcher zu leſen/ darinnen von andern Buͤ-
chern judiciret wird/ oder dieſelben zum wenig-
ſten extrahiret werden; Da doch hierinnen
beynahe allenthalben vielfaͤltige Præjudicia vor-
gehen.


23. Dieſe nun deſto beſſer zuvermeiden/ wol-
len wir dieſes als die III. Lection anmercken:
Urtheile nicht von einem Buche
wenn du es nicht geleſen haſt.
Dieſe
Regel iſt ſo augenſcheinlich/ daß ſie keines Be-
weiſes braucht/ weil es offenbahr iſt/ daß es die
groͤſte Præcipitanz ſey/ von einem Buche ur-
theilen wollen/ das man noch nicht geleſen/ und
dennoch begehet dieſesPræjudiciumfaſt die
gantze Welt/
und zwar auff vielerley Weiſe.


24. Denn anfaͤnglich faͤllet faſt jederman
auff den Titel der Buͤcher. Und es iſt nichts
gemeiners/ als daß der Titel das gantze
QBuch
[242]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
Buch verkauffe/ da doch die geſunde Ver-
nunfft weiſet/ daß nichts mehr betriege/ ja
nichts irraiſonabler ſey/ als hieraus von der
Guͤte der Buͤcher urtheilen wollen.


25. Bey dem Titel aber betrachtet man ent-
weder die Materie von der gehandelt wird/ o-
der den Autorem.


26. Und zwar moͤchte es noch hingehen/
wenn man bey der Materie auff deren Wuͤr-
de/
oder Nutzen/ die ſie dem menſchlichen Ge-
ſchlechte leiſten koͤnte/ ſaͤhe/ wiewohl auch dieſes
zu einem rechtſchaffenen Judicio ſehr unzulaͤng-
lich iſt/ in Anſehen die beſten Materien offt ſehr
ſchlecht und nichtswuͤrdig tractiret werden/ o-
der ſich ein Stuͤmper daruͤber macht/ der dem
Werck nicht gewachſen iſt/ und im Gegentheil
zuweilen ein Buch/ das einen ſchlechten Titel
hat/ viel auserleſene und nuͤtzliche Dinge in ſich
enthaͤlt. Aber ſo faͤllet oͤffters das Lob und die
Affection der Menſchen auff naͤrriſche und
unvernuͤnfftige Dinge.


27. Z. e. Ein Politiſcher Maul-Affe/ o-
der ein Politiſcher Feuermaͤuerkehrer wird
viel hoͤher geachtet als ein Buch/ darinnen die
wahre Politiſche Weißheit abgehandelt wird:
Und wenn eine Diſputation nebſt dem Lateini-
ſchen
[243]von anderer Meinungen zu urtheilen.
ſchen auch einen Teutſchen Titel hat/ gehet ſie
beſſer ab als andere. Ja wenn nur der Titel
von Curioſitaͤten gedencket/ oder das Wort
curiös ſonſten darinnen enthalten iſt/ ſo bilden
ſich die Verleger ein/ daß ſie es eher loß werden/
als wenn dieſes Wort mangelt.


28. Aber bey denenAutoribus ſelbſt ge-
hen noch vielmehr Præjudicia fuͤr/ in dem man
mehrentheils aus dem Namen eines Autoris
und aus deſſen Ruhm/ den er in der gelehrten
Welt erhalten/ ſo fort von einem Buche ur-
theilet/ da doch zufoͤrderſt und vor allen Dingen
ein groſſer Unterſchied unter dem was ein recht-
ſchaffener Gelehrter in ſeiner Jugend oder in
feinen zunehmenden Jahren/ was er mit Be-
dacht oder obenhin/ in einer Gemuͤths-Ruhe o-
der aus Affecten geſchrieben hatte/ gemachet
werden ſolte; Ja vielmehr/ weil doch dieſes
alles triegenkan und offt die gelehrteſten Leute/
menſchlichen Fehlern und Schwachheiten viel-
faͤltig unterworffen ſind; Auch alle Menſchen
in vielen Stuͤcken ſich von der Wahrheit verir-
ren/ da man ſich niemahln ſolte den Glantz und
den Ruhm eines Autoris einnehmen laſſen/ von
einer Schrifft zu urtheilen/ ob ſie der Wahrheit
gemaͤß ſey; Und da hingegen viel gute und
Q 2wahre
[244]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
wahre Buͤcher anzutreffen ſind/ die aus Man-
gel des Ruhms ihrer Autorum gar nichts ge-
achtet werden.


29. So gemein aber als dieſes Præjudicium
iſt/ ſo offenbahr ruͤhret es aus dem Brunnqvell
aller Præjudiciorum, dem Vorurtheil menſch-
licher
Autoritaͤt her/ und man koͤnte ja wohl
nur hieraus abnehmen/ wie dieſe Haupt-Wur-
tzel aller Jrrthuͤmer ſich in denen Gemuͤthern
der Menſchen tieff eingeſetzt haben muͤſſe/ weil
das Urtheil von guten und boͤſen Buͤchern aus
der Autoritaͤt und Anſehen der Autorum uns
Menſchen ſo feſte anhaͤnget/ daß auch diejeni-
gen/ die deſſen Nichtigkeit erkennen/ noch faſt
taͤglich in dieſe Schwachheit aus Unbedacht-
ſamkeit fallen/ in dem ſie derſelben von Jugend
auff ſo ſehr angewohnet ſind.


30. Je mehr man ſich aber/ wie erwehnet/
darinnen betrieget/ wenn man ſchlieſſen wil/ das
Buch muͤſſe gut ſeyn und viel Wahrheiten in
ſich begreiffen/ weil deſſen Autor beruͤhmt iſt;
Je noch viel mehr Jrrthuͤmer gehen darinnen
vor/ wenn man aus anderen Beſchaffenhei-
ten und Zufaͤllen theils der
Autorum,
theils der Buͤcher ſelbſt/ entweder von dem
Ruhm der
Autorum,oder alſo fort von
der
[245]von anderer Meinungen zu urtheilen.
der Guͤte der Buͤcher ohne vorhergegange-
ner Leſung derſelben urtheilen wil/ ſo gar daß
man ſich nicht wundern darff/ wenn in dieſen
Faͤllen beynahe durchgehends unter denen
Menſchen gantz widerwaͤrtige Urtheile fallen.


31. Denn ob man ſchon was z. e. das Alter
der Scribenten betrifft/ insgemein und zwar
nicht gaͤntzlich ohne Urſache die Schrifften gantz
junger Leute vor unzeitig und von weniger
Tuͤchtigkeit haͤlt; Hingegen aber der gantz al-
ten Leute ihre Wercke davor achtet/ daß die Ge-
muͤths-Kraͤffte darinnen ſehr abgenommen/ ſo
ſind doch die Gemuͤths-Neigungen der Men-
ſchen/ was das maͤnnliche Alter oder das Alter
einer voͤlligen Jugend eines theils/ anderes
theils aber das angehende Alterthumb betrifft/
ſo eingetheilet/ daß viel von denen Schrifften
junger/ andere aber von denen Schrifften al-
ter
Leute in Erkaͤntniß der Wahrheit mehr hal-
ten/ da doch beyderley Alter zu der Wahrheit
und Guͤte der Buͤcher wenig thut/ auch unter
beyden Sorten ja ſo wohl gute als ſchlimme
Schrifften angetroffen werden/ man wolte
denn etwan dieſe Anmerckung aus der
Politic daß die reiffe Jugend mehr Feu-
er und Geiſt
zum Speculiren/ das Alter
Q 3aber
[246]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
aber mehr Erfahrung habe/ zu Beſchoͤnung
dieſes Præjudicii anfuͤhren/ wiewohl auch diß-
falls ſelbige wenig zur Beſchoͤnung dienen wuͤr-
de/ ſo wohl weil die meiſten jungen Leute ihren
Verſtand nicht darzu anwenden/ was gutes zu
ſpeculiren/ und vieler alten Leute ihre Erfah-
rung oͤffters mehr in eitelen Dingen/ deren ein
junger Menſch ja ſo leichte faͤhig iſt/ als etwan
in der Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt und denen daher
ruͤhrenden oder anderen nuͤtzlichen Wiſſenſchaf-
ten/ gegruͤndet iſt.


32. Nicht weniger pfleget man auch aus
der
NationeinesScribenten von der Guͤte
ſeines Buchs zu urtheilen/ und wird dißfalls
nach dem Unterſcheid der Affecten und Inclina-
tion
en/ ſonderlich heute zu Tage unter uns
Teutſchen bald von dieſen der Frantzoͤſiſchen/
bald von einem andern der Engliſchen oder
Hollaͤndiſchen oder JtalieniſchenNation der
Vorzug vor andern gegeben/ da man doch aus
dem Temperament und unterſchiedenen Zunei-
gungen und Education derer Nationen nicht
mehr als ein politiſch Axioma von der Ge-
ſchickligkeit uͤberhaupt eines Volcks vor dem
andern in einer Diſciplin etwas zu thun urthei-
len kan/ in geringſten aber dieſe Regel nicht zu
laͤng-
[247]von anderer Meinungen zu urtheilen.
laͤnglich iſt von einer Schrifft inſonderheit ein
gegruͤndet Urtheil zu faͤllen.


33. DieProfeſſioneinesScribenten
macht nicht weniger die Urtheile der Menſchen
von der Guͤte ſeiner Buͤcher partheyiſch. Vie-
le ſind der Meinung/ es koͤnne kein gut Juriſtiſch
oder Mediciniſch Buch auſſer von einem Juri-
ſten
oder Medico und ſo weiter geſchrieben wer-
den; Andere aber admiriren deſto mehr/ und
fallen blindlings als zu was guten zu/ wenn ein
Mann in einer andern Facultaͤt als der er ſich
abſonderlich gewidmet/ ſich hervor thut. Da
ſich doch beyde gemeiniglich betriegen/ weil die
aͤuſſerliche Profeſſion eines gelehrten Mannes
der Guͤte und Wahrheit ſeiner Schrifften ſo
wohl binnen als auſſer derſelben Profeſſion
nichts giebet und nimmet.


34. Noch viel mehr und bey nahe die aller-
meiſten und gefaͤhrlichſten Vorurtheile gehen in
Anſehen derer Secten/ die ſich bey allen Facul-
taͤten befinden/ vor. Denn mehrentheils mei-
net man/ man werde nur bey denen Autoren/
die mit uns einerley Secte nachfolgen/ Wahr-
heit/ bey denen andern aber lauter Jrrthuͤmer
antreffen; Da doch die Wahrheit und die Jrr-
thuͤmer zum Theil allen Menſchen von allen
Secten gemein ſind.


