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die ſchoͤnſten Sagen
des
klaſſiſchen Alterthums.


Dritter Theil.
Die letzten Tantaliden. Odyſſeus. Aeneas.


Mit einem Titelbilde.
[][[I]][[II]]
[figure]
[][][[III]]
Die ſchönſten Sagen
des
klaſſiſchen Alterthums.

Nach ſeinen Dichtern und Erzählern



Dritter Theil.

Mit einem Titelbilde.


Stuttgart.:
Verlag von S. G. Lieſching.

1840.
[[IV]][[V]]

Vorwort.

Mit dieſem dritten Bande hat der Sagenkreis des klaſſiſchen
Alterthums, ſoweit derſelbe auf allgemeines Verſtändniß Anſpruch
machen kann, ſeinen Schluß in unſrem hiermit beendigten Werke
gefunden, und der Verfaſſer glaubt verſichern zu dürfen, daß kein
weſentliches Element dieſer Sage, das überhaupt Gegenſtand der
unſerer Zeit überlieferten Erzählung oder Dichtung iſt, übergangen
worden ſey. Anfangs, als der Plan des Aufnehmbaren von ihm
entworfen wurde, hielt derſelbe es faſt für unmöglich, die Schick¬
ſale der letzten Tantaliden
einer Leſewelt, die zum großen
Theile vorausſichtlich aus Frauen und Kindern beſtehen ſollte, un¬
verkürzt mitzutheilen. Das Verlangen nach Vollſtändigkeit ermuthigte
ihn jedoch zu dem Verſuche, auch dieſe Schwierigkeit zu überwinden,
[VI] und er hofft, daß das gerechte Urtheil, welches in den früheren Bän¬
den zarte Schonung verletzbarer Ohren und mit heiliger Scheu zu
behandelnder Gemüther anerkannt hat, ſich auch auf die Bearbei¬
tung des genannten Stoffes erſtrecken werde. Bei der möglichſt
hergeſtellten Harmonie der Tragiker iſt beſondere Rückſicht auf dieſe
Forderung der Sittlichkeit, welche ſelbſt der freieſte Schönheitsſinn
anerkennen wird, genommen worden.


In der Behandlung der Odyſſee war eine ſolche Vorſicht
nicht nöthig. Hier brauchte ſich der Darſteller nur ſo ſtreng als
möglich an das Originalkunſtwerk des Alterthums zu halten, um
den rührendſten Eindruck der Unſchuld und Sittenreinheit zu machen.
Wer ſich überzeugen will, daß die menſchliche Natur, ſo untüchtig
durch ſich ſelbſt zum vollkommen Guten, doch keineswegs vollkommen
untüchtig zum Guten iſt, der ſtärke ſeinen Glauben an die Menſch¬
heit, welcher der frömmſten Religionsüberzeugung nicht zuwider¬
läuft, an dieſem Werke des grauen Heidenthums.


Die Aeneis hat dem Verfaſſer am meiſten zu ſchaffen gemacht.
Hier die Längen abzuſchneiden, ohne das Ziel des Weges ſelbſt un¬
zugänglich zu machen; alle jene Zuthaten erſonnener Volksſage, die,
nach einer Ilias und Odyſſee, in ihrem prunkenden Scheine ſelbſt einem
Kinde fühlbar werden müßten, zu entfernen, ohne den Zuſammenhang
[VII] der originellſten und lieblichſten Erfindungen, die bald einen Theil
der poetiſchen Geſchichte des Gedichtes, bald unſchätzbare Epiſoden
bilden, unerkennbar zu machen, oder gar zu zerſtören: — dieß em¬
pfand der Bearbeiter als keine kleine Aufgabe; zumal da dieſelbe noch
von keinem modernen Erzähler der Sagen des Alterthums verſucht
worden war. Sein Beſtreben ging dahin, durch Zuſammendrängen
weſentlicher Schönheit dem kunſtvollen Werke des Römers für die
Jugend einen Reiz der Neuheit und gewiſſermaßen der Kurzweilig¬
keit zu geben, den man im Originale vergebens ſucht.


Und ſo möchten denn alle dieſe Sagen zuſammen, als der In¬
begriff der claſſiſchen Heroenmythen, ſich durch gewiſſenhafte und
dem Zwecke des Buches angemeſſene Bearbeitung ihres Inhalts,
zahlreiche Freunde bei den Jungen, und manche auch bei den Alten
erwerben. Mit dieſem Wunſche entläßt der Verfaſſer ſein Werk,
das für ihn zugleich der Wiederhall zwanzigjähriger öffentlicher und
häuslicher Beſchäftigungen iſt.


G. Schwab.


[[VIII]][[IX]]

Inhalts-Ueberſicht.



Erſtes Buch.
Die letzten Tantaliden.
  • Seite.
  • Agamemnon's Geſchlecht und Haus  3
  • Agamemnon's Ende  8
  • Agamemnon gerächt  14
  • Oreſtes und die Eumeniden  29
  • Iphigenia zu Tauri  43


Zweites Buch
Odyſſeus. Erſter Theil.
  • Telemach und die Freier  67
  • Telemach bei Neſtor  80
  • Telemach zu Sparta  86
  • Seite.
  • Verſchwörung der Freier  92
  • Odyſſeus ſcheidet von Kalypſo, und ſcheitert im Sturm  95
  • Nauſikaa  100
  • Odyſſeus bei den Phäaken  107
  • Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten. (Cikonen.
    Lotophagen, Cyklopen, Polyphem.)  123
  • Odyſſeus erzählt weiter. (Der Schlauch des Aeolus. Die
    Läſtrygonen. Circe.)  137
  • Odyſſeus erzählt weiter. (Das Schattenreich.)  152
  • Odyſſeus erzählt weiter. (Die Sirenen. Scylla und Cha¬
    rybdis. Thrinakia und die Heerden des Sonnengottes. Schiff¬
    bruch. Odyſſeus bei Kalypſo.)  160
  • Odyſſeus verabſchiedet ſich von den Phäaken  170


Drittes Buch.
Odyſſeus. Zweiter Theil.
  • Odyſſeus kommt nach Ithaka  175
  • Odyſſeus bei dem Sauhirten  182
  • Telemach verläßt Sparta  191
  • Geſpräche beim Sauhirten  197
  • Telemach kommt heim  201
  • Odyſſeus gibt ſich dem Sohne zu erkennen  205
  • Vorgänge in der Stadt und im Palaſt  209
  • Telemach, Odyſſeus und Eumäus kommen in die Stadt  213
  • Odyſſeus als Bettler im Saal  220
  • Odyſſeus und der Bettler Irus  225
  • Penelope vor den Freiern  229
  • Seite.
  • Odyſſeus abermals verhöhnt  232
  • Odyſſeus mit Telemach und Penelope allein  235
  • Die Nacht und der Morgen im Palaſte  243
  • Der Feſtſchmaus  247
  • Der Wettkampf mit dem Bogen  250
  • Odyſſeus entdeckt ſich den guten Hirten  254
  • Die Rache  259
  • Beſtrafung der Mägde  267
  • Odyſſeus und Penelope  269
  • Odyſſeus und Laertes  275
  • Aufruhr in der Stadt durch Athene geſtillt  283
  • Der Sieg des Odyſſeus  286


Viertes Buch.
Aeneas. Erſter Theil.
  • Aenens verläßt die trojaniſche Küſte  293
  • Den Flüchtlingen wird Italien verſprochen  298
  • Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien  302
  • Aeneas an der Küſte Italiens. Sicilien und der Cyklopen¬
    ſtrand. Tod des Anchiſes  306
  • Aeneas nach Karthago verſchlagen  311
  • Venus von Jupiter mit Rom getröſtet. Sie erſcheint ihrem
    Sohne  316
  • Aeneas in Karthago  321
  • Dido und Aeneas  327
  • Dido's Liebe bethört den Aeneas  330
  • Aeneas verläßt auf Jupiters Befehl Karthago  334
[XII]
Fünftes Buch.
Aeneas. Zweiter Theil.
  • Seite.
  • Der Tod des Palinurus. Landung in Italien. Latinus.
    Lavinia
  • 347
    Lavinia dem Aeneas zugeſagt  352
  • Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd der
    Trojaner  355
  • Ausbruch des Krieges. Aeneas ſucht bei Evander Hülfe  361
  • Der Schild des Aeneas  367
  • Turnus im Lager der Trojaner  371
  • Niſus und Euryalus  375
  • Sturm des Turnus abgeſchlagen  382
  • Aeneas kommt ins Lager zurück  387
  • Aeneas und Turnus kämpfen. Turnus tödtet den Pallas  391
  • Turnus von Juno gerettet. Lauſus und Mezentius von
    Aeneas erſchlagen  394


Sechstes Buch.
Aeneas. Dritter Theil.
  • Waffenſtillſtand  405
  • Volksverſammlung der Latiner  408
  • Neue Schlacht. Kamilla fällt  413
  • Unterhandlung. Verſuchter Zweikampf. Friedensbruch. Aeneas
    meuchleriſch verwundet  420
  • Aeneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt  427
  • Turnus ſtellt ſich zum Zweikampf und erliegt. Ende.  431
[[1]]

Erſtes Buch.

Die letzten Tantaliden.

Agamemnons Geſchlecht und Haus. — Agamemnons Ende. —
Agamemnon gerächt. — Oreſtes und die Eumeniden. — Iphigenia
zu Tauri. —


Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 1[[2]][[3]]

Agamemnons Geſchlecht und Haus.

Troja war gefallen. Die heimſegelnde Flotte der
Hellenen, vom Sturme halb vernichtet, hatte ſich in
ihren Ueberbleibſeln wieder zuſammengefunden, und auf der
beruhigten See fuhren die Abtheilungen der Griechen
jede ihrer Heimat zu. Agamemnon, deſſen Schiffe, von
der Herrſcherin Juno beſchützt, keinen Schaden genom¬
men hatten, ſteuerte rüſtig auf die Küſte des Peloponne¬
ſes los. Schon nahete er dem ſpitzigen Felſenhaupte des
Vorgebirges Malea in Lakonien, als ihn plötzlich aufs
Neue das Ungeſtüm eines Orkanes ergriff und ihn mit
allen Fahrzeugen in die offene Flut des Meeres zurück¬
warf. Seufzend mit aufgehobenen Händen flehte der
Völkerfürſt empor zum Himmel und bat die Götter, ihn
nicht nach ſo vielem Ungemach und nach mühſelig voll¬
brachtem Willen der Himmliſchen im Angeſichte ſeiner
Heimat mit ſo vielen tapferen Männern verderben zu laſ¬
ſen. Er wußte nicht, daß dießmal der Sturm ſein Freund
und von warnenden Gottheiten ihm zugeſendet war: denn
ihm wäre beſſer geweſen, an die fernſte Barbarenküſte
verſchlagen, in der Verbannung ſein Leben zu beſchließen,
als ſeinen Fuß in den heimiſchen Königspallaſt Mycene's
zu ſetzen.


Auf Agamemnons Geschlecht ruhete ein Fluch; von
ſeinem Urahn Tantalus her war es unter Gräueln
1*[4] erwachſen; ruchloſe Gewalt hatte die einen ſeiner Glieder
geſtürzt, die andern erhoben; durch einen ungeheuren
Frevel im eigenen Hauſe ſollte auch Agamemnon das
Ziel ſeines Lebens finden. Der Urgroßvater Tantalus
hatte den zum Mahle geladenen Göttern ſeinen Sohn
Pelops gekocht zu ſchmauſen vorgeſetzt, und nur ein
Wunder hatte dieſen Stammhalter des Geſchlechts ins
Leben zurückgerufen. Pelops, ſonſt unſträflich, ermordete
ſeinen Wohlthäter Myrtilus, den Sohn Merkurs, und
half durch dieſen Mord den Fluch des Hauſes weiter
ſpinnen. Myrtilus nämlich, der Stallmeiſter des Köni¬
ges Oenomaus, deſſen Tochter Hippodamia Pelops
durch den Sieg im Wagenrennen gewinnen ſollte, ließ
ſich überreden, die Nägel aus dem Wagen ſeines Herrn
zu ziehen und wächſerne ſtatt der eiſernen einzuſtecken.
Dadurch ging der Wagen des Oenomaus auseinander
und Pelops gewann den Sieg und die Jungfrau. Als
aber Myrtilus die verſprochene Belohnung forderte, ſtürzte
ihn Pelops, um keinen Zeugen ſeines Betruges zu haben,
ins Meer. Vergebens ſuchte er den über dieſen Frevel
zürnenden Gott Merkurius zu verſöhnen, baute dem Sohn
ein Grabmal und dem Vater einen Tempel: er und ſein
Geſchlecht waren der Rache des Gottes verfallen.


In den Söhnen des Pelops, Atreus und Thyeſtes,
wirkte der Fluch kräftig fort. Atreus war König zu
Mycene, Thyeſtes neben ihm König im ſüdlichen Theile
des Argoliſchen Landes. Der ältere Bruder beſaß einen
Widder, der goldene Wolle trug; nach dieſem gelüſtete
Thyeſtes, den jüngeren; er verführte die Gemahlin des
Bruders, Aerope, zur Untreue und erhielt von ihr das
goldene Lamm. Als Atreus das doppelte Verbrechen
[5] ſeines Bruders inne ward, hielt ihn keine Ueberlegung
ab; er handelte wie der Großvater: heimlich ergriff er
die beiden kleinen Söhne des Thyeſtes, Tantalus und
Pliſthenes, ſetzte ſie geſchlachtet beim gräßlichen Gaſt¬
mahle dem Bruder vor, und gab ihr Blut, zum
Weine gemiſcht, dem unſeligen Vater zu trinken. Dem
zuſchauenden Sonnengotte kam über dieſer Unmenſchlichkeit
ein ſolches Entſetzen an, daß er ſeinen Wagen rückwärts
lenkte, Thyeſtes aber floh vor dem entſetzlichen Bruder
nach Epirus zu dem Könige Thesprotus. Das Land
des Atreus ward von Dürre und Hungersnoth heimge¬
ſucht, und der befragende König erhielt vom Orakel
die Antwort, die Landplage werde aufhören, wenn der
vertriebene Bruder zurückberufen ſey. So machte ſich
Atreus ſelbſt auf den Weg, den Thyeſtes in ſeiner Zu¬
fluchtsſtätte aufzuſuchen, und führte ihn mit einem Sohne
Namens Aegiſthus, in die alte Heimat zurück. Auch
dieſer Aegiſthus war das Kind eines Gräuels und in
ſeinem Aſyle von Thyeſtes erzeugt. Aber er hatte ge¬
ſchworen, ſeinen Vater an dem Atreus und deſſen Kin¬
dern zu rächen. Das erſte vollführte er bald, nachdem
die Brüder zuſammen nach Mycene zurückgekehrt waren.
Ihre Freundſchaft war dort von kurzer Dauer geweſen,
und Atreus hatte den Bruder in den Kerker geworfen.
Da erbot ſich Aegiſthus trügeriſcher Weiſe dem Oheim,
indem er ſich über den Gräuel ſeiner Geburt entrüſtet
ſtellte, den eigenen Vater umzubringen. In den Kerker
eingelaſſen, verabredete er mit ſeinem Vater die Rache,
zeigte dem Atreus ein blutiges Schwert, und als dieſer,
über den geglaubten Tod des Bruders fröhlich, am
Meeresufer ein Dankopfer anſtellte, ſtieß ihm Aegiſthus
[6] daſſelbe Schwert in den Leib, Thyeſtes kam aus ſeiner
Haft hervor und bemächtigte ſich auf kurze Zeit des
brüderlichen Reiches; aber der älteſte Sohn des Atreus,
Agamemnon, ſtellte ihm nach und rächte mit dem
Schwert an ihm des Vaters Mord. Aegiſthus blieb
verſchont, er ward von den Göttern zum Fluche des
Geſchlechtes aufgehoben und regierte als König in dem
alten Antheile ſeines Vaters im ſüdlichen Lande.


Wie nun Agamemnon in den Krieg vor Troja ge¬
zogen war, und ſeine Gemahlin Klytämneſtra, über die
Opferung ihrer Tochter Iphigenia grollend, im tiefen
Mutterſchmerze zu Hauſe ſaß, da däuchte dem Aegis¬
thus die rechte Zeit gekommen, auch dem Atriden mit
ſeiner Rache zu nahen. Er erſchien im Königspallaſte
zu Mycene, und der Wunſch, am unmenſchlichen Gat¬
ten ſich zu rächen, gab ſie nach langem Widerſtreben
der Verführung des Böſewichts preis, daß ſie als mit
einem zweiten Gemahle Pallaſt und Reich Agamemnons
mit ihm theilte. Von ihrem rechtmäßigen Gatten lebten
in deſſen Hauſe damals drei Geſchwiſter der entrückten
Iphigenia: ihr zunächſt am Alter die kluge Jungfrau
Elektra, eine jüngere Schweſter Chryſothemis, und ein
kleiner Knabe, Oreſtes. Vor ihren Augen nahm Aegis¬
thus von dem Ehebund und Pallaſte des Vaters Beſitz.
Das frevelnde Paar, als ſich der Kampf vor Troja
zu ſeinem Ende neigte, war jetzt nur darauf bedacht,
daß der heimkehrende Agamemnon mit ſeiner furchtbaren
Kriegerſchaar ſie nicht unvorbereitet überraſchen möchte.
Seit Jahren war auf den Zinnen des Pallaſtes ein
Wächter aufgeſtellt, dem ein nächtliches Fackelzeichen
von der Meergränze des Landes her die Nachricht von
[7] der Eroberung Troja's und der Ankunft des Königes
geben ſollte. War die Kunde einmal gekommen, ſo ſollte
es an Zurüſtungen nicht fehlen, dem König Agamemnon
einen feſtlichen Empfang zu bereiten und ihn in die Falle
zu locken, noch bevor er den wahren Zuſtand der Dinge
in ſeiner Heimat erführe.


Endlich erglänzte die Fackel bei Nacht. Der Wäch¬
ter eilte von der Zinne herab und meldete der Herrin
das erblickte Zeichen. Mit Ungeduld erwarteten Klytäm¬
neſtra und ihr Buhle den Morgen; und die Sonne
war noch nicht lange aufgegangen, als ſchon ein Herold,
von dem heimkehrenden König abgeſandt, mit Oliven¬
zweigen ſein Haupt beſchattend, auf den Pallaſt von
Mycene zugeſchritten kam. Die Königin ging ihm mit
verſtellter Freundlichkeit entgegen. Doch ſorgte ſie, daß
der Bote ſich im Königshauſe nicht umſehen konnte, und
als dieſer in einer langen Erzählung ſeiner Siegesfreude
Luft machen wollte, unterbrach ſie ihn haſtig und ſprach:
„Bemühe dich nicht, am beſten werde ich das Alles
aus dem Munde meines königlichen Gemahles ſelbſt er¬
fahren. Kehre zurück und beſchleunige ſeinen Weg.
Sage ihm, wie erwünſcht er mir und der Stadt komme,
und daß ich ſelbſt mich zum Aufbruch anſchicken werde,
ihn nicht nur als meinen verehrten und geliebten Gatten,
ſondern auch als den herrlichen Eroberer einer weltbe¬
rühmten Stadt nach Würden zu empfangen.“


[8]

Agamemnons Ende.

Als der König Agamemnon im Sturme von dem
Vorgebirge Malea zurückgeworfen worden war, trieb ihn
der Wind mit ſeinem Schiffzuge nach dem ſüdlichen
Geſtade des Landes, wo einſt ſein Oheim Thyeſtes ge¬
herrſcht hatte, und jetzt der Fürſtenſitz des Aegiſthus war.
Er warf die Anker aus und wartete günſtigen Fahrwind
in einer ſicheren Hafenbucht ab. Ausgeſchickte Kund¬
ſchafter brachten ihm die Nachricht, daß der König des
Landes, Aegiſthus, mit ſeiner Gemahlin Klytämneſtra,
ſeit dieſe von Aulis zurückgekehrt, in nachbarlicher Freund¬
ſchaft gelebt habe, ja daß derſelbe, ſchon ſeit geraumer
Zeit nach Mycene berufen, in der Königin Namen das
Reich Agamemnons verwalte. Der Völkerfürſt erfreute
ſich dieſer Nachricht und ſuchte nichts Arges darunter.
Er dankte den Göttern, daß der alte Rachegeiſt aus
ſeinem Hauſe verſchwunden ſey. Ihm ſelbſt, der ſo viel
Griechen- und Barbarenblut vor Troja nothgedrungen
vergoſſen hatte, war der Durſt nach Blutrache ver¬
gangen, und ſein Inneres dachte nicht daran, den Mör¬
der ſeines Vaters, der doch ſelbſt nur gerechte Rache
genommen hatte, zu ſtrafen. Auch das Herz ſeiner Ge¬
mahlin glaubte er durch den langen Zeitraum beſchwich¬
tiget. Unter fröhlichen Hoffnungen lichtete er die Anker
bei günſtigem Wind und lief mit ſeinen Kriegern wohl¬
behalten in den Hafen ſeiner Heimat ein.


Sobald er hier den Göttern ein Dankopfer für
Rettung und beglückte Fahrt am Ufer dargebracht hatte,
[9] folgte er mit ſeiner Kriegerſchaar dem abgeſandten Herold.
Vor der Stadt Mycene kam ihm das geſammte Volk,
ſeinen Vetter Aegiſthus, der im ganzen Lande als könig¬
licher Verwalter des Reiches galt, an der Spitze, ent¬
gegen. Alsdann erſchien auch, von den Frauen ihres
Hauſes begleitet und von den ſtreng bewachten Kindern
umgeben, die Königin Klytämneſtra. Wie man bei er¬
heuchelter Freude pflegt, empfing ſie den Gemahl mit
allen erſinnlichen Ehrenbezeugungen und mit übertriebener
Ehrfurcht, ja ſtatt ihn zu umfangen, warf ſie ſich vor
ihm auf die Kniee nieder und ergoß ſich in Glückwün¬
ſchungen und Lobſprüchen. Agamemnon aber eilte freu¬
dig auf ſie zu, erhob ſie vom Boden, umarmte ſie und
ſprach: „Was denkſt du, Leda's Tochter, daß du, wie
eine Sklavin den Barbarenherrn, fußfällig im Staube
dich wälzend, mich empfängſt? und was ſollen dieſe
herrlichen geſtickten Teppiche, die unter meinen Fußtritt
gebreitet ſind? So empfängt man unſterbliche Götter
und nicht ſterbliche ſchwache Menſchen. Ehre mich ſo,
daß die Himmliſchen mich nicht beneiden!“


Nachdem er die Gattin ſo begrüßt und die Kinder
umarmt und geküßt, wandte er ſich um zu Aegiſthus,
der mit den Häuptlingen der Stadt ſeitwärts ſtand,
reichte ihm brüderlich die Hand und ſagte ihm freund¬
lichen Dank für die ſorgfältige Verwaltung des Landes.
Dann löſte er die Riemen ſeiner Schuhe und ging bar¬
fuß über das koſtbare Gewebe der Teppiche durch die
ganze Stadt bis zu ſeinem Pallaſte. In ſeinem Gefolge
befand ſich auch Kaſſandra, die weiſſagende Tochter des
Priamus, die in der Beute dem Völkerfürſten, der ſie
von den ruchloſen Händen Ajax des Lokrers befreit hatte,
[10] zu Theil geworden war. Sie ſaß mit geſenktem Haupt
und niedergeſchlagenen Augen auf einem hohen, auch
mit anderer Beute beladenen Wagen. Als Klytämneſtra
die edle Geſtalt der Jungfrau gewahr wurde, überſchlich
ſie ein Gefühl der Eiferſucht, zu welchem ſie freilich am
wenigſten berechtigt war, gewaltiger aber noch befiel ſie
ein Schrecken, als ſie den Namen der Gefangenen er¬
kundet und erfahren hatte, daß ſie die wahrſagende
Prieſterin der Pallas in ihrem durch Ehebruch entweih¬
ten Hauſe beherbergen ſollte. Die höchſte Gefahr däuchte
ihr deswegen, länger mit ihrem verruchten Vorhaben zu
zögern, und ſchnell war ihr argliſtiger Entſchluß gefaßt,
die fremde Jungfrau auf eine Stunde mit dem Gatten
zu verderben. Doch verbarg ſie ſorgfältig ihr Inneres
vor der Seherin, und als der ganze Zug vor dem Kö¬
nigspallaſte zu Mycene angekommen war, trat ſie freund¬
lich zu dem Wagen und rief ihr zu: „Steige herab,
traurige Jungfrau, und gib dem Verdruſſe Abſchied!
Mußte doch ſelbſt Alkmene's unbezwinglicher Sohn, Her¬
kules, einſt in die Knechtſchaft wandern und ſein Haupt
unter das Joch einer fremden Herrin beugen! Wem
das Schickſal einen ſolchen Zwang zugedacht hat, der
darf ſich glücklich preiſen, wenn er unter Herren kommt,
bei denen alter Reichthum zu Hauſe iſt, denn wer das
Glück erſt kurz und unverhofft geerntet hat, pflegt hart
und übermüthig gegen Knechte zu ſeyn. Sey getroſt,
du ſollſt Alles bei uns erhalten, was billig iſt!“


Kaſſandra veränderte ihre Miene nicht bei dieſen
Worten, lange blieb ſie ohne Regung auf dem Stuhl
ihres Wagens ſitzen, die Dienerinnen mußten ſie nöthi¬
gen, ihren Platz zu verlaſſen. Endlich ſprang ſie vom
[11] Sitze, wie ein geſcheuchtes Wild, ihr Herz wußte Alles,
was ihr bevorſtand, ſie war gewiß, daß der Schluß des
Schickſals nicht zu ändern ſey; und, hätte ſie ihn ändern
können, ſie hätte doch der Rachegöttin den Feind ihres
Volkes nicht entziehen wollen, und weil er doch ihr
Retter war, ſo verdroß es ſie nicht, mit ihm zu ſterben.


Im Pallaſte wurden der Fürſt Agamemnon und
alle mit ihm Angekommenen durch Zurüſtungen zu einem
prächtigen Gaſtmahle getäuſcht. Bei dieſem Mahle hätte
er von den gedungenen Knechten des Aegiſthus wie ein
Stier an der Krippe erſchlagen werden ſollen. Die Ankunft
der Wahrſagerin aber beſtimmte die Königin und ihren
Ehebrecher, die Entſcheidung nicht auf dieſen Hinterhalt
auszuſetzen, ſondern raſcher und einſamer zu Werke zu gehen.


Agamemnon, von der Fahrt ermüdet, und vom
Wege durch das Land nach der Stadt beſtäubt, verlangte
nach einem erquicklichen Bade, und Klytämneſtra erklärte
ihm mit liebreicher Zuvorkommenheit, daß ſie dieſes Be¬
dürfniß längſt vorhergeſehen und daß ein warmes Bad
für ihn bereit gehalten ſey. Der König betrat ahnungs¬
los das Badegewölbe ſeines Pallaſtes, legte Panzer,
Waffen und alle Gewande ab, und beſtieg wehrlos und
entkleidet den Badebehälter. Da brachen Aegiſthus und
Klytämneſtra aus ihrem Verſtecke hervor, warfen ihm
ein feſtgewundenes Netz über den Leib und durchbohrten
ihn mit wiederholten Dolchſtichen. Sein Hülferuf drang
aus dem unterirdiſchen Gemache, wo die Bäder ſich
befanden, nicht hinauf in den obern Pallaſt. Unmittel¬
bar nachher ward Kaſſandra, die einſam durch die dun¬
keln Vorhallen des Königspallaſtes hin und her irrte,
niedergemacht.


[12]

Sobald die doppelte Unthat geſchehen war, gedach¬
ten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, ſie nicht
länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im
Pallaſte ausgeſtellt; Klytämneſtra berief die Häupter der
Stadt und ſprach ohne Rückhalt und ohne Scheu: „Ver¬
arget mir, Freunde, meine bisherige Verſtellung nicht.
Ich habe dem Todfeinde meines Hauſes, dem Mörder
meines geliebteſten Kindes ſeine Blutſchuld nicht anders
bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie
einen Fiſch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolchſtichen,
im Namen des unterirdiſchen Pluto geführt, habe ich
meine Tochter gerächt. Es iſt Agamemnon, mein Gatte,
von meiner eigenen Hand umgebracht, ich läugne es
nicht. Hat er doch, als handelte es ſich von dem Tode
eines Schlachtviehes, ſein eigenes Kind, mir das liebſte,
geopfert, um mit meinem Mutterſchmerze die thraciſchen
Winde zu beſänftigen. Verdiente ein ſolcher Frevler zu
leben, verdiente er ein ſo ſchönes, ein ſo frommes Land
zu beherrſchen? Iſt's nicht gerechter, daß Aegiſthus euch
befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewiſſen hat,
der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde ſeines
Vaters gerächt hat? Ja es iſt billig, daß ich ihm die
Hand reiche, daß ich Pallaſt und Thron mit ihm theile,
der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk
der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er iſt ein Schild
meiner Kühnheit; ſo lang er und ſein Anhang mich be¬
ſchützt, wird Niemand es wagen, mich wegen meiner
That zur Rechenſchaft ziehen zu wollen. Was dieſe
Sklavin betrifft“ (mit dieſen Worten deutete ſie auf
Kaſſandra's Leichnam) „ſo war ſie die Buhlerin des
Treuloſen; ſie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten,
[13] und ſoll den Hunden zum Zerfleiſchen vorgeworfen
werden.“


Die Häupter der Stadt blieben auf dieſe Rede
ſtumm. An Gegenwehr war nicht zu denken: Die Be¬
waffneten des Aegiſthus umgaben den Pallaſt; Waffen¬
geklirr ertönte und drohende Laute ließen ſich hören. Die
Krieger Agamemnons, deren eine weit kleinere Schaar
aus dem männervertilgenden Kriege von Troja heimge¬
kehrt war, waren in der Stadt zerſtreut und hatten
ſorglos die Waffen von ſich gelegt. Der wilde Anhang
des Aegiſthus durchzog die Stadt in voller Rüſtung und
metzelte Jeden nieder, der gegen den gräßlichen Mord
ſeines Fürſten ſich auflehnte.


Die Frevler verſäumten auch nichts, ihre Herrſchaft
zu befeſtigen. Alle Ehrenſtellen, alle Kriegsämter wurden
unter ihre treuſten Anhänger vertheilt. Die Töchter
Agamemnons betrachteten ſie als gefahrloſe Weiber;
aber zu ſpät fiel ihnen ein, daß in dem jungen Oreſtes,
dem jüngſten Kinde Agamemnons und Klytämneſtra's,
dem Vater ein Rächer nachwachſe. Obgleich er kaum
zwölfjährig war, hätten ſie ihn doch gerne getödtet,
um ſich von aller Furcht der Strafe zu befreien. Aber
ſeine kluge Schweſter Elektra, beſonnener als die Mör¬
der, hatte ſogleich nach der That Sorge für ihn getragen,
und ihn heimlich dem Sklaven, dem ſeine Aufſicht an¬
vertraut war, übergeben. Dieſer hatte ihn nach Phanote
im Lande Phocis gebracht, und ihn dort als ein heiliges
Unterpfand dem befreundeten Könige Strophius über¬
geben, der ſein zweiter Vater wurde und ihn mit ſeinem
eigenen Sohne Pylades ſorgfältig erzog.


[14]

Agamemnon gerächt.

Elektra führte inzwiſchen im Königspallaſte ihres
ermordeten Vaters das traurigſte Leben, und nur die
Hoffnung, ihren Bruder einſt, zum Manne herange¬
wachſen, als Rächer in den väterlichen Hallen erſcheinen
zu ſehen, friſtete ihr kummervolles Daſeyn. Von der
Mutter wurde ihr die bitterſte Feindſchaft zu Theil; im
eigenen Stammhauſe mußte ſie mit den Mördern ihres
Vaters wohnen und ihnen in Allem unterwürfig ſeyn;
auf ſie kam es an, ob ſie darben, oder den nothdürftigen
Unterhalt empfangen ſollte. Auf dem Thron Agamem¬
nons ſah ſie den Aegiſthus in königlicher Herrlichkeit
ſitzen, ſah ihn in deſſen ſchönſte Gewande, welche die
Vorrathskammern des Pallaſtes füllten, gekleidet, ein¬
hergehen, und den Schutzgöttern des Hauſes an derſelben
Stelle Trankopfer ſpenden, wo er ſeinen Blutsverwandten
ermordet hatte. Sie war Zeuge der zärtlichen Vertrau¬
lichkeit, mit welcher die freche Mutter den Beſudelten
behandelte; denn dieſe, mit Lächeln über das hinſchlü¬
pfend, was ſie Gräuliches begangen hatte, ordnete all¬
jährlich Feſtreigen an dem Tage an, an welchem
ſie den Gatten trügeriſch dahingewürgt, und brachte
noch dazu den Rettungsgöttern jeden Monat reichliche
Schlachtopfer dar. Die Jungfrau verzehrte ſich bei
dieſem empörenden Anblicke in geheimem Gram, denn
es war ihr nicht einmal frei zu weinen vergönnt, ſo ſehr
ihr Herz darnach begehrte. „Was weinſt du, Gott¬
verhaßte,“ rief ihr die Mutter zornig zu, ſo oft ſie
[15] dieſelbe in Thränen fand, „ſtarb denn dir allein der
Vater? hat denn kein Sterblicher zu trauern als du?
Möchteſt du doch in deinem thörichten Jammer ſchmählich
vergehen!“ Zuweilen ward ihr böſes Gewiſſen durch ein
eitles Gerücht aufgeſchreckt, als ſey Oreſtes aus der
Fremde im Anzug; dann wüthete ſie am rückhaltloſeſten
gegen die unglückliche Tochter. „Nun, wäre es nicht
deine Schuld,“ rief ſie ihr zu, „wenn er käme? Biſt
nicht du es, die ihn aus meiner Hand hinweggeſtohlen
und heimlich davongeſchickt hat? Doch wirſt du dich deiner
Anſchläge nicht freuen; der verdiente Lohn ereilt dich,
ehe du es denkſt!“ In ſolchen Scheltworten ſtand ihr
dann der verworfene Gatte Aegiſthus bei, und vor beider
Flüchen verbarg ſich Elektra in die dunkelſte Kammer
des Hauſes.


Jahre waren ſo dahingeſchwunden, während welcher
ſie unaufhörlich auf die Erſcheinung ihres Bruders Oreſtes
harrte, denn dieſer hatte bei ſeiner Flucht, ſo jung er
war, doch der Schweſter das Verſprechen hinterlaſſen,
zur rechten Zeit, wenn er Manneskraft in ſeinem Arme
mitbringen könnte, da zu ſeyn. Jetzt aber zögerte der
längſt herangereifte Jüngling ſo lange, und die nahen
wie die fernen Hoffnungen erloſchen allmählig in dem
troſtloſen Herzen der trauernden Jungfrau.


Bei ihrer jüngeren Schweſter Chryſothemis, die
nun auch längſt herangewachſen war, aber nicht das
männliche Gemüth Elektra's beſaß, fand die treue Toch¬
ter Agamemnons keine Unterſtützung ihrer Plane, und
wenig Troſt in ihrem Schmerz. Doch geſchah dieß
nicht aus Gefühlloſigkeit, ſondern nur aus Schwäche
des weiblichen Herzens. Chryſothemis gehorchte der
[16] Mutter und widerſetzte ſich nicht halsſtarrig ihren Be¬
fehlen wie Elektra. So kam ſie denn auch eines Tages
mit Opfergeräthe und Grabesſpende für Verſtorbene im
Auftrage der Mutter vor das Thor des Pallaſtes ge¬
gangen und trat der Schweſter hier in den Weg. Elektra
ſchalt ſie über dieſen Gehorſam und fand es ſchnöde,
daß ein Kind ſolchen Mannes des Vaters vergeſſen und
der ruchloſen Mutter ſtets gedenken könne. „Willſt du
denn,“ erwiederte ihr Chryſothemis, „ſo lange Zeit hin¬
durch niemals lernen, Schweſter, leerem Grame dich
nicht fruchtlos hinzugeben? Glaube nur, daß mich auch
kränkt, was ich ſehe, und nur aus Noth ziehe ich mein
Segel ein. Dich aber, dieß vernahm ich von den Grau¬
ſamen, wollen ſie, wenn du nicht aufhörſt zu klagen,
ferne von dem Elternhauſe in einen tiefen Kerker werfen,
wo du den Strahl der Sonne niemals wieder ſchauen
ſollſt. Bedenke dieß, und gib nicht mir die Schuld,
wenn jene Noth einbricht!“ — „Mögen ſie es thun,“
antwortete Elektra ſtolz und kalt, „mir iſt am wohlſten,
wenn ich recht ferne von euch Allen bin! Aber wem
bringſt du dieſes Opfer da, Schweſter?“ — „Es iſt von
der Mutter unſerm verſtorbenen Vater beſtimmt,“ —
„Wie, für den Ermordeten?“ rief Elektra ſtaunend.
„Sprich, was bringt ſie auf ſolche Gedanken?“ — „Ein
nächtliches Schreckbild,“ erwiederte die jüngere Schwe¬
ſter. „Sie hat, ſo geht die Sage, unſern Vater im
Traume geſchaut, wie er den Herrſcherſtab, den er einſt
trug und jetzt Aegiſthus trägt, in unſerm Hauſe ergriff
und in die Erde pflanzte. Dieſem entſproßte alſobald
ein Baum mit Aeſten und üppigen Zweigen, der über
ganz Mycene ſeinen Schatten verbreitete. Durch dieſes
[17] Traumbild geſchreckt und zu banger Furcht aufgeregt,
ſchickt ſie mich heute, wo Aegiſthus nicht zu Hauſe iſt,
des Vaters Geiſt mit dieſem Grabesopfer zu verſöhnen.“
— „Theure Schweſter,“ ſprach Elektra auf einmal in
bittendem Tone, „ferne ſey, daß die Spende des feind¬
ſeligen Weibes das Grab unſeres Vaters berühre! Gib
das Opfer den Winden, vergrab' es tief in den Sand,
wo auch kein Theilchen davon die Ruheſtätte unſers Va¬
ters erreichen könne. Meinſt du, der Todte im Grabe
werde das Weihgeſchenk ſeiner Mörderin frohen Muthes
empfangen? Wirf du vielmehr Alles hin, ſchneide dir
und mir ein paar Locken des Haupthaares ab und bring
ihm dieſes unſer demüthiges Haar und meinen Gürtel
da, das Einzige was ich habe, als wohlgefälliges Opfer
dar. Wirf dich dazu nieder und flehe zu ihm, daß er
aus dem Erdenſchooß als Beiſtand gegen unſere Feinde
heraufſteige, daß der ſtolze Fußtritt ſeines Sohnes Oreſtes
bald erſchalle und ſeine Mörder niedertrete. Dann wollen
wir ſein Grab mit reicheren Opfern ſchmücken!“ Chry¬
ſothemis, zum erſtenmale von der Rede der Schweſter
ergriffen, verſprach zu gehorchen, und eilte mit dem
Opfer der Mutter hinaus ins Freie.


Sie hatte ſich noch nicht lange entfernt, ſo kam
Klytämneſtra aus den innern Hallen des Pallaſtes und
fing in gewohnter Weiſe auf ihre ältere Tochter zu
ſchmähen an: „Du biſt heute wieder ganz ausgelaſſen,
ſcheint es, Elektra, weil Aegiſthus, der dich doch ſonſt
in Schranken hielt, heute fort iſt. Schämſt du dich nicht,
anders als es einer ſittſamen Jungfrau geziemt, den
Deinen zur Schande vor das Thor zu gehen und mich da
wohl bei den aus- und eingehenden Mägden zu verklagen?
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 2[18] Nimmſt du noch immer den Vater zum Vorwande deiner
Anklage, daß er durch mich geſtorben ſey? Nun wohl,
ich läugne dieſe That nicht, aber nicht ich allein bin es,
die ſie verrichtete, die Göttin der Gerechtigkeit ſtand mir
zur Seite; und auf ihre Seite ſollteſt auch du treten,
wenn du vernünftig wäreſt. Erfrechte ſich nicht dieſer
dein Vater, den du unaufhörlich beweinſt, allein im
ganzen Volke, deine Schweſter ſich und Menelaus zum
Vortheil hinzuopfern? Iſt ein ſolcher Vater nicht ſchänd¬
lich und ſinnlos? Würde der Todten gewährt zu ſprechen,
gewiß ſie würde mir Recht geben! Ob aber du, Thö¬
rin, mich ſchiltſt, das gilt mir gleich.“


„Höre mich an,“ erwiderte Elektra, „Du geſtehſt
meines Vaters Mord. Das iſt Schande genug, mag
dieſer Mord nun gerecht geweſen ſeyn oder nicht. Aber
nicht um der Gerechtigkeit willen haſt du ihn erſchlagen!
Die Schmeichelei des ſchnöden Mannes trieb dich dazu,
der dich jetzt beſitzt. Mein Vater opferte fürs Heer
und nicht für ſich, nicht für Menelaus. Widerſtrebend,
gezwungen that er es, dem Volke zu lieb. Und wenn
er es für ſich, wenn er es für ſeinen Bruder gethan
hätte, mußte er deßwegen von deiner Hand ſterben?
mußteſt du deinen Mordgenoſſen zum Gemahl nehmen,
und die allerſchimpflichſte That auf die allerverruchteſte
folgen laſſen? oder heißeſt du das vielleicht auch Ver¬
geltung für den Opfertod deines Kindes?“ — „Schnöde
Brut,“ rief Klytämneſtra zornglühend ihr entgegen, „bei
der Königin Diana! du büßeſt mir dieſen Trotz, iſt nur
erſt Aegiſthus zurückgekommen. Wirſt du dein Geſchrei
einſtellen und mich ruhig opfern laſſen?“


Klytämneſtra wandte ſich von der Tochter ab und
[19] trat an den Altar des Apollo, der vor dem Pallaſte wie
vor allen Häuſern der Griechen aufgeſtellt war, Haus
und Straße zu behüten. Das Opfer, das ſie dar¬
brachte, war beſtimmt, den Gott der Weiſſagungen
wegen des Traumgeſichtes zu verſöhnen, das ihr in der
letzten Schreckensnacht im Schlafe vorgekommen war.


Und es ſchien als wolle der Gott ſie erhören.
Noch hatte ſie nicht ausgeopfert, als ein fremder Mann
auf die ſie begleitenden Dienerinnen zuſchritt und nach
der Königswohnung des Aegiſthus ſich erkundigte. Von
dieſen an die Fürſtin des Hauſes gewieſen, beugte er
die Kniee vor ihr und ſprach: „Heil dir, o Königin,
ich bin gekommen, dir ein willkommenes Wort von dei¬
nem und deines Gemahles Freunde zu verkündigen.
Mich ſendet der König Strophius aus Phanote: es
ſtarb Oreſtes; damit iſt mein Auftrag zu Ende.“ „Dieß
Wort iſt mein Tod,“ ſeufzte Elektra und ſank an den
Stufen des Pallaſtes nieder. „Was ſagſt du, Freund,“
ſprach haſtig Klytämneſtra, den Altar mit einem Sprunge
verlaſſend. „Kümmere dich nicht um jene Närrin dort!
Erzähle mir, erzähle!“


„Dein Sohn Oreſtes,“ hub jener an, „von Ruhm¬
begier getrieben, war nach Delphi zu den heiligen Spielen
gekommen. Als der Herold den Anfang des Wettlaufes
verkündigte, ſo trat er herein in den Kreis, eine glän¬
zende Geſtalt, von Allen angeſtaunt. Ehe man ihn recht
ſeinen Anlauf nehmen ſah, dem Wind oder dem Blitze
gleich, war er am Ziele und trug den Siegespreis davon.
Ja, ſo viel der Kampfrichter Heroldsrufe ergehen ließ,
in dem ganzen fünffachen Kampfe der doppelten Renn¬
bahn, erſchallte jedesmal als Name des Siegers,
2 *[20] Oreſtes, der Sohn Agamemnons, des Vö lkerfürſten vor
Troja. Dieß war der Anfang ſeiner Wettkämpfe. Aber,
wenn ihn die höhere Gewalt der Götter irre macht, ſo
entgeht auch der Stärkſte ſeinem Looſe nicht. Denn
als nun am andern Tage wiederum bei Sonnenaufgang
das Wettrennen der geflügelten Roſſe ſeinen Anfang
nahm, war auch er unter vielen andern Wagenlenkern
zur Stelle. Vor ihm waren auf dem Kampfplatz ein
Achaier, ein Spartaner und zwei wohlerfahrene Roſſe¬
lenker aus Libyen erſchienen. Auf ſie folgte Oreſtes als
der Fünfte, mit theſſaliſchen Roſſen; dann, mit einem
Viergeſpann von Braunen, kam ein Ae olier; als ſiebenter
ein Wettrenner aus Magneſia, der Achte ein Kämpfer
aus Aenia mit ſchönen Schimmeln, beide Thracier, aus
Athen ein Neunter, und zuletzt auf dem zehenten Wagen
ſaß ein Böotier. Nun ſchüttelten die Kampfrichter die
Looſe, die Wagen wurden in der Ordnung aufgeſtellt,
die Trompete gab das Zeichen, und dahin jagten ſie
alle, die Zügel ſchwingend und den Roſſen Muth ein¬
rufend. Das Erz der Wagen dröhnte, der Staub flog
empor, keiner ſparte die Geiſſel. Hinter jedem Wagen
ſchnaubten ſchon die Roſſe eines andern. Bereits lenkte
der Aenianer der letzten Säule zu und drängte, ſein
linkes Roß ſtraff am Zügel haltend, die Nabe dorthin,
während er das rechte, das Nebenroß, frei laufen ließ.
Anfangs flogen auch die Wagen alle aufrecht dahin,
bis die hartmäuligen Pferde des Aenianers ſcheu wurden
und gegen den Wagen des Libyers anrannten. Durch
dieſen Einen Fehler gerieth Alles in Verwirrung, Wa¬
gen ſtürzten an Wagen, und bald war das Feld mit
Trümmern bedeckt. Nur der kluge Athener wich ſeitwärts,
[21] hemmte ſeine Roſſe, und ließ im innern Kreiſe den
Strudel der Wagen ſich in einander wühlen. Hinter
dieſem drein kommend trieb als der letzte Oreſtes ſeine
Roſſe an. Wie dieſer nun Alles geſtürzt und in Unord¬
nung und den Athener allein noch übrig ſieht, klatſcht
er mit der Peitſche ſeinem Viergeſpann ins Ohr, und
ſo fährt bald, beide Führer im Sitz aufrecht und vor¬
gelehnt, das kühne Paar mit einander in die Wette.
Oreſtes war auf der langen Bahn auch wirklich glück¬
lich vorwärts gekommen, und ließ, auf dieß ſein Glück
vertrauend, allmählig mit dem Zügel nach. Da wandte
ſich ſein linkes Roß, bog um, und ſtreifte kaum merklich
die letzte Säule der Bahn. Und doch war der Stoß
ſo groß, daß die Nabe mitten durch brach, der Arme
vom Wagenſitze glitt, und an ſeinem Zaume dahinge¬
ſchleift wurde. Als er auf den Boden ſank, flogen ſeine
Roſſe in wilder Flucht durch die Bahn; das Volk jam¬
merte laut auf, denn der ſchöne Jüngling wurde bald
am Boden hingeſchleift, bald ſtreckte er ſeine Glieder gen
Himmel. Endlich hemmten die Wagenlenker ſelbſt mit
Mühe ſein Geſpann und löſten den Geſchleiften ab, der
ſo mit Blut befleckt, ſo entſtellt war, daß ſelbſt ſeine
Freunde den Leib nicht mehr erkannten. Der Leichnam
wurde ſofort ſchleunig auf dem Scheiterhaufen verbrannt,
und wir Abgeordnete aus Phocis bringen in einer klei¬
nen Urne von Erz den jämmerlichen Ueberreſt ſeines
ſtattlichen Leibes, damit ſein Vaterland ihm ein Grab
gönne!“


Der Bote endete: Klytämneſtra aber fühlte ſich von
widerſprechenden Gefühlen bewegt; ſie ſollte ſich eigentlich
über den Tod des gefürchteten Sohnes freuen; aber
[22] doch regte ſich das Mutterblut mächtig in ihr, und ein
unwiderſtehlicher Schmerz verkümmerte ihr das Gefühl
der Sorgloſigkeit, dem ſie ſich mit dieſer Nachricht end¬
lich hingeben zu dürfen glaubte. Elektra dagegen war
nur von Einem Gefühle, dem gränzenloſeſten Jammer
beſeſſen, und machte dieſem in lauten Wehklagen Luft.
„Wohin ſoll ich fliehen,“ rief ſie, als Klytämneſtra mit
dem Fremdling aus Phocis in den Pallaſt gegangen
war, „jetzt erſt bin ich einſam, jetzt erſt des Vaters
beraubt; nun muß ich wieder die Dienſtmagd der ab¬
ſcheulichſten Menſchen, der Mörder meines Vaters ſeyn!
Aber nein, unter demſelben Dache mit ihnen will ich
künftig nicht mehr wohnen, lieber werfe ich mich ſelbſt
hinaus vor das Thor dieſes Pallaſtes, und komme
draußen im Elend um. Zürnt einer der Hausbewohner
darob? wohl, er gehe heraus und tödte mich! das Leben
kann mich nur kränken, und der Tod muß mich erfreuen!“


Allmählig verſtummte ihre Klage und ſie verſank
in ein dumpfes Brüten. Wohl mochte ſie ſtundenlang
ſo in ſich vertieft auf der Marmortreppe am Eingange
des Pallaſtes, den Kopf auf den Schooß gelegt, geſeſſen
haben, als auf einmal ihre junge Schweſter Chryſothe¬
mis voll Freude daher gejagt kam und nach keinem An¬
ſtande fragend, mit einem Jubelruf die Schweſter aus
ihrem brütenden Kummer weckte. „Oreſtes iſt gekommen,“
rief ſie; „er iſt ſo leibhaftig da, wie du mich ſelbſt hier
vor dir ſieheſt!“ Elektra richtete ihr Haupt auf, blickte
die Schweſter mit weitaufgeriſſenen Augen an, und
ſprach endlich: „Redeſt du im Wahnſinn, Schweſter,
und willſt meiner und deiner Leiden ſpotten?“ — „Ich
melde, was ich gefunden,“ ſprudelte Chryſothemis heraus,
[23] lachend und weinend zugleich. „Höre, wie ich auf die
Spur der Wahrheit kam. Als ich an das überwachſene
Grab unſers Vaters kam, da ſah ich auf der Höhe
Spuren einer friſchen Opferſpende von Milch, und zu¬
gleich ſeine Ruheſtätte mit mancherlei Blumen bekränzt.
Staunend und ängſtlich durchſpähete ich den Ort, und
als ich Niemand gewahr wurde, wagte ich es, weiter
zu forſchen. Da entdeckte ich am Rande des Grabmals
eine friſch abgeſchnittene Locke. Auf einmal ſteigt in
meiner Seele, ich weiß nicht wie, das Bild unſeres
fernen Bruders Oreſtes auf, und mich ergreift eine
Ahnung, daß er, nur er es ſey, von welchem dieſe Spur
herrühre. Unter heimlichen Freudenthränen greife ich
nach der Locke, und hier bringe ich ſie. Sie muß, ſie
muß von des Bruders Haupte geſchnitten ſeyn!“


Elektra blieb bei dieſer unſicheren Kunde unglaubig
ſitzen, und ſchüttelte das Haupt. „Ich bedaure dich
deiner thörichten Leichtgläubigkeit wegen,“ ſprach ſie, „du
weißeſt nicht, was ich weiß.“ Und nun erzählte ſie
der Schweſter die ganze Botſchaft des Phociers, ſo daß
der armen Chryſothemis, die ſich von Wort zu Wort mehr
um ihre Hoffnung betrogen fand, nichts übrig blieb,
als in den Weheruf Elektra's mit einzuſtimmen. „Ohne
Zweifel,“ ſagte Elektra, „rührt die Locke von irgend einem
theilnehmenden Freunde her, der dem jämmerlich umge¬
kommenen Bruder am Grabe des ermordeten Vaters
ein Andenken ſtiften wollte!“ Und doch hatte ſich die Hel¬
denjungfrau unter dieſen Geſprächen wieder ermannt und
machte der Schweſter den Vorſchlag: da die letzte Hoff¬
nung, den Vater durch die Hand des Sohnes zu rächen,
mit Oreſtes erloſchen ſey, die große That gemeinſchaftlich
[24] mit ihr ſelbſt zu vollführen, und den Miſſethäter Aegis¬
thus zu tödten. „Beſinne dich,“ ſprach ſie, „du haſt das
Leben und ſein Glück lieb, Chryſothemis! Nun hoffe
nur nicht, daß Aegiſthus je geſtatten werde, daß wir
uns vermählen, und des Agamemnons Geſchlecht, ihm
und den Seinigen zur Rache, aus uns erneut hervor¬
ſproſſe. Willſt du aber meinem Rathſchlage gehorchen,
ſo verdienſt du dir den Ruhm der Treue um Vater und
Bruder, wirſt in Zukunft frei herangewachſen leben,
wirſt durch einen würdigen Ehebund beglückt werden.
Denn wer ſähe ſich nicht gerne nach einer ſo edlen Toch¬
ter um? dazu wird alle Welt uns zwei Geſchwiſter prei¬
ſen, am Feſtmahl und in der Volksverſammlung werden
wir für unſere Mannesthat nichts als Ehre ärnten! da¬
rum folge mir, du Liebe! hilf dem Vater, dem Bruder;
rette mich, rette dich ſelbſt aus der Noth! Bedenke doch,
wie ein ſchimpfliches Leben Edelgeborene ſchändet!“


Aber Chryſothemis fand den Vorſchlag der plötzlich
begeiſterten Schweſter unvorſichtig, unklug, unausführ¬
bar. „Auf was vertraueſt du denn,“ fragte ſie. „Haſt
du Männerfauſt und biſt nicht ein Weib? Steheſt du
nicht den mächtigſten Feinden, deren Glück von Tage zu
Tage ſich feſter begründet, gegenüber? Wahr iſts, wir
leiden Hartes; aber, ſiehe zu, daß wir uns nicht noch
Unerträglicheres zuziehen. Einen ſchönen Ruf können wir
freilich gewinnen; aber nur durch einen ſchmählichen Tod!
Und vielleicht iſt Sterben nicht das Schlimmſte, und es
würde uns noch Schnöderes zu Theil als der Tod.
Drum, ehe wir ſo rettungslos verderben, laß dich erflehen,
Schweſter, bezwing' deinen Unmuth! Was du mir anver¬
traut haſt, will ich als das tiefſte Geheimniß bewahren!“

[25]

„Deine Rede überraſcht mich nicht,“ erwiederte mit
einem tiefen Seufzer Elektra. „Ich wußte wohl, daß
du meinen Vorſchlag weit von dir werfen würdeſt. So
muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das
Werk gehen. Wohl, es iſt auch ſo recht!“ Weinend
umſchlang ſie Chryſothemis. Aber die hohe Jungfrau
blieb unerbittlich. „Geh,“ ſprach ſie kalt, „zeige nur
Alles deiner Mutter an.“ Und als die Schweſter wei¬
nend den Kopf ſchüttelte und davon ging, ſo rief ſie ihr
nach: „Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!“


Sie ſaß noch immer unbeweglich auf der Schwelle
des Pallaſtes, als zwei junge Männer in der Begleitung
anderer mit einer Todtenurne dahergeſchritten kamen.
Der ſchönſte und blühendſte von ihnen wandte ſich an
Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬
thus, und gab ſich als einen der Abgeſandten aus Pho¬
cis kund. Da ſprang Elektra auf, und ſtreckte die Hände
nach der Urne aus. „Bei den Göttern, Fremdling!“
rief ſie, „wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, ſo gieb es
mir, auf daß ich mit ſeiner Aſche den ganzen, unglück¬
ſeligen Stamm bejammere!“


„Wer ſie auch ſeyn mag,“ ſprach der Jüngling,
die Jungfrau aufmerkſamer betrachtend, „gebet ihr die
Urne. Sicherlich hegt ſie keine Feindſchaft gegen den
Todten, iſt vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm
anverwandtes Blut!“ Elektra faßte die Urne mit beiden
Händen, drückte ſie wieder und immer wieder ans Herz,
und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: „O du
Ueberreſt des geliebteſten Menſchen! Wie mit ganz an¬
derer Hoffnung habe ich dich ausgeſandt und begrüße
dich jetzt, da du ſo zurückkehreſt! Wär' ich doch lieber
[26] geſtorben, anſtatt dich in die Ferne hinaus zu ſenden;
dann wäreſt du an demſelben Tage am Grabe des Va¬
ters als Schlachtopfer geſunken, wäreſt nicht in der
Verbannung umgekommen und von Fremdlingshänden
beſtattet worden! So war denn all meine Pflege, all
meine ſüße Mühe umſonſt! Das Alles iſt mit dir ge¬
ſtorben; der Vater iſt todt, ich ſelbſt bin todt, ſeitdem
du nicht mehr lebſt: die Feinde lachen, unſere Raben¬
mutter tobt in wilder Luſt, denn jetzt fürchtet ſie keine
heimliche Rachebotſchaften, an mich von dir gerichtet,
mehr. Ach, nähmeſt du mich doch mit auf in deine
Urne; ich bin vernichtet, laß mich dein Nichts mit dir
theilen!“


Als die Jungfrau ſo jammerte, konnte ſich der
Jüngling, der an der Spitze der Geſandten ſtand, nicht
länger halten und ſeine Zunge nicht mehr zwingen.
„Iſts möglich,“ rief er, „dieſe Jammergeſtalt ſoll Elektra's
edles Bild ſeyn? O gottlos, o frevelhaft entſtellter Leib!
Wer hat dich ſo zugerichtet?“ — Elektra blickte ihn ver¬
wundert an, und ſprach: „Das macht, ich muß, den Mör¬
dern meines Vaters dienen, gezwungen von der verruch¬
ten Mutter, und mit der Aſche in dieſer Urne iſt alle
meine Hoffnung dahin!“ — „Stell' dieſen Aſchenkrug
weg!“ rief der Jüngling mit thränenerſtickter Stimme,
und als Elektra ſich weigerte und die Urne feſter ans
Herz drückte, da ſprach er weiter: „weg mit der leeren
Urne, es iſt ja Alles nur Schein!“ da ſchleuderte die
Jungfrau das Gefäß von ſich und rief in Verzweiflung:
„Wehe mir! wo iſt ſein Grab denn?“ — „Nirgends,“
war die Antwort des Jünglings; „den Lebendigen wird
kein Grab gemacht!“ — „So lebt er, lebt er?“ — „Er
[27] lebt, wenn anders ich ſelbſt vom Lebenshauch beſeelt bin;
ich bin Oreſtes, bin dein Bruder, erkenne mich an die¬
ſem Mahlzeichen, mit dem der Vater mich am Arme
gezeichnet! Glaubſt du nun, daß ich lebe?“ — „O
Lichtſtrahl in der Nacht!“ rief Elektra und lag in ſeinen
Armen.


In dieſem Augenblicke kam der Mann aus dem
Pallaſte, welcher der Königin die falſche Todesbotſchaft
aus Phocis überbracht hatte; es war der Pfleger des
jungen Oreſtes, dem einſt Elektra ſelbſt den Knaben über¬
geben, und der ihn auf ihren Befehl ins Land der Pho¬
cier geleitet hatte. Als er mit kurzen Worten der Jung¬
frau dieſes kund that, reichte ſie ihm erfreut die Hand und
ſprach: „O du einziger Retter dieſes Hauſes! Welchen
Dienſt haben mir dieſe theuren Hände, dieſe treu bemüh¬
ten Füße geleiſtet! Wie verbargſt du dich ſo lange un¬
entdeckt? Wie habt ihr doch Alles angelegt und verab¬
redet?“ — Aber der Pfleger ſtand ihren ungeſtümen
Fragen nicht Rede. „Es wird die Zeit kommen, da ich
dir Alles mit Gemächlichkeit erzählen kann, edle Königs¬
tochter! Jetzt aber drängt die Stunde zum Angriff, zur
Rache! Noch iſt Klytämneſtra allein im Hauſe, noch
bewacht ſie kein Mann drinnen; denn Aegiſth verweilt
noch in der Ferne! wenn ihr aber noch einen Augenblick
zögert, ſo habt ihr mit Vielen und Ueberlegenen den
Kampf zu wagen!“ Oreſtes ſtimmte ein und eilte mit
ſeinem treuen Freunde Pylades, dem Sohne des Königes
Strophius aus Phocis, der an ſeiner Seite gekommen
war, und mit allen andern Begleitern in den Pallaſt, und
Elektra, nachdem ſie flehend den Altar Apollo's umfaßt
hatte, folgte ihnen. —


[28]

Wenige Minuten waren verfloſſen, als Aegiſthus
zurückkehrend in den Pallaſt trat, und haſtig nach den
Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die
Freudenbotſchaft von Oreſtes Tode gebracht hätten. Die
erſte, die ihm im Innern des Königshauſes begegnete,
war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth
auch an ſie die Frage: „Sprich, du Hochfahrende, wo
ſind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬
ben?“ Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete
ruhig: „Nun, ſie ſind drinnen, ihrer lieben Wirthin
zugeführt!“ „Und melden ſie,“ fuhr er fort, „auch wahr¬
haftig ſeinen Untergang?“ — „O ja,“ erwiederte Elektra,
„nicht nur dieß, ſondern ſie haben ihn ſelbſt bei ſich.“ —
„Das iſt das erſte erfreuliche Wort, das ich von deinen
Lippen höre!“ ſprach hohnlachend Aegiſthus: „doch, ſiehe,
da bringen ſie ja den Todten ſchon!“


Frohlockend ging er dem Oreſtes und ſeinen Beglei¬
tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem
Innern des Pallaſtes in die Vorhalle trugen. „O froher
Anblick,“ rief der König und heftete ſeine gierigen Augen
darauf, „hebet ſchnell die Decke auf; laßt mich ihn des
Anſtands halber beklagen; es iſt ja doch verwandtes
Blut!“ So ſprach er ſpottend. Oreſtes aber entgegnete:
„Erhebe du ſelbſt die Decke, Herrſcher! dir allein ge¬
bührt es, liebevoll zu ſehen und zu begrüßen, was unter
dieſer Hülle liegt!“ — „Wohl, antwortete Aegiſthus,
aber ruf' auch Klytämneſtra herbei, daß ſie ſchaue, was
ſie gerne ſehen wird.“ — „Klytämneſtra iſt nicht ferne,“
rief Oreſtes. Indem lüftete der König die Decke, und
fuhr mit einem Schrei des Entſetzens zurück: nicht die
Leiche des Oreſtes, wie er gehofft hatte — der blutige
[29] Leichnam Klytämneſtra's zeigte ſich ſeinen Blicken. „Weh
mir,“ ſchrie er, „in welcher Männer Netze bin ich Un¬
glückſeliger gerathen?“ Oreſtes aber donnerte ihn mit
tiefer Stimme an: „Weißeſt du denn nicht ſchon lange,
daß du zu Lebendigen als zu Todten ſpracheſt? Sieheſt
du nicht, daß Oreſtes, der Rächer ſeines Vaters, vor
dir ſteht?“ — „Laß mich reden!“ ſprach zuſammenge¬
ſunken Aegiſthus. Aber Elektra beſchwor den Bruder ihn
nicht anzuhören. Verſtummend ſtießen ihn die Ankömm¬
linge hinein in den Pallaſt, und an demſelben Orte,
wo er einſt den König Agamemnon in Bade gemordet,
fiel Aegiſthus wie ein Opferthier, unter den Streichen
des Rächers.

Oreſtes und die Eumeniden.

Oreſtes hatte, als er die Rachepflicht für den Va¬
ter an der Mutter und ihrem Buhlen übte, nach dem
Willen der Götter ſelbſt gehandelt und ein Orakel des
Apollo hatte ihm befohlen zu thun, was er gethan.
Aber die Frömmigkeit gegen den Vater hatte ihn zum Mörder
an der Mutter gemacht. Nach der That erwachte die
Kindesliebe in ſeiner Bruſt und der durch eine andere Na¬
turpflicht gebotene Frevel gegen die Natur, den er im
gräßlichen Zwieſpalte der Pflichten begangen hatte, ließ
ihn den Rächerinnen ſolcher Frevel, den Erinnyen oder
Rachegöttinnen (Furien) anheimfallen, welche die Griechen
aus Furcht auch die Eumeniden, das heißt, die Gnädigen,
oder: „die uns gnädig ſeyn mögen,“ benannten. Töchter der
Nacht und ſchwarz wie dieſe, von entſetzlicher Geſtalt,
[30] übermenſchlich groß, mit blutigen Augen, Schlangen in
den Haaren, Fackeln in der einen Hand, in der andern
aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten ſie den
Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt, und ſandten
ihm ins Herz die nagenden Gewiſſensbiſſe und die quä¬
lendſte Reue.


Sogleich nach der That jagten ihn die Eumeniden
fort vom Schauplatze derſelben, und als ein wahnſinniger
Flüchtling verließ er die wieder gefundenen Schweſtern,
das Vaterhaus Mycene und ſein Vaterland. In dieſer
Noth blieb ihm ſein treuer Freund Pylades, den er in
einem Augenblicke der Beſinnung mit ſeiner Schweſter
Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in
ſeine Heimath Phocis und zu ſeinem Vater Strophius
zurück, ſondern theilte alle Wanderungen in der Irre
mit ſeinem wahnſinnig gewordenen Freunde. Außer die¬
ſer treuen Seele hatte Oreſtes keinen menſchlichen Be¬
ſchützer in ſeinem Elend. Aber der Gott, der ihm die
Rache befohlen hatte, Apollo, war bald ſichtbar, bald
unſichtbar an ſeiner Seite und wehrte die ungeſtüm
nachdringenden Erinnyen wenigſtens vom Leibe des Ver¬
folgten ab. Auch ſein Geiſt wurde ruhiger, wenn der
Gott in der Nähe war.


So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irr¬
fahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und
Oreſtes hatte im Tempel des Apollo ſelbſt, deſſen Zutritt
den Erinnyen verwehrt war, eine Freiſtätte für den Au¬
genblick gefunden. Der Gott ſtand mitleidig zu ſeiner
Seite, wie er auf dem Aeſtrich des Heiligthums ausge¬
ſtreckt, von Müdigkeit und Gewiſſensangſt abgemattet, ge¬
ſtützt auf ſeinen Freund Pylades, ausruhte, und ſprach
[31] ihm Hoffnung und Muth mit den Worten ein: „Unglück¬
licher Sohn, ſey getroſt. Ich werde dich nicht verrathen;
mag ich nahe, oder ferne ſeyn, ſo bin ich dein Wächter,
und nie werde ich deinen Feindinnen feige weichen! Du
ſieheſt auch, wie dort drauſſen die grauenvollen, alten
Mägde, deren Umgang Götter, Menſchen und ſelbſt Thiere
ſcheuen, die ſonſt tief drunten in den Finſterniſſen des
Tartarus wohnen, vom bleiernen Schlafe durch mich ge¬
bändiget, meinem Tempel ferne liegen. Dennoch verlaß
dich nicht auf ihren Schlummer; er wird nicht lange
dauern, denn mir iſt immer nur kurze Macht über die
greiſen Göttinnen vom Schickſale verliehen. Deßwegen
mußt du bald wieder auf die Flucht; doch ſollſt du nicht
länger ohne Ziel umher irren. Richte vielmehr deine
Schritte nach Athen, der ehrwürdigen alten Stadt mei¬
ner Schweſter Pallas Athene; dort will ich dir für ein
gerechtes Gericht ſorgen, vor welchem du deine Stimme
erheben und deine gute Sache vertheidigen kannſt. Keine
Furcht ſoll dich darum bekümmern; ich ſelbſt ſcheide jetzt
von dir, aber mein Bruder Hermes (Merkurius) wird
dich bewachen und ſorgen, daß mein Schützling nicht
verletzt werde.“


So ſprach Apollo. Noch bevor er jedoch ſeinen
Tempel und den Oreſtes verließ, war das Schattenbild
Klytämneſtra's im Traum vor die Seelen der ſchlum¬
mernden Rachegöttinnen getreten, und hatte ihnen die
zornigen Worte zugehaucht: „Iſts auch recht, daß ihr
ſchlafet? Bin ich ſo ganz von Euch verlaſſen, daß ich
ungerächt in der Nacht der Unterwelt umherirren muß?
Das Gräßlichſte habe ich von meinen nächſten Bluts¬
verwandten erduldet, und kein Gott zürnt darüber, daß
[32] ich von den Händen des eignen Sohnes ermordet ge¬
fallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand
euch ausgegoſſen, habt ihr geſchlürft, wie viele nächt¬
liche Mahle habe ich euch aufgetiſcht. Das Alles tretet
ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute laſſet ihr entrinnen,
wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davon hüpft!
Höret mich, ihr Unterirdiſchen! Ich bins, Klytämneſtra,
die ihr zu rächen geſchworen, und die ſich jetzt in euren
Traum einmiſcht, an euren Schwur euch zu erinnern.“


Die ſchwarzen Göttinnen konnten des Zauberſchla¬
fes nicht ſo bald los werden, ſie fuhren fort tief auf¬
zuſchnarchen, und erſt die lauten Worte des Schattens,
die in ihren Traum hineintönten: „Oreſtes, der Mutter¬
mörder, entgeht euch!“ rüttelten ſie endlich aus dem
Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde
Thiere ſprangen ſie vom Lager auf, und ohne Scheu
ſtürmten ſie in den Tempel Apollo's ſelbſt hinein, und
hatten ſchon die Schwelle überſchritten: „Jupiterſohn,“
ſchrien ſie ihm entgegen, „du biſt ein Betrüger! du junger
Gott trittſt die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht,
mit Füßen, du wagſt es, uns dieſen Götterverächter und
Mutterfeind vorzuenthalten, du haſt ihn uns geſtohlen,
und willſt doch ein Gott ſeyn! Iſt das auch vor den
Göttern Recht?“ Apollo dagegen trieb die nächtlichen
Göttinnen mit ſcheltenden Worten aus ſeinem ſonnigen
Heiligthum: „Fort von dieſer Schwelle,“ rief er, „ihr
Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle der Löwen, wo
Blut geſchlürft wird, ihr Scherginnen des Schickſals,
und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels!“
Vergebens beriefen ſich die Rachegöttinnen auf ihr Recht
und ihr Amt. Der Gott erklärte den Verfolgten für
[33] ſeinen Schützling, weil er in ſeinem Auftrag als der
fromme Sohn ſeines Vaters Agamemnon gehandelt, und ver¬
trieb die Eumeniden von der Schwelle ſeines Tempels, daß
ſie, die Macht des Gottes fürchtend, weit rückwärts flohen.


Dann übergab er den Oreſtes mit ſeinem Freunde
der Obhut Merkurs, des Gottes, in deſſen Schutze die
Wanderer ſtehen, und kehrte in den Olymp zurück. Die
beiden Freunde aber ſchlugen, wie der Gott ihnen be¬
fohlen hatte, den Weg nach Athen ein, während die
Erinnyen ihnen, aus Scheu vor der goldenen Ruthe des
Götterboten, nur aus der Ferne zu folgen wagten. All¬
mählig jedoch wurden ſie kühner; und als die beiden
Freunde glücklich in der Stadt Pallas Athene's ange¬
kommen waren, heftete ſich ihnen die Schaar der Rä¬
cherinnen dicht an die Ferſen und kaum war Oreſtes
mit ſeinem Freund im Tempel der Athene (Minerva)
angekommen, ſo ſtürmte auch ſchon der grauenvolle Chor
durch die offenen Pforten deſſelben herein.


Oreſtes hatte ſich vor der Bildſäule der Göttin
niedergeworfen, ſtreckte ſeine offenen Arme betend nach
ihr aus und rief in der heftigſten Aufregung ſeines Ge¬
müthes: „Königin Athene, auf Apollo's Befehl komme
ich zu dir. Nimm einen Angeklagten gnädig auf, deſſen
Hände nicht mit unſchuldigem Blute befleckt ſind, und
der doch müde iſt von ungerechter Flucht und abgeſtumpft
vom Flehen in fremden Häuſern. Ueber Städte und
Einöden komme ich daher, gehorſam dem Orakel deines
Bruders, liege hier in deinem Tempel und vor deinem
Bilde, und erwarte deinen Richterſpruch, o Göttin!“


Nun erhob auch der Chor der Furien, die hinter ihm
herannaheten, ſeine Stimme, und ſchrie: „Wir ſind dir
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 3[34] auf der Spur, Verbrecher! Wie der Hund dem ver¬
wundeten Rehbock, ſind wir deinen Fußſtapfen gefolgt,
die von Blute triefen! Du ſollſt kein Aſyl finden, Mut¬
termörder! dein rothes Blut wollen wir dir aus den
Gliedern ſaugen, und dann das blaſſe Schattenbild mit
uns hinunter in den Tartarus führen! Nicht Apollo's,
nicht Athene's Gewalt ſoll dich von der ewigen Qual
befreien! Mein Wild biſt du, mir genährt, für meinen
Altar beſtimmt! Auf, Schweſtern, laßt ihn uns mit
unſrem Reigen umtanzen und ſeine beſchwichtigte Seele
durch unſre Geſänge zu neuem Wahnſinn aufregen!“


Und ſchon wollten ſie ihr furchtbares Lied anſtim¬
men, als plötzlich ein überirdiſches Licht den Tempel
durchleuchtete, die Bildſäule verſchwunden war, und an
ihrer Stelle die lebendige Göttin Athene ſtand, mit ern¬
ſten blauen Augen auf die Menge herniederblickend, die
ihre Tempelhallen füllte, und den unſterblichen Mund
zu der himmliſchen Rede erſchließend.


„Wer hat ſich in mein Heiligthum gedrängt,“ ſprach
die Göttin, „während ich am Skamander von den Gebeten
der abziehenden Griechen gerufen, das Beuteloos mir
betrachte, das die frommen Söhne des Theſeus opfernd
mir dort hinterließen? Was für ungewohnte Gäſte muß
ich in meinem Tempel gewahren? Ein Fremdling hält
meinen Altar umfaßt, und Weiber, keinem gezeugten
Sterblichen ähnlich, haben ſich in drohender Stellung
hinter ihn geſchaart. Redet, wer ſeyd ihr alle und was
wollet ihr?“


Oreſtes, von Furcht und Zittern ſprachlos, lag
noch immer auf dem Boden, die Erinnyen aber ſtanden
unverzagt hinter ihm, und nahmen das Wort. „Jupiters
[35] Tochter,“ ſprachen ſie, „ohne Umſchweif ſollſt du Alles
aus unſrem Munde hören. Wir ſind die Töchter der
ſchwarzen Nacht, und Furien nennt man uns drunten
zu Hauſe!“ — „Wohl kenne ich euer Geſchlecht,“ ſprach
Minerva, „und euer Ruf iſt oft ſchon zu mir gedrungen.
Ihr ſeyd die Rächerinnen des Meineids und des Ver¬
wandtenmordes: was kann euch in mein reines Tem¬
pelhaus führen?“


„Dieſer Menſch, der hier zu deinen Füßen deinen
Altar durch ſeine Gegenwart beſudelt!“ ſprachen ſie.
„Er hat ſeine eigene Mutter erſchlagen. Richte du ſelbſt
ihn, wir werden dein Urtheil ehren, denn wir wiſſen,
du biſt eine ſtrenge und gerechte Göttin!“


„Wenn ihr mir denn den Richterſpruch übertraget,“
antwortete Pallas Athene, „ſo ſprich du zuerſt, Fremd¬
ling, was kannſt du gegen die Ausſagen dieſer Unter¬
irdiſchen vorbringen? Nenne mir zuerſt dein Vaterland,
dein Geſchlecht und dein Schickſal, und alsdann reinige
dich von dem Frevel, der dir Schuld gegeben wird.
Solches geſtatte ich dir, weil du vor meinem Altare
knieend liegſt, und ihn als demüthiger Schützling um¬
faſſet hältſt! Auf alles Jenes aber antworte mir ohne
Gefährde!“


Jetzt erſt wagte Oreſtes den Blick vom Boden zu
erheben, richtete ſich auf, doch ſo, daß er immer noch
vor der Göttin auf den Knieen lag, und ſprach: „Kö¬
nigin Athene! Vor allen Dingen ſey dir die Beſorg¬
niß um dein Heiligthum benommen! Ich habe keinen
unſühnbaren Mord begangen; ich umfange deinen Altar
nicht mit unſauberen Händen! Ich bin gebürtig aus
Argos, und du kennſt meinen Vater wohl. Es iſt Aga¬
3 *[36] memnon, der Völkerfürſt, der Führer der griechiſchen
Flotte vor Troja, mit dem du ſelbſt Ilios herrliche Veſte
zerſtöret haſt. Dieſer, nach Hauſe zurückgekehrt, iſt keines
ehrlichen Todes geſtorben, ſondern meine Mutter, die
mit dem fremden Manne buhlte, hat ihn in ein trüge¬
riſches Netz gewickelt und umgebracht; das Bad war der
Zeuge ſeines Mordes. Da bin ich nach langer Zeit,
der ich ſeitdem in der Verbannung gelebt, zurück gekom¬
men ins Vaterland, und habe den Vater gerächt, und,
ich läugne es nicht, habe des geliebten Vaters Mord
mit Mord an der Mutter gerächt. Und zu dieſer That
hat dein eigener Bruder Apollo mich aufgemuntert und
ſein Orakel hat mir mit großer Seelenqual gedroht, wenn
ich die Mörder meines Vaters nicht beſtrafte. Nun ſollſt
du Schiedsrichterin ſeyn, o Göttin, ob ich mit Recht oder
Unrecht gehandelt. Auch ich unterwerfe mich deinem
Richterſpruch!“


Die Göttin ſchwieg eine Weile nachdenklich; dann
ſprach ſie: „Die Sache, die entſchieden werden ſoll, iſt
freilich ſo dunkel, daß ein menſchliches Gericht nicht
damit fertig würde; darum, obwohl ich ſterbliche Richter
für ſie wählen will, iſt es doch gut, daß ihr euch mit
eurem Rechtsſtreit an eine Unſterbliche gewendet. Denn
ich ſelbſt will das Gericht verſammeln, in meinem Tempel
den Vorſitz führen und bei ſchwankendem Urtheile den
Ausſchlag geben. Inzwiſchen ſoll dieſer Fremdling unter
meinem Schirm unangetaſtet in unſrer Stadt leben. Ihr
aber, finſtre, unerbittliche Göttinnen! beflecket dieſen Bo¬
den nicht ohne Noth mit eurer Gegenwart. Gehet hinab
in eure unterirdiſche Behauſung und erſcheinet nicht eher
wieder in dieſem Tempel, bis der anberaumte Tag des
[37] Gerichtes herbeigekommen ſeyn wird. Einſtweilen ſammle
jede Partie Zeugen und Beweiſe: ich ſelbſt aber will
die beſten Männer dieſer Stadt, die meinen Namen
führt, ausleſen, und zur Aburtheilung dieſes Streites
beſtellen.“


Nachdem die Göttin ſodann den Tag des abzuhal¬
tenden Gerichtes feſtgeſetzt hatte, wurden die Parteien
aus dem Tempel entlaſſen. Die Rachegöttinnen gehorch¬
ten dem Ausſpruche Minerva's ohne Murren, ihre Schaar
verließ den Boden von Athen und ſie ſtiegen wieder
zur Unterwelt hinab; Oreſtes mit ſeinem Freunde wurde
von den Bürgern Athens gaſtlich aufgenommen und
verpflegt.


Als der Gerichtstag erſchienen war, berief ein He¬
rold die auserwählten Bürger der Stadt auf einen Hügel
vor derſelben, der dem Mars oder Ares heilig war, und
deßwegen der Areopag oder Aresberg hieß, wo die Göt¬
tin in Perſon ihrer harrte und Klägerinnen und Ange¬
klagter bereits ſich eingefunden hatten. Aber noch ein
Dritter war erſchienen und ſtand dem Angeklagten zur
Seite. Es war der Gott Apollo. Als die Erinnyen
dieſen erblickten, erſchracken ſie und riefen zornig: „Kö¬
nig Apollo, kümmere du dich um deine eigenen Ange¬
legenheiten! Sprich, was haſt du hier zu ſchaffen?“ —
„Dieſer Mann,“ erwiederte der Gott, „iſt mein Schützling,
der in meinem Tempel zu Delphi ſich in meinen Schirm
begeben, und ich habe ihn von dem vergoſſenen Blut
entſündigt. Darum iſt es billig, daß ich ihm beiſtehe;
und ſo bin ich denn erſchienen, einentheils für ihn zu
zeugen, aiderntheils als ſein Anwalt vor dem ehr¬
würdigen heimlichen Gerichte dieſer Stadt, das meine
[38] himmliſche Schweſter Athene in ihrem Tempel verſammelt
hat, aufzutreten. Denn ich bin es, der ihm den Mord
der Mutter, als eine fromme, den Göttern wohlgefäl¬
lige That, angerathen hat!“


Mit ſolchen Worten trat der Gott ſeinem Schützling
noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für
eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vor¬
zubringen. „Wir werden kurz ſeyn,“ nahm die Aelteſte
unter ihnen, als Sprecherin, das Wort. „Angeklagter!
beantworte uns Frage um Frage: Haſt du deine Mutter
umgebracht oder läugneſt du's?“ —„Ich läugne nicht,“
ſprach Oreſtes, doch erblaßte er bei der Frage. — „So
ſprich, wie haſt du's vollbracht?“ — „Ich habe ihr,“
antwortete der Angeklagte, „das Schwert in die Kehle
gebohrt.“ — „Auf weſſen Rath und Anſtiften haſt du es
gethan?“ — „Der hier neben mir ſteht,“ erwiederte
Oreſtes, „der Gott hat mirs durch einen Orakelſpruch
befohlen; und er iſt da, mir dieß zu bezeugen.“ Darauf
vertheidigte ſich der Angeklagte kürzlich gegen die Richter,
daß er in Klytämneſtra nicht mehr die Mutter, ſondern
nur die Mörderin des Vaters geſehen, und Apollo als
Anwalt ließ eine längere und beredtere Vertheidigung
folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht ſtumm,
und wenn der Gott mit ſchwarzen Farben den Mord
des Gatten den Richtern vor Augen geſtellt, ſo ſchilderten
ſie dagegen mit giftig funkelnden Augen den Frevel des
Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, ſagte
die Sprecherin: „Jetzt haben wir alle unſre Pfeile aus
dem Köcher verſendet; wir wollen ruhig erwarten, wie
die Richter urtheilen werden!“


Minerva hieß die Stimmſteine, jedem einen ſchwarzen
[39] für die Schuld, einen weißen für die Unſchuld des
Beklagten, unter die Richter vertheilen, die Urne, in welche
die Steine zu legen waren, wurde in der Mitte des
umzäunten Platzes aufgeſtellt und ehe die Richter ſich
zum Abſtimmen anſchickten, ſprach die Göttin noch von
der erhöhten Stelle herab, auf welcher ſie als Vorſitze¬
rin des Gerichtes ihren Thronſeſſel eingenommen hatte,
indem ſie ſich aus demſelben erhob und in ihrer ganzen
himmliſchen Hoheit daſtand: „Höret dieſe Beſtimmung
der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! jetzt
wo ihr den erſten Streit wegen vergoſſenen Blutes richtet!
Für alle Folgezeit ſoll dieſer Gerichtshof in euren Mauern
beſtehen. Hier auf dieſem heiligen Marshügel, wo einſt
im Amazonenkriege gegen Theſeus die feindlichen Hel¬
dinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr
Opfer darbrachten, ſoll, nach dem Orte benannt, der
Areopag ſein Blutgericht halten, und durch fromme
Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückſchrecken. Aus
den heiligſten Männern der Stadt gebildet ſtifte ich ihn,
unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, ſtreng, einen
wachſamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande.
Ihr alle Einwohner ſollet ſeine Würde ſcheuen und ihn
ſchirmen als eine heilſame Stütze einer Stadt, wie kein
anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern
ſie beſitzt. Dieß ſey für die Zukunft verordnet. Nun
aber, ihr Richter, erhebet euch, ſcheuet euren Eid, und
leget zur Entſcheidung des Streites eure Stimmen in
die Urne nieder!“


Schweigend erhuben ſich die Richter von den Sitzen
und traten einer um den andern an die Urne, und die
Stimmſteine rollten nach einander hinein. Als Alle
[40] abgeſtimmt hatten, traten auserleſene, durch einen Eid
verpflichtete Bürger hinzu und zählten die ſchwarzen und
die weißen Steine ab. Da befand es ſich, daß die Zahl
beider gleich war, und die Entſcheidung der vorſitzenden
Göttin zukam, wie ſie ſich im Beginne des Gerichtes
dieſelbe vorbehalten hatte. Athene ſtand abermals von
ihrem Sitze auf und ſprach: „Ich bin von keiner Mut¬
ter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Ju¬
piter und aus ſeiner Stirne entſprungen, eine männliche
Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne
Beſchützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite
des Weibes treten, das ſeinen Ehegatten freventlich er¬
ſchlagen hat, dem ſchnöden Buhlen zu gefallen. Nach
meines Herzens Meinung hat Oreſtes wohl gethan, er
hat nicht die Mutter umgebracht, ſondern die Mörderin
des Vaters. Er ſiege!“ Damit verließ ſie den Rich¬
terſtuhl, ergriff einen weißen Stimmſtein und fügte ihn
den andern weißen Steinen hinzu. „Dieſer Mann,“ ſprach
ſie ſodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, „iſt
durch Stimmenmehrzahl von dem Vorwurf ungerechten
Mordes freigeſprochen!“


Als das Urtheil gefällt war, bat Oreſtes die Göt¬
tin um das Wort und ſprach in tiefer Bewegung ſeines
Herzens: „O Pallas Athene, die du mein Geſchlecht
und mich des Vaterlands Beraubten gerettet haſt, in
ganz Griechenland wird man deine Wohlthat preiſen
und ſagen: So wohnet denn jener Argiver wieder in
der Väter Pallaſt, erhalten durch die Gerechtigkeit Mi¬
nerva's, und Apollo's, und des Göttervaters, ohne
deſſen Willen auch das nicht geſchehen wäre. Ich aber
ziehe heim, dieſem Land und Volke ſchwörend, daß für
[41] ewige Zeiten kein Argiver kommen ſoll, die frommen
Athener zu bekriegen! Ja wenn lange nach meinem Tode
einer meiner Landsleute es wagen wollte, dieſen meinen
Eid zu verletzen, ſo wird von der Väter Gruft aus noch
mein Geiſt ihn ſtrafen und ihm Unheil auf den Weg
ſenden, daß er ſeine verfluchten Plane gegen dieſe Stadt
nicht ausführen kann. Lebe denn wohl, du erhabene
Beſchützerin des Rechtes, und du, frommes Volk der
Athener; möge dir in jedem Kriege und in allen Dingen
Sieg und Heil zu Theile werden!“


Unter ſolchen Segenswünſchen verließ Oreſtes den
heiligen Hügel des Mars, geleitet von ſeinem Freunde,
der während des ganzen Gerichts nicht von ſeiner Seite
gewichen war; die Rachegöttinnen wagten es nicht, ge¬
gen den Spruch der Göttin ſich an dem Freigeſprochenen
zu vergreifen, auch ſcheueten ſie die Gegenwart Apollo's,
der bereit war, den Ausſpruch des Gerichtes aufrecht
zu erhalten. Aber die Sprecherin des Chores ſtand
von dem Sitze der Klägerinnen auf und in übermenſch¬
licher Größe dem Gott und der Göttin als ebenbürtig
entgegenſtehend, ließ ſie, mit der rauhen Stimme der Töch¬
ter der Nacht, ihre trotzige Einſprache gegen das Urtheil
alſo vernehmen: „Wehe uns, die uralten Geſetze habt
ihr zu Boden getreten, ihr jüngeren Götter, habt ſie
uns älteren Göttern aus den Händen gerungen! Ver¬
achtet, machtlos zürnend ſtehen wir da. Doch ſoll euch
euer Urtheil gereuen, ihr Athener! Alles Gift unſres
erzürnten Herzens werden wir über dieſen Boden aus¬
ſchütten, wo die Gerechtigkeit verachtet worden iſt. Der
Fraß ſoll über alle Pflanzen, das Verderben über alles
Leben kommen; mit Unfruchtbarkeit und Peſt wollen wir
[42] Land und Stadt heimſuchen, wir, die gekränkten, die
beſchimpften Göttinnen der Nacht!“


Als Apollo dieſen fürchterlichen Fluch vernahm,
trat er ins Mittel und ſprach beſänftigend zu den mäch¬
tigen Göttinnen: „Folget mir, ihr Gnädigen! Zürnet
nicht allzuſehr über das gefällte Urtheil! Seyd ihr doch
nicht beſiegt worden; aus der Urne iſt die gleiche Zahl
ſchwarzer und weißer Steine hervorgegangen; das Gericht
iſt nicht zu eurer Schmach ausgefallen, nur die Barm¬
herzigkeit hat geſiegt, nur die Billigkeit hat den Ange¬
klagten, der zwiſchen zwei heiligen Pflichten wählen und
eine von beiden verletzen mußte, gerettet! Und das
haben wir Götter gethan, nicht die Richter dieſes Landes;
und Jupiter hat es gut geheißen! Darum laſſet euren
Grimm nicht an dem unſchuldigen Volke aus. Verſpreche
ich euch doch in ſeinem Namen, daß ihr ein Heiligthum
und einen würdigen Sitz in ſeinem Lande erhalten ſollet,
daß ihr auf glänzenden Altären der gerechten Stadt
euren Sitz nehmen werdet, verehrt als die unerbittlichen
Göttinnen gerechter Rache von allen Bürgern dieſer Stadt!“


Dieſe Verſicherung bekräftigte auch Athene ſelbſt:
„Glaubet mir, ehrwürdige Göttinnen,“ ſetzte ſie hinzu,
„wenn ihr in einem andern Lande euren Sitz aufſchla¬
get, daß euch das gereuen, daß ihr euch nach dem
verſchmähten ſehnen werdet. Die Bürger dieſer Stadt
ſind bereit euch in hohen Ehren zu halten: Chöre von
Männern und Frauen werden euren Ruhm feiern, neben
dem Tempel des vergötterten Königes Erechtheus ſollt
ihr ein geweihetes Heiligthum erhalten! Kein Haus wird
geſegnet ſeyn, das euch nicht verehrt!“


Solche Verſprechungen beſänftigten allmählich den
[43] Zorn der ſtrengen Rachegöttinnen, ſie gelobten ihren
gnädigen Sitz in dem Lande zu nehmen, fühlten ſich
hoch geehrt, daß ſie gleich Athenen und Apollo Altäre
und Heiligthum in der berühmteſten Stadt beſitzen ſoll¬
ten, *)und endlich wurde ihr Sinn ſo milde, daß ſie
auch ihrerſeits das feierliche Verſprechen vor den anwe¬
ſenden Göttern ablegten, die Stadt zu ſchirmen, böſe
Wetter, Sonnenſtich, giftige Seuchen von ihrem Gebiete
abzuhalten, die Herden des Landes zu ſchirmen, den
Bund der Ehen zu ſegnen, und im Einverſtändniſſe mit
ihren Halbſchweſtern, den Parzen oder Schickſalsgöttin¬
nen, das Wohl des ganzen Landes auf alle Weiſe zu
befördern. Ja ſie wünſchten dem ganzen Volke ewige
Eintracht und holden Frieden, und ihr ſchwarzer Chor
brach unter Dankſagungen des himmliſchen Geſchwiſter¬
paares auf, und verließ von der ganzen Einwohnerſchaft
unter Lobgeſängen begleitet den Areopag und die Stadt.

Iphigenia zu Tauri.

Von Athen hatten ſich die beiden Freunde, Oreſtes
und Pylades, der erſte nun wieder von ſeiner Schwer¬
muth geneſen, nach Delphi zu dem Orakel Apollo's
gewendet und dort fragte Oreſtes den Gott, was er
weiter über ihn beſchloſſen hätte. Der Spruch der Prie¬
ſterin lautete dahin, daß der Königsſohn von Mycene
die Endſchaft ſeiner Noth erreichen ſollte, wenn er nach
[44] den Gränzen der tauriſchen Halbinſel, in die Nachbar¬
ſchaft der Scythen, ſich begeben hätte, wo Apollo's
Schweſter Diana oder Artemis ein Heiligthum beſitze.
Dort ſollte er das Bildniß der Göttin, das nach der
Sage dieſes Barbarenvolkes vom Himmel gefallen war
und daſelbſt verehrt wurde, durch Liſt oder andere Mittel
rauben und, nach beſtandenem Wageſtück, daſſelbe nach
Athen verpflanzen, denn die Göttin ſehne ſich nach mil¬
derem Himmelsſtriche und griechiſchen Anbetern, und
ihr gefalle das Barbarenland nicht mehr. Wäre dieſes
glücklich vollführt, ſo ſolle der landesflüchtige Jüngling
am Ziele ſeiner Noth ſtehen.


Pylades verließ ſeinen Freund auch auf dieſer rau¬
hen Wanderung nach einem gefahrvollen Ziele nicht.
Denn das Volk der Taurier war ein wilder Menſchen¬
ſtamm, der die an ſeiner Hufe Geſtrandeten und andere
Fremde der Jungfrau Artemis zu opfern pflegte. Den
gefangenen Feinden hieben ſie den Kopf ab, ſteckten ihn
an einer Stange über den Rauchfang ihrer Hütten, und
beſtellten ihn ſo zum Wächter ihres Hauſes, der Alles
von der Höhe herab für ſie überſchauen ſollte.


Die Urſache, warum das Orakel den Oreſtes in
dieſes wilde Land unter den grauſamen Völkerſtamm
ſandte, war aber dieſe. Als Agamemnons und Klytäm¬
neſtra's Tochter auf Anrathen des griechiſchen Sehers
Kalchas, im Angeſichte der Griechen, am Strande von
Aulis geopfert werden ſollte, und der Todesſtreich ge¬
fallen war, der eine Hindin anſtatt der Jungfrau ge¬
troffen hatte,*) da ſtahl die erbarmungsvolle Göttin
[45] Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen
weg, und trug ſie durch das Lichtmeer des Himmels
auf ihren Armen über Meer und Land nach dieſem Tau¬
rien, und ließ ſie hier in ihrem eigenen Tempel nieder.
Dort fand ſie der König des Barbarenvolkes, Thoas
mit Namen, und beſtellte ſie zur Prieſterin des Dianen¬
tempels, wo ſie im Dienſte der Göttin des fürchterlichen
Brauches pflegen, und, wie die alte Sitte des rohen
Landes heiſchte, jeden Fremdling, deſſen Fuß dieß Ufer
betrat, — und meiſtens waren es Landsleute von ihr,
Griechen, die dieſes jammervolle Loos traf, — der
Landesgöttin opfern mußte. Indeſſen hatte ſie nur das
Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin
mußten daſſelbe ſodann in das Heiligthum hinein zur
grauſen Schlachtbank ſchleppen.


Jahre ſchon hatte die Jungfrau ihres traurigen
Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und
um ihrer milden, griechiſchen Sitte und ihrer eigenthüm¬
lichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern
von der Heimath und gänzlich unbekannt mit den Ge¬
ſchicken ihres Hauſes, vertrauert, als es ihr einsmals
in der Nachtruhe träumte, ſie wohne fern von dieſem
Barbarenſtrand im heimathlichen Argos, und ſchlafe von
den Sklavinnen des Elternhauſes umringt. Da fing
auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern
an, und ihr war, als flöhe ſie aus dem Pallaſte, ſtände
draußen und müßte ſehen und hören, wie das Dach des
Hauſes zu wanken begann, und der ganze Säulenbau
bis auf den Grund erſchüttert, zu Boden raſſelte. Ein
einziger Pfeiler — ſo dünkte ihr — vom väterlichen
Hauſe blieb übrig. Mit einemmal bekam dieſer Pfeiler
[46] Menſchengeſtalt, aus dem Säulenknauf wurde ein Haupt,
von blondem Haupthaar umwachſen, und dieſes fing an
in vernehmlichen Lauten zu reden, deren Inhalt jedoch
der Jungfrau entfallen war, als ſie wieder erwachte.
Im Traum aber geſchah es noch, daß ſie, ihrem Frem¬
denmord befehlenden Amte getreu, den Menſchen, der
ein Pfeiler ihres Vaterhauſes geweſen war, als zum
Tode beſtimmt, mit dem Weihwaſſer beſprengte, und
dazu bitterlich weinen mußte, bis ſie der Traum verließ.


Am Morgen, der auf dieſelbe Nacht folgte, war
Oreſtes mit ſeinem Freunde Pylades am tauriſchen Ufer¬
ſtrande ans Land geſtiegen und beide ſchritten auf den
Tempel der Artemis zu. Bald ſtanden ſie vor dem Bar¬
barengebäude, das eher einem Zwinger, denn einem
Götterhauſe glich, und blickten ſtaunend an dem hohen
Mauerringe empor. Endlich brach Oreſtes das Schwei¬
gen. „Du treuer Freund,“ ſprach er, „der auch dieſes
Weges Gefahr mit mir getheilt hat, was fangen wir
an? Wollen wir den Treppenkranz, der ſich um den
Tempel ſchlingt, erklimmen? Aber wenn wir droben
ſind, werden wir nicht in dem unbekannten Gebäude wie
in einem Labyrinthe umhertappen? Und werden nicht
eherne Schlöſſer uns den Zugang zu den Gemächern
verſchließen? Würden wir aber, indem wir Einlaß ſuchen,
indem wir öffnen, an dem Thore von den Wachen,
die ohne Zweifel bei dem Heiligthum aufgeſtellt ſind,
erhaſcht, ſo ſind wir des Todes. Denn das wiſſen
wir ja, daß Griechenmord den Altar dieſer unerbittlichen,
Göttin unaufhörlich beſpritzt! darum, wäre es nicht ge¬
rathener, zu dem Schiffe zurückzukehren, deſſen Segel
uns hierher gebracht hat?“

[47]

„Ey,“ erwiederte Pylades, „das wäre wahrlich
das erſtemal, daß wir mit einander die Flucht ergriffen!
Heilig ſoll uns der Ausſpruch Apollo's ſeyn! doch, wahr
iſts, fort müſſen wir von dieſem Tempel! das Klügſte
iſt, wir verbergen uns in den dunkeln Grotten, die das
Meer beſpült, ferne von unſrem Fahrzeug, damit Keiner,
der es erblickt, dem Herrſcher dieſes Landes von uns
melden könne, und wir nicht von Waffengewalt, die ge¬
gen uns ausgeſendet wird, übermannt werden. Wenn
aber dann die Nacht anbricht, dann laß uns friſch ans
Werk ſchreiten. Die Lage des Tempels kennen wir nun
ſchon; irgend eine Liſt wird uns ins Innere des Tem¬
pelraumes führen, und haben wir das Götterbild einmal
auf den Armen, ſo iſt mir vor dem Rückwege nicht
mehr bange. Tapfre ſtürzen ſich muthig in die Gefahr!
haben wir rudernd nicht einen unermeßlichen Weg zu¬
rückgelegt? Nun wäre es doch ſchmählich, wenn wir
am Ziele umkehrten, und ohne die Beute, die der Gott
uns bezeichnet hat, heimkehrten!“


„Wohlgeſprochen,“ rief Oreſtes, „es geſchehe, wie
du räthſt! Wir wollen uns verbergen, bis der Tag vor¬
über iſt, die Nacht kröne unſer Werk!“


Die Sonne ſtand ſchon höher am Himmel, als auf
die Prieſterin Diana's, die an der Schwelle ihres Tem¬
pels ſtand, ein Rinderhirte, der mit ſchnellen Schritten
vom Meergeſtade herbeigeeilt kam, zuſchritt. Er brachte
die Meldung, daß ein Paar Jünglinge, wohlgefällige
Schlachtopfer der Göttin Artemis, am Ufer gelandet
ſeyen. „Bereite nur, erhabene Prieſterin,“ ſprach er,
„je eher je lieber das heilige Waſſerbad, und ſchicke dich
zu dem Werke an!“ — „Was für Landsleute ſind die
[48] Fremdlinge?“ fragte Iphigenia traurig. — „Griechen,“
erwiederte der Hirt; „weiter wiſſen wir nichts, als daß
der eine von ihnen Pylades heißt, und daß ſie unſre
Gefangenen ſind.“ — „Laßt hören,“ fragte die Prie¬
ſterin weiter, „wo geſchah's, und wie ſinget ihr ſie?“
— „Wir badeten eben,“ erzählte der Hirt, „unſre Rin¬
der im Meere, und warfen eins ums andere in das Waſſer,
das ſtrömend durch die Felſen fällt, welche man die
Symplejaden heißt. Es findet ſich dort ein hohler, durch¬
brochener, ſtets vom Waſſer beſchäumter Felsſturz,
eine Grotte für die Schneckenfiſcher. Hier gewahrte
ein Hirte von unſrer Schaar ein paar Jünglingsgeſtal¬
ten, und ſie kamen ihm ſo ſchön vor, daß er ſie für
Götter hielt, und vor ihnen niederfallen wollte. Ein
anderer aber, der neben ihm ſtand, ein frecher ungläu¬
biger Menſch, war nicht ſo thöricht; er lachte, als er
ſeinen Kameraden die Knie beugen ſah, und ſprach:
„Sieheſt du denn nicht, daß es ſchiffbrüchige Seeleute
ſind, die ſich in jene Felſenkluft gelagert haben, um ſich
zu verbergen, weil ſie voll Angſt von dem Gebrauche
gehört haben, daß wir hier zu Lande die Fremden,
die an unſern Strand gerathen, zu opfern pflegen!“
Dieſe Rede gefiel der Mehrzahl, und wir ſchickten uns
an, Jagd auf die Opfer zu machen. Da trat der eine
der Fremdlinge zu der Felskluft heraus, ſchüttelte ſein
Haupt und warf es wild umher, Arme und Hände
ſchlotterten ihm; laut aufſtöhnend, vom Wahnſinne ge¬
packt, rief er: „„Pylades, Pylades! ſieheſt du dort
nicht die ſchwarze Jägerin, den Drachen aus dem Ha¬
des, wie ſie mich zu morden begehrt, wie ſie mit den
wilden Schlangen züngelnd auf mich zufährt? Und das
[49] die andre, die Feuerathmende, die hat ja meine eigene
Mutter im Arm, und drohet ſie auf mich zu ſchleudern!
Weh mir! Sie erwürgt mich! Wie ſoll ich ihr entflie¬
hen?““ Von allen dieſen Schreckbildern, fuhr der Hirte
fort, war weit und breit nichts zu ſehen, ſondern er hielt
wohl das Gebrüll der Rinder und das Hundegebell für
Stimmen der Furien. Uns aber faßte alle ein Schre¬
cken, zumal da der Fremdling ſein Schwert von der
Seite zog und ſich wie raſend auf die Rinderſchaar warf,
und ihnen das Eiſen in die Bäuche ſtieß, daß ſich bald
die Meeresfluth roth färbte. Endlich ermannten wir
uns, blieſen mit unſern Muſcheln das Landvolk zuſam¬
men und nahten uns den bewaffneten Fremdlingen in
einem geſchloſſenen Haufen. Der Raſende, den die Zu¬
ckungen des Wahnſinns allmählig verlaſſen hatten, ſtürzte
nun, am Mund von Schaume triefend, zu Boden. Wir
alle wandten uns ihm zu mit Werfen und Schleu¬
dern, während ſein Genoſſe ihm den Schaum abwiſchte
und ſeinen eigenen Mantel ihm gewandt um den Leib
ſchlug. Bald aber ſprang der Darniedergeworfene mit
vollem Bewußtſeyn wieder auf und wehrte ſich ſeines
Lebens. Zuletzt jedoch mußten ſie der Ueberzahl weichen,
wir umſchloſſen ſie in einem Kreiſe; die wiederholten
Steinwürfe machten, daß ihnen die Waffen aus den
Händen fielen und ihre Kniee ermattet zu Boden ſanken.
Nun bemächtigten wir uns ihrer und geleiteten ſie zu
Thoas, dem Beherrſcher des Landes. Dieſer hatte ſie
kaum zu Geſichte bekommen, als er auch ſchon befahl,
die Gefangenen dir als Todesopfer zuzuſenden. Flehe
nur, o Jungfrau, daß du recht viel ſolche Fremdlinge
abzuſchlachten bekommſt, denn es ſcheinen recht herrliche
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 4[50] Griechen zu ſeyn. Tödteſt du Solcher Viele, ſo büßt
Griechenland deine Todesangſt nach Gebühr und du biſt
gerächt dafür, daß ſie dich in der Bucht von Aulis um¬
bringen wollten!“


Der Hirte ſchwieg und erwartete die Befehle der
Richterin, die ihm auch wirklich auftrug, die Fremd¬
linge zu holen. Als ſich Iphigenia allein ſah, ſprach
ſie zu ſich ſelber: O mein Herz, ſonſt wareſt du doch
immer barmherzig gegen die Fremdlinge, ſchenktest gerne
deinen Stammesgenoſſen eine Thräne, ſo oft dir grie¬
chiſche Männer in die Hände fielen! Nun aber ſeit der
Traum dieſer Nacht mir die bittre Ahnung eingeflößt
hat, daß mein geliebter Bruder Oreſtes das Licht der
Sonne nicht mehr ſieht — nun ſollet ihr Alle, die ihr
nahet, mich grauſam finden! Sind doch die Unglücklichen
den Beglückten immer abhold! O ihr Griechen, die ihr
mich wie ein Lamm zum Opferherde ſchlepptet, wo
mein eigener Vater der Schlächter war! O, nie ver¬
geſſe ich dieſe Schreckenszeit! Ja wenn Jupiter mir mit
friſchen Winden den Mörder Menelaus einmal herbei¬
führen wollte, und die trügeriſche Helena —“


Sie ward in ihrem Selbſtgeſpräch unterbrochen
durch das Herannahen der Gefangenen, die ihr in Feſſeln
vorgeführt wurden. Als ſie dieſelben kommen ſah, rief
ſie ihren Führern entgegen: „Laſſet den Fremden die
Hände frei; die heilige Weihe, die ſie empfangen ſollen,
ſpricht ſie von allen Banden los! Dann gehet in den
Tempel und beſtellet Alles, was dieſer Fall erfordert!“
Hierauf wandte ſie ſich zu den Gefangenen und redete
ſie an: „Sprechet, wer iſt euer Vater, eure Mutter,
wer eure Schweſter, wenn ihr eine habt, die jetzt eines
[51] ſo ſchmucken, ſtattlichen Bruderpaares beraubt, allein
in der Welt ſtehen ſoll? Woher kommet ihr, bejam¬
mernswürdige Fremdlinge? Ihr hattet wohl eine weite
Fahrt bis zu dieſen Ufern. Doch bereitet euch zu einer
weiteren; denn jetzt geht eure Fahrt hinunter ins Schat¬
tenreich!“


Ihr erwiederte Oreſtes: „Wer du auch immer ſeyeſt,
o Weib, was beklagſt du uns? Wer das Henkerbeil
ſchwingt, dem ſteht es übel an, ſein Opfer zu tröſten,
ehe er den Streich führt; und wem der Tod ohne Hoff¬
nung droht, dem will auch das Jammern nicht geziemen!
Keine Thränen, weder von dir noch von uns! Laß das
Geſchick ergehen!“


„Welcher von euch beiden iſt Pylades? das laſſet
mich zuerſt wiſſen!“ fragte nun die Prieſterin. „Dieſer
hier!“ ſprach Oreſtes, indem er auf ſeinen Freund hin¬
deutete. — „Seyd ihr Brüder?“ — „Durch Liebe,“
antwortete Oreſtes, „nicht durch Geburt!“ — „Wie hei¬
ßeſt denn aber du?“ „Nenne mich einen Elenden,“
erwiederte er, „am beſten iſts, ich ſterbe namenlos; dann
werd' ich doch nicht zum Geſpötte!“ — Die Prieſterin
verdroß ſein Trotz und ſie drang in ihn, ihm wenigſtens
ſeine Vaterſtadt zu nennen. Als der Name Argos im
Ohr klang, zuckte es ihr durch die Glieder und ſie rief
heftig: „Bei den Göttern, Freund, ſtammſt du wirklich
dorther?“ — „Ja,“ ſprach Oreſtes, „von Mycene, wo
mein Haus einſt beglückt war.“ — „Wenn du von Argos
kommſt, Fremdling,“ fuhr Iphigenia mit geſpannter Er¬
wartung fort, „ſo bringſt du wohl auch Nachrichten von
Troja mit? Iſts wahr, daß es ſpurlos vertilgt iſt? Kam
Helena zurück?“ — „Ja, beides iſt ſo, wie du fragſt!“
4 *[52] — „Wie gehts dem Oberfeldherrn? Agamemnon, deucht
mich, hieß er, der Sohn des Atreus?“ — Oreſtes ſchau¬
derte bei dieſer Frage: „Ich weiß nicht,“ rief er mit
abgewandtem Haupte. „Sprich mir von dieſem Gegen¬
ſtande nicht, o Weib!“ Aber Iphigenia bat ihn mit ſo wei¬
cher flehender Stimme um Nachricht, daß er nicht zu wider¬
ſtehen vermochte. „Er iſt todt,“ ſprach er, „durch die
Gemahlin ſtarb er grauſenhaften Todes!“ Ein Schrei
des Entſetzens entfuhr der Prieſterin Diana's. Doch
faßte ſie ſich und fragte weiter: „Sprich nur das noch!
lebt des armen Mannes Weib?„ — „Nicht mehr,“ war
die Antwort, „ihr eigener Sohn hat ihr den Tod ge¬
geben, er übernahm das Rächeramt für ſeinen ermordeten
Vater: doch gehet es ihm ſchlimm dafür!“ — „Lebt
noch ein anderes Kind Agamemnons?“ — „Zwei Töch¬
ter, Elektra und Chryſothemis.“ — „Und was weiß
man von der Aelteſten, die geſchlachtet ward?“ — „Daß
eine Hindin an ihrer Statt ſtarb, ſie ſelbſt aber ſpurlos
verſchwunden iſt. Auch ſie iſt wohl ſchon lange todt!“
— „Lebt der Sohn des Gemordeten noch?“ fragte die
Jungfrau ängſtlich. „Ja,“ ſprach Oreſtes, „doch im
Elend, vertrieben, überall und nirgends!“ — „O trü¬
geriſche Träume, weichet!“ ſeufzte Iphigenia vor ſich
hin. Dann hieß ſie die Diener ſich entfernen, und als
ſie mit den Griechen allein war, ſprach ſie flüſternd zu
ihnen! „Vernehmet etwas, Freunde, das zu eurem und
meinem Vortheile dient, wenn wir einig ſind. Ich will
dich retten, Jüngling, wenn du mir ein Briefblatt in
deine und meine Heimath Mycene, an die Meinigen
gerichtet, nehmen willſt!“ — „Ich mag mich nicht retten,
ohne den Freund,“ antwortete Oreſtes; „ich bin ein
[53] Unglücklicher, von dem er nicht gewichen iſt. Wie ſollte
ich Ihn in der Todesnoth verlaſſen?“ — „Edler, brü¬
derlich geſinnter Freund!“ rief die Jungfrau. „O wäre
mein Bruder, wie du! denn wiſſet, Fremdlinge, auch
ich habe einen Bruder, nur daß er ferne aus meinen
Augen iſt. — Aber beide kann ich euch nicht entlaſſen:
das duldet der König nimmermehr. Stirb denn du, und
laß deinen Pylades ziehen; welcher von euch mir das
Blatt beſorgt — mir gilt es gleich!“ — „Wer wird
mich opfern?“ fragte Oreſtes. „Ich ſelbſt; auf Befehl
der Göttin,“ antwortete Iphigenia. — „Wie, du, das
ſchwache Mädchen, ſchwingſt auf Männer dein Schwert?“
— „Nein, ich benetze nur mit dem Weihwaſſer deine
Locken! Die Tempeldiener ſinds, die das Schlachtbeil
ſchwingen! Dein verbranntes Gebein empfängt ſodann
ein Felſenſchild.“ — „O daß mich meine Schweſter be¬
ſtattete,“ ſeufzte Oreſtes. — „Das iſt freilich nicht
möglich,“ ſagte die Jungfrau gerührt, „wenn deine
Schweſter im fernen Argos weilt. Doch, lieber Lands¬
mann, ſorge nicht, ich will deinen Scheiterhaufen mit
Oele löſchen, und mit Honig beträufeln, und deine Gruft
ausſchmücken, als wäre ich deine leibliche Schweſter!
Jetzt aber laß mich gehen, die Zuſchrift an die Meinen
zu beſtellen!“


Wie die Jünglinge allein, nur in der Ferne von
Dienern bewacht waren, hielt ſich Pylades nicht länger:
„Nein,“ rief er, „bei deinem Tode leben kann ich nicht!
dieſe Schmach verlange nicht von mir. Ich muß dir
in den Tod folgen, wie ich dir aufs weite Meer gefolgt
bin. Phocis und Argos würden mich der Feigheit zeihen.
Alle Welt — denn böſe iſt die Welt — würde ſagen,
[54] ich, um die Heimath mir zu gewinnen, hätte dich ver¬
rathen, dich getödtet, dir nach dem Reich, nach dem
Erbe getrachtet, zumal da ich dein künftiger Schwager
bin und um deine Schweſter Elektra ohne Mitgift gefreit
habe. Jedenfalls alſo will ich, muß ich mit dir ſterben!“
Oreſtes wollte nichts von dieſem Entſchluſſe hören, und
noch ſtritten ſie, als Iphigenia, das beſchriebene Blatt
in der Hand, zurückkehrte. Als ſie den Empfänger Py¬
lades ſchwören laſſen, daß er den Brief gewiß den Ih¬
rigen abliefern wolle und dagegen geſchworen, ihn zu
retten, beſann ſich die Jungfrau, und, auf den Fall,
daß das Schreiben durch irgend einen Unglücksfall von
der See verſchlungen würde, während der Ueberbringer
mit dem Leben davonkäme, wollte ſie ihm den Inhalt
überdieß auch noch mündlich mittheilen, „Melde,“ ſprach
ſie, „dem Oreſtes, dem Sohne des Agamemnon: Iphi¬
genia, die in Aulis vom Opferheerde entrückt wurde,
lebt, und beſtellet an dich, was folgt.“ — „Was höre
ich,“ fiel ihr Oreſtes ins Wort, „wo iſt ſie? ſteht ſie
von den Todten auf?“ — „Hier ſteht ſie,“ ſagte die
Prieſterin, „doch, ſtöre mich nicht!“ — „„Lieber Bruder
Oreſtes! ehe ich ſterbe, hole mich aus der fernen Bar¬
barei nach Argos; erlöſe mich vom Opferheerd, an dem
ich im Dienſte der Göttin die Fremdlinge morden muß.
Thuſt du es nicht, Oreſtes, ſo ſeyen du und dein Haus
verflucht!““


Die beiden Freunde konnten lange vor Staunen
keine Worte finden, bis zuletzt Pylades das Blatt aus
ihren Händen nahm und gegen den Freund gewendet und
ihm den Brief überreichend, ausrief: „Ja, ich will den
Eid auf der Stelle halten, den ich geleiſtet. Da nimm,
[55] Oreſtes, ich händige dir das Schreiben ein, welches die
Schweſter Iphigenie dir überſchickt.“ Oreſtes warf es
auf den Boden und umſchlang die Wiedergefundene mit
den Armen. Sie wollte ihm wehren, ſie konnte es nicht
glauben, bis Erzählungen aus der innerſten Geſchichte
des Atridenhauſes ihn ihr als denjenigen beglaubigten,
der er von Pylades bezeichnet ward. „O Geliebteſter,“
rief die Jungfrau jetzt, „denn das biſt du und nichts
Anderes, du der Meine, der Meine, der Einzige, der
Bruder! Aus dem geliebten Argos kommend! Wie ju¬
gendlich zart wareſt du, als ich dich verließ, im Arme
des Pflegers ruhend, ſorglos und glücklich! Ja, glück¬
lich, wie wir beide in dieſem Augenblick es ſind.“ —
Doch Oreſtes war ſchon zur Beſinnung gekommen und
ſein Antlitz hatte ſich umwölkt. „Freilich ſind wir jetzt
glücklich,“ ſprach er, „aber wie lange wird es währen?
Iſt nicht der Jammer, der Untergang uns gewiß?“
Auch Iphigenia bedachte ſich voll Unruhe: „Was erſinne
ich nun,“ ſagte ſie bebend, „wie erlöſe ich dich aus dem
Reiche des Barbarenfürſten, wie ſende ich dich frei vom Tode
nach Argos zurück, daß du nicht mit ſamt deinem Freunde
am Opferheerde dem Stahl erliegen mußt? Aber ſchnell,
ehe der Herr dieſes Reiches, ungeduldig über den ver¬
zögerten Tod der Gefangenen, erſcheint, erzähle mir,
Bruder, und verſchweige mir nichts von den entſetzlichen
Ereigniſſen in unſrem unglücklichen Hauſe.“


Oreſtes meldete ihr mit gedrängten Worten Alles,
wie es ſich begeben, und ſchloß das Fürchterliche mit
einer guten Kunde, mit der Verlobung Elektra's und
ſeines Freundes. Während der Erzählung hatte ſich die
Jungfrau, ſo ganz ſie Ohr war, doch auch mit der
[56] Rettung ihres geliebten Bruders im Geiſte beſchäftigt,
und zuletzt hatte ſich ihr ein glücklicher Gedanke dar¬
geboten. „Ich habe,“ rief ſie, „endlich, dünkt mir,
den rechten Weg erdacht. Dein Seelenleiden, das ſich
bei eurer Gefangennehmung am Strande noch einmal
regte, ſoll mir zum Vorwande bei dem König dienen.
Du kommeſt, ſage ich ihm, wie denn dieß die Wahrheit
iſt, als Muttermörder von Argos. Deßwegen ſeyeſt du
unrein und noch nicht entſündiget, um als angenehmes
Opfer der Göttin dargebracht zu werden. Erſt müſſe
ein Waſſerbad im Meere die Blutſpur abwaſchen, welche
deinem Leibe noch von dem entſetzlichen Mord anklebe.
Und weil du, im Tempel der Göttin dargeſtellt, ihr
Bild als Schutzflehender berührt habeſt, ſo ſey auch dieſes
verunreinigt worden, und bedürfe einer Reinigung in der
Meeresfluth. Da nun mir, der Prieſterin, allein ver¬
gönnt iſt, das heilige Bildniß zu berühren, ſo trage ich
ſelbſt daſſelbe auf meinen Armen und in eurer Begleitung
(denn auch dich, Pylades, nenne ich als Theilhaber der
Blutſchuld, wie du es denn auch in der That wareſt)
an den Meeresſtrand, dort wo euer Schiff in der Bucht
verſteckt vor Anker liegt. Dieß Alles ſoll durch Ueber¬
redung des Königes geſchehen, denn hintergehen ließe ſich
der Wachſame nicht. Das weitre Gelingen des Planes,
wenn wir einmal am Schiff angekommen ſind, iſt eure
Sache, ihr Freunde!“


Dieß Alles war zwiſchen den Geſchwiſtern und ih¬
rem Freund im Vorhofe des Tempels verhandelt worden,
ferne von den Dienern und Wachen. Jetzt wurden die
Gefangenen den Aufſehern wieder übergeben und Iphi¬
genia führte ſie in das Innere des Tempels. Nicht lange
[57] darauf erſchien Thoas, der König des Landes mit einem
anſehnlichen Gefolge und fragte nach der Tempelwächterin,
denn der Verzug gefiel ihm nicht, und er konnte nicht
begreifen, warum die Leiber der Fremdlinge nicht ſchon
lange auf den Hochaltären der Göttin brannten. Wie
er nun eben vor dem Tempel angekommen war, trat
Iphigenia zu den Pforten deſſelben heraus und trug die
Bildſäule der Göttin auf den Armen. „Was iſt das,
Agamemnons Tochter,“ rief der König erſtaunt, „warum
trägſt du dieſes Götterbild von dem heiligen Geſtelle in
deinen Armen fort?“ — „Es iſt Abſcheuliches geſchehen,
o Fürſt!“ erwiederte die Prieſterin mit bewegter Miene,
„die Opfer, die am Strande erjagt worden, ſind nicht
rein; das Standbild der Göttin, als ſie ſich ihm näher¬
ten, es ſchutzflehend zu umfangen, drehte ſich freiwillig
auf ſeinem Sitze und ſchloß die Augenlieder. Wiſſe,
dieſes Paar hat Grauſenhaftes verübt.“ Und nun er¬
zählte ſie dem Könige, was im Weſentlichen Wahrheit
war, und ſtellte das Verlangen an ihn, die Fremdlinge
ſamt dem Bilde entſündigen zu dürfen. Um ihn recht
ſicher zu machen, verlangte ſie, daß die Fremden wieder
gefeſſelt würden, und ihre Häupter als Frevler vor dem
Strahl der Sonne verhüllt; auch begehrte ſie Sklaven
zur Sicherheit, die im Gefolge des Königs erſchienen
waren. Nach der Stadt — auch dieß hatte die Jung¬
frau ſchlau in ihrem Sinne ausgedacht — ſollte der
Fürſt einen Boten ſenden, der den Bürgern befehle, ſich,
bis die Entſündigung vorüber ſey, innerhalb der Mauern
zu halten, um von der alles verpeſtenden Blutſchuld nicht
angeſteckt zu werden. Der König ſelbſt ſollte in ihrer
Abweſenheit im Tempel bleiben, und für die Ausräucherung
[58] des geſammten Gewölbes beſorgt ſeyn, damit die Prie¬
ſterin daſſelbe nach ihrer Rückkehr gereinigt wieder¬
finde. Sobald die Fremden aus dem Thore des Tem¬
pels träten, ſollte der König ſein Antlitz ins Gewand
hüllen, damit der Gräuel ſich ihm nicht mittheilen könnte.
„Und wenn es dir,“ ſchloß die Prieſterin ihren Antrag,
„auch dünken ſollte, als ſäumte ich lang am Meeres¬
ſtrande: werde darum nicht ungeduldig, o Herrſcher;
bedenke, welchen großen und beſteckenden Frevel es zu
entſündigen gilt!“


Der König willigte in Alles und verhüllte ſich das
Haupt, als bald darauf Oreſtes und Pylades aus dem
Tempel geführt wurden, und es währte nicht lange, ſo
war Iphigenia mit den Gefangenen und einigen Tra¬
banten des Königes auf dem Wege zum Meeresufer aus
dem Geſichtskreiſe des Tempels verſchwunden. Thoas
begab ſich in das Innere deſſelben, und ließ dort die von
der Prieſterin gebotene Räucherung vornehmen, die bei
der Größe des Gebäudes eine geraume Zeit erforderte.


