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Der Urſprung
der
künſtleriſchen Thätigkeit.


Leipzig:
Verlag von S. Hirzel
1887.
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Der Urſprung
der
künſtleriſchen Thätigkeit.



Leipzig:
Verlag von S. Hirzel
1887.
[][]

Vorbemerkung.

Unter „künſtleriſcher Thätigkeit“ iſt in den vorliegen¬
den Unterſuchungen immer nur die Thätigkeit des bilden¬
den Künſtlers gemeint. Da es nicht eine Kunſt im All¬
gemeinen, ſondern nur Künſte giebt, ſo kann die Frage
nach dem Urſprung des künſtleriſchen Vermögens auch nur
auf dem Sondergebiet einer beſtimmten Kunſt aufgeworfen
werden. Ob ſich aus der Beantwortung, welche dieſe
Frage hier für das Gebiet der bildenden Kunſt gefunden
hat, ein Schluß ziehen läßt auf die Beantwortung, welche
dieſelbe Frage auf den Gebieten anderer künſtleriſcher
Thätigkeiten finden müßte, darauf iſt in dem Folgenden
keine Rückſicht genommen worden.

[][[1]]

1.

Diejenigen, welche es unternehmen, Weſen und Be¬
deutung der künſtleriſchen Thätigkeit darzulegen, pflegen
von den Wirkungen auszugehen, welche durch die Kunſt¬
werke auf den geiſtigen Zuſtand oder das Empfindungs¬
leben der Menſchen hervorgebracht werden. Dieſer Aus¬
gangspunkt iſt offenbar falſch. Um unter den erfahrungs¬
mäßig ſehr verſchiedenartigen Wirkungen der Kunſt diejenige
beſtimmen zu können, die dem Weſen der künſtleriſchen
Thätigkeit gemäß iſt, müßte man dieſes Weſen zuvörderſt
erkannt haben. Dies aber wird nur dann möglich ſein,
wenn man, abgeſehen von allen Wirkungen, die von den
Reſultaten der künſtleriſchen Thätigkeit ausgehen, die Ent¬
ſtehung dieſer Thätigkeit ſelbſt aus der menſchlichen Natur
zu durchſchauen vermag. Gelingt es, den Punkt zu er¬
kennen, wo aus dem Reichthum geiſtig-körperlicher Mani¬
feſtationen, zu denen der menſchliche Organismus werde¬
luſtig emporſtrebt, diejenige Thätigkeit ſich abzuſondern
beginnt, die wir in ihrer weiteren Entwickelung als die
künſtleriſche bezeichnen, ſo iſt in der That der einzige Zu¬
gang gewonnen, der in die innere Welt jener Thätigkeit
Fiedler, Urſprung.1[2] einführt. Um zu dieſem Punkt zu gelangen, müſſen einige
Bemerkungen allgemeiner Natur vorausgeſchickt werden.


Dieſe Bemerkungen werden ſich auf das Verhältniß
zu beziehen haben, in dem der Menſch zu der ihn um¬
gebenden Welt ſteht. Denn es wird ſich zeigen, daß der¬
jenige, der, unbefriedigt von allen Erklärungen, die das
Weſen des künſtleriſchen Schaffens gefunden hat, nach einer
neuen Löſung des alten Problems ſucht, nur dann zum
Ziel zu gelangen hoffen kann, wenn er auf das Verhält¬
niß des Menſchen zur Außenwelt zurückgeht und die ihm
geläufige Auffaſſung desſelben einer erneuten Prüfung
unterwirft.


Die Einſicht, daß die Dinge nicht durch ihr bloßes
Daſein Gegenſtand der Wahrnehmung und in Folge deſſen
irgend einer Art geiſtigen Beſitzes ſein können, ſondern daß
der der Empfindung und Wahrnehmung fähige menſchliche
Organismus nur Wirkungen empfängt, die er zu Beſitz¬
thümern des Bewußtſeins geſtaltet, — dieſe Einſicht ſcheint
dem Menſchen keineswegs immer in allen ihren Conſequenzen
gegenwärtig zu ſein. Zwar iſt die einfache Gegenüber¬
ſtellung des wahrnehmenden, vorſtellenden, erkennenden In¬
dividuums und der Welt des Seienden — eine Gegen¬
überſtellung, durch die der Standpunkt des naiven Bewußt¬
ſeins bezeichnet wird — mit jener Einſicht aufgehoben;
aber die große Umkehr, die in der Auffaſſung des Ver¬
hältniſſes, in welchem der Menſch zur Außenwelt ſteht,
durch jene Einſicht gefordert wird, iſt ſo lange nicht voll¬
endet, als der Menſch die ſtillſchweigende Vorausſetzung
[3] nicht aufzugeben vermag, daß durch die geiſtigen Gebilde,
die er in ſeinem Inneren wahrnimmt, ſeien es Wahr¬
nehmungen, Vorſtellungen, Begriffe, ein Seiendes bezeich¬
net wird, welches eben doch ein anderes als dieſe geiſtigen
Gebilde, von dieſen unterſchieden ſei. Will man einen
Schritt weiter thun, um aus jenem Zweierlei eines Wahr¬
nehmenden und eines Wahrgenommenen herauszukommen,
ſo muß man zu einer weiteren, aus jener Einſicht ſich er¬
gebenden Conſequenz ſchreiten: ſofern wir von irgend einem
Seienden keinerlei Kunde haben, als vermöge der Wirkungen,
die wir empfangen, ſo kann es für uns auch keinerlei Sei¬
endes geben, welches durch irgend ein in uns bewirktes
geiſtiges Gebilde bezeichnet würde, vielmehr kann alles
Sein und alle Wirklichkeit aus keinem anderen Stoff und
keinen anderen Beſtandtheilen beſtehen, als aus den geiſtigen
Gebilden, in denen die Wirkungen ſich darſtellen, die wir
empfangen. Wenn ſo die geſammte Wirklichkeit mit den
in unſerem Bewußtſein erſcheinenden oder vielmehr unſer
Bewußtſein bildenden Wirkungen, beziehentlich den Formen
zuſammenfällt, zu denen ſich dieſe Wirkungen entwickeln,
ſo iſt die Zwieſpältigkeit der Welt in der That zur Ein¬
heit geworden. Indeſſen, wenn wir auch die Nothwendig¬
keit dieſer Folgerungen nicht anfechten können, ſo bedarf
es doch mancher Ueberlegungen, um in uns die lebendige
Ueberzeugung hervorzubringen, daß all unſer Beſitz an
Wirklichkeit nicht nur auf Vorgängen in uns beruht, ſon¬
dern auch mit den Formen identiſch iſt, in denen dieſe
Vorgänge auftreten.


1 *[4]

Wir müſſen uns zunächſt vergegenwärtigen, wieſo der
Menſch dazu gekommen iſt, die ihm auf dem naiven Stand¬
punkte ſo unerſchütterlich erſcheinende Ueberzeugung, nach
der er in der Wirklichkeit dasjenige beſitze, wovon ſeine
Wahrnehmungen abhängig ſeien, als einen Trug zu er¬
kennen und zu begreifen, daß es vielmehr die Wahrnehmung
ſei, von der unſer geſammter Beſitz an Wirklichkeit that¬
ſächlich abhängt. Dieſe Erkenntniß, die ihrer Natur nach
berufen iſt, die ſämmtlichen geiſtigen Beziehungen zu er¬
faſſen, in denen der Menſch zur Wirklichkeit ſteht, entſpringt
zunächſt doch einem beſtimmten Bereich dieſer Beziehungen.
Sie erzeugt ſich auf den Höhen des abſtracten Denkens.
Das Sein iſt dem Menſchen längſt zu einem reichen und
complicirten Syſtem von Begriffen geworden, bevor er zu
dem Zweifel gelangt, ob er berechtigt ſei, dieſer Welt, die
er denkt und ausſpricht, die er erforſcht und bis in ihre
letzten Geheimniſſe zu durchſchauen trachtet, eine Exiſtenz
zuzuſprechen, die er als unabhängig von ſeinem Erkennt¬
nißvermögen zu denken vermöchte. Darin, daß der Zweifel
an einem abſoluten Sein der Dinge kein unmittelbar ge¬
gebener iſt, ſondern erſt als das Ergebniß eines ſehr ent¬
wickelten abſtracten Denkens auftritt, liegt der Grund da¬
für, daß die aus dieſem Zweifel entſpringende Erkenntniß
einer gewiſſen Beſchränkung ſelbſt bei denjenigen Denkern
unterworfen bleibt, welche ſie bis zu ihren äußerſten Fol¬
gerungen zu entwickeln ſcheinen. Alles Sein iſt ihnen ein
zu Bezeichnendes; die Worte oder Zeichen, in denen ſich
ihre geiſtigen Operationen vollziehen, repräſentiren ihnen
[5] das Seiende, und indem ſie das Sein, welches ſie denken
und denkend erkennen, auf Grund jener Einſicht ſozuſagen
auf ſeinen Wirklichkeitswerth zu prüfen ſuchen, ſind ſie der
Ueberzeugung, daß es eben das Sein ſelbſt iſt, welches
ſich ihnen auf Grund der Conſequenzen, die ſich mit un¬
umgänglicher Nothwendigkeit aus jener Einſicht ergeben,
immer mehr in ſeiner wahren Geſtalt und in ſeinem wahren
Werth enthüllt.


Da das Denken an die Sprache gebunden iſt und
auch da nicht gleichſam körperlos auftritt, wo es ſich auf
den letzten Höhen ſeiner Entwickelung des ſprachlichen Aus¬
drucks begiebt, ſondern auch da doch immer noch der Zeichen
bedarf, um vor ſich gehen zu können, ſo ſteht und fällt die
Frage, ob man berechtigt ſei, das denkende Erkennen als
eine auf das Sein, die Wirklichkeit als ihr Object gerichtete
Thätigkeit aufzufaſſen, mit der anderen Frage, ob die
Sprache fähig ſei, ein Seiendes zu bezeichnen. Beſitzt der
Menſch in der Sprache das Mittel, die Wirklichkeit in all
ihrem Reichthum, all ihrer Mannichfaltigkeit bezeichnen, zum
Ausdruck bringen zu können, ſo kann darüber kein Zweifel
ſein, daß er durch das Denken zu einer Erkenntniß des
Seienden gelangt oder wenigſtens zu gelangen ſtrebt. In
der Beantwortung dieſer Frage unterſcheidet ſich derjenige,
deſſen Geiſt von der Einſicht in die Relativität alles
Exiſtirenden erleuchtet iſt, nicht von demjenigen, der noch
in dem naiven Glauben an das abſolute Daſein der Ob¬
jekte ſeiner Erkenntniß verharrt. Beide ſtellen die Sprache
dem Seienden gegenüber als das univerſale Mittel zur
[6] Bezeichnung, zum Ausdruck von allem und jedem, was auf
das Prädicat des Seins Anſpruch machen kann. Indeſſen
gilt es auch hier, einen trügeriſchen Schein zu zerſtören.


Man kennt die bedeutenden Fortſchritte, die in der
Erkenntniß des Weſens der Sprache gemacht worden ſind,
ſeitdem man in der Sprache eine Form der Ausdrucks¬
bewegung, eine Lautgeberde erkannt hat; aber ſo ſehr man
dadurch in der Erklärung des Urſprungs und der Ent¬
wickelung der Sprache gefördert worden iſt, ſo hat man
doch für das Verſtändniß des eigentlichen Werthes, der
dem ſprachlichen Ausdruck innewohnt, aus jener Erkennt¬
niß nicht hinlänglichen Gewinn gezogen. Es liegt nahe,
das Weſen einer Ausdrucksbewegung in dem Umſtande zu
finden, daß dieſelbe äußerlich wahrnehmbar und einer
fremden Intelligenz verſtändlich iſt; man ſetzt dabei ſtill¬
ſchweigend voraus, daß dasjenige, was dabei zum Aus¬
druck kommt, ſchon abgeſehen von dem Ausdruck und vor
demſelben vorhanden ſei, und, ſo wie es vorhanden ſei,
durch den Ausdruck zu einem Gegenſtande der Mittheilung
gemacht werde. Das Wort vor allem verdankt die außer¬
ordentliche Werthſchätzung, deren Gegenſtand es iſt, der
Annahme, daß in ihm alles dasjenige zum mittheilbaren
Ausdruck gelangt, was in irgend einer Form zum Beſitz¬
ſtand unſerer geiſtigen Exiſtenz gehöre. In dieſer Auf¬
faſſung ſcheint ſich eine Nachwirkung jener alten Lehre
geltend zu machen, nach der der Geiſt die Organe des
Körpers in ſeinen Dienſt nehme; denn nur mit dieſer
Lehre iſt die Annahme verträglich, daß der Geiſt einem
[7] Inhalt, den er ſeiner ſelbſtſtändigen und ausſchließlichen
Thätigkeit verdanke, vermittelſt des körperlichen Apparates
einen körperlich wahrnehmbaren Ausdruck zu verſchaffen
vermöchte. Es iſt hier nicht der Ort, die hinlänglich be¬
kannten Gründe anzuführen, durch die ein beſonnenes
Denken genöthigt worden iſt, dieſe Auffaſſung des Ver¬
hältniſſes zwiſchen Geiſt und Körper aufzugeben. Lehrt
die reinere Auffaſſung dieſes Verhältniſſes, zu der man
ſich erhoben hat, eine durchgängige Abhängigkeit geiſtiger
Vorgänge von Vorgängen im körperlichen Organismus,
ſo mag man zwar in der Ausdrucksbewegung einen Hin¬
weis auf einen inneren Zuſtand oder Vorgang erblicken;
nur muß man ſich vor der Annahme hüten, daß dieſer
innere Zuſtand oder Vorgang rein geiſtiger Natur ſein
könne. Vielmehr ſtehen wir, wenn wir den inneren Vor¬
gang bedenken, der ſich in der ſogenannten Ausdrucksbe¬
wegung bis zur äußerlich wahrnehmbaren Manifeſtation
entwickelt, vor einem Vorgang, der nicht erſt in dieſem
letzten Stadium zu einem körperlichen wird, ſondern, wie
alle Lebensvorgänge, von allem Anfang an in körperlichen
Proceſſen abläuft. Der Sinn der Ausdrucksbewegung
kann alſo nicht der ſein, daß ſich ein Inhalt geiſtiger Her¬
kunft in einer Bewegung körperlicher Organe ein Zeichen
ſeines Daſeins, einen Ausdruck ſeiner Bedeutung verſchaffte,
vielmehr können wir in der Ausdrucksbewegung nur eine
Entwickelungsſtufe eines pſychophyſiſchen Proceſſes aner¬
kennen, und müſſen den Sinn derſelben ſo faſſen: gleich¬
wie der körperliche Vorgang, der mit der Erregung der
[8] ſenſibeln Nerven beginnt, in der äußerlichen, unmittelbar
wahrnehmbar werdenden Bewegung zu einer vorher noch
nicht erreichten Entwickelungsphaſe gelangt, ſo erfährt auch
der ſeeliſche Vorgang, deſſen wir uns als der gleichſam
inneren Seite jenes Lebensvorganges unmittelbar bewußt
werden, in der Ausdrucksbewegung eine Entwickelung, die
er eben nur in ihr erfahren kann.


Wir werden ſo, indem wir die leibliche Seite der
ſogenannten ſeeliſchen Vorgänge anerkennen, zugleich dem
geiſtigen Werthe gewiſſer körperlicher Vorgänge gerecht, in
denen wir mehr ein Symbol des geiſtigen Lebens als eine
Erſcheinung dieſes Lebens ſelbſt zu ſehen gewöhnt ſind.
Denn wenn wir ſonſt den geiſtigen Werth der Ausdrucks¬
bewegungen in einer Bedeutung finden, die ihnen beige¬
legt werden müſſe, ſo erkennen wir nun, daß in ihnen
und durch ſie ein vorher noch nicht vorhandenes geiſtiges
Gebilde überhaupt erſt zur Entſtehung gelangt. Wie ſollte
auch ein Vergleich möglich ſein, zwiſchen einem voraus¬
geſetzten, noch nicht in die Ausdrucksform eingegangenen
pſychiſchen Gebilde einerſeits und dem Ausdruck anderer¬
ſeits? Und dann, bei der durchgängigen Abhängigkeit
ſeeliſcher Vorgänge von leiblichen würde die Annahme,
daß die Ausdrucksbewegung eben nur etwas ausdrücke,
was ſchon vor ihrem Eintreten vorhanden ſei, zu dem
Widerſinn führen, daß ein und derſelbe pſychiſche Vorgang
an zwei verſchiedene phyſiſche Vorgänge gebunden ſei.
Will man dieſen Widerſpruch vermeiden, ſo kann man dies
nur dadurch, daß man entweder in jene alte Lehre zurück¬
[9] fällt, welche der Seele ein ſelbſtſtändiges Leben und eine
den Leib bewegende Thätigkeit zuſchreibt, oder aber daß
man in der Ausdrucksbewegung eben nicht den Ausdruck
eines pſychiſchen Produktes, ſondern die Entwickelung eines
pſychophyſiſchen Vorganges erblickt.


Auf Grund dieſer Ausführungen kommen wir nun in
Betreff des Bedeutungswerthes, den wir dem in der Sprache
vorliegenden Erzeugniß unſerer körperlich-geiſtigen Organi¬
ſation zuzuſchreiben berechtigt ſind, zu folgendem Reſultat:
wollen wir daran feſthalten, daß der ſprachliche Ausdruck
irgend ein Wirkliches, was abgeſehen von der ſprachlichen
Form auf das Recht des Vorhandenſeins Anſpruch habe,
zu bedeuten und ſomit zum Gegenſtand unſeres Denkens
und Erkennens zu machen vermöge, ſo können wir das
nur, wenn wir einestheils auf dem Standpunkte des naiven
Realismus verharren, d. h. die Wirklichkeit als gegeben
annehmen, ohne daran zu denken, daß wir ſie doch erſt
wahrnehmen müſſen, damit ſie gegeben ſei, anderentheils
Geiſt und Körper als ſelbſtſtändige in einem Subordina¬
tionsverhältniß zu einander ſtehende Beſtandtheile der
menſchlichen Natur betrachten. Wenn wir aber Ernſt
machen mit der Einſicht, daß wir ein Wirkliches immer
nur als Reſultat eines Vorganges beſitzen können, deſſen
Schauplatz wir ſelbſt als empfindende, wahrnehmende, vor¬
ſtellende, denkende Weſen ſind, und wenn wir zugleich auf
Grund der Einſicht in den Parallelismus geiſtiger und
körperlicher Vorgänge die Ueberzeugung gewonnen haben,
daß ein geiſtiges Reſultat und ſein ſinnlich wahrnehmbarer
[10] Ausdruck nicht zweierlei ſein können, ſondern daß geiſtige
Reſultate überhaupt nur in ſinnlichen Gebilden ſich zu
beſtimmter Form zu entwickeln vermögen, ſo können wir
die Sprache nur mehr als eine Form anſehen, in der ein
Wirklichkeitsbeſitz für uns entſteht, nicht aber als das Mittel,
durch welches wir eine Wirklichkeit, die nicht Sprache, die
gleichſam außerhalb des Sprachgebietes vorhanden wäre,
zu bezeichnen und in unſeren geiſtigen Beſitz zu bringen
vermöchten. Iſt es nun ein ſehr ungenauer und dem that¬
ſächlichen Verhältniß nicht entſprechender Ausdruck, wenn
man ſagt, daß der Menſch durch die Fähigkeit des Sprechens
die Wirklichkeit zu bezeichnen vermöge, ſo iſt es ein ebenſo
ungenauer Ausdruck, wenn man die in dem discurſiven
Denken ſich vollziehende Erkenntniß eine Erkenntniß der
Wirklichkeit nennt. So wenig die Sprache einer Wirk¬
lichkeit gegenüberſteht, ſo wenig ſteht auch die Erkenntniß
einer Wirklichkeit gegenüber. Nicht die Wirklichkeit ſchlecht¬
hin iſt es, wie wir doch gern glauben möchten, die wir
durch das in der Sprache ſich vollziehende Denken und
Erkennen erfaſſen, ſondern immer nur die Wirklichkeit, ſo¬
fern ſie in der Form der Sprache überhaupt zu einem
entwickelten Daſein gelangt iſt. In Anſehung der unend¬
lichen Fülle von Wirklichkeit, die wir vermittelſt der
Sprache gleichſam vor das Bewußtſein zu rufen, durch
das Denken dem Verſtand zuzuführen vermögen, bedarf es
freilich noch mancher Erwägungen, um das ſelbſtverſtänd¬
lich erſcheinen zu laſſen, was zunächſt befremdlich, faſt
paradox klingt.


[11]

Die Erkenntniß, daß alles außer uns auf ein in uns
hinausläuft, daß von einem Sein zu reden nur ſoweit
einen vernünftigen Sinn hat, als ein ſolches in unſerem
Bewußtſein erſcheint, — dieſe Erkenntniß zerſtört die
Täuſchung, als ob wir uns einer vor uns, um uns liegen¬
den Welt mit den Organen unſeres Leibes und mit den
Fähigkeiten unſerer Seele nur ſo geradehin zu bemächtigen
brauchten, um ſie zu beſitzen; vielmehr werden wir inne,
daß alle Wirklichkeit uns einzig und allein bekannt wird
in den ſich in uns und durch uns vollziehenden Vorgängen,
deren Anfänge wir in den Sinnesempfindungen voraus¬
ſetzen, deren Reſultate wir da erfaſſen, wo ſie ſich zu be¬
ſtimmten Formen entwickeln. Reißen wir uns nun los
von der Annahme einer außer uns in ihrem geſammten
Sein verharrenden Welt und richten wir unſeren Blick
dahin, wo wir das Daſein der Wirklichkeit thatſächlich
conſtatiren können, auf unſer eigenes Wirklichkeitsbewußt¬
ſein, ſo tritt an die Stelle jenes vorausgeſetzten, auf ſich
und in ſich beruhenden Seins ein ganz anderes Bild.
Der Blick in die innere Werkſtatt, in der die Beſtandtheile
des Weltbildes erſt entſtehen müſſen, wenn ſie ein Sein
für uns gewinnen ſollen, läßt uns nicht einen feſten Beſitz
an fertigen Geſtalten gewahren, vielmehr enthüllt ſich ihm
ein raſtloſes Werden und Vergehen, eine Unendlichkeit von
Vorgängen, in denen die Elemente alles Seins in den
mannichfaltigſten Arten auf den mannichfachſten Stufen
ihrer Verarbeitung erſcheinen, ohne daß das flüchtige, ſich
immer erneuernde Material jemals zu feſten, unveränder¬
[12] lichen Formen erſtarrte; es iſt ein Kommen und Gehen,
ein Auftauchen und Verſchwinden, ein Sichbilden und Sich¬
auflöſen von Empfindungen, Gefühlen, Vorſtellungen, ein
ununterbrochenes Spiel, nie einen Augenblick zu einem
beharrenden Zuſtand gelangend, ſondern raſtlos ſich bildend,
ſich umbildend. Wir brauchen den ewigen Fluß der Dinge
nicht außer uns zu ſuchen, er iſt in uns; es iſt aber ein
trüber, die Schwelle des Bewußtſeins kaum beſpülender
Strom, der durch unſer Inneres zieht; in unbeſtimmten
Umriſſen ſondern ſich Bildungen auf Bildungen, um im
nächſten Augenblick in das Dunkel zurückzutauchen.


Hat man einmal im eigenen Inneren jenes immer
werdende und immer vergehende Geſchehen erblickt, ſo wird
man ſich auch unmittelbar bewußt ſein, daß dieſe eigent¬
liche, vorhandene Subſtanz der Welt ſich in ihrer eigenen
Natur, in ihrer Fülle und in ihrem Reichthum nicht zur
faßbaren Form emporbilden und in dieſer an das Tages¬
licht des erkennenden Bewußtſeins heraufbringen läßt; kein
Ausdruck ſteht ihr zu Gebote, durch den ſie gleichſam in
ihrer eigenen Sprache ſich ſelbſt erfaſſen und ſich mit¬
theilen könnte.


Der Menſch fühlt nun aber das Bedürfniß und iſt
ſich der Fähigkeit bewußt, ſich jenem ahnungsvollen Zu¬
ſtand zu entziehen, in dem ein unendliches Sein ſich un¬
abläſſig an ihn herandrängt, um ihm doch unabläſſig wieder
zu entfliehen. Indem aber als helfend und erlöſend das
Wort in ſeinem Bewußtſein auftritt und mit ihm das große
Werkzeug erſcheint, mittelſt deſſen erſt der ganze geordnete
[13] und gegliederte Aufbau der zum Lichte der Erkenntniß
erhobenen Wirklichkeit möglich wird, ſollte er ſich darüber
klar ſein, daß er in dem Wort nicht einen Ausdruck, ſon¬
dern ein Erzeugniß ſeines inneren Lebens beſitzt. Indem
ſich die unendlichen Vorgänge pſychophyſiſcher Natur, die
das Empfindungs- und Gefühlsleben, die Wahrnehmungs-
und Vorſtellungswelt des Menſchen und ſomit ſein Wirk¬
lichkeitsbewußtſein bilden, zum ſprachlichen Ausdruck ent¬
wickeln, unterliegt der bisherige Inhalt ſeines Bewußtſeins
einer Verwandlung; im Wort erhält ſein Bewußtſein einen
neuen Inhalt. In demſelben Augenblicke, in welchem der
Menſch ſich der Wirklichkeit, die ihm in jenen reichen aber
flüchtigen unbeſtimmten und unvollendeten Bewußtſeins¬
zuſtänden gegeben iſt, in der ſprachlichen Form zu be¬
mächtigen meint, entſchwindet ihm das, was er erfaſſen
möchte, und er ſieht ſich einer Wirklichkeit gegenüber, die
eine ganz andere neue Form gewonnen hat. Nicht ein
Ausdruck für ein Sein liegt in der Sprache vor, ſondern
eine Form des Seins.


Wir ſind gewöhnt, mit Worten umzugehen, wir haben
in den Worten das bereite Mittel, uns aus dem dunkeln
und wogenden Elemente unſerer inneren Bewußtſeinsvor¬
gänge gleichſam auf feſtes Land zu retten. Zugleich wiſſen
wir, daß alle unſere ſinnlich-ſeeliſchen Fähigkeiten, all unſer
Fühlen, Empfinden, Wahrnehmen, Vorſtellen betheiligt iſt
an der Bereitung des Wortes, der Sprache. Müſſen wir
nicht ſagen, daß es das geſammte Sein, das Sein ſchlecht¬
hin iſt, welches in die Form der Sprache eingeht, welches
[14] in dieſer Form zu dem ſtolzen Bau der in dem ganzen
Reichthum ihrer Erſcheinungen und in der unendlichen
Complication ihrer Zuſammenhänge erkannten Welt ver¬
arbeitet wird? Aber wenn es auch das unmittelbare Wirk¬
lichkeitsbewußtſein iſt, welches ſich einer Verwandlung
unterwirft, um in der ſprachlichen Form eine beſtimmte
und faßbare Geſtalt zu gewinnen, ſo findet dieſe Ver¬
wandlung doch nicht ſo ſtatt, daß im Augenblick ihres
Eintretens der geſammte zur Hervorbringung des Wortes
erforderliche Bewußtſeinsinhalt in der neuen Form ohne
Reſt aufginge und an ſeine Stelle die Bezeichnung träte.
Die Entſtehung der Sprache gleicht nicht einem Kryſtalli¬
ſationsproceß, in dem die Stoffe zu einer beſtimmten Form
zuſammentreten, um nur noch in dieſer Form fortzube¬
ſtehen; vielmehr gleicht das Wort der Blüthe, der Frucht
einer Pflanze; dieſe entwickelt in der Blüthe, in der Frucht
etwas aus ſich heraus, was ſie ſelbſt nicht mehr iſt, es
tritt eine Metamorphoſe ein, aber ſie ſelbſt geht dabei
nicht zu Grunde. Alle die unendlich complicirten Vor¬
gänge unſeres Gefühls- und Darſtellungslebens, aus denen
das Wort als feſtes Gebilde hervortritt, bilden nach wie
vor den uns unmittelbar gegebenen und doch in keine Form
zu faſſenden Inhalt der Welt. Wenn wir ein Gefühl,
eine Vorſtellung benennen, ſo kommt dies dem Gefühl als
ſolchem, der Vorſtellung als ſolcher nicht zu gute. Feſt
und beſtimmt am Wort iſt nur das Wort ſelbſt, und wenn
wir die Aufmerkſamkeit unſeres Bewußtſeins dem ſoge¬
nannten Inhalt des Wortes zuwenden, ſo finden wir den¬
[15] ſelben nach der Benennung und trotz derſelben in jenem
unbeſtändigen, ewig werdenden Zuſtande, der uns wohl
geſtattet, ſeiner gewahr zu werden, und uns doch nicht die
Möglichkeit giebt, ihn mit der Klarheit des Bewußtſeins
zu ergreifen.


Im gewöhnlichen Leben, und nicht nur da, ſondern
auch auf zahlreichen Gebieten höherer geiſtiger Thätigkeit,
beruhigt man ſich dabei, daß gegenſtändlichen Bezeichnungen
eben Gegenſtände in der Wirklichkeit entſprechen, und daß
in Folge deſſen der Inhalt dieſer Worte ein an ſich be¬
ſtimmter ſei. Sobald man aber den Widerſinn einſieht,
der darin liegt, etwas in der Außenwelt ſuchen zu wollen,
was man nicht zunächſt in ſich ſelbſt gefunden hat, begreift
man zugleich, daß der ſogenannte gegenſtändliche Inhalt
eines Wortes in nichts anderem beſteht und beſtehen kann,
als in den Empfindungs-, Wahrnehmungs-, Vorſtellungs¬
vorgängen, welche der verſchiedenartigen ſinnlichen Em¬
pfänglichkeit entſprechen, mit welcher wir ausgeſtattet ſind,
ſowie in den Gefühlszuſtänden, welche unſer inneres Leben
begleiten. Wir dürfen uns darüber nicht täuſchen, daß es
ganz außerhalb des Vermögens der Sprache liegt, jene
ſinnlichen Erſcheinungen, auf denen es beruht, daß wir
uns einer Wirklichkeit bewußt werden, in ihrem eigenen
Stoffe zu einem deutlichen und beſtimmten Bewußtſeins¬
inhalt zu erheben. Man braucht, um dies einzuſehen, nicht
erſt die complicirten pſychiſchen Gebilde, wie Vorſtellungen,
in Betracht zu ziehen; bei den einfachſten Beſtandtheilen
des geiſtigen Lebens können wir uns darüber klar werden;
[16] z. B. eine Farbenempfindung hat als ſolche mit ihrer ſprach¬
lichen Bezeichnung nicht die geringſte Verwandtſchaft. Be¬
nenne ich eine Empfindung, ſo habe ich zweierlei in meinem
Bewußtſein: die Bezeichnung als das feſte, geformte Ge¬
bilde, welche ſich dem Stoff des Denkens und Wiſſens
einordnet, und die thatſächliche Empfindung ſelbſt, welche
an und für ſich durch die Thatſache der Bezeichnung gar
nicht berührt wird. Trotzdem die Empfindung vermittelſt
der ſprachlichen Bezeichnung zu einem Gegenſtand der Er¬
kenntniß wird, ſo bleibt ſie doch ihrem eigentlichen Stoff
nach das, was ſie vor aller ſprachlichen Bezeichnung war.
Indem man begreift, daß es die Sprache iſt, welche das
Denken ermöglicht und dadurch dem Menſchen zur geiſtigen
Herrſchaft über das Vorhandene verhilft, während das
thieriſche Bewußtſein an das wechſelnde Spiel flüchtiger,
unklarer Empfindungen und Vorſtellungen hingegeben er¬
ſcheint, überſieht man leicht, daß auch im geiſtigen Leben
des Menſchen trotz der theoretiſchen Entwickelung, die es
erfährt, der Stoff aller Wirklichkeit in ſeinem form- und
haltloſen Zuſtand verharrt, und in demſelben trotz aller
Sprache und discurſiven Erkenntniß verharren würde, wenn
dem Menſchen nicht außer der Sprache noch andere Mittel
zu Gebote ſtünden, um zur geiſtigen Herrſchaft über die
Welt des Seienden zu gelangen. So muß ſich ein auf¬
richtiges Nachdenken bekennen, daß der menſchliche Geiſt,
um zu dem zu gelangen, was er Erkenntniß der Welt
nennt, ſich erſt Worte, ſich Begriffe ſchaffen muß, daß er,
wenn er die Welt des Seienden vor ſeinem erkennenden
[17] Geiſte aufbaut, nicht nur den Bau ausführt, ſondern auch
das Baumaterial hervorbringt.


Häufig genug wiederholt es ſich, daß ein allzu kühner
Gebrauch des Denkvermögens dazu verleitet, Worte als
Werthe einzuführen, in denen gleichſam die Kennzeichen
einer ſinnlichen Herkunft gänzlich verwiſcht erſcheinen. Her¬
vorragende Denker ſind der irrigen Meinung zum Opfer
gefallen, daß ſie das, was ſo recht eigentlich Wirklichkeit
zu nennen ſei, da erfaſſen könnten, wo ſie ſich auf den
Wegen der Abſtraction am weiteſten von dem ſinnlichen
Urſprung aller Wirklichkeit entfernt hatten. Ganze Ge¬
nerationen haben ſich auf ſolchen Bahnen mit fortreißen
laſſen. Wenn nun dem menſchlichen Geiſt die Beſonnen¬
heit zurückkehrt, ſo durchſchaut er wohl die Leere und Will¬
kürlichkeit deſſen, was ihm für die höchſte Erkenntniß ge¬
golten hatte; aber gerade darum verfällt er leicht einem
anderen Irrthum. Indem das Denken, anſtatt ſich über
die Erfahrung zu erheben, ſeine ganze Kraft auf die Er¬
fahrung concentrirt, indem man alle Vorſicht anwendet,
um ſich bei den auf immer vollſtändigere Erkenntniß ab¬
zielenden geiſtigen Operationen nicht einen Schritt von der
ſinnlich erfahrbaren Wirklichkeit zu entfernen, indem man
nichts als wirklich anerkennt, was man nicht der Erfahrung
unmittelbar zu verdanken ſich bewußt iſt, lebt man der
Ueberzeugung, daß man die ganze mögliche Erfahrung und
ſomit den geſammten thatſächlichen Beſtand der Wirklichkeit,
ſoweit er uns bekannt werden könne, in der Sprache des
discurſiven Denkens zum Ausdruck zu bringen vermöge.
Fiedler, Urſprung. 2[18] Man zweifelt gar nicht daran, daß man ſich von Jenen,
welche ihr Weltbild aus Worten zuſammenſetzen, dadurch
unterſcheidet, daß man nicht Worte, ſondern Dinge, die
Beſtandtheile der Wirklichkeit ſelbſt, zu dem großen Syſtem
der Erkenntniß verarbeitet. Und doch ſollte ſchon die That¬
ſache, daß wir Dinge gar nicht unmittelbar zu erfaſſen
vermögen, daß wir der Benennung, der Bezeichnung be¬
dürfen, um überhaupt erſt einen Zuſammenhang herſtellen
zu können, der unſer Erkenntnißbedürfniß befriedigt, ſchon
dieſe Thatſache ſollte uns davor bewahren, das Material
unſerer erfahrungsmäßigen Erkenntniß mit der Wirklichkeit
ſelbſt zu verwechſeln. Den Stoff für ihre Thätigkeit findet
auch die beſonnenſte Forſchung nur auf demſelben Gebiete,
auf dem auch die Willkür ihre luftigen Gebäude errichtet.
Keine Erkenntniß, die exacte ſo wenig wie die ſpeculative,
kann über ein anderes Wirklichkeitsmaterial verfügen, als
über dasjenige, welches in der Entwickelungsform des
Wortes beziehentlich des Zeichens vorliegt.


Nach alledem iſt der Sinn, den das Wunder der
Sprache hat, nicht der, daß ſie ein Sein bedeutet, ſondern
der, daß ſie ein Sein iſt. Und da das, was in der
ſprachlichen Form zur Entſtehung gelangt, außerhalb dieſer
Form überhaupt nicht vorhanden iſt, ſo kann die Sprache
auch immer nur ſich ſelbſt bedeuten. Der Werth eines
Wortes beruht nicht auf dem, was man für ſeinen In¬
halt auszugeben pflegt, auf den unſeren Sinnesgebieten
angehörigen Vorgängen, aus denen es ſich entwickelt, und
von denen es in größerer oder geringerer Lebendigkeit
[19] wohl auch aſſociativ begleitet wird, — ſein Werth beruht
vielmehr darauf, daß ſich das Wirklichkeitsbewußtſein,
welches zunächſt nur aus jenen vagen Sinnesvorgängen
beſtand, im Wort um ein neues Element, einen neuen
Stoff bereichert, in dem überhaupt erſt die überraſchende
Möglichkeit eines in ſich zuſammenhängenden und be¬
ſtimmten Wirklichkeitsaufbaues gegeben iſt. Man wird
auf Grund dieſer Auffaſſung dem unberechenbaren Werthe
der Sprache gerecht werden und doch die Grenzen nicht
überſehen, die der ſich in und durch die Sprache voll¬
ziehenden Entwickelung des menſchlichen Geiſtes geſetzt
ſind. Dieſe Grenzen liegen nicht da, wo man gemeiniglich
die Grenzen der Erkenntniß zu conſtatiren pflegt, jenſeits
des Gebietes einer möglichen Erkenntniß, vielmehr hat die
Erkenntniß noch andere, näher liegende Grenzen, die ſo¬
zuſagen diesſeits einer möglichen Erkenntniß liegen; denn
da ſie an die Form der Sprache oder der Zeichen gebunden
iſt, kann es ihr niemals gelingen, ſich jenes geſammten
reichen Werdens, als welches uns die Wirklichkeit zunächſt
zum ahnungsvollen Bewußtſein kommt, zu bemächtigen, und
es zu einem klaren und beſtimmten Sein zu entwickeln.


Mancherlei Betrachtungen ſind hier noch anzuſchließen.
Wo man gewohnt war, einen Gewinn, eine Errungenſchaft
zu ſehen, da erkennt man, daß dieſer Gewinn zugleich mit
einem Verluſt verbunden iſt, daß dieſe Errungenſchaft zu¬
gleich einen Verzicht bedeutet. Wenn der Menſch ſein
geiſtiges Leben überſchaut, wenn er ſieht, wie Empfindungen
zu Wahrnehmungen zuſammentreten, Vorſtellungen ſich ge¬
2 *[20] ſtalten, Begriffe ſich bilden, wie ſich an der Sprache der
Begriffe ſein Denken entwickelt, wie dieſes Denken, um zu
gewiſſen Zielen zu gelangen, auch noch das bunte Gewand
der Sprache abwirft und ſich nur noch in Zeichen dar¬
ſtellt, ſo wird er ſich einer Entwickelung ſeiner geiſtigen
Natur bewußt, die ihn weit hinaus hebt über alle ſeine
Mitgeſchöpfe, und in der er die höhere geiſtige Beſtimmung
anzuerkennen ſich berechtigt fühlt, zu der er inmitten anderer
Geſchöpfe berufen iſt. Von dieſem ſtolzen Bewußtſein
braucht er nun zwar nicht dadurch zurückgebracht zu wer¬
den, daß er die Reſultate ſeiner Denkthätigkeit als das
betrachten lernt, was ſie in Wirklichkeit ſind, als Bildungen,
die ſich aus dem flüſſigen Stoffe des geſammten ſinnlich¬
ſeeliſchen Lebens in feſter Geſtalt ausſondern und ein eigenes
Reich des Seienden bilden; aber er ſieht doch ein, daß
er den Werth ſeiner Denkthätigkeit überſchätzt hat, inſofern
dieſelbe zwar einen beſtimmten gleichſam aus allen Ele¬
menten der ſinnlich gegebenen Wirklichkeit zubereiteten Stoff,
keineswegs aber dieſe Wirklichkeit ſelbſt unter die Macht
des Bewußtſeins giebt. Und infolgedeſſen begreift er, daß
der neue, abgeleitete Inhalt, indem derſelbe mehr und mehr
von ſeinem Bewußtſein Beſitz ergreift, jenen elementaren
Bewußtſeinſinhalt verdrängt, und daß ſo der menſchliche
Geiſt, indem er die Wirklichkeit mehr und mehr erfaßt,
von dem Urſprung aller Wirklichkeit mehr und mehr ab¬
gedrängt wird.


Und ferner, wo man ein Mittel ſah, zur Macht und
Freiheit zu gelangen, da ſieht man nun, daß unter der
[21] Macht ein Zwang, unter der Freiheit eine Beſchränkung
verborgen iſt. Wohl fühlt ſich der Menſch wie unter einem
Banne, wenn er den andringenden Eindrücken eine rege
und allſeitige Empfänglichkeit entgegenbringt, wenn die Fluth
des Seienden höher und höher um ihn, in ihm ſteigt.
Zur geiſtigen Freiheit glaubt er nur gelangen zu können,
wenn es ihm gelingt, die Eindrücke, denen er unterliegt,
ſeinerſeits zu Objecten ſeiner geiſtigen Thätigkeit zu machen.
In ſeiner Denkfähigkeit ſieht er die geiſtige Macht, der
ſich nach und nach der geſammte Inhalt des Seienden
unterwerfen muß, und durch ſie meint er die Freiheit zu
erlangen, die das Bedürfniß ſeiner geiſtigen Exiſtenz iſt.
Sobald er aber den Vorgang durchſchaut, der ſich im
Denken vollzieht, wird ihm jene Macht und Freiheit doch
nur ſehr bedingt erſcheinen; denn ſie beruht auf einem
Zwang, der dem geiſtigen Drange in ſeinem Inneren an¬
gethan wird. Dieſer Zwang beſteht in der Nothwendig¬
keit, die Wärme des Gefühls, die Fülle und den Reich¬
thum des ahnenden Schauens, der ſich drängenden und
ſich ablöſenden Vorſtellungen in das Wort, in den Begriff
zu verwandeln, um Klarheit, Ordnung, Zuſammenhang da
zu ſchaffen, wo zwar Wärme und Reichthum, aber Dunkel
und Verwirrung war. So lebendig kann das Bewußtſein
von der Verwandlung werden, welcher die unmittelbare
Wirklichkeit ſich unterwerfen muß, um als Wort, als Be¬
griff ſich darſtellen zu können, daß die frühere Überſchätzung
der dem menſchlichen Geiſt innewohnenden erkennenden
Kraft ſich leicht in eine Mißachtung verwandelt. Meinte
[22] man erſt, in der Erkenntniß alles zu beſitzen, ſo meint
man nun, durch ſie vielmehr alles zu verlieren. Die geiſtige
Freiheit, zu der man ſich in der Erkenntniß zu entwickeln
glaubte, erſcheint als eine geiſtige Beſchränkung, da man
nicht im Stande iſt, das dunkle Sein, deſſen mannich¬
fache Werdeluſt man ahnend im eigenen Inneren gewahrt,
anders zu einem klaren Sein zu entwickeln, als dadurch,
daß man es ſelbſt aufgiebt und etwas anderes an ſeine
Stelle ſetzt.


