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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht.

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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht
oder
Vor fünfzig Jahren.


Vaterländiſcher Roman


Dritter Band.


Berlin.:
Verlag von Carl Barthol.

1852.
[][[1]]

Erſtes Kapitel.
Gewitterſchläge am ſchwülen Himmel.

Im Hauſe der Geheimräthin war es ſeit jenem
glänzenden Abend ſtill hergegangen; aber es war
eine Stille, die von ſich ſprechen machte. Sie litt
an Congeſtionen des Blutes, Beklemmungen des
Herzens, und klagte über Viſionen. Im Kreiſe der
ihr liebſten Menſchen ſah ſie oft andre Geſichter. Sie
redete eine Perſon an, und meinte eine andre; aber
ſie betheuerte, ſie wiſſe ſich darüber genau Rechen¬
ſchaft, wenn der Zuſtand vorüber. Es wären nur
nervöſe Affectionen, über die die Aerzte keine Aus¬
kunft geben könnten. Sie ſprach bitter von den
Doctoren, und wollte nicht mehr von ihnen behan¬
delt ſein.


Die Gevatterinnen urtheilten verſchieden über
ihren Zuſtand. Sollte auch die Lupinus ſich der
Schwärmerei, dem Myſticismus, in die Arme ge¬
worfen haben, ſie, auf deren Tiſch man immer Moſes
Mendelsſohn aufgeſchlagen fand! Zwar etwas clair¬
voyant war ſie ſchon in letzter Zeit geweſen, aber
III. 1[2] nicht mehr, als die Mehrzahl der zarter gebildeten
Frauen es dazumal waren, oder ſein zu müſſen
glaubten. Es waren bei ihr nur momentane Wal¬
lungen, und ſie deutete dieſelben nur für das Aufblitzen
unbewußter Naturkräfte. Sie wollte keine Geiſter¬
ſeherin ſein und erklärte ſich gegen den Aberglauben.


Aber die Zungen waren fertig über ſie zu rich¬
ten, und es giebt in einer großen Stadt böſe Zungen.
Wir übergehen das, was die Boshaften ſich zu¬
ziſchelten: es ſei nur Aerger, weil ihre Geſellſchaften
nicht die Anziehungskraft geübt, die ſie gewünſcht,
und die Excluſiven ſich zur Ruſſiſchen Fürſtin zögen,
weil Prinz Louis durchaus nicht kommen wollen,
und es möchte wohl einen beſondern Grund gehabt
haben, warum ſie den Prinzen ſo gern an ſich ge¬
zogen. Worauf andere hinzuſetzten, der Prinz müſſe
auch wohl einen beſondern Grund haben, warum er
nicht gekommen. Wir heben lieber heraus, was die
mild Geſinnten zur Erklärung vorbrachten: ſie ſei zu
fein, und weil ihr alles Rohe widerſtrebe, wirke es
afficirend, gewiſſermaßen revolutionirend in dem zar¬
ten Körper. Andre: ſie, die für einen kranken, wun¬
derlichen Mann zu ſorgen, habe ſich nun noch die Laſt
für die Erziehung einer Pflegetochter aufgeladen.
Was koſte das nicht! Und ob es denn auch recht
anerkannt würde! Demoiſelle Adelheid ſei wohl gut
und ſchön, aber ſie habe ein eigenſinniges Köpfchen.
Habe ſie es nicht durchgeſetzt gegen Aller Willen, daß
ſie mit ihrem Lehrer halb verlobt ſei, einem jungen
[3] Menſchen, der nichts hat und alle vernünftigen Aus¬
ſichten von ſich ſtößt. Nicht ihre Eltern hätten es
gewünſcht, die jetzt auch höher hinaus dächten, noch
der Vater des jungen Mannes, der gradezu erklärt,
er werde nie ſolche Schwiegertochter in ſein Haus
laſſen. Um zu einer ſolchen Partie ihr zu verhelfen, hätte
Madame Lupinus das ſchöne Mädchen auch nicht in ihres
genommen, und nun ſei doch ihre Lage gewiß nicht
beneidenswerth: eine Pflegetochter hüten, an die keine
Blutsbande ſie feſſelten, zu einer Verbindung das
Auge zudrücken, die ſie ungern ſähe, und noch dazu
die Verantwortung gegen die Eltern des Mädchens
und gegen den alten van Aſten, von dem ſie noch
obenein einen unhöflichen Brief in die Taſche ſtecken
müſſen. Könne das nicht ein edelgeſinntes Gemüth
herunterbringen! — Wenn noch andre fragten, wa¬
rum ſetzt ſie ſich dem aus, warum duldet ſie's? ſo
antworteten noch andre Gutgeſinnte: alles drehe und
wende ſich jetzt um das kleine Köpfchen, und wenn
die Mamſell gleich ihre Herrſchaft geſchickt zu verbergen
wiſſe, ſo wäre ſie es doch, die das Haus regiere.
Das komme davon, wenn man ſich in Dinge miſche,
die uns nichts angehen, ſagten wieder die halb Bos¬
haften, und mehr thun wolle, als wozu uns die
Pflicht für unſre nächſten Angehörigen treibt. Sie
hätte doch Anverwandte, und ihr Mann auch, die es
beſſer brauchen könnten, als das fremde Mädchen,
und ein Recht dazu hätten. Und wenn ſie gar ein Wort
fallen laſſen, wie es hieß, daß ſie daran gedacht die
1*[4] Mamſell zu adoptiren, ſo wäre es kein Wunder, wenn
die ihr den Kopf nun heiß mache.


In gewiſſen Kreiſen ſprach man von einem
intimen Verhältniß der Geheimräthin mit dem Le¬
gationsrath. Der Legationsrath behielt bei den An¬
ſpielungen ſeine vollkommene Ruhe, und rühmte die
Bildung und den eminenten Scharfblick der geiſt¬
reichen Frau. Ein Liebender bewundert nicht mit der
klaren Ruhe des Verſtandes eine Geliebte. Die
Gevatterinnen wußten, daß er nur ſeltene Beſuche
machte, immer in der allgemeinen Beſuchsſtunde, ſie
wußten von der Dienerſchaft, daß er ſich ſtets in den
Formen des feinſten Anſtandes bewege. Ihre Ge¬
ſpräche flogen in höhere Regionen der Wiſſenſchaft,
oder betrafen Geſchäfte. Die Lupinus beſorgte ſelbſt
ihre Geldangelegenheiten, und Wandel hatte ihr gute
Hypotheken nachgewieſen und die Pfandbriefe, die er
für die ſicherſten hielt, anempfohlen. Er war ein
Freund des Geheimrathes, den dieſer oft ſtundenlang
in ſeinem Studirzimmer feſthielt. Wandel war ein
lebendiges Lexicon für alle Ausgaben des Horaz.
Und wie theilnehmend hatte er ſich bei dem letzten
Unglücksfall, der das Haus betraf, benommen, wenn
man den Todesfall des alten Bedienten ſo nennen
kann. Wie lange war man darauf vorbereitet ge¬
weſen, obgleich Geheimrath Mucius geſagt, er könne
ſich noch zehn Jahr quälen. „Wie recht hatte Ihre
Frau Gemahlin, hatte er zum Geheimrath geſagt,
die immer beſorgte, daß er an einem acuten Anfall
[5] Ihnen unter den Händen ſterben werde. Und mit
welchem Takt ſie die Charlatanerie der Aerzte erkannt!“
Als man Johann an einem Morgen todt neben ſeinem
Bette liegend gefunden, und alle Hausgenoſſen in
die Kammer ſtürzten, war die Lupinus nur bis über
die Schwelle gekommen. Hier ging ihr der Athem
aus, die Kräfte verſagten, und ſie war in ihre Knie
geſunken. Ihr Gatte und der Legationsrath mußten
die Ohnmächtige aufheben. Wie liebevoll hatte er
ihr da Worte des Troſtes zugeſprochen. Die Diener¬
ſchaft zerfloß in Thränen: „Warum erſchrecken, meine
Freundin, über Etwas, das nur eine Wohlthat des
Himmels iſt, für den armen Dulder, für uns Alle,
die wir ſeine Leiden ſehend mit ihm litten! Preiſen
wir vielmehr die Hand, die dies gethan. Sein Wille
geſchehe! der es gut, ſchnell und kurz gemacht!“
Geſtärkt durch ſeinen Zuſpruch, hatte ſie nachher an
der Leiche geſtanden, ihre Züge beobachtend. „So iſt
es recht, hatte er geſagt; dem, was wir als gut
erkannt, feſt ins Auge geſehen! Wem helfen Thränen,
wem weichliches Gefühl des Mitleids! Indem wir
das eine Nothwendige erkannt, ſtärken wir unſere
Nerven, um der Nothwendigkeit auch weiter ins Auge
zu blicken, und wir mögen endlich den Sinn des
alten Kirchenliedes erfaſſen: Tod, wo ſind nun deine
Schrecken!“ Sie war geſtärkt worden. Sie hatte
ſelbſt am Beerdigungstage die Leiche mit friſchen
Blumen geſchmückt. Die Dienerſchaft, die Nach¬
barſchaft waren davon gerührt, und das Lob der
[6] Geheimräthin war unter den gemeinen Leuten weit
verbreitet.


Im Hauſe der Geheimräthin war es ſtill her¬
gegangen, ſagten wir, heut aber in der Mittagsſtunde
eines friſchen Oktobertages drängten ſich die Beſuche.
Die Regimenter von Lariſch und Winning, von der
Weichſel zurückberufen, marſchirten durch Berlin nach
ihrem neuen Beſtimmungsorte, der fränkiſchen Gränze.
Die Straßen waren belebt, die Fenſter beſetzt. Der
Durchzug erfolgte unregelmäßig, batallionsweiſe; die
Truppen, in Eilmärſchen aus Polen herangezogen,
hatten in ihren letzten Nachtquartieren keine Zeit
gehabt, ſich zu einem Paradezug zu ajuſtiren.
Während Monturen, Geſichter, Haltung, von
den Strapatzen der angeſtrengten Märſche ſpra¬
chen, wirbelten aber die Trommeln und die Trom¬
peten ſchmetterten Luſtigkeit in die klare Herbſtluft;
der Jubel der Zuſchauer überbot ſie noch. Aus den
Fenſtern ſchwenkte man Tücher, auf der Straße drückte
man den Soldaten die Hand; man reichte ihnen zu
trinken, und während die Schnapsflaſchen und Sem¬
melkörbe umhergingen, ſchickten patriotiſche Hausfrauen
große Bunzlauer Kaffeekannen und Taſſen hinunter.
In der Küche der Geheimräthin brodelte ein Waſch¬
keſſel, Adelheid hatte für den Soldatenkaffee und für
die Chocolate der Gäſte zu ſorgen.


Dieſe ſtanden in zerſtreuten Gruppen an den
Fenſtern. Es gehörten nicht Alle zu einander.


Walter van Aſten las aus einer fremden Zei¬
[7] tung einigen um ihn Stehenden einen Artikel vor:
„„Dem Vernehmen nach hat der Herr Staatsminiſter
von Hardenberg dem franzöſiſchen Geſandten, Herrn
Laforeſt, die Antwort ertheilt: Sein König wiſſe nicht,
worüber er ſich mehr zu verwundern habe, über die
Gewaltthat des franzöſiſchen Heeres, oder über die
unbegreiflichen Entſchuldigungsgründe dafür. Wie
habe man Preußens aufopfernde Redlichkeit vergolten,
das Opfer gebracht, die ſeinen theuerſten Pflichten
nachtheilig werden könnten. So könne man denn
doch keine andern Abſichten des Kaiſers Napoleon
annehmen, als daß derſelbe Urſachen gehabt, die
zwiſchen ihm und der Krone Preußen beſtehenden
Verpflichtungen für werthlos zu halten, und achte
darum Seine Majeſtät der König ſich ſelbſt aller
früheren Obliegenheiten entbunden. Friede wolle
Preußen auch noch jetzt, halte ſich aber nun ver¬
pflichtet, ſeinem Heere die Stellung zu geben, welche
zur Vertheidigung des Staates unerläßlich ſei.““


„Ja es werden drei Heere gebildet, wie ich aus
ſicherer Quelle weiß,“ bemerkte Jemand. Ein andrer
ſetzte hinzu:


„Und es bleibt nicht bei der Rückberufung unſrer
Weichſelarmee, ſondern wir haben auch den Ruſſen
den Durchzug durch Schleſien geöffnet.“ Der Kriegs¬
rath Alltag flüſterte ſeinem Nachbar ins Ohr: „Die
Donſchen Koſacken ſind ſchon in Breslau angemeldet.“


„Ach Gott, ach Gott! ſo haben wir alſo Krieg!“
rief die Kriegsräthin.


[8]

Auch die Fürſtin Gargazin hatte das Haus mit
ihrem Beſuch gewürdigt. Sie lächelte, zum Rath
Fuchſius ſich abwendend: „Mir will die Vorſtellung
einer Komödie noch nicht aus dem Sinn.“


„In einer Stadt, wo das Theater eine ſo große
Rolle ſpielt, entgegnete der Rath, iſt dieſer Gedanke
allerdings ſehr natürlich.“


„Es wäre doch grauſam, fuhr die Fürſtin fort,
wenn man mit den armen Menſchen wieder nur


Kämmerchen vermiethen ſpielte. Vom Rhein nach
der Weichſel, und von der Weichſel nach dem Main!“


„Das könnte das beſte Heer demoraliſiren,“ äu¬
ßerten mehre.


Der Geheimräthin ſchien die entſchiedene Sprache
des Preußiſchen Miniſters doch jetzt den Zweifel auf¬
zuheben.


„Ich ſprach Diplomaten, die aus der Note nur
den Sinn herausleſen, bemerkte die Fürſtin, daß
Preußen unter allen Umſtänden Friede will.“


„Aus welcher Zeitung iſt der Artikel, Herr van
Aſten?“ fragte die Lupinus.


„Aus dem Hamburger unparteiiſchen Correspon¬
denten, der heut Morgen ankam.“


„Warum müſſen wir das nun aus einem frem¬
den Blatt erfahren! Ueber etwas, das uns ſo nahe
angeht, leſen wir kein Wort in unſern Zeitungen.“


„Dann iſt's auch vielleicht nicht wahr,“ lächelte
die Fürſtin mit einem beſondern Blicke auf den
Regierungsrath. Es mochten mehre den Blick ver¬
[9] ſtehen. Fuchſius beſorgte für die Hamburger Zeitung
Regierungsartikel.


„Die erlauchte Fürſtin, entgegnete Fuchſius, weiß,
daß gewiſſe Regierungen ſchüchternen Jungfrauen
gleichen, die in ihrer Gegenwart keine Schmeicheleien
vertragen, hinter ihrem Rücken hören ſie ſich recht
gern gelobt.“


„Ich kenne auch Regierungen, ſetzte die Gar¬
gazin darauf, die erſchrecken, wenn man ihre Ge¬
danken ausſpricht, beſonders, wenn ſie gar keine
haben.“


Der Kriegsrath Alltag wandte ſich mit einem
innern Schaudern ab. Er hatte nicht geglaubt, daß
vornehme Perſonen ſo reſpectlos von der Regierung
ſprechen könnten.


Die Gruppe löſte ſich auf, als die Janitſcharen¬
muſik das Anrücken eines neuen Bataillons verkün¬
dete. Adelheid ſtreifte mit dem Präſentirbrett an
Walter vorbei: „Ein bischen zuvorkommender gegen
meinen Vater! Auch mit der Mutter könnten Sie
mehr ſprechen.“ Der Jubel am Fenſter und auf der
Straße erſparte ihm die Antwort.


Am lauteſten ward es in dem kleinen Neben¬
zimmer. Eine weibliche durchdringende Stimme ließ
ſich vernehmen:


„Nein, ſag ich doch, ſo vieles Volk, und alle
zum Todtſchießen! 's iſt grauſam! — Sieh mal
Fritz, wie ſie blitzen, die Spontons! Da der mit dem
rothen Federbuſch! — Malwine, willſt Du Dich nicht
[10] ſo 'rüber legen! — Was man mit den Kindern Noth
hat. — Und da das blutjunge Geſicht — ach Du
liebe Seele, der hinkt, hat ſich die Füße durchge¬
laufen — Was 'ne unſterbliche Menſchenſeele nicht
ertragen muß! — Und ſtaubig, alle wie gepudert! —
Liebechen! rief ſie hinunter, — ſehn Sie, Dem da
ſchenken Sie 'ne Taſſe Kaffee! Er friert ſo, und ein
ſo hübſcher Menſch. — Sieht ſie's wieder nicht, die
Liſette! — Nu iſt er fort! — Na 's wird wohl noch
andre mitleidige Seelen geben. — Was ſo ein Tor¬
niſter drücken muß! — Fritz, wenn Du auch ſolche
grauſame Flinte auf dem Buckel tragen müßteſt —
Nu paß Acht, nu kommt der Tambour. Hurrje,
hurrje! hörſt Du, wie er ſchlägt!“


„Will auch Trommler werden,“ ſagte der Junge.


„Nein, Fritzchen, da wirſt Du todt geſchoſſen.
Das iſt nur für ordinaire Leute. Guter Leute
Kinder, die ſind zu was anderm da.“


„Will Trommler werden! wiederholte der Trotz¬
kopf. Papa hat's geſagt.“


„Ja, wenn Du ein Taugenichts wirſt, dann
wirſt Du unter die Soldaten geſteckt.“


Das Fritzchen ſchrie und ſtampfte auf die Erde.
„Du Olle, Du ſollſt mir's nicht verbieten, Du haſt
mir nichts zu verbieten.“


„Range Du! Unterſteh Dich und kneif noch
mal. Wenn wir nicht bei hübſchen Leuten wären,
kriegteſt Du eins hinter die Ohren, daß Du Dich
wundern ſollſt.“

[11]

Die Geheimräthin war unbemerkt Zeugin des
Auftritts geweſen. Sie brachte den Kindern Brätzeln
und fragte: ob ſie ſchon Chocolate bekommen?


„Ach du mein Gott, die geſtrenge Frau ſind
auch gar zu gütig gegen die Kleinen! rief Charlotte,
die ſich umgedreht. Daß wir Ihnen auch ſo viel
Incommodität verurſachen! Aber Kinder ſind nun
mal Kinder, und wer weiß ob ſie ſo was mal wie¬
derſehen, ſagte meine Couſine, die Frau Hoflakir.
Ja ſie gehn alle in den Tod.“


„Giebt es einen ſchönern als fürs Vaterland!“
ſprach die Geheimräthin mit Erhebung.


„Das ſagte mein Wachtmeiſter auch, Frau Ge¬
heimräthin, aber, nehmen Sie mirs nicht übel, Tod
iſt doch Tod. Und eingebuddelt werden ſie, ohne
Sang und Klang, ohne Leichenhemd und ohne Sarg,
wo ſie ſtehn und liegen. Und der Fritz will abſolut
Soldat werden. Iſt ein rabbiater Junge. Und mein
guter Herr Geheimrath, der die Güte ſelbſt iſt, Sie
glauben gar nicht, wie er ihm ſchon auf der Naſe
ſpielt. Kinder ſind Gottes Segen, o gewiß, aber ſie
können auch Gottes Fluch werden, wenn ſie aus¬
ſchlagen.“


Die Geheimräthin ſtreichelte die Köpfe der Klei¬
nen: „Geht liebe Kinder in die andre Stube und
laßt Euch Chocolate geben.“


Warum erſchrak Charlotte heute nicht vor der
Butterbrätzel, welche die Frau mit den ſpitzen Fingern
den Kleinen gab; warum kamen ihr dieſe Finger
[12] heut nicht ſpitz vor, als ſie über die blonden Haare
der Kleinen ſtrich. Charlotte war auch jetzt in innerer
Bewegung, aber es war eine andre, als ſie plötzlich
in Thränen ausbrechend den Saum des Kleides der
Geheimräthin erfaßte und es an die Lippen drückte:


„Ach, Frau Geheimräthin, das müſſen Sie mir
ſchon erlauben. Es war doch zu ſchön. So einen
ordinairen Dienſtboten unter die Erde zu bringen,
und ſeine eigne Herrſchaft! Das wird Ihnen Gott
lohnen. Er war mein Couſin, aber das iſt es nicht.
Er war meiner Mutter Onkel Schweſterkind, und
angeheirathet nur, aber, und wenn er mir gar nichts
geweſen wäre, das vergeß ich Ihnen nicht. Darüber
iſt auch nur eine Stimme in der Stadt. Und meine
Couſine, die Frau Hoflakir, ſagt, ſolch einen Sarg
und von ſo ſchönem fetten Eichenholz, hat ſie nicht
geſehen, als ihr Mann ſeine Alte begrub, und das
war ihr Glück, und ihr Mann verſteht's; wenn der
den Beutel aufthut, dann hält er nicht den Finger
drauf. Und hat jetzt eigen Geſpann; alle Sonntag
fahren ſie nach Charlottenburg, und haben mich auch
ſchon mitgenommen, und ich habe auch mal die lieben
Kleinen mitgenommen, daß ſie doch auch ein Ver¬
gnügen haben, und ich kaufte ihnen für einen Dreier
Semmel, daß ſie die Karpfen füttern konnten. Na
das war eine Herrlichkeit. Aber der Silberbeſchlag!
Nein Frau Geheimräthin, das iſt es gar nicht. Was
iſt Silber? Unter der Erde roſtet's, wir roſten Alle.
Aber die Blumen, nein Du mein Himmel Jeſus
[13] nein. Wie ein Purpurri 'rüber geſchüttet, wie ich da
in den Hausflur trat, es knickte mir in die Knie, und
ich wollt's nicht glauben, und die Menſchheit! Vom
Gensdarmenmarkt, vom Fürſtenhauſe her, die Polizei
konnte gar nicht durch, daß die Leichenträger nur
Platz hatten. Und da war doch nur eine Empfin¬
dung!“


„Er war ein treuer Diener, und wir ſind alle
Menſchen.“


„Aber doch mit Unterſchied, Frau Geheimräthin.
Und den Kranz von weißen Roſen, den Sie auf
ſeine Todtenlocke gedrückt und ſein bleiches Antlitz!
Er war mein Couſin, ſchluchzte ich, und meine Cou¬
ſine, die Frau Hoflakir, ſprach: Ja das Leben iſt doch
ſchön! Nein, Frau Geheimräthin, und wenn Sie mich
eine ſchlechte Perſon nennen, Sie haben ihn ſterben
laſſen, daß mancher ſagen möchte, ſo möchte ich auch
ſterben.“


Wenn eine Emotion ſich in dem halb geſchloſſenen
Auge der Geheimräthin kund geben wollte, ſo bemerkte
es Niemand, Charlotte am wenigſten, denn helle
Trompetenſtöße lockten jetzt aufs Neue und unwider¬
ſtehlich an die Fenſter. Jeder ſtürzte dahin, wo er
Platz fand; Charlotte hatte einen, der ihr wohl nicht
zukam, eingenommen, Arm an Arm mit der Baronin
Eitelbach. Keine ſah die andre, keine gab auf die
andre Acht.


„Ach da reitet er!“ rief Charlotte, den Blick auf
eine Schwadron der Gensdarmen gerichtet, die um
[14] die Ecke ſchwenkte. Sie gab den durchmarſchirenden
Dragonern nur das Geleit.


„Ach da reitet er!“ tobte es in einer Bruſt
neben ihr, ohne daß die Lippen ſich bewegten.


„Nein, wie viel ſchöner ſehn doch unſre aus, als
die Dragoner!“


Wunderbare Sympathie! Daſſelbe dachte die
Baronin.


„Es geht doch nichts über die Garde! — Das
iſt alles adrett. Und wie ſitzen ſie auf dem Pferde!
Hurrje! Das fühlt auch jeder.“


Charlotte hatte recht; einer ſpricht es, der andre
fühlt es. Die Tücher fingen wieder an zu wehen.


„Wem gilt dieſer Jubel!“ fragte am andern
Fenſter die Fürſtin.


„Den neuen Uniformen, Erlaucht,“ flüſterte Je¬
mand hinter ihr.


„Die bleiben in Berlin?“


„Es wäre ſchade ſie dem Herbſtwetter auszu¬
ſetzen.“


„Aber die armen marauden Truppen, die ins
Feld müſſen, werden es übel nehmen.“


„Erlaucht! Das Futter fürs Pulver darf nichts
übel nehmen.“


Am Zwiſchenfenſter ſchluchzte plötzlich die Kriegs¬
räthin: „Und alle dieſe jungen ſchönen Leute werden
auch todt geſchoſſen!“


„Nur ihre Pflicht, ſagte der Kriegsrath. Wenn
der König befiehlt, muß jeder ſterben.“


[15]

Das Schluchzen ward anſteckend. Charlotte,
am nächſten Fenſter fing an ſo laut zu weinen, als
ſie eben gejubelt: „Sie müſſen alle ſterben, ich ſeh
ihn nicht wieder.“


Als die Baronin ihr Battiſttuch an die Augen
drückte, hatte ſich indeß die Scene wieder geändert.
Charlotte ſtieß die Nachbarin in ihrer heftigen Be¬
wegung faſt zurück: „Er ſtreicht den Bart; das gilt
mir; ja, ja ich ſeh's“, und damit er's wieder ſähe, bog
ſie ſich hinaus. Malwine und Fritz wären dafür
geſtoßen worden. Es war nicht nöthig, daß ſie das
Umſchlagetuch ſich abgeriſſen, der Wachtmeiſter ritt
ſchon unter dem Fenſter, und warf ihr Kußhände zu.
Und wie keck ſchmunzeld er wieder den Bart ſtrich!


Die Baronin ſah auch etwas, aber — ſie ward
blaß. Er ſtrich nicht den Bart, nein; aber als er
hinaufgeblickt, ihre Augen ihn getroffen, wandte er
plötzlich den Kopf. Er ſetzte die Sporen ein und
war zur Generalität geflogen. Sie ſah ihn im Ge¬
dränge nicht wieder.


„Iſt Ihnen unpäßlich, meine Gnädige?“ fragte
der Legationsrath, der, jetzt erſt eingetreten, die Dame
nach einem Stuhl führte.


„Es wird bald vorüber gehen.“


„So iſt es recht. Weinen Sie ſich aus. Ver¬
haltener Kummer iſt für Seele und Leib gleich ge¬
fährlich.“


Die Eitelbach hatte Zeit ſich auszuweinen; bis
auf die Kinder, welche die Einladung an den Choco¬
[16] latentiſch nicht umſonſt vernommen, war kein lebendes
Auge im Zimmer. Alle auf das Schauſpiel draußen
gerichtet. Prinz Louis ſelbſt ritt vorüber, der Jubel
hatte ſeinen Gipfelpunkt erreicht, und brach doch immer
wieder von neuem aus. Tücher! Hüte! Mützen
flogen. Es wollte nicht enden.


„Der Krieg iſt ja noch nicht erklärt, flüſterte
der Legationsrath; die Garde bleibt jedenfalls noch
in Berlin, wenn Ihr empfindſames Herz vielleicht
für einen dieſer tapfern Krieger Beſorgniß hegt.“


Die Baronin ſprach es nur für ſich: „Er ſieht
mich ja nicht an.“ Sie bereute ſchon den Selbſt¬
verrath, als ihr Blick auf das verwunderte Geſicht
des Legationsrathes fiel. Er rückte einen Stuhl
heran.


„Theuerſte Frau, hub er nach einer Pauſe an,
erlauben Sie ein Wort des Vertrauens. Sie waren
ſo gütig nur jüngſthin Ihres zu ſchenken, und es
ruht in dieſer Bruſt, wie in einem Grabe.“


„Ja, Sie ſind ſolide.“


„Verrath in ſo zarten Angelegenheiten halte ich,
wenigſtens von der Lippe eines Mannes, für ein
unverzeihliches Verbrechen.“


„Sie wiſſen ja alles.“


„Ich hielt es für längſt vorüber; das Spiel des
Windes auf einem Aehrenfelde.“


„O es wird auch wohl ſo ſein. Sie werden
recht haben, ganz recht, brach es aus der bewegten
Bruſt. Aber er verfolgte mich ja letzthin ſo auffällig.“

[17]

„Beſitzen Sie einen Brief von ihm? — ſprach er
Sie an?“


„Nein — aber — es war ja ganz klar — die
Fürſtin Gargazin —“


„Können Sie der auch ganz trauen? —“ Der
Legationsrath ſah ſich vorſichtig um.


„Sie iſt eine ſeelensgute Frau. Schon vor acht
Tagen verſicherte ſie mich, ich möchte mich vorbereiten,
er könne ſich gar nicht mehr halten. Sie hat ihn
neulich bei ſich in ihr Cabinet zurückgedrückt, er wäre
im Stande geweſen, in ihrer Gegenwart mir zu
Füßen zu ſtürzen.“


Der Legationsrath ſah ernſt vor ſich hin und
ſchüttelte den Kopf: „Das glaube ich doch nicht —“


„Als wir von der Waldow kamen, öffnete er mir
den Wagenſchlag. Ei, wie komm ich zu der Ehre,
ſagte ich?“


„Und er —“


„Er hatte ſchon, ganz träumeriſch, einen Fuß
auf dem Tritt, als mein Mann dazu kam und ihn
einlud mitzufahren —“


„Worüber er zur Beſinnung kam, das iſt freilich
ſehr begreiflich.“


„Sahen Sie, wie er jetzt fortſah, als er mich
erblickte?“


„Da ſcheute wohl nur ſein Pferd —“


„Nein, es war eine innere Stimme —“


Er faßte ſanft ihre Hand: „Hören Sie auf dieſe
inneren Stimmen, meine Freundin? — Ach das iſt
III. 2[18] ein gefährliches Lauſchen. Wie oft hören wir die
Wahrheit, wie oft täuſchen wir uns!“


„Sagen Sie, ich hätte mich getäuſcht!“


„Einem Cavalier muß der Ruf ſeiner Geliebten
über Alles gehn. Was der Raſende im verſchloſſnen
Cabinet der Fürſtin vielleicht gewagt hätte, wird er
doch nicht vor tauſend Augen ſich unterſtehen. Nein,
da beruhigen Sie ſich — und wenn er es gethan,
ſo hätte ich ein Wort mit ihm reden wollen. Wenn
es weiter nichts iſt — da, wie geſagt, ſein Sie
ganz ruhig.“


„Was meinen Sie mit dem weiter nichts?“


„O grübeln Sie nicht nach. Eine Bitte! Thun
Sie ſich Gewalt an. Verbergen Sie dieſe Gefühle.
Sie ſind zu ſchön und rein, die Welt iſt ihrer nicht
werth. Möglich, das gebe ich zu, möglich, daß auch
er Ihrer nicht werth iſt. Aber erſcheinen Sie dafür
deſto größer, und wenn er treu iſt, bewahren Sie
ihm das Vertrauen, iſt er es nicht, ſich die Größe
über Ihren Schmerz erhaben zu ſein. Meine Freundin,
ſagte er aufſtehend und drückte ihre Hand an ſeine
Bruſt, das Vergängliche gehört der Zeit, was aber
in die Aeonen hinausragt, das iſt das heilige Be¬
wußtſein einer ſchönen Seele. Sie werden mich ver¬
ſtehen.“


Ganz verſtand ſie ihn nicht, aber es war gut,
daß ſie ihn nicht fragte, denn die Geſellſchaft war
wieder im Zimmer. Nur der Major ſchien am Eck¬
fenſter noch draußen:

[19]

Das Friedrichs Heer!“


„Grade in dieſen Regimentern iſt nichts geän¬
dert,“ ſagte Fuchſius.


„Jeder hat allerdings noch ſeine drei gepuderten
Locken.“


„Sie marſchirten doch vortrefflich —“


„Geknickte Glieder eines Rieſenkörpers, die nicht
mehr in einander klingen. Mein Freund, zuweilen
will's doch auch mich beſchleichen, als wäre es am
geſcheiteſten zur Friedenspartei überzugehen.“


Der Legationsrath wurde mit Fragen, was er
Neues bringe? überſtürmt.


„Duroc iſt abgereiſt.“


„Wirklich! Endlich! rief es. Mit einer Kriegs¬
erklärung?“


„Man hat ihm nur zu verſtehen gegeben, daß
man unter den obwaltenden Umſtänden das Freund¬
ſchaftsbündniß als gelöſt vielleicht zu betrachten ge¬
nöthigt ſein dürfte.“


„Und hat Laforeſt Päſſe erhalten?“


„So unhöflich iſt man nicht geweſen.“


Die Fürſtin lächelte: „Er denkt übermorgen eine
Matinée zu geben.“


„Dies unterbleibt doch vielleicht, ſagte Wandel,
wenn Erlaucht mir erlaubt das Gerücht mitzutheilen,
was ich von der Börſe bringe. Seine Majeſtät Kaiſer
Alexander wird hier erwartet. Der Oeſterreichiſche
Erzherzog Anton iſt ſchon auf dem Wege nach Berlin.“


Die Nachricht überraſchte. Auch der Regierungs¬
2*[20] rath war frappirt: „Dieſer Menſch weiß Alles.“ —
„Wenn wir nicht wollen, ſagte Eiſenhauch, die Lippen
zuſammen beißend, ſo zwingen uns Andre zum Ernſt.“
Man beobachtete die Fürſtin, um auf ihrem Geſicht
die Beſtätigung zu leſen. Man konnte nichts leſen;
ſie war mit Adelheid beſchäftigt, der ſie heut ihre
ganze Aufmerkſamkeit zu widmen ſchien.


„Herr von Wandel, Ihre Neuigkeiten ſind noch
nicht zu Ende?“


Er war gefällig, und gab eine ganze Liſte von
Avancements und Verfügungen zum Beſten: „Auch
hat Herr von Bovillard mit ſeinem Sohne ſich aus¬
geſöhnt. Er will ihn wieder für den Staatsdienſt
gewinnen. Einſtweilen hat der junge Bovillard
Courierſtiefel anziehen müſſen. Er iſt fortgeſchickt.“


„Da wird doch wenigſtens ein Platz in den
Gefängniſſen frei,“ ſagte die Geheimräthin mit Bitter¬
keit, und ihr Blick fiel auf Adelheid. Ob zufällig,
oder ob ſie eine Veränderung auf ihrem Geſicht
bemerkte?


„Meine holde Adelheid erſchrak, ſagte die Fürſtin,
bei Ihrer Nachricht von der Ankunft unſres Kaiſers,
Herr von Wandel. Sie ſtellt ſich unter einem Kaiſer
aller Reuſſen einen orientaliſchen Despoten vor, einen
Großmogul, vor dem Alles in Ehrfurcht auf den
Boden ſtürzen muß. Ihr Lehrer wird ihr ſagen,
ein wie liebenswürdiger Cavalier Kaiſer Alexander
iſt. Auch ein Welteroberer, aber — durch Huld und
Güte gewinnt er die Herzen. — Doch mich dünkt,
[21] unſer Neuigkeitsbote hat ſeinen Sack noch nicht aus¬
geſchüttet. Was ſagt die Falte auf Ihrer Stirn?“


Der Legationsrath zuckte die Achſeln: „Ich weiß
nicht, ob ich die frohe Stimmung hier ſtören darf.“


Eine Anforderung zum in ihn dringen.


„Die Oeſterreicher ſind total geſchlagen. Der
Courier kam ſchon heut Morgen an. Man hielt
die Nachricht zurück, um den Jubel beim Durchmarſch
der Truppen nicht zu dämpfen.“


„Bei Günzburg brach er über die Donau, das
war ſchon ehegeſtern bekannt, ſagte Jemand. Damit
iſt das Schickſal der Hauptmacht nicht entſchieden.“


„Ich bedaure Ihnen ſagen zu müſſen, daß ſie
es iſt. Bei Werdingen ward der Succurs aus
Vorarlberg vernichtet, darauf Mack, gänzlich um¬
zingelt, in Ulm eingeſchloſſen, und nach den blutigſten
Gefechten zur Capitulation gezwungen. Sechzigtau¬
ſend Mann fielen oder ſtreckten die Gewehre, hun¬
dert Kanonen und ein unermeßliches Kriegsmaterial
ſind verloren. Es exiſtirt keine öſterreichiſche Armee an
der Donau mehr, denn auch das Corps, was der
Erzherzog zurückführen wollte, iſt unterweges ſo gut
wie aufgerieben.“


Eine ſtumme Pauſe folgte. Die Janitſcharen¬
muſik eines neu vorüberziehenden Bataillons bildete
dazu einen üblen Contraſt.


„Adieu Deutſchland!“ ſeufzte Fuchſius.


„Victoria! rief der Major. Das geht ans Leder.
Die Haut läßt man ſich nicht ruhig abziehen.“

[22]

Die Fürſtin warf einen ihrer himmliſchen Blicke
an den Plafond:


„So mußte es kommen, und es muß noch mehr
kommen. Meine Herren, ich halte es für eine frohe
Botſchaft. Ja, der Mann iſt groß, denn ein Größerer
hat ihn gewürdigt ſeine Geiſſel zu ſein. Es ſoll noch
mehr Blut fließen, um die Welt zu reinigen, und
wir haben kein Maaß für die Ströme, die da rau¬
ſchen werden über die Länder.“


„Ach du mein Gott, das iſt ja ſchrecklich!“ rief
die Kriegsräthin erblaſſend. Adelheid war zuge¬
ſprungen, und umfaßte die Mutter, die auf einen
Stuhl geſunken war.


„Warum ſchrecklich, ſagte die Fürſtin mit Hold¬
ſeligkeit, wenn es Sein Wille iſt! Er, der die Haare
auf unſerm Kopfe gezählt hat, weiß auch, wen er
opfern, wen er retten will. Und über ſeinen Er¬
wählten ſchweben ſeine Engel. Einen weißen leuch¬
tenden Fittich ſeh ich gebreitet über dieſes Kindes
Haupt!“ ſprach ſie, und legte wie ſegnend ihren Arm
auf Adelheids Locken.


Die von ſolcher Huld gerührte Kriegsräthin
wollte aufſtehen. Die Fürſtin drückte ſie ſanft zurück:
„Glückliche Mutter, auf deren Kindes Stirn die
Worte des Dichters ſtehen:


Und was kein Verſtand der Verſtändigen ſieht,

Das ſchaut in Einfalt ein kindlich Gemüth!

Die Königin hat ſich neulich ſehr angelegentlich nach
Ihrer Tochter erkundigt. Sie wünſcht ſie einmal zu
[23] ſehen;“ flüſterte die Fürſtin im Fortgehen mit hold¬
ſeliger Herablaſſung zur Mutter. Sie glaubte in die
Erde verſinken zu müſſen.


Die Harmonie der Geſellſchaft, wenn man die
Stille ſo nennen kann, die vom Eindruck der Nach¬
richt hier noch herrſchte, ward durch häßliche Kinder¬
ſtimmen in der Nebenſtube unterbrochen, und als
Charlotte plötzlich in ein heulendes Geſchrei ausbrach,
ſtürzte die Geſellſchaft dahin.


Der Rath und der Major, die nicht für Fa¬
milienangelegenheiten geſtimmt waren, ergriffen die
Gelegenheit ſich zu entfernen. Auf der Treppe ſagte
Fuchſius: „Der Frömmigkeit der Gargazin wäre es
genehm, wenn ganz Deutſchland in Brand und Flam¬
men aufginge.“


„Damit Rußland es erlöſen kann! ſetzte der
Major hinzu. Es fragt ſich da eben nur, wo die
Scylla und wo die Charybdis iſt.“


Auch die Fürſtin Gargazin mußte heut nicht
für Familienſcenen geſtimmt ſein. „Was war denn
das mit dem Rittmeiſter? Springt er ab?“ ſagte
ſie zum Legationsrath, der ihr im Vorzimmer den
Caſchemirſhawl umreichte.


„Wir haben Contreordre, Erlaucht. Weil er zu
haſtig war, hat man ihm eine Spaniſche Fliege
applicirt.“


„Ihre Burleske fängt an mich zu langweilen.“


„Die ſchöne Frau verarbeitet ſich deſto mehr in
Liebesweh. Wir überlaſſen ſie ganz Euer Erlaucht.“

[24]

„Das für mich, was aber haben Sie?“


„Leibeigene beherrſchen, ihr Schickſal machen,
kneten, wie der Bildhauer den Thon, halte ich für
ein Vergnügen.“


„Das ſind andre Geſchöpfe.“


„Um ſo größer, Gnädigſte, auch über ſolche als
Puppen zu ſchalten, die ſich mit Schiller für frei
halten, und wären ſie in Ketten geboren, oder mit
Herrn Fichte ihr göttliches Ich adoriren. Ich kenne
keine angenehmere Unterhaltung, und harmlos, und
welche Vorbereitung, Erlaucht, für das unſtreitig
größere, auch dieſe Geſchöpfe zu bekehren!“

[[25]]

Zweites Kapitel.
Das Intermezzo.

Das Familienereigniß, welches den Aufſtand
verurſacht, war auch für die näher Angehörigen kein
eben intereſſantes. Die Lupinusſchen Kinder, bei der
Aufmerkſamkeit, welche Prinz Louis und die Reiter
verurſachten, ſich ſelbſt überlaſſen, waren über die
Reſte des Chocolatentiſches hergefallen. Knabe und
Mädchen hatten um die Wette „geſtopft“, um die
Zeit zu nutzen, wo man ſie nicht beobachtete, und Fritz
es angemeſſen gefunden, auf die Chocolate und das
viele Zuckergebäck einige Gläſer ſüßen Weines zu
gießen. Mit der Schilderung der Wirkungen, die
ſich hier zeigten, verſchonen wir unſere Leſer. Char¬
lottens Aufſchrei galt dem traurigen Anblick, den
Malwine verurſachte, die leichenblaß mit blauen Lippen,
gläſernen Augen und krampfhaften Bewegungen auf
dem Stuhle lag. Fritz ſaß, als die andern ein¬
traten, noch wie ein Kobold auf dem Tiſch, und
machte den Verſuch, mit grinſendem Geſichte aus der
Flaſche, die er in der einen Hand hielt, das Glas
[26] in der andern zu füllen, was ihm aber nicht gelingen
wollte. Der ſüße Wein floß vom Tiſch auf die Dielen.
Was noch drauf erfolgte, überlaſſen wir der Phan¬
taſie des Leſers; aber der Knabe ſchlug, als er ſchon
Kopf über vom Tiſche gefallen war, noch mit der
Flaſche, die er krampfhaft in der Hand hielt, um ſich.
Zwar verwundete er keinen der andern, die herbei¬
geſprungen waren, aber, indem die Flaſche in Scherben
zerſchlug, ſich ſelbſt an den Schläfen.


Charlotte ſchrie wie beſeſſen: „Sie ſtirbt!“ Den
Kindern ſei's angethan! andere: „Ein Doctor!
Schnell einen Doctor!“ Nur die Geheimräthin hatte
ihre Beſinnung behalten: „Was wird es ſein! Die
Kinder haben ſich den Magen überladen. Irgend
ein Hausmittel, Legationsrath.“


Wandel zuckte die Achſeln, nachdem er dem Mäd¬
chen an Puls und Schläfe gefaßt: „Das wag ich
doch nicht.“


„Sie verſchreiben doch Andern Medicamente.“


„Nur dem, der mir Vertrauen ſchenken will.
Der Vater der Kleinen iſt nicht hier. Ihr Zuſtand
ſcheint aber ſo bedenklich, daß ich rathe, ihn auf der
Stelle rufen zu laſſen —“


Die Geheimräthin ſah ihn zweifelhaft an.


„Es iſt mein Ernſt, ſetzte Wandel hinzu. Bei
dem Mädchen kann ein raſcher Aderlaß nöthig werden.
Der Zuſtand des Knaben ſcheint, da die Natur ſich
ſelbſt half, nicht gefährlich, ſeine Wunde muß indeß
ein Chirurg unterſuchen. Mit Blut befaß ich mich nicht.“

[27]

Die kurze Zwiſchenzeit, wo Walter und Adelheid
zugleich hinausgeſtürzt waren, um nach einem Arzt
zu ſchicken, und die noch Anweſenden Miene machten
ſich zu entfernen, füllte Charlotte mit ihren Lamen¬
tationen, bis die Geheimräthin, welche Wandels Ab¬
weiſung etwas pikirt zu haben ſchien, ihr ins Wort
fiel: ſie meinte, hier ſei doch nichts zu beklagen als
ein Ungeſchick, ein trauriger Zufall oder die vernach¬
läſſigte Erziehung der Kinder.


Das Glück wollte, daß ein Regimentsarzt ſchon
vor dem Hauſe angetroffen ward, und auch der Vater
der Kinder vom abgeſchickten Boten bereits auf dem
Herwege gefunden und benachrichtigt war. Der
Chirurg erklärte allerdings beider Zuſtand für gefähr¬
licher, als die Geheimräthin gedacht; Malwine, deren
Natur ſich nicht ſelbſt geholfen, bedürfe eines Blut¬
laſſes; aber er mußte die heran geholte Lanzette noch
ſinken laſſen, weil die Wunde an der Schläfe des
Knaben ſo nahe an eine Arterie ſtreifte, daß wenn
er nicht raſch hier mit einem Verbande zu Hülfe
komme, eine Verblutung zu beſorgen ſtand. Wir
wiſſen wirklich nicht, ob es, nachdem dieſer Verband
erfolgt, noch nöthig ward auch das Blut des kleinen
Mädchens zu fordern, denn die Kinder wurden in
eine Nebenſtube geſchafft, und der Legationsrath, der
hülfreiche Hand dabei geleiſtet, erklärte, als er zurück
kam, er hoffe, daß andre Mittel ausreichen würden.


Aber um die Peinlichkeit der Situation für die
noch Gebliebnen zu vermehren, erhob ſich in der
[28] Nebenſtube ein neuer Wortwechſel, von deſſen Heftig¬
keit man überzeugt ſein wird, wenn wir ſagen, daß
Charlotte die Angeklagte war, der Geheimrath der
Kläger, und die Geheimräthin, die angerufene Rich¬
terin, ſich der Angeklagten nicht anzunehmen ſchien.
Charlotte war ihr eigner Advocat, und der Geheim¬
rath von der Vogtei konnte, wie wir wiſſen, wenn
die Gelegenheit es mit ſich brachte, auch außer ſich
gerathen. Er folgte der entgegengeſetzten Maxime
ſeines Bruders; er hielt Emotionen nicht für das
Gift, ſondern für eines der Präſervativmittel des
Lebens. Seine Freunde meinten, er alterire ſich am
liebſten vor dem Mittagstiſch, weil dies dem Orga¬
nismus des Magens zuträglich ſei; jedoch immer
nur mit Maaß.


Doch als er jetzt aus dem Krankenzimmer heraus¬
ſtürzte und Charlotte hinter ihm, ſchien er eher
der Verfolgte. Sie wenigſtens ſchrie in die Ver¬
ſammlung hinein, ohne im geringſten von den reſpec¬
tablen Perſonen Notiz zu nehmen:


„Meine Couſine, die Frau Hoflakir, hat mir
wohl geſagt: Warum giebſt Du Dich noch mit ihnen
ab, warum opferſt Du Dich ihnen! Du kennſt ſie ja,
und Undank iſt der Welt Lohn. Ja, ich kenne ſie,
und Undank bleibt der Welt Lohn!“


„Charlotte! rief das blaſſe Geſicht der Geheim¬
räthin, die an der Schwelle ſtehen blieb. Bedenke
Sie, wo Sie iſt.“


„Ja, Frau Geheimräthin, das bedenke ich auch,
[29] und Sie ſind eine nobel geſinnte Dame, und wer
Domeſtiken behandelt, wie er es ſelbſt verdient, der
iſt rechtſchaffen vor Gott und vor den Menſchen.
Denn wir Domeſtiken ſind auch Menſchen vor Gott
und unſrer Herrſchaft, und ich brauchte es ja nicht
zu ſein, ſagt mein Couſin, der Herr Hoflakir. Ja
wenn der nur hier wäre! Der würde ein Wort ſprechen,
aber ich bin eine vereinzelte unglückliche ledige Perſon.
Und darum ſind der Herr Geheimrath ſo ausver¬
ſchämt. Hab ich denn die Chocolate geſoffen?“


„Charlotte!“ wiederholte die Geheimräthin.


Der Vogtei-Lupinus war auf dem Gipfelpunkt
ſeines Zornes: „Sie ſoll mir nicht wieder vor's
Geſicht.“


„Das will ich auch gar nicht. I bilden Sie ſich
das nur nicht ein. Und wenn Sie's mir auch nicht
ſagten. Gott bewahre, daß ich noch einen Fuß in
das Haus thäte, wo man eine rechtſchaffne Perſon
ſo maltraitirt. Meine Couſine, die Frau Hoflakir,
hat auch geſagt, ſie könnt's nicht begreifen, warum
ich's ſo lange ausgehalten. Ja, was thut der Menſch
nicht, wenn die Kinder uns ans Herz gewachſen ſind.
Und nun ſoll ich die Schuld ſein! O du gerechte
Güte! Hab ich ſie zur Chocolate invitirt? Hab ich
die Brätzeln gebacken? Wer weiß denn, was der
Kuchenbäcker rein gethan.“


„Charlotte, ich bitte Sie, ſei Sie ſtille, ſprach die
Geheimräthin, die Hand am Herzen. Sie weiß nicht
was Sie redet. Sie ließ die Kinder außer Acht.“

[30]

„Wird mir das auch angerechnet!“


„Sie pflichtvergeſſenes — ſchrie Lupinus —
derweil Sie am Fenſter das Maul aufſperrte.“


„Weil ich ein Gemüth habe, weil ich für meinen
Gott und meinen König und unſer herrliches Mili¬
tair zum Fenſter raus ſah, weil ich als eine gute
Patriotin mein Herz ausſchüttete! Nein, das geht mir
doch über alles. Nu, kommen Sie mir wieder! Sag
ich doch — nu Kinder hin, nu alles hin, nu adjö
ſag ich Ihnen. Sie ſollen mich nicht wieder ſehn,
Herr Geheimrath, nu mags gehn, wie es will, und
wo ich hin will das weiß ich. In Ihr Haus zurück?
— I Gott bewahre! — Sie können meine Sachen
raus ſchmeißen laſſen, auf den Schinkenplatz. Was
Sie wollen, wie Sie wollen, immer zu! O das
genirt mich noch nicht ſo viel, wie Ihre ganze Wirth¬
ſchaft nicht, mein Herr Geheimrath! Was iſt für
mich die Welt noch, wenn man ſo mit meinem Herzen
umgeht! Aber nehmen Sie ſich in Acht. Mein Couſin,
der Herr Hoflakir, weiß was ich habe. Der zählt
jedes Stück nach. — Vor's hall'ſche Thor will ich,
aufs Grab der ſeligen Frau Geheimräthin, da will
ich ſprechen, da will ich mich ausweinen, da will ich
klagen, da will ich mir ein Leids anthun — denn
ich kann nicht leben ohne die Kinder!“


Die Geheimräthin meinte, ihr Schwager ſolle
ſeine Affecte moderiren. Er mußte es auch meinen; er
hatte ſich auf einen Stuhl geſetzt und trocknete den
Schweiß von der Stirn. „Eine erſchreckliche Perſon!
[31] ſeufzte die Kriegsräthin. Da iſt man ja keinen Au¬
genblick ſeines Lebens ſicher! Und wenn ſie ſich
nun wirklich ein Leids anthut!“ Andre waren minder
gläubig. Ein Spötter äußerte, vor dem halleſchen
Thor ſei zwar der Kirchhof, aber auch die Reiter
wären durch dies Thor marſchirt. Wenigſtens mußte
Charlotte nicht augenblicklich ihren Entſchluß auszu¬
führen geſonnen ſein, denn plötzlich trat ſie zur Thür
wieder herein. Noch roth vor Echauffement drängte
ſie durch die Anweſenden nach dem Fenſter und riß
das Tuch an ſich, das die erſchrockene Baronin mit
ihrem Rücken zufällig feſt hielt:


„Das iſt mein Umſchlagetuch!“


So ging ſie wieder zur Thür hinaus, unbe¬
kümmert um die Anſprache des Geheimraths, der
ſich wirklich moderirt haben mußte, denn beim Vor¬
übergehn ſagte er zu ihr: „Hat Sie ſich noch nicht
beſonnen?“


Sie mußte ſich allerdings, wenn auch nicht darauf,
doch auf etwas anderes beſonnen haben, denn, die
Thür noch in der Hand, fing ſie heftig an zu ſchluchzen,
ihr Peroriren war aber diesmal an die Wirthin ge¬
richtet:


„Und das muß ich Ihnen ſagen, Frau Geheim¬
räthin, und wenn Sie mich für eine ſchlechte Perſon
halten. Die Kinder laſſen Sie nicht zu ihm, nein
um Gottes Willen, das thun Sie nicht. Bei ihm
ſind ſie in Grund und Boden verloren, der Herr
Geheimrath verſtehen nichts von der Erziehung. Das
[32] Mädchen verdirbt und der Junge auch, ſonſt hätten
ſie auch nicht die Chocolate aufgetrunken, aber ſie
lernen's von ihrem Vater, Gott ſtraf mich, der kann
auch nichts ſtehen laſſen, er muß in alles die Naſe
ſtecken und koſten. Und die ſelige Frau Geheimräthin
werden vom Himmel runter ſehn und's Ihnen lohnen.
Und handeln Sie an dieſen Kleinen, wie ſie —
o Gott! — o Gott! — an meinem Couſin gehandelt
haben.“


Unter noch heftigerm Schluchzen flog die Thür
hinter ihr zu. Daß die kranken Kinder einſtweilen bei der
Geheimräthin blieben, war eine Sache, die ſich von
ſelbſt verſtand, denn der Arzt hatte ſchon erklärt,
ſie dürften auf keinen Fall fortgeſchafft werden.
Warum aber der Geheimrath nach einer Weile auf¬
ſprang, und den Hut ergriff, um der Köchin nach¬
zueilen, blieb zweifelhafter. Er ſagte, es geſchehe,
um nachzuſehen, damit die deſperate Perſon nicht
ſein Haus von oben zu unten kehre. Es gab indeß
in der Geſellſchaft, die meinten, es wäre nur um
ſein Mittageſſen. In ſeinem Affect hatte er nicht
bedacht, daß ſein Schickſal noch in Charlottens Hän¬
den ruhte.


Der Aufbruch war jetzt ſo allgemein, als die
Verſtimmung. Walter empfing für ſeinen ehrerbieti¬
gen einen ſehr kalten Gruß vom Kriegsrath Alltag;
die Kriegsräthin mußte in einer eignen Laune ſein, denn
ſie zupfte noch ihren Mann, warum er ſich ſo lange auf¬
halte? Auch der Geheimräthin bewies ſie lange nicht mehr
[33] die Ehrerbietung und gerührte Dankbarkeit, mit der
ſie ſonſt von dieſer gütigen und unvergleichlichen Frau
Abſchied nahm. Kaum aber war ſie die Treppe hin¬
unter, als es die Bruſt nicht mehr hielt: „Mann,
haſt Du gehört, Ihre Majeſtät die Königin hat ſich
nach unſrer Adelheid erkundigt!“ — Der Mann ſagte:
„Hm!“ und meinte, man müſſe auch nicht alles glau¬
ben, was vornehme Leute ſagen. „Aber, erwiederte
ſie, eine Fürſtin kann doch nicht lügen!“ Und als
er meinte, es könne wohl etwas daran ſein, es werde
aber nicht alles ſo ſein, ſprach ſie: „Daß aber die
Königin auch nur von unſrer Tochter weiß, daß ſie
überhaupt auf der Welt iſt, das hatteſt Du und ich
uns doch nicht im Traume einfallen laſſen!“ Sie
hatte immer geglaubt, die Könige wüßten von den
einzelnen Menſchen gar nichts, und die Individuen
verſchwömmen ihnen, wie man von einem hohen Berge
eine Landſchaft ſieht.


Walter und Adelheid nahmen im Vorzimmer
Abſchied. Es mußte auch hier etwas von Verſtim¬
mung ſein. Sie meinte, er hätte ſich doch überwinden
können und zuvorkommender gegen ihre Eltern ſein.
Er ſagte, es habe ihm etwas die Bruſt zugeſchnürt.
Sie entgegnete, auch auf ihrer Bruſt laſte es wie
ein Alp — „und ich überwinde es doch,“ ſagte ſie,
und zwang ihr Geſicht zu einem heiter lächelnden
Ausdruck.


„Wenn ich Dich erſt aus dieſem Hauſe fort¬
wüßte,“ ſagte er nach einer Pauſe.


III. 3[34]

„Wünſche es nicht, entgegnete ſie. — Und wo¬
hin? So lieb ich meine Eltern habe, ſo fühle ich
doch, dahin paſſe ich nicht mehr.“


„Du verlangſt nicht nach Glanz und Reich¬
thum —“


„Aber — unterbrach ſie ihn und ſchwieg plötz¬
lich. Daran biſt Du auch ſchuld; warum haſt Du
aus mir eine andre gemacht, als ich war —“


Er ging mit einem ſtumm wehmüthigen Hände¬
druck.


An der Thür wandte er ſich noch einmal um.
Sie war ihm nachgeeilt und hielt den Kopf an ſeine
Bruſt: „Gieb den Muth nicht auf, Walter. Ich lerne
mich täglich mehr überwinden und es wird alles beſſer
werden — für uns beide.“


Am zärtlichſten hatte die Baronin Eitelbach von
der Geheimräthin Abſchied genommen. Sie war ihr
unter Thränen um den Hals gefallen, und als die
Lupinus nach der Urſach fragte, ſagte die Baronin,
ſie wiſſe ſelbſt nicht, warum ſie eigentlich ſo gerührt
ſei, ob über das Unglück der armen Kinder, oder das
ihrer Freundin, der wieder ſo etwas begegnen müſſe,
oder die Unverſchämtheit der Charlotte! oder über
das Unglück, das überall in der Welt iſt, und wer
ein gutes Herz hätte, der thäte am beſten, wenn er
es ganz verſteckte. Darauf hatte die Lupinus mit
einem ſchweren Seufzer geantwortet: „Daß auch eine
ſo junge Frau ſchon ſolche Blicke in dieſes Meer der
Schmerzen und Täuſchungen wirft, das Welt heißt.“

[35]

Beim Hinausbegleiten hatte der Legationsrath
die Hand der Baronin ſanft ergriffen: „Meine Freun¬
din, mir iſt eingefallen, haben Sie ſich auch nichts
vorzuwerfen? Ich meine keine Schuld, aber vielleicht
doch irgend einen geringſchätzigen Blick, eine Bewe¬
gung — Sie wiſſen, Männer ſind eitel, und Ver¬
liebte leicht gereizt. — Sinnen Sie darüber nach!“
hatte er theilnehmend hinzugeſetzt, als ſie ihn erſchreckt
anblickte, und klopfte ſanft auf ihre Hand.


3*
[[36]]

Drittes Kapitel.
Es war etwas nicht, wie es ſein ſollte.

Die Geheimräthin ruhte in einem Fauteuil, als
Wandel ins Zimmer zurückkehrte. Sie ſah ſehr ab¬
geſpannt aus; über das blaſſe Geſicht flog aber doch
eine nervöſe Röthe, und ihr dunkles Auge rollte ſelt¬
ſame Blicke umher. In dem weißen Kleide, das ſich
in weiten weichen Falten um ſie breitete, und der
Haube von derſelben Farbe hatte ihre Erſcheinung
etwas Geiſterartiges.


„Was war denn der Eitelbach?“ fragte ſie.


„Verliebt.“


„Poſſen! — Ich hörte davon. Spielen Sie mit?“


„Man darf kein Spielverderber ſein.“


Sie zuckte verächtlich die Achſeln, es konnte aber
auch für einen innern Schauder gelten: „Wie ſteht
es nun alſo? — Ach mein Gott, es iſt ſo viel, was
mir durch den Kopf geht.“


„Das Capital, was Sie morgen ausgezahlt
erhalten, würde ich meiner Freundin rathen baar in
Händen zu behalten.“

[37]

Die Geheimräthin ſah ihn mit etwas mehr als
Verwunderung an. Sie hatte von dieſer Sache nie
mit ihm geſprochen. Erſt heute hatte ſie das Notifi¬
catorium erhalten, daß das Geld für ſie fällig im
Depoſitorium des Kammergerichts liege.


„Beruhigen Sie ſich, ich bin kein Geiſterſeher.
Dies erfuhr ich auf ganz natürlichem Wege, als ich
heut früh auf der Regiſtratur des Pupillencollegiums
einige Akten durchſah. Nicht aber die Ihrigen,“ ſetzte
er raſch hinzu. „Hinter meinem Rücken ſprach der
Decernent mit dem Regiſtrator von den fünftauſend
Thalern. Auf dem Herwege wollte ich mich auf der
Börſe erkundigen, in welchen Papieren Sie das Geld
in dieſer Woche am beſten anlegen könnten, als ich
die beunruhigende Nachricht erhielt. Hätte ich nicht
Geſellſchaft gefunden, wäre es natürlich das erſte
geweſen, was ich Ihnen mittheilte.“


„So wäre es auch wohl am beſten, wenn ich
jetzt meine Pfandbriefe verkaufte?“


Er ſchien ſich zu beſinnen: „Nein. Sie ſind ſchon
auf die Nachricht im Cours geſunken.“


„Aber ſie können noch mehr fallen.“


„Möglich; ſie werden aber auch wieder ſteigen.“


„Wenn Krieg kommt!“


„Wer ſagt das?“


„Sie — alle Welt! — Die Augen ſagen es.“


„Ich bin überzeugt, daß es nur eine Demon¬
ſtration iſt. Die bewaffnete Neutralität iſt zur Be¬
ſchwichtigung der aufgeregten Stimmung. Man muß
[38] der Kriegspartei ein Spielzeug hinwerfen. — Schau¬
dern Sie nicht; es iſt die höchſte Weisheit der Staats¬
kunſt, wenn die Gemüther in Wallung ſind, immer
das richtige Spielzeug bei der Hand zu haben. Wenn
die Leidenſchaften, Stimmungen, Phantaſien, die Zügel
zerreißen, wenn die Völker durch keine Gaukelei mehr
zu beſchwichtigen ſind, ach meine Freundin, wehe uns
allen dann!“


„Es giebt doch höhere Ideen auch in der Staats¬
weisheit.“


„So lange wir Menſchen bleiben, bleiben es
Phantaſieen.“


„Friedrich —“


„Fand ein Volk, das mit den plumpſten Er¬
findungen zu feſſeln war. Erinnern Sie ſich des
Schloſſenregens, als er die Gärten in Potsdam ver¬
wüſten ließ! Nämlich in den Zeitungen, welche die
Nachricht nicht widerrufen durften. Das Volk glaubte
es; er kannte ſein Volk. Wenn er es nachher klüger
erzog, ſo mag er ſich im Elyſium mit ſeinen Nach¬
kommen deshalb abfinden. Die Komödien und Spiel¬
zeuge werden allerdings jetzt koſtbarer, die Völker
müſſen ſie theuer bezahlen, aber einige Phraſen von
Tugend und Patriotismus darum, und das gute
Volk vergißt und vergiebt alles — heut wie vordem.“


„Ich bin eine ſchwache Frau, ich mag nichts
davon verſtehen, aber mein Gott, das einfachſte Ge¬
fühl, die Vernunft ſelbſt —“


„Sie rufen Mächte an, die dort nicht mitſprechen,
[39] lächelte der Legationsrath. Sie könnten auch ſagen,
Oeſtreich iſt wohl geſchlagen, aber noch nicht vernichtet,
die unermeßlichen Colonnen, die Rußland aus ſeinen
Steppen wälzt, haben ſich noch nicht einmal auf dem
Felde gezeigt, ſagen, daß Preußen den Tieger ſchon
gereizt hat, indem es ſeine Krallen ihm zeigte, daß
es nun an ihm wäre, über Hals und Kopf zu eilen,
ſich auf ihn zu ſtürzen, während er ſelbſt blutend mit
ſeiner Beute noch am Boden ringt. Das iſt aber
alles ſchon geſagt. Es hörts nur keiner, der es hören
ſollte.“


„Aber Sie calculiren ſelbſt mit Vernunftſchlüſſen;
die Leidenſchaften, ein Impuls, der Zufall, könnte
Ihre Rechnung plötzlich zu Schanden machen.“


„Die Coterie tritt nicht ſchroff genug dem ſtür¬
miſchen Willen entgegen, ſie giebt klug nach. Das
bürgt mir dafür, daß die Saiten nicht ſpringen werden.
Und was helfen alle Funken, wenn ſie auf eine Maſſe
fallen, die keinen Zündſtoff in ſich hat. Man wird
die Sache hinziehen, vor dem Publicum rüſten, die
Kriegshelden fluchen und ſchwören laſſen, heimlich
aber verhandeln, laviren, proponiren, unmögliche und
mögliche Friedensvorſchläge machen — “

„Bis!“


„Ja — bis es ſich entſchieden hat. In Mähren
muß es ſich entſcheiden; dann —“


„Nun und dann?“


„Nie zu weit hinausdenken!“


„Sie hätten neulich die Radziwill hören ſollen.“

[40]

„Zu Pallaſtverſchwörungen iſt bei uns kein
Terrain.“


„Und was ſagen Sie zu Alexanders Herkommen?“


„Der letzte Verzweiflungsaufſchrei der Kriegs¬
partei. Es wird viele erhebende, rührende Auftritte
geben. Aber läßt ſich eine ſcheue Natur ändern?
Die Coterie wird für einen Panzer ſorgen von
Gummi elaſticum, damit die Thränen, oder für einen
von Asbeſt, damit die Funken abgleiten. Der Ein¬
druck wird ſtark ſein, aber vorübergehen. Und reiſt
Alexander fort, vor einem Entſchluß — nein vor
einer That, ſo werden unſre Freunde dafür ſorgen,
daß alles wieder aplanirt wird.“


„Alles! ſagte die Lupinus mit einem ſtechenden
Blick, der im Zimmer umher irrte. Mir ſind dieſe
Menſchen zuwider, die ihre ganze Kraft nur darauf
vergeuden, damit es nicht anders wird als es iſt.“


Wir ſollten ſie loben. Träge Wellen ſind oft
das beſte Fahrwaſſer.“


„Was müſſen wir thun?“


„Nicht die Pfandbriefe verkaufen, baares Geld
für den Nothfall im Secretair, und in den Kriegs¬
enthuſiasmus einſtimmen.“


Sie war aufgeſtanden, und hatte mit einem
nervöſen Aufgähnen den Stuhl fortgeſetzt: „Warum
müſſen wir das! Warum können wir nicht auch darin
frei ſein! Warum dürfen wir nicht die Mode beherr¬
ſchen? Wir verachten ſie doch.“


„Weil es uns nichts einbrächte, als einen Hei¬
[41] ligenſchein, den unglücklicherweiſe wir ſelbſt nur ſehen.
Weil es die Menſchen von uns entfernt, und wir
ſie brauchen — als Inſtrumente. Darum ſpielen
wir mit ihrer Thorheit.“


„Oder ſie mit unſrer.“


„Man muß ſich das Spiel nur nicht zu ernſt
denken.“


„Diesmal dünkte ich ihnen gut genug, ihr Opern¬
gucker zu ſein, ſprach, ſie mit Bitterkeit. Welche
brillante Geſellſchaft, bloß zu Chocolate und Zucker¬
gebäck! Wenn noch mehr Regimenter vorüber mar¬
ſchiren, kommt mein Haus wohl wieder in die Mode.
Selbſt die Gargazin hatte die Gnade aus meinem
Fenſter die Truppen zu ſehen.“


„Die Kinder werden Sie auch recht geniren?“


„Warum? Unſre Wohnung iſt groß.“


„Ich beſorge nur, daß Ihr Schwager, wenn die
Charlotte von ihm zieht, ſich nicht beeilen wird, ſie
Ihnen wieder abzunehmen.“


„So bleiben ſie. Ich liebe Kinder — ſie bringen
Friſche ins Haus.“


„Er ſah ſie zweifelhaft an: „Ich beſorge nur,
daß dies wieder zu Mißdeutungen Anlaß giebt. Seit
man zu wiſſen glaubt, daß Sie Mamſell Alltag nicht
eigentlich als Ihre Tochter betrachten —“


„Als meine Erbin wollten Sie ſagen.“


„Ich meine nur, daß man auf den Gedanken
kommen könnte, Sie wollten die Kinder Ihres Schwa¬
gers adoptiren.“

[42]

„Wer ſagt, daß er ein falſcher iſt! Die Leute
wiſſen es nicht, Sie wiſſen es nicht, und ich weiß
es auch noch nicht. Ich weiß nur, daß Mamſell
Adelheid nicht meine Erbin wird.“


„Die Alltag ſcheint Ihre Liebe ganz verſcherzt
zu haben.“


„Soll ich mein Haus zu etwas ähnlichem her¬
geben, wie das, aus welchem ich ſie hernahm!“


Wandel warf einen forſchenden Blick: „Sie
approbiren nicht die Inclination mit dem Herrn van
Aſten?“


„Ich! Was geht es mich an! Meinethalben
könnte ſie ſich hängen an wen ſie will, das lar¬
moyante Weſen kann ich nur nicht ausſtehen. Aus
kleinen Verhältniſſen — nein aus einer ſolchen Kata¬
ſtrophe, die doch die Seele eines jungen Mädchens
erſchüttern muß, trat ſie in mein Haus. Was hatte
ich gehofft, daß ſich aus ihr entwickeln würde, bei
ihren Gaben, ihrem Muthe, ihrer lebhaften Phan¬
taſie. Sie hätte die Königin der Stadt werden können.“


Der Legationsrath zuckte die Achſeln: „Sie meinen
den Gedanken, den der Kammerherr einmal hinwarf.“


„Aber ich würde doch Bedenken getragen haben.
Die Geſinnungen der Eltern —“


„Wären zu überwinden geweſen. Loyale Leute,
in unerſchütterlicher Devotion gegen das ganze kö¬
nigliche Haus! — Nur daß die Rolle der Herzens¬
königin eines apanagirten Prinzen niemals eine glän¬
zende werden kann.“

[43]

„Was kümmert mich der Prinz! rief ſie. Sie
ſelbſt ſollte ſich ihr Loos werfen. Wie es war, und
wenn ein faux pas, eine raſende Leidenſchaft, eine
Entführung — ja, wenn der junge tolle Menſch, der
Bovillard, ſie gewaltſam geraubt hätte, es wäre doch
eine Abwechſelung, es hätte zu ſprechen gegeben —
Sie lächeln, weil Sie die Affecte begraben haben, aber
doch ſage ich Ihnen, der Durſt unſrer Seele nach
dem, was uns über den Alltag erhebt, iſt — das
Beſſere in uns.“


Der Legationsrath mußte zerſtreut ſein, die Sache
intereſſirte ihn nicht mehr.