35. Wie-
[248]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit

35. Wiewohl nun aber der groͤſte Theil der
Welt darinnen einig iſt/ daß er zufaͤllt/ die
Schrifften der Koͤnige und Fuͤrſten/ inglei-
chen Standes und Adelicher Perſonen/ o-
der Leute die in groſſen Ehren-Aembtern

leben/ und wohl gar zuweilen auch derer die viel
Geld haben/ als was ſonderliches/ und darin-
nen man ungemeine Wahrheiten antreffen
werde/ anzuſehen/ in Gegentheil aber die Buͤ-
cher gemeiner Leute als buͤrgerlichen Stan-
des/ Kauffleute/ Handwercksleute/ Bau-
ren/
u. ſ. w. als ob ſie voller impertinenten
Thorheiten waͤren/ zu verachten; So iſt doch
dieſes Vorurtheil ſo laͤcherlich und ungegruͤn-
det/ daß es mehr Erbarmungs als eyffriger Be-
antwortung wuͤrdig zu achten/ zumahl wenn
man betrachtet/ daß in Anſehung der gewaltigen
Maͤnge derer/ die mit dieſer Seuche angeſteckt
find/ es wohl vor ein groſſes und Straff-wuͤrdi-
ges Laſter ſolte gehalten werden/ wenn man ſich
in ausfuͤhrlicher Beantwortung deſſelben ein
wenig allzudeutlich auffhalten wolte.


36. Wir muͤſſen aber bey dieſer Gelegenheit
des Vorurtheils/ das man von dem Geſchlech-
te nimmt/
nicht ſo gar vergeſſen. Die Wahr-
heit weil ſie in Ubereinſtimmung des allen
Men-
[249]von anderer Meinungen zu urtheilen.
Menſchen gemeinen Verſtandes und der aͤu-
ſerlichen Dinge beſtehet/ kan folglich auch von
allen Menſchen/ waſerley Geſchlecht ſie auch
ſeyen/ erkandt/ und folglich auch wieder anderen
beygebracht werden. Alleine was das weib-
liche Geſchlecht
betrifft/ ſo haͤlt ſie das gemeine
Vorurtheil wider alle Vernunfft entweder
hierzu vor gantz ungeſchickt/ und betrachtet ihre
Buͤcher als Jrrthumbs volle Schrifften/ oder
aber/ wenn man ja in dieſem Præjudicio uneinig
iſt/ ſo admiriret man als was ſonderliches und
ſehr gutes/ wenn eine Weibs-Perſohn in Sa-
chen die die Sprachen/ die Hiſtorie/ und etwan
Liebes-Geſchichten betreffen/ ſich vor andern ih-
res Geſchlechts hervor thut/ und faͤllt blind-
lings auff ein ungemeines und irraiſonables
Lob dergleichen Schrifften/ ehe man ſie noch ge-
leſen; Hingegentheil aber pflegt man gemei-
niglich die nuͤtzlichen Schrifften frommer und
Tugendhaffter Weibes-Perſonen/ die der wah-
ren Weißheit und hoͤchſt nuͤtzlichen Wahrheit
viel naͤher kommen/ auch ohne Leſung derſelben
alſobald fuͤr phantaſtiſch und gefaͤhrlich aus zu-
ſchreyen/ wodurch man auff beyderley Weiſe/
andere vielfaͤltige Inconvenientien zu geſchwei-
gen/ die dem weiblichen Geſchlecht auch von der
Q 5Na-
[250]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
Natur her ſchuldige Ehrerbietung und Hoch-
achtung groͤblich verletzt.


37. Ferner ſo pflegt man auch diejenigen
Buͤcher/ als was ſonderliches zu achten/ uͤber de-
rer Verfertigung die Autoreseine lange Zeit
zugebracht/ und hingegen diejenigen nicht viel
zu loben/ die geſchwinde gemacht wordẽ. Da
doch zum oͤfftern die Buͤcher/ uͤber denen man
lange gemacht und viel daran geaͤndert/ deßhal-
ber nicht beſſer ſind/ und manchmahl der erſte
Auffſatz einer Schrifft ja ſo gut iſt/ als deſſen
Ausbeſſerung: Auch die allzugroſſe Langſam-
keit vielmehr eine Anzeigung einer Langſamkeit
des Verſtandes bey dem Autore oder ſeiner Ei-
genſinnigkeit iſt/ als der Guͤte ſeines Buchs;
und ein jeder der in ſeinem Kopffe auffgeraͤumet
hat/ gar leicht befinden wird/ daß diejenigen
Dinge/ die er geſchwinde verfertiget/ oͤffters
beſſer ſind als die/ zu denen er lange Zeit ſich be-
dienet/ weil bey jenen ſeine Attention in einer
Hitze die Gedancken beyſammen haͤlt/ und alſo
viel kraͤfftiger wircken kan/ als wenn durch viel-
faͤltiges Abſetzen die Begierde und Attention
distrahir
et und verdroſſen gemacht wird.


38. Gleiche Bewandniß hat es mit der Groͤſ-
ſe
eines Buchs/ oder der Menge der Schriff-
ten
[251]von anderer Meinungen zu urtheilen.
ten einesAutoris. Je groͤſſer ein Buch iſt/ je
hoͤher wird es gehalten/ und je mehr Buͤcher ein
Autor verfertiget/ je mehr Ruhm bringet er
ſich bey dem groͤſten Hauffen dadurch zu we-
ge. Aber ein weiſer Mann weiß/ daß oͤffters
ein kleines Buͤchlein in wenig Bogen beſte-
hend mehr Warheit in ſich hat/ als die groͤſten
Folianten der beruͤhmteſten Leute/ und mer-
cket aus denen vielfaͤltigen Exempeln an/ daß
mehrentheils die Autores (ſonderlich die heuti-
gen) die alle Jahr neue Folianten ediren/ gar
kein Judicium haben/ und zu nichts mehr tau-
gen/ als die Welt in Thorheiten und Blind-
heiten zu unterhalten.


39. Die Raritaͤt eines Buchs/ deſſen
Confiſcation, die Belohnung desAutoris,
oder ſeine Beſtraffung muͤſſen auch oͤffters
zu Vorurtheilen von der Guͤte oder Verach-
tung eines Buchs dienen/ und nichts deſtowe-
niger iſt auch dieſes ein ſehr betrieglicher
Schluß. Die ſchlimmſten Buͤcher ſind offt
ſehr rar/ und viel gute und nuͤtzliche Buͤcher
werden confiſciret. Man belohnet ja ſo off-
te aberwitzige und laſterhaffte Schrifften/ als
man unſchuldige und vernunfftmaͤßige zum
Feuer verdammet/ oder denen Scribenten der-
ſelben
[252]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
ſelben ſonſt allen moͤglichen Verdruß anzu-
thun ſich angelegen ſeyn laͤſt.


40. Zugeſchweigen des Vorurtheils/ das
man aus einer blinden Affection zu denen
Buͤchern traͤget/ bey denen kein Nahme ei-
nes
Autoris, oder ein falſcher und erdich-
teter Nahme
vorgeſetzet iſt/ weil die hierun-
ter begangene Thorheit ſo gar offenbahr iſt/
daß ſie keiner abſonderlichen Anmerckung be-
darff.


41. Und wer wolte alle Vorurtheile er-
zehlen/ die in Beurtheilung von anderen
Schrifften taͤglich vorzukommen pflegen/ und
ſaͤmbtlich wieder unſere Regel anſtoſſen/ daß
man ſich vornimmt von Buͤchern zu urthei-
len/ die man noch nicht geleſen/ und die man
alſo insgeſammt nicht beſſer meiden kan/ als
wenn man bey leſung eines Buchs auff den
Autorem und die andern betrieglichen Be-
ſchaffenheiten deſſelben/ die alſobald in die
Sinne fallen/ gar nicht dencket/ ſondern mit
einer unpartheyiſchenIndifferentz das
Buch ſelbſt durchlieſet.


42. Und zwar muͤſſen wir unſere III. Le-
ction
auch dahin erklaͤren/ daß es nicht ge-
nung ſey zu Beurtheilung eines Buchs daſſel-
be
[253]von anderer Meinungen zu urtheilen.
be obenhin durchzuleſen/ oder hin und wie-
der darinnen zu blaͤttern/
ſondern es muß
mit einer gehoͤrigenAttention geſchehen/
und ordentlich der gantze Jnnhalt einer
Schrifft angeſehen werden/ weil wir oben ge-
ſagt haben/ daß immer eine Warheit pflege
mit der andern verknuͤpfft zu ſeyn/ und daß
man einen Autorem am beſten verſtehen koͤn-
ne/ wenn man das/ was er an unterſchiede-
nen Orten von einer Materie geſchrieben/
gegen einander halte.


43. Derowegen iſt es nicht allein ein
groſſer Fehler/ wenn man aus der Vorre-
de eines Buchs/ denen
Summariis,oder
Jndicedeſſelben/ und wenn man hin und
wieder etliche Plaͤtze daraus lieſet/
alſo
bald davon urtheilen wil/ ſondern es hat ſich
auch ein die Warheit liebender Menſch da-
fuͤr ſehr in acht zunehmen/ daß wenn man ihm
gleich einen groſſen Hauffen aus denen Auto-
ribus excerpir
et/ um dieſelben eines Jrr-
thums zu beſchuldigen/ er ja nicht dieſen ex-
cerptis
traue/ ſondern die Scribenten ſelbſten
durchleſe/ weil nichts gemeiners iſt/ als daß
man ehrliche Leute faͤlſchlich zu beſchuldigen
entweder die excerpta verfaͤlſchet/ oder aber/
wenn
[254]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
wenn man noch ein wenig ehrlicher handeln
wil/ nur ſolche loca excerpiret/ die/ wenn man
ſie mit dem vorhergehenden und nachfolgen-
den nicht connectiret/ einen gantz andern
Verſtand zu haben ſcheinen/ als den ſonſten
die Regeln einer vernuͤnfftigen Auslegung
weiſen.


44. Jedoch braucht der erſte Theil der
vorigen Anmerckung billig eine Ausnahme
bey feurigen und ungemeineningeniis, als
welche durch eine lange Ubung und vermit-
telſt ihres penetranten Verſtandes/ auch
nach einer obenhin ſcheinenden und nachlaͤßi-
gen Durchblaͤtterung oͤffters geſchickt ſind/
ja ſo ein gutes Urtheil von einem Buche zu
faͤllen/ als ein anderer wohl zu thun ver-
moͤchte/ der ſolches mit groſſer Attention
durchleſen. Denn unſere Regeln oder Le-
ctiones
gehen nur die Anfaͤnger oder mittel-
maͤßige Ingenia an/ und ein erleuchteter Geiſt
kan wohl aus denen Graͤntzen des gemeinen
Pfads ohne Gefahr einer Verirrung ein we-
nig beyſeit gehen/ ohne daß ſolches ein Anfaͤn-
ger nicht ſo wagen darff/ ſondern ſicherer thut/
wenn er die gemeine Heer-Straſſe ziehet.