Und endlich, wo man das geiſtige Licht ſah, welches
ſich über die Welt und den Zuſammenhang ihrer Er¬
ſcheinungen verbreitete, da ſieht man nun eher einen Schleier,
welcher die wahre Natur des Seienden verhüllt. Während
man durch das in dem ſprachlichen Ausdruck ſich dar¬
ſtellende Denken das geheimſte Weſen der Erſcheinungen
offenbar zu machen glaubte, erkennt man nun, daß alles
Denken und Erkennen einer großen, aus Worten und Be¬
griffszeichen gewobenen Decke gleicht, unter der das Leben
der Wirklichkeit fortpulſirt, ohne ſich aus ſeinem dunkeln
Zuſtande an das Tageslicht emporarbeiten zu können. Und
wäre dem Einzelnen nur immer gegenwärtig, welch reiches,
noch zu keinem Ausdruck entwickeltes Leben vorhanden ſein
müſſe, damit nur überhaupt jene beſondere Art der Aus¬
drucksformen entſtehen könne, in der wir die Wirklichkeit
denkend zu erfaſſen vermögen! Dies aber wird durch dieſe
Formen ſelbſt erſchwert, verhindert. Der Einzelne gelangt
ja nicht durch eigene entwickelnde, ſchaffende Thätigkeit in
den Beſitz derſelben: er ſchafft die Welt nicht, die er durch
[23] das Denken erwirbt, er lernt ſie. Indem er aber von
vornherein der Wirklichkeit als einer zu erlernenden gegen¬
übergeſtellt wird, entgeht es ihm, daß alles, was er zu
lernen und zu lehren vermag, nicht die Wirklichkeit, ſon¬
dern nur eine Form der Wirklichkeit ſein kann.

[[24]]

2.

Die ſehr verbreitete Ueberſchätzung des theoretiſchen
Wiſſens und Erkennens ſchlägt leicht bei denen in eine
Unterſchätzung um, die es in ſeinem eigentlichen Weſen
durchſchaut haben. In der That hat die Erkenntniß, daß
aller theoretiſche Wirklichkeitsbeſitz ein Wortbeſitz iſt, etwas
Entmuthigendes. Selbſt da, wo man mit dem Denken der
Sinnlichkeit unmittelbar nahe iſt, wo man in demſelben
Augenblick, in welchem ein concreter Beſtandtheil des Den¬
kens vor das Bewußtſein tritt, unwillkürlich den Uebergang
zu einem ſinnlich Gegebenen macht, wo alſo das ſinnlich
Gegebene recht eigentlich der Gegenſtand ſelbſt des Denkens
zu ſein ſcheint; ſelbſt da ſieht man ſich durch die einfache
Thatſache, daß man ſich denkend verhält, durch eine nicht
auszufüllende Kluft von dem ſinnlichen Stoff der Er¬
fahrung getrennt. Das, was ſich den Sinnen in ſeiner
eigenſten Naturgeſtalt offenbart, unterliegt, wie ſchon er¬
wähnt, durch die bloße Berührung des denkenden Geiſtes
einer Verwandlung, und das, was man thatſächlich beſitzt,
erinnert in nichts mehr an das, was man hat ergreifen
wollen. Sind nicht diejenigen im Recht, die ſich allen
Denkens und Wiſſens entſchlagen und die Wirklichkeit nur
[25] in den unmittelbaren Phänomenen ihres Wahrnehmungs-
und Gefühlslebens erfaſſen zu können glauben?


Indeſſen während jener Ueberſchätzung der Erkennt¬
niß die irrthümliche Annahme zu Grunde lag, daß dem
Menſchen eine Welt des Seins und Geſchehens als Außen¬
welt gegeben ſei, die er mit dem Licht ſeines erkennenden
Geiſtes nur zu beleuchten, und, was er da ſah, nur aus¬
zuſprechen brauchte, ſo beruht die nunmehrige Unterſchätzung
auf einer Annahme, die auch ihrerſeits der Prüfung be¬
darf. Indem der Menſch lernt, die Beſtandtheile der
Wirklichkeit nicht mehr außer ſich, ſondern zunächſt im
eigenen Bewußtſein zu ſuchen, wird er ſich ſagen, daß er
die Wirklichkeit in ſeinen Sinnesvorſtellungen in viel un¬
verfälſchterer Geſtalt beſitzt, als in dem Syſtem von Worten
und Begriffen, die, wenn ſie auch ein Product der ſinn¬
lichen Vorſtellungswelt ſind, doch keinerlei ſtoffliche Ver¬
wandtſchaft mehr mit derſelben haben. Wenn ich die Bezeich¬
nung irgend eines Gegenſtandes nehme, wie Tiſch, Baum,
Berg, und meine Aufmerkſamkeit auf den zwiefachen In¬
halt richte, den ich in meinem Bewußtſein wahrnehme,
auf die Wortvorſtellung auf der einen Seite, auf die ſinn¬
liche, gegenſtändliche Vorſtellung auf der anderen Seite, ſo
kann mir jene wohl als das Minderwerthige erſcheinen,
während ich den eigentlichen Wirklichkeitswerth dieſer bei¬
meſſen muß. Zudem beruht Möglichkeit und Werth des
Wortes auf ſeiner Herkunft aus der ſinnlichen Vorſtellung,
während die ſinnliche Vorſtellung ihren vollen Werth auch
abgeſehen von jeder ſprachlichen Bezeichnung beſitzt.


[26]

Die Vorausſetzung für dieſe Anſchauung liegt darin,
daß an Stelle des Glaubens an eine von aller Vorſtellung
unabhängige Außenwelt der andere Glaube an eine gegebene
Vorſtellungswelt getreten iſt. Dieſer Glaube beherrſcht in
der That die allgemeine Denkweiſe. Bei ihm bleibt der¬
jenige ſtehen, der ſich aus dem Bann naiv-realiſtiſcher An¬
ſchauungsweiſe freigemacht hat. Zweifellos kann der ge¬
ſammte geiſtige Zuſtand — und dieſes Wunder vollzieht
ſich tagtäglich, heute wie immer — keine größere Um¬
wandlung erfahren, als diejenige, welche ſich durch die
Zerſtörung der realen Gewißheit der gegebenen Wirklich¬
keit vollzieht. Die Stellung des Menſchen innerhalb der
Welt erſcheint damit gänzlich verändert. Seine anſcheinend
paſſive Rolle hat ſich in Wahrheit als eine active enthüllt;
wenn er ſich ſonſt beruhigt dem Bewußtſein überlaſſen
konnte, daß er mit ſeinem Geiſte außerhalb der realen
Welt, ihr gegenüber ſtehe, ſo muß er ſich nunmehr einge¬
ſtehen, daß er ſelbſt als ein empfindendes, denkendes Weſen
zum Mindeſten eine Mitbedingung alles deſſen iſt, was
ihm als Wirklichkeit erſcheint. Einestheils ſteigt er da¬
durch von ſeinem erhabenen, außerweltlichen Standpunkte
herab, anderentheils erſcheint er in einer neuen, höheren
Bedeutung. Es kann ihn mit Stolz erfüllen, daß ohne
ihn dieſe ganze ungeheure Wirklichkeitserſcheinung nicht
als vorhanden gedacht werden kann, und zugleich kann ihn
eine Art Grauen überkommen, wenn er ſich lebhaft ver¬
gegenwärtigt, daß es ſein eigenes kleines Daſein iſt, auf
welches das Daſein eines ſo Unermeßlichen geſtellt iſt.
[27] Bei alledem ſagt er ſich aber doch, daß die Welt in ihrem
ſinnlichen Vorhandenſein nach wie vor für ihn dieſelbe iſt.
Ob er durch ſeine ſinnliche Empfänglichkeit etwas zu er¬
halten meint, was gerade ſo, wie er es erhält, auch ab¬
geſehen von ſeiner ſinnlichen Empfänglichkeit als vorhanden
gedacht werden könne, ob er begriffen hat, daß er von
einem An-ſich-ſein der wahrgenommenen Dinge nicht reden
kann, weil es doch immer nur ſeine eigenen Wahrnehmungen
ſind, deren er ſich bewußt wird, ſo weiß er doch, daß er
gleichſam nur die Thore der Sinne zu öffnen braucht, um
der ſich mit voller ſinnlicher Gegenwart andrängenden
Wirklichkeit gewiß zu werden. Mit ſeinem eigenen ſinn¬
lichen Daſein iſt ihm das ſinnliche Daſein der Dinge ge¬
geben; es iſt der Beſitz, der ihm mühelos zufällt, der un¬
erſchöpfliche Schatz, aus dem er mit ſeinen Sinnesorganen
Erſcheinung auf Erſcheinung ſchöpft, der feſte nicht wan¬
kende Boden, auf dem ſich Alle zur Uebereinſtimmung ge¬
zwungen ſehen, die auf einen normalen Zuſtand ihres
Organismus Anſpruch machen.


Der Menſch bedarf eines feſten Bodens unter ſich,
eines Seienden, und wenn er daſſelbe nicht außer ſich
finden kann, ſo ſucht er es in ſich. Schon die Art, in
der der Satz von der Relativität des Seins formulirt zu
werden pflegt, hat die Annahme zur Vorausſetzung, daß
es ein Sein gebe, von dem man die Relativität ausſagen
könne, und nirgend anders kann dieſes Sein gefunden
werden, als in der ſinnlichen Vorſtellungswelt. Wenn
unter dem zerſetzenden Einfluß ſkeptiſchen Sinnes alle
[28] Möglichkeit der Erkenntniß zweifelhaft wird, wenn kritiſches
Nachdenken lehrt, daß das, was wir Wahrheit zu nennen
berechtigt ſind, nirgends zu finden iſt, als in den jeweiligen
Reſultaten, zu denen die geiſtige Thätigkeit des Menſchen,
ſich immer erneuernd, ſich immer entwickelnd, bildend, zer¬
ſtörend und wieder bildend gelangt, ſo iſt der auf un¬
mittelbarer ſinnlicher Wahrnehmung beruhende Wirklich¬
keitsbeſitz, wenn er auch nach ſeinem bloßen Erſcheinungs¬
werthe anerkannt wird, der ſichere Halt innerhalb einer
Welt des Seienden, welche ſich dem tieferen Nachdenken
als ein mehr oder minder unſicherer Gedankenbeſitz dar¬
ſtellt. Hier erſcheint der Menſch in der That mehr em¬
pfangend als thätig; auch wenn er ſich darüber klar iſt,
daß er die Vorſtellung einer gegenſtändlichen Welt mit
allen ihren ſinnlichen Qualitäten der Function ſeiner Sinnes¬
werkzeuge verdankt, ſo empfängt er doch die Gewißheit
dieſer ſinnlichen Wirklichkeit weniger als das Reſultat
einer ſich in ihm und durch ihn vollziehenden Thätigkeit,
als vielmehr als unmittelbar gegenwärtigen Eindruck, ſo¬
bald nur die ſinnliche Empfänglichkeit vorhanden iſt.
Während jeder Schritt auf der Bahn des Wiſſens und
Erkennens einen Aufwand von geiſtiger Energie erfordert,
ſo fällt uns die Welt, ſoweit ſie ſinnlich wahrnehmbar iſt,
gleichſam als Geſchenk zu, ſobald wir nur ins Leben ein¬
treten. Die Natur ſelbſt lehrt den Gebrauch der Sinne;
das Denken bedarf der Unterweiſung. Was Wunder, daß
wir auf feſtem Grund zu ſtehen meinen, ſolange wir den
Boden ſinnlicher Wahrnehmung nicht verlaſſen? Zwar
[29] ſehen wir alle Möglichkeit einer Entwickelung des geiſtigen
Lebens, einer Ausbildung der den Menſchen über ſeine
Mitgeſchöpfe erhebenden Fähigkeiten an die Denkthätigkeit
gebunden, aber wir können uns der Einſicht nicht ver¬
ſchließen, daß die Welt des Denkens in allen ihren Be¬
ſtandtheilen ein Erzeugniß menſchlicher Thätigkeit ſei, und
durch keinerlei Autorität, die außerhalb dieſer Thätigkeit,
über derſelben ſtände, gegen Irrthum, Zweifel und An¬
fechtung geſichert werden könne. In der Welt der Sinnes¬
wahrnehmungen dagegen, wenn auch ihre Möglichkeit an
die Functionen der Sinnesorgane gebunden iſt, erſcheint
doch ein Vorhandenes unmittelbar und ein für allemal
gegeben. Die Welt, wie ſie ſich den Sinnen darſtellt, iſt
die gegebene Welt aller Menſchen und aller Zeiten, ſie iſt
das gemeinſame Erbtheil, welches uns allen zufällt, ohne
daß wir uns darum zu bemühen brauchten; ſie iſt der feſte
Grund und Boden, auf dem wir mit unſeren Mitgeſchöpfen
ſtehen, von dem wir wiſſen, daß er derſelbe war für die
vergangenen, daß er derſelbe ſein wird für die kommenden
Geſchlechter; ſie iſt der Ausgangspunkt für den Erkenntniß
ſuchenden Geiſt, und zugleich die letzte Inſtanz, auf die ſich
dieſer zurückgewieſen ſieht, wenn er die Zuverläſſigkeit ſeiner
Sätze gegen Zweifel und Anfechtung zu vertheidigen hat.


So hat die Welt des ſinnlichen Erſcheinens einen
unbeſtrittenen Vorzug vor der Welt, die ſich aus geiſtigen
Operationen aufbaut und in ihrem Sein an die Formen
des Denkens gebunden iſt; ſie hat eine gewiſſe Würde,
weil ihre Herkunft jenſeits der Sphäre alles menſchlichen
[30] Thuns und Denkens vorausgeſetzt werden zu müſſen ſcheint.
Und dennoch iſt der Rang, den ſie in dem geſammten
geiſtigen Sein des Menſchen einnimmt, nur ein unterge¬
ordneter. Ihr ganzes Verdienſt iſt ihr Vorhandenſein; ſie
wahrnehmen iſt alles, was der Menſch zu thun hat, um
ſich ihrer zu vergewiſſern. Wohl unterſcheiden ſich die
Menſchen in Anſehung des Umfanges und der Klarheit
ihres ſinnlich wahrgenommenen Wirklichkeitsbeſitzes; dieſe
Unterſchiede beruhen aber doch nur auf Verſchiedenheiten
in den niederen Regionen ſinnlich-geiſtiger Beanlagung;
vielfach finden ſie auch in den zufälligen Verſchiedenheiten
äußerer Umſtände ihre hinreichende Erklärung. Auch der
reichſte und vollkommenſte Sinnesbeſitz läßt ſeinen Eigen¬
thümer nur auf einem ſehr niedrigen Standpunkt erſcheinen,
ſo lange er nichts anderes bleibt, als Sinnesbeſitz. Die
geiſtige Entwickelung des Menſchen beginnt erſt da, wo
er aufhört, ſich bloß ſinnlich wahrnehmend zu verhalten,
wo er anfängt, die ſinnlich wahrgenommene Wirklichkeit
als ein gegebenes Material anzuſehen und gemäß den
Forderungen ſeines Verſtandes zu bearbeiten, zu verwerthen,
zu verwandeln.


Wie ſehr das Denken von dieſer Auffaſſung des Ver¬
hältniſſes zwiſchen Beſitz an Sinnenmaterial und geiſtiger
Thätigkeit beherrſcht wird, zeigt ſich beſonders deutlich in
den Unterſuchungen, die man über das ganze Gebiet der¬
jenigen pſychiſchen Vorgänge anſtellt, die in unmittelbarer
Abhängigkeit von den Vorgängen in den Sinnesapparaten
ſtehen. Ganz anders als die ältere Pſychologie behandelt
[31] die phyſiologiſche Pſychologie dieſe Probleme; die Einblicke,
die man ihr in die Vorgänge verdankt, in denen das
Wahrnehmungs- und Vorſtellungsleben auf den verſchiedenen
Sinnesgebieten beſteht, ſind nicht hoch genug anzuſchlagen.
Die Vorausſetzung aber iſt für die neue Methode keine
andere, als ſie für die alte war. Die Vorſtellungen von
den Dingen der Außenwelt ſind gegebene Größen; indem
man ihre Entſtehung und Entwickelung auf dem Boden
der ſinnlich-geiſtigen Natur des Menſchen zu verfolgen und
aufzuhellen bemüht iſt, zweifelt man nicht daran, daß man
in ihnen ein beſtimmtes in ſich abgeſchloſſenes Gebiet des
inneren Lebens vor ſich habe. Man belehrt denjenigen,
der in den Vorſtellungen gleichſam nur das geiſtige Spiegel¬
bild eines ſinnlich Vorhandenen ſieht, über die unendliche
Complication pſychophyſiſcher Vorgänge, auf denen die
Geſtaltung einer Vorſtellung beruht, aber man unterſcheidet
ſich inſofern nicht von ihm, als man ſo gut wie er in der
vorhandenen Vorſtellungswelt diejenige Form des Wirk¬
lichkeitsbewußtſeins ſieht, welche das gegebene unveränder¬
liche Material für die höheren geiſtigen Operationen bildet.


Es liegt hier ein Mißverſtändniß des wirklichen Sach¬
verhalts vor, welches nicht weniger verhängnißvoll iſt, als
das Mißverſtändniß, welches der naiv-realiſtiſchen Meinung
zu Grunde liegt. Und zudem iſt es ſchwerer, dieſes zweite
Mißverſtändniß zu zerſtören, als jenes erſte. Es erſcheint
ſo conſequent, an die Stelle der Dinge, die uns nur in
unſeren Vorſtellungen bekannt werden können, eben die
Vorſtellungen von den Dingen zu ſetzen, und das Object
[32] unſerer geiſtigen Operationen nicht mehr in der Wirklich¬
keit ſchlechthin, ſondern in der als Erſcheinung, Vorſtellung
gegebenen Wirklichkeit zu erblicken. Man geräth da nur
aus einem Dogmatismus in den anderen und bleibt zu¬
dem in dem ſonderbaren Irrthum befangen, daß man geiſtige
Thätigkeit und Objecte einer geiſtigen Thätigkeit ſich als
zweierlei Dinge gegenüberſtellen könne, während geiſtige
Thätigkeit abgeſehen von einem ſogenannten Object, und
ein ſogenanntes Object abgeſehen von einer geiſtigen Thätig¬
keit ganz unverſtändliche Worte ſind.


In der That ſtehen der Annahme, daß dem ewig
veränderlichen geiſtigen Beſitz gegenüber das ſinnliche Phä¬
nomen der Welt eine gegebene Größe ſei, erhebliche Be¬
denken entgegen. Wenn wir ſagen, daß das Denken die
Vorſtellungen beherrſcht, ſie als den ihm zu Gebote ſtehen¬
den, vorhandenen Stoff behandelt, ſie vor das Forum des
Bewußtſeins citirt, um ſie zu ordnen und in unabläſſiger
Arbeit in denjenigen Zuſammenhang zu bringen, in welchem
ſie dem erkenntnißbedürftigen Geiſt Genüge zu thun geeignet
ſind, ſo dürfen wir doch nicht vergeſſen, daß wir uns nur
einer bildlichen Ausdrucksweiſe bedienen. Sobald wir
näher zuſehen, müſſen wir uns eingeſtehen, daß das Bild
eher geeignet iſt, den thatſächlichen Vorgang zu verhüllen,
als denſelben anſchaulich zu machen. Denn ſobald wir
verſuchen, das, was wir als ſich gegenüberſtehend betrachten,
die Welt des Denkens und die Welt der ſinnlichen Vor¬
ſtellungen zu trennen und geſondert zu betrachten, ſo finden
wir zwar auf der Seite des Denkens die beſtimmten Werthe
[33] der Begriffe, auf Seite der Vorſtellung aber keinerlei be¬
ſtimmten Werth, ſondern wechſelnde, gleichſam fließende
Bewußtſeinszuſtände. Wir ſind ſo ſehr gewöhnt, uns in
der Welt an dem Leitfaden des Denkens zurecht zu finden,
daß wir die Hülfloſigkeit gar nicht ſehen, der wir preis¬
gegeben ſind, wenn wir es verſuchen, uns nicht denkend,
ſondern nur vorſtellend zu verhalten. Selbſt wenn wir
etwas ganz Beſtimmtes, Individuelles nehmen, ſei es eine
Perſon oder ein Gegenſtand, was finden wir in unſerem
Bewußtſein vor, wenn wir unſer Augenmerk auf das richten,
was nun eigentlich den Inhalt, die ſinnliche Subſtanz
deſſen bildet was wir durch das Wort zu bezeichnen meinen?
In unendlich abgeſtuften Deutlichkeitsgraden wird derſelbe
Gegenſtand immer als ein anderer in unſer vorſtellendes
Bewußtſein treten, von der hellſten Gegenwärtigkeit bis
zu nahezu verſchwindender Erinnerung. Ueber dieſes Leben
der Vorſtellungen hat keinerlei Denken irgend eine Macht.
Wenn ich ſage: der Baum iſt grün, ſo berührt dies die
Unendlichkeit der Vorſtellungsmöglichkeiten, in denen ein
grüner Baum in meinem Bewußtſein vorkommen kann,
gar nicht. Und ſo iſt es durchgehends. Auch muß es
einer irrigen Meinung über die inneren Vorgänge Vor¬
ſchub leiſten, wenn man dieſelben ſo vorführt, daß Em¬
pfindungen zu Wahrnehmungen zuſammentreten, Wahr¬
nehmungen zu Vorſtellungen ſich ſteigern, aus Vorſtellungen
Begriffe ſich entwickeln. Man geht davon aus, daß die
Entwickelung von Empfindung zu Wahrnehmung, von
Wahrnehmung zu Vorſtellung, von Vorſtellung zu Begriff
Fiedler, Urſprung. 3[34] diejenige ſei, die ſtattfinden müſſe, damit der Menſch zu
einem klaren und umfaſſenden Wirklichkeitsbewußtſein ge¬
langen könne. Man ſetzt voraus, daß die vollſtändige
ſinnliche Aneignung eines Dinges vorhanden ſein müſſe,
damit die Gewißheit ſeines Seins in die Form des Be¬
griffs eingehen und ein Gegenſtand des Denkens werden
könne. Aber abgeſehen davon, daß im Begriff etwas ganz
anderes dem Bewußtſein zugeführt wird, als das ſinnliche
Daſein der Dinge, muß auch jedes Bemühen, zur Voll¬
ſtändigkeit einer beſtimmten ſinnlichen Aneignung eines
Gegenſtandes zu gelangen, anſtatt auf Bildung eines Be¬
griffs hinauslaufen zu müſſen, dieſelbe vielmehr ausſchließen;
denn in demſelben Augenblick, in dem der Begriff von dem
Bewußtſein Beſitz ergreift, erfährt jenes ſinnliche Bemühen
eine Unterbrechung und vermag erſt dann wieder in ſeine
Rechte einzutreten, wenn das begriffliche Denken aus dem
thätigen Bewußtſein verſchwunden iſt.


Noch einer anderen irreführenden Anſchauung iſt hier
zu gedenken. Man pflegt die Entwickelung des geiſtigen
Lebens bei dem einzelnen Menſchen ſo aufzufaſſen, als ob
ſie von ſinnlicher Gebundenheit zu geiſtiger Freiheit führe;
man nimmt an, daß das ſinnlich Gegebene in einen geiſtigen
Beſitz verwandelt werde. Nichts, ſcheint es, kann ſinn¬
licher, körperlicher ſein, als das Material der Welt, das
uns als etwas Bekanntes umgiebt, zu dem wir ſelbſt mit
unſerer ganzen Leiblichkeit gehören. Nichts kann geiſtiger,
ſozuſagen ſubſtanzloſer erſcheinen, als der Begriff, durch
den wir die Körperwelt gleichſam beherrſchen. Aber wir
[35] dürfen nicht vergeſſen, daß nichts Sinnlich-Körperliches
anders gegeben ſein kann, als in Empfindung, Wahr¬
nehmung, Vorſtellung, Vorkommniſſen, die wir doch in
unſere geiſtige Natur verlegen. Das, was als das Aller¬
körperlichſte ſich erweiſt, z. B. der Widerſtand der Materie,
muß ein Geiſtiges ſein, wenn es überhaupt vorhanden ſein
ſoll; und ebenſo muß auch jedes Geiſtige, ſei es ein Ge¬
fühltes, ein Vorgeſtelltes, ein Gedachtes, zugleich ein Körper¬
liches ſein, da es ſonſt nicht wahrnehmbar, mit anderen
Worten, nicht vorhanden ſein könnte. Wenn wir verſuchen,
das, was wir als unſeren vornehmſten geiſtigen Beſitz zu
betrachten gewohnt ſind, den Begriff, als ein Reſultat, als
ein Produkt aufzufaſſen, ſo finden wir, daß ſich hier keines¬
wegs ein Vorgang vollzieht, der von einem materiell, ſub¬
ſtanziell Gegebenen zu einem ganz Körperloſen, nur geiſtig
Vorhandenen führte: im Gegentheil, der vorausgeſetzte
Vorgang könnte uns eher umgekehrt erſcheinen; denn
ſeinen Urſprung müſſen wir in jenen geheimnißvollen
Regionen des geiſtigen Lebens ſuchen, in denen aus Em¬
pfindungszuſtänden zuerſt das Bewußtſein eines Seienden
aufdämmert; am Ende ſehen wir das ſinnlich feſte Ge¬
bilde des Begriffszeichens, in welchem nicht der Träger
des irgendwie geiſtig vorhandenen Begriffs, ſondern dieſer
Begriff ſelbſt ins Daſein tritt. Wir irren ſehr, wenn
wir dem Reiche des gegenſtändlich Vorhandenen ein Reich
des Denkens gegenüberſtellen, dem wir eine rein geiſtige
Beſchaffenheit zuſchreiben; vielmehr ſteht in dem Sprach¬
material, aus dem das Reich des Denkens beſteht, etwas
3*[36] recht ſinnlich Beſtimmtes einer Welt von Bewußtſeinszu¬
ſtänden, Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorſtellungen
gegenüber, die uns noch eher die Täuſchung vorſpiegeln
könnten, als ob in ihnen etwas ſogenannt rein Geiſtiges
gegeben ſei.


Es iſt nicht zu leugnen, daß die Verführung ſehr
nahe liegt, während wir uns in dem Element der Sprache,
der Worte bewegen, die ſinnliche Thätigkeit, die dabei ſtatt¬
findet, zu überſehen. Gerade in der Sprache ſcheint der
menſchliche Geiſt zu ſeiner eigenſten, freieſten, von aller
ſinnlichen Bedingtheit losgelöſten Bethätigung zu ge¬
langen. Das was wir den Inhalt eines Wortes zu
nennen pflegen, ſteht in ſeinem Umfange, ſeiner Weite
ganz außer allem Verhältniß zu dem geringen ſinnlichen
Volumen des Lautgebildes. Dieſes wird eng begrenzt,
jener weit umfaſſend erſcheinen; wir werden meinen, daß
ſich mit der ſinnlich ſo unſcheinbaren Thatſache eines
Wortes etwas mit demſelben ganz incommenſurables Gei¬
ſtiges verbinde. Schon bei Bezeichnungen einfacher, nahe
liegender Gegenſtände, als etwa Tiſch, Haus, Baum und
dergleichen, muß dies auffallen; um wie viel mehr bei
Worten, wie Sonne, Himmel, Welt, oder gar bei Aus¬
drücken wie Tugend, Unſterblichkeit, Unendlichkeit und an¬
deren ähnlichen. Muß es uns nicht ſo vorkommen, als
ob wir gleichwie mit Taſten ſchlummernde Töne aus den
Saiten eines Inſtrumentes, ſo mit den Sprachlauten un¬
endliche Reihen geiſtiger Bildungen aus dem leiblichen
Organ erweckten? Es hat ja in der That etwas Geheim¬
[37] nißvoll-Wunderbares, wie in dem Augenblick, in welchem
ein Wort, etwas an ſich ſo Unbedeutendes und Geringes,
in das Bewußtſein tritt, wie dann ganz plötzlich, wie aus
einem Banne erlöſt, Bilder auf Bilder ſich vor die Seele
drängen, wie eine unendliche ſinnliche Mannichfaltigkeit,
nahe und entfernte geiſtige Beziehungen, Erinnerungen und
Ahnungen, dies alles in dem kleinen, unſcheinbaren Wort
enthalten zu ſein und ſich von ihm aus über unſer Be¬
wußtſein zu ergießen ſcheint. Es iſt nur zu begreiflich,
daß uns das Wort wie ein geiſtiger Herrſcher erſcheint
über das ganze Reich deſſen, was überhaupt als Seiendes
in unſer Bewußtſein treten kann.


Aber wir ſahen, daß der Werth der Sprache, als
des Denkſtoffes, gar nicht darauf beruhen kann, daß wir
in ihr eine Vertretung von Dingen oder von Vorſtellungen
beſäßen; daß wir ſomit nicht Dinge oder Vorſtellungen,
ſondern immer nur Worte denken. Wir überzeugten uns,
daß wir uns einer ſehr uneigentlichen Ausdrucksweiſe be¬
dienen, wenn wir Denken und Erkennen als eine Thätig¬
keit bezeichnen, die in irgend einem Vorhandenen ihr Ob¬
ject hat; daß wir in allem Denken und Erkennen nur eine
Form deſſen beſitzen, was wir als Sein zu bezeichnen
berechtigt ſind. Damit ändert ſich das Verhältniß, in das
wir Denken und Vorſtellungen zu einander zu bringen
gewöhnt ſind. Es kann von keinem Verhältniß der Unter¬
ordnung mehr die Rede ſein. Wir müſſen uns durchaus
von der Meinung frei machen, nach der für die Erfaſſung
des Seins in unſerer ſinnlichen Wahrnehmungs- und Vor¬
[38] ſtellungsfähigkeit eine Art Vorſtufe gegeben ſei, während
es dem Denken und der Erkenntniß vorbehalten bleibe,
dieſes ſelbe Sein erſt nach ſeinem wahren Weſen zu einem
geiſtigen Beſitz zu machen. Wenn wir nun gleichwohl ein
Abhängigkeitsverhältniß zwiſchen Denken und Vorſtellen
thatſächlich beobachten, wenn wir ſehen, wie ſich an Be¬
griffe, an Denkvorgänge, Vorſtellungsvorgänge anknüpfen,
wie umgekehrt mit Vorſtellungen, mögen ſie auf unmittel¬
barer Wahrnehmung oder auf Reproduction beruhen, Worte,
Begriffe, Denkoperationen in das Bewußtſein treten, ſo
werden wir darin doch eben nichts anderes ſehen, als eine
thatſächliche Zuſammengehörigkeit ſo verſchiedener Vorgänge
oder Vorkommniſſe in unſerem Bewußtſein. Worauf dieſe
Zuſammengehörigkeit beruht, dies zu unterſuchen, iſt hier
nicht der Ort; jedenfalls aber müſſen wir dieſelbe nicht
nur als eine pſychiſche, ſondern auch als eine phyſiſche
Zuſammengehörigkeit auffaſſen und zwar nicht nur in dem
Sinne, daß in Folge eines durchgehenden Parallelismus
zwiſchen geiſtigen und leiblichen Vorgängen, da wo ein
geiſtiger Zuſammenhang vorliege, auch auf einen Zu¬
ſammenhang leiblicher Natur geſchloſſen werden müſſe. Das
Zugeſtändniß eines nothwendigen Parallelismus zwiſchen
geiſtigen Vorgängen und Vorgängen im leiblichen Organ
ſchließt nicht aus, daß man im Grunde doch nur an ein
zeitweiliges, gezwungenes Zuſammenſein zweier in ihrem
inneren Weſen getrennter unvereinbarer Elemente glaubt.
Man ſpricht von dieſer Zuſammengehörigkeit unter der
Vorausſetzung, daß körperliche und geiſtige Vorgänge ver¬
[39] ſchiedenen Sphären des Seins angehörten, von denen jede
für ihren Theil eine geſonderte Betrachtung zuließe. Man
giebt zu, daß jede Arbeit des Geiſtes ſich unſerer Wahr¬
nehmung zugleich als eine körperliche Leiſtung ankündigt,
daß alles geiſtige Thun zugleich eine Bethätigung des leib¬
lichen Organismus ſei, daß die Reſultate des leiblich¬
geiſtigen Thuns, der Stoff, die Beſtandtheile des ſoge¬
nannten geiſtigen Lebens ſelbſt, durchaus nicht als bloße
geiſtige Werthe, ſondern in ſinnlicher Form vorhanden
ſeien. Wir mögen ja aus dem ungeheuren Bereiche des
Seienden nehmen, was wir wollen, das Fernſte, wie das
Nächſte, das Umfaſſendſte, wie das Beſchränkteſte, das
Allgemeinſte, wie das Einzelnſte, immer wird es ſich heraus¬
ſtellen, nicht nur als ein unſerem Bewußtſein unmittelbar
angehöriges Geiſtiges, ſondern zugleich als ein uns ebenſo
unmittelbar angehöriges Sinnlich-Körperliches. Indeſſen
ſieht man doch immer noch ein Zweierlei, wo im Grunde
nur ein Einerlei vorhanden iſt. Man hat da nur erſt
den halben Weg zurückgelegt, der von der Annahme einer
dualiſtiſchen Sonderexiſtenz von Geiſt und Körper zu der
Einſicht führt, daß eine Trennung dieſer beiden ſogenannten
Beſtandtheile unſerer Natur, in denen wir den größten
aller vorhandenen Gegenſätze anerkennen zu müſſen glauben,
überhaupt für uns ganz unrealiſirbar iſt. Kein körper¬
licher Vorgang kann nur gleichſam der Träger ſein eines
geiſtigen Werthes, der von ihm verſchieden wäre; es iſt
immer nur ein und derſelbe Vorgang, ein körperlicher, weil
es in der menſchlichen Natur keinen geiſtigen Vorgang
[40] geben kann, der nicht ein körperlicher wäre, und ein
geiſtiger, weil es keinen körperlichen Vorgang geben
kann, der für uns anders als in geiſtiger Form vor¬
handen ſein könnte. Alle Sinnlichkeit, Körperlichkeit,
Leiblichkeit kann für uns nur in den mannichfachen Vor¬
gängen und Formen des Empfindens, Wahrnehmens, Vor¬
ſtellens, Denkens vorhanden ſein, während wir uns, und
wenn wir auch nur den kleinſten Theil dieſes ſogenannten
geiſtigen Lebens ſuchen und finden wollen, ganz ausſchlie߬
lich auf ein in ſinnlicher Form Vorhandenes angewieſen
ſehen. In dem ganzen weiten Reiche des Geiſtigen ver¬
mögen wir ſchlechterdings nichts zu finden, was nicht
körperlich-ſinnlicher Natur wäre; nichts, was wir Theile
unſeres geiſtigen Beſitzes nennen, kann anders geboren
werden, als in leiblicher Geſtalt. Es iſt ein trügeriſcher
Schein, der uns vortäuſcht, es ſei überhaupt eine Trennung,
auch nur eine gedachte Trennung zwiſchen Geiſtigem und
Sinnlichem möglich. Das, was dem reinſten geiſtigen
Gebiet anzugehören ſcheint, irgend eine von aller Möglich¬
keit ſinnlicher Wahrnehmung weit abliegende Abſtraction,
etwas, was je nach dem philoſophiſchen Standpunkt den
Einen das höchſte Sein, den Anderen gar kein Sein mehr
darſtellt, ein Begriff, wie etwa Unendlichkeit, was iſt das
anderes als das ſehr ſinnliche Gebilde eines Wortes?
Und wenn wir das auch zugeben, aber einwenden, daß
durch ſo ein Wort, wie durch eine Zauberformel ein Reich
unabſehbaren geiſtigen Seins erſchloſſen wird, ſo brauchen
wir nur genauer hinzuſehen, um uns zu überzeugen, daß
[41] alles, was über die engen ſinnlichen Schranken der Wort¬
form hinauszugehen, was dem Ausdruck die Tiefe des
geiſtigen Inhalts, die Weite des geiſtigen Umfanges zu
geben ſcheint, ſich doch immer wieder als ein Sinnliches,
ſei es Wort, Bild, Gefühl erweiſen muß. Was auch immer
ein Wort vor das Forum unſeres Bewußtſeins ruft, mögen
es Begriffe, Vorſtellungen, Empfindungen, Gefühle ſein,
was es auch ſein mag, es kann nicht anders in der ſo¬
genannten geiſtigen Sphäre des Begriffes auftreten, als
indem es ſich als ſinnlicher Vorgang an die ſinnliche That¬
ſache des Wortes anſchließt. Jene ſogenannte geiſtige
Sphäre des Wortes iſt thatſächlich nicht größer als ſeine
ſinnliche Sphäre. Es iſt durchaus falſch, zu ſagen, daß
wir uns mit der phyſiſchen Leiſtung, an die unſer pſychiſches
Leben gebunden iſt, ein geiſtiges Reich erſchlöſſen, daß
alle ſinnlichen Vorkommniſſe unſeres ſogenannten geiſtigen
Lebens, wie Wort, Zeichen, Bild, Ton, Geberde nur Sym¬
bole eines Geiſtigen ſeien; es ſind das Reminiscenzen
veralteter Anſchauungen. Jedes Vorkommniß bedeutet nur
ſich ſelbſt, und der Schein, daß es eine Bedeutung beſitze,
die von ihm verſchieden ſei und es überrage, beruht darauf,
daß ſich auf dem Wege der Aſſociation andere Vorkomm¬
niſſe mit ihm verbinden, die ebenſowenig wie es ſelbſt
einem vorgeblichen, in Wahrheit ganz undenkbaren geiſtigen
Reiche angehören, und die auch nur wiederum ſich ſelbſt
bedeuten können.


Haben wir eingeſehen, einestheils, daß unſer Bewußt¬
ſein nicht als ein Ort zu betrachten iſt, an welchem das
[42] Wirklichkeitsmaterial für das Denken nur ſo ſchlechthin zu
finden wäre, ſo daß dieſes jedes Einzelne nur zu bezeichnen
brauchte, um das geſammte in der Vorſtellung gegebene
Sein in diejenige Form zu bringen, die ſeinen eigenen
Geſetzen entſpräche; anderentheils daß die in unſerem Be¬
wußtſein auftretenden und mehr oder weniger die Denk¬
vorgänge begleitenden ſinnlichen Wahrnehmungs- und Vor¬
ſtellungsvorgänge ſo wenig eine rein geiſtige Exiſtenz haben
können, wie das Denken ſelbſt: ſo vermögen wir das, was
wir das ſinnliche Phänomen der Wirklichkeit nennen, un¬
befangener zu prüfen.


Wir ſehen, daß man verhältnißmäßig leicht zu der
Einſicht in die Phänomenalität der ſinnlichen Wirklichkeit
gelangt, und daß man ſich dabei beruhigt, an die Stelle
einer an ſich vorhandenen Welt eine vorgeſtellte Wirklich¬
keit zu ſetzen. Man ſtreift damit aber keineswegs allen
Trug ab, in dem man ſich ſozuſagen naturgemäß befindet.
Gleichwie man ſich ſchwer von der Ueberzeugung losmacht,
daß das Wort, der Begriff etwas vertrete, bedeute, was
auch abgeſehen von Wort und Begriff vorhanden ſei, ſo
bleibt im Grunde doch auch die Meinung beſtehen, daß
alle Wahrnehmung und Vorſtellung doch nur Kunde, oft¬
mals mangelhafte und trügeriſche Kunde gebe von etwas,
was unabhängig von allen Wahrnehmung und Vorſtellung
exiſtire. Dieſes iſt ein Irrthum ſo gut wie jenes. Es
giebt für uns kein ſinnliches Sein, welches nicht Wahr¬
nehmung und Vorſtellung wäre, und alles Verhältniß von
Wahrnehmung und Vorſtellung zur Wirklichkeit iſt doch
[43] immer nur wieder ein Verhältniß von Wahrnehmung und
Vorſtellung zu Wahrnehmung und Vorſtellung; darüber
hinaus werden wir niemals gelangen können. Wir ſind
alſo in Betreff der geſammten ſinnlichen Wirklichkeit auf
das angewieſen, was wir als ſogenannten pſychiſchen Be¬
ſitz in unſerem wahrnehmenden beziehentlich vorſtellenden
Bewußtſein finden. Wir können nun nicht annehmen, daß
dieſer pſychiſche Beſitz nur ſo in der Luft ſchwebe und als
etwas Immaterielles uns zu theil werde. Sowenig irgend
eine Wahrnehmung oder Vorſtellung auf anderen als ſinn¬
lichen Wegen in unſer Bewußtſein gelangen kann, ebenſo¬
wenig kann ſie in anderer Form in unſerem Bewußtſein
exiſtiren, als in der Form eines ſinnlichen Vorganges.
Bedenken wir, daß das geſammte Wahrnehmungs- und
Vorſtellungsleben in keiner anderen Weiſe vorhanden ſein
kann, als in Vorgängen, denen unſer ſinnlicher Organis¬
mus unterworfen iſt, ſo werden wir leicht begreifen, daß
unſere Vorſtellungen nicht als etwas fertig Vorhandenes,
in unſer Bewußtſein Eintretendes und aus ihm wieder
Verſchwindendes angeſehen werden können, ſondern als
etwas Werdendes, Entſtehendes und Vergehendes. Wir
hören nun auf, das Vorhandenſein der Vorſtellungen ſo
auf Treu und Glauben hinzunehmen; wir ſehen ein, daß
unſer ganzer Vorſtellungs- und ſomit Wirklichkeitsbeſitz
ſich nicht weiter erſtreckt als über die Vorgänge, die im
einzelnen Augenblick in uns, an uns ſtattfinden können;
daß in jedem Augenblick die ganze Welt, die wir unſer
nennen können, vergeht und in jedem Augenblick wiederum
[44] neu entſteht, daß wir mit Anderen nicht in derſelben Welt
leben, ſondern daß jeder in einer anderen Welt lebt, ja
daß für den Einzelnen die Welt eines Augenblicks nicht
dieſelbe irgend eines anderen Augenblicks ſein kann.


War durch die Einſicht in den relativen Charakter
alles Seins die Wirklichkeit, die uns ſo unabhängig gegen¬
überzuſtehen ſchien, aufgelöſt worden in eine Wirklichkeit,
deren Sein nur durch unſere Vorſtellung möglich wurde,
ſo erſcheint nun durch die Einſicht in die Unmöglichkeit
der Exiſtenz von Vorſtellungen als vorhandener geiſtiger
Beſtandtheile unſeres Bewußtſeins auch die Wirklichkeit
als Vorſtellung aufgelöſt in ein unendlich mannichfaches
und ewig wechſelndes Geſchehen, deſſen Schauplatz unſer
ſinnlicher Organismus iſt. Hatten wir auf die Frage, wo
nun eigentlich die Wirklichkeit ſei, antworten müſſen, in
unſeren Vorſtellungen: ſo müſſen wir auf die weitere
Frage, wo nun dieſe Vorſtellungen ſind, antworten: ſie
ſind als dauernde Gebilde überhaupt nicht nachweisbar,
ihr Sein beſteht in einem Entſtehen und Vergehen.