„Der alte van Aſten rückt auch mit keinem
Groſchen 'raus, wenn ſein Sohn Adelheid heirathet.“


In dem Blick, den die Lupinus ihm zuwarf,
hätte ein Pſycholog eine verächtliche Beimiſchung leſen
können.


„Sie liebt ihn gar nicht.“


„Sie ſprechen in Räthſeln.“


„Sie erwähnten einmal einer chemiſchen Agenz,
die allen Stoffen ihre natürlichen Säfte ausſaugt,
daß ſie Farbe und Geſchmack verlieren.“


„Will der Pedant ſie zu einer Gelehrten erziehen?“


„Es iſt übel, wenn ein Lehrer eine zu gute Schüle¬
rin hat. Ich konnte nichts mehr wirken, wo ich von einem
Vorgänger Geiſt und Gemüth ſchon ganz eingenommen
fand. Mit ihrer lebhaften Auffaſſungsgabe betrachtet ſie
ihn als ihren Wohlthäter, um nicht zu ſagen als
ihren Schöpfer; ſich wenigſtens als ſeine Schöpfung.
[44] Es iſt keine unedle Natur, meine ich, fuhr die Lu¬
pinus nach einer Pauſe fort, die den Drang in ſich
fühlt, ſich ſelbſt einem verehrten Mann zum Opfer
zu bringen. Aber das Mädchen iſt krank. Das iſt
die Krankheit der Reſignation. Ja wir, in unſeren
Jahren, — aber wenn junge Mädchen die Blüthe
ihrer Empfindung auf dem Altar der Pflicht — Was
lachen Sie ſo häßlich?“


„Daß Sie ein armes junges Mädchen anklagen
um die Krankheit, welche Theologen, Dichter, Philo¬
ſophen, um die Wette unſerm Geſchlecht einimpften!
Um das Siechthum unſrer Staaten, unſrer Bildung,
daß wir aus uns hinaus uns denken, ſchwärmen,
ſpeculiren, ſtatt zu rechnen. Dies Infuſorium des
Univerſums will mit dem bischen Kraft, Talent, das
die Natur in ſeine Wiege als Pathengeſchenk legte,
den Sternenlauf reguliren, ſtatt für ſich ſelbſt zu
ſorgen, da wo ſein höchſtes Ziel nur ſein kann, ſich
erträglich und behaglich über dem Strom zu erhalten,
der es täglich zu verſchlingen droht. Welcher Hoch¬
muth in dieſer Tugend, eine Welt um ſich beglücken
zu wollen, um ſtolz dann ſich ſelbſt die Märtyrkrone
aufzudrücken!“


„Das kann doch nicht ganz Ihre Anſicht ſein?“


„Erſt ſich ſelbſt — Ich verſtehe natürlich darunter,
daß zwei, die ſich verſtehen, ſich als eine Einheit
betrachten. Wer ſie errungen hat, die Höhe, die er
erreichen kann, ja dann, meine Freundin, dann mag
er ein Gott ſein, der goldnen Regen um ſich ſprenkelt,
[45] der Troſt der Unterdrückten, der Rächer der Gekränk¬
ten, dann mag er ſchwärmen, ſchwelgen —“ Er be¬
deckte das Geſicht mit beiden Händen. „O laſſen Sie
uns von meinen Planen ein ander Mal reden. Heute
könnten ſich meine Phantaſieen verirren, — Gott
weiß in welche — laſſen Sie mich heute ſchweigen —“


Er hatte ihre Hand ergriffen, eigentlich ihren
Arm, und, den Blick gen Himmel, die Hand an ſeine
Lippen gedrückt. — So ſtarrte er eine Weile, die
Augen aufwärts, in einem Zuſtande völliger Ab¬
ſorbirung.


Er ſchien, als ſie ſanft den Arm zurückzog, ſich
nur mit Anſtrengung wieder zu finden:


„Alſo, was Sie ſagten! — Sie liebt ihn nicht?“


„Sie liebt einen Andern.“


„Tant mieux!“


Die Geheimräthin ſah ihn forſchend an: „Auch
wenn der andre ein guter Bekannter von Ihnen
iſt — ſie liebt Bovillard, ohne es ſich zu geſtehen.“


„In der That!“ Der Legationsrath biß ſich in
die Lippe, aber lachte mit völliger Unbefangenheit
auf: „Wir ſind Gegner, nicht Rivale.“


„Sie retteten ſie vor ihm und zum Dank —“


„Würde ſie mich an ihn verrathen! Iſt das
etwas beſonderes! Zum Unglück für das arme Kind —
oder zum Glück für Herrn van Aſten, iſt aber Herr
von Bovillard jetzt die Kreuz und Quer auf hundert
Meilen geſchickt. Ja ich glaube, ſie haben ihn ſo
geſchickt, daß ſie wünſchen, er möchte nie wiederkehren.“

[46]

„Und ich habe die Beſcheerung im Hauſe!“


„Arme Freundin!“


„Eine Liebſchaft ohne Ausſicht und Ende. Ver¬
borgene Thränen und ſtille Seufzer. Er fragt: Warum
haſt Du geweint, und ſie agt mit den ſeelenvollſten
rothen Augen: O ich habe nicht geweint. Er glaubt
es oder glaubt es nicht. Händedrücken und Betheue¬
rungen in Klopſtockiſchem Odenſchwung. Bin ich
dazu berufen? Habe ich ſie dazu in meinem Hauſe?
Ihre Eltern ſind unzufrieden. Der alte van Aſten
möchte mich zur Kupplerin erklären! Der junge ſieht
mich fragend an, wenn ſie Migräne hat, und Adel¬
heid zittert, wenn ich ihn auffordere länger zu bleiben
als ſie wünſcht, und gebe ich ihm ein Zeichen, daß
er gehn ſoll, ſo iſt ſie wieder verſtimmt. Sie denkt,
er könnte denken, was er nicht denken ſoll. Und wenn
der junge Bovillard wieder käme! Möglich ja, wenn
der Vater ihm verzeiht, daß er präſentabel würde,
daß — daß er ſich in dieſem Hauſe zeigte. Kann
ich ihn abweiſen? — Welche Scenen, Verwickelungen!
Wer hat mich dazu auserſehen, mein Gott! als ob
ich nicht anderes zu denken und vor mir habe!“


Die Geheimräthin hatte ſich in einen Eifer ge¬
redet, der ihr wohl that, und dem Legationsrath that
er auch wohl. Mit andern Gedanken beſchäftigt als
dieſem, ihm ganz gleichgültigen Liebesverhältniß, hatte
er ihnen nachhängen können ohne ſich beobachtet zu ſehn.


„Das haben Sie! rief er. Sie müſſen gerettet
werden.“


[47]

„Nun verloren, Herr von Wandel, geb ich mich
noch nicht.“


„Aber eine Frau, die der Wahrheit als Prieſterin
ſich geweiht hat, darf nicht dieſe Unwahrheit um ſich
dulden. Das iſt es, was ich nicht dulden darf.
Dieſer Dunſtkreis muß verſchwinden. — Zurück¬
ſchicken ins elterliche Haus wollen Sie ſie nicht?“


„Es würde mir jetzt übel ausgelegt werden.“


„Sie haben recht. Es gäbe zu viel Gerede;
ſie iſt einmal die Modepuppe. Ja, wenn man ſie
entführte! Sie ſelbſt deuteten vorhin darauf.“


„Adelheid läßt ſich nicht entführen.“


„Und eine Mariage —“


„Sie ſcheinen wieder zerſtreut.“


„In der That ich bin es. Verzeihung! Nein
fort muß ſie jedenfalls, Ihrer Ruhe wegen. Bedenken
Sie, daß Sie jetzt auch die Kinder im Haus haben
Alſo ſorgen Sie dafür, auf eine oder die andere
Weiſe. Finden wird ſie ſich.“


A propos! rief er von der Thür zurückkehrend.
Etwas noch. Sie müſſen die Mode mitmachen.
Hüllen Sie ſich in Patriotismus, von ſo tiefer Farbe,
als Sie können. Immer exaltirt. Beim allgemeinen
Fanatismus merkt man nicht das zuviel. Franzoſenhaß,
Durſt nach Blut und Rache, auf den Lippen. Man kann
nicht zu ſtark auftragen, denn man weiß nicht wie bald
man überboten wird. Und wer nicht voraus ſchwimmt,
iſt bald zurück gedrängt und ans Ufer geworfen.“


War ſchon vorhin ihre Erſcheinung geiſterhaft,
[48] was mehr jetzt, als ſie allein in der Mitte des Zim¬
mers ſtand, das Ohr etwas geneigt nach der Thür.
Sie horchte — ſollte er nicht wieder kehren? — Nein —
keine Tritte mehr auf der Treppe, es hallte vom
Flur — die ſchwere Hausthür öffnete ſich. Ein Schlag
dann, der ſie durchſchüttelte. Aber ſie blieb ſtehen,
die Finger etwas krampfhaft zuſammen ziehend. —
Warum blieb ſie ſtehen? — Unter den halb nieder¬
geſchlagenen Wimpern ſchielten ihre Augen umher.
Warum ſchlug ſie die Augen nicht auf, die ſonſt ſo
durchdringend ſcharf in der Seele des Andern zu
leſen ſchienen? — Fürchtete ſie ſich vor der Leere im
Zimmer? Es war noch heller Tag.


Es war etwas nicht, wie es ſein ſollte. Sie
hatte eine andre Sprache, andre Mittheilungen er¬
wartet. — Glatt wie ein Aal! — Aber vielleicht trug
ſie ſelbſt die Schuld! Was hatte ſie ſich ihrer Bitter¬
keit überlaſſen? Was intereſſirten ihn Adelheids Lie¬
besverhältniſſe! — Darum war er zerſtreut, brach
plötzlich ab, in Sinnen verſunken? — Sie athmete
auf; ihre Wange röthete ſich etwas. — Aber — es
war doch etwas nicht, wie es ſein ſollte. — Warum
ſprach der große, herrliche, ſeltene Mann nur in
Räthſeln, warum auch gegen ſie die Hieroglyphen¬
ſprache? Hätte ſie ihn falſch verſtanden? Er, vor
deſſen Augen die Hüllen der Menſchen, der Dinge, in
Kryſtall ſich verwandelten, und er ſchaute bis in die
Keime der Thaten und Gedanken, hatte er auch in
ihr Inneres einen Blick geworfen und —


[49]

In dem Augenblick knarrte die Thür, der neue
Bediente, Chriſtian, trat etwas ungeſchickt herein,
indem er, um die Thüre zu ſchließen, den Rücken
zeigte. Der Rücken zeigte nur die alte Livree ſeines
Vorgängers.


Die Lupinus ſtieß einen Schrei aus, ſie fuhr
zuſammen, wankte; vielleicht wäre ſie gefallen, wenn
ihr Arm nicht die Lehne eines Stuhls erfaßt hätte. —
„Johann! — ungeſchickter Menſch — wie kann Er
mich erſchrecken!“


„Aber gnädige Frau, ich komme ja nur, wie Sie
befohlen —“


„Er ſoll nicht hinterrücks hereinſchleichen, Chri¬
ſtian. Meine Nerven vertragen es nicht.“


„Aber die Kinder, gnädige Frau, das Mädchen
beſonders, ſie ächzen und piechen — ich glaube immer,
denen hats Einer angethan.“


„Lügner! — Unverſchämter Verleumder! —“
Mit einem zornfunkelnden Blick ſchoß ſie an ihm vor¬
über nach der Kinderſtube.


Der Bediente ſah ihr kopfſchüttelnd nach, und
reckte ſich dann in der Livree, die nicht ganz zu ſei¬
nem breiten Rücken paßte. Eine Nath riß: „Ich
glaube, in dem Hauſe paßt mirs ſo wenig als in dem
Rocke. Solche Bälger zu bedienen, und eine ſolche
Frau! Ich weiß zwar nicht eigentlich, was Nerven
ſind, aber ich glaube, meine Nerven vertragen es auch
nicht.“


Als nach einer Viertelſtunde die Geheimräthin
III. 4[50] zurückkehrte, lagerten ſeltſame Stimmungen auf ihrem
Geſichte. Der Anblick der Kinder war gewiß ein
widerwärtiger geweſen, der Schauder ſprach ſich deut¬
lich aus, aber darüber war ein andrer Ausdruck, wie
ein Mondenſtrahl, der durch zerriſſen Gewölk über
eine offene Gruft ſtreift. Es fröſtelte ſie, ſie machte
eine Anſtrengung als wollte ſie auf die Knie fallen;
aber — vielleicht verſagten ihr die Knie den Dienſt,
ſie hob die Arme und rieb die Hände, als wollte ſie
ſie zum Gebet falten. Auch das mußte ſich an etwas
ſtoßen. Sie ließ die Arme ſinken, und fiel ſelbſt aufs
Sopha. Hier, den Kopf im Arm, flüſterte ſie: „Es
ſind abſcheuliche Kinder; aber ich will mich zwingen
ſie zu lieben — ich will ſie pflegen, wie — wie —
ich wills an ihnen gut machen.“

[[51]]

Viertes Kapitel.
Bei Joſty.

Beim Schweizer Kuchenbäcker Joſty unter der
Stechbahn traten mehre Officiere in Gala-Uniform
ein. Heller als das Gold und Silber ihrer Achſel¬
bänder und Schärpen leuchtete die Freude auf ihren
Geſichtern. Zum Theil ſchien dieſe ſelbe Empfindung
auch auf denen der Gäſte aus dem Civil zu ſtrahlen.
Es war ein großer Feſt- und Feiertag in Berlin.
Die Gruppen von Neugierigen wollten den Schlo߬
platz und den Luſtgarten noch nicht verlaſſen, obgleich
in dieſem Augenblick nichts mehr zu ſehen war,
als die Truppen, welche in ununterbrochenen Zü¬
gen durch die Königsſtraße und über die lange
Brücke in die Friedrichsſtadt zurückmarſchirten. Aus
den geöffneten Fenſtern ſchallte ihnen noch man¬
ches Hallo! und Vivat! und Hurra! und manche
geſchmückte Dame wehte mit dem Taſchentuch. Auch
trug der große Kurfürſt und ſeine Sclaven Guir¬
landen und Kränze von den Blumen, die der ſpäte
Herbſt in den Gärten darbot.


4*[52]

Aber das Schauſpiel war ein anderes als neu¬
lich das der durchmarſchirenden Truppen. Dieſe waren
nicht mit Staub bedeckt, an ihren Kamaſchen klebte
nicht der Koth der Landſtraße; ſie funkelten im glän¬
zendſten Paradeanzug und nur der Puder ihrer wohl¬
friſirten Haarlocken ſtäubte auf das dunkle Blau ihrer
Monturen; ſie rückten auch nicht ins Feld, ſondern
kehrten von einer Paradeaufſtellung zurück. Es wa¬
ren die auserleſenen Regimenter Möllendorf, Knebel,
Rheinbaben, die Grenadiere Prinz Auguſt von Preu¬
ßen und die Gendarmen und Garde du Corps, die
vom Schloß bis ans Thor eine große Chaine ge¬
bildet, um den einziehenden Kaiſer Alexander zu
empfangen.


Wie viele Jahre waren es her, daß ein Selbſt¬
herrſcher aller Reußen in die Thore Berlins einge¬
zogen! Wer ihn geſehen, den jugendlich ſtrahlenden,
humanſten Fürſten, deſſen Blick Güte und Wohl¬
wollen lächelte, der die Majeſtät vergeſſen ließ in der
Liebenswürdigkeit, glaubte etwas geſehn zu haben,
was er ſein Leben durch nicht vergeſſen dürfe. Wie
mehr als gnädig hatte er gegrüßt, mit welcher Huld
die Anreden empfangen. Wie viele Frauen ſchworen,
wenigſtens bei ſich, daß das Auge des Unwiderſteh¬
lichen auf ihnen gehaftet.


Aber er war nicht zu Tanz und ſüßem Liebesſpiel
gekommen. Der Ernſt der Gegenwart dämpfte wieder
die aufſteigende Luſt; in die Jubelſtimmen hatten ſich
andre Laute gemiſcht, kühne Rufe, die der unbewachten
[53] Bruſt entſchlüpften, auch Thränen: die funkelnden
Degenſpitzen ſchienen Vielen ſchon angeröthet. So
ernſt wehwüthig war der Empfang geweſen im gro¬
ßen Portal des Schloſſes. Hier hatten König und
Königin, von ihrem Palais herübergekommen, den
Gaſt bewillkommnet. Es war eine feierliche Scene,
als die beiden jungen Monarchen ſich umarmten, als
der Czaar die Hand der huldvollſten Königin an die
Lippen drückte; ein Moment, von dem Europas Schick¬
ſal abhing! Und in wie lautloſer Theilnahme hatte
die Menge dem Familienſtück zugeſehen, das zum
großen Trauerſpiel für hundert Tauſende, für Mil¬
lionen werden durfte, mit welcher bangen Spannung
gewartet, was drinnen vorgehe, als die höchſten Herr¬
ſchaften in die Appartements getreten waren. Und
doch wußte man, daß es hier nicht geſchehe. Sie
nahmen nur Erfriſchungen ein. Die Hofequipagen
ſtanden ſchon vor dem Portal, in denen die Wirthe
den hohen Gaſt nach Potsdam entführen wollten.
Dort — wo Friedrich ſchläft — ſollte gewürfelt wer¬
den über das Loos der Zukunft.


Die Hofequipagen rollten ſchon lange auf der
gedielten Kunſtſtraße hin, die für eines der wunder¬
baren Prachtwerke der Königsſtadt galt, als die
Officiere in den Conditorladen traten. So prächtig
ihre Gala-Uniform, ſo beſcheiden ſah damals der Laden
aus. Nichts von Gold und Mahagoni, nichts von
Säulen und funkelndem Kryſtall. Auch glänzte das
wenige Tageslicht, das durch die Colonnaden der
[54] Stechbahn ins Zimmer fiel, nicht wieder von zahl¬
loſen Rieſenbogen ausgeſpannter Zeitungen. Zei¬
tungen waren freilich auch hier ſchon, zwei oder drei
vielleicht, beſcheidene Blättchen, auf grauem Löſch¬
papier, die wöchentlich zwei oder drei Mal alle Neuig¬
keiten der Welt wieder erzählten, was in der Türkei
geſchah und am Rheine, und von Berlin brachten ſie
vornan lange Liſten aller angekommenen Fremden,
mit ihren Titeln und den Wirthshäuſern, darin ſie
wohnten. Dann alle Ernennungen zu Hof- und
Staatsdienſten, zuweilen auch eine Mittheilung, daß
ein hoher Herr bei Hofe empfangen und zur Tafel
gezogen worden. Und hinterher Theaterrecenſionen,
Charaden, Fabeln, Anzeigen von Auctionen, Verkäu¬
fen, Büchern, Wohnungen und ſehr vielerlei.


Aber bei beſondern Gelegenheiten ſtand auch
vornan ein Gedicht, gereimt oder ungereimt, immer
jedoch zum Lobe der höchſten Herrſchaften. Denn jene
Zeiten waren vorbei, wo man ſich in den Zeitungen
auch wohl einen Spaß erlaubte, wie der wunderliche
Gelehrte Philipp Moritz und der erſt in dieſem
Jahre 1805 verſtorbene noch wunderlichere Burrmann,
welcher die Leſer mit Reimereien, ſo ſeltſam wie er
ſelbſt, beſchenkte. So hatte er einſt am 21 ten Decem¬
ber die Voſſiſche Zeitung mit dem Vers angefangen:


Gottlob und Dank,

Die Tage werden wieder lang.

Nein, ſeit jenen Zeiten war ein feiner claſſiſcher, fran¬
zöſiſcher Geſchmack in die Zeitungen gefahren, wie
[55] er ja auch in der Geſellſchaft war. Der tölpelhafte
deutſche Hanswurſt war längſt fortgeſchickt, und man
ſprach nur das aus, was gegen nichts und niemand
verſtieß, auch auf die Gefahr hin in dem Ge¬
ſagten nichts zu ſagen. Darum, doch auch aus
andern Gründen, las man nie in den Berliner Zei¬
tungen von dem etwas, was in Berlin geſchah, es
ſei denn, daß eine hohe Obrigkeit es der Druckerei
zugeſandt, und auch über das Draußen enthielt man
ſich jeder eignen Meinung und druckte nur ab, was
andere Zeitungen vorher gedruckt hatten. Heute aber
war ein außerordentliches Ereigniß auch in der ge¬
nannten Voſſiſchen Zeitung. Vornan ſtand ein lan¬
ges Gedicht, deſſen Anfang und Ende ſo lauteten.
Jemand las es in der Conditorei laut vor, als die
Officiere eintraten, und alle, die es hörten, ſahen ſich
verwundert an:


Nicht Salomon und Titus — wozu Namen

Der Vorzeit! Sind wir Neueren ſo arm? —

Nein, Alexander, Friedrich, Arm in Arm,

Stehn da, ein Brüderpaar. Zu Preußens Adler kamen

Die Adler Rußlands! Jubelnd ſieht Berlin

Sie über ſich vereinten Fluges ziehn.

Sie ſtehen vor dir, Arm in Arm,

O glückliches Berlin! Sprich aus die ſchönen Namen!

Wer ſind die Menſchenfreunde? Sprich!

Wer? — Alexander, Friederich!

Daß das Gedicht ausgezeichnet ſchön ſei, darüber
war nur eine Stimme, aber einer der eingetretenen
Officiere begriff nicht, wie ſolch ein Blitzkerl von
[56] Zeitungsſchreiber augenblicklich von den Evenements
Witterung habe, daß er auf der Stelle im Stande
ſei, ſie drucken zu laſſen, und gar in Verſen! „Und,
ſagte ein anderer, daß man's drei Mal in der Woche
erfährt, was vorher paſſirt iſt! Erſt muß es doch geſchrie¬
ben werden, was ſchon eine verfluchte Arbeit iſt, und
dann gedruckt und verkauft.“ — „'s iſt auch 'ne
ſchwarze Kunſt“ lachte ein anderer. Herr Joſty, mit
der Flaſche Curaçao in der Hand, flüſterte den Herren
zu: „Und was werden Sie erſt ſagen, wenn wir alle
Tage ein Blatt bekommen, was uns jeden Tag von
den Kriegsevenements avertirt. Sehn Sie mal ge¬
fälligſt in der Ecke hinterm Ofen den Herrn im grünen
Rock und Nankinghoſen, das iſt Herr Profeſſor Lange.
Der giebt ein ſolches Blatt heraus, es ſoll Telegraph
heißen. Morgen ſchon kommt die erſte Nummer. Die
Leute werden ſich den Kopf überſchlagen.“ — Die
Officiere vigilirten den „verfluchten Kerl“, der mit
dem Bleiſtift Notizen machte, und ſtritten ob ſeine
Ohren oder ſeine Naſe ſpitzer wären.


Auch der Herr Kriegsrath Alltag hatte dieſen
Tag nicht alltäglich begangen. Auch er hatte in der
Conditorei des Herrn Joſty eine Taſſe Chocolate
genippt, was zu jener Zeit, als wir ihn kennen lern¬
ten, ein außerordentliches Evenement geweſen wäre.
Aber ſchien er doch ſelbſt ein anderer geworden. Der
geſtickte blaue Rock war zwar ſchon etwas über die
Mode hinaus, jedoch vom feinſten Tuch, das ſauberſte
weiße Halstuch war über das Jabot geknüpft und
[57] feine Brüſſeler Manchetten ſpielten um die knappen
Aermel. Friſch gepudert war das Haar, und der Zopf
mit neuem glänzenden Seidenband umwickelt. Die
goldene Uhrkette hing um einen Finger breit länger
auf die ſchwarz taffetnen Beinkleider, und die ge¬
ſtreiften Seidenſtrümpfe mit den ſilbernen Schnallen¬
ſchuhen deuteten unverkennbar auf ein nicht alltäg¬
liches Evenement. Und das war es, wo der Herr
Miniſter ihn gewürdigt, ihn aufzufordern ſich im
Schloß zu geſtellen, er wolle ſchon für einen Platz
ſorgen, daß er die Majeſtäten recht von nahe ſähe.
Hatte er ihn nicht ſelbſt dort an die Treppe geſtellt,
wo die hohen Herrſchaften vorbei mußten? Wenn
er ſich nicht ans Geländer zurückgedrückt, ſo weit
es möglich, hätte ihn da nicht das ſeidene Kleid Ihro
Majeſtät der Königin faſt berührt? Durch eine glück¬
liche Schwenkung der Schleppe hatte der Page es noch
vor dieſer Berührung bewahrt. Der Kriegsrath war
erröthet vor Schreck. — Welcher neue Schreck aber! —
Kaiſer Alexander, der die Königin am Arm führte,
war auf dem Podeſt einige Stufen über ihm ſtehen
geblieben, damit die hohe Frau Athem ſchöpfe. Seine
Majeſtät, der hinter ihnen ging, war natürlich auch
ſtehen geblieben, und auf derſelben Stufe, auf der
die Füße des Kriegsraths ſtanden. Zwar war die
Stufe breit, aber es war daſſelbe Brett, und der
Kriegsrath fühlte unter ſeinen Füßen die Bewegung,
welche der Fuß Seiner Majeſtät verurſachte. — Und
es war noch nicht alles. — Excellenz, der Miniſter,
[58] ſein Gönner, flüſterte dem Könige einige Worte zu,
und — er traute ſeinen Ohren nicht, aber es war
ſo — er hörte ſeinen Namen. Der König hatte ſich
drauf umgeſehen, hatte ihn angeſehen und die Worte
geſprochen: „Treuer Diener ſeines Herrn. Freue
mich.“ — Er hatte es geſprochen, wirklich und wahr¬
haftig, und es war noch nicht alles. — Als die hohen
Herrſchaften auf dem Podeſt ſich in Bewegung ſetzen
wollten, war der König bei ihnen, und ſagte der
Königin etwas ins Ohr, und die Königin wandte
auch ihr Geſicht zum Kriegsrath nieder, und er hörte
die Worte: „Ah c'est lui!“ — War das neue
Täuſchung, oder war es auch Wahrheit, ſie hatte ihm
von oben freundlich zugenickt.


Wie der Kriegsrath nachher von der Treppe
herunter gekommen, wie auf den freien Platz, das
wußte er ſelbſt nicht. Er las nie ein Mährchen,
weil er überhaupt nicht las, aber aus ſeiner Jugend,
aus der Ammenſtube, wußte er doch, was ein Feen¬
mährchen iſt. — Zuerſt hatte ihn die Luft wunderbar
angefächelt, wie einen, der nach langer dunkler Haft
ans Sonnenlicht geriſſen wird, oder wie den Trinker,
der aus dem Keller ins Freie tritt. Unten hat er es
noch nicht gefühlt, jetzt aber dreht ſich die Welt um
ihn, und der Boden wankt unter ſeinen Füßen. Der
Rippenſtoß eines Corporals, deſſen Rotte er in ſeinem
Schwanken vermuthlich zu nahe gekommen war, hatte
ihn wieder zur Beſinnung gebracht. Er ſah die klir¬
renden Männer an ſich vorüberziehen, und die höhni¬
[59] ſchen ſchiefen Geſichter, die Zungen, die ſie ihm
ſtreckten, beleidigten ihn nicht, er fühlte ſich ihnen
näher gerückt; der König, der ihn einen treuen Diener
genannt, war ihr Herr. Vor ſeinem Commando,
vor ſeinem Blick mußten ſie zu Bildſäulen erſtarren.
Und ihm war es, als müſſe der Huldblick des Kö¬
nigs etwas von ſeiner Majeſtät und Machtvollkom¬
menheit auch auf ihn ausgegoſſen haben; auch vor
ihm müßten dieſe rohen Männer, wenn er es ſagen
wolle, was er wußte, in Ehrfurcht erſtarren.


Er ſagte es zum Glück nicht. Vielmehr kehrte
auf dem Wege bis zu Herrn Joſty dem Ehrenmann
die volle Beſinnung zurück. Es war kein Traum
geweſen, auch keine Erſcheinung aus einem arabiſchen
Mährchen, vielmehr nichts als die Beſiegelung deſſen,
was er längſt ahnete, vielleicht wußte, und in der
Stadt munkelte es ſchon. Er ſollte nicht mehr lange
Kriegsrath bleiben, er war zu Höherem beſtimmt.
Dieſe Beſtimmung drückte ſich auch in ſeiner Haltung
aus, wie er am Tiſche in der Ecke neben einem andern
Manne geſeſſen, und mit demſelben dem Anſchein
nach ein eifriges Geſpräch gepflogen hatte.


Der andre Mann, ungefähr im Alter des Kriegs¬
rathes, oder etwas älter, war in ſeiner Erſcheinung
juſt das Gegentheil. Sein fein geſchnittenes, intelli¬
gentes Geſicht ward durch ein Paar kleine graue, ins
Blaue ſpielende, Augen, wenn ſie mit Eifer auf einen
Gegenſtand fielen, lebendig. Sonſt hatte es mehr
einen calculatoriſchen Ausdruck, jene verſchrumpften,
[60] doch nicht unedlen Züge, welche ein beſtändiges Nach¬
denken über plus und minus ausdrücken, jene Abſor¬
birung von allem was Impuls oder Phantaſie heißt.
Wenn aber die Augen aufblitzten oder auf einen
Gegenſtand zückten, bewegte ſich wohl um die Lippen
ein ſarkaſtiſcher Zug. Sein Haar, weißblond von
Natur oder weiß vom Alter, ſchien ſchon lange den
Puder als etwas Ueberflüſſiges abgeſtreift zu haben.
Es fiel ſchlicht, eben nicht ſorgſam gekämmt, auf den
Hinterkopf und um die Schläfe herab. Daß er eben
ſo wenig Umſtände mit der Toilette wie mit der
Friſur machte, verrieth der Ueberrock von grobem
Tuch und einem dick übergelegten Kragen. Seine
Hände, die auf dem Tiſche lagen, waren weiß und
fein, ſeine Füße dagegen, die er weit vorgeſtreckt hatte,
ſchienen grob wie die blauen Strümpfe und die dick
verſohlten Schuhe.


„Alſo keine Mariage nicht!“ hatte der Mann mit
den grau blauen Augen geſagt, und zwei Gläſer mit
Granatwein gefüllt, worauf der Kriegsrath das eine
nach einigem Bedenken ergriffen und mit ihm ange¬
ſtoßen hatte.


„Ueberdem iſt ſie auch noch zu jung,“ ſetzte er
hinzu, und das halb ausgetrunkene Glas auf den
Tiſch.


Der andere ſagte: „Alter ſchützt vor Thorheit
nicht, und zu jung iſt keine nicht, um ſich nicht zu
verplempern.“


Der Kriegsrath ſpielte etwas verlegen oder verletzt
[61] mit der ſilbernen Doſe, ein Präſent ſeines Miniſters:
„Nun was das Verplempern anlangt, mein Herr van
Aſten, ſo dünkt mich —“


„Mein Sohn hätte ſich verplempert — meinen
Sie vielleicht, fiel der Kaufmann ihm ins Wort.
Wenn auf meinem Kornboden zwei Säcke geplatzt
ſind und der Roggen und Waizen liegen unterein¬
ander, da kümmerts mich wenig, welcher Sack zuerſt
platzte, ſondern wie ich die Körner auseinander bringe,
oder mitſammen verwerthe. Unſre Säcke ſind Gott
ſei Dank noch nicht geplatzt, da halte ich nun fürs
Beſte, daß jeder ſeinen an ſich nimmt und ſich nicht
um den andern kümmert. Und wo das Facit ſtimmt
und die Probe aushält, muß man beileibe nicht jeden
Poſten von Neuem nachrechnen. Ihnen iſt mein Sohn
nicht vornehm genug, oder wie Sie das nennen wollen.“


„Bitte recht ſehr, Herr van Aſten, das habe ich
nie geſagt.“


„Aber gedacht. Schadet gar nichts, Herr Kriegs¬
rath. Habe ihn auch gar nicht erzeugt und erzogen,
daß er vornehm ſein ſoll. Contrair, und mir iſt
ganz lieb, daß er Ihnen nicht vornehm genug iſt,
und vielleicht noch ſonſt was. Mir iſt nun Ihre
Mamſell Tochter nicht reich genug, und vielleicht noch
ſonſt was. Sehn Sie, aufrichtige Leute kommen bald
zu Rande, und das, was ſonſt iſt, ſoll uns nicht
kümmern, und wir bleiben gute Freunde. Darum
erlaube ich mir noch ein Mal an Ihr Glas anzuſtoßen.“


Der Kriegsrath ſeufzte; der andere hätte es recht
[62] gern zur Geſellſchaft gethan, nur um die Einigkeit
vollkommen herzuſtellen, der alte van Aſten konnte
aber nicht ſeufzen.


„Mein hochverehrteſter Herr Kriegsrath, mit
Ihrem Permiß, ich leſe Ihre Gedanken. Daß die
jungen Leute jetzt auch ihren Willen haben wollen,
das gefällt Ihnen nicht. Sie ſeufzen: ehedem war's
anders! Habe ich gar nichts dagegen. Ehedem wog
man ein Pfund Pfeffer mit Gold auf, jetzt koſtet's
ein Paar Groſchen. Ehedem bezahlte man mit Pfeffer
ſeine Wechſel. Wenn mir jetzt einer damit käme,
würfe ich ihn die Treppe runter. Iſt ſo mit allem,
mit der kindlichen Liebe, mit der Freiheit, der Erzie¬
hung; der Marktpreis iſt ihr Werth. Steht darum
geſchrieben, daß wir den Marktpreis nicht machen
können! Man muß nur geſchickt operiren. Mein Herr
Sohn will auf dem Kopf ſtehn, Ihre Mamſell Toch¬
ter auch. I nu ſo laſſen wir ſie, bis ſie müde wer¬
den. Daß ſie's aber werden, dazu kann man ſchon
was thun. Wenn ein Materialiſt einen Jungen in
die Lehre nahm, ehedem kriegte er Schläge nach Noten,
wenn er naſchte. Es hat wohl nicht immer geholfen.
Jetzt läßt ſein Principal ihn ſo viel Syrup nippen
und Roſinen und Mandeln naſchen, als er Luſt hat.
Ein, zwei Mal den Magen verdorben, und er iſt curirt
auf ſein Leben. Und ſo iſts mit dem eignen Willen
auch, und mit der Freiheit und mit, was ſonſt iſt.
Sie kommen retour, ſage ich Ihnen, wenn man's
nur recht anfängt.“

[63]

„Habe doch immer vernommen“ — fiel der Kriegs¬
rath ein.


„Daß der alte van Aſten einen Bock geſchoſſen
hat. I ja, das paſſirt dem Klügſten. Nu laß ich
ihn austoben, die Hörner ablaufen. Wiſſen Sie,
wie viel Hörner mein Sohn ſchon ablief? Kein Hirſch
hat ſo viel Geweihe im Wald abgeworfen. Habe ſie
mir alle geſammelt. Das macht mir ſehr viel Freude.
Noch mehr wird's machen, wenn ich ſie ihm zeigen
kann, wenn er kommt wie der verlorne Sohn und
ans Thor klopft. Wird Ihnen auch ſo gehn, wenn
ſie ſanft an der Klingel zieht, und, das Tuch an den
Augen, weinerlich anfängt: Lieber Papa! Freilich bei
einer verlornen Tochter iſt es etwas anderes als bei
einem verlornen Sohn —“


„Mein Herr van Aſten! ſagte der Kriegsrath
und hob ſich in ſeinem Stuhle. Ich hoffe doch
nicht —“


„Daß ich etwas Injuriöſes gemeint hatte! I
Gott bewahre! Ich ſollte mich in Injurienprozeſſe
einlaſſen! Ich, ein ſolider Geſchäftsmann, in ein
Geſchäft wo man nur verlieren und nie gewinnen
kann. Nein, wenn's ſein muß, lieber baar zahlen!
Wenn der eine das Gold liebt, auch wenn's ſchmutzig
iſt, ſo liebt der andre, wenn's glänzt, auch wenn's
nur ganz dünn iſt. Iſt ja wahre Gottes Gnade, daß
wir nicht alle daſſelbe lieben. Wo ſollte es raus!
Sie möchten mit Ihrer Tochter hoch hinaus. Iſt
ganz recht von Ihnen. Man muß anſchlagen was
[64] man hat. Wenn Sie nun Geheimrath werden, brau¬
chen Sie einen Schwiegerſohn, der auch was zu ra¬
then giebt, und keinen Gelehrten, der ausgiebt was
er hat, nämlich ſein bischen Wiſſen, ohne was dafür
einzunehmen, nämlich Geld. Was Titulirtes, was
Blankes, ſo oder ſo, wovor unſer eins den Hut ab¬
zieht. Laſſen Sie nun Ihre Demoiſelle Tochter in
meinen Herrn Sohn verliebt ſein, ganz geruhig, bis
ſie ſich übergeliebt haben. Glauben Sie mir, das
kommt über kurz oder lang, denn ſatt macht die Liebe
nicht, und zanken werden ſie ſich auch, und verknurren,
wenn man ſie nur läßt, und dann kommt die lange
Weile, und die rothen Augen machen auch nicht
ſchöner. Aus Wochen werden Monate und aus Mo¬
naten Jahre. Sieht ein hübſches Mädchen erſt eine
Falte im Geſicht, die nicht fort will — ich will gar
nicht ſagen Runzel — da guckt wohl ein kleiner Ge¬
danke raus: ja wenn ich den nicht zurückgewieſen
hätte! Oder den! Dann wird der Liebſte auch nicht
grade ſehr freundlich angeſehn, wenn er zur Thür
rein kommt, und auf einer ſeiner Runzeln ſteht: ich habe
noch immer nichts! Sieht er nu in ihrem Geſichte,
was ſie in ſeinem ſieht, na — und ſo weiter, und
am Ende — ſie weinen, ſie fühlen ſie haben ſich ge¬
täuſcht, es wird geklatſcht dazwiſchen, dafür braucht
man gar nicht zu ſorgen, und am letzten Ende nimmt
die gehorſame Tochter den erſten beſten, den der Papa
ihr zuführt. Und überläßt man's dann den Muhmen
und Gevattern die Sache zu arrangiren, ſo kommts
[65] am letzten Ende raus: ſie hat ihn von Kindheit an
geliebt.“


Dies war ungefähr das Geſpräch, welches die
beiden ältlichen Herren vor dem Eintritt der Officiere
geführt, und das durch das laute Vorleſen des Ge¬
dichtes unterbrochen war. Der Kriegsrath ſchüttelte
den Kopf als er ſeinen Hut nahm.


„Gefallen Ihnen die Sentiments nicht von Sa¬
lomon und Titus?“ fragte der Kaufmann und griff
nach einem Zeitungsblatt.


„Sie ſind ſehr ſchön, entgegnete der Kriegsrath,
nur begreife ich nicht, wie man ſo etwas zu drucken
erlaubt. Dadurch wird ja der Bonaparte avertirt,
was hier paſſirt iſt.“


„Sehr richtig bemerkt,“ ſagte van Aſten, und
ſein ſchlaues Geſicht wollte gewiß noch etwas ſagen,
aber der Kriegsrath gab, als der vornehmere Mann,
das Zeichen, daß er genug gehört, indem er ſich mit
einer leichten Verbeugung empfahl. Der Vornehmere
muß das letzte Wort behalten. Aber als er durch
die Officiere den Weg nach der Thüre ſuchte, waren
offenbar dieſe die Vornehmeren. Sonſt liebte er doch
nicht die Officiere, aber mit verbindlichen Verbeugungen
ſchlängelte er ſich durch ihre Füße, welche die Herren
ſich nicht beſondere Mühe gaben aus dem Wege zu
ziehen. „Das war der Vater von dem ſchönen Mäd¬
chen,“ ſagte ein Garde du Corps zu dem Rittmeiſter,
der ſeine glänzenden Reiterſtiefeln auch nicht um einen
Finger breit zurückgezogen hatte. Der Cornet lachte:
III. 5[66] „Was ſprechen Sie zu Dohleneck von ſchönen Mäd¬
chen! Für meinen Onkel iſt nur Eine ſchön, und
wenn die Eine nicht, ſo mag die anderen der Teufel
holen und ihre Papas dazu.“


Der Rittmeiſter, der am Fenſter ſaß, trommelte
an die Scheiben: „Krieg! Krieg! das iſt das Beſte.“


„Zum Avancement! lachte der Chor. Die Un¬
terhaltung ging auf dies wichtige Thema über, wich¬
tiger als Alexanders Ankunft, als der Streit ob die
Königin dem Kaiſer zuerſt die Hand gereicht oder
er nach der Hand gegriffen, wichtiger als der Krieg
ſelbſt. Man ſtritt über die Ernennung eines Capi¬
tains zum Major. Einige wollten ſie geleſen haben,
andere leugneten es. „Es ſteht heute drin.“ — „Es
ſteht nicht drin.“ — „Her den Wiſch!“ Mit einem
Satz war der Cornet nach dem Tiſch geſprungen, an
dem van Aſten ſaß, und hatte ihm die Zeitung aus
der Hand genommen: „Wir wollen etwas nach¬
ſehen.“


Es mußte noch etwas anderes vorgefallen ſein.
„Wollen Sie etwas?“ fragte der Cornet und ließ
ſeine Pallaſchſcheide auf der Diele klirren, indem er
ſich zum Kaufmann umkehrte, als dieſer ſich mit ei¬
nigem Geräuſch erhoben hatte.


„Mich nur gehorſamſt entſchuldigen,“ ſagte van
Aſten und zeigte auf ſein vorgeſtrecktes Bein, „daß
Herr Cornet von Wolfskehl auf meinen Fuß treten
mußten! Haben ſich doch hoffentlich keinen Schaden
gethan?“

[67]

„Ich glaubte, es wäre ein Holzklotz. Excüs!“
ſagte der Cornet und hoffte auf einen beiſtimmenden
Lach-Chor. Aber die Einen griffen nach dem Zeitungs¬
blatt, die Andern machte eine ernſte Miene: „Cornet,
keinen Spaß mit dem Mann! Der reiche van Aſten
aus der Spandauerſtraße, der mit dem Miniſter
unter einer Decke ſteckt!“


Die Ernennung ſtand nicht im Blatt, dafür ein
Paar Dutzend andere, wie jede Zeitungsnummer ſie
in dieſen Tagen brachte. Auch fingen unter den
Annoncen ſchon die Abſchiedsworte an, welche Offi¬
ciere, Wundärzte und Beamte an ihre Freunde oder
Bekannte in den eben verlaſſenen Garniſonen richteten;
auch Nachrufe und Dankſagungen ganzer Städte an
die abziehenden Garniſonen und deren Officiere. „Wenn
das kein Beweis iſt, daß wir wirklich in den Krieg
ziehn!“ — „Ehe nicht die Kugeln durch meinen
Mantel pfeifen, glaub ich nicht daran.“ — „Ich
glaubs auch dann noch nicht“ ein dritter, als ein
vierter durch die Glasthür, die er klirrend aufgeriſſen,
eintrat: „Nu glaub ichs Cameraden. Aufs Pferd!
aufs Pferd!“ — „Du ſprangſt eben runter!“


„Direct von Steglitz in Carriere! Habt Ihr
nichts gehört? Vier und zwanzig Kanonen don¬
nerten aus dem hohen Buſch als die Equipagen durchs
Dorf ſchwenkten. Der dicke Stallmeiſter fiel beinahe
von ſeinem Schimmel. Die Königin ſah erſchrocken
zum Kutſchenſchlage raus.“


„Poſſen!“

5*[68]

„Nein, Ernſt. 's war aber nicht Bonaparte,
nur Beyme! Wenn Beyme Kanonen aufführt, Beyme
ſchießen läßt, da müßt Ihr zugeben, es wird ernſt,
es geht los.“


„Victoria!“ ſchrien zehn Stimmen.


„Wenn er nur nicht blind geladen hätte!“ rief
der Rittmeiſter und riß die Thür auf. „Man braucht
friſche Luft. Krieg! Krieg!“ — Herr Joſty ſah am
Fenſter den Officieren nach. Er ſchien die Häupter
ſeiner Lieben zu zählen, aber nicht mit der Zufrieden¬
heit, die auf den Geſichtern der Officiere ſtrahlte.
Was half ihm der Krieg! Er war gewiß ein guter
Patriot, aber wie viele konnten ihm noch immer ent¬
riſſen werden, an die theure Bande ihn ſchon lange
knüpften. Er ſchlug ein kleines Büchlein im Winkel
auf und ſchrieb kleine Zahlen zu den Namen. Aber
viele kleine Zahlen machen ein große. Herr Joſty
ſchüttelte den Kopf und wollte ſeufzen. Indeſſen —
er beſann ſich: „Indeſſen, ſagte er, es gleicht ſich in
der Welt alles aus.“ Und auf ſeinem Geſichte glichen
ſich auch die Falten aus.


Die Officiere hatten ſich links nach der Schlo߬
freiheit zerſtreut. Nur einer von ihnen, er ſchien ab¬
handen gekommen, ſuchte die Freiheit rechts unter den
Colonnaden der Stechbahn. Die Augen auf den
Boden, ging er grad aus bis die Mauer ihn erin¬
nerte, daß an der Ecke die Freiheit zu Ende war.
Er wollte zur Colonnade hinaus treten, als aus der
Brüderſtraße eine elegante Equipage raſch vorüber
[69] fuhr. Die Dame darin in Pelz, Hut und Schleier
verhüllt, ſah ihn nicht, aber der Mops auf dem Rückſitz
bellte heftig den Officier an. Ob die Dame auf¬
merkſam ward, wiſſen wir nicht, wenn ſie ſich aber
verbeugte, um nach dem Gegenſtand auszuſchauen,
der den Eifer ihres Hundes verurſachte, konnte ſie
ihn nicht mehr ſehen; denn der Rittmeiſter hatte ſich
hinter den Pfeiler gelehnt.


Er ſchien, mit geſchloſſenen Augen, auf das
Rollen der Räder zu hören, bis es unter dem Klap¬
pern der Werderſchen Mühlen verrollte. Dann riß er
ſich auf, machte ſich durch einen ſchweren Athemzug
Luft und — wollte auch ins Freie, in den Thier¬
garten. Es mußten wunderbare Dinge im Rittmeiſter
Stier von Dohleneck vorgegangen ſein. Er freute
ſich auf einen Spaziergang in den ſtillen, einſamen
Alleen des Thiergartens. Er hatte ſeinen Plan gemacht:
links durch die Buſchpartien an den Zelten vorbei,
nach dem Poetenſteig. Da traf er gewiß Niemand.


Aber — wenn nur die Aber nicht wären, als
er an der Conditorei vorüberging, öffnete Herr Joſty
freundlich die Thür. Er glaubte der Gaſt wolle zu¬
rückkehren. Solchen Glauben darf ein Cavalier nicht
täuſchen. Einen Schritt war er ſchon vorbei, es
koſtete alſo nur einen zurück, und er ſtand wieder in
dem traulichen, gemüthlichen Local. Es war ja auch
da einſam geworden. Als Herr Joſty die Thür ver¬
bindlich ſchloß, hatte er wieder ein Haupt ſeiner Lie¬
ben in ſeinen Mauern.

[[70]]

Fünftes Kapitel.
Von Möpſen und Wechſeln.

Aber der Rittmeiſter wollte ganz einſam ſein.
Im Vorzimmer ſaß noch der Herr van Aſten und
ſchien zu rechnen oder ſprach leiſe mit einer andern
in Berlin wohlbekannten Perſon, dem Herrn Auctions-
Commiſſarius Manteuffel, der ſich über den Tiſch zu
ihm lehnte, um auf die Fragen des Kaufmanns
Antwort zu geben.


Dem Rittmeiſter waren heut alle Menſchenge¬
ſichter zuwider, was mehr Rechenmenſchen, aus deren
Geſichtern Zahlen ſpringen. Zahlen erinnern an
Schulden.


Herr Manteuffel, der ihn eintreten geſehen, ob¬
gleich er der Thür den Rücken zuwandte, blinzte den
alten Aſten an. Der aber machte eine Bewegung
mit der Hand, die unter Geſchäftsleuten ausdrücken
kann: den hab ich ſicher, oder: um die Bagatelle küm¬
mere ich mich nicht.


Herr Joſty hatte noch ein kleines dunkles Hin¬
terſtübchen. Vertrautere Freunde fanden hier einen
[71] Platz, um einen Sorgenbecher in der Stille zu leeren,
den der Conditor ſeinen andern Gäſten nicht vor¬
ſetzte; er war kein Weinſchenk. Es war in dem
Raume wirklich klein und dunkel, wie in einer Tonne,
recht zur Selbſtbeſchauung geſchaffen, denn durch die
vergitterten Fenſterſpalten drang nur bei Mittag ein
Dämmerſchein, der ſich von den hohen Hintergebäuden
in den feuchten Winkel, der Hof hieß, hinabließ.
Das eigentliche Licht kam von einer dünnen Spar¬
lampe in einer Mauerblende, um den Tiſch, die Bank,
die Wandſpinden ſpärlich anzuleuchten. Ein Ort, ge¬
ſchaffen, um das innere Licht leuchten zu laſſen.


„Einen Rothſpohn, Herr Joſty!“ rief der Ritt¬
meiſter, als er ſich zwiſchen Bank und Tiſch ge¬
klemmt.


„Pontac oder Medoc?“


Auch darüber noch nachdenken! Was hatte nicht
der Rittmeiſter zu denken!


„I nu Medoc,“ ſagte er nach einer Weile, den
Kopf in der Hand und den Ellenbogen auf dem
Tiſche.


„Iſt auch geſunder fürs Blut, klärt mehr die
Gedanken auf. Die Engländer nennen ihn darum
Claret,“ ſagte Herr Joſty, als er den langen Pfropfen
aus der Flaſche gezogen.


Als der Wirth die kleine Thür leiſe hinter ſich
zugedrückt, ſtörte nichts die drei — nenn' ich ſie Ge¬
ſchöpfe, Weſen, Mächte — die hier zurückgeblieben
zu ſtillem Verkehr: den Rittmeiſter, die Lampe und
[72] den Medoc. Es war mehr als ſtill, ich würde ſagen
bewegungslos, wenn nicht der Schatten an der Wand
jedesmal unruhig geworden, ſobald der Rittmeiſter
das Glas aus der Flaſche wieder vollſchenkte. Ob
er Gedanken ſchöpfte, ob er ſie verſchluckte? Der
Medoc mußte das Blut nicht gereinigt haben, denn
er ward nicht froh. Der Schatten an der Wand
ſpiegelte drei Poſitionen, in denen er Minuten lang
verharrte: den Kopf in der Hand, das Kinn in
beiden Händen, und dann den Leib ganz zurück¬
gelehnt, mit geſunkenen Armen, oder, wenn ein
Entſchluß zu kommen ſchien, ſie plötzlich auf der
Bruſt verſchränkend. Aber die Flaſche war ſchon zu
drei Viertel ausgeleert und der Entſchluß noch nicht
gekommen.


Ein Entſchluß koſtet jedem etwas, wer aber weiß,
wie der beſte gefaßte zum übeln ausſchlagen kann,
und wer nur die Erfahrung des Rittmeiſters gewußt,
der würde ihn um ſeine Unentſchloſſenheit nicht getadelt
haben.


Hatte er ſich nicht zu einem kühnen Schritt ent¬
ſchloſſen, um endlich aus Liebeszweifel und Ueberdruß
frei zu werden? Es war kein geringes für jemand,
der von zwei unſichtbaren Schutzengeln hin und her
gezogen wird, und in ſich keinen Oberen findet. Wenn
dieſe ihm zuraunten: ſie hat dich eigentlich nie geliebt,
ſie hat nur geſpielt mit dir; nun auch dieſes Spie¬
les überdrüſſig, läßt ſie es nur zu ihrem Amüſement,
dich zu foppen, vor andern durch ihr Kammermäd¬
[73] chen fortſetzen, ſo ſprach eine innere Stimme: das
erſte haſt du ja ſelbſt immer geglaubt. Aber dann,
wenn jene ihn auf die vielen Beweiſe von Aufmerk¬
ſamkeit und Zärtlichkeit hinwieſen! Stand die Moos¬
roſe nicht noch immer zwiſchen den Balſaminen, trug
ſie nicht noch immer das Halstuch von der Farbe,
die ſie angelegt, als ſie ſein Lob derſelben vernom¬
men? Ja brauchte es einer Mittelsperſon, gefüllter
Gläſer, um ihm zu ſagen, daß ſie jetzt anders war,
als ſie ſonſt war? Sah er nicht den getrübten Blick
ihres Auges? Sie wandte freilich das Geſicht ab,
wenn ſie ſich zufällig begegneten, aber das war ein
ganz andres Abwenden als ſonſt. Und dann, ein
Mann, der ein Staatsdiener iſt, der es bis zum
Rittmeiſter gebracht hat, dem der Krieg die Thore
zum Oberſtwachtmeiſter eröffnet, geſteht ein ſolcher es
ſich leicht ein, daß er ſo lange gefoppt worden, daß
er nur die dupe einer andern, oder gar ihres Kam¬
mermädchens geweſen? Sucht er nicht nach Beweiſen,
daß dem nicht ſo ſein könne, wird er nicht vielmehr
ſcharfſinnig auch da noch ſie zu entdecken verſuchen,
wo ſie nicht ſind? Die Hälfte des Scharfſinns, den
er anwendet, um aus dem Netz ſich loszuwickeln, und
er wäre nie in dem Netz gefangen worden.


Möglich war es ja, daß ſie anfänglich nur ihn
necken, ihre Empfindlichkeit für das an ihm kühlen
wollen, was er ſich ſelbſt jetzt vorwarf; möglich, daß
auch andere da mitgearbeitet hatten. Aber — das
konnte ſich geändert, ſie ſo gut geſehen haben, als er
[74] es ſah, daß er ſich auch geändert, dies konnte ganz
andre Empfindungen in ihr geweckt haben. Er hatte
ja auch Augen, und was er geſehen, ließ er ſich nicht
abſtreiten. Dieſe Verwandlung ihres Sinnes konnte
nun denen nicht mehr zu Sinn ſein, die anfänglich
mitgeſpielt. Sie waren es, die jetzt die Contreminen
legten, die ihn wieder ihr entfremden, ihn von ihr
trennen wollten. Daher dieſe Briefe in ganz ver¬
ändertem Tone, dieſe Mahnungen, Drohungen ſogar,
abzulaſſen von Verfolgungen, die eine edle Frau tief
kränken müßten.


Der Rittmeiſter Stier von Dohleneck hatte das
Schwert gezogen um den Knoten zu durchhauen, er
wollte Licht haben — Wahrheit. Er wollte am hellen
Tage in ihre Wohnung treten, ſich mit ſeinem vollen
Namen melden laſſen und um eine Unterredung unter
vier Augen bitten. Wer den Rittmeiſter von Doh¬
leneck kannte, wußte, daß das ein ungeheurer Entſchluß
war. Und ein ganz freier und ein geheimer, — er
theilte ihn Niemand mit.


An dem Tage, als die erſten Regimenter von
der Weichſel durchmarſchirten, hatte er ihn gefaßt.
Es war der Augenblick, als ſein Pferd, oder er, bei
ihrem Anblick am Fenſter unruhig geworden und
Kehrt gemacht hatten. Er war ſehr unzufrieden mit
ſich zurückgekehrt, er hatte ſich geſagt: ein Soldat
dürfe nie Kehrt machen vor einer Gefahr, ob wirklich, ob
ſcheinbar. Gerade hier iſt es ſeine Pflicht, zu recognosci¬
ren, und nicht zu weichen, bis er — rapportiren kann.


[75]

Es war vorgeſtern geweſen, daß er ſeine beſte
Interimsuniform angezogen und ſich auf den Weg
gemacht. Ein ſaurer Weg! Die Pflaſterſteine ſchienen
Klebriges zu ſchwitzen, ſie hielten ſeine Sohlen feſt.
Er aber ſprach ſich Muth ein: „Nun und wenn es
nichts iſt, dann iſt es nichts und Alles bleibt beim
Alten.“ Sein Herz wurde ordentlich leicht, aber nur
auf einen Augenblick; je weiter er die Straße hin¬
unterging, je näher er dem Hauſe kam, ſo ſchwerer
ward es wieder.


Er hätte auch ſein Wort gehalten, was er ſich
ſelbſt gegeben, nicht, wie wohl andre in gleicher Her¬
zensangſt thun, ein paar Mal vor dem Hauſe vorüber¬
zugehen, bis der Muth ihnen kommt. Nein er wäre
gleich das erſte Mal eingetreten, wäre nicht der Mops
geweſen. Was es nun war, ob er in etwas getre¬
ten, was Joly verdroß, ob eine angeborne Idioſyn¬
kraſie in dem Thiere gegen den Menſchen lebte, genug
ein kleiner häßlicher, fetter Mops klaffte ihn an. Als
er ſich des Störenfrieds entledigen wollte, machte er das
Uebel nur ärger, der Tritt fiel wider Willen ſo un¬
glücklich aus, daß das Thier, von der Stiefelſpitze
gehoben, winſelnd auf das Pflaſter fiel. Ein Dienſt¬
mädchen oder ein Paar erhoben ein Zetergeſchrei mit
dem Hunde um die Wette. Natürlich über die Bar¬
barei, ein armes Thier ſo grauſam zu maltraitiren!
Nun war einmal etwas verſehen, und Fehler hecken
mehr als gute Thaten. Als er die Straße wieder
heraufkam, waren zwar Mops und Mädchen ver¬
[76] ſchwunden, aber die Equipage der Fürſtin Gargazin
ſtand vor der Thür.


Er war muthig eingetreten. Von der Treppe
kam ihm die Fürſtin entgegen. Sie fuhr verwundert
zurück: „Wirklich Sie! Nun, in der That, das nenne
ich Muth.“


Er hatte ſich verbeugt, er war muthig geblieben.


Sie war verſchwunden. Auf der halben Treppe
begegnete ihm der Legationsrath. Als Wandel ihn
erblickt, blieb er ſtehen, lüftete etwas den Hut, und
öffnete den Mund, um — doch zu ſchweigen. Aber
als Dohleneck auf der nächſten Stufe war, hörte er
ſeinen Namen:


„Was ſoll's?“


„Mein Herr Rittmeiſter, ſagte Wandel, ich hege
nicht die Anmaßung zu glauben, daß Sie in mir
einige Theilnahme für Sie vermuthen, indeß erlauben
Sie die Frage: Wollen Sie zur Frau Baronin?“


„Wenn es Sie nicht incommodirt,“ hatte Doh¬
leneck erwiedert.


„So vergönnen Sie mir wenigſtens die Bitte,
zu bedenken, welchem Empfang Sie ſich ausſetzen.
Ihro Erlaucht, die Fürſtin, muß Ihnen ja begegnet
ſein; ſollte ſie nichts geſagt haben?“


„Nichts was mich angeht,“ hatte der Rittmeiſter
erwiedert.


„Sie ſind der Herr Ihrer Handlungen! ver¬
beugte ſich der Legationsrath. Aber — ſetzte er mit
unterdrückter Stimme hinzu — ich glaube ebenſo
[77] wenig, daß Herr von Dohleneck das arme Thier auf
der Straße mit Abſicht mißhandeln konnte, als ich
glauben mag, daß ein Cavalier von Ihrem Herzen
und Ihrer Ritterlichkeit ein Vergnügen darin finden
kann, eine unglückliche Frau, die in Thränen ſitzt,
noch unglücklicher zu machen.“


Und noch blieb der Rittmeiſter muthig. Die
Klingel hielt er in der Hand, als ein Hundegeklaff
gegen die Thür ſtürzt. Das war der Hund des
Aubry, die Kraniche des Ibycus. „Nein, mein
Joly, der häßliche Menſch, der ſoll dir nicht wieder
was thun,“ hörte er die Stimme des Kammer¬
mädchens. — Er hatte nicht geklingelt; er war
wieder auf der Straße. Joly knurrte hinter ihm am
Fenſter.


Und ſeitdem hörte der Rittmeiſter, wo er die
Augen ſchloß, den Mops knurren und die Baronin
weinen. „Alles um Dich!“ Er hatte wohl daran
gedacht, ſich in eine andre Garniſon verſetzen zu laſſen;
aber ſeine Schulden und ſeine Ehre! Nun kam ein
tröſtender Engel. Der Krieg befreit einen Militair
von den Verfolgungen ſeiner Gläubiger und einen
Liebenden von denen ſeiner Phantaſie. Zu dieſer
troſtreichen Ueberzeugung war der Rittmeiſter Stier
von Dohleneck in dem Augenblick gelangt, er wollte
auf dieſen Tröſter in der Noth ein Glas leeren, als,
zu ſeiner Verwunderung, aus der leeren Flaſche nichts
mehr fließen wollte. Er ſchlug damit gegen das Glas,
ein Zeichen, welches Herr Joſty ſehr wohl verſtand,
[78] als die Thür aufging, aber ſtatt des Conditors, der
Kaufmann Herr van Aſten eintrat.


Sie mußten ſich beide ſchon kennen, aber die
Freude des Wiederſehens ſchien auf Seiten des Ritt¬
meiſters nicht groß, noch weniger, als nach der erſten
Begrüßung der Kaufmann einen Platz auf der Bank
in der Art einnahm, daß er dem Officier die Thür
und den Ausgang dahin verſperrte. Und als van
Aſten die abgetragene dicke Brieftaſche aus dem Rock
zog, zog ſich auch das Geſicht des Rittmeiſters ſicht¬
lich in die Länge.


„Sie werden ſich hier die Augen verderben.“


„Bin Ihnen für Ihre Theilnahme ſehr obligirt,
aber was hier drin liegt, kenne ich alles auswendig.“


Dieſe Verſicherung tröſtete den Officier noch
weniger, beſonders als er, trotz der Dunkelheit, mit
ſeinem ſcharfen Auge einen länglichen, ſchmalen Pa¬
pierſtreifen, den van Aſten jetzt unter andern auf den
Tiſch legte, ſehr gut zu erkennen glaubte. Warum
den Gruß der Batterie abwarten, lieber geradlos
darauf.


„Herr van Aſten, ſagte er, incommodiren Sie
ſich nicht. Ich kenne den Wiſch. Sind noch vier¬
zehn Tage hin. Wenn ich am Verfalltage noch lebe,
na, da ſprechen wir weiter davon. Bin ich aber
todt, machen Sie und ich unſre Rechnung mit dem
Himmel —“


„Der es verhüte, daß ein ſo braver Officier ſo
früh in ihn eingeht.“

[79]

„Und wenn bloß Krieg iſt, machen Sie's mit
dem Könige aus.“


„Theuerſter Herr von Dohleneck, rief der Kauf¬
mann, den Wechſel wieder in die Taſche ſchiebend,
was ſo viel Gerede um eine Bagatell! Zwei hundert
Thaler! Darum ſollte der alte van Aſten einen Offi¬
cier ſeines Königs moleſtiren! Bin ich ein Wucherer?
Weiß ich nicht, daß ein Soldat vor dem Feinde Cou¬
rage braucht? Courage und Credit ſind Verwandte.
Und was koſtet nicht die Feldequipage! Wie kann
da ein Officier an ſolche Lumpereien denken. Mancher
hat auch ſonſt Liebes hinter ſich. Möchte Ihnen doch
gern ein Angebinde zurücklaſſen.“


Der Rittmeiſter von Dohleneck ſah ihn etwas
groß, aber nicht ſehr klar an. Der Eingang war
zwar angenehm, wer aber bürgte ihm, daß es der
Ausgang auch ſein werde?