45. Aber wir wollen nunmehro auch zu
der
[255]von anderer Meinungen zu urtheilen.
der IV. Lection uns wenden: Urtheile
nicht von einem Buche/ wenn du
die Geſchickligkeit anderer Meinun-
gen zuverſtehen/ oder den
habitum
interpretandi
nicht beſitzeſt. Es iſt
wohl wahr/ wenn du ein Buch nicht geleſen/
wie wolteſt du davon urtheilen? Alleine es
iſt das leſen nicht genung hierzu/ ſondern du
muſt es auch verſtehen. Nun kanſt du aber
kein Buch recht und wohl verſtehen/ wenn du
nicht die Grund-Regeln der Auslegung wohl
zu practiciren weiſt.


46. Wenn wir nun ein wenig unter de-
nen Gelehrten uns umſehen/ wie ſehr wenig
unter denenſelben ſind/ die ſich mit Fleiß um
die Lehre von der Auslegung bekuͤmmern/
und wie viel ihrer doch ſich unterfangen taͤg-
lich von andern Schrifften zu urtheilen/ ſo
werden wir abermahls gewahr/ daß wir uns
deſto fleißiger vor dieſem Vorurtheil in acht
zu nehmen haben/ je gemeiner es vielen iſt.


47. Zwar iſt es nicht zu laͤugnen/ daß es den
meiſten Gelehrten die von andern Buͤchern uͤ-
bel urtheilen/ weil ſie ſelbige uͤbel auslegen/ nicht
ſo wohl am Verſtande der Regeln der Ausle-
gung/ der ſehr leichte iſt/ als an guten Willen
die-
[256]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
dieſelben zu practiciren ermangelt. Der gu-
te Wille aber wird durch die Affecten verhin-
dert. Denn gleich wie ein Richter/ der in buͤr-
gerlichen Sachen ein rechtes Urtheil ſprechen
wil/ nicht allein in der Rechts-Gelahrheit er-
fahren/ ſondern auch zu keiner Parthey Liebe o-
der Haß tragen muß. Alſo hindern auch der-
gleichen Affecten einen Wahrheit-liebenden/
daß er weder eine rechte Auslegung eines Auto-
ris,
noch ein tuͤchtiges Urtheil von einer Schrifft
geben kan.


48. Derowegen mercke dieſes als die V. Le-
ction.
Urtheile nicht von einem Bu-
che/ wenn du ſelbiges nicht mit einer
geziemen den Gleichguͤltigkeit und
ohne
Affecten durchleſen haſt. Und
mercke dieſes wiederumb mit deſto groͤſſerer At-
tention,
weil dich die Erfahrung uͤberzeugen
wird/ daß kaum unter tauſend Judiciis von Au-
toribus
vier oder noch weniger ſich befinden/ die
nicht dieſer Regel zuwider lauffen.


49. Die vornehmſten Affecten die uns an
rechtſchaffener Beurtheilung und Auslegung
hindern/ ſind die gemeiniglich aus einer unzeiti-
gen Hochachtung oder Verachtung/ entſte-
henden Liebe oder Haß eines Autoris.


50. Und
[257]von anderer Meinungen zu urtheilen.

50. Und zwar bringen wir entweder offtbeſag-
te Affecten als Vorurtheile mit/ ehe wir noch
anfangen die Buͤcher zu leſen;
Oder abeꝛ ſie
entſtehen bey uns/ in dem wir ſelbige leſen.


51. Das erſte geſchiehet/ wenn wir durch
das Vorurtheil menſchlicher Autoritaͤt einge-
nommen die Buͤcher unſerer Anverwandten
und Freunde/ z. e. Unſerer Patronen/ Leute von
unſerer Secten/ Leute die uns heucheln und lo-
ben/ leſen/ wodurch unſer Verſtand verdunckelt
wird/ daß er alles oder das meiſte fuͤr wahr haͤlt/
oder daß er durch allerhand unvernuͤnfftige
Auslegungen und Urſachen zu entſchuldigen
und vertheidigen ſucht/ was er ſonſt ohne Paſſion
wuͤrde fuͤr Fehler und Jrrthuͤmer nach denen
obigen Regeln guter Auslegung gehalten ha-
ben. Und wenn wir im Gegentheil die Buͤ-
cher derer/ denen unſere Anverwandten und
Freunde/ unſere Patronen u. ſ. w. ſeind ſind/ o-
der derer/ die nicht von unſerer Secte ſind/ oder
die uns verachten und wider uns geſchrieben ha-
ben/ zu leſen anfangen/ ſo verfuͤhret uns unſere
Gemuͤths-Neigung gemeiniglich/ daß wir alle
unſchuldige Reden auffangen und auff das uͤbel-
ſte deuten/ daß wir denen Autoren Jrrthuͤmer
andichten/ an die ſie nicht gedacht haben/ und daß
Rwir
[258]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
wir wider die Regeln guter Auslegung ihre
Worte/ die zuſammen gehoͤren/ von einander
ſondern/ und die von einander geſondert werden
ſolten/ zuſammen fuͤgen u. ſ. w.


52. Das andere aber traͤgt ſich zu/ wenn
wir durch das Vorurtheil menſchlicher Uber-
eylung uns angewoͤhnet haben/ von denen Sa-
chen ſelbſt/ nicht nach ihrem Weſen/ ſondern
nach dem aͤuſſerlichen Schein/ und von dem
menſchlichen Thun und Laſſen/ nicht nach deſſen
Natur/ ſondern nach etlichen zufaͤlligen Umb-
ſtaͤnden/ die denen Dingen ein gantz anderes An-
ſehen zugeben pflegen/ zu urtheilen. Denn hier-
durch werden wir verleitet/ mehrentheils auch
von der Warheit und Jrrthuͤmern/ die in denen
Buͤcheꝛn anzutꝛeffen ſind/ aus der Manier uñ
Schreib-Art
derer ſich die Autores darinnen
bedienet/ zu judiciren/ und zwar nach dem ein
jeder bey ſich befindet/ daß die Schreib-Art ei-
nes Scribenten ſeiner eigenen Inclination und
Genio nahe komme/ oder derſelben zuwider ſey.


53. Derowegen faͤllt dieſer auff eine Hoch-
trabende/ dunckele/ Satyriſche/ ſcharffe/

oder auch wohl gar injuriöſe Schreib-Art/ ein
anderer aber laͤſt ſich eine niedrige/ deutliche/
auffrichtige/ gelinde/
oder kaltſinnige und
phle-
[259]von anderer Meinungen zu urtheilen.
phlegmatiſche Schrifft mehr einnehmen/ und
begehet ſo dann in der Auslegung und Beur-
theilung eines Buchs eben die Fehler/ die wir
bey denen/ ſo den Affect alsbald bey der Leſung
mitbringen/ angemerckt haben.


54. Nimmſt du die jetztbeſagten wenigen/ a-
ber hochnoͤthigen Regeln mit Vorſatz nicht in
acht/ ſo wirſtu in deiner Beurtheilung einCa-
lumniante
werden/ und dich ſelbſt bey unpar-
theyiſchen Leuten proſtituiren. Drumb laß
uns nur noch zum Beſchluß dieſes Capitels aus
denen lang hergebrachten und taͤglich vorkom-
menden Exempeln die gemeinſten Kennzei-
chen eines dergleichen
Calumnianten beſe-
hen/ uns deſto eyffriger dafuͤr zu huͤten.


55. Ein Calumniante dichtet einemScri-
bent
en einen Verſtand an/ den er nie in Siñe
gehabt/ und beſchuldiget darnach denſelbigen/ als
wenn er einer irrigen Meynung beypflichtete/
wil auch den andern mit aller Gewalt noͤthi-
gen/ daß er geſtehen ſolle/ er habe die Worte nach
ſeiner/ des Calumnianten/ Auslegung verſtandẽ.


56. Ein Calumniante excerpiret aus ei-
nem
Scribenten alle zweydeutige Redens-
Arten/
und ſondert ſie von dem gantzen Coͤrper
ab/ laͤßt etliche Worte auſſen/ oder ruͤckt
R 2dann
[260]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
dann und wann andere hinein/ damit er nur
bey andern Leuten denſelben in wahrſcheinlichen
Verdacht bringen moͤge; Als wenn er laͤcher-
liche oder ſchaͤdliche Jrrthuͤmer hegete.


57. Ein Calumniante rechnet die Fehler ei-
nes Uberſetzers dem
Autori des Haupt-
Wercks/ die Jrrthuͤmer eines Schuͤlers/ oder
der ſich fuͤr einen Schuͤler ausgiebet/ ſeinem
Præceptori und Lehrer/ oder eines Lehrers
der ſich zu einer gewiſſen Secte bekennet/ der
geſambten Secte/
oder die Schnitzer des
Schreibers oder Buchdruckers dem Scri-
bent
en ſelbſt zu.


58. Ein Calumniante giebt fuͤr die Mey-
nung eines Scribenten aus/ was derſelbe un-
ter anderer Perſonen Namen
diſcuriret/
z. e. Wenn in Dialogis, Gedichten/ Comœdien,
u. ſ. w. Perſonen von unterſchiedenen Caracter
auffgefuͤhret werden/ und der Autor ſich angele-
gen ſeyn laͤßt/ den Caracter einer jeden Perſon
durch gehoͤrige Reden recht zu exprimiren/ ſo
faͤllt ein Calumniante zu/ und legt dem Autori
die Meinungen/ die er unter der Perſon eines
Pedanten/ oder Heuchlers/ oder eines der in
Præjudiciis ſteckt/ oder eines Laſterhafften Men-
ſchen vorgebracht/ bey/ als wenn ſie ſeine eigene
waͤren.


59. Ein
[261]von anderer Meinungen zu urtheilen.

59. Ein Calumniante betrachtet in Beur-
theilung eines Buchs nicht/ aus was fuͤrIn-
tention
und Abſehen einAutorgeredet/
ſondern er drehet alles nach dem Vorhaben ſei-
ner boͤſen Intention, und iſt ihm dißfalls einer-
ley/ ob der Scribente aus. Ernſt oder aus
Schertz/ ausfuͤhrlich und mit Bedacht/ oder
nur Zufalls weife und obenhin/ Frags und
Bejahungs Weiſe/ auff ſeinen eigenen oder
anderer Leute Antrieb etwas geſchrieben; ob er
ſeine Lehre vertheydigen und behaupten/ oder
ſeinen Gegner widerlegen/ und auff deſſen
Einwuͤrffe antworten/ oder wider ihn aus ſei-
nem eigenen Geſtaͤndniß diſputiren wollen; ob
er von denen Sachen rede/ wie ſie an ſich ſelb-
ſten
ſind/ oder wie ſie von dem gemeinen
Mann
in allgemeiner Redens-Art betrachtet
werden/ u. ſ. w. da doch unter dieſen Umbſtaͤn-
den allen ein mercklicher unterſcheid iſt/ nach de-
rer Veraͤnderung auch ein weiſer Mann ſeine
Auslegung und Urtheil billig veraͤndern muß.