Es iſt gewiß nicht leicht, dieſe Conſequenz zuzugeben.
Man mag ſich der Einſicht fügen, daß in uns ſelbſt eine
der Bedingungen liegt, von denen das Vorhandenſein alles
deſſen abhängt, was ſich als ſeiend darſtellt. Damit ſcheint
an und für ſich der Charakter des Seins als eines dauern¬
den Zuſtandes nicht aufgehoben. Aber es muß dem ſo¬
genannten geſunden Menſchenverſtande doch nahezu abſurd
vorkommen, angeſichts der uns umgebenden Wirklichkeit,
von der wir ſelbſt nur ein ſo verſchwindender Theil ſind,
[45] die uns umgiebt und uns überdauert in ihrer materiellen
Beſtändigkeit, in der ganzen Fülle ihrer Geſtaltungen, in
dem ganzen Reichthum ihrer Erſcheinungsweiſen, von dieſer
ſo unwiderleglich wirklichen Welt zu ſagen, ſie ſei nicht
nur in der Möglichkeit des Seins an das Vorhandenſein
unſeres Bewußtſeins gebunden, ſondern ihr geſammtes Sein
beſtehe aus nichts anderem als aus den ewig wechſelnden,
entſtehenden und vergehenden Formen, welche die ununter¬
brochene ſinnlich-geiſtige Thätigkeit unſeres Bewußtſeins
aufweiſe. Indeſſen wer ſich auf den geſunden Menſchen¬
verſtand beruft, ſollte bedenken, daß die Sphäre deſſelben
nicht die Wahrheit, ſondern das Compromiß iſt. Die Ge¬
wißheit der Wirklichkeit iſt keine auf Gründen ruhende
Ueberzeugung, ſondern ein hergebrachter Glaube. Wenn
man aufgehört hat, an die abſolute Realität der gegen¬
ſtändlichen Welt zu glauben, ſo glaubt man an das Vor¬
handenſein einer als Vorſtellung gegebenen Welt. Dieſer
Glaube genügt ſo gut wie jener vollkommen zum praktiſchen
Leben, und ſogar zu dem größten Theil der theoretiſchen Be¬
ſchäftigungen. Das ſkeptiſche Nachdenken muß aber dieſen
Glauben ſo gut zerſtören wie jenen. Die verlorene Ge¬
wißheit muß auf andere Weiſe wieder gewonnen werden;
denn es gilt, daß nur derjenige zu wahrer Gewißheit ge¬
langen kann, der auf dem Punkt geſtanden hat, wo ſich
ihm alles Sein in Trug, alle Gewißheit in Zweifel auf¬
zulöſen ſchien.


Erſt wenn wir den Glauben an eine in Wirklichkeit
oder als Vorſtellung gegebene Welt als einen Irrthum
[46] erkannt haben, erſcheint jede dogmatiſche Befangenheit, in
der ſich das Bewußtſein in Betreff der ſogenannten Wirk¬
lichkeit zu befinden pflegt, geſchwunden. Wir ſehen ein,
daß, wenn wir eine Sache taſten, dieſelbe doch nur darum
auf Sein Anſpruch machen kann, weil ſich aus den Em¬
pfindungen des Widerſtandes die Vorſtellung eines feſten
Körpers entwickelt; und wenn eine Sache als Erinnerung
in uns auftaucht, ſo begreifen wir, daß dieſe Erinnerung
ebenſogut eine Form des Seins dieſer Sache iſt, wie die
allerkörperlichſte Gegenwart. Und ferner, ſo wenig wir,
wenn wir eine Sache unmittelbar mit den Sinnen wahr¬
nehmen, auf den Gedanken kommen werden, daß hier ein
doppeltes Sein vorliege, eins des Gegenſtandes, eins der
Wahrnehmung, ebenſowenig wird es für uns, wenn wir
eine Sache vorſtellen oder denken, noch einen Sinn haben,
dieſem gedachten oder vorgeſtellten Sein das wirkliche Sein
der Sache gegenüberzuſtellen. Denn wir werden uns
darüber klar ſein, daß, da alles Sein nothwendigerweiſe
ein wahrgenommenes, vorgeſtelltes, gedachtes iſt, wir aber
nicht gleichzeitig zweierlei Zuſtände in unſerem Bewußtſein
haben können, von dem Sein, welches die Form der un¬
mittelbaren Wahrnehmung hat, in dem Augenblick nicht
mehr die Rede ſein kann, wo das Sein in der Form der
Vorſtellung erſcheint; und ebenſo daß das Sein in der
Form einer im Bewußtſein erſcheinenden Vorſtellung unter¬
geht, wenn an die, Stelle dieſer die unmittelbare Wahr¬
nehmung tritt.


An die Stelle des Seins tritt ſo ein beſtändiges
[47] Werden; in jedem Augenblicke ſtehen wir dem Nichts gegen¬
über, und in jedem Augenblick erzeugt ſich das, was wir
als ſeiend, als wirklich bezeichnen dürfen. Wollen wir
uns dieſe Einſicht, dieſe Ueberzeugung lebendig und gegen¬
wärtig erhalten, ſo bedürfen wir unzweifelhaft nicht ge¬
ringer Kraft und Selbſtſtändigkeit. Es iſt uns jeder feſte
Halt genommen, den uns die Annahme einer gegebenen,
ſei es von uns unabhängigen, ſei es von uns abhängigen
Wirklichkeit bot, und wir ſehen uns mit unſerem ganzen
Wirklichkeitsbewußtſein auf ein Geſchehen angewieſen, wel¬
ches ſich nicht außer uns, ſondern in uns, durch uns er¬
eignet.


Hieraus folgt dann auch, daß wir das Sein irgend
eines Gegenſtandes und ſomit der geſammten Wirklichkeit
nicht als an einen beſtimmten einheitlichen Entwickelungs¬
proceß in unſerem Bewußtſein gebunden erachten können,
ſondern daß dieſes Sein thatſächlich ein mannichfaltiges
iſt, und daß den verſchiedenen Stoffgebieten, in die es ge¬
mäß der Verſchiedenheit unſerer ſinnlichen Empfindungs¬
fähigkeit zerfällt, ſehr verſchiedene Arten des Wirklichkeits¬
bewußtſeins entſprechen. Wir mögen annehmen, daß die
thatſächliche Mannichfaltigkeit der ſinnlichen Geſtaltung des
Seins ein gemeinſames und an ſich gleichartiges Wirklich¬
keitsmaterial vorausſetze, an dem ſich die verſchiedenartige
ſinnliche Thätigkeit vollziehe. Wir mögen dies annehmen;
nachweiſen können wir es nicht. Denn da wir von keinem
Sein wiſſen können, welches nicht in irgend einer Form
in unſerem Bewußtſein exiſtirte, ſo müßten wir eine Form
[48] nachweiſen können, in der ſich jenes vorausgeſetzte, aller
ſinnlichen Specialiſirung zu Grunde liegende, ſelbſt noch
nicht ſpecialiſirte Sein darſtellte. Wir mögen noch ſo tief
in die Gründe hinabzudringen ſuchen, aus denen ſich die
Mannichfaltigkeit unſeres Wirklichkeitsbewußtſeins wie aus
einem gemeinſamen Urſprung entwickelt — was wir über¬
haupt noch wahrnehmen können, ſind ſchon ſpecialiſirte
Formen und jenſeits derſelben liegt überhaupt nichts Wahr¬
nehmbares mehr, ſondern mit einer Verdunkelung des Be¬
wußtſeins das Ende aller Wahrnehmung. Von dem Sein
eines Gegenſtandes in dem Sinne einer ſinnlichen Einheit¬
lichkeit und Geſammtheit könnte alſo offenbar nur für
Organismen die Rede ſein, die auf einer ſehr tiefen Ent¬
wickelungsſtufe verharren: wo ſich die erſten Anfänge ſinn¬
licher Empfindung nachweiſen laſſen, da mag man voraus¬
ſetzen, daß das geſammte Sein eines Gegenſtandes an ein
einziges Bewußtſeinsmaterial gebunden iſt. Schon wo zu
der Empfindung des Widerſtandes die erſten Spuren der
Lichtempfindung treten, fällt die Möglichkeit eines einheit¬
lichen Seins weg und es tritt eine Vervielfachung ein,
die niemals wieder zu einer Einheit werden kann. Zu
je höheren Formen ſich die Organismen entwickeln, deſto
mehr differenzirt ſich die ſinnliche Empfindung und mit
ihr das Bewußtſeinsmaterial, in welchem ſich das Sein
darſtellt. Wir könnten meinen, eine einheitliche Zuſammen¬
faſſung des Seins müſſe wenigſtens dem Menſchen, als
dem höchſt organiſirten Weſen möglich ſein, da er ſonſt
Begriffe wie Wirklichkeit, Sein gar nicht würde bilden
[49] können. Aber mit dieſen Begriffen befindet man ſich be¬
reits auf dem ſehr ſpeciellen Gebiet, welches ſich in dem
discurſiven Denken darſtellt, und ſehr weit entfernt von
anderen Wirklichkeitsgebieten, zu deren Entwickelung das
Denken unfähig iſt.


Löſt ſich nun das Sein der Dinge in eine ſtoffliche
Mannichfaltigkeit auf, inſofern die Vorkommniſſe, die wir
thatſächlich in unſerem Bewußtſein conſtatiren können, ſo¬
bald ein Seiendes in ihm auftritt, ſtofflich ſehr verſchieden
ſind, ſich als taſtbar, hörbar, ſichtbar, denkbar u. ſ. w.
kundgeben: ſo kommt dazu noch eine Mannichfaltigkeit der
Entwickelungsſtadien, inſofern auf jedem einzelnen Stoff¬
gebiete dasjenige, was ſich uns als ſeiend darſtellt, in
ungemein verſchiedenen Abſtufungen von Deutlichkeit und
Lebendigkeit, Beſtimmtheit und Geſtaltung auftreten kann.
Halten wir uns das immer gegenwärtig, ſo werden wir
zu einem Poſitivismus gelangen, der ganz anderer Art
iſt, als derjenige, deſſen ſich die moderne Denkweiſe rühmt.
Denn da alles Vorhandene ſich uns als zurückgeführt ent¬
hüllt auf die Art der Vorgänge, die in uns, an uns,
durch uns ſtattfinden, ſo werden wir vor allen anderen
geiſtigen Operationen, denen wir irgend ein Vorhandenes
unterwerfen, uns Rechenſchaft darüber geben, an welcherlei
Vorgänge unſeres ſinnlich-geiſtigen Lebens ſein Daſein
gebunden iſt.


Fiedler, Urſprung. 4
[[50]]

3.

Die Einſicht, daß ſich unſer geſammter ſinnlicher Wirk¬
lichkeitsbeſitz auf Wahrnehmungs- und Vorſtellungsvor¬
kommniſſe beſchränkt, die nicht einen gleichmäßig dauernden
Zuſtand, ſondern ein Kommen und Gehen, ein Entſtehen
und Verſchwinden, ein Werden und Vergehen darſtellen
dieſe Einſicht führt uns dazu, in der Wirklichkeit nicht
nur ein flüchtiges, ſondern auch ein vielfach unentwickeltes
oder verkümmertes Gebilde zu erkennen. In Anſehung der
wunderbaren, formen- und farbenreichen Welt, in der wir
leben, die unſere Sinne bald auf das Kleine und Nahe
feſtbannt, bald in die Ferne lockt, um ihnen das Größte
zugänglich zu machen, die ſich bald in feſteſter ſtofflicher
Gegenwart aufdrängt, bald in anſcheinend ſtoffloſeſter Er¬
ſcheinung ſich doch immer noch als ſinnlich vorhanden er¬
weiſt, in Anſehung dieſer Welt, die wir als etwas ſo un¬
begreiflich Kunſtreiches und Vollendetes erkennen, mag es
uns ſchwer werden, dies zuzugeben. Aber wir ſind in
Betreff des Zuſtandes unſeres ſogenannten ſinnlichen Wirk¬
lichkeitsbeſitzes nicht geringeren und nicht weniger ver¬
[51] borgenen Täuſchungen unterworfen, als die ſind, gegen
die wir auf dem Gebiete unſerer ſogenannten geiſtigen
Operationen beſtändig auf der Hut ſein müſſen.


Ueber manche Beſchränkungen, denen unſere ſinnliche
Auffaſſungsfähigkeit unterliegt, täuſchen wir uns freilich
nicht. Wir wiſſen recht gut, daß wir das, was ſich unſeren
Sinnen zunächſt als ein zuſammengeſetztes und mannich¬
faltiges Ganzes darbietet, zerſtören müſſen, ſobald wir es
näher zu ergreifen trachten. Nur ſo lange wir unſere
Aufmerkſamkeit in einem gewiſſen Mittelſtadium der Stärke
erhalten, vermögen wir einen combinirten Sinneseindruck
von einigem Umfange als ein Ganzes aufzufaſſen. Suchen
wir die Intenſität der ſinnlichen Wahrnehmung zu ſteigern,
ſo ſehen wir uns gezwungen, von dem Ganzen auf ſeine
Theile überzugehen, und je genauer wir wahrzunehmen
ſuchen, deſto mehr ſcheint ſich der Umfang deſſen zuſammen¬
zuziehen, was wir noch wahrnehmen können. Auf der
anderen Seite müſſen wir auch den qualitativ gemiſchten
Sinneseindruck in ſeine Beſtandtheile auflöſen, um ihm
näher zu kommen; jeder Verſuch, das, was ſich als ein
ſinnlich Vielfaches in einer gewiſſen Entfernung zeigt, uns
in ſeinem geſammten ſinnlichen Reichthum nahe und immer
näher zu bringen, muß mißlingen. Indem wir die ſinn¬
liche Mannichfaltigkeit eines Eindrucks als ſolche zu er¬
faſſen und uns anzueignen ſuchen, vermögen wir doch nur
eine einzelne Sinnesqualität zu ergreifen. Zu Gunſten
dieſer einen treten die anderen zurück; ja ſie werden bis
zu beinahe gänzlichem Verſchwinden aus der Wahrnehmung
4*[52] vertrieben, je intenſiver wir uns den Eindruck der einen
Sinnesqualität zu machen vermögen.


Dieſen beſchränkenden Bedingungen iſt das Vor¬
ſtellungsleben in ganz gleicher Weiſe unterworfen, ob es
auf unmittelbarer Sinneswahrnehmung oder auf Repro¬
duktion von Vorſtellungen im Bewußtſein beruht. Man
könnte meinen, daß dieſe Beſchränkungen auf der Be¬
ſchaffenheit der Sinnesorgane ſelbſt beruhten, wo deren
Thätigkeit durch die unmittelbare Gegenwart der wahr¬
genommenen Gegenſtände gefordert werde; man könnte in
Folge deſſen vorausſetzen, daß dieſe Schranken nicht vor¬
handen wären, wo das Bewußtſein anſcheinend der vollſten
geiſtigen Freiheit genießt, wo es unabhängig von unmittel¬
barer Thätigkeit der Sinnesorgane, nicht beſtimmt durch
das Vorhandenſein der Dinge ſelbſt, über einen ſcheinbar
unbegrenzten Reichthum von Vorſtellungen verfügt. Auch
hier aber kehrt der Zwang wieder, das unſer vorſtellendes
Bewußtſein jeweilig Erfüllende ſeinem Umfang nach in
demſelben Maße zu beſchränken, in dem es zur Lebendig¬
keit, Klarheit, Deutlichkeit geſteigert werden ſoll; auch hier
vermögen wir nicht, alle ſinnlichen Seiten einer Vor¬
ſtellung gleichzeitig in den Vordergrund unſeres Bewußt¬
ſeins zu bringen; vielmehr ſehen wir einen Wettſtreit
zwiſchen dieſen ſinnlichen Qualitäten eintreten, der bald
von äußeren Umſtänden, bald auch von unſerem Willen
abhängt. Dies kann ja auch nicht anders ſein; denn ob
die Vorgänge, in denen unſer Vorſtellungsleben beſteht,
angeregt werden durch äußere Reize oder durch innere,
[53] ſie ſelbſt bleiben doch immer denſelben Bedingungen unter¬
worfen.


Alle dieſe Thatſachen ſind uns, wie geſagt, hinläng¬
lich bekannt; ſie kommen uns auf Schritt und Tritt zum
Bewußtſein; wir werden aus ihnen aber nicht den Schluß
ziehen, daß ſie uns nur eine mangelhafte ſinnliche Kennt¬
niß der uns umgebenden Welt geſtatten. Wir wiſſen, daß
uns das, was uns gleichzeitig zu thun verſagt iſt, nach
einander mühelos gelingt, und daß wir ſo das Mittel be¬
ſitzen, durch welches wir zur Vollſtändigkeit der ſinnlichen
Auffaſſung gelangen. Es ſind viel verborgenere und nicht
ſo mühelos zu überwindende Schranken unſerer Natur,
die wir im Sinn haben, wenn wir behaupten, der Menſch
laſſe ſich, ihm ſelbſt unbewußt, an einem ſehr unvollkom¬
menen und unentwickelten Weltbild genügen.


Jene Vollſtändigkeit der ſinnlichen Auffaſſung, zu der
wir gelangen zu können vermeinen, iſt im Grunde doch
nur eine ſcheinbare; ſie iſt in Wahrheit nicht vorhanden;
ſie ſtellt ſich nicht als ein beſtimmtes nachweisbares Ge¬
bilde dar; ſie iſt eine Annahme, eine Vorausſetzung, die
wir in unſerem Bewußtſein nicht realiſiren können. Ver¬
gegenwärtigen wir uns unſeren eigenen Zuſtand, an den
jene angebliche Vollſtändigkeit der ſinnlichen Auffaſſung
auch nur eines einzelnen Gegenſtandes gebunden iſt, ſo
ſehen wir uns einem Herumirren unſerer Sinne an dem
Gegenſtand preisgegeben. Heften wir unſere Aufmerkſam¬
keit auf die einzelne Sinnesqualität, ſo endet unſer Be¬
mühen in Rathloſigkeit. Die ſinnliche Sicherheit und
[54] Beſtimmtheit kommt uns bei dem Verſuch der Iſolirung
eines einzelnen Sinnes gar bald abhanden, und wir ſuchen
Zuflucht bei den anderen Sinnen, um die volle Gewißheit
des ſinnlichen Vorhandenſeins des wahrgenommenen oder
vorgeſtellten Gegenſtandes wiederzugewinnen. Suchen wir
dagegen unſere Aufmerkſamkeit auf die in einem Gegen¬
ſtand ſich darbietende ſinnliche Geſammtheit zu concentriren,
ſo entſchwindet uns wiederum die Geſammtheit unter den
Händen, und ohne es zu wollen, erfaſſen wir doch immer
nur einen einzelnen Theil aus dem ſinnlichen Complex.
Aus jener allmähligen ſinnlichen Kenntnißnahme, in der
wir das einzige Mittel erblickten, zu einer Vollſtändigkeit
der ſinnlichen Aneignung irgend eines Gegenſtandes zu
gelangen, entwickelt ſich alſo keineswegs ein Beſitz in
unſerem Bewußtſein, in dem ſich dieſe ſinnliche Vollſtän¬
digkeit darſtellte; vielmehr finden wir unſer Bewußtſein in
Anſehung ſeines ſinnlichen Beſitzes in einem ziemlich hülf¬
loſen Zuſtande, inſofern es ſich genöthigt ſieht, wenn es
nur überhaupt die ſinnliche Gewißheit nicht verlieren will,
beſtändig von einem Sinnesgebiet zum anderen zu eilen,
um dieſes alsbald wieder zu Gunſten des nächſten zu ver¬
laſſen. Da die verſchiedenen Sinnesgebiete immer zu
gegenſeitiger Ablöſung bereit ſind, ſo unterliegen wir leicht
der Täuſchung, als könne uns eine ſinnliche Vollſtändigkeit
gegeben ſein. Sind wir aber einmal auf jenes Sachver¬
hältniß aufmerkſam geworden, ſo können wir uns der An¬
ſicht nicht verſchließen, daß das Daſein irgend eines ſinn¬
lich wahrnehmbaren oder vorſtellbaren Gegenſtandes nicht
[—55] an eine beſtimmte Form gebunden iſt, ſondern ſich in jener
willkürlichen und beſtändig wechſelnden Concurrenz ſeiner
verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten erſchöpft.


Wie es nun aber um die Geſtaltung eines ſinnlich
Vorhandenen nach den einzelnen Seiten ſeiner ſinnlichen
Beſchaffenheit beſtellt iſt, das werden wir am beſten er¬
kennen, wenn wir eine beſtimmte Seite dieſer Beſchaffen¬
heit, die Sichtbarkeit, ins Auge faſſen. Wir kommen hier
auf das eigentliche Thema der vorliegenden Unterſuchungen.
Hatte es ſich in dem Vorhergehenden um das Eingeſtänd¬
niß gehandelt, daß wir in einer Täuſchung leben, ſolange
wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich-
Vollſtändiges in irgend einem Gebilde unſeres Bewußtſeins
beſitzen zu können: ſo handelt es ſich nun um den Nach¬
weis, daß auch ein ſichtbarer Gegenſtand eben dieſer ſeiner
Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung
gelangtes Geſichtsbild ſo ohne weiteres nicht angehören
könne. Und daraus wird ſich, wie wir ſehen werden, die
natürliche Folgerung ergeben, daß der Menſch eine Ent¬
wickelung ſeiner Geſichtsbilder zu höheren Graden des
Vorhandenſeins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch
welche ſichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden,
und daß dieſe Thätigkeit keine andere als die künſtleriſche ſei.


Zwar wiſſen wir, daß im gewöhnlichen Leben und
bei vielen Beſchäftigungen, wo ſich die Aufmerkſamkeit auf
das Ausſehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieſes
Geſichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬
entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß vollſtändig
[56] genügt iſt. Auch räumen wir ein, daß Verſchiedenheiten
der individuellen Anlage dem Einen die Erlangung eines
genauen und lebendigen Geſichtsbildes leichter, dem Anderen
ſchwerer erſcheinen laſſen. Immerhin nehmen wir von
jedem normal Organiſirten an, daß es in ſeinem Belieben
liege, ſich einen Gegenſtand nach ſeiner ſichtbaren Seite
hin zum höchſten Grade anſchaulicher Deutlichkeit und Ge¬
wißheit zu bringen. Bei gewiſſen geiſtigen Thätigkeiten
betrachten wir die Vollſtändigkeit und höchſte Genauigkeit
der durch den Geſichtsſinn zu erlangenden anſchaulichen
Kenntniß der Dinge als eine ſelbſtverſtändliche Voraus¬
ſetzung. Dies iſt bei beſtimmten Gattungen der künſtleri¬
ſchen Thätigkeit, auf beſtimmten Gebieten der wiſſenſchaft¬
lichen Forſchung der Fall. Und auch da, wo ſich die
Aufmerkſamkeit nicht um einer Thätigkeit willen auf die
ſichtbare Seite der Dinge richtet, ſondern nur etwa aus
einem ſentimentalen Bedürfniß, wird ein Zweifel daran
nicht zuläſſig erſcheinen, daß die Arbeit des Sehens an
den Gegenſtänden vollſtändig geleiſtet ſei. Und wo es ſich
nicht um direkte Wahrnehmung handelt, ſondern um Vor¬
ſtellungen, die vor unſer Bewußtſein treten, ſo wiſſen wir,
daß uns bei jeder Unſicherheit, bei jeder Lücke die Zuflucht
zur direkten Wahrnehmung offen ſteht, und daß hier jeder
Zweifel gelöſt, jede Lücke ergänzt wird.


Indem wir ſo auf einem ganz ſicheren ſinnlichen
Boden zu ſtehen meinen, unterliegen wir einer ziemlich
complicirten Täuſchung, die daraus entſpringt, daß wir
den ſinnlichen Beſitz, den uns das Sehen liefert, nicht aus
[57] den mannichfachen andersartigen Verbindungen zu löſen
gewöhnt ſind, in denen er zu einem Elemente unſeres
geiſtigen Lebens wird. Denn einestheils meinen wir, ihn
zurückführen zu können auf ein Wirklichkeitsvorbild, welches
ſein Daſein ganz anderen ſinnlich-ſeeliſchen Vorgängen ver¬
dankt, anderentheils glauben wir, ihn in unſerem Bewußt¬
ſein zu realiſiren, wenn wir ihn doch thatſächlich in einen
Beſitz ganz anderer Natur verwandeln. Beides bedarf
näherer Erörterung.


Einer ſehr gebräuchlichen Ausdrucksweiſe zufolge können
wir das Vorhandenſein von etwas, was wir durch das
Auge wahrnehmen, auch durch andere Sinne feſtſtellen;
können wir das nicht, ſo erſcheint uns das, was uns das
Auge zeigt, als eine trügeriſche Vorſpiegelung. Wir ſagen,
daß wir das, was wir ſehen, auch taſten und in Folge
deſſen wägen und meſſen, daß wir es vielleicht hören oder
ſchmecken oder riechen können. Dieſe Ausdrucksweiſe iſt
deshalb irreführend, weil man das, was man ſieht, jeden¬
falls durch die Thätigkeit keines anderen Sinnes wahr¬
nehmen kann, als durch die des Geſichtsſinnes. Man
kann mit derſelben nur meinen, daß man alle dieſe Opera¬
tionen an einem vorausgeſetzten Gegenſtand vornimmt,
welcher auch der Gegenſtand des Geſehenwerdens iſt. Denn
es kann ja unmöglich das Sichtbare ſein, was anderweitig
wahrgenommen wird; es würde ja eben nicht das Sicht¬
bare ſein, wenn außer dem Geſehenwerden noch etwas
Anderes mit ihm geſchehen könnte. Sprechen wir aber
von einem ſichtbaren Gegenſtande, der eben derjenige iſt,
[58] den wir auch anderweitig ſinnlich wahrnehmen, ſo nehmen
wir ſtillſchweigend darauf keine Rückſicht, daß, wenn man
die ſinnlich wahrnehmbaren Eigenſchaften abzieht, ein Gegen¬
ſtand als Träger derſelben nicht mehr übrig bleibt. Wir
ſtehen alſo, wenn wir eine dem Gebiete des Geſichtsſinnes
angehörige Wahrnehmung oder Vorſtellung auf eine Wirk¬
lichkeit zurückführen zu können meinen, vor folgendem
Dilemma: entweder wir führen die Wahrnehmung oder
Vorſtellung auf etwas zurück, was einem ganz anderen
Sinnesgebiet angehört, als dem des Geſichtsſinnes, d. h.
wir verdrängen das, was uns der Geſichtsſinn liefert, aus
unſerem Bewußtſein und erſetzen es durch etwas, was wir
einem ganz anderen Sinn verdanken; oder wir greifen ſo¬
zuſagen ins Leere, indem wir uns auf eine Wirklichkeit
beziehen, die zwar für den Geſichtsſinn, aber doch abgeſehen
von den Wahrnehmungen und Vorſtellungen des Geſichts¬
ſinnes vorhanden wäre; denn das Vorhandenſein eines
Sichtbaren kann eben nur in ſeinem Geſehen- oder als
geſehen Vorgeſtellt-werden beſtehen. Es kann ſich bei dem
Sehen gar nicht darum handeln, das ſubjective Geſichts¬
bild einem objectiven, durch den Geſichtsſinn wahrnehm¬
baren Beſtand gleich zu machen. Wäre dies der Fall,
ſo würde freilich jeder normal Organiſirte zu einer voll¬
ſtändigen, mit der Wirklichkeit übereinſtimmenden Geſichts¬
vorſtellung gelangen können, ja gelangen müſſen. Aber
ſobald wir genauer prüfen, was wir eigentlich thun, wenn
wir zwiſchen einem Richtigſehen und einem Falſchſehen
unterſcheiden, wenn wir mit der größten Sicherheit darüber
[59] urtheilen, ob eine Geſichtswahrnehmung oder Vorſtellung
mit der Wirklichkeit übereinſtimmt oder nicht, ſo gewahren
wir, daß es eben nicht die ſichtbare Wirklichkeit iſt, an
der wir prüfen, ob unſer Auge Recht hat oder im Irr¬
thum befangen iſt. Wenn uns das Auge die Exiſtenz
von etwas vorſpiegelt, was nicht vorhanden iſt, ſo bezieht
ſich dieſes Nichtvorhandenſein nicht auf das, was wir ſehen,
denn das iſt eben vorhanden, ſondern auf das, was wir
niemals ſehen können; mit der Geſichtswahrnehmung treffen
gewiſſe andere ſinnliche Wahrnehmungen nicht zuſammen,
deren Concurrenz wir zu fordern pflegen, um von Wirk¬
lichkeit reden zu können. Bemerken wir, daß unſer Auge
uns über die Lage eines Gegenſtandes im Raume täuſcht,
ſo können wir nicht meinen, daß unſer Auge den Gegen¬
ſtand an einem anderen Orte wahrnehme, als wo er ſicht¬
bar ſei; denn der Gegenſtand kann nur an dem Orte ſicht¬
bar ſein, wo er von dem Geſichtsſinn wahrgenommen
wird; vielmehr können wir nur ſagen, daß das Auge den
Gegenſtand an einem anderen Orte ſieht, als wo ihn z. B.
der Taſtſinn fühlt.


Auch das Verhältniß der Form eines Gegenſtandes,
ſofern dieſelbe von dem Auge wahrgenommen oder vor¬
geſtellt wird, zu der Form, die wir durch andere Mittel
feſtſtellen können, unterliegt manchen Unklarheiten und
Mißverſtändniſſen. Im gewöhnlichen Leben ſchwankt die
Kenntniß, die wir von der Form eines Gegenſtandes
haben, zwiſchen den Nachrichten, die uns der Geſichtsſinn,
und denen, die uns der Taſtſinn über dieſe Form giebt.
[60] Je genauere Kenntniß wir aber haben wollen, deſto weniger
ziehen wir den Geſichtsſinn zu Rathe, und deſto mehr ver¬
laſſen wir uns auf den Taſtſinn; und wenn wir im eigent¬
lichſten Sinne von der Form eines Gegenſtandes reden,
ſo iſt überhaupt von einem Antheil des Geſichtsſinnes
nicht mehr die Rede, vielmehr meinen wir die taſtbare,
meßbare, berechenbare Form. Dieſe wird uns zum Ma߬
ſtab für die Richtigkeit des Sehens, und wir fragen uns,
ob wir die Form ſo ſehen, wie ſie ſich in ihrer taſtbaren,
greifbaren Wirklichkeit verhält; iſt dies der Fall, ſo ſind
wir überzeugt, eine richtige und vollſtändige Geſichtsvor¬
ſtellung von der Form des Gegenſtandes zu haben. Nun
beſteht zwiſchen dem Geſichtsſinn und dem Taſtſinn inſo¬
fern eine Beziehung, als aus den Daten, die jener liefert,
auf die körperliche Form, und umgekehrt aus den Daten,
die dieſer liefert, auf die ſichtbare Geſtalt geſchloſſen werden
kann. Wenn man nun von dem, was das Auge zeigt, auf
die Form ſchließt, die ſich dem Taſtſinn darbieten wird,
und man findet dieſen Schluß beſtätigt, ſo bedient man
ſich doch eines ſehr irreführenden Ausdrucks, indem man
ſagt, daß man richtig geſehen habe; denn die Richtigkeit,
auf die man hier den Werth legt, kann man eben nicht
ſehen, ſondern nur durch den Taſtſinn wahrnehmen. Es
beſteht gar keine Aehnlichkeit zwiſchen der Formvorſtellung,
die in das Gebiet des Geſichtsſinnes, und derjenigen, die
in das Gebiet des Taſtſinnes gehört; und ſo kann auch
die eine nicht zum Vorbild oder Maßſtab der anderen
dienen. So ſagt man ja auch, daß der Geſichtsſinn zur
[61] Auffaſſung von Formen, namentlich complicirter Art, kein
geeignetes und hinreichendes Organ ſei, und unterſcheidet
dabei nicht hinlänglich, daß die Form, die überhaupt eine
ſichtbare Form iſt, nur dem Geſichtsſinn verdankt werden
kann, daß aber die Form, deren Entſtehung auf anderen
Sinneswahrnehmungen beruht, mit der ſichtbaren Form
gar nichts zu thun hat. Es hat gar keinen Sinn, zu ſagen,
das Auge vermöge der Form der Dinge nicht vollſtändig
gerecht zu werden, während man dieſe Form mit der
höchſten Genauigkeit meſſen und berechnen könne. Als ob
es eine Form ſchlechthin gäbe, und als ob die verſchie¬
denen Sinnesorgane nur die mehr oder minder geeigneten
Werkzeuge wären, ſich dieſe Form anzueignen. Was kann
es der Form, die durch und für das Auge entſteht, nützen,
wenn eine Form feſtgeſtellt wird, die gar nicht als eine
ſichtbare in unſer wahrnehmendes und vorſtellendes Be¬
wußtſein treten kann?


Es iſt nicht überflüſſig, hier noch einiger Mißver¬
ſtändniſſe zu gedenken, denen man wohl begegnet. Man
kann die Behauptung aufſtellen hören, für die Wiedergabe
ſowohl der ſtereometriſchen als auch der auf eine Fläche
projicirten Form eines Körpers ſei ein mechaniſches Ver¬
fahren wie in jenem Falle das der Abformung, in dieſem
das der Photographie, das zuverläſſigſte Mittel. Nun iſt
klar, daß, wenn ich einen Gegenſtand abforme, ich damit
zwar einen zweiten taſtbaren und auch ſichtbaren Gegen¬
ſtand, keineswegs aber einen Ausdruck des Geſichtsbildes
herſtelle, welches ich von dem Gegenſtand empfange. Ich
[62] habe nun eben zwei Gegenſtände, die in ihrer taſtbaren,
meßbaren, berechenbaren Form übereinſtimmen mögen, von
denen beiden ich aber die Form, wie ſie dem Auge er¬
ſcheint, eben nur dem Auge, nicht aber einer Abformung
verdanken kann. Wer aber meint, daß die Photographie
dieſes Geſichtsbild in der untrüglichſten Weiſe liefere, weil
wohl das Auge, nicht aber eine Maſchine irren könne, der
muß von der Vorausſetzung ausgehen, daß der Vorgang,
durch den im menſchlichen Auge und Gehirn das Geſichts¬
bild entſteht, ganz dem gleiche, durch den im photographi¬
ſchen Apparat das photographiſche Product zu Stande
kommt; eine Vorausſetzung, die im Ernſte Niemand machen
kann. Im Grunde kann auf photographiſchem Wege doch
nur etwas hergeſtellt werden, was eben keine Geſichtsvor¬
ſtellung iſt, ſondern wovon wir uns erſt eine Geſichtsvor¬
ſtellung bilden müſſen. Beſteht zwiſchen einem photo¬
graphiſchen und einem anderweitig hergeſtellten Gegenſtand,
wie bei Schriften, Drucken, planimetriſchen Figuren, Zeich¬
nungen u. ſ. w. und den nach ihnen angefertigten Nach¬
bildungen eine Uebereinſtimmung in ihrer anderweitigen
Beſchaffenheit, ſo werden Original und Nachbildung das¬
ſelbe Geſichtsbild liefern. Wo aber dieſe Uebereinſtimmung
nicht vorhanden iſt, da wird die Photographie kein treues
Abbild des Originals ſein, vielmehr wird eben das Original
ganz anders ausſehen als das Nachbild.


Bei anderen in das Bereich der Sichtbarkeit gehörigen
Qualitäten der Dinge, wie Farben, Unterſchieden von hell
und dunkel, Glanz u. ſ. w. iſt ein mißverſtändliches Zu¬
[63] rückführen von dem, was nur geſehen werden kann, auf
etwas, was nicht geſehen werden kann, weniger leicht mög¬
lich. Auch hier freilich meinen wir, auf einem ganz ſicheren
Boden zu ſtehen, indem wir das Urtheil über die Richtig¬
keit oder Unrichtigkeit der ſubjectiven Sinneswahrnehmung
in ein objectives Vorhandenſein deſſen zu verlegen pflegen,
was wahrgenommen werden ſoll. Aber es kann doch
wenigſtens darüber kein Zweifel obwalten, daß es nur ein
Sichtbares ſein kann, an dem wir die Richtigkeit des
Sehens prüfen, und da dieſes Sichtbare keine andere
Exiſtenz beſitzt, als ſein Geſehen- und als geſehen Vorge¬
ſtellt-werden, ſo läuft jene Prüfung auf die Unterſuchung
der Uebereinſtimmung oder Nichtübereinſtimmung — nicht
zwiſchen Wahrnehmung und Vorſtellung einerſeits, einem
objectiv Vorhandenen andererſeits, — ſondern zwiſchen den
Wahrnehmungen und Vorſtellungen der verſchiedenen Indi¬
viduen hinaus. Wieweit eine ſolche Feſtſtellung der Ueber¬
einſtimmung oder Nichtübereinſtimmung möglich iſt, ge¬
hört nicht hierher.


Wenn wir einer Täuſchung unterliegen, indem wir
für die Vollſtändigkeit und Richtigkeit unſerer Geſichts¬
wahrnehmungen oder Vorſtellungen als ſolcher einen Ma߬
ſtab an etwas zu haben meinen, was ſich als gar nicht
durch den Geſichtsſinn wahrnehmbar oder vorſtellbar er¬
weiſt, ſo verfallen wir in eine ähnliche Täuſchung, indem
wir Geſichtswahrnehmungen oder Vorſtellungen für das
Geſammtleben unſeres Bewußtſeins in einer Form reali¬
ſiren, die aus ganz anderem Stoffe beſteht, als dem durch
[64] den Geſichtsſinn gelieferten. Bekanntlich unterſcheidet man
in dem Proceß, von dem man annimmt, daß er ſtattfinden
müſſe, damit eine Wahrnehmung oder Vorſtellung zu
Stande kommen könne, das Stadium der Perception und
das der Apperception. Der Eintritt des Bildes in den
weiteren Kreis des wahrnehmenden Bewußtſeins ſchließt
eine gewiſſe Undeutlichkeit nicht aus; das Bild befindet
ſich gleichzeitig mit anderen in dieſem weiteren Umkreis;
dadurch aber, daß das Bild appercipirt, d. h. in den
Blickpunkt des Bewußtſeins, in das eigentliche Centrum
der Aufmerkſamkeit gehoben wird, erlangt es ſeine volle
Klarheit und Deutlichkeit. Damit erſcheint der Proceß
des Wahrnehmens und Vorſtellens abgeſchloſſen. Wir
beſitzen nun zwar etwas; aber es erſcheint uns als ein
todter, werthloſer Beſitz, wenn wir es nicht als Anregung
zu einem mannichfaltigen Gefühlsleben oder als Stoff
des Denkens und Erkennens in unſerem ſeeliſchen und
geiſtigen Daſein verwenden. Dieſe letzteren Vorgänge, in
denen ſich unſer bewußtes Leben entwickelt, knüpfen ſich
unzweifelhaft an die Wahrnehmungen beziehentlich Vor¬
ſtellungen an, ja wären ohne dieſelben gar nicht möglich,
aber ſie wären auch wiederum nicht möglich, wenn nicht
in ihnen ein Verlaſſen jener ſtattfände. Es iſt die Enge
des Bewußtſeins ſelbſt, die es mit ſich bringt, daß durch
diejenigen geiſtigen Operationen, die in das Bewußtſein
treten, um aus einer Wahrnehmung oder Vorſtellung einen
beſtimmten Werth für unſer Gefühlsleben oder für unſere
Erkenntnißthätigkeit zu machen, die Wahrnehmung oder
[65] Vorſtellung ſelbſt aus dem Bewußtſein verdrängt wird.
Indem wir uns darüber nicht Rechenſchaft zu geben pflegen,
meinen wir, die uns als Thatſache unſerer Wahrnehmung
und Vorſtellung gleichſam von ſelbſt zufallende Bedeutung
des ſogenannten ſinnlichen Daſeins uns in einem höheren
Sinne angeeignet zu haben, während wir doch von dieſem
ſinnlichen Daſein im Augenblick ſeiner vorgeblichen höheren
Aneignung in unſerem Bewußtſein nichts mehr vorzufinden
vermögen.


Beides, ſowohl die Zurückführung einer ſinnlichen
Qualität, wie derjenigen der Sichtbarkeit, auf ſinnliche Quali¬
täten, die nicht ſichtbar ſind, als auch der Uebergang von
den Wahrnehmungen und Vorſtellungen des Geſichtsſinnes
auf die Gebiete des Gefühlslebens und der Denkthätigkeit
ſind uns vollkommen geläufige, für die Entwickelung unſeres
Wirklichkeitsbewußtſeins nach vielen Richtungen hin auch
durchaus unentbehrliche Vorgänge. Da ſie uns aber über
die Beſchaffenheit unſerer Geſichtswahrnehmungen und Vor¬
ſtellungen in einer gewohnheitsmäßigen Täuſchung erhalten,
ſo vermögen wir dieſe Täuſchung nur dadurch zu zerſtören,
daß wir unſeren ſichtbaren Wirklichkeitsbeſitz aus jenen
Verbindungen, die er beſtändig in unſerem Bewußtſein
einzugehen verſucht, löſen. Erſt dann haben wir es wirk¬
lich und ausſchließlich mit einem ſichtbaren Sein zu thun.
In Betreff der Welt, ſofern ſie ein Gegenſtand der Er¬
kenntniß iſt, machen wir ja tagtäglich die Erfahrung, daß
die Sicherheit, mit der wir ſie zu beſitzen meinen, immer
von neuem dadurch erſchüttert wird, daß das Mittel der
Fiedler, Urſprung. 5[66] Erkenntniß, die Denkthätigkeit, zu erneuter Energie ſich
ſteigert; das Leben der Erkenntniß beſteht in einem be¬
ſtändigen Suchen nach dem unerſchütterlichen Boden der
Wahrheit; die endgültige Beruhigung bei irgend einem
Erreichten würde ihr Tod ſein. Und auch den ſichtbaren
Beſitz der Welt können wir auf keine andere Weiſe prüfen
und uns immer von neuem erringen als durch das Sehen
ſelbſt; kein anderes ſinnliches Mittel kann uns dazu ver¬
helfen, kein Taſten, kein Wägen, kein Meſſen, noch auch
irgend ein Fühlen, Denken und Erkennen.