„Alle ſind nicht wie Sie. Solidität wird eine
immer rarere Eigenſchaft, und der Krieg iſt ein
grauſam Vergnügen. Wer weiß, wer zurückkommt
und wer da bleibt! Wenn nun Alle blieben, wer
ſoll da bezahlen. Wie viele Kaufleute ſind mit
ruinirt.“


Der Rittmeiſter ſah mit Verwunderung, wie der
Kaufmann eine ganze Partie ähnlicher Papierſtreifen
auf den Tiſch legte. Es überkam ihn ein Schauer
in der Seele derer, die ſich mit ihrem Namen darun¬
ter verſchrieben, ſeine Stirn aber runzelte bei der
Vorſtellung, daß der alte Geldmann ihn etwa aus¬
[80] erſehen, um über die Verhältniſſe ſeiner Cameraden
Auskunft zu geben.


Ein ſchlauer Seitenblick des andern las, was
in ſeiner Seele vorging. „Wie werde ich denn einen
Officier zum Zeugen aufrufen gegen ſeine Cameraden!
Das weiß ich, jeder Officier muß für den andern
gut ſagen — “


„Na hören Sie, was das anbetrifft!“


„Wir verſtehen uns ja! Cavalierparole iſt ſehr
was ſchönes. Giebt gar nichts ſchöneres auf der Welt.
Aber bei Wechſeln, da halten wir Kaufleute, 's iſt
ſo 'ne alte Uſance, uns an andre Dinge. Wer ins
Feld marſchirt z. B. kann nicht Alles mitnehmen;
man erleichtert's den Herren, nimmt ihnen was zu
ſchwer iſt ab. Hatte da eben eine kleine Conferenz
mit unſerm Manteuffel. Das iſt ein praktiſcher Mann.“


„Hohl ihn der Teufel!“ ſagte der Rittmeiſter.


„Weiß wohl, daß ihm die Herrn Officiere nicht
ſehr grün ſind. Ja, lieber Himmel, wenn mal 'ne
Sache unterm Hammer ſteht, giebt er ſie hin um
jeden Preis. Das iſt wahr. Iſt nu mal nicht an¬
ders. Die Moral iſt, man muß es nicht dahin kom¬
men laſſen. Was nun des Herrn Rittmeiſters kleinen
Wechſel anbetrifft, ſo machte mir Herr Manteuffel
die Propoſition —“


„Seelenmann, Sie werden mich doch nicht an
Manteuffel verkaufen?“


„Verſtehn Sie mich, er wollte Sie einem andern
abgeben.“

[81]

„Das iſt ja Seelenverkäuferei!“


„Sagte ich auch. Und ich wußte ja nicht, ob
Sie gern mit dem Herrn in Connexionen kämen.
Nun wir kennen uns! Aber der Herr iſt ein Fremder,
und voll hätte er auch nicht gezahlt, und wie geſagt,
wer weiß, ob Ihnen das recht iſt, an den Herrn Le¬
gationsrath von Wandel abgegeben zu werden.“


„Der!“ Der Rittmeiſter legte ſchwer ſeine Hand
auf den Tiſch.


„Sehn Sie, das hab ich Manteuffeln auch ge¬
ſagt. Er iſt ja ein Ausländer! Sollen wir Preußi¬
ſches Blut, einen Soldaten unſres Königs, an einen
Fremden verrathen? Wiſſen Sie denn, in weſſen
Dienſten der Herr iſt? Kann er nicht ein Agent des
Bonaparte ſein, kann der nicht den Auftrag haben,
alle Wechſel aufzukaufen, die Preußiſche Officiere
ausgeſtellt haben? Und wenn der Krieg losgeht, die
Herren marſchiren ſollen, ja da hat der König keine
Officiere. Alle eingeſteckt in Wechſelarreſt. Kann nun
ein König Krieg führen ohne Officiere? Der Bona¬
parte drüben freilich, woraus macht der ſich nicht
welche! Die ſind denn auch danach. Aber wir müſſen
ſie doch aus den Cadettenhäuſern haben, aus guten
Familien. Der Napoleon iſt es im Stande, ſagte
ich zu Manteuffeln, denn dem iſt alles möglich.“


„Und was ſagte Manteuffel?“ Der Rittmeiſter
ſtrich ſich den Knebelbart.


„Manteuffel, wiſſen Sie, ſagt nie viel. Er
wiſchte ſich die Brille ab, und meinte, ich dächte wohl
III. 6[82] an England, das Napoleon zu ruiniren denkt. Aber
was für England paßt, paſſe nicht für uns, wir
hätten keine Bank zu ſprengen. Ja, antwortete ich,
wäre ihm doch beinahe gelungen. Und 's kann auch
hier manches ſpringen. Aber 's ſoll ihm nicht ge¬
lingen. Meinen Herrn von Dohleneck ſoll er nicht
in ſeine Klauen kriegen, ehe wir nicht wiſſen, wer er
iſt. Nun freut mich zu hören, daß Herr Rittmeiſter
ihn kennen, denn Sie fürchten ſich in ſeine Hände
zu kommen.“


Der Rittmeiſter ſah den ſchlauen Mann auch
etwas ſchlau an: „Mich will bedünken, daß mein
Herr van Aſten ihn beſſer kennt als ich; ſonſt —“


„Der klügſte Mann weiß nicht Alles und der
beſte Kaufmann läßt ſich auch betrügen.“


Es ſchien etwas im Kopfe des Rittmeiſters, den
der Rothwein noch nicht umdüſtert hatte, aufzublitzen:
„Halt, da entſinne ich mich —“


Van Aſten blätterte und glättete über zwei Pa¬
pierſtreifen. „Ein gelehrter Mann, ein feiner Mann,
ein Mann von vielen Kenntniſſen, hübſcher Conduite.
O iſt gar nichts gegen ihn zu ſagen, ein charmanter
Mann —“


„Hohl ihn der Teufel!“


„Das iſt ſchon manchem charmanten Mann paſſirt.
Thäte auch gar nichts. Ein guter Wechſel gilt im
Himmel und in der Hölle, man muß nur den Aus¬
ſteller kennen. Es freut mich, Herr Rittmeiſter, daß
Sie auch davon wiſſen. O wir haben manche Ge¬
[83] ſchäfte miteinander gemacht, der Herr Legationsrath und
ich. Prompt auf die Minute, und hat eine glückliche
Hand. Wünſchte ſie Ihnen, Herr Rittmeiſter. Wirk¬
lich und wahrhaftig, Ihnen gönne ich alles Gute,
das große Loos, 'ne todte Tante mit hundert Tau¬
ſend; und noch lieber 'ne reiche Frau mit 'ner halben
Million. Sie ſind ein ſo gemüthlicher Mann. Hätt' ich
'ne Tochter, na wer weiß. Ich ſage — Gegen die Wechſel
iſt auch gar nichts zu ſagen. Sie ſind nur etwas ſehr
lang. Und wem ich ſie abgeben will, der ſagt, was
ich mir auch ſagen könnte. Man iſt manchmal auf
den Kopf gefallen. Fallen thut nichts; man ſteht
wieder auf. Aber auf den Kopf muß man nicht
fallen, Herr Rittmeiſter! Alſo ſagt mancher Mann: es
kann ja inzwiſchen was paſſiren, er kann ja auch in
den Krieg wollen, es kann ihn eine Kugel treffen.
Einen todten Menſchen kann man nicht in Wechſel¬
arreſt bringen. Sind Sie nicht auch der Mei¬
nung?“


„Pivat die Soldatenfreiheit!“


„Und wenn er auch nicht in den Krieg zieht,
die Herren Cavaliere haben oft Händel. Sehn Sie
mal, er kann ja in ein Duell gerathen. Paff! Wird
mich der Todtſchießer honoriren? Ja, wenn ſo ein
Geſetz exiſtirte! — Fällt mir bei, der Herr von Wan¬
del hatten ja neulich eine ſolche Affaire. Richtig!
Mit dem Sohn vom Geheimrath Bovillard! — Und
Sie — ja Herr Rittmeiſter waren ja dabei.“


„Wiſſen Sie das auch!“ —


6*[84]

„Der Herr Legationsrath waren wohl erſtaunlich
muthig? Wollten immer drauf los?“


Jetzt fixirte der Rittmeiſter den andern: „Hohl
mich der — und jener! Ich glaube, Sie wollen mich
aushorchen, was ich von ihm denke.“


Herr van Aſten ſagte nicht ja und ſagte nicht
nein; er lächelte nur: „Weiß ſchon vielerlei, aber —
wenn man auch ſchon das ganze i geſchrieben hat,
kanns einem doch gerade noch auf das Tippelchen
drauf ankommen. Iſt ein Politikus. Einem Poli¬
tikus gegenüber muß man wieder einer ſein. Ob er
ein Spion des Großen Mogul iſt, oder ein Geiſter¬
ſeher, oder ein Magnetiſeur, oder ein Lovelace, oder
— oder — was kümmerts mich, aber — verſtehen
Sie mich, das eine möchte ich wiſſen, iſts da mit
rechten Dingen zugegangen, oder —“


Der Rittmeiſter fuhr mit der Hand in die Fri¬
ſur: „Blitz, ich glaube nein! Und wollen Sies recht
wiſſen, drei Mal drei Mal nein. Und — unter
uns: Es ſtinkt! Er hat's, Gott weiß durch wen,
der Polizei geſteckt.“


„Alſo nicht der junge Bovillard?“


„Ein grundehrlich Blut, réparation d'honneur.
Wie ein Cavalier ſich benommen.“


„Aber der Legationsrath hat ihn wieder aus dem
Gefängniß losgebeten?“


„Um ihn als Courier fortzuſchicken. Die Memme!“


Der alte van Aſten lehnte ſich auf den Tiſch
und ſchüttelte den Kopf: „Da hätten wir alſo das
[85] Tippelchen auf dem i. — Na, Herr Rittmeiſter, wel¬
chen Wein lieben Sie am meiſten? Werden mir doch die
Ehre erweiſen und Beſcheid thun auf ein Gläschen?“


Ein Tokaierfläſchchen ſtand auf dem Tiſch und
färbte ſchon mit dunkelm Gold zwei Gläſer, als
Dohleneck noch immer nicht wußte, wie er dazu kam.


„Nu ſtoßen Sie an,“ ſagte der Kaufmann.


„Worauf?“


„Auf einen alten Eſel! — Ja, ſehn Sie mich
nur recht an, und dann dreiſt los!“


Die Gläſer klangen, der Rittmeiſter zauderte
aber doch faſt erſchrocken, ehe er den Feuerſaft an die
Lippen brachte.


„Aber Herr van Aſten, wie komm ich dazu?“


„Daß ich Ihnen ſolche Confeſſions mache? Das
will ich Ihnen ſagen. Weil ich Ihnen gut bin. Nicht
als Kaufmann, als Menſch. Nein, eigentlich bin ich
Ihnen doch gut grad als ſolider Kaufmann. Denn
wovon leben die? Von den ſoliden Leuten doch nicht?
Da müßten ſie verhungern. Die jungen Thunichts¬
gute, die auf Credit einſchenken laſſen, das Ihre
durchbringen, und noch ein bischen mehr, das ſind
ihre beſten Kunden. Geht auch mal Einer durch,
thut nichts, darauf iſt die Kreiderechnung ſchon zu¬
geſchnitten. Ein ſolider Kaufmann, ſag ich Ihnen,
muß eigentlich die Unſoliden leben laſſen! Darum,
noch mal angeſtoßen!“


Der Rittmeiſter ſtieß etwas brummend an.


„Weiß Gott, mein lieber Herr von Dohleneck,
[86] mir iſt immer wohl zu Muthe, wenn ich Ihre glat¬
ten Backen ſehe. Wenn Sie ſo eine Flaſche aus¬
ſtechen, 's iſt nicht wie die andern jungen Hitzköpfe,
die ſchwappeln und ſchäumen, und ſtürzen, die Hälfte
geht in die unrechte Kehle. Nein, bei Ihnen fühlt
man ordentlich, wie dem Weine ſein Recht geſchieht,
es muß Ihnen wohl ſein, daß er ſo glatt runtergeht.
Die Beine ziehen Sie auch nicht zurück, wenn ein
Bürgersmann vorbei will, dafür ſind Sie Cavallerie¬
officier; dieſe Beine dienen König und Vaterland,
dafür müſſen ſie ruhen können, wies Ihnen commode,
oder Mode iſt. Aber's iſt 'ne ganz andre Art darin,
wie Ihre Beine liegen. Die andern Herrn, Ihre
Cameraden, wenn ſie ſo das Kinn zu uns umdrehen,
denken: „Wozu iſt nun wohl die Canaille auf der
Welt! Sie aber denken, das will ich wetten: I warum
ſoll das Gewürm nicht auch im Sonnenſchein ſpielen,
's iſt ja Platz da! Und wenn Sie den Bart ſtreichen,
und ſo glau und ſchlau dabei ins Blaue ſehn, da
möchte ich manchmal aufſpringen und Ihnen die Hand
drücken, oder, wenn ich ein hübſch Mädchen wäre,
fiele ich Ihnen um den Hals.“


„Donnerwetter, Herr van Aſten, ein hübſches
Mädchen, erlauben Sie mir, das ſind Sie nicht,
aber — “


„Warum ich ein alter Eſel bin, das wünſchen
Sie zu wiſſen. Sie ſollen's. Iſt mir doch ſo, als
müßte ich Einem heut mein Herz ausſchütten. Drei
dumme Streiche! Wenn Sie die gemacht, na was
[87] wär' es! Ein Cavallerieofficier braucht nicht zu den¬
ken; aber ein alter Kaufmann! Pfui! — Pro primo,
das iſt wacklicht, pro secundo, das iſt faul und
pro tertio, das iſt dumm. Pro primo, das ſag ich
Ihnen nicht, iſt ein Compagniegeſchäft mit einem
vornehmen Herrn. Das wackelt noch, aber kommt
Krieg — fliegt's in die Luft; der große Herr wird
ſich ſalviren, der kleine bleibt hängen. Die Moral
iſt, 's iſt nicht gut mit großen Herren Kirſchen eſſen.
Pro secundo hab ich vom Legationsrath drei kurze
Wechſel auf drei lange prolongirt! Denken Sie, neun
Monat! Darüber muß ein Kind zur Welt kommen;
wenn nun ein Krieg kommt, wenn er eclipſirte! Die
Moral iſt: wenn man einen Aal am Kopfe hält, muß
man nicht loslaſſen, ſonſt ſitzt man bald am Schwanz¬
ende. Und drittens, denken Sie ſich, da hab ich eben
eine ganze Schrift, die der Nachbar Herr Mittler
gedruckt hat, für mein baares ſchweres Geld aufkau¬
fen laſſen, verſtehn Sie, alle fünfhundert Exemplare.“


„Was! Wollen Sie auch Buchhändler werden?“


„Gott bewahre mich! Contobücher, die andern
taugen nichts.“


„Was ſteht denn drin, was Sie ſo ſehr in¬
tereſſirt?“


„Lauter dummes Zeug.“


„Was wollen Sie damit?“


„Verbrennen! Sind ſchon Aſche.“


„Peſtilenz! rief der Rittmeiſter. Sie ſind mir
ein curioſer Mann.“

[88]

„Möglich. Sehn Sie, das dumme Zeug rührte
von mir her, nämlich von Blut von meinem Blut,
von meinem Sohn. Konnte ichs nun übers Herz
bringen, das dumme Zeug unter die Leute laufen zu
laſſen? Alſo fix in die Taſche gegriffen und Man¬
teuffeln es machen laſſen.“


„Nu das iſt pfiffig gehandelt.“


„Recht dumm, Herr von Dohleneck. Manteuffel
glaubt zwar, er hat ſie alle gekriegt, aber eins oder
das andre iſt doch unter den Tiſch gefallen, und wer
das weg hat, giebts nicht raus. Wirds nun erſt
bekannt, man kriegt keine mehr, dann fallen ſie drüber
her wie die Fliegen übers Aas, jeder wills leſen.
Iſt das nun nicht eine pure Dummheit, hundert
Thaler wegzuſchmeißen, damit ich was Dummes erſt
recht in die Welt ſchicke!“


Das lag außer dem Departement des Ritt¬
meiſters. Er ſtellte ſein leeres Glas auf den Tiſch:


„Herr! wiſſen Sie was? — Aber verrathen
müſſen Sie mich nicht. Den einen dummen Streich
wollen wir Ihnen repariren. Dem Legationsrath
paſſen wir alle auf die Finger, und wenn er ſich
mal attrapiren läßt, dann ſoll er Ihnen kein Kopf¬
weh mehr machen.“


Der Kaufmann war aufgeſprungen und faßte
den Rittmeiſter mit beiden Händen ich glaube es
war nur an den Kragen; urſprünglich war die Lieb¬
koſung den Ohren oder Backen zugedacht. Der Re¬
ſpect ließ die Hände tiefer ſinken:

[89]

„Herr, ſind Sie des Teufels! Keine Hand ange¬
rührt an meinen theuern Legationsrath! Wollen Sie mir
fünftau — wiſſen Sie wie hoch die Wechſel ſind? —
Herr, Goldmann, daß dich! Nicht rühren an den
Mann, bis — Wollen mich doch nicht ruiniren? —
Und alles bleibt geheim, nicht wahr?“


„Die Wände werden nicht plaudern,“ ſagte der
Rittmeiſter.


Ein deutſcher Handſchlag, und der Reſt der
Flaſche floß in das Glas des Officiers.


„Alſo, ſagte der Kaufmann, indem er den be¬
wußten Wechſel zum nicht geringen Befremden des
Officiers wieder aus der Brieftaſche zog. Alſo auf
wie lange wollen Sie ihn prolongirt? — Denke
auf neun Monate. Lieber Gott in neun Monat,
was iſt da nicht geboren!“ Mit einem raſchen Schrift¬
zug war die Prolongation erfolgt.


„Sie haben mir 'nen recht großen Gefallen ge¬
than, ſchloß van Aſten. Könnte man alle Geſchäfte
ſo ſchnell abwickeln! Paſſirt aber auch nur unter
Freunden, die ſich ganz verſtehen. Und wenn Sie
ſonſt zur Equipage noch etwas bedürften, ein hundert
oder zwei hundert Thälerchen, klingeln Sie nur,
Spandauer-Straße, gleich um die Ecke, das dritte
Haus, und dann links, auf dem Hofe iſt der Eingang.“

[[90]]

Sechstes Kapitel.
Fenſterſkizzen.

Es war ein grauer Herbſttag, an dem nur dann
und wann die Sonne einen Blick auf die Dächer
von Potsdam warf. Der Wind wehte die gelben
Blätter durch die Straßen: öde ſonſt, heut belebt
von Köpfen, Uniformen, Livreyen aller Farben und
Muſter, von Phyſiognomien, die den verſchiedenſten
Nationen, ja Welttheilen, anzugehören ſchienen. Die
Equipagen von Miniſtern, Generalen, von Geſandten
und fremden Prinzen, rollten unaufhörlich zwiſchen
den Palläſten und Wirthshäuſern, und zu dieſen
Gäſten von diplomatiſchem Character kamen aus der
Hauptſtadt zahlreiche Poſtchaiſen, Lohnfuhrwerke und
jene langen und ſchmalen, ihrer Zeit wohl bekannten,
Charlottenburger Korbwagen, deren magere und keu¬
chende Pferde zwölf Neugierige oder noch mehr aus
der erſten auf ein Mal in der zweiten Reſidenzſtadt
abſetzten.


Es mußte ein großes Ereigniß, oder eine große
Erwartung ſein, welche ſo viele Berliner, und an
[91] einem Tage, den beſchwerlichen Weg unternehmen ließ
Ja, Potsdam, das lange verödete, ſchien wieder der
Mittelpunkt eines Europäiſchen Lebens geworden.
Man ſah es an den Blicken, man hörte es am Ge¬
flüſter der Gruppen; aber nicht an den laut gewor¬
denen Reden. Denn wenn zwei ſich begegneten, frag¬
ten ſie nur: „Haben Sie ihn ſchon geſehen?“ —
Wenn ihn nicht, den ritterlichen Gaſt, hatte man doch
einen ſeiner ſilberumgürteten Koſacken geſehen, die
Straße auf, Straße abſprengten, angeſtaunt und bewun¬
dert von Allen. Und es war doch auch ſonſt ſo viel auf
den Straßen zu ſehen, was da ſelten ſich zeigt: die erſten
Männer des Staates, Militair und Civil, im Freien
promenirend, in den Hausthüren, an den Ecken ſtehend.
Es ſchien ein öffentliches Leben in der Stadt Pots¬
dam, und — es war keine Parade! So vornehm
die Männer und Gäſte, waren doch nicht alle gela¬
den, ja die wenigſten hatten in den Appartements
des Schloſſes Zutritt, welche heute mehr dem häus¬
lichen nur Familienbeiſammenſein geöffnet ſein ſoll¬
ten. Aber gleiche Erwartung, Spannung, ob und
was ſich entwickeln werde, hatte die Erſten und Höch¬
ſten hergetrieben. Feldherrn, Miniſter und Kabinets¬
räthe, und nicht mit dem geheimnißvollen Nimbus
der Autorität und des alles beſſer wiſſens um die
Stirn, ſuchten, wie der Opferprieſter im Flug
der Vögel, in den Mienen der andern, ob ſie
eingeweiht waren? Es mußten wenige eingeweiht
ſein. Die eben vom Schloſſe zurückkamen, antworteten,
[92] wenn Gruppen ſich um ſie bildeten, nur mit Achſel¬
zucken.


Auch vornehme Damen ſtanden an den geöffneten
Fenſtern. Neugierig ſchweiften die Blicke der Fürſtin
Gargazin über den Platz, und ſie hörte nur halb,
was der Kammerherr von St. Real erzählte. Er
war im Schloß geweſen und hatte aus dem Vor¬
zimmer einen flüchtigen Blick auf das häusliche Glück
im Schooß des Heiligthums geworfen.


„Was helfen uns Familienſcenen, Kammerherr!“


„Seine Majeſtät der Kaiſer ließen zwei der
königlichen Kinder auf Ihren Knieen reiten. Ihre
Majeſtät die Königin blickte mit verklärter Mutter¬
freude auf das Bild.“


„Das glaube ich; aber der König?“


„Stand die Hände auf dem Rücken daneben.“


„Ernſt wie immer?“


„Nein, Seine Majeſtät lächelten. Alle meinten,
das werde eine Unité, die nie zerreißen kann.“


„Aber andern die Geduld, warf die Fürſtin ein.
Die Einigkeit da gefällt mir beſſer. Sehn Sie,
Haugwitz mit dem Erzherzog Arm in Arm.“


„Sie ſcheinen in ein ſehr ernſthaftes Geſpräch
verwickelt,“ bemerkte ein Dritter am Fenſter.


„Und Blücher ſchlägt hinter ihnen mit den Füßen
den Takt. Er kann ſeine Freude kaum verbergen.“


„Er ſollte nur den Säbel nicht ſo klirren laſſen!
Lombard flankirt umher. Ihm iſt's nicht recht. Er
möchte gar zu gern Haugwitz einen Wink geben.“

[93]

„Sehn Sie die Poſition, die er einnimmt. Sie
ſehn Lombard noch nicht; ſo ſind ſie vertieft. Jetzt
müſſen ſie auf ihn ſtoßen, und geben Sie Acht, wie
er ſich wie ein Aal in ihr Geſpräch ſchlängeln wird!“


„Magnifique!“ rief die Fürſtin und klatſchte ihre
feinen Hände unwillkürlich zuſammen. Ein rieſeln¬
des Gelächter der Umſtehenden accompagnirte ihre
Empfindungen. Der Erzherzog mußte Lombard ge¬
ſehen haben, und mit einer geſchickten und raſchen
Wendung bog er, kurz vor ſeinem Zuſammentreffen,
dem Hinderniß aus.


Parbleu! Erlaucht, ſteht er nicht da wie eine
Salzſäule!“


„Lombard verblüfft, ô c'est pour rire.“


„Blücher ſtreicht ſich den Bart. Der Seitenblick,
den er ihm zuwirft! Ich fürchte für Lombards
Magen.“


„Er kann viel vertragen.“


„Er recollirt ſich ſchon.“


„Der rechte Mann um bonne mine à mauvais
jeu
zu machen. Aber ſehn Sie Rücheln dort an der
Ecke. Wie ein ſteinerner Roland, und ein Geſicht,
als hätte er in eine bittre Citrone gebiſſen.“


„Das iſt ſchlimm, wenn Rüchel nicht zufrie¬
den iſt.“


„Wie ſollte er es ſein, gnädigſte Frau, wenn
Blücher vor ihm triumphirt!“


„Ah Monsieur de Bovillard!“ rief die Fürſtin mit
holdſeliger Stimme, über die Fenſterbrüſtung gebeugt.

[94]

Den!“ Die Cavaliere ſahen ſich verwundert an.


„Er kommt wahrhaftig herauf.“


„Meine Herrn, von meinen Freunden erfahre
ich nur, was ich weiß, an unſre Feinde müſſen wir
uns wenden, wenn wir lernen wollen,“ entgegnete
die Fürſtin raſch umgewandt, während der Mann,
welchem die Bemerkung galt, ſchon die Treppe herauf
ſtieg:


„Tout à vos ordres, ma pincesse!“ keuchte der
Athemloſe ſich tief verneigend.


„Sie ſind echauffirt. Meine Herrn, das Fenſter
zu, damit Herr von Bovillard ſich nicht erkältet!
Wirklich, Sie ſollten ſich ſchonen, für den Staat und
— die Ehren, die Ihrer warten.“


„Erlaucht belieben mit einem abgeſetzten Manne
zu ſpotten. An uns iſt es Kohl zu pflanzen.“


„Eine ſehr hübſche Beſchäftigung, entgegnete die
Fürſtin, die ſich aber ganz gut mit einigen Deco¬
rationen auf der Bruſt verträgt. — Blicken Sie mich
doch nicht ſo ehrlich an —“


„Auf Ehrlichkeit und Ehre, Madame, ich glaube
wir ſind ſchon ruſſiſch. Ihr Sklave wirft ſich Ihnen
zu Füßen und fleht um Ihre Fürſprache, daß er
Gnade empfange.“


„Die Alexander, der Großmüthige, von ſelbſt
gewährt. Ohne Spaß, Herr von Bovillard, was
trugen Sie davon? Einen Orden, Brillantringe,
Doſen? Er vergißt ſeine Freunde in der verſchwen¬
deriſchen Großmuth gegen ſeine Feinde.“

[95]

„Erlauchte Frau, Sie könnten mich ſtolz machen,
zu glauben, daß ich noch nicht überwunden bin, denn
meine Bruſt und Taſchen ſind leer.“


Die Fürſtin fixirte ihn, mit der Antwort wie es
ſchien nicht unzufrieden: „Er iſt noch großmüthiger,
wenn er Freunde gewinnen will. Doch freilich, wenn
er Sie öffentlich decorirte, wie würden Sie vor La¬
foreſt beſtehen? Aber in der That, lieber Bovillard,
die Miene der Ehrlichkeit ſteht Ihnen ſchlecht; ich
fürchte Sie weit mehr als wenn Sie mit Ihrer
moquanten mich zum Beſten haben.“


Parole d'honneur, princesse! Auf die Gefahr
hin, ich muß ehrlich ſein, denn ich weiß nichts.“


„Wer iſt beim Könige?“


„Haugwitz, wie Sie ſehen, promenirt mit dem
Erzherzog. Voß geht in der Antichambre verdrießlich
umher, und ſagt zu den Einen Ja, zu den Andern
Nein. Hoym hat nur Augen für die Königin; er
ſcheint im Vertrauen und wartet auf ihre Winke.
Schulenburg und Angern unterhalten ſich mit den
Adjutanten über die Viehzucht in der Krimm. Köcke¬
ritz ſagt zu jedem, es werde alles gut werden, wenn
man nur ruhig bleibt. Wittgenſtein hat ein Paar
vornehme Ruſſen am Arm und ziſchelt ihnen die ge¬
heime Geſchichte einiger Hofdamen zu. Zur Radzi¬
will war Alexander ſehr zuvorkommend. Sie iſt ihm
aber zu enthuſiasmirt, hat mir im Vertrauen Fürſt
Woronzof geſagt. Er liebt die plaſtiſche Ruhe. Die
Prinzeß Mariane bewundert er um ihre Schönheit,
[96] ſie iſt ihm aber wieder zu plaſtiſch und claſſiſch.
Comteß Laura —“


„Um Himmels Willen, das Kataſter unſrer
Schönheiten ein andermal!“ unterbrach ihn die Fürſtin.


„Aber die Königin bleibt die Centifolie unter
den Blumen, die Sonne unter den Sternen. Und
welcher getreue Unterthan wagte dem zu widerſprechen!“


„Beim Geſpräch vor der Kinderſcene, ich meine
im Kabinet, war kein Miniſter zugegen? Wo war
Beyme? Ward Lombard von ihnen hinausgeſchickt?“


„Erlaucht, ich bin ja ſo unſchuldig, wie ein neu
geboren Kind, und, hohl mich der Geier— pardon!
— ſie ſinds alle im Schloſſe. Es druckſt etwas, und
will nicht herausplatzen —“


„Und der Allianztraktat? —“ platzte es bei der
Fürſtin heraus.


„Steht noch nicht auf dem Papier —“


Bovillard, wenn er ſie nicht ſelbſt eingebüßt,
hätte jetzt von der Fürſtin ſagen können, daß ſie die
Contenance verloren. Sie war nicht mehr Diplo¬
matin, ſie ging mit Heftigkeit auf und ab: „Und
von der Stunde hängt es ab! — Iſt denn ſolcher —
möglich! Jung und —“


„Die Bedächtigkeit iſt doch eine ſchöne Sache,“
fiel Bovillard ein.


„Ihr intriguirt doch hinter unſerm Rücken, fuhr
die Fürſtin auf, trotz Beymes Verſprechen, das er
der Radziwill geben mußte, trotz des Geſprächs, was
Lombard neulich mit der Prinzeſſin Mariane hatte.
[97] Ihr laßt Haugwitz mit dem Erzherzog Anton ver¬
handeln, damit er von der wichtigern Unterhandlung
mit Alexander abgezogen wird. Hardenberg laßt
Ihr einer reiſenden Schauſpielerin mit Extrapoſt
nachſtiegen, daß er noch nicht nach Potsdam zurück
iſt; Prinz Louis zu einer opportunen Zeit dem König in
den Weg treten, daß er aufgebracht werden mußte.
Stein, Gott weiß, wo Ihr den in den Winkel ge¬
ſtellt habt. Kurz, ich durchſchaue alle Eure Ränke,
und im wichtigſten Moment ſeines Lebens, wo er Rath
haben muß, iſt es Euch gelungen, ihn mit Nullen
und Pagoden zu umſtellen.“


Die Fürſtin hatte recht, wenn ſie heut in des
Geheimrathes Bovillard Phyſiognomie etwas Unna¬
türliches fand, nämlich die Ehrlichkeit. Wie er jetzt,
aufrecht ſtehend, ſie groß anſah, die Hand an der
Bruſt, hätte der gewiegteſte Pſycholog geſchworen, er
meine es aufrichtig:


„Erlauchte Prinzeſſin, die Flüſſe ſpielen um den
Berg, aber, wenn der Berg den Einfall bekommt
einzuſtürzen, iſt ihr Spiel aus. Einem Selbſtherr¬
ſcher aller Reuſſen gegenüber, der den Einfall be¬
kommt, uns mit ſeinem höchſt eigenen Beſuch zu
überraſchen, hört unſer Spiel auf. Der Gewalt
weicht die Kunſt. Jetzt ſpielen höhere Mächte und
wir fügen uns als Stoiker in das Unabänder¬
liche.“


Es entſtand eine Pauſe. Die Fürſtin hatte ihre
Promenade noch nicht beendet:

III. 7[98]

„Einer muß doch den Anfang machen!“ rief ſie
halb für ſich aus dem Chaos ihrer Gedanken.


„Aber wenn der Eine es nicht geſchickt anfängt,
ſchickt er ihn fort, ſagte Bovillard. So ging es
Stein. Der Freiherr polterte mit einer Proclamation
los, die er in der Taſche trug, am Schweif eine
Kriegserklärung. Majeſtät zogen die Stirn und
zuckten mit dem Arm. Stein ſagte, was man wolle,
müſſe man zeigen, und was man zeige, müſſe man
wollen. Majeſtät ſagten, ſie hätten auch noch andre
Räthe, auch kluge Leute, auch treue Diener ihres
Herrn, die er ſchon länger kenne, als den Herrn von
Stein, und die nicht gleich mit dem Kopf durch die
Mauer wollten. Zum Glück aplanirte der Kaiſer
mit einer liebenswürdigen Wendung den Riß.“


„Und Stein?“


„Studirt im Luſtgarten den Kunſtſtil der Drya¬
den und Najaden.“


„Hardenberg wäre beſſer zum erſten Angriff ge¬
weſen. Wer denn nun?“


„Wer hat gleich ein neues Concept fertig! Von
unſern Freunden werden Sie die Initiative nicht er¬
warten. Wir ſtellen uns nur zur Dispoſition.“


„Man kann wirklich nicht mehr Aufopferung
fordern,“ bemerkte ein Ruſſe.


„Johannes Müller iſt doch citirt,“ ſagte die
Fürſtin.


„Steht auch da, Erlaucht, mit der Feder in der
Taſche, Dinte hat er auch, aber das Papier will man
[99] ihm noch nicht geben. Lombard iſt ja auch berufen,
hat auch die Feder geſpitzt; je nach dem, franzöſiſch
oder deutſch, hart oder weich.“


„Aber nachdem Stein abgeblitzt, mußten doch
Majeſtät Ihre Meinung äußern.“


„Sie haben ſie auch geäußert. Das Wort
Kriegserklärung, ſo hart noch herausgeſtoßen, ohne
alle Ueberzuckerung, hatten Majeſtät dermaßen irritirt,
daß Ihro Majeſtät die Königin dem Kaiſer einen
Wink gab. Alexander verſtand ſie auch mit einer
admirablen Grazie. Nun ward der Krieg emballirt,
in eine traurige Eventualität überſetzt, und unter
dieſer Umhüllung paſſirte er wieder in der Conver¬
ſation. Wenn man nur den rechten Ernſt zeige und
zur rechten Zeit, dann könne man ſich der ſichern
Hoffnung hingeben —“


„Daß Bonaparte zu Kreuz kriecht! — O char¬
mant!“ rief die Fürſtin, und dunkle Lichter blitzten
auf ihrem Geſicht, die wenig zu der zurechtgelegten
Sanftmuth paßten. „Darum von Petersburg nach
Moskau geflogen, darum eine halbe Welt in Auf¬
ruhr, darum dieſe koſtbaren Stunden in Potsdam!
Um eine Ambaſſade, um eine neue Conferenz, um
Protokolle —“


„Ohne Ambaſſade, Erlaucht, geht es nicht ab,
mein kleiner Finger ſagt es mir.“


„Die dem Corſen vorſtellen ſoll, wie un¬
billig er gehandelt, ihm Moral predigen und
Unterricht im Völkerrecht geben! Damit er ſie,
7*[100] uns, alle, nicht allein verachtet, beſiegt, mit Füßen
tritt, nein, daß er ſie auch verlacht. Und er hat
recht.“


Der Major von Eiſenhauch war ſchon während
ihres Geſpräches eingetreten. Er ſchien über die
Geſellſchaft, die er hier fand, verwundert.


„Nun und Sie, Major?“


Er zuckte die Achſeln: „Bis zum außerordent¬
lichen Geſandten iſt man gekommen. Er ſoll morgen
abreiſen.“


„Mit welchen Bedingungen?“


„Man ſpricht davon, der Luneviller Friede ſoll
zum Grunde gelegt werden.“


„Die kann Bonaparte nicht annehmen, ſagte
die Fürſtin raſch. Das wäre alſo ſo gut wie Krieg.
Aber wer wird zu ihm geſandt?“


„Haugwitz.“


In den Geſichtszügen der Anweſenden war Ueber¬
raſchung, vielleicht etwas mehr, Entrüſtung, Schreck
zu leſen. Eine ſprachloſe Pauſe.


„Iſt das auch das Spiel der höheren Mächte?“
fragte die Gargazin mit einem bittern Blick auf
Bovillard, der verſtummte. Der Major antwortete
ſtatt ſeiner:


„Seiner Majeſtät eigner Wille. Niemand hatte
natürlich an Haugwitz gedacht. Sie mögen denken,
wie es auf alle gewirkt. Aber des Königs Gerech¬
tigkeitsgefühl ſpielte mit.“


„Sagen Sie — ach, mir fehlen auch die Worte
[101] dafür. Er ſchickt den hin, der unter jeder Bedingung
nach dem Frieden greift.“


„Warum nicht den, bemerkte Bovillard beſcheiden,
der Napoleon perſönlich angenehm iſt. Zum Ver¬
mitteln ſchickt man doch nicht widerwärtige Geſchöpfe.“


„Um Vergebung, nahm der Major das Wort,
ich glaube vielmehr, daß das des Monarchen eigen¬
thümlicher Sinn war. Er wollte dem, welchen er
durch einen gefaßten Beſchluß gekränkt, durch ſein
Vertrauen es vergütigen. Uebrigens ich glaube jetzt
auch an Haugwitz. Er geht nicht gern, aber er geht.
Der Erzherzog, der Kaiſer, von allen Seiten über¬
ſchüttet man ihn mit ſchmeichelhafter Aufmerkſamkeit.
Auch contre-coeur iſt er verſtrickt.“


„Meine Herren, erhob ſich die Fürſtin, die Per¬
ſonen ſind am Ende gleichgültig. Aber wo iſt der
Wille? Was iſt beſchloſſen? Wann reiſt Haugwitz?
Mit Courierpferden? Wohin? Welchen Termin ſoll
er dem Uſurpator ſetzen? Wenn er nein ſagt, wann
ſtoßen unſre Heere zuſammen? Wo? Wo iſt der Plan?
— Wo der Traktat? Fehlt es in Potsdam an Pa¬
pier? Eine Feder kritzelt zu langſam. Mit Blitzen
müßte man ſchreiben. Denn der Attila reitet auf Blitzen.“


Sie ſah ſich vergebens nach einem Aufblitzen in
den Mienen um. Die Herren zuckten die Achſeln.
Man blickte ziemlich rathlos zum Fenſter hinaus.
Auch dort waren nur fragende Geſichter.


„Köckeritz kommt aus dem Schloſſe!“


„Rüchel packt ihn. Wie haſtig ſie ſprechen!“

[102]

„Rüchel iſt außer ſich. Er kneift den armen
Köckeritz ordentlich in den Arm.“


„O weh, ſeine Nachrichten müſſen ſchlimm lauten.“


Aber man ſprach ſich Troſt zu. Es ſei gut, daß
man die Hitzigen aus der nächſten Umgebung zu
entfernen gewußt. Die Radziwill und ihr Bruder
hätten durch ein Wort alles verderben können. Die
Königin operire verſtändig und im Einverſtändniß
mit dem Kaiſer. Sie leiteten klugerweiſe das Ge¬
ſpräch auf gleichgültige, aber dem Könige angenehme
Dinge, um in der Gunſt der Stunde auf die Sache
einzulenken. Dann laſſe ſich oft das Schwierigſte in
einem Augenblicke abthun.


„Und wer kann ſich rühmen, daß er der Liebens¬
würdigkeit eines Alexander auf die Länge widerſtan¬
den hat!“ bemerkte ein Begleiter der Fürſtin, mit
einem feinen Seitenblick, der trotz der Aufregung
verſtanden ward.


„Wenn die Stunde nur nicht ſo kurz wäre, und
der Boden nicht unter unſern Sohlen brennte!“
ſeufzte ſie.


Es hatte ſich noch Jemand in der Geſellſchaft
eingefunden, entweder jetzt erſt, oder er befand ſich
ſchon eine Weile unbemerkt im Zimmer, das einer
gemeinſchaftlichen Schauloge ähnlich ſchien. Vom
letzten Fenſter wandte ſich der Legationsrath von
Wandel zu den Sprechenden um:


„Wir dürften uns die klugen Leiter dieſes Tages
zum Beiſpiel nehmen und wie ſie, die Ungeduldigen,
[103] unſre eigne Ungeduld zurechtweiſen. Wenn man auch
ſchon einig wäre, würde man einen geheimen Traktat
vor aller Augen abſchließen? Halb Berlin iſt hier
verſammelt, die Ohren und Augen dringen bis durch
die Mauern des Schloſſes. Außerdem kennen wir
alle die Scheu Seiner Majeſtät vor der Publicität.
Man hat gewiß dieſen Tag in Potsdam nicht ohne
Abſicht gewählt, aber nicht auf dieſen Strom von
Zuſchauern gerechnet. Mich dünkt es iſt ſehr klug,
daß man nun den Tag verſtreichen läßt, um den
Abend abzuwarten.“


„Wiſſen Sie etwas?“ Die Fürſtin trat mit ihm
bei Seite.


„Eigentlich nichts. Man unterminirt und weicht
auf. Alexander ſucht ihm die Eventualität als gar
nicht ſo gefährlich zu ſchildern. Es werde mit einer
Entſcheidungsſchlacht abgethan ſein. Wenn die drei
vereinigten Heere zuſammen agirten, müſſe man den
ſchon geſchwächten zerdrücken, wie er den Mack bei
Ulm.“


„Und er rechnet aus die Leichen und das Blut!“


„Dann meint Alexander, es werde vielleicht in
dem Falle gar nicht zum Blutvergießen kommen;
umzingelt, ohne Rettung, ohne Ausſicht, werde er ſich
auf Gnade ergeben.“


„Charmant! Majeſtät unſer gnädigſter Kaiſer
mahlen ihm auch vielleicht die Seligkeit der Gro߬
muth. Wie ſie den Beſiegten aufheben, ihn an ihre
Bruſt drücken wollen, wie Karl den Wittekind, ihn
[104] ihrer Liebe verſichern und ihm ein beſcheidenes Kaiſer¬
thum zuweiſen. Nicht wahr, Majeſtät Napoleon werde,
gerührt von ſo viel Großmuth, in Thränen ausbre¬
chen, daß er ſich in ſeinen wahren Freunden getäuſcht,
mit ihnen in einem heiligen Bunde geloben, fortan
nur für das Wohl der Menſchheit zu wirken. Und
ſo weiter.“


„Vergeſſen Erlaucht nicht: der König iſt ein ge¬
rechter Mann und ein Mann von Takt. Durch Illu¬
ſionen läßt er ſich nicht beſtechen.“


„Beſtechlich iſt jeder. Man muß nur viel und
das Rechte bieten.“


„Ihr Kaiſer ſchien vergeſſen zu haben, daß der
König vor Napoleon Reſpect hat. Friedrich Wilhelm
erinnerte ihn, daß er ein großer Feldherr ſei, dem
Gott Siege verliehen, und nur Siege, auch jetzt ein
gekrönter Fürſt, den er anerkannt, daß er Verträge
mit ihm geſchloſſen, die ihm immer und auch dann
noch heilig ſeien, wenn der andre ſie verletzt —“


„Wirklich! Und —“


„Da ſchien die Königin der Bock einen Wink
gegeben zu haben. Sie trat mit einem der jüngſten
Kinder herein.“


„Et cetera, rief die Fürſtin ungeduldig. Und
nach dieſer[Kinderſcene] was kam da für eine
neue?“


„Nachdem man wieder weich geworden, ſtellten
Ihro Majeſtät ihrem Gemahl vor, ob nur Bonaparte
von Gott mit Siegen gekrönt, ob nur er Kronen
[105] trage, ob man um ſeiner Feinde willen ſeine Freunde
vergeſſen dürfe? Ob er einen beſſern Freund habe
als Alexander? Ob irgend ein anderer Freund ſo
gütig ſeine herben Launen würde hingenommen haben?
Was er ſagen würde, wenn der Kaiſer aufgebracht,
das Zimmer verlaſſen, ſich in den Wagen geworfen
und aufgebrochen wäre? Und was die Welt dazu
ſagen würde, wenn Alexander — nach ſolchem Em¬
barras, ſcheide, breche? Ob das nicht ein Bruch mit
Rußland, mit den Alliirten wäre? Ob Napoleon
wenigſtens das nicht ſo anſehn müſſe? Ob er mit
Gewalt in deſſen Arme wolle geſtoßen ſein?“


Der Legationsrath neigte ſich zum Ohr der
Fürſtin: „Ein moraliſcher Coup. Irgend eine At¬
trape — um Mitternacht meint man. Worin ſie
beſtehen wird, iſt noch Geheimniß.“


„Doch keine Geiſtererſcheinung!“ Die Fürſtin ſah
ihn mißtrauiſch an. „Die kämen im Jahre 1805 um
zehn zu ſpät. Und woher wiſſen Sie es?“


Der Legationsrath beugte ſich wieder ans Ohr
der Fürſtin, als die Thür aufgeriſſen ward, und der
Jäger hereinrief:


„Excellenz, Miniſter Laforeſt!“


„Laforeſt!“ hallte es leiſe wieder von den Lippen;
die Geſichter ſchienen zu erblaſſen wie vor einer Geiſter¬
erſcheinung. Aber Laforeſts Eintritt verſcheuchte den
Eindruck. Ihm voraus ſprang ein großes ſchönes
Windſpiel; er ſelbſt im eleganten hellen Negligé¬
überrock glich mehr einem Engländer als einem Fran¬
[106] zoſen; nonchalant und heiter, warf er leicht grüßend
ſeine Blicke im Kreiſe umher, nachdem er vor der
Fürſtin ſich verbindlich geneigt.


„Herr von Laforeſt in Potsdam — das iſt ja
eine unerwartete Ueberraſchung!“ ſagte dieſe.


„Sie meinen, weil Duroc abgereiſt iſt, müßte
ich auch Päſſe erhalten. Durocs Miſſion war Krieg,
meine Frieden. Der Krieg geht ab, der Friede bleibt.
Gnädigſte Frau, das iſt der Vorzug eines ordent¬
lichen Geſandten, daß er ſich um außerordentliche
Dinge nicht zu kümmern hat.“


„Herr von Laforeſt glaubt nicht, daß es zu außer¬
ordentlichen Dingen kommen wird?“ fragte ein ruſſi¬
ſcher Cavalier.


„Iſt die Einigkeit hier nicht ſchon etwas außer¬
ordentliches, mein Herr! Nur in dieſem Zimmer
allein, welche Phyſiognomien, welche Parteien ſehe ich
vereinigt unter der Huld unſrer bezaubernden Wir¬
thin. Iſt nicht ganz Potsdam zum Blumenſtrauß
geworden, ich meine nicht von Federbüſchen und Or¬
densbändern, ſondern von ſchönen Geſichtern. Mir
iſt als wäre ich zum Schluß einer großen Komödie
eingetreten.“


„Andre meinen, zum Anfang einer großen Tra¬
gödie,“ ſagte die Fürſtin.


„Das kann ich nicht glauben, Prinzeſſin. Wirk¬
lich nicht! Würde Seine Majeſtät Ihr Kaiſer darum
ſelbſt hergekommen ſein? Beginnt man einen Krieg
mit rührenden Familienſcenen? Nein, nein! Ich
[107] leugne ja gar nicht, was zu Tage liegt, man war
mit der Abſicht, eine Eventualität ins Auge zu faſſen,
gekommen, aber bei reiferer Betrachtung der Dinge
giebt man die mörderiſche Abſicht wieder auf.“


„Excellenz haben vermuthlich die Dinge ſehr nahe
betrachtet?“


„Ich kam auf dem Umweg über Sansſouci.
Das herbſtliche Laub giebt eine wunderliche Schatti¬
rung. Sie ſollten dahin ein Ausflug machen. Herr
von Stein ging an mir vorüber, ohne mich zu ſehen.
Ich mache nun wirklich nicht Anſprüche ein Menſchen¬
kenner zu ſein. Aber ein A B C Schüler konnte auf
ſeinem Geſicht leſen, daß ſeine Kriegsplane nicht durch¬
gegangen ſind. Ein Biedermann, ein ſcharfer Ver¬
ſtand, mit einem Wort ein Kraftgenie, dieſer Herr
von Stein. Wirklich ſchade, daß er ein Ideologe iſt.“


„Wie unterſcheiden Sie Komödien von Tra¬
gödien?“ fragte etwas ſpitz die Fürſtin.


„Das Characteriſtiſche einer Tragödie, ſagen
wenigſtens die Aeſthetiker, ſei, daß die Helden zuletzt
iſolirt daſtehen, im Gefängniß oder am Schaffot. In
der Komödie gruppiren ſie ſich dagegen zum Schluß
immer dichter aneinander. Alle heitern und luſtigen
Figuren die ſich durch fünf Acte geſucht, finden ſich; die
Fältchen und die Runzeln werden ausgeglättet, die
Mißverſtändniſſe aufgeklärt. So kommt mir die ganze
Weltgeſchichte in ihrer jetzigen Entwickelung wie ein
großes Luſtſpiel vor. Früher iſolirt, finden ſich jetzt
nicht mehr die einzelnen Perſonen, nein ganze Staaten,
[108] Völkerſchaften, zuſammen, die Congreſſe werden im¬
mer größer. Die Fürſten, die Staatsmänner lernen
ſich kennen; früher kannten ſie nur ihre Schwächen,
jetzt ihre Vorzüge; die Mißverſtändniſſe, in der Ferne
groß, erſcheinen in der Nähe klein. So bahnt ſich
eine Verſtändigung an in immer weitern Kreiſen, bis
wir alle endlich eine große Völkerfamilie ſind, einig
in Harmonie und Intereſſen.“


„Haben Sie gute Nachrichten von Ihrem Kai¬
ſer? Seine Majeſtät befinden ſich doch in erwünſchtem
Wohlſein?“


„Er erwartet mit Sehnſucht den Ambaſſadeur
aus Berlin. Sie müſſen wiſſen, Kaiſerin Joſephine
bewundert Kaiſer Alexander in der Stille um ſeine
Humanität, ſeine Ritterlichkeit. Sie möchte ihn gern
von Angeſicht ſehen —“


„Mein Kaiſer Alexander iſt zu galant, als daß
er dem Wunſch einer reizenden Dame nicht gern ent¬
gegen käme.“


„Auf das Entgegenkommen kommt es ja nur
an, in allen Dingen.“


„Das fehlte noch, daß uns Napoleon hier über¬
raſchte!“ rief unwillkürlich Major Eiſenhauch.


Der Geſandte ſchien es gehört zu haben: „Aber
nichts von Ueberraſchung in ſo ernſten Dingen. Ein
neutraler Ort in der Mitte, der findet ſich ja leicht
zum Fürſtencongreß. Drei, vier edle Monarchen, und
noch edlere Menſchen, begleitet von ſchönen Fürſtinnen,
holden Frauen, in deren Augen der Thau des Mit¬
[109] gefühls für Menſchenleiden perlt, und in ihren Hän¬
den ruhend das Schickſal des Continentes! Was
giebt es Schöneres? Einen Dichter könnte es begei¬
ſtern zu einer Ode. Leider ſind Diplomaten keine
Dichter. Tiras, Attention!“


„Wohin?“


Laforeſt war aufgeſtanden, der Hund ſprang an
ihn herauf: „Wittgenſtein ließ mich dringend auf
einen Augenblick bitten. Was wird es ſein! Eine
neue chronique scandaleuse. — Berlin iſt von Ihrem
Kaiſer enchantirt. Weiß man noch gar nichts, wo
ſein Auge haften blieb?“


„Wohin ſehen Excellenz?“


„Prächtig! — Das ſind Söhne der Natur,
Prinzeſſin! Beſonders der ältere mit dem röthlichen
Bart.“


„Ach, die beiden Doniſchen Koſacken! Seine Be¬
gleiter.“


„Solche Urſprünglichkeit! Das erquickt das Auge.
Wie zuſammen gewachſen mit ihren Pferden. Kein Blick
der Neugier auf die Tauſende, welche ſie angaffen.
Herr von Eiſenhauch ſeufzt — gewiß über unſre
Entartung. Ja, von den Söhnen der Steppe könnte
wieder friſches Blut in unſer Geſchlecht kommen.“


„Der Kaiſer reitet jetzt wahrſcheinlich aus,“ ſagte
der Kammerherr.


„Wenn Kaiſer Napoleon uns mit ſeinem Be¬
ſuch erfreuen ſollte, ſprach der Major, wird er uns
doch auch mit ſeinem treuen Ruſtan überraſchen.“


[110]

„Hier braucht er keine Mamelucken, fiel Laforeſt
raſch ein. Im Vaterlande der Humanität ſchützt ihn
Ruhe und Ordnung. Er hat es oft geſagt, in Ber¬
lin würde er allein, ohne Waffen, ohne Begleitung
in der Dämmerung durch die Winkelgaſſen reiten.“


„Ein ehrenvolles Atteſt für uns!“ bemerkte
St. Real.


„Gewiß!“ ſtimmten alle ein.


„Wenn es ſeine irdiſche Krone verlöre, hätte
Preußen auf die himmliſche Anſpruch, die den Fried¬
fertigen verheißen iſt.“


„Wir ſind Feinde, Herr von Eiſenhauch,“ wandte
ſich Laforeſt zum Sprecher, während die Fürſtin zum
Fenſter hinausſah. „Feinde, aber in Einem kommen
Sie doch mit mir überein?“


„Ich gebe nichts auf.“


„Auch nicht die Hoffnung, daß man hier noch
Politik machen kann?“


Der Jubel draußen galt dem Erſcheinen des
ritterlichen Kaiſers. Zwei Schritt begleitete die Fürſtin
den Geſandten; ſeine Miene ſchien ihr noch etwas
mittheilen zu wollen.


„Was ſoll's noch, Excellenz! Die Orlogfahne
flattert.“


„Sie kann wieder abgenommen werden.“


„Jetzt nicht mehr.“


„Aber ſpäter.“


„Die Kluft iſt zu groß.“


„Ueber die tiefſte weiß die Diplomatie Brücken
[111] zu ſchlagen, wenn das Intereſſe es fordert. Wir ſind
Feinde, in Einem kommen Sie aber doch mit mir
überein?“


„Keine Allianz!“ rief ſie mit nervöſer Heftigkeit.


„Mit den Ideologen oder Germanomanen. Ich
bin kein Dichter, aber vielleicht ein Prophet. Ich ſehe
die Brücke geſpannt, die Rußland und Frankreich einſt
verbindet.“


„Was wollte Laforeſt eigentlich?“ fragte ein
Ruſſe, nachdem der Kaiſer vorübergeritten, und die
Geſellſchaft ſich wieder ſchweigend zuſammen fand.


„Auf die Frechheit den Hohn ſetzen!“ rief Eiſen¬
hauch.


„Belauſcht hat er wenigſtens nichts, was er nicht
ſchon weiß,“ verſicherte Bovillard.


Der Legationsrath erwiederte: „Vielleicht nur
uns beſchäftigt, um unſre Aufmerkſamkeit von dem
abzuziehen, was wir nicht wiſſen ſollen. Die erlauchte
Frau ſteht in Gedanken verſunken?“


„Ueber dem aufgewühlten Chaos hinzutänzeln
wie auf Blumenwieſen iſt die Kunſt dieſes Lebens,
ſagte die Fürſtin Gargazin. Wer immer die Riſſe
ſähe und die züngelnden Flammen! — Ich liebe die
Diplomaten, welche in jeder Situation die Dehors
beobachten.“


„Frau Baronin Eitelbach!“ meldete der Jäger.


Unausſtehlich! ſchien aus den ſchwellenden Lippen
der ſanften Frau geſchrieben; aber über die Lippen
kamen nur die halb verhallenden Worte: „Auch die
[112] jetzt! Und wir ſtehen auf Kohlen!“ wobei ein ſtra¬
fender Blick auf den Legationsrath fiel; der aber blieb
bis auf ein leiſes Achſelzücken unbeweglich. Es war
die Proteſtation der Unſchuld.


„Sehr willkommen!“ ſagte die Fürſtin laut, und
als die Gemeldete eintrat, war der Schauer des Un¬
muths von Lippen und Stirn verſchwunden, oder
verſteckt in dem herzlichen Embraſſement.


„Auch meine liebe Baronin! Ich weiß nicht, ob
die Ueberraſchung größer iſt oder die Freude!“

[[113]]

Siebentes Kapitel.
Das Geſpenſt von Sansſouci.


Theilten nur die mit Sternen und Bändern
die fieberhafte Stimmung? Auch unter dem ſchlichten
Bürgerrock ſchlugen warme Herzen, bang, ſehnſuchts¬
voll, der Entſcheidung entgegen. Nicht alle, vielleicht
nicht viele unter den Vielen, aber alle fühlten, was
es galt. Wenn nicht das Vaterland ſelbſt, doch ſeine
gefährdete Ehre. Und es war eine mächtige Blut¬
ſtrömung damals, weil der Glaube ſie trug, daß ſie
unerſchütterlich ſtehe am Firmament angefeſtet mit
dem Geſtirn, das Friedrichs Ehre heißt.


Unter denen, die in den langen Korbwagen aus
Berlin gekommen, wußte man gewiß ſo wenig von
dem, was im Schloſſe vorging, als die in glänzenden
Equipagen und mit blaſenden Poſtzügen herübergerollt,
es wußten. Und doch, obgleich ihre Ohren nicht ſo
fein geſpitzt, ihre Augen nicht ſo geſchärft waren, um
aus dem Schütteln einer Handkrauſe Schlüſſe zu
ziehen, was den Mann in dem Augenblick bewegte,
der das Hemde trug, obgleich alle die feinern Ver¬
III. 8[114] mittelungen, Organe und Bezüge ihnen abgingen,
welche die Erwählten mit dem in Verbindung ſetzen,
was ihnen als Herz gilt, doch wußten dieſe Maſſen
weit mehr als jene. Ein Tropfen Blut färbt ein
Glas mit Waſſer, ein Wort, eine hingeſtreute Nach¬
richt, durchfliegt, bewegt, entzündet die Maſſen. Jene
üben die Kritik der Phantaſie, um ihre Denkkraft zu
zerſplittern bis zur Nichtigkeit, dieſe laſſen ſich be¬
rauſchen von einem Wink, Blick, Schall, ohne ihn
zu prüfen. Jene legen die Empfängniß auf einen
Deſtilirkolben, der auch den Diamant in Rauch zer¬
ſetzt, bei dieſen fällt ſie in den Zauberkeſſel des
Glaubens, und ſteigt und ſchwillt zu einem rieſigen
Dunſtphantom in die Lüfte.


Warum konnte denn Kaiſer Alexander nach
Berlin gekommen ſein, warum hatte man ihn nach
Potsdam feierlich abgeholt? Warum hatten ſich die
hohen Herrſchaften als Familie abgeſchloſſen? Warum
war der Erzherzog Anton da, und die hohe Gene¬
ralität in Gala? Es muß eine ſyſtematiſche Depra¬
vation vorangegangen ſein, wenn das Volk bei außer¬
ordentlichen Akten an eine Komödie denken ſoll. Es
war vieles in Preußen vorangegangen, was das Volk
geſchmerzt, gekränkt, es hatte viele Männer haſſen
gelernt, und hielt andere für fähig, es täuſchen und
verrathen zu wollen, aber daß die höchſten Behörden,
Miniſter und Generale, die Regierung in ihrer Ge¬
ſammtheit, daß der Hof, der König und der Kaiſer
ein großes Schauſpiel vor ihm aufführe, hinter dem
[115] eine andre Wahrheit lauert, als die ſichtbare, das
hielt damals das Preußiſche Volk für unmöglich. Es
glaubte an die Wahrheit wie an die Ehre ſeines Staates.


Weil es glaubte, war es froh. In der Freude
das Maaß der Schönheit beobachten iſt nicht allen
Völkern gegeben. Die Luſtigkeit brach roh heraus.
Wenn der Koſack die Peitſche wirbelte, jubelten ſie ihn
an, ſein Hurrah erwiedernd: „Los auf die Franzoſen!“
Man reichte den Söhnen des Don die Schnaps¬
flaſchen. Die Flaſchen gingen auch im Volk von
Mund zu Munde. Des alten Fritz Name, der Name
Roßbach ſchallten unter einem Gelächter, daß man¬
chem die ſchönen Namen in der Geſellſchaft leid thun
konnten.


Das mußte auch Einem ſo gehen, der ſich unter
die dichteſten Haufen gemiſcht; er wollte die Volks¬
ſtimme hören. Aber Walter van Aſten fand nirgend
die Volksſtimme, die er ſuchte. Ihm ſchien die Freude
empörend, mit der man dem Koſacken die Hände
ſchüttelte, ſeine Stiefel, Sporen betaſtete, den Schweif
ſeines Roſſes ſtreichelte. Einer im Haufen machte
den Spaßvogel. Mit wankenden Füßen und roth¬
aufgedunſenem Geſicht, mahlte er den Zuſchauern,
wie Napoleon bei Roßbach laufen würde, wofür
ſchallendes Gelächter und Jubel ihn belohnte.


Wo waren denn die Patrioten, die Walter ſuchte?
Er mußte in einer böſen Stimmung ſein; wo er ging,
wohin ſein Auge fiel, ſah er nicht was er erwartet.
Im Volke Rohheit, blödſinnige Hoffnungen, in den
8*[116] andern verbiſſene Wuth, militairiſchen Uebermuth oder
Kammerherrngeſichter.


Auch er hatte auf ein Schauſpiel gehofft, aber
keine Komödie, auf eines, das aufgehn werde, wie
die Blume aus der Knoſpe, wie die Sonne am
Frühlingsmorgen, auf einen Auferſtehungstag des
Preußiſchen Volkes. Wenn die Trommel wirbelte,
eine Reiterſchaar durch die Straßen ſprengte, aller
Augen nach dem Schloſſe ſich wandten, wenn dann
— die Fenſter aufriſſen, der König an die Brüſtung
träte, an der Hand die ſchöne Königin, zur Seite der
ritterliche Freund. Wenn er an die Bruſt faßte, die
Hand zum Schwur gen Himmel hob: „Gott ſei
mein Zeuge, ich kann nicht anders. Was ich gethan,
er weiß es, um die blutige Entſcheidung zu ſparen.
Er wollte ſie mir nicht ſparen. Mein Volk, es iſt
kein Krieg um eitlen Vortheil, es gilt die Erhaltung
deiner ſelbſt, unſrer theuer errungenen Selbſtſtändig¬
keit, es gilt Preußens mit Füßen getretene Ehre, es
gilt den Augenblick, den nichts zurückkauft. Mein
Volk, es gilt unſer Daſein. Dies Wort iſt Krieg
und mein Volk wird zu mir ſtehen!“ — Und das
Volk wäre mit einer Stimme, mit einem Laut in
des Königs Worte eingefallen. Dann hätten Thrä¬
nen perlen mögen im feſteſten Auge, dann jeder an
die Bruſt des Andern fallen, dann die Arme ſich
zum Schwur erheben, ein Laut in die Wolken, nicht
Jubel, Freude, Muſik, ein Laut der Einigkeit zwiſchen
Fürſt und Volk.


[117]

Die Trommel wirbelte oft, es blieben Präludien.
Cavallerieſchaaren preſchten flimmernd und klirrend
durch die Straßen, es war der Wind, der im Aehren¬
felde rauſcht. Nur eine Melodie ſummte alle Vier¬
telſtunde ihm in die Ohren, das Glockenſpiel auf
dem Thurme:


Ueb' immer Treu und Redlichkeit

Bis an dein ſtilles Grab,

Und weiche keinen Finger breit

Von Gottes Wegen ab.

Er folgte den welken Blättern, die der Wind
vor ſeinen Füßen trieb; ihm gleich wohin. Er folgte
ihnen aus der Stadt, hinaus aufs Feld, auf die
Höhen. Ehe er es ſelbſt wußte, ſtand er auf dem
Ruinenberge, der das unter ihm liegende Sansſouci
und die noch tiefere Stadt beherrſcht. Die Laune
des großen Königs baute Trümmerwände eines rö¬
miſchen Circus hierher, die Arena ſollte das Waſſer¬
reſervoir werden, aus dem die Fontainen in Sans¬
ſouci und der Stadt geſpeiſt würden. Das Werk
mißlang, und der König gab es auf. Er war müde
geworden des Kampfes mit den Menſchen und der
Natur. Die künſtliche Ruine, von Unkraut über¬
wuchert, von aufſchießenden Kieferbäumen umſtanden,
war ſelbſt wieder zur natürlichen geworden. Die
eiſernen Röhren, zerſchlagen, waren als Prallpfeiler
an den Straßen benutzt.


Walter lehnte ſich an eine Arcade. Grau lag
Gegend und Stadt vor ſeinen Füßen; von den ge¬
[118] putzten Menſchen drang kein bunter Flimmer über
die Dächer, vom Geräuſch kein Ton herauf. Er war
einſam, nur die Krähen ſchwirrten um die Kiefern.
Kalt die Luft, grau der Himmel, grau war es in ihm.


Es war grau nicht ſeit heute erſt. Mit ge¬
ſchloſſenen Augen verfolgte er ein Schauſpiel; die
Träume ſeiner Jugend gingen an ihm vorüber. Der
Ehrgeiz, der ſchon in des Knaben Bruſt geſpielt,
wie oft hatte er ſie geſchwellt, wonach hatte er nicht
die Hand geſtreckt! Was war jetzt ſein? Wie vieles
davon hatte er, mit männlichem Entſchluß, es nie
wieder anzuſehen, ſelbſt in die Rumpelkammer ver¬
ſchloſſen. Die Dichterlerche wollte wirbelnd in die
Lüfte ſteigen; hatte er nicht geträumt von Lorbeer¬
kränzen und ſeinen Namen an die Säulen geſchrieben
geſehen, wo die glänzendſten ſtehen! Eine Schamröthe
flog über ſeine Wangen. Dann — und dann, es waren
Schaumwellen, und er lächelte. Aber er lächelte nicht
mehr bei einem andern Gedanken, ſeine Hand preßte ſich
krampfhaft an die Bruſt: Und auch das könnte ein Traum
geweſen ſein? — Liebt ſie dich denn? — Er wollte die
Frage, die wie Hammerſchläge auf ſein Herz pochte,
fortdrängen, was gehörte ſie hierher! Er glaubte
ſie heut wenigſtens überwältigt zu haben; andre Ge¬
danken hatten ihn hergetrieben. Aber wie neckiſches
Echo rief ſie wieder aus jedem Winkel.