Nach mehreren Stunden kam ein Bote vom Meeres¬
ufer daher geeilt. „Treuloſe Weiberſeelen!“ fluchte er
vor ſich hin, als er erhitzt und keuchend vor der Tempel¬
pforte ſtand und an das verſchloſſene Thor pochte.
„Holla, ihr, Leute drinnen,“ ſchrie er, „öffnet die Rie¬
gel; thut dem Herrn zu wiſſen, daß ich als Ueberbringer
ſchlimmer Neuigkeit vor dem Thore ſtehe!“ Die Thür¬
flügel öffneten ſich, und Thoas ſelbſt trat aus dem Tempel.
„Wer iſt's,“ ſprach er, „der mit ſeinem Lärm den Frieden
dieſes heiligen Hauſes zu ſtören ſich herausnimmt?“ —
„Vernimm, o König, welche Botſchaft ich dir bringe,“
hub der Diener an. „Die Prieſterin des Tempels,
[59] dieſes Griechenweib, iſt mitſamt den Fremden und dem
Standbild unſerer erhabenen Schutzgöttin aus dem Lande
entronnen! das ganze Entſündigungsfeſt war eine Lüge!“
— „Was ſagſt du?“ rief der König, der Unmögliches
zu hören glaubte. „Welcher böſe Geiſt hat dieſes Weib
ergriffen? Wer iſt es, mit dem ſie flieht?“ — „Ihr
Bruder Oreſtes,“ erwiederte der Bote, „derſelbe, den ſie
hier dem Opfertode geweiht zu haben ſchien. Hör' die
ganze Geſchichte, und dann ſinne auf Mittel, wie
wir die Flüchtigen verfolgen und beifahen, denn ihre
Fahrt iſt lang und dein Speer kann ſie ſchon noch er¬
reichen! Als wir ans Geſtade des Oceans gelangt
waren, wo das Schiff des Oreſtes vor Anker lag, winkte
Iphigenia uns, die wir die Fremdlinge in Feſſeln daher¬
führten, Halt zu machen, damit wir dem heiligen Brand¬
opfer und der beſchloſſenen Feier fern blieben. Sie ſelbſt
nahm den Fremden die Feſſeln ab, hieß ſie vorangehen,
und trug ſie, ihnen folgend. Zwar ſchien uns dieſes
ſchon etwas verdächtig, indeſſen glaubten deine Diener,
o Herr, es ſich doch gefallen laſſen zu müſſen. Hierauf,
damit es ſchien, als würde mit der Sühnungshandlung
wirklich der Anfang gemacht, ſang die Prieſterin Zauber¬
formeln ab, und ſprach in fremden Weiſen allerlei Gebete.
Wir aber hatten uns gelagert und harrten. Endlich
kam uns der Gedanke, das entfeſſelte Paar könnte die
wehrloſe Frau getödtet haben und entſprungen ſeyn. Wir
machten uns daher auf, und eilten der Felſenbucht zu,
die uns den Anblick der Prieſterin und der Fremdlinge
entzogen hatte. Als wir dicht an den Felſenſtrand ge¬
langt waren, ſahen wir ein Griechenſchiff auf dem Waſ¬
ſerſpiegel ſchwebend, und an fünfzig Ruderer auf ſeinen
[60] Bänken; am Hintertheile des Schiffes, noch auf dem
Ufer, ſtanden die beiden Fremden, der Feſſeln entledigt;
die Einen lichteten die Anker und hängten ſie ein, Andere
ſchlugen Zugbrücken, wanden an den Tauen, ließen Lei¬
tern für die Fremdlinge nieder. Da beſannen wir uns
denn freilich nicht länger; wir hatten das ganze Trug¬
gewebe vor uns, und ergriffen das Weib, das auch noch
am Strande verweilte. Oreſtes aber, ſein Geſchlecht und
Vorhaben laut verkündend, wehrte ſich mit Pylades für
ſeine Schweſter, die wir ſchleifend zwingen wollten, uns
zu folgen. Da weder wir noch die Fremdlinge Schwer¬
ter hatten, ſo ſetzte es einen hartnäckigen Fauſtkampf.
Indeſſen zwangen uns die Griechenjünglinge zum Rück¬
zuge, da auch die Schützen vom Hintertheile des Schiffes
uns mit Pfeilen aus der Ferne ſcharf zuſetzten. Zu
gleicher Zeit warf eine mächtige Meereswoge das Schiff
ans Land, und es fehlte wenig, ſo wäre es geſcheitert.
Da nahm Oreſtes Iphigenien auf den Arm, die ſelbſt
das Bild auf den Armen trug, ſprang ins Waſſer und
ſchnell die Leiter des Schiffes hinan. Dort legte er die
Schweſter mit ſamt dem Himmelsbilde Dianens auf dem
Verdecke nieder. Ihm nach war Pylades geſprungen,
und als Alle glücklich im Schiffe ſich befanden, brach
das Schiffsvolk in dumpfen Jubel aus, und ruderte friſch
durch die ſalzige Fluth. So lange das Schiff durch die
Hafenbucht fuhr, glitt es in ſanftem Laufe dahin; als
es aber in die offene See gelangt war, ſauſte ein mäch¬
tiger Windſtoß auf daſſelbe herein und trieb es, trotz
aller Anſtrengungen der Ruderer, an das Geſtade zurück.
Da ſprang Agamemnons Tochter flehend empor und
rief laut: „Tochter Latona's, jungfräuliche Artemis, du
[61] ſelbſt verlangteſt ja durch das Orakel deines Bruders
Apollo nach Griechenland, rette mich mit dir, mich,
deine Prieſterin, dorthin, und vergieb mir den kühnen
Betrug, den ich mir gegen den Beherrſcher dieſes Landes
erlaubt habe, dem ich gezwungen ſo lange dienen mußte.
Du ſelbſt ja haſt auch einen Bruder und liebſt ihn, du
Himmliſche! drum ſich auch unſere Geſchwiſterliebe
gnädig an!“ Zu dieſem Gebete der Jungfrau ſtimmten,
die entblößten Arme ums Ruder geſchlungen, die Schiffer
alle den ſtehenden Geſang, Päan genannt, an, wie ihnen
befohlen ward. Dennoch trieb das Schiff immer mehr
an den Strand, und ich bin geradenweges hierher geeilt,
um dir zu melden, was ſich am Ufer dort begeben.
Darum ſende du nur auf der Stelle Fangſtricke und
Feſſeln ans Geſtade; denn wenn das brauſende Meer
nicht bald ruhig wird, ſo iſt den Fremdlingen jeder Weg
zur Flucht verſperrt. Der Meeresgott Poſeidon (Neptun)
denkt mit Zorn an die Zerſtörung ſeiner Lieblingsſtadt
Troja zurück; er iſt ein Feind aller Griechen und des
Atridengeſchlechts insbeſondere. So wird er denn, wenn
mich nicht Alles trügt, die Kinder Agamemnons heute
in deine Gewalt geben!“


Mit Ungeduld hatte der König Thoas das Ende
des langen Berichtes abgewartet, und ließ nun auf der
Stelle an alle Bewohner ſeines rauhen Küſtenlandes den
Befehl ergehen, die Roſſe aufzuzäumen, dem Meeres¬
ſtrande zuzuſprengen, das Griechenſchiff, wenn es durch
die Wellen ans Land geſchleudert wäre, zu faſſen und
unter dem Beiſtande der Göttin Artemis die flüchtigen
Verbrecher einzufangen. Das Fahrzeug ſollte mit allen
Ruderern verſenkt werden, die beiden Fremdlinge aber
[62] mit der treuloſen Prieſterin wollte er vom ſchroffſten
Felſen ins Meer hinabſtürzen, oder bei lebendigem Leib
mit dem Pfahle ſpießen laſſen.


Und ſchon jagte er an der Spitze ſeines reiſigen
Volkes dem Meeresufer zu, als plötzlich eine himmliſche
Erſcheinung den Zug hemmte, und den König wider
Willen ſtille zu ſtehen zwang. Pallas Athene, die er¬
habene Göttin, war es, deren Rieſengeſtalt von einer
lichten Wolke umgeben, über der Erde ſchwebend, dem
Heereszug den Weg vertrat und deren Götterſtimme wie
Donner über die Häupter der Taurier hinrollte: „Wo¬
hin, wohin jageſt du, König Thoas, erhitzt und athem¬
los mit deinem Volke? Schenke den Worten einer Göttin
Gehör! Laß die Haufen deines Heeres ruhen, laß meine
Schützlinge frei abziehen! Das Verhängniß ſelbſt hat,
durch den Ausſpruch Apollo's, den Oreſtes hierher ge¬
rufen, daß er, von den Furien befreit, ſeine Schweſter
ins Vaterland zurückgeleite, und das heilige Bildniß der
Artemis in meine geliebte Statt Athen bringe, wohin
ſie ſelbſt begehret hat! Die Flüchtlinge trägt deßwegen
Poſeidon, der Meeresgott, mir zulieb auf unbewegter
Meeresfläche in ihrem Ruderſchiffe dahin, und Oreſtes
wird in Athen der Tauriſchen Artemis Bild in einem
heiligen Hain und neuen, herrlichen Tempel aufſtellen,
und Iphigenia wird auch dort ihre Prieſterin ſeyn, dort
ſterben, dort ihre fürſtliche Gruft finden. Du, o Thoas,
und du Volk der Taurier, gönnt ihnen Allen ihr Ge¬
ſchick und zürnet nicht!“


Der König Thoas war ein frommer Verehrer der
Götter. Er warf ſich vor der Erſcheinung nieder, und
ſprach anbetend: „O Pallas Athene! Wer Götterwort
[63] vernimmt und ſein Ohr nicht ihm zuneiget, der denkt
verkehrt. Kampf mit allmächtigen Göttern bringt keine
Ehre. Mögen deine Schützlinge mit dem Bildniß der
Göttin ziehen, wohin ſie ſollen, mögen ſie das Bild
glücklich in deinem Reiche aufſtellen. Ich ſenke meine
Lanze vor den Göttern. Laßt uns umwenden, und in
die Mauern unſerer Stadt zurückkehren.“


Es geſchah, wie Athene verkündet hatte. Die Tau¬
riſche Artemis erhielt ihren Tempel und behielt ihre Prie¬
ſterin Iphigenia in Athen. Oreſtes ſetzte ſich zu Mycene
als beglückter König auf den Thron ſeiner Väter, und
gewann mit der einzigen, lieblichen Tochter des Mene¬
laus und der Helena, Hermione, die vergebens an Neopto¬
lemus, den Sohn des Achilles, verlobt worden war, und
die ihm der Bräutigam mit Verluſt ſeines eigenen Lebens
laſſen mußte, auch das Königreich Sparta, und zuvor
noch hatte er Argos erobert. So beſaß er ein mächtige¬
res Reich, als je ſein Vater beſeſſen. Seine Schweſter
Elektra ſetzte ihr Gemahl Pylades auf den Thron von
Phocis. Chryſothemis ſtarb unvermählt; Oreſtes ſelbſt
erreichte ein Alter von neunzig Jahren. Da regte ſich
der alte, erlöſchende Fluch der Tantaliden noch einmal:
eine Schlange ſtach ihn in die Ferſe, daß er ſtarb.

[[64]][[65]]

Zweites Buch.

Odyſſeus.
Erſter Theil.

Telemach und die Freier. — Telemach bei Neſtor. — Telemach
zu Sparta. — Verſchwörung der Freier. — Odyſſeus ſcheidet von
Kalypſo und ſcheitert im Sturm. Nauſikaa. — Odyſſeus bei
den Phäaken. — Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten.
(Cikonen, Lotophagen, Cyklopen, Polyphem.) — Odyſſeus erzählt
(Der Schlauch des Aeolus. Die Läſtrygonen. Circe.) — Odyſſeus er¬
zählt weiter. (Das Schattenreich.) — Odyſſeus erzählt weiter. (Die
Sirenen. Scylla und Charybdis. Thrinakia und die Heerden des Son¬
nengottes. Schiffbruch. Odyſſeus bei Kalypſo.) — Odyſſeus verab¬
ſchiedet ſich von den Phäaken.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 5[[66]][[67]]

Telemach und die Freier.

Die Heimkehr der Griechen von Troja war voll¬
bracht, und, ſo viele der Helden den Schlachten während
des Krieges oder dem Sturm auf der Heimfahrt entronnen
waren, befanden ſich jetzt zu Hauſe glücklich oder un¬
glücklich. Nur Odyſſeus, der Sohn des Laertes, Ithaka's
Fürſt, war noch auf der Irrfahrt und von einem ſelt¬
ſamen Schickſale betroffen. Nach mancherlei Abenteuern,
ſaß er in der Ferne auf einer rauhen, mit Wäldern bedeckten,
einſamen Inſel, mit Namen Ogygia, wo ihn eine hohe
Nymphe, die Göttin Kalypſo, die Tochter des Atlas, in ihrer
Grotte gefangen hielt, weil ſie ihn zum Gemahl begehrte.
Er aber blieb der zurückgelaſſenen Gattin, der edlen Pe¬
nelope, treu; und endlich jammerte ſein auch die Götter
im Olymp; nur Neptunus oder Poſeidon, der Gott des
Meeres, der alte Feind der Griechen, zürnte auch dieſem
Helden unverſöhnlich, und wenn er ihn nicht zu vertilgen
wagte, ſo legte er ſeiner Heimfahrt doch allenthalben
Hinderniſſe in den Weg, und trieb ihn in der Irre umher.
Und ſo war er es auch, der ihn an jene unwirthliche
Inſel geworfen hatte.


Nun aber wurde doch im Rathe der Himmliſchen
beſchloſſen, daß Odyſſeus aus den Banden der Inſelfürſtin
Kalypſo befreit werden ſollte. Auf die Fürbitte Minerva's
wurde Hermes (Merkur), der Götterbote, nach dem ogy¬
giſchen Eilande geſchickt, um der ſchönen Nymphe den
unwiderruflichen Rathſchluß Jupiters zu verkündigen,
daß dem Dulder die Wiederkehr in ſeine Heimath
[68] beſtimmt ſey. Athene ſelbſt (Minerva) band ſich die am¬
broſiſchen, goldenen Sohlen unter die Füße, womit ſie
über Waſſer und Land dahinſchwebt, nahm ihre mächtige
Lanze, mit der gediegenen, ſcharfen Spitze von Erz, mit
welcher ſie ſo manche Helden in der Schlacht bezwungen
hatte, zur Hand, ſchwang ſich ſtürmend von dem felſigen
Gipfel des Olympus herab, und bald ſtand ſie auf der
Inſel Ithaka, die an der Weſtküſte Griechenlands liegt,
am Palaſte des fernen Odyſſeus, vor der Schwelle des
Hofes, da wo der Weg zum hohen Thore des Königs¬
hauſes führte. Ihre Göttergeſtalt war verwandelt, und
die Lanze in der Hand glich ſie dem tapfern Mentes,
dem Könige der Taphier.


Im Hauſe des Odyſſeus ſah es traurig aus. Die
ſchöne Penelope, die Tochter Ikarions, blieb mit ihrem
jungen Sohne Telemach nicht lange Meiſter in dem
verlaſſenen Palaſte. Als Odyſſeus, nachdem ſich
längſt die Nachricht von Troja's Fall und von der
Rückkehr der andern Helden verbreitet hatte, allein
nicht heimkehrte, verbreitete ſich allmählig mit im¬
mer größerer Sicherheit die Sage von ſeinem Tode,
und es fanden ſich aus der Inſel Ithaka ſelbſt, auf
welcher noch andere mächtige und reiche Leute auſſer dem
Fürſten Odyſſeus wohnten, nicht weniger als zwölf, und
von der benachbarten Inſel Same vier und zwanzig,
von Zazynth zwanzig, ja von Dulichium zwei und fünfzig
Freier mit einem Herold, einem Sänger, zween geübten
Köchen und großem Sklavengefolge bei Penelope ein, die,
unter dem Vorwand, um die Hand der jungen Wittwe
zu werben, Alle im Hauſe und vom Gute des abweſen¬
den Fürſten zehrten und den frecheſten Uebermuth trieben;
[69] und dieſes Unweſen hatte nun ſchon über drei Jahre
gewährt.


Als Athene in der Geſtalt des Mentes ankam, fand
ſie die üppigen Freier eben an der Pforte des Hauſes
mit Steineſchieben beſchäftigt, und diejenigen, die nicht
gerade den Stein ſchoben, lagen auf den Häuten von
Rindern hingeſtreckt, die ſie ſelbſt dem Odyſſeus aus den
Ställen genommen und geſchlachtet hatten. Herolde und
aufwartende Diener eilten hin und her; die einen miſch¬
ten in gewaltigen Krügen den Wein unter das Waſſer,
andere ſäuberten die umhergeſtellten Tiſche mit Schwäm¬
men, und zerlegten das reichlich aufgetragene Fleiſch.
Der Sohn des Hauſes, Telemachus ſelbſt, ſaß mit einem
Herzen voll Betrübniß unter den Freiern, und gedachte
an ſeinen herrlichen Vater, ob er nicht endlich käme, die
Schaaren der Frechen zu zerſtreuen und ſich wieder in den
Beſitz ſeiner Habe zu ſetzen. Wie er die Göttin in der
Geſtalt des fremden Königs erblickte, eilte er ihr an der
Pforte entgegen, faßte die Rechte des vermeintlichen Gaſt¬
freundes, und hieß ihn willkommen. Als ſie Beide in den
gewölbten Saal des Palaſtes eingetreten waren, und Athene
ihre Lanze in den Speerkaſten, der ſich an der Hauptſäule
befand, zu den Lanzen des Odyſſeus gelehnt hatte, führte
Telemachus ſeinen Gaſt zu Tiſche an einen Thronſeſſel
mit ſchön gewirktem Polſter, hieß ihn ſitzen und ſchob
ihm einen Schemel unter die Füße; er ſelbſt ſtellte ſeinen
Seſſel neben den ſeinen; eine Dienerin brachte in goldener
Kanne Waſchwaſſer für die Hände des Fremdlings; die
ehrbare Schaffnerin trug Brod und Fleiſch herbei, ſein
Diener zerlegte die Speiſen, und um die goldenen gefüll¬
ten Becher wandelte, Wein einſchenkend, der Herold. Bald
[70] darauf traten auch einer um den andern die Freier ein,
und ſetzten ſich alle auf ſtattliche Lehnſeſſel; die Herolde
beſprengten ihnen die Hände, die Mägde reichten ihnen
Brod in Körben, die Diener füllten ihnen den Becher
bis zum Rand, und ſie machten ſich, als kämen ſie nicht
eben vom Schmauſe, über das leckere Mahl her. Dann
gelüſtete ſie nach Reigentanz und Geſang, der Herold
reichte dem Sänger Phemius die zierliche Harfe, und
dieſer, von den trotzigen Freiern gezwungen, ſchlug die
Saiten an und begann den herzerfreuenden Geſang.


Während nun dieſe dem Liede horchten, neigte
Telemach ſein Haupt nahe an das ſeines Gaſtes und
flüſterte der verwandelten Göttin in's Ohr: „Wirſt du
mir, lieber Gaſtfreund, was ich dir ſage, nicht verargen?
Siehſt du, wie dieſe Menſchen hier fremdes Gut ohne
Erſatz verpraſſen? das Gut meines Vaters, deſſen Ge¬
bein vielleicht am Meeresſtrand im Regen modert, oder
auf den Wellen umhergetrieben wird? Er kommt wohl
nicht wieder heim, ſie zu ſtrafen! — Aber du ſage mir,
edler Fremdling, wer biſt du, wo hauſeſt du, wo deine
Eltern? Biſt du vielleicht ſchon vom Vater her unſer
Gaſtfreund?“ — „Ich bin,“ erwiederte Minerva, „Men¬
tes, der Sohn des Anchialus, und beherrſche die Inſel
Taphos; ich kam zu Schiffe hierher um in Temeſa Erz
gegen Eiſen einzutauſchen. Frage deinen Großvater
Laertes, den Greis, der, wie man ſagt, ferne von der
Stadt, in Kummer auf dem Lande ſich abhärmt: er
wird dir ſagen, daß unſere Häuſer ſeit der Altväter
Zeiten in Gaſtfreundſchaft mit einander leben. Ich kam,
weil ich glaubte, dein Vater ſey wieder daheim. Dem
iſt nun freilich nicht ſo; aber doch lebt er gewiß noch;
[71] er iſt wohl irgendwo an eine wilde Inſel verſchlagen
und wird mit Zwang dort feſtgehalten. Ja, mir ſagt es
mein weiſſagender Sinn, er weilt nicht lange mehr, er
macht ſich bald los, und kehret heim! Du biſt doch
deines Vaters leiblicher Sohn, lieber Telemachus. Wie du
ihm am Haupte, zumal an den freundlichen Augen
gleicheſt! Denn wiſſe, ich habe deinen Vater gekannt, ehe
er gen Troja fuhr. Seitdem ſah ich ihn nicht mehr.
Doch, ſage mir, was iſt denn das für ein Gewühl in
deinem Hauſe? Feierſt du denn ein Gaſtmahl, oder ein
Hochzeitfeſt?“


Telemach antwortete mit einem Seufzer: „Ach lie¬
ber Gaſtfreund, ehemals mochte wohl unſer Haus angeſehen
und begütert heißen; jetzt iſt es anders; alle dieſe Män¬
ner aus der Nachbarſchaft, die du hier ſieheſt, umwerben
meine Mutter, und verzehren unſer Gut. Sie ſelbſt
kann eine verabſcheute Wiedervermählung nicht abſchlagen
und nicht vollziehen. Zudeſſen verwüſten dieſe Schlem¬
mer mein Haus und in Kurzem werden ſie mich ſelbſt
umbringen!“ Mit zornigem Schmerz antwortete die
Göttin: „Wehe, wie ſehr bedarfſt du des Vaters, Jüng¬
ling! Wohl empfehle ich dir, zu bedenken, wie du dieſen
läſtigen Schwarm aus dem Palaſte fortdrängeſt! Laß
mich dir einen Rath geben. Morgen erhebe dich unter
ihnen, und heiße ſie, einen Jeglichen in das Seinige, ſich
zerſtreuen; deiner Mutter aber ſage: wenn ihr eigenes
Herz nach einer Vermählung begehrt, ſo ſoll ſie in den
Palaſt ihres königlichen Vaters heimkehren, dort mag die
Hochzeit angeordnet, mag die Brautgabe bereitet werden.
Du ſelbſt aber rüſte das beſte Schiff, das du haſt, mit
zwanzig Ruderern aus, und begieb dich auf den Weg, den
[72] lange abweſenden Vater zu ſuchen. Zuerſt gehe nach
Pylos im Lande Elis, frage dort den ehrwürdigen Greis
Neſtor; erfährſt du da nichts, ſo wende dich nach Sparta
zum Helden Menelaus, denn dieſer iſt der letzte von den Grie¬
chen, der heimgekehrt iſt. Hörſt du vielleicht dort, daß dein
Vater lebe, daß er wiederkehre; nun dann ertrag' es noch
ein Jahr. Vernimmſt du aber, daß er geſtorben ſey: alsdann
kehre heim, opfre Todtenopfer und erricht' ihm ein Denkmal.
Findeſt du die Freier noch immer in deinem Hauſe, ſo
ſinne darauf, wie du ſie durch Liſt oder öffentlich tödteſt.
Biſt du doch nicht mehr unmündig und dem Knabenalter
längſt entwachſen! Höreſt du nicht, welchen Ruhm der
Jüngling Oreſtes unter den Menſchen geärntet hat, daß
er ſeines Vaters Mörder, Aegiſthus, erſchlagen? Du
biſt ſo groß und ſtattlich; halte dich wohl; mach' daß
auch dich einſt ſpätere Geſchlechter loben!“ Telemach dankte
dem Gaſtfreunde für ſeinen guten Rath und ſeine väter¬
liche Geſinnung, und da dieſer ſich zum Aufbruch an¬
ſchickte, wollte er ihm ein Gaſtgeſchenk mit auf den Weg
geben; der verſtellte Mentes verſprach aber wieder zu
kommen und auf dem Rückweg es abzuholen.


Dann enteilte die Göttin und verſchwand; denn wie ein
Vogel durchflog ſie den Kamin, Telemach ſtaunte über
dem Verſchwinden des Fremden tief in der Seele; er
ahnte, daß es ein Gott geweſen, und ſann in ſich ge¬
kehrt ſeinem Rathe nach.


Im Saale dauerte indeſſen Saitenſpiel und Geſang
fort: der Sänger meldete die traurige Heimfahrt der
Griechen von Troja, und alle Freier horchten. Droben
im Söller ſaß inzwiſchen die einſame Penelope, und der
Hall des Liedes drang zu ihr empor. Da ſtieg auch
[73] ſie mit zwo Dienerinnen die Stufen ihrer hohen Woh¬
nung herab und trat zu den Freiern in den Saal ein,
doch in einen dichten Schleier gehüllt; eine der Mägde
ſtand ihr zur Seite, und weinend begann ſie, zu Phemius
dem Sänger gewendet: „Du weißeſt ja ſonſt viele herz¬
erquickende Lieder, guter Sänger! Erfreue ſie damit;
aber dieſen Jammergeſang, der mir beſtändig das Herz
im Buſen quält, den laß ruhen! Gedenke ich doch auch
ohne das beſtändig des Manne, deſſen Ruhm durch
ganz Griechenland reicht, und der noch immer nicht
heimgekehrt iſt!“ — Aber Telemach redete freundlich zu
der Mutter: „Tadle doch den lieblichen Sänger nicht,
daß er uns mit dem erfreut, was ihm gerade das Herz
entzündet. Nicht den Sängern, Jupitern müſſen wir
Schuld geben, der ihnen die Lieder eingiebt, und ſie
begeiſtert, wie er will! Laß ihn deßwegen immerhin das
Leid der Danaer beſingen! Odyſſeus iſt es ja nicht allein,
der den Tag der Wiederkehr verlor; wie viel andere
Griechen ſind untergegangen! Du ſelbſt, liebe Mutter,
kehr' ins Frauengemach zurück, beſorge dort deine Ge¬
ſchäfte, die Spindel und den Webeſtuhl, und leite das
Tagwerk deiner Frauen! Das Wort gebührt den Män¬
nern und vor allem mir, der ich die Herrſchaft im Hauſe
zu führen habe.“


Penelope verwunderte ſich über die verſtändige und
beſtimmte Rede des Knaben, den ſie früher nie ſo
hatte ſprechen hören, und der auf einmal zum Jüngling
gereift ſchien; ſie kehrte nach dem Söller zurück und be¬
weinte dort ihren Gemahl in der Einſamkeit. Den Freiern
aber, die zu toben und beim Becher Muthwill zu treiben
anfingen, trat Telemachus auch entgegen, und rief in
[74] die Verſammlung hinein: „Freuet euch immerhin beim
Mahle, ihr Freier! aber lärmet mir nicht ſo! denn das
iſt eine Luſt, dem Sänger in Stille zuzuhorchen! Mor¬
gen wollen wir Rathsverſammlung halten; da will ich
euch frank und frei den Vorſchlag machen, nach Hauſe zu
gehen, denn es iſt Zeit, daß ihr euch an eurer eigenen
Habe wärmet, und nicht des fremden Mannes Erbgut
vollends aufzehret!“


Die Freier biſſen ſich auf die Lippen, als ſie ſolche
Reden hörten, und konnten über die entſchloſſenen Worte
des Jünglings nicht genug ſtaunen. Aber von ſeinem
Vorſchlage, zum Vater Penelope's Ikarion zu wandern,
wollten ſie nichts hören, und zankten ſich trotzig mit ihm
herum. Endlich brachen ſie auf und auch Telemach
ging zur Ruhe.


Am andern Morgen ſprang er zeitig vom Lager,
kleidete ſich an und hängte das Schwert um die Schul¬
tern. Dann trat er aus der Kammer hervor und gebot
den Herolden, die Verſammlung der Bürger zu berufen
und lud auch die Freier zu derſelben ein. Als das Volk
ſich gedrängt eingefunden hatte, erſchien der Fürſtenſohn,
die Lanze in der Hand; Pallas Athene hatte ſeiner Ge¬
ſtalt Hoheit und Anmuth verliehen, ſo daß alles Volk
den Kommenden anſtaunte. Selbſt die Greiſe machten
ihm ehrerbietig Platz, und er ſetzte ſich auf den Stuhl
ſeines Vaters Odyſſeus. Da erhub zuerſt der Held
Aegyptius, von Alter gebückt und reich an Erfahrung,
er, deſſen älteſter Sohn Antiphus ſchon mit Odyſſeus
vor Troja gezogen war und erſt auf dem Rückwege ver¬
unglückte, deſſen zweiter Sohn Eurynomus mit unter den
Freiern ſich befand, während die zwei jüngſten Söhne
[75] noch des Vaters Geſchäfte zu Hauſe betrieben, ſich in
der Volksverſammlung und ſprach: „Seit Odyſſeus fort
iſt, ſind wir nicht verſammelt geweſen. Wem iſt denn
auf einmal eingefallen, uns zuſammen zu berufen? Iſt
es ein älterer Mann, oder ein jüngerer, und welches
Bedürfniß treibt ihn? Hörte er etwa Kunde von einem
heranziehenden Kriegsheere? Oder hat er einen Antrag
zum Beſten des Landes zu machen? Nun, gewiß iſt
es ein Biedermann, der alſo gehandelt hat; Jupiter
ſegne ihn, was er auch im Herzen vorhaben mag!“


Telemach erfreute ſich des glücklichen Vorzeichens, das
in dieſen Worten lag, erhub ſich von ſeinem Stuhle und
ſprach, mitten unter die Verſammlung eintretend, nach¬
dem der Herold Piſenor ihm das Scepter gereicht, in¬
dem er ſich zuerſt dem greiſen Aegyptius zuwandte:
„Edler Greis! der Mann, der euch berufen hat, iſt
nicht ferne: ich bins, denn der Kummer und die Sorge
bedrängen mich. Erſt habe ich meinen trefflichen Vater,
euren Beherrſcher, verloren, und jetzt ſtürzt mein Haus
ins Verderben, und alle meine Habe geht in Trümmer!
Mit unerwünſchter Bewerbung ſieht ſich meine Mutter
Penelope von Freiern umdrängt. Dieſe ſträuben ſich,
meinem Vorſchlage ſich zu fügen und bei der Mutter
Vater Ikarion um die Tochter zu werben. Nein, von
Tag zu Tage wenden ſie ſich an unſer Haus, opfern
Rinder zum Mahle, halten bei unſern Schafen und Zie¬
gen Schmaus, und trinken mir den funkelnden Wein
ohne Scheu aus dem Keller. Was vermag ich gegen
ſo viele? Erkennet doch ſelbſt, ihr Freier, euer Unrecht,
habt auch Scheu vor Andern, vor der Nachbarſchaft,
bebet endlich vor der Rache der Götter! Wann hat
[76] euch mein Vater beleidigt, wann habe ich ſelbſt euch
Schaden zugefügt, deſſen Erſatz ihr von mir zu nehmen
berechtigt wäret? So aber ladet ihr mir unverdienten
Schmerz auf die Seele!“


So ſprach Telemachus, vergoß Thränen dazu und
warf zornig ſeinen Scepter auf die Erde. Die Freier
ſaßen ſchweigend umher und keiner, auſſer Antinous, dem
Sohne des Eupithes, wagte es, ihm ein heftiges Wort
auf ſeine Rede zu erwiedern. Dieſer aber erhub ſich
und rief laut: „Trotziger Jüngling, welche Schmähung
erlaubſt du dich gegen uns? Nicht die Freier haben
alles das verſchuldet, ſondern deine eigene Mutter, die
ränkevolle! Drei Jahre, und bald das vierte, ſind dahin,
und immer noch ſpottet ſie des Wunſches des Achajer.
Allen verheißt ſie Gunſt, bald dieſem bald jenem Manne
ſendet ſie Botſchaft zu; aber im Herzen denkt ſie ganz
anders. Wohl durchſchauen wir ihre Liſt. In ihrer Kam¬
mer hat ſie ein großes Gewebe angefangen und zur Ver¬
ſammlung der Freier hat ſie geſprochen: Ihr Jünglinge,
wartet mit der Entſcheidung und der Hochzeit nur ſo lange,
bis ich das Leichengewand für meines Gemahles alten
Vater Laertes fertig gewirkt habe, daß, wenn er der¬
einſt ſtirbt, keine Griechin mich tadeln kann, wenn der an¬
geſehene Mann als Leiche nicht feſtlich eingekleidet da
läge! Mit dieſem frommen Vorwande gewann ſie unſere
Herzen. Nun ſaß ſie auch wirklich den Tag über da,
und wirkte an ihrem großen Gewebe, in der Nacht aber
beim Kerzenlichte, da trennte ſie heimlich Alles wieder
auf, was ſie am Tage gewoben hatte. So entging ſie
unſern Aufforderungen drei Jahre lang und täuſchte edle
Griechenſöhne. Eine der Dienerinnen, welche ſie Nachts
[77] belauſcht hatte, hat uns dieſes hinterbracht, und ſo über¬
raſchten wir ſie ſelbſt, während ſie damit beſchäftigt war,
ihr Gewebe zu zertrennen. Darauf nöthigten wir ſie,
das Werk zu vollenden. So geben wir dir denn zur
Antwort, Telemachus, daß dir allerdings vergönnt ſeyn
ſoll, die Mutter hinweg und zu ihrem Vater zu ſenden;
aber du ſollſt ihr auch gebieten, ſich Demjenigen zu ver¬
mählen, den ihr Vater ausleſen wird, oder den ſie ſich
ſelbſt erwählt. Wenn ſie aber die edlen Griechen noch
länger verhöhnt, und mit ihrem Truggewebe betrügen
will, ſo zehren wir auch noch länger von deinem Gute,
und nicht eher weichen wir von deinem Heerde und be¬
geben uns an den unſrigen, als bis deine Mutter einen
Gatten gewählt hat.“


Darauf antwortete Telemach: „Antinous, mit Zwang
kann ich meine Mutter nicht aus dem Hauſe verſtoßen,
ſie, die mich geboren und erzogen hat, mag nun mein
Vater noch leben oder todt ſeyn. Weder Ikarion, ihr
Vater, noch die Götter könnten ein ſolches Verfahren
billigen. Nein, wenn ihr ſelbſt noch Gefühl für Recht
und Unrecht habt, ſo verlaſſet mein Haus, und beſorget
euch eure Gaſtmahle anderswo, oder verzehret wenigſtens
eure eigene Habe und laſſet die Bewirthung im Kreiſe
herumgehen. Wenn es euch aber behaglicher dünkt, das
Erbe eines einzelnen Mannes ohne Wiedererſtattung zu
verſchlingen — nun, ſo thut es! Ich aber werde die
Ewigen laut anflehen, daß mir Jupiter zur wohlverdien¬
ten Bezahlung an euch verhelfe!“


Während Telemach ſo ſprach, ſchickte ihm Jupiter
ein Himmelszeichen. Zwei Adler des Gebirges ſchweb¬
ten mit ausgebreiteten Schwingen herab aus den Lüften
[78] und um einander her: als ſie der Verſammlung über den
Häuptern waren, ſchauten ſie drohend herab, und fingen
dann an, ſich ſelbſt mit den Klauen Hals und Kopf zu
zerkratzen, dann erhoben ſie ſich wieder und ſtürmten
rechts hin über Ithaka's Stadt. Dieß deutete der an¬
weſende greiſe Vogelſchauer Halitherſes auf großes Ver¬
derben, das den Freiern drohe. Denn noch am Leben
ſey Odyſſeus und nahe ſchon, und der Tod ſey allen
jenen Männern bereitet. Aber der Freier Eurymachus,
des Polybus Sohn, ſpottete des Zeichens und ſagte:
„Geh' du nach Hauſe und verkündige deinen eigenen
Kindern ihr Geſchick, alberner Greis! Uns wirſt du nicht
bethören. Viel Vögel fliegen unter den Strahlen der
Sonne herum, aber nicht alle bedeuten etwas! Gewiſſer
iſt nichts, als daß Odyſſeus in der Ferne ſtarb!“ Uebri¬
gens beharrten die Freier auf ihrem Anſinnen, daß die
Mutter Telemachs ſelbſt das Haus verlaſſen, zu ihrem
Vater Ikarion ziehen und dort wählen ſolle.


Da drang Telemachus nicht weiter in ſie, ſondern
er begehrte vom Volke nur ein ſchnellſegelndes Schiff
und zwanzig Ruderer, um zu Pylos und zu Sparta nach
dem verſchollenen Vater zu fragen. Lebe der, ſo wollte
auch Telemach noch ein Jahr zuſehen; ſey er todt, ſo
möge ein anderer die Mutter nehmen. Jetzt erhub ſich
Mentor, der Freund und Altersgenoſſe des Odyſſeus,
dem dieſer, in den Kampf vor Troja ziehend, die Sorge
des Hauſes anvertraut hatte, daß er, unter der Ober¬
aufſicht ſeines Vaters Laertes, Alles in Ordnung erhielte.
Dieſer ereiferte ſich zornig gegen die Freier und rief:
„Kein Wunder, wenn ein Scepter tragender König Recht
und Billigkeit vergäße, ſtets zürnte und grauſam frevelte:
[79] verdienen es die Menſchen doch nicht anders! Wer in
dieſem Kreiſe gedenkt jetzt noch des freundlichen väter¬
lichen Herrſchers Odyſſeus? Praſſen doch dieſe Freier
ungeſtraft von ſeinem Gute! Und nicht ihnen verdenke
ich es, die da im Wahne handeln, als kehre Odyſſeus
nicht wieder! Aber dem andern Volke verarg' ichs, das
ſtumm daſitzt und zuſchauen mag, und auch nicht mit
einem Wörtchen es verſucht, die frevelnden Freier im
Zaum zu halten, ſo überlegen es ihnen an Zahl iſt!“


Aber Leokritus, einer der frechſten Freier, ſpottete
des Scheltenden und ſprach: „Laß immerhin den Odyſ¬
ſeus kommen, du alter Schadenfroh; wir wollen ſehen,
ob er mit uns fertig wird, wenn er uns bei'm Mahle
überraſcht! Und glaubet mir nur, Penelope ſelbſt, ſo
ſehr ſie nach ihm zu ſchmachten ſcheint, würde ſeiner
Ankunft ſich am wenigſten freuen. Mög' ihn das böſe
Verhängniß vertilgen! Nun, laßt uns ſcheiden, ihr
Männer! Mögen Mentor und der alte Vogelſchauer
Halitherſes die Reiſe des Knaben Telemachus beſchleu¬
nigen. Aber, was wollen wir wetten, er ſitzt noch nach
Wochen hier unter uns, und erſpäht ſich hier in Ithaka
ſelbſt die Botſchaft nach ſeinem Vater. Nimmermehr
vollendet er die Reiſe!“


Lärmend trennten ſich die Freier und die ganze
Volksverſammlung that, ohne einen Beſchluß gefaßt zu
haben, das Gleiche. Jeder ging in ſeine Wohnung,
und die Freier lagerten ſich wieder im Palaſte des
Odyſſeus.


[80]

Telemach bei Neſtor.

Telemach ging hinab ans Meergeſtade, und, die
Hände in der Fluth waſchend, rief er zu dem unbekann¬
ten Gotte, der Tags zuvor in Menſchengeſtalt bei ihm
in ſeiner Wohnung erſchienen war. Da nahete ihm Pallas
Athene, dem Freunde ſeines Vaters, Mentor, an Geſtalt
und Stimme ähnlich, und ſprach: „Telemach, wenn du
hinfort nicht zaghaft und beſinnungslos ſeyn willſt, wenn
der Geiſt deines Vaters, des klugen Odyſſeus, nicht
ganz von dir gewichen iſt, ſo hoffe ich, daß du deinen
Entſchluß ausführeſt! Ich bin der alte Freund deines
Vaters, ich will dir für ein ſchnelles Schiff ſorgen, und
dich ſelber begleiten!“ Telemach, der nicht anders glaubte,
als daß Mentor ſelbſt zu ihm geredet, eilte entſchloſſen
nach Hauſe; auf dem Wege begegnete er dem jungen
Freier Antinous, der ihm lachend die Hand hinbot und
ſprach: „Unbändiger, trotziger Jüngling, zürne nicht län¬
ger! Lieber geſchmauſt und getrunken mit uns, wie bis¬
her! Laß die Bürger für deine Reiſe ſorgen, und wenn
ſie dir Schiff und Mannſchaft gerüſtet haben, dann magſt
du meinethalben nach Pylos fahren!“ Aber Telemach
erwiederte: „Nein, Antinous, es iſt mir unmöglich, län¬
ger ſchweigend mit euch ausſchweifenden Männern am
Mahle zu ſitzen! Ich bin kein Knabe mehr; ihr habt es
hinfort mit einem muthigen Manne zu thun, mag ich
nun gen Pylos fahren, oder auf unſrem Eilande ver¬
bleiben! Aber ich will gehen, und nichts ſoll mir die
beſchloſſene Fahrt vereiteln!“ So ſprechend, zog er leicht
ſeine Hand aus der Hand des Freiers und eilte in die
[81] Vorrathskammer ſeines Vaters hinab, wo Gold und
Erz in Haufen lag, koſtbare Gewande im Kaſten ruhten,
Krüge voll duftigen Oeles und Fäſſer mit balſamiſchem
Weine gefüllt an die Mauer gelehnt umherſtanden. Hier
fand er die wachſame Schaffnerin Eurykléa, ſchloß hinter
ſich die Pforte riegelfeſt, und ſprach zu ihr: „Mütterchen!
Geſchwind ſchöpf' und fülle mir zwölf Henkelkrüge mit
Wein und ſpünde ſie wohl mit Deckeln, ſchütte mir auch
zwanzig Maaße feingemahlenen Mehls in Schläuche, und
rüſte Alles zuſammen auf einen Haufen. Denn vor Nacht
noch, wenn die Mutter ſchon im Schlafgemach iſt, komme
ich, und hohle Alles ab. Erſt nach zwölf Tagen, oder
wenn ſie mich ſelbſt vermißt, darfſt du ihr ſagen, daß
ich fort bin, den Vater zu ſuchen!“ Weinend ſchwur
ihm dieſes die gute Schaffnerin zu, und that wie er
befohlen.


Indeſſen hatte Minerva ſelbſt Telemachs Geſtalt
angenommen, Genoſſen für die Reiſe geworben und von
einem reichen Bürger, Noëmon, ein Schiff zur Reiſe ge¬
borgt. Dann betäubte ſie den Sinn der Freier, daß
ihnen die Becher aus den Händen fielen, und ein tiefer
Schlummer, wie Berauſchten zu geſchehen pflegt, ſich
ihrer bemächtigte. Endlich nahm ſie Mentors Geſtalt
wieder an, geſellte ſich zu Telemach, und ermunterte ihn,
die Fahrt nicht länger zu verſchieben. Bald ſtanden beide
am Meere, fanden dort die Genoſſen, ließen die Zehrung
zu Schiffe bringen und beſtiegen das Fahrzeug. Als
die Woge ſchon um den Kiel ſchlug und der Wind die
Segel ſchwellte, brachten ſie den Göttern ein Trankopfer
dar und fuhren bei günſtiger Luft die ganze Nachtpfeil¬
ſchnell dahin.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 6[82]

Mit Sonnenaufgang lag Neſtors Stadt Pylos vor
den Augen der Schiffenden. Dort brachte gerade das
Volk in neun Rotten geſchaart dem Meeresgotte neun
ſchwarze Stiere zum Opfer dar; verbrannte ſie dem Gott
und ſchmauste von den Ueberbleibſeln. Da landeten die
Männer aus Ithaka, und Telemach, von Athene als
Mentor geführt und zu keckem Gruße aufgemuntert, eilte
unter die Verſammlung des pyliſchen Volkes. Hier ſaß
Neſtor mit ſeinen Söhnen: Freunde rüſteten das Mahl,
Diener ſteckten das Fleiſch an Spieße und brieten es.
Als nun die Pylier Fremdlinge ans Ufer ſteigen und
herannahen ſahen, eilten ſie ihnen ſogleich in dichten
Haufen entgegen, boten ihnen die Hände zum Gruß,
und nöthigten den Telemach und ſeinen Führer zu ſitzen.
Insbeſondere ergriff ſie Piſiſtratus, der Sohn Neſtors,
beide bei der Hand, nöthigte ſie freundlich am Gaſtmahl
Theil zu nehmen, und wies ihnen am Uferſande des
Meeres auf dickwolligen Fließen zwiſchen ſeinem Vater
Neſtor und ſeinem Bruder Thraſymedes den Ehrenſitz an.
Dann legte er ihnen von dem beſten Fleiſche vor, füllte
zwei goldene Becher mit Wein, trank ihnen unter Hand¬
ſchlag zu, und ſprach zu der verſtellten Athene: „Bring dem
Poſeidon das Trankopfer mit Gebet, o Fremdling, und
laß auch deinen jüngeren Freund alſo thun! Bedürfen
doch alle Sterbliche der Götter!“ Athene nahm den Be¬
cher, flehte vom Meeresgotte Segen auf Neſtor, ſeine
Söhne und alle Pylier herab, und bat um Vollendung
deſſen, weßwegen Telemach zu Meere dahergekommen.
Dann ſchüttete ſie von dem Trank zu Boden, und hieß
ihren jungen Begleiter ein Gleiches thun.


Darauf wandte man ſich zu Trank und Speiſe,
[83] und als Hunger und Durſt geſtillt waren, begann der greiſe
Neſtor das freundliche Geſpräch, und forſchte nach dem
Geſchlecht und der Abſicht der Fremden. Telemach beant¬
wortete ihm Beides, und als er auf ſeinen Vater Odyſſeus
reden gekommen war, ſprach er mit Seufzen: „Verge¬
bens ſuchten wir bisher ſein Schickſal zu erkunden. Wir
wiſſen nicht, kam er auf dem Feſtlande von Feinden um,
oder hat ihn die Brandung des Meeres verſchlungen.
Darum flehe ich dich, mir ſeinen traurigen Tod zu ver¬
kündigen, magſt du nun Augenzeuge geweſen ſeyn, oder
ihn nur von einem Wanderer vernommen haben. Schone
mich nicht aus Mitleid, ſondern erzähle mir nur Alles
getreulich!“


„Lieber Jüngling,“ antwortete Neſtor, „weil du
jener Zeit der Trübſal gedenkſt, ſo höre Alles, wie es
ergangen.“ Der Alte holte dann nach Greiſenſitte weit
aus, meldete von dem Tode der größten Helden noch
unter Iliums Mauern ſelbſt, von dem Hader der beiden
Atriden, endlich von ſeiner eigenen Rückfahrt; aber von
Odyſſeus wußte er ſo wenig als der fragende Telemach
ſelbſt. Dagegen erzählte er ihm weitläufig den Tod Aga¬
memnons zu Mycene und die Rache des Oreſtes. End¬
lich rieth er ihm nach Sparta zum Fürſten Menelaus
zu gehen, der erſt neulich von fern entlegenen Menſchen,
an deren Küſte ihn der Sturm verſchleudert, zurückgekehrt
ſey. Da dieſer am längſten unter allen Griechenhelden auf
der Fahrt geweſen, ſey es auch am eheſten glaublich,
daß er irgendwo etwas von dem Geſchicke des Odyſſeus
vernommen.


Athene billigte als Mentor den Vorſchlag und er¬
wiederte hierauf: „der Abend iſt unter unſern Geſprächen
6*[84] eingebrochen; erlaube jetzt, o lieber Greis, meinem jun¬
gen Freunde, dich in deinen Pallaſt zu begleiten und
dort zu ruhen. Ich ſelbſt will nach unſrem Schiffe ſehen,
und meine Genoſſen ermuntern, alles Nöthige anzuordnen.
Dann will ich mein Nachtlager auch daſelbſt nehmen.
Am andern Morgen fahre ich dann zum Volk der Kau¬
konen, wo ich eine Schuld einzufordern habe. Meinen
Freund Telemach aber ſende du ſelbſt“ — Neſtor hatte
dieß ſo angeboten — „mit deinem Sohne auf einem
wohlgezimmerten Wagen, mit deinen leichtfüßigſten Roſſen
beſpannt, nach Sparta.“


So ſprach Minerva, und ſiehe da, pötzlich ver¬
wandelte ſie ſich in einen Adler und flog empor zum
Himmel. Alle ſahen ihr ſtaunend nach, Neſtor ergriff
den Jüngling Telemachus bei der Hand und ſprach:
„du darfſt nicht verzagen und nicht troſtlos werden,
mein Lieber, da ſchon in deiner Jugend beſchirmende
Götter dich begleiten! Denn kein Anderer war dein Ge¬
noſſe als Jupiters Tochter, Athene, die auch deinen
tapfern Vater vor allen andern Argivern immer beſonders
geehrt hat!“ Dann richtete der Greis ein frommes Gebet
an die Göttin, gelobte ihr ein jähriges Rind am andern
Morgen zu opfern, und führte mit Söhnen und Eidamen
ſeinen Gaſt zur Nachtruhe nach Pylos in den Königs¬
palaſt. Hier wurde noch einmal ein Trankopfer dar¬
gebracht und ein Umtrunk gethan. Alsdann begab ſich
ein jeder zur Ruhe. Telemach erhielt ſeine Lagerſtatt
in einem zierlichen Bettgeſtelle unter der hohen Halle
des Hauſes und neben ihm legte ſich der tapfere Piſi¬
ſtratus, Neſtors Sohn, zur Ruhe.


Kaum ſchimmerte die Morgenröthe in den Palaſt,
[85] ſo erhob ſich der rüſtige Greis Neſtor vom Lager, trat
vor die Schwelle und ſetzte ſich auf die ſchönen weißen
Marmorquadern nieder, die als Ruheſitze an den Flü¬
gelthoren des Palaſtes angebracht waren, und wo ſchon
vor Alters ſein Vater Neleus oft geſeſſen. Um ihn
verſammelten ſich ſeine ſechs Söhne und der letzte, Piſi¬
ſtratus, brachte auch den Gaſt aus Ithaka mit, der den
König Neſtor begrüßte, dann aber die Verſammlung
wieder verließ. Nun wurde die Kuh herbeigeholt, die
Neſtor als Opfer der Athene gelobt hatte; der Gold¬
ſchmied Laerkes wurde gerufen, der die Hörner des Rinds
vergolden mußte, die Mägde im Palaſt rüſteten ein
Feſtmahl, ſetzten Stühle, brachten Holz und friſches
Waſſer herbei. Vom Schiffe heraus kamen Telemachs
Freunde. Die Söhne Neſtors führten die Kuh an den
vergoldeten Hörnern herbei, ein anderer trug Waſſer¬
becken und Opfergerſte herbei, der Vierte brachte die
Axt, das Opfer zu ſchlachten, ein Fünfter hielt die
Schale hin, um das Blut des Thieres aufzufangen.
Als das Opferthier den Streich mit der Axt erhalten
hatte, ſchlachtete es unter dem Flehen der Gemahlin und
der Töchter Neſtors der ſechste Sohn Piſiſtratus. Die
beſten Stücke wurden der Göttin verbrannt und dunkler
Wein darauf geſchüttet; das übrige ward an Spieße
geſteckt und gebraten.


Telemach war bei dem Opfer nicht zugegen gewe¬
ſen, er hatte ſich entfernt, um ſich von der Reiſe im
warmen Bade zu erholen, und trat jetzt in den ſchönen
Leibrock gekleidet und in einen prächtigen Mantel gehüllt
unter die Verſammelten wieder ein. Nun ſetzte man ſich
zum Schmaus und Becher und nach dem fröhlichen
[86] Mahle ſchirrte man die ſchönſten Roſſe vor den Wagen,
der den jungen Gaſtfreund nach Sparta bringen ſollte.
Die Schaffnerin legte Brod, Wein und andere Speiſen
hinein, und Telemach beſtieg den Wagenſitz. Neben ihn
ſetzte ſich Piſiſtratus in den Seſſel, faßte die Zügel und
ſchwang treibend die Geißel. Die Roſſe flogen dahin;
bald lag die Stadt Pylos hinter ihnen und den ganzen
Tag ging es im Fluge fort, ohne daß die Thiere zu
ruhen begehrten.


Als die Sonne ſich zum Untergang neigte und die
Pfade ſchattiger wurden, kamen ſie nach der Stadt Pherä,
wo ein edler Griechenheld, Namens Diokles, der Sohn
des Orſilochus, hauste. Dieſer nahm die reiſenden Für¬
ſtenſöhne gaſtlich auf und ſie ruheten in ſeiner Burg die
Nacht über. Am andern Morgen fuhren ſie weiter durch
üppiges Waizenfeld und endlich mit dem Abendſchatten
kamen ſie zu der großen, zwiſchen Bergen gelegenen Stadt
Lacedämon oder Sparta.

Telemach zu Sparta.

Freunde und Nachbarn umgaben den Fürſten Me¬
nelaus zu Sparta im Pallaſte beim fröhlichen Schmauſe;
ein Sänger rührte die Harfe im dichten Gedränge; zwei
Gaukler machten luſtige Sprünge im Kreiſe; der Beherr¬
ſcher des Landes feierte das doppelte Verlobungsfeſt
zweier Kinder, der lieblichen Hermione, Helena's Tochter,
die damals dem muthigen Sohne des Achilles, Neoptolemus,
[87] als Braut entgegengeſandt werden ſollte, und eines Sohnes
von einem Nebenweibe, Megapenthes, den er einer edeln
Spartanerin verlobte. Unter dieſem Getümmel hielten
am Thore der Königsburg Telemach und Piſiſtratus mit
ihrem Wagen, und ein Krieger des Menelaus, der ſie
zuerſt erblickte, meldete dem Fürſten die Ankunft der Frem¬
den, und fragte an, ob die Roſſe abgeſpannt, oder
die Fremden, wegen der feſtlichen Feier im Hauſe,
einer Herberge zur Bewirthung zugewieſen werden ſollten.
„Ey, Held Eteoneus,“ antwortete ihm Menelaus ärger¬
lich, „du warſt doch ſonſt nie ein Thor; heute aber
redeſt du wie ein Kind! Wie viele Gaſtfreundſchaft habe
ich ſelbſt bei andern Menſchen genoſſen; und ich ſollte
um irgend einer Urſache willen Fremdlinge von meinem
Heerd abweiſen? Hurtig die Roſſe abgeſpannt, und die
Männer zum Gaſtmahl hereingeführt!“ Der Krieger
verließ eilends mit vielen Dienern den Saal, und die
ſchäumenden Roſſe wurden vom Wagenjoch abgelöst,
und vor reichlichen Haber an die Krippe im Stalle ge¬
ſtellt, auch der Wagen wurde eingethan. Die Gäſte
wurden in den herrlichen Pallaſt geführt, und ihnen
der Staub des Weges durch ein erquickendes Bad ab¬
gewaſchen. Dann wurden ſie dem Könige Menelaus zu¬
geführt und nahmen an ſeiner Seite beim köſtlichen Mahle
Platz. Staunend betrachtete ſich Telemach die Pracht
des Palaſtes und der Bewirthung und flüſterte ſeinem
Freunde ins Ohr: „Sieh nur, Piſiſtratus, das Erz,
das rings in dem gewölbten Saale glänzt, das Gold
und Silber, das ſchimmernde Elfenbein! Welch unend¬
licher Schatz! Jupiters Pallaſt auf dem Olymp kann
nicht herrlicher ſeyn! Mich erfüllt dieſer Anblick mit
[88] Staunen!“ Telemach hatte nicht ſo leiſe geſprochen, daß
Menelaus nicht die letzten Worte vernommen hätte.
„Lieben Söhne,“ ſagte er daher lächelnd, „mit Jupiter
wetteifre kein Sterblicher! Sein Palaſt iſt unvergäng¬
lich, und all ſein Beſitz! Aber das iſt wahr; unter den
Menſchen wird ſich nicht leicht einer mit mir im Reich¬
thume meſſen können, habe ich ihn doch auch nach vielen
Leiden und Irrfahrten eingethan und brauchte acht Jahre,
bis ich wohlbehalten in der Heimath wieder ankam. Auf
Cypern, in Phönicien, in Aegypten, Aethiopien, Libyen
bin ich geweſen. Das iſt ein Land, ihr Freunde! Dort
kommen die Lämmer gleich mit Hörnern auf die Welt;
die Schafe werfen dreimal des Jahres, und nie fehlt
es dem Herrn und dem Hirten an Fleiſch, Milch und
Käſe! Während ich mir in dieſen Landen viel koſtbare
Habe ſammelte, hat mir zu Mycene ein Anderer den
Bruder erſchlagen, ein Meuchelmörder, durch die Liſt
ſeines treuloſen Weibes ſo daß ich bei all meinem
Beſitze doch nicht recht fröhlich herrſchen kann! Doch,
das habt ihr wohl Alles ſchon von euren Vätern ver¬
nommen, wer ſie auch ſeyn mögen! Und gerne wär' ich
mit dem Drittel meines Gutes zufrieden, wenn nur die
Männer noch lebten, die vor Troja gefallen ſind; Und
doch — keinen von ihnen betraure ich ſo innig, als
Einen, der mir Schlaf und Speiſe verleidet, wenn ich
ſein gedenke! Denn ſo viel erduldete doch kein anderer
Grieche, als Odyſſeus! Und nun weiß ich nicht einmal,
ob er lebt oder todt iſt! Vielleicht trauern um ihn längſt
ſein alter Vater Laertes, und ſeine züchtige Gemahlin
Penelope, und ſein junger Sohn Telemachus, der noch
ein Säugling war, als er ihn verließ.“

[89]

So ſprach Menelaus und, ohne es zu wollen, machte
er dem Telemach das Herz ſo weichmüthig, daß ihm
die Thränen von den Wimpern herabrollten, und er den
Purpurmantel mit beiden Händen feſt vor die Augen
drücken mußte. Dem Könige Sparta's blieb dieß nicht
verborgen und er erkannte in dem Jüngling alsbald den
Sohn des Odyſſeus.


Indeſſen wandelte auch die Fürſtin Helena aus
ihrem duftenden Frauengemache hervor, einer Göttin an
Schönheit gleich; ſie umringten anmuthige Dienerinnen:
die eine ſtellte ihr den Seſſel hin; eine andere breitete
den wollenen Teppich unter; die dritte brachte ihr einen
ſilbernen Korb, das Gaſtgeſchenk der Königin von Theben
in Aegypten; er war mit geſponnenem Garne gefüllt,
und die volle Spindel lag darüber. So ſetzte ſich die
Königin auf den Seſſel, ſtellte die Füße auf den Sche¬
mel, und begann ihren Gemahl neugierig nach dem
Geſchlechte der neuangekommenen Männer zu fragen.
„Sah ich doch auf der Welt noch keinen Menſchen, der
dem hochgeſinnten Odyſſeus ſo ähnlich wäre, wie der
Eine der Jünglinge hier!“ So ſprach ſie leiſe zu ihrem
Gemahl, und dieſer antwortete ihr: „Auch mir, o Frau,
kommt es ſo vor. Füße, Hände, Blicke der Augen,
Haupt- und Scheitelhaare, Alles iſt daſſelbe an Beiden!
Auch tropften dem Jüngling bittere Zähren von den
Wimpern, als ich vorhin unſerer Noth und des Odyſſeus
gedachte!“


Piſiſtratus, Telemachs Begleiter, vernahm dieſe
Reden und ſagte laut: „Du redeſt recht, König Mene¬
laus, dieſer iſt des Odyſſeus Sohn, Telemachus; er
aber iſt zu beſcheiden, dreiſt mit dir zu ſprechen. Ihn
[90] hat mit mir Neſtor, mein Vater, geſandt, denn er hofft
von dir Nachricht von ſeinem Vater zu erhalten.“ —
„Ihr Götter,“ rief nun Menelaus aus, „ſo iſt wirklich
der Sohn des geliebteſten Mannes mein Gaſt, des
Mannes, dem ich ſelbſt ſo gerne alle Liebe erwieſen hätte,
wenn er auf der Heimkehr in meinem Hauſe einſpräche!“


Als nun der König fortfuhr ſo ſehnlich von ſeinem
alten Freunde zu reden, da mußten alle weinen, Helena
und Telemach und Menelaus ſelbſt, und auch Neſtors
Sohn weinte, denn er mußte an ſeinen Bruder Antilo¬
chus denken, der vor Troja, ſeinen Vater rettend, gefallen
war.


Endlich bedachten ſie, daß es fruchtlos und nicht
heilſam ſey, dem Gram beim Abendſchmauſe nachzuhän¬
gen, und wollten, nachdem die Diener ihnen mit Waſſer
die Hände beſprengt, alle zur Nachtruhe aufbrechen. He¬
lena aber, die als Jupiters Tochter in allerlei Wunder¬
künſten erfahren war, warf noch vorher ſchnell in den
letzten Becher Weins, den ſie tranken, ein Mittel, das
allen Kummer und die Erinnerung an alle Leiden aus
der Seele vertilgte. Wenn ein Menſch von dieſer Mi¬
ſchung trank, ſo benetzte ihm den ganzen Tag über keine
Thräne die Wangen, und wären ihm Vater und Mut¬
ter geſtorben, wären ihm Sohn oder Bruder vor ſeinen
Augen vom Schwert des Feindes durchbohrt worden.
Da wurden ſie alle fröhlich und ſprachen noch lange in
die Nacht hinein. Endlich wurde den Gäſten ihr Bett
von prächtigen Purpurpolſtern und Teppichdecken unter
der Halle bereitet; Menelaus und Helena aber begaben
ſich in das Innere des Pallaſtes.


Am andern Morgen fragte der Fürſt ſeine Gaſtfreunde
[91] über die Abſicht ihrer Reiſe weiter aus, und vernahm,
wie es zu Ithaka, im Hauſe ſeines Freundes Odyſſeus,
ſtehe. Als er hörte, wie ſich die Freier dort gebärdeten,
rief er entrüſtet aus: „Ha, die Elenden, die im Lager
des gewaltigen Mannes zu ruhen gedenken! Wie der
Löwe zurückkommt, dem eine Hindin ihre Jungen ins
Neſt gelegt hat, während er im grünen Thale weidet,
wird Odyſſeus kommen und ihnen ein Ende voll Ent¬
ſetzen bereiten! denn wiſſe, was mir in Aegypten der
Meeresgott Proteus von ihm geweiſſagt hat, als er,
in mancherlei Geſtalten verwandelt, endlich von mir ge¬
bunden und gezwungen ward, die Schickſale der heim¬
kehrenden Griechenhelden mir kund zu thun. „„Den
Odyſſeus,““ ſprach der Gott, „„ſah ich im Geiſt auf einer
einſamen Inſel Thränen der Sehnſucht vergießen. Dort
hält ihn die Nymphe Kalypſo mit Gewalt zurück, und
ihm gebricht's an Schiffen und Ruderern um in die
Heimath zurückzukehren.““ Nun weißeſt du Alles, lie¬
ber Jüngling, was ich dir über deinen Vater zu berichten
vermag. Bleib nun noch ein eilf oder zwölf Tage bei
uns, dann will ich dich mit köſtlichen Geſchenken ent¬
laſſen.“


Aber Telemach dankte und ließ ſich nicht zurück¬
halten. Nun ſchenkte ihm Menelaus einen ſilbernen
Miſchkrug mit goldenem Rande von unvergleichlich ſchö¬
ner Arbeit, ein Werk des kunſtreichen Gottes Hephäſtus
ſelbſt, und ein köſtliches Frühmahl von Ziegen und Scha¬
fen wurde dem Abſchied nehmenden Gaſtfreunde bereitet.


[92]

Verſchwörung der Freier.

Während dieß in Pylos und in Sparta vorging,
freuten ſich auf der Inſel Ithaka die Freier von Tag
zu Tag im Palaſte des Odyſſeus, wie zuvor, und er¬
götzten ſich mit Scheibenſchießen, Speerwürfen und an¬
deren Spielen. Einſt, als nur Antinous und Eurymachus,
die vornehmſten und ſchmuckſten unter ihnen, ſeitwärts
vom Spiele ſaßen, trat zu dieſen Noëmon, der Sohn
des Phronios, und ſprach zu ihnen: „Können wir etwa
vermuthen, ihr Freier, wann Telemachus von Pylos
zurückkehrt? das Schiff, auf dem er fährt, habe ich ihm
geliehen, und jetzt brauche ich es ſelbſt, um damit nach
Elis zu ſegeln, wo ich mir aus meinem Stutengarten
gern ein Roß holte, um es zu zähmen und zuzurichten.“


Die beiden anderen ſtaunten. Sie hatten gar nichts
von der Abfahrt des Jünglings gewußt, ſondern gemeint,
er habe ſich auf ſeine Beſitzungen im Lande, auf ſeine
Ziegenweiden, und zu ſeinen Schweineheerden begeben.
Sie meinten er habe Noëmons Schiff mit Gewalt ge¬
nommen und fuhren zornig auf. Dieſer aber beſänftigte
ſie und ſprach:


„Ich ſelbſt habe es ihm willig gegeben. Wer hätte
auch einem bekümmerten Mann es verſagen können? das
wäre gar zu hart geweſen! Zudem folgten ihm die edel¬
ſten Jünglinge, und als Führer trat Mentor mit ihm
ins Schiff — oder war es vielleicht ein Gott, der deſſen
Geſtalt angenommen; denn ich meine den Helden noch
am geſtrigen Morgen hier geſehen zu haben!“ So ſprach
[93] Noëmon, verließ die Freier und ging zurück in ſeines
Vaters Haus. Dieſe aber wurden beſtürzt und unmuthig
bei der unerwarteten Nachricht. Sie ſtanden von ihren
Sitzen auf und traten mitten unter die Andern, die eben,
vom Kampfſpiele ruhend, im Kreiſe gelagert ſaßen. Zürnend
vor Aerger ſtellte ſich Antinous unter ſie und ſprach mit
funkelnden Augen: „Dieſer Telemach hat ein großes
Werk unternommen, trotzig iſt er auf die Fahrt ge¬
gangen, an die wir nimmermehr glauben wollten! Möge
ihn Jupiter vertilgen, ehe er uns Schaden zufügt! Drum,
wenn ihr mir einen Schnellſegler und zwanzig Ruderer
ſchaffen wollt, ihr Freunde, ſo laure ich ihm auf der
Meerſtraße, die Ithaka von Samos trennt, auf und
ſeine Entdeckungsreiſe ſoll mit Schrecken endigen!“ Alle
riefen dem Sprecher Beifall zu, und verſprachen ihm
Alles zu verſchaffen, was er bedürfte. Dann brachen
die Freier auf und zogen ſich von Spiel und Rath in
den Palaſt zurück.


Aber ihre Berathſchlagung war nicht unbelauſcht
geblieben. Medon, der Herold, der im Herzen den ſchänd¬
lichen Freiern längſt abhold war, obgleich er in ihren
Dienſten ſtand, der auſſerhalb des Hofes, doch nahe
genug geſtanden, hatte jedes Wörtchen gehört, das An¬
tinous ſprach. Er eilte nach den Gemächern Penelope's
und erzählte ſeiner Herrin Alles, was er vernommen.
Herz und Knie erbebten der Fürſtin, als ſie die böſe
Kunde gehört, und lange blieb ſie ſprachlos; der Athem
ſtockte ihr, und ihre Augen waren mit Thränen gefüllt.
Spät erſt begann ſie: „Herold! Warum reiſet aber auch
mein Sohn? Iſt ihm nicht genug, daß ſein Vater
untergegangen iſt? Soll der Name unſeres Hauſes ganz
[94] von der Erde vertilgt werden?“ Und da Medon ihr
keinen Aufſchluß zu geben vermochte, ſank ſie weinend
an der Schwelle ihres Gemaches nieder und rings um
ſchluchzten die Mägde mit ihr. „Warum iſt er auch auf
die Fahrt gegangen, ohne es mir zu ſagen! Gewiß
hätte ich ihn auf beſſere Gedanken gebracht! Rufe mir
doch eine den alten Knecht des Hauſes, Dolios, daß er
gehe und dem greiſen Laertes dieß Alles melde! Vielleicht
daß der alte Mann einen Rath in ſeinem erfahrenen
Herzen findet!“ Da that Euryklea, die alte Schaffnerin,
ihren Mund auf und ſprach: „Und wenn du mich tödteſt,
Herrin! ich will dirs nicht verhehlen. Ich ſelbſt habe
um Alles gewußt; ich reichte ihm, was er begehrte;
aber ich mußte ihm einen Eidſchwur thun, vor dem
zwölften Tage, oder ehe du ihn ſelbſt vermißteſt, nichts
von ſeiner Reiſe zu melden. Jetzt aber rathe ich dir,
dich gebadet und geſchmückt auf den Söller mit deinen
Dienerinnen zu begeben, und Athene, Jupiters Tochter,
um ihren göttlichen Schutz für deinen Sohn anzuflehen.“


Penelope gehorchte dem Rathe der Greiſin, und
legte ſich nach dem feierlichen Gebet ungegeſſen und
kummervoll ſchlafen. Da ſandte ihr Athene im Traum
das Gebilde ihrer Schweſter Iphthime, die Gemahlin
des Helden Eumelos, die ihr Troſt einſprach und die
Wiederkehr ihres Sohnes verkündigte. „Sey getroſt,“
ſprach ſie, „deinen Sohn begleitet eine Führerin, um die
ihn andere Männer beneiden dürften. Pallas Athene
ſelbſt iſt an ſeiner Seite; ſie wird ihn gegen die Freier
ſchirmen; ſie hat auch mich dir zugeſandt.“ So redete
die Geſtalt und verſchwand an der verſchloſſenen Thüre.
Penelope erwachte aus dem Schlummer voll Freudigkeit
[95] und Muth. Sie baute auf den Wahrheit verkündenden
Morgentraum.


Inzwiſchen hatten die Freier ungehindert ihr Schiff
gerüſtet und Antinous hatte es mit zwanzig tapferen Ru¬
derern beſtiegen. Mitten in der Meerſtraße, welche die
Inſeln Ithaka und Same trennt, lag ein Felſeneiland
voll ſchroffer Klippen. Auf dieſes ſteuerten ſie los und
legten ſich dort in einen lauernden Hinterhalt.

Odyſſeus ſcheidet von Kalypſo, und ſcheitert
im Sturm.

Jupiters Bote, Merkur, ſchwang ſich aus dem Aether
in's Meer, eilte wie eine Möwe durch die Wogen, und
kam, wie in der Götterverſammlung beſchloſſen worden
war, auf Ogygia, der Inſel Kalypſo's, an. Auch fand
er die ſchöngelockte Nymphe wirklich zu Hauſe. Auf dem
Heerd brannte eine lodernde Flamme, und der Dunſt des
geſpaltenen, brennenden Zedernholzes wallte würzig über
das Eiland hin. Kalypſo aber ſang mit klangreicher
Stimme in der Kammer und wirkte dazu mit goldener
Spule ein herrliches Gewebe. Die Grotte, in welcher
ihre Gemächer waren, beſchattete ein grünender Hayn
mit Erlen, Pappeln und Zypreſſen, in welchen bunte
Vögel niſteten, Habichte, Eulen und Krähen. Auch ein
Weinſtock breitete ſich über das Felſengewölbe aus, voll
reifender Trauben, die aus dichtem Laube hervorblickten.
Vier Quellen entſprangen in der Nähe und ſchlängelten
ſich nachbarlich dahin und dorthin; von ihnen bewäſſert
[96] grünten ſchwellende Wieſen mit Veilchen, Eppich und
andern Kräutern und Blumen durchſäet.


Der Götterbote bewunderte die liebliche Lage der
Nymphenwohnung, dann wandelte er in die geräumige
Kluft. Kalypſo erblickte den Nahenden und erkannte ihn
auch alsbald: denn ſo ferne ſie auch von einander woh¬
nen mögen, ſo ſind ſich doch die ewigen Götter von
Geſtalt nicht unbekannt. Den Odyſſeus fand jedoch Mer¬
kur nicht zu Hauſe. Er ſaß, wie er gewohnt war,
jammernd am Geſtade, und ſchaute mit Thränen in den
Augen auf das öde Meer ſehnſüchtig hinaus.


Als Kalypſo die Botſchaft des Gottes vernahm, den
ſie voll Herzlichkeit empfangen hatte, ſtutzte ſie und ſprach
endlich: „O ihr grauſamen, eiferſüchtigen Götter! duldet
ihrs denn gar nicht, daß eine Unſterbliche ſich einen
Sterblichen zum lieben Gemahl erkieſe? Verarget ihr
mir den Umgang mit dem Manne, den ich vom Tode
gerettet habe, als er, an den geborſtenen Kiel ſeines
Schiffes ſich ſchmiegend, an meine Küſte geſchleudert
ward? Alle ſeine tapfern Freunde waren in den Ab¬
grund verſunken; ſein Schiff hatte der Blitz getroffen;
einſam ſchwamm er auf den Trümmern einher. Ich
empfing den armen Schiffbrüchigen freundlich, ſtärkte
ihn mit Nahrung, ja ich verhieß ihm zuletzt, ihm Un¬
ſterblichkeit und ewige Jugend zu verleihen. Doch weil
gegen Jupiters Rath keine Ausflucht etwas vermag —
ſo mag er denn wieder hinaus fahren auf das unend¬
liche Meer. Nur muthet mir nicht zu, daß ich ihn ſelbſt
fortſchicke; fehlt es doch meinen Schiffen an Beman¬
nung und an Rudergeräthe! Doch ſoll es ihm an
[97] meinem guten Rathe nicht fehlen, daß er ganz unverſehrt
das Ufer ſeines Heimathlandes erreiche.“


Hermes (Merkur) war mit dieſer Antwort wohl
zufrieden und enteilte wieder zum Olymp. Kalypſo ging
ſelbſt an den Meeresſtrand, wo der trauernde Odyſſeus
ſaß, trat nahe zu ihm hinan und ſprach: „Armer Freund,
dein Leben darf dir nicht fürder in Schwermuth dahin¬
ſchwinden. Ich entlaſſe dich. Auf, mächtige Balken
gehauen, mit Erz zum Floß gefügt, und mit hohen
Brettern umſäumt! Allerlei Labſal, Waſſer, Wein und
Speiſe lege ich dir ſelbſt hinein, verſehe dich mit Ge¬
wanden, ſende günſtigen Wind vom Lande; mögen dich
die Götter glücklich in die Heimath geleiten!“


Mißtrauiſch blickte Odyſſeus die Göttin an und
ſprach: „Gewiß, du ſinneſt auf etwas ganz anderes,
ſchöne Nymphe! Nimmermehr beſteige ich einen Floß,
wenn du mir nicht den großen Göttereid ſchwöreſt, daß
du mir nicht irgend ein Uebel zum Schaden ausgedacht
haſt!“ Aber Kalypſo lächelte, und, ſanft mit der Hand
ihn ſtreichelnd, antwortete ſie: „Aengſtige dich nicht mit
ſolchen eiteln Gedanken! Die Erde, der Himmel und
der Styx ſeyen meine Zeugen, daß ich nichts Böſes mit
dir vorhabe! Ich rathe dir das, was ich mir ſelbſt
in der Noth ausdenken würde!“ Mit dieſen Worten
ging ſie voran, Odyſſeus folgte, und in der Grotte nahm
ſie noch den zärtlichſten Abſchied von ihm.


Bald war der Floß gezimmert, und am fünften
Tage ſchwoll das Segel des Odyſſeus im Winde. Er
ſelbſt ſaß am Ruder und ſteuerte kunſterfahren durch die
Fluth. Kein Schlaf kam ihm über die Augen, beſtändig
blickte er nach den Himmelsgeſtirnen und richtete ſich nach
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 7[98] den Zeichen, die ihm Kalypſo beim Scheiden angegeben
hatte. So fuhr er ſiebzehn Tage durch das Meer. Am
achtzehnten erſchienen ihm endlich die dunklen Gebirge
des phäakiſchen Landes, das ſich ihm entgegenſtreckte,
und trübe dalag, wie ein Schild im dunkeln Meere.
Jetzt aber ward ihn Poſeidon gewahr, der eben von den
Aethiopen heimkehrte und über die Berge der Solymer
hinſchritt. Er hatte der letzten Rathsverſammlung der
Götter nicht beigewohnt, und merkte, daß dieſe ſeine
Entfernung benutzt hatten, den Odyſſeus aus der Schlinge
zu ziehen. „Nun,“ ſprach er bei ſich ſelbſt, „er ſoll mir
doch noch Jammers genug erfahren !“ Und jetzt ver¬
ſammelte er die Wolken, regte das Meer mit dem Drei¬
zack auf, und rief die Orkane zum Kampfe mit einander
herbei, ſo daß Meer und Erde ganz in Dunkel gehüllt
wurden. Alle Winde pfiffen um den Floß des Odyſſeus
her, daß dieſem Herz und Kniee zitterten, und er zu jam¬
mern anfing, daß er den Tod nicht von den Speeren
der Trojaner gefunden. Als er noch ſo ſeufzte, rauſchte
eine Welle von oben herab, und der Floß gerieth in
einen Wirbel: er ſelbſt taumelte weit von dem erſchütter¬
ten Fahrzeug, das Ruder fuhr ihm aus der Hand, der
Floß war in Stücke gegangen; Maſtbaum und Segel¬
ſtangen trieben da und dort über das tobende Meer hin.
Odyſſeus aber war in die Brandung untergetaucht, und
das naſſe Gewand zog ihn immer tiefer hinab. Endlich
kam er wieder empor, ſpie das Salzwaſſer, das er ge¬
ſchluckt hatte, aus, und ſchwamm den Trümmern des
Floſſes nach, deren größtes Stück er endlich auch glücklich
erreichte und ſich mitten darauf niederließ. Wie er nun
auf dem zerriſſenen Floſſe dahintrieb, gleich einer Diſtel
[99] im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea,
und es erbarmte ſie des armen Dulders. Wie ein
Waſſerhuhn flog ſie aus dem Strudel empor, ſetzte ſich
auf das Gebälk und ſprach zu ihm: „Laß dir rathen,
Odyſſeus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß
dem Sturm; ſchnell, umgürte dich hier mit meinem
Schleier unter der Bruſt, und dann verachte ſchwim¬
mend alle Schrecken des Meers!“ Odyſſeus nahm den
Schleier; die Göttin verſchwand, und, obgleich er der
Erſcheinung mißtraute, ſo gehorchte er dem Rathe doch.
Während Neptun ihm die wildeſte Woge ſandte, daß das
Bruchſtück des Floſſes ganz auseinanderging, ſetzte er
ſich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das
lange beſchwerende Gewand, das Kalypſo ihm geſchenkt
hatte, aus, und ſprang mit dem Schleier umgürtet in
die Fluth.


Poſeidon ſchüttelte ernſthaft das Haupt, als er den
entſchloſſenen Mann den Sprung wagen ſah und ſprach:
„So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬
ringt! Gewiß, du ſollſt das Elend noch ſatt kriegen!“
Mit dieſen Worten verließ der Gott die See und zog
ſich nach ſeinem Palaſte zurück. Odyſſeus wogte nun
noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da
erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung
an Klippen donnerte, und eine hochſchwellende Woge trug
ihn, ehe er einen Entſchluß faſſen konnte, von ſelbſt dem
Geſtade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine
Klippe; aber, ſiehe da eine Woge kam und ſchleu¬
derte ihn wieder ins Meer zurück. Er ſuchte ſein Heil
nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬
mes, ſeichtes Ufer und eine ſichere Bucht, wo ein kleiner
7 *[100] Fluß ſich ins Meer ergoß. Hier flehte er zum Gotte dieſes
Stromes, der ihn hörte, das Waſſer beſänftigte und
ihm möglich machte, ſchwimmend das Land zu erreichen.
Ohne Stimme und Athem ſank er auf den Boden,
aus Mund und Naſe ſtrömte ihm das Meerwaſſer, und,
erſtarrt von der fürchterlichen Anſtrengung, ſank er in
eine Ohnmacht. Als er wieder aufzuathmen anfing und
das Bewußtſeyn ihm zurückkehrte, löste er ſich den Schleier
der Göttin Leukothea dankbar ab und warf ihn in die
Wellen zurück, daß ihn die Geberin wieder erfaſſen
konnte; dann warf er ſich unter die Binſen nieder und
küßte die wiedergewonnene Erde. Den nackten Mann
fror und die Nachtluft wehte ſchneidend von Morgen
her. Er beſchloß den Hügel hinanzugehen, und ſich in die
nahe Waldung zu bergen. Hier fand er ein Lager unter
zwei verſchlungenen dichten Olivenbäumen, einem wilden
und einem zahmen, die ſo dick belaubt waren, daß kein
Wind, kein Regen und kein Sonnenſtrahl ſie je durch¬
drang. Dort häufte ſich Odyſſeus von der Menge ge¬
fallener Baumblätter ein Lager, legte ſich mitten hinein,
und deckte ſich wieder mit Blättern zu. Ein erquickender
Schlaf ergoß ſich bald über ſeine Augenlieder und ließ
ihn alles überſtandene und bevorſtehende Leid vergeſſen.

Nauſikaa.

Während Odyſſeus von Anſtrengung und Schlaf über¬
wältigt im Walde lag, war ſeine Beſchützerin Athene lieb¬
reich für ihn bedacht. Sie eilte in das Gebiet der Phäa¬
ken, auf dem er angekommen war, welche die Inſel Scheria
[101] bewohnten und hier eine wohlgebaute Stadt gegründet
hatten. Dort herrſchte ein weiſer König, mit Namen
Alcinous, und in ſeinen Palaſt begab ſich die Göttin.
Sie ſuchte hier das Schlafgemach Nauſikaa's auf, der
jungfräulichen Tochter des Königes, die an Schönheit
und Anmuth einer Unſterblichen ähnlich war. Dieſe
ſchlief, von zwei Mägden, die ihre Bettſtellen an der
Pforte hatten, bewacht, in einer hohen, lichten Kammer.
Athene nahte ſich dem Lager der Jungfrau leiſe, wie ein
Lüftchen, trat ihr zu Häupten, und in eine Geſpielin
verwandelt, ſprach ſie zu ihr im Traume: „Ei du träges
Mädchen, wie wird dich doch die Mutter ſchelten! Haſt
du auch gar nicht für deine ſchönen Gewande geſorgt,
die ungewaſchen im Schranke liegen! Wenn nun einmal
deine Vermählung herankommt und du etwas Schönes
für dich ſelbſt brauchſt, und für die Jünglinge, die deine
Brautführer ſeyn werden! Wie ſoll es dann werden?
Schmucke Kleider empfehlen jedermann, und auch deine
lieben Eltern haben an nichts eine größere Freude!
Auf, erhebe dich mit der Morgenröthe, ſie zu waſchen:
ich will dich begleiten und dir helfen, damit du geſchwin¬
der fertig wirſt. Du bleibſt doch nicht lange mehr unver¬
mählt; werben doch ſchon lange die Edelſten unter dem
Volke um die ſchöne Königstochter!“


Der Traum verließ das Mädchen; eilig erhob ſie ſich
vom Lager, und ſuchte die Eltern in ihrer Kammer auf.
Dieſe waren bereits aufgeſtanden; die Mutter ſaß am
Heerde mit Dienerinnen und ſpann purpurne Seide, der
König aber begegnete ihr unter der Pforte; er hatte ſchon
einen Rath der angeſehenſten Phäaken beſtellt, und wollte
ſich eben in denſelben verfügen. Da faßte ihn die ihm
[102] entgegenkommende Tochter bei der Hand und ſprach ſchmei¬
chelnd: „Väterchen, willſt du mir nicht einen Laſtwagen
anſpannen laſſen, damit ich meine koſtbaren Gewande
zur Wäſche nach dem Fluſſe führen kann. Sie liegen
mir ſo ſchmutzig umher. Auch dir ziemt es, in reinen
Kleidern im Rathe dazuſitzen! So wollen auch deine
fünf Söhne, von welchen drei noch unvermählt ſind, be¬
ſtändig in friſchgewaſchener Kleidung umhergehen, und fein
ſchmuck beim Reigentanz erſcheinen. Und am Ende liegt
doch Alles auf mir!“


So ſprach die Jungfrau; daß ſie aber an die eigene
Vermählung dabei denke, das mochte die Blöde ſich und
dem Vater nicht geſtehen. Dieſer aber merkte es doch,
und ſprach: „Geh, mein Kind, ein geräumiger Korb¬
wagen und Maulthiere ſollen dir nicht verſagt ſeyn; be¬
fiehl den Knechten nur anzuſpannen!“ Nun trug die
Jungfrau die feinen Gewande aus der Kammer und
belud den Wagen; die Mutter fügte Wein in einem
Schlauche, Brod und Gemüſe hinzu, und als ſich Nau¬
ſikaa in den Wagenſitz geſchwungen, gab ſie ihr noch
die Oelflaſche mit, ſich zugleich mit den dienenden Jung¬
frauen zu baden und zu ſalben. Die Jungfrau war eine
geſchickte Wagenlenkerin, ſie ergriff ſelbſt Zaum und Geißel
und lenkte die Thiere mit den Dienerinnen dem anmuthi¬
gen Ufer des Fluſſes zu. Hier lösten ſie das Geſpann,
ließen die Maulthiere im üppigen Graſe weiden und
trugen die Gewande am Waſchplatz in die geräumigen
Behälter, die zu dieſem Behufe gegraben waren. Dann
wurde von den emſigen Mädchen die Wäſche mit den
Füßen geſtampft, gewaſchen und gewalkt, und endlich
wurden alle Kleider der Ordnung nach am Meeresufer
[103] ausgebreitet, wo reingeſpülte Kieſel eine Steinbank bil¬
deten. Alsdann erfriſchten ſich die Mädchen ſelbſt im
Bade und nachdem ſie ſich mit duftigem Oele geſalbt,
verzehrten ſie das mitgebrachte Mahl fröhlich am grünen
Ufer und harrten, bis ihre Wäſche an den Sonnen¬
ſtrahlen getrocknet wäre.


Nach dem Frühſtücke erluſtigten ſich die Jungfrauen
mit Tanz und Ballſpiel auf der Wieſe, nachdem ſie ihre
Schleier und was von Kleidern ſie hindern konnte, ab¬
gelegt. Nauſikaa ſelbſt ſtimmte zuerſt den Geſang dazu
an, an hohem Haupt und edlem Angeſichte vor allen
den reizenden Mädchen hervorragend. Die Jungfrauen
thaten ihr alle nach, und ihre Fröhlichkeit war groß.
Wie nun die Königstochter einmal den Ball nach einer
Geſpielin warf, da lenkte ihn die unſichtbar gegenwärtige
Göttin Athene ſo, daß er in die Tiefe des Flußſtrudels
fallen mußte, und das Mädchen verfehlte. Darüber
kreiſchten die Spielenden alle auf, und Odyſſeus, deſſen
Lager in der Nähe unter den Olivenbäumen war, er¬
wachte. Horchend richtete er ſich auf und ſprach zu
ſich ſelber: „In welcher Menſchen Gebiet bin ich ge¬
kommen? Bin ich unter wilde Räuberhorden gerathen?
Doch deucht mir, ich hörte luſtige Mädchenſtimmen, wie
von Berg- oder Quellennymphen! Da bin ich doch wohl
in der Nähe von geſitteten Menſchenkindern!“


So ſprach er zu ſich, und indem er mit der ner¬
vichten Rechten aus dem verwachſenen Gehölz einen
dichtbelaubten Zweig abbrach und ſeine Blöße damit be¬
deckte, tauchte er aus dem Dickicht hervor, und, von der
Noth gedrängt, erſchien er wie ein wilder Berglöwe
unter den zarten Jungfrauen. Er war von dem Meeres¬
[104] ſchlamm noch ganz entſtellt: die Mädchen meinten ein
Seeungeheuer zu ſehen und flüchteten ſich, die einen da,
die andern dorthin, auf die hohen waldigen Anhöhen des
Geſtades. Nur die Tochter des Alcinous blieb ſtehen;
Athene hatte ihr Muth ins Herz eingeflößt, und ſie ſtand
gegen den Fremdling gekehrt. Odyſſeus beſann ſich, ob
er die Knie der Jungfrau umfaſſen, oder aus ehrerbie¬
tiger Ferne ſie anflehen ſollte, ihm ein Kleid zu ſchenken
und den Weg nach Menſchenwohnungen zu zeigen. Er
hielt das Letztere für ziemlicher und rief ihr daher von
Weitem zu: „Seyeſt du eine Göttin oder eine Jung¬
frau, ſchutzflehend nahe ich mich dir! Biſt du eine
Göttin, ſo achte ich dich Dianen gleich an Geſtalt und
Schönheit; biſt du eine Sterbliche, ſo preiſe ich deine
Eltern und deine Brüder ſelig! Das Herz muß ihnen
im Leibe beben über deine Schönheit, wenn ſie ſehen,
wie ſolch ein herrlich Geſchöpf zum Reigentanz einher¬
ſchreitet. Und wie hochbeglückt iſt der, der dich als
Braut nach Hauſe führt! Mich aber ſieh du gnädig
an, denn ich bin in unausſprechlichen Jammer geſtürzt.
Geſtern ſind es zwanzig Tage, daß ich von der Inſel
Ogygia abgefahren bin; vom Sturm ergriffen wurde
ich auf dem Meer umhergeworfen, und endlich als Schiff¬
brüchiger an dieſe Küſte geſchleudert, die ich nicht kenne,
wo mich Niemand kennt! Erbarme dich mein; gieb mir
eine Bedeckung für meinen Leib, zeige mir die Stadt,
wo du wohneſt. Mögen dir die Götter dafür geben,
was dein Herz begehrt, einen Gatten, ein Haus, und
Frieden und Eintracht dazu!“


Nauſikaa erwiederte auf dieſe Anrede: „Fremdling,
du ſcheinſt mir kein ſchlechter und kein thörichter Mann
[105] zu ſeyn. Da du dich an mich und mein Land gewen¬
det haſt, ſoll es dir weder an Kleidung noch an ſonſt
etwas mangeln, was der Schutzflehende erwarten kann.
Ich will dir auch die Stadt zeigen, und den Namen
unſeres Volkes ſagen. Phäaken ſind es, die dieſe Felder
und dieſes Reich bewohnen; ich ſelbſt bin die Tochter
des hohen Königes Alcinous.“ So ſprach ſie und rief
die dienenden Mädchen, indem ſie ihnen Muth einflößte
und wegen des Fremdlings ſie zu beruhigen ſuchte. Die
Mägde aber ſtanden und ermahnten eine die andere, hin¬
zuzutreten. Endlich gehorchten ſie der Fürſtin, und nach¬
dem ſich Odyſſeus an einem verſteckten Orte des Ufers
gebadet, legten ſie ihm Mantel und Leibrock, die ſie aus
den Gewanden hervorſuchten, zur Bedeckung in das Ge¬
büſch. Als der Held ſich den Schmutz vom Leibe ge¬
waſchen und ſich geſalbt hatte, zog er die Kleider an,
die ihm die Fürſtentochter geſchenkt hatte und die ihm
wohl zu Leibe ſaßen. Dazu machte ſeine Beſchützerin
Athene, daß er ſchöner und völliger von Geſtalt anzu¬
ſchauen war; von dem Scheitel goß ſie ihm ſchön ge¬
ringeltes Haar, und Haupt und Schultern glänzten von
Anmuth. So in Schönheit ſtrahlend trat er aus dem
Ufergebüſche und ſetzte ſich ſeitwärts von den Jungfrauen.


Nauſikaa betrachtete die herrliche Geſtalt mit Stau¬
nen und begann zu ihren Begleiterinnen: „Dieſen Mann
verfolgen gewiß nicht alle Götter. Einer von ihnen muß
mit ihm ſeyn und hat ihn jetzt in das Land der Phäa¬
ken gebracht. Wie unanſehnlich erſchien er anfangs, als
wir ihn zuerſt erblickten, und jetzt wahrhaftig gleicht er
den Bewohnern des Himmels ſelbſt! Wohnte doch ein
ſolcher Mann unter unſerem Volke und wäre ein ſolcher
[106] mir zum Gemahl vom Geſchick erkoren! Aber auf, ihr
Mädchen, ſtärket mir den Fremdling auch mit Trank
und Speiſe!“ Dieß geſchah, Odyſſeus aß und trank
und labte ſich an der lang entbehrten Nahrung.


Hierauf wurde der Wagen mit den gewaſchenen
und getrockneten Gewanden wieder bedeckt, die Maul¬
thiere vorgeſpannt und Nauſikaa nahm auf dem Wa¬
genſitz ihren Platz ein. Den Fremdling aber hieß ſie
zu Fuße mit den Dienerinnen hinter dem Wagen folgen.
„Dieß thue,“ ſprach ſie freundlich zu ihm, „ſo lang es
durch Wieſen und Aecker geht; bald aber wirſt du die
Stadt gewahr werden; eine hohe Mauer umſchließt ſie, ihre
beiden Seiten — denn ſie liegt ganz am Meere — ſchließt
ein trefflicher Hafen mit ſchmalem Zugange ein. Dort
iſt auch ihr Marktplatz und ein herrlicher Tempel des
Meeresgottes Poſeidon, wo Seile, Segeltücher, Ruder
und andere Schiffgeräthe bereitet und verkauft werden.
Denn mit Köcher und Bogen machen ſich unſere Phäa¬
ken nicht viel zu ſchaffen, aber tüchtige Seeleute, das
ſind ſie! Wenn wir nun in der Nähe der Stadt ſind,
dann, guter Fremdling, vermeide ich gerne das loſe Ge¬
ſchwätz der Leute, denn dieſes Volk iſt übermüthig; da
könnte wohl ein Bauer, der uns begegnet, ſagen: Was
folgt doch der Nauſikaa für ein ſchöner, großer Fremd¬
ling? Wo fand ſie doch den auf? Er wird ſicher¬
lich ihr Gemahl! Das wäre mir ein herber Schimpf.
Gefiele es mir doch an einer Freundin nicht, wenn ſie
ſich, ohne Wiſſen der Eltern, zu einem Fremden geſellte,
vor der öffentlichen Vermählung! Drum, wenn du an
ein Pappelgehölz kommſt, das der Athene heilig iſt, und
aus dem ein Quell entſpringt, der ſich durch die Wieſe
[107] ſchlängelt, kaum einen Heroldsruf von der Stadt entfernt,
dort verweile ein wenig; nur ſo lange, bis du anneh¬
men kannſt, daß wir in der Stadt angekommen ſind;
dann folg' uns nach, du wirſt den herrlichen Palaſt
meines Vaters leicht aus den andern Häuſern heraus¬
kennen. Dort umfaſſe die Kniee meiner Mutter; denn
wenn ſie dir wohl will, ſo darfſt du ſicher ſeyn, deiner
Väter Heimath wieder zu ſchauen!“


So ſprach Nauſikaa und fuhr auf dem Wagen da¬
hin, doch langſam, daß die Mägde und Odyſſeus folgen
konnten. Am Hayn Athene's blieb dann der Held zu¬
rück und betete ſtehend zu Minerva, ſeiner Beſchirmerin.
Athene hörte ihn auch, nur fürchtete ſie die Nähe ihres
Bruders Poſeidon, und erſchien ihm deßwegen nicht
öffentlich in dem fremden Lande.

Odyſſeus bei den Phäaken.