Wenn wir es nun verſuchen, die Kraft unſeres Be¬
wußtſeins auf den Geſichtsſinn zu concentriren, wenn wir
alle Energie aufwenden, um das, was wir ſehen, nicht
zum Object eines anderen Sinnes zu machen, uns ſeiner
namentlich nicht, was ja ſehr nahe liegt, als etwas Greif¬
baren zu verſichern, ihm keinerlei Einwirkung auf unſer
Gefühlsleben zu geſtatten, noch auch endlich es zu benennen,
und als Begriff zu faſſen: ſo werden wir zunächſt gewahr
werden, daß uns dieſer Zuſtand keineswegs ein gewohnter
und natürlicher iſt. Ja unter allen Erſcheinungen, die
wir in dem Leben unſeres Geiſtes beobachten, unter allen
Anſtrengungen, die wir dieſem zumuthen, findet dieſes
ausſchließliche Beharren bei der dem Geſichtsſinn ſich dar¬
bietenden Erſcheinung der Dinge keinen Platz; wo es uns
begegnen mag, da ſcheint es uns eher eine Hemmung, als
eine Förderung des inneren Lebens zu bedeuten. So
ſehr ſind wir gewohnt, den geſammten Wirklichkeitsſtoff,
den uns das Auge liefert, anſtatt uns um ſeiner ſelbſt
[67] willen um ihn zu bemühen, anderen Gebieten unſeres
ſeeliſchen und geiſtigen Lebens zuzuführen. Nur dann
aber, wenn wir dieſer Gewohnheit zu widerſtehen vermögen,
wenn wir die Thätigkeit des Geſichtsſinnes iſoliren, und
mit ihr gleichſam den ganzen jeweiligen Raum unſeres
Bewußtſeins ausfüllen, nur dann werden uns die Dinge
dieſer Welt als ſichtbare Erſcheinungen im eigentlichen
Sinne entgegentreten.


Wer es verſucht, ſich auf dieſen Standpunkt zu ver¬
ſetzen, der wird die Erfahrung machen, daß er um die
ſcheinbare Sicherheit gekommen iſt, mit der er die ſichtbare
Erſcheinung der Dinge zu beherrſchen meinte, während er
ſie doch thatſächlich aufgab. An die Stelle jener Sicher¬
heit wird ein ſehr deutliches Gefühl der Unſicherheit treten.


Jetzt erſt wird ihm die eigenthümliche und ſelbſtſtändige
Bedeutung des Sehens klar zu werden anfangen. Hatte
ihm das Sehen nur gedient, um ihm Kunde zu geben von
einem gegenſtändlichen Vorhandenſein, welches ſich auch
anderweitig ſinnlich conſtatiren laſſe und ſo den unerſchütter¬
lichen Boden des ſinnlich Vorhandenen bilde, ſo beginnt
er nun, zu begreifen, daß das Sehen überhaupt erſt gleich¬
ſam zu ſich ſelbſt kommen könne, wenn jede Beziehung
auf eine in jenem Sinne wahrzunehmende Gegenſtändlich¬
keit aus ihm verſchwunden ſei. Er wird zum erſten Mal
die Möglichkeit wahrnehmen, das Sehen um ſeiner ſelbſt
willen zu treiben, und indem ſich dadurch eine ganz neue
Bahn für die Entwickelung ſeines Wirklichkeitsbewußtſeins
vor ihm aufthut, muß er zugleich ſeine Kräfte prüfen,
5*[68] wie weit dieſelben ihn befähigen, auf dieſer Bahn vorzu¬
dringen. Es handelt ſich für ihn ja nicht mehr um das
bloße Wahrnehmen eines ſichtbar Vorhandenen, ſondern
um die Entwickelung und Bildung von Vorſtellungen, in
denen ſich die Wirklichkeit allererſt darſtellt, ſofern ſie eine
ſichtbare Wirklichkeit ſein kann. Er befindet ſich dem gegen¬
über, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt iſt, in einer
ſehr veränderten Stellung; alles körperlich Feſte iſt ihm
entzogen, da es eben nichts Sichtbares iſt, und der alleinige
Stoff, in dem ſich ſein Wirklichkeitsbewußtſein geſtalten
kann, ſind die Licht- und Farbenempfindungen, die er
ſeinem Auge verdankt. Das ganze ungeheure Reich der
ſichtbaren Welt enthüllt ſich ihm nun angewieſen in ſeinem
Beſtand auf den zarteſten, gleichſam unkörperlichſten Stoff,
in ſeinen Formen auf die Bildungen, zu denen der Ein¬
zelne jenen Stoff zuſammenwebt. Er begreift, daß, indem
er ſieht oder Geſehenes vorſtellt, in dem Bereiche ſeines
Geſichtsſinnes nichts anderes vorhanden iſt, als die ſich
entwickelnde Geſichtsvorſtellung, und daß es, wenn er nichts
ſieht oder nicht Geſehenes vorſtellt, keinen Sinn hat, von
einer ſichtbaren Wirklichkeit als etwas Vorhandenem zu
ſprechen. Wird ſo auf der einen Seite die ſichtbare Welt
zu einem Gebilde, zu dem nichts, was wir ſonſt als ſtoff¬
lich beſtimmt, körperlich begrenzt zu betrachten gewohnt
ſind, irgend etwas beiträgt, ſo ſehen wir auf der anderen
Seite ein, daß es uns, um zur Beſtimmtheit und Klar¬
heit, zum Wiſſen deſſen, was wir ſehen, zu gelangen, gar
nichts nützt, wenn wir von dem, was wir ſehen, auf etwas
[69] ſchließen, was nicht mehr dem Gebiet des Geſichtsſinnes
angehört. Wenn wir etwas mit dem Geſichtsſinn wahr¬
nehmen und wiſſen, welche körperliche Form es hat, wie
groß es iſt, aus was es beſteht, was es iſt, welche Wir¬
kungen von ihm ausgehen u. ſ. w., kurz was man nur
von einem Gegenſtand wiſſen kann, ſo berechtigt uns das
noch nicht zu der Meinung, daß wir wüßten, wie der
Gegenſtand ausſieht. Ja wenn wir ſein Ausſehen be¬
ſchreiben und dadurch des Geſichtseindruckes uns ſo recht
eigentlich bewußt zu werden meinen, unterliegen wir dennoch
einer Täuſchung; denn in demſelben Augenblicke, in dem
wir das Geſehene ausſprechen, iſt es nicht mehr ein Ge¬
ſehenes; in dem ſprachlichen Ausdruck führen wir etwas
in das Bewußtſein ein, was nicht aus dem Stoff beſteht,
der durch die Geſichtsempfindung geliefert wird, und daher,
anſtatt der Entwickelung des Geſichtsbildes zu Gute zu
kommen, dieſelbe vielmehr unmöglich macht. Auch gleicht
dieſe Art, ſich von einem Geſichtseindruck Rechenſchaft zu
geben, einem Nothbehelf; ſie ſtellt ſich da ein, wo das
ſehende Bewußtſein unfähig iſt, ſich über ſich ſelbſt Rechen¬
ſchaft zu geben; wie wenig das Reſultat dem vorgeblichen
Zweck entſpricht, kann Jeder erfahren, wenn er den Ver¬
ſuch macht, von einem ſprachlichen Ausdruck zu der ſinn¬
lichen Wirklichkeit des Geſichtsbildes zurückzukehren.


Iſt es alſo vergeblich, für das ſichtbare Bild der
Dinge eine geſtaltende Macht von ſinnlichen Fähigkeiten
zu erwarten, auf denen die Wahrnehmung anderweitiger
ſinnlicher Beſchaffenheit beruht, iſt es ebenſo vergeblich,
[70] zu meinen, daß man durch das Wort zu einer Beherrſchung
der Welt, ſofern ſie ſichtbar iſt, gelangen könne, ſo können
wir erſt dadurch, daß wir verſuchen, uns mittelſt des
Sehens ſelbſt über ein Geſehenes Rechenſchaft zu geben,
zu einer Einſicht in den Zuſtand gelangen, in dem ſich
unſer ſichtbares Weltbild befindet. Denn nur dieſer Ver¬
ſuch wird uns jene oben angedeuteten Schranken zum Be¬
wußtſein bringen, die der Entwickelung des Weltbildes
nach ſeiner ſichtbaren Seite hin entgegenſtehen. Am deut¬
lichſten wird uns dies fühlbar, wenn unabhängig von un¬
mittelbarer ſinnlicher Wahrnehmung die Vorſtellung eines
Geſehenen in unſer Bewußtſein tritt. Die größte An¬
ſtrengung, die wir zur Concentration unſerer vorſtellenden
Kraft aufwenden, wird uns vielleicht dazu gelangen laſſen,
unſer Bewußtſein, welches ſich auf einer beſtändigen ruhe¬
loſen Wanderſchaft durch alle Reiche des ſinnlich Wahr¬
nehmbaren befindet, auf das Gebiet des Sichtbaren feſt¬
zubannen; vielleicht werden wir es vermögen, uns dem
Gaukelſpiel der Aſſociationen zu entziehen, das uns mit
ſeiner ſcheinbar regelloſen Willkür beherrſcht, und ein ein¬
zelnes Sichtbares feſtzuhalten, welches unſerer Macht unter¬
than ſei. Wie unbeſtimmt, unvollſtändig, kümmerlich dann
aber der Beſitz an Sichtbarkeit iſt, deſſen wir uns be¬
mächtigt haben, das kann Jeder an ſich erfahren, der in
ſeinem Inneren dieſen Beſitz nun wirklich erſchauen will.
Es iſt ein ungeheurer Irrthum, zu meinen, daß wir von
der ſichtbaren Geſtalt der Dinge eine mir einigermaßen
reiche, zuſammenhängende und entwickelte Vorſtellungswelt
[71] beſäßen; was wir als ſichtbar in unſerem ſehenden Be¬
wußtſein wahrnehmen, ſind unzuſammenhängende Bruch¬
ſtücke, flüchtige, vorübergehende Erſcheinungen, und wir
ſtehen hülflos da, wenn das Bedürfniß in uns mächtig
wird, uns ein zu Sehendes ſichtbar zu vergegenwärtigen.
Wie aber, wenn uns in einzelnen Augenblicken der wachen
oder traumhaften Hallucination, ja wenn uns bei unmittel¬
barer Wahrnehmung das ſichtbare Bild eines Gegenſtandes
in unzweifelhafter Gegenwart und voller Deutlichkeit vor
das ſchauende Bewußtſein tritt? Kann man da von einem
unentwickelten vorſtellenden Bewußtſein, von Schranken
reden, welche in der menſchlichen Natur ſelbſt der Ent¬
wickelung jenes ſchauenden Wirklichkeitsbewußtſeins ent¬
gegenſtehen? Und doch, wer es vermag, ſich ſelbſt mit
dem, was er ſieht, zu iſoliren, nichts anderes in ſich auf¬
kommen zu laſſen, als das Phänomen des Sehens, ſich in
das Schauen zu verſenken, wird der nicht vor dem, was
ſich ſeinem Auge als Erſcheinung zeigt, gar bald wie vor
einem ihm fremden, unnahbaren Räthſel ſtehen? Wird
nicht, wenn ſein Bewußtſein nicht in eine gewiſſe Ver¬
dumpfung verfallen ſoll, die eine Herabſetzung aller Fähig¬
keiten, auch der des Sehens nach ſich zieht, das Verlangen
in ihm rege werden, ſich dieſes fremde Gebild anzueignen,
gleichſam erſt zu ſehen, wie es ausſieht, ſich mit ſeinen
Augen Rechenſchaft über daſſelbe zu geben, es als etwas
Geſehenes aus eigener erzeugender Kraft zu verwirklichen?
Und wenn er ſich dann eingeſtehen muß, daß jenem Ver¬
langen keine Fähigkeit entſpricht, durch die er daſſelbe be¬
[72] friedigen könnte, daß er trotz allen Beſtrebens dem ſicht¬
baren Phänomen der Welt um keinen Schritt näher kommt,
daß ihn daſſelbe ſo fremd anblickt wie von allem Anfang
an, daß es verſchwindet, ſobald er den Verſuch macht, es
zu ergreifen: ſo wird er nur zu ſehr der Schranken inne
werden, in die er gebannt iſt, wenn er ſich der ſichtbaren
Erſcheinung der Dinge ſehend bewußt werden will. Nun
auch wird er begreifen, was es heißen kann, wenn geſagt
wird, daß es ein unſicherer und unentwickelter Beſitz ſei,
auf den der Menſch in Betreff ſeiner Vorſtellungen von
ſichtbaren Erſcheinungen angewieſen bleibt.


Es liegt nahe, einen Vergleich anzuſtellen, worin bei
irgend einem Gegenſtand, den wir ſowohl als einen ſicht¬
baren, als auch als einen benannten beſitzen, dieſer zwie¬
fache Beſitz beſteht. Hier erſcheint dieſer Beſitz als ein
wenn nicht allgemein gültiges und endgültiges, ſo doch
als ein beſtimmtes und beharrendes Gebilde, das Wort;
ein Product unſerer eigenen Thätigkeit, deſſen Entſtehung
darauf hinweiſt, daß Vorgänge in unſerem Inneren ſich
bis zu äußeren Bewegungen entwickelt haben. Dort ver¬
mögen wir nichts anderes zu conſtatiren als Vorgänge,
die in unſeren inneren Organen verlaufen, ohne ſich ſo
weit zu entwickeln, daß ſie in eine äußere, ein beſtimmtes
ſinnlich-wahrnehmbares Reſultat hervorbringende, der
Sprachbildung analoge Thätigkeit überführen. Von dieſem
Geſichtspunkt aus betrachtet iſt der Wirklichkeitsbeſitz, der
in der ſprachlichen Form vorliegt, ein ſehr weit entwickel¬
ter, während der Beſitz an ſichtbarer Wirklichkeit auf einer
[73] verhältnißmäßig niedrigen Stufe der Entwickelung verharrt.
Und wenn wir den Umſtand bedenken, daß die Vorgänge,
an die eine ſinnliche Wahrnehmung wie das Sehen ge¬
bunden iſt, wenn auch von einem äußeren Reiz angeregt,
doch in uns entſtehen und vergehen, ohne gleichſam die
Oberfläche unſeres Körpers erreicht zu haben, ſo wird es
begreiflich, daß wir, ſobald wir die ſichtbare Wirklichkeit
in ihrem eigenen Weſen faſſen wollen, vergebens nach
einem feſten, dem Worte gleichen Gefüge ſuchen, und nur
ein loſes, immer entſtehendes und immer vergehendes, halt-
und zuſammenhangsloſes Material ergreifen.

[[74]]

4.

Was wir, dem beſonderen Zwecke dieſer Unterſuchungen
gemäß, in Betreff der Vorſtellungen, die dem Gebiete des
Geſichtsſinnes angehören, näher ausgeführt haben, das gilt
für alle Sinnesgebiete. Gerade das Daſein desjenigen,
was in beſtimmter, gegebener Form uns gegenüberzuſtehen
ſcheint, das ſinnlich Vorhandene, iſt an Vorgänge in un¬
ſerem Bewußtſein gebunden, die weit davon entfernt ſind,
dieſes ſinnlich Vorhandene ſeiner ſinnlich wahrnehmbaren,
vorſtellbaren Natur nach zu einigermaßen beſtimmten For¬
men und Geſtalten entwickelt darzuſtellen. Jeder Verſuch,
uns irgend eines Dinges, welches wir als Bezeichnung,
als Name beſitzen, nun auch ſeinem ſinnlich wahrnehm¬
baren Sein nach, als Sinnesobject in einer nachweisbar
ſinnlich vorhandenen Form zu vergewiſſern, muß uns die
Unfähigkeit zum Bewußtſein bringen, in der wir uns nach
dieſer Richtung hin befinden. Es muß uns daher die
Ueberlegung nahe treten, ob in den Fähigkeiten der menſch¬
lichen Natur überhaupt die Möglichkeit gegeben iſt, den
ſinnlichen Beſitz aus dem mangelhaften Zuſtande, in dem
er ſich im Allgemeinen befindet, zu beſtimmteren Daſeins¬
formen zu entwickeln.


[75]

Wir müſſen nun hier die verſchiedenen Sinnesgebiete
trennen. Wie ſehr der Menſch darauf angewieſen iſt, den
einzelnen Sinn zu iſoliren, um nur überhaupt zu einer in¬
tenſiveren Empfindung, zu einer deutlicheren Wahrnehmung
zu gelangen, haben wir oben ſchon erwähnt. Es iſt aber
kein Grund zu der Annahme vorhanden, daß auf allen
Sinnesgebieten analoge Entwickelungsvorgänge möglich
ſeien, und in der That zeigt die Erfahrung, daß dies nicht
der Fall iſt.


Eine frühere Betrachtungsweiſe ſtellte die verſchiedenen
Sinne als unter ſich weſentlich verſchieden und weſentlich
gleichgeſtellt neben einander. Heutzutage unterſcheidet
man zwiſchen niederen und höheren Sinnen und ſieht in
dieſen ein höheres Entwickelungsſtadium jener. Indem
man den Taſtſinn mit Gehör und Geſicht vergleicht, faßt
man das Verhältniß ſo auf, als ob ein im Taſtſinn vor¬
handenes allgemeines ſinnliches Wahrnehmungs- und An¬
ſchauungsvermögen in jenen höheren Sinnen differenzirt
und ſpecialiſirt auftrete. Man ermißt damit aber noch
nicht die ganze Tragweite der Entwickelung, die dem ſinn¬
lichen Vermögen der menſchlichen Natur durch jene höheren
oder Specialſinne zu theil werden kann. Wir vergleichen
hier nur den Taſtſinn mit dem Geſichtsſinn. Im Allge¬
meinen wird freilich das Wirklichkeitsmaterial, welches dem
Taſtſinn, und dasjenige, welches dem Geſichtsſinn ſein
Daſein verdankt, auf gleicher Entwickelungsſtufe verharren;
es ſind in beiden Fällen Vorgänge, die in unſer Bewußt¬
ſein treten, ohne zu einem beſtimmten geſtalteten Ausdruck
[76] ihrer ſelbſt zu kommen und in demſelben von uns feſtge¬
halten werden zu können. Der Unterſchied beſteht aber
darin, daß auf dem Gebiet des Taſtſinns eine Möglichkeit
zu einer weiteren Entwickelung des durch denſelben ge¬
gebenen Wirklichkeitsmateriales nicht vorhanden iſt, während
ſich für das, was der Geſichtsſinn liefert, wie wir ſehen
werden, die Ausſicht eröffnet, zu einer in dem ſinnlichen
Stoff ſelbſt ſich darſtellenden Ausdrucksform zu gelangen.
Der Taſtſinn liefert uns Empfindungen und Wahrneh¬
mungen, er verfügt aber über keinerlei Mittel, durch die
in einem Product ein Seiendes als ein Taſtbares geſtaltet,
eine Taſtvorſtellung als ſolche realiſirt werden könnte.
Wenn wir von Widerſtand, von Härte, Weichheit, Glätte,
Rauhheit u. ſ. w. ſprechen, wenn wir den Taſtorganen
die Wahrnehmung von Formen verdanken, die wir mit
eben, gebogen, kugelförmig u. ſ. w. bezeichnen, ſo meinen
wir unzweifelhaft, in dieſen Bezeichnungen den Ausdruck
von Vorſtellungen zu beſitzen, die ſich aus den Daten ge¬
bildet haben, die vom Taſtſinn geliefert werden. Was
wir aber thatſächlich in dieſen Bezeichnungen beſitzen, ſind
eben keine Taſtvorſtellungen, ſondern Sprachvorſtellungen.
Gerade weil wir uns in der Unmöglichkeit befinden, aus
den von dem Taſtſinn gelieferten Empfindungs- und Wahr¬
nehmungsmaterial etwas zu geſtalten, was, ſelbſt wiederum
nur für den Taſtſinn vorhanden, eine Taſtvorſtellung ge¬
nannt werden könnte, gerade um dieſer Unmöglichkeit willen
ſehen wir uns durch das Bedürfniß, uns aus dem Zu¬
ſtande bloßer Empfindungs- und Wahrnehmungsvorgänge
[77] zu erheben, genöthigt, das Gebiet des Taſtſinnes zu ver¬
laſſen und uns auf das Gebiet der Sprach- und Begriffs¬
bildung zu begeben. Es iſt klar, daß durch die Bildung
von Begriffen, mit denen wir ein durch den Taſtſinn
Wahrnehmbares bezeichnen, an den Zuſtänden, auf denen
überhaupt unſere Wahrnehmung von Taſtbarem beruht,
keine Veränderung ſtattfindet. Sobald wir uns von dem
Vorurtheil frei machen, daß es eine Vorſtellung des Taſt¬
ſinnes ſei, welche ſich als Wort, als Begriff darſtelle, ſo
werden wir inne werden, daß wir auf dem eigenen Gebiet
des Taſtſinnes nach wie vor nichts anderes beſitzen, als
was eben der Taſtſinn liefern kann, Empfindungen und
Wahrnehmungen, aber keine Ausdrucksform, in der ſich das
Vorhandenſein von geſtalteten Taſtvorſtellungen nachweiſen
ließe. Nehmen wir irgend ein Wort, welches uns als
Ausdruck von etwas dient, was uns gar nicht zum Be¬
wußtſein kommen könnte, wenn wir nicht die Fähigkeit der
Taſtempfindung beſäßen, prüfen wir, was nun eigentlich
in dem Worte, welches ja ſelbſt kein Gegenſtand des Taſt¬
ſinns ſein kann, an dem Gebiet des Taſtſinnes zugehörigem
Stoff vorhanden iſt, ſo finden wir durchaus nichts anderes
als ziemlich undeutliche und ſchwache Reminiscenzen an
Taſtempfindungen und Taſtwahrnehmungen, die ſich mit
dem Wort in wechſelnder und willkürlicher Weiſe aſſociiren.
Wie weit man davon entfernt iſt, in der ſprachlichen Be¬
zeichnung eine Taſtvorſtellung realiſiren zu können, zeigt
ſich darin, daß in ihr die unmittelbare ſinnliche Gewi߬
heit der Taſtbarkeit anſtatt geſteigert und entwickelt, abge¬
[78] chwächt und in unſerem Bewußtſein zurückgedrängt er¬
ſcheint.


Es iſt ſchon erwähnt, daß es ſich in der Regel mit
dem Wirklichkeitsmaterial, welches der Geſichtsſinn liefert,
nicht anders verhält. Auch hier erſcheint uns ein Gegen¬
ſtand, der in ſeiner ſprachlichen Form unſerem Bewußtſein
angehört, ſeiner ſinnlichen Natur nach nicht als das vor¬
handene feſte Vorſtellungsgebilde, welches durch den ſprach¬
lichen Ausdruck ſeine Bezeichnung fände, ſondern in mehr
oder minder unbeſtimmten und flüchtigen Empfindungs-
und Wahrnehmungsvorgängen, die ſich neben mancherlei
anderen in der Aſſociationsſphäre der ſprachlichen Wirk¬
lichkeit vorfinden. Der gewaltige Unterſchied aber, der
zwiſchen dem Taſtſinn und dem Geſichtsſinn beſteht, der
ungeheure Fortſchritt, den das ſinnliche Vermögen macht,
indem es ſich von dem Taſtſinn zum Geſichtsſinn ent¬
wickelt, liegt darin, daß hier die Möglichkeit erſcheint, den
ſinnlichen Wirklichkeitsſtoff zu einem Ausdruck ſeiner ſelbſt
zu entwickeln. Es iſt, als ob das ſinnliche Vermögen,
welches als Taſtſinn gleichſam noch in den Banden der
Sprachloſigkeit befangen erſcheint, da, wo es in der höheren
Entwickelungsform des Geſichtsſinns auftritt, die Fähigkeit
erhalten habe, ſich ſelbſt auszuſprechen.


Wie aber iſt das möglich?


Wenn ein neuerer Sprachforſcher ſagt: „Es iſt
möglich, ohne Sprache zu ſehen, wahrzunehmen, die
Dinge anzuſtarren, über ſie zu träumen; aber ohne
Worte können ſelbſt ſo einfache Vorſtellungen wie weiß
[79] oder ſchwarz nicht einen Augenblick realiſirt werden“ —:
ſo findet in dieſen Worten eine ziemlich allgemein ver¬
breitete Einſicht mit einem ebenſo allgemein verbreiteten
Irrthum ihren deutlichen Ausdruck. Man begreift wohl,
daß der gewöhnliche Gebrauch des Geſichtsſinnes, wie er
zu den praktiſchen Zwecken des Lebens, zu den theoretiſchen
Zwecken des Erkennens geübt wird, zur Realiſirung von
Geſichtsvorſtellungen nicht führen kann. Man täuſcht ſich
aber darüber, daß es gar nicht in der Fähigkeit der Sprache
liegt, hier aushelfend einzutreten; man überſieht, daß trotz
aller Sprache, trotz aller Herrſchaft, welche das in dem
ſprachlichen Material ſich entwickelnde Bewußtſein über
die Wirklichkeit erlangt, daß trotz alledem das durch den
Geſichtsſinn ſich entwickelnde Wirklichkeitsmaterial ganz in
demſelben Zuſtande bleibt, als ob keine Sprache, kein be¬
griffliches Denken, kein erkennendes Bewußtſein vorhanden
wäre. Es iſt klar, daß, wenn es überhaupt möglich ſein
ſoll, die Exiſtenz einer ſichtbaren Gegenſtändlichkeit in Pro¬
dukten einer bewußten Thätigkeit zu realiſiren, dies eben
nur durch eine Thätigkeit geſchehen kann, welche ſich un¬
mittelbar als eine Weiterentwickelung desjenigen ſinnlich
thätigen Vorgangs darſtellt, dem nur überhaupt die That¬
ſache, daß eine Sichtbarkeit exiſtirt, verdankt wird. Und
eine ſolche Thätigkeit findet ſich in der That unter den
mannichfaltigen Lebensäußerungen, zu denen ſich die menſch¬
liche Natur entwickelt. Wenn wir an uns ſelbſt oder an
Anderen Geberden wahrnehmen, die dem Auge ein Sicht¬
bares darzuſtellen ſuchen, wenn wir uns vergegenwärtigen,
[80] daß der Menſch zeichnend, malend, bildend in mehr oder
minder vollkommener Weiſe etwas hervorbringt, was aus¬
ſchließlich für die Wahrnehmung durch den Geſichtsſinn
beſtimmt iſt — wie ſollen wir dieſe ſonderbare Thatſache
deuten? Wohl pflegt man ſich damit abzufinden, daß man
dieſe Thätigkeit auf gewiſſe dem Menſchen angeborene
Triebe, wie Nachahmungstrieb oder Spieltrieb zurückführt;
man überſieht aber dabei, daß man damit wohl eine
Meinung darüber ausſpricht, aus welchen Gründen und
zu welchen Zwecken eine vorhandene Fähigkeit zur An¬
wendung kommen könne, daß man aber keineswegs damit
erklärt, wieſo es dem Menſchen möglich ſei, eine ſolche
Thätigkeit überhaupt aus ſich heraus zu entwickeln. Es
handelt ſich in der That nicht darum, wozu der Menſch
die Fähigkeit anwendet, durch Geberden, durch die Mani¬
pulationen des Zeichnens und Bildens etwas nur um ſeiner
Sichtbarkeit willen darzuſtellen. Das eigentliche Wunder,
um das es ſich handelt, beſteht darin, daß der Menſch auf
einem beſtimmten Gebiet ſeiner ſinnlichen Natur die Fähig¬
keit erlangt, in einem ſinnlichen Material ſelbſt zu einem
Ausdruck zu gelangen.


Wie wenig man den eigentlich wichtigen Punkt trifft,
indem man jene darſtellenden Thätigkeiten auf das Bedürf¬
niß zurückführt, einen Trieb zu befriedigen, erhellt, wenn
man ſich fragt, warum denn derſelbe Trieb nicht auch auf
anderen Sinnesgebieten ſich geltend macht. Man erkennt
dann ſofort, daß das, was auf dem Gebiete des Geſichts¬
ſinnes möglich wird, auf einem Sinnesgebiete wie dem
[81] des Taſtens, nicht möglich iſt, und wird dann ganz natür¬
lich auf die Frage kommen, nicht, was jene Fähigkeiten
für eine Bedeutung in Betreff eines durch ſie zu befrie¬
digenden allgemeinen Triebes beſitzen, ſondern, welchen
Werth ſie für das Sinnesgebiet ſelbſt haben, auf dem
ſie ſich zeigen. Man muß bedenken, daß man die Sinnes¬
qualität, die durch einen Sinn wie den Taſtſinn vermittelt
worden iſt, von den Gegenſtänden nicht trennen kann, an
denen ſie erſcheint; daß man hingegen durch den Geſichts¬
ſinn eine Art Wirklichkeitsmaterial erhält, welches man zum
Gegenſtand einer ſelbſtſtändigen, von den anderen Sinnes¬
qualitäten, die in einem Gegenſtande zuſammentreffen, un¬
abhängigen Darſtellung machen kann. Vergegenwärtigen
wir uns den einfachſten Gegenſtand, der ſowohl Object
unſeres Taſtſinnes als auch unſeres Geſichtsſinnes iſt:
wollten wir das, was wir die Taſtvorſtellung an dem
Gegenſtand nennen, darſtellen, wie vermöchten wir dies
anders zu thun, als indem wir den Gegenſtand ſelbſt
wiederholten, um durch die Wiederholung dieſelben Taſt¬
vorſtellungen hervorzurufen, die wir dem urſprünglichen
Gegenſtand verdankten? Wir gelangen dabei nicht um
einen Schritt weiter: wir beſitzen gar kein Mittel, um
uns einer Taſtvorſtellung unmittelbar zu bemächtigen; nur
indirekt können wir ſie wieder hervorzurufen ſuchen, und
das, was wir dadurch erreichen, kommt im beſten Falle dem
gleich, was wir urſprünglich an taſtbarer Wirklichkeit in
unſerem wahrnehmenden Bewußtſein beſaßen. Das, was
ſich auf dem Gebiet des Taſtſinnes als unmöglich erweiſt,
Fiedler, Urſprung. 6[82] das erſcheint nun plötzlich auf dem Gebiet des Geſichts¬
ſinnes möglich. Von demſelben Gegenſtand, von dem wir
ſeine Taſtbarkeit nicht trennen konnten, vermögen wir ſeine
Sichtbarkeit als etwas Selbſtſtändiges gleichſam loszulöſen.
Wir bedürfen keiner indirekten Mittel, um einen Gegen¬
ſtand als einen ſichtbaren unſerem Bewußtſein vorzuführen.
Indem wir auch nur einen unbeholfenen Umriß ziehen,
thun wir etwas für den Geſichtsſinn, was wir für den
Taſtſinn nie zu thun vermögen; wir ſchaffen etwas, was
uns die Sichtbarkeit des Gegenſtandes darſtellt, und indem
wir dies thun, bringen wir etwas Neues, etwas Anderes
hervor, als was vorher den Beſitz unſerer Geſichtsvor¬
ſtellung ausmachte. Dieſe einfache Thatſache muß uns
zum Nachdenken darüber anregen, was denn dieſe Fähig¬
keit zur ſichtbaren Darſtellung eines Sichtbaren für die
Entwickelung der Vorgänge, die auf dem Sinnesgebiet des
Auges ſtattfinden, für eine Bedeutung habe. Jene Frage
nach einem dem Menſchen angeborenen Bedürfniß, nach
einem Trieb als dem Motiv, welches dieſe nun einmal
als gegeben hingenommene Fähigkeit in Bewegung ſetze,
muß uns ſehr untergeordnet und unwichtig erſcheinen,
gegenüber der Frage, was denn überhaupt auf dem Ge¬
biet des Geſichtsſinnes vorgehe, indem ſich auf demſelben
eine Thätigkeit entwickele, für die wir auf gewiſſen anderen
Sinnesgebieten Analoges durchaus nicht wahrnehmen können.
Wohl iſt ein Sinnesgebiet von dem anderen geſchieden durch
die beſondere Art der Wirklichkeit, die es dem Bewußtſein
zuführt; größer aber muß uns die Kluft erſcheinen, die
[83] ein Sinnesgebiet von dem anderen trennt, wenn wir den
größeren oder geringeren Reichthum an Entwickelungs¬
formen bedenken, zu denen dasjenige Wirklichkeitsmaterial
gelangen kann, welches dem einen oder dem anderen Sinn
entſpringt; wenn wir es uns zum Bewußtſein bringen,
was es heißen ſoll, daß auf dem einen Sinnesgebiet
keinerlei Uebergang möglich iſt von den inneren Vorgängen
des Empfindens, Wahrnehmens, Vorſtellens zu den äußeren
Thätigkeiten ſinnlichen Darſtellens, Erfaſſens und Ge¬
ſtaltens, während auf dem anderen Sinnesgebiet dieſer
Uebergang ſich beſtändig vollzieht und zur Entſtehung von
ſehr complicirten und weitgehenden Vorgängen führen kann.
Dies iſt der eigentliche Punkt, auf deſſen Deutung und Er¬
klärung es ankommt, nicht um uns darüber zu belehren,
wozu jene darſtellenden Fähigkeiten verwendet werden
können und ſollen, ſondern um uns nur überhaupt das
Vorhandenſein jener Fähigkeiten nicht mehr als ein un¬
begreifliches Wunder erſcheinen zu laſſen.


Vermögen wir es, uns in den Zuſtand zu verſetzen,
wo uns Wirklichkeit einzig und allein als etwas erſcheint,
was geſehen werden kann, rufen wir gleichſam unſer Be¬
wußtſein von allen den Punkten zurück, an denen es in
ununterbrochenem Wechſel thätig zu ſein Pflegt, und con¬
centriren wir ſeine ganze Kraft im Sehorgan, ſo befinden
wir uns, ob wir uns nun unmittelbar wahrnehmend oder
Wahrgenommenes reproducirend verhalten, einer Wirklich¬
keit von Dingen gegenüber, welche uns ihr buntes Spiel
gleichſam nur von fern zeigen, ohne uns eine thätige An¬
6*[84] näherung zu geſtatten. Es iſt ſchon erwähnt, daß jeder
Verſuch, uns dieſer Wirklichkeit denkend, erkennend oder
auch nur fühlend zu bemächtigen, die Sichtbarkeit der¬
ſelben ſofort vernichtet. Halten wir die Sichtbarkeit feſt,
ſo ſehen wir bei der unmittelbaren Wahrnehmung unſer
Bewußtſein in einen Zuſtand dumpfer Contemplation ver¬
fallen, bei dem erinnernden, Sichtbares reproducirenden
Verhalten befinden wir uns vor einem Chaos von kommen¬
den und gehenden, auftauchenden und verſchwindenden Er¬
ſcheinungen, von Gebilden, die ſich zuſammenſchließen, um
im nächſten Augenblick in Trümmer auseinanderzufallen,
von Bruchſtücken, die wirr und regellos in ununter¬
brochenem, willkürlichem Wechſel ſich trennen und ſich ver¬
binden. Indem wir die Erfahrung machen, daß uns ein
gleichſam nur aufnehmendes Verhalten unſeres Sinnes¬
organes, ein paſſives uns Hingeben an die Aſſociation der
Geſichtsbilder immer tiefer in jene Dumpfheit und Ver¬
worrenheit verſtrickt, werden wir uns ganz unmittelbar
bewußt, daß nur ein thätiges Verhalten zu einer weiteren
Entwickelung unſerer Vorſtellungen von einer ſichtbaren
Wirklichkeit führen kann. Es muß uns nun wie eine Er¬
löſung erſcheinen, wenn wir die Möglichkeit in uns ent¬
decken, auf dem Gebiete des Geſichtsſinnes etwas zu thun,
was uns auf anderen Sinnesgebieten verſagt iſt: das, was
das Auge dem Bewußtſein liefert, für das Auge zu reali¬
ſiren. Wir betreten damit ein Gebiet äußerer Thätigkeit,
welches nunmehr nicht jenen inneren Vorgängen, in
denen ſich das Leben des Geſichtsſinnes abſpielt, gegen¬
[85] übertritt, ſondern ſich unmittelbar an dieſe Vorgänge an¬
ſchließt, ſich als eine auf das Gebiet äußeren Thuns ver¬
legte Fortſetzung derſelben darſtellt. Indem wir durch
irgend etwas, was der unmittelbaren Wahrnehmung des
Auges oder dem vorſtellenden Bewußtſein erſcheint, auch
nur zu einer Geberde veranlaßt werden, welche ein zu
Sehendes andeuten ſoll, ſo iſt es einzig und allein der
Geſichtsſinn, der ſich hier wirkſam erweiſt, der, wie er
zunächſt die Empfindungen und Wahrnehmungen eines
Sichtbaren liefert, nun auch den äußeren Mechanismus
des menſchlichen Körpers in Bewegung ſetzt, um das,
wozu ihm bis dahin nur innere Vorgänge zu Gebote
ſtanden, dadurch zu einer neuen und weiteren Entwickelung
zu bringen, daß er nun auch die Ausdrucksfähigkeit der
menſchlichen Natur ſeinen Zwecken dienſtbar macht. Es
iſt ein und derſelbe Vorgang, der, mit Empfindungen und
Wahrnehmungen beginnend, ſich ſchließlich in Ausdrucks¬
bewegungen entfaltet, und man muß ſich durchaus von
der Auffaſſung losmachen, als ob zwei verſchiedene Vor¬
gänge ſtatt hätten, der eine, der mit der Entwickelung von
Geſichtsvorſtellungen ſchlöſſe, der andere, der mit dem Ver¬
ſuch, die innerlich vorhandenen Vorſtellungen äußerlich nach¬
zubilden, anfinge.


Es iſt nicht zu leugnen, daß jene verbreitete Auffaſſung,
die in allen Bemühungen des Menſchen, Sichtbares äußer¬
lich darzuſtellen, nichts anderes erblickt, als relativ unvoll¬
kommene Verſuche, etwas nachzubilden, was in vollkommen¬
ſter Weiſe dem ſchauenden Bewußtſein mühelos zu theil
[86] wird, den Schein für ſich hat. Denn wie ließe ſich ein
ſo unvollkommenes Gebilde, wie eine Geberde oder der
ſtümperhafte Anfang einer bildlichen Darſtellung, mit der
ſichtbaren Erſcheinung eines Dinges vergleichen, wie ſie
ſich unſerem Auge oder auch nur unſerer Erinnerung dar¬
bietet? Muß hier nicht vielmehr von einem Rückſchritt, als
von einem Fortſchritt geredet werden? Man verwickelt ſich
dabei aber nicht weniger in einen Widerſpruch, als dies
diejenigen thun, die die Sprache dem Denken gegenüber¬
ſtellen und annehmen, daß dieſes durch jene in mehr oder
minder vollkommener Weiſe zum Ausdruck gelange; wollen
ſie dieſes Denken nachweiſen, ſo vermögen ſie dies eben
auch nur wieder durch die Sprache, und müſſen ſich davon
überzeugen, daß von einer Uebereinſtimmung oder Nicht¬
übereinſtimmung zwiſchen Denken und Sprache als zwiſchen
zwei von einander unabhängigen Dingen nicht die Rede
ſein könne, daß vielmehr in der Sprache eine Entwickelungs¬
form des Denkens ſelbſt vorliege. Nicht anders verhält
es ſich hier; auch hier handelt es ſich nicht um ein Vor¬
bild und ein Nachbild; denn wollte man um des Ver¬
gleiches willen das Vorbild nachweiſen, ſo fände man ſich
auf die Mittel des ſogenannten Nachbildens angewieſen;
dieſelben Mittel alſo, die angeblich einer Nachbildung
dienen, müßten ſelbſt erſt dasjenige hervorbringen, was ſie
doch nachzuahmen berufen ſein ſollen. Der geheime Sinn
deſſen, was vorgeht, indem ſich das innere Geſchehen,
welches unſer Bewußtſein von ſichtbaren Dingen bildet,
gleichſam verbreitet auf die Ausdrucksorgane und etwas
[87] hervorbringt, was wiederum nur von dem Geſichtsſinn
wahrgenommen werden kann, iſt ein ganz anderer, tieferer
und weittragenderer, als der einer müßigen und unvoll¬
kommenen Nachahmung von etwas bereits Vorhandenem.
Selbſt in der den Augenblick ihrer Entſtehung nicht über¬
lebenden Geberde, in den elementarſten Verſuchen einer
bildneriſch darſtellenden Thätigkeit thut die Hand nicht
etwas, was das Auge ſchon gethan hätte; es entſteht viel¬
mehr etwas Neues, und die Hand nimmt die Weiterent¬
wickelung deſſen, was das Auge thut, gerade an dem Punkte
auf und führt ſie fort, wo das Auge ſelbſt am Ende ſeines
Thuns angelangt iſt. Wären dem Menſchen jene Ausdrucks¬
mittel für das, was ihm durch den Geſichtsſinn als ein
Sichtbares erſcheint, nicht gegeben, ſo würde er freilich
nicht auf den Gedanken kommen können, daß an der Ent¬
wickelung der Vorſtellungen des Geſichtsſinnes noch andere
Organe ſeines Körpers betheiligt ſein könnten, als das
Auge. Indem er aber auch nur eine Linie zieht, ja indem
er nur eine Geberde macht, die etwas darſtellen ſoll, was
das Auge wahrgenommen hat, wird er, wenn er ſichs
recht überlegt, einſehen, daß er damit für ſeine Geſichts¬
vorſtellung etwas thut, wozu das Auge, das ſpezielle Organ
des Geſichtsſinns, aus eigener Kraft unvermögend iſt. Die
Leiſtung der Hand mag ihm im Vergleich zu der wunder¬
baren Leiſtung des Auges mangelhaft erſcheinen; und
doch, ſobald er bedenkt, daß das Auge das, was es im
zarteſten, vergänglichſten Empfindungsſtoff jeden Augen¬
blick neu hervorzaubert, nicht zu einem realiſirten Beſitz
[88] des Bewußtſeins zu geſtalten vermag, ſo wird er ſelbſt in
den unbeholfenſten Verſuchen bildlicher Darſtellung etwas
anerkennen, was über die Wahrnehmung des Auges hinaus¬
geht. Wenn ihn das Auge all der Herrlichkeit gegenüber,
in die es ihn mit einem Schlage verſetzt, doch ſchlie߬
lich im Stiche läßt, wenn er auf ein ſtumpfes Hin¬
ſtarren angewieſen bleibt, und das, was er durch das Auge
empfängt, nur dadurch für die Entwickelung ſeines Be¬
wußtſeins nutzbar machen kann, daß er es in ein anderes
Material, das der Sprache, umſetzt: ſo zeigt ihm die
Fähigkeit, die er in ſich vorfindet, das, was er ſieht, zum
Gegenſtand des bildenden Darſtellens zu machen, den Weg,
auf welchem ſeinem durch die Thätigkeit des Auges er¬
weckten Bewußtſein eines ſichtbaren Seins eine fortſchreitende
Entwickelung auf der eigenen Bahn möglich iſt. Auch
wird er ſich deſſen ganz unmittelbar bewußt, daß in jenen
anfänglichſten Aeußerungen der Darſtellung eines Sicht¬
baren ein Vorgang, der ſonſt auf beſtimmte Theile des
menſchlichen Organismus beſchränkt bleibt, zum Behuf
ſeiner eigenen Entfaltung in dieſem Organismus mehr
und mehr um ſich greift, und ſchließlich zu einem
äußerlich wahrnehmbaren Bewegungsvorgang wird; daß
ein innerer Vorgang, um ſich an das Tageslicht hervor¬
drängen zu können, ſich zu einem äußerlichen Thun ent¬
wickeln muß. Irgend ein Nebengedanke von abbildender,
nachahmender Thätigkeit wird in jenen urſprünglichſten
Verſuchen, ein Sichtbares ſichtbar zur Darſtellung zu
bringen, durchaus nicht vorhanden ſein. Dieſe Auffaſſung
[89] des Vorganges entſteht erſt, wenn es, wie bei den ent¬
wickelten Producten der bildneriſchen Thätigkeit, ſchwieriger
wird, an einem complicirten Reſultat den Nachweis zu
führen, daß es im Grunde auf demſelben Vorgang beruht,
der in jenen erſten Anfängen ſichtbaren Darſtellens ſo offen
zu Tage liegt. Man hilft ſich dann mit einem Worte wie
Nachahmung, welches doch aufhört, einen vernünftigen
Sinn zu haben, ſobald man dem Vorgange ernſtlich nach¬
denkt, der ſich vollziehen muß, damit jenes complicirte
Reſultat entſtehen könne.