Endlich ſchwieg das Echo, aber er ſann einer
andern Frage nach, und ſeine Bruſt hob ſich wieder:
War das ſträflicher Ehrgeiz, Jugenddünkel? Iſt es
[119] nur den Adlern erlaubt aus der Wolkenhöhe auf die
Erde zu ſchauen? Dringt des Menſchen Geiſt nicht
tiefer in die geſchaffenen Dinge, fliegt er nicht höher
als der Vogel? Was tiefer, höher! War das Ehr¬
geiz, daß er ein tiefes Uebel des Gemeinweſens er¬
kannt, daß der Drang ihn übermannt, es vor der
Welt hinzuſtellen und zu rufen: Helft, und ſo könnt
ihr helfen! Wie ernſt geprüft, ſtudirt hatte er, dann
nach vollſter Ueberzeugung ſeine Gedanken ausge¬
ſprochen: ſo klar, deutlich; es mußte ja jedem, der
die Augen nicht verſchließen will, einleuchten. Und
wo er anklopfte, verſchloſſene Thüren; wo er ſprach,
lächelte man. Hatte ihn Jemand widerlegt? Man
hatte von ſchönen Gedanken geſprochen, aber wie die
Welt ſei, blieben es ja doch nur Chimären. „Sie
hätten die ganze Welt für eine Chimäre erklärt, wenn
der Schöpfer, ehe er das ‚Werde‛ ſprach, die klugen
Leute befragt hätte!“


Und ſeine Schrift! War ihm nicht das Seltſame
begegnet, daß der Verleger, Herr Mittler auf der
Stechbahn, ſchon nach einigen Tagen, als er ſich
einige Exemplare zurückholen wollte, ihm lächelnd
erklärt, daß ſie ſämmtlich vergriffen wären? — Ver¬
kauft? Alle bis auf das letzte, und — Niemand in
der ganzen Stadt ſprach davon! Weil es wenige po¬
litiſche Schriften jener Zeit gab, erregten ſonſt auch
die unbedeutendern Aufſehen, und von ſeiner wußte
Niemand, Niemand fragte ihn danach, keine Zeitung
hatte ſie erwähnt! —


[120]

Sein Auge ſtreifte nach den Krähen hinauf.
Dachte er an die Mährchen von den Raben, welche
geſtohlene Pretioſen in ihre Neſter tragen? Da blinkte
es allerdings golden in dem Krähenneſte zu ſeinen
Häupten, aber es war ein Nachmittagſtrahl, der das
rauhe Geflecht anröthete. Die Wolken waren ge¬
brochen, und die Sonne goß mit geſparter Kraft ihren
Goldſchein auf einen Theil der Gegend. Sansſouci
mit ſeinen Metallkuppeln fing den vollſten Strahl
auf. Die Schnörkelſpitzen der Dächer glühten, es
mußte warm werden auf der Terraſſe, warm wie ein
ſpäter Herbſttag es zuläßt, und Waltern fröſtelte auf
der windigen Höhe.


Die Thore waren geöffnet und unbewacht. Die
Wege waren mit welkem Laub überſtreut. Das
Kniſtern ſeiner Schritte rief kein lebendes Weſen her¬
bei; wen ſeine Beine trugen, war nach der Stadt
gewandert. Ja, es war laue Luft auf der Terraſſe
und Walter müde. Er ſetzte ſich auf einen der
Steine, unter denen Friedrichs Hunde ruhen. Es ſtand
ein verwitterter Name darauf. Ob unter allen, die
jetzt lebten, einer das Thier gekannt, das ihn trug!
Und doch hat ſein Name Anwartſchaft auf Unſterb¬
lichkeit!


Die Orangerie war längſt in die Glashäuſer
geſchafft, es ſah leer, wüſt und zerſtört aus. Nur
einige von den Rieſenkürbis, die man nicht der Mühe
werth hielt fortzutragen, faulten am Boden. Die
hohen, bis zur Erde reichenden Glasfenſter des
[121] Palaſtes waren golden von der Sonne angeglüht.
Der Reflex des Lichtes blendete ihn, und doch ſah
er immer wieder hin: „als wären es ſeine großen
Augen!“


Wenn dieſe Augen herab ſähen, wenn ſein Geiſt
jetzt in den öden Sälen wandelte! Wenn das zur
Strafe an der Schwelle der Ewigkeit dem Größten
ſeines Jahrhunderts dictirt wäre, zurückzukehren als
Schemen und zu ſehen, hören, einzuſchlürfen den
Schmerz, wie Staub und Wetter, Moos und Roſt
ſeine Schöpfung umzogen! Noch nicht zwanzig Jahre
vergangen, und wo war ſeine Herrlichkeit!


Klopfte es nicht an die Fenſter, war es nicht
ſein Finger, der voll Unmuth dagegen hämmerte?
— Ach die körperloſen Weſen haben nicht die Macht,
ſie ſind nur der Schwamm, der die Feuchtigkeit der
Luft einſaugt, die Aeolsharfe, die vom Winde be¬
wegt wird, die Seele, die den Weltſchmerz empfangen
muß; aber keine Thräne, kein Wehruf, nicht das
Blinken der Augenwimpern iſt ihnen vergönnt, ihren
eignen Schmerz den Lebendigen kund zu geben!


Walter war ein Romantiker geweſen, an Geiſter
glauben, war damals ſein errungenes Recht. Aber
an Friedrichs Geiſt glaubten die Romantiker nicht.
Das Licht des achtzehnten Jahrhunderts war ein
anderes, ein künſtliches, ſelbſt verfertigtes von einem
nüchternen Geſchlechte, blaſſe Strahlen werfend wie
Mond und Nordlicht, keine Wärme verbreitend. So
hatten ſie gelehrt, ſo hatte er geglaubt. An einem
[122] anderen Lichte müſſe der Geiſt entzündet werden, an
einem andern Feuer das Blut erwarmen. Nicht durch
die Vernunft, numine afflatur der Geiſt. So ſteigt er in
die Höhen der Seligkeit, wo das Auge trinkt aus einem
Silbermeer der Wahrheit und Gnade, bis es trunken
wird von Klarheit und Wonne. So hatten ſie gelehrt,
und er hatte geglaubt. Dazwiſchen lagen freilich
Jahre, und andre Gedanken hatten wie der Wieder¬
ſchein eines Weltbrandes in ſeiner Seele gezückt.
Was er noch lehrte, glaubte er nicht mehr, und was
er glaubte, lehrte er nicht mehr. — Iſt denn nicht
alles Licht aus einem Quell, der Funke, den der
Titane ſtahl aus dem verſchloſſenen Schatz der Ewi¬
gen, und keine Fluthen, die der Himmel herabgießt,
löſchen es mehr! Dort mattes, froſtiges Licht, es wärmt
nicht; hier züngelnder Flammenſchein, er ſengt, ver¬
wirrt dich, ſein Feuerhauch verzehrt dich vielleicht.
Was iſt beſſer? Seitdem war er aus der Schule ins
Leben übergegangen. Er hatte aus der Pflanze, aus
dem Stein ihr Licht gezogen; er ſuchte wieder nach
einem, aus dem alle Lichter kommen und das Leuchten
in allen Zeiten. —


Aber das Licht, das aus Friedrich leuchtete, war
ihm ein kalter Schein geblieben. Man ſagt, wer ein
Romantiker geweſen, wer einmal aus dem Zauber¬
quell getrunken, und aus der Erde die geheimnißvolle
Wurzel riß, der höre immer ſummen und klingen die
Zauberweiſen, die ewigen Klagen und das ewige
Hohngelächter der Natur, die nach Erlöſung ächzt;
[123] es ſei der Venusberg, der ſich immer wieder aufthut
dem, der aus ihm entronnen: ſagen die Verſtän¬
digen. Aber ich liebe die Schatten der Wälder, wenn
mir zu heiß ward zwiſchen den Gluthöfen und ihren
dampfenden Schornſteinen, unter dem Strahl der
Saaten-reifenden Mittagsſonne. Dann ſtrecke ich
mich auf das ſchwellende Grün unter ihren Rieſen¬
äſten, und lauſche dem Vogelgeſang, dem Rieſeln
der Quelle, die an ihren Wurzeln ſpielt. Die Vögel
und die Quellen ſingen: Und wurden dieſe Bäume
denn geboren, als es Nacht war, weckte nicht auch
ſie der lebenzeugende Strahl aus dem Schooß der
Erde, ſtrebten ſie nicht zum Licht und breiteten ihre
Wipfel nach dem Sonnenreich! Wehe dem armen
ausgebrannten Menſchengeſchlechte, wenn es auch gar
nichts mehr hört von dem Rauſchen der Zauber¬
wälder.


So dachte vielleicht der ehemalige Romantiker
Walter van Aſten. Und Friedrichs Erſcheinung war
ihm wie die eines übelwollenden Gnomen, in eine
Welt geſetzt, zu der er nicht paßte. Da ſaß er auf
der Brunnenröhre — das Bild kam ihm wohl von
dem bekannten, der König nach dem Tage von
Collin — den Dreimaſter verſchoben auf den ſchlecht
gepuderten Locken und zeichnete mit dem Stocke Fi¬
guren. Der Tabak lag dick auf ſeiner Schooßweſte, die
Augen wühlten glanzlos im Sande; er hatte keine
für die liebende Theilnahme ſeiner Genoſſen, die
ängſtlichen Blickes um ihn ſtanden. Und wenn dieſer
[124] Friedrich eine Welt in ſich trug, ſo war es vielleicht
eine aus einem andern Jahrhundert, aus andern
Zonen über dem Ocean. Er war verfrüht und iſo¬
lirt auf dieſer Scholle. Die Freunde der Jugend,
wenn er deren gehabt, hatten die Wellen der Jahre
fortgeſpült; er ſaß, ein eigenſinniger Greis, der nur
auf ſich hörte, mißtrauiſch gegen Alle, ein Einſiedler
in der neuen Welt, die nicht mehr ſeine war. Seine
großen Augen ſahen nicht den Wechſel der Geſchlech¬
ter, nicht neue Jugend um ſich, und andere Ideen,
die mächtig ſich empor rangen aus dem Deutſchen Volke.


„Was ſähe denn jetzt dies große Auge?“ rief
er unwillkürlich laut. Aber als er ſeines aufſchlug,
ſah er eine Erſcheinung. Unſern von ihm auf einem
andern Steine ſaß Friedrich. Uebergebückt, die Locken
überſchattet von der ſchiefen Spitze des alten Hutes,
zeichnete er mit dem Stock im Sande. — Die Er¬
ſcheinung verſchwand nicht, als Walter die vom Son¬
nenlicht geblendeten Augen rieb; es waren aber nicht
Friedrichs Augen, als die Erſcheinung den Kopf
wandte und ihn fragend anſah.


„Des großen Königs Auge, meinen Sie?“ ſagte
der alte Mann, und ein Seufzer machte ſich Luft.
Er war ein Militäir aus Friedrichs Zeit, und Wal¬
ter wegen ſeiner Täuſchung zu entſchuldigen, wenn
nicht ſchon der Abendſonnenflimmer und die Träume¬
reien es übernommen. Der Typus eines bedeutenden
Mannes drückt ſich unwillkürlich ſeinen Dienern und
Bewunderern auf.


[125]

Es giebt Momente, wo zwei Unbekannte ſich
ihre Gedanken ableſen, ehe ſie ein Wort gewechſelt.
Der Blick und die Phyſiognomie allein thun es nicht;
es iſt der Ort, die Stunde, das Licht, die Luftſchwere
oder deren Leichtigkeit. Sie können Jahre lang ſich
begegnen, Worte tauſchen, und bleiben ſich doch fremd,
es iſt der Zauber des Augenblicks, welcher die Seelen
aufſchließt.


Der Weg zum Geſpräch war kurz, wo beide ſich
entgegen kamen.


„Was war denn ſein Vaterland, rief der Major,
mit dem Stock in die Erde bohrend, als er die Fran¬
zoſen lieben lernte, was ſie ihm jetzt zum Verbre¬
chen machen! Ich alter Mann leſe nicht viel neue
Bücher, doch aber einige, und ich leſe es mit Schmerz,
wie die Jugend den Einzigen richten will. Wie
war es denn damals? Sehn Sie um ſich, ſo weit
das Deutſche Reich ging, — wie mußte er ſie zu ſich
heran ſchleppen! Sie liefen ihm dann nach, nur
weil er's commandirte. Nun, war's da zu verwun¬
dern, daß er keinen Reſpect bekam vor den Leuten,
die nur auf Commando einen geraden Rücken zeigten,
die auf Commando ins Licht blickten, daß er auf die
nicht hörte, die ihn nicht verſtanden, und wie er alt
und grämlich ward, auf Niemand mehr.“


Walter wies auf die Glasthür in der Mitte:
„Dort ſaß der König dieſes Landes mit dem herge¬
laufenen Witz aus allen Ländern, und beim ſchäu¬
menden Glaſe ſprühte von ihren Lippen der Spott
[126] über die, welche im Könige ihren natürlichen Anwalt
haben ſollten.“


„Haben Sie, mein junger Herr, den König da
im Saale ſitzen geſehen?“


„Nein, entgegnete mit etwas verlegener Stimme
Walter. Ich war zu jung, und als ich ihn einmal
ſah —“


„Ich habe ihn geſehn,“ fiel der alte Officier ein
und ſchwieg einen Augenblick; dann fixirte er den
andern. Sie ſind kein Junker? Wahrſcheinlich ein
Gelehrter?“


„Wenn die Menſchen durchaus in Stände ge¬
theilt werden müſſen, würde man mich dazu rechnen.“


„Verlangen Sie, daß ein Friedrich ſich ſeine
Tiſchgeſellſchaft aus denen holen ſollte, die zum Woll¬
markt kommen? Lieber Gott, mich dünkt, er hatte
genug gethan, wenn er ihnen alle Stellen ließ in
der Armee, und im Civil ja auch. Nun, an ſeinem
Tiſch laſſen Sie ihm doch ſeine Franzoſen und Eng¬
länder und Italiener. Die witzigen Seifenblaſen
beim Champagnerglaſe wurden ja ſchon runter ge¬
ſpült bei der Taſſe ſchwarzen Kaffee.“


„Aber nachdem er den Kaffee getrunken! Er
hatte ja ſein Volk gebildet! Sie ſagten eben, er hatte
ſie herangeſchleppt. Seine Junker laſen ja ſchon die
Pucelle, ihm zum Vergnügen, und wußten kaum,
daß eine Jeanne d'Arc gelebt. Homer und Leibnitz
waren ihnen unbekannte Größen, aber ſie lachten aus
Herzensluſt über den Candide!“

[127]

„Nachgethan hat es ihm Mancher. Aber wie!
Daß Gott erbarm! Sollte er die als ſeinesglei¬
chen in die Arme ſchließen! Als er aus dem
Nichts heraus arbeitete, bei ſeinem Schöpfungswerke,
wer hat ihm da von allen ſeinen Landeskindern ge¬
holfen!“


„Und was davon iſt denn noch!“ ſagte Walter
und ſenkte den Kopf.


„Es muß doch ſchon noch etwas ſein, entgegnete
mit ſarkaſtiſchem Tone der alte Militair. Denn um
der Hunde willen, die unter uns liegen, ſind Sie
doch nicht hier? Auch kommen darum nicht die vielen
Tauſende Fremder, die des Jahres die Terraſſe be¬
ſehen wollen. Drinnen, da hinter den Glasfenſtern,
iſts leer, der Staub wirbelt im Sonnenſchein und
die Motten niſten in den Polſtern. Warum läßt
man ſie darin? Warum iſt denn noch Niemand in
dies Haus gezogen, nachdem er es verlaſſen? 's iſt
ja ſo luftig und hübſch. So meinen ſie doch wohl,
daß drinnen noch etwas iſt, davor ſie Reſpect haben,
und gehn ihm fein aus dem Wege.“


„Vielleicht die Furcht vor dem Geſpenſt mit dem
Krückenſtock,“ warf Walter hin.


„Kann wohl ſein, nickte der Major und wies
nach Potsdam hinunter. Warum kämen ſie ſonſt
aus Petersburg und Paris her, und legten ihr Ohr
an die Thüren? Selbſt der mächtige Kaiſer! Warum
ſtänden die geſattelten Courierpferde in den Ställen,
um das Ja oder Nein nach Wien und London zu
[128] tragen? Um uns doch nicht! Sein Geiſt iſts allein,
mein junger Herr Gelehrter, der noch da ſitzt; auf
den horchen ſie, vor dem ſchüttelt es ſie, die Großen
und Mächtigen, daß er plötzlich aufſtehen könnte, und
ſich ſchütteln im Zorn.“


Es war eine Pauſe eingetreten. Ihre Gedan¬
ken, abwärts ſchweifend, fanden ſich wieder.


„'s iſt doch was Großes um einen großen
Mann! ſagte der alte Militair. Was er hinterließ,
es läßt ſich mit keinem Schwamm auslöſchen. Was
haben ſie gebürſtet und geſcheuert, die Herren da mit
den Jeſuitengeſichtern! Säuberlich, daß man's nicht
merken ſollte, aber der Klumpfuß kam doch vor, und
das Volk hat ihn geſehen. Wie haben ſie ſeine
oeuvres posthumes traktirt, daß es eine Schande iſt!
Und hier in Sansſouci, jetzt ſchonen ſie die Scheuer¬
magd, aber damals, als noch der Staub ſeiner Füße
dalag, das Buch, darin er geleſen, das letzte Papier,
auf dem ſeine Hand geruht — da hätten ſeine Ge¬
nerale und Miniſter auf Sammetſchuhen eintreten
müſſen, mit verhaltenem Athem und zu Protocoll
nehmen und Siegel anlegen, daß alles bleibe, wie
es gelegen, ein Heiligtum zum ewigen Gedächtniß
ſeines Volkes — aber die Beſen haben ja gewirth¬
ſchaftet, als könnte der Erbe im Todtenhaus es nicht
abwarten bis er Hochzeit macht. — Und das ſollte
noch nicht das ſchlimmſte ſein, großer Gott!“


„Was iſt denn ſchlimmer?“


„Daß eine junge Generation aufkam, die ihm
[129] vorwirft, daß er nicht Deutſch gedacht haben ſoll!
Kann man denn zerſtören, was nicht mehr iſt!“


„Mich dünkt der große Mann theilte nur das
Loos aller Strebenden, ſagte Walter nach einer Pauſe.
Mit Rieſenplanen tritt der Jüngling ins Leben, ſeine
Hoffnungen ſegeln mit dem Morgenroth, die Welt
dünkt ihm in ſeiner Hand ein Bild von Wachs. So
ſchüttelt er die Glieder am friſchen Morgen; dann
kommt die Mittagshitze und er ruht aus. In der
Abendkühle hofft er wieder anzufangen, aber er irrt,
die erſchöpfte Natur will ihr Recht, der Schlaf ſenkt
ſich auf ſeine Glieder und auch das weiche Wachs
iſt hart geworden; es ſchneidet ſeine wunden Finger.
Da wirft er's am Ende fort und ſie lachen ihn wohl
noch aus, den thörichten Bildner. Und was bleibt
ihm! Er hüllt ſich in den Mantel der Reſignation,
und ſpricht, wenn der letzte Gruß der Abendſonne
ihn ruft, Salomonis Wort!“


Der, mein Herr, rief der alte Soldat, und
wies auf die Pallaſtthür, der brauchte ſich nicht in
Ihren Mantel zu hüllen. Ja, einen Mantel ſchlan¬
gen ſie ihm um, daß ihn die Kälte von draußen nicht
berührte. In ihm war's warm; ſeine Werke wärmten
ihn, wenn er auf die ſah. Dreizehn Bataillen! Nun
ja, ſeitdem ſind größere geſchlagen worden. Es giebt
auch größere Dichter, Philoſophen. Andre haben das
Volk mehr cajolirt. Das hat er nicht verſtanden,
auch nicht große Worte machen; er wollte es auch
nicht. Dachte vielleicht, was ich gethan, iſt denn
III. 9[130] das nicht mehr! Herr, was wir ſind und haben, iſt
ſein Werk, unſer Name, unſre Straßen, unſre Häfen,
unſre Ordnung, unſer Reſpect. Sein Auge leuchtete
als Stern den Unterdrückten. Sein Wort, das er
donnerte, als der Müller Arnold klagte, dröhnte durch
Europa, und es wird durch die Welt hallen ſo lange
ſie ſteht. Sein Wort, daß jeder in ſeinem Staate
ſelig werden ſolle, wie er will, Gott Vater im Him¬
mel, kann denn das je vergeſſen werden!“


„Walte der! ſetzte er nach einer Weile hinzu,
indem er den Hut von der Stirn nahm, es war wohl
um zu verbergen, daß er die Hände im Schooß fal¬
tete. Walte der da oben, daß jetzt ſein Geiſt da
unten mitſpricht!“


„Amen!“ rief bewegt der jüngere Mann.


Der Officier bemerkte es, wie er heftig dabei
die Arme verſchränkte, und finſter in ſich ſchaute. Er
warf ihm einen erſten freundlichen Blick zu:


„Sein Werk iſt doch wohl noch nicht untergegan¬
gen, denn ſein Volk lebt noch!“


„Und er zögerte nicht Ja zu ſagen, fiel Walter
ein, wenn eine halbe Welt ihn zu beſchwören kommt.“


„Nein, ſagte der Alte jetzt aufſtehend, aber der
große König hätte ſich nicht beſchwören laſſen, er wäre
der halben Welt zuvorgekommen, und hätte den Degen
gezogen, und ſie beſchworen, daß ſie ihm folgen mußte.
Das iſts, da liegt der Unterſchied. Wo wir drauf¬
losgingen, ſiegten wir; wo wir's an uns kommen
ließen, zogen wir den Kürzern.“

[131]

Sie wurden hier unterbrochen. Eine Geſtalt am
andern Ende der Terraſſe war ſchon eine Weile ſicht¬
bar oder hörbar, nur ſahen und hörten die beiden im
Eifer ihres Geſprächs ſie nicht, und der ältliche, ſehr
wohlbeleibte Mann, der ihnen mit einem weißen
Tuche ängſtlich winkte, vermochte wegen ſeiner Körper¬
ſchwere nicht ſo ſchnell heranzukommen. Jetzt aber
war er da, und wer er war und was er wollte, er¬
litt keinen Zweifel.


9*
[[132]]

Achtes Kapitel.
Zwei ſubalterne Perſonen drohen den Gang der
Geſchichte zu ändern.

„Kurz, es iſt nicht erlaubt, hier auf den Steinen
zu ſitzen.“


So ſchloß der wohlbeleibte Mann mit wich¬
tiger Miene eine Strafrede, die ſeinen Athem er¬
ſchöpft und ſein Geſicht gefärbt hatte. Trotzdem
ſchien ſie auf die Beiden keinen Eindruck gemacht
zu haben, denn ſie ſahen ſich lächelnd an, als der
Beamte mit dem weißen, feinen Taſchentuch den
Staub, oder ihre Berührung von den Steinen klopfte.


Ein Beamter war er, dafür ſprach jeder Zoll
an dem Mann; nur welche Charge er bekleidete,
iſt uns nicht aufbewahrt. Ein Beamter nicht in
Uniform, aber in Galaſtaat; einem feinen Rock, der
gewiß einſt geſchmackvoll um den Leib ſchloß, nur
hatte der Körper dem Fortſchritt gehuldigt, wäh¬
rend das Tuch conſervativ geblieben war. Weiß
waren die ſeidenen Stümpfe, weiß die Weſte, und
das Jabot ſtritt mit dem Zopf und der Friſur um
[133] die Wette, was glänzender ſei; farbig war nur der
Rock, roth nur das Geſicht.


Sein Blick, als er ſich umwandte, ſchien zu
ſprechen: „Und Sie ſind doch noch hier?“


Walter ſtand im Schatten, auf das Geſicht des
alten Major glühte der rothe Abendſtrahl. Es
lag wieder Friede darüber ausgebreitet, als er
lächelnd ſprach:


„Vor zwanzig Jahren, als ich auf dieſe Terraſſe
kam, führte mich der Wachthabende ſelbſt zum
großen König. Ich ſah ihn ſterben. Nun weiſt
man einen alten Soldaten fort, weil er kam, nur
um ſeinen Geiſt zu ſehen. — Freilich, es kann
gefährlich werden, Friedrichs Geiſt zu ſehen!“


Leicht den Hut gegen den jungen Mann lüftend,
hatte ſich der Invalide umgewandt und war die
Treppe hinabgeſtiegen.


„Aber was fällt Ihnen denn ein, Herr Pathe
Nähtebuſch, ſagte Walter plötzlich. Einem alten
Soldaten ſeinen Ruheplatz nicht zu gönnen!“


Als der Beamte, die Hand vorm Geſicht, um
die Sonnenſtrahlen abzuhalten, den jungen Mann
erkannt hatte, machte er eine lebhafte Bewegung.
„Aber war ich denn blind!“ Faſt ſchien es, als
wollte er ihn umarmen.


„Herr Jemine, und das war Ihr Bekannter!
rief der Ober-Kaſtellan, um ihm doch einen Titel
zu geben.


Herr Nähtebuſch winkte und rief umſonſt; der
[134] Major hörte nicht, oder wollte nicht mehr hören,
und es wäre zu viel vom Ober-Kaſtellan verlangt ge¬
weſen, ihm nachzulaufen. Er hatte eine Conſtitution,
die das nicht ertrug, und er kam aus der Stadt!


Was das ſagen wollte, werden wir hören.
Nicht der Aerger hatte ſein Geſicht geröthet; es
war die Freude, vielleicht auch der Wein.


Herr Nähtebuſch hielt auf Connexionen. Sollte
die Fama, die ihm nachſagte, daß er ihnen ſeinen
Poſten verdankte, jetzt von ihm ſagen, daß er
einen Bekannten vom Sohne des reichen van Aſten
fortgewieſen wie einen Vagabunden! Einigermaßen
beruhigte es ihn, als er erfuhr, daß Walter den
alten Officier hier zum erſten Mal geſehen, es
beruhigte ihn aber wie der nicht, daß Walter ihn nicht
kannte, nicht einmal ſeinen Namen wußte, daß er
aber vermuthete, er ſei ein ausgezeichneter Officier
geweſen. Aber wieder beruhigte es ihn, daß er
penſionirt ſei. — Ein Penſionirter hat ſelten noch
viel Connexionen!


Herr Nähtebuſch trocknete jetzt den Schweiß von
ſeiner Stirn und athmete auf: „Lieber Herr Pathe,
ſprach er, laſſen Sie ſich das eine Warnung ſein.
Man muß ſich mit Niemanden in ein Geſpräch
einlaſſen, den man nicht kennt. Man weiß nicht,
in welche Verlegenheiten es uns nachher bringt,
und junge Leute, erlauben Sie mir's zu ſagen,
ſchließen gar zu gern ihr Herz auf.“


Man ſah's dem Herrn Ober-Caſtellan an,
[135] daß er das Bedürfniß fühlte, auch ſeines aufzu¬
ſchließen; ja, er war in der Stadt geweſen, im
Schloſſe, man hatte ihn an die Thüre gelaſſen, als
die hohen Herrſchaften ſpeiſten. „Nicht jeder hatte
das Glück gehabt,“ ſagte er mit einer ſtill zu¬
friedenen Miene. Er hatte ſie eſſen geſehen. Nach
Tiſche, als der König mit dem Kaiſer Arm in
Arm umhergingen, und dieſer vor Huld und Güte
gegen jeden ſtrahlte, hatte der König ihn, den
Glücklichen, dem Erhabenen vorgeſtellt. Denn war
es das nicht, als er ſagte: „Und das iſt der Mann,
der in Sansſouci zur Ordnung ſieht!“ Alexander
hatte darauf etwas franzöſiſch erwiedert; was, hatte
Herr Nähtebuſch nicht verſtanden, aber es war
gewiß etwas ſehr Gnädiges; die Melodie der Worte
ſummte ihm noch in den Ohren.


Aufmerkſamer hatte Walter dem Schluß der Mit¬
theilungen zugehört. Herr Nähtebuſch ſprach viel.
Wem verdanken Geſandte oft ihre wichtigſten Nach¬
richten? Nicht Räthen und Miniſtern, dem feinen Ohr
der Kammerdiener.


Sie glauben alſo, es iſt Alles regulirt und
abgeſchloſſen?“


„Alles!“ entgegnete Herr Nähtebuſch, und um
ſich vollſtändig zu erholen, nahm er eine lange
Priſe. „Bis aufs Kleinſte. Morgen in der Vor¬
mittagsſtunde fahren die hohen Herrſchaften nach
Berlin zurück in einem Enſemble. Im Ritterſaal
iſt große Tafel. Wiſſen Sie wohl, es wird vom
[136] goldenen Service geſpeiſt. Das kommt aber erſt
nachher in die Zeitungen. Abends beſuchen Hochdie¬
ſelben im Nationaltheater die Vorſtellung der Oper
Armida. Bei ihrem Eintritt in die Mittelloge
werden Höchſtſie durch einen Tuſch von Trompeten
und Pauken aus den Balconlogen begrüßt, und
das ganze Publikum erhebt ſich mit einem Vivat,
das nicht enden will. Daſſelbe wiederholt ſich beim
Schluß der Oper. Folgenden Tages iſt große
Wachtparade auf dem Luſtgarten. Alsdann beſehen
Majeſtäten in zwei achtſpännigen Equipagen die
Merkwürdigkeiten der Stadt. Mittags iſt Diner
beim Prinzen Ferdinand in Bellevue. Eine Denk¬
münze auf die glorwürdige Zuſammenkunft iſt bereits
unter dem Prägeſtock. Der Medailleur, Herr Loos,
iſt der Verfertiger, und wenn ich übermorgen in die
Stadt komme, hat er verſprochen, ſie mir zu zeigen.
Aber das, lieber Pathe, bleibt unter uns.“


Sie waren dabei auf der Terraſſe auf- und
abgegangen.


„Und nach dem Diner bei Prinz Ferdinand?“


„Reiſen Seine Majeſtät, Kaiſer Alexander, ab.
Die Pferde ſind ſchon beſtellt.“


„Und weiter nichts?“


Mit einem ungemein ſchlauen Lächeln klopfte
Herr Nähtebuſch auf ſeine Doſe: „Man ſpricht auch
noch von einer kleinen Attrape.“


„Einer kleinen —“


„Wie man's nehmen will! Wenn Majeſtät
[137] der Kaiſer auf nächſter Station, man ſagt in Vogels¬
dorf, eine Erfriſchung fordern, wird's im Kruge heißen:
die Leute ſind alle auf dem Feld oder im Stalle. Der
Kaiſer wird ſich dann in den Kuhſtall zu begeben ge¬
ruhen, um einen Trunk friſch gemolkener Milch
anzunehmen. Und die Bäuerin, die eben melkt, wird
ſehr überraſcht ſein von den vornehmen Gäſten, aber
S. Majeſtät der Kaiſer werden noch weit mehr
überraſcht ſein, wenn Sie der Bäuerin ins Geſicht
ſehen, die ihm die Schale reicht. Na was ſagen
Sie dazu, mein lieber Herr Pathe? — Ich habe
aber nichts geſagt, es ſind ja nur Conjecturen,“
ſagte Herr Nähtebuſch und rieb ſich die Hände.


Sie ſtanden am andern Ende der Terraſſe:
„Alſo auf eine Trianon-Scene läuft es aus, das iſt
ja alles recht ſchön und gut,“ ſagte Walter.


Herr Nähtebuſch ſah den jungen Mann mit
einem eindringlichen Blick an. Faſt war's ein durch¬
dringender, indem er ſeine Hand faßte, und wir
hatten uns in ihm geirrt. Die Purpurröthe des
Echauffements verbarg nur den Pſychologen:


„Mein lieber Herr van Aſten, als Ihr Herr
Vater mir die Ehre erzeigte, mich bei Ihnen zum
Pathen einzuladen, ſagte ichs voraus, das iſt ein
Junge, der wirds zu was bringen. Ich hatte vorgeſtern
wieder das Vergnügen, mit Ihrem Herrn Vater zu ſpre¬
chen. Da müſſten Ihnen die Ohren geklungen haben.“


„Mein Vater, wiſſen Sie —“


„Iſt ein charmanter Mann, ganz wie ſein
[138] Sohn, wollte auch immer ſeine eigenen Wege gehn;
nahm was Andere wegwarfen, und warf weg
was Andere griffen. Dem Einen glückts, dem Andern
nicht. Ja, ja, mein lieber Herr van Aſten, wir
würden alle warm ſitzen, wenn jeder auf ſeinem
Platze bliebe. Verſtehn Sie mich, er ſoll nicht
immer ſitzen bleiben, er ſoll auch weiter rutſchen,
wenn neben ihm ein beſſerer frei wird. Das findet
ſich, das kommt jedem, wenn er nur Augen und
Ohren auf hat und in der Stille umher fühlt. Aber
er muß nicht ungeduldig werden, nicht ſpringen
wollen, nicht über die Dächer wegklettern. Merken
ſie erſt, daß Einer ein unruhiger Kopf iſt, der
kriegt gleich 'nen ſchwarzen Strich, und ſie paſſen
ihm auf die Finger. Wir könnten's alle ſo gut
haben; denn die großen Herrſchaften, glauben Sie's
mir, meinen's mit uns ſo gut, wenn wir uns nur
nicht mauſig machen wollen. Lieber Herr van Aſten,
ich bitte Sie, was geht's uns denn an, ob ſie ſich
da oben ſchlagen oder vertragen, und Allianzen
ſchließen oder keine? Thun ſie's, gut; thun ſie's
nicht, für uns iſt's auch gut. Es hat jeder in
ſeinem Hauſe ja genug zu ſorgen. Kinder, laßt
doch den Potentaten das Regieren und kümmert
euch nicht darum. 's hat noch Keiner dabei Seide
geſponnen. Der Bauer bleibt ein dummer Bauer,
und wer ſein Bischen Grütze im Kopfe hat, der
bringt ſein Schäfchen ins Trockne. Was geht's uns
denn an, wenn die andern Schafe verſaufen!“

[139]

Hatte der Herr Pathe ſeine Schrift geleſen?


„Mein Vater muß ſehr freundliche Geſinnungen
gegen mich verrathen haben.“


„Das hat er. Das iſt ein kluger Mann. Die
Jugend muß ihre tollen Hörner ablaufen, hat er
geſagt. Ich Dummkopf glaubte, daß man ſeinen
Sohn zum Studieren auf die Univerſität ſchickt,
hielt meinen deshalb kurz. Und der Junge war nur
zu gehorſam, er „püffelte“, gab zu wenig aus, und
nahm zu viel ein, nämlich fixe Ideen, ſagte der
Herr Vater. Nun haben wir die Beſcheerung. Das
tolle Feuer, was 'raus ſchwören ſollte, ſteckt noch
drin, und's bricht an der unrechten Stelle los. Dem
Jungen mache ich keine Vorwürfe, mir mache ich ſie.“


„Und der Herr Pathe legten gewiß ein freundlich
Wort ein. Will man mich vielleicht noch ein Mal auf die
Univerſität ſchicken, um das Verſäumte nachzuholen?“


„Erlauben Sie mir, ich ſagte ihm: das Leben
iſt ja auch eine Univerſität. Er kann ja auch hier
ſeine Hörner abſtoßen; je toller er drauf los geht,
um ſo eher wird er ſtumpf. Wie iſt er da beim
Miniſter angelaufen. Wird auch noch öfters an¬
laufen! Sind nicht alle Miniſter ſo human, daß ſie
die Rappelköpfe nach Karlsbad ſchicken. 's iſt
mancher eingeſperrt worden, der ſich die Zunge
verbrannt hat. Schadet auch nichts. Der Sohn vom
Geheimenrath Bovillard, wie oft hat der geſeſſen!
Man kanns gar nicht zählen. Der Vater war ſo
klug, hat ſich nicht um ihn gekümmert; nun iſt er
[140] von ſelbſt zu Kreuz gekrochen. Iſt kirr geworden,
um den Finger zu wickeln; läßt ſich vom Vater
parforce ſchicken, wohin es iſt. Und wenn er ſich
müde geritten hat, dann giebt ihm der Vater 'ne kleine
Stelle, ſucht ihm 'ne Frau aus, die ein bischen
Geld hat. Zuerſt in 'ner kleinen Stadt, wo er über
den Akten ſchwitzen muß; iſt froh, wenn er nach
Hauſe kommt, 'ne Pfeife raucht bei 'nem Glaſe
Bier, ein Partiechen; Kinder kommen denn auch,
die ſchreien, ein Vater hat doch auch ein Herz.
Ach Gott! darüber vergißt er alle krauſe Ideen;
iſt froh, wenn's nur bei ihm zu Hauſe gut geht,
und denkt nicht mehr daran, den Staat beſſer
machen zu wollen. Und geben wir acht, mit dem
Walter wirds auch ſo kommen.“


„Verdank ich das alles Ihnen, Herr Pathe?“
rief Walter mit wachſendem Erſtaunen.


„Wir ſaßen ſo traulich bei Herrn Kämper
zuſammen, wir ſechs oder ſieben, alles reſpectable
Bürger. —“


„Was! ein Collegium, um über meine Beſ¬
ſerung zu berathen!“


„Wo hat nicht jeder 'nen faulen Fleck im
eigenen Hauſe! Wenn man ſo beim Bier ſitzt, ein
Pfeifchen im Munde, ſpricht man ſich gegenſeitig
Troſt zu. Der hat 'nen Sohn, der ſpielt. Das iſt
beinah am aller ſchlimmſten. Da waren wir Alle
einig. Das thut mein Pathe nicht; alles, was
Recht iſt. Er trinkt auch nicht, er läuft auch nicht
[141] den Mädchen nach. Na, Jugend hat keine Tugend,
darüber ſind wir weggegangen. Aber das Theater,
was hat das ehrbaren Familien ſchon für Kummer
und Noth gebracht. Erſt alle Abend der Herr Sohn
ins Parterre. Das koſtet Geld, die jungen Leute
machen Schulden. Iſt aber viel ſchlimmer, wenn's
kein Geld mehr koſtet, wenn ſie's umſonſt haben;
dann haben ſie Connexionen hinter den Couliſſen,
das ſind die ſchlimmſten und theuerſten Connexionen.
Und die Truppe iſt einmal abgereiſt, und der Herr
Sohn iſt verſchwunden. Ja, ja, das iſt manchen
Eltern ſo gegangen. Den Kummer haben Sie
Ihrem Herrn Vater nicht gemacht. Wiſſen Sie aber,
Einige meinten, das wäre immer noch nicht ſo ſchlimm,
als wenn ein Bürgerſohn ſich mit der Politik ab¬
giebt. Da kann man noch mal Director werden,
wie der Herr Iffland; der war auch anſtän¬
diger Leute Kind. Auf dem großen Welttheater
aber


„Iſt für uns nichts zu holen, fiel Walter ein.
Ihre ehrbaren Bürger haben Recht. Erfuhren Herr
Pathe ſonſt noch etwas?“ ſprach er zum Abſchied die
Hand reichend.


„Mancherlei! Man wird Heirathsannoncen leſen,
über die man ſich wundern ſoll. Mancher Herr Offi¬
cier läßt ſich in aller Schnelligkeit copuliren. Lieber
Gott, wenns ins Feld geht, will man den Kindern
doch einen Vaternamen hinterlaſſen; das Gewiſſen
ſchlägt auch unterm blauen Rock. Seine Majeſtät ſind
[142] ſehr damit zufrieden. — Ach, und wiſſen Sie ſchon
vom Kriegsrath Alltag?“


„Was?“


„Wird Geheimer Treſorier des Königs, Titel
Geheimrath. Da iſt auch nur eine Stimme: Der
hats verdient! Mit ſeiner Demoiſelle Tochter wird
er nun auch höher heraus wollen. Wer verdenkt
es ihm?“


„Adieu, Herr Pathe!“


Der Pathe hielt ſeine Hand feſt. Sein ſchlaues
Lächeln ſchien noch ein Geheimniß zu verſtecken.


„Heraus damit!“


„Ich ſehe einen verlornen Sohn —“


„Wo?“


„Im Comptoir ſeines Vaters.“


„Und was brachte ihn dahin?“


Der Kaſtellan hielt beide Hände wie ein Sprach¬
rohr an ſeines Pathen Ohr, daß es die Bäume nicht
hören ſollten, und ſchrie hinein: „Minchen Schlar¬
baum! Sechzig tauſend Thaler!“


Ein Mann in mittleren Jahren war während
dieſes Geſpräches in der Seitenallee auf und ab ge¬
gangen. Walter hatte ihn bemerkt, ohne auf ihn zu
achten. Der Fremde, ſichtlich von einem Gedanken
bewegt, hatte die beiden kaum geſehen. Als der Pathe
nach jener, wie er meinte, ſehr feinen Inſinuation
raſch fortgeeilt war, hatte ſich Walter in die Allee
gewandt. Der Sonnenball verſank gerade hinter
den Brauhausbergen. Walter faßte an ſeine Bruſt
[143] und aus der wunden Tiefe machte ſich das Wort
Luft: „Er war müde über Sklaven zu herrſchen!“


Der Fremde war hinter einem Baum hervorge¬
treten. In ſeinem feſten, aber zuweilen ſtürmiſchen,
Schritt hielt er, wie frappirt, inne. Auf Walters
Geſicht ſchien der letzte volle Sonnenſchein, der Fremde
ſtand beſchattet; ein feingeſchnittenes, charakteriſtiſches
Geſicht war noch zu erkennen.


„Ein Hieſiger?“ fragte der andre raſch.


Die Frage war ſeltſam, es mochte auch ein Be¬
amter ſein, der den ſpäten Beſucher auf einem nicht
erlaubten Wege ertappt zu haben glaubte. Walter
antwortete eben ſo kurz.


„Aus der Hauptſtadt.“


„Ein Angeſtellter?“ warf der andre in derſel¬
ben Art hin.


„Ein freier Mann,“ ſprach Walter jetzt mit feſter
Stimme.


Der andre ſah ihn groß an. Walter glaubte
die Worte murmeln zu hören: „Das iſt ja wunder¬
bar.“ Mehr hörte er nicht, denn beide gingen an
einander vorüber. Sie trafen ſich zufällig noch ein¬
mal. Der Fremde hatte den Weg verfehlt, indem
er einen Ausgang, wo er nicht war, ſuchte. Walter
wies ihn zurecht; es war auch ſein Weg. Der Fremde
ſchien durch eine leichte Bewegung zu danken, ohne
es für nöthig zu halten ein Wort zu verlieren. So
machte es wieder der Zufall, daß ſie neben einander
gingen. Der Fremde war wirklich ein Fremder in
[144] der Mark, wie ſein Accent dem kundigen Ohr ver¬
rieth, aber ſeine Kleidung, obgleich nur ein einfacher
blauer Rock, die Sicherheit ſeiner Bewegungen, das
ariſtokratiſche Geſicht, verriethen den vornehmen Mann.
Er blieb plötzlich ſtehen und betrachtete einen Gegen¬
ſtand, der auch Walters Auge feſſelte — die Mühle
auf dem Berge. Ihr Dach war vom letzten Abend¬
ſchein ſchwach angeröthet, ein träger Wind trieb die
Flügel. Der Begleiter verſtand die ſtumme Frage,
die der andre, über die Schulter blickend, an ihn
richtete: „Ja ſie iſt es.“ Damit ſchien eine Ver¬
ſtändigung eingetreten.


„Alſo Einer doch!“ ſagte der Herr im Weiter¬
gehen.


„Wenn man ſie kennte, würde man mehre wiſſen,
die auch Muth gehabt,“ warf Walter hin.


„Da man ſie aber nicht kennt, ſo exiſtiren ſie
nicht für die Geſchichte,“ entgegnete jener.


„Es exiſtirt manches nicht in der Geſchichte, was
doch lebte.“


„Was ſich nicht geltend gemacht hat, lebt nicht,
entgegnete der Fremde ſcharf. Es hat einmal vege¬
tirt um zu faulen und Dung zu werden für andre.“


Walter entgegnete: „Der Müller von Sansſouci
vor ſeinem Könige wird aber leben bleiben; uns
lebt er als Symbol, daß ein Rechtsbewußtſein auch
damals im Volke war.“ Er hatte das uns ſcharf
betont.


„Wir aber, antwortete der andre, ſehen in dem
[145] Aufheben, das man von der einen Geſchichte machte,
nur das Bekenntniß, daß der eine Mann nur eine
Ausnahme von der Regel war.“


„Und wo iſt die Regel, fragte Walter, nämlich
im Deutſchen Volke? Ich ſetze voraus, daß wir Lands¬
leute ſind.“


Der Fremde fixirte jetzt zum erſten Mal unſern
Bekannten; es war ein ſcharfer, prüfender Blick, aber
ohne Härte. Die Antwort ſchien ihm nicht zu mißbe¬
hagen.


„Das macht die Sache nicht beſſer hier, ſagte
er. Die Müller von Sansſouci haben in Preußen
keinen Fortgang gehabt.“


„Die Größe des Einen hat ſie niedergedrückt.
Das vergißt man ſo leicht im Auslande.“


„Man wundert ſich nur, warum ſie nicht wieder
aufgetaucht ſind, nachdem ſie von der Größe nicht
mehr zu leiden hatten. Sie wiederholten vorhin die
Worte des großen Königs, als Sie ſich allein glaub¬
ten, warum machen Sie ein point d'honneur draus,
was Sie ſich ſelbſt bekennen, vor andern zu verber¬
gen! Wo Sie Ihrer Schwäche ſich bewußt ſind,
warum es nicht auch vor andern geſtehen. Das
würde Vertrauen wecken. Wenn Sie ſich den andern
Deutſchen gegenüber immer in Parade aufs hohe
Pferd ſetzen, ſo verlangen Sie nicht die brüderlichen
Neigungen, um die es doch Einigen, den Beſſern unter
Ihnen wenigſtens, zu thun iſt. Wir ſind alle ſchwach,
aber wenn wir es uns gegenſeitig eingeſtänden, wür¬
III. 10[146] den wir auch die Mittel finden, um wieder ſtark zu
werden. Das iſts, was Sie vom übrigen Deutſch¬
land trennt, meine Herren Preußen. Uebrigens bin
ich jetzt ſelbſt einer.“


„Jetzt wird ſichs zeigen!“ rief Walter animirt.


„Was?“


„Daß wir eine Schwäche zu bekennen den Muth
haben, eine Schuld gegen unſre Deutſchen Brüder
durch die That auszulöſchen. Preußen radirt den
Baſeler Frieden mit ſeinem Blute aus den Tafeln
der Geſchichte.“


„Nichts wird ſich zeigen,“ rief der andre heftig.
Es kochte etwas in ſeinem Buſen, und ſchien ſchon
an den Lippen zu ſprudeln, aber er unterdrückte es
raſch mit einem Seitenblick auf den unbekannten Ge¬
fährten.


Die rauhe, heftige, faſt dominirende Art, mit
der der Fremde ſeine Ausſprüche that, erweckten in
Walter die Luſt es in ſelber Art ihm wieder zu
geben:


„Ich hoffe, daß in der kurzen Zeit, ſeit Sie ein
Preuße wurden, man dem Ausländer nicht ſo viel
Einblicke in unſre Angelegenheiten gegönnt hat, daß
ich Ihren Ausſpruch als ein Verdict nehmen müßte.“


Der andre war vielleicht betroffen, aber nicht
erzürnt, vielmehr verzogen ſich ſeine Lippen zu einem
Lächeln: „Haben Sie Einblicke?“


„Keine als die jedem frei ſtehen, der ein Herz
und Augen hat für die Ehre ſeines Vaterlandes.
[147] Sie iſt ſo auffällig verletzt, daß ſie eben ſo auffällig
Genugthuung heiſcht; der Hohn, den man uns zuge¬
fügt hat, den Napoleons Generale noch täglich in
Anſpach und Baireuth Preußen zufügen, könnten
einen Stein ins Leben rufen. Das und noch vieles
andre, was hier nicht hergehört, iſt mir Bürgſchaft.“


„Wofür?“


„Daß endlich der ſtahlgeborne Entſchluß ins
Leben ſpringt.“


Der andre ging eine Weile ſchweigend, dann
ſagte er ruhig: „Einen Geſandten wird man an Na¬
poleon ſchicken, ihm Friedensbedingungen ſtellen und
unterhandeln. Wenn Sie wiſſen was Unterhandlun¬
gen ſind, wo Preußiſche Diplomaten mitſprechen, ſo
ſtellen Sie danach Ihre Hoffnungen.“


„Diesmal, nur diesmal nicht — rief Walter in
Eifer gebracht — es geht nicht, es läßt ſich nicht
mehr zurückdrängen. Das Volk leidet es nicht.“


„Das Volk, mein Herr! Das weiß ich nicht;
ich kenne es wenigſtens noch nicht genug, und was
ich von ihm kenne, doch — das gehört nicht hierher.“


Sie ſtanden an einem Scheidewege. Der Fremde
wenigſtens nahm an, daß ſie hier ſcheiden müßten,
oder er wollte hier ſcheiden. Es waren ſeine Ab¬
ſchiedsworte:


„Dies Volk, mein Herr, mag gut ſein, tapfer
treu, aber es iſt noch zu klein für ſeine Traditionen.
Es hat ſich übernommen, und es iſt nie gut, wenn
man ſich den Magen auch mit dem Beſten füllt, wenn
10*[148] der Magen nicht Kraft hat es zu verdauen. Dies
Volk iſt zu vielem gut, es hat auch geſunde Glieder,
wenn nur der Kopf da iſt, der ſie regiert. Das aber
bilden Sie ſich nicht ein, daß dieſe Glieder ſchon reif
ſind für ſich ſelbſt zu ſtehen. Dafür vergaß der große
Mann zu ſorgen. Er führte ſein Volk in die Welt¬
geſchichte ein, und überſah, ihm die Erziehung zu
geben, daß es mit Ehren darin beſtände. Mit der
militairiſchen Tournure iſts nicht gethan; der Knebel¬
bart imponirt nur auf den erſten Anblick, und ſelbſt
iſt allein der Mann. Er war müde über ein Volk
von Sklaven zu herrſchen, ja, aber ſie ſind es ge¬
blieben, weil er ein Lehrmeiſter war wie der Gelehrte
in einer Bauernſchule. Glänzende Schulaktus hat er
mit ihnen aufgeführt und ſie declamiren laſſen, was
ſie nicht verſtanden. Friede ſeiner Aſche und Fluch
dem, wer einen Stein auf ſein Grab wirft, denn
Deutſchland hat keinen Größern geboren, aber ſein
Reich, mein Herr, iſt die Schöpfung eines Zauberers.
Wunderbar groß, zweckmäßig, in einander greifend,
erſcheint alles, ſo lange ſein Geiſt darüber waltet.
Aber wenn der ſchlafen geht, vertrocknen die Palmen
und Lilien zu Haidekraut und der Pallaſt verſinkt
in ein Unkenmoor. Da ſehn Sie dieſe Reihe von
Statuen. Kunſtwerke, ſo lange er unter ihnen wan¬
delte, jetzt verwitterte, moosbedeckte Fratzen. Was
iſt aus ſeiner Gliederung geworden, in Civil und
Militair, was aus dem angeſtaunten Mechanismus
ſeiner Staatsorganiſation? Ein ſchönes Lied auf
[149] einen Leierkaſten geſetzt, aber die Melodie bleibt die¬
ſelbe in Leid und Freud, weil die Hand vermodert
iſt, die den Mechanismus der Drehorgel umſetzt. So
leiert es hier fort, ins andre Jahrhundert die Me¬
lodie des vorigen, bis alle Räder und Gänge ver¬
roſtet und voll Staub ſind. Dieſer Staat Preußen,
mein Herr, iſt zum Popanz geworden, nicht weil ſein
Volk Sklaven ſind, ſondern weil der Zauberer fehlt,
der das Uhrwerk wieder aufzieht. Dieſer Staat
Preußen iſt ein Conglomerat von Kraft und gutem
Willen, wie man ſie ſelten in der Geſchichte ſah, aber
eine Gliederpuppe, wenn kein neuer Geiſt hinein¬
fährt.“


Der Mann wandte ſich mit einem Kopfnicken
raſch um. Zwei Schritt weiter blieb er noch ein Mal
ſtehen: „Wie heißen Sie? Ich möchte Ihre Adreſſe
wiſſen — wenn ich wieder ein Mal einen ſo gefälligen
Führer in Potsdam brauche,“ ſetzte er halb lächelnd
hinzu, um das Scharfe auszugleichen.


Walter hatte keinen Grund ſeinen Namen zu
verſchweigen. Er kannte aber genug von der Luft
in den hohen Lebensregionen, um nicht zu wiſſen,
daß dieſer Name, ſo laut er ihn ausſprach und ſo deutlich
der andre ihn ſich wiederholte, ſchon am Ende der
Straße verhallt war. Jener hatte vielleicht erwartet,
daß Walter auch ihn bitten werde, den ſeinen zu
nennen, Walter wollte aber nicht bitten.

[[150]]

Achtes Kapitel.
Der dritte November.

Es war Nacht geworden, die große Mehrzahl
der Gäſte war längſt nach Berlin zurückgekehrt.
In den öden, todten Straßen bewegten ſich nur ein¬
zelne Geſtalten; das Ueb' immer Treu und Redlich¬
keit hallte von der Thurmuhr nach wie vor.


„Warum ſtürmt nicht lieber die Brandglocke!“
ſprach die Dame, welche, tief in eine Pelzenveloppe
verhüllt, am Arm ihres Begleiters an den Häuſer¬
reihen ging. Sie gingen nicht in der Abendkühle
ſpazieren, es war rauhe Witterung; ſie hielten eine
beſtimmte Richtung, aber den zarten Füßen merkte
man an, daß ſie nicht gewohnt waren auf rauhem
Pflaſter ſich zu bewegen. Ein dichter Schleier be¬
deckte das Geſicht der Fürſtin.


„Weil es noch nicht brennt,“ ſagte ihr Begleiter.


„Ewiger Zweifler!“


„Ich zweifle nicht, daß die Schwammleine an¬
gezündet iſt; aber ein Fußtritt kann ſie auslöſchen
ehe der Funke die Mine faßt.“

[151]

„Ich liebe nicht zu calculiren, wenn die Schatten
der Verſtorbenen durch die Luft vibriren.“


In der Stimme der vornehmen Frau waren
Accorde, die ihrem Begleiter, der andrer Anſicht war,
den Mund zu ſchließen ſchienen.


Sie traten in einen Thorweg, oder eine Colon¬
nade zurück, um einer einfachen Hofequipage auszu¬
weichen, die jetzt vorüberrollte. Der Wagen hielt
vor der Kirche, wo Seine Gebeine ruhen. Drei
dunkle Geſtalten konnte man ausſteigen ſehn. Sie
traten in die Kirche, aus welcher ein gedämpftes
Fackellicht bei Oeffnung der Thüre vorſtrahlte.


Die Fürſtin drückte krampfhaft den Arm ihres
Begleiters. Er glaubte, ſie wolle ihn tiefer in den
Schatten zurückziehen, um nicht geſehen zu werden:
„Man ſieht uns wirklich nicht, und wenn es wäre,
würden wir nicht die einzigen Zuſchauer ſein. Ich
ſah Schatten in der Kirche ſich bewegen.“


„Ich auch! rief ſie. Es war mir, als ſähe ich
Seinen!“


Der Legationsrath ging nicht auf die Stimmung
ein: „Dieſe Leute hier ruhten unter ihm wie in Abra¬
hams Schooße. Ich finde es eigentlich undankbar
und grauſam, daß man ihn citirt, um ſich aus einer
gewöhnlichen Verlegenheit zu helfen.“


„Ich würde Ihnen verzeihen, wenn Sie ſagten
ſelbſtmörderiſch.“


„Nur chriſtliche Demuth, Fürſtin, ſie ſehn ihren
eigenen Unwerth ein.“

[152]

„Was iſt das grauſam, den zu beſchwören, der
in dem Jenſeits keine Ruheſtätte gefunden hat! —
Hören Sie den dumpfen Ton! Jetzt öffnet man.“


„Und ſein Geiſt ſteigt ihnen aus der Verſenkung
entgegen.“


„Sprechen Sie nicht ſo.“


„Ich möchte wohl wiſſen, wie der Geiſt eines
Atheiſten ausſieht.“


„Sahn Sie nie Geiſter —“


„Man ſieht ſie nur, wenn man ſie citirt; und
was unnöthig iſt, muß ein Vernünftiger nie thun.“


„Geiſter erſcheinen auch ungerufen.“


„Dann wirft man ſie zur Thür hinaus.“


„Die Todtenhand, die auf eine lebendige Bruſt
hämmert, ſollte doch überall Einlaß finden.“


„Je nachdem die Bruſt beſchaffen iſt.“


„Wandel, ich möchte Sie einem Geiſt gegenüber
ſehen.“


„Sie würden keine Veränderung an mir be¬
merken.“


„Sie ſahen ſchon Geiſter! — rief die Fürſtin
auf, und ihr Auge glänzte ihn an. Ja, Sie Unbe¬
weglicher, es zückte etwas um Ihr Auge, was ich
noch nicht kenne. Sie haben Geiſter der Todten ge¬
ſehen, und vor ihnen gezittert. Sie zittern jetzt —“


„Vor dem Zugwind, ſprach er, ſich in den
Mantel hüllend. — Nun, und wenn ich ſie ſah, meine
Gnädigſte, ſo lernte ich ihnen ins Geſicht ſehn, wie
ein Mann den erſchaffenen Dingen muß, und ſie
[153] hielten meinen Blick nicht aus, ſo wenig als der
feſteſte Stoff meine Säuren und den Aether, in dem
ich ihn verbrenne. Wenn ſie weinten, lachte ich ſie
an, wenn ſie klagten, drohte ich — ſie hieltens nicht
aus, ich blieb Sieger, und ſie ſind verſchwunden.
Meine Gnädige, vor dem Willen verflüchtigt ſich der
Diamant; wenn die Dinge, die wir Weſen nennen,
uns nicht widerſtehen, warum die weſenloſen.“


„Kommen Sie, ſagte die Fürſtin. Der Küſter
giebt uns das Zeichen.“


Vielleicht ſah ſie den Küſter nicht, aber ſie ſah
Geiſter. Der Mond warf, zwiſchen den Wolken vor¬
tretend, ein Streiflicht auf die Stirn ihres Beglei¬
ters, ſie konnte den Anblick heut nicht ertragen. Was
mußte er ſie noch bitten, ſich nicht zu beeilen: der Mann,
der ihnen für ein anſehnliches Geſchenk einen Platz
unter dem Siegel der Verſchwiegenheit verſprochen,
werde noch vielen andern daſſelbe Siegel aufgedrückt
haben: „Und mancher wird die Komödie für acht
Groſchen ſehen.“


Sie waren an die kleine Thür gelangt, welche
eine unſichtbare Hand vorſichtig öffnete, um ſie ein¬
zulaſſen.


„Sie nicht! rief ſie, als er ſie hinein führen
wollte. Sie gehören nicht hier hinein.“


„Es iſt ja nur eine proteſtantiſche Kirche,“
flüſterte er ihr ins Ohr.


Sie ſtreckte die Hand abwehrend gegen ihn: „Doch
— Sie ſtören mich. — Folgen Sie mir nicht, ich
[154] verbiete es Ihnen, Herr von Wandel. Wer nur
eine Komödie ſehen will, gehört hier nicht hinein.“


„So werde ich Erlaucht wieder an der Thür
erwarten.“


„Reiſen Sie nach Berlin.“


„Sie können doch nicht allein zurück. Wer weiß
ob die Scene Sie nicht afficirt. Soll ich Ihren
Jäger mit der Kammerfrau herbeſtellen?“


Sie ſchüttelte den Kopf: „Es giebt Momente,
wo man das Bedürfniß fühlt allein zu ſein.“


Der Legationsrath ſchien die Frage auch an ſich
zu ſtellen, als er draußen mit gekreuzten Armen eine
Weile ſtehen blieb, die Augen in das zerriſſene Ge¬
wölk gerichtet. Er hatte ſich oft Mühe gegeben, un
verwandten Blickes in die Sonne zu ſehen, jetzt ver¬
droß es ihn, daß er nicht mal ohne Augenblinken den
Mondenſtrahl ertragen konnte, ſo oft er plötzlich aus
den Wolken trat, die an ihm vorüber rollten: „Selt¬
ſam! Es liegt nur in den Augennerven, in der
ſchwachen Wurzelconſtruction der Wimpern. Wenn
man ſie von Draht machen könnte, müßte man auch
dem glühenden Feuerball ins Geſicht ſehen. Und
dieſe Frau —“ ein heiſeres Gelächter machte ſich
Luft — „ſie ſpielt mit ihren Illuſionen wie der
Taſchenſpieler mit ſeinen Karten und doch — in der
unbewachten Stunde zittert ſie als Sklavin vor dem
ſelbſt beſchworenen Geſpenſt! Vielleicht des Weibes
Natur, ſie kann nicht immer wachen. Aber der
Mann — ?“

[155]

Die Thurmuhr präludirte und die Glocken
huben ihr: Ueb immer Treu und Redlichkeit! an.


„O ſüßer Leierkaſten, der durch die Welt geht,
und uns das Spiel mit den Narren und Phantaſten
um ſo vieles erleichtert!“ ſprach er, ſich langſam
fortbewegend. Er lächelte, als aus der Kirche die
Orgel mit leiſen Schlägen einen alten Choral anhub.


Der Orgelſpieler war nicht ſichtbar, auch die
Fackeln, von denen vorhin Erwähnung geſchah,
brannten nicht officiell, man ſuchte ſie hinter den
Pfeilern zu verbergen, gleich wie die Zuſchauer, in
Mänteln und unſcheinbaren Pelzen verhüllt, ein dop¬
peltes Incognito zu bewahren ſuchten. Unter den Män¬
teln war mancher Stern verborgen, manches Herz
pochte hörbar, und das Auge, auf dem Du ſonſt nur
Flatterſinn und eitle Luſt ſpielen ſahſt, durchzuckte
hier ein banger Ernſt. Die Orgeltöne ſchienen in
der dunkeln Kirche mehr die Stille ſymboliſch an¬
zudeuten, als daß ſie dieſelbe unterbrachen. Es war
lautlos, ein verhaltener Athem.


So war es möglich, daß man jetzt ein Geräuſch
zu hören glaubte, was man ſonſt nicht gehört hätte.
Es war nicht ſein Geiſt, der durch die Räume
ſchritt, in denen er nie geweilt, ſonſt würden ſie
nicht die Köpfe vorgeſteckt, nicht ſich gebückt und
die Hände ans Ohr gelegt haben, um beſſer zu horchen.
„Sie weint,“ flüſtert eine Stimme dem Nachbarn zu;
„Sie umarmen ſich,“ eine andere. Bald ward die feier¬
liche Stille durch das Knarren der Thür unterbrochen;
[156] die Geſtalten der Neugierigen drückten ſich tiefer in
den Schatten der Mauervorſprünge. Der Fackelſchein
ward jetzt officiell.


Die Königin und der Kaiſer wurden zuerſt
ſichtbar; der König folgte. Louiſe ſchien erſchöpft, ſie
drückte jetzt das Taſchentuch ans Geſicht. Aber nur
einen Moment; dann warf ſie einen forſchenden
Blick auf den ernſten Gatten. Es mußte ein Ernſt
ſein, der ihre Hoffnung ſtählte. Sie lehnte ſich an
ſeine Bruſt, um ſich doch ebenſo ſchnell wieder auf¬
zuraffen. Alexander und der König reichten ſich die
Hand. Es war ein wichtiger, bedeutungsvoller Hand¬
ſchlag. Aus der dunklen Stille kam ein Laut, wie
der Hauch unſichtbarer Geiſter; ein Hauch der
Verwunderung, Freude, [Beiſtimmung], wofür jede
Sprache zu rauh iſt, ihm Ausdruck zu geben. Mit
königlicher Würde ſchaute Louiſe umher, nicht forſchend,
nicht misbilligend. Ihr Blick galt den Geiſtern,
welche die Sprache dieſes Auges, das ſelige Lächeln
verſtanden. Dann reichte ſie Alexander wieder raſch
den Arm und die drei verließen die Kirche.


Als die Wagenthür zuſchlug, die Räder auf
dem Pflaſter rollten, ſchienen die gebannten kleineren
Geiſter aus ihrer Erſtarrung aufzuleben. Sporen
klirrten, ſcharfe Tritte dröhnten auf den Flieſen,
Töne, wie wenn das Eis bricht; das Blei auf der
Bruſt war ja gebrochen! Kein Ceremoniell mehr,
man ſchloß ſich in die Arme, auch ſolche, die nicht
als Freunde bekannt waren. „Der Bund iſt beſiegelt.“
[157] Viel mehr Worte hörte man nicht. Es war ein
Augenblick nicht zum Sprechen, nur zum Fühlen.


An der Thür wurden zwei Militairs zuſammen
gedrängt, die ſich im Leben nicht gern, wie man
ſagte, begegneten. Sie ſahen ſich an, und unter
ihren ergrauenden Haaren funkelten die Augen ſich
entgegen; ſie drückten ſich die Hand. Worte wechſelten
auch ſie nicht. Der eine, aus deſſen Mantel eine
Huſarenuniform zum Vorſchein kam, hielt aber beim
Hinausgehen unſern Bekannten, den Major Eiſen¬
hauch, am Kragen zurück.


„Na nu, was ſagen Sie, Major?“


„Blücher und Rüchel Hand in Hand, ein gutes
Prognoſticon. So das geſammte Vaterland, und wir
ſind am Ziel.“


„Larifari!“ ſagte der General. „Vorwärts, eh
er ſich anders beſinnt, das allein thut's. Nur keine
ſtättigen Pferde hinter uns.


„Im Volk —“


„Sind viele Eſel.“


„Aber das Roß, wenn die Trompete ſchmettert —“


„Pfeffer mank die Kerben! ſagte der General
ihm ins Ohr. Daß es ſich bäumt, dafür ſorgt Ihr;
fürs Reiten, dafür ſorgen wir, haben Sie mich
verſtanden?“


Die Kirche war ziemlich geräumt. Nur hinter
dem Eingang ſtand noch eine Gruppe, zwei in
Ueberröcke verhüllt, und am äußerſten andern Ende
kniete eine weibliche Geſtalt. Die beiden, durch hohe
[158] Halsbinden gegen die Kühlung bis zur Unkennt¬
lichkeit maskirt, ſchienen die Hinausgehenden die
Revue paſſiren zu laſſen. „Iſt das nicht Comteß
Laura, Vicomte?“ ſagte der größere und ältere auf
franzöſiſch zum jüngeren, nach der knienden Dame
lorgnirend, die von ihrer Enveloppe und dem Schleier
unförmlich umwallt war. Der Vicomte hatte ſich
ſchon auf den Zehen gehoben: „Pardon, Monſieur,
Comteſſe Laura hat noch zu viele Stationen bis
zur Betſchweſter.“


Die verhüllte Geſtalt, aus ihrer Andacht viel¬
leicht durch die Stille aufgeſchreckt, erhob ſich und
rauſchte an ihnen mit elaſtiſchen Schritten vorüber.
Sie hatte die beiden nicht geſehen, dieſe aber ſie
trotz der Schleier.