60. Ein Calumniante huͤtet ſich ſehr/ daß er
die dunckeln Oerter mit den deutlichern
nicht
conferiret/ ſondern faͤllet alſobald auff
das zu/ wenn ein Autor etwas kurtz/ dunckel/ o-
der in gemein geſetzt/ und uͤber gehet muthwillig
R 3die
[262]Das 4. H. Von der Geſchickligkeit
die Erklaͤrung/ Beweiß/ Umbſchraͤnckung u.
ſ. w. ſolcher Reden/ die er anderswo antrifft. Er
gibt vor unauffloͤßlich auff/ was er doch weiß/
daß der Autor allbereit an einem andern Ort
beantwo[r]tet habe; Er unterlaͤſt mit Vorſatz
unterſchiedene Editiones zu conferiren/ oder
wehlet wohl mit Fleiß die allerſchlim̃ſte/ ſucht
aus gemeinen Redens-Arten diejenigen/ da der
Autor in Philoſophiſchen Verſtande geredet/ in-
gleichen aus denen zweiffelhafften und genera-
len/ die ſpecial und determinirten Saͤtze/ oder
aus dieſen jene zu attaqviren/ und denAutor
einerContradictionzu beſchuldigen/ wel-
cher er ihn auch zu beſchuldigen pfleget/ wenn ein
Autor an unterſchiedenen Orten von einer Sa-
che
zweyerley Worte gebraucht/ die doch bey-
derſeits auff einerley Verſtand hinaus lauffen.


61. Ein Calumniante leget einem Autori
die Jrrthuͤmer/ die er vor deſſen vertheydi-
get/
und die er hernach offentlich geaͤndert/
bey/ als wenn er noch darinnen ſchwebete.


62. Ein Calumniante macht aus einem
Satz eines Autoris nach ſeinem Gefallen Fol-
gerungen/ die offenbahr irrig ſind/
und wil
den andern/ der doch ausdruͤcklich und zum we-
nigſten mit einiger Wahrſcheinligkeit proteſti-
ret/
[263]von anderer Meinungen zu urtheilen.
ret/ daß er mit dieſen Folgerungen nichts zu
thun haben wolle/ noͤthigen/ daß er ſie als die
Seinigen annehmen muͤſſe.


63. Ein Calumniante leget das Still-
ſchweigen ſeines Gegners/
oder wenn er
nicht alle Kleinigkeiten beantwortet/ alſo aus/
als wenn er ihm dadurch den Sieg zuge-
ſtanden
haͤtte/ oder wider die Wichtigkeiten ſei-
ner Gruͤnde nichts zu ſagen haͤtte: Da doch
zum oͤfftern der andere bloß aus dieſer Urſache
ſtille ſchweiget/ weil er ſiehet/ daß die Saͤtze ſei-
nes Gegners ſo einfaͤltig und abſurd ſeyn/ daß
ſie keiner Antwort noͤthig haben/ oder daß der
Gegner nichts anders/ als was ſchon oͤffters
wiederhohlet und widerleget worden/ vorge-
bracht; Oder weil er erkennet/ daß er aus lau-
ter Hartnaͤckigkeit noch ferner fort zancken wil/
oder endlich/ weil er ſich beſcheidet/ daß unter ver-
ſtaͤndigen Leuten derjenige fuͤr den kluͤgſten ge-
halten wird/ der am erſten nachgiebt.


64. EinCalumniante judiciret von an-
dern Buͤchern nicht nach ſeiner eigenen Erkaͤnt-
niß/ ſondern nach dem er durch anderer ihr
Urtheil eingenommen iſt/
und braucht ge-
meiniglich ein Buch zu verunglimpffen ſich des
Urtheils deren/ die einem Autore feind ſind/ als
R 4eines
[264]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
eines vortrefflichen Beweiſes/ da doch derſelbe
gantz offenbar unvernuͤnfftig iſt.


Das 5. Hauptſtuͤck/
Von der Geſchickligkeit ande-
rer Jrrthuͤmer zu widerlegen.


Jnnhalt.
Connexion n. 1. 2. 3. Was Diſputiren heiſſe n. 4. Die Wider-
legung der Jrrthuͤmer ſol der wahrhaſſtige Zweck aller
Diſputationum ſeyn/ n. 5. Daraus folget/ daß alles di-
ſputir
en unter die friedlichen Staͤnde gehoͤre und nichts
mit dem Kriege gemein habe. n. 6. 7. Auch die Diſpu-
tiren
den einander helffen ſollen n. 8. In praxi iſt die
Vertheidi[g]ung der Jrrthuͤmer der Endzweck der Di-
ſputationum n.
9. Und die Erhaltung eines menſchlichen
Ehr Anſehens n 10. Dannenhero werden auch insge-
mein die Diſputationes mit dem Kriege verglichen n. 11.
Und gehet darinne nicht allein Betrug/ n. 12. ſondern
auch offenbahre Gewalt vor n. 13. Und ſind die Diſputi-
ren
den mit denen Amadis Rittern zu vergleichen n. 14.
Es braucht hier abermahls keiner nenen Lectionum n.
15. Sondern man hat aus dem/ was allbereit geſagt
worden/ hauptſaͤchlich dieſe zwey zu mercken n. 16. I.
Diſputire
nicht umb eiteler Ehre/ ſondern
umb Darthuung der Jrrthuͤmer willen

n. 17. Was darvon zu halten ſey/ wenn man exercitii
gratia diſputir
et. n. 18. II. Diſputireauff eine
friedliche/ freundliche und auffrichtige
Weiſe
n. 19. Die Licentiæ Diſputatorum n. 20. Un-
terſchiedene Arten zu diſputiren n. 21. Entweder muͤnd-
lich oder ſchrifftlich n. 22. Muͤndlich entweder nach der
Syllogiſinus Kunſt/ oder durch Fragen und Antworten

n. 23.
[265]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
n. 23. Die Syllogiſmus Kunſt iſt mehr geſchickt Jrrthuͤ-
mer zu vertheydigen und nach Kriegs-Manier zu fech-
ten n. 24. Es koͤnnen viel mehr Sophiſtereyen dabey
angebracht werden n. 25. Mißbrauch dieſer Kunſt
macht dieſelbige hoͤſe n 26. Sie iſt nicht zulaͤnglich an-
dern ihre Jrrthuͤmer zu erkennen zu geben n. 27. 28.
Man kan auch die geringſte Proben davon nicht auff-
weiſen n. 29. Jedoch muß ein Weiſer dieſe Diſputir-
Kunſt dulden n. 30. Und wie er ſich bey ſelbiger zu ver-
halten n. 31. Die Manier zu diſputiren durch Fragen
und Antworten iſt die beſte n. 32. und aͤlteſte n. 33. So
ſind auch die dabey vorkommenden Sophiſtereyen ſehr
leichte zu bean worten n. 34. Und kan man einen Hart-
naͤckigten dadurch beſſer eintreiben n. 35. Jn Schrifften
ſchicken ſich weder die Fragen noch Syllogiſmi n. 36.
Sondern ein wohlgeordneter Diſcurs n. 37. Man muß
ſich ſonderlich befleißigen das πρῶτον ψέυδος
anzutaſten n. 38. Aber insgemein packt man die Con-
cluſiones
und alle Minutias an n. 39. Manchmahl hat
man mehr als ein primum falſum zu bemercken n. 40.
Und manchmal kan man auch bey denẽ Concluſionibus
etwas abſonderlich erinnern n. 41. Zweyerley Arten ei-
nen zu widerlegen n. 42. 1) Daß man weiſet wie aus des
Jrrenden ſeinem Satze eine offenbahr falſche Conclu-
ſion
erfolge n. 43. 2) Daß man zeiget/ wie der irrige
Satz mit einer unlau[t]baren Wahrheit nicht koͤnne ver-
knuͤpfft werden n. 44. Der erſte Weg wird insgemein
mehr recommendiret als der andere n. 45. Aber er iſt
wohl leichter fuͤr die Widerlegenden n. 46. Der andere
aber convinciret die irrende[n] ſchaͤrffer. n. 47. Ob ein
weiſer Mann in Widerlegung der Jrrthuͤmer Schriff-
ten mit Schrifften hauffen ſolle n. 48. Es iſt an einer
Schrifft/ oder auffs hoͤchſte an zweyen genung n. 49.
Welches mit der taͤglichen Erfahrung bekraͤfftiget wird
n. 50. III.Widerlege die Jrrenden kurtz

R 5und
[266]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
und deutlichn. 51. IV.Widerlege die
Jrrthuͤmer/ die dem menſchlichen Ge-
ſchlecht ſchaͤdlich ſind.
Man muß nicht alle
widrige Meinungen fuͤr Jrrthuͤmer halten n. 52 Noch
von Dingen diſputiren/ die eines jeden Menſchen Gut-
achten anheim zu ſtellen/ oder unerkandt ſind n. 53. Wi-
der dieſe Anmerckung wird insgemein groͤblich ange-
ſtoſſen. n. 54.


1.
BEy Unterſuchung der Warheit und
Entdeckung der Jrrthuͤmer hat ein
Menſch entweder mit ſich ſelbſt al-
leine/ oder mit einem andern zu thun. Je-
nes geſchiehet/ wenn er in ſeinem Kopffe auff-
zuraͤumen/ und einen rechten Grund zum rech-
ten Gebrauch ſeiner Vernunfft zu legen an-
faͤngt.


2. Hat er aber mit einem andern zu
thun/ ſo geſchiehet ſolches entweder in einem
ungleichen
Stande/ da einer von dem an-
dern dependiret/ wenn nemlich einer des Lehr-
Meiſters/ der andere des Zuhoͤrers Stelle ver-
tritt; oder aber diejenigen/ ſo ein ander disfalls
huͤlffliche Hand biethen/ leben/ ſo viel dieſes
Vorhaben betrifft/ in einem gleichen Stan-
de/
in welchem keiner von dem andern etwas
zu lernen oder denſelben zu unterweiſen præ-
tendir
et.


3. Wenn
[267]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.

3. Wenn ſie nun disfalls eine unerkante
Warheit mit gleicher Begierde ſuchen/

und in Erfindung derſelben oder in Erkaͤnt-
niß des Jrrthums alsbald einig ſind/ als
wenn ihrer zwey ein vorgegebenes Exempel in
der Rechen-Kunſt ausrechnen/ und die Sum-
men
treffen ein/ ſo braucht es disfalls keiner
ſonderlichen Anmerckungen/ als daß zu be-
tauren iſt/ daß man dieſe Weiſe nicht wie et-
wan zu weilen in Mathematiſchen/ alſo auch
fein offte in allen nuͤtzlichen Wiſſenſchaff-
ten ſich bedienet/
weil doch nach dem gemei-
nen Sprichwort vier Augen mehr ſehen als
zwey/ und wir allbereit oben erwehnet/ daß
auff dieſe Art man am unbetruͤglichſten pro-
bir
en koͤnne/ ob man in Unterſuchung der
Warheit gefehlet habe oder nicht.


