Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.
[[II]]
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Kunſtlehre.
Carl Mäcken, Verlagsbuchhandlung.
1853.
[[III]]
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Künſte.
Zweites Heft:
Die Bildnerkunſt.
Carl Mäcken, Verlagsbuchhandlung.
1853.
[[IV]]
Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.
[[V]]
Inhaltsverzeichniß.
Dritter Theil.
Die ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen
oder
die Kunſt.
Zweiter Abſchnitt.
Die Künſte.
Erſte Gattung.
Die objective Kunſtform oder die bildenden Künſte.
- §§. Seite
- B.Die Bildnerkunſt.
- a. Das Weſen der Bildnerkunſt.
- α.Ueberhaupt 597—606 339—370
- β.Die einzelnen Momente.
- Die äußere Beſtimmtheit.
- Das Material 607 370—377
- Polychromie, maleriſche Hülfen 608 378—384
- Poſtament, Verhältniß zur Umgebung, Größe 609 384—389
- Umfang des Darſtellbaren
- In Beziehung auf die allgem. Sphäre des Stoffs;
Menſch, Thier 610 389—391 - In Beziehung auf die Vielheit der Figuren;
Verbindung mit der Baukunſt: Giebelfeld,
Relief 611 391—394 - In Beziehung auf nähere Bezeichnung: ſymboliſche
Hülfen, Attribut, Gebärdenſprache 612 395—399 - In Beziehung auf die Zeit: fruchtbarer Moment,
Ungleichzeitiges 613 399—403 - Die innere Beſtimmtheit. Allgemeines Stylgeſetz 614 404—406
- Behandlung der menſchlichen Geſtalt überhaupt; For-
- derung glücklichen Stoffs, Beſchränkung im Indi-
viduellen und Geſchichtlichen 615 406—409 - Gegenſatz des direct idealiſirenden und des indi-
vidualiſirenden, naturaliſtiſchen Styls 616 410—414 - §§. Seite
- Die Proportionen 617 414—415
- Weichtheile, Muſkel, Sehnen, Adern 618 415—418
- Haupt, Geſichtsbildung, Haar 619 419—421
- Nacktheit, Gewand 620 421—425
- Die beſondern Formen. Ihre Grenze; Verſchmelzung
im Ideal 621 425—428 - Der beſtimmte Moment; Ungezwungenheit, Rundheit;
- Heftigkeit der Bewegung 622 428—430
- Ausdruck des Seelenlebens; Affect 623 430—435
- Flüchtiges Mienenſpiel; Ausdruck ſubjectiv inner-
lichen Geiſtes 624 435—437 - Ruhe der Seele Charakter 625 437—444
- Die Compoſition.
- Linienverhältniſſe, Rhythmus der einzelnen Geſtalt 626 444—447
- Mehrheit von Figuren; Längerichtung im Relief;
lockere, engere Verbindung 627 447—450 - Giebelfeld; pyramidale Form. Freie Seulptur; lockere,
- geſchloſſene Gruppe 628 450—454
- Umfaſſende, cykliſche Compoſition 629 454
- b. Die Zweige der Bildnerkunſt.
- Das Mythiſche und nicht Mythiſche. Hauptaufgabe:
- Götter und Heroen 630 455
- Eintheilung nach den Unterſchieden: Thier, allgemein
Menſchliches, Geſchichtliches; Schwierigkeit 631 455—460 - Eintheilung nach dem Moment und Grade des Um-
fangs. Statue, Gruppe; Ruhe, harmloſe, ge-
ſpannte Situation 632 461—462 - Eintheilung nach dem Unterſchiede des Materials und
der techniſchen Behandlung 633 462—463 - Unterſchied des einfach Schönen, Erhabenen, Ko-
miſchen 634 463—465 - Unterſchiede der Verbindung mit andern Auffaſſungs-
Arten der Phantaſie 635 465—467 - c. Die Geſchichte der Bildnerkunſt.
- Die treibenden Gegenſätze 636 468—469
- α.Die Bildnerkunſt des Alterthums.
- Die orientaliſche Bildnerkunſt 637—638 469—475
- Die griechiſche (und römiſche) 639—641 475—481
- β.Die Bildnerkunſt des Mittelalters.
- Allgemeiner Charakter 642 482—485
- Früherer Styl 643 485—487
- Späterer Styl 644 487—490
- γ.Die moderne Bildnerkunſt 645—646 490—496
- Anhang. Die verzierende Bildnerkunſt. Das leben-
dige plaſtiſche Kunſtwerk 647 497—504
B.
Die Bildnerkunſt.
a.
Das Weſen der Bildnerkunſt.
Der Uebertritt der Baukunſt aus der abſtracten Maſſenbildung in die organi-
ſche Form durch das Ornament, ihr ſichtbares Hindrängen nach Ergänzung durch
eine Kunſt, welche dieſe Form urſprünglich und eigentlich nachbildet, iſt der
Ausdruch der innern Nothwendigkeit eines Fortſchritts, durch welchen ihre Be-
ſtimmung, nur ein erſter, objectiver, dem ſubjectiv beſeelten Kunſtwerk Unter-
lage und Stätte bereitender Act der Kunſt zu ſein (§. 553), wirklich an ihr
erfüllt wird. Dieſe innere Nothwendigkeit, die von anderer Seite im gegen-
ſtändlich nachahmenden Spieltrieb (§. 515, 2.) ſich ankündigt, iſt in dem Weſen
des Schönen ſelbſt begründet, welches in der reinen Einheit von Idee und Bild
beſteht und daher die wahre Erſcheinung dieſer Einheit, die Perſönlichkeit
(vergl. §. 19), als Aufgabe der Kunſtdarſtellung ſetzt. Entſpricht die Bau-
kunſt dem Unorganiſchen im Gebiete des Naturſchönen, ſo wiederholt ſich in
dem ſo geforderten Fortſchritte der Kunſt der Fortgang des Naturſchönen zur
beſeelten organiſchen Geſtalt.
Zuerſt eine Bemerkung über den Namen. Plaſtik bezeichnet eigentlich
nur ein Bilden in weichem Stoff, wie ſolches, nachdem Thon in der hö-
hern Kunſt nur zum Modelle verwandt wird, zur bloßen Vorarbeit gewor-
den iſt; die wirklich ausführende Bearbeitung harter Stoffe iſt zwar aus-
geſprochen in dem lateiniſchen Namen Sculptur, aber darin iſt das Gießen
nicht mitbefaßt. Das deutſche Wort Bilden bedeutet urſprünglich: etwas
einem Andern Aehnliches hinſtellen, und zwar entweder in der eigenen Per-
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 23
[340]ſon (z. B. Gott bilden = Gottes Weſen an ſich darſtellen) oder objec-
tiv durch ein Nachſchaffen, ſei es durch innere Thätigkeit blos der
Phantaſie oder an einem äußern Stoffe. Die erſtere, intranſitive Bedeu-
tung iſt verloren gegangen, die zweite, tranſitive ſchied im Zeitwort nach
und nach die Beſtimmtheit der Beziehung auf das nachzuahmende Urbild aus
und wurde zunächſt, ehe der moderne, ethiſche und intellectuelle Sinn ein-
drang, vorzüglich von dem Herausarbeiten eines greiflichen, gediegenen
Stoffes aus dem Groben gebraucht, wodurch er organiſche Form annimmt,
die dann allerdings Nachbild eines Urbilds iſt, ſo daß mittelbar darin
immer noch der Begriff der Herſtellung eines Aehnlichen liegt. In dieſem
älteren, volksmäßigen Sinne würde das Wort Bilden ganz eigentlich die
Kunſt bezeichnen, zu der wir nunmehr übergehen; Bildkunſt wäre der rechte
Name. Allein im ſubſtantiven Gebrauche hat das Wort theils umgekehrt
den Sinn der Erzeugung einer Aehnlichkeit zu beſtimmt und zu ſehr in
blos geiſtiger Anwendung behalten, es bezeichnet das einzelne Gleichniß in
der Sprache und Poeſie, theils iſt ſeine Bedeutung ohne dieſe Beziehung zu
allgemein, ſo daß man auch ſchlechthin ein Gemälde darunter verſteht; das per-
ſönliche Subſtantiv Bilder iſt verloren; dagegen iſt durch Gewohnheit das,
grammatiſch eigentlich unrichtige, Wort Bildner feſtgeſtellt und darin jener
ältere, gediegene Sinn des Zeitworts Bilden erhalten. Von den verſchie-
denen Arten der Technik: Formen weichen Stoffes, Hauen, Gießen iſt da-
bei keine ausgeſchloſſen, während „Bildhauer“ die erſte und dritte aus-
ſchließt. So mag denn ſtehen: Bildnerkunſt, daneben aber auch der grie-
chiſche und lateiniſche Name nicht abgewieſen ſein. — Was nun die Be-
gründung des Uebergangs von der Baukunſt betrifft, ſo wäre eigentlich
gar nicht zu fragen: wie kommt es, daß nun die Kunſt fortgeht zur Nach-
bildung der beſeelten organiſchen Geſtalt? ſondern: wie kommt es, daß ſie
damit nicht ſogleich anfängt? und: wie kommt es, daß ſie dieſe Nachbil-
dung zunächſt nur in der Beſchränkung vornimmt, in welche wir die Bild-
nerkunſt ſofort ſich werden eingrenzen ſehen? Die erſte dieſer Fragen er-
gibt ſich von ſelbſt aus dem Satze, in welchem der §. die Nothwendigkeit
des nunmehr ſich öffnenden Kunſtgebiets einfach aus dem Weſen des Schö-
nen ableitet. Das Schöne iſt die reine Einheit zwiſchen Idee und Bild,
die wahre Erſcheinung dieſer Einheit iſt die Perſönlichkeit, und die Kunſt
als die Wirklichkeit des Schönen hat daher unmittelbar, ſo ſcheint es, dieſe
abſolute Aufgabe zu ergreifen. Die zweite Frage iſt in der erſten bereits
eingeſchloſſen; denn wenn es die Aufgabe der Kunſt iſt, das perſönliche
Leben darzuſtellen, ſo ſcheint daſſelbe auch ſogleich nach dem ganzen Um-
fang ſeiner Erſcheinung erfaßt werden zu müſſen, was doch die Bildner-
kunſt, wie ſich zeigen wird, nicht thut. Es drängt ſich aber bei dieſer zwei-
ten Frage noch ein weiterer Anſtand auf. Es ließe ſich nämlich, ſo ſcheint
[341] es, eher erwarten, daß die Kunſt, wenn ſie nun den erſten Schritt thun
ſoll, ihren eigentlichen Stoff, die Perſönlichkeit, zu ergreifen, vorerſt noch
in einem andern Gebiete zögernd verweile, in jenem nämlich, worin ſich
die Perſönlichkeit „erſt als eine werdende ankündigt“ (§. 240). Wir ha-
ben die landſchaftliche Natur als einen Wiederſchein perſönlicher Seelen-
ſtimmung gefaßt, die Bildnerkunſt überſpringt ſie und nur das Thierleben
nimmt ſie ſich als Vorſtufe des perſönlichen Lebens zum Stoffe. Die
zweite der aufgeſtellten Fragen ſammt dieſem weiteren Bedenken, das ſich
an ſie knüpft, wird ihre Beantwortung im Verlauf der Lehre von der
Bildnerkunſt und Malerei von ſelbſt finden; die erſte aber beantwortet
ſich aus dem Inhalte von §. 553. Die Kunſt bedarf, um in das Ge-
biet der wahren, vollen Einheit des Lebens einzutreten, eines Anſatzes,
eines feſten Puncts, von dem ſie ſich zur freien Schwingung abſtößt;
die Architektur iſt ihr Schwungbrett, um zur Plaſtik überzuſpringen, der
befeſtigte Theil des Schwungbretts iſt die Kernform der Architektur, dem
elaſtiſch ſchwebenden Theile deſſelben entſpricht die Decorations-Form, welche
ſchon den Uebergang in die Plaſtik ankündigt. Im Ornamente, dieſem
Hinüberblühen in die organiſche Form, verräth die Baukunſt das Reich
der reinen Verhältniſſe und Linien als die Grundlage alles organiſchen
Lebens und nachdem der Verrath geſchehen iſt, muß ſie nun der Kunſt,
welche das beſeelte organiſche Leben in Beſitz nimmt, wirklich Platz machen.
Dieſes Platzmachen iſt auch ein buchſtäbliches: die Baukunſt iſt ja nur
Umſchließung eines anderweitig zu erfüllenden innern Raumes, ihr Werk
wartet auf dieſe Erfüllung, ſie iſt der Vorläufer Johannes, der den Gott-
menſchen verkündigt. Es iſt derſelbe Uebergang, wie von der unorga-
niſchen zur höheren organiſchen Natur (das vegetabiliſche Leben als Theil
der landſchaftlichen Schönheit fällt nach der obigen Bemerkung aus). Dem
Urſtoffe der Erde wohnte ſchon der Keim des organiſchen Lebens inne,
die Nachbildung dieſes Lebens iſt die erſte, urſprüngliche Beſtimmung der
Kunſt; aber aus dem Urſtoffe ſchlugen ſich zuerſt die rohen, feſten Maſſen
nieder als Boden und Stätte für das Lebendige, in welchem der Einheits-
punct der Seele die unendlich verfeinerte Maſſe zu ſeinem Leibe bildet,
ebenſo ſchickt ſich die Kunſt den feſten, maſſigen Bau voran, worauf und
worein ſie das ideale Abbild des perſönlich organiſchen Lebens ſtellen wird. Die
Erde wartete auf ihren König, den Menſchen; der Tempel, das ideale
Abbild der Erde, das Bild der Erde, wie ſie wäre, wenn der Geiſt Got-
tes ihre zerſtreuten Maſſen in ein begrenztes, geſchloſſenes Ideal des
Raumes, in ein himmliſches Jeruſalem zuſammengeführt hätte, erwartet
das ideale Abbild des Menſchen, den Gott. Ja noch ehe er eintritt, ſtreckt
ſie im Ornament und ebenſo in der eigentlichen, an ihre Flächen gehef-
teten Plaſtik (das Relief bildet, wie wir ſehen werden, ebenſo ein Ver-
23*
[342]mittlungsglied mit der Baukunſt, wie mit der Malerei) ihre Organe nach
ihm aus. Die Erde geſteht in der Erzeugung des organiſchen Lebens
und ſeines Gipfels, des Menſchen, was ſie eigentlich iſt, nämlich blos er-
nährende Unterlage und Stätte für die höheren Weſen; die Baukunſt be-
ginnt daſſelbe Geſtändniß mit dem Ornamente, verſtärkt es mit dem an
ihre Flächen enger angeſchloſſenen Bildwerk und vollendet es, indem ſie
der freien Statue Platz macht. Der §. geht von dieſem Punct aus und
dann erſt zur unmittelbaren Ableitung der innern Nothwendigkeit des
Auftretens der Sculptur über; die Erläuterung hat dieſen Gang umge-
kehrt. — Es durfte nicht unerwähnt bleiben, daß die Nachbildung des
höheren organiſchen Lebens ſich äußerlich durch den Spieltrieb vorbereitet,
durch jene Form deſſelben nämlich, welche als objectiver Nachahmungs-
trieb Gegenſtände, zunächſt zur Ergötzung, in weichen oder harten Stof-
fen nachahmt.
Verſchwunden iſt mit dieſem Schritte die Getheiltheit einer Kunſtform,
welche in Inneres und Aeußeres zerfällt und von einem gegebenen Zwech ab-
hängig iſt (§. 555, 1.); die dunkle Beziehung derſelben zu einem Vorbild in
der Natur iſt klarer gegenſtändlicher Nachbildung gewichen und an die Stelle
bloßen ſymboliſchen Andeutens tritt die eigentliche Darſtellung concre-
ten Inhalts in der ihm untrennbar ſelbſteigen angehörigen Form: die Bedeu-
tung und ihre Hülle ſind in lebendige, ſich ſelbſt ausſprechende Einheit zuſam-
mengefaßt.
Die Baukunſt fanden wir nach zwei Seiten auf ein zunächſt Außer-
äſthetiſches bezogen: nach der einen war ſie von dem gegebenen Zwecke,
nach der andern von dem Geſetze der Schwere abhängig. Hier handelt
es ſich zunächſt von der erſten dieſer zwei Seiten; die Theilung in ein
Inneres und Aeußeres fällt unmittelbar mit dieſer Abhängigkeit zuſammen.
Daraus ſogleich floß die Schwierigkeit der Lehre von dieſer Kunſt, der
Umweg, der durch eine Reihe verwickelter Unterſcheidungen zu dem Puncte
führte, wo das Schöne beginnt. Mit dieſen Schwierigkeiten hat es jetzt
ein Ende; die Bildnerkunſt ſteht auf ſich, ſtellt ein Eines, Ganzes hin.
Das blos umſchließende Werk der Baukunſt faßte ferner die Stoffmaſſe
nur in jene abſtracte Linien-Einheit zuſammen, für welche im Reiche des
Naturſchönen kein eigentliches, abgeſchloſſenes Vorbild zu finden war;
wir ſuchten dunkel umher nach dem Puncte, wo die Phantaſie im Schachte
des Naturlebens ſich geheimnißvoll nach den Grundlagen aller Geſtaltung
umſchaut, ſich ahnend in den Prozeß der Kryſtallbildung verſenkt; jetzt
[343] iſt Licht geworden, das Urtheil iſt in dieſe Nacht des Zuſammenwebens
von Subject und Object eingetreten, der klare Gegenſchlag, worin der
Phantaſie ein Gegenſtand zum Vorbild wird und dieſe ſich ihn nachbildend
gegenüberſtellt, iſt da. Die Erſcheinung der Perſönlichkeit ſteht reif, ab-
geſchloſſen vor dem Künſtler und erwartet nur die Läuterung von den
Schlacken des Naturſchönen; er darf nicht mehr zu einer Seele, die anders-
woher geliehen wird, aus den Maſſen des Unorganiſchen, die in’s unbe-
ſtimmt Weite ausgebreitet, zerworfen und zerſtreut umherliegen, die zer-
floſſenen und abgebrochenen Linien zuſammenführen, um ſie zu dem Gan-
zen zu vereinigen, das jener geliehenen Seele den abſtracten Leib, richti-
ger das bloße, auf den wahren Leib jener Seele vorbereitende, hinüber-
deutende Kleid geben ſoll. Dieß iſt denn zugleich das Ende der bloßen
Symbolik. Das Vorbild ſelbſt iſt Einheit von Seele und Geſtalt. Die
Seele ſelbſt iſt concret. Die Seele, welche der Baukunſt zur Umkleidung
gegeben war, zerfiel in zwei Seiten: zunächſt war ſie auch eine concrete,
nämlich die geiſtige Perſönlichkeit des Gottes, auch des zum Staat orga-
niſirten, in ſeinen höheren Würden vertretenen Volkes, der einzelnen Fa-
milie oder Perſon; aber davon fiel nur das allgemeine Element, die un-
gefähre Stimmung, alſo die zweite, unbeſtimmt allgemeine Seite, der Bau-
kunſt als Aufgabe für ihre Darſtellung zu. Die Bildnerkunſt aber er-
greift die concrete Seele ſelbſt, den Kern dieſer von der Baukunſt aus-
zudrückenden bloßen Stimmungs-Atmoſphäre, unmittelbar als ihren Dar-
ſtellungsgegenſtand. Die concrete Seele iſt das als Selbſtgefühl, höher
als Selbſtbewußtſein und ſelbſtbewußter Wille in ſeinem organiſch in ſich
zuſammengeſchloſſenen Leib erſcheinende ſubjective Leben, der beſtimmte
Gehalt, der eben in ſeiner Erſcheinung ſich ſelbſt deutet, ſie iſt „das ſich
ſelbſt Bedeutende, ſich ſelber Deutende“ (Hegel Aeſth. II. S. 3). Solcher
Gehalt, der ſeine innere Einheit in ſeiner Erſcheinung direct ausſpricht, iſt
das ſubjective Leben zunächſt ſchon vor aller der näheren Faſſung, unter
welcher ein Affect, ein ſittlicher Zweck, Charakter gedacht wird; das Sub-
ject, ſchon als Seele im unbeſtimmteren Sinn, iſt, gegenüber dem, was
die Baukunſt andeutet, durchaus beſtimmt, indem ſeine anthropologiſche
Erſcheinung der ihm rein eigene, mit ihm gewachſene, mit ihm identiſche
reale Ausdruck aller ſeiner, obwohl noch nicht in unterſcheidender Ent-
wicklung auseinandergelegten Fähigkeiten und Kräfte iſt. Das Ganze
der Glieder, des Ausdrucks iſt jene vollzogene innere Zweckmäßigkeit,
welche ohne Begriff gefällt, weil dieſe Vollziehung der dargeſtellte Begriff
ſelbſt iſt. Die erwachte, erſchloſſene Seele aber, die in Thätigkeit geſetzte,
zum Charakter der im engeren Sinne beſtimmten Perſönlichkeit erhobene
Seele trägt den nun entfalteten Inhalt in ſich als lebendes Gefühl in
ihrem Buſen, als lebenswarme ſittliche Macht, welche ſich in der äußern
[344] Erſcheinung leibhaft ausdrückt durch Bewegung und bleibendes Gepräge.
Auch dieſer Ausdruck iſt direct; es bedarf auch hier keines Umwegs einer
Ueberſetzung in den förmlich gedachten Begriff, der Begriff iſt real in
ſeiner Erſcheinung da, iſt in ihr Leben geworden und erklärt ſich ſelbſt.
Auch die Bildnerkunſt, indem ſie dieß mit ſich ſelbſt eine, runde, ſich ſelbſt
verkündende Ganze wiedergibt, ſpricht noch nicht eigentlich, aber ihre un-
eigentliche Sprache iſt, verglichen mit der Sprache der Baukunſt, beſtimmte
Sprache.
Dieſer Fortgang der Kunſt gibt ſich jedoch nothwendig die Beſchränkung
eines erſten Schritts, worin ſich die unmittelbare Herkunft aus der Baukunſt
verräth. Er nimmt ſich von der Erſcheinung der Perſönlichkeit nur die feſte
räumliche Form als Object des taſtenden, das Greifliche umſpannenden, eben-
daher auf einer Grundlage eigentlicher Meſſung ſich bewegenden und dadurch
auf die Wiſſenſchaft bezogenen Sehens (§. 404) zu ſeinem Gegenſtand, und die
Kunſtthätigkeit, in welcher die ſo organiſirte Phantaſie ſich niederlegt, ſtellt dieſer
Auffaſſung gemäß ihr inneres Bild im harten und ſchweren Materiale dar; die
Bewegung des organiſchen Gebildes, welche in der Erfaſſung durch das taſtende
Sehen mitbegriffen war, fällt in dieſer Nachbildung weg, es wird alſo ein
2.Zeitleben im Raume gefeſſelt. Das Gebiet des landſchaftlichen Schönen
wird demgemäß nothwendig überſprungen und dem Bildwerk überhaupt der Raum
nicht mitgegeben: die Baukunſt gab den Raum und kein Subject für ihn, die
Bildnerkunſt läßt ſich den Raum für ihr Subject wie das aufzeigende Licht von
außen durch die Natur oder die Baukunſt geben.
1. Die erſte der Kunſtformen, welche das organiſche und perſönliche
Leben darſtellen, iſt bei allem abſoluten Fortſchritt noch architekturartig.
Es kann mit dieſem erſten Schritte noch nicht diejenige Art der bildenden
Phantaſie in Thätigkeit treten, welche auf das eigentliche, d. h. die Ge-
ſammtwirkung der Oberfläche in Licht und Farbe erfaſſende Sehen geſtellt
iſt, ſondern erſt diejenige, welche auf jenem taſtenden Sehen ruht, d. h.
auf dem Auge, das durch ein verhülltes Taſten organiſche Formen in ihrer
greiflichen Raumerfüllung umſpannt. Es gibt Leute, welche bei allen
Dingen auf Farbe, Bewegung, Ausdruck ſehen; ſie geben bei einer menſch-
lichen Geſtalt unvollkommen entwickelten, ſelbſt unregelmäßigen, ſchiefen
Wuchs, unedel gebildete Hand, Geſichtszüge von geringer Schönheit der
Linie gegen ſchönen Teint, charaktervollen Blick und Zug, Grazie im Mie-
nenſpiel gern in den Kauf, ja ſie bemerken wohl jene Mängel überhaupt
nicht. Dieſe Naturen ſind für die Sculptur, ſelbſt für ihr Verſtändniß
[345] verloren, ſofern ſie ſich nicht durch Uebung und Bildung die Auffaſſung
dieſer Kunſt bis auf einen gewiſſen Grad aneignen; das nordiſche Auge
ſieht vorherrſchend in dieſer unplaſtiſchen Weiſe. Andere dagegen laſſen
ſich auch durch die bedeutendſten Vorzüge einer Geſtalt, welche in das
Gebiet der Farbe und der Mienen, der Bewegung fallen, nie beſtimmen,
den geringſten Mangel der erſtgenannten Art zu überſehen; unfreie
Stirne, ſchlechtgebildete Naſe, Mund, Kinn, mangelhaft entwickelter Nacken,
flache Bruſt, gewölbter Rücken, zu kurze oder zu lange Taille, magere
Hüfte, Arme und Beine ohne Form und Verhältniß, ſchlechter Rhythmus
des Ganzen fällt ihnen im erſten Blick auf, etwas Schiefes ſehen ſie von
Weitem, kein Reiz der Farbe, keine Tiefe des geiſtigen Ausdrucks, ſofern
ſie ſich nicht in greiflicher Form mächtig ausprägt, täuſcht oder beruhigt
ſie über jene Mängel. Dieſe ſehen mit dem Auge des Bildhauers; ſeine
Phantaſie faßt Alles von dieſer Seite, iſt auf dieſe Art zu ſehen, organi-
ſirt, er „ſieht mit fühlendem Aug’, fühlt mit ſehender Hand“. Das Licht
iſt allerdings für dieſes Auge weſentliches Medium, aber nur als das die
feſte Form aufzeigende, nur als das Mittel, welches vorausgeſetzt iſt, da-
mit der im Sehen verhüllt, vergeiſtigt enthaltene Taſtſinn (vrgl. ſchon
§. 71 Anm.) den Gegenſtand in ſeiner Weiſe erfaſſen könne, die Reize
des Lichts werden nicht als ſolche verfolgt, ſie führen unmittelbar zur
Farbe hinüber, von welcher dieſe plaſtiſche Auffaſſung abſtrahirt. Wir
werden die Frage über die Verbindung der Farbe mit dem Bildwerk in
der näheren Erörterung der einzelnen Momente aufnehmen; ſo viel leuch-
tet aber ſchon hier ein, daß dieſelbe, in welchem Grade ſie der Form
mitgegeben werden mag, hier nicht das Weſentliche, die Auffaſſung Be-
ſtimmende, ſondern nur Zugabe ſein kann, daß die Auffaſſung in ihrem
Urſprung und Weſen hier jedenfalls die Abſtraction von der Farbe, auch
wenn ſie ſecundär hinzutritt, in ſich ſchließt. Dieſe Abſtraction widerſpricht
nicht dem Begriffe einer primitiveren, kindlicheren, ſinnlich naiveren An-
ſchauungsweiſe, auf welcher die Bildnerkunſt als die frühere, vor der
Malerei auftretende Kunſt beruht. Das Kind, der Naturmenſch, die Bil-
dung, welche Natur bleibt, ſieht taſtend, greiflich, die Farbe iſt ihr nur
Ueberzug der gefüllten, kernhaften Form. Es iſt doch immer ein Noch-nicht-
Erfaſſen des Ganzen der Erſcheinung, wogegen das Erfaſſen des Ganzen
der Erſcheinung vielmehr, wie wir ſehen werden, in der Kunſtdarſtel-
lung nach anderer Seite eine noch viel ſchwerere Abſtraction bedingt, näm-
lich die von der wirklichen Darſtellung der feſten Form im Raum. Jede
Kunſt aber leiſtet in ihrem Gebiete das Vollkommene gerade durch Iſo-
lirung einer oder mehrerer Seiten der Erſcheinung von den übrigen (vrgl.
§. 533, 2.); ihr Mangel iſt zugleich ihr Reichthum, ihre Fülle, und ge-
rade in der Plaſtik werden wir ſehen, welche Wunder die Kunſtweiſe
[346] leiſtet, deren kindlich klares Auge noch weſentlich auf das Seiende im eng-
ſten Sinn, das greiflich Solide, warm ſich Füllende im Raume geht.
Dieſes Auge iſt nun mit dem architektoniſchen noch weſentlich verwandt.
Es geht nicht mehr auf die im zerworfenen Erdreich verhüllten rei-
nen geometriſchen Verhältniſſe, ſondern auf die organiſch geſchwungene,
zur Erſcheinung des Individuums abgerundete Form, aber doch auf dieſe
Form als eine in den Raum feſt und ſchwer hineingebaute; dieſe Form
iſt als organiſch ſchöne über das exact Meßbare unendlich hinaus, aber
ſie enthält es doch als weſentliche Grundlage noch in ſich. Regelmäßige
Verhältniſſe machen die Geſtalt des lebendigen Individuums noch nicht
ſchön, ſind aber der feſte Kern, das Knochengerüſte ſeiner Schön-
heit; das taſtende Sehen iſt noch ein wirklich meſſendes, wiewohl es zu-
gleich unendlich mehr iſt. Darum eben erblickt der ſo Sehende jede Schief-
heit, jedes Mißverhältniß im Bau einer Geſtalt mit einer Schärfe und
Raſchheit, wie ſie dem maleriſch Sehenden fremd iſt. Geht nun dieſe
Phantaſie in Thätigkeit über und ſchafft ſich ihre Kunſtform, ſo tritt das
Architekturartige in ihr vollends zu Tage. Wie ſie aufgefaßt hat, muß
ſie auch nachbilden, ſie muß, um das räumlich Feſte der Form wiederzu-
geben, zum ſchweren, harten Materiale greifen, wie die Baukunſt; ſie muß
zu dem Theile der Arbeit, welche den wahren und vollen Sitz der Schön-
heit nachahmt, auf einer Grundlage wirklichen Meſſens fortſchreiten. Die
Bildnerkunſt theilt daher mit der Baukunſt auch dieß, daß ſie auf eine
beſtimmte Wiſſenſchaft, die Meßkunde, bezogen iſt, nur nicht ſo ſtreng,
nicht ſo durchgängig. Ihr vollendetes Gebilde ſtellt ſie in den wirklichen
Raum als raumerfüllendes hinein. Hier iſt der Ort, die Begriffe des
Raums und der Zeit wieder aufzunehmen, wie ſie zu §. 534 als gewöhn-
liche Kategorie der Eintheilung der Künſte angeführt iſt. Es leuchtet
nämlich auch an der gegenwärtigen Stelle ein, wie unzulänglich dieſer
Unterſcheidungsbegriff iſt; die Bildnerkunſt fällt nach demſelben einfach
unter die Künſte des Raums, der Zeitbegriff ſoll erſt bei der Muſik ein-
treten; allein er tritt ſchon hier ein, nur ſo, daß er vom Raumbegriffe
beherrſcht iſt. Nur die Baukunſt iſt rein räumlich, ihr Werk lebt erſt im
Zuſchauer zu einer Bewegung, alſo einem Zeitleben, der Muſik verwandt
auf; die Bildnerkunſt dagegen hat ein im Raume ſich Bewegendes, ein
Zeitleben wirklich zu ihrem Vorbild, und die Anſchauung, welche dem
Schaffen des Bildners zu Grunde liegt, faßt die feſte Form weſentlich in
dieſer Beſtimmtheit der Bewegung auf; erſt in der künſtleriſchen Ausfüh-
rung muß die wirkliche Bewegung wegfallen, weil ſonſt entweder die For-
derung, daß das Material todter Stoff ſein muß (§. 490), nicht erfüllt
werden könnte oder eine mechaniſche Bewegung angewandt werden müßte,
welche in das gemein Techniſche abführt und in dieſem Gebiete einen
[347] Werth haben mag, vom äſthetiſchen Standpunkt aber als falſche Art der
Naturnachahmung halb unheimlich, halb lächerlich iſt (Automaten). Es
tritt zu der Abſtraction von der Farbe nun eine zweite, die von der Be-
wegung. Aber nicht in demſelben Sinne wird von der Bewegung ab-
ſtrahirt, wie von der Farbe. Dieſe wird in der Anſchauung nicht, we-
nigſtens nicht als weſentlich mitwiegend, aufgefaßt und ſie könnte nach-
geahmt werden, wird es aber nicht, wenigſtens von einer reifen Kunſt
höchſtens als bloßer Anflug; die zweite wird, in gewiſſer Beſchränkung
auf die größeren Bewegungen, wie ſich zeigen wird, als ganz weſentlich
miterfaßt, denn der lebendige Leib iſt eben der ſich bewegende, ſie kann
aber, außer durch völligen Abfall in mechaniſches Spiel, ſchlechterdings
nicht nachgeahmt werden. Sie fällt aber darum in der Nachahmung nicht
in der Weiſe weg, wie die Farbe, ſondern eine ganz eigenthümliche Ver-
bindung von Raum und Zeit tritt ein. Dargeſtellt wird ein Bewegtes;
in dieſer Darſtellung kann es ſich nicht wirklich bewegen, d. h. nicht meh-
rere Bewegungsmomente durchlaufen, aber ein Moment der Bewegung
wird dargeſtellt und zwar auch in der ruhenden Geſtalt, denn ſie muß er-
ſcheinen als eine ſolche, die ſich bewegen kann, muß, will, die ſich bewegt hat
und wieder bewegen wird, und ob auch die Ruhe zwiſchen zwei Bewegungen
länger andauert, als einen Moment im buchſtäblichen Sinne, dieß thut hier
nichts zur Sache. In dieſem Moment iſt die ſich bewegende Geſtalt ver-
ſteinert worden; ſie iſt ſo zu ſagen aus dem wirklichen Leben und aus
der es ſpiegelnden Phantaſie des Künſtlers, wo ſie ein Zeitleben fort-
dauernder Bewegung führte, in einen bewegungsloſen Raum hereinge-
ſprungen und im Nu verzaubert worden, wie ſie eben war. Eigentlich
ein märchenartiger Vorgang, das Schickſal Dornröschens; der Königsſohn
iſt die Phantaſie des Zuſchauers, in welcher auch hier das Bewegungs-
loſe auflebt, aber wir verfolgen in der erſt allgemeinen Aufſtellung der
Hauptbegriffe dieſe Seite noch ſo wenig, als die näheren Geſetze, welche
ſich aus dieſer wunderbaren Combination von Raum und Zeit, dieſer be-
wegten Unbewegtheit oder unbewegten Bewegtheit für den Künſtler ergeben.
2. Das Ueberſpringen der Landſchaft, ſchon zu §. 597 angedeutet,
iſt nun genauer in’s Auge zu faſſen. Das landſchaftlich Schöne trat in
der Lehre vom Naturſchönen vor der (thieriſchen und) menſchlichen
Schönheit auf; da in dieſer die Idee in voller Gegenwart ſich adäquate
Erſcheinung gibt, ſo ſteht ſie natürlich oben auf der Leiter und jene, weil
ſie nur dämmernde Spuren und Vorbilder des Geiſtes darſtellt, unten
als Anfangsſproſſe. Man ſollte nun meinen, die Kunſt, wo ſie den
Schritt zur Nachbildung concreten Lebens vollzieht, werde zuerſt dieſe
erſte Stufe des Naturſchönen als Stoff ergreifen. Dagegen iſt ſchon zu
§. 404 Th. I. S. 380 von dem taſtenden Auge ausgeſagt, daß die auf
[348] es gebaute Phantaſie die (thieriſche und) menſchliche, nicht die landſchaft-
liche ſein werde. Es leuchtet nämlich zunächſt ein, daß die Bildner-
kunſt das Landſchaftliche nicht darſtellen kann; das unorganiſch Schöne,
Licht, Luft, Erde iſt ein Continuirliches, ſie aber vermag ihren Bedingungen
gemäß nur die volle, individuell ſcharf und beſtimmt abgegrenzte Geſtalt
nachzubilden. Das erſte Organiſche, die Pflanze, fällt ebenfalls ſchon darum
weg, weil ja einzelne Pflanzen nicht wohl zur künſtleriſchen Darſtellung
kommen können, ſondern nur eine Vielheit von Pflanzengebilden, die mit
dem plaſtiſch nicht nachahmlichen unorganiſchen Theile der Landſchaft als
ſeine ſchmückende Ueberkleidung ein Ganzes ausmacht; aber auch abgeſehen
von dieſer Verbindung ſtellt ſich Wieſe, Gebüſch, Wald als ein Fortlau-
fendes dar, das aus demſelben Grunde, wie die übrige Landſchaft, bildne-
riſch nicht darſtellbar iſt. Die größere einzelne Pflanze, der Baum, kann
allerdings in einem Gemälde zwar nicht für ſich allein, ohne alle Umge-
bung, doch als Mittelpunct und eigentliche Aufgabe des Ganzen auftreten;
in der Sculptur iſt aber auch das einzelne Gebilde nicht darſtellbar, denn
es läuft ebenfalls in ein Continuirliches aus durch die, an ſich zwar zählbare,
dem Auge aber in das unbeſtimmt Viele überfließende Menge ſeiner
Blätter und Zweige, und ſo liegt es alſo in der Bildung der Pflanze an
ſich, daß ſie aus dem Umfang der plaſtiſchen Objecte wegfällt. Wenn
demnach die Bildnerkunſt das landſchaftlich Schöne ihren Bedingungen
gemäß nothwendig meiden muß und nur mittelbar durch gewiſſe Aushülfen,
von denen ſeines Orts die Rede ſein wird, andeuten kann, ſo ſcheint ein
Widerſpruch zu entſtehen zwiſchen dem Stufengange des Naturſchönen und
dem des Syſtems der Künſte. Dieſer Widerſpruch löst ſich durch folgende
doppelte Erwägung. Das landſchaftlich Schöne an ſich betrachtet, wie in
der That das Leben der Idee in erſten, aber noch ſtarr gebundenen Spu-
ren darin angedeutet liegt, iſt bereits von der abſolut erſten, anfänglichen
Kunſtform benützt, denn dieſe, die Baukunſt, haben wir ja erkannt als
die Idealiſirung der unorganiſchen Natur, zunächſt und vorzüglich ihres
feſten Theils, der Erdbildung und des Kryſtalls, dann auch des Himmels-
gewölbes, entfernter des Pflanzenreichs; die Flächen und Kreis-Ausſchnitte
des Waſſers fanden wir ebenfalls in ihrem Linienreich enthalten. Dagegen
wird das landſchaftlich Schöne in ein höheres Licht gerückt durch die
Seele des Zuſchauers, die ihre Empfindungen leihend ihr unterſchiebt.
Dieſer Act gehört einem Geiſtesleben an, das auf der Stufe vermittelter,
einen Bruch mit der Natur vorausſetzender Bildung ſteht, einer Bildung,
welche jenſeits der naiven Einfalt des taſtenden Sehens liegt, das ſich an
die reife Natur, an ihr zeitiges, fertiges, ſo zu ſagen ausgekochtes
Werk als dasjenige hält, worin die zerſtreuten Strahlen des Lebens im
geſchloſſenen Bilde geſammelt dem Auge entgegentreten. Es kann dieß
[349] hier, wiewohl wir darauf zurückkommen, durch eine Hinweiſung auf die
gemeine Erfahrung erläutert werden: das ungebunden ſpielende Schauen,
durch das wir auf einem Spaziergang uns zu erfriſchen ſuchen, iſt zwar
nicht das eigentlich äſthetiſche, doch dieſem verwandt; da ſind wir nun
nicht jederzeit aufgelegt, uns in die einſame Landſchaft zu vertiefen; wir
fühlen, daß es einen beſonderen Act koſtet, dieſe an der eigenen Bruſt
zum gefühlt fühlenden Bilde zu erwärmen; in manchen Momenten ſind
wir hiezu nicht innerlich, nicht ſubjectiv genug geſtimmt, wir ſehen uns
nach Thier- oder Menſchengruppen um, die uns den Stoff der Anſchauung
ſchon fertig entgegenbringen, ſo daß wir ihn nicht erſt durch erhöhtes
Thun des Gemüths gar kochen müſſen; ſie ſpielen uns etwas auf, ſie neh-
men uns das Geſchäft ab. Daher übernimmt eine andere Kunſtform, die
wir als ſubjectiv geſpanntere, über eine Kluft mit der Natur ſelbſtthätiger
hinüberwirkende kennen lernen werden, das landſchaftlich Schöne in die-
ſem Sinn als Stoff ihrer Nachbildung. Unſere Darſtellung in der Lehre
vom Naturſchönen hat die hier unterſchiedenen Seiten des Anſich und
Fürſich noch nicht getrennt, in der Kunſt fallen ſie auseinander. — Gibt
nun die Plaſtik keine Landſchaft, ſo gibt ſie ihrem Werke auch keinen
Hintergrund. Es bringt ſeinen Raum, Luft, Erde, Waſſer, Buſch und
Wald nicht mit, ſondern wird in den gegebenen Raum hineingeſtellt und
das Licht, das ſchon der zu Grund liegenden Anſchauungsweiſe nur als
Mittel für das taſtende Sehen diente, iſt auch für das Kunſtwerk nur
das aufzeigende Medium, das es ſich von außen geben läßt. Auch künſt-
liche Räume als Umgebung der Geſtalt kann die Sculptur nicht darſtellen;
denn obwohl ſie als ein theilweiſe Geſchloſſenes erſcheinen, geriethe
ſie doch auch hier in eine Folge der Entfernungen und Vertiefungen hin-
ein, die als ein Continuirliches ihren Bedingungen widerſpräche. Nicht
einmal den nächſten Boden gibt ſie mit; das Poſtament der Statue, wo-
von noch beſonders die Rede ſein wird, iſt keine eigentliche Nachahmung
deſſelben. Wie die Landſchaft, ſo wird der künſtliche Raum dem Bildwerke
von außen gegeben, und zwar vom Architekten. Dieß iſt nun zwar eine
Umgebung, die von der Kunſt geſchaffen iſt, aber von einer andern, ſo
daß ſie nicht als ein Theil deſſelben Kunſtwerks, des plaſtiſchen, gelten
kann. Doch findet eine Beziehung ſtatt, von der im Verlaufe noch be-
ſtimmter die Rede ſein muß, eine Beziehung ähnlich der des bewohnenden
Menſchen zu ſeiner Wohnung: da iſt nun eben das plaſtiſche Gebilde
jenes von der Baukunſt vermißte, erwartete Subject und es leuchtet nun
die beſondere Innigkeit in dem Verhältniß beider Künſte ein; dieſe ſchafft
einen Raum und hat keinen idealen Bewohner dazu, jene ſchafft den idea-
len Bewohner und hat keinen Raum für ihn; ſo greift jede genau in
die Lücke der andern.
[350]
Von dem Geſetze der Schwere in ihrem Materiale, deſſen ſtoffartiger Kern
mit der Form, welche ihm als geiſtiger Mantel übergeworfen iſt, doch unmit-
telbar in keiner Beziehung ſteht, iſt die Bildnerkunſt in der Weiſe abhängig,
daß in der Darſtellung des organiſch frei beherrſchten Schwerpuncts jene wirk-
2liche Schwere noch mittelbar mitwiegt. Dieſer Reſt von architektoniſch ſtructi-
ver Bedingtheit äußert ſich auch in einer, der Plaſtik noch anhängenden Spal-
tung zwiſchen Erfindung und Ausführung.
1. Der Nachklang der Architektur in der Plaſtik iſt noch weiter zu ver-
folgen; die Schwere des Materials muß zunächſt beſonders ins Auge ge-
faßt werden. In der Baukunſt iſt dieſe Eigenſchaft als ſolche weſentlich;
dieſe Kunſt iſt an ſich ein Kampf mit der Schwere, ſie ſoll innerhalb
ihrer ſelbſt überwunden werden (§. 557), d. h. man ſoll dem aus-
geführten Werke anſehen, daß das Material ſchwer iſt, die Schwere
aber ſtructiv benützt, durch gegenſeitige Spannung der Werkſtücke zu einer
ſowohl zweckmäßigen, als auch rhythmiſch ſchön wirkenden Dienſtleiſtung
ſo gezwungen wurde, daß ſie dem überliſtenden Zwang freiwillig zu fol-
gen ſcheint. Trotz dieſer Ueberliſtung, ja in ihr und durch ſie ſoll aber
die Schwere für das Auge und das in ihm enthaltene Wägen noch in
ganzer Kraft da ſein, darauf ruht ja eben der im engſten Sinn monu-
mentale Charakter dieſer Kunſt. Das Auge fühlt ſich von der bearbeite-
ten Oberfläche mitten in den Kern der Werkſtücke hinein und vergegen-
wärtigt der Phantaſie, wie ſie laſtend aufliegen und doch durch die
Kunſt ihrer Stellung ſchwungvoll zu ſteigen, zu ſchweben ſcheinen. In
der Bildnerkunſt verhält es ſich damit zunächſt völlig anders: es handelt
ſich nur von der Oberfläche, wie ſie die Bearbeitung darſtellt; was hinter
ihr im Innern ſich befindet, geht die äſthetiſche Wirkung gar nichts an.
Gerade an der Bildnerkunſt läßt ſich am beſten zeigen, was unter dem
„reinen Schein“, unter „der Ablöſung der auf der Oberfläche hervortre-
tenden Geſammtwirkung von den ſie bedingenden Theilen der innern Zu-
ſammenſetzung“ (§. 54) verſtanden wird, und von ihr iſt entnommen,
was dort aus Hogarth angeführt iſt: man müſſe das Kunſtwerk ſo be-
trachten, als ob „Alles, was inwendig iſt, ſo rein herausgenommen ſei,
daß nichts übrig bleibt, als eine dünne Schaale, die man ſich aus reinen
Linien gebildet vorſtellen muß und deren innere und äußere Fläche ganz
gleich iſt.“ Der Zuſatz hebt auch den Begriff einer dünnen Schaale
wieder auf; die Form in der Plaſtik iſt vielmehr eigentlich, im Verhältniß
zum Material, ein reines Nichts, eine Negation, eine Null, und gerade
dieß iſt ihre unendliche Poſition. Schon der naturſchöne Körper wird in
[351] der plaſtiſchen Betrachtung ſo aufgefaßt, daß es die reine Grenze des
Feſten iſt, um was es ſich handelt. Die im Innern des Körpers gäh-
renden, kreiſenden, webenden, bauenden Kräfte wirken ſo, daß die Glieder
und ihre Bedeckungen überall eben bis zu dieſen Puncten ſich ausdehnen
und hier aufhören, ſich nicht weiter in den Raum hinein erſtrecken; auf-
gefaßt werden gerade nur dieſe Puncte, Linien; das Körperliche, das ſie
ausfüllt, wird nur im nicht rein äſthetiſchen, ſondern pathologiſch gemiſch-
ten Eindruck als ſolches ſtoffartig mitgefühlt, der Künſtler, — man kann
nicht ſagen, er abſtrahire ſchlechtweg davon: er abſtrahirt nicht und ab-
ſtrahirt doch; das warme Leben iſt in der Oberfläche mitergriffen und zu-
gleich, als Empiriſches, vergeſſen; es wird in einem Taſten wahrgenom-
men, das nur im Auge iſt, es iſt kein Begehren da, wirklich zu taſten;
der Gliederbau wird durchgefühlt als ein feſter, ſolider und doch ſchwebt
„ſchlank und leicht, wie aus dem Nichts entſprungen“ vor dem entzückten
Blicke die reine Geſtalt. So in der Auffaſſung; entſchieden und voll-
endet wird dieſer, als eine Art von Aushöhlung zu bezeichnende Act in
der läuternden, das Ideal herſtellenden Phantaſie und im Kunſtwerk.
Es iſt auch hier noch ein Nicht-Abſtrahiren im Abſtrahiren; Marmor zeigt
die ſammtene Haut, die weichere Musculatur, Erz die härtere athletiſche
Bildung; es wirkt ſo die innere, körnig weichere oder ſprödere Textur des
Materials in der Oberfläche mit, aber doch nur als ein Anklang, ein
Hauch, der nimmermehr den Zuſchauer beſtimmt, ſich wirklich in den
Stoff des Materials hineinzuverſetzen. Es bleibt alſo bei dem „geiſtigen
Mantel“, der, dem Material übergeworfen, das einzig Beſtimmende im
äſthetiſchen Eindruck iſt; es wird am Stein ſo lang weggeſchlagen, bis
eben die Grenzen da ſind, welche die ſchönen Linien bilden; was zurück-
bleibt, geht die Schönheit nichts an; bei dem Erzguß iſt es zwar umge-
kehrt, die flüſſige Maſſe ergießt ſich in einen Model, aber das äſthetiſch
Beſtimmende iſt, daß ſie eben bis dahin und nicht weiter fließen kann und
was dieſſeits der Linie, wo das Erz nicht weiter kann, als nach
dem Guß verhärteter Metallſtoff bleibt, geht die künſtleriſche Wirkung
nichts an, außer ſofern ſeine Textur eine ſo oder ſo beſtimmte Art der
Oberfläche bedingt. Hat nun alſo der Bildhauer mit der Materialität
des Materials in dieſem Sinne nichts zu thun, ſo geht ihn auch die
Schwere des Materials nichts an und er iſt darin vom Baukünſtler durch
eine weite Kluft getrennt. So ſcheint es zunächſt; allein die Sache wen-
det ſich bei näherer Betrachtung anders. Jene reinen Linien ſind und
bleiben die Grenzen einer Geſtalt, welche — es iſt zuerſt vom nachgebil-
deten, lebenden, naturſchönen Körper die Rede — ſchwer iſt. Er ſoll zur
Darſtellung kommen als ein beweglicher oder bewegter, und zwar im
Sinne organiſch freier Bewegung. Dieſe verhält ſich zur Schwere ſo,
[352] daß ſie den Schwerpunct frei verändert, ſie hebt in der Bewegung ihre
Schwere zugleich auf, und bleibt ihr zugleich verfallen. Dieſes ſein Ver-
hältniß zur Schwere ſieht man dem Körper in den Linien ſeiner Formen
trotz der Abſtraction von den ſtoffartigen Bedingungen der Schwere weſent-
lich an. Faſſen wir nun wieder das plaſtiſche Kunſtwerk in’s Auge, ſo
hat es der Bildner zwar nicht mit der Schwere des Steins, Erzes als
ſolcher zu thun, aber er iſt davon abhängig; er muß zuſehen, daß ſein
Bildwerk nicht durch Uebergewicht falle, breche. Es ſoll ſicher in ſeinem
Schwerpuncte ruhen. Das geht zunächſt das Werk als Kunſtwerk, den
ſchön dargeſtellten Gegenſtand, nichts an; was dieſen betrifft, ſo ſehen wir
ja an ihm in der genannten Weiſe organiſch beherrſchte Schwere, welche
mit jener gemein wirklichen Schwere des Materials nichts zu ſchaffen hat.
Allein dieſe zwei zunächſt gegeneinander völlig gleichgültigen Schweren
werden nun doch in eine Beziehung zu einander treten; unvermeidlich
muß ſich eine Uebertragung der einen auf die andern einſtellen. Droht
der Marmor, das Erz zu fallen oder zu brechen, ſo haben wir den Ein-
druck, als ſei die dargeſtellte Geſtalt im Begriff, das Gleichgewicht zu
verlieren, zu fallen, einzuknicken; die Schwere, die ihr eigen iſt und die
ſie nur offenbart, indem ſie ſie frei beherrſcht, droht ſich dieſer Beherrſchung
zu entziehen und plump gegen die Geſtalt zu wirken. Gerade alſo wie
im lebendigen Leib Fleiſch und Blut, wie an der Oberfläche des Kunſt-
werks die Textur der Maſſe durchgefühlt wird, ſo in der Stellung des Gan-
zen die Schwere derſelben. Sie wiegt, vergeſſen und doch über ihre Ver-
geſſung hinüber wirkend, im Geſammteindruck mit. Es wird ſich zeigen,
welche wichtige Beſtimmung über das Weſen dieſer Kunſt und welches
Stylgeſetz daraus hervorgeht; hier leuchtet ein, daß auch in dieſem Punct
eine Reminiſcenz der Baukunſt, ein Architektur-artiges in der Bildnerkunſt
noch ſich geltend macht. Die Kunſt iſt nicht mehr wie dort auf die
Schwere als auf den ſpezifiſchen Mittelpunct ihres Weſens gerichtet, aber
ſie hat es mit ihr zu thun in dem Sinne, daß die nöthige Berückſichti-
gung der eigentlichen, rohen Schwere des Materials ihr umſchlägt in ein
äſthetiſches Geſetz der Behandlung des dargeſtellten Gegenſtandes, in wel-
cher man jene ſo mitfühlt, daß ſie ſich in die organiſch zu beherrſchende
Schwere des ſchönen Leibes auflöst.
2. An dieſer Stelle ſind die Verwandtſchaftslinien zwiſchen der Bau-
und Bildnerkunſt dahin zuſammenzufaſſen, daß in dieſer auch noch ein
Reſt jener Diremtion zwiſchen dem erfindenden Künſtler und dem ausfüh-
renden Techniker ſich erhält, welche dort in ihrer ganzen Beſtimmtheit ſich
geltend macht und ihren Grund in dem roheren Kampfe hat, welchen die
Schwere und Härte des Materials fordert; in der Plaſtik iſt etwas von
dieſem Kampfe noch übrig, was den Künſtler beſtimmt, von einem Theile
[353] der Ausführung ſeine Hand zurückzuziehen. Nur von einem Theile: er
leitet die Ausführung nicht blos, aber ſie hat eine rohere, eine handwerks-
mäßige Hälfte, das erſte Zuhauen des Steins aus dem Groben;
dieſen Theil überläßt der Künſtler dem bloßen Techniker, obwohl er ihn
ſelbſt gelernt haben, verſtehen muß. Dagegen macht ſich die concrete Ein-
heit der Idee und der Form, zu welcher ſich die Kunſt als Plaſtik erho-
ben hat, ſchon in dem völlig veränderten Umfang der Vorarbeit geltend:
der Künſtler entwirft nicht blos einen Riß, ſondern er führt ihn auch im
Modell aus; es fällt alſo auf die Seite der Erfindung ſelbſt eine, ob-
wohl nur vorläufige, Ausführung, und zwar deßwegen, weil es ſich in
dieſer Kunſt von einer durch und durch beſeelten Form handelt, welche
erfordert, daß ſie als Ganzes von der Künſtlernatur hergeſtellt werde,
deren erfindender Geiſt in den fühlenden Finger, unter der Ausführung
immer noch abwägend, ändernd, beſſernd in Einem ununterbrochenen Fluſſe
übergehen muß. Aber auch die Ausführung kann nicht als Ganzes dem
bloßen Techniker überlaſſen werden; wo das Feinere, der Sitz der Schön-
heit in der äußerſten Linie, der Hauch des Lebens, der Beſeelung beginnt,
hat der Künſtler ſelbſt die Hand anzulegen. Wenn alſo in der Baukunſt
zwei Momente, Erfindung und Ausführung, nur durch das Band der
Leitung der letztern von Seiten des Künſtlers verbunden, einander gegen-
übertreten, ſind es hier drei Momente: das erſte die Erfindung ſammt
der vorläufigen Ausführung, das dritte der ächt künſtleriſche Theil der
Ausführung, beide Momente Sache des Künſtlers, das zweite der grö-
bere anfängliche Theil der Ausführung, geleitet vom Künſtler und vorge-
nommen nach dem Muſter ſeines Modells mit Hülfe des dem architekto-
niſchen Meſſen noch ſehr verwandten Mittels des Punctirens. Alſo hier
zwei Extreme, worin der Künſtler thätig iſt, und dieſe nehmen das Mo-
ment der bloß äußeren Technik, inniger am Bande der Kunſt gehalten, in
die Mitte. Bei dem Guſſe verändert ſich die Sache einigermaßen: der
Künſtler muß das Modell ſorgfältiger ausführen, weil er es an den Gie-
ßer abgibt, der es nicht, wie dort der Steinmetz, nur theilweiſe, ſondern
ſo vollſtändig ausführt, daß dem Künſtler nur wenig am Einzelnen zu
thun übrig bleibt. Das dritte Moment iſt daher unbedeutender, das erſte
umfaßt eine ausführlichere Thätigkeit des Künſtlers, das zweite dagegen
iſt weniger handwerksmäßig, denn der den Guß zurichtende und leitende
Techniker muß, wo nicht der erfindende Künſtler ſelbſt, doch ungleich mehr
Künſtler ſein, als der aus dem Groben arbeitende Gehülfe des Bildhauers.
Dagegen zerfällt die Thätigkeit auf dieſer Seite noch einmal in zwei Sei-
ten: der Gießer-Meiſter iſt mehr nur leitend und braucht ſelbſt wieder
bloße Techniker zu Gehülfen.
[354]
Die Darſtellung im feſten, dichten Materiale bringt den Vortheil mit ſich,
daß das Kunſtwerk, auch darin dem Bauwerk ähnlich, außer der Hauptſeite
noch verſchiedene Seiten dem umwandelnden Zuſchauer darbietet und ſo eine
Vielheit von Kunſtwerken in ſich ſchließt; aber ſie gebietet auch Sparſamkeit in
der Anzahl der zu einem Ganzen verbundenen Geſtalten, weil dieſelben ein-
ander decken.
Um Alles zuſammenzuſtellen, worauf zunächſt die allgemeine We-
ſensbeſtimmung der Bildnerkunſt zu begründen iſt, muß die Natur der
feſten Form als dichte und hiemit die Verwandtſchaft mit der Architektur noch
von einer neuen Seite aufgefaßt werden. Das Feſte, Dichte im Raum
ſtellt ſich als ein undurchſichtig Vielſeitiges dar. Auch darin gleicht das
Bildwerk dem Bauwerk. Im Producte der Kunſt wird aber immer eine
Seite die herrſchende ſein: es iſt im Bauwerke die Façade, im Bildwerke
der Sehpunct, auf den es berechnet iſt. Umwandelt man aber dieſes, wie
ein Bauwerk, ſo zeigt es einen noch ungleich mannigfaltigeren Reichthum
verſchiedener Seiten, als jenes, weil die concrete organiſche Geſtalt bei
jedem Stücke weſentlich anders und in neuer Weiſe bedeutend erſcheint.
Verſchiedene Zweige und Aufſtellungsarten bringen freilich Beſchränkungen
mit ſich, wir haben aber hier vorerſt das Weſentliche aufzufaſſen. Das
plaſtiſche Werk wird ſo zum Inbegriff einer Vielheit von Kunſtwerken, aber
dafür hat es ein großes Opfer zu bringen: jeder Theil, der für den Zu-
ſchauer hinter einen andern Theil zu ſtehen kommt, wird von dieſem ge-
deckt; dieß iſt nicht ganz zu vermeiden, die Plaſtik braucht es nicht ein-
mal ganz vermeiden zu wollen, aber der Spielraum des Zuläſſigen iſt
eng und ſeine Enge fordert natürlich ſparſame Gruppirung. Wir ſtellen
hier dieſes Geſetz erſt einfach auf, alles Weitere bleibt den Stellen vor-
behalten, wo wir die tieferen Ergebniſſe ziehen und wo dieſe ſpezieller zu
erörtern ſind.
Das innerſte Weſen der Bildnerkunſt beſtimmt ſich gemäß dieſen Grund-
zügen, zuerſt von der Seite des Künſtlers betrachtet, dahin: in die bildende
Phantaſie iſt nun eine ſubjective Erwärmung durch die empfindende
eingetreten, aber der Strom der Empfindung hält ſich beruhigt an das Feſte der
Geſtalt und im Kunſtwerke ſchlägt er ſich in der klaren, kalten, gemeſſenen,
gegenſtändlichen Ruhe der im harten Material nachgebildeten Form nieder,
durch welche ſich die Geſtalt, von allen Beziehungen zu Umgebendem getrennt,
[355] ſcharf und ſtreng in ſich abſchließt: ein reines Gleichgewicht des Sub-
jectiven und Objectiven, eine reine Mitte zwiſchen der im
ſtrengſten Sinn bildenden und empfindenden Phantaſie.
Wir werden, dieß iſt hier vorauszuſchicken, als dritte und letzte in
der Gruppe der bildenden Künſte eine Kunſt finden, in welcher die bil-
dende Phantaſie eben auf dem Puncte ſteht, ſich in die empfindende auf-
zulöſen. Die Bildnerkunſt ſteht genau in der Mitte zwiſchen dieſer und
der Baukunſt. Es iſt nämlich als ein tieferes, innigeres Einſtrömen der
Empfindung zu begreifen, wenn nun der gefühlte Hauch und Duft des
Seelenlebens in ſeinem Körper als Gegenſtand der Kunſt ergriffen und
der ſtarre Stein zum idealen Abbilde dieſes ſchwungvoll belebten Ganzen
beſeelt, verklärt, durchwärmt wird. Man kann dieß auch, wie es zu
§. 539 mit der nöthigen Verwahrung geſchehen iſt, als ein erſtes Auf-
tauchen der maleriſchen Phantaſie in der bildenden beſtimmen; das pla-
ſtiſche Sehen iſt ein Sehen ſeelenvoller Geſtalt, bewegtes, fühlen-
des Sehen, wie ſolches in der Malerei von jener Feſſlung der bildenden
Kunſt bereits zu einem ſchwebenden Scheine ſich zu befreien beginnt; aber als
taſtendes hält es ſich noch feſt in der räumlichen Feſſlung. Dieſe empfindungs-
reiche Erwärmung iſt zugleich weſentlich Eintreten des ſubjectiven Mo-
ments (vrgl. zu §. 538); das ſubjective Leben wird Stoff und in er-
höhter, im dargeſtellten Stoff ſich ſelbſt empfindender Weiſe Organ der
Darſtellung; verſchwunden iſt die geometriſche Kälte und Nüchternheit des
Zweckmäßigen im Architekten und der fühlende Nerv umſpannt den von
Leben und Seele durchzitterten Gliederbau. Aber mitten im Fluſſe kühlt
ſich der glühende Strom der Empfindung ab und legt ſich beruhigt um
die Bildungen dieſes Baues, in welchen ſeine innere Seele feſt und greif-
lich ſich niederſchlägt; dann, wenn der Künſtler zum Schaffen übergeht, kry-
ſtalliſirt ſich der warme Fluß vollends im feſten, harten Gebilde, das er
dauernd, unbewegt hinſtellt; jene Kugel, mit deren Flug wir (Anm. zu
§. 550) den Uebergang des Ideals aus der Seele des Künſtlers in die
des Zuſchauers verglichen haben, ſchlägt in der Mitte des Laufs nicht
nur auf, ſondern bleibt ſcheinbar ruhig liegen, bis ſie bei der erſten Be-
rührung (vom Blicke des Zuſchauers) ihre nur verborgene Schwungkraft
wieder geltend macht und aufſpringt. Dieß Erkalten, dieß Stehenbleiben
iſt Verfeſtigung im Objectiven, ſtreng objective Beſtimmtheit. Im Bild-
ner iſt Wärme und nüchterne, meſſende Kälte, gewichtige Ruhe zu glei-
chen Theilen gemiſcht, daher auch der ſcheinbare Widerſpruch der Erfah-
rung, daß in der neueren Zeit der ſtrenge und ernſte Skandinavier, der
nüchterne Norddeutſche in einer Kunſt ſich vorzüglich hervorthut, worin im
Alterthum der jugendlich friſche und affectvolle Grieche der Meiſter war
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 24
[356]und deren Werk das Weib lebhafter zu fühlen pflegt, als das des Malers.
Der Eindruck dieſes Werks entſpricht denn genau jenem Gleichgewicht
von Wärme und Kälte, Bewegung und Ruhe im Künſtler. Es ſtellt ein
von innen heraus bewegtes ſubjectives Leben dar, aber dieſem Leben
ſind in dem Momente, wo es aus ſich herausgehen, in Anderes übergehen
wollte, die Fäden, die lebenswarmen Beziehungen, welche die wirklich
lebendige Geſtalt mit der umgebenden und zuſchauenden Welt verbinden,
durch eine plötzliche Verſteinerung durchſchnitten, es iſt plötzlich einſam
geworden und genöthigt, für ſich ein Ganzes zu ſein; es ruht nun einfach
in ſich, iſt in eine Thatſache verwandelt, die, fertig und vollendet, nach
keinem Freund und Feind fragt, die man nehmen muß, wie ſie iſt, kein
Werden mehr, ſondern ein Gewordenes, ein Sein. Dieß iſt die Ruhe
und Abgeſchloſſenheit der Statue in ſich. Bewegtheit des dargeſtellten
Moments und ſichtbare Beſtimmung, die Phantaſie des Zuſchauers in
lebhafte Thätigkeit zu ſetzen, iſt damit vollkommen vereinbar, und die
geiſtvolle Beweisführung A. Feuerbachs (D. vatic. Apollo) für die
Bewegtheit und den lebendig ergreifenden Eindruck als das Hauptziel,
worauf der antike Bildhauer arbeitete, hebt, wie wir ſehen werden, jene
Merkmale nicht auf. Suchen darf allerdings das Werk den Zuſchauer
nicht, kein Kunſtwerk ſoll es, das Werk dieſer Kunſt am wenigſten; es
will geſucht ſein ohne daß es ſelbſt ſucht, es trennt ſich bei dem erſten
Anblick durch eine feſte Scheidewand von ihm, es ſagt: was geht es mich
an, wenn du mich liebſt, aber es weiß doch, daß es geliebt werden muß.
Die Liebe iſt eine ernſte, die Statue will wie eine charaktervolle und
tiefe weibliche Natur erſt verſtanden ſein, ehe ſie geliebt wird; verſtehen
muß man, was Gliederverhältniß, Rhythmus der Bildung und Bewegung,
gewichtiger, durch ſeinen Leib ergoſſener Ausdruck iſt, ehe die warme
Empfindung, die Kunſtfreude ſich einſtellt. Feuerbach ſagt (a. a. O.
S. 9): „das plaſtiſche Kunſtwerk iſt weniger Seele, als Geſtalt; es
will mehr begriffen und verſtanden, als genoſſen, mehr beſchaut, als
empfunden werden“; richtiger glauben wir beides in dieſem Verhältniß
der Aufeinanderfolge aufzufaſſen, die dann, da der Genuß immer auf
das ſtrenge Verſtändniß gegründet bleibt, in ein Gleichgewicht beider Mo-
mente ſich aufhebt. So ſehen wir denn im ſubjectiven Eindruck wie im
Werke ſelbſt und im Künſtler das Subjective in das Objective verſenkt
und beide zu gleichen Theilen gemiſcht, und wir haben hiemit die reine
Mitte des Subjectiven und Objectiven in dieſer mittleren Kunſt unter
den bildenden Künſten. Hegel (Aeſth. II, S. 359) bezieht dieſe Beſtim-
mung unmittelbar auf das Subſtantielle des Geiſtes, wie ihn die Bild-
nerkunſt zur Darſtellung bringt; wir faſſen die Sache noch nicht in dieſer
näheren pſychologiſchen Beſtimmtheit, ſondern begründen dieſe Sätze nur
[357] erſt ganz allgemein auf die Darſtellungsweiſe, wie ſie mit dem Material
gegeben iſt, um dieſelben erſt weiterhin in die Tiefe ihrer Bedeutung zu
verfolgen.
Aus der Feſtigkeit, der Härte und der durch ſie bedingten Schärfe der
Umriſſe, der Farbloſigkeit und Abweſenheit weiterer Umgebung, der Gemeſſen-
heit, der Unbewegtheit, der nothwendigen Sparſamkeit in der Zahl der in
einer Darſtellung zu verbindenden Geſtalten, wodurch dieſe Kunſt zu der Auf-
ſtellung blos Einer Figur als einer ihr beſonders entſprechenden Aufgabe hin-
gedrängt wird, ergibt ſich, daß die Bildnerkunſt ſehr beſchränkte Mittel hat,
Häßliches aufzunehmen und in Furchtbares oder Komiſches aufzulöſen,
daß vielmehr für ſie das Geſetz der directen Idealiſirung entſteht,
wonach die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß.
Es fällt bei keiner Kunſt ſo ſehr in die Augen, als bei der Plaſtik,
wie jede Beſchränkung, welche durch die Darſtellungsbedingungen gegeben
iſt, in eine poſitive Quelle äſthetiſcher Vortheile umſchlägt, richtiger: wie
jede Beſchränkung nur die andere Seite einer urſprünglich ſo gewollten
beſtimmten Art von Schönheit iſt. „Eng zieht ſich die Grenze der Sculptur,
aber die Schranke führt ſie nach oben“ (Tölken Ueber d. Basrelief S.
156). So folgern wir hier ein großes poſitives Grundgeſetz zunächſt
negativ aus den bisher aufgeführten Grenzen unſerer Kunſt. Das Häßliche
iſt äſthetiſch gültig, ſofern es ſich in ein Furchtbares oder in ein Komiſches
auflöst (vergl. §. 98. 100. 106. 108. 113, beſonders aber 148 ff.). Es
erhellt nun, wie beſchränkt die Mittel der Bildnerkunſt ſind, Häßliches in
dieſer Weiſe aufzulöſen, wie beſchränkt ſie alſo in der Aufnahme des
Häßlichen überhaupt iſt. Die Abweichung von der reinen Linie edler
organiſcher Form, ſei ſie nun ein urſprünglicher Fehler, Abſonderlichkeit,
grellere Eigenheit angeborner Körperbildung, oder Folge früherer Leiden,
oder unmittelbare Wirkung innerer oder äußerer heftiger Bewegung,
oder Ausdruck einer zur andern Natur gewordenen Charakter-Verdrehung,
muß, in dem harten Materiale verfeſtet, zur unerträglichen Härte werden;
ſo manche vermittelnde, mildernde kleine Zwiſchenform fällt in der Be-
handlung weg, weil ſie der Beſtimmtheit und Mächtigkeit des wuchtig
feſten Materials widerſpricht; die Umriſſe ſchneiden ſich ſcharf vom jewei-
ligen Hintergrund ab, ſie ſind durch keine vom Künſtler mitgegebene
atmoſphäriſche Einhüllung und Local-Umfaſſung gelockert. Dieß hat
weſentlich ſeinen Grund im Mangel der Farbe; die Farbe löst aber
Mißklänge der Linie nicht nur überhaupt, ſondern ſpeziell auch dadurch
24*
[358]auf, daß ſie das Auge auf die geiſtigen Tiefen des Ausdrucks hinlenkt;
die letztere Form der Auflöſung nimmt den Umweg durch das Furchtbare,
auch nur im weiteren Sinn Erhabene, oder das Komiſche, und dieſes
weite Gebiet der äſthetiſchen Verſöhnung mit dem Häßlichen iſt denn der
Bildnerkunſt ebenfalls verſchloſſen. Poſitiv verlangt die Baukunſt-artige
Grundlage feſter Maaße ebenfalls eine ſtrenge Grenzlinie in der Ab-
weichung vom rein allgemeinen Typus regelmäßig ſchön entwickelter Men-
ſchengeſtalt. Die Unbewegtheit iſt zwar eine Feſſlung bewegter Geſtalt,
aber es gibt eine Heftigkeit der Bewegung, welche häßlich iſt, und durch
Feſſlung im feſten Material iſt ja eben eine Reihe weiterer Bewegungs-
Momente, wodurch die häßliche ſich ſucceſſiv auflöſen würde, ausgeſchloſ-
ſen. Wo viele Figuren in eine Handlung vereinigt ſind, geht das Auge
von der unſchöneren, ſelbſt häßlichen weiter zu andern und findet Erſatz;
vereinigt ſich dieß mit der Farbe, ſo fällt das Gewicht auf den Ausdruck
der Handlung und die Geſtalten können, obwohl mehr bedeutend, als im
Einzelnen ſchön, doch zu einem ſchönen Ganzen zuſammenwirken. Die
Bildnerkunſt iſt aber, wie wir geſehen haben, auf Sparſamkeit in der
Zahl der in einem Werke verbundenen Figuren angewieſen und gerade an
dieſer Stelle iſt eine natürliche Folge dieſes Geſetzes noch zu ziehen:
das gegenſeitige ſich Decken der Theile fällt beinahe völlig weg bei Einer
Figur; dieß iſt zunächſt ein äußerer Grund, warum die Aufſtellung nur
Einer Geſtalt, die Statue, der Bildnerkunſt ganz beſonders zuſagend ſein
muß. Erſt hier heben wir dieß Ergebniß aus §. 601 hervor, weil es
zuſammentretend mit den übrigen jetzt gezogenen Folgerungen und zu-
gleich mit ihnen von dem blos äußerlich motivirten Ausgangspuncte zu
einer tieferen, poſitiven, in das innerſte Weſen unſerer Kunſt eindringen-
den Beſtimmung hinführt. Es folgt nämlich aus ſämmtlichen nun ent-
wickelten Bedingungen, daß bei ſo beſchränkten Mitteln der Fortleitung
des Auges von einer Geſtalt zur andern, bei dem Mangel jedes Fort-
gangs von der Form zu einem über ſie hinausliegenden, durch die Farbe zu
gebenden Ausdruck, von der dargeſtellten Bewegung zu weiteren die
einzelne Geſtalt ſchön ſein muß: das Auge muß die Schönheit
jetzt, hier, auf dieſem Puncte finden. Sind auch mehrere Geſtalten
in einem Werke vereinigt, was ja durch jenes Geſetz der Sparſamkeit
nicht ausgeſchloſſen iſt, ſo wird doch keine derſelben einem aus einer ſol-
chen Summe von Urſachen fließenden oberſten Gebote ſich entziehen dürfen.
