und
vermiſchte Schriften
In demſelben Verlage ſind erſchienen:
Bauernfeld, Theater. 1r und 2r Bd. Inhalt: die Bekennt¬
niſſe. — Franz Walter. — Helene. — Der Zauberdrache. 1835
und 1836. 8. br. 3 Thlr.
Bechſtein, L., die Reiſetage. Aus meinem Leben. 2 Theile,
1836. 8. br. 2Thlr. 16 gr.
Erlach, Freih. K. von, die Volkslieder der Deutſchen. Eine voll¬
ſtaͤndige Sammlung derſelben von der Mitte des fuͤnfzehnten
bis in die erſte Haͤlfte des neunzehnten Jahrhunderts. Fuͤnf
Baͤnde. gr. 8. 1834–36. 8 Thlr. 8 gr.
Geib, K., die Sagen und Geſchichten des Rheinlandes. In um¬
faſſender Auswahl geſammelt und bearbeitet. 1836. gr. 8. cart.
2 Thlr.
Guttenſtein, D. B. F., Geſchichte des ſpaniſchen Volkes. In ge¬
draͤngter Ueberſicht dargeſtellt, 1r Bd. 1836. br. 1 Thlr. 6 gr.
Hamilton, Oberſt, die Menſchen und die Sitten in den vereinig¬
ten Staaten von Nordamerika. Zwei Theile in einem Band.
1834. gr. 8. 1 Thlr. 12 gr.
Laube, H., Moderne Charakteriſtiken. 2 Theile. 1835. 8. 3 Thlr.
— Reiſenovellen, 1r 2r Bd. 1835. 8. br. 4 Thlr.
— Reiſenovellen. 3r 4r Bd. 1836. 8. br. 3 Thlr.
— Liebesbriefe. 1836. 8. br. 1 Thlr.
— die Poeten. Novelle. 8. broſchirt. 1 Thlr. 12 gr.
— die Schauſpielerin. Novelle. 1836. 8. 1 Thlr. 4 gr.
Le Petit, Sittengallerie der Nationen. Das Buch der Voͤlker
in Bildern und Vignetten. 1836. gr. 8. cart. 1 Thlr. 12 gr.
Lewald, A., Aquarelle aus dem Leben. 4 Theile. 1836 und 1837.
6 Thlr.
Saintine, der Verſtuͤmmelte. Aus dem Franzoͤſiſchen nach der
4ten Auflage. 1835. gr. 12. 18 gr.
Schuͤtt, Ado, Pſyche. Epiſches Gedicht in drei Geſaͤngen. 1836.
8. cart. 1 Thlr. 8 gr.
Zinkgref’s, J. W., ſcharfſinnige Spruͤche der Deutſchen, Apoph¬
thegmata genannt. In einer umfaſſenden Auswahl heraus¬
gegeben von D. B. F. Guttenſtein. 1835. gr. 8. 1 Thlr.
und
vermiſchte Schriften
: Verlag von Heinrich Hoff.
1837.
Druck von Hoff \& Heuſer in Mannheim.
Inhalt des erſten Bandes.
Biographiſches.
- Denkwuͤrdigkeiten Juſtus Erich Bollmanns 1
- Zum Andenken Friedrich Auguſt Wolf’s 136
- Graf Schlabrendorf, amtlos Staatsmann, heimathfremd
Buͤrger, beguͤtert arm 142 - Kaiſer Alexander von Rußland 198
- Denkwuͤrdigkeiten des Philoſophen und Arztes Johann Ben¬
jamin Erhard 204 - Friedrich Wilhelm Meyern 304
- Ludwig Achim von Arnim 313
- Wilhelm Nolte, koͤniglicher wirklicher Oberkonſiſtorialrath 319
- Ludwig Robert 327
- Wilhelm Neumann 345
- Chriſtian Guͤnther, Graf zu Bernſtorff 358
- Angelus Sileſius 397
- Saint-Martin 404
[VI]
Goethe.
- „Im Sinne der Wanderer“ 413
- Beſuch bei Goethe 426
- Rameau 432
- Werther's fuͤnfzigjaͤhriges Jubilaͤum 440
- Goethe's natuͤrliche Tochter. — Madame Guachet 444
- Fraͤulein von Klettenberg 456
- Briefwechſel zwiſchen Goethe und Schultz 463
- Geſpraͤche mit Goethe in den letzten Jahren ſeines Lebens.
Von Johann Peter Eckermann 472 - „L'amour est un vrai recommenceur“ 499
- Frauen in Mannskleidern 503
Biographiſches.
[][[1]]Denkwuͤrdigkeiten
Juſtus Erich Bollmanns.
I.
Wir nennen hier einen Namen, der dem groͤßten Theil
unſrer Leſer, und beſonders den juͤngern, unbekannt
klingen wird. Doch iſt er einſt laut genug erſchollen,
und hat ſeinen Tag erlebt, der ihn fuͤr Europa und
Amerika zum Gegenſtande der aufgeregteſten Theilnahme
machte. In den Schriften der Frau von Staël, in
den Denkwuͤrdigkeiten des Generals Lafayette, iſt er
ehrenvoll aufgezeichnet. Aber auch nach der augenblick¬
lichen Beruͤhmtheit, welche die unternommene Befreiung
Lafayette's aus dem Staatsgefaͤngniſſe zu Olmuͤtz ihm
gab, hatte Bollmann fernerhin merkwuͤrdige Schickſale,
wirkte mit großartiger Thaͤtigkeit in bedeutenden Ver¬
haͤltniſſen, und ſein ſpaͤteres, wenn gleich ſtilleres und
minder beſprochenes Leben geſtaltete ſich nicht weniger
betrachtungswerth, als das fruͤhere jugendliche. Durch
den Reiz ſeiner Sinnesart und ſeines Geſchickes, durch
die Richtung ſeiner Kenntniſſe und den Umfang ſeiner
1[2] Verbindungen, ſtellt er eines der ausgezeichnetſten Le¬
bensbilder dar, welche ſein Zeitalter aus deutſcher Hei¬
math in auswaͤrtigen Stroͤmungen zur Erſcheinung
kommen ließ.
Das die Welt bewegende Ereigniß am Schluſſe des
achtzehnten Jahrhunderts war die franzoͤſiſche Revolution.
Alle Staaten und Voͤlker empfanden dieſe Bewegung,
an welcher uͤberall die regſameren Geiſter Theil nahmen,
als waͤre ſie eine auch ihnen heimiſche Angelegenheit.
Deutſche Kraͤfte ſind zahlreich eingeſtroͤmt in jene nach¬
barlichen Bahnen, und durch wirkſames Handeln wie
durch geiſtiges Ausbilden, ſowohl foͤrderlich als gegneriſch,
haben wir von Anfang einen bedeutenden Beitrag zu den
Kaͤmpfen und Entwickelungen geliefert, welche ſpaͤter
allerdings im vollſten Sinne auch die unſrigen werden
mußten. Allein die Verflechtung deutſcher Geſinnungen
und Schickſale in den Lauf der franzoͤſiſchen Revolution
behielt faſt immer eine beſondere Eigenthuͤmlichkeit, in
welcher die Merkmale des Urſprungs unverkennbar blie¬
ben, und hieraus entſteht fuͤr jene Bezuͤge ein eigner
Reiz, der uns wohl auffordern duͤrfte, ſie naͤher zu be¬
trachten und zu behandeln. Wir haben ihnen aber bisher
nur wenige Aufmerkſamkeit gewidmet. Die Geſchicht¬
ſchreibung des Tages ſucht ſich der großen Begeben¬
heiten und Wandlungen, ſo gut ſie kann, zu bemaͤchti¬
gen, die perſoͤnlichen vernachlaͤſſigt ſie, oder weiß ſie
nicht aufzufinden. Doch liegt in dieſen letztern nicht
[3] ſelten ein naͤherer Aufſchluß fuͤr jene, und immer eine
Fuͤlle von Farben und Lichtern, ohne welche die allge¬
meinen Schilderungen kalt und leblos bleiben. Eine
genauere Ueberſicht der Verhaͤltniſſe, die ſich aus der
Wechſelwirkung deutſcher Einfluͤſſe in Frankreich und
franzoͤſiſcher in Deutſchland ergeben haben, wuͤrde die
fruchtbarſten Betrachtungen hervorrufen. Allein faſt alles
fehlt uns dazu. Ueber Georg Forſter, Schlabrendorf
und Oelsner ſind einige ſchaͤtzbare Nachrichten mitge¬
theilt worden, die jedoch nur den Wunſch nach voll¬
ſtaͤndigern wecken. Von andern bedeutenden Namen
wiſſen wir faſt nichts, als was die franzoͤſiſchen Erzaͤh¬
lungen daruͤber im Vorbeigehen abwerfen. Eine lebendige
Darſtellung der deutſchen Revolutionsverſuche in Mainz
und Koblenz mangelt noch ganz, und doch koͤnnte das
treue Bild dieſer Vorgaͤnge wirkſamer, als manches
andre Mittel, fuͤr die Gegenwart zur Lehre dienen.
Die franzoͤſiſche Revolution, in ihrem zerſtoͤrenden
Fortgange, verbrauchte und zerbrach ſehr ſchnell ihre
eignen Werkzeuge, nur die geſchmeidigſten und wandel¬
barſten durchdauerten den Wechſel der ſtuͤrmiſchen Ent¬
wickelungen. In demſelben Maße, wie ſich in Frank¬
reich die Meinungen und Anſichten veraͤnderten, geſchah
dies auch in Deutſchland. Jede ſpaͤtere Geſtalt der Re¬
volution buͤßte einen Theil der Anhaͤnger ein, welche
die fruͤhere gewonnen hatte. Gentz und Stolberg ſagten
ſich ſchon bei den fruͤheſten Wendungen los, Klopſtock
1*[4] und Buͤrger wurden erſt durch die Graͤuel der Jako¬
binergewalt zuruͤckgeſchreckt, Fichte'n machte Napoleons
unterdruͤckende Eroberung zum Gegner; wir nennen die
Schriftſteller, weil durch ihre bekannte Namen und Bei¬
ſpiele am leichteſten ganze Klaſſen bezeichnet werden.
So ließ die in raſchen Verwandlungen ſtets wachſende
Bewegung keinen Augenblick nach, ihre deutſchen An¬
haͤnger abzuſtoßen und zu verlieren, bis endlich ſelbſt
die hartnaͤckigſten bekehrt oder erſchoͤpft waren. Nicht
gerade die beſſere Geſinnung und reifere Einſicht beding¬
ten jedesmal das fruͤhere Loslaſſen; die perſoͤnlichen Ein¬
fluͤſſe, Lagen, Ausſichten und Erfahrungen wirkten auf
die mannigfachſten Gemuͤthsarten, wie auf die uͤber¬
kommenen und gewaͤhlten Denkweiſen, ſehr verſchieden
ein. Die wunderbarſten Wahlverwandtſchaften wurden
wach, die groͤßten Widerſpruͤche hielten ſich eng ver¬
knuͤpft, und der innerſte Antrieb verbarg ſich unter den
raͤthſelhafteſten Erſcheinungen. Merkwuͤrdig iſt es, in
dieſem vielverſchlungenen Gemiſch und Wechſel die Haupt¬
zuͤge des deutſchen Karakters im Weſentlichen faſt immer
verfolgen und faſt als unzerſtoͤrbar nachweiſen zu koͤnnen,
woraus auch den truͤbſten Verirrungen noch ein leuch¬
tender Funken bleibt, dem die reinſte Theilnahme ſich
widmen kann.
Dieſe Theilnahme wird unſtreitig auch dem Manne
nicht fehlen, mit welchem die nachfolgenden Denkblaͤtter
ſich beſchaͤftigen. Wir haben die eignen Briefſchaften
[5] deſſelben, fuͤr deren Darbietung wir manchen Dank er¬
warten, aus muͤndlicher Mittheilung und eigner Kennt¬
niß zu vervollſtaͤndigen geſucht, ohne deßhalb den An¬
ſpruch zu machen, das hier unvermeidliche aber auch
genuͤgende Fragmentariſche zur eigentlichen Lebensbe¬
ſchreibung zu erheben.
II.
Juſtus Erich Bollmann wurde geboren im Jahre
1769 zu Hoya im Hannoͤver'ſchen, wo ſeine Eltern in
geachteten und wohlhabenden Verhaͤltniſſen lebten. Er
zeichnete ſich fruͤh durch Faſſungskraft und Lebhaftigkeit
aus; mit friſchem Geiſtesmuthe verband er koͤrperliche
Geſundheit und Ruͤſtigkeit, er galt fuͤr einen kraͤftig¬
ſchoͤnen Knaben, und man zweifelte nicht, daß er in
der Welt ſein Gluͤck machen wuͤrde. Zu den Studien
beſtimmt, ließ er es an ſtrengem Fleiß nicht fehlen,
und bemaͤchtigte ſich leicht und gruͤndlich der Kenntniſſe,
die ihm dargeboten wurden. Seine Einbildungskraft
aber war nicht hervorbringend; in den Werken der Dich¬
ter ſuchte er weniger ihre Geſtalten, als einen allge¬
meinen Reiz und Schwung fuͤr unbeſtimmtes Große
und Schoͤne. Mit dieſer Richtung jedoch verband er
thatfertige Einſicht und feſte Beſonnenheit, ſobald es
Verhaͤltniſſe der Wirklichkeit zu behandeln gab. Aus
dieſen Eigenſchaften, deren Verknuͤpfung faſt immer zu
[6] bedeutenden Ergebniſſen fuͤhrt, beſtimmten ſich fruͤh ſein
Karakter und ſeine Schickſale. Die Umſtaͤnde trugen
dazu bei, ſeine Eigenheiten noch ſchaͤrfer auszubilden.
Die Familie war zahlreich, und es galt als erwuͤnſchte
Erleichterung des Hauſes, daß angeſehene und freund¬
liche Verwandte im ſuͤdlichen Deutſchland ſich erboten,
einen der Soͤhne zu fernerer Fuͤrſorge und Ausbildung
bei ſich aufzunehmen. Juſtus Erich wurde hiezu erſehen,
und kam in das Haus ſeines Vetters, des badiſchen
Staatsraths Brauer, nach Karlsruhe. Er fand hier
anmuthige, dem norddeutſchen Juͤnglinge beſonders zu¬
ſagende Lebensverhaͤltniſſe, in welchen neben ſtrenger
Ehrbarkeit und Ordnung eine freimuͤthige Sinnesart
gedeihen konnte. Beſonders wichtig wurde ihm auch
das Haus des beruͤhmten Lehrers der Staatswirthſchaft
und Gewerbkunde, des Hofraths Boͤckmann, der ihm
gleichfalls verwandt war, und durch deſſen Unterricht
und Verkehr in ihm fruͤhzeitig die Neigung zu dieſen
wichtigen Faͤchern geweckt wurde. Die Kenntniſſe und
Fertigkeiten, deren er ſich in dieſer Richtung hier ohne
Muͤhe bemaͤchtigen konnte, und fuͤr welche das nahe
Murgthal mit ſeiner vielartigen Betriebſamkeit den Reiz
noch erhoͤhen mußte, fingen ſchon damals an, mit ſeinen
aͤrztlichen Studien, fuͤr welche er ſich entſchieden hatte,
zu wetteifern. Er legte aber auch in dieſen letztern
ſchon hier einen vortrefflichen Grund, und bezog darauf,
wohlvorbereitet, die Univerſitaͤt Goͤttingen.
[7]
Unter den jungen Maͤnnern, mit welchen er hier
Freundſchaft knuͤpfte, waren manche, deren Namen nach¬
her beruͤhmt geworden. Eine hoͤhere Gedankenrichtung
im Betrachten der Natur und des Lebens, und ein
kuͤhnerer Drang, die Welt im Großen anzuſchauen,
vereinigte ihn mit dem Arzte und Naturforſcher Link,
der bald nachher als oͤffentlicher Lehrer nach Roſtock
berufen wurde. Vorzuͤglich aber ſchloſſen ſich an Boll¬
mann mehrere junge Englaͤnder innigſt an; ſie ſchienen
in ſeinem Weſen alle Vorzuͤge des engliſchen Karakters
wiederzufinden, ohne den Stolz und die Schroffheit
deſſelben. In der That hatte er fruͤhzeitig eine ſtarke
Hinneigung zu der engliſchen Sinnes- und Handlungs¬
weiſe, und befeſtigte ſich leicht in den Anſichten, welche
ihm daher uͤberkamen. Fuͤr engliſche Sprache und Litera¬
tur war ſeine Vorliebe ſchon hier entſchieden.
Nachdem er in Goͤttingen die Wuͤrde eines Doktors
der Arzneiwiſſenſchaft empfangen, begab er ſich im Herbſt
1791 nach Mainz, wo er den Unterricht des beruͤhmten
Arztes Hofmann und des großen Anatomen Soͤmmering
benutzte. Er kam hier auch mit dem Weltumſegler
Georg Forſter, der als Bibliothekar und Profeſſor in
Mainz angeſtellt war, und mit dem liebenswuͤrdigen
Schriftſteller Huber, der daſelbſt als ſaͤchſiſcher Diplo¬
mat lebte, in vertraute Bekanntſchaft, und nahm an
dem Gegenſtande, der dieſe beiden Maͤnner begeiſterte
und bald ausſchließlich beſchaͤftigte, den regſten Antheil.
[8] Die franzoͤſiſche Revolution ſchien eine Verkuͤndigung
an das ganze Menſchengeſchlecht, und ihre Bewegungen
ſchritten wie im Innern ſo auch nach außen unauf¬
haltſam vorwaͤrts. Bollmann hegte zwar gemaͤßigtere
Denkart als ſeine neuen Freunde, und verwarf man¬
ches, was ſie billigten, allein im Allgemeinen ſtimmte
er den Wuͤnſchen und Beſtrebungen der Freiheitsfreunde
eifrigſt bei, und die Gluth ſeiner edlen Geſinnungen
ſetzte bereitwillig eben ſolche uͤberall voraus, wo nur
eine Staͤtte dafuͤr moͤglich ſchien.
Er begab ſich von Mainz wieder nach Karlsruhe,
wo er im Kreiſe ſeiner Verwandten und Freunde einige
Zeit angenehm verlebte. Doch gab er ſich, bei dem
Mangel eingreifender Vorgaͤnge und anziehender Be¬
ſchaͤftigung, allzuſehr den Zerſtreuungen jugendlichen
Umgangs hin. Er gefiel auch beſonders den Frauen,
und ſeine aufgereizte Eitelkeit konnte ihn leicht auf Ab¬
wege fuͤhren. Allein der romantiſche Schwung, welchen
ſeine Lebensvorſaͤtze genommen hatten, und die ſittlichen
Anſpruͤche, die er an ſich ſelbſt machte, bewahrten ihn
vor groͤßeren Verirrungen. Eine verheirathete Frau
verliebte ſich in ihn, und wußte durch ihre Leidenſchaft
ihn ſo weit zu gewinnen, daß er ſich von dem ſchmei¬
chelhaften Wohlgefallen einige Zeit befangen ließ; als
aber dieſer Austauſch von Empfindung und Vertrauen
fuͤr die beſtehenden Verhaͤltniſſe wirklich ſtoͤrend zu wer¬
den drohte, erwachte in Bollmann der Stolz ſeiner
[9] Grundſaͤtze, und er wandte die Macht, welche er aus¬
uͤbte, mit Erfolg dazu an, die Frau zu ihrem Gatten
zuruͤckzuleiten. Er glaubte, wie er ſelbſt nachher ſagte,
recht weiſe zu thun, als er nach vielen ſchoͤnen Reden
es dahin brachte, ſie ihrem Manne in Thraͤnen ſchwim¬
mend in die Arme zu werfen. Auf ſolche Weiſe mit
Selbſtverlaͤugnung Handlungen des Edelſinns und der
Großmuth auszuuͤben, war tief in ſeinem Karakter be¬
gruͤndet, in welchem lebhafte Reizbarkeit und ernſte
Ueberlegung ſich gegenſeitig nicht unterdruͤckten. Seine
ſpaͤteren Handlungen, Unfaͤlle und Erfolge, laſſen ſich
alle aus dieſer Miſchung ableiten.
Inzwiſchen war ihm durch dieſe und andre Mi߬
verhaͤltniſſe, welche in dem kleinen Kreiſe gar leicht ent¬
ſtanden und gewichtig wurden, der Aufenthalt in Karls¬
ruhe verleidet. Zudem war es Zeit, daß er ſeiner Be¬
ſtimmung folgte und in der großen Welt ſich eine Lauf¬
bahn waͤhlte. Der naͤchſte Blick mußte natuͤrlich auf
Frankreich und deſſen Hauptſtadt gerichtet ſein, wo von
jeher fuͤr deutſche Aerzte ein guͤnſtiger Boden war, und
obgleich Bollmann durch den Gang, welchen die fran¬
zoͤſiſche Revolution in der damaligen Zeit genommen,
laͤngſt nicht mehr angezogen war, vielmehr gegen die
dort herrſchende Tagesgewalt eine entſchiedene Abnei¬
gung fuͤhlte, ſo war doch das Verlangen, ſich in dieſer
großen Welt umzuſehen und die Gelegenheit des Wir¬
kens und des Gluͤcks aufzuſuchen, fuͤr ihn um ſo be¬
[10] ſtimmender, als auch die Seinigen ihm dieſen Weg
anriethen, und ein in Frankreich lebender Oheim den¬
ſelben ſehr zu erleichtern verſprach.
An Empfehlungen und vorausgeknuͤpften Bezuͤgen
mangelte es nicht, und ſo reiſte Bollmann im Anfange
des Jahres 1792 von Karlsruhe hoffnungsvoll nach
Straßburg, und bald darauf nach Paris. Seine fer¬
neren Verhaͤltniſſe und Wendungen gehen aus nachſte¬
henden, an ſeine verehrungswuͤrdige Freundin und Baſe,
die Staatsraͤthin Brauer, in die Heimath nach Karls¬
ruhe geſchriebenen Briefen hervor, welche wir in der
Zuverſicht, daß ihr Inhalt und Ausdruck gleicherweiſe
zu lebhaftem Antheil auffordern, unveraͤndert hier fol¬
gen laſſen.
1.
Liebe Frau Baſe! Ich habe Ihnen ſogleich nach meiner An¬
kunft hier geſchrieben, aber bis jetzt auf dieſen Brief noch keine
Antwort erhalten, vermuthlich auch nicht zu erhalten verdient;
denn ich errinnere mich, daß ich ſehr munter war, indem ich
ihn ſchrieb, — ſollt' ich es zu ſehr geweſen ſein, ſo bitte de߬
wegen um Verzeihung!
Sie werden ſich wundern, daruͤber ſowohl, daß ich noch hier
bin, als daß ich Ihnen noch nicht geſandt habe, was Sie ſchon
laͤngſt erwarten konnten. Beides iſt mir ſelbſt ſehr unangenehm,
doch bin ich's unvermoͤgend zu aͤndern. Auf drei Briefe nach
Paris erhielt ich immer keine Antwort, und erſt geſtern erfahre
[11] ich vom Freunde meines Onkels, an den die Briefe adreſſirt
ſind, er ſei bis jetzt noch nicht in Paris angekommen. Meine
Briefe liegen alſo noch bei dieſem Freunde; daß mein Onkel ſie
aber nicht ſchriftlich abgefordert, iſt wenigſtens ein Beweis, daß
er nach Paris kommen wird. Irgend etwas muß ihn auf¬
gehalten haben; Sie wiſſen indeß, wie ich von Ihnen wegging,
koͤnnen ſich alſo das Unangenehme meiner gegenwaͤrtigen Lage
denken, und werden mich entſchuldigen.
Die Unannehmlichkeiten abgerechnet, worein man ſich fuͤgen
muß, befind’ ich mich wohl. Das genauere Studium der fran¬
zoͤſiſchen Geſchichte, vorzuͤglich in den letzten Jahrhunderten, und
die Verfolgung des Spiels menſchlicher Leidenſchaften, im Gewirre
der Gegenwart, machen meine Zeit intereſſant und nuͤtzlich; und
der Umgang in der Familie des Herrn von Tuͤrckheim, worin
einige ausgezeichnet gute Menſchen ſich befinden, und verſchiedene
junge Frauenzimmer, von denen es ſchwer faͤllt zu entſcheiden,
ob ſie mehr ſchoͤn oder witzig ſind — gewaͤhrt mir mehr ver¬
gnuͤgte Stunden, als ein genuͤgſamer Mann zur gluͤcklichen Exi¬
ſtenz von Rechts wegen noͤthig hat. Noch vollhaltiger an Intereſſe
und Lebhaftigkeit wuͤrden dieſe Geſellſchaften ſein, haͤtten nicht
die politiſchen Unruhen ihnen verſchiedene der beſten Mitglieder
entwandt. Ueberall iſt Uneinigkeit und Spaltung, uͤberall begeg¬
net man den traurigen Folgen davon — die Demokraten ſagen,
das ſind unvermeidliche Uebel — aber die guten Fruͤchte der gegen¬
waͤrtigen Verfaſſung ſucht man vergeblich. Die Demokraten ſelbſt
ſind uneins. Die Mitglieder des deutſchen Klubs geriethen vor
ſechs Tagen ſo heftig aneinander, daß die Wache kommen mußte,
ſie zu beruhigen. Seitdem ſind uͤber die Haͤlfte der Mitglieder
— Halb-Ariſtokraten — in eine neue Geſellſchaft zuſammenge¬
treten. Viele ſind gegen den Maire aufgebracht, ſtuͤndlich erſchei¬
nen Broſchuͤren fuͤr und wider. Die Haͤlfte der Buͤrger glaubt
[12] uͤberzeugt zu ſein, daß die Konſtitution der Kabale Thuͤr und
Thor oͤffne. Menſchen, die nichts zu verlieren haben, Fremde
zum Theil, wovon niemand weiß, woher ſie kommen, draͤngen
ſich vor. Die beſten Koͤpfe fuͤhlen ſich beleidigt und treten zuruͤck.
Von achttauſend Aktivbuͤrgern in Straßburg gingen nur vierhun¬
dert zu den Wahlen. Von ſechzigtauſend in Paris nur zehntau¬
ſend. Und ſo iſt es verhaͤltnißmaͤßig durch ganz Frankreich. Ein
Gemeiner unter der Nationalgarde bekoͤmmt taͤglich fuͤnfzehn
Sous. Ein Gemeiner von den Linientruppen taͤglich acht Sous.
Die undiſciplinirten Nationalgarden haben den Rang in allem
vor den alten, bewaͤhrten Truppen. Daher die aͤußerſte gegen¬
ſeitige Erbitterung. Daher ſind die Linientruppen faſt alle gegen
die Konſtitution. — Nicht minder ſtark iſt die Religionserbitte¬
rung. Die Kirchen der geſchwornen Prieſter ſind leer; und die
ungeſchwornen laſſen heimlich nichts unverſucht, ihren Anhang
zu vergroͤßern. Zu allem dem koͤmmt noch der Mangel an Geld
und der entſetzliche Verluſt der Aſſignaten; ſie verlieren vierzig
Prozent. Alle ſchlechte Menſchen nehmen dieſen Zeitpunkt wahr,
um ihre Schulden abzutragen, die zum Theil in baarem Gelde
gemacht wurden. Kurz, die Ungerechtigkeiten ſind ohne Zahl,
die Kabalen ohne Maß, die Zerruͤttungen ohne Graͤnzen. Noth
und Erbitterung iſt allgemein, und nur eine gewaltſame, blutige
Kriſe — in deren Wuͤnſchung allein ſich alle, alle Koͤpfe, aus
Hoffnung und Verzweiflung, vereinigen — wird den Jammer
zu gleicher Zeit auf’s aͤußerſte treiben und endigen koͤnnen. Doch
glaub’ ich, daß Jahrhunderte erfordert werden, die Spuren der
traurigen Tage ganz zu verwiſchen! — Ich ſchriebe gern noch
weiter, aber die Poſt geht fort, und ich moͤchte gern den Brief
noch heute fortſenden. — Leben Sie alſo wohl. Empfehlen
Sie mich dem Herrn Vetter, den lieben Kleinen, dem Gries¬
bach’ſchen Hauſe — und bleiben Sie ein bischen gut Ihrem Sie
[13] herzlich liebenden Vetter Juſtus Erich Bollmann. (Chez M.Jean
de Tuͤrckheim.)
2.
Gleich nach Abgang meines letzten Briefs an Sie, liebe Frau
Baſe! erhielt ich Nachricht von meinem Onkel, ſparſames Reiſe¬
geld, und ſtrengen Befehl, ſogleich nach Paris zu ihm zu kom¬
men. An Ort und Stelle war ich gezwungen, in demſelben
Gaſthofe und auf demſelben Zimmer mit ihm zu wohnen. Sie
wiſſen, er iſt ein ſehr braver Mann; aber er iſt ein vierzigjaͤh¬
riger Hageſtolz, ein Kaufmann und ein Englaͤnder, — folglich
iſt er rauh und unbekannt mit vielen Freuden des Lebens, geld¬
liebend und ein Freund von Eſſen und Trinken. Drei Wochen
lang kam ich nicht von ſeiner Seite, und was macht' ich in die¬
ſer Zeit? — Er war uͤber und uͤber voll von Plaͤnen, deren
Ausfuͤhrung mich zum reichen Mann machen ſollten. — Schon
Morgens im Bette fing er mir ſie vorzutragen an, und ſelten
hatt' ich bis zu zwoͤlf Uhr Zeit genug, um ſie gruͤndlich zu wider¬
legen. — Petersburg, meint' er, London, Philadelphia ꝛc. waͤren
ſehr gute Plaͤtze fuͤr mich, und ich zweifle nicht, daß ſeine red¬
lichen Wuͤnſche fuͤr mein Wohl mich unverzuͤglich nach Sibirien
verpflanzen wuͤrden, wenn man ihn uͤberzeugen koͤnnte, es ſei
da viel zu verdienen. Um zwoͤlf Uhr wurde gefruͤhſtuͤckt, dann
ſpaziren gegangen, dann gegeſſen, oder geſchmauſt vielmehr, bis
um fuͤnf Uhr, dann das Schauſpiel beſucht, dann zu Nacht
geſpeiſt, dann Punſch getrunken. Den folgenden Tag dieſelbe
Wiederholung, und ſo ging's fort, ohne daß ich ſonderlich etwas
gewonnen haͤtte, es ſei denn einen kleinen Zuwachs in der Fer¬
tigkeit, ſich in die graͤmlichen und zuweilen ein bischen despoti¬
ſchen Launen eines Mannes zu fuͤgen, dem man Dankbarkeit
[14] und Liebe ſchuldig iſt, und der im Ganzen ſie verdient. Da
mir's indeſſen nicht ſo leicht wurde, wie's billigerweiſe mir haͤtte
werden ſollen, ſo war ich recht ſehr aus meiner Behaglichkeit
herausgeworfen, gab alſo auch meinen Freunden in Straßburg keine
Nachricht von mir — denn Unthaͤtigkeit iſt von Unzufriedenheit
eine natuͤrliche Folge — und ſo kam's denn, daß ich Ihren Brief
vom 14. Februar erſt heute erhielt. — Die Wahrheit zu ſagen,
ich hab' ihn nicht erwartet. Der Mangel an Antwort auf mein
erſtes an Sie Erlaſſenes (um kaufmaͤnniſch zu reden), die Ueber¬
zeugung, meine Zeit in Karlsruhe nicht ganz ſo regelmaͤßig zu¬
gebracht zu haben, wie ich's geſollt haͤtte, und ein gewiſſer Hang
zu melancholiſchen Ideen, der aus alten Zeiten Ihnen noch bekannt
ſein wird, ließen das Schlimmſte mich fuͤrchten. Aeußerſt gefreut
hat mich daher Ihr lieber, Ihr guter, Ihr herzlicher Brief,
weil er mich aͤußerſt uͤberraſchte. Er hat mich mehr entzuͤckt,
wie das erſte geſehene große pantomimiſche Ballet in der hieſigen
großen Opera — welches ſehr ſtark geſagt iſt, und dennoch nicht
weniger wahr.
Mein Aufenthalt in Paris wird fuͤnf bis ſechs Monate dauern,
weil ich gern dieſe Stadt ganz kennen lernen und der Sprache
ganz maͤchtig werden moͤchte. Ich werde einige Vorleſungen uͤber
Chemie und Phyſik hoͤren, in der Entbindungskunſt unter Bau¬
deloque's Anleitung mich praktiſch vervollkommnen, und die Hoſpi¬
taͤler beſuchen, um zu ſehen, wie man nicht praktiſiren muß.
Um mir indeß Erfahrung in einem Zweige meiner Kunſt zu ver¬
ſchaffen, den ich vorzuͤglich liebe, um mich unabhaͤngiger von
meinem Onkel zu machen, um deſſen eigene Wuͤnſche zu erfuͤllen,
und um — Geld zu verdienen, werd' ich mich in den oͤffentlichen
Blaͤttern als Okuliſten ankuͤndigen und dem geneigten Publiko
meine Dienſte gegen baare Bezahlung entbieten. Der gluͤckliche
oder ungluͤckliche Erfolg dieſes Projekts haͤngt von vielen Um¬
[15] ſtaͤnden ab, und laͤßt ſich ſchwerlich vorausſehen. Die Wahr¬
ſcheinlichkeit indeſſen fuͤr's erſte iſt ein bischen groͤßer. Ich habe
juſt Hoffnung genug, um thaͤtig zu ſein, und doch keine ſo ge¬
ſpannte Erwartung, um mich zu aͤrgern, wenn's nicht ginge. —
Geld verdienen alſo! — mit den feiſten Hamburgern zu reden,
bin ich noch nichts werth, aber es geht darauf zu, um etwas
werth zu werden. Die neuen Staarmeſſer liegen vor mir; ſie
ſollen das Hebezeug werden, um die Boͤrſen meiner Nebenmen¬
ſchen zu lichten, und meine Hand ſoll dieß Hebezeug dirigiren!
— Es faͤllt mir ein bischen ſchwer, mich aus dieſem Geſichts¬
punkte zu betrachten. — Es iſt traurig, daß alles, alles In¬
tereſſe beinahe zuletzt bis auf's Geldgewinnen zuſammenſchrumpft.
Wer das Herz zu weit hat und den Kopf zu helle, um ſich bis
auf dieſen Punkt beſchraͤnken zu koͤnnen, der bringt nie was
recht Betraͤchtliches vor ſich! — O! ich darf nicht ſagen, wo
mich uͤberall der Schuh druͤckt! — Wie gut, daß die meiſten
Leute die engen Graͤnzen unſrer Kunſt nicht wiſſen! — Der Glau¬
ben der Leute an die Kunſt des Arztes muß das Brod geben,
der Menſch in ihm muß nutzen. Man muß ſich des Glaubens
an die Kunſt bedienen, um dem Menſchen einen Wirkungskreis
zu verſchaffen. Man muß ſich die ſcheinbaren Dienſte bezahlen
laſſen, um das Leben fuͤr die unbezahlbaren zu friſten! — Das
alles iſt nicht ganz ſtrenge wahr, aber es iſt doch wahr im Gan¬
zen, und es iſt zugleich der Troſt des redlichen Mannes!
Sie erwarten wohl, liebe Frau Baſe! viel Wichtiges uͤber
Paris, dieſem großen Mittelpunkte der Wiſſenſchaften, des Ge¬
ſchmacks, des Luxus und der Verhandlung der Rechte der Menſch¬
heit! — aber die Wahrheit zu ſagen, ſo kenn' ich's noch zu we¬
nig, um viel Vernuͤnftiges davon zu ſagen. — Der erſte Anblick
dieſer ungeheuren Stadt muß jedem eckelhaft ſein! Die Straßen
ſind zwar gerade, aber entſetzlich enge, und die Haͤuſer entſetzlich
[16] hoch. Man glaubt ſich in einer Felſenſpalte fortzubewegen. Wer
nicht im fuͤnften Stock wohnt, der kann den Himmel nicht ſehen,
es ſei denn, daß er ruͤckwaͤrts den Kopf zum Fenſter hinausſtreckt
und ſenkrecht uͤber ſich ſchaut. Dieß verſchafft indeſſen nicht
wenigen Leuten den Vortheil, daß ſie bei hellem Tage, wie aus
einem tiefen Brunnen, die Sterne ſehen koͤnnen. Dieſe engen
Straßen haben nur Eine Gaſſe; das Pflaſter laͤuft abwaͤrts von
den Haͤuſern zur Mitte; ſie ſind mit einem ſehr dicken Kothe
bedeckt; Karren, Pferde, Kutſchen, Menſchen und Eſel arbeiten
denſelben gemeinſchaftlich durcheinander, denn Fußbaͤnke ſucht
man zur Seite vergebens. — Ich habe mich ſehr lange bemuͤht,
die vortheilhaften Seiten dieſer Unannehmlichkeiten auszufinden,
um mich beſſer damit vertragen zu koͤnnen, und ich bin endlich
ſo gluͤcklich geweſen, zu entdecken, daß die erſten Gruͤnde des
franzoͤſiſchen Nationalkarakters in dieſen engen Straßen, in die¬
ſem Mangel an Fußbaͤnken, und in dieſem Kothe zu finden ſind.
Jedermann weiß, Gewandtheit des Koͤrpers und Schlauheit der
Seele ſind die Hauptzuͤge deſſelben; iſt es aber zu verwundern,
daß man gewandt wird, wenn man beſtaͤndig auf den Fußſpitzen
huͤpfen, wenn man unter allen nur denkbaren Stellungen und
Windungen ſich um Savoyarden, Peruͤckenmacher, Mehlkraͤmer
und Laternenweiber jeden Augenblick wegſchieben muß, damit man
das Ausſehen eines reinlichen und rechtlichen Mannes nicht ver¬
liere! — iſt es zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit im¬
mer vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts ſehen muß, um nicht geraͤdert zu
werden? — Lachen Sie nicht, liebe Frau Baſe! der Karakter
des Volks bildet ſich nach dem Karakter der Hauptſtadt; dieß
kann man in Deutſchland ſehen, wo weder eins noch das andre
Statt hat; kleine Urſachen, aber die unablaͤſſig wirken, erzeugen
große Effekte; ſelbſt zufaͤllig erworbene Eigenſchaften werden zu¬
letzt erblich — hinter dieſen drei Bollwerken bin ich fuͤr jeden
[17] Einwurf ſicher! — Es ſtehe indeß mit der Wahrheit dieſer Be¬
merkungen, wie's wolle, genug, auf die Originalitaͤt derſelben
bin ich ſtolz, und eben deßwegen bin ich durch Vermittlung der
bekannten Selbſtliebe jetzt ausgeſoͤhnt mit den ſchmutzigen Stra¬
ßen. — Sollten ſich uͤbrigens in Ihrer Bekanntſchaft Melancho¬
liſche und Truͤbſinnige befinden, ſo geben Sie ihnen den Rath,
ſich auf eine Zeit lang nach Paris zu verfuͤgen, und zugleich den
ſtrengen Befehl, in den engen Gaſſen taͤglich einige Stunden
ſpaziren zu gehen. Entweder der nothwendige ſchnelle Uebergang
von einer Idee zur andern kurirt ſie, oder auch, man faͤhrt ſie
todt, und ſie entweichen alsdann aus einmal der Suͤnde des Selbſt¬
mords und einem laͤſtigen Leben. Dies Mittel iſt auf jeden Fall
zweckmaͤßig, und weil ich's in keinem Schriftſteller noch angefuͤhrt
finde, ſo werde ich daſſelbe der gelehrten Welt in einem kleinen
Traktate bekannt machen. Dies Werkchen wird fruͤher erſcheinen,
als das bewußte, und da Sie natuͤrlicherweiſe auf die verſprochene
Dedikation aͤußerſt begierig ſind, ſo bin ich geſonnen, ſie dieſem
Vorſchlag eines neuen Mittels gegen die Melancholie vordrucken
zu laſſen. Ich hoffe Ihren Beifall hierdurch um ſo mehr zu ver¬
dienen, da der menſchenliebende Inhalt dieſes Werkes mit Ihrem
menſchenfreundlichen Herzen ſich weit beſſer vertraͤgt, als ſich
die Gruͤbeleien eines andern vertragen wuͤrden mit dem einfachen
und liebenswuͤrdigen Gang Ihres Verſtandes! —
Vom Palais-Royal, den Tuillerien u. ſ. w. ſag' ich Ihnen
heute nichts. Eben ſo wenig von den Schauſpielen, — aber ich
werde mich bemuͤhen, dies nachzuholen, wenn meine Sachkennt¬
niß gruͤndlicher iſt, wie jetzt. —
Die Nationalverſammlung und ihre einzelnen Mitglieder ſind
bald der Gegenſtand der Anbetung, bald des Geſpoͤtts, bald der
Verachtung. Im Ganzen iſt es ein wuͤthendes Chor. Ein gro¬
ßer Haufe leidenſchaftlicher, uͤbelunterrichteter, eigennuͤtziger, ehr¬
2[18] geiziger Menſchen, unter denen einige Brave in Unthaͤtigkeit be¬
graben ſind. — Die Klubs tyranniſiren das Volk. Ihre Mit¬
glieder ſind der neue Adel. — Man faͤngt an, vorzuͤglich die
Jakobiner zu haſſen. Ariſtokraten gibt's in Menge, Demokraten
noch mehr, und dennoch ſind nur hier und da zwei und zwei
Koͤpfe einig. — Es gibt ſo viel Arten von Demokraten, als es
Modefarben gibt. Der kluͤgſte Theil iſt der beſcheidenſte, und
ſeufzt im Stillen. Viele Demokraten ſind dies aus Eigenſinn
und Verzweiflung. Viele ſind wirklich hingeriſſen von der ideali¬
ſchen Schoͤnheit der franzoͤſiſchen Conſtitution. Sie ſehen nicht
ein, daß ſie nur ein Ideal iſt, wie die Republik des Plato. Sie
meinen, es muͤſſe und muͤſſe gehen koͤnnen; da doch ein Werk
wie die Conſtitution, bei einem Volke, wie das franzoͤſiſche, ſo
viele Reibung gibt, daß ſie ewig nicht gehen kann. — — —
Der einzelnen Unordnungen, die aus dem Zuſtande des Gouver¬
nements fließen, ſind viel; aber die Franzoſen ſind von Natur
ſanft und freundlich und geſittet, — ſonſt wuͤrden ſie ohne Graͤn¬
zen ſein. — Wer nicht unvernuͤnftig iſt, kann ſehr ungeſtoͤrt
hier leben. Und fuͤr den Beobachter iſt der Aufenthalt ſehr
intereſſant. Es wimmelt von auswaͤrtigen Kaufleuten, die we¬
gen der Wohlfeile der Waaren, in Ruͤckſicht auf den niedrigen
Kurs des Papiergeldes, beim Einkauf der franzoͤſiſchen Produkte
ihre Rechnung finden, und welche die Thaͤtigkeit der Manufaktu¬
ren und Fabriken des Landes faſt erſchoͤpfen. — Der Tod des
Kaiſers hat viele Koͤpfe auf einige Tage ſchwindlich vor Freude
gemacht. Die Jakobiner betrauern ihn mit ſcharlachrothen
Muͤtzen. — —
Ich danke nochmals, liebe Frau Baſe! fuͤr Ihren guͤtigen
Brief, deſſen Zurechtweiſungen ich mir gewiß zu Nutzen machen
werde, nur muß ich Sie bitten, ſowohl in dieſem als in allen
meinen Briefen, der Eile, womit ſie geſchrieben werden, etwas
[19] zu gute zu halten. — Meine Korreſpondenz wirb immer weit¬
laͤufiger, und uͤberdem gibt's in Paris der Zerſtreuungen und
Beſchaͤftigungen ſo viele! —
Empfehlen Sie mich dem Herrn Vetter und den uͤbrigen
Verwandten und Freunden herzlich! —
Mit meinem Onkel, der meine Angelegenheiten kennt und
der noch hier iſt, kann ich nicht zur Abrechnung kommen bis
jetzt, und muß ſehr ſaͤuberlich mit ihm umgehen. Er verreiſt
indeß in einigen Tagen, und dann werd' ich ſogleich das Bewußte
nach dem Kurs der Zeit in Aſſignaten ſenden, die Herr Wil¬
liard auf Straßburg leicht verhandeln wird! Meine Sa¬
chen haͤtt' ich hier gern, doch will ich noch einige Zeit warten,
bevor ich ſie nachkommen laſſe! — —
Einem neuen Brief von Ihnen, und vorzuͤglich Ihrem ſanf¬
ten und ſcherzhaften Tadel, der mich vorzuͤglich gefreut hat, und
der mich beſſern ſoll, ſeh' ich mit Vergnuͤgen und Begierde ent¬
gegen. Ich habe immer viel Freude darin gefunden, von Damen
mich zurechtweiſen zu laſſen, und waͤre anders dieſe Vorſicht
noͤthig, ſo wuͤrd' ich einige Fehler mit Fleiß erhalten, um dieſes
Genuſſes nie zu entbehren.
3.