4. Wenn ſie aber zweyerley unterſchie-
dene Meinungen haben/
und ein jeder die
ſeine fuͤr warhafftig/ und des andern ſeine fuͤr
irrig haͤlt/ und jene zu erweiſen dieſe aber zu
wiederlegen ſich angelegen ſeyn laͤſt/ ſo entſte-
het daraus eine Diſputation, von welcher
wir noch zum Beſchluß dieſes Buchs etwas
weniges handeln wollen.


5. So weiſet demnach die geſunde Ver-
nunfft/
[268]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
nunfft/ weil bey einer jeden Diſputation die
Menſchen ſich laſſen angelegen ſeyn ihren
Vorgeben nach die Warheit zu bekraͤffti-
gen/
oder vielmehr hauptſaͤchlich die Jrr-
thuͤmer zu wiederlegen/
daß auch dieſe Ent-
deckung der Jrrthuͤmer und die denenſelben
entgegen geſetzte Bekraͤfftigung der Warheit
der einige warhaffte Entzweck aller Di-
ſputation
en ſeyn ſolle.


6. Und weil dieſer Entzweck durch die al-
len Menſchen gemeine Vernunfft alleine er-
halten werden kan/ der Gebrauch aber der
Menſchlichen Vernunfft auffer einen friedli-
chen Zuſtande dem Menſchlichen Geſchlecht
nichts nutzet/ auch die Benehmung der Jrrthuͤ-
mer vor eine von denen groͤſten Gutthaten
zu achten iſt/ und in uͤbrigen der Zuſtand de-
rer die uneinig ſind/ ordentlich dahin zielet/
daß einer den andern von der Erkaͤntniß der
Warheit abfuͤhre/ und in denen Jrrthuͤmern
immermehr und mehr vertieffe; als iſt gar
leichtlich zu erkennen/ daß der Stand derer
die mit einander
diſputiren/ unter die fried-
lichen Staͤnde zu rechnen ſey/
und mit
dem Kriege eigentlich nichts gemein habe.


7. Und gewiß weil aller Krieg in Gewalt
und
[269]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
und Betrug beſtehet/ wie wolte es moͤglich
ſeyn/ daß dadurch bey dem andern die Erkaͤnt-
niß und Benehmung eines Jrrthums erwe-
cket werden koͤnte/ in Anſehen der Menſchli-
che Verſtand keiner Gewalt unterworffen
iſt/ der Betrug aber offenbahre Jrrthuͤmer zu
wege zu bringen trachtet.


8. Wie nun bey allen friedlichen Geſell-
ſchafften ein jeder trachten ſoll nach ſeinem
Vermoͤgen dem andern beyzuſtehen und ihm
zu helffen/ daß der allgemeine Endzweck von
beyden Seiten deſto beſſer erhalten werden
moͤge; Alſo folget auch ferner nothwendig/
daß indiſputiren/ man moͤge nun gleich
ſeine eigene Meinung zu erweiſen oder den
gegenſeitigen Jrrthum darzu thun trachten/
ein jeder den anderen/ da er ſtrauchelt/ o-
der auf Abwege geraͤthet/ bey Zeiten zu
rechte weiſen und auffrichten/ oder wenn
er ſeine Meinung nicht deutlich genung
vorbringen kan/ ihn auch hierinnen nach
Vermoͤgen helffen ſolle.


9. So ſolte es nun zwar wohl nach Anlei-
tung der geſunden Vernunfft mit denen Di-
ſputationibus
beſchaffen ſeyn. Betrachtet
man aber wie es insgemein unter denen
Gelehr-
[270]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
Gelehrten damit herzugehen pfleget/ ſo
wird man befinden/ daß alles gantz umgekeh-
ret ſey/ indem der Endzweck bey nahe aller
Diſputirenden dahin zielet/ wie die War-
heit verdunckelt/ und die Jrrthuͤmer
hartnaͤckigt vertheydiget werden moͤgen.

Man findet keine Vereinigung die Warheit
zu ſuchen/ und mit geſambter Krafft zu ergreif-
fen/ ſondern die Diſputirenden ſind vergnuͤgt
und freuen ſich/ wenn nur ein jeder dem an-
dern die Warheit ſo zuſagen aus der Hand
ſpielen koͤnte.


10. Die Urſache dieſes Unweſens iſt leichte
zu begreiffen. Weiſe Leute diſputiren mit
einander/ weil ſie ihre Schwachheiten und
Maͤngel erkennen/
und begreiffen/ daß auch
der kluͤgſte Verſtand eines Jrrthums faͤhig
ſey/ und daß durch anderer Huͤlffe man viel-
leichter etwas verborgenes finden koͤnne/ als
wenn man ſolches alleine ſuchen wil. Aber
in denen allgemeinen Diſputationibus ſtellet
ſich bey nahe ein jeder ſo unvernuͤnfftig an/ als
wenn erinfallibelwaͤre/ und nicht irren
koͤnte/ auch dannenhero/ weil er viel ſcharffſin-
niger waͤre als andere Leute/ nicht von noͤthen
haͤtte/ daß man ihm einen Fehler zeige. Und
ſol-
[271]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
ſolchergeſtalt ſuchet man nicht die Warheit/
ſondern auff beyden Theilen ein eiteles Ehr-
Anſehen und eine Menſchliche
Autoritaͤt/
welche der Brunqvell aller Jrrthuͤmer iſt/
zuvertheidigen.


11. Bey dieſer Bewandniß aber kan es
nicht fehlen/ es muß der Zuſtand ſolcher Di-
ſputiren
den kein friedlicher Stand ſeyn/ ſon-
dern vielmehr eine groſſe Gemeinſchafft mit
dem Kriege haben/ welches man ſich auch
nicht ſcheuet oͤffentlichzu geſtehen/ indem nichts
gemeiners iſt als daß man ſaget: Diſputa-
tiones ad inſtar bellorum eſſe.


12. Denn was den im Kriege im Schwang
gehenden Betrug betrifft/ hat man im diſpu-
tir
en auch gewiſſe Strategemata, wenn man
entweder Sophiſtiſche Schluß-Reden brau-
chet/ oder durch Verdrehung der Worte und
andere uͤble Auslegungen u. ſ. w. diejenigen/
mit denen man diſputiret/ zu verfuͤhren ſu-
chet.


13. Zwar was offenbahre Gewalt be-
trifft/ ſolte man vermeinen/ daß zum wenig-
ſten dieſelbe in denen Diſputationibus nicht
im Schwang gehen ſolte/ weßhalben man
ſie auch bella incruenta zu nennen pfleget;
Aber
[272]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
Aber wenn man die Sache ein wenig genauer
uͤberleget/ wird man befinden/ daß auch dieſe
nicht gantz unterwegens bleibet/ und daß es
hierinnen nicht ſo wohl denen Diſputirenden
an guten Willen als an Kraͤfften und Ver-
moͤgen die Gewalt auszuuͤben mangelt. Was
ſind die Injurien und Schmaͤhungen an-
ders als Gewaltthaten/ dadurch man den an-
dern ſeine Ehre zu kraͤncken trachtet/ und
wenn man z. e. wieder ſeines Gegners Schriff-
ten mit dem Hencker und Feuer wuͤtet/ ſo
gibt man genung zu verſtehen/ was der Autor
zu gewartten haͤtte/ wenn man denſelben in
ſeiner Gewalt haͤtte. Ja wie viel rechtſchaf-
fene Leute ſind als Ketzer von denen die mit ih-
nen im diſputiren nicht auskommen koͤnnen/
und gewaltiger geweſen/ getoͤdet/ gemartert/
aus dem Lande gejaget/ oder ſonſten verfolget
worden.


14. Derowegen ſind die gemeine Diſputi-
ren
den nicht einmahl wuͤrdig/ daß man ſie ſo
zu reden mit raiſonablen Kriegs-Leuten ver-
gleiche/ ſondern es hat ſie albereit ein ſcharff-
ſinniger Kopff nicht unbillig mit denen thoͤ-
richten
AmadisRittern verglichen/ die ſich
an die oͤffentlichen Straſſen lagerten/ daſelbſt
das
[273]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
das portrait einer Liebſten/ die ſie nach ihrer
Phantaſie ſich erkieſet/ auffhiengen/ und die
voruͤber ziehenden Ritter zwungen/ daß ſie ent-
weder bekennen muſten/ es waͤre dieſelbige die
ſchoͤneſte in der gantzen Welt/ oder muſten
mit ihnen fechten/ und allerhand Verdruſſes/
auch wohl gar des Halsbrechens gewaͤrtig
ſeyn.


15. Weil nun die Erkaͤntniß der Wahrheit/
und folglich auch die Erkaͤntniß der Jrrthuͤmer
nach der allen Menſchen gemeinen Natur und
Vernunfft einzurichten iſt; Als braucht man
abermahlen nicht ſo wohl neue Regeln und Le-
ctiones,
wie man anderer Jrrthuͤmer widerle-
gen ſolle/ als daß man bey andern eben die
Handgriffe
applicire/ die man bey ſich ſelbſt
von noͤthen
hat/ wenn man in ſeinem Kopffe
auffraͤumen wil/ und daß man ſich der allgemei-
nen Handgriffe/ derer man ſich in der Diſputir-
Kunſt gebraucht/ enthalte.


16. Denn man duͤrffte nur aus dem/ was
wir bißher in dieſem Capitel angemercket/ die
hierzu beobachtenden Lectiones kuͤrtzlich in zwey
Puncte zuſammen faſſen/ derer eines auff den
Endzweck
der Diſputationen/ das andere auf
die darzu gehoͤrige Mittel
ſein Abſehẽ richtet.


S17. Je-
[274]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit

17. Jenes beſtehet darinnen: I. Diſputire
nicht umb eiteler Ehre/ ſondern ein-
zig und alleine umb Darthuung der
Jrrthuͤmer Willen.


18. Woraus gar leichtlich abzuſehen iſt/ was
von denen jenigen Diſputationibus zu halten
ſey/ die manexercitii gratiahaͤlt. Denn
wenn derjenige der auff dieſe Weiſe diſputiret/
das jenige/ was er nicht fuͤr wahr haͤlt/ dennoch
vertheydiget/ ſo iſt ſchon offenbar/ daß er von un-
ſerer Regel abweiche; Und weiſet es die gemei-
ne Erfahrung/ daß dergleichen Diſputationes
insgemein eine eitele Ehre zu befeſtigen oder zu
erlangen ſuchen; Es waͤre denn/ daß derjenige/
der auff dieſe Weiſe diſputirete/ ſeinen Zuhoͤrer
pruͤffen wolte/ ob er geſchickt ſey auff die Ein-
wuͤrffe/ die man wider die Grund-Regeln der
Warheit machen koͤnte/ zu antworten. Denn
gleich wie dieſes nicht allein hoͤchſtloͤblich und
noͤthig iſt alſo gehoͤret es auch/ wie wir allbereit
oben n. 2. erinnert/ fuͤr dieſes Capitel nicht.