Das Häßliche, ſoweit es in engen Grenzen zuläſſig iſt, wird in einem
gewiſſen Sinne ſelbſt ſchön ſein müſſen: ſelbſt, d. h. auch ohne
Auflöſung in ein geiſtig Bedeutungsvolles, Furchtbares oder Komiſches
geiſtig verwickelter Art. Auch dieſer Punct wird ſich übrigens im Folgen-
den durch weitere Momente näher beſtimmen und begründen. Es tritt
[359] nun aber mit dieſem Geſetze, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß,
ein Styl-Prinzip auf, deſſen Kampf mit einem entgegengeſetzten uns von
hier an durch alle Kunſt und als innerſte Seele der Bewegung durch die
Geſchichte der Künſte begleiten wird: das Prinzip der directen
Idealiſirung. Was es bedeutet, iſt zunächſt im Bisherigen einfach
ausgeſprochen: das Kunſtwerk gibt dem Auge oder Sinn überhaupt nicht
auf, von Solchem, was unmittelbar nicht ſchön oder häßlich iſt, fortzugehen
zu einem Weiteren und ſchließlich zu einer Geſammtwirkung, worin es
ſich zur Schönheit aufhebt; es iſt alſo der Prozeß der Anſchauung nach
dieſer Seite nicht ein vermittelter, ſondern ein einfacher. Das
Schöne überhaupt iſt weſentlich die den trübenden Zufall ausſcheidende
Zuſammenziehung des unendlichen Fluſſes der Dinge auf Einen Punct:
das Reine und Vollkommene ſoll nicht durch Wechſelergänzung der Er-
ſcheinungen im Fortgange ſich ergeben, ſondern in dieſer Erſcheinung,
nicht anderswo und ein andermal, ſondern hier gegeben ſein (vergl. §.
52. 53). Dadurch iſt an ſich nicht ausgeſchloſſen, daß ein Kunſtwerk
innerhalb ſeiner jenen Fortgang dem Schauenden zumuthe, wenn es
nur als ganzes Einzelnes ſchön iſt; aber in der Bildnerkunſt iſt dieß
in engere Grenzen eingeſchränkt, hier gilt jene Grundbeſtimmung des
Schönen nicht nur vom einzelnen Kunſtwerk als einem Ganzen, ſondern
auch vom einzelnen Ganzen, das nur ein Theil des größeren Ganzen,
nämlich des einzelnen Kunſtwerks iſt. „Die Plaſtik iſt genöthigt, die
Schönheit des Weltalls faſt auf Einem Puncte zu zeigen“ (Schelling
Ueber d. Verh. d. bild. Künſte zu d. Natur). Schlechtweg allerdings
kann das dieſem Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von
der Plaſtik nicht ausgeſchloſſen ſein, ſonſt hätte ſie keine Bewegung und
Geſchichte. Die Unterſuchung dieſes wichtigen Punctes iſt unſerer weitern
Entwicklung vorbehalten.
Das Weſen der Bildnerkunſt als reine Einheit des Subjectiven und
Objectiven enthält aber auch die qualitative Grundbeſtimmung für die beſon-
dere Weiſe, in welcher auf dem plaſtiſchen Standpuncte das Schöne aufgefaßt
und dargeſtellt wird: die ſchöne Geſtalt erſcheint als der Bau der Seele, als
ein Gewächſe, das die bewohnende Seele getrieben, die Seele als unmittel-
bar Eines mit dieſem ihrem Glieder-Bau und Wuchs; ſie iſt einfach die
Idealität ihres Leibs, wie dieſer ihre Realität. Schan hieraus ergibt ſich,
daß die Bildnerkunſt eine Darſtellung vollkommener Naturen iſt.
Wir wiſſen jetzt, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, jede Kunſt
hat aber ihre qualitativ eigene Auffaſſung und Darſtellung des Schönen und
[360] welcher Art dieſelbe in der Plaſtik ſei, ergibt ſich, wenn wir den Begriff des
reinen Gleichgewichts des Subjectiven und Objectiven heraufnehmen und in
ſeine beſtimmte, beſondere Wirkung verfolgen, wie dieß in der Allgemeinheit,
in der ſich §. 602 hielt, noch nicht geſchehen iſt. Verſenkt ſich nun in
dieſer Kunſt das Subjective ganz in das Objective, ſo daß es nichts zu-
rückbehält, ſondern eben in dieſem ganz gegenwärtig iſt, ſo heißt dieß in
der nun eintretenden beſtimmten Anwendung: Leib und Seele fallen bruch-
los in Eines zuſammen, „ſind wie mit Einem Hauche geſchaffen; die
Kraft, wodurch ein Weſen nach außen beſteht, iſt mit der, wodurch es
nach innen wirkt und als Seele lebt, vollkommen gleich abgewogen“
(Schelling a. a. O.). Die Bildnerkunſt ſtellt den wahren philoſophiſchen
Begriff des Verhältniſſes zwiſchen Seele und Leib in ſeiner erſten ein-
fachen Grundbeſtimmung verwirklicht dar, wonach die Seele ſchlechthin
die Idealität des Leibs, dieſer die Realität der Seele iſt. Dieſer Begriff
vertieft ſich in weiterer Entwicklung: die Seele, zum ſelbſtbewußten Geiſt
und Willen erſchloſſen und geſammelt, hebt ſich unendlich über ihre end-
liche Erſcheinung; aber in dem ſo zur Reife gediehenen Begriffe darf die
Grundbeſtimmung der Einheit nicht verloren gehen, ſondern muß feſtge-
gehalten werden, daß die endliche Erſcheinung ſchlechthin untrennbares
Gefäß auch des unendlich über ſie gehobenen Geiſtes bleibt, daß ſie den
obwohl unendlich über ſie hinausgewachſenen Inhalt doch als den ihrigen
auch adäquat an ſich darſtellen muß. Es wird eine Kunſt auftreten,
welche dieſen Bruch und ſeine Verſöhnung in ihr Bereich zieht; die
Bildnerkunſt aber liegt hinter dieſer Spaltung auf dem Boden des ein-
fachen Begriffs. Nicht als ob ſie nur Kinderſeelen darſtellte: Geiſt,
Charakter, das Ethiſche überhaupt kann ihr ja, wie wir dieß in anderem
Zuſammenhang ſchon zu §. 598 berührt haben, nicht fehlen, ſonſt wäre
ſie nicht Kunſt, ja wir werden mit Nächſtem ſehen, wie gerade dieſer Gehalt
recht ihr eigen iſt; es muß vielmehr Charakter-Gehalt und Alles, was
gut und würdig und groß iſt, darſtellbar ſein ſchon auf dem Boden des
einfachen Verhältniſſes; welche Bildungsform des pſychiſchen Lebens dieß
vorausſetzt, wird im folgenden §. ausdrücklich zur Sprache kommen, hier
halten wir zunächſt einfach den Grundbegriff der Einheit von Seele und
Leib feſt und bleiben daher bei dem ſchlichten Ausdruck „Seele“ für das geiſtige
Prinzip. Nicht umſonſt haben wir für deſſen leibliche Erſcheinung das
Wort „Bau“ gewählt; er bezeichnet das Architekturartige in der Bild-
nerkunſt, wie es nun tiefere Bedeutung gewinnt: die Seele erſcheint in
ihrem Leib als ein Bauendes; mit demſelben innern Weben, worin ſie
ihre geiſtigen Kräfte entwickelt, baut ſie in Einem Schlage auch ihre
Glieder; ihr Leib wächst mit ihr, es iſt Ein ungetrennt Gewordenes,
Gewachſenes; dieß iſt der tiefe, feine Sinn des Ausdrucks: Gewächſe,
[361] den Winkelmann ſo ſehr liebt. Es iſt ein Entwirken von innen heraus:
„hier lag das Kind, mit warmem Leben den zarten Buſen angefüllt, und
hier mit heilig reinem Weben entwirkte ſich das Götterbild.“ Hier gibt
es keine Anmuth ohne die Wellenline ſchwungvoller Formen, keine Würde
mit flacher Bruſt und ſchlechten Schenkeln, keinen ſtarken Willen mit
dürftigen Muskeln und wenn die Gymnaſtik vollendet, was die bauende
Seele gewoben, ſo iſt ſie als Sitte der Ausfluß eben dieſer urſprüng-
lich naturvollen, ſo gleichmäßig nach innen und außen bauenden Seele.
In dieſem Verhältniſſe reinen Entſprechens muß der Leib ein rein tüch-
tiger, ein mangelloſes Organ für alle Zwecke, Bewegungen und Regungen
der Seele, die Seele eine durchaus geſunde ſein; Beides fordert einan-
der. Damit iſt die Schlußbeſtimmung des §. gegeben. „Die Plaſtik
kann ihren wahren Gipfel nur in ſolchen Naturen erreichen, deren Be-
griff es mit ſich bringt, Alles, was ſie in der Idee oder der Seele nach
ſind, jederzeit auch in der Wirklichkeit zu ſein“ (Schelling a. a. O.).
Das Seelenleben, wie es der Begriff der Vollkommenheit in dieſem Zuſam-1.
menhang vorausſetzt, iſt weſentlich das naive, das ſich aus ſeinem Sinnen-
leben nicht in die Tiefen der Innerlichkeit zurückzieht. Dieſe
Naturform des Geiſtes ſchließt aber Fülle des ethiſchen Gehaltes ſo wenig
aus, daß vielmehr jetzt alle techniſchen Grenzen der Bildnerkunſt als poſitive
Kräfte erſcheinen, in denen ebenſoviele Tugenden des Charakters ſich ausprä-
gen. Die ſolide Feſtigkeit, Schwere, Gemeſſenheit, farbloſe Formbeſtimmtheit,
Unbewegtheit wird nun zunächſt zum Ausdruck der Gediegenheit, Gewichtig-
keit eines Charakters, der im Allgemeinen des ſittlichen Lebens, weil er es
als ſein eigenes in ſich trägt, als im Schwerpuncte ſeiner ſubſtantiellen Selbſtändig-
keit ruht und daher der Verewigung durch eine Kunſt werth iſt, die mit der
Architektur den Grundzug des Monumentalen gemein hat. Aus allen2.
dieſen Beſtimmungen (§. 602—605) ergibt ſich nun, daß in dieſer Kunſt der
Standpunct des einfach Schönen der herrſchende iſt, von welchem aus auch
das Erhabene und Komiſche, wiefern es zuläſſig iſt, behandelt wird.
1. Wir haben die unmittelbare Einheit der Seele und des Leibs als
äſthetiſches Prinzip der Plaſtik erkannt. Innerhalb dieſer Einheit haben
wir nun das Seelenleben von ſeiner leiblichen Erſcheinung wieder zu
unterſcheiden und den Begriff der Vollkommenheit in dieſer näheren An-
wendung auf die eine der zwei ungetrennten Seiten zu beleuchten. Die
Vollkommenheit der plaſtiſchen Natur iſt die der ungebrochenen Einfalt
des Seelenlebens: dieß iſt der pſychiſche Grundzug der Bildnerkunſt. Die
[362] Seele ſelbſt in ihrem innerlichen Leben hat ihre Sinnlichkeit, die der
Reflex des leiblichen Lebens, das nach innen geſchlagene leibliche Leben
iſt, und ſie kann ſich dieſer innern Sinnlichkeit mit ausdrücklichem Bewußt-
ſein entgegenſtellen oder in Harmonie mit ihr bleiben. Nun haben wir als
Grundbeſtimmung aufgeſtellt, daß die Seele bruchlos in ihrem Leibe erſcheine;
ſoll ſie dieß können, ſo darf ſie natürlich den Bruch auch nicht in ihrem
Innern tragen, muß alſo als Seele ſelbſt, auch als zum Geiſt entwickelte
Seele ganz Natur ſein. Hegel hat dieſes pſychiſche Geſetz der Plaſtik
in verſchiedenen treffenden Wendungen ausgeſprochen: „die geiſtige In-
dividualität, aber als leibliche unerinnerte Gegenwart (Aeſt. II, 234),
— noch kein Zurückgehen des Geiſtes in ſeine innerliche Subjectivität
als ſolche (353), — die zwar beſtimmte, aber noch nicht zur Innigkeit des
ſubjectiven Gemüths vertiefte geiſtige Individualität (358. 359), der
Geiſt, der in ſeine äußerliche Form zwar ergoſſen iſt, ohne jedoch aus die-
ſem Außereinander in ſeiner Zurücknahme in ſich als Inneres zur Er-
ſcheinung zu kommen“ (359), u. and. ähnl. Es iſt alſo weſentlich eine
Perſönlichkeit gefordert, die im Elemente der Naivetät webt und lebt;
aber ſchon zu §. 604 mußten wir vorbeugen, daß dieſe innere Naturbe-
ſtimmtheit der Seele nicht zu enge verſtanden werde. Innerhalb derſel-
ben muß eine Scheidung eintreten, ohne die urſprüngliche Einheit zu ſpren-
gen. Ein Gebiet harmlos heiterer Naturen iſt dadurch allerdings für
die Bildnerkunſt in beſonderer Weite des Umfangs ausgeſteckt, aber ſie
kann nicht darauf beſchränkt ſein; vielmehr muß gerade der Geiſt ihrer
geſammten techniſchen Bedingungen ſie auffordern, ein höheres Gebiet, das
Gebiet des Charakters, in Beſitz zu nehmen, aber des Charakters, der
immer noch im Elemente jener ſchönen Unmittelbarkeit verbleibt; es that-
ſächlich hinzuſtellen, daß es auch eine Naivetät der Größe, eine Bildung,
die Natur bleibt, einen Kampf gegen die Natur gibt, der ſich zum Ganzen
der Natur affirmativ verhält. Was unter dem Geiſte der geſammten
techniſchen Bedingungen zu verſtehen ſei, ſagt der §., indem er ausſpricht,
daß alle früher aufgeführten Beſchränkungen, wie ſie im materiellen Dar-
ſtellungsmittel begründet ſind, nun zu dieſer beſtimmtern innern Be-
deutung umſchlagen. Es iſt ein Geiſt in ihnen, der Ausdruck eines
Vollgewichts, der ſich zu ungleich Höherem verwenden laſſen, die Er-
greifung eines ungleich gewaltigeren Stoffs aufdrängen muß, als jene harm-
los ſchönen Naturen. Sagt uns die ſatte Gediegenheit, welche der Grund-
zug der Wirkung der plaſtiſchen Mittel iſt, daß hier das Bild eines
Menſchen aus Einem Guſſe vor uns ſtehe, ſo muß dieſer „Eine Guß“
nun großartigere Anwendung gewinnen. Die Sprache ſelbſt zeigt uns
den Weg, indem ſie, einer in der Natur phyſiognomiſch und mimiſch wohl-
begründeten Symbolik folgend, dieſelben Beziehungen gebraucht für Sinn-
[363] liches und Geiſtiges. Das derb Feſte der Form wird denn jetzt zum
Ausdruck der Charakterfeſtigkeit, der ſittlichen Gediegenheit, das Gemeſſene
zum Geſtrengen der Würde, das Schwere zur innern Gewichtigkeit, die
Schärfe der farbloſen Form zu der männlichen Beſtimmtheit, die nicht
ins Unbeſtimmte zerfährt, ſich verflüchtigt, das unbewegt Bewegte zur
ehrfurchtgebietenden Selbſtbeherrſchung; die Schwere aber iſt es nament-
lich, die wir noch genauer ins Auge faſſen müſſen. Wir haben in §. 600
geſehen, wie ſie, zunächſt dem Materiale angehörig, unwillkürlich auf
die dargeſtellte Geſtalt ſo übertragen wird, daß dieſe als ihres phyſiſchen
Schwerpuncts vollkommen mächtig erſcheinen muß; ſie wird nun unwill-
kürlich noch tiefer hineingetragen und bedeutet das ſichere, nimmer wan-
kende Ruhen im ſittlichen Centrum des Lebens. Jetzt vereinigt die Bild-
nerkunſt zwei Einheiten, während ſie vorher nur Eine Einheit, die des
Seelen- und Sinnenlebens, darſtellte; die zweite Einheit iſt die der Ein-
zelperſon mit der Geſammtperſon, mit dem ſittlich Allgemeinen, dem
Guten. Dieſe zweite Einheit muß aber auch eine naive ſein, denn ſie
erhält ihre Bedeutung durch die erſte. Wo aller Geiſt Naturbeſtimmtheit
hat, ſich affirmativ zu ſeiner Sinnlichkeit verhält, muß auch das Ethiſche
den Charakter der völligen Flüſſigkeit, Oeffnung für das umgebende Men-
ſchenleben, der Gemeinſamkeit tragen. Es handelt ſich alſo von einer
Welt, worin das Gute ſelbſt ſich nicht vereinzelt, wo die Subjectivität nicht
jene Ausbildung gewonnen hat, daß ſie mit dem zugeſpitzten Bewußtſein
des Fürſichſeins dem Leben der Geſellſchaft und des Staates, in welchem
alles Gute durch Vereinigung der Kräfte ſich erwirkt, zunächſt iſolirt ge-
genüberſteht und nur nach ſchwerem Kampf dieſe Iſolirung opfert, dem
Allgemeinen als reines Organ ſich hergibt, aber auch in dieſer Verſöh-
nung noch das unterſcheidende Bewußtſein des nun in der Hingebung
ſelbſt befriedigten Ich bewahrt; von einer Welt vielmehr, in welcher, wer
irgend gut, edel, geiſtig bedeutend, groß iſt, im Oeffentlichen und Allge-
meinen, im Geſchichtlichen, im Ganzen einfach lebt und athmet, wie in
ſeiner unentbehrlichen Luft. Das Schwere iſt, dieß im Allgemeinen zu
bezeichnen, ohne in eine beſtimmte Epoche der geſchichtlichen Schönheit
und des Ideals zu gerathen, was hieher noch nicht gehört; wir können
nur ſagen: in der Bildnerkunſt muß der Charakter dieſes Gepräge ſo ge-
wiß tragen, daß, wären auch ſolche Menſchen in der Geſchichte nicht
möglich, ſie doch in dieſer Kunſt wirklich ſein müßten. Es ſind ſubſtan-
tielle Menſchen (vergl. die treffend einfache Darſtellung Hegels a. a.
O. II, 366—369). Der ſubſtantielle Menſch hat nun, wie es im Tauſche
der Liebe geſchieht, wo das Herz im Opfer ſich verdoppelt wiedergewinnt,
indem er ſich dem Ganzen ohne Rückbehalt hingab, dieſes Ganze in ſich
herübergenommen, ſein inneres Charaktergeſetz iſt das zum innern der
[364] Einzelperſon gewordene ethiſche Geſetz, das einen ganzen, weiten Lebens-
kreis beherrſcht, er ruht, wenn er einfach auf ſich ruht, auf dieſem Gan-
zen, das er in ſich geſogen, er hat ſo dem kleinen Gewichte ſeines Ich
die Wucht des öffentlichen Lebens, der Weltgeſchichte zugelegt, er wiegt
Tauſende, er iſt eine Welt: dieſen hohen Sinn hat jetzt der Begriff Ob-
jectivität erhalten, in dieſe tiefe Bedeutung hat ſich der Begriff des Schwer-
puncts überſetzt, daß er nicht blos das innere Centrum im gewöhnlichen,
modern moraliſchen Sinn des Aufſichſtehens eines ſtetigen Charakters be-
deutet, ſondern dieſe Einheit des individuellen Centrums mit der Lebens-
ſonne eines großen ſittlichen Ganzen. Eine ſolche Perſönlichkeit ſteht an
ſich ſchon auf dem hohen Piedeſtal der Geſchichte, ſie iſt unſterblich, und
weil ſie es iſt, hat eine Kunſt, deren Styl gemäß allen ſeinen techniſchen
Bedingungen architekturartig monumental iſt (vergl. §. 560), ihr Bild
als Monument hingeſtellt: ſie ſteht, als wolle ſie ewig ſtehen. Wir wer-
den auch in der Malerei noch das Monumentale finden, die Bildner-
kunſt aber iſt ihrem ganzen Weſen nach im intenſiven Sinne monumen-
tal durch die nun entwickelten Eigenſchaften.
2. Es ſind jetzt alle Momente zuſammengeſtellt, aus denen hervor-
geht, daß der beſtimmende Geiſt in der Bildnerkunſt der des einfach
Schönen iſt. Zunächſt folgt dieß ganz allgemein aus der Ungetheiltheit
des Geiſtes- und Sinnenlebens, welche darzuſtellen dieſe Kunſt durch
ihr Weſen beſtimmt iſt; denn da haben wir ja die Anmuth, in welcher
die Sinnlichkeit mit dem ſittlichen Impulſe frei übereinſtimmt. Nun aber
hat der gegenwärtige §. gezeigt, daß durch das Grundgeſetz naiver Ein-
heit aller Kräfte im dargeſtellten Individuum der Plaſtik keineswegs das
Gebiet des Charakters verſchloſſen iſt. Der Charakter aber kämpft, er
kämpft in ſich und kämpft nach außen: dieß iſt erhaben, und auf das
Erhabene iſt eine ſo gewichtig gediegene Kunſt ganz beſonders gewieſen.
Allerdings darf der Begriff des Charakters nicht zu enge genommen wer-
den, er begreift auch den ſinnlicheren Heroismus des Athleten, des Krie-
gers in ſich und in dieſem Gebiete vorzüglich wird in Gruppen auch das
Erhabene des äußeren Kampfes zur Darſtellung kommen. Der Kampf
kann einem Furchtbaren gelten, das in gewiſſem Grad häßlich iſt, Unge-
heuern, Schlangen, Centauren u. ſ. w. Charakter begreift aber auch ſein
Gegentheil in ſich: das Charakterloſe. Es verſteht ſich, daß dieß in dieſer
Kunſt der Gediegenheit nicht als Lumperei, Schlechtigkeit, Blaſirtheit auf-
treten kann, wohl aber als ausgelaſſene, närriſche Sinnlichkeit; dieſe, im
Kampf oder ohne Kampf, wird nothwendig komiſch ſein. Nun aber
muß ſolches Erhabene, häßlich Furchtbare, Komiſche in dieſer Kunſt eben-
falls in das Licht des einfach Schönen gerückt werden. Dieß ergibt ſich
aus der Nothwendigkeit, daß überall, auch im Zwieſpalte kämpfender
[365] Kräfte, die ungetrübte Einheit der Menſchennatur in ihrer Einfalt und
Anmuth, die Charis in der Eris, im Kampfe ſelbſt die kampfloſe Schön-
heit die Grundlage bleibe. Schon in §. 73 wurde die Grazie im enge-
ren Sinne, die des einfach Schönen, von einer ſolchen unterſchieden, die
auch dem Erhabenen und Komiſchen eigen iſt. Die Bildnerkunſt muß
die hohe Grazie des Erhabenen und die ungezogene des Komiſchen ihrem
Grundgeſetz entſprechend unmittelbarer, als die anderen Künſte, in der
Form der einzelnen Geſtalt ſelbſt, retten. Der Umfang des Erhabenen
und Komiſchen wird dadurch, wie wir ſchon geſehen, allerdings an ſich
verengt, allein ſo weit es waltet, muß dieſe keuſche Kunſt ihren ganzen
Zauber, ihr zarteſtes Styl-Geheimniß entfalten. Wir werden in der ſpe-
ziellen Erörterung der Stylgeſetze ſehen, wie beſchaffen demgemäß die
Formenwelt der Plaſtik ſein muß. Klar iſt hier vorerſt ſo viel, daß dieſe
Formenwelt ein Inneres ausdrücken muß, das auch im Widerſtreit ſeine
Harmonie, die unbewegte Ruhe ſeiner Tiefe bewahrt, und der folgende
§. wird dieſen Punct noch einmal auffaſſen, um zum letzten und höchſten
Begriffe zu gelangen. Die vorläufige Ankündigung der hier entwickelten
Begriffe, wie ſie zu §. 404 Th. II, S. 380 gegeben iſt, berührt auch
ſchon den Unterſchied der rein menſchlichen Phantaſie (nebſt der thieriſchen)
und der geſchichtlichen. Es iſt klar, wie die letztere in das individuelle
Leben mit einer Derbheit eingehen muß, welche mit dem Prinzip der
directen Idealiſirung ſchwer vereinbar iſt; die Erörterung dieſes wichtigen
Punctes bleibt aber mit der ganzen Frage über die bedingte Geltung des
Prinzips, das dieſem entgegenſteht, im plaſtiſchen Gebiet ihrem beſon-
deren Orte vorbehalten.
Aus dieſen Grundzügen der plaſtiſchen Schönheit ergibt ſich der weitere,
daß die dargeſtellte Perſönlichkeit, ſo wenig ſie aus ihrem Sinnenleben ſich in
ſubjectiver Innerlichkeit zurücknimmt, ebenſowenig bei allem Einlaſſen in An-
deres ſich zerſtreut, ſondern ſelbſtgenugſam in ſich bleibt. Damit zuſammenge-
faßt erhält nun auch das Geſetz der Sparſamkeit in der Zahl der Figuren
(§: 601) und das Hindrängen zur Aufſtellung blos Einer Geſtalt als der ge-
mäßeſten Aufgabe (§. 603) poſitive, geiſtige Bedeutung und Kraft: die Eine
Geſtalt vertritt das Ganze der Gattung. Zugleich kommt jetzt auch der tiefere
Sinn zu Tage, welcher der Weglaſſung des räumlich Umgebenden (§. 599) zu
Grunde liegt: die dargeſtellte Perſönlichkeit iſt auf keine Natur außer ihr be-
zogen, weil ſie die geſammte Natur in ſich trägt. Vereinigt dieſelbe nun ſo
die Natur und die Menſchheit in ſich, ſo iſt ſie nicht nur ein Ganzes, ſondern
[366] das Ganze, iſt unendliche Perſönlichkeit, das Ideal ſelbſt, Einheit des Subjec-
tiven und Objectiven im höchſten Sinne. Ein Abglanz dieſes Lichts fällt auch
auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Darſtellung kommen.
Der §. ſteigt in drei Schritten zum höchſten Schlußbegriffe vom
Weſen der Plaſtik auf. Zuerſt wird dem Satze (§. 605), daß die Per-
ſönlichkeit, wie ſie in der Bildnerkunſt ſich darſtellt, nicht den Ausdruck
einer Sammlung tragen kann, die auf eine aus der ſinnlichen Lebensfülle
zurückgenommene Innerlichkeit hinweist, der andere gegenübergeſtellt, daß
dieſelbe ebenſoweit vom Ausdruck einer Zerfahrenheit, Zerſtreutheit, eines
Hingenommenſeins von Anderem entfernt ſein muß. Es iſt dieß nur eine
weitere Entwicklung jener Beſtimmungen von der Gediegenheit, Gewichtigkeit,
von dem Ruhen auf dem eigenen Schwerpunct, von der Subſtantialität
der plaſtiſchen Perſönlichkeit, es folgt aber auch namentlich aus jenem
Darſtellungsgeſetze, das wir nachher in ein höheres Licht ſtellen wer-
den, daß nämlich der Individualität kein Hintergrund mitgegeben wird,
denn es ſind die wechſelnden Umgebungen mit ihren unendlichen Anre-
gungen, welche den Menſchen bald ſo, bald ſo beſtimmend das Element
der Zufälligkeit und daher der Zerſtreutheit mit ſich führen. Eine ſo in ſich
geſchloſſene, ringsum wie mit ſcharfem Meſſer abgeſchnittene Geſtalt wird
auch dann, wenn ſie in einem Momente aufgefaßt iſt, wo ſie ſich mit
etwas außer ſich befaßt, mit andern Perſonen in gemeinſchaftliches Thun
oder Kampf ſich einläßt oder nur aufmerkſam auf irgend ein Object hin-
gerichtet iſt, ja wo ſie leidet, doch in ihrem innerſten Grunde ungeſtört
einig mit ſich erſcheinen, es iſt kampfloſer Kampf, ein Ausſichherausgehen,
das doch in ſich bleibt, ein Einlaſſen, das ſich nicht einläßt, ein Streben,
das als Form des Strebens ideal iſt, gleichgültig, ob es ſein Object er-
reicht. Dahin haben wir ſchon in der Anm. zu §. 602 gedeutet, indem
wir ſagten, daß mit dem Charakter ruhiger Abgeſchloſſenheit eine leb-
hafte Thätigkeit vollkommen vereinbar ſei. Dieſer Zug des feſten Inſich-
bleibens widerſpricht auch nicht dem in der weiteren Entwicklung aufge-
wieſenen Zuge der Naivetät, die friſch im Naturleben webt, ebendaher
Auge und Sinn offen hat, ſich nicht verſchließt, nicht in ein ſelbſtbewuß-
tes Ich und geheimes Empfindungsleben zurückzieht. Gerade die punc-
tuell auf ihr Ich vereinzelte Perſönlichkeit iſt diejenige, welche, weil ſie
nicht im Allgemeinen lebt, von den Theilen des Allgemeinen, die eine
wirre Vielheit von Reizen auf ſie ausüben, auseinandergezogen wird,
unruhig umherfährt; die naturfriſch geöffnete Perſönlichkeit iſt in der Be-
rührung mit dieſen Theilen bei ſich; ſie iſt, wenn ſie hinaustritt, doch zu
Hauſe, bleibt daher bei aller Bewegung unbewegt in ihrem ruhigen, tie-
fen, weltweiten, allgemeinen Grunde. „Allgemein“: dieß Wort erhält
[367] nun tieferen Sinn; ein ſolches Leben im Ganzen verleiht dem ſo Leben-
den die Kraftfülle der Ganzheit; es wird gleichgültig, ob er Dieſer oder
Jener iſt, er iſt ein ganzer Menſch, es wird ſchon ſtrengerer Ernſt mit
dem Worte: vollkommene Naturen §. 604, der Begriff der Subſtantiali-
tät §. 605 beginnt ſich zu einem höheren zu ſteigern. „Unberührt von
der Zwieſpältigkeit und Beſchränkung des Handelns, der Conflicte und
Erduldungen, — ſtörungsloſes unparticulariſirtes Sein des Geiſtes, —
objective Geiſtigkeit als in ſich fertig und beſchloſſen, in ſelbſtändiger
Ruhe, dem Verhalten gegen Anderes entnommen“, ſo bezeichnet Hegel
dieſe Natur der plaſtiſchen Geſtalt (a. a. O. II, S. 258. 368. 369).
Nun führt eigentlich ſchon dieß auf den Begriff der abſoluten Perſönlich-
keit; es fragt ſich aber vorerſt, wie es ſich denn verhalte, wenn mehrere
Geſtalten zugleich aufgeſtellt ſind? Wir verweiſen hier nur vorläufig auf
das claſſiſche Ideal, das viele Götter hat, deren jeder doch die ganze
Gottheit iſt (§. 437): ein heiterer Widerſpruch der Phantaſie, der jedoch
auch da noch irgendwie möglich ſein muß, wo keine Götter mehr geglaubt
werden. In der That liegt hier ein intereſſanter, ſchwieriger Punct,
nicht nur in Beziehung auf die Sculptur, ſondern auf alle Kunſt. Wir
erinnern zunächſt an einen Nebenzweig der Kunſt, Fabel und Thier-
Sage. Dieſe nimmt von der einzelnen Thierart Ein Exemplar als voll-
kommen und daher als Inbegriff aller andern, aber ſie führt doch auch
wieder andere daneben ein; ſo iſt Reineke der abſolute Fuchs, der Fuchs
ſchlechthin, aber es gibt doch noch Füchſe außer ihm. Das Denken, in
der Sprache dargeſtellt, iſt ſtrenger logiſch; es ſagt auch: der Menſch,
das Thier, der Held, das Pferd u. ſ. w., der Begriff zieht alſo
die vielen Individuen in Eines, das nur gedacht, nur Abſtractum iſt, zu-
ſammen; wird aber die empiriſche Vielheit ausgeſprochen: die Menſchen
u. ſ. w., ſo wird ausdrücklich geſetzt, daß keines derſelben dem Inbegriff
der Gattungs-Eigenſchaften entſpreche. Die Kunſt dagegen, zunächſt im
Allgemeinen, abgeſehen von der beſonderen Natur der Plaſtik, nimmt die
Sache ſtrenger, als ſolche Zweige, wie Fabel, Thierſage, welche ohne
Weiteres neben die Einheit des die Gattung inbegreifenden Individu-
ums die Vielheit der empiriſchen ſtellen, jedoch darum nicht conſequent
wie die Logik und die logiſche Sprache. Die Gattung wird ihr nach dem
Grundbegriffe des Schönen (Einheit von Bild und Idee) immer con-
cretes Individuum, die empiriſch Vielen der Logik gehen in eine Einheit
zuſammen, die nicht abſtract, ſondern ſelbſt angeſchautes Individuum iſt;
ein Menſch iſt jetzt der Menſch, ein Held der Held u. ſ. w. Die
Frage, ob es neben ihm noch andere Individuen derſelben Gattung gebe,
iſt dadurch halb verneint, halb nur weggeſchoben, zugedeckt: nur dieß,
denn es bleibt doch immer ein Individuum (unter andern, die eben jetzt
[368] nicht da, die vergeſſen ſind). So zunächſt, wenn wirklich nur Ein Indi-
viduum in einem Kunſtwerk aufgeſtellt wird. In einem ſolchen aber, das
viele Figuren zuſammenſtellt, ſind zwei Fälle möglich. Der eine iſt dieſer:
Ein hervorragendes Individuum und viele unbedeutendere derſelben Claſſe
treten nebeneinander. Dieß gleicht dem Verfahren, wie es von der Thier-
ſage, Fabel angeführt iſt: eigentlich ſind in dem hervorragenden Einen
die andern Vielen ſo repräſentirt, daß ſie neben ihm überflüſſig
ſind; die Phantaſie geſteht damit ihren Prozeß, durch den ſie das
repräſentirende Individuum gewonnen hat, ſie gibt das Reſultat ihrer
Diviſion ſammt dem Dividenden. Doch mäßigt die höhere Kunſt die-
ſen logiſchen Widerſpruch dadurch, daß die Maſſe der Vielen mehr nur
als die erläuternde Expanſion einer der im Repräſentanten concen-
trirten Kräfte erſcheint. Der andere Fall iſt dieſer: es werden
mehrere ſchlechthin bedeutende Individuen derſelben Claſſe zuſam-
mengeſtellt, ohne daß darum die Kunſt in den Widerſpruch mit
der Logik tritt wie in dem eben genannten Falle; nämlich jetzt
repräſentiren alle dieſe Individuen den Gattungsbegriff mittelbar
dadurch, daß er vorher mehr ſpezifizirt iſt und jedes von ihnen zu-
nächſt eine der ſpezifizirten Eigenſchaften vollkommen in ſich darſtellt; zu
dieſer Eigenſchaft verhält ſich daſſelbe nun ebenſo, wie ſonſt das einzelne
ſchöne Individuum zum Ganzen ſeiner Gattung; von mehreren Helden
z. B. ſtellt jetzt jeder einen Zug des Heldenthums, dadurch mittelbar
das Heldenthum überhaupt und noch mittelbarer die Menſchheit dar.
In der Plaſtik nun aber iſt die Sache ſchwieriger, oder, wie man
will, einfacher. Hier ſoll die einzelne Geſtalt ſchön ſein, alſo das
Ganze ihrer Gattung mit geringerem Gewichte des Mittel-
begriffs dieſer oder jener Eigenſchaft, Seite derſelben in
ſich darſtellen. Der Begriff der Vertretung Vieler oder Aller durch Einen
iſt hier intenſiver. Unbedeutende Individuen kennt ſie gar nicht, die leeren
Statiſten des Dividenden fallen ganz weg. Sie wird aber auch in den
bedeutenden Individuen die Gattung in engerem Maaße ſpezifiziren, da-
mit der Umweg zum Vertreten des Ganzen der Gattung vermittelſt einer
ihrer Eigenſchaften kürzer ſei. Dieß führt nun auf das Geſetz der Spar-
ſamkeit in der Figurenzahl zurück, womit wir zum zweiten wichtigen
Schritte in dieſem Stufengange gelangen: ein Rückblick auf §. 601, der,
während aus andern techniſchen Bedingungen die tiefere Bedeutung ſchon
früher gezogen iſt, dieſer Stelle vorbehalten bleiben mußte, wo ſich die
Momente zu ihrem vollſten Reſultate vereinigen. Die Bildnerkunſt ent-
geht jenem Uebelſtande des ſich Deckens der Theile am meiſten, wenn ſie
nur Eine Geſtalt aufſtellt; wie aber alle äußern Beſtimmtheiten dieſer
Kunſt bereits ſich in Grundzüge ihres poſitiven Geiſtes umgedreht haben,
[369] ſo nun auch dieſe: der Geiſt der Ganzheit, in welchem jede Geſtalt
behandelt wird, tritt als innerer Grund mit dem äußern zuſammen,
füllt das zuerſt nur negativ Motivirte poſitiv aus und führt ſo zu dem
Ergebniß, daß die Plaſtik ihr innerſtes Weſen am vollſten und reinſten
offenbart, wenn ſie nur Eine Geſtalt hinſtellt, welche jetzt der erſcheinende
Inbegriff aller Kräfte der Gattung, nicht nur ein Ganzes, ſondern, mit
nur ſchwachem Gewichte des Mittelbegriffs einer Seite der Gattung, das
Ganze der Gattung iſt. Stellt ſie dennoch mehrere Figuren auf, ſo be-
wirkt, da es zudem nur wenige ſind, die genannte Schwäche der Spezi-
fizirung, daß dennoch jede die Fülle des Ganzen, daß jede der abſolute
Menſch bleibt. Die ſo dargeſtellte Perſönlichkeit iſt aber nicht nur das
Ganze der Menſchheit, ſondern auch das Ganze der Welt: dieß zeigt der
dritte Schritt des §. Die Bildnerkunſt gibt ihrem Werke keinen Raum,
keine umgebende Natur mit, zunächſt, weil ſie es nicht kann; aber ihr
Nichtkönnen muß auch hier ein Nichtwollen, richtiger: ein Anderswollen
ſein. Dieß Anderswollen kann keinen andern Grund haben, als zunächſt
den, daß ſie im höheren organiſch lebendigen Individuum und vor Allem
im Menſchen die ganze Natur ſieht, den Inbegriff aller Kräfte und
Formen des Daſeins, den höchſten Zuſammenſchluß alles deſſen, was in
der unorganiſchen und botaniſchen Natur in’s Unbeſtimmte ausgegoſſen
iſt. Sie iſt nicht ausgegoſſener, ſondern geſammelter, in Einem Gefäße
zuſammengehaltener Geiſt. Ihr Gebilde iſt nicht auf einen Hintergrund,
auf Umgebungen bezogen, weil es dieß Alles in ſich eingeſogen hat,
Alles dieß ſelbſt iſt. Nun erhebt ſie aber daſſelbe mit der oben nach-
gewieſenen Intenſität zum Ausdruck des Inbegriffs vollkommener
Menſchheit: vereinigt es ſo die ganze Menſchheit und die ganze Natur
in ſich, ſo iſt es nichts Anderes, als die Welt ſelbſt, perſönlich vorge-
ſtellt, die abſolute Perſon, aller Geiſt, alſo alles Subjective, und alle
Natur, alſo alles Objective in Einem. Es iſt längſt erkannt, daß keine
andere Kunſt, ſo wie dieſe, das Ideal ſelbſt gibt. Dieß iſt eigentlich
bereits in dem Satze von der directen Idealiſirung ausgeſprochen und
jetzt nur zum ganz erfüllten Nachweiſe gelangt. — Der Schlußſatz des
§. faßt nun einen Punct auf, der mit jenem oben erörterten Widerſpruche
zuſammenhängt, wonach es in aller Kunſt, beſonders auffallend aber in
der Bildnerkunſt, von den Gattungen der Weſen je nur Ein vollkommenes,
für alle vicarirendes Exemplar und doch zugleich die Vielen gibt. Wir
werden dieſen, im Weſen der Phantaſie und in ihrem Unterſchiede von
der Logik berechtigt liegenden Widerſpruch noch in andere Seiten verfol-
gen, namentlich was die Weglaſſung des Raums und die Beziehungslo-
ſigkeit zu einer umgebenden Natur betrifft. Der Unterſchied der hier vorlie-
genden von der oben beſprochenen Frage iſt jedoch der, daß es ſich jetzt
[370] von einer Spaltung handelt, die, wie wir ſehen werden, verſchiedene
Zweige der Plaſtik begründet, welche ſich freilich auch vereinigen können,
von zwei Stoffwelten, deren relative Scheidung aus der Geſchichte der
Phantaſie hier aufgenommen werden muß: Gott und Menſch, oder Gott
und untergeordnetes dämoniſches Weſen (z. B. Satyr). Daß es beide
Welten nebeneinander gibt, iſt eigentlich ein Widerſpruch, denn der Gott
iſt der ideale Menſch. Die Phantaſie iſt aber auch in dieſer Richtung
nicht logiſch: neben der ausdrücklich und ſchlechthin idealen Natur, dem
Gotte, gibt es realere, in entfernterem, vermittelterem Sinn ideale
Naturen. Allein in der Sculptur ſind auch dieſe Naturen dennoch idealer,
als z. B. in der Malerei der Menſch neben dem Gott. Der Geiſt der Behand-
lung gibt auch ihnen eine Seligkeit der Genüge, eine Fülle und Sättigung des
Daſeins, daß ſie nach keiner Welt fragen, ſondern ſich ſelbſt eine Welt,
die Welt ſind, und ſelbſt im Thiere ſchauen wir den Inbegriff des voll-
kommenen Weltalls, wie er jedem niedrigeren Stoffe im Schönen als
Hintergrund eine Unendlichkeit gibt (vergl. §. 17, 3.) durch die Ge-
diegenheit der plaſtiſchen Darſtellung dieſen Hintergrund in einer verkürz-
ten Perſpective. Ausdrücklich ſind als endliche Naturen insbeſondere die
geſchichtlichen geſetzt, denn Datum und Namen weiſen ſie buchſtäblich in
das Zeitleben und die Härte ſeiner Bedingungen. Wir haben die Frage
über das Verhalten der plaſtiſchen Phantaſie zu dem Unterſchiede der
rein menſchlichen und geſchichtlichen aufgeſchoben, aber ſo viel muß ſchon
hier einleuchten: was dieſe Kunſt aus der empiriſchen Geſchichte heraus-
greift und zu ihrem Stoffe nimmt, wird von ihr in daſſelbe Licht der
Allgemeinheit heraufgehoben werden, wie die rein menſchliche Sphäre,
denn: was ſie angreift, das wird vergöttlicht.
In der ſpeziellen Auseinanderſetzung dieſes allgemeinen Weſens der Bild-
nerkunſt kommt zuerſt die äußere Beſtimmtheit des plaſtiſchen Werks, wie
ſolche von der innern relativ zu unterſcheiden iſt, und als erſtes Moment in
derſelben die Beſchaffenheit des Materials in Betracht. Der Körper deſſelben
ſoll nicht nur der allgemeinen techniſchen Forderung der Formbeſtimmtheit und
Dauer genügen, ſondern auch poſitiv von ſolchem Gefüge und Farbenton ſein,
daß er ähnlich wie die Schwere (§. 600) im äſthetiſchen Eindruck der reinen
Form mitgefühlt wird, ohne doch für ſich und für die Schwierigkeiten der Be-
arbeitung ein ſtoffartiges Intereſſe zu erwecken. Daher iſt Thon, Gyps,
Holz, Geſtein der Urgebirge, farbiger Marmor, Elfenbein,
koſtbares Metall nur für untergeordnete oder vereinzelte, außerardentliche
[371] Kunſtwerke dienlich. Die entſprechenden Stoffe ſind vielmehr das Erz und der
leichter zu bearbeitende Stein von einfachem Farbenton, vor Allem aber der weiße
Marmar; die erſteren eignen ſich mehr für die Darſtellung reell beſtimmter
Naturen, dieſer für das reine Ideal.
Es muß der Ordnung und Klarheit wegen eine Reihe von Momen-
ten der äußeren Beſtimmtheit von ſolchen unterſchieden werden, die der
innern Beſtimmtheit der Bildnerkunſt angehören. Daß dieſe Unterſchei-
dung nur eine relative iſt, folgt aus allem Bisherigen und wird ſich an
jedem einzelnen Momente noch deutlicher zeigen; berechtigt iſt ſie aber
dennoch, denn in der erſten Reihe gehen wir überall von außen nach in-
nen, in der zweiten aber fließt jede Beſtimmtheit unmittelbar aus dem
Innern; jene ſetzt einen äußern Rahmen feſt, der aber überall nach in-
nen weist, dieſe füllt den Rahmen von innen heraus. In der ſo ange-
ordneten genaueren Zerlegung kommt zuerſt die äußere Beſtimmtheit im
engſten Sinne, die Qualität des Materials, an die Reihe. In den Be-
dingungen, wie ſie der §. aufſtellt, unterſcheidet ſich leicht: ein Zuwenig,
eine rechte, poſitive Mitte und ein Zuviel. Wir nehmen die Mitte, die
poſitive Forderung, ſogleich heraus und erklären ſie näher. So wie die
dargeſtellte Schwere des organiſch Lebendigen mit der gemein realen
Schwere des Materials an ſich nichts zu ſchaffen hat, doch aber dieſe in
jener verhüllt mitwiegt, ſo geht auch Textur und Farbe des Stoffs die
darzuſtellende Form nichts und doch viel an. Das warme Fleiſch- und
Hautleben, der fließende Gewandſtoff kann mit dem todten harten Körper,
dem nur ein Schein der lebendigen Form durch eine Bearbeitung, welche
ſeine Grenzlinie beſtimmt, übergeworfen werden ſoll, vorerſt nichts zu
thun haben. In der That aber haben die äußerſten Linien des organiſch
Lebendigen eine Weichheit, eine Lockerung, einen ſammtenen Anflug, der
dem taſtenden Sehen das warme Leben, ſeinen Hauch und Athem, ſeine
Geſchmeidigkeit, ſein nach außen ſtrömendes ſtilles inneres Gähren zu
fühlen gibt, und auch die künſtliche Bedeckung wird auf der Oberfläche
die innere Fügung des Stoffs kund geben, wodurch das Gewand dem
lebendigen Seelenbau beweglich ſich anſchmiegt und folgt oder ihn als
härtere Schaale deckt. Es leuchtet ein, daß dieſe Beſtimmtheit der Ober-
fläche durch Meißel und Gußform nicht nachgebildet werden kann, wenn
ihnen das Material nicht durch die Art ſeines Gefüges irgendwie ent-
gegenkommt. Die Haut hat aber auch eine gewiſſe Durchſichtigkeit; die
Bildnerkunſt kann von derſelben, obwohl dieſe Qualität aus dem Reiche
der reinen Form bereits in ein anderes hinüberführt, nicht völlig abſtrahi-
ren, denn die feſten Formen ſelbſt würden anders geſehen werden, wenn
nicht jener Schimmer des annähernd Durchſichtigen ſich über ſie ausbrei-
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 25
[372]tete: eine Weichheit der Uebergänge, eine Milde, ein Hinüber- und
Herüberſcheinen einer Form in die andere iſt über ſie ausgegoſſen, das
irgendwie im Werke des Künſtlers nachgeahmt werden muß und doch durch
Meißel und Gußform allein ebenfalls nicht nachgeahmt werden kann; das
Material muß alſo irgendwie auch hier entgegenkommen. Gehen wir
nun noch weiter und ſehen auf die eigentliche Farbe, ſo iſt ſogleich wohl
zu bemerken, daß wir die Frage von der Polychromie hier noch völlig
ausſchließen und die reine Abſtraction der feſten Form vorerſt als unbe-
zweifeltes Grundgeſetz annehmen; es kann alſo nur die Rede ſein von
einer Farbe ohne Farbe, von einer mittelbaren Andeutung der Farbe, wie
man von einem guten Kupferſtiche ſagt, er gebe die Farbe zu fühlen.
Da die Farbe ſchließlich auf einer, dem Auge nicht mehr wahrnehmbaren,
plaſtiſchen Beſtimmtheit der feinſten Theile der Oberfläche eines Körpers
beruht, welche gerade dieſe und keine andere Lichtwelle an ſich bindet,
ſo gibt es auch für das taſtende Sehen ein gewiſſes Gefühl der Farbe.
Soweit hat es die Bildnerkunſt jedenfalls mit der Farbe zu thun und
auch dieſer Forderung muß die Qualität des Materials in irgend einem
Sinn, den wir noch gar nicht näher beſtimmen, entgegen kommen. Die
nähere Beleuchtung dieſes und der andern Sätze ergibt ſich erſt, wenn
wir nun die verſchiedenen Arten des Materials wirklich daran halten.
Die zwei andern Feſtſtellungen, welche ein Zuwenig dieſſeits, ein Zuviel
jenſeits dieſer richtigen Mithülfe des Materials bezeichnen, finden eben
hiemit zugleich ihre Erläuterung. Thon und Gyps ſind wegen ihrer
Weichheit leicht zu formen und nachher verhärten ſie ſich an Feuer und Luft,
allein es läßt ſich ihnen nicht genug Schärfe der Formen geben, ſie haben
zu wenig Härte, Dauer, und man ſieht ihnen dieß auch an. Thon hat
zudem eine trockene, todte und zugleich zu ſpezifiſche Farbe und verlangt
ein ſo völliges Anmalen, wie es jedenfalls, auch wenn ein gewiſſer Grad
von Polychromie zuläſſig wäre, verworfen werden muß. Nach dem
Aufhören der rohen Götzenbilder ſank daher das Thonbilden ſchon bei
den Griechen, vereinzelte Ausnahmen und Werke der Zierplaſtik abge-
rechnet, herunter zur Beſtimmung der bloßen Vorarbeit, zum Materiale
für das bloße Modell. Gyps hat nicht die ſtörende ſpezifiſche Farbe,
aber ebenfalls todten, trockenen Ton, und da das undurchſichtig Trockene
hier weiß iſt, ſo treten alle Formen mit roher Wahrheit hervor, alles
Flüſſige, Geſchmeidige verſchwindet (vergl. Feuerbach D. vatic. Opoll
S. 174—176). Es iſt der kahle, fahle, klangloſe Eindruck, den alle
erdig breiige, dann verhärtete Subſtanz macht. Gyps iſt daher zum Mittel
der bloßen Vervielfältigung oder des erſten Abdrucks der lebendigen Form
für Zwecke der Vorſtudie heruntergeſunken. Holz iſt wegen ſeiner faſe-
rigen Textur leicht zu ſchnitzen, aber dieſe ſtört den Künſtler auch wieder
[373] durch Colliſionen der Kunſtaufgabe mit ihren Lagen, und die Schärfe der Formen
iſt, wie das ganze Werk, ungleich vergänglicher, als Stein und Metall.
Zudem hat es ebenfalls zu viel ſpezifiſche, durch Nachdunkeln ſich noch
verdüſternde Farbe und führt daher zum Vergolden, zum völligen Anma-
len. Schon die Griechen gaben es daher, indem ſie den Uebergang zum
Stein durch die Akrolithen nahmen, auf; nur Feld- und Gartengötter
blieben hölzern. Das Holz bleibt aber höchſt wichtig für eine prinzipiell
als Moment in der Architektur behandelte, dem Ornament entblühende,
maleriſch aufgefaßte Plaſtik, und ſo müſſen wir es bei der Geſchichte
dieſer Kunſt im Mittelalter wieder auffaſſen. Man ſieht nun, wie dieſe
drei Stoffe dieſſeits der aufgeſtellten rechten Eigenſchaften liegen: ſie ent-
ſprechen weder den ſtreng techniſchen (obwohl bereits auch äſthetiſchen)
Forderungen der Schärfe und Dauer, noch auch der feineren eines zum
lebenswarmen und ſeelenvollen Ausdruck leiſe mitwirkenden Materials;
ſie ſind zu arm. Andere dagegen liegen jenſeits: ſie ſind zu anſpruchs-
voll. Stein des Urgebirgs ſetzt durch ſeine Härte der Bearbeitung
Schwierigkeiten entgegen, mit deren Ueberwindung nur eine unreife oder
überreife Zeit zu prahlen liebt; gelingt die Ueberwindung völlig, ſo führt
ſie nothwendig einen Grad der Glätte mit ſich, in welchem der Duft des
Lebens zu ſchillernder Eleganz zerſchmilzt, ohne daß doch der Eindruck
des Spröden verſchwindet. Zudem ſteht nun aber die Farbe im Miß-
verhältniß zur plaſtiſchen Aufgabe; das Schwarz des Baſalts verdüſtert die
Lichterſcheinung des organiſchen Lebens; Roth, Grauroth, Grünlich und die wei-
teren Farben, worin Porphyr, Granit, auch Baſalt, Syenit ſich vorfinden, über-
ſpringen mehr oder minder die leiſe, beſcheidene Linie, innerhalb welcher die
Andeutung der Farbe mit der Nachbildung der feſten Form ſich vereinigen darf.
Daſſelbe gilt von ſchwarzem und farbigem, namentlich mehrfarbigem
Marmor. Die Wahl ſolcher für ſich, ſtatt für den dargeſtellten Inhalt
ſprechender Stoffe ſagte der Vorſtufe der Kunſt in Aegypten und der
Ueppigkeit des römiſchen Kaiſerreichs ſo wie des achtzehnten Jahrhunderts
zu; reife und geſunde Kunſt überläßt ſie der untergeordneten Tektonik
und Zierplaſtik. Scheinbar ſpricht dieß bunte Material in richtiger An-
wendung nicht für ſich, ſondern drückt die Farbe des Gegenſtandes aus;
die Zuſammenſetzung von Büſten aus verſchiedenen Marmor-Arten in der
ſpätrömiſchen Zeit iſt ein Surrogat für die Polychromie; wir werden aber
ſehen, daß die Polychromie jedenfalls Grenzen hat, welche dieß Surrogat
ſo überſchreitet, daß doch das ſtoffartige Prahlen mit dem Material an
ſich wieder vorſchlägt. Das Elfenbein haben die Griechen in der Pe-
riode der ſchwungvollſten Blüthe ihrer Plaſtik zu prachtvollen Coloſſal-
werken verwandt. Es nähert ſich etwas dem Fleiſchtone und ſcheint da-
durch unſerer Hauptforderung zu entſprechen; allein ſein Farbenton iſt
25*
[374]zugleich wachsartig, todtenhaft, und die völlige Glättung, die ſich bei
dieſem Stoffe von ſelbſt ergibt, verſchwemmt die Formen in demſelben
Schillerglanz, den wir ſchon oben getadelt. Aus vielen Stücken muß das
Gebilde über einem hölzernen Kerne gefügt werden und iſt daher ſehr
vergänglich. Spröd und trocken trotz dieſem Glanze bedarf es einer He-
bung und Belebung durch ein Material von dem energiſch farbigen Glanze
des edlen Metalls. Die Verbindung mit Gold liegt ſchon aus dieſem
Grund nahe. In Wahrheit aber handelt es ſich noch um ein Anderes:
nämlich auch hier und gerade hier ganz beſonders um den Werth, um die
Koſtbarkeit des Materials an ſich. Wenn die Griechen aus der Zeit vor
Perikles die Liebe zu chryſelephantinen Werken in die Blüthe ihrer Kunſt
herübernahmen, ſo wirkte darin zunächſt das nicht rein künſtleriſche Cultus-
Motiv, die Gottheit durch das Koſtbarſte zu ehren, was man ihr darbrin-
gen konnte; zugleich galt es, die großen Siege über die Perſer zu ver-
herrlichen, den Aufſchwung Athens, den Reichthum der Siegesbeute zu
entfalten. In dieſe religiöſen, geſchichtlichen Bedingungen legte ſich nun
der erhabenſte Kunſtſtyl und wuchs mit ihnen in jenen berühmten Werken
des Phidias und Polyklet zu einem Ganzen zuſammen, wie ein ſolches
nicht wiederkehren kann; die Nachahmungen in der makedoniſchen Zeit
und bei den Römern trifft aller aus dem ſtrengen Prinzip oben abgeleitete
Tadel, dem die großen Meiſter entweichen, indem ſie den bloßen Stoff-
werth durch den höchſten Kunſtwerth verklären, wie der Adelige, der
ſeinen Geburtsadel in Seelenadel aufhebt. Bildwerke ganz aus Gold
oder Silber leiten dagegen den Blick ſo ungetheilt auf den Stoffwerth,
daß eine ſolche Plaſtik ſich unmittelbar als nicht reine Kunſt, als Dienſt
des Luxus erweist, mag er mehr im Naturell liegen, wie im Orient,
oder die Frucht ſpäter Ueberbildung ſein, wie im römiſchen Kaiſerreich.
Ihr wahres Gebiet hat eine ſolche Technik in der Zierplaſtik, auf die ſich
auch die Arbeit in Elfenbein zurückziehen mußte. Als das jenen richtigen
Bedingungen entſprechende Material bleibt uns nur Erz und dauerhafter
Stein ohne ſpezifiſche Farbe, d. h. Steinarten von beſcheidenem,
grauem, graugrünlichem, gelblichem, röthlichem Tone wie Tuffſtein
und verſchiedene Sandſteine, namentlich aber der rein weiße edle Kalkſtein,
der im engern Sinn Marmor heißt. Jene Arten gruppiren ſich durch
ihren gedämpften Farbenton mit dem Erze [zuſammen], dem man
durch verſchiedene Miſchungen verſchiedenes Colorit geben kann, das
aber in den gewöhnlichen Bindungsverhältniſſen des Zinns und
Kupfers im Allgemeinen einen braungelblichen Ton hat und aus dem
gelungenen Guſſe mit einem matten goldähnlichen Glanze hervorgeht,
dem die Griechen durch eine etwas dunklere Miſchung etwas von dem
Sonnegebräunten Farbenton der griechiſchen Körper gaben. Vergoldung
[375] von Erzbildern fügt eigentlich dem Kunſtwerthe das ſtörende Intereſſe
materiellen Werthes bei; in Prunkſälen, wo es darauf ankommt, Reich-
thum zu entwickeln, mag ſie am eheſten gerechtfertigt ſein; durch richtige
und wirkſame Vertheilung des Matten und Glänzenden wird ſie wieder mehr
auf den reinen Kunſteindruck zurückgelenkt. Dieſes Material iſt nun frei-
lich ein unendlich edleres, als gewöhnliche Steinarten. Es hat nicht jenen
Duft, jenen Anklang des Halbdurchſichtigen an das Fleiſch, den wir vom
glücklichſten Materiale fordern, aber es liegt etwas Eigenes im Gefühle
des Metalls: man möchte in tieferem Sinne ſagen, etwas Klangvolles.
Indem das Metall ſeineg ediegene Cohäſion, im energiſchen, ſchwungvollen,
mutherregenden Klange äußert, gibt es ſich dem Gehör als ein Körper
kund, der allem Poetiſchen näher liegt, als der dumpf erdröhnende Stein;
dieſer Eindruck trägt ſich nun auch in das Geſicht über und da wird
trotz der ſpröden Cohäſion, ja durch die feuergehärtete Kraft dieſer Sprö-
digkeit das Gefühl des Klangvollen zu einem Gefühle des Bewegungs-
vollen im leibhaften Gliederbau des Seelenlebens. Zu dieſem Eindruck
wird allerdings auch eine gewiſſe Lichtheit erfordert; das ſchwarzgraue
Eiſen iſt daher ein ungünſtiger Stoff und im §. gar nicht beſonders
aufgezählt. Das Auge fühlt es aber dem erzgegoſſenen Werke auch an,
daß es nicht durch ein Abſchlagen von harter Maſſe, ſondern durch ein
Einſtrömen geſchmolzener in eine Form entſtanden iſt (von der neueren
Erfindung der Galvanoplaſtik müſſen wir abſehen, weil noch zu wenige
Proben im Großen vorliegen, um zu beſtimmen, wie ſich das techniſche
Verfahren dem Auge äſthetiſch zu fühlen gibt); dieß fühlbar Bewegte
der Entſtehung gemahnt mitten in der Erſtarrung zu monumentaler Härte
an die Blutwärme des Lebens. Mit dieſem techniſchen Prozeſſe der ars
statuaria hängen nun große Vortheile im Umfange des Darſtellbaren
zuſammen: die Größe des Werks iſt ungleich mehr in das Belieben des
Künſtlers geſetzt, als wo er von dem Zufalle des Steinbruchs abhängt;
zugleich kann er mehr Leichtes, Dünnes, wie flatternde Gewänder, Locken,
ohne Stabſtützen (puntelli) ausführen, als der Bildhauer; er hat weniger
Kampf mit der wirklichen Schwere, da er durch Gewichtverſtärkung auf
dem einen und Verdünnung auf dem andern Puncte ſeines hohlen Guſſes
unvermerkt nachhelfen kann, daher kann er in der Kühnheit der Stellun-
gen und Bewegungen ſo weit gehen, als immer der Geiſt ſeiner Kunſt
ihm geſtattet. Man denke an den ausholenden Discuswerfer des Myron,
den Apoxyomenos des Polyklet, den Kairos des Lyſippus; Leochares wagt
einen vom Adler emporgetragenen Ganymed, wo die ſichtbare Tragkraft
des Adlers den ganz aufgehobenen Schwerpunct erſetzt. In der Mar-
mor-Nachbildung erſcheint hier alle Kühnheit geſchwächt. Dagegen iſt
nun auch der Mangel des Erzguſſes nicht zu überſehen. Der Metall-
[376] ſchimmer ſoll zwar, wie ſchon geſagt, ein matter ſein; daß aller eigentliche
Glanz äſthetiſch ſtörend iſt, haben wir ſchon geſehen, und es iſt vom
Uebel, wenn ein gegoſſenes Werk durch Ciſeliren jene ſogenannte Guß-
haut verliert, welche ihm den erwünſchten gedämpften, nicht völlig glatten
Lichtton und Strich gibt: immer aber bleibt ein Grad von Spiegelglanz,
worin die Formen zerrinnen, indem von den beleuchteten Theilen zu ſtarke
Lichtreflexe in die beſchatteten fallen, wodurch bei dunklerem, braunrothem
Tone die weniger ſichtbaren Formen nicht deutlicher, ſondern noch un-
deutlicher werden. Dieß nöthigt zu ſtarker Hervorhebung des Details,
des Knochens, Muſkels, der Sehne (vergl. Feuerbach D. vatic. Opoll
S. 174. 175), und eine medizeiſche Venus erſcheint in Erznachbildung
glatt und flach. Nimmt man nun alles dieß zuſammen, ſo erhellt, daß
der Erzguß auf das ſtark Ausgeſprochene, Härtere, Kühnere, zunächſt
alſo das Athletiſche, Heroiſche, überhaupt aber auf das realer Beſtimmte,
vom reinen Ideal durch ſpezifizirtere Exiſtenz Abliegende, namentlich auf die
monumentale Bildnißſtatue und auf das Hiſtoriſche, ſoweit die Bildner-
kunſt es ergreifen kann, angewieſen iſt. Da dieſe Beſtimmung deſſel-
ben namentlich auch in dem beſtimmteren Farbenton ihren Grund hat, ſo
können wir ebendaſſelbe von dem gewöhnlichen Steine ausſagen, freilich
nicht mit derſelben Kraft, denn ſein Farbenton — von den bunteren Stei-
nen iſt nicht mehr die Rede — hat nie die Wärme des Erztons und das
mehr oder minder Fahle deſſelben wird nicht durch jenen klangvollen
Charakter des Metalls gehoben, daher es nahe liegt, ihn wie die Holz-
ſculptur ganz maleriſch zu behandeln und völlig zu färben, wie das Mit-
telalter gethan hat. Im Gefüge iſt er theils talgig, theils zu grobkörnig.
Sehen wir dagegen den reinen weißen Marmor an, ſo bietet er frei-
lich mehrere der Vortheile nicht, die der Erzgießer genießt. Der Erzguß
mußte namentlich in der Kühnheit der Stellungen vorangegangen ſein,
ehe der Bildhauer, doch nicht ohne die ſichtbare Hülfe der Gewichtaus-
gleichenden, ſtützenden Baumſtrünke und anderer Hülfen, Werke wie die
pferdebändigenden Coloſſe, den borgheſiſchen Fechter, den Laokoon wagen
konnte. Dagegen wohnt nun in dieſem Materiale ein milder Lichtgeiſt
wie in keinem andern, und ſchön ſpricht Tölken (Ueber d. Basrelief u. ſ. w.
S. 137) von der „Unſchuld“ des Marmors. Sein reines Weiß drückt
die Idealität der Abſtraction von allem empiriſch wirklichen Blut- und
Säfte-Leben, die Erhebung in die Freiheit vom empiriſch Sinnlichen aus,
ohne doch jene Andeutung der Lebenswärme und des Lebenshauchs, die
wir vom Materiale forderten, zu verſagen; denn die vorzüglichſten Brüche
liefern einen Körper, deſſen Weiß mit der Zeit einen Anhauch wie von
einem zarten Goldtone annimmt und dadurch ſanft an Fleiſch und Haut
erinnert, ſo der pariſche und penteliſche Marmor; das Körnige (bei dem
[377] pariſchen Marmor etwas ſichtbarer, bei dem penteliſchen mehr mit Talk
durchzogen) deutet leicht die poröſe Natur der Haut an; das Weiß iſt
glanzlos, die Formen können erſcheinen, aber der Anflug von Duchſichtig-
keit und das milde Licht nimmt ihnen die Gröbe des Empiriſchen und
entſpricht ohne eigentliche Nachahmung dem wirklichen Hauche von Durch-
ſichtigkeit, den die Haut hat, ſo wie dem Weichen, Anſchmiegſamen der
Gewänder. Daher „das ſanfte Verhauchen der hellen und dunkeln Par-
thieen, die Abſtufungen von Licht und Schatten, der ſanfte Zauber der
Reflexe“ (Feuerbach a. a. O. S. 177) bei dem warmen, fleiſchigen und
doch nicht widrig fettigen Charakter. Winkelmann hat ſich geirrt, wenn
er Marmor, der von milchiger Maſſe oder Teige gegoſſen ſcheint, für
den ſchönſten hält und annimmt, der pariſche werde ſo beſchaffen geweſen
ſein (Geſch. d. Kunſt d. Alt. Band 3 S. 100); ſolcher Mormor wäre
gypsartig. Das völlige Glätten des Marmors iſt ein geiſtloſes Verfah-
ren ſpäter Zeit, das jenen körnig gediegenen und doch durchſichtig lichten
Seelenhauch in geiſtlos platte Eleganz verſchwemmt. In der guten Zeit
hat man den Marmor nach dem Abreiben mit Bimsſtein noch einmal
mit dem Eiſen ſanft übergangen, um das Flaumige des Lebens wieder-
zugeben und „die äußerſte Haut des Laokoon, welche gegen die geglättete
und geſchliffene etwas rauchlich ſcheinet, iſt wie ein weicher Sammt gegen
glänzenden Atlas“ (Winkelmann a. a. O. S. 105). Wenn die Griechen
durch die Einreibung von geſchmolzenem Wachs den körnig durchſichtigen
Charakter des Marmors zuklebten, ſo war dieß offenbar eine Vorarbeit
der Polychromie, von der wir hier noch ganz abſehen. Es ergibt ſich
aus dieſem reinen Charakter des Marmors, daß er ſich nicht nur für die An-
muth, für die weibliche Schönheit, ſondern höher für alle Geſtalten eignet,
die im Mittelpuncte des reinen Ideals ſtehen, indem das Allgemeine der
Natur und Menſchheit in ihnen mit dem möglich mildeſten Zuſatze des
Beſonderen gemiſcht iſt: der reine Aether des reinſten Seins gegenüber
der vom Lichte des Ewigen wohl überſtrömten, aber in ſich vom Erden-
dunkel härter beſtimmten, iſolirteren Exiſtenz der Erzgeſtalt. Daß im Mar-
mor, obwohl er leichter zu bearbeiten iſt, als viele andere Steinarten,
nicht die kühnen Stellungen möglich ſind, wie im Erze, dieß ſtimmt ganz
mit der Ruhe des Ideals; er iſt auch nicht ſo dauernd, als dieſes, da-
durch iſt nahe gelegt, daß dieß zartere Gebilde von ſchützenden Mauern
umfangen ſei: der Gott gehört in den Tempel, der eherne Held trotze
draußen dem Wind und Wetter und jener edle Roſt, die grüne Patine,
die ſich mit der Zeit um die Bronce legt, zunächſt ein Kennzeichen der
Aechtheit des Metalls, ſchmücke die ausharrende Kraft wie das Moos
die ehrwürdige, in Stürmen ausdauernde Eiche.
[378]
Jede Zuthat von Farbe zu der Nachbildung der feſten Form, welche
ſich nicht mit gewiſſen Andeutungen begnügt, iſt durch den reinen Begriff der
Bildnerkunſt an ſich ausgeſchloſſen. Der nähere Maaßſtab für die Beurthei-
lung dieſer Uebertragung der einen Art der Phantaſie auf die andere liegt in
dem Beſonderen der geſchichtlichen Zuſtände der Kunſt. Die Bildnerkunſt be-
darf jedoch immer gewiſſer Licht- und Schattenwirkungen, welche, obwohl durch
ihre eigenen techniſchen Mittel bewerkſtelligt, doch über das rein Plaſtiſche
hinausgehen.
„Zuthat“ bedeutet, nachdem eine ſchon im Materiale liegende ſtärkere
Farbenwirkung bereits abgewieſen iſt, eine Verbindung der Farbe mit
dem Bildwerk durch eine ausdrückliche techniſche Nachhülfe, Miſchung im
Erzguß, Aufmalen, Einſchmelzen. Der §. läßt nur „gewiſſe Andeutun-
gen“ zu; beſtimmter konnte der Spielraum im Allgemeinen nicht bezeich-
net werden, als durch dieſen Ausdruck, der nur die volle und ganze Far-
benwirkung deutlich und ſchlechthin ausſchließt. Vom rohen, grellen An-
ſtreichen thönerner und hölzerner Cultusbilder, was gewöhnlich mit
einem völligen Ankleiden Hand in Hand geht, iſt hier nicht die Rede,
dieß iſt primitives Kinderwerk, das nur im Oriente Gewohnheit blieb;
bei Götterbildern war die einfach ungebrochene Farbe ſymboliſch; im
claſſiſchen Lande wurde dieß blos vereinzelt bei Cultusbildern beibehalten,
welcher ein beſonderes Herkommen die Symbolik der Farbe (wie den
rothen Anſtrich mancher Bachusbilder) und den Puppen-Charakter be-
wahrte. Es handelt ſich hier von reifer Bildnerkunſt und einem ſolchen
Bemalen ihrer Werke, wodurch mit der Nachahmung der feſten Form Alles
verbunden werden ſoll, was der Maler an ſeinem Gegenſtande nach-
ahmend wiedergibt. Dieß iſt nun alſo ſtreng und einfach abzuweiſen.
Der Grund für dieſe Abweichung liegt zunächſt ſchon im wahren Begriffe
der Naturnachahmung: die Lebendigkeit der Natur ſoll nur in einem
reinen, nicht in einem gemein täuſchenden Scheine nachgeahmt werden,
(vergl. §. 379 und §. 513, 2.) Ein ſolcher gemeiner Schein entſteht
aber, wenn eine Kunſtform, die in einem beſtimmten ſinnlichen Materiale
thätig und an deſſen Ausſchließlichkeit gebunden iſt, mit der Wirkung die-
ſes Materials die Wirkung eines weſentlich andern verbinden will, in-
dem ſie vergißt, daß das Vollkommene gerade durch die Iſolirung der
Erſcheinungsſeiten, durch die Theilung der Arbeit erreicht wird (vergl.
§. 533). Vollkommen zeigt dieß die Wachsfigur und man kann an ihr
lernen, was in der gemeinen Täuſchung eigentlich enthalten iſt: indem
ſie mit der feſten Form das volle Colorit verbindet, überraſcht ſie
[379] im erſten Augenblick durch die Illuſion, als trete man vor eine leben-
dige Geſtalt; bei näherem Hinſehen aber erfährt man, was die Folge
iſt, wenn die Kunſt mit der Natur in dem, was nur dieſer eigen iſt, in
dem Eindruck des unmittelbar Lebendigen wetteifern will, die Kluft wird
nur um ſo tiefer gefühlt, die Unmöglichkeit, ſie zu überſpringen, kommt
nur um ſo ſtärker zum Bewußtſein. Dieß bewirken namentlich die ge-
färbten Augen: ihr wechſelnder Lichtpunct kann nur auf Eine Stelle auf-
gemalt werden, trete ich auf eine andere Seite, ſo fehlt er; Glas und
anderes glänzendes Material gibt nicht dieſen Lichtpunkt in ſeiner geſam-
melten Intenſität, ſondern nur den allgemeinen Glanz des Auges wieder.