So eben, liebe Frau Baſe! war ich Augenzeuge einiger
nicht unintereſſanter Auftritte! — Nehmen Sie noch, als Zugabe,
davon die kurze Beſchreibung. — Man gab dieſen Abend, auf
dem Théatre de la Nation, „la mort de César“, ein Trauer¬
ſpiel von Voltaire. — Caͤſar, durch viele Siege groß und maͤch¬
tig geworden, droht die republikaniſche Verfaſſung des roͤmiſchen
Reiches umzuſtoßen. Brutus, Caͤſar's Sohn, und Caſſius, deſ¬
2 *[20] ſen Freund, zwei unbiegſame Stoiker voll rauher Tugend und
uͤbermenſchlicher Staͤrke der Seele, beſchließen den Staat zu
retten. Sie verſchwoͤren ſich gegen Caͤſar’s Leben, dieſer erfaͤhrt
es, und fuͤrchtet ſich nicht. Er will die Herzen gewinnen und
ſiegen. Er verachtet ein Leben, das er zu beſchuͤtzen haͤtte. Er
ehrt die Groͤße im Karakter ſeines Sohn’s, und will ſie durch
Gegengroͤße beugen. — Brutus wußte noch nicht, daß er Caͤſars
Sohn ſei; — wie alle Gruͤnde, alle Bitten ſogar umſonſt ſind,
dies ſtolze Herz zu erweichen, ſo entdeckt er’s ihm. — Die Kaͤmpfe
zwiſchen Natur und Grundſatz in der Seele des maͤchtigen Brutus
veranlaſſen die ſchoͤnſten Scenen des Stuͤcks. — Caſſius verhaͤr¬
tet wieder den ſchon halb Erweichten. Vaterlands- und Frei¬
heitsliebe ſiegen, und Caͤſar faͤllt. — Vermoͤge der Natur des
Stuͤcks iſt es voll Beziehung auf Frankreichs jetzige Lage. Und
eben deßwegen ſtroͤmte eine Menge von Menſchen zu ſeiner Vor¬
ſtellung hin. Ein großer Platz vor dem Hauſe war ſchon von
halb vier Uhr an mit Leuten uͤberſaͤet; — zwanzig und dreißig
wurden zu gleicher Zeit hineingelaſſen, und noch um halb ſechs
Uhr war nicht alles darin. — Vorzuͤglich draͤngten die Jakobi¬
ner mit den rothen Muͤtzen ſich zu; — viele dieſer Leute ſind
bezahlt, um den Ton anzugeben. — Kein Bienenkorb iſt voller
von ſeinen Bewohnern, als dieſes ſehr geraͤumige Schauſpielhaus
es von Menſchen war; und vorzuͤglich war auf dem Parterre,
welches allein mehrere Tauſend enthielt, ein Kopf auf dem an¬
dern gedraͤngt. — Eben ſo war’s in den Logen, deren ſechs uͤber¬
einander dennoch nicht Raum genug enthielten fuͤr die zudring¬
liche Menge! — Kaum war das Parterre voll, ſo begann dieſe
dichte und kaum einer Bewegung faͤhige Maſſe unruhig zu wer¬
den. Die rothen Muͤtzen wurden auf langen Stoͤcken geſchwun¬
gen. Einige bruͤllende Stimmen erhoben ſich in patriotiſchen
Liedern, und nach wenig Minuten ſang die ganze Geſellſchaft. —
[21] Indeß verſammelte ſich das Orcheſter. Tauſend Stimmen ſchrien
durcheinander ça ira, ça ira; und dies Geſchrei ließ nicht nach
bis zum Gehorſam der Virtuoſen. — Man klatſchte den Takt
zu dieſer Arie, das ganze Parterre war nur ein Handſchlag,
man glaubte eine Maſchine vor ſich zu ſehen, die ein einziger
Zug bewegte! — Mehrere Lieblingsarien folgten dieſer. Sie wur¬
den vom gleichen Freudenſchall begleitet. — Endlich begann das
Stuͤck! Nicht wohl mehr wie hoͤchſtens zwanzig Worte konnte
Brutus hintereinander reden, dann unterbrach ihn das Klatſchen.
Oft eine Viertelſtunde hielt dies an, dann ſprach er wieder, dann
begann das Klatſchen von neuem. Aber nicht genug, daß man
klatſchte — man vermehrte das Getoͤſe des Beifalls durch eigne
dazu mitgebrachte Becken, nach Art der Becken bei Feldmuſik!
Man ſchlug ſie uͤber den Koͤpfen zuſammen, und ein fuͤrchterli¬
ches vielfaches Bravo machte das Getoͤſe noch voller. — Caͤſar
wurde wenig applaudirt, doch rief man zuweilen „bravo acteur!“
— — Uebrigens kann man ſich in Deutſchland keinen Begriff
von der Vollkommenheit einer ſolchen Vorſtellung machen. Wir
bewundern einen Iffland und Schroͤder! wir bewundern die Ein¬
zelnen, — hier ſollte man fragen, wo iſt der Akteur, der’s
ſchlechter macht, geſchweige der vielen, die ſie uͤbertreffen! —
Endlich wird Caͤſar ermordet, aber hinter der Buͤhne. Man
bringt ſeinen Leichnam. Antonius ſteht vor ihm, Caͤſars Freund;
ihn umringen die uͤbrigen Senatoren. — Antonius uͤberlaͤßt ſich
ſeinem Schmerz, er ſchildert Caͤſars Groͤße, Caͤſars Guͤte; er
ſchildert das Verbrechen ſeines Sohnes; er fordert die Senatoren
zur Rache. — Der Akteur ſprach warm und gut, und Voltaire
hatt’ ihm eine Rede gegeben voll Geiſt und Kraft. — Er for¬
derte die Senatoren zur Rache uͤber Brutus! — Zwei Maͤnner,
wovon der eine dicht hinter mir und der andere in der erſten
Loge unmittelbar neben mir ſaß, wurden ſehr hingeriſſen; ſie
[22] vergaßen ſich und klatſchten! — Auf einmal entſtand ein graͤßli¬
cher Laͤrm im Parterre. Herunter, herunter, ſchrien ſie, der
Mann im rothen Kleid herunter! — Er blieb; — das fuͤrchter¬
lichſte Geſchrei wiederholte ſich von neuem; es hielt eine halbe
Stunde lang an, und endlich wich der Mann zu meinem nicht
geringen Verdruß! Er haͤtte — NB. uͤber dieſe Zeilen ſeh’ ich
einigen intereſſanten Bemerkungen und freundſchaftlichen Verwei¬
ſen entgegen — er haͤtte von der Loge herunter das Wort ver¬
langen, er haͤtte auf die Freiheit, auf die Rechte, die ihm die
Conſtitution zuſichert, ſich berufen ſollen. Er haͤtte fragen ſol¬
len, wo das Geſetz ſei, das dem Einzelnen ſeinen Beifall zu
geben verbiete. Er haͤtte erklaͤren ſollen, daß er ſich eher wuͤrde
umbringen laſſen, als zuruͤckgehen. Er haͤtte die kaum beklatſch¬
ten Worte aus Brutus Munde auffaſſen und ſich damit ſchuͤtzen
koͤnnen. Er haͤtt’ es verſtehen muͤſſen, dieſe Feſtigkeit ſelbſt der
gegenwaͤrtigen Stimmung der Gemuͤther anzuſchmiegen, und ſo
wuͤrd’ er mit Ehren ſeinen Platz behauptet haben, ſtatt wie eine
feige Memme zu entweichen. — Den Klatſcher neben mir hatte
man zum Gluͤck nicht bemerkt, und er blieb ſitzen. — Endlich
endigte das Stuͤck. — Ein Jakobiner erhob ſich; er that den
Antrag, Voltaire’s Buͤſte mit der Muͤtze der Freiheit zu kroͤnen.
Nichts, ſagt’ er, fehl’ ihm ſonſt noch zu ſeinem Ruhme. —
Dieſe Idee verſchlang urploͤtzlich alle Gemuͤther! Ein fuͤrchterli¬
ches, anhaltendes, immer ſteigendes Bravo ſtuͤrzte von allen Sei¬
ten her gegen das Theater ſo lange zuſammen, bis die Acteurs
Anſtalt machten, um in’s Werk zu ſetzen, was der einmuͤthige
Wille gebot! Man brachte ein Fußgeſtell; man ſetzte Voltaire’s
Buͤſte darauf von Gyps. — Ein Jakobiner warf ſeine rothe
Trauermuͤtze auf’s Theater. Man bemuͤtzte damit den grinzenden
Voltaire, und ſo paradirt’ er waͤhrend einem ganzen Luſtſpiele,
das man nach dem Trauerſpiele noch gab, auf dem Theater! —
[23] Guter Voltaire, wie wuͤrdeſt du lachen, wenn du auferſtuͤndeſt
aus deinem Grabe!
Armes geblendetes Voͤlkchen! wo ſind denn eure Cato's,
eure Caſſius, eure Brutus? wie viele zeigt uns denn die Ge¬
ſchichte ſo ſchoͤne Ungeheuer? und was vermochten ſie im uͤppigen
Rom? wo ſind ihre Thaten? — Oder wollt ihr zu der nuͤchter¬
nen Maͤßigkeit des alten Roms zuruͤckkehren? — das wollt
ihr! — und die erſten Freudenmaͤdchen dieſer Stadt ſind von
den Deputirten, euren Geſetzgebern, euren Vaterlandsvaͤtern,
gepachtet? — verjagt die zuvor! zertruͤmmert die Denkmaͤler der
Kunſt! verjagt eure Kaufleute; verbrennt eure Schiffe! zerſtoͤrt
eure Staͤdte! — macht euch dagegen Huͤtten! pflanzt Kohl, pflanzt
Ruͤben! pflanzt Waͤlder, um jagen zu koͤnnen! Huͤtet eure Heer¬
den! und geſetzt, daß es euch dann gelingt, das ſchwere Mittel
halten zwiſchen Menſchlichkeit und Viehheit; geſetzt, daß ihr das
hohe Ideal von Freiheit in dieſen Zuſtand mit hinuͤbernehmen,
geſetzt, daß ihr es realiſiren koͤnnt! — wie lange wuͤrd' es dauern?
— oder vermoͤgt ihr dem menſchlichen Geiſte Feſſeln anzulegen,
der euch zu gleicher Zeit verfeinert, veredelt und entnervt! nicht
weil's an und fuͤr ſich ſo ſein muͤßte, ſondern um der Schwach¬
heit willen der menſchlichen Organiſation! — Bollmann.
4.
Liebe Frau Baſe! Auf meinen von Paris aus, und mit
deutſchen Buchſtaben an Sie geſchriebenen Brief hab' ich keinen
Gegenbrief erhalten, und ich habe dieſe Grauſamkeit um deſto
tiefer gefuͤhlt, je willkommner mir ein freundliches Wort in einer
Lage geweſen ſein wuͤrde, mit deren Unannehmlichkeiten ich Sie
bekannt gemacht hatte; weil aber nichts von einmal gefaßten
Vorſaͤtzen uns abwendig machen muß, ſo bleib' ich meinem Ver¬
[24] ſprechen, wenigſtens aus jeder großen Stadt einmal an Sie zu
ſchreiben, getreu; und ich erklaͤre feierlich, daß ich dies immer
thun werde, wenn Sie's mir nicht feierlich unterſagen.
Mein Onkel, dieſes traurige, bemitleidenswerthe Gemiſch
von Gutheit und Stolz, Anmaßung und Kleinheit, verließ mich
bald nach Abgang meines letzten Briefes an Sie, und ließ mich
das wohlthaͤtige Gefuͤhl der Freiheit, wiewohl einer ſehr noth¬
duͤrftigen, nach langem Entbehren derſelben, endlich wieder koſten.
Feſt entſchloſſen, mich kuͤnftig ohne denſelben zu behelfen, mußt'
ich nach Arbeit mich umſehen, und ein gichtbruͤchiger Ludwigs¬
ritter, behaftet mit dem Spleen des uͤbermaͤßigen Glaubens an
auslaͤndiſche Aerzte, verſchaffte mir bald eine ziemlich betraͤcht¬
liche gichtbruͤchige Bekanntſchaft, wodurch ich in den Stand geſetzt
wurde, zuerſt wenigſtens rechtlich zu exiſtiren, und hernach auch
Nutzen von den Anſtalten in Paris zu ziehen, Kollegia und Hoſpi¬
taͤler zu beſuchen, Merkwuͤrdigkeiten zu beſehen u. ſ. w. — Ich
wuͤrde dieſe Exiſtenz vermuthlich noch lange fortgeſetzt haben,
allein der Tod, welchem ich bisher foͤrmlichen Widerſtand gelei¬
ſtet und den ich mehreremal gluͤcklich zuruͤckgeſchlagen hatte, nahm
auf Einmal alle ſeine Wuth wider mich zuſammen. Nicht zufrie¬
den, vermittelſt der Hoſenloſen alle brave Schweizer ſich ſchlach¬
ten zu laſſen, ſchlug er mit ſchrecklichem Schlagfluß alle meine
gichtbruͤchigen Ritter zu derſelben Stunde, wo das Blut der
Schweizer noch dampfte! — Alle meine Kunden ſtarben am
10. Auguſt vor Schreck! Was ſollt' ich nun foͤrder in Paris noch
thun? was konnt' es mir helfen, mir neue Kunden zu verſchaf¬
fen, an einem Orte, wo ſo viel wilde Auftritte es platterdings
unmoͤglich machten, die Seelendiaͤt, den wichtigſten Theil meiner
Kunſt, gehoͤrig zu beſorgen? was ſollt' ich noch laͤnger der Ver¬
weſung entgegenarbeiten, an einem Orte, wo ſie entſchloſſen
ſchien, kuͤnftig hauſen zu wollen? — Sie war mir uͤberdies zu
[25] verſchiedenenmalen ſelbſt auf den Hacken, vorzuͤglich am 10. Au¬
guſt, wo mir eine Pike aufgedrungen und ich fortgeriſſen wurde
mitten in's Gefecht! — Ich faßte den Entſchluß, ihr das Feld
zu laſſen und mich ehrerbietig zuruͤckzuziehen! — Aber wie und
wohin? meine erſchlagenen Ritter nahmen zum Theil ihre Schul¬
den an mich in's zweite Daſein mit hinuͤber, und Billets de
confiance, auf jene Welt ausgeſtellt, konnten mir in einem
Lande nichts helfen, wo man an jene Welt nicht mehr glaubt!
— Haben Sie keine Sorge fuͤr mich, liebe Frau Baſe! Unkraut
verdirbt nicht; und Sie werden bald ſehen, daß ich, der Mord¬
ſucht eine Beute entwendend, worauf ſie am meiſten geluͤſtig war,
mich koͤniglich aus der Affaire zog.
Unter den verſchiedenen in Paris gemachten Bekanntſchaften
war auch die der Frau von Staël, die Gemahlin des ſchwediſchen
Geſandten, die Tochter Neckers, die Verfaſſerin der Briefe uͤber
Rouſſeau, die ſie in ihrem ſiebzehnten Jahre ſchrieb. Sie haben
wahrſcheinlich jene Briefe geleſen, und folglich haben Sie eine
Idee vom Geiſt und von den uͤberwiegenden Faͤhigkeiten dieſer
Frau; aber von ihrem Herzen wuͤrd' ich mich umſonſt bemuͤhen,
Ihnen einen wuͤrdigen Begriff zu machen; denn wenn ich Ihnen
auch erzaͤhlte, wie raſtlos thaͤtig ſie in den Tagen der Bedraͤng¬
niß fuͤr ihre Freunde war, wie ſie ſich ſelbſt ausſetzte, wie ſie
die aͤußerſten Schritte wagte, auch da, wo durchaus nur das
reinſte freundſchaftliche Intereſſe, nur der Wunſch Gutes zu thun,
ſie leiten konnte — wenn ich Ihnen das alles erzaͤhlte, Sie wuͤr¬
den einen Roman, aber keine hiſtoriſche Wahrheit zu leſen glau¬
ben; und folglich verfehlt' ich immer meinen Zweck. Die Frau
von Staël hat einen Freund, und dieſer Freund iſt Narbonne,
ehemaliger Kriegsminiſter, und dieſer Narbonne iſt einer der
liebenswuͤrdigſten Maͤnner, die ich jemals geſehen habe. Bei einer
ſehr weitausgebreiteten Menſchen-, Welt- und Literaturkenntniß,
[26] bei einem unerſchoͤpflichen Fonds von Heiterkeit und Laune, bei
einem Geiſt, der unablaͤſſig durchblitzt in allem, was er ſagt
und thut, hat er dieſe gaͤnzliche Verlaͤugnung ſeiner ſelbſt, dieſe
anſpruchsloſe Hingebung an die Umgebenden, welche gewoͤhnlich
nur bei dem reinen Bewußtſein innern Werths ſtattfindet, und
dieſe altritterliche Offenheit, welche in unſern Tagen ſo ſelten,
und in der großen Welt ein Wunder iſt. Dies vorausgeſetzt,
werden Sie eben nicht unnatuͤrlich finden, daß die Frau von
Staël ihren Freund Narbonne lieb hat, und um ſo weniger,
wenn ich Ihnen ſage, daß dieſe Frau von Staël — nicht ver¬
heirathet, ſondern gekuppelt iſt an einen Mann, der nicht ein¬
mal die Zubereitung eines Kartoffelgerichts, und alſo noch viel
weniger das Pulver erfunden haben wuͤrde. Sie werden ferner
nicht unnatuͤrlich finden, daß Narbonne, bei einer hinlaͤnglichen
Anzahl von Scheingeſchaͤften, um ſeine Vernunft mit ſeinem Her¬
zen einſtimmig zu machen, die Armee verlaſſen hatte, um nach
Paris zu kommen und ſeine Freundin zu ſehn. Wenn Sie ſich
nun erinnern, daß die Jakobiner Todfeinde von Lafayette, von
Narbonne und von allen wackern Leuten ſind, die ihnen anhaͤn¬
gen, wenn Sie ſich erinnern, daß der 10. Auguſt die unum¬
ſchraͤnkteſte Gewalt in die Haͤnde dieſer Horde von Boͤſewichtern
gegeben hatte, und wenn ich Ihnen zu dem allen noch ſage, daß
Narbonne, deſſen Gegenwart in Paris man wußte, der erſte auf
der Liſte der Schlachtopfer war, deren ihr Blutdurſt habhaft zu
werden ſuchte —: ſo werden Sie ſich ungefaͤhr eine Vorſtellung
von der Angſt machen koͤnnen, worin ich die Frau von Staël
antraf, als ich den 14. Auguſt morgens in ihr Zimmer trat.
Narbonne war bei ihr; man ſah mich bald als das einzige Mittel
an, ihn zu retten. — Eine Menge von Motiven, wozu jedoch
die Schoͤnheit der Frau von Staël nicht gerechnet werden kann,
zu meiner nicht geringen Beruhigung, — denn ſie iſt haͤßlich —
[27] ſtuͤrmten auf meine Seele los, und die Freude, dieſen Mann
retten zu koͤnnen, der ſo ſchoͤn, ſo edel und ruhig vor mir ſtand,
und der ſuͤße Gedanke, dieſer Frau die Ruhe wiedergeben zu
koͤnnen, die ſie fuͤr ihren Freund verlor, und die ſie fuͤr ſich ſelbſt
nicht verloren haben wuͤrde, und die Genugthuung des unbe¬
ſchraͤnkten Vertrauens, welches man in dieſer kitzlichen Sache
auf mich ſetzte, — dies alles, dem ich nichts als die augenſchein¬
liche Gefahr meines eignen Kopfes entgegenzuſetzen wußte, wirkte
ſo maͤchtig auf mich, daß die erſte Idee der Moͤglichkeit ſehr
bald zur Feſtigkeit des Entſchluſſes reifte! — Die Sache ein¬
mal unternommen, wurde auf ihre Ausfuͤhrung durch ruhige und
uͤberlegte Maßregeln hingearbeitet; ich hatte, was mir niemals
gefehlt hat, Freunde, auf die ich zaͤhlen konnte, Deutſche uͤber¬
dies, alſo Leute von kaltem Blut und Courage; Gluͤck, Gegen¬
wart des Geiſtes und Muth ließen uns manche Gefahren uͤber¬
winden, wir kamen gluͤcklich nach Boulogne, waͤhrend man vor
uns und hinter uns andere Fluͤchtlinge arretirte; wir flogen im
Sturm uͤber die See, und liefen wohlbehalten am 20. Auguſt
abends um 6 Uhr in dem Hafen von Dover ein. — Wir ſetzten
hernach unſere Reiſe weiter fort bis hieher, wo wir uns bei der
Madame de la Châtre, einer ſehr liebenswuͤrdigen Franzoͤſin,
logirten. Kaum hatten wir uns von der Reiſe ein bischen er¬
holt, ſo bekam unſre freundliche Wirthin die traurige Nachricht
von der Arreſtation verſchiedener Perſonen in Paris, die ſie ſehr
nahe angingen, und die ſehr liebte. Von Natur ſehr zart und
empfindlich, fiel ſie bei Leſung des Briefes in fuͤrchterliche Kraͤmpfe,
die ſich von Stunde zu Stunde erneuerten; und das ging zwei
Tage lang ſo fort. Nach und nach kam Hoffnung und Ruhe
wieder; gluͤcklicherweiſe waren die Freunde der Madame de la
Châtre am Abend vor der Ermordung der Gefangenen aus der
Abbaye entkommen; man erwartet ſie jetzt mit noch verſchiednen
[28] Andern; auch die Frau von Staël wird in kurzem hieher kom¬
men; alle dieſe Leute zuſammen, vermuthlich der Kern von Frank¬
reich, reine Freunde der Revolution, und gleichweit entfernt vom
Wahnſinn der Emigrirten in Koblenz und von der Wuth der
Jakobiner, werden, eine kleine franzoͤſiſche Kolonie, in der Naͤhe
von London ſich etabliren, und den weitern Gang der Angele¬
genheiten ihres Vaterlandes, dem ſie jetzt nicht dienen koͤnnen,
abwarten!
Verhaͤltniſſe wie die obigen, zuſammen und gegenſeitig huͤlf¬
reich miteinander durchlebt, machen die Scheidewaͤnde ploͤtzlich
fallen, welche die Eitelkeit und der Wahn oft zwiſchen Menſchen
und Menſchen ſetzt; man ruͤckt ſich naͤher; man koͤmmt auf ein¬
mal mit vielen Punkten heruͤber und hinuͤber in Beruͤhrung,
und der Neuling, der Fremdling, tritt in den Platz bejahrter
Freunde. — Dies iſt gegenwaͤrtig ungefaͤhr mein Fall. Ich habe
mich nicht weigern koͤnnen, mit dieſen Menſchen, von denen ich
uͤberzeugt bin, daß ſie mich lieben, eine Zeit lang zu leben. Ich
werde mit ihnen einige Monate auf dem Lande zubringen, und
waͤhrend dieſer Zeit der engliſchen Sprache und Literatur in gluͤck¬
licher Ruhe mich widmen.
Die unbegraͤnzte Guͤte Narbonne's und der Frau von Staël
ſetzen mich uͤberdies in den Stand, meinen erſten Reiſeplan zu
verfolgen, und hernach meine Praxis anzufangen, ohne um die
erſten Augenblicke in Verlegenheit zu ſein; denn ich habe — doch
von dieſen Umſtaͤnden und dem, was damit in Verbindung ſteht,
red' ich Ihnen ein andermal. Es wuͤrde mich heute zu weit
fuͤhren, und ich fuͤrchte ſo ſchon Ihre Geduld zu mißbrauchen. —
Genug, ich glaube einen weſentlichen Schritt gethan zu haben,
nicht nur um mein eignes, ſondern auch um das Gluͤck mancher
meiner Freunde zu gruͤnden; und ich kann die Fruͤchte deſſelben
um ſo ruhiger genießen, je weniger ich dieſelben vorherſah, je
[29] weniger ich um ihretwillen handelte, und je ſorgfaͤltiger ich mich
auch fuͤr die geringſten Anſpruͤche huͤtete! —
Ueberzeugt, liebe Frau Baſe! von dem guͤtigen Antheil, den
Sie und der Herr Vetter u. ſ. w. an meinem Schickſal nehmen,
wuͤrd’ ich ein Verbrechen zu begehn geglaubt haben durch Vor¬
enthaltung dieſer Nachrichten. — Ich ſehe mich endlich auch im
Stande, meine Schuld, mit herzlichem Dank fuͤr Ihre Guͤt' und
Nachſicht, Ihnen abtragen zu koͤnnen. Sie werden dieſelbe von
Boͤckh bezahlt erhalten, dem ich heute eine Anweiſung auf Stra߬
burg zuſende. Sollt’ Ihnen dieſer ſchuldig geblieben ſein bis
jetzt, ſo fall' Ihr Unwill' auf mich. Das durchaus unvorherge¬
ſehene Betragen meines Onkels verzoͤgerte eine Bezahlung an
ihn auf ſo viel Monat, als ich auf Tage rechnete; doch wuͤrd'
ich andre Anſtalten getroffen haben, haͤtt' er mir nicht geſchrie¬
ben, es geh' ihm wohl! Mein Aufenthalt in Frankreich war mir
ſehr nuͤtzlich und von unbezahlbar wohlthaͤtigem Einfluß auf mein
ganzes Leben. Ich habe die Menſchheit im Großen arbeiten geſe¬
hen mit denſelben Triebfedern, womit ſie im Kleinen wirkt. Ich
bin mit dem Detail vieler Begebenheiten und Verhaͤltniſſe bekannt
geworden, worin ich fremd ſein um vieles nicht moͤchte. Sehr
gerne wuͤrd' ich Ihnen manches uͤber die franzoͤſiſche Revolution,
uͤber die Haupttriebfedern derſelben und uͤber den Karakter der
wichtigſten handelnden Perſonen mittheilen, erlaubte der enge
Raum eines Briefes auch nur einigermaßen ertraͤglich von dieſen
Dingen zu reden. — Sollten indeß dieſe oder jene Punkte Sie
oder den Herrn Vetter vorzuͤglich intereſſiren, ſo werd' ich auf
beſtimmte Fragen mit vielem Vergnuͤgen und mit moͤglichſter
Vollſtaͤndigkeit antworten. Ich habe Paris um ſo lieber verlaſ¬
ſen, weil in den Augenblicken meines Weggehens durchaus alle
Lehranſtalten in Unordnung geriethen, und weil, vorzuͤglich in
meinem Fache, nichts mehr zu profitiren war, man moͤchte denn
[30] die Amputation des Kopfs fuͤr etwas rechnen, die haͤufig zu ſehn
war, die aber in der gewoͤhnlichen Praxis nicht vorzukommen
pflegt. — Hier bin ich in der gluͤcklichſten Ruhe, in der ausge¬
ſuchteſten Geſellſchaft, und in dem angenehmſten Wechſel von
Arbeit und Zerſtreuung! —
Sie werden mich recht ſehr erfreuen, wenn Sie mir bald¬
moͤglichſt einige Nachricht von ſich zukommen laſſen; in der an¬
genehmen Erwartung derſelben bin ich, liebe Frau Baſe, Ihr
Sie kindlichliebender Pflegeſohn J. E. Bollmann.
(Chez M. Talleyrand-ancien Evêque d'Autun, Kensington-
Square.)
5.
Gute, inniggeliebte, vernachlaͤſſigte, aber nie vergeſſene
Freundin! Der Ueberbringer dieſes Briefes iſt Herr Pannifex,
ein guter braver Landsmann von Ihnen, welchen ich in London
kennen lernte, und mit dem ich vergnuͤgt und angenehm von
dort bis hieher reiſte. — Ihren Brief, den einzigen, welchen Sie
mir nach London geſchrieben, hab' ich richtig erhalten; ich hab'
ihn oft beantworten wollen, und ich wuͤrd' es mir zum Ver¬
brechen rechnen, es nicht gewollt zu haben, aber die Ausfuͤhrung
des guten Vorſatzes iſt immer verzoͤgert worden, vorzuͤglich da¬
durch, daß ich immer den Augenblick abwarten wollte, um Ihnen
eine gewiſſe angenehme Nachricht geben zu koͤnnen, und daß eben
dieſer Augenblick nicht kam. — Ich bin gegenwaͤrtig auf einer
Reiſe nach Berlin begriffen, die ich eigentlich nicht ſowohl zum
Vergnuͤgen als in Geſchaͤften unternommen habe; von wo aus
ich wieder nach London zuruͤckkehren werde, wohin meine heißeſten
Wuͤnſche mich ziehn. Ich bin ſo ſehr eilig, daß ich nicht einmal
die Freunde in Offenbach ſehn kann. Ich werde von hier bis
[31] Berlin Tag und Nacht reiſen! Verzeihen Sie daher, liebe Freun¬
din, daß ich dieſen Brief ſo kurz abbreche; ich verſpreche Ihnen
einen langen und ausfuͤhrlichen, auf mein heilig Wort, von
Berlin aus!
Einſtweilen ſein Sie verſichert, daß, obwohl verwickelt in
mancherlei Verhaͤltniſſen und mannichfaltig ausgeſetzt geweſen,
dennoch keine der Beſorgniſſe gegruͤndet geweſen iſt, die Sie in
Ihrem Brief an mich aͤußerten. Ich glaube vielmehr, daß ich
beſſer geworden bin! Mein Herz und mein Karakter ſollen immer
rein und meiner herzlichlieben Pflegemutter wuͤrdig bleiben!
(Meine beſten Empfehlungen an den lieben Herrn Better
und die Freunde. In groͤßter Eile!) I. E. Bollmann.
6.
Ich hoffe, liebe Frau Baſe! daß Sie durch Herrn Pannifex
einen Brief erhalten haben, welchen ich in Frankfurt an Sie
ſchrieb. Ich verſprach Ihnen darin einen ausfuͤhrlichen, und
mein Verſprechen waͤre ſchon erfuͤllt, haͤtte ich mir nicht ge¬
ſchmeichelt, Sie perſoͤnlich zu uͤberraſchen. — Ich glaubte naͤm¬
lich von Berlin aus zur Armee gehn zu muͤſſen, ich war ſogar
ſchon auf dem Wege! aber gekommen bis Fulda erhielt ich Nach¬
richten, welche mich noͤthigten wieder umzukehren; dies wird
Ihnen unten deutlicher werden! —
Ich bin willens, liebe Freundin, Ihnen recht weitlaͤufig zu
ſchreiben, um die Liebe zu Ihrem Pflegeſohn und das Vertrauen
auf ſein gutes Herz zu retten, welche ſonſt ſchwankend werden
duͤrften, und die mir doch unendlich theuer ſind. Bevor ich aber
von dem ſpreche, was mir in Frankreich und in England be¬
gegnete, erlauben Sie mir einen Augenblick auf die Zeit meines
[32] letzten BeiIhnenſeins zuruͤckkommen zu duͤrfen; nicht um Ihnen
etwas Neues zu erzaͤhlen, ſondern nur um der Genugthuung
willen, Ihnen ſelbſt geſagt zu haben, was Sie durch eigne
Beobachtung und durch andre Perſonen zum Theil vermuthlich
ſchon wiſſen.
Mir war nicht ſo wohl bei Ihnen in der letzten Zeit, als
wie im Anfange; ich war weniger offen, weil mein Betragen
weniger fehlerfrei war. Ueber mein Billardſpielen und uͤber mein
Verhaͤltniß mit B. macht’ ich mir Vorwuͤrfe, und uͤber beides
verdient’ ich Tadel. — Meine Finanzen waren durch Billard¬
ſpielen zerruͤttet; ich brauchte mehr Geld, um nach Straßburg
zu kommen, als wie ich hatte. Indeſſen waren meine Be¬
muͤhungen, dem Freunde Geld zu verſchaffen, darum nicht weniger
ehrlich; ich wuͤrde ohne die eigne Verlegenheit eben ſo gehan¬
delt haben, nur waren wir uͤbereingekommen, daß er mir etwas
abgeben ſollte, obwohl er die ganze fuͤr ihn geſuchte Summe
noͤthig hatte. Ich hofft’ ihm dieſes von Straßburg ſogleich wie¬
derſchicken zu koͤnnen, indem ich nicht auf das lange Ausbleiben
der Briefe vom Onkel und nicht darauf rechnete, daß er mir
nur eben wuͤrde zukommen laſſen, was nothduͤrftig war, um
bis Paris zu kommen. Dieſe unedle Leidenſchaft des Spiels iſt
erſtorben, wo ſie entſtanden war, und ich freue mich, Sie ver¬
ſichern zu koͤnnen, daß ich ſeitdem nie wieder, außer einige wenige
mal mit guten Freunden, ſpielte! — —
— In Straßburg macht’ ich durch Boͤckmanns Empfehlung
die Bekanntſchaft von Tuͤrckheims, welche mich ſehr lieb, ſo lieb
gewannen, daß ſie mir auf ihre Beihuͤlfe zu zaͤhlen erlaubten,
als der Onkel in Paris mich verlaſſen hatte. Seit kurzer Zeit
haben Umſtaͤnde, hoffentlich nur voruͤbergehend, uns von einander
entfernt, welche ich ſelbſt noch nicht kenn’ und nicht begreife, und
wovon ich alſo nicht reden kann.
[33]
In Paris wiſſen Sie wie’s ging. — Sie glauben aber,
Ihrem Briefe nach, ich habe meinen Onkel falſch beurtheilt. Ich
verſichre Sie, liebe Frau Baſe, auch jetzt, da alle Verbindungen
zwiſchen uns ſchon laͤngſt aufgehoͤrt haben, denk’ ich noch von
ihm wie damals. Er hat alle die Anmaßung eines kleinſeeligen
Emporgekommenen, und die ſchreckliche Indifferenz der Leute,
deren Kopf und Herz leer ſind. Er macht beſtaͤndig ſein Gluͤck
und ſeine Arbeitſamkeit geltend; ſeine Wohlthaten ſind druͤckend,
das Betragen deſſelben gegen meinen juͤngern Bruder, der bei
ihm iſt, der beſte Junge von der Welt, und neuere Vorfaͤlle
zwiſchen mir und ihm haben dies nur zu ſehr beſtaͤtigt! Sein
Wille mag nicht boͤſe ſein, aber ſeine Handlungs- und Denkungs¬
art iſt roh, und die vernuͤnftigſte Maßregel mit ihm die: alle
Verbindungen und Verhaͤltniſſe moͤglichſt ſorgfaͤltig zu vermeiden!
— Er hatt’ etwas angefangen, was er nicht konnt’ oder wollte.
Ich bat ihn alſo, mir nur noch wenigſtens etwas zu geben.
Er gab mir ſechshundert Livres in Aſſignaten, und uͤberließ mich
Gott und meinem Schickſal in einer ungeheuren Stadt, deren
Sprach’ ich erſt lernen mußte, um mir ſelbſt etwas verdienen
zu koͤnnen. In dieſer Zeit ſchrieb ich Ihnen meinen zweiten
Brief; ein Hausknecht, der ihn auf die Poſt trug, hatte das
Porto mir angerechnet, aber nicht bezahlt. Daher der Zufall,
daß er Ihnen ſo ſpaͤt erſt zu Handen kam, und darum hab’ ich
auch Ihre Antwort nicht empfangen, deren Verluſt ich recht
ſchmerzlich bedaure.
Ich hatt’ in Straßburg einen gewiſſen Philipp Heiſch kennen
gelernt, der in dem Tuͤrkheim’ſchen Hauſe freundſchaftlich um¬
ging. In Paris trafen wir uns wieder. Er begleitete dorthin
ſeinen Bruder Friedrich Heiſch, einen jungen Kaufmann, welcher
bei einem der erſten Banquiers einen ſehr guten Platz bekommen
hatte. Er blieb ungefaͤhr drei Wochen bei ſeinem Bruder und
3[34] ging dann wieder zuruͤck nach Straßburg. — Friedrich Heiſch
war ein junger Mann von einundzwanzig Jahren, ein wahres
unſchuldiges Naturkind. Er hatte die Handlung in einem guten
Hauſe in Straßburg ſieben Jahre lang gelernt, war fuͤnf davon
in ſeine Prinzipalin verliebt geweſen, und ſprach ihren Namen
nicht aus ohne Erroͤthen. Seine Seele war rein wie Kryſtall,
er wußte von allem Boͤſen nichts wie die Namen, und hatt' ein
ſehr gefuͤhlvolles Herz, das ganz ungetheilt und mit vollem Ver¬
trauen ſich hingab! Sie koͤnnen leicht denken, daß eine ſo ſeltene
Erſcheinung mir nicht gleichguͤltig war; wir ſchloſſen uns bald
aͤußerſt feſt aneinander, und nahmen ein gemeinſchaftliches Zim¬
mer, feſt entſchloſſen, Freud' und Leid miteinander zu theilen.
Mein Heiſch war nur Mittags und Abends zu Hauſe, folg¬
lich hatte ich beinahe den Alleingenuß der Wohnung. Ich wen¬
dete alles moͤgliche an, um franzoͤſiſch zu lernen, bot deutſchen
Buchhaͤndlern Ueberſetzungen franzoͤſiſcher Werke an, hoͤrte zwei
Kollegia, ließ mich in den oͤffentlichen Blaͤttern als Augen- und
Hautkrankheiten-Doktor fuͤr nothleidende Arme ankuͤndigen, bekam
ſechs bis ſieben deſperate Patienten, die nicht arm waren, dok¬
terte eine lange Zeit muͤhſam und nach beſten Kraͤften, brachte
einige ein bischen zur Beſſerung und wurde von keinem bezahlt.
Zuletzt fiſcht' ich einen Abbé auf, der ſich die kleine Zehe wegen
der uͤbeln am Gehen hindernden Anheilung derſelben, nachdem
ſie gebrochen geweſen war, wollte abſchneiden laſſen. Wir wur¬
den eins fuͤr hundert Livres. Aber kurz vor der Operation fiel
mein Abbé in eine Ohnmacht, aus der er ſich nur wieder erholte,
um mich auf den Knien zu bitten, fuͤr diesmal das Abſchneiden
noch zu verſchieben. Ich ging und hab' ihn nicht wieder geſeh'n!
— Dies iſt die Geſchichte meiner poetiſchen Laufbahn in Paris.
Dieſe Zeit wuͤrde aͤußerſt traurig geweſen ſein, haͤtten nicht
die politiſchen Begebenheiten angefangen mich zu intereſſiren. Die
[35] damalige Lage Frankreichs war fuͤr mich ein weites Feld; ich
ſuchte der Geſchichte der Revolution beſtmoͤglichſt inne zu werden,
beobachtete ſoviel ich konnte, und erkannte bald (ohne mich fuͤr
irgend eine der verſchiedenen Partheien zu erhitzen), in dem
Sturme des Ganzen die fuͤrchterlichſte Kriſe eines ſeit langer Zeit
durch die Folgen aller moͤglichen Ausſchweifungen ſchwer kranken
Staatskoͤrpers. Ich ſah einen Haufen, den wilder Enthuſiasmus
zu großen Bewegungen fortriß; aber nirgends ſah ich Freiheit,
Geſetzkraft, Ordnung. Ueberall arbeiteten Privatleidenſchaften,
vorzuͤglich Habſucht und Herrſchſucht, durch und wider einander.
Ueberall war das oͤffentliche Beſte ausgeſtecktes, faſt nirgends
war es wirkliches Ziel! — Schon damals glaubt’ ich, daß nichts
von Beſtand ſein wuͤrde; ich ſah ein uͤppiges, ſittenloſes Volk;
„die Knaben,“ ſagt’ ich, „muͤſſen erſt wieder aufwachſen unter
Schlachten und Blut, die Maͤdchen unter Truͤbſal und Thraͤnen
— eher wird’s nicht beſſer!“ Und noch jetzt iſt mein Wunſch,
daß die Kriſe austoben, aber nicht erſtickt werden moͤge, damit
die feindlichen Elemente wahrhaftig ſich zerſtoͤren, damit die
Gluth der Krankheit nicht in’s Innere ſich verſchraͤnke, ſondern
wirklich erloͤſche, denn nur unter dieſen Bedingungen, daͤucht
mich, kann dauerhaftes Wohl aus der allgemeinen Zerruͤttung
hervorgehn! — Ob’s die Habſucht der Großen erlauben wird,
weiß ich nicht!
Wenn ich nicht hell in dieſen Dingen geſehn habe, ſo lag
die Schuld wenigſtens nicht an den Duͤnſten der Unmaͤßigkeit,
denn ein magres Mittageſſen fuͤr dreißig Sous, ein Endivien¬
ſalat abends, und Rettige mit Butterbrot morgens — dies war
unſre taͤgliche Koſt. Meine ſechshundert Livres waren alle, und
wir fingen nun an, von der Einnahme des guten Heiſch gemein¬
ſchaftlich zu leben, immer in der Hoffnung, daß bald eine Gele¬
genheit auch fuͤr mich ſich zeigen wuͤrde, um was zu verdienen;
3[✷][36] aber beinahe haͤtte der 10. Auguſt aller Noth und aller Hoffnung
auf Einmal ein Ende gemacht. Wir hoͤrten in der Nacht das
Laͤuten der Glocken, und ſahn am Morgen das Gewuͤhl des be¬
waffneten Volks. Mein Heiſch mußte zur Arbeit; ich ſelbſt ging
mit einem Freund in den Garten der Tuilerien. Wir ſahen
uͤberall viel Bewegung. Zuletzt kam der Koͤnig mit ſeiner Familie,
umgeben von Soldaten, aus dem Schloſſe, und ging zur Assem¬
blée nationale, deren damaliger Verſammlungsſaal an jenen
Garten ſtieß. Wir fanden Mittel, uns mit hinein zu draͤngen.
Der Koͤnig war wie einer, der nicht weiß, was mit ihm iſt und
mit ihm werden ſoll, betaͤubt und kraftlos. Die Koͤnigin, voll
Hoheit und Wuͤrde, ſchien nur Bedauern fuͤr ihre Kinder zu
haben, nur Verachtung fuͤr die Verſammlung und keine Sorge
fuͤr ſich ſelbſt! — Man verhandelte dies und jenes, als auf
Einmal die erſten Schuͤſſe fielen. Die ganze Verſammlung verlor
den Kopf, mein Freund auch! Er rannte fort wie beſeſſen, natuͤr¬
lich rann ich mit, denn trotz meiner Bemuͤhungen ließ er ſich
nicht halten. Wie wir draußen waren, ging die Noth erſt an;
uͤberall Waffen und Schießen; — wir konnten nicht vor- und
nicht ruͤckwaͤrts. Mein Freund rettete ſich in eine kleine Huͤtte,
wo er in den Schornſtein kroch, ich ſelbſt entkam durch's Ge¬
tuͤmmel!
Einige Tage nachher kam der Herr Gambs zu mir, der
Prediger an der ſchwediſchen Kapelle. Er ſprach von der Rettung
eines Ungluͤcklichen, in großer Gefahr Schwebenden; ich errieth,
wer’s ſei. Er fuͤhrte mich zur Gemahlin des ſchwediſchen Ge¬
ſandten, Madame de Staël. Eine hochſchwangere, um ihren
Geliebten jammernde Frau wirkte ſtark auf meine Einbildungs¬
kraft. Sie koͤnnen ſich's denken, wie ſehr ſie jammerte, denn
ihr Geliebter ſeit neun Jahren, ſollte eigentlich bei der Armee
ſein. Er war in Paris nur auf ihr Bitten und heimlich,
[37] aber man wußte ſeine Anweſenheit, man war begierig auf ſeinen
Kopf, man forſchte nach ihm, und man ſprach von Durchſuchung
des Hauſes. — Eine Frau in Thraͤnen, ein Mann in Lebens¬
noth, die Hoffnung der Freud' einer gelungenen Rettung, die
Ausſicht auf England, die Moͤglichkeit einer Verbeſſerung meiner
Lage, der Reiz des Außerordentlichen — dies alles wirkte zu¬
ſammen. Mein Entſchluß war bald gefaßt. „Ich uͤbernehm' es,“
ſagt' ich, „und will meinen Plan bringen“. — Auch dieſer war
bald fertig! Nur den zweiten Paß zu bekommen hielt ſchwer.
Ich lief drei Tage lang zu allen Englaͤndern, zu allen Freunden,
die ich kannte — nichts! Keiner wollt' es wagen! Zuletzt erſt
fiel mein guter Heiſch mir ein. Wir gingen zum engliſchen Ge¬
ſandten; Heiſch mußte ſich fuͤr einen Hannoveraner ausgeben.
Wir bekamen einen Paß. Er wurde gegen einen andern einge¬
tauſcht von Lebrun, Miniſter der auswaͤrtigen Angelegenheiten,
dann unterſchrieben von Petion, dem Maire, und ſo war's
richtig! — Der Name von Heiſch war zum Gluͤck auf dem Paß
verſchrieben, und er mußte ſich auch verborgen halten am Tage
der Flucht. Er ſchied von mir mit der Verſicherung, mir ſobald
wie moͤglich zu folgen; die Staël hatte ihm ein Geſchenk gemacht,
waͤhrend er noch in Paris war. —
Narbonne ſchlief bei mir die letzte Nacht vor der Abreiſe.
Morgens um 4 Uhr ging's fort. Wir mußten auf die Wachſtube
voll Menſchen gehn, bevor wir zur Stadt hinaus konnten. Das
Wort Englaͤnder und unſre Freimuͤthigkeit verblendeten die Augen.
Geplauder uͤber die Meinung der Englaͤnder von der Revolution
zerſtreute die Aufmerkſamkeit. Unſre Paͤſſe wurden endlich unter¬
ſchrieben. Wir fuhren fort. Verſchiedene Wiederholung derſelben
Scene unterwegs. Wir kamen gluͤcklich nach Boulogne. Wir
flogen im Sturm uͤber's Meer. Wir ſchliefen die zweite Nacht
[38] ruhig in Dover. Wir waren am dritten Abend zu Kenſington,
dem Ziel unſrer Reiſe.
Narbonne iſt ein ziemlich hoher, etwas plump gebauter
ſtarker Mann, aber deſſen Kopf etwas Auffallendes, Großes,
Ueberlegenes hat. Er iſt unerſchoͤpflich an Witz, an Reichthum
von Ideen. Er iſt vollendet in allen geſellſchaftlichen Tugenden.
Er verbreitet Anmuth uͤber das Duͤrrſte. Er reißt unwiderſteh¬
lich fort, und macht, wenn er will, einen Einzelnen wie eine
ganze Geſellſchaft trunken! — Es war nur ein Mann in Frank¬
reich, der ihm in dieſer Ruͤckſicht an die Seite geſetzt wurde, und
der ihn, meiner Meinung nach, noch bei Weitem uͤbertrifft, —
dies iſt ſein Freund, Monſieur de Talleyrand, ehemals Evêque
d'Autun. — Narbonne gefaͤllt, aber er ermuͤdet auf die Laͤnge.