„Madame la Princesse!“ rief der Attaché
verwundert.


„Ihre Sünden müſſen ſie ſehr drücken, ſprach
der Geſandte, daß ſie es nicht verſchmäht hat, in
einer lutheriſchen Kirche zu beten.“


„Und gang allein! replicirte der Vicomte. Sie
nimmt gern einen andern mit ins Gebet.“


„Disparaissez!“ rief Laforeſt und winkte ihm,
indem er der Dame nacheilte.


Der Vicomte ging lächelnd ſeiner Wege: „Er
will ſie nicht allein gehen laſſen! Monſieur Laforeſt,
man muß es ihm geſtehen, übt die Humanität bis
zur Outrage. Die Petarde, die ihn in die Luft
ſprengen ſoll, in der Taſche, ſchützt er die Lunte,
[159] die ſie entzündet, daß der Wind ſie nicht
ausbläſt.“


Wirklich ſehen wir auf der Straße den officiellen
Miniſter des Kaiſers der Franzoſen der nicht
officiellen Agentin des Kaiſers aller Reußen den
Arm anbieten, um ſie in ihr Hotel zu geleiten! und
ſie reicht ihn ihm, nach einem momentanen Zaudern,
raſch hin.


„Stumm wie die Nacht und bewegt wie die
ſchöne Seele einer Deutſchen,“ ſagte der Franzoſe
zu ſeiner ſchweigenden Begleiterin.


„Sagen Sie lieber, Haß und Grimm im
Herzen und am Arm des verhaßten Feindes durchs
Leben gehen müſſen!“


„O wäre ich ſo glücklich, eine ſolche Feindin
durchs Leben führen zu können.“


„Wer denkt an uns!“


„Ich ſehr ſtark an mich.“


„Das lügen Sie vor ſich ſelbſt. Unſere Aufgabe
iſt's, uns immer ſelbſt belügen, täuſchen, unſere
glühendſten Gefühle mit einer Eiskruſte umgeben,
und wenn wir vor Froſt zittern wie der Frühling
lächeln, in Flitterſtaat glänzen, und vom Gefühle
unſerer Sünde zerknirſcht in Selbſtzufriedenheit
ſtrahlen! Alles für Andere, uns ſelbſt, unſer Glück,
unſere Buße und Hoffnung hinzuopfern für ein
anderes Weſen, einen Begriff, von dem man eigent¬
lich nicht weiß, was er iſt. Ins Reich der Seligen
kommt der Staat doch nicht.“

[160]

„Ich glaube kaum daß ein Platz für ihn da
iſt: weder unter den Gerechtfertigten, noch unter
den Sündern.“


„Und doch Diplomat!“


„Weil er ſich ſelbſt ganz verleugnen muß,
ſollte ja das die himmliſchen Thore ihm vor Allen
öffnen.“


„Vielleicht, wenn — Excellenz, hat Sie nie
das Gefühl durchzuckt, die Sehnſucht durchſchauen,
vernichtet zu ſein, aufzugehen in ein anderes Weſen,
zerſtampft in Atome, die das andere Weſen ver¬
größern und verherrlichen?“


„O ſehr oft, Madame, in den Armen einer
liebenswürdigen Frau.“


„Haben Sie nie die Seligkeit der Begeiſterung
empfunden?“


„Wofür?“


„Wofür? Und Sie kommen aus einer Revolution.
Die glutſpritzende Lava treibt doch ungeheure Bilder
in unſere Lebensnacht.“


„Prinzeſſin, die Lava iſt ſchon kalt geworden.“


„Sie waren einmal Republikaner!“


„Was waren wir nicht alles! Und eben weil
wir ſo viel geweſen ſind, für ſo vieles geſchwärmt,
geraſt haben, iſt wirklich in uns kein Platz mehr
für die Begeiſterung.“


„Auch nicht für Ihren Kaiſer?“


Laforeſt ließ eine Pauſe vergehen, bis er ant¬
wortete: „Auch für den nicht. Die Jugend, die
[161] Kriegsluſtigen, wer avanciren will, die meinenthalben.
Wir andern — pauſiren, wir wiſſen ja nicht, ob
es das Letzte iſt. Der einzige Erfahrungsſatz,
den wir nach Hauſe trugen aus allen Revolutionen,
iſt der, daß die Dinge ihren Kreislauf machen, und
die höchſte Weisheit für die Individuen wäre die,
auszurechnen, welches Stadium eintreten wird, wenn
es mit uns zu Ende geht. Wer ſich darauf
präparirte, ſtürbe glücklich.“


„Um fortgeſpült zu werden ins Meer der Ewig¬
keit als letzte Schaumflocke, die die Fluth der Zeit
auf ihren Wellen trug.“


„Wer wird mit mehr Conſiſtenz hineingeſpült!“


„Sie belügen ſich wieder ſelbſt. Warum hätten
Sie ſich in die Kirche gewagt, ausgeſetzt der Ent¬
deckung! Wenn einer dieſer Franzoſenfreſſer Sie
erkannte!“


„Habe ich etwa ſpionirt?“


„Nein, Sie wußten es ohnedem. Aber aus
reiner Dienſtpflicht hätten Sie das nicht unter¬
nommen. Es war die Abenteuerluſt, der ein Motiv
zum Grunde liegt, das Sie ſich ſelbſt zu verbergen
ſuchen. Ein Wageſtück für Ihren Kaiſer!“


„Sahen Sie nie am Roulettiſch Männer, die
ſelbſt nichts mehr zu ſetzen haben, mit geſpannter
Aufmerkſamkeit das Spiel verfolgen, das ſie nichts
angeht? Sie pointiren im Geiſt, eifrig, zufrieden
und entſetzt wie die andern. Das Spiel iſt ihnen
zur Natur geworden.“

III. 11[162]

„Was ſahen Sie in der Gruft?“


„Was ich erwartete, ein romantiſches Schauſpiel.“


„Das zu einem Schluß führt, der Ihnen nicht
gefallen darf.“


„Welchen Schluß meinen Sie, Prinzeſſin? Ich
ſah nur einen frappanten Aktſchluß. Die Zuſchauer
thaten mir leid, daß ſie nicht klatſchen durften.“


„Der Schluß des nächſten Aktes wird blutig
werden.“


„Vielleicht, vielleicht auch noch nicht. Man muß
den nächſten Aktaufzug abwarten.“


„Ich glaube, Sie werden ihn hier nicht ab¬
warten.“


„Das thäte mir um der Geſellſchaft willen
leid, die ich ſehr ungern verlaſſe.“


„Und was iſt der letzte Akt?“


„Der letzte, Prinzeſſin, wer ſieht ſo weit!“


„Aber Sie ſehen etwas vor ſich. Sie täuſchen
mich nicht.“


„Ich ſehe allerdings einen folgenden — einen
der nicht ausbleiben wird, wenn dieſer Ernſt wird.“


„Aber er ſpielt nicht in der Potsdamer Kirche?“


„Doch — es wird auch Nacht ſein, — bei
Fackelſchein ſeh ich meinen Kaiſer in die geöffnete
Gruft ſteigen; hinter ihm ſeine Generalität. Man
wird Friedrichs Sarg öffnen, und Napoleon die
Hand des Gerippes ergreifen.“


„Abſcheuliche Phantaſie!“


„Natürlich nichts als Phantaſie! Und er wird
[163] ſprechen: Großer Geiſt, vor mir ſollſt Du Ruhe
haben in Deiner Gruft.“


„Napoleon iſt kein Freund von Nachtſtücken.“


„Je nachdem es ihm convenirt. Glauben Sie
nicht, daß der Akt die Bewunderung der Deutſchen
für ihn erhöhen muß!“


Sie waren an die Thür des Hotels gekommen,
wo die Fürſten abgeſtiegen.


„Ich danke Ihnen für die Begleitung, ſagte ſie.
Wir werden uns nicht wiederſehen, — wenigſtens
bis zu einem nächſten Aktſchluß.“


„Warum?“ Er hatte ſie die Stufen hinauf
geführt, und drückte die nicht verſchloſſene Thür auf.


„Sie haben Ihrem Kaiſer von der heutigen
Nacht zu berichten. Leben Sie wohl.“


Er drückte ihre Hand an die Lippen; ſie zitterte.


„Ich möchte Sie noch um einige Details bitten,
die mir entgangen ſind. Aber Sie ſtehen in der
Zugluft.“


Er zog ſie in den Flur, und drückte die
Thüre zu.


11*
[[164]]

Neuntes Kapitel.
Bekenntniſſe ſchöner Seelen.

Als die Fürſtin in ihren dichten Zobelpelz gegen
die kalte Morgenluft verhüllt, in den Wagen ſtieg,
um in ſeinen weichen Polſtern einer Reihe ſeltſamer
Gedanken Audienz zu geben, war ſie nicht wenig
betroffen, noch Jemand darin zu finden. Es war zu
ſpät zum Schreien; die Thür war zugeſchlagen, die
Jäger hatten ſich aufgeſchwungen und der Wagen
raſſelte ſchon über das unebene Pflaſter nach dem
Berliner Thor zu.


Es war übrigens wohl Grund zum betroffen
ſein, aber nicht zum Schreck, als die weichen Hände
der Baronin Eitelbach die der Fürſtin erfaßten. Sie
bat ſie mit einer mit Thränen kämpfenden Stimme
um Verzeihung wegen der Attrape, aber ſie habe ſie
ſprechen müſſen, koſte es was es wolle. Deshalb
nach Potsdam gekommen, habe ſie von Stunde zu
Stunde vergebens auf den Augenblick gewartet, mit
ihr allein zu ſein, und endlich dieſe kleine Liſt ſich
erlaubt, um der einzigen Frau, die Theilnahme für
[165] ſie empfinde, die ſie und ihre Leiden verſtehe, ihr
Herz auszuſchütten.


Die Fürſtin wollte ſich mit ſich ſelbſt beſchäftigen,
und die Leiden der Baronin waren ihr unter allen
Dingen, mit denen ſie ſich beſchäftigt, in dem Augen¬
blick die allergleichgültigſten. Das ſchien wenigſtens
der Seufzer anzudeuten, der aus ihrer Bruſt ſich
Luft machte, aber ſie drückte die Freundin mit ſanfter
Innigkeit an dieſe ſelbe Bruſt:


„Ach, glauben Sie mir, Leiden ſchickt der Him¬
mel denen, die er liebt.“


„Aber nicht ſolche, rief die Schluchzende, wie
mir! Ach mein Gott, ich weiß ja nun alles, 's iſt
mir alles ſo klar wie was!“


„Was iſt Ihnen klar, Liebe?“


„Nichts, ſage ich Ihnen, wie ich Ihnen immer
geſagt, als ein Mißverſtändniß. Mein Mops iſt mir
jetzt ordentlich zuwider; ich könnte ihn vergiften. Aber
wer trennt ſich gleich von ſolchem Thier! Er hat
nun mal ſeinen Platz. 's iſt die Gewohnheit, ſagt
mein Mann. Fanchon hat wohl recht, wenn ſie
ſingt —“


„Ich verſtehe Sie nicht.“ Die Fürſtin verſtand
ſie wirklich nicht.


„Ich weiß es, ich rede confus, ich verſtehe mich
ja ſelbſt zuweilen nicht. Aber das mit dem Mops
war ſo gewiß ein Irrthum, er konnte nicht davor,
er wußte nicht, daß er meiner war. Es ſind boshafte
Menſchen dazwiſchen, die haben ihm das arme Thier
[166] vor den Fuß geſchoben; o ich weiß nicht, ich habe
eine Ahnung —“


„Eine Ahnung, Baronin?“


„Ausſprechen will ichs nicht, nein gewiß nicht,
ich mag Niemand Unrecht thun, aber der Legations¬
rath, ich weiß nicht ſein Geſicht, — zuweilen —“


„Was hat Wandel mit Ihrem Mops zu thun!“


„Glauben Sie, daß er ſein Freund iſt?“


„Des Mopſes!“


„Nein Seiner! Mögen Sie über mich lachen,
ich fürchte, der Rittmeiſter iſt nicht frei.“


„So viel ich mich entſinne, ſagt man, er ſei von
ſeinen Gläubigern etwas genirt.“


„Ach Sie wollen mich nicht verſtehen. Er iſt
zu arglos, gutmüthig, er hat das beſte Herz von der
Welt, ein Gefühl rein wie ein Kind; mein Gott,
Fehler hat jeder Menſch, er hat mir nicht weh thun
wollen, aber boshafte Menſchen ſind dazwiſchen ge¬
kommen.“


„Oeffnen Sie Ihr reines Herz nicht zu leicht
dem Argwohn. Das iſt der Wurm, der an unſerm
Seelenfrieden zehrt. Man täuſcht ſich, bei einem
lebhaften Geiſte, ſo leicht.“


„Dann iſt was andres dazwiſchen gekommen.
Sie können ſich nicht vorſtellen, wie ich mich gequält
habe, was ich ihm denn gethan haben könnte; Tag
und Nacht ließ mir's keine Ruhe.“


„Und Sie haben ſich ganz ernſt gefragt?“


„Theuerſte Fürſtin, da blieb kein Fältchen in
[167] meiner Seele. Nein, wahr und wahrhaftig, ich that
ihm nichts, ich bin unſchuldig; es iſt was anderes
dazwiſchen gekommen.“


Die Fürſtin war in ein Sinnen verfallen, das
nicht zu der Art Theilnahme ſtimmte, welche ſie der
ſchönen Frau bisher angedeihen ließ. Sie hatte ſich
wieder mit ſich ſelbſt beſchäftigt. So paßte auch ihre
Entgegnung nicht ganz zu dem eben Geſagten:


„Das iſt der Kobold, meine Freundin, der uns
alle neckt: es kommt uns allen, bei unſern beſten
Entſchlüſſen, unſern edelſten Beſtrebungen, etwas da¬
zwiſchen, worauf wir nicht gerechnet. Da glaubten
wir, mit Jahre langen Mühen, mit geſparter Kraft
die Hinderniſſe beſeitigt, wir eilten ſchon mit offenen
Armen dem Ziele entgegen, und plötzlich ſtraucheln
wir — Gott weiß woran, wir wiſſen es ſelbſt nicht,
an einem Ball, den eine Kinderhand uns zwiſchen
die Füße warf, am Reflex einer Scheibe, und wir
glauben eine Mauer, einen Abgrund vor uns zu
ſehen. Wir müſſen über uns lachen, wir ärgern,
ſchämen uns, daß es ſo ſein konnte, aber es iſt ſo,
und wir ſind vom Ziele ab, wir müſſen von neuem
anfangen. Die Menſchen nennen es Zufall. Nein,
meine Freundin, es iſt der ewige Dämon, der uns
von der Wiege an belauſcht bis ans Grab, um, wenn
wir ſchwach werden, uns zu faſſen. Dagegen können
wir auch nichts, gar nichts. Es iſt vielleicht ver¬
meſſen ihm abſolut widerſtehn zu wollen, denn mit
unſrer Kraft iſts nicht gethan. Beſſer geſchehen laſſen
[168] was wir nicht ändern, und dann deſto herzlicher bitten,
daß der rechte Helfer bald erſcheint, der uns wieder
aufhebt.“


Die Baronin hatte in ihrer Gemüthsbewegung
nur etwas von dem Monologe aufgefaßt, und es
war das, was zu dieſer paßte.


„Lachen Sie mich aus, aber ich kann nicht da¬
für. Ich habe auch zum lieben Gott gebetet, daß er
mir einen Freund ſchicken möchte, der mir hilft.“


„Sie haben doch ſo viele, meine Beſte!“


„Nein, keinen wo ich Rath holen wollte.
Da —“


„Erſchien er plötzlich, wo Sie ihn nicht ver¬
muthet.“


„Wenn ich die Augen ſchließe, und lange da
ſitze, ſehe ich ihn deutlich vor mir, als wenn er leibte
und lebte, nein noch deutlicher. Ich zähle die Knöpfe
an ſeiner Uniform. Ich ſehe ihn, wenn er den Fi¬
dibus anzündet, wenn er ſich aufs Sopha wirft, das
Bein auf den Stuhl legt, wenn er gähnt und ſeufzt
und mit der Hand übers Geſicht fährt.“


„Das ſind ja intereſſante Viſionen! Aber er¬
lauben Sie mir es zu ſagen, dieſe Wahrnehmungen
können doch zuweilen ſehr unangenehm werden, wenn
eine zarte Frau in die Garçonwirthſchaft einer Ka¬
ſerne blickt, und alles das ſieht. Es ſoll da nicht
ſehr ſauber hergehn.“


„Sein Herz iſt rein, ſeine Seele ein Spiegel.
Ich kann ohne Erröthen hinein blicken. Was küm¬
[169] mern mich die Aeußerlichkeiten! Er hat in ſeiner
Kaſerne keine weibliche Pflege. Da hängt manches
am unrechten Ort und geſchieht nicht wie es ſollte.
Er fühlt es wohl, kann ſich aber nicht klar darüber
machen. Er fühlt, er muß ſich herausreißen, weil
er ſonſt unterginge.“


„Das wiſſen Sie alles?“ rief die Fürſtin über
die neue Clairvoyance verwundert. Es ging ihr wie
der Lupinus: die Eigenſchaft, die ſie für ſich liebte,
ward ihr bei andern unbequem.


„Ich weiß noch mehr. Ja, er iſt — er hat
Vertrauen zu mir — er wollte ſich mit mir verſtän¬
digen — er hat wie ich das Bedürfniß gefühlt das
unſelige Mißverſtändniß aufzuklären, er hatte einen
männlichen Entſchluß gefaßt; mit einem Wort, theuerſte
Freundin, er wollte an jenem Nachmittage zu mir,
weil er es nicht länger in der Ungewißheit aushalten
konnte, und da —“


„Kam etwas dazwiſchen; jetzt verſtehe ich Sie!
Aber dann läßt ſich ja der Schade leicht wieder gut
machen.“


„Sieht er mir denn ins Herz!“ rief die Ba¬
ronin.


„Man kann ihn langſam ſondiren —“


„Langſam! Und es geht los! Er muß mit!“
Sie ſah die Fürſtin mit ſtieren Augen an, und jetzt
brach das lang Verhaltene unwiderſtehlich heraus:
„Langſam! und Sie waren zugegen, wo ſie den
Krieg beſchloſſen haben. Weiß ich, ob er noch in
[170] Berlin iſt, wenn wir ankommen? Es ſind Couriere
mit neuen Marſchordres ſchon dieſe Nacht abgegangen.
Und er geht ohne zu wiſſen, was mich quält. Nein,
er geht mit dem Gedanken, daß ich ihn verſpottet.
Die erſte Kugel kann ihn treffen, und — und in
das Jenſeits iſt er, und weiß nicht —“


„Daß Sie ihn lieben! — Meine theuerſte Ba¬
ronin, wenn wir das nur geahnet hätten! Man
hielt es für eine flüchtige Paſſion. Wie hier die
Welt iſt!“


„Ja dieſe ſchlechte Welt kenne ich. Glauben
Sie nicht, daß ich mehr weiß? Man hat mit uns
ein grauſames Spiel getrieben. Man amüſirte ſich,
mich aufzuziehen, weil er mir damals unausſtehlich
war. Sie antworteten, ich war ja auch ihm zuwider!
Das war recht von ihm. Wie ſollte er eine Frau
achten, ſo empfindlich um eitle Thorheiten. Er iſt
ein Deutſcher Ehrenmann, wie die Ritter in alter Zeit
müſſen geweſen ſein. Gnädigſte Frau, Sie kennen
dieſes Gemüth nicht. Mit ſeinem ruhigen Auge hatte
er meine wahren Gefühle erkannt, und das war es,
was ſeinen Sinn änderte. Er ſah mich an mit, nen¬
nen Sie's wie Sie wollen, Aufmerkſamkeit, Theil¬
nahme, meinethalben Bedauern, Mitleid; ſeine Blicke
verfolgten mich nun, er wollte mich prüfen, und im
Augenblick, wo das Licht der Wahrheit durchſchlug —“


Die Fürſtin wußte in dem Augenblick nichts
paſſenderes zu thun, als daß ſie die Baronin an die
Bruſt ſchloß. Die Baronin intereſſirte ſie ſehr wenig,
[171] ihr Liebesſchmerz noch weniger, am wenigſten aber
der Rittmeiſter, deſſen Lob eben beginnen ſollte. Durch
das improviſirte Embraſſement verbarg ſie außerdem
die Thräne des Mitgefühls, die in ihrem Auge nicht
da war, und erſparte ſich eine Antwort, die ihr in
dem Augenblick nicht convenirte.


Sie ſaßen eine Weile in ſchweigender Rührung.
Bei der Baronin bedürfte es nur des Antippens mit
dem Finger, und ihre Bekenntniſſe, lange noch nicht
erſchöpft, brachen von neuem heraus. Dies beſorgte
die Fürſtin, ſie ſchien nur deshalb auf eine Wendung
des Geſpräches nachzuſinnen, welche dieſen Ausbruch
verhinderte; weil ſie aber nur zu gut wußte, wie
Gefühle der Art einem Raume mit brennbarem Aether
gleichen, wo man kein Licht einbringen darf, da¬
mit nicht alles in Flammen ſtehe, ſo ſchwieg ſie lieber
ganz. Sie fühlte ſich, indeß auch nicht vollkommen
ſicher auf dem Terrain, denn ſie war überraſcht, nicht
ſowohl über die Macht der Leidenſchaft, welche die
für kalt gehaltene Frau aufregte, als über das Be¬
wußtſein und die Seele, mit welcher ſie das Gefühlte
ausſprach. Wo Diplomaten Bewußtſein und Seele
merken, werden ſie unſicher, und tappen umher, bis
ſie mit ihren Fühlfäden die Schwäche entdeckt haben,
mittelſt deren ſie den Gegenſtand, der ſich ihnen
entziehen will, wieder in ihr Netz ziehen.


Die Fürſtin hatte wenigſtens eine unverfängliche
Wendung gefunden, als ſie, wie aus tiefem Nach¬
ſinnen aufſeufzend, den Blick gen Himmel, rief:

[172]

„Und der Krieg iſt es, der meine Freundin ſo
erſchreckt! Was iſt der Krieg anders, als ein Ge¬
witter, das die ſchwüle Luft reinigt.“


„Mit Menſchenblut! Und darunter die Beſten.
Die Kugel wählt nicht die Schlechten.“


„Wenn nun in der Natur ein ſolches ver¬
borgenes, furchtbares Geſetz beſtünde, das Menſchen¬
blut fordert!“ fuhr die Fürſtin fort, die ſichtlich in
ein neues Gedankengewebe ſich hinein ſpann oder
zu einem Phantaſienflug erhob, der über die
Faſſungskraft ihrer Geſellſchafterin hinaus ging.
Sie wollte, obgleich die Wahrnehmung ſie intereſſirte,
daß die Leidenſchaft auch eine Eitelbach weit über
ſich erhoben hatte, ſich ſelbſt in eine Sphäre erheben,
wo jene ihr nicht folgen konnte.


„Ja, es exiſtirt dieſes Geſetz! Und der Soldaten¬
ſtand iſt der geehrteſte, weil er auf dieſem großen
Geſetz der geiſtigen Welt beruht. Warum heißt Gott
in der Bibel der Herr der Heerſchaaren! Es iſt das
nicht ohne tiefen Grund. Wie herrſcht in dem weiten
Reiche der lebendigen Natur eine, wir können ſagen,
geſetzliche Wuth aller Weſen gegen einander! Es
giebt keinen Moment in der Zeit, meine Freundin,
wo nicht ein lebendes Weſen von einem anderen
verzehrt wird. Der Menſch aber iſt unter dieſen
zahlloſen Arten von Würgethieren die allerfurcht¬
barſte. Er tödtet um zu eſſen, um ſich zu kleiden,
ſich zu ſchmücken, ja aus Vergnügen, er tödtet um
zu tödten. Der Menſch, dieſer entſetzliche Herrſcher
[173] der Natur, will alles an ſich reißen, vom Lamme
ſeine Eingeweide, um eine Harfe widertönen zu laſſen,
vom Wallfiſch ſeine Barten, um das Mieder des jungen
Mädchens zu halten; ſeine Tafeln ſind bedeckt mit
Cadavern. Ja, dem Menſchen iſt in dem unerforſch¬
lichen Rathſchluß des Ewigen das Amt gegeben, den
Menſchen zu erwürgen, und der Krieg iſts, der den
Spruch erfüllt. Die Erde ſelbſt ſchreit nach Blut.
Das der Thiere genügt ihr nicht, auch nicht das der
Schuldigen, das durch das Schwert des Geſetzes
vergoſſen wird. Sie will mehr Blut, reineres. Der
Menſch, von einer göttlichen Wuth ergriffen, an der
Haß und Zorn keinen Theil haben, rückt ins
Schlachtfeld und thut mit Begeiſterung, wovor er
ſchaudert. In Erfüllung des großen Geſetzes, das
gewaltſame Zerſtörung unter den lebenden Weſen
fordert, iſt die ganze Erde, fortwährend von Blut
getränkt, nur ein ungeheurer Altar, auf dem alles
geopfert werden muß ohne Ende. Ja, meine Theure,
zweifeln Sie daran, wenn Sie die Weltgeſchichte
durchblättern, wenn Sie die rothen Schlachtfelder
überblicken, mit denen der gekrönte Korſe die Länder
füllt, daß der Würgeengel ſie umkreiſt wie die Sonne,
und eine Nation nur aufkommen läßt, um andere
zu ſchlagen! Wenn die Verbrechen ſich gehäuft über
das Maaß, dann verfolgt mit Haſt der Engel, ohne
Maaß zu kennen, ſeinen unermüdlichen Flug. Die
ſicht- und greifbaren Anläſſe erklären den Krieg
nicht; jeder kennt ja das Uebel; wenn ſie wollten,
[174] könnten ſie ihm ja leicht vorbeugen. Aber es iſt der Durſt
dieſer großen Sünder nach der Strafe, von der ſie fühlen,
daß ſie ſie verdienet, ſie ſtürzen darnach, wie die Hirſche
zum Quell, um dadurch geſühnt zu werden. Sehen Sie,
Theuerſte, wenn wir ihn ſo betrachten, müſſen auch die
Schrecken des Krieges geringer werden; ja wenn wir
uns verſenken in den berauſchenden Gedanken, daß
Er es iſt, der von dem ſündigen Menſchengeſchlecht
im Augenblick ſeiner höchſten Noth gerufen, in ſeiner
Donnerwolke eintritt, um die Ungerechtigkeit, welche
die Kinder dieſer Welt gegen ihn begingen, zu
ſtrafen und vernichten, dann wird der Krieg ſelbſt in
unſern Augen zu etwas Göttlichem und ſeine Schrecken
ſchwinden vor dem geängſteten Gemüthe.“


Wir wiſſen, daß dies nicht die eigenen An¬
ſichten der Fürſtin Gargazin waren, ſondern daß ſie
dieſelben in Petersburg aus dem Munde eines
franzöſiſchen Fanatikers vernommen hatte, der, damals
noch wenig beachtet, ſpäter aber von ſo unheilvollem
Einfluß ward, noch heute dauernd, aber noch heute
zweifelhaft, ob von ſchlimmerem auf die Völker oder
die Fürſten, indem er ihr Thema, die Erblichkeit
der Rechte, auf keinen feſtern Grund zu bauen
wußte als auf die Erbſünde der Menſchen!


Auch die Baronin wußte es nicht, es war ihr
auch ſehr gleichgültig. Mit der Erde, der Menſchheit
und ihrer Sündhaftigkeit im Allgemeinen hatte ſie
nichts zu ſchaffen, und gewiß auch keine Widerrede
dagegen, wenn dieſe nur durch einen Krieg geſühnt
[175] werden könnte. Nur ſollte der Rittmeiſter davon aus¬
genommen ſein, denn ſie hätte einen Eid darauf abge¬
legt, daß er keine Strafe des Weltgerichts verdiente.
Aber indem ſie mehr auf die Muſik als den Inhalt
der Rede gehört, waren doch einzelne Töne in ihre
Seele gedrungen, die ſie jetzt nachdenklich machten.
Sie ſaß in die Wagenecke zurückgelehnt und klärte
vergeblich mit ihrem Taſchentuch die Fenſterſcheibe
vom warmen Hauch, der ſie immer wieder von
neuem beſchlug. Die Fürſtin meinte, ſie wollte ihre
Thränen vor ihr verbergen, aber die Baronin ſuchte
nach einem Licht. Von draußen kam es nicht. Es
war das bleierne Grau des Novembermorgens, das
unerquicklich durch die Kiefern ſchien.


Die Fürſtin hatte erreicht was ſie vorhin
wollte, ſie hatte die Baronin zum Schweigen ge¬
bracht; aber die ſtumme Sprache der Seufzer ward
ihr noch peinlicher als die vehementen Liebesklagen,
von denen ſie ſich debarraſſirt. Sie drückte ſanft die
Hand ihrer Begleiterin, ſie bedauerte, wenn ihre
Phantaſieen einen zu tiefen Eindruck auf ihr Gemüth
gemacht, auch ſei der Krieg ja noch nicht beſtimmt
erklärt, und wenn er ausbreche, wache ein Auge
dort oben über alle, und wiſſe die Schuldigen von
den Unſchuldigen zu unterſcheiden. „Nur die Schuldigen
trifft ſein Zorn! Er richtet nicht wie ein menſchlicher
Richter, der nur auf die offenkundigen Thaten ſieht,
er prüft die Nieren und ſieht das Herz. Mancher,
der uns als großer Sünder erſcheint, geht vor ihm
[176] frei aus, weil ſein Herz rein geblieben, nur die Gewalt
der Umſtände ihn zur That trieb. Dagegen wie man¬
cher, der nichts gethan, was die Sinne faſſen, iſt ſchon
verdammt, weil er in der Stille ſeinen ſündhaften
Regungen nachging, weil er in Gedanken gegen Got¬
tes Geſetze ſündigte. Wie leicht lullen wir uns in
ſüße Verſtellung ein, es ſei nicht ſchlimm was wir
denken; wir lügen uns edle Abſichten vor, oder glau¬
ben, es ſind ja nur Phantaſieen, und wenn es zur
Ausführung kommt, ſo würden wir ſtark ſein und
ihnen widerſtehen. Ach, meine Liebe, wir ſind nicht
ſtark, und Gedankenſünden ſind oft die ſchwerſten,
die wir begehen können.“


Die Fürſtin mußte heute ſelbſt ſo von ihren
eigenen Gedanken bedrängt und verwirrt ſein, daß
ihre diplomatiſche Kunſt ſie in dem, was ſie laut
ſprach, zu verlaſſen ſchien. Sie hatte nichts von dem
neuen peinlichen Eindruck gemerkt, den dieſe Tröſtung
auf die Baronin hervorgebracht, die plötzlich ſich auf
den Boden des Wagens niederſenkte, und die Knie
der Fürſtin umfaßte:


„Ach, ich verſtehe Sie, ſchluchzte die ſchöne Frau,
aber — ich konnte nicht anders.“


„Meine Liebe, Gute, beruhigen Sie ſich, ſprach
die Fürſtin, die eine neue Specialbeichte fürchtete, und
nichts weniger als Luſt hatte, den Beichtvater abzu¬
geben. In ſolchen großen Welt-Kataſtrophen hat das
Auge droben weniger Acht — ich wollte ſagen, es ſieht
milde und gnädig auf die kleinen Vergehungen herab.“

[177]

„Ja, ich liebe ihn, rief die Baronin, und ich
bin ja eine verheirathete Frau.“


Alſo das war es. Mild lächelnd blickte die
Fürſtin auf die Sünderin herab, und fuhr mit den
weichen Fingern über ihre Stirn:


„Erinnern Sie ſich, wie der verlorne Sohn auf¬
genommen ward!“


„Ich kann ihn doch jetzt nicht verlaſſen — wenn
ich jetzt zurückkehre, raube ich ihm ſeinen Glauben —“


„An Ihre Liebe. Das iſt ſehr wahr. Der ver¬
lorne Sohn kehrte auch nicht auf den erſten Anfall
von Reue zurück. Würde er ſo im Hauſe des Vaters
empfangen ſein! Er mußte eine furchtbare Schule
der Sünde durchmachen, um der Gnade werth zu
ſein. Wäre er in ſich gegangen nach einer leichten
Verirrung, und hätte er ſich etwa nach einem Trink¬
gelag, einem Verluſt im Spiel, einer wüſten Nacht,
reuig dem Vater zu Füßen geworfen, es wäre gewiß
ſehr hübſch und moraliſch, aber der Vater, wenn er
ein vernünftiger Mann war, hätte ihn aufgehoben
und auf die Schulter geklopft und geſprochen: Nun
das freut mich, daß Du es ſelbſt einſiehſt, künftig
wirſt Du Dich davor hüten, aber nun mache kein
Aufheben davon, daß Du nicht ins Gerede kommſt;
ſei ganz wie vorher, ich werde gegen Dich auch wie
immer ſein. O meine Freundin, wo blieb da die
Seligkeit, die den Sohn, den Vater, das ganze
Haus, die Nachbarſchaft, erfüllte, jene Seligkeit, um
die es ſich lohnt gelebt, ſo viel Qualen ausgeſtanden
III. 12[178] zu haben! Wie er dalag auf der Schwelle, zerknirſcht,
gebrochen an Leib und Seele, und nun zückte das
Gnadenwort des Vaters wie ein Sonnenſtrahl nach
langen grauen Tagen, der Himmel that ſich auf in
ſeiner Herrlichkeit, als die Arme des Vaters ſich
öffneten ihn zu umſchließen. Er ward ein neuer
Menſch, er geſundete an Leib und Seele, alle Welt
wußte es, alle Welt freute ſich mit ihm und das
große Geheimniß der Liebe ward Himmel und Erde
offenkundig!“


Es klang wunderſchön, die Baronin wußte aber
doch nicht, was ſie damit machen ſollte: „Wenn ich
nur wüßte —“


„Weiß Ihr lieber Mann darum?“ fiel die
Fürſtin ein.


„Ach der! — Er würde ſich halb todt lachen,
wenn er alles wüßte. Es hat ihm ſchon Spaß ge¬
macht, daß er mich necken konnte.“


„Wenn aber aus dem Spaß doch Ernſt würde?
Wenn er in eiferſüchtiger Laune — es könnte eine
unangenehme Scene — eine Scheidungsklage —“


„Ach, da hat er ſchon eine andre.“


„Die Spaniſche Tänzerin ſoll ihm viel Geld
koſten.“


„Das meinen Sie! Nein, ich meine die Braun¬
biegler.“


„Die reiche corpulente Wittwe, mit den Edel¬
ſteinen und Ketten um den Hals! Die muß ja eine
fünfzigerin ſein!“

[179]

„Sie iſt ja die Wittwe ſeines Compagnons —
hunderttauſend Thaler baar außer dem halben Ge¬
ſchäft! Wäre Herr Braunbiegler vor acht Jahren ge¬
ſtorben, hätte er mich gar nicht geheirathet, das ſagt
er mir und jedem tauſend Mal. Er hätte das Ge¬
ſchäft in einer Hand und die Tuchlieferung fürs
Militair allein.“


Ein Lächeln ſchwebte über das Geſicht der Für¬
ſtin: „So denken die Männer, und von uns fordern
ſie Hingebung und Treue! — Was ich ſagen wollte,
es kommt Ihnen alſo jetzt alles darauf an, den guten
Rittmeiſter von ſeinem Irrthum zu curiren. Wie
wäre es denn — es iſt nur ein Einfall — Sie
glauben nicht, daß er ſich noch einmal auf den Weg
macht?“


„Mein Gott, er muß ja ausmarſchiren. Das
iſts ja.“


„Richtig! Wir wäre es denn, wenn Sie ſich
auf den Weg machten! Ich meine, wenn Sie ihm
entgegenkämen, natürlich in allen Ehren. Sie könnten
ihn zu ſich rufen laſſen; das möchte aber falſch aus¬
gelegt werden, und vielleicht käme er auch nicht. Sie
müßten etwas recht eclatantes thun, das eblouirt die
Männer. Ich hoffe Sie verſtehn mich nicht falſch.
Wenn Sie ihn in der Caſerne aufſuchten, ich meine
nicht heimlich, ſondern in Ihrer Equipage, den Be¬
dienten hinter ſich, die Welt würde das freilich nicht
gut heißen —“


„Sie meinten alſo — ?“


12*[180]

„Ich meine gar nichts, aber wenn Sie einen
ſolchen Schritt ſich durchaus nicht ausreden ließen,
wenn Sie ſich kühn über das Urtheil der Menge
wegſetzten, welche die Impulſe edler Seelen nie be¬
greift, — ich ſtelle mir nur eben den magiſchen Ein¬
druck vor, den dieſer heroiſche Entſchluß auf unſern
Freund hervorbringen müßte.“


„Ich ſollte alſo direct zu ihm in die Caſerne —“


„Um Himmels Willen, Liebſte, Beſte, verſtehn
Sie mich nicht falſch. Ich meine nur, bei dem all¬
gemeinen patriotiſchen Aufſchwung, der gerade von
den Frauen getragen wird, ſinken die gewöhnlichen
Schranken. Die Schweſter eilt zum Bruder, die Braut
zum Bräutigam, man möchte den theuren Scheiden¬
den die letzten Stunden durch verdoppelte Aufmerk¬
ſamkeit verſüßen, man windet ihnen Kränze zum
Abſchied, und in den Epheu und das Immergrün
möchte man ſchon Lorbeern flechten. Finden Sie das
unnatürlich?“


Wenn die Fürſtin ſich hätte Rechenſchaft geben
ſollen, welches Motiv ſie antrieb, würde ſie geſtockt
haben. Herrſchſüchtige ſtrengen oft die halbe Kraft
an, den Schein hervorzubringen, daß ſie nicht be¬
herrſchen wollen; Geiſtvolle, wenn ſie von andern in
ihren Gedankencombinationen geſtört werden, wehren
ſich die Störung durch lebhaftes Reden ab. Dieſe
äußerſte Anſtrengung ſich nicht zu verrathen, verräth
freilich den Schuldigen nur zu oft, es bedarf dazu
aber anderer Richter, als Zuhörer, die von ihren
[181] eigenen Gedanken abſorbirt ſind. Die Fürſtin wollte
von der Baronin loskommen, aber in jeder Wendung,
welche ſie dem Geſpräche gab, verſtrickte ſie ſich aufs
neue. Die Intrigue, zu der ſie ſich aus Gefälligkeit
herbeigelaſſen, war ihr gleichgültig; ſelbſt das Ver¬
gnügen, Eroberungen zu machen, erkaltet, je unbe¬
deutender die Perſonen, die wir zu erobern ausgingen,
im Verlauf der Arbeit uns erſcheinen; und wenn ſie
aus Noth wieder ins Rad dieſer Intrigue griff, ge¬
ſchah es nur aus Rückſicht für Freunde, die ein
Diplomat immer abſchütteln darf ſobald das Intereſſe
es fordert, niemals aber aus Laune. Sie wollte
wenigſtens das Spiel derſelben nicht verderben, darum
ein Rathſchlag, bei dem ihre Freunde Zeit gewannen,
nach ihrem Gutdünken zu handeln.


Aber die Fürſtin hatte heut Unglück. Der Funke,
den ſie geſchlagen, hatte in der Baronin gezündet.
Sie ſtrich über die Stirn und machte Miene aufzu¬
ſtehn: „Ja Sie haben wieder recht. So muß es ſein,
ich bin's ihm ſchuldig. Wenn nur nicht wieder etwas
dazwiſchen kommt!“


Ach wenn doch etwas dazwiſchen käme! dachte die
Fürſtin, und der Himmel erbarmte ſich ihrer. Ein hefti¬
ger Krach, ein praſſelndes Knallen, und der Wagen ſenkte
ſich. Im nächſten Augenblick waren die Damen unſanft
auf die Seite geſchleudert und lagen in der umge¬
ſtürzten Kutſche, deren Fenſter klirrend in Stücke
ſprangen.


Der Kutſcher hatte nicht ſchnell genug einem
[182] hinter ihm in Sturmeseil heranpreſchenden Sechs¬
ſpänner ausweichen können. Das Hinterrad des
Wagens war vom Vorderrade des nach ihm kom¬
menden erfaßt worden, das Terrain war abſchüſſig
und der Wagen der Fürſtin, weiter in die Richtung
rollend, geſtürzt. Wenigſtens ein Rad war ge¬
brochen.


Aus der Kutſche des Sechsſpänners ertönte ein
donnerndes: Halt! Ein Cavalier ſprang noch im
Fahren heraus, und ehe die Lakaien ſich von ihren
Sitzen gearbeitet. „Es iſt Frauengeſchrei!“ ſagte
ein heranſpringender Reiter, der zum Wagen gehörte.
„Um ſo unverzeihlicher!“ rief der Cavalier, und ſchien
zu fordern, daß auch der Begleiter vom Pferde ſpringe,
während er ſelbſt, der erſte, ſich an der umgeſtürzten
Kutſche beſchäftigte den obern Schlag zu öffnen.


„Sie ſind doch nicht verwundet?“ rief die Eitel¬
bach zur Fürſtin, die unter ihr lag.


„Ich glaube nicht. Man öffnet. Machen Sie
Luft.“


Die Eitelbach war raſch zur Hand. Sie erfaßte
eine andre Hand, welche ſich ihr aus dem geöffneten
Schlage entgegenſtreckte. Als ſie ſich hinaufgeſchwun¬
gen, umfaßte ſie der kräftige Arm des Cavaliers und
hob und ſenkte ſie mit einem glücklichen Schwunge
auf die Erde. Im nächſten Moment übte der Be¬
gleiter, der raſch aus dem Sattel geglitten, denſelben
Ritterdienſt an der Fürſtin. Der Zobelpelz, den ſie
der empfindlichen Morgenkühlung willen, nicht zurück¬
[183] laſſen wollte, machte einige Schwierigkeit. Der Retter
und die Gerettete mußten ſich übrigens kennen. Als
ſie aber den andern Cavalier ſah, ließ ſie den Pelz
plötzlich zu Boden ſinken, und blieb in reſpectvoller
Entfernung, mit auf der Bruſt gekreuzten Armen
am Wagen ſtehen.


Der Cavalier ſprach zur Baronin, die ihren
Schreck abſchüttelte: „Ich hoffe doch, daß die ſchöne
Frau ſich keinen Schaden gethan.“


„Danke für gütige Nachfrage, Ihro kaiſerliche
Majeſtät, ich denke, es iſt alles noch gut abgelaufen,“
erwiederte ſie mit einem Knix, der die Fürſtin erröthen
machte. Sie ſah aber nicht, daß die Baronin dabei auch
auf ihre Falbala's ſah, die beim Herausheben zerriſſen
waren.


Der Cavalier ließ den wohlgefälligen Blick, mit
dem er die Geſtalt der ſchönen Frau maß, jetzt auf
ihre Begleiterin gleiten: „Ei ſieh da, Prinzeſſin, das
Morgenlicht täuſcht. Hoffentlich auch mit dem Schreck
davon gekommen, liebe Gargazin.“


Er reichte ihr die Hand, die ſie ehrerbietig an
die Lippen brachte: „Sire, ein kleiner Unfall ver¬
ſchafft uns oft ein großes Glück.“


„Aber die Damen können doch unmöglich in der
Kälte hier ſtehen, rief der Cavalier ſich umſehend.
Wäre in meinem Wagen — Aber es muß ſogleich
Rath geſchafft werden.“


„Eure Majeſtät, ſagte die Fürſtin, der Unfall
wird leicht zu redreſſiren ſein. Hier iſt Hülfe zur Hand.“

[184]

„Wir ſind bei Stimmingens, rief die Baronin,
auf das Gehöft zeigend, das in der Morgendämme¬
rung gegen den dampfenden weiten Seeſpiegel auf¬
tauchte. Da ſind wir gut aufgehoben. Wer bis
Stimmingen kam, iſt zufrieden.“


Der Cavalier lächelte. Wenn ein großer Mann
Zufriedenheit um ſich erblickt, iſt er ſelbſt zufrieden.
Aus der Wirthſchaft waren in der That ſchon rüſtige
Arme herbeigeeilt, um die geſtürzte Kutſche beſchäftigt.
Ein ältlicher Begleiter, in einen dicken Pelz verhüllt,
der ſich jetzt aus dem Wagen gearbeitet, machte, mit
einer Bewegung der Hand gegen die Uhrtaſche, eine
bedeutungsvolle Verbeugung:


„Meine Damen, ſprach der Kaiſer, ich bedaure,
daß die Stunde, die zur traurigen Staatspflicht ruft,
mich zwingt, die angenehmere in Ihrer Geſellſchaft
abzukürzen. Ich hoffe, daß Ihr Wagen bald wieder
hergeſtellt iſt, um das Vergnügen zu haben, Sie in
Berlin wieder zu ſehen.“ Die huldreichſte Vernei¬
gung ſchloß mit einem Kopfnicken gegen die Fürſtin:
„Adieu, Gargazin, erkälten Sie ſich nicht.“ Noch
ein Mal ſah der Erlauchte vor dem Einſteigen ſich
um, und ſein Blick galt der Baronin.


„Glückſelige Frau!“ ſagte die Fürſtin zur Eitel¬
bach, während ſie beide am hohen Rande des Sees
auf und ab gingen, die Fürſtin wieder in ihrem Zobel,
den der Adjutant ihr aufgehoben. Sie zogen den
Aufenthalt im Freien der überheizten Wirthsſtube
und der Geſellſchaft darin vor, beide vielleicht von
[185] einem innern Feuer erwärmt, während der November¬
wind empfindlich kalt von Spandau her über die
weite Fläche des Sees blies.


„Warum glückſelig jetzt?“


„In Rußland würde dieſe Frage eine Blasphemie
ſein. Die Schönheit, auf der das Auge der Maje¬
ſtät mit Wohlgefallen ruhte, wird glückſelig geprieſen.
— Aber wie kannten Sie ihn, und auch mein hoher
Herr —“


„I wiſſen Sie denn nicht! Wie ſichs in der
Königsſtraße ſtopfte, und ſie halten mußten, das war
gerade vor unſerm Hauſe. Und die ganze Zeit ſah
er nach meinem Fenſter — fünf Minuten oder drei
wenigſtens kein Auge fort. Es hat uns allen rechten
Spaß gemacht.“


„Spaß!“ Die Fürſtin erſchrak; es kam aber
noch ein anderes Gefühl hinzu, wie konnte ihr das
verborgen geblieben ſein! Niemand hatte es ihr hin¬
terbracht. War ſie ſo ſchlecht bedient! Die Eitelbach
konnte ſich täuſchen, aber hatte ſie nicht ſelbſt Alexan¬
ders Blicke beobachtet! Sie kannte dieſen Blick.


„Ich begreife Sie nicht, ſo ruhig ſprechen Sie
das aus. In Rußland, nein in ganz Europa bliebe
keine Frau gleichgültig, die der ritterlichſte und liebens¬
würdigſte Monarch ſo ausgezeichnet hat.“


„Ach Sie meinen mich! Nein ich war's ja nicht.“


„Wer denn?“


„Die Mamſell Alltag, die ſtand im Fenſter
neben mir.“

[186]

„Adelheid Alltag!“ rief die Fürſtin, und blieb
ſinnend ſtehen, ſo im Sinnen, daß ſie den heran¬
galloppirenden Reiter nicht bemerkte, der ſich zum
zweiten Mal vom Pferde warf, und an die Damen
trat. Es war der Adjutant des Kaiſers.


„Seine Majeſtät haben mich zurückgeſchickt, meine
Damen, mit dem ſtrengſten Befehl Ihnen meine
Gegenwart aufzudringen und nicht eher zu weichen,
als bis ich ihm rapportiren kann, daß der Wagen
ſo wie alles was Sie wünſchen, zur Zufriedenheit
der erlauchten Frauen hergeſtellt iſt.“


Die Fürſtin mußte nach dem eigenthümlichen
und forſchenden Blick, den ſie ihm zuwarf, zu ſchließen,
in alter und ſehr genauer Bekanntſchaft mit dem
Adjutanten ſtehen:


„Berichten Sie, Prinz, Seiner Kaiſerlichen Ma¬
jeſtät, wie Sie uns ſprachlos vor Rührung über
dieſe außerordentliche Gnade gefunden haben. Um
uns aber in unſern ſtummen Dankgefühlen nicht zu
ſtören, bitten wir Sie uns auf der Stelle auch noch
zu vertrauen, warum Sie außerdem hergeſchickt ſind.“


Der Adjutant, wie im Einverſtändniß mit der
Art der Frage, verneigte ſich vor der Baronin:
„Außerdem wünſchten Seine Majeſtät zu erfahren,
wer das junge Mädchen war, welches am Einzugs¬
tage neben der ſchönen Frau am Fenſter ſtand!“


„Wirklich!“ rief die Fürſtin, man glaubte unter
dem Zobelpelz ihr Herz gegen die Bruſt ſchlagen zu
hören, die matt gewordenen Züge ihres feinen Ge¬
[187] ſichtes belebten ſich, und ihr ſchwarzes Auge ſtrahlte
von einem Glanz, der das graue Morgenlicht be¬
ſchämte: „Berichten Sie Seiner Majeſtät, daß was
wir wünſchen, wenigſtens was ich wünſche, zu meiner
Zufriedenheit hergeſtellt ſein wird. Vielleicht ſage
ich Ihnen dann unterweges — Sie chaperonniren doch
unſern Wagen? — wer das junge Mädchen iſt,
vielleicht auch nicht. Je nachdem Sie ſich aufführen.“

[[188]]

Zehntes Kapitel.
Von Magiſtratsperſonen und ungerathenen Kindern.

Die Geheimräthin Lupinus war am Rathhaus
vorgefahren und hatte in die Hände des Magiſtrats
eine Gabe von drei hundert Thalern als milden Beitrag
zu den Kriegskoſten des Staates niedergelegt. Der
Magiſtrat hatte es für nöthig erachtet, durch eine
confidentielle Deputation der Geheimräthin für dieſen
Beweis einer außerordentlichen patriotiſchen Geſinnung
ſeinen beſondern Dank abzuſtatten. Sie hatte die
Herren Büſching, Köls und Gerresheim mit Be¬
ſchämung, wie ſie ſagte, empfangen, und ihre Ver¬
wunderung nicht zurückhalten können über einen ſo
Aufſehen erregenden Schritt, und um eine Handlung,
welche nach ihrer Meinung die Pflicht von jedem
fordere.


„Aber Sie waren die Erſte in Berlin, die
das Beiſpiel gab, hatte Büſching erwiedert, und
vor dieſem Beiſpiel verneigen wir uns.“


„So wünſche ich, meine hochgeehrten Herren,
daß das Beiſpiel von den Nachfolgern verdunkelt
[189] und meine obſcure Perſon, und die Kleinigkeit, die
ich mitbrachte, bald vergeſſen werde über die
großen Opfer, die andere Reichere, auf den Altar
des Vaterlandes niederlegen.“


„Eigentlich hatte ſie recht, ſagte Gerresheim,
als die Herren wieder in den Wagen ſtiegen. Das
ſchickte ſich nicht für eine Corporation wie der
Magiſtrat von Berlin.“


„Was ſchickt ſich denn, und was ſchickt ſich
nicht, ſagte Köls, wenn das Vaterland in Gefahr
iſt! Wir mußten aus den Provinzen täglich in den
Zeitungen leſen, daß der und der Edelmann ſeine
Rekruten ausſtattet, und werthvolle Lieferungen ver¬
ſpricht, während in der Hauptſtadt nicht das geringſte
geſchehen iſt. Da war es Pflicht, den erſten beſten,
der mit einer anſehnlichen Offerte hervortrat, zur
Stimulation für die andern zu honoriren.“


„Das iſt auch meine Anſicht, ſchloß Büſching.
Es iſt mit unſerm Gemeindeweſen überhaupt nicht
wie es ſollte. Da muß man manches dem Einzelnen
überlaſſen, was eigentlich nicht an ihm wäre.“


„Unſer Räderwerk iſt etwas verroſtet, das iſt
richtig,“ ſtimmte Gerresheim bei. Jener fuhr fort:


„Können wir als Corporation etwas thun, um
auf das Staatswohl einzuwirken? Weder nach oben,
noch nach unten haben wir Einfluß.“


„Iſt auch nicht unſeres Amtes, Herr College,
ſagte Köls. Und ich ſollte meinen, es macht uns
ſchon genug zu ſchaffen.“

[190]

„Papierſtöße in Aktenberge zu verarbeiten!
Meines Erachtens wäre in einem wohlgegliederten
Staate die Aufgabe des Magiſtrats einer Stadt wie
Berlin eine andere, als im Schlendrian zu vegetiren.“


„Liebſter, beſter College, keine Neuerungen!
Haben wir's nicht geſehen, wohin ſie führen. Wenn
erſt diſtinguirte Männer im Amt einen Penchant
dazu bekommen —“


„Neuerungen! fuhr Büſching dazwiſchen, was
ſo uralt iſt, als es Städte in Deutſchland gab.
Der Bonaparte freilich macht in ſeinem neuen
Reiche ſeine Bürgermeiſter zu Domeſtiken und den
Magiſtrat zu Pagoden; bei uns aber iſt doch we¬
nigſtens noch die Fiction, daß wir aus der Bürger¬
ſchaft hervorgegangen, daß wir ihre Intereſſen
vertreten, oder, wie man jetzt ſagt, ſie repräſentiren.
Traurig genug, daß es nur noch Fiction iſt. —“


„Aber, liebſter Büſching, warum denn traurig!“


„Es geht ja alles ganz gut ſo.“


„Jetzt, meine Herren Collegen, es geht zur Noth
noch. Aber wenn Gefahr kommt, wie denn dann?
Werden ſeine Präfecten und Maires den Napoleon
halten, wenn über Nacht eine andere Gewalt ſich
zum Herrn aufwirft! Sind wir dem Staat eine
Stütze, wenn ein Unglück herein brechen ſollte? Wir
gingen nicht aus der Bürgerſchaft hervor, wir haben
keine Wurzel in ihr. Und wenn ein Fremder kommt,
uns einſperrt, fortjagt, ſteht ſie rathlos da, ohne Zu¬
ſammenhang, Organismus, ohne Willen und Kraft
[191] auch nur zum Nothwendigſten. Ja wären wir wie
in England. —“


„Keine Neuerungen! unterbrachen ihn beide
Collegen wie im Chorus, mit einer Bewegung, als
wollten ſie ſich die Ohren zuhalten. Und Neuerungen
in dieſem gefährlichen Augenblick, liebſter College
Büſching!“


„Und wann denn! ſagte der College mit Ruhe.
Weiß denn Einer von uns, was uns die nächſte
Zeit bringt! Jetzt ziehen wir ins Feld, vielleicht
auch nicht; aber beendet, meine werthen Collegen,
iſt, auch im glücklichſten Falle, damit die Sache nicht.
Geſetzt, was ich aus Herzensgrunde wünſche und glaube,
wir ſchlagen ihn; damit haben wir ihn nicht über¬
wunden. Dies Frankreich hat in ſeinem größten
Elend, und immer im Augenblick, wo wir es für
ganz vernichtet hielten, wunderbar neue Kräfte aus
ſich ſelbſt entwickelt. Es kommt keiner gegen es auf,
wenn er nicht auch Neues in ſich findet, ſich aus
ſich ſelbſt herausſpinnt.“


„Aber der Bürger, liebſter Büſching, was ſoll
der damit! Wenn der erſt ſuchen ſoll, was dem
Staate noth thut, iſt die Verwirrung voll.“


„Er weiß ſich in den kleinſten, eigenen Angelegen¬
heiten nicht zu helfen, ſetzte der andere hinzu. Ein
Spiel in den Händen der Advocaten, möchte er
doch noch in der einfachſten Schuld- oder Hypotheken¬
ſache von jedem Rath haben. Und er ſollte Rath
geben!“


[192]

„Es iſt ſchlimm, daß es ſo iſt, meine Herrn,
aber noch ſchlimmer, daß, während er von jedem
Rath will, er unſerm am wenigſten traut. Oder
wollen Sie ſich darüber täuſchen, daß im Volke der
Glaube iſt, wir betrügen es, wenn wir Erbſchaften
reguliren, Inventare aufnehmen, Sporteln liquidiren,
ja leider ſelbſt, wenn wir Recht ſprechen?“


„Das Volk iſt einmal dumm, College!“


„Iſt es dazu vom Schöpfer deſtinirt! Oder
haben wir es allmälig dumm gemacht, weil wir
ihm nicht den geringſten Einblick in unſern Me¬
chanismus gewährten? Es kann in unſere Akten
nicht ſehen, und wenn, verſtünde es nicht einmal
unſere Sprache.“


„Friedrich hat etwas davon im Sinn gehabt,
was Sie meinen, erwiederte Köls. Ihm und ſeinen
Räthen ſchwebte der Gedanke vor, daß die Juſtiz
Allgemeingut werden ſollte; daher die wunderlichen
Verordnungen, wie lange nur ein Prozeß dauern
ſollte, die Beſchränkung des Einfluſſes der Advokaten,
der indirecte Zwang, daß jeder eigentlich ſeinen
Prozeß ſelbſt führen müſſe. Wohin hat uns das
geführt? Nur auf Widerſprüche; denn es war nicht
auszuführen, weil das Volk keinen Sinn dafür
hatte, weil es nichts davon verſtand, kurz weil es
nun einmal zu dumm iſt.“


„Weil — ſagte Büſching und hielt inne — doch
das führt uns hier zu weit. Meine Herren Collegen,
fühlen Sie denn nicht, daß es einer innigern, feſtern
[193] Gliederung zwiſchen oben und unten, zwiſchen allen
Theilen, Gliedern und Ständen bedarf, um uns
feſt in uns ſelbſt zu machen? Wenn ein Feind in
England einfiele und London nähme, wäre England
nicht verloren, weil in jeder Grafſchaft ein Theil
des Ganzen lebt, der ſelbſt Lebenskraft hat, weil
die Gemeindevorſtände aus der Gemeinde hervor¬
gingen, mit ihr zuſammenhängen, mit ihr, auf ſie
geſtützt, handeln können. Da rettet ſich ein Theil
des Staates, der Nation, in die Städte, Graf¬
ſchaften, von dort aus erhebt ſich England wieder.
Was aber wäre Preußen, wenn Berlin genommen
iſt, und der Sitz der Regierung, ehe man die
Staatsmaſchine retten konnte, mit allem darum und
daran, dem Feinde in die Hände fiel? Wo ſollte
ſich ein Widerſtand organiſiren, wo eine legale
Autorität anftreten, wenn ein Schlag den Knoten
zerhieb, in dem alle Fäden zuſammen liefen, und
ſie hängen nun loſe da. Die Einzelnen möchten
zwar gern und ſie ſind bieder, gut, entſchloſſen; aber
wo iſt ein Mann, ein Name, eine Inſtitution, welche
eine Kraft, einen Anſpruch hat, die Einzelnen um
ſich zu ſammeln. Wir haben keine Ariſtokratie, keine
Magiſtrate, wie ſie ſein ſollten, gar keine Corporationen
mit Einfluß hinter ſich, mit Untergebenen, die ihren Füh¬
rern, wenn nicht aus Liebe folgen, doch aus Intereſſe
ſich zu ihnen ſchaaren. Wenn der Schlag fiele, ſind wir
zerſplittert, eine zerſtreute Heerde, von der jeder Nachbar,
jeder Räuber, was ihm bequem liegt, an ſich riſſe.“

III. 13[194]

„Wir haben unſre Armee,“ ſagte Köls.


„Und die Armee hat Disciplin,“ ſetzte Gerres¬
heim hinzu. Mit Disciplin läßt ſich alles durch¬
ſetzen.“


„Auch der Opfermuth, der feſthält an einer
verlorenen Sache? — Laſſen Sie uns abbrechen,
meine Collegen, unſre Anſichten finden keine Vereini¬
gung. Wir haben keine Corporationen, Stände,
keine Gliederung im Staate, aber wir haben Men¬
ſchen, gute, tüchtige Menſchen, vielleicht Charactere,
die nur jetzt verborgen ſind, und die Noth weckt noch
mehr zur rechten Stunde. Das hoffen wir doch alle,
und laſſen Sie uns an dieſem Glauben feſthalten.
Darum — “


„Wollen wir auch das Scherflein der Witwe
nicht verſchmähen; die drei hundert Thaler der Lupi¬
nus ſind uns aber lieber,“ fiel Köls ein.


„Sie iſt ein wenig fanatiſch in ihrem Patriotis¬
mus,“ ſagte Büſching.


„Und —“ ſetzte Gerresheim hinzu und ſchwieg
plötzlich, bis er die Bemerkung hinwarf: „Die Frau
Geheimräthin admirirte vor kurzem noch den Bo¬
naparte mit einiger Oſtentation; da iſt das Change¬
ment doch auffällig.“


Die drei Herren ſahen ſich an und mußten ſich
verſtehen.


„Es iſt doch etwas eigenes mit der Weibernatur,
ſagte Köls nachdenklich. Wie weit ſind ſie uns oft
vorauf, ich möchte ſagen, wie der Blitz, der durch die
[195] Nacht leuchtet, und wir ſehen den Weg vor uns.
Aber dann, wenn wir den Weg einſchlagen wollen,
haben ſie ſich plötzlich verloren und wir haben Mühe
ſie mitzuziehen.“


„Sie thuts auch jetzt nur um von ſich reden
zu machen, ſprach Büſching. Darüber hab' ich mich
keinen Augenblick getäuſcht. Aber das dürfen wir
um Gottes Willen nicht ſagen. Hingenommen das
Gold, und einen Heiligenſchein daraus geſchlagen.
Zum Zweck iſts daſſelbe.“


„Es wird mit dem Schein manches Heiligen
nicht beſſer ſein, aſſentirte Köls. Was meinen Sie,
Gerresheim?“


„Weiß der Geier, in der Frau iſt etwas, was
mich anzieht, und abſtößt. Als ob ihr Auge mich
aushöhlen wollte, und ich fühle mich gedrungen, dann
immer tiefer hineinzuſehen, um ſie wieder auszu¬
holen.“


„Ei, ei, Gerresheim, doch nicht wieder verliebt?“


„Das wäre denn nur wie der Inquirent in
ſeinen Inculpaten, den er zum Geſtändniß bringen
will. Ich kann die Vorſtellung nicht los werden,
daß ich die Frau einmal vor mir ſitzen hätte am
grünen Tiſch, in einem Glorienſchein von erhabener
Tugend und philoſophiſcher Reſignation. Da ſteht
mir denn der kalte Schweiß auf der Stirn, wie ſie
auf meine Fragen antwortet. Sie redet ſich aus
und in mich 'rein, daß ich an mir irre werde. Glau¬
ben Sie mir, das könnte die Frau in ſolcher Lage,
13*[196] mit ihrem züngelnden Blicke, voll Sanftmuth und
doch in die Seele bohrend, mit ihrem feinen Lächeln,
mit der unendlichen Milde, die um ihre blaſſen
Todtenlippen ſchwebt. Sie bedauert mich, ſich, die
ganze Welt, und Gott weiß was hinter dem Bedauern
lauert, Hohn und Haß, Gift und Tod.“


„Gerresheim, ich bitte Sie, ein Mann wie Sie,
ein Richter, Criminaliſt, und ſolche Phantaſieen!“


„Ich weiß es, es iſt unrecht, aber wer kann
dafür! Sie iſt die reputabelſte Frau in Berlin, und
doch — “


„Was ſteckt dahinter?“


„Nichts weiter, Büſching, als die Warnung, daß
man die Leute nicht zu klug werden laſſen darf.
Stellen Sie ſich das Elend vor, wenn jeder Dieb
ſo fein, gewitzigt, gelehrt und gebildet wäre wie die
Geheimräthin Lupinus! Da möchte der Teufel Richter
bleiben.“


Während dieſes Geſprächs ſtand diejenige, von
welcher die Rede war, am Fenſter, und hatte der
fortrollenden Kutſche nachgeſehen. Das Fenſter war
geſchloſſen und die Scheiben belegten ſich vom Hauche
ihres Mundes. Sie konnte nichts mehr ſehen, und
nach den Geſetzen der Natur, die wir kennen, nichts
hören, als das Fortrollen der Räder. Wer aber ihr
Phyſiognomieſpiel beobachtet, hätte glauben mögen,
daß ſie das Geſpräch im Wagen angehört. In ihren
Augen ſtand geſchrieben: ich weiß, was Ihr über
mich denkt! Ich kann's nicht ändern, aber auch Ihr
[197] könnt und ſollt mich nicht anders machen als ich bin.
Dann flog ein eigenthümliches Lächeln über die Lip¬
pen, welche die Magiſtratsperſon ſo treffend gemalt
hatte.


„Der Herr Legationsrath von Wandel laſſen
ihren Reſpect vermelden!“ ſprach der eintretende Die¬
ner, nachdem ein Zug an der Thürglocke ſie aus ihren
Gedanken aufgeſchreckt.


„Ich laſſe dem Herrn Legationsrath für ſeine
unerwartete Attention danken.“


Der Bediente ging aber noch nicht, obgleich die
Dienerſchaft gewöhnt worden zu ſchweigen, wenn die
Geheimräthin mit einer ihrer ſcharfen Bemerkungen
eine Rede abſchnitt. Es hatte ſich manches in dem
Hauſe verändert, die Geheimräthin ſchnitt viel öfter,
raſcher, die Reden ab; ſie ſprach am liebſten mit ſich,
und man ſah ihr an, daß ſie in der Unterhaltung
dem mit ihr Redenden nur äußerlich Aufmerkſamkeit
ſchenkte, während ihre Gedanken andre Wege gingen.


„Iſts noch etwas, Heinrich?“ fragte ſie als der
Bediente nicht ging. Er hieß eigentlich Johann,
hatte aber beim Eintritt in den Dienſt dieſen Namen
ablegen müſſen.


„Herr Legationsrath —“ ſagte der Bediente und
ſtockte vor dem Blick der Geheimräthin.