Der Zuſchauer wäre nun eigentlich enttäuſcht, aber die Täuſchung wirkt
durch ihre plumpe Gewalt in die Enttäuſchung ſo herüber, daß beide
Stimmungen zum Gefühle des Geſpenſtiſchen unheimlich ſich verbinden:
eine lebendigtodte, todtlebendige Larve ſteht vor uns. Eigentlich iſt nun
kein Grund, warum nicht auch die wirkliche Bewegung in dieſes voll-
kommene Abbild aufgenommen werden ſoll, wie dieß öfters theilweiſe bei
Wachsfiguren, ganz bei Automaten geſchieht, an die wir zu §. 599 ſchon
erinnert haben. — Hat nun eine Kunſt, die im Uebrigen hoch ſtand, voll-
ſtändig, d. h. mit Durchführung aller Farbenverhältniſſe, wie ſie der le-
bendige Körper zeigt (es handelt ſich hauptſächlich von Incarnat, Ge-
wänder ſind unwichtiger, Licht und Schatten fallen, als durch die feſte
Form ſchon gegeben, natürlich weg), ihre Bildwerke bemalt, ſo muß
dieß ſeine Erklärung in beſondern kunſtgeſchichtlichen Verhältniſſen finden.
Gethan hat dieß das Mittelalter, vorzüglich an Schnitzbildern, weniger
vollſtändig bei Statuen in Stein; es iſt eine entſchiedene Uebertragung
der maleriſchen Phantaſie auf die plaſtiſche, welche nur darum erträglich
iſt, weil ſie im großen geſchichtlichen Zuſammenhang eines Kunſtſtyls ihre
Stelle hat, den wir in ſeiner mildernden Rückwirkung auf dieſen Ueber-
griff ſeines Orts darzuſtellen haben. Von der eigentlich maleriſchen Be-
malung iſt nun als zweite Stufe zu unterſcheiden ein beſtimmtes Angeben
aller Localfarben, wiewohl ohne Verſuch, die feineren Töne und Ueber-
gänge, die zärteren Einzelheiten, die Reflexe wiederzugeben, und wir
faſſen mit ihr ſogleich eine dritte Stufe zuſammen, welche nicht alle Localfar-
ben, ſondern nur einige angibt. Da wir die grelle Uebermalung dem Kind-
heitszuſtande unſerer Kunſt zugewieſen haben, ſo handelt es ſich auch bei der
zweiten Stufe nur um einen milden Anflug ſämmtlicher Localfarben, ins-
beſondere des Incarnats. Die erſte Stufe gleicht dem Oelgemälde, die
zweite einem Steindruck, deſſen Ganzes mit nur andeutenden Tönen über-
malt iſt, die dritte einem ſolchen, worin nur einzelne Localtöne angege-
ben ſind, das Uebrige in Licht und Schwarz gelaſſen iſt, wie es aus der
Hand des Lithographen kommt. Hätte die griechiſche Sculptur, nachdem
[380] ſie das grelle Anſtreichen, das ſie vom Orient, namentlich Aegypten, über-
kam, hinter ſich hatte, die erſte dieſer Verfahrungsweiſen ſich angeeig-
net, ſo könnten wir hier nicht die beziehungsweiſe Rechtfertigung in Aus-
ſicht ſtellen, wie ſie derſelben Behandlung des Bildwerks im Mittelalter
zu gute kommen muß, wenn wir ſie geſchichtlich näher betrachten werden.
Die Bildnerkunſt hatte im claſſiſchen Ideal eine Selbſtändigkeit, durch
welche der Uebergriff ſchreiend hervorgetreten wäre. Es hat ſich nun
aber mit der Polychromie der griechiſchen Plaſtik in der Zeit ihrer Blüthe
offenbar ſo verhalten, daß ſie die erſte Stufe mied und ſich frei zwiſchen der
zweiten und dritten Stufe bewegte, indem der einzelne Künſtler
wie es ihm paſſend ſchien, mehr oder weniger ſein Werk dem maleriſchen
Eindruck näherte, wiewohl keiner ihn in ſeinem ganzen Umfang mit der
plaſtiſchen Schönheit zu vereinigen ſuchte. Alle Ergebniſſe der neueren
Forſchung zeigen, daß allerdings die zweite Stufe des Verfahrens ſehr
gewöhnlich war. Der Hauptbeweis iſt dieſer: es war, wie aus ſo vielen
Beiſpielen hervorgeht, ſelbſt in der beſten Zeit und nicht blos bei chrys-
elephantinen Werken, wie jene des Phidios und Polyklet, deren Edel-
ſtein-Augen bekannt ſind, ſondern auch bei Erz- und Marmor-Arbeiten
verbreiteter Brauch, farbige Augäpfel einzuſetzen, die Iris mit Pupille
von einem Edelſtein oder einem andern dunkeln durchſichtigen Stoffe,
das Weiße des Auges war im Marmor gegeben, doch ſcheint es auch
von Elfenbein eingeſetzt worden zu ſein, bei Erzguß waren Silberblätt-
chen gewöhnlich. Dieß läßt offenbar ſchließen, daß, wo die Spuren ſol-
cher Einſetzung fehlen, das Auge bemalt war. Mit vollem Rechte macht
nun Hittorf gegen Kugler, der dieß zugibt, aber keinen Fleiſchton an-
nimmt, geltend, daß das farbige Auge, wenn nicht zugleich dem Nackten
des Körpers ein ſolcher Ton gegeben worden wäre, unerträglich geſpen-
ſtiſch ausgeſehen hätte. Die Einſchmelzung von Wachs in den Marmor,
wo er das Nackte darſtellte, haben wir ſchon bezeichnet als ein Verfahren, das
als Erſtickung der charakteriſtiſchen Schönheit dieſes Materials nur begreif-
lich iſt, wenn ihm die Auflegung eines Farbentons folgte. Dann muß-
ten aber auch die Lippen eine Andeutung ihres ſtärkeren Rothes bekom-
men; dieſe war daher ſchwerlich auf den äginetiſchen Styl beſchränkt,
an deſſen Werken die Spuren ſich bekanntlich finden. Die Haare mußten
folgen; Spuren von Vergoldung, von Einfügung aus vergoldetem Metall
ſind bekanntlich nicht ſelten. Nun fehlt nur noch die Bekleidung, die,
wenn einmal das Uebrige bunt war, gewiß nur weiß blieb, wenn ſie
weiß erſcheinen ſollte, übrigens auch dann ihren farbigen Saum erhielt.
Gürtel, Schmuck, Waffen u. ſ. w. ebenfalls bemalt, oder von Erz, ver-
goldetem Erz, Gold angeſetzt. Dieſe polychromiſche Behandlung war nun
zwar keine ganz maleriſche, ſie blieb im wichtigſten Theil, im Fleiſche,
[381] bloßer Anflug, aber auch ſo überſchreitet dieſe zweite Stufe den Spiel-
raum, den der §. durch den Ausdruck „gewiſſe Andeutungen“ offen läßt.
Wir können ſelbſt Angeſichts der einzig reinen Begabung des griechiſchen
Auges für Erfaſſung der feſten Form als ſolcher und der herrlichen Voll-
endung der Kunſt, die auf dieſes Auge ſich gründete, dieſes Urtheil nicht
opfern, nicht dem geiſtvollen A. Feuerbach beitreten, wenn er dem wahren
Grundgedanken ſeiner mehrerwähnten Schrift, wonach die griechiſche Plaſtik
nicht auf todte Ruhe, ſondern auf Leben und Beſeelung drang, die beſon-
dere Anwendung gibt, daß er die maleriſche Behandlung als „eine zarte
Vermittlung des Ewigbleibenden in der Natur mit dem bunten Glanze
der Erſcheinung, einen ſanften Uebergang aus dem geheimnißvollen Tempel
der Kunſt in das helle Gebiet der Wirklichkeit, eine Lockung auch des
blöderen Auges durch den Zauber eines bunten Sinnenſcheins zur ernſten
Betrachtung des höhern poetiſchen Scheines“ gegen „eine Theorie, welche
jedes ſtoffartige Intereſſe als Entwürdigung der Kunſt verwehrt“, in
Schutz nimmt. Wir ſuchen einen andern Ausweg, die Vergleichung mit
dem griechiſchen Drama. Die Dichtung und die reine Mimik war hier
mit Muſik, Geſang, Tanz in einer Weiſe vermählt, welche uns unmög-
lich als Muſter dienen kann; die geſchichtliche Entwicklung der Kunſt hat
zu einer Trennung dieſer Formen nothwendig geführt. Die großen
Tragiker bleiben uns gleich groß, obwohl wir ſie darin, daß ſie im Sinne
dieſer Kunſt-Verbindung dichteten, nimmermehr nachahmen können, und
wie wir von Aeſchylos und Sophokles das Bleibende, rein dichteriſch
Schöne ohne das Recitativ und Geſang und marſchartigen Tanz des
Chors genießen und unſerer Poeſie aneignen, ſo ſtreifen wir den Werken der
großen Bildhauer die Farbe ab, die ihnen als vergänglichen, nur in einem
beſondern Momente der Kunſtgeſchichte begründeten Anflug ohnedieß die
Luft und der Regen ebenſo abgeſtreift hat, wie dem griechiſchen Tempel.
Das lebendige, unmittelbare Ineinander, worin alle Künſte zuſammen ſich
bewegten, war ein unendlich fruchtbarer Zuſtand; wir haben durch die
Trennung verloren und gewonnen, wie denn durch alle Trennung der
Zweige des Lebens die Fülle naiver Unmittelbarkeit verloren geht und
doch das wahre Weſen des einzelnen Zweigs reiner entwickelt wird.
Daß gerade die Bildnerkunſt dieſen Vortheil weniger genießt, als das
Drama, hängt mit Hinderniſſen zuſammen, die anderswo liegen; das
erkannte Geſetz der Farbloſigkeit iſt es nicht, was einer Blüthe der
Plaſtik in der modernen Zeit entgegenſteht, ſondern der mangelnde
Boden der Lebensbedingungen und Culturformen. Es bleibt nun die
dritte Stufe, das Gebiet der zuläſſigen Andeutungen, zurück: aufgemalte
bunte Kleiderſäume, ſchwacher Ton an einzelnen Gewandſtücken, Vergol-
dung von Diademen, Attribute, Waffen u. ſ. w. von Erz, etwa noch An-
[382] deutung eines dunkleren Tons an den Haaren. Die Akrolithen, die Ver-
bindungen von gemeinem Stein im Hauptkörper mit Marmor an Kopf
und Extremitäten, von Holz und Gold, Elfenbein und Gold nebſt reichem
Farbenſchmuck an Scepter, Thron, Schild u. ſ. w., kann man hieher
rechnen. Die Griechen ſpielten zwiſchen dieſen Andeutungen nach Gutdünken
oder Umſtänden umher und griffen ebenſo unbeſtimmbar nach der zweiten Stufe
der Bemalung hinüber. Die Aufſtellung einer Statue, der Hintergrund,
auf dem ſie geſehen wurde, ob bunter oder einfärbiger, die Bemalung
des Grundes bei Relief und Giebelfeldgruppe war wohl dabei von be-
ſtimmendem Einfluß. Der beſcheidenere Grad, die blos punctuelle An-
deutung, Umſäumung, ſcheint es, was Plinius circumlitio nennt (vergl.
O. Müllers Handb. d. Arch. d. Kunſt S. 431 Anm. v. Welcker); ſie er-
ſcheint zierlich an der Diana aus Herculanum im Muſeum zu Neapel und
wurde durch beſondere Techniker, die Enkauſten, Vergolder und Bemaler
der Statuen beſorgt, die natürlich nach Verlangen auch die ausgedehntere
Bemalung ausführten. Das Auge konnte in dieſer nur punctuellen
Andeutung nicht durch farbige Mittel bezeichnet ſein, weil das Fleiſch auch
nicht angegeben war; aber es konnte nach Umſtänden durch Eingrabung
des Randes der Iris und vertiefte Höhlung der Pupille hervorgehoben
werden. Einzelne Farben-Andeutungen im Erzguß, Vergoldungen oder
Einlegung von Gold, Silber an Schmuck und Waffen gehören zu dieſem
Syſteme des leichteren polychromen Anflugs, nicht aber die Spielerei,
durch Zuſätze zur Erzmiſchung die Schamröthe eines Athamas, die Todten-
bläſſe der Jokaſte nachzuahmen, am allerwenigſten jene oben erwähnten
Augen von Silber und dunkeln Steinen, denen hier kein über das Nackte
verbreiteter Fleiſchton das mildernde Gegengewicht gab, welche daher im
Erzguß abſcheulich bleiben, und wenn es hundertmal Griechen waren,
die ſie einſetzten. Im Uebrigen und Ganzen darf das Prinzip der reinen
feſten Form nicht bis zur Verwerfung und blos hiſtoriſchen Entſchuldigung
auch dieſer dritten Stufe angeſpannt werden. Wir werden noch auf an-
dern Puncten ſehen, daß die Abſtraction der Plaſtik keine abſolute iſt.
Ein leichter Traum, eine erblaſſende Reminiſcenz oder, wenn man will,
ein erſter ferner Strahl der Farbe kann die Form umſäumen, ohne
darum ihre weſentliche Wirkung zu zerſtören, und ſo muß es auch dem
modernen Bildhauer erlaubt ſein, Schmuck, Haare, Waffen zu vergolden, einen
Kleiderſaum zu bemalen und dergl. Für ſchlechthin nothwendig hielten
aber die Griechen auch dieſen Anflug nicht; die Knidiſche Aphrodite und
viele andere berühmte Statuen waren nach ausdrücklichem Zeugniß (Lu-
cians Bilder 7) farblos. Es bleibt dabei, daß dieß das eigentliche reine
Kunſtgeſetz iſt. — Es handelt ſich nun nur noch um die Bildung des
Auges bei völliger Farbloſigkeit. Es iſt wahr, daß gerade hier, wo die
[383] Körperlichkeit ſich ganz in die Idealität der farbigen Durchſichtigkeit mit
dem intenſiven Lichtpuncte aufhebt, die Abſtraction der bloßen Form zur
unerträglichen Härte zu werden ſcheint. Zunächſt jedoch hat der Bild-
hauer Mittel, das Auge ohne weitere Beihülfe zu beleben: er legt es
tief und beſchattet, doch im Schatten ſchwungvoll rund hervorgewölbt,
zwiſchen den ſcharf erhöhten Augenknochen, die Naſe und den mäßig ver-
ſtärkten Backenknochen (Winkelmann Geſch. d. Kunſt Band 2 S. 198
ff.). Eine leiſe Veränderung in dieſen Formen, in den Hügeln und
Senkungen umher und in der Höhle, erzeugt die bedeutendſte Wir-
kung im Ausdruck; die zarten Licht- und Schatten-Uebergänge geben
jenen fernen Anſchein des Blicks, wie er gerade dem Weſen der Plaſtik
entſpricht. Hiezu wirkt aber hauptſächlich die Behandlung des Augen-
lids. Es tritt ſchon in der Natur bei einem glücklich entwickelten Men-
ſchenſchlage (vergl. zu §. 318 S. 163) als ſtark ausgeladenes, faſt rund
übergewölbtes Geſimſe hervor, die Kunſt verſtärkt dieß und nun gibt die
leiſeſte Linie engerer Zuſammenziehung (ὑγρὸν in den Augen der Venus),
weiterer Oeffnung u. ſ. w. die tiefſte Veränderung des Ausdrucks. Dieſe
Mittel genügen bei Geſtalten, die dem Kreiſe ruhiger, reiner Idealität
angehören. Bei beſtimmteren, realer bedingten Naturen aber, nament-
lich wenn ſie in einer ſpeciellen Situation, einem Zuſtand entſchiedener
Erregung, geſpannter Thätigkeit aufgefaßt ſind, drängt ſich das Bedürf-
niß einer beſtimmteren Andeutung des Auges auf: dieß iſt die ſchon er-
wähnte Eingrabung der Pupille und Einritzung des Iris-Randes; ſtreng
genommen unplaſtiſch, weil durch eine Vertiefung der Schein eines nicht
Vertieften, ſondern durch Farbe, Licht und Dunkel ſich Hervorhebenden
erzeugt wird. Die aufgeregten Köpfe der Coloſſe von Monte Cavallo
wären ohne dieſen letzten, Beſtimmtheit gebenden Punct nicht erträglich;
das Aſtragalen-ſpielende Mädchen ſieht auf eine beſtimmte Stelle, ſie be-
darf auch ſolcher Augenſterne. Daſſelbe gilt von der Bildnißſtatue; die
Individualität im engeren Sinn fordert ebenfalls dieſe punctuelle Zuſam-
menfaſſung in der Behandlung des Auges. Dagegen das Weſen, das
im Aether des Allgemeinen ruhig wohnt und thront, iſt nicht ebenſo
in den Punct der Individualität zuſammengefaßt, richtet den Blick nicht
ſo beſtimmt auf Einzelnes, iſt nicht nach außen ſo ſpeziell geſpannt; da
genügen jene feineren Mittel in der Behandlung des Auges und der um-
gebenden Parthieen überhaupt. Es iſt jedoch ſchon bemerkt, daß auch
dieſe über das plaſtiſche Prinzip in der abſoluten Strenge ſeines Be-
griffes hinausgehen; ſie ſind in Wahrheit bereits maleriſch. Solche
über die rein plaſtiſche Styliſirung hinausgehende maleriſche Hülfen kann
nun aber die Bildnerkunſt auch in andern Theilen nicht entbehren. Sie
kann die Formen der Muſkel und Gewandfaltung nicht ſchlechthin ſo
[384] behandeln, wie es die ideale Läuterung und Erhöhung des Empiriſchen
in ihren rein allgemeinen Bedingungen mit ſich brächte, ſie muß auf
das Verhältniß der Bildſäule zum Standorte des Zuſchauers nach Höhe
oder Tiefe, Nähe oder Ferne Rückſicht nehmen; manche Abweichungen
von der ſtrengen Proportion, Ungleichheiten der Ausführung, Unregel-
mäßigkeiten ſind dadurch bedingt, die nur der bemerkt, der den vom Künſt-
ler perſpectiviſch berechneten Ort verläßt und das Werk in größerer Nähe,
von anderer Seite beſchaut. Spezieller muß die Behandlung der Einzel-
formen, der Knochen, Muſkeln, Gewandfalten vielfach auf einen Schein
arbeiten, der maleriſch zu nennen iſt: Erhöhungen, breite Maſſen, tiefes
Ausmeißeln, Unterhöhlen, ſcharfes Abkanten müſſen dem Auge des Zu-
ſchauers nachhelfen, damit es die Form ſo ſehe, wie ſie geſehen ſein will,
genau betrachtet aber in Wirklichkeit nicht iſt, vergl. Feuerbach a.
a. O. S. 189 ff. Von einer falſchen Uebertragung des Maleriſchen
auf das Plaſtiſche, wie wir ſolche in der Zeit der Manieriſten werden
eintreten ſehen, iſt dieſes berechtigte und nothwendige Hinüberneigen in
den maleriſchen Schein wohl zu unterſcheiden.
Die Raumloſigkeit des Bildwerks (§. 599) kann nicht in völliger Ab-
ſtraction zur Durchführung kommen: ein Poſtament trennt es vom natürlichen
Boden; es ſteht, da die innere Verwandtſchaft mit der Baukunſt ſich auch als
äußere Verbindung geltend macht, zu architektoniſcher Umgebung, ebenſo zu
landſchaftlicher, in einem Verhältniß der Abhängigkeit, das ſich jedoch in
das äſthetiſche einer geiſtigen Erinnerung des Schauplatzes verwandelt, in wel-
2.chem die dargeſtellte Perſönlichkeit wirkend vorgeſtellt iſt. Das Größenver-
hältniß der Statue iſt demnach ein relatives, aber nur bis zu einer gewiſſen
Grenze, denn vergleichen mit dem Gegenſtande der Nachbildung überſchreitet die
Bildnerkunſt in ihrer monumentalen Bedeutung nothwendig das natürliche Maaß
und fügt zu dem Erhabenen der Form das räumlich Erhabene. Größe der
Aufgabe und des Maaßſtabs der Umgebungen ſteigert dieß zum Coloſſalen,
das jedoch an dem Geſetze der Ueberſchaulichkeit organiſcher Schönheit ſeine
Schranke hat.
1. Es iſt ſchon zu §. 608 bemerkt, daß ſich, wie bei der Frage über
die Farbe, ſo noch auf andern Punkten zeigen werde, wie die Abſtraction
der Plaſtik keine abſolute ſei, und zu §. 606 bereits auch angekündigt,
was ſich uns nun aufdrängt: es erleidet nämlich auch das Grundgeſetz,
daß ſie ihrem Werke den Raum nicht mitgibt, eine Beſchränkung durch
das unentbehrliche Poſtament. Wo das Bildwerk nicht durch ſeine Ver-
[385] bindung mit einem Gebäude erhöht oder, als Relief, enger an deſſen
Fläche geheftet iſt, muß es durch eine eigene Baſis über den gemeinen
Boden emporgehoben werden. Allein dieſer einfache, ſparſam gegliederte
und verzierte Würfel iſt doch nicht blos ein Mittel der Erhöhung, der
Trennung vom Empiriſchen; er iſt ein Stück Boden, eine künſtliche Ab-
breviatur des allgemeinen Bodens, die auch darum nicht fehlen darf,
weil ja ſonſt jene Gewichtigkeit und freie Schwere, die wir ebenfalls vom
Sculpturbilde ausgeſagt, gar keine Unterlage hätte, gegen welche geſtemmt
ſie ſich geltend machen könnte. Es wird ſich dieſe Bedeutung des Poſta-
ments noch beſtimmter erweiſen, wenn wir Andeutungen der Landſchaft
werden hinzutreten ſehen. Damit iſt jener tiefere Sinn nicht aufgehoben,
den wir in der „Raumloſigkeit“ des Bildwerks §. 606 fanden; das Poſta-
ment darf durchaus nicht in der Weiſe naturaliſtiſch ausgeführt werden,
daß es an die Continuität des allgemeinen Raums erinnert, wodurch die
Geſtalt, die darauf ſteht, zu einem von umgebender Natur abhängigen
bedingten Einzelweſen würde; es muß weſentlich anſpruchlos, darf nichts
für ſich ſein und es bleibt daher bei jenem Begriffe der Totalität, wo-
nach die Geſtalt ihrem reinſten idealen Weſen nach auch den Raum in
ſich ſelbſt trägt; es liegt hier einer jener heitern Widerſprüche der Phan-
taſie vor, vermöge deren einem Geſchöpfe des Geiſtes ein ſchwacher
Schatten deſſen, was in ihm an ſich aufgehoben, reſorbirt iſt, doch wie-
der äußerlich hinzugefügt wird. Was die Größenverhältniſſe der Baſis
betrifft, ſo ſind ſie natürlich ganz relativ; im Allgemeinen läßt ſich nur
feſtſtellen: es ſoll nicht zu niedrig ſein, ſonſt hebt ſich das Bildwerk
nicht gehörig vom empiriſchen Boden und von den auf ihm wandelnden
empiriſchen Menſchen ab; nicht zu hoch, ſonſt entrückt es die Geſtalt in
ſchattenhafte Ferne der Undeutlichkeit, verkürzt ſie zu falſchen Verhält-
niſſen, läßt ſie zu klein erſcheinen. Es kann ſich aber das Poſtament
auch zu einer Gliederung entwickeln, welche ſich dem Architekturwerke
nähert; in Abſtufungen nimmt es dann untergeordnete Bildwerke auf,
welche auf das oberſte als Zielpunct des Ganzen vorbereiten. Es bildet
ſich ſo eine cykliſche, epiſch reiche Compoſition wie an dem herrlichen
Friederichs-Denkmal in Berlin. — Allein es handelt ſich noch um eine
andere Form, in welcher die Reminiſcenz einer umgebenden Welt dem,
doch in ſich totalen, Werke der Bildnerkunſt anhängt; als Poſtament iſt
dieſe Reminiſcenz vom Künſtler ſelbſt ihm beigegeben, jetzt erſcheint ſie in
Form äußeren Hinzutretens. Die Bildnerkunſt theilt mit der Baukunſt
noch die ſehr beſtimmte Abhängigkeit von einem gegebenen Raume (vergl.
§. 560); wie ihr Werk ſich ausnimmt, hängt ganz von der Stelle ab, wo es
ſteht. Die Umgebung kann für das Bildwerk ſelbſt wieder eine architek-
toniſche ſein und iſt es in den meiſten Fällen gemäß jenem tiefen innern
[386] Zuſammenhang beider Künſte, den wir ſchon hinlänglich beleuchtet haben;
auch aus natürlichen äußern Gründen ſucht die Plaſtik durch Umſchließung ihr
Werk zu ſchützen; doch tritt dieſer Anſchluß nicht immer ein, das Bild-
werk kann auch unmittelbar in landſchaftlicher Umgebung ſtehen. Zunächſt
nun iſt dieß Verhältniß zur architektoniſchen oder landſchaftlichen Um-
gebung ein Verhältniß unfreier Abhängigkeit; dieſe Unfreiheit kann aber
auch hier zu einem freien Motive von Schönheit werden, ja muß es in
den meiſten Fällen, denn daß man für die fertige Statue den Ort erſt
ſucht, iſt der ungewöhnliche, der nicht natürliche Fall. Wird nun aber
das Bildwerk für eine beſtimmte Umgebung meiſtens urſprünglich ent-
worfen, oder muß es doch mit dieſer, wenn ſie erſt für es aufgeſucht
wird, ſtimmen, ſo ſcheinen wir in die Malerei hinüberzukommen, welche
ihre Figuren für eine ſolche Umgebung componirt. Allein der unendliche
Unterſchied bleibt der, daß dieſe Kunſt die Umgebung ſelbſt mitgibt, jene
nicht. Daher tritt auch hier wieder der rein äſthetiſch begründete logiſche
Widerſpruch der Phantaſie auf, daß etwas zum urſprünglich Bezweckten
hinzutritt, was durch daſſelbe an ſich eigentlich überflüſſig geworden wäre.
Die Geſtalt erſcheint in dieſem ſchönen Widerſpruch wie ein Geiſt, der,
den Bedingungen des Daſeins entnommen, aus ſeinem reinen Aether
zur Erde herſchwebt, um in der bedingten und bedingenden Exiſtenz,
die ihn nicht oder nicht mehr bindet, ſich mit freier Seligkeit umzuſchauen.
Dieß „nicht oder nicht mehr“ unterſcheidet die im engſten Sinn ideale
und die zunächſt realer beſtimmte Natur. Der Gott iſt eigentlich das
Weltall ſelbſt, er hat aber eine Welt außer ſich hervorgebracht: er thront
nun in ruhiger Majeſtät in ihrem idealen Abbilde, dem Tempel. Vom
Standpuncte der ſtrengſten Logik betrachtet wäre ſchon die Tempel-Auf-
ſtellung ein Widerſpruch, denn das abſolute Weſen wohnt eigentlich
nicht. Doch iſt der Tempel eine unendliche Abbreviatur des Naturlebens,
ideales Gebilde wie der Gott ſelbſt. Neben dieſem idealen Abbild breitet
ſich das reale Urbild deſſelben als empiriſche Natur aus, worin der Gott,
als lebendes Weſen vorgeſtellt, waltet. Eigentlich iſt ſchon dieſe Vor-
ſtellung des Waltens ein Widerſpruch, denn er iſt die Natur, ſie iſt in
ihm zum Individuum aufgehoben, alſo kann ſie, ſtreng genommen, nicht
neben ihm auch ſein. Sie iſt aber doch neben ihm; er iſt der Geiſt der
Sonne, des Luftraumes, des Meeres, der Erde, dieſe ſind der Körper
des Geiſtes, neben dem der Geiſt eigentlich nicht überdieß einen beſondern,
individuellen Körper beſitzen kann, er beſitzt ihn aber doch und neben ihm
breitet ſich jener nicht individuelle Körper aus. Wird nun der Gott in
Kunſtgeſtalt hineingeſtellt in dieſen ſeinen Schauplatz, ſo iſt der Wider-
ſpruch noch vollſtändiger, denn die ideale Zuſammenziehung der äußern
Natur iſt nun im Götterbilde bis zur geſchloſſenen Verfeſtigung vollzogen;
[387] aber auch dieß hält die Phantaſie von ihrem ſchönen Verdoppeln nicht
ab und der Gott in voller Kunſt-Erſcheinung ſchaut ſich nun um im
Schauplatze ſeines Wirkens, Poſeidon thront am Meere, Diana wohnt
im Haine und Athene überſchaut freundlich ſchützend, dem Feinde feindlich
ihr geliebtes Attika mit den heiligen Oelwäldern, die ſie ſelbſt gepflanzt.
Untergeordnete Genien, die nicht ebenſo wie die hohen Götter aus Na-
turgeiſtern zu ſittlichen Weſen erhöht ſind, finden ihre Stätte noch beſtimm-
ter in Hainen, Wäldern, Gärten, an Quellen, Flüſſen. Werden nun die
höheren Weſen in ihrer ethiſchen und politiſchen Bedeutung gefaßt, ſo
führt dieß entweder zur Aufſtellung im Tempel, wovon wir ſchon geſpro-
chen, oder in einer geöffneten architektoniſchen Umgebung, und der Sinn
der letzteren Aufſtellung iſt derſelbe wie der landſchaftlichen: Ackerbau,
Gewerbfleiß, Handel, Geſittung, Geſetz, Recht, Krieg, Staat ſind im
Gotte repräſentirt, dieß überſetzt die Phantaſie in die Vorſtellung, er habe
ſie gegründet und regiere ſie, und die Kunſt errichtet nun ſein Bild am
Hauſe des Gerichts, der Erziehung, den Hallen des Markts, auf der
Burg; er iſt da im Seinigen zu Hauſe, ſchaut ſich um und ebenſoſehr
bleibt er ſelbſtgenugſam in ſich und iſt das Alles ſelbſt. So nun auch
der Heros, der ausgezeichnete Menſch in ſeiner ethiſchen, nationalen Be-
deutung: als Sculpturbild iſt er verewigt und über den Schauplatz ſeines
Wirkens unendlich hinweggehoben, aber die reine Geſtalt verläßt ihren
Himmel, verweilt freundlich in den Straßen, Plätzen, wo ſie gewirkt; der
Krieger hütet Burg und Zeughaus, der Dichter ſtellt ſich am Theater,
der Künſtler am Kunſtgebäude, der Richter am Hauſe der Gerechtigkeit
auf; die Errichtung von Standbildern in Sälen öffentlicher Paläſte kann zu
dieſer nicht geſchloſſenen Aufſtellung gezogen werden, das Heroon iſt es
eigentlich, was hier dem Tempel entſpricht. Die beſondere Art der Kämpfe
und Leiden eines durch die Sage gefeierten Menſchen mag aber auch zur
landſchaftlichen Aufſtellung führen und der vertraute Geiſterbeſuch kann
ohne Verletzung jener idealen Raumloſigkeit ſelbſt ſo eng auf die wirk-
liche Natur bezogen ſein, wie jenes Bild des Narciſſus, das an die
wirkliche Quelle geſtellt in ihrem Spiegel ſich zu beſchauen ſchien.
2. Wenn aus dieſer Beziehung zu umgebendem Raume, ſei er ein
natürlicher oder geöffnete Architektur oder das Innere eines Tempels, die
Relativität der Größenverhältniſſe für die Plaſtik von ſelbſt ſich ergibt,
ſo muß ſich doch in dieſen die Nachbarſchaft der Baukunſt, ihr Herüber-
wirken in die Bildnerkunſt auch abgeſehen von der äußern Beziehung
prinzipiell geltend machen; die verewigende, monumentale Natur, welche
ſie mit jener gemein hat, muß alle Formen ſtrecken und erhöhen und der
Menſch in ihrem Werke gleicht dem Odyſſeus, welchen, da er aus dem
Bade ſtieg, Athene höher an Geſtalt und völliger ſchuf. Unſer Auge
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 26
[388]mißt ja das Bildwerk, wenn auch nicht mit dem Maaßſtabe großer,
maſſenhafter Umgebungen, doch immer der umwandelnden Menſchen, und
wenn ein altes Geſetz gebot, die Statuen der Sieger in den Feſtſpielen
nicht über natürliche Größe zu bilden, ſondern dieſe Ehre den Göttern
vorzubehalten, ſo mußte in irgend einem Maaße doch die ſtyliſirende,
keine mangelhaft entwickelte Form duldende Kraft der Kunſt immer zu
einem Uebertreten deſſelben führen. Ein Werk, das nur natürliche Lebens-
größe hat oder unter ihr iſt, kann natürlich immer noch ein Kunſtwerk ſein,
denn das Künſtleriſche liegt ja doch im Qualitativen und wir haben von
der großen Wirkung deſſelben bei ſehr kleinem Maaßſtabe das Beiſpiel
des Herkules Epitrapezius angeführt zu §. 489, aber ganz in ihrem
Weſen iſt die Bildnerkunſt doch nur, wenn ſie die innere Großheit, die
in ihrem Style liegt, auch in äußerer Größe ſo ausdrückt, daß ihr
Werk, hinausgeſtellt in Licht und Luft, oder hineingeſtellt nicht blos in
Prunkgemächer, ſondern in erhabene Hallen öffentlicher Gebäude, in jeder
Meſſung mit Umgebendem noch groß und monumental erſcheint. Es kann
ſo, wie es eine Kabinetsmalerei gibt, nicht eine Kabinetsplaſtik geben;
dieſe wird durch die Kleinheit des Maaßſtabs blos anhängende Zierkunſt,
während jene immer noch ſelbſtändige Kunſt heißen kann. Vereinigt ſich
nun hier überhaupt die qualitative Erhabenheit der Form mit der
quantitativen des Raums, ſo wird auch, je höher das Weſen einer Gott-
heit, deſto näher eine Steigerung der Maaße liegen, welche bis in das
Coloſſale geht; es iſt dieſer innere Grund zunächſt für ſich zu faſſen, denn
der Olympiſche Zeus und das Tempelbild der Athene von Phidias, beide
ohne die Baſis etwa 40 F. hoch, das coloſſale Hero-Bild des Polyklet
in Argos thronten in Tempeln, deren Verhältniſſe mit dem Werke des
Bildners in Uebereinſtimmung ſchon urſprünglich entworfen waren. Das
Alterthum gönnte ſolche Ehre den höchſten Landesgöttern und erhabenſten
Götterſöhnen; in der neueren Zeit wird die Monumentſtatue des großen
Mannes coloſſal ſein dürfen, ohne dem Vorwurfe vergötternder Schmei-
chelei zu verfallen, wie die Kaiſercoloſſe Roms; fein aber bemerkt A.
Stahr (Deutſch. Muſ. v. Prutz. 1852 N. 9.), daß nicht ebenſo für
Dichter und Denker das coloſſale Maaß ſich eigne, wie für die prak-
tiſchen Naturen, die an ſich ſchon im Gebiete des Maſſenhaften, quanti-
tativ Erhabenen ſich bewegen. Zur Höhe der Aufgabe an ſich kann aber
nun die Meſſung mit großen Verhältniſſen der umgebenden, nicht urſprüng-
lich mit der Statue zuſammengehörigen Architektur oder der Landſchaft
treten und ſo war es wohl motivirt, daß die Athene Promachos, über 70
Fuß hoch, weit über Land und Meer hinaus ragte. Dagegen muß
es auch eine Grenze geben, jenſeits welcher eine falſche Uebertra-
gung der architektoniſchen auf die bildneriſche Phantaſie im Maaßſtabe der
[389] Größe eintritt. Die Verhältniſſe des Bauwerks, weil ſie nicht Nachbil-
dungen der organiſchen Schönheit ſind, wirken in einer Entfernung des
Zuſchauers, in welcher organiſche Formen längſt ſeinem Auge wahrnehm-
bar zu ſein aufhören; ſteigt nun ein Bildwerk zu einer Größe hinan
wie Bauwerke, ſo findet er gar keinen Standpunct, ſeine Formen zu er-
faſſen, denn in der Nähe überſchaut er ſie nicht als Ganzes und in der
Ferne zerfließt ihm das Einzelne. Der Orient und die ſpätere griechiſche
Kunſt in den Sonnencoloſſen von Rhodus, namentlich dem größten von
70 griech. Ellen, die römiſche im Coloſſe des Nero von 110 F.
haben in prunkender Ausſchweifung dieſe Grenze überſchritten.
Der Umfang des Darſtellbaren, zunächſt nach der allgemeinen
Sphäre des Stoffs betrachtet, faßt außer dem menſchlichen Leben auch das
thieriſche in ſich, deſſen edlere Arten zu dem Gediegenen und Ungetheilten
des menſchlichen Daſeins, wie es die Plaſtik zu erfaſſen hat, ſich wie vorbil-
dende Typen verhalten. Freundliche oder feindliche Zuſammenſtellung des
Thiers mit dem Menſchen ſetzt durch den der unmittelbaren Vergleichung ge-
gebenen Maaßſtab den Unterſchied der Kräfte und Formen in geſteigertes
Licht.
Der §. geht zu einer neuen Seite über, die aber auch unter den Be-
griff der äußern Beſtimmtheit gehört, wie ſolcher relativ von dem Begriffe
der innern zu trennen iſt: zu der Frage nach dem Umfange des Stoffs,
ganz im Allgemeinen, in Beziehung auf die Sphären des Naturſchönen
gefaßt. Die Landſchaft iſt (§. 599) weggefallen; wir werden jedoch noch
einmal auf ſie zurückkommen. Das Thier iſt bisher neben der Hauptauf-
gabe der Bildnerkunſt, der Darſtellung des Menſchen, ohne nähere Be-
gründung da und dort als Stoff angedeutet. Es iſt zunächſt die feſtge-
goſſene Compactheit, die abgerundete Beſtimmtheit ſeiner Geſtalt und
Bewegungen, was dieſer Kunſt der klaren Form unmittelbar zuſagen
muß. Wie alle Kunſt harmlos nicht unmittelbar auf Gehalt losgeht,
ſondern von richtigem Blicke geleitet die Formen ergreift, die ihren Styl-
bedingungen zuſagen, ſo erfreut ſich die Plaſtik an dem Geſchwungenen,
Vollen, Runden ſchon der Linie an ſich. Der Kopf einer Taube, Ente, um
ganz anſpruchloſe Beiſpiele zu brauchen, iſt plaſtiſch ſchön und lädt zum
Nachbilden im plaſtiſchen Sinn ein. Die höheren Säugethiere, die
Vielhufer und Einhufer, die bedeutendſten Pfotenthiere, Katze und Hund,
vereinigen eine Fülle ſolcher ſchwungvoller Formen; man ſehe nur z. B.
wenn der Löwe oder der ſtärkere Hund liegt, die ſchöne Linie der Hinter-
backen, wie ſie an der ſchlanken Einziehung des Kreuzes ſich herausſchwin-
gen. Am Geſchlechte der Schaafe mag den Maler die eigenthümliche
26*
[390]Stimmung, das Genährige, Dumpfe anziehen, den Bildhauer erfreut die
Form eines Widderkopfs ſchon im Zug ihrer Linien. Die Lehre vom
Naturſchönen hat überall in kurzen Zügen das Weſentliche angedeutet,
auch über den Unterſchied der plaſtiſchen und maleriſchen Seite Winke
gegeben. Nun aber kann es ſich doch auch in der bildneriſchen Auffaſſung um
die Form nur in ihrer Einheit mit der ſeeliſchen Belebung handeln; das
Thierleben iſt ein unfreies, bewußtloſes, ſeine körperliche Bildung nur
der Ausdruck dieſer dunkeln Seele, und da fragt es ſich, wie eine Kunſt,
welche kein Mittel hat, eine Lebensſtufe, die in dieſe Niedrigkeit gebannt
iſt, durch die Farbe und den Stimmungshauch umgebender Natur in
einem gewiſſen lockernden, dem geiſtigen Ausdruck nähernden Sinne zu
durcharbeiten, dennoch berechtigt und gerufen ſei, dieſelbe ganz für ſich, ja
ein einzelnes Thier als würdigen Gegenſtand zu behandeln. Geiſt in
Naturform iſt Aufgabe der bildneriſchen Darſtellung, ein in ſich ungebro-
chenes, ungetheiltes, naives Seelenleben hat ſie zur Erſcheinung zu brin-
gen. Ein ſolches iſt nun im Thiere ſozuſagen zu vollſtändig vorhanden.
Es iſt vielſeitig in Empfindungen und Trieben, es zeigt beſtimmte Ana-
loga mit dem geiſtigen und ſittlichen Leben des Menſchen, aber Alles liegt
im Schooße bewußtloſen Dunkels gebunden. Dieſer Ueberfluß von Natur
liegt jedoch für den plaſtiſchen Standpunct der richtigen äſthetiſchen Mitte
um ſo viel näher, als der Ueberfluß von Geiſt, daß ſie gerade mit Vor-
liebe bei ihm verweilen wird wie einem ſichern Hafen, der ſie vor dieſem
unruhigen Meere des einſeitig Geiſtigen, der ſinnlich ausgeſogenen, geiſtig
verblaſenen Natur ſchützt. Die richtige Mitte wird eine Menſchheit ſein,
wie wir ſie §. 350 von den Griechen ausgeſagt haben: „das Individuum
athmet Geiſtigkeit in Form edlerer Thierheit“, vergl. dazu Anm. 3. Iſt
ebendamit der Grund ausgeſprochen, warum das thieriſche Leben dem
menſchlichen, wie es die Plaſtik braucht, näher liegt, als ein überbil-
detes menſchliches, ſo heben ſich aus dieſer allgemeinen Nachbar-
ſchaft auch beſtimmte Bilder näherer Analogie hervor. Menſchen wie
die, von denen Göthe zu ſagen pflegte: es iſt eine Natur, erinnern häufig
an gewiſſe Thier-Typen, oder umgekehrt, in der Thierwelt treten Typen
ſo ausgeprägter Natur hervor, daß ſie wie vorbildend für menſchliche
Charaktere, als Charakter-Typen erſcheinen. Adler, Stier, Eber, Hirſch,
Widder, Roß, Löwe, Hund für das Komiſche, ſoweit die Bildnerkunſt
ſich in es einlaſſen kann, Hahn, Eule, Storch, Ziege, Elephant, Bär,
Fuchs ſind ſolche Erſcheinungen, die gerade durch die einfache Ausſchließ-
lichkeit, womit ein Analogon ſittlicher Eigenſchaft in ihnen als Naturnoth-
wendiges ſich darſtellt, ſich wie von ſelbſt anbieten, um menſchlichen Charak-
teren, ſelbſt wie ſie in die höchſte Idealität als Götter und die dieſem
zunächſt liegende der Genien und Heroen ſich erheben, etwas von ihren
[391] Zügen zu leihen; ebendaher müſſen ſie aber auch als Stoffe für ſich,
worin nun das Analogon als ein ſelbſtändiges Ganzes auftritt und die ver-
gleichende Beziehung nur leicht umherſpielt, der Bildnerkunſt zuſagen. —
Dieſe Beziehung hebt natürlich den Gegenſatz nicht auf und das edelſte
Thier bleibt zugleich ein unendlich Anderes, Niedrigeres, als der Menſch.
Die Bildnerkunſt wird daher mit beſonderer Liebe den unendlichen Vor-
zug in der Aehnlichkeit durch Zuſammenſtellungen zeigen, worin das Thier
als Gefährte, Geſpiele, Diener oder als bekämpfter Feind neben den Men-
ſchen tritt; eine Welt von milden und vollen Contraſten und mitten im
Contraſte von Verwandtſchaften wird ſich eröffnen. Wenn Herkules den
Kretiſchen Stier bezwingt, ſo ſehen wir in ihm das Stierähnliche, zum
menſchlich Heroiſchen erhoben, über die in Formen verwandte rein thieriſche
Erſcheinung ſiegen, wenn er die cerynitiſche Hirſchkuh zu Boden drückt,
ſo meint man ihre zarten, ſchlanken Glieder unter der in vollem Gegen-
ſatze wirkenden Wucht des gedrungenen Heldenleibs krachen zu hören; aber
freundlich tränkt der ruhende Bachus den Panther, in welchem das Heiße,
Leidenſchaftliche, Formenweiche des Gottes thieriſch ausgeprägt iſt, und Apollon
und Artemis, die hirſchähnlich ſchlanken, ſpannen das willige Hirſchpaar
vor ihren Götterwagen.
Der Umfang des Ausführbaren in Beziehung auf die Vielheit der
in einem Werke zu vereinigenden Geſtalten erweitert ſich durch gewiſſe Arten
engerer Verbindung der Bildnerkunſt mit der Baukunſt: namentlich die Gruppen
der Giebelfelder und das Relief. Da jedoch die Fläche, aus welcher
hier die Figuren in minderem oder ſtärkerem Grade der Erhebung, im Giebel-
felde bis zur Ablöſung, hervortreten, keineswegs den in die künſtleriſche Dar-
ſtellung mitaufgenommenen Raum darſtellt, welcher, als architektoniſche oder
landſchaftliche Umgebung behandelt, es zuließe, in beliebigen Abſtufungen
der Entfernung nach der Tiefe beliebig viele Figuren aufzuführen und hinter-
einanderzuſtellen, ſo iſt jene Erweiterung eine beſchränkte und macht ihre Be-
deutung erſt in der Frage über die Compoſttion eingreifender ſich geltend.
Zu den Formen der engeren Verbindung mit der Baukunſt als eines
Motivs, wodurch die Strenge des Geſetzes der Sparſamkeit in der Figuren-
zahl gemäßigt wird, können wir jene zu §. 609, 1. erwähnte reichere
Gruppirung um ein gegliedertes Poſtament zählen; Aufreihungen vieler
Statuen in Sälen, Treppenhäuſern, auf Galerieen können auch nach der
Idee des innerlich Zuſammengehörigen geordnet werden, hier iſt aber der
Begriff des Zuſammengehörigen ein ſo loſer, daß dadurch die Bildnerkunſt
[392] nach der Seite der Figurenzahl nicht eigentlich erweitert wird; ſolche Zu-
ſammenſtellungen kommen erſt bei der Frage über cykliſche Anordnung zur
Sprache. Anders verhält es ſich, wo das Bildwerk vor eine architekto-
niſche Fläche auf ein Geſimſe geſtellt und von einem Rahmen, der es zu
einem Ganzen zuſammenfaßt, umgeben wird, wie in dem ſtumpfen Dreieck
des Giebelfeldes. Hier kann ſich die Sculptur in reichen Gruppen
entwickeln, wie in den Giebelfeldern des Parthenon, des Zeustempels zu
Olympia, des Athene-Tempels zu Tegea; allein auch dieſe Erweiterung
geht nicht ſo tief, als es ſcheint, denn ſie fordert zwei Opfer: das der
engeren Gruppirung und ebenhiemit das der vielſeitigen Schönheit, welche
das freiſtehende Werk dem Umwandelnden darbietet. Alle Bildwerke, die
ſich an eine architektoniſche Fläche ſchließen, ſind nur auf Einen Geſichts-
punct berechnet und an der nicht ſichtbaren Seite nur ganz oberflächlich
bearbeitet. Die Figuren des Giebelfeldes können aber auch mit der Fläche
noch wirklich zuſammenhängen und dieß führt auf die beſondere Form der
plaſtiſchen Darſtellungsweiſe, die wir bisher nur gelegentlich erwähnt haben,
das Relief. Dieſe eigenthümliche Form iſt offenbar in Aegypten her-
vorgegangen aus eingegrabenen Umriſſen, alſo einem Verfahren des Zeich-
nens, das ſich mit einem architektoniſchen Körper dauernder zu vermählen
ſuchte; man ging dann auf zwei Wegen weiter: man nahm das inner-
halb der Umriſſe Stehengebliebene weg und hatte nun flach vertiefte Fi-
guren, die man bemalte; oder man rundete die Formen der Geſtalten, die
der tiefe, ſcharfe Umriß zeigte, nach dem Vorbilde der feſten Form in der
Natur ab und dieſer Weg führte zum Relief, denn man hatte nun
eine Figur, die, obgleich ſie auch noch bemalt wurde, doch innerhalb des
Umriſſes ihre Formen plaſtiſch ausſprach. Es fehlte nur noch, was die
Aegypter noch nicht wagten, daß man die Erhöhung zwiſchen ſolchen Figuren
(ſog. Koilanaglyphen) abflachte bis an eine Grenze, die einen umſchließen-
den Rahmen darſtellen ſollte, daß man die Ausladung der Figuren nicht
auf das Richtmaaß der weggenommenen, jenſeits des Rahmens aber be-
laſſenen Fläche beſchränkte, ſondern verſchiedene Grade der Erhebung je
nach dem künſtleriſchen Bedürfniß (basso, mezzo, alto) wählte und end-
lich die Bemalung, wo nicht aufgab, doch als freie Zuthat in beliebiger
Ausdehnung übte: ſo erkannte man, daß man in der Plaſtik ſelbſt, wenn
man ſie ſo als aus einer Fläche nicht bis zur völligen Ablöſung heraus-
wachſen laſſe, in gewiſſem Sinne malen und ſich ſomit unendlich freier
bewegen könne, als in der völligen Rundbildnerei. Es war dieß nicht
mehr ein eigentliches Malen wie jene den Koilanaglyphen vorangegangene
Darſtellungsweiſe, aber die Plaſtik wies nun durch dieſe aus einer Art
von Malerei an ſich ſchon entſtandene Form als ihren Endpunct nach der
Malerei hinüber. Und wirklich iſt und bleibt das Relief eine Mittelform,
[393] die zu dieſer Kunſt hinführt. Darin liegt nun aber auch eine Verſuchung
zu wirklicher Vermiſchung der Grundgeſetze zweier Künſte, zu einer falſchen
Uebertragung der maleriſchen in die plaſtiſche Phantaſie; die Griechen noch
nicht, wohl aber die Römer, noch mehr aber die Künſtler des ſpäteren Mittel-
alters, der Renaiſſance- und Rokoko-Zeit erlagen in verſchiedenem Sinne
dieſer Verſuchung. Das Grundgeſetz der Bildnerkunſt wird nämlich im
Relief ſo wenig aufgehoben, daß es nach einer Hauptſeite ſogar noch
ſtrenger wirkt, als in der Rundbildnerei, und nach einer andern zwar eine
Erweiterung in ſich aufnimmt, jedoch, eben wegen der erhöhten Strenge
auf jener Seite, nur zugleich mit einer weſentlichen Hemmung. Das heißt: in der
Richtung der Tiefe kann das Relief ſogar weniger Figuren miteinander
verbinden, als das freie Bildwerk, wohl aber in der Richtung der Länge,
hier jedoch auf Koſten der ſtrengeren Einheit der Compoſition. Der
Grund iſt dieſer: im freien Bildwerke muß der Künſtler zwar ſparſam
ſein in Zahl verbundener Figuren, weil ſie ſonſt einander decken, übrigens
aber kann er doch ſeiner Baſis einen verhältnißmäßig bedeutenden Um-
fang geben und ſein Werk kann umwandelt werden; das Werk des Relief-
bildners aber kann nicht umwandelt werden und er kann den Mangel
der Tiefe nicht durch Annahme verſchiedener Grade von Erhebung ergän-
zen, ſondern im Weſentlichen ſoll in jedem Relief Ein Erhebungsgrad
herrſchen, denn er darf nicht meinen, durch die architektoniſche Fläche,
auf welcher er darſtellt, nun einen Grund gewonnen zu haben, der ihm
die Breite der Baſis erſetzte und weiterhin überhaupt einen beliebigen
Darſtellungs-Umfang in der Richtung der Tiefe darböte. Die Fläche iſt
nicht der Raum ſeiner Figuren, die Raumloſigkeit des Bildwerks iſt im
Relief nicht aufgehoben, die Fläche iſt bildneriſch indifferent, geht nur die
Baukunſt an, iſt dem Bildner nur das ſtoffartige Feſte, an das er ſein
Werk, um die freiere Ausdehnung in die Länge zu gewinnen, anklebt.
Was aus der Verkennung dieſer Indifferenz der Fläche entſpringt, hat
Tölken (Ueber d. Basrelief u. ſ. w.) gezeigt: der geringſte Grad der
Ausladung, der das Fernſte anzeigen ſoll, läßt das alſo flach Gebildete
doch nicht fern erſcheinen, denn es fehlt die Abſchwächung der Farben
und Tinten, welche dieſen Schein erzeugt, und der natürliche Schatten
der Figuren, die ſtärker ausgeladen den Schein des Mittel- und Vorder-
grundes hervorbringen ſollen, hebt vollends, indem er natürlich weit ge-
nug reicht, um auf jenes Flachſte noch zu fallen, allen Ferne-Schein auf.
Will man nun die vermeintlich gewonnene Tiefe dazu benützen, um
Figuren in gedrängten Gruppen, alſo auch in mehreren Abſtufungen hin-
tereinander zu verbinden, ſo verliert immer das Relief der vordern durch
das der hintern und ſchließlich wäre der Bildner genöthigt, die vorderſte
ganz frei abzulöſen, d. h. er wäre aus dem Relief ganz heraus und hätte
[394] das Uebrige, was noch Relief ſein ſoll, in ſeiner Wirkung als ſolches zerſtört.
Das Figuren-Gedränge ſpäterer, römiſcher Reliefs können wir nicht als
eine berechtigte zweite Form dieſes Zweigs anerkennen, wie neuerdings geſchehen
iſt. Der Bildner muß zufolge dieſen Bedingungen ſeine Figuren ſo viel als
möglich mehr nebeneinander, als in die Tiefe hintereinander treten laſſen und
obwohl ihm dieß immer noch erlaubt, ſie in Kampf oder anderer Hand-
lung einander nicht nur gegenüberzuſtellen, ſondern bis auf einen gewiſſen
Grad auch zu verſchlingen und ſo z. B. ein in einzelne Kämpfergruppen
aufgelöstes Schlachtgewühl aufzurollen, ſo wird doch das Natürlichſte ſein,
wenn er als Stoff für ſeine Darſtellung ein reihenweiſes Auftreten, wie
in Prozeſſionen, wählt. Das Relief iſt weſentlich ein Streifen, plaſtiſche
Entwicklung des bloßen Ornaments, das architektoniſche Flächen umſäumt, und
wohl möglich, daß, wie alle Verſchlußzierden auf die Kunſt der Weberei
zurückweiſen (vergl. §. 573 Anm.), ſo auch jene älteſten ägyptiſchen Um-
riſſe eine Nachbildung von Gewobenem, Gewirktem, Geſticktem ſind,
worin wir denn überhaupt den Anfang der Malerei zu ſuchen hätten.
Es iſt alſo namentlich der Fries, dem ſich das Relief verbindet; die Me-
topen ſind einzelne Felder, die aber in ihrer Wiederholung ebenfalls einen
Streifen darſtellen, und wie an das Bauwerk legen ſich ſolche Streifen
an Sarkophage, Throne, Piedeſtale und an Gefäße, Geräthe (z. B.
Schilde), wo ſie endlich zu der Kleinheit der Figuren heruntergehen, bei
welcher die monumentale Kunſt der bloßen Zierplaſtik weicht. — Wir
haben alſo jetzt das Geſetz der Wenigkeit der Figuren zwar ſich erweitern
ſehen, doch nur in einer Weiſe, welche uns an der gegenwärtigen Stelle unſerer
Erörterung geringen Zuwachs zeigt, vielmehr, wie dieß am Anfang dieſer
Anm. von einer andern Art reicher Figuren-Aufreihung geſagt iſt, nach
einer Seite, die erſt im weitern Verlauf zur Sprache kommen kann, der
Compoſition nämlich, hinweist und zwar jener cykliſchen, wo es ſich nicht
um Ein geſchloſſenes Kunſtwerk handelt, ſondern der Zuſchauer ſich fort-
bewegend von Kunſtwerk zu Kunſtwerk, endlich eine Summe von Kunſt-
werken zu einem größeren, von Einem fruchtbaren Gedanken beherrſchten
Ganzen ſich zuſammenſtellen ſieht. So folgen ſich im Streifen des Relief
mäßige Gruppen oder einzelne Figuren, deren keine mit der andern eng
verflochten iſt, der ganze Streifen geſellt ſich zu freiem Bildwerk und
beide vereinigen ſich mit dem ganzen Bau und ſeiner übrigen Ausſtattung
zu einer geiſtigen Einheit. Das an Figurenzahl ſo eben Gewonnene ent-
flieht uns unter der Hand in die Längenrichtung und läuft in dieſen weit-
ſchichtigern Zuſammenhang fort. Das Relief hat allerdings ſeine, wenn
auch lockere, Compoſitions-Einheit, aber als Ganzes im größeren Zu-
ſammenhang behält es dieſen fortleitenden, weiter führenden Charakter.
[395]
Auch in Beziehung auf die nähere Beſtimmtheit der Geſtalten in Sphäre,
Lage, Handlung wäre ſomit der Umfang der Darſtellungsfähigkeit ein ſehr
beſchränkter, wenn die Bildnerkunſt nicht durch gewiſſe mythiſche und ſym-
boliſche Hülfen, welche die Umgebung anzeigen, durch das Attribut, die
Bekleidung, Schmückung, Ausſtattung, namentlich aber eine feſtſtehende Ge-
bärdenſprache den Mangel zu erſetzen wüßte. Aber auch im Gebrauche
dieſer Erſatzmittel ſelbſt iſt die Bildnerkunſt ſparſam, weil ihr ganzer Geiſt
ſie auf das Allgemeine, vom Zufälligen entblößte Weſentliche hinweist, wie
es in der Geſtalt an ſich liegt.
Die Bildnerkunſt bedarf Surrogate für den fehlenden Hintergrund
und die beſchränkte Figurenzahl, Abbreviaturen, Auszüge, welche ſtellver-
tretend das Allgemeine, Viele, das die Hauptperſonen umgibt und uns
beſagen ſollte, was ſie ſind, leiden, thun, durch ein Einzelnes andeuten.
Es gilt dieß ſchlechthin, ohne Rückſicht auf eine beſtimmte geſchichtliche
Form des Ideals, aber es kann auch nicht zur Sprache kommen, ohne
ſogleich den Blick zu eröffnen in die Entwurzelung der Plaſtik, wie ſie da
eintreten muß, wo jenes Prinzip des Vicarirens, des Ausſprechens einer
ganzen Sphäre durch ein Individuelles, kurz der Act der äſthetiſchen Zu-
ſammenziehung in ſeiner mythiſchen und ſymboliſchen Form, im Ganzen
und Großen erloſchen iſt; wir werden jedoch Recht und Nothwendigkeit des
Beibehaltens dieſer Abbreviatur durch eine Rückverſetzung in den Standpunct
des claſſiſchen Ideals in dem Ueberblick über die Geſchichte unſerer Kunſt
aufnehmen. In der That iſt die Verwendung jener Andeutungen auf
dem Puncte, von dem es ſich nun handelt, auch bei den Alten nicht der reine
und volle Ausdruck ihres mythiſchen Glaubens. Was zuerſt die Erſetzung
der ausführlich bezeichnenden Umgebung durch ganze mythiſche Geſtalten
betrifft, ſo iſt dieſer Gebrauch derſelben wohl zu unterſcheiden von dem
Kunſtwerke, wo ſolche die Hauptperſonen ſind, den eigentlichen Zweck der
Aufgabe bilden. Ein Flußgott, für ſich dargeſtellt, iſt nicht ſtatt des Fluſſes
geſetzt, ſondern der Fluß iſt in ihm zur Perſönlichkeit, zur ganzen, menſch-
lichen erhoben; ſind aber die Hauptperſonen andere und ſoll ein Flußgott
mit einer waſſergießenden Urne daneben oder im Hintergrund nur anzei-
gen, daß die Scene an einem Fluſſe vor ſich geht, ſo gilt jetzt dieſe Ge-
ſtalt nicht im vollen mythiſchen Ernſte, ſondern eigentlich mehr nur alle-
goriſch, doch bleibt der Vortheil, daß auch das Allegoriſche mehr Leben
hat, weil die Wärme des mythiſchen Glaubens im Ganzen und Großen
[396] die Grundlage bleibt. So dient nun jetzt eine Localgottheit, ein Genius,
ein Gott für die wirkliche Darſtellung einer ganzen Landſchaft, Hain,
Stadt u. ſ. w., ja die in Waſſer ſich auflöſende Geſtalt des Jupiter
zeigt auf der Antonin-Säule den Eintritt erfriſchenden Regens an. Es
handelt ſich aber nicht nur von der Scenerie im gewöhnlichen Sinne;
auch eine Figuren-Menge ſoll durch Stellvertretung mit den wenigſten
Mitteln ausgedrückt werden. Das Verhältniß kann ſich hier verändern:
die ſtellvertretenden Figuren können als die Hauptperſonen, ja als die
einzigen auf einem ganzen Kunſtwerk erſcheinen; aber der Fall iſt
doch der beſondere, daß die Stellvertretung hier ausdrücklicher iſt, als in
der mythiſchen Anſchauung überhaupt und abgeſehen von einer ſolchen
einzelnen Kunſtaufgabe. Es genügt nun z. B. Ares für das ganze Getüm-
mel der Schlacht, in welchem ſein Geiſt braust, oder einige Helden
für die obſcure Menge der übrigen Mithandelnden (vergl. dazu die wich-
tige Auseinanderſetzung zu §. 606): wenige Vorkämpfer faſſen ein gan-
zes Schlachtbild, wenige berathende Häupter eine ganze Verſammlung in
ſich zuſammen und gerne läßt ſich die griechiſche Plaſtik an einer Drei-
zahl von Figuren genügen (vergl. Winkelmann a. a. O. Bd. 2 S. 178).
Nicht anders verhält es ſich mit den ſymboliſchen Hülfen, d. h. den nicht
menſchlichen, ſondern thieriſchen, vegetabiliſchen, mechaniſchen Gebilden,
welche Stand, Beſchäftigung, Thätigkeit, Situation, Umgebung ſtellvertretend
für die ausführliche directe Darſtellung alles Umgebenden anzeigen. Ein
Theil derſelben iſt nämlich im claſſiſchen Ideal eigentlich nicht mehr Sym-
bol und noch nicht Allegorie: dieß ſind diejenigen Hülfen, welche einer Perſon
unmittelbar und bleibend beigegeben ſind, d. h. die Attribute. Sie beſtehen
aus alten Symbolen, welche mit dem Fortſchritt zum Mythiſchen in Fluß
gekommen, in organiſchen Zuſammenhang getreten ſind und ſo die Be-
deutung eines thieriſchen Begleiters, Geſpielen, Dieners, einer Waffe,
eines Werkzeugs, irgend eines Gegenſtands, den man ſpielend hält, be-
kommen haben, wie der Adler des Zeus, der Delphin der Aphrodite, die
Schlange des Aeſkulap, der Dreizack Neptuns, die Aehren der Demeter
u. ſ. w., vergl. zu §. 434 und die vielen Beiſpiele in Otfr. Müllers
Handb. d. Arch. d. Kunſt §. 344. Im gegenwärtigen Zuſammenhang aber
erſcheinen ſie mehr allegoriſch, d. h. ſofern ſie die wirkliche Darſtellung
des Hintergrundes, welcher zugleich die Naturbedeutung eines Gottes dar-
ſtellt (Luftraum, Waſſer, Meer u. ſ. w.), vertreten ſollen, ſind ſie weniger
Gegenſtand lebendigen Glaubens, als eben andeutende Hülfen, wiewohl
im Alterthum noch immer belebt durch das Ganze der mythiſchen An-
ſchauung. Andere Anzeigungsmittel ſind nun entweder getrennt von den dar-
geſtellten Perſonen oder, wenn ihnen näher beigeſellt oder gar in die Hand
gegeben, doch nicht ſtehende Zugabe, ſondern für den einzelnen Fall
[397] gewählt, um Ort, Situation, Act zu bezeichnen. In jene Gattung ge-
hören die ſtellvertretenden Stücke eines Ganzen, die partes pro toto:
eine Staude für Hain, Wald, Pfeiler für Haus, einzelner Stein für Ge-
birge, aufgehängter Teppich für Wohnzimmer u. dgl. Solches tritt nament-
lich im Relief auf und ſcheint dem Satze zu widerſprechen, daß hier die
Fläche nicht als der zur künſtleriſchen Darſtellung mitgehörige Grund zu
betrachten ſei; dieß iſt aber nur eine weitere Seite jenes berechtigten äſt-
hetiſchen Widerſpruchs, den wir ſchon in der Farbe, im Poſtament, in
der Beziehung der Statue zu wirklicher Umgebung gefunden haben (§.
608 Anm. u. 609, 1.): ein Fingerzeig, ein Schatten, leicht hereinwirkend
und an den Grenzen des Prinzips, wonach alles Umgebende und Con-
tinuirliche in der individuellen Geſtalt aufgegangen ſein ſoll, in leich-
tem Spiele rüttelnd. Zur andern Gattung gehört z. B. die Phiale, um
einen Opfer-Act, Knotenſtock, Syrinx, um Landleben, Palme, um Sieg,
Oelzweig, um Hülfeflehen, Tänie, um hohe Ehre, Schattenhut, um Reiſe
und Jagd, runde Mütze, Ruder, um Seefahrt, geſenkte Fackel, um den
Tod, Kithar bei Apollo, um ihn als den muſiſchen, Seelenreinigenden,
Bogen und Köcher, um ihn als den rächenden Gott, und wieder der ge-
ſpannte oder ſchlaffe Bogen, offene oder geſchloſſene Köcher, um den Mo-
ment vor, in und nach dem Kampfe zu bezeichnen, und And. Endlich
führen wir Solches auf, was unmittelbarer zur Behandlung der Geſtalt
ſelbſt gehört, hier aber nicht in ſeiner rein äſthetiſchen, ſondern eben in
der blos bezeichnenden Bedeutung. Manches davon fällt auch unter den
Standpunct des Attributs, eine hier unvermeidliche Wiederholung. So
könnte denn die Plaſtik nicht auskommen, wenn ſie nicht durch Beſchaffen-
heit, Schnitt, Art der Umlegung oder auch Abwerfung des Gewands,
durch Waffen und ſonſtige Ausſtattung, beigelegten oder natürlichen
Schmuck, wie z. B. die Behandlung der Haare und dergl., die Zeichen-
ſprache vervollſtändigte, mittelſt welcher ſie die mangelnden maleriſchen
Mittel erſetzt. Chlamys zeigt kriegeriſche Beſchäftigung an, Nacktheit des
Manns den Athleten oder den zu energiſcher Thätigkeit gerüſteten Gott,
des Weibes urſprünglich die Situation des Bades, tiefere Gürtung des
weiblichen Chiton Amazonencharakter, Gürtelloſigkeit Vorbereitung zum
Tanz, Obergewand, dem Sitzenden auf die Hüften herabgefallen, bequeme
Ruhe, feſt umgenommenes Trauer oder ernſte Sammlung, wie die vor
dem Beginn einer Rede, u. ſ. w. Da die Griechen meiſtens die Statuen
bemalten, ſo ſprach auch die Farbe des Kleides ſymboliſch mit (Winkel-
mann a. a. O. Bd. 3, S. 11 ff.). Aber auch dieſe Zeichenſprache wurde
noch einmal abbrevirt, ſo daß z. B. ein Helm die ganze Rüſtung be-
deutete. Am kurzgeſchnittenen Haar erkennt man Epheben und Athleten,
edler und ruhiger ordnen ſich die löwenmähneartigen Locken des Zeus,
[398] unruhiger flattern die ähnlichen des Meeresgottes, die weichen und reichen
Haarknoten laſſen Bacchus und Ariadne erkennen. Alle dieſe Dinge ſind,
wie geſagt, auch äſthetiſche Motive, hier aber faſſen wir ſie als Kenn-
zeichen auf. Wie wichtig dieß Gebiet iſt, zeigen namentlich gewiſſe Auf-
gaben im Gebiete des monumentalen Standbilds. Genügt es z. B.,
wenn, um den Erfinder der Buchdruckerkunſt zu bezeichnen, ihm ein paar
Typen in die Hand gegeben werden? Wenn den Dichter die Leyer be-
zeichnet, wie iſt er vom Muſiker zu unterſcheiden? Wie kann der Dichter
vom Dichter, abgeſehen von der Individualität, nach Richtung und Gattung
ſeiner Werke unterſchieden werden? Fein hat Schwanthaler Jean Paul durch
Anlehnung an einen Baumſtaum und die Blume am Rocke charakteri-
ſirt, Göthe thront mit Recht Jupiterartig auf dem Entwurfe der Bettina
von Arnim. — Endlich bedarf die Plaſtik einer reichen, durch Gewohnheit
und Uebereinkunft unmittelbar verſtändlichen Gebärdenſprache; vergl. zu
§. 339 Thl. 2, S. 214. Dieſe beſchränkt ſich natürlich nicht auf die
feineren Organe, Angeſicht und Hand, ſondern es handelt ſich in der Plaſtik
auch von den größern Bewegungen der Arme und Beine. So bezeichnet ganz
beſonders der hinter dem Kopf übergeſchlagene Arm bei den Griechen Ruhe
und Schlaf und da dieß an die Nachtſeite des Seelenlebens, an Traum,
Ahnung erinnert, ſo wird öfters auch der myſtiſche Gott Apollon ſo ge-
bildet; die erhobenen Hände und Arme zeigen den Act der Anbetung, des
Flehens an, Stehen mit übergeſchlagenem Bein drückt bequemes Sichgehen-
laſſen aus, wie namentlich bei den Satyrn, Anziehen des einen Knies bei
einem gefallenen Krieger Todeskrampf u. ſ. w. (vergl. Quandt „Zur
Aeſthetik“, u. ſ. w. Allg. Monatſchr. f. Wiſſ. u. Lit. Nov. 1852 und
Anderes O. Müller a. a. O. §. 335). Natürlich vollendet die über die
ganze Geſtalt verbreitete Bewegung und Haltung dieſe Symbolik und ſo
iſt z. B. der mild vorgebeugte ſitzende Zeus der freundlich Gewährende.
Es verſteht ſich, daß alle bildende Kunſt die Mimik im umfaſſendſten
Sinne zur Anwendung bringt, der Bildnerkunſt aber iſt es eigen, daß ſie
einer einfacheren, mehr feſtgeſtellten Mimik bedarf; der Maler kann z. B.
den Zorn durch Bleiche oder Röthe, gepreßte oder emporgedrückte Lippen
u. ſ. w. darſtellen, der Bildhauer hat hierin nothwendig ein beſchränkteres
Alphabet der Bezeichnung, ſonſt würde er unklar werden und verwirren,
weil ihm Farbe, Vielheit bewegter Figuren, Hintergrund fehlt. — Der
Schlußſatz des §. ſagt nun aber, daß auf dieſe Erſatzmittel, wenigſtens auf die
mehr äußerlichen, das Attribut u. ſ. w., doch kein allzugroßes Gewicht gelegt
werden darf; denn es bleibt dabei, daß in der Bildnerkunſt eigentlich durch
die Geſtalt ſelbſt Alles geſagt werden ſoll, in der ſie das Bleibende, Weſent-
liche der Gattung in feſt abgeſchloſſener Schärfe hinſtellt. Es war z. B.
leicht, den Laokoon als Trojaner, als Prieſter zu bezeichnen, aber die
[399] Rhodiſchen Künſtler haben es unterlaſſen, ſicherlich nicht, um uns auf die
genre-artige, idylliſche Auffaſſung anzuweiſen, die ſonderbarer Weiſe Göthe
aufſtellt („ein Vater ſchlief mit ſeinen beiden Söhnen“ u. ſ. w. Werke
B. 38, S. 41), ſondern um die reine Idee des übrigens bekannten My-
thus, die Idee eines furchtbaren Göttergeſchicks, das einen Vater mit ſeinen
Söhnen zerknickt, frei von allem zufälligen Beiwerk zur Darſtellung zu
bringen; es war leicht, die Situation des Apollo von Belvedere näher zu
bezeichnen, allein der Künſtler wollte den reinen Lichtgeiſt als Zerſtörer
des Unreinen, Dunkeln, Wilden, Verworrenen, Häßlichen nicht in der
ausdrücklichen Einzelnheit eines beſondern Kampfes auffaſſen.
Da die bildende Kunſt im Nebeneinander des Raums, nicht im Nachein-
ander der Zeit darſtellt, ſo kann ſie nur Einen Moment in ihrem Werke
feſſeln, die loſere Verbindung des Relief ausgenommen, worin die Plaſtik die-
ſelbe Geſtalt in verſchiedenen aufeinander folgenden Acten wiederhalen mag.