Man koͤnnte Talleyrand Jahre lang zuhoͤren. — Narbonne arbeitet
und verraͤth Beduͤrfniß zu gefallen, Talleyrand entſchluͤpft, was
er ſpricht, und es umgiebt ihn beſtaͤndig eine leidenſchaftloſe Be¬
haglichkeit und Ruhe. Was Narbonne ſagt, iſt mehr glaͤnzend;
was Talleyrand ſagt, mehr anmuthig, fein, niedlich. Narbonne
iſt nicht durchaus fuͤr alle Leute, ſehr empfindſame moͤgen ihn
nicht, er hat uͤber ſie keine Herrſchaft. Talleyrand, ohne weniger
moraliſch verdorben zu ſein, als Narbonne, kann die ſelbſt bis
zu Thraͤnen ruͤhren, welche ihn verachten! — Ich weiß hievon
merkwuͤrdige Beiſpiele!
Alle Franzoſen, vorzuͤglich die der großen Welt, ſtreben
nach obigen Vollkommenheiten, haben mehr oder weniger davon,
und dieſe Vorzuͤge ſind meiſtens das Beſte, was ſich an ihnen
auffinden laͤßt. Vorzuͤglich fehlt ihrem Ruhme großherzige Sim¬
plicitaͤt und geſunde Vernunft. Sie koͤnnen nichts grad und
natuͤrlich betreiben, ſie wollen immer Gewandtheit mit in's Spiel
bringen, und durch's Beſtreben, recht fein zu handeln, gehn die
meiſten von ihren Unternehmungen zu Grunde. Sie wollen immer
[39] uͤber die Dinge mit viel Geiſt ſprechen, ſie vertiefen ſich daher
blitzſchnell in die feinſten, entlegenſten Verhaͤltniſſe derſelben, ſehn
daruͤber die viel weſentlichern nicht, welche dicht vor ihren Augen
liegen, und ſchließen meiſtens falſch. Es fehlt ihnen uͤberdies
Feſtigkeit und Ausdauer. Sie ſind uͤbrigens gutherzig und han¬
deln ſelten anders ſchlecht, als aus Schwaͤche. Waͤhrend meinem
Aufenthalte in Kenſington, wo ſich in der letzten Zeit alles, was
vormals in Paris den glaͤnzendſten Zirkel ausmachte, verſammelte,
hab' ich ſehr viel Gelegenheit gehabt, Belege zu obigen Schil¬
derungen zu finden.— Sie glauben nicht, liebe Frau Baſe, wie
verſchieden von jenen Menſchen die Englaͤnder in ihrem Karakter
und Weſen ſind.—
Narbonne uͤberhaͤufte mich unterwegs mit Freundſchaftsver¬
ſicherungen, mit wiederholten Aeußerungen ſeiner Dankbarkeit,
mit einem Strom von ſchoͤnen Worten, die ich bewunderte, aber
wobei ich mich unwillkuͤrlich zuruͤckzog. Ich ſah darin nur die
Beſtrebungen, eine vermeintliche Pflicht zu erfuͤllen — aber es
war darin nichts Herziges, — Narbonne kannte mich nicht; er
konnte mich weder ſchaͤtzen noch lieben. Alſo war ich waͤhrend
der ganzen Reiſe zuruͤckgezogen und ernſt, und zuweilen heiter
uͤber den gluͤcklichen Ausgang des Wagſtuͤcks! —
Unter dieſer Stimmung kamen wir nach Kenſington, und
logirten uns ein bei Madame de la Châtre. Dieſe lag im Bett'
und war krank; ich verſchrieb ihr was, und ſuchte mich um die
Wirthin verdient zu machen. Sie wurde wieder beſſer, und
ſchenkte mir nachher ein Dutzend der feinſten engliſchen Schnupf¬
tuͤcher fuͤr meine Bemuͤhungen. Ich macht' ihr ein Gegengeſchenk
mit einer feinen engliſchen Scheere, deren ſie bedurfte. Narbonne
fuhr fort in ſeinem Betragen wie unterwegs. Ich ſagt' ihm
geradezu: „Sie ſind zu gut, Sie machen mich beklommen; Sie
kennen mich noch nicht; Sie wiſſen noch nicht, ob ich Freundſchaft
[40] verdiene.“ Er antwortete, ich ſei ein Original, und ließ mich
ruhig! — Ich habe nachher gemerkt, daß es ihm unangenehm
geweſen war, mich nicht gewinnen, nicht gleich an ſich feſſeln
zu koͤnnen.
Einige Tage nachher war Narbonne am Morgen fruͤh aus¬
gegangen, und ich fruͤhſtuͤckte allein mit Madame, die der fran¬
zoͤſiſchen Sitte gemaͤß noch im Bette lag. — Verheirathet nur
aus Convenienz, wie das bei allen Damen in Frankreich der
Fall iſt, und uͤberdies noch mit einem alten grauhaͤrigen Manne,
ſtand ſie ſchon ſeit neun Jahren in der engſten, vertrauteſten
Verbindung mit einem gewiſſen Monſieur de Jaucourt, einem
der Abgeordneten an der zweiten Aſſemblee. Madame de la
Châtre bekam einen Brief, waͤhrend wir noch Thee tranken, und
ſie hatt' ihn kaum halb geleſen, ſo fiel ſie in Convulſionen, die
bald auf einen fuͤrchterlichen Grad zunahmen. — Sie ſchrie, ſie
weinte, ſie ſchlug mit Haͤnden und Fuͤßen, ſie wollte ſterben, ſie
wollte fort auf der Stelle nach Paris. — Ihr Kammermaͤdchen
und ihr Sohn ſtuͤrzten herein, ein Knabe von zehn Jahren, und
machten noch mehr Laͤrm wie die Kranke ſelbſt. Ich ſchickte ſie
fort, um Narbonne zu ſuchen. — Die arme Frau fiel aus einem
Paroxysmus in den andern, ſie rief unablaͤſſig: „Es iſt vorbei,
er iſt verloren, ſie haben ihn feſtgenommen; ſie werden ihn um¬
bringen!“ — Ich ſchloß aus dem Allen, daß Jaucourt arretirt
worden ſei, und das war auch wirklich der Fall. — Ihr Zuſtand
fing nun an, mich doppelt zu intereſſiren, denn ich dachte, die
haͤtt' eine ſehr gute Gattin werden muͤſſen unter andern Um¬
ſtaͤnden, welche nach neunjaͤhrigem Umgang noch ſo heftig fuͤr
Jemand fuͤhlt, dem ſie gut iſt! — Ich wurde von dieſem Augen¬
blick an verliebt in Madame de la Châtre.
Ihre Anfaͤlle wurden immer aͤrger, ich hatte nie ſo was
Fuͤrchterliches geſehn und wußte mir keinen Rath mehr; als
[41] endlich Narbonne kam. — Sein Erſtes war, von den augen¬
blicklichen Anſtalten zur Reiſe nach Paris zu ſprechen; das Zweite,
daß man einen Courier hinſenden muͤſſe, — der Courier wurde
gleich geholt und fortgeſchickt; — das Dritte, es ſei am beſten,
nur bis Dover ſelbſt zu reiſen, und da die Zuruͤckkunft des
Couriers abzuwarten! — Sein Benehmen war unuͤbertrefflich
ſchoͤn; er fuͤhrte ſie in Zeit von anderthalb Stunden wieder zuruͤck
zur Vernunft und Ruhe, und ſeine geiſtvolle Geſchaͤftigkeit um
Madame herum waͤhrend der fuͤnf folgenden Tage war eins der
ſchoͤnſten Schauſpiele, die man ſich denken kann.
Am ſechſten kam die Nachricht von Jaucourt's Freilaſſung.
Madame de Staël war zu Manuel gefahren, damals Procureur
de la Commune. Sie hatt' ihn beinahe fußfaͤllig gebeten, ſich
fuͤr Jaucourt zu verwenden. Manuel, ſtill, finſter, in ſich ge¬
kehrt, von Kindsbeinen an Republikaner, war uͤbrigens kein
boͤſer Menſch. Er that das Seinige, und Jaucourt entkam aus
der Abbaye am Abend vor dem Gemoͤrd' am 2. September. —
Es wuͤrde Schad' um ihn geweſen ſein, haͤtt' er ſterben muͤſſen.
Er iſt ein guter Mann, in dem kein Falſch iſt.
Dieſe gute Nachricht von Jaucourt's Freilaſſung errieth
ich nur, — foͤrmlich mitgetheilt wurde ſie mir nicht. — Ich
hatte einigen Antheil an dem Kummer von Madame de la Châtre
genommen, und da ſie mich ſehr zu intereſſiren anfing, ſo ver¬
droß mich's um ſo mehr, daß man mich nicht Theil an der
Freude nehmen ließ. Ich wollte auf der Stell' aus dem Hauſe,
und verſchwieg Narbonne nicht, warum. „Sie werden mir dieſe
Kraͤnkung nicht anthun,“ ſagt' er, „die Weiber ſind ſchamhaft
mit ihren Geliebten; der Schmerz treibt uͤber alle Schranken
hinaus, aber mit der Ruhe kehrt die Ueberlegung wieder.“ —
Er hatte gleich mit Madame de la Châtre geſprochen, ſie nahm
den erſten Anlaß, um mir weitlaͤufig und vertraulich von den
[42] erhaltenen guten Nachrichten zu ſprechen. — Ich blieb! Von
dieſem Augenblick an ſagten ſie, ich ſei empfindlich und ſonderbar
wie Jean Jaques Rouſſeau, — und dieſen Karakter hab' ich
hernach behalten.
Indeſſen war ich verdammt, die ſchoͤne Madame de la Châtre
vom Morgen bis zum Abend zu betrachten. Ihr Weſen war
nicht ſanft, nicht guͤtig, nicht empfindſam, ſie war vielmehr
raſch, lebhaft, mannhaft, heftig ſchneidend zuweilen, und dieſe
Frauenzimmer ruͤhren mich ſonſt nicht; aber ſie war ehrlich, fein,
offen, hatte die ſchoͤnſte, vollkommenſte weibliche Form, Haͤnd'
und Fuͤße zum Mahlen, und eine Haut ſo weiß und fein, daß
es ſogar in England vergeblich geweſen ſein wuͤrde, eine ſchoͤnere
aufzuſuchen. Ich ſah ſie morgens ehe ſie aufſtand, abends ehe
ſie einſchlief, und den ganzen Tag uͤber bald ſitzend, bald ſtehend,
bald liegend auf dem Sopha in den ſchoͤnſt-moͤglichſten Attituͤden,
immer voll Leichtigkeit und Anmuth in ihren Bewegungen, —
ſie begegnete mir uͤberdies ſehr freundſchaftlich, und hatte die
Art von Freud' an mir, die man an einem Weſen von beſondrer
Art hat, deſſen Freimuͤthigkeit gefaͤllt. — Es war mir nicht
moͤglich, unter dieſen Umſtaͤnden gleichguͤltig zu bleiben.
Nach und nach kamen von Paris Talleyrand, Jaucourt,
Montmorency, und eine große Menge andrer Herren. Die Zirkel
bei Madame de la Châtre wurden ſehr brillant. Wir ſpeiſten
oft zu achtzehn bis zwanzig Perſonen. Gegenſtaͤnde aller Art
wurden verhandelt, Syſteme aller Art wurden vertheidigt, Anek¬
doten aller Art erzaͤhlt. Witz und Laune wurden vergoſſen! —
Natuͤrlicherweiſe konnt' ich mit dieſen Herrn in ihrer Art nicht
wetteifern; ich hielt mich daher deſto, genauer an meine eigne;
ich war ſo unfranzoͤſiſch wie moͤglich. Meiſtens kalt, ſtreng wahr
in allem, was ich ſagte, naiv aufrichtig, unverbindlich in Wor¬
ten, und aͤußerſt zuvorkommend, wo ich gefaͤllig ſein konnte,
[43] vorzuͤglich fehlte meiner Madame de la Châtre keine Nadel, kein
Etwas, ſo unbedeutend es auch ſei, das ich ihr nicht entgegen¬
trug, — treffend zuweilen in meinen Bemerkungen, vorzuͤglich
wenn die Herren im Disputiren ſich erhitzten und gegenſeitig
einander nicht verſtanden, uneitel, ſtolz-maͤnnlich, verſchafft’
ich mir eine Art von Exiſtenz, die mir nicht unangenehm war,
wobei mein wirklicher Karakter, glaub’ ich, gewann, und die
ſich beſſer fuͤhlen als beſchreiben laͤßt.
Ob indeß dies Leben auf die Dauer gut fuͤr mich geweſen
waͤre, weiß ich nicht. Ich las Voltaire und Rouſſeau, ſtudirte
die franzoͤſiſche Sprache und die Menſchen, die um mich waren,
aber meine naͤrriſche Leidenſchaft machte mich zuweilen mißmuthig,
und ſtoͤrte die Freiheit meiner Seelenkraͤfte. Zum Gluͤck zerſtreute
ſich die ganze Geſellſchaft. — Narbonne, Madame de la Châtre,
Jaucourt, Montmorency, hatten ein Landhaus gemiethet, wo
natuͤrlicherweiſe fuͤr mich nichts zu thun war. Die Uebrigen
gingen anderswo hin, und ich ſelbſt ging nach London, wo mein
guter Heiſch eben angekommen war. —
Kurz zuvor hatt’ ich einen ſehr freundſchaftlichen Brief von
Madame de Staël erhalten, worin ſie mich bevollmaͤchtigte, zu
jeder Zeit meines Lebens, dies ſind ihre eignen Worte, die Rechte
eines Bruders, eines Freundes, eines Wohlthaͤters auf ſie gel¬
tend zu machen! — Die Folge hat bewieſen, daß dieſer Brief
ſehr ehrlich geſchrieben war.
Ich erhielt auch einen Brief von Zimmermann in Hannover,
welcher mich mit Lobſpruͤchen uͤberhaͤufte, mir die ſchoͤnſten Aus¬
ſichten oͤffnete und ſogar ſchrieb, der Koͤnig wuͤrde mich ſprechen,
und hernach wuͤrde mein Gluͤck gemacht ſein. — Ich gab den
Brief Narbonne zu leſen, er war geſcheidter wie ich, und ſagte
nur blos: „Der Mann ſchreibt ſehr gut franzoͤſiſch“! — Wie¬
[44] wohl er Recht haben mochte, ſo hab' ich dennoch ihm lange Zeit
dieſe Antwort nicht verziehen. —
Ueberhaupt hatte Narbonne, zuverlaͤſſig aus dem oben an¬
gegebenen Grunde, ſeit geraumer Zeit ſich ſehr zuruͤckgezogen;
er hatt' auch uͤbel genommen, daß ich ihm von meinen Empfin¬
dungen fuͤr Madame de la Châtre nichts ſagte, von denen er
ſah, daß ſie mich quaͤlten.— Bei verſchiedenen freundſchaftlichen
Unterhaltungen, die ich in der letzten Zeit in Kenſington mit
ihm einzuleiten ſuchte, blieb er kalt. Er verließ mich uͤbrigens
unter vielen Freundſchaftsverſicherungen, verſprach, mich in London
zu beſuchen, mich zu Lord Grenville zu fuͤhren, an meinem Gluͤcke
zu arbeiten, u. ſ. w. — Heiſch, der ihn beſuchte, hatt' er mit
vieler Artigkeit empfangen und ihn gebeten, von ſeinen Empfeh¬
lungsbriefen noch keinen Gebrauch zu machen, indem er ſelbſt
bei verſchied'nen angeſehenen Kaufleuten in London von ſeiner
Bekanntſchaft ſich bemuͤhen wolle, ihm einen guten Platz zu ver¬
ſchaffen. Heiſch war erfreut daruͤber, und verſprach, Nachricht
von ihm zu erwarten. —
Die Trennungen in Kenſington gingen wie im Sturm, ich
habe ſeitdem Madame de la Châtre, welche bald darauf nach
Frankreich zuruͤckkehrte, wo ſie noch iſt, nicht wiedergeſehn. —
Ich logirte mich vorlaͤufig mit Freund Heiſch in London-Coffee¬
house, Ludgate-hill, einem großen Gaſthof in London, und
freute mich bald recht koͤniglich meiner wiedererlangten morali¬
ſchen Freiheit. —
Ich hatte damals fuͤnfzig Louisd'or, welche man mir in
Paris gegeben hatte, um nicht ohne alle Huͤlfsmittel zu ſein,
im Falle wir arretirt wuͤrden, oder daß uns ſonſt etwas zuſtieße.
— Ich ſprach in Kenſington vom Zuruͤckgeben, Narbonne fragte
mich ſtatt aller Antwort, ob ich nicht geſcheidt ſei? —
[45]
Dies fuͤhrt mich, liebe Frau Baſe, wieder auf Ihren Brief.
Sie ſchreiben: „In Paris war Ihnen der Gedanke bitter, Ihren
Nebenmenſchen gegen baare Bezahlung zu kuriren und doch.“ —
Geſetzt, ich haͤtte Narbonne geradezu fuͤr’s Geld gerettet, ſo ſehe
ich kaum, was in der Sache juſt Unmoraliſches waͤre. Alles
ehrliche Geldverdienen in der Welt iſt Verdienen durch Dienſt¬
leiſtungen, die hoͤheren Pflichten nicht widerſprechen, und mich
daͤucht nicht, daß es mehr ſtrafbar iſt, fuͤr ein gerettetes Leben
mit Gefahr des eignen ausgezeichnete Belohnung zu empfangen,
als fuͤr ein gerettetes Leben durch ein kuͤhnes Aderlaß, ein kuͤhnes
Brechmittel mit Gefahr des guten Rufs. Sein Leben vernuͤnftig
zu wagen, — d. h. mit der Wahrſcheinlichkeit es davon zu
bringen, und fuͤr [einen] hinlaͤnglich wichtigen Zweck, — iſt ſo
wenig einer Pflicht zuwider, als vernuͤnftigerweiſe ſeinen guten
Ruf zu wagen. — Aber die Staël war ſchwanger, und Nar¬
bonne’s Tod waͤre zuverlaͤſſig der Untergang dreier Geſchoͤpfe
geweſen! — Das Einzige, was ein feines Gefuͤhl dabei Bedenk¬
liches findet, und was auch Sie, liebe Freundin, bei Ihrem
Briefe geleitet hat, iſt die Bemerkung, daß es gewiſſe Dienſt¬
leiſtungen giebt, die zu edel ſind, um bezahlbar zu ſein, und die
man nach Rouſſeau nicht fuͤr Geld thun kann, ohne ſich ſelbſt
und die Sache zu erniedrigen! Dies iſt unſtreitig wahr! —
Aber ich hab’ auch mit Narbonne keinen Handel gemacht; es iſt
nicht mit Einer Silbe von Geld als von Motiv unter uns die
Rede geweſen. Ich bin innig uͤberzeugt, daß ich nicht um ein
haarbreit verſchieden gehandelt haben wuͤrde, ſelbſt bei der Ge¬
wißheit, keinen Pfennig dadurch zu gewinnen; aber ich geſteh’
auch eben ſo aufrichtig, daß unter dem Berechnen der moͤglichen
Folgen jener Handlung der Gedanke mir lieb war, meine Gluͤcks¬
umſtaͤnde dadurch vermuthlich zu verbeſſern. Ich wollte mir
einen Freund auf Koſten der groͤßten Gefahr machen, deſſen
[46] Ueberfluß ich nicht umhin konnte als vortheilhaft fuͤr mich ſein
koͤnnend mir vorzuſtellen, aber ich wuͤrde das Geld nicht als
Beweggrund haben denken koͤnnen, ohne mich vor mir ſelbſt zu
ſchaͤmen. Ich habe deßwegen in jener Ihrer Aeußerung die zaͤrt¬
liche Freundin tief gefuͤhlt, habe uͤber Ihre Liebe, uͤber Ihre
Beſorgniſſe mich gefreut, und ich wuͤrde dieſen weitlaͤufigen Brief,
dies Stuͤck Roman nicht ſchreiben, fuͤrchtet’ ich nicht, daß Sie
von manchen Vorfaͤllen ſchief unterrichtet ſein moͤchten, und
wuͤnſcht’ ich nicht, Sie zu uͤberzeugen, daß ich, trotz der mancherlei
begangnen Fehler, doch wenigſtens die Gefahren nicht gelaufen
bin, fuͤr welche Sie am meiſten zu fuͤrchten ſcheinen.
Ich fing nun an, mit meinem treuen braven Heiſch, den
ich wieder zu haben mich freute, London zu beſehn, legte mich
mit Eifer auf die Sprache, ſtudirte die Zeitungen, um das Volk
kennen zu lernen, worunter ich mich befand.
Acht Tage waren ungefaͤhr ſo verfloſſen, als mir Narbonne
eine gerichtliche Obligation zuſchickte, worin er ſich und ſeine
Erben verpflichtete, mir Zeit meines Lebens fuͤnfzig Louisd’or
jaͤhrlich zu bezahlen, als einen Beweis, wie es in der Obligation
hieß, ſeiner Dankbarkeit fuͤr meine ihm geleiſteten Dienſte. Dies
Papier war von einem Billet begleitet, worin er mich in ſehr
hoͤflichen Ausdruͤcken bat, das Beikommende anzunehmen, worin
er es bedauerte, daß Geſchaͤfte ihn verhindert haͤtten, mich zu
beſuchen, und worin er am Ende ſagte, nichts wuͤrd’ ihn ab¬
halten koͤnnen, in den naͤchſten Tagen zu mir zu kommen und
mich zu ſehn. — Ich war geſonnen, ſeine Obligation zu behal¬
ten, im Fall’ ich ſie, durch Narbonne’s kuͤnftiges Betragen be¬
rechtigt, als ein freundſchaftliches Geſchenk wuͤrde anſehn koͤnnen,
und ſchrieb ihm daher zuruͤck, ich ſaͤhe ſeinem Beſuche, um ihm
meine Dankbarkeit beweiſen zu koͤnnen, mit heißer Erwartung
entgegen. — Ich war dies um ſo mehr berechtigt zu ſchreiben,
[47] da Narbonne ſelbſt in ſeinem Billet mir anzeigte, er ſei gegen¬
waͤrtig bald hier, bald dort, und da das Landhaus, wo er eigent¬
lich zu ſuchen war, zwanzig engliſche Meilen von London lag.
Um die Zeit machte ich im Coffeehouse durch einen Dritten,
den ich ſchon in Paris gekannt hatte, die Bekanntſchaft eines
gewiſſen Erichſen, eines ſchwerreichen Kaufmanns aus Kopenhagen.
Es war ein ſehr huͤbſcher Mann, frei, offen, ſtolz, großmuͤthig
in ſeinem Weſen, dreißig Jahr alt, aber ſeit ſeinem dreizehnten
beſtaͤndig auf Reiſen; er war zweimal in Oſtindien geweſen,
war, ohne gelehrte Kenntniſſe zu haben, durch eigne Erfahrung
uͤber unendlich viele Dinge aͤußerſt richtig und umſtaͤndlich be¬
lehrt. Er verſtand ſich gut auf Menſchen, und kannte vorzuͤglich
England, wo er wie zu Hauſe war, mit allen ſeinen Verhaͤlt¬
niſſen durch und durch! — Nach einigen Unterhaltungen fing er an,
ſich fuͤr mich zu intereſſiren, und dies Intereſſe wuchs bald zu
einem ſolchen Grade, daß er ohne mich nicht fertig werden konnte.
Er nahm ſich vor, mich London kennen zu lehren. Wir beſahen
eine Merkwuͤrdigkeit nach der andern, gingen taͤglich ins Schau¬
ſpiel, beſuchten alle oͤffentlichen Haͤuſer, alle oͤffentlichen Zuſammen¬
kuͤnfte, und drei Wochen verflogen ſo im Taumel. Erichſen ver¬
ſtand in einem hohen Grade die Kunſt, zu beobachten. Sein Ver¬
ſtand brachte mannigfaltig zuſammen alles, was ſeinen Blicken be¬
gegnete. Er ſah nichts ohne zu denken, und uͤberraſchte mich oft
in großen Zirkeln mit Aufſchluͤſſen uͤber einzelne Perſonen, die es
unmoͤglich ſchien ohne genaue Bekanntſchaft mit denſelben geben
zu koͤnnen, und die er doch, wie er mir nachher bewies, nur aus
einzelnen Bemerkungen ſchoͤpfte. Er machte mich aufmerkſam auf
alles, was einem jungen Reiſenden merkwuͤrdig ſein kann, er
fuͤhrte mich zur Kenntniß engliſcher Sitten und engliſchen Karak¬
ters; er ſprach mir von der engliſchen Staatsverfaſſung und von
den eingeſchlichnen Mißbraͤuchen in dieſelbe, mit Einem Worte —
[48]
ich war keinen Augenblick bei ihm, ohne etwas Nuͤtzliches zu er¬
beuten! — Von den Koſten unſrer Zerſtreuungen bezahlt' ich
kaum nur den fuͤnften Theil, er wollte durchaus nicht, daß ich
alles zur Haͤlfte bezahlte, auch haͤtt' ich's nicht koͤnnen! Er
ſagt', ihm mache das alles nichts aus, ſein Gluͤck ſei gemacht,
er wuͤnſche mich zur Geſellſchaft zu haben, und ſo weiter, und
er that alles mit einer ſo guten Art, daß mir darum, weil ich
ihm Verbindlichkeiten ſchuldig ward, auch nicht ein bischen in
ſeinem Umgange weniger leicht, weniger behaglich war! —
Heiſch hatt' unterdeß Gebrauch von ſeinen Empfehlungs¬
briefen gemacht und wieder einen ſehr guten Platz bekommen.
Narbonne ließ durchaus nichts von ſich hoͤren, und das verdroß
mich um ſo mehr, weil dadurch ſeine Obligation das Anſehn
einer Bezahlung erhielt. Ich wollte ſie zu wiederholtenmalen
zuruͤckſenden, aber Erichſen hielt mich immer davon zuruͤck. Er
ſagte: „Die Großen taugen nichts; ihr Geld iſt beſſer wie ſie
ſelbſt; Narbonne wuͤrde ſich freuen, ſein Papier wieder zu haben,
und Sie noch obendrein auslachen; behalten Sie, was Sie haben,
und begehn Sie keine Thorheit aus falſcher Delikateſſe.“ —
Dieſe Gruͤnde verzoͤgerten wohl die Ausfuͤhrung meines Vor¬
habens, aber ſie befriedigten mich nicht, — die Obligation war
mir druͤckend. —
Erichſen faßte den Entſchluß, nach Paris zu gehn, um eine
Unternehmung in Getraide zu machen. Er hatt' einen eignen
Reiſewagen und folglich einen leeren Platz. Er dacht' in drei
Wochen wieder nach London zuruͤckzukommen, und drang heftig
in mich, ihn zu begleiten. — Es ging mir mit Paris, wie's oft
geht; wenn man aus einem Orte weg iſt, faͤllt' einem erſt bei,
was man noch haͤtte erforſchen, wornach man haͤtte ſehn, wovon
ſich unterrichten koͤnnen; drum war mir ein neuer kurzer Auf¬
enthalt in Paris ſo unrecht eben nicht. Die Gefahr war uͤber¬
[49] dies nur geringe, denn theils kannte man meine Geſchichte mit
Narbonne nur wenig, theils wußt' ich, daß man Niemand ohne
Nutzen verfolgt. Die Gelegenheit war ſchoͤn; ich entſchloß mich
und gab mein Verſprechen! — Erichſen war froh daruͤber. Er
ſagte, die ganze Reiſe, mein Aufenthalt in Paris, alles kurzum,
ſolle mir keinen Pfennig koſten, er habe mir fuͤr's Mitgehn,
nicht ich ihm fuͤr's Freihalten Verbindlichkeit. —
Alles waͤre gut gegangen, wenn wir allein geblieben waͤren,
aber es war in London ein gewiſſer Herr Rilliet, Banquier von
Paris, mit ſeiner Frau. Er war ſo halb und halb mit Auf¬
traͤgen nach England geſandt worden, aber die Sache war nicht
ganz klar. Er fuͤrchtete ſich ein bischen, wieder nach Frankreich
zu gehn, weil man ſchon harte Dekrete gegen die Ausgewander¬
ten gegeben hatte. Er hatte Erichſen kennen gelernt, und bat
ihn, in ſeiner Geſellſchaft reiſen zu duͤrfen, weil er dies fuͤr einen
kleinen Schutz hielt; Erichſen war's zufrieden. Wir fuhren ab
in zwei Reiſewagen, Rilliet mit ſeiner Frau und einem Kammer¬
maͤdchen, Erichſen und ich; ein Bedienter war zu Pferde. Wir
wechſelten auf jeder Station die Plaͤtze! Natuͤrlicherweiſe kam
ich auf meiner Tour bei Madame Rilliet zu ſitzen, und ich ent¬
deckte bald an ihr einen koͤſtlichen Schatz. Sie war nicht ſehr
groß, aber aͤußerſt fein gebaut und ohne Fehler im Verhaͤltniß.
Ihre gebogene Naſe allein haͤtte ein bischen kleiner ſein koͤnnen,
aber der Mund darunter war deſto huͤbſcher, und ihre großen
ſchwarzen, nie ſtummen, ſanften Augen waren unbeſchreiblich
ſchoͤn! Sie war auferzogen worden zugleich mit Madame de
Staël von dem beruͤhmten Abbé Raynal, welcher nichts verſaͤumt
hatte, ihrem von Natur ſchon regen und thaͤtigen Geiſte Reich¬
thum und Bildung zu geben. Sie hatte uͤberdies, was mehr
werth war, ein ſehr empfindſames Herz, eine reine fleckenloſe
Seele und einen ſehr feinen Sinn fuͤr's moraliſche Schoͤne. —
4[50]
Alle dieſe Genußfaͤhigkeiten und Kraͤfte blieben in ihrem taͤglichen
Leben ungebraucht und unbefriedigt, denn ihr Mann, den ſie
hatte nehmen muͤſſen, war nur ein guter Kaufmann. Sie war
vier und zwanzig Jahr alt. Sie war eine vertraute Freundin
von Madame de Staël, wiewohl ſie nicht alle Handlungen der¬
ſelben billigte. Sie kannte den Dienſt, welchen ich derſelben
geleiſtet hatte. Sie war ſehr beklommen, wieder nach Frankreich
zu gehn, und ſehr traurig, weil ſie in England einen vielgelieb¬
ten Sohn zuruͤcklaſſen mußte, der erſt drei Jahr alt war. —
Nehmen Sie alles dieſes zuſammen, und urtheilen Sie ſelbſt,
ob unſre Unterhaltungen im Wagen lange gleichguͤltig bleiben
konnten!
Ich bin nie verliebt geworden in Madame Rilliet, aber ſie
wurde meine innigſte Freundin. „Sie ſind ein Mann aus mei¬
nem Lande,“ ſagte ſie, nachdem wir ein paar Tage beiſammen
geweſen waren, und ich fuͤhlte, daß ſie eine Frau aus dem mei¬
nigen war. Nie hab' ich eine ſchoͤnere Reiſe gemacht; ſie dauerte
ſehr lange; wir waren beinahe vierzehn Tage unterwegs. Die
Rilliet hatte ſich davor gefuͤrchtet, und ihre Furcht wurde be¬
trogen. Ich hatte mir Vergnuͤgen verſprochen, aber ſo viel nicht!
— Wie viel haͤtt' ich zu thun, wollt' ich Ihnen nur halb mit¬
theilen, was all Intereſſantes und Schoͤnes zwiſchen uns vorfiel!
— Ungeſtoͤrt blieb indeſſen die Freude nicht lange. Erichſen war
zu fein, um nicht bald zu merken, wieviel die Rilliet anfing auf
mich zu halten. Er hielt ſelbſt zu viel auf ſie, und war zu
ehrgeizig, um nicht eiferſuͤchtig zu werden. Ich haͤtte ſeine ſchwache
Seite ſchonen ſollen, aber ich kannte ſie nicht, und nachdem ich
ſie kennen gelernt hatte, war es zu ſpaͤt. Er fing an kalt zu
werden, fing an, ſich gern an mir zu reiben und bitter zu dispu¬
tiren. Manche Umſtaͤnde trugen dazu bei, ſeine uͤble Stimmung
zu vermehren! —
[51]
Widrige Winde hielten uns hier Tage lang in Dover zuruͤck.
Die Rilliet war neugierig, meine Verhaͤltniſſe mit Narbonne zu
[kennen], und ich erzaͤhlt’ ihr alles, wie wir nach und nach ver¬
trauter zu werden anfingen. Sie unterſtuͤtzte ſehr den Entſchluß,
die Obligation an Narbonne zuruͤckzugeben. Ich ſchrieb an ihn
auf der Stelle, ſeine Obligation wuͤrde mir lieb geweſen ſein,
haͤtt’ ich ſie betrachten koͤnnen als wie ein Geſchenk, ſo wie es
ein Freund dem andern giebt, ſelbſt ohne vorhergegangene be¬
ſondre Dienſtleiſtung; ſeine Zuruͤckgezogenheit mache daraus eine
Bezahlung; ich ſei aber nicht gewohnt, mit aͤhnlichen Handlungen
zu wuchern, und ſende ihm ſein Papier zuruͤck, um mich von
einer Sache zu befreien, die mich nicht weniger druͤcke als ent¬
ehre; zu gleicher Zeit bekannt’ ich mich als ſeinen Schuldner fuͤr
die fuͤnfzig empfangenen Louisd’or, und bedauert’ es recht ſehr,
ſie nicht gleich zuruͤckgeben zu koͤnnen. — Heiſch, an welchen ich
dieſen Brief ſandte, mußte die Obligation beifuͤgen, und alles
an die Behoͤrde befoͤrdern! — —
Erichſen merkte, was geſchehen war, und ob er gleich nichts
ſagte, ſo haben doch ſpaͤtere Aeußerungen mir bewieſen, daß die
Hintanſetzung ſeines Raths ihn nicht wenig gekraͤnkt hatte.
Es zeigte ſich endlich ein guͤnſtiger, wiewohl ſehr ſchwacher
Wind, und wir ſchifften uns ein des Abends um 10 Uhr.
Es war eine truͤbe, halbhelle, ziemlich rauhe Novembernacht;
die Rilliet befuͤrchtete ſehr, krank zu werden, und ich bewog ſie
daher, auf dem Verdecke zu bleiben, weil man ſich da gewoͤhnlich
beſſer befindet. Sie ſetzte ſich wohl eingehuͤllt auf eine Art von
niedrigem Stuhl. Ich gab ihr hernach noch meinen Oberrock
und meinen Mantel. Ich ſetzte mich ſelbſt hinter ſie auf einen
erhoͤhten Theil des Schiffes, und ſie mußte Schultern und Kopf
auf meine Knie legen, um das Schwanken des Schiffes weniger
zu fuͤhlen. Sie lag auf meinem Schoß wie eine aͤgyptiſche Mumie,
4 *[52] und ich bot alle Kraͤfte meiner Seele auf, um durch eine inter¬
eſſante Unterhaltung ſie von der Idee der Gefahr abzuwenden.
Mitunter kam Schneegeſtoͤber; der Schaum der uͤbereinander¬
ſtuͤrzenden Wellen phosphoreszirte. Herr Rilliet lag in der Kajuͤte
und war krank. Erichſen, gleich einem alten Seehelden, ſaß
mitten auf dem Verdeck bei einer Lampe, ſchnitt Roaſtbeef vor,
und theilte Portwein aus. — Es war eine der ſchoͤnſten Naͤchte
meines Lebens, wiewohl vor Froſt meine Kniee zitterten und
meine Zaͤhne klappten!
Erichſen fand ſehr ſonderbar fuͤr einen Doktor, in einer
kalten Novembernacht, mit bloßem Rock und ohne Unterweſte,
ſich ſo preiszugeben. Die Rilliet wollte durchaus, daß ich meine
Bedeckungen wiedernaͤhme, und ſie in die Kajuͤte gehn ließe. Ich
demonſtrirt’ aber aus Leibeskraͤften, daß mir wohl ſei; daß ſie
dann in der Kajuͤte unfehlbar krank werden wuͤrde, und daß die
Kaͤlte allein noch Niemand geſchadet habe. — — Erichſen fuͤtterte
mich und traͤnkte mich, und es gelang mir, das zarte Geſchoͤpf¬
chen vollkommen wohl nach Calais zu bringen, woran ihre Be¬
ſorgniſſe fuͤr mich keinen geringen Antheil hatten.
Kaum angekommen, erhob ſich ein fuͤrchterlicher Sturm,
und wir freuten uns nicht wenig, in Sicherheit zu ſein.
Wir hatten nicht mit dem großen Schiffe bis Calais kommen
koͤnnen, weil Ebbe war, und der Anblick entzuͤckt’ uns, wie wir,
in einer kleinen Barke davon fliegend, das Packetboot ſchwebend
auf der Fluth zuruͤckließen. Nach und nach kamen wir bis Rouen,
wo die Rilliets blieben, und Erichſen und ich ſetzten die Reiſe
fort bis Paris.
Wir beſahen da vieles und verlebten waͤhrend drei Wochen
manche intereſſante Augenblicke, aber die alte Harmonie kam nicht
wieder. Wir entfernten uns vielmehr immer weiter von ein¬
ander, und dazu trug die Verſchiedenheit unſrer politiſchen Mei¬
[53] nungen und die fortdauernde Korreſpondenz zwiſchen mir und
der Rilliet nicht wenig bei. Erichſen war wuͤthender Republikaner,
und kannte nur wenig die geheime Geſchichte der Revolution und
die Schlechtigkeit der Menſchen, welche anfingen, ſich derſelben
zu bemaͤchtigen. Unſre Urtheile waren daher faſt immer ſich ent¬
gegengeſetzt, und das war um ſo trauriger, weil man beſtaͤndig
uͤberall faſt nur politiſche Gegenſtaͤnde verhandelte. Sein Auf¬
enthalt zog ſich uͤberdies in die Laͤnge, wir mußten uns trennen;
wir thaten es ohne Bitterkeit, aber das gegenſeitige Verhaͤltniß
zwiſchen uns war ſo ſehr veraͤndert, daß ich unwillkuͤrlich ſagte,
ich woll' ihm hundert und fuͤnfzig Livres in Aſſignaten, unge¬
faͤhr drei Louisd'or in Gold, die er mir zur Reiſe gab, weil ich
mit Geld nicht reichlich mich verſehen hatte, in London zuruͤck¬
geben. Er antwortete nichts hierauf, und ich reiſte fort. —
Meinen Weg nahm ich, wiewohl es Erichſen ſonderbar fand,
uͤber Rouen, wo ich einige koͤſtliche Tage zubrachte. „Sehn
Sie,“ ſagt' eines Tages die Rilliet, welche nach und nach meine
ganze Lage kennen gelernt hatte, „ſehn Sie, dieſe Boͤrſe iſt im
eigentlichen Sinne mein unbeſchraͤnktes Eigenthum; betrachten
Sie dieſes als das Ihrige, denn wenigſtens bin ich's nicht un¬
werth, daß Sie von mir nehmen,“ und die Thraͤnen liefen ihr
uͤber’s Geſicht. — Ich druͤckt' einen gluͤhenden Kuß auf ihre
Hand, — die groͤßte Kuͤhnheit, welche ich mir jemals mit ihr
erlaubte,— entwand mich ſo gut ich konnt', und verſprach, mich
ihrer zu erinnern, wenn ich jemals in Verlegenheit kommen
ſollte.
Ich ſchiffte mich zu Dieppe ein, landete nach ſechsunddreißig
Stunden morgens fruͤh am 23. Januar in Brigthelmſtone, und
kam noch am Abend deſſelben Tages nach London. — —
Ich richtete mich mit Heiſch wieder auf denſelben Fuß ein,
wie in Paris, ſuchte Bekanntſchaften zu machen, beſuchte Ho¬
[54] ſpitaͤler, legte mich ganz auf's Engliſche, ſtudirte die Geſchichte,
die politiſchen Verhaͤltniſſe, die Sitten des Landes, und brachte
ſo vier Monate, ich darf ſagen, fleißig zu. Ich darf von Eng¬
land nicht anfangen zu reden, ſonſt wuͤrde dieſer Brief, welcher
ſo ſchon zu einer ungeheuren Groͤße anſchwillt, vollends ein Buch.
Es iſt mit Einem Worte das Land der Freiheit, der geſunden
Vernunft, der Maͤnnlichkeit, der Großmuth und Behaglichkeit.
— Das Gouvernement verflicht ſich uͤberall in die Sitten und
in den Karakter der Voͤlker, und ohne zu wiſſen, daß man uͤber
die Graͤnze gekommen iſt, darf man zuweilen nur einen Bauern,
ein Dorf anſehn, um ſich zu uͤberzeugen, daß man auf dem Gebiet
eines andern Landesherrn iſt. Nirgends iſt dies auffallender,
als wie in England. Ordnungsſinn, Reſpekt fuͤr's Ganze, Halten
auf Regel, Beſcheidenheit, Feſtigkeit, Formgang, Ruhe, Ehr¬
furcht fuͤr die Sitte der Vorvaͤter, Nationalſtolz, laſſen ſich
beinahe in jedem Einzelnen vernehmen. Es giebt in England
Mißbraͤuche, ſo gut wie anderswo, und wer ſich Muͤhe geben
will, der kann davon ein wahres und haͤßliches Gemaͤlde zuſam¬
menbringen. Aber das verſteckte wenige Haͤßliche muß aufgeſucht
werden, das vorwiegende, uͤberall verbreitete Schoͤn' und Gute
bietet ſich entgegen! — Sie koͤnnen denken, liebe Freundin, daß,
von den Vorzuͤgen Englands innig durchdrungen ſein und der
Wunſch dort ſich anzubauen, fuͤr einen jungen Mann in meiner
Lage nicht lange zwei geſonderte Dinge ſein konnten; nur wie
dieſer Wunſch auszufuͤhren ſei? Das war die große Frage!
Ich hatte wieder angefangen unter guten Bekannten zu prak¬
tiziren, und hatte ſogar einige gluͤckliche Kuren gemacht, die
aber geheim gehalten wurden, um aͤltere, umſonſt ſich bemuͤht
habende Hausaͤrzte nicht zu beleidigen. Aber theils begriff ich,
daß ein großes Kapital dazu erfordert wuͤrd', um es auszu¬
halten bis zum entfernten Zeitpunkt, wo nach und nach er¬
[55] wordene große Bekanntſchaft, Ruf und Gluͤck mir eine hinlaͤng¬
liche Praxis verſchafft haben wuͤrden, um davon anſtaͤndig leben
zu koͤnnen; theils war die Liebe zu meinem Fach, durch naͤhere
Bekanntſchaft damit, ſchon ſeit geraumer Zeit betraͤchtlich er¬
kaltet. — Die Arzneikunſt hat wirklich keine feſten Prinzipien,
und kann keine haben und keine erhalten, weil wir wohl die
groben Theile unſers Koͤrpers, aber nicht die feinere Struktur
deſſelben kennen, nicht die innern bewegenden Kraͤfte, nicht die
Art und Weiſe, wie die Zerruͤttungen in ihnen entſtehen, weil
wir eben ſo wenig die innere Natur der Heilmittel und ihrer
naͤchſten Wirkungen erforſchen koͤnnen, und weil es nicht moͤglich
iſt, in der Medizin reine Erfahrungen zu machen, indem die
nngeheure Menge der nicht in Anſchlag zu bringenden mitwir¬
kenden Umſtaͤnde und Zufaͤlle die vorſichtigſten Schluͤſſe der beſten
Logik ſchwankend und unzuverlaͤſſig macht. Die Erfahrung be¬
weiſet dies Raiſonnement! — Glauben Sie mir auf mein Wort,
liebe Frau Baſe, in demſelben Falle, wo man in Deutſchland
purgirt, laͤßt man zu Ader in Frankreich und gibt Opium und
China in England. Letzteres in Deutſchland thun, hieße toͤdten,
und dort werden die Leute geſund davon, und wuͤrden es hoͤchſt
wahrſcheinlich noch beſſer, wenn ſie gar nichts naͤhmen. So
viele geſcheidte, weiſe Leute haben ſeit zweitauſend Jahren ge¬
dacht, geforſcht und geſchrieben, und dennoch lacht noch immer
der von heute uͤber den von geſtern, und nicht einmal uͤber die
Behandlung eines einfachen Fiebers iſt man in’s Reine! — Um
in der Laufbahn eines praktiſchen Arztes gluͤcklich zu ſein, muß
man entweder keinen Verſtand haben, oder ſeinen Verſtand
gefangen nehmen, und glaͤubig werden an Ein Syſtem, oder
roh genug ſein, um vom Vorurtheil der Leute Nutzen ziehn,
das Geld in den Beutel ſtreichen, und in’s Faͤuſtchen lachen zu
koͤnnen.
[56]
Alle praktiſchen Aerzte befinden ſich entweder durch Kaͤrg¬
lichkeit der Natur, oder durch Gewohnheit und Nothwendigkeit,
oder durch die Nichtswuͤrdigkeit ihres Karakters in einem der
drei beſagten Faͤlle, und die wenigen edeln, welche nur ge¬
zwungen und vermoͤge der Ueberzeugung, daß es beſſer iſt, irgend
ein ehrbares Handwerk, als gar keins zu treiben, auf der un¬
wiſſend gewaͤhlten Laufbahn fortgehn, geſtehn unter vier Augen
mit Kummer ihre Bedraͤngniß. — Von allen vier Klaſſen hab'
ich kennen gelernt! —
Geſetzt aber auch, die obigen Bemerkungen waͤren nicht
wahr, geſetzt, die praktiſche Arzneikunſt waͤr' eine feſtgegruͤndete
Wiſſenſchaft, ſo wuͤrde die Nuͤtzlichkeit derſelben dennoch nur
gering ſein, indem die hitzigen Krankheiten ſich meiſtens von
ſelbſt kuriren, und indem die langwierigen ihren Grund faſt
immer in phyſiſchen, moraliſchen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen
haben, die abzuaͤndern außer der Gewalt des Arztes liegt! —
Alle dieſe Vorwuͤrfe treffen indeß nur die innere Heilkunde
vorzuͤglich; in der Wundarzneikunſt iſt mehr Gewiſſes, ihr Nutzen
iſt mehr außer Zweifel; aber theils wuͤrde die Ausuͤbung der¬
ſelben immer empoͤrend fuͤr mein Gefuͤhl ſein, theils erfordert ſie
eine lange Uebung, die ich nicht Gelegenheit gehabt habe mir zu
verſchaffen.