Muß man ſich nun auch ſagen, daß das, was die
Hand zu thun vermag, indem ſie die Arbeit des Auges
darſtellend, bildend aufnimmt, unendlich mühſam, unbe¬
holfen, ſtümperhaft erſcheint im Vergleich zu der müheloſen
und doch ſo wunderbaren Thätigkeit des Auges, die in
jedem Augenblick eine ganze Welt von Bildern vor das
Bewußtſein zaubert, ſo muß man ſich doch zugleich ein¬
geſtehen, daß man mit dem ſchüchternſten kindlichſten Ver¬
ſuch bildlicher Darſtellung am Anfang einer Thätigkeit
ſteht, durch die es ganz allein möglich iſt, aus den Wahr¬
nehmungsbildern des Auges Vorſtellungen in dem Sinne
zu entwickeln, daß dieſelben zu realiſirten, in ſinnlich nach¬
weisbarer Form vorhandenen Beſtandtheilen des Bewußt¬
ſeins werden. Zugleich begreift man, daß man vor un¬
endlichen, nicht vor endlichen Proceſſen ſteht, wenn man
ſich denjenigen Inhalt unſeres Geiſteslebens vergegenwär¬
tigt, welcher unmittelbar aus dem Vorhandenſein des Ge¬
ſichtsſinnes entſpringt; man erkennt, daß, ſo wie die An¬
[90] fänge alles Wahrnehmens und Vorſtellens von Sichtbarem
aus dem Dunkel eines vor allem Bewußtſein liegenden
Geiſteslebens auftauchen, ſo das Ende, der Abſchluß dieſer
vorſtellenden Thätigkeit, ſich in den unabſehbaren Möglich¬
keiten der darſtellenden Thätigkeit verbirgt.


Indeſſen, wenn man ſich dieſen Conſequenzen auch
nicht entziehen kann, ſo wird man doch leicht durch die
Frage beirrt werden, wieſo durch eine mechaniſche Thätig¬
keit das ſolle geleiſtet werden können, wozu ſich ein rein
geiſtiges Thun als unzulänglich erwieſen hat. Hier nun
muß wieder und wieder daran erinnert werden, daß es
auf einer groben Selbſttäuſchung beruht, wenn der Menſch
meint, das geiſtige Thun und Daſein, was er in ſich
wahrnimmt, mehr und mehr von der Gemeinſchaft eines
leiblichen Geſchehens befreien zu können. Es iſt bereits
erwähnt worden, daß die Entwickelung einer ſogenannten
geiſtigen Thätigkeit, ſofern ſie auf einer Abwendung von
jeder körperlichen Thätigkeit beruhen ſoll, gar nicht ſtatt¬
finden könne, daß vielmehr die Entwickelung eines geiſtigen
Thuns immer zugleich die Entwickelung eines körperlichen
Thuns ſein müſſe. Es iſt ein verhängnißvolles Mißver¬
ſtändniß, ein geiſtiges Geſchehen von einem körperlichen Ge¬
ſchehen getrennt zu denken, und das Verhältniß zwiſchen bei¬
den ſo aufzufaſſen, als ob es in der Macht jenes ſtände, dieſes
in ſeinen Dienſt zunehmen, oder auch ſich ſeiner zu enthalten.
Dann freilich wird man nicht begreifen können, wieſo ein Ge¬
ſchehen, welches ſich, wie jeder bildneriſche Vorgang, zunächſt
als eine körperliche Manipulation darſtellt, als die Weiterent¬
[91] wickelung eines Geſchehens ſolle angeſehen werden, welches,
wie alles Schauen und Vorſtellen, zunächſt als ein geiſtiger
Vorgang auftritt. Erſt wenn man begriffen hat, daß jene
körperliche Manipulation als die unmittelbare Weiterent¬
wickelung desjenigen leiblichen Geſchehens aufgefaßt werden
kann, welches bei den Vorgängen des Schauens und Vor¬
ſtellens nachweisbar iſt, oder wenigſtens vorausgeſetzt
werden muß, wird man zu der Einſicht gelangen, daß in
dieſer Entwickelung des leiblichen Geſchehens auch eine
Entwickelung des geiſtigen Geſchehens enthalten iſt. Nicht
in der Emancipation ſogenannten geiſtigen Thuns von
leiblichem kann irgend ein Fortſchritt vor ſich gehen, viel¬
mehr lediglich und ausſchließlich durch die Entwickelung
ſinnlich-körperlicher Thätigkeit zu immer greifbarerem Vor¬
handenſein, zu immer ſteigender Beſtimmtheit und Deut¬
lichkeit. In der Sprache liegt dies für eine beſtimmte
Bethätigungsart der menſchlichen Natur offen genug zu
Tage; nicht anders aber kann es ſich verhalten, wo es ſich
um die Entwickelung von Geſichtsvorſtellungen handelt;
nicht gleichſam außerkörperlich kann dieſelbe vor ſich gehen,
vielmehr kann ſie nur in der Entwickelung von körperlichen
Bethätigungen enthalten ſein. Während wir meinten, daß
jene mechaniſche Thätigkeit des Bildens von einem geiſtigen
Proceß des Vorſtellens abhängig ſei, begreifen wir nun,
daß jede Möglichkeit eines Fortſchrittes in der Entwickelung
der Vorſtellungen abhängig iſt von jener mechaniſchen
Thätigkeit.

[[92]]

5.

Erblickt man in der bildenden, darſtellenden Thätig¬
keit des Künſtlers nichts anderes als die Entwickelung des
Sehproceſſes, ſo ſieht man für das Wirklichkeitsbewußtſein
des Menſchen ein beſonderes eigenthümliches Gebiet er¬
öffnet. Hier aber muß vor allem einem landläufigen Irr¬
thum entgegengetreten werden. Durch die Pflege einer ſo¬
genannten anſchaulichen Beziehung zu den Dingen ſoll man,
ſo hört man oft ſagen, in das Verhältniß eingeführt wer¬
den, in das ſich der Künſtler zur Natur ſetzt. Es iſt
gewiß ein billiges Verlangen, daß der Menſch von ſeinen
Augen einen ausgiebigen Gebrauch mache, umſomehr wo
es gilt, die ſichtbare Seite der Dinge gegenüber einer
gewohnheitsmäßigen allzugeringen Werthſchätzung zu Ehren
zu bringen. Nur täuſcht man ſich über das, was man
dadurch erreicht. Es tritt als Folge eines überhand¬
nehmenden Hindrängens nach Pflege der Geſichtswahr¬
nehmungen in der Regel von zwei Fällen einer ein: ent¬
weder iſt es die Betheiligung des Auges an dem geſammten
in ſo mannichfachen Aeußerungsformen ſich darſtellenden
Leben des Individuums, die eine Steigerung erfährt, oder
[93] die um ihrer ſelbſt willen geübte Thätigkeit des Auges
gewinnt ſo an Intenſität, daß ſie alle übrigen Intereſſen,
denen ſie ſonſt dienſtbar iſt, zurückdrängt und ſich wenig¬
ſtens vorübergehend unter allen jenen Möglichkeiten, nach
denen die menſchliche Natur ſich ausleben kann, allein be¬
hauptet.


Was jenen erſten Fall anlangt, ſo kann unzweifelhaft
das Maß der Betheiligung, welches dem Geſichtsſinn an
allen den Thätigkeiten vergönnt wird, an denen er über¬
haupt theilhaben kann, ein ſehr verſchiedenes ſein; und es
iſt keineswegs die mehr oder minder gute Beſchaffenheit
des Sehorgans, durch welche jenes Maß beſtimmt wird.
Es giebt genug Sehende, die nicht anders durch die Welt
gehen, als ob ſie mit Blindheit geſchlagen wären, und
gewiſſe Denkweiſen ſind nicht anders zu erklären, als daß
ihre Urheber das Zeugniß der Augen nur in ſehr unvoll¬
kommener und nebenſächlicher Weiſe herangezogen haben.
Daß in ſolchem Falle eine künſtleriſche Dispoſition nicht
vorhanden iſt, kann nicht Wunder nehmen. Anders iſt es,
wo die Forderung des Sinnenzeugniſſes auf den verſchie¬
denen Gebieten geiſtiger Thätigkeit eine ebenſo allgemeine
wie ſtrenge iſt, wo der Einzelne von Jugend auf ange¬
leitet wird, ſich bei allem, was er denkend und erkennend
ſich anzueignen ſtrebt, Rechenſchaft zu geben über die Zu¬
ſtimmung oder den Widerſpruch, der von dem Augenſchein
ausgehen könnte. Hier ſollte man meinen, daß einem ſo
geſchulten Geiſt der Zugang offen ſtehen müßte zu dem
Verſtändniß einer Thätigkeit, welche, wie die bildende
[94] Kunſt, ſo ganz auf dem Gebrauch des Sehorgans beruht.
Die Erfahrung ſpricht dagegen. Die geiſtige Richtung,
die die Leiſtung der Sinne zu ſo hohem Anſehen gebracht
hat, erweiſt ſich nutzlos, wo es ſich um das eigentliche
Gebiet ſinnlicher Leiſtung, um die Kunſt, handelt. Gerade
diejenige exacte wiſſenſchaftliche Beſchäftigung mit der Natur,
die es ununterbrochen mit der ſichtbaren Seite der Dinge
zu thun hat, pflegt den Einzelnen am unfähigſten zu
machen, den beſonderen Werth der Beziehung einzuſehen,
in der der Künſtler ſich zur Natur befindet. So auffallend
dies ſcheinen mag, ſo iſt es im Grunde nur zu erklärlich.
Die wiſſenſchaftliche Thätigkeit läuft nicht auf ein Sehen,
ſondern auf ein Wiſſen hinaus; der Gewinn, der dadurch
erzielt wird, daß dem Auge eine weſentliche Mitarbeit
zugetheilt wird, kommt nicht dem Sehen, ſondern dem
Wiſſen zu gute; das, was man auf Grund der Geſichts¬
wahrnehmung in ſeinen Beſitz bringt, iſt kein Geſehenes
und zu Sehendes, ſondern ein Gewußtes und zu Wiſſendes.
Nun ergiebt ſich aus dem früher Geſagten, daß man einer
Täuſchung unterliegt, indem man meint, in dem auf dem
Augenſchein beruhenden und durch den Augenſchein zu con¬
trolirenden Wiſſen die Dinge ihrer geſammten Sichtbarkeit
nach mit zu beſitzen. So kommt es, daß das geiſtige
Intereſſe von der einzigen Thätigkeit, durch die das von
den Augen gelieferte Material zum Sichtbarkeitsbeſitz ent¬
wickelt und geſtaltet werden kann, um ſo mehr abgelenkt
wird, in je umfaſſenderer Weiſe ſich das Auge an der
Entwickelung und dem Aufbau der begrifflichen Welt be¬
[95] theiligt. Durch die in ſo vielen Zweigen des Wiſſens
geſteigerte Beobachtung des ſichtbaren Thatbeſtandes wird
eine große Sicherheit in der Kenntniß der äußeren Geſtalt
der Dinge, und zugleich die Meinung erzeugt, man erhalte
durch dieſe Sicherheit das Recht, über Vollkommenheit
oder Unvollkommenheit der ſogenannten künſtleriſchen Wie¬
dergabe der Natur zu urtheilen. Und doch kann dieſe
Kenntniß immer nur wieder einen Maßſtab für eine
Kenntniß abgeben, vermag aber nicht einen Standpunkt
der Beurtheilung für eine Leiſtung zu begründen, bei der
es ſich gar nicht mehr um Kenntniß handelt. Das Kunſt¬
werk wird unwillkürlich mit demſelben wiſſenſchaftlichen
Intereſſe betrachtet, wie das Naturding; man meint ihm
gerecht werden zu können, wenn man das in ihm wieder
zu finden ſucht, was man als ſichtbar in der Natur vor¬
handen benennen und conſtatiren kann, und begreift nicht,
daß das Sehen im Sinne des Künſtlers erſt da aufängt,
wo alle Möglichkeit des Benennens und Conſtatirens im
wiſſenſchaftlichen Sinne aufhört.


Betrachten wir nun aber den anderen Fall, die
Steigerung der Thätigkeit des Auges zu keinem außerhalb
des eigentlichen Sehgebietes liegenden Zweck, vielmehr um
ihrer ſelbſt willen, ſo müßte man meinen, daß hier ein
unmittelbarer zur Kunſt führender Weg geebnet wäre.
Auch hierin täuſcht man ſich. Je nach individueller An¬
lage entwickelt ſich dieſe anſchauliche Beziehung zu Natur
und Leben bald zu einem mehr oder minder reichen Be¬
obachtungsverhältniß, verbunden mit einer geſteigerten Em¬
[96] pfänglichkeit für alle die Reize des Eigenthümlichen, An¬
muthigen, Schönen, die einem offenen Auge überall be¬
gegnen, bald zu einer ſentimentalen Annäherung an die
Natur, die in Gefühlserlebniſſen und Stimmungen aus¬
läuft. Beides hat mit dem künſtleriſchen Intereſſe an der
Natur noch nichts zu thun; keines von beiden führt über
die Natur hinaus. Jenes oberflächliche, in der Beobachtung
ſich erſchöpfende Bedürfniß thut ſich im Grunde an dem,
was ihm Natur und Leben bietet, Genüge, und vermag
der Kunſt gegenüber nicht über die kindiſche Freude an
der Wiederholung deſſen hinauszukommen, was ihm ſchon
bekannt iſt. Der Antheil, der an den Leiſtungen der Kunſt
genommen wird, läßt ſich in ſehr weitem Umfange auf
dieſes harmloſe Vergnügen zurückführen. Unſtreitig beruht
die Fähigkeit, die Anſchauung zu einem ſentimentalen Er¬
lebniß werden zu laſſen, auf reicheren und tieferen Seiten
der menſchlichen Natur. Hier trifft die Gewohnheit, ſich
in das Anſchauen der Natur zu verſenken, zuſammen mit
einer leichten Erregbarkeit des Gemüths und mit der
hohen Gabe, die Schranke gleichſam niederzureißen, die
den Einzelnen von allem trennt, was ein Gegenſtand
ſeiner Wahrnehmung iſt. In beſonders geſteigerten Augen¬
blicken tritt ein Gefühl der Naturnähe ein, durch welches
wir in die allerinnigſte Beziehung zu der ganzen Herrlich¬
keit der ſichtbaren Welt zu treten meinen. Mit einer
wunderbaren Klarheit des Schauens vereinigt ſich das Ge¬
fühl, einem Unendlichen, Unergründlichen gegenüberzuſtehen,
ſelbſt dieſem Unendlichen, Unergründlichen anzugehören.


[97]

Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit ſcheinen wir
uns gegenüber zu befinden; es iſt nicht die alltägliche Welt,
der Schauplatz unſeres Lebens und Handelns, der Gegen¬
ſtand unſeres Wiſſens und Erkennens; und doch iſt es
dieſelbe Welt, die wir kennen, aber nun gleichſam an
einem Feſttag geſehen. Wir befinden uns in einem traum¬
haften Zuſtand, und die Thatſache der ſichtbaren Er¬
ſcheinung allein iſt es, die zu unſeren ſtaunenden Sinnen
ſpricht. Wir vergeſſen uns ſelbſt, wir verſenken uns in
den ſchauenden Zuſtand, und indem ſo das erſcheinende
Daſein der Dinge mit immer größerer Macht uns ent¬
gegentritt, immer unmittelbarer ſich uns darbietet, unſer
ganzes Sein erfüllt und ſchließlich in ſich aufzunehmen
ſcheint, meinen wir, einer Offenbarung jedes Naturgeheim¬
niſſes beizuwohnen, im Vergleich zu der uns alle mühſam
errungene Kenntniß als ein armſeliges Stückwerk erſcheinen
muß, und die uns um ſo überzeugender dünkt, als ſie uns
mühelos zu theil wird und keinen Beweis und keine Rechen¬
ſchaft fordert. Wer hätte nicht ſchon ſolche Augenblicke
erlebt, in denen die Iſolirung der ſinnlichen Wahrnehmung
mit einer beſonderen Reizbarkeit des Gefühls zuſammen¬
traf und jene Stimmung erzeugte, in der man ſich der
Natur in viel umfaſſenderer und eindringlicherer Weiſe zu
bemächtigen meinte, als dies je im praktiſchen oder theoreti¬
ſchen Sinne gelungen war? Wer ſolchen Anſchauungsge¬
nuſſes fähig iſt, der wird, wo er ihn der Natur nur unter
beſonderen, ſeltenen Umſtänden verdanken kann, ſich dem
Reiche der Kunſt zuwenden, und hier eine reiche, ſich mühe¬
Fiedler, Urſprung. 7[98] los beſtändig erneuernde Befriedigung finden; er wird den
geheimen Sinn aller Kunſt darin zu erkennen meinen, daß
ſie Geſtalten und Darſtellungen zu ſchaffen vermöge, die
noch viel unmittelbarer zu dem Gemüth zu ſprechen, das¬
ſelbe in Aufregung zu verſetzen geeignet ſeien, als dies
durch die Eindrücke der Natur und des Lebens gelingen
könne; er wird überzeugt ſein, daß er den tiefſten Gehalt
des Kunſtwerks gehoben habe, wenn er in der Betrachtung
deſſelben einer jener gefühlsmächtigen Stimmungen theil¬
haftig geworden ſei. Indeſſen wenn er ſich auch von dem,
der aus der Stumpfheit und Nüchternheit ſeiner geiſtigen
Verfaſſung durch keinen Vorgang der Natur, durch kein
Werk der Kunſt aufgerüttelt zu werden vermag, vortheil¬
haft dadurch unterſcheidet, daß ihm Kunſtwerke zu Erleb¬
niſſen zu werden vermögen, ſo ſind es darum doch noch
keine künſtleriſchen Erlebniſſe, die er an ſich erfährt.


Es iſt eine eigenthümliche Erſcheinung, daß dieſelben
Menſchen, die im Leben und in ihrem Fache einen durch¬
aus ſachlichen Ernſt beſitzen, alsbald in Sentimentalität
verfallen, wenn ſie ſich der Kunſt nähern; ſie begreifen
nicht, daß die künſtleriſche Thätigkeit auf einer Sachlichkeit
und Klarheit beruht, die von ihren Gefühlsorgien eben¬
ſoweit entfernt iſt, wie von der Trockenheit und Nüchtern¬
heit derer, die der Kunſt mit denjenigen Hülfsmitteln bei¬
kommen zu können glauben, die ihnen eine wiſſenſchaftliche
Disciplinirung an die Hand giebt. Mit Stimmungen läßt
ſich nichts anfangen, wo es ſich um eine Thätigkeit handelt;
je intenſiver jene werden, deſto mehr lähmen ſie das active
[99] Leben; man muß ſie wie einen Traum von ſich abſchütteln,
um zur wachen Thätigkeit zurückkehren zu können. Hatte
man gemeint, ſich in jenen Augenblicken erhöhter Ergriffen¬
heit die Natur in ihrer Fülle und Urſprünglichkeit zuge¬
eignet zu haben, ſo ſieht man nun wohl, daß es ſich ſtatt
um ein Beſitzen, eher um ein Beſeſſenwerden gehandelt hat.
Von einem künſtleriſchen Erlebniß kann da nur für den¬
jenigen die Rede ſein, der ſich eine irgendwie klare Vor¬
ſtellung von dem künſtleriſchen Vorgange nicht zu machen
vermag. Denn das, was den Künſtler auszeichnet, iſt,
daß er ſich nicht paſſiv der Natur hingiebt und ſich den
Stimmungen überläßt, die ſich in ihm erzeugen, ſondern
daß er activ das, was ſich ſeinen Augen darbietet, in
ſeinen Beſitz zu bringen ſucht.


Pflege der anſchaulichen Beziehung zur Natur mit
ihrem ganzen Gefolge von ſogenannten anſchaulichen Kennt¬
niſſen, von Bereicherung des Vorſtellungslebens, von Bil¬
dung des Geſchmacks und Erziehung zu äſthetiſchem Genuß,
und was dergleichen Bildungsrequiſiten mehr ſind, ſteht
im Grunde Jedermann, wenn auch mit gewiſſen Grad¬
unterſchieden, offen, noch ehe er auf die eigentlichen Wege
der Kunſt einzugehen braucht. So paradox es klingen
mag, ſo fängt die Kunſt doch erſt da an, wo die An¬
ſchauung aufhört. Nicht durch eine beſondere anſchauliche
Begabung zeichnet ſich der Künſtler aus, nicht dadurch,
daß er mehr oder intenſiver zu ſehen vermöchte, daß er
in ſeinen Augen eine beſondere Gabe des Wählens, des
Zuſammenfaſſens, des Umgeſtaltens, des Veredelns, des
7*[100] Verklärens beſäße, ſo daß er in ſeinen Leiſtungen doch
nur Errungenſchaften ſeines Sehens offenbare; er unter¬
ſcheidet ſich vielmehr dadurch, daß ihn die eigenthümliche
Begabung ſeiner Natur in den Stand ſetzt, von der an¬
ſchaulichen Wahrnehmung unmittelbar zum anſchaulichen
Ausdruck überzugehen; ſeine Beziehung zur Natur iſt keine
Anſchauungsbeziehung, ſondern eine Ausdrucksbeziehung.


Hier liegt das eigentliche Wunder der Kunſt. Wir
Alle können ſehen; wir können uns einbilden, daſſelbe in
der Natur zu ſehen, was der Künſtler ſieht; wir können
meinen, die künſtleriſche Leiſtung an dem meſſen zu können,
was unſere Augen uns lehren; ſo lange wir das alles
thun, fühlen wir uns im Grunde mit dem Künſtler auf
einem und demſelben Boden. Wir dünken in der Haupt¬
ſache uns ihm gleich und faſſen ſeine äußere Thätigkeit
mehr als die mechaniſche Darſtellung eines inneren Ge¬
ſchehens auf, von dem auch wir durch eigene innere Er¬
fahrung Kunde haben. Sobald wir aber auch nur den
beſcheidenſten Verſuch machen, von einer Wahrnehmung
des Auges zum bildneriſchen Ausdruck überzugehen, werden
wir uns vor einem unüberwindlichen Hinderniß befinden,
und erſt ſo werden wir in der uns verſagten Fähigkeit,
den Vorgang der Wahrnehmung durch das Auge nach
Seite des ſichtbaren Ausdrucks einer ſelbſtſtändigen Ent¬
wickelung zuzuführen, dasjenige erkennen, was den Künſtler
von uns unterſcheidet und was wir aus keiner eigenen
Erfahrung zu begreifen vermögen. Nur Gedankenloſigkeit
kann die äußere Thätigkeit des Künſtlers lediglich als eine
[101] mehr oder minder erfolgreiche Darſtellung auffaſſen, und
infolge deſſen das Hauptgewicht auf den Vorgang legen,
der der Darſtellung voraufgeht. Wer ſich den thatſäch¬
lichen Vorgang zu vergegenwärtigen vermag, der ſtatt¬
finden muß, um von einem bloßen Vorſtellungsleben zu
der ſogenannten darſtellenden Thätigkeit überzugehen, der
wird inne werden, daß in dem geſammten künſtleriſchen
Vorgang das, bloße Schauen und Vorſtellen nur einen
Anfang, einen Ausgangspunkt bedeutet, während alle Ent¬
wickelung und Vollendung an die äußere bildende Thätig¬
keit gebunden iſt. Wenn wir es in beſonders geſteigerten
Augenblicken des Wahrnehmens und Vorſtellens allenfalls
bis zu einer unbeholfenen darſtellenden Geberde bringen,
nehmen wir wahr, daß derſelbe Vorgang, der bei uns in
der Geberde gleichſam verkümmert, durch den Künſtler ſich
zu einer reichen Thätigkeit entwickelt, der gegenüber alles
bloße Sehen und innere Vorſtellen ſehr geringfügig er¬
ſcheinen muß.


So erkennen wir das eigentlich Merkwürdige in der
künſtleriſch begabten Natur darin, daß in ihr ein Vorgang,
den wir in gewiſſen Ausdrucksbewegungen ganz allgemein
bei allen Menſchen angedeutet finden, zu einer einſeitigen
und das gewöhnliche Maß weit überſteigenden Entwickelung
gelangt. Wenn wir in den Wahrnehmungen, die uns das
Auge bietet, gleichſam ſtecken bleiben, mit unſerem anſchau¬
lichen Vorſtellungsvermögen gar bald zu Ende ſind und
uns nach dieſer Richtung hin wie von einem undurchdring¬
lichen Dunkel gehemmt ſehen, fühlt der Künſtler die Fähig¬
[102] keit in ſich, jene allgemeinen und unbeſtimmten Vorgänge,
auf die unſere geſammte Wahrnehmung einer ſichtbaren
Welt hinausläuft, zu immer beſtimmteren und faßbareren
Ausdrucksmitteln zu entwickeln. Wo wir mit allem guten
Willen und mit der ganz auf das Sehen concentrirten
Kraft unſeres Bewußtſeins doch hülflos daſtehen und keinen
Schritt vorwärts zu kommen vermögen, da beginnt gerade
das Leben des Künſtlers; mag er nach anderen Richtungen
hin Hemmungen empfinden, wo uns das Fortſchreiten ver¬
gönnt iſt, hier fühlt er ſich frei und ungehindert. Er iſt
in ſeinem Element, wenn er da, wo wir darauf angewieſen
ſind, im Schauen zu verharren, den Ausgangspunkt nimmt
zu einer in immer geſteigertem bildneriſchen Ausdruck ſich
vollziehenden Thätigkeit. Alle die Manipulationen, von
dem Einfachſten und Urſprünglichſten bis zu dem vielfach
Zuſammengeſetzten, bergen keinen höheren Sinn in ſich,
als den, das fortzuſetzen, was das Auge begonnen hat.


Freilich wenn man an der Trennung von geiſtigem
und körperlichem Thun feſthält, wird man auch nicht über
die Anſicht hinaus zu kommen vermögen, daß der Künſtler,
indem er äußerlich thätig wird, nur etwas für Andere
ſichtbar und bleibend darſtelle, was in ſeinem, an kein
äußeres Thun gebundenen Vorſtellungsvermögen bereits
Geſtalt gewonnen habe. Ja man wird weiter gehen und
die Meinung hegen, daß der Künſtler, indem er ſich zur
künſtleriſchen Thätigkeit anſchicke, aus der Noth eine
Tugend mache, da ja doch kein äußeres Mittel die in
ſeinem Geiſte wohnenden Geſtalten in ihrer Reinheit
[103] und Vollkommenheit wiederzugeben im Stande ſei. Dann
freilich wird man von all den verhängnißvollen Irrthümern
nicht loskommen, die ſich mit Nothwendigkeit ergeben, wenn
man in dem ſichtbar Vorhandenen der Kunſt nur ein Sym¬
bol eines Geiſtigen ſieht, wenn man das dem Auge ſich
thatſächlich Darbietende gering achtet gegenüber einem un¬
ſichtbaren Inhalt, der in die unvermeidlichen Beſchrän¬
kungen der Form herabgeſtiegen ſei. Um von dieſer ſonder¬
baren Umkehrung eines natürlichen Verhältniſſes ſich frei
zu machen, muß man jene unberechtigte Scheidung zwiſchen
geiſtigem und körperlichem Thun aufgeben, und nirgends
vielleicht iſt die Nothwendigkeit, dies zu thun, einleuchten¬
der, als bei der Betrachtung der künſtleriſchen Thätigkeit.
Hier iſt das Verhältniß anders als von dem gedachten
oder geſprochenen zum geſchriebenen Wort, wo der Schein
einer Trennung zwiſchen geiſtiger und körperlicher Leiſtung
näher liegt. Bei dem diſcurſiven Denken vollzieht ſich
der weitaus größte Theil der Arbeit im Inneren des
Menſchen. Die körperliche Betheiligung iſt nicht augen¬
fällig, und wo ſie zu einer äußerlich wahrnehmbaren wird,
wie bei dem Sprechen und Schreiben, ſcheint ſie thatſäch¬
lich nur das dienend auszuführen, was ihr von einer
Fähigkeit des Denkens geboten wird, die gar nicht an ſo
ſchwerfällige ſinnliche Vorgänge wie Sprechen und Schrei¬
ben gebunden iſt. Sehr anders verhält es ſich bei der
künſtleriſchen Thätigkeit. Es giebt im Inneren des Men¬
ſchen gar keine Organe, die das ausführen könnten, was
das Ziel des künſtleriſchen Strebens iſt; um auch nur an
[104] den Anfang des Weges zu kommen, der jenem Ziele zu¬
führt, muß der Künſtler zu einer äußeren Thätigkeit greifen,
und an dieſe äußere körperliche Thätigkeit iſt alles ge¬
bunden, was er erreichen kann. Was iſt alles Schauen
und Vorſtellen im Vergleich zu der Entwickelung, die dieſes
Schauen und Vorſtellen in der bildneriſchen Thätigkeit
findet? Wie ein Stammeln muß es uns erſcheinen im Ver¬
gleich zu der entwickelten Sprachfähigkeit. Gerade der
Künſtler wird ſich bewußt ſein, daß die höhere Entwickelung
ſeines geiſtig-künſtleriſchen Lebens erſt in dem Augenblicke
beginnt, in dem ſein Vorſtellungsdrang die äußeren Organe
ſeines Körpers in Bewegung ſetzt, in dem zur Thätigkeit
des Auges und des Gehirns die Thätigkeit der Hand hin¬
zutritt. Dann erſt betritt er die Bahn, auf der er ſich
aus Dunkelheit und Beſchränkung zu ſteigender Klarheit
und Freiheit emporarbeitet. All ſeine Begabung, all ſeine
Genialität entwickelt ſich erſt in dieſem äußerlich wahr¬
nehmbaren Thun, in dem ſich nicht die Darſtellung, ſon¬
dern die Entſtehung der künſtleriſchen Vorſtellungswelt
vollzieht. Indem der Künſtler von allem Anfang an ſeine
Thätigkeit nach außen zu verlegen genöthigt iſt, iſt dieſe
Thätigkeit darum nicht weniger eine geiſtige, weil bei ihr
mehr Theile des Körpers in Bewegung geſetzt werden,
als nur etwa das Gehirn; und weil die künſtleriſche Thätig¬
keit eine geiſtige ſein will, muß ſie in ganz beſtimmten,
faßbaren, ſinnlich nachweisbaren Leiſtungen beſtehen.


Lernen wir ſo die bildneriſche Thätigkeit des Künſtlers
auffaſſen als eine Fortſetzung des Sehproceſſes, als eine
[105] Entwickelung deſſen, was in der Wahrnehmung des Auges
ſeinen Anfang nimmt, zu beſtimmten Geſtaltungen, haben
wir eingeſehen, daß das Auge aus eigener Kraft das von
ihm begonnene Werk nicht vollenden kann, ſondern den
ganzen Menſchen in eine beſtimmte Art der Thätigkeit
verſetzen muß, damit das von ihm gelieferte Sinnenmaterial
ſich zu geiſtigen Werthen formen könne; ſo werden wir
auch der Einſicht zugänglich ſein, daß ſich in der künſt¬
leriſch bildenden Thätigkeit eine beſtimmte Art der Ent¬
wickelung bewußten Lebens darſtellt. Man treibt mit dem
Wort Bewußtſein oft genug einen ſonderbaren Mißbrauch.
Man ſetzt das Vorhandenſein einer Art von Normal-Be¬
wußtſein voraus, welches gleichſam das allgemeine helle
Reich des Denkens und der Thätigkeit bilde; in dieſem
Reich entwickelt ſich das praktiſche zielbewußte Handeln
und die theoretiſche Welterkenntniß. Thätigkeiten, wie die
des Künſtlers gehören nun freilich weder zu dem einen,
noch zu dem anderen, und während die menſchliche Natur
ihren großen praktiſchen und intellektuellen Zielen mit Be¬
wußtſein und Folgerichtigkeit zuſtrebt, ſcheint ſie da, wo ſie
ſich der künſtleriſchen Thätigkeit hingiebt, jenes Tageslicht
des Bewußtſeins verlaſſen zu müſſen, damit die geheimni߬
vollen Kräfte lebendig und wirkſam werden können, als
deren Reſultat man das Kunſtwerk ſo gern betrachtet.


Indeſſen iſt Bewußtſein niemals als allgemeiner Zu¬
ſtand, ſondern immer nur als beſtimmte Thätigkeit vor¬
handen; es iſt in jedem einzelnen Menſchen ein beſtändig
wechſelndes, ſowohl in Hinſicht auf den Grad, als auch
[106] auf die Art der Thätigkeit, in der es zur Entwickelung
gelangt. Wer ſich zu vollſtändig bewußtem Denken erwacht
glaubt, mag doch einem Anderen noch tief in den traum¬
haften Zuſtänden eines unentwickelten Bewußtſeins befangen
erſcheinen, nur deshalb, weil das Denken dieſes Anderen
ſich in einer regeren, weitergreifenden Bewegung befindet;
ja der Einzelne kann, vorzüglich wenn er ſich in einem
Zuſtand geſteigerter Lebens- und Denkthätigkeit befindet,
leicht an ſich die Erfahrung machen, daß ihm jeder Fort¬
ſchritt der Thätigkeit wie ein Erwachen aus relativ ge¬
trübtem zu relativ hellerem Bewußtſein vorkommt. Und
wenn die relative Klarheit des Bewußtſeins nicht ein ge¬
gebener dauernder Zuſtand iſt, in dem ſich der Menſch be¬
finden und gewiſſe Thätigkeiten verrichten könne, ſondern
im Grunde nur ein anderer Ausdruck für die jeweilige
Lebendigkeit der Denkthätigkeit, die der Menſch entwickelt,
ſo iſt das Bewußtſein auch nicht etwas ſich ſelbſt Gleich¬
bleibendes, verſchiedenartige Thätigkeiten des Menſchen nur
Begleitendes, vielmehr ſtellt es ſich in dieſen verſchieden¬
artigen Thätigkeiten ſelbſt als ein der verſchiedenartigſten
Entwickelung fähiges dar. Es iſt ſehr ſonderbar, daß
man deshalb, weil man das eigene Bewußtſein an eine
andere als an die künſtleriſche Thätigkeit gebunden fand,
in dieſer, die doch eine ſo planmäßige und überlegte iſt,
das Walten eines ſo entwickelten Bewußtſeins, wie man
es durch die eigene Thätigkeit erlangt hatte, nicht ſo recht
anerkennen wollte. Freilich kann der Menſch immer nur
eins auf einmal thun; je mehr ſich ſeine Thätigkeit nach
[107] einer Seite ſteigert, deſto mehr muß ſie nach jeder anderen
Seite hin abnehmen: mit der Thätigkeit ſchwindet aber
auch dasjenige Bewußtſein, welches ſich eben nur in dieſer
Thätigkeit entwickeln kann. Wenn ſich der Künſtler in
ſein Thun verſenkt, ſo hört er auf, dasjenige zu denken
und zu thun, worin für Andere das bewußte Leben beſteht;
ja je ernſthafter und bedeutender ſeine Leiſtung iſt, deſto
mehr wird ſie ſich von allem entfernen, was als der
weſentliche Inhalt bewußten Lebens gilt. Der Künſtler
erſcheint dann denen, die ſeines Strebens und ſeiner Fähig¬
keit nicht theilhaftig ſind, wie abweſend und wie von
Mächten geleitet, deren er ſich ſelbſt unbewußt iſt. Der
Künſtler aber weiß ſehr genau, was er will und was er
thut. Wenn er an ſeine Thätigkeit geht, ſo macht er keines¬
wegs einen gewaltſamen Sprung aus dem Bereiche be¬
wußter Thätigkeit in die Sphäre von Lebensäußerungen,
die den Menſchen als ein Vernunft- und willenloſes Werk¬
zeug geheimnißvoller Eingebungen erſcheinen laſſen. Er
entzieht ſich zwar dem Bewußtſein, welches ihn mit ſeinen
Mitmenſchen ſo lange vereinigte, als er ſich an ihrer Denk-
und Beſchäftigungsweiſe betheiligt hatte, aber er verſcheucht
darum nicht die gegenwärtige Kraft ſeiner Intelligenz
und ſeines Willens, um das Feld frei zu machen für
jene Offenbarungen. Was er thut, iſt, daß er zur Ent¬
wickelung ſeines Bewußtſeins andere der menſchlichen Natur
eigene Anlagen aufruft, und auch zu einem anderen Re¬
ſultat kommt, als Andere, denen ſeine Art der Thätigkeit
fern liegt. Aber innerhalb ſeiner Thätigkeit erweiſt ſich
[108] daſſelbe, was die Regel bildet für alle ernſthafte männ¬
liche Thätigkeit: nur die Anfänge reichen hinab in jene
durch keine Vernunft zu ergründenden, durch keinen Willen
zu leitenden, von keinem Bewußtſein erhellten Regionen
unſerer Natur; jeglicher Fortſchritt führt aus dieſen Dunkel¬
heiten heraus, und der Sinn der Arbeit, die der Menſch
zu verrichten hat, iſt, daß er ſich mehr und mehr jenen
Regionen entwinde, nicht daß er ſich in ihnen verliere.


Wenn der Künſtler Anderen in einer Art von traum¬
hafter Exiſtenz ſeine Thätigkeit zu vollbringen ſcheint, ſo
liegt für ihn ſelbſt in dieſer Thätigkeit das eigentliche Er¬
wachen. Ihm kann die Helligkeit des Bewußtſeins, zu der
er gelangt, indem er auf den Wegen der Anderen wandelt,
nicht genügen; denn er ſieht Dunkelheiten um ſich, deren
Vorhandenſein jenen entgeht. Er wird, wenn ihm die
Wiſſenſchaft, ſtolz auf ihren Fortſchritt, ihr Reich zeigt
und die Welt als eine erkannte oder wenigſtens durch
ihre Mittel zu erkennende vor ihm ausbreitet, nicht ganz
an der Genugthuung theilnehmen können, die der Forſcher
empfindet. Denn wenn er ſich auch erleuchtet findet durch
das, was jener ihm zeigt, ſo wird er ſich doch nicht davon
zu überzeugen vermögen, daß es die Welt ſo ſchlechthin
und ſo um und um ſei, die ſich ihm durch die Entwickelung
des wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in immer zunehmender
Klarheit und Verſtändlichkeit darbietet. Er wird ſich in
ganz unwillkürlicher Auflehnung gegen den Anſpruch be¬
finden, den Jene erheben, und wird ſich im Stillen ſagen,
daß alle Wiſſenſchaft im Grunde ein armſeliges Ding ſei,
[109] da ſie ſich einbilde, ein vollſtändiges und klares Weltbe¬
wußtſein zu entwickeln, während das, was in dieſem Be¬
wußtſein lebe, doch nur Worte und Gedanken, nicht aber
die Dinge ſelbſt ſeien. Nun wird ihm das als ein traum¬
haftes, unentwickeltes Bewußtſein vorkommen, was das
einzig wahrhaft erleuchtete zu ſein vorgiebt; er wird ſich
ſagen müſſen, daß inmitten all der Helligkeit, die von der
Erkenntniß verbreitet wird, die Dinge, ſofern ſie ſich uns
als Vorſtellungen darbieten, ein ſchattenhaftes, unbeſtimmtes
Daſein führen; daß das ſinnenfällige Daſein der Welt um
ſo mehr aus dem Bewußtſein verdrängt wird, je mehr ſich
dieſes mit den Erzeugniſſen der denkenden und erkennenden
Thätigkeit anfüllt. Ans dieſem träumeriſchen Zuſtand, in
dem er ſich befangen ſieht, auch wenn er ſonſt ſich noch
ſo großer Klarheit und Helligkeit erfreut, zu erwachen, iſt
das gebieteriſche Bedürfniß, das ihn beſeelt. Dazu findet
er in ſich die Mittel, die allein zu dieſem Zwecke führen
können. Indem er anfängt zu bilden, ſieht er ſein Be¬
wußtſein auf die Bahn einer Entwickelung gebracht, die
ihm ſonſt verſchloſſen war; die Trennung ſcheint aufgehoben,
in der er ſich von den Dingen befand, er beginnt, in ein
waches Leben und Erleben der Welt einzutreten, die
Trübungen, in die er ſein Bewußtſein gehüllt ſah, fangen
an zu ſchwinden, das Schwanken der Erſcheinungen macht
einem feſten Ergreifen, die Unbeſtimmtheit zunehmender
Beſtimmtheit Platz.


Was der Künſtler im Fortſchritt ſeiner Arbeit erlebt,
iſt, daß er in ſich ein Bewußtſein entſtehen und ſich ent¬
[110] wickeln ſieht, wie er es ſonſt nicht kennen lernen kann.
Erſcheint ſeine Thätigkeit denjenigen, die ihrer nicht fähig
ſind, als eine allſeits von der bewußten Lebensthätigkeit
liegende, ſo geſtaltet ſie ſich für ihn als eine durchaus
bewußte; ſie erweitert ſich, nimmt alle Kräfte des Indivi¬
duums in Anſpruch, verdrängt alle anderweitige Thätig¬
keit bis an die äußerſte Grenze des Bewußtſeins und wird
ſelbſt zu dem bewußten Leben deſſen, der die Fähigkeit in
ſich fühlt, ſich ihr hinzugeben. Und wo der Künſtler ſo
vollſtändig aufgeht in dem, was er thut, wo er ſich ſelbſt,
d. h. alles vergißt, was ſein Bewußtſein abgeſehen von
ſeiner Thätigkeit beſchäftigen kann, wo er auch nicht mehr
zu trennen weiß zwiſchen dem, was ihm als eine geiſtige
Thätigkeit des Wahrnehmens, Vorſtellens, Erinnerns
u. ſ. w., und dem, was ihm als eine mechaniſche Thätigkeit
der äußeren Organe ſeines Körpers erſcheinen könnte, wo
der Vorgang, der ſeinen Anfang von den Wahrnehmungen
des Auges nahm, ſich allmählig des ganzen Menſchen be¬
mächtigt und ihn in Bewegung geſetzt hat: da erfährt
der Künſtler in ſeiner Thätigkeit jene höchſten Steigerungen
des Bewußtſeins, in denen er allererſt zum wahren Er¬
faſſen der ſichtbaren Erſcheinung erwacht zu ſein meint.