Der Eine Moment ſoll aber der fruchtbare, d. h. ſo beſchaffen ſein, daß er
ſich in der Phantaſie des Zuſchauers rückwärts und vorwärts zu einer Reihe voll-
wichtiger Bilder erweitert. Was jedoch die Zuſammenſtellung verſchiedener Per-
ſonen betrifft, ſo kann ſich die Bildnerkunſt vermöge ihrer außerzeitlichen Ideali-
tät von der Schranke der Zeitrechnung entbinden.
Wir gehen vom Stoff-Umfang zum Zeitumfang des Darſtellbaren
über. Es iſt klar, welcher Widerſpruch entſteht, wenn die bildende Kunſt
es wagen will, in die Kategorie der Zeit, des Succeſſiven überzutreten:
dieſelbe Figur tritt auf Einem Werke mehreremal auf, verhält ſich alſo
nun zu ſich ſelbſt als eine andere, ſteht neben ſich ſelbſt. Im innern be-
wegten Zeitleben der Phantaſie iſt es anders, dieſe führt die Eine Ge-
ſtalt fort durch verſchiedene Situationen; im Raume verfeſtigt verliert ſie
dieſe Flüſſigkeit, vermöge der ſie wieder und wieder auftritt und doch die-
ſelbe bleibt. Doch iſt es in der Bildhauerei nicht ebenſo das Merkzeichen
einer noch ganz im Kindheitszuſtande befindlichen Kunſt, wie in der Ma-
lerei, wenn ſie jenes Nebeneinander derſelben Perſon wagt; deßwegen
nicht, weil auch in Einem Rahmen zuſammengefaßt die einzelnen
Gruppen ſelbſtändiger ſind, als in der Malerei; ſo findet man z. B. die
Thaten des Herkules, die Schickſale des Meleager in Einem Werke ver-
bunden. Es verſteht ſich übrigens, daß dieß nur in der loſeren Compo-
ſition des Relief erlaubt ſein kann. — Der Eine Moment aber, den
alle bildende Kunſt zu ergreifen hat, wenn ſie ihrem Grundgeſetze treu
bleibt, ſoll „fruchtbar“ ſein. Wir haben geſehen, daß das Bewegungs-
loſe und Stumme in der Phantaſie des Zuſchauers zu Bewegung und
[400] Sprache auflebt (§. 550); das leiſtet natürlich nicht jedes Kunſtwerk,
der Künſtler muß dafür ſorgen, daß es danach beſchaffen ſei. In dem
Gebiete der bildenden Kunſt, das wir nun betreten haben, ſoll das Werk
natürlich in höherem Sinn aufleben, als in der Baukunſt. Aus einer
Reihe bewegter Momente des Menſchenlebens wird einer gefeſſelt und
dieß ſoll ſo geſchehen, daß die Phantaſie beſtimmt wird, ſich die weitere
Reihe zu entwickeln, der gewählte Augenblick ſoll ſo ſichtbar ein Ergebniß
des Vorhergehenden und ein Keim des Folgenden ſein, daß er dieſe
Wirkung mit Nachdruck ausübt. „Wenn ein Werk der bildenden Kunſt
ſich wirklich vor dem Auge bewegen ſoll, ſo muß ein vorübergehender
Moment gewählt ſein: kurz vorher darf kein Theil des Ganzen ſich in
dieſer Lage befunden haben, kurz nachher muß jeder Theil genöthigt ſein,
dieſe Lage zu verlaſſen; dadurch wird das Werk Millionen Anſchauern
immer wieder neu lebendig ſein. — Um die Intention des Laokoon recht
zu faſſen, ſtelle man ſich in gehöriger Entfernung mit geſchloſſenen Augen
davor; man öffne ſie und ſchließe ſie ſogleich wieder, ſo wird man den
ganzen Marmor in Bewegung ſehen, man wird fürchten, indem man die
Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte
ſagen, wie ſie jetzt daſteht, iſt ſie ein fixirter Blitz, eine Welle, verſteinert
in dem Augenblicke, da ſie gegen das Ufer anſtrömt“ (Göthe W. B. 18,
S. 41). Der borgheſiſche Fechter parirt eben einen Hieb oder Stich eines
Reiters oder einer Amazone, der von linksher gegen ihn geführt wird;
man ſieht, wie die plötzliche Lebensgefahr ihn genöthigt hat, in äußerſter
Spannung alle Gewandtheit, Fechterkunſt zuſammenzuraffen; den linken
Fuß zurück, den rechten vorgeworfen, deckt er den weit vorgebeugten Ober-
leib und Kopf mit dem Schilde, jede Muskel iſt in dieſem Augenblicke
haarſcharfer Entſcheidung angeſpannt. Aber er darf keinen zweiten Hieb
abwarten, es gilt nicht nur, ſich zu ſchützen, ſondern den gefährlichen Feind
zu vernichten; der rechte Arm mit der Lanze ſtreckt ſich daher bereits zum
Ausholen zurück; in der nächſten Secunde wird der Mann ſich wie ein
Blitz herumwerfen, mit dem linken Bein ausfallen und den tödtlichen Stoß
führen. Welcher Augenblick in einer Reihe von Augenblicken einer bewegungs-
reichen Handlung iſt nun der fruchtbarſte? Man darf nicht ſo fragen, es
können verſchiedene Augenblicke höchſt fruchtbar ſein und von demſelben
Künſtler oder von verſchiedenen in verſchiedenen Werken gewählt werden.
Man pflegt aber Einen Moment auszuſchließen, nämlich den der ganzen,
äußerſten Entladung aller in einer Handlung thätigen Kräfte; nur das
Anſteigen zu dieſem Gipfel und das Herabſteigen von demſelben ſoll Stoff
der Plaſtik ſein; nur „ein ernſter und leichter Beginn von Handlung“
oder ein Rückgang vom äußerſten Conflicte: „die Sculptur muß nicht ſo dar-
ſtellen, wie wenn Menſchen durch Hüons Horn mitten in Bewegung und
[401] Handlung verſteinert oder gefroren wären. Im Gegentheil muß die Ge-
bärde nur ein Beginnen und Zubereiten ausdrücken, eine In-
tention, oder ſie muß ein Aufhören und Zurückkehren aus der Hand-
lung zur Ruhe bezeichnen“ (Hegel Aeſth. B. 2, S. 359 und 403). Dieſe
Einſchränkung iſt unrichtig; thatſächlich widerlegt ſie eben die Gruppe des
Laokoon, in welcher, obwohl einer der Knaben noch lebt, doch im Zuſammen-
brechen des Vaters durch den tödtlichen Biß eben jetzt das Aeußerſte des
Jammers eintritt; oder, wenn man dieſes Werk nicht als Beleg annehmen
will, weil es ſich an der äußerſten Grenze des plaſtiſch Zuläſſigen be-
denklich bewege, die tauſend Darſtellungen von Kämpfen aus der beſten
Zeit, wo eben der Gegner durchbohrt, ein Wettlauf entſchieden, eine
Familie, wie die der Niobe, vom Todesgeſchoß ereilt wird, und Gruppen
aus ſpäterer, doch noch guter Zeit, wie jener herrliche Gallier in Villa
Ludoviſi, der ſtolz und trotzig nach dem ſiegreichen Feinde das Haupt zu-
rückwerfend, nachdem er Frau oder Tochter, die ihm wie eine geknickte
Blume im Arme hängt, getödtet hat, ſich das Schwert in die Bruſt ſtößt.
Es ſind zwei Gründe, welche ſchon Leſſing für dieſe Einſchränkung an-
geführt hat. Der erſte iſt der, daß ein ſogenannter äußerſter Moment keine
innere Entwicklung eines folgenden Bildes dem Zuſchauer mehr ge-
ſtatte, ſo erklärt er eine Darſtellung des eigentlichen Schreiens im Laokoon
darum für unzuläſſig, weil dann der Phantaſie keine höhere Stufe des
Leidens vorzuſtellen übrig wäre. Laokoon thut, was er kann, er ſtöhnt,
und er leidet bereits das Aeußerſte, er wird auch nachher nicht ſchreien,
ſondern ein ſtiller Mann ſein. Was übrig bleibt, iſt die Vorſtellung ſeines
Zuſammenbrechens, Todes; ein andermal iſt es der Sieg, das heitere
Ruhen vom Kampf, und es iſt nicht abzuſehen, warum das weitere Bild,
das der Zauſchauer ſich entwickelt, nur ein noch höherer Grad furchtbaren
Ausbruchs ſein ſoll. Der Bildner muß darin ganz frei ſein, er mag das
Einemal das Stärkere, Furchtbarere, Aeußerſte, das andremal das Rück-
ſchnellen der geſpannten Saite, jetzt ein wildes Anſteigen, jetzt ein ruhiges
Abſteigen unſerer eigenen Phantaſie zu bilden überlaſſen. Nicht ein Aeußer-
ſtes überhaupt, ſondern ein Aeußerſtes beſonderer Art iſt ihm verboten,
ein ſolches, das aus weiteren qualitativen Stylgeſetzen unauflösbar häß-
lich iſt; davon werden wir an andrer Stelle ſprechen. Ebenſo verhält
es ſich nun mit dem zweiten Grunde. Leſſing ſagt nämlich (Laok. Cap. 3): „Alle
Erſcheinungen, zu deren Weſen wir es nach unſeren Begriffen rechnen,
daß ſie plötzlich ausbrechen und plötzlich verſchwinden, daß ſie das, was
ſie ſind, nur einen Augenblick ſein können, alle ſolche Erſcheinungen, ſie
mögen angenehm oder ſchrecklich ſein, erhalten durch die Verlängerung der
Kunſt ein ſo widernatürliches Anſehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung
der Eindruck ſchwächer wird und uns endlich vor dem ganzen Gegenſtand
[402] eckelt oder grauet.“ Aber iſt denn nicht der Laokoon auch in einem Mo-
mente dargeſtellt, muß ſich die Gruppe nicht im nächſten Momente verän-
dern? oder Apollo von Belvedere nicht in der nächſten Secunde den Arm
ſinken laſſen, die Diana von Verfailles den Pfeil auflegen und abſchießen,
Caſtor und Pollux mit ihren Roſſen eine andere Bewegung machen, der
Diſkobol abſchleudern, der Wettläufer Ladas, von dem die Anthologie
fürchtet, er möchte der Baſis entſpringen, den Kranz ergreifen, der ſter-
bende Fechter zuſammenbrechen? Die Bildnerkunſt wäre auf einen uner-
träglich engen Spielraum begrenzt, wenn es ihr nicht erlaubt ſein ſollte,
das Augenblickliche darzuſtellen, und wenn aus unſerer ganzen Darſtellung
allerdings folgt, was ſich weiterhin näher erweiſen wird, daß gewichtige
Ruhe ihre ſchönſte Aufgabe iſt, ſo kann ſie doch keineswegs ihre einzige
ſein; die mehr erwähnte Schrift: „Der veticaniſche Apollo“ von A. Feuer-
bach hat zur Genüge gezeigt, daß dieſe Kunſt ebenſoſehr auf Leben, Be-
wegung, Affect arbeitet und auch den vorübergehendſten nicht zu ſcheuen
hat. Es liegt auch hier eine Begriffe-Verwechslung zu Grunde: das
Momentane überhaupt wird mit einem Momentanen beſtimmter Art ver-
wechſelt, einem ſolchen, worin ein Häßliches zum Ausbruch kommt, das in
der plaſtiſchen Feſſlung unerträglich iſt und von dem wir geſagt haben,
daß es an einem andern Ort zur Sprache kommen wird. Von der bewegteſten
Darſtellung führt Eine Linie durch unendliche Abſtufungen zum Bilde der
vollen Ruhe, aber auch dieſes erwacht zur Bewegung; der farneſiſche
Herkules hat gekämpft und wird wieder kämpfen, Ariadne iſt nach un-
endlichen Seelenleiden in Schlummer geſunken und die Ankunft des Gottes
wird ſie erwecken. Die Zeit iſt unendlich theilbar, das Jetzt entflieht uns
unter der Hand, der höchſte, ſtärkſte Moment iſt eigentlich gar nicht zu
beſtimmen und der Unterſchied der Secundenzahl zwiſchen der ſchnellſten
Bewegung und der ſteten Ruhe, von der wir keinen Augenblick wiſſen,
wann ſie, unendlicher Bewegungskräfte voll, wieder zur wirklichen Be-
wegung übergehen wird, nicht zu bemeſſen. — Haben wir nun hiedurch
der Bildnerkunſt einen unendlichen Spielraum in der Darſtellung des
Zeitlebens ausgeſteckt, ſo läßt ſich über die Art, in welcher ſich dieſe Weite
mit der allgemeinen Beſtimmung gewichtiger Ruhe zu vereinigen hat, für jetzt
feſtſtellen: fürs Erſte ſoll dieſe gewichtige Ruhe auch in der äußerſten
Erregung noch durchſcheinen; dieß näher zu verfolgen gehört aber noch
nicht hieher; fürs Zweite iſt allerdings richtig, daß Darſtellung wirklicher,
nur nicht lebloſer, Ruhe aller der Zuſtände, worin Körper und Seele mit
einem gewiſſen tenor in einer Stellung und Lage verweilt, das Weſen
dieſer Kunſt einfacher und voller ausſpricht, als aufgeregter Zuſtände;
fürs Dritte wird von den drei Momenten: Anſteigen zur höchſten Entladung,
dieſe ſelbſt, Abſteigen zur Ruhe, der letzte ihr als directe Aufgabe allerdings mehr
[403] zuſagen, als die beiden andern; denn der erſte hat leicht eine ge-
wiſſe bange, dramatiſche Geſpanntheit, welche zu unruhig, ängſtlich wirkt
für eine Kunſt, die keine weiteren Mittel hat, eine ſolche Stimmung im
Fortgang aufzulöſen: ein neuer, poſitiver Beweis, daß das Bild, welches
der Künſtler dem Zuſchauer zu vollziehen übrig läßt, keineswegs Stärkeres
und das Stärkſte enthalten muß; vom zweiten iſt, wie ſich zeigen wird,
jene beſondere Art der ſtärkſten Entladung, welche häßlich iſt und welche
allein das höchſt Momentane von der plaſtiſchen Darſtellung ausſchließt,
allerdings ſchwer abzuhalten; der dritte aber iſt darum beſonders geeignet,
weil, was vorzuſtellen übrig bleibt, eben ein Ruhiges, Beruhigendes iſt.
Bei dieſer letzten, der Plaſtik angemeſſenſten Wahl des Augenblicks hat
übrigens der Zuſchauer mehr Vorangegangenes, als Folgendes ſich ergänzend
vorzuſtellen und dieß iſt eine ſehr richtige nähere Beſtimmung des Satzes
im §.; denn gerade diejenige Bewegung bringt das Wogen der Seele in
das rechte plaſtiſche Gleichgewicht, welche das Heftigere als ein Vorangegan-
genes, das Folgende als ein Ruhigeres oder auch Heiteres ſich vorzu-
ſtellen hat; der majeſtätiſch und doch freundlich thronende Zeus hat in
furchtbarem Götterzorn die Titanen zerſchmettert, jetzt wird er ſein
Menſchengeſchlecht huldvoll ſchützen und ſegnen; Apollo hat geſchoſſen,
ruht aus im Siegesgefühl und wird dem Frommen ein guter Lichtgeiſt
ſein; die Harmonie alles Schönen ſteht nicht nur in Ausſicht, ſondern iſt
ſchon da. — Der Schluß des §. hebt noch eine Licenz der Sculptur hervor,
wodurch ihre Zeitgrenze ſich weſentlich erweitert: ſie darf zwar das
Succeſſive in Beziehung auf dieſelbe Perſon nicht, oder nur vereinzelt
etwa im Relief, in ein Nebeneinander des Raums verwandeln, entſchieden
aber iſt es ihr vergönnt, aufeinanderfolgende Momente derſelben Hand-
lung ohne Wiederholung der Perſon wie ein Gleichzeitiges nebeneinan-
der zu ſtellen, und ebenſo mag ſie entlegene Räume zuſammenziehen auf
Einen; ſo führt Pelops die Hippodamia, die Beute des Wagenrennens,
obwohl ſie bei dieſem nicht anweſend iſt, ſchon im Wagen mit ſich: der
Künſtler wollte mit dem Kampfe ſchon den Erfolg ausſprechen. Es
gehört dieß gewiſſermaßen zu den ſymboliſchen Hülfen, den Abbreviaturen
des §. 612; das Recht zu dieſer Freiheit liegt tief in der Phantaſie; die
Sage ſelbſt läßt manche ihrer Geſtalten nicht altern, andere bleiben ihr
immer alt, ſie ſtellt zuſammen, was in entfernte Zeiten und Räume fällt,
weil ſie es eben ſo und nicht anders bedarf, um ihre poetiſchen Motive
zu entwickeln, und darf das Theater durch ſucceſſiven Scenenwechſel un-
ſerer Phantaſie die windſchnelle Verſetzung von einem Raum in den an-
dern zumuthen, ſo hat auch die bildende Kunſt ihre Freiheiten in der
Form des Nebeneinander, welches ſchließlich durch das Fortrücken des
Auges doch auch ein Mindeſtes von Nacheinander enthält.
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 27
[404]
Die innere Beſtimmtheit der Bildnerkunſt iſt der Inbegriff der Ge-
ſetze für die qualitative Behandlung des alſo begrenzten Stoffs in ſeinen näheren
Unterſchieden, d. h. der Stylgeſetze. Es folgt aus dem Prinzip der directen
Idealiſtrung §. 603, daß hier der Styl der einzelnen Kunſt (§. 532) mit
dem intenſiven Begriffe des Styls als der zur techniſchen Gewöhnung gewordenen
Großheit und Idealität (§. 527) beſonders innig und unmittelbar zuſammen-
fällt. Als allgemeines Stylgeſetz ergibt ſich daraus die Forderung durchaus
2.völliger und ſcharf beſtimmter, in einfache, wenig gebrochene,
ſchwungvolle Umriſſe eingefaßter Formen.
1. Die ganze Unterſcheidung zwiſchen einer äußern und innern Be-
ſtimmtheit iſt zu §. 607 bereits als eine nur relative bezeichnet. Wie
daher alle unter jenem Begriff erörterten Puncte ſchon an die Stylfrage
rühren, ſo erhalten ſie umgekehrt aus der Erörterung dieſer ſelbſt erſt
vielfach nähere Beſtimmung: der Stoff ſelbſt, deſſen Umfang erſt in ſeinen
äußerſten Grenzen angegeben iſt, kann ſich jetzt erſt als eine reiche Welt
in der Beſtimmtheit ihrer Unterſchiede entfalten, die Frage über die Dar-
ſtellung des Momentanen wird ſich in eingänglicherer Weiſe löſen u. ſ. w.
Die eigentliche Aufgabe iſt aber jetzt, den Geiſt der Bildnerkunſt,
wie er in der Lehre vom Weſen derſelben erſt in ſeinen allgemeinen Zügen
entworfen iſt, in ſeiner qualitativen Wirkung concret zu entwickeln, zu
zeigen, welche beſtimmte Formen künſtleriſcher Behandlung des Stoffs
nach ſeinen verſchiedenen Seiten dieſer Geiſt mit ſich bringt, und dieß iſt
die Lehre vom plaſtiſchen Styl. Der §. ſtellt nun zuerſt über den Grund-
charakter des plaſtiſchen Styls einen allgemeinen Satz auf, der aus jenem
in §. 603 aufgeſtellten Geſetze der directen Idealiſirung, wonach
die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, ſich ergibt. Es iſt zu dieſem Zweck
auf die allgemeine Kunſtlehre zurückzugehen. In §. 532 bedeutete Styl
zunächſt ohne beſondern Nachdruck und poſitiven Inhalt die Auffaſſungs-
weiſe der einzelnen Kunſt, wie ſie ſich im techniſchen Verfahren ſtehend
niederlegt. Dagegen iſt der Begriff des Styls mit dem ganzen Gewichte
poſitiven Nachdrucks in §. 527 aufgeführt, aber nur auf den einzelnen
großen Meiſter, abgeſehen von irgend einer beſondern Kunſt, angewandt
in dem Sinne, den man mit dem Worte verbindet, wenn man ſagt: der
und der Künſtler hat Styl. Styl in dieſem intenſiven Sinn iſt der Aus-
druck einer mächtigen Subjectivität, welche „alles Unbeſtimmte, Gedrückte,
Kleine und Gemeine vom Weſentlichen des Gegenſtandes ausſcheidet und
die der Großheit ihrer Anſchauung entſprechenden, in feſtem Rhythmus
ſchwungvoll bewegten, durch ihren über den Wechſel des Augenblicks
[405] erhabenen Charakter monumentalen Formen in der ſchöpferiſch umgebil-
deten Technik niederlegt.“ Es iſt nun zu zeigen, wie dieſe nachdrückliche
Geltung des Stylbegriffs von der bloßen Anwendung auf den einzelnen
Meiſter übergeht auf eine ganze Kunſt, ſo daß ſie die vorher indifferente
Bedeutung des Worts (§. 532) mit ihrer ganzen Emphaſe ausfüllt. Es
iſt aber eben die Bildnerkunſt, bei welcher dieſer Uebergang eintritt wie bei
keiner andern, und dieß iſt es, was aus dem Geſetze der directen Ideali-
ſirung hier als erſter, allgemeiner Satz ſich ergibt. In jeder Kunſtweiſe
wird nämlich der geniale Meiſter jene Eigenſchaften entwickeln, Styl hat
Raphael, Michel Angelo, Mozart, Sophokles, Shakespeare, Göthe, wie
Phidias; aber in jeder andern der weiterhin darzuſtellenden Künſte wer-
den dieſelben auf Umwegen in Erſcheinung treten, in der Bildnerkunſt
dagegen, weil hier die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, auf Einen
Schlag; dort wird man ſie aus Theilen des Kunſtwerks, deren keiner für
ſich dieſe ganze Großheit offenbart, zuſammenleſen müſſen, hier werden ſie
in jedem Theile, ſofern er irgend auch für ſich ein Ganzes im Ganzen
bildet, hervortreten. So auf Einen Punct überſichtlich zuſammengedrängt
iſt dieſe Großheit weſentlich auch Einfalt. Winkelmann ſagt von ihr
(a. a. O. Bd. 2, S. 53): „durch die Einheit und Einfalt wird alle
Schönheit erhaben, ſo wie es durch dieſelbe Alles wird, was wir wirken
und reden, denn was in ſich groß iſt, wird, mit Einfalt ausgeführt und
vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger eingeſchränkt oder verliert von
ſeiner Größe, wenn es unſer Geiſt wie mit einem Blicke überſehen und
meſſen und in einem einzigen Begriffe einſchließen und faſſen kann, ſon-
dern eben durch dieſe Begreiflichkeit ſtellet es uns ſich in ſeiner völligen
Größe vor und unſer Geiſt wird durch die Faſſung deſſelben erweitert
und zugleich mit erhaben. Denn Alles, was wir getheilt betrachten müſſen
oder durch die Menge der zuſammengeſetzten Theile nicht mit einmal über-
ſehen können, verliert dadurch von ſeiner Größe, ſo wie uns ein langer
Weg kurz wird durch mancherlei Vorwürfe, welche ſich uns auf demſelben
darbieten oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten können.
Diejenige Harmonie, die unſern Geiſt entzückt, beſteht nicht in unendlich
gebrochenen, gekettelten und geſchleiften Tönen, ſondern in ein-
fachen, lang anhaltenden Zügen.“ Dieß iſt ſtreng plaſtiſch gedacht
und wir werden es auf das Einzelne des Styls genau anzuwenden haben.
Man vergleiche nun auch den weiteren Theil des §. 532, wo geſagt iſt,
daß auf den Begriff des Styls, wie er zunächſt accentlos den Styl der
einzelnen Kunſt bedeutet, ein beſonderer Accent erſt falle, wenn die Auf-
faſſungs- und Behandlungsweiſe einer Kunſt auf eine andere übergetragen
werde: verfolgt man die Anmerkung, die dieß erläutert, ſo wird man fin-
den, daß die Beiſpiele, wodurch der Begriff Styliſiren erklärt wird
27*
[406](S. 141), ſämmtlich eine Erhöhung der Formen im plaſtiſchen Sinn,
unmittelbar oder mittelbar, enthalten; ein Beweis, daß die Bildnerkunſt
im vollſten und engſten Sinne als Kunſtzweig an ſich ſchon Styl in der
intenſiven Bedeutung des Wortes fordert. Haben wir nun dieſen Satz
zunächſt aus dem Geſetze der directen Idealiſirung abgeleitet, ſo führt er
in höherer Ableitung auf den Begriff der Objectivität, aus welchem ſchließ-
lich auch dieß Geſetz hervorgeht. In der Bildnerkunſt iſt das Objective
dem Subjectiven in vollem Gleichgewichte zugewogen (§. 602); ebenſo
durchdringt ſich die Subjectivität des großen, Stylbildenden Meiſters ein-
fach mit dem Objecte (§. 527), daher ſind ſeine Stylformen weſentlich
monumental und in nachdrücklichem Sinne monumental iſt ja eben auch
die Bildnerkunſt; alſo leuchtet aufs Neue ein, wie hier der formale und
der inhaltsvoll gewichtige Stylbegriff mit beſonderer Innigkeit zuſammen-
fallen.
2. Dieſer Grundbegriff vom plaſtiſchen Style muß ſich nun, da aller
Styl ein zur techniſchen Gewöhnung verfeſtigter Geiſt iſt, ſogleich techniſch
wenden, und es entſteht uns ſo das erſte, allgemeinſte Styl-Geſetz.
Der Inhalt dieſes Geſetzes iſt ſchon in den fein gefühlten Worten ange-
deutet, die wir zu 1. aus Winkelmann angeführt haben. Die innere Ge-
diegenheit und Großheit fordert als ihren gleichmäßig herrſchenden Aus-
druck völlige Maſſen und ebenſoſehr ſcharf beſtimmte Theilung derſelben;
die Völligkeit, das Runde, flüſſig und ausgiebig Gefüllte darf nicht die
Straffheit und Beſtimmtheit der Begrenzungen im Haupt-Umriſſe und in
den einzelnen Theilen innerhalb deſſelben auflöſen und die Schärfe der
Grenzen, die Theilung im Einzelnen darf nicht den ſchwungvollen, freien,
großen Zug der Umriſſe zu vielfach brechen. Im erſten Fall entſtünde
das Schwammige, Breiige, im Zweiten das Kleinlichte, Zerzauste, Ge-
knitterte, Gedüftelte, und Beides widerſteht in gleichem Maaße den Be-
dingungen einer Kunſt, deren allgemeiner Stylcharakter, wie wir ihn nun
beſtimmter erkannt haben, vermöge ſeiner Objectivität, directen Idealität,
monumentalen Großheit durchaus fordert, daß dem fühlenden Auge freie,
große, ganze Bahnen eröffnet werden.
Was nun zuerſt die Schönheit der menſchlichen Geſtalt, als des
Hauptſtoffs der Bildnerkunſt, an ſich und noch abgeſehen von der Beſtimmtheit
des darzuſtellenden Moments, betrifft, ſo verlangt dieſes Stylgeſetz als vor-
ausgeſetzten Stoff gattungsmäßig rein entwickelte Natur- und Culturformen
und ſteckt dadurch der Ausbreitung dieſer Kunſt über die verſchiedenen, in
Natur und Sitte begründeten Beſonderungen des reinen Gattungs-Typus eine
[407] Grenze; namentlich aber verbietet es ihr, tief in die individuellen2.
Formen einzugehen, und fordert bei härtern Abweichungen derſelben vom Ur-
bilde ſchöner Menſchheit mindeſtens Gediegenheit und Mächtigkeit der Geſtalt.
Dadurch iſt die Plaſtik bedeutend beſchränkt im Bildniß und in der Darſtellung
der geſchichtlichen Schönheit.
1. In der Anwendung dieſes Stylgeſetzes iſt zuerſt die Behandlung
der menſchlichen Geſtalt zu erörtern. Die thieriſche kann nebenbei zur
Sprache kommen. Man blicke nun zurück auf den ganzen Abſchnitt von
der menſchlichen Schönheit in der Lehre vom Naturſchönen. Dort iſt zu-
erſt die menſchliche Schönheit überhaupt von der geſchichtlich bedingten un-
terſchieden; die Untereintheilungen in der Darſtellung der erſteren ſind:
allgemeine, beſondere und individuelle Formen. Unſer §. läßt ſich auf
Alles, was unter dieſen Eintheilungen befaßt iſt, nur ſo weit ein, als es
der Standpunct mit ſich bringt, unter dem er Alles betrachtet; er faßt
nämlich die menſchliche Geſtalt noch abgeſehen von beſondern Momenten
der Bewegung, ausdrücklichen Stimmungen, Lagen, Handlungen, ins Auge.
Dieſe Abſtraction iſt, wiewohl ſie ſich nicht abſolut vollziehen läßt, noth-
wendig, weil die Klarheit erfordert, daß die Frage über das Gebiet der
Bewegungen, der innern und äußern, nachher für ſich behandelt werde.
Die Geſtalt kommt nun auch hier keineswegs als ein blos phyſiſches Gebilde
in Betracht, wie ſie dieß denn überhaupt nicht kann; es geht jedes Ge-
ſetz ihrer künſtleriſchen Behandlung aus jener Grundbeſtimmung der ge-
diegenen unmittelbaren Einheit von Geiſt und Sinnenleben hervor, deren
Ausdruck in der allgemeinen Erörterung vom Weſen der Sculptur dem
Bildner zur Aufgabe geſtellt wurde, aber was in dieſer Auffaſſung enthalten
iſt, muß ſich eben ganz in der Form niederſchlagen, ganz Geſtalt werden
und es handelt ſich, da nun Alles ſich techniſch wendet, um Grundge-
ſetze in der Behandlung derſelben, welche durch alle beſonderen Formen,
Zuſtände, Bewegungen hindurch ſich erhalten ſollen. Das erſte, allge-
meine Stylgeſetz fordert, wie wir geſehen, große, ganze, ebenſo geſchwun-
gen fließende, als ſcharf beſtimmte Umriſſe. Was der Künſtler nun immer
leiſten mag in Erhöhung des Wohlgebildeten, Ausſcheidung des Mißge-
bildeten in den Formen, die ihm der naturſchöne Stoff darbietet: der
glückliche, der rechte Stoff iſt vorausgeſetzt. Dieß verſteht ſich bei aller
Kunſt von ſelbſt; die beſondere Strenge der Plaſtik aber erheiſcht, daß
hier ausdrücklich von der Beſchaffenheit des Stoffes die Rede ſei; es
führt dieß hier zu durchaus wichtigen Begriffen, wodurch ſich eine Lücke
ausfüllt, die wir bei Aufſtellung des Prinzips der directen Idealiſirung
ſtehen gelaſſen. Unſer Stylgeſetz iſt aus §. 603 abgeleitet, der das Prin-
zip der directen Idealiſirung auf die große Beſchränktheit der plaſtiſchen
[408] Kunſt in Auflöſung des Häßlichen begründet. Als häßlich in der pla-
ſtiſchen Auffaſſung haben wir Alles zu Unbeſtimmte und Zerfloſſene und
ebenſo Alles bis zur Zerriſſenheit und Kleinlichkeit Getheilte in der Form
erkannt. Es wird ſich an anderer Stelle zeigen, welche Einſchränkungen
daraus entſtehen für die Aufnahme des naturſchönen Stoffs, der in
§. 317 — 323 aufgeführt iſt (namentlich „Zuſtände und Altersſtufen“);
das Nächſte und Wichtigſte iſt, daß wir von dieſem Geſichtspuncte zurück-
blicken auf das Gebiet, das in §. 324 — 330 unter der Bezeichnung:
„beſondere Formen“ Racen und Völker, Culturformen und Staatsleben
befaßt. Die Bildnerkunſt bedarf durchaus zu ihrem Stoff eines Menſchen-
ſchlags, deſſen natürliche Formen dem reinen Menſchentypus an ſich und
durch die Entwicklung, die ſie durch Culturformen und Staatseinrichtung
gefunden, ſo nahe, als möglich, ſtehen. Es muß jenem Stylgeſetze der
ſchwungvoll beſtimmten Umriſſe durch die Natur und die Volksbildung im
größtmöglichen Umfang vorgearbeitet ſein; die Malerei iſt, wie wir ſehen
werden, weniger wähleriſch, weniger abhängig von einer beſtimmten Beſchaf-
fenheit des umgebenden Stoffs. Alle Bildnerkunſt wird aus dieſem Grunde
den griechiſchen Typus als ein Muſter des höchſten Vorbilds in der Natur
für ihren Styl betrachten müſſen, denn kein Volk war je im Bau der
feſten Form ſo ſchön und durch Sitte und Einrichtung in dieſer Art der
Schönheit ſo glücklich entwickelt. Schon bei den andern Völkern des kau-
kaſiſchen Stamms beginnen und wachſen die Verlegenheiten des Bildners
und die Völker der andern Racen können nur in untergeordneter Weiſe,
etwa zum Zweck von Contraſt-Wirkungen, als Stoff in einem plaſtiſchen
Kunſtwerk auftreten. Mit den Abweichungen beginnt und wächst auch
die Ungunſt der Culturformen: der Leib auf Koſten des Geiſtes ange-
ſtrengt oder gemäſtet, oder der Geiſt auf Koſten des Leibes gebildet, oder
endlich ein verdorbenes Ganzes von geiſtiger Ueberbildung und ſinnlicher
Feinſchmeckerei ausgeheckt. Die Bildnerkunſt kann ſich nur an Zuſtände
halten, worin der geiſtige und ſinnliche, der individuelle und der dem
Oeffentlichen angehörige Menſch in harmoniſcher Einheit ſich entwickelt;
alle andern Zuſtände verſchwemmen oder verhärten die Formen oder er-
zeugen eine unſelige Miſchung dieſer beiden Arten plaſtiſcher Häßlichkeit.
2. Die individuelle Abweichung vom reinen Menſchentypus iſt etwas
Anderes und Weiteres, als die vorhin beſprochenen Modificationen, die
unter den Begriff des Beſonderen im Unterſchied vom Einzelnen fallen. Das
ſchönſte und in der edelſten Einfalt entwickelte Volk wird in keinem ſeiner
Individuen vereinigt darſtellen, was ſich als Durchſchnittsbildung aus der
Vergleichung der Vielen ergibt; der Einzelne weicht von der Race ſeines
Volkes ſelbſt, während er ſie darſtellt, ebenſoſehr in unendlicher Eigenheit
ab; auch im ſchönſten Volke ſieht kein Individuum dem andern gleich
[409] und bei den Griechen ſelbſt finden wir einen Sokrates mit den Froſchaugen
und der deutſchen oder böhmiſchen Kartoffelnaſe. Verſchloſſen kann durch
dieſe Welt von härteren und eigenſinnigeren Bildungen das Gebiet des
Porträt der Sculptur nicht ſein, etwas des Individuellen muß ja ſelbſt
der im engeren Sinn idealen Natur, dem Gotte zugewogen werden und
auch eine vorzüglich Götterbildende Plaſtik kann ſich der Aufgabe nicht
entziehen wollen, zugleich den Zweig der Porträtſtatue und Porträt-Büſte an-
zubauen. Bei Völkern aber, die keine Mythologie mehr haben und daher
vorzüglich auf das Bildniß gewieſen ſind, könnte es, wenn das Porträt
wegfiele, ſo gut als gar keine Bildnerkunſt geben. Dieſe Völker ſind
eben die nichtgriechiſchen, weniger ſchönen; von ſolchen härteren National-
typen iſt in Anm. 1. die Rede geweſen, allein das Nationale und der
Grad der Eigenheit der Einzelbildung hängt zuſammen, denn die allge-
meine Abweichung übrigens gebildeter Völker in ihren Körperformen vom
edelſten Menſchentypus iſt zugleich eine ſtärkere Ausbildung des Indivi-
duellen, wie namentlich bei den Deutſchen. Die Bildnerkunſt verlangt
nun mindeſtens, daß ſolche Formen, wo ſie in harten und ſchwungloſen
Linien abſpringen, doch noch Gediegenheit und Mächtigkeit haben; man
ſehe z. B. den herben Kopf Kants auf Rauchs Denkmal Friedrichs d.
Gr.: er iſt bei aller Härte doch in ſeiner ſtrengen, gedanken- und charak-
tervollen, eckig zuſammengefaßten Herbigkeit ganz plaſtiſch. Es ſind aber
unter den „härteren“ Abweichungen auch ſolche verſtanden, wo der Aus-
druck „hart“ nur der Abweichung, nicht ihrer Art gilt, nämlich allzuzarte,
weiche, wie ſo häufig bei der weiblichen Bildung nordiſchen Schlags.
Eine Gediegenheit läßt ſich jedoch auch bei ſolchen Formen finden, ein
Ausdruck ruhiger Einheit mit ſich, innerer Ganzheit und Harmonie kann
der Erſcheinung der ſchönen Seele eigen ſein, die ihr trotz einiger Ver-
ſchwommenheit und Kleinlichkeit der Formen wieder plaſtiſche Haltung,
Guß und Fluß gibt. Immer aber hängt es vom Zufall ab, ob ein empi-
riſches Individuum, auch ein bedeutendes, dem Bildner Formen ent-
gegenbringt, wie gerade er ſie braucht. Da nun das geſchichtlich Schöne
von dem allgemein menſchlich Schönen ſich dadurch unterſcheidet, daß beſtimmte
Perſonen in ihrer ganzen realen Bedingtheit in Situation und Handlung vor
uns auftreten, ſo erhellt, wie ſchmal der Spielraum der Sculptur, auch
ganz abgeſehen von den Schwierigkeiten, welche der Mangel eines Hin-
tergrundes in der plaſtiſchen Darſtellung mit ſich bringt, auf dieſem Gebiete
ſein und in welcher Bedrängniß ſich daher eine Kunſt befinden muß,
welche die Geſchichte nicht mehr in den Göttern als ihrem ſtellvertretenden
Auszug anſchaut.
[410]
Nach dem Grade, in welchem ſich der Bildner auf die individuellen
Formen einläßt, entſteht der Gegenſatz eines mehr individualiſirenden
und eines mehr direct idealiſirenden Styls. Dieſer hält die zarte Linie der
milderen Modiſication des ſchönen Normaltypus ein, jenem genügt es, das Ge-
diegene und Mächtige der härteren Eigenform künſtleriſch noch zu erhöhen; da
jedoch durch dieſe Erhöhung auch die bedeutender abweichende Einzelbildung
irgendwie dem reinen Ideale nahe gerückt werden muß, ſo kann der Gegenſatz
2.beider Style kein ſtark eingreifender ſein. Von der individuellen Eigenheit der
Geſtalt ſind gewiſſe, über alle, auch die glücklichſten, Formen verbreitete Ein-
zelheiten, Härten, Zufälligkeiten des Naturſchönen zu unterſcheiden, durch deren
ungebundene Aufnahme der naturaliſtiſche Styl entſteht. Der beſondere
Nachdruck, mit welchem das Weſen der Bildnerkunſt empiriſche Formen auf
reine zurückzuführen gebietet, erlaubt jedoch auch dieſer Richtung und ihrem Ge-
genſatze gegen die ſtreng ſtyliſtrende keinen bedeutenden Spielraum.
1. Den Unterſchied zwiſchen der individualiſirenden und der natura-
liſtiſchen Richtung werden wir genauer beſtimmen bei der Erörterung der
letzteren. Der individualiſirende Styl iſt derjenige, welcher ſich weit und
tief einläßt in die Erſcheinungsformen des Individuums, wie ſie deſſen nur
ſich ſelbſt gleiche Eigenthümlichkeit ausdrücken. Wir ſtehen aber nicht
mehr auf dem Boden des vorh. §.; in dieſem war nur erſt von dem
Stoffe die Rede, wie ihn die Bildnerkunſt vorausſetzt, jeder Stoff aber
muß ja in der künſtleriſchen Behandlung noch umgebildet, ſeine Formen
müſſen da geſtreckt, dort zuſammengezogen, durchaus zum idealen Schwung
erhöht werden. Der individualiſirende Künſtler alſo iſt nun zwar im
Stoffe weniger wähleriſch, er läßt ſich auch die unſchönere Bildung ge-
fallen; aber er verlangt nicht nur im Naturvorbilde doch jene Gediegen-
heit und Mächtigkeit (§. 615), ſondern, nachdem er dieſe Bedingung im
Stoff erfüllt ſieht, wird er (zwar nicht nothwendig, denn er kann auch
zugleich Naturaliſt ſein, wovon nachher) auch vollſtändig anerkennen, daß
nun erſt die Künſtlerhand noch das Ihrige thun muß, dieß Ganze im
Sinn des plaſtiſchen Stylgeſetzes zu veredlen. Nur thut er dieß in an-
derer Weiſe, als derjenige, der ſich eng und feſt an das Prinzip der direc-
ten Idealiſirung hält. Um dieſen Unterſchied in ſein volles Licht zu ſetzen,
müſſen wir auf einen Unterſchied in den Gegenſtänden hinweiſen, der
ſchon in §. 606, dann nach anderer Seite im vorh. §. kurz eingeführt
iſt und freilich ſeine ganze Bedeutung erſt in der Lehre von den Zweigen,
dann im Ueberblick über die Geſchichte unſerer Kunſt erhalten wird: den
Unterſchied der ausdrücklich idealen und der realer beſtimmten Naturen.
Zu den letzteren gehört natürlich das Porträt und die geſchichtliche Dar-
[411] ſtellung, doch auch die Darſtellung des Menſchlichen in der genreartigen
Allgemeinheit ohne ausdrückliche Beziehung weder auf das Göttliche, noch
auf das Geſchichtliche. Der Individualiſt wird ſich nun natürlich auf
dieſen Kreis der realer beſtimmten Naturen werfen, der Idealiſt auf den
Götterkreis; der Gegenſatz wird aber auch hiſtoriſch auftreten, indem mit
Wegfallen des Götterkreiſes die realer beſtimmten Stoffe zur Hauptauf-
gabe werden. Dieß ſei hier nur erſt berührt zu Behuf der Deutlichkeit.
Indem nun der Idealiſt jene Aufgabe ergreift, ſteht er vor dem plaſtiſchen
Stylgeſetze in ſeiner ganzen Feinheit und Schärfe. Er ſoll ausdrücklich
ein Schönes von weiter Allgemeinheit der Idee darſtellen und dieſe
Idee doch als Individuum. Die Bildnerkunſt muß dieſen Widerſpruch
löſen, wie jede andere Kunſt, denn in ſeiner Löſung beruht ja das Weſen
des Schönen an ſich (§. 30 ff.), aber ſie muß es in ihrer Weiſe: ſie
darf, zunächſt jedenfalls in dem Kreiſe von Aufgaben, welche der jetzt in
Rede ſtehenden Richtung entſprechen, dem Ausdrucke der reinen Idee von
den Zügen der Individualität ungleich weniger zuwägen, als andere
Künſte. Dieſe mögen eine ſehr ausgeprägte Eigenthümlichkeit der ein-
zelnen Erſcheinung, die bis zu einem auffallenden Grade des Unregel-
mäßigen fortgeht, durch einen bewegten Ausdruck von Genialität dahin
löſen, daß dieſelbe nur als eine beſonders ſcharfe, durch Einſeitigkeit mäch-
tige Zuſammenfaſſung der Gattungskräfte in der Tiefe erſcheint. Die
Bildnerkunſt hat dazu, wie überhaupt zur Auflöſung des Häßlichen (vergl.
§. 603), die Mittel nicht. Sie muß alſo hereintreten in dieſes Gebiet
der unendlichen Eigenheit, aber haarſcharf an dem Puncte, wo dieſe in
härterer Linie vom reinen Menſchentypus abſpringt, wieder umbiegen und
in eine mildere Modification einlenken, welche zwiſchen ſchroffer Vereinze-
lung und bloßer Beſonderung (Individuum und Art) ſich in unendlich
feiner Schwebe hält. Dieſe zarte Abwägung hat Niemand ſo verſtanden
wie die Griechen; ſie mußte, da ſie ihren tieferen Grund in der ganzen
mythiſchen Anſchauungsweiſe des claſſiſchen Ideals hatte, ſchon dort er-
wähnt werden ſ. §. 437 Anm. 2. Man verſtärke um ein Haar den Hügel
auf Jupiters Stirne, die großen, runden Augen der Here, die hohen
Beine des Apollo und der Artemis, die weiche Fülle in der Bildung des
Dionyſos, den kleinen Kopf und den Stiernacken des Herkules: und ſie
werden zu herb eigenthümlichen Individuen, ſind keine Götter und Halb-
götter mehr. Der Individualiſt dagegen in dem Kreiſe ſeiner Aufgaben
kann hier ungleich weiter gehen; er wägt denjenigen ſeiner Stoffe, die
dem ausdrücklichen Ideale näher liegen, Heroen, menſchlichen Bildungen
von genreartiger Allgemeinheit mehr des Individuellen, wie er es aus
der Beobachtung entnommen, dem geſchmacklos reinen Waſſer Winkelmanns
(vergl. §. 39 Anm.) mehr vom Salze der Eigenheit des Einzelweſens
[412] zu; er tilgt, wo er die empiriſch gegebene Individualität nachzubilden oder
an der Hand der Ueberlieferung eine Geſtalt hinzuſtellen hat, die ganz
den Eindruck eines geſchichtlichen Menſchen erregen ſoll, weniger von den
im Stoffe gegebenen Einſeitigkeiten, relativen Diſſonanzen der Form.
Allein er kann doch in Aufnahme dieſer Züge nie ſo weit gehen wie der
Maler; der von ihm ſelbſt anerkannten Nothwendigkeit, daß auch jenes
Gediegene und Mächtige, das wir bei unregelmäßigerer Bildung ſchon im
Stoffe vorausgeſetzt haben, noch einer weſentlichen Erhöhung bedürfe,
muß er durch einen ſehr energiſchen Act der freien Styliſirung Folge
geben. Die Büſten des Sokrates zeigen, wie dieß gemeint iſt. Dadurch
rückt denn auch der Individualiſt ſeinen Gegenſtand in eine dem
Götter-Ideal noch verwandte Höhe; der erhabene Schwung und Zug
der Umriſſe, der Ausdruck des Subſtantiellen, monumental Gewichtigen
vereinigt beiderlei Style und es fällt jener „Abglanz des idealen Lichts
auch auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Darſtellung kommen“
(§. 606). Es heißt in der Schlußbemerkung zu §. 603: ſchlechtweg könne
das dem Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik
nicht ausgeſchloſſen ſein, ſonſt u. ſ. w. Wir haben dieß entgegenſtehende
Prinzip nun in der Richtung auf das Individuelle gefunden; aber es iſt
zugleich gezeigt, daß der Gegenſatz nur ein ſchwacher ſein kann. Dieſer
wichtige Punct iſt wieder aufzufaſſen in der Geſchichte der Bildnerkunſt.
2. Naturaliſmus und Individualiſmus ſind nicht zu verwechſeln, ſie
ſind nicht einerlei; ſie werden gerne Hand in Hand gehen, aber nicht
nothwendig. Im Naturaliſten wiegt das Moment der Anſchauung über
die umbildende ſchöpferiſche Thätigkeit der Phantaſie vor, daher ergreift
er ſeinen Stoff ſo zu ſagen mit Haut und Haaren: er nimmt die allerhand
Einzelheiten, durch die das Leben ſeine phyſiologiſchen Bedingungen im
Aeußern ankündigt (Adern, Sehnen u. dergl.), die Härten und Zufälligkeiten,
welche Alter, Stand, Wind und Wetter, Gewohnheit, Situation des
Moments dem Menſchen aufdrücken und anwehen, Kleinliches, Runzliches,
Flatterndes, Spielendes, Nachläſſiges und allzu Straffes mit einer Unbe-
fangenheit in die Kunſtdarſtellung auf, welche von einer entgegenſtehenden
Richtung als Ungebundenheit und Unmaaß verworfen wird. Wer nun
ſo auffaßt und darſtellt, dem fallen mit jenen Einzelheiten und Zufällig-
keiten, die über alle Naturerſcheinung hinſpielen und ſich ihr anſetzen,
natürlich auch die individuellen Züge mit ihrer Einſeitigkeit und Unregel-
mäßigkeit in die Hand; es ſcheint daher, der Naturaliſt ſei nothwendig
auch Individualiſt. Allein erſtens kommt es ganz darauf an, ob er wirk-
lich auch nach dieſer Seite aufmerkſam iſt und wählend den ausdrucks-
vollen Eigenformen des Charakters nachgeht; die Richtung auf das all-
gemein Naturwahre iſt doch eine ganz andere, als die auf das ſtreng
[413] individuell Eigenthümliche; er wird ſich z. B. ſehr beſtreben, die bezeich-
nenden Züge der Lebensalter, Geſchlechter, des Standes wiederzugeben,
aber er kann damit ſeine Aufgabe für abgethan halten und vergeſſen, daß
dieſe Beſonderheiten der Art noch kein Individuum begründen. Eine
naturaliſtiſch behandelte Geſtalt kann in ihren Grundformen von flacher
Allgemeinheit des Typus ſein. Die fetten Niederländerinnen des Rubens
ſind naturaliſtiſch, aber nicht ſcharf individuell, indem ſie einander ſehr
gleich ſehen. Schillers Räuber ſind kühn naturaliſtiſch, aber ohne Schärfe
der Individualiſirung. Die äginetiſchen Figuren ſind, was den Leib be-
trifft, in gewiſſem relativem Sinne naturaliſtiſch, aber die Köpfe ohne
alle Individualität. Zweitens: wenn auch der Naturaliſt auf das ſcharf
Individuelle zugleich geht, ſo ſtyliſirt er es nicht ſtreng, wie dieß der In-
dividualiſt ſeiner Richtung gemäß immer noch ſehr wohl kann. Rauch
hat Friedrich den Gr. und ſeine Helden, Staatsmänner, Gelehrten, nament-
lich jenen Kant, ſcharf individualiſirt und doch energiſch ſtyliſirt, F. G.
Schadow dagegen alle ſeine Geſtalten, auch die ſcharf individuellen, na-
turaliſirt. Der Individualiſt kann Naturaliſt ſein, der Naturaliſt kann
Individualiſt ſein, aber jener kann ebenſo gut auch Styliſt ſein, dieſer
iſt nicht Styliſt, ſondern das Styliſiren iſt die der ſeinigen entgegenſtehende
Richtung. Allein in der Bildnerkunſt kann auch der Gegenſatz des Natura-
liſmus und des ſtrengen Styls nur ein ſchwacher ſein, wie der des In-
dividualiſmus und Idealiſmus. Soweit wie der Maler, kann der Bildner
nie in der Aufnahme der Härten und Zufälligkeiten gehen; wie dieſer
muß er, je kühner er in ſeiner Ungebundenheit ſich ergeht, deſto mehr den
fehlenden Adel der ſtrengen Linie durch Gewaltheit der Bewegtheit,
Hauch der Lebendigkeit erſetzen, aber er kann auch dieß nie in dem Grade
wie jener, weil ihm die Farbe und die mitdargeſtellte Umgebung fehlt. Wir
werden in der weiteren Verfolgung der einzelnen Momente die Strenge
des plaſtiſchen Styls und ebendamit die Enge des hier dem Naturaliſmus
gegönnten Spielraums genauer kennen lernen. Auch dieſen Gegenſatz
werden wir als thätigen Hebel in der Geſchichte der Plaſtik wiederfinden,
aber die Kraft, die er auf die geſchichtliche Entwicklung äußern kann,
wird aus dieſen Gründen eine ſtark beſchränkte ſein. Wir führen hier nur
vorläufig die Einzelheit an, daß es freilich noch in der guten Zeit der
griechiſchen Kunſt einen Demetrius gab, der u. A. einen kahlköpfigen,
dickbauchigen Alten mit angelaufenen Adern bildete; das galt aber auch
für eine Curioſität; Lucian ſagt von dieſer Figur, ſie gleiche einem eigentlichen
Menſchen: ſehr treffend, denn die wahre Bildnerkunſt erhebt auch den empi-
riſchen Menſchen, wenn ſie ihn nachbildet, durch ihre Styliſirung in das
Göttliche; Quintilian hat für den Naturaliſten das Wort: nimius in veri-
tate. — In ähnlicher Enge des Spielraums bewegt ſich der Gegenſatz
[414] des Naturaliſmus und der ſtrengen Styliſirung in der Darſtellung von
Thieren. In Bewegungen, Formen, Behandlung des Fells, der Mäh-
nen u. ſ. w. kann der eine Künſtler dem Wurfe des unmittelbaren Natur-
lebens ſo nahe, als möglich, treten, der andere in gemeſſenerer Ausſchei-
dung des Einzelnen und Zufälligen bis zu einer architektoniſchen Bindung
der Formen fortgehen, die ſich der ornamentartig geometriſirten Behand-
lung der Thiere im Wappen nähert, aber auch der erſte kann und darf nie in
die Einzelheiten der Naturzüge ſich ſo weit einlaſſen, als Maler oder Dichter.
In der Behandlung der Grundverhältniſſe der Geſtalt, wie ſie im
Knochengerüſte gegeben ſind, muß die Bildnerkunſt gemäß ihrem Stylgeſetze ein
ſtrengeres Durchſchnittsmaaß einhalten, als die Natur; darin macht ſich deutlich
die Verwandtſchaft des taſtenden Sehens mit dem meſſenden (§. 599), ein An-
klang der Proportions- und Symmetrie-Geſetze der Baukunſt geltend.
Hier iſt es, wo der in §. 599 aufgeſtellte Satz von einer Grund-
lage eigentlichen Meſſens im taſtenden Sehen an die Reihe der näheren
Beleuchtung kommt: dieſelbe macht ſich geltend in der Behandlung der
Proportionen, zu der wir nun übergehen, nachdem die Auffaſſung der
Geſtalt im Ganzen und Allgemeinen beſprochen iſt. Die menſchliche Ge-
ſtalt iſt an ſich ein organiſcher Bau, das feſte, harte Knochengerüſte ſeine
Kernform. Dieſe Kernform ſteigt in den zwei ſymmetriſchen Säulen der
Beine auf, die ſich dann zum Becken ausbreiten, von hier ſchießt die
Rückenwirbelſäule empor, wölbt den Korb der Bruſtrippen an ihren Sei-
ten heraus, treibt ebenſo ſymmetriſch das zweite große Paar von Bewe-
gungs-Organen, die Arme, mit den Schulterblättern ſeitlich hervor und
ſchließt ſich, in den Halswirbeln fortgeſetzt, im Kopfe, zur Kugel ausge-
rundet, ab, oder umgekehrt (vergl. zu §. 564, 1. S. 220): das Haupt
läßt dieſen ganzen Bau als Realiſirung der in ihm vereinigten organiſchen
Zwecke ausſtrahlen. Es iſt dieß im Großen und Ganzen, noch mehr,
wenn man die Theile in ihre weitere Gliederung verfolgt, ein völlig rhyth-
miſches Gebilde, das in zählbaren Takten ſich anſammelt, ausbreitet und
wieder ſammelt (vergl. zu §. 500, 2., auch Winkelmann über die Drei-
zahl a. a. O. Bd. 2, S. 165. 166). Durch dieß rhythmiſche Leben, das,
im Knochengerüſte begründet, am Ganzen des Körperbaus mit ſeinen Ab-
ſätzen und Einſchnitten zu Tage tritt, ſind nun die Proportionen wirklich
die erſte, noch abſtracte Grundlage der Schönheit der Compoſition in
Darſtellung der einzelnen Geſtalt; dieſe Seite faſſen wir aber hier noch
nicht weiter auf, ſondern die Nothwendigkeit des wirklichen Meſſens, noch
nicht die Poeſie daran, welche die Griechen durch ῥυϑμὸς ausdrückten, ſon-
[415] dern das abſtract Formale, was die Römer durch die Ausdrücke symmetria,
numerus, die Neueren durch Proportion bezeichnen. Die Erſtreckungen
der Theile in dem Grundgebilde des Körpers müſſen ein beſtimmtes Ver-
hältniß von Maaßen darſtellen, das ſich in Zahlen ausdrücken läßt. Die
Natur wird dieſe Maaßbeſtimmung in unendlichen Abweichungen der
Völker, Stämme, namentlich aber der Individuen nur als ein Allgemeines
aufweiſen, das in keinem Einzelnen ſtreng verwirklicht iſt, die Kunſt muß
dieß Allgemeine, das Durchſchnittsmaaß finden und feſtſetzen. Man hat
dieß auf die verſchiedenſte Weiſe verſucht, die Aeſthetik kann auf die ver-
ſchiedenen Arten und Reſultate der Meſſung, nach Ellen überhaupt, nach
Geſichtslängen und weiteren Bruchtheilen des Geſichts, nach Fußlängen,
nach den Achſen der Hauptgelenke (ſo zuletzt C. Schmidt: Proportions-
ſchlüſſel u. ſ. w.) nicht eingehen; ſie überläßt daher die reiche Literatur
der ſpeziellen Kunſttheorie zur näheren Prüfung. Das Weſentliche iſt,
daß, nachdem freilich zuerſt das natürliche Augenmaaß ausgeholfen, mit
ausdrücklichem Meſſen und Zählen ein Syſtem feſtgeſetzt werden muß.
Es kann dieß praktiſch geſchehen durch Aufſtellung eines muſtergültigen
Werks, von dem die nachfolgende Kunſt ihre Maaße entnimmt, eines ſo-
genannten Kanon; aber der berühmte Kanon des Polyklet, der Doryphoros,
war bereits ein Werk nicht blos des glücklichen Inſtincts, ſondern des
eigentlichen Studiums, das Meſſen iſt alſo bei der praktiſchen Norm ſchon
vorausgeſetzt. So wenig nun aber das Durchſchnittsmaaß empiriſch in
einem Individuum vollkommen erſcheint, ebenſowenig kann es, nachdem
es durch eine Abſtraction gefunden iſt, in der Kunſt als abſoluter Maaß-
ſtab gelten; von der einen Seite wechſelt ſubjectiv die Auffaſſung: ſo ging der
griechiſche Kanon von den ſtämmigeren Verhältniſſen des Polykletiſchen
zu den ſchlankeren des Lyſippiſchen Styls über; nach der andern Seite
darf ja dem plaſtiſchen Werke die Beſonderung des Alters, der Unter-
ſchiede, die durch verſchiedene Arten der Thätigkeit u. ſ. w. entſtehen, und die
Einzelheit der individuellen Formen nicht fehlen, wodurch nothwendig Ab-
weichungen vom ſchulgerechten Maaßſtabe begründet werden. Der Held,
Athlet, heroiſche Halbgott hat breitere Bruſt, Apollo und Artemis ovaleren
Kopf, höhere Beine u. ſ. w. Nie aber können dieſe Abweichungen ſo
weit gehen, wie in der Natur, ſelbſt in der Porträtbildung nicht: wodurch
denn bereits die Schranken des Individualiſmus und Naturaliſmus ihre
erſte nähere Beleuchtung finden.
In der Umkleidung der weichen Theile, deren Umriß ein ſchwungvoll flüſſiges
Ineinander unendlicher Kreis-Ausſchnitte darſtellt, ſoll das Grundgerüſte ohne
[416] Härte als feſter Träger ſichtbar ſein. Beſtimmte Angabe der Hauptabſätze des
Organiſmus, der bedeutendſten Muſkel ſoll ſich mit Rundung und Zartheit der
Uebergänge ſo verbinden, daß die Andeutung oder ſchärfere Ausbildung der
den Schwung der Hauptlinien zertheilenden, an die Bedingungen des unmittel-
baren Lebens erinnernden untergeordneten Einzeltheile beſonderem Stoff, Moment,
Material aufbehalten, immer aber in verhältnißmäßig enge Grenzen gewieſen
bleibt.
Wir ſchreiten fort in immer concreterer Faſſung der menſchlichen Ge-
ſtalt unter dem Geſichtspuncte des plaſtiſchen Styls. Man blicke
nun zurück auf unſere Schilderung derſelben §. 317 und ſtelle ſich
dann die Frage, was der Bildner in Anwendung des in §. 614, 2.
näher beſtimmten Grundgeſetzes umbildend damit vorzunehmen habe. Das
Knochengerüſte ſoll weniger angegeben, als durchgefühlt werden. Es tritt
an mehreren Stellen, Ellbogen, Schulter, Knie, Schienbein, Knöcheln
u. ſ. w. ohne Muſkel-Umkleidung mit beſtimmten Marken zu Tage: dieſe
Formen ſollen nicht platt, ſpitz, knorplig erſcheinen, ſondern ſanft abge-
rundet werden; Dürres, Beinernes iſt mit der Kunſt der Schönheit der
breitgeſchwungenen Umriſſe rein unverträglich; aber dieſe feſten Marken
ſollen auch nicht zu ſehr abgerundet, in ſüßliche Weichheit verſchwemmt
werden, wie dieß in der indiſchen Sculptur der Fall iſt. Bruſtbeine und
Rippen ſind leicht anzudeuten, ſtarke Anſtrengung, Anziehung des Unter-
leibs in Angſt preßt ſie natürlich ſichtbarer hervor, wie am Laokoon und
borgheſiſchen Fechter; der erſtere grenzt ſcharf an das allzugelehrt Anato-
miſche. Der Zauber der vollen Schönheit liegt nun aber erſt in dem
lebensvollen Strome der unendlich ineinander übergehenden Wellen, welche
die das Knochengerüſte überkleidenden Weichtheile auf der Oberfläche bil-
den. In dieſes rinnende Wechſelſpiel der Linien muß der Bildner mit
kräftiger Fauſt theilend eingreifen, indem er die Hauptſyſteme ſchärfer, als
die Natur, voneinander abſetzt. Wir laſſen das Haupt noch bei Seite,
das ſchon die ſchlanke Einziehung des Halſes vom Rumpfe trennt. Das
Gefäß des Athmungsſyſtems, die Bruſt, iſt es hauptſächlich, welche ſich
als die am meiſten der Fläche genäherte Partie an der Vorderſeite des
Körpers darſtellt. Der Bildner wird dieſen energiſchen Gegenſatz gegen
das Runde, hügelig Getheilte durch mächtige Hervorhebung des kraftvoll
flach gewölbten Doppelblattes verſtärken und durch ſchärferen Umriß den
weich gerundeten Unterleib von ihm ſondern. Dieſer iſt durch ſcharfe
Angabe der Leiſten-Linie von den Bewegungs-Organen beſtimmt abzu-
heben und damit er nicht in das ungetheilt Formloſe zerfließe, werden
die drei Felder, in die er vom Ende des Bruſtbeins abwärts zerfällt, von
den Weichen-Feldern ſeitlich eingegrenzt, in deutlichen Einſchnitten ſich
[417] abheben. Der Kugelform, dem volleren Kreisausſchnitt nähern ſich die
Schulter, die den Arm von der Bruſt abſetzt, Hüften und Sitzmuſkeln,
welche die Beine vorbereiten und umgekehrt zugleich ihren ſchlanken Zug
kräftig anſammeln. Es gilt nun, dieſe Haupttheile weiter zu theilen, in
die Hügelzüge der Muſkel zu verfolgen, aber nicht zu weit. Der Bildner
muß auch hier das Weſentliche ſtark hervorheben, das minder Weſentliche
ausſcheiden oder leicht andeuten. Die Hauptmuſkeln müſſen machtvoll
hervortreten; wie wohlthätig im Großen theilend erſcheinen dem Auge
namentlich die gewaltigen Schenkelmuſkel am Herkules-Torſo, am ſog.
Iliſſus im weſtlichen, dem ruhenden Jüngling im öſtlichen Giebelfelde des
Parthenon! Je beſtimmter und markiger der Hauptkörper dieſer großen
Bewegungshebel angegeben wird, deſto nöthiger iſt nun auch, daß das Ver-
mittelnde, Sanfte, Runde den Härten entgegenwirke, die ſonſt entſtünden. Im
Körper iſt dieſes Vermittelnde namentlich das Fett; es ſpielt eine ſtärkereRolle
in den weiblichen Formen; ein ſtrenges Maaß iſt in dieſer ausfüllenden
Weichbildung dem Bildner vorgeſchrieben, ſonſt hebt er die markige Be-
ſtimmtheit wieder auf und wird ſchwammig, eine Rubens’ſche Figur wäre
in der Plaſtik höchſt eckelhaft; wie weſentlich aber dieſe überleitende Form
iſt, wird z. B. an der Wade klar, welche, zu einem Muſkelballen ohne
Uebergangslinie zuſammengezogen, unter die größten Häßlichkeiten gehört.
Vermittelnd und überleitend ſind, wenn ſie ſanft angedeutet werden, auch die
einzelnen untergeordneten Muſkelbildungen; werden ſie ſtärker ausgeſprochen,
alſo auch mehr in ihre Einzelheit verfolgt, ſo wirken ſie dagegen als
ſcharf theilendes Moment. Wie ſich nun der Bildner hierin verhalten
wird, darüber kann im Allgemeinen nur ſo viel ausgeſagt werden: in der
Ruhe iſt nur durch beſondere athletiſche Entwicklung eines Körpers das
ſtärkere Markiren des Details begründet; die derberen Forderungen des
Erzguſſes (vergl. §. 607) treffen mit dieſer Bedingung zuſammen (Her-
kules-Ideal des Lyſippus); in der angeſtrengten Bewegung aber, alſo
freilich der Situation, in welcher eben athletiſche Figuren meiſt zur Dar-
ſtellung kommen, iſt ſolche Detaillirung durch den Moment an ſich gefor-
dert; zu ſtarkes Ueberwiegen des Theilenden über das fließend Vermit-
telnde wird dann durch die gleichzeitig ſteigende Kraft der Hauptmuſkel, welche
das Einzelne beherrſchen und zuſammenhalten, verhindert. Eigenthümlich
ſchön belebt ſich in beiden Fällen die ausgedehnteſte Fläche des Körpers,
der Rücken (Torſo des Herkules, Oeleinreibender Athlet in Dresden u.
And.), aber auch der zärtere jugendliche und weibliche Rücken iſt ein reiz-
volles Feld ſanfter Hügel und Senkungen. Noch ferner, als vieles Muſkel-
Detail, liegt dem Künſtler das Hervorheben der Sehnen und Adern; ſie
erinnern zu unmittelbar an den ganzen Apparat, der zum Leben gehört,
namentlich weist die Ader zu hart auf die dunkeln Werkſtätten ſeiner
[418] Bildung, Erhaltung und Auflöſung; die Homeriſchen Götter ſind „blut-
los“. Nur in Momenten der ſtärkſten Anſtrengung iſt das Hervortreten
dieſes Apparats gerechtfertigt: ſo hat der farneſiſche Herkules, der eben
vom Kampfe kommt, aufgequollene Adern, am Torſo, der den verklärt
ruhenden Halbgott darſtellt, ſind keine ſichtbar. Außerdem mag die Dar-
ſtellung ſehr reifer, von Erfahrung gehärteter, durchgearbeiteter, männlicher
Perſönlichkeit die beſtimmtere Andeutung dieſer ausprägenden, markirenden
Lebensäſte mit ſich bringen. Im Materiale des Erzes und bei Thierbil-
dung verändert ſich die Sache; jenes fordert an ſich ſtärkere Ausladung
auch dieſer Einzelform, das gröbere Thierleben aber iſt vorherrſchend eine
Erſcheinung der Kraft und die Röhren ſeines Lebensſtroms wie die Hebel
ſeiner maſſigen Glieder müſſen daher ausdrücklicher hervorgehoben werden.
— Etwas Sprechendes, Charakterbezeichnendes haben die Sehnen, Adern,
Gelenke, Lineamente der Hand, ſo wie die Unterſchiede ihrer Form über-
haupt und namentlich der Fingerbildung (vergl. zu §. 338). Der Bild-
ner kann ſich aber auf die Charakterformen dieſes Gebildes ſchon darum
nicht mit dem Nachdrucke legen, womit der Phyſiognomiker ſie beobachtet,
weil in ſeiner Kunſt die ſämmtlichen Glieder zum Ausdruck des Charakters
mit einem Gewichte mitſprechen, der den vorzugsweiſe ſprechenden Theilen
ihre Bedeutung zwar natürlich nicht entzieht, aber doch das Auge nicht
ſo vorherrſchend auf ſie hinlenkt, wie dieß in einem ganz andern Syſtem
der Sitte, Bildungsform, Auffaſſung und Kunſtform der Fall iſt. Es
wird nicht an Modificationen der Hand fehlen, auch ihre Adern werden
angedeutet werden bei den härteren Charakteren, im Ganzen aber wird
ſchöne, rundliche Bildung über Angabe der Einzelformen entſchieden vor-
herrſchen. — Was Individualiſmus und Naturaliſmus heißt, iſt nun
ſchon um einen Schritt deutlicher: beide Richtungen gehen in allen hier
erwähnten Formen weiter, als die ſtrenge Richtung auf idealen Styl. —
Wir ſchließen dieſe Beſtimmungen über die Behandlung des Körpers mit den
Worten Winkelmanns über den vatican. Apollo (a. a. O. Bd. 4, S.
260): „Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewächs und ſein Stand
zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling wie in dem
glücklichen Elyſium bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre
mit gefälliger Jugend und ſpielt mit ſanften Zärtlichkeiten auf dem ſtol-
zen Gebäude ſeiner Glieder. Gehe mit deinem Geiſte in das Reich un-
körperlicher Schönheiten und verſuche, ein Schöpfer himmliſcher Natur zu
werden, um den Geiſt mit Schönheiten, die ſich über die Natur erheben,
zu erfüllen: denn hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche
Dürftigkeit erfordert. Keine Adern, noch Sehnen erhitzen und regen die-
ſen Körper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich wie ein ſanfter Strom
ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfüllet.“
[419]
Der plaſtiſche Ausdruch des Gleichgewichts der Kräfte fordert verhältniß-
mäßig kleines Haupt; die griechiſche Geſichtsbildung (vergl. §. 348, 2.),
welche als die ihm beſonders entſprechende bei idealen Geſtalten jederzeit
muſtergültig bleibt, noch mehr die individuelleren Formen bei realer beſtimmten
Geſtalten ſind nach denſelben Grundſätzen, wie der übrige Leib, zu ſtyliſiren;
ebenſo hat die Behandlung des Haares weiche Fülle und ſcharfe Sonderung zu
vereinigen.
Bei großem Kopf iſt entweder das Hinterhaupt und hiemit der Aus-
druck des Begehrens, oder das Vorderhaupt und die Stirne, alſo der Aus-
druck des Denkens, oder die untere Parthie des Geſichts, alſo der des Grobſinn-
lichen überwiegend; die Griechen haben daher im Sinne der plaſtiſchen
Kunſt maaßgebend gehandelt, indem ſie den Kopf verhältnißmäßig klein
bildeten; er ſpricht mehr, als der ganze übrige Körper, aber er ſoll hier
nicht für ſich, nicht auf Koſten deſſelben ſprechen. Warum das griechiſche
Profil muſtergültig bleibt für Idealbildungen, iſt durch die Charakteriſtik
deſſelben Th. II, S. 235 dargethan; im plaſtiſchen Style muß ſich, wie
wir geſehen, das ſchöne Gleichgewicht des Lebens durch volle Linien äußern,
und ſo fällt die Auffaſſung des griechiſchen Profils bei O. Müller (a. a.
O. §. 329): „der Grundſatz, die Umriß-Linien in einem möglichſt ein-
fachen Schwunge fortzuführen“ u. ſ. w., ganz mit jener pſychiſchen zu-
ſammen. Hier iſt daher nur noch von dem zu ſprechen, was die Kunſt:
auch an dieſem glücklichſten Stoffe umbildend vorzunehmen hat, und auch
hierin bleibt die claſſiſche Sculptur Muſter, denn ſie hat das Stylgeſetz
der Vereinigung des Völligen und Runden mit dem ſcharf Getheilten in
größter Reinheit durchgeführt. Jenes iſt gegeben in dem ſchönen Oval des
Ganzen, der rundbogigen, keine nackte Winkel an den Schläfen zulaſſenden
Umkränzung der niedrigen, ſanftgewölbten Stirn durch die Haare, der
fein ſchwellenden Form der Lippen, der markigen Rundung des Kinns, dem
kräftigen Kreisausſchnitt des Unterkiefers, der ſanften, weichen Flucht der
Wangen, dem großen, runden Auge; das Scharfe dagegen, das Beſtimmte,
an architektoniſche Gemeſſenheit Erinnernde liegt namentlich in der Schär-
fung des fein geſchwungenen Superciliarbogens, der energiſchen Ausladung
der Augenlider, der Kantenbildenden Abflachung des Naſenrückens. Von
der Behandlung des Auges iſt ſchon zu §. 608 die Rede geweſen. Nichts
würde die Plaſtik weniger ertragen, als dünne, gekniffene Lippen: dieſe
bezeichnen den in ſich verſchloſſenen, bis an das Kinn zugeknüpften Men-
ſchen; die ſanfte Oeffnung derſelben charakteriſirt den in Offenheit, Freu-
digkeit des Daſeins und Fülle reiner Sinnlichkeit frei athmenden Menſchen;
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 28
[420]ſie ſind von kräftiger und doch zarter Fülle, und um auch den entfernten
Schein des Anſatzes zur Thierſchnauze, der in überhängender Oberlippe
liegt, zu vermeiden, wird die Unterlippe etwas voller gebildet. Das
nordiſch moderne Auge iſt durch die Gewohnheit, vielgetheilte Formen in
der Geſichtsbildung zu ſehen, überſättigt wie der Gaumen, der, an ſtärkere
Reize gewöhnt, das Waſſer, ſelbſt den reinen Wein verſchmäht; daher
überſieht es leicht das unendliche Feld der Mannigfaltigkeit in Charakter
und Ausdruck, das durch die zarteſten Modificationen in dieſem rein ab-
gezirkten Lande einfacher Hebungen und Senkungen hervorgebracht wird.