Die Jungfrau war ſchon in dem Palaſt ihres Va¬
ters angekommen, als Odyſſeus den heiligen Hayn ver¬
ließ, und gleichfalls den Weg nach der Stadt einſchlug.
Athene entzog ihm auch jetzt ihre Hülfe nicht. Daß
kein muthwilliger Phäake den wehrloſen Wanderer krän¬
ken konnte, verbreitete ſie, für ihn ſelbſt unbemerkt, rings
um ihn her Nacht, und ganz nahe vor den Thoren
konnte ſie es doch nicht laſſen, ihm in ſichtbarer Geſtalt
als ein junges Phäakenmädchen, den Waſſerkrug an
der Hand, zu begegnen. „Töchterchen,“ redete der Held
ſie an, „willſt du nur nicht den Weg zur Wohnung des
[108] Königes Alcinous zeigen? Ich bin ein verirrter Fremd¬
ling, komme aus fernen Landen und kenne hier Nie¬
mand!“ — „Recht gerne, guter Vater,“ ſagte die
Göttin in Mädchengeſtalt, „mein ehrlicher Vater wohnt
ganz nahe dabei! Aber geh nur ganz ſtille mit mir:
die Leute ſind hier den Fremden nicht ſonderlich gewogen;
das kecke Leben zur See macht ſie trotzig!“ Unter die¬
ſen Worten ging Athene ſchnell voran, und Odyſſeus
folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr. Gemäch¬
lich konnte er den Hafen, die Schiffe, die gethürmten
Mauern der Stadt anſtaunen; endlich ſprach Minerva:
„Dieß iſt, fremder Vater, das Haus des Alcinous,
wandle nur getroſt hinein; dem muthigen Manne ge¬
lingt Alles! Doch eins laß mich dir ſagen: ſuche vor
allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete, und
iſt die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige Kö¬
nig nämlich, Nauſithous, ein Sohn Poſeidons und der
Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrſchers Eury¬
medon, hinterließ zwei Söhne, unſern König, Alcinous,
und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht
lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dieß iſt
unſere Königin Arete. Alcinous ehrt ſie, wie nur irgend
ein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenſo
verehrt ſie auch alles Volk, denn ſie iſt voll Verſtandes
und Geiſtes, und weiß ſelbſt Männerzwiſte mit ihrer
Weisheit zu entſcheiden. Wenn du ſie gewinnen kannſt,
ſo ſey getroſt.“


So ſprach die verſtellte Göttin und enteilte. Odyſſeus
ſtand ſtille in Betrachtung des herrlichen Palaſtes ver¬
ſunken. Das hochragende Haus ſtrahlte wie die Sonne.
Tief hinein von der Schwelle erſtreckten ſich nach beiden
[109] Seiten Wände von gediegenem Erz, mit Simſen aus
bläulichem Stahl. Die innere Wohnung verſchloß eine
goldene Pforte; die Pfoſten, auf eherner Grundlage
ruhend, waren von Silber mit ſilbernem Kranze, der Ring
an der Pforte war von Gold; goldene und ſilberne
Hunde, ein Werk Vulkans, ſtanden rechts und links, wie
Wächter der Königswohnung, aufgepflanzt. Als er in den
Saal gekommen war, ſah er ringsum Seſſel mit fein¬
gewirkten Teppichen bedeckt, auf welchen die Fürſten der
Phäaken bei'm Königsmahle zu ſitzen pflegten; denn die¬
ſes Volk liebte beſtändig Speiſe und Trank. Auf hohen
Geſtellen ſtanden goldene Bildſäulen, Jünglinge vorſtel¬
lend, mit brennenden Fackeln in der ausgeſtreckten Hand,
welche bei'm nächtlichen Schmauſe den Gäſten leuchteten.
Fünfzig Dienerinnen waren durch den Palaſt des Kö¬
niges verbreitet; die einen mahlten auf der Handmühle
Getreide, die andern woben, noch andere wirbelten ſitzend
die Spindel. Die Weiber ſind dort ſo gute Weberinnen,
wie die Männer Schiffsleute. Außerhalb des Hofes brei¬
tete ſich ein Garten aus, eine Hube ins Gevierte, mit
einer Ringmauer umgeben und mit Bäumen voll der ſaf¬
tigſten Birnen, Feigen und Granaten, Oliven und Aepfel
bepflanzt; dieſe trugen Sommer und Winter, denn immer
wehte warme Weſtluft im Phäakenlande; ſo daß zu glei¬
cher Zeit an den einen Bäumen Blüthen prangten, an
den andern Früchte hingen. Daneben ſtreckte ſich auf
ebenem Boden eine Weinpflanzung hin, wo ein Theil
der Trauben im Sonnenſtrahle kochten, andere der Win¬
zer ſchon ſchnitt, wieder andere erſt als Herlinge aus der
Blüthe ſchwollen und noch andere ſich allmählig färbten.
Am andern Ende des Gartens dehnten ſich ſchön geordnete
[110] Beete voll duftender Blumen; auch floſſen in dem Raume
zwei Quellen: die eine durchſchlängelte den Garten, die
andere quoll unter der Schwelle des Hofes am hohen
Palaſte ſelbſt; und aus ihr ſchöpften ſich die Bürger
ihr Waſſer.


Nachdem Odyſſeus alle die Herrlichkeiten eine gute
Weile bewundert, betrat er den Palaſt und eilte nach
dem Saale des Königes. Hier waren die vornehmen
Phäaken zu einem Schmauſe verſammelt. Weil aber der
Tag ſich neigte, gedachten ſie des Schlafes, und ſpen¬
deten eben am Schluſſe des Mahles dem Hermes ein
Trankopfer. Odyſſeus durchwandelte noch in Nebel ge¬
hüllt ihre Reihen, bis er vor dem Königspaar angelangt
war. Da zerfloß auf Athene's Wink das Dunkel um
ihn her; er warf ſich vor der Königin Arete ſchutzflehend
nieder, umfing ihre Kniee und rief: „O Arete, Rexenors
hohe Tochter, flehend liege ich vor dir und deinem Ge¬
mahl! Mögen die Götter euch Heil und Leben ſchenken,
ſo gewiß ihr mir, dem Verirrten, Wiederkehr in die Hei¬
math bereitet! denn ferne von den Meinigen ſtreife ich
ſchon lange in der Verbannung umher!“ So ſprach
der Held und ſetzte ſich am Heerd in die Aſche nieder,
neben dem brennenden Feuer. Die Phäaken ſchwiegen
alle bei dem unerwarteten Anblicke ſtaunend; bis endlich
der graue, welterfahrere Held Echeneos, der älteſte unter
den Gäſten, das Schweigen brach und vor der Verſamm¬
lung zu dem Könige gewendet, alſo begann: „Fürwahr,
Alcinous, es ziemt ſich nicht, daß irgendwo auf der Erde
ein Fremdling in der Aſche ſitze. Gewiß denken meine
Mitgäſte, wie ich, und erwarten nur deinen Befehl. Laß
darum den Fremden auf einem der ſchmucken Seſſel
[111] gleich uns Platz nehmen und erhebe ihn aus dem Staub!
Die Herolde ſollen neuen Wein miſchen, daß wir dem
Jupiter, dem Beſchirmer des Gaſtrechts, auch noch ein
Trankopfer bringen; und die Schaffnerin mag den neuen
Gaſt mit Speiſe und Trank laben!“


Dieſe Rede gefiel dem guten König; er nahm den
Helden ſelbſt bei der Hand, erhub ihn und führte ihn
zu einem Seſſel an ſeiner eigenen Seite, indem der Lieb¬
ling des Königes ſelbſt, ſein Sohn Laodamas, ihm
Platz machen mußte. Auch ſonſt geſchah alles, wie Eche¬
neos gerathen, und Odyſſeus ſchmauste geehrt in der
Mitte der Helden. Als das Opfer dem Jupiter darge¬
bracht war, erhub ſich die Verſammlung und der König
lud alle Gäſte auf den andern Tag zu einem gleichen
Freudenmahle ein. Dem Fremdling aber, ohne auch nur
nach ſeinem Namen und Geſchlechte zu fragen, verſprach
er, nach gaſtlicher Beherbergung, ſichere Entſendung nach
der Heimath. Als er aber den Helden, den Athene noch
immer mit einem Schimmer überirdiſcher Hoheit umgeben
hatte, näher betrachtete, da ſetzte er noch hinzu: „Soll¬
teſt du aber einer der Unſterblichen ſeyn, welche ja manch¬
mal in ſichtbarer Geſtalt die Menſchen bei ihren Feſten
beſuchen: — dann freilich bedarfſt du unſerer Beihülfe
nicht, und es iſt an uns, dich um deinen Schutz zu
bitten!“


„Denke doch das nicht in deinem Herzen,“ ant¬
wortete Odyſſeus dem Könige beſchämt, „gleiche ich doch
an Wuchs und Geſtalt nicht den unſterblichen Göttern
ſondern bin ein Sterblicher wie ihr Alle es ſeyd! Ja
wenn ihr einen Menſchen kennet, der euch auf Erden
der unglückſeligſte deucht, ſo nehme ich es mit ſeiner Trübſal
[112] auf! Und ſo dachte ich denn auch jetzt an nichts anders,
als meinen Hunger an eurem Tiſch zu ſtillen, und ihr
konntet auch daran wohl ſehen, daß ich ein recht armer,
ſterblicher Menſch bin!“


Als die Gäſte den Saal verlaſſen hatten und das
Königspaar allein mit dem Fremdling im Saale zurück¬
geblieben war, betrachtete Arete die ſchön gewirkten Klei¬
der des Mannes, Mantel und Leibrock, erkannte darin
ihr eigenes Gewebe und ſprach: „Zuerſt muß ich dich
nun doch fragen, o Fremdling, woher und wer du biſt
und wer dir dieſe Gewande gegeben hat? Sagteſt du
nicht, daß du auf dem Meere umherirrend hierher ge¬
kommen ſeyeſt?“ Odyſſeus antwortete hierauf mit einer
getreuen Erzählung ſeiner Abentheuer auf Ogygia bei
Kalypſo und ſeiner traurigen, letzten Fahrt, und verſchwieg
zuletzt auch die Begegnung Nauſikaa's und ihren Edel¬
muth nicht.


„Nun, das iſt ſchon recht von meiner Tochter ge¬
handelt,“ ſprach, als die Erzählung zu Ende war, lächelnd
Alcinous; „aber eine Pflicht hat ſie doch vergeſſen: dich
ſogleich mit den Dienerinnen ſelbſt in unſer Haus zu
führen!“ — „Hüte dich, o König,“ antwortete Odyſſeus,
„deine treffliche Tochter deßwegen zu tadeln. War ſie
doch bereit, ſo zu handeln, wie du meinſt; und ich ſelbſt
weigerte mich, aus Blödigkeit; denn ich fürchtete, du
könnteſt ein Aergerniß daran nehmen; wir Menſchen¬
kinder ſind alle ſo gar argwöhniſch!“ — „Nun, ich bin
nicht ohne Urſache zum Jähzorn geneigt,“ antwortete ihm
der König; „indeſſen iſt Ordnung in allen Dingen gut.
Aber wenn doch die Götter es fügen wollten, daß ein
Mann wie du meine Tochter zur Gemahlin begehrte;
[113] wie gerne wollte ich dir Haus und Beſitzungen gewäh¬
ren, wenn du bei uns bliebeſt! doch mit Zwang will ich
Niemand bei mir halten, und morgen noch ſollſt du freies
Geleite von mir bekommen; ich gebe dir Schiff und
Ruderer wohin du fahren willſt, und wäre deine Hei¬
math ſo weit, als die entfernteſte Inſel, nach welcher
wir Schiffahrt treiben!“


Odyſſeus vernahm dieſes Verſprechen mit innigem
Danke, verabſchiedete ſich von ſeinen königlichen Wirthen
und erholte ſich auf weichem Nachtlager von allen er¬
duldeten Mühſeligkeiten.


Am andern Morgen in aller Frühe berief der Kö¬
nig Alcinous das Volk zu einer Verſammlung auf den
Marktplatz der Stadt; ſein Gaſt mußte ihn dorthin be¬
gleiten, da ſetzten ſich beide neben einander auf zwei
ſchön behauene Steine. Inzwiſchen durchwandelte die
Göttin Athene, in einen Herold verwandelt, die Straßen
der Stadt und trieb die Häupter des Volkes an, der
Verſammlung beizuwohnen. Endlich füllten ſich die Gänge
und Sitze des Marktes mit den zuſammenſtrömenden
Bürgern. Alle ſchauten mit Bewunderung auf den Sohn
des Laertes, dem Minerva, ſeine Beſchirmerin, immer
noch eine überirdiſche Hoheit in Wuchs und Geſtalt
verliehen hatte. Alsdann empfahl der König in einer
feierlichen Rede dem Volke den Fremdling, und ermunterte
daſſelbe ihm ein gutes Ruderſchiff mit zweiundfünfzig
phäakiſchen Jünglingen zur Verfügung zu ſtellen. Zu¬
gleich lud er die anweſenden Häupter des Volkes zu einem
Feſtmahle, das dem Fremden zu Ehren gegeben werden
ſollte, in ſeinen Palaſt ein und befahl auch den De¬
modokus zu berufen, den göttlichen Sänger, dem Apollo
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 8[114] die Gabe des Liedes verliehen hatte und der mit ſeinem
begeiſterten Geſange das Herz der Gäſte erfreuen ſollte.


Nachdem die Volksverſammlung aufgehoben war,
rüſteten die Jünglinge, wie ihnen befohlen war, das
Schiff, brachten Maſt und Segel hinein, hängten die
Ruder in lederne Schleifen und ſpannten die Segeltücher
auf. Dann begaben ſie ſich in den Palaſt des Königes.
Hier waren Hallen, Höfe und Säle ſchon voll von Ge¬
ladenen, denn Jung und Alt hatte ſich eingefunden.
Zwölf Schafe, acht Schweine und zwei Stiere waren
für das Mahl geſchlachtet worden, und der liebliche
Feſtſchmaus dampfte ſchon. Auch den Sänger führte
der Herold herbei, dem die Muſe Gutes und Böſes be¬
ſcheert hatte; das Licht der Augen hatte ſie ihm genom¬
men, dafür aber das Herz ihm mit lichten Geſängen
aufgehellt. Dieſem ſtellte der Herold einen Seſſel an
der Säule des Saales, mitten unter den Gäſten; da¬
rauf hängte er über dem Haupte des Sängers die Harfe
an einen Nagel, und führte ihm die Hand, daß der
Blinde ſie finden konnte. Vor ihn hin ſtellte er einen
Tiſch mit dem Speiſekorb und dem immer vollen Becher,
daß er nach Herzensluſt trinken konnte. Wie nun das
Mahl vorüber war, hub der Sänger ſein Lied an aus
den ſchon damals berühmt gewordenen Heldenliedern von
Troja. Der Inhalt ſeines Geſanges aber war der Streit
zweier Helden, deren Name auf Aller Lippen war, des
Achilles und des Odyſſeus.


Als unſer Held ſeinen Namen nennen und im Liede
feiern hörte, mußte er das Haupt im Gewande verber¬
gen, damit man die Thräne nicht gewahr würde, die
ſich ihm aus den Augen ſtahl. So oft der Sänger
[115] ſchwieg, enthüllte er ſein Geſicht und griff zum Becher.
Wenn aber das Lied von neuem begann, verhüllte er ſein
Haupt wieder. Keiner bemerkte es, als der ihm zunächſt
ſitzende König, der ihn tief aufſeufzen hörte. Er hieß
daher dem Geſang ein Ende machen, und befahl den
Fremdling auch durch Kampfſpiele zu ehren. „Unſer Gaſt,“
ſprach er, „ſoll auch den Seinigen zu Hauſe melden kön¬
nen, wie wir Phäaken es im Fauſtkampf, Ringen, Sprung
und Wettlauf allen Sterblichen zuvorthun!“ So wurde
das Mahl aufgehoben und die Phäaken folgten dem Rufe
ihres Königs. Eilend begab ſich Alles auf den Markt.
Dort erhoben ſich eine Menge edler Jünglinge; darunter
auch drei Söhne des Alcinous ſelbſt, Laodamas, Ha¬
lius und Klytoneus. Dieſe drei maßen ſich zuerſt mit
einander im Wettlauf, auf einer Sandbahn, die ſich
vor ihnen weithin erſtreckte. Auf dieſer flogen ſie auf ein
gegebenes Zeichen ſtürmend dahin, und durchſtäubten
das Gefilde; Klytoneus war es, der den andern es bald
zuvor that und das Ziel als Sieger erreichte. Dann
wurde der Ringkampf verſucht; in dieſem ſiegte der junge
Held Euryalus; darauf kamen die Springer; hier zeigte
ſich der Phäake Amphialus als den Ueberlegenen; im
Scheibenſchwingen gewann es Clareus, endlich im Fauſt¬
kampfe Laodamas der Königsſohn.


Dieſer erhob ſich jetzt in der Verſammlung der
Jünglinge und ſprach: „Freunde, wir ſollten doch auch
erforſchen, ob der Fremdling etwas von unſern Kämpfen
verſteht. Geſtalt, Schenkel und Füße verſprechen nichts
Schlechtes, ſeine Arme ſind nervicht, ſein Nacken iſt
voll Kraft, ſein Wuchs iſt mächtig. Und ſcheint er
gleich von Gram und Elend gebrochen, ſo mangelt es
8 *[116] ihm doch noch nicht an Jugendſtärke!“ — „Du haſt
recht,“ ſprach jetzt Euryalus, „darum gehe hin, o Fürſt,
und fordre ihn ſelbſt zum Wettſtreite auf!“ Laodamas
that dieſes mit freundlichen, höflichen Worten.


Doch Odyſſeus erwiederte: „Verlanget ihr das von
mir, mich zu kränken, ihr Jünglinge? Die Trübſal
nagt an mir, und keine Luſt zum Wettkampfe bewegt
mein Herz! Ich habe genug geſtrebt und erduldet, und
jetzt verlangt mich nach nichts Anderem, als nach der
Heimkehr in mein Vaterland!“ Laodamas antwortete ihm
unwillig: „Fürwahr, Fremdling, du gebärdeſt dich nicht
wie ein Mann, der ſich aufs Kämpfen verſteht; du magſt
wohl ein Schiffshauptmann und zugleich Kaufherr ſeyn,
ſo ein Waarenmäkler; als ein Held erſcheinſt du nicht.“
Odyſſeus runzelte bei dieſem Worte die Stirne und ſprach:
„Das iſt keine feine Rede, mein Freund, und du erſcheinſt
als ein recht trotziger Junge. Verleihen doch die Göt¬
ter nicht einem und demſelben Manne die Gaben der
Schönheit und Anmuth und das Geſchenk der Beredt¬
ſamkeit und der Weisheit; mancher iſt von unanſehnli¬
cher Geſtalt, aber ſeinen Worten iſt ein Reiz verliehen,
daß alle, die ſie hören, davon entzückt werden; und auch
ein Solcher ragt in der Volksverſammlung hervor, und
man ehrt ihn, wie einen Unſterblichen. Dagegen ſieht
oft einer aus, wie ein Gott, und an ſeinen Worten iſt
wenig Witz. Dennoch bin ich kein Neuling im Wett¬
kampfe, und als ich meiner Jugend und meinem Arme
noch vertrauen konnte, nahm ich es mit den Tüchtigſten
auf. Jetzt haben mich Schlachten und Stürme freilich
heruntergebracht. Doch, du haſt mich herausgefordert,
und ich wills auch ſo verſuchen!“

[117]

So ſprach Odyſſeus und erhub ſich vom Sitz, ohne
den Mantel abzulegen. Er ergriff eine Scheibe, größer,
dicker und ſchwerer, als die, nach welchen die Phäaken¬
jünglinge zu langen pflegten, und warf ſie kräftig, daß
der Stein laut hinſauste; unter ſeinem Schwunge bückten
ſich die umherſtehenden Phäaken, und er flog weit über
das Ziel hinaus. Schnell machte Athene, in einen Phä¬
aken verſtellt, das Zeichen, wo der Stein gefallen war,
und ſprach: „Dein Zeichen ſoll auch ein Blinder erken¬
nen, Mann, ſo weit liegt es von allen andern ab! In die¬
ſem Kampfe biſt du ſicher, nie beſiegt zu werden!“ Odyſſeus
freute ſich, daß er einen ſo guten Freund im Volke ge¬
funden habe, und ſprach mit leichterem Herzen: „Nun,
ihr Jünglinge, ſchleudert mir dorthin nach, wie ihr es
vermöget! Und ihr, die ihr mich ſo ſchwer beleidigt
habt, kommt her und verſuchet euch mit mir in welchem
Kampfe ihr wollet; ich werde keinem ausweichen! Mit
jedem will ich kämpfen, nur nicht mit Laodamas, denn
wer ſtritte auch gerne mit dem, der ihn bewirthet?
Beſonders gut verſtehe ichs, den Bogen zu ſpannen, und
wenn viele Genoſſen mit mir in die Wette ſchößen, ich
wäre doch der erſte, der meinen Mann mit dem Pfeil
träfe. Nur Einen kenne ich, den Griechen Philoktetes;
der hat es mir oft zuvorgethan vor Troja, ſo oft wir
uns dort im Schiffe übten! Auch mit dem Wurfſpieße
treffe ich nicht weniger ſicher und ſchieße ſo weit, wie
ein Anderer mit dem Pfeile. Nur im Wettlaufe, da
möchte vielleicht ein Anderer es mir zuvorthun, ſelbſt
unter euch; denn das ſtürmiſche Meer hat mir viel Kraft
genommen, zumal da ich Tage lang ohne Nahrung auf
meinem Fahrzeuge ſaß.“

[118]

Als die Jünglinge dieſes vernahmen, verſtummten
ſie alle, nur der König nahm das Wort und ſagte:
„Wohl haſt du uns deine Tüchtigkeit enthüllt, o Fremd¬
ling, und hinfort ſoll dich kein Menſch mehr wegen dei¬
ner Stärke tadeln. Wenn du nun daheim bei Gattin
und Kindern ſitzeſt, ſo denk' auch an unſre Mannlichkeit
zurück. Als Fauſtkämpfer und Ringer thun wir uns
freilich nicht hervor, aber im Wettlaufe ſiegen wir, und
auf die Schifffahrt verſtehen wir uns auch. Schmaus,
Saitenſpiel, Reigentanz — darin ſind wir auch Meiſter;
den ſchönſten Schmuck, das lindeſte Bad, das weichſte
Lager — die findet man bei uns! Auf denn, ihr Tänzer,
ihr Schifflenker, ihr Läufer, ihr Sänger! zeigt euch vor
dem Fremdlinge, daß er zu Hauſe etwas von euch zu
erzählen hat. Und bringet auch die Harfe des Demo¬
dokus her.“ Sogleich machte ſich ein Herold auf und
ſchaffte die Harfe herbei. Neun auserwählte Kampf¬
ordner ebneten den Raum für den Tanz und umzirkten
die Schaubühne. Ein Spielmann ſtellte ſich mit der
Harfe in die Mitte, und der Tanz der blühendſten Jüng¬
linge begann; im ſchönſten Takte, im raſcheſten Schwunge
hoben ſie ihre Füße. Odyſſeus ſelbſt mußte ſtaunen;
er hatte noch nie ſo behenden und anmuthigen Tanz
geſehen. Dazu ſang der Sänger ein liebliches Lied von
den heiterſten Geſchichten aus dem Leben der Götter.
Nachdem der Reigentanz lange genug gedauert, hieß der
König ſeinen Sohn Laodamas und den geſchmeidigen
Halius den Einzeltanz mit einander aufführen; denn mit
ihnen wagte es Niemand, ſich zu meſſen. Dieſe nahmen
einen zierlichen purpurrothen Ball zur Hand, und der
eine ſchwang ihn, indem er ſich rücklings dazu beugte,
[119] hoch in die Luft empor: der andere, emporſpringend,
fing ihn, ehe er wieder mit den Füßen auf den Boden
trat, ſchwebend in der Luft auf. Dann tanzten ſie in
leichten, wechſelnden Schwenkungen um einander her,
und andere Jünglinge, die im Kreiſe umherſtanden,
klatſchten mit den Händen dazu. Odyſſeus wandte ſich
bewundernd zu dem Könige und ſprach: „In der That,
Alcinous, du kannſt dich der geſchickteſten Tänzer auf
dem ganzen Erdboden rühmen. In dieſer Kunſt habt
ihr eures Gleichen nicht!“ Alcinous that ſich auf dieſes
Urtheil nicht wenig zu gute. „Höret ihrs,“ rief er
ſeinen Phäaken zu, „wie der Fremdling über uns ur¬
theilt? Er iſt doch ein ſehr verſtändiger Mann, und
er verdient es wohl, daß wir ihm auch ein anſehnliches
Gaſtgeſchenk reichen. Wohlan! zwölf der Fürſten des
Landes, und ich ſelbſt der dreizehnte, ſollen ihm jeder
einen Mantel und einen Leibrock herbeibringen und zu
dem ein Pfund des köſtlichſten Goldes. Das wollen wir
ihm zu einer großen Gabe vereint ſchenken, damit er
mit fröhlichem Herzen von uns ſcheide. Und außerdem
ſoll Euryalus es verſuchen, mit freundlichen Worten ihn
ganz mit uns auszuſöhnen.“ Alle Phäaken riefen ihm
Beifall zu. Ein Herold ging, die Geſchenke zu ſammeln.
Euryalus nahm ſein Schwert mit ſilbernem Heft und
elfenbeinerner Scheide, übergab es dem Gaſte und ſprach
dazu: „Väterchen, haben wir ein tränkendes Wort gegen
dich fallen laſſen, ſo ſollen es die Winde verwehen! dir
aber mögen die Götter fröhliche Heimfahrt verleihen!
Heil und Freude dir!“ — „Auch dir,“ antwortete Odyſ¬
ſeus, „möge dich deine Gabe nie reuen!“ Mit dieſem
Wort hängte er ſich das ſchmucke Schwert um die Schulter.
[120] Es war um Sonnenuntergang, als die Geſchenke
ankamen, und alle vor der Königin niedergelegt wurden.
Sie hieß Alcinous auch noch eine zierliche Lade für die
Gewande herbeiſchaffen; darein wurden die Gaben gelegt
und für Odyſſeus in den Palaſt getragen. Dort fügte
der König, der ſich mit der ganzen Geſellſchaft in ſeine
Wohnung begeben hatte, noch andere Gaben an köſt¬
lichen Gewanden hinzu, und außerdem ein herrliches
goldenes Gefäß. Dem Gaſte wurde ein Bad bereitet,
indem zeigte ihm die Königin ſelbſt alle die köſtlichen
Geſchenke in der offenen Lade und ſprach dazu: „Be¬
trachte dir den Deckel ſelbſt genau und verſchließe die
Lade, daß dich ja keiner, wenn du etwa ſchläfſt, wäh¬
rend der Heimfahrt beraube, und die ſchöne Kiſte da¬
vontrage!“ Odyſſeus ſchlug den Deckel ſorgfältig ein,
und verſchloß die Lade mit einem vielfach verſchlungenen
Knoten; dann erquickte er ſich im warmen Bade, und
wollte nun wieder in die Geſellſchaft der zu Schmaus und
Trunk niedergeſeſſenen Männer zurückkehren. Da fand
er vor dem Thürpfoſten des Saales beim Eingang in
denſelben die holdſelige Jungfrau Nauſikaa ſtehen, welche
er ſeit ſeinem Einzuge in die Stadt nicht mehr erblickt
hatte, und welche ſeither züchtiglich und ferne von den
Männerfeſten im Frauengemache verſchloſſen gelebt; nun
aber wollte ſie zum Abſchiede den edeln Gaſt auch noch
einmal begrüßen. Nachdem ſie einen langen bewundern¬
den Blick auf die edle Heldengeſtalt des Mannes gewor¬
fen, ſprach ſie endlich, indem ſie den Hineintretenden
ſanft aufhielt: „Heil dir und Segen, edler Gaſt! Ge¬
denke meiner auch im Lande deiner Väter, da du mir
ja doch dein Leben verdankeſt!“ Gerührt antwortete ihr
[121] Odyſſeus: „Du edle Nauſikaa, wenn mich Jupiter den
Tag der Heimkunft erleben läßt, ſo werde ich dich, meine
Retterin, täglich wie eine Gottheit anflehen!“ Mit die¬
ſen Worten betrat er den Saal wieder und ſetzte ſich an
der Seite des Königes nieder. Hier waren die Diener
eben damit beſchäftigt, das Fleiſch zu zerlegen und den
Wein aus den großen Miſchkrügen in die Becher ein¬
zuſchenken. Auch der blinde Sänger Demodokus wurde
wieder eingeführt und nahm ſeinen alten Platz an der
Mittelſäule des Saales ein. Da winkte Odyſſeus dem
Herold, ſchnitt vom Rücken des vor ihm liegenden ge¬
bratenen Schweines das beſte Stück ab, ſtreckte es ihm
auf einer Platte hin und ſagte: „Herold, reich dem
Sänger dieſes Fleiſch; obgleich ich ſelbſt in der Ver¬
bannung bin, ſo möchte ich ihm doch gerne etwas Liebes
erweiſen. Stehen doch die Sänger bei dem ganzen
Menſchengeſchlecht in Achtung, weil die Muſe ſelbſt ſie
den Geſang gelehrt hat und mit ihrer Huld über ihnen
waltet.“ Dankbar empfing der blinde Sänger die Gabe.


Nach dem Mahle wandte ſich Odyſſeus noch ein¬
mal an Demodokus: „Ich preiſe dich vor andern Sterb¬
lichen, lieber Sänger!“ ſprach er zu ihm, „daß dich
Apollo oder die Muſe ſo ſchöne Lieder gelehret hat!
Wie lebendig und genau du das Schickſal der griechiſchen
Helden zu ſchildern verſtehſt, als hätteſt du Alles mit
angeſehen und mit angehört! Fahre nun fort, und ſing'
uns auch noch die ſchöne Mähr vom hölzernen Roſſe
und was Odyſſeus dabei gethan hat!“ Der Sänger ge¬
horchte freudig und Alles lauſchte ſeinem Geſange. Als
der Held ſo ſeine Thaten preiſen hörte, mußte er wieder
heimlich weinen, und nur Alcinous bemerkte es. Er
[122] gebot daher dem Sänger Stillſchweigen und ſprach im
Kreiſe der Phäaken: „Beſſer iſts, die Harfe ruhet nun;
denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Luſt
ſingt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle
ſitzen und das Lied ertönt, hört unſer ſchwermüthiger
Gaſt nicht auf, ſeinem Grame nachzuhängen, und wir
ſtreben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem
fühlenden Manne ein Gaſt ſo lieb ſeyn, wie ein Bruder.
Nun denn, Fremdling, ſo ſag' uns redlich, wer ſind
deine Eltern, welches iſt dein Vaterland? Einen Namen
führt doch jeder Menſch, ſey er von edler oder von ge¬
ringer Abkunft! dein Land müſſen wir ohnedem wiſſen
und deine Geburtsſtadt, wenn dich meine Phäaken heim¬
bringen ſollen. Weiter brauchen ſie nichts; ſie bedürfen
auch der Piloten nicht: haben ſie nur den Namen des
Orts, ſo finden ſie die Fahrt durch Nacht und Nebel!“


Auf dieſe freundliche Rede erwiederte der Held eben
ſo liebreich: „Glaube doch ja nicht, edler König, daß
euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr iſt es eine
Wonne, einem ſolchen zuzuhören, wenn er ſeine götter¬
gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts
Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei feſtlicher
Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬
rend die Gäſte in langen Reihen ſitzen, vor jedem ſein
Tiſch voll Brods und Fleiſches ſteht, und der Schenk
fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬
ſchet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben
Gaſtfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und
Gram verſinken. Denn wo ſoll ich anfangen und womit
enden? — Doch, höret vor allen Dingen mein Geſchlecht
und mein Vaterland!“


[123]

Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten.

Cikonen. Lotophagen. Cyklopen. Polyphen.


„Ich bin Odyſſeus, der Sohn des Laertes; die
Menſchen kennen mich und der Ruhm meiner Klugheit
iſt über die Erde verbreitet. Auf der ſonnigen Inſel
Ithaka wohne ich, in deren Mitte ſich das waldige Ge¬
birge Neriton erhebt; rings umher liegen viele kleinere
bewohnte Eilande, Same, Dulichium, Zazynthus.
Meine Heimath iſt zwar rauh; doch nähret ſie friſche
Männer, und das Vaterland iſt einem jeden das Süßeſte!
Wohlan nun, vernehmet von meiner unglückſeligen Heim¬
fahrt von der trojaniſchen Küſte! Von Ilium weg trug
mich der Wind nach der Cikonenſtadt Imarus, die ich
mit meinen Genoſſen eroberte. Die Männer vertilgten
wir; die Frauen ſamt der andern Beute wurden ver¬
theilt. Nach meinem Rathe hätten wir uns nun eilig
davongemacht. Aber meine unbeſonnenen Begleiter blie¬
ben ſchwelgend bei der Beute ſitzen, und die entflohenen
Cikonen, durch ihre landeinwärts wohnenden Brüder ver¬
ſtärkt, überfielen uns beim Schmaus am Geſtade. Die
Uebermacht ſiegte. Sechs Freunde von jedem unſrer
Schiffe blieben auf dem Platze, wir andern entgingen
dem Tode nur durch ſchleunige Flucht.


Alſo ſteuerten wir weiter weſtwärts, froh der To¬
desgefahr entronnen zu ſeyn, aber von Herzen traurig
über den Tod unſerer Genoſſen. Da ſandte Jupiter uns
einen Orkan aus Norden. Meer und Erde hüllten ſich
[124] in Wolken und Nacht; mit geſenkten Maſten flogen wir
dahin, und ehe wir die Segel eingezogen hatten, krach¬
ten die Stangen zuſammen und die Segeltücher zerriſſen in
Stücke. Endlich arbeiteten wir uns ans Geſtade und
lagen dort zwei Tage und Nächte vor Anker, bis wir
die Maſten wieder aufgerüſtet und neue Segel aufgeſpannt
hatten. Wir ſteuerten nun wieder vorwärts und hatten
alle Hoffnung, bald in die Heimath zu gelangen, wäre
nicht, eben als wir ums Vorgebirge Malea, an der
Südſpitze der Pelopsinſel von Griechenland, herumſchiff¬
ten, der Wind plötzlich in Nord umgeſchlagen und hätte
uns ſeitwärts in die offene See hineingetrieben. Da
wurden wir nun neun Tage vom Sturm herumgeſchleu¬
dert; am zehnten gelangten wir ans Ufer der Lotopha¬
gen, die ſich von nichts als Lotosfrucht nähren. Hier
ſtiegen wir ans Geſtade und nahmen friſches Waſſer
ein. Dann ſandten wir zwei unſerer Freunde auf Kund¬
ſchaft aus, und ein Herold mußte ſie begleiten. Dieſe
gelangten in die Volksverſammlung der Lotophagen, und
wurden von dieſem gutmüthigen Volke, dem es nicht in
den Sinn kam, etwas zu unſerem Verderben zu unter¬
nehmen, auf das freundlichſte empfangen. Aber die
Frucht des Lotos, welche ſie ihnen zu koſten gaben, hat
eine ganz eigenthümliche Wirkung, Sie iſt ſüßer als
Honig, und wer von ihr koſtet, der will nicht mehr von
der Heimkehr wiſſen, ſondern immer in dem Lande blei¬
ben. So mußten wir denn auch unſre Genoſſen auf¬
ſuchen und, während ſie weinten und widerſtrebten,
mit Gewalt nach den Schiffen zurückführen.


Auf unſrer weiteren Fahrt kamen wir nun zu dem
wildlebenden grauſamen Volke der Cyklopen. Dieſe bauen
[125] das Land gar nicht, ſondern überlaſſen alles den Göttern.
Auch wächſt wirklich dort alle mögliche Nahrung ohne
Zuthat des Pflanzers und Ackermanns: Waizen, Gerſte,
die edelſten Reben voll großbeeriger Trauben; und Ju¬
piter giebt in mildem Regen ſeinen Segen dazu. Auch
halten ſie keine Geſetze, treten in keine Rathsverſamm¬
lung zuſammen; ſondern alle wohnen auf den felſigten
Gebirgshöhen, rings in gewölbten Erdhöhlen; da richtet
ſich der Cyklop, wie er mag, mit Weibern und Kindern
ein; übrigens bekümmert ſich keiner um den andern.
Außerhalb der Bucht, in mäßiger Entfernung vom Cy¬
klopenlande, erſtreckt ſich eine bewaldete Inſel voll wilder
Ziegen, die, von keinem Jäger geängſtet, hier ſorglos
graſen. Kein Menſch wohnt darauf; die Cyklopen ſelbſt,
die den Schiffbau nicht verſtehen, kommen auch nicht
dahin. Bewohner könnten ſich die Inſel leicht zum blü¬
bendſten Lande umſchaffen, denn der Boden iſt höchſt
fruchtbar: feuchte, ſchwellende Wieſen breiten ſich über
den Strand aus, das unbenützte Ackerfeld iſt locker, der
Boden fett; die gelegenſten Hügel böten ſich dem Wein¬
bau dar. Auch iſt ein vor allen Winden geſchirmter
Hafen da, ſo ſicher, daß man die Schiffe weder anzu¬
binden noch vor Anker zu legen braucht. Der Bucht
zugekehrt quillt das reinſte Waſſer perlend ans der Fel¬
ſenkluft, und grünende Pappeln ſtehen rings umher.
Dorthin geleitete ein ſchirmender Gott unſre Schiffe in
der dunkeln Nacht. Als der Morgen anbrach, betraten
wir das Eiland, und erlegten auf fröhlicher Jagd ſo
viele Ziegen, daß ich jedem meiner zwölf Schiffe ihrer
neune zutheilen konnte, und noch ihrer zehen für mich
behielt. Da ſaßen wir denn am lieblichen Ufer den ganzen
[126] Tag und thaten uns bis zum ſpäten Abend recht gütlich
mit dem friſchen Ziegenfleiſch und altem Weine, den wir
in der Cikonenſtadt erbeutet hatten und in Henkelkrügen
mit uns führten.


Am andern Morgen wandelte mich die Luſt an, das
gegenüberliegende Land, von deſſen Bewohnern, den Cy¬
klopen, wie ſie geartet ſeyen, ich noch nicht wußte, aus¬
zukundſchaften; ich fuhr daher mit vielen Genoſſen auf
meinem Schiffe hinüber. Als wir dort landeten, ſahen
wir am äußerſten Meeresſtrand eine hochgewölbte Felſen¬
kluft, ganz mit Lorbeergeſträuch überſchattet, wo ſich
viele Schafe und Ziegen zu lagern pflegten; ringsum¬
her war von eingerammelten Steinen und hohen Fichten
und Eichen ein Gehege erbaut. In dieſer Umzäunung
hauste ein Mann von rieſiger Geſtalt, der die Heerde
einſam auf entfernten Weiden umhertrieb, nie mit Andern,
auch nicht mit Seinesgleichen, umging und immer nur
auf boshaften Frevel ſann. Das war eben ein Cyklop.
Während wir nun das Geſtade mit den Augen muſter¬
ten, wurden wir alles dieſes gewahr. Da wählte ich
mir zwölf der tapferſten Freunde aus, hieß die übrigen
an Bord bleiben und mir das Schiff bewahren, und
nahm einen ledernen Schlauch voll des beſten Weines
zu mir, den mir ein Prieſter Apollo's in der Cikonen¬
ſtadt Iſmaros geſchenkt hatte, weil wir ſeiner und ſeines
Hauſes geſchont. Dieſen nebſt guter Reiſekoſt in einem
Korbe trugen wir, und gedachten damit den Mann zu
kirren, der ſchon auf den erſten Anblick unbändig und
keinem Geſetz unterworfen erſchien.


Als wir bei der Felskluft angekommen waren, fan¬
den wir ihn ſelbſt nicht zu Hauſe, denn er war bei
[127] ſeinen Heerden auf der Weide. Wir traten ohne weiteres
in die Höhle ein, und wunderten uns über die innere
Einrichtung. Da ſtanden Körbe von mächtigen Käſe¬
laiben ſtrotzend umher; in den Ställen, die in der Grotte
angebracht waren, ſtand es gedrängt voll von Lämmern
und jungen Ziegen, und jede Gattung war beſonders
eingeſperrt. Körbe lagen umher, Kübel voll Molken,
Bütten, Eimer zum Melken. Anfangs drangen die Ge¬
noſſen in mich, von dem Käſe zu nehmen, ſo viel wir
könnten, und uns davon zu machen, oder Lämmer und
Ziegen nach unſerem Schiffe hinzutreiben, und dann wie¬
der zu unſern Freunden nach der Inſel hinüberzuſteuern.
Hätte ich ihrem Rathe doch gefolgt! Aber ich war
allzu begierig, den ſeltſamen Bewohner der Höhle zu
ſchauen, und wollte lieber ein Gaſtgeſchenk erwarten als
mit einem Raube von dannen ziehen. Deßwegen zünde¬
ten wir ein Feuer an und opferten. Dann nahmen wir
ein Weniges von dem Käſe und aßen. Nun warteten
wir, bis der Hausherr heimkäme.


Endlich nahete er, auf ſeinen Rieſenſchultern eine
ungeheure Laſt trockenen Scheiterholzes tragend, das er
geſammelt, um ſich ſein Abendmahl damit zu kochen. Er
warf ſie zu Boden, daß es fürchterlich krachte und wir
alle vor Angſt zuſammen fuhren und uns in den äußer¬
ſten Winkel der Grotte verſteckten. Da ſahen wir denn,
wie er ſeine fette Heerde in die Kluft eintrieb, doch nur
die, welche er wollte; Widder und Böcke blieben draußen
in dem eingehegten Vorhofe. Nun rollte er ein mäch¬
tiges Felsſtück vor den Eingang, das zweiundzwanzig
vierrädrige Wagen nicht von der Stelle hätten ſchaffen
können. Dann ſetzte er ſich gemächlich auf den Boden,
[128] melkte der Reihe nach die Schafe und Ziegen, legte die
ſäugenden ans Euter, machte die eine Hälfte der Milch
mit Lab gerinnen, formte Käſe daraus, und ſtellte ſie
in Körben zum Trocknen hin; die andere Hälfte ver¬
wahrte er in großen Geſchirren; denn das war ſein
täglicher Trunk. Wie er mit Allem fertig war, machte
er ſich ein Feuer an, und nun geſchah es, daß er uns
in unſerem Winkel erblickte. Auch wir ſahen jetzt erſt
ſeine gräßliche Rieſengeſtalt genau. Er hatte wie alle
Cyklopen nur ein einziges funkelndes Auge in der Stirn,
Beine wie tauſendjährige Eichenſtämme und Arme und
Hände groß und ſtark genug, um mit Granitblöcken Ball
zu ſpielen.


„Wer ſeyd ihr, Fremdlinge!“ fuhr er uns mit ſei¬
ner rauhen Stimme an, die klang, wie ein Donner im
Gebirge, „woher kommt ihr über das Meer gefahren?
Iſt die Seeräuberei euer Geſchäft, oder was treibt ihr?“
Bei dem Gebrüll bebte uns das Herz im Leibe. Doch
nahm ich mich zuſammen und erwiederte: „Ach nein;
wir ſind Griechen, kommen von der Zerſtörung Troja's
zurück, und haben uns während der Heimfahrt auf dem
Meere verirrt. So nahen wir deinen Knieen und flehen
dich um Schutz und eine Gabe an. Ja, ſcheue die
Götter, lieber Mann! und erhöre uns. Denn Jupiter
beſchirmt die Schutzflehenden und rächt ihre Mißhandlung!“


Aber der Cyklop erwiederte mit gräßlichem Lachen:
„du biſt ein rechter Thor, o Fremdling, und weiſſeſt nicht,
mit wem du es zu thun haſt! Meinſt du wir kümmern
uns um die Götter und ihre Rache? Was gilt den
Cyklopen Zeus der Donnerer und alle Götter mit ein¬
ander! Sind wir doch viel vortrefflicher als ſie! Wills
[129] mein eigen Herz nicht, ſo ſchone ich weder dich noch
deine Freunde! Aber ſage mir jetzt, wo du das Schiff
geborgen haſt, auf welchem du hergekommen biſt? Wo
liegt es vor Anker, nah oder ferne?“ So fragte der
Cyklop voll Argliſt, ich aber war bald mit einer ſchlauen
Erfindung bei der Hand. „Mein Schiff, guter Mann,“
antwortete ich, „hat der Erderſchütterer Poſeidon nicht
weit von eurem Ufer an die Klippen geworfen und zer¬
trümmert; ich allein mit dieſen zwölf Geſellen bin ent¬
ronnen!“ Auf dieſe Rede antwortete das Ungeheuer gar
nicht, ſondern ſtreckte nur ſeine Rieſenhände aus, packte
zwei meiner Genoſſen, und ſchlug ſie, wie junge Hunde,
zu Boden, daß ihr Blut und Gehirn auf die Erde
ſpritzte. Dann zerhackte er ſie Glied für Glied zur Abend¬
koſt und fraß ſich an ihnen ſatt, wie ein Löwe in den
Bergen. Eingeweide, Fleiſch, ja das Mark mitſammt den
Knochen verzehrte er. Wir aber ſtreckten die Hände zu
Jupiter empor, und jammerten laut über die Frevelthat.


Nachdem ſich das Unthier ſeinen Wanſt gefüllt und
den Durſt mit Milch gelöſcht, warf er ſich der Länge
nach in der Höhle zu Boden, und nun beſann ich mich,
ob ich nicht auf ihn losgehen und ihm das Schwert
zwiſchen Zwerchfell und Leber in die Seite ſtoßen ſollte.
Aber ſchnell bedachte ich mich eines Beſſern. Denn was
hätte uns das geholfen? Wer hätte uns den unerme߬
lichen Stein von der Höhle gewälzt? Wir hätten zu¬
letzt alle des jämmerlichſten Todes ſterben müſſen. De߬
wegen ließen wir ihn ſchnarchen und erwarteten in dumpfer
Bangigkeit den Morgen. Als dieſer erſchienen und der
Cyklop aufgeſtanden war, zündete er wieder ein Feuer
an und fing an zu melken. Als er Alles beendigt, packte
Schwab, das klaſſ. Altherthum. III. 9[130] er wieder zwei meiner Begleiter, und verzehrte ſie zu
unſerem Entſetzen, wie das erſtemal, zum Frühſtück.
Dann trieb er die feiſte Heerde aus der Höhle, nach¬
dem er den Fels abgehoben, ging ſelbſt mit hinaus
und pflanzte den Stein wieder davor, wie man den Deckel
auf den Köcher ſetzt. Wir hörten ihn mit gellendem
Pfeifen ſeine Heerde in die Berge treiben; wir aber blie¬
ben in der Todesangſt zurück und jeder erwartete, daß
das nächſtemal die Reihe, gefreſſen zu werden, an ihn
kommen werde. Ich ſelbſt bewegte fortwährend Entwürfe
der Rache in meinem Herzen, wie ich es angreifen ſollte,
dem Ungeheuer zn vergelten. Endlich kam mir ein Ge¬
danke, der nicht übel war. Drinnen im Stalle lag die
mächtige Keule des Cyklopen aus grünem Olivenholz;
er hatte ſie ſich abgehauen, um ſie zu tragen, wenn ſie
dürre geworden wäre; uns erſchien ſie an Länge und
Dicke dem Maſt eines großen Schiffes gleich. Von die¬
ſer Keule hieb ich mir einen Pfahl von der Dicke, wie
ein Arm ihn umſpannen kann, reichte denſelben den Freun¬
den und hieß ſie ihn glatt ſchaben, dann ſchärfte ich
ihn oben ganz ſpitz und brannte ihn in der Flamme hart.
Dieſen Pfahl verbarg ich mit aller Sorgfalt im Miſte,
deſſen es haufenweiſe in der Höhle gab. Dann loosten
meine Genoſſen, wer es wagen ſollte, den Brandpfahl
dem Ungeheuer mit mir ins Auge zu drehen, wenn er
im Schlummer läge. Es traf gerade die vier tapferſten
der Freunde, die ich mir ſelbſt ausgewählt hätte, und
der fünfte war ich.


Am Abend kam der gräßliche Hirte mit ſeiner Heerde
heim. Dießmal ließ er nichts im Vorhof, ſondern trieb
alles mit einander in die Höhle; vielleicht argwöhnte er
[131] etwas, oder ſchickte es auch, wie ihr bald hören werdet,
ein Gott zu unſern Gunſten ſo. Uebrigens fügte er, wie
bisher, den Stein wieder in die Oeffnung, that Alles
wie ſonſt, und fraß auch zwei aus unſerer Mitte. In¬
zwiſchen hatte ich eine hölzerne Kanne mit dem dunkeln
Wein aus meinem Schlauche gefüllt, näherte mich dem
Ungeheuer und ſprach: „Da, nimm Cyklop, und trink!
auf Menſchenfleiſch ſchmeckt der Wein vortrefflich. Du
ſollſt auch erfahren, was für ein köſtliches Getränk wir
auf unſerem Schiffe führten. Ich brachte ihn mit, um
ihn dir zu ſpenden, wenn du Erbarmen mit uns trügeſt
und uns heim ließeſt. Aber du biſt ja ein ganz entſetz¬
licher Wüthrich; wie mag dich künftig ein anderer Menſch
beſuchen! Nein, du biſt nicht billig mit uns verfahren!“


Der Cyklop nahm die Kanne ohne ein Wort zu
verlieren und leerte ſie mit durſtigen Zügen; man ſah
ihm das Entzücken an, in welches ihn die Süſſigkeit und
Kraft des Trankes verſetzte. Als er fertig war, ſprach
er zum erſtenmale freundlich: „Fremdling, gieb mir noch
eins zu trinken; und ſage mir auch, wie du heißeſt, da¬
mit ich dich auf der Stelle mit einem Gaſtgeſchenk er¬
freuen kann. Denn auch wir haben Wein hier zu Lande,
wir Cyklopen. Damit du aber auch erfahreſt, wen du
vor dir haſt, ſo wiſſe: Polyphemus iſt mein Name.“
So ſprach der Cyklop, und gerne gab ich ihm von Neuem
zu trinken. Ja, dreimal ſchenkte ich ihm die Kanne voll,
und dreimal lehrte er ſie in der Dummheit. Als ihm
der Wein die Beſinnung zu umnebeln anfing, ſprach ich
ſchlauer Weiſe: „Meinen Namen willſt du wiſſen, Cy¬
klop? Ich habe einen ſeltſamen Namen. Ich heiße der
Niemand; alle Welt nennt mich Niemand, Mutter,
9 *[132] Vater hießen mich ſo und bei allen meinen Freunden bin
ich ſo geheißen.“ Darauf antwortete der Cyklop: „Nun
ſollſt du auch dein Gaſtgeſchenk erhalten; den Niemand,
den verzehre ich zuletzt nach allen ſeinen Schiffsgenoſſen,
Biſt du mit der Gabe zufrieden, Niemand?“


Dieſe letzten Worte lallte der Cyklop nur noch,
lehnte ſich rückwärts und taumelte bald ganz zu Boden.
Mit gekrümmtem, feiſten Nacken dehnte er ſich ſchnar¬
chend im Rauſch, ja Wein und Menſchenfleiſch brach
er in der Trunkenheit aus ſeinem Schlunde heraus. Jetzt
ſteckte ich ſchnell den Pfahl in die glimmende Aſche, bis
er Feuer fing, und als er ſchon Funken ſprühte, zog ich
ihn heraus und mit den vier Freunden, die das Loos
getroffen hatte, ſtießen wir ihm die Spitze tief ins Auge
hinab, und ich, in die Höhe gerichtet, drehte den Pfahl,
wie ein Zimmermann einen Schiffsbalken durchbohrt.
Wimpern und Augenbraunen verſengte die Gluth bis auf
die Wurzeln, daß es praſſelte, und ſein erlöſchendes Auge
ziſchte, wie heißes Eiſen im Waſſer. Grauenvoll heulte
der Verletzte auf, ſo laut, daß die Höhle von dem Ge¬
brüll wiederhallte; und wir, vor Angſt bebend, flüchteten
in den äußerſten Winkel der Grotte.


Polyphem riß ſich indeſſen den Pfahl aus der Au¬
genhöhle, von dem das Blut triefend herunterrann; er
ſchleuderte ihn weit von ſich, und tobte wie ein Unſin¬
niger. Dann erhub er ein neues Zettergeſchrei und rief
ſeine Stammesbrüder, die Cyklopen, herbei, die im Ge¬
birge umherwohnten. Dieſe kamen von allen Seiten her¬
an, umſtellten die Höhle und wollten wiſſen, was ihrem
Bruder geſchehen ſey. Er aber brüllte aus der Höhle
heraus: „Niemand, Niemand bringt mich um, ihr Freunde!
[133] Niemand thut es mit Argliſt!“ Als die Cyklopen das
hörten, ſprachen ſie: „Nun, wenn Niemand dir etwas
zu Leide thut, wenn dich keine Seele angreift, was
ſchreieſt du denn ſo? Du biſt wohl krank; aber gegen
Krankheit haben wir Cyklopen keine Mittel!“ So ſchrieen
ſie und eilten wieder davon. Mir aber lachte das Herz
im Leibe.


Der blinde Cyklop tappte indeſſen in ſeiner Höhle
umher, immer noch vor Schmerzen winſelnd. Er nahm
den Felsſtein vom Eingange, ſetzte ſich dann unter die
Pforte, und taſtete mit den Händen umher, um einen
Jeden von uns zu fangen, der Luſt hätte, mit den
Schafen zu entwiſchen; denn er hielt mich ſo einfältig,
daß ich es auf dieſe Weiſe angreifen würde. Ich aber
kam inzwiſchen an tauſenderlei Planen herum, bis ich
den rechten ausfindig machte. Es ſtanden nämlich ge¬
mäſtete Widder mit dem dichteſten Fließe um uns her,
gar groß und ſtattlich. Die verband ich ganz geheim
mit den Ruthen des Weidengeflechtes, auf welchem der Cy¬
klop ſchlief, je drei und drei; und der mittlere trug unter
ſeinem Bauche immer einen von uns Männern, der ſich
an ſeiner Wolle feſthielt, indeſſen die beiden andern Wid¬
der rechts und links, die heimliche Laſt beſchirmend, ein¬
hertrollten. Ich ſelber wählte den ſtattlichſten Bock, der
hoch über alle andern hervorragte. Ihn faßte ich am
Rücken, wälzte mich unter ſeinen Bauch und hielt die
Hände feſt in den gekräuſelten Wollenflocken gedreht. So
unter den Widdern hängend erwarteten wir mit unter¬
drückten Seufzern den Morgen, Er kam; und die männ¬
liche Heerde ſprang zuerſt hüpfend aus der Höhle auf
die Weide. Nur die Weibchen blöckten noch mit ſtrotzenden
[134] Eutern in den Ställen. Ihr geplagter Herr betaſtete
jedem Widder, der hinausging, ſorgfältig den Rücken, ob
kein Flüchtling darauf ſitze; an den Bauch und meine Liſt
dachte er in ſeiner Dummheit nicht. Nun wandelte auch
mein Bock langſam zur Felſenpforte, ſchwerbeladen mit
Wolle, noch ſchwerer mit mir, der ich unter allerlei Ge¬
danken mich dahintragen ließ. Auch ihn ſtreichelte Po¬
lyphemus und ſprach: „Gutes Widderchen, was trabſt
du ſo langſam hinter der übrigen Heerde aus der Höhle
heraus? Du leideſt ja ſonſt nicht, daß andere Schafe
dir vorangehen; du biſt ſonſt immer der erſte bei den
Wiesblumen und am Bach, und Abends der allererſte
wieder im Stalle? Betrübt dich das ausgebrannte Auge
deines Herrn? Ja, hätteſt du Gedanken und Sprache,
wie ich, gewiß, du ſagteſt mir, in welchem Winkel ſich
der Frevler mit ſeinem Geſindel verbirgt: dann ſollte
mir ſein Gehirn von der Höhlenwand ſpritzen, und mein
Herz wieder froh werden vom Leide, das der Niemand
über mich gebracht!“


So ſprach der Cyklop und ließ den Widder auch
hinausgehen. Und nun waren wir alle draußen. So
wie wir ein wenig von der Felskluft entfernt waren,
machte ich mich zuerſt von meinem Bocke los, und löſte
dann auch meine Freunde ab. Wir waren unſrer leider
nur noch ſieben, umarmten uns mit herzlicher Freude
und jammerten um die Verlorenen. Doch winkte ich
ihnen, daß keiner laut weinen, ſondern daß ſie mit den
geraubten Widdern ſich ſchnell nach unſern Schiffen mit
mir aufmachen ſollten. Erſt als wir wieder auf unſern
Ruderbänken ſaßen und durch die Wogen dahin ſchifften,
auf einen Heroldsruf vom Ufer entfernt, ſchrie ich dem
[135] am Uferhügel mit ſeiner Heerde bergwärts hinan klim¬
menden Cyklopen meine Spottrede zu: „Nun, Cyklop,
du haſt doch keines ſchlechten Mannes Begleiter in dei¬
ner Höhle gefreſſen! Endlich ſind dir deine Frevelthaten
vergolten worden, und du haſt die Strafe Jupiters und
der Götter empfunden!“


Als der Wütherich dieſes hörte, wurde ſein Grimm
noch viel größer. Er riß einen ganzen Felsblock aus
dem Gebirge heraus, und warf ihn nach unſerem Schiffe.
Auch hatte er ſo gut gezielt, daß er das Ende unſeres
Steuerruders nur um ein Weniges verfehlte. Aber von
dem niederſtürzenden Blocke ſchwoll die Fluth an und die
rückwärts wallende Brandung riß unſer Schiff wieder
ans Geſtade zurück. Mit aller Gewalt mußten wir die
Ruder anſtrengen, um dem Ungeheuer aufs neue zu ent¬
fliehen und vorwärts zu kommen. Nun fing ich aber¬
mals an zu rufen, obgleich mich die Freunde, die einen
zweiten Wurf befürchteten, mit Gewalt abhalten wollten.
„Höre, Cyklop,“ ſchrie ich, „wenn dich je einmal ein
Menſchenkind fragt, wer dir dein Auge geblendet, ſo
ſollſt du eine beſſere Antwort geben, als du ſie deinen
Cyklopen ertheilt haſt! Sag' ihm nur: der Zerſtörer
Troja's, Odyſſeus, hat mich geblendet, der Sohn des
Laertes, der auf der Inſel Ithaka wohnt!“ So rief ich.
Heulend ſchrie der Cyklop herüber: „Wehe mir! So
hat ſich denn die alte Weiſſagung an mir erfüllt! Denn
einſt befand ſich unter uns ein Wahrſager mit Namen
Telemus, des Eurytus Sohn, welcher hier im Lande
der Cyklopen alt geworden iſt. Dieſer hat mir gewahr¬
ſagt, daß ich dereinſt durch Odyſſeus das Geſicht ver¬
lieren ſollte. Da meinte ich dann immer, es ſollte ein
[136] ſtattlicher Kerl daher kommen, ſo groß und ſtark, wie
ich ſelber einer bin, und ſollte ſich mit mir im Kampfe
meſſen. Und nun iſt dieſer Wicht gekommen, dieſer Weich¬
ling, hat mich mit Weine berückt und mir im Rauſch
das Auge geblendet! Aber komm doch wieder, Odyſſeus!
Dießmal will ich dich als Gaſt bewirthen, will dir vom
Meeresgott ſicheres Geleite erflehen, denn, wiſſe, ich
bin der Sohn Poſeidons. Auch kann nur er, und kein
Anderer, mich heilen!“ Jetzt aber fing er an zu ſeinem
Vater Neptunus zu beten, daß er mir die Heimkehr nicht
vergönnen ſolle. „Und kehrt er jemals zurück,“ endete
er, „ſo ſey es wenigſtens ſo ſpät, ſo unglücklich, ſo
verlaſſen als möglich, auf einem fremden Schiffe, nicht
auf dem eigenen; und zu Hauſe treffe er nichts als
Elend an!“


So betete er, und ich glaube, der finſtere Gott hat
ihn gehört. Auch ergriff er einen zweiten, noch viel grö¬
ßeren Felsblock und ſchleuderte ihn uns nach. Auch die߬
mal verfehlte er uns nur um ein Weniges. Doch wider¬
ſtanden wir dem Gegenſtoße der Fluth und ruderten
getroſt vorwärts. Bald waren wir auch wieder bei der
Inſel angekommen, wo die übrigen Schiffe geborgen in
der Bucht lagen und die Freunde, ſchon lange traurig
am Strande gelagert, uns erwarteten. Sie empfingen
uns, als wir anlandeten, mit einem lauten Freudenrufe.
Als wir ans Land geſtiegen, war unſer erſtes Geſchäft,
die Heerde des Cyklopen, die wir geraubt hatten, unter
unſere Freunde zu vertheilen. Den Widder jedoch, unter
deſſen Bauche ich entflohen war, ſchenkten mir meine
Genoſſen im voraus von der Beute. Denſelben brachte
ich ſogleich dem Jupiter zum Opfer dar, und verbrannte
[137] ihm die Schenkel des Thieres. Der Gott verſchmähte
jedoch das Opfer und ließ ſich von uns nicht verſöhnen.
Sein Beſchluß war, daß unſere Schiffe alle, und außer
mir auch alle meine Freunde, untergehen ſollten.


Doch davon hatten wir keine Ahnung. Wir ſaßen
vielmehr den ganzen Tag, bis die Sonne ins Meer ſank,
vergnügt bei einander, ſchmauſten und tranken, als wären
wir aller Sorgen ledig. Dann legten wir uns am Strande
zum Schlummer nieder und ſchliefen beim Wogenſchlage
ein. Sobald jedoch der Himmel ſich wieder röthete,
ſaßen wir auch ſchon alle auf unſern Schiffen und ruder¬
ten weiter, der Heimath entgegen.“

Odyſſeus erzählt weiter.

Der Schlauch des Aeolus. Die Läſtrygonen. Circe.


„Hierauf,“ fuhr Odyſſeus fort, „gelangten wir an
eine Inſel, welche Aeolus, der Sohn des Hippotes, ein
vertrauter Freund der Götter, bewohnte. Dieſes Eiland
war ſchwimmend in der Fluth; eine eherne Mauer umgab
daſſelbe mit ſtarrendem Erz und ihre Grundlage war ein
glatter Fels, der rings um das Inſelland herumlief.
Dieſer Aeolus hatte in ſeinem Palaſte ſechs Söhne und
ſechs Töchter, und feierte mit ihnen und der Gattin alle
Tage ein Feſt. Der gute Fürſt beherbergte uns einen
ganzen Monat, und befragte uns recht eifrig über Troja,
die Macht der Griechen und ihre Heimkehr. Ueber
alles dieſes gab ich ihm genaue Auskunft, und als ich
ihn endlich bat, unſere Heimfahrt zu befördern, bezeigte
[138] er ſich in Allem höchſt willig, und ſchenkte uns einen
dickaufgeſchwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬
jährigen Stiers bereitet. In dieſem waren ſämmtliche
Winde eingeſchloſſen, die über die Erde dahin zu wehen
pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬
walter der Winde beſtellt, und hatte die Macht empfan¬
gen, welche Winde er wollte, los zu laſſen, und ihnen
wieder Ruhe zu gebieten. Er ſelbſt nun band uns den
Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden
in meinem Schiffe feſt und ſchnürte ihn ſo zuſammen,
daß auch nicht die kleinſte Luft herauskonnte. Doch hatte
er ſich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr
von allen Gattungen noch genug zu Hauſe. Das zeigte
er ſogleich. Denn als wir uns eingeſchifft hatten, ließ
er unſern Schiffen den ſanfteſten Weſtwind nachwehen,
der uns ſchnell und leicht in die Heimath bringen ſollte.
Aber es wurde uns nicht ſo gut, ſondern unſere eigene
Thorheit brachte uns in großes Unglück.


Schon ſegelten wir neun Tage und Nächte lang
auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht
waren wir ſo nahe an meiner Heimathinſel Ithaka, daß
wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da
mußte mich müden Mann der Schlummer beſchleichen,
denn ich hatte mich unaufhörlich damit beſchäftigt, das
Segel meines Schiffes zu ſtellen, um deſto ſchneller das
Vaterland zu erreichen, und dieſes Geſchäft mochte ich
keinem Andern anvertrauen. Während ich nun ſchlief,
ſpannen meine Schiffsgeſellen ein Geſpräch darüber an,
was wohl in dem Schlauch ſein möchte, welchen mir
der König Aeolus zum Gaſtgeſchenke gegeben hätte. Da
zeigte ſich, daß ſie alle in dem Wahn befangen waren,
[139] ich führe Silbers und Goldes genug in dem Sacke bei
mir, und endlich fing einer der Lüſternſten alſo an:
„Der Odyſſeus iſt doch auch überall hoch geachtet und
geehrt! Wie viel Beute hat er nicht nur von Troja
mit hinweggebracht. Und wir, die wir alle die näm¬
lichen Gefahren und Mühſeligkeiten ausgeſtanden haben,
wir kehren ſämmtlich mit leeren Händen in die Heimath
zurück! Jetzt hat ihm Aeolus auch vollends einen Sack
voll Silbers und Goldes gegeben! Wie wär's, wenn
wir hineinguckten und auch erführen, wie viel Schätze
da drinnen verborgen ſind?“ Dieſer böſe Rath leuchtete
den übrigen Geſellen ſogleich ein. Der Schlauch wurde
aufgelöſt, und kaum war das Band los, ſo brausten
alle Winde mit einander daraus hervor, und die Winds¬
braut riß alle unſre Schiffe wieder hinaus in die offene
See.


Ich ſelbſt fuhr über dem Brauſen aus dem Schlafe
empor. Als ich das Unglück ſah, das angerückt war,
überlegte ich einen Augenblick bei mir, ob ich nicht lieber
über Bord ſpringen und mich in dem Abgrund begraben
ſollte. Doch faßte ich mich wieder, und beſchloß zu
bleiben, und alles, was da kommen könnte, zu ertragen.
Die Wuth der Orkane warf uns an die Inſel des Aeo¬
lus zurück. Hier ließ ich die Meinigen auf den Schif¬
fen und eilte mit einem einzigen Freund und dem Herolde
in die Burg des Fürſten, den ich mit ſeiner Gemahlin
und ſeinen Kindern gerade beim Mittagsmahle traf.
Sie ſtaunten alle nicht wenig über unſre Zurückkunft,
als ſie aber vollends die Urſache vernahmen, erhob ſich
der Verwalter der Winde zornig von ſeinem Sitze und
rief mir entgegen: „Verruchter Menſch, offenbar verfolgt
[140] dich die Rache der Götter! Einen ſolchen darf ich weder
beherbergen noch geleiten! Geh mir aus dem Hauſe,
Verworfener!“ Mit dieſem Fluche jagte er mich, den
Seufzenden, von dannen, und ſchwermuthsvoll ſchifften
wir weiter. Meinen Geſellen ſchwand aller Muth beim
Ruder; es war ſchon wieder der ſiebente Tag vergangen,
und nirgends wollte ſich ein Land zeigen.


Endlich kamen wir an eine Küſte und zu einer
thurmreichen Stadt. Die letztere hieß Telepylus, und
war der Sitz der Läſtrygonen. Das Alles wußten wir
jedoch noch nicht und von der Stadt erblickten wir auch
nichts. Der Hafen, in welchen wir einfuhren, war vor¬
trefflich, enggeſchloſſen und von allen Seiten durch ſchroffe
Felſen geſchirmt, ſo daß das Gewäſſer in der Bucht ſtets
ruhig und wellenlos war. Ich knüpfte mein Schiff zuerſt
im Hafen an, erklomm das felſige Ufer, und ſchaute
mich auf den Steinzacken, nach der Landſeite gewendet,
um. Nirgends entdeckte ich gebautes Feld, keinen Ackers¬
mann, keine Stiere. Nur Rauch, wie von einer großen
Stadt, ſah ich gen Himmel aufſteigen. Da ſchickte ich
zur Erkundigung zwei auserleſene Freunde voraus mit
einem Herold. Dieſe ſtiegen ans Land und fanden bald
einen Weg, der über eine Waldung der Anhöhen jenem
Rauche zuging und ſie endlich in die Nähe der Stadt
führte. Vor dieſer begegneten ſie einer waſſerſchöpfenden
Jungfrau, der rüſtigen Tochter des Läſtrygonenköniges
Antiphates. Sie ſtieg eben zu der Quelle Artacia hinab,
wo die Einwohner ihr Waſſer holten. Das Mädchen,
über deſſen Größe ſie ſich nicht genug wundern konnten,
bezeichnete ihnen freundlich ihres Vaters Wohnung und
gab ihnen die gewünſchte Auskunft über Land, Stadt
[141] und Beherrſcher. Als ſie nun aber in die Stadt und
an den Palaſt kamen, ſo erſtarrten ſie erſt vor Entſetzen.
Da ſtand die Gemahlin des Läſtrygonenköniges vor
ihnen, ſo rieſengroß, wie der Gipfel eines Berges. Denn
die Läſtrygonen waren Rieſen und Menſchenfreſſer. Auch
rief die Königin ſogleich ihrem Gemahl und dieſer griff
zum Gruße nach dem einen der Geſandten und befahl
ſogleich, ihn für ſich zum Abendeſſen zuzurüſten. Die
zwei andern nahmen in der Todesangſt die Flucht nach
den Schiffen. Der König aber rief brüllend die ganze
Stadt unter die Waffen, und über tauſend Läſtrygonen,
lauter Rieſen, den Giganten ähnlich, kamen heraus und
ſchleuderten große Feldſteine nach uns, ſo daß man auf
den Schiffen nichts als das Geſchrei Sterbender und
das Zuſammenkrachen der getroffenen Schiffsbalken hörte.
Nur mein eigenes Schiff war von mir hinter einem
Felſen ſo angebunden worden, daß es die Steine nicht
treffen konnten. Als nun die übrigen Schiffe am Ver¬
ſinken waren, nahm ich von ihrer Mannſchaft in daſſelbe
auf, ſo viel meiner Freunde noch unverletzt waren, und
entrann mit ihnen auf meinem Schiffe unverſehrt aus
dem Hafen. Die andern Fahrzeuge alle verſanken mit
einer Unzahl Todter und Sterbender in den Abgrund.


Nun fuhren wir auf dem einzigen Schiffe zuſam¬
mengedrängt weiter und kamen wieder an eine Inſel
mit Namen Aeäa. Hier wohnte eine ſehr ſchöne Halb¬
göttin, die Tochter des Sonnengottes und der Oceanus¬
tochter Perſe, und Schweſter des Königes Aretes. Sie
hieß Circe und hatte einen herrlichen Palaſt auf der
Inſel. Wir aber wußten nichts von ihr. Wir fuhren
in eine Bucht der Inſel ein, legten unſer Schiff vor
[142] Anker, und lagerten uns, müde von der Anſtrengung,
voll Verdruß und Betrübniß, im Ufergraſe. Am dritten
Morgen machte ich mich, mit Schwert und Lanze be¬
wehrt, auf, das Land auszukundſchaften. Endlich ward
ich einen Rauch gewahr, und dieſer ſtieg aus Circe's
Palaſt auf. Doch ging ich nicht ſogleich auf die Spur
los, ſondern durch frühere Gefahren gewitzigt kehrte
ich erſt zu meinen Freunden zurück und ſandte Späher
aus. Wir hatten auch alle ſchon lange keine genügende
Nahrung zu uns genommen. Da erbarmte ſich auf
meinem Rückwege der Götter einer über uns, und ſchickte
mir einen Hirſch mit hohem Geweih in den Weg, der
durſtig aus dem Walde zum Bache hinunter in raſchen
Sätzen ſtürzte. Ich erſchoß ihn im Laufe, indem ich ihn
mit meiner Lanze mitten in den Rückgrat traf, daß ſie
unten am Bauche wieder hervordrang. Dann zog ich die
Lanze, mit dem Fuß auf das Thier geſtemmt, aus der
Wunde, machte mir ein Seil von Weidenruthen, band
es dem Wild um die Füße und trug es ſo um den Nacken
gehängt zu dem Schiffe, indem ich mich, bei der unge¬
wohnten Laſt, unter dem Gehen auf meine Lanze ſtützen
mußte.


Meine Begleiter fuhren freudig empor, als ſie die ſchöne
Waldbeute auf meinen Schultern erblickten. Geſchwind
wurde das Thier geſchlachtet, und ein Feſtſchmaus an¬
geſtellt, indem man, was von Brod und Wein zu fin¬
den war, auf dem Schiffe zuſammenſuchte. Nun meldete
ich ihnen von dem Rauche, den ich entdeckt hatte. Aber
meine Freunde wurden ganz muthlos, denn alle mußten
an die Höhle des Cyklopen und den Hafen des Läſtry¬
gonenköniges denken, wo uns die Hoffnung beidemal
[143] ſo grauſam irre geführt hatte. Ich allein blieb muthig
unter ihren Thränen. Ich theilte alle meine Genoſſen,
ſo viel ihrer mir geblieben waren, in zwei Schaaren
und gab der einen mich ſelbſt, der andern den Eurylo¬
chus zu Anführern. Dann ſchüttelten wir Looſe in einem
ehernen Helme. Das Loos traf den Eurylochus, und
er mußte ſich ſofort mit zweiundzwanzig Genoſſen, die
ihm nur unter Seufzern folgten, auf den Weg machen,
nach der Seite, von welcher ich den Rauch hatte auf¬
ſteigen ſehen.


Dieſe Schaar fand bald den herrlich aus behauenen
Steinen aufgeführten Palaſt der Göttin Circe in einem
anmuthigen Thale der Inſel verſteckt. Wie ſtaunten aber
meine Genoſſen, als ſie in der Umzäunung des Hofes
und vor der Pforte des Wohnhauſes Wölfe mit ſpitzigem
Gebiß und Löwen mit zottigen Mähnen umherwandeln
ſahen. Voll Angſt erblickten ſie die gräßlichen Ungeheuer
und dachten ſchon darauf, wie ſie ſich aus dem unheim¬
lichen Orte durch die ſchleunigſte Flucht retten möchten.
Aber ſchon waren ſie umringt von den wilden Thieren.
Dieſe thaten ihnen jedoch nichts zu leide, ſtürzten auch
nicht, wie ſolche Beſtien pflegen, mit einem Satze auf
ſie zu, ſondern ſie näherten ſich ihnen langſam und ſchmei¬
chelnd, und trugen ihre langen Schweife wedelnd auf¬
gerichtet, wie Hunde, wenn ſie dem Herrn entgegen
gehen, der ihnen gute Biſſen von einem Schmauſe mit¬
bringt. Es waren dieß, wie wir nachher erfuhren, lauter
durch die Zauberkünſte Circe's verwandelte Menſchen.


Da die Thiere ihnen nichts anhatten, faßten meine
Freunde wieder Muth und näherten ſich der Pforte des
Palaſtes. Aus dieſem hörten ſie die wohlklingende Stimme
[144] Circe's, die eine vortreffliche Sängerin war, erſchallen.
Sie ſang zu ihrer Arbeit; denn ſie ſaß eben über dem
Gewebe eines großen wundervollen Gewandes, wie es
nur Göttinnen zu wirken verſtehen. Der erſte, der einen
Blick in den Palaſt geworfen hatte und ſich dieſes An¬
blicks erfreute, war der Held Polites, der mir beſonders
befreundet war. Auf ſeinen Rath riefen unſre Freunde
die Bewohnerin heraus, und ſie erſchien auch wirklich
freundlich an der Pforte und nöthigte alle Angekomme¬
nen herein, mit Ausnahme ihres Führers Eurylochus,
der ein beſonnener Mann war, und, durch die früheren
Vorfälle gewarnt, irgend einen Betrug witterte.


Die Andern führte Circe gar holdſelig in ihren
Palaſt ein und hieß ſie auf hohen, ſchmucken Seſſeln
Platz nehmen. Alsdann brachte man Käſe, Mehl, Honig
und ſüßen pramniſchen Wein herbei, woraus ein Gericht
köſtlicher Kuchen von Circe geknetet wurde; während
dieſer Arbeit aber miſchte ſie unvermerkt unheilbringende
Säfte unter den Teig, welche die Armen von Sinnen
bringen und ſie ihres Vaterlandes vergeſſen machen ſollten.
Und wirklich wurden ſie alle mit einander, ſo wie ſie
von der verführeriſchen Speiſe gekoſtet hatten, in borſtige
Schweine verwandelt, fingen an zu grunzen, und wur¬
den von der Zauberin ſammt und ſonders in die Kofen
getrieben. Hier ließ ihnen Circe ſtatt der köſtlichen
Biſſen Steineicheln und Kornellen, wie andern Schwei¬
nen, zur Nahrung vorwerfen.


Eurylochus hatte von weitem das Alles zum Theile
mit angeſehen, zum Theile geſchloſſen. Er eilte, was er
nur konnte, zu unſrem Schiffe zurück, um das ſchreckliche
Schickſal unſrer Freunde mir und den Zurückgebliebenen
[145] zu verkündigen. Als er aber bei uns ankam, konnte
er anfangs kein einziges Wort hervorbringen, weil
ihm die entſetzliche Angſt noch immer die Sprache
raubte; aus ſeinen Augen ſtürzten Thränen und ſeine
Seele war ganz in Jammer verſenkt. Wie wir nun alle
voll Verwunderung in ihn drangen zu ſprechen, fand er
endlich Worte und erzählte das jämmerliche Schickſal der
andern Freunde. Auf dieſe Schreckensbotſchaft warf ich
augenblicks mir das Schwert um die Schultern und den
Bogen darüber, dann befahl ich ihm, mich auf der
Stelle den Weg nach dem Palaſte zu führen. Er aber
umſchlang mir mit beiden Armen die Knie und flehte
mich an, zurück bleiben zu dürfen, und ſelbſt zurück zu
bleiben. „Glaube mir,“ ſchluchzte er, „du kehreſt weder
ſelbſt um, noch bringſt du Einen der verlorenen Freunde
zurück. O laß uns von dieſem verwünſchten Strande
fliehen!“ Ihm nun erlaubte ich zu bleiben; ich ſelbſt
aber gehorchte der Nothwendigkeit und ging. Auf dem
Wege begegnete mir ein blühender Jüngling, mit dem
holdeſten Reiz der Jugend geſchmückt und ſtreckte mir
den goldenen Stab entgegen, an welchem ich Hermes,
den Boten der Himmliſchen, erkannte. Er faßte mich
freundlich bei der Hand und ſprach: „Armer, was renneſt
du ſo, aller Gegend unkundig, durch das Waldgebirg?
Deine Freunde ſind bei der Zauberin Circe in Schweine¬
ſtälle geſperrt. Willſt du gehen, ſie zu erlöſen? Eher
wirſt auch du zu den Andern geſteckt werden! Nun wohl,
ich will dir ein Mittel an die Hand geben, dich zu be¬
wahren. Wenn du dieſes Heilkraut bei dir trägſt,“
(und mit dieſen Worten grub er eine ſchwarze Wurzel
mit milchweißer Blüthe aus dem Boden, und nannte ſie
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 10[146] mir Moly,) „ſo vermag ihr Betrug nicht dir zu ſchaden.
Sie wird dir nämlich ein ſüßes Weinmuß bereiten, und
ihre Zauberſäfte darein mengen. Dieſes Kraut aber wird
ſie verhindern, dich in ein Vieh zu verwandeln. Wenn
ſie dich dann mit ihrem langen Zauberſtabe berührt, ſo
reiß du dir nur dein ſcharfes Schwert von der Hüfte,
und renn' auf ſie los, als wollteſt du ſie ermorden. Dann
zwingſt du ihr leicht einen heiligen Eid ab, daß ſie kei¬
nerlei Tücke an dir üben wolle. Du magſt alsdann
ohne Gefahr bei ihr wohnen und ihr in Allem zu Willen
ſeyn, und wenn ihr vertraut geworden ſeyd, wird ſie
dir auch deine Bitte nicht abſchlagen und dir deine Freunde
zurückgeben!“


So ſprach Hermes und verließ mich, in den Olymp
zurückkehrend. Ich ſelbſt eilte unruhig und nachdenklich
dem Palaſte der Zauberin entgegen. Auf meinen Ruf
öffnete ſie die Pforte und hieß mich freundlich herein¬
treten, was ich, obwohl mit einem Herzen voll Ingrimm,
auch that. Nun führte ſie mich zu einem herrlichen
Thronſeſſel, rückte mir einen Schemel unter die Füße,
und mengte ſofort in goldener Schale wirklich ihr Wein¬
muß. Sie konnte kaum erwarten, bis ich es ausgeleert,
und ohne im mindeſten an meiner Verwandlung, die
auf der Stelle eintreten würde, zu zweifeln, berührte ſie
mich mit ihrem Stabe, und ſprach: „fort mit dir in
den Schweineſtall, zu deinen Freunden!“ Ich aber riß
das Schwert von der Seite und rannte wie mordbegierig
auf die Zauberin ein. Nun ſchrie ſie laut auf, warf
ſich zu Boden und umfaßte meine Kniee, indem ſie mir
jammernd entgegenrief: „Wehe mir! Wer biſt du, Ge¬
waltiger, den mein Trank nicht zu verwandeln vermag?
[147] Noch kein anderer Sterblicher hat der Stärke meines
Zaubers widerſtanden. Biſt du vielleicht der erfindungs¬
reiche Odyſſeus ſelbſt, deſſen Ankunft, wenn er von Troja
zurückkehrte, mir Hermes ſchon lange geweiſſagt hat?
Wenn du es biſt, ſo ſtecke dein Schwert in die Scheide,
und laß uns Freunde werden!“ Ich aber veränderte
meine drohende Stellung nicht, und antwortete: „Wie
kannſt du verlangen, Circe, daß ich mich freundlich ge¬
gen dich erweiſen ſoll, da du meine Begleiter in deinem
Hauſe zu Schweinen umgewandelt haſt? Muß ich nicht
vermuthen, daß du nur darum dich ſo zuvorkommend
gegen mich beträgſt, um auch meinem Leibe irgend ein
Leid anzuthun? Ich kann nur alsdann dein Freund
werden, wenn du mir einen heiligen Eid ſchwörſt, mir
auf keinerlei Weiſe ſchaden zu wollen!“ Die Göttin be¬
ſchwur auf der Stelle, was ich verlangte, und nun war
auch ich zufrieden und überließ mich ſorglos der Nacht¬
ruhe.


Früh Morgens waren vier Dienerinnen, lauter
ſchöne und edelgeborene Nymphen, damit beſchäftigt, die
Säle ihrer Herrin in Ordnung zu bringen. Die eine
bedeckte die Thronſeſſel mit herrlichen purpurnen Polſtern,
eine zweite ſtellte ſilberne Tiſche vor die Seſſel und
ſetzte goldene Körbe darauf, die dritte miſchte in einem
ſilbernen Kruge den Wein und vertheilte goldene Becher
auf den Tiſchen umher; von der vierten endlich wurde
friſches Quellwaſſer herbeigetragen, der Keſſel auf den
Dreifuß geſetzt und die Glut darunter geſchürt, bis das
Waſſer kochte. Dieſes mußte mir zu einem erquickenden
Bade dienen, und als ich darauf geſalbt und angekleidet
war, ſollte ich in Circe's Geſellſchaft das Morgenmahl
10 *[148] genießen. Aber obgleich reichliche Speiſen vor mir auf
meinem Tiſche ſtanden, ſtreckte ich doch nicht die Hände
darnach aus, ſondern ſaß, ſchweigend und kummervoll
meiner ſchönen Wirthin gegenüber. Als dieſe mich end¬
lich nach der Urſache meines ſtummen Grames fragte,
da ſprach ich: „Welcher Mann, der noch ein Gefühl
für Recht und Billigkeit hat, könnte ſich auch an Speiſe
und Trank erfreuen, ſo lange er ſeine Freunde im Elende
weiß? Wenn du willſt, daß ich mit Luſt bei dir genieſſen
ſoll, ſo laß mich meine lieben Genoſſen mit Augen ſehen!“


Circe ließ ſich nicht lange bitten, ſie verließ das
Gemach, ihren Zauberſtab in der Hand, Draußen ſchloß
ſie die Thüre des Kofens auf, und trieb alle meine
Freunde heraus, die mich, der ich inzwiſchen auch her¬
beigekommen war, in der Geſtalt neunjähriger Schweine
umwimmelten. Nun ging ſie bei allen umher und be¬
ſtrich jeden mit einem andern Safte. Auf einmal ſchäl¬
ten ſie ſich nun aus der borſtigen Hülle und wurden
alle zu Männern und zwar jünger und ſchöner, als ſie
vorher geweſen waren. Freudig eilten ſie auf mich zu
und reichten mir dir Hände; als ſie aber ihres elenden
Schickſals gedachten, fingen ſie alle zu weinen und zu
jammern an. Die Göttin ſprach darauf ſchmeichelnd zu
mir: „Nun, lieber Held, habe ich ja deinen Willen
gethan. Thu' du nun mir auch den Gefallen, und laß
dein Schiff ans Ufer ziehen, birg ſeine Ladung in den
Felſengrotten des Ufers und laß es dir dann mit deinen
lieben Genoſſen wohl bei mir ſeyn!“


Ihre Schmeichelrede gewann mein Herz. Ich ſuchte
das Schiff und die zurückgebliebenen Freunde auf, die
mich ſchon lange für todt beklagt hatten und nun mit
[149] Freudenthränen auf mich zuſtürzten. Als ich ihnen den
Vorſchlag machte, das Schiff ans Ufer zu ziehen und
bei der Göttin einzukehren, zeigten ſich auch ſogleich alle
willig, nur Eurylochus wehrte die Genoſſen ab und
ſprach zu ihnen: „Habt ihr denn ein gar ſo großes Ver¬
langen nach eurem Verderben, daß ihr in den Palaſt
der Zauberin eingehen wollt, die uns Alle in Löwen,
Wölfe und Schweine verwandeln und zwingen wird, in
dieſer ſcheußlichen Geſtalt ihr Haus zu hüten? Wie iſt
der Cyklop mit unſern Freunden umgegangen, als der
Unverſtand des Odyſſeus uns ihm in die Hände gelie¬
fert?“ Als ich dieſe Schmähung hörte, empfand ich
einige Luſt in mir, das Schwert zu ziehen und ihm den
Kopf vom Rumpfe zu ſchlagen, obgleich er nahe mit
mir verwandt war. Die Freunde ſahen die Bewegung,
die ich machte, fielen mir in den Arm und brachten mich
zur Beſinnung.


Nun brachen wir Alle auf, und Eurylochus ſelbſt,
durch meine Drohung erſchreckt, weigerte ſich nicht zu
folgen. Inzwiſchen hatte Circe unſre Freunde gebadet,
mit Oele geſalbt und herrlich bekleidet, und wir fanden
ſie Alle ganz fröhlich beim Schmaus verſammelt. Da
war ein Weinen und Umarmen und Begrüßen! Die
Göttin ſprach Allen Muth ein und that uns ſo viel
Liebes, daß wir von Tag zu Tag fröhlicher wurden
und das ganze Jahr über bei ihr blieben. Wie aber
nun das Jahr zu Ende ging, riefen mich meine Be¬
gleiter und ermahnten mich, endlich der Heimkehr einge¬
denk zu ſeyn. Sie bewegten mir auch mit ihrer Rede
das Herz, und noch an demſelben Abend umfaßte ich
Circe's Kniee und flehte ſie an, Wort zu halten, und
[150] mich, wie ſie mir anfangs gelobt hatte, zur Heimath
zu entſenden. Die Zauberin antwortete: „Du haſt recht,
Odyſſeus; es geziemt mir nicht, dich länger mit Zwang
bei mir zu halten, aber bevor du heim kommſt, müßt
ihr doch noch einen Umweg machen. Ihr müßt das
Reich des Hades oder Pluto, und der Perſephone oder
Proſerpina, das Schattenreich beſuchen, und die Seele
des blinden Greiſen, des thebaniſchen Propheten Tireſias
um die Zukunft befragen; denn dieſem iſt auch im Tode
noch ſein voller Geiſt und die Sehergabe durch Pro¬
ſerpina's Gunſt verblieben; die Seelen der andern Todten
ſind alle nur wandelnden Schatten gleich.“


Als ich dieſen Beſchluß vernahm, fing ich zu wei¬
nen und zu jammern an; mir graute vor der Behauſung
der Todten und ich fragte, wer mich denn geleiten ſollte,
denn eine Schifffahrt in die Unterwelt hat noch kein Sterb¬
licher bei Leibes Leben unternommen. „Laß dich die
Sorge um das Geleite deines Schiffes nicht bekümmern,“
antwortete mir die Göttin, „richte nur getroſt den Maſt
in die Höhe, und ſpanne die Segel aus! Der Nordwind
wird euch ſchon hintreiben; biſt du einmal am Geſtade
des Oceanus, des Stromes, der die Erde umgürtet, ſo
landeſt du an einem niedrigen Ufer, wo du Erlen, Pap¬
peln und Weidenbäume beiſammen erblickſt. Dieß iſt der
Hayn Perſephone's; dort iſt auch der Eingang in die
Unterwelt. Hier, in einem Thale bei einem Felſen, wo
die ſchwarzen Ströme Pyriphlegeton und Kocytus, der
letztere ein Arm des Styx, ſich in den Acheron oder die
Unterwelt ſtürzen, wirſt du eine Kluft finden, durch welche
der Weg in das Schattenreich geht. Da gräbſt du
eine Grube und bringſt den abgeſchiedenen Seelen ein
[151] Todtenopfer von Honig, Milch, Wein, Waſſer und
Mehl dar, gelobſt ihnen auch ein Schlachtopfer, wenn
du nach Ithaka heimkommſt, und noch außerdem dem
Tireſias einen ſchwarzen Widder; dann opferſt du noch
zwei ſchwarze Schafe, ein männliches und ein weibliches,
und blickſt dem vereinigten Strome durch die Kluft in
die Tiefe nach, während deine Genoſſen die Thiere den
Göttern verbrennen und zu ihnen beten. Da werden
dir die Seelen der Todten erſcheinen und die Luftgebilde
werden herauf ans Licht zu dringen begehren, und von
dem Blute der Todtenopfer koſten wollen. Du aber
wehreſt ſie mit dem Schwerte ab und erlaubſt ihnen nicht,
näher zu gehen, bis du den Tireſias befragt haſt. Denn
dieſer wird bald herannahen und dir auch über deine
Heimfahrt Aufſchluß geben.“


Dieſe Rede tröſtete mich einigermaßen. Am andern
Morgen verſammelte ich meine Freunde und wollte ſie
zum Aufbruche mahnen. Nun hatte ſich einer von ihnen,
mit Namen Elpenor, der jüngſte von Allen, aber weder
beſonders muthig noch ſehr verſtändig, vom ſüßen Weine
Circe's trunken, von den Freunden entfernt und, um küh¬
lere Luft zu athmen, auf dem platten Dache des Palaſtes
gelagert. Dort war er am vorigen Abend eingeſchlum¬
mert und hatte die Nacht über in ungeſtörtem Schlafe
gelegen. Als er nun durch das Gewühl der ſich erhe¬
benden und zur Verſammlung eilenden Freunde plötzlich
aufgeweckt wurde, fuhr er empor und vergaß in der
Betäubung, wo er war; anſtatt ſich zur Treppe zu
wenden, taumelte er über das Dach hinaus und fiel
den hohen Palaſt herunter, ſo daß ihm das Genick zer¬
brach und ſein Geiſt auf der Stelle zum Hades fuhr.


[152]

Ich aber ſammelte meine Begleiter um mich her
und ſprach: „Ihr meinet nun wohl, theure Freunde, nun
gehe es geraden Weges ins liebe Vaterland? Aber ach,
dem iſt leider nicht ſo; die Göttin Circe hat uns eine
ganz andere Fahrt vorgeſchrieben. Wir ſollen hinunter
in das ſchreckliche Reich des Hades, und dort die Seele
des thebaniſchen Sehers Tireſias wegen unſerer Heim¬
fahrt befragen!“ Als meine Genoſſen dieſes hörten, da
brach ihnen faſt das Herz vor Kummer; ſie jammerten
laut und rauften ſich die Haare aus. Aber ihre Klage
half ihnen nichts. Ich befahl ihnen aufzubrechen, und
mit mir zum Schiffe zu wandeln. Circe war uns vor¬
ausgeeilt, ſie hatte die zwei Opferſchafe uns ins Schiff
bringen und dort anbinden laſſen, auch uns mit Honig,
Wein und Mehl für das Opfer reichlich verſorgt. Als
wir ankamen, ſchlüpfte ſie mit einem ſtummen Abſchieds¬
gruße leicht an uns vorüber. Wir aber zogen das Schiff
ins Meer, richteten den Maſt und die Segel, und
ſetzten uns betrübt auf die Ruderbänke. Ein günſtiger
Fahrwind, den uns Circe ſchickte, blies in die Segel
und bald waren wir wieder auf der hohen See.“

Odyſſeus erzählt weiter.

Das Schattenreich.


„Die Sonne tauchte ins Meer,“ fuhr Odyſſeus
nach einer Pauſe fort den horchenden Phäaken zu er¬
zählen, „als wir von einem wunderbaren Fahrwinde
[153] vorwärts getrieben, am Ende der Welt beim Geſtade
der Cimmerier, das in ewigem Nebel liegt und von den
Sonnenſtrahlen niemals beleuchtet wird, am Strome
Oceanus, der die Welt umgürtet, anlangten. Wir kamen
an den Fels und die Zuſammenſtrömung der Todtenflüſſe,
wie es uns Circe bezeichnet hatte, und opferten ganz
nach ihrer Vorſchrift. So wie das Blut aus den Gur¬
geln der Schafe in die Grube floß, tauchten tief aus
der Unterwelt die Seelen der Abgeſchiedenen nach der
Felſenkluft empor, in welcher wir uns, den Strom zur
Seite, befanden. Jünglinge und Greiſe, Jungfrauen
und Kinder kamen, auch viele Helden mit klaffenden
Wunden und in blutbeſudelten Rüſtungen; ſchaaren¬
weiſe, mit hohlem, grauſenvollen Stöhnen umflatterten
ſie, nach Art der Schatten, die Opfergrube, ſo daß mich
ein Entſetzen ankam. Schnell ermahnte ich die Genoſſen,
nach Circe's Rath die geopferten Schafe zu verbrennen
und zu den Göttern zu flehen. Ich ſelbſt riß das Schwert
von der Hüfte, und wehrte den Luftgebilden, vom Opfer¬
blute zu lecken, bevor ich den Tireſias befragt hätte.


Zu allererſt nun nahte ſich mir die Seele unſres
Freundes Elpenor, deſſen Leib noch unbegraben in Circe's
Wohnung lag. Mit Thränen im Auge klagte mir der
Schatten ſein Verhängniß, und beſchwor mich, nach der
Inſel Aeäa zurückzufahren und ihm ein ehrliches Begräb¬
nis, angedeihen zu laſſen. Ich verſprach es ihm und
das Schattenbild lagerte ſich mir gegenüber. So ſaßen
wir in wehmüthigem Geſpräche, dort die Schattengeſtalt,
hier ich, das Schwert quer über dem Opferblute haltend.
Bald geſellte ſich zu uns auch die Mutter des Verſtor¬
benen, Antiklea, die ich noch lebendig verlaſſen hatte,
[154] als ich gegen Ilios aufbrach. Sie ſah mich bittend und
ſchmerzlich an und entfernte ſich endlich mit dem Sohne.


Nun erſchien die Seele des Thebaners Tireſias,
einen goldenen Stab in der Rechten. Er erkannte mich
ſogleich und hub an: „Edler Sohn des Laertes, was
trieb dich, das Sonnenlicht zu verlaſſen und dieſen Ort
des Entſetzens zu beſuchen? Aber ziehe nur dein gezück¬
tes Schwert von der Grube zurück, damit ich von dem
Opferblute trinke und ſo in den Stand geſetzt werde,
dir dein Schickſal zu weiſſagen.“ Ich wich bei dieſem
Worte von der Grube und ſtieß mein Schwert in die
Scheide. Nun trank der Schatten von dem ſchwarzen
Blut und fing alsbald zu wahrſagen an: „Du forſcheſt
bei mir, Odyſſeus, nach einer fröhlichen Heimkehr ins
Vaterland; aber ein Gott wird ſie dir ſchwer machen,
und du kannſt dich der Hand des Erderſchütterers nicht
entziehen. Du haſt ihn ſchwer dadurch beleidigt, daß
du ſeinem Sohne Polyphemus das Auge geblendet haſt.
Dennoch ſoll dir die Rückkehr nicht ganz abgeſchnitten
ſeyn; halte nur dein und deiner Genoſſen Herz im Zaume.
Zuerſt landet ihr auf der Inſel Thrinakia: wenn ihr
dort die heiligen Rinder und Schafe des Sonnengottes
unberührt laſſet, ſo dürfte euch die Heimfahrt wohl ge¬
lingen. Verletzet ihr ſie aber, dann weiſſage ich deinem
Schiff und deinen Freunden Verderben. Wenn du ſelbſt
auch entrinneſt, ſo kommſt du ſpät, elend und einſam
nach Hauſe, auf einem fremden Schiff. Auch dort fin¬
deſt du nur Jammer; übermüthige Männer, die dein
Gut verpraſſen und um dein Weib Penelope freien. Wenn
du dieſe, ſey es mit Liſt oder Gewalt, bezwungen und
getödtet, und ruhiges Glück dir lange gelächelt hat, ſo
[155] nimm, doch erſt am Abende deines Lebens, dein Ruder
auf die Schulter und wandere immer fort und fort, bis
du zu Menſchen kommſt, die das Meer nicht kennen,
keine Schiffe haben, ihre Speiſe mit keinem Salze würzen.
Und wenn dir dort in der Fremde ein Wanderer be¬
gegnet, und dir ſagt, du trageſt des Worflers Schaufel
auf dem Rücken, dann ſtoße das Ruder in die Erde,
bring dem Poſeidon ein Opfer und wandre wieder heim.
Endlich wird dich, während dein Reich blühet, ein fried¬
licher Greiſentod auf dem Meere hinwegnehmen.“


Dieß war der Inhalt ſeiner Weiſſagung. Ich dankte
dem Seher, aber ein neuer Gegenſtand, der ſich mir
zeigte, legte mir eine Frage auf die Zunge. „Was ſehe
ich dort?“ ſprach ich zu ihm. „Das iſt ja der Schatten
meiner Mutter! Wie ſtumm ſitzt ſie am Opferblute, ohne
ihren Sohn anzuſchauen! Wie mache ich es, ehrwür¬
diger Greis, daß ſie mich erkenne?“ — „Vergönne ihr
nur,“ erwiederte der Seher, „vom Opferblute zu trin¬
ken, ſo wird ſie ihr Schweigen bald brechen.“ Da wich
ich von der Grube mit dem Schwerte zurück und die
Mutter trank. Urplötzlich erkannte ſie mich, heftete ihr
thränendes Auge auf mich und ſprach: „Lieber Sohn,
wie kamſt du lebendig in die Todesnacht herab? Haben
dich der Ocean und die andern furchtbaren Ströme nicht
gehindert? Irreſt du noch immer ſeit Troja's Fall um¬
her und kommſt nicht von deiner Heimath Ithaka?“
Nachdem ich ihr hierüber Aufſchluß gegeben hatte, be¬
fragte ich die Mutter über ihren Tod, denn ich hatte
ſie lebend verlaſſen, als ich gen Troja zog. Auch wie
es ſonſt bei uns zu Hauſe ſtehe, fragte ich ſie mit
pochendem Herzen. Und der Schatten erwiederte: „Deine
[156] Gattin, nach der du ſo ängſtlich fragſt, weilt in deinem
Hauſe mit unerſchütterlicher Treue, und Tag und Nacht
weint ſie um dich. Deinen Szepter führt kein anderer,
ſondern dein Sohn Telemachus verwaltet dein Gut. Dein
Vater Laertes hat ſichs auf's Land zurückgezogen, und
kommt nie mehr in die Stadt; dort ſchläft er nicht in
einer Fürſtenkammer, nicht in einem weichen Bette; neben
dem Heerdfeuer liegt er, wie andere Knechte, auf dem
Stroh, in ein ſchlechtes Kleid gehüllt, den ganzen Win¬
ter über; im Sommer bettet er ſich unter freiem Him¬
mel auf ein Bündel Reiſig; und das Alles thut er aus
Jammer über dein Geſchick. Ich ſelbſt bin dem Gram
über dich, mein lieber Sohn, erlegen, und keine Krank¬
heit hat mich dahingerafft.“


So ſprach ſie und machte mich vor Sehnſucht er¬
beben. Als ich ſie aber in die Arme ſchließen wollte,
zerſtob ſie wie ein Traumbild. Nun kamen andere Schat¬
ten daher, viele Gattinnen berühmter Helden. Sie tranken
alle von dem Opferblute und erzählten mir ihre Geſchicke.
Als die Frauen nacheinander wieder verſchwunden waren,
ward mir ein Anblick zu Theil, der mir das Herz im
Buſen bewegte. Es kam nämlich die Seele des Völker¬
fürſten Agamemnon heran. Schwermüthig bewegte ſich
der große Schatten nach der Opfergrube und trank von
dem Blute. Da blickte er auf, erkannte mich und fing
zu weinen an. Vergebens ſtreckte er die Hände aus, mich
zu erreichen; in den Gliedern war keine Spannkraft;
er ſank zurück zur Ferne und antwortete von dort aus
auf meine ſehnlichen Fragen: „Edler Odyſſeus,“ ſprach
er, „mich hat nicht, wie du wähnſt, der Zorn des Mee¬
resgottes verderbt, nicht Feinde auf der Veſte haben
[157] mich bezwungen. Wie man den Stier an der Krippe
erſchlägt, hat mich mein Weib Klytämneſtra mit ihrem
Buhlen Aegiſthus im Bade erſchlagen, mich, der ich
nach Hauſe voll Sehnſucht nach Frau und Kindern
gekommen war. Darum rathe ich dir, Odyſſeus, zeige
dich nicht allzugefällig gegen die Gattin, vertrau' ihr
aus Zärtlichkeit nicht ein jegliches Geheimniß an. Doch
du haſt ein verſtändiges und tugendhaftes Weib, du
Glücklicher! Und das Knäblein, das an ihrer Bruſt
lag, als wir Griechenland verließen, dein Telemachus,
wird, als Jüngling, voll herzlicher, voll kindlicher Liebe
ſeinen Vater empfangen. Mein ruchloſes Weib hat mir
nicht einmal gegönnt, die Augen an dem Anblicke meines
Sohnes zu laben, bevor ſie mich ermordete! Dennoch
rathe ich dir, heimlich und nicht öffentlich, am Geſtade
Ithaka's zu landen: denn es iſt doch keinem Weibe zu
trauen!“


Mit dieſem finſtern Worte wandte ſich der Schatten
um, und verſchwand. Nun kamen die Seelen des Achilles
und ſeines Freundes Patroklus, des Antilochus und des
großen Ajax. Zuerſt trank Achilles, erkannte mich und
ſtaunte. Ich erzählte ihm warum ich gekommen. Als
ich aber den berühmteſten Griechen auch im Hades, als
Gebieter der Geiſter, ſelig pries, erwiederte er mißmuthig:
„Sprich mir nichts Tröſtliches vom Tode, Odyſſeus!
Lieber wollte ich als Taglöhner auf Erden das Feld be¬
ſtellen, ohne Eigenthum und Erbe, als über die ſämmt¬
liche Schaar der Todten herrſchen!“ Dann mußte ich
ihm vom Heldenleben ſeines Sohnes Neoptolemus erzäh¬
len, und als er viel Gutes und Rühmliches über ihn
vernommen, wandelte der erhabene Schatten zufriedenen
[158] und mächtigen Schrittes der Tiefe wieder zu und verlor
ſich in derſelben.


Auch die andern Seelen der Abgeſchiedenen, die in¬
zwiſchen von dem Blute getrunken hatten, ſtanden mir
nun Rede. Nur der Schatten des Ajax, den ich einſt im
Streit um die Waffen des Achilles beſiegt und der ſich
deßwegen entleibt hatte, ſtellte ſich ſeitwärts und zürnte.
Mit ſanften Worten redete ich ihn an: „Telamons Sohn,
kannſt du denn auch im Tode den Unmuth nicht ver¬
geſſen, in welchen dich die Rüſtung des Achilles verſetzt
hat, welche die Götter den Argivern doch nur zum
Fluche beſtimmt hatten? Denn durch ſie biſt du, der ein
Thurm war in der Feldſchlacht, dahingeſunken, daß wir
dich nächſt Achilles bejammern mußten. Doch iſt keiner
von uns an deinem Tode ſchuldig; es war ein Ver¬
hängniß, das dir und uns Jupiter zugeſandt hat. Darum,
edler Fürſt, bezwinge dein Gemüth, nahe mir, rede mit
mir!“ Aber der Schatten antwortete nichts, ſondern
ging ins Dunkel zu andern abgeſchiedenen Seelen.


Nun erblickte ich auch die Schatten längſt verſtor¬
bener Helden: den Todtenrichter Minos; den gewaltigen
Jäger Orion, welcher die Keule in der Hand, Schatten¬
bilder von Luchſen und Löwen aufſcheuchte; den Tityus,
dem für ſeine Frevel zwei Geier, von jeder Seite einer,
an der Leber fraßen; den Tantalus, der dürſtend mitten
im Waſſer ſtand, daß es ihm das Kinn beſpülte, aber
ſo oft er trinken wollte, wich die Welle zurück und ver¬
ſiegte, daß der ſchwarze Boden zu ſeinen Füßen ſichtbar
wurde; auch ragten Bäume voll Früchten über ſein
Haupt herein, voll Birnen, Feigen, Granaten, Oliven,
Aepfeln: — wenn er aber, der Hungernde, ſie mit den
[159] Händen haſchen wollte, da ſchwang der Sturm die Aeſte
aufwärts den Wolken zu, und ſeine Hand griff in die leere
Luft. Auch den Siſyphus ſah ich, den vergebliche Pein ab¬
quälte: er war bemüht, ein großes Felſenſtück einen
Berg empor zu ſchieben; angeſtemmt, mit Händen und
Füßen arbeitete er ſich ab, und wälzte den Stein die
Berghöhe hinauf. So oft er aber ſchon glaubte ihn auf
dem Gipfel droben zu haben, glitt ihm das Felsſtück
aus den Händen und rollte ſchändlicher Weiſe den Berg
hinunter. Da begann denn ſeine Anſtrengung von
neuem: der Angſtſchweiß floß ihm von den Gliedern,
und das Haupt hüllte eine Wolke von Staub ein. Ihm
zunächſt ſtand der Schatten des Herkules, doch nur ſein
Schatten, denn er ſelbſt lebt als Gemahl der Jugend¬
göttin ein ſeliges Leben unter den Olympiſchen. Sein
Schatten aber ſtand, finſter, wie die Nacht, hielt den
Pfeil auf der Bogenſehne und blickte ſchrecklich umher,
als wollte er ihn eben gegen den Feind abſchnellen. Ein
prächtiges Wehrgehenk, mit allerlei Thiergeſtalten ge¬
ſchmückt, hing ihm über die Schultern.


Auch er verſchwand, und nun kam noch ein ganzes
Gedräng anderer Heldenſeelen. Gerne hätte ich den
Theſeus und ſeinen Freund Pirithous herauserkannt. Aber
bei dem grauſenvollen Getöſe der unzähligen Schaaren
kam mich plötzlich eine ſolche Furcht an, als ſtreckte mir
die Meduſe ihr Gorgonenhaupt entgegen. Eilig verließ
ich mit meinen Genoſſen die Kluft und wandte mich wie¬
der zum Geſtade des Aeanus und zu unſrem Schiffe zu.
Dann ſegelten wir, wie ich es dem Schatten Elpenors
verſprochen hatte, nach Circe's Inſel zurück.“


[160]

Odyſſeus erzählt weiter.

Die Sirenen. Scylla und Charybdis. Thrinakia und die Heerden
des Sonnengottes. Schiffbruch. Odyſſeus bei Kalypſo.


„Nachdem wir die Gebeine unſres verunglückten Ge¬
noſſen,“ fuhr Odyſſeus fort, „auf der Inſel Aeäa ver¬
brannt und zur Erde beſtattet, auch dem Todten einen
Grabhügel aufgehäuft hatten und eine Denkſäule darauf
geſetzt, und von Circe ſehr freundlich empfangen und
bewirthet worden waren, fuhren wir, von ihr vor allerlei
Gefahren gewarnt und reichlich mit Lebensmitteln ver¬
ſorgt, weiter.


Das erſte Abenteuer, das wir zu beſtehen hatten
und von welchem uns Circe geweiſſagt, erwartete uns
am Eilande der Sirenen. Dieſes ſind ſangreiche Nym¬
phen, die jedermann bezaubern, der auf ihr Lied horcht.
Am grünen Geſtade ſitzen ſie und ſingen ihre Zauber¬
lieder dem Vorüberfahrenden zu. Wer ſich zu ihnen hin¬
überlocken läßt, iſt ein Kind des Todes, und man
ſieht deßwegen an ihrem Ufer moderndes Gebein genug
umherliegen. Bei der Inſel dieſer verführeriſchen Nym¬
phen angekommen, hielt unſer Schiff ſtille, denn der
Fahrwind, der uns bisher gelinde vorwärts getrieben,
hörte mit einemmal auf zu wehen, und das Gewäſſer
ſchimmerte wie ein Spiegel. Meine Begleiter nahmen
die Segel von den Stangen, falteten ſie zuſammen, legten
ſie im Schiffe nieder, und ſetzten ſich ans Ruder, um
[161] das Schiff ſo vorwärts zu bringen. Ich aber gedachte
an das Wort, das Circe, die mir dieſes Alles voraus¬
ſagte, geſprochen hatte. „Wenn du an die Inſel der Si¬
renen kommſt und ihr Geſang euch droht, ſo verkleide
die Ohren deiner Freunde mit Wachs, daß ſie nichts
hören; begehrſt du aber ſelbſt ihr Lied zu vernehmen, ſo
befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefeſſelt,
an den Maſt binde, und je ſehnlicher du deine Freunde
bitteſt, dich loszubinden, deſto feſter ſollen ſie die Seile
ſchnüren!“


Daran dachte ich jetzt, zerſchnitt eine große Wachs¬
ſcheibe und knetete ſie mit meinen nervichten Fingern;
das weiche Wachs ſtrich ich ſodann meinen Reiſegenoſſen
in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß
aufrecht unten an den Maſt; dann ſetzten ſie ſich wie¬
der an die Ruder und trieben das Fahrzeug getroſt vor¬
wärts. Als die Sirenen dieſes heranſchwimmen ſahen,
ſtanden ſie in der Geſtalt reizender Mägdlein am Ufer
und ſtimmten mit wunderſüßer Kehle ihren hellen Geſang
an, der alſo lautete:


Komm, preisvoller Odyſſeus, erhabener Ruhm der Achajer,
Lenke das Schiff ans Land, um unſere Stimme zu hören.
Denn noch ruderte Keiner vorbei im dunklen Schiffe,
Eh' er aus unſerem Munde die Honigſtimme gehöret:
Jener ſodann kehrt fröhlich zurück, und Mehreres wiſſend.
Denn wir wiſſen dir Alles, wie viel in den Ebenen Troja's
Argos Söhn' und die Troer vom Rath der Götter geduldet,
Alles was irgend geſchah auf der vielernährenden Erde.