19. Die II. Lection iſt folgende: Diſputire
auff eine friedliche/ freundliche/ und
auffrichtige Weiſe/ und enthalte
dich aller feindſeeligen/ unfreundli-
chen und tuͤckiſchen Mittel/ als nem-

lich
[275]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
lich offenbarer Scheltworte/ und
betruͤglicher Vernunfftſchluͤſſe.


20. Denn ob man gleich dergleichen Sophi-
ſtiſche Mittel unter denen Gelehrten als zulaͤß-
liche Freyheiten (Licentias Diſputatorias) und
eine ſonderliche Diſputir Kunſt oder Klugheit
paſſiren laͤſt/ ſo ruͤhret doch ſolches aus dem wi-
derlegten Præjudicio her/ als ob es in Diſputa-
tionibus
nach Kriegs-Manier hergehen muͤſſe;
und ein vernuͤnfftiger Mann weiß doch wohl/
daß Argliſt keine Klugheit ſey.


21. Dieſes waͤre alſo das Hauptſaͤchlichſte/
das wir bey der Diſputir-Kunſt zu erinnern haͤt-
ten. Wolten wir gleich die unter ſchiedenen
Arten und Weiſen/ nach welchen man
di-
ſputir
et/ inſonderheit betrachten/ ſo wuͤrde doch
dabey nicht viel ſonderliches/ das nicht alles aus
unſeren obigen Lehren allbereit zu begreiffen
waͤre/ anzumercken ſeyn/ oder es wuͤrde ſolches
allbereit von andern oder anderswo ausfuͤhrli-
cher ſeyn beruͤhret worden/ daß es unvonnoͤthen
ſolches allhier zu wiederhohlen; Wollen dem-
nach die Sache nur noch mit wenigen beruͤh-
ren:


22. Man diſputiret entweder muͤndlich
oder in Schrifften.


S 223. Ge-
[276]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit

23. Geſchiehet es muͤndlich/ ſo gebraucht
man ſich entweder derer auff Academien herge-
brachten Weiſe derSyllogiſmus-Kunſt/ o-
der der uhralten wohlgegruͤndeten Manier
durch Fragen und Antworten.


24. Was dieSyllogiſmus-Kunſt be-
trifft/ halten wir kurtz und einfaͤltig dafuͤr/ daß
dieſelbe nicht ſo geſchickt ſey den andern eines
Jrrthums zu uͤberzeugen/ und auff eine fried-
liche Weiſe die Wahrheit zu finden/ als viel-
mehr ein eiteles Anſehen durch Verthey-
digung ſchaͤdlicher Jrrthuͤmer ſich zu wege
zu bringen/ und nach Kriegs-Manier zu
fechten/
daß keiner ſich eines ſonderlichen
Siegs zu ruͤhmen. Die allgemeine Erfah-
rung beweiſet ſolches/ wenn ihrer zwey/ die in
dieſer Diſputir-Kunſt wohl geuͤbet ſeyn/ zuſam-
men gerathen; Und es haben ſchon unterſchie-
dene Gelehrte dahin ihr Abſehen gerichtet/
wenn ſie geſaget/ qvod diſputando veritatem
amittamus.


25. Und dannenherd geſchiehet es auch/ daß
ſo vielSophiſtereyen bey derSyllogiſmus-
Kunſt angebracht werden koͤnnen/ die ſo
leicht bey der andern Methode, wenn man durch
Fragen diſputiret/ nicht zu befahren ſind/ wenn
nemlich
[277]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
nemlich der Syllogiſmus in forma nicht recht ge-
macht worden/ welches nicht ſo leichte allemahl
in die Augen faͤllt/ ſondern zum oͤfftern ein zim-
liches Nachſinnen braucht/ ſonderlich wenn
man der propoſitionum modalium, excluſiva-
rum,
u. ſ. w. bey dergleichen Fallacien ſich be-
dienet.


26. Derowegen/ ob wir gleich nicht laͤugnen/
daß alle dieſe Maͤngel nicht ſo wohl von der Di-
ſputir-
Kunſt ſelbſt/ als von dem Mißbrauch
der
Sophiſten herkommen/ ſo iſt doch in ge-
meinen Leben und Wandel es ſo herkommens/
daß man die unſchaͤdlichen Dinge/ von denen
boͤſe Leute viel Gelegenheit nehmen dieſelbe zu
mißbrauchen/ und/ wo dieſer Mißbrauch wegen
ſeiner Einwurtzelung ſchwerlich ausgetilget
werden kan/ mehr fuͤr boͤſe als gute Dinge haͤlt/
und ſolcher geſtalt dieſelbigen gantz unterſaget/
oder doch zum wenigſten/ daß ſolche unterſaget
werden moͤchten/ wuͤndſchet.


27. Und geſetzt/ daß durch den Mißbrauch
der Syllogiſmus-Kunſt die Sophisten keine Ge-
legenheit zu zancken naͤhmen/ ſo waͤre es doch
ſchon Urſache genung/ ſo viel Lob-Spruͤche
als insgemein geſchiehet/ von dieſer Diſputir-
Kunſt nicht zu machen/ weil wir ſchon oͤffters er-
S 3weh-
[278]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
wehnet/ daß man die Wahrheit/ und folg-
lich auch die Jrrthuͤm[e]r erſt erkennen muͤſ-
ſe/ ehe man einen
Syllogiſmummachen
kan/
und daß alſo die Kunſt Syllogiſmos zu ma-
chen mit nichten vor ein Mittel koͤnne gehalten
werden/ einige unerkandte Wahrheit zu erfin-
den.


28. Wolte man nun gleich vorgeben/ daß
zwar derjenige/ der die Jrrthuͤmer widerlegen
wolte/ den Jrrthum ehe erkennen muͤſte/ ehe er
einen Syllogiſmum machte/ gleichwohl aber der
ander/ den man widerlegen wolte/ am fuͤg-
lichſten
zu gleicher Erkentniß ſeines Jrrthums
durch Syllogiſmos gebracht werden koͤnte; So
faͤllet doch dieſe Ausflucht deßhalben ver-
daͤchtig/ weil man ſolcher geſtalt ohne Noth
einen Unterſcheid zwiſchen denen Menſchen
macht/ da doch alle Menſchen eine Natur ha-
ben/ und durch einerley Wege die Wahrheit
und Jrrthuͤmer erkennen/ auch derjenige/ der
auff dieſe Weiſe ſeinen Jrꝛthum nicht erkennet/
nimmermehr durch die Syllogiſmos wird ge-
wonnen werden/ ſondern vielmehr ſich allezeit
wird angelegen ſeyn laſſen/ durch allerhand
nichts bedeutende und dunckele Diſtin[c]tiones,
die er nach der Diſputir-Kunſt ja ſo foͤrmlich/ als
der
[279]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
der andere ſeine Syllogiſmos anzubringen weiß/
ſich aus zu winden.


29. Und mein! wenn die Syllogiſmus-Kunſt
ein ſo bewehrtes Mittel iſt/ andern die Jrrthuͤ-
mer zu erkennen zu geben/ wo ſind doch die
herrlichen Proben davon?
Wie viel hun-
dert Jahr ſind nur verfloſſen/ da man auff ho-
hen Schulen viel tauſend Syllogiſmos Ritter ge-
ſchlagen/ und dieſelbe in die gantze Welt herumb
geſendet/ die Jrrthuͤmer zu befechten; Kan
wohl unter ſo viel tauſenden ein einiger nur ei-
nen auffweiſen/ den er durch die Syllogiſmus-
Kunſt dahin gebracht haͤtte/ daß er ſich gefangen
gegeben und geſtanden haͤtte/ daß ihm die Waf-
fen einer Barbara oder Celarent ſeinen Jrr-
thum zu erkennen gegeben/ und ſeinen Verſtand
gebeſſert haͤtten? Denn ich halte nicht dafuͤr
daß es genung ſeyn werde/ daß ein ſolcher Zaͤn-
cker viel von ſeinen erhaltenen Siege herprahle/
wenn ſich der andere nicht fuͤr gefangen erken-
net/ ob ſchon er ſelber und die ſeine Parthey hal-
ten/ den andern fuͤr uͤberwunden ausſchreyen.


30. Allein du muſt dieſes/ was wir von der
Syllogiſmus-Kunſt bißhero geredet/ nicht alſo
auffnehmen/ als ob wir dieſelbe als eine an ſich
ſelbſten ſchaͤdliche Kunſt ausſchreyen wol-

S 4ten.
[280]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
ten. Der Syllogiſmus iſt an ſich ſelbſten und
ſeiner Form nach weder wahr noch falſch; Je-
doch iſt der Mißbrauch/ wie erwehnet/ groͤſſer
dabey als der Gebrauch. Nichts deſto weni-
ger iſt dieſeDiſputir-Kunſt auff allenAca-
demien
eingefuͤhret/ und iſt keines Menſchen
Werck/ daran zu gedencken/ wie dieſes Unweſen
mit Nachdruck abgeſchaffet werden moͤge. Und
ſolcher geſtalt macht es ein die Weißheit lieben-
der nicht anders als ein guter Medicus, wenn er
einen Coͤrper fuͤr ſich hat/ der voller Unreinigkei-
ten iſt/ er erduldet dieſelben/ weil er ſiehet daß
er ſie ohne Gefahr/ und damit die mit ihnen ver-
miſchten/ wiewohl wenigen guten Lebens-Gei-
ſter nicht zugleich mit fortgehen/ nicht austrei-
ben kan; Und bemuͤhet ſich nur durch gelinde
Mittel ſie nach und nach ihrer Schaͤdligkeit zu
benehmen.


31. So ſol demnach auch ein weiſer Mann
ſich bemuͤhen bey derSyllogiſmus-Kunſt
ſich dahin zu bearbeiten/
wie er fein ordentlich
und ohne Sophiſterey darinnen verfahre/ und
hernach die gewoͤhnlichen Handgriffe der Sophi-
ſten erkennen und ihnen begegnen moͤge. Je-
nes hat mein ſeeliger Vater in ſeinem Methodo
diſputandi
gewieſen. Von dieſem aber haben
wir
[281]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
wir allbereit in der Lateiniſchen Introduction
ausfuͤhrlicher geredet/ dahin wir uns umb Kuͤr-
tze willen wollen bezogen haben.


32. Was ferner das Diſputiren durch Fra-
gen und Antworten
betrifft/ iſt dieſelbe wohl
unſtreitig die beſte/ weil auff gleiche Weiſe die
Wahrheit bey uns ſelbſten nebſt denen Jrrthuͤ-
mern erkennet wird/ wie wir im erſten Capitel
erwieſen haben/ da wir von dem Nutzen der
Dubitation gehandelt/ und weil allbereit auch
im andern Capitel ausfuͤhrlich dargethan wor-
den/ daß keine beſſere Lehr-Art als dieſe ſey/ zu-
geſchweigen/ daß dadurch der Jrrende gleichſam
genoͤthiget wird/ ſeinen Fehler zu erkennen/ in
dem man ihn durch ſeine eigene Geſtaͤndniß da-
hin bringet/ daß er den Urſprung deſſelben zu
begreiffen anfaͤngt/ und alſo durch eine ſuͤſſe Ge-
walt getrieben entweder ſeinen Jrrthum wie-
derruffen/ oder ſich ſelbſt widerſprechen/ oder
aus Scham ſtillſchweigen muß.