Auch weiß ich wohl, daß trotz der Ungewißheit der Heil¬
kunde im Ganzen dennoch die Kurart von einigen wenigen Uebeln
ziemlich ſicher iſt. Aber die Anzahl derſelben iſt ſo aͤußerſt gering,
daß zuverlaͤſſig unter hundert verſchriebenen Rezepten keine acht
ſind, deren Zweckmaͤßigkeit, bei einer gewiſſenhaften und voll¬
ſtaͤndigen Unterſuchung, beweisbar waͤre. Und wie gering, wie
kuͤmmerlich iſt dieſe Genugthuung fuͤr ein ſo muͤhſames und trau¬
riges Leben, als das eines praktiſchen Arztes, wenn er ein fuͤh¬
lendes Herz hat!
[57]
Ich begreift endlich, daß die Aerzte in der Welt, wie ſie
nun einmal beſchaffen ſind, nothwendig ſind, waͤr's auch nur
wegen des einmal verbreiteten Glaubens an die Kunſt. Ein
Arzt rettet ſchwerlich mehr Leiber, als ein Prediger Seelen,
aber aus der gegenwaͤrtigen Ordnung der Dinge laſſen ſich Pre¬
diger ſo wenig als Aerzte verbannen.
Und dazu koͤmmt noch, daß ein weiſer Arzt ſchon darum
Gutes thut, weil er das Boͤſe, das ein ſchlechter an ſeinem Platz
thun wuͤrde, verhindert, und weil er unendlich viel Gelegenheit
hat, als Menſchenfreund noch heilſam zu wirken, wo ſeine Kunſt
ihn verlaͤßt.
Dieſe verſchiedenen Gruͤnde ſind hinreichend, um einen ge¬
ſcheidten Mann zu verhindern, nicht wider die Aerzte im Allge¬
meinen zu Felde zu ziehn, und um den zu beruhigen, welcher
nun einmal das Ungluͤck hat, Arzt ſein zu muͤſſen; aber ſie ſind
zu ſchwach, fuͤr mich wenigſtens, um nicht begierig ein andres
Handwerk zu ergreifen, wenn es vernuͤnftigerweiſe geſchehn kann.
Ja, wenn man gleich ein Arzt mit gemachtem Ruf und
alſo von Autoritaͤt ſein koͤnnte, — aber das muͤhſelige Quaͤlen
bis man dahin koͤmmt, das Wartenmuͤſſen auf Arbeit, die man
ſich menſchenfreundlicherweiſe nicht einmal wuͤnſchen darf, der
beſtaͤndige und ſo gefaͤhrliche Gegenſatz des eignen Vortheils und
des Vortheils des Kranken, der ewige Kampf mit den mancherlei
Vorurtheilen, die Nothwendigkeit, den Charlatan zu machen! —
Ich moͤchte beſoldeter, von der Polizei angeſetzter Geſundheits¬
rath ſein, aber ein praktiſcher Doktor, der zu den Kranken um's
Brod laͤuft, deſſen Einnahme mit der Menge der Rezepte im
Verhaͤltniß ſteht, und der um dieſer ſchaͤndlichen Sklaverei willen
faſt niemals ſagen und thun darf, was er moͤcht' und ſollte! —
Die Praxis oͤffnet auch kein beſtimmtes, regelmaͤßiges Feld der
Thaͤtigkeit, vorzuͤglich im Anfange nicht, und dies iſt vorzuͤglich
[58] fuͤr mich etwas ſehr Nothwendiges. Bald giebt's etwas zu
thun, bald wieder nichts; man muß immer warten auf Be¬
ſcheerung!
Manche dieſer Unannehmlichkeiten finden auch bei andern
Faͤchern ſtatt, aber durchaus bei keinem haͤufen ſie ſich ſo zu¬
ſammen, als wie bei der praktiſchen Heilkunſt. Ich bin indeſſen
nie aus dieſem Fache ganz herausgetreten, liebe Frau Baſe,
ſondern habe das Erlernte behalten und zu vermehren geſucht;
aber zugleich haben die obigen Betrachtungen, unterſtuͤtzt von
meinen Meinungen und Wuͤnſchen, mich bewogen, alles Moͤgliche
anzuwenden, um fuͤr die politiſche Karriere mich geſchickt zu
machen. Ich habe geſucht in eins der Bureaus von Pitt oder
Grenville zu kommen, und auf dieſen Zweck los arbeit' ich
noch!—
Ich machte vom Januar an bis zu Ende Mai ziemlich viel,
mehr oder weniger intereſſante Bekanntſchaften, aber im Ganzen
lebt' ich ſehr eingezogen und ſtill.
Sophia Hoffmann darf ich nicht uͤbergehn. Ich lernte ſie
kennen durch eine Empfehlung, welche Heiſch an ihren Mann
hatte; wir wurden beide, Heiſch und ich, ſehr bald im Hauſe
derſelben wie Kinder.— Sie iſt eins der ſeltnen Geſchoͤpfe,
deren natuͤrlicher Liebenswuͤrdigkeit die Kunſt nichts wuͤrde hin¬
zuſetzen koͤnnen. Ohne ſchoͤn zu ſein, iſt ſie aͤußerſt intereſſant.
Sie hat ein ſehr warmes Herz, und einen gewiſſen romantiſchen
Schwung, der ihre Geſellſchaft aͤußerſt angenehm macht. Sie
iſt uͤberdies ſehr lebhaft; mit einem Worte, ſie gleicht einem
deutſchen Fraͤulein der guten alten Ritterzeit!
Ich hab' ihr pflegemuͤtterliche Rechte uͤber mich eingeraͤumt,
und ſie hat die Pflichten, welche daraus entſprangen, mit einer
Guͤte, mit einer Sorgfalt, mit einer Aufopferung erfuͤllt, welche
[59] ein mehr foͤrmliches Denkmal von mir verlangen wuͤrden, waͤren
dies weniger fluͤchtige Zeilen.
Erſt im Mai kam Erichſen aus Frankreich wieder. Er ließ
mich ſeine Ankunft wiſſen. Mein Herz pochte, denn ich hatt’
ihn lieb. Ich ging nicht, ſondern ich flog zu ihm. Er empfing
mich freundlich, aber mit Herablaſſung, welches meine Stim¬
mung ſo blitzſchnell veraͤnderte, daß ich mich vor’s Kaminfeuer
ſtellte und von Muͤdigkeit ſprach. Er hatte wirklich ein Feuer,
weil der Morgen ſehr kalt war.
Es fehlte Erichſen, um ein ganz liebenswuͤrdiger oder we¬
nigſtens mein Mann zu ſein, eine gewiſſe edle Erhebung der
Seele. Mein Blick beim Hereintritt, mein Gluͤhn der Freude
haͤtt’ ihn entwaffnen ſollen, ſelbſt im Fall eines begangnen Ver¬
brechens, aber er behauptete ſich, und mein Zuruͤckfahren wie
Jemandes, der ſich verbrannt hat, haͤtte ſeine Rache ſein koͤnnen,
waͤr’ anders ſein Betragen Kunſt und nicht Temperamentsfolge
geweſen.
Ich ſah ihn waͤhrend ſeiner fuͤnftaͤgigen Anweſenheit in
London noch einigemal, aber nur fluͤchtig. — Ich wagte nicht
im eigentlichen Sinne von den drei Louisd’or zu ſprechen, die er
mir Reiſegeld gegeben hatte; er ſchrieb mir ein halb ſatiriſches
Billet und forderte ſie. Ich ſandte ſie ihm auf der Stell’, und
ſah ihn ſeitdem nicht wieder. Dieſe Art Demuͤthigung war ſeine
wirkliche Rache.
Er ſchiffte ſich noch denſelben Tag ein und fuhr nach Ko¬
penhagen — wo ihn ſeine Frau ſehnlichſt erwartete, — und in
einem eignen, fuͤr fuͤnftauſend Guineen gekauften Schiffe.
Es hat mir oft leid gethan, mit ihm zerfallen zu ſein.
Ich habe verſchiedenemal an ihn ſchreiben wollen; — nicht ſein
Forderungsbillet, aber ſeine Mienen beim erſten Wiederſehn
haben mich immer davon abgehalten.
[60]
Waͤhrend dieſer ganzen Zeit hoͤrt' ich durchaus nichts von
Narbonne. An die Staël hatte ich gleich nach Zuruͤckgabe der
Obligation von Rouen aus — ſie war damals in Genf — ge¬
ſchrieben und ihr alles aufrichtig erzaͤhlt. Mit der Rilliet blieb
ich im Briefwechſel, ſo lange bis die Aufhebung aller Verbindung
zwiſchen Frankreich und England die Fortſetzung deſſelben un¬
moͤglich machte.
In den erſten Tagen des Juni kam die Staël nach London.
Sie ſchrieb mir ein freundſchaftliches Billet, worin ſie mich nur
bat, ſie zu beſuchen.
Ich ging. Sie war mit Narbonne. „Willkommen, will¬
kommen, mein lieber Bollmann,“ rief die Staël. „Sie ſind ein
boͤſer Mann,“ ſagte Narbonne, „Sie haben mir einen kleinen
Streich geſpielt; Sie ſchrieben mir, Sie gingen nach Frankreich,
und ſind hier.“ Er wußte ſehr wohl mein Gehn und Wieder¬
kommen. Dies war alſo eine von den franzoͤſiſchen nichtsſagenden
Reden, worauf ich nichts erwiederte. —
„Wir muͤſſen allein zuſammen ſprechen,“ ſagte die Staël,
und ſomit nahm ſie mich beim Arm und fuͤhrte mich die Treppe
hinunter zu ihrem Wagen, denn ſie war gerad im Begriff, einen
nothwendigen Beſuch abzulegen. Als wir eben einſteigen wollten,
kam der genfer Geſandte, um ihr aufzuwarten; ſie gab ihm
gleichfalls Audienz in dem Wagen. Angekommen, wo ſie hin¬
wollte, ging der Geſandte fort; die Staël ſtieg aus, bat mich,
im Wagen zu warten, und ließ mich ſo eine halbe Stunde allein.
— Als ſie wiederkam, brachte ſie die Freundin mit, welche ſie
beſucht hatte, um ſie anderswo niederzuſetzen, — dann fuhren
wir nach Hauſe.
Sie war im Morgenhabit, und als wir auf ihre Stube kamen,
rief ſie ihr Maͤdchen, um ſich entkleiden zu laſſen — nun endlich
[61] waren wir allein, denn in den franzoͤſiſchen Sitten ſind die Do¬
meſtiken ſo gut wie Niemand. — Ich ſtand an der einen Ecke
des Kamins, ſchwarz angezogen von Kopf bis zu Fuß, gar herr¬
lich gepudert, und meinen Hut in der Hand haltend; ſie an der
andern im Unterroͤckchen und bloßen Hemde, ein [Stuͤckchen] Pa¬
pier zwiſchen den Fingern rollend, ohne welches ſie nie ſein kann.
Sie ſteht damit auf, und geht damit zu Bette. — Unter dieſen
Umſtaͤnden fing ſie an, Narbonne's Vertheidigung und Lobrede
zu machen, mit einer ſeltnen Waͤrm' und einer außerordentlichen
Fluth von Worten. — Ich wußte dem allem nichts entgegenzu¬
ſetzen, als: die Obligation habe mich gedruͤckt, ich wiſſe nicht
warum, ich habe ſie zuruͤckgegeben, nicht um Jemand zu kraͤnken,
ſondern um von einer Laſt mich zu befreien. „Sie ſind empfind¬
lich wie Jean Jaques Rouſſeau,“ ſagte ſie, und damit war unſre
Unterhaltung fuͤr diesmal zu Ende. Beim zweiten Beſuch war
ſie vertraulich, ſie erzaͤhlte mir manches aus der Geſchichte ihres
Lebens, ſprach vorzuͤglich viel von ihrer ungluͤcklichen Verheira¬
thung, von ihren dermaligen Verhaͤltniſſen mit Monſieur de Staël,
und beklagte vorzuͤglich das Schickſal der Großen, die, mehr
Sklaven wie Jemand, mannichfaltigem Druck unterworfen waͤren,
woraus vielerlei Uebel entſpraͤngen. Sie ſagte, Narbonne ſei ihre
erſte, ihre einzige Liebe; er hab' umſonſt um ſie geworben als
Maͤdchen; er ſei ihr Mann, u. ſ. w.
Beim drittenmal, wo Narbonne zugegen war, ſagte ſie:
„wir ſind alle gute Kinder, und muͤſſen nicht zuſammen kritteln.“
So war die Geſchichte wieder in Ordnung. Wir waren noch
einige Tage zuſammen in London; hernach ging die Staël mit
Narbonne auf's Land, wo ich ſie mehrmals beſucht habe. Sie
unterließ nicht, mir ſcherzend ſehr ſanfte italieniſche Arien vor¬
zuſingen und vorzuſpielen, wir wurden nach und nach ganz
freundſchaftlich, und alles Vergangene wurde vergeſſen.
[62]
Die Staël iſt ein Genie. Eine außerordentliche, excentriſche
Frau in allem was ſie macht und thut. Sie ſchlaͤft nur wenige
Stunden, und iſt die ganze uͤbrige Zeit hindurch in einer unun¬
terbrochenen fuͤrchterlichen Thaͤtigkeit. Ihre Reden ſind Abhand¬
lungen, oder eine zuſammengehaͤufte Maſſe von Laune und Witz.
Sie kann nur nicht alltaͤgliche Leute um ſich leiden. Waͤhrend
ſie friſirt wird, waͤhrend ſie fruͤhſtuͤckt, — im Ganzen genom¬
men ein Drittel von jedem Tag bringt ſie mit Schreiben zu.
Sie hat nicht Ruhe genug, um das Geſchriebene wieder vorzuneh¬
men, um auszubeſſern, um zu vollenden; aber ſelbſt die rohen
Ausguͤſſe ihrer unablaͤſſig gedraͤngtvollen Seele ſind von dem
aͤußerſten Intereſſe, und enthalten Bruchſtuͤcke voll des feinſten
Scharfſinns und der lebendigſten Kraft. Sie hat mehrere Werke
von ſehr ernſtem Inhalte fertig zum Druck liegen, und arbeitet
immer noch fort. Ich habe manches von ihren Sachen geleſen,
indem ſie's ſchrieb. Ihre Briefe uͤber Rouſſeau, herausgegeben,
als ſie ſiebzehn Jahr alt war, ſind bekannt. Sie hat manche
Fehler, aber auch manches, das bei Andern Fehler ſein wuͤrde,
iſt bei ihr keiner. Sie erfordert ihren eignen Maßſtab.
Sie iſt ziemlich gut gewachſen, aber ihr Geſicht iſt nicht
ſchoͤn. Sie iſt ein bischen kupferig und hat einen etwas aufge¬
worfenen Mund. Sie iſt nichts weniger als eitel. Sie hat
durchaus nicht das Anſehen einer gelehrten Frau. Sie hat ein
offenherzig freimuͤthiges, ganz ungezwungenes und durch einen
gewiſſen Karakter von Biederkeit und Wahrheit ſehr fuͤr ſie ein¬
nehmendes Weſen. Sie thut ſich durchaus nichts auf ihr Wiſſen
zu Gute, und ich habe ſie ſehr naiv ſagen hoͤren: „Einem Manne
gegenuͤber, der nur Geiſt hat, behaupt' ich mich; einem gegen¬
uͤber, der nur unterrichtet iſt, auch; aber wer beides verbindet,
laͤßt mich fuͤhlen, daß ich doch nur ein Weib bin!“
Sie ſuchte mir nuͤtzlich zu ſein, und machte mir verſchiedene
Bekanntſchaften. Unter andern die eines gewiſſen Herrn Lox,
eines reichen Guͤterbeſitzers, eines Mannes voll Geiſt und Kennt¬
niß, welcher ſeiner ſchwaͤchlichen Geſundheit halber von allen
oͤffentlichen Geſchaͤften entfernt, zwanzig engliſche Meilen von
London auf einem Gute, das Norbury heißt, ſich ſelbſt und ſei¬
ner Familie lebt. Er iſt allgemein geſchaͤtzt, [und] hat zwei er¬
wachſene Soͤhn' und zwei Toͤchter, wovon die juͤngſte Emilie heißt.
Ich hatt' ihn hier anfuͤhren wollen, weil er in einer Fortſetzung
dieſer Geſchichte wieder vorkommen duͤrfte.
Sie lehrte mich auch den beruͤhmten Grafen de Lally-To¬
lendal und eine gewiſſe Prinzeſſin von d'Hénin kennen. Beide
aus Frankreich, aber die jetzt in England leben.
Ungefaͤhr nach ſechs Wochen verließ Madam de Staël Eng¬
land. Ich habe ſeitdem wieder einen Brief von ihr erhalten.
Narbonne betrug ſich waͤhrend ihrer Anweſenheit und auch nach¬
her ſo aͤußerſt freundſchaftlich, daß wir vollkommen gut zuſam¬
men geworden ſind. Ich habe ſogar in einer kleinen Verlegenheit
einmal Geld von ihm gefordert, welches ihn entzuͤckt hat. —
Er iſt nicht boͤs, aber ſo aͤußerſt leichtſinnig, daß er ſeine Staël
ſelbſt vergeſſen koͤnnte. Ueberdies gewohnt, viel Einfluß zu ha¬
ben, großmuͤthig, verſchwenderiſch zu ſein, und alles zu koͤnnen,
war ihm nicht ganz wohl in England, wo er nichts konnte, und
er hatte mir zu mancherlei verſprochen, um mich nicht zu meiden.
Ich hatt' ihn uͤberdies gleich anfangs in Verlegenheit geſetzt,
indem er mir nicht genugzuthun wußte. Auch konnt' er mir
nicht genugthun, denn ich wollte Herzlichkeit, und das iſt gerade
das Einzige, was er nicht hat. —
Tolendal und d'Hénin fingen an, ſich fuͤr mich zu intereſ¬
ſiren. Die letztere, eine Dame von vierzig Jahren, eine nahe
Verwandte und vertraute Freundin von Lafayette, iſt was man
[64] geradezu eine ſehr gute Frau zu nennen pflegt. Sie hat nie den
Ruf der ſtrengſten Sittlichkeit verloren. Sie meint es redlich
mit jedermann und vorzuͤglich mit ihren Freunden. Sie wuͤrde
noch vollkommner in dieſem Karakter ſein, und vorzuͤglich davon
die ſchoͤne Außenſeite mehr tragen, wenn ſie keine Franzoͤſin
waͤre. —
Tolendal iſt von Allen, die ich aus Frankreich habe kennen
gelernt, der Mann, welchen ich am meiſten ſchaͤtz' und liebe.
Er iſt ein Tugendfreund, ein redlicher, gefuͤhlvoller, — mit
Einem Wort', ein herziger und wackrer Mann. Er iſt ein ſy¬
ſtematiſcher Denker, ein fleißiger Arbeiter, ein warmer Patriot;
er hat Beharrlichkeit in ſeinen Unternehmungen, und bleibt ſei¬
nen Ueberzeugungen treu! Von ſeiner Geſchichte kann ich hier
nicht weitlaͤufig reden.
Er ſpielt' eine glaͤnzende Rolle im Anfange der franzoͤſiſchen
Revolution. Er war Eines Sinnes mit Clermont-Tonnere,
Mounier und noch einigen Andern. Seine Mémoires à mes
Commettans und ſeine Schutzſchrift fuͤr den ungluͤcklichen Lud¬
wig den Sechzehnten, die beſte von allen, welche erſchienen ſind,
kennt man uͤberall.
Meine Verbindungen mit dieſen zwei Leuten ſind ſehr enge
geworden, und es iſt in ihren Angelegenheiten, oder wenigſtens
durch ihre Beſtrebungen fuͤr einen Dritten ſchon genannten Un¬
gluͤcklichen, fuͤr Lafayette, daß ich gegenwaͤrtig in Deutſchland
bin. Tolendal hat eine Abhandlung gemacht, welche die Unſchuld
des ſchaͤndlich Gefangengenommenen und ungerecht Gefangenge¬
haltenen auf die ſchoͤnſte Art an den Tag legt, und welcher eigen¬
haͤndige Briefe, zwiſchen ihm und dem Koͤnig in den erſten Tagen
des Auguſt 1792 gewechſelt, als Belege beigefuͤgt ſind. Ich ſoll
dieſe Abhandlung auf eine geſchickte Art an ihre Behoͤrde, an
den Koͤnig von Preußen befoͤrdern, ſoll ſie bei den Miniſtern
[65] perſoͤnlich unterſtuͤtzen, ſoll Einwuͤrfen begegnen, ſoll die Sache
in Bewegung ſetzen, mich nach allen Umſtaͤnden erkundigen, und
ſo weiter.
Man giebt mir die Reiſekoſten, aber ich weiß nichts von
einer andern Belohnung. Ich mußte zuerſt zu Prinz Heinrich
gehn in Rheinsberg, dem Bruder des vorigen Koͤnigs. Ich habe bei
ihm zehn Tage zugebracht, die ich unter die ſchoͤnſten meines
Lebens rechne, aber das Ausfuͤhrliche davon, ſo wie von allem,
was ſeit dem 1. Auguſt vorgefallen iſt, muß ich bis auf ein
andermal verſchieben! — Ich habe große Wahrſcheinlichkeit, den
Zweck meiner Sendung zu erreichen. Eingezogene Nachrichten,
die Lage der politiſchen Verhaͤltniſſe, der Umſtand, daß manche
Leidenſchaften erkaltet, und manche Perſonen, die naͤchſten Werk¬
zeuge des ungluͤcklichen Schickſals des Gefangenen, außer Kredit
gekommen ſind, laſſen es vermuthen. —
Tolendal iſt naher Verwandter von dem Lardkanzler, La¬
fayette hat viele Freunde in England, und die Staaten von
Nordamerika rechnen ihn als einen ihrer Erretter; Pitt und
Grenville wiſſen um die Sache, und ich erwarte von dieſen durch
Tolendal Briefe, um das Unternehmen zu unterſtuͤtzen. Dies
Unternehmen ſelbſt iſt gerecht und edel. Die Geſchichte mit Nar¬
bonne hat mir keinen uͤbeln Kredit verſchafft, und ich ſuche durch
mein gegenwaͤrtiges Geſchaͤft den Ruf der Brauchbarkeit und die
Aufmerkſamkeit der Leute mir zu verſchaffen, die mir nuͤtzlich
ſein koͤnnen, — hierauf gruͤnden ſich meine Ausſichten und Hoff¬
nungen! —
Ich erwarte die Zuruͤckkunft des Koͤnigs von Preußen aus
Polen, werd’ aber uͤbermorgen ſchon nach Berlin abgehn. —
Da haben Sie, liebe Freundin, im Kurzen meine ganze
Geſchichte vom Januar 1792 an bis jetzt. — Ich habe drei Tage
daran geſchrieben und ohne Ermuͤdung, weil ich mir dacht’,
5[66] Ihnen damit eine Freude zu machen, nicht ſo wohl durch die
Sachen, — manches, welches nicht angenehm und ſchoͤn iſt, wie
manche Umſtaͤndlichkeiten im Betragen der Staël, hab' ich nur
angefuͤhrt, um Sie mit den Perſonen bekannter zu machen, —
als durch die Genugthuung, welche entſteht, wenn man umſtaͤnd¬
lich von Jemand hoͤrt, dem man gut iſt. Manches haͤtte beſſer
geſagt ſein koͤnnen, und ich finde beim Wiederdurchleſen, daß hie
und da franzoͤſiſche Wendungen in meinen Brief gekommen ſind,
— halten Sie eins und das andere mir zu gut, denn ich habe
nicht Zeit zum Wiederabſchreiben und Verbeſſern. — Vieles Ueber¬
gangene und viele unterdruͤckte Ausfuͤhrungen wuͤrden das Ganze
intereſſanter gemacht haben, aber ich bin gezwungen geweſen,
mich moͤglichſt kurz zu faſſen, und habe nur ſagen wollen, was
mir das Nothwendigſte ſchien, um Sie wieder mit mir bekannt
zu machen, und um Sie in den Stand zu ſetzen, mich ſelbſt und
meine gegenwaͤrtige Lage zu beurtheilen.
Ich weiß, daß ich uͤber vieles Tadel verdiene, aber ich hoffe,
Sie werden nicht zweifeln, daß ich wenigſtens nicht noch gut,
brav, und unverdorben ſei. Ich liebe das Schoͤn' und Gute
noch eben ſo warm als jemals, und ſuch' es mir taͤglich mehr
zu eigen zu machen. Ich bemuͤhe mich, aus meinen Fehlern zu
lernen, und glaube gewonnen zu haben als Menſch und Mann;
ob ich nicht zunaͤchſt fuͤr den kuͤnftigen Staatsbuͤrger meine Zeit
haͤtte beſſer anwenden koͤnnen, weiß ich nicht! Ich erwarte nun
ſehnlichſt einen recht langen Brief von Ihnen; aber ſchreiben
Sie ja recht freundſchaftlich, ſonſt komm' ich ſelbſt, und wie boͤſe
Sie dann auch ſein moͤgen, Sie ſollen mich nicht ſehn, ohne
mich wieder zu lieben.
Vorzuͤglich inſtaͤndig bitt' ich um den Rath des lieben Herrn
Vetters. Der Weg, den ich vor mir habe, ſcheint mir ſchoͤn zu
ſein. Die Weite des Wirkungskreiſes, wozu er fuͤhren koͤnnte;
[67] die Unabſehbarkeit ſeines Endes; die beſtimmte und große Thaͤtig¬
keit, die er mir verſpricht, ſobald ich nur einmal feſten Fuß
darauf gefaßt habe; die Gelegenheit, alle meine Kraͤfte zu uͤben
und mich ſelbſt immer mehr zu bereichern; die Freude, mich einem
großen und edeln Volke einzuverleiben; die Genugthuung, mir
ſelbſt eine kuͤhne Bahn gebrochen zu haben; die Ueberzeugung,
meinen Freunden und meinen Bruͤdern, die ich innig liebe, kuͤnf¬
tig aͤußerſt nuͤtzlich ſein zu koͤnnen, und wozu mein bloßer Auf¬
enthalt in London mir ſchon manche kleine Gelegenheit gegeben
hat, wovon ich gern erzaͤhlte; das Angenehme endlich einer mir
bald zu verſchaffenden regelmaͤßigen, wenn ſchon kleinen Einnahme,
— dies ſind die Reize, welche mich locken! Zweifel und Beſorg¬
niſſe heben ſich aber auch mitunter, und ich weiß ſehr wohl, was
ich auf das Obige einem Freund' antworten wuͤrde, welchen ich
das Intereſſe haͤtte von der beſagten Laufbahn abzuziehen. —
Vieles macht mich kuͤhn wieder. Das Sonderbare meines bis¬
herigen Schickſals ſelbſt, und die Umſtaͤnde, ſcheinen mich zu
ermuntern. Faſt noch kein Plan, kein Unternehmen iſt mir bis¬
her mißlungen!
Der Gruͤnd' und Gegengruͤnde ſind ſo viel, daß ich entweder
durch einen Machtſpruch der Unterſuchung ein Ende machen,
oder mich ganz der Entſcheidung eines Dritten uͤberlaſſen muß.
Der Beifall und die Aufmunterung eines guten, mich liebenden,
einſichtsvollen Mannes, wie des Herrn Vetters, wuͤrde mir dop¬
pelte Kraft und doppelte Feſtigkeit geben! Ich habe Staͤrke
genug, um ruhig bei einem Unternehmen zu Grunde zu gehn,
ſobald ich nur uͤberzeugt bin, vernuͤnftig gewollt zu haben; aber
darauf koͤmmt's an!
Zuruͤck kann ich noch! ich kann nach geendigtem Geſchaͤfte
und nach einer kurzen Anweſenheit in England, wo ich wieder
hin muß, nach Bremen gehn, um dort zu praktiziren! Wollen
5 *[68] Sie mich nach Bremen zur Ruhe verweiſen, lieber Herr Vetter?
gefolgt wuͤrden Sie — vermuthlich — Sie ſehn, daß ich ehrlich
bin, — aber zuverlaͤſſig koſtete mich dieſer Entſchluß eine ſehr
bittre halbe Stunde!
Ich wiederhole noch Einmal, daß ich Briefen aus Karlsruhe
mit vieler Sehnſucht entgegenſehe.
Ich bitt’ ausdruͤcklich, in Ihren Briefen keine Perſonen zu
nennen, und von der Angelegenheit, welche mich gegenwaͤrtig
beſchaͤftigt, nur fuͤr mich verſtaͤndlich zu reden; auch Nie¬
mand vor der Hand muͤndlich etwas davon anzuvertrauen, von
deſſen Diskretion Sie nicht auf’s vollkommenſte uͤberzeugt ſind.
Viele Gruͤnde machen dieſe Bitte von Wichtigkeit! —
Ich wuͤnſche ferner, daß Sie mir Empfang dieſes Briefes
ſo ſchnell wie moͤglich, waͤr’s auch nur mit zwei Worten, be¬
ſcheinigen moͤchten, weil ich bis dahin uͤber die richtige Ueber¬
kunft deſſelben etwas in Sorgen ſein werde. —
Mein guter Vater, welcher mich ſehr, ſehr liebt, und welcher
mein Thun und Laſſen ganz mir ſelbſt uͤbergeben hat, wird in
dieſen Tagen an Sie ſchreiben. Seine Antwort iſt dadurch ver¬
zoͤgert worden, daß er nicht wußte, was von mir ſagen? ich hab’
ihn gebeten, ſich nur auf dieſen meinen Brief zu berufen. Haben
Sie die Guͤte, ihm nichts zu ſchreiben, was ihn meinetwegen
beſorgt machen koͤnnte. Er iſt von meiner gegenwaͤrtigen Reiſe
und von der Urſache derſelben, ſo wie von allem, was mir bisher
begegnet iſt, unterrichtet. —
Schreiben Sie mir auch vor allen Dingen recht umſtaͤndlich,
wie’s Ihnen geht und was die Kleinen, was die Offenbacher
machen, u. ſ. w., damit auch Sie und was Ihnen angehoͤrt
mir nicht fremd werden moͤge.
Leben Sie, meine liebe, unvergeßliche Freundin und Pflege¬
mutter, herzlich, herzlich wohl, und gruͤßen Sie all’ die guten
[69] Leute von mir, welche ſich noch freundſchaftlich meiner er¬
innern! I. E. Bollmann.
N. S. Ihren Antworten ſeh' ich entgegen unter Couvert
der Herren Fetſchow und Jury in Berlin! —
Haben Sie die Guͤte, dieſen Brief aufzuheben, weil der Fall
kommen koͤnnte, daß ich bei der einen oder andern Gelegenheit,
wenigſtens auf eine kurze Zeit, daruͤber verfuͤgen zu koͤnnen
wuͤnſchen wuͤrde. —
7.
Ich bin, liebe Freundin, wieder auf meiner Ruͤckreiſe nach
England begriffen. Morgen gehe ich von Helvontſluis und dann
von da nach Harwich. Weil es mit dem Waſſer allemal etwas
mißlich iſt, ſo will ich lieber zuvor noch fuͤr Ihren guͤtigen, lieben,
herzlichen Brief vom 31. October Ihnen danken. Giebt's dann
ein Ungluͤck — nun wohl! ſo werde ich doch dermaleinſt wenig¬
ſtens nicht mit Vorwuͤrfen empfangen! —
Meine Bemuͤhungen ſind vergeblich geweſen, und haben es
ſein muͤſſen aus dem ſimpeln Grunde, weil die gewoͤhnlichen
Menſchen keinen Glauben an Tugend haben, ſondern jeden un¬
gefaͤhr fuͤr eben ſo ſchlecht halten, als ſich ſelbſt, und andere
Leute, die in ihrer Gewalt ſind, deßwegen behandeln, wie ſie
ſelbſt behandelt zu werden verdienten. Meine Reiſe iſt indeſſen
meinen Committenten indirekt nuͤtzlich geworden. Ich ging von
Berlin nach Hamburg, wo ich ſechs Wochen zugebracht habe.—
Am 11. reiſete ich von dort ab; ſah im Vorbeigehn meinen
Schwager in Luͤneburg, meinen Vater in Hoya, meinen Vetter
in Bremen, fuhr dann Tag und Nacht durch, kam am 17. nach
Amſterdam, und bin nun hier. Ich bin in groͤßter Eile, um
nach London zu kommen! —
[70]
Die weitlaͤufige Geſchichte dieſer letzten vier Monate behalte
ich Ihnen vor, und verſichere nur einſtweilen, daß ſie in ſehr
vieler Ruͤckſicht Sie ſehr intereſſiren wird. Vorzuͤglich von Ham¬
burg habe ich Ihnen recht ſehr viel zu erzaͤhlen.
Ihr Brief ſowohl als der vom Herrn Vetter hat mir ſehr
viele Freude gemacht. Der Ihrige hat mich in vielen Stellen
geruͤhrt. Gute, liebe Freundin! Sein Sie feſt uͤberzeugt, daß
meine innige, liebvolle Anhaͤnglichkeit durch nichts wird erſchuͤt¬
tert, wird lau gemacht werden koͤnnen. Sie haben Recht, wenn
Sie ſagen, daß mein Herz weit ſei. Es kann viele Edle ſtark
und dauerhaft umfaſſen.
Dem lieben Herrn Vetter danke ich herzlich fuͤr ſeinen großen
ſchoͤnen Brief. Er iſt mir ſchon nuͤtzlich geweſen, und wird es
noch oft in der Folge ſein koͤnnen! — Es iſt nichts darin, was
mir nicht Freude gemacht haͤtte, ausgenommen der Ausdruck,
welcher eine kleine Bezweiflung der guten Aufnahme deſſen zu
verrathen ſcheint, was er uͤber religioͤſe Dinge ſchrieb. Wie
auch meine gegenwaͤrtigen Grundſaͤtze in dieſem Punkt beſchaffen
ſein moͤchten, ſo ſtuͤtzen ſie ſich wenigſtens auf ehrliche Ueberzeu¬
gung, nicht auf Haͤngen an Mode. Wie abweichend ſie auch
von denen mancher Anderen ſein moͤgen, ſo werden ſie mich doch
nie verhindern, die Ueberzeugungen Anderer als ſolche zu reſpek¬
tiren. Der Herr Vetter haͤtte mir ſtatt des philiſophiſchen Brie¬
fes, den ich empfangen habe, kraß abſurde Sachen ſchreiben
koͤnnen, und ſein Brief wuͤrde noch Gefuͤhle des Dankes erregt
haben. Das innige Bewußtſein der wohlwollenden Abſicht haͤtte
jeden hohnlaͤchelnden Gedanken ſchon in der Ferne erſtickt. Uebri¬
gens erlaubt meine Zeit mir gegenwaͤrtig nicht, ſeinen Brief
weitlaͤufig und gruͤndlich, ſo wie ich’s gerne moͤchte, zu be¬
antworten. Einſtweilen meinen ehrlichen Dank, das andre
kuͤnftig! —
[71]
Leben Sie herzlich wohl! ich glaube ſtark, auf dem Wege
zur zeitlichen Ruhe zu ſein! Mein naͤchſter Brief ſoll Sie hoffent¬
lich mit angenehmen Nachrichten uͤberraſchen! Ich bin ſehr eilig!
I. E. Bollmann.
N. S. Mein Bruder Ludwig iſt, durch meine Bemuͤhungen,
vom Onkel weg, und zu einem Manne, einem ſehr anſehnlichen
Kaufmann in London, gekommen, den ich genau kenne, den
ich als vortrefflichen Menſchen und erfahrenen Geſchaͤftsmann
hochſchaͤtze und liebe. Er bekoͤmmt hundert Pfund Sterling
Gehalt.
8.
Ich habe den lieben Roſenfels hier gefunden! Sie erfahren
alſo, daß ich hier bin — das wird der Fortſetzung meines Romans
um eine Ueberraſchung Schaden thun — aber, nun dem ſo iſt,
warum erfuͤhren Sie's nicht eben ſo gut auch durch mich ſelbſt?
Nicht viel diesmal! Nur blos, daß ich wohl bin und daß
mir's gut geht! Freilich bleibt da noch immer viel zu wuͤnſchen,
aber wer moͤchte auch ſchon am Ende ſein? Vor mir wird die
Ausſicht immer ſchoͤner, weiter, heller; hinter mir der Ruͤckblick
immer intereſſanter. Ich bin mit der Gegenwart zufrieden; mein
Wirkungskreis wird groͤßer! Kleine Succeſſe ſpannen meine
Thaͤtigkeit! Ich bin in den letzten Jahren ſehr viel reicher ge¬
worden an Leuten, die mich lieben, und habe keinen von denen,
die mich ſchon vorher liebten, verloren. Der Fonds angenehmer,
wohlthaͤtiger Ruͤckerinnerungen, den ich mir ſammle, iſt ſo groß,
daß ich meine innerliche Unabhaͤngigkeit zunehmen fuͤhle, und
uͤberzeugt bin, auch ungluͤcklich wenigſtens Jahre lang in der
Vergangenheit Entſchaͤdigung und Freude finden zu koͤnnen!
[72]
Ich bin wieder auf Reiſen! Es iſt eine ſchoͤne Exiſtenz,
liebe Freundin, ſo von Ort zu Ort zu den beſten, den denkend¬
ſten Menſchen ſich zu naͤhern! In dem weiten Gebiete der Wiſſen¬
ſchaften von Gegenſtand zu Gegenſtand mit ihnen fortzugehn;
von dem, was jeder uͤber jeden dann das Beſte gedacht, gefuͤhlt
oder gelernt hat, ſich gegenſeitig zu entbinden; in Lieblingsideen,
in ſeltnen Geſichtspunkten, ſich einig zu begegnen; ſich anzu¬
ſchließen, liebzugewinnen, liebgewonnen zu werden, und ſo mit
den Vortrefflichſten ſeines Zeitalters gleichſam eine unſichtbare
Kirche zu ſtiften! — Da haben Sie, was ich als Nebenſache
treibe, von der Hauptſache in der kuͤnftigen Fortſetzung meines
großen Briefes!
Wenn ich nur Allen ſo wohl machen koͤnnte, wie mir iſt!
Wenn ich nur Sie recht wohl wuͤßte! — Aber ich bin uͤber¬
zeugt, die ſanfte Freundin der Ruhe und des ſtillen Genuſſes
wird in dieſen ſtuͤrmiſchen Zeiten manche bange Stunde haben!
— Aber nur getroſt, liebe Frau Baſe! nur nicht zu finſter ge¬
ſehn! Glauben Sie mir, wir leiden weit mehr von den Uebeln,
die wir nie erfahren, als an denen, die uns wirklich befallen!
Denken Sie nicht daran, was es wohl geben wuͤrde, wenn die
boͤſen Nachbarn einmal nach Karlsruhe kaͤmen, ſondern daran,
was Sie wohl empfinden wuͤrden, wenn unerwartet Ihr Pflege¬
ſohn einmal wieder vor Ihnen ſtaͤnde. Ich will nicht vorberei¬
ten, um Sie, wenn's koͤmmt, angenehm uͤberraſchen zu koͤnnen,
und wollte, daß ich deſſen eben ſo gewiß waͤre, als ich gewiß
bin, daß, wenn die andern kommen ſollten, ſie ſich artiger und
gebuͤhrlicher auffuͤhren wuͤrden, als Sie wohl denken.
I. E. Bollmann.
[73]III.
Wir haben Bollmann in ſeinen eignen Briefen bis
nach Wien begleitet, muͤſſen aber nun fuͤr ihn die Er¬
zaͤhlung wieder aufnehmen, und den Zuſammenhang
ſeiner Abſichten und Ereigniſſe durch einige fruͤhere Be¬
zuͤge erlaͤutern, ehe wir zu ſeinen ferneren Schickſalen
uͤbergehen.
Die zu Gunſten Lafayette's eingeleitete Unterhand¬
lung war fehlgeſchlagen. Die von Lally-Tolendal ver¬
faßte Denkſchrift, welche die Ungerechtigkeit der Ver¬
haftung Lafayette's darſtellen ſollte, und alle Beweg¬
gruͤnde zu ſeiner Freilaſſung eindringlich vortrug, hatte
dem Prinzen Heinrich von Preußen ungemein gefallen
und deſſen lebhafteſte Theilnahme angeregt; er hatte
ſeine eifrigſte Unterſtuͤtzung verſprochen. Wie in Rheins¬
berg war Bollmann auch in Berlin guͤnſtig angehoͤrt,
und ihm von angeſehenen und einflußreichen Perſonen
gute Hoffnung gemacht worden. Die herrſchende Stim¬
mung, welche ſogar in den hoͤchſten Kreiſen laut fuͤr
die Sache Frankreichs und wider den Krieg zu ſprechen
wagte, hatte hieran nicht minder Theil, als die bedeu¬
tenden Empfehlungen Pitt's und Grenville's, und der
perſoͤnliche Eindruck ſelber, welchen der jugendliche Sach¬
walter machte. Koͤnig Friedrich Wilhelm der Zweite,
an welchen die erwaͤhnte Denkſchrift gerichtet war, hatte
wenigſtens von ihrem Inhalte — denn ſie ſelbſt konnte
nicht uͤbergeben werden — Kenntniß genommen, und
[74] erklaͤrt, er wolle nicht, daß das Verhaßte dieſer Ge¬
fangenſchaft laͤnger auf ihm haften ſolle; auch ſonſt waren
ſeine Aeußerungen im menſchenfreundlichſten Sinne der
Sache guͤnſtig, wie auch der Sendung und Perſon Boll¬
mann's insbeſondere. Allein der Gefangene befand ſich
nicht mehr in preußiſchem Gewahrſam, ſondern war in
oͤſterreichiſchen ausgeliefert worden, weil man von dieſer
Seite den Umſtand geltend gemacht hatte, daß Lafayette,
bei ſeinem Heruͤberkommen aus Frankreich, zuerſt auf
oͤſterreichiſche Vorpoſten geſtoßen, und von dieſen auf¬
genommen, dann aber nur zufaͤllig durch preußiſche
Truppen weitergefuͤhrt worden ſei. Das Begehren er¬
ſchien begruͤndet, und wurde gewaͤhrt. Lafayette war
jetzt oͤſterreichiſcher Staatsgefangener, und wurde zu
Olmuͤtz in ſtrenger Haft gehalten. Auf ſein Schickſal
konnte Preußen keine unmittelbare Einwirkung mehr
haben; hoͤchſtens war eine diplomatiſche Verwendung
zu verſuchen, deren Erfolg bei den in Wien herrſchen¬
den Geſinnungen ſehr zu bezweifeln ſchien, und obwohl
es Perſonen gab, welche zu ſolchem Verſuche eifrig
riethen, ſo fand die Ausfuͤhrung doch gerade bei den¬
jenigen Staatsmaͤnnern, welche dabei haͤtten amtlich auf¬
treten muͤſſen, zu große Bedenklichkeiten, und die Sache
blieb auf ſich beruhen.
Doch hatte Bollmann genug erkannt, wie allgemein
die Theilnahme fuͤr den Gefangenen auch in den Laͤn¬
dern und Kreiſen, die man ihm als feindlich geſinnt
[75] vorausſetzen mußte, verbreitet war, wie guͤnſtig und
ſchmeichelhaft der Eifer fuͤr ihn uͤberall aufgenommen
wurde, und wie geneigt auch die ſonſt unbiegſamſten
Geſinnungen ſchienen, Alles ſchoͤn zu finden und gut
zu heißen, was ſeine Befreiung foͤrdern konnte. Dies
entzuͤndete Bollmann’s Hoffnungen auf’s neue, und er
glaubte auf kuͤhneren Wegen erreichen zu koͤnnen, was
er auf dem bisherigen glimpflichen verſagt ſehen mußte.
Sein Entſchluß war ſchnell reif, ſein Plan ausgedacht.
Fuͤr die Beurtheilung der reizbaren und leidenſchaft¬
lichen Stimmung, welcher ſein Gemuͤth in dieſer Zeit
hingegeben war, iſt es wohl bemerkenswerth, daß er
waͤhrend dieſer bewegten Zuruͤſtungen, die ihn auch in
Leipzig eine Weile feſthielten, daſelbſt ein verliebtes
Abentheuer beſtand. Eine fluͤchtige Bekanntſchaft, in
aller Lieblichkeit unbefangener Jugend ſich darbietend,
war die erſte, welche den bisher ſtrengen jungen Mann
zugleich mit ſinnlichen Lockungen umſtrickte. Zwanzig
Jahre ſpaͤter, als er in Wien waͤhrend des Kongreſſes
durch einen liebenswuͤrdigen Brief einer ihm bis dahin
unbekannt gebliebenen Tochter an jene fruͤhere Zeit er¬
innert wurde, ſprach er noch mit dankbarer Innigkeit
und lebhaften Schilderungen von der Anmuth des idyl¬
liſchen Begegniſſes, und wandte gern den Ausdruck ſeiner
liebevollen Sorgfalt darauf zuruͤck. Waͤhrend des naͤchſt¬
folgenden Zeitraums aber hatte der Leichtſinnige dies
Abentheuer bald vergeſſen, nachdem ihn ſein Geſchaͤft
[76] ſchnell wieder von Leipzig abgerufen und nach Hamburg
gefuͤhrt hatte. Hier im Gegentheil verliebte er ſich
neuerdings, und hegte ein zartes Gluͤck reinſter Zunei¬
gung im erfriſchten Herzen! Nichts aber vermochte
ſeinen Eifer in dem gefaßten Vorſatze zu ſchwaͤchen,
keine Neigung und Leidenſchaft ihn von der Ausuͤbung
abzuziehen. Er verließ Hamburg ſobald es die Um¬
ſtaͤnde erforderten, widmete den Orten, wo er liebe
Angehoͤrige mit treuem Sinn aufſuchte, nur die noͤthig¬
ſten Stunden, und eilte uͤber Rotterdam nach London,
wo fuͤr ſeinen neuen Plan die ſchluͤßlichen Verabredun¬
gen zu nehmen waren.