So ſangen ſie. Mir aber ſchwoll das Herz im
Buſen vor Begierde ſie zu hören; ich winkte meinen
Freunden mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber ſie
mit ihren tauben Ohren ſtürzten ſich nur um ſo raſcher
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 11[162] auf's Ruder und zwei von ihnen, Eurylochus und Peri¬
medes, kamen herbei und legten mir, wie ich früher
befohlen hatte, noch viel ſtärkere Stricke an und ſchnür¬
ten auch die alten feſter zuſammen. Erſt als wir glück¬
lich vorüber geſteuert und ganz auſſer dem Bereiche der
Sirenenſtimmen waren, nahmen meine Freunde ſich ſelbſt
das Wachs aus den Ohren und mir löſten ſie die Feſſeln
wieder. Ich aber dankte ihnen herzlich für ihre Beharr¬
lichkeit.


Kaum waren wir etwas vorwärts gerudert, als ich
von ferne Waſſerſtaub und eine mächtige Brandung ge¬
wahr wurde. Das war die Charybdis, ein täglich drei¬
mal unter einem Fels hervorquellender und wieder zurück¬
wallender Strudel, der jedes Schiff verſchlingt, das in
ſeinen Rachen geräth. Meinen Begleitern fuhren die
Ruder vor Schrecken aus der Hand; ſie floſſen dem
Strome nach, und das Schiff ſtand ſtille. Ich ſelbſt
ſprang von meinem Sitze auf, durcheilte das Schiff und
ſprach den Freunden, von Mann zu Manne gehend, Muth
ein. „Lieben Freunde,“ ſagte ich, „wir ſind ja keine
Neulinge in den Gefahren. Was auch kommen mag, ein
größeres Leid als in der Höhle des Cyklopen, kann uns
nicht betreffen; und doch half euch dort meine Klugheit
hinaus. Drum, gehorchet mir nur Alle. Bleibt feſt auf
euren Bänken ſitzen, und ſchlaget muthig mit den Ru¬
dern“ — denn ſie hatten ſie wieder gefangen — „auf
die Brandung los. Ich denke, Jupiter hilft uns durch
ſchleunige Flucht aus dieſer Noth. Du aber, Steuer¬
mann, nimm alle deine Beſinnung zuſammen und lenke
das Schiff durch Schaum und Brandung ſo gut du
kannſt! Arbeite dich an den Fels hin, damit du nicht
[163] in den Strudel geratheſt!“ So hatte ich die Freunde
vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir
Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla,
das gegenüber drohete, ſchwieg ich noch weislich; ich
fürchtete, die Genoſſen möchten mir vor Schrecken wieder
die Ruder fahren laſſen, und ſich im innern Schiffsraume
zuſammendrängen.


Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergeſſen, das
Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬
boten, mich zum Kampfe mit dieſem Ungeheuer zu rüſten;
ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüſtung,
nahm zwei Speere in die Hand und ſtellte mich ſo auf's
Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen.
Aber obgleich mir die Augen vom Umherſchauen ſchmerz¬
ten, konnte ſie mein Blick doch nicht entdecken, und ſo
fuhr ich denn voll Todesangſt in den immer enger wer¬
denden Meerſchlund hinein. Dieſe Scylla hatte mir Circe
ſo geſchildert: „Sie iſt kein ſterblicher Gegner, vielmehr
ein unſterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts
gegen ſie; die einzige Rettung iſt, ihr zu entfliehen.
Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem ſein ſpitzes
Haupt in die Wolken ſtreckenden Fels, ewig von dunkelem
Gewölk umfangen, von keinem Sonnenſtrahl erleuchtet,
und ganz aus glattem Geſteine aufgethürmt. Mitten in
dieſem Fels iſt eine Höhle, ſchwarz wie die Nacht, in
dieſer haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur
durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die
Fluth herüber hallt, wie das Geſchrei eines neugebornen
Hundes. Dieſes Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und
ſechs Schlangenhälſe, auf jedem derſelben grinſt ein ſcheu߬
licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die ſie
11 *[164] flätſcht, ihre Opfer zu zermalmen; halb iſt ſie einwärts
in die Felskluft hinabgeſenkt, ihre Häupter aber ſtreckt
ſie ſchnappend aus dem Abgrunde hervor und fiſcht nach
Seehunden, Delphinen und wohl auch größern Thieren
des Meeres. Noch nie hat ſich ein Schiff gerühmt,
ohne Verluſt an ihr vorübergekommen zu ſeyn; gewöhn¬
lich hat ſie, ehe ſichs der Schiffer verſieht, in jedem
Rachen einen Mann zwiſchen den Zähnen, den ſie aus
dem Schiff geraubt hat.“


Dieſes Bild hatte ich vor meiner Seele und ſpähte
vergebens umher. Indeſſen waren wir mit dem Schiffe
ganz nahe an die Charybdis gerathen, die die Meeres¬
fluth mit ihrem gierigen Rachen einſchlürfte, und wieder
herausſpie; die brauste wie ein Keſſel über dem Feuer,
und weißer Schaum flog empor, ſo lange ſie die Fluth
herausbrach; wenn ſie dann die Woge wieder hinunter
ſchluckte, ſenkte ſich das trübe Waſſergemiſch ganz in die
Tiefe, der Fels donnerte und man konnte in einen Ab¬
grund von ſchwarzem Schlamm hinunterſehen. Während
nun unſere Blicke mit ſtarrem Entſetzen auf dieſes Schau¬
ſpiel gerichtet waren, und unwillkürlich mit dem Schiffe
zur Linken auswichen, waren wir unverſehens plötzlich
der bisher nicht entdeckten Scylla zu nahe gekommen und
ihre Rachen hatten auf Einen Zug ſechs meiner tapfer¬
ſten Genoſſen vom Bord hinweggeſchnappt; ich ſah ſie
mit ſchwebenden Händen und Füßen zwiſchen den Zäh¬
nen des Ungeheuers hoch in die Lüfte gezückt; noch aus
ſeinen Rachen herauf riefen ſie mich hülfeflehend bei
Namen: einen Augenblick darauf waren ſie zermalmt.
So viel ich auf meiner Irrfahrt erduldet habe, ein jam¬
mervollerer Anblick iſt mir nicht geworden!


[165]

Jetzt aber waren wir auch glücklich zwiſchen dem
Strudel der Charybdis und den Felſen der Scylla hin¬
durch, die von der Sonne glänzende Inſel Thrinakia
lag vor uns, und noch auf dem Meere hörten wir das
Gebrüll der heiligen Rinder des Sonnengottes und das
Blöcken ſeiner Schafe. Durch ſo viel Unglück gewitzigt,
dachte ich auf der Stelle an die Warnung des blinden
Tireſias in der Unterwelt und kündigte den Genoſſen an,
daß er und Circe mich gewarnt, die Inſel des Helios
zu fliehen, weil uns dort noch das allerjämmerlichſte
Schickſal bedrohe. Dieſe Erklärung betrübte meine Be¬
gleiter über die Maßen, und Eurylochus ſagte ärgerlich:
„Du biſt doch ein grauſamer Mann, Odyſſeus, ganz
von Stahl, und haſt kein Gelenk' im Nacken! Wie,
willſt du im Ernſt uns, den von Anſtrengung und Er¬
müdung Entkräftigten nicht gönnen, einen Fuß ans Land
zu ſetzen und uns auf dieſer Inſel mit Speiſe und
Trank zu erquicken; ſondern blindlings ſollen wir in der
Stille der Nacht hinausfahren durch die ſchwarzen Meer¬
einöden? Wenn nun plötzlich im Dunkel der unbändige
Südwind, oder der pfeifende Weſt herangewirbelt käme!
Laß uns wenigſtens dieſe finſtere Nacht am Ufer ver¬
paſſen, das uns ſo gaſtlich zuwinkt!“


Wie ich dieſen Widerſpruch hören mußte, da merkte
ich wohl, daß ein feindſeliger Gott Böſes über uns be¬
ſchloſſen hatte. Ich ſagte daher nur: „Eurylochus, es
iſt keine Kunſt, mich abzuzwingen, den einzelnen Mann
eurer ſo viele. So gebe ich euch denn nach. Aber einen
heiligen Schwur müßt ihr mir thun, dem Sonnengott
kein Rind oder auch nur ein Schaf abzuſchlachten, wenn
ihr etwa ſeine Heerden anſichtig werden ſolltet. Begnüge
[166] ſich vielmehr jeder mit der Koſt, mit der uns die gute
Circe verſorgt hat!“ Dieſen Eid leiſteten mir Alle willig;
darauf ließen wir das Fahrzeug in eine Bucht einlaufen,
aus der ſich ſüßes Waſſer in die geſalzene Fluth ergoß.
Alle ſtiegen aus dem Schiff, und es währte nicht lange,
ſo war das Nachteſſen bereit. Nach dem Mahle bewein¬
ten wir die Freunde, welche von der Scylla verſchlungen
worden waren, aber mitten unter den Thränen über¬
wältigte uns müde Seefahrer der Schlummer.


Es mochte noch ein Drittel der Nacht übrig ſeyn,
als Jupiter einen entſetzlichen Sturm ſandte, ſo daß wir
mit der Morgenröthe eilig unſer Fahrzeug in eine Meer¬
grotte in Sicherheit brachten. Noch einmal warnte ich
die Genoſſen vor dem Rindermorde, denn bei der unge¬
ſtümen Witterung ſahen wir einem längeren Aufenthalte
auf der Inſel entgegen. Auch verweilten wir wirklich
einen vollen Monat allda, weil beſtändiger Südwind
blies, der nur auf kurze Zeit mit dem Oſtwind abwech¬
ſelte; es war uns aber einer entgegen, wie der andere.
So lange von Circe's Vorrath noch Speiſe und Wein
übrig war, hatte es keine Noth. Als wir aber alle Nah¬
rung aufgezehrt hatten und der Hunger bei uns ſich ein¬
ſtellte, gingen meine Begleiter anfangs auf den Fiſch-
und Vogelfang aus, und ich ſelbſt machte auch einen
Ausflug längs dem Ufer, ob mir kein Gott oder kein
Sterblicher begegnen möchte, der mir einen Ausweg aus
dieſer Noth anzeigte. Als ich weit genug von den Freun¬
den entfernt war, und mich ganz in der Einſamkeit ſah,
wuſch ich meine Hände, um ſie rein emporſtrecken zu
können, in der Fluth, warf mich demüthig auf die Kniee
[167] und flehte zu allen Göttern um Rettung. Sie aber
ſchickten mir einen wohlthätigen Schlummer.


Während ich nun ſo ferne war, erhob ſich Eury¬
lochus unter meinen Begleitern, und gab ihnen einen
verderblichen Rath: „Hört mein Wort,“ ſprach er, „ſchwer¬
bedrängte Freunde. Zwar iſt jeder Tod den Menſchen
ſchreckhaft, aber das entſetzlichſte Geſchick iſt doch der
Hungertod! Wohlan, was bedenken wir uns, die ſchön¬
ſten von den Rindern des Helios den Göttern zu opfern,
und uns am übrigbleibenden Fleiſche zu ſättigen? Sind
wir nur glücklich nach Ithaka gekommen, ſo wollen wir
ihn ſchon verſöhnen, und ihm einen herrlichen Tempel
bauen, auch köſtliche Weihgeſchenke darin aufſtellen.
Schickt er uns aber im augenblicklichen Zorn einen Sturm
zu und bohrt unſer Schiff in den Grund — nun, ſo
will ich lieber in einem Augenblick meinen Athem in die
Fluthen verhauchen, als ſo jämmerlich auf dieſer einſamen
Inſel verſchmachten!“


Dieß Wort gefiel meinen hungrigen Genoſſen. So¬
gleich machten ſie ſich auf, trieben die allerbeſten Rinder
von der Heerde des Sonnengottes herbei, die in der
Nähe weideten, und nachdem ſie zu den Göttern gefleht,
ſchlachteten ſie dieſelben, weideten ſie aus, und brachten
die Eingeweide mit den in Fett eingewickelten Lenden den
Unſterblichen dar. Wein zum Trankopfer hatten ſie kei¬
nen, weil aller längſt verzehrt war; die Eingeweide und
Schenkel wurden daher nur mit Quellwaſſer beſprengt.
Die reichlichen Ueberreſte ſteckten ſie an Spieße und eben
ſetzten ſie ſich zum Mahle, als ich — dem die Götter
den Schlaf wieder von den Augenliedern geſchüttelt —
herankam und mir der Opferduft ſchon von weitem
[168] entgegendampfte. Da jammerte ich zum Himmel empor:
„O Vater Jupiter und ihr andern Himmliſchen! Zum
Fluche habt ihr mich in Schlummer geſenkt. Denn wel¬
cher That haben ſich meine Freunde vermeſſen, während
ich ſchlief!“


Inzwiſchen war dem Sonnengotte durch eine die¬
nende Göttin ſchon die Nachricht von dem großen Frevel
zugekommen, der an ſeinem Heiligthume verübt worden
war. Zornig trat er in den Kreis der Olympiſchen und
klagte ihnen die Unbill. Jupiter ſelbſt fuhr zürnend von
ſeinem Throne auf, als er Solches hörte, zumal da
Helios drohte, den Sonnenwagen zum Hades hinabzulen¬
ken und der Erde nicht mehr zu leuchten, wenn die
Verbrecher nicht zur vollen Strafe gezogen würden.
„Leuchte du,“ ſagte zu ihm Zeus, „immerhin den Göt¬
tern und den Menſchen, Helios, ich will den verfluchten
Räubern ihr Schiff bald mit meinem Donnerkeil treffen,
daß es in Trümmer gehe und zerſchmettert in den Ab¬
grund verſinke!“ Dieſe Worte Jupiters hat mir die edle
Göttin Kalypſo gemeldet, die es durch ihren Freund,
den Götterboten Hermes erfahren hat.


Als ich nun bei dem Schiffe und den Genoſſen an¬
gekommen, fuhr ich ſie an und ſchalt ſie im tiefſten
Unmuth. Leider aber war Alles zu ſpät, und die Rinder
lagen geſchlachtet vor mir. Aber entſetzliche Wunderzei¬
chen bezeugten den geſchehenen Frevel; die Häute krochen
umher, als wären ſie lebendig, das rohe und gebratene
Fleiſch an den Spießen brüllte wie Rinder zu brüllen
pflegen. Doch meine hungrigen Begleiter kehrten ſich
daran nicht. Sechs Tage hinter einander ſchmausten
ſie. Erſt am ſiebenten Tage, als alles Ungewitter
[169] vorüber ſchien, ſtiegen wir wieder zu Schiffe, und fuhren
in die offene See hinaus. Als wir dahin ſteuerten, und
das Land ſchon längſt aus den Augen verloren hatten,
breitete Jupiter ein ſchwarzblaues Gewölk gerade über
unſere Häupter aus, und das Meer unter uns wurde
immer dunkler. Plötzlich brach ein wüthender Orkan
aus Weſten auf uns los, beide Taue des Maſtbaumes
zerriſſen, daß derſelbe krachend rückwärts ſank, und alles
Geräthe auf das Schiff goß. Die ganze Laſt ſtürzte
dem am Steuerende ſitzenden Piloten auf den Kopf und
zerknirſchte ihm den Schädel, ſo daß er wie ein Taucher
ins Meer hinabſank und die Wellen den Leichnam ver¬
ſchlangen. Jetzt fuhr ein Blitz mit krachendem Donner
auf das Schiff hernieder und durchſchmetterte es, daß
es voll von Schwefeldampf wurde. Meine Freunde
ſtürzten aus dem Fahrzeug, wie ſchwimmende Krähen und
zappelten um das Schiff her, wogten auf und nieder,
und verſanken endlich Alle. Bald war ich ganz allein
auf dem Schiffe und irrte darauf umher, bis die Flan¬
ken ſich vom Kiel ablösten; der liegende Maſtbaum krachte
vollends hernieder auf den entblösten Kiel, und ſo fuhr
das offene Wrak dahin. Ich hatte indeſſen die Beſin¬
nung nicht verloren, ergriff ein ledernes Seil, das noch
an dem Maſt herunterhing und band damit Maſt und
Kiel zuſammen. Dann ſetzte ich mich darauf und ließ
mich in der Götter Namen von dem tobenden Sturme
dahinſchleudern.


Endlich hörte der Orkan zu wüthen auf und der
Weſt legte ſich; darüber erhub ſich aber der Südwind,
und verſetzte mich in neue Angſt; denn nun war ich in
Gefahr der Scylla und Charybdis wieder zugetrieben zu
[170] werden. Und dieß geſchah auch: der Morgen dämmerte
kaum, als ich Scylla's ſpitzen Säulenfels gewahr wurde
und die gräßliche aus- und einſprudelnde Charybdis ge¬
genüber erblickte. Dieſe verſchlang, als ich bei ihr an¬
gekommen war, augenblicklich mit ihrem Strudel den Maſt;
ich ſelbſt ergriff die Aeſte eines von ihrem Fels überhan¬
genden Feigenbaums, ſchmiegte mich daran und hing da
in der freien Luft, wie eine Fledermaus. So ſchwebte
ich über der Charybdis bodenlos, bis Maſt und Kiel
aus ihrem Schlunde wieder hervorſprudelten. Dieſen
Augenblick erſah ich, war mit einem Sprung wieder auf
meinem alten Sitz und ruderte nun auf dem ſchmalen
Kiele mit den Händen auf dem Wirbel fort. Dennoch
wäre ich verloren geweſen, wenn Jupiters Gnade meine
Balken nicht von dem Fels der Scylla abgelenkt, und glück¬
lich aus dem durchwogten Felſenſchlunde herausgeleitet hätte.
Neun Tage trieb ich nun noch auf der See umher;
in der zehnten Nacht brachten mich gnädige Götter end¬
lich auf Kalypſo's Inſel, Ogygia. Dieſe hehre Göttin
pflegte und erquickte mich . . . . doch warum will ich euch
davon erzählen? Habe ich doch ſchon geſtern, dir, edler König,
und deiner Gemahlin dieß mein letztes Abenteuer berichtet!“

Odyſſeus verabſchiedet ſich von den Phäaken.

Odyſſeus ſchwieg und ruhte von ſeiner langen Er¬
zählung aus. Die Phäaken, die mit Entzücken zugehört,
waren Alle noch in ſeine Rede verſunken und ſchwiegen
auch. Endlich brach Alcinous das Stillſchweigen und
ſprach: „Heil dir, edelſter der Gäſte, den mein Königs¬
haus jemals aufgenommen hat! da du in meiner
[171] Wohnung eingekehrt biſt, ſo hoffe ich, du werdeſt nicht
mehr vom rechten Wege in die Heimath abirren und bald
im Hauſe deiner Väter alles Elend, das du erduldet haſt,
vergeſſen! Höret nun auch ihr, lieben Freunde und be¬
ſtändige Gäſte meines Palaſtes! In einer ſchönen Lade
liegen bereits herrliche Kleidungsſtücke für unſern edeln
Gaſt bereit, dazu künſtlich gearbeitetes Gold, und man¬
ches andre Geſchenk, das ich und die Fürſten unter
euch ihm beſtimmt haben. Hierzu füge ein jeder von
uns noch einen großen Dreifuß und ein Becken. Die
Volksverſammlung wird uns für dieſe großen Geſchenke,
die freilich dem Einzelnen ſchwer fallen würden, genü¬
gend entſchädigen!“


Allen gefiel dieſe Rede, und die Verſammlung der
Gäſte wurde aufgehoben. Am andern Morgen brachten
die Phäaken ſämtliche Erz-Geſchenke auf das Schiff,
und Alcinous ſelbſt ſtellte Alles ſorgfältig unter die Bänke‚
damit die Ruderer nicht dadurch gehindert würden.
Hierauf kehrten Alle mit einander in den Palaſt des
Königes zurück und dort wurde das Abſchiedsmahl gerü¬
ſtet. Nach dem Opfer, das Jupitern von dem geſchlach¬
teten Rinde dargebracht wurde, begann der Feſtſchmaus,
und der von allem Volk hochgeehrte blinde Sänger De¬
modokus ſang herrliche Lieder dazu.


Odyſſeus aber war mit ſeiner Seele nicht gegen¬
wärtig. Oft ſchaute er durch die Fenſter des Saales
nach dem Stand der Sonne und wünſchte ſehnlich ihren
Untergang, ſo ſehnlich wie einen Bauern, der den ganzen
Tag über den Pflug über ſeinen Acker gelenkt hat,
nach der Abendkoſt verlangt. Und endlich ſprach er ohne
Scheu zu ſeinen königlichen Wirth: „Geprieſener Held
[172] Alcinous, geuß das Trankopfer aus, und entlaſſe mich!
du haſt ja ſchon gethan, was meines Herzens Wunſch
iſt. Die Geſchenke liegen auf meinem Schiffe, die Fahrt
iſt bereit. Mögen die Himmliſchen dich ſegnen; möge ich
mein Weib untadelhaft zu Hauſe finden und Kind, Ver¬
wandte und Freunde wohlbehalten!“


In ſeinen Wunſch ſtimmten alle Phäaken laut und
von Herzen ein. Alcinous befahl dem Herolde Ponto¬
nous, allen Gäſten umher die Becher noch einmal zu
füllen. Nun ſtand jeder von ſeinem Sitze auf und
wie auf Einen Wink brachten ſie das Trankopfer für
ihres Gaſtes glückſelige Rückkehr den olympiſchen Göttern
dar. Da erhub ſich Odyſſeus, reichte ſeinen Becher
der Königin Arete und ſprach: „Lebe wohl für immer,
hohe Königin, bis dich Alter und Tod, die allen Men¬
ſchen bevorſtehen, langſam beſchleichen! Ich kehre jetzt
heim. Freue du dich zu Hauſe deiner Kinder, deines
Volks, und deines edeln Gemahls!“


So ſprach Odyſſeus und verließ die Schwelle des
Palaſtes. Auf des Königes Befehl, der ihm ſcheidend
die Hand mit herzlichem Drucke gereicht, geleitete ihn
ein Herold, und auf Arete's Geheiß drei Dienerinnen
bis ans Schiff. Die eine trug die ſchönen Gewande,
Mantel und Leibrock, die andere die verſchloſſene Lade,
die dritte Speiſe und Wein. Alles wurde wohl im Schiffe
geborgen. Auf dem Verdeck aber wurde ein zottiges
Fell und Leinwand darüber ausgebreitet. Da ſtieg Odyſ¬
ſeus ſchweigend ein und legte ſich darauf zum Schlummer
nieder. Die Ruderer ſetzten ſich auf die Bänke. Das
Schiff ward losgebunden, und wogte fröhlich unter dem
Schlage der Ruder dahin.

[[173]]

Drittes Buch.

Odyſſeus.
Zweiter Theil.

Odyſſeus kommt nach Ithaka. — Odyſſeus bei dem Sauhirten.
— Telemach verläßt Sparta. — Geſpräche beim Sauhirten. —
Telemach kommt heim. — Odyſſeus giebt ſich dem Sohne zu er¬
kennen. — Vorgänge in der Stadt und im Palaſt. — Odyſſeus
als Bettler im Saal. — Odyſſeus und der Bettler Irus. — Pe¬
nelope vor den Freiern. — Odyſſeus abermals verhöhnt. — Odyſſeus
mit Telemach und Penelope allein. — Die Nacht und der Morgen
im Palaſte. — Der Feſtſchmaus. — Der Wettkampf mit dem Bo¬
gen. — Odyſſeus entdeckt ſich den guten Hirten. — Die Rache. —
Beſtrafung der Mägde. — Odyſſeus und Penelope. — Odyſſeus
und Laertes. — Aufruhr in der Stadt durch Athene geſtillt. —
Der Sieg des Odyſſeus. —


[[174]][175]

Odyſſeus kommt nach Ithaka.

Der Schlummer des Odyſſeus war ſüß, aber auch
ſo tief wie der Tod. Das Schiff aber flog ſchnell und
ſicher dahin, wie ein Wagen mit vier Hengſten durch
die Ebene, oder wie ein Habicht durch die Luft fliegt.
Es war als wüßte es, welch einen Schatz es an dem
Manne trage, der in Klugheit mit den Himmliſchen
wetteiferte, und mehr Leiden erduldet hatte, als irgend
ein Sterblicher. Jetzt aber hatte er im ruhigſten Schlafe
Alles vergeſſen, was er jemals in Schlachten und auf
den Meereswellen Herbes erfahren.


Als der Morgenſtern am Himmel ſtand und den
Tag ankündigte, ſteuerte das Schiff in vollem Laufe
ſchon auf die Inſel Ithaka zu, und bald lief es in die
ſichere Bucht ein, welche dem Meeresgotte Forkys ge¬
widmet war. Zwei Landſpitzen mit gezackten Felſen laufen
hier zu beiden Seiten in das Meer hinaus und bilden
für die Schiffe einen ſicheren Hafen. Im Mittelpunkte
der Bucht ſtand ein ſchattiger Oelbaum, und neben
demſelben war eine liebliche Grotte, in deren tiefer
Dämmerung Meernymphen ihren Wohnſitz hatten. In
derſelben ſtanden ſteinerne Krüge und Urnen gereiht, in
welchen Bienen Honig bereiteten; auch Webſtühle von
Stein konnte man da ſehen, mit purpurnen Fäden
bezogen, welche die Nymphen zu wundervollen Gewanden
woben. Zwei nie verſiegende Quellen rannen durch die
Grotte, die einen gedoppelten Eingang hatte, gegen
[176] Mitternacht für die Menſchen, gegen Mittag eine ver¬
borgene Pforte für die unſterblichen Nymphen, welche
nie ein Sterblicher betrat. Bei dieſer Höhle landeten
die Phäaken, hoben den ſchlummernden Odyſſeus mit ſamt
Teppich und Polſter aus dem Schiff, und legten ihn vor der
Grotte unter dem Oelbaum im Sande nieder. Hierauf wur¬
den auch alle die Gaben ausgeſchifft, welche ihm Alcinous
und ſeine Fürſten als Geſchenke mitgegeben, und ſie leg¬
ten Alles ſorgfältig ſeitwärts vom Wege, damit nicht
etwa ein vorübergehender Wanderer den Fortſchlummern¬
den berauben möchte. Den Helden aus dem Schlafe
zu wecken wagten ſie nicht, denn derſelbe däuchte ihnen
von den Göttern ſelbſt ihm zugeſendet. Hierauf ſetzten
ſie ſich wieder ans Ruder und fuhren ihrer Heimath zu.


Aber der Meeresgott Poſeidon grollte den Phäaken,
daß ſie mit Hülfe der Pallas ihm ſeine Beute entriſſen
hätten, und erbat ſich vom Göttervater die Erlaubniß,
an ihrem Schiff Rache nehmen zu dürfen. Dieſer gönnte
ſie ihm, und als das Schiff der Inſel Scheria, dem
Lande der Phäaken, ſchon ganz nahe war, und mit
vollen Segeln einherwogte, ſtieg Poſeidon aus den Wel¬
len empor, ſchlug es mit der flachen Hand, und ver¬
ſchwand wieder in der Flut. Das Schiff aber mit Allem
was darauf war, wurde plötzlich in einen Felſen ver¬
wandelt, und wurzelte im Meeresboden feſt. Die Phäaken,
welche auf die Nachricht, daß ihre Landsleute zurückkom¬
men, nach dem Strande geeilt waren, konnten nicht
genug ſtaunen, als das Schiff, welches eben noch in
vollem Fluge begriffen war, plötzlich in ſeinem Laufe
gehemmt, ſtille ſtand. Aber Alcinous erhob ſich in der
Verſammlung und ſprach: „Weh uns, gewiß erfüllt ſich
[177] jetzt an uns die uralte Weiſſagung, von welcher mir
mein Vater erzählt hat. Poſeidon, ſagte mir dieſer,
zürne uns in ſeinem Herzen, daß wir, die gewandten
Schiffer, jeden Fremdling glücklich in ſeine Heimath brin¬
gen. Einſt aber werde ein phäakiſches Schiff, das auch
von einer ſolchen Begleitung heimkehre, von ihm am Ufer
verſteinert werden, und unſre Stadt als ein Felskamm
umziehen. Darum wollen wir in Zukunft uns nicht
mehr einfallen laſſen, den Fremden das Geleite zu geben,
die als Schutzflehende in unſre Stadt kommen; dem zür¬
nenden Meeresgott aber wollen wir zwölf Stiere opfern,
damit er ſich erbarme und unſre Stadt nicht ganz mit
einem Gebirge von Felſen einſchließe.“ Die Phäaken
erſchracken, als ſie dieſes hörten, und rüſteten ſich in
aller Eile zu dem Opfer.


An Ithaka's Strande war Odyſſeus indeſſen vom
Schlummer erwacht, aber, ſo lange ſchon von der Hei¬
math entfernt, erkannte er ſie nicht mehr. Zudem hatte
Pallas Athene um ihn ſelbſt einen Nebel gebildet, damit
er unkenntlich würde, und ſeine Gattin und Mitbürger
ihn nicht früher zu erkennen vermöchten, ehe die Freier
durch ſeine Hand ihre Miſſethat gebüßt hätten. So er¬
ſchien denn jetzt dem Helden Alles, die geſchlängelten
Pfade, die Meeresbuchten, die himmelan ragenden Fel¬
ſen, die Bäume mit ihren hohen Wipfeln, in fremder
Geſtalt. Er fuhr vom Boden auf, blickte bang umher,
ſchlug ſich an die Stirne und rief wehklagend: „Ich
Unglückſeliger, in welche neue Fremde bin ich wieder
gekommen, unter welche Unholde von Menſchen? wohin
rette ich mich mit dem geſchenkten Gute? Wär' ich doch
bei dem Volke der Phäaken geblieben, wo ich ſo freundlich
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 12[178] gepflegt worden bin! Jetzt aber haben ſie mich frei¬
lich auch verrathen: ſie verſprachen, mich nach Ithaka
zu führen, und haben mich hier in dem fremden Lande
ausgeſetzt. Vergelte es ihnen Jupiter der Rächer! Ge¬
wiß haben ſie mir auch von meinem Gute geſtohlen!“


Der Held blickte ſich um, ſah Dreifüße, Becken,
Gold, Kleider, Alles in beſter Ordnung umher ſtehen
und liegen, fing an zu muſtern und zu zählen: und ſiehe
da, ihm mangelte nichts. Als er nun nachdenklich und
die Heimath betrauernd am Strande umherirrte, geſellte
ſich zu ihm die Göttin Athene in Geſtalt eines zarten
Jünglings, eines Schafhirten, aber wie ein Königsſohn
mit feinen Gewanden angethan, ſchönen Sohlen an den
Füßen und einem Spieß in der Hand. Odyſſeus war
froh, einem Menſchen zu begegnen, und fragte ihn mit
freundlichen Worten, auf welchem Gebiet er ſich befinde,
ob es ein Feſtland oder eine Inſel ſey. „Du mußt aus
der Ferne daher kommen,“ antwortete die Göttin, „wenn
du erſt nach dem Namen dieſes Landes zu fragen brauchſt.
Ich verſichere dich, man kennt es im Weſten und im
Oſten. Zwar iſt es gebirgig, und Roſſe kann man hier
keine tummeln, wie im Argiverlande; arm iſt es aber
deßwegen nicht; Wein und Getreide gedeiht herrlich.
Ziegen und Rinder hat es in Menge, dazu die ſchönſten
Waldungen, und Quellwaſſer genug. Auch durch ſeine
Bewohner iſt es berühmt worden. Frage nur das tro¬
janiſche Land, das doch ferne genug iſt, das wird dir
etwas von der Inſel Ithaka zu erzählen wiſſen!“


Wie herzlich froh war Odyſſeus, als er den Namen
ſeines Vaterlandes nennen hörte! Doch hütete er ſich
wohl, ſich dem vermeintlichen Hirten ſogleich zu erkennen
[179] zu geben. Er ſtellte ſich, als käme er mit der Hälfte
ſeines Gutes von Creta, der fernen Inſel her, wo er die
andere Hälfte ſeinen Söhnen zurückgelaſſen. Mord, an
dem Räuber ſeiner Habe verübt, habe ihn genöthigt, ſich
aus der Heimath zu flüchten. So erzählte er eine weit¬
läufige Fabel. Als er zu Ende war, lächelte Pallas
Athene, fuhr ihm ſtreichelnd über die Wange und verwan¬
delte ſich plötzlich in eine ſchöne, ſchlanke Jungfrau.
„Wahrhaftig,“ ſprach ſie zu ihm, „das müßte ein Aus¬
bund von Schlauheit ſeyn, der dich in Liſten beſiegte,
und wenn es auch eine Gottheit wäre! Selbſt im eige¬
nen Lande legſt du die Verſtellung nicht ab! Doch, reden
wir nicht länger davon; biſt du doch der Klügſte aller
Sterblichen, wie ich die Einſichtsvollſte unter den Göt¬
tern. Mich haſt du aber doch nicht erkannt, haſt nicht
geahnt, daß ich auch zuletzt noch in allen Gefahren
neben dir ſtand, und dir die Liebe des Phäakenvolkes
zu Wege brachte. Jetzt aber bin ich gekommen, um dir
das geſchenkte Gut verbergen zu helfen, zugleich um dir
zu ſagen, was für Prüfungen dich im eigenen Palaſte
erwarten und Rath darüber mit dir zu pflegen.“


Staunend blickte Odyſſeus an der Göttin empor
und antwortete ihr: „Wie ſollte auch ein Sterblicher
dich erkennen, erhabene Tochter Jupiters, wenn du in
allerlei Geſtalten verkleidet ihm begegneſt! Habe ich dich
doch nicht mehr in deiner eigenen Geſtalt geſehen, ſeit
Troja zerſtört ward, nur daß du im Phäakenlande dich
mir zu erkennen gegeben und mir den Weg in die Stadt
gezeigt. Jetzt aber beſchwöre ich dich bei deinem Vater:
ſage mir, iſt's wirklich wahr, daß ich im geliebten Va¬
terlande bin, und tröſteſt du mein Herz nicht mit einer
12 *[180] Täuſchung?“ „Ueberzeuge dich mit deinen eigenen Augen,“
antwortete Minerva, „erkennſt du nicht die Bucht des
Forkys, den Oelbaum dort, die Nymphengrotte, wo du
ſo manche Sühnopfer dargebracht haſt, und jenes finſtere
Waldgebirg, es iſt ja das dir wohlbekannte Neriton!“
So ſprach Athene und zerſtreute ſchnell den Nebel vor
den Augen des Helden, daß das Heimathland klar vor
ihm lag. Erfreut warf ſich Odyſſeus auf die mütterliche
Erde nieder, ſie zu küſſen, und betete zu den Nymphen,
den Schutzgöttinnen des Ortes, wo er ſtand. Hierauf
half ihm die Göttin die Habe, die er mitgebracht hatte,
in der Felskluft verbergen, und als Alles wohl verſteckt
und ein Stein davor gewälzt war, ſetzten ſich Göttin
und Held unter den Olivenbaum, und berathſchlagten
über den Untergang der Freier, von deren frechen Wer¬
bungen in ſeinem eigenen Hauſe, ſo wie von der Treue
ſeiner Gattin, Athene ihrem Schützling ausführlichen
Bericht erſtattete. „Wehe mir,“ rief Odyſſeus, als er
Alles vernommen, „hätteſt du mir nicht alle dieſe Um¬
ſtände verkündigt, gnädige Göttin, ſo hätte mich zu
Hauſe ein eben ſo ſchmählicher Tod erwartet, wie den
Agamemnon in Mycene. Wenn aber du mir ernſtlich
deine Hülfe gewähreſt, ſo fürchte ich, der einzelne
Mann, ſelbſt dreihundert Feinde nicht.“


Hierauf erwiederte die Göttin: „Sey getroſt, mein
Freund, nimmermehr werde ich dich verſäumen. Vor
allen Dingen will ich dafür ſorgen, daß kein Menſch
auf dieſem Eilande dich erkenne. Das Fleiſch um deine
ſtattlichen Glieder ſoll zuſammenſchrumpfen, dein braunes
Haar vom Haupte ſchwinden; deinen Leib hülle ich in
einen Kittel, in welchem Jedermann dich nur mit Abſcheu
[181] betrachtet; deine ſtralenden Augen mach' ich blöde: ſo
daß du nicht nur den Freiern, ſondern auch deinem Weib
und deinem Sohne ganz entſtellt erſcheineſt. Zuerſt nun
heiße ich dich deinen redlichſten Unterthan aufſuchen, den
Hirten, der die Schweine bewacht, und mit treuer
Seele an dir hängt. Bei der Quelle Arethuſa am Ko¬
rarfelſen wirſt du ihn finden, wie er ſeine Heerde hütet;
dort ſetzeſt du dich zu ihm und erkundigſt dich nach Al¬
lem, was zu Hauſe vorgeht. Unterdeſſen eile ich nach
Sparta und rufe deinen lieben Sohn Telemachus zurück,
der dort beim Fürſten Menelaus nach deinem Schickſale
geforſcht hat.“ „Ei, warum haſt du ihm nicht lieber
Alles gleich geſagt,“ fragte Odyſſeus etwas ärgerlich,
„da dir doch Alles bekannt war? ſollte etwa auch er im
Elend auf dem Ocean umherirren gleich mir, während
Fremde ſein Gut verpraßten?“ Aber die Göttin ſprach
ihm Muth und Troſt ein und ſagte: „Aengſtige dich nicht
um deinen Sohn, mein Lieber! ich ſelbſt habe ihn ge¬
leitet, und meine Abſicht bei ſeiner Reiſe war, den Jüng¬
ling in der Fremde zu bilden und ihn ſich Ruhm gewin¬
nen zu laſſen, damit auch er den Freiern als ein Mann
entgegentreten könnte. Auch drückt ihn keineswegs ein
Leiden; ruhig ſitzt er im Palaſte des Menelaus, und
nichts, was ſein Herz nur wünſchen mag, fehlt ihm.
Es iſt wahr, die Freier haben ihm zu Schiffe einen
Hinterhalt geſtellt und ſind darauf gefaßt, ihn umzu¬
bringen, bevor er die Heimath wieder erreicht. Ich aber
fürchte nichts für ihn. Ehe dieß geſchieht, wird noch
viele von den Freiern ſelbſt der Boden decken!“


So ſprach die Göttin und berührte den Helden leicht
[182] mit ihrem Stab, worauf ihm ſogleich die Glieder zuſam¬
menſchrumpften, und er in einen zerlumpten, ſchmutzigen
Bettler verwandelt wurde. Sie reichte ihm den Bettel¬
ſtab, nebſt einem garſtigen geflickten Ranzen an einem
geflochtenen Tragbande, und verſchwand.

Odyſſeus bei dem Sauhirten.

In dieſer Geſtalt wandelte der ganz unkenntlich ge¬
machte Held über die Höhen des Waldgebirges hin,
nach der Stelle, die ihm ſeine Beſchützerin bezeichnet
hatte, und wo er wirklich den treueſten ſeiner Knechte,
den Sauhirten Eumäus antraf. Er fand dieſen auf
der Hochebene des Gebirges, wo er ſeiner Heerde ringsum
aus ſchweren Steinen, die er ſelbſt herbeigeſchleppt, ein
Gehege gebaut und es mit Hagedorn umpflanzt hatte.
Innerhalb deſſelben ſtanden, einer an dem andern, zwölf
Kofen, in deren jedem fünfzig Mutterſchweine zur Zucht
eingeſperrt lagen; die männlichen, in weit geringerer
Anzahl, ruhten außerhalb der Ställe. Von dieſen ließen
nämlich die Freier Tag für Tag dem Sauhirten einen
gemäſteten Eber zu ihren Schmäuſen abfordern, und es
waren ihrer nur noch dreihundert ſechzig. Die Heerde
bewachten vier Hunde, die ſo wild ausſahen, wie rei¬
ßende Wölfe.


Der Sauhirt war gerade damit beſchäftigt, ſich
ſchönes Stierleder zu Sohlen zu ſchneiden, ſeine Knechte
[183] hatten ſich Alle zerſtreut: drei waren mit den ausgetrie¬
benen Schweinen auf der Weide; ein Vierter war nach
der Stadt geſchickt worden, um den übermüthigen Freiern
das verlangte Maſtſchwein zu bringen.


Die Hunde wurden zuerſt den herannahenden Odyſſeus
gewahr und ſtürzten bellend auf ihn los; dieſer legte den
Stab aus der Hand und ſetzte ſich. Gewiß hätte er
nun in ſeinem eigenen Gehöfte die Schmach erfahren
müſſen, von ſeinen Hunden angefallen zu werden, wenn
der Sauhirt nicht aus der Thüre ſeiner Hütte hervor¬
geeilt und, das Sohlenleder aus den Händen laſſend,
den Thieren Einhalt gethan und ſie mit Steinen aus
einander geſcheucht hätte. Dann wandte er ſich zu ſeinem
Herrn, den er für einen Bettler hielt und ſprach: „Wahr¬
haftig, es hätte wenig gefehlt, o Greis, ſo hätten dich
die Hunde zerfleiſcht, und du hätteſt mir zu der Trübſal,
die ich ſchon habe, noch weitern Kummer bereitet! Iſt
es doch genug, daß ich hülflos um meinen armen, fernen
Herrn jammern muß. Hier ſitze ich und mäſte ſeine
fetteſten Schweine für andere Leute zum Schmaus, wäh¬
rend er ſelbſt vielleicht im Elende nicht einmal ein Stück¬
chen trockenes Brod zu verzehren hat und in der Fremde
herumirrt, wenn er anders das Tageslicht noch ſieht!
Komm in die Hütte, armer Mann, und laß dich mit
Wein und Speiſe erquicken, und wenn du ſatt biſt, ſage
mir, von wannen du biſt und was für Gram du erduldet
haſt, daß du ſo gar jämmerlich ausſiehſt!“


Beide betraten die Hütte, der Sauhirt ſtreute dem
Ankömmling Laub und Reiſig auf den Boden, breitete
ſeine eigene Lagerdecke, ein großes, zottiges Gemsfell,
[184] darüber und hieß ihn ſich niederlaſſen. Als Odyſſeus
dankbar ſeine Freude über einen ſo gütigen Empfang
ausſprach, antwortete ihm Eumäus: „Sieh, Alter! Man
ſoll keinen Gaſt verſchmähen, auch den geringſten nicht.
Meine Gabe iſt freilich nur klein. Wäre mein guter
Herr zu Hauſe geblieben, ſo hätte ich es wohl noch
beſſer; Haus, Gut und Weib hätte er mir gegeben, und
ich könnte Fremdlinge anders bewirthen! Nun aber iſt
er zu Grunde gegangen. Möchte doch Helena's Stamm
im Unheil vergehen, die ſo viele Tapfere ins Verderben
geſtürzt!“


So ſprach der Sauhirt, umſchlang ſich ſeinen Leib¬
rock mit dem Gürtel und ging hin zu den Kofen, wo
ihm die Ferkel ſchaarenweiſe lagen. Von denen nahm
er zwei, und ſchlachtete ſie zur Bewirthung ſeines Gaſtes,
zerſchnitt das Fleiſch, ſteckte es an Spieße, beſtreute es
mit weißem Mehl, und legte das Gebratene friſch an
den Spießen dem Gaſte vor. In eine hölzerne Kanne
goß er aus dem Kruge ſüßen alten Wein, ſetzte ſich
dem Fremdling gegenüber und ſagte: „Iß nun, fremder
Mann, ſo gut wir es haben! Es iſt eben Ferkelfleiſch,
denn die Maſtſchweine eſſen mir die Freier weg, dieſe
gewaltthätigen Menſchen, die weniger Götterfurcht im
Herzen haben, als die frechſten Seeräuber! Wahrſchein¬
lich haben ſie von dem Tode meines Herren Kunde, daß
ſie um ſeine Gattin gar nicht werben, wie andere Leute,
ſondern niemals zu den Ihrigen heimkehrend, in aller
Ruhe fremdes Gut verpraſſen. Tag und Nacht ſchlachten
ſie nicht ein- und zwei-, nein mehreremal, und leeren
dazu ein Weinfaß ums andere. Ach, mein Herr war ſo reich,
wie zwanzig andere zuſammen! Zwölf Rinderheerden,
[185] eben ſo viele Schaf-, Schweine- und Ziegenheerden beſitzt
er auf dem Lande, die ihm theils Hirten, theils Mieth¬
linge verſehen. In dieſer Gegend allein ſind eilf Zie¬
genheerden, welche wackre Männer hüten: auch ſie müſſen
den Freiern alle Tage den auserleſenſten Geisbock ablie¬
fern. Ich bin ſein Oberhirt über die Schweine, auch
ich muß Tag für Tag den beſten Eber auswählen, und
den unerſättlichen Schwelgern zuſenden!“


Während der Hirt ſo ſprach, verſchlang Odyſſeus,
wie einer der nicht denkt, was er thut, haſtig das Fleiſch
und trark den Wein in raſchen Zügen, ohne ein Wort
zu ſprechen. Sein Geiſt war ganz mit der Rache be¬
ſchäftigt, die er an den Freiern zu nehmen vorhatte. Als
er ſatt gegeſſen und getrunken, und der Hirt ihm den
Becher noch einmal voll gefüllt, trank er ihm freundlich
zu und ſprach: „Bezeichne mir doch deinen Herrn näher,
lieber Freund! Es wäre gar nicht unmöglich, daß ich
ihn kennte, und irgendwo einmal begegnet hätte; denn
ich bin gar weit in der Fremde herumgekommen!“ Aber
der Sauhirt antwortete ihm ganz unglaubig: „Meinſt
du, wir werden einem umherirrenden Manne, der uns
von unſerm Herrn etwas erzählen will, ſo leicht Glau¬
ben beimeſſen? Wie oft iſt es ſchon geſchehen, daß
Landfahrer, die nach einer Pflege verlangten, vor meine
Herrin und ihren Sohn gekommen ſind, und ſie mit
ihren Mährchen über unſern armen Herrn bis zu Thrä¬
nen gerührt haben, bis man ihnen Mantel und Leibrock
dargereicht und ſie wohl bewirthet hatte. Ihm aber
haben gewiß Hunde und Vögel ſchon lange das Fleiſch von
den Gebeinen verzehrt, oder die Fiſche haben's gefreſſen,
und die nackten Knochen liegen am Kieſelſtrande. Ach,
[186] nimmermehr bekomme ich einen ſo gütigen Herrn, er war
gar zu freundlich, gar zu liebreich. Wenn ich an ihn
denke, iſt mir gar nicht, als dächte ich an meinen Ge¬
bieter, ſondern wie ein älterer Bruder ſteht er mir vor
der Seele.“


„Nun, mein Lieber,“ antwortete ihm Odyſſeus,
„weil dein ungläubiges Herz ſo zuverſichtlich ſeine Rück¬
kehr läugnet, ſo ſage ich dir mit einem Eidſchwur:
Odyſſeus kommt. Meinen Lohn, den Mantel und Leib¬
rock verlange ich erſt, wenn er da iſt; denn ſo entblößt ich
bin, mit einer Fabel möchte ich mir nichts verdienen, ich
haſſe die Lügner bis auf den Tod. So höre denn, was
ich dir bei Jupiter, bei dieſem deinem gaſtlichen Tiſche,
und bei dem Heerde des Odyſſeus ſchwöre: wann dieſer
Monat abgelaufen iſt, wird er eintreten in ſein Haus
und die Frechen züchtigen, die es wagen, ſein Weib
und ſeinen Sohn zu beſchweren.“ „O Greis,“ erwiderte
Eumäus, „ich werde dir ſo wenig den Lohn für deine
Botſchaft zu entrichten haben, als Odyſſeus nach Hauſe
zurückkehrt. Fasle nicht, trinke ruhig deinen Wein, und
ſprich von etwas Anderem. Deinen Eid laß gut ſeyn!
Von Odyſſeus hoffe ich nichts mehr; mir macht jetzt
nur ſein Sohn Telemach Sorge; in ihm hoffte ich einſt
an Leib und Seele den Vater wieder zu ſchauen. Aber
ein Gott oder Menſch hat ihm den Sinn bethört: er
iſt gen Pylos gefahren, um nach dem Vater zu forſchen;
unterdeſſen legten ſich die Freier zu Schiff in einen Hin¬
terhalt, und werden mit ihm den letzten Sprößling vom
uralten Stamme des Akriſius vertilgen. Doch, erzähle
du, Greis, mir jetzt dein eigenes Leiden, wer biſt du,
und was brachte dich nach Ithaka?“

[187]

Odyſſeus machte ſich den Scherz, und erzählte dem
Sauhirten ein langes Mährchen, in dem er ſich für
den verarmten Sohn eines reichen Mannes von der
Inſel Kreta ausgab, und die bunteſten Abenteuer von
ſich erzählte. Auch den Krieg vor Troja hatte er mit¬
gemacht, und den Odyſſeus dort kennen gelernt. Auf
der Heimkehr verſchlug ihn der Sturm an die Küſte
der Thesproten, bei deren Könige er wieder etwas von
Odyſſeus vernommen haben wollte. Dieſer ſey der Gaſt
jenes Fürſten geweſen und habe ihn kurz vor der An¬
kunft des Bettlers verlaſſen, um zu Dodona beim Orakel
den Rathſchluß Jupiters zu vernehmen.


Als er mit dem langen Gewebe ſeiner Lügen zu
Ende war, ſprach der Sauhirt ganz gerührt: „Unglück¬
licher Fremdling, wie haſt du mir das Herz im Leibe
aufgeregt, indem du mir deine mühſeligen Irrfahrten ſo
ausführlich geſchildert! nur eines glaube ich dir nicht:
nämlich das, was du mir von Odyſſeus ſagſt. Was
brauchſt du auch ſo in den Wind hinein zu lügen! Mir
iſt es ganz entleidet, nach meinem Herrn umherzufragen
und zu forſchen, ſeit mich ein Aetolier angelogen hat, der
wegen eines Todtſchlags flüchtig, in mein Gehege kam,
und mir betheuerte, daß er ſelbſt ihn auf der Inſel
Kreta bei Idomeneus ſeine vom Sturm zerſchmetterten
Schiffe ausbeſſernd und ergänzend angetroffen habe. Im
Sommer, oder doch im Herbſte, komme er mit ſeinen
Genoſſen und unendlichem Gute gewiß zurück. Darum,
du Unglücklicher, bemühe dich nicht, meine Gunſt durch
ſolche Lügen erſchmeicheln zu wollen, das Gaſtrecht iſt
dir ja ohnedem geſichert.“


„Guter Hirt,“ antwortete Odyſſeus, „ich will dir
[188] einen Vergleich vorſchlagen. Wenn jener wirklich zurück¬
kommt, ſo ſollſt du mich mit Mantel und Leibrock nach
Dulichium entlaſſen, wohin mein Herz verlangt; kommt
aber dein Herr nicht heim, ſo hetze die Knechte gegen
mich, daß ſie mich von einer Felſenſpitze ins Meer ſtür¬
zen, damit andern Bettlern die Luſt zu lügen vergeht.“
„Ei, das wäre ein ſchöner Ruhm für mich,“ fiel ihm
der Sauhirt in die Rede, „wenn ich meinen Gaſt, den
ich in die Hütte geführt und bewirthet habe, hintendrein
erſchlüge! Da könnte ich ja in meinem Leben nicht mehr
zu Jupiter beten! Doch das Abendeſſen wird bald her¬
ankommen, und es iſt an der Zeit, daß meine Knechte
heimkehren, dann wollen wir wieder fröhlich ſeyn.“ Wirk¬
lich kamen auch bald darauf die Schweine mit ihren
Hütern herbei und wurden grunſend in die Kofen getrie¬
ben. Jetzo befahl der Hirt, ein fünfjähriges Maſtſchwein
zur Ehre ſeines Gaſtes zu ſchlachten. Ein Theil wurde
unter Gebet den Nymphen und dem Gotte Hermes ge¬
opfert, einen andern reichte er den Hütern, das beſte
Rückenſtück wurde ſeinem Gaſte zu Theil, obgleich er in
ſeinen Augen nur ein Bettler war.


Das rührte den Odyſſeus in der Seele, und er
rief dankbar aus: „Möge dich, guter Eumäus, Jupiter
ſo lieben, wie du mich, der in ſolcher Geſtalt zu dir
kam, geehrt haſt.“ Der Sauhirt ſprach ihm freundlich
zum Mahle zu, und während ſie ſich fröhlich in der
Hütte ſättigten, bedeckten draußen Wolken den Mond,
der Weſtwind ſauſte, und bald ergoß ſich der Regen in
Strömen. Den Helden fing es in ſeinen Bettlerlumpen
zu frieren an, und um den Hirten zu verſuchen, ob er
in ſeiner Aufmerkſamkeit ſo weit gehen würde, ihm ſeinen
[189] warmen Mantel abzutreten, fing er wieder an, ein recht
erlogenes Mährchen zu erzählen. „Höret mich,“ ſprach
er, „Eumäus, und ihr andern Hirten! Der gute Wein
bethört mich nun einmal, zu ſchwatzen, und entlockt mir
Worte, die vielleicht beſſer verſchwiegen blieben. Als wir
einſt vor Troja uns in einen Hinterhalt gelegt, wir drei,
Odyſſeus, Menelaus und ich, mit einer Schaar von
Kriegern, ſchmiegten wir uns, der Burg gegenüber, zwi¬
ſchen Rohr und Sumpf, unter unſre Rüſtungen, und es
wurde Nacht. Der Nordwind kam mit einem Schnee¬
geſtöber, und bald hatte der Froſt unſre Schilde mit
einem Rande von Glatteis umzogen. Den beiden Andern
that dieſes nicht viel, ſie hatten ſich in ihre Mäntel ge¬
wickelt, und ſchlummerten, von der Kälte unangefochten,
unter ihren Schilden. Ich dagegen hatte beim Weggehen
unbedachtſamer Weiſe meinen Mantel den Freunden zu¬
rückgelaſſen, denn auf eine ſolche Kälte hatte ich keines¬
wegs gerechnet, ſondern war nur im Gürtel und mit
dem Schilde ausgegangen. Nun war noch ein Drittel
von der Nacht übrig, und die Morgenkälte am ſchnei¬
dendſten. Da ſtieß ich endlich meinen Nachbar, den
ſchlafenden Odyſſeus, mit dem Ellbogen an, und ermun¬
terte ihn mit den Worten: Du, wenn die Nacht noch
lange währt, ſo bringt mich der Froſt um. Ein böſer
Dämon hat mich verführt, im bloßen Rocke ohne Mantel
zu gehen! Wie das Odyſſeus hörte, der bekanntlich ein
Mann, zum Rath ſo gut wie zur Schlacht war, ſo flü¬
ſterte er mir zu: Still, daß kein Achaier uns hört; dir
ſoll bald geholfen ſeyn! Dann richtete er ſich vom Lager
auf, ſtützte ſein Haupt auf den Ellbogen und rief über
die Schläfer hin: Freunde, die Götter haben mir einen
[190] warnenden Traum geſendet: wir haben uns zu weit von
den Schiffen entfernt, will nicht einer gehen, und dem
Agamemnon die Aufforderung bringen, uns noch mehr
Streitgenoſſen zu ſchicken? Auf dieſe Worte ſprang einer
unſrer Krieger, Thoas, der Sohn des Andrämon, dienſt¬
bereit vom Boden auf, legte ſeinen Mantel von ſich, und
eilte zu den Schiffen. Ich aber wickelte mich behaglich
in denſelben und ſchlief nun getroſt bis zur Morgenröthe.
Ja, wär' ich noch der junge ſtattliche Mann wie da¬
mals, ſo würde mir, aus Liebe wie aus Scheu, wohl
auch irgend ein Sauhirt im Gehege hier ſeinen Mantel
zum Schirme gegen den Nachtfroſt leihen. Jetzt kümmert
ſich freilich kein Menſch in meinen Lumpen um mich!“


„Das iſt ein ſchönes Gleichniß,“ ſagte Eumäus
lachend, „das du uns da erzählt haſt, Fremdling, drum
ſoll es dir auch jetzt weder an Kleidung, noch an irgend
etwas Anderem mangeln. Morgen mußt du freilich wie¬
der mit deinen Lumpen fürlieb nehmen; denn wir ſelbſt
haben nichts Uebriges zum Anlegen, wenn aber der Sohn
des Odyſſeus glücklich heimkehren ſollte, ſo wird er dich
ganz gewiß mit Mantel und Leibrock beſchenken, und
dich geleiten laſſen, wohin du wünſcheſt.“ So ſprechend
erhob ſich Eumäus, und bereitete ſeinem Gaſte nicht
weit vom Feuerherd ein Bett, das er ihm aus Schaf¬
pelzen und Ziegenhäuten zurecht machte, und nachdem
ſich Odyſſeus darauf niedergelegt, deckte er ihn mit einem
dichten großen Mantel zu, den er ſelbſt bei den heftigen
Winterſtürmen anzuziehen pflegte.


So lag denn der Held warm gebettet, und ſchickte
ſich zum Schlummer an; neben ihm legten ſich auch
die Knechte zum Schlafe nieder; aber Eumäus wählte
[191] ſein Nachtlager nicht in der Hütte, denn er mochte nicht
entfernt von ſeinen Schweinen ſchlafen; er nahm viel¬
mehr die Waffen zur Hand und begab ſich hinaus zu
den Ställen, das Schwert um die Schulter gegürtet
und in einen dichten Mantel gehüllt. Auch ein zottiges
Ziegenfell nahm er mit zur Unterlage, und in der Hand
trug er einen ſcharfen Spieß, Hunde und Männer, die
etwa herannahen könnten, damit zu ſchrecken. So legte
er ſich, vor dem ſchneidenden Nordwinde geſchirmt, vor
die Kofen ſeiner Schweine. Odyſſeus war noch nicht
eingeſchlafen, als der Sauhirt in dieſem Aufzuge die
Hütte verließ. Er blickte ihm theilnehmend nach und
freute ſich innerlich im Herzen, einen ſo ehrlichen und
getreuen Knecht zu beſitzen, der das Gut ſeines Herrn,
den er längſt für verloren hielt, mit ſo gewiſſenhafter
Sorgfalt verwaltete. In dieſem Gefühl überließ ſich der
Held dem erquicklichen Schlummer.

Telemach verläßt Sparta.

Pallas Athene, die Göttin, wandelte inzwiſchen
nach Sparta, und fand dort die beiden Jünglinge aus
Pylus und aus Ithaka bei dem Fürſten Menelaus auf
ihr Nachtlager hingeſtreckt. Piſiſtratus, der Sohn des
Neſtor, lag in ſüßem Schlafe; den Telemach aber labte
kein Schlummer. Er wachte die ganze Nacht hindurch
aus Bekümmerniß über das Schickſal ſeines Vaters. Da
ſah er auf einmal die Tochter Jupiters vor ſeinem Bette
[192] ſtehen, die alſo zu ihm ſprach: „Du thuſt nicht wohl
daran, Telemachus, fern von deinem Hauſe dich in der
Irre umherzutreiben, während in deinem Palaſte zügel¬
loſe Männer dein Gut unter ſich vertheilen. Wohlan,
bitte den Fürſten Menelaus unverzüglich um die Heim¬
fahrt, ehe deine Mutter eine Beute der Freier wird.
Denn bereits ſtürmen Vater und Brüder auf ſie ein und
verlangen, daß ſie den Eurymachus zum Gemahl erkieſe,
der allerdings mit ſeinen Geſchenken alle Andern über¬
troffen hat, und ſich noch zu reichlicherer Bräutigams¬
gabe erbietet. Wenn ſie aber dieſen wählt, dann magſt
du ſelbſt zuſehen, wie es dir ergehen wird! Eile daher
zurück, und im ſchlimmſten Fall übergieb deine Güter
einer getreuen Dienerin, bis dir die Götter einmal eine
würdige Gemahlin beſcheren. Aber noch eines vernimm:
in der Meerenge zwiſchen Ithaka und Same liegen die
tapferſten Freier in einem Hinterhalte, und ſind dazu ge¬
rüſtet, dich umzubringen, ehe du dein Vaterland wieder
erreicheſt. Steure deswegen fern von den andern Inſeln
und fahre nur in der Nacht: für guten Wind wird ein
Gott ſorgen. Haſt du ſodann das nächſte Ufer von
Ithaka erreicht, ſo ſende deine Genoſſen alle ſogleich
nach der Stadt, du ſelbſt aber begieb dich vor allen Din¬
gen zu den treuen Hirten, der deine Schweine bewacht;
bei ihm bleibſt du bis an den Morgen, und von dort
aus meldeſt du der Mutter Penelope deine glückliche Zu¬
rückkunft aus Pylos!“


Nachdem ſie alſo geſprochen, flog die Göttin wieder
zum Olymp empor. Telemach aber weckte den Sohn
Neſtors, indem er ihn mit dem Fuß an die Ferſe ſtieß,
und rief: „Wach auf, Piſiſtratus, ſchirre die Roſſe vor
[193] den Wagen, und laß uns die Heimfahrt beginnen.“
„Wie,“ antwortete der Sohn Neſtors noch im halben
Schlummer, „wir werden doch im Dunkel der Nacht
nicht auf die Fahrt gehen wollen? Warte doch, bis der
Morgen kommt: dann legt uns der König Menelaus
ſchöne Geſchenke in den Wagenſeſſel und entläßt uns
mit freundlichen Abſchiedsworten.“ Während ſie ſo noch
länger miteinander über die Abreiſe unterhandelten, er¬
ſchien die Morgenröthe, und Menelaus erhub ſich noch
vor den Jünglingen von dem Lager. Als ihn Telemachus
in der Ferne durch die Halle wandeln ſah, warf er ſich
ſchnell in ſeinen Leibrock, ſchlug den Mantel um die
Schultern, trat zu dem Fürſten und bat ihn um Ent¬
laſſung in die Heimath. Freundlich entgegnete ihm Me¬
nelaus: „Lieber Gaſt, ich bin weit entfernt, dich länger
aufhalten zu wollen, wenn du dich nach Hauſe ſehneſt.
Ich ſelbſt kann den Wirth nur tadeln, der durch läſtige
Freundſchaft ſich gegen ſeinen Gaſtfreund als ein Feind
beweist. Es iſt eben ſo arg, einen Eilenden aufzuhalten,
als einen Zögernden an die Heimkehr zu erinnern. Warte
nur ſo lange, bis ich dir Geſchenke in den Wagen ge¬
legt, und die Weiber dir einen Schmaus bereitet haben.“
„Edler Fürſt,“ antwortete Telemachus, „ich wünſche nur
deßwegen heimzukehren, um nicht, während ich nach dem
Vater forſche, ſelbſt zu Grunde zu gehen: denn es war¬
ten allerlei Gefahren auf mich, und im väterlichen Palaſte
wird mein Erbgut aufgezehrt.“ Als Menelaus dieſes
hörte, ſorgte er in aller Eile für das Mahl, und ver¬
fügte ſich mit Helena und Megapenthes in die Vorraths¬
kammer. Hier ſuchte er ſelbſt einen goldenen Becher
heraus, ſeinem Sohne Megapenthes gab er einen ſchönen
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 13[194] ſilbernen Krug zu tragen, und aus dem Kaſten ſuchte
Helena das unterſte ihrer ſelbſtgewirkten Gewande her¬
vor, welches das ſchönſte und größte von allen war.
Mit dieſen Gaben kehrten ſie zu dem Gaſtfreunde zurück;
Menelaus reichte ihm den Becher, ſein Sohn ſtellte den
Krug vor ihm auf, und Helena ging mit ihrem Gewand
in den Händen ihm entgegen und ſprach: „Nimm dieſes
Geſchenk, lieber Sohn, als ein Andenken aus der Hand
Helena's: am Hochzeittage ſoll es deine junge Braut
tragen; bis dahin mag es im Gemache deiner Mutter
liegen. Du aber kehre mit fröhlichem Herzen in das
Haus deiner Väter zurück.“


Telemach empfing die Gaben mit ehrerbietigem Danke,
und ſein Freund Piſiſtratus legte ſie, jedes Einzelne be¬
wundernd, im Wagenkorbe nieder. Dann führte Mene¬
laus die Gäſte noch einmal in ſeinen Saal, und der
Abſchiedsimbiß wurde genoſſen. Als ſie ſchon auf dem
Wagen ſaßen, trat Menelaus, mit einem vollen Becher
in der Rechten, noch einmal vor die Roſſe, brachte zu
glücklicher Abfahrt den Unſterblichen eine Opferſpende
dar, trank mit einem Handſchlage den Jünglingen zu,
ſagte ihnen Lebewohl, und gab ihnen einen Gruß an
ſeinen greiſen Freund Neſtor auf. Während Telemach
noch dankte und ſeinen Wunſch ausſprach, den Vater
Odyſſeus im Palaſte heimgekehrt zu treffen, und ihm von
des Menelaus Gaſtfreundſchaft Bericht abſtatten zu kön¬
nen: ſiehe da flog ein Adler, mit einer zahmen Gans
aus dem Hofe in den Klauen, von ſchreienden Männern
und Weibern verfolgt, rechts her gerade vor die Roſſe
der Jünglinge. Alle freuten ſich über dieſes Zeichen,
Helena aber ſprach: „Höret meine Weiſſagung, ihr Freunde!
[195] wie der Adler, aus ſeinem Neſt im Gebirge gekommen,
die Gans weggerafft hat, die ſich vom Fett unſrer Woh¬
nung mäſtete: ſo wird Odyſſeus nach langer Irrfahrt
und Qual als Rächer in die Heimath zurückkehren, oder
iſt ſchon zurückgekehrt, den gemäſteten Freiern zum Ver¬
derben!“ „Geb' es Jupiter ſo,“ antwortete Telemach,
„dann, edle Fürſtin, will ich dich zu Hauſe ſtets wie
eine Göttin anflehen.“


Und nun eilten die beiden Gäſte mit dem Wagen
davon. Am Abend übernachteten ſie, gaſtreich gepflegt,
wieder in der Burg bei dem gütigen Helden Diokles zu
Pherä, und am zweiten Tage erreichten ſie glücklich die
Stadt Pylos. Aber ehe ſie hineinfuhren, wandte ſich
Telemach bittend an ſeinen jungen Freund: „Lieber Pi¬
ſiſtratus,“ ſprach er, „ſo befreundet unſere Väter ſind,
ſo innig dieſe Fahrt uns beide vereinigt hat: verarge
mir's nicht, wenn ich die Stadt nicht betreten will, daß
dein greiſer Vater mich nicht aus lauter Liebe mit
Zwang in ſeiner Wohnung zurückhalte, denn du weißeſt
ja ſelbſt, wie ſehr ich meine Heimkehr beſchleunigen muß.“
Piſiſtratus fand ſein Geſuch natürlich, lenkte mit ſeinen
Roſſen an der Stadt vorüber, und brachte den Freund
geradenwegs an den Strand zu ſeinem Schiffe. Hier
nahm er recht herzlichen Abſchied von ſeinem Freunde
und ſprach: „Beſteige nur raſch dein Schiff und fahre
davon; denn erführe mein Vater, daß du da biſt, er
würde gewiß ſelbſt kommen und dich nöthigen, in ſeinem
Palaſt einzukehren.“ Telemach gehorchte ſeinen Worten,
die Genoſſen beſtiegen das Schiff und ſetzten ſich auf
die Ruderbänke, er ſelbſt aber ſtellte ſich noch auf dem
Strande hinten an das Steuerruder des Schiffes und
13 *[196] brachte ſeiner Beſchützerin Athene unter Gebet ein
Opfer dar.


Während er dieß that, näherte ſich ein Mann mit
haſtigen Schritten dem äußerſten Ufer, ſtreckte ſeine Hände
nach Telemach aus und rief: „Bei deinem Opfer, Jüng¬
ling, bei den Göttern und bei der Wohlfahrt deines
Hauptes und der Deinigen flehe ich zu dir: ſage mir,
wer du biſt und wo du wohneſt.“ Als Telemach ihm
Alles der Wahrheit nach kurz zugerufen, fuhr er fort zu
bitten: „Auch ich bin auf der Wanderſchaft begriffen.
Ich bin der Seher Theoklymenus, mein Geſchlecht ſtammt
aus Pylos, ich ſelbſt aber hauſete zu Argos. Dort hab'
ich im Streit und Jähzorn einen Mann aus mächtigem
Geſchlecht erſchlagen, und bin ſeinen Brüdern und Ver¬
wandten, die mir den Tod geſchworen haben, entronnen.
Hinfort bleibt mir nichts übrig, als wie ein Verbannter
durch die Welt zu irren. Du aber, guter Jüngling, be¬
trachte mich als einen Schutzflehenden und laß mich zu
dir ins Schiff, denn meine Verfolger ſind mir auf den
Ferſen!“


Telemach, der einen milden Sinn hatte, nahm den
Fremdling gern in ſein Schiff auf, und verſprach ihm,
auch in Ithaka für ſeinen Lebensunterhalt zu ſorgen. Er
empfing zuerſt den Speer aus den Händen des Fremden,
und legte ihn auf's Verdeck nieder; dann beſtieg er ſelbſt
mit dem Seher das Schiff und ſetzte ſich mit ihm an
das Steuerende; die Seile, mit welchen das Fahrzeug am
Geſtade angebunden war, wurden abgelöst, der Maſt
aus Fichtenholz in die mittlere Vertiefung des Schiff¬
bodens geſtellt und hoch aufgerichtet, die weißen Segel
[197] mit Riemen an den Stangen aufgeſpannt, und unter
dem Sauſen des günſtigſten Windes flog das Schiff
davon.

Geſpräche bei'm Sauhirten.

In der Hütte des Sauhirten zu Ithaka ſaß Odyſſeus
mit Eumäus und den andern Hirten am Abende dieſes
Tages vergnüglich bei der Nachtkoſt, und um ihn zu
verſuchen, wie lang er ihm wohl Herberge gönnen
werde, ſprach er nach dem Eſſen zu ſeinem Wirth:
„Morgen, mein Freund, will ich an meinem Bettelſtab
in die Stadt gehen, um euch nicht länger beſchwerlich
zu fallen. Da rathe mir denn, und gieb mir einen Be¬
gleiter mit, der mir den Weg zeige, denn ich will in
der Götter Namen die Stadt durchirren und ſehen, wo
ich ein wenig Wein und Brod erhalte. Auch möchte ich
gern in den Palaſt des Königs Odyſſeus gehen und
dort ſeiner Gemahlin Penelope ſagen, was ich von ihm
weiß. Am Ende würde ich auch den Freiern gegen
Unterkunft und Speiſe meine Dienſte anbieten; verſtehe
ich mich doch trefflich auf's Holzſpalten, Feueranmachen,
Bratſpießwenden, Speiſevorlegen und Weinvertheilen, und
auf andere derlei Geſchäfte, wie ſie Vornehme von den
Geringern zu fordern pflegen.“ Aber der Sauhirt run¬
zelte die Stirn und erwiederte: „Gaſt, was kommt dir
für ein Gedanke in den Sinn, willſt du dich ganz ins
Verderben ſtürzen? meinſt du, die trotzigen Freier wer¬
den nach deinen Dienſten lüſtern ſeyn? Die haben ganz
andere Diener, als du einer wäreſt! Jünglinge in den
[198] zierlichſten Kleidern, mit blühendem Antlitze, das Haupt
von Salben duftend, ſtehen ihnen zu Gebot und bedie¬
nen die prächtigen Tiſche, welche ſtets mit Fleiſch, Brod
und Wein belaſtet ſind. Bleib du bei uns, wo deine
Geſellſchaft weder mir noch den Meinigen beſchwerlich
iſt, und warte auf den guten Sohn des Odyſſeus, der
dich mit aller Nothdurft wohl verſorgen wird!“


Odyſſeus nahm das Anerbieten dankbar an und bat
darauf den Hirten, ihm auch zu erzählen, wie es den
Eltern ſeines Herrn gehe, ob ſie noch leben, oder ſchon
in den Hades hinabgeſtiegen ſeyen. „Laertes, der Vater,
lebt noch,“ antwortete ihm Eumäus, „aber er beweint
untröſtlich den entfernten Sohn und die Gattin, die der
Gram um den Verlorenen umgebracht hat. Auch ich
muß dieſe gute Frau beweinen; iſt doch ſie es, die mich
mit ihrer Tochter Ktimene faſt wie einen Sohn aufge¬
zogen hat. Als ſpäter die Tochter nach Samos ver¬
mählt wurde, ſtattete mich die Mutter reichlich aus und
ſchickte mich hierher auf's Land. Jetzt muß ich freilich
Vieles entbehren, und nähre mich ſo gut ich kann von
meinem Amte hier. Penelope, die jetzige Königin, kann
nichts für mich thun; ſie iſt von den Freiern umgeben
und bewacht, und ein ehrlicher Diener kann gar nicht
bis zu ihr durchdringen.“ „Guter Sauhirt,“ fragte
Odyſſeus weiter, „woher ſtammeſt du denn, und wie biſt
du in den Dienſt dieſes Hauſes gekommen?“ Der Hirt
ſchenkte ſeinem Gaſte den Becher wieder voll und erwie¬
derte: „Trink, mein guter Alter, und laß dich die lange
Geſchichte nicht verdrießen, hier zwingt uns ja Niemand,
früh zu Bette zu gehen, und wir können die ganze Nacht
durch ſchwatzen. Dort über Ortygia hin liegt eine nicht
[199] ſonderlich bevölkerte, aber fruchtbare und geſunde Inſel
mit Namen Syria, mit zwei Städten. Ueber beide
herrſchte als mächtiger Fürſt mein Vater Kteſius, der
Sohn des Ormenos. Als ich noch ein kleiner Knabe
war, landeten dort trügeriſche Seefahrer aus Phönizien,
die allerlei niedliche Waaren auf ihrem Schiffe zum
Verkauf mitbrachten, und lang an unſrer Küſte blieben.
Nun hatten wir damals ein phöniziſches Weib, ſchön und
ſchlank von Geſtalt, die mein Vater als Sklavin erſtan¬
den hatte, und die wegen ihrer kunſtreichen Arbeiten ſehr
beliebt war, in unſerer Wohnung. Dieſe wurde mit
einem der phöniziſchen Krämer, ihrer Landsleute, ver¬
traut, und hängte ihr Herz an ihn. Der Schiffer verſprach
ihr, ſie mit ſich als ſeine Gattin in ſeine und ihre Hei¬
math nach Sidon zu bringen, und die treuloſe Sklavin
gelobte ihm dagegen, aus meines Vaters Hauſe nicht
nur die Hände voll Gold als Fährlohn mitzubringen,
ſondern auch noch etwas Beſſeres. Ich erziehe nämlich,
ſagte ſie, den kleinen Sohn des Fürſten, er iſt ſchon
recht geſcheut für ſein Alter, und läuft ſo mit, wenn
ich Gänge außer dem Hauſe zu machen habe. Dieſen
bringe ich euch auf das Schiff, und ihr werdet keinen
kleinen Gewinn von ihm machen.


So ſprach das falſche Weib und ging nach dem
Palaſte zurück, als wenn nichts geſchehen wäre; denn
die Kaufleute verweilten noch ein ganzes Jahr auf der
Inſel. Als ſie ſich endlich mit dem ſchwer beladenen
Schiffe zur Heimfahrt rüſteten, erſchien ein liſtiger Mann
mit einem goldenen Halsbande im Palaſte meines Va¬
ters, und bot es zum Verkauf an. Mutter und Mägde
umſtanden ihn im Saal, faßten es Eine um die Andere
[200] mit der Hand, muſterten es mit den Augen, feilſchten
um den Preis. Während deſſen gab der Mann (denn
es war ein Bote der Phönizier) dem Weib einen heim¬
lichen Wink. Kaum hatte er das Haus verlaſſen, ſo
nahm dieſe mich an der Hand und entführte mich aus
dem Palaſt. Im Vorſaal fand ſie Tiſche und Becher
für Gäſte des Vaters aus der Rathsverſammlung ge¬
rüſtet. Da ſah ich, wie ſie ſchnell drei goldene Gefäße
hinwegnahm und im Wurf ihres Gewandes verbarg;
in meiner Einfalt beſann ich mich nicht darüber, ſondern
folgte ihr. Die Sonne war eben am Untergehen, als
wir im Hafen anlangten und mit der übrigen Mann¬
ſchaft das Schiff beſtiegen.


Wir fuhren mit günſtigem Winde ab und mochten
etwa ſechs Tage lang geſteuert ſeyn, als das verräthe¬
riſche Weib, vom Pfeile Diana's, wie man ſagt, ge¬
troffen, plötzlich im Schiffsraume todt zu Boden fiel, wie
ein Seehuhn, das der Jäger geſchoſſen. Man warf ſie
über Bord den Fiſchen zur Beute und ich kleines Kind
blieb allein, ohne einen Menſchen, der ſich meiner an¬
genommen hätte, auf dem Schiffe. Die Phönizier aber
landeten endlich in Ithaka, wo mich der alte Laertes
von den Kaufleuten erhandelte. Auf dieſe Weiſe habe
ich zuerſt unſre Inſel mit Augen geſehen.“


„Nun,“ ſprach Odyſſeus, „du darfſt doch nicht
ganz unzufrieden mit deinem Schickſale ſeyn, denn Ju¬
piter hat dir zu dem Böſen doch auch Gutes beſcheert,
und einem freundlichen Mann in die Hand gegeben, der
es dir an nichts fehlen ließ, und auf deſſen Gute du
noch immer in Gemächlichkeit lebſt! Ich Armer dagegen
irre in beſtändiger Verbannung umher!“

[201]

Unter ſolchen Geſprächen war ihnen die Nacht faſt
ganz dahingegangen und ſie ſchliefen nur noch weniges,
bis die anbrechende Morgenröthe ſie weckte.

Telemach kommt heim.

An demſelben Morgen landete Telemach mit ſeinen
Begleitern an Ithaka's Geſtade. Dem Rathe Minerva's
gehorchend, hieß er dieſe ohne Verzug nach der Stadt
fortrudern, verſprach ihnen am andern Morgen durch
ein fröhliches Mahl den Dank für die Reiſe zu be¬
zahlen, und ſchickte ſich zum Wege nach den Hirten an.
„Aber wo ſoll ich hingehen, mein Sohn,“ fragte den
Scheidenden Theoklymenus, „wer in der Stadt wird
mich aufnehmen? ſoll ich etwa geradenweges auf den
Palaſt deiner Mutter zugehen?“ „Hätte unſer Haus,“
antwortete Telemach, „ein anderes Anſehen, als es gegen¬
wärtig hat, ſo würde ich dir unbedenklich dazu rathen,
ſo aber würdeſt du von den Freiern doch nicht vorge¬
laſſen, und meine Mutter webt im einſamſten Gemache
des Hauſes an einem Gewande. Da wäre es noch
klüger, dich in das Haus des Eurymachus zu begeben,
der ein Sohn des in Ithaka hoch angeſehenen Mannes,
des Polybus, und der erſte unter denen iſt, die ſich um
meine Mutter bewerben!“ Während er noch redete, flog
ein Habicht mit einer Taube vorüber, deren Gefieder er
berupfte. Da führte der Seher den Jüngling bei der
Hand auf die Seite und ſagte ihm ins Ohr: „Sohn,
[202] wenn meine Kunſt mich nicht ganz täuſcht, ſo gilt dieſes
Zeichen deinem Hauſe. Nie wird ein anderes Geſchlecht
auf Ithaka walten: ihr ſeyd die ewigen Beherrſcher die¬
ſes Landes!“


Ehe nun Telemach von Theoklymenus Abſchied nahm,
empfahl er dieſen noch ſeinem vertrauteſten Freunde, dem
Piräus, dem Sohne des Klytius, daß er den Fremdling
in ſeine eigene Wohnung aufnehmen und liebreich pflegen
möchte, bis Telemach in die Stadt käme. Dann ſchied
er, und die Genoſſen fuhren weiter.


Inzwiſchen rüſteten Odyſſeus und der Sauhirt in
der Hütte das Frühſtück und die Knechte trieben die
Schweine hinaus. Als ſie behaglich beim Mahle ſaßen,
ließen ſich draußen Fußtritte hören und die Hunde wurden
laut, doch ohne zu bellen; ſie ſchienen vielmehr einem
Herankommenden zu ſchmeicheln. „Gewiß,“ ſagte Odyſſeus
zu dem Hirten, „beſucht dich ein Freund oder Bekann¬
ter: denn gegen Fremde geberden ſich deine Hunde ganz
anders, das hab' ich erfahren!“


Das Wort war noch nicht ganz ausgeredet, als
ſein lieber Sohn Telemach unter der Hüttenthüre ſtand.
Der Sauhirt ließ das Trinkgeſchirr vor freudiger Be¬
ſtürzung aus der Hand ſinken, eilte ſeinem jungen Herrn
entgegen, umſchlang ihn, und bedeckte ihm weinend Antlitz,
Augen und Hände mit ſeinen Küſſen, als wäre er vom
Tode erſtanden. Ein alter Vater kann ſeinen einzigen
ſpätgeborenen Sohn, wenn dieſer nach zehn Jahren aus
der Fremde kommt, nicht herzlicher bewillkommnen. Jener
trat erſt über die Schwelle, als er von ſeinem Diener
vernommen, daß in der Mutter Hauſe nichts Neues vor¬
gefallen ſey. Dann übergab er dem Hirten ſeine Lanze
[203] und ging in die Hütte. Sein Vater Odyſſeus wollte
dem Hereintretenden auf ſeinem Sitze Platz machen,
Telemach aber hielt ihn und ſagte freundlich: „Bleib
nur ſitzen, Fremdling, der Mann da wird mir
ſchon meinen Platz anweiſen.“ Inzwiſchen bereitete Eu¬
mäus ſeinem jungen Herrn ein weiches Polſter aus grü¬
nem Laube, darüber er einen Schafpelz deckte. Nun
ſetzte ſich Telemach zu den Beiden, und der Sauhirt
tiſchte eine Schüſſel mit gebratenem Fleiſche auf, ſtellte
den Brodkorb dazu, und miſchte in der hölzernen Kanne
den Wein. So ſchmauſten ſie alle drei zuſammen. Da
fragte denn Telemach den Diener nach dem Fremdlinge,
und dieſer brachte kürzlich vor, was Odyſſeus an ihn
hingefabelt. „Er hat ſich jetzt,“ beſchloß er ſeine Ant¬
wort, „aus einem thesprotiſchen Schiffe geflüchtet und
kam in mein Gehege; ich gebe ihn dir in die Hände,
thue mit ihm, wie du willſt.“ „Dein Wort ängſtet
mich,“ erwiederte Telemach, „wie kann ich den Mann
in meinem Hauſe, ſo wie es dort ausſieht, beſchirmen?
behalte du ihn lieber hier; ich will ihm Rock und Mantel
auf den Leib, Beſchuhung an die Füße, und um die
Lenden ein zweiſchneidiges Schwert ſchicken, auch Speiſe
genug, damit er dir und deinen Knechten nicht beſchwer¬
lich falle. Nur kann ich nicht darein willigen, daß er
ſich unter die Freier begebe, denn dieſe ſchalten und
walten gar zu frech im Hauſe, ſelbſt ein gewaltiger Mann
vermöchte nichts gegen ſie.“


Odyſſeus der Bettler drückte ſeine Verwunderung
darüber aus, daß die Freier, dem Sohne des Hauſes
zum Trotze, ſich ſo viele Unarten herausnehmen dürften.
„Haßt dich denn etwa,“ fragte er den Telemach, „das
[204] Volk, oder liegſt du mit Brüdern im Streite, oder gibſt
du dich von freien Stücken ſo tief herunter? Wär' ich
ſo jung wie du und der Sohn des Odyſſeus, oder gar
er ſelber — käme zurück (denn noch iſt ja die Hoffnung
dazu noch nicht ganz verloren!) eher ſollte mir ein Frem¬
der den Kopf von der Schulter hauen, ja lieber wollte
ich in meinem eigenen Hauſe ſterben, als daß ich ſo
ſchändliche Thaten länger mit anſchaute!“


Darauf antwortete Telemach: „Nein, lieber Gaſt,
das Volk haßt mich nicht; auch habe ich keine Brüder,
die mich anfeindeten, ich bin das einzige Kind im Hauſe;
aber feindſelig geſinnte Männer von allen Inſeln umher
und von Ithaka ſelbſt werben in Unzahl um meine Mut¬
ter. Sie weicht ihnen aus, ohne ihnen wehren zu kön¬
nen, und in Kurzem wird mein Haus und Gut verwü¬
ſtet ſeyn.“ Dann wandte er ſich zu dem Sauhirten
und ſprach: „Du aber, Väterchen, thu' mir den Gefal¬
len und eile hinein in die Stadt zu Penelope meiner
Mutter, und ſag' ihr, daß ich da bin, doch ſo, daß
es ja kein Freier vernimmt.“ „Soll ich,“ fragte Eu¬
mäus, „nicht den Umweg über deinen Großvater Laertes
machen, und ihm deine Heimkehr auch zu wiſſen thun?
Seitdem du nach Pylos gefahren biſt, erzählen ſie, habe
er keine Speiſe und keinen Trank mehr genoſſen, und
nicht mehr nach den Feldarbeiten geſehen, in beſtändiger
Betrübniß ſitze er dort, von den Gliedern ſchwinde ihm
das Fleiſch.“ „So betrübt es iſt,“ antwortete Telemach,
„ſo kann ich dich doch den Umweg nicht machen laſſen.
Nicht bald genug kann mir die Mutter wiſſen, daß ich
wieder gekommen bin!“ So ſprach er und trieb den
Diener an. Der Sauhirt langte ſich ſeine Sohlen
[205] hervor, band ſie ſich unter die Füße, griff zu ſeiner Lanze
und eilte fort.

Odyſſeus gibt ſich dem Sohne zu erkennen.

Pallas Athene, die Göttin, hatte nur den Augen¬
blick abgewartet, wo Eumäus die Hütte verlaſſen haben
würde. Da erſchien ſie unter der Thüre in Geſtalt einer
ſchönen Jungfrau, doch nicht dem Telemach ſichtbar,
ſondern nur ſeinem Vater und den Hunden; dieſe aber
bellten nicht, ſondern verkrochen ſich winſelnd nach der
andern Seite des Hofes. Dem Odyſſeus winkte die
Göttin; er verſtand ihr Gebot und verließ auf der Stelle
die Hütte. An der Hofmauer fand er ſeine Beſchützerin
ſtehen, die zu ihm ſprach: „Jetzt, Odyſſeus, brauchſt
du dich nicht länger vor dem Sohne zu verbergen. Beide
mit einander möget ihr zum Verderben der Freier in die
Stadt eingehen. Ich ſelbſt werde euch auch nicht lange
fehlen; denn ich brenne vor Begierde, dieſe Frevler zu
bekämpfen!“ So ſprach die Göttin und berührte den
Bettler mit ihrem goldenen Stab. Da war ein Wunder
zu ſehen. Mantel und Leibrock wie früher umgab des
Helden ſich verjüngende Geſtalt wieder; ſein Wuchs
ſtrebte empor, ſein Antlitz bräunte ſich, die Wangen
wurden voller, die Haare dicht, und um das Kinn
ſproßte wieder das gekräuſelte ſchwarze Barthaar. Nach¬
dem ſie ſolches vollbracht hatte, verſchwand Athene.


Als Odyſſeus wieder in die Hütte eintrat, ſah ihn
der Sohn mit Staunen an, glaubte einen Gott zu
[206] erblicken, und mit abgewandten Augen ſprach er: „Fremd¬
ling, du ſiehſt ganz anders aus als vorhin; andre Kleider
haſt du an; deine ganze Geſtalt iſt verwandelt, du biſt
fürwahr einer der Himmliſchen! laß dir opfern und
ſchone unſer.“ — „Nein, ich bin kein Gott,“ rief Odyſ¬
ſeus, „erkenne mich doch, Kind, ich bin ja dein Vater,
um den du dich ſo viel gegrämt haſt!“ Die ſo lange
gewaltſam gehemmten Thränen ſtürzten ihm bei dieſen
Worten aus den Augen; er eilte auf den Sohn zu und
umfing ihn unter Küſſen. Aber Telemach konnte es noch
immer nicht glauben. „Nein, nein,“ rief er, „du biſt
nicht mein Vater Odyſſeus, ein böſer Dämon täuſcht
mich, damit ich nur noch tiefer ins Leid verſinke. Wie
vermöchte ſich auch ein Menſch aus eigener Kraft ſo zu
verwandeln!“ „Staune doch den heimkehrenden Vater
nicht ſo gränzenlos an, lieber Sohn,“ erwiederte Odyſ¬
ſeus, „ich bin es, der nach zwanzig Jahren in die Hei¬
math zurückkommt, und kein Anderer. Das Wunder iſt
ein Werk der Göttin Athene, ſie hat mich ſo umgeſchaf¬
fen, daß ich bald als ein Bettler einhergehe, bald als
ein Jüngling; denn den Göttern wird es leicht, einen
Sterblichen bald zu erniedrigen, bald zu erhöhen.“


So ſprach Odyſſeus und ſetzte ſich. Jetzt erſt wagte
es der Jüngling, unter heißen Thränen ſeinen Vater zu
umſchlingen; in beiden regte ſich der lange Gram, ſie
fingen an laut zu weinen, und ihre Klage tönte ſo herz¬
zerreiſſend, wie der Ruf der Vögel, denen man ihre
Jungen geraubt hat, ehe ſie flügg geworden ſind. Als
ſie ſich genug ausgeweint, fragte endlich Telemach den
Vater, auf welchem Wege er in die Heimath gekommen
ſey, und nachdem ihm der Vater Beſcheid gegeben, ſagte
[207] der Letztere: „Und jetzt bin ich da, mein Sohn, auf
Athene's Befehl, daß wir uns über den Mord unſerer
Feinde berathen. Nenne mir die Freier der Reihe nach,
daß ich wiſſe, wie viel ihrer ſind, und ob wir beide
allein zu ihrer Bekämpfung hinreichen, oder ob wir uns
nach Bundesgenoſſen umſehen ſollen.“ „Ich habe zwar
immer von deinem Ruhme gehört, mein Vater,“ erwie¬
derte Telemach, „und daß dein Arm ſo ſtark ſey, wie
dein Rath verſtändig. Das aber war ein ſtolzes
Wort, und nimmermehr vermöchten wir zwei etwas gegen
ſo Viele. Es ſind ihrer nicht nur zehn oder zwanzig,
es ſind viel viel mehr: aus Dulichium allein zweiund¬
fünfzig der muthigſten Jünglinge, mit ſechs Dienern;
aus Same vierundzwanzig, aus Zacynth zwanzig, aus
Ithaka ſelbſt zwölf. Mit ihnen ſind der Herold Medon,
ein Sänger und zwei Köche. Darum, wenn es möglich
iſt, laß uns auf weitere Vertheidiger denken.“ — „Be¬
denke,“ ſprach Odyſſeus darauf, „daß Athene und Jupiter
unſere Bundesgenoſſen ſind, die, wenn ſich einmal in
meinem Palaſte der Krieg erhoben hat, uns nicht lange
werden auf ihre Hülfe warten laſſen. Du ſelbſt nun,
lieber Sohn, geh mit dem nächſten Morgen in die
Stadt zurück, und ſetze dich unter die Freier, als wäre
nichts geſchehen. Mich wird der Sauhirt, nachdem
ich wieder zum greiſen Bettler umgeſtaltet worden bin,
dir nachführen. Welchen Schimpf ſie alsdann mir auch
im Saale anthun mögen, und wenn ſie nach mir werfen
und mich an den Füßen über die Schwelle ziehen, du
mußt dein Herz bezähmen und es ertragen. Mit Worten
magſt du ſie zu beſänftigen ſuchen; aber ſie werden dir
nicht folgen: denn ihr Verderben iſt beſchloſſen. Auf
[208] einen Wink von mir wirſt du ſodann die Rüſtungen,
die wir im Saale umherhängen haben, in einer der
obern Kammern des Hauſes verbergen. Vermiſſen ſie
die Freier und fragen darnach, ſo ſagſt du nur, du
habeſt ſie wegſchaffen laſſen, weil ſie vom Rauche des
Kamines geſchwärzt, den Glanz, mit dem ſie unter Odyſ¬
ſeus geſchimmert, verloren haben, Für uns beide läſſeſt
du nur zwei Schwerter, zwei Speere und zwei ſtier¬
lederne Schilde zurück, damit wir ſie zum Kampf ergreifen
können, wenn Jene, in der Verblendung, die ihnen die
Götter ſenden werden, ſich an uns wagen. Uebrigens
darf kein Menſch vernehmen, daß Odyſſeus zurückgekehrt
iſt, ſelbſt Laertes, ſelbſt der Sauhirt nicht, ja nicht ein¬
mal Penelope, deine Mutter. Unterdeſſen wollen wir
unſere Dienſtmannen und das Geſinde prüfen, wer davon
uns noch ehrt und fürchtet, und wer unſer vergeſſen hat
und dich verachtet.“ — „Lieber Vater,“ erwiederte Te¬
lemach, „du ſollſt mich gewiß nicht nachläſſig finden;
aber ich glaube nicht, daß die Prüfung viel helfen wird.
Es währt gar zu lange, bis du im Lande umhergehſt,
um jeden Einzelnen auszuforſchen, indeſſen Jene dir im
Palaſte gemächlich dein Gut verpraſſen. Zwar die
Weiber im Hauſe auszukundſchaften, das will ich ſelbſt
übernehmen, aber die Männer in den einzelnen Höfen
— das verſparen wir lieber für die Zukunft, wenn wir
einmal im Palaſte Meiſter ſind.“ Odyſſeus gab ſeinem
Sohne Recht und freute ſich über ſeine Beſonnenheit.


[209]

Vorgänge in der Stadt und im Palaſt.

Das Schiff, das den Telemach und ſeine Genoſſen
von Pylos nach Ithaka gebracht hatte, war inzwiſchen
im Hafen der Stadt angekommen, und die Begleiter des
Königsſohnes hatten einen Herold zu ſeiner Mutter Pe¬
nelope geſendet, um ihr die Botſchaft von der Heimkehr
des Sohnes zu überbringen. Mit derſelben Nachricht kam
gleichzeitig der Sauhirt vom Lande her, und beide trafen
ſich im Hauſe des Königes. Da ſagte der Herold zu
Penelope laut vor allen Dienerinnen: „Dein Sohn, o
Königin, iſt wiedergekommen.“ Eumäus aber ſagte ihr
im Geheim und ohne Zeugen, was ihm ſein junger
Herr aufgetragen hatte, insbeſondere, daß ſie durch eine
Schaffnerin ſeinem Großvater Laertes die fröhliche Bot¬
ſchaft auch zukommen laſſen möchte. Als der Sauhirt
Alles ausgerichtet, eilte er wieder heim zu ſeinen Schwei¬
nen. Die Freier aber erfuhren die kurze Nachricht von
der Heimkehr Telemachs, die der Herold gebracht hatte,
durch die treuloſen Dienerinnen. Unmuthig ſetzten ſie
ſich zuſammen auf die Bänke vor dem Thor, und Eu¬
rymachus ſprach hier in der Verſammlung: „Das hätten
wir doch nimmermehr gedacht, daß der Knabe dieſe Fahrt
ſo trotzig vollenden würde. Laßt uns nur geſchwind ein
Schiff ausrüſten, einen Schnellſegler, unſern Freunden
im Seehinterhalte die Botſchaft zu bringen, daß ſie ver¬
gebens auf ihn warten und nur wieder umkehren dürfen.“


Während Eurymachus ſprach, hatte ein anderer
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 14[210] Freier, Amphinomus, das Geſicht umgewandt und einen
Blick auf den Hafen der Stadt geworfen, den man von
dem Vorhofe des Palaſtes aus mit den Augen erreichen
konnte. Er ſah das Schiff, in welchem ſich diejenigen
der Freier befanden, die auf den Hinterhalt ausgefahren
waren, wie es eben mit vollen Segeln in den Hafen
einlief. „Es bedarf keiner Botſchaft um unſere Freunde,“
rief er, „hier ſind ſie ja ſchon; ſey es, daß ein Gott
ſie von Telemachs Heimkehr benachrichtiget hat, ſey es,
daß er ihnen entkommen iſt, und ſie ihn nicht einzuholen
vermochten.“ Die Freier erhoben ſich und eilten nach
dem Meeresſtrande. Dann begaben ſie ſich mit den
Neuangekommenen auf den Markt, wo ſie Niemand
ſonſt aus dem Volke zuließen, ſondern ihre abgeſonderte
Verſammlung veranſtalteten. Hier trat der Anführer der
Ausrüſtung, der Freier Antinous, unter den Anweſenden
auf und ſprach: „Wir ſind nicht Schuld, daß der Mann
uns entronnen iſt, ihr Freunde! Späher um Späher
hatten wir den Tag über auf den Höhen des Geſtades
aufgeſtellt, und wenn die Sonne untergegangen war,
blieben wir nie die Nacht über auf dem Lande, ſondern
wir kreuzten beſtändig auf der Meerenge und waren
nur darauf bedacht, den Telemachus zu erhaſchen und
in aller Stille umzubringen. Ihn aber muß einer der
Unſterblichen heimgeleitet haben; denn nicht einmal ſein
Schiff iſt uns zu Geſichte gekommen! Dafür wollen wir
ihm hier in der Stadt ſelbſt den Untergang bereiten.
Denn der Jüngling wird klug und wächſt uns allmählig
über den Kopf. Auch das Volk wird uns am Ende
aufſäßig: bringt er es unter die Leute, daß wir ihm
auflauerten, ihn zu morden, ſo fallen ſie am Ende über
[211] uns her und jagen uns aus dem Lande. Ehe dieß ge¬
ſchieht, laßt uns ihn aus dem Wege räumen: in ſeine
Beſitzungen theilen wir uns; den Palaſt laſſen wir der
Mutter und ihrem künftigen Gemahl. Gefällt euch aber
mein Gedanke nicht, wollt ihr ihn leben und im Beſitze
ſeiner Güter laſſen: nun, dann wollen wir ihm auch die
Habe nicht länger verzehren, dann laßt einen Jeden von
ſeiner eigenen Heimath aus um die Fürſtin ſich mit
Brautgeſchenken bewerben, und ſie wähle den, der ihr
am meiſten gibt und vom Schickſale begünſtigt wird!“
Als er ſeine Rede geendigt hatte, entſtand ein langes
Schweigen unter den Freiern. Endlich erhob ſich Am¬
phinomus, der Sohn des Niſus, aus Dulichium, der
edelſte und beſtgeſinnte unter den Freiern, der ſich durch
ſeine klugen Reden auch der Königin Penelope am meiſten
zu empfehlen wußte, und ſagte ſeine Meinung in der
Verſammlung. „Freunde,“ ſprach er, „ich möchte doch
nicht, daß wir den Telemach heimlich ums Leben bräch¬
ten! Es iſt doch etwas Gräßliches, ein ganzes Königs¬
geſchlecht im letzten Sprößlinge zu morden. Laßt uns
lieber vorher die Götter befragen: erfolgt ein günſtiger
Ausſpruch Jupiters, ſo bin ich ſelbſt bereit ihn zu tödten;
verwehren es uns die Götter, ſo rathe ich euch, von
dem Gedanken abzuſtehen.“


Dieſe Rede gefiel den Freiern wohl; ſie ſchoben
ihren Plan auf und kehrten in den Palaſt zurück. Auch
dießmal hatte ſie ihr Herold Medon, der heimliche An¬
hänger Penelope's, belauſcht und der Königin von Allem
Nachricht gegeben. Dieſe eilte, jedoch dicht verſchleiert,
mit ihren Dienerinnen in den Saal zu den Freiern hinab
und redete in heftiger Gemüthsbewegung den Urheber
14 *[212] des tückiſchen Vorſchlages alſo an: „Antinous, du frecher
Unheilſtifter, mit Unrecht rühmt dich Ithakas Volk als
den verſtändigſten unter deinen Genoſſen; nie biſt du das
geweſen. Du verachteſt die Stimme der Unglücklichen,
auf welche doch Jupiter ſelbſt horcht, und biſt verwegen
genug, auf den Tod meines Sohnes Telemach zu ſinnen.
Erinnerſt du dich nicht mehr, wie dein Vater Eupithes,
von ſeinen Feinden verfolgt, weil er Seeräuberei gegen
unſere Verbündeten getrieben, ſchutzflehend in unſer Haus
geflohen kam? Seine Verfolger wollten ihn tödten und
ihm das Herz aus dem Leibe reißen; Odyſſeus aber
war es, der die Tobenden abhielt und beſänftigte. Und
du, ſein Sohn, willſt zum Danke das Gut des Odyſ¬
ſeus verſchwenden, wirbſt um ſeine Gattin, und willſt
ſein einziges Kind ermorden? Du thäteſt beſſer daran,
auch die Andern von ſolchem Frevel abzuhalten.“


Statt ſeiner antwortete Eurymachus: „Edle Pene¬
lope, ſey nicht bekümmert um das Leben deines Sohnes.
Nie, ſo lange ich lebe, wird es ein Mann wagen, Hand
an ihn zu legen. Hat doch auch mich Odyſſeus manch¬
mal als Kind auf den Knieen gewiegt und mir einen
guten Biſſen in den Mund gegeben! Deßwegen iſt mir
auch ſein Sohn der geliebteſte unter allen Menſchen,
den Tod ſoll er nicht zu fürchten haben, wenigſtens nicht
von den Freiern: kommt er von Gott, dann kann ihm
freilich Niemand ausweichen!“ So ſprach der Falſche
mit der freundlichſten Miene, im Herzen aber ſann er
auf nichts als Verderben.


Penelope kehrte wieder in ihr Frauengemach zurück,
warf ſich aufs Lager und weinte um ihren Gemahl,
bis ihr der Schlummer die Augen zudrückte.


[213]

Telemach, Odyſſeus und Eumäus kommen in die
Stadt.

An demſelben Abende kam der Sauhirt in ſeine
Hütte zurück, während Odyſſeus und ſein Sohn Tele¬
mach gerade damit beſchäftigt waren, ein geſchlachtetes
Schwein zur Nachtkoſt zuzubereiten. Der erſtere, vom
Stab Athenes berührt, war bereits wieder zum zerlump¬
ten Bettler eingeſchrumpft, daß Eumäus ihn nicht zu
erkennen vermochte. „Kommſt du endlich, Sauhirt,“
rief dem Eintretenden Telemach zuerſt entgegen, „und
was bringſt du Neues aus Ithaka? Lauern die Freier
noch immer auf mich, oder ſind ſie von ihrem Hinter¬
halte zurück?“ Eumäus meldete ihm, was er von den
beiden Schiffen geſehen, und Telemach winkte vergnügt
lächelnd ſeinem Vater, doch ſo, daß es der Sauhirt
nicht bemerkte. Nun ſchmausten ſie traulich mit einan¬
der alle drei und legten ſich dann zur Ruhe.


Am andern Morgen frühe gürtete ſich Telemach,
nach der Stadt zu gehen, und ſprach zu Eumäus: „Al¬
ter, ich muß jetzt nach der Mutter ſehen. Du ſelbſt
komm nach mit dieſem armen Fremdling, daß er ſich in
den Häuſern umher ſeine Broſamen und ſeinen Wein
erſtehe; ich kann unmöglich aller Welt Laſt auf mich
laden und habe genug an meinem eigenen Kummer zu
tragen. Hält ſich der Greis dadurch für beleidigt, deſto
ſchlimmer für ihn!“ Odyſſeus, der ſich über die geſchickte
Verſtellung ſeines Sohnes im Herzen nicht genug wun¬
dern konnte, ſagte nun auch ſeinerſeits: „Lieber Jüngling,
[214] ich ſelbſt begehre nicht länger hier zu bleiben; ein Bettler
bringt ſich in der Stadt immer beſſer fort, als auf dem
Lande. Geh' du denn immerhin, und wenn ich mich
in meinen Lumpen noch ein wenig am Feuer gewärmt
habe und die Luft milder geworden iſt — denn die Stadt
iſt, wie man mir ſagt, weit von hier entfernt, — ſo
mag dein Diener da mich begleiten.“


Nun eilte Telemach in die Stadt. Es war noch
ziemlich früh am Tage, als er vor ſeinem Palaſte an¬
kam, und die Freier hatten ſich noch nicht eingefunden.
Er lehnte ſeine Lanze an eine Säule des Einganges und
ſchritt über die ſteinerne Schwelle in den Saal. Hier
war die Schaffnerin Euriklea damit beſchäftigt, die ſtatt¬
lichen Thronſeſſel mit ſchönen Vließen zu bedecken. Als
ſie den Jüngling anſichtig ward, eilte ſie mit Freuden¬
thränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen; auch die
andern Mägde umringten ihn und küßten ihm Hände
und Schultern. Jetzt trat auch ſeine Mutter Penelope
aus der Kammer, ſchlank wie Artemis und ſchön wie
Aphrodite. Weinend ſchloß ſie ihren Sohn in die Arme
und küßte ihm Antlitz und Augen. „Kommſt du, kommſt
du, mein ſüßes Leben,“ rief ſie ſchluchzend, „nimmer¬
mehr hoffte ich, dich wiederzuſehen, ſeit du heimlich und
ohne meinen Willen nach Pylos geſchifft warſt, um Er¬
kundigung vom lieben Vater einzuziehen! Nun ſage mir
doch, was bringſt du für Nachrichten, liebes Kind?“
„Ach Mutter,“ antwortete Telemach, der ſeine wahren
Gefühle mit Gewalt in den Buſen zurückdrängen mußte,
„rege mir, der ich ſelbſt eben erſt dem Verderben ent¬
flohen bin, den Gram um den Vater nicht wieder auf.
Bade du dich jetzt, lege reine Gewande an, und gelobe
[215] droben in dem Söller mit deinen Jungfrauen den Göttern
köſtliche Dankopfer, wenn ſie einſt uns die Vergeltung
gönnen. Ich ſelbſt will zum Markte hingehen, um einen
Fremdling ins Haus zu führen, der mich auf der Fahrt
begleitet hat, und deſſen Pflege ich bis zur eigenen Wie¬
derkehr einem Freunde anempfohlen habe.“ Penelope folgte
ſeinem Rath, und Telemach eilte, den Speer in der
Hand, von ſeinen Hunden begleitet, auf den Markt.
Athene hatte ihm beſondere Anmuth verliehen, daß den
Kommenden alle Bürger anſtaunten, und auch die Freier
verſammelten ſich ſogleich um ihn und ſagten ihm viel
Schönes ins Angeſicht, während ſie im Herzen über
ihren böſen Entwürfen brüteten. Telemach verweilte
jedoch nicht in ihrem Gedränge. Er ſetzte ſich zu drei
alten Freunden ſeines Vaters, Mentor, Antiphus und
Halitherſes, und erzählte ihnen, was er durfte. Jetzt
führte auch Piräus ſeinen Gaſtfreund Theoklymenus an
der Hand daher und Telemach begrüßte beide; Piräus
aber wandte ſich an ſeinen Freund und ſprach: „Lieber
Telemach, ſchicke doch auf der Stelle Dienerinnen in
mein Haus, daß ſie die Geſchenke in Empfang nehmen,
die dir Menelaus mitgegeben hat.“ „Freund,“ erwie¬
derte Telemach, „die Sachen liegen beſſer bei dir. Wiſſen
wir doch noch nicht, welche Wendung die Sache nimmt.
Fall' ich von dem Meuchelmorde der Freier und theilen
ſie mein Erbgut, ſo gönne ich jene köſtlichen Gaben dir
beſſer als ihnen; ſtrafe dagegen ich ſie mit dem Unter¬
gange, dann komm du und bringe fröhlich dem Fröhlichen
jene Schätze!“


So ſprach Telemach, faßte den landesflüchtigen
Seher Theoklymenus bei der Hand und führte ihn vom
[216] Markte weg in ſeinen Palaſt. Dort nahmen beide ein
erquickendes Bad, und genoſſen in Penelopes Geſellſchaft,
welche ihnen gegenüber an der zierlichen Spindel ſaß,
das Frühſtück im Saal. Da ſprach denn die Mutter
Telemachs traurig zu ihrem Sohne: „Eigentlich thu' ich
beſſer daran, Telemach, zum Söller hinaufzuſteigen und
dort einſam das Lager zu benetzen wie bisher; denn dir
gefällt es ja doch nicht, mir zu erzählen, was du vom
heimfahrenden Vater gehört haſt.“ „Liebe Mutter,“
antwortete Telemach, „gerne will ich dir Alles der
Wahrheit nach verkündigen, was ich vernommen habe,
wenn es nur Tröſtlicheres wäre! So liebreich mich der
greiſe Neſtor zu Pylos aufnahm, ſo wußte er mir doch
gar nichts vom Vater zu melden; aber er ſendete mich
mit ſeinem eigenen Sohne zu Wagen gen Sparta. Dort
ward ich von dem großen Helden Menelaus gaſtlich
aufgenommen, und ſah auch die Königin Helena, um
welche Trojaner und Griechen ſo Vieles erduldet haben.
Hier erfuhr ich endlich Weniges vom geliebten Vater,
was dem Fürſten Menelaus der Meergott Proteus in
Aegypten mitgetheilt hatte. Dieſer hatte ihn auf der
Inſel Ogygia in Kummer verſunken geſehen. Dort hält
den Odyſſeus die Nymphe Kalypſo wider Willen in ihrer
Grotte zurück und es fehlt ihm an Schiffen und Rude¬
rern, um die Heimath zu erreichen.“


Als der Seher Theoklymenus die Fürſtin bei dieſer
Nachricht ſehr bewegt ſah, unterbrach er ſeinen Gaſtfreund
und ſagte: „Königin, dieſer weiß nicht Alles. Vernimm
du meine Weiſſagung: fürwahr, Odyſſeus ſitzt bereits
irgendwo im Gefilde ſeiner Heimath, oder er ſchleicht
heimlich umher, auf das Verderben der Freier ſinnend!
[217] Dieß hat mir ein Vogelzeichen geſagt, das ich deinem
Sohn auf der Stelle ſo gedeutet habe.“ — „Möchte ſich
dein Wort erfüllen, edler Gaſt,“ antwortete Penelope
mit einem Seufzer, „mein Dank dafür ſollte nicht aus¬
bleiben.“


Während dieſe drei ſich ſo im Wechſelgeſpräch un¬
terhielten, freuten ſich die Freier vor dem Palaſte auf
dem Pflaſter des Hofes wie gewöhnlich mit Scheiben¬
ſchießen und Speerwerfen, und brachen endlich auf die
Erinnerung des Herolds zum Mittagsmahl ins Innere
des Palaſtes auf. Unterdeſſen hatten ſich in der Hütte
des Eumäus auch dieſer und ſein Gaſt zum Weg in die
Stadt angeſchickt: Odyſſeus der Bettler hatte den hä߬
lichen geflickten Ranzen umgeworfen, und der Sauhirt
ihm den Stab in die Hand gegeben. So wanderten
beide dahin und überließen das Gehöft den Knechten und
Hunden zur Bewachung. Sie waren ſchon an dem
Stadtbrunnen angekommen, der von den Vorfahren des
Odyſſeus ſchön in den Felſen gefaßt worden war; ein
Pappelhain war in die Runde gepflanzt, und aus den
Steinen ſprang der hohe helle Waſſerſtrahl. Hier er¬
reichte ſie Melanthius der Hirte mit zwei Knechten, der
den Freiern die beſten Ziegen aus der Heerde zum Schmaus
in die Stadt hinein trieb. Als dieſer das wandernde
Paar erblikte, fing er laut an zu ſchimpfen. „Wahr¬
haftig, da heißt es recht, ein Taugenichts führt den
andern, und gleich zu gleich geſellt ſich gern. Wohin
führſt du den heißhungrigen Bettler, verdammter Sau¬
hirt, daß er an den Thürpfoſten müßig ſtehe und um
Brocken bettle? Gäbeſt du ihn mir zum Hüter meines
Gehegs, daß er die Ställe ausfegte und den Zicklein
[218] Laub vorwärfe, ſo könnte er, mit Ziegenkäſe gefüttert,
noch Fleiſch um ſeine dürren Lenden ſich wachſen ſehen!
Aber freilich, er hat nichts gelernt, er kann nichts, als
ſich den gefräßigen Bauch füllen.“ So rief Jener und
gab ihm in der Bosheit einen Ferſentritt in die Hüfte;
aber Odyſſeus wich nicht aus dem Fußſteig. Im Her¬
zen beſann er ſich freilich, ob er ihm nicht mit ſeinem
Stab einen Streich über das Haupt verſetzen ſollte, daß
er nicht mehr aufſtände; aber er bezwang ſein Herz
und duldete die Schmach. Eumäus hingegen ſchalt den
Unverſchämten ins Geſicht und ſprach, nach dem Brun¬
nen gewendet: „Ihr heiligen Quellnymphen, Jupiters
Töchter! hat euch jemals Odyſſeus köſtliche Opfer dar¬
gebracht, ſo gewähret mir meine Bitte, daß endlich ein¬
mal der Held Odyſſeus heimkehre! Er würde dieſem
trotzigen Müßiggänger den Uebermuth bald vertreiben;
iſt ein ſolcher doch der unbrauchbarſte Hirte von der
Welt, und verſteht nichts, als den ganzen Tag in der
Stadt herumzulungern!“ „Du Hund,“ erwiederte Me¬
lanthius ſchimpfend, „du wäreſt werth, daß man dich
auf den Inſeln drüben als Sklave verkaufte und ein
gutes Stück Geld aus dir löste. Möchte doch der Bo¬
gen Apollo's oder der Dolch der Freier deinen Telemach
treffen, auf welchen du pocheſt, daß er zu Grunde ginge
wie ſein Vater!“ Mit ſolchen Scheltworten ging er an
ihnen vorüber und ſetzte ſich im Palaſte mitten unter
die Freier, gerade dem Eurymachus gegenüber, an die
Tafel; denn dieſe hatten ihn gern und theilten ihm ſtets
von ihrem Schmauſe mit.