Es iſt übrigens durch die Enge des Spielraums der Individualiſirung
doch auch härtere, hügelichere, durchgearbeitetere Form nicht völlig abge-
wieſen; ſelbſt Jupiter hat jene Wolke über der Naſenwurzel; im idealen
Gebiete ſelbſt gibt es realer gefärbte Naturen und die Griechen geben
dem komiſchen Kreiſe des σιμόν. Der Unterſchied der beſonderen Formen
im Menſchenleben (Genre-Gebiet), noch mehr die Darſtellung der empi-
riſchen Individualität, bedingt nun aber bedeutendere Abweichungen von der
reinen Linie. Hier iſt denn die Hauptſtelle, wo die Gegenſätze des §. 616
in Kraft treten; die Behandlung des Angeſichts iſt die eigentliche Wahlſtätte
des Kampfes zwiſchen Individualiſmus, Naturaliſmus auf der einen,
idealem und ſtrengem Styl auf der andern Seite. Wo glückliche und edle
Bildung in einem gegebenen Stoffe es zuließ, löſten die Alten die ſchwierige
Aufgabe gerne durch Annäherung an das Ideal einer beſtimmten Gottheit;
ſo wird der Kopf Alexanders des Gr. dem des Jupiter ähnlich gebildet,
namentlich auch in der Löwen-Mähneartigen Behandlung des Haares.
Von dieſem iſt noch zu ſagen, daß hier, wo eine unbeſtimmte Vielheit der
dünnſten Einzelbildungen vorliegt, die Nothwendigkeit des Styliſirens im
Gegenſatz gegen eine mit ganz andern Mitteln nachbildende Kunſt be-
ſonders deutlich einleuchtet. Schon im Naturvorbilde muß daher der
Bildner Haare vorziehen, die ſich in Gruppen von einiger Völligkeit
ſammeln; dieß iſt bei gelockten Haaren der Fall, deren Wellen überdieß
ein viel freieres, naturfriſcheres, lebendiger bewegtes Bild geben, als die
ſtraffen, die bei nordiſchen Völkern ſo häufig ſind und bald zu dünn und
fein, bald ſtrohartig hart und ſtruppig erſcheinen. Der Bildner muß
aber das Haar noch beſtimmter in Maſſen ſammeln, als die Natur es
thut, und durch ſcharfe Ränder, tiefe Kehlen Einſchattungen hervorbringen,
welche dieſen pflanzenartigen Wald theilend beleben und maleriſche Mittel
erſetzen (vergl. §. 608 Anm.). Daſſelbe gilt vom Barte; der des Jupiter
von Otricoli iſt von beſonders herrlicher Modellirung. Das Haar des
Weibes mag in weniger volle Maſſen geſammelt und welliger bewegt
ſchlangenartig dahinwallen. Straffe, ſtruppige, dünne, mangelhafte
Haare bis zur Kahlheit läßt ſich der individualiſirende und naturaliſtiſche
[421] Styl friſchweg auch gefallen, doch muß auch er ſie ſtrenger ordnen und
ſammeln, als der Maler. — Mit dem Felle des Thiers iſt dieſelbe Be-
handlung vorzunehmen; beſonders ſchön ſind die Borſten am florenti-
niſchen Eber gruppirt.
Die bildneriſche Darſtellung der Schönheit der menſchlichen Geſtalt iſt1.
nicht an die Nachtheit gebunden, wohl aber fordert ſie ein Gewand, das
in Ruhe und Bewegung die Form der Glieder aufzeigt, indem es in ſeinem
Wurfe durchgängig von ihr beſtimmt erſcheint. Für die Behandlung deſſelben
gilt daſſelbe Slylgeſetz gleichzeitig völliger Maſſenbildung und kräftiger Son-
derung, wie für den Körper ſelbſt. Bei individuell beſtimmten Aufgaben ſind2.
auch weniger günſtige Trachten, ſofern ſie nur Charakter haben und kein falſches
Bild von den Körperformen geben, plaſtiſch berechtigt.
1. Nacktheit oder Bekleidung iſt ebenſoſehr eine ethiſche Stoff-Frage,
als eine reine Kunſtfrage. Die Griechen haben bekanntlich nicht frühe
und nicht ohne Motiv völlige Entkleidung bei ihren Bildwerken gewagt.
Namentlich bei weiblichen; denn der Mann iſt weſentlich handelnd und
Handeln war dem Griechen nie ein abſtract geiſtiges, ſondern ebenſoſehr
ein ſinnliches, von der Gymnaſtik ausgehendes, bei welcher das Gewand
beläſtigt, und ſo führte die nackte Darſtellung athletiſcher Figuren nach
und nach zur völligen Entblößung der männlichen Göttergeſtalten und
Heroen. Bei der Liebesgöttinn war die Nacktheit urſprünglich durch das
Bad motivirt, das ſelbſt wieder koſmogoniſche Bedeutung zur Grundlage
hatte; Kindesnaivetät und weibliche Anmuth ohne höhere ethiſche Bezie-
hung erſcheint mit Recht in reiner Naturform; aber Aphrodite ſelbſt, wo
ſie hohe, bindende Lebensmacht iſt, bleibt nicht ganz unbekleidet, wie die
Statue von Melos zeigt. Das Gewand könnte zunächſt als eines der
zufälligen Anhängſel erſcheinen, die der Bildner vom Weſentlichen, Ewigen,
Naturbleibenden wegzunehmen hat; allein Bildung iſt auch Natur, eine
zweite Natur, und ihre Formen ſind auch weſentlich. Kleidung iſt Scham
des Geiſtes an den Theilen ſeines Leibs, in denen ſich ſein Ausdruck
nicht concentrirt, Kleidung charakteriſirt, ſpricht Inneres, Weiſe des
Thuns, Inhalt, Würde aus. Aber nicht nur dieß; auch abgeſehen vom
Ethiſchen iſt Kleidung, freilich nicht jede, nicht Hinderniß, daß der
Körper erſcheine, ſondern fortgeſetzte, wie in einem Nachhall erweiterte
Körperform. Sie zeigt als „Echo der Geſtalt“ deren Bildung und Be-
wegung auf. Dieſe Bedeutung kommt nun freilich keiner andern Tracht
ſo zu, wie der griechiſchen (und römiſchen); warum ſie die abſolut
28*
[422]plaſtiſche iſt, geht aus ihrer kurzen Charakteriſtik zu §. 348, 3. hervor,
wozu vergl. die erſchöpfende Erörterung in Hegels Aeſth. Th. II, S.
405 — 416. Wo dieſes Gewand, der wenig genähte Chiton und das
ungenäht frei übergeworfene Himation und Chlamys, auf den Gliedern
aufliegt, zeigt es deren Schwellung einfach auf, wo es in Falten ſich
aufwirft, abfällt, ſind dieſe eben durch die Art, wie der andere Theil am
Körper aufliegt, durchgängig beſtimmt und ſetzen alſo dieſe Ausprägung in
bewegter, vervielfältigter, ſo zu ſagen colorirter Weiſe fort. Bei wirklicher
Bewegung verſtärkt ſich dieß Verhältniß, der Affect fährt gleichſam auch
in das Gewand wie eine Art ſelbſtändiger Geiſt, indem die Bewegung
in dieſem noch nachdauert, auch wenn der Handelnde augenblicklich mit
der Bewegung inne hält: das Kleid des Tanzenden ſetzt, wenn dieſer
ſich augenblicklich ruhiger auf den Zehen wiegt, das Sauſen der vorher-
gehenden ſtärkeren Drehungen und Sprünge, das des Kämpfenden die ge-
waltſamen Bewegungen fort; man ſehe z. B. jenen Satyr auf dem choragiſchen
Denkmal des Lyſikrates, der eben einen Baumaſt abreißt: ſeine Nebris
ſaust noch im Winde von der Wuth, mit welcher er herangeſtürzt iſt.
Es iſt die Luft, mit welcher hier das Gewand in Spiel tretend gewiſſer-
maßen ſelbſtändig wird, doch nur um das urſprünglich organiſche Motiv
zu erweitern, zu verdoppeln. Das Gewand bleibt jedoch an ſich todter
Stoff und dadurch ergibt ſich das weitere Motiv einer ſchönen Contraſt-
wirkung, indem das an ſich todte und nur mittelbar beſeelte Anhängſel
mit dem es belebenden Leibe in äſthetiſchem Gegenſatze zuſammenwirkt,
und die mancherlei Abbreviaturen (vergl. §. 612), wo eine Chlamys,
Nebris, herabgefallenes Himation die Gewandung nur andeutet, wollen
zugleich künſtleriſch das Nackte durch dieſe Contraſtwirkung heben; man
betrachte z. B. den herrlichen Lapithen auf einer der Parthenon-Metopen,
der den Centauren am Haare gepackt hat und weit geſpreizt, auf die linke
Ferſe geſtemmt ihn rückwärts reißt, um ihm den Kopf zu ſpalten: das
Himation liegt noch leicht auf der rechten Schulter und dem linken Arm
und bildet übrigens, hinten herabgeſunken, weit ausgebreitet eine große
Draperie, auf der ſich wie auf maleriſchem Hintergrunde die gewaltige
Kämpfergeſtalt prachtvoll abhebt. Ein volles, umgenommenes Gewand
ſetzt dagegen reich, ſtattlich, ehrwürdig den ganzen herrlichen Gliederbau
wie durch unzählige Geiſter, die ſein Geheimniß aus allen Falten und
Furchen verkündigen, in Muſik. In zarterer, faſt überverfeinerter Weiſe
geſchieht dieß bei den ſog. naſſen Gewändern, wo nur ganz feine flor-
artige Falten zeigen, daß der Körper mit einem höchſt dünnen, durchſich-
tigen, wie durch Näſſe anklebenden Stoffe bekleidet iſt; hier ſteht man
ſo ſcharf an der Grenze, wo das farbige Durchſcheinen einzutreten hätte,
daß das Auge unwillkührlich die Farbe ergänzt und das Hinübergreifen
[423] in die Malerei (vergl. §. 612 u. Feuerbach a. a. O. S. 198) ſtärker,
als irgendwo ſich hervordrängt. — Dieſe äſthetiſche Wirkung des Ge-
wands liegt nun natürlich nicht im Stoffe allein; die günſtigſte Tracht
verfällt hundert ſtörenden Zufällen, iſt in ihren Formen und Falten nie
ſo flüſſig und beſtimmt, wie es der Künſtler bedarf, und es handelt ſich
alſo auch hier weſentlich vom ſtyliſtiſchen Verfahren. Daſſelbe hat dem
bisher durchgängig angewandten Geſetze der Vereinigung des flüſſig Freien
mit dem ſtreng Getheilten und Geſammelten zu folgen und beſonders
wird die Behandlung der des Haares verwandt ſein; charakterlos geknit-
tertes Gefälte iſt auszuſcheiden, volle Faltenzüge ſind in Gruppen zu
ordnen, höher zu wölben, tiefer zu unterhöhlen, glattes Aufliegen iſt
in reinerer Füllung, abfliegender Schwung belebter, bewegter, fortgeſetz-
ter darzuſtellen. An den ſchönſten Gewandfiguren der Alten bildet die
Draperie ein wohl componirtes Ganzes wie ein Gedicht: Hauptmaſſen,
untergeordnete Falten von ſchwereren Faltenzügen beherrſcht, Gruppen in
Gruppen, dazwiſchen freies Aushauchen im Faltenloſen.
2. Für rein ideale Geſtalten iſt die abſulute Gewandung, wie ſie
das claſſiſche Alterthum geſchaffen, jederzeit ebenſo unentbehrlich wie das
griechiſche Profil; wäre ſie aber die einzige, ſo wäre dadurch den neueren
Völkern, die vorzüglich auf das, obwohl beſchränkte, Gebiet individuell
hiſtoriſcher Darſtellungen gewieſen ſind, faſt aller Boden weggezogen.
Es mögen auch individuelle Geſtalten, ſo wie genreartige, unter Um-
ſtänden im Widerſpruche mit der Tracht, die ſie wirklich getragen, im
claſſiſchen Gewand erſcheinen, wofern ſie aus den realen Bedingungen
ihrer Zeit heraus in den Aether des Reinen und Allgemeinen ſich erhoben,
darin gelebt und gewebt und ſich verewigt haben, wie z. B. große Dichter;
denn dieſes Gewand hat beinahe aufgehört, das einer beſtimmten Zeit zu
ſein, es iſt ebenſoſehr ein reiner Typus, allgemein menſchlich, ideal ge-
worden, als es hiſtoriſch iſt, und wen wir „claſſiſch“ nennen, der mag es
im Monumente tragen. Dagegen alle realeren Naturen, Staatsmänner,
Feldherren, auch geiſtige, aber dem ſtrengeren Denken zugewandte, wie
Philoſophen, Kritiker, Erfinder, oder ſolche, die für ihre Gedankenwelt
kühn gehandelt, wie Reformatoren, unverdroſſen gewirkt, wie berühmte
Lehrer, ſelbſt Dichter, Künſtler, wenn ſie lebenswärmer, vertrauter auf-
gefaßt werden ſollen, müſſen das Kleid tragen, in welchem ſie ſich wahr-
heitsgemäß bewegt haben. In der That iſt die Bildnerkunſt ein lebens-
wärmeres Weſen, als die Schullehre des Idealiſmus zugeben will,
und der Künſtler mag auch hier friſch zugreifen, wenn er nur ſeine
Grenzen kennt. Es verhält ſich mit den barbariſchen Trachten wie mit
dem barbariſchen Profil: was dem Stylgeſetz in ſeiner höchſten Strenge
nicht entſpricht, fällt darum noch nicht weg, ſondern fordert den Bildner
[424] zum Ringen auf. Eine ungefähre Grenze wird aber zu ziehen, inner-
halb derſelben ein Ungünſtigeres und weniger Ungünſtiges zu unterſchei-
den ſein. Die Grenze iſt die moderne Tracht, weil ſie ein falſches Bild
des menſchlichen Körpers gibt, vergl. §. 376, 2.; ſie iſt mindeſtens ein
Aeußerſtes, Ungünſtigſtes. Jedermann kennt die Noth des Bildhauers,
die langen Hoſen, welche der Form des Beins folgen, aber an Knie
und Knöchel die wahre Linie durch Falten verwirren, die nur vom
Schneider herrühren, den Rock oder Frack, der bis an die Hüften dem
Körper anliegt, aber ſchon am Aermel falſche Falten wirft, wie die Hoſen,
von der Hüfte an aber in reinen Schneiderfalten oder gar abſtracten
Schwänzen niederhängt, durch Mantel, Talar und dergl. zu verdecken.
Man denke ſich z. B. jenen ſauſenden Flug des Gewandes, wo er eine
vorangegangene Bewegung anzeigt, auf den Frack angewandt! Dagegen
laſſen ſich durch die Welt von Formen, welche zwiſchen dieſem Aeußerſten
und der antiken Tracht liegen, zwei Linien verfolgen, welche in verſchie-
dener Weiſe plaſtiſch Brauchbares aufzeigen. Nachdem die langen, fließen-
den Gewänder des früheren Mittelalters, welche, ob zwar von oben mehr
nach dem Leibe geſchnitten und genäht, doch noch ihre Herkunft von der
claſſiſchen Kleidung verrathen und dem Bildner daher höchſt willkommen
ſind, verſchwunden waren und nur als Kleid des Feſtes und der höheren
Würde (Talar, Kirchenrock) im Gebrauch blieben, ſehen wir das anlie-
gende Wams, mit ebenfalls knappem Beinkleid verbunden, ſich geltend
machen; dieſes trennt ſich ſpäter in Hoſe und Strumpf, wird eine Zeit-
lang weite Pluderhoſe, dann, wie das Wams, das ebenfalls eine Zeitlang
ſehr weit getragen wird, wieder eng. Zu dieſer Tracht geſellt ſich ein wei-
ter oder faſt freier Ueberwurf, Tappert, Schaube, dann ſpaniſcher Mantel,
dann wieder kurzer, weiter Rock ohne Taille. Dieſe ganze Form iſt in
ihrem anſchließenden Theile nicht unplaſtiſch, weil ſie nicht ſtörend von den
natürlichen Umriſſen abgeht; dazu gibt der Ueberwurf, nämlich der Rock
ohne Taille, der ſpaniſche Mantel den Gegenſatz des Freien, Luftigen,
Reichen; ſehr weites, kurzes Beinkleid und ſehr weites Wams aber iſt
ebenfalls viel brauchbarer, als unſere halbweiten Säcke. Selbſt der in die
Taille gehende Rock und der Frack der Zopfzeit iſt noch ſo weitſchichtig, aus-
giebig, daß das Gefälte mehr nach den Stellen motivirt werden kann, wo er
auf die ausgeladenere Form des Körpers aufſitzt oder in die eingezogenere
einfällt: die Rokoko-Tracht iſt auch bildneriſch noch weit günſtiger, als
die neueſte. Die andere Hauptform iſt die hartſchaalige, mehr architek-
toniſche: das weite, harte Haus der Rüſtung, dann der Steifſtiefel mit
Küraß; Rock und ſelbſt Frack, militäriſch dick gefüttert, wie ſie es bei
dieſer ſchweren Bewaffnung waren, haben auch ſolchen hausartigen Charak-
ter. Dieſe ganze Form iſt nicht ſo unplaſtiſch, als ſie ſcheint: die eckig
[425] harte Käferſchaale gleicht dem gewichtig Schwerlöthigen, was wir bei
harten Körper- und Geſichtsformen der Individualität als Erſatz für die
Welle der Schönheit forderten, und eine architektoniſche Starrheit liegt
der Plaſtik weit nicht ſo fern, als maleriſch weiche Formen, die aber ein
ironiſches Zerrbild der Geſtalt geben. Achnlich verhält es ſich mit der
Nachbildung ſehr ſchwerer Stoffe in jeder Art von Tracht; der ſchwerſte
iſt noch zu behandeln, ſofern er irgend Falten wirft und die Form an-
deutet, wie der dünnſte und leichteſte, ſo fern er nur nicht im Gefälte
charakterlos wie geknittertes Papier erſcheint. Auf jene ſcheinbar ſo un-
günſtige Tracht zurück zu kommen, ſo iſt auch der Dreimaſter unendlich
mehr plaſtiſch, als der modern runde Hut. Rauherer, farbiger betonter
Stein oder Erz eignet ſich jedoch für dieſen Tracht-Typus beſſer, als
Marmor. Reichen Beleg für unſere Sätze gibt das Friedrichs-Denkmal
in Berlin. Intereſſant iſt beſonders die Debatte über die Göthe- und
Schiller-Gruppe, die für Weimar beſtimmt iſt. Beide Perſönlichkeiten
würden ſich nach der obigen Bemerkung für die ideale Tracht eignen, aber
dann müßte die Gruppe von den idealen Kunſtformen eines Theaters,
eines kleinen Tempels umſchloſſen ſein; zwiſchen den deutſchen Häuſern,
in der vertrauten nordiſchen Umgebung wollen wir unſere heimiſchen
Dichter in lebenswahrer Culturform ſehen und Rietſchel genießt den Vor-
theil der günſtigeren Rokoko-Tracht, die er bei der Leſſings-Statue ſo
glücklich zu verarbeiten wußte. — Die Frauentracht hat im faltenreich
langen Rock immer einen Reſt von Idealem bewahrt; die übrigen An-
hängſel laſſen ſich, da dieß lange Kleid das Hauptſtück iſt, ohne Ge-
waltſamkeit ausſcheiden.
Die reiche Welt beſonderer Formen, zu welchem die allgemeine
Schönheit der Geſtalt durch die Unterſchiede der Natur und Sitte ſich entfaltet,
hat ihre Grenze für die Bildnerkunſt da, wo die Form zu unreif oder unbe-
ſtimmt, durch Leiden oder Alter entſtellt, durch mangelhafte Entwicklung ge-
hemmt iſt. Innerhalb dieſer Grenze verlangt das Stylgeſetz beziehungsweiſe
Verſchmelzung der verſchiedenen Formen zu einem Inbegriffe des vollkommenen
Lebens, ohne daß doch die Kraft ihres Unterſchieds verwiſcht wird.
Die beſonderen Formen ſind theilweiſe ſchon in §. 615 erwähnt; es
konnte von der Schönheit der menſchlichen Geſtalt überhaupt und von
dem allgemeinen Prinzip ihrer plaſtiſchen Behandlung nicht die Rede wer-
den, ohne daß ein erſter Blick auf dieſes Gebiet geworfen wurde,
namentlich auf Menſchenracen und Stämme, deren Typus zu weit vom
[426] reinen Menſchenbild abweicht, und auf entſtellende Culturformen, wie
wir ſolche zuletzt bei der Kleidung kennen gelernt haben; ferner hatte
dieſer erſte Ueberblick dort den Zweck, ſogleich das Individuelle und die
mancherlei Einzelformen, in die ſich der Naturaliſmus in weiterem Um-
fang einläßt, heraufzunehmen und die Schmalheit des Spielraums, in
welchem dieſe Richtungen ſich bewegen, als weſentliche Beſtimmung des
allgemeinen Stylgeſetzes auszuſprechen. Nunmehr iſt aber dieſe reiche
Welt, ſoweit ſie nicht dort bereits zur Sprache gekommen, es ſind nament-
lich die anthropologiſchen, die in der Sitte, Beſchäftigung begründeten
Unterſchiede, wie ſie ſich im Körper ausprägen, ausdrücklich zu betrachten
und die Grenze genauer zu bezeichnen. Wir haben alſo vor uns die
verſchiedenen anthropologiſchen Zuſtände: Wachen, Schlaf, Krankheit,
Tod; die Altersſtufen, den Unterſchied der Geſchlechter, der Beſchäftigun-
gen, wie er auch bei vorausgeſetzter glücklicher Culturform beſteht, worüber
durchaus Th. II, C. a. zu vergleichen iſt, nur mit dem Vorbehalt, daß
wir das tiefere Pſychologiſche, alſo die Affecte, die ſittlichen Motive im
Familienleben, den Charakter, wie er ſich im Staatsleben und der Welt
geiſtiger Bildung entwickelt, hier vorerſt noch bei Seite laſſen, weil wir
Alles noch unter dem Standpuncte der Ausprägung an der Geſtalt als
ſolcher betrachten und von den Momenten beſonderer Bewegung noch ab-
ſehen (§. 615). — Es hat keinen Sinn, an eine Schönheit in abstracto
zu denken; es iſt Mann, Weib, Kind, Jüngling, Jäger, Hirte,
Schiffer, Krieger u. ſ. w., was dargeſtellt wird, und die Götter ſelbſt ſind
geſchlechtlich, haben Schickſale, ſind Hüter und Schirmherren eines beſon-
deren Kreiſes, der ihnen ihr Gepräge mittheilt. Es folgt nun klar aus
Geiſt und Stylgeſetz der Plaſtik, daß das Verſchwommene und zugleich
dürftig Dürre der erſten Kindheit, daß entſtellende Krankheit und die
runzliche Gebrechlichkeit des hohen Alters, der Leichnam im Auflöſungs-
prozeß, daß eine durch Armuth und Hunger, durch Sitzen und Hocken,
durch allzurauhe Arbeit gedrückte Erſcheinung aus den Stoffen der Plaſtik
wegfällt. Wo die Linie liegt, iſt natürlich im Gebiete der Allgemeinheit
nicht bei Zoll und Schuh zu bemeſſen. Der griechiſche Bildner wagte
einen im vergifteten Gewande qualvoll leidenden Herkules, einen Phi-
loktet, aber da konnte der Heldenleib doch noch in unzerriſſener Formen-
fülle dargeſtellt werden; der Leichnam iſt noch ſchön, ſo lange der letzte
Strahl der Lebensſonne auf ihm ruht und ſeine Züge erzählen, was er
gethan und gelitten, wenige Stunden nachher wird er todter Stoff und
plaſtiſch unauflösbare Häßlichkeit. Betrachten wir aber dieſes alſo be-
grenzte Gebiet der Mannigfaltigkeit nach ſeinem poſitiven Inhalt, ſo
breitet ſich eine Fülle des Schönen wie eine herrliche Gebirgswelt vor
uns aus. Die Lehre vom Naturſchönen hat einen Ueberblick gegeben
[427] und wir müſſen auf dieſen Abſchnitt zurückverweiſen, da es ſich an dieſer
Stelle weſentlich nur um eine weitere Anwendung unſeres Stylgeſetzes
handelt. Die zwei Momente: Auflöſung in das Fließende, Weiche und
ſcharfe Beſtimmung, Theilung müſſen jetzt mehr im Großen wirken.
Es macht ſich nun zuerſt das zweite dieſer Momente geltend: jede
Form des Daſeins ſoll in ihren weſentlichen Zügen feſt und markig
ausgeſprochen werden; die Idealität, wie ſie im Weſen der Plaſtik mit
ſo beſonderer Ausdrücklichkeit liegt, iſt keine Verſchwemmung, keine Flach-
heit; Kind ſoll Kind, Mann Mann, Weib ſoll Weib u. ſ. w. bleiben;
der Künſtler hat ſich z. B. wohl gehütet, dem Dornausziehenden Knaben
und dem Aſtragalenſpielenden Mädchen die rührende Herbigkeit der noch
unausgefüllten Formen oder das eifrig Bedachte, ausſchließend Vertiefte
ihres Thuns, ihres Spiels zu nehmen. Und dennoch fordert jene Idealität,
daß eine unmerkliche, feine Welle die Schärfe des Unterſchieds ebenſoſehr
flüſſig mildere und am Bande der reinen, in ewiger Heiterkeit webenden Schön-
heit halte. Der ſchlangenwürgende Herkules in Neapel iſt ganz Kind
und doch wie rund und voll ſchon der künftige Mann mit dem Stierhalſe
und den mächtigen Muſkeln ausgeſprochen! Der vaticaniſche Apollo iſt
ganz Mann und doch treten die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter
hier in Gemeinſchaft zuſammen: „eine Stirne des Jupiter, die mit der
Göttinn der Weisheit ſchwanger iſt, und Augenbrauen, die durch ihr
Winken ihren Willen erklären; Augen der Königinn der Göttinnen mit
Großheit gewölbet und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem
geliebten Branchus die Wollüſte eingeflößet“ u. ſ. w. (Winkelmann a. a.
O.). Auch Feuerbach (a. a. O. S. 128 — 130) zeigt, wie dieſer Apollo
etwas Mädchenhaftes hat, ohne weibiſch zu ſein, wie er weder Kind,
noch Jüngling oder Mann, wohl aber Alles zugleich, Kind ohne die
Schwächen der Kindheit und Jüngling in der Kraft und Sicherheit des
Mannes iſt. Falſche Einigung der Gegenſätze, das Erzeugniß einer auf
lüſternen Reiz arbeitenden, weichlichen Kunſt iſt die Hermaphroditenbil-
dung. So verhält es ſich nun auch mit dem beſondern Gepräge, das
Stand, Beſchäftigung aufdrückt. Im griechiſchen Leben war es nament-
lich die, auch auf das weibliche Geſchlecht ausgedehnte, Gymnaſtik, die
ſchon in dem als Stoff gegebenen Menſchenſtamme das Gattungsmäßige
ſo entwickelte, daß ſelbſt Thätigkeiten, die ſonſt zur Ertödtung des vollen
Sinnenlebens und ſeiner Erſcheinung führen, denjenigen Stempel der
Beſonderheit dem Einzelnen nicht aufdrückten, der zum plaſtiſch
Häßlichen abführt; ebenſoſehr war aber die griechiſche Erziehung bedacht,
durch Kunſt, Dichtung, Beredtſamkeit, Spiel den Einzelnen auch geiſtig
flüſſig zu erhalten, zur ſchönen Perſönlichkeit innerlich auszurunden, und
die Kunſt vollendete, was das Leben vorgearbeitet. Der Naturaliſt und
[428] Individualiſt hat nun in dieſem Gebiete der Beſonderheit ein weiteres
Hauptfeld für ſeinen herberen Styl; er wird Jugend und Alter, er wird
den Hirten, Jäger, Krieger, Gelehrten durch ſchärfere Züge vom Ideal
unterſcheiden; überſchreitet er aber die Grenze, ſo verletzt er das Weſen
ſeiner Kunſt und wird gemein.
Der beſtimmte Moment nun, in welchem die Geſtalt zur Darſtellung
kommt, muß durch Ungezwungenheit der Haltung in der Ruhe und Rund-
heit jeder Bewegung das ſtreng Gemeſſene (§. 617) zum Ausdruck der Zufällig-
keit und Wärme des Lebens umwandeln. Sofern ſie nur nicht die Schönheit
der Linie und das, übrigens im Relief minder ſtrenge, Geſetz des feſtzuhalten-
den Schwerpuncts verletzt, iſt an ſich jede Heftigkeit der Bewegung
zuläſſig.
Von der Erörterung der Stylgeſetze in Behandlung der Geſtalt über-
haupt und der beſondern Arten der Geſtalten gehen wir nun zu dem
Punct über, den wir in §. 615 ausdrücklich noch ausgeſchloſſen und be-
ſonderer Beleuchtung vorbehalten haben: dem beſtimmten Momente, worin
die Geſtalt aufgefaßt und dargeſtellt wird. Wir könnten das Ganze unter
den Begriff der Bewegung faſſen, denn auch der Zuſtand der Ruhe zeigt
noch vorangegangene und nachfolgende Bewegung; todte Ruhe haben nur
die Aegyptier dargeſtellt. Zunächſt wird aber die Bewegung als blos
ſinnliche gefaßt, von der geiſtigen noch abgeſehen. Wir haben in der
Strenge der Proportionen einen Reſt von Architektur gefunden, der ſich
in die Bildnerkunſt herein erſtreckt. Dieſer hat ſich nun im Wellenſpiele
der vollen und ganzen Geſtalt wohl mit der Weichheit und Flüſſigkeit
des Lebens bekleidet, aber die wahre und ganze Auflöſung des Starren
tritt erſt mit dem Spiele des Moments ein. Die Haltung der Ruhe
darf keine ſteife ſein, wie jene, welche die ſoldatiſche Dreſſur hervorbringt;
dem Ausdruck nach wird dadurch das Gleichgewicht der Naivetät zu einem
Bilde abſtracter Herrſchaft des befehlenden Geiſtes über ſeinen Körper
verkehrt, dem Syſteme der Linie nach tritt in einer neuen, ungehörigen
Weiſe das architektoniſch Starre und Todte ein, das überdieß gerade die
Vorſtellung des Fallens erregt, weil die gezwungene Haltung an den
mechaniſchen Schwerpunct ſo erinnert, daß der Zuſchauer das Gefühl hat,
die dargeſtellte Perſon und ſofort die Statue ſelbſt habe Mühe, ihn ein-
zuhalten. Der Kopf wird ſich leicht zur Seite und nach vornen neigen,
der Rücken zartgebogen erſcheinen, die ſymmetriſchen Organe, Arme und
Beine, in ungleicher Lage ſich befinden; insbeſondere werden die letzteren
[429] bei ſtehenden Figuren nicht gleichmäßig tragend erſcheinen, ſondern der
Körper ſich auf das eine ſtemmen und dadurch das andere befreien (als
Geſetz hat dieß Polyklet feſtgeſtellt; „ut uno crure insisterent signa“ ſagt
Plinius; ſog. Standfuß und Spielfuß). Die plaſtiſche Natur iſt ihrer
ſelbſt ſo ſicher, daß ſie ſich völlig gehen läßt; jeder Zwang iſt fern; das
freundliche Spiel der Zufälligkeit des Lebens ergießt ſich mild und leicht
über das Ganze; das Geſetz der légèreté, das ſchon in §. 33 als ein
Grundgeſetz des Schönen aufgeſtellt iſt, wird gerade hier doppelt fühl-
bar, wo es an ſeinem Gegentheile, der Strenge der Proportion, zu Tage
tritt. Die Darſtellung wirklicher Bewegung nun führt uns auf den Be-
griff des Momentanen, alſo zu §. 613 zurück. Dort iſt bereits ausein-
andergeſetzt, daß das Momentane an ſich keineswegs der Bildnerkunſt
widerſtrebt, daß der Gegenſatz zwiſchen Ruhe und Bewegung ein rela-
tiver iſt und daß die ſchnellſte, augenblicklichſte, alſo auch heftigſte Be-
wegung dem Bildner nicht verwehrt ſein kann, ſofern nur nicht etwas
Anderes, Qualitatives hinzutritt, was dieß Quantitative, den Grad
der Beſchleunigung und Gewalt, unſchön macht. Dieß „ſofern nicht“
drückt der gegenwärtige §. durch das „an ſich“ aus. Es liegt uns alſo bis
jetzt eine poſitive Schranke nicht vor, als diejenige, welche in der Forde-
rung ſchwungvoll einfacher Umriſſe §. 615 und in der Feſthaltung des
Schwerpuncts §. 600 liegt. Jene fordert allgemeine Rundheit der Be-
wegungen; bei ſchwächeren, weniger unruhigen gibt ſich dieſe leicht, die
heftigen aber reißen die großen Hebel des Körpers mehr excentriſch ab
und es wird ſchwerer, das Spitze, Eckige, Telegraphenartige zu meiden,
aber es iſt nothwendig. Wir reden hier, wie geſagt, noch nicht vom
Affect als Grund der Bewegungen, es gibt auch ohne ſolchen, namentlich
im Tanze, in Leibesübung, Schein-Kampf, gewaltſame Bewegungen genug:
die Bacchantinn ſcheint im wilden Taumel die Glieder wegwerfen zu
wollen, der heftige Ausfall des borgheſiſchen Fechters wäre auch ohne
die Aufregung ernſten Kampfes denkbar, Myrons Diſkobol verkrümmt ge-
waltſam die Glieder zum Anwurf, die Ring-Fauſtkämpfer in Florenz
verflechten ihre Glieder zum wilden Knäuel, und doch iſt nirgends der
Fluß der Linien zerriſſen. Die andere Schranke, welche durch die Forde-
rung entſteht, daß der Schwerpunct auf überzeugende Weiſe eingehalten
werde, beengt, wie ſchon zu §. 600 im Allgemeinen bemerkt iſt, die
Bildnerkunſt weniger, als es den Anſchein hat: es iſt dem Bildner nicht
alles „Schwebende, Fahrende, Sauſende, Fallende“ (Rumohr Ital.
Forſch. Thl. I, S. 91) verſagt; aber eine Grenze iſt allerdings geſteckt,
ſie iſt da, wo aus dem Verluſte des Schwerpunctes nicht eine ſelbſt wie-
der in gewiſſem Sinn ſchwungvolle, ſondern ſchlechthin unbeholfene Be-
wegung hervorgeht, wie das Taumeln des Betrunkenen, das Straucheln
[430] des Geſtoßenen. Im Relief iſt dagegen natürlich auch hier der Umfang
des Darſtellbaren größer, denn der Grund iſt zwar indifferente Fläche,
aber doch auch wieder Anklang mitdargeſtellter Umgebung, Luft, Waſſers
u. ſ. w., doch muß den taumelnden Bacchus wenigſtens ein gegenge-
ſtemmter Satyr halten, damit ein Gleichgewicht hergeſtellt ſei; Flug und
Fall dagegen kommt hier ungehindert zur Nachbildung.
Die Heftigkeit der körperlichen Bewegung überſchreitet aber die Schön-
heitslinie der Bildnerkunſt dann, wenn in ihr eine Bewegung der Seele aus-
bricht, worin ihr inneres Gleichgewicht aufgehoben iſt. Das Stylgeſetz in
ſeiner Anwendung auf den Ausdruck des Seelenlebens verbietet nicht
die Darſtellung ſtarker und voller, wohl aber abſoluter Affecte, welche in
der Geſtalt als Verzerrung erſcheinen. Je näher ein Stoff dieſer ſtarken Form
des Häßlichen, deſto ſchwerer die Aufgabe, dieß Häßliche in ein Furchtbares
oder Komiſches ſo aufzulöſen, daß dennoch dem Geſetze der directen Idealiſi-
rung Genüge geſchieht.
Die Frage über das Maaß der Bewegung iſt es, die durch natürli-
chen Uebergang zur letzten, wichtigſten Seite der inneren Beſtimmt-
heit der plaſtiſchen Darſtellung oder des Stylgeſetzes führt, zu der Be-
trachtung des Ausdrucks in unſerer Kunſt. Denn jenes Poſitive, deſſen
Zutritt erſt den wahren Aufſchluß über das erlaubte Maaß der äußern
Bewegungen gibt, iſt der Affect, und ſo ſind wir auf dieſen geführt als
erſten Punct der Erörterung über den Umfang des pſychiſch Darſtell-
baren. Im Affecte ſchlägt die Seele heraus aus ihrem Innern, fluthet
aus ihrem Centrum, iſt auf etwas außen Liegendes gewaltſam bezogen;
es muß aber durch dieſe Aufwallung nicht nur die augenblickliche, ſondern
auch die ſtetige innere Beſchaffenheit der Seele zum Vorſchein kommen,
und ſo faſſen wir denn das Seelenleben ſelbſt zunächſt von außen und
gehen fort nach innen. Wie nun im Affecte das Stetige und Bleibende
des Seelenlebens ſich zu erkennen gibt, indem es durch Bewegung ſeine
Kräfte auseinanderlegt, ſo wird gleichzeitig alles Bewegende und Beweg-
liche im Körper, das in der Einheit der Ruhe ſchlummerte, in ſeinem
Grunde aufgeregt und tritt in der Form der Ausdrücklichkeit hervor. Es
kann gar keine Frage ſein, daß die Bildnerkunſt ebenſo berufen ſein
muß, dieß aufgewühlte Meer, als die Meeresſtille darzuſtellen; aber
ebenſowenig kann darüber ein Zweifel ſein, daß das Maaß dieſer Auf-
wühlung für die Plaſtik ſeine ſcharf beſtimmte, für den Naturaliſten, dem
wir auch hier begegnen und deſſen Richtung auf dieſem Gebiete ſich wie-
der beſonders kenntlich macht, freilich weiter ausgeſteckte Grenze hat durch
[431] die Enge des Spielraums, der in einer Kunſt dem Häßlichen gelaſſen
iſt, welche ſo beſchränkte Mittel beſitzt, es äſthetiſch aufzulöſen. Nun
ſind wir an der Stelle angekommen, wo ſich zeigen muß, was jenes
Qualitative iſt, wodurch die an ſich ganz zuläſſige Darſtellung des ſchlecht-
hin Momentanen (§. 613) und der heftigſten Bewegung (§. 622) zum
unplaſtiſch Häßlichen wird: es iſt ein Aeußerſtes der Leidenſchaft, d. h.
derjenige Grad, worin die Seele völlig aus ihrem Centrum geriſſen, alſo
jene Gediegenheit, jenes ſichere Inſichruhen, jener ethiſche Schwerpunct
eines ſubſtantiellen Charakters (vergl. §. 605) verloren und an die Stelle
jenes Beiſichbleibens im Einlaſſen in Anderes das Verlorenſein ſeiner
ſelbſt getreten iſt. Verboten iſt nicht das Augenblickliche an ſich, ſondern
das, deſſen Anblick nur einen Augenblick erträglich iſt. Da erſt entſteht
ein Widerſpruch zwiſchen dem abſolut Flüchtigen und der Feßlung im dauern-
den Material. Im Aeußern muß ſich der abſolute Affect als ein Krampf
der Verzerrung darſtellen: ſtatt einer „vielſtimmigen Harmonie der Kräfte,
ſtatt einer nie endenden Kreisbewegung ein einziger ſchreiender Laut,
etwas Maskenartiges; die Züge werden leblos und ſtarr und in der
Haltung der ganzen Geſtalt, in jeder Gebärde erſcheint die Bewegung
nur wie das Zucken, die Ruhe wie die Erſtarrung eines willenloſen
Krampfes“ (Feuerbach a. a. O. S. 60. 61). Wo nun der Moment
eines höchſten Ausbruchs ſo beſchaffen iſt, da iſt natürlich die nächſte
Auskunft, ihn überhaupt zu vermeiden und den Augenblick vorher oder
nachher zu wählen; hier erſt hat dieſe Vorſchrift, die wir zu §. 613
als eine vorzeitige auftreten ſehen, ihre Geltung. In Griechenland ver-
fuhr auch der Maler, plaſtiſch keuſch, gerne nach ihr: die Medea des
Malers Timomachus kämpft noch mit ſich und zieht das Kindermordende
Schwert unentſchloſſen halb aus der Scheide, ſein Ajax hat die ent-
ehrende That gethan; um ſo gewiſſer der Bildhauer: eine Niobe iſt ſchon
da angekommen, wo ihr die vom Mythus erzählte Verſteinerung mit
löſender Geiſter-Hand das Letzte, Aeußerſte der Verzweiflung abnimmt,
Laokoon hat wohl einen Augenblick vorher krampfhafter gerungen und
die Rondaniniſche Meduſe iſt todt. Allein in der That iſt es mit dieſer
Auskunft noch nicht gethan; gerade in dieſen drei Beiſpielen ſehen wir
einen Moment gewählt, welcher dem Aeußerſten, Verzerrenden eines
ſchrecklichen Affects noch ſo nahe liegt, daß der Künſtler, wenn dieſe
Werke dennoch ſchön ſind, offenbar dieß Heiligthum der Grazie durch
andere Mittel zu retten gewußt hat, als durch das äußerliche der Wahl
des Moments. Iſt nun dieß zugegeben, ſo kann ja die Löſung der
Schwierigkeit überhaupt nicht im Stoffe liegen, wir müſſen die wahre
Auskunft im Kunſtſtyle ſuchen; ſeines Zaubers mächtig mag nun der
Künſtler jenen äußerlichen Ausweg geradezu ganz aufgeben, und er thut
[432] es, wie wir aus mehreren Beiſpielen zu §. 613 erſehen, die den frucht-
baren Moment mitten im Toben, im höchſten Ausbruch des Zorns oder
Leidens ſuchen. Wir müſſen uns nun klarer machen, was in dieſem
Falle eigentlich ſeine Aufgabe iſt. Wir haben (§. 603 mit Anm.) er-
kannt, daß in der Bildnerkunſt in gewiſſem Sinn das Häßliche ſelbſt
ſchön ſein muß. In ein Furchtbares (oder Komiſches) muß es zwar
auch der Bildner auflöſen, aber dieſem ſelbſt kann er nicht die ahnungs-
volle geiſtige Tiefe geben, wie es die Mittel anderer Künſte erlauben;
alſo bietet ihm dieſer Umweg nicht die Rettung aus dem an ſich Häß-
lichen, wie den letzteren. Daher bleibt ihm, wenn er einmal das Bild
des vollen Sturmes wagt, nur der Weg, daß er gleichzeitig „mit der
wüthend aufgewühlten Oberfläche des Meeres ſeine ſtille Tiefe ſehen laſſe,
d. h. in der höchſten Leidenſchaft eine große und geſetzte Seele zeige“
(Winkelmanns berühmte Worte vom Laokoon Werke Bd. I, S. 31). In
dieſem geiſtigen Rettungsmittel der Schönheit iſt nun das Wahre jener
äußerlichen Auskunft erhalten: die innere Kraft der Seele mäßigt die
Leidenſchaft auf ihrer Höhe ſo, daß es iſt, als wäre dieſe Höhe ſchon
überſtiegen, der äußerſte Moment ſchon abgelaufen und ein ſpäterer ein-
getreten. Dieſes Mittel muß nun aber, da hier vom Style die Rede
iſt, in einer beſtimmten Behandlung der Formen ſich Ausdruck geben.
Jedoch ſind verſchiedene Fälle denkbar: das einemal wird es mehr darauf
ankommen, poſitiv in der Art der ganzen Bewegung die Herrſchaft des
Geiſtes über den Affect auszuſprechen, obwohl auch dieß nicht in ab-
ſtracter, ſondern in der Weiſe, daß dieſe Geiſtesherrſchaft ſelbſt wieder
wie eine zum Eigenthum der Geſtalt gewordene Naturkraft erſcheint; das
andremal muß der Adel der Form ohne dieſen beſtimmten Ausdruck
dämpfend wirken, und in einem dritten Fall vereinigt ſich Beides. Um
dieſe Fälle zu unterſcheiden, muß die Sache genauer ins Auge gefaßt
werden. Wir ſind hier auf die Lehre vom Erhabenen der Leidenſchaft
und vom Pathetiſchen im I. Theile (§. 105. 106. 110 — 116) zurückge-
führt. Dort ſind die Bezeichnungen genauer genommen: Leidenſchaft be-
deutet ſinnlich-ſeeliſche Erregung ohne Rückſicht auf das Sittliche des
Inhalts, das Pathetiſche aber das Aufbrauſen oder das Leiden des mit
ethiſchem Gehalt erfüllten Willens. Das Erhabene des böſen Willens,
das dort in die Mitte zwiſchen dieſe beiden Formen geſtellt iſt, fällt für
das Ideal der Plaſtik nothwendig weg. In der erſteren Form nun iſt
es überhaupt leichter, die Grazie plaſtiſcher Schönheit zu wahren, denn
jener ϑυμὸς, halbſinnliche Zorn des Kriegers, Ringers u. ſ. w. reißt
die gediegene Kraft der Seele nicht aus ihrem Centrum, er wüchſe denn
zu thieriſcher Wuth an, die der Künſtler einfach meidet. In der zweiten
Form iſt das poſitiv Pathetiſche der leichtere Stoff, denn da iſt der Wille
[433] von der Leidenſchaft poſitiv unterſtützt und es iſt keine Gefahr, daß der
erhabene Lichtgott, der ſo eben das Ungeheuer getödtet, im ſtrahlenden
Siegesgefühl, worin der göttliche Zorn noch über ſeine Befriedigung ge-
mäßigt hinüberwirkt, ſeine Würde verliere: „von der Höhe ſeiner Ge-
nugſamkeit geht ſein erhabener Blick, wie in’s Unendliche, weit über
ſeinen Sieg hinaus; Verachtung ſitzt auf ſeinen Lippen und der Unmuth,
welchen er in ſich zieht, blähet ſich in den Nüſtern ſeiner Naſe und tritt
bis in die ſtolze Stirn hinauf, aber der Friede, welcher in einer ſeligen
Stille auf derſelben ſchwebet, bleibt ungeſtört und ſein Auge iſt voll
Süß[i]gkeit, wie unter den Muſen, die ihn zu umarmen ſuchen“ (Winkel-
mann a. a. O.). Aber im negativ Pathetiſchen, wo alle Nerven im
äußerſten Schmerze zucken und im innerſten, verborgenen Grunde der
Wille dem Leiden entgegenwirken ſoll, ohne daß uns doch der Künſtler
auf den Boden abſtracter, moderner, Kantiſcher Moral verſetzte: da wird
es ſchwer, das Maaß zu treffen. An dieſer Grenze ſteht der ſterbende
Fechter und jene Gruppe in der Villa Ludoviſi, wo der ſtolze Ueberwun-
dene ſeinen und ſeines Weibes Tod der Knechtſchaft vorzieht. Beides
ſind Barbaren, Kelten, die reine Linie der Schönheit iſt nicht ihr Element,
kann ſie alſo nicht, wie wir dieß bei andern Stoffen finden werden, im
Aeußerſten vor Häßlichkeit ſchützen; es gilt ſtrengen Befehl der Seele
über alle niederſchlagenden Affecte, dort, damit der Tod durch fremde
Hand nicht zum Schauſpiele ſchmählichen Niedertaumelns werde, hier,
damit der Tod durch eigene Hand als freies Werk des Willens, nicht
der blinden Verzweiflung erſcheine. Aber nun ſind es zwar barbariſche
Naturen, doch Naturen, ihr freieſtes Wollen kein abſtractes, ſondern ein
gefülltes, kernhaftes, feurig männliches: und ſo hält ſich jener, ehe die
Glieder erlahmend zuſammenbrechen, noch einen Augenblick mit Helden-
anſtand, ſtählern, muſkelſtraff, ein eherner Menſch, zuſammen, ſo ſtößt
ſich dieſer, das ſtolze Haupt nach dem Feinde zurückgeworfen, kurzweg,
ohne Scrupel, mit Einem ganzen Entſchluß das kurze Schwert in die
breite Bruſt. Trotz dem Mangel des griechiſchen Profils bewirkt nun
aber allerdings auch bei ſolchen härteren Stoffen der Künſtler die wun-
derbare Mäßigung des Furchtbaren nicht allein durch den beſonderen Vor-
ſatz, im Leiden eine große, männliche Seele zu zeigen. Seine Kunſt
ſelbſt bietet ihm ein Syſtem von Formen, wie ſie zum Ausdruck des
innern Maaßes und Gleichgewichts der Seele der plaſtiſche Styl einmal
entwickelt hat; es iſt die ſtraffe Fülle, es iſt der Schwung des Umriſſes,
der an ſich ſchon die häßliche Zerwühlung abhält. Dieß gilt nun in ſeiner
ganzen Bedeutung da, wo tiefes Leiden ohne dieſe ausdrückliche
Selbſtbeherrſchung darzuſtellen iſt, wo dagegen der ideale Stoff den
höheren Adel der Form, das griechiſche Profil mit ſich bringt. Hier muß
[434] man mit Schelling (Ueber d. Verh. d. bild. K. zu d. Natur) ſagen: die
Vorſchrift, daß der Ausdruck der Leidenſchaft zu mäßigen ſei, damit die
Schönheit nicht leide, iſt umzukehren und ſo auszudrücken, daß die Leiden-
ſchaft eben durch die Schönheit ſelbſt gemäßigt werden ſolle. In der
That iſt denn ſchon das griechiſche Profil „ein unerſchütterlicher Damm,
welchen der reißendſte Strom der Leidenſchaft nie ganz durchbrechen
kann“ u. ſ. w. (Feuerbach a. a. O. S. 52. 54); es iſt aber nur die
höchſte Anſammlung eines Ebenmaaßes, das die ganze Geſtalt wie ein
edler Panzer einfaßt und gegen die Zerreißung ihrer Formen durch Ueber-
maaß der Leidenſchaft ſchirmt. Hieher gehört nun gerade namentlich der
Laokoon. Er leidet ſo ſchrecklich, daß der Ausdruck des, die phyſiſche
und moraliſche Qual niederkämpfenden, Willens in der That weniger in
irgend einem beſondern Zuge, als in dem ungeſtörten Adel aller
Form und Bewegung, in dem reinen Schwung und der Auge und Sinn
beruhigenden Kreisſchwingung aller Linien der ganzen Gruppe als ein
unſichtbar ſichtbar ergoſſener Geiſt keuſcher Grazie zu ſuchen iſt. In der
Niobe treffen gerade dieſe Mittel des plaſtiſchen Styls mit dem oben er-
wähnten Vortheile des Mythus zuſammen: ſie wird im höchſten Schmerze
zu Stein und dieſer Stein iſt der Marmor im Adel ſeiner Künſtlerform.
Auch lag hier eine große Erleichterung, vielmehr ſelbſt ein Motiv der
Schönheit in der Art des Leidens: tief und entſetzlich, war es doch nicht
ein ſolches, das die Seele häßlich zerreißt, wie Schaam und Reue, es
war der Schmerz der Mutterliebe, an ſich ſelber ſchön und göttlich; der
Bildner durfte ihn nur nicht zur wilden Verzweiflung werden laſſen,
ſondern das Auflöſende, Hinſchmelzende, Hinſchwindende darin mit der
griechiſchen Anſchauung des Schickſals als eines Unabwendbaren, das der
Menſch nach vergeblichem Widerſtand mit der Großheit objectiven Noth-
wendigkeits-Sinns hinnimmt, zuſammenfaſſen, ſo ſtellte er das Urbild
der unendlich leidenden, im Leiden noch unendlich erhabenen Mutterliebe
vor unſer Auge. Es iſt aber noch der dritte Fall zu unterſcheiden und
wir machen ihn ſogleich durch Beiſpiele klar. Der Athamas des Ariſtonidas
erſchien von Schaam und Reue, von den Spuren der eben erſt gewichenen
Wuth, die ſterbende Jokaſte des Silanion von ſittlichem Grauen vor
ſich ſelbſt im Innerſten zerwühlt: das ſind andere, häßliche, graſſe Affecte;
hier vereinigte ſich jene Aufgabe, das Zerreißende des Schmerzes durch
ausdrückliche Offenbarung der herrſchenden Seelengewalt zu dämpfen,
mit der andern, allgemeinen, den ganzen Adel der plaſtiſchen Form gegen
das Widerliche der Seelenzerrüttung in Kampf zu führen und dadurch
den Ausdruck dieſer zur dünneren Wolke umzubilden, durch deren Schauer-
flor die auch in der tiefen Zerklüftung noch große, wie in ſich ſelbſt
gedoppelte und mit ihrem höheren Selbſt über ihrem leidenden Selbſt
[435] mit ungebrochener Gediegenheit und Mächtigkeit thronende Seele hervor-
ſtrahlen zu laſſen. Der Triumph aber der Plaſtik iſt die Darſtellung
eines feindſeligen, verderblichen, nahe an die Schauerlichkeit der chriſtli-
chen Vorſtellung des Böſen ſtreifenden weiblichen Weſens, das eines
graſſen Todes geſtorben iſt, deſſen Zuckungen auf ſeinem von Schlangen
ſtatt der Locken umringelten Antlitz ſtehen geblieben ſind, einer Todten-
maske, deren Anblick den entſetzten Menſchen verſteinern und welche doch
in einer Unendlichkeit von Schauern des Gräßlichen noch ſchön ſein ſollte:
das Meduſenhaupt. Hier konnte kein Ausdruck gegenwärtig wirkender
innerer Erhebung die Züge des verröchelnden Ungeheuers adeln; hier
war kein anderer Weg, als der, ſich an die ſpätere Sage zu halten,
welche die Meduſe als ſchön und von Poſeidon der Ehre ſeiner Um-
armung gewürdigt vorſtellte; nun entſtand die Aufgabe, ein vollendetes
Bild jenes im weiblichen Geſchlechte nicht ſeltenen Charakters zu geben:
eine Natur, edel angelegt und dieſer Adel in den Zügen, wie ſie aus
der Hand der Natur kommen, feſt ausgeprägt, dieſe Natur gefallen,
durch dämoniſche Leidenſchaft verwildert, aber im Falle noch die Erinne-
rung jenes Adels bewahrend; in leiſen, faſt unſichtbaren Spannungen
der Haut, Schatten, Hügeln wehen nun die Geſpenſterſchauer des Graſſen
über dieſe Züge hin und die ſtehen gebliebenen Krämpfe eines grauſen
Todes, wie ſie namentlich in den Mundwinkeln und der erſchlaffenden
Unterlippe ſpielen, werden wie zu einem Symbole der Selbſtvergiftung
des furienhaften Weibs, der hippokratiſchen, brecheriſchen Luft, in der ſie
ſich und ihre Umgebung erſtickt. Die Rondaniniſche Meduſe, durchaus
graß und wunderbar ſchön zugleich, iſt einer der höchſten Siege der Bild-
nerkunſt in äſthetiſcher Auflöſung des Häßlichen. — In das Komiſche
führen Affecte und Zuſtände grobſinnlicher Art hinüber: Trunkenheit,
Wolluſt, thieriſche Neigungen jeder Art. Es kommt in der Plaſtik darauf
an, auch ausgelaßnen Naturen Gediegenheit, Fülle, Sicherheit der Berechti-
gung zu geben, auch auf ſie den Abglanz des Göttlichen zu werfen, was
freilich am ſicherſten geſchieht, wenn ſie zum Voraus in den mythiſchen
Kreis aufgenommen ſind, wie das Gefolge des Bacchus. Die Silene,
Satyrn der Alten zeigen dieſelbe wunderbare Dämpfung des Gemeinen
wie ein Laokoon und eine Rond. Meduſe des Furchtbaren, dieſelbe wun-
derbare Rückführung der Linie vom Abnormen zur Welle der Schönheit.
Auf der andern Seite ſchließt der bildneriſche Styl ebenſoſehr ein flüch-1.
tiges Mienenſpiel aus, welches nicht die Wirkung einer durch die ganze
Geſtalt ſtrömenden weſentlichen Empfindung, ſondern nur angenblickliches Her-
vortreten eines übrigens aus ſeiner leiblichen Erſcheinung zurückgezogenen, in
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 29
[436]2ſich verſchloſſenen Gemüthes iſt. Hiermit fällt, ſofern nicht anderweitige ſta-
tuariſche Eigenſchaften ſolche Darſtellungen in beſchränkter Weiſe rechtfertigen,
das ganze Gebiet von Zuſtänden und Erregungen weg, welche der ſubjectiven
Innerlichkeit angehören und der Beſtimmung in §. 605, 1. widerſprechen.
1. Die erſte Beſchränkung, die des Gebiets der bewegten Phyſiogno-
mik oder der Mimik (vergl. §. 339), folgt deutlich aus der Forderung
ganzer und voller Affecte, wie ſie eine offene, große, ſinnlich-ſittliche
Seele bewegen. Die Flüchtigkeit an ſich wäre es nicht, was hier dem
Bildner Grenzen ſetzt, denn wir haben längſt erkannt, daß ihm die Feß-
lung des eiligſten Moments, wenn nur kein innerer, qualitativer Grund
dagegen ſpricht, erlaubt iſt. Hegel nennt das kleine Spiel der Mienen
und Gebärden, von denen hier die Rede iſt, das Mienenhafte (Aeſth.
Th. II, S. 374. 375); er faßt aber das verbotene Gebiet zu weit, denn
nicht alles Mienenhafte, nicht jeder flüchtige Strahl oder Schatten inne-
rer Seelenregung, der ſich in kleineren Bewegungen der Glieder und
Geſichtszüge ausdrückt, iſt, wie er meint, Ausdruck eines für die plaſtiſche
Auffaſſung zu ſubjectiven Lebens. Es gibt ein Lächeln, ein Nicken, ein
Stirnrunzeln, Auf- und Niederziehen der Lippen, das einer ganz gedie-
genen, naiven Seele angehört; daſſelbe iſt wohl zu unterſcheiden von
jenem mimiſchen Spiele, wie es der in ſich verſchloſſenen Subjectivität
eigen iſt, die ſich hinter ihre Erſcheinung verbirgt, ihr Inneres nicht im
Ganzen und Großen herausläßt, ſondern nur die Oberfläche, ſo zu ſa-
gen die äußerſten Spitzen der beſonders ſprechenden Theile der Geſtalt
den Eindrücken ſo weit Preis gibt, daß dieſe durch ein flüchtiges Zucken,
z. B. der Augenlider, der Mundwinkel, der Finger zu ſagen ſcheinen: ich will
wohl merken laſſen, daß ich Eindrücke, Urtheile habe, aber nur in der
andeutenden Weiſe, die keinen weitern Blick in mein Inneres geſtattet.
Es iſt dieß noch nicht eigentliche Blaſirtheit des eitel zugeknöpften Sub-
jects und Lorgnettengeſichts, der moderne Menſch überhaupt hat im All-
gemeinen dieß kurz angebundene Agiren, das hinter der Scheidewand
der Verſchloſſenheit nur leicht und vornehm einen andeutenden Finger
hervorſtreckt, aber freilich geht es leicht und häufig in jene widerliche
Form einer aller Natur und Naivetät entfremdeten Menſchenclaſſe über.
Auch der hämiſche, verſchloſſene, tuckmäuſeriſche, frivole, böſe Menſch,
ganz abgeſehen von einer allgemeinen Bildungsform der Zeiten, zeigt
dieß halbe, abgezwickte Mienenſpiel; „dagegen auf dem Geſichte der
griechiſchen Helden zeiget ſich kein ſpitzfindiger, leichtfertiger oder liſtiger,
noch weniger höhniſcher Blick, ſondern die Unſchuld ſchwebet mit einer zu-
verſichtlichen Stille auf denſelben“ (Winkelmann a. a. O. Bd. II, S. 146).
Oeffnet ſich ein ſolches Gemüth der momentanen Stimmung und drückt
[437] dieſe im kleinen Mienenſpiel aus, ſo fühlt man den warmen Strom, der
die ganze Seele aufrichtig durchdringt und, wo er anſchwillt, im vollen
Wellenſchlage einer ganzen und gewaltigen Leidenſchaft hervorbrechen wird.
2. Die Zurückziehung der Bewegung in’s Innere, die blos theil-
weiſe Erſcheinung derſelben im Aeußern führt, allgemeiner genom-
men, auf das ganze Gebiet derjenigen Geſtalt des geiſtigen Lebens,
welche durch das Chriſtenthum und das germaniſche Naturell, die
große moderne Kriſis des Bewußtſeins ſich ausgebildet hat: des gei-
ſtigen Lebens, das ſich in ſeiner Unendlichkeit dem ausdrücklich als
endlich geſetzten Ganzen ſeiner Sinnlichkeit gegenüber weiß und ſetzt und
nur durch dieſe Negation zur Verſöhnung mit ſeiner eigenen endlichen
Realität und der übrigen Welt fortgeht. Es liegt in dieſer Geiſtesform
eine Welt von Affecten, von Stimmungen, Eigenſchaften, Tugenden, die
als Affecte hervortreten können, welche der bildneriſchen Darſtellung un-
endliche Schwierigkeiten entgegenhält. Im religiöſen Gebiete Reue, Buße,
Zerknirſchung, Glaube, Andacht, innige Verſöhnung und Liebe, im welt-
lich-ſittlichen die Gefühle der Ehre, der Treue, der Schaam im verfei-
nerten ſubjectiven Sinn, der Liebe, jener oben bezeichnete abſtract mo-
raliſche Kampf des Willens mit den verſchiedenſten Affecten: alles dieß
geht, ſtreng genommen und die Conſequenz des §. 605 ſtraff gezogen,
über die Mittel der Sculptur hinaus. Doch iſt eine Erweiterung der
ſtrengen Grenzlinie denkbar: glückliche Erhaltung von Rechten oder
Anklängen einer dem Antiken verwandten Gediegenheit, Großheit,
Würde in den Bildungsformen einer Zeit, der dieß innerliche Leben
aufgegangen iſt, und die Stylbildende Kraft tüchtiger Meiſter werden auch
dieſen Stoff in gewiſſem Grade zu bezwingen vermögen. Das Weitere
gehört in die Geſchichte.
Dieſe ſämmtlichen Beſtimmungen über die Behandlung der Formen des1.
Ausdrucks führen jedoch ſchließlich auf den Satz, daß der würdigſte Gegen-
ſtand der bildneriſchen Darſtellung die reine Ruhe und Stille der Seele
und ihrer leiblichen Erſcheinung iſt. Der Charakter, deſſen inneres Gleich-2.
gewicht (§. 605) in dieſer Ruhe ſich offenbart, vertritt ein beſtimmtes ſitt-
liches Moment, und bindet eine nur ihm eigene Miſchung der Kräfte dadurch
zu ethiſcher Einheit zuſammen. Die individuelle Eigenheit der Geſtalt erſcheint
nun als Eigenheit des geiſtigen Ausdrucks, ihre Darſtellung bleibt aber auch
ſo in verhältnißmäßig enge Grenzen eingeſchloſſen (vergl. §. 615. 616). Alle
nunmehr entwickelten Bedingungen wirken aber dahin zuſammen, daß die Bild-
nerkunſt ihr Weſen am reinſten ausſpricht, wenn ſie die Erſcheinung dieſer
29*
[438]perſönlichen Einheit, ohne ihre Beſtimmtheit zu verlöſchen, mit dem Aus-
drucke der höchſten Einheit des abſoluten Lebens durchdringt, worin alle Ge-
genſätze ſchwinden.
1. Die Aufregung der Leidenſchaft wickelt die in Seele und Leib ent-
haltenen Kräfte ab und zeigt ſie dadurch in ihrer Ausdrücklichkeit, das
Ganze ſelbſt iſt aber dadurch in der Art aufgelöſt, daß es aus ſeinen
Theilen als eine aus dem Verborgenen ihrer Empörung entgegenwir-
kende Einheit nur mittelbar erkannt wird; der Sieg, die wirkliche Her-
ſtellung des erfüllten, gleichwirkenden Ganzen mag als geſichert, als ver-
bürgt erſcheinen, wir wollen ihn aber auch vollzogen ſehen; die Dishar-
monie ſoll zum Ausbruch kommen, um die Harmonie in ihrem Weſen
zu zeigen, die Harmonie ſelbſt aber ſoll nun auch der Disharmonie ge-
genüber in ihrer Wirklichkeit auftreten. Andere Künſte nun mögen in
der Mehrzahl ihrer Werke Beides verbinden und vom ruhigen Anfang
durch die empörte Mitte zum ruhigen Schluſſe eigentlich oder uneigentlich,
d. h. wirklich in Zeitform oder in einer reichen räumlichen Compoſition ſich
fortbewegen; aber in der Sculptur muß nothwendig die Darſtellung der
wirklichen Ruhe die herrſchende ſein, weil ſie die erſte Form der Fort-
bewegung gar nicht, die zweite in ſehr beſchränktem Maaße hat und in
der einzelnen Geſtalt die Schönheit als Ausdruck des mitten im Sturme
ruhigen Meeresgrunds ſo ſchwer zu retten iſt. Hier gilt es, die Herr-
lichkeit der ruhigen See darzuſtellen, der Meeresſtille, die freilich nie eine
abſolute iſt, ſondern durch ihr ahnungsvolles Rauſchen vergangene und
künftige Stürme ahnen läßt, alſo das Menſchenbild in unendlicher Be-
weglichkeit und doch in unbewegter Ruhe der Seele. Die große und
edle Seele erleidet ſelten Stürme, ihre Faſſung und Ruhe wird ſtetig
und dieſe Stetigkeit drückt ſich in der Bildnerkunſt ſo aus, daß ſie in
der Mehrzahl der Darſtellungen als Stoff auftritt, daß ſie der herrſchende
Gegenſtand iſt. Wir ſind von allen Seiten, von den äußern und innern
Bedingungen ſo beſtimmt auf dieſen Satz, der daher auch öfters ſchon
ausgeſprochen worden, hingedrängt, daß es jetzt nur noch der ausdrück-
lichen Aufſtellung bedurfte. Der Unterſchied iſt aber der, daß dieſer
Satz uns jetzt Reſultat iſt, daß er aus einer Reihe von Beſtimmungen,
die ihn aufzuheben ſchienen, reif und geſichert hervorſpringt. Die Ruhe
hat nun natürlich wieder ihre verſchiedenen Formen und Stufen. For-
men: ſie iſt das einemal mehr ſinnlich, natürlich nicht ſeelenlos, aber
doch nicht poſitiver Ausdruck ſittlicher Mächtigkeit der Seele; am nächſten
der blos ſinnlichen Ruhe liegt der Schlummer, ein behagliches Sitzen,
ein Stehen mit angelehntem Rücken, aufgeſtütztem Arme, oder auch frei
mit dem Ausdruck naiver Beſchaulichkeit; aber in dieſe letzteren Formen
[439] kann ſich ebenſoſehr der Ausdruck hohen Sinnens, majeſtätiſchen Ernſtes
ergießen. Je weniger dieſer tiefere geiſtige Ausdruck vorwiegt, deſto fühl-
barer iſt, welche Welt von Schönheit, die doch nie blos ſinnlich iſt, die
Bildnerkunſt allein ſchon in ihren Stylformen hat: ein Hingegoſſenſein,
eine rhythmiſche Auflöſung der Glieder im Schlummer, ſo ein reines gan-
zes Liegen (Ariadne im Vatican), ein Behagen und Fluß der Formen
im bequemen Sitz, Stand (capitoliniſcher Faun), bereichert oder nicht
durch die Muſik der Gewandfaltung, — darin liegt eine Welt von äſthe-
tiſchen Reizen, die ſich dann erſt mit dem tieferen Ausdruck verbinden,
wie im ſinnenden Mars, Mercur, Apollino. Verſchiedene Stufen oder
Stadien der Ruhe ſind hiemit bereits angedeutet; es ſind die Grade, in
welchen ſie ſich der geſpannteren Situation nähert oder ſich von ihr ent-
fernt; der farneſiſche Herkules z. B. kommt eben vom Kampfe her, der
des Torſo hat ihn ſchon vergeſſen und genießt.
2. Je beſtimmter ſittlich der Ausdruck in der Ruhe, deſto mehr iſt
ſie Ausdruck der gehaltvollen Stetigkeit des Charakters. Von dieſem als
weſentlicher innerer Grund-Aufgabe der Bildnerkunſt iſt die Rede gewe-
ſen in §. 605, aber nur erſt in ſeiner allgemeinſten Bedeutung, und kei-
ner der bisherigen Schritte iſt bis dahin vorgedrungen, dieſe Stelle aus-
zufüllen: in §. 605, 2. und 616, 1. war von der Eigenheit der individuel-
len Formen die Rede und wurde dem Individualiſmus ſeine Grenze an-
gewieſen; dabei konnte vom ethiſchen Ausdruck der Geſtalt natürlich nicht
abſtrahirt werden, aber das Gewicht lag auf dem Aeußern, wie es an-
geboren iſt; dann wurde in die gattungsmäßige Norm der Schönheit die
Beſonderung durch Unterſchiede eingeführt, welche nathropologiſcher Art
ſind oder auf der äußern Thätigkeit, auf Culturformen beruhen, §. 621;
mit §. 623 trat der Affect auf, der ſich in gewiſſem Sinn zu einem Charakter
verfeſtigen kann, wie z. B. dem grobſinnlichen der Silene. Da wäre jedoch der
Begriff des Charakters nur formell gefaßt, ſo daß er die in einer Perſönlichkeit
als ſtetig treibende Macht eingewurzelte Beſonderheit der Leidenſchaften be-
deuten kann (vergl. §. 333 Anm.). Allein auch abgeſehen von den nie-
drigeren Formen (Neid, Geiz u. dergl.), kann in der Bildnerkunſt der
Charakter in dieſem Sinn eigentlich gar nicht vorkommen, denn hier muß
den Mittelpunct des dargeſtellten Seelenlebens nothwendig immer ein Po-
ſitives, ein Gutes bilden, der Affect darf nur die Stimmungs-Atmoſphäre,
worein dieſer Kern ſich hüllt, das Organ der Ausführung oder beherrſchte
vorübergehende Trübung deſſelben ſein und auch der trunkene Silen, der Satyr
iſt geadelt im Sinne der tiefern dem ganzen Dionyſiſchen Kreiſe zu Grund
liegenden Idee, daß der geheimnißvolle Naturgeiſt in ſeiner Wirkung auf
das Menſchenleben ein Weſentliches, ein Gut iſt, das, indem es den
Menſchen über die Sorge und die gemeine Deutlichkeit der Dinge weg-
[440] hebt, mit dem Guten zuſammenhängt. Es fehlt uns alſo noch die wahre
Ausfüllung des Charakters und ſie beſteht in nichts Anderem, als einem
beſtimmten Pathos, einem Streben auf einen weſentlichen ſittlichen Zweck,
das zum ſtetigen Grund-Affecte, zur andern Natur geworden iſt. Von
dieſer andern Natur iſt die urſprüngliche Natur des Individuums, die
geiſtige und ſittliche Anlage zu unterſcheiden. Die individuellen Formen
der Geſtalt, wie ſie in §. 615, 2. u. 616, 1. ſchon zur Sprache gekom-
men ſind, drücken zunächſt dieß Angeborne aus. Das Individuum vor
der Charakterbildung vereinigt eine Vielheit geiſtiger Kräfte in ſich, die
nach einer Einheit in beſtimmter Richtung neigen, aber in der Weiſe der
Zufälligkeit, ſo daß dieſe Richtung eine gute ſein kann oder nicht und daß
ſie die Vielheit nicht rein beherrſcht, ſondern irgend eine einzelne Kraft,
ein Trieb in der Weiſe des unberechenbaren Eigenſinns, der Grille, der
Abſonderlichkeit nebenher für ſich ſein Spiel treibt. Daher iſt dieſe Ein-
heit eine irrationale. Die Charakterbildung aber trägt in dieſe chaotiſche
Halb-Einheit die wahre Einheit. In andern Künſten nun mag auch der
Charakter in dieſem intenſiven Sinn mit ſolcher Färbung auftreten, daß
ihm neben ſeinem ſittlichen Kern ein unaufgelöster Bruch aus dem Ge-
miſch der Kräfte vor der Charakterbildung zurückbleibt, daß nicht alle
Kräfte an jenen Mittelpunct rein angeſchoſſen ſind, daß er in ſeltſam
abſpringender Weiſe mit dieſem Bruche gährt und prozeſſirt. Solche Na-
turen aber ſind unplaſtiſch; im plaſtiſchen Styl ſoll die urſprüngliche Na-
tur der Individualität flüſſig und ganz eingegangen ſein in die ethiſche
Einheit des Charakters. Das Individuum behält ſeine nur ihm eigene
Miſchung der Kräfte, ſeinen eigenen Ton, ſeine Farbe, aber der ethiſche
Charakterkern ſcheint ruhig hindurch und bricht die Farbe nicht in unru-
hige, verwunderliche Reflexe und Töne. Dieß ſoll nun die Geſtalt dar-
ſtellen; ihre Eigenheit iſt jetzt Ausdruck geiſtiger Eigenheit in dieſem mil-
den Sinne; die „zarte Linie der milden Modification“ hat jetzt dieſe tie-
fere Bedeutung erhalten. Im plaſtiſchen Ideale hat auch der Gott ſeine
Eigenheit, ſeine nur ihm eigene Miſchung von Kräften, Sinnesrichtun-
gen, Willensbeſtimmungen, die ſich zu einem unterſcheidenden Stim-
mungston ſeiner Perſönlichkeit zuſammenmiſchen, und jene feinen Un-
terſchiede der Geſtalt und Züge, von denen zu §. 616, 1. Beiſpiele ge-
geben wurden, drücken nun dieſe Charakter-Eigenheit aus. Keine andere
Gottheit gleicht z. B. einer Here, einer Athene. Jene iſt Mitherrſcherin
über Götter und Menſchen, weſentlich aber Vorſteherin der Ehe, dieſe
die Gottheit der ächt menſchlichen Civiliſation und des Kampfes für ſie;
jene aber iſt zugleich ſtolz, launiſch, eiferſüchtig, zeigt die Schwächen des
Weibes mit der Majeſtät ihres Geiſtes in unvergleichlich eigener Weiſe
zuſammengemiſcht und in dieſen Schwächen klingt zugleich die urſprüng-
[441] liche Naturbedeutung des wechſelnden Erdlebens hindurch; dieſe hat das
Herbe, Kalte der ſpröden Jungfräulichkeit, dem eine atmoſphäriſche Be-
ziehung zu Grunde liegt, und dieß löst ſich durch eine zarte, tiefe, un-
nachahmliche Uebertragung in den Geiſt eines ruhig ernſten Sinnens, in
die bildlich verſtandene klare Kühle des Denkens und der Wiſſenſchaft
auf. So nun auch der plaſtiſch erfaßte realer beſtimmte Charakter: er
zeigt eine ſchärfer eigenthümliche Miſchung der Kräfte und Formen,
aber die Miſchung bleibt auch hier flüſſig, nichts iſt in ſie aufgenommen,
was in die Sonderbarkeit des unauflösbar Eigenen hineinführte. Der
Krieger z. B., insbeſondere in der Porträtdarſtellung, erſcheine mehr wild
oder mehr fein, ſinnend auf Schlachtpläne oder losſchlagend, zeige mehr
Härte oder auch Weichheit, die verſchiedenſten Miſchungen ſind möglich,
aber keine erlaubt etwas Närriſches, Grillenhaftes, barbariſch Seltſames.