„Hat mir ſeinen Reſpect durch ſeinen Bedienten
vermelden laſſen, wiederholte ſie raſch. Weiter hat
er mir doch nichts zu ſagen?“


„Sie laſſen der Frau Geheimräthin ſagen, Frau
[198] Geheimräthin möchten doch heute Abend ja nicht ver¬
ſäumen in die Komödie zu kommen. Es wäre näm¬
lich was los. Es wäre nicht um der Komödianten
willen, ſagte der Menſch, ſondern weil die Herren
Garde du Corps und von den Gensdarmen die
Logen gemiethet, und man wüßte nicht, was draus
werden könnte. Frau Geheimräthin möchten aber ja
nichts zu andern von ſagen, denn es ſollte es nicht
jeder wiſſen.“


„Das ſagte Ihm alles der Menſch? Vermuthlich
ſchrie er es Ihm von der Treppe zu.“


„Nein Frau Geheimräthin, der Menſch des Herrn
Legationsraths waren nur ſehr eilig, weil er's noch
Vielen anſagen ſollte. Sie ſtanden alle auf einer
Liſte. Darum —“


Die Geheimräthin ſchnitt diesmal das Geſpräch
nicht durch ein Wort, ſondern durch einen Blick ab.
Aber der Blick war ſchärfer als das Wort.


Sie hatte ſich auf das Canapé gelehnt, aber ſie
ſaß nicht allein. Einſt hatte ſie aufgeſchrien, als ſie
kleine Schlangen ſah, die über das Sopha ihres
Arztes züngelten und um ſeinen Arm ſich ringelnd
ihm an den Hals glitten. „Fürchten ſich nicht, Frau
Geheimräthin, hatte Heim gerufen, ohne Anſtalt zu
machen der faſt Ohnmächtigen beizuſpringen. Die
Schlangen thun Niemand was. Es hat aber andre,
die ziſchen und ſind giftig, und Niemand ſieht
ſie!“ Dieſe Schlangen ſchienen jetzt neben ihr
auf den Kiſſen zu ſpielen, um ihren Hals ſich zu
[199] ſchlingen und durch ihre immer engere Umklammerung
die ſcheu ſchielenden Blicke ihrer Augen zu erpreſſen.
Fuhren ſie auch zuweilen mit einem nagenden Stich
in ihr Herz, ſo kam wohl daher das plötzliche Auf¬
zücken, das krampfhafte Athmen, das ſie ſich ſelbſt
zu verbergen ſuchte, indem ſie die Hand unwillkür¬
lich an die Bruſt führte.


„Er hat Recht,“ ſagte ſie, mit Anſtrengung ſich
wieder vom Sopha erhebend, während ſie ſich doch
noch an die Lehne hielt. Aber dann zwang ſie ſich
mit aller Muskelkraft, die dem ſtarken Willen zu
Gebote ſteht, aufrecht zu ſtehen. „Er hat Recht,
wiederholte ſie. Das Leben iſt und bleibt ein Krieg
Aller gegen Alle, und nur der ſteht feſt, der ſich zu¬
letzt auf Niemand verläßt, als auf ſich. — Auf Nie¬
mand
— ſetzte ſie mit Nachdruck hinzu. Denn der
beſte Bundesgenoſſe wird der gefährlichſte Feind,
wenn die Bande zerriſſen ſind, die ihn an uns feſſel¬
ten. Und was ſind denn dieſe Bande, wenn wir ſie
näher betrachten? Der Leim, der die ſpröden Fäden
ſchmeidigt und bindet, iſt das Intereſſe, weiter nichts!
Die ſüßeſte Liebe, der eifrigſte Wiſſensdrang, wenn
wir ſie zerſetzen, es bleibt nur das Gelüſte, das aller¬
feinſte, nach Genuß und Vortheil. Die Vaterlands¬
liebe, was iſt ſie, auf ihre Grundſtoffe zerlegt? Ein
grober Egoismus! Und dieſer Patriotismus, den wir
uns vorlügen, jeder ſich ſelbſt, in noch ſtärkerer Doſis
dem andern, und der giebt ihn uns wieder zurück,
aufgeſchwollen, bis das grauenhafte Phantom fertig
[200] iſt, das Wolkenbild, das unſre Sinne verwirrt, unſre
Vernunft uns raubt. Und was bleibt dann? — “


In der Kinderſtube war es laut geworden,
keine ungewöhnliche Erſcheinung. Die Kinder ver¬
übten, wenn ſie kaum ſich etwas erholt, allerhand
Schabernack. Sie neckten, zankten, ſchlugen ſich, und
es war mehr als einmal paſſirt, daß ſie in unbe¬
wachten Augenblicken wieder einen friſchen Trunk aus
dem Quell des Uebels gethan, von dem ſie geheilt
werden ſollten.


Charlotte kam aus der Stube, die Enveloppe
umgethan zum fortgehen. Sie weinte.


„Haben die Kinder Sie wieder nicht in Ruhe
gelaſſen?“


„Ach Frau Geheimräthin, wenn da der liebe
Gott nicht hilft, dann weiß ich nicht, wer helfen
ſoll.“


„Warum hilft Sie ſich nicht ſelbſt?“


„Ich knuffe ſie auch, Frau Geheimräthin, aber
Wechſelbälger ſind gar nicht ſo ſchlimm. Nein, ſeit
ſie doch in dem Hauſe ſind! Ein vernünftiger Menſch
ſoll doch auch nicht in Rage kommen, denn wer in
Rage iſt, hat keine Vernunft, ja ſonſt — ich frage
mich immer, womit hat's die liebe gute Frau Ge¬
heimräthin verdient, nämlich die ſelige, die hatte ja
ein Herz wie Zucker, das konnte keine Fliege leiden
ſehn, und der Fritz wenn er den Maikäfern die Flü¬
gel ausreißt, das iſt ſein größtes Plaiſir. Malwin¬
chen iſt ſtiller, aber die hat's dick hinter den Ohren.
[201] Glauben Sie mir's, Frau Geheimräthin, die war's
die hat die Medicinpulle in die Mehlſpeiſe gegoſſen.
O Gott, ich kenne ſie ja; der Fritz, ja mit reinge¬
polkt hat er in die Speiſe, aber Fritz iſt viel zu
wild; der hätte nicht nachher die Pelle, mit Reſpect
zu ſagen, ſo wieder rüber gepellt, daß man's nicht
merken that. Und daß ſo was in einem ſo reputir¬
lichen Hauſe vorkommen mußte! Meine Couſine, die
Frau Hoflackir, als ſie's hörte, ſchlug die Hände über
den Kopf zuſammen, und ſagte: Charlotte, Du mein
Jemine! die Leute hätten ja denken können, ſie wären
vergiftet und vergeben worden.“


„Das iſt ein albernes Gerede.“


„Das ſagte ich ja auch. Erſtens, das waren
vornehme Gäſte, und die nennt man nicht Leute,
Couſine. Nun Sie müſſen wiſſen, meine Couſine
iſt jetzt eine ſehr reſpectable Frau, aber ſie hat nicht
die Bildung gehabt. Da muß man ihr ſchon ſo
was zu Gute halten. Aber dann ſagte ich ihr: Aber,
Couſine, wie kannſt Du ſo was nur denken! Ge¬
meine Leute ſind rachſüchtig, und da hat ſchon man¬
cher ſeiner Frau auf den Kopf geſchlagen, und in
den Büchern ſtehts von mancher Frau, die ihren
Mann vergeben hat in der Suppe, daß ſie ihn unter
die Erde kriegte, und hinter der Thür ſtand ſchon ein
anderer. Aber unter honnetten Leuten kommt ſo was
nicht vor, die wiſſen ſich anders zu helfen. Und
wenn's einmal, ſo macht man auch nicht ſo viel Ge¬
ſchrei davon, denn da wärs ja gethan um allen
[202] Reſpect und die Moralität. Nein, alles, was Recht
iſt, und mein guter Herr, der Geheimrath, in der
Seele hat er mir weh gethan, daß er dabei ſein
mußte.“


„Er machte einen Spaß daraus.“


„Das iſt ſchon richtig, Frau Geheimräthin. Aber
glauben Sie, was ein Vaterherz empfinden muß,
das iſt auch was; man ſagt's nur nicht jedem. Ach
von meinem Herrn Geheimrath könnte ich Ihnen
vieles ſagen. Spaßig ja, aber weh thut doch weh.
Und die Chocolatenmehlſpeiſe ißt er gerade ſo gern,
und nun muß es 'raus kommen, ſeine eigenen Kinder
ſinds, und in dem Hauſe, wo ſie ſo viel Liebes und
Gutes genoſſen haben! Und vor ſolcher großen Ge¬
ſellſchaft, und gerade als man auf die Geſundheit
trinken wollte von den hohen Herrſchaften. Und die
Geſichter!“


„Sie war ja nicht dabei!“


„Aber als hätt' ichs leibhaftig geſehen! Und ich
weiß Alles. Vor mir bleibt nichts verſteckt, das
glauben Sie nur. Wenn Einer zwinkert mit den
Augen, und ſo zuſammenfährt, dann weiß ich was
die Glocke geſchlagen hat. Ich könnte da manches
ſagen, was ich von meinem Herrn Geheimrath weiß;
na da ſchweigen wir von, denn es ſchickt ſich nicht.
Aber wie ich kam, und Malwinchen mir um den
Hals fiel, nun wußte ichs, warum ſie mit den Augen
zwinkerte.“


„Wie war nur das Kind in die Küche gekommen?“


[203]

„Du lieber Gott, ſie hat einen guten Geruch.
Da ging ſie denn der Mamſell Adelheidchen ſo
lange um den Bart — das heißt, ſie ſtreichelte
mit ihren Händchen die blonden Locken, o Malwinchen
iſt ein Filou, und da müßte Mamſell Adelheid
früher aufſtehen, wenn ſie's merken wollte.“


„Adelheid hat nichts davon geſagt.“


„Ach Frau Geheimräthin, wie wird man Ihnen
denn alles ſagen, was in Ihrem Hauſe paſſirt! Sie
haben auch geſagt, der Herr Geheimrath ſoll Kaffee
haben vom zweiten Aufguß, weil's ihn echauffirt;
Mamſell Adelheidchen aber läßt ihm vom erſten
geben, weil ſie gemerkt hat, daß es ihm beſſer
ſchmeckt. Und der Herr Geheimrath, der nichts merkt,
merkts recht gut, und iſt ſtill zu. Warum ſollte
er's auch laut machen; er denkt, dann kann's anders
werden. Es geht in jedem Hausweſen ſo zu, und
wer der Klügſte iſt, ſoll ſich nicht einbilden, daß
nicht einer iſt, der ihm auf die Sprünge kommt.
Jedes Schloß hat ein Loch und jede Mauer eine
Ritze, man ſieht ſie nur nicht, und wer noch ſo
verdämelt ausſieht, zuweilen ſchießts in ihn. Das
ſage ich meinem Geheimrath auch. Will ſich manch¬
mal um Alles kümmern, meine Marktrechnungen
nachrechnen. Lieber Herr Geheimrath, ſage ich ihm,
wenn ich Sie übers Ohr hauen wollte, dann wären
Sie der letzte, der's merkt. Er hat auch gemerkt,
daß es Malwinchen geweſen war; aber er that nur
ſo, ſonſt hätte er ja losfahren müſſen — und
[204] vorm Braten ſchon, und am Ende hätten Sie
ihn die Kinder gleich einpacken laſſen. Na, das
käme ihm jetzt bequem. Es iſt ja auch nicht das
erſte Mal, bei uns haben ſie's ſchon mal ſo gemacht.
Die Himbeerſauce zur Speiſe rein ausgeleckt, derweil
wir aſſerviren. Was thun ſie, damit wir's nicht
merken ſollen? Sie gießen das große Tintenfaß aus
der Regiſtratur 'rein. Ich ſahs nicht mal, denn wir
hatten Eine zur Aushülfe, ſo ein Schleſiſches Puddel,
die ſchrie: Herr Je — die Tunke iſt ja ſchwarz!
Na, die ſchwarze Brühe merkten wir denn bald. —
Und nu's einmal 'raus, ſoll auch alles 'raus. Das
Achtgroſchenſtück, warum der Hausknecht ſeinen Jungen
ſo gottsjämmerlich prügelte, der Gottlieb hatte es nicht
in die Goſſe fallen laſſen — das ſagte der Junge
nur aus Pfiffigkeit, daß er mit den Patſchen drin
wühlen konnte, und wer half ihm nicht, und derweil
er heulte und wühlte, dachte er, kommt 'ne mild¬
thätige Seele, und ſchenkt ihm was. Sie haben ihm
auch was geſchenkt, aber die Prügel waren das
Meiſte. Nein, aus der Taſche hat er ſichs ſtehlen
laſſen. Und wer hat's ihm ſtibitzt? — Ich weiß es.“


Ihre Hände mußten die Thränen nicht faſſen
können, die aus Charlottens Augen ſtürzten, auch
das blaue Tuch, daß ſie davor hielt, ward in allen
Wendungen naß, und ihr Schluchzen ſchallte von
den Wänden zurück.


„Wäre es möglich, Charlotte!“


„'S iſt gewiß, Frau Geheimräthin. Es ſchoß
[205] mir gleich was durch den Sinn. Und nachher, wie
ich im Stroh ſuchte unter ſeinem Bett, da fand
ichs — das Achtgroſchenſtück.“


„Sie hat es dem Hausknecht wieder gegeben!“


„Ich wollte es auch, aber da kriegte mich der
Fritz zu packen. Sage ich Ihnen, wie ein Kobold,
er kniff mir in die Waden und biß mir in die
Finger, und ſchrie und weinte — nu man hat
doch auch ein Herz im Leibe — wer will denn
ſeiner Herrſchaft Kinder an den Galgen liefern! —
Dem Gottlieb thut man's wieder gut. Die Prügel
hat er doch mal weg; ſchaden ihm auch nichts. Aber
von dem Achtgroſchenſtück, davon iſt's ja eben. Zum
Kuchenbäcker um die Ecke. Sein ganz Schnupf¬
tuch voll brachte er mit, huſch unters Bett, und
nun ſtopften ſie. Daran liegen ſie ja jetzt wieder.
Nein, ſage ich doch, das ſteckt im Blute.“


„Meint Sie?“


„O Du lieber himmliſcher Vater, wenn da
nicht Einer hilft, der wird mal 'ne Räuberbande,
wie's zu leſen ſteht in den Büchern bei Herrn
Vieweg — blutig duſter im Walde, und am Ende
ſchleppen ſie ihn in Ketten. Na, wenn das mein
Herr erlebte?“


„Im Blute, ſagt Sie, ſteckt es!“


„Wer's zu verantworten hat, weiß ich auch,
Frau Geheimräthin. Nein, da ſind Sie nicht dran
Schuld. Im Blute, ſagt der Herr Prediger, ſteckt
die Sünde, der Frühprediger meine ich, wo die
[206] ruſſiſche Fürſtin allemal hinkutſchirt. Ach Frau Ge¬
heimräthin, haben Sie den mal gehört? Das iſt gar
kein Prediger wie die andern, der donnert von der
Kanzel, daß es Einem brühſiedend heiß wird, und
's iſt Einem, als ob das liebe Fleiſch von den
Knochen abginge. Der ſagt's uns 'raus, daß die ganze
Menſchheit in Grund und Boden nichts taugt und
keinen Schuß Pulver nicht werth iſt. Und das kommt
aber nicht von uns, ſondern weil wir uns von der
Erbſünde losgeſagt haben, darum alles das und
noch viel mehr Herr Jeſus, Frau Geheimräthin,
wie malt der Mann das alles, man ſiehts ordentlich.
Man möchte von keinem mehr ein Stück Brod
nehmen, ſo ſind ſie verſunken und verpeſtet in Eitel¬
keit und Habſucht und Wolluſt und Hoffahrt. Und
das wird auch nicht beſſer werden, denn die Kinder
werden noch immer ſchlechter als die Eltern, von
wegen daß ſie's von ihnen lernen, bis der Herr in
ſeinem Zorn wieder eine Sündfluth ſchickt, oder ein
großes Feuer, oder wie er ſagt eine Bluttaufe, denn
vernichtet müßte das ganze gottloſe Geſchlecht werden,
ſagt er, das abgefallen iſt vom rechten Glauben an
die Erbſünde, und darum wären wir ſchwächlich und
diebiſch und neidiſch und verredeten, und vergäben
einer den andern, und wollten beſſer ſcheinen, als
wir ſind. Und dann ſtreckt er die Arme aus und
ruft zum Herrn der himmliſchen Herrſchaaren, daß
er die Kindlein fortnehmen möge in ſeinem Erbarmen,
und er möchte Thränen weinen, daß ſie ein Meer
[207] würden, ſagt der Herr Prediger, und die unſchuldigen
Kleinen alle darin verſöffen, damit ſie nicht lernten
die Sünden der Eltern, ſondern 'rein kämen in den
Himmel, wie neugefallener Schnee. Das war nur
ein Schluchzen in der ganzen Kirche und ich dachte,
o Gott, wenn doch der Himmel ſo unſer Malwinchen
und Fritzchen zu ſich nehmen wollte. — Und daß
nun einmal alles rein aufgewaſchen wird, Ihre
chineſiſche Porzellanvaſe hat Fritzchen auch zerſchlagen.
Mamſell Adelheidchen hat ſie nur ſo oben mit der
ſchönen Seite auf den Rand geſetzt, daß Sie's nicht
merken ſollen, und dann will ſie's abpaſſen, wenn
Frau Geheimräthin mal bei guter Laune ſind. Ja,
wenn die Engliſche Mamſell nicht wäre, dann wäre
ſchon längſt ein Malheur paſſirt.“

[[208]]

Elftes Kapitel.
Präparirtes Gift.

Charlotte war fort. Ihr Geheimrath hatte ſie
zur Mittagsſtunde erwartet, und „wir haben heut
ſein Lieblingsgericht,“ hatte Charlotte ſich entſchuldigt.
Die Geheimräthin ſtand im Krankenzimmer. Es war
ein eigenes Lächeln, mit welchem ſie die ſchlafenden
Kinder betrachtete. Nicht das des Wohlgefallens, es
war nichts Wohlgefälliges in dem Anblick. Es war
eine Wisbegier, die, je länger ſie über das Mädchen
ſich beugte, zu einer wollüſtigen Empfindung ward.
Der Knabe hatte ſie weniger intereſſirt. Auf ſeinem
Geſichte las ſie nur rohen Trotz und ſinnliche Tücke.
In Malwinens Lineamenten ſchien ſie zu ſtudieren.
„Sonderbar! lispelten ihre Lippen, welche ſchalkhafte
Ruhe über dem Kindesgeſichte! und doch aus allen
Grübchen der Schelm vorſchießend, der Zerſtörungs¬
trieb — in Kinder! So ſchickt vielleicht die Natur
jeden fertig auf die Welt, es iſt alles Prädeſtination,
und wir verfehlen nur unſere Beſtimmung wenn —“


Sie tippte mit dem Finger über Malwinens
[209] Stirn, wie um durch das Gefühl ſich zu vergewiſſern,
ob das Auge nicht getäuſcht. Die Probe mußte mit
der Rechnung ſtimmen; ihr Lächeln ward intenſiver,
als plötzlich doch ein Schatten über ihre Stirn flog.
Der Schlaf iſt ja ein Verräther! Lag nicht der ganze
dunkle Trieb für das Auge des Kundigen auf dem Kin¬
desgeſicht ausgedrückt! Wenn das mit den Erwachſenen
derſelbe Fall wäre! Wenn Jeder ſich einſchließen
müßte, vor nichts mehr beſorgt, als daß ein
Fremder ihm im Schlaf ins Geſicht ſehe! — Erſchreckt
vor dem Gedanken, blickte ſie um ſich, und — die
ſtille Krankenſtube barg den Verräther. Hinter der
Fenſtergardine ſaß Adelheid und ſtickte an der
Fahne, mit welcher die Geheimräthin, ſie wußte
noch nicht wie, das Gouvernement überraſchen
wollte.


„Spielen wir hier die Lauſcherin?“


„Was ſollte ich belauſchen! Ich arbeite an
Ihrem Auftrage.“


„Mit verweintem Geſicht? Ich meinte, eine
Patriotin wie Du ſollte nicht Thränen in die Fahne
ihres Königs ſticken.“


„Die armen Kinder litten aber wieder ſo ſehr.“


„Und da iſt es ein ſüßes Gefühl, als Schutz¬
engel über die Unſchuld zu wachen! Man mag ſich
für gewiſſe Leute intereſſant machen, wenn man
immer die Leidende ſpielt; es giebt aber andere, die
durch die Maske ſehen.“


Adelheid ward roth, und ſenkte ihr Auge
III. 14[210] nieder, das entrüſtet aufgeblickt. Von der Rede
kamen nur die Worte heraus: „Meine Mutter —“


„Das Wort wird Dir wohl täglich ſchwerer.
Aber ſo lange Du Dich bewogen findeſt in dieſem
Verhältniß zu bleiben, iſt es doch gut, daß Du Dich
vor den Andern bezwingſt, Liebe gegen mich zu
zeigen.“


„Meine Mutter, Sie martern mich.“


„Das iſt unſer aller Loos. Wir alle werden
gemartert von den Verhältniſſen, vom Urtheil der
Menſchen; bis wir gleichgültig werden, ſagen die
Leute. Das iſt nicht wahr, man wird nicht gleich¬
gültig, wenn man ſich nicht ſchon aufgegeben hat.
Nur wer ſo weit iſt, daß er alle Hoffnung fahren
ließ, nimmt die Tritte und ſpitzen Stiche ruhig hin.
Wer ſich noch fühlt, ruht nicht, bis er Andre wieder
martern kann. Sieh mich immerhin verwundert an;
es iſt ſo, es iſt das Geſetz der Welt.“


„Das Geſetz der Rache!“


„Nenne es, wie Du willſt. Es giebt nur zwei
Gattungen Weſen, Unterdrücker und Unterdrückte.
Wo Du hinſiehſt, ſo iſt es. Das iſt eine Phantaſie
aus der Vorzeit, daß es freie Menſchen gäbe; ſie
ſind von unſerer Cultur ſo ausgerottet wie die
wilden Thiergeſchlechter. Denn die noch da ſind,
ſind doch ſchon unterworfene Geſchöpfe. Der Menſch
hegt und erhält ſie, um ſie zu fangen, ſchießen, je
wie es ihm beliebt. Der Hirſch, der Haſe, iſt ſo
ſein Eigenthum, daß er ſchon unverbrüchliche Geſetze
[211] für ihn gegeben hat, wie lange man ihn ſchonen,
wann der Vertilgungskrieg losgehn ſoll. Nach eben
ſolchen Geſetzen ſchont ein kluger Herr die von ihm
abhängig, nicht aus Liebe, nur um ſeines Vortheils
willen. Er ſpart ihre Kräfte auf, um ſie am beſten
zu nutzen. Der Wurm und der Hirſch lehnen ſich
vergeblich gegen ihre Ueberwinder auf; unter den
Menſchen glückt es unterweilen dem Einen und
dem Andern, durch Liſt, Ausdauer, frei und Herr
zu werden über ſeine Unterdrücker, und dieſer Prozeß
iſt unſere Geſchichte. Aber wenn ſie es ſind, dann
machen die Sieger es nicht beſſer und anders; ſie
unterdrücken, quälen und martern wieder, wie ſie
gemartert wurden. Das iſt auch Geſchichte, mein
Kind. Findeſt Du es ſo unnatürlich, daß man lieber
ſticht als geſtochen wird?“


„Ich freue mich, daß ein harmloſes Mädchen
nicht in Verlegenheit kommt, wählen zu müſſen.


Die Lupinus lächelte: „Warum unſer Verhältniß
durch Unwahrheit erſchweren, mein Kind. Zwiſchen
uns muß Wahrheit ſein. Ich ertrage ſie, Du kannſt
es auch. Du wirſt noch mehr ertragen müſſen.“


„Mein Gott, was iſt denn zwiſchen uns Wahr¬
heit?“ rief Adelheid, und erſchrak, als es über ihre
Lippen war.


„Du ſprichſt es eben aus. Wir ſind zuſammen ge¬
würfelt und paſſen nicht zu einander. Wir gefallen uns
nicht, und müſſen doch vor den Menſchen die Miene an¬
nehmen, als wenn wir uns liebten. Auf Deinen Lippen
14*[212] zittert die trotzige Bemerkung, ich könnte Dich ja ver¬
ſtoßen. Dir die Thür weiſen. Nein, Adelheid, das kann
ich nicht, ich darf es nicht. Die Welt, die mich geſtern
noch liebkoſete, hat ſich über Nacht von mir gewandt.
Daß ich Dich damals gerettet, iſt längſt vergeſſen,
ſo wie Du es vergeſſen haſt. Still, ſtill, ich zürne
Dir darum nicht, ich finde es ganz natürlich. Sie
ſinnen mir an, daß ich Dich nur aufgenommen, um
mit dem ſchönen Mädchen Staat zu machen. Du
ſollteſt der Lockvogel ſein für eine Geſellſchaft, die
ſonſt nicht über die Schwelle der Lupinus gekommen
wäre! Nun ſei es anders! Man hat ſich ſatt geſehen,
man gafft andere Sterne an. Man vernachläſſigt
mich, ſpottet meiner hinter meinem Rücken. Wer ſo
einſam daſteht wie ich, von dem wenden ſich auch
die treueſten Freunde. Merke Dir das, es giebt
keine Treue, als wer ſich ſelbſt treu iſt, und das
iſt ſchwer. Die Schule iſt lang und hart, ich habe
ſie durchgemacht. Ich kenne die Welt; einer nach
dem andern ihrer bunten, flimmernden Lappenvorhänge
fiel nieder, auch einer, der feſt ſchien wie das diamantene
Firmament — aber das Firmament iſt ja auch eine
Illuſion! Wenn ich Dir jetzt den Stuhl vor die
Thür ſetzte, hieße es, das ſei aus Verdruß, weil
Du meine Erwartungen nicht erfüllt, ich wäre Deiner
ſatt. Daß man mich dann tadelte, haßte, ertrüge ich —
ich haſſe ſie ja auch; aber man würde mich aus¬
lachen, und — ausgelacht mag ich nicht ſein.“


Die Thränen, die aus der wunden Bruſt, ein
[213] heißer Strom, vorbrechen wollten, gerannen durch die
Eiskälte der Rede zu Eis: „Sie haben mir erklärt,
warum die Bande, welche Sie an mich feſſeln, von
Ihnen nicht gelöſt werden können, Frau Geheimräthin;
aber warum ich ſie nicht löſen darf, wenn ich weiß,
daß meine Gegenwart für Sie eine ſtörende iſt —“


„Das habe ich Dir allerdings nicht geſagt, fiel
die Lupinus ein, weil ich es nicht für nöthig hielt.
Die Sache iſt ſo einfach. Kann man Liebe erzwin¬
gen? Du liebſt mich nicht, und haſt mich nie geliebt.
Das glänzende Leben in meinem Hauſe iſt Dir nicht
mehr neu, oder nicht mehr glänzend; es zieht Dich
nicht mehr an. Die Huldigungen, die Du empfängſt,
würden Dir auch ſonſt wo nicht entgehen. Hätteſt
Du Dich klug von Anfang an benommen, ſo wäre
Deine Stellung jetzt geſichert, vielleicht eine ſo glän¬
zende, daß Du auf die mit ſtillem Mitleid herabſehen
könnteſt, die Du noch jetzt ſo gütig biſt Deine Wohl¬
thäterin zu nennen. Dein übler Stern hat es anders
gewollt. Du folgteſt einer ſentimentalen Regung,
und aus einem Gefühl, das Du Dankbarkeit nennſt,
gabſt Du Dich dem Manne zu eigen, an den Dich
eine doppelte Täuſchung knüpft. Du glaubſt ihm
Deine geiſtige Ausbildung zu verdanken, und Du
glaubſt ihn zu lieben. Mein Kind, wer der Dank¬
barkeit huldigt, iſt ſchon verloren; die Undankbaren
ſind die glücklichſten, weil ſie die freieſten ſind. Gutes
thun iſt nichts als eine Berechnung; die Einen thun
es, um einſt im Himmel belohnt zu werden, die
[214] andern, um hier einen Vortheil zu haben, mit einem
kleinen Einſatz ſpeculiren ſie auf einen großen Treffer.
Auch ſie Thoren! Sie täuſchen ſich immer in dieſer
Berechnung; wenn die Undankbarkeit des Geſchöpfes
ſie längſt belehrt haben ſollte, hegen ſie dafür noch
immer ein Intereſſe und meinen in einer Art ſtillen
Wahnſinns, ihr Geſchöpf werde doch noch ein Mal in
ſich gehen, und es ihnen lohnen, was ſie dafür gethan.“


Die Geheimräthin hielt einen Augenblick inne,
es ſchien, als wolle ſie ſich an der Wirkung ihrer
Rede erfreuen; aber Adelheid ſtand wie ein Steinbild
vor ihr. Darauf hatte ſie nichts zu ſagen. Dann
fuhr ſie fort: „Ueber dieſe Illuſion, mein Kind, bin
ich wenigſtens längſt hinaus. Auch Du ſtehſt auf
einem Wendepunkt. Du biſt ſelbſt ſo klug, daß Du
fühlſt, wie Dein Herr van Aſten eben nur that was
ein geſchickter Lehrer ſoll, den man dafür bezahlt.
Er erkannte Dein Talent, und führte Dich auf den
rechten Weg. Du hätteſt ihn, auch ohne Walter,
vielleicht ſpäter, vielleicht beſſer gefunden. Deine
Bildung iſt nicht ſein Werk, und noch weniger biſt
Du ſein Geſchöpf. Das ſiehſt Du jetzt mit jedem
Tage mehr ein, und um deswillen fängſt Du Dich
an zu ſchämen über das Uebermaaß von Dankbarkeit,
mit dem Du Dich ihm in die Arme warfſt. Du
liebſt ihn auch nicht. Das aber geſtehſt Du Dir noch
nicht ein und lullſt Dich vielmehr immer tiefer in die
Selbſttäuſchung, daß Du ihn lieben müßteſt. Etwas
Berechnung iſt indeß auch dabei. Du möchteſt gern
[215] von mir loskommen; aber zu Deinen Eltern willſt
Du auch nicht zurück. In der vornehmeren Stellung,
in welche ſie gerückt ſind, und welche Dir allenfalls
den äußern Glanz bietet, an dem Du Dich nun ge¬
wöhnt haſt, würdeſt Du Dich noch weniger behagen;
ihre neuen Kreiſe ſprechen Dein äſthetiſches Gefühl
nicht an. Du bemerkſt vielleicht ſchon manches Lächer¬
liche in den Prätenſionen, die ſie machen. Als gutes
Kind giebſt Du Dir Mühe dieſe Regung zu unter¬
drücken; aber Du würdeſt ſehr unglücklich ſein, ſo¬
wohl in den alten beſchränkten Verhältniſſen, als in
den ausſtaffirten neuen. Um aus dieſem Dilemma
zu kommen, von mir los, und nicht zu Deinen El¬
tern zurück, drängt es Dich, und Du drängſt vielleicht
auch ihn, daß Walter eine Stellung bekomme, wo er
Dich heirathen kann. Mit einer fieberhaften Angſt
haſt Du Dich auf dies Thema geworfen, und machſt
ihm immer neue Vorſchläge, wie er es anfangen ſoll.
Du quälſt Dich, ihn, Deine Eltern, ſeinen Vater,
uns alle. Das weißt Du auch recht gut, denn Du
weißt, daß Walter an ganz anderes denkt als an
Dich und ſich, aber Du thuſt es doch, weil Du in
einer Art Fieber biſt. Du betrachteſt es als eine
Deſtination, Dich als ein Opferlamm, und mit aller¬
hand hochherzigen Vorſpiegelungen ſchilderſt Du dann
als ein erhabenes Ziel der Selbſtverleugnung, was
doch nichts iſt, als der Nothhafen, wohin der
Schiffer in ſeiner letzten Verzweiflung ſteuert. Und
wenn Du ihn nun geheirathet haſt —“

[216]

„So getraue ich mir zu, ihm eine gute, treue
Frau zu ſein.“


„Daran zweifle ich nicht. Aber Du wirſt es
ihn doch fühlen laſſen, welche Opfer Du ihm ge¬
bracht. Du wirſt ihm nicht täglich ſagen: das und
das hätte ich ſein können, wenn ich Dich nicht gehei¬
rathet, Ihr werdet Euch nicht immer zanken, noch
wird er Dich Abends und Morgens mit verweinten
Augen ſehen; aber Du kannſt Dich nicht enthalten
es ihn empfinden zu laſſen, was Du empfindeſt.
Augenblicke werden kommen, wo Du Reue fühlſt.
Je länger Du Dich anſtrengſt es zu verbergen, je
ſtärker bricht es einmal unwillkürlich heraus. Er
iſt ein guter Menſch, aber wenn er empfindlich wird,
was ich ihm nicht verdenke, bricht es wohl los, nicht
äſthetiſch, ſondern recht irdiſch materiell. Haſt Du
dann Thränen, ſo iſt das noch das beſte. Haſt Du
keine, ſo ſchraubſt Du Dich zurück in Deine Reſi¬
gnation, Du verſchließeſt Dich in die Burg Deines
Selbſtgefühls. Biſt Du erſt da iſolirt, mein Kind,
ſo begnügſt Du Dich bald nicht mehr mit der Ver¬
theidigung, ſondern Du machſt Ausfälle. Keine
Feſtung hält ſich auf die Dauer, wenn der Com¬
mandant nicht die Gelegenheit benutzt, die ſich ihm
zur Offenſive bietet, und dann — dann iſt der Kriegs¬
zuſtand gegen alle erklärt — Du ſtehſt wie ich.
Täuſche Dich doch nicht, als ob Du nicht jetzt ſchon
darin lebteſt! Auf Walter biſt Du ungehalten, daß
er nicht ernſtere Anſtalten trifft; da fliegt manches
[217] ſpitze Wort, das durch den ſüßen Händedruck nicht
verwiſcht wird. Ich hörte ſchon geſchraubte Redens¬
arten zwiſchen der Mutter und Dir; ihr vergöttert
Kind will nicht mehr das flügge Vöglein im Neſte
ſein; ſie begreift Dich nicht, aber Du begreifſt ſie
nur zu ſehr. Und führſt Du nicht etwa gegen mich
einen täglichen Krieg? Irgend wie mußt Du es mir
doch vergelten, daß Dir mein Anblick zuwider iſt.
Da begnügſt Du Dich, ein harmlos Mädchen, meine
häuslichen Anordnungen zu contrecariren, Du ſoulagirſt
meinen Gatten in ſeinen Wünſchen, die ich für ſeinen
Geſundheitszuſtand nicht angemeſſen finde, Du ver¬
tuſcheſt die Unarten der Kinder hier, und biſt ihnen
wohl ſelbſt behülflich bei Näſchereien, wenn ſie auch
den Kindern ſchädlich ſind. Wenn ich mit dem Ge¬
ſinde zanke, wirkſt Du begütigend hinter mei¬
nem Rücken, und umgehſt auf unmerkliche Weiſe,
was ich beſtimmte. O es iſt ein angenehmes Gefühl,
von Kindern und Dienſtboten als ihr Schutzengel
betrachtet zu werden, und während man ihre Liebe
eincaſſirt, ihren Haß gegen andre zu lenken, die nicht
ſo gütig ſind, und es nicht ſein dürfen, weil ſie ihre
Pflicht dadurch verletzten. Und wie klug es von Dir
iſt, es ſo heimlich zu thun, daß ich keinen Verdruß
davon habe! Die chineſiſche Vaſe dort iſt mir ein theures
Andenken aus meinem elterlichen Hauſe. Wie geſchickt
haſt Du ſie auf die Kante des Schrankes geſtellt,
damit ich nicht täglich den Verdruß habe zu ſehen,
wie die unartigen Kinder ſie zerbrochen haben.“

[218]

„Geheimräthin! rief Adelheid erblaſſend, das iſt
zu viel!“


„Ich mache Dir keinen Vorwurf; im Gegentheil
ich lobe Dich, daß Du zur Beſinnung kommſt. Kann
ich fordern, daß mich jemand lieben ſoll, und gar
um der Kleinigkeit willen, wo auch ich mir geſtehe,
daß ich es nicht aus Liebe zu Dir gethan, ſondern
wirklich, weil es mich amüſirte, mein Haus durch ein
ſo ſchönes Mädchen lebendig zu machen. Vieles,
was ich aus Liebe gethan, ward mir ſchlechter ver¬
golten. Unſre Naturen haben nun einmal keine
Sympathie. Du biſt mir gleichgültig, ich bin Dir
vielleicht widerwärtig. Kannſt Du oder ich dafür?
Wie ich die angeheuchelten Gefühle der Dankbarkeit
betrachte, haſt Du eben gehört. Du haſt nun ſchon
gelernt, Dich geiſtig von mir frei zu machen. Das
iſt ein Fortſchritt. Du moquirſt Dich über mich,
complotirſt im Kleinen gegen mich. So wird Dir
mein Haus eine gute Schule werden fürs Leben.
Fahre fort; ſo nur lernſt Du, wie man mit den
Menſchen umgehen muß, um — was die andern
nennen, frei zu werden. Ich bin die ältere, und ſah
es zu ſpät ein. Uebe Dich an mir. Du haſt ein
langes Leben vor Dir.“


Adelheid ſtand ſprachlos da, als die Geheim¬
räthin langſam nach der Thüre ſich entfernte. Sie
wandte ſich noch einmal um: „Noch eins, was ich
von Dir fordern kann. Wir ſind nun einmal an
einander gekettet. Wir müſſen es tragen bis der
[219] Zufall die Kette zerreißt. Hüte Dich vor jedem
Impuls. Wenn Du etwa auf die Straße ſtürzteſt —
echauffirt, halbnackt, wie damals — Du verſtehſt mich,
würde es an mitleidigen Seelen nicht fehlen, die Dich
wieder aufnähmen. Auch in Sammet und Seide
würden ſie Dich kleiden; aber nicht aus Liebe zu Dir,
nur aus Feindſchaft gegen mich, mir einen Poſſen
zu ſpielen. Nimm Deine ganze Vernunft zuſammen,
Adelheid. Mir ſpielten ſie den Poſſen, aber Du
müßteſt zuletzt doch bezahlen. Wer ſo oft ein Rolle
ſpielt und mit ſich ſpielen läßt, hat den Credit ver¬
loren.“


Die Thüre klinkte hinter ihr zu. Adelheid ſtand
eine Weile regungslos: „Das Weib! das Weib!
rief ſie. Das Weib vergiftet mich!“ und warf ſich
ſchluchzend auf das Bett.

[[220]]

Zwölftes Kapitel.
Auch Vater und Sohn.

Wenige Minuten nach dieſer Scene erhielt
Walter van Aſten ein Billet ſeiner Braut, ſo geeignet
ihn aus ſeiner Ruhe aufzureißen, als es von Adel¬
heids äußerſter Unruhe Zeugniß ablegte. Er erkannte
in den wild hingeſprühten Worten ſeine beſonnene, klare
Freundin nicht wieder. Er verſtand das ganze Billet
nicht, denn zu Anfang ſprach es von einem Abgrunde,
an dem ſie ſchaudernd ſtünde, ſie ſtrecke vergebens
die Arme nach Hülfe aus, dann entzifferte er in
den von Thränen ausgelöſchten Worten, daß er ſie
retten könne; aber die Schlußworte widerriefen das
Vorangehende. Sie ſei in einem Fieberzuſtand, er
möge nicht auf ſie hören, ſie laſſen wo ſie ſei, ſich ſelbſt,
ihrem Schickſale überlaſſen. Wenn ſie unterginge, ſei
es vielleicht das beſte für ihn und ſie. Gewiß, gewiß,
ſie werde ſich auch dann erholen, die Geheimräthin
habe ſie nur prüfen wollen, hinter dieſer Meduſen¬
maske ſchlüge vielleicht ein gefühlvolles Herz. Sie
drang in ihn endlich, nicht zu kommen, ſich durch
nichts ſtören zu laſſen, was er höre. —


[221]

Wenn ſie das gewollt, warum nur die Nach¬
ſchrift? Warum hatte ſie den Brief nicht zerriſſen,
einen neuen geſchrieben, oder die Abſendung ganz
unterlaſſen? Sie befand ſich alſo in einer Aufregung,
welche ihr die Beſinnung geraubt, und in dieſem
Zuſtande hatte ihr Herz nach ihm verlangt. An ihn
hatte ſie zuerſt gedacht, als ſie nach Rettung auf¬
ſchrie. Die Reſignation war erſt nachher gekommen.
Er war aufgeſprungen, ſein Entſchluß gefaßt, nur
ihrem erſten Willen zu gehorchen, und eben hatte er
den Ueberrock vom Nagel geriſſen, als ein zweites
Billet von unbekannter Hand ihm überbracht ward.
Der Bote war verſchwunden, das Wirthsmädchen
hatte nicht nach dem Abſender gefragt, und der
unterzeichnete Name, als er es aufgeriſſen, war ihm
fremd. Jemand, der ſich einen Secretair des neuen
Miniſters nannte, forderte ihn auf, ſich morgen in
einer Frühſtunde bei demſelben melden zu laſſen, indem
Se. Excellenz ihn kennen zu lernen wünſche. Auch
hier ein Poſtſcript des Inhalts, daß der Miniſter
bereit ſei, ihn ſchon heute Nachmittag zu empfangen.
Die Stunde war benannt, und Walter hätte eben nur
Zeit gehabt, ſeine Toilette darnach einzurichten, wenn
er der letzteren Weiſung, die faſt wie ein Befehl
klang, Folge leiſten wollen.


Was wollte der Miniſter von ihm? — Natürlich,
er hatte ſeine Schrift geleſen, ſeine Anſichten hatten
ihn angeſprochen, er wollte mit dem Verfaſſer —
„Endlich!“ brach es von ſeinen Lippen, und ſeine
[222] Stirn klärte ſich auf, aber der Glanz verſchwand
ſchnell wieder. Nach ſo viel Enttäuſchungen vielleicht
eine neue! Hatte ihm nicht ein ängſtlicher Freund aus
der Schulzeit zugeflüſtert, daß er aus höheren Kreiſen
gehört, wie man ſeine Vorſchläge für naſeweis halte,
daß ſeine Anmaßung eigentlich eine Rüge verdiene.
Und bedurfte es für ihn ſolcher Zuflüſterung, nach
der eigenen Erfahrung, die er bei einem befreundeten
Miniſter gemacht! Zwar, nach ſeinem Ruf im Publikum,
war der neuen Ideen zugänglich, er hege ſelbſt gro߬
artige Plane; aber er ſei eigenſinnig, hieß es, dringe
damit nicht durch, darum verdrießlich, und jetzt ſo
gut wie ohne Einfluß. Auch er mochte ihn nur
warnen wollen.


Aus dem Zweifel, ob er den Ueberrock oder den
Frack anziehen ſolle, riß ihn ein neues Klopfen,
eine neue Ueberraſchung. Sein Vater trat in die
Stube. Er war noch nie hier geweſen, aber auf
ſeinem Geſicht erſah man nichts von der Ver¬
wunderung, welche ſich auf dem des Sohnes aus¬
drückte, weder eine freudige noch eine betrübte. Er reichte
dem jungen Mann die Hand: „Ich muß doch auch
mal ſehn, wie's Dir geht,“ und ſetzte ſich, wie er¬
müdet vom Wege, auf einen Seſſel.


„Ein unerwarteter Beſuch, mein Vater.“


„Da Du nicht zu mir kommſt, um zu ſehn,
wie's bei mir ausſieht, muß ich zu Dir kommen,
um zu ſehn, wie's bei Dir ausſieht. Wir kommen
ja ſonſt ganz auseinander.“

[223]

„Das hab ich nie gefürchtet, und Ihr Beſuch
beſtätigt meinen Glauben,“ ſagte Walter, während
der Vater ſeine Blicke flüchtig umher ſchweifen ließ.


„Nu das iſt ja alles recht hübſch ordentlich.
Deine Lectionen müſſen Dir auch ſchon was Er¬
kleckliches eintragen, freilich, und die Schriftſtellerei
auch! Um wen man ſich ſo reißt, daß man gar kein
Exemplar mehr kriegt, und wenn man's mit Gold
aufwiegt. Schreibſt Du wieder was Neues?“


„Es würde Sie ſo wenig intereſſiren als
das alte.“


„Du willſt, wie ich höre, die Bauern verbeſſern.
Das iſt hübſch. Mach nur die Lümmel geſcheidt. Du
erinnerſt Dich wohl nicht mehr, als wir Nieder-
Lanken gekauft hatten.“


„Doch, mein Vater. Sie ſahen ſich genöthigt,
es wieder zu verkaufen, weil die Bauern mit den
Hofedienſten ſchwierig waren.“


„Weil ich kein Adliger ſei, ſagten die Schlingel.
Weißt Du, wie ich es jetzt machen würde? Ich
nähme einen Edelmann als Compagnon.“


„Sie nahmen auch Juden, was manchen an der
Börſe verdroß.“


„Juden, Heiden, Atheiſten, je wie ſich's zum
Geſchäft paßt. Ein Kaufmann muß Augen und
Ohren aufhaben. Wo's gilt, ſchnell zugegriffen, ver¬
legene Waare fortgeſchmiſſen à tout prix. Er muß
mit der Zeit fortſchreiten. Das thuſt ja wohl auch?“


„Ich fürchte, die Zeit ſchreitet über uns fort.“

[224]

„Ja, ja, ſie hat jetzt lange Beine.“


„Mein Vater, ich kenne Sie, und ich glaube,
Sie kennen mich. Sie haben den ſauren Weg, der
mich erfreut und beſchämt, nicht ohne Abſicht an¬
getreten?“


„Wer fällt denn gleich mit der Thüre ins Haus?
Ich wollte mit Dir vorher ein bischen über Krieg
und Frieden discouriren, Europäiſche Weltverhältniſſe.
Du biſt ja jetzt ein Politiker, und ich hoffe doch
noch immer mein Sohn, der mir mit Rath und
That zur Hand ſein wird, wenn es ſeines Vaters
Wohl gilt.“


„Zum Spotten iſt die Zeit zu ernſt.“


„Was, ſpotte ich? Geht einen Kaufmann Krieg
und Frieden nichts an? Der Alte ſtampfte mit
ſeinem Rohr auf den Boden. 's iſt Ernſt, Herr Sohn.
Wenn ein Kaufmann Schiffe auf der See hat, ſo
geht ihn der Sturm ſehr viel an; und wenn die
Portepeefähndriche bis zu den Generalen hinauf in
ſeinen Büchern ſtehen, ſo iſt ihm ihr Leben noch
viel theurer als dem Vaterlande.“


„Als ein umſichtiger Kaufmann, wie ich Sie
kenne, werden Sie Ihre Unternehmungen nach den
letzten kritiſchen Zeitumſtänden eingerichtet haben.“


„So? hoffſt Du das?“


„Sie mußten den Krieg als wahrſcheinlich im
Auge haben, und Ihre Speculationen, wenn nicht
darauf einrichten, doch danach abmeſſen.“


„Wenn ich nun auf den Frieden ſpeculirt hätte!“

[225]

Indem Walter ſeinen Vater aufmerkſam be¬
trachtete, ſuchte er, ob hinter der barocken Wolke, mit
welcher van Aſten ſeinen wahren Geſichtsausdruck zu
verbergen wußte, nicht eine andere Stimmung lauere.
Doch keiner der ſchlauen Blicke züngelte zu ihm auf;
er ſaß, die Hände auf den Stock geſtützt, ſeine Augen
auf den Boden gerichtet.


„So bin ich wenigſtens davon überzeugt, daß
Sie Ihr Geſchäft überſehen haben. Wenn eine
Unternehmung Ihnen fehl ſchlüge, werden ſie nicht
ſelbſt geſchlagen ſein. Das Renommee des alten
Hauſes van Aſten und Compagnie — “


„Die älteſten Häuſer ſtürzen beim Erdbeben.
Krieg iſt ein Erdbeben. Lerne was von mir, was
Dir gefallen wird: ein Kaufmann, der immer nur
auf Nummer Sicher ſetzt, hat bald ausgewirthſchaftet.“


„Mein Vater, wenn Sie auf den Frieden Ihr
Alles ſetzten, —“ ſagte Walter nachdenklich.


„So iſt wieder Unfriede zwiſchen uns, fiel der
Alte ein, denn Du haſt Dein Alles auf den Krieg
geſetzt. Ich weiß es.“


„Was iſt mein Alles, Vater!“


Der Kaufmann winkte ihm mit der Hand zu
ſchweigen. „Ich weiß es ja, darum kam ich nicht
her. Ich will nicht richten mit Deinen heroiſch
patriotiſchen Stimmungen, ein guter Geſchäftsmann
kann auch damit etwas anfangen, wenn die Leute
danach ſind! Da aber die Leute nicht danach ſind, ſo —
habe ich meine Rechnung auf den Friedensfuß geſetzt.“

III. 15[226]

„Und die Armee —“


„Iſt auf den Kriegsfuß geſetzt, das heißt der
Lieutenant kriegt ſo und ſo viel, und der Obriſt
ſo viel Zulage. Die bezahlt der Schatz, und wenn
Keiner da iſt, der Bürger und Bauer. Nun ſehe
ich aber nicht ab, was der Fuß in Stiefel und
Sporen mich bange machen ſoll, wenn der ganze
Leib noch im Schlafrock ſteckt.“


„Der Schlafrock wird ihnen abgeriſſen!“


„Biſt Du auch dabei?“ Jetzt erſt warf der Alte
einen ſeiner ſchlauen Blicke zu ihm hinauf. „Man
will heut in der Komödie ein Paar Raketen in die
Luft ſchicken. Das Sprühen und Praſſeln ſoll ge¬
wiſſen Leuten die Augen und Ohren öffnen. Wenn
ſie nun aber abſolut nicht ſehen und hören wollen!
Kinder ſollten nicht mit Feuerzeug ſpielen.“


„Sie wiſſen, daß wir wirklich das verlaſſene
Hannover beſetzt haben.“


„Und wir verproviantiren die Franzoſen in
Hameln.“


„Aus dieſer Zweideutigkeit Preußen herauszu¬
reißen iſt jetzt die Aufgabe aller Beſſeren.“


„Und Du ſiehſt, der König zaudert, wie er vor¬
hin gezaudert. Kaiſer Alexander ſelbſt mußte kom¬
men um ihn zu elektriſiren. Nun der Executor fort
iſt, fallen wir in unſere Natur zurück. Wie ſagt doch
da der Lateiner von der furca expellas?“


„Wenn der Degen zu drei Viertel aus der
Scheide geriſſen iſt!“

[227]

„So ſteckt immer noch ein Viertel drin, und das
kann man ſo langſam rausziehen, bis es zu ſpät
und der Krieg an der Donau vorüber iſt. Bona¬
parte hat Wien genommen, weißt Du das ſchon?
Die beiden Ruſſiſchen Heere, unter Kutuſow und
Buxhövden werden Mühe haben ſich um Olmütz
zu vereinigen. Die Nachricht kam eben auf der
Börſe an.“


„Wien genommen! rief Walter. Und Haugwitz?“


„Hat ſich von Bonaparte hinſchicken laſſen, weil
in Wien ein Geſandter am beſten aufgehoben iſt. Der
Kaiſer hat ſehr viel Rückſichten gegen ihn gehabt,
fand es unſchicklich, daß ein Preußiſcher Miniſter und
Diplomat ſich im Heerestroß mitſchleppen laſſe.“


„Und Haugwitz ließ ſich fortſchicken?“


„Was wird er nicht! Er liebt die Commodität.
Sehr langſam reiſt er ſchon, damit ihm kein Unglück
widerfahre. Und hat gewiß Recht gehabt, ein Un¬
glück, was unſerm Premierminiſter zuſtieße, wäre
ja eines für den ganzen Staat!“


„Und er traf ihn —“


„In Brünn gerade bei den Vorbereitungen zu
einer neuen Schlacht. Da hatte Napoleon natürlich
keine Zeit ſich mit ihm zu unterhalten. Wenn ich
zur Meſſe in Leipzig bin und meine Bude vollſteht
von Juden, Türken und Armeniern, wo es einen
Handel gilt um alle meine Waaren, und die Spitz¬
buben wollen mich übers Ohr hauen, oder ich will
ſie, was bei einem Kaufmann auf eins rauskommt,
15*[228] und da käme ein lieber Sohn, oder Commis von
einem Geſchäftsfreunde, den ich zum Teufel wünſche,
um ſich mir zu präſentiren und mir Freundſchafts¬
verſicherungen zu machen, oder mir guten Rath zu
geben, wie ich mit den Juden handeln ſoll, glaubſt
Du, daß ich ſolchen ungelegenen Gaſt anhörte? —
Ich ſchmiſſe ihn zur Thür raus. Nein, Napoleon
war höflicher, ſagte zu ihm: Lieber, jetzt habe ich
keine Zeit, gehn Sie nach Wien, und warten bis ich
Zeit habe, dann wollen wir ſprechen.“


„Und Haugwitz ſchüttelte nicht die Toga! Er
ließ nicht die zwei Mal hundert tauſend Bajonette
zwiſchen ſeinen Drohworten klirren.“


„Drohworte! Er iſt ja ein feiner, gebildeter
Mann!“


„Aber ſein Auftrag —“


„Kennſt Du den? Ich kenne ihn nicht. Es
werden hier nicht Zehn, nicht Drei ſein, die ihn
kennen. So viel man uns ſchreibt, ſprach er als
ein tief gekränkter Freund, daß Napoleon die guten
wohlmeinenden Rathſchläge, die Preußen ihm gegeben,
ſo außer Acht gelaſſen. O ich zweifle gar nicht, er
wird ſehr ſanft und elegant geſprochen haben — ſchade,
ſehr ſchade, daß Napoleon gerade nicht den Oſſian las,
ſondern ſich die Reiterſtiefel anzog.“


Walter war auf einen Stuhl geſunken und barg
ſein Geſicht im Arme. Als der Vater den Seufzer
hörte, den er unterdrücken wollte, ſtand er leiſe auf
und berührte ſanft die Schulter des Sohnes:

[229]

„Mein lieber Walter, Dein Vater hat doch wohl
recht gehabt. Wenn wir uns ſonſt nicht vertrugen,
weil Deine Gedanken wo anders hingingen als meine,
ſo mag ich unrecht gehabt haben. Gedanken ſind
zollfrei, und ich dachte als Kaufmann nur an die
Waare. So lange man im Schmetterlingskleide über
die bunten Wieſen flattert, da laſſe man doch die
Kinder ſpielen. Ich bitte Dich um Verzeihung, daß
ich damals meinte, ich könnte Dich mit einem Bind¬
faden leiten, den ich an Deine Flügel band. Aber
wenn der Schmetterling ſich verpuppt hat, und aus
den Gedanken Plane werden, wenn ſie die Ideen
marktgerecht zurichten und an den Mann bringen
wollen, iſts was anderes. Nun, ſehe jeder, wie er's
treibe. Du biſt jetzt ein Mann, ein Kaufmann für
Dich; wenn Du ſpeculirſt, mußt Du ſo gut wie Dein
Vater auf ein Falliſſement gefaßt ſein. Dein Vater
würde ſich zu ſchicken wiſſen in das, was nicht zu
ändern iſt, und Du auch; Du biſt mein Sohn. —
Aber wenn man für den Staat ſpeculiren will, iſt
das erſte, daß man ſich die Menſchen anſieht, die,
für die man ſpeculirt — die Leute, ob ſie danach
ſind? Die Gedanken, o die ſind wunderſchön. Aber
was ſind Ideen, ohne Menſchen, die ſie tragen! Das
große Vaterland, o das iſt das Erhabenſte was es
giebt, wer wollte nicht dafür Gut und Blut opfern!
Wenn nun aber das Vaterland bloß Erde und Stein
wäre und die Menſchen ausgeſtorben? Würdeſt Du
dafür auch Dein Blut dran ſetzen? Oder die Menſchen
[230] drin wären alle blind, oder taub, oder Cretins. Ja,
ich weiß doch nicht, ob es recht wäre, ſich ſelbſt darum
hinzugeben, für eine große Blindenanſtalt, für ein
Taubſtummeninſtitut, oder gar für ein Haus von
lauter Blödſinnigen. Mein lieber Walter, dein Vater
hat ſich nun durch ein Menſchenalter die Menſchen
angeſehen wie ſie ſind, und darum hat er jetzt auf
den Frieden ſpeculirt, und ich glaube, er hat recht
ſpeculirt.“


„Dieſe! rief Walter aufſtehend. Ja, die Sie
meinen, aber es giebt andere.“


„Wer zweifelt daran! Es giebt überall gute,
rechtſchaffene, kluge, ſogar ausgezeichnete Menſchen,
es kommt nur eben darauf an, ob die Klugen die
Dummen und die Guten die Schlechten überwiegen,
oder umgekehrt. Mein Sohn, ich will Dir zugeben,
daß Euer recht Viele ſind, die fühlen und ſagen:
ſo geht es nicht mehr! Da's aber noch immer ſo
geht, ſo müſſen dieſe Vielen doch immer noch die
Schwächeren ſein, ſie dringen nicht durch, die Andern
bleiben am Ruder, und wer am Ruder ſitzt, ſteuert
wohin er will, meinethalben ins Verderben; auf den
blicken Alle, der entſcheidet, auf den kommt es an
in welchen Hafen das Schiff treibt. Iſt Haugwitz
abgeſetzt, Beyme fortgejagt, Lombard eingeſperrt?
Deine Beſſeren und Edleren ſchreien freilich überall,
es müſſe ſo kommen. Noch aber iſt es nicht gekom¬
men. Umgekehrt. Die Prinzen, die Königin, ſo viele
berühmte Generale, der halbe Hof, die Prinzeſſinnen
[231] an ihrer Spitze, cabaliren und verſchwören ſich bei¬
nahe an den Straßenecken gegen ſie, und Lombard
trinkt ſeine Chocolate und ſein Weisbier ſo vergnügt
wie vorher, Beyme macht Alles, und was er redet
iſt des Königs Rede, und Haugwitz iſt zu Napoleon
geſchickt, um — die Rechnung zu arrangiren.“


„Sie gehen vor keinem Bilde Friedrichs vorüber,
ohne den Hut abzunehmen, und Vater, ſo gering ſchätzt
ein Verehrer des großen Königs deſſen Volk?“


„Weißt Du noch unſere Tapeten aus Arras?
Vor denen habe ich auch großen Reſpekt. Die da in
unſerem Eßzimmer ſtellen den trojaniſchen Krieg vor.
Was hat der Aeneas für ſchöne karmoiſinrothe Knie¬
hoſen an! Das Prachtſtück iſt auch viele Genera¬
tionen in unſerer Familie, König Franz I. hat es
einmal in einem ſeiner Schlöſſer an der Wand ge¬
habt. Darum kriegtet Ihr Kinder auch immer Klapſe
auf die Finger, wenn Ihr dran polktet. Sind mir
auch jetzt nicht feil. Nimm ſie aber mal ab und halt
ſie gegen die Sonne! Wie ein Sieb von den Mot¬
ten! Und bringe ſie auf die Meſſe. Wenn's kein
Raritätenſammler iſt, ſo frage, was ſie Dir bieten.
Abgeſtandene Waare findet auf dem Markt keine
Käufer.“


Walter ſchwieg einige Augenblicke; dann rief er:
„Und ſcheine es heut nur Roſt für den Raritäten¬
ſammler, ein Geiſt wie Friedrichs kann nicht wie ein
Meteor durch die Weltgeſchichte geleuchtet haben, er
kann nicht verſunken ſein ins Meer der Ewigkeit,
[232] ohne daß ſeine Strahlen gezündet und gezeugt haben.
Andere Geſchlechter müſſen kommen, welche, wenn
Roſt und Schlacke abgeworfen, ſeinen Geiſt in ſeinem
Volke wiederſpiegeln.“


„Das verſtehe ich nun nicht, ſagte van Aſten,
der wieder Platz genommen hatte. Mit der Ewigkeit
hat ein Kaufmann nichts zu ſchaffen. Was er heute
einkauft, will er morgen abſetzen. Walter, ſieh Dich
da recht vor, daß Du nicht zu kurz kommſt. Das,
wie geſagt, iſt nun Deine Sache, aber warum kam
ich doch gleich? Ja ſo — wirſt Du heut Abend in
die Komödie gehen?“


Walter ſuchte umſonſt in dem wieder ſchlauen
Blick des Vaters nach dem Sinn der Frage:


„Ich verſtehe Sie nicht.“


„Nun ich meine, ob Du auch einen Schwärmer
abbrennen wirſt? Man ſpricht von einem wunder¬
ſchönen Kriegsliede, das ſie ſingen wollen.“


„Ich billige dieſe Theaterſcenen nicht, wo es
eine große, ernſte und heilige Sache gilt.“


„So! Na das iſt mir auch recht lieb, daß Du
Dich nicht unter die Offiziere mengſt. Die haben es
beſtellt. Ich glaubte nur von wegen des Liedes, weil
Du auch Verſe machſt. Ins Theater wirſt Du aber
doch gehen, ich meine ganz ſimpel?“


„Ich war noch nicht entſchloſſen.“


„Dann thu's mir zu Gefallen. Aber nicht ins
Parterre. Da wird man zu ſehr gedrängt. Ich habe
Dir ſchon im zweiten Range Logenbillets genommen.“

[233]

„Mir?“


„Dir und der Couſine Schlarbaum. Die muß
doch den Spectakel mit anſehen, und hat keinen, der
ſie führt. Ich, weißt Du, geh' nie ins Theater, da
habe ich Dich ihr vorgeſchlagen.“


„Alſo darum —“ Eine flüchtige Röthe belebte
Walters Geſicht und ein ſchmerzlicher Zug ging um
ſeinen Mund. „In dieſer Angelegenheit, dachte ich,
wären wir im Reinen.“


„Du meinſt doch nicht, daß ich meine Puppe
einem Taugenichts aufdringen will, der ſie nicht mag.
Dazu iſt mir das Mädchen viel zu lieb, und ihr
ganzes Vermögen ſteckt in meiner Handlung. Wenn
ſie nun rabbiat würde, wie gewiſſe Leute, die man
gegen ihren Willen verheirathen wollte. Ich kenne
Einen, der lief drum aus dem Hauſe. Wenn ſie
nun auch aus dem Hauſe liefe, nämlich mit ihrem
Capital, verſtehſt Du mich, ſie kündigte es mir, weil
ſie ſich nicht verkuppeln laſſen will.“


Walter lächelte: „Meine Couſine Minchen iſt ein
viel zu ſanftes Mädchen, und liebt ihren Oheim zu
innig, um ihr Vermögen ihm zu kündigen.“


„Alle Sanftmuth hat ihre Gränzen, wenns ans
Mein und Dein geht. Und — und wenn das Vor¬
mundſchaftsgericht — Du fürchteſt Dich doch nicht,
daß Mamſell Alltag eiferſüchtig wird, weil Du Deine
Couſine führſt? Au contraire, Du ſchlägſt da zwei
Fliegen mit einer Klappe. Hat ſie Dir ſchon er¬
laubt, Dich ins Theater, auf die Promenade zu
[234] führen? Sieht ſie, daß Du ihr zum Trotz ein
andres hübſches Mädchen führſt, ſo wird ſie vielleicht
zuerſt maulen, aber dann ſich beſinnen und nicht mehr,
was man ſo nennt, „ête“ ſein. — Na wohin denn
mit einem Male?“


„Verzeihen Sie mir, mein Vater, dahin, wo
meine Pflicht mich ruft.“


„Deſto beſſer. Ich begleite Dich. Gehts zur
Mamſell Alltag, ſo bleib' ich vor der Thür, und
warte auf Dich. Was gilt die Wette, ich ſehe es
Dir gleich an den Augen ab, wenn Du runter
kommſt, obs oben gut ſtand oder ſchlimm.“


Walter verbiß eine Bemerkung, er faßte des
Vaters Hand:


„Die Zeit iſt nicht zum Scherz angethan. Nicht
hier, nicht dort. Wenn das aber, was ſie von der
Couſine ſagten, Ernſt war, ſo Vater, ſchnell und
deutlich, was hinter dieſem Ernſte liegt.“


„Der Ernſt, Herr Sohn, daß ſie ins Theater
will und Du ſollſt ſie begleiten.“ Dabei ſtampfte
Herr van Aſten wieder den Stock auf die Diele, ein
Zeichen, daß es ernſter Ernſt war. „Und warum? —
Bilde Dir nichts ein. Sie macht ſich nichts mehr aus
Dir. Du ſollſt ſie begleiten um ſie zu beſchützen,
aus Verwandtſchaft und aus ſonſt was. Sind junge
Mädchen nicht neugierig? Werden hübſche Mädchen
nicht angegafft? Sind unſre Officiere nicht nach den
Mädchen aus? Sind ſie nicht unverſchämt im At¬
tacqiren. Und willſt Du noch mehr wiſſen? Ein
[235] Cornet, oder iſt er jetzt Lieutenant von den
Gensdarmen, ein Herr von Kickindiewelt, oder wie
er heißt, ſchleicht ihr auf Schritt und Tritt ſeit
letzter Redoute nach. Ein Libertin, ein Taugenichts,
ein Verſchwender. Minchen iſt ſchüchtern, und hat
das Pulver nicht erfunden, das weißt Du auch. Er
zieht ſie auf, ſie weiß nicht zu antworten. Du ſollſt
für ſie antworten. Verſtehſt Du mich? Weißt ja
Rath für alles, und wo der Unrath ſteckt. Nun
zeig's mal, nicht mit der Feder, mit dem Maule.
Wenn Du ſpitzig wirſt, iſt's gut; wenn Du grob
wirſt, noch beſſer, 's iſt ſo Einer von denen, die
die Beine über die Stuhllehne hängen, und's nicht
ſo genau nehmen, wenn ſie einem Bürger auf die
Hühneraugen treten. Darum iſt es auch für den
Bürger gut, wenn er dicke Schuhe trägt. Außerdem
hat er ſehr viel Geld, alſo iſt er ſehr ungeſchliffen.
Junge, ich bin Dein Vater, und verbiete Dir, Dich
in Händel einzulaſſen. Aber wenn Ihr ſo von
ungefähr an einander geriethet, will ich nichts davon
wiſſen. Du haſt in Halle eine Klinge geſchlagen,
in Deinem Stammbuch ſteht auf jeder Seite ein
Kreuz von Hiebern. Außerdem hatte der Herr
Schwertfegermeiſter die Gefälligkeit, ſeine Rechnung
mir nach Berlin zu ſchicken. Ich erinnere Dich nun
nicht darum daran, daß Du's mir wieder bezahlen
ſollſt, was ich für Dich gezahlt, ſondern —“


Walter lächelte: „Sie beſorgen, daß ich in
Berlin unter meinen Büchern die Kunſt vergaß,
[236] die ich in Halle betrieb, die Kunſt zu handeln. Ich
werde Ihrem Befehl gehorchen und Minchen ins
Theater begleiten.“


„Nu begleite ich Dich, wohin Du willſt,“
ſagte vergnügt der Vater. An der Thür hielt er den
Sohn beim Rockzipfel: „Walter, 's iſt 'ne ſchlimme
Zeit geworden, und ſie muß beſſer werden, oder ſie
wird noch ſchlimmer. Sind die im blauen Rock 'ne
andere Race Menſchen? Stammen nur die Junker
von Adam und wir andern fielen nebenher von der
Bank? Jeden Tag wird Ihr Uebermuth größer.
Darum ein Mal drauf los! Trumpf auf Trumpf.
Nicht mit Federkielen, die Feder wird ſtumpf, je
ſpitzer Ihr ſchreibt. Sie leſens nicht, oder ſie lachen
drüber. Aber —“


Es blieb ein Gedankenſtrich. An der Hausthür
ſetzte er noch etwas hinzu: „Und darum iſts auch
gut, daß Friede bleibt. Wenn ſie die Franzoſen
ſchlagen, dann wär gar nicht mehr mit ihnen aus¬
kommen. Jetzt ſprudeln ſie vor Uebermuth, aber daß
man ſie nicht brauchen will, und ohne ſie fortzu¬
kommen meint, iſt ein guter Dämpfer.“


Walter war anderer Anſicht, aber es war nicht
der Augenblick, um die des Vaters zu bekämpfen.
Ueber die im Hintergrunde liegende Abſicht deſſelben
war er nicht in Zweifel. Er zürnte ihm nicht, daß
er von einem Plane, der ihm ans Herz gewachſen,
nicht laſſen konnte; aber es ſtimmte ihn wehmüthig,
daß der Vater mit unerſchütterlicher Feſtigkeit einem
[237] unerreichbaren Ziele nachging. Unerreichbar, weil
Walter in ſeinem Willen ſich eben ſo klar und un¬
erſchütterlich dünkte. Aber das Intermezzo, oder die
kleine Intrigue, die der Vater ſpielte, erheiterte ihn,
weil er ſie durchſchaute, und ſich in ihrem Netze
fangen zu laſſen nicht beſorgte. Der hübſchen Couſine
hatte er den Muth ſo unbefangen entgegen zu treten
wie immer; einem unverſchämten Angriff gegen die¬
ſelbe zu begegnen, dünkte ihm eine nicht der Rede werthe
Kleinigkeit; des Vaters Meinung über den Militair¬
übermuth theilte er, wenn gleich das Uebel ihm
weder ſo tief noch ſo groß ſchien und er am wenigſten
das Mittel gut hieß, welches dieſer angedeutet. Eine
leiſe Wolke des Unmuths ſpielte aber doch um ſeine
Stirn, als der Vater ſeinen Antrag motivirte. Es
war eine Wahrheit in des Alten Worten, und der
Schatten einer empfundenen Wahrheit ſpielte in ſein
Gemüth, als van Aſten von ſeinem Sohne eine
That forderte, um zu beweiſen, daß ſein Geiſt nicht
in der Forſchung untergegangen ſei. Je lächerlicher
ihm die Probe ſchien, um ſo mehr empfand er den
Vorwurf.