Die Freunde Lafayette's waren hier in groͤßter Be¬
eiferung. Sie hatten auf wunderbar geheimen Wegen
dringende Briefe des Gefangenen erhalten, der flehent¬
lich bat, fuͤr ihn zu wirken, ihn zu befreien. Aus den
Vereinigten Staaten von Nordamerika gingen die ſtaͤrk¬
ſten Aufforderungen ein, Alles fuͤr Lafayette zu wagen,
dem die dortigen Buͤrger als dem Kaͤmpfer fuͤr ihre
Freiheit ſich zur hoͤchſten Dankbarkeit verpflichtet hielten.
Der amerikaniſche Geſandte in London betrieb die Sache
mit Lebhaftigkeit, alle Huͤlfsmittel wurden berathen,
vorbereitet, die Theilnehmer erboten ſich wetteifernd zu
jedem Opfer, zu jeder Thaͤtigkeit. Jedoch erkannte
man zuletzt nur Eine Auskunft uͤbrig, die einer gewalt¬
ſamen Befreiung; und kein Andrer vereinigte ſo alle
Eigenſchaften zu dem verzweifelten Unternehmen, wie
[77] Bollmann. Er ſelbſt hatte den Gedanken ausgeſprochen,
den vorlaͤufigen Plan hingeworfen, er ſchien der Einzige,
dem die Ausfuͤhrung gelingen koͤnne. Er wurde auf¬
gefordert, die Sache zu wagen; der Ruhm des Gelin¬
gens mußte ihn uͤberſchwaͤnglich belohnen, in Deutſch¬
land, Frankreich und England erwarb er ſich die Zu¬
ſtimmung von Tauſenden, in den Vereinigten Staaten
die unabweislichſten Anſpruͤche auf jede Dankbarkeit;
im Falle des Mißlinges blieb ihm der Ruhm des kuͤhnen
Wagniſſes, und in dem Anſehn und den Mitteln ſeiner
Freunde noch manche Zuflucht und Rettung offen. Seine
Begeiſterung fuͤr Lafayette brauchte nicht geſteigert zu
werden, er ſah in ihm das ſchuldloſe Opfer der redlichen
Denkart, den wahren Vermittler und Herſteller des
Koͤnigthums und der Freiheit, den Feind aller Graͤuel
und Zerruͤttungen, in welche die Revolution ausgeartet
war. Dieſen Mann aus der Gefangenſchaft zu befreien,
in welche, wie man behauptete, er wider alles Recht,
mit Verletzung von Treu und Glauben, die man den
Schutzbeduͤrftigen ſchuldig ſey, geworfen worden, ſollte
keine unmoraliſche Handlung heißen; und wenn dabei
eignes und fremdes Leben auf das Spiel geſetzt wurde,
ſo ſollte dies nur als ein Fall gelten, wie er im Kriege
ſich jeden Tag ereignet. Mit ſolchen Vorſtellungen ging
Bollmann, den wir als einen Gegner revolutionairen
Schwindels, als einen Freund geſetzlicher Ordnung ge¬
ſehen, der ſo fruͤh und beſonnen von den franzoͤſiſchen
[78] Bewegungen ſich abgewendet, in groͤßter Seelenruhe
und heitrer Entſchloſſenheit einem Unternehmen entgegen,
vor dem er, in nur wenig anders geſtelltem Verhaͤlt¬
niſſe, und bei minderer perſoͤnlichen Bezauberung, als
vor einem Staatsverbrechen geſchaudert haͤtte!
Mit Empfehlungen und Wechſeln reichlich verſehen,
reiſte Bollmann im Sommer des Jahres 1794 von
London wieder nach dem Feſtlande. Die zuruͤckbleiben¬
den Vertrauten gelobten das tiefſte Schweigen; Lafayette’s
Name wurde nicht mehr genannt, er ſollte moͤglichſt
vergeſſen ſcheinen; man koͤnne nichts fuͤr ihn thun, hieß
es, man muͤſſe den Frieden abwarten; ihm ſelbſt aber
kamen zwei Worte zu, welche ihn benachrichtigten, ſein
Retter ſei unterwegs.
Als naturforſchender und neugieriger Reiſender nahm
Bollmann ſeinen Weg durch das noͤrdliche Deutſchland
nach Schleſien, wo er ſich einige Zeit aufhielt, man¬
cherlei Ausfluͤge machte, und viele Bekanntſchaften an¬
knuͤpfte, darunter auch ſolche, die ihm fuͤr ſeinen Zweck
wichtig werden konnten. Er gewann einige Freunde,
auf deren Herz er rechnen konnte, denen er aber durch
ſein Vertrauen nicht voreilig und unnuͤtz eine Laſt auf¬
legen wollte, und daher ſeine Abſichten noch verſchwieg.
Er beſuchte Tarnowitz, an der polniſchen Graͤnze, und
beſah die dortigen Bergwerke; dann begab er ſich uͤber
Ratibor nach Olmuͤtz. Hier war er an einige Perſonen
empfohlen, unter dieſen an einen Arzt, mit dem er
[79] durch wiſſenſchaftliche Anregungen ſogleich in lebhafte
und bald auch trauliche Verbindung gerieth. Nach eini¬
gen Tagen, da von pſychologiſchen Erſcheinungen die
Rede war, bemerkte Bollmann, als kaͤme dieſer Einfall
ihm nur eben jetzt, hier muͤſſe ja der beruͤhmte Lafayette
gefangen ſitzen. Man wiſſe den Namen nicht, wurde
erwiedert, aber einige Franzoſen ſeien unter den Staats¬
gefangenen, die in dem ehemaligen Jeſuitercollegium
ſtreng bewacht wuͤrden, und die Vermuthung, daß La¬
fayette unter ihnen ſei, habe viel fuͤr ſich; ſoviel ſei
gewiß, daß einer derſelben ſehr niedergeſchlagen und in
tiefe Traurigkeit verſunken ſei. Bollmann meinte, da
duͤrfte der Verſuch, dem Gefangenen einige Schriftzuͤge
in engliſcher Sprache vorzulegen, leicht Aufklaͤrung ver¬
ſchaffen; ſei es Lafayette, ſo wuͤrde der bloße Anblick
von Worten in der ihm von Amerika her wohlbekann¬
ten Sprache ihn ploͤtzlich erheitern, und es muͤßte
intereſſant ſein, die Wirkung eines ſolchen Eindrucks zu
beobachten, wie ſtark dieſelbe ſei, welchen Vortheil ſie
bringe, wie lange ſie daure. Nach einigen Bedenklich¬
keiten ſchien die Sache thunlich, es fand ſich eine Ver¬
mittelung, dem Gefangenen, der nur durch ſeine Num¬
mer bezeichnet und Niemand namentlich bekannt war,
ein beſchriebenes Blatt zuzuſtellen. Bollmann ſchrieb
auf der Stelle einige Worte nieder, und der Arzt,
nachdem er ſie mit pruͤfendem Bedacht geleſen und
ganz unverfaͤnglich befunden, verſprach ihre Beſorgung.
[80]
Sie enthielten den Spruch eines engliſchen Dichters,
worin der Leſer aufgefordert wurde, die Schwermuth
zu fliehen; jedoch hatte Bollmann, als rede noch der
Dichter fort, die Mahnung hinzugefuͤgt, dieſen Zuruf
nicht kalt, ſondern mit der noͤthigen Waͤrme aufzuneh¬
men. Als Lafayette, — denn die Nummer, unter der
man ihn vermuthete, traf richtig zu, — dieſes Blatt
zu leſen bekam, verſtand er ſogleich den geheimen Sinn,
ließ ſich aber nichts merken, ſondern that, als ob hiebei
fuͤr ihn weiter kein Bezug ſei. Sobald er aber allein
war, hielt er das Papier vorſichtig uͤber ſein Lam¬
penlicht, und durch die Waͤrme deſſelben traten neben
den offenbaren die geheimen Schriftzuͤge hervor, in
welchen Bollmann ihn von Allem unterrichtete, was
ihm zu wiſſen noth war; er fand in unzweifelhaften
Zeichen die Beglaubigung, daß er dem von ſeinen Freun¬
den Abgeſendeten unbedingt vertrauen koͤnne, er fand
den Plan zu ſeiner Befreiung hinreichend angedeutet,
und beſchloß, ohne Zoͤgern ſich dieſer Leitung hinzu¬
geben. Er gab ſtatt des empfangenen Zettels eine Zeile
Antwort zuruͤck, die gleichfalls in einem Spruche, doch
nur ganz allgemein, eine feſte Bejahung ausdruͤckte.
Bollmann ſah, daß er verſtanden worden; er freute
ſich gegen den Arzt des gelungenen pſychologiſchen Ver¬
ſuchs, und ließ die Sache vorlaͤufig ruhen. Nach ein
paar Tagen aber kam er darauf zuruͤck, und wuͤnſchte
einen zweiten Zettel auf gleiche Weiſe zu befoͤrdern.
[81] Wir wiſſen nicht, ob auch dieſesmal die Mittelsperſon
arglos geblieben, oder in ſtillſchweigendem Einverſtaͤnd¬
niß, vielleicht auch nur aus der unvermeidlichen Fol¬
gerung gehandelt, die ſich durch die erſte Gefaͤlligkeit
fuͤr die zweite zu ergeben ſchien, genug, der Zettel
wurde befoͤrdert, ohne daß Bollmann ſein Geheimniß
auszuſprechen oder einen Mitſchuldigen zu gewinnen
brauchte. Nachdem er auf ſolche Weiſe den Gefangenen
unterrichtet, was er in der naͤchſten Zeit thun und er¬
warten ſolle, mit dem freundlichen Arzt aber zur Fort¬
ſetzung der angeknuͤpften Unterhaltungen einen vertrau¬
lichen Briefwechſel verabredet hatte, reiſte er von Ol¬
muͤtz nach Wien. Unterwegs, in Bruͤnn, ſchloß er mit
dem ruͤhmlich bekannten Erzieher und Wirthſchafter André,
der ſeine gemeinnuͤtzige Thaͤtigkeit von Schnepfenthal
nach Maͤhren verpflanzt hatte, und viele Jahre ſpaͤter
nach Stuttgart uͤbertrug, einen engen Freundſchafts¬
bund; ſie hatten viele gemeinſame Beruͤhrungspunkte,
ihre Geſinnungen und Gemuͤthsarten ſtimmten zuſam¬
men; es war fuͤr Bollmann wichtig, hier einen Mann
zu haben, dem er ganz vertrauen duͤrfte; doch wollte
er auch dieſen Freund, der Manches errathen konnte,
nicht ohne Noth durch gefahrvolles Mitwiſſen beun¬
ruhigen.
In Wien angekommen, wurde Bollmann als wohl¬
empfohlener und durch ſeine ganze Erſcheinung ein¬
nehmender Gelehrter in den angeſehenſten Lebenskreiſen
6[82] bald einheimiſch; er fand nach allen Seiten die guͤnſtig¬
ſten Verhaͤltniſſe, und ſchien außer den wiſſenſchaftlichen
Gegenſtaͤnden kein andres Intereſſe zu haben, als in
den Zerſtreuungen des Tages mitzuleben. Er ſelbſt
aber war unaufhoͤrlich mit ſeinem Vorhaben beſchaͤftigt,
und harrte voll Ungeduld auf Nachrichten. Sie ſagten
blos, Lafayette ſei krank, und werde immer kraͤnker;
dies war ein willkommenes Zeichen, daß Bollmann's
Rath wirkte, allein der entſcheidende Wink, daß der
zum Handeln guͤnſtige Augenblick erſchienen ſei, blieb aus.
Der letzte Theil des Sommers verſtrich, ohne daß
Bollmann ſich gefoͤrdert ſah. Nur der Herbſt war noch
uͤbrig; blieb auch dieſe Jahreszeit unbenutzt, ſo mußte
das Unternehmen, das durchaus nicht im Winter zu
vollbringen war, bis zum naͤchſten Fruͤhjahr aufgeſchoben
werden. In dieſer Verlegenheit reiſte Bollmann ſelbſt
wieder nach Olmuͤtz. Hier empfing er am 10. Oktober
den erſten und einzigen Brief von Lafayette, der ihn
dringend bat, ohne Verzug zu handeln. Der Gefangene
hatte ſich mehr und mehr erkranken laſſen, und weil
durchaus kein andres Mittel helfen wollte, war der
Arzt endlich dahin gekommen, den Genuß der freien
Luft als die einzig noch moͤgliche Rettung vorzuſchlagen.
Wollte man Lafayette'n nicht als Opfer des Grams
und der Kerkerluft ſterben laſſen, ſo mußte man ihm
Spazierfahrten erlauben. Aber nur erſt gegen Ende
des Septembers war die Erlaubniß ertheilt, und erſt
[83] wenige Fahrten, unter gehoͤriger Vorſicht und Bedeckung,
waren verſucht worden. Bollmann ertheilte den Rath,
Lafayette moͤchte nun den guten Erfolg dieſer Ausfahr¬
ten allmaͤlig merkbar werden laſſen, auf dieſen geſtuͤtzt,
ſie haͤufiger begehren, durch ausgeſprochene Vorliebe fuͤr
eine beſtimmte Gegend ihnen moͤglichſt immer dieſelbe Rich¬
tung geben, und ſie in moͤglichſt weite Entfernung von
der Stadt auszudehnen ſuchen. Da dies zu gelingen
ſchien, ſo kehrte Bollmann nach Wien zuruͤck, um dort
die letzten Anſtalten zu bereiten.
Bis jetzt hatte er in Oeſterreich keinen eigentlichen
Mitwiſſer, außer einem jungen Arzt aus Sachſen, Doctor
Karl Weigel, der ſein vertrauter Freund geworden war,
und voll feurigen Muthes ſich bereit erklaͤrte, jedes
Wagſtuͤck mit ihm zu theilen. Ruͤchſichten jedoch, deren
Verletzung Bollmann ſeinem Freunde um keinen Preis
zumuthen wollte, mußten dieſen abhalten, an einem
gewaltſamen Handſtreiche, wobei es Leib und Leben
galt, unmittelbar Theil zu nehmen. Er begab ſich aber
nach Olmuͤtz, um an Ort und Stelle durch Kundſchaft
und Wachſamkeit nuͤtzlich zu ſein. Bollmann fand in
Wien einen andern Helfer, der ganz nach ſeinem Sinne
und in allen Beziehungen geeignet war, bei dem Unter¬
nehmen ſein Gefaͤhrte zu ſein. Ein Amerikaner aus
Suͤd-Karolina, Namens Huger, ein Juͤngling voll
Eifer und Muth, der auf Reiſen zufaͤllig in Wien war,
und ſchon den gluͤhendſten Antheil fuͤr Lafayette aus¬
6 ✷[84] geſprochen hatte, ging auf die Eroͤffnungen Bollmanns
lebhaft ein, und meinte, wenn er fuͤr Lafayette ſein
Leben wage, ſo zahle er damit nur eine Schuld ſeines
Vaterlandes, deſſen Freiheit jener habe erkaͤmpfen helfen.
Die Kuͤrze der Zeit, innerhalb welcher die Sache voll¬
fuͤhrt werden mußte, wenn ſie noch vor dem Winter
ſtatt haben ſollte, erlaubte nicht, alle Maßregeln ſo
genau und umſtaͤndlich anzuordnen, wie es zur Sicherung
des Erfolges noͤthig geweſen waͤre. Allein der Ausgang
konnte durch vervielfaͤltigte Anſtalten und groͤßere Zahl
der Theilnehmer einerſeits zwar ſicherer gemacht, andrer¬
ſeits aber auch gefaͤhrdet werden; nach reifer Ueberle¬
gung beſchloſſen die beiden Freunde, nur zu Zweien
das Wagniß zu beſtehen, und ihren Plan in groͤßter
Einfachheit zu halten. Sie betrieben ihre Abreiſe ganz
offen, ließen ihre Paͤſſe nach Maͤhren und Schleſien
ſtellen, und verließen Wien gegen Ende des Oktobers.
Sie fuͤhrten ihren Wagen bei ſich, außerdem aber auch
zwei Reitpferde nebſt einem Reitknecht; der letztere war
gewoͤhnt worden, bald mit dem Wagen, bald mit den
beiden Pferden vorauf zu gehen, je nachdem die Rei¬
ſenden es vorzogen, gemaͤchlich der Straße zu folgen,
oder zu Pferd und nach Umſtaͤnden zu Fuß querfeldein
auf Merkwuͤrdigkeiten und Schoͤnheiten der Gegend aus¬
zugehen. Um den Mangel eines dritten Pferdes zu
erſetzen, deſſen ſie in der Folge benoͤthigt ſein mußten,
und das ſie doch nicht rathſam fanden, zu ihren beiden
[85] hinzuzufuͤgen, hatten ſie das eine derſelben abgerichtet,
zwei Reiter zu tragen. So vermieden ſie moͤglichſt
jeden Verdacht; ſie galten fuͤr naturforſchende Englaͤnder,
und durchſtreiften einen großen Theil von Maͤhren, indem
ſie allmaͤlig Olmuͤtz naͤher kamen, wo ſie am 7. November
eintrafen. Ein verabredetes Zeichen benachrichtigte den
Gefangenen von ihrer Ankunft, der naͤchſte Tag war einer
der zu den Spazierfahrten feſtgeſetzten, und wurde daher
ſogleich als gute Gelegenheit gewaͤhlt.
Am 8. November ſandten die beiden Freunde Mor¬
gens um 11 Uhr ihren Wagen mit dem Reitknecht
fuͤnf Meilen weit nach Hoff, auf der Straße nach
Schleſien, und ließen dort Poſtpferde um 5 Uhr bereit
halten. Nachmittags gegen 2 Uhr ſetzten ſich Bollmann
und Huger zu Pferde, um Lafayette aufzuſuchen, der
gleichfalls auf jener Straße und wohl eine Stunde
weit zu fahren pflegte. Sie trafen ihn ziemlich fern
von der Stadt, er ſaß in einem bedeckten Wagen, ihm
zur Seite ein Stabsprofoß, ein Soldat als Kutſcher
auf dem Bock, ein andrer ſtand hinten auf. Augen¬
blicklich ſprengten die beiden Freunde heran, geboten
dem Kutſcher Halt, und waͤhrend Huger abſaß, um
die Pferde bereit zu halten, that Bollmann desgleichen,
um Lafayette aufzunehmen. Dieſer hatte auf den An¬
ruf ſeiner Befreier ſchon den Kutſchenſchlag aufgeſtoßen,
und warf ſich mit ſeinem Begleiter, der, entſchloſſen
genug, ſich an ihn hing, gewaltſam hinaus auf den
[86] Weg. Beide lagen ringend am Boden. In demſelben
Augenblick aber ſtuͤrzte Bollmann herzu, machte La¬
fayette’n los, und hielt den Gegner, den er entwaff¬
nete, mit ſtarker Hand niedergedruͤckt. Inzwiſchen war
der eine Soldat hinten vom Wagen abgeſprungen, und
in das Feld geflohen, der andre auf dem Bock, ſobald
er ſich unbeachtet ſah, hatte den Wagen umgelenkt,
und jagte zur Stadt zuruͤck. Schon hatte Bollmann
auch ſeinen Gegner losgelaſſen, der allein und ohne
Waffen nichts thun konnte, als dem Wagen nacheilen.
So ſtand denn der befreite Lafayette mit ſeinen nie
vorher geſehenen Freunden auf der offnen Landſtraße,
und es galt nun fuͤr alle drei ſchleunige Flucht. Allein
im Augenblicke des Ringens waren die Pferde wild
geworden, hatten ſich gebaͤumt, und als Huger, um
Bollmann beſorgt, dieſem helfend naͤher treten wollte,
war ihm das eine Pferd entſprungen, und lief nun
im Felde umher. Zeit war nicht zu verlieren, in
Olmuͤtz mußte bald Laͤrm werden, und Eifer und Mittel
zum Nachſetzen konnten dort nicht fehlen. Ueberdies
hatten eine Menge Landleute, die auf dem Felde be¬
ſchaͤftigt waren, den Vorgang zum Theil ganz in der
Naͤhe mit angeſehen; noch ſtanden ſie unthaͤtig, aber
wie leicht konnten ſie ſich beſinnen und weitere Flucht
erſchweren! In dieſem Drange war Lafayette’s Ret¬
tung das einzige Augenmerk. Bollmann gab ihm kurze
muͤndliche Weiſung uͤber das Naͤchſtnoͤthige, einen Zettel
[87] mit ausfuͤhrlicheren ſchriftlichen Angaben, eine Boͤrſe
mit Geld, und beſchwor ihn, das eine noch vorhandene
Pferd zu beſteigen, und allein fortzureiten, auf der
großen Straße bis Hoff, dort eine halbe Stunde auf
die Andern zu warten, ſie wuͤrden Mittel ſuchen, ihm
zu folgen; kaͤmen ſie aber in dieſer kurzen Friſt nicht
nach, ſo moͤchte er fuͤr ſich allein weiter nach Schleſien
zu kommen ſuchen; Orte, wo er ſichre Zuflucht faͤnde,
waren ihm namhaft gemacht. Nach einigem Wider¬
ſtreben, dem aber ſeine großmuͤthigen Retter nachdruͤck¬
lich ein Ende machten, ritt er ſpornſtreichs davon, und
war ihnen bald aus dem Geſicht.
Inzwiſchen hatte nur dreihundert Schritt von dem
Tummelplatz ein Bauer das entlaufene Pferd aufgefan¬
gen; Bollmann und Huger eilten dorthin; der Bauer
gab das Pferd fuͤr ein Trinkgeld willig zuruͤck. Jetzt
ſchien ihre eigne Rettung nicht zweifelhaft; allein das
ungebaͤrdige Thier wollte durchaus keinen zweiten Reiter
aufſitzen laſſen; das hiezu abgerichtete Pferd hatte La¬
fayette bekommen. Da kein Zwang und keine Kunſt
half, und die groͤßte Eile draͤngte, ſo rief Huger: das
Unheil mit den Pferden verſchulde er, er ſei auch weiter
nicht fuͤr die Sache noͤthig, Bollmann ihr aber noch
fernerhin unentbehrlich, derſelbe ſolle fuͤr ſich und La¬
fayette ſorgen, er ſelbſt werde ſchon zu Fuß durchkom¬
men. Und ohne weiter Antwort abzuwarten, entfernte
er ſich raſchen Laufes dem Walde zu.
[88]
Bollmann ſpornte ſein Pferd, und kam ohne Auf¬
enthalt nach Sternberg; nur zehn Minuten vor ihm
war der Reiter, nach dem er fragte, durchgekommen.
In groͤßter Haſt folgte ihm Bollmann. Als er aber
nach Hoff kam, fand er ihn nicht, derſelbe mußte einen
falſchen Weg eingeſchlagen haben. Zuruͤckzukehren waͤre
fruchtlos geweſen, ja konnte ſogar fuͤr Lafayette ſchaͤd¬
lich werden; noch war die Hoffnung vorhanden, ihn
am naͤchſten Zufluchtsort in Schleſien gluͤcklich wieder¬
zufinden. Um 10 Uhr Abends war Bollmann jenſeits
der oͤſterreichiſchen Graͤnze, um 1 Uhr Nachts traf er
in Ratibor ein, um 7 Uhr des andern Morgens konnte
er in Tarnowitz ankommen. Dies war das erſte Ziel,
wohin er Lafayette in Sicherheit bringen wollte, dort
konnten ſie unbeſorgt drei Wochen verſteckt bleiben, und
alle Zeit fuͤr weitere Maßregeln gewinnen. Sie konnten
auch gleich durch Polen nach Danzig gehen, wofuͤr im
voraus Paͤſſe und Empfehlungen bereit lagen. Die
Umſtaͤnde des Augenblicks wuͤrden beſtimmt haben, wel¬
cher Entſchluß waͤre vorzuziehen geweſen. Fuͤr die eigne
Sicherheit haͤtte Bollmann den Weg nach Danzig ſogleich
waͤhlen muͤſſen. Allein er dachte nicht an ſich, ſondern
nur an Lafayette. Nach vergeblichem Harren, da Nie¬
mand kam, da ſich an keinem der Orte, wo ſichre
Kundſchaft zu erwarten war, die geringſte einfand, nicht
von Lafayette ſelbſt, aber auch nicht von ſeinem Ent¬
weichen, und noch zum Troſte eben ſo wenig von ſeiner
[89] Wiedereinfangung, ſo faßte Bollmann die Hoffnung
und Beſorgniß, derſelbe koͤnne auf einem andern Wege
uͤber die Graͤnze gekommen ſein, und nun ohne Huͤlfe
umherirren. Dieſe Vorſtellung bewog ihn, ſich alsbald
wieder aufzumachen, und von Ratibor laͤngs der Graͤnze
hin mehr als zwanzig Meilen weit nach Waldenburg
zu gehen. Dort hatte er einen Freund, deſſen Pferde
er nehmen, und mit einem der Gegend kundigen Mann
dieſe durchſtreifen wollte, um Lafayette aufzuſuchen,
ihm fortzuhelfen. Er traf die mannigfachſten Anſtalten
zu dieſem Zwecke, ſuchte ſeine Mittel fuͤr alle denkbare
Faͤlle einzurichten. Doch ſchon fuͤr jenen zu ſpaͤt, und
fuͤr ihn ſelber ungluͤcklich! Lafayette war bereits wieder
in Gefangenſchaft, und Bollmann wurde, als er kaum
ſeine kuͤhnen Nachforſchungen beginnen wollte, verhaftet
und zuerſt nach Olmuͤtz, dann aber nach Wien abgefuͤhrt.
Wir muͤſſen uns nach Lafayette umſehen. Dieſer
war von Sternberg, gleich vom Thore ab, einer falſchen
Richtung gefolgt; nicht ganz aus Irrthum, er wollte
einem oͤſterreichiſchen Reiterregiment, welches zufaͤllig
auf dem Marſche ſich in dieſer Gegend befand, aus¬
weichen, und ſpaͤterhin auf die große Straße wieder
einlenken. Durch den ſtarken Ritt aber war ſein Pferd
erſchoͤpft, und ſtuͤrzte zuſammen; er mußte es liegen
laſſen, und ſeinen Weg zu Fuß fortſetzen. Von einem
Bauer, dem er einige Goldſtuͤcke bot, erhandelte er bald
ein andres Pferd, und ritt ſo gut es gehen wollte
[90] weiter. In der Naͤhe von Braunſeifen wurde er des
Weges unſicher, ſeine Erkundigungen machten ihn ver¬
daͤchtig, er wurde angehalten und vor den Dorfſchulzen
gefuͤhrt. Dieſer wußte nichts von Staatsgefangenen,
hielt aber den Fremden fuͤr einen Landſtreicher, und
wollte ihn nicht ſogleich losgeben. Lafayette benahm
ſich jedoch ſo klug und gemeſſen, daß man ſchon im
Begriff war, ihn wieder fortreiten zu laſſen, als ihn
ein Ladendiener, vielleicht der einzige Menſch in der
ganzen Gegend, der ihn ſo genau geſehen hatte, erkannte
und namhaft machte. Man hielt ihn nun auf's neue
feſt, ohne jedoch ſeine Wichtigkeit zu ahnen. Aus
Olmuͤtz hatte man ihm auf der großen Straße nach¬
geſetzt, und glaubte, in Bollmanns Spur die ſeinige
zu haben; an die Nebenſtraße hatte Niemand gedacht.
Drei Tage lang ſaß er hier, wo die Kuͤhnheit und
Gewandtheit ſeiner Freunde ihn noch allenfalls haͤtten
freimachen koͤnnen; erſt am vierten Tage kam auf die
ſpaͤt empfangene Meldung ein Commando von Olmuͤtz,
um ihn dahin abzuholen. Er wurde in ſtrengſten Ge¬
wahrſam genommen, und in ſein fruͤheres Gefaͤngniß
zuruͤckgebracht. Dies war fuͤr ihn der Ausgang des
allzu kuͤhnen und doch wunderbar ſchon halb gelungenen
Unternehmens! Bekanntlich blieb er ſeitdem noch drei
Jahre in Gefangenſchaft, bis die oͤſterreichiſche Regierung
endlich einwilligte, ihn gegen andre Gefangene, welche
die franzoͤſiſche Republik fuͤr ihn losgab, auszuwechſeln.
[91]
Huger entkam aller Verfolgung gluͤcklich; ſeine Perſon
und ſein Name hatten die wenigſte Aufmerkſamkeit auf
ſich gezogen; er ging bald nach Amerika zuruͤck, und
lebte in ſeinem Vaterlande, wo er die Stelle eines
Oberſten bei der Miliz erhielt, in angeſehenen Verhaͤlt¬
niſſen; wegen ſeiner Theilnahme an dem Verſuche zu
Lafayette’s Befreiung wurde er dort allgemein geprieſen;
Lobreden und Gedichte feierten ſeinen Ruhm noch ſpaͤt
bei allen wiederholten Gelegenheiten, wo die Begeiſterung
fuͤr Lafayette ſich in den Vereinigten Staaten ſo glaͤn¬
zend ausſprach. Weigel wurde verhaftet, da er jedoch
bei dem Unternehmen nicht perſoͤnlich zugegen geweſen,
auch die Schriften und Geldſummen, welche ihm fuͤr
moͤgliche Faͤlle anvertraut waren, ſchon in Sicherheit
gebracht hatte, und ſich unter ſeinen Papieren nichts
Verdaͤchtiges fand, ſo wurde er bald wieder frei gelaſſen,
und er entging weiteren Verdrießlichkeiten durch die
Anſtellung, die er bei dem portugieſiſchen Geſandten
am daͤniſchen Hofe, dem Grafen Souza-Coutinho, er¬
hielt, der ihn als Arzt in portugieſiſche Dienſte und
mit nach Italien nahm, wohin er ſelber ſeiner Geſund¬
heit wegen alsbald abreiſte.
Das haͤrteſte Loos ſchien fuͤr Bollmann fallen zu
muͤſſen; er war der Urheber und Anfuͤhrer eines raͤu¬
beriſchen Ueberfalles, eines Angriffs gegen die oͤffentliche
Gewalt, welchen dieſe nicht ungeſtraft laſſen konnte.
Seine Freunde zitterten fuͤr ſein Leben; das gelindeſte
[92] Urtheil ſchien ewige Gefangenſchaft uͤber ihn ausſprechen
zu muͤſſen. Er wurde in Ketten gelegt; kein Licht er¬
hellte ſeinen Kerker; Alles um ihn her war ſtumm,
jede Verbindung mit der Welt abgeſchnitten. Gleich
bei ſeinem erſten Verhoͤr machten aber ſeine ruͤckhaltloſe
Aufrichtigkeit, ſein freimuͤthiges Bekenntniß, und die
edle Staͤrke ſeines ruhigen und einfachen Weſens einen
fuͤr ihn hoͤchſt vortheilhaften Eindruck. Seine That er¬
regte in der Welt unglaubliches Aufſehen, uͤberall wurde
ſie beſprochen, geruͤhmt und bewundert, letzteres faſt
am meiſten in Wien ſelbſt, wo die beſondern Umſtaͤnde
des romantiſchen Abentheuers mit lebhafter Begier ver¬
nommen wurden, und bald auch das Ergebniß der
Verhoͤre nicht mehr geheim blieb. Eine Menge von
Menſchen ſprachen fuͤr ihn mit waͤrmſtem Eifer, ſuchten
ihn zu rechtfertigen, zu entſchuldigen, beſonders zeigten
die Frauen großen Antheil. Perſonen vom hoͤchſten
Range, durch menſchenfreundliche Regung aufgefordert,
verwandten ihren ganzen Einfluß zu ſeinen Gunſten;
manche ſcheuten nicht, ihre ſonſtigen Grundſaͤtze einen
Augenblick zu verlaͤugnen, und hier eine Ausnahme zu
verlangen; die Richterſtrenge ſelbſt fuͤhlte ſich erſchuͤttert.
Durch die Kraft dieſer allgemein verbreiteten Stimmung,
und durch andre Einwirkungen, deren letzter Zuſammen¬
hang noch jetzt mit dem Schleier des Geheimniſſes be¬
deckt, wahrſcheinlich aber in menſchenfreundlichen Ver¬
bruͤderungen zu ſuchen iſt, geſchah das Wunder, welches
[93] beſonders in den damaligen Zeitumſtaͤnden als ſolches
gelten muß, daß Bollmanns Geſchick, dem nur die
dunkelſte Wendung vorbehalten ſchien, unvermuthet die
gluͤcklichſte nahm. Die oͤſterreichiſche Regierung, welche
im Praktiſchen von jeher einen freien Geiſt gezeigt, der
bei außerordentlichen Dingen nicht karg am Hergebrachten
haftet, behandelte Bollmanns Sache in ganz beſondrer
Weiſe. Nach ſieben Monaten Gefaͤngniß und Unter¬
ſuchung, die leicht eben ſo viele Jahre werden konnten,
wurde er ploͤtzlich weniger ſtreng gehalten, und ihm
bald nachher unerwartet angekuͤndigt, daß er frei ſei,
und gehen koͤnne, wohin er wolle, ohne andre Strafe,
als daß man ihm auferlegte, die oͤſterreichiſchen Staaten
ſogleich zu verlaſſen und kuͤnftighin zu meiden.
Dieſe wunderbare Milde, welche nur ihn perſoͤnlich
betraf, aber auf Lafayette nicht uͤberging, ſetzte mit
Recht alle Welt in Erſtaunen, und der Dank vieler
Herzen wandte ſich ſegnend dahin, wo ein ſo großartiges
Verfahren entſtehen konnte. Wie Bollmann lange nach¬
her die Schuld der Dankbarkeit werkthaͤtig abgetragen,
werden wir ſpaͤter zu ſagen haben.
Bollmanns damalige Stimmung und Anſicht in
Betreff des Vergangenen und ſeiner naͤchſten Zukunft
erkennen wir zum Theil aus dem Bruchſtuͤck eines
Briefes, den er an dieſelbe bewaͤhrte Freundin richtete,
in deren Vertrauen wir ihn ſchon die fruͤheren Bekennt¬
niſſe niederlegen ſahen. Zwei ſpaͤtere Briefe geben uns
[94] einen Blick auf den ferneren Verlauf ſeines Lebens,
welchem jenſeits des Weltmeers ein neuer Wirkungskreis
ſich gluͤcklich eroͤffnete.
9.
Alſo von Karlsruhe aus waͤre die erſte Nachricht meiner
wiedererlangten Freiheit nach Bremen gekommen! Und wer denn,
liebe Freundin, iſt Ihr Correſpondent in Olmuͤtz? Warum hat er
mich nicht beſucht, da ich doch in den letzten vierzehn Tagen Freunde
ſehen durfte? Oder iſt's wohl gar der gute Roſenfels geweſen,
der Ihnen die erſte frohe Nachricht gab? Schreiben Sie mir
daruͤber, denn ich bin recht ſehr neugierig, das zu wiſſen! —
Daß ich nicht bei Ihnen ſein kann! Ich haͤtte Ihnen ſo
viel zu erzaͤhlen! Meine Plane haben ſich ſeit 1793 nicht ge¬
aͤndert. Mit den Memoiren ging's nicht, konnte es nicht gehen,
um der Schlechtigkeit einiger einzelner Menſchen willen. In
Hamburg, wo ich ſchon vorhatte, was in Maͤhren fehlgeſchlagen
iſt, wurde ich von einem Manne, der Aufſehen in der literari¬
ſchen Welt macht, auf's ſchaͤndlichſte hintergangen. Lafayette
hatte dann von neuem dringende Briefe geſchrieben. Der Mini¬
ſter der Vereinigten Staaten intereſſirte ſich fuͤr die Sache. Er
und Viele glaubten, ich ſei der Einzige aus ihrer Bekanntſchaft,
der nuͤtzlich werden koͤnne; ſie forderten mich auf! — Ich liebte
Lafayette, ich hatte durch die fehlgeſchlagene Reiſe nach Berlin
noch mehr Enthuſiasmus fuͤr ſeine Freiheit bekommen. Ich hielt
die Handlung, wozu man mich aufforderte, — eben der Frucht¬
loſigkeit aller andern angewandten Mittel wegen, weil nur Pri¬
vatrache, Furcht, ſich ein Dementi zu geben, und eine thoͤrichte
Politik ihn verfolgte, weil ſeine Gefangenſchaft an und fuͤr ſich
hoͤchſt ungerecht war, — weil man mit der groͤßten Verletzung
[95] von Treu und Glauben ſich ſeiner bemaͤchtigt hatte, weil eben
deßwegen ſogar beim Frieden ſich wenig fuͤr ihn hoffen ließ, —
nicht fuͤr moraliſch unrecht. — —
— Zu fragen wuͤrden Sie viel noch haben. Sie wuͤrden
ſehn, daß man mir keinen gegruͤndeten Vorwurf machen kann;
daß ich that, was ich thun mußte; was ſich unter den gegebenen
Umſtaͤnden nicht beſſer thun ließ. Ausfuͤhrlich kann ich jetzt nicht
ſchreiben! —
Ich habe Ketten getragen! Ich bin ohne Licht, ohne Luft,
ohne Bette, ohne Buch, ohne irgend eine Nachricht von meinen
Freunden, fuͤr eine geraume Zeit geweſen. Man behandelt im
Preußiſchen einen Straßenraͤuber beſſer, als ich im Anfang in
Olmuͤtz behandelt wurde. Dennoch bin ich immer geſund und
heiter geweſen; ich habe nicht gelitten. Man leidet mehr von
Uebeln, die man fuͤrchtet, als die man erfaͤhrt. Jeder ungluͤck¬
liche Zuſtand traͤgt in ſich ſeine Huͤlfsmittel. Das Geringfuͤ¬
gigſte iſt ein Schatz, wenn man durchaus in der groͤßten Be¬
raubung ſich befindet. Darin liegt Huͤlfe. — Um keinen Preis
gaͤbe ich die gemachten Erfahrungen. Es war ſehr conſequent,
zu leiden, gefangen zu ſein. Aber ich bin ſehr gluͤcklich geweſen.
Meine Gefangenſchaft von Anfang bis zu Ende war ein Tri¬
umph der Freundſchaft. Sonſt verliert man Freunde im Ungluͤck.
Ich habe neue gemacht. Mir iſt Huͤlfe von Menſchen gekom¬
men, die ich vorher nie kannte, deren Thaͤtigkeit, um mir nuͤtz¬
lich zu werden, außerordentlich mit Aufopferung verbunden ge¬
weſen iſt. Wie waͤre ich auch ſonſt ſchon frei? Daß ich daruͤ¬
ber nicht mehr ſchreiben kann, nicht mehr ſchreiben darf! —
Das Geſchoͤpf, welches mir auf der Welt am liebſten iſt, und
zuverlaͤſſig eines der gebildetſten Maͤdchen in Deutſchland — ach!
daß Sie ſie kennten, liebe Freundin! ſie wohnt in Hamburg —
mit dem habe ich, eben der Ungewißheit meines Schickſals wegen,
[96] nie correſpondiren wollen! Ich hatte mich ihr gebunden —
ſie war frei! Auch ſie wollte mir, durfte mir, um ihrer El¬
tern, ihrer Freunde willen, nie ſchreiben. Mein Ungluͤck uͤber¬
kam ihre Grundſaͤtze! Hundert Mittel wurden verſucht, doch
mit Vorwiſſen des Mannes ihrer Schweſter, meines Freundes.
Endlich — den erſten Brief an mich, den erſten, den ich je von
ihr ſah — er war in die Haͤnde meines Richters gefallen, er
las ihn mir vor! — Bald hernach erhielt ich einen andern von
ihr, innerhalb der Mauern meines Gefaͤngniſſes! — Ich hatte
in Gedanken Abſchied von meiner Freundin genommen, wie man
mich nach Olmuͤtz brachte! — Sie ſo wiederzufinden! ich glaubte,
ich ſollte ſterben vor Freude! — Bin ich nicht zu beneiden?
Iſt's nicht der Muͤhe werth, ſo ungluͤcklich zu ſein? Und was
liegt nun vor mir? — Selbſt um Lafayette's willen wollte ich
nicht, daß nicht geſchehen waͤre, was geſchehen iſt! Es wird
Alles gut, ſehr gut werden! Zwei meiner Bruͤder ſind im Be¬
griff, nach Amerika abzugehn! Wenn ich Sie nur ſehn koͤnnte,
und den lieben Herrn Vetter! Warum ſind Sie auch nicht ein
bischen naͤher! — Die freundſchaftlichen Genuͤſſe, die ich jetzt
habe, bei ſo Vielen, die ſich freuen, daß ich wieder da bin, ſind
unbeſchreiblich! — Ich gehe uͤber Deſſau, Braunſchweig, Han¬
nover nach Hoya, dann, wie Sie wohl denken koͤnnen, nach
Hamburg; dann nach England! — Von dort aus mehr! —
Verzeihen Sie dieſen wilden Brief, liebe Freundin; ich habe zu
viele zu ſchreiben, um ruhiger ſchreiben zu koͤnnen! Er wird
Ihnen dennoch, hoffe ich, lieb ſein. — Gruͤßen Sie herzlich
Ihre ganze Familie. Auch die Offenbacher. Alle die Lieben, die
mir gut ſind! —
Was macht Boeckh? In Wien habe ich einen Brief von
ihm erhalten, worauf ich nicht antworten konnte, eben weil ich
ſah, daß er mit Allem gaͤnzlich unbekannt war. Er glaubte,
[97] ich ſei in Wien als Arzt! — Ich moͤchte, aus manchen Gruͤn¬
den, den Faden mit ihm gern wieder anknuͤpfen! Wenn Sie
ihn doch den weſentlichſten Inhalt meiner Briefe wiſſen laſſen
koͤnnten. Er iſt ja nicht weit von Ihnen; koͤmmt vermuthlich
zuweilen nach Karlsruhe! Er mag immer, wenn Sie’s erlau¬
ben, meinen großen Brief ganz leſen! — Was macht Ihre
Schweſter, Schwager, Bruder? was Ihre Kinder? Luiſe habe
ich in Offenbach im letzten Jahre geſehn. Sie iſt immer das
gute, ſanfte, liebe Maͤdchen! — Ich ſchlich mich damals nur
durch Frankfurt! — Mir war ſonderbar. Es iſt unangenehm,
wenn man heimlich ſein muß, wo man offen gern ſein moͤchte.
Wenn man keine klare Rechenſchaft von ſich ſelbſt geben kann! —
Leben Sie recht wohl. Vermuthlich ſchreibe ich Ihnen noch
Einmal von Hamburg. Sie ſollen mich gewiß nie verlieren;
erhalten Sie mich auch huͤbſch bekannt mit Ihrem Hauſe. Wer
weiß, wo Sie und ich, oder ich und die Ihrigen, uns noch be¬
gegnen? —
Briefe nach Hamburg adreſſirt, kommen mir immer zu,
ſelbſt wenn ich nicht in Hamburg bin, die gegebne Adreſſe iſt
bleibend. Adieu, liebe, theilnehmende Freundin! Adieu, lieber
Herr Vetter! —
Glauben Sie nicht, daß Ehrgeiz oder wilde Begierde mich
treiben oder mich trieben. Ich glaube, conſequent gehandelt zu
haben. Die Umſtaͤnde warfen mich wider Willen in ſonderbare
Lagen. Auf dem kuͤrzeſten Wege moͤchte ich gern dem haͤuslichen
Gluͤck und der ſtillen Freude zueilen. Ich glaubte und glaube
noch, ſie ſo auf dem kuͤrzeſten Wege zu finden. Selbſt die dabei
intereſſirt ſind, die ſie theilen ſollen, denken ſo. Drum geſchah,
was geſchehn iſt. Mehr kann ich daruͤber nicht ſchreiben.
J. E. Vollmann.
7[98]
10.
Ihren Brief, liebe Freundin, vom 16. Auguſt, habe ich
richtig erhalten. Er hat mir viel Freude gemacht. Gern haͤtte
ich den verſprochenen vom Herrn Vetter noch erwartet. Er iſt
nicht gekommen, und ich muß nun fort. — Es ſind noch ſon¬
derbare Dinge ſeit meinem letzten Briefe vorgefallen. Eine un¬
gluͤckliche Verbindung von Umſtaͤnden hat mich in Hamburg von
dem Gegenſtand geriſſen, deſſen Andenken, deſſen Briefe im Ge¬
faͤngniß mir Troſt waren. Ob auf immer, auf wie lange, das
weiß ich nicht! — Wir ſind aber Freunde, alle Freunde. —
Sie glaubte ſich ihrer Pflicht opfern zu muͤſſen, und das kann
man ja nicht tadeln! —
Ich gehe mit ſchoͤnen Erwartungen, — an denen ich jedoch
nicht haͤnge —, mit vielen Mitteln nach Amerika. Was ich
ſelbſt und die Umſtaͤnde daraus machen koͤnnen, muß die Zeit
lehren. Auf jeden Fall werde ich mit den ausgezeichnetſten Men¬
ſchen dort bekannt werden, und Gelegenheit haben, mich von
Vielem zu unterrichten. — Die Gewalt der Umſtaͤnde wird
auch Lafayette bald befreien. Ich hoffe, in Geſchaͤften bald
wieder nach Europa zuruͤckzukommen.
Es ſchmerzt mich, daß Boeckh nicht gluͤcklich iſt; mehr noch,
daß er keine Ausſicht hat, es zu werden. Alles um ihn herum
muß ihm verdrießlich ſein. Wo man einmal ſehr ungluͤcklich ge¬
weſen iſt, da hat man die Meinung wider ſich; da koͤmmt man
zu nichts mehr. Fort in’s Weite, das waͤre am beſten! Ich
wollte, daß ich Ausſichten in Amerika fuͤr ihn finden koͤnnte.