33. Derowegen iſt dieſe Methode auch die
aͤlteſte/
und lange zuvor in Schwange geweſen/
ehe die Ariſtoteliſche Syllogiſmus. Kunſt auffge-
kommen; Maſſen denn des Platonis Schriff-
ten/ und was Xenophon von des Socratis
Lehre hinterlaſſen/ ſolches ſattſam bezeugen. Ja
S 5es
[282]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
es iſt auch lange nach Ariſtotele dieſelbe ge-
braucht worden/ wie ſolches nicht nur unter
denen Juͤden dieDiſputationesdie ſie mit
Chriſto
gehalten/ an den Tag geben/ ſondern
es weiſen es auch unterſchiedene Sophiſterey-
en
ſelbſt/ die in der Ariſtoteliſchen Logic vor-
kommen/ die in der Syllogiſmus-Kunſt keinen
Nutzen haben; Als: Fallacia plurium inter-
rogationum; Fallacia compoſitionis \& divi-
ſionis, \&c.


34. Ob auch ſchon nicht zu laͤugnen/ daß
auch dieſe Weiſe zu diſputiren ihrem Mißbrau-
che unterworffen ſey/ und auff unterſchiedene
Weiſe einSophiſte ſuchen koͤnne einen unge-
uͤbten zu verfuͤhren; So ſind doch dieſelben ſo
handgreifflich/
und lange ſo vielen Subtilitaͤ-
ten zu verſtehen nicht unterworffen/ als die So-
phiſt
ereyen wider die Syllogiſmus-Kunſt/ daß
alſo dieſelbigen ein jeder Menſch/ der nur einen
guten natuͤrlichen Verſtand hat und ſich nicht
uͤbereylet/ er ſey von was Stande oder Ge-
ſchlecht er wolle/ gar leichte begreiffen und ſich
dafuͤr huͤten kan.


35. Ferner ob wohl ein Menſch/ der an ſei-
nen Jrrthuͤmern allzuſehr haͤnget/ und dieſelbi-
gen nicht verlaſſen wil/ vermittelſt dieſer Diſpu-
tir-
[283]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
tir-Art nicht gezwungen werden kan/ ſeinen
Jrrthumb zu bekennen/ ſo muß er ſich doch ent-
weder reſolviren/ aus Scham zu verſtum̃en/
oder zum Gelaͤchter auch des gemeinen und
ungelehrten Volcks zu werden/ da hinge-
gen theil bey der Diſputir-Kunſt ein Kerl der
bartnaͤckigt iſt und mit dunckelen Diſtinctionen
auszuwiſchen ſucht oder ins Gelach hinein
ſchreyet/ gemeiniglich je unverſchaͤmter er iſt/
je mehr Schein-Ehre er auch unter denen/
die ſich fuͤr Gelehrte halten/ davon zutragen
pfleget.


36. Wenn man endlich in Schrifftendi-
ſputir
et/ ſo ſchickt ſich weder dieSyllogiſterey/
noch die Methode durch Fragen und Ant-
worten
darinnen zu gebrauchen. Denn die-
ſes letzte gehet deßhalben nicht an/ weil der Ge-
gner nicht
gegenwaͤrtig iſt/ daß er mir antwor-
ten koͤnne. Jenes aber iſt auch unter denen/ die
ſonſt viel von der Syllogiſterey halten/ ſchon etli-
che Jahre her fuͤr allzuverdrießlich und unange-
nehm gehalten worden/ weil man in Schrifften
mehr mit Gelehrten als mit Schuͤlern zu thun
hat/ und werden ſolcher geſtalt auch gemeinig-
lich ſolche Schrifften/ darinnen auff allen Sei-
ten formale Syllogiſmi zu leſen ſind/ von denen
Gelehr-
[284]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
Gelehrten/ die ſich ein wenig der Artigkeit be-
fleiſſen/ fuͤr Pedantereyen geachtet.


37. Dannenhero iſt hier nichts mehr uͤbrig
als einDiſcurs, das iſt/ daß man die Urſachen
die man wider einen Jrrthumb vorzubringen
hat/ nach gewoͤhnlicher Redens- und Schreib-
Art ordentlich nach einander hinſetzet/ und dar-
innen entweder die Nichtigkeit des Satzes/
oder die Unzulaͤngligkeit ſeiner Urſachen und
Schluͤſſe zeiget.


38. Und weil aus der Vernunfft-Lehre ſat-
ſam erhellet/ daß alle Jrrthuͤmer von einer
Grund-Regel der einigen Wahrheit einmahl
abzuweichen anfangen muͤſſen; Auch gemei-
niglich die Jrrthuͤmer ſelbſt ja ſo eine feſte Ver-
knuͤpffung mit einander zu haben pflegen/ als
die Wahrheiten/ nur daß bey jenen der Grund
nichts tauget; Als iſt gar leichtlich zu erachten/
daß man/ wie in aller Widerlegung/ alſo auch
in Schrifften den Urſprung eines oder vie-
ler Jrrthuͤmer unterſuchen/
und denſelbi-
gen als das Vornehmſte widerlegen ſolle; Deñ
wo dieſes geſchehen/ und das πρωτον ψέυδος ge-
hoben iſt/ fallen die darauff gebaueten Conclu-
ſiones
von ſich ſelbſten nach; Und ſparet man
alſo Zeit und Papier/ die man ſonſten/ wenn
man
[285]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
man von denenſelben anfangen wolte/ anwen-
den/ und immer einerley wiederhohlen muͤſte.


39. Gleichwohl befindet man insgemein in
denen Streit-Schrifften der Gelehrten das
Widerſpiel/ in dem man faſt durchgehends alle
Concluſioneseines Gegners/ ja gar alle
Redens-Arten und Minutias antaſtet/ und
oͤffters das primum falſum gar nicht beruͤhret/
oder doch in Beruͤhrung deſſelben gantz laulicht
und oben hin verfaͤhret. Welches entweder
daher ruͤhret/ daß man die rechte Kunſt zu diſpu-
tir
en noch nicht verſtehet/ oder in ſeinem Kopffe
noch gar im geringſten nicht auffgeraͤumet hat/
und noch unter die Schuͤler zu rechnen iſt; O-
der aber/ daß man zwar wohl verſtehet/ was an
Unterſuchung des primi falſi gelegen ſey/ und
dennoch ſolches unterlaͤßt/ damit man durch An-
packung derer Concluſionum bey denen Namen-
Gelehrten ſich einen deſto groͤſſern Namen und
Ehr Anſehen machen/ und deſto mehr Blaͤtter
vollſchmieren moͤge.


40. Jedoch muſtu dieſes nicht alſo verſtehen/
als ob man allezeit nur bey einem primo falſo zu
widerlegen bleiben muͤſſe/ und dieConcluſio-
nes
gar nicht antaſten doͤrffe. Denn man
trifft zuweilen ſo viel unfoͤrmlich Zeug in Wider-
legung
[286]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
legung der Jrrthuͤmer an/ daß ein Autor zwey/
drey und mehr prima falſa zum Grund leget/
oder daß auch nicht einmahl die Concluſiones mit
dem primo falſo verknuͤpfft ſind/ ſondern viel-
mehr das Gegentheil daraus hergefuͤhret wer-
den koͤnne. Jm erſten Fall muß man alle die
falſchen Hypotheſes, darauff ein Jrrender ſeine
Concluſiones gruͤndet/ ausſuchen/ und jede deut-
lich und glimpflich widerlegen/ wiewohl zur U-
berweiſung eines Jrrthumbs es genung iſt/ weñ
man nur die Falſchheit eines Grundes erwie-
ſen/ und die Darthuung aller falſchen Gruͤnde
den Jrrenden nur deſto ſtaͤrcker uͤberfuͤhren ſol.


41. Jm andern Fall aber iſt es nicht un-
dienlich/ umb eben dieſer Urſache willen dem Jr-
renden zu zeigen/ wie ſeine Folgerungen gantz
nicht einmahl mit ſeinem eigenen Grunde con-
nectir
et werden koͤnnen. Und dieſes nennet
man καϑ᾽ ἄνϑρωπον diſputiren.


42. Bey Widerlegung des primi falſi und
ſonſten uͤberhaupt in aller Widerlegung hat
man zweyerley Wege/ einem Jrrenden ſeinen
Fehler zu erkennen zu geben/ wenn man ihm
nemlich entweder darthut/ wie aus ſeinem
Satze eine falſche
Concluſion, die er ſelbſt fuͤr
falſch erkennet/ nothwendig folge/ oder aber/ wie
dieſer
[287]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
dieſer ſein falſcher Satz ohnmoͤglich mit ei-
ner andern gemeinern Wahrheit/
die er
gleichfalls fuͤr wahr mit uns haͤlt/ koͤnne con-
nectir
et werden.


43. So viel den erſten Weg anlanget/
gruͤndet ſich derſelbige darinnen/ daß zwar aus
einem falſchen Satze etliche wenige Wahrheiten
auch gefolgert werden koͤnnen; aber doch noth-
wendig auch viele Jrrthuͤmer daraus herflieſſen
muͤſſen; Da hingegen aus einer Wahrheit/
wenn die Folgerungen recht eingerichtet wer-
den/ nichts als Wahrheiten koͤnnen hergeleitet
werden. Und alſo giebet es die geſunde Ver-
nunfft/ daß/ wo ich einem andern darthun kan/
daß nur eine einige falſche Meynung aus ſeinem
Grund-Satze folge/ derſelbige nicht wahr/ ſon-
dern falſch ſeyn muͤſſe.


44. Der andere Weg gruͤndet ſich darin-
nen/ daß doch allezeit die Jrrenden/ wenn ſie
nicht Sceptici ſeyn/ nothwendig eine Grund-
Wahrheit mit uns uͤberein haben muͤſſen. Weil
denn durchgehends Wahrheit mit Wahrheit
verknuͤpffet iſt/ und die prima falſa unmoͤglich
mit andern Wahrheiten verknuͤpfft werden
koͤnnen/ ſo kan es nicht fehlen/ es muß ein
Jrren-
[288]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
Jrrender durch dieſe Art auch die Nichtigkeit
ſeiner Meynung erkennen.


45. Viele unter denen Gelehrten halten auf
den erſten Weg mehr als auff den andern/
und geben vor/ daß man damit einen Jrrenden
viel ſchaͤrffer binden koͤnne. Jedoch iſt wohl
offenbahr/ daß der erſte Weg zwar fuͤr die
Widerlegenden leichter
als der andere ſey/
aber bey weiten in Anſehen des Jrrenden
nicht ſo viel Frucht ſchaffen koͤnne
als der an-
dere.