Als an der Ecke ſich ihre Wege ſchieden, ſprach
er: „Schlimm iſt die Zeit, mein Vater, aber ſie iſt
es ſchon lange. Was wir können, dürfen wir nicht
zeigen, und was wir zeigen, iſt nicht was wir
wollen. Eine gründliche Kur thut uns allen Noth,
die Kur, die uns wieder zu Menſchen macht, den
Bürger zum Bewußtſein erweckt, warum er es iſt;
[238] den Staat zu dem, daß er Männer bedarf, nicht
Automaten. Iſt dies Bewußtſein da, dann werden
ſich auch die Männer finden.“


„Alſo Du willſt jetzt noch nicht mit zur Couſine?“


„Zur Theaterſtunde bin ich in ihrer Wohnung.“


„Grüß mir die Mamſell Alltag. — So ein
affairirter Menſch! Muß Troſt und Hülfe da bringen
und da auch, bei hübſchen Mädchen. — A propos!
rief der Vater den Sohn zurück, was das Bewußt¬
ſein anlangt, wärs nicht beſſer, wenn die Bürger
es zuerſt kriegten? Wenn da erſt viele, wie Du zu
ſagen beliebteſt, Männer geworden, dann käme der
Staat, meine ich, von ſelbſt zum Bewußtſein, daß
er ihrer bedarf. Denke ein Bischen darüber nach!“


Der Alte war fort. Als Walter in die Jäger¬
ſtraße einbog, rollte der Lupinusſche Wagen heran.
An der Seite der Geheimräthin ſaß Adelheid, geputzt
wie ihre Pflegemutter, aber ihre Wangen ſchienen
vor Freude zu glühen, wie er ſie nie geſehen. Als
die Damen ihn erblickten, lächelte die Geheimräthin
ihn ſchelmiſch an, und wandte ſich mit einer lieb¬
koſenden Bewegung zu ihrer Pflegetochter. Es kam
ihm ſogar vor, als küßten ſie ſich; gewiß hörte er,
als der Wagen vorüberrollte, ein lautes Gelächter.


„Was war das!“ rief er. „Ein Herz und eine
Seele nach dieſem Brief! Und ſie ruft mich nicht
heran, wo ſie ſehen muß, daß ich zu ihr will.“ Er
ſtarrte dem Wagen nach, wie in Erwartung, daß
er halten, Adelheid ſich herausbiegen und ihn rufen
[239] werde. Er wartete umſonſt. Der Wagen war ver¬
ſchwunden.


Walter hatte recht geſehen und gehört. Aber
man kann als Augenzeuge ein Factum beſchwören,
und hat doch ein falches Zeugniß abgelegt. Walter
hatte nicht das kurze Zwiegeſpräch belauſcht, was die
Geheimräthin mit Adelheid vorher gepflogen, nicht
die Komödie, die ſie ihr zur Pflicht machte. Die
Wangen des jungen Mädchens glühten allerdings,
aber ſie waren vorhin todtenblaß und die Röthe war
die Schminke, welche die Geheimräthin ſelbſt ihr
aufgelegt. „Die Welt braucht nicht zu wiſſen, was
wir wiſſen,“ hatte ſie geſagt.

[[240]]

Dreizehntes Kapitel.
Ein Präludium.

Das Nationaltheater bot heut einen feierlichen
Anblick. So gefüllt hatte man es ſeit lange nicht
geſehen. Es war nicht Ifflands Kunſt noch Flecks
Genie, auch nicht die Anmuth der Unzelmann, der
ſpätern Bethmann, oder die bezaubernde Stimme der
Schick, was dieſes Publikum angelockt. Es war kein
glänzendes im gewöhnlichen Sinne, obwohl Gold
und Silber von den Uniformen flimmerte, und aus
den Geſichtern der Zuſchauer ein eigenthümlicher
Glanz ſtrahlte, der der geſpannten Erwartung, aber
auch ein etwas, was die Mehrzahl voraus wußte.
Daher die ſchlauen, lauſchenden Blicke, ein vergnüg¬
tes Zublinzeln, ein Zuverſtehengeben, daß man un¬
terrichtet ſei.


Kein glänzendes Publikum, was man in Ber¬
lin ſo nannte, ſagen wir; denn weder der Hof war
zugegen, noch ein hoher Gaſt, deſſen Anweſenheit
immer die Neugier anzieht. Im Gegentheil fehl¬
ten gerade die ausgezeichnetſten Männer, die man
[241] ſonſt im Theater zu ſehen pflegte, und die, welche zu
dem regierenden Kreiſe in näherer Beziehung ſtan¬
den. Man vermißte aber auch mehre eminente Per¬
ſönlichkeiten, welche zu dieſen Kreiſen nicht gehörten,
ſondern ſich ihnen feindlich gegenüber ſtellten. Wenn
ſie es waren, die das Schauſpiel angeordnet, hielten
ſie es für ſchicklich, wenigſtens den Schein zu ver¬
meiden, und verbargen ſich in der Tiefe der damals
ſehr dunkeln Logen.


Nicht der Schauſpieler und der Darſtellung we¬
gen ſchien dieſes große, lebhafte Publicum verſam¬
melt, ſondern ſeiner ſelbſt willen. Es wollte ſich
eine Darſtellung geben. Auf dem Zettel ſtand an¬
gekündigt Babos: „Puls.“ Um dieſes feinen, pſy¬
chologiſchen Schauſpiels willen hatte nicht das Offi¬
cierscorps für die Wacht- und Quartiermeiſter der
Regimenter Gensd'armen verſchiedene Logen im er¬
ſten und zweiten Range gemiethet, noch ſah man
deshalb im Parterre und auf dem Amphitheater
Gruppen Infanteriſten und Huſaren, jede von 10
bis 12 Mann um ihren Unterofficier verſammelt.
Auch ſaßen unterſprengt in anderen Logen zwiſchen
geputzten Damen und ariſtokratiſchen Herren gemeine
Soldaten in ihrer Commisuniform, ein damals weit
grellerer Contraſt und unerhörter Anblick. Die „ho¬
netten“ Leute erſchraken ſonſt vor der Berührung mit
der blauen Montur. Und ſo geſchickt, aber doch nicht
glücklich hatte man das bürgerliche Publikum mit dem
Militair im ganzen Hauſe vermiſcht, denn wer Augen
III. 16[242] hatte, ſah die Abſicht. Man wollte ſie aber auch
nicht verbergen, nur einen luftigen Schleier darüber
werfen. Volksſchauſpiele zu arrangiren war die Zeit
in Preußen noch nicht gekommen.


Auf dem Komödienzettel ſtand aber hinter dem
Baboſchen Puls: „Auf vieles Begehren Wallenſteins
Lager von Friedrich Schiller.“


„Hatte man denn kein patriotiſcheres Stück?“ ſchien
der Sinn der Frage, die Jemand im Parterre ſei¬
nem Nachbar zuflüſterte, der zu den Eingeweihten in
Beziehung ſtehen mußte. „Es iſt weder preußiſch¬
noch deutſchpatriotiſch.“ — „Aber militairiſch“, antwor¬
tete ein Dritter. — „Es wäre doch ſchlimm, meinte
jener, wenn wir den Franzoſon nichts entgegen zu
ſetzen hätten“ — „Als ſoldatesken Stolz! ergänzte der
Dritte. Ein Schelm giebt mehr als er hat!“


Babos Puls ward mit mehr Aufmerkſamkeit
gegeben, als gehört. Die Pulsſchläge im Parterre
waren zu heftig, um den ſanften auf den Brettern
folgen zu können. Es blieb ſtill trotz des Meiſter¬
ſpiels der Darſtellenden. Aber doch ſchlugen nicht
alle Pulſe auf ein Ziel. Es war ſo viel zu ſehen,
viele ſahen ſich, die ſich niemals hier getroffen.
Woran ſollten die Soldaten denken, die in dieſen
Räumen zum erſten Mal ſtanden, kerzengrad, auf
Commando und des neuen Commando gewärtig.
Das Spiel da oben war für ſie ein Schattenſpiel
an der Wand in unverſtändlichen, gleichgültigen Hie¬
[243] roglyphen, die auf ihren glotzenden Geſichtern nicht
den geringſten Eindruck machten.


Auch vor der Schlacht ſchlagen nicht alle Pulſe
nur der Entſcheidung entgegen. Die Karte, der Wür¬
fel und ein ſchönes Auge machen das Blut ſo leb¬
haft pulſiren, als der erſte Trommelwirbel, das erſte
Pfeifen der Kugeln. Es waren viele ſchöne Augen
in den Logen, und viele junge Officiere obſervirten.


„Sie ſchminkt ſich aber nie,“ ſagte ein Kuiraſſier.


„Sie iſt geſchminkt!“ rief der Cornet.


„Sie iſt echauffirt. Sieh doch, wie ihre Arme
zittern. Ihre Finger hämmern ja wie im Krampf
auf die Brüſtung.“


„Ihre gelben Locken fangen ſchon an wie Bind¬
faden runter zu hängen. Iſt das etwa auch ein
Beweis, daß ſie nicht geſchminkt iſt?“


Der andre obſervirte ſchärfer mit dem Ausruf:
„Donnerwetter, ſollte ich mich irren! Sie changirt
nicht Farbe, und doch zuckte ſie zuſammen, als die
Lupinus ihr was ins Ohr ſagte.“


„Was gilt die Wette?“ wiederholte der Cornet.


„Beſſer, wer entſcheidet ſie, fiel der andre ein,
wer ſchafft den Beweis?“


„Schicken wir eine Unterſuchungs-Deputation
an ſie,“ ſprach ein Dritter. „Wolfskehl wäre dabei,
in den Schminkangelegenheiten hat er gründliche
Studien bei Comteß Laura gemacht.“


„Stellt Einen Poſto, rief der Cornet, drüben
hin, der ſie nicht aus dem Auge läßt, und einen An¬
16*[244] dern hinter ihr. Wenn die Rührung losgeht, dann
Attention! Der drüben, ob's unter dem Auge weiß,
der hier, ob das Tuch roth wird.“


„Ein trefflicher Operationsplan! Wolfskehls mi¬
litairiſch Genie entwickelt ſich immer mehr.“


„Am Ende fangen die Weiber gar nicht an zu
weinen?“


„Und wozu das alles, ſagte der Kuiraſſier.
Da müßt Ihr Euch doch den Mund wiſchen. Die
Perſon hat nun mal was, daß man nicht weiß, was
es iſt; zudem Beſchützer an allen Ecken. Man weiß
nicht, wo man anſtößt, wenn man zugreift.“


„Grad das könnte mich tentiren, rief der Cor¬
net. 'S iſt nur, ſie iſt nicht nach meinem Gout.“


„Wolfskehl liebt nur das Bornirte. Da oben
ſitzt die neuſte, die er auf den Zug hat.“


Man ſchaute nach der Loge im zweiten Range,
nicht aber mit Discretion, wo Walter van Aſten hinter
ſeiner Couſine ſtand. „Wer iſt denn ihr Beſchützer?“


„Das Pockengeſicht! Irgend ein Schulfuchs.“


„Vielleicht ihr Erkorner — oder Deſtinirter.
Er behandelt ſie mit vieler Aeſtimation.“


„Sieht mir grade aus wie Einer, der Luſt hat,
ſich einen ſanften Rippenſtoß appliciren zu laſſen, wenn
ich Luſt bekäme, dem Mädel den Arm zu bieten. Wollt
Ihr pariren, er dankt mir nachher an der Treppe —“


„Wofür?“


„Die Ehre, daß ich ſeinen Schatz geführt. Hol'
mich der Geier, er ſoll's!“

[245]

Der zornfunkelnde Blick eines ältern Officiers
in militairiſchem Reitüberrock, der mit verſchränkten
Armen an einem Pfeiler ſtand, begleitete das „Pſt!“
welches er den Schwätzern zurief, ohne ſeine Stel¬
lung zu verlaſſen. Sie ſchwiegen unwillkürlich.
Nur der Cornet ließ ſeinen Säbel klirren:


„Wer iſt denn der Bramarbas?“


Beide Begleiter ziſchten ihm ein bedeutungsvol¬
les „Pſt!“ in die Ohren. „Mit dem iſt nicht gut
Kirſchen eſſen!“


„Aus der Provinz einer! So ein Comman¬
dant aus Krähwinkel vielleicht. Soll der ſich unter¬
ſtehen, einem Officier von der Garde Raiſon zu
lehren?“


„Der unterſtände ſich noch mehr, flüſterte der
Kuiraſſier. Um Gottes Willen ſei ſtill, Fritz, 's iſt
der Obriſt York aus Mittenwalde. Der hat ſelbſt
mit dem alten Fritz angebunden.“


Nicht alle Pulſe ſchlugen gleich. „So in ſich
verſunken, Herr Geheimrath?“ fragte Herr von Wan¬
del, der in eine nebenſtehende Loge trat, den Geheim¬
rath Bovillard, welcher ſein Opernglas erhob, um es
wieder abzuſetzen und mit dem Taſchentuch zu
wiſchen.


„Ich bin nicht disponirt.“


„Das werden Sie doch nicht zeigen wollen!“


„Ich zeige mich. Was kann man in meiner
Lage Beſſeres thun.“


„Sie hatten in letzter Zeit vielen Verdruß?
[246] Herr von Fuchſius hat Sie verlaſſen, ſich ange¬
ſchlängelt an die neu aufgehende Sonne —“


„Wohl bekomm' es ihm. Wenn die Sonne ein
Stein iſt, hört ſie auf zu glänzen.“


„Haben Sie Nachricht von Ihrem Herrn Sohn?“


„Haugwitz hat ihn aus Wien mit einer Depeche
um Verhaltungsbefehle hierher geſchickt; das wiſſen
wir aus anderer Quelle. Er ſcheint unterweges auf¬
gehalten oder aufgefangen zu ſein.“


„Was den Vater allerdings nicht gut disponirt;
indeß wird der Sohn des Geheimrath Bovillard vor
Napoleons Augen immer Gnade finden.“


„Auch wenn er von dieſer Komödie hört! ſagte
Bovillard noch leiſer. — In welchem Winkel mag
ſich Laforeſt verſteckt haben?“


„Sie wollen doch nicht das Theater verlaſſen? —
Ich bitte Sie, Geheimrath. Was iſt's! Ein bischen
Trommeln, Singen und Geſchrei werden ſie ertragen
können — “


„Wenn nur nicht drüben die Lupinus ſäße! Ich
kann das Geſicht nun einmal nicht ausſtehen. Iſt
denn das 'ne Larve oder ein Geſicht?“


„Sie hat, glaube ich, Verdruß gehabt, mit ihren
Dienſtleuten oder ihrem Pflegekinde. Sie iſt aller¬
dings etwas blaß.“


„Dieſe kleinen, feinen, ſtechenden Korallenaugen!
Wandel, ich verſichre Sie, wenn ich ihrem Blick be¬
gegne, iſt mir's, als wenn ein gläſerner Dolch mir
ins Herz bohrt.“

[247]

„Leiden Sie oft an ſolchen Viſionen?“


„Begreif es einer, warum ich an einen Kirchhof
denken mußte.“


„Hier?“


„Und ſie wie das weiße Bild des Todes. Wen
ſie anſieht und küßt, der müßte ſterben.“


„Ihre Lectüre echauffirt Sie, theuerſter Freund.
Dieſes junge Genie, der Chateaubriand, reizt die
Phantaſie auf. Unwillkürlich beſchwört er Geiſter,
die für unſre Atmoſphäre nicht paſſen. Ich möchte
Ihnen dagegen als calmirende Lectüre ein treffliches
Buch empfehlen, welches eben erſchienen iſt, —
Wagners Geſpenſter. Leſen Sie darin vorm Ein¬
ſchlafen einige Geſchichten, Sie werden davon eine
vortreffliche Wirkung empfinden. Es konnte kein
beſſeres Gegengift gegen die romantiſchen Schwärme¬
reien gerade jetzt auftreten, wo ſelbſt bei den Fran¬
zoſen —“


Er konnte nicht ausreden. Der Geheimrath
war über die hintern Stühle geklettert und zur Loge
hinaus. Wandel, der raſch gefolgt, ließ ihm in der
Conditorei ein Glas Zuckerwaſſer bereiten, in das
er Hoffmannstropfen goß.


„Nichts als ein Schwindel, theuerſter Geheim¬
rath, begreiflich, wenn Sie an die Eventualitäten des
Krieges dachten. Da ſieht man wohl Leichen und
Kirchhöfe. Wie mancher dieſer exaltirten Mili¬
tairs wird kalt und ſtumm auf dem Schlachtfeld
liegen, wenn ihre Wünſche in Erfüllung gehen. Auch
[248] vielleicht um Ihren Sohn waren Sie beſorgt. Das
combinirt ſich alles ſo natürlich bei einer nervöſen
Complexion. Wenn Sie ſich erholt, laſſen Sie uns
zurückkehren.“


„Das Mädchen iſt hübſch, aber die Augen, wie
gläſern. Wenn das Wachsbild nun unter ihren Ar¬
men ſchmilzt!“


„Das wäre unnütz!“


„Was reden Sie?“


„Ich weiß es ſelbſt nicht, wahrhaftig, Bovillard.
Ihr Unfall hat mich conſternirt. Es iſt nicht Be¬
ſorgniß um Sie — aber Sie ſollten Hufeland be¬
fragen, wenn dieſe Anfälle ſich wiederholen. Indeß —
erlauben Sie mir Ihren Puls. — Da intonirt das
Orcheſter ſchon das Reiterlied. Ja, ja‚ Sie leiden
an den Nerven. Sie glauben nicht, was die Be¬
ſchäftigung des Geiſtes da hilft. Man muß ſich
zuweilen peinigen und ſich in Zerſtreuungen ſtürzen.
Sie arbeiten zu viel, Sie lebten auch vielleicht in letzter
Zeit zu ſolide. Ueberwinden Sie ſich, und kehren
zurück. Täuſchte ich mich, im Mantel dort, das war
Laforeſt. Er iſt es.”


„Ein intereſſantes Stück, der Puls? ſagte der
Geſandte im Vorübergehen. Nicht wahr, meine Herren?
— Wenn doch die Staatskunſt auch ſolche Aerzte
zur Hand hätte, die am Pulsſchlag ihrer Kranken
die geheimen Intentionen der Völker erkennten!“


„Welchen Auslegungen Sie ſich ausſetzen, wenn
Sie fortgehen, wo ein Laforeſt zu bleiben wagt, ſprach
[249] Wandel dringend zu Bovillard. Bedenken Sie die
Stimmung im Publikum, theuerſter Freund! Lom¬
bard ſelbſt hat einen Beitrag für die Militairmuſik
geſchickt.“


Der Geheimrath Bovillard wollte bleiben, dies
deutete wenigſtens der ſtumme Händedruck an, als
er aufſtand: „Wenn nur das Weib fortginge!“


Aber als er die Thür des Conditorſaales öffnete,
kam ihm gerade dieſes Weib, welches er vermeiden
wollte, entgegen. Die Lupinus führte ihre Pflege¬
tochter am Arm. Ein ſcharfer Kennerblick mußte
unter der Röthe von Adelheids Wangen die tiefe
Bläſſe entdecken. Sie wankte am Arm ihrer Führerin,
deren Anſtrengungen, es zu verbergen, vergebens
waren.


Als Bovillard zurückprallte, kaum von den Ein¬
tretenden geſehen, eilte eine neue Zeugin herbei:
„Mein Gott, was iſt ihr!“ rief die Fürſtin Gargazin.


„Nichts als übergroße Hitze! Ein Glas Limo¬
nade, Herr Reibedanz! Das wird dem Uebel ab¬
helfen.“


„Sie iſt krank, das ſind convulſiviſche Bewe¬
gungen!“ rief die Fürſtin.


„Adelheid wird Ihnen das Gegentheil betheuern,
wenn ſie ſich erfriſcht hat,“ ſagte die Geheimräthin,
indem ſie mit einiger Heftigkeit das Glas dem jungen
Mädchen an die Lippen hielt.


Adelheid nippte, aber das Glas fiel auf die
Erde, ſie ſelbſt knickte zuſammen und wäre ſelbſt ge¬
[250] fallen, wenn die Fürſtin ſie nicht aufgefangen,
und mit dem hinzuſpringenden Bovillard auf ein
Canapé gebracht hätte. Die Lupinus hatte ſich dieſen
Augenblick entgehen laſſen, indem ſie mit dem Le¬
gationsrath ein raſches Geſpräch in ſtummen Blicken
gewechſelt. Wandels ernſter Blick ſchien tief eindrin¬
gend, die Geheimräthin hielt ihn nicht aus, und als
ſie die Augen geſenkt, hörte ſie die Worte ins Ohr
geflüſtert: „Was ſoll dieſe Komödie! Ich hoffe hier
iſt nichts vorgefallen, was Sie bereuen müßten!“
Sie wollte die Lippen öffnen, als Adelheids unter¬
drückter, unartikulirter Schrei die Aufmerkſamkeit der
Hülfeleiſtenden auf den Gegenſtand der Theilnahme
wieder zog.


„Es muß doch etwas mehr als die Hitze im
Hauſe ſein,“ bemerkte die Fürſtin mit einem eignen
Ton.

Bovillard fragte: War ſie vielleicht zum erſten
Mal im Theater?“ Er ſetzte hinzu, die Blicke der
jungen Officiere, die eben nicht mit Schonung ſie
fixirten, möchten ſie afficirt haben.


„Ein Flacon!“ rief die Geheimräthin. Die
Fürſtin, neben Adelheidknieend, hielt es ihr bereits
an das Geſicht.


„Sie wird ſich wieder erholen.“


Die Lupinus wandte ſich zum Legationsrath:
„Mein Gott, was zaudern Sie! Eines Ihrer Haus¬
mittel, die Sie ſtets bei ſich führen.“


„Meine einfachen Mittel wende ich nur an, wo
[251] mir der eigentliche Grund der Krankheit nicht un¬
bekannt blieb.“


Die Geheimräthin hatte ſich wieder gefunden:
„Der eigentliche Grund der Krankheit kann denen
nicht unbekannt ſein, die von dem überſchwänglichen
Gemüth des jungen Mädchens unterrichtet ſind.
Patriotin bis in die äußerſten Fibern ihrer Seele,
hat ſie ſeit vierzehn Tagen an einer Fahne für un¬
ſere Garniſon geſtickt, und mich und ſich um ihre
Nächte betrogen. Erſt heute Morgen entdeckte ich es,
und es hatte leider eine lebhafte Scene zur Folge,
die ich jetzt bereue, und zu der mich doch die Pflicht
für die Geſundheit des Mädchens trieb. — Man
hat etwas mehr zu ſorgen für fremde als für
eigene Kinder,“ ſetzte ſie mit einem feierlichen Tone,
der Reſignation oder des gekränkten Bewußtſeins,
hinzu.


„Um dem Gerede der Leute zu entgehen,“ ſagte
die Fürſtin.


„Auf Dank rechne Niemand, der Pflichten über¬
nimmt, die über ſeine Pflicht gehen,“ bemerkte der
Legationsrath.


„Aber wir Alle ſind Ihnen dankbar, fiel die
Fürſtin beſänftigend ein, für die geſchickte Weiſe, wie
Sie das Kind, und noch zu rechter Zeit, aus der
Loge führten. Ich bewunderte Madame Lupinus wirk¬
lich, und, Gott ſei gelobt, es hat gar kein Aufſehen
erregt. — Sie athmet.“


„Aber noch geſchloſſene Augen.“

[252]

„Mein Hotel iſt ſo nahe, liebe Geheimräthin, ich
würde mir ein Vergnügen machen, ſelbſt ſie dahin
zu ſchaffen. Eine Portechaiſe ſteht im Flur. Mein
Kammerdiener fliegt dahin — wenn —“


„Wenn Madame Lupinus, fiel der Legationsrath
raſch ein, nicht die Hoffnung hegte, daß die junge
Dame ſich noch erholte, um an ihrer Seite zur Vor¬
ſtellung zurückkehren zu können. Und die Hoffnung
ſcheint mir begründet.“


„Ich würde es mir nie vergeben, dem Kinde
ein Vergnügen zu rauben, nach dem ihr Herz ſich
ſehnt.“


Der Legationsrath hatte raſch aus ſeinem Etui
ein Fläſchchen geholt, welches er der Fürſtin über¬
reichte: „Drei Tropfen in den Händen gerieben, und
damit in Intervallen über die Schläfe gefahren. Nur
der Luftdruck, nicht Berührung!“


Er war ehrerbietig zurückgetreten, ohne auf die
Frage: „Warum nicht Sie ſelbſt?“ zu antworten.


Die Ouvertüre begann ſchon.


„Ich begreife Sie nicht,“ ſagte leiſe die Lupinus,
an deren Seite er ſich geſtellt, während der Geheim¬
rath Bovillard der Fürſtin beiſtand.


„Noch weniger ich den Zuſammenhang hier,
entgegnete er im ſelben Tone. Was ging hier
vor?“


„Sie ſah eben ihren Liebhaber. Sie hatte ihn
vor dem Theater erwartet, ſo glaube ich wenigſtens
aus ihren Reden in der Extaſe ſchließen zu dürfen.
[253] Sie hatte ihm geſchrieben, ihn zu ſich geladen. Und
ſtatt zu kommen —“


„Sah ſie ihn an der Seite eines hübſchen Mäd¬
chens, dem er viele Aufmerkſamkeit erwies.“


„Iſt das nicht Grund genug, Herr Legations¬
rath?“


Wandel zuckte die Achſeln: „Unter andern Ver¬
hältniſſen. Erlauben Sie mir indeß zu glauben, daß
es hier kein Grund iſt. Doch bin ich beruhigt, und
verzeihen Sie, wenn ich es vorhin nicht ſchien. Das
erſte Geſetz der Wiſſenden; meine Freundin, iſt, ſich
zu hüten vor dem Unnöthigen, wo das Nothwendige
ſchon unſere ganze Geiſteskraft beanſprucht. Wir dür¬
fen nicht ſpielen mit den Dämonen, wie dieſe hier
thun; ſie vertragen es nicht. Sie gehorchen uns nur,
wenn wir das eiſerne Auge nie von ihnen laſſen und
mit einem Stahlarm ſie preſſen — auf das Noth¬
wendige hin. Von Phantaſten und Jongleurs reißen
ſie ſich los, und ſchlagen ſie mit den zerriſſenen
Feſſeln nieder.“


Im Theater ward es laut. Ein Theil des
Publikums ſchien durch Summen und Singen die
kriegeriſchen Töne der Ouverture zu accompagniren.


„Mein Gott, — wenn ſie doch jetzt — wir
verſäumen etwas!“ rief die Lupinus, es war aber
nicht das Verlangen, nach dem Theater zurück zu
kehren.


„Wie ſanft ſie athmet!“ ſagte die Fürſtin.


„Debarraſſiren Sie ſich von ihr. Es iſt am Ende
[254] doch das Geſcheidteſte!“ flüſterte Wandel der Geheim¬
räthin zu. Sie blickte ihn fragend an. „Sie be¬
zweifeln, daß ich als Ihr Freund ſpreche. Mein Rath
ſollte Ihnen beweiſen, daß ich es bin. Ich ſage nicht,
daß Sie eine Natter ſich im Buſen erzogen haben,
aber in dem Mädchen iſt etwas Dämoniſches. Bil¬
dete ſie ſich nach Ihnen? Schlug nur einer Ihrer
Rathſchläge an? Sie müſſen ſich geſtehen, daß das
Mädchen unberührt blieb, gleichviel ob im Guten
oder Böſen. Aber Sie ſind nicht mehr Herrin Ihrer
ſelbſt, ſeit dieſes Gewicht an Ihnen hängt, ihr kluges
Auge, ihr ſcharfes Ohr Ihre Schritte und Tritte, ich
möchte ſagen, Ihre Gedanken belauſcht. Faſt erkenne
ich meine ſtolze, ſichere Freundin nicht wieder, wenn
ich die Rückſichten ſehe, die ſie auf ein in jeder Be¬
ziehung untergeordnetes Weſen nimmt. Aber ſie iſt
nicht, ſie kann nicht untergeordnet ſein ihrer Natur
nach, das iſt eben das Dämoniſche, was ein frei
denkendes Weſen nicht neben ſich dulden dürfte. Bringt
ſie nicht Unglück in jedes Haus, in das ſie tritt!
Dort — hier. Ueberrechnen Sie die Verlegenheiten,
in die Ihre Güte gegen Adelheid Sie geſtürzt, und
ziehen Sie den Schluß, welches von beiden Uebeln
größer iſt, daß die Welt wieder einmal acht Tage
über Sie läſtert, oder — daß Sie frei, Sie ſelbſt wieder
ſind. Wählen Sie das Kleinere, und ergreifen die
erſte Gelegenheit.“


Die Ouverture ſchloß mit Anklängen aus dem
Deſſauer Marſch.


[255]

„Sie richtet ſich auf, ſagte Bovillard. O eine
wahre Patriotin!“


Herr Reibedanz rief zur Thür herein: „Machen
Sie ſchnell, meine Herrſchaften, der Vorhang geht
auf.“


„Sie muß mit, ſprach die Geheimräthin. Sie
hat die Kraft, ſich ſelbſt zu genügen.“


„Ich glaube auch, ſagte die Fürſtin. Herr von
Bovillard, unterſtützen Sie ihren Arm, ſie will auf¬
ſtehen.“


„Bovillard!“ wiederholte Adelheid mit der ſüßen
Stimme einer Träumenden, die aus einem lieblichen
Traum erwacht, und erhob ſich.


„Geliebtes Kind!“ ſprach die Geheimräthin, ihr
entgegen tretend.


Aber derſelbe Traum mußte auch bittere Er¬
ſcheinungen ihr vorgegaukelt haben, denn als ihr
Auge auf die Pflegemutter fiel, welche die Arme
gegen ſie ausbreitete, ſtieß ſie dieſelben mit einer
krampfhaften Bewegung zurück. Das träumeriſche
Auge veränderte ſeinen Ausdruck, ein Entſetzen
wie mit Zorn gemiſcht ſchien aus der tiefſten
Seele aufzuſteigen und lieh dem Augapfel einen
Glanz, vor dem man erſchrak. Wie kam dieſer
Blick in das Auge einer Jungfrau! Die Fürſtin
hatte eben ſo raſch es bemerkt, als ſie mit der huld¬
vollſten Freundlichkeit Adelheid unterfaßte: „Bovil¬
lard, geben Sie ihr den Arm, wir führen unſre
Patientin.“

[256]

„Sie träumte noch den Deſſauer Marſch und
ſah die Franzoſen vor ſich,“ ſagte der Geheimrath.


„So iſt ſie! Voller Laune und Phantaſie!“ be¬
merkte die Lupinus an Wandels Arm.


„Wie unſre Zeit und dieſe Menſchen, entgegnen
er. Nichts, wohin wir ſehen, als Phantaſie und kein
Entſchluß.“

[[257]]

Vierzehntes Kapitel.
Wallensteins Lager.

Kaum ließ ſich während der Darſtellung das
Mitſpielen des Publicums zurückhalten. Die Iffland,
Unzelmann, Mattauſch, Herdt, Beſſel, Gern, Labes,
Kaſelitz erſchienen in ihren Waffenröcken und Wehr¬
gehenken nicht wie Schauſpieler, welche das Bild
einer zweihundertjährigen Vorzeit den Zuſchauern
hinzaubern wollten, ſondern wie Repräſentanten die¬
ſer Zuſchauer ſelbſt, die, jedem Kunſtausdruck, jedem
Verſe, der auf das Ergreifen der Waffen deutete,
zujubelnd, ihre eigene kriegeriſche Stimmung aus¬
hauchten. Das war ein Bravorufen, Klatſchen, ſo
kräftig, ſonor, wie man es in dieſen, der ernſten Kunſt
geweihten und damals heilig gehaltenen Räumen ſel¬
ten gehört. Der Kunſtenthuſiasmus erlaubte ſich in
Berlin wohl Thränen und Entzückungen, auch Ver¬
zückungen, aber noch nicht mit dem Feuer zu ſpie¬
len, das er ſpäter verſchwenderiſch über ſeine Lieb¬
linge ausſchüttete, einen flammenden Glorienſchein,
der oft zur verzehrenden Flamme werden ſollte für
den Ruf des Gefeierten.


III. 17[258]

Das Reiterlied war geſungen; tiefe Spannung
auf allen Geſichtern, ein banges Schweigen in dem
gedrängt vollen Hauſe. Da trat Kaſelitz als Dra¬
goner von Piccolomini vor, und vertheilte ein ge¬
drucktes Lied zum Lobe des Krieges unter ſeine
Cameraden. Die Pappenheimer, die Panduren, Il¬
los Kroaten, alle verſtanden Deutſch zu leſen, das Or¬
cheſter hub an, und nach der Schulzeſchen Melodie:
„Am Rhein, am Rhein!“ ward ein Lied geſungen,
von dem überlebende Zeitgenoſſen uns verſichern, daß
es gewirkt wie ein Tyrtäiſcher Kriegsgeſang. Das
Publicum erhob ſich. Man ſtreckte die Arme nach
der Bühne, um den Text zum Mitſingen zu erhal¬
ten, die Schranken des Orcheſters fielen. Da aber
regnete es ſchon von gedruckten Blättern aus dem
Amphitheater. Das Parterre ſtimmte ein, Jubel
oder Rührung, es war zweifelhaft, was größer war.
Die Damen in den Logen wehten mit den Tüchern;
ernſten Männern, bei deren gefurchtem Geſicht man
einen Eid hätte ablegen mögen, daß ſie nie geweint,
ſtanden Thränen im Auge.


Die letzte Strophe mußte wiederholt werden.
„Das iſt ein Lied!“ — „Das ein Geſang!“ — „Ein
Dichter!“ — Von Mund zu Munde ging ſein Name
geflüſtert hin: „Es ſind der Herr Major von Kne¬
ſebeck!“ Dort ſchrie Einer dem Andern zu: „Donner
und Wetter, der Kneſebeck ein Dichter!“ Man wollte,
man mußte ſich näher kommen. Die in jener Zeit nicht
ſo ſtrenge Billetordnung ward gebrochen, man be¬
[259] ſuchte ſich in den Logen, ſchüttelte ſich die Hände;
aus den Logen ging man ins Parterre, und unver¬
ſehens hatten einige Allzeitfertige aus Brettern und
Stühlen eine Art Treppe nach der Bühne gebaut.
Das Stück war ja zu Ende, nur den Vorhang hatte
man herunterzulaſſen vergeſſen — oder auch nicht
vergeſſen. Während junge Enthuſiaſten hinaufſpran¬
gen, den Schauſpielern die Hände zu ſchütteln, wink¬
ten Andere den Darſtellern, herabzukommen. Bald
ſah man Iffland in ſeiner ſtattlichen Armatur als
Wachtmeiſter im Kreiſe der Officiere, ſeiner Freunde.
Er ſpielte nicht den Wachtmeiſter, er war es. Er
war ein Patriot von Herzen, und von Herzen redete
er feierliche Worte von Aufopferung und Treue. Seine
ungen Verehrer drängten ſich, ihm in die Hand zu
ſchlagen, als Gelöbniß, daß ſie leben oder ſterben
wollten für König und Vaterland.


In der Erhebung des Augenblickes fand Nie¬
mand darin Seltſames, daß der Schauſpieler den
Ernſt des Lebens repräſentirte; aber auch heitere
Scenen miſchten ſich in dieſen heroiſch theatraliſchen
Ernſt. Es hat ſich von je an gefügt, ſeit es Offi¬
ciere gab und Juden, daß beide in gewiſſen Ver¬
hältniſſen zu einander ſtehen, Verhältniſſe, die, in der
Jugend ſehr intim, ſich oft erſt im Alter löſten, zuwei¬
len auch gar nicht. Da ſah man einen bekannten jü¬
diſchen Handelsmann, welcher ſpäter, vielleicht auch
damals ſchon, den Namen Gans führte und für einen
witzigen Mann galt, an den Armen zweier Lieute¬
17*[260] nants umherſtolziren, oder beſſer er umſchlang ſie
mit ſeinen Armen, und den Begegnenden verſicherte
er, in dieſen beiden Freunden opferte er ſeine
theuerſten Erinnerungen dem Vaterlande! Unzel¬
mann, als Trompeter, ſtreifte am Arm eines hüb¬
ſchen Cavallerieofficiers durch das Parterre. Wer
dafür noch Sinn hatte, blickte neugierig verwundert
nach. Der junge blonde Officier nahm das ſpöttiſche
Lächeln ſeelenvergnügt hin, Unzelmanns komiſche
Miene deutete aber an, daß ihn der Sinn nicht ver¬
letze. „Unzelmann und Quaſt Arm in Arm!“ —
„Unzelmann ſpielt heute ſeine Frau.“ Er rief den
Spöttern nach: „„Beſchämte Eiferſucht““ wird nicht
mehr geſpielt, meine Herren,“ — „denn Eiferſucht iſt
das größte Ungeheuer!“ replicirte ein junger Schön¬
geiſt, der die alten Spanier ſtudirte.


„Und gegen das größte Ungeheuer, fiel der
Schauſpieler eben ſo ſchnell ein, ziehen unſere bra¬
ven Truppen. Auch „Menſchenhaß und Reue,“ meine
Herren, wird nicht mehr gegeben, denn wir brauchen
allen Menſchenhaß gegen die Franzoſen.“ „Und,
ſetzte ein dritter Witzbold hinzu, ein Lump, wer
nicht ſein Beſtes und ſein Schlechteſtes mit ſeinem
Alliirten theilt.“ — Anſpielungen, die damals Jeder
verſtand, auch viele Jahrzehnde nachher hat ſich die
Erinnerung erhalten; nicht werth um ihrer ſelbſt
willen, aber von Werth zur Charakteriſtik einer Zeit,
die längſt von den Springfluthen der Geſchichte fort¬
geſpült und von ihrem mächtigen Strome auf immer
[261] verſchüttet ſcheint. Nicht die Frivolität iſt begraben,
aber in dem luftigen Kleide von damals darf ſie
ſich der Geſellſchaft, in keinem ihrer Kreiſe, mehr
zeigen. —


Enthuſiasmus, wohin man ſah, aber es fehlte
noch etwas; ein Schluß, der dem Anfang entſprach,
ein Siegel auf die fertige Urkunde gedrückt. Wozu
die ganze Aufregung ohne ein Ziel? Aus dem Theater
ſind ſpäter Revolutionen hervorgegangen, aus der
„Stummen von Portici“ ſtürzten die berauſchten Zu¬
ſchauer, um die Funken des Bühnenfeuers als Brand
auf den Markt zu tragen. Dazu war hier nicht der
Ort, nicht die Zeit, nicht die Menſchen. In den ge¬
ſchloſſenen Theaterräumen hallte der Ruf: „Krieg!
Krieg! Zu den Waffen!“ trefflich; aber wären ſie
hinausgeſtürzt, was dann? Wie klein wäre die Zahl
geweſen, wie bald zerſtreut auf den breiten Straßen!
Hätte jeder ſich gern in der Geſellſchaft der andern
erblickt, derer, die vielleicht ihnen da zuſtrömten?
Und was ſollten ſie thun? Vor das Palais des
Königs rücken, dort Fackeln ſchwingen, wild ſchreien:
Krieg! Krieg! Was würde dieſer König, der, dem
Ungewöhnlichen, Exaltirten abhold, ſeine Perſon ſcheu
von aller Repräſentation zurückzog, zu einem brül¬
lenden Haufen ſagen, der ihn zu einer Handlung
zwingen wollte, die er vielleicht ſchon beſchloſſen hatte!
Würde es nicht grade das Mittel geweſen ſein,
das Wort, das ſich von den Lippen löſen wollte,
in die tiefſte Bruſt zurück zu ſchrecken? Er mußte
[262] zürnen, und erzürnen wollte Niemand den geliebten
Monarchen.


Aber etwas mußte geſchehen, das fühlte Jeder.
So konnte man nicht auseinander gehen. Die Logen¬
ſchließer hatten unter den Enveloppen der Damen
Blumenkränze geſehen; oder waren es ſchon Lorbeer¬
kränze? Auf irgend ein Haupt ſie zu drücken, dazu
waren ſie doch mitgenommen. Aber wo war das
Haupt, wo der Eine, der eine ſolche Maſſe wecken,
begeiſtern, führen konnte? — Wohl gab es Einen,
einen noch jugendlichen, genialen Prinzen vom kühnſten
Geiſte und bewährtem Muthe. Sein Schwert hatte
Franzoſenblut getrunken, ritterlich hatte er ſich mehr
als einmal in die Schaaren der Feinde geworfen
und — dem unüberwundenen Helden hätte man alle
ſeine Schwächen vergeben, er wäre der Mann des
Volkes geweſen, und wäre er vorgeſprungen, da auf
eine Erhöhung, und hätte den Degen blitzen laſſen
im Scheine der Theaterflammen, nur wenige kräftige
Worte, — möglich war es, daß es ein Ernſt ward,
deſſen Folgen Niemand berechnet. Aber dieſen Einen
feſſelten Rückſichten, er knirſchte im verhaltenen Grimm
in ſeinen vier Wänden; er zückte den Pallaſch, um
ihn wieder in die Scheide zu ſtoßen, er ſah nach
den Wolken, und lauſchte auf den Gallop eines
Pferdes, ob es die Ordonnanz war, die das heiß
erſehnte Wort brachte. Er hatte ſein Wort geben
müſſen, heut nicht im Theater zu erſcheinen. „Scharf
geſchliffen und von vorn herein die Spitze abge¬
[263] brochen, damit der Stahl nicht verwundet.“ — Andre
gab es wohl, die von demſelben Feuer glühten,
Namen von ehernem Klang und altem Ruhm; ſollte
man aber die Kränze auf eisgraues Haar drücken?
Warum nicht lieber auf Friedrichs Büſte.


Aber etwas mußte geſchehen; die Gährung war
zu groß, um ſich zu verlaufen. „Es lebe der König!“
rief eine Stimme. Tauſend riefen es nach. Das
Orcheſter intonirte den neuen Volksgeſang, der ſo
raſch Allgemeingut geworden, und das feierliche: „Heil
Dir im Siegerkranz, Retter des Vaterlands!“ hallte
wie beſänftigend durch den hohen Raum des Schau¬
ſpielhauſes.


Eine der kleineren Logenthüren klappte zu und
ein Mann, vor dem ſich der Schließer reſpectvoll
neigte, eilte im Surtout die Treppe hinunter.


„Das alte Lied! ſagte ſein jüngerer Begleiter,
es war Herr von Fuchſius; es klang hier mir wie
eine Ironie.“


„Alles Theater, alles gemacht, alles nichts, und
daraus wird im Leben nichts!“ erwiederte der andre.


„Seine Excellenz der Herr Miniſter von Stein!“
flüſterten ſich die Logenſchließer zu.


Aber als das Lied durch neue Hochs, dem
Könige gebracht, unterbrochen wurde, klappte wieder
eine Logenthür, eine Stimme theilte den Vorneſitzenden
etwas mit, dieſe ſprachen nach links und rechts, und
bald lief es wie ein Lauffeuer durch die Logen: Die Gar¬
niſon marſchirt! — Die Berliner Garniſon rückt aus!


[264]

Soll das den letzten Drucker geben! ſchien des
Miniſters Blick zu ſeinem Begleiter zu ſagen, wäh¬
rend der Lärm drinnen ſich wieder ſteigerte. Ein
Vorübergehender las den Sinn der ungeſprochenen
Worte und erwiederte dem Manne, den er nicht
kannte: „Sie können es ganz gewiß glauben, mein
Herr, diesmal iſt es Ernſt. Die Kriegskaſſe iſt ſchon
fertig, und das Feldlazareth wird gepackt. Ich habe
einen Vetter, der dabei iſt.“


„Und ich habe es ſelbſt angeordnet,“ lächelte der
Miniſter ſeinem Begleiter zu. „Soll man ſie um
ihren Glauben beneiden, oder bedauern?“

[[265]]

Fünfzehntes Kapitel.
Am Altar des Vaterlandes.

Was bis hier geſchehen, davon finden wir die
Hauptzüge wenigſtens in den öffentlich gewordenen
Berichten. Die Zeitungen gedenken des denkwürdigen
Abends; aus ihnen ſind jene Züge ſchon in die
Geſchichtsbücher übergegangen. Es fiel aber an dem
Abende noch manches vor, wovon ſie ſchweigen. Ein
großer Theil des Publikums hatte ſich bereits entfernt.
Die Begeiſtertſten empfanden noch das Bedürfniß,
ſich Muth und Hoffnung zuzureden. Hier ſchüttelte
man ſich die Hände; hier ſchloß man ſich in die
Arme; hier unterhielt man ſich von Vortheilen, welche
die Oeſtreicher errungen haben ſollten, von dem und
jenem franzöſiſchen General, der verwundet ſei; dort
von einem Volksaufſtande, der ſich irgendwo vor¬
bereite, von dem ungeheuren ruſſiſchen Heere, was
aus dem Innern Aſiens heranwälze. In bewegten,
bangen Zeiten knüpft die Hoffnung aus dem Sonnen¬
ſtäubchen, aus den Spinnfäden in der Herbſtluft
Taue für ihre Anker!


Da lief ſchon längſt ein Gerücht durch die ent¬
[266] fernten Gruppen, daß ein Courier mit wichtigen
Nachrichten angekommen ſei, aber er und ſein Pferd,
gleich erſchöpft, ſeien auf dem Markt geſtürzt. Der
Commandant, welcher des Weges gekommen, habe
ihn auf der Straße vernommen, und ſei mit den
Depechen ſogleich nach dem Palais geeilt. Ein
kleiner Mann mit ſehr wichtiger Miene, den man
früher ſchon bei allen Gruppirungen bemerken konnte,
ſchwang ſich jetzt auf eine Logenbrüſtung und ſchrie:
„Es iſt richtig, meine Herren, der Courier iſt da!
Er hat ſich beim Fall den Fuß verſtaucht — er
kommt direct vom Schlachtfelde — ich ſah ihn ſelbſt —
ſie führen ihn jetzt am Schauſpielhaus vorbei.“


Sogleich war an der Thür ein Gedrang; man
wollte hinaus, um ſich von der Wahrheit zu über¬
zeugen. Die Entfernteren riefen: holt ihn herein! —
Was er auf der Straße ausſagen dürfe, könne er
doch auch dem Publicum erzählen.


„Wenn uns Merkel nicht wieder eine Finte
aufbindet!“ ſagte ein Mann in mittleren Jahren,
mit lebhaften dunkeln Augen, der, ſeiner Kleidung
nach, dem geiſtlichen Stande anzugehören ſchien;
das Bleiſtift und Pergament in ſeiner Hand deutete
aber auf einen Berichterſtatter für eine Zeitung, was
er auch wirklich war, der franzöſiſche Prediger und
Profeſſor Catel, damals, und noch lange nachher,
Redacteur der Voſſiſchen Zeitung. „Diesmal hat
Merkel die Wahrheit geſagt, liebſter Catel, bemerkte
ſein Nachbar. Der Courier iſt da, auch ich ſah ihn,
[267] und was ich durch das Gedränge gehört ſind ſo
wunderbare Dinge, daß Sie Ihre Zeitung über¬
morgen damit füllen können.“ — „Sie verlangen
doch nicht von mir, daß ich Mirakel ſchreiben ſoll!
entgegnete Catel. Das iſt weder meines Metiers,
noch meiner Zeitung. Rebus in arduis aequam ser¬
vare mentem
.“


„Iſt zwar ein ſchöner Wahlſpruch, entgegnete
der andere, aber es giebt doch Ausnahmen.“


„Die ſich doch wieder auf eine Regel zurückführen
laſſen. Alle Bewegung ſinkt auf ihr Niveau oder
Maaß zurück und die Geſetze dieſes Maaßes ſind
die Kunſt. Und das ſahen wir an dieſem Abend.
Iffland hat ſich wieder ſelbſt übertroffen. Sehen
Sie — — Sehen Sie ihn da, Feuer und Flamme
für den Krieg, er iſt der Soldat, den er vorhin ge¬
ſpielt, ich glaube, wenn ihn Seine Majeſtät, der
König, in die Linie beriefe, ſo würde er auch da
vor den Rotten wie ein Meiſter der Kriegskunſt da¬
ſtehen. Und nun betrachten Sie, mit welcher claſſi¬
ſchen Ruhe er auch dieſes Feuer menagirt! Und vor¬
hin im Puls, das war kein Spiel, das war wieder
ein Ernſt, eine Wahrheit, eine Kunſt, die uns an
der menſchlichen Natur irre machen könnte. Ohne
Zweifel war er von den Auftritten, die nun folgen
ſollten, nicht allein unterrichtet, ſondern er hat ſie mit
arrangirt, er lebte in dem Gedanken, und wo merkte
man es ihm an! Ich habe ihn genau beobachtet.
Da war jedes Fältchen der Weſte, jeder Knopf wie
[268] ſonſt. Wie er mit der Rechten den Puls des Patien¬
ten fühlte, zählte er mit den Fingern der Linken auf
dem Rücken die Schläge. Das werden Wenige be¬
merkt haben. Er that es auch nicht für's Publikum,
für ſich, um ſich ſelbſt zu genügen. Dieſe Ruhe,
dieſe Herrſchaft über Leidenſchaft und Welt, iſt es,
was den Künſtler macht. Ich hätte nur einen Wunſch
jetzt —“


„Doch nicht, daß Iffland ſelbſt ins Feld ziehen
ſoll!“


„Nein, ich möchte ihn Talma gegenüber ſehen.
Jeder, bin ich überzeugt, würde den andern bewun¬
dern, jeder vom andern lernen wollen.“


„Franzöſiſches Feuer und ein Claſſiker im Blute!“
bemerkte ein Dritter. „Von der Colonie! ſagte der
Andre. Die beſten Preußen und gute Deutſche, und
doch alle ein tendre für Bonaparte.“


Ein Jubel und Hallo kündigte hier an, daß der
Courier ins Theater gezogen war. Noch ſahen ihn
die Wenigſten, aber Stimmen ſchrieen ſchon: „Vic¬
toria! Ein Sieg, ein ungeheurer Sieg! Hoch lebe
der König! hoch Preußen!“


Umſonſt ſträubte ſich der junge ſtaubbedeckte Mann,
dem man die äußerſte Erſchöpfung von einem ange¬
ſtrengten Ritte anſah. Sein Geſicht war blaß, nur
zuweilen von einer flammenden Röthe überflogen.
Er ſprach lebhaft, aber mit Anſtrengung zu den um
ihn Stehenden.


„Meine Herren, es iſt ein Irrthum, ich bin nicht
[269] ſelbſt der Träger der erwünſchten Nachrichten. Ich
habe vergebens draußen ſchon gegen die Auszeichnung
proteſtirt, aber man hört mich ja nicht. Meine De¬
pechen vom Miniſter Haugwitz enthalten nichts, noch
können ſie etwas von der Nachricht enthalten, die
Sie, die wir alle wünſchen, daß ſie auf Wahrheit
beruhe. Meine Depechen, wie meine eigne Kenntniß
der Dinge, ſind von Wien, von weit älterem Datum.
Ich wußte mich, um nicht aufgefangen zu werden,
auf Nebenwegen durchzuſchlagen, ich mußte weite Um¬
wege machen, und ich wiederhole Ihnen, daß es nur
ein Gerücht iſt, was ich an der ſächſiſchen Gränze
zuerſt hörte. Was verlangen Sie von mir, daß ich
es hier öffentlich mache! Ich kann nichts ſagen, als
daß ich von andern gehört, was dieſe wieder gehört.“


Die in den Logen und dem hintern Parterre
hatten natürlich nichts von dieſer Proteſtation gehört.
Uniſono ſchrie, tobte, forderte man, daß der Courier
laut ſpreche; was hier gut ſei, müſſe es für alle
ſein. „Hier ſind keine Verräther! Keine Spione.“ —
„Auf das Proſcenium!“ — „Sie müſſen jetzt, Bo¬
villard, rief Jemand, der ihn kannte, oder man läßt
es uns entgelten.“


Der Erſchöpfte ward von zwei Männern unter
den Arm gefaßt und auf die Bretter faſt hinauf ge¬
riſſen. Uebrigens herrſchte kaum ein Unterſchied mehr
zwiſchen der Bühne und dem Zuſchauerraum. Selbſt
von den angeſehenſten Damen ſtanden ſchon mehre
auf der erſteren. Schauſpieler hatten einen Altar
[270] herangetragen, der vielleicht aus der vorigen Opern¬
darſtellung noch hinter den Couliſſen ſtand. Er
diente dem Erſchöpften, der ſich von ſeinen Beglei¬
tern losgemacht, zur Stütze. Sein Auge rollte, als
ſuche er in der Luft nach Worten, während es den
Umſtehenden nicht entging, daß ſeine Glieder fieber¬
haft zitterten. Jetzt fuhr er mit der Hand über die
Stirn; um die Erinnerung zu ſammeln, glaubten
Einige, Andre verſicherten nachher, er ſei geſtanden,
als habe er ein Geſpenſt geſehen. Da rief er plötz¬
lich aus voller Bruſt: „Sieg! Sieg verlangen Sie
aus meinem Munde. — Wenn wir an uns ſelbſt
glauben, Deutſche Männer, müſſen wir ja ſiegen!
Warum nicht dort!“ — Ein Händeklatſchen, ein
brüllender Applaus: „Sieg! Ein Sieg! — Weiter!
— Wo?“ — „In Mähren, hinter Brünn — eine
Schlacht, ſagen ſie, iſt geliefert, blutig, wie keine ſeit
Menſchengedenken — drei Tage hätte ſie gewüthet —
drei Kaiſer ſtanden ſich gegenüber — drei Mal ging
die Sonne blutroth auf — am dritten —“ Alles
hörte bang, mit angehaltenem Athem, während der
Sprecher nach Luft zu ſchöpfen ſchien. — „Am dritten
hat man ihn geſehen — Bonaparte — in der Mitte
von nur drei Reiterregimentern, die ihn mit ihren
Leibern ſchützten — ſich durchſchlagend nach Baiern —
ſein Heer, ſein großes Heer —“


„Was iſt ihm!“ riefen die Nächſtſtehenden. Bo¬
villard beugte und ſtützte ſich, wie um ſich zu halten,
oder etwas zurückzudrängen, auf dem Altar. Durch
[271] die weiten Räume aber brauſte es: „Hurra! —
Victoria!“ — „Kränzt den Siegesboten!“ rief die
Fürſtin, die Treppe herauf ſteigend. „Kränzt ihn!“
wiederholten weibliche Stimmen.


Die Kränze waren da, aber das Publikum
wollte vorher den ganzen Freudenbecher ausgeſchüttet
wiſſen: „Sein Heer — wo iſt ſein Heer?“


„Fragt die Erynnien! — Eine Blutlache —“


Dieſe Worte konnte man auf dem entfernteſten
Amphitheater verſtehen, ſo ſcharf ſchnitten ſie durch
die Luft, doch ohne den ſonoren Metallklang von
vorhin. Dann hörte man einen Fall, einen Schrei
der Umſtehenden, Töne des Jammers, Einige wollten
ein Auflachen gehört haben. Sehen, was vorge¬
fallen, konnten natürlich nur die Nächſtſtehenden;
indem man, um zu ſehen, herandrängte, verbarg man
die betreffenden Perſonen. Von Mund zu Munde
ging es, der Bote der Siegeskunde war am Altar
des Vaterlandes niedergeſunken, aber mit voller Ehre.
Ein junges Mädchen, ſchön wie keine in Fiebergluth,
hatte ſich mit dem Kranz über ihn erhoben, aber als
ſie ihm denſelben auf die Stirn drückte, als er ihre
Hand ergriff, ſtürzte es ihm aus dem Munde, ein
rother Blutquell, und er war hingeſunken, ohne die
Hand loszulaſſen.

[[272]]

Sechszehntes Kapitel.
Eine Entführung.

So viel wußte man bis in die entfernteſten
Winkel, aber in der Maſſe verſchwand das Perſön¬
liche vor dem ſturmbewegten Gefühl. Man begnügte
ſich nicht mehr mit einem Händedruck, auch Leute,
die ſich nicht leiden mochten, ſtürzten ſich in die
Arme: „Das Vaterland iſt gerettet!“ — „Zuge¬
ſchlagen. Nun ihm das Garaus gemacht!“ — „Drauf
los! — Tod allen Franzoſen!“


„Davon werden ſie auch nicht ſterben!“ brummte
der Officier, welcher vorhin York genannt wurde, der
ſich jetzt Luft nach dem Ausgange machte, während
die Tücher der Damen ihm faſt um die Ohren ſchlu¬
gen: „Wenn überhaupt die Geſchichte wahr iſt.“


„Sie ſtießen, ſagte ſein Begleiter, den armen Herrn
Merkel beinahe um, der die Nachricht friſch aufnotirt,
um ſie noch warm in ſeinen Freimüthigen zu ſetzen.“


„Hol' ſie alle —“ entfuhr es dem Oberſt, als
ſeine Aufmerkſamkeit durch eine andere Scene in
Anſpruch genommen wurde.


[273]

Walter van Aſten führte ſeine Couſine durch
das Gedränge. Einer der jüngeren Offiziere, deren
Geſchwätz der Oberſt vorhin durch ſeinen zornfun¬
kelnden Blick zum Schweigen gebracht, benutzte den
Augenblick, wo Walter ſich bückte, um den Pompadour
aufzuheben, der dem jungen Mädchen aus der Hand
gefallen war. Er drängte ſich zwiſchen beide und
wußte den Arm der Dame in ſeinen zu ſchieben:
„Mein ſchönſtes Fräulein, Sie hatten einen Führer,
der den Weg nicht kennt. Erlauben Sie mir, daß
ich Ihnen den nächſten zeige.“


Minchen Schlarbaum's Arm hing wirklich am
Arm des Offiziers, als ob es ſo ſein müſſe, aber
ihr Mund öffnete ſich ſo weit als ihr Auge groß
ward. „Mein Gott, verzeihen Sie, das iſt ja
mein —“


„Ihr Pompadour,“ fiel der Cornet ein. „Da
— nehmen Sie ihn raſch. Ich hoffe, daß der —
Herr da ihn für Sie aufgelangt hat.“


„Und ich, Herr Cornet von Wolfskehl, hoffe,
ſagte Walter, daß Sie nur in der Trunkenheit der
Freude meine Couſine mit — Jemand Ihrer Be¬
kanntſchaft verwechſelt haben. Für eine andre Trun¬
kenheit würde ich Rechenſchaft fordern.“


„Was! — Spricht da einer von Rechenſchaft —
ich habe mich wohl verhört,“ näſelte der Cornet zu
den Cameraden, die ſtill lächelnd in der Nähe ſtan¬
den, als er ſchon Walters Hand an ſeinem Arm
fühlte. Es war noch eine ſanfte Berührung.


III. 18[274]

„Ich, Cornet Wolfskehl, ſagte Walter in einem
Tone, der noch dem Druck ſeiner Hand entſprach.
Auf der Stelle erſuche ich Sie ſo höflichſt als drin¬
gend, Ihrer Wege zu gehen, da ich meinen vollkom¬
men kenne, den ich gehen muß und werde, wenn
Sie den Platz nicht augenblicklich verlaſſen.“


„Herr — fuhr der Cornet auf — wer ſind Sie
in drei —“ und hatte doch den Arm der Dame
fahren laſſen. Walters Blick hatte etwas herriſch
durchdringendes. Auch auf den übermüthigen Jüng¬
ling hatte er unwillkürlich einen Eindruck gemacht.


„Jemand, dem es leid thäte, ſich an dem Rock
des Königs vergreifen zu müſſen, der aber keinen
Augenblick zaudern würde, wenn — jemand, der nicht
der Ehre werth iſt ihn zu tragen, darunter ſteckte.“


„Was! — Unterfängt ſich die Ca —“


„Halt!“ donnerte die Stimme des älteren Of¬
ficiers dazwiſchen. „Meine Herren Officiere, wenn
der Civiliſt da zu dem Frauenzimmer gehört, iſt er
im Rechte.“


Dulden wir das! ſchien der zu den Cameraden
gewandte Blick des Cornets zu ſprechen.


„Herr Obriſt, er hat unſre Uniform berührt.“


„So wird er Ihnen Rede zu ſtehen haben,
warum,“ entgegnete der Obriſt.


„Herr Jeſus, um Gottes Willen keinen Scan¬
dal! ſchrie Minchen Schlarbaum. Da iſt ja Herr
Profeſſor Catel, der kennt meinen Couſin.“


In dem Augenblick ward aber die Aufmerkſam¬
[275] keit wieder auf den allgemeinen Gegenſtand der Theil¬
nahme gelenkt. Wie wenn ein Vorhang zu beiden
Seiten aufrollte, hatten ſich die Perſonen, welche um
den Courier geſtanden, nach beiden Seiten vertheilt,
um der ſtürmiſchen Forderung des übrigen Publikums
zu genügen. Bovillard lag auf dem Boden, das
umkränzte Haupt vom Theaterarzt geſtützt, während
ſeine ausgeſtreckte Rechte die Hand des jungen Mäd¬
chens noch immer gefaßt hielt, welche den Kranz ihm
aufgedrückt. Dieſe kniete, entweder durch ihre Lage
dazu genöthigt oder aus eigener Bewegung, daneben.
Von der Fieberröthe fluthete nichts mehr auf ihrem
Geſicht; es war todtenblaß, nur die großen ſchönen
Augen ſtarrten auf den Jüngling zu ihren Füßen.
Sie ſelbſt ſchien der Hülfe zu bedürfen, denn die
Fürſtin hielt ſie umfaßt. Die Wallenſteinſchen Krie¬
ger, auf ihre langen Degen geſtützt, ſtanden im Halb¬
kreis wie eine Wache. Es war nicht Arrangement,
es hatte ſich von ſelbſt ſo gemacht. Wer den Reſt
Spiritus auf dem Altar entzündet, deſſen blaue
Flammen ſpärlich durch das Halbdunkel der verlöſchen¬
den Oellampen in die Höhe leckten, iſt nie ermittelt.


Der Anblick war überraſchend, das erſte Schwei¬
gen des Publikums verrieth, daß es den Sinn und
Zuſammenhang nicht begriff. Es wußte nicht, ob es
noch jubeln dürfe, ob trauern ſolle? Eigentlich
wußte es Niemand; was ſeit letzt geſchehen, ging
über alles Arrangement hinaus, bis die Gefühle
der Einzelnen, wie kleine Blutadern in einem großen
18 *[276] erſtarrten Körper, pulſirten. Die Theilnahme war
verſchieden. Eine Stimme rief aus der Mitte heraus:
„Ah c'est pittoresque! C'est vraiment antique et
classique!“

„Aber er ſtirbt ja wirklich!“ ſchrieen Andere.


Der Claſſicismus mußte in dieſer Verſammlung
noch eingewurzelt ſein, denn es fand ſich Jemand,
der ſeine Zuhörer an das erhabene Beiſpiel aus dem
Alterthum erinnerte, wo der Bote einer Siegesnach¬
richt im Augenblick, wo er ſie überbrachte, aus Er¬
ſchöpfung zu den Füßen ſeiner Mutter todt nieder¬
ſtürzte, und die Mutter ward um deshalb als die
glücklichſte Frau im ganzen Hellas geprieſen.