Jetzt waren auch Odyſſeus und der Sauhirt vor
dem Königspalaſt angekommen. Als jener ſein Haus
[219] nach ſo langer langer Zeit wieder erblickte, bewegte ſich ihm
das Herz im Leibe; er faßte ſeinen Begleiter an der
Hand und ſprach: „Fürwahr, Eumäus, das muß die
Wohnung des Odyſſeus ſeyn! welch ein Palaſt, welch
eine Reihe von Gemächern! Wie wohl umſchloſſen iſt
der Vorhof mit Mauern und mit Zinnen; welch mäch¬
tige Thorflügel bilden den Eingang; wahrlich dieſe
Burg iſt unbezwinglich! Auch merke ich wohl, daß
viele Menſchen da drinnen ein Gaſtmahl begehen; duftet
es doch bis zu uns heraus von Speiſen, und die Harfe
des Sängers, der den Schmaus mit ſeinen Liedern würzt,
ſchallt aus dem Saale hervor!“


Sie berathſchlagten nun mit einander und beſchloſſen,
daß der Sauhirt vorangehen und ſich für den Odyſſeus
im Saal umſehen, dieſer aber ſo lange vor dem Thor
warten ſollte. Während ſie noch miteinander ſprachen,
erhub ein alter Haushund an der Thüre Haupt und
Ohren von ſeinem Lager. Er hieß Argos; Odyſſeus
ſelbſt hatte ihn noch aufgezogen, ehe er gen Troja ſchiffte.
Er begleitete ſonſt die Männer auf die Jagd, jetzt aber
lag er, im Alter verachtet, vor der Thüre auf einem
Düngerhaufen, mit Ungeziefer bedeckt. Als dieſer den
Odyſſeus bemerkte, ſchien er ihn trotz der Verkleidung
zu kennen, er ſenkte die Ohren und wedelte mit
dem Schwanz; aber näher herangehen konnte er vor
Schwäche nicht mehr. Odyſſeus wiſchte ſich heimlich
eine Thräne aus dem Auge, als er es bemerkte; dann
ſprach er, ſeinen Schmerz verhehlend, zu dem Sauhirten:
„Der Hund, der hier auf dem Miſte liegt, ſcheint ein¬
mal ſo übel nicht geweſen zu ſeyn, man ſieht es ſeinem
Wuchſe noch an!“ „Freilich,“ erwiederte Eumäus, „er
[220] war der liebſte Jagdhund meines unglücklichen Herrn;
da hätteſt du ihn in den waldigen Thälern ſehen ſollen,
wie weidlich er durchs Geſtrüppe dem Wild nachſpürte!
Jetzt aber, ſeit ſein Herr dahin iſt, liegt er hier ver¬
achtet, und die Mägde geben ihm nicht einmal das
nöthige Futter!“


Mit dieſen Worten ging der Sauhirt in den Pa¬
laſt; der Hund aber, nachdem er im zwanzigſten Jahre
ſeinen Herrn wiedergeſehen, ſenkte ſeinen Kopf und ſtarb.

Odyſſeus als Bettler im Saal.

Im Innern des Hauſes wurde Telemach zuerſt den
Sauhirten gewahr und rief ihn heran. Eumäus ſchaute
ſich vorſichtig um, ergriff den leeren Stuhl, auf welchem
der Fleiſchzerleger vor dem Mahle zu ſitzen pflegte, und
ſetzte ſich auf einen Wink an den Tiſch ſeines Herrn,
dieſem gegenüber, wo ihm ſofort der Herold Fleiſch und
Brod reichte. Bald nach ihm wankte auch Odyſſeus der
Bettler am Stabe herein und ſetzte ſich innerhalb der
Pforte auf die Schwelle von Eſchenholz nieder, an den
einen der ſchön geſchnitzten Thürpfoſten aus Cypreſſen¬
holz gelehnt. Sobald Telemach ihn erblickte, langte er aus
dem vor ihm ſtehendem Korb ein ganzes Brod, nahm
dazu eine Hand voll Fleiſch, und gab beides dem Sau¬
hirten mit den Worten: „Hier, mein Freund, reiche
dieſe Gaben dem Fremdling, und ſag' ihm, er ſoll ſich
der Scham entſchlagen, und bei den Freiern herum¬
betteln!“ Odyſſeus empfing die Gabe ſegnend mit beiden
[221] Händen, legte ſie ſich vor die Füße auf ſeinen Ranzen
und fing an zu eſſen. Das ganze Mahl über hatte der
Sänger Phemius die Gäſte mit ſeinem Lied ergötzt; jetzt
ſchwieg er, und man hörte nur noch den wilden Lärm
der Schmauſenden durch den Saal. In dieſem Augen¬
blicke näherte ſich die Göttin Athene unſichtbar dem
Odyſſeus und trieb ihn an, Brocken von den Freiern
einzuſammeln, um die billiger Denkenden von den rohen
unterſcheiden zu lernen. Aber dennoch war ihnen Allen
miteinander das Verderben von der Göttin zugedacht:
es ſollte nur Einer milderen Todes ſterben, als der
Andere. Odyſſeus befolgte das Geheiß der Göttin, er
ging ſtehend von Mann zu Mann und ſtreckte ſeine Hand
hin, ſo geläufig, als wäre er ſeit lange den Bettel ge¬
wohnt. Manche zeigten ſich mitleidig und gaben ihm,
und es entſtand ein Fragen unter den Freiern, woher
der Mann wohl kommen möge. Da ſagte zu ihnen der
Ziegenhirt Melanthius: „Ich habe den Burſchen zuvor
ſchon geſehen: der Sauhirt hat ihn herein gebracht!“
Dieſen fuhr jetzt der Freier Antinous zornig an: „Du
berüchtigter Sauhirt, ſag' uns, warum haſt du dieſen
Menſchen in die Stadt geführt? Haben wir nicht Land¬
ſtreicher genug, daß du uns auch noch dieſen Freſſer in
den Saal ſchleppſt?“ „Harter Mann,“ antwortete Eu¬
mäus gelaſſen, „den Seher, den Arzt, den Baumeiſter,
den Sänger, der uns durch ſeine Lieder erfreut, ſie Alle
beruft man wetteifernd in die Paläſte der Großen; den
Bettler hat Niemand berufen: er kommt von ſelber; aber
man ſtößt ihn auch nicht hinaus! Und das ſoll auch
dieſem nicht geſchehen, ſo lange Penelope und Telemachus
dieß Haus bewohnen.“ Aber Telemach hieß ihn ſchweigen
[222] und ſagte: „Bemühe dich mit keiner Antwort, Eu¬
mäus, du kennſt ja die böſe Gewohnheit dieſes Man¬
nes, Andere zu beleidigen. Dir aber, Antinous, ſage
ich: du biſt nicht mein Vormünder, daß du mir gebie¬
ten dürfteſt, dieſen Fremdling aus dem Hauſe zu treiben.
Gieb ihm vielmehr und ſchone meines Gutes nicht! Aber
freilich, du willſt lieber ſelbſt verzehren, als Andern
geben!“ „Siehe da, wie der trotzige Knabe mich ſchmäht,“
rief Antinous dagegen, „wollte jeder Freier dieſem Bettler
eine Gabe reichen, er brauchte drei Monate lang das
Haus nicht wieder zu betreten!“ Damit ergriff er ſei¬
nen Fußſchemel, und als Odyſſeus auf ſeinem Rückwege
zu der Schwelle eben an ihm vorüberging, und auch
ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen
Bettlerfahrten durch Aegypten und Cypern ihm vorjam¬
merte, rief dieſer unwillig: „Welch ein Dämon hat uns
dieſen zudringlichen Schmarotzer geſandt! Weiche von
meinem Tiſch, daß ich dir dein Aegypten und Cypern
nicht geſegne!“ Und als Odyſſeus murrend ſich zurück¬
zog, warf ihm Antinous den Fußſchemel nach, daß die¬
ſer ihm rechts auf die Schulter fuhr, dicht ans Hals¬
gelenk. Odyſſeus ſtand unverrückt wie ein Fels und
ſchüttelte ſchweigend ſein Haupt, voll von Entwürfen.
Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben
gefüllten Ranzen zu Boden, und klagte niederſitzend den
Freiern die Kränkung, die ihm Antinous angethan. Dieſer
aber rief dem Bettler zu: „Schweig' und friß, du Fremd¬
ling, oder packe dich, ſonſt zieht man dich an Hand und
Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!“


Dieſe Rohheit empörte ſelbſt die Freier; einer aus
ihnen erhub ſich und ſprach: „Antinous, du haſt nicht
[223] wohl daran gethan, den Unglücklichen zu werfen. Wie
nun, wenn es ein Himmelsbote wäre, der Menſchen¬
geſtalt angenommen? denn ſolches geſchieht ja manch¬
mal!“ Aber Antinous achtete nicht auf dieſe Warnung.
Telemach ſelbſt ſah ſchweigend die Mißhandlung ſeines
Vaters, und drängte ſeinen Ingrimm in den Buſen zurück.


In ihrem Frauengemache konnte Penelope durch die
offenen Fenſter Alles vernehmen, was im Saale geſchah.
So hörte ſie auch, wie es dem Bettler dort erging und
empfand Mitleiden mit ihm. Sie ließ in der Stille den
Sauhirten zu ſich hereinrufen und befahl ihm, jenen
kommen zu heißen. „Vielleicht,“ ſetzte ſie hinzu, „weiß
er mir etwas von meinem Gemahl zu berichten, oder
hat ihn gar ſelbſt geſehen, denn er ſcheint weit in der
Welt umhergewandert zu ſeyn.“ „Ja,“ antwortete Eu¬
mäus, „wenn die Freier ſchweigen und hören möchten,
er könnte Vieles erzählen. Drei Tage ſchon beherberge
ich ihn, und ſeine Berichte entzücken mein Herz, als
wären ſie das Lied eines Sängers. Er iſt von Kreta,
und mit deinem Gemahl, wie er behauptet, durch väter¬
liches Gaſtrecht verbunden. Und ſo will er denn auch
wiſſen, daß Odyſſeus gegenwärtig im Lande der Thes¬
proter lebe, und nächſtens mit vielem Gute heimkehren
werde.“ „Geh,“ ſagte Penelope bewegt, „rufe den
Fremdling herbei, daß er mir ſelbſt erzähle! Dieſe üppi¬
gen Freier! Es fehlt uns nur ein Mann, wie Odyſſeus
war; käme dieſer, ſo würden er und Telemach den
Trotzigen bald vergelten!“ Als ſie ſo ſprach, nieste eben
Telemachus im Saale ſo laut, daß das Gewölbe wie¬
derhallte. Penelope mußte lächeln und ſprach zum Sau¬
hirten: „Hörſt du, wie mein Sohn mir zuniest, iſt das
[224] nicht eine gute Vorbedeutung? rufe mir geſchwind den
Fremdling herbei!“


Eumäus meldete dem Bettler den Befehl Penelope's,
dieſer aber erwiederte: „Wie gerne möchte ich der Kö¬
nigin erzählen, was ich von Odyſſeus weiß; und ich
weiß viel von ihm: aber das Betragen der Freier flößt
mir Beſorgniß ein. Eben jetzt, wo ich durch den Wurf
des böſen Mannes dort ſo ſchwer gekränkt worden bin,
hat ſich weder Telemach noch ein Anderer meiner ange¬
nommen. Darum ſoll Penelope für jetzt ihr Verlangen
bewältigen, bis die Sonne untergegangen iſt, dann ſoll
ſie mich an ihren Heerd ſitzen laſſen, denn mich friert in
meinen Lumpen: ſo will ich ihr alles Mögliche erzählen.“
So begierig Penelope auf den Fremdling war, ſo konnte
ſie ſeinen Gründen doch nicht Unrecht geben, und be¬
ſchloß, ſich zu gedulden.


Eumäus kehrte unter das Gewühl der Freier zurück
und flüſterte ſeinem jungen Herrn ins Ohr: „Ich will
mich jetzt wieder nach meinem Gehege aufmachen, Herr,
ſorge du hier für das Nöthige, zumal aber für dich ſelbſt,
und ſey vor jeder Gefahr auf der Hut, welche von Sei¬
ten der argliſtigen Freier dich bedrohen könnte.“ Auf
die Bitte Telemachs verweilte jedoch der Sauhirt noch
bei Tiſche, bis es Abend geworden war; dann brach er
auf und verſprach, am frühen Morgen mit auserleſenen
Schweinen wieder zu kommen.


[225]

Odyſſeus und der Bettler Irus.

Die Freier waren noch immer beiſammen, als ein
berüchtigter Bettler aus der Stadt in den Saal trat,
ein ungeheurer Vielfraß, groß von Geſtalt, aber ohne
alle Leibeskraft; von Haus aus hieß er Arnäus, aber
die Jugend der Stadt nannte ihn mit einem Unnamen,
Irus, was einen Boten bezeichnete, denn er pflegte um
Lohn Botendienſte zu thun. Die Eiferſucht führte ihn
herbei, denn er hatte von einem Nebenbuhler gehört, und
ſo kam er heran, den Odyſſeus aus ſeinem eigenen Hauſe
zu vertreiben. „Weiche von der Thüre, Greis,“ rief er
beim Eintreten, „ſiehſt du nicht, wie mir Alles mit den
Augen zuwinkt, dich am Fuß hinauszuſchleppen? Geh
freiwillig und zwinge mich nicht dazu!“ Finſter blickte
ihn Odyſſeus an und ſprach: „Die Schwelle hat Raum
für uns beide. Du ſcheinſt mir arm zu ſeyn wie ich.
Beneide mich nicht, wie ich ſelbſt dir deinen Antheil gönne.
Reize meinen Zorn nicht und fordere mich nicht zum
Fauſtkampf heraus: ſo alt ich bin, ſo möchten dir doch
bald Bruſt und Lippen bluten, und das Haus dürfte
morgen Ruhe vor dir haben.“ Jetzt fing Irus nur noch
ärger zu poltern an: „Was ſchwatzeſt du da, Freſſer,“
ſprach er, „was plauderſt du wie ein Hökerweib? Ein
paar Streiche von mir rechts und links ſollen dir Backen
und Maul zerſchmettern, daß dir die Zähne auf den Bo¬
den fallen wie aus einem Schweinsrüſſel. Haſt du Luſt,
es mit einem Jüngling aufzunehmen, wie ich einer bin?“

Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 15[226]

Mit lautem Lachen kehrten ſich die Freier dem ha¬
dernden Paare zu, und Antinous ſprach: „Wiſſet ihr
was, Freunde, ſehet ihr dort die Blutwürſte, in Ziegen¬
magen gefüllt, auf den Kohlen braten? Dieſe laßt uns
den beiden edeln Streitern als Kampfpreis ausſetzen: wer
von beiden Sieger iſt, nehme ſich davon, ſo viel er mag,
und kein anderer Bettler außer ihm ſoll ins Künftige
dieſen Saal betreten!“


Allen Freiern gefiel dieſe Rede. Odyſſeus indeſſen
ſtellte ſich zaghaft, als ein vom Elend entkräfteter Greis;
er verlangte zum Voraus das Verſprechen von den
Freiern, daß ſie ſich mit ihren jugendlichen Händen nicht
zu Gunſten des Irus in den Kampf einlaſſen wollten.
Sie gelobten ihm dieſes willig, und auch Telemach ſtand
auf und ſprach: „Fremdling, wenn du es vermagſt, ſo
bemeiſtere Jenen immerhin. Ich bin der Wirth, und
wer dich verletzt, der hat es mit mir zu thun.“ Die
Freier alle nickten dieſen Worten Beifall zu. Odyſſeus
gürtete ſein Gewand und ſtülpte die Ermel auf. Da
erſchienen (denn unvermerkt verherrlichte Athene ſeinen
Wuchs) nervige Schenkel und Arme, mächtige Schultern
und Bruſt, ſo daß die Freier ſtaunen mußten, und Nach¬
bar zum Nachbar ſprach: „Welche Lenden der Greis
aus ſeinen Lumpen hervorſtreckt! Wahrlich, dem armen
Irus wird es übel gehen.“ Dieſer fing auch an zu zagen;
die Diener mußten ihn mit Gewalt umgürten, und ſeine
Gelenke ſchlotterten. Antinous, der ganz Anderes von
dieſem Wettkampf erwartet hatte, wurde voll Aergers
und ſprach: „Großſprecher, wäreſt du nie geboren, daß
du vor dem kraftloſen Greis erbebeſt! Ich ſage dir,
wenn du beſiegt wirſt, ſo wanderſt du mir zu Schiffe
[227] nach Epirus zum König Echetus, dem Schrecken aller
Menſchen: der wird dir Naſe und Ohren abſchneiden
und ſie den Hunden vorwerfen!“ So ſchrie Antinous,
Jenem aber zitterten die Glieder nur noch mehr. Den¬
noch führte man ihn hervor, und beide erhuben ihre
Hände zum Kampf. Odyſſeus beſann ſich einen Augen¬
blick, ob er den Elenden mit einem einzigen Streiche
tödten ſollte, oder ihm nur einen ſanften Schlag ver¬
ſetzen, um keinen Argwohn bei den Freiern zu erwecken.
Das letztere ſchien ihm klüger, und ſo gab er ihm denn,
als beide hintereinander gekommen waren und Irus ihn
mit der Fauſt rechts auf die Schulter getroffen hatte, nur
eine leichte Schlappe hinter das Ohr. Dennoch zerbrach
er ihm den Knochen, daß das Blut aus dem Munde ſchoß,
und Irus ſich zähneklappend und zappelnd auf dem Bo¬
den wand. Unter unbändigem Lachen und Klatſchen der
Freier zog ihn Odyſſeus weg von der Pforte, zum Vor¬
hof und zum Hauptthore hinaus, lehnte ihn an die Hof¬
mauer, und indem er ihm den Stab in die Hände gab,
ſprach er ſpottend: „Da bleib' du ſitzen auf der Stelle,
und verſcheuche Hunde und Schweine!“ Dann kehrte
er in den Saal zurück und ſetzte ſich mit ſeinem Ranzen
wieder auf die Schwelle.


Sein Sieg hatte den Freiern Achtung eingeflößt,
ſie kamen lachend zu ihm her, reichten ihm die Hände
und ſprachen: „Mögen dir Jupiter und die Götter geben,
was du begehreſt, Fremdling, daß du uns den über¬
läſtigen Burſchen zur Ruhe gebracht haſt, der nun zum
König Echetus wandern mag!“ Odyſſeus ließ ſich den
Wunſch als ein gutes Vorzeichen gefallen. Antinous
ſelbſt legte ihm einen mächtigen Ziegenmagen vor, der
15 *[228] mit Fett und Blut gefüllt war, Amphinomus aber brachte
zwei Brode aus dem Korb herbei, füllte einen Becher
mit Wein, und trank ihn unter Handſchlag dem Sieger
zu, indem er ſagte: „Auf dein Wohlergehen, fremder
Vater, mögeſt du künftig von aller Trübſal frei ſeyn!“
Odyſſeus blickte ihm ernſthaft ins Auge und erwiederte:
„Amphinomus, du ſcheinſt mir ein recht verſtändiger
Jüngling zu ſeyn, und biſt eines angeſehenen Mannes
Kind. Nimm dir mein Wort zu Herzen! Es giebt
nichts Eitleres und Unbeſtändigeres auf Erden, als der
Menſch iſt; ſo lang ihn die Götter begünſtigen, meint
er, die Zukunft könne ihm nichts Böſes bringen; und
wenn nun das Traurige kommt, ſo findet er keinen Muth
in ſich, es zu ertragen. Ich ſelbſt habe das erfahren,
und habe, im Vertrauen auf meine Jugendſtärke, in
glücklichen Tagen auch manches gethan, was ich nicht
hätte ſollen. Drum warne ich einen Jeden, im Uebermuthe
nicht zu freveln, und rathe ihm, die Gaben der Götter
in Demuth zu empfangen. So iſt es auch nicht klug,
daß die Freier ſich jetzt ſo trotzig geberden, und der
Gattin des Mannes ſo viel Schmach anthun, der ſchwer¬
lich lange mehr von ſeiner Heimath entfernt, der viel¬
leicht ſo nahe iſt! Möge dich, Amphinomus, ein guter
Dämon aus dem Hauſe hinwegführen, ehe du Jenem
begegneſt!“ So ſprach Odyſſeus, goß eine Spende aus,
trank und gab dann den Becher dem Jüngling zurück.
Der Freier ſenkte nachdenklich ſein Haupt, und ſchritt
betrübt durch den Saal, als ahnete ihm etwas Schlim¬
mes. Dennoch entrann er dem Verhängniſſe nicht, das
ihm Athene beſtimmt hatte.


[229]

Penelope vor den Freiern.

Jetzt legte es Pallas Athene der Königin in die
Seele, vor den Freiern zu erſcheinen, einem Jeden von
ihnen ſein Herz recht mit Sehnſucht zu füllen, und ſich
durch ihr Betragen vor dem Gemahl, deſſen Gegenwart
ſie freilich noch nicht ahnte, und vor ihrem Sohne Te¬
lemach im vollen Glanz ihrer Seelenhoheit und ihrer
Treue zu zeigen. Die alte vertraute Schaffnerin billigte
ihren Entſchluß: „Geh nur, Tochter,“ ſprach ſie, „und
berathe deinen Sohn mit einem Worte zur rechten Zeit:
aber nicht ſo, wie du jetzt biſt, deine ſchönen Wangen
von Thränen entſtellt, mußt du hinuntergehen; ſondern
bade und ſalbe dich zuvor, und alsdann zeige dich den
Freiern.“ Aber Penelope antwortete kopfſchüttelnd: „Muthe
mir das nicht zu, gute Alte; alle Luſt mich zu ſchmücken,
iſt mir vergangen, ſeit mein Gemahl mit ſeinen Schiffen
gen Troja fuhr. Aber rufe mir meine Dienerinnen Au¬
tonoe und Hippodamia, daß ſie im Saale mir zur Seite
ſtehen; denn unbegleitet zu den Männern hinabzugehen
verbietet mir ja die Schaam.“


Während Eurynome die Schaffnerin mit dieſem
Auftrage ſich entfernte, verſenkte Athene die Gattin des
Odyſſeus auf Augenblicke in einen ſüßen Schlummer,
daß ſie ſich ſanft in ihrem Seſſel ſtreckte, und verlieh
ihr die Gaben überirdiſcher Schönheit; das Geſicht wuſch
ſie ihr mit Ambroſia, womit ſich Aphrodite zu ſalben
pflegt, wenn ſie mit den Grazien den Reigen führen
[230] will; ihren Wuchs machte ſie höher und voller; ihre
Haut ließ ſie wie Elfenbein ſchimmern. Dann verſchwand
die Göttin wieder; die beiden Mägde kamen mit Ge¬
räuſch hereingeeilt, Penelope erwachte aus ihrem Schlum¬
mer, rieb ſich die Augen und ſprach: „Ei wie ſanft
habe ich geſchlafen, möchten mir die Götter nur auf der
Stelle einen ſo ſanften Tod ſenden, daß ich mich nicht
länger um meinen Gemahl härmen und im Hauſe Kum¬
mer ausſtehen müßte!“ Mit dieſen Worten erhub ſie
ſich aus dem Seſſel und ſtieg aus den obern Gemächern
des Palaſtes zu den Freiern hinab. Dort ſtand ſie in
der Pforte des gewölbten Saales ſtill, die Wangen mit
dem Schleier umhüllt, in jugendlicher Schönheit; zu
beiden Seiten ſtand ſittſamlich eine Dienerin. Als die
Freier ſie ſahen, ſchlug ihnen Allen das Herz im Leibe,
und jeder wünſchte und gelobte ſich, ſie als Gattin heim¬
zuführen. Die Königin aber wandte ſich an ihren Sohn
und ſprach: „Telemach, ich erkenne dich nicht, fürwahr,
ſchon als Knabe zeigteſt du mehr Verſtand denn jetzt,
wo du groß und ſchön, wie der Sohn des edelſten Man¬
nes vor mir ſtehſt! Welche That haſt du ſo eben im
Saale begehen laſſen? Haſt geduldet, daß ein armer
Fremdling, der in unſerer Behauſung Ruhe ſuchte, auf's
Unwürdigſte gekränkt worden iſt? Das muß uns ja vor
allen Menſchen Schande bringen!“


„Ich verarge dir deinen Eifer nicht, gute Mutter,“
erwiederte hierauf Telemach, „auch fehlt es mir nicht an
der Erkenntniß des Rechten, aber dieſe feindſeligen Männer,
die um mich her ſitzen, betäuben mich ganz, und nirgends
finde ich einen, der mich unterſtützte. Doch iſt der Kampf
des Fremden mit Irus gar nicht ausgegangen, wie es
[231] die Freier wünſchten, möchten dieſe doch eben ſo gezwun¬
gen ihr Haupt hängen laſſen, wie jener Elende draußen
an der Schwelle des Hofes daſitzt!“ Telemach hatte
dieſes ſo geſprochen, daß die Freier es nicht hören
konnten, Eurymachus aber rief ganz trunken von dem
Anblicke der reizenden Königin: „Ikarius Tochter, wenn
dich alle Achajer in ganz Griechenland ſehen könnten,
wahrhaftig es erſchienen morgen noch viel mehr Freier
zum Schmauſe, ſo weit übertriffſt du alle Weiber an
Geſtalt und Geiſt!“ „Ach Eurymachus,“ antwortete
Penelope, „meine Schönheit iſt dahin, ſeit mein Gemahl
mit den Griechen gen Troja fuhr! Käme er wieder
zurück und beſchirmte mein Leben, ja dann möchte ich
wieder aufblühen; jetzt aber traure ich. Ach, als Odyſſeus
das Ufer verließ, und mir zuletzt die Hand reichte, da
ſprach er: Liebes Weib, die Griechen werden, denk' ich,
wohl nicht alle geſund von Troja heimkehren: die Tro¬
janer ſollen des Streites kundige Männer ſeyn, treffliche
Speerſchleuderer, Bogenſchützen, Wagenlenker. So weiß
denn auch ich nicht, ob mein Dämon mich zurückführen,
oder dort wegraffen wird. Beſchicke du Alles im Haus,
und ſorge mir für Vater und Mutter wo möglich noch
zärtlicher, als du bisher gethan haſt. Und wenn dein
Sohn herangewachſen iſt, und ich nicht mehr heimkehre,
dann magſt du dich vermählen, wenn du willſt, und
unſre Wohnung verlaſſen. So ſprach er, und nun wird
Alles wahr! Weh mir, der entſetzliche Tag der Hoch¬
zeit naht heran, und unter welchem Kummer gehe ich
ihm entgegen! Denn dieſe Freier da haben ganz andere
Sitte, als man ſonſt bei Brautbewerbern findet. Wenn
Andere eines anſehnlichen Mannes Tochter zum Weibe
[232] begehren, ſo bringen ſie Rinder und Schafe zum Schmauſe
mit, und Geſchenke für die Braut, und verpraſſen nicht
fremdes Gut ohne alle Entſchädigung!“


Mit inniger Luſt hörte Odyſſeus dieſe klugen Worte.
Für die Freier übernahm Antinous die Antwort und er¬
wiederte: „Edle Königin, gern wird dir Jeder von uns
die köſtlichſten Gaben darbringen, und wir bitten dich,
entziehe dich unſern Geſchenken nicht. Aber in unſere
Heimath kehren wir nicht zurück, bis du dir den Bräu¬
tigam aus unſerer Mitte auserkoren haſt.“ Alle Freier
ſtimmten in dieſe Rede ein. Diener wurden abgeſchickt,
und bald kamen die Geſchenke heran. Für Antinous
wurde ein gewirktes buntes Gewand, an dem zwölf gol¬
dene Spangen hinabliefen, die mit ſchön gebogenen Haken
in die Schlußringe eingriffen, herbeigebracht; für Eury¬
machus ein kunſtvolles goldenes Bruſtgeſchmeide, mit
anderem edlen Metall eingelegt, das wie die Sonne
ſtrahlte; für Eurydamas ein Paar Ohrenringe, jeder in
drei Diamanten ſpielend; aus Piſanders Palaſt wurde
ein Halsband voll der köſtlichſten Kleinode dahergetra¬
gen, und ſo reichte ihr auch Jeder der andern Freier ein
beſonderes Geſchenk dar. Dienerinnen des Hauſes kamen,
nahmen die Geſchenke in Empfang, und Penelope ſtieg
mit denſelben wieder in den Söller empor.

Odyſſeus abermals verhöhnt.

Die Freier vergnügten ſich jetzt, bis der Abend her¬
einbrach, im Tanze, und ſchwärmten ganz ausgelaſſen.
[233] Als es dunkel wurde, ſtellten die Mägde drei Feuer¬
lampen zur Beleuchtung im Saale umher, und legten
getrocknete Scheiter, mit Kienſpänen gemiſcht, hinein.
Während ſie nun in die Wette die Glut anfachten, ge¬
ſellte ſich Odyſſeus zu ihnen und ſagte: „Ihr Mägde
des Odyſſeus, des allzu lange abweſenden Herrn, höret,
euch ziemete beſſer, droben bei eurer ehrwürdigen Fürſtin
zu ſitzen, die Spindel zu drehen und Wolle zu kämmen.
Für das Feuer im Saale laſſet mich ſorgen! Und blieben
die Freier bis zum hellen Morgen da, ich will nicht
müde werden; ich bin ans Dulden gewöhnt!“


Die Mägde ſahen einander an und ſchlugen ein Ge¬
lächter auf. Endlich ſprach eine junge ſchöne Dienerin,
Melantho, welche von Penelope wie ein Kind aufge¬
zogen worden, die aber jetzt mit dem Freier Eurymachus
in ſchändlichem Einverſtändniſſe lebte, die frechen Schmäh¬
worte: „Du elender Bettler, du biſt ein rechter Narr,
daß du nicht in eine Schmiedeeſſe, oder andere Herberge
ſchlafen geheſt, und hier, wo ſo viel edlere Männer ſind
als du, uns Geſetze vorſchreiben willſt. Sprichſt du im
Rauſche, oder biſt du beſtändig ein ſolcher Thor? oder
ſchwindelt dir, weil du den Irus beſiegt haſt? Nimm
dich in Acht, daß nicht ein Beſſerer ſich erhebt, dir Rechts
und Links mit derber Hand das Haupt zerſchlägt, und
dich von Blute triefend aus dem Palaſte verſtößt!“
„Hündin,“ antwortete Odyſſeus finſter, „ich gehe, deine
frechen Worte dem Telemach zu melden, daß er dich in
Stücke zerhaue.“ Die Mägde meinten, er habe im Ernſte
geredet, und ſein Wort ſcheuchte ſie auseinander, daß
ſie mit bebenden Knieen aus dem Saale flohen. Nun
ſtellte ſich Odyſſeus ſelbſt ans Geſchirr, fachte die Flammen
[234] an, und hing ſeinen Rachegedanken nach. Athene aber
ſpornte das Herz der üppigen Freier zum kränkenden
Spott, und Eurymachus ſagte zu ſeinen Geſellen, daß
ein lautes Gelächter entſtand: „Der Mann iſt wahr¬
haftig als eine lebendige Leuchte von einem Gott in dieſen
Saal geſchickt worden: ſchimmert nicht ſein Kahlkopf,
auf dem auch kein einziges Härchen mehr zu erblicken
iſt, gerade wie eine Fackel?“ Und zu Odyſſeus gewen¬
det, ſprach er: „Hör’ Burſche, hätteſt du nicht Luſt,
dich mir zum Knechte zu verdingen, mir auf meinen
Gütern die Dornen einzuſammeln und Bäume zu pflan¬
zen? an Koſt und Nahrung ſollte dir's nicht gebrechen.
Aber ich merke wohl, du bettelſt lieber, und füllſt dir
deinen Bauch mit Almoſen, was keinen Schweiß koſtet.“
„Eurymachus,“ antwortete Odyſſeus mit feſter Stimme,
„ich wollte es wäre Frühling und wir mähten mit ein¬
ander in die Wette Gras auf der Wieſe, du hielteſt die
Senſe und ich hielte ſie, und beide müßten wir nüchtern
bis ſpät in die Nacht arbeiten: es ſollte ſich zeigen, wer
es länger aushielte! Ober ich wollte, wir ſtänden beide
an der Pflugſchaar: du ſollteſt ſehen, wie ich die Furche
in Einem Zug durchſchnitte! Oder es wäre Krieg und
ich trüge Schild und Helm, dazu zwei Lanzen; du ſoll¬
teſt ſehen, ob ich nicht in den vorderſten Reihen kämpfte,
und gewiß, es fiele dir nicht ein, mich höhnend an mei¬
nen Magen zu erinnern! Trotziger Menſch, du dünkeſt
dich groß und gewaltig zu ſeyn, weil du dich nur erſt
mit Wenigen, und dazu nicht mit den Edelſten gemeſſen
haſt; aber wenn einmal Odyſſeus in die Heimath zu¬
rückkäme, da möchten dir bald dieſe Hallen, ſo weit ſie
der Werkmeiſter gebaut hat, zu eng werden für die Flucht!“

[235]

Jetzt wurde Eurymachus erſt recht grimmig. „Elen¬
der,“ ſchrie er, „empfang auf der Stelle den Lohn für
deine trunkenen Reden!“ Mit dieſem Zuruf ſchleuderte
er einen Fußſchemel nach Odyſſeus, dieſer aber warf ſich
zu den Knieen des Amphinomus nieder, daß der Sche¬
mel über ihm hin, und dem Mundſchenken an die rechte
Hand fuhr, ſo daß dieſem die Weinkanne mit hellem
Klang auf den Boden rollte, er ſelbſt aber mit einem
Schrei rückwärts zu Boden fiel.


Die Freier lärmten indeſſen fort und fluchten dem
Fremdlinge, daß er eine ſolche Störung in ihre Freuden
bringe, bis Telemach höflich, aber beſtimmt ſeine Gäſte
einlud, ſich zur Nachtruhe zu begeben. Da erhub ſich
Amphinomus in der Verſammlung und ſprach: „Ihr
habt billige Worte vernommen, meine Freunde, wider¬
ſetzet euch ihnen nicht; auch den Fremdling ſoll Niemand
hinfort, weder ihr, noch ein Diener im Palaſte, mit
Wort oder Werken kränken! Füllet die Becher noch ein¬
mal zur Opferſpende, und dann laßt uns nach Hauſe
wandeln. Der Fremdling aber bleibe hier unter dem
Schutze des Telemachus, an deſſen Heerd er ſich geflüch¬
tet hat.“ Es geſchah, wie Amphinomus gerathen hatte,
und bald verließen die Freier den Saal.

Odyſſeus mit Telemach und Penelope allein.

Im Saale ſtanden jetzt nur noch Odyſſeus und ſein
Sohn. „Geſchwind laß uns jetzt die Rüſtungen verwahren,“
[236] ſagte jener zu dieſem. Telemach aber rief die Schaffnerin
heraus und ſagte: „Mütterchen, halte mir die Mägde
drinn' zurück, bis ich des Vaters Waffen aus dem be¬
ſtändigen Dampf in die Kammer getragen.“ „Schon
recht,“ antwortete Euryklea, „daß du endlich auch ein¬
mal darauf denkſt, des Hauſes zu warten und dein Gut
zu beſchirmen, Sohn! Aber wer ſoll dir die Fackel vor¬
tragen, wenn ich keine Dienerin mit dir gehen laſſen
darf?“ „Der Fremdling dort,“ erwiederte Telemach
lächelnd, „wer aus meinem Brodkorb ißt, darf mir nicht
müſſig ſtehen!“ Nun trugen Vater und Sohn die Helme,
die Schilde, die Lanzen, Alles mit einander in die Kam¬
mer, und vor ihnen her ſchritt mit goldener Lampe
Pallas Athene, und verbreitete Licht überall. „Welch
ein Wunder, ſagte Telemach leiſe zum Vater, „wie ſchim¬
mern die Wände des Hauſes! wie deutlich ſehe ich jede
Vertiefung, jeden Fichtenbalken, jede Säule, und Alles
leuchtet wie Feuer! Fürwahr es muß ein Gott bei uns
ſeyn, ein Himmelsbewohner!“ „Sey ſtille, Sohn,“ ant¬
wortete ihm Odyſſeus, „und forſche nicht, das iſt ſo der
Brauch der Unſterblichen. Lege dich jetzt ſchlafen, ich
ſelbſt will noch ein Weniges aufbleiben, und Mutter
und Dienerinnen auf die Probe ſtellen.“


Telemach entfernte ſich, und Penelope trat jetzt aus
ihrer Kammer, ſchön wie Artemis und Aphrodite. Sie
ſtellte ſich ihren eigenen, köſtlich mit Silber und Elfen¬
bein ausgelegten Seſſel zum Feuer, und ſetzte ſich auf den
Schafspelz, der ihn bedeckte. Dann kam eine Schaar von
Mägden, die räumten Brod und Becher von den Tiſchen,
ſtellten dieſe ſelbſt bei Seite und ſorgten aufs Neue für
Beleuchtung und Heizung des Saales in den Geſchirren.
[237] Hier geſchah es, daß Melantho den Odyſſeus zum zwei¬
tenmale höhnte. „Fremdling,“ ſagte ſie, „du wirſt doch
nicht die Nacht über dableiben und im Palaſte herum¬
lungern wollen? Begnüge dich mit dem Genoſſenen,
und geh auf der Stelle aus der Thüre hinaus, wenn
nicht dieſer Feuerbrand dir nachfliegen ſoll!“ Odyſſeus
ſchaute ſie finſter an und entgegnete: „Unbegreifliche,
warum biſt du ſo erbittert auf mich? weil ich in Lum¬
pen gehe und bettle? Iſt das nicht das gemeinſame
Schickſal aller Umherirrenden? Einſt war auch ich glück¬
lich, wohnte im reichen Hauſe, gab dem wandernden
Fremdling, wie auch ſein Ausſehen ſeyn mochte, was er
bedurfte. Auch Diener und Dienerinnen hatte ich genug;
doch das Alles hat mir Jupiter genommen. Bedenke,
Weib, daß es dir auch ſo gehen könnte; wie, wenn die
Fürſtin einmal dir ernſtlich zürnete? wenn gar Odyſſeus
heimkäme? Noch iſt die Hoffnung dazu nicht ganz ver¬
ſchwunden! Oder wenn Telemach, der kein Kind mehr
iſt, an ſeiner Stelle handelte?“


Penelope hörte, was der Bettler ſprach, und ſchalt
die übermüthige Dienerin: „Schamloſes Weib, ich kenne
deine ſchlechte Seele wohl, und weiß, was du thuſt;
du ſollſt es mir mit deinem Kopfe büßen! Haſt du doch
ſelbſt von mir gehört, daß ich den Fremdling ehre, und
ihn in meinen eigenen Gemächern über den Gemahl be¬
fragen will, und dennoch wagſt du's, denſelben zu ver¬
höhnen!“ Melantho ſchlich eingeſchüchtert davon, die
Schaffnerin mußte dem Bettler einen Stuhl hinſtellen,
und nun begann Penelope das Geſpräch: „Vor allen
Dingen, Fremdling,“ ſagte ſie, „nenne mir dein Haus
und Geſchlecht.“ „Königin,“ antwortete Odyſſeus, „du
[238] biſt eine untadelhafte Frau, auch deines Gatten Ruhm
iſt groß; dein Volk, dein Land hat ein gutes Lob. Du
aber frage mich nach Allem, nur nicht nach meinem
Geſchlecht und nach meiner Heimath, ich habe zu viel
Weh erduldet, als daß ich daran erinnert werden dürfte.
Wenn ich es aufzählen ſollte, ſo müßte ich troſtlos kla¬
gen, und würde von den Dienerinnen, oder gar von
dir ſelber mit Recht geſcholten.“ Hierauf fuhr Penelope
fort: „Du ſieheſt, Fremdling, daß es auch mir nicht
beſſer ergangen iſt, ſeit mein geliebter Gemahl mich ver¬
laſſen hat. Du kannſt die Männer ſelbſt zählen, die
um mich werben und mich bedrängen, und denen ich
ſeit drei Jahren durch eine Liſt entgangen bin, die ich
jetzt nicht mehr fortſetzen kann.“ Damit erzählte ſie ihm
von ihrem Gewebe, und wie der Betrug durch die
Mägde entdeckt worden war. „Hinfort kann ich,“ endete
ſie, „der Vermählung nicht mehr ausweichen; meine
Eltern drängen mich, mein Sohn zürnt über die Ver¬
ſchwendung ſeines Erbguts. So ſiehſt du, wie es mir
ergeht. Nun wohlan, verſchweige mir auch dein Ge¬
ſchlecht nicht, Mann, du biſt doch nicht der fabelhaften
Eiche oder dem Felſen entſproſſen!“


„Wenn du mich nöthigeſt,“ erwiederte Odyſſeus,
„ſo will ich es dir wohl ſagen.“ Und nun fing der
Schalk an, ſein altes Lügenmährchen von Kreta zu erzählen.
Dieſes ſah der Wahrheit ſo ähnlich, daß Penelope in
Thränen zerfloß, und es den Odyſſeus im innerſten
Herzen erbarmte. Dennoch ſtanden ihm die Augenſterne
wie Horn oder Eiſen unbeweglich unter den Augenliedern,
und er war beſonnen genug, die Thränen zurückzuhalten.
Als die Königin lange genug geweint, begann ſie von
[239] Neuem: „Jetzt muß ich dich doch auch ein wenig pfrüfen,
Fremdling, ob es wirklich wahr iſt, wie du erzähleſt,
daß du meinen Gemahl in deinem Hauſe bewirthet haſt.
Sage mir doch, welches Gewand er trug, wie er aus¬
ſah, wie ſein Gefolge war.“ „Du verlangſt etwas Schwe¬
res nach ſo langer Trennung,“ erwiederte Odyſſeus,
„denn es geht nun ins zwanzigſte Jahr, daß der Held
bei uns auf Kreta landete. Doch ſoviel ich mich erinnere,
war ſein Kleid zwiefach, purpurn, von langer Wolle,
eine goldene Spange daran, die mit doppelten Röhren
ſchloß; vorn war ein prächtiges Stickwerk angebracht,
ein Rehlein, das zwiſchen den Vorderklauen eines Hun¬
des zappelte; unter dein Purpurmantel ſchaute der feinſte
ſchneeweiße Leibrock hervor. Ein bucklichter Herold mit
einem Lockenhaar und braunem Geſichte, Namens Eury¬
bates, folgte ihm.“ Von Neuem mußte die Königin
weinen, denn alle Zeichen trafen genau ein. Odyſſeus
tröſtete ſie mit einem neuen Mährchen, in das er jedoch
manche Wahrheit einmiſchte, von ſeiner Landung auf
Thrinakia, und ſeinem Aufenthalt im Lande der Phäaken.
Das Alles wollte der Bettler vom Könige der Thespro¬
ten wiſſen, wo Odyſſeus vor ſeiner Reiſe zum Orakel
nach Dodona ſich zuletzt aufgehalten, und große Schätze
hinterlegt habe, die der Bettler ſelbſt geſehen zu haben
vorgab. Somit ſey ſeine Rückkunft ſo gut als gewiß.


Aber ſeine Worte vermochten Penelope nicht zu über¬
zeugen. „Mir ahnet im Geiſte,“ ſprach ſie mit geſenktem
Haupte, „daß das niemals geſchehen wird.“ Sie wollte
nun den Mägden befehlen, dem Fremdling die Füße zu
waſchen, und ihm ein gutes warmes Lager zu bereiten.
Odyſſeus ſchlug jedoch den Dienſt von den verhaßten
[240] Dienerinnen aus, und wollte nicht anders denn wie bisher
auf ſchlechtem Stroh liegen. „Nur wenn du ein altes
redliches Mütterchen haſt, Königin,“ ſprach er, „das
ſo viel im Leben duldete, wie ich ſelbſt, das mag
mir die Füße waſchen.“ „Nun ſo erhebe dich, ehrliche
Euryklea,“ rief Penelope, „waſche dieſem da die Füße,
der gerade ſo alt iſt, wie dein Herr. Ach,“ ſagte ſie
mit einem Blick auf den Bettler, „ſolche Füße, ſolche
Hände hat vielleicht jetzt auch Odyſſeus, pflegen doch
die Menſchen im Unglück frühe zu altern!“ Die alte
Schaffnerin weinte bei dieſen Worten, und als ſie ſich
anſchickte, dem Fremdlinge die Füße zu waſchen, und
ihn nun ſchärfer ins Auge faßte, da ſprach ſie: „Es
haben uns ſchon viele Fremdlinge beſucht, aber dem
Odyſſeus ſo ähnlich an Stimme, Geſtalt und Füßen,
wie du, iſt mir noch nie ein Menſch erſchienen!“ „Ja
das haben Alle geſagt, die uns beide geſehen,“ antwor¬
tete Odyſſeus gleichgültig, während er am Feuerheerde
ſaß, und ſie die zum Fußwaſchen beſtimmte Wanne mit
kaltem und kochendem Waſſer miſchend füllte. Als ſie
ſich an die Arbeit machte, rückte Odyſſeus vorſichtig in's
Dunkel, denn er hatte von ſeiner frühen Jugend her
über dem rechten Kniee eine tiefe Narbe, wo ihm ein¬
mal aus einer Jagd ein Eber mit dem Zahne ſeitwärts
ins Fleiſch gefahren war. An dieſem Maal fürchtete
Odyſſeus von der Alten erkannt zu werden, und rückte
deßwegen mit den Füßen aus dem Licht. Aber es war
vergebens. Sowie die Schaffnerin mit den flachen Händen
über die Stelle fuhr, erkannte ſie die Narbe unter dem
Druck und ließ vor Freude und Schrecken das Bein
in die Wanne gleiten, daß das Erz klang und das
[241] Waſſer überſpritzte. Athem und Stimme ſtockten ihr,
und ihr Auge füllte ſich mit Thränen. Endlich faßte
ſie den Helden beim Knie: „Odyſſeus, mein Sohn,
wahrlich, du biſt es,“ rief ſie, „ich habe es mit Hän¬
den gegriffen.“ Aber Odyſſeus drückte ihr mit ſeiner
Rechten die Kehle zu, mit der Linken zog er ſie an ſich
und flüſterte: „Mütterchen, willſt du mich verderben?
Du redeſt freilich wahr, aber noch darf es kein Menſch
im Palaſte wiſſen! Schweigſt du nicht, und es gelingt
mir, die Freier zu bezwingen, ſo erwartet dich daſſelbe
Schickſal, wie die gottloſen Mägde.“ „Welch ein Wort
ſprichſt du da,“ antwortete die Schaffnerin ruhig, als
er ihr die Kehle wieder losgelaſſen, „weißt du nicht,
daß mein Herz feſt iſt wie Fels und Eiſen, hüte dich
nur vor den andern Mägden im Palaſte! ich will dir
Alle nennen, die dich verachten.“ „Es braucht das
nicht,“ ſprach Odyſſeus, „ich kenne ſie ſchon, und du
darfſt ruhig ſeyn!“ Inzwiſchen hatte Euryklea ein
zweites Fußbad geholt, denn das erſte war ganz ver¬
ſchüttet. Nachdem er nun wohl gebadet und geſalbt war,
beſprach ſich Penelope noch eine Weile mit ihm. „Mein
Geiſt ſchwankt hin und her,“ ſagte ſie, „guter Fremd¬
ling, ob ich bei meinem Sohne bleiben ſoll, aus Scheu
vor meinem Gemahl, der ja doch vielleicht noch lebt,
und für jenen unſer Gut verwalten, oder ob mich der
edelſte unter den Freiern, der die herrlichſte Brautgabe
bietet, heimführen ſoll. So lange Telemach noch ein
Kind war, ließ mich ſeine Jugend nicht heirathen; nun
er aber das Jünglingsalter erreicht hat, wünſcht er
ſelbſt, daß ich aus dem Hauſe gehe, weil ſein Erbgut
ſonſt doch nur vollends verſchwelgt wird. — Aber jetzt
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 16[242] erkläre mir auch noch einen Traum, lieber Mann, da
du doch ſo klug zu ſeyn ſcheinſt. Ich habe zwanzig
Gänſe im Hauſe, und ſehe ihnen immer mit Luſt zu,
wie ſie ihren Waizen, mit Waſſer gemiſcht, freſſen.
Da träumt mir nun, ein Adler komme vom Gebirge
her, und breche meinen Gänſen die Hälſe; alle lagen
gemordet, wild durcheinander im Palaſt, der Raubvogel
aber ſchwang ſich in die Lüfte. Ich fing laut an zu
ſchluchzen, und träumte weiter. Mir war, als kämen die
Frauen aus der Nachbarſchaft, mich in meinem Grame zu
tröſten. Auf einmal kehrte auch der Adler zurück, ſetzte ſich
auf das Geſimſe, und fing an, mit Menſchenſtimme zu
reden: Sey getroſt, ſprach er, Ikarius Tochter, das iſt
ein Geſicht und kein Traum: die Freier ſind die Gänſe,
ich ſelbſt, der ich ein Adler war, bin Odyſſeus, ich bin
zurückgekommen, alle Freier umzubringen. So ſprach der
Vogel und ich wachte auf. Sogleich ging ich, nach
meinen Gänſen zu ſchauen, aber dieſe ſtanden ganz ruhig
am Trog und fraßen.“ — „Fürſtin,“ erwiederte der ver¬
ſteckte Bettler, „es iſt gewiß ſo, wie dir Odyſſeus im Traume
ſagte, das Geſicht kann gar keine andere Bedeutung haben:
er wird kommen, und kein Freier wird am Leben bleiben.“


Aber Penelope ſeufzte und ſprach: „Träume ſind
doch nur Schäume, und morgen kommt der entſetzliche
Tag, der mich vom Hauſe des Odyſſeus ſcheiden
wird. Da will ich den Wettkampf beſtimmen; mein
Gemahl pflegte manchmal zwölf Aexte hintereinander
aufzuſtellen; dann trat er in die Ferne zurück, und
ſchnellte den Pfeil vom Bogen durch alle zwölf hin¬
durch. Wer nun von den Freiern dieſes Kunſtſtück mit
des Odyſſeus Bogen, den ich immer noch aufbewahre,
[243] vollbringt, dem will ich folgen.“ „Thue das, ehrwür¬
dige Königin,“ ſprach Odyſſeus entſchloſſen, „beſtimme
morgen auf der Stelle den Wettkampf: denn eher kommt
dir Odyſſeus, als daß jene ſeinen Bogen ſpannen, und
durch die zwölf Löcher der Aexte den Pfeil ſchnellen.“

Die Nacht und der Morgen im Palaſte.

Die Königin ſagte dem Fremdling gute Nacht,
Odyſſeus begab ſich in den Vorſaal, wo ihm Euryklea
ein Bett bereitet hatte, das er ſich gefallen ließ. Ueber
eine ungegerbte Stierhaut waren Schafspelze zum Lager
gebreitet, und den Liegenden deckte ein Mantel zu. Lang
wälzte er ſich ſchlaflos auf ſeinem Lager; die ſchändli¬
chen Mägde, die mit den Freiern zuhielten, ſtürmten
unter Scherz und Gelächter an ihm vorüber, daß ſie
ihm das Herz im Innerſten empörten. Aber der Held
ſchlug an ſeine Bruſt, ſtrafte ſich ſelbſt und ſprach im
Geiſte: „Duld' es, mein Herz, haſt du doch ſchon Här¬
teres ertragen! Weißeſt du nicht mehr, wie du beim Cy¬
klopen ſaßeſt, und ihm zuſehen mußteſt, wie das Unge¬
heuer deine Genoſſen fraß? Dulde!“ So bezwang er
ſein Herz; doch warf er ſich noch lange hin und her
und ſann auf Rache gegen die Freier, als ſich auf ein¬
mal Athene in Jungfrauengeſtalt über ſein Haupt neigte,
und ſeinen bangen Gedanken, wie er über ſo Viele
Meiſter werden ſollte, mit den Worten ein Ziel ſetzte:
„Kleinmüthiger, verläßt man ſich doch ſchon auf einen
geringeren Freund, auf einen Sterblichen, der nicht ſo
16 *[244] reich an Rathſchluß und an Kraft iſt; ich aber bin
eine Göttin, und beſchirme dich in jeder Gefahr; und
wenn dich fünfzig Schaaren voll Mordluſt umringten,
dennoch würdeſt du es hinausführen! Ueberlaß dich im¬
merhin dem Schlummer, denn endlich tauchſt du aus
der Trübſal auf.“ So ſprach ſie und bedeckte ihm die
Augenlieder mit ſüßem Schlaf.


Penelope ihrerſeits erwachte nach einem kurzen
Schlummer, ſetzte ſich aufrecht in ihrem Bette hin und
fing laut an zu weinen. Unter Thränen richtete ſie ihr
Gebet an die Göttin Artemis: „Jupiters heilige Tochter,“
rief ſie flehend, „träfe doch auf der Stelle dein Pfeil
mein Herz, oder raffte mich ein Sturmwind hinweg
und wärfe mich ans fernſte Ufer des Oceanus, ehe ich
meinem Gemahl Odyſſeus untreu werden und mich dem
ſchlechteren Manne vermählen muß! Erträglich iſt das
Leiden, wenn man den Tag durchweint, und doch die
Nacht über Ruhe hat; mich aber peinigt ein Dämon
ſelbſt im Schlafe mit den ſchmerzlichſten Träumen! So
war mir im Augenblicke noch, als ſtände mein Gatte
mir zur Seite, herrlich von Geſtalt, ganz wie er mit
dem Kriegsheere von dannen zog, und mein Herz war
voll Freude, denn ich meinte zuverſichtlich, daß es Wahr¬
heit ſey!“ So ſchluchzte Penelope, und Odyſſeus vernahm
die Stimme der Weinenden. Es war ihm ganz bange
vor der Zeit erkannt zu werden. Eilig raffte er ſich auf,
verließ den Palaſt, und unter freiem Himmel betete er
zu Jupiter um ein günſtiges Zeichen für ſeine Plane.
Da erſchien ein gewaltiges Licht am Himmel, und ein
plötzlicher Donner rollte über dem Palaſte hin. In der
nahen Mühle des Palaſtes hielt eine Müllerin ſtill, die
[245] die ganze Nacht durch gemahlen, blickte zum Himmel
empor und rief: „Wie doch Jupiter donnert, und iſt
weit und breit kein Gewölk zu ſehen! er hat wohl irgend
einem Sterblichen ein Zeichen gewährt! O Vater der
Götter und Menſchen, möchteſt du auch meinen Wunſch
erfüllen, und die verfluchten Freier vertilgen, die mich
Tag und Nacht in der Mühle das Mehl zu ihren Schmäu¬
ſen bereiten laſſen!“ Odyſſeus freute ſich der guten Vor¬
bedeutung, und kehrte in den Palaſt zurück.


Hier wurde es allmählig laut, die Mägde kamen
und zündeten das Feuer auf dem Heerd an; Telemach
warf ſich in die Kleider, trat an die Schwelle der Frauen¬
gemächer, und rief der Schaffnerin mit verſtellten Wor¬
ten: „Mütterchen, habt ihr den Gaſt auch mit Speiſe
und Lager geehrt, oder liegt er unbeachtet da? Die
Mutter ſcheint mir ganz die Beſinnung verloren zu haben,
daß ſie den ſchlechten Freiern ſo viel Ehre erweist, und
den beſſeren Mann ungeehrt läßt!“ „Du thuſt meiner
Herrin Unrecht,“ antwortete Euryklea, „der Fremdling
trank ſo lange und ſo viel Wein, als ihm beliebte, und
Speiſe verlangte er auch keine mehr. Man bot ihm
ein köſtliches Lager an, aber er verſchmähte es, mit
Mühe ließ er ſich ein ſchlechteres gefallen.“


Nun eilte Telemach, von ſeinen Hunden begleitet,
auf den Markt in die Volksverſammlung. Die Schaff¬
nerin aber befahl den Mägden, Alles zu dem bevorſte¬
denden Schmauſe des Neumondfeſtes zuzubereiten, und
nun legten die Einen purpurne Teppiche auf die ſchmu¬
cken Seſſel, Andere ſcheuerten die Tiſche mit Schwäm¬
men, wieder Andere reinigten die Miſchkrüge und die
Becher, und ihrer zwanzig eilten an den Quellbrunnen,
[246] Waſſer zu ſchöpfen. Auch die Diener der Freier kamen
heran, und ſpalteten Holz in der Vorhalle. Der Sau¬
hirt kam mit den fetteſten Schweinen herbei, und grüßte
ſeinen alten Gaſt aufs Freundlichſte. Melanthius mit
zwei Gaishirten, brachte die auserleſenſten Ziegen,
die von den Knechten in der Halle angebunden wurden.
Dieſer ſprach im Vorübergehen zu Odyſſeus mit höhni¬
ſchem Ton: „Alter Bettler, biſt du immer noch da, und
weichſt nicht von der Thüre? wir nehmen wahrſchein¬
lich nicht Abſchied von einander, bevor du meine Fäuſte
gekoſtet! Gibt es denn gar keine andere Schmäuſe, denen
du nachzuziehen haſt?“ Odyſſeus erwiederte auf dieſe
Schmähworte nichts, ſondern ſchüttelte nur das Haupt.


Nun betrat ein ehrlicher Mann den Palaſt: es
war Philötius, der den Freiern ein Rind und gemäſtete
Ziegen zu Schiffe herbeigebracht hatte. Dieſer ſprach
im Vorübergehen zu dem Sauhirten: „Eumäus, wer
iſt doch der Fremdling, der jüngſt in dieſes Haus kam?
er gleicht an Geſtalt ganz und gar unſerm König
Odyſſeus. Geſchieht es doch wohl, daß das Elend auch
einmal Könige zu Bettlern umgeſtaltet!“ Dann nahte
er ſich dem verkleideten Helden mit einem Handſchlage
und ſprach: „Fremder Vater, ſo unglücklich du ſcheineſt,
ſo möge es dir wenigſtens in Zukunft wohl ergehen!
Mich überlief der Schweiß, als ich dich ſah, und Thrä¬
nen traten mir in die Augen, denn ich mußte an Odyſ¬
ſeus gedenken, der jetzt wohl auch, in Lumpen gehüllt,
in der Welt umherirrt, wenn er anders noch lebt! Schon
als Jüngling hat er mich zum Hüter ſeiner Rinder ge¬
macht, deren Zucht vortrefflich gedeiht, leider aber muß
ich ſie Andern zum Schmauſe daherführen! Auch wäre
[247] ich längſt vor Aerger aus dieſem Lande geflohen, wenn
ich nicht immer noch hoffte, Odyſſeus kehre dereinſt
zurück, und jage dieſen Schwarm auseinander.“ „Kuh¬
hirt,“ erwiederte ihm Odyſſeus, „du ſcheinſt kein ſchlechter
Mann zu ſeyn; ja beim Jupiter ſchwöre ich dir, heute
noch, und ſo lange du im Palaſte biſt, kehrt Odyſſeus
heim, und deine Augen werden es ſchauen, wie er die
Freier abſchlachtet!“ „Möchte Jupiter es wahr machen,“
ſagte der Rinderhirt, „meine Hände ſollten auch dabei
nicht feiern!“

Der Feſtſchmaus.

Die Freier, nachdem ſie in ihrer Verſammlung ſich
über Telemachs Ermordung beſprochen, kamen allmählig
auch im Palaſte an. Sie legten ihre Mäntel ab, die
Thiere wurden geſchlachtet, gebraten und vertheilt; Die¬
ner miſchten den Wein in Krügen, der Sauhirt reichte
die Becher umher, Philötius in zierlichen Körben die
Brode, den Wein ſchenkte Melanthius, und das allge¬
meine Mahl begann.


Den Odyſſeus ſetzte Telemachus abſichtlich an die
Schwelle des Saales auf einen ſchlechteren Stuhl, und
ſtellte einen armſeligen Tiſch davor. Hier ließ er ihm
gebratenes Eingeweide auftragen, füllte ſeinen Becher
mit Wein, und ſprach: „Hier ſchmauſe ruhig, und ich
rathe Niemanden, dich zu ſchmähen!“ Antinous ſelbſt
ermahnte ſeine Freunde, den Fremdling gewähren zu
laſſen, denn er merkte wohl, daß derſelbe unter Jupiters
[248] Schutz ſtehe; aber Athene ſtachelte die Freier heimlich
zum Spott. Es war unter ihnen ein ſchlechtgeſinnter
Mann, mit Namen Kteſippus, aus der Inſel Same: „Ihr
Freier, höret,“ ſprach dieſer mit höhniſchem Lächeln,
„zwar hat der Fremdling längſt ſeinen Antheil, ſo gut
wie wir ſelber, und es wäre auch nicht recht, wenn
Telemach einen ſo vornehmen Gaſt überginge! Doch
will ich ihm noch ein beſonderes Gaſtgeſchenk verehren,
er mag die Schaffnerin damit bezahlen, die ihm den
Schmutz vom Leibe gewaſchen hat!“ So höhnend zog
er einen Kuhfuß aus dem Korbe, und ſchleuderte ihn
mit ſeiner nervigten Hand nach dem Bettler. Aber
Odyſſeus beugte mit dem Haupte aus und drängte den
Zorn mit einem gräßlichen Lächeln in die Bruſt zurück;
der Knochen fuhr an die Mauer.


Jetzt ſtand Telemach auf und rief: „Schätze dich
glücklich, Kteſippus, daß du den Fremdling nicht getrof¬
fen haſt: wäre es geſchehen, ich hätte dir die Lanze
durch den Leib geſtoßen, und dein Vater hätte dir eine
Leichenfeier ſtatt der Hochzeit rüſten können! Drum er¬
laube ſich keiner mehr eine Ungebühr in meiner Woh¬
nung, lieber bringet mich ſelbſt um, als daß ihr die
Fremdlinge beleidiget, es wäre mir auch beſſer, zu ſter¬
ben, als immer ſo ſchändliche Thaten mit anzuſehen!”
Alle verſtummten, als ſie ſo ernſtliche Worte hörten;
endlich ſtand Agelaus, der Sohn des Damaſtrus, unter
ihnen auf und ſprach: „Telemach hat recht! Aber er und
ſeine Mutter ſollen jetzt ein Wort in Güte mit ſich reden
laſſen. So lange noch irgend eine Hoffnung vorhanden
war, daß Odyſſeus jemals in ſeine Heimath zurückkeh¬
ren könne, ſo war es begreiflich, wenn man die Freier
[249] hinhielt. Jetzt aber iſt es keinem Zweifel unterworfen,
daß jener niemals zurückkommt. Wohlan denn, Tele¬
mach, tritt zu deiner Mutter, beſtimme ſie, den edel¬
ſten unter uns Freiern, und der die meiſten Gaben bie¬
tet, zu wählen, damit du ſelbſt hinfort ungeſchmälert
dein väterliches Erbe genießen kannſt!“


Telemach erhob ſich von ſeinem Sitz und ſprach:
„Beim Jupiter! auch ich verzögere die Wahl nicht länger,
vielmehr ſpreche ich ſchon lange der Mutter zu, ſich
einen von ihren Bewerbern zu erwählen. Nur mit Ge¬
walt werde ich ſie nie aus dem Hauſe treiben.“ Dieſe
Worte Telemachs wurden mit einem unbändigen Ge¬
lächter von den Freiern aufgenommen, denn ſchon ver¬
wirrte Pallas Athene ihren Geiſt, daß ſie grinſend ihre
Geſichter verzerrten; auch aßen ſie das Fleiſch halb roh
und blutig hinein, plötzlich füllten ſich ihre Augen mit
Thränen, und ſie gingen von der größten Ausgelaſſen¬
heit zur tiefſten Schwermuth über. Dieß alles bemerkte
der Seher Theoklymenus wohl. „Was iſt euch,“ ſprach
er, „ihr Armen? eure Häupter ſind ja wie in Nacht ge¬
hüllt, eure Augen ſind voll Waſſers, und aus eurem
Munde tönen Wehklagen! Und was ſchaue ich, an
allen Wänden trieft Blut, Halle und Vorhof wimmeln
von Geſtalten des Hades, und die Sonne am Himmel
iſt ausgelöſcht!“ Die Freier aber verfielen wieder in
ihre vorige Luſtigkeit, und fingen aus Leibeskräften zu
lachen an. Endlich ſprach Eurymachus zu den Andern:
„Dieſer Fremdling, der ſich erſt ſeit kurzem in unſerer
Mitte befindet, iſt wahrhaftig ein rechter Narr. Schnell,
ihr Diener: wenn er hier im Saale nichts als Nacht
ſieht, ſo führt ihn hinaus auf Straße und Markt!“
[250] „Ich brauche deine Begleiter nicht, Eurymachus,“ ant¬
wortete Theoklymenus entrüſtet, indem er aufſtand. „Au¬
gen, Ohren und Füße geſund, iſt bei mir der
Verſtand noch auf dem rechten Platz; ich gehe von ſelbſt,
denn der Geiſt weiſſagt mir das Unheil, das euch naht,
und dem keiner von euch entflieht.“ So ſprach er und
verließ eilig den Palaſt, ging zu Piräus, ſeinem vorigen
Gaſtfreund, und fand bei dieſem die freundlichſte Auf¬
nahme.


Die Freier aber fuhren fort, den Telemach zu
verhöhnen. „Schlechtere Gäſte, als du, Telemach,“
ſprach einer von ihnen, „hat doch kein Menſch in der
Welt beherbergt: einen ausgehungerten Bettler, und
einen Narren, der wahrſagt! Wahrhaftig, du ſollteſt
mit ihnen durch Griechenland reiſen, und ſie für Geld
auf den Märkten ſehen laſſen!“ Telemach ſchwieg und
ſchickte ſeinem Vater einen Blick zu, denn er erwartete
nur das Zeichen, um loszubrechen.

Der Wettkampf mit dem Bogen.

Jetzt war auch Penelope's Zeit gekommen. Sie
nahm einen ſchönen Schlüſſel aus Erz mit elfenbeinernen
Griffe zur Hand, eilte damit, von Dienerinnen be¬
gleitet, in eine ferne Hinterkammer, wo allerlei koſt¬
bare Geräthe des Königs Odyſſeus aus Erz, Gold und
Eiſen aufbewahrt waren. Unter andern lag hier auch
ſein Bogen, und der Köcher voller Pfeile, beides
[251] Geſchenke eines lacedämoniſchen Gaſtfreundes. Als Pene¬
lope die Pforte aufgeſchloſſen, ſchob ſie die Riegel zurück.
Dieſe krachten, wie ein Stier im Felde brüllt, die Thür¬
flügel öffneten ſich, und Penelope trat ein und muſterte
die Käſten, wo Kleider und Geräthe verwahrt lagen.
Da fand ſie auch Bogen und Köcher an einem Nagel
hängen, ſtreckte ſich und nahm beide herab. Der Schmerz
überwältigte ſie, ſie warf ſich auf einen Stuhl, und
Bogen und Köcher auf dem Schooße, ſaß ſie lang in
Thränen da. Endlich erhob ſie ſich; die Waffen wur¬
den in eine Lade gelegt, mit welcher ihr die Dienerinnen
folgten. So trat ſie mitten unter die Freier in den
Saal, ließ Stille gebieten, und ſprach: „Wohlan, ihr
Freier, wer mich erwerben will, der gürte ſich, es gilt
jetzt einen Wettkampf! Hier iſt der große Bogen meines
erhabenen Gemahls: wer ihn am leichteſten ſpannt, und
durch die Löcher von zwölf hintereinander aufgeſtellten
Aexten hinſchnellt, dem will ich folgen als ſeine Gemah¬
lin, will dieſen Palaſt meines erſten Gatten mit ihm
verlaſſen.“


Hierauf befahl ſie dem Sauhirten, den Freiern
Bogen und Pfeile vorzulegen. Weinend empfing Eumäus
die Waffen aus der Lade, und breitete ſie vor den
Kämpfern aus; und auch der Rinderhirt weinte. Das
ärgerte den Antinous. „Dumme Bauern,“ ſchalt er,
„was macht ihr mit euren Thränen unſerer Königin das
Herz ſchwer! Sättigt euch beim Mahle, oder weinet vor
der Thüre draußen! Wir aber, ihr Freier, wollen uns
an den ſchweren Wettſtreit machen; denn dieſen Bogen
da zu ſpannen, dünkt mir gar nichts Leichtes. Unter
uns Allen iſt kein Mann wie Odyſſeus, ich erinnere
[252] mich ſeiner noch wohl, obgleich ich damals noch ein
kleiner Knabe war, und kaum reden konnte!“ So ſprach
Antinous, im Herzen aber dachte er ſich die Bogenſehne
ſchon geſpannt, und den Pfeil durch die Aexte hindurch¬
geflogen. Ihm aber war der erſte Pfeil aus der Hand
des Odyſſeus beſchieden.


Jetzo ſtand Telemach auf und ſprach: „Fürwahr
Jupiter hat mir meinen Verſtand genommen! Meine
Mutter erklärt ſich bereit, dieſes Haus zu verlaſſen
und einem Freier zu folgen, und ich lache dazu. Wohlan,
ihr Freier, ihr waget den Wettkampf um ein Weib,
wie in ganz Griechenland keines mehr iſt. Doch das
wiſſet ihr ſelbſt, und ich brauche meine Mutter euch nicht
zu loben. Drum ohne Zögern den Bogen geſpannt!
hätte ich doch ſelbſt Luſt, mich im Wettkampf zu ver¬
ſuchen; dann, wenn ich euch beſiegte, würde mir die
Mutter das Haus nicht verlaſſen!“ So ſprach er,
warf Purpurmantel und Schwert von der Schulter,
zog eine Furche durch den Eſtrich des Saales, bohrte
die Aexte, eine um die andere in den Boden, und
ſtampfte die Erde wieder feſt. Alle Zuſchauer bewun¬
derten ſeine Kraft und Pünktlichkeit. Dann griff er
ſelbſt nach dem Bogen und ſtellte ſich damit auf die
Schwelle. Dreimal verſuchte er, den Bogen zu ſpannen,
dreimal verſagte ihm die Kraft. Nun zog er die Sehne
zum viertenmal an, und jetzt wäre es ihm gelungen;
aber ein Wink des Vaters hielt ihn mitten in der An¬
ſtrengung zurück. „Ihr Götter,“ rief er, „entweder bin
ich ein Schwächling, oder noch zu jung, und nicht im
Stand, einen Beleidiger von mir abzuwehren! So ver¬
ſucht es denn ihr Andern, die ihr kräftiger ſeyd als ich!“
[253] Alſo ſprechend, lehnte er Bogen und Pfeil an den Thür¬
pfoſten, und ſetzte ſich wieder nieder auf den Thron¬
ſeſſel, von dem er aufgeſtanden war.


Mit triumphirender Miene erhob ſich jetzt Antinous
und ſprach: „Auf denn, ihr Freunde, fangt an dort
hinten, von der Linken zur Rechten, wie der Weinſchenke
den Umgang hält!“ Da ſtand zuerſt Leiodes auf, der
ihr Opferer war, und immer zu hinterſt im Winkel am
großen Miſchkruge ſaß; er war der einzige, dem der
Unfug der Freier zuwider war, und der die ganze Rotte
haßte. Dieſer trat in die Schwelle und bemühte ſich ver¬
gebens, den Bogen zu ſpannen. „Thu' es ein Anderer,“
rief er, indem er die Hände ſchlaff herabſinken ließ, „ich
bin der Rechte nicht! und vielleicht iſt keiner in der
Runde, der es vermag.“ Mit dieſen Worten lehnte er
Bogen und Köcher an den Pfoſten. Aber Antinous
ſchalt ihn und ſprach: „Das iſt eine ärgerliche Rede,
Leiodes, weil Du ihn nicht ſpannen kannſt, ſoll es auch
kein Anderer vermögen? Auf, Melanthius,“ ſagte er
dann zum Ziegenhirten, „zünd' ein Feuer an, ſtell' uns
den Seſſel davor, und bring uns eine tüchtige Scheibe
Speck aus der Kammer, da wollen wir den ausgedörr¬
ten Bogen wärmen und ſalben, dann ſoll es beſſer gehen!“
Es geſchah, wie er befohlen, aber es war vergebens.
Umſonſt bemühte ſich ein Freier nach dem andern, den
Bogen zu ſpannen. Zuletzt waren nur noch die beiden
tapferſten, Antinous und Eurymachus, übrig.


[254]

Odyſſeus entdeckt ſich den guten Hirten.

Nun geſchah es, daß ſich beim Hinausgehen aus
dem Palaſte der Rinderhirt und der Sauhirt begegneten,
und ihnen folgte auf dem Fuße der Held Odyſſeus. Als
ſie Pforte und Vorhof hinter ſich hatten, holte er jene
ein, und ſprach zu ihnen leiſe und vertraulich: „Ihr
Freunde, ich möchte wohl ein Wort mit euch reden,
wenn ich mich auf euch verlaſſen kann; ſonſt ſchwiege
ich lieber. Wie wär' es, wenn den Odyſſeus jetzt plötz¬
lich ein Gott aus der Fremde zurückführte? würdet ihr
die Freier vertheidigen, oder ihn? redet unverhohlen, ganz
wie es euch ums Herz iſt.“ „O Jupiter im Olymp,“
rief der Rinderhirt zuerſt, „wenn mir dieſer Wunſch ge¬
währt würde, wenn der Held käme! du ſollteſt ſehen,
wie ſich meine Arme regen würden!“ Ebenſo flehte
Eumäus zu allen Göttern, daß ſie dem Odyſſeus Heim¬
kehr verleihen möchten.


Als nun dieſer ihres Herzens Geſinnung erkannt
hatte, da ſprach er: „Nun denn, ihr Kinder, ſo ver¬
nehmt's: ich ſelber bin Odyſſeus! Nach unſäglichen
Leiden komme ich im zwanzigſten Jahr zurück in meine
Heimath, und ich ſehe, daß ich euch beiden willkommen
bin, euch allein unter allem Geſinde; denn keinen unter
Allen hörte ich jemals um meine Wiederkehr zu den
Göttern flehen. Dafür will ich auch jedem von euch,
wenn ich die Freier bezwungen habe, ein Weib geben,
Aecker ſchenken, Häuſer bauen, ganz nahe bei meinem
[255] Hauſe, und Telemach ſoll euch behandeln wie ſeine leib¬
lichen Brüder. Damit ihr aber an der Wahrheit mei¬
ner Ausſage nicht zweifelt, ſo erkennet hier die Narbe
von jener Wunde, die der Eber dem Knaben auf der
Jagd beigebracht hat.“ Damit ſchob er die Lumpen ſei¬
nes Kleides auseinander, und entblöſte die große Narbe.
Jetzt fingen die beiden Hirten zu weinen an, umſchlangen
ihren Gebieter; küßten ihm Geſicht und Schultern. Auch
Odyſſeus küßte die treuen Knechte, dann aber ſprach er:
„Hänget eurem Grame nicht nach, lieben Freunde, daß
uns Keiner im Palaſt verrathe. Auch wollen wir Alle
nur einzeln, Einer nach dem Andern hineingehen. Dann
werden es die Freier nicht geſtatten wollen, daß auch
mir Bogen und Köcher gereicht werde; du aber, Eu¬
mäus, wandle nur keck mit dem Bogen durch den Saal
und reiche mir ihn. Zugleich befiehlſt du den Weibern,
die Pforten des Hintergemachs feſt zu verriegeln; und
wenn man auch inwendig im Saale Lärmen von Män¬
nerſtimmen und Stöhnen hört, ſo ſoll ſich keine aus der
Thüre wagen, ſondern ruhig bei der Arbeit verharren.
Dir aber, treuer Philötius, ſey das Hofthor anvertraut:
riegle es feſt zu, und binde das Seil ums Schloß.“


Nach dieſer Weiſung begab ſich Odyſſeus in den
Saal zurück, und die Hirten folgten ihm, einer um den
andern. Eurymachus drehte jetzt eben den Bogen uner¬
müdet über dem Feuer um, aber es gelang ihm nicht,
die Sehne zu ſpannen, und unmuthig ſeufzend ſprach er:
„Ei wie kränkt es mich! Nicht ſo ſehr um Penelope's
Hand gräme ich mich: denn es giebt der Griechinnen
noch genug in Ithaka und anderwärts; ſondern daß wir
gegen den Helden Odyſſeus ſo ganz kraftlos erſcheinen
[256] ſollen; darüber werden uns die Enkel noch verſpotten!“
Antinous aber wies den Freund zurecht und ſagte: „Rede
nicht ſo, Eurymachus, es feiert heute das Volk ein
großes Feſt: da ziemt es eigentlich gar nicht, den Bogen
zu ſpannen. Laßt uns das Geſchoß hinweglegen, und
wieder eins trinken; die Aexte mögen immerhin im Saale
ſtehen bleiben, dann opfern wir morgen dem Apollo und
vollbringen den Bogenkampf!“


Jetzt wandte ſich Odyſſeus an die Freier und ſprach:
„Ihr thut wohl daran, heute zu raſten: morgen wird
euch hoffentlich Apollo der Fernhintreffer Sieg verleihen.
Einſtweilen geſtattet mir es, den Bogen zu erproben,
und zu verſuchen, ob in den elenden Gliedern noch etwas
von der alten Kraft geblieben iſt.“ „Fremdling,“ fuhr
Antinous bei dieſen Worten des Helden auf, „biſt du
ganz von Sinnen? bethört dich der Wein? willſt du
Hader beginnen, wie der Centaure auf der Hochzeit des
Pirithous? Bedenke, daß dieſer zuerſt das Verderben
ſelbſt fand, ſo ſoll auch dich das Unheil treffen, ſobald
du den Bogen ſpannſt, und du wirſt keinen Fürſprecher
mehr unter uns finden!“ Nun miſchte ſich auch Pe¬
nelope in den Streit. „Antinous,“ ſprach ſie mit ſanfter
Stimme, „wie unziemlich wäre es, den Fremdling vom
Wettkampf ausſchließen zu wollen! Fürchteſt du etwa,
wenn es dem Bettler gelänge, den Bogen zu ſpannen,
er würde mich als Gattin heimführen? Schwerlich
macht er ſich ſelbſt dieſe Hoffnung. Bekümmere ſich nur
deßwegen keiner von euch in ſeinem Herzen! Das wäre
ja unmöglich, unmöglich!“ „Nicht das fürchten wir,
o Königin,“ antwortete ihr Eurymachus hierauf; „nein!
ſondern wir fürchten nur die Nachrede bei den Griechen,
[257] daß nur ſchlechte Männer, von denen keiner vermocht
hat, den Bogen des unſterblichen Helden zu ſpannen,
um ſeine Gattin geworben haben: zuletzt aber ſey ein
Bettler aus der Fremde gekommen, der habe den Bogen
ohne Anſtrengung geſpannt, und durch die Aexte ge¬
ſchoſſen!“ „Der Fremdling iſt nicht ſo ſchlecht, als ihr
wähnet,“ ſprach darauf Penelope; „ſehet ihn nur recht
an, wie groß und gedrungen ſein Gliederbau iſt! Auch
er rühmt ſich eines edlen Mannes als Erzeugers. So
gebet ihm denn den Bogen: ſpannt er ihn, ſo ſoll er
nichts weiter von mir haben, als Mantel und Leibrock,
Speer und Schwert, und Sohlen unter die Füße. Da¬
mit mag er hinziehen, wohin ſein Herz begehrt.“ Nun
fiel Telemachus ein und ſagte: „Mutter, über den Bogen
hat kein Achaier zu gebieten, als ich, und keiner ſoll
mich mit Gewalt davon abhalten, und wollte ich ihn
dem Fremdling auf der Stelle ſchenken, damit in die
weite Welt zu gehen. Du aber, Mutter, geh' in dein
Frauengemach zu Webeſtuhl und Spindel, das Geſchoß
gebührt den Männern.“ Staunend fügte ſich Penelope
der entſchloſſenen Rede des verſtändigen Sohns.


Und nun brachte der Sauhirt den Bogen, während
die Freier ein wüthendes Geſchrei erhoben: „Wohin mit
dem Geſchoß, du Raſender? Juckt es dich, von deinen
eigenen Hunden bei den Schweineſtällen zerriſſen zu wer¬
den?“ Erſchrocken legte er den Bogen von ſich; aber
Telemach rief mit drohender Stimme: „Hierher mit dem
Bogen, Alter, du haſt nur Einem zu gehorchen, ſonſt
jage ich dich mit Steinen hinaus, obgleich ich der Jün¬
gere bin. Wäre ich nur den Freiern überlegen, wie ich
dir es bin!“ Die Freier lachten, und ließen von ihrem
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 17[258] Zorne nach. Der Sauhirt reichte dem Bettler den Bo¬
gen, dann befahl er der Schaffnerin, die Pforten des
Hintergemachs zu verriegeln, und Philötius eilte aus dem
Palaſte und verſchloß ſorgfältig die Pforte des Vorhofs.


Odyſſeus aber beſchaute ſich den Bogen von allen
Seiten, ob in der langen Zeit die Würmer nicht das
Holz zernagt hätten, und ſonſt etwas an ihm gebräche;
und unter den Freiern ſprach wohl ein Nachbar zu dem
andern: „Der Mann ſcheint ſich auf den Bogen nicht
übel zu verſtehen! Hat er wohl ſelbſt einen ähnlichen
zu Hauſe, oder will er ſich einen darnach bilden? Seht
doch, wie ihn der Landſtreicher in den Händen hin und
her dreht!“


Nachdem Odyſſeus den gewaltigen Bogen von allen
Seiten geprüft, ſpannte er ihn nur leichthin, wie der
Sänger die Saiten eines Lautenſpiels; griff mit der
rechten Hand in die Sehne und verſuchte ihre Spann¬
kraft. Dieſe gab einen hellen Ton von ſich, wie das
Zwitſchern der Schwalbe. Die Freier alle durchzuckte
ein Schmerz, und ſie erblaßten. Jupiter aber donnerte
vom Himmel mit heilvoller Vorbedeutung. Da faßte
Odyſſeus muthig den Pfeil, der auf dem Tiſche aus
dem Köcher geſchüttet, vor ihm lag, faßte den Bogen,
zog die Sehne und die Kerbe, und ſchnellte, mit ſicherem
Auge zielend, den aufgelegten Pfeil ab. Keine Axt
verfehlte der Schuß: der Pfeil flog vom vorderſten Oehr
hindurch bis aus dem letzten. Dann ſprach der Held:
„Nun, der Fremdling in deinem Palaſte hat dir keine
Schande gebracht, Telemachus! meine Kraft iſt noch
ungeſchwächt, ſo ſehr mich die Freier verhöhnt haben.
Jetzt aber iſt es Zeit, daß wir den Achaiern den
[259] Abendſchmaus geben, noch eh' es Nacht wird, dann
folge Lautenſpiel und Geſang, und was ſonſt noch das
feſtliche Mahl erfreuen mag.“


Mit dieſem Worte gab Odyſſeus ſeinem Sohne den
heimlichen Wink. Schnell warf ſich dieſer ſein Schwert
um, griff zum Speer, und ſtellte ſich gewappnet neben
den Stuhl ſeines Vaters.

Die Rache.

Da ſtreifte ſich Odyſſeus die Lumpen rückwärts von
den Armen, und Bogen und Köcher voll Geſchoſſen in
der Hand, ſprang er auf die hohe Schwelle, hier ſchüt¬
tete er ſich die Pfeile vor ſeinen Füßen aus, und rief
in die Verſammlung hinab: „Der erſte Wettkampf wäre
nun vollbracht, ihr Freier! nun folgt der zweite; und
jetzt wähle ich mir ein Ziel, wie es noch kein Schütze
getroffen hat; und doch gedenke ich es nicht zu verfehlen.“
So ſprach er, und zielte mit dem Bogen auf Antinous.
Dieſer hob eben den gehenkelten goldenen Pokal, und
führte ihn ahnungslos zum Munde. Da fuhr ihm der
Pfeil des Odyſſeus in die Gurgel, daß die Spitze aus
dem Genick hervordrang. Der Becher entſtürzte ſeiner
Hand; dem Erſchoſſenen fuhr ein dicker Blutſtrahl aus
der Naſe, und während er zur Seite ſank, ſtieß er den
Tiſch ſammt den Speiſen mit dem Fuße um, daß dieſe
auf den Boden rollten. Als die Freier den Fallenden
gewahrten, ſprangen ſie tobend von ihren Thronſeſſeln
17 *[260] auf; rings durchforſchten ſie die Wände des Saales
nach Waffen: aber da war kein Speer und kein Schild
zu ſehen. Nun machten ſie ſich mit grimmigen Schelt¬
worten Luft: „Was ſchießeſt du auf Männer, verfluch¬
ter Fremdling? Unſern edelſten Genoſſen haſt du getöd¬
tet. Aber es iſt dein letzter Schuß geweſen, und bald
werden dich die Geyer freſſen.“ Sie meinten nämlich,
er habe ihn, ohne es zu wollen, getroffen, und ahneten
nicht, daß ſie Alle das gleiche Schickſal bedrohe. Odyſſeus
aber rief mit donnernder Stimme zu ihnen herunter:
„Ihr Hunde, ihr meinet, ich komme nimmermehr von
Troja zurück: deßwegen verſchwelgtet ihr mein Gut, ver¬
führtet mein Geſinde, warbet bei meinem Leben um mein
eigenes Weib, ſcheutet Götter und Menſchen nicht! Jetzt
aber iſt die Stunde eures Verderbens gekommen!“


Wie ſie ſolches hörten, wurden die Freier bleich,
und Entſetzen ergriff ſie. Jeder ſah ſich ſchweigend um,
wie er entfliehen möchte; nur Eurymachus faßte ſich und
ſprach: „Wenn du wirklich Odyſſeus der Ithaker biſt,
ſo haſt du ein Recht, uns zu ſchelten, denn es iſt viel
Unziemliches im Palaſt und auf dem Lande geſchehen.
Aber der, der an Allein ſchuldig war, liegt ja bereits
von deinem Pfeil erſchoſſen. Denn Antinons iſt's, der
das Alles angeſtiftet hat, und zwar warb er nicht ein¬
mal ernſtlich um deine Gemahlin, ſondern er ſelbſt wollte
König in Ithaka werden, und gedachte deinen Sohn
heimlich zu ermorden. Doch der hat ja nun ſein Theil:
du aber ſchone deiner Stammesgenoſſen; laß dich ver¬
ſöhnen! Jeder von uns ſoll dir zwanzig Rinder zum
Erſatz für das Verzehrte bringen, auch Erz und Gold,
ſo viel dein Herz verlangt, bis wir dich wieder günſtig
[261] gemacht haben!“ „Nein, Eurymachus,“ antwortete
Odyſſeus finſter, „und wenn ihr mir all euer Erbgut
bötet, und noch mehr, ich werde nicht ruhen, bis ihr
mir Alle mit dem Tod eure Miſſethaten gebüßt habt.
Thut was ihr wollt, kämpfet oder fliehet, Keiner wird
mir entrinnen!“


Herz und Knie zitterte den Freiern. Noch einmal
ſprach Eurymachus, und zwar jetzt zu ſeinen Freunden:
„Lieben Männer, dieſes Mannes Hände wird Niemand
mehr aufhalten, ziehet die Schwerter, wehrt ſein Geſchoß
mit den Tiſchen ab: alsdann werfen wir uns auf ihn
ſelber, ſuchen ihn von der Schwelle zu verdrängen;
dann zerſtreuen wir uns durch die Stadt und rufen
unſere Freunde auf.“ So ſprach er, zog ſein Schwert
aus der Scheide, und ſprang mit gräßlichem Geſchrei
empor. Da durchbohrte ihm der Pfeil des Helden die
Leber; das Schwert ſank ihm aus der Hand, er wälzte
ſich mit ſammt dem Tiſche zu Boden, warf Speiſen und
Becher zur Erde, und ſchlug mit der Stirne auf den
Eſtrich. Den Seſſel ſtampfte er mit den Füßen hinweg;
es waren die letzten Zuckungen, und er lag todt auf dem
Boden. Nun ſtürmte Amphinomus gegen Odyſſeus hinan,
um ſich mit dem Schwerte Bahn durch den Eingang zu
machen. Aber dieſen erreichte Telemachs Speer im Rücken
zwiſchen den Schultern, ſo daß er vorn aus der Bruſt
hervordrang, und der Getroffene auf das Angeſicht zu
Boden fiel. Telemach entzog ſich nach dieſer That dem
Gewühle der Freier durch einen Sprung, und ſtellte ſich
zu ſeinem Vater auf die Schwelle, dem er einen Schild,
zwei Lanzen und einen ehernen Helm zubrachte. Dann
eilte er ſelbſt zur Thüre hinaus, und in die Rüſtkammer.
[262] Hier ſuchte er für ſich und die Freunde noch weitere
vier Schilde, acht Lanzen und vier Helme mit wallen¬
dem Roßſchweif aus. Damit waffneten ſie ſich, er und
die beiden treuen Hirten. Die vierte Rüſtung brachten
ſie dem Odyſſeus, und ſo ſtanden nun alle Vier neben
einander.


So lange dieſer noch Pfeile hatte, ſtreckte er mit
jedem Schuß einen Freier darnieder, daß ſie übereinander
taumelten. Dann lehnte er den Bogen an den Thür¬
pfoſten, warf ſich eilig den vierfachen Schild über die
Schultern, ſetzte ſich den Helm auf's Haupt, deſſen
Buſch fürchterlich nickte, und faßte dann zwei mächtige
Lanzen. In dem Saale war noch eine Seitenpforte an¬
gebracht, die in einen Gang führte, der in die Haus¬
flur auslief. Die Oeffnung der Pforte war aber eng
und faßte nur einen einzigen Mann. Dieſes Pförtchen
hatte Odyſſeus dem Eumäus zur Hut anvertraut; nun
aber, da jener ſeine Stelle verlaſſen, ſich zu waffnen,
blieb es unbewacht. Einer von den Freiern, Agelaus,
bemerkte dieſes. „Wie wäre es,“ rief er, „Freunde,
wenn wir uns durch die Seitenpforte flüchteten, und ſo
in die Stadt gelangten, um das Volk aufzuwiegeln,
dann hätte der Mann bald ausgewüthet!“ „Sey kein
Thor,“ ſagte Melanthius zu ihm, der Ziegenhirt, der
in der Nähe ſtand, und auf der Seite der Freier war,
„Pforte und Gang ſind ſo enge, daß nur ein einzelner
Mann hindurch kann, und wenn ſich von jenen Vieren
nur Einer davor ſtellt, ſo wehrt er uns Allen. Laß
lieber mich unbemerkt hinausſchlüpfen, ſo hol' ich euch
Waffen genug vom Söller.“ Dieß that der Ziegenhirt,
und kam auf wiederholte Gänge mit zwölf Schilden, und
[263] ebenſo vielen Helmen und Lanzen zurück. Unerwartet
ſah Odyſſeus ſeine Feinde mit Rüſtungen umhüllt, und
lange Speere in den Händen bewegend. Er erſchrak
und ſprach zu ſeinem Sohne Telemach: „Das hat uns
eine der falſchen Mägde, oder der arge Gaishirt zuge¬
richtet!“ „Ach, Vater, ich bin ſelbſt daran ſchuld,“
erwiederte Telemach, „ich habe vorhin, als ich die Waffen
holte, die Thüre der Rüſtkammer in der Eile nur ange¬
lehnt.“ Der Sauhirt eilte nun hinauf zur Kammer, um
ſie zu verſchließen. Durch die offene Thüre ſah er, wie
drin ſchon wieder der Gaishirt ſtand, weitere Waffen zu
holen. Er eilte mit dieſer Nachricht nach der Schwelle
zurück. „Soll ich mich des Schalks bemächtigen?“ fragte
er ſeinen Herrn. „Ja,“ erwiederte dieſer, „nimm den
Rinderhirten mit, überfallet ihn in der Kammer, drehet
ihm Hände und Füße auf den Rücken, und hänget
ihn mit einem ſtarken Seil an die Mittelſäule der
Kammer, daß er in Qualen harre. Dann ſchließet die
Thüre zu, und kehret zurück.“ Die Hirten gehorchten.
Sie beſchlichen den Falſchen, wie er eben im Winkel
der Kammer nach Waffen umherſpähte. Als er wieder
zu der Schwelle kam, in der einen Hand einen Helm,
in der andern einen alten verſchimmelnte Schild, packten
ſie ihn, warfen den Schreienden zu Boden, feſſelten ihm
Hände und Füße auf dem Rücken, knüpften an einen
Haken der Decke ein langes Seil, ſchlangen es um ſei¬
nen Leib, und zogen ihn an der Säule bis dicht an die
Balken empor. „Wir haben dich ſanft gebettet,“ ſprach
der Sauhirt, „ſchlaf wohl!“ Nun verſchloſſen ſie die
Pforte, und kehrten auf ihre Poſten zu den Helden
zurück. Unverhofft geſellte ſich zu den Vieren ein fünfter
[264] Streiter: es war Athene in Mentors Geſtalt, und Odyſ¬
ſeus erkannte die Göttin freudig. Als die Freier den
neuen Kämpfer bemerkten, rief Agelaus zornig hinauf:
„Mentor, ich ſage dir, laß dich durch Odyſſeus nicht
verleiten, die Freier zu bekriegen, ſonſt ermorden wir mit
Vater und Sohn auch dich und dein ganzes Haus.“
Athene enbrannte bei dieſen Worten, ſie ſpornte den
Odyſſeus an und ſprach: „Dein Muth ſcheint mir nicht
mehr derſelbe zu ſeyn, Freund, wie du ihn zehn Jahre
lang vor Troja bewieſeſt. Durch deinen Rath ſank dieſe
Stadt: und nun, wo es gilt, in deiner eigenen Hei¬
math Palaſt und Gut zu vertheidigen, zageſt du den
Freiern gegenüber?“ So ſprach ſie, ſeinen Muth an¬
zufeuern, für ihn zu ſtreiten gedachte ſie nicht. Denn
plötzlich ſchwang ſie ſich in Vogelgeſtalt empor, und ſaß,
einer Schwalbe gleich, auf dem rußigen Gebälk der
Decke. „Mentor iſt wieder hinweggegangen, der Prahler,“
rief Agelaus ſeinen Freunden zu, „die Viere ſind wieder
allein. Laßt uns nun den Kampf wohl überlegen; nicht
Alle zugleich werfet eure Lanzen, ſondern ihr Sechſe da
zuerſt; und zielet mir fein Alle nur auf Odyſſeus: liegt
er nur erſt, ſo kümmern uns die Andern wenig!“ Aber
Athene vereitelte ihnen den gewaltigen Wurf: des einen
Lanze durchbohrte den Pfoſten; des andern fuhr in die
Thür, andern blieb ſie in der Wand ſtecken. Jetzt rief
Odyſſeus ſeinen Freunden zu: „Wohl gezielt und ge¬
ſchoſſen!“ und alle Vier ſchickten ihre Lanzen ab, und
keiner fehlte: Odyſſeus traf den Demoptolemus, Tele¬
mach den Euryades, den Elatus der Sauhirt, der Rin¬
derhirt den Piſander, welche miteinander in den Staub
ſanken. Einen Augenblick flüchteten ſich die noch übrigen
[265] Freier in den äußerſten Winkel des Saals: bald aber
wagten ſie ſich wieder hervor und zogen die Speere aus
den Leichnamen. Dann ſchoßen ſie neue Lanzen ab; die
meiſten fehlten wieder, nur der Speer des Amphimedon
ſtreifte dem Telemach die Knöchelhaut an der einen Hand,
und des Kteſippus Lanze ritzte dem Sauhirten die Schul¬
ter über dem Schild. Beide wurden zum Lohne von
den Verletzten durch Lanzenwürfe getödtet, und der Sau¬
hirt begleitete ſeinen Wurf mit den Worten: „Nimm
dieß, du Läſterer, für den Kuhfuß, mit dem du meinen
Herrn beſchenkteſt, als er noch im Saale bettelte.“


Den Eurydamas hatte der Wurf des Odyſſeus nie¬
dergeſtreckt. Jetzt erſtach er mit der Lanze Agelaus, den
Sohn des Damaſter; Telemach jagte dem Leokritus den
Speer durch den Bauch; Athene ſchüttelte ihren verderb¬
lichen Aegisſchild von der Decke herab, und jagte den
Freiern Entſetzen ein, daß ſie wie Kinder, von der Bremſe
geſtochen, oder wie kleine Vögel vor den Klauen des
Habichts, im Saale hin und her irrten. Odyſſeus und
ſeine Freunde waren von der Schwelle herabgeſprungen,
und durchwütheten mit Morden den Saal, daß überall
Schädel krachten, Röcheln ſich erhob, und der Boden
von Blute floß.


Einer der Freier, Leiodes, warf ſich dem Odyſſeus
zu Füßen, umklammerte ſeine Knie und rief: „Erbarme
dich! nie habe ich Muthwillen in deinem Hauſe getrie¬
ben, habe die Andern gezähmt, aber ſie folgten mir
nicht! Ich bin ihr Opferer und habe nichts gethan,
ſoll ich denn auch fallen?“ „Wenn du ihr Opferer
biſt,“ erwiederte Odyſſeus finſter, „ſo haſt du wenigſtens
für ſie gebetet!“ und nun raffte er das Schwert des
[266] Agelaus, das dieſer im Tode ſinken laſſen, vom Boden
auf, und hieb dem Leiodes, während er noch flehte, das
Haupt vom Nacken, daß es in den Staub hinrollte.


Nahe an der Seitenpforte ſtand der Sänger Phe¬
mius, die Harfe in den Händen. Er überlegte in der
Todesangſt, ob er ſich durch das Pförtchen in den Hof
zu retten ſuchen, oder die Kniee des Odyſſeus umfaſſen
ſollte. Endlich entſchloß er ſich zu dem Letztern, legte
die Harfe zwiſchen dem Miſchkrug und Seſſel zu Boden,
und warf ſich vor Odyſſeus nieder. „Erbarme dich
meiner,“ rief er, ſeine Kniee umſchlingend, „du ſelbſt
bereueteſt es, wenn du den Sänger erſchlagen hätteſt,
der Götter und Menſchen mit ſeinem Lied erfreut. Ich
bin der Lehrling eines Gottes, und wie einen Gott will
ich dich im Geſange feiern! Dein Sohn kann es mir
bezeugen, daß ich nicht freiwillig hierherkam, daß ſie
mich gezwungen haben, zu ſingen!“ Odyſſeus hob das
Schwert, doch zögerte er; da ſprang Telemach herzu
und rief: „Halt, Vater, verwunde mir dieſen nicht, er
iſt unſchuldig; auch den Herold Medon, wenn er nicht
ſchon von den Hirten oder dir ermordet iſt, laß uns
verſchonen, er hat mich ſchon als Kind im Hauſe ſo
ſorglich gepflegt, und wollte uns immer wohl.“ Medon,
der, in eine friſche Rinderhaut gehüllt, unter ſeinem
Seſſel verborgen lag, hörte die Fürbitte, wickelte ſich
los, und lag bald dem Telemach flehend zu Füßen. Da
mußte der finſtere Held Odyſſeus lächeln, und ſprach:
„Seyd getroſt, ihr Beide, Sänger und Herold, Tele¬
machs Bitte ſchützt euch. Gehet hinaus und verkündiget
den Menſchen, wie viel beſſer es ſey, gerecht, als treu¬
los zu handeln. Die zwei eilten aus dem Saale, und
[267] ſetzten ſich, noch immer vor Todesangſt zitternd, im
Vorhofe nieder.

Beſtrafung der Mägde.

Odyſſeus blickte umher, und ſah keinen lebenden
Feind mehr. Sie lagen hingeſtreckt in Menge, wie Fiſche,
die der Fiſcher aus dem Netz geſchüttet. Da ließ Odyſ¬
ſeus durch ſeinen Sohn die Schaffnerin berufen. Sie
fand ihren Herrn unter den Leichen wie einen Löwen
ſtehen, der Stiere zerriſſen hat, dem der Rachen und die
Bruſt von ſchwarzem Blute triefen, und deſſen Auge
funkelt. So ſtand Odyſſeus, an Händen und Füßen
mit Blut bedeckt. Frohlockend jauchzte die Schaffnerin,
denn der Anblick war groß und fürchterlich. „Freue dich,
Mutter,“ rief ihr der Held ernſthaft entgegen, „aber
jauchze nicht: kein Sterblicher ſoll über Erſchlagene
jubeln! Dieſe hier hat das Gericht der Götter gefället,
nicht ich. Jetzt aber nenne mir die Weiber des Palaſts:
welche mich verachtet haben, welche treu geblieben ſind.“
„Es ſind fünfzig Dienerinnen im Hauſe,“ antwortete
Euryklea, „die wir Kleiderwirken, Wollekämmen, das
Hausweſen beſtellen gelehrt haben. Von dieſen haben
ſich zwölfe von euch abgewendet, und weder mir, noch
Penelope gehorcht, denn dem Sohn überließ die Mutter
das Regiment über die Mägde nicht. — Nun aber laß
mich meine ſchlummernde Herrin erwecken, o König,
und ihr die Freudenbotſchaft verkünden.“ „Wecke jene
noch nicht,“ antwortete Odyſſeus, „ſondern ſchicke mir
[268] die zwölf treuloſen Mägde herunter.“ Euryklea gehorchte,
und zitternd erſchienen die Dienerinnen. Da rief Odyſ¬
ſeus ſeinen Sohn und die treuen Hirten zu ſich heran,
und ſprach: „Traget nun die Leichname hinaus, und
heißet die Weiber Hand anlegen. Dann heißet ſie die
Seſſel und Tiſche mit Schwämmen ſäubern, und den
ganzen Saal reinigen. Wenn dieß geſchehen iſt, führt
mir die Mägde hinaus zwiſchen Küche und Hofmauer,
und machet ſie Alle mit dem Schwerte nieder, daß ihnen
der Muthwill ausgetrieben wird, dem ſie ſich mit den
Freiern überlaſſen haben!“ Wehklagend und weinend
ſammelten ſich die Weiber auf einen Haufen, aber Odyſ¬
ſeus trieb ſie zum Werke und war hinter ihnen her, bis
ſie die Todten hinausgetragen, Seſſel und Tiſche geſäu¬
bert, den Eſtrich reingeſchaufelt und den Unrath vor die
Thüre geſchleppt hatten. Dann wurden ſie von den
Hirten zum Palaſte hinaus, zwiſchen Küche und Hof¬
mauer gedrängt, wo kein Ausweg war. Und nun ſprach
Telemachus: Dieſe ſchändlichen Weiber, die mein und
meiner Mutter Haupt verunehrt haben, ſollen keines ehr¬
lichen Todes ſterben!“ Mit dieſen Worten knüpfte er
von Pfeiler zu Pfeiler, das Küchengewölbe entlang, ein
ausgeſpanntes Seil, und bald hingen die Mägde, mit
der Schlinge um den Hals, alle zwölf neben einander,
wie ein Zug Droſſeln im Netze, und zappelten nur noch
eine kurze Weile mit den Füßen in der Luft.


Jetzt wurde auch der boshafte Ziegenhirt Melan¬
thius über den Vorhof herbeigeſchleppt und in Stücke
gehauen. Als Telemach und die Hirten dieß vollbracht
hatten, war das Werk der Rache beendigt, und ſie
kehrten zu Odyſſeus in den Saal zurück.


[269]

Hierauf befahl Odyſſeus der Schaffnerin Euryklea,
Glut und Schwefel auf einer Pfanne zu bringen, und
Saal, Haus und Vorhof zu durchräuchern. Noch ehe
ſie aber dieſes Geſchäft vornahm, brachte ſie ihrem kö¬
niglichen Herrn Mantel und Leibrock. „Du ſollſt mir,“
ſprach ſie, „lieber Sohn, und unſer Aller Herr, nicht
mehr ſo mit Lumpen bedeckt im Saale daſtehen, du, die
herrliche Heldengeſtalt. Das wäre ja ganz unziemlich.“
Odyſſeus aber ließ die Kleider noch liegen, und hieß die
Alte an ihr Geſchäft gehen. Während dieſe nun den
Saal und das ganze Haus durchräucherte, rief ſie auch
die treu gebliebenen Dienerinnen herbei. Dieſe drängten
ſich bald um ihren geliebten Herrn, hießen ihn mit Freuden¬
thränen willkommen, drückten ihr Angeſicht auf ſeine
Hände, und konnten ſich mit Küſſen nicht erſättigen.
Odyſſeus aber weinte und ſchluchzte vor Freuden; denn
jetzt erkannte er, wer ihm treu geblieben war.

Odyſſeus und Penelope.