So verhält es ſich, wenn man die ſpezielle Einheit des Charakters nach
der Seite der in ihr gebundenen Vielheit betrachtet; aber eben ſo weſent-
lich iſt die Beziehung der ſpeziellen Einheit auf die höchſte Einheit. Mit-
ten in der Einſeitigkeit muß das Individuum jenen Charakter der Allge-
meinheit haben, worin die Gegenſätze, welche die Welt zerreißen, Denken
und Wollen, Wollen und Sollen, Geiſt und Natur getilgt ſind. Natür-
lich nach Maaßgabe der verſchiedenen Kreiſe der Darſtellung. Das aus-
drücklich, im engern Sinn ideale Weſen, der Gott, athmet, ohne ſeine
Beſonderheit zu opfern, im reinen, wolkenloſen Aether des Unendlichen:
„ſowohl den Ernſt und die Arbeit, als die nichtige Luſt, die das leere
Angeſicht glättet, ließen die Griechen aus der Stirne der ſeligen Götter ver-
ſchwinden, gaben die Ewigzufriedenen von den Feſſeln jedes Zweckes, jeder
Pflicht, jeder Sorge frei und machten den Müßiggang und die Gleichgültig-
keit zum beneideten Looſe des Götterſtandes: ein blos menſchlicherer Name für
das freieſte, erhabenſte Sein. Sowohl der materielle Zwang der Naturgeſetze, als
der geiſtige Zwang der Sittengeſetze verlor ſich in ihrem höheren Begriffe von
Nothwendigkeit, der beide Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit
jener beiden Nothwendigkeiten ging ihnen erſt die wahre Freiheit hervor.
Beſeelt von dieſem Geiſte löſchten ſie aus den Geſichtszügen ihres Ideals
zugleich mit der Neigung auch alle Spuren des Willens aus, oder
beſſer, ſie machten beide unkenntlich, weil ſie beide in dem innigſten Bunde
zu verknüpfen wußten. Es iſt weder Anmuth, noch iſt es Würde, was
aus dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludoviſi zu uns ſpricht; es iſt kei-
nes von beiden, weil es beides zugleich iſt. Indem der weibliche Gott
unſere Anbetung heiſcht, entzündet das gottgleiche Weib unſere Liebe, aber
indem wir uns der himmliſchen Holdſeligkeit aufgelöst hingeben, ſchreckt
die himmliſche Selbſtgenügſamkeit uns zurück. In ſich ſelbſt ruhet und
wohnt die ganze Geſtalt, eine geſchloſſene Schöpfung, und als wenn ſie
[442] jenſeits des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerſtand; da iſt
keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit ein-
brechen könnte“ u. ſ. w. (Schiller Ueber d. äſth. Erz. d. Menſchen. Br.
15). Der Halbgott, der unbeſtimmtere (Gebiet des Genre) und der ge-
ſchichtlich beſtimmte Menſch (Porträtgebiet) entfernen ſich ſtufenweiſe von
dieſem reinen Gleichgewicht ihrer perſönlichen Einheit mit der abſoluten,
aber der Geiſt der Plaſtik muß dennoch auch ſie in dieſes Element tau-
chen und jener Abglanz, von dem in §. 606 die Rede war, läßt zwar
dem beſtimmten Wollen dieſer Naturen eine Haltung ſtärkerer Einſeitig-
keit, aber es iſt die Gleichmäßigkeit, die Ruhe im Sturm, es iſt der Aus-
druck des objectiven Sinns, der das Schickſal ohne Widerrede hinnimmt
und dadurch mit ihm Eins wird, mit dem Sein des Ewigen in Eins zu-
ſammenwächst, was auch ſie in einer ununterbrochenen Linie an die All-
heit des Göttlichen knüpft. — Nun erſt iſt Bedeutung und Grenze des
Individualiſmus in das volle Licht geſtellt. Er mag innerhalb ſeines
Spielraums näher oder ferner um die Grenze ſchweifen, wo in herbe-
rer Form die irrationaler gemiſchte Eigenheit des Charakters ſich aus-
drückt, aber jenſeits der feinen Grenzlinie liegt das Unplaſtiſche.
Wir ſind ſo von allen Puncten aus auf die allgemeinen Sätze zu-
rückgeführt, die wir der Entwicklung der einzelnen Momente vorangeſchickt
haben. Sie ſind nicht wiederholt, ſondern ausgeführt, ausgefüllt worden.
Zum Schluſſe können wir nun auf den Begriff des Charakteriſti-
ſchen zurückblicken, der um ſeiner Vieldeutigkeit willen als ein verwir-
render bezeichnet iſt in §. 39. Charakteriſtiſch könnte man ſelbſt die all-
gemeinen Züge der Geſtalt nennen, denn Charakter kann auch den reinen
Gattungstypus bedeuten; doch hat man bei dieſem unbeſtimmten Begriffe
vielmehr das im Auge, was wir genauer Individualiſmus und Natura-
liſmus nennen. Es handelt ſich in dieſer Streitfrage um das Ganze
des Kunſtgebiets und dieß iſt eigentlich die Verwirrung. Schon zu §. 39
iſt geſagt, daß das Beſondere und Einzelne ganz verſchieden wiege in den
verſchiedenen Grundformen des Schönen, Zeitaltern des Ideals und Kün-
ſten. In der Bildnerkunſt nun wiegt der reine Gattungstypus ſtärker,
als die beſondern und einzelnen Formen; wer ſich alſo gegen das Cha-
rakteriſtiſche erklärt, fühlt plaſtiſch. Schelling (Ueber d. Verh. d. bild.
K. g. d. Natur) hat über dieſen Begriff Tiefes und Geiſtvolles ausge-
ſprochen: die Beſtimmtheit in der Natur und als lebendiger Charakter
der Individualität iſt nie eine Verneinung, ſondern ſtets eine Bejahung;
wer das Weſen ergriffen, darf auch die Härte und Strenge nicht fürch-
ten, denn ſie iſt Bedingung des Lebens; die Natur dringt auf Beſtimmt-
heit, Verſchloſſenheit, ehe ſie zur Milde der Vollendung fortgeht; daher
muß auch der Künſtler erſt im Begrenzten treu und wahr ſein, um im
[443] Ganzen vollendet und ſchön zu erſcheinen; da gilt es, mit dem Natur-
geiſte zu ringen, nicht in ſchlaffem und weichlichem, ſondern in ſtarkem
und muthigem Kampf; anhaltende Uebung der Erkenntniß desjenigen, wo-
durch das Eigenthümliche der Dinge ein Poſitives iſt, muß ihn vor Leerheit,
Weichheit, innerer Nichtigkeit bewahren, eh er es wagen darf, durch im-
mer höhere Verbindung und endliche Verſchmelzung mannigfaltiger For-
men die äußerſte Schönheit in Bildungen von höchſter Einfalt bei unend-
lichem Inhalt erreichen zu wollen; nur durch die Vollendung der
Form kann die Form vernichtet werden; die ſchnell erlangte äu-
ßere Harmonie iſt innerlich nichtig; Lehre und Unterricht haben der geiſt-
loſen Nachahmung ſchöner Formen, der Neigung zu einer verzärtelten,
charakterloſen Kunſt entgegenzuwirken; jene erhabene Schönheit, wo die
Fülle der Form die Form ſelbſt aufhebt, iſt (nach Winkelmanns Wort
vom geſchmackloſen Waſſer) allerdings charakterlos, aber ſie iſt es, wie
wir ſagen, daß das Weltall keine beſtimmte Abmeſſung habe, weil es alle
in gleicher Unendlichkeit enthält, oder daß die Kunſt der ſchöpferiſchen
Natur formlos ſei, weil ſie ſelbſt keiner Form unterworfen iſt; die Ver-
einigung der höchſten Fülle von Formen mußte in den griechiſchen Bil-
dern der vollkommenſten oder göttlichen Naturen von der Art ſein, daß
die niedrigeren Eigenſchaften unter höhere und alle zuletzt unter Eine
höchſte aufgenommen wurden, in der ſie ſich zwar als beſondere gegen-
ſeitig auslöſchten, dem Weſen und der Kraft nach aber beſtanden, ſo daß
das Charakteriſtiſche in der hohen und ſelbſtgenügſamen Schönheit den-
noch ununterſcheidbar fortwirkte, wie im Kryſtall, iſt er gleich durchſichtig,
die Textur nichts deſtoweniger beſteht: jedes charakteriſtiſche Element wiegt,
wenn auch noch ſo ſanft, mit und hilft die erhabene Gleichgültigkeit der
Schönheit bewirken; charakteriſtiſche Schönheit iſt die Schönheit in ihrer
Wurzel, aus welcher dann erſt die Schönheit als Frucht ſich erheben
kann; das Weſen überwächst wohl die Form, aber auch dann bleibt die
Form als das Charakteriſtiſche die noch immer wirkſame Grundlage des
Schönen. Dann unterſcheidet er aber verſchiedene Künſte und gibt der
Malerei den weiteren Spielraum zu.
Von der Thierdarſtellung iſt noch zu ſagen, daß hier an die
Stelle der menſchlichen Charaktertypen, wie ſie in individueller Beſtimmt-
heit ein ſittliches Pathos vertreten, verſchiedene Thiergattungen mit den
Unterſchieden der Alter, Geſchlechter, der Affecte und Thätigkeiten treten.
Das allgemein Ideale, was in der Menſchenbildung die Härte der Be-
ſtimmtheit auflöst, iſt hier der Ausdruck der organiſchen Naturkraft über-
haupt, die ſich mit ihrer Wellenbildung über alle Schroffheit der beſon-
dern Thierbildung hinlegt, in der Sättigung und Rundung der Form
jede an den mütterlichen Schooß des Naturganzen hinüberleitet und jene
[444] Stimmung erregt, die im A. Teſt. ausgeſprochen iſt, da der Herr alle
ſeine Werke beſchaut und ſiehe da! ſie waren ſehr gut.
Die Compoſition drückt in der Bildnerkunſt ihr inneres Leben we-
ſentlich in Linien-Verhältniſſen aus. Die hier auf’s Neue ſichtbare
Verwandtſchaft mit der Baukunſt tritt ferner darin hervor, daß Ueberordnung
und Unterordnung ſich vielfach in Unterſchiede des Größenmaaßes verwandeln
und daß in dem Gegenübergeſtellten (§. 497, 1.) architektoniſche Symmetrie
2.anklingt. In der Hauptaufgabe der Sculptur, der einzelnen Bildſäule,
wo dieß Größenverhältniß ſeine Anwendung bei dem Attribute findet, entwi-
ckelt die Compoſition ihre Thätigkeit nach ſämmtlichen Momenten (§. 495 —
501) am Gliederbau, der Haltung und Bewegung der Geſtalt.
1. Das Bildwerk iſt nicht eine Licht- und Schatten-Einheit, denn das Licht
iſt ja hier nur das aufzeigende Medium, in welches die wirklich raum-
füllende Geſtalt hineingeſtellt wird; das natürliche Licht wechſelt und zeigt
die Schönheit nach verſchiedenen Seiten, das Bleibende in dieſem Wech-
ſel iſt das Formenleben, wie es in der Linie als der Grenze des Feſten
ausgeſprochen iſt. Darſtellung der Kraft, Ruhe, des Leidens, der Geiſtes-
form, des Charakters: alles Innere geht in dieſes Linien-Leben heraus,
findet darin ſeinen Ausdruck, wird in dieſem körperlichen Niederſchlage,
ſeinen Wellen, Zügen, Flächen, dem Geſammtbilde des Divergirenden und
Convergirenden, Anſteigenden und Abſinkenden, Eingetieftem und Erho-
benen durchgefühlt. Die Linie iſt daher hier ganz ein von qualitativem
Leben durchdrungenes Quantitatives, und zwar anders, als in der Bau-
kunſt, wo ſie nur andeutet. Jene Symbolik der Linie (vergl. §. 564)
iſt nicht aufgehoben; es herrſcht insbeſondere die runde mit der dort aus-
geſprochenen Bedeutung, ſie liegt auch der Mimik der Bewegungen zu
Grunde; aber das Symboliſche iſt zugleich unendlich überwunden, indem
es in den Formen des Leibes lebt, welcher der innewohnenden Seele als
ununterſchieden eigenes Organ angehört, und indem ein unendliches In-
einander von Linien die Bedeutung der einzelnen in dieß Ganze ſo auf-
hebt, daß ſie für ſich nicht mehr zu verfolgen iſt. Es handelt ſich aber
nicht nur von dem einzelnen Körper, ſondern ebenſo von dem Rhythmus
in einer Verbindung mehrerer, wo denn das innere Leben der Gruppe
in einer reicheren Muſik von Linien ſich verkörpert. — Iſt nun dieſes
Linien-Leben ein qualitatives, ſo tritt doch im Qualitativen ſelbſt noch
einmal das Quantitative auf, indem Dignitäts-Grade ſich in Größen-
Unterſchiede überſetzen, wie dieß einer Kunſt natürlich iſt, welche, obwohl
zum Erhabenen des geiſtigen Ausdrucks fortgeſchritten, doch das Erhabene
[445] des Raumes (vergl. §. 609, 2.) als eine weſentliche Beſtimmtheit feſt-
hält. Dieſe Rückführung eines innern Verhältniſſes auf ein äußeres
ſoll allerdings nicht mehr ſchlechthin herrſchen wie in der orientaliſchen
Kunſt, namentlich in Aegypten, wo nicht nur der Gott, ſondern auch der
König neben dem Volke wie ein Rieſe erſcheint; es iſt nicht ein ſtehen-
der Werth des Gegenſtands an ſich, ſondern die Abſicht des Kunſtwerks,
die Bedeutung dahin oder dorthin zu legen, was dieſelbe beſtimmt. So
zeigt die der Natur widerſprechende verhältnißmäßige Kleinheit der Thiere
in den Herkuleskämpfen, der Gruppe von Monte Cavallo und wo ſolche
als Attribut verſchiedener Götter auftreten, daß hier kein Bildwerk beab-
ſichtigt iſt, das ebenſoſehr Thierſtück als Menſchendarſtellung ſein ſoll,
und ebenſo die Kleinheit menſchlicher Figuren, daß ſie nur Attribut ſind,
wie Nike auf der Hand des Zeus, oder daß überhaupt auf ihnen in
dieſem Zuſammenhang nicht der Nachdruck liegt. Eine andere Seite
dieſes quantitativen Ausdrucks für ein Qualitatives iſt die Höherſtellung
des Bedeutenderen, das dann den natürlichen Mittelpunct bildet, zu
deſſen Seiten Untergeordnetes, das ſich zueinander als ein Nebengeord-
netes verhält, ſich gegenüberſteht; letzteres Verhältniß wird ſich dem Auge
als ungefähr gleiche Höhe darſtellen, und wir ſind hiermit eigentlich ſo-
gleich zur pyramidalen Linie geführt, die wir aber erſt weiterhin auffaſſen
werden. Dieß Alles iſt Anklag oder Nachklang des benachbarten Gebie-
tes der Baukunſt. Die Symmetrie hat freilich noch eine andere Bedeu-
tung, als die der entſprechenden Größe, Höhe, darüber ſ. im folg. §.
2. Die einzelne Figur iſt das Hauptgebiet der Bildnerkunſt, dieß folgt
aus §. 606; ſie entfaltet ſich mehr in der Gruppe, aber ſie zeigt ihren
ganzen Reichthum geſammelt in der Statue; es verhält ſich dieß zu ein-
ander wie Affect und Ruhe, vergl. §. 625, 1. Ueberordnung, Unterord-
nung und Nebenordnung, Contraſt, ſeine Vorbereitung, Motivirung, Lö-
ſung, Rhythmus und Beſtimmtheit der Begrenzung: alles dieß iſt nun
am Linienleben des Wunderbaues der Geſtalt an ſich zu entwickeln. Dieſe
ſämmtlichen Momente ſind eigentlich ſchon an ſich im Stoffe gegeben von
der großen Compoſitionsmeiſterinn, der Natur, der Bildhauer hat ſie in
ſeiner Weiſe zum Idealen zu erheben. Das an ſich rhythmiſche Syſtem
der Proportionen (vergl. §. 617) verſchärft er zum feſten Generalbaß
des Concerts der lebendigeren Theile: unter dem übergeordneten Haupte
gruppiren ſich ſymmetriſch die gleichen Seiten des Rumpfs und die Paare
der Bewegungsorgane; das Verhältniß aller Erſtreckungen nach Länge
und Stärke untereinander, das ſchlank Aufgeſchoſſene und das breit Ge-
wölbte, das frei Gedehnte und in Gelenken Vereinigte bildet den ſtarken
Tact, Grundton und Tempo zu dem Vollen und Entfalteten des Baues
mit ſeinen Muskeln, Bedeckung und allen feineren Bildungen. Alle
[446] Theile unter ſich ſtellen ein reiches Leben von milden und ſtarken Con-
traſten, von harter Kraft und ſchutzloſer Weichheit, Fläche, Eintiefung,
Welle dar, aber Alles bereitet in der organiſchen Herauswicklung des
einen Gliedes aus dem andern ſich gegenſeitig vor, Eines motivirt das
Andere, Eines löſt das Andere auf und führt überleitend weiter; die
„unendliche Kreisbewegung“ in ſämmtlichen überkleidenden Weichtheilen
mildert alle Härten, übergießt Alles mit dem Fluſſe des wärmeren, volle-
ren Rhythmus. Obwohl nun die Kunſt alle dieſe Momente durch jene
Styliſirung, die wir ſchon kennen, erhöht und klärt, ſo würde doch das
Ganze zu einem todt Symmetriſchen, weil es durchſchnitten in zwei ganz
gleiche Hälften zerfiele, wenn nicht der Bildner durch das Spiel der Be-
wegung eine neue Welt von freien Contraſten zugleich einführen und
löſen würde. Die Natur thut dieß auch, aber in zufälliger, roher, ver-
worrener oder eckig hart gemeſſener Weiſe. Es tritt jetzt Alles, was wir
über die Behandlung der Bewegung §. 622 geſagt, unter den Stand-
punct der Compoſition, des ausdrücklichen Rhythmus-Geſetzes, und iſt
darnach zu ergänzen. Der Bildhauer hebt nun die unbelebte Symmetrie
auf und führt in die ſo gebildeten [Contraſte] eine neue Symmetrie ein.
Dieß gilt hauptſächlich von den Bewegungsorganen: vergleicht man Arm
mit Arm, ſo wird die urſprüngliche Symmetrie ſich in Contraſte auflö-
ſen, indem der eine gehoben, aufgeſtützt, der andere geſenkt oder, die ſtär-
kere Bewegung des erſteren begleitend, ſchwächer gehoben, zurückgeworfen
iſt; Fuß mit Fuß: ſo iſt der eine aufgeſtemmt, vorgeworfen, der andere
ſpielend vorgeſetzt, übergeſchlagen, zurückgeworfen; vergleicht man Fuß
und Arm derſelben Seite, ſo iſt auch hier Contraſt: der Fuß ſchreitet,
der Arm hängt ruhig, der Fuß fährt zurück, der Arm vor und in die
Höhe, der Fuß ruht, trägt ruhig, der Arm handelt. Geht man nun vom
Arm der einen Seite zum Fuße der andern, alſo über das Kreuz, ſo
werden ſich dieſe Contraſte irgendwie in einer Symmetrie löſen, etwa,
wo es zwanglos geſchehen kann, ſo, wie im Gange des Pferdes, das den
Vorder- und Hinterfuß der entgegengeſetzten Seiten gleichzeitig hebt: z. B.
rechter Fuß, linker Arm aufgeſtemmt, linker Fuß, rechter Arm nachläſſig
ſpielend, oder es wird ſich ſtatt der kreuzweiſen Aehnlichkeit der Lage
und Stellung eine große Linienflucht darſtellen, welche von einer Seite
nach der andern hinüber geht und zwar natürlich nicht von einer zweiten ähn-
lichen quer durchſchnitten wird (ſonſt entſtünde das Kreuz der Wind-
mühlenflügel), wohl aber auf der andern Seite ein Gegengewicht findet,
wie z. B. bei dem borgheſiſchen Fechter eine große Linie vom zurückge-
worfenen linken Fuß zum emporgehaltenen linken Arm und zum Kopfe
geht, wogegen auf der andern Seite der Unterſchenkel des vorgeworfe-
nen rechten Fußes und der zurückgeſtreckte rechte Arm parallele Linien
[447] bilden, welchen der Oberſchenkel des erſteren das Gegengewicht gibt.
Eine ähnliche große Hauptlinie geht von rechts unten nach links oben
durch die Figur des Laokoon. Dieß ſind nun die unter dem Namen
Contrapoſt bekannten Contraſte der entgegengeſetzten Gliederlagen. Die
Contraſte gehen aber tief ins Einzelne als Antagoniſmus der Muskeln, des
Paſſiven und Activen, des halb und ganz Aetiven. Aber auch dieſer durch
das Einzelne fortgeführte Contraſt enthält ſchon an ſich auch ſeine Löſung,
denn der ſogenannte Antagoniſmus iſt ja lebendige gegenſeitige Unter-
ſtützung, Wechſelwirkung, und die künſtleriſche Abrundung aller Bewegun-
gen hebt überdieß den Augenſchein des Widerſtreits auf in jenen Einen
Lebensſtrom, der durch das Ganze ergoſſen im Haupte, das, ſelbſt geneigt,
gewendet, zur Auflöſung der todten Symmetrie weſentlich mitwirkt und, ob-
wohl ohne Anſpruch tyranniſcher Beherrſchung, die Bewegung des Gan-
zen im Seelenſpiegel des Ausdrucks zur höchſten Einheit concentrirt. Wir
haben nur das Weſentlichſte hier angedeutet; die Modificationen ſind un-
endlich wie die Erfindung; es können ſich auch die gegenüberſtehenden
Organ-Paare oder die Organe derſelben Seite ähnlich bewegen, dann
tritt im Gleichen ein milderer Contraſt des Ungleichen ein, der irgendwie
zugleich jene Kreuz-Linie herſtellt. Die Organe ſind ja ſelbſt getheilt in
ihre drei größeren, in die untergeordneten und feinſten Gelenke, der lei-
ſeſte Unterſchied der Bewegung auf der einen Seite gegenüber der ande-
ren oder unten gegen oben zieht die ganze benachbarte Muſkelgruppe
mit ſich und ſo verliert ſich der Faden des Beſtimmbaren in dem reichen
Gewoge der Formen.
Löſt nun die Bildnerkunſt dieſe Einheit in eine Mehrheit von Fi-
guren auf, ſo ergibt ſich zunächſt im Relief die Längerichtung des
ſtreifenförmig Angeordneten. Die Compoſition iſt hier vorerſt eine lockere,
welche ihre Figuren ohne weitere Verbindung, als die Beziehungen der Sym-
metrie des gegenüberſtehenden Aehnlichen, aneinanderreiht; ſodann eine leben-
diger vereinende, worin nicht nur einzelne Geſtalten, ſondern ganze Gruppen
untergeordnete Einheiten bilden und alle jene Momente §. 495—501 in
reicherer Mannigfaltigkeit ſich geltend machen; endlich eine enger verflechtende,
geſchloſſene, handelnde Gruppen bildende, die ſich auf quadratiſche Felder zu-
ſammenzieht.
Mehrheit von Figuren iſt eigentlich Auflöſung der göttlichen Einheit
in die Vielheit; mehr darüber im Abſchnitt von den Zweigen. Warum
wir von der Längen-Compoſition der an die Architektur im engſten
Sinn angeſchloſſenen Sculptur, dem Relief, beginnen, wird der Fortgang
[448] zeigen. Wir haben hier das Prinzip des Neben- oder Hintereinander in
Reihenform. Die einzelne Figur wird zur untergeordneten Compoſitions-
Einheit. Das Uebergeordnete wird hier noch nicht höher ſtehen, ſondern
nur entweder vornen am Anfang der Reihe, oder mitten, oder als
abſchließendes Bedeutendſtes zu hinterſt. Es unterſcheiden ſich nun ver-
ſchiedene Formen der innern Verbindung dieſer Reihen. Die lockerſte
Verbindung iſt bloße Zuſammenſtellung ohne alle Handlung. Hier ziehen
ſich die Momente der Compoſition ganz architektur-artig in den bloßen
Begriff der Symmetrie zuſammen. Die Figuren ſelbſt ſind verſchieden in
Charakter, Formen, Kleidung, wohl auch in Bewegung, doch nicht bedeu-
tend; dieß iſt die einzige Form des Contraſts, die zunächſt freilich weit
über dem Architektoniſchen ſteht; die allgemeine Einheit, die über dieſe Ver-
ſchiedenheit herrſcht, iſt nur der Begriff der gleichen Gattung: 12 Götter,
9 Muſen, Grazien, die irgendwie zuſammengehören, Heroen, die etwas
gemeinſchaftlich ausführen wollen oder ausgeführt haben, u. ſ. w., und
dieſe Einheit bethätigt ſich nicht anders, als in der Gemeinſamkeit des
Aufmarſchirens. Zwiſchen dieſen zwei Enden, der Einheit und Vielheit,
liegt nun kein concreteres Band, als das der Symmetrie, die hier allerdings
nicht mehr blos quantitativ iſt, ſondern in einem Gegenüber des Aehn-
lichen beſteht, ſo daß entweder fortlaufend je zwei Figuren, getrennt durch
eine mittlere, die ſelbſt wieder einer dritten entſpricht, ſich entſprechen,
oder die ganze Reihe durch eine bedeutendere Figur, wie Zeus in der
Mitte zwiſchen den Göttern, Apollo unter den Muſen, in zwei Seiten
getheilt wird, die einander entſprechen und etwa ſelbſt wieder überdieß
in der erſteren Weiſe ſymmetriſch belebt ſind. An einer reicheren, be-
wegteren Form, wo ſchon lebendige Verbindung eingetreten iſt, kann man
ſich dieſes Gegenüber, das ſich doch auch in ihr forterhält, klar machen,
wenn man z. B. ſieht, wie in der Aegineten-Gruppe dem gefallenen
Griechen in der einen Winkelſpitze der gefallene Troer in der andern,
dem knieenden Lanzenkämpfer der knieende Lanzenkämpfer, der knieende
Schütze dem knieenden Schützen, der anlaufende Speerſchütze dem anlau-
fenden Speerſchützen mit ſo geringem Unterſchied entſpricht, daß nur der
troiſche Bogenſchütz erſt ſchießt, während der griechiſche ſchon abgeſchoſſen
hat u. ſ. w., bis endlich in den zwei letzten Figuren zu Seiten des
Mittelpunkts, der Athene, die Symmetrie der nicht mehr ſymmetriſchen
Handlung, wo ein Held den Gefallenen aufzuheben ſucht, Platz macht.
Die innige Verbindung, die wir an dieſem Beiſpiel einer Kämpfergruppe
ſchon theilweiſe vorausgenommen, tritt nun, doch zunächſt noch ſchwächer,
ein, wenn die zuſammengeſtellten Figuren etwas Gemeinſchaftliches wirk-
lich vornehmen, aber nichts, was ſie in bewegter Weiſe mit einander
verflicht, ſondern vielmehr nur Reihenartige Geſammtbewegung mit ſich
[449] bringt, wie Tanz, bacchiſcher Zug, Prozeſſionen, Triumphzug. Es tritt
nun ein reiches Leben von Werth-Unterſchieden (z. B. zuſchauende
Götter und Menſchen), von Art-Unterſchieden, wie auf dem Parthenon-
Frieſe Geſchlechter, Lebensalter, Würden, Menſch und Thier u. ſ. w. ein;
auch iſt es nicht blos ein einförmiges Aufziehen, die Figuren wenden ſich
zu einander, ſind ſo und anders beſchäftigt, der Gegenſatz des Zuſchauens
zum Handeln begründet eine vollere Mitte, die Symmetrie hört nicht auf,
aber je höher die Werke an Kunſtentwicklung ſtehen, deſto belebter und
reicher ſind die Verſchiedenheiten der übrigens entſprechenden Seiten; ja
die Haupt-Aufgabe iſt, eine Darſtellung, die an ſich eintönig wäre, durch
Contraſte zu beleben, wodurch die herrſchende Einheit des gemeinſchaft-
lichen Thuns erſt zum Rhythmus wird. Allein dieſer gründet ſich weſent-
lich erſt darauf, daß nun ein Weiteres zwiſchen die Einheit und die Viel-
heit tritt: untergeordnete Einheiten mit ihrer Vielheit, einzelne Gruppen,
ja in kleineren Gruppen wieder ein Unterſchied größerer und kleinerer;
die großen Gruppen z. B. im Parthenon-Frieſe, beſtehend aus dem Zuge
der Jungfrauen, Reiter, Wagenlenker, ſondern ſich wieder in die näher
zuſammengeſtellten, in Geſpräch u. ſ. w. zueinander gewandten Figuren,
und nun erſt tritt als die letzte Einheit in dieſen Einheiten die einzelne
Figur in das Auge, jede wieder in anderem Motiv aufgefaßt; aber der
ganze durchſchnittene und getheilte Zug bewegt ſich gemeinſchaftlich fort
zu dem Ziele, wo dem Prieſter der Peplos überreicht wird. In dieſer
Fülle gilt es ebenſoſehr, nicht zu wenig zu geben, namentlich den Raum
gleichmäßig zu benützen, als nicht zu viel, ſondern mit dem Schluſſe
wirklich abzuſchließen. Ein Aufzug, Tanz, iſt in gewiſſem Sinne auch
eine Handlung, doch ſind alle theilnehmenden Perſonen nicht eigentlich
aufeinander, ſondern unmittelbar auf ein Gemeinſchaftliches bezogen; die
dritte und innigſte Form der inneren Verknüpfung tritt erſt ein, wenn in
eigentlicher Handlung innigere gegenſeitige Beziehung der Betheiligten zur
Darſtellung kommt. Dieß eben iſt noch nicht der Fall in jenen loſeren For-
men: die Aufziehenden und Zuſchauenden unterhalten ſich zwar unter-
einander u. drgl., aber nur nebenher. Die ruhigere Weiſe der durchge-
führten Form wechſelwirkender Handlung iſt eine Zuſammenſtellung Be-
rathender, Spielender, der ſtärkere und lebhaftere Wettkampf, Jagd,
kriegeriſcher Kampf, und es iſt klar, daß die Längencompoſition nirgends
ſo voll und ſtark in Contraſten und ihrer Auflöſung auftritt, als im
letzteren Stoffe. Feurige Bewegung bildet nun den Rhythmus des Gan-
zen, der aber ſelbſt wieder ſeinen Gegenſatz in der Ruhe zuſchauender,
ſchützender Götter in ſich aufnehmen kann, welche dann zugleich die Mitte
für ein ſymmetriſches Gegenüber bilden. Der Kampf zerfällt nothwendig
in kleinere Gruppen; jede bildet für ſich einen ſtarken Contraſt der
[450] Kräfte und Linien, der ſich aber in einem Anklang von Symmetrie zu-
gleich auflöſen wird, in welchem jene Contrapoſte der einzelnen Figur
(§. 626) ſich nun als eine Wechſel-Ergänzung von Linien in mehreren
Figuren entfalten. Die Gruppen ſelbſt aber ſtehen eine zur andern in
dem Verhältniß des Gegenſatzes und zugleich der wechſelſeitigen Ergän-
zung, alſo der belebten Symmetrie, ſo daß z. B. hier ein Grieche eine
Amazone beſiegt, dort umgekehrt, oder mit weniger Contraſt ſo, daß die
ähnlichere Gruppe der ähnlicheren, aber in divergirenden Linien ent-
ſpricht. Das Ganze hat ſich nun doch in ſelbſtändigere Gruppen aufge-
löſt; jede derſelben iſt tiefer verbunden, verflochten, während vorher die
aufgelöſten Einzelfiguren ſich enger als Ganzes in ihrer Geſammtheit zu-
ſammenſchloſſen. Es iſt daher ein Herausſtreben aus der Längen-Com-
poſition ſichtbar, und daſſelbe verwirklicht ſich in dem getrennten einzelnen
Felde, das nur Eine Gruppe darſtellt, in der Metope namentlich (Rund-
felder gehören mehr zur Zierplaſtik, Halbrundfelder, wenn ſie architekto-
niſch groß ſind, zur Gattung der Giebelfelder). Die Längencompoſition
zieht ſich nun zur quadratiſchen zuſammen, d. h. richtiger, die Art der
gegebenen Fläche hat keinen Einfluß mehr auf die Compoſition, ſondern
dieſe ordnet wie ein freies Sculpturwerk nur noch den Bedingungen
folgend, die ſich überhaupt aus der Anheftung an die Fläche ergeben,
ihre ſparſamen Gruppen.
Die Compoſition, die ihr Werk von der Fläche löſt, aber noch an ihre
architektoniſche Flucht anſchließt, hat im Dreiecke des Giebelfelds den
günſtigen Rahmen für ſämmtliche Hauptmomente ihrer Rhythmusbildenden Thä-
tigkeit, worin Ueberordnung und ſymmetriſche Unterordnung ſich in der pyra-
midalen Form entfaltet. Dieſe ergibt ſich als die der Bildnerkunſt überhaupt
2.entſprechende aus §. 626 und herrſcht auch in der freien Sculptur. Doch
tritt auch in der letzteren das Prinzip der reihenartig lockern Länge-Compo-
ſition neben dem der engern, von lebendiger Situation und Handlung bis zur
engſten Verflechtung fortſchreitenden und eine rein geſchloſſene Einheit von Con-
traſten bildenden wieder hervor.
1. Die von der Fläche losgetrennte und doch ihrer Flucht folgende
Sculptur iſt ganz die Mitte zwiſchen der völlig freien und dem Relief;
ſie hat von dieſem die Eigenſchaft, daß die Figuren nur von Einer Seite
zu ſehen, wenigſtens ſtrenger nur auf Eine berechnet ſind, alſo den Einen
Plan und die Längsrichtung, von jener zunächſt die volle Ausführung, nur
natürlich mit Vernachläſſigung der Rückſeite, und die geſchloſſenere Com-
poſition. Dieſe Geſchloſſenheit gründet ſich aber hier auf ein von außen
[451] Gegebenes, die ſtumpfe Dreieckform des Giebelfelds, denn deſſen Schmuck
iſt es ja natürlich, wovon es ſich hier handelt. Da wird denn, wie ge-
rufen, von außen hinzugebracht, was ohne dieß Zubringen die Bildner-
kunſt auch aus ſich entwickeln müßte. Wir haben nämlich zu §. 626 ge-
ſehen, wie jene Ueberſetzung des qualitativ Bedeutenderen in ein quan-
titativ Größeres nothwendig auch nach der Höhe wirken muß, wie nun,
wenn das Uebergeordnete ſich erhebt, das Untergeordnete, das ſich zu
einander als Nebengeordnetes verhält, in verſchiedenen Abſtufungen zwang-
los ſymmetriſch zur Seite tritt, und damit iſt die Pyramidalform, natür-
lich nicht in geometriſcher Regelmäßigkeit, gegeben; im Giebelfeld aber
bringt die Baukunſt dieſen Rahmen entgegen, zugleich erlaubt die aus-
gedehnte Fläche innerhalb deſſelben eine größere, figurenreichere Compo-
ſition, als die ganz freie Plaſtik dieſe entwickeln kann, und zwar eine ge-
ſchloßnere, als im Relief, wiewohl eine weniger geſchloßne, als in dieſer.
Das ſymmetriſch Nebengeordnete kann nun an ſich kleiner ſein, als die
Mitte, wie Menſchen gegenüber einer Gottheit (z. B. die Helden der
Aegineten-Gruppe neben Athene), Kinder neben der Mutter (Niobe-Gruppe),
oder durch Sitzen, Knieen, Liegen dem ſich verengenden Dreieckſchenkel
angepaßt, oder Beides zugleich. Auch bloße Füllfiguren, wie ein liegen-
der Flußgott, um das Local zu bezeichnen, wohl auch bloße Stücke ſol-
cher, wie das aufſteigende und niedertauchende Geſpann des Helios im
öſtlichen Parthenongiebel, mögen dienen, den äußerſten Winkel zu beſetzen.
Die Compoſition kann nun eben wieder die loſere oder die inniger ver-
bindende, untergeordnete Gruppen in Gruppen bildende ſein: bloße Zu-
ſammenſtellung oder Handlung; die Handlung im Mittelpunkt, die Zu-
ſchauer umher wie im weſtlichen Tympanum des Parthenon, wo Athene,
die Roſſe bändigend, mit dem zurückfahrenden Poſeidon die ſchön divergi-
rende mittlere Gruppe bildet, während auf den Seiten die Gruppen der
Zuſchauer in verſchiedenen Graden der Theilnahme ſich abſtufend nach
den Winkeln des Dreiecks hin abſinken; oder ein Herrſchen, Schützen in
der Mitte, Handeln, Kämpfen auf den Seiten; oder Kampf, Bewegung
überall, am ſtärkſten in der Mitte. Auch ein Auf- und Abſteigen iſt
wohl motivirt, wie über der Trinkhalle zu Baden die zur labenden Nym-
phe aufſteigenden Kranken, die herabſteigenden Verjüngten; ein ſehr
ſchöner Gedanke. Neben dieſer äußern Symmetrie der Höhenmaaße herrſcht
aber, je belebter eine ſolche Compoſition, deſto kräftiger auch die innere
und greift durch milden oder ſtarken Contraſt als ein freies Entſprechen
der Figuren und Gruppen auf den Seiten und durch die Mittelgruppe
ſelbſt hindurch.
2. Die freie Plaſtik wäre durch die Nothwendigkeit, das ſich Decken ihrer
Formen zu vermeiden, auf einen engen Spielraum eingegränzt, wenn ſie
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 30
[452]nicht auch in ihrer Art eine Längen-Compoſition hätte: Zuſammenſtellung
von Figuren, die durch ein deutlich erkennbar Gemeinſames vereinigt,
aber nicht in eigentlicher Handlung verflochten ſind, doch auf Einer Ba-
ſis, oder zwei ſolche locker verbundene Gruppen auf zwei Baſen ſich ſym-
metriſch entſprechend. Solcher Art war die Zuſammenſtellung und Ge-
genüberſtellung achäiſcher und troiſcher Helden zu Olympia in zwei
Halbkreiſen und die turma Alexandri von Lyſippus. Dieſe Form der
Compoſition, die ſo geeignet wäre, große hiſtoriſche Ideen monumental
zu entwickeln, iſt viel zu ſehr vergeſſen; Zuſammenſtellungen geſchichtlicher
Charaktere, die Einer Sache angehören, Einer großen Idee dienen, wä-
ren gerade für unſere hiſtoriſch geſinnte Zeit der rechte Stoff für reiche
Monumente und der rechte Erſatz für den Olymp. Einige nähere Wech-
ſelbeziehung werden die Statuen allerdings auch hier haben müſſen, da-
mit ſich dieſe Form von der noch lockereren, der Aufſtellung von entſprechen-
den Statuen auf verſchiedenen Poſtamenten, wie z. B. der Roſſebändi-
genden Dioſkuren, und der bloßen Vereinigung verwandter Darſtellun-
gen durch Einen Raum, Saal, Halle, Grabgebäude unterſcheide; ſie
werden ſich wie im Geſpräch begriffen zueinander wenden, ſich zum
Kampfe anfeuern u. ſ. w., dürfen überhaupt nicht allzuſehr getrennt
ſtehen; ein größerer Zwiſchenraum gemeinſchaftlicher Baſis würde ſelbſt
Figuren, die ſich zueinander wenden, nicht zu Einem Werke zuſammen-
faſſen, denn es fehlt die Scenerie, die das Theater hinzugibt (vergl.
Schleiermacher Vorleſ. über d. Aeſth. S. 591. 592), an deſſen Aufſtellun-
gen übrigens die auseinandergezogene Compoſition allerdings erinnert.
Die architektoniſche Gruppirung an einem Denkmal (vergl. §. 609,
Anm. 1.) iſt verwandt, aber ſchon enger anſammelnd. Die ſchwierigſte
Leiſtung der Bildnerkunſt iſt nun aber die freie Gruppe. Zunächſt er-
weitert ſich die Einheit zur Zwei; die Pyramidalform kann ſich noch
nicht entwickeln, die Zuſammenfaſſung der Zwei kann nur in der Bewe-
gung, im Ausdruck liegen. Die loſere Form iſt die, wo zwei Figuren
zuſammengeſtellt ſind, die ſich nicht zu einander wenden, ſondern nur von
derſelben Stimmung beherrſcht ſind, wie z. B. die Gruppe von Ildefonſo;
da iſt der Contraſt noch mild und ſanft, ſeine Auflöſung nur der durch
das Ganze gehende Zug und Geiſt. Bewegter wird die Gruppe, wenn
die Geſtalten in freundlichem Affect (Amor und Pſyche) oder gemein-
ſchaftlich traurigem (Gruppen der Abſchiednehmenden Ehegatten) oder ge-
miſchtem (Oreſtes und Elektra) ſich zueinander kehren, ſich faſſen, um-
armen, oder gar in feindlicher Erbitterung, furchtbarer Handlung bei
ſchrecklichem Leiden ſich bekämpfen, verſchlingen, aneinander klammern
u. ſ. f. Die engſte Form iſt das Symplegma, wie in dem Ringerpaare
zu Florenz, wo Glied gegen Glied, Muſkel gegen Muſkel ſich wie zum
[453] Antagonismus der Formen in Einem Leibe zuſammendrängt; eigentlich
iſt aber doch mehr künſtleriſcher Gegenſatz vorhanden, wo ein vollerer Un-
terſchied von Stufen der Handlung und zugleich Formen des Lebens
die Figuren in der Verſchlingung zugleich auseinander hält, wie in der
mehrerwähnten Ludoviſiſchen Gruppe das Auge von der ſchlaff nieder-
hängenden ſchon getödteten Frau oder Tochter zu dem ſtraffen, wilden,
eben erſt ſich tödtenden Mann aufſteigt, um wieder zu jener milderen
Form gerührter niederzuſteigen, ſo daß dieſes mildere Bild des Todes
zugleich als Vorbereitung und Löſung zu dem gewaltſameren im Manne
ſich verhält. Gegenſatz von Thier und Menſch im Kampf oder freund-
lichen Verkehr bietet ſtarken, aber weniger tiefen Contraſt. Die vollere
Gruppe wird ſich naturgemäß zur Dreizahl der Figuren neigen, weil in
dieſer die Hauptmomente der Compoſition: Ueberordnung mit ſymmetriſcher
Unterordnung, Vorbereitung, höchſter Gipfel, Löſung und darin das volle Le-
ben und die Verſöhnung der Contraſte mit der ganzen Einfachheit und Spar-
ſamkeit, welche dieſe Kunſt fordert, ſich entwickeln laſſen; bei den Alten
ging auch hierin das Schauſpiel voran (vergl. Winkelmann G. d. K.
Band 2, S. 178). Die Gruppe des farneſiſchen Stiers iſt bekanntlich
durch ſpätere Zuthat überladen. Kindergeſtalten, Thiere oder halbthieriſch
mythiſche Weſen werden am eheſten eine Gruppe über die Zwei- oder
Dreizahl vermehren können (die berühmte große Gruppe des Skopas:
Achilles und Thetis von Meeresgottheiten nach der Inſel Leuke geführt,
war wohl in aufgelöſter Compoſition gehalten). Die Pyramidalform
tritt nun aus den nachgewieſenen Gründen in Kraft; man darf aber da-
bei nicht an gleich volle Geltung aller Seiten einer vielſeitig vorgeſtellten
Pyramide denken, vielmehr iſt nur Eine Seite die vollgültige, denn gerade
hier kehrt in gewiſſem Sinn der Standpunct des Reliefs wieder: die
Gruppe iſt nämlich zwar beſtimmt, umwandelt zu werden und eine Viel-
heit ſchöner Gruppen zu entfalten, aber doch auf Einen Geſichtspunct vor
allen berechnet und daraus ergibt ſich, daß ſich die Figuren von der
Hauptſeite als ein Nebeneinander präſentiren müſſen, wie angelehnt an
eine verticale Fläche; auch wird nur ſo erreicht, daß ſie ſich wenig mit
den Gliedern decken; es iſt dieß natürlich auch bei der Gruppe von nur zwei
Figuren der Fall, aber es drängt ſich erſt hier in ſeinem Nachdruck auf,
indem die in der Dreizahl begründete Pyramidalform wieder an das
Giebelfeld erinnert, das dem Relief zunächſt ſteht. Ein näheres Bild
des rhythmiſchen Lebens in ſolcher Compoſition iſt zu §. 500, 1. am Bei-
ſpiele der Laokoongruppe gegeben. In der des farneſiſchen Stiers ſehen
wir zwei active Geſtalten, tiefer, halbliegend zwiſchen ihnen die paſſive
der Dirke; über ihr, die Pyramidenſpitze bildend, bäumt ſich der Stier,
er bildet gegen ſie den vollen Contraſt des thieriſch Wilden zu dem weib-
30*
[454]lich Menſchlichen, Leidenden, die Brüder den nicht ſo ſchroffen, doch ſchnei-
dend ſtarken der ſtrafenden Härte, beide unter ſich den mildern der bloßen
Beihülfe (Amphion) und der grauſamen Ausführung (Zethos); der Zug
der Linien geht ſtark von links nach rechts (vom Zuſchauer) aufwärts von
der ſchönen doppelten Wendung der Dirke nach dem Stier empor; dieſer
Bewegung arbeitet Zethos entgegen, der bemüht iſt, den Stier am Strick
herzureißen, und ſich daher von rechts nach links hinüberdrückt und dort
den Anklang des Pyramidalen auf der einen Seite herſtellt, während
Amphion auf der andern den Stier an Horn und Maul haltend ſich mit
geſpreizten Beinen anſtemmt und ſo, die Linien-Bewegung auf dieſem
Puncte feſt abſchließend, die Ausfüllung der Pyramide vollendet.
Durch den Anſchluß an die Baukunſt wird es möglich, die verſchiedenen
Arten: einzelne Figur, Relief, angelehnte und ganz freie Gruppe zur Entwick-
lung einer inhaltsvollen Idee in einem cykliſchen Ganzen zu verbinden.
Das Hauptband der cykliſchen Compoſition iſt das Relief, auf deſſen
fortführenden, überleitenden Charakter ſchon §. 611 Anm. hingewieſen iſt;
es tritt nun mit den andern Formen zur Entfaltung eines umfaſſenden
Künſtlergedankens zuſammen. Eines der herrlichſten Beiſpiele ſolchen gro-
ßen Geſammtwirkens iſt der Parthenon: die Metopen mit ihren Darſtel-
lungen des alten Athene-Cultus, der Thaten der Athene und des Erech-
theus, der Kämpfe für Civiliſation und Menſchlichkeit gegen wilde Wei-
bervölker und Halbthiere, die Theſeus und ſeine Gefährten unter ihrem
Schutze vollbracht, die Giebelfelder mit dem Bilde des erſten, Staunenerre-
genden Erſcheinens der Athene unter den Göttern, ihres Sieges über das
noch ungebändigte Pferd, dann hineinleitend zur Erſcheinung der Göt-
tinn der Panathenäenzug des Cellafrieſes und endlich die Herrliche ſelbſt
im Heiligthum; nicht zu gedenken der Propyläen, des Nike-Tempels, des
Erechtheums, des Waldes von Statuen umher, was Alles auf den Ge-
nius aller Bildung und Intelligenz und der Tapferkeit für die großen
Zwecke prachtvoll hinwies. Die freie Gruppe fand, weil ſie eigentlich
die Gottheit in das Viele auflöst, ſeltener ihre Stelle da, wo dieſe in
ihrer ungetheilten Majeſtät thronen ſoll, nämlich mitten im Heiligthum;
doch gab es ja auch Tempel für zwei und mehrere vereinigte Götter, nur
iſt dabei immer eine ruhige Gruppe vorausgeſetzt; übrigens kann ſie auch
vor den Tempel in’s Freie treten, ſie kann den Feſtraum des Palaſtes,
der ebenſo die verſchiedenſten Darſtellungen zum Ausdruck Einer großen
(politiſchen, ethiſchen) Idee zu vereinigen vermag, Vorhaus, Säulenhof
ſchmücken. Auf Gallerieen kann noch eine Menge von einzelnen freien Sta-
tuen hinzutreten und einen umfaſſenden Gedanken weiter fortführen.
[455]
b.
Die Zweige der Bildnerkunſt.
Die Bildnerkunſt iſt durch ihr innerſtes Weſen ſo beſtimmt an die zweite
Stoffwelt (vergl. §. 417) gewieſen, daß der Eintheilungsgrund des Mythi-
ſchen und nicht Mythiſchen alle andern Eintheilungsgründe hier beſonders au-
genfällig durchkreuzt (vergl. §. 541). Ihre höchſte Aufgabe iſt die Darſtel-
lung des idealen Abbilds der Welt im Kreiſe der Götter und Heroen.
Die Aufſtellung dieſer Sätze geht genau aus der Darſtellung des
Weſens der Plaſtik hervor, vergl. insbeſondere §. 606. Sie iſt weſent-
lich Götterbildende Kunſt, weil ihre Geſtaltungsweiſe die ausdrück-
lich ideale, direct ideale iſt. Wo Götter geglaubt werden, ſchlägt ſich die
Idee des Einen Göttlichen in einen Kreis idealer Perſonen auseinander,
welche die verſchiedenen Gebiete des Daſeins ſtellvertretend in ſich dar-
ſtellen, und dieſe Perſonen gewinnen ihre Individualität in der Weiſe,
wie ſie im Allgemeinen §. 437 und eingehend in das künſtleriſche Ver-
fahren §. 616, 1. und 621 aufgewieſen hat. Untergeordnete Genien,
Halbgötter führen hinüber zur Sage, welche aus der wirklichen Men-
ſchenwelt Einzelne herausgreift, an den Götterkreis knüpft und ſo im
Heroenkreiſe das Band zwiſchen dem idealen Spiegelbilde des Lebens und
dem neben ihm gleichzeitig noch als Stoff des Ideals beſtehenden Leben
herſtellt. Jedes weitere Eingehen würde den folgenden §§. vorgreifen
oder ſchon beſtimmter in den geſchichtlichen Abſchnitt hinausführen. Was
unter dem Durchkreuzen der weitern Eintheilungsgründe verſtanden ſei,
wird ſich alsbald zeigen.
Dieſe Durchkreuzung zeigt ſich ſogleich bei der Eintheilung, die ſich auf1.
die Stoff-Unterſchiede der Phantaſie (§. 403) gründet: das landſchaft-
liche Gebiet wird ſchon durch die zweite Stoffwelt verdrängt; der Thierdar-2.
ſtellung geſellt ſich ein Kreis phantaſtiſch zuſammengeſetzter Bildungen bei;
das ganze Gebiet des allgemein Menſchlichen, wie es über die Unter-3.
ſchiede der Formen, Sitten, Stimmungen bis hinauf zur Charakterdarſtellung
ſich ausbreitet (Genre), zerfällt in eine mythiſche und nicht mythiſche Auffaſ-
ſung, doch ſo, daß immer dieſe ſich jener nähert; das Geſchichtliche endlich,4.
[456] d. h. die in Handlung geſetzte Porträtdarſtellung, wird von dem Mythiſchen auf
einen ſchmalen Spielraum gedrängt, aber auch ſtellvertretend erſetzt und die Art
dieſes Erſatzes bewirkt zugleich, daß der Gegenſatz zwiſchen dem allgemein
Menſchlichen und Geſchichtlichen flüſſig wird.
1. Wir beginnen die weitern Theilungen mit derjenigen, die ihren Grund
hat in den Unterſchieden der Phantaſie, wie ſie im Ganzen und Großen
auf eines der Hauptgebiete der urſprünglichen Stoffwelt bezogen ſind.
Zuerſt tritt das Landſchaftliche auf; §. 599 hat die techniſchen Gründe
gezeigt, warum es aus der Sculptur wegfällt; nun aber handelt es ſich
nicht mehr von techniſchen Hinderniſſen, ſondern von einem poſitiven in-
nern Grund, und zu dieſem führt das, was zu §. 612 von andeutenden
Hülfen zur Bezeichnung der Landſchaft geſagt iſt. In der That aber iſt
derſelbe ſchon zu §. 437, 1. ausgeſprochen: „Der Gott ſog die Landſchaft
in ſich auf“ u. ſ. w., und dann in der letzten, tiefſten Beſtimmung über
das Weſen der Perſönlichkeit in der bildneriſchen Darſtellung §. 606.
Die techniſchen Hinderniſſe ſind die frei geſetzten Schranken einer Kunſt,
die keine Landſchaft braucht, weil ſie dieſelbe als Seele des Gottes ſchon
hat. Drücken wir denſelben Satz pſychologiſch aus, ſo erhellt, daß eine
auf naive Einheit des Geiſtes und der Natur gewieſene Phantaſie nicht
die ſentimentale Beziehung zu der landſchaftlichen Schönheit haben kann,
welche eine gegenſätzliche Spannung zwiſchen jenen beiden Welten und
einen daraus fließenden Reiz vorausſetzt; ebendieſe Form des Geiſtes
ſieht aber die geſammte Natur im Menſchenbilde zuſammengefaßt und das
ideale Menſchenbild iſt der Gott.
2. Die Fabelweſen, worin Thier und Menſch, Thier und Thier
zuſammengeſetzt war, Centauren, Meer- und Flußgötter, Faunen, Greife
u. ſ. w., ſind Ueberreſte ſymboliſcher Bildungen in der höhern Stufe des
Mythus. Dieſe Ueberreſte ſind aber ein großer Vortheil für eine Kunſt,
welche für alles Ungefüge, Wilde, Unheimliche, furchtbar oder komiſch
Häßliche eine eigene Ablagerungsſtelle bedarf, wo es, aus dem rei-
nen Kreiſe des geläuterten Menſchlichen ausgeſchieden, eine Art beſonde-
rer Idealität für ſich entwickeln kann. Den einmal ergriffenen Stoff gilt
es denn ebenſo auf die Schönheitslinie zurückzuführen, wie jene ſchwächern
Ueberbleibſel der Symbolik: die Hörner-Reſte des Bacchus u. ſ. w. Alle
Verbindung fremdartig organiſcher Formen iſt eigentlich unſchön; die
Griechen haben aber die Verbindungsſtellen, z. B. den Punct, wo Men-
ſchenleib und Thierleib in einander übergeht, in ſo ſchön geſchwungenen
Linien behandelt, daß man das Unnatürliche vergißt, ja in die Täuſchung
einer wirklichen Erweiterung der Naturreiche verſetzt wird. Es iſt jedoch
nicht blos von den Alten die Rede; die Bildnerkunſt wird für alle Zeit
[457] ſolcher Weſen bedürfen aus demſelben Grunde, warum ihrer die Grie-
chen bedurften: aus dem Grunde der Nothwendigkeit der oben genannten
Ablagerung, die ſich mit dem Prinzip ſymboliſcher Abbreviatur einer gan-
zen Sphäre von Erſcheinungen, Vorſtellungen vereinigt. Was die wirk-
lichen Thiere betrifft, ſo wird es immer Künſtler geben, die vorzüglich
auf dieſe Sphäre durch ihr Talent bezogen ſind, woneben ſie von der
menſchlichen Sphäre etwa namentlich noch das Heroiſche ergreifen, wie
ein Myron bei den Alten, ein Kiß in der neuern Zeit. Einzelne mögen
auch ihre Kraft mehr in einzelnen Thierarten haben.
3. Das Thierbild iſt bereits Genrebild, ſo wie es ſich nicht um
Darſtellung beſtimmter, von der Sage vermeldeter Thiere handelt, ſon-
dern Formen, Bewegungen, Gewohnheiten, Charakter einer Thierart an
ſich Zweck der künſtleriſchen Darſtellung ſind. Da aber der Menſch Haupt-
gegenſtand der Kunſt, insbeſondere der Bildnerkunſt iſt, ſo denkt man
bei dem ſogenannten Genre mehr an das menſchliche Leben. Eigentlich
umfaßt nun dieſer Zweig allen und jeden Stoff, ſofern darin der Menſch
nicht dargeſtellt iſt in Perſonen und Momenten, die entweder die wirk-
liche Geſchichte oder die für Geſchichte gehaltene Sage und Mythe aufge-
zeichnet, in dem Gedächtniß der Menſchen feſtgeſtellt hat. Wenn man meint,
dieſe negative Grenzbezeichnung umfaſſe poſitiv ein zu weites Gebiet, ſo
iſt dieß nur deßwegen, weil man die höhern Kräfte des menſchlichen Le-
bens, ſofern ſie nicht in Thaten ſich Ausdruck gegeben, die in die Gedenk-
bücher der eigentlichen Geſchichte ſich eingegraben, einem höhern Zweige
zuzuweiſen gewohnt iſt, eben dem mythiſchen nämlich, den man dann in
Weiſe des entſprechenden Bewußtſeins wie eine Art höherer Geſchichte
anſieht. Dieß iſt Irrthum; dieſer höhere Theil der allgemeinen Stoffe
kommt vielmehr, wo das Bewußtſein mythiſch beſtimmt iſt, zweimal vor,
im Mythus und außer dem Mythus. Die Sache verhält ſich ſo: Genre
heißt eigentlich ein Allgemeines, Gattungsmäßiges, und es begreift in ſich
jede Lebensform, ſeien es mehr anthropologiſch die Formen der Alters-
ſtufen, Zuſtände, Geſchlechter, oder mehr bezüglich auf Sitte das Thun
und Treiben, Genuß, Spiel, momentane oder ſtehende Beſchäftigung,
alſo das Gebaren der Stände, oder ernſter bewegtes Spiel, d. h. Kampf-
ſpiel, oder Zuſtände und Handlungen der Empfindung in Liebe, Ehe,
Familie, Freundſchaft, oder gewaltſamer Affect, z. B. im kriegeriſchen
Kampfe, oder Erhebung der Seele im Gottesdienſt, oder endlich der Cha-
rakter und ſeine Kämpfe in jedem Sinn, auf jeder Stufe: Alles dieß,
ſo groß oder klein es ſein mag, in ſeiner ganzen Eigenthümlichkeit be-
lauſcht und ſo dargeſtellt heißt Genre. Dieſes umfaſſende Gebiet hat nun
aber einen großen Theil ſeines Stoffes an zwei andere abgeben müſſen.
Das eine iſt die Geſchichte, in deren Annalen ein Theil der Erſcheinungen
[458] des immer gleich fließenden Lebens ſich mit Namen und Zahl einzeichnet.
In der geſchichtlichen Handlung kommt an ſich nichts Anderes zur Er-
ſcheinung, als das Allgemeine, die gattungsmäßigen Kräfte des Men-
ſchen, allein der Unterſchied iſt eben, ob ſie ſich zu der Spitze der That
zuſammenfaſſen, welche ſich geſchichtlich verewigt, oder nicht. Nun kön-
nen allerdings geſchichtlich bekannte Menſchen auch in Momenten darge-
ſtellt werden, wo ſie nichts von dem thun, was die Geſchichte von ihnen
aufgezeichnet hat, ſondern nur allgemein Menſchliches an ihnen zur Er-
ſcheinung kommt; dann aber iſt es doch nicht reines Genre, was ent-
ſteht, ſondern ein Gemiſchtes, von welchem bei der Malerei näher die
Rede ſein wird. Dieſe, ganz objectiv begründete, Seite des Stoff-Ab-
fluſſes iſt es aber nicht, was uns im gegenwärtigen Zuſammenhang be-
ſchäftigt, ſondern das andere der Abzug-Gebiete, Sage (auf die Geſchichte
zurückweiſend, worauf ſie ruht) und Mythus. Der höchſte, edelſte Ge-
halt aus jenem urſprünglichen Stoffgebiete iſt von den Völkern vor aller
Geſchichte im Mythus hypoſtaſirt. Wir ſind nun dieſem noch heute nicht ſo
entwachſen, daß er uns nicht das Genre-Gebiet entſchieden verengte, indem
wir mythiſche Geſtalten durch eine gewohnte Verwechslung zur Geſchichte
ſchlagen. So gilt z. B. im romantiſchen Ideal, das im modernen noch
nicht ganz ausgeſchieden iſt, ein Weib in verſchiedenen Momenten be-
ſchränkterer Aeußerung des Charakters für Genre, dagegen das reine
Weib, das als Braut, Frau, Mutter, Jungfrau bleibt, für ein beſon-
deres, zwar tranſcendentes, aber doch geſchichtliches, nämlich Maria.
Daneben kann aber doch ein Maler auch ein Weib darſtellen ſo hoch und
rein im Ausdruck, daß ſie werth wäre, eine Maria zu ſein, und nur
gewiſſe Attribute, ſtändige Bezeichnungen fehlen, ſie dazu zu machen; alſo
wird der Stoff neben der Ausleihung an den Mythus auch wieder be-
halten und kommt ſo zweimal vor. In der Plaſtik nun ſind ebenſo alle
Götter, Genien, Heroen ein Stoff, der eigentlich dem Genre in dieſer
an ſich richtigen Ausdehnung des Begriffes angehört, aber der Glaube,
daß ſie leben oder gelebt haben, zieht ſie hinweg aus dieſem Gebiete zu
einem jenſeitigen Kreis, der eine Art höherer Geſchichte darſtellt. Und
dieſe Anſchauung iſt hier ſo ſtark, daß dieſe Kunſt auch die weniger ge-
wichtigen Formen und Zuſtände des Lebens in der Gediegenheit und
Schönheit ihrer Naivetät nur dann zu würdigen glaubt, wenn ſie die-
ſelben an Heroen, Halbgöttern, Göttern darſtellt, was dann eben nicht
Genre heißt, ſondern ein Gemiſchtes iſt, wie oben von ebenſo aufgefaß-
ten geſchichtlichen Stoffen geſagt worden. Es kommt z. B. darauf an, den
Mann zu belauſchen und nachzubilden, wie er ſich darſtellt, wenn er
Thiere in der Jagd bezwingt, das Pferd bändigt, oder das Weib, wie
es in’s Bad ſteigt, ſich ſchmückt: aber es iſt nicht ein unbeſtimmter Je-
[459] mand, ſondern Meleager, die Dioſkuren, Aphrodite; das Tüchtige, was
die ſchöne Menſchen-Natur in allen dieſen Situationen entwickelt, das
Bleibende, Gattungsmäßige heißt göttlich und gilt nun nicht mehr als
bloßes Genre. In der romantiſchen Kunſt iſt dieß nicht ſo, nur das Höhere,
Geiſtige iſt vom Zweige des Genre weggezogen in das mythiſche Gebiet
hinüber. Als Ethos, Pathos im Sinn des Charakters führt aber auch die
Plaſtik das höhere Geiſtesleben in der Form einer beſtimmten Gottheit auf.
Dennoch unterſcheidet auch ſie. Sie ſtellt dieſelbe Form, Situation, Be-
ſchäftigung, die ſie unter dem Namen einer Gottheit, eines Heros auf-
zuführen liebt, ein andermal auch ohne dieſe höhere Autorität, allgemein
rein menſchlich dar. Da fühlt man denn erſt ganz deutlich, wie hier
Alles auf die feine Belauſchung des bleibend Eigenthümlichen einer Le-
bensform: Kind, Jungfrau, Jüngling, Mann u. ſ. w., Fiſchen, Jagen,
einen Dorn aus dem Fuß Ziehen, ſich mit Oel Salben, Sandalen Anle-
gen, eine Ehrenbinde als Sieger Umlegen u. ſ. w. ankommt. Es liegt
tief in der plaſtiſchen Anſchauung, daß die einfachſten, harmloſeſten, ſchein-
bar rein ſinnlichen Aeußerungen, Zuſtände des Menſchen als etwas Rech-
tes, Gutes, Weſentliches behandelt werden. Unter den Neueren hat da-
für namentlich Göthe das Gefühl gehabt, man vergl. die homeriſch ſchöne
Stelle über das Waſſerholen in Werthers Leiden und die Aeußerung über
das naive Motiv einer alten Gemme, worauf ein Greis einen Knaben trin-
ken läßt, Eckerm. Geſpr. Th. I, S. 113. Immer jedoch wird auch die ge-
wöhnliche Natur, welche nicht von der für Geſchichte gehaltenen Sage
und mythiſchen Vorſtellung verzeichnet iſt, ſo würdig und mackellos be-
handelt, daß ſie zum Olymp erhoben ſcheint, und dieſe vergöttlichende
Kraft der Bildnerkunſt, wie ſie ſchon in §. 606 und dann an verſchie-
denen Stellen wieder ausgeſprochen worden, iſt Urſache, daß man in
dieſer Kunſt von Genre überhaupt nicht zu ſprechen gewohnt iſt.
4. Daß das Geſchichtliche in ſchmale Grenzen eingeſchränkt iſt, wurde
in §. 615 aus der nothwendigen Enge des Spielraums abgeleitet, den
das Individuelle hat; es kommt dazu als weiteres Hinderniß die nöthige
Sparſamkeit der Figurenzahl §. 601 und der mangelnde Hintergrund
§. 599. Allein auch in Beziehung auf dieſes Gebiet iſt hier nicht mehr
von den Hemmniſſen, welche die techniſche Bedingung und das Stylge-
ſetz in den Weg legt, ſondern von dem Poſitiven die Rede, was an die
Stelle des Verdrängten tritt. Dieß iſt wiederum der Mythus; die zwei
Ableitungsbette, worein nach der vorhergehenden Anm. das Genregebiet
einen Theil ſeines Stoffes abgibt, vereinigen ſich in der Plaſtik ſo, daß
eben dieſem faſt Alles zufließt. Es iſt höchſt merkwürdig, wie im Al-
terthum der Mythus, insbeſondere die Heroenſage, namentlich für die
Geſchichte vicarirt; z. B. die Perſerkämpfe, ein doch ſo günſtiger Stoff,
[460] werden ſelten dargeſtellt, ſtatt ihrer, ſymboliſch ſtellvertretend, die Troer-
kämpfe oder die Kämpfe des Theſeus, Herkules mit Centauren, Ama-
zonen, Unthieren u. ſ. w., und die letzteren treten auch wieder als Vor-
bild ſtatt der Troerkämpfe auf. Erſt ſpäter wird Alexander mit ſeinen
Begleitern und Thaten, werden die Kämpfe mit Galliern, dann in Rom
häufiger die Kriegsthaten der Legionen u. dgl. eigentlich dargeſtellt. Die
Weltgeſchichte iſt aber nicht nur in den Heldenſagen, ſondern in den Göt-
tern ſelbſt dargeſtellt; ſie ſind die Prinzipien aller Natur und alles Men-
ſchenlebens, ihre wenigen Handlungen ein allbezeichnender Auszug der-
ſelben, und wenn Apollo und Artemis die Niobiden vernichten, ſo iſt dieß
die ewige Tragödie von der geſtraften menſchlichen Ueberhebung. — Der
Bauſtein der eigentlich geſchichtlichen Darſtellung iſt die Bildnißſtatue.
Die Lehre von der Malerei wird dieſe Beſtimmung des Porträt tiefer
erörtern. In ihm wird das moderne Ideal den Erſatz für die ihm ent-
zogene Stellvertretung der Geſchichte durch den Mythus zu ſuchen haben:
großartige Zuſammenſtellungen geſchichtlicher Standbilder werden neben
dem dehnbareren Relief dieß Gebiet der Geſchichtsdarſtellung, das in der
geſchloſſenen Gruppe ſo eng iſt, erweitern müſſen. In demjenigen Ideal
aber, welches der wahre Boden für die Entwicklung der Bildnerkunſt
aus ihren innerſten Geſetzen iſt, alſo ſchließlich doch in der ihrer Natur
ſtreng treu bleibenden Bildnerkunſt ſelbſt wird nun durch dieſes Stellver-
treten des Mythus für die Geſchichte zugleich die Grenze zwiſchen dem
allgemein Menſchlichen und Geſchichtlichen ebenſo eine fließende, wie die
zwiſchen Genre und Mythus. Wenn ich z. B. die Perſerkämpfe durch
Heroenkämpfe mit den Troern oder Kämpfe eines Theſeus, Herkules mit
Ungeheuern darſtelle, ſo wird doch am Ende ungewiß, ob es mehr Zweck
iſt, jene beſtimmte helleniſche That darzuſtellen, oder nur allgemein edel
entwickelte, götterähnlich gediegene Menſchheit aufzuzeigen, wie ſchön und
herrlich ſie ſich offenbart im Kampfe mit rohen Kräften. Der eigentliche
Gegenſtand wird verallgemeinert in anderer Weiſe, als jede Kunſt dieß
an allen einzelnen Stoffen vollzieht, indem ſie im Concreten eine ewige
Idee zur Erſcheinung bringt: das hiſtoriſch Beſtimmte wird aufgelöst,
ſeine Formen ſind nicht mehr individuell im engern Sinne des geſchichtli-
chen Datums, ſondern gattungsmäßig individuell, und dieß iſt eben
Genre. Somit ſind wir zur vorhergehenden Sphäre zurückgeführt: das
Genre löst ſich in Vergötterung auf, das Geſchichtliche, indem es im
Mythiſchen ſeinen Stellvertreter findet, weist durch dieſen auf das Genre
zurück, und ſo iſt und bleibt die Götterdarſtellung die Mitte, in welche
alle Zweige einfließen, die ſie alle durchſichtig wie ein Kryſtall enthält
und nur zu zweifelhafter, ſchmaler Exiſtenz neben dieſer ihrer idealen Vertre-
tung entläßt: die „Ariſtokratie der Geſtalt“ (§. 62) im edelſten Sinne des Worts.
[461]
Nach dem Moment und Grade des Umfangs, in welchem ein
Stoff ergriffen wird (§. 540), theilt ſich die Bildnerkunſt zunächſt in Statue
und Gruppe. Nachbildungen blas des Haupttheils der Geſtalt, Herme, Büſte,
Maſke, ordnen ſich der Statue unter. Dieſe ſtellt die Perſönlichkeit in Ruhe,
harmloſer oder geſpannter Situation dar und ebenſo die Gruppe ihre
Mehrheit von Geſtalten. Zu den vorhergehenden Eintheilungen verhält ſich
dieſe ſo, daß alle verſchiedenen Stoffe in der einen oder andern Form auftre-
ten können, die Gruppe aber in ihrem tiefſten Begriff die in Handlung ge-
ſetzte Gottheit iſt.