Dahin kommen kann man leicht. Neue Umgebungen machen
einen neuen Menſchen. Wo ein reiner Anfang, da iſt ein beſſe¬
rer Fortgang! — Die Kriegsunruhen umgeben Sie nun wieder.
[99] Ich hoffe, daß Sie davon nicht leiden! — Sollte ein Krieg
zwiſchen England und Amerika ausbrechen, ſo iſt es beſſer, die
Briefe fuͤr mich an Herrn Sieveking in Hamburg zu ſenden,
mit der Bitte, ſie zu beſorgen. Die Sachen, wobei viele kleine
intereſſante Dinge ſind, liegen mir ſehr am Herzen. — Danken
Sie ja dem lieben Roſenfels recht herzlich in meinem Namen.
Ich glaube, er hat in Bruͤnn die Akten gern ſehn wollen. Ich
denke, meine Unternehmung wird noch nuͤtzliche Folgen haben.
Mein Gehn nach Amerika wird dadurch veranlaßt. Schreiben
Sie mir ja, liebe Freundin, wenigſtens zweimal im Jahr, und
dann huͤbſch von Allem. Sie und die Ihrigen muͤſſen mir nicht
fremd werden; ich will's eben ſo machen. Nichts iſt unange¬
nehmer, als wenn man durch Entfernung ſich allmaͤhlich ab¬
ſtirbt. — Amerika iſt ein ſchoͤnes, vielverſprechendes Land, das
große Vortheile vereinigt; das keine Vorurtheile, keine alte fehler¬
hafte Einrichtungen, und die zahllos daraus entſpringenden Schwie¬
rigkeiten zu bekaͤmpfen hat; daher von den Erfahrungen der ver¬
floſſenen Jahrhunderte mehr Nutzen ziehn kann, wie nie kein
Land noch konnte! —
Die liebe Griesbach muß ſich mehr ermuͤden, muß allein,
in einem luftigen, geraͤumigen Zimmer ſchlafen. Sie muß ſich
mit dem eignen Verſtande mehr als mit Medizin kuriren; muß
haͤrter leben, zuweilen durch dick und duͤnn waten. — In
Leipzig wurde eine allerliebſte Dame, die zehnjaͤhrige Noth ihrer
Aerzte, geſund, wie der Mann Bankrott machte! — Es ſollte
mich nicht wundern, wenn die Nachbarſchaft der Franzoſen fuͤr
den verſchleimten Magen gut waͤre! — Sie ſehn, ich kann das
Doktern noch nicht laſſen. In jedem Rath iſt meiſtens etwas
Gutes. Nehmen Sie ſo vorlieb!
Leben Sie wohl, meine gute, inniggeliebte Freundin! —
Leben Sie wohl, mein lieber Herr Vetter. Sein Sie uͤberzeugt,
7 *[100] daß ich auch jenſeits der Meere und uͤberall treu und unwandel¬
bar Ihr und der Ihrigen Freund ſein werde! —
J. E. Bollmann.
N. S. Ich muß heute kurz ſein. Morgen geht's zu Schiff;
und es iſt aͤrger, wie eine Vorbereitung zum Tode; ſo viel Ein¬
richtungen hat man zu machen, wenn man in eine andere Welt
geht, die noch zu dieſer gehoͤrt. —
IV.
Bevor Bollmann nach Amerika uͤberſchiffte, hatte
er noch in Betreff Lafayette's eine große Unannehm¬
lichkeit zu erleiden, welche ihm der Unbedacht eines
Freundes zuzog. Die erwaͤhnte Denkſchrift, welche zu
Gunſten Lafayette's dem Koͤnige von Preußen hatte
uͤberreicht werden ſollen, war durch Bollmann von
Hamburg aus, mit Lally-Tolendal's und Clermont-
Tonnere's Vorwiſſen, abſchriftlich an Huber geſandt
worden, der damals in der Schweiz lebte. Derſelbe
ſollte ſie jedoch geheim halten, und nur dann erſt im
Druck mittheilen, wenn ihm von den Leitern dieſer An¬
gelegenheit deßfalls eine beſtimmte Weiſung zugegangen
waͤre. Auch beging Huber gegen dieſe Vorſchrift keinen
Fehler, machte jedoch einen weit gefaͤhrlicheren Mi߬
brauch. Georg Forſter, ebenfalls Bollmanns Freund,
aber in die franzoͤſiſche Revolution tiefer verflochten, und
mit der heftigen Parthei fortſchreitend, in deren Augen
die gemaͤßigte, zu welcher Bollmann und ſeine franzoͤ¬
ſiſchen Freunde gehoͤrten, ſchon als Feinde und Ver¬
raͤther galten, war von Paris an die ſchweizeriſche
[101] Graͤnze geſandt worden, und hatte dieſe, um Huber
und ſeine eigne bei demſelben lebende Familie in Travers
zu beſuchen, ohne Erlaubniß uͤberſchritten. Hieraus
konnte ihm in Paris ein Todesverbrechen gemacht wer¬
den, und er ſann auf eine guͤltige Ausrede. Huber
hatte ihm die Denkſchrift fuͤr Lafayette gezeigt, ſie ent¬
hielt mancherlei, was den damaligen Gewalthabern in
Frankreich wichtig ſein konnte, unter andern den Be¬
weis, daß der Feldmarſchall Luckner als General der
franzoͤſiſchen Republik gegen dieſe einen Verrath began¬
gen habe. Luckner war ſchon ſeiner Befehlfuͤhrung ent¬
ſetzt, die Anklage gegen ihn vollſtaͤndig, ſein Todes¬
urtheil gewiß; ihm konnte demnach nichts mehr ſchaden;
Forſter hielt es aber fuͤr ſich nuͤtzlich, wenn er eine
Abſchrift jenes Aufſatzes, fuͤr den Fall, daß er ſelbſt
angeklagt wuͤrde, vorzeigen, und den Zweck, ſich dieſe
Abſchrift zu verſchaffen, als den ſeines Beſuches bei
Huber angeben koͤnnte. Huber gab ihm die Abſchrift,
welche zwar gluͤcklicherweiſe nicht als das Zeugniß gegen
Luckner, der bereits guillotinirt war, noch fuͤr Forſter,
der unangeſchuldigt blieb, zu dienen brauchte, allein
durch deſſen bald erfolgten Tod, in fremde Haͤnde ge¬
rieth, und in Paris unter dem Titel: Mémoire de
Lally-Tolendal au roi de Prusse, pour réclamer la
liberté de La Fayette, oͤffentlich im Druck erſchien.
Groß war das Aufſehn, welches dieſe Bekanntmachung
verurſachte, und der Verdruß Bollmanns, der dieſelbe
[102] unmittelbar von Huber ausgegangen glaubte. Er machte
dieſem daher bittre Vorwuͤrfe. Huber konnte ſich recht¬
fertigen, daß wenigſtens die Bekanntmachung nicht durch
ihn unmittelbar verſchuldet worden; er theilte den ganzen
Hergang dem Freunde aufrichtig mit, und dieſer war,
in Betracht der ſchwierigen Verhaͤltniſſe, und daß es
ſich um Forſter’s Rettung gehandelt, fuͤr das Ver¬
gangene leicht befriedigt, entnahm aber auch dieſem
Verdruſſe die warnende Lehre, wie gefahrvoll die beſte
Meinung ſich verwickle, wenn ſie, anſtatt ſtrengen Pflicht¬
geboten zu folgen, willkuͤrlichem Gutduͤnken ſich uͤberlaͤßt.
11.
Mit vielem Vergnuͤgen, liebe Freundin, ſehe ich aus den
letzten Briefen von Hamburg, daß das Schiff daſelbſt ange¬
kommen, und meine Briefe vom 31. Juli Ihnen und Boeckh
alſo wahrſcheinlich geworden ſind. Als einen Beweis meiner
Aufmerkſamkeit und meines Andenkens, und weil ich weiß, daß
Sie an meinem Geſchicke Theil nehmen, bin ich ſo frei, Ihnen
ein Exemplar eines gedruckten Zirkularbriefes zuzuſenden, welcher
ſelbſt Ihnen vermuthlich nicht ganz unintereſſant ſein duͤrfte,
und wovon ich mir viele Vortheile verſpreche.
Unſer junges Etabliſſement hat uͤbrigens einen guten [und]
gluͤcklichen Fortgang, daß wir unſere Erwartungen zuweilen
uͤbertroffen fuͤhlen, und wenn nur unſer Vater einwilliget und
unſre Mittel etwas vergroͤßert, ſo hoffe ich bald ihm noch mehr
Reſpektabilitaͤt und Soliditaͤt durch eine Verbindung zu geben,
die ſo vernuͤnftig ſein wird, als wenn ſie nur Konvenienzſache,
und ſo herzlich, als wenn ſie nur romantiſch waͤre. — Wir
[103] kennen uns ſeit achtzehn Monaten, und ſeit zwoͤlf arbeite ich
dieſem Plan entgegen.
Dann ſind meine groͤßten Sorgen einſtweilen voruͤber, und
dann will ich Ihnen auch recht lange Briefe ſchreiben.
Der beikommende Brief war ſchon vor ſechs Monaten ge¬
druckt. Aber Nachfrage und einige andere Umſtaͤnde veranlaßten
uns, davon eine vermehrte und verbeſſerte Auflage zu machen. —
Haben Sie die Guͤte, ihn meinem Freund Boeckh mitzutheilen.
Ich bedaure auch um Ihrentwillen, daß der Frieden von
Deutſchland noch nicht nahe ſcheint. Aber Sie entwichen ſchon
ſo mancher Gefahr, daß ich hoffe, Ihr gutes Geſchick wird Sie
und die Ihrigen foͤrderhin unverſehrt erhalten. —
Ich hoffe, bald von Ihnen, vom Herrn Vetter, von Boeckh,
von allen Freunden zu hoͤren — wo iſt Herr von Roſenfels
jetzt? — und empfehle mich einſtweilen der Fortdauer Ihrer
Liebe. I. E. Bollmann.
N. S. Sollten vermoͤgende Leute aus Ihrer Gegend und
in Ihrer Bekanntſchaft, etwa der Kriegsunruhen halber, wie
das der Fall ſein koͤnnte, ihre Kapitale in einem fremden Lande
in Sicherheit zu bringen wuͤnſchen, ſo bitte ich den Herrn Vet¬
ter, ſolchen dieſen Brief mitzutheilen, und unſer Haus ihnen zu
empfehlen. — Kaspar Voght und Sieveking in Hamburg —
Maͤnner von der erſten Reſpektabilitaͤt —, werden, wenn es er¬
forderlich waͤre, unſern kaufmaͤnniſchen guten Karakter bezeugen.
— Ich ſchreibe dies ſehr ernſtlich. — Man hat bisher Gelder
in Holland und England angelegt. Sie werden wiſſen, und
auch aus unſerem Briefe ſehn, warum ſie da nicht mehr ſicher
ſind. — Nichts ſcheint vernuͤnftiger, als ſie in den Vereinigten
Staaten anzulegen. — Wir koͤnnen hier beſſer beurtheilen, wie
ſie hier gut untergebracht werden koͤnnen, als wie ſich das in
Europa thun laͤßt. — Die Art, wie ſich Gelder uns am fuͤg¬
[104] lichſten uͤbermachen laſſen, iſt im Brief angegeben. — Wir
empfehlen uns daher, wenn Gelegenheiten vorkommen, der vor¬
zuͤglichen Aufmerkſamkeit des Herrn Vetters. Es iſt ſonderbar
genug, wie Dinge herumkommen. Unſre vorzuͤglichſten Geſchaͤfte
ſind jetzt mit Schleſien, deſſen Manufakturwaaren wir zugeſchickt
erhalten und hier verkaufen. Meine Abenteuer in dem Revier
verſchafften mir dort Zutrauen und Freunde! —
Sie wundern ſich wohl ein bischen, liebe Freundin! — Sein
Sie unbeſorgt! Wiewohl ein Wucherer, wenn Sie wollen, kein Roſt
von niedrigem Eigennutz ſoll jemals auf meinem Karakter haften!
Intereſſen berechnen, Preisverzeichniſſe ſtudiren, Proben
ſammeln, Briefe ſchreiben, Verkaͤufe machen, — das wechſelt
ab mit Dichter leſen, Aufſaͤtze ſchreiben, Politik ſtudiren; —
dies iſt ein gutes Leben genug. Und ſoviel weiß ich wenigſtens,
daß ſelbſt das ſpirituellſte Metier ſeinen guten Antheil von Tage¬
loͤhnerarbeit hat.
Außer Lewis iſt noch ein juͤngerer Bruder, Andreas Boll¬
mann, mit uns, der unſerm Entwurf zufolge ſich kuͤnftig mit
uns verbinden wird. Er iſt erſt ſiebzehn Jahr alt, und lernt
die Handlung jetzt!
Es freut mich oft, daß der Herr Vetter vom kaufmaͤnni¬
ſchen Stand eine ſo gute Meinung hatte.
Bleiben Sie meine Freundin, liebe Baſe. Sie ſollen noch
Freude an mir erleben!
V.
In Amerika war Bollmann mit offenen Armen auf¬
genommen worden; die zahlreichen Freunde und Ver¬
ehrer Lafayette's hatten ſich ſogleich ihm angeſchloſſen,
ihm ihre waͤrmſte Dankbarkeit bezeigt, und ihm die
eifrigſten Anerbietungen gemacht. Sein thatkraͤftiger
[105] Sinn, ſein ruhiges feines Benehmen, und ſeine beſchei¬
dene Selbſtſtaͤndigkeit erweckten allgemeines Wohlwollen.
Mannigfache glaͤnzende Vorſchlaͤge, die man ihm that,
lehnte er ab, und wollte ſein Fortkommen nur auf die
eigne freie Thaͤtigkeit gruͤnden. Nur Raum fuͤr dieſe
und vorlaͤufiges Zutrauen wuͤnſchte er, und beides fand
er reichlich. Wir haben geſehen, daß er mit ſeinen
Bruͤdern in Philadelphia ein Handlungshaus gruͤndete.
In dem ſchon erwaͤhnten Umlaufſchreiben, durch welches
das Haus ſeine Errichtung anmeldete, ertheilte Boll¬
mann umſtaͤndlichen Bericht vom allgemeinen Zuſtande
der Dinge in den Vereinigten Staaten, von dem Um¬
fange und den Bedingniſſen der dort moͤglichen Geſchaͤfte,
von den perſoͤnlichen Verbindungen und Ausſichten,
welche ſich ſeinen Unternehmungen guͤnſtig zeigten. Dieſe
Darſtellung, vier Druckbogen ſtark, iſt ein merkwuͤrdiges
Zeugniß der gruͤndlichen Kenntniß und des reifen Sin¬
nes, ſo wie der rechtlichen Denkart des jungen Ver¬
faſſers und noch juͤngeren Geſchaͤftsmannes, und duͤrfte
wohl verdienen, bei andrer Gelegenheit wieder abgedruckt
und als ein ſprechendes Bild der damaligen, jetzt unge¬
meſſen fortgeſchrittenen Verhaͤltniſſe bewahrt zu werden.
Das Unternehmen hatte den gluͤcklichſten Erfolg,
und Bollmann ſtand bald in der mannigfachſten und
ausgebreitetſten Geſchaͤftsthaͤtigkeit. Dabei ſtudirte er
unablaͤſſig die Natur in allen ihren Richtungen, die
Bezuͤge der Kunſtfertigkeiten, des allgemeinen Verkehrs,
[106] des Staatslebens, und ſelbſt der Religion. Die that¬
ſaͤchlichen Anſchauungen ſtuͤtzten ſein Denken, dieſes gab
jenen ein helleres Licht. Das Gluͤck beguͤnſtigte ihn;
er gelangte zu bedeutendem Anſehn und Wohlſtand, und
lebte geſchaͤtzt und geliebt unter ſeinen neuen Mitbuͤr¬
gern, in deren Mitte er ſich nun auch durch die Hand
einer edlen und liebenswuͤrdigen Frau heimathlich feſt¬
gehalten ſah. Seine gluͤckliche Ehe gab ihm zwei Toͤch¬
ter. Sein Wirkungskreis erweiterte ſich fortwaͤhrend:
er machte eine große Reiſe durch die ganze Ausdehnung
der Vereinigten Staaten, durch die Urwaͤlder, zu den
fernſten Bergen, uͤber die Seen. Er nahm nicht minder
Theil an dem politiſchen Leben ſeines neuen Vaterlan¬
des, wo ſich in den damaligen Umſtaͤnden zwei beſtimmte
Partheien einander gegenuͤberſtellten, die Demokraten
und die Foͤderaliſten. Bollmann gehoͤrte zu den letztern,
in welchen ſich vorzugsweiſe die Hinneigung zu Eng¬
land und zu gemaͤßigtem Freiheitsſinne zeigte, dem ſogar
ein ariſtokratiſches Element nicht zuwider war. Mit den
Haͤuptern dieſer Parthei, hoͤchſt achtungswuͤrdigen und
bedeutenden Maͤnnern, ſtand er in naher Verbindung,
und durfte erwarten, auch als Staatsmann einſt in
angeſehener Wirkſamkeit aufzutreten.
Inzwiſchen hatte die franzoͤſiſche Revolution in Euro¬
pa die wunderbarſten Wandlungen durchlaufen, und in
Napoleons Herrſchaft den hoͤchſten Gipfel ihrer dem
Anfange ſchon laͤngſt ungleichartigen Erſcheinungen er¬
[107] leicht, bis endlich auch dieſe Geſtalt zuſammenſtuͤrzte,
und eine gluͤckliche Zukunft in der Wiederherſtellung
ehemaliger Zuſtaͤnde und allgemeinen Friedens verheißen
wurde. Schon oft hatte Bollmann gewuͤnſcht, Europa
wiederzuſehen, und ſeine lieben Verbindungen dort,
welche durch den Krieg faſt ganz unterbrochen worden,
zu erneuern. Er hatte das Ungluͤck gehabt, ſeine Gat¬
tin zu verlieren, und fand ſich dadurch um ſo mehr
gemahnt, die noch lebenden Angehoͤrigen in Deutſchland
aufzuſuchen. Aber auch der Umfang und die Bedeu¬
tung ſeiner Geſchaͤfte, und neue Unternehmungen, die
ſich ihm eroͤffneten, machten ſeine Gegenwart in der
alten Welt nothwendig. Er hatte wichtige Entdeckun¬
gen im Gebiete der praktiſchen Phyſik und Chemie
gemacht, aus welchen große Vortheile zu ziehen ſein
konnten. Die bedeutendſten Auftraͤge wurden ihm an¬
vertraut. Ja ſogar politiſche Zwecke konnten von
ſeinem Beobachtungsgeiſte foͤrderliche Ausbeute hoffen.
Er kam nach England, wo er mit den erſten Staats¬
maͤnnern ſogleich in Verbindung trat; fuͤr die Geſchaͤfte
des Handels und betriebſamer Unternehmungen bot ihm
das große Haus Baring einen feſten Anhalt, der jeden
andern entbehrlich machte. In Frankreich, wohin er
ſich dann begab, lebte noch ſein Andenken im beſten
Ruhme bei den alten Freunden fort, die zum Theil jetzt
in den hoͤchſten Aemtern und im groͤßten Einfluſſe ſtan¬
den. Auch hier eroͤffneten ſich ihm eine Menge von
[108] Verhaͤltniſſen, die gewoͤhnlich dem Einwirken des Privat¬
mannes verſchloſſen ſind, deren Behandlung aber in dem
Lande, wo ſich ein Franklin entwickeln konnte, der aͤchten
Buͤrgerbildung, wie anderswo der Amtswuͤrde, zuſtaͤn¬
dig und gelaͤufig wird. Doch London und Paris konn¬
ten ihm nicht genuͤgen; nicht nur ein romantiſcher Trieb,
der ſich leicht begreifen laͤßt, ſondern auch geſchaͤftliche
Anlaͤſſe von großer Wichtigkeit, denen er zu folgen hatte,
zogen ihn durchaus nach Wien, wo zum großen Con¬
greſſe die machtvollſten und glaͤnzendſten Vertreter der
europaͤiſchen Welt ſich ſchon verſammelten.
Eingedenk der fruͤheren Verwarnung, fragte er bei
dem oͤſterreichiſchen Geſandten an, ob ihm der Zutritt
in Oeſterreich wohl erlaubt werden moͤchte? Wie fern
lag jener alte Vorgang dem jetzigen Zuſtande, wie tief
begraben in der Erinnerung! Der Buͤrger der Ver¬
einigten Staaten, der wirkſame Geſchaͤftsmann, der von
Lord Caſtlereagh und von dem Fuͤrſten Talleyrand
eifrig Empfohlene, hatte nichts mehr gemein mit jenem
tollkuͤhnen Abentheurer; der Mann, fuͤr den er Leben
und Freiheit gewagt, war kaum noch ein Gegenſtand
der Aufmerkſamkeit, geſchweige denn des Haſſes. In
der Noth des Kampfes und in der Freude des Sieges
waren ganz andre Ausſoͤhnungen erfolgt, ganz andre
Unbilden vergeſſen worden! Bollmanns vorſichtige An¬
frage wurde daher ſehr gut aufgenommen, und durch
die Verſicherung beantwortet, er duͤrfe ohne Scheu nach
[109] Oeſterreich reiſen, Niemand werde ihn dort wegen der
alten Geſchichte beunruhigen. Er empfing die noͤthigen
Paͤſſe, und reiſte nach Wien.
Im Oktober 1814 traf er daſelbſt ein, als die Ge¬
ſchaͤftsarbeiten noch wenig im Gang, das Gedraͤnge der
geſelligen Bewegung aber am groͤßten war. Hier, wo
die glaͤnzendſten Perſoͤnlichkeiten ſo leicht verblichen, fand
der einfache, aber mit Sachkunde und Bildung auf¬
tretende Buͤrger alsbald die ausgezeichnetſte Beach¬
tung. Er hatte der oͤſterreichiſchen Regierung mancherlei
Antraͤge zu machen, bei welchen er theils in eignem
Namen, theils in dem des Hauſes Baring auftrat.
Mit den Haͤfen des adriatiſchen Meeres hatte Oeſter¬
reich einige Linienſchiffe zuruͤckbekommen; in Idria lag
Queckſilber angehaͤuft, das ſeit mehreren Jahren wegen
des Krieges nicht hatte nach Amerika verſchifft werden
koͤnnen; dieſe Gegenſtaͤnde, im Betrage ſehr großer
Summen, wollte er ankaufen; auf der Donau ſollte
die Dampfſchifffahrt eingefuͤhrt, und daruͤber ein Vertrag
abgeſchloſſen werden. Waͤhrend Bollmann dieſerhalb
Unterhandlungen anknuͤpfte, wurde ſeine Aufmerkſamkeit
auf den Zuſtand der Finanzen hingezogen, und beſon¬
ders auf die große Maſſe Papiergeldes, welche aus den
fruͤhern Kriegsjahren uͤbrig war und das Land als ein
empfindliches Uebel druͤckte. Der Finanzminiſter Graf
von Stadion, an welchen Bollmann wegen ſeiner Ge¬
ſchaͤfte gewieſen war, gewann bald ein großes Vertrauen
[110] zu deſſen Einſichten und praktiſchen Faͤhigkeiten, und
klagte uͤber den ſchwierigen Kampf, den er gegen dieſes
unaufhoͤrlich ſchwankende Papiergeld zu fuͤhren habe; die
Verminderung deſſelben ſei durchaus nothwendig, nur
vermoͤge man die beſten Huͤlfsmittel dazu noch nicht
aufzufinden. Bollmann verfaßte hierauf eine Denkſchrift,
worin er buͤndig und klar, in der einfachſten Darſtel¬
lung, dieſe Huͤlfsmittel angab. Seine Anſichten und
Vorſchlaͤge machten Eindruck, und wurden von allen
oͤſterreichiſchen Staats- und Geſchaͤftsmaͤnnern, denen
ſie mitgetheilt wurden, durchaus gebilligt. Der Fuͤrſt
von Metternich nahm den Urheber perſoͤnlich mit großem
Wohlgefallen auf, und aͤußerte den Wunſch, derſelbe
moͤchte durch den Praͤſidenten der Vereinigten Staaten
eine dauernde diplomatiſche Anſtellung in Wien erhalten.
Gentz, der auch in den Finanzſachen oͤfters zu Rath
gezogen wurde, konnte nicht aufhoͤren, Bollmanns Ein¬
ſicht zu ruͤhmen, und ſuchte eifrig ſeinen Umgang. Auch
der Banquier Freiherr von Eskeles, durch vertraute
Kenntniß der Oertlichkeit und innern Verhaͤltniſſe, ſo
wie durch umſichtige Geſchaͤftskunde und durchdringen¬
den Scharfſinn hoͤchſt ausgezeichnet, erklaͤrte ſich einver¬
ſtanden mit dem vorgelegten Plane. Wirklich wurden
in den nachherigen heilſamen Finanzmaßregeln, ſo wie
bei den Grundlagen der bald hervortretenden National¬
bank, einzig Bollmanns Angaben und Entwuͤrfe befolgt,
und er iſt ſonach als der eigentliche Stifter dieſer in
[111] den oͤſterreichiſchen Finanzen neuen Epoche zu betrachten,
deren ſegenreiche Wirkſamkeit noch ſtets fortdauert. Er
arbeitete ohne Eigennutz und Belohnung, aber mit dem
ſuͤßen Gefuͤhl, dem Staate nuͤtzlich und dankbar zu
ſein, in deſſen obrigkeitliche Gewalt er einſt freventlich
eingegriffen, und der ihn dafuͤr mit Großmuth und
Nachſicht behandelt hatte!
Nicht nur den Staatsmaͤnnern Oeſterreichs, auch
denen andrer Laͤnder wurde Bollmann in Wien vor¬
theilhaft bekannt. Der preußiſche Finanzminiſter, Frei¬
herr von Buͤlow, beſprach mit ihm den Plan, durch
Dampfſchiffe die Elbe zu befahren. Der ruſſiſche Finanz¬
miniſter, Graf Gurieff, trat in Briefwechſel mit ihm
uͤber den Vorſchlag, aus Platina Geld zu muͤnzen,
der viele Jahre ſpaͤter in Rußland wirklich zur Aus¬
fuͤhrung kam, und wozu Bollmann eine damals noch
geheime Verfahrungsart anzubieten hatte. Auch der
hannoͤverſche Staatsminiſter, Graf von Muͤnſter, freute
ſich ſeines ausgezeichneten Landsmannes, und ſetzte großes
Vertrauen in ihn. Mit Cotta, der zu Wien in einem
großen, ſowohl politiſch als literariſch bedeutenden Kreiſe
wirkte, fand Bollmann viele Anknuͤpfungspunkte. Der
deutſche literariſche Zuſtand aber befriedigte ihn im Gan¬
zen wenig; Goethe’n ausgenommen, waren die neueſten
Dichter und Philoſophen ihm faſt unzugaͤnglich, und er
verhehlte nicht, wie ſehr ſie ihn befremdeten. Dagegen
war er einer der Erſten, der in jener Umgebung mit
[112] lebhaftem Ruͤhmen von Walter Scott und mit hoher
Begeiſterung von Lord Byron ſprach.
Der Gang aller Verhandlungen und Geſchaͤfte war
weitausſehend; Bollmann konnte ihre Entwickelung fuͤr
jetzt in Wien nicht abwarten, denn andre wichtige Ver¬
haͤltniſſe forderten dringend ſeine Gegenwart in England.
Er reiſte vor beendigtem Congreſſe dahin ab.
Die Ruͤckkehr Napoleons von der Inſel Elba nach
Frankreich, welche die Voͤlker Europas in abermalige
Verwirrung geſetzt hatte, wurde nach kurzer Dauer durch
den Sieg Bluͤchers und Wellingtons bei Bellealliance
wieder ausgeloͤſcht, und der Thron der Bourbons zum
zweitenmale hergeſtellt. Waͤhrend der hundert Tage
dieſer zweiten Herrſchaft Napoleons war aber auch La¬
fayette aus ſeiner Zuruͤckgezogenheit hervorgetreten, und
als Mitglied der Repraͤſentantenkammer das eigentliche
Werkzeug der zweiten Abdankung des Kaiſers und ſei¬
ner Entfernung aus Paris geworden, zugleich hatte er
fuͤr die Unabhaͤngigkeit Frankreichs, und gegen die Ein¬
miſchung der Verbuͤndeten in deſſen innere Angelegen¬
heiten, ſich ſtark erhoben und ſich zu dieſem Zweck eine
ſchwierige Sendung mit uͤbernommen. Bollmann, der
in dieſer Zeit eine kurze Anweſenheit in Paris machen
mußte, ſah den alten Freiheitsfreund ganz in alter
Weiſe handeln, in denſelben Grundſaͤtzen wie ehemals,
und fand nicht nur dieſe folgerecht, ſondern auch das
Benehmen des vielgepruͤften Mannes tadellos. Dieſer
[113] hatte jedoch an der Spitze der Angelegenheiten nur eben
erſcheinen, aber nicht ſich behaupten koͤnnen, wie dies
ihm und allen denjenigen immer begegnet iſt, welche
in den wogenden Ereigniſſen nicht dem Strome, ſondern
unnachgiebig einer ſtarren Richtung folgen wollen. Der
Haß und Unglimpf aller Partheien ſchuͤttete ſich darauf
heftig gegen ihn aus, man ſagte laut, neben begruͤn¬
detem Tadel, auch die falſcheſten Dinge von ihm. Dies
wollte Bollmann nicht leiden, und ſo grobe und un¬
wahre Anklagen ſeinem theuern Lafayette abwehren. Er
ſchrieb zu dieſem Behuf eiligſt einen Aufſatz unter dem
Titel: „Einige hiſtoriſche Notizen, die neuerlichen Er¬
eigniſſe in Frankreich betreffend”, ſandte denſelben an
Cotta, und dieſer ließ ihn in der Allgemeinen Zeitung
und in den Europaͤiſchen Annalen, an letzterem Orte
mit hinzugefuͤgten Belegen, ſofort abdrucken. In der
Fluth politiſcher Stimmen machte ſich dieſe bemerklich
genug; ſie fiel durch ſchlichte Entſchiedenheit auf, und
brachte Thatſachen und Anſichten zur Sprache, welche
tief in den Streit der Partheien eingriffen. Gentz erhob
ſich als Gegner, und ſchrieb heftig gegen den unbe¬
kannten Verfaſſer, nicht ahnend, daß dieſer derſelbe
Mann ſei, mit welchem er eifrig Briefe wechſelte, und
welchem Oeſterreich eine ſeiner wichtigſten Angelegen¬
heiten vertraut hatte! Bollmann laͤchelte zu dem wun¬
derlichen Zuſammentreffen, und mochte den Streit nicht
weiterfuͤhren, da kein Ergebniß davon zu hoffen ſein
8[114] konnte. Ihn ſelbſt beſchaͤftigten wieder ganz andre
Gegenſtaͤnde. Er war bereits wieder in England, und
ſchiffte ſich nach Amerika ein, um ſeine dortigen Ange¬
legenheiten zu ordnen, und ſeine beiden Toͤchter nach
Europa abzuholen.
Hier ſchließen ſich aus dieſer und der naͤchſtfolgen¬
den Zeit einige an Varnhagen gerichtete Briefe an, aus
welchen die Geſinnungen, Verhaͤltniſſe, Thaͤtigkeiten und
Ausſichten, in welchen Bollmann unermuͤdet ſtrebte,
einigermaßen zu erſehen ſind. Sie machen uͤbrigens
keinen andern Anſpruch, als die Zuͤge ſeines Bildes,
die wir von ſeiner Juͤnglingshand mitgetheilt haben,
durch einige hinzugefuͤgte Striche von der Hand des
gereiften Mannes zu vervollſtaͤndigen.
12.
Sie wollen mir alſo keine Ausſchnitte ſenden? wollen nichts
dazu beitragen, daß ich meinen Toͤchtern zeigen koͤnne, wie vie¬
lerlei Talente es in Deutſchland giebt!
Und Frau von Varnhagen — iſt Sie mit Ihnen — geſund
— heiter? das Letzte iſt ſchwer in der Mitte von ſo viel bedraͤng¬
ten und ſo viel etlichen Leuten — ich verſtehe hierunter nicht die
Pariſer.
Ich wollte, ſie waͤre hier. Wenn Ihr in Wien des alten
wuͤrdigen Pouthon's Thaͤtigkeit zuſagte, ſo wuͤrde ſie hier nicht
aus der Ekſtaſe kommen, wenn Sie ſaͤhe, wie man groß ſein
kann in der Arbeit, und magnifik in Anſtalten des Nuͤtzlichen!
Demungeachtet ſind die Englaͤnder beſchraͤnkt, kalt, ſteif, wenn
Sie wollen. Es laͤßt ſich ſchwer alles vereinigen!
[115]
Der Prinz-Regent ſagt nun laut, man habe Unrecht gethan,
den alten Koͤnig hinzuſetzen — denn er verhindert uns, ſetzt er
hinzu, Exempel zu ſtatuiren! — Die Welt liegt im Argen!
Ich laſſe Frau von Varnhagen bitten, ſich vor den Docto¬
ren zu huͤten — ſelbſt vor Koreff, wiewohl einer der Beſten.—
Meinen Gruß an Oberſt von Pfuel. Ich bedaure, daß ich ihn
ſo kurze Zeit gekannt habe. Und recht viel Schoͤnes, Herzliches
an Schlabrendorf. — Auch ſeinetwegen verlaſſ’ ich Europa un¬
gern, und glichen ihm Viele, ſo ſollte nichts mich abhalten, zu¬
ruͤckzukommen, ſelbſt auf Kartoffeln und Waſſer! —
— Was wollen denn Sie — Sie Alliirte — zuletzt noch in
Frankreich anfangen? — Haben Sie von Cotta gehoͤrt?
E. Bollmann.
13.
Ihren Brief, lieber Varnhagen, vom 25. September, mit
den ſchoͤnen Ausſchnitten, erhielt ich erſt in Amerika, ſpaͤt im
Fruͤhjahr. Er war mir recht erfreulich, und meine Maͤdchen
haben die Ausſchnitte ſehr bewundert.
Sie ſehn, daß ich Wort halte. Am 16. Mai gingen wir
von Philadelphia ab, am 12. Juni waren wir in Liverpool —
nach einer kurzen, ſchoͤnen Ueberfahrt — nur waͤren wir am
10. an der Kuͤſte von Irland beinahe geſcheitert. Ein dichter
Nebel verbarg das Land, der Kapitaͤn war unvorſichtig, und
verlor nachher alle Gegenwart des Geiſtes, wie wir umringt
waren mit Felſen und nicht wußten, wohin uns wenden. Die
Maͤdchen benahmen ſich recht heroiſch, und wir zogen uns gluͤck¬
lich aus der boͤſen Lage.
Seit drei Wochen ſind wir hier. Ich ſchrieb gleich an
Schlabrendorf, zu erinnern, wo Sie waͤren, er hat aber nicht
8 ✷[116] geantwortet. Ich laſſe dieſen Brief auf’s Gerathewohl nach
Berlin gehn. —
Mehrere Angelegenheiten werden mich fuͤr’s Erſte hier auf¬
halten. Meine weiteren Bewegungen werden von Umſtaͤnden
abhaͤngen. Die Abſicht iſt, wenigſtens einige Jahre in Europa
zuzubringen. Da meine Toͤchter nun mit mir ſind, ſo zieht mich
nichts mehr ſtark nach Amerika zuruͤck, es ſei denn beſſere Aus¬
ſichten fuͤr dieſe. — Es erſchreckt mich zuweilen, ſie nun in
einer Welt zu ſehn, wo, außer mir, ſie Niemand kennt und
liebt, und wo ſie Niemand angehoͤren. — Mein Leben ſchien mir
nie ſo nothwendig. Weibliche Geſchoͤpfe, vorzuͤglich wenn ſie
mehr Werth als Schoͤnheit beſitzen, vertragen das Verpflanzen
nicht gut. Ich denke oft an Sie, und Ihre liebe Frau, und
wollte, wir waͤren uns naͤher. —
Stadion — wie ich ſo eben gehoͤrt — bringt nun alle meine
Plaͤne zur Ausfuͤhrung. Bedeutend iſt dieſe Revolution doch ge¬
wiß, und von mir ging ſie aus, wiewohl mich in der Sache
Niemand nennt, und mir auch daraus bis jetzt noch nicht der
mindeſte Vortheil entſprungen. Mein Plan iſt in allen Zuͤgen
— im Weſentlichen, wie im Beſondern, beibehalten worden, nur
hat man ſich Eine Abweichung erlaubt, die mir gefaͤhrlich ſcheint.
Die allmaͤhlige Einziehung der im Umlauf bleibenden Scheine,
nach Errichtung der Bank, ſollte nach meiner Idee durch den
Verkauf der neuen 2½ Prozent tragenden Staatsobligationen
bewirkt werden. Die Bank ſollte dieſe gegen Scheine verkaufen,
und der Staat der Bank fuͤr die ſo eingezogenen Scheine neue
Obligationen geben — die ſie dann haͤtte wieder verkaufen koͤn¬
nen — und ſo fort. — Dann haͤtte man den Gang des Geſchaͤfts
in ſeiner Gewalt behalten, der Staat haͤtte den Vortheil des
Markts genoſſen, und der Kours haͤtte ſich allmaͤhlig gehoben.
Statt deſſen erbietet man ſich, \frac{2}{7} baar Geld den Inhabern zu
[117] bezahlen, und \frac{5}{7} zu 1 Prozent zu fundiren. — Die ganze Pa¬
piermaſſe duͤrfte ſich alſo ploͤtzlich zur Umgeſtaltung verdraͤngen
— das iſt weniger vortheilhaft, ja gefaͤhrlich — wenn man nicht
wenigſtens 50 bis 60 Millionen in Muͤnze in Bereitſchaft hat,
und es koͤnnen daraus viel Unbequemlichkeiten fuͤr’s Publikum
entſtehn. Hat man indeſſen die Muͤnze, ſo bin ich’s zufrieden;
im entgegengeſetzten Fall, und waͤre man der Nothwendigkeit
ausgeſetzt, zu den Eingeladenen ſagen zu muͤſſen: ihr muͤßt wie¬
derkommen, — halte ich den guten Erfolg des ganzen Syſtems
fuͤr gefaͤhrdet, — ihr Knaben huͤtet euch, die Klugheitslinie auch
nur ein Haar breit zu verfehlen! — An Stadion und Gentz
habe ich ſeit meiner Ankunft hier geſchrieben. Ob ſie mich wohl
brauchten? — Eſterhazy hier war dieſen Morgen ausnehmend
freundlich — fragte mich auch gleich, ob ich wohl Luſt haͤtte,
nach Wien zu gehn? — Das muͤßte ſich aber doch der Muͤhe
verlohnen, und dann iſt Berlin nicht weit davon — das waͤre
recht ſchoͤn. — An einen bleibenden regelmaͤßigen Aufenthalt in
Wien wuͤrde ich nicht denken. Das Schoͤne iſt weg, ſobald man
Jemand im Wege ſteht, und Sie wiſſen, es kommt nicht leicht
wieder. —
Der Aufſatz uͤber die Vereinigten Staaten blieb in Gentz’s
Haͤnden. Was daraus geworden, weiß ich nicht! —
Iſt Adam Muͤller jetzt in Leipzig? — und wo iſt Wieſel?
und Schlegel? — Was erwarten Sie vom Kongreß in Frank¬
furt? — Alles dies wuͤßt’ ich gern, und von Ihnen, aber vor
allen Dingen, und ganz beſonders, und vorzugsweiſe ſchreiben
Sie mir recht viel von Ihrer lieben Frau — wo ſie iſt, und
wie ſie iſt, und wo ſie ſein wird, damit ich berechnen koͤnne,
wie ich mich bewegen muß, um Ihnen Beiden recht bald wieder
zu begegnen!
[118]
Machen Sie keinen Gebrauch von dieſem Brief, der Jemand
in Wien in uͤble Laune ſetzen koͤnnte, ich habe mich uͤber Nie¬
mand zu beſchweren.
Ich ſetze hier Verſchiedenes in den Kuͤnſten in Gang, das
mir ſehr vortheilhaft werden duͤrfte.
An Ihre Frau viel Hochachtungsvolles, Schoͤnes und Liebes
von meinen Toͤchtern und mir ſelbſt. — Schreiben Sie mir recht
bald — initiiren Sie mich in dem Bedeutenden, das vorgeht,
und ſich zubereitet — ein freundlich Wort an Auguſte, wenn ſie
in Ihrer Naͤhe iſt. Der Ihrige, wie immer, warm und wahr.
E. Bollmann.
Wo iſt Carl Sieveking? —
14.
Ihren freundſchaftlichen Brief vom 8. Auguſt ſo lange nicht
beantwortet zu haben, iſt durchaus unverzeihlich. Sie haͤtten
indeſſen — Sie Beide — ganze Baͤnde von mir zu durchleſen,
wenn man niederdenken koͤnnte ſtatt niederſchreiben. — Ich bin
ſehr beſchaͤftigt, um ein großes chemiſches Etabliſſement zu orga¬
niſiren, das mir die Mittel abwerfen ſoll, kuͤnftig herumzureiſen,
zu thun und zu ſagen, was mir gefaͤllt, und was ich fuͤr Recht
halte, ohne mich um Jemand zu bekuͤmmern. Es laͤßt ſich auch
an, als ob mir das vollkommen gelingen ſollte.
So weit war ich gekommen, wurde unterbrochen, und der
Brief blieb unvollendet. Dieſen Morgen empfing ich Ihren zwei¬
ten vom 23. Oktober, welcher nicht der dritte iſt, denn die Ita¬
liaͤner haben ſich noch nicht ſehen laſſen. Die Gewiſſensbiſſe wer¬
den nun zu groß. Ich ſetze mich alſo gleich hin, und will nicht
aufſtehn bis der Brief expedirt iſt.
[119]
Im Juli, als ich Ihnen zuerſt ſchrieb, hielt ich's fuͤr wahr¬
ſcheinlich, daß man mich veranlaſſen wuͤrde, nach Wien zu gehn,
und dann hofft' ich Sie zu ſehn. Die Erwartung hab' ich aber
laͤngſt fahren laſſen. Die Sachen gefallen mir uͤberhaupt mehr
und mehr beſſer wie die Menſchen, und im chemiſchen Manufak¬
turfach iſt hier noch Vieles zu thun. — Einer meiner Freunde
hat das Raffiniren der Zucker ſo ſehr vervollkommt, daß er 1/5
mehr Ertrag erhaͤlt, als nach der gewoͤhnlichen Art. Man bot
ihm fuͤr ſeine patentirte Erfindung 40,000 Pfund Sterling, die
er ausſchlug. — Er veraͤußerte aber, an Einzelne, das Recht, ſich
derſelben zu bedienen, und hatte ſich ſchon ein jaͤhrliches Ein¬
kommen von 6000 Pfund Sterling verſchafft, als ihn der Tod
abholte. Er ſtarb vor einigen Wochen. Eine Tochter und ſein
Bruder, der Herzog von Norfolk, ſind untroͤſtlich uͤber ſeinen
Verluſt. — Ich fuͤrchte mich, ich weiß nicht warum, vor einem
aͤhnlichen Schickſal. Wenn mir's in weltlichen Dingen mal recht
gelingt, ſo wird's gewiß nicht lange dauern. — Dies hindert
mich aber nicht, fortzuarbeiten. Seit ich hier bin, hab' ich eine
Aſſociation zu Stande gebracht zwiſchen mir ſelbſt, einem reichen
jungen wiſſenſchaftlichen Mann, deſſen Steckenpferd die Chemie
iſt, und einem Schwaben, der in Frankreich zu großen chemiſchen
Operationen erzogen worden. — Wir kauften ein großes Eta¬
bliſſement an der Themſe, eine halbe deutſche Meile von der
Stadt, deſſen Beſitzer kuͤrzlich ſtarb. — Da deſtillirt und reinigt
man Holzeſſig nach einer neuen patentirten Methode, und fabri¬
zirt alle die Waaren oder Artikel, die mit Eſſig was zu thun
haben — als Spangruͤn, Bleizucker, auch Soda — und viele
andere. Der Gewinn darauf iſt von 100 bis 200 Prozent, ſo
viel einfacher, ſchneller und beſſer iſt unſere Art zu arbeiten.
Es fehlt aber an Schwierigkeiten nicht. — Die Nachbarn ſagen,
die Fabrik verfaͤlſcht die Luft, und wollen uns forttreiben, vor¬
[120] zuͤglich weil unſere Arbeiter alle Deutſche ſind. Die Conſum¬
teurs ziehn die gekannte, ſchlechte, theuere Waare der ungekann¬
ten, wohlfeileren, ſchoͤnern vor, u. ſ. w. — und dieſe Schwierig¬
keiten machen vorzuͤglich mir zu ſchaffen, denn der Englaͤnder
giebt das Geld, der Schwabe dirigirt die Fabrik, und ich das
Ganze. — Ueberdies hab’ ich noch ſelbſt ein Laboratorium, wo
ein Arbeiter unter meiner Anleitung den Chromat von Blei
fabrizirt, — die ſchoͤne neue gelbe Farbe, — wozu ich die Ma¬
terialien mit von Amerika brachte. — Wir haben auch ein Pa¬
tent fuͤr eine neue Art, das Holz zu verkohlen. — Man erleuch¬
tet hier mit Steinkohlengas die Stadt. — Mit dem Holzgas
verkohlen wir das Holz. Das eingeſchloſſene Holz iſt oben. Sein
herunter geleitetes Gas wird Flamme unten. Es verkohlt ſich
mit ſeiner eigenen Hitze. — Ich verhandle jetzt mit dem Gouver¬
nement die Anwendung dieſer Erfindung in ſeinen Pulverfabriken.