Es iſt klar, daß ſich dieſer Auffaſſung zu Folge die
Stellung der künſtleriſchen Thätigkeit innerhalb des geiſtigen
Lebens unter einem anderen Geſichtspunkt zeigt, als unter
dem man ſie gewöhnlich zu betrachten pflegt. Solange
man die Erkenntniß der Welt ausſchließlich an das wiſſen¬
ſchaftliche Denken gebunden erachtet, ſieht man ſich in die
[111] Nothwendigkeit verſetzt, die künſtleriſche Thätigkeit der
wiſſenſchaftlichen gegenüberzuſtellen und ihr eine beſondere
Bedeutung zu erfinden, damit ſie neben jener vornehmſten
und im Grunde als allein wichtig betrachteten Aufgabe
des menſchlichen Geiſtes doch einiger Daſeinsberechtigung
ſich erfreuen könne. Nun aber ſehen wir den Künſtler
neben den Forſcher treten. In beiden iſt derſelbe Trieb
mächtig, der den Menſchen beherrſcht, ſobald ſich ein höheres
Leben in ihm entwickelt; der Trieb, die Welt, in der er
ſich findet, ſich anzueignen, das enge, kümmerliche, ver¬
worrene Bewußtſein des Seins, auf das er ſich zunächſt
beſchränkt ſieht, thätig zur Klarheit und zum Reichthum
zu entwickeln. Erkennen wir, daß das Denken ſeinen An¬
ſpruch, dieſe Aufgabe in ihrem ganzen Umfange löſen zu
können, nicht aufrecht erhalten kann, ſo eröffnet ſich uns
zugleich die Einſicht, daß dem Menſchen noch andere Fähig¬
keiten verliehen ſind, durch die er in Regionen der Wirk¬
lichkeit vorzudringen vermag, die der an die Formen des
Denkens gebundenen Erkenntniß von allem Anfang an
unzugänglich bleiben müſſen. Wir brauchen nicht nach
einer Aufgabe zu ſuchen, die im Gegenſatz zu der ernſten
Aufgabe des Erkennens der Kunſt geſtellt wäre; vielmehr
brauchen wir nur unbefangenen Auges zu ſehen, was der
Künſtler thatſächlich thut, um zu begreifen, daß er eine
Seite der Welt faßt, die nur durch ſeine Mittel zu faſſen
iſt, und zu einem Bewußtſein der Wirklichkeit gelangt,
das durch kein Denken jemals erreicht werden kann.


So wenig ſich das Denken beruhigen kann, ehe es
[112] das Wirklichkeitsmaterial, welches ſich ihm als zugänglich
erweiſt, in eine beſtimmte Form gebracht hat, ſo wenig
wird auch die bildneriſche Thätigkeit an einem Ende ihrer
jeweiligen Arbeit angekommen zu ſein wähnen dürfen, be¬
vor ſie Werthe von ganz beſtimmter Form hervorgebracht
hat. Das Bewußtſein, welches ſich in einem bildneriſchen
Vorgange entwickelt, unterſcheidet ſich dadurch von dem
gemeinen Bewußtſein, daß der Vorſtellungsſtoff, aus dem
es beſteht, in poſitive an feſtſtehende Eigenſchaften gebun¬
dene Geſtaltungen eingegangen iſt. Welcher Art dieſe Eigen¬
ſchaften ſein werden, kann erſt an einem ſpäteren Orte an¬
gedeutet werden. Hier ſei nur noch einiges erwähnt, was
ſich im Allgemeinen auf die durch den Künſtler ſich voll¬
ziehende Entwickelung des Wirklichkeitsbewußtſeins bezieht.


Hinge, wie es zunächſt wohl ſcheinen mag, der Er¬
werb eines in Vorſtellungen des Geſichtsſinnes ſich ent¬
wickelnden Wirklichkeitsbewußtſeins nur von dem Gebrauch
der Augen und einer willkürlichen Concentration der Auf¬
merkſamkeit ab, ſo wäre es weſentlich Sache des Wollens,
das Bewußtſein eines anſchaulichen Weltbildes hervorzu¬
rufen. Aber wir haben geſehen, wie weit wir damit
kommen. Wenn uns die Welt als ein Object der Er¬
kenntniß zunächſt als ein wirres Chaos unverſtandener
Vorgänge erſcheint, ſo ſtehen doch Jedem die Mittel der
Erkenntniß zu Gebote, und es ſcheint von ihm abzuhängen,
wie weit er von denſelben Gebrauch machen wolle. Für
die Entwickelung des vorſtellenden Bewußtſeins ſind den
Menſchen analoge Mittel nicht ſo allgemein verliehen.
[113] Indem wir ſehen, wie jeder Schritt vorwärts eine ſich
immer mehr und mehr complicirende Thätigkeit erfordert,
müſſen wir uns wie gelähmt vorkommen. Wir mögen
wohl einſehen, daß das Auge nicht nur dazu da iſt, um
uns die Bilder von außer uns vorhandenen Dingen vor¬
zuführen, ſondern daß mit dem Akte der Geſichtswahr¬
nehmung etwas in uns zur Entſtehung kommt, was einer
ſelbſtſtändigen Entwickelung durch uns fähig iſt; wollen wir
aber die fliehende Erſcheinung halten, die formloſe geſtalten,
ſo verſagt uns die Kraft, und kein Organ unſeres Körpers
gehorcht uns. Wenn wir uns dies recht überlegen, ſo
muß es uns wie ein Wunder vorkommen, daß die Fähig¬
keit, mit den Augen wahrzunehmen und Wahrgenommenes
vorzuſtellen, eine Fähigkeit, die auch uns innewohnt, die
aber bei uns nicht weiter führt, als uns ein Sichtbares
gleichſam nur zu zeigen, ohne es uns zu eigen zu geben,
— daß dieſe Fähigkeit in einzelnen Individuen zu einer
Entwickelung gelangt, die da, wo für uns nur vorüber¬
eilende, ſchwankende Eindrücke vorhanden ſind, zur Ent¬
ſtehung beſtimmter und dauernder Gebilde führt. Wir
begreifen nun wohl, daß, wo es ſich um die in der bild¬
neriſchen Thätigkeit ſich vollziehende Entwickelung des künſt¬
leriſchen Bewußtſeins handelt, keinerlei Wollen maßgebend
ſein kann, ſondern immer nur ein Können. Es iſt nicht
unwichtig, dies zu betonen, da nur zu oft eine äußerliche
und unzulängliche Auffaſſung künſtleriſche Thätigkeit will¬
kürlich fördern und hervorrufen zu können meint; es entſteht
dann ein zugleich armſeliges und anſpruchsvolles Surrogat,
Fiedler, Urſprung. 8[114] während das echte Leben der Kunſt ausſchließlich davon
abhängt, daß die menſchliche Natur ſich in einzelnen In¬
dividuen nach Seite jener ſich an das innere Erlebniß der
Geſichtswahrnehmung anſchließenden äußeren Fähigkeiten
und Fertigkeiten über das gewöhnliche Maß entwickelt zeigt.


Wenn wir davon reden, daß wir uns der ſichtbaren
Welt bewußt werden, ſo denken wir dabei an ein Bewußt¬
ſein, welches ſowohl in allen normal organiſirten Menſchen
entſtehen, als auch das ganze Reich des Sichtbaren zu
ſeinem Inhalt haben könne. Es braucht hier nicht wieder¬
holt zu werden, daß wir uns von dem, was wir das
Reich des Sichtbaren nennen, deshalb einen ungenügenden
Begriff machen, weil wir dabei nur an das denken, was
wir durch den Gebrauch der Augen erwerben, und uns
dann über das, was wir ſehen oder als geſehen vorſtellen
in jeder möglichen Weiſe Rechenſchaft zu geben ſuchen,
nur nicht in derjenigen, durch die wir allein zur ſehenden
Gewißheit über Geſehenes kommen können. Wir haben
uns überzeugt, daß wir mit dem Ausdruck „Reich des
Sichtbaren“ einen ſehr anderen Sinn verbinden müſſen.
Iſt die Möglichkeit, ſich daſſelbe mehr und mehr zum
Bewußtſein zu bringen, abhängig von Fähigkeiten, die weit
über den Gebrauch der Augen hinausgehen, und mit denen
die Natur verhältnißmäßig doch nur Wenige und auch
dieſe nur ſelten in ſehr reichlichem Maße ausſtattet; ſo
kann von einem Bewußtſein der Sichtbarkeit weder in dem
Sinn die Rede ſein, daß es Allen gleichmäßig zugänglich
ſei, noch auch in dem, daß ihm alles zugänglich ſei. Denn
[115] gleichwie die Fähigkeit, in immer vordringender Thätigkeit
ſich zu immer helleren Zuſtänden des Sichtbares erleben¬
den Bewußtſeins emporzuarbeiten, an eine Naturanlage
gebunden iſt, die kein Gemeingut, ſondern ein Vorrecht
Einzelner iſt; ſo kann auch die Thätigkeit, in der ſich
jenes Bewußtſein entwickelt, immer nur Einzelnes erfaſſen;
und Vieles von dem ungeheuren Material an Sichtbarem,
was unſere Augen unaufhörlich an uns heranbringen, wird
ſich ihr überhaupt nicht unterwerfen laſſen.


Wer ſich nur ſehend verhält, der mag wohl meinen,
die ſichtbare Welt als ein ungeheures Ganzes voller Reich¬
thum und Mannichfaltigkeit zu beſitzen; die Müheloſigkeit,
mit der ihm die unerſchöpfliche Menge der Geſichtsein¬
drücke zu Theil wird, die Schnelligkeit, mit der ſich die
Vorſtellungen in ſeinem Inneren ablöſen und in ununter¬
brochenem Wechſel, in nie abnehmender Fülle durch ſein
Bewußtſein ziehen, dies alles giebt ihm die Gewißheit,
inmitten einer großen ſichtbaren Welt zu ſtehen, die ihn
umgiebt, auch wenn er ſie ſich nicht als ein Ganzes in
einem und demſelben Augenblicke vergegenwärtigen kann,
deren er gewiß iſt, auch wenn er vielleicht in ſeinem
ganzen Leben nur eines kleinen Theiles derſelben anſichtig
wird. Dieſe große, reiche, unermeßliche Welt der ſicht¬
baren Erſcheinungen verſinkt in dem Augenblicke, wo die
künſtleriſche Kraft ſich ihrer ernſthaft zu bemächtigen
ſucht. Schon der erſte Verſuch, aus dem dämmernden
Zuſtande des ſich der Sichtbarkeit im allgemeinen Be¬
wußtwerdens herauszutreten und zu einiger Deutlichkeit
8 *[116] des Sehens zu gelangen, zieht den Umkreis des zu Sehen¬
den zuſammen. Die künſtleriſche Thätigkeit kann ſich nur
darſtellen als eine Fortſetzung jener Concentration des
Bewußtſeins, welche der erſte nothwendige Schritt war,
um auf den Weg zu gelangen, der aus der Breite ſinn¬
licher Auffaſſung, die immer mit Undeutlichkeit verbunden
iſt, zu der Deutlichkeit führt, die nur in der Enge erreicht
werden kann. Der Künſtler ſieht ſich vor die Unmöglich¬
keit geſtellt, ſeine Thätigkeit an jenem ſcheinbaren Ganzen zu
erproben, und der Uebergang von dem bloßen Sehen und
Vorſtellen des Geſehenen zu dem Ausdruck des Sicht¬
baren kann ſich nur im beſtimmten Falle vollziehen. Jeder
Thätige, Handelnde wird die Erfahrung machen; er muß
am beſtimmten Punkte einſetzen, damit ſeine Kräfte ſich
überhaupt entfalten können.


Nun mag man dies wohl zugeben, zugleich aber der
Anſicht ſein, daß aus der am Einzelnen ſich vollziehenden
künſtleriſchen Thätigkeit allmählig wieder ein neues, auf
höherer Entwickelungsſtufe ſtehendes Geſammtbild hervor¬
gehen müſſe; daß in der Geſammtheit der Kunſtwerke ein
mehr und mehr der Vollſtändigkeit und der Vollendung
zuſtrebendes entwickeltes Wirklichkeitsbewußtſein, inſofern
ein ſolches auf der Geſichtswahrnehmung beruhe, zur
Darſtellung komme. Es liegt einer ſolchen Meinung die
Anſchauung zu Grunde, daß das Vorhandenſein eines zu
höheren Stufen der Entwickelung gelangten Sichtbarkeits¬
bewußtſeins ſchon an das Vorhandenſein der Kunſtwerke
gebunden ſei, wo dann freilich in dem zunehmenden Schatz
[117] an Kunſtwerken der Menſchheit mühelos ein immer um¬
faſſenderes entwickeltes Weltbild zu Theil werden würde.
Aber nicht an das Vorhandenſein der Kunſtwerke iſt jenes
geſteigerte Wirklichkeitsbewußtſein gebunden, ſondern an
die Thätigkeit, in der ſich die Entſtehung deſſen vollzieht,
was wir ein Kunſtwerk nennen. Die Kunſtwerke ſind an
und für ſich ein todter Beſitz; ſie nützen dadurch, daß ſie
als ein kleiner Zuwachs zu dem ſichtbar Vorhandenen hin¬
zukommen, der Entwickelung des Bewußtſeins gar nichts.
Sie bleiben ein Gegenſtand bloßer Geſichtswahrnehmungen
wie alles Andere. Wenn wir aber jenen todten Beſitz in
der Weiſe zu beleben ſuchen, in der einzig und allein er
ſich beleben läßt, nicht durch irgend eine äſthetiſche Em¬
pfindung oder eine tiefſinnige Reflexion, ſondern dadurch,
daß wir es verſuchen, uns in den lebendigen Vor¬
gang des künſtleriſchen Hervorbringens zu verſetzen, ſo
werden wir die Erfahrung machen, daß wir auf alles
Bewußtſein eines Umfaſſenden und Allgemeinen verzichten
müſſen, um auch nur annäherungsweiſe einen jener Augen¬
blicke geſteigerten Bewußtſeins an uns ſelbſt erleben zu
können, wie ſie der Künſtler vor der ſichtbaren Erſcheinung
erlebt, wenn er ſchaffend thätig iſt.


Ueberdies giebt es Gebiete des Sichtbaren, ſo das
ſehr Große, das ſehr Kleine, das ſehr Ferne, das ſehr
Bewegte, die durch keine künſtleriſche Thätigkeit zu mehr
erhoben werden können, als was ſie ſind, Gebiete ſinn¬
licher Wahrnehmung, auf denen begriffliche Realiſirungen
im ausgedehnteſten Maße ſtattfinden, während anſchau¬
[118] liche Realiſirungen nicht oder nur in ſehr unvollkommener
Weiſe möglich ſind. Es giebt andere Gebiete des Sicht¬
baren, wie das ſehr Einfache, das ſehr Unſcheinbare, das
ſehr Ungewöhnliche, auf denen anſchauliche Realiſirungen
zwar möglich ſind und auch ſtattfinden, auf denen aber
der Künſtler der Anregung zur Thätigkeit doch nur auf
die Gefahr hin nachgeben kann, ſelbſt für ſehr einfachen
oder abſonderlichen Geiſtes gehalten zu werden. So iſt
es nicht der Beruf derjenigen Fähigkeit, mit der wir in
der künſtleriſchen Anlage die menſchliche Natur ausgeſtattet
ſehen, das geſammte Reich ſichtbarer Erſcheinung allmählig
auf die Bahn anſchaulicher Entwickelung zu bringen. Ein
ſehr großer Theil des Sichtbaren bleibt als Sichtbares
ein für allemal auf untergeordnete Bewußtſeinszuſtände
angewieſen und gelangt zu höherer Exiſtenz nur im Begriff.
Ein verhältnißmäßig geringer Theil wird ab und zu von der
künſtleriſchen Thätigkeit ergriffen und erhebt ſich in den Be¬
wußtſeinszuſtänden, die in dieſer Thätigkeit zur Entwickelung
gelangen, zu mehr oder minder höherem Daſein.


Noch eine Ueberlegung drängt ſich hier auf, wo von der
Entwickelung die Rede iſt, die das Bewußtſein einer ſichtbaren
Welt in der bildenden Thätigkeit des Künſtlers erfährt. Wir
pflegen in Anſehung deſſen, was ſich unſeren Augen dar¬
bietet, von einer Unendlichkeit zu reden. Unwillkürlich er¬
zeugt ſich uns der Gedanke, einem Unendlichen uns gegen¬
über zu befinden, wenn wir uns ſchauend in die Betrachtung
der Welt verſenken, wenn wir im Nahen und Fernen, im
Kleinen und Großen immer weiter vordringen, wenn wir
[119] die Erfahrung machen, daß über das anſcheinend Kleinſte,
das anſcheinend Fernſte hinaus unſerer Geſichtswahr¬
nehmung ein noch Kleineres, ein noch Ferneres zugäng¬
lich wird. Mit ahnenden Schauern ſtehen wir vor dem
Anblick dieſer Welten, hinter denen ſich immer fernere
und fernere Welten zu verbergen ſcheinen, um vielleicht
dereinſt einem helleren und vordringenderen Blick ſich zu
enthüllen. Aber dieſe Unendlichkeit iſt eine gedachte; ſie
iſt thatſächlich nicht für das Auge vorhanden, ſondern für
den denkenden Verſtand. Für das Auge giebt es ſtreng
genommen keine Unendlichkeit; vielmehr ſieht es ſich immer
nur einer Endlichkeit gegenüber. Die Welt iſt für daſſelbe
vollſtändig zu Ende, wo es an die jeweiligen Grenzen
ſeiner Tragweite gelangt iſt. So lange wir uns nur
ſehend verhalten, kann uns die Welt nur endlich, niemals
unendlich erſcheinen. Und dennoch giebt es eine Unendlich¬
keit, die nichts mit dem Gebiet des Denkens zu thun hat,
die ſich lediglich als eine Unendlichkeit der ſichtbaren Welt
offenbart. Vor dieſer Unendlichkeit ſteht nur der Künſtler
und wer ihm zu folgen vermag. Sie eröffnet ſich nur da,
wo in der Wahrnehmung des Auges jenes Streben ſeinen
Urſprung nimmt, die empfangenen Vorſtellungen zu immer
höherer Klarheit und Beſtimmtheit emporzubilden. Hier
iſt das Reich des Sichtbaren in der That ein unendliches,
weil es ſich in einer Thätigkeit darſtellt, für die es nur
ein immer ſich erneuendes Streben, nicht aber eine zu
löſende Aufgabe, ein zu erreichendes Ziel giebt.

[[120]]

6.

Mit Recht bekennen wir, daß erſt mit unſerem eigenen
Daſein das gegeben iſt, was wir als vorhanden anzu¬
ſprechen vermögen. Es iſt aber damit, wie wir geſehen
haben, noch wenig geſagt. Im bloßen Daſein des Men¬
ſchen mit ſeinen ſinnlich-geiſtigen Anlagen liegt noch keine
Bürgſchaft für das Vorhandenſein einer Welt, die nun
dem Menſchen ſchlechthin, allen Menſchen gemeinſam an¬
gehört. Im Daſein des Menſchen liegt die Bürgſchaft
nur für die Möglichkeit der Entſtehung deſſen, was wir,
da wir es in den Formen beſitzen, die wir ſelbſt gebildet
haben, das Vorhandene nennen. Eine Realiſirung dieſer
Möglichkeit kann aber nur in einer Thätigkeit ſtattfinden,
die der Menſch entwickelt. Nicht dem Menſchen, ſondern
durch den Menſchen offenbart ſich alles, was wir meinen
können, wenn wir von Natur, Seiendem, Wirklichkeit, Welt
reden.


Wir haben erwähnt, daß dem Menſchen kein Mittel
zu Gebote ſteht, durch das er den geſammten Wirklichkeits¬
gehalt eines Dinges in einen gemeinſamen Ausdruck zu
faſſen vermöchte, daß er vielmehr darauf angewieſen iſt,
auf verſchiedenen Wegen zur thätigen Entwickelung eines
[121] Wirklichkeitsbeſitzes vorzudringen, und daß er auf jedem
dieſer Wege wiederum zu unendlich verſchiedenen Ent¬
wicklungsgraden gelangt. Wir haben ferner erwähnt, daß
alle dieſe Wege unendlich ſind, und, ſtatt, wenn auch von
verſchiedenen Ausgangspunkten, doch einem gemeinſamen
Ziele, d. h. einem vollſtändigen Wirklichkeitsbeſitz zuzu¬
führen, ſich vielmehr immer weiter von einander entfernen,
und daß daher, um jeden bildlichen Ausdruck bei Seite
zu laſſen, jeder Wirklichkeitsbeſitz, in je beſtimmteren und
vollendeteren Formen er ſich darſtellt, um ſo einſeitiger
ſein muß. Die Hervorbringung und Darſtellung eines
ſolchen Wirklichkeitsbeſitzes haben wir als den eigentlichen
Sinn der künſtleriſchen Thätigkeit bezeichnet. Inwiefern
aber durch dieſe Thätigkeit in beſonderer Art und Weiſe
an jener Wirklichkeitsrealiſirung gearbeitet wird, das kann
hier bis ins Einzelne nicht verfolgt werden; um ſo weniger,
als dabei eine Menge Fragen auftauchen würden, die ſich
nur aus der unmittelbaren künſtleriſchen Erfahrung heraus
beantworten laſſen. Wohl aber kann einiges Allgemeine
über dieſe Thätigkeit und über die eigenthümliche Art der
Wirklichkeit geſagt werden, die durch ſie entſteht.


Vor allem iſt es das Verhältniß, in dem die Kunſt
zur Natur ſteht, worüber man Klarheit zu erlangen ſuchen
muß. Daß Kunſt etwas Anderes ſei, als Natur, bedarf
keines Beweiſes. Die Verſuche aber, Natur und Kunſt
ſich als verſchiedene Welten gegenüber zu ſtellen, pflegen
darauf hinauszugehen, die Kunſt gleichſam von der Natur
abzudrängen, dasjenige ausfindig zu machen, was der
[122] Künſtler zur Natur hinzuthun müſſe, um ſie in Kunſt
umzuwandeln. Es iſt dabei der Geſichtspunkt maßgebend,
daß die Thätigkeit des Künſtlers zwecklos und überflüſſig
ſei, ſofern ſie der bloßen Sichtbarkeit ihrer Leiſtungen nicht
einen Empfindungs- oder Bedeutungswerth beizulegen wiſſe.
Ein geſunder, wenn auch unreifer Sinn hat ſich noch
immer gegen die Herrſchaft ſolcher Anſchauungen aufge¬
lehnt; und um der Gefahr zu begegnen, die künſtleriſche
Thätigkeit nach ganz entlegenen Zielen ſich verirren zu
ſehen, hält man ihr vor, daß ihr kein höheres Ziel
geſteckt ſei, als die Natur. Geſund muß dieſe Anſchauung
genannt werden, weil ſie der künſtleriſchen Thätigkeit keinen
anderen Zweck unterlegt, als den, das im bildneriſchen
Ausdruck zu realiſiren, was die Natur Sichtbares dar¬
bietet; ſie iſt aber zugleich unreif, inſofern ſie überſieht,
daß die künſtleriſchen Gebilde in Folge ihrer Entſtehung
durch eine unüberbrückbare Kluft von dem getrennt ſein
müſſen, was wir im gewöhnlichen Sinne ſichtbare Natur
nennen. Dieſe ſichtbare Natur iſt ja thatſächlich nichts
Anderes als jenes ungeheure und bunte Gewirr von Wahr¬
nehmungen und Vorſtellungen, die, auftauchend und ver¬
ſchwindend bald an unſerem äußeren, bald an unſerem
inneren Auge vorüberziehen, die ſich uns in unzweifelhafter
Thatſächlichkeit aufdrängen und doch ſpurlos verſchwunden
ſind, ſobald wir meinen, ſie uns in der Wärme der Em¬
pfindung oder in der Klarheit begrifflicher Erkenntniß an¬
geeignet zu haben. Sie iſt jenes gewaltige Reich des
Lichtes, in dem die unendliche Reihe der Dinge in unend¬
[123] lichen Combinationen ſich unſerem Auge darbietet, das wir
mühelos und in aller Vollſtändigkeit und Vollkommenheit
zu beſitzen meinen, und das ſich uns doch bei dem be¬
ſcheidenſten Verſuche der Prüfung in ſeiner ganzen Un¬
ſicherheit, Unbeſtimmtheit und Haltloſigkeit enthüllt. Dieſe
Sichtbarkeit gleicht einem Geſchenk, welches uns ohne unſer
Zuthun zufällt. Freilich beruht ſchon die kümmerlichſte
Wahrnehmung des Geſichtsſinns auf einem ſehr compli¬
cirten Geſchehen; aber dieſes Geſchehen vollzieht ſich im
Inneren des Menſchen, iſt äußerlich nicht wahrnehmbar
und eine Thätigkeit kommt uns dabei nicht zum Bewußtſein.
Aus dieſem allgemeinen, ſich bei allen mit den Organen
des Geſichtsſinnes ausgeſtatteten Menſchen in mehr oder
minder gleichmäßiger Weiſe wiederholenden Geſchehen ent¬
wickelt und erhebt ſich nun aber bei jenen Einzelnen und
Wenigen eine äußerlich wahrnehmbare und zum ſichtbaren
Ausdruck führende Thätigkeit. Es iſt klar, daß die Natur
als eine Welt ſichtbarer Erſcheinungen, deren Geſtaltung
auf der bloßen Thätigkeit der Augen und den an dieſe
ſich anſchließenden inneren Wahrnehmungs- und Vorſtel¬
lungsvorgängen beruht, für diejenigen eine andere werden
muß, die mit dem Talent des künſtleriſchen Ausdrucks
begabt noch ganz andere Fähigkeiten und Thätigkeiten in
den Dienſt jener Naturgeſtaltung zu ſtellen vermögen.
Hier offenbart ſich das ganze Geheimniß des nothwendigen
Unterſchiedes, der zwiſchen dem Reiche der Sichtbarkeit,
das wir Natur nennen, und den Sichtbarkeitsgeſtaltungen
herrſcht, die uns in der künſtleriſchen Thätigkeit vor Augen
[124] treten. Dieſer nothwendige Unterſchied reſultirt allein
daraus, daß, wo ſonſt der Menſch mit ſeiner Beziehung
zur ſichtbaren Natur zu Ende iſt, der Künſtler ſich in
ſeiner Thätigkeit zu dieſer ſelben Natur um ihrer Sicht¬
barkeit willen in eine neue Beziehung zu ſetzen vermag.
Es iſt ebenſo unnöthig, etwas zu erfinden, was zur Natur
hinzukommen müſſe, um ſie zur Kunſt umzubilden, als es
unmöglich iſt, daß die Kunſt etwas hervorbringt, was der
Natur im gewöhnlichen Sinne des Wortes gleichkommt.
Wo eins von beiden verlangt wird, da kann man mit
Sicherheit annehmen, daß aus der Noth eine Tugend ge¬
macht wird; die Unfähigkeit, in höhere Regionen wahrer
Kunſt zu gelangen, wird verdeckt durch eine eigens gebil¬
dete Lehrmeinung, in der das als das höchſte Ziel der
Kunſt bezeichnet wird, was die jeweilige ſogenannte Kunſt¬
übung leiſtet. Von echter Kunſt wird man nichts anderes
verlangen dürfen, als Natur, aber freilich nicht das kümmer¬
liche Naturbild, was uns Allen zu Gebote ſteht, ſondern
das entwickelte Naturbild, zu deſſen Entſtehung es jener
Thätigkeit bedarf, die ſich beim Künſtler an die bloßen
Wahrnehmungs- und Vorſtellungsvorgänge des Geſichts¬
ſinnes anſchließt. Das, wodurch ſichtbare Natur zur Kunſt
wird, ohne daß ſie doch aufhörte, Natur zu ſein, iſt die
Entwickelung, die ſich für ihre Sichtbarkeit in der Thätig¬
keit des Künſtlers vollzieht. Kunſt iſt nicht Natur; denn
ſie bedeutet eine Erhebung, eine Befreiung aus den Zu¬
ſtänden, an die gemeiniglich das Bewußtſein einer ſicht¬
baren Welt gebunden iſt; und doch iſt ſie Natur: denn ſie
[125] iſt nichts anderes als der Vorgang, in dem die ſichtbare
Erſcheinung der Natur gebannt und zu immer klarerer
und unverhüllterer Offenbarung ihrer ſelbſt gezwungen wird.


Es kann ſehr gewagt erſcheinen, die Anſprüche, deren
Erfüllung von der künſtleriſchen Thätigkeit gefordert wird,
als ungerechtfertigt abzuweiſen und dafür etwas als die
Aufgabe der Kunſt zu bezeichnen, was vielleicht manchem
gar nicht von beſonderer Wichtigkeit zu ſein ſcheinen mag.
Aber wenn man ſich fragt, um welches Erfolges willen
eine Thätigkeit ausgeübt wird, ſo muß man in Rückſicht
ziehen, welcherlei Erfolge nicht ausſchließlich dieſer Thätig¬
keit angehören, was hingegen ganz allein durch dieſelbe
erreicht werden kann. Man kann, wenn auch in etwas
unbeſtimmter Weiſe, faſt alle die Forderungen, die an jede
Kunſtübung geſtellt zu werden pflegen, unter zwei Rubriken
bringen: man fordert Empfindungswerthe von der Kunſt
und Bedeutungswerthe. Nun kann nicht geleugnet werden,
daß durch die Kunſt Empfindungswerthe ſowohl als
Bedeutungswerthe eigenthümlicher Art geſchaffen werden.
Aber wenn die Kunſt auch unſer Empfinden in beſonderer
Weiſe anzuregen, unſer Denken in beſonderer Weiſe zu
beſchäftigen vermag, ſo lernen wir doch Empfinden und
Denken nicht erſt durch die Kunſt kennen; vielmehr giebt
es auf dem weiten Gebiete des Vorhandenen nichts, was
nicht als ein Empfindungswerth oder als ein Bedeutungs¬
werth ſich geltend machen könnte. Verwerthen wir alſo
die Erzeugniſſe künſtleriſcher Thätigkeit für unſer Empfinden
oder unſer Denken, ſo thun wir etwas, was wir, wie mit
[126] allem und jedem, ſo auch ſchon mit den bloßen Wahr¬
nehmungen und Vorſtellungen des Geſichtsſinnes thun
können; es bedarf dazu nicht ſo complicirter Thätigkeiten,
wie diejenigen ſind, aus denen künſtleriſche Leiſtungen her¬
vorgehen. Wohl aber bedarf es dieſer Thätigkeiten, wenn
es ſich um Herſtellung des reinen Ausdrucks der Sicht¬
barkeit einer Erſcheinung handelt. Daß dieſer Ausdruck
keiner geiſtigen Thätigkeit verdankt werden kann, der wir
im Intereſſe des Empfindens und Denkens die ſichtbare
Natur unterwerfen, iſt ſelbſtverſtändlich; denn Empfinden
und Denken vernichtet, wie wir geſehen haben, die Sicht¬
barkeit der Erſcheinung und ſetzt eine andere Form des
Seins an ihre Stelle. In der bloßen Wahrnehmung und
Vorſtellung des Geſichtsſinns liegt aber noch keinerlei
Mittel, um etwas zu gewinnen, was die Sichtbarkeit eines
Dinges im ſelbſtſtändigen Ausdruck darſtellte. Und zwar
iſt es Zweierlei, was uns hindert, die Sichtbarkeit der
Dinge ſelbſtſtändig zu erfaſſen, ſo lange ſie uns nur in
unſeren Wahrnehmungen und Vorſtellungen nahe tritt.
Einmal ſtellen ſich die ſichtbaren Dinge, die ſich unſerem
Auge zeigen, die Geſichtsvorſtellungen, die in unſerem
Inneren erſcheinen, nicht ſo dar, als ob ſie rein um ihrer
Sichtbarkeit willen vorhanden wären. Das Auge kann
nichts thun, als uns Gegenſtände zeigen, in denen die
Sichtbarkeit doch nur eine Seite ihrer complicirten ſinn¬
lichen Beſchaffenheit iſt, und die zugleich ein mannichfaltiges
Intereſſe, ſei es unſeres Fühlens und Wollens, ſei es
unſeres Wiſſens und Erkennens, in Anſpruch nehmen. Und
[127] die Bilder, die Erinnerung und Einbildungskraft uns vor¬
führen, gehören ebenſowenig dem reinen Element der Sicht¬
barkeit an; ſie ſtehen mitten in dem wechſelvollen Spiel
all der unzähligen Elemente unſeres geiſtigen Lebens, die,
in geheimnißvollem Zuſammenhang unter einander ver¬
bunden, ſich gegenſeitig an die Oberfläche des Bewußtſeins
rufen. Es iſt, als ob die Sichtbarkeit der Dinge, ſolange
ſie ſich zu keiner höheren Daſeinsform entwickelt, als ihr
in den Wahrnehmungen des Auges, in den inneren Ge¬
bilden unſerer Vorſtellungskraft zukommt, nicht die Macht
beſäße, ſich ſo ſehr des menſchlichen Bewußtſeins zu be¬
mächtigen, daß ſie nicht in jedem Augenblicke verdrängt
werden könnte und irgend einem anderweitigen ſinnlich¬
geiſtigen Vorgang den Platz räumen müßte. So werden
wir durch die Erlebniſſe des Geſichtsſinnes zunächſt nicht
in ein ausſchließliches Reich der Sichtbarkeit eingeführt,
vielmehr müſſen wir den Antheil an der Sichtbarkeit der
Dinge theilen mit allen den Anſprüchen, deren Befriedigung
nun einmal die Vielſeitigkeit und Verſatilität der menſch¬
lichen Natur fordert. Und dann: auch wenn es uns
vorübergehend gelingt, das Intereſſe des Sehens, des
Sichtbar-Vorſtellens zur ausſchließlichen Herrſchaft in uns
zu bringen, die ſichtbare Erſcheinung der Dinge gleichſam
loszulöſen von allem, was die Dinge ſonſt ſind und be¬
deuten, ſie als etwas uns zum Bewußtſein zu bringen,
dem ein ſelbſtſtändiges Daſein zukäme, ſo gelangen wir
dadurch, wie ſchon oben bemerkt, nur in einen traumhaften
Zuſtand; dadurch, daß ſich uns gleichſam die ganze Sub¬
[128] ſtanz des realen Daſeins auf den flüchtigen Stoff der
Wahrnehmungen und Vorſtellungen eines einzelnen Sinnes
reducirt, verlieren wir den Boden der realen Welt unter
den Füßen; dadurch, daß wir ſelbſt an einer Wirklichkeits¬
geſtaltung mit keinem größeren Theil unſeres Organismus
betheiligt ſind, als erforderlich iſt, um jene Wahrneh¬
mungen und Vorſtellungen entſtehen zu laſſen, kommen
wir uns in unſerem eigenen Daſein herabgeſetzt und gleich¬
ſam darauf beſchränkt vor, der Schauplatz zu ſein, auf
dem geſpenſterhafte Bilder ſichtbarer Dinge entſtehen und
vergehen, in bunter wechſelvoller Menge ihr phantaſtiſch¬
willkürliches Spiel treiben.


Die Thatſache, daß der Künſtler zu einer mechaniſchen
Thätigkeit greift, ſich der mühevollen Bearbeitung eines
Stoffes unterzieht, um ein Sichtbares herzuſtellen, läßt
ſich nur erklären, wenn man eben bedenkt, wie unſelbſt¬
ſtändig und befangen die Sichtbarkeit der Natur bleibt,
ſo lange ſie ſich nur in Wahrnehmungen oder in einem
inneren Vorſtellungsverlauf darſtellt. Zunächſt kann ſich
nur in der Thätigkeit das Intereſſe an der Sichtbarkeit
eines Dinges ſo iſoliren, daß die Vorſtellung eines Gegen¬
ſtandes, an dem die Sichtbarkeit erſcheint, gänzlich ſchwindet
und dieſe letztere zu einer ſelbſtſtändigen Form des Seins
wird. Der Künſtler wird an ſich die Erfahrung machen.
Je mehr und mehr er ſich nicht mehr bloß mit dem Auge
oder mit der Einbildungskraft, ſondern mit ſeiner ganzen
Perſon, mit der Empfindungsfähigkeit ſeines ganzen Kör¬
pers, mit der Thätigkeit ſeiner Hände in den Vorgang
[129] verſtrickt fühlt, der mit der Wahrnehmung des Geſichts¬
ſinnes beginnt und mit der äußerlich ſichtbaren Darſtellung
endet, deſto mehr ſcheidet er aus allen den Beziehungen
zu den Dingen aus, die vorher Macht über ihn hatten.
Erſt dadurch, daß er nicht mehr bloß als wahrnehmendes,
vorſtellendes, ſondern als thätiges, äußerlich thätiges Weſen
an der Sichtbarkeit der Dinge betheiligt iſt, wird ihm
dieſe voll gegenwärtig, und je mehr ſie ihn mit ihrer
lebendigen Gegenwart erfüllt, deſto mehr wird alles von
ihm hinwegtreten, was ſich ſonſt bei der Betrachtung der
Dinge in den Vordergrund ſeines Bewußtſeins drängte
und die Sichtbarkeit verdunkelte. Nur in ſeiner Thätig¬
keit wird der Künſtler das Bewußtſein gewinnen, daß ihm
eine Seite der Welt anvertraut iſt, damit er ſie zum ſelbſt¬
ſtändigen und geſtalteten Daſein bringe. Und ferner wird
es auch nur vermittelſt der künſtleriſchen Thätigkeit ge¬
lingen, jener Flucht der Vorſtellungen, der wir anheim¬
gegeben ſind, ſo lange wir uns nur ſehend oder Sehbares
in unſerem Inneren reproducirend verhalten, Einhalt zu
gebieten und uns der einzelnen Erſcheinung in einem
klaren und beſtimmten Erzeugniß zu bemächtigen. Es
kann wie ein Verzicht, wie eine Beſchränkung erſcheinen,
wenn wir den Künſtler mit einem Einzelnen, Begrenzten
beſchäftigt ſehen, wo wir nur die Augen aufzuſchlagen,
nur unſeren Vorſtellungen den Lauf zu laſſen brauchen,
um mühelos ein ungeheures Reich der Sichtbarkeit zu
gewinnen. Aber wenn wir es uns nahe bringen können,
daß die Sichtbarkeit der Dinge, ſo lange ſie nichts weiter
Fiedler, Urſprung. 9[130] iſt, als äußere Wahrnehmung oder Vorſtellung unſeres
inneren Sinnes, jedem Eingehen in eine ſelbſtſtändige
Geſtaltung, in der ſie uns angehören könnte, widerſtrebt,
daß ſie die Thätigkeit der Künſtlers fordert, um ſich
aus der Verworrenheit und Flüchtigkeit ihres Daſeins
herauszuarbeiten, daß dieſe Thätigkeit nur im Einzelnen
möglich iſt, ſo werden wir in jener anſcheinenden
Beſchränkung vielmehr eine Befreiung erkennen. Was die
Sichtbarkeit der Dinge nicht ſein kann, ſo lange ſie noch
der Natur anhaftet, ſo lange ſie nur an etwas erſcheint,
was ſich uns gerade dadurch als Natur zeigt, daß es ein
Gegenſtand der mannichfaltigſten ſinnlichen Wahrnehmung
iſt, ſo lange ſie verflochten bleibt in das Gewirre der un¬
aufhörlich wechſelnden ſinnlich-geiſtigen Vorgänge, in denen
ſich uns das Vorhandene darſtellt, das wird ſie durch die
Thätigkeit des Künſtlers. Nur in dieſer Thätigkeit ringt
ſich das, was an einem ſichtbaren Dinge deſſen Sicht¬
barkeit iſt, von dem Dinge los und tritt nun als freies
ſelbſtſtändiges Gebilde auf. Damit dies aber möglich ſei,
bedarf es eines Stoffes, der ſelbſt wiederum ſichtbar iſt,
und durch deſſen Bearbeitung es möglich wird, jene Sicht¬
barkeitsgebilde thatſächlich herzuſtellen.


Wenn wir den Künſtler einestheils mit der Natur,
anderentheils mit einem Material beſchäftigt ſehen, um
ein Drittes hervorzubringen, was weder Natur im ge¬
wöhnlichen Sinne, noch bloßes Material iſt, ſo iſt der
Sinn ſeines Thuns ein doppelter. Auf der einen Seite
wird die Natur inſofern ihres Weſens entkleidet, als in
[131] dem entſtehenden Dritten von alledem, was wir an der
Natur wahrnehmen und was uns dieſelbe zur Natur
macht, nichts anderes mehr vorhanden iſt, als das, was
dem Auffaſſungsgebiete des Geſichtsſinnes angehört; auf
der anderen Seite wird das Material dadurch zu einem
geläufigen Ausdrucksmittel der Sichtbarkeit gemacht, daß
in ſeiner Verwendung und Bearbeitung alle ſeine ſtoff¬
lichen Eigenſchaften nur inſoweit Berückſichtigung finden,
als ſich an ihnen die Veränderung, Geſtaltung, allmählige
Entwickelung eines Geſichtsbildes vollziehen läßt. Die
Natur erfährt in dieſem Vorgange eine Umwandlung,
inſofern mehr und mehr alles aus ihr verſchwindet, was
in ihrer gegenſtändlichen Erſcheinung auf einem Zuſammen¬
treffen wechſelnder und in beſtändiger Veränderung be¬
findlicher Eindrücke verſchiedenſter Art beruht; der Stoff
wird gleichſam zur Verleugnung ſeiner ſelbſt gezwungen,
inſofern er nur dem Zwecke dienſtbar gemacht wird, ein
ſo ſtoffloſes Gebilde wie die dem Geſichtsſinn ſich dar¬
ſtellende Geſtalt der Dinge an ſich zum Ausdruck zu
bringen. Das, was an der Natur erreicht werden muß,
um ſie zum künſtleriſchen Bild zu machen, kann nur ver¬
mittelſt der Thätigkeit am Stoffe erreicht werden; das,
was am Stoffe geſchehen muß, um aus ihm ein Kunſt¬
werk zu machen, kann nur durch die Natur erreicht wer¬
den, zu deren Ausdruck der Stoff fügſam gemacht wird.
Nur dadurch, daß in der künſtleriſchen Thätigkeit Beides
einer von einem beſtimmten Streben beherrſchten formen¬
den Behandlung unterliegt, kann jene Welt der Kunſt ent¬
9*[132] ſtehen, in der ſich die Sichtbarkeit der Dinge in der Ge¬
ſtalt reiner Formgebilde verwirklicht.