Als das Mütterchen mit der Räucherung fertig war,
ſtieg es empor zum Söller, um jetzt endlich der gelieb¬
ten Herrin zu verkündigen, daß ihr Gemahl Odyſſeus es
ſey und kein Anderer, der in die Heimath zurückgekom¬
men. Die Füße der Alten trippelten hurtig, aber die
Kniee verſagten ihr beinahe. So trat ſie vor das Lager
Penelope's, und, die Schlummernde weckend, ſprach ſie:
„Liebe Tochter, erwache, du ſollſt mit deinen eigenen
[270] Augen dasjenige ſehen, worauf du von Tag zu Tage
gewartet haſt: Odyſſeus iſt daheim; Odyſſeus iſt endlich
im Palaſte! Er hat die trotzigen Freier, die dich ſo
ſehr geängſtigt, die ſeine Habe verzehrten, die ſeinen
Sohn beſchimpften — er hat ſie erſchlagen!“


Penelope rieb ſich den Schlummer aus den Augen
und ſagte: „Mütterchen, du biſt eine Thörin; die Götter
haben dich mit Blödſinn geſchlagen. Was weckſt du
mich mit deiner lügenhaften Botſchaft aus dem ſanfteſten
Schlummer? Seit Odyſſeus ausgefahren iſt, habe ich
nicht mehr ſo feſt geſchlafen! Hätte mich eine Andere
mit dieſem Mährchen getäuſcht, ich würde ſie nicht nur
mit ſcheltenden Worten fortſchicken; und auch dich ſchützt
nur dein Alter; aber auf der Stelle geh' mir hinunter
in den Saal.“


„Tochter, ſpotte nicht,“ entgegnete die Schaffnerin,
„der Fremdling iſt's, der Bettler, deſſen Alle im Saale
ſpotteten. Dein Sohn Telemach wußte es längſt, aber
er ſollte das Geheimniß verbergen, bis Rache an den
Freiern genommen war.“


Als ſie ſolches hörte, ſprang die Fürſtin vom Lager,
und ſchmiegte ſich an die Alte, und unter einem Strome
von Thränen ſprach ſie: „Mütterchen, wenn du wirklich
die Wahrheit redeſt, wenn Odyſſeus wirklich im Palaſt
iſt: ſage mir, wie bewältigte er die Freier, die zahllos
verſammelten?“ „Ich ſelber habe es weder geſehen noch
gehört,“ antwortete Euryklea, „denn wir Frauen ſaßen
voll Angſt in den feſtverſchloſſenen Gemächern; aber das
Aechzen hörte ich wohl; und als mich endlich dein Sohn
herbeirief, da fand ich deinen Gemahl daſtehen, von
[271] Leichen umringt; denn die Freier alle lagen auf dem
Boden übereinander geſtreckt. So blutig er anzuſchauen
war, er hätte dir doch gefallen, Tochter; jetzt aber
liegen die Leichname alle weit draußen vor der Hofpforte;
das ganze Haus iſt von mir mit reinigendem Schwefel
durchräuchert worden: du kannſt ohne alles Grauen hin¬
abſteigen.“ „Alte, ich kann es immer noch nicht glau¬
ben,“ ſprach Penelope, „es iſt ein Unſterblicher, der die
Freier erſchlagen hat. Aber Odyſſeus — ach nein, der
iſt ferne, der iſt nicht mehr am Leben!“ „Ungläubiges
Herz,“ entgegnete kopfſchüttelnd die Schaffnerin, „ſo will
ich dir noch ein untrüglicheres Zeichen angeben. Du
kennſt ja die Narbe, die von des Ebers Zahne herrührt;
nun damals, als ich auf deinen Befehl dem Bettler die
Füße wuſch, da erkannte ich ſie, und wollte dirs auf
der Stelle verkündigen: aber er ſchnürte mir die Gurgel
zu und litt es nicht.“ „So laß uns denn hinabgehen,“
ſagte Penelope, vor Furcht und Hoffnung zitternd; und
ſo ſtiegen ſie beide mit einander hinab in den Saal und
ſchritten über die Schwelle. Hier ſetzte ſich Penelope,
ohne ein Wort zu reden, im Glanze des Heerdfeuers dem
Odyſſeus gegenüber. Er ſelbſt ſaß an der Säule mit
geſenkten Augen, und wartete auf ihr Wort. Aber
Staunen und Zweifel machte die Königin ſtumm: bald
glaubte ſie ſein Angeſicht zu erkennen, bald deuchte es
ihr wieder fremd, und ihre Augen ruhten nur auf den
Lumpen des Bettlers. Endlich trat Telemach zur Mut¬
ter, und ſprach halb lächelnd, halb ſcheltend: „Böſe
Mutter, wie kannſt du ſo unempfindlich bleiben? Setze
dich doch zum Vater, forſche, frage! Welches andere
Weib, wenn ihr Gatte nach ſo viel Jammer im
[272] zwanzigſten Jahre heimkehrt, würde ſich ſo geberden!
Haſt du denn allein ſtatt des Herzens einen Stein im
Buſen?“


„Ach lieber Sohn,“ erwiederte Penelope, „ich bin
in Staunen verloren; ich kann ihn nicht anreden, ich
kann ihn nicht fragen, ich kann ihm nicht gerade ins
Angeſicht ſchauen! Und doch iſt er es wirklich, er iſts,
mein Odyſſeus, er iſt zurückgekommen in ſein Haus!
Doch werden wir einander ſchon erkennen, und viel ſiche¬
rer, denn wir haben geheime Zeichen, die Niemand ſonſt be¬
kannt ſind.“ Da wandte ſich Odyſſeus mit ſanftem Lächeln
an ſeinen Sohn und ſprach: „Laß die Mutter immerhin
mich verſuchen; ſie verachtet mich, weil ich in ſo gar
häßliche Lumpen gehüllt bin. Nun wir wollen ſehen,
wie wir ſie überzeugen. Jetzt aber thut anderes noth.
Wer auch nur einen einzigen Mann aus dem Volke ge¬
tödtet hat, der flieht Haus und Heimath, auch wenn jener
nur wenige Rächer hinterläßt. Wir aber haben die Stützen
des Landes, die edelſten Jünglinge der Inſel und der Nach¬
barſchaft erſchlagen, was thun wir?“ „Vater,“ ſagte Te¬
lemach, „da mußt du allein ſorgen. Du giltſt in aller Welt
für den klügſten Rathgeber.“ „So will ich euch denn ſagen,“
erwiederte Odyſſeus, „was ich für das Klügſte halte. Du,
die Hirten, Alles was im Hauſe iſt, ihr nehmet vor
allen Dingen ein Bad und ſchmücket euch aufs allerbeſte;
auch die Mägde kleiden ſich in ihre beſten Gewande;
der Sänger aber nimmt die Harfe zur Hand, und
ſpielt uns Allen einen Reihentanz auf. Wer dann über
die Straße geht, wer in der Nähe wohnt, meint nicht
anders, als das Feſt dauere noch fort im Hauſe, und
ſo verbreitet ſich wohl das Gerücht von der Ermordung
[273] der Freier nicht eher in der Stadt, als bis wir unſere
Beſitzungen auf dem Lande erreicht haben; dann wird
uns ein Gott eingeben, was weiter zu thun iſt.“


Bald ertönte das ganze Haus von Harfenſpiel,
Geſang und Tanz. Auf der Straße ſammelten ſich die
Einwohner und ſprachen zu einander: „Nun iſt kein
Zweifel! Penelope hat ſich wieder geheirathet, und im
Palaſte wird das Vermählungsfeſt gefeiert. Die böſe
Frau, konnte ſie nicht erwarten, bis der Gemahl ihrer
Jugend zurückgekehrt wäre?“ Endlich gegen Abend
verlief ſich das Volk. Odyſſeus hatte ſich in dieſer Zeit
gebadet und geſalbt. Athene aber goß ihm jetzt wieder
Anmuth um das Haupt; ſein dunkles Haar umringelte
in vollem Wuchſe den Scheitel, und einem Unſterblichen
gleich ſtieg er aus der Badwanne. So trat er in den
Saal und ſetzte ſich wieder in ſeinen Thronſeſſel, der
Gemahlin gegenüber. „Seltſame Frau,“ ſprach er,
„die Götter haben dir doch ein fühlloſes Herz verliehen,
kein anderes Weib wird ſo hartnäckig ihren Gatten vei¬
läugnen, wenn er im zwanzigſten Jahre nach ſo viel
Trübſal heimkehrt. So wende ich mich denn an dich,
Euryklea, Mütterchen, daß du mir irgendwo mein Lager
bereiteſt; denn dieſe hier hat ein eiſernes Herz in der
Bruſt!“


„Unbegreiflicher Mann,“ ſprach jetzt Penelope, „nicht
Stolz, nicht Verachtung, kein ähnliches Gefühl hält
mich von dir zurück; ich weiß noch recht gut, wie du
ausſaheſt, als du Ithaka zu Schiffe verließeſt. Wohl
denn, Euryklea bereite ihm das Lager, außerhalb des
Schlafgemachs, richte es wohl zu mit Vließen, Mänteln
und Teppichen.“

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 18[274]

So verſuchte Penelope ihren Gemahl, Odyſſeus
aber blickte unwillig auf und ſprach: „Das war ein
kränkendes Wort, Frau, meine Bettſtelle vermag kein
Sterblicher zu verrücken, und wenn er alle Jugendkräfte
anſtrengte. Ich ſelbſt habe mir die Lade gezimmert,
und es iſt ein großes Geheimniß daran. Mitten auf
dem Platze, wo wir den Palaſt anlegten, ſtand im
blühendſten Saft ein ſchattiger Olivenbaum, und war
wie eine Säule gewachſen. Da ließ ich die Wohnung
ſo anlegen, daß derſelbe innerhalb des Schlafgemaches
zu ſtehen kam. Als nun die Kammer ſchön aus Steinen
erbaut und die Decke von Holz zierlich gebohnt war,
kappte ich die Krone des Oelbaumes ab, den Stamm
fing ich an von der Wurzel aus zu behauen und zu
glätten. So bildete ich ſcharf nach der Richtſchnur den
Fuß des Bettes, und meißelte dieſes ſelbſt bis zur Voll¬
endung aus; dann wurde die Lagerſtatt von mir künſt¬
lich mit Gold, Silber und Elfenbein durchwirkt, und
von ſtarker Stierhaut Riemen darin für die Betten aus¬
geſpannt. Dieß iſt unſer Lager, Penelope! ob es noch
ſteht, weiß ich nicht, wer es aber anders geſtellt hat,
der mußte den Oelbaum von ſeiner Wurzel trennen.“


Die Kniee zitterten der Königin, als ſie das Zei¬
chen erkannte. Weinend erhob ſie ſich vom Stuhle, lief
auf ihren Gatten zu, umſchlang ihm den Hals mit offe¬
nen Armen, küßte ſein Haupt und küßte es wieder, und
begann: „Odyſſeus, du biſt ja immer ſo gut, ſo voll
Verſtandes geweſen, zürne mir nicht! Die ewigen Götter
haben Leid über uns verhängt, weil es ihnen zu ſelig
däuchte, wenn wir unſer junges Leben in Eintracht
miteinander verbringen, und auf ſanftem Wege dem
[275] Alter nahen ſollten. Du mußt mir nicht gram ſeyn, daß
ich dich nicht auf der Stelle zärtlich willkommen geheißen
habe. Mein armes Herz war in beſtändiger Angſt,
es möchte mich irgend ein ſchlauer Betrüger täuſchen.
Jetzt, nachdem du mir genannt haſt, was kein Sterb¬
licher außer dir und mir und unſerer alten Pförtnerin Ak¬
toris, die mir aus dem väterlichen Hauſe hieher gefolgt iſt,
wußte, jetzt iſt mein hartes Herz beſiegt und überzeugt!„


Die halbe Nacht verging den Gatten unter gegen¬
ſeitiger Erzählung des unendlichen Elendes, das ſie beide
in den zwanzig verfloſſenen Jahren erduldet, und der
Königin kam kein Schlaf in die Augenlieder, bis ihr
Gemahl von allen ſeinen Irrfahrten ihr den ausführlich¬
ſten Bericht abgeſtattet hatte.


Endlich begab ſich Alles im Palaſte zur erwünſchten
Ruhe, und ſuchte Erholung von den erſchütternden Be¬
gebenheiten des Tages.

Odyſſeus und Laertes.

Am andern Morgen hatte ſich Odyſſeus in aller
Frühe reiſefertig gemacht. „Liebes Weib,“ ſprach er zu
Penelope, „wir beide haben bisher den Becher des Lei¬
dens bis zur Neige geleert, du mein Ausbleiben bewei¬
nend, ich durch Jupiter und andere Götter von der
Heimkehr ins Vaterland abgehalten. Jetzt, nachdem wir
beide wieder vereinigt ſind, unſere Herrſchaft, unſer Be¬
ſitz uns wieder geſichert iſt, ſorge du für alles Gut, das
mir im Palaſte noch geblieben iſt. Was die Freier in
18 *[276] ihrer Ueppigkeit uns verpraßt haben, das werden uns
theils die Geſchenke, mit welchen ſie zuletzt ihre Bewer¬
bung unterſtützt haben, theils Raub und Gaben, die
ich aus der Fremde mitbringe, reichlich erſetzen, ſo daß
unſere Meierhöfe bald wieder gefüllt ſeyn werden. Ich
ſelbſt aber will mich jetzt auf das Landgut hinaus be¬
geben, wo mein guter alter Vater mich ſchon ſo lange
betrauert. Ich rathe dir aber, da das Gerücht von
der Ermordung der Freier ſich doch allmählig in der
Stadt verbreiten muß, daß du mit deinen Dienerinnen
dich in die Frauengemächer zurückzieheſt, und Niemand
Gelegenheit gebeſt, dich zu ſchauen und zu befragen.“


So ſprach Odyſſeus, warf ſich ſein Schwert um
die Schulter, und weckte nun auch ſeinen Sohn Tele¬
mach und die beiden Hirten, die ſofort alle drei auf ſeinen
Befehl gleichfalls die Waffen ergriffen, und mit dem
erſten Frühlichte, den Helden an der Spitze, durch die
Stadt eilten. Ihre Beſchirmerin aber, Pallas Athene,
hüllte die Wandelnden in einen dichten Nebel, ſo daß
kein einziger Bewohner der Stadt ſie erkannte.


Es dauerte nicht allzu lange, ſo hatten die vier
Wanderer den lieblich gelegenen, wohl geordneten Mei¬
erhof des greiſen Laertes erreicht. Es war eines der
erſten Güter, das der Vater des Odyſſeus zum Ererb¬
ten an ſich gebracht hatte. In der Mitte des Hofes
lag, von Wirthſchaftsgebäuden umringt, das Wohnhaus.
Hier aßen und ſchliefen die Knechte, die ihm das Feld
beſtellten. Eben daſelbſt wohnte auch eine alte Sicili¬
erin, die auf dem einſamen Landgute den alten Mann
mit größter Sorgfalt pflegte. Als ſie nun vor der
Wohnung ſtanden, ſprach Odyſſeus zum Sohn und zu
[277] den Hirten: „Betretet ihr einſtweilen das Haus und
ſchlachtet ein auserleſenes Maſtſchwein für unſer Mit¬
tagsmahl. Ich ſelbſt will aufs Feld hinaus gehen, wo
der gute Vater ohne Zweifel bei der Arbeit iſt, und ihn
auf die Probe ſtellen, ob er mich wohl noch erkennt.
Es wird nicht lange währen, ſo kehre ich mit ihm zu¬
rück, und wir feiern dann zuſammen das fröhliche Mahl.“
Odyſſeus reichte ſeinen Genoſſen Schwert und Speer,
und dieſe wandten ſich der Wohnung zu.


Er nun ſchlug den Weg nach den Pflanzungen
ſeines Vaters ein, und kam zuerſt durch den Wurzgar¬
ten. Vergebens ſah er ſich hier nach dem Oberknechte
Dolius, ſeinen Söhnen und den übrigen Knechten um.
Sie waren Alle ins Feld hinausgegangen, um Dorn¬
ſträucher zu ſuchen, und damit die Einfriedigung um
die Baumpflanzung herzuſtellen. Als der König in dieſer
letzteren angekommen war, fand er endlich den alten
Vater ſelbſt, zwiſchen den ſchönen Reihengängen ſeiner
Bäume ſtehend, wie er eben beſchäftigt war, ein kleines
Bäumchen umzugraben. Der Greis ſah einem alten
Knechte nicht unähnlich: er hatte einen groben, ſchmutzi¬
gen, an vielen Stellen geflickten Leibrock an; um die
Beine trug er ein paar alte Felle von Ochſenleder, um
ſich damit gegen die Dornen zu ſchützen; an den Hän¬
den Handſchuhe; auf dem Kopf eine Mütze von Gais¬
fell. Als Odyſſeus ſeinen Vater in dieſem elenden
Aufzuge erblickte, gebeugt vom Alter, die Spuren des
tiefſten Kummers auf dem Geſichte, mußte ſich der Held
vor Schmerz an den Stamm eines Birnbaums lehnen,
und weinte bitterlich. Am liebſten hätte er den Vater
unter Küſſen umarmt, und ihm auf einmal geſagt, daß
[278] er ſein Sohn, und ins Land der Väter zurückgekehrt
ſey. Doch konnte er der Verſuchung nicht widerſtehen,
auch den Vater auszuforſchen, und mit leiſem Tadel
ſein Herz auf die Probe zu ſtellen. So trat er denn
während der Greis mit gebücktem Haupte eifrig die Erde
um den jungen Baumſproß auflockerte, dieſem näher und
begann alſo: „Greis, du ſcheinſt dich recht gut auf den
Gartenbau zu verſtehen. Reben, Oliven-, Feigen-, Birn-
und Aepfelbäume, alle ſind aufs beſte gepflegt; auch
den Blumen- und Gemüßbeeten fehlt es nirgends an der
nöthigen Sorge. Aber an Einem fehlt es dir doch, und
nimm es mir nicht übel, daß ich dirs ehrlich ſage: du
ſelbſt ſcheinſt nicht gehörig gepflegt zu werden, Alter,
daß du in ſolchem Schmutz und ſo häßlicher Kleidung
einhergeheſt! Von deinem Herrn iſt das nicht wohlge¬
than. Auch ſcheint mir deine eigene Trägheit nicht an
dieſer Behandlung ſchuld zu ſeyn. Betrachtet man deine
Geſtalt und Größe, ſo findet ſich gar nichts knechti¬
ſches an dir, du haſt vielmehr ein königliches Anſehen;
ein Mann wie du verdiente es, gebadet und wohlgeſpeist
auszuruhen, wie man's den Alten gönnen mag. So
ſage mir doch, wer iſt dein Herr, und für wen beſtellſt
du dieſen Garten? Und iſt dieſes Land wirklich Ithaka,
wie mir ein Mann, dem ich eben begegnete, geſagt hat?
es war übrigens ein unfreundlicher Menſch; er antwor¬
tete mir nicht einmal, als ich ihn fragte, ob der Gaſt¬
freund noch lebe, den ich hier beſuchen will. In meiner
Heimath habe ich nämlich vor langer Zeit einen Mann be¬
herbergt, — es iſt noch nie ein lieberer Gaſt über meine
Schwelle gekommen. Dieſer ſtammte von Ithaka und er¬
zählte mir, daß er ein Sohn des Königs Laertes ſey; ich
[279] bewirthete den werthen Freund aufs allerbeſte und reichte
ihm ein ſtattliches Ehrengeſchenk, als er von mir ſchied:
ſieben Talente des feinſten Goldes, einen ſilbernen Krug
mit den ſchönſten Blumengewinden vom ſelben Metall, zwölf
Teppiche, ebenſoviele Leibröcke und Mäntel, und vier
ſchmucke kunſtbegabte Mägde, die er ſich ſelbſt ausleſen
durfte.“


So fabelte der erfindungsreiche Odyſſeus. Sein Va¬
ter aber hatte bei dieſer Nachricht das Haupt vom Boden
aufgerichtet; Thränen waren ihm in die Augen getreten,
und er ſprach: „Freilich, guter Fremdling, biſt du in das
Land gekommen, nach welchem du frägſt. Aber es wohnen
muthwillige, frevelhafte Menſchen darin, die du mit allen
deinen Geſchenken nicht zu erſättigen vermöchteſt. Der
Mann, welchen du ſuchſt, iſt nicht mehr da. Hätteſt
du ihn noch lebend auf Ithaka getroffen, o wie reichlich
hätte er deine ſchönen Geſchenke dir vergolten! Aber
ſage mir, wie lang iſt es her, daß dein unglücklicher
Gaſtfreund, mein Sohn, dich beſucht hat? Denn er
iſt es geweſen, mein armer Sohn, der jetzt vielleicht
irgendwo im tiefen Meeresgrunde liegt, oder deſſen Fleiſch
die wilden Thiere und die Raubvögel verzehrt haben.
Nicht die Eltern haben ihm das Todtenhemde angezogen,
nicht ſeine edle Gattin Penelope hat ſchluchzend am
Bette des Gatten geweint und ihm die Augen zugedrückt!
Aber wer und woher biſt denn du, wo iſt dein Schiff,
wo ſind deine Genoſſen? Oder kamſt du auf einem ge¬
dungenen Fahrzeug als Reiſender, und biſt allein an
unſerm Ufer ausgeſtiegen?“


„Ich will dir nichts vorenthalten, edler Greis,“
antwortete Odyſſeus, „ich bin Eperitus, der Sohn des
[280] Aphitas aus Alibas; ein Sturm hat mich wider Wil¬
len von Sikanien an euer Geſtade getrieben, wo mein
Schiff nicht ferne von der Stadt vor Anker liegt. Fünf
Jahre ſind's, daß dein Sohn Odyſſeus meine Heimath
verlaſſen hat. Er gieng fröhlichen Muthes, und Glücks¬
vögel begleiteten ihn. Wir gedachten uns noch oft als
Gaſtfreunde zu ſehen, und uns gegenſeitig ſchöne Gaben
zu verehren.“


Dem alten Laertes wurde es Nacht vor den Au¬
gen, mit beiden Händen langte er nach der ſchwarzen
Erde, ſtreute ſie ſich auf ſein ſchneeweißes Haupt, und
fing laut zu jammern an. Jetzt wallte dem Sohn das
Herz über; der Athem wollte ihm die Bruſt zerſprengen:
er ſtürzte auf ſeinen Vater zu, umſchlang ihn unter
Küſſen und rief: „Ich ſelbſt bin es, Vater, ich ſelbſt,
nach welchem du frägſt! im zwanzigſten Jahre bin ich
in die Heimath zurückgekommen. Trockne deine Thränen,
gib allem Jammer Abſchied, denn ich ſage dir's kurz:
alle Freier habe ich in unſerem Palaſte erſchlagen!“


Staunend blickte ihn Laertes an, und rief endlich
laut aus: „Wenn du wirklich Odyſſeus, wenn du mein
heimgekehrter Sohn biſt, ſo gib mir ein unzweifelhaftes
Zeichen, auf daß ich glaube!“ „Vor allen Dingen,“
erwiederte Odyſſeus, „ſieh hier die Narbe, lieber Vater,
die von der Wunde des Ebers auf jener Jagd herrührt,
als ihr mich ſelbſt, du und die Mutter, zu ihrem guten
alten Vater Autolykus ſchicktet, daß ich die Gaben, die
er mir einſt verheißen hatte, bei ihm abhohlen ſollte.
Aber du ſollſt auch noch ein zweites Zeichen haben: ich will
dir die Bäume zeigen, die du mir einſt geſchenkt haſt.
Denn als ich noch ein kleines Kind war, und dich in
[281] den Garten begleitete, da gingen wir zwiſchen den Rei¬
hen umher, und du zeigteſt und benannteſt mir die ver¬
ſchiedenen Gattungen. Dreizehn Birnbäume haſt du mir
geſchenkt, zehn Aepfelbäume, vierzig kleine Feigenbäume
und fünfzig Weinreben dazu, die jeden Herbſt voll
prächtiger Trauben ſtehen müſſen.“ Der Greis konnte
nicht mehr zweifeln, er ſank am Herzen ſeines Sohnes
in Ohnmacht. Dieſer hielt ihn aufrecht in den nervigen
Armen. Endlich, als ſein Bewußtſeyn zurückgekehrt war,
rief er mit lauter Stimme: „Jupiter und ihr Götter alle,
ja ihr lebet noch, ſonſt wären die Freier nicht beſtraft
worden! Aber jetzt ängſtigt mich eine neue Sorge um
dich, mein Sohn. Die edelſten Häuſer in Ithaka und
den Inſeln ſind durch dich verwaist: die Stadt, die
ganze Nachbarſchaft wird ſich gegen dich erheben.“
„Sey guten Muthes, lieber Vater,“ ſprach Odyſſeus,
„und laß dich das jetzt nicht bekümmern. Folge mir
zu deinem Wohnhauſe, dort harren ſchon dein Enkel
Telemach, der Rinderhirt und der Sauhirt, und haben
uns das Morgeneſſen bereitet.“


So gingen ſie beide zuſammen in das Landhaus,
wo ſie den Telemach und die Hirten ſchon mit Zerle¬
gung des Fleiſches beſchäftigt fanden, und der rothe
Feſtwein eingeſchenkt in den Pokalen perlte. Noch vor
dem Schmauſe wurde Laertes auf Veranſtaltung ſeiner
treuen alten Dienerin gebadet und geſalbt, und legte
zum erſtenmale nach langen Jahren wieder ſein ſchönes
fürſtliches Gewand an. Während er ſich damit beklei¬
dete, nahte ſich ihm unſichtbar die Göttin Pallas Athene,
und verlieh auch dem Greiſe aufrechten Wuchs und
Hoheit der Geſtalt. Als er wieder zu den Andern ein¬
[282] trat, blickte ſein Sohn Odiſſeus verwundert an ihm
empor und ſprach: „Vater, ſicherlich hat einer der un¬
ſterblichen Götter dir Geſtalt und Wuchs verherrlicht!“
„Ja, bei allen Göttern,“ ſagte Laertes, „wäre ich, wie
ich mich heute verjüngt und kräftig fühle, geſtern bei
dir im Saale geſtanden und hätte an deiner Seite ge¬
kämpft: fürwahr, es wäre mancher Freier ſterbend vor
mir ins Kniee geſunken!“


So wechſelten ſie miteinander freudige Geſpräche,
und ſetzten ſich endlich Alle ums Mahl. Jetzt kam auch
der alte Meier Dolius ſammt ſeinen Söhnen, müde von
der Feldarbeit, zurück. Ueber die Schwelle getreten,
ſahen ſie den König Odyſſeus daſitzen, erkannten ihn
und ſtanden ſtaunend, wie in den Boden gewurzelt.
Odyſſeus aber redete ihnen freundlich zu: „Geſchwind
Alter, ſetze dich mit deinen Söhnen zu uns ans Mahl,
wir harren ſchon lang auf euch! nehmt euch ein ander¬
mal Zeit zum Staunen.“ Da eilte Dolius mit ausge¬
breiteten Armen auf den Helden zu, ergriff ſeine Hand
und bedeckte ſie mit Küſſen. „Lieber Herr, Heil dir und
Segen,“ rief er, „nachdem du unſer Aller Wunſch er¬
füllt haſt, und endlich heimgekommen biſt! Sage mir,
weiß es Penelope ſchon, oder ſollen wir ihr Botſchaft
zukommen laſſen?“ „Sie weiß Alles,“ antwortete
Odyſſeus, „du darfſt dich nicht bemühen.“ Da ſetzte
ſich Dolius zum Mahle; ſeine Söhne drängten ſich um
Odyſſeus, drückten ihm die Hände und hießen ihn will¬
kommen; dann nahmen auch ſie an der Seite ihres
Vaters Platz, und Alles ſchmauſte fröhlich zuſammen.


[283]

Aufruhr in der Stadt durch Athene geſtillt.

In der Stadt Ithaka eilte inzwiſchen das Gerücht
durch alle Straßen und verkündigte das grauſame Ver¬
hängniß, das die Freier getroffen hatte. Von allen
Seiten her drängten ſich jetzt die Blutsverwanden der
Gefallenen nach dem Palaſte des Odyſſeus, wo ſie
an einer abgelegenen und abgeſonderten Stelle des Hofes
die Leichname der Ihrigen aufgeſchichtet fanden. Unter
lauten Wehklagen, darein ſich Drohungen miſchten, tru¬
gen ſie die Todten, ein Jeder den Seinigen hinaus,
und beſtatteten ſie: die aber aus andern Städten und
Inſeln waren, wurden auf ſchnellen Fiſcherkähnen in
ihre Heimath geſendet. Dann verſammelten ſich die
Väter, Brüder und Anverwandten der Freier insgeſammt
auf dem Markte, und in der zahlreichen Volksverſamm¬
lung trat Eupithes auf. Dieß war der Vater des An¬
tinous, des jugendlichſten und trotzigſten Freiers, des
erſten, der von Odyſſeus Pfeile gefallen war. Der
Vater war ein mächtiger, hochangeſehener noch rüſtiger
Mann, dem unheilbarer Schmerz um den Tod ſeines Sohnes
an der Seele nagte. Dieſer vergoß Thränen vor dem Volke
und ſprach: „Freunde, gedenket an das mannichfaltige
Unglück, das der Mann, den ich vor euch verklage,
über Ithaka und die Nachbarſtädte gebracht hat! Vor
zwanzig Jahren entführte er uns ſo viele und ſo tapfere
Männer auf ſeinen Schiffen; verlor die Schiffe, verlor
die Genoſſen. Endlich allein wieder heimgekehrt, hat
[284] er die edelſten Jünglinge unſeres Volksſtamms erſchlagen.
Auf denn, ehe ſich der Verbrecher hinüber auf die Pe¬
lopsinſel nach Pylos oder Elis rettet, folget ihm nach,
ergreifet ihn! Wir könnten ſonſt vor Schmach die Augen
nicht wieder aufſchlagen. Ja für unſere ſpäteſten Ge¬
ſchlechter wär' es noch eine Schande, wenn wir, ihre
Ahnen, die Mörder unſerer leiblichen Söhne und Brü¬
der nicht beſtraft hätten. Ich wenigſtens könnte nicht
mehr mit gutem Gewiſſen leben: über ein kurzes, ſo
zöge der Schatten des Sohnes mich zu ſich hinab!
Darum ihnen nach, wenn ihr Männer ſeyd! greifen wir
Vater und Sohn, ehe ſie uns übers Meer entrinnen!“


Erbarmen ergriff die ganze Verſammlung, als ſie
den Mann unter Thränen alſo reden hörten. In dieſem
Augenblicke kamen aus dem Palaſte des Königes Phe¬
mius der Sänger und der Herold Medon gewandelt,
und traten auf dem Markt in den Kreis der Verſam¬
melten. Die Männer ſtaunten nicht wenig, die beiden
längſt auch verloren geachteten noch am Leben zu ſehen.
Hierauf erbat ſich Medon der Herold das Wort, und
ſprach zu dem verſammelten Volk: „Männer von Ithaka,
höret meine Rede. Was Odyſſeus vollbracht hat, das
hat er, ich kann es euch beſchwören, nicht ohne den
Rathſchluß der Unſterblichen vollendet. Ich ſelbſt habe
den Gott geſehen, der ihm in Mentors Geſtalt immer
zur Seite war, und bald dem Odyſſeus das Herz kräf¬
tigte, bald umher tobend im Saale, die Beſinnung der
Freier zerrüttete. Das Werk dieſes Gottes iſt es, daß
ſie ſterbend über einander taumelten.“


[Entſetzen] ergriff das verſammelte Volk, als es den
Herold ſo ſprechen hörte. Als der erſte Eindruck vorüber
[285] war, nahm ein ergrauter Held, Halitherſes, der Sohn
Maſtors, der allein unter Allen auf die Vergangen¬
heit zurückzublicken und hinüber zu ſchauen in die Zu¬
kunft verſtand, in der Verſammlung das Wort, und
ſprach: „Höret, ihr Einwohner von Ithaka, was ich
euch zu Gemüthe führen will. Ihr ſelbſt ſeyd ſchuld an
Allem, was geſchehen iſt. Warum waret ihr ſo träge,
warum habt ihr meinen und Mentors Rath nicht befolgt,
und habt eure üppigen Söhne nicht im Zaume gehalten,
als ſie Tag für Tag hingingen, dem abweſenden Manne
ſein Gut verpraßten, und unwürdige Forderungen an
ſeine Gemahlin richteten, als käme er nimmermehr zurück?
Ihr ſelbſt habt euch Alles dasjenige zuzuſchreiben, was
jetzt im Palaſte vorgefallen iſt. Und wenn ihr klug ſeyd,
ſo werdet ihr mit nichten den Mann verfolgen, der ſich
nur der Feinde ſeines Hauſes erwehrt hat. Thut ihr
es, ſo komme das Unheil über euch, das ihr euch ſelbſt
herbeiziehet.“


Halitherſes trat unter das Volk zurück, und unter
der Verſammlung entſtand Getümmel und Zwieſpalt. Die
eine Hälfte erhob ſich zornig und ſtürmiſch, die andere
beharrte bei der Berathung. Die aufgeregte Hälfte hielt
es mit den Vorſchlägen des Eupithes; dieſer Theil der
Bürger warf ſich in die Rüſtungen, kam auf dem Blach¬
felde vor der Stadt zuſammen, und nun ſtellte ſich Eu¬
pithes an die Spitze der Heerſchaar und machte ſich mit
ihr auf, den Tod ſeines Sohnes und der andern Freier
zu rächen.


Sobald Pallas Athene vom Olymp herab den Aus¬
zug dieſes Haufens gewahr wurde, trat ſie vor ihren
Vater Jupiter und ſprach: „Herr der Götter, eröffne
[286] mir, mit welchem Rathe deine Weisheit ſich trägt.
Willſt du die ruhigen Einwohner Ithaka's durch Krieg
und Zwietracht züchtigen, oder gedenkſt du den Streit
beider Parteien im Frieden beizulegen?“ „Was willſt
du ſchon Beſchloſſenes erforſchen, Tochter!“ antwortete
Jupiter, „haſt du nicht ſelbſt mit meinem Willen den
Beſchluß gefaßt und vollzogen, daß Odyſſeus endlich als
ein Rächer in ſeine Heimath zurückkehre? Nachdem dir
dieß gewährt worden iſt, ſo thue auch ferner, was dir
gefällt; willſt du aber mein Gutdünken wiſſen, ſo iſt es
dieſes: nachdem Odyſſeus die Freier geſtraft hat, werde
ein heiliger Bund beſchworen, und er ſey und bleibe ihr
König für immer. Uns aber laß dafür ſorgen, daß aus
dem Geiſt aller Betheiligten die Ermordung ihrer Söhne
und ihrer Brüder vertilgt werde; gegenſeitige Liebe ſoll
unter Allen herrſchen wie zuvor; Einigkeit und Wohlſtand
ſollen unerſchüttert bleiben.“


Jupiters Entſcheidung war der Göttin hochwillkom¬
men. Sie verließ das Felſenhaupt des Olymp, durch¬
flog die Luft, und ließ ſich auf der Inſel Ithaka nieder.

Der Sieg des Odyſſeus.

Auf dem Landgute des Laertes war das Mahl vor¬
über. Sie ſaßen noch um den Tiſch gelagert, als der
Held nachdenklich zu ſeinen Freunden ſprach: „Mir
däucht, unſere Gegner werden in der Stadt auch nicht
gefeiert haben, und es dürfte nicht überflüſſig ſeyn,
wenn einer aus dem Hauſe ſich aufmachte, die Straße
auszukundſchaften.“ Auf der Stelle ſtand einer von
[287] den Söhnen des Dolius auf und ging, ſeinem Worte
gehorſam, über die Schwelle des Hauſes. Er brauchte
ſich nicht weiter von der Wohnung zu entfernen, denn
er ſah einen gewaltigen Heerhaufen im vollem Anmarſche
begriffen. Erſchrocken kehrte er zu den verſammelten Freun¬
den in den Saal des Hauſes zurück und rief: „Sie
kommen, Odyſſeus, ſie kommen, ſie ſind ganz in der
Nähe! Werft euch eilig in die Rüſtungen.“ Da fuh¬
ren die Tafelnden vom Tiſche auf, und hüllten ſich
augenblicklich in ihre Waffen. Es waren Odyſſeus, ſein
Sohn und die Hirten zu vieren, und ſechs Söhne des
Dolius, endlich, ſo grauköpfig ſie waren, Dolius und
Laertes ſelbſt. Auch ſie hatten ſich gerüſtet und gegürtet.
Odyſſeus ſtellte ſich an die Spitze, und der kleine Trupp
trat aus der Pforte des Hauſes hervor.


Kaum waren ſie im Freien, als ſich in Mentors
Geſtalt der gewaltigſte Bundesgenoſſe zu ihnen geſellte,
die erhabene Göttin Pallas Athene. Dieſer Anblick er¬
füllte den Helden Odyſſeus, der ſie auf der Stelle er¬
kannte, mit der freudigſten Hoffnung. „Telemach,“ ſprach
er zu ſeinem Sohn, „erfülle jetzt die Erwartungen, die
dein Vater von dir hegt. Zeige dich in der Schlacht
da, wo die tapferſten Männer fechten, und mache dei¬
nem Stamm Ehre, der ſich von jeher durch Tapferkeit
und Muth unter allen Sterblichen ausgezeichnet hat.“
„Kannſt du nach der Schlacht mit den Freiern an mei¬
ner Kampfluſt noch zweifeln, Vater?“ erwiederte Tele¬
mach. „Du wirſt ſehen, daß ich deinen Stamm nicht
ſchände!“ Solcher Worte freute ſich Laertes, der Vater
und Großvater. „Welch ein Tag iſt dieß, ihr Götter,“
rief er, „wie frohlockt mein Herz! Einen Wettkampf
[288] der Tapferkeit beginnen ihrer drei: Vater, Sohn und
Enkel!“ Da nahte Pallas Athene dem Greis, und flü¬
ſterte ihm ins Ohr: „Sohn des Akriſius, mir lieb vor
allen deinen Streitgenoſſen, richte dein Gebet an Jupi¬
ter und Jupiters Tochter: dann wage einen kühnen Lan¬
zenſchwung.“ So ſprach Athene und erfüllte die Bruſt
des Alten mit Muth. Er flehte zu Zeus und Athene,
und ſandte die Lanze ab. Der Wurf des Laertes fehlte
nicht: er traf das Helmviſir des feindlichen Anführers
Eupithes, und dieſes vermochte den kräftig geſchwunge¬
nen Speer nicht zu hemmen, er durchbohrte die Wange
des Feindes, und der Vater des Antinous raſſelte mit
ſeinen Waffen getödtet in den Staub. Odyſſeus aber,
und Telemach und alle ihre Genoſſen wütheten im Vor¬
derkampfe mit Schwert und Lanze, und ſie hätten alle
Feinde vertilgt, und keiner hätte die Heimath wiederge¬
ſchaut, wenn nicht plötzlich Pallas Athene ihre Götter¬
ſtimme hätte ertönen laſſen, und ihr lauter Zuruf alle
Streiter mitten im Kampfe gehemmt hätte. „Laßt ab,
ihr Ithaker, laßt ab,“ rief ſie, „vom unſeligen Kriege;
ſchonet Menſchenblut und trennet euch!“


Entſetzen ergriff die Herangekommenen bei dieſem
Donnerlaute, die Waffen fielen den Erſchrockenenen aus
der Hand und rollten auf die Erde, wie vom Sturm¬
wind umgewendet drehten ſich die Feinde und flohen der
Stadt zu, nur darauf bedacht, ihr Leben zu retten.
Odyſſeus und die Seinigen aber waren beim Rufe der
Bundesgenoſſin nicht erſchrocken: hoch ſchwangen ſie Lan¬
zen und Schwerter, und Odyſſeus flog an der Spitze
der Verfolgenden, fürchterlich ſchreiend vorwärts, wie
ein Adler, der einem Raube zuſtürzt. Vor ihnen allen
[289] her aber zog wie im Gewitterflug Athene, noch immer
in Mentors Geſtalt.


Doch Jupiters Befehl ſollte erfüllt, und der Friede
nicht länger geſtört werden, ſein Blitz ſchlug vor der
Göttin in den Boden, und die Unſterbliche ſelbſt bebte
vor dem Strahle zurück. „Sohn des Laertes,“ ſprach
ſie, zu Odyſſeus rückwärts gewendet, „jetzt laß ab vom
Kampfe, bezähme dein Herz, du möchteſt dem allmäch¬
tigen Donnerer mißfallen!“ Mit williger Seele ge¬
horchten Odyſſeus und ſeine Schaar, und Athene
zog mit ihnen Allen in die Stadt zurück, und auf
den Marktplatz von Ithaka. Herolde wurden ausge¬
ſendet und alles Volk zur Verſammlung entboten.
Und nun erfüllte ſich Jupiters Verſprechen; aus allen
Herzen war der Groll gewichen. An Geſtalt und Stimme
Mentorn ähnlich, erneuerte Pallas Athene ſelbſt zwiſchen
Odyſſeus und den Häuptern der Stadt und Gegend den
Bund des ewigen Landfriedens, und dieſe huldigten mit
dem geſammten Volke dem Helden als ihrem König und
Schutzherrn. Jubelnde Schaaren begleiteten ihn nach
dem Palaſte zurück, aus welchem ihm Penelope, zu wel¬
cher der Ruf des Sieges und des Friedens gedrungen
war, mit allen ihren Dienerinnen, bekränzt und feſtlich ge¬
ſchmückt, entgegen trat. Lange glückliche Jahre verlebte
das wieder vereinigte Gattenpaar. Erſt in ſpäter Zeit
erfüllte ſich an Odyſſeus, was ihm einſt Tireſias in der
Unterwelt von ſeinen letzten Schickſalen geweiſſagt hatte.


Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 19
[[290]][[291]]

Viertes Buch.

Aeneas.
Erſter Theil.

Aeneas verläßt die trojaniſche Küſte. — Den Flüchtlingen wird
Italien verſprochen. — Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien. —
Aeneas an der Küſte Italiens. Sicilien und der Cyklopenſtrand.
Tod des Anchiſes. — Aeneas nach Karthago verſchlagen. — Venus
von Jupiter mit Rom getröſtet. Sie erſcheint ihrem Sohn. —
Aeneas in Karthago. — Dido und Aeneas. — Dido's Liebe bethört
den Aeneas. — Aeneas verläßt auf Jupiters Befehl Karthago. —


19 *[[292]][[293]]

Aeneas verläßt die trojaniſche Küſte.

Seinen Vater Anchiſes auf den Schultern, ſeinen
Sohn Askanius an der Hand, geſchützt von ſeiner Mutter
Venus, war der trojaniſche Held Aeneas dem Brande
ſeiner eroberten Vaterſtadt entronnen*), und am Fuße
des Idagebirges, wo dieſes in das Meer ausläuft, in
der kleinen Hafenſtadt Antandros angekommen. Hier
ſammelten ſich um ihn befreundete Flüchtlinge in großer
Anzahl, Männer, Frauen und Kinder, lauter un¬
glückliche, des Vaterlands verluſtige Menſchen, und alle
bereit, unter ſeiner Anführung eine neue Heimath auf¬
zuſuchen. Noch ungewiß, wohin ſie das Geſchick führen,
wo es ihnen Ruhe vergönnen würde, fingen ſie mit
Hülfe der geretteten und zuſammengeſchoſſenen Habe ſich
eine Flotte zu zimmern an, die mit dem erſten Beginne
des Frühlings fertig war, unter Segel zu gehen. Der
älteſte Trojaner, der ſich in ihrer Mitte befand, der greiſe
Held Anchiſes ſelbſt gab das Zeichen zum Aufbruch, und
ſagte zuerſt dem unterjochten Geburtsland ein ewiges
Lebewohl. Weinen und Wehklagen ertönte von den
Schiffen, als ſie ſich von der Heimathküſte loßrißen, und
bald war dieſe aus den Blicken der Flüchtlinge ver¬
ſchwunden.


Nach einer ununterbrochenen Fahrt von mehreren
Tagen landete die Flotte an dem Geſtade Thraciens,
das vor Zeiten der wilde Verächter des Bacchus, der
König Lykurgus beherrſcht ha te, deſſen jetzige Bewohner
[294] aber, ſo lange der Staat der Trojaner noch beſtand,
durch gleichen Götterdienſt und Gaſtfreundſchaft mit die¬
ſen aufs genaueſte verbunden waren. Doch hatte dieß
Verhältniß eine grauſame Störung erlitten, denn als das
Glück von Troja zu wanken begann, und Ajax der Te¬
lamonier vom Schiffslager der Griechen aus einen Streif¬
zug zur See gegen die mit Priamus verbündeten Thra¬
cier unternommen hatte, lieferte Polymneſtor, der treu¬
loſe König des Landes, den jungen Sohn des trojani¬
ſchen Königs, Polydorus, den Griechen aus und erkaufte
ſich mit dieſer Gabe den Frieden. Der Jüngling aber
wurde von den Belagerern unter den Mauern Troja's
und vor den Augen des Vaters geſteinigt.*)


Doch Aeneas wußte nicht, an welchem Ufer er mit
ſeinen Schiffen vor Anker gegangen war. Voll Freude, eine
wirthliche Küſte erreicht zu haben, betrat er mit ſeinen Freun¬
den das Land, und ohne von den Eingebornen gehindert
zu werden, ſchritten ſie zu einer Niederlaſſung, und leg¬
ten den Grund zu einer neuen Stadt, in deren ruhi¬
gem Beſitze ſie ſich von den Schlägen des Schickſals
zu erholen gedachten, und welcher Aeneas, als das Haupt
der Auswanderer, ſeinem eigenen Namen nach den Na¬
men Aenos beilegte. Der Bau war ſchon im Werden,
und der fromme Held wollte für ſein Werk den Schutz
der Unſterblichen erflehen, und brachte Jupiter dem Göt¬
tervater und ſeiner eigenen Mutter Venus einen untad¬
lichen Stier am Geſtade zum Opfer. In der Nähe be¬
fand ſich ein luſtiger Hügel, auf welchem Kornellen und
Myrthen in üppigem Wuchſe wucherten. Nach dieſem
[295] Wäldchen hatte ſich Aeneas begeben, um die friſch er¬
richteten Raſenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken.
Da erfuhr er ein Grauſen erregendes Wunder. Sobald
er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen
aus dieſen ſchwarze Blutstropfen und floßen auf den
grünen Waldboden, daß dem Helden ſelbſt in den Adern
das Blut erſtarrte. Angſtvoll warf ſich Aeneas auf die Erde
und flehte zu den Nymphen des Waldes, und zu Bacchus,
dem Schutzgotte der thraciſchen Fluren, die Schrecken ab¬
zuwenden, mit welchen dieſes Wunderzeichen ihm drohte.
Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäum¬
chen, und mit dem Knie auf dem Boden geſtemmt, ver¬
ſuchte er, es zu entwurzeln. Da ließ ſich ein klägliches
Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam
ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen
ſprach: „Was quäleſt du mich, unglücklicher Aeneas? meine
Seele wohnt in dieſem Boden, in den Wurzeln und Aeſten
dieſes Waldes, in welchem ich als Kind einſt ahnungs¬
los ſpielte. Ich bin dein Namensgenoſſe, dein Verwandter,
Aeneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der
einſt von ſeinem Pflegevater an die Griechen verrathen
und vor deinen Augen unter Troja's Mauern zerſchmet¬
tert ward. Mein Gebein iſt von mitleidigen Thraciern
geſammelt und hier im Vaterlande beſtattet worden.
Verletze meine Freiſtätte nicht, du ſelbſt aber fliehe dieſes
Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht,
denn noch herrſcht das Geſchlecht des Verräthers in
dieſem Lande.“


Als Aeneas ſich vom erſten Schrecken erholt hatte,
kehrte er zu den Seinigen zurück und meldete das Ge¬
ſicht zuerſt ſeinem Vater, und dann den andern Häuptlingen
[296] des ausgezogenen Volkes. Alle vereinigten ſich, mit ihm
die verruchte Stätte des entweihten Gaſtrechts zu ver¬
laſſen. Die begonnenen Arbeiten wurden eingeſtellt, und
nachdem ſie dem unglücklichen Polydorus ein Todtenfeſt
gefeiert, ſchoben die Trojaner ihre Schiffe wieder vom
Strande, beſtiegen ſie und verließen mit ihnen den Ha¬
fen. Günſtiger Wind führte ſie bald weit in die offene
See hinaus, und nach glücklicher Fahrt erſchien ihnen
mitten im Meer, unter vielen andern Inſeln, ein wunder¬
liebliches kleines Eiland, das ſich lachend aus den Fluten
emporhob. Seine Name war Delos, es war einſt eine
ſchwimmende Inſel geweſen, und Apollo war auf ihr
geboren und hatte ſich ihrer, als ſie wie unentſchloſſen
um andere Inſeln und Küſtenländer herumirrte, mitleidig
angenommen, und ſie in der Mitte der Cykladeninſeln
in dem Meeresgrunde befeſtigt, daß ſie hinfort den Stür¬
men trotzen und glückliche Bewohner nähren konnte. Die
Menſchen, die ſich dort anſiedelten, hatten dankbar ihre
Stadt dem Apollo geweiht, und waren gaſtliche, gute
Leute. Dorthin ſteuerte Aeneas mit ſeiner Flotte, und
ein ſicherer Hafen nahm die müden Seefahrer auf. Sie
landeten und betraten die Stadt, die dem Fernhintreffer
Phöbus Apollo gewidmet war, mit tiefer Ehrfurcht.
Ihr König Anius, der zugleich Prieſter des Phöbus
war, wandelte, mit der heiligen Binde um die Schläfe,
und dem Lorbeer in der Hand, den Ankömmlingen ent¬
gegen, und erkannte in dem greiſen Anchiſes einen alten
Gaſtfreund. Unter Gruß und Handſchlag wurden Ae¬
neas und ſeine Genoſſen in die Mauern aufgenommen,
und wallfahrteten vor allem andern in den alterhümlichen
Tempel des Schutzgottes der Inſel. Aeneas warf ſich
[297] in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollo's nieder, und
betete mit aufgehobenen Händen: „Gib uns, du großer
Beſchützer des trojaniſchen Volkes, ein eigenes Haus,
gönn' uns eine bleibende Stadt; laß das Geſchlecht dei¬
ner Schützlinge nicht ausſterben, hilf ihnen ein zweites
Troja gründen! Sprich, wer ſoll unſer Führer ſeyn?
wohin ſchickſt du uns? Gib uns ein Zeichen, großer
Gott, offenbare dich unſern Seelen!“


Kaum hatte der Held ſolches geſprochen, als die
Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel
umgab, und das ganze Gebirge ringsumher ſichtlich und
fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tem¬
pels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: „Aus¬
dauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schooß
eines Landes zurück, das ſchon den Stamm eurer Ahn¬
herren getragen hat. Eure alte Mutter ſuchet ihr auf:
von dort aus wird das Haus des Aeneas in ſeinen ſpä¬
teſten Enkeln alle Länder der Erde beherrſchen.“


Bei der Stimme des Gottes hatten ſich alle demü¬
thig zur Erde niedergeworfen. Als ſie den günſtigen
Ausſpruch vernommen hatten, ſprangen ſie freudig wieder
auf; ein jubelndes Getümmel entſtand, und ſie befragten
ſich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo
ſpreche, und wo den Irrenden eine neue Heimath winke.


Als ſie ſo untereinander berathſchlagten, erhob der
ehrwürdige Held Anchiſes, der Vater des Aeneas, der
in die Kunden der Vorwelt eingeweiht war, ſeine
Stimme: „Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes,“
ſprach er, „eure Hoffnungen deuten. Mitten im inſelreich¬
ſten Meere liegt eine Inſel, aus welcher Jupiter, der
Göttervater ſelbſt abſtammt. Sie heißt Kreta und iſt
[298] auch die Wiege unſeres Volksſtammes. Und wie Troja's
Hauptgebirg, heißt auch die waldige Bergkette, die ſich
durch dieſes Inſelland zieht, das Idagebirg. Zu ſeinen
Füßen dehnen ſich die fruchtbarſten Fluren, und mit
hundert Städten iſt das Land geſchmückt. Dorther ſoll
unſer Stammvater Teucer ins troiſche Land gekommen
ſeyn, dorther all unſer Götterdienſt ſtammen, und gewiß,
dorthin führt uns auch jetzt Apollo's Befehl, laſſet uns ihm
folgen! Die Reiſe dorthin iſt nicht allzuweit, ſchickt uns
Jupiter Fahrwind, ſo befindet ſich unſere Flotte am drit¬
ten Morgen im Angeſichte der Inſel Kreta.“

Den Flüchtlingen wird Italien verſprochen.

Ueber dieſe Deutung waren die Auswanderer hoch
erfreut. Ehe ſie wieder zu Schiffe gingen, ſchlachteten
ſie dem Meeresgotte Neptunus (Poſeidon) und dem
Apollo, der ſie mit ſeinem Orakel getröſtet hatte, jedem
einen Stier, und den mächtigſten Winden Lämmer, dem
wilden Sturm ein ſchwarzes, dem ſanften Zephyr ein
weißes. Dann verließen ſie den Hafen von Delos,
und ihre Schiffe durchflogen mit dem günſtigſten Fahr¬
winde die Wellen; es war das Inſelmeer der Cykladen,
das Gewäſſer ſchien ganz von Eilanden zu wimmeln, die
da und dort mit ihren ſchneeweißen Marmorfelſen aus
den Fluten ſtiegen. Der heiterſte Himmel begünſtigte
die Fahrt; in die Wette ſteuerten die Fahrzeuge dahin, und
von allen Seiten ertönte fröhliches Geſchrei der Schif¬
fenden: „Auf, ihr Freunde, Kreta geſucht, das theure
Heimathland unſerer Väter aufgefunden!“

[299]

Am dritten Morgen hatte die Flotte wirklich, wie
es von Anchiſes vorausgeſagt worden war, den lachen¬
den Strand der Inſel Kreta erreicht, und als die Flücht¬
linge ausgeſchifft waren, und ſich von den Einwohnern
wohl aufgenommen ſahen, fing Aeneas abermals mit
großer Begierde die erſehnten Mauern einer Pflanzſtadt
zu gründen an. Die Flotte war ans Ufer gezogen, und
unter den fleißigen Händen der Pflanzer ſtiegen bald
Mauern und Häuſer empor, und ſie fingen an ſich
wohnlich einzurichten. Nach Pergamus, der Burg von
Troja, gab Aeneas der neuen Stadt den Namen Per¬
gamus, und auch ſie erhielt ihre geſonderte Burg auf
einem Hügel. Schon beſchäftigte ſich die Pflanzung mit
den erſten bürgerlichen Einrichtungen; unter dem jungen
Volke der Auswanderer wurden Ehen geſchloſſen, Aecker
wurden vertheilt, und die Häupter des Volks traten zu¬
ſammen und beriethen ſich über die Geſetze des erneuten
Volkes: da bedrohte ein neues Unglück die armen Flücht¬
linge mit gänzlichem Verderben. Ein glutheißer Sommer
brannte ringsum die Felder aus, ohne Nahrung erkrankte
die Saat, Gras und Kräuter verdorrten, auf den Bäu¬
men verwelkten die Blüthen ohne Früchte; ein ſchreck¬
liches Sterben riß unter den Menſchen ſelbſt ein, und
was der Tod verſchonte, das ſchleppte ſieche Leiber her¬
um. Auf einer Verſammlung, in welcher der zuſammen¬
ſchmelzende Haufen über ſeine troſtloſe Lage berathſchlagte,
ſtand Anchiſes mit bekümmertem Herzen auf und rieth
ſeinen Unglücksgefährten, die Schiffe wieder zu beſteigen,
rückwärts nach dem Cykladenmeere zu ſteuern, und wieder
auf der Inſel Delos das Orakel dieſes Gottes um gnä¬
digen Aufſchluß anzuflehen, wohin ſie die Schifffahrt
[300] ferner zu richten hätten, und welches Ziel ihrer Noth
beſtimmt ſey. Dieſem Rathe trat das geſammte Volk
bei, und ſie beſchloßen, alles bewegliche Eigenthum auf
die Schiffe zurückzubringen, ſobald dieſes geſchehen ſey,
die Anker zu lichten, und die faſt vollendete Stadt zu
verlaſſen.


Als alle Vorbereitungen getroffen waren, und unter
fortdauerndem Elende die letzte Nacht herankam, welche
ſie unter Kreta's unglücklichem Himmel zuzubringen ge¬
dachten, lag Aeneas, müde von Sorgen, und doch ſchlaf¬
los, auf ſeinem Bette, und ſein Geiſt brütete in der ſtil¬
len Finſterniß. Jetzt ſtellte ſich ein plötzliches Geſicht
ſeinen Augen dar. Der Vollmond brach eben aus den
Wolken und erhellte mit ſeinen Strahlen die Räume ſei¬
nes Schlafgemachs. Da ſchienen in voller Beleuchtung
hart vor dem Liegenden die heiligen Hausgötter der Troja¬
ner, die er aus dem wüthenden Feuer ſeiner Vaterſtadt
gerettet hatte, zu ſtehen. Ihr Mund that ſich auf, ihre
nie vernommene Stimme ſprach zu ihm, und was ſie
redeten, waren Worte des Troſtes: „Apollo ſelbſt,“ ſo
lautete ihre Rede, „ſchickt uns in deine Behauſung. Du
ſollſt uns vertrauen: wir, die wir aus dem Brande
Troja's dir folgten, und auf deiner Flotte mit dir durch
die ſtürmiſche Meeresfluth gefahren ſind, wir werden
deinem Geſchlecht einen Wohnſitz finden, den Ruhm dei¬
ner Enkel verherrlichen, und ihrer Stadt die Herrſchaft
der Welt verleihen. Du ſelbſt biſt dazu erkoren, deinen
großen Nachkommen dieſen Sitz vorzubereiten, und darfſt
deßwegen die langen Beſchwerden der Flucht nicht ſcheuen.
Freilich, den Ort, wo du dich jetzt angeſiedelt, mußt du
verlaſſen, nicht dieſes Ufer hat der deliſche Apollo
[301] gemeint, nicht auf Kreta ſollteſt du dich anbauen; nein,
weit von hier liegt das Land, auf welches dich der Göt¬
terſpruch hinweißt, die Griechen nennen es Heſperien:
es iſt ein uraltes Land, mächtig durch die Waffen ſeiner
Bewohner, reich durch den Segen ſeines Bodens. Seine
erſten Bewohner hießen Önotrier, von den jüngern ſoll
es jetzt Italien genannt werden, und das Volk Italer¬
volk, nach dem Namen eines einheimiſchen Königes
Italus. Dieß iſt der Sitz, der euch von euren Ahnen
her gehört, dorther ſtammen eure Väter Dardanus und
Jaſius, die älteſten Begründer eueres Geſchlechts. Wohlan,
mach' dich auf, melde deinem betagten Vater fröhlich
dieſes unzweifelhafte Wort, Italien ſoll er aufſuchen: die
Gefilde Kreta's verweigert euch Jupiter.“


Ein kalter Angſtſchweiß hatte den Helden überlau¬
fen, ſo lange die Götter vor ihm ſtanden und ſprachen;
doch als ſie verſchwunden waren, fühlte er ſich von ih¬
ren Worten wunderbar getröſtet, raffte ſich vom Lager
auf, ſtreckte die flachen Hände betend, wie die Alten
pflegten, gen Himmel empor, und brachte auf ſeinem
Hausheerde den heimiſchen Göttern ein Trankopfer dar.
Nachdem dieſes fröhlich vollbracht war, eilte Aeneas zu
ſeinem alten Vater, und meldete ihm ausführlich das
Nachtgeſicht. Dieſem gingen die Augen des Geiſtes auf:
er erkannte den doppelten Urſprung der Trojaner, den
einen von Dardanus, den andern von Teucer, und ſah
nun wohl ein, daß er in der Verwechslung der beiden
alten Stammländer ſich getäuſcht habe. „Lieber Sohn,“
ſprach er, „jetzt erſt erinnere ich mich, daß die Seherin
Kaſſandra allein es war, welche mir das Geſchick der
Zukunft richtig geweiſſagt hat. Sie verkündigte unſerem
[302] Geſchlecht ein Land, welches ſie bald Hesperien, bald
Italien benannte. Das geſchah aber, als Troja noch
lange ſtand, und wer dachte damals im Ernſte daran,
daß jemals teukriſche Männer ihre Heimath verlaſſen,
und nach den fernen Küſten Hesperiens auswandern
würden? ja, wer achtete damals überhaupt nur auf die
Reden Kaſſandra's, die für eine Närrin und keine Sehe¬
rin galt! Jetzt aber laßt uns dem Wort Apollo's nach¬
geben, und auf ſeine Warnung dem beſſeren Winke
folgen.“


So ſprach Anchiſes. Inzwiſchen hatte ſich das Volk
zur beſchloſſenen Abfahrt nach Delos verſammelt; als es
nun die neue Weiſung der Götter vernommen, brach es
in einen lauten Jubel aus. Alles rüſtete ſich; nur we¬
nige Kranke und Geneſende blieben in der neugegründe¬
ten Pflanzſtadt zurück. Durch ſie wurde die neue Anſie¬
delung der Trojaner erhalten; glücklichere Zeiten kamen,
die kleinen Ueberbleibſel vermehrten ſich, und in ſpäten
Tagen blühte auf der Inſel Kreta noch Pergamus die
Troerſtadt.


Die Andern aber richteten die Segel, und bald
ſteuerte die Flotte wieder auf der hohen See.

Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien.

Als kein Land mehr ſichtbar, und rings herum nur
Himmel und Gewäſſer war, ſammelte ſich über den
Häuptern der Schiffenden ein graues Gewölk, das Nacht
und Sturm herbeiführte, und die Woge fing in ſchwar¬
zer Finſterniß zu ſchauern an. Sofort brachten Orkane
[303] das Meer in Aufruhr, Berge von Fluthen ſtiegen auf,
die Flotte ward auseinander geworfen, und die Schiffe
trieben zerſtreut über den ſtrudelnden Abgrund hin. Die
ſchwarzen Wetterwolken raubten das Tageslicht und hüll¬
ten Alles in eine dichte Regennacht, welche nur Blitz
auf Blitz aus den zerriſſenen Wolken erhellte. Dieſes
fürchterliche Ungewitter dauerte drei Tage und drei ſtern¬
loſe Nächte, und während dieſer Zeit wußte ſelbſt der
erfahrene Steuermann der Flotte, Palinurus, nicht mehr,
wo ſich in dem blinden Dunkel die Schiffenden befanden,
und welcher Himmelsgegend die umhergeworfenen Fahr¬
zeuge zugetrieben wurden. Endlich am vierten Tage legte
ſich der Sturm allmählig, ein fernes Gebirg zeigte ſich
am Horizont. Dieſer Anblick gab den Verzweifelnden
den geſchwundenen Muth wieder: als ſie dem Lande
näher gekommen waren, zogen ſie die Segel ein, warfen
ſich über die Ruder, und wühlten mit aller Anſtrengung
in dem noch immer empörten Meeresſchaum.


Das Land, welches die Verirrten aufnahm, gehörte
einer der beiden Strophadeninſeln an, die ſich im großen
ioniſchen Meere befinden, der Pelopsinſel gegenüber. Es
war ein unwirthliches, durch ſchauerliche Bewohner ver¬
rufenes Land. Die Harpyien, die gefräßigen Ungeheuer,
ſeitdem ſie die Wohnung des Königes Phineus verlaſſen
hatten, und von ſeinem unglücklichen Tiſche verſcheucht
worden waren, hatten an dieſem Geſtade den häßlichen
Sitz aufgeſchlagen. Dieſe grauſenhaften Scheuſale waren,
wie bekannt, ein Vogelgezücht mit Jungfrauengeſichtern,
die aber, beſtändig vom Hunger gebleicht, entſetzlich an¬
zuſchauen waren. An den Händen hatten ſie Krallen,
mit welchen ſie alle Speiſe ergriffen, deren ſie ſich
[304] bemächtigen konnten, und mit dem ekelhaften Abfluß ihres
Leibes beſudelten ſie jeden Ort, an dem ſie erſchienen.


Von dieſen Bewohnerinnen des ihnen gänzlich un¬
bekannten Ufers hatten Aeneas und ſeine Fluchtgenoſſen
keine Ahnung. Sie liefen in den Hafen ein, der vor
ihnen lag, und waren ganz fröhlich, als ſie ſich wieder
auf feſtem Lande befanden. Der erſte Anblick des Ge¬
ſtades zeigte ihnen auch nichts Unheimliches: Heerden
von Rindern und Ziegen gingen luſtig auf der Weide,
ohne alle Hüter. Der ausgeſtandene Hunger hieß die
Gelandeten nicht lange zögern: ſie fuhren mit dem Schwert
unter das Vieh, brachten Jupiter und den Göttern ein
Schlachtopfer dar, und ſetzten ſich ſelbſt zum leckeren
Schmaus am Ufer in die Runde. Sie erfreuten ſich
aber des Mahles noch nicht lange, als ſie plötzlich von
den nahen Hügeln her einen lauten Flügelſchlag wie von
vielen Vögeln vernahmen. Als wären ſie vom Sturm¬
winde herbeigeführt, erſchienen plötzlich die Harpyien,
fielen über die Speiſen her, zerrten daran herum, und
beſudelten Alles mit ihrer abſcheulichen Berührung. Allent¬
halben ertönte ihre gräßliche Stimme und verbreitete ſich
ihr ſcheußlicher Peſthauch. Die Tafelnden flüchteten
ſich mit ihrer Opfermahlzeit an eine abgelegene Stelle,
unter einen hohlen Felſen, der rings von ſchattigen Bäu¬
men eingeſchloſſen war. Hier zündeten ſie Feuer auf
neuen Raſenaltären an, und ſtellten auch ihr Mahl wie¬
der auf. Aber aus den heimlichſten Winkeln, und von
ganz anderer Himmelsgegend her kam wieder derſelbe
ſauſende Schwarm, machte ſich mit ſeinen Krallenfüßen
an die Beute, und befleckte das Mahl auf alle Weiſe.
Aeneas und die Seinigen griffen endlich zu dem letzten
[305] Mittel, ſie verbargen ihre Schwerter und Schilde rings¬
umher im Gras, und als die häßlichen Vögel ſich wie¬
der im Schwarme herniederſenkten und die krummen Ufer
umflatterten, brachen ſeine Genoſſen auf das Zeichen eines
ihrer Freunde, der vom Felſen herab ſeine Beobachtungen
anſtellte, los und verſuchten es, die Unthiere mit ihren
Schwertern zu erlegen. Aber keine Gewalt vermochte
das Gefieder zu durchdringen, keine Wunde ſaß auf
ihren Rücken feſt: eilige Flucht entzog ſie den Streichen,
ſie ließen ihre Beute angefreſſen zurück, und überall
Spuren voll Unflaths. Nur eine von den Harpyien,
Celäno mit Namen, ſetzte ſich auf den höchſten Felſen,
und brach in die prophetiſchen Fluchworte aus: „Iſt es
nicht genug, uns Rinder und Ziegen gemordet zu haben,
ihr trojaniſchen Fremdlinge? müßt ihr uns unſchuldigen
Harpyien auch noch aus dem Heimathlande vertreiben?
Nun ſo höret die Prophezeihung, die mir Phöbus an¬
vertraut hat, und die ich euch als Rachegöttin verkündige.
Ihr fahret nach Italien, ihr werdet es auch erreichen,
ſein Hafen wird euch aufnehmen: aber nicht eher um¬
gebet ihr die euch verheißene Stadt mit Mauern, als
bis euch ein gräßlicher Hunger, die Strafe für das
Unrecht, das ihr an uns beginget, zwingen wird, von
euren eigenen Tiſchen zu nagen, und dieſelben aufzu¬
zehren.“ So ſprach ſie, ſchwang die Fittige, und floh
in die Waldung zurück. Den Trojanern erſtarrte das
Blut in den Adern vor Schrecken; ſie wußten nicht,
hatten ſie es mit fluchwürdigen Vögeln, oder mit mäch¬
tigen Göttinnen zu thun. Endlich hob der Vater Anchi¬
ſes ſeine Hände flehend gen Himmel und betete zu den
Göttern um Abwendung alles Unheils. Dann rieth er
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 20[306] ſeinem Sohn und den Genoſſen der Flucht, ſich in aller
Eile wieder einzuſchiffen.

Aeneas an der Küſte Italiens. Sicilien und der
Cyklopenſtrand. Tod des Anchiſes.

Nach langen Irrfahrten und mancherlei Abentheuern
erſchien endlich eine niedrige Küſte mit dämmernden Hü¬
geln aus der Ferne. „Italien,“ rief zuerſt der Held
Achates, der das Land vor den Andern erblickt hatte.
„Italien!“ riefen einfallend unter Freudengeſchrei die ju¬
belnden Genoſſen. Der Greis Anchiſes bekränzte einen
geräumigen Becher und füllte ihn bis zum Rande mit
Wein. Auf dem Hinterverdecke ſtehend, flehte er die
Meeresgötter um günſtigen Wind und leichte Fahrt an.
Auch wehte wirklich die erbetene Luft kräftiger, immer
näher flogen ſie einem ſich vor ihren Augen erſchließen¬
den Hafen, und von einem Hügel des Landes winkte
ihnen ein ſchöner Minerventempel. Vertrauensvoll roll¬
ten ſie die Segel zuſammen, und drängten die Schiffe
nach dem Strande. Der Hafen bildete, von der öſtlichen
Brandung des Meeres ausgehöhlt, einen Bogen, an
vorgelagerten Klippen ſpritzte die Meerfluth ſchäumend
auf, eine Mauer gethürmter Felſen ſenkte rechts und links
ihre Arme ins Meer herab, und der Tempel, in der
Mitte der Bucht gelegen, trat in den Hintergrund. Hier
erblickten ſie am Geſtade als erſtes Vorzeichen vier ſchnee¬
weiße Roſſe, die hier und dort im tiefen Graſe weideten.
„Roſſe bedeuten Krieg,“ rief Anchiſes aus, „mit Kriege
droht uns dieſes Land, ſo gaſtlich es ausſieht. Laßt uns
[307] Minerva, die auf uns herniederblickt, anbeten, und eilig
mit unſern Schiffen umkehren!“


Sie thaten nach dem Rathe des Alten, und flogen
zurück in das Meer. Nun ſchifften ſie an mancherlei
Küſtenländern vorüber, immer dem Süden zu, vorbei
am Meerbuſen von Tarent, an der Stadt Kroton mit
ihrem Junostempel, an dem klippenvollen Skylation. Schon
tauchte aus der fernen Fluth Sicilien mit ſeinem Aetna,
ſchon von Weitem hörten ſie jetzt ein gewaltiges Toſen
des Meeres, Brandung um die Felſen, am Geſtade ge¬
brochenen Laut: aus tiefem Abgrunde ſprudelte die Fluth
empor, und Sand unter Waſſerſchaum ſtäubte in die
Luft. „Das iſt die Charybdis,“ rief der länderkundige
Anchiſes, „das gräßliche Felſenriff. Werft euch an die
Ruder, Gefährten, reißet uns aus der Todesgefahr.“
Eifrig lenkten Alle mit den Schiffen zur Linken um, Pa¬
linurus mit dem krachenden Schiffſchnabel voran. Bald
flogen die Schiffe aus den Wölbungen des Strudels
zu den Wolken empor, und wenn die Wogen verrollten,
verſanken ſie wie in die Unterwelt, und dieß geſchah zu
dreien Malen. Als ſie der Gefahr glücklich entronnen
waren, geriethen ſie, aller Bahn unkundig, an den
Strand der Cyklopen, wo ein geräumiger Hafen ſie auf¬
nahm. In ihrer Nähe hörten ſie hier den feuerſpeienden
Berg Aetna donnern, der bald ſchwarzes Gewölk, Pech¬
qualm und glühende Aſche in die Luft emporwirbelt, bald
das Eingeweide des Berges, Steine und geſchmolzene
Felſen hinaufſchleudert, und vom unterſten Grunde aus
brauſend ſiedet. Der Leib des Giganten Enceladus, vom
Blitze Jupiters verſengt, ſoll hier in den Gründen der
Erde liegen, und der mächtige Aetna, über denſelben
20 *[308] geworfen, ſende, ſagt man, den Flammenhauch des Rieſen
aus ſeinem Schlund empor; ſo oft jener, unter der
drückenden Laſt ermattet, ſeine Seite wechſelt, bebt die
ganze Inſel von dumpfer Erſchütterung, und ein Rauch
hüllt den Himmel in ſeinen Schleier.


Aeneas und ſeine Genoſſen waren bei Nacht an die
Inſel verſchlagen worden, und der Berg war ihnen noch
dazu von Wäldern verdeckt. Auch umzog den verfinſter¬
ten Himmel ein dickes Gewölk, und hinter ſeinen Schich¬
ten verbargen ſich der Mond und die Sterne. So hörten
ſie die ganze Nacht hindurch nur das fürchterliche Toſen,
ohne die Urſache deſſelben errathen zu können. Als der
Morgenſtern am Himmel ſtand, und Aurora die Schat¬
ten vertrieb, ſahen die Flüchtlinge, die ſich am Strande
gelagert, einen fremden ſeltſamen Mann, ganz in Lum¬
pen gehüllt, ein rechtes Jammerbild des Elendes, plötz¬
lich aus den Wäldern hervortreten, und die Hände flehend
nach ihnen zu dem Ufer ausſtrecken. Abſcheulicher Schmutz
entſtellte ihn, die Fetzen ſeines Gewandes waren mit
Dornen zuſammengeheftet, ſein langes verwirrtes Bart¬
haar flog im Winde. Uebrigens erkannte man auch in
dieſem jämmerlichen Aufzuge noch den Griechen, der einſt
vor Troja gekämpft hatte. Als dieſer in der Ferne tro¬
janiſche Rüſtungen ſah, ſtutzte er einen Augenblick und
hemmte ſchüchtern ſeine Schritte. Bald aber rannte er
entſchloſſen wieder vorwärts zum Ufer, und flehte wei¬
nend zu den Ankömmlingen hinüber: „Bei den Geſtirnen,
bei den Göttern, beim Himmelslichte beſchwöre ich euch,
Trojaner, nehmet mich fort mit euch, wohin es auch
gehen mag! Ich weiß wohl, ich bin einer vom Danaer¬
heer, ich habe eure Stadt befehdet, habe ſie zerſtören
[309] helfen. Nun, ſeyd ihr unverſöhnlich, ſo reißet mich in
Stücke, und verſenkt mich im tiefſten Waſſer: wird mir
ſo doch der Troſt zu Theil, von Menſchenhänden zu ſter¬
ben!“ So ſprach der Unglückliche, umfaßte die Kniee
des Helden Aeneas und ſchmiegte ſich feſt an ihn an.
Da ermahnten ihn Alle, ſein Geſchlecht, ſeinen Namen,
ſein Schickſal zu melden, und der ehrwürdige Greis An¬
chiſes reichte ihm ſelbſt die Hand, und nöthigte ihn, vom
Boden aufzuſtehen. Allmählig erholte ſich der Arme von
der Furcht. „Ich ſtamme,“ begann er, „aus Ithaka,
und war ein Genoſſe des erfahrungsreichen Helden Odyſ¬
ſeus. Achemenides iſt mein Name: weil mein Vater
Adamaſtus arm war, entſchloß ich mich, mit gegen Troja
zu ziehen. Es war mein Unheil; den Gefahren des
Krieges glücklich entronnen, wurde ich hier in der ſcheu߬
lichen Höhle des Cyklopen, als Odyſſeus und meine an¬
dern Begleiter, ſo viele der Menſchenfreſſer noch nicht
geopfert hatte, die Höhle mit Liſt verließen, krank und
elend in einem Winkel der Kluft liegend, vergeſſen. Ich
hatte es mit angeſehen, wie das Ungethüm von meinen
armen Freunden ein Paar ums andere verſchlang, und
mit Hand angelegt, als der einäugige Rieſe von Odyſ¬
ſeus im Rauſche geblendet ward. Ich ſelbſt bin nur
durch ein Wunder aus ſeiner Höhle entkommen; aber,
umringt vom ungeſchlachten Volke der Cyklopen, brachte
ich ſeit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todes¬
angſt hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht
die Beute dieſes abſcheulichen Rieſenvolkes werden wollet
(denn gleich Polyphem irren über hundert in dieſem un¬
wirthlichen Gebirg umher), auch ihr beſteiget eilig die
Schiffe wieder, und löſet die Seile vom Strand! Drei
[310] Monate ſind es, daß ich zwiſchen Höhlen und Wildlagern
mein Leben fortſchleppe, mich von der ärmlichen Koſt der
Waldbeeren und Wurzeln ernährend, ſtets auf der Lauer
vor dem Rieſengeſchlechte, vor deſſen toſenden Tritten
und brüllenden Stimmen ich erbebe. Da ſah ich dieſe
Flotte dem Ufer nahen; ihr mich zu ergeben, brach ich
auf, weſſen ſie auch ſeyn mochte.“


Kaum hatte er dieſes geſprochen, als die Trojaner
auch ſchon auf der Höhe des Berges den Cyklopen Po¬
lyphem gewahr wurden, den unförmlichen Rieſen mit
dem geblendeten Auge, einen behauenen Fichtenſtamm als
Stock in der Hand, inmitten ſeiner Schafheerde, ſeines
einzigen Troſtes im Unglück, einherſchlendernd. Am
Meere angekommen, ging er mitten in die Fluthen hinein,
die ihm doch noch nicht einmal bis an die Hüfte gingen.
Hier bückte er ſich, und wuſch aus dem ausgeſtochenen
Auge das immer noch fließende Blut, ſtöhnend und zähne¬
knirſchend. Bei dieſem gräßlichen Anblicke beſchleunigten
die Trojaner ihre Flucht, nahmen den bejammernswür¬
digen Flüchtling, obgleich er ihr Stammfeind war und
ihre Stadt hatte zerſtören helfen, mit ſich zu Schiffe,
und hieben ſtillſchweigend die Seile ab. Jetzt vernahm
der Rieſe den Ruderſchlag und wandte ſeine Schritte,
noch immer in der Fluth, dem Schalle des Geräuſches
zu. Mit Mühe entging das letzte Schiff ſeinen haſchen¬
den Händen, und als er vergebens in die Luft griff,
erhob er ein ſo ungeheures Gebrüll, daß die Klüfte des
Aetna wie von einem langen Donner wiederhallten, und
das ganze Cyklopengeſchlecht, in den hohen Bergen aus¬
geſtört, zum Geſtade herabgerannt kam. Wie luſtige Eichen
[311] oder Cypreſſen ragten ihre Häupter gen Himmel, und
ſie ſchickten der abſegelnden Flotte drohende Blicke nach.


Um der Scylla und Charybdis zu entgehen, ſegelte
dieſe rückwärts, längs dem Geſtade der Inſel hin, von
Achemenides berathen, der dieſen Weg früher mit Odyſ¬
ſeus zurückgelegt hatte. Auf dieſer Fahrt traf den Aeneas
ein großer Schmerz. Sein greiſer Vater Anchiſes, von
den Anſtrengungen, Gefahren und Schrecken der Reiſe
ermattet, ſollte Italien, das gelobte Land ſeiner Sehn¬
ſucht, nicht mehr erreichen. Er wurde zuſehends ſchwä¬
cher, ſeine Sinne ſchwanden, ſeine Zunge erlahmte, und
ohne nur ein Lebewohl ſagen zu können, gab er in den
Armen ſeines Sohnes den Geiſt auf, als ſie eben in
den Hafen der ſicilianiſchen Stadt Trepanum eingelaufen
waren.


Die trojaniſchen Flüchtlinge veranſtalteten dem ehr¬
würdigen Vater ihres Führers ein feierliches Leichen¬
begängniß. Doch hing Aeneas nicht lange der Trauer
nach. Die Verheißung der Götter trieb ihn, das Volk,
welches ſich ihn zum Beſchützer erkoren hatte, dem Lande
der Ahnen entgegenzuführen, und das verſprochene Reich
dort zu gründen.

Aeneas nach Karthago verſchlagen.

Kaum hatte die Flotte Sicilien aus dem Geſichte,
und ſegelte fröhlich auf der hohen See dahin, als Juno
(Here), die alte Feindin der Trojaner, die vom Olymp
auf den Schiffszug herniederblickte, bei ſich ſelber ſprach:
„Wie, ſollte mein Beginnen auf halbem Wege ſtehen
[312] bleiben? ſollte Troja nicht ganz zerſtört, ſein Volk und
Königsgeſchlecht nicht mit der Wurzel vertilgt ſeyn? Soll
dieſer Eidam des Priamus, ſoll ſein Enkel wirklich von
Italien Beſitz nehmen? Konnte nicht Pallas die heim¬
kehrende Flotte der Griechen auseinanderſchlagen, und
mit Orkanen das Meer durchwühlen, nur um die Schuld
Ajax des Lokrers zu rächen: und ich, die Königin der
Götter, Jupiters Gemahlin und Schweſter, ſoll dieſes
eine Volk Jahre lang vergebens bekämpfen?“ Solche
Gedanken bewegte ſie in ihrem zornigen Herzen, und eilte
in das Gebiet der Stürme, nach der Grotte des Aeolus,
des Königs der Winde. Auf ihren Befehl und ihre
Bitten, mit reizenden Verſprechungen gemiſcht, ließ dieſer
ſämmtliche Winde aus ihrem Verſchloſſe los; dieſe ſtürz¬
ten wie Heere zur Feldſchlacht heraus, wirbelten durch
die Länder, legten ſich, Oſt und Süd, Weſt und Nord,
zugleich auf das Meer, und reizten die Wogen gegen
einander auf, in deren Mitte die Flotte des Trojaners
ſchwamm. Ein Jammergeſchrei erhob ſich unter den
Männern, die Taue raſſelten, während Blitz auf Blitz
zückte, und die Donner durch den Himmel rollten. Aeneas
pries in dieſem Augenblicke alle diejenigen glücklich, die
unter Troja's Mauern zu ſeiner Vertheidigung gefallen
waren, er beneidete ſeine Freunde Sarpedon und Hektor
um den Tod durch die Hand des Tydiden und des
großen Achilles. Aber ſeine Seufzer verwehte der Nord¬
orkan, der die Segel der Schiffe nach vorn riß, und
dieſe ſelbſt auf fürchterlichen Waſſerbergen bis in die
Wolken ſchleuderte. Die Ruder zerbrachen, die Meer¬
fluth brach ein, und die Schiffe legten ſich wie ſterbend
auf die Seite. Drei von den Fahrzeugen ſchleuderte der
[313] Südwind auf verborgene Klippen, drei ſtieß der Oſtwind
von der hohen See auf ſeichte Sandbänke; auf eines,
das lyciſche Bundesgenoſſen mit ihrem Führer Orontes
trug, wälzte ſich eine ungeheure Welle nieder, und warf den
Steuermann kopfüber ins Meer; dann drehte der Wir¬
bel das Schiff dreimal in der Runde herum, und der
Abgrund verſchlang es. Auch das mächtige Schiff des
Ilioneus und Achates, das Schiff des Abas und Aletes
überwältigte der Sturm, und das Meerwaſſer drang durch
die lockern Fugen der Planken ein.


Jetzt endlich nahm der Meeresgott Neptunus von
dem brauſenden Aufruhr Kunde, und wunderte ſich über
die losgelaſſenen Orkane. Er erhob aus den wilden Wo¬
gen ſein ruhiges Haupt, und ſchaute ſich ringsum. Da
erblickte er das Geſchwader des Aeneas allenthalben im
Meere zerſtreut, und die Schiffe ſeiner Lieblinge, der
Trojaner, von den Wogen bedeckt und in Regengüſſen
gehüllt. Auf der Stelle erkannte er den Groll und die
Ränke ſeiner Schweſter Juno, rief den Oſt und Weſt
gebietriſch zu ſich her, und ſprach zu ihnen: „Was für
ein Trotz hat euer freches Geſchlecht ergriffen, ſo ohne
meinen Befehl Himmel und Meer untereinander zu mi¬
ſchen, und die Wogen bis an die Sterne zu thürmen?
ich will euch! — Doch für diesmal ſey eure einzige
Strafe, die Meeresfluth auf der Stelle zu verlaſſen; geht
und ſagt eurem Herrn, nicht ihm ſey der Dreizack und
die Herrſchaft über die See verliehen worden, ſondern
mir; ihm gehören Felſen und Grotten, wo euer Gemach
iſt; dort mag er in verſchloſſenem Kerker über euch herr¬
ſchen, bis man euch braucht!“


So ſprach er, und unter dem Sprechen glättete er
[314] die ſchwellenden Wogen, verſcheuchte die geballten Wol¬
ken und erheiterte die Luft, daß die Sonne wieder ſchien.
Seine Meeresgötter mußten die Schiffe, die zwiſchen
Klippen gerathen waren, von den zackigen Felſen hinweg¬
drängen; er ſelbſt hob die auf den Sandbänken aufſitzen¬
den mit ſeinem Dreizacke, wie mit einem Hebel, und
machte ſie wieder flott; dann gleitete er auf ſeinem Wa¬
gen, von Seeroſſen gezogen, leicht über den Saum der
Fluth hin, und das Getöſe des Meeres ſchwieg überall,
wohin der Gott mit verhängtem Zügel die Roſſe lenkte,
und einen Blick über die Waſſer warf, wie bei einem
Volksaufruhr der gemeine Pöbel, der voll Trotzes mit
fliegenden Fackeln und Steinen umhertobte, plötzlich
ſchweigt und horchend ausblickt, wenn ein Mann von
Tugend und Verdienſt erſcheint.


Die müden Seefahrer ſaher eine Küſte vor ſich
liegen, rafften ihre Kräfte zuſammen, und ſteuerten dem
Lande entgegen. Es war Afrika's Geſtade. Bald nahm
ſie ein ſicherer Port auf. Auf der einen Seite ſonnige
Wälder auf ſanften Hügeln, auf der andern ein Gehölz
voll ſchwarzer Schatten an ſteiler Höhe, im Hintergrunde
der Bucht eine Felſengrotte mit Quellen und Moosbän¬
ken. Dorthin fuhr mit ſeinen ſieben Schiffen, dieß war
der ganze Ueberreſt der Flotte, der Held Aeneas. Die
Trojaner ſtiegen aus und lagerten ſich in ihren triefen¬
den Gewanden dem Ufer entlang. Der Held Achates
ſchlug an einem Kieſel Feuer, fing de Gluth in trockenen
Blättern auf, nährte ſie mit dürrem Reiſig, und fachte
ſie durch Schwingen zur Flamme an Dann wurde das
Bäckergeräthe und das vom Waſſer halb verdorbene
[315] Getreide aus den Schiffen ausgeladen, und das gerettete
Korn mit dem Mühlſteine zermalmt.


Unterdeſſen erſtieg Aeneas klimmend einen Felſen mit
ſeinem treuen Waffenträger Achates, und ließ oben die
Blicke über die weite Meeresfläche hinſchweifen, ob er
nichts von den vom Sturme verſchlagenen Schiffen er¬
blicken könnte, vom Antheus, vom Kapys mit den Fahr¬
zeugen der Phrygier, von der Flagge des Kaikus; aber
kein Schiff begegnete ſeinem Blick: nur drei Hirſche ſah
er unten am Strande, denen eine ganze Heerde folgte,
deren Nachzügler bis tief in ein Thal hinein weideten.
Schnell ließ er ſich Bogen und Pfeile reichen und ſtreckte
den Führer der Heerde nieder, einen Hirſch mit hochäſti¬
gem Geweih; und er ruhte nicht, bis er ſieben Thiere
erlegt hatte, ſoviel als die Zahl ſeiner Schiffe war.
Dann kehrte er zur Bucht zurück; die Beute ward ein¬
geholt und unter die Freunde vertheilt. Auch ſtattliche
Krüge mit Wein ließ Aeneas aus den Schiffen herbei¬
holen, die ein Gaſtfreund an der ſiciliſchen Küſte ihm
geſchenkt, und mit dem ſüßen Tranke flößte er Troſt in
ihre kummervollen Herzen. „Freunde,“ ſprach er, „ſind
wir doch lange mit Trübſal vertraut, ſelbſt mit größerer
als dieſe gegenwärtige iſt, darum laßt uns hoffen, daß
ein Gott auch ihr ein Ende machen werde. Rufet nur
den alten Muth zurück; in ſpäter Zeit werdet ihr euch
mit großer Luſt an alle dieſe Leiden erinnern. Denkt
nur daran, daß das Ziel ſo vieler Noth und Gefahr
Italien iſt, daß uns dort unſer Geſchick ruhige Sitze
zeigt, daß dort ein zweites Troja emporblühen wird!“


Der Held ſprach freilich dieſe Hoffnungsworte mit
kummervollem Herzen, und er mußte ſeinen tiefen Schmerz
[316] gewaltſam in die Seele zurückdrängen. Indeſſen ſchlach¬
teten und brieten die Genoſſen das Wildpret, und lab¬
ten ſich an Schmaus und Wein, über die verlorenen
Genoſſen zwiſchen Furcht und Hoffnung getheilt ſich
unterhaltend.

Venus von Jupiter mit Rom getröſtet. Sie erſcheint
ihrem Sohne.

Auf der Zinne des Olymp ſtand Jupiter der Göt¬
tervater und heftete die Blicke, die über Meer und Land
und Völker geflogen waren, endlich auf die afrikaniſche
Küſte, in das libyſche Reich der Königin Dido, wo
eben Aeneas gelandet hatte. Zu dem Sinnenden trat
ſeine Tochter Venus, in ihren glänzenden Augen ſchwam¬
men Thränen, und ſie ſprach traurig: „Was hat dir
mein Aeneas gethan, allmächtiger Beherſcher der Men¬
ſchen und der Götter, daß ihm, nachdem er ſchon ſo
viel Unheil erduldet hat, der ganze Erdkreis um Italiens
willen verſchloſſen wird? Haſt du nicht ſelbſt mir ver¬
heißen, daß dorther aus dem erneuerten Blute des
trojaniſchen Stammvaters im Laufe der Jahre dereinſt
das Römervolk kommen und die Herrſchaft über Land
und Meer erhalten ſollte? Nur dieſe Verheißung ſöhnte
mich mit dem Falle Troja's aus; was hat deinen Sinn
ſo auf einmal verwandelt?“


Der Vater lächelte die Göttin huldvoll an, herzte ſie
mit einem Kuß, und ſprach mit dem Blicke, mit welchem
er die Wolken vom Himmel verſcheucht: „Sey getroſt,
[317] Töchterchen, das Loos deiner Schützlinge bleibt unver¬
rückt. Laviniums Mauern in Italien werden ſich erhe¬
ben, in mächtigem Kriege wird Aeneas dort ſiegen,
trotzige Völker bändigen, Geſetz und Ordnung gründen.
Drei Jahre wird er in Latium herrſchen, ſein Sohn
Askanius oder Julius wird den Sitz der Herrſchaft
von Lavinium nach Alba longa verlegen. Drei Jahr¬
hunderte wird dort das Geſchlecht des Priamus auf
dem Throne ſitzen, bis eine Prieſterin der Veſta aus
dem Königshauſe dem Kriegsgott Zwillingsknaben gebiert.
Von dieſen wird Romulus, von einer Wölfin geſäugt,
ſeinem Vater Mars neue Mauern bauen, und der
Stifter des Römervolks werden. Die Römer aber mache
ich zu Herren der Welt, und ihrer Herrſchaft ſey kein
Ziel geſetzt. Juno ſelbſt, welche deinen Sohn jetzo quält,
wird ſich mit dieſen ſeinen Enkeln verſöhnen, und ſie
mit mir begünſtigen, und der größte Römer wird ein
Nachkomme des Julus ſeyn und Julius heißen. Sein
Ruhm wird zu den Sternen ſich erheben, er ſelbſt, dein
Nachkomme, Tochter, wird in den Himmel unter die
Götter aufgenommen werden. Unter den Menſchen aber
wird nach beendigten Kriegen der ewige Friede wohnen,
eiſerne Riegel werden die Pforten der Zwietracht ſchließen,
die, mit hundert Ketten gefeſſelt, vergebens mit den
blutigen Zähnen knirſchen wird.“


So ſprach Jupiter und ſandte ſofort ſeinen Sohn,
den Götterboten Merkur (Hermes) nach Karthago, um
dort den Trojanern gaſtliche Herberge zu bereiten. Dieſes
Land war ein uralter Sitz phöniziſcher Pflanzer, und
Juno beſchirmte das Reich mit beſonderer Huld. Ihre
Rüſtung, ihr Wagen waren dort aufbewahrt, und längſt
[318] war es Wunſch und Beſtreben der Göttin, hier ein Welt¬
reich zu begründen. Jetzt aber beherrſchte dieſes libyſche
Reich Dido, die Wittwe des Phöniziers Sychäus, welche
hier die neue Stadt und Burg Karthago erbaut hatte. —


Am andern Morgen machte ſich Aeneas, nur von
ſeinem Freund Achates begleitet, zwei Wurfſpieße in
der Hand, auf, um das neue Land zu erforſchen, an
deſſen Geſtade ihn der Sturm geworfen hatte. Da be¬
gegnete ihm mitten im Walde ſeine Mutter Venus in
Geſtalt einer bewaffneten Jägerin, wie Sparta's Jung¬
frauen ſich zu tragen pflegen: ein Bogen hing ihr über
den Schultern, das Haar flatterte frei in den Lüften, das
leichte Gewand war bis ans Knie aufgeſchürzt. „Sagt
mir doch, ihr Jünglinge,“ ſo redete ſie die ſchreitenden
Helden an, „habt ihr keine meiner Geſpielinnen geſehen,
in Luchspelz gekleidet, mit übergehängtem Köcher?“
„Nein,“ entgegnete ihr Aeneas, „aber wer biſt du,
Jungfrau? in deinem Antlitz und deiner Stimme iſt etwas
Uebermenſchliches, biſt du eine Nymphe, biſt du eine
Göttin? Doch, wer du auch ſeyeſt: ſag uns, in wel¬
chem Lande ſind wir? Der Sturm hat uns an dieſes
Geſtade verſchlagen, und wir irren ſchon lang in der
Welt umher.“ Hierauf erwiederte Venus lächelnd:
„Wir tyriſchen Mädchen pflegen uns immer ſo zu tra¬
gen, und ich bin darum nicht Apollo's Schweſter, weil
du mich mit dem Köcher bewaffnet ſiehſt. Du biſt unter
Tyriern, Fremdling, in einem Reiche der Phönizier,
in der Nähe von Agenors Stadt; dennoch iſt der Welt¬
theil, in welchem du dich befindeſt, Afrika, das Land
iſt libyſch, und das Volk wild und kriegeriſch. Eine
Königin herrſcht über uns, Dido; auch ſie ſtammt aus
[319] Tyrus, und war dort die geliebte Gattin des reichen
Phöniziers Sychäus. Aber ihr Bruder Pygmalion, der
König von Tyrus, ein unmenſchlicher Tyrann, haßte
den Schwager, und um die Liebe der Schweſter unbe¬
kümmert, erſchlug er ihren Gatten, geblendet von Gold¬
gier, heimlich am Altare der Götter. Der blaſſe Schat¬
ten des Gemordeten erſchien ſeiner Gemahlin im Traume,
mit einer tiefen Schwertwunde in der Bruſt, und ent¬
ſchleierte ihr das geheime Verbrechen; er rieth ihr zu
ſchleuniger Flucht aus dem Vaterlande, und bezeichnete
ihr die unterirdiſche Stelle, wo der alte verborgene
Reichthum des Königs, Silber und Gold, ihre Fahrt
zu unterſtützen, bereit läge. Dido folgte ſeinem Winke;
der Tyrannenhaß ſammelte viele Gefährten um ſie. Was
von Schiffen bereit lag, wurde mit dem Golde des kar¬
gen Pygmalion angefüllt. So gelangten ſie an die
Küſte Afrikas und an den Ort, wo du jetzt bald
die gewaltigen Mauern der neuen Stadt Karthago,
und ihre himmelanſteigende Burg erblicken wirſt. Hier
erkaufte ſie Anfangs nur ein Stück Landes, welches
Byrſa oder Stierhaut genannt wurde, nach der That.
Denn ſie verlangte nur ſoviel Feldes, als ſie mit einer
Stierhaut zu umſpannen vermöchte. Dieſe Haut aber
ſchnitt ſie in ſo dünne Riemen, daß dieſelbe den ganzen
Raum einſchloß, den jetzt Byrſa, die Burg Karthago's,
einnimmt. Von dort aus erwarb ſie mit ihren Schätzen
immer größeres Gebiet, und ihr königlicher Geiſt grün¬
dete das mächtige Reich, das ſie jetzt beherrſcht. Nun
wißt ihr, wo ihr ſeyd, ihr Männer. Aber wer ſeyd
denn ihr, woher kommt ihr und wohin wandert ihr?“
Mit dieſen Fragen veranlaßte die Göttin eine rührende
[320] Erzählung ſeines Schickſals aus dem Munde ihres
Sohnes, deſſen Klage ſie jedoch bald unterbrach: „Wenn
meine Eltern mich nicht umſonſt die Deutung des Vo¬
gelflugs gelehrt haben“, ſagte ſie, „ſo verkündige ich
dir die Rettung deiner verſchlagenen Schiffe, und die
Rückkehr deiner Freunde. Denn ich ſah am offenen
Himmel in freudigem Zuge zwölf Schwäne fliegend,
die kurz zuvor ein Adler, der Vogel Jupiters, ausein¬
ander geſcheucht hatte. In langem Zuge ſuchten ſie
theils das Land zu gewinnen, theils ſchwebten ſie ſchon
über dem gewonnenen: ſo erreichten auch deine Genoſſen
ſchon zum Theile den Hafen, zum Theil nähern ſie ſich
ihm mit vollen Segeln. Du aber geh immerhin auf
dem betretenen Pfade fort.“ So ſprach die Jungfrau
und wandte ſich um. Ihr roſiger Nacken erglänzte von
überirdiſchem Licht, ihre ambroſiſchen Locken verbreiteten
einen himmliſchen Wohlgeruch, ihr Kleid wallte blendend
zu den Ferſen hernieder, ihre Geſtalt erſchien übermenſch¬
lich, ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt
erkannte Aeneas plötzlich ſeine Mutter, und rief die
Fliehende vergebens zurück. Dieſe aber umhüllte die
Wanderer mit einer dichten Umkleidung von Nebel, daß
Niemand ſie ſchauen und ihre Abſichten erforſchen könnte.
Sie ſelbſt ſchwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem
Lieblingsſitze Paphos.


[321]

Aeneas in Karthago.

Die beiden Wanderer gingen rüſtig im Nebel dahin,
immer dem Fußpfade nach. Bald hatten ſie den Hügel
erſtiegen, der ſich hoch über die Stadt erhob, und auf
die gegenüberſtehende Burg hinunterſah. Mit Staunen
betrachtete Aeneas den ſtolzen Königsbau, der ſich da
erhob, wo früher nur armſelige Bauernhütten geſtanden
hatten, die hohe ſteinerne Pforte der Stadt, die breiten
gepflaſterten Straßen, den Lärm und das Gewühl darin.
Noch aber wurde an der Stadt gebaut, die Tyrier be¬
trieben das Werk mit allem Eifer: die Einen waren
mit den Stadtmauern beſchäftigt, die Andern mit der
Vollendung der Burg, zu deren Höhen ſie Quaderſteine
emporwälzten; Viele bezeichneten mit Furchen erſt den
Platz, auf welchem ſich ihr Haus erheben ſollte. Der
größere Theil der Einwohnerſchaft war auf dem Markt¬
platze verſammelt, wählte den Senat und die Richter
des Volks, und berathſchlagte über die Geſetze des neuen
Staates. Noch Andere gruben bereits an den Häfen,
Andere legten den Grund zu einem Theater, und hieben
dazu mächtige Säulen als Zierden der künftigen Bühne
aus dem Felſen. Das Ganze war anzuſehen wie ein
Bienenſchwarm, der eben ſchwärmt.


In ihrem Nebelgewande geborgen, befanden ſich
Aeneas und ſein Begleiter bald in der Mitte des be¬
ſchäftigten Volkes, und gingen unerkannt hindurch. Mit¬
ten in der Stadt befand ſich ein ſchöner Hain, voll
Schwab, das klaſſ. Alterthum. 21[322] des kühlſten Schattens, wo, nach langen Stürmen und
Meerfahrten, die Phönizier oder Pöner zuerſt ein
Glückszeichen, das ihnen Juno ſandte, ausgegraben hatten,
ein Pferdshaupt, wodurch ihnen Kriegsglück und Nah¬
rung vorbedeutet ward. Hier baute die Königin Dido
der Juno einen prächtigen Tempel; Stufen, Thorpfoſten
und Thürflügel, Alles war von Erz. In dieſem Haine
faßte ſich der Held Aeneas erſt wieder einen getroſten
Muth, und gab ſich in ſeiner verzweifelten Lage kühneren
Gedanken der Hoffnung hin. Denn während er ſich
in dem herrlichen Tempel umſchaute und über die präch¬
tigen Kunſtwerke, die ſich darin befanden, ſtaunte, ſtieß
er auf eine Reihe von Wandgemälden, in welchen die
Schlachten Troja's dargeſtellt waren. Priamus, die
Atriden, Achilles, Rheſus und Diomed, fliehende Grie¬
chen, und wieder Trojaner, der Knabe Troilus, von
ſeinen Pferden geſchleift, Trojanerinnen mit fliegen¬
dem Haar im Tempel der Pallas, Hektors geſchleppte
Leiche, Penteſilea mit ihren Amazonen, Alles erkannte
der Held Aeneas, ja am Ende entdeckte er auch ſich
ſelbſt, wie er von der Mauer herab den ungeheuren
Stein auf die Feinde ſchleudert.


Während er dieſes Alles unter Schmerz und Luſt
mit Verwunderung ſich beſchaute, nahte die Königin
Dido ſelbſt, im höchſten Glanze jugendlicher Schönheit,
von einem großen Gefolge tyriſcher Jünglinge umgeben,
dem Tempel. Unter der Wölbung des Portales ſetzte
ſie ſich, von Bewaffneten umringt, auf einen hohen
Thron, und theilte dem Volke, das ſich um ſie verſam¬
melte, theils nach billiger Schätzung, theils durch's Loos
die Arbeiten in der neuen Stadt aus, ſprach Recht,
[323] gab Geſetze. Da ſahen Aeneas und Achates plötzlich
mitten in dem Gewühle ihre verloren geachteten Freunde
und Genoſſen, den Sereſtus, den Kleanthus, und viele
andere Teukrer, welche der Sturm von ihnen getrennt
und an andere Küſten verſchlagen hatte. Freude und
Angſt ergriff ſie bei dieſem Anblick: ſie glühten vor Be¬
gierde, ihnen die Rechte zu traulichem Handſchlage zu
reichen, und doch machte ſie das Unbegreifliche der
Sache wieder irre: ſie hielten deßwegen in ihrem Ne¬
belgewölke an ſich und warteten zu, ob ſie nicht im Ver¬
lauf der Dinge das Schickſal der Freunde aus ihrem
eigenen Munde erfahren würden. Denn es waren, wie
ſie ſahen, auserwählte Männer von jedem Schiffe. Auch
drängten ſie ſich bald aus der Menge hervor, traten in
die Vorhalle des Tempels ein, und als ihnen das Wort
von der Königin vergönnt wurde, hob ihr Führer Ilio¬
neus zu ſprechen an: „Edle Königin, wir ſind arme
Trojaner, die der Sturm von Meer zu Meere geſchleu¬
dert hat. Wir richteten den Lauf unſerer Flotte nach
dem fernen Italien, als ein unvermutheter Orkan uns
unter die Klippen ſchleuderte, wo viele unſerer Schiffe
ohne Zweifel zu Grunde gegangen ſind. Die Ueber¬
bleibſel der Flotte haben euer Geſtade erreicht. Aber
was ſind das für Menſchen, unter die wir gerathen
ſind? welches Barbarenvolk duldet ſolche Gebräuche?
Man verwehrt uns, den Strand zu betreten, man droht
mit Kriege, mit Verbrennung unſerer Schiffe. Wenn
ihr von Menſchlichkeit nichts wiſſet, ſo ſcheuet doch
wenigſtens die Götter! Aeneas war unſer Führer —
es gibt keinen größeren und frömmern Helden! Wenn
das Schickſal uns dieſen Mann erhalten hat, ſo wird
21 *[324] euch der Dienſt, den ihr uns erweiſet, niemals gereuen.
Darum geſtattet uns, die lecken Schiffe ans Land zu
ziehen, in euren Wäldern Schiffsbalken zu zimmern und
Ruder zu verfertigen. Finden wir unſern König und
unſre Freunde wieder, dann dürfte uns wohl die Fahrt
nach dem verheißenen Italien glücken. Hat aber ihn
die libyſche Fluth verſchlungen, und iſt unſere Hoffnung
dahin, nun dann gib uns wenigſtens ſicheres Geleite,
mächtige Königin, daß wir zu unſerem Gaſtfreunde am
ſiciliſchen Strande, von dem wir herkommen, wieder zu¬
rückkehren können.“


Die Königin ſenkte vor den Männern den Blick
auf die Erde und antwortete kurz: „Verbannet die Angſt
aus euren Herzen, Trojaner, mein Schickſal iſt ſo hart,
mein Reich iſt ſo jung, daß ich genöthigt bin, die
Gränzen des Landes ringsumher durch ſtrenge Wachen
ſicher zu ſtellen. Troja's Stadt aber und ihr unglück¬
liches Volk, ihre Helden, ihren Waffenruhm, ihre fürch¬
terliche Zerſtörung kennen wir gar wohl. Unſre Stadt
iſt nicht ſo abgelegen, daß ſie nichts von ihrem Schick¬
ſale wüßte; unſre Herzen ſind nicht ſo unempfindlich,
daß es uns nicht rührte. Möget ihr euch denn Hesperien
zum Wohnſitz erwählen, oder Siciliens Inſel: in beiden
Fällen getröſtet euch meiner Hülfe, ich will euch mit
allem Nöthigen verſehen, und in Frieden ziehen laſſen;
es wäre denn, daß ihr euch lieber hier im Lande an¬
ſiedeln wolltet! Wollet ihr das, ſo ſteht euch frei, eine
Stadt zu gründen, und meine Geſetze ſollen euch denſel¬
ben Schutz verleihen, wie meinen eigenen Unterthanen.
Was euren König betrifft, ſo ſende ich auf der Stelle
ſichere Männer an meine Ufer und im Lande umher,
[325] um ihn auszuſpähen, ob er nicht, irgendwo geſtrandet,
in Wäldern oder in Städten umherirrt.“


Die beiden Helden in der Wolke brannten vor Be¬
gierde, den Nebel zu durchbrechen, als ſie ſolches hörten.
„Hörſt du es, Sohn der Göttin,“ flüſterte zuerſt Achates
ſeinem erhabenen Freunde zu, „die Schiffe, die Freunde
Alle ſind gerettet; nur Einer fehlt, den wir ſelbſt ins Meer
ſinken ſahen; ſonſt entſpricht Alles den Verheißungen
deiner Mutter.“ Kaum war dieſes geſprochen, als die
Nebelwolke ſich von ſelbſt theilte und in den offenen
Aether verſchwand. Da ſtand nun Aeneas im heiteren
Lichte, wie ein Gott an Schultern und Haupte glän¬
zend: ſeine Mutter hatte ihm ſchönes wallendes Locken¬
haar auf Haupt, das Purpurlicht der Jugend auf die
Wangen, und in das heitere Auge den Strahl der Huld
gezaubert. Wie ein Wunder ſtand er vor Allen da,
wandte ſich zur Königin und ſprach: „Da bin ich, nach
dem ihr verlanget, aus den Wellen Libyens gerettet, ich
der Trojaner Aeneas! Edle, großmüthige Königin, die
du die Trümmer deines unglücklichen Volkes erbarmungs¬
voll in deine Stadt aufgenommen haſt, keiner von allen
Trojanern, die über die ganze Erde zerſtreut ſind, kann
dir würdigen Dank bezahlen; mögen dir die Himmli¬
ſchen vergelten! Selig ſind die Eltern, die dich gezeugt
haben! ſo lange die Erde ſtehet, wird dein Name bei
uns von Ruhme ſtrahlen, welches Land uns auch rufen
mag!“ So ſprach Aeneas und eilte auf ſeine Freunde
zu, die Rechte, die Linke ihnen in die Wette darreichend.
Als ſich Dido vom erſten Erſtaunen erholt hatte, ſprach
ſie: „Sohn der Göttin, welches Schickſal verfolgt dich
durch ſolche Gefahren? Du biſt alſo jener Aeneas,
[326] welchen einſt Anchiſes, dem Trojaner, die erhabene Göt¬
tin Venus an den Wellen des Simois geboren hat!
Wohl hab' ich Vieles von den Schickſalen deines Ge¬
ſchlechts und deines Volkes, von meinem Vater Belus
vernommen. Als dieſer in Cypern kriegte, kam der Ar¬
giver Teuker, Telamons Sohn, zu ihm, der dort nach
dem trojaniſchen Krieg eine Niederlaſſung gegründet hatte;
dieſer erzählte viel von euren Heldenthaten. Er war
zwar euer Feind im Kriege, aber zugleich euer Bluts¬
verwandter, denn auch er rühmte ſich, vom alten
Geſchlechte der Teukrer abzuſtammen; ſeine Mutter
Heſione, welche Telamon als eine Kriegsgefangene vom
ſeinem Freunde Herkules zum Geſchenk erhalten hatte,
war eine Tochter des trojaniſchen Königs Laomedon.
Nun aber, ihr Männer, tretet getroſt in unſere Häuſer
ein, auch ich bin eine Verbannte, auch ich fand nach
langen Mühſalen erſt in dieſem Lande Ruhe. Ich bin
wohl vertraut mit dem Jammer, und verſtehe mich auf
den Beiſtand Unglücklicher.“


So ſprach Dido, und führte den Helden unverzüg¬
lich in ihren Palaſt, auch ordnete ſie in allen Tempeln
ein prächtiges Opferfeſt an. Das Innere der Burg
wurde mit königlichem Prunke ausgeſchmückt, und in
den ſchönſten Sälen des Palaſtes ein Feſtmahl zugerüſtet.
Kunſtvolle Purpurteppiche prangten überall, ſchweres
Silber belaſtete die Tiſche, goldene Pokale mit erhabener
Kunſtarbeit ſchimmerten allenthalben.


Indeſſen ließ dem edlen Aeneas ſeine Vaterliebe
keine Ruhe; er ſchickte den treuen Diener Achates
ſchleunig zu der Flotte, dem Knaben Askanius die frohe
Botſchaft zu verkündigen, und ihn ſelbſt herbeizuführen.
[327] Auch allerlei Ehrengeſchenke, die er aus dem Schutthaufen
Troja's gerettet, befahl er herbeizubringen: einen präch¬
tigen Mantel mit goldgewirkten Bildern, den Schleier
Helena's, ein Wundergeſchenk ihrer Mutter Leda, den
ſie aus Sparta mitgebracht, den Scepter der Ilione,
der älteſten Tochter des Priamus, ein Halsgeſchmeide
von Perlen, und eine Krone, von Gold und Edelſteinen
glänzend. Mit dieſen Aufträgen eilte Achates nach den
Schiffen.

Dido und Aeneas.

Aber die himmliſche Mutter des Helden war nicht
beruhigt über ſein Schickſal, ſie fürchtete die doppelzüngigen
Tyrer und das betrügliche Königshaus. Auch daß Juno,
die Todfeindin des Aeneas, Schutzgöttin des Landes
war, machte ihr ſchwere Sorge. Sie ſann deßwegen auf
eine ganz neue Liſt. Ihr Sohn, der Liebesgott, ſollte die
Geſtalt des Knaben Askanius annehmen, und an ſeiner
Stelle in Karthago's Hofburg erſcheinen. Würde nun
Dido den holden Jungen beim königlichen Schmauſe auf
den Schooß nehmen, und ihn harmlos herzen und küſſen,
ſo ſollte ihr Amor das heimliche Feuer und bethörende
Gift der Liebe einhauchen.