Wir nehmen die Eintheilungsgründe für die Zweige aus §. 539 ff.
bei jeder Kunſt in der Ordnung auf, wie ſie aus dem Weſen derſelben
ſich am natürlichſten ergibt; ſo hier aus §. 540, nachdem ebendaher der
Eintheilungsgrund für den vorh. §. entnommen iſt, zunächſt den weitern
des Umfangs und Moments. Der Unterſchied im Grade des Umfanges,
worin der Stoff ergriffen wird, begründet denn hier die Zweige: Statue
und Gruppe. In der Malerei iſt ein ſolcher Unterſchied auch vorhan-
den, aber nicht Zweigbegründend, denn hier verſteht ſich von ſelbſt, daß
gewiſſe Stoffe in der Regel durch eine Mehrheit von Figuren zur Dar-
ſtellung kommen, und das Entſcheidende iſt daher das Gebiet des Stof-
fes, nicht der Umfang ſeiner Eingreifung; in der Sculptur dagegen ſa-
hen wir die Eintheilung nach Gebiets-Unterſchieden des Stoffes ſchwan-
ken, jede derſelben kann ebenſogut in der Form der Statue, als der
Gruppe auftreten, und daher macht ſich dieſer formelle Theilungsgrund
eingreifender geltend. Was nun die Statue betrifft, ſo tritt auch ein
Theil ihres Ganzen als Kunſtwerk für ſich auf, nämlich Kopf und Bruſt
auf ein Pfeilerſtück geſtellt in der Herme, ohne dieſes Pfeilerſtück in
der Büſte, Relief des Geſichts ohne Bruſt, urſprünglich für Anfügung
an eine Fläche beſtimmt, dann auch mit Bruſt auf einer kleinen Baſis,
in der Maſke. Die Herme zeigt noch die Entſtehung der Bildſäule aus
dem Pfeiler: Kopf und Bruſt iſt ausgeſchlüpft, das Uebrige ſteckt noch
im Ei. Es leuchtet ein, daß dieſe Kunſtformen, worin blos der im höch-
ſten Sinn ſprechende Theil zur Darſtellung kommt, ſich vorzüglich für
Nachbildung ſolcher Perſönlichkeiten eignen, in denen Geiſt und Charak-
ter weniger in der Richtung ausgebildet erſcheint, daß damit eine gleich-
mäßige Entwicklung des Körpers verbunden iſt: Philoſophen, Redner,
Künſtler, Dichter, Staatsmänner. Bei dem Heros wollen wir die Ener-
gie auch in den Gliedern dargeſtellt ſehen. Hiemit wäre dieſe fragmen-
[462] tariſche Behandlungsweiſe beſonders auf das Porträt angewieſen; die
Alten haben aber auch Götter ſo dargeſtellt, weil ſie ihnen als lebende
Weſen galten, von denen man ein Bildniß machen könne, und bei dem
Gotte freilich war das Antlitz unbeſchadet der weſentlich mitſprechenden
Bedeutung des übrigen Körpers in höherer Weiſe Inbegriff des ganzen
Ausdrucks, als bei dem Athleten und Heros. Außerdem gab es Stoffe,
wo der Mythus und das Kunſt-Intereſſe die bloße Darſtellung des An-
geſichts mit ſich brachte, wie das Meduſenhaupt. — Der andere Einthei-
lungsgrund iſt der des Moments, den die Kunſt ergreift. Hiezu vergl.
was über die Stufen der Situation §. 336 Anm. 1. geſagt iſt; was zu
§§. 613. 622. 623. 625, dann in der Lehre von der plaſtiſchen Com-
poſition, namentlich §. 628, 2. hervorgehoben wurde, beleuchtete denſel-
ben Punct in anderem Zuſammenhang. Die Bildſäule kann die Perſön-
lichkeit auffaſſen in unbewegter Ruhe des in ſich webenden, wurzelnden,
geſättigten Charakters, oder in harmloſer Situation, fortgehend zu einer
Thätigkeit, die keine Spannung, keinen ernſten Kampf in ſich ſchließt,
ſondern bald mehr eigentliches Spiel, bald mehr harmloſe Beſchäftigung
iſt, oder in Anfang, Mitte, Ende einer geſpannten Situation, d. h.
eines ernſten Kampfes. Die zweite Perſon oder Thier, Ungeheuer wird
durch die Phantaſie des Zuſchauers ergänzt. Die Gruppe durchwandelt
dieſelben Stufen, nur daß die erſte, die der Ruhe, ſchon ſpezieller be-
ſtimmt iſt, indem ſie eine vorangegangene Zuſammenbewegung, Vereini-
gung der Figuren vorausſetzt. — Fragt man nun, wie ſich die vorlie-
gende Eintheilung zu denen der vorh. §§. verhalte, ſo bleibt es bei der
obigen Bemerkung: ſie läuft neben denſelben ganz ſelbſtändig her; Sta-
tue und Gruppe, Ruhe, harmloſe und geſpannte Situation können Gott
oder Menſch (und Thier), Genre oder Geſchichte darſtellen. Erwägt man
aber, daß im tiefſten Sinn alle Bildnerkunſt Götterdarſtellung iſt, ſo er-
ſcheint, wie ſchon früher geſagt iſt, hier aber ausdrücklich hervorgeſtellt
werden muß, die Statue als der in ſich beſchloſſene, in ſeiner Einheit
verharrende, die Gruppe als der in Vielheit aufgelöste und in Hand-
lung geſetzte Gott, dort der geſammelte, hier der ausgegoſſene Gottes-
geiſt. Wir werden ſehen, wie ſich die Malerei auf die zweite dieſer Be-
ſtimmungen wirft. Am reinſten und ſchärfſten tritt ſie ein in jenen Wer-
ken, die den Menſchen in Gottgeſendetem tragiſchem Leiden darſtellen, ei-
nem Laokoon, einer Nioliden-Gruppe; der entfernte Gott iſt in ſeinem
Handeln gegenwärtig.
Dagegen ſteht der Unterſchied des Materials und der techniſchen
Behandlung (§. 540), welcher letztere hier der des Relief, des an die
[463] architektoniſche Fläche angelehnten und des ganz freien Bildwerks iſt, in viel-
facher Beziehung zu den vorhergehenden Eintheilungen.
Der Unterſchied des Materials und der Technik iſt wichtig genug,
eine ausdrückliche Zweigtheilung zu begründen; er iſt kein bloß äußerli-
cher, ſondern ſteht in tiefer Beziehung zu den Gegenſtänden und zu dem
Gegenſatze der Statue und Gruppe. Der Unterſchied des Materials zwar
tritt nur in Beziehung zu den Gegenſtänden, denn der Form-Unterſchied
der Statue und Gruppe verhält ſich dazu gleichgültig; verſchiedenes Ma-
terial kann beiden Formen dienen. Wie innig die erſtere Beziehung iſt,
wie ganz verſchiedenen Stoffen roherer Stein, Erz, Marmor zuſagt, iſt
in §. 607 hinreichend auseinandergeſetzt. Der Unterſchied von Relief,
angelehnter und ganz freier Plaſtik berührt ſich dagegen vielſeitig mit
ſämmtlichen vorangehenden Eintheilungen. Es iſt klar, daß das Relief
ſelten eine vereinzelte Geſtalt geben wird; es geſchieht dieß in der Maſke,
in Porträtköpfen vom Profile an Monumenten, in Wandverzierenden
Medaillons, wohl auch in ganzen Figuren; im Ganzen und Großen aber
iſt ja das Relief und das angelehnte Bildwerk (hauptſächlich Giebelfeld-
ſchmuck) natürlich eine Form der Gruppirung, wie denn aller Anſchluß
an die Baukunſt an ſich ſchon die Beſtimmung umfaſſender, in Vielheit
aufgelöster Entfaltung einer Idee in ſich ſchließt. Ebendaher werden
dieſe Formen zwar gerne in Darſtellung ruhiger Situationen ſich bewe-
gen, aber ungleich mehr wird ihnen doch bewegte Situation, reiche Hand-
lung zuſagen; wogegen die freie Plaſtik in der Gruppe ſo viele Schwie-
rigkeiten zu überwinden hat, daß ſie ungleich mehr auf die einzelne Ge-
ſtalt, alſo auf die Ruhe angewieſen iſt. Was nun das Verhältniß zu
den Gegenſtänden an ſich betrifft, ſo iſt klar, daß zwar von einer aus-
ſchließenden Vertheilung derſelben an Relief und freie Bildnerei nicht die
Rede ſein kann, allein der Begriff der ausdrücklichen Unendlichkeit im
Gott wird doch natürlich mehr zum freien oder nur angelehnten Bild-
werk führen, wogegen die hinlaufenden Streifen und Felder des eng an-
geſchloſſenen, d. h. das Relief mehr für menſchliche und heroiſche, halb-
göttliche oder, ſoweit ſich ſolche zu entwickeln vermögen, eigentlich ge-
ſchichtliche Stoffe ſich eignen.
Der Unterſchied der Arten der Phantaſie, wie ſie in §. 402 aufgeführt
ſind, kann in der Bildnerkunſt nur ſchwach hervortreten; das einfach Schöne
iſt ſo ſehr der beſtimmende Standpunct (vergl. §. 605, 2.), daß das Erha-
bene und Komiſche ſich zwar geltend macht, doch (vergl. §. 603) nicht mit
[464] der Entſchiedenheit, um Zweige zu begründen. Indeſſen hat jenes mehr Spiel-
raum, als dieſes; äußerlich tritt es im Coloſſalen hervor.
Der §. zieht nur aus Solchem, was ſchon ausgeführt iſt, das Er-
gebniß, indem er einen weitern Eintheilungsgrund für die Kunſtzweige
aus §. 540, den dieſer auf §. 402 gründete, aufnimmt. Daß das Er-
habene eine größere Rolle ſpielt, als das Komiſche, hat darin ſeinen
Grund, daß ſein Prozeß, wie aus der Metaphyſik des Schönen hervor-
geht, ein weniger verwickelter, weniger geiſtig reflectirter iſt, als der des
Komiſchen. Wir haben geſehen, wie es als Erhabenes der Kraft, der
mehr ſinnlichen Erregung, der tieferen Leidenſchaft, des Charakters auf-
tritt; in den Scenen tiefen Leidens, im Conflicte mit ewigen Mächten
erhebt es ſich auch zum Tragiſchen; allein nicht nur bleibt ihm die ganze
Unendlichkeit geiſtiger Höhe und Tiefe verſchloſſen, welche der mittelal-
terlichen und noch mehr der modernen Welt der geiſtigen Innerlichkeit
ſich aufgethan hat, ſondern auch der claſſiſchen Tragödie konnte die Plaſtik
nicht in alle Formen des Schrecklichen folgen, z. B. nicht in das Ganze des
Seelenleidens eines Oedipus. Daß das Erhabene in den äußern Maa-
ßen der Kunſtdarſtellung als Erhabenes des Raums ſich geltend macht,
iſt in §. 609 erörtert, und ſoweit mag der Gegenſatz zwiſchen ihm und
dem einfach Schönen gewiſſermaßen als ein Zweigbegründender gefaßt
werden, als dadurch das Coloſſale und nicht Coloſſale unterſchieden wird.
Das Weſentliche aber bleibt die Rückführung ſelbſt des Furchtbarſten zur
anmuthsvollen Schönheits-Linie des einfach Schönen; dieſes Stylgeſetz iſt
ſtärker, als der ſächliche Gegenſatz des Schönen und Erhabenen, der
ebendeßwegen nicht hier eine geſchloſſene Gattung anmuthiger, dort eine
geſchloſſene Gattung erhabener Werke mit der Beſtimmtheit eines Unter-
ſchieds von Zweigen entwickeln kann. Das Komiſche hat ebenfalls ver-
ſchiedene Stufen; im bacchiſchen Kreiſe, auf den es ſich im Alterthum
hauptſächlich warf, tritt es in den Satyrn gewöhnlich nur als gedämpf-
ter, fein gemilderter Anſtrich von Gemeinheit, als fühlbarere Rohheit in
einer derberen Form der Satyrn, wie dem betrunken ſchlafenden, Wein-
dunſt ſchwer ausathmenden barberiniſchen, noch gröber, wilder, entfeſſel-
ter in den Silenen, Paniſken oder eigentlichen Faunen auf. Dieß und
Aehnliches kann ein komiſches Genre genannt werden und entſpricht un-
gefähr der niederländiſchen Genremalerei; allein der Unterſchied iſt doch
ein unendlicher, wenn man bedenkt, wie hoch die Plaſtik ſelbſt dieſe
Stoffe ſtyliſirt und wie z. B. ſelbſt der barberin. Faun immer noch eine
vollkommene, eine göttliche Natur iſt. Die Komödie gab Stoffe zu man-
chem ſehr kecken Relief. Allein das Keckere mußte ſich nicht nur, gemäß
den Geſetzen einer Kunſt der greiflichen Form, auf dem Boden der Poſſe
[465] halten (vergl. Th. I, §. 188 ff.), ſondern konnte in ihn auch nicht die
Schärfe des Witzes und Humors einfließen laſſen, wie das Mittelalter,
ja ſelbſt die griechiſche Komödie als Poeſie und Mimik es that, ſondern
war überhaupt ein ſeltneres Wagniß und wird es auch bleiben. Die
„Raſerei des Pallagonia“ bleibt Raſerei und ſelbſt die anhängende Kunſt-
form, die Satyre, bringt es bei der Plaſtik nicht dahin, den beſondern
Zweig der Caricatur zu ſchaffen, wie die Malerei. Die franzöſiſchen
Chargen bleiben vereinzelte Curioſitäten.
Durch dieſe verſchiedenen Gebiete zieht ſich endlich ein Unterſchied hin-1.
durch, welcher auf einer Verbindung der bildenden Phantaſie mit der em-
pfindenden und im engſten Sinne dichtenden Phantaſie (vergl. §. 404)
beruht. Derſelbe tritt jedoch nur als eine erſte Andeutung auf, die ſich noch
keine feſte Geſtalt zu geben, alſo ebenfalls keine ſtehende Eintheilung zu be-
gründen vermag. Eine andere Weiſe der Miſchung zwiſchen dieſen Arten der2.
Phantaſie fällt theils mit den Unterſchieden der Compoſition und techniſchen Be-
handlung zuſammen, theils wird ſie wichtig für die Geſchichte der Bild-
nerkunſt.
1. Es muß nun der Theilungsgrund für die Zweige, der in §. 539
aufgeſtellt iſt und auf §. 404 zurückführt, aufgefaßt und der Deutlichkeit
wegen die Benennung der Zweige der Dichtkunſt vorausgenommen wer-
den: epiſch, lyriſch, dramatiſch. Die epiſche Poeſie iſt Ausdruck einer
Verſetzung der dichtenden Phantaſie auf den objectiven Boden der bil-
denden Kunſt, die lyriſche auf den ſubjectiven der Muſik, die dramatiſche
der intenſivſten Ergreifung ihres eigenen Bodens, des ſubjectiv-objecti-
ven. Gibt es eine epiſche Plaſtik, ſo iſt dieß Ausdruck des innigſten Ver-
weilens dieſer Form der bildenden Kunſt auf ihrem eigenen, dem objec-
tiven Boden, womit aber zugleich geſagt iſt, daß ſie ihn auch verlaſſen
kann, indem ſie bereits ſubjectiver beſeelt iſt, als die Baukunſt; gibt es
eine lyriſche, ſo iſt dieß eine Miſchung der bildenden Phantaſie mit der
empfindenden; gibt es eine dramatiſche, mit der intenſivſten Form der dich-
tenden. Aber gerade daraus, daß wir die deutliche Bezeichnung aus der
Poeſie entlehnen müſſen, geht hervor, daß es in der Sculptur einen ſol-
chen Unterſchied erſt in ſehr unbeſtimmter Weiſe geben, daß er ſich erſt
als eine zarte geiſtige Linie zeigen wird, die ſchwach an die Oberfläche
tritt, um die Concentrirung zu beſtimmtem Formen-Unterſchied erſt in einer
ungleich geiſtig durcharbeiteteren Kunſt-Gattung zu ſuchen. In der That
kann dieſer Unterſchied erſt da ein Zweigbegründender werden, wo mit
[466] jeder ſeiner Formen das ganze Verfahren in Anlage, äußerer Größe,
techniſcher Form ſich verändert, wie dieß eben in der Poeſie der Fall iſt.
Dennoch ſind die Anklänge merklich: epiſch im engern Sinn, innerhalb
des allgemeinen epiſchen Charakters der Bildnerkunſt, ſind alle plaſtiſchen
Darſtellungen, worin der Menſch als Naturkind in ſeinen anthropologi-
ſchen Unterſchieden, oder als Kind der Sitte, der Gewohnheit, als wir-
kend in Maſſen, überhaupt als zuſtändliches Weſen erſcheint. Epiſch iſt
der Affect ſelbſt des Charakters, ſofern nur ſein Thun mehr naiv, na-
tional iſt, in gemeinſchaftlichen Formen der Bildung und des Wollens
ſich ungetheilt bewegt, als zu der ſchneidenden Spitze der That in einem
tiefen Prinzipien-Conflict ſich zuſammenfaßt. Was das Verhältniß zu
der Kunſtform betrifft, ſo verbindet ſich das Epiſche vorzüglich mit dem
Relief. Lyriſch ſind ſolche Werke, worin die Bildnerkunſt, ſo weit ſie es
vermag, vertiefte Empfindungs-Momente irgend einer Art oder Einkehr des
Gemüths in ſich darſtellt: die ſinnenden Muſen, der träumeriſche Apollino, die
Abſchiednehmenden Ehegatten ſo vieler Grabſteine, die mehrfach vorhandene
tief elegiſche Reliefgruppe: Orpheus von Eurydice ſcheidend in der Un-
terwelt, die Amor- und Pſyche-Gruppe auf dem Capitol, die Ildefonſo-
Gruppe, Oreſtes und Elektra in Villa Ludoviſi; Beiſpiele, die wir zum
Theil in anderem Zuſammenhang ſchon angeführt haben. Dieſer Zuſam-
menhang war die Lehre von der Compoſition; dem Ausdruck der lyri-
ſchen Stimmung ſagt mehr die Statue, die Gruppe von nur zwei Fi-
guren, das quadratiſche Relief, als die figurenreiche Gruppe, das lang-
gezogene Relief und das Giebelfeld zu. Dramatiſch in verſchiedenen Stu-
fen iſt die Darſtellung eines ernſten, nicht blos kriegeriſchen, ſondern ſitt-
lichen, in ſcharfer Schneide des Moments ausbrechenden Conflicts, ſo-
wohl der That, als der Leiden, die daraus fließen. Unter den Kunſt-
formen entſpricht dieſer Aufgabe am meiſten die freie Sculptur, weniger,
doch immer noch das Giebelfeld, am wenigſten das Relief; auch die ein-
zelne Statue kann einen ſolchen Moment darſtellen, wie der vaticaniſche
Apollo, am meiſten aber findet dieſes Gebiet ſeinen Ausdruck in der rei-
cheren, geſchloſſenen Gruppe; der Laokoon und die Gruppe des farneſi-
ſchen Stiers gehören hieher; Giebelfeld: die Niobidengruppe. Es erhellt
jedoch aus dem Weſen der Bildnerkunſt, daß ſie nur vereinzelt und in
bedingter Weiſe dieſen Boden ſtraff ſpannender Bewegtheit betreten kann;
das Lyriſche iſt ebenfalls niedergehalten durch den weſentlich beſtimmenden
Ausdruck der Objectivität; das Epiſche bleibt der herrſchende Grundton.
2. Noch ſind zwei andere Weiſen, worin ſich die Grundbeſtimmende
Art der Phantaſie mit andern Arten verbindet, hervorzuheben. Dabei
handelt es ſich auch von jenen nähern Unterſchieden der Phantaſie, welche
innerhalb der bildenden auftreten und die großen Zweige derſelben,
[467] Baukunſt, Bildhauerei, Malerei begründen. Das Relief nämlich neigt,
wie wir geſehen, zur Malerei hinüber als Darſtellung auf einer Fläche,
in anderem Sinn, durch ihre Bewegtheit nämlich, die Gruppe, wiewohl
dieſe durch ihren Aufbau, ſowohl angelehnt im Giebelfeld, wie auch als
freie, in gewiſſem Sinn auch mehr architektoniſch iſt. Rein plaſtiſch iſt
die Statue; wo ſie als Karyatide, Telamon die Stelle der Säule ver-
tritt, iſt auch ſie natürlich wieder mehr architektoniſch. Dichteriſch dage-
gen kann man die große cykliſche Compoſition nennen. — Sieht man
nun aber nicht auf die bleibenden Unterſchiede, ſondern auf die geſchicht-
liche Entwicklung der Kunſt, ſo werden, abgeſehen von dieſen relativen
Uebertritten auf den Boden einer andern Kunſtweiſe, die einfach außer-
halb Lob und Tadel jederzeit beſtehen, Miſchungsverhältniſſe vor uns
auftreten, die eine ganz andere Beziehung haben, nämlich ſolche, worin
die Kunſt des taſtenden Sehens entweder rein auf ihrem eigenen Boden
bleibt, oder theils auf berechtigte theils auf unberechtigte Weiſe ſich auf
den Standpunct der meſſenden oder maleriſchen, oder auf den Stand-
punct der empfindenden, auch der dichtenden Phantaſie wirft und danach
den Styl in ganzen Perioden beſtimmt (vergl. §. 541). Es wird ſich
aber ſogleich zeigen, daß dieß nicht der einzige Hebel der geſchichtlichen
Bewegung iſt.
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 31
[468]
c.
Die Geſchichte der Bildnerkunſt.
Der Geſchichte dieſer Kunſt liegt als bewegende Haupturſache die ver-
ſchiedene Stellung der Glieder des Gegenſatzes: directer Idealiſmus und In-
dividualiſmus, Naturaliſmus zu Grunde. Der Gegenſatz zwiſchen einem mehr
architektoniſchen oder maleriſchen oder empfindungsvollen (auch dem Dichteriſchen
genäherten) und einem rein plaſtiſchen Style, der in dieſer geſchichtlichen Be-
wegung ebenfalls wirkt, fällt mit demſelben theilweiſe, nicht völlig zuſammen,
ebenſo der Gegenſatz von Würde und Anmuth. Mit dieſen Gegenſätzen der
Anſchauung und Behandlung geht ein anderer, der ſich auf die Gegenſtände,
nämlich auf den Grad der Ausdehnung über die urſprüngliche Stoffwelt bezieht,
Hand in Hand. Die Entwicklungsſtufen innerhalb einer Hauptperiode (vergl.
§. 531) wiederholen in verſchiedener Folge dieſe Hauptgegenſätze.
Sinn und Fruchtbarkeit dieſer Sätze kann ſich nur in der wirklichen
Verfolgung der Hauptmomente der Geſchichte der Sculptur erweiſen, die
übrigens kurz ſein wird, da dieſe Kunſt ſo beſonders entſchieden mit einer
geſchichtlichen Form der Phantaſie, dem claſſiſchen Ideale, zuſammenfällt,
daß die Darſtellung ihres Weſens bereits von ſelbſt zu einer Darſtellung
der griechiſchen Bildnerkunſt und einer Aufzeigung der Gründe geworden
iſt, warum ſie in den andern Hauptperioden der Kunſtgeſchichte nicht in
ihrer Reinheit ſich entwickeln kann. Hier iſt nur zu bemerken, daß der
erſte Satz des §. dem nicht widerſpricht, was über den ſchmalen Spiel-
raum des Individualiſmus und Naturaliſmus §. 416 geſagt iſt. Es han-
delt ſich um ein Maaß der Einlaſſung des Naturtreuen in Bewegung
und Formen, der Eigenheit individueller Charaktergeſtalt; gerade weil
dieſes Maaß ein ſehr feines, die Linie eine ſehr zarte iſt, entſtehen aus
ſcheinbar unbedeutenden Schwankungen die großen geſchichtlichen Unter-
ſchiede; iſt die Schwankung nur etwas zu ſtark, wird nur etwas zu viel
Naturwahrheit und Schärfe der Eigenform eingelaſſen, ſo läuft das Ge-
fäß über, d. h. die Reinheit der bildenden Kunſt iſt geſtört und nur ander-
weitige Momente rechtfertigen die ſo entſtandene Kunſtform als eine hiſto-
[469] riſch bedeutende, ſtyliſtiſch gültige. Umgekehrt werden wir es bei der Ma-
lerei finden: zu wenig Naturwahrheit und Schärfe der Eigenform ver-
letzt ihr Weſen. Wie ſich nun dieſer Hauptgegenſatz zu den weitern im
§. aufgeführten verhält und was mit dem theilweiſen Zuſammenfallen
u. ſ. w. gemeint iſt, das eben wird ſich in der wirklichen Geſchichte zeigen.
Zu der Bezeichnung: empfindungsvoller Styl fügt die Parentheſe: auch
dem Dichteriſchen genähert; ein Styl, der eine bedeutende, ſubjective,
der Muſik, der lyriſchen Poeſie verwandte Bewegtheit hat, wird mehr
oder minder auch in beſtimmterer Weiſe an die Dichtung, insbeſondere
das Drama, anklingen, was wir an einzelnen Stellen berühren werden.
Der Dualiſmus der orientaliſchen Phantaſie läßt keine reine Ent-
wicklung der Bildnerkunſt zu. Durch die Halbheit des Fortgangs von der
Symbolik zum Mythus fällt die urſprüngliche Stoffwelt außer und neben die
zweite und ebendaher entbehrt dieſe der Individualiſirung und wärmeren Natur-
nachbildung in Bewegung, Handlung, Ausdruck; poſitiv aber dringt in ſie das
Häßliche als unorganiſche Formenverbindung ein. Das Erhabene tritt als über-
triebene Herrſchaft des Coloſſalen, als Prunk in Darſtellung und Material auf.
Die Bildnerkunſt ſcheidet ſich nicht rein von der Baukunſt und verbindet ſich
grell mit der Farbe. Der Typus wird nicht überwunden; ſchwungvoller An-
klang reinen und hohen Styls befreit ſich nicht von den Härten und Ungeſchick-
lichkeiten, mit denen eine im rein äußerlichen Sinn höchſt vollendete Technik
ihn verbindet.
Alle dieſe Sätze fallen in die Hand, wenn man auf die geſchicht-
liche Darſtellung des Orients §. 343 ff. und das Bild ſeiner Weltan-
ſchauung §. 426 ff. zurückgeht und damit zuſammenhält, was über die
Architektur als diejenige Kunſt, auf welche dieſe Form der Phantaſie vor-
züglich angewieſen war, und ihren Charakter im Orient §. 578 ff. ge-
ſagt iſt. Sogleich findet nun ein Theil der Beſtimmungen des vorh. §.
ſeine geſchichtliche Erläuterung, ſo zwar, daß man zunächſt zwei derſelben
in ein beſtimmtes Verhältniß treten ſieht. Nämlich: die Aufgabe iſt, des
Naturwahren und Individuellen in das rein allgemeine Normalbild der
Gattung ſo viel aufzunehmen, als nöthig iſt, um ihm Lebenswärme und
Mannigfaltigkeit zu geben. Dieß iſt aber nicht möglich, wenn die Göt-
ter nur halb mythiſche Weſen, d. h. vorgeſtellte Menſchen, halb bloße
31*
[470]Symbole ſind. Da kann ſich kein Kreis von Götter-Individuen bilden,
die ſich durch Charakter-Ausdruck unterſcheiden und wahrhaft in Hand-
lung treten. Hiemit iſt von dem erſten Satz in §. 636 Anwendung ge-
macht: das direct Ideale und das Individuelle, Naturwahre können ſich
nicht zur Schönheit durchdringen. Nun nehme man die weiter unten fol-
gende Beſtimmung des §. 636 herauf, welche den Grad der Ausdehnung
über die urſprüngliche Stoffwelt als weiteres geſchichtliches Bewegungs-
Moment einführt, und halte ſie an die orientaliſche Phantaſie, wie die-
ſelbe von der Abſtraction des Abſoluten ſich mit voller Sinnlichkeit in die
Welt des Endlichen und Sinnlichen ſtürzt: ſo begreift ſich (vergl. auch
§. 428), daß neben den unbelebten, ſtarren Götterbildern eine reiche
Nachbildung des Thieriſchen, allgemein Menſchlichen (Genre) und des
Geſchichtlichen treten wird. Dieſe iſt es denn, die Alles übernimmt, was
dem Götterkreis an Individualiſmus und Naturaliſmus abgeht; ſie wird nur
deſto umfaſſender, deſto porträtſchärfer ſein, je weniger die Fülle der Nai-
vetät und die Deutlichkeit der Anſchauung ſich in das ideale Göttergebiet
ergießen kann. Nun ſind die Götter ohne menſchlichen Ausdruck und dem
Menſchlichen fehlt jener „Abglanz der rein idealen Natur“, den wir wie-
derholt gefordert haben; jene ſind conventionell, ideal im leblos ſtrengen
Sinne des Worts, Genre und Hiſtorie aber iſt überraſchend treu, natur-
wahr, bewegt, lebendig ohne Idealität; dieſer Stoff ſaugt jenem die Le-
benswärme, jener dieſem die höhere Seele aus, ohne ſie darum für ſich
zu gewinnen. Man erkennt alſo bereits eine beſtimmte Weiſe des Ver-
hältniſſes, in welches jene zwei Beſtimmungen des §. 636, nämlich die
über den Gegenſatz des Idealiſmus und Naturaliſmus, Individualiſmus
und die nachher aufgeſtellte über den Umfang der Ergreifung der ur-
ſprünglichen Stoffwelt, zu einander treten. So ſehen wir denn bei den
Aſſyrern, Perſern, Aegyptern neben Götterbildern, von denen wir
zunächſt nur das Negative ſagen, daß ihnen außer der Unterſcheidung
der Geſchlechter jede Mannigfaltigkeit der Lebensformen abgeht, daß man
kaum die Altersſtufen erkennt, daß jede nähere Beſtimmtheit durch das
Attribut erſetzt wird, daß keine fühlende Seele ihre unbewegten, ewig
gleichen Züge belebt, eine reiche Plaſtik, namentlich in Reliefform, ſich
ausbreiten, welche das thieriſche und das menſchliche Leben in den mannig-
faltigſten Formen: Geſchäfte des Landbaus, Gewerbes, Spiel aller Art,
Jagd, Krieg, Rechtspflege, Triumphzug, Anbetung des Königs, Got-
tesdienſt mit der friſcheſten Naivetät, Lebendigkeit, Feuer, ſcharfem Auge
auffaßt, die Phyſiognomien verſchiedener Völker, die Formen der Lebens-
alter, Geſchlechter ſammt Eunuchen, Luſt und Leiden, die eigenthümliche
Körperbewegung in allem Thun, ja Individuum von Individuum durch
ſichtliche Porträtzeichnung kenntlich unterſcheidet: die Paläſte, Gräber,
[471] Tempel ein reicher Teppich, der eine bunte, wimmelnde Welt vor uns
ausſpannt; aber während Rumpf, Hand, Fuß lebt, Haltung und Bewe-
gung auf das Feinſte belauſcht iſt, iſt der Geſichtsausdruck immer der
gleiche; es iſt Copie des Lebens ohne Idee, ohne das Gefühl, daß es
der Nachbildung nur dann werth iſt, wenn der Künſtler ſeinen Vollge-
halt in die einzelne Erſcheinung zu legen weiß; ein reiches Genre ohne
Geiſt. Viele Darſtellungen ſind geſchichtlich, aber die Geſchichte erhebt
ſich nicht zu ihrer Würde, ſondern bleibt Chronik, bildlicher Erſatz für
die Buchſtabenſchrift. Man hat in Aegypten noch neuerdings eine Menge
ganz naturaliſtiſcher, überraſchend charakteriſtiſcher Werke der Plaſtik auf-
gefunden, wie man ſie neben den conventionellen Götterbildern gar nicht
für möglich halten ſollte. Mit beſonderem Verſtändniß und mit der naiv-
ſten Beobachtung ſind bei Aſſyrern, Perſern, Aegyptern namentlich auch
die Thiere aufgefaßt. — Nun aber äußert ſich die Symbolik, wie ſie auf
halbem Wege zum Mythus ſtehen bleibt, im Götterbilde auch poſitiv als
Häßlichkeit, vergl. §. 427 Anm. 2.: menſchliche und thieriſche Organe
werden verbunden, menſchliche vervielfältigt, gerade das Menſchlichſte am
Menſchen, das Haupt, wird mit Vorliebe dem thieriſchen geopfert, wäh-
rend der Grieche in den halbſymboliſchen Weſen, die er beibehielt, nie
das Haupt, nur untergeordnete Organe mit thieriſchen vertauſchte. Die
Fratze iſt im Orient allgemeines Vorrecht des Gottes. — Die Vergröße-
rung über das natürliche Maaß haben wir in §. 609 als wohlbegründet
im Weſen der Bildnerkunſt, doch das eigentlich Coloſſale nur unter ge-
wiſſen Bedingungen als berechtigt erkannt; der Orient, aus dem ſchon in
§. 430, 2. ausgeſprochenen Grunde, liebt die Coloſſe ohne beſonderes, in
der Aufſtellung gegebenes Motiv und der quantitative Ausdruck für das
qualitativ Bedeutendere (vergl. §. 626) tritt insbeſondere in der Rieſen-
geſtalt der Könige als geiſtloſe Verwechslung der innern Würde mit blo-
ßer Würde des Standes auf. Der Prunk ſtatt wahrer Erhabenheit wirft
ſich theils auf die Darſtellung, theils auf ihr Material. Bei den Göt-
terbildern iſt die erſtere Form der äußern Pracht ſtatt des Ausdrucks in-
nern Adels ſchon dadurch motivirt, daß den fehlenden Ausdruck um ſo
mehr äußere Zugaben der Bezeichnung erſetzen müſſen: reicher Schmuck
und Putz aller Art; wo die Götter meiſt nackt oder in engen Gewändern
gebildet ſind, in Aegypten, wenigſtens reicher Kopfputz; bei den menſch-
lichen Darſtellungen ergibt ſich dieß ſchon aus der Prachtliebe des orien-
taliſchen Lebens. Die andere Form ſucht abſichtlich die Schwierigkeiten
auf, welche hartes Urgeſtein, Baſalt, Granit, Porphyr u. ſ. w. darbie-
tet, prunkt mit dem Sieg und mit dem Stoff an ſich, anderswo mit edlen
Metallen, Goldblech über einem hölzernen Kern u. ſ. w. Erzguß dage-
gen iſt nicht ausgebildet. Wie der vorzügliche Beruf der ſymboliſchen Phan-
[472] taſie zur Baukunſt das Werk der Plaſtik zu dieſer herüberzieht, vgl. §. 578,
Anm. 2. Dieß Hinüberſchwanken der Architektur in die Plaſtik iſt ebenſo-
gut auch als Hinüberſchwanken dieſer in jene zu faſſen; ſchon die Herr-
ſchaft des Coloſſalen, die reihenweiſe Aufſtellung iſt architekturartig, das
Ueberwuchern des Relief, namentlich des ganz flachen, verſenkten (vergl.
§. 611) ebenfalls ein Ueberfluß des Anſchluſſes an die Baukunſt; die
Sculptur liebt es aber durchaus, auch ihr ſelbſtändigeres Werk an Pfei-
ler, Säulen zu lehnen, wo ſie es nicht wirklich ungetrennt aus Einem
Materialſtück mit dieſen beläßt oder zudem kraus mit dem Ornament
verſchmelzt, wie die indiſche Pagode; ja ſie ahmt die primitive Baukunſt
nach, die den natürlichen Fels behaut, wie in der coloſſalen Sphinx von
Ghizeh. Weist dieß Verwachſenſein zweier Künſte bereits auf die unent-
wickelte Einheit der Kräfte im orientaliſchen Leben hin, ſo klebt nun die
Sculptur auch mit der Malerei zuſammen, die freilich ſelbſt wieder nur An-
ſtrich iſt, alſo bloßer Architektur-Bemalung nahe liegt; denn die Poly-
chromie beſchränkt ſich nicht auf bloßen Ton, ſondern überzieht alles Bild-
werk mit ungebrochenen Farben, insbeſondere aus ſymboliſchen Gründen
das Götterbild; die Koilonaglyphen aber ſind an ſich ſchon in engerem
Sinn maleriſch, als das eigentliche Relief, das zwar auch in Aegypten
neben ihnen auftritt; dieſe Wandüberkleidung iſt, wie nach der einen
Seite architektoniſch, nach der andern in ihrer Buntheit eine Reminiſcenz
der Teppichweberei und Stickerei. — Mitten in dieſen Schranken fehlt
es zwar nicht an jenem großen Zug der Linie, an jenem Schwunge, der
den Styl bildet, aber es bleibt bei Anſätzen, ſie können nicht durchdrin-
gen; das Harte, Schüchterne, Kindiſche, Linkiſche, Willkührliche wird,
zwar ohne förmliches Prieſterverbot, durch die Scheue feſtgehalten, die
eingelaſſene Freiheit des ſubjectiven Lebens in Stoff und Künſtler möchte
zur Frivolität führen: eine ächt, ſtreng religiöſe Kunſt. So bleibt z. B.
in Aſſyrien und Perſien die Seitenſtellung der Füße bei Vornſtellung
des Geſichts im Relief, in Aegypten die durchgängige bloße Profilſtel-
lung, alſo die Unkenntniß der Verkürzung und ſomit überhaupt der Per-
ſpective, ſo daß eine vertieft darzuſtellende Mehrheit von Figuren in
Reihen übereinander tritt, bei allen betheiligten Völkern die ängſtliche
Regelmäßigkeit in Behandlung gewiſſer kleinerer, dünnerer, feinerer Ein-
zelformen wie Haare, Federn, Kleider-Falten: eine kindliche, auch wie-
der an die Architektur erinnernde Ueberſtrenge in der an ſich allerdings
nothwendigen Styliſirung dieſer Dinge. Die Technik iſt alſo die nicht
völlig beſeelte; nicht an der gemeinen Technik fehlt es: die Ungeſchicklich-
keit des Kinderſtandpunktes iſt mit der größten Geſchicklichkeit fixirt und
der Meißel nur zu bewundern. Alſo hier im Grund eine weitere Form
des Dualiſmus: Geiſt und Technik fallen auseinander.
[473]
Eine Ausnahme von der Trennung beider Stoffwelten machen die In-
dier; Leben und Bewegung tritt daher hier in das Götter-Ideal ſelbſt ein;
unter den weitern Gegenſätzen des §. 636 fällt ihrer Plaſtik in gewiſſem Sinne
die Anmuth und das Maleriſche, den Aſſyrern, Perſern, Aegyp-
tern dagegen das Architektoniſche und die Würde zu; bei den Letztern herrſcht
mehr das ſtreng Gemeſſene der Proportion, bei den Aſſyrern und Perſern die
Kraft des Muſkels.
Den Indiern ging in dem knochenloſen Pantheiſmus ihrer traum-
haften Phantaſie die urſprüngliche Stoffwelt grenzenlos in die zweite über;
hier kann von jenem Auseinanderfallen nicht die Rede ſein. Knochenlos
iſt aber auch ihr Styl. Davon nachher; wir kehren die Folge des In-
halts des §. zunächſt um und führen den herben Styl zuerſt auf, weil dem
Weſen nach in der Plaſtik das Harte und Feſte das Erſte und zu Grund
liegende iſt. Der aſſyriſch-perſiſche und ägyptiſche Styl berechtigt zur ge-
meinſchaftlichen Befaſſung unter den Begriff der Würde. Bei den Aegyp-
tern ruht ſie zunächſt in der faſt völligen Bewegungsloſigkeit der Statue,
bei den Aſſyrern und Perſern in der gravitätiſchen Feierlichkeit, dem ge-
haltenen tenor der Bewegung, ſelbſt der ſtärkeren im Streite, nament-
lich aber der hier beſonders beliebten Prozeſſionsbewegung. Wir ver-
gleichen dabei freilich verſchiedene Stoffe, denn dort handelt es ſich
namentlich von Götter-Statuen, hier, bei der ungleich ſparſameren, in
ſymboliſchen Thieren und phantaſtiſch halbthieriſchen Menſchengeſtalten be-
ſtehenden Mythologie, vorherrſchend von der Darſtellung des Menſchen,
namentlich des Königs und ſeiner Verehrung, ſeinen Handlungen und
Zerſtreuungen, die nicht in Statuen, ſondern in Reliefs auf uns gekom-
men iſt; allein der Kunſtcharakter liegt in den angegebenen Zügen. In
der ernſten, todtenhaften Ruhe der mit angeſchloſſenen Armen und knapp
zuſammengeſtellten Beinen thronenden oder mit einem Beine kaum merk-
lich vorſchreitenden, den Kopf ſteif gerade haltenden Geſtalten der ägyp-
tiſchen Kunſt ſehen wir nun zugleich mit geometriſcher Strenge die Pro-
portion durchgeführt, dagegen die Muſkel an der ſchlanken Bildung nicht
ausgeſprochen; es herrſcht das Grundgerüſte, alſo das Architektoniſche.
Von den weitern Gegenſätzen, die §. 636 aufführt, tritt alſo hier mit
der Würde ein in ſpeziellerem Sinn architekturartig auffaſſender Styl zu-
ſammen und zwar vorzüglich in dem conventionell idealen Kreiſe, der
das Individuelle und Naturaliſtiſche ausſchließt, den Götterbildern. Da-
gegen füllt ſich das Gerüſte in den breiteren, volleren Formen der kräf-
[474] tigen Männergeſtalten Aſſyriens und Perſiens, die Organe der Hand-
lung und Bewegung, Arm und Bein, werden höchſt gewaltig mit ſchar-
fer Angabe der Muſkel, auch der Gelenke, namentlich des Knies, gebil-
det. Es iſt dieß in gewiſſem Sinn immer noch architektoniſch, verglichen
mit dem oberſten der Gegenſätze in §. 636 ein erſter Schritt nach dem
Naturaliſtiſchen hin, doch nicht nach dem Individuellen, denn dieſe Be-
handlung kehrt in conventioneller Gleichheit des Styles wieder. Alle
dieſe Völker bilden nun in ihrem plaſtiſchen Styl einen vollen Gegenſatz
gegen die Indier. Hier herrſcht in der Bildung der Geſtalt an ſich die
Welle des Runden, alſo eigentlich die Fettbildung, die Knochengerüſt und
Muſkel fließend überkleidet; wie ſehr das Weiche geſucht wird, zeigt ins-
beſondere die ſchlanke Hüfte und das breite Becken der weiblichen Geſtalt.
Man kann dieſen Charakter des Runden, Wellenförmigen, Weichen als
Anmuth beſtimmen, wenn man vom tieferen Weſen derſelben, das im
Seelen-Ausdruck ſich offenbart, abſieht; doch liegt auch ohne dieſen im
edlen Fluſſe der Formen ein Reiz, der nicht blos ſinnlich iſt, und zudem
fehlt das Spiel der Bewegung nicht. Im ruhigen Stande iſt ſchon die Mannig-
faltigkeit der Contraſte vorhanden, der Kopf zur Seite geneigt, die Arme ge-
löst, die Hände natürlich zufällig hängend oder ſpielend, die Hüfte nach einer
Seite ausgebogen und auf den einen Fuß geſtemmt, während der andere
ruht; ſelbſt die Verkürzung iſt hier verſtanden: die Füße ſind nicht bei
Vornſtellung des Geſichts nach der Seite geſtellt; nun tritt aber auch eigentliche,
entſchiedene, ſtarke Bewegung auf, die Götter, Genien, Geiſter ſind im
herrſchenden Hautrelief in leidenſchaftliche, phantaſtiſche Handlung geſetzt,
es ſtellt ſich dabei mehr Compoſition, eine Ahnung ſchönerer Gruppen-
bildung ein; aber die Bewegung hat keinen innern Halt, weil Knochen,
Sehne, Muſkel hinter dem Weichen verſchwindet, und man meint, die
Figuren wollen die Glieder von ſich werfen. Man erkennt in dieſer auf-
löſenden Atmoſphäre einen Zug zum Maleriſchen und Empfindungsvollen;
zugleich iſt durch dieſe wärmere Bewegtheit in das Ideale etwas Natu-
raliſtiſches eingedrungen und in gewiſſem Sinn dieſer Gegenſatz ſammt
dem des leblos Göttlichen und belebten blos Menſchlichen gelöst, aber
das Individuelle fehlt auch hier und der letzte Gegenſatz iſt ja nicht ver-
mittelt, ſondern verſchwemmt, denn wir haben geſehen, daß der göttliche
und menſchliche Kreis zwar ineinander ſcheinen, aber doch auseinander-
gehalten ſein ſollen (§. 630). — Der §. hat das Indiſche wegen des
Charakters urſprünglicher Unterſcheidungsloſigkeit, der in der ganzen Welt-
anſchauung liegt, vorangeſtellt; geſchichtlich ſtellen die drei geſchilderten
Style keinen innern Verlauf dar; der indiſche ſteht für ſich, der aſſyriſch
perſiſche und der ägyptiſche ſind verwandt, doch ohne tieferen gegenſeiti-
gen Einfluß. Daher ſehen wir lauter Einſeitigkeiten: der Weichheit fehlt
[475] die Kraft, der Kraft die Weichheit, der geometriſch ſtrengen Gemeſſenheit
fehlen beide. Soll wahre Kunſt entſtehen, ſo muß Ein Volk dieſe Rich-
tungen in natürlicher Folge ausbilden und dann vereinigen: mit dem fe-
ſten Maaße beginnen, die kräftige Beſtimmtheit der einzelnen Formen hin-
zufügen und endlich Alles mit Weichheit überkleiden, ſo, daß alle dieſe
Momente zu einem concreten Ganzen zuſammentreten, aus deſſen reifer
Fülle der geiſtige Ausdruck auftauchen kann.
Die griechiſche Phantaſie war eine ſo entſchieden plaſtiſche, daß die
Darſtellung des Weſens der Bildnerkunſt mit der Darſtellung ſeiner geſchichtli-
chen Erſcheinung bei dem griechiſchen Volk in einer Weiſe zuſammenfällt, welche
der Zukunft faſt keinen weiteren Entwicklungsſtoff übrig ließ. Die griechiſche
Plaſtik wägt dem Ideale ſo viel Individualiſmus und Naturaliſmus zu, als
es erträgt, vereinigt Würde und Anmuth und unterſcheidet deutlich zwei Kreiſe,
einen göttlichen und einen menſchlichen, die aber lebendig ineinander übergehen.
Was ſich in der ganzen Lehre von der Bildnerkunſt auf jedem
Schritte aufgedrängt hat, iſt hier endlich ausdrücklich herausgeſtellt. Man
vergleiche, was vom Leben der Griechen §. 348 — 351 geſagt iſt, und
faſſe dann dieſe reale Grundlage mit der ganzen Darſtellung des claſſi-
ſchen Ideals der griechiſchen Phantaſie §. 434 ff. zuſammen, ſo erſcheint
die nun entwickelte Lehre vom Weſen der Bildnerkunſt nur wie eine Ueber-
ſetzung jener auf ſo abſolut günſtiger Grundlage aufgeblühten Weltanſchauung
der Griechen in eine wirkliche Kunſtform, oder umgekehrt der Begriff die-
ſer Kunſtform mußte bei jenem ſo beſchaffenen, ſo anſchauenden Volke
ſeine wahre Wirklichkeit finden. Der wahre Fortſchritt vom Symbole
zum Mythus, der dem Menſchen vertraute, auf Grundlage einer Natur-
bedeutung ein höchſtes Sittliches in ſich lebendig darſtellende Gott, der
Kreis der Götter-Individuen, die Genien- und Heroenwelt, wodurch
ſich dieſer Kreis leicht und flüſſig an die urſprüngliche Stoffwelt knüpft,
die frei äſthetiſche Ueberwindung des Typus, die nun erſt wahrhaft im
Gebiete der menſchlichen Schönheit heimiſche Idealbildende Phantaſie, das
Geſetz, daß hier die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, das ſich
(§. 437) zunächſt allgemein aus dem ächt mythiſchen Standpuncte
ergab, die muſterhafte Einheit von Inhalt und Form, wie ſie ſchon
dem innern Bilden eines ſolchen Volkes eigen ſein mußte: alles dieß be-
gründete uns die Beſtimmtheit dieſer Phantaſie als einer taſtend ſe-
henden (§. 439), wodurch bereits das Geſetz, daß in dieſem Ideale die
einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, ſeine nähere, doch erſt pſychologiſche Be-
[476] ſtätigung erhielt und ebenſo der Satz ſich herausſtellte, daß der herrſchende
Standpunct das einfach Schöne ſein werde. Die Gegenſätze nun, die
wir in §. 636 als die treibenden Reize der Geſchichte der Plaſtik aufge-
führt haben, erſcheinen durch die wirkliche Darſtellung jenes Ideals
in dieſer Kunſt als gelöst in einer Weiſe, die nicht übertroffen werden
kann. Es iſt uns aus der Reihe derſelben jetzt der zweite an die Spitze
getreten: der Gegenſatz zwiſchen einem mehr architektoniſchen oder mehr
maleriſchen, empfindungsvollen und einem rein plaſtiſchen Style. Der
griechiſche iſt rein plaſtiſch und hat vom Architektoniſchen, Maleriſchen,
ſubjectiv bis zum Dramatiſchen hin Bewegten eben nur ſo viel, als je-
derzeit und nothwendig im Unterſchiede gewiſſer Zweige liegt (vergl. §.
635). Damit iſt aber zugleich gegeben, daß eben die Griechen genau jene
feine Linie treffen, bis zu welcher dieſe Kunſt in die reine Gattungs-
form das Individuelle und das Naturtreue einlaſſen kann, alſo iſt zu-
gleich der in §. 636 zuerſt aufgeſtellte Gegenſatz in ein reines Gleichge-
wicht aufgehoben. Ebenſo ſind die weiteren Gegenſätze zugleich aufgeſtellt
und gelöst: die Würde hat Anmuth und die Anmuth Würde; ferner: es
gibt neben dem reinen Ideale der Götterwelt ein Genre, eine Porträt-
bildung und einen gewiſſen Kreis geſchichtlicher Darſtellungen; aber nicht
iſt auf der einen Seite eine conventionell ſymboliſche Idealität, auf der
andern ungeiſtige Naturwahrheit und Individualität zu Hauſe, ſondern
das oft geſchilderte Band hält beide Welten flüſſig zuſammen und ge-
ſtattet namentlich dem Geſchichtlichen nur ſparſame Ausdehnung.
Werden hiemit die in §. 636 aufgeſtellten Gegenſätze im reinſten Sinne
gelöst, ſo treten ſie dennoch innerhalb der griechiſchen Bildnerkunſt ſelbſt in ein
wechſelſeitiges Spiel, deſſen Bewegung jene Entwicklungsſtufen des Styls be-
gründet, die jeder Kunſtperiode eigen ſind (vergl. §. 531). Im ſtrengen und
harten, zugleich noch typiſchen Style tritt neben ägyptiſcher Strenge und aſſy-
riſcher Kraft eine kindiſche Form der Anmuth auf, welche noch nicht die hö-
here Einigung jener Eigenſchaften mit der indiſchen Weichheit zeigt, wozu die
griechiſche Kunſt berufen war; die weitern Gegenſätze fallen noch auseinander.
Es verſteht ſich, daß jene Verſöhnung der Gegenſätze keine todte
ſein kann. Es iſt Bewegung im Gefäße, das flüſſige Ineinander der
Kräfte, das in ihm enthalten iſt, ſchwankt, aber es ſchlägt keine Welle
über den Rand. Dieſe bewegte und doch ſichere Beſchließung im Gefäße
der Einheit iſt aber am Anfang noch nicht erreicht. Wir haben die
Entwicklungsſtufen des Styls innerhalb der Kunſtperiode gerade an dem
[477] ſchlechtweg belehrenden Muſter der Geſchichte der Bildhauerei bei den
Griechen in §. 531 dargeſtellt und auf das tiefere Geſetz verſchiedener
Entwicklung und Durchdringung des Objectiven und Subjectiven zurück-
geführt. Jetzt iſt nur übrig, dieſe Stufen in Kürze concreter zu zeich-
nen; das tiefere Geſetz findet eben dadurch ſeine nähere Beleuchtung.
Die herbe Objectivität des ſtrengen und harten Styls gibt ſich nun zu
erkennen als die ägyptiſch architekturartige Gemeſſenheit in der ſtrengen
Proportion, bewegungsloſen Haltung mit feſt an den Leib geſchloſſenen,
nur langſam ſich löſenden Armen und ebenſo geſchloſſenen Beinen, deren
zunächſt nur eines zum mäßigen Vorſchritte ſich entſchließt; die aſſyriſch-
perſiſche Kraft in den überſtarken Muſkeln der gedrungenen Körper; die
Bewegung, wie ſie dann zuerſt gewaltſam eindringt im heftigen Sprung,
im Gang auf dem Ballen, haben Aegypter, Aſſyrer und Perſer in nicht
geringerem Feuer auch gehabt in ihren Darſtellungen aus dem menſchli-
chen Leben. Die ſteife Regelmäßigkeit in Anordnung und Behandlung
der Haare und Falten iſt ebenſogut orientaliſch, insbeſondere aſſyriſch-
perſiſch, und gehört zum Architekturartigen wie die noch unbelebte Sym-
metrie in Gruppen. Als beſonderer Ausdruck der noch mangelnden Ge-
ſchicklichkeit fehlt auch die Seitenſtellung der Füße bei Vornſtellung des
Kopfes nicht. Auch hier wird äußere Einwirkung des Styls jener Völ-
ker auf die Anfänge griechiſcher Kunſt nicht mehr bezweifelt. Die Grie-
chen hatten nun die Aufgabe, zu vereinigen, was im Oriente getrennt
blieb, alſo die ägyptiſche und aſſyriſch-perſiſche Kraft und Würde zu ver-
mählen mit der indiſchen Weichheit, Welle der Bewegung, Anmuth;
hierin jedoch mußten ſie ihren eigenen Weg gehen, auf dieſem Puncte iſt
nicht von wirklichen Einflüſſen, ſondern nur von einer innern Analogie
die Rede. So entwickeln ſie zunächſt noch gleichzeitig mit jener harten
Gemeſſenheit und gewaltſamen Kraft jene tänzerhafte, der Orcheſtik ent-
lehnte Grazie, jenes zierliche Anfaſſen der Gewänder mit den Finger-
ſpitzen u. ſ. w., einen erſten kindiſchen Verſuch der Anmuth, die, noch
neben der Härte und ebendarum ſelbſt noch hart, für ſich ihre erſten
Schritte wagt. Ganz merkwürdig iſt nun aber der Weg der allmählichen
Befreiung von dieſen unreifen Formen, die auch in Griechenland eine
fromme Scheu, ein Geſetz des Typus bewirkend, lange befeſtigt und
nach erreichter Reife für Cultuszwecke, zum Theil auch aus Manier, im
hieratiſchen oder archaiſtiſchen Style noch feſthält. Es erhält ſich nämlich
auf dieſem Wege der Befreiung bis zum letzten Schritte, der zwiſchen
die Aeginetengruppe und das Auftreten des Phidias fällt, ein doppelter
Dualiſmus. Erſtens: man wagt wie im Orient nicht, den Gott in
naturwahrer Lebendigkeit zu bilden, wohl aber den Menſchen; alſo
fällt der göttliche und menſchliche Kreis auseinander, jener bleibt im
[478] ſtarr conventionellen Sinn ideal, obwohl nicht oder nur kurz und ganz
vereinzelt im Sinn der ſymboliſch häßlichen Formenzuſammenſetzung wie
im Morgenland, dieſem dagegen fällt der Naturaliſmus zu. Zweitens:
man behandelt den Menſchen mit überraſchend ſcharfer, lebendiger Na-
turtreue, aber nur die Geſtalt, ausgenommen den Kopf; dieſer behielt in
allen Situationen das immer gleiche typiſche Lächeln und die gleiche Ge-
ſichtsbildung; alſo hier Naturaliſmus ohne Individualiſmus (wovon etwa
nur ſchüchterne erſte Verſuche der Porträtbildung auf Stelen und And.
eine Ausnahme machen). Die Götter haben weder Individualität (denn
die bloße Bezeichnung durch Attribute iſt keine), noch Naturtreue, die
Menſchenbilder dieſe ohne jene. Inzwiſchen erweitert ſich der Kreis der
Stoffe durch die Ausbildung einer Heroenwelt, wie ſie in dieſem Reich-
thum kein orientaliſches Volk hatte, und iſt ſo wenigſtens im Stoffe das
Zwiſchenglied zur flüſſigen Verbindung beider Welten gegeben. Das Co-
loſſale herrſcht von Anfang nicht in dem Uebermaaße wie im Orient und
die Löſung von der Baukunſt tritt früher und völliger ein.
Der hohe oder erhaben ſchöne Styl ſteht im Mittelpuncte des We-
ſens der Plaſtik; doch muß es eine reichere und freiere Ausbildung der An-
muth, des empfindungsvoll oder maleriſch Bewegten, des Tragiſchen und Ko-
miſchen und eine Erweiterung der Stoffwelt geben, die noch feſt am Bande
der bildneriſchen Schönheitsgeſetze bleibt: der einfach ſchöne, reizende und
rührende Styl iſt von demſelben noch gehalten, zieht aber eine naturaliſtiſche,
individualiſtrende, über die geſchichtlichen Stoffe ſich erweiternde, ſelbſtbewußte
Richtung nach ſich, welche die feine Linie überſpringt und der, in der römi-
ſchen Welt ſich vollendenden, Auflöſung des plaſtiſchen Styls, die zugleich
Rückfall in orientaliſche Formen iſt, das Thor öffnet.
Der Styl der ethiſchen Hoheit, wie ihn in Attika Phidias mit ſei-
nen Schülern Agorakritos und Alkamenes, im Peloponnes namentlich ein
Polyklet ausgebildet, iſt zu §. 531 in ſeinen Grundzügen ſchon dargeſtellt.
Seine Würde iſt keineswegs anmuthlos, ſondern jene „erhabene Gra-
zie“, wie ſie Winkelmann nennt; eine mäßige Neigung zum Coloſſalen
geht mit der vorherrſchenden Darſtellung der höchſten Götter-Ideale Hand
in Hand; das keuſche Maaß des Naturaliſtiſchen und Individuellen of-
fenbart ſich als jener „Duft der Belebung“, der alle Form herausführt
in die warme Fülle der Natur und ihrer ſüßen Nachläſſigkeit und doch
nie gemeine Natur, immer unendliche Natur vor uns enthüllt; das In-
dividuelle iſt insbeſondere in das Götterideal eingedrungen als Grundlage
[479] eines Kreiſes ſcharf und doch nie bis zur Verhärtung der einſeitigen Eigenheit
unterſchiedener Götterperſönlichkeiten. Neben der hohen Ruhe dieſes Ideals
breitet ſich die volle Bewegtheit der Handlung aus in Relief und Gie-
belgruppe; Schwung und Bewegung, in gewiſſem Sinn alſo das Male-
riſche kommt hier zu voller Entfaltung und die Compoſition iſt entwickelt
in dem Reichthum und der Geſetzlichkeit, wie ſie oben dargeſtellt worden
iſt. Die zwei Kreiſe treten auseinander, neben den göttlichen legt ſich
der rein menſchliche in Feſt-Aufzügen, Tänzen, Kämpfen, belebten Sce-
nen aller Art; Porträtbildungen treten auf und ſparſam wird neben ſei-
ner Stellvertretung durch das Sagenhafte der wirkliche Stoff der Ge-
ſchichte (z. B. in den Perſerkämpfen des Nike-Tempels) ergriffen. Nicht
im höchſten Sinne, dem des erhabenſten Götter-Ideals, wird der Styl
der Würde ausgebildet von den peloponneſiſchen Meiſtern; ſie wenden ſich
mehr dem menſchlich Starken in Heroen- und Athletenbildungen (auch
der Thierbildung) zu; ſo neben Polyklet (der nur durch ſeine Here jener
attiſchen Richtung angehört) namentlich Myron. Hier iſt nun nicht nur
der Stoffkreis erweitert, ſondern auch mehr Naturaliſmus, aber doch noch
von einer Strenge und Gewichtigkeit gehalten, welche den Charakter des
hohen Styls bewahrt. Bleiben wir bei unſerem öfters gebrauchten Bilde,
ſo erſcheint dagegen der Inhalt des Gefäßes im Style der Praxiteles
und Skopas, wie er zu §. 531 in ſeinen Grundzügen ebenfalls ſchon
geſchildert iſt, ungleich ſchwankender bewegt von reizendem, leichtem Wel-
lengekräuſel bis zur heftigſten Aufwühlung, die ihn aus ſeinem Becken
zu reißen droht. Die Vorliebe zum Aphrodite- und Apollo-Ideal zeigt
den Uebergang von der Herrſchaft der Würde zur Herrſchaft der Anmuth,
zugleich dringt aber Affect und Leidenſchaft in vorher ungekannter Stärke
ein, Werke wie die Niobidengruppe, die ſterbende Jokaſte von Sila-
nion erſchüttern das Herz in ſeinen innerſten Tiefen; mit der Welt
der Leidenſchaft wird auch die des Komiſchen entfeſſelt und knüpft ſich an
den dionyſiſchen Kreis. Aber die Anmuth hat noch Würde, der Götter-
kreis iſt das Herrſchende und Beſtimmende, die Leidenſchaft bewahrt den
Adel des innern Gleichgewichts, das Komiſche iſt zu plaſtiſcher Mäßigung
abgedämpft: Alles zu freierem Spiel entlaſſen und doch am Bande des
reinen Styls feſtgehalten, das Band ſehr verlängert, aber noch nicht zer-
riſſen. Dieſe Bereicherung, dieſe verſtärkte Bewegung iſt denn zugleich
eine innigere Verſetzung der bildneriſchen Phantaſie mit einer Beimiſchung
der maleriſchen, muſikaliſchen, lyriſchen, namentlich aber auch der dra-
matiſchen, und doch auch ſo betrachtet bleibt das rein plaſtiſche Gefühl
feſt auf ſeinem Boden ſtehen. Was nun die letzte, zunächſt noch ſtylvolle
und an die dritte Stufe ſich in engem Uebergang anknüpfende, dann all-
mählich abwärts führende Stylbildung betrifft, ſo ſind zwei Seiten an ihr
[480] zu unterſcheiden, von denen die zweite mitten in die Hauptfrage über
alle weitere Geſchichte unſerer Kunſt hineinführt. Die Hinwendung zu
jener Anmuth im engeren Sinn, die von der erhabenen Grazie als eine be-
ſondere Geſtalt ſich unterſcheidet und nach und nach in den falſchen Reiz
übergeht, die Entfeßlung eines Grads von Affect, der haarſcharf an der
Grenze des Plaſtiſchen hingleitet, zu einer bewußten, theatraliſch gemah-
nenden Beziehung auf den Zuſchauer (die bezeichnenden Werke vergl. zu
§. 531 S. 137) iſt die eine Seite. Nun aber iſt zugleich eine ganz ſpe-
zifiſche Erweiterung des Stoffes durch die Lyſippiſche Schule eingetreten:
der unmittelbar, in voller Nähe gegebene geſchichtliche Stoff iſt, neben
einem vielfältigeren Genre, in einem vorher unbekannten, als unzuläſſig
betrachteten Umfange in die Kunſt hereingezogen worden; den vielen Por-
trätbildungen, namentlich Alexanders d. Gr., ſo wie den Gruppen aus
ſeiner Geſchichte folgen dann weiter jene Keltenſchlachten der Schule von
Pergamon; dieß iſt die andere Seite. Wir ſehen dabei von der Schmei-
chelei ab, ebenſo vom Style, der zunächſt noch rein plaſtiſch, vergöttli-
chend bleibt und ſich dieſe Reinheit namentlich auch in der Fortbildung
des Herkules-Ideals bewahrt. Im Schluß der Anm. zu §. 531 durfte
in dieſer Wendung ebenſoſehr der Keim eines neuen, wie die Auflöſung
eines beſtehenden Ideals, erkannt werden, denn da handelte es ſich von
allen Künſten, und wiefern die Plaſtik hier aufhöre, muſtergebendes
Beiſpiel zu ſein, war nicht der Ort zu verfolgen. Jetzt aber, da wir das
Weſen dieſer Kunſt erörtert haben, leuchtet ein, daß in ihrem Gebiete
das ſtärkere Aufkommen des Genre, des Bildniſſes und der Profange-
ſchichte nicht auf ein neues, der Zukunft vorbehaltenes Ideal ſo hinaus-
deuten kann, wie wir bei der Malerei finden werden, wenn ſie ſich zwei-
mal am Schluß einer Hauptperiode, der antiken und dann der mittelal-
terlichen, ebenſo dem weltlichen Gebiet öffnet. An dieſer Frage nun hängt
die fernere Geſchichte der Bildnerkunſt; die Oeffnung nach dem weltlichen
Gebiete führt weiter und weiter bis zu dem götterloſen modernen Ideal:
kann in dieſem eine weſentlich Götterbildende Kunſt wie die Plaſtik eine
neue Blüthe oder nur eine Nachblüthe treiben, oder hat ſie überhaupt noch
Lebensfähigkeit? Nach Allem, was in der Lehre vom Weſen und den
Zweigen derſelben entwickelt iſt, können wir nun bereits ſo viel ſagen:
ſie wird noch leben können, aber nur mit Einem Lungenflügel. Das Ge-
fäß iſt jetzt übergelaufen: was noch darin iſt (Götterbildende Plaſtik, ſo-
fern ein Reſt von ihr im entgötterten Ideale möglich bleibt), iſt zu wenig,
und was hinausgeſprungen (profanmenſchliche, profangeſchichtliche), iſt nicht
mehr gefaßt. Es handelt ſich aber weſentlich zugleich vom Style. Mit
dieſem Hinausgreifen in die ſtreng realen Stoffe wird derſelbe natürlich
in die Länge nicht die Reinheit bewahren, die er in der Lyſippiſchen
[481] Schule noch hat, er wird in einem Grade individualiſirend und natura-
liſirend verfahren, der über die feine Linie hinausgeht, welche wir die-
ſer Richtung gezogen. Die Griechen auf heimiſchem Boden halten immer
noch treuer am Stylgeſetze, auch die Schule von Pergamon, wiewohl die
gute Zeit ſchwerlich jene barbariſchen Keltenphyſiognomien in ſelbſtändiger
Aufſtellung gewagt hätte. In Rom aber, nachdem ſchon der etruskiſche
Styl einen härtern Naturaliſmus und eigenthümliche Porträtartige Schärfe
gezeigt, greift, nachdem die Bildnerkunſt aus Griechenland nach Italien
verpflanzt iſt, der griechiſche und einheimiſche Künſtler nicht nur mit weit
offener Hand in die nächſte geſchichtliche Stoffwelt (namentlich ihre Kriegs-
geſchichte als Gegenſtand des Relief), ſondern läßt ſich in die Zufällig-
keiten der Natur, unedlere Culturformen und die Einzelnheiten indivi-
dueller Bildung in einem Umfang ein, der auch nach dieſer Seite Thür
und Thor weit hinaus über das reine Stylgeſetz öffnet. Wir haben ge-
ſagt, dieſe Entlaſſung auch der Formen vom ſtrengeren Bande werde na-
turgemäß mit jener Erweiterung des Stoffs eintreten; dagegen werden
wir im Mittelalter allerdings finden, daß ſich ein harter Individualiſmus
und Naturaliſmus trotz der faſt ausſchließlichen Herrſchaft mythiſcher
Stoffe ausbildet; da hängt aber die Sache überhaupt anders zuſammen;
für das Alterthum, das prinzipiell mythiſch anſchaute, war das
Ideal der Gottheit auch das Band des ſtrengen Styls und lockert ſich
erſt mit dem Nachlaſſe des Bandes auch dieſer. Für die neuere Zeit aber
trifft der Mangel eines Olymps und die Nothwendigkeit des Zugs zum
Naturaliſmus und Individualiſmus ſo zuſammen, daß das Fortleben der
Plaſtik gleichzeitig durch beide Urſachen in Frage geſtellt wird,
wofür dagegen aus anderweitiger Quelle eine gewiſſe beſchränkte Her-
ſtellung des idealen Kreiſes, zugleich eine Reſtauration des idealen Styls
und dadurch eine Mäßigung des Individualiſmus und Naturaliſmus er-
möglicht wird, welche die Lage dieſer Kunſt wieder günſtiger ſtellt, als
im Mittelalter. Das Alterthum aber hatte doch immer noch ſeine Göt-
ter und das Beſtehen des idealen Kreiſes ſammt dem Nachklang der An-
ſchauungsweiſe, die ihn geſchaffen, erhielt noch ſpät Reſte des reinen
Stylgeſetzes in Kraft, die den Künſtler mit einer gewiſſen Sicherheit führ-
ten; ſelbſt der Fettkopf eines Domitian iſt noch plaſtiſch antik behandelt
und ein Aeußerſtes, wie runzlichte alte Weiber mit hängenden Brüſten,
iſt ſelten. Die Ueppigkeit und die Mengung der Religionen führt erſt
den völligen Zerfall des plaſtiſchen Sinnes herbei, der zugleich Rückfall
in den Kindheitszuſtand der ſymboliſchen Formgemiſche, der Herrſchaft des
Coloſſalen, des Prunks mit koſtbarem Material und in die Virtuoſität
der bloßen Technik iſt.
[482]
Die Formen des Lebens und der Cultur im Mittelalter, die ganze Be-
ſtimmtheit der romantiſchen Phantaſie, welche daraus hervorging, führt mit
Nothwendigkeit zu einer Innerlichkeit des Ausdrucks, einem Grade des Indi-
vidualiſmus und Naturaliſmus, einer Auflöſung des Ideals, das allerdings eine
ausgebildete zweite Stoffwelt enthält, in eine geſchichtliche Vielheit von Geſtal-
ten, die aufeinander und auf eine umgebende Natur bezogen ſind, wodurch
die Geſetze des bildneriſchen Styls überſchritten werden, dagegen das Ma-
leriſche, das empfindungsvoll Bewegte, auch das Dichteriſche eindringt und der
Unterſchied eines weltlichen Kreiſes von dem göttlichen Kreiſe ſeine Bedeu-
tung und plaſtiſche Kraft verliert.
In den zwei Abſchnitten des zweiten Theils haben wir Alles bei-
ſammen, woraus auch hier das ſchon reife Ergebniß von ſelbſt abfällt.
Das Geſchichtliche in §. 354 ff.: die rohe, hart individuelle Form der
dieſe Weltperiode begründenden, auch den Völkern lateiniſcher Abſtam-
mung und Bildung ihr Blut und Naturell beimiſchenden germaniſchen
Nationalität bei tiefer Geiſtigkeit der Anlage, der innere Bruch im Bil-
dungsgange derſelben durch Aneignung ganz fremder Elemente: der alten
Bildung der römiſchen Welt, des Chriſtenthums, der fortdauernde Reſt
objectiver Lebensform mit dem aufblühenden Geiſte der Innerlichkeit zu
ſchillerndem Zwielicht verbunden, der Gegenſatz von Adel und Volk, Kirche
und Welt, die phantaſtiſch bunten Culturformen, — dieß iſt zunächſt eine
Stoffwelt, deren unplaſtiſche Natur gegenüber den in §. 615 geforderten
Vorbildern unmittelbar einleuchtet. Der Geiſt des Ideals, das die ſo
beſchaffene Welt ſich gebaut hat, iſt ein Geiſt der Innerlichkeit, vergl.
§. 450, daher des über die Form unendlich hinausgehenden Ausdrucks
§. 453, und dieß widerſpricht dem plaſtiſchen Stylgeſetze nach §. 605
und 624, ein Geiſt der in der ganzen Schärfe ihrer Beſtimmtheit als
berechtigt geſetzten Individualität, alſo der phyſiognomiſchen Behandlungs-
weiſe (§. 454), die ſich von den unplaſtiſchen Härten des umgebenden
Menſchenſtoffs nicht abwendet, und dieß iſt ſpeziell gegen das Stylgeſetz
§. 616. In dieſem Ideale muß nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön
ſein, theils weil das Auge von der Form zum tieferen Ausdruck fortgeht,
theils weil durch die Anerkennung jedes Individuums in der Berechti-
[483] gung ſeiner unendlichen Eigenheit eine Vielheit in das Kunſtideal einge-
führt iſt, deren Einzelne ſich in der Geſammtwirkung ergänzen (§. 455),
und das Häßliche, das hiedurch eindringt, löst ſich in neu eröffnete Tie-
fen des Erhabenen und Komiſchen auf (§. 457): Alles im vollen Gegen-
ſatze gegen §. 603. Das Aſcetiſche der Behandlung §. 456 kommt dazu,
die Härte der Formen zu vollenden. Aus dem Allem iſt ſchon in §. 458
der Schluß gezogen, daß das romantiſche Ideal vermöge ſeiner empfin-
dungsvollen Grundſtimmung architektoniſch, unplaſtiſch, maleriſch, lyriſch
ſei. Dieſes Ideal hat nun zwar noch einen Mythenkreis, aber es iſt
der Mythus einer Zeit, die eigentlich keinen mehr haben ſollte, vergl.