— Und ſo bin ich denn den ganzen Tag, von 8 Uhr Morgens
auf den Beinen, waͤhrend die Maͤdchen leſen, ſchreiben, ſpielen,
ſingen, Muthwillen treiben u. ſ. w. — um 5 Uhr wird gegeſſen
— von 7 bis 9 nehmen die Geſchaͤftsſchreibereien weg — um
9 Uhr wird Thee getrunken, von 9 bis 12 Uhr beſchaͤftigen wir
uns mit Phyſik, Mineralogie, und dergleichen, machen allerlei
Experimente mit Luftpumpen, elektriſchen Maſchinen u. ſ. w.,
und amuͤſiren uns hoͤchlich. Gegen 1 Uhr gehen wir zu Bette
und ſchlafen ohne uns zu ruͤhren. — Dies ich buchſtaͤblich unſere
Tagesgeſchichte, worin nur gelegentlich das Schauſpiel, die Oper,
ein Ball, eine Einladung, eine Spazierfahrt — einige Veraͤnde¬
rungen machen. — Es ſoll mir indeſſen kuͤnftig, wenigſtens an
Sie und Ihre liebe Frau zu ſchreiben, ein Stuͤndchen uͤbrig
bleiben. — Ich freue mich der vielen Dinge, die ich in den
letzten 12 Monaten in Anregung gebracht, und zum Theil zu
Stande gebracht habe. Wenn mir’s vollkommen gelingt, ſo habe
[121] ich fuͤr meine uͤbrigen Lebenstage Ruhe. — Auch hoffe ich, waͤh¬
rend des Winters die Maſchine ſo vollkommen und regelmaͤßig
in Gang zu bringen, daß wir im Sommer eine Ausflucht nach
Frankreich und Deutſchland machen koͤnnen, wonach uns Allen
recht luͤſtet. —
Von Gentz habe ich, ſeit fuͤnf Wochen, einen noch unbeant¬
worteten Brief von dreizehn Seiten. „Er ſelbſt habe ſich in
das Finanzfach geworfen, da doch die Politik jetzt nicht viel zu
thun gebe — die vielen Gruͤnde, warum man im Plan die von
mir mißbilligte Veraͤnderung (oder vielmehr den Zuſatz) habe
machen muͤſſen, wuͤrden ein Buch erfordern. Die Leute ſeien ſo
dumm, das Mißtrauen ſei ſo groß, das Andringen ſo unbaͤndig.
Es ſolle indeſſen Alles gut werden am Ende. Mein Hinuͤber¬
kommen waͤre recht ſchoͤn. Auch woll' er, bei der Zuruͤckkunft
nach Wien (er war im Bade) gleich ſehn, daß man mir zur
Reiſe Luſt mache“ u. ſ. w. u. ſ. w. — Der Zuſatz hat, fuͤr die
gute Sache, beinahe Alles unwiederbringlich verdorben, wenig¬
ſtens das Erreichen des guten Zwecks unendlich erſchwert. —
Mit einem ungeheuern baaren Geldvorrath waͤre die Maßregel
kaum vernuͤnftig geweſen; mit einem beſchraͤnkten (wo denn die
ſchon erfolgte Einſtellung derſelben unausbleiblich) war ſie ganz
ungeheuer dumm. — Die Bank ſollte das Mittel, das Werkzeug
der ruhig durchzufuͤhrenden, großen Operation werden. Guten
Glauben und Vertrauen wieder zu begruͤnden, war die erſte Ruͤck¬
ſicht. — Der Ueberfluß des geſunkenen Papiergeldes disponirte
das Publikum, zur Bank begierig zu unterſchreiben. Der Muͤnz¬
vorrath des Gouvernements konnte der neuen Inſtitution Gewicht
und Kraft geben. Statt dieſe guͤnſtigen, zum Zweck ſchnell fuͤh¬
renden Umſtaͤnde klug zu benuͤtzen, wirft man die Alternative
hin, laͤßt durch's angebotene Abbezahlen der ⅖ (der Kours war
zwiſchen 300 und 360) einen augenblicklichen Gewinn von 30
[122] bis 40 Prozent wahrnehmen, ohne die Obligationen fuͤr die ⅗
auch nur in Anſchlag zu bringen. Die Bankſubſcription wird
nun vernachlaͤſſigt, auf die ⅖ ſtuͤrzt ſich Alles hin — die Bank¬
noten ſind dem Publikum nur Anweiſungen auf Geld, um ſo
mehr, weil doch Jeder ſchon fuͤhlt, es koͤnne ſo nicht fortgehn.
Das Gouvernement muß endlich die Maßregel zuruͤcknehmen, die
Zahlungen einſtellen, und der Kredit der Bank wird ſchon zer¬
treten, ehe ſie einmal angefangen hat zu exiſtiren, — und dies
haͤtte Gentz nicht vorhergeſehen? — Die Erſten, welche im Ge¬
heimniß waren, die Erſten fuͤr die ⅖ an der Thuͤr — waren
doch in großem Vortheil —! Daß meine ehrlich gemeinten, un¬
eigennuͤtzigen, vernuͤnftigen Vorſchlaͤge eine Einleitung, ein In¬
ſtrument zu Privatſpekulationen geworden ſind — iſt doch aͤrger¬
lich, wenn man ſich uͤber's Alltaͤgliche und Gemeine aͤrgern
duͤrfte! — Es iſt aber ſehr natuͤrlich, daß man nicht ſehr begierig
ſein kann, mich in Wien zu ſehn. — Wenn ich Zeit haͤtte, und
es der Muͤhe ſich lohnte, ſo ließe ſich ein recht intereſſantes
Pamphlet uͤber dieſe Geſchichte ſchreiben. —
Meinen Aufſatz gegen Niebuhr hat Gentz noch. Ich ſchreib'
ihm, ihn zu verbrennen. — Niebuhr iſt abweſend, und der Zeit¬
punkt voruͤber. — Daß der Aufſatz von Paris aus den Eindruck
gemacht, und die Bewegung veranlaßt hatte, wovon Sie ſchrei¬
ben, war mir ganz unbekannt. Ich waͤre gern in Deutſchland,
wo ich doch Vieles faͤnde, das mir fehlt — auch Sie Beide —
und wo mir's recht wohl ſein wuͤrde, vorzuͤglich wenn ich Alles
mitbraͤchte — wo ich auch noch manches wirken koͤnnte — aber
es iſt am beſten, jetzt hier fortzuarbeiten, um mich, vielleicht,
nach einiger Zeit dort in der gewuͤnſchten Lage zu befinden, wenn
ich nicht alt werde, und ſteif und kalt, eh’s ſo weit kommt. —
Es uͤberraſchte mich recht, Sie in Karlsruhe zu wiſſen. —
Da machte ich meine erſten Studien. Der vor einiger Zeit ver¬
[123] ſtorbene Staatsrath Brauer (dort in hohem Andenken) war mein
Vetter. Mit ihm lebt' ich drei Jahre im Hauſe. — Auf der
Reiſe nach Wien — nach zwanzigjaͤhriger Abweſenheit — kam
ich durch Karlsruhe. Ich kam an in der Nacht. — Der Vetter
— todt. Hofrath Boͤckmann — den ich ſehr geliebt, dem ich
Vieles dankte — todt. Dieſer todt — jener todt — nur Titel,
der Kirchenrath (Logiker, Metaphyſiker), an dem hing noch Le¬
ben.— Wenn die Gekannten, Geſchaͤtzten, ſo allmaͤhlig ſterben,
bemerkt man's nicht, aber nach ſo langer Abweſenheit iſt's wie
eine Schlacht. — Ich wanderte im Dunkeln durch die wohlbe¬
kannten Straßen — durch die Schneckengaͤnge und Alleen im
Garten hinter dem Schloß — die Baͤume, die Sitze, waren noch
da, die Atmoſphaͤre herum war dieſelbe — die Sterne ſtanden
auf den alten Plaͤtzen, und die Erinnerung erſter romantiſcher
Gefuͤhle und Abentheuer war in mir lebendig. Aber ich fuͤhlte
mich aͤußerſt allein — was ich noch liebte, jenſeits des Meeres
— ich fuhr in derſelben Nacht noch weiter. — Jetzt bin ich hier,
und die ſind mit mir; und Sie in Karlsruhe!—
Ueber dies Land und Vieles haͤtte ich Ihnen viel zu ſagen.
Dies muß ich verſparen.
Mein Vetter Brauer hat eine Wittwe hinterlaſſen, eine
zweite Frau, die eine vortreffliche Frau ſein ſoll, die ich nie
perſoͤnlich kannte.— Sie koͤnnen vielleicht mit ihr bekannt wer¬
den. An ihre Vorgaͤngerin, meine Pflegemutter, ſchrieb ich im
Jahre 1703 von Leipzig aus, einen ſehr langen Brief, ein Stuͤck
Biographie von dreißig bis vierzig Seiten, das viel Eindruck
machte, und das ich gern haͤtte, wenn's noch exiſtirt. —
Die Domeyer war kuͤrzlich in Cheltenham, und erkundigte
ſich nach mir. Wenn ſie zur Stadt koͤmmt, will ich ſie auf¬
ſuchen. Graf Bentheim hat London ſchon lange verlaſſen. Paul
Eſterhazy iſt ein guter Menſch, und recht freundlich. Das etwas
[124] herzliche, oͤſterreichiſche Weſen der huͤbſchen Fuͤrſtin ſticht mit
der engliſchen Kaͤlte recht ab. Graͤfin Muͤnſter hat ein kleines
Maͤdchen, — ſehnt ſich nach Deutſchland.
Prinz Coburg und ſeine Prinzeſſin ſind recht buͤrgerlich in
einander verliebt. — Die ungluͤckliche Lage, worin dieſe aufge¬
wachſen iſt, hat ſie gluͤcklich erzogen, — das heißt, hat die
hoͤfiſche Abnutzung und Veraͤrmlichung verhindert, die im Hoch¬
leben ſo gemein ſind. Sie fuͤhlt ſtark, und will ſtark. Im Trauer¬
ſpiel weint ſie Guͤſſe, lacht im Luſtſpiel, daß der Buſen ſchuͤttert.
Sie nickt auch im Schauſpiel ohne Umſtaͤnde denen zu, welchen
ſie wohl will — eine ſonderbare Prinzeſſin, aber ein intereſſantes
Geſchoͤpf. — Prinz Coburg hat mich gefragt, wo Profeſſor Roͤſel
ſei? Wiſſen Sie’s? —
Herr Kuͤper — Hofprediger hier — vormals ſechs Jahre
Lehrer oder Hofmeiſter in meines Vaters Hauſe, war viel um
die Prinzeſſin Charlotte, und unterrichtete ſie im Deutſchen. —
Ich habe viel Intereſſantes, ſie betreffend, von ihm gehoͤrt. —
Adam Muͤller ſchreibt in Leipzig allerlei, das mir nicht ge¬
faͤllt, allerlei Beſchraͤnktes. Die ungeheuren Ausgaben Englands
auf den Kontinent waͤhrend des Krieges, brachten den Kours her¬
unter, in natuͤrlichen Worten — machten engliſches Geld, machten
Pfund Sterling ſpottwohlfeil; folglich kamen auch die engliſchen
Waaren dem auswaͤrtigen Conſumenten wohlfeil zu ſtehn; folg¬
lich war der Abſatz groß; folglich vermehrte ſich — unverhaͤlt¬
nißmaͤßig — die fabrizirende Klaſſe; folglich fuͤtterten — indirekt,
aber doch recht wirklich, die ungeheuern, von den Bemittelten
bezahlten, im Auslande ausgegebenen, als Praͤmie auf Ausfuhr
operirenden Taxen — die arbeitenden Aermeren. Der Krieg, die
Taxen hoͤren auf, oder vermindern ſich, der Kours wird beſſer
(wie man zu ſagen pflegt), alſo engliſche Waaren theurer, und
die Ausfuhr bedeutend geringer. Man findet, daß man fuͤr die
[125] regelmaͤßigen Weltverhaͤltniſſe, und Englands natuͤrlichen Antheil
an der allgemeinen Thaͤtigkeit, ein paar Millionen Menſchen hier
zu viel hat — die Noth und Elend allmaͤhlig aufreiben muß. —
Dies iſt die wahre Erklaͤrung des jetzigen Zuſtandes der Dinge
hier. Dazu kommt noch, daß des Kriegs Aufwand und Ver¬
ſchwendung nicht mehr exiſtiren; daß die vorzuͤglich leiden muͤſſen,
welche davon lebten; und daß immer die neuen Leidenden ſchreien,
und Laͤrm machen, waͤhrend die Leidensgewohnten in der ver¬
gangenen Zeit, und denen es nun wohl wird, ſich ganz ruhig
halten. — Es giebt hier viel einzelne Bewegungen, und wird
deren noch mehr geben, — aber das Lebensprincip des Staats
iſt ſtark und ungeſchwaͤcht, und Alles wird ſich ins Reine ar¬
beiten.
Waͤhrend dieſer Kriſe iſt es ganz natuͤrlich, daß die, in un¬
gebuͤhrlicher Menge verfertigten, angehaͤuften Waaren verſchleu¬
dert, weggegeben werden, aber es iſt nothwendig, daß dieſer
Zuſtand voruͤbergehend ſein muß. — Warum erhebt denn Adam
Muͤller ſeine Stimme, und macht anerkannt wahren Grundſaͤtzen
den Krieg? — Wenn Manufakturiſten voruͤbergehend leiden, ſo
befinden ſich auf der andern Seite die Conſumirenden — die
groͤßere Anzahl — um ſo viel beſſer. Ein Staatsmann ſollte
auch Ohren haben fuͤr die Stillen!
Daß in der Staatenfamilie, wie in der einzelnen Stadt,
Jeder mache, was er am beſten verſteht, und daß ſich die Pro¬
dukte frei und ungeſtoͤrt vertauſchen: das iſt die wahre Lehre;
dabei kommt ungezweifelt heraus das Beſtbefinden der Maſſe;
daran ſollte man ſich halten, wie ſich die Natur an die großen
Grundſaͤtze haͤlt, trotz gelegentlicher Erderſchuͤtterungen und Pe¬
ſtilenzen. — Wer immer den fluͤchtigen Umſtaͤnden begegnen will,
wird nie fertig, und erzielt nichts am Ende. —
[126]
Hier wird man gewahr, daß der Handel nicht wegen des
Syſtems, ſondern trotz des Syſtems gebluͤht hat, und daß das
Syſtem nichts taugt. — Und Adam Muͤller predigt, man ſolle
das Syſtem nachahmen! —
Hier wird man gewahr, daß, wer abſetzen will, auch
brauchen muß; daß aller auswaͤrtiger Handel — daß aller
Handel — ſich in Tauſch aufloͤſt. Daß, wenn eine Nation nur
verkaufen will, der Kours nothwendig ſich ſo heben muß, daß
aller Abſatz aufhoͤrt; daß man alſo keine Art von Induſtrie zwangs¬
weiſe haben muß, wenn man einen geſunden Handel haben will,
ſondern Alles gehen laſſen muß ſeinen natuͤrlichen Gang. —
Nach dieſer Anſicht hat man im letzten Tractat mit Amerika
gehandelt — nach dieſer moͤchte man immer handeln, nur daß
man vom langbefolgten fehlerhaften, alten, kurzſichtigen Syſtem
auf Einmal nicht abkommen kann. — Und dies Syſtem will nun
Muͤller den Deutſchen anempfehlen, den Deutſchen aufbuͤrden!
Oder iſt die chineſiſche Mauer wuͤnſchenswerth? Das will mir
nun einmal nicht in den Sinn, — denn die Reibung — indi¬
viduell, oder national — bringt den Menſchen doch eigentlich
erſt heraus, und vollendet ihn, und erhebt ihn! — Ich muß
wohl aufhoͤren, — die Maͤdchen kommen immer herein, und den¬
ken, daß ich ungebuͤhrlich lange ſitze. — Auch haben Sie fuͤr
diesmal wohl genug! Ich habe nicht Zeit das Geſchriebene zu
durchleſen — entſchuldigen Sie mein Deutſch u. ſ. w. —
Laſſen Sie Ihren Brief nicht regiſtriren. Der letzte machte
mir die Reiſe einer deutſchen Meile, und beinahe eine halbe Guinee
Unkoſten, doch war das Vergnuͤgen wohlfeil erkauft. Leben Sie
Beide herzlich wohl.
E. Bollmann.
[127]15.
Beide Ihre Briefe, lieber Varnhagen, und den von Ihrer
lieben Frau, habe ich richtig erhalten. Wie ſoll ich Ihnen er¬
klaͤren, daß ich den erſten ſo lange nicht beantwortet? Ich bin
immer in einem Gedraͤnge von Geſchaͤften geweſen — ich ſchrieb
mehrmals mehrere Seiten — wurde unterbrochen — nachher
paßte das Geſchriebene nicht mehr zu den veraͤnderten Umſtaͤnden
— der veraͤnderten Stimmung. So gerieth die Antwort denn
in Aufſchub, und Sie wiſſen, wie's in ſolchen Faͤllen geht.
Ich danke Ihnen recht ſehr fuͤr Ihre Bemuͤhungen in Be¬
treff der Papiere. Sie ſind in guten Haͤnden. Wenn Sie wieder
eine Gelegenheit haben, wie die mit Buͤlow, ſenden Sie mir
dieſelben zu.
Meine Lage hier iſt noch immer zu ungewiß, ich bin ſelbſt
hier zu wenig feſt, um dem von den Karlsruhern Empfohlenen
dienen zu koͤnnen; als junger Mann war er uͤberdies von ſehr
beſchraͤnkten Faͤhigkeiten, und fluͤchtig. Wie er ſich ausgebildet
haben mag, weiß ich nicht.
Mein intimſter Jugendfreund, Doctor Boeckh, wohnt in
Loͤrrach, ohnweit Baſel. Ich moͤchte gern ſeine Art von Exiſtenz
und gegenwaͤrtigen Verhaͤltniſſe kennen. Wenn Sie in die Ge¬
gend kommen, beſuchen Sie ihn! Mein Name iſt genug. Wir
wechſelten einige Briefe, wie ich in Wien war. Er iſt gebuͤrtig
von Karlsruhe.
Ich habe, ſeit ich Ihnen zuletzt ſchrieb, viel Muͤhe und
Arbeit gehabt. — Einen fatalen Aſſocié in meinen Geſchaͤften
hatte ich los zu werden — Vorurtheile wider neue Conſumtions¬
artikel zu bekaͤmpfen — mit der Excis-Behoͤrde (Excise-Office)
mich abzufinden — beunruhigte Concurrenten zu beſaͤnftigen
[128] u. ſ. w. — Alles das habe ich nun ziemlich in’s Reine ge¬
bracht, und wenn die Maſchine einmal gehoͤrig im Gange iſt,
ſo wird ſie wohl von ſelbſt gehn; oder nur wenig unmittelbarer
Aufſicht benoͤthigt ſein. — Ich bilde jetzt einen geſetzten Mann,
dem ich dann die Leitung anvertrauen kann, damit meine eigenen
Bewegungen frei bleiben, welches ich vorzuͤglich wuͤnſche.
Ihr letzter Brief, und der recht liebe von der Frau, fanden
mich krank im Bette — ein Herbſtfieber, — das den Maͤdchen
mehr Noth machte, als mir. Ich wußte nicht, ob’s nicht an¬
ſteckend ſein koͤnnte, und es war doch unmoͤglich, ſie von mir
abzuhalten. — Wie ich beſſer war, ging ich nach Paris —
nur auf eine Woche, ein Geſchaͤft mit A. Baring abzumachen —
mich zu erfriſchen. Beſonderes fiel nichts vor. Indeſſen hoͤrte
ich die Catalani ſingen, und Schlabrendorf ſprechen. Das ver¬
lohnt ſich ſchon der Muͤhe. Ich habe auch Henriette Mendels¬
ſohn geſehen, A. W. Schlegel, die Herzogin Broglie, und einige
Andere.
Die franzoͤſiſche Sache ſcheint allmaͤhlig Geſtalt und Fe¬
ſtigkeit zu gewinnen, aber die deutſche — giebt es denn eine
deutſche Sache? Es gaͤhrt doch gewaltig, und wenn ich etwas
von moraliſcher Chemie verſtehe, ſo muß es beim Gemiſch ſo
mancher heterogener Elemente bald zum Aufbrauſen und Platzen
kommen. Dann wird’s allerlei dramatiſches Spektakel geben,
und das wird Ihnen eben recht ſein.
Herrn von Humboldt habe ich vor ein paar Tagen geſehn,
— er iſt recht freundlich, findet die engliſchen Nebel ganz anders
wie die deutſchen — ſie ſind pittoresk und impoſant. Uebrigens
ſcheint er ſich dem Allgemeinen hinzugeben, und wuͤrde auch in
der groͤßten Spannung noch das Alberne und Groteske des
zweckloſen Gedraͤnges bemerken. — Buͤlow ſcheint ein wackerer
junger Mann zu ſein. Graf Muͤnſter hat zwei Kinder, und
[129] nimmt ſich haͤuslich ſehr wuͤrdig aus, auch arbeitet er viel:
Seine Frau — mit allen Vortheilen — fuͤhlt ſich doch verpflanzt,
und ſehr verpflanzt.
Der Tod der Prinzeſſin Charlotte hat viel ungeheuchelte
Thraͤnen fließen gemacht. Meine Toͤchter konnten, viele Tage
durch, die gewohnte Herzensruhe nicht wiederfinden, und dieſe
Stimmung war allgemein. Das ſchoͤne Beiſpiel einer moraliſch
reinen und hoͤchſt gluͤcklichen Exiſtenz hatte fuͤr die Prinzeſſin
und den Prinzen ein ſehr großes, allgemeines, lebhaftes Intereſſe
erweckt, dem viele, nun zerſtoͤrte Hoffnungen ſich anſchloſſen.
Eine ganze Reihe von Ideen und Gefuͤhlen treiben ſich nun im
Leeren herum, ohne ſich wo anſchließen zu koͤnnen. Denn mit
der kuͤnftigen Succeſſion ſieht's nun weitlaͤufig aus. — Prinz
Coburg ſteht ſchoͤn vor der Nation da. Wenn er in der oͤffent¬
lichen Meinung die Aſſociation mit der geliebten Verſtorbenen
nicht unterbricht, und hervorſtechend der edle Mann, von unbe¬
ſcholtenen Sitten, unter dem corrumpirten Geſindel bleibt, ſo
koͤnnen, meiner Meinung nach, weitere Ereigniſſe ſeine Tage
ſehr bedeutend machen. — Aber da liegt noch ſo viel dazwiſchen,
und ſo Wenige bleiben unter veraͤnderten Umſtaͤnden dieſelben! —
Es freut mich recht, daß Ihnen — liebe Freundin — die
Englaͤnder in Bruͤſſel ſo gefielen. Das Sinnige, Vernuͤnftige,
Gutbeſorgte, Ueberlegte, Geordnete, der Regel, ſtatt der Will¬
kuͤr und Laune Unterworfene — wuͤrde Sie hier in Allem —
im Vieh wie im Menſchen, im Lebloſen wie im Belebten an¬
ſprechen. Sie wuͤrden uͤberall bemerken, daß es hier zu Lande
gerichtliche Gerechtigkeit giebt fuͤr ein mißhandeltes Pferd, fuͤr
eine mißhandelte Ziege (man hat juſt zwei ſolche Prozeſſe ent¬
ſchieden), wie fuͤr einen mißhandelten großen Herrn, und ſelbſt
den Straßen und Heerſtraßen ſehen Sie's an, daß der Fußgaͤnger
im Staat eben ſo viel gilt, als der ſich in Karoſſen Herum¬
9[130] treibende, oder doch etwas, und was Bedeutendes gilt. In dem
Allen — in der durchgaͤngigen Herrſchaft der Regel, ſtatt
des Anſehns und der Willkuͤr, liegt eben das Freie. Das
moͤchten ſie auch jenſeits der See wohl, aber das geht doch aus
dem Geweſenen hervor, und kann auch nur aus dem Geweſenen
bleibend hervorgehn. Das ſcheint man nicht begreifen zu koͤnnen!
Deßwegen ſetzt ſich der Deſpotismus ſublimer Conzeptionen, die
dann doch auch an Narrheit graͤnzen, ſo oft an die Stelle des
Deſpotismus verjaͤhrten Duͤnkels, und wird in ſeiner Ruhe bald
wieder ein Opfer des kraͤftigern Deſpotismus gemeiner Raͤnke,
und grundſatzloſer Conſequenz. — Alles bleibt am Ende oft
beim Alten, weil man anfaͤngt, wo man endigen ſollte. Moͤchten
doch Ihre wackeren Studenten auf drei oder vier Jahre unter
den engliſchen Bauern auf Univerſitaͤt gehen!
Ich liebe die Englaͤnder in Maſſe, und wer ſie nur im
Auslande einzeln ſieht, der kennt ſie nicht. Das Nationalgefuͤhl
iſt indeſſen weſentlich zur gluͤcklichen Exiſtenz [unter] ihnen. Mir
Fremden — wiewohl ich's nun kaum bin — iſt fuͤr den Lebens¬
genuß das heitere Frankreich lieber. — Ein Englaͤnder iſt mir
immer nur ein Theil eines Ganzen, dem ich nicht angehoͤre,
und der mich nicht braucht, waͤhrend im Deutſchen und Fran¬
zoſen oft ein Ganzes mich anſpricht, dem ich viel ſein kann. —
Ueberdies iſt Vieles auf dem feſten Lande ſo gemuͤthlich und zu¬
ſagend, mir wenigſtens, der fruͤheren Aſſociationen wegen! —
Kurz, ich ſuche hier frei zu bleiben, und mich ſo einzurichten,
daß ich bald — vielleicht naͤchſten Sommer — meinen Toͤchtern
das Vergnuͤgen einer Reiſe nach Frankreich und Deutſchland
machen kann. — Wenn ich mit einem Frauenzimmer bekannt
werden koͤnnte, das etwas Schoͤnheit, etwas Geld und viel Ver¬
nunft beſaͤße, und mich leiden moͤchte, ſo wuͤrde ich mich wieder
verheirathen — denn ſo allein zu ſein in der Welt mit zwei
[131] jungen Dingern hat viel Unbequemes, und der Gedanke, kuͤnftig,
ohne ſie, noch mehr allein zu bleiben, iſt wenig erfreulich.—
Laſſen Sie mich alſo immer wiſſen, wo Sie ſind, damit wir
Sie finden, und Ihnen begegnen koͤnnen.
Politiſch iſt Alles hier ſehr ruhig. Der Wohlſtand hebt
ſich. Die Folgen des ſchnellen Ueberganges vom langen Kriege
zum allgemeinen Frieden — die Stockungen und partielle Noth,
die dadurch veranlaßt wurden, vermindern ſich taͤglich, wie die
Induſtrie in einen regelmaͤßigen, dem verminderten Zuſtand der
Zeiten angemeſſenen Gang zuruͤcktritt.—
Iſt Malthus letzte (dritte) Ausgabe ſeines Werks „On
population“ in's Deutſche uͤberſetzt und geleſen worden? Wie
ſteht's denn mit Adam Muͤller? Es ſcheint mir, als ob ihm
etwas den Kopf verdreht haͤtte! — Gentz ſchreibt mir viel
Artiges — man brauche in dieſen verkehrten Zeiten ruhige, ſin¬
nige Leute, wie ich u. ſ. w. — das ſagt ſich wohl, doch ſcheint
es Niemand zu wollen.
Wenn Sie's nicht muͤde ſind, an mich zu ſchreiben — hal¬
ten Sie mich unterrichtet mit dem, was in Deutſchland vorgeht,
und das ich aus anderen Quellen nicht lernen kann. Ich werde
kuͤnftig mehr Muße haben zum Antworten.—
Leben Sie recht herzlich wohl, erfreuen Sie mich bald wieder
mit einem Brief und laſſen Sie mich wiſſen, daß Sie Beide ſo
wohl und gluͤcklich ſind, wie ich's wuͤnſche. Briefe, ganz einfach
an mich adreſſirt, werden mir ungeoͤffnet zukommen. Auch koͤn¬
nen Sie mir, wenn Sie Gelegenheit haben, durch die engliſche
oder hannoͤverſche Geſandtſchaft ſchreiben, oder auch durch die
preußiſche, wenn Sie's vorziehn.
E. Bollmann.
9 *[132]
16.
Sie werden daraus, daß ich Ihren und Ihrer lieben Frau
Gemahlin Briefe ſo lange nicht beantwortet habe, hoffentlich
nicht ſchließen, daß ſie mir gleichguͤltig waren. Im Gegentheil,
ich habe ſie recht mit Freude geleſen, aber zum Schreiben und
Antworten kann ich oft nicht kommen. Es liegt mir ſo Vieles
auf, das beſorgt ſein will — und dann denke ich immer, ich
werde Sie Beide bald ſehn. Aber der gewuͤnſchte Augenblick,
wiewohl er ſich immer zu naͤhern ſcheint, will immer noch nicht
kommen.
Ich habe kuͤrzlich uͤber die bedeutende Frage der Zuruͤckkehr
zu Muͤnzzahlungen an der Bank ein kleines Werk geſchrieben,
worin ich ſage, was Viele denken, aber doch zu ſagen ſich
fuͤrchten. — Ich ſchickte einige Exemplare an Treuttel und
Wuͤrtz in Paris, mit der Bitte, Ihnen eins davon zukommen
zu laſſen. Ich hoffe, Sie haben’s erhalten.
Die Frage iſt hier, wie alle aͤhnliche, Partheifrage gewor¬
den, und das rein Vernuͤnftige wird hoffnungslos gepredigt, und
der Prediger nicht auspoſaunt, weil ſich die regen Leidenſchaften
ſolcher Lehre am innigſten anſchließen. Die Oppoſition — wor¬
unter ich meine beſten Freunde hier habe — ſucht vor Allem
und in Allem, was das Miniſterium in Noth bringen koͤnnte —
das Gemeinbeſte iſt nur Nebenſache. Das Miniſterium ſucht
vor Allem und durch Alles ſich zu erhalten, und deßwegen wagt
auch Vanſittaert, mit den Uebrigen, nicht die beſte Maßregel
auszuſprechen, und zu ſuchen, wenn er denkt, ſie koͤnnte der
Menge doch mißfallen, die noch aberglaͤubiſch, und mit engliſcher
Zaͤhigkeit, an der Idee des Goldes haͤngt. — Indeſſen werden
meine Verhaͤltniſſe immer intereſſanter, und die Schrift erman¬
gelt nicht, viel Aufmerkſamkeit zu erregen.
[133]
Ich ſehe, Sie haben kuͤrzlich Kouriere abgefertigt, — ſagen
Sie mir denn doch, ob man dieſe That Sand’s als eine indivi¬
duelle betrachten muß, oder als den erſten Ausbruch einer Dis¬
poſition, die ſich weiter, vielfaͤltiger, und erſchuͤtternder aͤußern
wird. Laſſen Sie mich doch wiſſen, wie Sie das Alles
anſehn?
Wieſel, wie ich von Gentz hoͤre, iſt von Wien abgegangen.
— Ich ſtelle mir vor, er hat bei Ihnen angeſprochen, auf ſeinem
Wege hierher, und vielleicht iſt er noch in Ihrer Naͤhe. In
dem Fall ſagen Sie ihm doch, die Idee der Ueberkunft aufzu¬
geben. Er wird Zeit und Muͤhe und Geld verlieren, denn ſeine
Erfindung iſt nichts werth.
Meine Toͤchter ſind geſund und wohl, und beſchaͤftigen ſich
jetzt mit der Erlernung der deutſchen Sprache. — Wer wird
denn hierher kommen an Humboldt’s Stelle, und was macht
dieſer? —
Es iſt alles hier in England ſo geſpannt, daß einige be¬
deutende Fehler, von der Adminiſtration begangen, und ſie iſt
deren faͤhig — leicht ſerioͤſe Folgen haben koͤnnten. In Amerika
iſt es anders. Der junge Staatskoͤrper iſt dort ſo voll von na¬
tuͤrlicher Lebenskraft, daß ſelbſt Unordnung und ein bischen
wuͤſtes Leben ihm nichts anhaben koͤnnen.
Gruͤßen Sie Ihre liebe Frau recht herzlich von mir. Dieſen
Sommer ſehn wir uns vielleicht. Laſſen Sie mich Ihre wahr¬
ſcheinlichen Bewegungen kennen, und ſagen Sie mir auch, was
fuͤr Gedanken Sie denn jetzt am meiſten beſchaͤftigen. Leben Sie
herzlich wohl, und antworten Sie mir prompt, — ich will auch
gewiß ein beſſerer Korreſpondent ſein kuͤnftig.
E. Bollmann.
[134]VI.
Mit dieſem letzten Briefe hoͤren unſre Nachrichten
auf; nur durch die oͤffentlichen Blaͤtter erfuhren wir
nach einiger Zeit, daß Bollmann im Jahre 1821 eine
neue Reiſe nach Amerika unternommen, und zwar dies¬
mal nach Weſtindien und den ehemaligen ſpaniſchen
Beſitzungen des Feſtlandes, um wichtigen Anleihe- und
Waaren-Geſchaͤften, bei welchen wiederum das Haus
Baring betheiligt war, perſoͤnlich vorzuſtehn. Im
Laufe dieſer Betreibungen, denen ein unermeßliches
Feld eroͤffnet, und großer Gewinn vorauszuſehen war,
ereilte ihn unvermuthet der Tod. Er ſtarb am 10. De¬
zember 1821 zu Kingſton in Jamaika an einem hitzi¬
gen Fieber, das er ſich durch zu große Arbeitſamkeit
zugezogen hatte. Seine beiden Toͤchter, Karoline und
Eliſabeth, waren in London geblieben, und ſind ſpaͤter¬
hin, nachdem ſie das Ableben ihres theuern Vaters
tief betrauert, wie wir hoͤren, in gluͤcklichen Verhaͤlt¬
niſſen nach Nordamerika zuruͤckgekehrt. Wir aber
ſchließen unſern Abriß mit der Betrachtung, daß, wie
es als das ſchoͤnſte Loos des Menſchen erſcheint, wenn
ſeinem eingebornen Streben aus allen Verwirrungen
der Welt die richtige Bahn ſich immer wieder klar
hervorhebt und unabſehbar neue Zielpunkte zeigt, wir
es auch in dem Scheiden Bollmann's troͤſtlich aner¬
kennen duͤrfen, daß er, ſeinem Sinne, ſeinen Faͤhig¬
keiten und Wuͤnſchen gemaͤß, bis zuletzt in ſeinem
[135] Elemente kraͤftig fortſchwimmt, und nicht in trauriger
Abnahme, ſondern in freudiger Steigerung ſeines Wir¬
kens und Hoffens, bei noch friſchem Wetteifer der
Geiſtes- und Lebenskraͤfte, zum dunkeln Uebergange
abgerufen wird, welchen als den verheißungsvollen
Eintritt zu hoͤheren Entwickelungen und Thaͤtigkeiten
er laͤngſt gewohnt war feſt und muthig anzuſchauen.
Zum Andenken
Friedrich Auguſt Wolf's.
Am 28. Auguſt 1824.
Sei es erlaubt, an dieſem Ehrentage, der uns hier
zu froher Feier verſammelt hat, auch des Mannes zu
gedenken, der, Goethe's Freund und Genoſſe, vor einem
Jahre an unſerer Spitze ſtand, und durch ſeine Geiſtes¬
art uns heiter anregte, jetzt aber nicht nur dieſem
Kreiſe fehlt, ſondern auch der Welt fuͤr immer entriſſen
worden.
Friedrich Auguſt Wolf ſtarb am 8. Auguſt zu Mar¬
ſeille, wohin er gereiſ't war, um einer beginnenden
Krankheit zu entfliehn. Er unterlag ſchon im 66. Jahre
ſeines Alters, nicht unvertraut mit dem Gedanken eines
ſolchen nahen Ausgangs, den das Feuer und die Feſtig¬
keit ſeines ernſten Willens, allzuthaͤtig nach Entſcheidung
ſeines Zuſtandes ſtrebend, vielleicht beſchleunigt haben.
Von den Verdienſten ſeiner gelehrten Laufbahn ſoll
hier nicht die Rede ſein. Was er im Felde der Alter¬
[137] thumsforſchung geleiſtet hat, iſt der Welt bekannt. Er
iſt Urheber und Vorbild einer neuen, großartigen Be¬
handlung dieſer Wiſſenſchaften geworden, die aus dem
verjaͤhrten Staube der Schule durch ihn mit geiſtvoller
Gruͤndlichkeit in die freie Gemeinſchaft aller Bildungs¬
kreiſe emporgefuͤhrt worden. Den Scharfſinn ſeiner
Unterſuchungen, den Umfang und die Tiefe ſeiner Kennt¬
niſſe, den Werth ſeiner zahlreichen und mannigfachen
Schriften, vor allen ſeiner unſterblichen Forſchungen
uͤber die homeriſchen Geſaͤnge, moͤgen die Berufenen
des Faches wuͤrdig darſtellen. Auch von den großen,
ſchwer zu uͤberſchauenden Arbeiten, der beſeelten Thaͤtig¬
keit und ergreifenden Wirkung, welche er als Univerſi¬
taͤtslehrer durch eine lange Reihe von Jahren ausgeuͤbt,
worin er mehr als 50 verſchiedene Lehrgaͤnge, und
deren manche in doppelt und dreifach, ja bis zu zehn¬
mal wiederholten Vortraͤgen, vor einer zahlreichen, durch
ihn der Weihe des klaſſiſchen Alterthums zugefuͤhrten
Jugend mit ſtets belebter Kraft gehalten; von ſeinem
antiken Geiſte und von ſeinem klaſſiſchen Talent, in
welchem die Welt der Griechen und Roͤmer eine neue
Staͤtte des Lebens und Wirkens gefunden; von ſeiner
bildneriſchen Beweglichkeit endlich, die ihm erlaubte,
nach dargelegten Werken einer in roͤmiſchen Formen
ſich ausſprechenden Genialitaͤt, dann auch in deutſcher
Zunge mit ſchoͤpferiſcher Meiſterſchaft eigenthuͤmlich auf¬
zutreten: von allem dieſen, wovon jedes Einzelne hin¬
[138] reichte, den herrlichen Ruhm eines preiswuͤrdigen Mannes
zu begruͤnden, uͤberlaſſen wir Andern zu reden.
Deſto eifriger aber moͤgen wir hier die Zuͤge feſt¬
halten, die den Mann ſelbſt in ſeiner Perſoͤnlichkeit uns
vor Augen ſtellen, und ſein entruͤcktes Daſein uns noch
fuͤr Augenblicke vergegenwaͤrtigen.
Was ihn auszeichnete, war die hohe Eigenthuͤmlich¬
keit ſeiner vollſtaͤndigen, durch und durch in alle Bezuͤge
ſeines Weſens gedrungenen, gleichmaͤßig nach allen
Richtungen ſeines Wollens und Thuns belebten, un¬
unterbrochenen Geiſtesbildung. In der Lebensaͤußerung
dieſer Eigenthuͤmlichkeit gab es keine Luͤcken, keine Still¬
ſtaͤnde; er hatte ſich immer ſelbſt, er hatte ſich immer
ganz, und keine ſeiner Eigenſchaften war ihm nur frag¬
mentariſch verliehen.
Daher die große Geiſtesgegenwart, die große Ueber¬
legenheit, mit welcher er allen Begegniſſen des geiſtigen
Lebensverkehrs gegenuͤberſtand, ſie pruͤfend aufnahm,
mit treffendem Urtheil an ihren Platz ſtellte, und mit
geiſtreichen Zuͤgen feſthielt oder entließ. Daher die heitre
Gelaſſenheit, in welcher er dem Witze, der ihm zu Zeiten
entgegentrat, den Verlegenheiten, welche Zufall oder
Abſicht ihm zuwenden mochte, mit gluͤcklichem Ueber¬
bieten ſtets ſo leicht und ſiegreich zu entſteigen wußte.
Gedacht hatte er uͤber alles; die Gebiete des Lebens
wie der Wiſſenſchaften konnten einem ſo lebendigen
Sinne nicht fremd bleiben; in dem Lichte ſeines Geiſtes
[139] erleuchtete ſich auch jede zufaͤllige Umgebung; ſeine
Eigenſchaften wirkten nach allen Seiten. Die Wendung
ſeines Geiſtes war in den geringſten Dingen merk¬
wuͤrdig; ja bis in den kleinlichſten, durch die er bis¬
weilen, mehr der ſcherzenden Nachrede doch, als dem
eigentlichen Tadel, Raum gab, blieb ſie noch immer
mit dem Reize ſeiner Groͤße behaftet.
Er war umgaͤnglich und mittheilend; allzu reich,
um zu kargen, gab er willig jeder Anſprache von ſeinen
geiſtigen Schaͤtzen, und verſchmaͤhte nicht zu empfangen,
wo er ſchon laͤngſt beſaß. Eine neuerſchloſſene Anſicht,
ein bedeutend leitendes Wort von ihm, hat bis auf die
letzte Zeit Maͤnner und Juͤnglinge in ſeiner Umgebung
mehr als manche anderweite vielfache Anſtrengung ge¬
foͤrdert.
Nie vergaß er ſeiner Wuͤrde, er hielt darauf in an¬
geborner Vornehmheit; in ihr ſtellte er die Ehre des
Gelehrten dar, wie in dem Fleiße deſſen Tapferkeit.
Seinen Werth kannte er, wie jeder Tuͤchtige aus innerer
Thatſache ſich als ſolchen fuͤhlt und kennt. Und wie
haͤtte er ſeinen Ruhm nicht kennen ſollen, der ihm aus
allen Laͤndern Europa's zuruͤckſtrahlte, aus allen Ge¬
bieten der Wiſſenſchaft und Kunſt, ſei es, daß ihn die
beruͤhmteſten Anſtalten in ihre Mitte begehrten, ſei es,
daß Goethe in den Elegien verherrlichend ihn gruͤßt,
oder Alexander von Humboldt einen koſtbaren Ertrag
ſeiner naturwiſſenſchaftlichen Forſchungen ihm zueignet!
[140] Seine Schuͤler, Freunde und Verehrer ſind uͤber das
ganze Gebiet der Wiſſenſchaften ausgeſaͤ’t; ſie hingen
ihm mit einer Treue und Liebe, mit einer Begeiſterung
und Zuverſicht an, deren Dokumente in Hunderten von
Schriften oͤffentlich daſtehn, und noch viel glaͤnzender
und reicher in den Schaͤtzen eines Briefwechſels auf¬
bewahrt ſind, deſſen Umfang und Inhalt neue Regio¬
nen ſeines Geiſtes erblicken laͤßt.
Sein Herz, reich an Empfindung und Antheil, ent¬
zog ſich der weichen Offenheit gewoͤhnlicher Aeußerun¬
gen; aber nicht Allen ſeiner Freunde blieb hinter dem
Walle von Witz, launiger Schaͤrfe und vornehmer Er¬
ſcheinung, womit er es verwahrte, deſſen leichte Erreg¬
barkeit verborgen. In ſchmerzlicher Wehmuth allgemein
menſchlicher Betrachtungen, in geruͤhrten Thraͤnen inni¬
ger Theilnahme, konnte er durch langverſchwiegene
Waͤrme den ſtaunenden Entdecker uͤberraſchen.
Der theure Mann, deſſen Verluſt wir beklagen,
hatte innige Freunde, unter ihnen die Angeſehenſten
und Groͤßten ſeiner Zeit. Ein ſtrebender und bewegen¬
der Geiſt, wie er, blieb auch nicht ohne Gegner. Leider
wurden ihm, wie das Geſchick der Welt es ja ſo oft
unvermeidlich mit ſich fuͤhrt, auch aus Freunden ſolche.
In den Verwickelungen, welche die Verſchiedenheit der
Richtungen und Anſichten, in den Reibungen und Feh¬
den, welche das Zuſammentreffen ſtarker und eigen¬
thuͤmlicher Geiſtesarten unter den Genoſſen gleicher
[141] Bahnen hervorgebracht, moͤge jetzt niemand das Urtheil
verlangen; das Recht und Unrecht trage die Zeit hin¬
uͤber zu kuͤnftigen Richterſtuͤhlen, vor denen die Sache
ohne gehaͤſſige Zuthat perſoͤnlicher Leidenſchaft erſchei¬
nen kann.
Der Hingeſchiedene hat Allen, Freunden und Fein¬
den, als Vermaͤchtniß eine große, niederſchlagende Auf¬
gabe hinterlaſſen, die: ihn zu erſetzen!
Uns aber ſei hier die Zuverſicht geſtattet, daß das
Andenken des großen Mannes, bei der Nachricht ſeines
fruͤhen Hintritts, in der Wuͤrdigung edler Geiſter uͤber
jede Beruͤhrung hinweggehoben iſt, die nicht Trauer
waͤre und Verehrung.
Und ſo leb' er denn fort und fort in unſrem Ge¬
daͤchtniß, der Mann, der endlich vom Namen Homeros
kuͤhn uns befreiend, uns noch ſtets ruft in die vollere
Bahn!
Graf Schlabrendorf,
amtlos Staatsmann, heimathfremd Bürger, begütert arm.
Zuͤge aus ſeinem Bilde.
Kaum war im Sommer 1824 aus Marſeille die Trauer¬
nachricht von dem Ableben des großen Philologen Fried¬
rich Auguſt Wolf zu uns gekommen, und ſchon erſcholl
uns von Paris her eine neue Todesbotſchaft, die den
Hintritt eines andern Landsmannes meldete, der, gleich
jenem, zu den merkwuͤrdigſten und bedeutendſten unſrer
vaterlaͤndiſchen Ehrennamen zu ſtellen iſt! Wer von
unſern Landsleuten, der in den letzten Jahrzehnden Paris
beſucht, haͤtte nicht in dieſer gewuͤhlvollen Hauptſtadt
alles europaͤiſchen Lebens und Treibens auch den ſelt¬
ſamen Einſiedler, den ehrwuͤrdigen Raͤthſelgreis der
Rue Richlieu kennen gelernt, oder doch von ihm ge¬
hoͤrt, und ſeinen Eigenheiten theilnehmend nachgefragt?