Der Liebesgott gehorchte dem Gebote ſeiner Mutter,
er entledigte ſich in aller Eile ſeiner Flügel, und wandelte
in Kurzem, vergnügt über die Rolle, die er zu ſpielen
hatte, dem kleinen Julus oder Askanius täuſchend ähn¬
lich, an der Hand des Achates, der keinen Betrug ahnte,
[328] der Königsſtadt entgegen. Den wahren Askanius hatte
Venus im Schlummer in ihr eigenes Gebiet, in den
Hain Idalia's, entführt, und ihn dort in duftenden Majo¬
ran unter kühle Schatten gelegt.


Als Achates mit dem kleinen Gott an der Hand
in Karthago's Burg eintraf, hatte ſich die Königin
ſchon auf einem goldenen, mit köſtlichen Teppichen ge¬
polſterten Throngeſtelle in der Mitte des Saales nieder¬
gelaſſen; Aeneas und die trojaniſchen Helden kamen von
allen Seiten herbei, und lagerten ſich die Tiſche entlang
auf purpurne Polſter; Diener boten Reinigungswaſſer
und Handtücher herum, und langten das Brod aus den
Körben hervor; fünfzig Mägde ſtanden in langen Rei¬
hen in der Küche, vor den dampfenden Speiſen an flam¬
menden Heerden; andere hundert Mägde und eben ſo
viele ſchmucke Diener thürmten die Gerichte auf den
Tiſchen umher, und ſtellten die goldenen Becher vor die
Gäſte. Auch die Tyrier kamen jetzt ſchaarenweiſe her¬
bei, und lagerten ſich auf das Gebot ihrer Königin an
den Tafeln. Die Geſchenke des Aeneas wurden herum¬
gegeben und bewundert. Dann richteten ſich aller Blicke
auf den kleinen vermeintlichen Julus, der mit heuchleri¬
ſchen Umarmungen ſich an den Hals ſeines Vaters warf,
ſeinen Mund mit Küſſen bedeckte, und wunderkluge Worte
dazu ſprach. Die arme Dido beſonders, die ſchon von
dem Gott ihrem Verderben geweiht war, konnte ihr Ge¬
müth gar nicht ſättigen, und blickte bald den Knaben,
bald die Geſchenke mit immer funkelnderen Augen an.
Der kleine Liebesgott riß ſich endlich von dem erheuchel¬
ten Vater los und eilte auf die Königin zu. Dieſe nahm
ihn arglos auf die Arme, blickte ihn liebreich an und
[329] herzte ihn zärtlich, ohne zu ahnen, welch ein mächtiger
Gott ſich ihr anſchmiege. Amor aber, den liſtigen Be¬
fehlen ſeiner Mutter gehorſam, verwiſchte allmählig das
Bild des verſtorbenen Gemahls in ihrem Geiſt, und
reizte die erſtorbenen Gefühle ihrer Bruſt zu neuer leben¬
diger Neigung.


Der Schmaus ging zu Ende, die Gerichte wurden
von den Tafeln genommen, gewaltige Weinkrüge aufge¬
ſtellt, und die Becher aufs Neue gefüllt. Lautes Rau¬
ſchen wälzte ſich durch die Säle des Palaſtes; die Nacht
war herbeigekommen, und flammende Kronleuchter hingen
von dem goldenen Deckengetäfel herunter. Jetzt ließ ſich
Dido die herrlichſte Schaale, ſchwer von Gold und Edel¬
ſteinen, reichen, und füllte ſie bis zum Rande mit Wein;
ſie war längſt der Mundbecher aller tyriſchen Könige.
Dieſe hielt die Königin, von ihrem Throne ſich erhebend,
hoch in der Rechten, und in dieſem Augenblicke ver¬
ſtummte der Lärm in den Sälen des Palaſtes. „Jupiter,“
ſprach ſie mit feierlicher Stimme, „mächtiger Beſchirmer
des Gaſtrechtes, laß dieſen Tag den Tyriern und unſern
trojaniſchen Freunden günſtig ſeyn, und unſere ſpäten
Enkel mögen deſſelben noch mit Luſt gedenken! Auch
du, Freudengeber Bacchus, auch du, huldreiche Juno,
ſey mit uns!“ So ſprechend, goß ſie das Trankopfer
auf den Tiſch aus, nippte dann von der goldenen Schaale
ſelbſt, und bot ſie dem tyriſchen Häuptlinge, der ihr zu¬
nächſt ſaß. Nun machte der Pokal bei Tyriern und
Trojanern die Runde, und derweil ſang ein lockiger Sän¬
ger zur goldenen Zither ſinnvolle Lieder vom Urſprunge
der Welt, der Menſchen und der Thiere. Als der Ge¬
ſang zu Ende war, hing Dido an dem Munde des
[330] erzählenden Aeneas, vernahm ſeine Schickſale mit pochen¬
dem Herzen, und ſchlürfte in langen Zügen das Gift
der ſüßen Liebe ein.

Dido's Liebe bethört den Aeneas.

Die Mienen, die Worte des Helden gruben ſich der
Königin tief ins Herz. Als die Gäſte den Palaſt längſt
verlaſſen hatten, und ſie wenige ſchlafloſe Stunden auf
ihrem Lager zugebracht, ſuchte ſie das Gemach ihrer ge¬
liebten Schweſter und vertrauteſten Freundin Anna auf,
und begann dieſer ihr ganzes Herz aufzuſchließen.
„Schweſter Anna,“ ſprach ſie, „mich ängſtigen wunder¬
bare Träume. Welch ein ſeltener Gaſt hat unſere Woh¬
nungen betreten, welche Waffen, welcher Muth, welche
Blicke! Man ſieht ihm wohl an, daß er von den Göt¬
tern abſtammt! Und welches Geſchick hat er erfahren,
welche Kriege durchgekämpft, welche Fahrten beſtanden!
Wahrhaftig, Schweſter, wenn ich nicht unwiderruflich
beſchloſſen hätte, mich durch das Band der Ehe keinem
Manne mehr zu geſellen, ſeit der Tod mich um meine
Erſtlingsliebe betrogen hat: dieſer einzigen Schwäche
könnte ich vielleicht unterliegen. Aber eher ſoll mich die
Erde verſchlingen, eher der Blitz mich treffen, ehe ich
meinem ermordeten Gemahl die Treue breche; er hat
meine Liebe mit ſich fortgenommen, er behalte ſie auch
im Grabe!“ Thränen erſtickten ihre Stimme, und ſie
vermochte nicht weiter zu ſprechen.


Ihre Schweſter blickte ſie mitleidig an, und erwiederte:
[331] „Dido, ich liebe dich mehr als mein Leben, willſt
du deine holde Jugend denn ganz im Wittwengram
verjammern? meinſt du, der Staub deines Gatten kümmre
ſich um deine Entſagung? kommt es dir denn gar nicht
in den Sinn, in welchem Gebiete du hauſeſt, daß du
auf der einen Seite von kriegeriſchen Gätulen, von un¬
bändigen Numiderſtämmen, von ungaſtlichen Sandbänken,
auf der andern Seite von waſſerloſen Wüſten eingeſchloſ¬
ſen biſt? Und welche Kriege drohen dir von Tyrus her,
von deinem unverſöhnlichen Bruder? Glaube mir, durch
Gunſt unſerer Schutzgöttin Juno iſt es geſchehen, daß
die trojaniſchen Schiffe hier gelandet ſind. Schweſter,
wie mächtig würde unſere Stadt, wie mächtig das Reich
durch eine ſolche Vermählung werden! Wie wird ſich
der Ruhm der Pöner ſteigern, von den Waffen der Troja¬
ner begleitet. Sey klug, liebe Schweſter, opfere den
Göttern, ſtelle Gaſtgebote an, umſtricke die Helden mit
Zögerungen aller Art, ſo lange ihre Flotte noch zerſchellt
iſt, und die Winde den Schiffenden zuwider ſind.“


Anna entflammte mit dieſen Worten Dido's glühende
Seele noch mehr, und ſchläferte alle Scheu in ihrem
Herzen ein. Sie gingen zuſammen in die Tempel und
opferten den Göttern. Dann führte Dido den geliebten
Helden durch ihre Stadt, zeigte ihm den ſidoniſchen Kö¬
nigsglanz, und feierte ihrem Gaſt zu Ehren ein neues
Mahl; wieder herzte ſie den Askanius, das Ebenbild
ſeines Vaters, wieder konnte ſie nicht ſatt werden, den
Helden von Troja's Leiden erzählen zu hören.


Dieß Alles war der Göttermutter Juno vom Olymp
herab nicht entgangen. Der rechte Zeitpunkt, den Helden
für immer um das verheißene Italien zu betrügen, und
[332] das Volk der Trojaner in fremden Stämmen ſich ver¬
lieren zu laſſen, ſchien ihr gekommen. Sie ſuchte ihre
Tochter Venus auf, und begann heftig, doch freundlich
zu ihr: „Wahrhaftig, du und dein Knabe, ihr habt einen
ſchönen Sieg davon getragen! Doch wozu noch länge¬
ren Hader? Laß' uns ein Ehebündniß, und damit ewi¬
gen Frieden ſchließen! Du haſt, was du mit ganzer
Seele ſuchteſt: Dido glüht von Liebe zu Aeneas.
Wohlan! laß' uns die Völker verſchmelzen, ſie mag dem
trojaniſchen Gatten dienen, und die Tyrier ſollen ſeine
Hochzeitgabe ſeyn.“


Venus merkte die heimliche Abſicht der Heuchlerin
wohl; ſie erwiederte aber ganz willfährig: „Wie könnte
ich ſo thöricht ſeyn, dir dieſes zu verweigern, Mutter?
wie könnte ich es wagen wollen, in endloſem Kampfe
mich mit dir zu meſſen? Ich fürchte nur, Jupiter möchte
den Verein beider Völker nicht geſtatten. Doch, du biſt
ja ſeine Gemahlin, dir ziemt es, ſein Herz durch Bitten
geneigt zu machen. Was du zuwege bringſt, iſt mir
recht.“ „Laß das meine Sorge ſeyn,“ erwiederte Juno
vergnügt, „vor allen Dingen muß der Bund geſchloſſen
werden. Laß mich nur die Geſchicke lenken, Geſchehenem
wird Jupiter ſeine Billigung nicht verſagen.“ Zuſtim¬
mend und freundlich nickte Cythere, aber im Herzen ſpot¬
tete ſie des Betrugs.


Am nächſten Morgen veranſtaltete die Königin eine
große Jagd, ihren fremden Gäſten zu Ehren. Auser¬
leſene Jünglinge mit Schlingen, Netzen, breiten Jagd¬
ſpießen, von Reitern und Spürhunden begleitet, verließen
die Thore. Vor dem Palaſte ſtand der Zelter der Königin,
mit Gold geſchmückt und mit Purpurdecken behangen,
[333] und käute muthig an ſeinem beſchäumten Gebiß; an der
Pforte harrten die Pönerfürſten. Endlich trat Dido her¬
aus, umdrängt von großem Jagdgefolge; ſie trug ein
bunt geſticktes ſidoniſches Jägerkleid; darüber einen
mit goldener Schnalle aufgeſchürzten Purpurrock; ein
goldenes Diadem umſchlang ihre Stirne, und von der
Schulter hing ihr der goldene Köcher. Vier Trojaner
waren in ihrem Zuge, darunter auch der muntere Julus.
Endlich ſchloß ſich der Schönſte von Allen, Aeneas, mit
ſeinem vertrauteſten Helden ebenfalls der Begleitung an.


Als die Geſellſchaft das Gebirg erreicht hatte, zer¬
ſtreute ſie ſich bald auf der unwegſamen Wildbahn; von
den Felſenkuppen ſah man bald Gemſen über die Hügel
her ſtürzen; auf der andern Seite verließen Hirſche in
ſtäubender Flucht ihre Berge, drängten ſich in bange
Haufen zuſammen, und durchrannten die offenen Felder.
Mitten im Thale tummelte der Knabe Julus oder As¬
kanius ſein muthiges Pferd, und flog damit bald an
dieſen, bald an jenen Jägern vorüber; das ſchüchterne
Wild war ihm viel zu gering, immer hoffte er, es werde
ein ſchäumender Eber angelaufen kommen, oder ein Löwe
mit gelber Mähne hinter dem Hügel hervorſchreiten.


Die Jäger waren ſo ganz in ihre Luſt vertieft, daß
ſie nicht merkten, wie der Himmel ſich zu verdunkeln be¬
gann, und das drohende Ungewitter, das ſich in den
Wolken zuſammenzog, erſt entdeckten, als der Wind durch
die Bäume ſauste, und plötzlich Regen und Hagel her¬
niederſtrömte. Tyrier und Trojaner ſuchten, zerſtreut und
verirrt, durch Felder und Wälder ſich verſchiedenen Schutz
vor dem Unwetter. Während nun angeſchwollene Wald¬
ſtröme von den Bergen ſtürzten, und ein Zufluchtsort
[334] vom andern vereinzelt und abgeſchnitten wurde, fanden
ſich durch Juno's Veranſtaltung die Königin Dido und
der Trojanerheld Aeneas zugleich in der nämlichen Grotte
zuſammen, um vor dem immer tobenderen Ungewitter
Schutz zu finden. Mit dem Aufruhre der Natur, beim
Leuchten der Blitze und dem Krachen des Donners ent¬
feſſelte ſich auch die bisher zurückgehaltene Neigung der
Königin; ſie vergaß aller weiblichen Scheu, und geſtand
dem Helden ihre glühende Liebe. Da ſchwanden dem
bethörten Aeneas die göttlichen Verheißungen, er erwie¬
derte ihre Zärlichkeit und verſiegelte mit einem leichtſin¬
nigen Schwur die Ausbrüche ihrer Leidenſchaft.

Aeneas verläßt auf Jupiters Befehl Karthago.

Das Ungewitter war vorüber, die Jagdgeſellſchaft
hatte ſich wieder zuſammen gefunden, und Aeneas kehrte
an Dido's Seite nach der Stadt und in den Palaſt zu¬
rück. Ein Freudenfeſt folgte auf das andere, keiner
Abfahrt ward gedacht, und der Winter kam heran.


Jetzt machte ſich Fama, die Göttin des Gerüchtes,
auf und durchflog die Städte Libyens. Dieſe, ein We¬
ſen von ſeltſam beweglicher Geſtalt, iſt die Tochter der
Mutter Erde, und die jüngſte Schweſter der Giganten.
So oft ſie aus ihrer Verborgenheit hervorgeht, iſt ſie
Anfangs ganz klein und ſchüchtern, aber im Fortſchreiten
wächſt ſie an Kräften und Größe, erhebt ſich bald in
die Lüfte; und während ihre Füße über den Boden
[335] gleiten, verbirgt ſich ihr Scheitel in den Wolken. Ihre
Geſtalt iſt gräßlich, ihr Haupt ganz mit Flaumfedern
bedeckt, ſo viel Federn, ſo viel funkelnde Augen darunter,
ſo viel Zungen und Mäuler, die nie ſchweigen, ſo viel
immer geſpitzte Ohren. Nachts ſtiegt ſie zwiſchen Erd'
und Himmel einher, rauſcht durch die Schatten, und nie
ſchließen ſich ihre Augenlieder zum Schlummer. Den
Tag über aber lauſcht ſie hingekauert, bald am Giebel
der Häuſer, bald auf den Zinnen der Thürme, und
ſchreckt Stadt und Land mit ihrem krächzenden Rufe,
und es iſt ihr einerlei, ob ſie Wahrheit verkündet, oder
Lug und Betrug meldet.


Dieſes häßliche Weſen füllte auch jetzt mit mancher¬
lei Gerüchten die Länder Afrika's an, und erzählte ſcha¬
denfroh Alles durcheinander, was geſchah und nicht ge¬
ſchah: Ein Fremdling ſey gekommen, ein Mann aus
trojaniſchem Geſchlecht, Aeneas mit Namen, dieſen habe
ſich die reizende Königin Dido zum Gemahl erkoren; ſie
vergeſſe der Sorge für ihre Herrſchaft, die Zügel der
Regierung entgleiten ihren Händen, und das Paar durch¬
ſchwelge in Pracht und Ueppigkeit den Winter. Solche
Sagen ließ die häßliche Göttin durch den Mund des
Volkes gehen. Dann richtete ſie ihren Lauf plötzlich nach
Numidien zu dem Könige Jarbas, deſſen Hand kürzlich
von Dido verſchmäht worden war. Dieſem entflammte
ſie das gekränkte Herz durch ihre Zuflüſterungen zum
wildeſten Grimme. Er war ein Sohn Jupiters und
einer libyſchen Nymphe, und hatte ſeinem Vater hundert
prächtige Tempel in Numidien erbaut, wo ſtets geſchäf¬
tige Prieſter opferten, und die Pforten immer mit Blu¬
men bekränzt waren. Dieſer, von dem bitteren Gerüchte
[336] in Wuth verſetzt, warf ſich jetzt vor die Altäre, und
flehte mit rückwärts gehobenen Händen zum Himmel
empor: „Allmächtiger Zeus, dem die mauriſchen Völker
alle dienen, ſieheſt du das und ſendeſt deinen Blitz nicht?
Ein landflüchtiges Weib, das für Geld ſich ein Städt¬
chen gegründet hat, der ich in meinem Gebiete das Ufer
zum Pflügen, das Land zum Beherrſchen verliehen habe,
ein ſolches Weib hat trotzig meine Hand verſchmäht,
ergibt ſich dem glatten Trojaner und läßt den Weichling
meines Raubes genießen? Und wir ſind ſolche Thoren,
und hören nicht auf, in deinen Tempel dir Geſchenke
darzubringen, und glauben an deine Weltregierung!“


So betete er und faßte ſeines Vaters Altar. Ju¬
piter hörte ihn, und richtete ſeinen Blick vom Olymp
auf Karthago. Dann berief er ſeinen Sohn Merkurius.
„Was hat Aeneas,“ ſprach er zornig, „im feindlichen
Lande zu ſchaffen? Nicht dazu habe ich ihn zweimal den
Waffen der Griechen, und ſo oft den Stürmen entriſſen.
Rom ſoll er mir gründen! Auf der Stelle ſoll er da¬
von ſchiffen, ich will's! und das ſollſt du ihm von mir
verkünden,“ Wie ein Vogel durcheilte der Gott mit
ſeinen fliegenden Sohlen die Luft; bald war er in
Karthago, und fand hier den Helden Aeneas, wie er
eben den Bau neuer Paläſte überwachte. Sein Schwert
funkelte von Edelſteinen; ſein Mantel, den Dido ſelbſt
gefertigt, glühte von Purpur; er glich vom Kopf bis
zur Sohle einem tyriſchen Fürſten, und nicht mehr einem
Trojaner. Da ſtellte ſich Merkur, allen Andern unſicht¬
bar, neben ihn, und ſchalt ihm ins Ohr: „Weiberſklave,
hier ſteheſt du, deiner Beſtimmung und deines Reiches
vergeſſend, und baueſt einer Fremden die Stadt! Weißeſt
[337] du nichts mehr von deinem Sohn Askanius, und von
der Römerherrſchaft, die du gründen ſollſt? Wiſſe, Ju¬
piter ſendet mich vom Olymp, dich zu ſtrafen, dich fort¬
zutreiben!“


Der Gott war entflogen, ehe ſich Aeneas von ſeiner
Betäubung erholen konnte, aber das Göttergebot hallte
in ſeiner Seele nach, und geſtattete ihm nicht mehr an
Anderes zu denken, als an ſchleunige Flucht. Nachdem
er ſeinen Vorſatz von allen Seiten geprüft und erwogen,
berief er ſeine vertrauteſten Genoſſen zu ſich an einen
einſamen Ort, und befahl ihnen, in aller Stille die Flotte
zu rüſten, die Genoſſen am Strande zu verſammeln, die
Waffen in Bereitſchaft zu halten, aber die Urſache dieſes
neuen Beginnens aufs Vorſichtigſte zu verheimlichen.
Er ſelbſt wolle, noch bevor Dido den vom Himmel er¬
zwungenen Treubruch ahne, die günſtigſte Stunde aus¬
ſpähen, um ihr ſo mild als möglich den Beſchluß des
Schickſals beizubringen.


Aber wer kann ſich vor einem liebenden Herzen
verbergen? Die Königin merkte den Betrug; war ſie
doch ſchon bange, als Alles noch ſicher war. Jetzt hatte
ihr die tückiſche Fama gemeldet, daß die Trojaner ihre
Flotte rüſten und die Abfahrt betreiben. Wie wahnſin¬
nig irrte ſie in den Straßen ihrer Stadt umher, und
endlich trat ſie vor ihren Geliebten ſelbſt, und ſprach zu
ihm: „Treuloſer, du hoffteſt dein Verbrechen mir zu ver¬
hehlen, und dich ſchweigend aus meinem Lande zu ſchlei¬
chen, meine Liebe, meine Hand, mein Tod kann dich
nicht zurückhalten? Mitten im Winter betreibſt du die
Fahrt, Grauſamer, und willſt dich lieber den Nord¬
winden in den Arm werfen, als in meinen Armen ruhen?
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 22[338] Warum flieheſt du mich, Aeneas? Bei dieſen Thränen,
bei deinem Handſchlag, bei unſerer begonnenen Ehe be¬
ſchwöre ich dich, wenn ich Gutes um dich verdient habe,
wenn etwas an Dido dir ſüß war, ſo ändere deine Ge¬
ſinnung, ſo erbarme dich meines ſinkenden Hauſes; um
deinetwillen haſſen mich die Völker Libyens, ja die Tyrier
ſelbſt, um deinetwillen habe ich der Zucht entſagt, die
mich unſterblich machte. Gaſtfreund, denn Gatte biſt du
nicht mehr, wem läßeſt du die Sterbende zurück? Soll
ich warten, bis mein Bruder Pygmalion meine Mauern
ſtürmt, bis der Numidier Jarbas mich in die Gefangen¬
ſchaft führt?“


So ſprach die verzweifelnde Dido. Aeneas aber,
von Jupiter gewarnt, zeigte keine Regung in ſeinem
Blicke, und preßte den Kummer ins Herz zurück. End¬
lich erwiederte er kurz: „So lange ich mich ſelbſt kenne,
Königin, ſo lange mein Geiſt in dieſen Gliedern ſich
regt, werde ich Dido's Wohlthaten nicht vergeſſen.
Glaube nicht, daß ich mich wie ein Dieb davonſtehlen
wollte; wir ſind nicht vermählt, ich habe nie die Braut¬
fackel angeſprochen, nicht zu ſolchem Bunde bin ich zu
dir gekommen. Erlaubte mir das Geſchick, nach freier
Wahl mein Leben einzurichten, ſo würde ich zuerſt die
geliebte Heimath Troja und des Priamus Haus wieder
aufrichten; aber nach Italien heißt mich Apollo ſteuern,
dort iſt mein Herz und mein Schatz, dort iſt mein Va¬
terland. Darf ich meinen Sohn um das verheißene
Reich betrügen? Jupiter ſelbſt verbietet es mir; Merkur,
ſein Bote, iſt mir leibhaftig erſchienen. Deßwegen quäle
dich und mich nicht länger mit Klagen; nicht freiwillig
ſuche ich Italien auf!“

[339]

Seitwärts gewendet, blickte ſchon lange die Königin
den Redenden an, ließ die Augen rollen, maß ihn ſchwei¬
gend von der Sohle bis zum Scheitel, und brach endlich
in die Worte der Entrüſtung aus: „Keine Göttin hat
dich geboren, nicht Dardanus iſt dein Ahn, aus den
Felſen des Kaukaſus biſt du entſproſſen, hyrkaniſche Tiger
haben dich geſäugt! Hat er bei meinen Thränen auch
geſeufzt? Hat er nur das Auge verwendet, die Liebende
beweint, bedauert? Als Bettler an den Strand geworfen,
habe ich ihn aufgenommen, die Flotte, die Genoſſen aus
dem Rachen des Todes ihm zurückgegeben, ihn zu meines
Thrones Gemeinſchaft erhoben: und nun ſchützt er ein
Orakel des Apollo, nun gar die Ankunft eines Götter¬
boten vor, und einen Befehl der Himmliſchen, als ob
dieſen der Treubruch am Herzen läge! Nun wohl, ich
ſtreite nicht, ich halte dich nicht, ſuche dein Italien im
Sturm! Wenn es noch Götter gibt, wird meine Rache
dich in den Klippen finden! Mein Schatten zieht dir
nach, und wenn du büßeſt, werd' ich es in der Tiefe
des Hades vernehmen!“ Athem und Stimme verſagten
der Unglücklichen, und ſie wurde von den Armen ihrer
Dienerinnen aufgefangen.


Wohl fühlte ſich Aeneas verſucht, den Kummer
Dido's durch liebreichen Troſt zu lindern, und ſeine
eigene große Liebe zu der Königin bewegte ihm den Geiſt,
doch vermochte ſie nicht ihn wankend zu machen; er
blieb dem Gebote der Götter treu und wanderte nach
ſeiner Flotte. Dieſe war bald ſegelfertig, und Dido
mußte es von der Zinne ihrer Burg mit anſehen, wie
das Ufer von den Abziehenden wimmelte. „Anna,“
ſprach ſie zur herbeigerufenen Schweſter, „ſieheſt du das
22 *[340] Getümmel längs des ganzen Geſtades? hörſt du die
Segel in den Lüften ſchwirren, ſiehst du, wie die Schif¬
fer die Verdecke bekränzen? Ach, hätte ich das geahnt,
ich würde es auch zu ertragen vermögen! Jetzt aber
bitte ich dich Schweſter, thu' es mir Armen zu lieb';
dich hat ja der Verräther immer geehrt, hat dir ſeine
geheimſten Gefühle anvertraut: geh' zu ihm, Schweſter,
rede den ſtolzen Feind mit unterthänigen Worten an.
Frag' ihn, ob ich denn eine Griechin ſey, die zu Aulis
Troja's Untergang mitbeſchworen habe, ob ich die Aſche
ſeines Vaters Anchiſes frevelnd in die Lüfte geſtreut,
daß er ſolche Rache an mir zu nehmen beſchloſſen? Heiß'
ihn wenigſtens beſſere Zeit zur Flucht, günſtigere Winde
erwarten; ich verlange ja nicht, daß er auf Italien
verzichte; ich will nur eine Friſt für meine wahnſinnige
Liebe, will nur Muße, bis ich mein Schickſal begreifen
und trauen gelernt habe!“


Alſo flehete ſie und die geängſtigte Schweſter ging
und trug dem Helden die Thränen Dido's noch einmal
vor. Ihn aber vermochte kein Menſchenwort ferner zu
erweichen; ein Gott verſchloß dem gefühlvollen Manne
das ſonſt jedem Schmerz offene Ohr. Wie wenn die
Nordwinde den uralten Stamm einer Eiche, von beiden
Seiten her ihn faſſend, auszuwühlen ſich abmühen: die
Wipfel rauſchen, der Stamm bebt, fallende Blätter decken
den Boden; ſie aber haftet feſt im Felſenboden und ſo
hoch ihr Scheitel in die Luft ragt, ſo tief ſtreckt ſie ihre
Wurzeln hinunter in die Tiefe — gerade ſo wurde der
Held von den beiden Schweſtern mit Bitten bedrängt,
und er fühlte auch in ſeinem edlen Herzen alle die Qualen;
aber er blieb unbeweglich, wie die Eiche.


[341]

Jetzt erſt erkannte Dido den Willen des Schickſals
und wünſchte ſich den Tod; ja, ſie mochte den Himmel
über ſich nicht mehr ſehen. Noch mehr beſtärkte ſie in
ihrem Entſchluſſe zu ſterben, das ſchreckliche Zeichen, das
ihr der Himmel beim neueſten Opfer vor Augen ſtellte,
wo der aus der Schaale gegoſſene helle Wein ſich in
ſchwarzes Blut verwandelte. Dieſes Vorzeichen erzählte
ſie Niemand, ſelbſt der Schweſter nicht. Seitdem dachte
ſie nur darauf, wie ſie alle die Ihrigen täuſchen und
ſich auf die ſicherſte Weiſe den Untergang bereiten könnte.
Deßwegen trat ſie mit heiterer Miene, Hoffnung in den
Augen und das gräßliche Vorhaben ſorgfältig verbergend,
vor die Schweſter und ſprach: „Preiſe mich glücklich,
liebe Anna! Ich habe ein Mittel gefunden, das mir den
Treuloſen entweder zurückgeben, oder mich von meiner
Liebe befreien muß. Eine Aethioperin, die in den Heſ¬
peridengärten des Tempels dieſer Göttinnen pflegt, iſt
hier und verſpricht mir durch ihren Zaubergeſang, ent¬
weder das Herz des Geliebten zu gewinnen, oder mein
eigenes der Liebe los und ledig zu machen. Sie hat
aber dazu gewiſſe Gebräuche vorgeſchrieben: nun nehme
ich ſelbſt in einer Sache, die mich ſo nahe betrifft, nicht
gerne meine Zuflucht zu magiſchen Künſten, deßwegen
beſchwöre ich dich, liebſte Schweſter, errichte mir, wie
die Zauberin vorgeſchrieben, im innern Schloßhofe heim¬
lich einen Scheiterhaufen, lege darauf die Waffen des
ungetreuen Mannes, die er in ſeinem Gemache zurück¬
gelaſſen hat, ſeine Gewande, die Betten ſeines Lagers.
Alle Ueberbleibſel des Schändlichen möchte ich vertilgen
und überdem ordnet es die Prieſterin ſo an.“


Dido ſprach und verſtummte, indem Todtenbläſſe
[342] ſich über ihr Antlitz verbreitete. Ihre Schweſter Anna
muthmaßte indeſſen nicht, daß ſich hinter tiefem ſeltſa¬
men und neuen Opfergebrauch ein Gedanke des Selbſt¬
mords verſtecke; ſie ahnte nicht, von welcher Raſerei das
Gemüth ihrer Schweſter ergriffen ſey; auch befürchtete
ſie nichts Schlimmeres als beim Tode des erſten Ge¬
mahls ihrer Schweſter, des Tyriers Sychäus, und ging
ſich ihres Auftrags zu entledigen.


Sobald aber der Holzſtoß ſich in die Luft erhob,
aus Kien und Eichenholz aufgeſchichtet, erſchien die Kö¬
nigin ſelbſt, bekränzte ihn mit Cypreſſenzweigen und zog
Blumenketten rings um ihn her. Dann legte ſie Schwert,
Gewande und Bildniß des Aeneas darauf, und ringsum
ſtanden Altäre aufgerichtet. Die fremde Seherin mit
fliegendem Haare, rief alle Götter der Unterwelt an, und
goß einen eigenen Höllentrank auf den brennenden Schei¬
terhaufen aus; Kräuter, die mit Eicheln im Monden¬
ſchein abgemäht worden waren, wurden darauf geworfen
und noch allerlei Beſchwörungen vorgenommen. Dann
kehrte die trauernde Königin zur letzten Nachtruhe auf
Erden in ihren Palaſt zurück.


Aeneas lag indeſſen, nachdem die Abfahrt beſchloſ¬
ſen war, auf dem Hinterverdecke des Schiffes, dem Schlum¬
mer hingegeben. Da erſchien ihm noch einmal der Gott
Merkurius im Traume und ſchien ihn zu ermahnen:
„Sohn der Göttin, wie kannſt du in ſo gefährlicher
Lage ſchlummern? Sieheſt du nicht, wie viele Gefahren
dich umringen? Hörſt du die günſtigen Weſtwinde nicht
ſauſen? Betrug, gräßliche Frevel der Nachgier wälzt die
verlaſſene Königin in ihrem Herzen! Wirſt du nicht
fliehen, ſo lange du noch kannſt?“ Erſchrocken ſprang
[343] der Held vom Lager auf und trieb die Genoſſen zur
ſchleunigen Flucht an.


Die Morgenröthe war inzwiſchen angebrochen, die
Königin hatte den Söller beſtiegen, ſah den Strand
leer und die Flotte mit ſchwellenden Segeln auf der
hohen See. Schmerzvoll ſchlug ſie mit der Hand an ihre
Bruſt, raufte ſich die blonden Locken aus, und nach langem
Wehklagen rief ſie ihre Amme Barce, und befahl ihre
theure Schweſter Anna herbeizurufen. Sobald ſie ſich
allein ſah ſtürmte ſie in den innern Hof der Burg und
beſtieg vom Taumel des Wahnſinns getrieben das hohe
Gerüſt, auf welchem das Schwert ihres treuloſen Ge¬
liebten lag; dieſes zog ſie aus der Scheide, warf ſich
auf das Bett und die Kleider des Helden, die zu oberſt
ausgebreitet lagen, und ſprach von dem hohen Holzſtoße
herab in die einſamen Lüfte die Abſchiedsworte: „Ihr
ſüßen Ueberbleibſel glücklicherer Tage, nehmet dieß Leben
von mir, erlöſet mich von aller Betrübniß! Dido hat
ausgelebt, hat den vorgeſchriebenen Lauf des Schickſals
geendigt. Nicht als ein kleiner Schatten wird ſie zur
Unterwelt hinabſteigen! Ich habe eine herrliche Stadt
gegründet, habe Mauern erblickt, von mir aufgebaute
habe meinen Gemahl Sychäus gerächt, meinen feindſee¬
ligen Bruder beſtraft! In Allem wäre ich glücklich ge¬
weſen, hätte der Trojaner mit ſeiner Flotte nicht an Li¬
byens Küſte gelandet!“ — Sie konnte vor Schmerz nicht
weiter ſprechen, drückte ihr Geſicht in den Pfuhl und
ſtieß ſich das Schwert in die Bruſt.


Auf ihr Stöhnen eilten ihre Dienerinnen aus dem
Palaſt und ſahen ſie zuſammengeſunken, den Stahl von
Blut geröthet, die Hände beſpritzt. Lautes Jammergeſchrei
[344] tönte durch die Gemächer und tobte durch die er¬
ſchütterte Stadt. Mitten im Laufe — denn ſie war
auf den Ruf der Alten mit dem letzten Opfergeräthe her¬
beigeeilt — vernahm Anna die entſetzliche That. Sie
ſchlug ſich die Bruſt mit den Fäuſten, zerfleiſchte mit
den Nägeln ihr Antlitz und ſtürzte durch das Gedränge
des ſich ſammelnden Volkes in den Hof der Königsburg
hinab. „Schweſter, Schweſter!“ rief ſie der Sterbenden
ſchon von weitem zu, „was haſt du gethan, wie haſt du
mich betrogen? Warum haſt du mich nicht zur Gefähr¬
tin deines Todes erkohren? du haſt mich doch getödtet;
das Volk, deine Väter, die ganze Stadt haſt du ge¬
mordet!“ Unter ſolchen Wehklagen erſtieg ſie die Stu¬
fen des Holzſtoßes, und umarmte die kaum noch Athem
holende Schweſter, die mit Mühe den Blick erhob und
deren ſchwarze Wunde aufs Neue zu bluten anfing. Drei¬
mal ſtrebte ſie vergebens ſich aufzurichten und hauchte
zuſammengeſunken den Geiſt in den Armen der Schweſter
aus.

[[345]]

Fünftes Buch.

Aeneas.
Zweiter Theil.

Der Tod des Palinurus. Landung in Italien. Latinus. La¬
vinia. — Dieſe dem Aeneas zugeſagt. — Juno facht Krieg an.
Amata. Turnus. Die Jagd der Trojaner. — Ausbruch des Krie¬
ges. Aeneas ſucht bei Evander Hülfe. — Turnus beim Lager der
Trojaner. — Niſus und Euryalus. — Sturm des Turnus abge¬
ſchlagen. — Aeneas kommt ins Lager zurück. — Aeneas und Tur¬
nus kämpfen. Turnus tödtet den Pallas. — Turnus von Juno ge¬
rettet. — Lauſus und Mezentius von Aeneas erſchlagen.


[[346]][[347]]

Der Tod des Palinurus. Landung in Italien.
Latinus. Lavinia.

Aeneas mußte das Ende Dido's, das ſein Leicht¬
ſinn herbeigeführt hatte, obgleich ihm von den Göttern
ſelbſt geboten worden war, ſie zu verlaſſen, mit neuen
Irrfahrten und wiederholten Unglücksfällen büßen. Ein
Sturm verſchlug ihn rückwärts nach Sicilien, wo er
vom Könige Aceſtes, deſſen Mutter eine Trojanerin war,
gütig aufgenommen wurde, und dem Schatten ſeines
Vaters Anchiſes, welchen er ein Jahr zuvor bei Drepanum
begraben hatte, bei der Wiederkehr dieſes Tages herrliche
Leichenſpiele feierte. Inzwiſchen warfen die trojaniſchen
Frauen, von der Botin Juno's, Iris, angereizt und der
langen Seefahrt überdrüſſig, Feuer in die Flotte, daß
vier der ſchönſten Schiffe verbrannten; die übrigen ret¬
tete Jupiter durch einen Regenguß. In der folgenden
Nacht erſchien dem kummervollen Helden ſein Vater An¬
chiſes im Traum und brachte ihm Jupiters Befehl, die
älteren Weiber und unkriegeriſchen Greiſe in Sicilien
zurückzulaſſen: er ſelbſt ſolle mit dem Kern der Mannſchaft
nach Italien ſegeln.


Der Held gehorchte dem Götterwinke, gründete zu
Ehren ſeines königlichen Wirthes die Stadt Aceſta in
Sicilien und vervölkerte ſie mit den Greiſen und den alten
Müttern ſeiner Flotte; er ſelbſt brach mit den kräftigſten
Männern, den Jünglingen, Frauen, Jungfrauen und
Knaben der Auswanderung auf und verließ die Küſte.
[348] Dießmal gewährte ihm Neptunus, durch die Bitten der
Liebesgöttin bewältigt, ſicheres Meer und glückliche Fahrt.
Zuletzt wurden ſie bei dem günſtigſten Winde und blaue¬
ſten Himmel ſo ſorglos, daß die Ruderer ſelbſt in einer
heitern Nacht ſich unter ihre Ruderbänke legten und dem
tiefſten Schlafe überließen. Der verführeriſche Gott des
Schlafes hatte ſich von dem am hellen Nachthimmel
funkelnden Geſtirnen des Aethers herabgeſenkt, und nahte
in der Geſtalt des Helden Phorbas ſelbſt dem wachſa¬
men Steuermanne Palinurus, der auf dem hohen Ver¬
deck am Steuer ſaß: „Sohn des Jaſius,“ ſprach er
leiſe zu ihm, „ſieheſt du nicht, wie das Meer die Flotte
ſelber treibt und die ſanftwehende Luft dich einlädt, end¬
lich einmal auch ein Stündlein dir Ruhe zu gönnen? Lege
doch dein Haupt nieder, entziehe die ermüdeten Augen
der ſteten Arbeit, komm, laß mich ein wenig dein Amt
für dich übernehmen!“ Palinurus vermochte kaum den
ſchläfrigen Blick gegen den Redenden aufzuheben und
ſprach: „Was ſprichſt du? Ich ſoll das tückiſche Ele¬
ment nicht kennen, wenn es Ruhe heuchelt, und ihm ver¬
trauen? Ich, den ſo oft der Betrug des heitern Himmels
hintergangen hat!“ So ſprach er und klammerte ſich an
das Ruder, indem er ſich zwang, ſeine Augen nach den
Sternen zu richten. Aber der Gott träufelte ihm in
einem Zweige ein paar Tropfen vom Lethe auf ſeine
Schläfe, und plötzlich ſchloßen ſich ſeine Augen. Da
nickte er über das Verdeck, daß es zuſammenbrach, der
Gott gab ihm einen Stoß und Palinurus ſtürzte mit
ſamt dem Steuer kopfüber in die Wellen. Der Schlaf
erhob ſich wie ein Vogel in die Luft. In den Wogen
[349] erwachte der arme Steuermann und rief umſonſt, ver¬
ſinkend, die Hülfe ſeiner ſchlafenden Genoſſen an.


Die Flotte verfolgte indeſſen, unter dem verſproche¬
nen Schutze des Meergottes, auch ohne Steuermann ih¬
ren Weg, und endlich war Italiens Küſte erreicht. Er
fuhr das Geſtade entlang und landete zuletzt in dem
Hafen von Cajeta. Damals hatte er dieſen Namen noch
nicht, und erhielt ihn erſt von der alten treuen Amme
des Helden, welche Cajeta hieß, nach der Landung hier
ſtarb, und ehe der Zug weiter ging, an dem Orte feier¬
lich beigeſetzt wurde. Dann begab ſich Aeneas noch ein¬
mal mit ſeinen Gefährten zu Schiffe und gelangte glück¬
lich in den Hafen von Oſia. Hier ſah er vom Meer
aus ein großes Gehölz; zwiſchen dieſem brach der Tiber¬
ſtrom, gelb von Sande, unter reißenden Wirbeln ſich
ſeine Bahn ins Meer. Bunte Vögel umflatterten unter
lieblichem Geſange den Ausfluß und durchſchwebten den
Hain.


Das italiſche Land, in welchem ſich die trojaniſchen
Auswanderer nun befanden, war das alte Latium, das
Gebiet der Laurenter. Seine ruhigen Städte und Felder
beherrſchte ein ſchon alternder König, mit Namen Lati¬
nus, ein Sohn des Faunus und ein Urenkel des Gottes
Saturnus. Das Geſchick hatte dieſem Fürſten keinen
Sohn gegönnt; aber um ſeine einzige ſchon herangereifte
ſchöne Tochter Lavinia warben aus Latium und ganz
Italien viele Fürſtenſöhne, vor Allen der ſchönſte aller
Jünglinge, der Sohn Daunus des Rutulerköniges und
ihn begünſtigte die Mutter Lavinia's, die Königin Amata,
vor allen Andern. Aber ſchreckhafte Götterzeichen ſetzten
ſich dieſer Verbindung entgegen. In den hohen Höfen der
[350] latiniſchen Königsburg ſtand ein Lorbeerbaum, welchen
der alte König ſchon angetroffen und dem Phöbus ge¬
weiht hatte, als er den Palaſt gründete. Nun beſetzte
einſt plötzlich den Gipfel des Baumes ein dichter Bie¬
nenſchwarm, der mit lautem Geſumſe durch die heitere
Luſt herbeigeflogen kam; Füße an Füße klammernd,
hing der ganze Schwarm, wie eine Blumendolde plötzlich
vom grünenden Aſte des Baumes herunter. Man rief
einen Wahrſager herbei, der das Zeichen deuten ſollte.
Dieſer ſprach: „Ich ſehe einen Mann und ein Heer vom
Auslande herbeiziehen, aus Einer Himmelsgegend nach
Einer Himmelsgegend, und ſehe ihn zu oberſt in dieſer
Burg herrſchen!“ Und wiederum geſchah ein neues Zei¬
chen. Als die Jungfrau Lavinia mit ihrem Vater am
Altare ſtand, und dieſer die Opferflamme anfachte, da
ſchien es, als fingen die Locken der Jungfrau Feuer, ihr
Haar brenne, die Krone von Gold und Edelſteinen
glühe, und verſtreue, in Rauch und Flammen gehüllt,
Gluth durch den ganzen Palaſt. Das wurde nun vol¬
lends für ein bedeutſames und grauſenhaftes Wunder
gehalten: zwar Lavinia ſelbſt — ſo lautete die Deutung
der Seher — gehe einem herrlichen Geſchick und großen
Ruhm entgegen, aber dem Volke weiſſage dieſes Zeichen
einen fürchterlichen Kriegsbrand. Latinus befragte dar¬
über das Orakel ſeines Vaters Faunus. Aber auch
dieſes wahrſagte ihm einen fremden Eidam, aus deſſen
Stamm ein Geſchlecht erwachſen werde, dem die Herr¬
ſchaft der ganzen Welt beſtimmt ſey. —


Am Tibergeſtade ſtreckte ſich der gelandete Aeneas
mit ſeinem Sohne Julus und den übrigen Trojanerfür¬
ſten unter einem hohen, ſchattigen Baume nieder, und
[351] bereitete ein Mahl. In der Eile nahmen ſie ſich nicht
einmal die Mühe, das Geräthe aus den Schiffen her¬
beizuholen, ſondern ſie buken breite Weizenkuchen, die ih¬
nen ſtatt der Tiſche und Teller dienten, und auf welchen
ſie die Speiſen ausbreiteten. Als der kleine Verrath, den
ſie mit zu Lande gebracht, verzehrt und ihr Hunger noch
nicht geſtillt war, ergriffen ſie Teller und Tiſche von
Weizenmehl und biſſen rüſtig ein. Da ſagte der kleine
Julus lachend: „Wir verzehren ja unſere eigenen Tiſche!“
Dieſer Scherz fiel Allen mit ſchwerem entſcheidenden Ge¬
wicht ins Ohr. Freudig ſprang Aeneas vom Boden
auf und rief: „Heil dir, du fremdes Land! du biſt's,
das mir vom Geſchicke verheißene! Auf heitre Weiſe
wird erfüllt, was uns die Harpie Celäno als etwas
Entſetzliches prophezeit hatte. Der Hunger werde uns
an unbekannten Geſtaden, ſo krächzte ſie, nöthigen, die
eigenen Tiſche zu verzehren. Wohlan denn, es iſt ge¬
ſchehen, der Spruch hat ſich erfüllt, von dem auch mein
Vater Anchiſes mir geweiſſagt hatte. Wenn dieſes ge¬
ſchieht, ſprach er, dann iſt das Ende der Mühſeligkeiten
da, dann bauet Häuſer!“


Jetzt erkundigten ſich die Fremdlinge, welche, das
fruchlbare Land durchſtreifend, bald auf Wohnungen
ſtießen, nach dem Volk und Könige des Landes und
ſchnell ward eine Geſandtſchaft an Latinus, den König
der Laurenter beſchloſſen.


[352]

Lavinia dem Aeneas zugeſagt.

Der Sohn des Anchiſes wählte aus allen Schiffen
des Geſchwaders die ausgezeichnetſten Männer, hundert
an der Zahl, als Redner oder Geſandte, die an den
Laurenterkönig abgeſchickt werden ſollten. Dieſe traten,
bebänderte Oelzweige, gleich Schutzflehenden, in den
Händen, die Reiſe an und gelangten bald in die Stadt
der Latiner. Vor der Stadt tummelte ſich die Jugend
Latiums zu Wagen und Roß, andere vergnügten ſich
mit Wurfſpießwerfen und Bogenſchießen, mit Fauſtkampf
und Wettrennen. Als nun die fremden Geſandten kamen,
eilte ein Bote zu Roß in die Stadt voran und brachte
dem alten Könige die unerwartete Botſchaft, daß eine
Schaar großer, herrlicher Männer friedlich herannahe.
Dieſer befahl ſogleich, ſie in ſeine Wohnung zu rufen
und verſammelte alle die Seinigen um den Thron ſeiner
Ahnen.


Der Palaſt des Königs war groß und herrlich, in
der oberſten Burg der Stadt gelegen. Hundert Säulen
trugen ihn, und ein heiliger Hain umringte ihn mit
hohen, Ehrfurcht gebietenden Bäumen. Im Innern deſ¬
ſelben ſaß auf einem hohen Throne Latinus und beſchied
die Trojaner vor ſich. Als ſie eingetreten waren, ſprach
er mit freundlichem Angeſichte: „Euer Geſchlecht iſt mir
nicht unbekannt, ihr Dardaniden, und ihr waret mir ver¬
kündiget, noch als ihr lang auf dem Meere umherirrtet.
Möget ihr nun durch Stürme hieher verſchlagen, oder
[353] abſichtlich gekommen ſeyn! wiſſet, daß ihr an keiner
ungaſtlichen Küſte gelandet habt. Verkennet in uns
Latinern nicht das harmloſe Geſchlecht des Saturnus,
das ohne Zwang und Geſetz Billigkeit übt, und den alten,
frommen Gebräuchen des Gottes mit edler Freiheit folgt!
Auch erinnere ich mich wohl noch (obgleich die Sage
durch viele Jahrhunderte verdunkelt iſt), daß euer Ahn¬
herr Dardanus aus dieſer unſerer Gegend abſtammen ſolle.“


Ihm erwiederte Ilioneus, der von Allen zum
Sprecher auserſehen war: „Kein Orkan hat uns an
dein Geſtade genöthigt, erhabener Sohn des Faunus,
kein Geſtirn hat uns in der Richtung des Weges ge¬
täuſcht! Mit freiem Willen erreichten wir dein Ufer, und
bewußte Abſicht hat uns an daſſelbe geführt. Wir ſind
aus einem herrlichen Reiche vertrieben worden, und der
Erzvater unſeres Geſchlechtes iſt Jupiter ſelbſt. Auch
unſer Fürſt und Anführer Aeneas, der Sohn der Göttin
Venus, iſt Jupiters Enkel, und er ſelbſt iſt es, der uns
in deinen Palaſt geſendet hat. Den Sturm, der Troja
niedergeriſſen, kennt alle Welt; auch dir iſt er nicht un¬
bekannt geblieben. Dieſer Verwüſtung ſind wir entflohen
und flehen euch um einen Fleck an, wo wir die Götter
unſerer Heimath aufſtellen können, um ein ſicheres Ufer,
um Waſſer und Luft, die ein gemeinſames Gut aller
Sterblichen ſind! Es wird Italien nie gereuen, Troja in
ſeinen Schooß aufgenommen zu haben. Stammt doch
Dardanus von hier, und ruft uns hierher zurück. Auch
trieb uns ein beſonderes Gebot der Götter, dieſes Land
aufzuſuchen. Damit du aber erkenneſt, o König, daß wir
in Wahrheit diejenigen ſind, für welche wir uns aus¬
geben, ſo verehrt dir unſer Führer Aeneas die Geſchenke,
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 23[354] die wir für dich mitgebracht haben, und die freilich nur
kleine Ueberbleibſel aus Troja's Brande ſind: dieſen
goldenen Pokal, aus welchem der Vater unſeres Helden,
Anchiſes, ſein Trankopfer zu verrichten pflegte; dieß Ge¬
wand des hohen Königs Priamus, das er trug, wenn
er dem zuſammengerufenen Volke Recht ſprach, endlich
ſeinen heiligen Kopfſchmuck, ſeinen Scepter und andere
Gewande, ein kunſtvolles Werk trojaniſcher Frauen¬
hände!“


Während Ilioneus ſprach, hatte der alte König
Latinus die Augen unbeweglich zu Boden geſenkt, wie
ein tief Nachdenkender: er gab wenig auf die herrlichen
Geſchenke Achtung, welche die Geſandten vor den Stu¬
fen ſeines Thrones ausbreiteten: wohl bewegte er in
ſeinem Herzen den Orakelſpruch ſeines Vaters Faunus.
Auf einmal wurde ihm klar, dieſer und kein Anderer ſey
der verheißene Bräutigam ſeiner Tochter, dieſer zur ge¬
meinſchaftlichen Beherrſchung des Reiches auserſehen;
aus ihm werde das Geſchlecht aufſprießen, das beſtimmt
ſey, über die ganze Erde zu herrſchen. Da erheiterte
ſich ſeine Miene, er richtete ſein Haupt auf und ſprach:
„Mögen die Götter unſer Werk und ihre Verheißung
ſegnen. Ich gewähre eure Wünſche, Trojaner, und eure
Geſchenke nehme ich an. Nur ſoll Aeneas ſelbſt zu mir
kommen, und ſich vor dem Angeſicht eines Freundes nicht
ſcheuen. Ihr aber überbringet ihm mein Anerbieten.
Mein iſt eine einzige Tochter, die mir das Orakel mei¬
nes Vaters, verbunden mit andern Wunderzeichen, nicht
vergönnt, einem einheimiſchen Manne zu vermählen. Aus
dem Auslande ſoll mir, nach der Weiſſagung, der Gatte
meiner Tochter kommen.“

[355]

Nachdem er ſo geſprochen, ließ der alte König aus
ſeinem herrlichen Marſtall, in welchem an hohen Krip¬
pen dreihundert der ſchmuckſten Roſſe ſtanden, für jeden
Trojaner ein mit Purpur gedecktes Pferd herbeiführen;
goldene Ketten hingen den Roſſen bis an die Bruſt her¬
ab, das Geſchirr und der Zaum ihres Mundes war von
Gold. Dem Aeneas ſelbſt aber ſandte er einen Wagen
ſamt einem Doppelgeſpann, ſchnaubende Roſſe aus un¬
ſterblichem Saamen gezeugt.

Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd
der Trojaner.

Dieſes Glück des Aeneas konnte ſeine Feindin Juno
nicht mit gleichgültigen Augen betrachten. Sie rief die
Furie Alekto aus der Unterwelt herauf, um die Eintracht
im Keime zu zerſtören. Dieſe ſchwebte zuerſt nach La¬
tium und nahm Beſitz von dem ſtillen Gemache der Amata;
ſie warf der Königin, der ohnedem ſchon peinliche
Sorgen über das Herannahen der Trojaner und die er¬
ſehnte Vermählung ihrer Tochter Lavinia mit dem Ru¬
tulerfürſten Turnus das Herz zernagten, heimlich aus
ihrem Schlangenhaare eine der Nattern auf die Bruſt,
damit ſie von dieſem Scheuſal angefreſſen, das ganze
Haus in Verwirrung bringe. Die Schlange verwandelte
ſich ſofort in Amata's goldenen Halsring, in ihren lan¬
gen Schleier, ihr Lockengeſchmeide und durchſchlüpfte
und umirrte ihr ſo alle Glieder. Zu gleicher Zeit träu¬
felte ſie unvermerkt ihr Gift auf die Haut, und dieſes
fing an den Leib zu durchrieſeln. So lang es noch
nicht bis ins Mark der Gebeine durchgedrungen war,
23 *[356] zeigte ſich noch nicht ſeine volle Wirkung; es äußerte
ſich nicht anders, als wie natürliche Gemüthsbewegungen
ſich zu offenbaren pflegen: Amata fing an zu weinen und
über die Vermählung iher Tochter zu klagen: „Grauſa¬
mer Gatte,“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, „du haſt weder mit
mir noch mit deiner Tochter Mitleid! Wo iſt deine frü¬
here Sorge um die Deinigen, wo das heilige Wort, das
du ſo oft deinem Blutsverwandten Turnus gegeben haſt?
An heimathloſe Flüchtlinge verſchenkſt du unſer Kind!“


Solche Klagen richtete ſie auch an ihren Gemahl
ſelbſt. Aber als ſie ihn feſt und unwiderruflich auf ſei¬
nem Beſchluſſe beharren ſah, da erſt durchſtrömte ſie das
Schlangengift der Furie ganz und ſie tobte wie wahn¬
ſinnig durch die Stadt. Nun war Alekto zufrieden, und
hatte hier das Werk, das ihr Juno aufgetragen, voll¬
bracht. Sofort ſchwang ſie ſich in die Hauptſtadt der
Rutuler, welche die Geliebte Jupiters, Danae, gegründet
haben ſoll, und die von Alters her den Namen Ardea
führte. Hier fand ſie im Innerſten des Königspalaſtes
den Fürſten Turnus in tiefem Schlafe. Da legte
Alekto ihre Furienkleider ab, und nahm die Geſtalt eines
alten Weibes an, mit häßlichen Runzeln auf der Stirne
und unter dem Schleier hervorquellenden grauen Haaren,
um welche ſich ein Olivenzweig ſchlang, ſo daß ſie ganz
und gar der greiſen Kalybe, der Tempelprieſterin Juno's
glich. In dieſer Geſtalt trat ſie vor den ſchlummernden
Jüngling und ſprach: „Iſt es auch möglich, Turnus,
kannſt du ohne Zorn es mit anſehen, wie alle deine
Hoffnung vereitelt und der Scepter der dich erwartete,
an trojaniſche Landfahrer verſchenkt wird? Mich ſendet
Juno ſelbſt zu dir: du ſollſt dein Volk waffnen, ſollſt
[357] zum freudigen Kampf aus den Thoren ziehen, am Strande
den Phrygiern ihre bunten Schiffe verbrennen und ſie
ſelbſt vertilgen!“ Lachend erwiederte im Traume der
Jüngling: „Alte! daß die Trojanerflotte in die Tiber
eingelaufen iſt, und Juno meiner gedenkt, wußte ich ſchon
längſt, das andere ſind Schreckbilder, mit denen dich dein
Alter quält. Warte du der Götterbilder und des Tem¬
pels. Krieg und Frieden laß den Mann betreiben!“


Die Furie durchbebte ein Zorn bei dieſen Worten,
und der Jüngling empfand ihren Schauer auf der Stelle.
Er hörte das Ziſchen ihrer Hydern, ſein Blick erſtarrte
und er wollte noch mehreres erwiedern, als die nächt¬
liche Geſtalt, plötzlich übermenſchlich groß geworden, den
Aufgerichteten mit einem Stoß aufs Lager zurückwarf,
aus dem Haare zwei Schlangen hervorzog, mit ihnen,
wie mit einer Peitſche zu klatſchen anfing und dazu mit
ſchäumendem Munde ſprach: „Meinſt du noch, ich ſey
ein verſchimmeltes altes Weib, und verſtehe mich nicht
auf den Zwiſt der Könige? Erkenne die Rachegöttin in
mir, die Krieg und Tod in ihrer Hand trägt!“ In die¬
ſem Augenblicke warf ſie ihre Fackel, die der Jüngling
in ihrer Furienhand geſchwungen ſah, ihm auf die offen¬
liegende Bruſt, ſo daß der ſchwarze, qualmende Brand
ſich feſt in ſein Fleiſch heftete. Seine Glieder und Ge¬
beine überſtrömte ein Schweiß. „Waffen!“ ſchnaubte er
noch in der Beſinnungsloſigkeit des Schlafes; Waffen
ſuchte er erwacht in ſeinem Bette, erſtanden in ſeinem
Hauſe; raſende Kriegswuth tobte in ſeiner Bruſt, wie
die Welle in einem ſiedenden Keſſel unter dem Reiſig¬
feuer aufhüpft. Sobald der Morgen angebrochen war,
beſchickte er die Häuptlinge ſeines Volkes, und hieß ſie
[358] zu den Waffen gegen den treuloſen König Latinus grei¬
fen, und ſich zum Kampfe gegen Beide, Latiner und
Trojaner, rüſten.


Während ſo Turnus den Muth ſeiner Landsleute
ſtachelte, flog die Furie zuletzt auch noch an den Tiber¬
ſtrand, wo Julus mit ſeinen Begleitern, in den dichten
Uferwäldern eben dem Wild auf die Jagd nachging.
Hier beſeelte Alekto die Spürhunde mit plötzlicher Wuth,
berührte ihre Naſen mit dem bekannten Geruch und
jagte ſie ganz hitzig einem Hirſche nach. Dieſes
Wild war beſonders herrlich und von Geweihen hoch:
die Knaben des Tyrrhus, welcher der Oberhirte über die
Heerden des Königs Latinus war, hüteten ſein; denn er
war vom Euter ſeiner Mutter weggenommen und in den
Wäldern des Königs aufgefüttert worden. Die Tochter
des Tyrrhus, Silvia, hatte das Thier ganz an ihre
Befehle gewöhnt, ſie kämmte es, wuſch es in lauterer
Waldquelle und ſchmückte ſeine Hörner mit weichen Blu¬
menkränzen; es ließ ſich willig von ihr ſtreicheln, war
an den Tiſch ſeines Herrn gewöhnt, irrte frei in den
Wäldern umher und ſtellte ſich jeden Abend freiwillig in
der Wohnung des königlichen Hüters.


Auf die Spur dieſes ſchönen zahmen Hirſches führte
die Furie des Askanius Rüden, während er eben den
heißen Uferſand, nach Kühlung begehrend, verlaſſen hatte
und den Tiberſtrom hinabſchwamm. Askanius faßte das
herrliche Wild ins Auge, drückte den Pfeil vom Bogen
ab und ſandte ihn tief in das Gedärme des Thieres.
Der verwundete Hirſch fuhr aus dem Waſſer, kam
blutig zum wohlbekannten Hauſe ſeines Herrn, ſchleppte
ſich ächzend in den Stall, und erfüllte, wie ein um
[359] Mitleid Flehender, das ganze Haus mit Gewinſel an. Jam¬
mernd entdeckte zuerſt Silvia ihren Liebling, und rief
mit lautem Geſchrei die Bauern der Umgegend zu Hülfe.
Dieſe kamen mit angebrannten Pfählen und Keulen be¬
waffnet: Tyrrhus ſelbſt rief ſeinen Geſellen herbei, der
juſt eine ſtämmige Eiche mit dem Beil ſpaltete; und
als Alekto den rechten Zeitpunkt erſehen, ſtellte ſie ſich
auf den Giebel des Hofgebäudes und ließ durch das ge¬
wundene Horn den lauten Hirtenruf in die Gegend hin¬
austönen. Von allen Seiten ſtrömte jetzt tobendes
Bauernvolk herbei, aber auch dem Askanius kam die
trojaniſche Mannſchaft zu Hülfe. Bald waren es
auf der andern Seite auch nicht mehr blos mit Prügeln
bewaffnete Haufen; es hatten ſich zwei ordentliche Schlacht¬
reihen gebildet: Schwerter wurden gezogen, Bogen ge¬
ſpannt.


Der erſte Pfeilſchuß von Seiten der jagenden Tro¬
janer, die ſich gegen die anſtürmenden Feinde zur Wehr
ſetzten, traf den älteſten Sohn des Tyrrhus, Almo, in
die Kehle, daß ihm Stimme und Leben zugleich ſchwand.
Nun begann ein allgemeines Gemetzel unter den Hirten.
Der ehrlichſte und begüterſte Bauer in ganz Latium, der
alte Galäſus, der fünf Rinder- und fünf Schaafheerden
beſaß, und hundert Pflüge über ſeine Aecker gehen hatte,
war aus den Schaaren des Bauernvolkes hervorgetreten,
um den Frieden zu vermitteln; aber er wurde nicht an¬
gehört und ein Pfeilregen bedeckte ihn, unter dem er ſter¬
bend erlag. Jetzt ſtürzten die überwältigten Hirten aus
dem Kampfe in die Stadt, und trugen ihre Erſchlagenen,
den Almo, den Galäſus und viele Andere wehklagend
durch die Thore. Sie riefen die Götter laut um Hülfe
[360] an, eilten auf den Königspalaſt zu und verſammelten ſich
um Latinus, ihren Herrn. Auch Turnus fand ſich
ſchreiend und tobend ein, mit der lauten Anklage, daß
die Herrſchaft des Landes an die Trojaner verrathen
werde. So umringten ſie Alle, in Klagen und Lärm
wetteifernd, die Königsburg des Alten. Dieſer aber
ſtand unbeweglich, wie ein Fels im Meere. Dennoch
vermochte er dem blinden Toben in die Länge nicht
Widerſtand zu leiſten. „Wehe mir,“ rief er endlich, „ich
fühl' es wohl, uns reißt der Sturm fort. Armes Volk,
du wirſt gegen den Willen der Götter kämpfend, dieſen
Frevel mit deinem eigenen Blute büßen! Auch du Tur¬
nus, wirſt dem Strafgerichte des Himmels nicht ent¬
gehen! Ich aber glaubte ſchon im Hafen zu ſeyn, und
hoffte in Ruhe zu enden, nun gönnt ihr mir nicht ein¬
mal einen friedlichen Tod!“


Der Götterkönigin Juno, der Feindin Troja's,
dauerte der Verzug zu lange. In der Latinerſtadt ſtand
ein Tempel des Krieges mit zwiefachen Pfoſten, von
hundert ehernen Riegeln verſchloſſen; ſein Hüter iſt
Janus, der uralte Städtegott der Latiner. Wenn
die Häupter des Volkes blutigen Kampf auf Leben
und Tod beſchließen, ſo öffnet der König ſelbſt im
feierlichen Kriegsgewande die knarrenden Pfoſten. Die¬
ſes zu thun, ermahnte das Volk jetzt auch ſeinen König
Latinus, er aber weigerte ſich dieſes gräßlichen Dienſtes
und verbarg ſich in die tiefſte Einſamkeit ſeines Palaſtes.
Da ſchwang ſich Juno ſelbſt vom Himmel hernieder,
ſtieß mit eigener Götterhand an die widerſtrebenden Pfo¬
ſten, drehte die Angeln, und donnernd fuhren die eher¬
nen Pforten des Kriegstempels auseinander.


[361]

Ausbruch des Krieges. Aeneas ſucht bei Evander
Hülfe.

Ganz Italien, ſo ruhig und friedſam es vorher war,
gerieth in plötzlichen Brand. In allen Häuſern wurden
die Schilde geglättet, die Speere geſpitzt, die Aexte am
Schleifſtein gewetzt; die Trompeten riefen zum Marſche,
die Fahnen flatterten. Alle Männer griffen zu den Waffen,
die Einen zogen zu Fuß ins Feld, die Andern wirbelten
hoch zu Roſſe den Staub des Weges auf; Streitwagen
flogen hinter ſchnaubenden Pferden daher, die Ebenen
glänzten von Gold und Eiſen, von Panzer und Schwert.
Aus allen Städten Hesperiens kamen die erſten Sprö߬
linge der alten Heldengeſchlechter hervor, deren Ahnen
zum Theile Götter und Götterſöhne waren. Unter den
erſten ſchritt in männlicher Schönheit Turnus voran,
ſeine herrlichen Waffen in der Hand, um einen ganzen
Scheitel über die Andern hervorragend. Ein dreifa¬
cher Buſch wehte von ſeinem Helm, auf deſſen Kup¬
pel die glutathmende Chimära abgebildet war; auf ſei¬
nem Schilde war in getriebener Arbeit Io abgebildet, wie
ſie eben zur Kuh wird, und ihr Hüter Argos und ihr
Vater Inachus ihr den Strom aus der Urne gießt.
Hinter Turnus und ſeine Helden drängten ſich die La¬
tiner und Rutuler, Aurunker, Sikaner und eine Menge
auſoniſcher Völkerſchaften; beſchildete Fußgänger, vor
Allen Mezentius mit ſeinem Sohne Lauſus, Aventinus,
der Sohn des Herkules und der Rhea, Katillus und
[362] Koras, die Brüder des Tiburtus aus Tibur und viele
Andere; dann kam die Reiterei der Volsker, ſchimmernd
in Erzpanzern, geführt von ihrer jungfräulichen Fürſtin
Kamilla. Dieſe hatte ihre weiblichen Hände nie an
Minervas Rocken und Webſtuhl gewöhnt, im rauhen
Männerkampfe war ſie aufgewachſen, auf ihrem flüch¬
tigen Roſſe hatte ſie mit den Winden in die Wette
laufen gelernt; ſie flog ſo luftig dahin, daß ſie
über die Saatflur geſprengt wäre, ohne ein Hälmchen
zu rühren, ohne eine Aehre zu verletzen, und über die
Meerfluth, ohne die Sohlen zu netzen. Alt und Jung
blickte ihr verwundert nach, wie ſie mit ihrer Schaar
durch Städte und Dörfer zog, den königlichen Purpur
über die runden Schultern geworfen, das reiche Haar
mit einer goldnen Nadel aufgebunden, Köcher und Bogen
auf der Achſel, und die ſcharfe Lanze in der Hand.


Dieſe gewaltigen Kriegsrüſtungen erfüllten den
Aeneas und ſeine Trojaner mit ſchweren Sorgen. Da
erſchien jenem im Traume der Flußgott Tiberinus, und
ſtieg in meerblauem Kleide, die Haare mit einem Schilf¬
kranze beſchattet, zwiſchen Pappelſtauden in Greiſenge¬
ſtalt aus dem Strom empor. „Göttlicher Held,“ ſprach
er, „verzage nicht. Der Groll der Himmliſchen gegen
dich iſt verſchwunden. Damit du nicht wähneſt, ein
nichtiges Traumbild zu ſchauen, will ich dir ein Zeichen
ſagen. Unter den Eichen des Ufers wirſt du ein großes
Mutterſchwein liegend finden, das dreißig Friſchlinge ge¬
boren hat: dort iſt die Stelle, wo nach dreißig Jahren
dein Sohn Askanius die verheißene Stadt Alba, Roms
Mutterſtadt, gründen wird. Für jetzt aber merke, wie
du dich gegen die Gefahr zu ſchützen haſt, die dich
[363] bedroht. Nicht weit von hier, im Tuskerlande, haben
ſich arkadiſche Pelasger, vom alten Könige Pallas ab¬
ſtammend, unter ihrem Fürſten Evander angeſiedelt, und
auf einem hohen Hügel die Stadt Pallanteum, nach
dem Namen ihres Ahnherrn gegründet. Ob es gleich
Griechen ſind, ſo darfſt du ſie doch nicht ſcheuen, denn
es ſind unverſöhnliche Feinde des Latinervolks. Mit die¬
ſen ſollſt du dich verbünden, und ſie werden deine Kampf¬
genoſſen werden. Opfere der Göttermutter Juno, ſobald
du erwachſt, und überwinde ihren Zorn durch Demuth.
Alsdann begieb dich auf den Weg zu Evander.“


Der Gott verſchwand, und der erwachte Aeneas
befolgte ſeinen Rath. Zwei Schiffe wurden aus der
Flotte herausgewählt und mit auserleſenen Freunden be¬
mannt. Noch ehe der Held mit ihnen abging, erfüllte
ſich das verkündigte Zeichen. Am Saume des Waldes,
unter einer mächtigen Eiche, ſchneeweiß ſchimmernd, er¬
blickte man ein Schwein mit dreißig Jungen. Der Mah¬
nung des Stromgottes eingedenk, opferte Aeneas die
Mutter und ihre ganze Zucht der mächtigen Göttin
Juno, und verſöhnte durch ein ſo herrliches Opfer ihr
grollendes Herz. Dann ſchiffte er ſich auf der Tiber
ein, die, von dem Flußgotte gebändigt, glatt und eben
dalag, wie der Spiegel eines Landſees. Die Wellen
ſelbſt ſtaunten und der Uferwald wunderte ſich, als ſie
bunte Verdecke und Männer mit hellen Schilden den
Strom faſt ohne Ruderſchlag heraufziehen ſahen. Jene
aber fuhren Tag und Nacht durch lange Krümmungen
zwiſchen grünenden Hainen auf dem ſpiegelhellen Waſ¬
ſer dahin. Endlich am andern Morgen ſahen ſie von
ferne Mauern, Häuſer und eine Burg auf hohem Berge
[364] ſchimmern. Sogleich drehten ſie ihre Schiffſchnäbel
dem Lande zu, wo der Berg, auf welchem die Stadt
Pallanteum gelegen war, ſich mit ſeinem Fuße in den
Fluß verlor.


Es war gerade der Tag, an welchem der Arkadier¬
könig Evander, ſeinen Sohn Pallas an der Seite, mit
dem kleinen Rathe ſeiner Stadt und den angeſehenſten
Jünglingen, in einem benachbarten Haine dem Herkules
ein feierliches Opfer darbrachte. Der Weihrauch und
das Blut dampfte auf den Altären, und das Opfermahl
hatte ſchon begonnen. Als nun die Arkadier die hohen
Schiffe zwiſchen den dunkeln Uferwäldern unter leiſem
Ruderſchlage herbeiſchwimmen ſahen, erſchracken ſie vor
dem plötzlichen Anblicke, und wollten den Schmaus ver¬
laſſen. Doch der muthige Jüngling Pallas verbot ihnen,
das Feſt zu unterbrechen, er ſelbſt ergriff ſeine Lanze,
flog ihnen entgegen, und rief noch vom Hügel hinab:
„Was führte euch auf dieſe ungewohnte Bahn, ihr
Männer, woher ſeyd ihr? wohin trachtet ihr? Bringet
ihr uns Krieg oder Frieden?“ Aeneas antwortete von
dem hohen Verdecke ſeines Schiffes, indem er das Zei¬
chen des Friedens, den Olivenzweig, hoch in der ausge¬
ſtreckten Rechten hielt: „Trojaner ſieheſt du, Jüngling,
Männer, zum Kampfe mit den Latinern gerüſtet, welche
uns Flüchtlinge mit Waffengewalt aus ihrem Lande
vertreiben wollen. Wir kommen zum Könige Evander,
um ihn um ſein Bündniß und um Hülfe zu bitten.“
Als Pallas den großen Trojanernamen hörte, ſtaunte
er, und rief in freudiger Beſtürzung: „Willkommen,
Gaſt, wer du auch ſeyeſt, tritt immerhin vor meinen
Vater, und nimm in unſerer Wohnung fürlieb!“

[365]

Pallas hatte den Ausgeſtiegenen mit traulichem
Handſchlage begrüßt, und bald wiederholte der Held
ſein Geſuch vor dem Könige der Arkadier, ohne
jedoch ſich ſelbſt zu nennen. Jener aber hatte Augen,
Angeſicht und Geſtalt des Redenden lang mit Schärfe
gemuſtert, und erwiederte endlich: „Wie gern nehme ich
dich auf, tapferer Sohn Troja's, dein Geſchlecht, dein
Name verbirgt ſich mir nicht. Wort, Stimme und Ge¬
ſtalt deines großen Vaters Anchiſes ſteigt wieder in mei¬
ner Seele auf; wohl entſinne ich mich noch des Helden
Priamus, als er, mit ſeinen Helden auf der Fahrt gen
Salamis, das Reich ſeiner Schweſter Heſione, der Ge¬
mahlin Telamons, zu beſuchen, auch durch unſer Arka¬
dien gezogen kam. Mir ſproßte damals der erſte Flaum
um die jungen Wangen, und mit Ehrfurcht betrachtete
ich den König und die Häupter ſeines Volkes, vor Allen
aber den herrlichen Anchiſes. Ich konnte mein Verlan¬
gen nicht bezähmen, ihn anzureden und ihm meine Rechte
darzubieten. Er folgte mir als Gaſtfreund in unſere
Wohnung, und beim Abſchied verehrte er mir Köcher
und Pfeile, ein golddurchwirktes Kriegsgewand, und
zwei vergoldete Zäume, herrliche Gaben, die jetzt mein
Sohn Pallas beſitzt. Darum dürfet ihr euch zum
Voraus als meine Verbündete betrachten, und morgen
frühe ſchon ſollt ihr, verſtärkt durch unſern Beiſtand,
nach eurem Lager zurückkehren. Unterdeſſen begehet mit
uns dieſes ſchöne Jahresfeſt, das wir nicht verſchieben
dürfen.“ So ſprach er, hieß die aufgeräumten Becher
und Speiſen wieder zurückbringen, und die Trojaner
auf den Raſenbänken Platz nehmen: den Aeneas ſelbſt
aber führte er zu einem herrlichen gepolſterten Seſſel aus
[366] Ahorn, über dem ein zottiges Löwenfell gebreitet war.
Der Prieſter des Altares und auserleſene Jünglinge
brachten geröſtete Stücke der Stiere herbei, häuften das
Brod in Körben auf, und reichten in die Wette Wein
herum.


Den reichlichen Schmaus würzte der König Evan¬
der mit einer ſchönen Erzählung von der Veranlaſſung
dieſes Opfers, indem er mit den Fingern ſeinen Gäſten
eine Felſenkluft wies, in welcher der gräßliche Halb¬
menſch Kakus, der Sohn des Vulkanus, gehaust, der
dem Herkules die erbeutete Rinderheerde des Rieſen Ge¬
riones ſtahl, und von Herkules bezwungen wurde.
Für den Sieg über dieſes Unthier brachten die dankba¬
ren Arkadier noch immer dem Herkules, als Schutzgotte
der Gegend, ein Jahresopfer dar.


Ueber dieſer Erzählung war der Abend herange¬
rückt, und nach vollendetem Opfer begaben ſich Alle in
die Stadt. Dieſe war nur klein, wer hätte ahnen
können, daß einſt die Weltſtadt Rom an ihrer Stelle
ſtehen ſollte? die Arkadier waren ein ländliches Hirten¬
volk, und hatten aus ihrer Heimath keine Schätze mit¬
gebracht. Aber Muth und nervige Arme konnten ſie den
Trojanern zum Beiſtand anbieten. Deßwegen gefiel es
dem Aeneas doch in dem Hauſe Evanders, das mehr
einer Hütte denn einem Palaſte glich, und er ſank auf
einem weichen Blätterlager, über welche das zottige Fell
eines Bären gebreitet war, in ſanften Schlummer.


[367]

Der Schild des Aeneas.

Mittlerweile ging Vulkanus, von ſeiner Gattin Ve¬
nus durch Bitten getrieben, in die Aetnakluft der Cyklopen,
die Waffen des Aeneas, die ihm den Sieg über die La¬
tiner verſchaffen ſollten, zu ſchmieden. Er nahte ſich der
donnernden Höhle, die ganz von Feuereſſen durchflammt
war. Gewaltige Schläge auf dem Ambos ſtöhnten
wiederhallend weit hinaus in die Ferne, im Gewölbe
ſprühten ziſchende Stahlſchlacken, und aus den Oefen ath¬
mete unaufhörliche Glut. Dort in der weiten Kluft ſchmie¬
deten das Eiſen Tag und Nacht hindurch, mit aufgeſtülpten
Aermeln, die rußigen Cyklopen, Brontes, Steropes und
Pyrakmon, mit unzähligen Knechten. Die Einen waren
gerade an einem halbfertigen Blitzſtrahl, der mit zwölf
Zacken geſchmiedet wurde, und ſie ſchweißten eben die
drei Hagelſpitzen, die drei Regenſpitzen, die drei Glut¬
ſpitzen und die drei Sturmwindſpitzen daran, und miſch¬
ten Flamme, Donnergeroll und Entſetzen darunter. Die
Andern verfertigten dem Mars Räder und Wagen, wie¬
der Andere aus Gold und Drachenſchuppen den glatten
Aegisſchild der Pallas mit dem Meduſenhaupte.


„Weg mit Allem,“ rief Vulkanus, in die Höhle
tretend, „auf Anderes eure Gedanken gerichtet, ihr Cy¬
klopen ! dem tapferſten Manne ſollt ihr jetzt ſeine Kriegs¬
waffen ſchmieden; da gilt es Kraft, Kunſt und Erfah¬
rung: an's Werk ohne Verzug!“ Die Cyklopen kann¬
ten ſchon die kurzangebundene Weiſe ihres Herrn, und
machten ſich raſch an die Arbeit. Bald floß das Erz
[368] und Gold in Bächen, in den Oefen zerſchmolz der Stahl.
Ein gewaltiger Schild wurde geformt, und Scheiben auf
Scheiben ſiebenfach geſchmiedet; Einige ſetzten die Blas¬
bälge in Bewegung; Andere verkühlten das ziſchende
Erz im Löſchtroge. Dann wurde die Maſſe mit der
Zange umgedreht, und die Hämmernden ſchwangen die
Arme im Takt, und ſchlugen auf den Ambos, daß die
Höhle ſchmetterte.


Am andern Morgen übergab der greiſe Evander,
der nicht ſelbſt mit in den Krieg ziehen konnte, vierhun¬
dert arkadiſche Reiter, dazu den Troſt und die Hoffnung
ſeines Alters, ſeinen eigenen Sohn Pallas, dem ſchei¬
denden Gaſtfreunde, und beſchenkte noch auſſerdem alle
ſeine Trojaner mit Roſſen, den Aeneas ſelbſt mit dem
herrlichſten, das ein gelbes Löwenfell bedeckte, und deſ¬
ſen Klauen vergoldet waren. Dann ergriff Evander die
Hand ſeines abziehenden Sohnes, drückte ſie an ſeine
Bruſt, und ſprach unter Thränen: „Ach, daß mir Ju¬
piter die vergangenen Lebensjahre zurückbrächte, und ich
wäre, wie ich einſt unter Präneſte's Mauern war, als
ich den König Herilus, der drei Leben von ſeiner Mut¬
ter, der Nymphe, mitbekommen hatte, dreimal in den Or¬
kus hinabſchickte, bis er nicht mehr wiederkam! Jetzt
kann ich nichts, als dich und unſern Freund den Göt¬
tern empfehlen, mögen ſie mich erhören, mögen ſie dir
fröhliche Wiederkehr bereiten! Möge mir kein Schreckens¬
bote je das Ohr verwunden!“ Mit dieſem Abſchiede
ſank der greiſe Vater zuſammen, und wurde von den
Dienern in die Wohnung zurückgetragen.


Die Reiter aber zogen aus den offenen Thoren,
mit ihnen Aeneas und ein Theil der trojaniſchen
[369] Mannſchaft, den andern hatte der Held mit den Schiffen auf
dem Strome zurückgehen laſſen. Als ſie in einem ent¬
legenen Thale zwiſchen finſteren Tannenwaldungen ange¬
kommen waren, und, vom langen Zuge ermüdet, ihrer
Roſſe und der eigenen Leiber pflegten, und Aeneas an einem
kühlenden Waldwaſſer, abgeſondert von der ganzen übri¬
gen Schaar, unter einer Eiche ſich gelagert, erſah ſeine
Mutter Venus den günſtigen Augenblick, ſenkte ſich mit
den friſchgeſchmiedeten Waffen aus dem Gewölke des
Aethers hernieder, legte ſie dem Sohne zu Füßen, machte
ſich dieſem ſichtbar, und ſprach: „Schau her, Kind,
welch ein Geſchenk dir die Gunſt meines Gemahls be¬
reitet hat. Jetzt darfſt du dich nicht mehr beſinnen, die
ſtolzeſten Laurenter, ja den wilden Rutuler Turnus ſelbſt
zum Kampfe herauszufordern.“ Aeneas ſtaunte. Beſe¬
ligt von der Gegenwart ſeiner göttlichen Mutter und der
großen Ehre, konnte er ſich an dem funkelnden Waffen¬
geſchmeide gar nicht ſatt ſehen, und wendete bald den
buſchigen Helm, bald das gediegene Schwert, bald den
Erzpanzer, der röthlich wie Blut, oder wie die Sonne
durch Wolken ſtrahlend, glühte, bald die goldenen Bein¬
ſchienen und den ſchlanken Speer in ſeinen Händen um.
Am längſten aber verweilten ſeine Blicke auf dem kunſt¬
reichen, mit unerſchöpflicher Bilderpracht in erhabener
Arbeit überſäeten Schild. Auf dieſem hatte der Gott
des Feuers eine ganze Reihe von Begebenheiten abgebildet,
in welche ſich Aeneas vergebens mit ſeiner Beſchauung
vertiefte, denn es waren die Schickſale und Triumphe
der Römer, des Volkes, das erſt in ſpäter Zukunft dem
Stamme ſeines Sohnes Julus entſproſſen ſollte. In
der Mitte des Schildes war eine Wölfin abgebildet, der
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 24[370] Zwillingsknaben am Euter hingen, zu welchen ſie liebkoſend
ihren Hals zurückbeugte, und die ſie mit der Zunge be¬
leckte. Jeder Knabe aus unſerer Zeit hätte dem Aeneas
ſagen können, daß die Kinder Romulus und Remus
hießen. Dann war eine Stadt abgebildet, wo im hohen
Theater von kräftigen Männerhänden Frauen als ein
Raub davongetragen wurden; es war Rom und der
Raub der Sabinerinnen; dann vor Jupiters Altar zwei
bewaffnete Herrſcher mit Sühnopfern und mit Bundes¬
ſchalen in der Hand: Romulus und Tatius. Nicht
ferne davon ſchleifte ein König mit ſeinem Viergeſpann
einen Verbrecher zu Tode: Tullus Hoſtilius den falſchen
Metius. Auf einer halbabgebrochenen Brücke ſtand ein¬
äugig ein Vertheidiger, und durch den Strom ſchwamm
eine Jungfrau, indeß ein zorniger Kriegerkönig am jen¬
ſeitigen Ufer thronte; es waren Kokles, Klölia und Por¬
ſena der Etrusker. Auf einer hohen Burg mit Paläſten
und Tempeln ſtand ein bewaffneter Wächter, und ſilberne
Gänſe flatterten durch goldene Hallen, während am
Fuße des Berges Barbaren auf der Lauer ſtanden: Man¬
lius und die Gallier. Und ſo kam eine Geſchichte um
die andere, bis auf Katilina, Kato, Cäſar und Auguſtus
herab. Unkundig aller dieſer Dinge, freute ſich Aenas
des Schildes, wie ein Kind ſich des Bilderbuches freut,
dann kleidete er ſich in die himmliſchen Waffen, faßte
den Schild mit der Linken, und im Gefühle hohen Göt¬
terſchutzes miſchte er ſich wieder in den Zug der Sei¬
nigen.


[371]

Turnus im Lager der Trojaner.

Während dieß in Tuscien vorging, ſchickte Juno,
deren Groll gegen Aeneas doch noch nicht gedämpft war,
ihre Botin Iris zu dem Rutuler Turnus. Dieſe mel¬
dete dem Anführer der Feinde, daß Aeneas ſein Lager,
ſeine Genoſſen, ſeine Flotte verlaſſen und ſich nach dem
Reich Evanders gewendet habe, und befahl ihm,
das trojaniſche Lager zu ſtürmen. Turnus folgte auf
der Stelle dem Ruf. Der Held Meſſapus voran, Tyrr¬
hus und ſeine Söhne in der Hinterhut, mit dem Kerne
des Heeres Turnus ſelbſt, zogen ſie durchs offene Feld
nach dem Geſtade der Tiber. Plötzlich ſah Kaikus, der
Wächter der vorderſten trojaniſchen Warte, ein dunkles
Staubgewölke vom Felde wirbelnd aufſteigen. „Brüder,“
rief er rückwärts gewendet, „es verfinſtert ein nahender
Schwarm die Luft, Waffen herbei, ſchnell auf die Lager¬
mauern, der Feind iſt da!“ Auf dieſe Nachricht ſtürzten
die auf dem Felde zerſtreuten Trojaner durch alle Thore
ins Lager zurück, und ſammelten ſich, wie es Aeneas für
unvorhergeſehene Fälle ſcheidend befohlen hatte, auf den
Schanzen und Mauern, obgleich ſie Scham und Zorn
vielmehr zum offenen Gefechte getrieben hätte. Sie
ſperrten alſo die Thore, und vollzogen in allem die Ge¬
bote ihres Führers, indem ſie den Feind auf den Zinnen
und in den hohlen Thürmen erwarteten.


Turnus aber eilte dem Heere, das ihm zu langſam
vorwärts ging, mit zwanzig auserleſenen Reitern voran,
24 *[372] und erſchien, auf einem thraciſchen gefleckten Schimmel,
unvermuthet vor den Mauern des Lagers. „Wer wagt
ſich zuerſt an den Feind?“ fragte er, rückwärts gewen¬
det, ſeine kleine Schaar, und ſchleuderte ſeinen Wurfſpieß
durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten ſeine Genoſſen
ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerſeelen, die
ſich hinter ihren Mauern verſchanzt hielten, und es nicht
wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzuſteigen.
Indeſſen ſpähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm
mit dem rothen Federbuſch auf dem Haupte, ringsum die
Mauern des Lagers aus, und ſuchte einen unbemerkten
Zugang. Es ſchnaubt ein Wolf bei Wind und Regen
die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafſtall her¬
um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und
Lämmer, die drinnen in Sicherheit ſitzen. Endlich fiel
ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und
Wellen umgeben, ſich geborgen an die eine Seite des
Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er ſeine Freunde,
dieſe in Brand zu ſtecken, ergriff ſelbſt zuerſt die flam¬
mende Fackel und ſofort bewehrte ſich die geſammte
Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬
bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten
geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die
Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein
göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬
wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am
Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in
das fremde Land tragen ſollte, flehte Cybele, die Mutter
aller Götter, zum allmächtigen Zeus: „Sohn, gib mir,
was ich von dir verlange! Ich habe dem dardaniſchen
Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen ſchönen
[373] Hain von Ahornbäumen und Kiefern fällen laſſen. Nun
aber ängſtet mich die Sorge, meine geliebten Bäume, zu
Schiffen umgewandelt, möchten ein Raub der Stürme
werden. Darum erhöre meine Bitte, laß es dem Holz
zu Gute kommen, daß es auf dem Ida gewachſen iſt,
und ſchütze die Schiffe vor aller Gefahr.“ „Das kann
ich nicht,“ erwiederte Jupiter, „ich vermag dem von ſterb¬
lichen Händen Erbauten nicht Unſterblichkeit auf Erden
zu verleihen, doch was ich für ſie thun kann, das will
ich. So viel ihrer, ausgedient, das Ziel und den Hafen
Auſoniens erreichen, die will ich von der ſterblichen Form
befreien und wie die Töchter des Nereus ſollen ſie als
Göttinnen des Meeres ein ſeliges Leben in den Fluthen
führen.“


Dieſes Wort ging jetzt in Erfüllung. Als Turnus
den Brand in die Schiffe werfen wollte, verbreitete ſich
von Morgen her ein Strahlengewölk über den Himmel,
und ein grauenvoller Schall aus den Lüften durchlief
die Schaaren der Trojaner und der Rutuler. „Bemühet
euch nicht ſo ängſtlich,“ rief es, „ihr Trojaner, meine Schiffe
zu ſchirmen. Eher wird Turnus das Meer verbrennen,
als ſie! Ihr aber, Schiffe, ſchwimmet erlöst dahin,
ſeyd Meeresgöttinnen, die Mutter der Götter will es ſo!“
Bei dieſem Worte wurden die Schiffe plötzlich lebendig,
zerriſſen jedes ſeine Seile, mit welchen ſie angebunden
waren, tauchten mit den Schnäbeln wie Delphine ins
Meer unter, und ſchwammen, wieder aufgetaucht, in Ge¬
ſtalt ſchöner Jungfrauen durch die Meeresfluth. Ent¬
ſetzen ergriff die Rutuler. Meſſapus, ihr vorderſter
Führer, ſchreckte mit ſcheuem Geſpann auf ſeinem Wa¬
gen zuſammen, ja der Tiberſtrom ſelbſt zog ſich mit ſeinen
[374] Wellen ſchaudernd vom Meere zurück. Nur der tollkühne
Turnus ließ die Hoffnung noch nicht fahren. „Merket
ihr nicht, Freunde!“ ſprach er, „daß dieſes Wunder
allein gegen die Trojaner gerichtet iſt? Jupiter ſelbſt hat
ihnen ihre Hülfe entriſſen, alle Hoffnung zur Heimkehr
iſt ihnen mit der Verwandlung ihrer Schiffe abgeſchnitten,
und die Rutuler brauchen keine Feuerbrände mehr! Das
Land aber iſt in unſern Händen. Tauſende in ganz
Italien waffnen ſich für uns. Mich ängſtigen keine
Götterſprüche und Verheißungen, deren ſie ſich rühmen.
Auch mir iſt mein Schickſal beſtimmt, und es lautet auf
Vertilgung dieſes verruchten Geſchlechtes mit dem
Schwerte!“


Auch mit der That blieb Turnus ſo unverdroſſen,
wie mit dem Worte. Dem Meſſapus wurde das Ge¬
ſchäft übertragen, die Thore mit Kriegern zu umſtellen,
und die Wälle rings mit Feuern zu umzingeln, und
unter ihm verſahen unter vierzehn auserleſenen Haupt¬
leuten je hundert Jünglinge, ſchimmernd von Gold und
mit rothbebuſchten Helmen, den Dienſt. Dieſe machten
einander ablöſend die Runde und die Feiernden lagerten
ſich ins Gras und thaten ſich beim Weinkruge gütlich.
Die Trojaner von ihren Wällen herab ſchauten dieſes
und hielten die Zinnen auf's vorſichtigſte mit Bewaff¬
neten beſetzt. Nicht ohne Beſorgniß umwandelten ſie die
Thore, verſahen die Bollwerke mit Brücken, und brach¬
ten den nöthigen Vorrath von Geſchoßen herbei. Das
Ganze leitete Mneſtheus und Sereſtus, welche Aeneas
vor ſeiner Abfahrt über das Lager geſetzt hatte. Und ſo
wachte denn das ganze Heer innerhalb der Lagermauern.


[375]

Niſus und Euryalus.

Unter dem trojaniſchen Heere befanden ſich zwei
kühne Jünglinge: Niſus und Euryalus. Niſus, ein
Sohn des Hyrtalus, einer der beſten Speerwerfer und
Pfeilſchützen, hatte ſich aus dem Idagebirge an den
auswandernden Helden angeſchloſſen. Euryalus war
der ſchönſte unter allen teukriſchen Knaben, und der
erſte Flaum der Jugend ſproßte ihm um die Wangen.
Beide waren durch die innigſte Freundſchaft verbunden,
ſtürzten ſich immer zuſammen in die Schlacht, und hüteten
auch jetzt eines der Thore, nebeneinander Wache haltend.
„Ich möchte doch wiſſen,“ fing da zuerſt Niſus an,
„ob die Götter uns dieſe Thatenluſt in der Seele auf¬
wecken oder ob ſeine blinde Begier einem Jeden der
Gott iſt! Mir iſt dieſe träge Ruhe läſtig, und ſchon
lange treibt mich der Geiſt, etwas Rechtes zu unterneh¬
men. Sieh, wie ſich die Rutuler ihrem blinden Ver¬
trauen hingeben! Nur hier und da glänzt um die
Mauern ein Feuer, faſt alle liegen von Wein und Schlafe
begraben da, und das tiefſte Schweigen herrſcht ringsum.
So vernimm denn, Freund, welcher Gedanke in mir auf¬
geſtiegen iſt. Alle unter uns, Volk und Väter verlan¬
gen, daß Aeneas herbeigerufen werde, und daß man
ihm zu dem Ende ſichere Boten zuſchicke, die uns Kunde
von ihm zurückbringen. Wenn man nun dir dem Zu¬
rückbleibenden verſpräche, was ich für dich fordern will,
— denn mir genügt an der Ehre —: was meinſt du?
[376] Ich könnte am Fuße des Hügels dort den Weg nach
dem Tuskerlande und den Berg von Pallanteum wohl
finden!“


Euryalus wurde von Staunen bei dem Vorſchlage
ſeines Freundes ergriffen, denn auch ihn beſeelte jugend¬
liche Ruhmbegierde. „Alſo wollteſt du,“ ſprach er zu
ſeinem feurigen Genoſſen, „mich, den unbärtigen Kna¬
ben, als Theilnehmer an der herrlichen That verſchmähen?
Wie könnte ich auch dich allein in eine ſolche Gefahr
hinauslaſſen! Nein, ſo hat mich mein Vater Opheltes
nicht erzogen, und auch du haſt mich bisher nicht ſo
kennen gelernt. Auch ich achte das Leben gering,
und erkaufe willig mit ihm den Ruhm!“ „Nie habe
ich ſo etwas von dir befürchtet,“ erwiederte Niſus, „aber
wenn mich irgend ein Unfall, oder ein Gott, wie es
bei ſolchen Entſchlüſſen wohl zu gehen pflegt, ins Ver¬
derben riſſe, ſo wünſchte ich, daß du mich überlebeſt.
Deine Jugend iſt des Lebens werther, als ich. Auch
hätte ich gern einen, der meinen Leichnam, aus der
Schlacht gerettet, oder mit Löſegeld erkauft, in den Bo¬
den verſcharrt, oder wenn dieß Glück mir nicht beſchie¬
den wäre, wenigſtens dem Abweſenden ein Todtenopfer
brächte und einen Denkſtein errichtete. Wie könnt' ich
auch deiner armen Mutter, die allein von ſo vielen
Müttern es verſchmäht hat, in Sicilien zurückzubleiben,
und dir auf die weite Wanderung gefolgt iſt, ſo bitteren
Schmerz bereiten?“ Aber Euryalus erwiederte: „Du
hältſt mir umſonſt nichtige Beweggründe vor, mein Vor¬
ſatz iſt unerſchütterlich, laß uns eilen.“ So ſprach er,
und weckte ſogleich die nächſten Wachtpoſten, die zur
Ablöſung beſtimmt waren. Nachdem ſie dieſen das
[377] Wächteramt übertragen hatten, eilten ſie beide vor den hohen
Rath der Trojaner. Denn die Fürſten des Heeres be¬
riethen ſich bis tief in die Nacht hinein über die wich¬
tigſten Angelegenheiten der neuen Pflanzung. Während
ſie nun mitten im Lager, an die Speere gelehnt und
auf die Schilde geſtützt, im Kreiſe ſtanden, und Rath
darüber pflogen, was zu beginnen ſey, und wer dem
Aeneas die Nachricht zu bringen hätte, da baten Niſus
und Euryalus herbeigeeilt um augenblicklichen Zutritt in
die Verſammlung. Askanius, der an ſeines Vaters
Stelle, ſo jung er war, im Rathe ſaß, hieß die Unge¬
duldigen eintreten, und Niſus als den älteren zuerſt
reden. „Höret uns günſtig an,“ ſprach dieſer zu den
Helden, „und meſſet, was wir euch vorſchlagen, nicht
nach den Jahren ab. Wir haben die Gegend ausge¬
kundſchaftet. Dort, am Scheidewege des Thores, das
wir bewachen, in der Nähe des Meeres, finden ſich
Lücken in den Wachtfeuern der Feinde: dort iſt Raum,
um ſich durchzuſchleichen. Wenn ihr uns erlaubet, das
Glück zu benutzen, ſo wollen wir als Boten zu Aeneas
gehen, und ihr ſollt uns bald mit Begleitern und mit
Beute zurückkehren ſehen.“


Mit Bewunderung vernahmen die Helden den Ent¬
ſchluß der Jünglinge. „Nun, ihr Götter,“ rief Aletes, der
Ergrauteſte unter ihnen aus, „ihr ſeyd noch nicht geſon¬
nen, die Trojaner zu vertilgen, da ihr uns ſo ent¬
ſchloſſene Jünglingsherzen erwecket!“ So ſprach er,
und legte ſeine Hände auf Beider Schultern. Dann
rief der zarte Jüngling Askanius: „ Guter Niſus, lieber
Euryalus, in euren Schooß lege ich mein Glück und
meine Hoffnung, laſſet mich meinen Vater wieder ſchauen!
[378] Wenn er zurück iſt, ängſtigt mich nichts mehr. Zwei
ſilberne Becher, zwei köſtliche Dreifüße, zwei Talente
Goldes, den ſchönen alten Krug, den Dido meinem
Vater geſchenkt hat, das Alles ſollt ihr jetzt ſchon haben,
und wenn wir ſiegen, noch viel mehr. Haſt du das
herrliche Roß geſehen, Niſus, das Turnus reitet, und
ſeine goldene Rüſtung? Sie ſeyen dein. Zwölf Gefangene
wird euch mein Vater verleihen, Männer mit vollen
Waffenrüſtungen, und Frauen, und vom Felde des La¬
tinus herrliche Güter. „Du aber,“ ſo ſprach er zu Eu¬
ryalus gewendet, „verehrter Jüngling, deſſen Jugend
meine Jahre nachſtreben, dich begrüße ich ſchon jetzt von
ganzem Herzen als Kampfgenoſſen und unzertrennlichen
Freund.“ Darauf nahm Euryalus das Wort: „Es ſoll
kein Tag kommen,“ ſprach er, „an dem ich mich mei¬
nes tapfern Entſchluſſes unwürdig zeige. Aber vor allen
Geſchenken bitte ich dich um eines, Julus. Meine
Mutter, vom alten Königsgeſchlechte des Priamus ſtam¬
mend wie du, hat ſich nicht abhalten laſſen, mit mir
auszuwandern, und ich verlaſſe ſie ohne Abſchied, denn
ich könnte ihren Thränen nicht widerſtehen. Nimm du
dich der Verlaſſenen an, tröſte ſie in der Noth, wenn
das Schickſal mich nicht zurückkehren läßt!“ In der
Seele des Askanius erwachte bei dieſen Worten die
Liebe zum Vater noch heftiger, er fing laut zu weinen
an, und verſprach ihm unter Thränen Alles. Auch die
Helden ergriff tiefe Rührung; Mneſtheus zog ſich die
Löwenhaut von der Schulter, und warf ſie dem Niſus
um; Aletes tauſchte mit ihm den Helm, und Euryalus
empfing aus der Hand des Julus ſein eigenes Schwert
mit goldenem Griff, in der Scheide von Elfenbein.


[379]

So gewaffnet wurden ſie von allen Edeln, Jüng¬
lingen und Greiſen, bis ans Thor begleitet. Bald wa¬
ren ſie über die Gräben hinaus, und kamen im Dunkel
der Nacht an die ſchlafenden Poſten der Rutuler. Dieſe
lagen voll Trunks und Schlafes, zerſtreut auf dem Ra¬
ſen, zwiſchen Wagenrädern, Riemen und umherlie¬
genden Waffen. „Die Gelegenheit ruft,“ ſprach Niſus
leiſe zu ſeinem jungen Freund, „halte du mir den Rücken
frei, ich will dir aufräumen, und uns eine Gaſſe machen.“
Während er ſo mit gedämpfter Stimme ſprach, hieb er
den erſten Wächter, den Vogelſchauer des Königs Tur¬
nus, Rhamnes, der aus voller Kehle ſchnarchend dalag,
ſammt drei ſorgloſen Knechten nieder; dann den Waffen¬
träger des Remus, den er mitten unter ſeinen Roſſen
überraſchte, und ihm den geſenkten Hals abhieb, und
dann den Herrn ſelbſt. Auch Euryalus war nicht müßig;
beide tobten wie Löwen in den Hürden, und richteten
ein furchtbares Gemetzel unter den Wächtern an. Ja,
Euryalus drang ſchon bis zu den Wachtfeuern des Ru¬
tulerfeldherrn Meſſapus vor, die im Verglimmen waren,
und deſſen angebundene Wagenroſſe gemächlich das Gras
abweideten. Aber Niſus rief ihn zurück. „Siehſt du
nicht,“ ſprach er warnend, „daß das Morgenlicht ſchon
anzubrechen droht? Rache iſt ja geübt und Bahn ge¬
brochen.“ So ließen ſie auch alle Beute liegen, und
Euryalus nahm nur den Pferdeſchmuck des Rhamnes
mit, und ſchlang ſich ſeinen Schwertgurt um die Schul¬
ter; auch ſetzte er ſich freudig den bebuſchten Helm des
Meſſapus aufs Haupt, den er bei den vorderſten Wacht¬
feuern aufgeleſen, und der ihm gerade paßte. Darauf
verließen ſie das feindliche Lager, und gewannen das Freie.


[380]

Aber um dieſelbe Zeit zogen aus der Latinerſtraße
dreihundert Reiter mit Schilden unter ihrem Führer
Volſcens, welche dem Fürſten Turnus Botſchaft vom
Könige zu bringen hatten, dieſer Straße. Sie waren
ſchon ganz nahe am Lagerwall, als ſie von ferne die
beiden eilenden Geſtalten bemerkten, und im dämmernden
Frührothe den unbeſorgten Euryalus der erbeutete Helm
mit ſeinem tückiſchen Schimmer verrieth. „Bewaffnete
Männer,“ ſchrie Volſcens bei dieſem Anblicke, „wo
eilet ihr hin?“ Jene antworteten nicht, ſondern flüch¬
teten ſich in den Wald, und vertrauten auf die Däm¬
merung. Aber die Reiter, der Nebenwege kundig, warfen
ſich in das Gehölz, und verſperrten alle Ausgänge mit
Wachen. Der Wald war mit dichten Eichen und wil¬
den Geſträuchen bewachſen, und kaum ſichtbar ſchimmerte
der Fußpfad durch das Dickicht. Den Euryalus hemmte
die Beute, und die Furcht täuſchte ihn über die Rich¬
tung des Weges. Niſus aber entkam glücklich aus dem
Wald, und eilte ſchon ſorglos auf die Seen zu, die
ſpäter den Namen Albanerſee erhielten. Jetzt erſt ſtand
er ſtille, und ſah ſich vergebens nach dem fehlenden
Freunde um. „Euryalus,“ rief er wehklagend, „wo
biſt du, Armer, wo find' ich dich?“ und nun warf er
ſich aufs Neue in den verworrenen Wald. Dort ver¬
nahm er bald Roſſegeſtampf, Lärm, und die Trompeten
der Nachhut, und es währte nicht lange, ſo ward er
das ganze Reitergeſchwader anſichtig, das den über¬
mannten Euryalus mit ſich fortſchleppte. Was ſollte er
thun? welche Hoffnung war, den armen Jüngling zu
befreien? ſollte er ſie aufgeben, und ſich den Tod in den
ſtarrenden Schwertern ſuchen? Er hielt inne, dann drehte
[381] er mit zurückgebogenem Arme plötzlich den Speer empor,
und zum Mond emporblickend, der blaß am morgend¬
lichen Himmel ſtand, betete er: „Luna, Beſchützerin
der Wälder, Latona's Tochter, wenn dir je mein Vater
für mich geopfert, wenn ich ſelbſt je dir meine Jagd¬
beute geweiht, lenke meinen Speer, und laß dieſe Rotte
mich zerſtreuen!“ So ſprach er, und ſchleuderte mit
Leibeskraft ſeine Lanze. Dieſe drang dem abgekehrten
Rutuler Sulmo in den Rücken und zur Bruſt heraus,
daß er ſich zuckend auf dem Boden wälzte. Erſchrocken
ſchauten ſich die Reiter in der Runde um. Da flog
das zweite Geſchoß des Niſus, und durchbohrte einen
andern Rutuler, dem Tagus, knirſchend beide Schläfe.
Volſcens, der Anführer der Reiter, gerieth in Wuth,
denn nirgends erblickte er den Speerſchwinger; grimmig
rief er: „So bezahle denn du mir mit deinem Blute für
beide!“ und ging mit emblöstem Schwerte auf den Eu¬
ryalus los. Vor Entſetzen ſchreiend, brach Niſus jetzt
aus ſeinem Verſtecke hervor. „Ich bin der Thäter,“
rief er, „auf mich nur richtet eure Schwerter, der
ganze Betrug rührt von mir her! Ich ſchwör' es euch,
dieſer iſt unſchuldig, nur Liebe zum unglücklichen Freund
war ſein Vergehen!“ Sein Rufen kam zu ſpät, Volſ¬
cens hatte dem Knaben ſchon das Schwert durch die
Bruſt geſtoßen, dieſer wälzte ſich im Tode, die ſchönen
Glieder überſtrömte das Blut, und ſein Hals neigte
ſich auf die Schultern, wie eine purpurne Blume, vom
Pfluge durchſchnitten, dahinſinkt, wie ein blühender
Mohnſtengel ſein vom Regen belaſtetes Haupt zur Erde
ſenkt. Da warf ſich Niſus in den Feind, ſtieß den
Andrang der Reiter rechts und links zurück, ging
[382] gerade auf den Führer Volſcens los, und bohrte ſein
blitzendes Schwert in des ſchreienden Feindes Mund,
daß er ſterbend vom Roſſe fiel. Dann warf er ſich
über den Leib ſeines getödteten Freundes, und ruhte,
ganz von den Geſchoſſen der Reiter durchbohrt, über
dem Leichnam im Frieden des Todes.


Die Reiterſchaar zog den erſchlagenen Feinden die
Rüſtung ab, trug ihre Leichname mit dem ihres
Anführers Volcens in das Lager des Turnus, und bald
mußten die Trojaner von den Thürmen ihres Lagers
herab mit Grauſen die von ſchwarzem Blute noch triefen¬
den geſpießten Köpfe der beiden Jünglinge ſchauen, die
ſie mit ſo zuverſichtlichen Hoffnungen entlaſſen hatten.
Die Kunde des Unglücks verſchonte auch die Mutter des
Euryalus nicht. Sie wurde von ihr am Webeſtuhl über
der Tagesarbeit getroffen. Da entrollte das Schifflein
ihren Händen, ſie zerraufte ſich das Haar, ſie rannte
nach dem Walle in die vorderſten Reihen der Streiter,
keine Gefahr achtend, und brach in ein Klagegeheul aus,
daß es die feſteſten Krieger erſchütterte. Unter vielen
Thränen befahl endlich Julus und mit ihm der weiſe
Ilioneus zwei alten Helden, ſie aus den Reihen der
Männer hinwegzuziehen und unter ihren Armen in die
Wohnung zu geleiten.

Sturm des Turnus abgeſchlagen.