§. 447 — 449. Damit erklärt ſich, was in der Anm. zu §. 642 vor-
läufig geſagt iſt. Die tranſcendenten Geſtalten dieſes nachgebornen My-
thus ſind nämlich nicht wie die griechiſchen Götter, Halbgötter, Heroen
gefüllte Inbegriffe eines ganzen Lebensgebiets mit Einſchluß eines Krei-
ſes des Naturlebens, ſondern ſie gelten ganz wie empiriſch-hiſtoriſche
Menſchen, die in aller Bedingtheit des Lebens exiſtirt haben und exiſti-
ren. Die mythiſchen Weſen des claſſiſchen Ideals gelten auch als wirk-
lich athmend und lebend, aber doch iſt es nicht eigentlich trockener Ernſt
damit, ſie ſtehen mitten in den Lebensbedingungen über denſelben; es gibt
neben ihnen eine Geſchichte und Natur, und doch wieder nicht, denn je-
des von ihnen iſt das Ganze derſelben. Hier aber iſt es dogmatiſcher
Ernſt mit der Behauptung der geſchichtlichen Exiſtenz, es gibt eine Ge-
ſchichte und Natur neben den mythiſchen Weſen und dieſe ſind in ihre
ſirenge Bedingtheit hineingezogen, was ja ſogleich auf die maleriſche Behand-
lung, viele Figuren, umgebenden Raum und Hintergrund führt (vergl.
Burkhardt Andeutungen z. Geſch. d. chr. Sculptur Kunſtbl. des Morgenbl.
1848 Nr. 33. 35). Mit dieſer Auffaſſung im Sinne der Bedingtheit der
Exiſtenz iſt die naturaliſtiſche Behandlung, die ſich uns ſchon aus der
Anſchauungsweiſe dieſer Phantaſie überhaupt ergeben hat, auch in die
mythiſche Geſtaltenwelt eingeführt. Ueberblickt man dieſe, ſo macht der
Gott Vater eine Ausnahme, er kann nicht unter dieſe Auffaſſung treten,
iſt aber auch kein griechiſcher Gott, ſondern als abſolute geiſtige Einheit
des ganzen Kreiſes eigentlich plaſtiſch undarſtellbar; weil er aber doch
noch Perſon iſt, welcher conſequent andere Götterperſonen gegenüberſte-
hen müßten, nur daß die Conſequenz durch die Einzigkeit auch wieder
abgeſchnitten iſt, ſo wird er dennoch auch dargeſtellt, doch in der Plaſtik ſelten,
da ihr die Schwierigkeiten in dieſem Stoffe ſich beſonders aufdrängen müſſen.
Der heilige Geiſt iſt nur allegoriſch darſtellbar. Die Engel ſcheinen ſich
zu reiner plaſtiſcher Schönheit zu eignen, allein in dem Grade, in wel-
chem ſie feſte Geſtalt annehmen, kommt der Widerſpruch des Glaubens
an ſie mit der Allgegenwart Gottes zum Bewußtſein. In Maria liegt
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 32
[484]trotz der Aufgabe, tiefe Innerlichkeit der Seele darzuſtellen, vielleicht mehr
plaſtiſcher Stoff, als in irgend einer der Geſtalten dieſes Kreiſes, weil
ſelbſt das tiefſte Leiden in die Fülle ihrer Anmuth nicht den tiefen nega-
tiven Bruch wirft, wie in die männliche Natur. Ganz aber bewährt ſich
unſer Satz an der Vorſtellung vom Sohne. Chriſtus ſoll ganz Gott und
ganz hiſtoriſcher Menſch ſein. Beide vereinigten Seiten machen die Auf-
gabe unplaſtiſch, denn ein plaſtiſcher Typus kann nur entſtehen, wo das
Ganze der Gottheit blos mittelbar durch vollkommene Darſtellung eines
beſtimmten Moments aus der Fülle des Göttlichen zur Darſtellung kommt;
die ganze Menſchheit, die doch in einem empiriſch Einzelnen dargeſtellt
ſein ſoll, ſchließt zwar alle Vollkommenheit des Menſchen ein, aber eben-
falls jede Kraft der Einſeitigkeit, die zu einem Typus nöthig iſt, aus und
begreift zugleich alles Leiden des Menſchen, alle Bedingtheit, alle Ab-
zehrung des Sinnlichen, allen härteſten Naturaliſmus und Individualiſ-
mus in ſich. Wird Chriſtus als Heros in Fülle des leiblichen Daſeins
dargeſtellt, ſo iſt er heidniſch, im chriſtlichen Sinn ungeiſtig aufgefaßt;
wird er aſcetiſch, arm an Geſtalt, herb empiriſch dargeſtellt, ſo iſt er ein
unvollkommner Menſch und für die geiſtige Unendlichkeit des Ausdrucks,
wie ſie ſich dann in den vorzüglich ſprechenden Theilen anſammeln ſoll,
hat der Bildhauer keine zureichenden Mittel. Sind dennoch erhabene
und höchſt rührende Chriſtus-Geſtalten ausgeführt worden, ſo ſind dieß
Bilder eines tief leidenden und im Leiden großen Menſchen und daß die-
ſer Menſch der abſolute Menſch und der ganze Gott ſei, das iſt nur die
Vorſtellung, die der Zuſchauer hinzubringt. Der romantiſche Kreis hat über-
haupt wenig Typen: zu dem ſchwankenden der Geſtalt Chriſti noch die plaſtiſch
beſtimmteren der Apoſtel Petrus, Paulus, Johannes und einiger Propheten;
in der zugleich innerlich geiſtigen und geſchichtlich empiriſchen Anſchauung kann
ſich ein plaſtiſcher Typenkreis gar nicht verfeſtigen. Der tranſcendente Kreis iſt
aber unendlich reich, ja er hat gar keine Grenze, die ganze Welt fließt
ihm ohne Ende zu. Die Gottheit iſt in die Geſchichte eingetreten und
die Geſchichte löst ſich in der Gottheit auf. An die heilige Geſchichte
ſchließt ſich als vereinzelter beſonderer Einfallspunct des Göttlichen in die
Geſchichte die Legende, an dieſe theils vorbereitend auf das Chriſtenthum,
theils ſeinen Eindringungen untergebreitet die ganze Profangeſchichte, und
jeder fromme Menſch oder vielmehr Jeder, der nur irgend etwas From-
mes thut, die Kirche ſchützt und beſchenkt, vermehrt den unendlichen Ge-
ſtaltenkreis. Was nicht dem Himmel zufließt, ſtürzt der Hölle zu und
der Ausdruck der Innerlichkeit müßte hier zu einem Abgrunde des geiſtig
Furchtbaren werden, den aber der Bildner ja auch nicht geben kann. Der
Gegenſatz zweier Kreiſe, eines göttlichen und eines profanen, kann in
dieſer Auffaſſung kein fruchtbarer, kein Hebel intereſſanter Entwicklungs-
[485] kämpfe der Sculptur werden: kein Fortſchritt zu ſtärkerer Ausdehnung des
Genre, dann der Porträtbildung und des eigentlich Geſchichtlichen kann
hier verſchiedene Styl-Perioden ſcharf begrenzen, denn wenn der anfangs
ärmere tranſcendente Geſtaltenkreis mehr und mehr Stoff aus der Welt
anſetzt, ſo wird damit kein urſprünglich geſtellter Gegenſatz zwiſchen aus-
drücklich idealen und realer beſtimmten Naturen aufgelöst, indem jene von
Haus aus ja ganz empiriſch aufgefaßt ſind, und umgekehrt gibt es kein
weltlich Selbſtändiges, es gibt keine Geſchichte (vergl. dazu §. 451) oder,
wie man will, es gibt ſolcher zu viel. Dieß iſt genauer zu betrachten.
In Griechenland fällt ein Abglanz der Götternatur auf die rein menſch-
liche; die Sphären ſind getrennt und flüßig vereinigt. Im Mittelalter
ſcheint daſſelbe der Fall zu ſein, aber ſowohl die Trennung, als die Ver-
einigung hat einen andern, der bildneriſchen Schönheit ungünſtigen Sinn.
Sie ſind getrennt: die Welt ohne Gottheit iſt zu ſelbſtändig, iſt ſelbſtiſch,
gottverlaſſen in nichtigem Eigenſinn, muß erſt im Innerſten gebrochen
werden, iſt daher unſchön; das Göttliche aber abgeſehen von ſeinem Eintritt
in die Welt hat keine oder nur ganz ſchattenhafte Geſtalt. Sie ſind ver-
einigt: das Göttliche hat die Menſchengeſtalt mit ihrer ganzen energiſchen
Bedingtheit, allen Mängeln und Gebrechen angenommen und löst ſich
fortwährend in die Vielheit des ganzen Weltlebens ſammt ſeinen Zufäl-
ligkeiten und Häßlichkeiten auf; weder das Göttliche, wenn es in die Welt
ſich niederläßt, noch das Weltliche, wenn es in das Göttliche emporge-
rückt wird, wird dadurch plaſtiſch ideal. Beide Welten ſchillern inein-
ander, ſind eine die Doppelgängerinn der andern und weder leiht die
eine der andern Vollkommenheit des Fleiſches, noch die andere der einen
Fülle unmittelbaren, naiven Geiſteslebens.
Das Mittelalter bewahrt aber theils durch Ueberlieferung einen Reſt
antiken Formgefühls, welcher längere Zeit bei allen in ſeiner Kunſtgeſchichte
betheiligten Vöthern, fortwährend bei dem romaniſchen Volke der Italiener ſich
erhält; theils entwickelt ſich, nachdem jener Reſt in byzantiniſcher Härte und
Trockenheit erſtarrt iſt, bei den germaniſchen Völkern ein Styl, welcher die
erſtarrten Formen mit einer Seelen-Anmuth belebt, die zwar Ausdruck einer
vertieften innern Welt, aber immer noch naiv und in ſich gediegen iſt und ſich
mit weichen und flüſſigen Formen des Körpers und der Gewandung zu einer
allerdings noch plaſtiſchen Einheit verbindet. Mit einem folgenden weſentlich
verſchiedenen Style ſtehen dieſe Kunſtformen im Gegenſatz eines relativ mehr
rein plaſtiſchen, idealen, weniger weltlichen gegen einen mehr maleriſchen,
naturaliſirenden, individualiſtrenden, ſtärker in das Geſchichtliche übergreifen-
den Styl.
32*
[486]
Das Mittelalter bewegt ſich alſo doch auch durch die in §. 636 aus-
geſprochenen Gegenſätze, es ſind trotz dem im vorh. §. Aufgeſtellten noch
verſchiedene Proportionen, in denen die Styl-Elemente ſich miſchen, mög-
lich; aber wenn im Alterthum der Weg zu dem, was zuerſt die Lyſippi-
ſche Schule ausbildet, der Weg der Auflöſung ſeines Kunſtideals iſt, ſo
werden wir dagegen im Mittelalter das Umgekehrte finden: die zweite
Form, die der folg. §. zu ſchildern hat, widerſpricht zwar dem Prinzip
der beſondern Kunſtgattung der Plaſtik, entſpricht aber nur um ſo voll-
kommener dem Ganzen des romantiſchen Ideals. Vor uns liegen nun
zunächſt die Entwicklungsſtufen, die trotz ihrem bereits maleriſchen Cha-
rakter noch einen Reſt plaſtiſcher Idealität gemein haben: der altchriſtliche
Styl, wie er, aus den Anfängen blos ſymboliſcher Darſtellung, die den
Anfängen der Plaſtik im Orient entſprechen, ſich herausarbeitend von
den Reſten unmittelbar überlieferter claſſiſcher Form zehrt, ſeine Erſtar-
rung im Byzantiniſchen, dem doch eine gewiſſe Feierlichkeit und ſtatuari-
ſche Würde nicht abzuſprechen iſt, ſeine Neubelebung im ſogenannten ro-
maniſchen (Ende des zehnten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts),
dann die innigere Beſeelung in dem neuerdings ſo bezeichneten germani-
ſchen Style (bis in die erſten Jahrzehnte des vierzehnten Jahrhunderts).
Die zwei letztgenannten Style fließen aber faſt unmerklich ineinander über:
was man noch zum romaniſchen Style rechnet, hat bereits, wenigſtens in
Deutſchland, ſchon etwas von dem Ausdruck tiefer Seelenmilde, der mit
dem germaniſchen Styl eindringt, und die ſchlanken Geſtalten, die weiche
Haltung, Biegung, die langgezogenen, flüſſig runden Falten des letzteren
kommen umgekehrt aus jener Erfriſchung des Formenſinns durch An-
ſchauung der Antike und gleichzeitige Naturſtudien, wie ſie in Deutſchland
merkwürdiger Weiſe noch früher, als in Italien, eintraten, ſo Herrliches
in Wechſelburg und Freiberg im Erzgebirge leiſteten und den romaniſchen
Styl begründeten. Das Wichtigſte iſt, daß man in dieſem zu neuer, tie-
fer Innigkeit beſeelten romaniſchen Styl, den man den germaniſchen nennt,
nun die Probe geliefert ſieht, wie der Ausdruck der tiefſten Demuth und der
ganzen Welt der Affecte, die in §. 624 als eine ſubjectiv innerliche von
der Bildnerkunſt nach dem ſtrengſten Maaßſtab ausgeſchloſſen iſt, in einer
gewiſſen Einſchränkung doch noch ein plaſtiſcher Stoff ſein kann: nämlich
in Einſchränkung auf Affecte milder Art. Auch dieß wurde in §. 624,
Anm. 2. ſchon vorgeſehen. Es iſt die vollſtändige Hingebung an die Kirche
und die von ihr gebotene Geiſteswelt, die das noch ſtreng gebundene Mit-
telalter in dieſen weichen Zügen mit den ſeitlich geneigten Köpfen aus-
drückt, ein weibliches Seelenleben der Demuth; die Seele des Weibs
bleibt in völliger Hingebung der Liebe ruhig ſich ſelbſt gleich, füllt mit
dem Ich des Geliebten ihr eigenes in einem Gleichgewichte, das bei aller
[487] Innerlichkeit doch wieder Naturſtimmung, naiv und ſomit auch plaſtiſch
iſt: in dieſem Licht erſcheint hier die ganze Welt der Charaktere; ſie ha-
ben ihr Centrum außer ſich, aber in einem vollen Tauſch der Liebe wohnt
es ſich ihnen wieder ein; da iſt kein Eigenſinn, der erſt zu brechen, keine
rohe Kraft, die nicht ſchon ganz in die Gottes-Minne aufgelöst wäre.
Die Geſichtsformen ſind nicht die antiken, aber ſie ſind weich und ſanft
und wir haben zu §. 615, 2 vorbereitend ſchon angedeutet, daß es auch
eine Gediegenheit ſanfter Art bei zwar unregelmäßigen Formen geben
könne, die immer noch plaſtiſch ſei. Die fließende Gewandung endlich
thut noch namentlich das Ihrige, den einfach großen Linienzug der Um-
riſſe zu ſichern, den alle Bildnerkunſt fordert. So bewahrt denn dieſer
Styl noch eine plaſtiſche Idealität, die uns der Nothwendigkeit über-
hebt, alle die entſchuldigenden Rückſichten, welche bei den Verſtößen der
mittelalterlichen Bildnerkunſt gegen das plaſtiſche Stylgeſetz in Rechnung
kommen, ſchon hier geltend zu machen. — Die Italiener verharrten nun
zwar länger im byzantiniſchen Typus, erſt in der Mitte des dreizehnten
Jahrhunderts tritt Nicola Piſano auf, der durch liebevolles Studium der
Antike und Naturbeobachtung den Schritt vollzieht, der in Deutſchland
ſchon in jenen ſächſiſchen Sculpturen vollzogen erſcheint. Dagegen er-
kennt man in allem weiteren Fortgange, daß dieſes romaniſche Volk von
Haus aus etwas vom claſſiſchen Formgefühle bewahrt; der Ausdruck wächst
nicht zu der Innigkeit wie im ſog. germaniſchen Style, aber alle For-
men bilden ſich in claſſiſch gefühlter Weiſe durch und, was das Wich-
tigſte iſt, die Italiener gehen nicht in den grundverſchiedenen Styl über,
der jenem ſog. germaniſchen in Deutſchland folgt und vermöge ſeines In-
dividualiſmus und Naturaliſmus ſpezifiſch mehr maleriſch zu nennen iſt.
Das Maleriſche dringt bei ihnen zunächſt auf einem andern, nicht ſo
tief gehenden Puncte ein, auf dem es ſich zwar in Deutſchland auch
geltend macht: der nächſte §. wird denſelben aufzeigen. Wir haben alſo
den Gegenſatz eines reiner plaſtiſchen und mehr maleriſchen Styls in dop-
pelter Weiſe: er erſcheint als ein nationaler, worin ſich die Italiener und
die Deutſchen, doch vollſtändig erſt in der Kunſtweiſe der folgenden Pe-
riode, gegenüberſtehen, ſucceſſiv geſchichtlich dagegen durchlaufen ihn auch
die Deutſchen ſelbſt in ihrer Kunſtgeſchichte.
Im durchgebildeten ächt mittelalterlichen Style geht dieſe Anmuth zwar
nicht ganz verloren, wird aber zum bloßen Momente eines Ganzen, worin der
Individualiſmus und Naturaliſmus in dem nun erſt zu einer reichen geſchichtli-
chen Welt auseinandergezogenen Kreiſe des Ideals mit einer Härte, einer
[488] Entfaltung des Furchtbaren und Komiſchen, einer Eckigkeit der Formen, das
Maleriſche der Compoſition in perſpectiviſcher Behandlung des Relief mit einer
Beſtimmtheit herrſcht, welche auf den erſten Blick als bloße Manier und Ver-
irrung erſcheint. Allein nicht nur erhält ſich auch jetzt noch ein Reſt ſtatuari-
ſcher Würde und Gediegenheit, ſondern die ganze Kunſtgattung verzichtet durch
die Art ihres Anſchluſſes an die Baukunſt auf Selbſtändigkeit, ergänzt dieſe
in einem dichteriſchen Cyklus und bedeckt die harte Wahrheit ihrer Formen
durch völlige durchgeführte Polychromie, mit welcher die ornamentiſtiſche Hal-
tung des Ganzen wieder verſöhnt.
Der neue Styl tritt zuerſt in Flandern, hier bereits im vierzehnten
Jahrhundert, auf und iſt ohne Zweifel von hier in Deutſchland einge-
drungen. Das bunte Altarſchnitzwerk wurde niederländiſche Arbeit genannt
(vergl. Geſch. der deutſch. Kunſt v. E. Förſter Th. 2, S. 17). Dieſer Styl könnte
als gothiſch bezeichnet werden, weil man bei dem Gothiſchen doch vorzüg-
lich an das nordiſch Eckige, ſtachlicht Individualiſirte zu denken gewohnt
iſt. Wir haben uns bereits dagegen erklärt, daß er als Abfall vom Ideal
aufgefaßt werde. Der Zug des Mittelalters war ein anderer, als der
des Alterthums; was im Zuſammenhang antiken Entwicklungsganges Fall
war, iſt im Mittelalter Steigen. Freilich ſetzt dieß eine andere Kunſt-
gattung als das Bett voraus, worin das weſentlich verſchiedene Ideal des
Mittelalters ſeine Höhe erreicht: die Malerei; aber überall reißt die vorzüglich
herrſchende, das Ideal einer Zeit ausſprechende Kunſt die andern Künſte
mit ſich fort und in die Scharte, die dadurch den aus ihrem Weſen flie-
ßenden Stylformen geſchlagen wird, dringt verſöhnend und entſchädigend
eben jener Zug des Ganzen mit ſeiner hohen Berechtigung. In Grie-
chenland konnte die Malerei und Poeſie neben dem herrſchenden Zuge
zu plaſtiſcher Idealität keineswegs den Styl entwickeln, in welchem ſich
erſt die Fülle des Weſens dieſer Künſte zeigt, aber wir bewundern ſie
doch, weil wir vom plaſtiſchen Grundgefühle fortgeriſſen die Mängel der
Entwicklung mit der Vollkommenheit der plaſtiſchen Kunſt durch eine Ue-
bertragung decken. Das mild Schöne des anmuthigen romaniſch-germa-
niſchen Styls iſt übrigens in dieſem herben Style nicht geradezu ver-
ſchwunden; wir erinnern nur an Ein Beiſpiel, die herrliche betende Ma-
ria der Kunſtſchule zu Nürnberg, wo ſelbſt der weiche Faltenfluß nicht
fehlt. Auch in Chriſtusbildern dringen vereinzelt wieder ideale Bildun-
gen durch, im Ganzen aber herrſchen grobe nordiſche Körper- und Ge-
ſichtsformen, eckige Bewegungen und Falten, die Trachten der Zeit tre-
ten rückſichtslos neben den idealen Gewändern der höheren Typen auf,
der Künſtler greift nach den härteſten Zügen individueller Eigenheit, durch-
wandelt unplaſtiſch den Himmel und die Hölle der Affectenwelt des chriſt-
[489] lichen Gemüthslebens und ſprudelt mit oder ohne Satyre den tollſten
Humor aus, der namentlich auch die Thiergeſtalt, für deren normale For-
men dem Mittelalter in intereſſantem Gegenſatz gegen das ganze Alter-
thum der Sinn abgeht, zu phantaſtiſchen, meiſt ſymboliſchen Gebilden
verzerrt. Jene empiriſch geſchichtliche Vielheit, Hereinziehung der ganzen
Geſchichte A. und N. Teſtaments, Reichthum der Legende, Anknüpfung
der profanen Hiſtorie an die heilige, figurenreiche bewegte Handlung,
das Mitdarſtellen der ganzen Umgebung (§. 642) dringt jetzt erſt ein und
ſprengt das vorher noch geſchloſſenere, in Geſtalten ſparſamere Ideal
auseinander. Das Mitdarſtellen des Hintergrunds, der Umgebung fin-
det natürlich im Relief ſtatt und die unberechtigt maleriſche, perſpectivi-
ſche Behandlung deſſelben iſt jener in der Anm. zu §. 643 erwähnte
Punct, worin auch die Italiener ganz über das Plaſtiſche hinausgehen;
das Relief überſpringt denn ſeine Grenzen bis zur völligen Nachahmung
von Räumen, wo man in ein bewohntes Inneres hineinſieht. Vor Allem
nun iſt zur gerechten Würdigung dieſes Styls geltend zu machen, was
wir ebenfalls zu §. 415, 2. vorbereitend ſchon aufgeſtellt haban: rauhe,
harte, eigenſinnig individuelle Formen können noch plaſtiſch ſein, wenn
ſie Gewaltigkeit, wenn ſie die Gediegenheit des Mächtigen und Großen
tragen. Das Mittelalter bewahrt, auch in Deutſchland, aus den Zeiten
heidniſcher Naturkraft immer noch einen Zug vollwiegender, in ſich un-
getheilter, ungebrochener Menſchheit, der ſelbſt die Härte barbariſcher
Form plaſtiſch adelt; man ſehe nur z. B. die Großheit des Styls in
mehreren von Ad. Krafts Stationen zu Nürnberg oder den Kopf Chriſti
am Oelberge vor der S. Leonhardskirche in Stuttgart. Was durch dieſe
Großheit nicht entſchuldigt iſt — und es iſt wahr, daß ſie weder da,
wo ſie iſt, mit allen Härten verſöhnt, noch überhaupt allgemein hervor-
tritt, ſondern das deutſche Weſen auch hier neben dem Großen ungeſchickt
wahllos nach dem ganz Platten greift — das wird gedeckt zunächſt durch
die Beziehung zur Baukunſt. Ihrem Zuge folgt dieſe Bildhauerei viel
unſelbſtändiger, als im Alterthum: von der ſelbſtändigeren Aufſtellung an
den Façaden, in den Vorhallen zieht ſie ſich mehr und mehr in die Hohl-
kehlen der Portale, wo die Statuen von der Architektur ſogar in ſchiefe
Aufſtellung gedrängt werden, unter Baldachine, in Tabernakel an und
auf Strebepfeilern, Tragpfeilern, zwiſchen das Ornament der Chorſtühle,
Sacramentshäuschen, Lettner zurück und geht ſo im Zuge der architekto-
niſchen Bewegung als eine Art vollerer Sprache des Ornaments auf.
Vom Altare vorher von der Malerei verdrängt nimmt ſie als Schnitz-
werk einen Theil deſſelben wieder ein und liebt hier wie am Chorgeſtühl
und andern geſchützten Stellen das weichere Holz, womit der herrſchende
ornamentiſtiſche Charakter noch beſtimmter ausgeſprochen iſt. In dieſer
[490] Stellung, als eine verſtärkt ausblühende Ornamentik, wird ſie in neuem
Sinn maleriſch, nämlich eben als Blüthe einer an ſich ſchon in gewiſſem
Sinn maleriſchen Architektur; aber auch dichteriſch, indem ſic das Epos
der religiöſen Phantaſie noch beziehungsreicher, als im griechiſchen Tem-
pel, namentlich allerdings auch in den Zuſammenſtellungen der Statuen
am Portal mit dem Relief ſeiner Bogen-Füllung, entfaltet und aus-
ſpinnt. Einzelne Gebäude, wie der Campanile zu Piſa, geben die An-
knüpfung zu einem Ueberblick über die ganze Weltgeſchichte. — Iſt nun
der Styl der Bildnerkunſt hier an ſich ſchon ein maleriſcher geworden, ſo
iſt es nur natürlich, wenn die vollkommene Bemalung auch wirklich hin-
zutritt; die eckig harten Formen bedürfen hier der Farbe zu ihrer Milde-
rung, wie in Wirklichkeit eine intereſſante, aber nicht normal ſchöne Ge-
ſichtsbildung nicht ohne Farbe gefällt. In der Holzſchnitzerei iſt zudem
die Farbe ſchon durch die Trockenheit des Tons, den das Material hat,
nahe gelegt. Hier iſt es denn, wo das Bemalen bis in die Einzelnhei-
ten der Adern hinein völlig wie in der ſelbſtändigen Malerei durchgeführt
wird, in einem Umfang alſo, wie ihn die Alten niemals kannten. Den-
noch ſtellt ſich der geſpenſtiſche Eindruck der Wachsfigur (vergl. §. 608
Anm.) nicht ein: die viele Vergoldung, die Aufſtellung zwiſchen reichem
Ornament, der Glanz der Oelfarbe läßt es nicht zur geiſtlos unheimlichen
Illuſion kommen und was man raffinirter Abſicht der gemeinen Täuſchung
nicht verzeiht, ſieht man der Naivetät, welche die Künſte vermiſcht, bei
der übrigen Reinheit des Gefühls und Genialität gerne nach. Dieſe Ge-
nialität tritt z. B. in den Schnitzwerken der Syrlin in hoher Vollendung
hervor; es iſt hier ein Schwung, eine Wärme der Belebung, welchem dem
zwar in Formen reiner plaſtiſchen Styl der Italiener in ſelbſtändiger
Höhe gegenüberſteht.
Die reine plaſtiſche Form wird nach claſſiſchem Vorbild in Italien er-
neuert, zuerſt mit einem noch der mittelalterlichen Innigkeit angehörigen Aus-
druck naiver Anmuth, wobei das Maleriſche mehr nur in der Relief-Compo-
ſition (vergl. §. 644) ſich behauptet. Eine Verbindung dieſer gereinigten Form
mit einem gemäßigten charaktervollen Individualiſmus und Naturaliſmus tritt
[491] als Andeutung eines neuen Styls vereinzelt auf. Bald aber dringt das Ma-2.
leriſche in einem andern Sinn ein, nämlich als leidenſchaftliche Bewegtheit,
welche allmählig in eine aller plaſtiſchen Ruhe widerſprechende Manier der höch-
ſten ſubjectiven Aufgeregtheit bei völlig zerblaſen behandelten gemein natura-
liſtiſchen Formen, bald mehr im Sinne der falſchen Energie, bald des lüſter-
nen Reizes übergeht und von Italien aus, anfangs vorzüglich in decorativen
Anordnungen thätig, ſich allerwärts verbreitet. Neben der zweiten Stoffwelt
des Mittelalters und des Alterthums iſt es vorherrſchend die Allegorie, worin
ſich dieſe Manier bewegt.
1. Das reine Formgefühl, wie es ſchon um die Mitte des fünfzehn-
ten Jahrhunderts bei den Italienern ſich wieder entwickelt, iſt eine neue
Belebung jenes reiner plaſtiſchen Sinnes, den wir ſchon §. 643 in dem
Naturell dieſes Volks gefunden haben, durch die nun erſt mit vollen
Mitteln des Verſtändniſſes in ihrem wahren Weſen erkannte Antike. Das
ächt claſſiſch Plaſtiſche wird reſtaurirt: Renaiſſance. Bei einem Lorenzo
Ghiberti und Luca della Robbia tritt dieſes Gefühl in der ganzen rüh-
renden und lieblichen Jungfräulichkeit eines erſten warmen Wiederaufath-
mens hervor. Einen Zug naiver Innigkeit theilen dieſe Meiſter noch
mit der Zeit des ſogen. germaniſchen Styles. Dabei tritt jene maleriſche
Behandlung des Relief bei den Italienern allerdings gerade jetzt erſt in
ihrem ganzen Umfang auf, dafür entſchädigt aber die edle Grazie der
Figuren, nirgends mehr, als in den herrlichen Bronce-Thüren des L.
Ghiberti. In Deutſchland ſehen wir die erſten Spuren des Einfluſſes
der Italiener mit dieſem Zuge verbunden z. B. bei Veit Stoß; die claſ-
ſiſch gereinigten Formen treten nun aber da und dort in eine Miſchung
mit einem andern Zuge, dem männlichen, dem ſtark naturaliſtiſchen und
individuellen, der jetzt durch ſie gemäßigt wird, ohne daß er doch das
Maaß einhält, auf welches er in der Zeit der reinen antiken Bildner-
kunſt nach dem ſtrengen innern Stylgeſetze beſchränkt war. Dieſe Art
von Mitte zeigt ſich nirgends merkwürdiger, als in den Werken Peter
Viſchers; deutlich liegt der Einfluß der Italiener vor Augen, der aber
eine nordiſch beſtimmtere, charaktervolle Markirung des Natürlichen und
Individuellen nicht auszulöſchen vermocht hat. Vorzüglich am Sebaldus-
grab tritt dieſer Styl in den Apoſtelgeſtalten, dem kleinen Standbilde des
Künſtlers, noch mehr und beſonders lehrreich in den Reliefs auf. Das
Gänſemännchen von P. Labenwolf ſteht auch in der Linie dieſer Richtung.
Sonſt ſind es vorzüglich Monumental-Statuen, welche dieſen gereinigt
charakteriſtiſchen Styl darſtellen; auch in Italien finden wir ihn z. B. an
der Reiterſtatue des B. Colleoni in Venedig von Andrea del Verocchio.
Wir werden auf die Bedeutung dieſer Erſcheinung, auf die wichtige Styl-
[492] frage, die mit ihr gegeben iſt, zurückkommen. In der ſpäteren Renaiſ-
ſance fehlt es nicht an Werken, die in dieſer Richtung liegen, energiſchen
Ritter- und Landsknechtgeſtalten als Wappenhalter, Ehren- und Grab-
Monumente, ſelbſt der Rokoko hat noch ſchöne hiſtoriſche Büſten; allein
es bemächtigt ſich der ganzen plaſtiſchen Kunſtrichtung zunächſt ein an-
derer Zug.
2. Man blicke zurück auf die geſchichtlichen Formen des ausgehen-
den Mittelalters §. 362 ff., dann der erſten Geſtaltungen der neuen Zeit
§. 366 ff., die Entfeßlung des Individuellen, Subjectiven, die Jagd
wilder Leidenſchaften, welche darauf folgt, die geſchweiften, luftigen, be-
wegten Culturformen neben der noch nicht aufgegebenen hartſchaaligen
Ritterrüſtung; ſpäter, nachdem die centraliſirende Monarchie ihren mo-
dernen Thron in Frankreich aufgerichtet, den Sinnenkitzel der eiteln Auf-
klärung mit ſeinen Formen; man vergleiche dann die Geſtaltung der Phan-
taſie ſelbſt auf dieſen geſchichtlichen Grundlagen, die „empfindſam gereizte,
gewaltſam ſchwülſtige, ſubjectiv willkürliche“ Stimmung der Italiener zur
Zeit des reſtaurirten Katholizismus (§. 473), die völlige Ausbildung dieſer
Geiſtesform zur Effecthaſchenden Selbſtbeſpieglung und frivol galanten
Süßigkeit, wie ſie in Frankreich vollendet wird (§. 476) und auch mit
der Sentimentalität, die übrigens in Deutſchland in tieferer Bedeutung
reagirend auftritt (§. 477), ſich verbindet: dieſe Stimmungen reißen
denn nothwendig die Bildnerkunſt aus allem Gleichgewicht heraus. Frühe
ſchon gibt in Italien ein Donatello den gereinigten Formen etwas von
dem leidenſchaftlichen Wurf, welchen dann M. Angelo zu jener Ueber-
kraft, jener feurig bewegten „Hinwendung nach etwas außen Liegendem“
(vergl. Burkhardt a. a. O.) ſteigert, die bei ihm ſelbſt noch ſo genial
groß iſt, durch die Genialität ihre Verletzung des plaſtiſchen Styls recht-
fertigt, aber unnachahmlich doch zur Nachahmung reizt und die Manier
einleitet. Das Maleriſche iſt alſo jetzt in einer neuen Bedeutung eingedrun-
gen: neben erworbener Kenntniß der plaſtiſchen Form-Schönheit beherrſcht
es nicht mehr blos die Compoſition im Relief, ſondern als Affect den
Ausdruck und die Bewegung. Es iſt darin ein ſo bewußtes Wirken auf
Eindruck, daß man dieſe Erregtheit auch eine dramatiſche nennen kann,
und an die Poeſie iſt man überdieß dadurch erinnert, daß dieſe Plaſtik
namentlich decorativ auftritt; d. h. ſie folgt nicht mehr dem Zuge der Ar-
chitektur im Großen und Ganzen, dieſe iſt ja jetzt nicht mehr die gothiſche,
aber ſie ſchmückt mit ſinnreichen Anordnungen, Reliefs, zahlreicher Sta-
tuetten einzelne Theile derſelben, insbeſondere Grabmäler im Innern, und
ſucht darin eine cykliſch beziehungsreiche Einheit von wirklichen Darſtel-
lungen und allegoriſchen Beziehungen; dieß iſt nicht mehr ornamentiſtiſch,
ſondern eine freie, planmäßig überlegte Anordnung, wobei der Bildhauer
[493] auch das Architektoniſche, an das er dieſe Auszierung heftet, für ſeinen
Geſichtspunct ſelbſt componirt. Zur völligen Auflöſung aller plaſtiſchen
Geſetze wird die Manier des leidenſchaftlich Bewegten, dramatiſch Fort-
geriſſenen durch Bernini ausgebildet. Das plaſtiſche Gleichgewicht, die
Ruhe in ſich iſt rein weg, ein auswärts liegender Magnet ſcheint an
allen Enden auf die Geſtalt zu wirken und ſie aus ihrem Centrum herauszu-
wirbeln, auch in die Gewänder und in die Haare fährt es wie ein zerzauſen-
der, aufwühlender Wind. Eine beſondere Form, die neben dem heroiſchen
Auffahren herrſcht, iſt der Ausdruck ekſtatiſcher Verzücktheit, wie ihn über-
haupt der aufgeregte Katholiziſmus nach der Reſtauration pflegt. Neben
dem Schwulſte der falſchen Kraft wird nun aber auch die Süßigkeit und
der lüſterne Reiz der falſchen Grazie aufgenommen und zu einem Zweige
dieſer Nichtung ausgebildet. Daß die Formen an ſich, obwohl man ſeit
der Renaiſſance das plaſtiſch Schöne wieder erkannt hat, in dieſer Herr-
ſchaft der Manier ebenfalls aus Rand und Band gehen müſſen, erhellt
von ſelbſt; ein neuer Naturaliſmus dringt ein, nicht mehr der tüchtig herbe
des Mittelalters, ſondern ein gemeiner, vom zufälligen Modell entnom-
mener: „Bernini ſuchte Formen, aus der niedrigſten Natur genommen,
gleichſam durch das Uebertreiben zu veredeln und ſeine Figuren ſind wie
der zu plötzlichem Glück gekommene Pöbel“ (Winkelmann G. d. K. B. 2,
S. 43). Der Muskel wird zum aufgedunſenen Ballen, die erhitzte Ader
ſchwillt und wo das Weiche geſucht wird, zittert das ſchwammige Fett.
Dieſe Manier hat ſich wie der frühere Styl der noch tüchtigeren Re-
naiſſance von Italien aus vor Allem nach Frankreich verbreitet; hier
wird das Theatraliſche, was an ſich ſchon in ihr liegt, durch die den
Franzoſen ihrem Naturell nach eigene Richtung auf ſolchen ſeiner Wir-
kung ſelbſtgefällig bewußten Effect, hier beſonders auch das Süße und
der falſche Reiz auf ſeine Höhe getrieben. An bedeutenden Talenten,
die innerhalb der Verirrung Geniales leiſten, fehlt es jedoch weder hier,
noch in Deutſchland, wohin dieſe Formen, wie über Spanien und Eng-
land, ſich verbreiten (Schlüter). Was nun die Stoffwelt betrifft, ſo wird
wohl im Einzelnen das geſchichtliche Leben ſelbſt in Monumental-Sta-
tuen und einfach menſchlichem Genre mit friſcher und kräftiger Hand er-
griffen; es iſt zu 1. erwähnt, daß ſelbſt der Rokoko ſich namentlich noch
durch ſchöne hiſtoriſche Büſten auszeichnet; das Wichtigere aber iſt, daß
dieſe Epoche kein Bewußtſein davon hat, wie unvereinbar ihre Manier
mit den Gegenſtänden der zweiten Stoffwelt iſt, daß ſie vielmehr ihren
höchſt ſubjectiven Geiſt ohne Scrupel in die vom naiven Glauben ge-
ſchaffene, objectiv ernſte mythiſche Geſtaltenwelt des Mittelalters und frei-
lich hart daneben in die ſeit der Renaiſſance mit Begierde aufgegriffene
antike Götter- und Heroenwelt hineinſchüttet und außerdem, daß dieſe
[494] Geſtalten in ihrem Bewußtſein zu bloßen Allegorien geworden ſind, im
heißen Treibhaus ihrer aufgeregten und doch hohlen Phantaſie eine über-
quellende neue Allegorienwelt hervortreibt. Die Unnatur wird hier über-
haupt doch mit einer gewiſſen Naivetät betrieben.
Die neue Zeit kehrt zum wahren Verſtändniſſe der Antike und des bild-
neriſchen Stylgeſetzes zurück; allein durch die kritiſch vollzogene Auflöſung des
Mythus und die vollendete Ungunſt der Culturformen iſt ſie im Gebiete des
ausdrücklich Idealen und ſelbſt des allgemein und rein Menſchlichen auf den
ſchmalen Raum der Reproduction durch künſtleriſche Rückverſetzung eingeſchränkt.
Dagegen entwickelt die moderne Bildnerkunſt ein größeres Maaß eigener Le-
benskraft im Gebiete des geſchichtlich Monumentalen, worin jener Anſatz eines
mittleren Styls zwiſchen dem claſſiſch reinen und dem naturtreuer individuali-
ſirenden (§. 645, 1.) als ein der Fortbildung fähiger Keim ſich erweiſt.
Die Auflöſung der zweiten Stoffwelt iſt in §. 466 ausgeſprochen.
Die Sculptur iſt aber eine weſentlich Götterbildende Kunſt; die Reinheit
der Form im Sinne der directen Idealität, wonach die einzelne Geſtalt
ſchön ſein muß, ſetzt ja Götter voraus. Im Begriffe der Verſöhnung
der Subjectivität mit der Objectivität, der als das Weſen des modernen
Ideals aufgeſtellt iſt, liegt allerdings auch dieß, daß wir die Natur der
tranſcendenten Weſen, nachdem wir nicht mehr in die Illuſion ihrer wirk-
lichen Exiſtenz verwickelt ſind, erſt recht erkennen und verſtehen; auch iſt
in und zu §. 466 zugegeben, daß wir ſie unter Anderem auch noch
müſſen bilden dürfen, ſo wie im Schluß der Anm. zu §. 444 die Unent-
behrlichkeit der Allegorie in der bildenden Kunſt bereits angedeutet iſt.
Ganz ohne Götter und Allegorien kann die ſtumme Bildnerkunſt, wo ſie
eine inhaltsvolle Idee in der Abbreviatur Einer Geſtalt oder weniger
Geſtalten ausdrücken ſoll, gar nicht auskommen. Allein dieß iſt kein
wahres Leben, keine Kunſtwahrheit mehr; es iſt eine formale Reſtauration;
vollends die Bildung neuer tranſcendenter Weſen führt zu Lügen, wie
die einer Bavaria, wo die ſtylvolle Ausführung eines inhaltloſen,
rein hohlen Gedankens den peinlichſten Widerſtreit der Empfindung erregt.
Ueber die vollendete Ungunſt der Culturformen vergl. §. 376, 2. Sie hat
uns auch den Boden des Genre, wo es gilt, ſchöne und glücklich ent-
wickelte Menſchheit in ihren allgemeinen Zügen ohne hiſtoriſches Datum
im Abglanze der Götterſchönheit darzuſtellen, auf äußerſt ſchmale Gren-
zen eingeengt. Wir ſehen kein Nacktes, kein frei fließendes Gewand,
[495] keine ſchönen Spiele mehr. Ein Fiſcher, eine Fiſcherinn, ein Ballon-
ſchläger, eine Amazone u. ſ. w., das tritt oft glücklich gelungen, aber in
kümmerlicher Vereinzelung auf. Das Auge ſieht aber überhaupt nicht
mehr plaſtiſch, die Phantaſie iſt nicht mehr plaſtiſch geſtimmt, dieß iſt ſchon
in §. 468 ausgeſprochen. Unter dieſen Umſtänden hat die Rückführung
unſerer Erkenntniß zur wahren Anſchauung der Antike, vermittelt durch
den großen Winkelmann, dann durch die Wiederauffindung antiker Kunſt-
werke aus der beſten Zeit griechiſcher Sculptur zu keiner neuen Blüthe
dieſer Kunſt führen können. Wohl iſt, nachdem Canova zwiſchen die
Ausläufer des Berniniſchen Styls und die Erneuerung der reinen pla-
ſtiſchen Schönheit in die Mitte getreten, ein Dannecker der letzteren ſchon
näher gekommen war, der große Regenerator Thorwaldſen erſchienen,
wohl ſind ihm bedeutende Künſtler, namentlich auch in Deutſchland, gefolgt,
aber es bleibt dabei, daß in dem idealen Gebiete Alles blos Reproduc-
tion durch geiſtvolle Rückverſetzung in ein entſchwundenes Phantaſie- und
Kunſtleben iſt, ähnlich wie eine gelungene Aufführung griechiſcher Dramen
auf unſeren Bühnen. Die ideal ſchöne Form bleibt für uns eine Reſtau-
ration wie der Olymp. Dagegen ſucht nun der §. mit Rückweiſung auf
§. 645, 2. eine Linie zu bezeichnen, auf welcher die moderne Sculptur
mit vollerer Kraft fortzuleben die Ausſicht hat, in einem Zuſtande, worin
(um bei einem ſchon gebrauchten Bilde zu bleiben) der eine Lungenflügel,
der ihr geblieben, ſo erſtarkt, daß der Verluſt des andern verſchmerzt
wird. Wir werden in andern Künſten deutlicher beſtimmen können, von
was es ſich hier handelt; wir werden in der Poeſie ſehen, wie es einen Styl
geben muß, der Shakespeares Naturaliſmus und Individualiſmus mit
dem Princip claſſiſch idealer Schönheit zu einem Dritten, Höheren ver-
einigt, worin die Verirrungen und Barbariſmen jenes nordiſchen Styl-
princips ſich ausſcheiden, während ſeine Charakterſchärfe in der Läuterung
ſich erhält. Nicht ebenſo beſtimmt können wir von der Bildnerkunſt aus-
ſagen, daß ſie auf dieß Ziel loszuſteuern habe; zu tief liegt in ihrem
Weſen die direct ideale Schönheit, als daß ein ſolcher mittlerer Styl
zwiſchen dem Antiken und Mittelalterlichen, dem Südlichen und Nordiſchen,
wenn ſie ihn findet, nun eine volle Blüthe dieſer Kunſt genannt werden
könnte. Aber etwas iſt daran; jener Styl Peter Viſchers hat etwas von
Shakespeare; es muß dahinaus eine zwar nicht ſchwunghaft reiche,
aber doch tüchtige Zukunft liegen. Die beſten Werke eines Rauch, Schwan-
thaler, Rietſchel liegen, nachdem J. G. Schadow mit einem ſtyliſtiſch unge-
bundneren, aber warmen Naturaliſmus vorausgegangen, auf dieſem Wege
einer Durchdringung geſchichtlich herberer, individuell charaktervoller Formen
mit einem Stylgeſetz, das ſie doch im Sinne ſtrengerer Großheit und reineren
Maaßes bindet, als dieß die gothiſche Zeit, dann auf andere Weiſe die ſpäte
[496] Renaiſſance und der Rokoko that. Es handelt ſich vorzüglich um Denk-
mal und Grabmal, im Material um das Erz, in der Compoſition um
Relief, Statue und namentlich Statuengruppe, wie wir denn insbeſon-
dere auf den Werth der aufgelöſten Gruppe in der Art jener Lyſippiſchen
turma Alexandri zu §. 628, 2. hingewieſen haben. Die Geſchichte er-
ſetzt, ſo weit ſie kann, den Mythus, der geſchichtliche Held den ſagenhaf-
ten, die Fülle großer Menſchen den Gott, der ſeinen Geiſt über ſie
ausgegoſſen.
[497]
Anhang.
Die verzierende Bildnerkunſt.
Das lebendige plaſtiſche Kunſtwerk.
In mannigfachen Uebergängen aus der untergeordneten Tektonik (§. 596)1.
heraustretend ergreift die Bildnerkunſt das Zweckmäßige, um es zu verſchö-
nern (vergl. §. 546); insbeſondere legt ſie ſich als umgekehrtes oder eigent-
liches Relief an kleine Flächen in der Stein- und Stempelſchneidekunſt. Dieſe
Zierplaſtik bringt zwar auch ganz freie Werke hervor, die aber vermöge
der Kleinheit ihres Maaßſtabs nur zur ſchmückenden Aufſtellung dienen. Eine2.
Bildnerkunſt in lebendigem Naturſtoff (§. 548) iſt die Gymnaſtik, nicht
als Uebung, ſondern als vollendete Fertigkeit, die im feſtlichen Spiele, ins-
beſondere durch Wettkampf, aufzeigt, wie ſie die leibliche Erſcheinung zum le-
bendigen Kunſtwerke durchgebildet hat.
1. Wie die Baukunſt als untergeordnete Tektonik mit ihren unend-
lichen Ornament-Formen, ſo dringt nun die Bildnerkunſt in das unmit-
telbare Leben ein, dient ihm als blos anhängende Schönheit, quillt an
allen Orten wie ein unter dem rauhen Boden der Nothdurft verborgenes
Leben hervor und ſcheint, indem ſie in unendlichen Bildungen auf-
ſproßt und das Harte, das Nackte umrankt, dem erfreuten Auge ſagen
zu wollen, daß die organiſche Form und vor Allem ihr Höchſtes, der
ſchöne Menſch, das Geheimniß der Erde iſt. Wir nehmen hiemit als
Aufſtellungsgrund für den erſten Zweig blos anhängender Kunſtform auch
hier zuerſt die Verſchönerung des Zweckmäßigen aus §. 546 auf. Zum
Zweckmäßigen gehört auch das Angenehme, das als ein Ueberſchuß des
Zweckmäßigen zu faſſen iſt: die Zierplaſtik ſchmückt nicht nur Solches, was
einem geforderten Zwecke dient, ſondern auch Solches, was an ſich über-
flüſſig und ſelbſt bereits Schmuck, Mittel zum ſchöneren Lebensgenuß iſt.
Das Gebiet, das hier vor uns liegt, iſt ſchon in §. 596 2. berührt, ja
betreten, denn es gibt keine feſte Grenze zwiſchen der untergeordneten
Tektonik und der Zierplaſtik, weil jene im Ornament wie die Architektur
im Großen bereits in die Nachbildung organiſcher Form hinüberblüht.
Wir ſahen das Plaſtiſche auftauchen, wo die runde Linie herrſcht, ein-
[498] treten, wo die Zierrath Organiſches nachbildet, ausdrücklicher in dem
Grade ſich herausarbeiten, in welchem ein Geräth, Schmuck u. ſ. w.,
namentlich vermöge ſeiner Kleinheit, ganz in organiſche Formen ſich auf-
löſen läßt. Die feine Symbolik, durch welche der ächte Künſtler Zweck
und Bedeutung des Gegenſtands ausſpricht, iſt dort in Anm. 2. beſpro-
chen. In das Gebiet dieſer anhängenden Plaſtik gehört denn namentlich
ein Miniatur-Relief, das ſich an kleine Flächen legt. Zunächſt zum
Zwecke des Siegelns wird auf eine harte Fläche ein kleines Bildwerk
vertieft eingegraben: ἔντυπον, ἔγγλυφον, intaglio; ein umgekehrtes Relief,
das im Abdrucke zum eigentlichen wird. Erſt in der ſpäteren Zeit des
Luxus fing man im Alterthum an, dieſe Siegel an Ringen zu tragen.
Hier pflegte man denn vor Allem edle Steine zu wählen, denn die Zier-
plaſtik legt mit Fug und Recht einen Werth auf die Koſtbarkeit des Ma-
terials und das Siegel ſollte ja nun zugleich Schmuck ſein (daher: Gem-
men); bei Aermeren vertrat Glas die Stelle (Paſten). Als Beiſpiel
freien Spiels mit Analogien im Ornamente mag hier noch angeführt
werden, daß die Griechen die Faſſung des Steines in Gold, da ihnen
dabei der in der Schleuder ruhende Stein einfiel, gewöhnlich in dieſer
ſinnreichen Form behandelten. Bei dieſen Arbeiten galt es nun, im
kleinſten Maaßſtabe, bis zu dem Grade, wo das Werk mit der Lupe geſehen
ſein will, im härteſten Material, alſo mit den größten techniſchen Schwie-
rigkeiten doch die reinſte Kunſtform zu entwickeln, und die Griechen haben
dieſe Aufgabe in unerreichter Vollendung gelöst, wiewohl die Kleinplaſtik
des Luxus begreiflichermaßen nicht in der Epoche des hohen, ſondern
erſt des ſchönen, rührenden Styls (Skopas und Praxiteles) gewöhnlich
wird und ihre volle Ausbildung erſt zur Zeit des Lyſippus durch einen
Pyrgoteles erhält. Je mehr nun bloßer Schmuck, deſto mehr wird die
eingetiefte Form zwecklos und tritt in der makedoniſchen Zeit an die Stelle
des Eingeſchnittenen das eigentliche Relief: ἐκτυπον, ἀνάγλυφον, cameo;
bei durchſichtigem Stein erſchienen aber, gegen das Licht gehalten, auch
die Intaglien als Relief. Verſchiedengefärbte Lagen des Edelſteins,
namentlich Onyx, wurden, wie neuerdings die innere Schichte gewiſſer
Muſcheln, zu einem Anfluge von Polychromie benützt. Dieß kleine Re-
lief dient nun nicht mehr blos als Ring, ſondern wird an koſtbarem Ge-
räthe, wie Bechern, Leuchtern u. ſ. w. angebracht, eine Sitte, die na-
mentlich auf das frühere Mittelalter überging; unſere Zeit liebt es an
Brochen u. dgl. Es gehört nun dieſe kleine Welt mit allem verzieren-
den Werke des Bildners, namentlich dem größeren Relief, das an Ge-
fäßen, Waffen, Geräthe aller Art im verſchiedenſten Material durch ver-
ſchiedene Arten der Technik ſich anſchmiegt, in Ein Gebiet zuſammen,
ſie fordert aber dieſe beſondere Hervorhebung, weil wunderbar bei ſo
[499] kleinem Maaßſtabe die griechiſche Künſtlerhand den ganzen Stoff der Sage,
Mythologie, Genre, Porträt in den herrlichſten Stylformen wie durch
einen unendlich verkleinernden Spiegel gebrochen und dieß niedliche ideale
Spiegelbild, leicht tragbar, daher den Menſchen auf Tritt und Schritt
begleitend auf die unmittelbarſte Wirklichkeit geworfen, ſo zu ſagen in
die engſte Ritze derſelben getrieben hat. Einem äußern Zweck enger ver-
ſchwiſtert bleibt dieſe kleinſte Plaſtik als Stempelſchneidekunſt, welche die
Münze zum Kunſtwerke bildet; obwohl der blos äußere Zweck auch hier
verſchwindet, wenn die Münze nicht Verkehrsmittel iſt, ſondern zum An-
denken an große Ereigniſſe, zur Ehre bedeutender Menſchen geprägt wird
(Medaillon). Wir haben den hohen Schwung, die Energie des Geprä-
ges, wodurch die griechiſche Kunſt, beſonders in Sicilien, auch auf dieſe
metalliſchen Flächen den verkleinerten Wiederſchein ihrer ſtylvollen Ideal-
welt gezaubert hat, bekanntlich nicht wieder erreicht. — Ganz frei von
unmittelbarer Anlehnung wird die Zierplaſtik in kleinen Figuren, die zum
Schmuck auf Schränke, Tiſche, kleine Conſolen aufgeſtellt werden; ſie
bleibt aber auch hier bloße Zierplaſtik, weil ſolche Dinge von Producten
der Zweckmäßigkeit zwar gelöst, aber doch nur zur Ausſchmückung der-
ſelben in beliebiger Aufſtellung beſtimmt, daher auch klein, beweglich,
portativ ſind. Allerdings beginnt die Zierplaſtik, wie zu §. 609 geſagt
iſt, eigentlich ſchon da, wo das Werk die natürliche Größe nicht über-
ſteigt oder auch nur mäßig unter ſie herabgeht, allein wenn die Kunſt
einmal die ſchwungvolleren Größen-Verhältniſſe aufgibt, da beeilt ſie ſich
lieber, durch völlige Kleinheit des Maaßſtabs zu zeigen, daß hier nicht
monumentaler Boden iſt. Bei dieſem Kleinwerk iſt der Künſtler eben-
falls berechtigt, den Werth des Materials ganz weſentlich mitwirken zu
laſſen, da in allem nur Anhängenden ſolche Rückſicht ihr gutes Recht
hat: edle Metalle, Elfenbein, edle Hölzer mögen durch Glanz und Farbe
das Auge reizen und erfreuen. Daneben darf die Kunſt hier füglich auch
als Kunſtſtück auftreten, nur fordern wir, daß ſie zugleich Kunſt bleibe
und Styl zeige. Auch dieß verſtand Niemand mehr, als die Griechen,
die in der ſog. Mikrotechnik bis dahin gingen, daß ſie Viergeſpanne
bildeten, die eine Fliege bedecken konnte und die doch in Formen plaſtiſch
ſchön waren, wie jene mikroſkopiſchen Gemmenbilder. In neuerer Zeit
hat ſich die Rokoko-Periode, deren Manier in dieſem Gebiete noch am
gefälligſten iſt, ſehr fruchtbar in Zierfiguren erwieſen, namentlich im Ko-
miſchen viel Niedliches und Ergötzliches hervorgebracht. Natürlich darf
in der Zierplaſtik das Komiſche ſich freier entfeſſeln, ſatyriſch als Cari-
catur auftreten und ſo das Moment in Wirkung ſetzen, das in §. 547
als Grund der Aufſtellung eines beſondern Zweigs ausgeſprochen iſt;
allein zu einem eigentlichen Zweige darf es die Bildnerkunſt auch hier
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 33
[500]nicht treiben, vergl. die Anm. jenes §. Die neueſte Zeit verſieht das
ausſchmückende Bedürfniß vorherrſchend durch mechaniſche Nachbildungen.
Dieſes Moment, das im §. 549 als einer der Eintheilungsgründe für
die anhängenden Zweige aufgeführt iſt, haben wir hier im §. nicht be-
ſonders aufgeführt, es wird erſt in der Malerei wichtiger; in der Pla-
ſtik iſt der Abguß und Abdruck von Kunſtwerken mittelſt verkleinernder
Formen in Gyps, Thon, Glas, Erz, Kupfer, Eiſen, Zink, Gutta-
Percha, Wachs, Papierbrei u. ſ. w. bis zu Tragant und Zucker herun-
ter nur ein Mechaniſches, das freilich in der letzten Ueberarbeitung zum
Theil noch der feineren, künſtleriſch gebildeten Hand bedarf, deſſen Werth
aber nicht verkannt werden ſoll, denn dieſer Nebenzweig vervielfältigt
das Kunſtwerk, ſtreut es in das Leben, in die Wohnung des Bürgers
und wirkt ſo zur Verbreitung des äſthetiſchen Sinnes, zur Veredlung des
Daſeins.
2. Wir haben die Gymnaſtik an andern Stellen des Syſtems in
doppelter Beziehung ſchon aufgeführt: als Mittel, die menſchliche Schön-
heit zu entwickeln, damit der Künſtler Geſtalten vorfinde, wie er ſie braucht
(vergl. §. 330. 615), dann aber auch als eine Thätigkeit, die in ihrer
Ausübung unmittelbar der Kunſt Stoffe, Gruppen, Scenen darbietet,
ſowohl in ihrer gewöhnlichen (vergl. §. 348 Anm. 2.), als auch nament-
lich in ihrer feſtlichen (§. 329). Die letzte Form nehmen wir jetzt wie-
der auf, aber in anderer Bedeutung, nämlich nicht als Stoff für die
Kunſt, ſondern als ein Schauſpiel, ein Kunſtwerk für ſich: die Gymna-
ſtik, die nicht den Leib als Seelen- und Charakter-Organ erſt bildet,
ſondern die gewonnene Bildung deſſelben rein aufzeigt, ſo daß dieß Auf-
zeigen Selbſtzweck iſt, tritt nun auf als eine lebendige Plaſtik, die nur
darum blos anhängende Kunſtform iſt, weil ſie in lebendigem Naturſtoffe
darſtellt. Hier macht ſich alſo dasjenige Moment geltend, das in §. 548 als
Grund eines beſondern Zweigs anhängender Kunſt aufgeſtellt iſt. —
Die Gymnaſtik, welche die Schönheit aufzeigt, die ſie als Uebung aus-
gebildet hat, iſt Spiel, d. h. Thätigkeit um der Thätigkeit willen mit
blos ſcheinbarem Zweck, Thätigkeit als reine Form, aber ein durch die
Kunſt erhöhtes Spiel. Sie tritt zunächſt auf als reine Aeußerung des
gewöhnlichen Spieltriebs, als harmloſe Ergötzung, die nicht auf Zu-
ſchauer berechnet iſt. Hievon iſt ſodann eine zweite Stufe zu unterſchei-
den: die Gymnaſtik als ernſte, zweckſetzende Uebung, die aus dem Spiele
das Geeignete ausſcheidet, um es eben für ihren Zweck zu verwenden.
Daneben erhält ſich das urſprüngliche Spiel als eine Nachbarform der
Gymnaſtik, welche mehr und weniger iſt, als dieſe: mehr, weil ſie zweck-
los iſt, ein freier Selbſtgenuß des aus Geſchäft und aus bloßer Befrie-
digung der Sinnlichkeit zur harmoniſchen Bewegung ſeines einfachen,
[501] ungetheilten Weſens entlaſſenen Menſchen, des Menſchen in ſeiner reinen
und hohen Kindheit; weniger, weil die Gymnaſtik als ernſtes, Zweck-
ſetzendes Mittel erſt eintreten muß, um die höhere, dritte Stufe möglich
zu machen, nämlich das Spiel in der geſättigten Bedeutung, welches mit
der Abſicht, daß es geſchaut werde, eine große Entfaltung der gewonne-
nen Kraft, Gewandtheit, Schönheit künſtleriſch anordnet und dieſem Schau-
ſpiele den gewichtigen Ernſt der tieferen Bedeutung verleiht: daß eine
Gemeinde, ein Volk ſeine Kraft, ſeine Fülle und Schönheit ſich ſelbſt
zeige, darin ſeiner nationalen Tüchtigkeit ſich bewußt werde und die pfle-
gende, ſegnende, ſchützende Gottheit als den innern Genius eines allſei-
tig und harmoniſch entwickelten Volkslebens gegenwärtig anſchaue. Das
Spiel der erſteren, zufälligeren Art verhält ſich dazu wie die wildwach-
ſende Blume zum wohlgeordneten Strauß, zu einem paradieſiſchen Gar-
ten; doch empfängt es von dieſer höheren Form ſelbſt auch Rhythmus
und Reichthum. Die Griechen waren unendlich erfinderiſch in ſolchen
harmloſen Spielen, die bei uns mit aller übrigen Friſche des Lebens
mehr und mehr verkommen, und das Ballſpiel der Nauſikaa und ihrer
Gefährtinnen mit taktmäßiger Bewegung und Geſang mag uns ſagen,
wie auch ſolche kindliche Beluſtigung zum kleinen Kunſtwerke wird. Mit
dem Verfall der Volksfeſte haben wir aber auch die höhere Form, das
nationale Feſtſpiel ſo ſehr eingebüßt, daß wir die frei äſthetiſch ſich auf-
zeigende Gymnaſtik eigentlich nur noch in der Aftergeſtalt kennen, wo ſie
von Kunſtreitern, Gauklern, Seiltänzern um Geld gezeigt wird. Da
hat die Gymnaſtik ihre ethiſche Bedeutung verloren; ſie gilt nur als
körperliche Virtuoſität, wie denn die neuere Zeit überhaupt gewohnt iſt,
ſie auch in ihrem Uebungszweck nur phyſiſch aufzufaſſen, ein Beweis, daß ihr
der Grundbegriff, der Begriff des Bandes, abhanden gekommen iſt. Die
Gymnaſtik iſt in ihrem innerſten Weſen kein ſinnliches, ſondern ein gei-
ſtig ſittliches Thun, indem ſie den Leib als bloßen Stoff tödtet, um
ihn zum Organ und Bilde des bewohnenden Geiſtes zu beleben, und
indem ſie den Leib des Einzelnen als einzelnen Stoff tödtet, um ihn zum
organiſchen Gliede des Volks-Ganzen in ſeiner Geſammtbewegung, we-
ſentlich auch der wehrhaften zu erwecken. Sie quält und ſchüttelt daher
die träge Maſſe recht tüchtig, damit ſie nicht zum faulen Ballaſte des
Geiſtes, zum iſolirten Klumpen werde, und die Aſceten der falſchen Re-
ligion, wie die negativen Moraliſten und überhaupt alle Barbaren der
Bildung bedenken nicht, daß der Leib, der aus Verachtung des Sinnlichen
gymnaſtiſch nicht durchgearbeitet, nicht ausgewickelt wird, genau ebenſo zum
Sumpfe herabſinkt, worin die roheſte Sinnlichkeit ſich ausheckt, wie der
Leib des grobſinnlichen Menſchen in üppiger Blüthe verweſend den un-
ſterblichen Geiſt mit ſeiner Verfaulung anſteckt. Nimmt nun der Geiſt
[502] vermittelſt dieſer Durcharbeitung ſeinen Leib erſt an ſich, ſo ſcheint er
auch erſt dadurch wahrhaft aus ihm heraus und die Gymnaſtik iſt ſo das
Band, welches die Einheit ſchafft im Weſen des Menſchen, und dieſe
Einheit iſt Schönheit. Die Barbaren der Bildung bedenken auch dieß
nicht, daß die Schöpfung der Schönheit, zu welcher der Wille durch all-
ſeitige Ausbildung den Leib entfaltet, Pflicht iſt, indem das Sittengeſetz
dem Menſchen nicht freiſtellt, ob er dem Mitmenſchen in ſeiner Geſtalt
ein Zerrbild der Menſchheit aufzeigen will oder ein wahres Bild. Die
Griechen wußten wohl, was ſie thaten, wenn ſie die Schönheit wie eine
Tugend ehrten; ſie wußten wohl, daß, wo Geſchlecht auf Geſchlecht be-
müht iſt, den Körper zu dem auszubilden, was er ſein ſoll, die Formen
ſich allgemein zu der Reinheit entwickeln müſſen, die der Einzelne durch
den Adel ſeines innern Lebens und die beſondere künſtleriſch gymnaſtiſche
Arbeit zur volleren Schönheit zu erheben wirklich fähig iſt. Die Gym-
naſtik iſt alſo weſentlich die Thätigkeit, worin der Wille die ſinnliche Er-
ſcheinung des Menſchen durch ſeine bildende Arbeit als die Realität ſeines
Geiſtes ſetzt, ſie iſt die Kunſtſchöpfung des ſinnlichen Daſeins, abſolute
Grundbedingung im Verſöhnungsprozeſſe der Perſönlichkeit, worin ſie ihre
Gegenſätze, Geiſt und Leib, zur Harmonie erhebt (vergl.: D. Gymnaſtik
d. Hellenen u. ſ. w. von Otto Heinr. Jäger). Hier aber haben wir
die Gymnaſtik nicht unter dem Standpuncte der Pflicht, unter den ſie
unbedingt zu ſtellen iſt, ſondern als die ſchon vollzogene Kunſtſchöpfung
des Leibes zu betrachten, welche ihr Werk im feſtlichen Schauſpiele auf-
zeigt. Das Aufzeigen wäre jedoch zu ſehr bloße Form, wenn nicht ein
Reiz des Zweckes, ein Sporn für den Gymnaſtiker hinzuträte, wie ſolcher
in dem Eifer, ſeine Aufgabe zu löſen und Beifall zu gewinnen, noch
nicht in hinreichender Kraft enthalten iſt: das Aufzeigen muß Kampf ſein,
aber nicht ernſter Kampf, ſondern Wettkampf um einen Ehrenpreis, ſei
es, daß der Wetteifer nur darin beſteht, daß Mehrere gleichzeitig dieſelbe
Uebung ausführend darſtellen und jeder den andern zu übertreffen
ſucht, oder daß ſie im Scheine feindlichen Kampfs gegeneinander ſich an-
greifen und zu überwinden ſtreben (wie im Ringen u. ſ. w.); beides
umfaßt der Begriff der Agoniſtik. Ausgeſchloſſen iſt nicht Gefahr, denn
ohne dieſe gibt es keine Gymnaſtik, aber rohe Form und bitterer, bluti-
ger Ernſt; das Athletenweſen mit ſeinem wilden Fauſtkampf und Ring-
fauſtkampf (Pankration) war Ausartung der Agoniſtik, die römiſchen Gla-
diatorenſpiele reine Scheuslichkeit. Es wäre nun eine ſchöne Aufgabe,
in einer Aeſthetik der Gymnaſtik alle Hauptformen derſelben ſo aufzu-
führen, daß an jeder gezeigt würde, wie ſie zunächſt vorzüglich einen
Theil des Organiſmus und dieſen Theil in anderer Richtung und Weiſe,
als jede andere, in Anſpruch nimmt, von da aus aber die Bewegung
[503] über die ganze Geſtalt verbreitet; es entſtünde eine Reihe ſchöner Bil-
der, das Bild des Läufers, Springers u. ſ. w.; dann wäre darzuſtellen,
wie in den combinirteren Uebungen dieſe verſchiedenen Bilder ſich verei-
nigen und das Einzelne würde nun zum Syſteme eingeſammelt; einen
gediegenen Grund für eine ſolche Anſchauung der Gymnaſtik hat die ge-
nannte, nur in der Darſtellung zu ſehr überfruchtete Schrift von Jäger
gelegt. Wir geben nur eine flüchtige Ueberſicht, wobei wir von Allem
abſehen, was nur Vorſchule iſt. Erſtens: Einzelthätigkeit ohne Kampf,
d. h. ohne (ſcheinbar) feindliches Meſſen der Kräfte. Bewegung in die
Höhe oder Höhe und Weite zugleich: freier Sprung (hauptſächlich die
Füße betheiligt), Stabſprung (Arme mitbetheiligt), beides über Hinder-
niſſe oder ohne ſolche. Bewegung in die Weite: Lauf (wieder hauptſäch-
lich die Füße betheiligt), frei oder mit Hinderniſſen (d. h. mit Sprung
über Gräben u. ſ. w., mit Tragen von Waffen, Fackeln verbunden),
hiezu Schwimmen, wo mehr die Arme wirken; Verbindung der Vor-
wärtsbewegung mit den Kräften des Thiers oder mit einem mechaniſchen
Mittel oder mit beiden zugleich: Reiten, Schiffen, Fahren. Wurf mit dem
Stein, Ball (ſchönes Ballone-Spiel in Italien), Diſkus, Schleuder,
Speer, Unterſchied der Schönheit in Kern- und Bogenſchuß; der Fort-
ſchritt zu erleichternden Mechaniſmen bricht der gymnaſtiſchen Schönheit
ab, ſo zuerſt Pfeil und Bogen, dann Armbruſt, dann vollends das Schieß-
gewehr. Zweitens: Kampf als ſcheinbar feindliches Meſſen der Kräfte;
ohne Waffen: Ringen, Betheiligung aller Glieder (der Fauſtkampf fällt
nach Obigem weg); mit Waffen: Schwert oder Degen auf Hieb oder Stoß
oder beides; Lanzenſtoß zu Fuß, zu Pferd (Turnier), zu Schiff (Schiffer-
ſtechen). Einfach vereinigten die Griechen in ihrem Pentathlon (Lauf,
Sprung, Wurf des Diſkus, des Speers, Ringen) die weſentlichen For-
men, um die Vollendung des Organiſmus nach allen Seiten zu entfalten,
und der Pentathlet war zwar nie in Einer Form ſo ſtark, wie der, wel-
cher ſich nur in ihr zeigte, aber er war durch dieſe Allſeitigkeit der edelſte,
vollendetſte, geehrteſte, ſchönſte Wettkämpfer. Drittens: Geſammtbewe-
gung und Kampf von Maſſen; hier tritt ein neues Element, das zwar
in Griechenland auch bei den andern Formen nicht fehlte, mit Nothwen-
digkeit ein, nämlich das Rhythmiſche, denn Maſſenbewegungen, Evolu-
tionen, Figurenzeichnen im Großen mit einer geordneten Menſchenmenge,
die zugleich einen Kampf mit Waffen darſtellt oder nicht, ſetzt weſentlich
die Leitung durch Tact und Tempo der Muſik voraus. Dieß iſt nun
aber bereits Orcheſtik und gehört in den Anhang zur Muſik. Wir haben
einen Reſt der rhythmiſchen Maſſenbewegung in der militäriſchen Evolu-
tion und dem Scheinkampf kriegeriſcher Maſſen, wie er auch abgeſehen
vom Uebungszweck als Schauſpiel veranſtaltet wird, aber es iſt ein dürf-
[504] tiger Reſt, weil der taktiſche Zweck das freie Spiel der Figuren aus-
ſchließt; übrigens iſt klar, daß die Einübung des Einzelnen zur kriegeri-
ſchen Geſammtbewegung in unſerer Zeit darum ſo ſchwer iſt, weil wir
ſonſt keine rhythmiſchen Maſſenbewegungen kennen. In aller Gymna-
ſtik bleiben die Griechen ebenſoſehr muſtergültiges Ideal wie in der reinen,
ſelbſtändigen Bildnerkunſt, und ihre großen Feſtſpiele glänzen ſelbſt in
der ſchwachen Vorſtellung, die wir davon haben, als unerreichtes Bild
der höchſten nationalen Herrlichkeit. Das Geſchichtliche gibt in Vollſtän-
digkeit J. Heinr. Krauſe: Olympia oder d. großen olymp. Spiele u. ſ. w.
D. Gymnaſtik u. Agoniſtik der Hellenen. D. Pythien, Nemeen u. Iſth-
mien. — Endlich muß noch ein weiteres anhängendes Gebiet mit einem
Wort erwähnt werden: das Handwerk, das den Körper bekleidet, denn
es ſetzt plaſtiſchen (zugleich freilich auch maleriſchen) Sinn voraus. Auch
Pferdeſchmuck will mit äſthetiſchem Gefühl behandelt ſein; das wußten
die Orientalen, die Griechen, das Mittelalter, und weiß der heutige
Orientale beſſer, als die ſtumpfe Mode unſerer Zeit und Welt.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpb9.0