46. Leichter iſt der erſte/ weil nur eine
Wahrheit iſt/ auch die Concluſiones mit denen
Grund-Wahrheiten nur auff eine Weiſe ver-
knuͤpfft werden/ da im Gegentheil eine Wahr-
heit tauſend falſche Meynungen entgegen ge-
ſetzt haben kan; und wenn man einmahl von
der Wahrheit abgewichen/ man hernach gemei-
niglich mehr und groͤbere Fehler zu begehen pfle-
get. Nun iſt allezeit leichter das vielfaͤltige eher
anzumercken als das einzige: Und man kan
zum Exempel eher von einer krummen als ge-
raden Linie/ von einem heßlichen als ſchoͤnen
Frauen-Zimmer urtheilen; und in Summa
eher etwas tadeln als beſſer machen. Und die-
ſes iſt wohl die wahre Urſache/ worumb man
die-
[289]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
dieſen Weg ſo heraus ſtreichet: weil daßjeni-
ge/ was uns am leichteſten vorkommt/ gemei-
niglich auch vor das nuͤtzlichſte pfleget gehalten
zu werden; und weil unter denen Gelehrten
die meiſten zwar Jrrthuͤmer genung erkennen/
aber die allerwenigſten in ihrem Kopffe auffge-
raumet haben/ und den Weg der Warheit
wiſſen.


47. Daß aber der andere Weg den ir-
renden viel ſtaͤrcker
convincire/ erhellet
daraus; weil aus dem erſten zwar ein Jrren-
der erkennet/ daß ſeine Meinung falſch ſein
muͤſſe; er erkennet aber weder den Urſprung
ſeines Jrrthums/ noch die Warheit der gegen-
ſeitigen Meinung/ und alſo iſt ſeine Erkaͤnt-
nuͤß nur confus. Nachdem andern Wege a-
ber ſiehet er augenſcheinlich/ wie er durch ein
præjudicium auff den Jrrweg gerathen ſey/
und erkennet gantz gewiß/ daß die entgegen ge-
ſetzte Meinung wahr ſein muͤſſe; und folgen-
der Geſtalt iſt ſeine Erkaͤntnuͤß viel diſtincter.


48. Es geſchiehet aber zum oͤfftern/ daß die
Jrrenden hartnaͤckigt ſind/ und ihre Jrrthuͤ-
mer immer mehr und mehr durch neue Schrif-
ten zuvertheidigen ſuchen. Derowegen fraget
Tſichs
[290]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit.
ſichs nicht unbillig: Ob ein weiſer Mann in
Wiederlegung der Jrrthuͤmer Schriff-
ten mit Schrifften hauffen ſolle?
Wenn
wir nach denen Exempeln gehen wolten/ auch
ſonſt gelehrter und beruͤhmter Leute/ muͤſten
wir ſolches billig bejahen. Nachdem wir uns
aber vorgenommen/ nach denen bloſſen Grund-
Regeln der Vernunfft zu gehen/ und alle
menſchliche autoritaͤt bey ſeit zu ſetzen/ muͤſ-
ſen wir vielmehr das Gegentheil vertheydigen.
Denn wenn der Jrrende aus Hartnaͤckigkeit
ſeine Jrrthuͤmer vertheidiget/ wird bey ihm und
ſeiner Parthey keine raiſon hafften/ bey Un-
partheyiſchen aber unnoͤthig ſeyn/ ſich weiter
zubemuͤhen/ weil dieſelben allbereit die Wich-
tigkeit unſerer Gruͤnde/ und die Hartnaͤckig-
keit des Jrrenden erkennen.


49. Und ſolchergeſtalt braucht ein weiſer
Mann ordentlich nicht mehr als eine Schrifft
entweder ſeine Lehre zu vertheydigen/ oder den
Jrrthum ſeines Gegners darzuthun; es waͤ-
re denn/ daß der Jrrende in der andern
Schrifft etwas neues vorbraͤchte; oder aber
der Wiederlegende erkennete/ daß er in ſeiner
erſten Schrifft etwas undeutlich geſchrieben/
und
[291]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
und noch nicht alles ausgefuͤhret haͤtte. Jn
dem Fall iſt nicht irraiſonabel, noch gleichſam
mit einerDuplic auffgezogen zu kommen.
Was aber druͤber iſt/ daß iſt ordentlich zu viel/
und beſſer es bleibe nach. Denn man wird
unter tauſend ſo genanten Streit-Schrifften
kaum zwey finden/ da in dem dritten Scripto
etwas neues waͤre vorgebracht worden/ und
wer ſeine Meinung in zweyen Schrifften
nicht deutlich genung darthun/ und die Sache
genungſam ausfuͤhren kan/ der iſt gewiß nicht
geſchickt ſolches in der dritten und vierdten
zuthun.


50. Mein ließ alle Streit-Schrifften/
(weil ja der gemeine Mißbrauch alle Diſpu-
tationes
Streit Schrifften nennet) durch/ die
ſeit hundert Jahren her geſchrieben worden/ und
weiſe mir nur eine/ da in der dritten nicht das
vorige mit Verdruß ſey wiederhohlet/ und nur
daß geringſte neue vorbracht worden; es waͤre
denn/ daß man von der Haupt-Frage gantz
abgewichen und auff frembde Dinge verfal-
len/ oder wohl gar auffperſonalia, das iſt/
auff Schmaͤhungen und Anzuͤgligkeiten gekom-
men
waͤre. Und du wirſt ordentlich befinden/
T 2daß
[292]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
daß in dergleichen Faͤllen die irraiſonableſten
Zaͤncker allezeit daß letzte Wort behalten; der
andere aber/ der noch am vernuͤnfftigſten gewe-
ſen iſt/ aus Empfindung der Verdrießligkeit/
die aus ſolchem Handel entſtehet/ und der
Schwachheit/ durch die er ſich in ſo vielfaͤltige
Schrifften vertieffet/ am erſten auffgehoͤret.


51. Gleichwie nun aus dem was wir jetzo dar-
gethan die III. Lection gar leicht gemachet weꝛden
kan: Wiederlege die Jrrenden kurtz
und deutlich.
Alſo iſt nur endlich noch
uͤbrig/ daß wir auch betrachten/ was man fuͤr
eine Lection beobachten muͤſſe in anſehen der
Jrrthuͤmer ſelbſt/ die man wiederlegen ſolle.


52. Dieſelbige heiſt alſo: IV.Wiederle-
ge die Jrrthuͤmer die dem menſchli-
chen Geſchlecht ſchaͤdlich/ daß iſt/
die unſtreitig falſch oder ſehr un-
wahrſcheinlich ſind.
Es iſt wahr/ alle
Jrrthuͤmer ſind ſchaͤdlich/ ob ſie gleich dem
erſten Anſehen nach nicht viel Scheinen auf ſich
zu haben. Aber es ſind nicht alles Jrꝛthuͤmer/
die insgemein dafuͤr ausgeſchrien werden/ ſon-
derlich was wahrſcheinliche und unwahrſchein-
liche
[293]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
liche Dinge betrifft. Denn die Wahrſchein-
ligkeit und Unwahrſcheinligkeit hat ihre gewiſ-
ſe grade, derer unzehlig ſind/ und die der menſch-
liche Verſtand nicht ſo genau begreiffen und
entſcheiden kan/ auch folglich dem menſchlichen
Geſchlecht nicht viel daran gelegen iſt/ ob man
in dieſen Faͤllen dieſer oder jener Meinung zu-
gethan; als wie man im gemeinen Leben und
Wandel nicht achtet/ ob ein Ducaten ein 16.
Theil von einem Eßgen ſchwerer ſey als der
andere/ oder ob zwey Wege die an einen Ort
gehen/ einer etliche wenige Schritte weiter ſey
als der andere; Oder ob zwey einander ſehr
gleiche couleuren gleich einen Unterſchied haben/
darzu man aber das allerſcharffſinnigſte Ge-
ſichte haben muß/ ſelbigen zu penetriren. De-
rowegen/ ſo wenig als in dieſen Faͤllen alle
Menſchen entſcheiden koͤnnen/ was eigentlich
als wahrſcheinlich durchgehends fuͤr wahr ge-
halten werden muͤſſe; ſo wenig kan man auch
entſcheiden/ was eigentlich durchgehends als
unwahrſcheinlich fuͤr falſch gehalten werden
muͤſſe/ und folglich kan man in dieſen Faͤllen
keine von zwey wiederſprechenden Meinungen
fuͤr einen Jrrthum halten/ vielweniger denſel-
ſelben befechten; ſondern geſcheide Leute ſagen
T 3ein-
[294]Das 5. H. Von der Geſchickligkeit
einander beyderſeits ihre Meinungen mit ih-
ren Urſachen/ und wenn einer dem andern nicht
Beyfall geben will/ laſſen ſie beyderſeits einan-
der fuͤr kluge und weiſe Leute paſſiren.


53. Vielweniger muß man uͤber Dinge
diſputiren/ die gar nicht zum wahren
und falſchen gehoͤren/
ſondern eines jeden
Menſchen eigener Gutachtung anheim ge-
ſtellet ſind/ oder ſtetswehrend der Vernunfft
unerkant bleiben/ weil auch ſolchergeſtalt in
denenſelbigen kein Jrrthum ſeyn kan/ ſondern
entweder einjeder von beyden Theilen recht
hat/ wenn er von ſeiner Erkaͤntnuͤß oder ſeiner
Unwiſſenheit redet/ oder aber alle beyde irren/
(und alſo keiner dem andern was vorwerffen
darf) wenn ſie von der allgemeinen Erkaͤnt-
nuͤß reden/ oder an beyden Theilen ihre gelehr-
te Unwiſſenheit mit einer thoͤrigten Wiſſen-
ſchafft beſchauen wollen. z. e. Die meiſten
Fragen von Geſchmack/ von der Guͤte der
Dinge/ von der Sprache der Engel/ u. ſ. w.


54. Dieſe Regel und Anmerckung nim
wohl inacht/ damit dich die taͤglichen Exem-
pel
nicht verurſachen darwieder anzuſtoſſen.
Denn
[295]anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.
Denn du wirſt in allen Facultaͤten finden/ daß
unter hundert Streitigkeiten zum wenigſten
99. ſind/ worinnen die Gelehrten einander der
groͤſten Jrrthuͤmer beſchuldigen/ und groſſe
volumina wieder einander ſchreiben/ da doch
beyderſeits Meinungen entweder in Anſehen
der Wahrſcheinligkeit und Unwahrſcheinligkeit
einander ſehr nahe kommen/ oder von uner-
kanten Dingen reden/ oder da ein jeder von
beyden Freyheit hat nach ſeiner Erkaͤntnuͤß
eine Meinung zu ergreiffen dieer wil.
Exempla ſunt odioſa.


ENDE.


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TextGrid Repository (2025). Thomasius, Christian. Außübung Der Vernunfft-Lehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpbm.0