Herr Herklotz, der Theaterdichter, man vermuthet,
daß er es geweſen, hatte mit Iffland einige Worte
geflüſtert, und dieſer, heute in andauernder Aufre¬
gung, hatte ſchon den breitkrämpigen Hut gezogen,
und war an die Lampen getreten zu einer neuen pa¬
triotiſchen Anſprache, muthmaßlich aus jener Ver¬
gleichung geſchöpft, als Major Eiſenhauch ihn ſanft
am Arm faßte:


„Um Gottes Willen, Herr Director, bedenken Sie,
da iſt der Vater des Sterbenden.“


Der Geheimrath Bovillard, in einem Geſpräch
mit St. Real begriffen, hatte erſt ſpät ſeinen Sohn
erkannt. „Mais enfin, grand Dieu, c'est donc mon
fils!“
rief er händeringend zu denen, die ihn abhal¬
ten wollten, ſich auf die Bühne zu ſtürzen, und ar¬
beitete ſich durch das Gedränge.


[277]

„Mais, mon cher conseiller, rief der Geheim¬
rath Lupinus, der, ſeinen Arm unterfaſſend, ihm
nacheilte, il ne mourra pas. Nous admirons ce ra¬
vissement d'amour paternel suprême. Oh! c'est
touchant. Mais considérez, mon ami, votre état et
surtout votre caractère. Vous êtes philosophe! —
Et il ne mourra pas, assurément, ce n'est qu'un
échauffement passager. C'est jeune homme, un
épanchement patriolique, l'amour paternel le
guérira!“


Es arbeitete ſich noch Jemand während deſ¬
ſen durch das Gedränge, doch mit einem andern
Ungeſtüm. Auch nach ihm ſtreckten ſich unwillkür¬
lich Arme aus, als wollten ſie ihn zurückhalten.
Weshalb Walter van Aſten plötzlich dem Officier,
dem er noch eben die Zähne zu weiſen ſo große Luſt
gezeigt, den Rücken gekehrt, weshalb er ſeine Couſine,
zu deren Schutz er aus ſich ſelbſt herausgeſchritten
ſchien, ſtehen ließ, weshalb er unbekümmert um beide
ins dichteſte Gewühl ſich geſtürzt, daß er im nächſten
Augenblick ihnen allen verſchwunden war, das wu߬
ten die freilich am wenigſten, welche ſich am laute¬
ſten darüber verwunderten. Ein Hohngelächter der
Officiere brach plötzlich aus. Der Obriſt drückte
verächtlich den Hut auf die Locken: „Iſt's ein ſol¬
cher, ſo laſſen Sie den Patron nur laufen.“


„Er hat vielleicht Jemand geſehen, der ſeiner
Hülfe noch mehr bedarf,“ antwortete Profeſſor Catel
auf Minchen Schlarbaums erſtaunten Blick, und bot
[278] ihr raſch ſeinen Arm, während die Officiere zu einer
Art Kriegsrath zuſammengetreten waren.


„Redeſtehen!“ — „Nimmermehr.“ — „Die
Peitſche dem Poltron!“


„Meine Herren, ſagte der Obriſt im Abgehen,
wenn er den Rock des Königs angefaßt und ſich
falvirt hat, ehe er Rede ſtand, ob er nicht nur einen
Fleck drauf abklopfen wollte, ſo ſchickt ſichs weder
Satisfaction von ihm zu fordern, noch für Sie den
Bütteldienſt zu übernehmen. Das iſt nun meines
Erachtens allein Sache der Polizei und der Juſtiz,
und vor der Hand können Sie's ruhig einem Wacht¬
meiſter und Sergeanten überlaſſen. Empfehle mich
Ihnen.“


Der Geheimrath Bovillard hatte ſich über ſei¬
nen kranken Sohn werfen wollen, aber vernünftige
Freunde ihn zurückgehalten, weil es ſich mit ſeiner
Würde nicht vertrage, weil das vor dem Theater-
Publikum eine Scene aufführen hieße, weil ſein
Sohn in keiner Lebensgefahr ſei, weil jeder Affect
die Lage deſſelben verſchlimmern könne. Der Ge¬
heimrath Bovillard war den vernünftigen Vorſtellun¬
gen zugänglich, und für den öffentlichen Anſtand hatte
er immer das feinſte Gefühl.


Um ſo beſſer, als man ſeinen Sohn bereits auf
demſelben Ruhebett, auf welchem bei der Darſtellung
des Puls der kranke junge Graf gelegen, fortgetra¬
gen hatte. Dabei mußte ſich noch einiges ereignet
haben, was die Umſtehenden beſchäftigte. Man hatte
[279] ſeine Hand aus der des jungen Mädchens losreißen
müſſen, ſo feſt hielt er ſie gefaßt. Sie war darauf
— von der Anſtrengung und dem phyſiſchen Schmerz,
ſagten die Verſtändigen, zu Boden geſunken. Ob
in einer Ohnmacht oder einem Starrkrampf, darüber
ſtritt man; die zum letzteren hinneigten, behaupteten,
ſie ſei ſchon vorhin, als ſie noch aufrecht ſaß, in
einem Starrkrampf geweſen. Andere vermutheten
noch Anderes, und Iffland flüſterte zu Bethmann:
„Ich beſorge, daß man uns auf unſerem Grund
und Boden eine Komödie aufgeführt hat, während wir
hier dem Publikum einen Ernſt vorſpielen wollten.“


Während er lauter als nöthig Anordnungen
gab, den Vorhang fallen zu laſſen, und deutliche
Winke, daß es Zeit wäre das Schauſpielhaus zu
räumen, erhob ſich ein neuer Lärm im Orcheſter.


„Als hätte ſich heut Alles gegen unſere Ord¬
nung verſchworen!“ rief Iffland, von daher zurück¬
kehrend.


„Gönnen Sie der Freude etwas Tumult, Herr
Director.“


„Ein Civiliſt hat ſich gegen einen Officier ver¬
gangen. Sie arretiren ihn eben. Als ob ein Tag,
der in Allen nur einen Gedanken hervorrufen ſollte,
zur Aufwärmung dieſer leidigen Streitigkeiten zwi¬
ſchen den Ständen geeignet wäre.“


„Es ſoll ſonſt ein ganz anſtändiger Menſch ſein.“


„Deſto ſchlimmer, rief Iffland. Wenn die
Vernünftigen nicht einmal ihre Affecte am Altar des
[280] Vaterlandes zügeln! Was erwarten wir dann vom
Pöbel!“


„Die Affecte werden immer ihr Recht behal¬
ten, erwiederte Herr von Fuchſius. Und wenn
Ihr eine Staatsordnung auf Menſchen ohne Leiden¬
ſchaften und Schwächen bauet, ſo habt Ihr auf Sand
gebaut. In einer Zeit, wie unſre, Herr Director,
hilft uns nur, wenn wir den Affecten alle Schleuſen
öffnen. Der Organismus iſt zu ſyſtematiſch ver¬
ſchlammt. Die Künſte der Ordnung reichen nicht
aus. Nur ein Ueberfluthen des Stroms kann uns
aus der Lethargie erretten.“


„Wenn ſie ſich zanken, iſts doch ein Beweis,
daß ſie noch leben!“ ſetzte Major Eiſenhauch hinzu.


„Sie lebt! ſagte der Arzt, welcher für Adel¬
heid herbeigerufen war und noch immer ihren Puls
hielt. Ihr Leiden ſcheint mir nur pſychiſch; eine
Folge von zu lange verhaltenen Gemüthserſchüt¬
terungen. Nach dem Zwange rächt ſich die Na¬
tur. Die äußerſte Ruhe thut ihr zunächſt noth.
Auf die Bretter aber, dünkt mich, gehört die Kranke
nicht.“


Damit war vor Allen Herr Iffland einverſtan¬
den. Er hatte bereits eine Portechaiſe kommen laſſen.
Zwei Soldaten, noch in Wallenſteinſchen Waffen¬
röcken, verſprachen rüſtige Träger zu ſein.


„Aber wohin?“ fragte der Director, nachdem
Adelheid unter Beihülfe des Arztes und der Fürſtin
in die Portechaiſe gehoben war.


[281]

„Gleichviel! In das nächſte befreundete Haus,“
ſagte der Arzt.


„Das iſt mein Hotel.“ Die Fürſtin gab, nach¬
dem ſie einen ſchnellen Blick nach der Geheimräthin
geworfen, die nöthigen Anweiſungen: „Leiſe aufge¬
treten, keine Erſchütterung. Für einen guten Lohn
verpflichte ich meinen Kammerdiener.“


Die Lupinus ſah weder den Blick, noch die Ab¬
führung der Portechaiſe. Eine Reihe rieſiger Pap¬
penheimer hatte eine Wand dazwiſchen gebildet. Aber
auch ohne dieſe Kuiraſſiere würde ſie in dem eifrigen
Geſpräche mit dem Legationsrath es ſchwerlich ge¬
ſehen haben. Er hatte ſie ſchon vorhin faſt mit un¬
ziemlicher Heftigkeit bei der Hand ergriffen und in
die Couliſſen gezogen.


„Ich verſtehe Sie nicht. Sie ſelbſt drangen
darauf, daß ich kündigen ſollte.“


„Und heut bietet Moldenhauer fünf Procent, wenn
Sie die Kündigung zurücknehmen. Schlagen Sie
ein! wiederhole ich. Jede Hypothek 20,000 Thaler!
Bedenken Sie! Einen ſo unerwarteten Gewinn! Sie
wären raſend, ihn von der Hand zu weiſen.“


„Aber wenn die Kapitale ſelbſt darüber ver¬
loren gehen! Noch geſtern ſchrieben Sie mir:
Kündigen Sie.“


„Noch vor einer Stunde hätte ich es gethan.“


„Und jetzt, — wo Preußen losſchlagen muß —“


„Es ſchlägt nicht los.“


„Napoleon vernichtet iſt —“

[282]

„Er iſt nicht vernichtet.“


„Trägt ein Ariel Ihnen Botſchaften durch die
Luft?“


„Ja, in Geſtalt einer Taube, die zu Herrn
von Marvilliers auf Laforeſt Hinterdach niederflog.“


„Die Schlacht —“


„Iſt geliefert, flüſterte er näher an ſie tretend
ihr ins Ohr. Das Blut floß in Strömen. Die
Ruſſen total geſchlagen, Oeſtreich verloren, dem
Sieger auf Gnade und Ungnade überliefert —“


„Entſetzlich! Wo? — Wie?“


„Wenn man den Namen in dem raſch ge¬
kritzelten Zettel richtig lieſt, heißt es Auſterlitz, wo
Europas Schickſal entſchieden ward. — Die Schlu߬
folge überlaß ich Ihnen.“


„Und dieſe Menſchen in ihrem Siegesrauſch!“


„Was gehen dieſe Menſchen Sie an! Denken
Sie an ſich, und ergreifen, was der Moment Ihnen
bietet. Es wäre möglich, daß Moldenhauer ſchon
morgen Mittag den wahren Verlauf erfährt. Des¬
halb beſchied ich ihn auf morgen früh zu Ihnen.
Ein Notar iſt avertirt, daß wir ihn auf der Stelle
rufen. Moldenhauer wird Sie als Engel ſegnen,
denn er hält ſich als Kaufmann ruinirt, wenn Sie
auf die Kündigung beſtehen. Sie zaudern natürlich
etwas, bis —“


„Und wenn wir uns doch verrechneten!“


„Das Einmaleins iſt nicht unerſchütterlicher
als der moraliſche Egoismus der Staatskunſt. Stürzt
[283] ſich das Lamm in den Rachen des Löwen, der vom
Blute der Hunde träuft?“ —


„Aber —“


„Wird, kann, darf Preußen jetzt losgehen? Das
frage ich Sie, und es bedarf nicht Ihres Scharfblicks,
um ein entſchiedenes Nein zu antworten. Selbſt
wenn dieſe Mannequins nicht am Ruder ſäßen, ein
entſchloſſener, zornſprühender König auf dem Throne
— jetzt wäre es Thorheit — Thorheit iſt Alles —
aber es wäre mehr als das — Verbrechen, Wahn¬
ſinn — es iſt eine Unmöglichkeit.“


„Doch Napoleon könnte —“


„Aber wird nicht. Er iſt zu vorſichtig, um die
Verzweiflung herauszufordern, und zu geſchwächt durch
ſolchen Sieg, um auf einen gerüſteten Staat ſich zu
werfen; zu klug, um nicht andre Vortheile von
einem Feinde zu erpreſſen, der die Dummheit hat,
an einem politiſchen Gewiſſen zu laboriren, und das
Unglück, daß es ihn drückt. Wenn der Löwe ſatt vom Blut
iſt, läßt er die Lämmer weiden, und ſpielt auch mit
ihnen, daß ſie zutraulich werden, bis er wieder
Hunger bekommt. So weit dürfen wir nicht rechnen.“


„Es wird dunkel!“ rief die Geheimräthin; man
fing an die Lampen auszulöſchen. — „Mein Gott,
wo iſt Adelheid?“


Der Wachtmeiſter aus Wallenſteins Lager war
ihr entgegen getreten. „Beruhigen Sie ſich, Madame.
Die Demoiſelle iſt in ſichrer Obhut fortgebracht, die
Frau Fürſtin Gargazin —“

[284]

„Hat ſie Ihnen am Ende entführt,“ lachte
Wandel.


Ein Kammerdiener der Fürſtin ſtand in der
Couliſſe, um der Geheimräthin die Thatſache, nur
mit andern, ſchöneren Worten zu melden, und wenn ſie
es für nöthig fände, die Kranke zu beſuchen, das
ganze Hotel zu ihrer Dispoſition zu ſtellen. Ein
Zuſatz lautete indeß, daß die Aerzte jeden Beſuch
für lebensgefährlich beim Zuſtande der Kranken
erklärt.


Als die letzte Spiritusflamme auf dem Altar
aufzückte, ging die Geheimräthin an Wandels
Arm raſch fort. Sie ſtanden am Ausgang. Links
führte der Weg zur Fürſtin, rechts nach der Jäger¬
ſtraße.


„Sie iſt Ihnen entführt. Wollen Sie ihr nach¬
laufen? Mich dünkt, es iſt heute genug Komödie
geſpielt. Ueberlaſſen Sie das ſolchen, die zu nichts
Beſſerem taugen. Wozu einen Schmerz heucheln, den
Sie nicht empfinden. Mich dünkt, Sie könnten dem
Himmel danken, wenn Sie das Mädchen auf die
Weiſe wirklich los werden.“


„Aber was wird die Welt ſagen?“


„Die hat fürs erſte anderes Spielzeug. Nachher
findet ſich leicht eine plauſible Fabel.“


Die Geheimräthin ging nicht in das Hotel der
Fürſtin.


Das Publikum drängte hinaus. „Herr Profeſſor
Catel, ſagte Merkel triumphirend, werden Sie uns
[285] übermorgen wieder eine neue ſpaniſche Fabel von
Yriarte in der Voſſiſchen bringen?“


„Herr Doctor Merkel, erwiederte Catel, wenn
nur nicht Ihre deutſche Wahrheit, die aus Ihrer
Brieftaſche heraus will, bis ſie in den Freimüthigen
kommt, zur Fabel wird!“


„Halt! Halt! rief eine Stimme am Ausgange.
Das Wichtigſte“ — „Was denn?“ — „In der ro¬
mantiſchen Unruhe vergaß man die Ankündigung,
was morgen gegeben wird.“ —


Es war ein Häuflein Muthwilliger, das überall
die Gelegenheit zur Unruhe willig ergreift. „Ordnung
muß ſein, trotz der Politik!“ — „Theater muß hier
ſein, wenn auch draußen Schlachten ſind.“ Man
pochte und ſchrie: „Die morgende Vorſtellung! Raſch,
fix raus.“ Ein Unterbeamter des Theaters blickte
ſcheu durch die Couliſſen, und erklärte demüthig
einem hochverehrten Publikum: Herr Director Iffland
und alle Regiſſeure hätten ſich ſchon entfernt, ohne
eine Anweiſung hinterlaſſen zu haben. Das vermehrte
erſt den Lärm, das Publikum wollte ſein Recht. Plötzlich
ſprang ein junger elegant gekleideter Mann vom Par¬
terre auf die Bühne, verneigte ſich und ſprach:


„Morgen: „„Man ſoll den Tag nicht vor dem
Abend loben, Originalluſtſpiel aus dem Fran¬
zöſiſchen in drei Akten.““ Hierauf: „„Heute roth, morgen
todt, politiſche Burleske in einem Akt.““ Zum Schluß:
„„Ende gut Alles gut, Schauſpiel aus dem Eng¬
liſchen des Shakſpeare.““

[286]

Applaus begleitete das Impromptu. Es war ein
Kammergerichts-Referendarius, man nannte ſeinen
Namen. Seine Freunde jubelten über den Genie¬
ſtreich. Es gab viel Gerede darüber in allen Cirkeln
der Stadt. Aeltere Männer, die Räthe des Gerichtes,
ſchüttelten den Kopf: In dieſem politiſchen Treiben
ginge Sitte und Ordnung zu Grunde.

[[287]]

Siebzehntes Kapitel.
Die Patrioten trennen ſich.

„Was thun Sie, Herr von Eiſenhauch!“


„Was die Ehre mir gebietet.“


„Keine Uebereilung, die Sie bereuen könnten.“


„Ich bereue nur, daß ich zu lange vertraut.“


„Wenn jetzt die Freunde des Vaterlands zu¬
rücktreten —“


„Wer ſagt, daß ich zurücktrete, Herr von Fuch¬
ſius!“ Der Major hielt in der Arbeit inne, die ihn
ganz zu beſchäftigen ſchien. Er packte haſtig an
einem Felleiſen, während ein anderes ſchon vom Die¬
ner zur Thür hinausgetragen ward. Waffenſtücke,
Hut und Mäntel hingen umher und zwei Pferde
ſtampften am Hauſe vor einer leichten Reiſekaleſche.
Es ſchien nichts Heimliches, was hier verhandelt
ward, denn der Major mäßigte nicht ſeine Stimme,
wenn die Diener eintraten, noch ſprach er leiſer,
wenn ſie die Thür beim Fortgehen offen ließen.


„Wer ſagt, daß ich zurücktrete! Ich verzweifle
[288] nicht an unſrer Sache, mein Herr, auch noch nicht an
unſerm Vaterlande, und ich verzweifle auch nicht
an dieſen hier, denn man kann nur verzweifeln, wo
man noch hoffte.“


„Major —“


„Nicht mehr in preußiſchem Dienſt. Meinen
Abſchied, der jetzt ausgefertigt wird, haben Sie die
Gefälligkeit und ſchicken ihn mir nach, oder ver¬
brennen ihn. 'S iſt gleichgültig.“


„Wohin?“


„Nach Oeſtreich, ſo lange noch da ein Funken
glimmt. Nach Rußland, England, Spanien, wohin
es ſei, wo Herzen ſchlagen, Männer athmen, welche
noch ein Gefühl für Schande haben.“


Fuchſius hatte die Thür zugedrückt. Es war ein
Abſteigequartier und ihm ſchien die Unterhaltung
nicht geeignet, um von andern Hausbewohnern be¬
lauſcht zu werden. Aber Eiſenhauch rief in der Ar¬
beit: „Wenn es Sie nicht genirt, was mich betrifft,
mögen Napoleons Spione Alles hören.“


„Nur ein Wort. Großfürſt Conſtantin und
Fürſt Dolgorucki ſind hier. Noch iſt nichts verloren,
Sie belagern den König, ſie dringen in ihn, daß
Preußen ein entſcheidendes Wort ſpreche.“


Eiſenhauch lachte auf.


„Lachen Sie nicht. Keine Sprache iſt hier ſo
wirkſam, als die ruſſiſche.“


„Sagen Sie, als die der Furcht. Als ich bei
Ihrem Miniſter den Abſchied forderte, drückte er mir
[289] die Hand ans Herz, wenigſtens an den Platz, wo
eins ſchlagen ſollte.“


„Und —“


„Sie kommen meinem Wunſch zuvor, verſicher¬
ten mich Seine Excellenz, denn Ihres Bleibens wäre
hier doch nicht länger. Napoleon würde Ihre Aus¬
lieferung fordern, und Sie erſparen uns durch Ihren
hochherzigen Entſchluß die Unannehmlichkeit, Sie aus¬
weiſen zu müſſen. — Von einer Uebereilung, Herr
von Fuchſius, iſt daher, wie Sie ſehen, nicht die
Rede. Ich fliehe, damit man mich nicht einſperrt,
ich mache mich bei Zeiten aus dem Staube, damit
man mich nicht verfolgt.“


Fuchſius hatte ſich, das Geſicht bedeckend, auf
das Kanapé geſetzt.


„Und doch wage ich zu behaupten, ſagte er,
während der Major im Packen fortfuhr, Sie über¬
eilen ſich. Vergönnen Sie mir, mich mit der Ruhe
gegen Sie auszuſprechen, die ich mir erſt ſammeln
muß, vielleicht als ein Produkt Ihrer Unruhe. Wo
ſchöpft nicht der Troſtloſe Troſt! — Haugwitz's Auf¬
träge, als er nach Brünn abreiſte, waren auf keine
Niederlage berechnet. Die Klugheit gebot ihm, wie
die Dinge ſtanden, zu verſchweigen, was er unter
andern Umſtänden ſprechen ſollte.“


„Und ließ ſich, ehe die Dinge ſtanden, wie ſie
ſtehen, mit einem gnädigen Zornblick nach Wien
complimentiren. Ließ ſich mit einem Schnalzen, wie
ein Hund, bei Seite ſchieben, damit Napoleon bei
III. 19[290] Auſterlitz ungeſtört ſchlagen konnte. Sah vom Ste¬
phansthurm mit einem Fernrohr nach Mähren, um
ſeine Worte abzuwiegen, je nachdem, ob er zum Sie¬
ger oder zum Beſiegten zu ſprechen hatte. Höll' und
Teufel — verzeihen Sie, mein alter Freund — ich
weiß auch, was Diplomatie iſt, aber Macchiavell iſt
ein Stümper vor ſolcher Politik. Die Reiſe nach
Mähren wird ein Brandfleck bleiben in der Preußi¬
ſchen Geſchichte, ich fürchte, er zerlöchert das ganze
Buch. Der boshafteſte Feind hätte nichts Schlim¬
meres erſinnen können. Doppelzüngigkeit iſt ein mil¬
des Wort. Doppelſinnigkeit! eine doppelte Sinnloſig¬
keit, denn man weiß heute nicht, ob uns Oeſtreich
und Rußland mehr haſſen, oder Napoleon mehr ver¬
achten muß. — Wiſſen Sie's zu vertheidigen?“


Der Regierungsrath ſagte nach kurzem Schwei¬
gen: „Nein! — Ich überlaſſe Ihnen das volle Ver¬
dammungsrecht über das, was geſchehen iſt. Aber
es iſt noch nicht Alles geſchehen!“


„Der zweite Basler Frieden ward in Schön¬
brunn geſchloſſen, zehntauſend Mal ſchmäliger als
der erſte. Wollen Sie ihn noch durch einen dritten
überbieten laſſen!“


„Der Vertrag von Schönbrunn iſt noch nicht
ratificirt, Herr von Eiſenhauch. Bis er es iſt, laſ¬
ſen Sie uns, laſſen Sie mich wenigſtens hoffen.
Wir ſollen Anſpach an Baiern abtreten, Cleve, We¬
ſel, Neuſchatel an Frankreich, und erhalten dafür das
Danaer-Geſchenk, die Erlaubniß Napoleons, uns an
[291] Hannover ſchadlos zu halten. Mein Herr, laſſen
Sie uns hoffen, daß wir dieſen Brocken, an dem der
Adler erſticken ſoll, nicht annehmen! Unſer Militair
knirſcht vor Wuth und Erbitterung, es iſt ein ſchlag¬
fertiges Heer; zum Kriege ausgerückt. Soll es ohne
Krieg zurück? Hören Sie, wie man laut ruft, von
den Prinzen und Generalen bis zu den Unteroffizieren
und Gemeinen: des Staates Ehre iſt verpfändet; die
Miniſter haben ſie verkauft, an uns iſt es, ſie wieder
einlöſen! Rußland operirt offen, geheim. Hat Oeſt¬
reich keine Stimme an unſerm Hofe? Es iſt ſtill
erbittert, wie nie zuvor. Horchen Sie durch die
Straßen, in den Wirthshäuſern, es iſt nur eine
Stimme: Noch iſt der Augenblick zu handeln! Hören
Sie in jeder Geſellſchaft, wo zwei, drei zuſammen
ſtehen, die Wuth gegen Haugwitz. Es iſt kein Tadel
mehr, es iſt ein allmächtiges Gefühl, das kaum mehr
Worte findet. Männer mit weißem Haar ſpucken
beim Namen des Mannes. Er hat Preußens Ehre
verkauft! Ein Glück für ihn, daß er nicht hier iſt.
Die Männer der Klicque getrauen ſich nicht bei hellem
Licht über die Straße; man würde —“


„Vielleicht einen Stein aufheben, rief Eiſenhauch,
den Koffer zuwerfend, aber ehe man ihn wirft, würde
man ſich beſinnen, es ſei doch vernünftiger ihn nicht
zu werfen. Der Stein könnte ja ein Loch in den
Kopf werfen und den Kopf doch nicht öffnen. Was
man würde, könnte, möchte, dürfte, das iſt alles vor¬
trefflich, was man weiß, iſt die Weisheit ſelbſt, aber
19*[292] der Haken iſt, daß man nicht thut, was man könnte,
möchte, dürfte, und daß, was man weiß, die Er¬
kenntniß zu Schanden wird an der Geſpenſterfurcht
vor dem Entſchluß.“


„Ich gebe Ihnen ja alles zu, aber jetzt iſt die
Volksſtimme wie ein Strom, der ſeine Eisdecke bricht.
Die Wuth kennt keine Zügel mehr nach dieſer Ent¬
täuſchung. Alle Wuth iſt blind, wollen Sie mir
einwerfen, aber dieſe iſt intenſiv und kritiſch zugleich.
Das iſt ein neues Symptom. Man fragt: Warum
mußte Haugwitz ſo lange zaudern? Warum reiſte er
ſo langſam? Warum ließ er ſich wie ein Junge in
Brünn behandeln? Warum wie eine petite femme,
die man bei der Schlacht nicht braucht, nach Wien
ſchicken? Was würde Friedrich zu ſolcher Vollſtreckung
ſeiner Befehle geſagt haben? Seinen Kopf hätte es
einem ſolchen Abgeſandten gekoſtet. Dem Grafen
wird es den Kopf nicht koſten, und man fragt ſchon
jetzt, warum? Man wird es immer dringender fragen.
Wie lautete ſein Auftrag, der ihm ſo zu handeln
erlaubte? Warum reiſt er ſo langſam zurück, als er
langſam hingereiſt iſt? Warum darf er blumenreiche
Zeitungsartikel in die auswärtigen Blätter ſenden,
die uns in den Wahn einlullen ſollen, ſeine Miſſion
ſei geglückt, er habe nur ausgerichtet, was ſein König
ihm aufgetragen? Wer iſt hier der Betrogene, wer
der Verräther? Klimpert franzöſiſches Geld in ſeiner
Taſche, oder iſt er der ſtumme Dulder, der eines An¬
dern Schuld heroiſch auf ſeine Schultern nimmt?
[293] Das, Major, fragt man, man fragt es laut, und
Männer fragen es, vor denen unſre Höchſten Reſpect
haben.“


„Aber was hilft die ſchärfſte Frage, auf die ich
keine Antwort bekomme?“


„Preußen ſucht zu vermitteln. — Lachen Sie
nicht. Zu anderer Zeit würde ich mit Ihnen lachen,
jetzt iſt es das einzige Mittel, um Zeit zu gewinnen.
Der König iſt rathloſer denn je in dieſem Gedränge
der Parteien und Leidenſchaften. Man hat mit Lord
Harrowby negociirt, daß die engliſche Legion, die bei
Stade gelandet, einſtweilen in Hannover nicht vor¬
rücken ſoll. Obriſt Pfuel iſt an Haugwitz geſandt;
er ſoll den Abſchluß hinhalten, er ſoll Seine Majeſtät
den König als Vermittler der ganzen europäiſchen
Wirren in Vorſchlag bringen. Er ſoll den Gedanken
an einen großen, allgemeinen Fürſtencongreß anregen,
auf dem alle ſtreitigen Fragen entſchieden würden,
und in dieſem Augenblick iſt auf dem Palais eine
Sitzung der Miniſter, die ſchon mehr als ein Mal
ſtürmiſch wurde — “


„Und in ſüßem Frieden endete,“ unterbrach
Eiſenhauch.


„Sie wiſſen davon? Ich flog nur, als ich von
Ihrem Entſchluß erfuhr, Sie aufzuſuchen.“


„Pfuel iſt zurück. Er traf unterweges den zu¬
rückkehrenden Haugwitz, und hielt, nach den Mit¬
theilungen deſſelben, ſeine Miſſion nicht mehr für
nöthig. Wird man nun Pfuel den Kopf zu Füßen
[294] legen? — Ei bewahre! Er handelte nach Rückſichten
und Intentionen, die unſer beſchränkter Verſtand nicht
begreift. Heut in der Miniſterſitzung, nachdem die
Köpfe warm geworden, man die patriotiſchſten Reden
gehört, iſt man zum Beſchluß gekommen: Kein Krieg!
Denn Krieg iſt ein großes Uebel, deſſen Folgen Nie¬
mand abſieht.“


„Widerſprach denn Niemand!“


„Sie weinten ſogar. Das treue Anſpach fahren
zu laſſen! — Nun, Baiern wird ihm auch ein gütiger
Herr ſein! — Aber Hannover den Engländern neh¬
men, unſeren beſten Verbündeten! Man tröſtete ſich
mit dem ſchönen Gedanken: es kann ja nicht immer
ſo bleiben, darum muß es einmal beſſer werden.
Einſtweilen ſoll aber alles ſo bleiben, bis — hören
Sie — bis zum allgemeinen Frieden! Dann werden
alle Völker, Fürſten, ſogar die Staatsmänner ver¬
nünftig werden. Die Engländer auch; ſie werden
um des allgemeinen Beſten willen Hannover frei¬
willig abtreten.“


Der Regierungsrath ſprang auf: „Beim Himmel,
es iſt nicht Zeit zu Epigrammen!“


„Bittre Wahrheit, liebſter Fuchſius. Der Sturm
im Miniſterrath ging in ein ſanftes Adagio aus.
Man ſchwärmte, da man nicht Muth hatte, für ſich
ſelbſt zu handeln, wie es nothwendig, für das Wohl
der allgemeinen Menſchheit!“


„Und Stein — auch Hardenberg?“


„Ueberſtimmt. Und weil ſie überſtimmt, fügten
[295] ſie ſich. Man darf doch nicht gegen den Strom
ſchwimmen. Es gab ſanfte Händedrücke, beinahe kam's
zu Umarmungen.“


„Finis Germaniae!“ ſeufzte der Rath.


„Gott bewahre! Der Fiſch Germanien kann noch
lange zappeln. Tauſend Harpunen ihm ins Herz,
ſein Blut ins Meer verſpritzt, er lebt doch, er iſt
eine geduldige Beſtie und ſchnappt immer wieder nach
jedem neuen glänzenden Köder, den ihm ein liſtiger
Nachbar hinwirft. Will er nicht, ſo braucht er nur
zu drohen, dann frißt er doch.“


„Genug! Leben Sie wohl!“


„Nein, Beſter, jetzt wird ſich erſt der eigenthümliche
Glanz der Staatskunſt entfalten. Nichts thun, und wenn
man in der Klemme ſteckt, ſich juſtificiren und glorifici¬
ren, daß man die Hände in den Schooß gelegt. Warten
Sie nur auf die herrlichen Staatsſchriften und Zei¬
tungsartikel. Das wird ſalbungsvoll riechen. Mit
Humanität und Philoſophie und Chriſtenthum wird
man dem Volk beweiſen, daß die Weisheit ſelbſt nicht
weiſer hätte handeln können. Die guten Bürger
werden ſich die Augen wiſchen vor Rührung, und
das „Heil dir im Siegerkranz“ wird noch einmal ſo
ſchön klingen, als wenn der König geſiegt hätte.
Man wird auf uns hetzen, die wir gehetzt haben, bis
das Volk es glaubt, daß wir nur ehrgeizige, unruhige
Köpfe waren. Sie glauben nicht, was dies Volk
glaubt, wenn man ihm ſagt, daß wir ſeine Fleiſch¬
töpfe am Feuer verrücken wollten. Man wird anrüchig
[296] werden, wenn es heißt, daß man zur Kriegspartei
gehört hat. Salviren Sie ſich bei Zeiten. Spitzen
Sie Ihre Feder, auch Sie werden Artikel für den
Frieden ſchreiben müſſen.“


„Nimmermehr! — Ich nehme meinen Abſchied.“


„Das hat mancher geſagt, und bleibt doch, —
aus höherer Staatsraiſon. Weshalb auch um ſolche
Bagatell, als eine Meinung iſt, ſeine Exiſtenz aufs
Spiel ſetzen!“


„Herr von Eiſenhauch!“


„Nichts Perſönliches! Gott bewahre! Die Per¬
ſonen verſchwimmen, wie die Charaktere, in dieſem
Mengelmuß. Da thut der Beſte am Beſten, wenn
er ſtill mitſchwimmt. Wo ſteht denn geſchrieben, daß
wir nicht niederträchtig denken, nicht feig handeln
ſollen? Nur einen Brei ſollen wir darum kneten,
einen Firniß des Anſtandes. — Und dann, ja
man muß ſich für eine beſſere Zukunft conſerviren.“


Der Regierungsrath blickte ihn ernſt wehmüthig
an: „Wir gingen ſo lange mit einander! Sollen
wir ſo ſcheiden!“


„Ein zerronnener Traum! Preußen hatte die
Aufgabe, Deutſchland zu retten, es hat ſich nicht
ſelbſt zu retten gewußt. Den letzten Reſt ſeiner
öffentlichen Ehre hat es geopfert, ſelbſt den Reſt
der Ehrlichkeit, auf die es ſich brüſtete, warf es in
den Tiegel.“


Der Rath ging im Zimmer auf und ab; er ſah
nicht, was auch dem Militair entging, daß ihr
[297] lautes Geſpräch einen Vorübergehenden angelockt,
der an der Schwelle der geöffneten Thür ſtehen blieb.


„Unterſcheiden Sie wenigſtens die Nation von —
denen, die Sie brandmarken.“


„Wer iſt die Nation? Wo ſitzt ſie? Wo ſchlägt
ihr Herz, wo drück ich ihre Hand? Das iſt die
ungeheure Täuſchung, daß wir dieſes Conglomerat
von Gliedern für einen organiſchen Körper anſahen.
Hier, wo alle Adern zuſammenfließen ſollen, glaubte
ich das Herz gefunden zu haben. Was fand ich!
Zwei Racen, man ſollte meinen, von verſchiedener
Abſtammung, Sprache, Hautfarbe, wie Niebuhr die
Römer ſeciren will. Zwei Racen, die ſich ausweichen,
verachten, haſſen, Militair und Civil genannt! Dies
Militair knirſcht freilich, aber was hilft uns das
Knirſchen der Maſchine mit knarrenden Rädern!
Dieſer Koloß ohne Elaſticität kann noch zermalmen,
nicht mehr retten, befreien, weil ihm der Odem fehlt.
Der Menſch, der Mann, der Bürger, ja der Ritter
ſelbſt, ging unter in der vielgelobten Disciplin. Da
ſollen wir Kämpfer, Paladine ſuchen für die
ewigen Güter der Nation, wo Gefühl dafür, Be¬
wußtſein, der feurige Wille zum Verbrechen ward!
Ein Paar elende Creaturen, gehaßt, verachtet von
Allen, ſelbſt von denen nicht geliebt, in deren Stim¬
mungen ſie ſich einhüllen, um ſie im Schlaf zu
beherrſchen, die ſind wichtiger als dieſes mächtige
Heer. Was iſt nun dieſer gewaltige ſeparirte Theil
der Nation, den man als ihr andres Selbſt im
[298] Auslande betrachtet, wenn ſein zornſchnaubender Hauch
nicht mal dieſe Lumpenmänner fortbläſt!“


„Die Nation beſteht nicht allein aus dem
Militair.“


Der Major war ſonſt kein Mann von vielen
Worten, aber, wenn eine Schleuſe geöffnet, hältſt
Du das Waſſer nicht zurück. Die Feuerſäule, die
ein Haus ergreift, ſprüht mit dem trocknen Ge¬
müll auch Gebälk und Steine in die Luft.


„Ich kenne nun auch die Andern. Durch das
Geflimmer der Worte ſah ich ihre Wahrheit. Viel
buntes Glas, einige böhmiſche Steine und wenige
Diamanten; durch die gut geſchliffenen Gläſer glänzt
es von fern wie ein Eldorado. Große Verſicherungen
und kleine Thaten, ein beſtändiges Streben nach
dem Höchſten, aber der Weg führt durch Moor und
Sandſteppen des Albernen und Frivolen. Auf Stel¬
zen vor Freund und Feind, und wenn ſie die
Thür zuſchloſſen, ſpotten und lachen ſie über ſich
ſelbſt. Gedanken, große und ſchöne, aber wie Irr¬
lichter; ſie erblaſſen ſchon auf der Lippe. Vom
Boden habt Ihr Euch gelöſt, der dürftigen Na¬
tur, die Euch der Himmel anwies. Ihr konn¬
tet wie Sturmvogel Euch andre Regionen ſuchen,
aber nun flattert Ihr, von Euren ermatteten Adlern
verlaſſen, zwiſchen Himmel und Erde und wißt nicht,
wohin. Ueberall vor Rückſichten ſcheuend, zittert Ihr
vor Eurer eignen Kraft. Um's Euch nicht zu ge¬
ſtehen, woran Ihr krankt, am Glauben an Euch
[299] ſelbſt, hüllt Ihr Euch in Wolkenpalläſte und klam¬
mert Euch an Syſteme, die beim nächſten Sturm¬
wind zerriſſen ſind. Dies Scheinleben iſt das Zehr¬
fieber, das Euren Staat vom Wirbel bis zur Zeh
entnervt. Eine angezündete Fackel wollten ſie neu¬
lich ſchleudern, ein Weltbrand ſollte es werden, aber
ſie waren zufrieden mit Kolophoniumblitzen. Da,
in den Flammenzückungen dieſes verunglückten Thea¬
terabends konnte man die ganze Miſere erkennen. —
Auf dem Theater ſollte die Welt zurecht gelegt wer¬
den, und mit Recht, denn dieſe Welt iſt nur eine
Theatervorſtellung. Man ſpielt ſich ſelbſt und iſt
zufrieden, wenn man gut geſpielt hat.“


Fuchſius hatte mit verſchränkten Armen und
verbiſſenem Munde ſchweigend zugehört. Jetzt öff¬
nete er ihn, aber, was er ſagen wollte, ſchien er raſch
zu verſchlucken. Tonlos ſprach er:


„Sie aber ſind noch nicht zu Ende, Major.
Ich erwartete, daß Ihre Philippica auch die Schlit¬
tenpartie der Gensdarmen der Nation auf ihr Schuld¬
conto ſchreiben würde.“


„Iſt denn ſeit vierzehn Tagen von Beſſerem
die Rede? Iſt Mark und Niere durchſchüttert von
der Satire des Weltgeſchickes, daß man auf den
Brettern den Krieg ſpielte, derweil er draußen im
Blute von Auſterlitz ſchon erſäuft war, daß man
über einen Sieg jubeln konnte, tagelang noch die
Blätter Lorbeern den Ruſſen zuſchmeißen, derweil in
den unterrichteten Kreiſen Jeder vom Gegentheil
[300] wußte? Nichts von Erſchütterung. Man hatte von
Wichtigerem zu plaudern: ob der Blutſturz des jun¬
gen Herrn Bovillard ein gefährlicher oder nur ein
bischen Bluthuſten war? Ob ſeine ganze Lügenpoſt
nur eine Intrigue, um ſeiner Geliebten in einer in¬
tereſſanten Situation nahe zu kommen? Ob die
Madame Lupinus im Recht iſt oder die Gargazin?
O wer da den Einblick gewönne in dies höchſt in¬
tricate wichtige Ränkeſpiel der beiden Frauen! Ob
die Lupinus, wie ihre Freunde ſagen, wirklich die
Tugendwächterin war für die hübſche Mamſell All¬
tag? Ob ſie das junge Mädchen bewacht und be¬
wahrt hat vor der Leidenſchaft für den jungen Wüſt¬
ling, und ob ſie nur in edler Entrüſtung zurückwich,
als die Sache zu einem öffentlichen Scandal um¬
ſchlug? Andre wiſſen ja wohl, ſie hätte ſie wie ein
Cendrillon behandelt, ein moraliſcher Vampyr, mit
Baſiliskenblicken das Blut der Jugend und Phan¬
taſie dem Kinde ausgeſogen, und es ſei ein wahres
Glück, daß die Fürſtin ſie ihr entriſſen, ehe das herr¬
liche Geſchöpf ein moraliſches Skelett ward. Dann
der wichtige Streit, ob ihre Ohnmacht Verſtellung
war, ein abgekartet Spiel, und ob ihr Bräutigam,
der junge Gelehrte, nicht vielleicht abſichtlich von den
Officieren gereizt worden, ob es nicht auch Intrigue
iſt, daß er ſich vergeſſen mußte, daß man ihn arre¬
tiren durfte, als er ſeiner Braut zu Hülfe ſprang?
O worüber ſondern ſich nicht die Parteien am Thee¬
tiſch: ob der junge van Aſten den Cornet wirklich am
[301] Arme gepackt oder ob er nur ſeinen Aermel berührt
hat, ob der Cornet ſich mit ihm ſchlagen darf oder —
Gott weiß was, ich weiß nur, Herr Regierungsrath,
eine Regierung iſt glücklich, die Unterthanen von ſo
ſubtilem Verſtande hat, die nach jedem Köder ſprin¬
gen, den man ihnen hinwirft. Hannibal vor den
Thoren, und ſie ſtreiten, ob die Gans in Moll oder
Dur gegakkert hat, als Vrennus ſtürmte!“


„Und das Reſultat, Herr Freiherr von Eiſenhauch?“


„Daß Deutſchland auf den Neumond hoffen
mag, auf einen Kometen, auf die Sturmbraut, mei¬
nethalben auf Napoleons Großmuth, auf Alles, nur
nicht auf Preußen.“


Fuchſius hatte ſeinen Hut ergriffen: „Wenn eine
Epidemie herrſcht, lohnt es, dünkt mich, nicht der
Mühe, zu unterſuchen, wer der Kränkſte iſt. Leben
Sie wohl. Wir ſind Alle krank, Major, ſehr krank.
Preußens Genius verzeihe Ihnen, was Sie ſpra¬
chen, wenn Sie einen geſündern finden.“


Er hörte nicht mehr die Worte, die mit ſonorer
Stimme durch die offene Thür in das Zimmer
ſchallten:


„Herr Major, eine Beleidigung, dem Staate
zugefügt, trifft auch jeden Bürger.“


Den Hut auf dem Kopfe, den Stock in der
Hand, der krampfhaft auf dem Boden hämmerte,
ſtand der Major Rittgarten auf der Schwelle. Un¬
ter ſeinen grauen Wimpern ſchoſſen die Augen zorn¬
funkelnde Blicke auf Eiſenhauch.


[302]

Beide mochten ſich als Hausgenoſſen kennen,
ohne in nähere Berührung getreten zu ſein.


„Was ich ſprach, war nicht an Major Rittgar¬
ten gerichtet.“


„Noch hoffe ich, daß Sie den Einwand machen,
daß er bei offener Thür Sie belauſchte.“


„Was iſt Ihr Wunſch?“


„Der Staat, den Sie geſchmäht, kann nicht von
Ihnen Rechenſchaft fordern. Ich fordere ſie, ein alter
Militair, der unter Friedrich focht und bald dahin geht,
wo ſein großer König ſie von ihm fordern wird.“


Mit dem Mitleid der Achtung blickte der jün¬
gere Militair den älteren an: „Ich ehre Ihren
Schmerz und achte Ihren Muth; beide aber nicht
als Legitimation, den Handſchuh für ein Etwas mir
zuzuwerfen, was Sie nicht perſönlich betrifft.“


„Sie haben das Preußiſche Militair beleidigt, die
Ehrenkränkungen meiner Brüder nehme ich auf mich. Sie
haben das Preußiſche Volk geſchmäht, dies treue, gute,
rechtliche Volk. Sein Blut rinnt, wenn auch langſam,
doch zu heiß noch in meinen Adern, um mit dieſem unge¬
rächten Fleck vor meinen König zu treten. Ihre Antwort?“


„Nur eine Frage: war, was ich ſagte, unwahr?“


„Zu der Frage haben Sie kein Recht. Sie ſind
nicht Richter. Nicht unter dieſem Dache, nicht auf die¬
ſem Boden, der ſie gaſtlich aufnahm, dürfen Sie das
Volk ſchmähen und den Fürſten, dem das Volk ver¬
traut. Und wenn ich Ihnen antwortete, verſtehen
Sie meine Sprache nicht.“

[303]

„Das klingt als wirkliche Herausforderung!“


„Die es iſt.“


„Eh' der Verklagte antwortet, muß er die Klage
kennen. Treten Sie für jene Officiere ein, die ich
meinte? Vertreten Sie jene Eitlen, Schwachen,
Nichtigen — “


„Ich ſagte Ihnen darauf ſchon meine Meinung.“


„Aber unter Ehrenmännern, ehe man zum äußer¬
ſten Ernſt ſchreitet, ſucht man Verſtändigung über
das, worüber der Streit iſt. — Sie haben mich vor¬
hin angehört, ich ſprach im Zorn. Laſſen Sie mich
jetzt auch Sie anhören, ich will auch Ihren Zorn
ruhig hören.“


„Kennen Sie unſer Volk? Wenn Sie an einem
Kranken ſeine Geſchwüre zählen, kennen Sie darum
ſein Herz und ſeine Nieren? — Wer juſtificirt und
glorificirt ſich denn in ſeiner Schande? Das Preu¬
ßiſche Volk etwa? — Wer ſchreibt die ſalbungsvoll
duftenden Staatsſchriften? — Söldlinge, oft Fremd¬
linge, die das Volk aus Grund der Seele verachtet.
Wen treffen Ihre Epigramme? Spielen die braven
Herzen, die in Pommern und Oſtpreußen, in Schle¬
ſien und Weſtphalen für des Vaterlandes Ehre
ſchlagen, in Berlin Theater? Sie zucken die Ach¬
ſeln! Wo haben Sie es gefunden, daß das Volk
niederträchtig denkt und feig handelt? Sie ha¬
ben nicht herausgehört das ſtumme Zähneknirſchen,
die blutenden Herzſchläge, als ſie den letzten Reſt,
wie Sie meinen, ſeiner Ehre und Ehrlichkeit in den
[304] Tiegel warfen. Die warfen hinein als ſchlechte Ver¬
walter, was ſie aufgegriffen. Aber nicht die Herzen
des Volkes. Die hat es ihnen nie zum Aufbewah¬
ren gegeben, die hat es aufgehoben für eine beſſere
Zeit. Es iſt kein Reſt da, ſage ich Ihnen, der volle
Stock von Ehre und Ehrlichkeit liegt noch in unſrer
Bruſt. Wer iſt die Nation, wo ſitzt ſie, fragen Sie?
Wer hat ſie denn ſchon aufgeſucht in ihrem Heilig¬
thum? Wer hat denn ſchon dies Volk gefragt, wer
hat es gerufen? Der große Kurfürſt einmal, und
da kam es, Friedrich rief es ſieben Mal, und ſieben-
Mal ſtand es da mit Gut und Blut. Dieſe — ha¬
ben es nicht gerufen, weil ſie es nicht wagen, ſie
zittern vor dem Geiſt, den ſie aufrufen könnten, vor
dem ihre Erbärmlichkeit in Staub und Spreu ver¬
ſänke. Aber rufen ſie es einmal, bei dem rechten
Namen, auf den es hört, mit dem rechten vollen
Ton, der in Mark und Nieren ſchmettert, und es
kommt. Dann, mein Herr, gebe ich Ihnen mein
Wort, wird es nicht vor Denen ſcheuen, die ſeine
Fleiſchtöpfe verrücken wollen; es wird glauben, ja,
nicht an die ſchönen duftenden Reden der Herren am
Ruder, an ſeine Beſtimmung wird es glauben, an
die Stimme der großen Fürſten aus der Gruft, und
ſelbſt wird es ſeine Fleiſchtöpfe ausſchütten für Alle,
die für das Vaterland ſtreiten wollen!“


Eiſenhauch machte eine Bewegung, als wolle er die
Hand des Veteranen ergreifen. Aber dieſer blieb in ſei¬
ner feſten Stellung; die Hand umklammerte den Stock.


[305]

„Wir ſind ein ander Geſchlecht, fuhr er ruhi¬
ger fort, als Sie draußen; ja es iſt ſo, das Warum
kümmert Sie und mich heut nicht. Wenn wir
krank wurden, können wir uns nur ſelbſt heilen;
Ihre Aerzte thun es nicht, ſie verſtehen unſre Na¬
tur nicht. Aber etwas, mein Herr, ſollten Sie ken¬
nen. Die Blätter der Geſchichte lehren es. Wenn
wir am tiefſten erniedrigt ſchienen
, die Welt
uns verloren gab
, dann grade ſchnellten
wir in Jugendkraft zur vorigen Große
.“


„Wem gab denn die Natur ewige Jugend!“


„Sie ſagen, wir haben uns vom Boden gelöſt,
auf dem wir wuchſen, und flattern haltlos zwiſchen
Himmel und Erde, weil wir nicht Muth haben, vorwärts
ins Blaue uns zu ſtürzen. Ich geb's Ihnen zu. Aber
wir haben Vertrauen; noch haben wir's, Herr Major.
Der Fürſt vertraute dem Volke, das Volk dem Fürſten.
So lange das Band hält, iſt Preußen nicht verloren.
Wie oft traten Retter auf, als die Noth am größten,
die Klügſten keine Ausſicht ſahen, die Muthigſten ver¬
zweifelten. Man ſagt, daß der große König Gift
in ſeinem Ringe trug. Gebraucht hat er es nicht.
Nicht bei Collin, nicht in der Nacht von Hochkirch,
nicht, als er mit ſeinem Häuflein, wie der Manns¬
felder durch ſeine Staaten irrte. In ſich ſelbſt und
aus der Verwüſtung heraus fand er ſich wieder. Und
in welcher andern Wüſte rettete, ſchuf der Große
Kurfürſt ſeinen Staat! Wo überall, wie von Gott
geſchickt, unerwartet, der David auftrat, der die
III. 20[306] Goliath niederwarf, wo dieſe Rettungen aus Zerwürfniß
und Elend recht eigentlich die Quinteſſenz unſerer
Geſchichte ſind, warum da glauben, daß ſie jetzt zu
Ende ſind? Warum nicht feſthalten an dem, daß zur
rechten Zeit der rechte Mann ſich wieder einfindet.
Wir ſind jetzt erniedrigt, ja, dupirt vor aller Welt,
vor uns ſelbſt am meiſten, ein Sumpf von Fäulniß,
überdeckt mit einem Flimmer von Eitelkeit und Hoch¬
muth — aber es gab noch verwüſtetere Geſchlechter
vor uns, und Gott gebe, daß nicht noch verwüſtetere
nach uns kommen.“


Eiſenhauch ſah, einen Schritt zurücktretend, dem
alten Mann feierlich in's Geſicht:


„Sie fordern von mir Genugthuung?“


„Und mitleidig blicken Sie auf meinen ſchwa¬
chen Arm. Wenn er den Degen nicht mehr führen
kann, iſt er doch noch ſtark, um die Piſtole zu heben,
und ſtark genug iſt der Greis, mein Herr, der Mün¬
dung Ihres Feuerrohrs in's Auge zu ſehen.“


Eiſenhauch hatte ein Piſtolenpaar in der Hand,
aber er warf ſie in den Kaſten:


„Ich nehme Ihre Forderung an, aber — für
ſpäter
. Jetzt haben andere Miſſionen das Vorrecht.
Mein Herr, ein großes Schlachtfeld breitet ſich vor
uns aus. Ob morgen, ob nach Monaten, ob nach
Jahren die Hunderttauſende, zum Morden bereit,
ſich gegenüber ſtehen, darauf kommt es nicht an.
Aber es muß kommen. Geblutet muß werden, ge¬
brannt, vertilgt, und der Sturm muß fegen durch
[307] die verpeſteten Winkel. Fragen Sie ſich, die Hand
auf der Bruſt, ob's die Winkel allein ſind, ob das
Miasma nicht auf den Heerſtraßen weht, in den
Schlöſſern und Städten, ob's in den Schreibeſtuben
und Wachtſtuben die Bruſt dem Redlichen nicht zu¬
ſammenſchnürt. Draußen im Reiche iſt es zuſam¬
mengebrochen. Was da liegt, faul und morſch, je¬
dem Kinde iſt's klar. Hier iſt noch ein gleißender
Firniß darum. Aber reißt die Schale ab, Herr, Sie
zittern ſelbſt, Sie ahnen oder Sie wiſſen, was dar¬
unter, ich will nicht noch einmal Ihren Schmerz ſta¬
cheln. Ich aber ſehe vor mir, wenn auch dieſes letzte
ſtolze, thurmreiche Schloß zuſammenſtürzt, nur Ver¬
weſung, eine unermeßliche Leichenwüſte. — Herr Ma¬
jor, ein letztes Wort: wenn der Tod ſeine Fackel
über uns Alle ſchwingt, wenn Deutſchlands, Preu¬
ßens, Oeſtreichs Name ausgelöſcht iſt, dann iſt auch
unſer Streit begraben — ein Höherer mag richten,
wer mehr gefehlt. Wenn aber Gott entſchieden hat,
daß es in Deutſchland noch ein Volk giebt, nicht reif
zum Helotenſtamm, und Preußen iſt dies einzige
Volk — dann, mein Herr — ſtehe ich Ihrer Kugel.“


20*
[[308]]

Achtzehntes Kapitel.
Innerlich Lachen an einer Berliner Börſe.

An der Berliner Börſe war ein Plakat an¬
geſchlagen. Der Freiherr von Hardenberg hatte der
Kaufmannſchaft eröffnet, daß Preußens Lage von
der Art ſei, daß nun alle Beſorgniſſe für Handel
und Verkehr gehoben wären, indem es Seiner
Majeſtät dem Könige gelungen, „„den Frieden
auf genügende Art zu behaupten
.““ Jeder
möge daher, im vollen Vertrauen auf die Fürſicht
einer Regierung, die kein ander Ziel habe als das
Wohl ihrer Unterthanen, ſeinen Geſchäften und Unter¬
nehmungen nachgehen. Außer dieſer amtlichen Be¬
kanntmachung mehre Avertiſſements von Seiten des
Börſenvorſtands: Der Graf von Haugwitz ſei als
außerordentlicher Preußiſcher Geſandter in Paris
mit vieler Freundlichkeit empfangen worden. Ferner:
Der König berufe den größten Theil ſeiner Truppen
in ihre Cantonnirungen zurück und danke ihnen für
ihre bewieſene Treue.


Man ſah vergnügte Geſichter. Sie ſprachen
[309] ſich ins Ohr. Vielleicht hatten ſie Rückſichten, daß
ſie nicht laut ſprachen. Einige riefen auch Bekannte
aus dem Publikum, die über den Luſtgarten gingen,
heran, und mit ihnen ward noch ſtiller, vertraulicher
converſirt. Von dieſen ging dann auch mancher,
nach einem herzlichen Händeſchütteln, mit erheitertem
Geſicht von dannen. Andere aber gingen, die Hände
auf dem Rücken, den Kopf geſenkt, ſchweigend fort.
Der und jener ſchüttelte wohl den Kopf und wandte
dem Andern haſtig den Rücken, um ſich aus dem
Getümmel zu verlieren. Wie Viele froh waren und
wie Viele betrübt, iſt nie gezählt worden.


Einer ſaß auf einem der Steinpfeiler nach dem
Luſtgarten hinaus. Es war ein ſonniger Tag, und
in ſeinem dicken Kalmuckrock mochte er wohl den
Winter vergeſſen. Sein Geſicht ſah aber nicht aus,
als ob ein lauer Maienwind darüber ſtreife, es
glich den blätterloſen Zweigen der Platane, die
weiß angelaufen vom Morgenreif ſich über ihm leiſe
wiegten.


„Na Sie, hören Sie mal, Sie können doch
nur lachen, ſagte ein Herantretender. Warum denn
wie ein Eisbär, Herr van Aſten?“


„Ich lache auch, Herr Baron, Sie ſehn's nur
nicht, ich lache innerlich.“


Des Barons beide Hände klimperten in den
Seitentaſchen mit Geld: „Ich glaube, Sie wären
caput geweſen mit allen Ihren Forderungen an's
Militair.“

[310]

„Caput werden heißt ja wohl den Kopf ver¬
lieren?“


„Halten Sie Ihren feſt.“


„Mancher hält's für ein groß Unglück, Herr
Baron.“


„Das will ich meinen!“


„Mancher aber meint, man könnte auch ohne
Kopf leben.“


„Sie Bonmotiſeur, Sie! Warum lachen Sie
denn aber nur innerlich? Meine Frau ſagt, man
kann äußerlich lachen, und weint innerlich. Das
begreife ich. Ein äſthetiſches Gemüth iſt immer ſen¬
timental. Das bin ich nicht, Sie ſind's auch nicht,
van Aſten — Aber, wiſſen Sie, was mir ent¬
gangen iſt?“


„Ihre Operntänzerin? Davongelaufen?“


„Nein, keine Plaiſanterie! Haben Sie nichts
davon gehört? Sie habens im Kriegsminiſterium
ausſpintiſirt, daß der Infanteriſt im Winter auch friert.
Mäntel ſollten ſie kriegen — wenn's zum Krieg ge¬
kommen wäre, nämlich — Na nu, was ſagen Sie?
Ich hatte ſchon ein Dutzend neue Stühle eingerichtet.
Soll ich nun für die Kalmucken weben laſſen?“


„Für die Franzoſen, Herr Baron, die nehmen
das Tuch auch ungeſchoren.“


„Ohne Spaß, van Aſten; ich hätte 'nen guten
Schnitt bei gemacht.“


„Liebſter Baron, Sie ſind ein excellenter Fabri¬
kant und guter Kaufmann, aber erlauben Sie mir,
[311] Sie huldigen zu ſehr den Phantaſien. Ich meine,
Sie ſind zu leicht exaltirt von Ideen. Mäntel für
die Infanterie! Ich bitte Sie, hatten Friedrichs Mus¬
ketiere Mäntel? Man hat Ihnen was aufgebunden.
Erfindungen eines neuerungsſüchtigen Kopfes! Hohle
Theorien! Und unſere Regierung! Liebſter Baron!“


„Die Franzoſen haben ja ſchon Mäntel!“


„Deſto ſchlimmer! Wer wird denn denen was
nachmachen wollen!“


„Pfifficus Sie!“ ſagte der Baron und ſpielte
mit ſeinen großen Berloquen. Die Sonne ſchien eben
ſo wohlgefällig mit ſeinen Brillantringen zu ſpielen.
„Na, nu ſagen Sie aber mal, warum lachen Sie
denn innerlich?“


„Daß wir ſo 'nen ſchönen Frieden haben, und
ſogar auf genügende Art.“


„Wer Sie nicht verſtände! Was geht's uns
an, ſage ich.“


„Das ſage ich auch, Herr Baron.“


„Ihre Forderungen in Hannover kann Ihnen
nun Schulenburg Kehnert eintreiben. Mit dreiund¬
zwanzig Bataillonen und fünfundzwanzig Schwa¬
dronen rückt er ein. Wollen Sie noch mehr Executoren?“


Ein Dritter, der hinzutrat, ſagte: „Wir haben
doch nun eine zuſammenhängende Gränze gewonnen.
Anſpach konnten wir nicht ſchützen; um Hannover
brauchen wir nur den Arm auszuſpannen.“


„Nicht zu weit, fiel van Aſten ein. Das Tuch
des Herrn Baron reißt ſonſt an der Achſel.“

[312]

Das Geſpräch war allgemein geworden. Ein
Vierter ſagte: „Was hilft alles Umarmen, wenn kein
Herz uns entgegen ſchlägt! Der Hannoveraner liebt
uns nicht, und die Anſpacher ringen die Arme, daß
wir ſie aufgeben. Sie haben ein Schreiben geſchickt,
daß man ſie, die treuſten Söhne des Vaterlandes,
nicht vom Vaterherzen reißen ſolle.“


„Sehr ſchön geſagt, ſagte Baron Eitelbach im
Abgehen zu einem Begleiter. Sehr rührend, würde
meine Frau ſagen. — Was gehn mich die Anſpacher
an! — Der alte van Aſten könnte mich dauern, wenn
er nicht ſolchen heilloſen Schnitt gemacht. Hat auf
den Frieden ſpeculirt. Glauben Sie mir, Dreißig¬
tauſend gebe ich für ſeinen Abſchluß. Pfiffig iſt er,
aber warum hat er ſeinen Sohn ſo erzogen! — Ein
Civil muß das Militair gehn laſſen. Wofür iſt des
Königs Rock! Iſt nun in der Bredouille. Kann
ſehn, wie er ihn rauszieht. Thut mir wahrhaftig
leid, der Mann. Ja, warum hat er ihn nicht beſſer
erzogen! Das kommt davon.“


„Was iſt Ihre Meinung, Herr Mendelsſohn?“
fragte ein jüngerer einen älteren Kaufmann von ſehr
klugem Geſicht.


„Wir ſind weder dreiſt genug, das trügeriſche
Geſchenk zu behalten, noch ſtark genug, es von uns
zu weiſen, darum ergreifen wir den beliebten Mittelweg,
wir ſuchen den Schein zu retten und den Gewinn auch.“


„Aber wir haben den Schönbrunner Vertrag
ratificirt.“

[313]

„Wir ratificiren nichts, wir ſtatuiren nur Pro¬
viſorien, um uns eine Hinterthür zu laſſen. Und
indem wir den Vertrag modificiren, heben wir ihn
eigentlich auf. Bis zum allgemeinen Frieden ſoll
alles zwiſchen Preußen und Frankreich bleiben, wir
ſollen keins der verſprochenen Länder räumen, Han¬
nover nur beſetzen, und hoffen, daß die Engländer
bis dahin ein Einſehen bekommen und uns um Gottes
Willen bitten, doch Hannover zu nehmen.“


„Was die Nachwelt dazu ſagen wird! Die treuen
fränkiſchen Lande fortzuſchleudern, ohne Beſinnen
und Reukauf, und die Gegengabe dafür nur mit
Vorbehalt anzunehmen!“


„Die Nachwelt hat kein Conto in unſerm Buche.“


„Aber was ſchreiben wir auf unſeres?“


„Das angenehme Gefühl, daß wir edel gehan¬
delt haben.“


„Und was Napoleon dazu ſagen wird!“


„Sie hören's ja. Er hat Haugwitz „„mit einer
Freundlichkeit empfangen, die eine günſtige Deutung
erlaubt.““


„Ob ſie nicht erröthen, indem ſie es bekannt
machen?“


„Schamröthe iſt eine Illuſion der Vergangenheit.“


„Aber Napoleon!“


„Er lacht auch innerlich, wie unſer Herr van
Aſten. Aber was iſt mit ihm da!“


„Ein Cavallerieofficier auf der Börſe! Geht die
Welt unter!“

[314]

Der Officier war der Rittmeiſter Stier von
Dohleneck. Es war eine kleine Aufregung. Der
Rittmeiſter ſchüttelte in einer Art Extaſe dem Kauf¬
mann die Hand, faſt ſchien es, er fühle ſich in Ver¬
ſuchung, ihm um den Hals zu fallen, aber das ſchickte
ſich nicht. Der Kaufmann war aufgeſtanden, er hatte
die Hand des Officiers noch ein Mal ergriffen, ſie
gedrückt, dann fahren laſſen und war auf den Stein
zurückgeſunken. Der Rittmeiſter war wieder fortgeeilt.


„Ein braver Mann, der Herr von Dohleneck.“


Es waren frohe Geſichter. Wie ſollte es auch
nicht; ſeine Botſchaft war eine frohe und van Aſten
ein geachteter Mann auf der Börſe. Bald wußten
Juden und Chriſten den Inhalt: das Ehrengericht der
Officiere hatte ſich endlich dahin geeinigt, daß der
junge Walter van Aſten an jenem Abende nur in
einer entſchuldbaren Affection mit dem Cornet in
Conflict gerathen, ohne ſeinen Stand kränkende In¬
tention, daß er ſeinen Arm nur berühren wollen, um
ihn auf etwas aufmerkſam zu machen, und allein
durch den Stoß eines Nachbars habe er ſich an dem
Arm feſthalten und damit durchaus nicht den Rock
des Königs attentiren wollen. Die Sache wäre alſo
eine reine Privatſache zwiſchen dem Cornet und dem
Kaufmannsſohne, letzterer aber, angeſehen, daß in
niederländiſchen Familien unter dem vorgeſetzten van
nicht ſelten alte adlige Abkunft ſich cachire, auch der
junge Walter nicht erweislich hinter einem Ladentiſch
ſtehend geſehen worden, eine Perſon, von dem ein
[315] Cavalier, in Anbetracht der Umſtände und der Me¬
riten ſeines Vaters, ohne ſich etwas zu vergeben,
Satisfaction fordern möge. Das Zeugniß des Cornets
ſelbſt hatte dieſen Spruch, an den Niemand vorhin
geglaubt, veranlaßt. Wer anders als ſein Oheim,
der Rittmeiſter, war das bewegende Motiv geweſen!


„So belohnt ſich eine gute That,“ raunte ein
Freund dem Vater zu.


„Ein braver Mann, der Rittmeiſter!“ wiederholte
der Chor.


„Na, nu können Sie auch äußerlich lachen, Herr
van Aſten, ſagte der wieder hinzugetretene Baron —
der Friede, der Schnitt und der Herr Sohn ohne
Criminal und Priſon davon gekommen. Was wollen
Sie mehr!“


„Lache ich denn nicht!“ rief der Alte und lachte,
ſo laut, daß die Davongehenden noch auf dem Luſt¬
garten ſich verwundert umblickten. „Es iſt des Glücks
nur zu viel! Das Zahlbrett voll zum Einſtreichen,
ein Friede, der uns genügt, und ſo viel Patriotismus
an der Börſe, und alles in Ruhe und lauter Ord¬
nung im Lande, und mein Sohn — mein Sohn kriegt
die Erlaubniß, von den Herren Officieren ſich 'ne
Kugel durch den Kopf jagen zu laſſen! — Verzeihn
Sie, meine Herren, wenn ich genug gelacht habe,
daß ich auch ein bischen weine, denn das große,
unverdiente Glück habe ich alter Eſel mir ſelbſt an¬
gerichtet.“

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Appendix A

Druck von Eduard Krauſe in Berlin.

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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Alexis, Willibald. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp9t.0