Und hier gelangen wir zu einem von der gewöhn¬
lichen Auffaſſung abweichenden Begriff der künſtleriſchen
Form. Wenn man von künſtleriſcher Form ſpricht, ſo
pflegt man davon auszugehen, daß die ſichtbare Natur,
die man als Grundlage aller künſtleriſchen Thätigkeit be¬
trachtet, ihrer ſichtbaren Form nach beſtimmt ſei, daß aber
der Künſtler den Beruf habe, die natürlich gegebene Form
nach beſtimmten Geſichtspunkten zu einer anderen, der
natürlichen mit ſelbſtſtändigem Recht gegenüberſtehenden
Form umzubilden. Offenbar kann man in gewiſſem
Sinne ſchon da, wo die Sichtbarkeit noch auf die Vor¬
gänge in den Organen der Wahrnehmung und Vorſtellung
beſchränkt iſt, von einer ſichtbaren Form reden; denn ſonſt
könnte uns überhaupt nichts als ſichtbar erſcheinen. Aber
wir haben geſehen, daß dieſe ſichtbare Form befangen iſt
in der Verworrenheit, die eben in jenen unentwickelten
Gebieten des Bewußtſeins herrſcht, daß ſie unbeſtimmt iſt,
inſofern das Bewußtſein, ſo lange es an bloße Wahr¬
nehmungen und Vorſtellungen gebunden iſt, über keinerlei
Mittel verfügt, durch welche jene Form zu beſtimmen
wäre. Der künſtleriſche Vorgang ſtellt, wie es jeder
geiſtige Vorgang thut oder wenigſtens thun ſollte, einen
Fortſchritt dar von der Verworrenheit zur Klarheit, von
der Unbeſtimmtheit des innerlichen Vorganges zu der Be¬
ſtimmtheit des äußeren Ausdrucks. Wenn es nur durch
die künſtleriſche Thätigkeit möglich iſt, die Form, in der
[133] uns die ſichtbare Natur erſcheint, aus der Verworrenheit
zu reißen und zum klaren Ausdruck zu geſtalten, ſo folgt
daraus, daß die Form, die aus der künſtleriſchen Thätig¬
keit hervorgehen ſoll, die künſtleriſche Form, nicht auf
einer Entfernung von der Natur beruhen darf, ſondern
auf möglichſter Annäherung an die Natur beruhen muß.
Die Einſicht, daß dem menſchlichen Geiſt das reine und
klare Gebiet der ſichtbaren Form der Dinge verſchloſſen
bleibt, ſo lange ſich ſeine Auffaſſung des Sichtbaren nur
in unmittelbaren oder reproducirten und aſſociirten Wahr¬
nehmungen vollzieht, führt zu der anderen Einſicht, daß
es der küntlerichen Thätigkeit bedarf, um der ſichtbaren
Form der Natur nur überhaupt nahe kommen zu können.
Nicht anders iſt es ja auf anderen Gebieten geiſtigen Er¬
faſſens und Erkennens. Nur dem zum äußeren Ausdruck,
zur Form entwickelten geiſtigen Vorgang iſt es gegeben,
das innerſte Weſen der Natur zu ergreifen. Künſtleriſche
Form und natürliche Form ſtehen ſich alſo in keinem
anderen Sinne gegenüber, als in dem, daß erſt in der
künſtleriſchen Form die natürliche Form erkannt zu werden
vermag.


Als geſund und echt wird ſich nun die künſtleriſche
Thätigkeit nur dann erweiſen, wenn ſich alle Handlungen,
die der Künſtler vornimmt, zurückführen laſſen auf den
einen Urſprung, die Wahrnehmung durch den Geſichtsſinn,
wenn der geſammte künſtleriſche Vorgang nichts anderes iſt,
als ein nicht mehr bloß durch die Augen, ſondern durch
den ganzen handelnden Menſchen vollzogenes Sehen. Und
[134] es iſt klar, daß die Gebilde, die ſich ſo aus dem thätig
gewordenen Sehvorgang entwickeln, ſo unendlich verſchieden
ſie ſich darſtellen mögen, beſtimmten gleichmäßigen For¬
derungen genügen müſſen, welche das Bewußtſein an die
Sichtbarkeit ſtellt. Es kann ſich nicht darum handeln, der
künſtleriſchen Thätigkeit von vornherein Geſetze vorzu¬
ſchreiben, die von ihr befolgt werden müßten, ſofern ſie
den Anſpruch erheben wolle, wirkliche und nicht nur ſchein¬
bare Kunſtwerke hervorzubringen. Aber wo immer die
künſtleriſche Thätigkeit ſich treu bleibt, da wird ſie nicht
eher ruhen können, als bis ihre Gebilde in eine Form
eingegangen ſind, die thatſächlich eine geſetzmäßige iſt. Und
da dieſe Gebilde nur um ihrer Sichtbarkeit willen hervor¬
gebracht werden, ſo kann ſich auch jene Geſetzmäßigkeit
nur in denjenigen ihrer Eigenſchaften offenbaren, durch die
ſie ſich dem Geſichtsſinn darſtellen. Alle Forderungen,
die von anderen Standpunkten aus, mögen dieſelben ſein,
welche ſie wollen, an ſeine Thätigkeit geſtellt werden, muß
der Künſtler rückſichtslos zurückweiſen, ſofern ſie ihn in
ſeinem eigenſten Streben hemmen und beeinträchtigen.
Mag man es als eine Beſchränkung auffaſſen, wenn der
Kunſt nur jene eine Aufgabe zugewieſen und ſie eines
Abfalls von ſich ſelbſt beſchuldigt wird, ſofern ſie ſich
Forderungen und Geſetzen unterwirft, die im Intereſſe der
Erfüllung anderer Aufgaben formulirt werden; wahrhaft
beſchränkt iſt die künſtleriſche Thätigkeit doch nur durch
alle die ihrem Weſen fremden Anſprüche, denen ſie ſich
ausgeſetzt ſieht. Und was geſchieht? Die geringe, ſchwache
[135] künſtleriſche Anlage wird verwirrt, geſchädigt, vernichtet,
oder ſie macht ſich den herrſchenden Irrthum über das
Weſen der Kunſt zu Nutze, um die thatſächliche Schwäche
durch einen falſchen Schein von Größe zu verdecken; das
kräftige, unmittelbare Talent hingegen wird jeden Zwang
durchbrechen und ſeine ſelbſtſtändigen Thaten an die Stelle
fremder Forderungen ſetzen.


Nur wenn wir uns von der Voreingenommenheit frei¬
machen, als ob die Kunſt der Erfüllung von Aufgaben zu
dienen habe, die anderen Gebieten des Lebens entnommen
ſind, werden wir ihrem inneren Leben zu folgen vermögen;
erſt dann wird ſie uns aus allen Beſchränkungen gleich¬
ſam in die Freiheit der Natur entlaſſen ſcheinen. Nicht
als ein nothwendiges Glied in einem ihr fremden Zu¬
ſammenhange vielfacher Lebenszwecke werden wir ſie mehr
betrachten, ſondern wie eine Erſcheinung, die überall her¬
vortreten muß, wo menſchliche Zuſtände ſich entwickeln.
Und für die Nothwendigkeit dieſes Auftretens werden wir
keinen anderen Grund beibringen, als den, daß es immer
Menſchen geben wird, die in der Wahrnehmung durch das
Auge, die ihnen mit einem Schlag die ſichtbare Welt zu
enthüllen ſcheint, doch nur einen Hinweis, einen Zugang
erblicken, zu einem Reiche der Sichtbarkeit, in welches nicht
mehr das Auge, ſondern nur die Sichtbares geſtaltende
Thätigkeit vordringen kann. Wir mögen unſeren Blick
wenden, wohin wir wollen, auf die urſprünglichſten Zu¬
ſtände menſchlich-geſellſchaftlichen Daſeins, in die dunkelſten
Zeiten der Geſchichte, nach den entlegenſten Culturgebieten,
[136] überall werden wir künſtleriſches Bemühen erwachen und
erblühen ſehen; bald nur kümmerlich und beſcheiden ſich
hervorwagend, bald geſund und kräftig ſich entfaltend,
bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange
Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren
Gebiete jenes Reiches des ſichtbaren Seins zugänglich
bleiben; ſo ſtaunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen
Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬
nehmen, daß ſich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬
lichen Kraft bis in ſeine innerſten Räume aufthut und uns
einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart.


Das unendlich verſchiedene Maß an jeweilig vor¬
handener künſtleriſcher Kraft iſt es auch allein, welches
den Gang der Kunſt beſtimmt. Wohl bilden ſich unter
all den Erzeugniſſen, die bei aller Verſchiedenheit ihrer
Erſcheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem
gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung
entſpringen, über zeitliche Abſtände und räumliche Tren¬
nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältniſſe. Durch
die thatſächlichen Anregungen, die das Spätere von dem
Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das
Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme
begünſtigt, daß die künſtleriſche Leiſtungsfähigkeit der Men¬
ſchen ſich in einem großen Entwickelungsgange von dem
Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum
Vollkommneren bewege. Und doch iſt die Macht, die der
geſchichtliche Zuſammenhang auf das künſtleriſche Thun
ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,
[137] die die Natur über dasſelbe ausübt, indem ſie den Men¬
ſchen mit mehr oder weniger geſtaltender Begabung aus¬
ſtattet. Wir können den Künſtler auf die Höhe einer Jahr¬
hunderte, Jahrtauſende langen Entwickelung ſtellen, er wird
dadurch nicht den geringſten Zuwachs an jener Kraft er¬
halten, durch die allein irgend eine künſtleriſche Aufgabe
gelöſt werden kann. Mit dieſer Kraft ſteht der Künſtler,
welchem Volke, welcher Zeit er angehören mag, der Natur
doch immer wieder unmittelbar gegenüber, und hat ſich
zu bethätigen, als ob er der Erſte und auch der Letzte
wäre, der der Natur das Geheimniß ihrer ſichtbaren Er¬
ſcheinung abverlangte.


Und damit hängt es endlich auch zuſammen, daß die
künſtleriſche Arbeit immer eine fragmentariſche bleiben
muß. Sie ſtellt ſich dar als ein immer und überall ſich
wiederholender, zu den verſchiedenſten Graden des Ge¬
lingens führender Verſuch, in das Gebiet des ſichtbaren
Seins vorzudringen und es in geſtalteter Form dem Be¬
wußtſein anzueignen. Es kann aber nur zu Mißverſtänd¬
niſſen führen, wenn man in ihr eine fortſchreitende Be¬
wegung nach einem Ziele ſucht, zu deſſen Erreichung alle
künſtleriſchen Leiſtungen nur als Vorſtufen zu betrachten
ſeien. Die Aufgabe der Kunſt, wenn man von einer
ſolchen reden will, bleibt immer dieſelbe, im Ganzen un¬
gelöſte und unlösbare, und muß immer dieſelbe bleiben,
ſo lange es Menſchen giebt.


Aus der Bedeutung, die der künſtleriſchen Thätigkeit
den obigen Ausführungen nach zukommt, ergeben ſich nun
[138] auch mancherlei Folgerungen für die Art und Weiſe, in
der ein jener Bedeutung entſprechendes Verhältniß zu vor¬
handenen Kunſtwerken gewonnen werden kann. Wenn ſich
der künſtleriſche Vorgang ſo von allen übrigen Thätigkeiten
des Menſchen ablöſen könnte, daß er ganz ausſchließlich
zum Ausdruck ſeiner ſelbſt würde, ſo könnte ein Verkennen
oder ein Mißverſtehen deſſelben nicht ſtattfinden. Dem
iſt aber zweierlei hinderlich. Einmal unterliegt die Kunſt¬
übung dem Schickſal alles Menſchlichen: neben ihrer reinen
Erſcheinung tritt ſie in allerhand Trübungen und Ver¬
fälſchungen auf. Es iſt ſo leicht, ſich ihr äußeres Ge¬
bahren anzueignen; iſt aber das künſtleriſche Thun nicht
beherrſcht und durchdrungen von jenem ausſchließlichen
Streben nach thätig-geſtaltender Entwickelung der Geſichts¬
vorſtellungen, ſo iſt es eben nur ein ſcheinbares, äußer¬
liches, und wird den allerverſchiedenſten Liebhabereien,
Intereſſen, Abſichten dienſtbar. Und dann, ſelbſt wo die
künſtleriſche Leiſtung rein und unverfälſcht auftritt, da
bleibt es doch immer unmöglich, zu verhindern, daß ſie
den Menſchen um anderer Intereſſen willen wichtig er¬
ſcheine, als um des einzigen, welches für ihre Hervor¬
bringung maßgebend war. Denn das, was der Künſtler
thut, vollzieht ſich nicht außerhalb der Wirklichkeit, ſondern
als eine Modifikation dieſer Wirklichkeit. Der Künſtler
ſucht dieſer Wirklichkeit denjenigen Ausdruck zu geben, der
ſeinem Streben nach Klarheit und Verſtändniß entſpricht;
aber wer dem Sinn dieſes Ausdrucks kein Verſtändniß
entgegenbringt, der wird an dem weſentlichen Inhalt des
[139] Kunſtwerkes theilnahmlos vorübergehen und in ihm nur
das wiederfinden, was ihn auch ſonſt an der Wirklichkeit
Antheil nehmen läßt. Und überdies iſt es ja nur natür¬
lich, daß Jedem die Kunſt um derjenigen Eigenſchaften willen
vorhanden zu ſein ſcheint, die ſeiner Empfänglichkeit, ſeinem
Verſtändniß zugänglich ſind. Denn es iſt leichter, eine
Leiſtung an dem eigenen geiſtigen Zuſtand zu meſſen, als
ſich dem Zuſtande, in dem man zu verweilen gewohnt
war, entreißen und in Gebiete emporführen zu laſſen, zu
denen man aus eigener Kraft nicht gelangen konnte.


Es iſt hier nicht der Ort, im Einzelnen auszuführen,
wie in Folge dieſer Umſtände auf dem Gebiete des Kunſt¬
verſtändniſſes die außerordentlichſte Verwirrung entſtanden
iſt. Im Allgemeinen iſt es einestheils das Empfindungs¬
leben, anderentheils die denkende und auf ein Wiſſen ab¬
zielende Thätigkeit des Geiſtes, zu denen man vorhandene
Kunſtwerke in Beziehung ſetzt, um ſie ſich anzueignen.
Wenn in den breiten Bildungsſchichten dieſe Verſuche,
künſtleriſche Leiſtungen ſich nahe zu bringen, in anſpruchs¬
loſer Vermiſchung erſcheinen, ſo treten ſie in den Kreiſen
derer, die, über ſo naive Standpunkte erhaben, bis in das
innerſte Geheimniß der Kunſt vorgedrungen zu ſein glauben,
getrennt auf und kleiden ſich in das vornehme Gewand
philoſophiſcher Prinzipien und wiſſenſchaftlicher Methoden.
Im Grunde aber kommt man auch hier über ein theils
ſentimentales, theils gelehrtes Verhältniß zur Kunſt nicht
hinaus. Je größer aber die Macht iſt, die thatſächlich
durch dieſe ſcheinbaren Arten des Kunſtverſtändniſſes über
[140] den geiſtigen Zuſtand der Menſchen ausgeübt wird, deſto
entſchiedener muß man auf den Irrthum hinweiſen, der
in der Meinung liegt, das, was auf künſtleriſchem Wege
entſtanden ſei, könne in anderer als künſtleriſcher Weiſe
begriffen werden. In dem Umſtande, daß der Künſtler
ſeine Aufgabe nicht erfüllen kann, ohne Werke hervorzu¬
bringen, die, wie alles Vorhandene, zu Empfindungs¬
werthen und zu Gegenſtänden des Intereſſes für den
denkenden Geiſt werden können, liegt keinerlei Grund da¬
für, daß man dieſe Werke ihrem Weſen nach verſtanden
habe, wenn man ihnen nach dieſen Seiten hin gerecht ge¬
worden ſei. Wohl aber liegt in dem Umſtände, daß der
Künſtler in ſeiner Leiſtung ein ganz anderes Intereſſe an
der Welt bethätigt, als das des Empfindens und des
Denkens, ein ſehr entſcheidender Grund dafür, daß es
weder dem Empfinden noch dem Denken jemals gelingen
kann, den künſtleriſchen Schatz zu heben, der in dem Kunſt¬
werk verborgen iſt. Ja derjenige, der den Kunſtwerken
gegenüber ſich von dem Intereſſe des Empfindens und
Denkens nicht frei zu machen verſteht, der iſt noch nicht
einmal an den Punkt gelangt, von dem der Künſtler ſeinen
Ausgang nimmt, und er kann keinen Zugang zu der eigent¬
lichen Welt gewinnen, von der das künſtleriſche Bewußt¬
ſein erfüllt iſt.


Wird aber der Kunſt gegenüber Alles verworfen, was
einem anderen Intereſſe als dem des Sehens entſpringt,
ſo ſcheint thatſächlich kein anderes Organ des Kunſtver¬
ſtändniſſes übrig zu bleiben, als das ſehende Auge. Und
[141] es fehlt ja auch nicht an Solchen, die immer und immer
wieder darauf zurückkommen, man dürfe in der Kunſt
nichts anderes ſuchen, als was die Natur dem Auge offen¬
bare. Sie haben das Verdienſt, die Schatten zu zerſtreuen,
durch die alle jene ſentimentalen, gelehrten, philoſophiſchen
Bemühungen das reine Bild der Kunſt verdunkeln. Während
aber die ſichtbare Natur ihr Daſein dem ſehenden Auge ver¬
dankt, verdankt die Kunſt ihr Daſein eben nicht mehr nur
dem Auge, und darum iſt es auch mit dem bloßen Sehen
der Kunſt gegenüber nicht gethan. Wenn Jenen zufolge
alles Urtheil über Kunſtwerke, alles Verſtändniß derſelben
auf einem Vergleich zwiſchen dem beruht, was man in
dem Kunſtwerke, und dem, was man in der Natur ſieht,
und wenn dem Kunſtwerk ein um ſo höherer Rang an¬
gewieſen wird, je größer ſeine Uebereinſtimmung mit dem
Naturbilde iſt; ſo ſteht dem entgegen, daß der Künſtler,
indem er ſich ſehend der Natur entgegenſtellt, nur am An¬
fang einer Thätigkeit ſteht, aus der etwas hervorgeht, was
das Auge, ſo lange es auf ſich ſelbſt angewieſen bleibt,
an der Natur nicht leiſten kann, und daß daher ein Ver¬
gleich zwiſchen Natur und Kunſt immer weniger möglich
iſt, je weiter der künſtleriſche Proceß fortſchreitet und ſich
entwickelt.


Nur dadurch, daß man den Thätigkeitsvorgang erlebt,
in dem ſich Natur zum Kunſtgebilde geſtaltet, vermag man
dem Künſtler auf ſein eigenes Gebiet zu folgen, ihn in
ſeiner eigenen Sprache zu verſtehen. Was nützt alles
Sehen, wenn man ſich nicht, unbefriedigt von allem Sehen,
[142] ergriffen fühlt von jenem Drange, das Sehen zur Thätig¬
keit zu entwickeln, und in immer ſich ſteigerndem Ausdruck
Natur als ein Sichtbares ſich anzueignen? Dann aber
iſt es doch der Künſtler allein, der den Künſtler begreifen
kann; dann ſprechen die Künſtler eine Sprache, die Nie¬
mand verſtehen kann außer ihnen, weil nur ſie die Fähig¬
keit beſitzen, ſie zu ſprechen! Dann iſt die Kunſt, an der
mehr als an etwas anderem alle Menſchen ihr Recht
geltend machen, eine Geheimſchrift, zu der nur Wenige
den Schlüſſel haben, während die Anderen ſich mehr oder
weniger kindlich an ihr vergnügen, ohne den wahren Sinn
zu ahnen, der in ihr verborgen liegt! Und freilich muß
man von vornherein darauf verzichten, daß Kunſt etwas
Allgemeinverſtändliches ſein könne. Dieſes Gebiet menſch¬
licher Leiſtungen, welches ſo offen vor Aller Blicken zu
liegen ſcheint, iſt thatſächlich einem großen Theil der
Menſchen vollſtändig verſchloſſen. Denn wo ſich in der
Zuſammenſetzung der individuellen Natur das Bedürfniß
nicht vorfindet, das Wirklichkeitsbewußtſein, ſofern es auf
den Wahrnehmungen des Geſichtsſinnes beruht, zu höheren
Formen zu entwickeln, da fehlt jede Möglichkeit, der künſt¬
leriſchen Thätigkeit auf ihren Wegen zu folgen. Und wo
die Natur verſagt, da kann kein Bemühen, keine Belehrung
helfen. Ja wo es zu einem Gegenſtand der Bemühung,
der Belehrung gemacht wird, den Einzelnen in eine Be¬
ziehung zur Kunſt zu ſetzen, während die natürliche Be¬
dingung zur Entſtehung eines ſolchen Verhältniſſes nicht
gegeben iſt, da gewinnen begreiflicherweiſe alle die Ver¬
[143] ſuche Spielraum, der Kunſt von Standpunkten aus gerecht
zu werden, um die es dem Künſtler gar nicht zu thun iſt.


Iſt aber jedes Verſtändniß der künſtleriſchen Thätig¬
keit von vornherein Vielen verſchloſſen, ſo iſt das höchſte
erſchöpfende Verſtändniß eines Kunſtwerkes dem vorbe¬
halten, der das Kunſtwerk hervorbringt. Der Künſtler ſo
gut wie Jeder, in dem ſich das geiſtige Leben nach einer
beſtimmten Richtung hin über das gewöhnliche Maß ent¬
wickelt zeigt, eilt den Anderen voraus, und wird ſomit
immer nur allein da anlangen können, bis wohin es ihm
überhaupt zu kommen vergönnt iſt. Welcher Künſtler,
auch wenn er Theilnahme, Beifall, Bewunderung findet,
hat das Bewußtſein, ganz verſtanden zu werden? Bleibt
nicht das, was er da erreicht hat, wo ſeine Fähigkeiten
ſich zur höchſten Thätigkeit entwickelten, ſein ausſchlie߬
liches Geheimniß? Fühlt er nicht, daß er da, alle anderen
Menſchen gleichſam im Dunkel hinter ſich laſſend, zu einer
Höhe künſtleriſcher Erkenntniß emporgeſtiegen iſt, deren
eben nur er in ſeiner Thätigkeit theilhaftig werden kann?
Alles Verſtändniß, was ihm zu Theil wird, kann immer
nur darauf beruhen, daß Andere ſich einigermaßen in die
beſondere Entwickelung ſeines Bewußtſeins einzuleben ver¬
mögen, die ſich in ſeiner Thätigkeit vollzieht. Es wird
immer nur ein annäherndes bleiben, weil jener Entwicke¬
lungsproceß ſelbſt ſich eben nur durch das eine Individuum
bis zu der erreichten Höhe vollziehen konnte.


Sind es nun die Künſtler, die vor allen Anderen
dieſes annähernden Verſtändniſſes für die künſtleriſchen
[144] Leiſtungen Anderer fähig ſind, weil ſie wenigſtens aus
eigenem Erlebniß den bildneriſchen Vorgang kennen, in
dem das Streben nach Entwickelung des Bewußtſeins von
einer ſichtbaren Welt Befriedigung ſucht, ſo iſt doch jene
natürliche Anlage, die in ihrer Steigerung ſich als künſt¬
leriſche Thätigkeit darſtellt, ſchon in geringerem Grade bei
Vielen vorhanden, und dieſe ſind es, die in ſich ſelbſt
den natürlichen und unmittelbaren Zugang zu der Welt
der Kunſt finden. Was bei dem Künſtler als entwickelte
Fähigkeit auftritt, das zeigt ſich hier als ein Bedürfniß,
dem doch aus eigener Kraft nicht genügt werden kann.
Während ſo Viele gar nicht ahnen, daß es auf dem Gebiete
des Geſichtsſinnes mehr giebt, als das bloße Sehen und
Geſehenes Vorſtellen zu beſtimmten, dem Gebiete des Ge¬
ſichtsſinnes nicht mehr angehörigen Zwecken, gewinnt hier
die bloße Thatſache, daß das Bewußtſein eines ſichtbaren
Seins gegeben iſt, einen beſonderen ſelbſtſtändigen Werth.
Mit dem vorherrſchenden Intereſſe, welches der Sichtbar¬
keit als ſolcher gewidmet wird, verbindet ſich die Einſicht
in den unentwickelten, verworrenen Zuſtand, der dieſer
Sichtbarkeit anhaftet, verbindet ſich das Bedürfniß, die
Wahrnehmungen des Auges für das Auge in einer Ge¬
ſtaltung ſich verwirklichen zu ſehen. Nur wer von Natur
ſo geartet iſt, vermag das innerlich mit zu erleben, um
was der Künſtler unabläſſig bemüht iſt. Er wird ſich
den Werken der Kunſt gegenüber nicht mehr bloß ſehend
verhalten, in dem Sinne, wie man ſich ſichtbaren Dingen
gegenüber überhaupt ſehend verhält, vielmehr wird er ſich
[145] ergriffen fühlen von der Vorſtellung der Thätigkeit, aus
der jene Werke hervorgegangen ſind. Indem er ſich dieſe
Thätigkeit zu vergegenwärtigen, ihr zu folgen ſucht, wird
er unwillkürlich hinweggeführt aus allen den Gebieten des
Fühlens und Denkens, in denen er ſonſt der Wirklichkeit
gegenüber verharrt, mehr und mehr löſt ſich die Verwirrung,
in der für ſein Bewußtſein die Sichtbarkeit der Dinge
verſtrickt war; er ſieht ſich thatſächlich in die reine Welt
der Kunſt erhoben, in der ſich die Erſcheinungen der Dinge
ſeinem verſtehenden Auge zur Beſtimmtheit, zur Ordnung,
zur Geſetzmäßigkeit gezwungen darbieten. Hier, aber auch
nur hier, wird die Kunſt zur Offenbarung; ſie zeigt das
wirklich gethan, wohin das Bedürfniß des Geiſtes drängt,
in ihr findet eine immer lebendige Frage, die von dem
Geſichtsſinn an die ſichtbare Welt geſtellt wird, immer
erneute Beantwortung.


Auf Grund einer ſolchen Beziehung zur Kunſt wird
es möglich, auf dem weiten Gebiete der Production, auf
dem, wie auf allen Gebieten menſchlichen Strebens, neben
der Stärke die Schwäche, neben dem Gelingen die Ver¬
irrung, neben dem Ernſt der Trug liegt, diejenige Orien¬
tirung zu gewinnen, die dem Weſen der Kunſt entſpricht.
Unter welchem noch ſo fremdartigen Gewand, in welchen
noch ſo ſeltſamen Verbindungen irgend ein echtes Zeugniß
künſtleriſchen Strebens den verwandten Geiſt trifft, da
erfolgt ein unmittelbares Erkennen. Alle die tauſendfäl¬
tigen Verſchiedenheiten, die Zeit und Ort der Entſtehung,
Zugehörigkeit zu den mannichfaltigſten Stoffgebieten mit
Fiedler, Urſprung. 10[146] ſich bringen, verſinken, und wir fühlen uns dem, was uns
aus zeitlicher und räumlicher Ferne zukommt, nicht frem¬
der, als dem, was wir neben uns entſtehen ſehen. Durch
alle zeitlichen und räumlichen Bedingungen hindurch ſehen
wir den Künſtler im Grunde doch immer der Natur un¬
mittelbar gegenüberſtehen, und wie wir die Natur als ein
beſtändig Gegenwärtiges aufzufaſſen gewohnt ſind, ſo blicken
wir in das ganze Reich der Kunſt mit keinem anderen
Intereſſe, als daß ſich uns in ihm in unvergänglicher
Gegenwart ein entwickeltes und erhöhtes Bewußtſein der
ſichtbaren Welt offenbart.


Nur ſo auch kann bei dem Einzelnen von einer künſt¬
leriſchen Cultur die Rede ſein. Denn dieſe beſteht nicht
darin, daß wir uns gewöhnen, unter den Dingen, mit
denen wir unſer Daſein ausſtatten, dem äußerlichen Schein
der Kunſt einen hinreichenden Platz einzuräumen; ſie be¬
ſteht vielmehr darin, daß wir an der künſtleriſchen Pro¬
duction den dunklen und verworrenen Drang der eigenen
Natur zum klaren Schauen entwickeln und uns in das
beſondere Weltbewußtſein hineinleben, welches in den
Werken der Künſtler zum Daſein gelangt. Haben wir
einmal das eigene künſtleriſche Bedürfniß an der Betrach¬
tung vergangener, an dem Miterleben gegenwärtiger Kunſt¬
thätigkeit entzündet, ſo fühlen wir unſer geiſtiges Leben
von dem Zuge einer neuen Entwickelung ergriffen. Wir
ſtellen uns mit dem Künſtler der Natur unmittelbar gegen¬
über und laſſen uns leiten von der Kraft, die den ſicht¬
baren Stoff der Erſcheinungen, der auch vor unſerem Be¬
[147] wußtſein ſich darſtellt, zu zuſammenhängenden und im
höchſten Grade wahrhaftigen Beſtandtheilen des ſichtbar
Seienden verarbeitet; und wenn wir von dem Streben,
uns immer mehr und mehr in den Reichthum und die
Mannichfaltigkeit der Kunſt hineinzuleben, eine Erhebung
erwarten, ſo kann es keine andere ſein, als die Erhebung
aus dem Zuſtande geiſtiger Unſicherheit und Veworrenheit
zu der Höhe geiſtiger Klarheit und Beherrſchung des Seien¬
den, die das Ziel jedes ernſthaften Strebens ſein muß.


10 *
[[148]]

7.

Es erübrigt, hier noch einige Bemerkungen anzufügen
einestheils über das Verhältniß, in welchem jene künſt¬
leriſche Thätigkeit in dem oben entwickelten Sinne des
Wortes zu der thatſächlichen Kunſtübung ſteht, in der ſich
ja keineswegs immer jener Sinn lebendig erweiſt, anderen¬
theils über die Bedeutung, welche die Kunſt, ſofern ſie in
jenem Sinne verſtanden wird, für die geiſtige Verfaſſung
des Menſchen gewinnt. Indeſſen muß hier zuvörderſt
einem Mißverſtändniß begegnet werden.


Auf Grund der obigen Ausführungen könnte man
ſich zu dem Schluß berechtigt glauben, daß jeder, ſei es
ausübenden, ſei es betrachtenden Beſchäftigung mit der
Kunſt, ſofern ihr nicht jener ausſchließliche Sinn inne¬
wohne, die Daſeinsberechtigung beſtritten werden müſſe.
Stellt man ſich nun vor, wie ſich ein allenthalben er¬
wachſendes, mit jeder Generation ſich erneuerndes Bedürf¬
niß des Bildens und Schaffens mit den verſchiedenſten
Zwecken verbindet, nach den verſchiedenſten Richtungen ſich
auslebt, wie mannichfaltig und fruchtbar auf der anderen
Seite die Bedeutung iſt, welche die Beſchäftigung mit der
[149] Kunſt für die Menſchen gewinnt, ſo wird man mit Recht
denjenigen der Ueberhebung zeihen, der einer ſo reichen
Welt des thatſächlich Vorhandenen von einem einſeitig
formulirten Standpunkt aus richtend und regulirend gegen¬
über tritt. Hier ſoll nun ausdrücklich betont werden, daß
ein ſo anmaßliches Gebahren den vorliegenden theoretiſchen
Ueberlegungen ganz fern liegt. Der alte erbitterte Kampf,
den der Thätige gegen Theorie und Kritik führt, erneuert
ſich ja auch nur deshalb immer wieder, weil die Einſicht
der Verſuchung nicht widerſtehen kann, ſich in eine Macht
verwandeln zu wollen, der ſich Leben und Thätigkeit zu
unterwerfen habe. Die Einſicht macht ſich damit eines
groben Irrthums ſchuldig. Mag die Thätigkeit, die
Leiſtung ſein, welche ſie wolle, das Recht zum Daſein,
und zwar ſo zu ſein wie ſie iſt, wohnt ihr aus Gründen
inne, die gar nicht vor das Forum theoretiſcher Ueber¬
legung gehören. Nur im Schaffen wird das Schaffen
eine ebenbürtige Macht anerkennen, die zu beſiegen oder
der zu unterliegen ihr beſtimmt iſt. Die Einſicht hat es
aber immer nur wieder mit Einſicht zu thun und wird
ſich ſelbſt untreu, wenn ſie ſich zu verwerthen ſtrebt, um
praktiſche Herrſchaft über etwas zu gewinnen, um deſſen
Erkenntniß es ihr ausſchließlich zu thun ſein kann. Wem
es Ernſt iſt mit dem Begreifen der Erſcheinungen des
menſchlichen Lebens, der wird ſo wenig auf den Gedanken
kommen, Einfluß auf dieſelben zu gewinnen, als es dem¬
jenigen, der die Vorgänge der Natur zu erkennen ſtrebt,
in den Sinn kommen kann, den Lauf der Natur ändern
[150] zu wollen. Auch liegen ja alle Erfolge, die das Denken
erringen kann, auf ſeinem eigenen Gebiet; die Bemühungen,
die es macht, um eine Herrſchaft auszuüben, wo ihm keine
Machtbefugniß gegeben iſt, bleiben im Grunde erfolglos.
Vergleicht man, welche Wege die Production geht, und
welche Wege ihr von jeher alle diejenigen vorzuſchreiben
unternommen haben, die über der Production zu ſtehen
meinen, weil ſie dieſelbe zum Gegenſtand ihres Nachdenkens
machen, ſo erſcheint der thatſächliche Einfluß der Theorie
ſo außerordentlich geringfügig, die Entwickelung der Pro¬
duction ſo ſelbſtſtändig, zumeiſt den Vorſchriften derer, die
das Ziel aller künſtleriſchen Thätigkeit im Voraus zu
kennen vorgeben, ſo zuwiderlaufend, daß es zu verwundern
iſt, wie ein ſo vergebliches Bemühen nicht ein für allemal
aufgegeben worden iſt. Hier alſo ſoll keineswegs der An¬
ſpruch formulirt werden, daß die Welt beſſer thäte, das
bunte Kleid abzuſtreifen, mit dem eine von ſo verſchieden¬
artigen Tendenzen bewegte Kunſtübung, eine von ſo ver¬
ſchiedenartigen Bedürfniſſen eingegebene Kunſtbetrachtung
ſie ſchmückt. Wenn verſucht worden iſt, inmitten des ver¬
wirrenden Reichthums, zu dem das bildneriſche Thun ſich
beſtändig entfaltet, des eigentlichen Urphänomens künſt¬
leriſcher Thätigkeit habhaft zu werden, ſo kann daraus
keine andere Conſequenz gezogen werden, als daß man zu
der zweiten Einſicht fortſchreitet, inwieweit alles das, was
ſich in das äußere Gewand der Kunſt kleidet, ſich auf
jenen reinen Urſprung des künſtleriſchen Strebens zurück¬
führen läßt, inwieweit es hingegen in außerkünſtleriſchen
[151] Beſtrebungen ſein zweideutiges Herkommen hat. Und an¬
dererſeits kann es in Betreff der vielſeitigen Beziehungen,
die ſich zwiſchen den künſtleriſchen Leiſtungen und den be¬
trachtenden Menſchen herſtellen, nicht der Sinn der vor¬
ausgehenden Erörterungen ſein, daß es überhaupt nur
eine einzige Beziehung zur Kunſt geben dürfe; wohl aber
wird ſich an die Einſicht, auf welche Weiſe allein dem
Kunſtwerk ſein eigenſter Inhalt abgewonnen werden könne,
die Ueberlegung anſchließen, welche Bedeutung dann der
Entſtehung und dem Vorhandenſein von Kunſtwerken für
den Menſchen beizulegen ſei.


Wie auch immer die Aufgabe formulirt werden mag,
die der Künſtler zu erfüllen habe, ſo iſt es doch eine Ver¬
einigung von Anſchaulichem und Nichtanſchaulichem in einem
gemeinſamen Ausdruck, die von ihm gefordert zu werden
pflegt. So groß die Gegenſätze ſein mögen, durch welche
die Anſichten über Kunſt von den Höhen philoſophiſcher
Ueberlegung bis hinab in die breiten Schichten naiven Ge¬
nuſſes getrennt ſind, immer iſt es ein Zweierlei, deſſen
Vereinigung durch den Künſtler im Kunſtwerk voraus¬
geſetzt wird. Mag es mehr die denkende oder mehr die
fühlende Natur des Menſchen ſein, in der der Urſprung
für den weſentlichen Inhalt künſtleriſchen Schaffens geſucht
wird, immer bleibt dem Künſtler der unmittelbare Aus¬
druck verſagt, und er ſieht ſich darauf angewieſen, das,
was als der eigentlich bedeutungsvolle Inhalt ſeines Thuns
ausgegeben wird, mittelbar an etwas zum Ausdruck zu
bringen, was ſich zunächſt weder der denkenden, noch der
[152] fühlenden Natur des Menſchen, ſondern nur ſeinem Seh¬
vermögen darſtellt. In Folge deſſen ſieht man davon ab,
daß der Künſtler im eigentlichen Sinne des Wortes doch
nichts anderes zum anſchaulichen Ausdruck bringen kann
als eben Anſchauliches, und ſchreibt ihm gleichſam eine
Sprache, ein Ausdrucksmittel zu, dem das eigenthümliche
Vermögen zuſtehe, Nichtanſchauliches und Anſchauliches in
einem einheitlichen, untrennbaren Gebilde zu vereinigen.
Es ſoll hier nicht von der Täuſchung die Rede ſein, die
der Annahme einer ſolchen Möglichkeit zu Grunde liegt;
die Folge dieſer Auffaſſung, in ſo vielen Modificationen
ſie ſich auch darſtellen mag, iſt aber immer, daß als die
Aufgabe der Kunſt die Verſchmelzung von Sichtbarem und
Nichtſichtbarem angeſehen wird, und daß man den Werth
der künſtleriſchen Leiſtung abhängig macht von dem Grade,
in dem es gelungen ſei, Form und Inhalt in eine neue
Einheit zu verwandeln, die dann weder nur Form, noch
nur Inhalt ſein ſoll.


Ueberlegen wir, was wir im Vorhergehenden verſucht
haben, als innerſten Sinn künſtleriſcher Thätigkeit darzu¬
ſtellen, ſo leuchtet ein, daß wir zu einem ganz entgegen¬
geſetzten Ergebniß kommen müſſen. Das Streben des
Künſtlers geht nicht auf einen Ausdruck, in dem verſchieden¬
artige Intereſſen des Empfindens und Denkens ſich zu
einer Einheit verbinden; dieſe Einheit beſteht in Wahrheit
nicht; es kann dann nur von einem Product die Rede
ſein, von welchem, nicht anders als von einem Naturproduct,
die mannichfaltigſten Anregungen ausgehen. Gerade aus
[153] dieſer Concurrenz der Intereſſen, der der Menſch in der
Regel unterworfen bleibt, ſahen wir den Künſtler ſich retten.
Freilich müſſen wir auch im höchſten Kunſtwerk einen
Empfindungsgehalt und einen dem anſchaulich Gebotenen
zu entnehmenden nicht anſchaulichen Inhalt thatſächlich an¬
erkennen; aber wir deuten dieſe höchſten Leiſtungen künſt¬
leriſcher Kraft nicht ſo, daß es in ihnen am vollendetſten
gelungen ſei, in bildneriſchen Hervorbringungen, die zunächſt
nur dem Auge geleiſtet erſcheinen, Anregungen für die
Empfindung zu geben, im anſchaulichen Ausdruck einen
mannichfaltigen Inhalt zu vergegenwärtigen, der den ver¬
ſchiedenſten Gebieten des Bewußtſeins angehört, kurz in
dem dem Auge ſich darſtellenden Gebilde möglichſt vielen
dem ganzen Bereich des Empfindens und Denkens ange¬
hörigen Forderungen Genüge zu thun. Im Gegentheil
vermögen wir die erreichte künſtleriſche Höhe nur darin
zu finden, daß das Intereſſe an der Entwickelung der im
bildneriſchen Proceß ſich realiſirenden reinen Geſichtsvor¬
ſtellung das Intereſſe an einer Ausgeſtaltung des bild¬
neriſchen Erzeugniſſes nach anderen Geſichtspunkten über¬
wachſen hat. Nur dadurch kann der Künſtler von der
Unverfälſchtheit und Stärke ſeiner Begabung Zeugniß ab¬
legen, daß er die Rückſichten auf allerlei Gehalt und In¬
halt, die ſeine bildende Thätigkeit beeinfluſſen könnten,
zurückdrängt und ſich ganz allein von dem Streben nach
Entwickelung des Geſichtsbildes beſtimmen läßt. Und wenn
man ſonſt im Kunſtwerk dem, was ſich ausſchließlich dem
Geſichtsſinne darbietet, eine untergeordnete Rolle zuzutheilen
[154] pflegt im Verhältniß zu dem Empfindungs- und Gedanken¬
gehalt, als deſſen Träger das ſichtbare Gebilde betrachtet
wird, ſo müſſen wir dieſes Verhältniß umkehren und alle
Wichtigkeit, die einem Kunſtwerk als ſolchem zugeſchrieben
werden kann, in ſeine Sichtbarkeit verlegen.


Die vorurtheilsfreie Betrachtung derjenigen Werke,
in denen die glänzendſten Bethätigungen künſtleriſcher Be¬
gabung vorliegen, kann dies nur beſtätigen. Freilich wer¬
den dieſelben Kunſtwerke von jeder Theorie, die über die
Aufgaben der Kunſt formulirt wird, als Beweismaterial
beanſprucht und benutzt; dies iſt aber nur dadurch mög¬
lich, daß man nicht darnach fragt, welches Intereſſe für
den Künſtler maßgebend war, als er ſein Werk gerade ſo
bildete, wie es thatſächlich vorliegt, ſondern den Werth
des Werkes aus demjenigen Intereſſe ableitet, mit dem
man ſelbſt demſelben entgegentritt. Dem unbefangenen
Blick kann es gar nicht verborgen bleiben, daß gerade die
höchſten künſtleriſchen Leiſtungen ſich dadurch kennzeichnen,
daß bei ihrer Hervorbringung das Streben, in der bil¬
denden Entwickelung der Geſichtsvorſtellung immer weiter
vorzudringen, jegliche Rückſicht auf Werthe anderer Art
weit hinter ſich gelaſſen hat. Wo wir den Künſtler von
der Leidenſchaft ergriffen ſehen, die der Natur von dem
Auge unmittelbar entnommene Geſtalt bildend zu immer
gegenwärtigerem Vorhandenſein zu bringen, da nehmen
wir zugleich wahr, daß für ihn dasjenige allen Werth ver¬
liert, was an dem Kunſtwerk nur mittelbar und nicht durch
dasſelbe unmittelbar ſichtbar zum Ausdruck kommen kann.