Schmetternd ertönten die Trompeten der Rutuler.
Ein Schrei erhub ſich in dem ganzen Lager, und der
[383] Wiederhall von den Bergen antwortete. Von allen Seiten
ſtürmten die Feinde heran, rückten unter den Schilddächern
vor; mühten ſich, die Gräben auszufüllen und die Schan¬
zen einzureißen, und ſchon legten ſie an den Stellen, wo
die Verfechter des Lagers dünner auf den Zinnen ſtan¬
den, die Sturmleiter an die Mauern. Die Trojaner
dagegen, durch die lange Vertheidigung ihrer Vaterſtadt
im Belagerungskampfe wohl geübt, verſtreuten Geſchoſſe
aller Art, wälzten Steine und Felsblöcke auf die Schild¬
dächer, und ſtießen die Emporkletternden mit Spießen
darnieder. Schon ſetzten die angerückten Rutuler das
blinde Gefecht nicht mehr fort, ſondern lenkten ihre
Schritte rückwärts von den Mauern, und verſuchten es
nur mit Lanzenwürfen, die Teukrer vom Walle hinwegzu¬
treiben. Endlich richteten ſie alle ihre Streitkräfte auf
einen hoch emporragenden Thurm, der durch ſchwebende
Brücken mit der Lagermauer verbunden war. Dieſen zu
erobern, ſtrengten ſich die Rutuler in die Wette an: die
Trojaner aber vertheidigten ihn, indem ſie jetzt von der
Zinne herab Steine wälzten, jetzt durch hohle Schie߬
ſcharten Pfeile hinunter ſchnellten. Endlich ſchleuderte Tur¬
nus eine Brandfackel, die, an die Seite des Thurmes ſich
anhängend, das Getäfel ergriff. Ehe die Vertheidiger
ſich flüchten konnten, ſtürzte das unterhöhlte Gebälk
zuſammen, und krachend ſetzte ſich der Thurm zu Boden.
Die Einen fielen mit ihm, von den eigenen Waffen durch¬
bohrt, die Andern ſpießten ſich in die Trümmer des Hol¬
zes; und Viele von denen, die noch unverſehrt waren,
ſahen ſich bald von den Schaaren des Turnus umringt,
und wurden niedergehauen. Endlich erwehrten ſich die
Trojaner der Zudrängenden. Der Knabe Askanius, der
[384] bisher nur fliehendes Wild mit ſeinen Pfeilen zu erlegen
gewohnt war, durchbohrte dem Remulus, der kürzlich des
Turnus jüngere Schweſter gefreit hatte, und, auf dieſe
Auszeichnung ſtolz prahlend auf die Teukrer eindrang und
ſie feige Phrygier ſchalt, das Haupt mit einem ſicheren
Pfeilſchuß. Die Trojaner jubelten, und die erſchreckten
Feinde machten einen Schritt rückwärts. Julus wollte
ſie verfolgen. Da ſtellte ſich ihm Apollo ſelbſt, dem
alten Waffenträger ſeines Großvaters, der ihm vom
Vater beigegeben war, an Geſtalt und Stimme gleich,
in den Weg, und ſprach: „Sohn des Aeneas, Dir ge¬
nüge, daß du Einen Helden ungeſtraft erlegt haſt; dieſen
Beginn deines Ruhmes hat Apollo dir vergönnt, für
jetzt aber meide den Krieg!“ Die Fürſten Iliums er¬
kannten die Gegenwart des Gottes, und hielten den Julus
vom weitern Kampfe ab. Sie ſelbſt aber erneuerten das
Gefecht, und der Schlachtruf tönte um die äuſſerſten
Bollwerke der Mauer fort. Als die innerhalb der Thore
aufgeſtellten trojaniſchen Wächter hörten und ſahen, wie
ihre Freunde draußen ſo muthig und kraftvoll kämpften,
faßten Pandarus und Bithias, die Söhne Alkanors vom
Berg Ida, ſtark und ſchlank wie ihre heimiſchen Tannen,
den trotzigen Entſchluß, das ihnen vom Feldherrn an¬
vertraute Thor zu öffnen, und im Uebermuthe den Feind
in die Mauern einzuladen. Sie ſelbſt aber ſtanden in¬
wendig mit blinkenden Schwertern rechts und links am
Eingang, und von ihren hohen Helmen nickten die Feder¬
büſche. Als die Rutuler die Thorftügel offen ſahen,
ſtürmten ſie, ohne ſich zu beſinnen, hinein. Aber vier
oder fünf ihrer Helden, mit einem ganzen Gefolge von
Kriegern, fielen unter den Stößen und Streichen der
[385] beiden Jünglinge, oder wurden in ſchmählicher Flucht
zum offenen Thore hinausgetrieben.


Jetzt wagten die Trojaner, ſich ſchon in dichtern
Schaaren zuſammenzurotten, ein regelmäßigeres Handge¬
menge entſpann ſich, und die Rutuler wurden rückwärts
gedrängt. Als Turnus, der auf einer andern Seite
ſtritt, die Nachricht von dieſer neuen Wendung des
Kampfes erhielt, ſtürzte er, von gräßlichem Zorne ge¬
ſpornt, mit einer auserleſenen Schaar von Kriegern her¬
bei, und warf ſich über eine Bahn von trojaniſchen
Leichen auf das geöffnete Lagerthor. Seine mächtige
Lanze aus der Ferne geſchleudert, durchbohrte den Bithias,
daß der Boden von ſeinen fallenden Rieſengliedern bebte,
und der Schild auf den Liegenden herniederraſſelte. Die
Trojaner flohen zurück in das Thor und nach drängten
ſich die ſiegenden Rutuler. Da faßte Pandarus mit
einem Blick auf die ausgeſtreckte Leiche ſeines Bruders,
die Thorflügel in ihren Angeln, und warf ſie, mit den
Schultern angeſtemmt, in die Wölbung zurück, daß das
Thor verſchloſſen war, und viele Trojaner im Gefechte
draußen, viele Rutuler in die Mauern eingezwängt, zu¬
rückblieben. Aber der Unbeſonnene hatte nicht bedacht,
daß mitten unter den Eingeſchloſſenen Turnus ſelbſt ſich
befand, wie ein Tiger, der in den Stall eingelaſſen iſt.
Voll Entſetzens erkannten die Trojaner das ſchreckliche
Geſicht und die rieſigen Glieder. Nur Pandarus, ein
Rieſe wie er, erſchrack nicht. Voll Erbitterung über
die Ermordung ſeines Bruders, ſtellte er ſich ihm ent¬
gegen und rief: „Hier biſt du nicht im Palaſte der
Schwiegermutter, ſchmachtender Bräutigam, im Feindes¬
lager ſtehſt du, und wirſt nicht wieder hinauskommen!“
Schwab, das klaſſ. Alterthum III., 25[386] Turnus lächelte nur, und erwiederte ganz ruhig: „Bind'
an, wenn du es wagſt, und beginne nur den Zweikampf:
und wenn du ein Hektor wäreſt, ſo ſollſt du deinen Achil¬
les finden!“ Pandarus ſchleuderte darauf ſeinen Wurf¬
ſpieß ab, in dem die Rinde noch mit allen Knoten ſaß;
aber Juno lenkte das Geſchoß ab, und die Lanze flog
in den Thorflügel. Jetzt bäumte ſich Turnus und ſchwang
ſein Schwert: „Dieſem Streiche wirſt du nicht entfliehen,“
ſchrie er, und ſpaltete ihm die Schläfe mitten durch die
Stirne, daß das Haupt in gleiche Theile zerhauen, dem
Zuſammenſinkenden von den Schultern herunterhing.


Zitternd ſtäubten die Trojaner auseinander; und
wäre dem Sieger jetzt der Gedanke gekommen, das Thor
wieder zu öffnen und ſeine Freunde hereinzulaſſen, ſo
wäre es um die neue Anſiedlung Troja's geſchehen ge¬
weſen. So aber ließ er ſich von der Mordluſt bethören,
und drang von Sieg zu Siege mit den Seinen immer
tiefer in das Innere des Lagers ein. Schon war die
Verwirrung bis zu Sereſtus und Mneſtheus gedrungen,
die in der Mitte der Mauern befehligten. Da brachte
zuerſt Mneſtheus die fliehenden Freunde mit den Worten
zur Beſinnung: „Wohin wendet ihr euch, Unſinnige,
was für andere Mauern, was für andere Burgen be¬
ſitzet ihr? Soll ein einziger Mann, ringsumſchloſſen von
euren Wällen, ungeſtraft ein ſolches Gemetzel unter euch
anrichten? Habt ihr euer Vaterland, euren Führer Ae¬
neas, die Götter eurer Heimath ſo ſchamlos vergeſſen?“
Mit ſolchen Reden beſchämte und kräftigte er die Fliehen¬
den, daß ſie in eine dichte Rotte zuſammengedrängt, wie¬
der Stand hielten. Den Turnus hatte der ſiegreiche
Kampf ſelbſt allmählig ermüdet. Zum Thore zurückzu¬
[387] dringen konnte er nicht mehr hoffen; ſo kämpfte er ſich
mühſam vorwärts, wo das Lager ohne Mauern an den
Fluß grenzte. An den Sandbänken des Stromes ange¬
langt, zog er ſich mit ſchnelleren Schritten, doch noch
ohne Flucht, zurück, und wenn ihm der Feind zu nahe
auf dem Leib kam, trieb er ihn immer noch ſiegreich
mit dem Schwerte zurück. Nun flogen aus der Ferne
von allen Seiten Geſchoſſe nach ihm, von den anpral¬
lenden Steinen erklang ſein Helm, der Buſch war zer¬
fetzt, der Schild ſteckte voll Speere und ward ſo ſchwer,
daß ſeine Linke ihn kaum mehr zu halten vermochte. In
dieſem Augenblicke ſtürmte auch Mneſtheus in blitzenden
Waffen auf ihn zu, und wie flüſſiges Pech rannte ihm
der Schweiß über den Leib. So war er fechtend am
Rande des Fluſſes angekommen. Da zum erſtenmale
kehrte Turnus dem Feinde den Rücken, und warf ſich
in voller Rüſtung in die Wogen des Tiberſtroms. Die¬
ſer nahm den Kommenden willig auf, und trug ihn mit
ſanften Wellen aus dem Bereiche des Lagers an's Ge¬
ſtade, wo er bald, von Blut und Staube rein gewaſchen,
bei den Seinigen ankam.

Aeneas kommt ins Lager zurück.

Jupiter hatte in einer Götterverſammlung die Klagen
ſeiner Gemahlin Juno und die Fürbitten ſeiner Tochter
Venus angehört, und beſchloſſen, ohne Einmiſchung der
Himmliſchen, Alles dem Schickſale zu überlaſſen, und ſo
dauerte denn die Belagerung der trojaniſchen Niederlaſ¬
25 *[388] ſung, und der Kampf der Rutuler und Trojaner um die
Mauern fort.


Inzwiſchen war Aeneas, mit ſeiner Heeresabthei¬
lung und der arkadiſchen Reiterei, in der blühenden tus¬
kiſchen Stadt Agylla angekommen. Dieſe hatte ihren
grauſamen König Mezentius vertrieben, und da der Ver¬
jagte zu Turnus entflohen war, ſo lebten die Bewohner
der Stadt in tödtlicher Feindſchaft mit Rutulern und
Latinern. Deßwegen wurde Aeneas von dem jetzigen
Beherrſcher derſelben, dem Könige Tarchon, ſobald er
ihm Geſchlecht und Namen gemeldet, und ihm von den
Kriegsrüſtungen des Turnus und Mezentius erzählt
hatte, mit offenen Armen aufgenommen. Der König
vereinigte nicht nur die eigene Streitmacht mit ihm, ſon¬
dern rief auch alle hetruriſchen Bundesſtädte zur Theil¬
nahme an dem Kampfe auf. Es währte nicht lange, ſo
ſah ſich der Trojaner an der Spitze einer furchtbaren
Flotte, und ſegelte, nachdem er arkadiſche und tuskiſche
Reiter auf dem Landwege vorangeſchickt hatte, mit dreißig
Schiffen von der hetruriſchen Meeresküſte ab. Wie er
nun in der Nacht aus Vorſicht ſelber am Steuer ſaß,
und den Lauf ſeines Schiffes, dem die andern folgten,
regierte, umringte ihn auf einmal ein Chor tanzender
Nymphen. Es waren die Schiffe der Trojaner, welche
Cybele, um ſie von den Brandfackeln des Turnus zu
retten, jüngſt an der Mündung der Tiber verwandelt
hatte. Sie erkannten, belebt und beſeelt, ihren Herrn;
die beredteſte faßte ſein Schiff mit der Rechten, ragte
mit dem Rücken aus dem Waſſer hervor, ſtreichelte be¬
ſänftigend die Fluth mit der Linken und ſprach: „Wachſt
du, Götterſohn? O wache, und laß den Wind in die
[389] Segel blaſen! Wir ſind Fichten vom Idagebirge, deine
treuen Schiffe, jetzt durch Cybele's Erbarmen dem Brande
der Rutuler entzogen und in Meeresgöttinnen umge¬
wandelt. Eile, Freund, dein Sohn Askanius, von Wall
und Graben umſchloſſen, iſt von den Rutulern belagert,
und der Kampf tobt um ſeine Mauern. Deine Reiter
zwar ſind angekommen und ſtehen nicht ferne vom Lager,
aber Turnus weiß es, und iſt entſchloſſen, Kriegsvolk
zwiſchen ſie und das Lager zu werfen. Auf denn, be¬
flügle deinen Lauf! wenn der Tag anbricht, wirſt du in
der Tibermündung ſeyn; dann ergreife den funkelnden
Goldſchild, den Vulkanus dir gab, und ſtrecke ihn dem
Lager deiner Genoſſen entgegen. Sey getroſt, der mor¬
gende Tag wird dir Sieg verleihen!“


So ſprach ſie, und gab im Hinuntertauchen dem
Hinterverdecke des Schiffes einen Stoß, daß es ſchneller
als Lanzen und Pfeile durch die Wellen fuhr. Als hätten
ſie Flügel, eilten dem Feldherrnſchiff auch die andern
Schiffe nach, und mit dem erſten Morgenlichte hatte der
Sohn des Anchiſes ſein Lager im Angeſicht. Da gedachte
er des Befehls der Nymphe; er ergriff ſeinen flammen¬
den Schild, ſtellte ſich damit aufs Vorderverdeck, hielt
ihn mit der Linken hoch in die Lüfte, und ſtreckte ihn
ſeinen Freunden entgegen. Wie eine Sonne, die aus den
Fluthen taucht, ſchien er den Trojanern, die den Schiffs¬
zug vom Walle herab gewahr wurden, entgegen. Sie
erhoben ein Jubelgeſchrei, und ihre Lanzenwürfe verdop¬
pelten ſich. Die Rutuler und ihre Führer begriffen von
dieſer plötzlichen Begeiſterung der Feinde nichts, bis ſie
auf einmal hinter ſich das Meer von Segeln angefüllt,
und eine Flotte an den Strand laufen ſahen. Da
[390] leuchtete ihnen wie ein blutrother Komet, oder wie der peſt¬
drohende Syrius, Aeneas im Schmucke ſeiner Götter¬
waffen entgegen: ſeine Helmkuppel ſtrahlte wie ein
Brand, Glut entſtrömte dem Federbuſch, die goldene
Schildbuckel ſpie weit und breit Feuerſtrahlen aus.


Dennoch verließ den tollkühnen Turnus das Selbſt¬
vertrauen nicht, er hoffte den landenden Feinden den
Strand durch Schnelligkeit abzugewinnen, und ſie vom
Ufer zu verdringen. „Die Stunde iſt gekommen,“ rief
er den Seinen zu, „die ihr ſo ſehnlich herbeigewünſcht
habt. Jetzt könnt ihr eure Gegner zermalmen, der
Kriegsgott ſelbſt hat ſie euch in die Hand gelegt. Denkt
eurer Weiber und Kinder, ſetzt den Thaten eurer Väter
die Krone auf! So lange die Schritte der Ausgeſtiege¬
nen noch ſchwanken, ſo lange ſie noch ſtraucheln, em¬
pfanget ſie am Strande! Das Glück begünſtigt die
Kühnen!“


Indeſſen wurden die landenden Trojaner und ihre
Bundesgenoſſen aus dem Schiffe des Aeneas theils auf
Brücken ans Land geſetzt, theils ſchwangen ſie ſich mit
Hülfe der Ruder an daſſelbe, oder ließen ſich von den
rückprallenden Wellen ans Ufer tragen. Der König
Tarchon aber, der mit der übrigen Flotte folgte, beſchaute
ſich das Ufer und erſah ſich eine Stelle, wo das Meer
in der Mündung des Fluſſes nicht mit gebrochenen Wo¬
gen rauſchte, nicht aus der Tiefe gährte, ſondern ſich
frei dem flachen Uferſande zuwälzte. Dorthin befahl er
Plötzlich die Schiffsſchnäbel zu drehen und rief ſeinen Ge¬
noſſen zu: „Jetzt, meine Freunde, rudert friſch drauf los,
bohrt euch mit den Kielen eine Furche ins Feindesland,
mag das Schiff auch ſcheitern, wenn es nur den Strand
[391] gewonnen hat!“ Die Etrusker, wie ſie ſolches hörten,
ruderten drauf los und trieben die beſchäumten Schiffe
vorwärts, bis die Schnäbel das Trockene erreicht, und
alle Kiele unverſehrt im Sande aufſaßen, nur Tarchons
eigenes Schiff nicht. Dieſes blieb an einer ſchrägen
Sandbank hängen, die ſich unter den Fluthen hinzog;
lange ſchwankte es und bot den Wellen Trotz. Endlich
brach das Getäfel auseinander, und ſchüttete die ganze
Ladung ſeiner Männer mitten in die Fluth aus, unter
zerbrochene Ruder und umherwogende Balken hinein.
Nur mit Mühe rettete ſich Tarchon mit den Seinigen
an's Land.

Aeneas und Turnus kämpfen. Turnus tödtet den
Pallas.

Als Turnus die Feinde gelandet ſah, ſtand er von
der Belagerung ab, raffte ſein Heer in Eile zuſammen,
ſtellte es längs dem Geſtade auf, und ließ die Hörner
zum Angriff blaſen. Auch Aeneas hatte die Seinigen,
Trojaner und Bundesgenoſſen, geordnet und warf ſich
zuerſt, um den Kampf ſpielend zu beginnen, auf die
Schaaren des latiniſchen Hirtenvolkes, und richtete un¬
ter ihnen eine große Niederlage an. Dann wandte er
ſich gegen die Helden der Feinde ſelbſt, und in erbitter¬
tem Streite wurde bald von beiden Seiten gefochten.
Heer ſtieß an Heer, Fuß hing an Fuß, Mann drängte
ſich an Mann, und lange ſchwankte die Schlacht.


Seitwärts vom Hauptkampfe, wo ein Waldſtrom
Felſen in den Weg gewälzt und entwurzelte Bäume am
[392] Ufer umher zerſtreut hatte, kämpfte Pallas, der junge
Sohn des Königs Evander, mit ſeinen Arkadiern. Der
unebene Boden erlaubte dieſen nicht, ſich der Pferde zu
bedienen, und weil ſie des Fußkampfes nicht gewohnt wa¬
ren, boten ſie endlich den eindringenden Latinern und
Rutulern den Rücken. Nur allmählig brachte der
Zuruf ihres jungen Führers ſie wieder zum Stehen.
„Bei dem Ruhm und bei den Siegen meines Vaters,
bei meiner eigenen Hoffnung beſchwöre ich euch, ihr
Männer,“ ſchrie er, „haltet Stand, vertraut euren Ar¬
men, und nicht euren Füßen! Wir haben keine Wahl,
entweder vorwärts ins trojaniſche Lager, oder rückwärts
in die See!“ Mit dieſen Worten führte er ſie auf's
Neue gegen den Feind, und focht wie ein junger Löwe,
indem er mit Lanze und Schwert, bald dieſen, bald jenen
niederſtreckte. Nun ſammelte ſich die Streitkraft ſeiner
Genoſſen wieder gedrängt um ihn her, und Schritt für
Schritt gewannen die Arkadier wieder Boden, bis ihnen
Lauſus, der heldenmüthige Sohn des Mezentius, Einhalt
that. Die Arkadier zogen ſich auf ihre Freunde, die
Etrusker und Trojaner zurück, aber unter allen wüthete
der italiſche Held mit ſeinen tödtlichen Streichen. End¬
lich ſahen ſich Lauſus und Pallas einander gegenüber,
beide Jünglinge, an Alter wenig verſchieden, beide herr¬
lich von Geſtalt, beide frühem Tod in dieſem Treffen
vorbeſtimmt. Doch ſollte keiner von des andern Hand
fallen: denn beide erwartete das Verhängniß unter den
Händen eines größeren Feindes.


Turnus, der mit ſeinem Streitwagen das Heer durch¬
flog, erblickte das Paar, wie ſie eben voll Kampfluſt auf¬
einander losgingen. „Halt,“ rief er von ſeinem Wagen
[393] herab, „ich allein will mit Pallas kämpfen, mir allein
iſt ſein Leben beſtimmt: möchte ſein Vater Evander doch
zuſchauen!“ Verwundert richtete der Jüngling den ſpä¬
henden Blick nach der Stelle, von der herab der trotzige
Ruf erſchollen war; dann maß er ſich ſeinen neuen
Gegner mit großen Augen, und rief endlich muthig zu
ihm empor: „Entweder erbeute ich heute eine Feldherrn¬
rüſtung, oder einen rühmlichen Tod; in beides wird
mein Vater ſich ergeben, darum ſpare dein Drohen!“
So ſprach er und ſchritt in die Mitte der Gaſſe hervor,
die des Turnus Zuruf eröffnet hatte. Auch Turnus ſprang
von ſeinem Doppelgeſpann, wie ein Löwe herbeifliegt,
wenn er ferne vom Berg herab einen kämpfenden Stier
in der Ebene erblickt hat. Als Pallas ihn auf Schu߬
weite vor ſich ſah, ſchleuderte er den Speer mit aller
ſeiner Jugendkraft ab, und riß ſofort das Schwert aus
der Scheide. Der Lanzenwurf war gut gezielt, er durch¬
brach dem Turnus den Rand des Schildes, ſeinen Rie¬
ſenleib aber ſtreifte er nur. Jetzt wiegte Turnus lange
ſeinen Wurfſpieß mit der ſcharfen Eiſenſpitze, und ſprach
dazu: „Nun merk' auf, ob mein Geſchoß nicht beſſer
durchdringt.“ Dann flog ſein Speer, und fuhr dem
Jünglinge durch Schild, Panzer und Buſen bis tief ins
Herz. Vergebens zog dieſer den Speer noch warm aus
der Wunde, die Seele entfloh mit dem ſtrömenden Blute,
und er ſank todt unter den raſſelnden Waffen auf den
Boden. Turnus ſetzte den linken Fuß auf den Todten,
löſte ihm den ſchönen Gürtel vom Leibe, auf welchem
der Centaurenkampf in getriebenem Golde abgebildet war;
„das Grab,“ ſprach er dann, „verweigere ich dem Jüng¬
linge nicht: bringet ihn immerhin ſeinem Vater Evander,
[394] ihr Arkadier!“ So ſprach Turnus und flog auf ſeinen
Streitwagen zurück. Wehklagend trugen die Arkadier
ihren erſchlagenen Königsſohn aus der Schlacht, und
Etrusker und Trojaner, von den vordringenden Rutulern
gemäht, zogen ſich ihnen in verworrener Flucht nach.


Zu Aeneas, der auf einem andern Flügel des Hee¬
res focht, kam die Botſchaft vom Weichen der Seinigen.
Da raffte ſich der Held mit den muthigſten Genoſſen auf,
brach ſich mit dem Schwert eine breite Bahn durch den
Feind und ſuchte den Turnus. Vor ſeinen Augen ſchwebte
ihm Evanders gaſtlicher Tiſch und der holde Jüngling
Pallas, der ihm mit ſo vielen Vaterthränen anvertraut
worden war. Schmerz und Racheluſt erfüllten ſeine
Heldenbruſt. Vier Söhne des Sulmo, vier Söhne des
Ufens griff er lebendig aus den Feinden heraus, und
ließ ſie aus der Schlacht führen, um als Sühnopfer für
Pallas zu bluten. Keinen Mann, keinen flehenden Jüng¬
ling ſchonte er, der dem Raſenden in den Weg trat,
welcher wie ein brauſender Bergſtrom oder die nächtliche
Windsbraut wüthete. Zu gleicher Zeit brach der Jüng¬
ling Askanius mit den eingeſchloſſenen Trojanern, den
günſtigen Zeitpunkt erſehend, aus dem Lager hervor.

Turnus von Juno gerettet. Lauſus und Mezentius
von Aeneas erſchlagen.

Die Rutuler wären verloren geweſen, wenn nicht
Juno den Göttervater im Olymp demüthig um die Er¬
laubniß angefleht hätte, Turnus ihren Führer, aus der
[395] Hand des Aeneas zu retten und der Schlacht zu ent¬
führen. „Verlangſt du nur Verzug ſeines Todes,“ ſprach
Jupiter, „ſo mag es immerhin ſeyn! Wenn du aber
damit das Schickſal des ganzen Krieges zu ändern ver¬
meinſt, ſo hegeſt du eine vergebliche Hoffnung.“ Wei¬
nend erwiederte Juno: „O daß dein Herz mir gewährte,
was dein Mund mir verweigert! Soll mein unſchuldiger
Schützling ſo traurig endigen? Doch ich danke dir ſchon
für den Aufſchub; vielleicht lenket dich deine Milde doch
noch auf gnädigeren Beſchluß!“


Juno, von Gewölken umgürtet, ließ ſich vom Sturm
durch die Lüfte tragen, und hatte bald das Lager der
Laurenter erreicht. Hier ſchuf ſie aus einer hohlen Wolke
ein weſenloſes Schattengebild, das an Geſtalt dem Hel¬
den Aeneas täuſchend ähnlich war, bekleidete es mit
einem Schatten von Panzer, Schild und Helm, der
herrlichen Rüſtung des Götterſohnes nachgebildet, ver¬
lieh ihm den Schritt des Wandelnden, und, ohne ſeinen
Geiſt, den Hall ſeiner Stimme. So flog die Geſtalt
dahin, wie ein Traumbild, das unſere Sinne trügt,
miſchte ſich unter die vorderſten Reihen der Kämpfenden,
reizte den Turnus mit Geſchoßen und forderte ihn zum
Kampfe heraus. Turnus eilte der Geſtalt entgegen und
warf die Lanze nach ihr, da wandte jene den Tritt und
bot ihm den Rücken. Mit gezogenem Schwerte, unter
höhniſchem Rufe, folgte Turnus, und merkte nicht, daß
er ſchon die Schlachtlinie verlaſſen hatte. Zunächſt am
Strande lag eines der hetruriſchen Schiffe, dorthin warf
ſich das fliehende Bild des Aeneas, und ſchien ſich za¬
gend in ſeine Schlupfwinkel zu verbergen. Nicht langſamer
folgte Turnus, ſprang über die Brücke, und faßte Fuß
[396] auf dem Vorderverdeck. Jetzt hatte Juno ihren Zweck
erreicht. Kaum hatte Turnus den Bord berührt, ſo riß
ſie das Seil ab, und ließ das Schiff von der gerade
zurückrollenden Ebbe hinaus in den See tragen.


Inzwiſchen tobte der rechte Aeneas im Kampfe fort,
und begehrte umſonſt nach dem entfernten Feind. Sein
Schattenbild aber verließ den Winkel, in dem es ſich
geborgen, und flatterte, von Turnus ungeſehen, in die
Luft. Als dieſer ſeinen Feind nicht fand, und vom Mee¬
reswirbel dahingeriſſen wurde, ſchaute er nach dem Lande
zurück, rathlos und ohne Dank für ſeine Rettung. „All¬
mächtiger Vater,“ rief er, die Hände gen Himmel er¬
hend, „hielteſt du mich ſo großer Schande würdig,
wollteſt du mich ſo hart beſtrafen? Alle meine Freunde
habe ich im grauſamen Todeskampfe zurückgelaſſen: wie
kehr' ich zu ihnen zurück? O daß der Meeresabgrund
ſich unter mir aufthäte, daß die Winde mein Schiff an
einer Klippe zerſchellten!“ Erſt gedachte er ſich ins Schwert
zu ſtürzen, und hatte es ſchon aus der Scheide gezogen,
doch ein Verſuch, zu den Seinigen zurückzukehren, däuchte
ihm für dieſe ſelbſt erſprießlicher, und ſo ſprang er, ge¬
waffnet wie er war, ins Meer. Aber Juno trieb die
Wellen ihm entgegen. Der Strom nahm ihn mit ſich
fort, und erſt bei ſeiner Vaterſtadt Ardea ſpülten ihn die
Wellen ans Land.


Die Schlacht vor den Lagermauern wüthete fort.
Die Trojaner waren im Vortheile und jauchzten. Aber
der vertriebene König von Agylla, der Etrusker Mezen¬
tius, der wildeſte Bundesgenoſſe der Rutuler, der bisher
bei der Hinterhut gehalten hatte, brach jetzt vor, und
ſtürzte ſich auf die Feinde. Als die Etrusker ihren
[397] Todfeind herankommen ſahen, ſtürmten ſie in ihrem alten
Haſſe Alle auf den Einen los, und bedrängten ihn von
allen Seiten mit ihren Geſchoſſen. Er aber ſtand wie
ein Fels im Meere feſt, ſtreckte Etrusker und Phryger,
wer ihm nahte, zu Boden. Bald war der Kampf wie¬
der ins Gleiche geſetzt; ſchon konnten ſich die Trojaner
nicht mehr Sieger nennen. Mezentius hatte eine Gaſſe
in die Feinde gebrochen, und furchtbar ſchritt ſeine hohe
Geſtalt in den mächtigen Waffen einher. Da ward
Aeneas, der inzwiſchen auf der andern Seite des Tref¬
fens getobt hatte, den furchtbaren Feind aus der Ferne
gewahr, ließ plötzlich vom Gefechte ab, und kehrte ſich
ihm entgegen. Dieſer aber hemmte ſeinen Schritt auf
Schußweite von ſeinem Feind, ergriff mit der Linken die
Hand ſeines Sohnes Lauſus, der ihm ſchon lang an der
Seite geſtritten hatte, hob mit der Rechten den Wurf¬
ſpieß, ſchwenkte ihn in den Lüften, und rief: „Wohlan
du mein Arm, der du von jeher mein Gott warſt, denn
ich kenne keinen andern, und du mein Speer, jetzt gilts!
Du aber, mein Sohn Lauſus, ſollſt das lebendige Sie¬
geszeichen über dieſen Räuber werden, wenn du mir in
der erbeuteten Prachtrüſtung deſſelben prangeſt!“ Nun
warf er den ziſchenden Wurfſpieß ſeinem Gegner zu;
dieſer aber prallte vom Schilde des Aeneas zurück und
traf den Antores, einen edlen argiviſchen Auswanderer,
der mit Evander nach Italien gekommen war, und nun
zuſammenſinkend ſeinem fernen griechiſchen Vaterlande
einen Seufzer der Sehnſucht zuſchickte. Darauf ſchleu¬
derte auch Aeneas ſeinen Speer ab. Dieſer durchbohrte
den dreifachen Erzſchild des Feindes, und fuhr dieſem in
die Weiche. Als Aeneas das Blut des Etruskers fließen
[398] ſah, riß er erfreut ſein Schwert von der Hüfte und
drang wüthend auf den Bebenden ein. Geſpießt von der
Lanze und entkräftet zog ſich Mezentius mit dem durch¬
bohrten Schilde zurück. Thränen rollten ſeinem guten
Sohne Lauſus aus den Augen, als er den Vater ver¬
wundet ſah; er brach mit ſeinem Schilde vor, und lief
dem Trojaner, der ſchon mit ſeiner Rechten zum tödt¬
lichen Streich ausholte, unter die drohende Klinge, in¬
dem er dem Vater den Schild vorhielt. Ihm folgten
ſeine Genoſſen mit großem Geſchrei, und alle ſchleuderten
Geſchoſſe, ſo daß Aeneas mitten in ſeinem Grimm ſtille¬
halten und ſich mit ſeinem Schilde bedecken mußte. Von
Lanzen umhagelt, rief er dem Lauſus zu: „Wahnſinniger,
was renneſt du in den Tod? Deine Liebe betrügt dich
über deine Kräfte!“ Als aber Lauſus nicht wich, ver¬
doppelte ſich der Grimm des Helden, und nun rannte
ihm Aeneas das Schwert, tief eintauchend, mitten durch
den Leib, das den Weg ohne Mühe durch den leichten
Schild und den goldgeſtickten Rock des Jünglings, das
Kunſtwerk der zärtlichen Mutter, gefunden hatte. Aber
als Aeneas in das erbleichende Antlitz des ſterbenden
Knaben ſah, da erbarmte ihn ſein, und das Bild der
kindlichen Liebe durchbebte ſein eigenes Vaterherz. Er
reckte die Hand nach dem Sinkenden aus und rief: „Un¬
glückſeliger Jüngling, du hätteſt eine beſſere Gabe von
mir für dein rühmliches Thun verdient! Deine leichte
Rüſtung und dein Goldkleid, deſſen du dich freuteſt, ſoll
nicht von dir genommen werden. Wie du biſt, ſollſt du
bei deinen Vätern ſchlafen dürfen, und ſo wenigſtens
ſollſt du inne werden, daß du einem großmüthigen Feind
erlegen biſt!“ So ſprach Aeneas, hob ihn ſelbſt von
[399] der Erde empor, daß das ſchmucke Lockenhaar nicht von
Staub und Blute beſudelt würde, und ermahnte ſeine
erſchrockenen Genoſſen, den Leichnam in Empfang zu
nehmen.


Der verwundete Mezentius hatte ſich indeſſen an
den Tiberſtrand gerettet, und ſtillte, an einen Uferbaum
gelehnt, das Blut ſeiner Wunde mit dem Waſſer des
Fluſſes. Sein eherner Helm hing an einem Aſte, ſeine
ſchwere Rüſtung lag im Graſe, junge, erleſene Streit¬
genoſſen ſtanden um ihn her, er ſelbſt, ſchwach und keu¬
chend, ſtützte ſich das Haupt mit der Hand, und ſein
hangender Bart fiel ihm auf die Bruſt herab. Gar oft
fragte er nach ſeinem Sohne Lauſus, viele Boten ſandte
er, die ihn herbeirufen, die ihm ſeines geängſteten Vaters
Befehle bringen ſollten. Da nahte ſich die weinende
Schaar der Freunde, die den entſeelten Jüngling mit
ſeiner klaffenden Bruſtwunde auf dem Schilde dahertrugen.
Mezentius, Unheil vorahnend, verſtand ihr Wehklagen
ſchon in der Ferne. Als ſie angekommen waren, ſtreute
er Staub auf ſein graues Haar, ſtreckte die Hände gen
Himmel, und klammerte ſie dann um den Leichnam.
„Iſt's möglich,“ rief er, „geliebter Sohn, konnte mich
die Lebensluſt ſo bethören, daß ich dich ſtatt meiner in
die Hand des Feindes rennen ließ? muß dein Tod mein
Leben ſeyn? Wehe mir, jetzt erſt wird mir die Ver¬
bannung aus dem Etruskerlande zur unerträglichen Qual!
Jetzt erſt fühle ich meine Wunde! Iſt's möglich, daß
ich noch lebe, daß ich das Tageslicht und die Menſchen
nicht verlaſſe? Aber ich will ſie verlaſſen!“ Mit dieſen
Worten richtete er ſich auf bis zur kranken Hüfte, und
ſo tief die Wunde ſaß, verlangte er doch ſein Roß. Dieß
[400] war ſeine Luſt, dieß war ſein Troſt: noch aus allen
Gefechten hatte es ihn ſiegreich zurückgetragen. Auch
das Streitroß ſchien über den Jammer ſeines Herrn zu
trauern, es ſtand mit geſenktem Haupte da, und die
Mähne floß regungslos über den Hals. „Wir haben
lange gelebt, guter Rhöbus,“ redete der wunde Held
ſein Pferd an, „wenn irgend etwas auf der Erde lang
iſt; aber heute noch wirſt du als Sieger mit mir den
Lauſus rächen, und Haupt und Rüſtung des Mörders
blutig heimtragen, oder wir fallen mit einander, denn
du wirſt, hoff' ich, keinen Trojaner tragen wollen!“
Schnell waffnete ſich der Greis, ſo gut es die Wunde
erlaubte, wieder; das Erz des Helmes umleuchtete ſein
Haupt, der Roßſchweif flatterte in den Lüften, ſeine Hand
hielt ein Bündel Speere; ſo trug ihn Schmerz, Wahn¬
ſinn und Muth hoch zu Roſſe wieder in die Schlacht.


„Das gebe Jupiter und Apollo,“ rief Aeneas er¬
freut, als er den Gegner wieder auf ſich zu kommen ſah,
„daß du den Zweikampf mit mir erneureſt!“ Und nun
eilte er ihm mit gehobenem Speer entgegen. Mezentius
rief dagegen: „Glaubſt du mich noch ſchrecken zu kön¬
nen, nachdem du mir den Sohn entriſſen haſt? Ich
fürchte den Tod nicht, ich frage nach keinem Gott, ſter¬
ben will ich, aber dir ſende ich zuvor dieſe Gabe!“
Sprachs und ſandte einen erſten Speer nach ſeinem
Feind, und einen zweiten und einen dritten, indem er
ihn dreimal dazu mit ſeinem Roß umkreiſte. Aeneas
drehte ſeinen Schild nach den Würfen, und fing die
Geſchoſſe, eins um das andere mit der goldnen Schutz¬
waffe auf. Dann brach er hervor und ſchleuderte ſeine
eigene Lanze dem Streitroſſe des Feindes in die Schläfe.
[401] Das Thier bäumte ſich, ſtreckte ſeine Vorderhufen in die
Lüfte, ſchüttelte den Reiter ab, und deckte ihn fallend
mit dem Rücken. Ein Schrei ſtieg aus den beiden Hee¬
ren gen Himmel. Aeneas aber flog herbei, riß das
Schwert aus der Scheide, und rief höhnend: „Wo iſt
nun der wilde Mezentius, wohin hat ſich der Trotzende
verkrochen?“ „Grauſamer,“ ſeufzte der Gefallene vom
Boden empor, „ſpotteſt du mein im Tode noch? ſterb'
ich doch den edeln Tod in der Schlacht! Nur um Eine
Gunſt bitte ich dich; gönne meinem Leib die Decke des
Bodens; du weißeſt, daß mich wilder Haß alter Unter¬
thanen umringt: wehre ihre Wuth von mir ab, gönne
mir Ein Grab mit meinem Kind!“ So ſprach er und
reichte den Hals dem Schwerte des Feindes dar, ſein
Blut ſtrömte auf die Rüſtung und ſein Leben war dahin.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. 26
[[402]][[403]]

Sechſtes Buch.

Aeneas.
Dritter Theil.

Waffenſtillſtand. — Volksverſammlung der Latiner. — Neue
Schlacht. Kamilla fällt. — Unterhandlung. Verſuchter Zweikampf.
Friedensbruch. Aeneas meuchleriſch verwundet. — Aeneas geheilt.
Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt. — Turnus ſtellt ſich zum
Zweikampf und erliegt. Ende. —


26 *[[404]][[405]]

Waffenſtillſtand.

Die Morgenröthe ſtand über dem Schlachtfelde, das
die Trojaner als Sieger inne hatten. Aeneas richtete
auf einem Hügel ein Siegeszeichen auf. Der Stamm
einer rieſigen Eiche, von dem alle Aeſte abgehauen waren,
wurde mit der funkelnden Waffenrüſtung des Feldherrn
Mezentius bekleidet: rechts wurden der blutige bebuſchte
Helm, die zerbrochenen Speere des Fürſten, ſein Panzer,
der zwölfmal von Geſchoſſen getroffen und durchbohrt
war, aufgehängt; links der eherne Schild, und an ſei¬
nem Gurte das Schwert in der Scheide von Elfenbein.
Der geſammte Haufe der trojaniſchen Führer drängte ſich
um das Denkmal, und Aeneas weihte die Beute unter
feierlichem Flehen dem Schlachtengott.


Alsdann wandten ſie ihre Schritte nach dem Lager,
wo der greiſe Arkadier Acötes, der als Waffenträger
und Gefährte ſeinem geliebten Zögling gefolgt war, den
entſeelten Leib des Pallas hütete, den eine Schaar von
Dienern und theilnehmenden Trojanern und Trojanerinnen
mit aufgelöstem Haar umſtand, und der in einer bedeck¬
ten Halle der Lagerburg untergebracht war. Als Aeneas
durch die Pforte trat, erhob ſich lautes Stöhnen, alle
Anweſenden ſchlugen an die Bruſt, und die Burg dröhnte
von Jammer. Wie nun Aeneas das Haupt des Pallas,
mit dem blaſſen Angeſichte, auf dem Polſter erblickte, und
in der jugendlichen Bruſt die offene Speerwunde, da rief
er, indem ihm die Thränen aus den Augen hervorquollen:
„Unglückſeliger Knabe, hat dir das trügeriſche Glück,
[406] das dich ſo ſchmeichleriſch begleitete, nicht vergönnt, das
Reich, das du deinen Freunden gründen halfeſt, zu
ſchauen, und als Sieger in die Heimath zurückzukehren!
Nicht ſolches habe ich deinem Vater Evander verſprochen,
als er mich beim Scheiden umarmte, und ſprach: Hüte
dich, du gehſt in den Kampf mit einem ſtreitbaren und
harten Volk! Weh' uns, vielleicht bringt in dieſem Augen¬
blicke dein Vater den Göttern Gelübde für dich dar, in
welchem wir deinen Leichnam beſtatten!“ So ſprach er
weinend, und befahl, die Leiche auf ein Geflecht von
Eichenzweigen zu legen und ins Lager zu tragen. Dort
ward der Jüngling auf einem hohen Grashügel mit¬
ſammt der Tragbahre niedergelaſſen, und lag da nun wie
ein gepflücktes Veilchen oder eine welkende Hyazinthen¬
blüthe, von welcher Schönheit und Farbenſchimmer noch
nicht ganz gewichen ſind. Aeneas ſelbſt brachte zwei
purpurne, mit Gold durchwobene Feiergewande, von
Dido's eigener Hand gewirkt, herbei: in das eine hüllte
er den Leib des Jünglings, das andere ſchlang er um ſein
Lockenhaupt. In dieſem Schmucke ſollte der Todte ſei¬
nem Vater nach Pallanteum zurückgeſchickt werden. Dem
Zuge ſchloſſen ſich erbeutete Gefangene, Pferde mit Waffen
beladen, Acötes, der alte Diener des Jünglings, der
ſich das Haar zerraufte und die Bruſt mit Fäuſten
ſchlug, und zuletzt Aethon, das Streitroß des Königs¬
ſohnes an, das mit geſenktem Kopf einherſchritt, und
Thränen vergoß wie ein Menſch. Dann kamen die Für¬
ſten der Etrusker und Arkadier, und ein Trauergefolge
von Trojanern, alle mit geſenkten Waffen. Aeneas ſah
dem Zuge der Begleitenden nach, bis er aus ſeinen
[407] Augen verſchwand, rief dem Todten ein letztes Lebewohl
zu, und kehrte wieder in das Lager zurück.


Indeſſen waren aus der Stadt des Latinus Geſandte
mit Oelzweigen in der Hand angekommen, und flehten
um die Erlaubniß, die Leiber der Ihrigen beſtatten zu
dürfen. Dieſen erwiederte Aeneas voll Huld, indem er
ihnen ihre Bitte ſogleich gewährte: „Welche Verblen¬
dung, ihr Latiner, hat euch unſere Freundſchaft ver¬
ſchmähen laſſen, und in dieſen großen Krieg verwickelt!
Ihr begehret Frieden für eure Todten? wie gerne ge¬
währte ich ihn auch den Lebenden! Auch wäre ich ge¬
wiß eurem Lande niemals genaht, wenn dieſer Wohnplatz
mir nicht durch das Schickſal angewieſen worden wäre.
Dazu führe ich keineswegs Krieg mit eurem Volke. Nicht
dieſes, nur euer König hat unſern Bund verſchmäht,
und ſich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Will
Turnus den Krieg mit der Fauſt enden, will er die
Trojaner durchaus nicht in dem Lande dulden, nun ſo
werfe er ſich in ſeine Rüſtung und kämpfe mit mir,
Mann für Mann. Behalte dann Recht, wem ein Gott
und ſeine Fauſt das Leben verleiht. Jetzt aber gehet,
und legt eure armen Mitbürger auf den Scheiterhaufen.“


Als die Geſandten ſo milde Worte aus dem Munde
des Trojanerfürſten hörten, ſahen ſie, ſchweigend vor
Staunen, einander an. Endlich ſprach der greiſe Dran¬
ces, von jeher ein Feind des Turnus: „Held von Troja,
was ſoll ich mehr an dir bewundern, deine kriegeriſche
Tugend, oder deine Gerechtigkeit? Wir gehen, voll Dank
unſerer Vaterſtadt deine Willensmeinung zu verkünden,
und, wenn es möglich iſt, den König Latinus mit dir
zu verſöhnen.“ Alle Geſandte beſtätigten dieſe Rede mit
[408] ihrem Beifallrufe. Es wurde ein Waffenſtillſtand auf
zwölf Tage geſchloſſen, und nun ſchweiften im Schutze
deſſelben Latiner und Trojaner durcheinander ungefährdet
auf den waldigen Berghöhen umher; die Eſche, die Fichte
ſank unter dem Streiche der Axt; die Eiche, die Ceder,
die Buche wurde mit Keulen geſpalten, und ſeufzende
Wagen, ſchwer mit Holz beladen, fuhren der Stadt der
Latiner zu.


Inzwiſchen war das Gerücht von dem Tode des
Pallas zur Stadt des Evander gedrungen, die bisher
nur von den Siegen ihres Königsſohnes vernommen und
geträumt hatte. Unausſprechliche Niedergeſchlagenheit be¬
mächtigte ſich des Königes und aller Bürger. Leichen¬
fackeln in der Hand, ſtürzten die Arkadier zu den Tho¬
ren hinaus, und, vom langen Zuge der Flammen leuchtete
der Weg. Auf der andern Seite kam ihnen die weh¬
klagende Schaar der Phrygier mit dem Leichnam entgegen.


Als die Frauen der Arkadier den Zug auf die Häu¬
ſer der Stadt zukommen ſahen, erfüllten ſie die Straßen
mit lautem Heulen. Jetzt vermochte auch den König
Evander keine Gewalt mehr zurückzuhalten; er ging der
Schaar entgegen, und als die Tragbahr niedergeſtellt
ward, warf er ſich über die Leiche ſeines Sohnes, und
ließ ſeinem Schmerz in lautem Schluchzen und abge¬
brochenen Worten des Jammers den Lauf.

Volksverſammlung der Latiner.

Trojaner und Latiner hatten ihre Todten unter Thrä¬
nen und Opfern beſtattet, die lauteſte Wehklage und
[409] längſte Betrübniß aber war bei den Letztern. Trauernde
Mütter, Wittwen, Schweſtern, Knaben, ihrer Väter
beraubt, irrten durch die Stadt umher, verfluchten den
Krieg und das Eheverlöbniß des Turnus. Dieſe Stim¬
mung verſtärkte noch der Abgeſandte Drances, indem er
verſicherte, daß nur Turnus von Aeneas verlangt, nur
er zur Entſcheidung des Krieges durch einen Zweikampf
herausgefordert werde. Auf der andern Seite wurde auch
Turnus von der entgegengeſetzten Meinung eifrig verthei¬
digt, ihn deckte der mächtige Name der Königin Amata;
ſein eigener Ruhm und die errungenen Siege verherr¬
lichten ihn in den Augen des Volkes.


Die Niedergeſchlagenheit der Latiner vermehrte in¬
deſſen eine Botſchaft, durch welche eine lang gehegte
Hoffnung vereitelt wurde. Im untern Theile Ita¬
liens, in Daunien, ſaß, auf der Rückkehr von Troja
durch die Nachſtellungen ſeiner treuloſen Gattin von ſei¬
ner Heimath Aetolien zurückgehalten, der große Griechen¬
held Diomedes, der Sohn des Tydeus, und hatte dort
die Stadt Argyripa gegründet. Gleich beim Ausbruche
des Krieges hatte Turnus zu dieſem alten Feinde der
Trojaner einen Rutulerhelden, Namens Venulus, abge¬
ſchickt, welcher demſelben meldete, daß Trojaner, von
Aeneas, dem Schwiegerſohne des Königs Priamus an¬
geführt, im Latinerlande ſich feſtgeſetzt haben, und ein
zweites Troja gründen wollen. Gegen dieſe verhaßten
Ankömmlinge hatte Turnus die Hülfe des Königes Dio¬
medes verlangt. Mitten in jener Aufregung nun kam
Venulus, der Botſchafter des Turnus, aus der griechi¬
ſchen Pflanzſtadt des Diomedes zurück und brachte keine
günſtige Antwort mit. Damit war die letzte Hoffnung
[410] des alten Königes Latinus verſchwunden. Niedergebeugt
von Kummer, berief er die Häupter des Volkes zu einer
großen Verſammlung in ſeinem Königspalaſt, ſetzte ſich
mit düſterer Stirne auf ſeinen Herrſcherthron, und hieß
den zurückgekommenen Boten mit ſeinen Begleitern Be¬
richt erſtatten.


„Bürger,“ begann hier Venulus, „wir ſahen den
Helden Diomedes und die Pflanzſtadt der Argiver, unter
den Eichenwäldern des Berges Garganus auf der ſchö¬
nen Anhöhe gelegen. Als wir ihm Namen und Heimath
geſagt, unſre Geſchenke vor ihm ausgebreitet und ihm
gemeldet hatten, wer uns mit Krieg heimſuche, erwie¬
derte uns der große Fürſt mit freundlichem Angeſichte:
O ihr glücklichen Völker Auſoniens, ihr unter der Obhut
des guten Saturnus lebenden, welch' ein Schickſal ſtört
auch euch aus der Ruhe auf? Wir Sieger Troja's ſind
die elendeſten unter allen Sterblichen! Selbſt Priamus
müßte uns bemitleiden, wenn er ſchaute, wie ſchwer wir
unſern Uebermuth büßen müſſen. Der Lokrer Ajax hat
im Meere ſein Grab gefunden; Agamemnon liegt im
eigenen Haus erſchlagen; Menelaus irrt in Egypten um¬
her; Ulyſſes zitterte vor den Cyklopen. Auch mir haben
die Götter die Wiederkehr in meine Heimath mißgönnt;
erlaſſet mir die Erzählung! Ich bin kein Mann des
Glückes mehr, ſeit ich es gewagt habe, die unſterbliche
Venus im Kampfe zu verwunden! Darum reizet mich
nicht zu neuen Gefechten! Seit Troja gefallen iſt, bin
ich kein Feind der Trojaner mehr, denke auch nicht mit
Freuden an das Uebel zurück, das ich ihnen zugefügt.
Die Geſchenke, die ihr mir von Hauſe bringet, über¬
reichet ſie dem Aeneas! Ich habe mich im Kampfe mit
[411] ihm gemeſſen: glaubet mir's, er iſt ein gewaltiger Mann,
wenn er ſich mit ſeinem Schild emporbäumt und im Wir¬
bel die Lanze dreht! Wären nach Hektors Tode noch zwei
Männer wie er in Troja geweſen, ſo hätte die Welt
nichts von unſerm Siege zu erzählen. Darum, bietet die
Hände zum Frieden, ſo lange es noch Zeit iſt: ſeinen
Waffen ſeyd ihr nicht gewachſen.“


Als Venulus ſeinen Bericht geendigt hatte, entſtand
ein murrendes Toſen in der Volksverſammlung, wie ein
Gießbach durch Felſen rauſcht. Wie die bewegten Lippen
endlich ſtille wurden, ſprach der König Latinus von ſei¬
nem hohen Throne herab: „Wir führen einen unglück¬
ſeligen Krieg, ihr Bürger, mit unbezwinglichen Männern,
mit einem Göttergeſchlecht. Beherziget deßwegen, was
ich euch verkünden will. Nicht ferne von der Tiber,
gegen Abend, beſitze ich ein altes Gebiet, von Rutulern
und Aurunkern bebaut und beweidet, und von Fichten¬
bergen begränzt. Dieſes will ich den Trojanern abtreten,
und ſie zu Reichsgenoſſen aufnehmen: dort mögen ſie
ſich anſiedeln und die verheißene Stadt begründen. Ziehen
ſie es aber vor, ein anderes Land aufzuſuchen, ſo wollen
wir ihnen Erz, Schiffsbauzeug und Hände darreichen,
um ſich fünfzig Ruderſchiffe zu bereiten und auszurüſten.
Außerdem ſollen hundert Geſandte aus den edelſten Ge¬
ſchlechtern von Latium ſich aufmachen, mit Friedens¬
zweigen in der Hand, und ihnen Gold, Elfenbein, und
Mantel und Thron als Reichskleinodien darbringen.“


Da ſtand der alte Drances in der Verſammlung
auf, ein reicher beredter Mann, obwohl kein Held im
Kampfe mehr, der ſeit langer Zeit den Ruhm des Tur¬
nus mit Scheelſucht betrachtete, und rief: „Vortrefflicher
[412] König, es fehlt nur Eines noch! Du ſollteſt zu den
herrlichen Geſchenken, die Du den Trojanern zu ſenden
befiehlſt, auch noch die Hand deiner Tochter Lavinia
hinzufügen, und ſo den Frieden mit einem ewigen Bund
verſiegeln!“ Jetzt entbrannte das Herz dem Turnus,
der eben erſt von ſeiner Vaterſtadt zurückgekehrt, ſich
unter die Volksverſammlung gemiſcht hatte. Aus der
tiefſten Bruſt emporathmend, rief er: „O Drances, ſo
oft der Krieg Fäuſte verlangt, biſt du mit der Zunge
da! Jetzt aber gilt es nicht, den Rathſaal mit Worten
anzufüllen: die Feinde umringen unſere Stadt, gefochten
will es ſeyn! Was wird uns der Aetolier Diomedes
und ſeine Pflanzſtadt helfen, wenn unſer eigener Arm
wenn Latium, wenn ganz Volskerland, das ſich für
uns erhoben hat, es nicht vermag? Wenn es ſich aber
nur um meine Seele handelt, die iſt euch längſt ge¬
weiht; wenn es wahr iſt, daß Aeneas mich allein heraus¬
fordert, ich bin Turnus, er ſoll mich finden!“


Während die Latiner ſo ſich über die Lage ihres
Reichs zankten, kam Aeneas mit ſeinem ganzen Ge¬
folge heran, und plötzlich ſtürmte die Botſchaft durch
den Palaſt, daß Trojaner und Etrusker vom Tiber¬
ſtrome hergezogen kommen.


[413]

Neue Schlacht. Kamilla fällt.

Die Verſammlung ſtäubte auseinander, aus der
ganzen Stadt warf ſich Alles in Haſt auf die Mauern.
Die Stadtthore wurden mit Gräben verſchanzt, Steine
wurden aufgehäuft, Palliſaden in den Boden gerammelt,
das Schlachthorn ſchmetterte, Mütter und Männer ſtell¬
ten ſich in bunten Reihen auf den Mauerkranz. Auf
einem hohen Wagen fuhr die Königin Amata, und an
ihrer Seite ihre Tochter Lavinia, die Urſache ſo vielen
Leides, ihre reizenden Augen auf den Boden geſenkt,
durch den Schwarm der Frauen nach der Burg der
Stadt, um dort im Tempel der Minerva Gebet und
Opfer darzubringen.


Turnus ſelbſt gürtete ſich eilig zum Kampfe. Bald
ſtarrte er im ſchuppigen Erzharniſche, legte ſich die Gold¬
ſchienen an die Beine, und ſchnallte ſich das Schwert
an die Seite. Dann ſetzte er ſich den goldenen Helm
aufs Haupt, und eilte, funkelnd vom Kopfe bis auf die
Sohlen, und frohlockend in Siegeshoffnung, von der
Königsburg hinab. Unter dem Thore begegnete ihm
Kamilla, hinter ſich den Zug ihrer Volsker. Als ſie den
Helden erblickte, ſprang die jungfräuliche Königin vom
Roſſe, und ihr folgte das ganze Geſchwader. Dann
ſprach ſie zu dem Rutulerfürſten: „Turnus, wenn an¬
ders ein Starker mit Recht auf ſich ſelbſt vertraut, ſo ge¬
lobe ich heute, die Schaar des Aeneas zu beſtehen, und
mich allein mit meinen volskiſchen Reitern ihm entgegenzu¬
werfen.“

[414]

Solch Anerbieten war dem Helden willkommen.
„Dieſer Muth,“ erwiederte er, „erhebt dich, o Jung¬
frau, hoch über dein Geſchlecht und in den Rath der
Männer. Von nun an ſollſt du die ganze Kriegsarbeit
mit mir theilen. Meine Späher melden mir, daß Aeneas
ſeine leichten Reitergeſchwader vorausgeſandt hat, er
ſelbſt mit dem ſchweren Heerhaufen ſchreitet über den
Bergrücken auf die Stadt zu. Dort will ich ihm in
einem waldumwachſenen Hohlweg einen Hinterhalt be¬
reiten und beide Schlünde des engen Pfades mit Krie¬
gern beſetzen. Du dagegen ſollſt die etruskiſchen Reiter
mit deiner Reiterei empfangen, und ich gebe dir den
Helden Meſſapus mit den latiſchen Geſchwadern bei.
Die Oberfeldherrnſchaft aber ſey dir ſelbſt anvertraut,
unvergleichliche Jungfrau!“


Nach dieſen Anordnungen ging Turnus ſeinen eige¬
nen Weg. Durch ein enges Thal mit vielen Krüm¬
mungen, das von beiden Seiten eine ſchwarze Bergwand
voll Waldes begränzte, führte ein ſchmaler Fußpfad.
Drüberhin, zuoberſt auf dem Bergesgipfel, lag, zwiſchen
Wäldern verborgen ein ebnes Feld, wo ſich ein ſicherer
Hinterhalt aufſtellen ließ, und von wo aus man nach
Belieben rechts oder links angreifen oder aber von der
Höhe herab Steine ins Thal hernieder wälzen konnte.
Dorthin zog Turnus mit ſeinen Schaaren und lagerte
ſich auf der Höhe und in den Wälderſchluchten.


Während dieſes geſchah, rückten die Trojaner und
ihre etruskiſchen Bundesgenoſſen mit den Reitergeſchwa¬
dern immer näher an die Mauern. Die Roſſe brausten
durch die Ebene, eine eiſerne Saat von Spieſſen ſtarrte,
und die Felder ſchienen von den erhobenen Waffen zu
[415] brennen. Gegenüber erſchienen die Latiner, Meſſapus
mit ſeinem Bruder Korax an der Spitze, und die Rei¬
terei der Volsker von Kamilla angeführt. Als die Heere
einander auf Speerwurfs Weite nahe gekommen waren,
ſtanden ſie einen Augenblick ſtill und brachen dann plötz¬
lich mit Geſchrei hervor, ermunterten ihre Roſſe und
von allen Seiten flogen Geſchoſſe wie Schneeflocken,
ſo daß die Luft ganz verdunkelt wurde. Sobald die
feindlichen Schaaren Speer gegen Speer mit einander
kriegten, fing die Schlachtordnung der Latiner zu wan¬
ken an, ſie warfen bald die Schilde auf den Rücken,
und lenkten ihre Roſſe nach der Stadt hin. Aber ihre
Flucht war nur verſtellt; ſobald ſie bei den Mauern an¬
gekommen waren, drehten ſie ſich wieder, und warfen
ſich, wie die Ebbe, die in die Fluth umſchlägt, mit er¬
neutem Feldgeſchrei auf die verfolgenden Etrusker, die
nun ihrerſeits wieder zurückwichen. So ging es zwei¬
mal, und erſt das drittemal wurde das Treffen zur
ſtehenden Schlacht, wo Alle ſich unter einander mengten
und Mann ſich Mann zum Kampfe auswählte. Jetzt
erſcholl bald ein Geächze von Sterbenden; Waffen und
Leichen wälzten ſich im Blutbade, halblebende Roſſe la¬
gen unter Leichnamen vermiſcht und andere bäumten ſich
über ihren abgeworfenen Reitern.


Mitten im Morde frohlockte, einer Amazone gleich
gekleidet und aufgeſchürzt, die Volskerin Kamilla, ſandte
bald Pfeile vom Bogen, bald ſchlanke Lanzen mit der
Hand, bald griff ſie zur Streitaxt und auf ihrer Schul¬
ter ſchallte klirrend ihr goldener Köcher. Wenn ſie auch
einmal mit ihrem Roſſe umlenkte, und weichend über
den Plan hinflog, ſo wendete ſie doch noch den Bogen
[416] rückwärts und ſchickte im Fliehen noch einen Pfeil ab.
Ein auserleſenes Gefolge von tapfern Jungfrauen um¬
gab ſie, Lavina, Tulla und Tarpeja, welche ſie ſich
ſelbſt zur Geſellſchaft auserkoren hatte und die in Krieg
und Frieden ihre treuen Begleiterinnen waren. Eine
Menge Phrygier ſtürzten unter ihren Würfen und Strei¬
chen. Endlich begegnete ihr im Kampf auch einer der
tapferſten Apeninnenbewohner, als ſie eben dem kühnen
Orſilochus durch den Helm das Haupt geſpalten hatte,
der ſtreitbare Sohn des Aunus, ein Ligurier. Der Anblick
der furchtbaren Jungfrau ſchreckte ihn, und als er ſah, daß
es ihm nicht mehr möglich war, dem Kampfe zu ent¬
rinnen, und die ihn bedrängende Feindin abzulenken,
ſann er auf eine neue Liſt und rief: „Was iſt es denn
ſo ein Großes, wenn ein Weib ſich einem tapfern Roſſe
anvertraut! Entſag' einmal dem flüchtigen Umherſchweifen,
ſteige von deinem Pferde, und verſuche den Kampf mit
mir auf ebenem Boden, dann wollen wir ſehen, ob dein
windiges Prahlen Stand hält!“ Dieſe Worte waren
ein Stachel in das Herz der Jungfrau, ſie übergab
ihrer nächſten Gefährtin das Pferd, und ſtellte ſich dem
Jünglinge, nur mit Schwert und Schild bewaffnet, zum
gleichen Fußkampfe. Der Jüngling aber glaubte ſeinen
Betrug gelungen; ohne abzuſteigen gab er ſeinem Pferde
die Sporen, und ergriff mit umgewandtem Zügel die
Flucht. „Betrüger!“ rief die Heldin, als ſie ihn fliehen
ſah, „du ſollſt die Künſte deiner Heimath umſonſt ver¬
ſucht haben, und deine Liſt wird dich nicht zum ſchelmi¬
ſchen Aeneas zurückbringen!“ Zugleich eilte ſie mit geflü¬
gelten Sohlen dem Roſſe voran, fiel ihm in die Zügel,
und ſtieß von vorn dem Reiter das Schwert in den Leib.


[417]

Aber auch auf der Gegenſeite erhob ſich ein gewal¬
tiger Held, der Etruskerkönig Tarcho. Dieſer trieb
bald zu Roſſe weichende Schaaren vor ſich her, belobte
die Seinigen mit ermunterndem Zurufe, nannte jeden
mit Namen, friſchte die Zurückgedrängten zu neuem
Kampfe auf, und trieb unbekümmert um den Tod ſein
Roß mitten in die Schlacht hinein. Hier ſtieß er auf
den Venulus, dem er ſich ſtürmiſch entgegenwarf, ihn
vom Pferde riß und mit der rechten Hand umſchlingend
auf ſeinem eigenen Roſſe im Flug davon trug.


Mit Blicken und Geſchrei folgten die ſtaunenden
Latiner dem Eilenden, der im Laufe ſeinem Feind mit
dem abgebrochenen Schafte ſeiner eigenen Lanze zwiſchen
die Fugen der Rüſtung eine Todeswunde zn verſetzen
ſtrebte. Venulus aber erwehrte ſich des Streichs und
hielt die Hand vor die Kehle. So war das Paar an¬
zuſchauen wie ein Adler, der eine geraubte Schlange
durch die Luft entführt; das blutende Thier ringelt ſich,
bäumt ſich immer höher und ziſcht mit dem Munde; der
Vogel aber läßt es nicht aus dem krummen Schnabel
fahren und peitſcht die Lüfte mit ſeinen Flügeln. Dem
Glück und Beiſpiel ihres Führers folgten die Etrusker,
und ſtürmten wieder muthiger voran.


Auch Kamilla fand einen kühnen Gegner in den
Reihen der Etrusker. Der Held Arruns ſchwärmte
mit ſeinem Speer um die raſche Amazone her, und wich
ihr nicht von der Seite, nach welcher Stelle des Treffens
die Wuth ſie auch führen mochte. Nun verfolgte Kamil¬
la gerade den phrygiſchen Cypele'sprieſter Chloreus, deſſen
ſchuppiger Erzpanzer mit goldenem Geflechte wie ein ge¬
fiedertes Gewand ſich um ſeinen Leib legte, und den ein
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 27[418] Ueberwurf von dunklem Purpur bedeckte. Ein goldner
Helm ſtrahlte auf ſeinem Haupte, ein Köcher aus Gold
tönte um ſeine Schultern und vom Bogen ſchoß er die
ſchärfſten Pfeile. Sein ausländiſches Waffengeſchmeide
machte die volskiſche Jungfrau lüſtern, und ſie verfolgte
ihn, ſey es um die trojaniſche Wehr als Siegesbeute
in einem italiſchen Tempel aufzuhängen, ſey es um ſelbſt
in dem erbeuteten Golde zu prangen. Als ſie nun ganz
mit Sinn und Blick auf dieſen Feind gerichtet war, und den
Arruns aus den Augen gelaſſen hatte, ſchnellte dieſer
zu Apollo flehend, daß er die Schmach der verbündeten
Waffen tilgen, und auch ihn nicht einem Weib unter¬
liegen laſſen wolle, plötzlich und unverſehens den Speer.
Phöbus nickte ihm den halben Wunſch zu. Die umringen¬
den Volsker hörten die Lanze daher rauſchen und ſuchten
mit den Augen ihre Königin. Sie ſelbſt aber dachte an
nichts, bis ihr das Geſchoß in der Bruſt haftete und
ihr jungfräuliches Blut aus der Wunde drang. Zitternd
eilte die Schaar ihrer Gefährtinnen herbei und ſie fa߬
ten ihre Herrin in den Armen auf. Arruns aber, über
ſeine eigene That wie erſchrocken, entfloh vor Freude
und Furcht bebend, wie ein Wolf, nachdem er einen
Farren oder einen Haſen erwürgt hat, noch ehe die
Pfeile ihn verfolgen, plötzlich vom Wege abweicht und
mit eingezogenem Schweif ſich in die Waldungen flüchtet.
Gerade ſo ſtahl ſich Arruns hinweg und miſchte ſich
haſtig fliehend unter die Reiter. Kamilla aber zog ſter¬
bend an dem Eiſen, deſſen Spitze ihr eine tiefe Wunde
in die Rippen gewühlt hatte, ihre Augen brachen, der
Purpur der Wangen wich von ihrem Angeſichte. Mit
ſchwachem Athem ſprach ſie zu Akka, der liebſten ihrer
[419] Geſpielinnen: „Fleuch, du liebe, und überbring dem
Turnus meine letzten Befehle, denn um mich her wird Alles
Nacht: Er ſoll hinfort den Kampf leiten und die Stadt
vor den Trojanern beſchützen!“ So ſprach ſie, ließ die
Zügel fahren, und glitt, noch immer widerſtrebend, vom
Roſſe auf den Boden herab, neigte dann Haupt und
Hals und verſchied.


Die Volsker erhoben ein Geſchrei der Verzweiflung bei
ihrem Tode, und nach ihrem Fall entbrannte die Schlacht
noch wilder. Da traf auch den Mörder Kamilla's, den
Etrusker Arruns ein Pfeil von unſichtbarer Hand abgeſchoſ¬
ſen; es war Diana's Schuß, die ihre geliebte Jägerin
rächte. Die Freunde des Getödteten ſchritten zum fortlau¬
fenden Kampf über ſeinen Leichnam und dieſer blieb vergeſſen
im Staube liegen. Nach dem Tode der Führerin be¬
gann nun zuerſt das Reitergeſchwader Kamilla's zu flie¬
hen, darauf auch die Rutuler. Alle flogen mit abge¬
ſpannten Bogen, die Roſſe antreibend, über das Blach¬
feld hin. Eine ſchwarze Wirbelwolke von Staub wälzte
ſich den Stadtmauern entgegen, von den Zinnen ſtieg
ein Jammergeſchrei der Mütter in die Lüfte; und bald
waren die Thore von den nachfolgenden Schaaren faſt
zugleich mit den Feinden erreicht und unter Gemetzel
drangen die Sieger in die Stadt ein. An andern Stel¬
len wurden von den verzweifelten Bürgern die Stadtpforten
vor den Flüchtenden geſchloſſen und dieſe, zu den Feinden
hinausgeſperrt, erlagen den Geſchoſſen der ſiegreichen
Feinde vor den Thoren.


Unterdeſſen drang die Schreckenskunde auch zu
Turnus in das dunkle Waldthal, denn Akka ſuchte ihn
in ſeinem Hinterhalte auf und brachte ihm von dem Tod
27 *[420] ihrer Herrin und der verlornen Schlacht unzweifelhafte
Nachricht. Von Wuth und Schmerz im Innerſten zer¬
riſſen verließ dieſer auf der Stelle das Gehölz und ſtürmte
nach der Ebene hinab. Kaum hatte er ſeinen Verſteck
verlaſſen, als Aeneas vom Gebirge her in die Schluch¬
ten des Thales mit den Seinigen ſorglos eingedrungen
kam und bald aus der finſtern Waldung heraustretend
auf der Ebene vor der Stadt ſichtbar wurde. Da ſah
er den Heerhaufen des Turnus vor ſich her ziehen.
Auch dieſer hörte Heeresritt und Roßgeſchnaube hinter
ſich, erkannte umgewandt den grimmigen Aeneas und
ſtellte ſich in Schlachtordnung ihm gegenüber auf.
Wäre nicht die Sonne ſchon im Sinken geweſen, auf
der Stelle hätten beide Heere den Kampf der letzten
Entſcheidung ausgefochten.

Unterhandlung. Verſuchter Zweikampf. Friedens¬
bruch. Aeneas meuchleriſch verwundet.

Als Turnus ſah, daß die Latiner, von den Feinden
gedemüthigt, ihre Blicke alle auf ihn allein richteten, und
ihn an ſein Verſprechen zu erinnern ſchienen, überflog
eine Schaamröthe ſein Geſicht und ſein Herz ſchlug ihm
wieder ſtolzer in der Bruſt. Wie ein verwundeter Löwe
ſich wieder ernſtlich zur Wehr ſetzt, die zottige Mähne
fröhlich ſchüttelt und den Speer des Jägers, der ihm
im Leibe ſitzt, zerbricht, mit den blutigen Zähnen dazu
knirſchend, ſo entbrannte der Ungeſtüm des hohen Jüng¬
lings wieder. Er trat vor ſeinen Schwiegervater Lati¬
[421] nus und ſprach: „An mir ſoll der Verzug nicht liegen,
wenn nur die feigen Trojaner ihr gegebenes Wort nicht
brechen! Laß' Opferthiere herbeiſchaffen, Vater, und
ſchließe den Bund. Entweder ſchickt mein Arm heute
noch den aſiatiſchen Flüchtling zum Orkus hinunter,
und rächt unſere Schande, oder ich erliege ſeinem Schwert
und er mag deine Tochter Lavinia als Gattin heimführen!“
Ihm antwortete Latinus mit ruhigem Herzen: „Je mehr
du an trotziger Tapferkeit Alle beſiegeſt, hochherziger
Jüngling, deſto mehr iſt es meine Pflicht, dich zu be¬
rathen, und Glücksfälle des ſorgfältig zu
überlegen! Von Daunus deinem Vater her iſt ein
großes Reich dein, und du haſt ihm manche Stadt
durch Eroberung hinzugefügt! Gold und Gunſt wird dir
durch Latinus zu Theil. Latium hat noch genug andere
Bräute, die auch nicht unedlen Stammes ſind. Laß
mich dir die ganze Wahrheit ſagen, ſo ſchmerzlich ſie
dir auch ſeyn mag. Einem von den vorigen Freiern
meine Tochter zu geben, verhinderte mich der Warnungs¬
ſpruch von Göttern und Menſchen, dir zu Lieb aber,
getrieben durch die Verwandtſchaft, durch die Thränen
meiner Gemahlin, überwand ich alle Zweifel, nahm
dich zum Eidam an, und habe mich in dieſen ungeſeg¬
neten Krieg eingelaſſen. Unſer Schickſal ſieheſt du. Du
allein ſteheſt dem Frieden im Wege. Entſage meiner
Tochter und verlange nicht von mir, das erſt auf den
zweifelhaften Ausgang eines Zweikampfes ankommen zu
laſſen, was du mir ſogleich als Gewißheit zu gewähren
vermagſt! Denk' an das ungetreue Kriegsglück! Erbarme
dich auch deines bejahrten Vaters, den der Gram um
dich in deiner Vaterſtadt Ardea verzehrt.“

[422]

Aber keine Worte vermochten den Rutuler umzu¬
ſtimmen, ja er wurde durch dieſe ſanfte Rede nur noch
wilder geſtimmt. Nicht einmal die Bitten, die Thränen
und Umarmungen der Königin wirkten auf ſein Herz.
Da kam endlich, von den Wehklagen ihrer Mutter
aufgeſchreckt, auch ſeine Braut Lavinia herbeigeeilt.
Thränen rannen ihr über die heißen Wangen, und die
große Verſchämtheit jagte ihr Glut über das Angeſicht.
Wie Elfenbein von Purpur überlaufen, wie Lilienſchnee
von Roſen angeſchimmert — ſo ſpielten die Farben auf
ihrem jungfräulichen Antlitz. Turnus heftete einen
Blick auf die Geliebte, und ſeine Gedanken verwirrten
ſich einen Augenblick; aber die Hoffnung, den verhaßten
Nebenbuhler zu beſiegen, entflammte ihn noch mehr zum
Streit und er ſprach zu der Königin gewendet: „Mut¬
ter, ich bitte dich, verfolge mich nicht mit deinen
Thränen, mit deiner bangen Ahnung; Turnus hat keine
Wahl mehr!“ dann rief er einen ſeiner Streitgenoſſen
und ſagte zu ihm: „Du, Idmon, eile zum trojaniſchen
Führer, und verkündige ihm ein Wort, das ihn nicht
freuen wird. Er ſoll am nächſten Morgen ſeine Troja¬
ner nicht zum Streite führen, wie ich meine Rutuler
nicht: wir laſſen die Heere von allem Streite ruhen,
aber wir beide, ſobald die Sonne am Himmel aufge¬
gangen iſt, wollen mit unſerem Blute den Krieg ent¬
ſcheiden, nur auf dieſe Weiſe ſoll das Schlachtfeld be¬
ſtimmen, wem Lavinia als Gattin folgen wird.“


Nun ließ Turnus, ins Innere der Burg zurückge¬
kehrt, ſeine ſchneeweißen, windſchnellen Roſſe vorführen,
wappnete ſich, ergriff die unbeſiegte Lanze und übte
[423] ſich mit rollenden Augen in ſpielendem Stoß. Auch
Aeneas, mit der Botſchaft des Rutulerfürſten zufrieden,
wappnete ſich mit ſeiner göttlichen Rüſtung. Kaum be¬
ſtrahlte der Tag die höchſten Gipfel der Berge mit
frühem Sonnenlichte, als ſchon Rutuler und Trojaner
vor den Mauern der mächtigen Latinerſtadt das Feld
für den Zweikampf ihrer Feldherrn abmaßen und in der
Mitte den gemeinſamen Göttern Raſenaltäre aufbauten.
Waſſer und Feuer zum Opfer, Kränze für die Prieſter,
Thiere und Altäre wurden herbeigebracht. Dann
ergoß ſich das geſammte Volk der Italer aus den Tho¬
ren der Stadt; von der andern Seite eilte das verbün¬
dete Heer der Trojaner und Etrusker herbei. Auf ein
gegebenes Zeichen zog ſich jeder auf ſeinen Platz zurück
und ein geräumiges Feld blieb zum Kampfe offen. Die
Krieger ſtießen ihre Spieße in die Erde und lehnten die
Schilde an. Aus der Stadt ſtrömte jetzt auch noch
unbewaffneter Pöbel heraus, ſelbſt ſchwache Mütter und
gebückte Greiſe. Innerhalb der Stadt beſetzten ſich
Thürme und Dächer mit Zuſchauern und auf den höch¬
ſten Thoren ſaßen der Schauluſtigen genug.


Jetzt nahten die Könige: Latinus kam auf einem
vierſpännigen Prunkwagen einhergefahren; von ſeiner
Stirne blitzte ein Diadem mit zwölf goldenen Strahlen,
zum Zeichen, daß er vom Sonnengotte abſtamme. Tur¬
nus erſchien mit einem Zwiegeſpann von weißen Roſſen,
zwei Wurfſpieße in der Hand ſchüttelnd. Auf der an¬
dern Seite eilte aus dem trojaniſchen Lager Aeneas her¬
vor, und ſeine Rüſtung ſamt Schild ſtrahlte wie Ster¬
nenſchimmer; an ſeiner Seite ging Askanius, ſein kräftig
[424] heranblühender Sohn. Dann brachte ein Prieſter in
reinem Gewande ein borſtiges Ferkel und ein langwol¬
liges Lamm, und ſtellte die Thiere an die brennenden
Altäre. Die Fürſten wandten ſich mit ihrem Angeſichte
der aufgegangenen Sonne zu, ſtreuten geſalzenes Mehl
auf die Opfer, ſchoren ihnen die Scheitel mit dem Stahle,
und goßen das Dankopfer auf die Altäre. Dann beſchworen
dort Aeneas, hier Latinus mit feierlichen Gebeten den Ver¬
trag: würde Aeneas beſiegt, ſo ſollten die Trojaner unter
Julus Latium auf der Stelle räumen, und nach Pallan¬
teum, der Stadt Evanders, ſich zurückziehen; wäre der Sieg
ſein, ſo ſollten ſich Italer und Trojaner, jedes Volk frei und
ſelbſtſtändig, vereinigen, Latinus herrſchen, Aeneas die
Tochter des Königs gewinnen und eine Stadt ſich und ſeinem
Volke bauen und nach ihrem Namen Lavinia nennen.


Den Rutulern erſchien längſt der Kampf als ein
ungleicher: ihre Herzen gährten ungeduldig, und der
Ausgang däuchte ihnen, bei des Aeneas überwiegender
Heldenkraft, ſehr unſicher. Ihre Sorge vermehrte ſich,
als ſie ihren Führer Turnus mit bleichem Antlitz und
eingefallenen Wangen ſchweigend vortreten und mit
geſenktem Haupte vor dem Altare ſtehen ſahen. Seiner
Schweſter Juturna entgingen dieſe Eindrücke nicht; ſie,
eine unſterbliche Nymphe, verwandelte ſich ſchnell in die
Geſtalt des Helden Camers, der durch mächtige Ahnen
und eigene Thaten in großem Anſehen bei dem Rutu¬
lervolke ſtand, und miſchte ſich mitten unter das Heer.
„Rutuler,“ flüſterte ſie da, „ſchämt ihr euch nicht, für
euch viele ſtreitbaren Männer, die ihr ſo gut kämpfen
könnet, nur eine einzige Seele dem Tode darzubieten?
Sind wir unſern Gegnern etwa an Kräften nicht
[425] gewachſen? Zählet einmal Trojaner, Arkadier und Etrus¬
ker: ihr werdet finden, daß, wenn wir uns Mann
gegen Mann ſchlagen wollten, kaum Jeder von uns
Rutulern und Latinern ſeinen Gegner finden würde!
Turnus freilich wird zu den Göttern, an deren Altar
er ſich weiht, ruhmvoll emporſteigen, wenn er fällt;
wir aber werden unſer Vaterland verlieren, um trotzigen
Zwingherren dienſtbar zu ſeyn: und es geſchieht uns
Recht; warum ſaßen wir auch unthätig hier im Graſe,
während wir hätten kämpfen können!“


So ſprach Juturna und ſie that noch mehr. Sie
ſchickte den Italern ein ſinnbethörendes, günſtiges Vor¬
zeichen vom Himmel. Ein Goldadler Jupiters ſchwebte
durch den lichten Aether, ſcheuchte das Ufergevögel des
Stromes auf, ſchwang ſich dann plötzlich zu den Wellen
hinab, und packte mit den Klauen den ſchönſten Schwan.
Die Rutuler ſahen ſtaunend zum Himmel auf, wo alle
die Vögel in einem luftverdunkelnden Schwarm, von
der Flucht umgewendet, plötzlich ihren Feind, den Adler,
der ſich mit ſeiner Beute dem Himmelsgewölbe zuſchwang,
verfolgten, bis dieſer durch die Uebermacht bezwungen,
und ſeine Laſt erſchöpft, den Raub aus den Klauen fahren
und in den Fluß fallen ließ, dann ſich wieder emporſchwang,
und in den Lüften verſchwand. Rutuler und Latiner begrü߬
ten dieſe Erſcheinung mit Freudengeſchrei, legten die Hand
an den Schwertgriff und lauſchten ihrem Seher Tolum¬
nius, der ihnen das Zeichen günſtig deutete, und ſie
zu den Waffen greifen hieß. Zugleich warf er ſelbſt zu¬
erſt ſein Geſchoß auf die gegenüberſtehenden Feinde, daß
es ziſchend die Luft durchfuhr. Ein Lärm erhob ſich,
Verwirrung kam in alle Reihen, alle Herzen geriethen
[426] in Aufruhr. Ihm gegenüber ſtanden nämlich neun ſchöne,
ſchlanke Brüder, Söhne des Arkadiers Gylippus und
einer einzigen edlen etruskiſchen Mutter. Einem von dieſen
ſtattlichen Jünglingen war der Speer des Tolumnius an
der Gürtelſchnalle mitten durch den Leib geflogen und hatte
ihn in den Sand hingeſtreckt. Die acht Brüder des
Gefallenen, von Schmerz um den Bruder entbrannt,
ſchwangen ihre Lanzen, zückten ihre Schwerter; gegen
ſie ſtürzte ſich die Macht der Rutuler. Nun brachen
alle Arkadier, Trojaner und Etrusker los. Die Altäre
wurden vom Gedränge zerwühlt, ein Sturm von Pfei¬
len durchlief die Luft, ein eiſerner Speerhagel ergoß ſich,
Latinus ſelbſt floh mit den Götterbildern, durch den
Bruch des Bündniſſes vertrieben; die Einen ſchirrten
ihre Wagen an, die andern ſchwangen ſich aufs Roß,
und andere ſtürzten ſich mit gezogenen Schwertern ins
Handgemenge. Ein fürchterliches Morden erhob ſich.


Aeneas aber ſtreckte die unbewehrte Rechte gen
Himmel, warf ſich unverhüllten Hauptes mitten unter die
Seinigen und rief: „Wo rennet ihr hin, Freunde, wel¬
che plötzliche Zwietracht hat ſich erhoben? Hemmt doch
eure Wuth; der Bund iſt ja geſchloſſen, die Bedingun¬
gen ſind feſtgeſetzt. Wer hindert uns Führer am Kampf?“
Aber indem er noch ſprach, ſchwirrte von unbekannter
Hand ein Pfeil daher, und verwundet mußte der Held
den Kampfplatz verlaſſen.


So wie Turnus ſah, daß Aeneas den Platz räumte,
und die Führer der Trojaner in Verwirrung geriethen,
verlangte er Pferde und Waffen, ſchwang ſich auf den
Wagen, lenkte die Zügel in die Schlacht, und richtete
mit ſeinen Speeren Verheerung unter den Feinden an,
[427] oder zermalmte ſie unter ſeinen Rädern. Während er
ſo auf dem Schlachtfelde Leichen auf Leichen häufte,
brachten Mneſtheus und Achates im Geleite des Aska¬
nius den verwundeten Aeneas ins Lager zurück, blutend
und Schritt für Schritt auf ſeinen Speer geſtützt. Ver¬
gebens ſtrengte er ſich an, den im Leibe haftenden Pfeil
am zerbrochenen Rohre herauszuziehen; er verlangte,
daß die Wunde ausgeſchnitten werde: Japis, der Arzt,
erſchien; auf ſeinen Speer geſtützt ſtand vor ihm der
Held, unbewegt unter ſeinen weinenden Genoſſen. Der
Alte aber, in der Heilkunſt wohlerfahren, brauchte kein
gewaltſames Mittel, ſondern ſuchte mit wirkſamen Heil¬
kräutern den Pfeil in der Wunde locker zu machen, faßte
das Eiſen mit packender Zange, rüttelte mit der Hand
an dem Rohr; doch alle ſeine Kunſt war nicht vermö¬
gend, das Geſchoß herauszuziehen. Und während er
ſich vergebens abmühte, ſah man ſchon die Staubwolke
der feindlichen Reiter, dichte Geſchoſſe fielen bereits ins
Lager und das Geſchrei der Kämpfenden näherte ſich.

Aeneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt.

Da erbarmte ſich Venus ihres gefährdeten Sohnes.
Sie pflückte auf dem Idagebirge der Inſel Aetna das
herrliche Kraut Diktamnum mit ſeinen ſaftigen Blättern
und purpurnen Blumen, brachte es, in eine dichte Wolke
gehüllt, ins Lager herbei, und träufelte von ſeinem Safte
heimlich und Allen ungeſehen in den Keſſel, in welchem
die Heilkräuter des Arztes brodelten, dazu miſchte ſie
[428] noch Tropfen Ambroſias und das duftende Panaceenkraut.
Japis ahnete hiervon nichts, aber als er noch einmal
die Wunde mit ſeinem Kräuterſafte wuſch, ſiehe da ent¬
floh plötzlich der Schmerz aus dem Leibe des Helden,
zu innerſt in der Wunde verſiegte das Blut; der
Pfeil folgte von ſelbſt und zwanglos der berührenden
Hand und fiel aus dem Leibe heraus. Sichtlich waren
dem geheilten Aeneas die Kräfte zurückgekehrt. „Was
zögert ihr?“ rief der Arzt ganz „ſchnell dem
Helden die Waffen gebracht! das iſt nicht aus menſch¬
licher Macht, nicht nach den Geſetzen der Heilkunſt er¬
folgt, das hat ein Größerer gethan, denn ich, und zu
größeren Thaten treibt er dich an, o König!“


Aeneas, nach Kampfe lechzend, legte ſchnell Schie¬
nen und Panzer an, zürnte allem Verzug und war froh,
als er endlich den Helm auf dem Haupte ſitzen hatte,
und den Speer in den Händen ſchwang. In voller
Waffenrüſtung umarmte er ſeinen Sohn Askanius, küßte
ihn ſtreifend durch das Helmgitter und ſprach: „Lerne
von mir die Tapferkeit, mein Kind, und die wahre Be¬
harrlichkeit, das Glück aber lerne von Andern!“ Dann
ſchritt die gewaltige Heldengeſtalt aus den Lagerthoren;
Antheus und Mneſtheus mit dichter Reiterſchaar dräng¬
ten ſich ihm nach; alles Volk ſtrömte aus dem Lager
und ein wolkiger Staub verkündigte dem Turnus die
Nahenden. Ein Schauder lief ihm durch Mark und
Beine. Auch ſeine Schweſter Juturna wandte ſich mit
ihm bebend vor Furcht, zur Flucht, und bald tobte der
Trojanerheld in der Schlacht wie eine Windsbraut. Da
fiel auch der Seher Tolumnius, der zuerſt das Geſchoß
in die Reihen der Feinde geſchleudert hatte.
[429] Die Halbgöttin Juturna aber ſtieß auf ihrer Flucht den
Metiskus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitze,
ſchwang ſich in ſeiner Geſtalt ſelbſt zum Bruder empor,
ergriff die Zügel, und ſchwirrte nun mit ihm wie eine
Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort
ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, ſo daß
Niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen
Wendungen verfolgte Aeneas den Flüchtigen, blieb ihm
unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zerſprengte
Geſchwader von Feinden aus der Ferne zum Kampf
herbei. So oft er aber nahe kam, drehte Juturna den
Wagen auf die Seite, und ermüdete durch ſeine Beu¬
gungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte
der Latiner Meſapus, der eben zwei Speere in der Lin¬
ken wiegte, herbei, und ſchleuderte einen davon mit
ſicherem Schwunge dem Trojaner entgegen. Aeneas
ſtand ſtille, ſammelte ſich in die Rüſtung und bückte ſich
ins Knie. Der Speer fuhr über ihn hin, doch ſo, daß
er ihm den Helmbuſch vom Scheitel ſtieß. Da rief
Aeneas die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes
auf und ſtürzte ſich zum ſchonungsloſen Morde tief unter
die Feinde.


Dann legte ihm ſeine Mutter Venus den Anſchlag
ins Herz, ohne Verzug ſeine Streitmacht ſeitwärts zu
wenden und die Latiner durch unerwartete Noth in Ver¬
wirrung zu ſetzen. Während er den dahin rollenden
Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel ſein Blick
auf die Mauern, und er ſah ſich die Stadt an, die
noch immer unberührt vom Kriege, verſchont und in
Ruhe dalag. Plötzlich rief er ſeine Helden Mneſtheus,
Sergeſtus und Sereſtus herbei und beſetzte die Höhen;
[430] das übrige Trojanerheer zog den Helden nach, und
drängte ſich, ohne Schilde und Lanzen niederzulegen,
in einem Kreis um ſeinen Führer.


Da ſtand nun Aeneas in der Mitte und ſprach von
einer Erhöhung herab: „Zögert nicht, meine Befehle zu
erfüllen. Jupiter ſteht auf unſerer Seite. Wenn die
Feinde ſich nicht heute unterwerfen, ſo ſtürze ich die
Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel
dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem
Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu beſtehen? Nein,
hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit
Fackeln herbei, mahnet ſie mit Flammen an ihr Bünd¬
niß!“ So ſprach er und ſein ganzes Heer bildete auf
der Stelle einen Keil und drängte ſich in dichter Maſſe
der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackel¬
brände leuchten, an den Thoren tobt der Sturm und
fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen ſtiegen über die
Mauern. Vor Allen im Heere hob Aeneas ſeine Rechte
hoch gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König
Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen
Bündniſſes an.


Unter den geängſteten Bürgern entſtand Zwietracht:
die Einen verlangten, man ſollte die Stadt den Troja¬
nern aufthun, die Thore entangeln, den König Latinus
ſelbſt zurückrufen und zum Abſchluſſe des Friedens zwin¬
gen: andere ſchleppten Waffen herbei und ſannen auf
die Vertheidigung der Mauern. Die Königin Amata,
als ſie vom Dache des Palaſtes aus den Feind heran¬
nahen ſah, die Mauern erſtürmt, Brände auf die Häu¬
ſer geworfen, nirgends den Turnus oder ſonſt ein
Rutulerheer den Feinden entgegengeſtellt: klagte ſich ſelbſt
[431] laut als die Urheberin alles dieſes Unheiles an, zerriß
ſich ihr Purpurgewand und erhenkte ſich am Deckenge¬
bälk ihres Frauengemachs. Als die Frauen der Latiner
dieſes Ende ihrer Herrin vernommen hatten, tönte ein
lautes Jammern aus den Gemächern. Lavinia, ihre
Tochter, raufte ſich die goldenen Locken aus und zerſchlug
ſich Bruſt und Wangen. Bald verbreitete ſich der Ruf
der Trauer durch die ganze Stadt; Latinus, der jam¬
mervolle Gatte, zerriß ſein Gewand und jammerte durch
den Palaſt, ſich ſelbſt anklagend, daß er den Trojaner
nicht ſogleich in die Stadt aufgenommen und ſich zum
Eidam auserkoren habe.

Turnus ſtellt ſich zum Zweikampf und erliegt.
Ende.

Turnus ſetzte indeſſen auf dem äuſſerſten Plane des
Schlachtfeldes noch wenigen Fliehenden nach, aber ſeine
Roſſe liefen allmählig langſamer und müder. Da ſcholl
ihm von Ferne aus der zerrütteten Stadt verworrenes
Geſchrei und Getöſe entgegen, und er fing an zu ahnen,
daß dort ſich ein großes Unglück ereignet haben müſſe.
Er fiel der Schweſter, die noch immer in Geſtalt des
Wagenlenkers Metiskus neben ihm im Wagen ſaß, in
die Zügel, zog ſie an und hielt in dumpfer Betäubung
die Roſſe zurück. Juturna aber ſprach ärgerlich zu
ihm: „Was beſinnſt du dich, Turnus, willſt du auf der
Bahn des Sieges ſtille ſtehen? Hier laß uns die Tro¬
janer verfolgen, für die Vertheidigung der Häuſer mögen
[432] Andere ſorgen!“ Turnus blickte ſie lange ſtaunend an
und ſprach: „So hab' ich mich doch nicht getäuſcht!
Mir war längſt, als wenn nicht mein Wagenlenker Me¬
tiskus mir zur Seite ſäße, ſondern, als wenn du es
wäreſt, geliebte Schweſter! Ja, ich habe dich ſchon er¬
kannt, als deine Liſt das Bündniß der Könige trennte!
Auch jetzt verbirgſt du dich mir umſonſt, o Göttliche!
Aber ſage mir, wer ſandte dich vom Olympus herab
und hieß dich um meinetwillen die Beſchwerden der
Sterblichen erdulden? Biſt du etwa dazu abgeſandt, den
Tod deines armen Bruders zu ſchauen? Denn habe ich
eine andere Ausſicht? Sah ich nicht die edelſten und
tapferſten Rutuler um mich her fallen? Nun muß ich
es auch noch mit anſehen, daß die Stadt erſtürmt und
verwüſtet wird! Und ich ſollte nicht mit meiner Fauſt
die Worte des neidiſchen Drances widerlegen, ſollte
ſchimpflich mich dem Kampfe entziehen? Und mein Land,
mein Volk ſollte den Turnus fliehen ſehen? Iſt denn
der Tod ſo etwas gar Unſeliges? Ihr Götter der Unter¬
welt, ſeyd Ihr mir wenigſtens geneigt, weil die Neigung
der Himmliſchen ſich von mir abkehrt! Vorwurfslos,
ein fleckenfreier Geiſt, will ich, des Ruhmes meiner Alt¬
vordern werth, zu euch hinunterſteigen!“


Kaum hatte er die Worte geſprochen, als mitten
durch die Feinde auf einem ſchäumenden Roſſe der Ru¬
tuler Saces, dem das Angeſicht von einem Pfeilwurfe
blutete, herangeſtürmt kam und den Turnus flehend beim
Namen rief: „Komm, Turnus, komm, du biſt unſere
letzte Hoffnung! Aeneas iſt in der Stadt, bedroht die
Burg; Feuerbrände fliegen nach den Häuſern: der König
zweifelt ſchon, wen er zum Eidam wählen ſoll; die
[433] Königin iſt durch eigene Hand gefallen, nur Meſſapus
und Atinas halten das Treffen noch an den Thoren auf.“
Turnus hielt die Roſſe wieder an und ſtarrte, zwiſchen
Schaam, Kummer, und raſende Liebe getheilt, in die
Weite mit den irren Blicken hinaus. Endlich rollten
ſeine Augen wieder in ihren Kreiſen und ſeine Blicke fielen
auf die Latinerſtadt. Siehe, dort wallte von Stockwerk zu
Stockwerk des höchſten hölzernen Mauerthurmes die Feuer¬
ſäule des Brandes empor, jenes Thurmes, den er ſelbſt
aus rieſigen Balken gezimmert, auf Räder geſetzt
und durch mächtige Zugbrücken mit der Stadt verbunden
hatte. „Jetzt, Schweſter,“ rief er, „jetzt beſiegt uns das
Glück; halte mich nicht länger auf; laß uns folgen,
wohin das ſtrenge Geſchick mich ruft! Ich bin ent¬
ſchloſſen mit Aeneas zu kämpfen; mag kommen, was da
will, ruhmlos ſollſt du mich nicht ſehen!“


So ſprach er, ſprang vom Wagen auf die Erde,
ſtürzte durch die Lanzen der Feinde dahin und durch¬
brach, die trauernde Schweſter zurücklaſſend, die
Schaaren der Trojaner. Wie ein Felsblock, vom Gipfel
des Gebirges losgeriſſen, in die Tiefe hinabrollt, vom
Boden emporhüpft, Wälder, Heerden und Männer im
Sturze mit ſich fortreißt: ſo ſtürmte Turnus durch die
zerſprengten Reitergeſchwader heran zu den Stadtmauern,
wo der Kampf am dichteſten war, winkte mit der Hand
und begann laut zu rufen: „Hört auf zu kämpfen, Ru¬
tuler! Hemmt eure Geſchoße, ihr Latiner! Mir allein
gebührt ſich, mit den Waffen über das Bündniß zu ent¬
ſcheiden!“ Als die Streitenden dieſes hörten, entſtand
eine Gaſſe, und Aeneas, der den Ruf des Turnus ver¬
nommen hatte, verließ die Höhen, brach jedes andere
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 28[434] Geſchäft ab, hüpfte vor Freuden auf und rauſchte in
den ſchallenden Waffen einher. Der greiſe Latinus ſelbſt
mußte ſtaunen, wie er die zwei gewaltigen Männer, aus
zwei verſchiedenen Welttheilen ſtammend, auf einander zu¬
ſchreiten ſah, um den Hader durch das Schwert zu ent¬
ſcheiden.


Jene beiden aber ſtürzten, wo von den zurückwei¬
chenden Streitern ein offener Platz im Gefilde gelaſſen
war, in reißendem Lauf hervor, warfen die Speere ge¬
geneinander und rannten dann mit Schild und Schwert
zum Kampfe an, daß der Grund erbebte. Nun folgte
Hieb auf Hieb; die Kämpfenden riefen Glück und
Tapferkeit zu Hülfe. Endlich ſtreckte ſich Turnus mit
ganzem Leibe hervor und langte zuverſichtlich, ſich bloß
gebend, zu einem entſcheidenden Schwertſtreiche aus.
Trojaner und Latiner, in banger Erwartung, ſchrieen
laut auf. Aber die treuloſe Klinge brach dem Rutuler
mitten im Hiebe, und gab ihn preis, wenn er nicht das
Heil in der Flucht ſuchte! Als er nämlich beim Wieder¬
ausbruche des Krieges den Streitwagen beſtieg, da hatte
Turnus in der Eile an der Stelle ſeines vom Vater
ererbten Wunderſchwertes die Klinge ſeines Wagenlen¬
kers Metiſkus ergriffen. Dieſe hielt ihm auch gut aus,
ſo lange er nur in den Rücken flüchtiger Trojaner ein¬
zuhauen hatte; aber ſie war eben doch nur ein menſchliches
Schwert, und als ſie auf der von dem Gotte Vulkanus
geſchmiedeten Wehr des Helden Aeneas aufzuſitzen kam,
brach ſie ihm wie mürbes Eiſen mitten im Streich ent¬
zwei und die Stücke lagen ſchimmernd im gelben Sande.


Nun warf ſich Turnus, unſicher kreiſend, bald da,
bald dorthin auf die Flucht, doch konnte er nicht entrin¬
[435] nen, denn auf zwei Seiten umſchloßen ihn die Trojaner
in dichtem Gedränge, auf der dritten hemmte ſeinen Lauf
ein Sumpf, und auf der vierten, hinter Latinern und
Rutulern, erhoben ſich zugangslos die Mauern der
Stadt. Auch verfolgte den Fliehenden, obgleich noch
von der alten Pfeilwunde entkräftet und im Laufe ſelbſt
ermüdet, Aeneas und bedrängte mit dem Fuße den Fuß
des Bebenden. Jetzt erſt entſtand unter den zuſchauen¬
den Heeren ein rechtes Geſchrei, Ufer und Hügel umher
erſchollen und donnernd ſtieg der Ruf zum Himmelsge¬
wölbe empor. Auf der Flucht rief der geängſtete Turnus
dieſem und jenem Rutuler mit Namen zu und verlangte
ſein eigenes Kampfſchwert. Aeneas aber bedrohte Jeden,
der ihm nahen würde, mit unausbleiblichem Verderben,
und ſchreckte mit der Drohung, ſich auf die Stadt zu
werfen und ſie zu zerſtören, alle Herannahenden zurück.


So durchkreiſten ſie die Bahn fünfmal, denn es
galt kein Spiel und keinen geringen Kampfpreis. In
einem wilden Oelbaume, der ſich in mitten des Kampf¬
platzes befand, und dem Faunus geweiht war, dem die
glücklich gelandeten Schiffer hier Weihgeſchenke aufzu¬
hängen pflegten, ſteckte der Speer des Aeneas vom erſten
Kampfwurfe her und hatte ſich in der Wurzel des Bau¬
mes gefangen. Beim Vorübereilen kam dem trojaniſchen
Helden der Gedanke, ſeinen Speer herauszuziehen und
dem Feind, den er im Laufe nicht einzuholen vermochte,
mit der Lanze zu verfolgen. Außer ſich vor Schrecken
ſah dieß Turnus und richtete ſein Gebet an den ein¬
heimiſchen Gott Faunus mit den Worten: „O Faun
und gütige Göttin des italiſchen Bodens, wenn ich euch
immer die ſchuldigen Ehren erwieſen habe, erbarmt euch
28 *[436] meiner jetzt, haltet den Speer des Gegners feſt!“ Die Lan¬
desgötter hörten den Flehenden, und Aeneas bemühte ſich
vergebens, die Lanze aus dem feſtzuſammenhaltenden Holze
des zähen Stammes herauszuziehen. Während ſich nun der
Held hitzig anſtemmte und abquälte, rannte die Schweſter des
Turnus, die Nymphe Juturna, wieder in die Geſtalt ſeines
Wagenlenkers Metiſkus verwandelt, vor und händigte
ihrem Bruder ſein rechtes, gefeietes Schwert ein. Ve¬
nus aber, entrüſtet, daß einer gewöhnlichen Nymphe
ein ſo kühnes Werk erlaubt ſeyn ſollte, trat auch herbei
und half dem Aeneas den Speer aus der tiefen Wurzel
hervorziehen.


Nun waren beide Kämpfer mit friſchen Waffen ver¬
ſehen und von neuem Muthe beſeelt; beide richteten ſich
in die Höhe, der eine ſchwang ſein Schwert, der andere
bäumte ſich mit dem Speer, und ſo ſtanden ſie mit flie¬
gendem Athem einander zum letzten Kampfe gegenüber.
Da ſprach Jupiter, der aus dem goldenen Gewölke des
Olymp dem Streite zuſah, zu ſeiner Gemahlin Juno:
„Endigen wir endlich dieſen Krieg! Du weißeſt und be¬
kenneſt es ja ſelbſt, daß Aeneas vom Geſchicke dem Him¬
mel beſtimmt ſey! Wozu ſteifeſt du nun ſeinen Feind
und gibſt ihm durch Juturna ſein Schwert wieder
in die Hand? Du haſt die Trojaner über Land
und Meer verfolgt, den Krieg entzündet, den Palaſt in
Trauer verſenkt, das Brautfeſt durch Jammer geſtört.
Weitere Verſuche verbiet' ich dir!“ Juno antwortete dem
zürnenden Gemahl mit geſenktem Antlitz: „Wider Wil¬
len habe ich, weil dein Befehl mir heilig war, die Erde
und den Turnus verlaſſen. Hätte ich dir nicht gehor¬
chen wollen, ſo würdeſt du mich jetzt nicht hier in den
[437] Wolken das Unrecht erdulden ſehen, ſondern ich ſtände,
mit Flammen umgürtet, vorn im Trojanertreffen. Daß
ich der Nymphe Juturna gerathen, in der Noth ihrem
Bruder beizuſtehen, iſt wahr; aber daß ſie ohne mein
Zuthun dem Bruder das Schwert gereicht, das ſchwöre
ich dir beim Styx! Auch will ich mich des Kampfes
gar nicht mehr annehmen, und bitte dich nur um Eines:
Wenn Turnus erlegen iſt und Aeneas die Königstoch¬
ter heimführt: zwinge die Latiner nicht, ihren alten
Volksnamen aufzugeben und ſich Trojaner zu nennen,
zwinge ſie nicht, ihre Sprache zu vertauſchen, nicht,
fremde Gewande, Sitten und Gebräuche anzunehmen,
laß ſie das Volk bleiben, das ſie geweſen ſind, laß auch
den Römerſtamm aus italiſcher Wurzel emporwachſen!
Troja aber ſey und bleibe gefallen mit ſamt ſeinem Namen!“


Lächelnd erwiederte der Göttervater ſeiner Gemah¬
lin: „Kind des Saturnus, geliebte Schweſter, was für
Zorneswellen wälzeſt du noch in deinem Innern? Be¬
zähme doch deinen vergeblichen Groll. Was du begeh¬
reſt ſoll dir ja gewährt ſeyn. Latium ſoll Sprache,
Sitten und Namen beibehalten. Der Trojaner ſoll ſich
mit dem Volke verſchmelzen und nur ſo ſich anſiedeln;
er ſoll die Opfergebräuche des Landes annehmen, er ſoll
ganz zum Latiner werden. Die Römer, das neue Ge¬
ſchlecht, das aus dem vermählten Blute der Italer und
Teukrer entſtehen wird, ſollen das Volk ſeyn, das dir,
o Juno, die meiſte Ehre erweiſen wird!“ Die Göttin
nickte dem Gemahl freudig zu, und änderte, zufriedenge¬
ſtellt, ihre Geſinnung.


Nun dachte Jupiter darauf, die Schweſter des
Turnus aus dem Kampfe zu entfernen. Drei Zwillings¬
[438] kinder, Töchter der Rache, mit Schlangengürteln und
Windesflügeln, Diren genannt, ſtehen immer vor Jupi¬
ters Throne bereit, und werden von ihm zu den Sterb¬
lichen hinabgeſandt, wenn er Seuchen, Krieg und andere
Todesnoth unter ihnen erregen will. Eine von dieſen
ſchickte Jupiter vom Aether herab, und befahl ihr, der
Nymphe als ein unheilbringendes Zeichen zu begegnen.
Die Dire flog zur Erde hinab, wie ein Pfeil, und ſo¬
bald ſie die beiden feindlichen Heere erblickte, zog ſie ſich
ſchnell in die Geſtalt eines kleinen Käuzchens zuſammen,
wie es als Unglücksvogel auf Scheiterhaufen oder ver¬
laſſenen Häuſergiebeln zu ſitzen pflegt. In dieſer Geſtalt um¬
flatterte die Dire das Angeſicht des Turnus, kreiſte her¬
nieder zu ſeinem Schild und ſchlug auch dieſen mit den
Fittigen. Dem kämpfenden Helden ſträubte ſich das
Haupthaar und ſeine Glieder erſtarrten bei dieſem un¬
heilvollen Anblicke. Juturna aber raufte ſich das Haar
aus und ſchlug ſich an die Bruſt, denn ſie erkannte die
Uebermacht Jupiters und fluchte ihrer eigenen Unſterb¬
lichkeit. Sie bedeckte ſich den Leib mit dem grünen Flu¬
thengewande und tauchte verzweifelnd in den nahen Ti¬
berſtrom unter.


Aeneas drang jetzt heran, ſchüttelte ſeinen baum¬
langen Speer voll Wuth und rief dem Gegner zu:
„Was zögerſt du noch Turnus, was ſträubeſt du dich
länger? Nicht zum Wettkampfe haben wir uns vereinigt,
ſondern zum Waffenkampf! Sammle jetzt, was du von
Kunſt und Muth beſitzeſt!“ Turnus ſchüttelte das Haupt
und entgegnete: „Nicht deine hitzigen Worte ſchrecken
mich, du Trotziger: mich ſchreckt das Götterzeichen und
die Feindſchaft Jupiters!“ Mehr ſprach er nicht, ſondern
[439] faßte einen gewaltigen Stein ins Auge, der neben ihm
im Felde lag, und einen Markſtein vorſtellte. Zwölf
Männer, wie ſie jetzt ſind, würden ihn kaum auf den
Nacken heben können. Dieſen faßte der Rutulerheld mit
der Hand, richtete ſich empor und wollte ihn im
Laufe gegen den Feind ſchleudern. Aber er kannte ſich
ſelbſt nicht mehr, denn er fühlte ſeine Arme kraftlos,
ſeine Kniee ſchlottern, ſein Blut zu Eis erſtarren. Der
Felſenſtein, durch die leere Luft gewirbelt, erreichte ſein
Ziel gar nicht, er ſank entkräftet auf den Boden, wie
man oft im Traume einen Anlauf nimmt, und doch nicht
gehen und nicht ſprechen kann. Turnus wandte ſich
unwillkührlich zur Flucht um, und ſäumte, die Rutuler
und die Mauern der Stadt vor ſich erblickend, in ver¬
zagender Angſt, und den Speerwurf des Feindes erwar¬
tend. Vergebens ſah er ſich nach ſeinem Wagen, ver¬
gebens nach der leitenden Schweſter um.


Auch zauderte der Trojaner nicht und ſchleuderte
aus Leibeskräften die Todeslanze, die wie ein Felsſtück
vom Geſchütze abgeſendet, oder wie ein Blitzſtrahl daher¬
geſauſt kam. Durch Schildrand und Panzer fuhr ſie
dem Feind in die Hüfte, und getroffen vom Stoße ſank
der gewaltige Turnus zuſammenbrechend ins Knie.


Die Rutuler ächzten laut auf, daß die hohe Wal¬
dung umher wiederhallte. Turnus lag gedemüthigt auf
dem Boden, ſtreckte flehend ſeine Rechte zu dem Sieger
empor und ſprach: „Ich hab' es ſo verdient; ich ver¬
lange keine Schonung für mich; brauche dein Glück!
Aber wenn der Jammer meines Vaters dich zu rühren
vermag — er iſt mir, was dir Anchiſes war — ſo er¬
barme dich des greiſen Daunus. Gieb mich — oder,
[440] willſt du dieſes nicht, ſo gieb meinen entſeelten Leib den
Meinigen zurück! Ich gebe mich ja beſiegt; Lavinia ſey
dein; ſetze deinem Haß ein Ziel!“


Aeneas ſtand ausholend zum Streich, ſeine Blicke roll¬
ten über den Liegenden hin, doch hielt er die bewehrte Rechte
zurück; und ſchon wollte ſeine Seele ſich zum Mitleid
kehren, als er zum Unheil des Beſiegten hoch an deſſen
Schulter das Wehrgehenk des arkadiſchen Fürſtenſohnes
Pallas erblickte, des holden Jünglings, den Turnus er¬
ſchlagen hatte. Da entbrannte ſein Schmerz und Zorn
aufs neue, und ſchrecklich im Grimme rief er: „Wie?
du, den der Raub der Meinigen ſchmückt, ſollteſt mir
entrinnen? Pallas, Pallas opfert dich mit dieſem Stoß,
und nimmt Rache an dem verfluchten Blut!“ So ſprach
Aeneas, und tauchte ſtürmiſch ſein Schwert in die ihm
entgegengeſtreckte Bruſt des Feindes. Turnus ſank zu
Boden; Kälte durchrieſelte ihm die Glieder, und unwillig
floh ſein Schatten aus dem erſtarrenden Leibe hinab
zur Unterwelt.

[][][]
Notes
*)

Vergl. B. 1. S. 329.
*)

B. II. S. 44.
*)

S. Bd. II. S. 421—422.
*)

S. Bd. II. S. 75–84.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Schwab, Gustav. Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp94.0