[155]

Sind wir einmal zu der Erkenntniß gelangt, daß das
Maßgebende für die ſichtbaren Werke bildender Thätigkeit
nicht in einem Zuſammentreffen von empfindbaren und
denkbaren, aber nicht ſichtbaren Werthen, ſondern aus¬
ſchließlich in dem ſichtbar Erreichten liegt, ſo kann unſer
Urtheil über künſtleriſche Leiſtungen nicht mehr dadurch
getrübt werden, daß es bald durch dieſen, bald durch jenen
Werth beſtimmt wird, den unſer Empfinden und unſer
Denken in ihnen wahrnimmt. Die ungeheure Welt der
Kunſt liegt klar vor unſeren Augen. Was wir unmittel¬
bar durch den Geſichtsſinn auf dieſem reichen, in unend¬
licher Mannichfaltigkeit der Geſtaltungen ſich darſtellenden
Gebiete wahrnehmen, das, wiſſen wir, iſt die ganz eigene
Arbeit der beſonderen künſtleriſchen Anlage, die dem Men¬
ſchen innewohnt; was wir nur mittelbar als der Empfin¬
dung oder der Reflexion zu gute kommend aus dieſer Welt
von Gebilden uns aneignen, das, wiſſen wir, ſind Neben¬
werthe, die zwar durch die künſtleriſche Arbeit mit ins
Leben gerufen werden, ohne jedoch als beſtimmende Mächte
da angeſehen werden zu können, wo die bildneriſche Arbeit
unverfälſcht auftritt. Und nun gewinnen wir all dem
gegenüber, was unter dem großen Namen der Kunſt zu¬
ſammengefaßt wird, einen eigenthümlich beſtimmten Stand¬
punkt. Es iſt ein reiches, mannichfaltiges Bild, glänzend
und von vielfacher Bedeutſamkeit, welches an uns vorüber¬
zieht, wenn wir uns in den Schatz der Denkmäler ver¬
tiefen. Was wir darin zu erkennen vermögen, wird aber
nicht das Bild einer Entwickelung ſein, in der ſich das
[156] Einzelne in einem großen, einheitlichen Zuſammenhange
darſtellt; vielmehr iſt es das Schickſal, dem eine einfache
und klare Thätigkeit der menſchlichen Natur in den Ver¬
wirrungen des Lebens thatſächlich verfällt, worüber uns
die unbefangene Betrachtung der dem Auge ſich darbieten¬
den Leiſtungen belehrt. Gleichgültig wird uns jene Ge¬
ſchichte der Kunſt werden, die alles in ſich aufnimmt, was
ſich in das äußere Gewand der Kunſt kleidet, und für die
alles bedeutend iſt, was von irgend einem Standpunkt
aus von den vorhandenen Kunſtwerken ausgeſagt werden
kann; nichts anderes wird ſich uns in der Betrachtung
jenes weiten Schaffensgebietes enthüllen, als die nie ruhende
Bethätigung der beſonderen Beziehung, in die der Menſch
durch die künſtleriſche Begabung zur ſichtbaren Welt ge¬
ſetzt wird.


Sondert ſich ſo vor unſerem Auge aus der bunten
verwirrenden Menge künſtleriſchen Thuns, von der ſich
das Leben jeder Zeit, jedes Volkes begleitet zeigt, der
echte künſtleriſche Gehalt, der jenem Thun innewohnt, ſo
müſſen wir uns zunächſt eingeſtehen, daß ſich oft genug
unter einem anſpruchsvollen und glänzenden Schein künſt¬
leriſchen Hervorbringens ein recht kümmerlicher Gehalt
verbirgt. Freilich iſt in jeder Kunſtübung, auch wenn ſie
noch ſo ſtümperhaft, noch ſo willkürlich nach entlegenen
Zielen abgelenkt erſcheint, eine Aeußerung urſprünglichen
künſtleriſchen Könnens und Wollens verborgen, und anderer¬
ſeits ſehen wir in Zeiten allgemeiner Verirrung auch große
und ſelbſtſtändige Begabungen auftreten; in ihnen ſcheint
[157] die Kunſt gleichſam wieder zu ſich ſelbſt gekommen zu ſein;
aber ſie führen ein vereinzeltes und oft verborgenes Daſein;
die Entwickelung wird ihnen verkümmert durch das an¬
ſpruchsvolle Auftreten einer Kunſtübung, die ihre eigene
Schwäche durch falſchen Glanz zu verdecken ſucht. Ab
und zu aber im Leben der Völker erfährt jene beſondere
Fähigkeit eine erſtaunliche Steigerung; ein Intereſſe, welches
ſonſt nur eine untergeordnete Rolle ſpielt, zuweilen nahezu
ganz hinter anderen Intereſſen zurücktritt, erſcheint plötzlich
im Vordergrund des Lebens; leidenſchaftlich drängt es den
menſchlichen Geiſt, die Grenzen ſeines Daſeins nach dieſer
einen Richtung hin zu erweitern; zahlreiche Begabungen
treten in den Dienſt der einen Arbeit; es iſt ein Wetteifer,
um auf tauſend Pfaden, die alle in der gleichen Richtung
laufen, vorwärts zu kommen; es iſt, als ob der Menſch
vornehmlich um ſeines Sehens, die Welt vornehmlich um
ihrer Sichtbarkeit willen vorhanden wäre. In ſolchen
Zeiten iſt es, wo wir die ſeltene geniale Kraft, der es zu
allen Zeiten vorbehalten iſt, eine ausnahmsweiſe Ent¬
wickelung des Bewußtſeins zu vollziehen, dies gerade nach
dieſer einen Richtung hin vollbringen ſehen; es entſtehen
jene Werke, in denen die Sichtbarkeit des Seienden in ſo
vollendetem, überzeugendem Ausdruck gegenwärtig wird,
daß ſie uns wie mit der Macht der Offenbarung ent¬
gegentritt.


In dieſen ſogenannten guten Zeiten der Kunſt iſt
nun jenes Streben nach bildneriſcher Entwickelung einer
Sichtbarkeit ſo mächtig, die Begabung, dieſem Streben
[158] Genüge zu thun, ſo ſtark und ſo weit verbreitet, daß ſich
das ganze Gebiet der Kunſtübung davon beherrſcht zeigt.
Nicht nur da, wo der künſtleriſche Genius, frei von ge¬
botener Unterordnung unter einen vorgeſchriebenen Zweck,
ungehindert ſeine eigenſte Bahn verfolgen kann, nein, bis
in die Sphären hinab, wo ein praktiſches Bedürfniß alles
Recht an die Geſtaltung eines geforderten Gegenſtandes
in Anſpruch zu nehmen ſcheint, zeigt ſich jene Macht.
Wo nur immer das Auge einen Antheil hat an dem,
was durch menſchliche Arbeit hervorgebracht wird, da
macht ſich das Bemühen geltend, eine Form zu finden,
die nur aus den Forderungen des Auges entſtanden zu
ſein ſcheint. Es iſt nicht das Streben, im anſchaulichen
Gebilde Nichtanſchauliches, wie Beſtimmung, Zweck des
Gegenſtandes, zum Ausdruck zu bringen, noch viel weniger
das Bedürfniß, ein Symbol zu ſchaffen, in dem der
reflectirende Geiſt die Anregungen vereinigt findet, das
vorliegende Werk als im Mittelpunkt mannichfaltiger Be¬
ziehungen ſtehend aufzufaſſen, auch nicht der Wunſch,
durch das, was dem Auge geboten wird, einen unmittel¬
baren Reiz auf die Empfindung auszuüben; es iſt viel¬
mehr das Intereſſe des Auges, welches allein die formende
Hand leitet. Dem Naturobject gegenüber, welches wir
hinnehmen müſſen, ſo wie es uns entgegentritt, dem
Product menſchlicher Thätigkeit gegenüber, für welches
bald dieſe bald jene Rückſicht maßgebend erſcheint, handelt
es ſich hier darum, daß etwas hervorgebracht wird, was
nur um ſeiner Sichtbarkeit willen vorhanden zu ſein ſcheint.
[159] Das Geheimniß ſogenannter Stiliſirung beſteht darin, daß
uns auch der gewöhnlichſte Gegenſtand des täglichen Lebens
als eine zum beſtimmten Gebilde entwickelte Geſichtsvor¬
ſtellung gegenwärtig zu werden vermag.


So wenden ſich die Erzeugniſſe jener bevorzugten
Zeiten der Kunſt, von den Werken an, die nur um der
künſtleriſchen Bethätigung willen vorhanden ſind, bis hinab
in die weiten Gebiete aller der Gegenſtände, die dem täg¬
lichen Leben und dem Gebrauche dienen, vornehmlich an
das Auge, nicht aber, um durch den Geſichtsſinn auf die
Gefühls- und Ideenwelt zu wirken, ſondern in dem Sinne,
daß eine weitverbreitete Begabung, was ſie berührt, aus
der Verworrenheit, in der alles beharrt, ſolange es der
Concurrenz der Sinne, der Herrſchaft der Gefühle, der
Verſtrickung geiſtiger Beziehungen unterworfen bleibt, er¬
löſt und in den unmittelbaren Ausdruckswerth eines ſicht¬
baren Seins verwandelt. In nichts anderem beſteht der
Zauber, der auf den Werken ſolcher Zeiten ruht, und der
dieſelben für das kundige Auge wie verklärt erſcheinen läßt.


Wenn aber ſchon in jenen Zeiten großer und weit¬
verbreiteter Begabung keineswegs überall jenes Streben
ſo rein und mächtig auftritt, daß es zu einem vollendeten
Gelingen führt, ſo kommt, ſobald jene Begabung ſchwindet,
vielfache Verwirrung zur Herrſchaft. Damals war die
geſammte künſtleriſche Thätigkeit, welchen Bedürfniſſen ſie
auch ſonſt noch genügen mochte, von dem einen Bedürfniß
durchdrungen, dem alle anderen Rückſichten geopfert wur¬
den, das Sein auf ſeine Sichtbarkeit zu reduciren und
[160] eine Ausdrucksform zu finden, die zunächſt nur Exiſtenz
für den Geſichtsſinn habe. Dieſes Bedürfniß hatte die
geſammte künſtleriſche Production bei aller ihrer ſonſtigen
Verſchiedenartigkeit zuſammengehalten und hatte ſie als
einem großen Geſetz gehorchend ſich darſtellen laſſen. Dieſes
Band nun lockert ſich gar bald. Jenes die geſammte Kunſt¬
arbeit beherrſchende und nach einem Ziel hindrängende
Princip kommt abhanden, und an ſeiner Stelle erhalten
untergeordnete Rückſichten die Herrſchaft über die bild¬
neriſche Geſtaltung. Auch in jenen ſeltenen Zeiten ſehen
wir auf dem Gebiete der Kunſt eine unerſchöpflich reiche
Phantaſie ſich entfalten; wir nehmen wahr, wie dem Be¬
dürfniß nach Schmuck, nach Verſchönerung der dem Auge
ſich darbietenden Seite des Lebens in immer neuer Weiſe ge¬
nügt wird; wir bewundern, in welcher Ausdehnung und mit
welchem Erfolge die bildneriſchen Ausdrucksmittel geſchickt
gemacht werden, Vorgänge, die das Intereſſe der Zeit in
Anſpruch nehmen, darzuſtellen, Ideen, von denen die Zeit
bewegt iſt, aufzunehmen. Dieſe Beſtrebungen ſind es, in
denen man häufig genug den weſentlichen Inhalt jener
großen künſtleriſchen Epochen ſehen zu müſſen glaubt, und
von deren Förderung man ſich die Erhaltung oder die
Wiederherbeiführung künſtleriſcher Leiſtungsfähigkeit ver¬
ſpricht. Ihnen fällt die Führung unwillkürlich zu, wenn
jene höchſte Kraft erlahmt, der alle Phantaſie, alles Schön¬
heits- und Darſtellungsbedürfniß unterthan war. Unter
ihrer Herrſchaft tritt unaufhaltſam der Verfall der Kunſt
ein. Willkürlich wuchert die Production bald nach der
[161] einen, bald nach der anderen Seite, ſobald ſie in allen
ihren Aeußerungen nicht mehr jenem oberſten Princip ge¬
horcht. Die Erfahrung lehrt dies deutlich genug. Sowohl
in den Jahrhunderten, die der großen Zeit griechiſcher
Kunſt folgen, als auch in denen, die ſich an die moderne
Blütheperiode der Kunſt anſchließen, Jahrhunderten, denen
auch unſere eigene Zeit angehört, nehmen wir kaum einen
Nachlaß in der künſtleriſchen Thätigkeit wahr, ſoweit dieſe
von den treibenden Mächten der Einbildungskraft, des Ver¬
langens nach Schmuck des Daſeins, des Darſtellungsbe¬
dürfniſſes abhängt. Und doch hat in beiden Fällen der
Niedergang der Kunſt raſche und unaufhaltſame Fort¬
ſchritte gemacht. Nun ſteht die geſtaltende Hand nicht
mehr ausſchließlich im Dienſte des zum Ausdruck ſich ent¬
wickelnden Sehproceſſes; vielmehr iſt es ebenſoſehr die Luſt
an decorativer Verwerthung der künſtleriſchen Mittel, die
maßgebend wird für die ſchaffende Thätigkeit, wie der
Hang, alles und jedes zum Gegenſtand bildlicher Dar¬
ſtellung zu machen; allerhand Nebenwerthe treten an die
Stelle der eigentlich künſtleriſchen Ausdruckswerthe.


Wohl ſehen wir das Beiſpiel großer Zeiten oft lange
nachwirken. Die gewaltige Entwickelung, die unter den
bildenden Händen zahlreicher bedeutender Künſtler das
Vorſtellungsleben, es auf dem Geſichtsſinn beruht,
erfährt, ſtellt ſich in Formen dar, die nachgeahmt und
verwendet werden können; es iſt wie eine reiche Erbſchaft,
die den nachfolgenden Zeiten zufällt. Die Herrſchaft, die
dieſe Formen über die bildneriſche Thätigkeit der Folge¬
Fiedler, Urſprung. 11[162] zeiten ausüben, begründet eine Tradition, durch die ſchein¬
bar eine gewiſſe Höhe der Kunſt erhalten wird. Indeſſen
macht es ſich nur zu bald geltend, daß jene Formen nur
übernommen, nicht innerlich erlebt und ſelbſtſtändig ent¬
wickelt ſind. Da ihre Verwendung nicht auf einer inneren
Nothwendigkeit, ſondern darauf beruht, daß ſie als erlern¬
bar bequem zur Hand ſind, ſo ſchwächt ſich ihre Macht
allmählig ab; der Zuſammenhang, in dem ſie urſprünglich
ſtanden, lockert ſich, und unter der Willkür unkünſtleriſcher
Tendenzen geht mehr und mehr ihre Reinheit verloren.
Die Geſchichte ſo vieler künſtleriſcher Formen iſt nur ſo
zu verſtehen. Nichts anderes iſt ſie als eine allmählige
Degeneration. Und je mehr auch jene Scheinherrſchaft,
welche eine große Tradition über die künſtleriſche Thätig¬
keit ausübt, verloren geht, deſto verworrener wird das Bild,
was dieſe bietet. Welche ſonderbaren Mächte ſehen wir da
zur Herrſchaft gelangen! Ob es die niederen Bedürfniſſe
nach Abwechslung, Reiz, Unterhaltung ſind, denen durch
die Mittel der Kunſt Befriedigung geboten werden ſoll;
ob es die idealen Beſtrebungen ſind, die ſich das Recht
zuſchreiben, auch die Kunſt in ihren Dienſt zu zwingen:
der Erfolg wird immer der gleiche ſein. Was ſich unſeren
Augen darbietet, ſobald wir uns von jenen großen Zeiten
weg und der Kunſtübung anderer Jahrhunderte zuwenden,
iſt ein Bild zunehmender Verwirrung, in dem uns mehr
oder minder entſtellte Bruchſtücke aus den Errungenſchaften
jener ſeltenen Epochen daran mahnen, daß die Kunſt über¬
haupt ein eigenes Geſetz beſitzt, dem ſie zu gehorchen hat.


[163]

Was nun die Bedeutung anlangt, die der Entſtehung
und dem Vorhandenſein künſtleriſcher Hervorbringungen
für den geiſtigen Zuſtand der Menſchen im allgemeinen
zugeſchrieben werden muß, ſofern die Auffaſſung und das
Verſtändniß der Kunſt demjenigen Inhalt entſpricht, den
wir für die Production ſelbſt als allein maßgebend be¬
zeichnet haben: ſo iſt auf eins ſchon im Vorhergehenden
hingewieſen worden, auf die Klarheit, die derjenige auf
dem weiten und anſcheinend ſo verworrenen Gebiete der
künſtleriſchen Thätigkeit gewinnt, der ſein Auge einmal
jenem erſten und letzten Geheimniß der Kunſt geöffnet hat.
Alles das, was man wohl ſonſt zu ergründen ſucht, wenn
man das Verſtändniß eines Kunſtwerkes zu erweitern und
zu vertiefen beſtrebt iſt, die formalen Eigenthümlichkeiten,
von denen beſtimmte unmittelbare Wirkungen auf die Em¬
pfindung ausgehen, die Beziehungen, in denen das Werk
dem Gegenſtande der Darſtellung nach zu mannichfachen
Gebieten des Lebens ſteht, die Bedeutung, die es gewinnt,
wenn man in ihm ein Reſultat geſchichtlicher Mächte und
zugleich ſelbſt eine Macht erblickt, von der geſchichtliche
Wirkungen auf die Geſammtheit des Culturlebens aus¬
gehen, alles das wird ihm das wahre Weſen des Kunſt¬
werks weniger zu offenbaren, als vielmehr zu verhüllen
ſcheinen. Denn er wird einſehen, daß durch die beſtändige
Vermehrung der Geſichtspunkte, von denen aus die Be¬
trachtung der Kunſtwerke unternommen wird, der eine Ge¬
ſichtspunkt nur verdunkelt werden kann, von dem aus allein
ein Eindringen in die künſtleriſche Qualität möglich iſt.
11 *[164] Daß dem Kunſtwerk ein Werth für unſer Empfinden inne¬
wohnt, daß in ihm eine Bedeutung zum Ausdruck gelangt,
die wir nur auf dem Wege des Denkens uns aneignen
können, ſei es, daß uns ein Vorgang dargeſtellt, ſei es,
daß uns ein Symbol gegeben wird, daß dieſe Bedeutung
wiederum weiter wirkt auf die Geſammtheit unſeres den¬
kenden Lebens, dies alles wird ihm nicht viel wichtiger
erſcheinen als der Umſtand, daß der Künſtler, indem er
durch und für den Geſichtsſinn arbeitet, an einen ſinnlich
gegebenen Stoff gebunden iſt, der nicht nur für den Ge¬
ſichtsſinn, ſondern auch noch für andere Sinnesgebiete
vorhanden iſt. So gut er bei der Betrachtung des Kunſt¬
werks davon abſehen muß, daß das, was ſich ſeinen Augen
darbietet, zugleich ein taſtbarer Gegenſtand iſt, ſo gut muß
er auch davon abſehen, daß der Künſtler bei ſeiner Ge¬
ſtaltung noch in anderem Sinne an einen Stoff gebunden
iſt, der nicht nur für das Auge, ſondern für das geſammte
Fühlen und Denken vorhanden iſt. Nur wenn ihm das
gelingt, wird er durch alle die Hüllen, die zufolge jener
doppelten ſtofflichen Gebundenheit das Kunſtwerk umgeben,
bis zu dem innerſten Kern des künſtleriſchen Schaffens
hindurchdringen. Hatte jener gewaltige bald mehr gelehrte,
bald mehr philoſophiſche Apparat, mit dem er der Kunſt
ſich gegenüber zu ſtellen angeleitet worden war, ſeinen
Blick nur getrübt, ſo liegt es nun klar und offen vor ihm,
was der beharrende Sinn in allen den nach Zeit und Ort
ſo tauſendfach abwechslungsreichen Geſtaltungen iſt; in
allen Metamorphoſen erkennt er ihn, und nur ihn wieder;
[165] er verfolgt ihn in ſeinen ſchwächſten und verborgenſten
Spuren ſo gut wie da, wo er aus vollendeten Leiſtungen
mächtig zu ihm ſpricht. Nun erſt erſcheint ihm die Kunſt
als ein eigenthümliches, in ſich abgeſchloſſenes Gebiet
menſchlicher Thätigkeit; nicht mehr im Zuſammenhange mit
allen Seiten des geiſtigen Lebens ſtellt ſie ſich ihm dar,
ſondern dieſem Zuſammenhange entwunden als eine von
den urſprünglichen, ein Reich für ſich bildenden Bethäti¬
gungen der menſchlichen Natur.


Aber es iſt noch eine andere, viel werthvollere Klar¬
heit, die demjenigen zu Theil wird, der die Kunſt ihrem
wahren Weſen nach zu verſtehen trachtet. Zwar kann
man ſich im allgemeinen ſchwer von der Anſicht losmachen,
daß nur derjenige eines vollen und tiefen Erfaſſens des
Kunſtwerks fähig ſei, der mit allen Seiten ſeiner empfin¬
denden Natur, mit allen Intereſſen ſeines denkenden Geiſtes
der formalen Beſchaffenheit und der inhaltlichen Bedeutung
deſſelben gerecht zu werden ſuche. Es wird dadurch ein
Eindruck, ein Erlebniß erzielt, wie es allerdings nur dem
Kunſtwerk verdankt werden kann, da ſich nur in ihm die
Möglichkeiten zu ſo verſchiedenartigen und weittragenden
Wirkungen vereinigt finden. Auch iſt der Erfolg eines ſo
allſeitigen Eingehens auf ein vorliegendes Werk ein ganz
eigenthümlicher und mit nichts anderem vergleichbarer.
Wer ihn an ſich erleben will, der iſolirt ſich mit dem
Kunſtwerke, ſchließt ſich ſo viel als möglich von allem ab,
was abgeſehen von demſelben auf ihn wirken könnte; er
verſenkt ſich in daſſelbe in dem Sinne, daß alles, was
[166] in ihm vorgeht, ſeinen Urſprung in der Betrachtung des
Werkes hat. Aus dem dauernden Anblick desſelben ent¬
wickelt ſich eine ganze Welt in ihm; alle Forderungen, die
die Fähigkeiten ſeiner Natur ſtellen, finden hier ihre zeit¬
weilige Befriedigung. Von dem Werke geht, ſich immer er¬
neuernd, das Wohlbehagen aus, welches aus dem Reiz des
unmittelbaren Anblicks entſpringt; aus der nächſten Deutung,
die der denkende Geiſt dem Dargeſtellten giebt, entfalten ſich
Beziehungen auf Beziehungen, und die urſprünglich begrenzte
Bedeutung erſcheint ins Unendliche erweitert. Das Be¬
dürfniß, die Tiefe des Gefühls, die Kraft der Leidenſchaft
dem zu leihen, was vor das Bewußtſein tritt, vereinigt
wie in einem homogenen Elemente alle die Anregungen,
die von dem Kunſtwerke ausgehen, und indem die Wirkung
des Geſehenen auf das Gemüthsleben ſich ſteigert, ſcheint
erſt der ganze unbegrenzte Gehalt, der aus dem Werke
dem menſchlichen Bewußtſein zufließt, ſeine wahre Bedeu¬
tung und ſeinen maßgebenden Werth für den Menſchen
zu erhalten. Es iſt ein extenſives und intenſives Sich¬
aneignen, welches einer unbegrenzten Steigerung fähig er¬
ſcheint, und wodurch allein es möglich wird, daß ein in
ſo engen Grenzen eingeſchloſſenes Ding, wie das Kunſt¬
werk thatſächlich iſt, ſeine Macht über die ganze innere
Welt des Menſchen ausdehnen kann. Die höchſten Bei¬
ſpiele ſolcher Wirkungen wird man immer auf dem Gebiete
der religiöſen Kunſt finden. Hier vereinigt ſich mit der
ſinnlichen Macht, die das ſichtbar uns Entgegentretende
ausübt, diejenige geiſtige Macht, der keine andere an Tiefe
[167] der Wirkung gleichkommt. Das religiöſe Intereſſe, einmal
erregt, verbreitet ſich nicht nur über das intellectuelle Leben
des Menſchen, es greift an die Herzen, dringt in alle
Kräfte des Gemüths, bewegt alle Leidenſchaften. Es iſt
bezeichnend, daß ſchon eine ſehr rohe Kunſt, ſobald ſie
mit der eindringlichen Sprache, die nur dem bildlichen
Ausdruck zu Gebote ſteht, dem Menſchen jenes Gebiet
nahebringt, auf dem ſeine wichtigſten Güter, ſeine ſicher¬
ſten Beſitzthümer, ſeine letzten Hoffnungen liegen, einer
tiefgehenden Wirkung ſicher iſt. Und dazu tritt in den
höheren Regionen der Kunſt der ganze Zauber der Schön¬
heit und Phantaſie, der ſich über die Welt religiöſer Vor¬
ſtellungen ausbreitet, die ganze Gewalt ſinnenfälliger Ge¬
ſtaltung, die uns, wo wir nur unbeſtimmt ahnend und
glaubend uns zu verhalten wagten, eine Welt beſtimmteſter,
unauslöſchlich ſich uns einprägender Bilder bietet. Es iſt
nicht zu verwundern, daß Viele der Anſicht ſind, die Kunſt
vermöge nur in Verbindung mit der Religion ihre höchſte
Beſtimmung zu erreichen, ſo wie ja auch ihre Anfänge
von der Nothwendigkeit jener Verbindung Zeugniß ab¬
legten.


So mächtig und bedeutungsvoll nun aber auch die
Wirkungen ſein mögen, die von der Kunſt in dieſem Sinne
ausgehen, und von denen die Wirkungen der religiöſen
Kunſt das recht eigentlich vorbildliche Beiſpiel ſind, ſo darf
man doch nicht verkennen, daß dieſe Wirkungen ſehr zu¬
ſammengeſetzter und unklarer Natur ſind. Ueber der Ge¬
walt der Erregung verſäumt man leicht die Prüfung,
[168] welcher Art dieſe Erregung iſt. Betrachten wir den Zu¬
ſtand genauer, in dem wir uns ſelbſt befinden, ſofern wir
uns mit der Lebendigkeit unſerer Empfindung, mit der
Reichhaltigkeit unſerer geiſtigen Intereſſen, mit allen Fähig¬
keiten unſeres Gefühllebens rückhaltlos den Anregungen
überlaſſen, die von einem Kunſtwerk ausgehen, ſo werden
wir finden, daß wir recht willenlos einem ununterbrochenen
Wechſel verſchiedenartiger innerer Zuſtände anheimgegeben
ſind. Bald bleibt das unſeren Augen ſich darbietende Bild
mit ſeinen unmittelbaren Wirkungen auf die Empfindung
im Vordergrunde des Bewußtſeins, bald wird dieſer un¬
mittelbare Eindruck verdrängt, und es gewinnen die geiſtigen
Anregungen die Oberhand, die uns von dem, was wir
ſehen, hinweg in allerhand Gebiete des Wiſſens und Den¬
kens führen, bald drängen ſich die geheimen Mächte des
Gemüths hervor, und indem ſich uns im Bilde unmittel¬
bar vergegenwärtigt, was uns rühren und ergreifen kann,
ſind wir doppelt erregt und erſchüttert. Wenn wir dies
alles, was in raſchem Wechſel in uns vorgeht und uns
nach allen Seiten unſeres Weſens in Anſpruch nimmt,
auf den einen Mittelpunkt, das Kunſtwerk beziehen, mag
es uns wohl ſcheinen, als ob wir eines einheitlichen Ge¬
ſammteindruckes theilhaft würden; bei näherer Prüfung
aber werden wir der Täuſchung inne und geſtehen uns
den verworrenen und verſchwommenen Zuſtand ein, in den
wir verſetzt worden waren. Und ferner werden wir uns
nicht verhehlen können, daß die Befriedigung, die Erhebung,
die wir der Kunſt in jenem Sinne verdanken, im Grunde
[169] doch auf eine Art Selbſtgenuß hinausläuft. Es iſt ein
Zuſtand paſſiver Empfänglichkeit, dem wir uns hingeben,
und je reicher ſich in uns bei der Betrachtung eines Kunſt¬
werks jenes Durcheinanderwogen von Vorgängen des Em¬
pfindens, des Denkens, des Fühlens entwickelt, deſto mehr
geht die aktive Energie unſeres Geiſtes in einem allge¬
meinen Wohlbehagen unter. Hierin liegt der Grund, daß,
ſo hoch auch die Kunſt in der Meinung der Menſchen
ſtehen mag, doch immer ein beſtimmter Gegenſatz zwiſchen
ihr und jenen ernſthaften Thätigkeiten feſtgehalten wird,
von denen nicht ſo ſehr ein Genuß, als vielmehr eine
geiſtige Förderung erwartet wird. Auch braucht es nicht
ein Zeichen von Uncultur zu ſein, es kann vielmehr von
Kraft und Ernſt des Geiſtes Zeugniß ablegen, wenn der
Einzelne ſich von der Kunſt abwendet, ſobald ihm die
wahre Natur des inneren Zuſtandes klar geworden iſt,
in dem ſich diejenigen befinden, die ſich in der hergebrachten
Weiſe ihren Wirkungen überlaſſen. Ja gewiſſe der neueſten
Zeit angehörende Bewegungen, die entweder die Kunſt
überhaupt von dem Programm der bevorſtehenden geiſtigen
Entwickelung ſtreichen möchten oder von ihr die Mitarbeit ,
an den ernſten Aufgaben wiſſenſchaftlicher Forſchung ver¬
langen, verdienen den Vorwurf geiſtiger Rohheit weniger
deshalb, weil ſie ſich gegen die Rolle auflehnen, die die
Kunſt im geiſtigen Leben zu ſpielen pflegt, als vielmehr
deshalb, weil ſie aus einem Mißverſtändniß über die Be¬
deutung entſpringen, die der Kunſt auf Grund der Ein¬
ſicht in ihr innerſtes Weſen gebührt.


[170]

Die Wirkungen, welche der Menſch von der Kunſt
empfängt, ſobald er ſein Verſtändniß ihrem innerſten und
doch nächſtliegenden Sinne öffnet, iſt in der That eine
jener oben geſchilderten ganz entgegengeſetzte. Aus allem
Vorhergehenden geht hervor, daß es nur dann gelingen
kann, die Kunſt in ihrer eigenen Sprache zu verſtehen,
wenn man dem Kunſtwerk gegenüber vermag, nicht nur
ſich aus dem Gewirr concurrirender Sinneswahrnehmungen
zu erheben, ſondern auch allen Ideenverbindungen zu ent¬
ſagen, zu denen ſich der reflectirende Geiſt geneigt zeigt,
auf den Genuß zu verzichten, den die Ausbeutung eines
Eindrucks durch das Gefühl gewährt. An die Stelle
jenes verworrenen Zuſtandes, in den wir die Menſchen
im allgemeinen durch die Kunſt verſenkt ſahen, tritt nun
ein einfaches und klares Bewußtſein; wir ſehen uns durch
die Kunſt nicht mehr in jene unentwickelten und nicht ent¬
wickelungsfähigen Zuſtände entrückt, in denen wir willen¬
los dem Wechſel der verſchiedenartigſten Eindrücke, Ge¬
danken, Gefühle hingegeben erſcheinen, vielmehr fühlen
wir uns in die Sphäre einer beſtimmten zu immer zu¬
nehmender Klarheit fortſchreitenden Thätigkeit erhoben.
Wir ſehen ein, daß uns der Künſtler nicht hineinführt in
eine Mannichfaltigkeit der Beziehungen zu den Dingen,
die als ſolche ſich nicht zur Klarheit und Beſtimmtheit
entwickeln kann, ſondern daß er uns im Gegentheil her¬
ausführt aus dieſer Mannichfaltigkeit und in ſeiner Thätig¬
keit nichts anderes darſtellt als die Entwickelung jener
einen Beziehung, auf Grund deren ſich die Vorſtellung
[171] einer Welt ſichtbarer Dinge in uns bildet. Es iſt klar,
daß damit die Bedeutung der Kunſt eine ganz andere für
uns wird; an die Stelle des vielſeitigen Intereſſes, welches
wir an ihren Schöpfungen nahmen, tritt ein einſeitiges;
anſtatt aber unſer Bewußtſein zu verwirren und zu ver¬
dunkeln, und uns ſchließlich zu einem paſſiven Zuſtande
des Genießens herabzudrücken, erhebt ſie ſich zu einer
productiven Macht in uns und lehrt uns in einer be¬
ſtimmten Weiſe das Seiende zur Klarheit und Gewißheit
entwickeln.


Bedenken wir nun, daß, wenn der Kunſt eine Be¬
deutung für den geiſtigen Zuſtand der Menſchen im all¬
gemeinen zugeſchrieben wird, dieſe Bedeutung doch in dem
Sinne verſtanden zu werden pflegt, daß ſie in der Ge¬
ſammtheit geiſtigen und ſeeliſchen Lebens zur Geltung
komme: ſo ſcheint der Kunſt überhaupt alle und jede Be¬
deutung abgeſprochen zu werden, ſofern wir ihre eigent¬
liche fachgemäße Wirkung darin erblicken, daß ſie den
Menſchen dem Zuſammenhange ſeiner vielfältigen Inter¬
eſſen entreißt und ihm das Daſein in einer durchaus ein¬
ſeitigen Weiſe zum Bewußtſein bringt. Die Frage wird
uns nahe treten, welchen Werth der Menſch einer Thätig¬
keit beilegen könne, durch welche die Sichtbarkeit der Dinge
jene bildneriſche Entwickelung findet.


Es iſt klar, daß der vielfache Einfluß, der von der
Kunſt auf das Geſammtleben der Menſchen thatſächlich
ausgeht, und in welchem Beſtimmung, Werth und Be¬
deutung der Kunſt zu erkennen, ganz ſelbſtverſtändlich er¬
[172] ſcheint, vernichtet werden müßte, wenn es gelänge, die
Menſchen ausſchließlich für jene reinſte und höchſte
Wirkung der Kunſt empfänglich zu machen. Kann man
ſich auf der einen Seite dieſer Conſequenz nicht ent¬
ziehen, und will man doch auf der anderen Seite das
Vorhandenſein einer allgemeinen Bedeutung der Kunſt
nicht dadurch ganz in Frage ſtellen, daß man in den¬
jenigen Bedeutungen, die ihr in dem Geſammtleben des
Menſchen beigelegt zu werden pflegen, doch nur Folgen
eines mangelhaften oder falſchen Verſtändniſſes anerkennen
muß: ſo ſcheint es unumgänglich, daß man nunmehr nach
demjenigen allgemeinen Werth ſuche, welchen die Kunſt
auf Grund des ungetrübten Verſtändniſſes ihres innerſten
Weſens zu erlangen beſtimmt ſei. Es ſcheint dies der
nothwendige Abſchluß jeder Unterſuchung über die Be¬
deutung des künſtleriſchen Schaffens ſein zu müſſen. Und
doch ſoll und kann hier dieſe ſchließliche Nutzanwendung
nicht gezogen werden. Im Gegentheil gelangen wir hier
am Ende unſerer Unterſuchungen zu der Einſicht, daß wir
uns gerade deshalb, weil wir in uns die Trübungen zu ver¬
ſcheuchen geſucht haben, durch die uns der geheime Sinn der
künſtleriſchen Thätigkeit verhüllt blieb, nun auch von dem
Vorurtheil frei machen müſſen, als ob wir den Werth
dieſer Thätigkeit in Wirkungen zu ſuchen hätten, die ganz
anderen Gebieten des Daſeins zu gute kämen. Wir
laſſen es dahin geſtellt, wie weit man berechtigt iſt, den
Werth des geſammten Lebens abhängig zu machen von
jenen idealen Mächten, in denen man die Bürgſchaft einer
[173] ſtetig fortſchreitenden Entwickelung zu haben ſcheint, dem
Vorwärtsſtreben des erkennenden Geiſtes, dem Bildungs¬
bedürfniß der ſittlichen Anlage, der Sehnſucht der äſthe¬
tiſchen Empfänglichkeit: der Künſtler — das haben wir
geſehen — erreicht ſeine höchſten Ziele nicht dadurch, daß
er ſeine Kraft dieſen Mächten unterthan macht, ſondern
dadurch, daß er ihnen widerſteht und im Siege über ſie
ſich auf ſeinem eigenen Gebiete behauptet. Und ſo müſſen
wir auch die volle Conſequenz anerkennen, daß, ſofern die
Kunſt im höchſten Sinne das iſt, als was wir ſie darge¬
ſtellt haben, an ihrem Daſein keiner von den Beſtandtheilen
des geiſtigen, ſittlichen, äſthetiſchen Lebens, an die man
den Fortſchritt, die Veredlung, die Vervollkommnung der
menſchlichen Natur gebunden erachtet, irgend ein Intereſſe
haben kann. Erſt wenn wir zu dieſer Unbefangenheit der
Kunſt gegenüber gelangt ſind, können wir ihr etwas ver¬
danken, was freilich etwas ganz anderes iſt, als die För¬
derung unſerer wiſſenden, wollenden, äſthetiſch empfindenden
Natur. Wir folgen dem Künſtler, wo dieſer ſich erhebt
aus dem großen Getriebe der Beſtrebungen, die jedes
Thun nur als Mittel zu einem Zweck, jedes Daſein nur
als Vorbereitung auf ein zu erwartendes Daſein erſcheinen
laſſen; nicht als Wirkung auf einem entlegenen Lebens¬
gebiete, noch auch von einer ungewiſſen Zukunft werden
wir das erwarten, was uns die Kunſt ſein kann; was ſie
uns leiſtet, das leiſtet ſie ausſchließlich in ſich und in
jedem Augenblicke voll und ganz. Indem ſie uns empor¬
führt zu dem Grade der Vergegenwärtigung des Seins,
[174] welcher ſich in ihr verwirklicht, befreit ſie unſeren Geiſt
unwillkürlich von allen den bedingenden Rückſichten, unter
denen ſich uns das Bild des Lebens darſtellt, und erzeugt
in uns eine Klarheit des Wirklichkeitsbewußtſeins, in der
nichts anderes mehr lebt als die an keine Zeit gebundene,
keinem Zuſammenhange des Geſchehens unterworfene Ge¬
wißheit des Seins.


Es mag dies denen nur als eine geringe aus der
Kunſt gewonnene Ausbeute erſcheinen, die das menſchliche
Leben unter dem Geſichtspunkt einer Geſammtarbeit be¬
trachten, in der ſich das einzelne individuelle Streben nur
als Glied in der großen Verkettung einer nach dem Geſetz
von Urſache und Wirkung ſich vollziehenden Entwickelung
darſtelle. Dieſe Anſicht wird jeder Erſcheinung nur einen
relativen Werth beilegen und ſich damit tröſten, daß der
unabſehbare Fortſchritt ſchließlich doch zu abſoluten Werthen
führen werde. Soviel auch dieſe Anſchauungsweiſe zum
Verſtändniß menſchlicher Vorgänge beitragen mag, ſo ver¬
mag ſie allein doch nicht, den Erſcheinungen des Lebens
gerecht zu werden; es tritt ihr eine andere Auffaſſung
gegenüber, die ſich zwar der Thatſache nicht verſchließt,
daß in dem Leben des menſchlichen Geſchlechts jener große
Zuſammenhang zu erkennen ſei, in dem jedes Einzelne nur
als Mitwirkendes auftrete, der es aber doch nicht entgeht,
daß es ganz unmöglich iſt, die Erſcheinungen ihrem ganzen
Umfange und ihrem vollen Weſen nach in jenen Zuſammen¬
hang einzuordnen. Kunſtwerke mögen mit manchen ihrer
Seiten und Eigenſchaften mitten in jener ununterbrochenen
[175] Bewegung ſtehen, in der man ein unabläſſiges Fortſchreiten
der Menſchen nach intellectueller, ſittlicher, äſthetiſcher Voll¬
kommenheit vorausſetzen zu dürfen meint; nicht das iſt
aber ihr ganzes und auch nicht ihr eigenſtes Verdienſt;
vielmehr enthalten ſie etwas, was ſich nicht in jenen Zu¬
ſammenhang unterbringen, nicht aus ihm erklären läßt.
Wenn der Künſtler, alles Streben nach jenen gemeinſamen
Zielen menſchlicher Entwickelung hinter ſich laſſend, in
ſeiner bildneriſchen Thätigkeit zu jener Verlebendigung des
Bewußtſeins gelangt, die ſich im Kunſtwerk offenbart, ſo
iſt das etwas, was keinerlei Bedeutung für den Gang
jener Entwickelung beſitzt und worin doch der menſchliche
Geiſt ſeine höchſten Augenblicke erlebt. Richten wir unſer
Augenmerk auf dieſen Inhalt menſchlicher Thätigkeit, ſo
wird uns das Leben im allgemeinen nicht mehr nur unter
dem Bilde einer Geſammtarbeit erſcheinen, im Verhältniß
zu der die Leiſtung des Einzelnen nur als ein kleiner
Beitrag erſcheint; vielmehr erkennen wir, wie ſich der
menſchliche Geiſt da, wo er ſeine höchſte Leiſtungsfähigkeit
erreicht, aus den Niederungen des Strebens nach gemein¬
ſamen Zielen erhebt und etwas hervorbringt, was nicht
mehr bloß einen relativen Werth aus ſeiner Bedeutung
für ein Allgemeines abzuleiten hat, ſondern deſſen abſoluter
Werth darin beſteht, daß in ihm das menſchliche Bewußt¬
ſein zu den höchſten Graden ſeiner Entwickelungsfähigkeit
gelangt iſt. Müſſen wir ſo darauf verzichten, aus dem
Inhalt der Kunſt, wie er ſich uns dargeſtellt hat, einen
Werth für jene gemeinſamen Angelegenheiten der Menſch¬
[176] heit herausdeuten zu können, ſo begrüßen wir dafür in
ihr eine von den Thätigkeiten, in denen ſich der menſch¬
liche Geiſt von dem Banne der Mitarbeit befreit und ſich
ſeiner immer gleichen reinen Aufgabe bewußt wird.

Appendix A

Leipzig. Druck von Grimme \& Trömel.

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Appendix C

Leipzig. Druck von Grimme \& Trömel.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpb0.0