Wir wollen von dieſem auch uns perſoͤnlich theuer ge¬
weſenen Manne eine kurze Schilderung verſuchen! —
[143]
Guſtav Graf von Schlabrendorf war zu Stettin
den 22. Maͤrz 1750 geboren. Sein Vater, Vice¬
praͤſident der pommerſchen Kriegs- und Domainen¬
kammer daſelbſt, wurde im Jahre 1755 als dirigirender
Miniſter nach Schleſien verſetzt, wo er waͤhrend des
gleich im folgenden Jahre ausgebrochenen ſiebeniaͤhrigen
Krieges durch treffliche Anſtalten und kraͤftige Maßregeln
zur Behauptung dieſer Provinz eifrig mitwirkte, und
Friedrichs des Großen Beifall und allgemein ausge¬
zeichneten Ruhm erwarb. Der Sohn, welcher vom
fuͤnften Lebensjahre ſeine Jugend nunmehr in Schleſien
verlebte, rechnete deßhalb in der Folge ſtets mit Vor¬
liebe ſich dieſer Provinz angehoͤrig. Seine Erziehung
war ſorgfaͤltig und fruchtbar; auf die haͤusliche folgte
die oͤffentliche; zum Studium der Rechte beſtimmt, be¬
ſuchte er die Univerſitaͤt zu Frankfurt an der Oder,
und nachher die zu Halle. Die gruͤndlichſten Kennt¬
niſſe in alten und neuen Sprachen, ſowie in mannig¬
fachen Gebieten der Wiſſenſchaft und Kunſt, begleiteten
ihn bald auf den lebenvollen Schauplatz der großen Er¬
fahrungswelt. In ſeinem zwanzigſten Jahre verlor er
ſeinen Vater, und die fruͤhe Unabhaͤngigkeit, bei guͤnſti¬
gen Standesverhaͤltniſſen und ſehr anſehnlichem Ver¬
moͤgen, erlaubte ihm, ſeinem regen Triebe nach freiem
Forſchen und Umherblicken in den verſchiedenſten Zwei¬
gen des Erkennens und in mannigfachen Lebensraͤumen
ungehemmt zu folgen. Nachdem er Deutſchland und
[144] die Schweiz durchreiſt und Frankreich vorlaͤufig geſehen,
begab er ſich nach England, wo er ſechs Jahre zubrachte,
und eine Zeitlang den Freiherrn vom Stein auf ſeinen
Reiſen im Innern dieſes Landes zum Begleiter hatte.
Auch lernte er hier im Jahre 1786 den Philoſophen
Friedrich Heinrich Jacobi kennen und ſchloß eine herz¬
liche Freundſchaft mit ihm. Die Staatsverfaſſung und
ganze Lebenseinrichtung der Englaͤnder wurde Haupt¬
gegenſtand ſeiner Betrachtung, zugleich widmete ſein
frommer Sinn religioͤſen und philanthropiſchen Anſtalten
ſchon damals lebhafte Theilnahme.
Noch vor dem Ausbruche der franzoͤſiſchen Revolu¬
tion kam Schlabrendorf nach Frankreich zuruͤck, und
lebte ſeitdem bis zu ſeinem Tode faſt unausgeſetzt in
Paris. Mit einem fuͤr die Menſchheit gluͤhenden Herzen,
mit einem hohen und kraͤftigen Geiſte, ſtand er alsbald
im draͤngenden Gewuͤhle des gewaltigen politiſchen Lebens,
das vom Jahre 1789 an immer ſtuͤrmiſcher emporſtieg.
Leidenſchaftlich ergriff er die fruͤhen Hoffnungen, welche
ſich dem neuen Gange der Begebenheiten in den Herzen
ſo vieler Zeitgenoſſen anknuͤpften, und mochte dieſelben
auch zuletzt noch nicht aufgeben, als ſie fuͤr die meiſten
Theilnehmer laͤngſt wieder entſchwunden waren; perſoͤn¬
liche Thaͤtigkeit aber widmete er nur dem, was auf
dem Schauplatze ſo wechſelnder Ereigniſſe inmitten ſo
vieler Verbrechen und Graͤuel ſich als wahrhaft gut
und rechtlich behaupten ließ. Wohlthaͤtig und menſchen¬
[145] r eundlich war er uͤberall eifrig bei der Hand, wo fuͤr
Einzelne oder fuͤr Gemeinſames in dieſer Richtung ſich
irgend ein Wirken eroͤffnet zeigte. In perſoͤnlicher Be¬
kanntſchaft ſtand er nach und nach mit den hervor¬
ragendſten Maͤnnern der Revolution, und wirkte auch
wohl nach Umſtaͤnden auf ihre Anſichten und Wege
durch ſeinen Geiſt und Karakter ein; aber niemals fand
er ſich bewogen, ſelber eine ſogenannte Rolle zu ſpielen,
wie vielfach und dringend auch die Lockungen dazu ſein
mochten. Das Schickſal ſo vieler Deutſchen, welche
ein Opfer ſolchen Strebens entweder alsbald ſelbſt wur¬
den, oder in ſpaͤter Enttaͤuſchung ihren beſten Sinn
und Willen als ſolches dargebracht ſehen mußten, be¬
weiſt nur, wie richtig Schlabrendorf ſeine Eigenſchaft
als Fremder bei dieſen franzoͤſiſchen Vorgaͤngen, in aller
Begeiſterung fuͤr ſie, doch erkannt und bewahrt hat.
Mit den Redlichen unter ſeinen Landsleuten hielt er
innig zuſammen, mochten auch ihre Wege von den ſei¬
nigen verſchieden ſein. Georg Forſter ſchrieb im Mai
1793 an ſeine Frau von ihm: „Einige Deutſche, die
ſich hier aufhalten, kommen oͤfter mit mir zuſammen;
unter andern iſt ein Graf Schlabrendorf aus Schleſien,
der Dich, als Du als Maͤdchen mit Onkel Blumen¬
bach reiſteſt, in Zuͤrich geſehen hat; ein junger Oelsner,
eben daher, der auch in Chriſtie’s Haus bekannt; ein
junger Schwabe, Namens Kerner, der fuͤr die ham¬
burger Zeitung hier Nachrichten ſchreibt. — Schlabren¬
10[146] dorf, in dem geſetzten Alter von vierzig Jahren, iſt ein
ſehr kluger, einſichtsvoller Demokrat und ein Mann
von reifer Erfahrung. Er kennt Europa ſehr genau,
beſonders England.” Vornehmlich Oelsner und Kerner
knuͤpften mit Schlabrendorf enge Freundſchaft. Waͤhrend
der Schreckenszeit wurde dieſer, wie jeder ausgezeichnete
Mann, ſchon als Auslaͤnder und Graf, beſonders aber
auch als Freund von Condorcet, Mercier und Briſſot,
den damaligen Gewalthabern verdaͤchtig, und mußte
achtzehn Monate im Kerker zubringen, fruͤher in der
Conciergerie, nachher im Pallaſt Luxemburg, Tag fuͤr
Tag des Beils der Guillotine gewaͤrtig, ohne daß dieſer
Zuſtand ſein Gemuͤth erſchuͤtterte oder ſeine Anſichten
wankend machte. Seine Haare wurden jedoch grau,
und ſein langer Bart erſchien ihm hier zuerſt als eine
maͤnnliche Zierde, die er ungern wieder ablegte, als ſie
ihm nicht mehr aufgedrungen war.
In dem Gefaͤngniſſe fand ſeine Geſpraͤchigkeit, ſeine
Umgangsguͤte reiche Nahrung. Er gab Rath, er leiſtete
Huͤlfe aus ſeinen Geldmitteln, er ſetzte die Vertheidi¬
gungsſchriften — die ſtets vergeblichen — mancher Mit¬
gefangenen auf, er unterrichtete die Lernbegierigen zum
Nutzen und zur Unterhaltung in Sprach- und Sach¬
kenntniſſen. Eine Zeitlang wußte er ſich durch den
Banquier Schuͤtz uͤber Baſel einige Summen aus dem
Vaterlande zu verſchaffen; da er faſt alle Baarſchaft
unter die duͤrftigen Mitgefangenen austheilte, ſo gaben
[147] ihm dieſe den Beinamen des Wohlthaͤtigen. Als ihm
der Tod auf dem Blutgeruͤſte ſchon unvermeidlich er¬
ſcheinen mußte, uͤbergab er ſein betraͤchtliches Vermoͤgen,
ſo weit es verfuͤgbar war, in Wechſeln, ſeinem Freunde
Oelsner, der noch frei war und ihn beſuchen konnte,
aber ſchon ſelbſt bedacht ſein mußte, durch Entfernung
die ſteigende Gefahr zu meiden. „Nehmen Sie das
Geld,” ſagte ihm Schlabrendorf, „und fliehen Sie,
da Sie es noch koͤnnen. Brauchen Sie es als das
Ihre; ſehen wir uns wieder, ſo geben Sie mir zuruͤck,
was noch da iſt; werd’ ich guillotinirt, ſo gehoͤrt es
Ihnen ganz.” Oelsner kam gluͤcklich uͤber die Graͤnze,
und lebte eine Zeitlang in Oberitalien verborgen, litt
manche Noth und Bedraͤngniß, aber hungerte lieber,
als daß er den Schatz angegriffen haͤtte, und unverſehrt
lieferte er ihn ſpaͤter mit tauſend Freuden dem Gerette¬
ten wieder aus. Denn durch ein Wunder entkam Schla¬
brendorf dem Henkerbeil, und zwar knuͤpfte ſeine Ret¬
tung ſich an ſeine unbefangene Eigenart. Eines Mor¬
gens kam, wie gewoͤhnlich, der Karren zur Abholung
der fuͤr den Tag zum Hinrichten beſtimmten Perſonen;
auch Schlabrendorf’s Namen wurde ausgerufen, und
er machte ſich ohne Widerſtreben und Klagen ſofort auf,
um ſeinem Schickſale zu folgen; Faſſung und Gleich¬
guͤltigkeit waren damals in ſolchem Falle ganz allge¬
mein, ihm aber vorzuͤglich eigen. Angekleidet war er
bald, nur ſeine Stiefel fehlten; er ſuchte ſie, ſuchte ſie
10*[148] mit allem Eifer, der Kerkermeiſter half ſuchen, allein
vergebens, ſie waren entwandt, vertauſcht oder in einen
Winkel geſtellt, genug, nicht zu finden. Voll Verdruß,
nach vielem Bemuͤhen, ſagte Schlabrendorf endlich zu
dem Kerkermeiſter: „Nun, ohne Stiefel kann ich doch
nicht fort, das ſehen Sie ein. Wiſſen Sie was, —
ſetzte er mit harmloſer Treuherzigkeit hinzu, — nehmen
Sie mich morgen ſtatt heute, es koͤmmt ja auf den
einen Tag nicht an!‟ Der Kerkermeiſter fand den
Vorſchlag richtig: ein andrer Gewinn, als der klaͤgliche
eines Aufſchubs von vierundzwanzig Stunden, fiel dabei
Niemanden ein. Der Karren, deſſen Ladung durch
Einen Kopf mehr oder minder nicht merklich veraͤndert
erſchien, fuhr mit ſeinen Schlachtofern ab, und Schla¬
brendorf blieb zuruͤck. Am andern Morgen erneute ſich
die Abholung; der Verſaͤumte, jetzt mit Stiefeln ver¬
ſehen, war, gleich den Gerufenen dieſes Tages, ganz
bereit zur traurigen Fahrt, aber ſieh da! ſein Name kam
nicht vor; auch den dritten und vierten Tag nicht, und
uͤberhaupt nicht! Sehr natuͤrlich, er war mit der Liſte
des erſten Tages abgethan fuͤr immer; wer konnte ſo
genau nachzaͤhlen? Man nahm den Gerufenen als ab¬
geliefert und als guillotinirt an, die Verſaͤumniß kuͤm¬
merte Niemanden, fuͤr jeden folgenden Tag hatte man
ſchon andern Vorrath genug! Der Kerkermeiſter war
kein boͤſer Menſch, er wollte nicht grade den Angeber
machen, aber eben ſo wenig haͤtte er den Gefangenen
[149] nun freilaſſen moͤgen. Dieſer blieb alſo im Kerker
vergeſſen, bis der Sturz Robespierre’s, gleich vielen
Andern, auch ihm endlich die Freiheit wiederbrachte.
Die ferneren Erſcheinungen der Revolution entzuͤn¬
deten auf’s Neue ſeinen ungeſchwaͤchten Antheil an den
Hoffnungen eines herrlichen Buͤrgerſtaats. Waͤhrend er
ſolchen Idealen in den wirklichen Begebenheiten mit
Eifer nachſtrebte, richtete er zugleich die Kraͤfte ſeines
edlen Geiſtes und anſehnliche Geldmittel auf die Be¬
foͤrderung gemeinnuͤtziger, menſchenfreundlicher Unter¬
nehmungen. Um die Stereotypie in Gang zu bringen,
wandte er betraͤchtliche Summen auf. Zur Ermunterung
mancherlei Gewerbfleißes, fuͤr die Verbeſſerung des oͤffent¬
lichen Unterrichts, wie ſpaͤter fuͤr den Verein zur Foͤr¬
derung der chriſtlichen Moral, fuͤr die Bibelgeſellſchaft
und andre Verbindungen zu aͤhnlichen Zwecken, waren
ſeine großen Beitraͤge wie ſein geiſtiger Antheil hoͤchſt
erſprießlich. Die proteſtantiſche Gemeinde in Paris konnte
jederzeit auf ſeine Fuͤrſorge rechnen, die Schulen und
das Armenweſen dieſer Glaubensgenoſſen insbeſondere
verdankten ihm bedeutende Wohlthaten. Was er fuͤr
Einzelne unermuͤdet gewirkt und geleiſtet, in dieſer wie
in jeder Zeit ſeines Lebens, waͤre unmoͤglich aufzuzaͤhlen.
Doch tritt dies Alles in Schatten vor der leuchtenden
Wirkſamkeit ſeines eben ſo tiefen als reichen und leben¬
digen Geiſtes, der durch den Zauber der hinreißendſten
Beredſamkeit unaufhoͤrlich in das umgebende Leben
[150] uͤberſtroͤmte, und beſonders fuͤr die zahlreichen Deutſchen,
die er in einer langen Reihe von Jahren aus allen
Staͤnden und Klaſſen, Vornehme wie Geringe, zu ſeinem
Umgange ſich draͤngen ſah, in tauſend Beziehungen
lehrreich und heilſam wurde. Mit einer unglaublichen
Geſchichts- und Weltkenntniß ausgeruͤſtet, zu den tief¬
ſten Quellen der Staatskunde gedrungen und mit ihren
fluͤchtigſten Erſcheinungen vertraut, im Mittelpunkte der
lebendigen Fuͤlle der Tagesgeſchichte, ſprach er beſonders
gruͤndlich, ſcharfſinnig, ja prophetiſch uͤber die politiſchen
Gegenſtaͤnde; ſeine Einſicht, ſein Urtheil, die fuͤr Jeder¬
mann offen ſtanden, waren nicht ſelten die Zuflucht
der auswaͤrtigen Diplomaten und die Huͤlfe deutſcher
und franzoͤſiſcher Gelehrten; mancher Bericht, mancher
Aufſatz, der unter anderm Namen daheim Aufſehn und
Bewunderung erregt haben mag, war nur der Abfall
ſeiner reichhaltigen, taͤglich friſch erſtroͤmenden Reden
und Geſpraͤche. Das beruͤhmte Buch: „Napoleon Bona¬
parte und das franzoͤſiſche Volk unter ſeinem Konſulate,“
welches zu ſeiner Zeit (1804) am truͤben politiſchen
Himmel wie ein Lichtmeteor erſchien, von Goethe und
von Johann von Muͤller ſogleich ruͤhmende Beachtung
erfuhr, und fuͤr Deutſchland faſt die erſten enttaͤuſchen¬
den Aufſchluͤſſe uͤber den ſelbſtſuͤchtigen, verderblichen
Gang des nach Alleinherrſchaft ringenden Korſen gab,
iſt weſentlich ſein Werk, aus ſeinem Geiſt und aus
ſeinen Mittheilungen, und dem groͤßeren Theile nach
[151] unſtreitig auch aus ſeiner Feder gefloſſen; dem Kapell¬
meiſter Reichardt, den man lange als Verfaſſer insge¬
heim, und ſpaͤter, als die Gefahr geſchwunden war,
oͤffentlich genannt hatte, gebuͤhrt nur das Verdienſt,
dem Buche ein muthvoller (wenngleich anonymer) Her¬
ausgeber geweſen zu ſein, und dem Texte vielleicht hin
und wieder einen Zuſatz oder eine im Einzelnen noͤthig
erachtete Ausdrucksveraͤnderung gegeben zu haben.
Unter Napoleons Herrſchaft hatte Schlabrendorf
ſeine heitern Freiheitshoffnungen faſt ganz in duͤſtern
Haß gegen den ſelbſtſuͤchtigen Zerſtoͤrer derſelben zuſam¬
mengezogen. Wie fruͤh er deſſen wahre Art und Be¬
deutung in Betreff der franzoͤſiſchen Zuſtaͤnde erkannt,
berichtet uns ſchon vom Jahre 1801 her ſehr artig
Jacobi, der in einem ſpaͤteren Briefe an Klinger ſagt:
„Ein in jeder Abſicht ausgezeichneter Mann, ein
Deutſcher, der die ganze franzoͤſiſche Revolution zu
Paris durchgelebt und durcherfahren hat, — er wurde
ſchon 1786 in London mein Freund, und ich fand ihn
vor nun zwei Jahren in Frankreich wieder, — dieſer
ſagte zu mir: „Es war acht Jahre lang hier Alles
drunter und druͤber gegangen, wie in einer Bauern¬
ſchenke, einem Saufgelage, wo Einer den Andern uͤber¬
ſchreit, eine Pruͤgelei die andere abloͤſt. Da trat Bona¬
parte mit ſeinem Holla! auf. Holla! rief er, und nur
ein Holla machte er. Sein Erſtes war, alle Lichter
auszublaſen. Er brachte keine Entſcheidung, ſondern
[152] nur ein Ende aller Fragen. Gleichviel, ſchrie er: Frei¬
heit oder keine Freiheit, Religion oder keine Religion,
Moral oder keine Moral; es iſt Alles einerlei; liberté,
égalité, dabei bleibt es; und daß jetzt nur Keiner
mehr das Maul daruͤber aufthue, und ſich anders ruͤhre,
als man es ihn heißt; denn wie es nun iſt, ſo ſollte
es werden, und ſo muß es bleiben! — Dieſelbe Rede,
nur nach den Umſtaͤnden ein wenig veraͤndert, hat der
große Mann ſeitdem an das ganze Europa gerichtet:
Das einzige noch uͤbrig gebliebene Jakobinerneſt, Eng¬
land, ſoll zerſtoͤrt werden, und dann wird es ſich mit
dem unverſchaͤmten Selbſtdenken und Selbſtwollen uͤberall
wohl geben, und alles draußen ſich ebenſo gemaͤchlich
fuͤgen, wie es im Innern ſich wirklich ſchon gefuͤgt
hat. Mit dem deutſchen Vorwitz hat es ohnedies nichts
zu ſagen; man droht nur mit dem Stock und ſogleich
iſt alles ſtill.“ Auch in der Folge hoͤrte Schlabrendorf
nicht auf, gegen Napoleon immerfort mit allem Nach¬
druck ſeiner unbeſtechlichen Wahrheitsliebe ſich auszu¬
ſprechen. Der daͤniſche Dichter Baggeſen wurde durch
ihn in gleicher Richtung vorzuͤglich beſtaͤrkt und ange¬
feuert. Schlabrendorf entging der Verfolgung des Macht¬
habers vielleicht nur durch die Zuruͤckgezogenheit und
Sonderbarkeit ſeiner Lebensweiſe, die fuͤr ihn das vor¬
theilhafte Zeugniß der Unſchaͤdlichkeit ablegen mochte.
Im Hôtel des Deux-Siciles in der Rue Richelieu,
wo der Poſtillon ihn bei ſeiner Ankunft aus England
[153] zuerſt hingefahren, bewohnte er nach langen Jahren
noch daſſelbe Zimmer im zweiten Stock, das er nie
verſchloß und immer ſeltener verließ. Ohne alle Be¬
dienung, umgeben von ſpaͤrlichem, zerfallendem Haus¬
rath, in zerriſſener Kleidung, mit allem Zubehoͤr einer
cyniſchen Gewoͤhnung, empfing er, Diogenes von Paris,
wie er ſcherzend ſelbſt ſich nannte, in ſeiner Tonne taͤg¬
lich zahlloſe Beſuche von Menſchen aller Staͤnde und
aller Nationen, willig jede Arbeit ſogleich unterbrechend,
und jedem Geſpraͤche, das auf die Bahn kam, mit
allem Reichthum ſeines Innern ſich hingebend. Keine
Ruͤckſicht konnte ihn hemmen, ſelbſt dem unbeſcheidenen
Frager gab er, wenn auch unwillig, die ergiebigſte Aus¬
kunft; haͤufiger freilich kam er den Fragen zuvor; zu¬
weilen vier, ja fuͤnf und ſechs Stunden lang konnte
er ununterbrochen, im ſchoͤnſten Gedankenzuſammen¬
hange, mit beweglichſter Einbildungskraft und mit ſtei¬
gendem Reiz, durch ſeine reiche Rede den Hoͤrer feſſeln,
uͤber die Stunden durch die Annehmlichkeit der Mit¬
theilung taͤuſchend; man erzaͤhlt, daß er, am fruͤhen
Abend mit dem Lichte in der Hand einen Freund (Wil¬
helm von Humboldt) zur Treppe geleitend, mit dem¬
ſelben am hellen Tage noch im Geſpraͤch begriffen an
ſolcher Stelle gefunden worden. In ſeiner Offenheit
verhehlte er ſelbſt den abgeſchickten Spaͤhern, die ihn
zu Zeiten aufſuchten, ſeine Geſinnung und Denkart
nicht; ein ſolcher Mann, der frei und grade ſeinen
[154] rechtſchaffenen Wandel verfolgte, nichts insgeheim und
auf Nebenwegen herbeizufuͤhren ſuchte, fuͤr ſich ſelbſt
nichts Weltliches erſtrebte, keinen Einfluͤſterungen unbe¬
dacht Gehoͤr gab, an keinerlei Raͤnken jemals Theil
nahm und dabei als ein Sonderling erſchien, duͤnkte
den damaligen Gewalthabern eher zu belachen als zu
fuͤrchten, und die Polizei Napoleons, die mit dringen¬
deren Sachen beſchaͤftigt war, ließ ihn unangefochten.
Seine bedeutenden Einkuͤnfte wendete er, da er fuͤr
ſich faſt gar nichts brauchte, meiſt ganz im Stillen zu
wohlthaͤtigen Zwecken. Als er in Preußen wegen ſeines
Außenbleibens mit dem Verluſte faſt ſeines ganzen Ver¬
moͤgens bedroht war, blieb ſein gleichmuͤthiger Sinn
ungeſtoͤrt, und ſelbſt die fuͤr eine Zeit wirklich einge¬
tretene Entziehung der Einkuͤnfte konnte ihn nicht be¬
wegen, durch irgend einen Schritt, der ihm als Zwang
erſchien, ſolchen Nachtheil abzuwenden. Er geſtand je¬
doch ſelbſt, daß er die Verguͤnſtigung, die einem Staats¬
buͤrger zum Aufenthalt im Auslande billigerweiſe gewaͤhrt
ſein mag, fuͤr ſich bis zum Mißbrauche verwendet habe.
In beinahe vierzigjaͤhriger Abweſenheit hoͤrte er indeß
nicht auf, durch Geſinnung und Theilnahme ein Deut¬
ſcher, ein Preuße und noch insbeſondere ein Schleſier
zu ſein, als ob er immerfort im Vaterlande geblieben
waͤre, und er wußte und kannte alles genau, was dort
in [Staatsverwaltung], Rechtspflege, Erziehung, Sitten¬
art und Literatur gethan und betrieben wurde. Kant,
[155] Fichte, Klopſtock, Peſtalozzi, Lichtenberg, Schiller,
Richter, Voß, den er ſehr liebte, und Goethe, der auch
ihm als groͤßter Stern leuchtete, waren inmitten von
Paris und der Revolution ſeine treuen Begleiter. Seine
Huͤlfe, ſeine Unterſtuͤtzung erſtreckte ſich vielfach auf die
Angelegenheiten der fernen Heimath. Als Domherr
von Magdeburg ſchloß er auch dieſe Stadt in den en¬
geren Kreis ſeiner Neigungen ein, und bewies dortigen
Anliegen der Einzelnen wie des Gemeinweſens ſeine
vorzuͤgliche Theilnahme. Große Summen ließ er wie¬
derholt an die preußiſchen Kriegsgefangenen in Frank¬
reich austheilen. Jede Noth und Verlegenheit fand bei
ihm Gehoͤr und Huͤlfe. Er betrachtete ſich als einen
in der Fremde angeſtellten Armenpfleger ſeiner Lands¬
leute; Gelehrte, Kuͤnſtler, beſonders Handwerksburſchen
ohne Zahl, empfingen ſeine oft nach Umſtaͤnden aͤußerſt
betraͤchtlichen Spenden, ohne daß irgend ein Unterſchied
galt, als der der Beduͤrftigkeit. — Im Jahre 1813
endlich nahm er ſich ernſthaft vor, an der kriegeriſchen
Erhebung Preußens, die ſeine heißeſten Wuͤnſche und
freudigſten Hoffnungen belebte, perſoͤnlichen Antheil zu
nehmen; allein boͤſe Raͤnke wußten ſeine Abreiſe zu
verhindern, ihm wurden keine Paͤſſe bewilligt, und er
mußte die Ereigniſſe in Paris abwarten. Doch hemmte
dies ſeinen Eifer und ſeine Mitwirkung nicht; was er
nur an Geld und Gut aufzubringen vermochte, große
Summen, durch die Bedraͤngniß der damaligen Zeit in
[156] ihrem Werthe noch erhoͤht, brachte er ruͤckſichtslos dem
Vaterlande dar. Wichtige Dienſte leiſtete er der Sache
der Verbuͤndeten noch nach dem Einzuge in Paris.
Die angeſehenſten Staatsmaͤnner und Feldherrn beſuch¬
ten ihn dort. Sein edler Vaterlandseifer empfing zur
Belohnung das eiſerne Kreuz, welches ihm, der ſonſt
kaum auf Orden und Ehrenzeichen achtete, als eine
durch Stiftung und Bedeutung vor allen andern aus¬
gezeichnete Zierde galt. Nach dem zweiten Einzuge der
Verbuͤndeten in Paris, im Jahre 1815, regte ſich haͤu¬
figer in ihm der Wunſch und die Neigung, nach Deutſch¬
land zuruͤckzukehren, und ſeine Tage im Vaterlande zu
beſchließen. Gewohnheit hielt ihn jedoch in Paris feſt,
und er unterließ jene Ruͤckkehr, wie ſo Vieles, was er
eifrig gewollt, und lebhaft beſprochen, indem die Thaͤ¬
thigkeit, die ſich ſo leicht dem Durchdenken von Ab¬
ſichten und Planen zuwandte, nur ſchwer oder gar
nicht zu den Anſtalten der Ausfuͤhrung uͤberging.
Seine Lebensart blieb im Ganzen dieſelbe, nur daß
die Beſuche, die er empfing, jetzt auch aus den unteren
Klaſſen haͤufiger wurden, ohne daß die der Vornehmen
ſich merklich [verringerten]; leider auch mit manchen
Wichten und Lumpen gab er ſich nur allzu guͤtig ab,
und hatte ſpaͤter wenig Dank davon. Aus Bequem¬
lichkeit ließ er ſeinen Bart wachſen, bald wurde dies
eine Liebhaberei, und zuletzt eine ernſtliche Hauptſache
bei ihm, die er muͤndlich und ſchriftlich mit Lebhaftigkeit
[157] vertheidigte und anempfahl. Mehr als fruͤher befliß er
ſich jetzt auch des Schreibens. Als Schriftſteller wollte
er zwar nicht auftreten, aber gern ließ er ſeine Blaͤtter
und Hefte ſchriftſtelleriſchen Zwecken Anderer dienen.
Gradezu verſchenken mochte er geiſtiges Eigenthum bis¬
weilen, wie anderes, und die Empfaͤnger durften, ja
mußten ſogar daſſelbe nun als Eigengehoͤriges behaupten.
Sein Reichthum an Gedanken und Erſchauungen war
ſo groß, daß er alles Ausgeſprochene ſogleich der Welt
uͤberließ, und ſeinen Mittheilungsbedarf gleichſam jeden
Augenblick ſelbſtthaͤtig aus friſchen Vorraͤthen erneute.
Nach manchen Vermuthungen, denen wenigſtens die
Schreibart und der Gehalt maͤchtig zuſtimmen, duͤrfte
auch die in Leipzig 1816 erſchienene kleine Schrift:
„Einige entferntere Gruͤnde fuͤr ſtaͤndiſche Verfaſſung“
von Schlabrendorf herruͤhren, obwohl man dies gelaͤug¬
net, und den Profeſſor Hegewiſch in Kiel als Verfaſſer
wiederholt genannt hat. Von Schlabrendorf iſt ganz
beſtimmt der Artikel Horne Tooke in der Biographie
universelle, vielleicht auch noch andere Abſchnitte dieſer
Sammlung.
Die Eigenthuͤmlichkeit ſeiner Anſichten zeigte ſich
meiſt ſehr auffallend; auch wo die Reſultate nicht neu
erſchienen, waren es faſt immer die Wege, auf denen
man ihn dazu gelangen ſah. Seine tiefſinnigen Er¬
gruͤndungen hatten in ſeinem Kopfe ein vollſtaͤndiges,
eigenthuͤmliches Syſtem des Staats ausgearbeitet, eine
[158] Art von Urbild wie Platon’s Republik, deſſen Rich¬
tung jedoch das gerade Gegentheil der revolutionairen
Beſtrebungen war, die ſich unter ſeinen Augen in ſo
ſchreckliche Abwege verirrten. Aber auch in andern
Gebieten des Denkens verſuchte ſein reicher Geiſt ſich
mit fruchtbarem Erfolge; ein Werk uͤber allgemeine
Sprachlehre hatte er der Vollendung nahe gebracht,
ſeine Forſchungen uͤber Wortabſtammung, ſeine Ver¬
ſuche in deutſcher Sprachbildung, waͤren ſehr der oͤffent¬
lichen Mittheilung werth. Einige theils ihm entlehnte,
theils in ſeinem Sinne geiſtvoll vorgetragene und weiter¬
gebildete Entwickelungen uͤber Sprachſachen liefert das
gehaltvolle und empfehlenswerthe Werk: „Ueber die
Sprache (Heidelberg, 1828)”, welches ein wuͤrdiger
Freund und Verehrer Schlabrendorf’s mit ausdruͤcklich
angedeuteter Beziehung auf ihn geſchrieben hat. Denk¬
wuͤrdigkeiten uͤber die franzoͤſiſche Revolution, im Sinne
der Diskurſe des Machiavelli uͤber den Livius, ſchweb¬
ten ihm lange als eine Lieblingsaufgabe vor; geſprochen
hat er gewiß mehrmals ihren ganzen Inhalt, aber zum
Niederſchreiben kam er nicht. Sinnvolle Kernſpruͤche,
in deren oft ſeltſames Gefuͤge er die Ergebniſſe ſeiner
ſittlichen und geſchichtlichen Anſichten einzupreſſen be¬
muͤht war, beſchaͤftigten heiter manchen ſeiner ſpaͤtern
Tage. In ſolcher Art machte er auch verſchiedene Grab¬
ſchriften auf ſich ſelbſt; eine davon, in lateiniſcher Sprache,
„Civis civitatem quaerendo obiit octogenarius.“
[159]
In ſeinen letztern Jahren beſchaͤftigte ihn auch die
Sammlung von Buͤchern und Schriften in Bezug auf
die franzoͤſiſche Revolution. Er hatte viele tauſend zum
Theil allerſeltenſte Sachen zuſammengebracht, und be¬
abſichtigte dieſen einzigen Schatz geſchichtlicher Quellen
einer preußiſchen Univerſitaͤt zu ſchenken. Aber auch
ſein Teſtament war ein Werk, mit dem er ſich lange
trug, ohne damit ins Reine zu kommen; er wollte eine
allgemeinere Schulſtiftung mit einem Familienfideicom¬
miß vereinigen, allein ſeine zahlreichen Plane hierzu
ſchwankten noch unentſchieden, als der Tod ihn uͤber¬
eilte, und ein aufgefundenes fruͤhzeitiges Teſtament, zu
Bentheim ſchon im Jahre 1785 niedergelegt, vor Ge¬
richt zur Sprache kam, und den Sinn des Abgeſchie¬
denen jetzt nur in unreifen und dabei doch ſchon ver¬
alteten Beſtimmungen darſtellte.
Schlabrendorf erkrankte naͤmlich im Sommer 1824,
und verließ, auf dringendes Verlangen ſeiner Freunde
und ſeines Arztes Dr. Spurzheim, die dumpfe Stadt,
um eine laͤndlichheitre Wohnung unter Obhut eines
franzoͤſiſchen Arztes in Batignoles zu beziehen. Dort
verſchlimmerte ſich jedoch ſein Zuſtand, indem er ſchon
Beſſerung zu verſprechen ſchien, und der edle Greis,
bis in ſeinen letzten Stunden von hohen Vorſtellungen
und reichen Gedanken umgeben, verſchied am 21ſten
Auguſt 1824. — Baares Geld fand ſich nur ſo wenig
vor, daß die preußiſche Geſandtſchaft die Begraͤbnißkoſten
[160] groͤßtentheils vorſchießen mußte. Der Praͤſident des
proteſtantiſchen Conſiſtoriums zu Paris, Herr Prediger
Goepp, hielt uͤber den Text: „Das Andenken der Ge¬
rechten bleibt im Segen“ eine wuͤrdige Leichenrede,
und die Beſtattung erfolgte auf dem Kirchhofe des
Père La Chaise unter großem Zudrang von Theil¬
nehmenden. Die betraͤchtliche Hinterlaſſenſchaft, wor¬
unter die Herrſchaft Kolzig in Schleſien, wurde Gegen¬
ſtand mehrer Proceſſe, da man das vorgefundene fruͤhe
Teſtament von mehren Seiten anfocht. Die Buͤcher¬
ſammlung wurde verſteigert, und ging ſo dem gehabten
Zweck auf immer verloren! Moͤchte der handſchriftliche
Nachlaß, in wohlbeſorgter Herausgabe mit anderweiti¬
gen Beitraͤgen verbunden, auch dem groͤßern Kreiſe von
Landleuten, die den Verewigten nicht perſoͤnlich gekannt,
ein gerechtes Denkmal ſeines Namens werden! —
Wir geben hier vorlaͤufig einige Bauſteine zu einem
ſolchen Denkmal. Zuerſt laſſen wir den fluͤchtigen Um¬
riſſen ſeines Lebens, wie wir ſie eben mitgetheilt haben,
einige Zuͤge aus den Hunderten folgen, die ſich von
den Eigenheiten des trefflichen Mannes ſammeln ließen,
aber nicht alle ſchon jetzt erzaͤhlbar ſein duͤrften. —
Von ſeiner menſchenfreundlichen Hingebung in jeder
Art an Huͤlfsbeduͤrftige und Ungluͤckliche gibt nachſtehende
Geſchichte ein ſprechendes Beiſpiel. Waͤhrend Schla¬
brendorf in England war, geſchah es, daß ein deutſcher
Handwerksburſch daſelbſt wegen verſuchten Straßenraubs
[161] vor Gericht geſtellt wurde. Der Ungluͤckliche war auf
der That ergriffen, die Sache ſelbſt keinem Zweifel
unterworfen, dem Ausſpruch des Geſetzes unentfliehbar;
es half nichts, daß der Arme nur im Augenblicke der
ſchrecklichſten Noth und ohne Waffen zu jenem verzwei¬
felten Verſuche geſchritten war; die Todesſtrafe wurde
ausgeſprochen. Kaum hatte Schlabrendorf von dem
bevorſtehenden Schickſale des ihm ſonſt unbekannten
Landsmanns gehoͤrt, als er ſich des Verlaſſenen eifrigſt
annahm, ihn wiederholt beſuchte, und zuletzt, um ſeine
Huͤlfe und Troͤſtung wirkſamer darbieten zu koͤnnen,
mit ihm das Gefaͤngniß ganz und gar theilte. Die
Hinrichtung war nicht abzuwenden; Schlabrendorf aber,
in ſeiner menſchenfreundlichen Sinnesart muthig aus¬
harrend, begleitete den armen Suͤnder, in Ermangelung
eines Geiſtlichen von deſſen Glauben, zur Hinrichtung,
und blieb unter frommem Zuſpruch an des Ungluͤcklichen
Seite, bis derſelbe den Geiſt aufgegeben hatte. Der
Koͤnig Georg der Dritte erfuhr dieſen ſchoͤnen Zug hoch¬
herziger Menſchenliebe; wurde lebhaft davon ergriffen,
und bezeigte dem edlen Grafen ſeitdem eine ganz be¬
ſondere Hochachtung. Ein anderer Fall zeigt ſeine Gro߬
muth in nicht weniger hellem Lichte. Ein magdebur¬
giſcher Kaufmann befand ſich in Paris wegen Schulden
in Verhaft. Seine dreizehnjaͤhrige Tochter wurde ver¬
anlaßt, ſich an Schlabrendorf zu wenden, und that
dies nicht vergebens. Die erforderliche Summe betrug
11[162] achttauſend Franken, und Schlabrendorf hatte deren nur
viertauſend zur Verfuͤgung, aber augenblicklich ſchaffte
er die fehlenden viertauſend durch ein Anlehn herbei,
und die Tochter hatte das Gluͤck, ihren Vater ſofort in
Freiheit zu ſehn. Merkwuͤrdig war auch ſonſt ſein Be¬
nehmen in Betreff des Geldes. Er beſuchte, ungefaͤhr
um die Zeit des Anfangs der franzoͤſiſchen Revolution,
in Karlsruhe den Markgrafen Karl Friedrich, mit wel¬
chem vortrefflichen Fuͤrſten er in der ſchoͤnſten, innigſten
Bekanntſchaft ſtand. Der Naturforſcher Gmelin fuhr
mit Schlabrendorf nach Raſtatt, wo ſie uͤber Nacht
bleiben wollten. Das Wirthshaus war aber ganz be¬
ſetzt und voller Bewegung. Mit Muͤhe erlangte Gmelin
von dem Wirthe ein kleines Stuͤbchen gleicher Erde
neben der Hausthuͤre, das ſonſt gar nicht in Betracht
zu kommen pflegte. Zur Nacht ſich entkleidend haͤngt
Schlabrendorf ſeinen Rock laͤſſig an den Thuͤrpfoſten,
und legt ſich ruhig ſchlafen. Gmelin wollte die Thuͤre
ſchließen, da verſicherte Schlabrendorf, er koͤnne durch¬
aus nicht in einem verſchloſſenen Zimmer ſchlafen, und die
Thuͤre blieb alſo unverſchloſſen. Schlabrendorf ſchlief als¬
bald ein, Gmelin aber, der die fortdauernde Bewegung
im Hauſe hoͤrte, auch manchmal die Stubenthuͤre durch
Irrthum anfaſſen und aufklinken hoͤrte, und Ueberfall
von Fremden, vielleicht auch Dieberei fuͤrchtete, that
faſt kein Auge zu. Als er dies am andern Morgen
[163] ſeinem Schlafgenoſſen klagte, lachte dieſer, und zeigte
aus ſeinem Rocke hervor einige Rollen Gold und fuͤr
dreißigtauſend Gulden Wechſel, die ruhig am Thuͤr¬
pfoſten mitgehangen hatten, ohne daß ihm darum bange
geweſen! Als Gegenſtuͤck dieſes Falles, wo das Geld
der aͤngſtlichen Sorge um daſſelbe nicht werthgeachtet
erſcheint, noch ein anderer Zug, in welchem die Vor¬
ſtellung von Recht und Unrecht dem Theile mehr Werth
als dem Ganzen beilegt. Ein Wechſelhaus in Deutſch¬
land hatte an Schlabrendorf eine Summe von etwa
zwanzigtauſend Franken zu uͤbermachen, und zeigte ihm
an, daß dieſes Geld nach beigelegtem Ausweiſe zu ſeiner
Verfuͤgung bereit liege. An der Berechnung fand er
eine Kleinigkeit auszuſetzen, er glaubte die Gebuͤhren
um ein Geringes uͤberſchritten, und mit allem Unwillen
eines Gekraͤnkten und Mißhandelten that er Einſpruch.
Vergebens ſuchte ſich das in wohlerworbenem Rufe ge¬
achtete Wechſelhaus zu rechtfertigen, er blieb dabei,
man habe ihn uͤbertheuert, und war nicht zu bewegen,
das Geld zu beziehen; lieber, als in ſolches, nach ſeiner
Meinung, ihm zugefuͤgtes Unrecht einwilligen, ließ er
alles fahren, und lange Jahre hindurch blieb auf dieſe
Weiſe bei den betroffenen Leuten die ganze Summe
ungenutzt liegen. Welchen Ausgang die Sache zuletzt
genommen, iſt uns nicht bekannt geworden. — Meh¬
reres, was Niemeyer im zweiten Theile ſeiner Depor¬
tationsreiſe nach Frankreich aus dem Jahre 1807 von
11 *[164] Schlabrendorf Anmuthiges und Gefaͤlliges erzaͤhlt, moͤge
dort nachgeleſen werden. —
Merkwuͤrdig und unterhaltend wird es dem Leſer
ſein, den edlen Greis aus der Feder ſeines Freundes
Oelsner, um deſſen allzufruͤhen Abſchied wir auch ſchon
trauern muͤſſen, mit aller Unbefangenheit vertrauli¬
cher Mittheilung ruͤckhaltlos geſchildert zu finden. Er
ſchreibt:
— „Bei meiner Ruͤckkehr von Plombieres fand ich
Schlabrendorf nicht mehr. Obwohl ich ihn krank wußte,
laͤnger und gefaͤhrlicher, als er ſelbſt glaubte, hatte ich
doch nicht gefuͤrchtet, daß er ſchon ſo fruͤh entſchlum¬
mern wuͤrde. Vielleicht iſt gefehlt worden, daß man
ihn, ohne Uebergang, aus der verdickten Atmoſphaͤre
ſeiner Wohnung in ein luftiges Krankenhaus verſetzte.
Ihm ſelbſt wird vorgeworfen, er habe, der Bedenklich¬
keit ſeines Zuſtandes inne, die Mittel der Geneſung
uͤbertrieben. — So alt er auch geworden, hat er
doch eigentlich ſein Leben abgekuͤrzt durch die thoͤrichte
Lebensweiſe, in welche er, aus einer Art von Sparren,
verſunken war. Nur eine ſehr geſunde und kraͤftige
Natur konnte, ohne zu wanken, das Einſitzen, den
Schmutz, die elende Koſt, zehn Jahre lang, aushalten.
Zuverlaͤſſig war ſein Koͤrper auf Dauer organiſirt. Es
iſt unglaublich, was dieſer zu entbehren vermochte. In
fruͤheren Jahren hat ihm Schlabrendorf bisweilen, zur
Probe, zweimal vierundzwanzig Stunden, und mehr,
[165] alle Nahrung verweigert. Ebenſo machte unſer Freund
an ſich moraliſche Experimente. Er iſt dadurch zu einer
inneren ungewoͤhnlichen Ausbildung gelangt. Schade,
daß dieſe und ſeine andern Mittel keinen, ſeinen uͤbri¬
gen Verhaͤltniſſen angemeſſenen Wirkungskreis gefunden.
Wie unendlich viel haͤtten da ſein guter Wille, ſeine
Redlichkeit, ſeine edle Uneigennuͤtzigkeit, ſeine mannig¬
faltigen Kenntniſſe und Einſichten genuͤtzt! Im Pflicht¬
verkehr mit der Außenwelt wuͤrde eine gewiſſe Ueber¬
ſpannung, die ſeinen Begriffen anhing, zu maͤßigerem
Niveau herabgeſtiegen ſein. Sein Leben ſtand im Wi¬
derſpruche mit den Grundſaͤtzen, die er ſich gemacht
hatte, und die er predigte. Auch fuͤhlte er ſehr, daß
er es zu keinem ihm ſelbſt genuͤgenden Zwecke ver¬
wandt. Unſchluͤſſigkeit, Hingebung in das Intereſſe
des Augenblicks, zu große Willfaͤhrigkeit fuͤr Andere,
Geſelligkeit, Geſpraͤchigkeit, mitunter Stolz, insbeſon¬
dere aber bis zur geringſten Umſtaͤndlichkeit ausgeſpon¬
nene Entwuͤrfe ſind ſchuld, daß keiner ſeiner Lebens¬
plaͤne zur Ausfuͤhrung gekommen. Zuletzt troͤſteten ihn
uͤber das verfehlte Sein die Verkehrtheit der Welt und
die Ueberzeugung, daß er doch nicht viel wuͤrde aus¬
gerichtet haben. Ernſtlicher konnte er ſich damit troͤſten,
eine lebendige Wohlthaͤtigkeitsanſtalt fuͤr Arme und
Huͤlfsbeduͤrftige zu ſein. Dieſe wandten ſich nie ver¬
gebens an ſeine weichherzige Freigebigkeit. Fuͤr ſie war
bei ihm beſtaͤndig Almoſen bereit, Empfehlung und
[166] guter Rath. Allein da er nie in Noth geweſen, und
blutwenig perſoͤnliche Beduͤrfniſſe hegte, ſo erkannte er
die der Andern nur inwiefern ſie ihm geklagt wurden.
Er iſt Jahre lang auf einem vertrauten Fuß mit Leuten
umgegangen, denen er wohlwollte, und gern gedient
haͤtte, wenn ſie den Muth gehabt, ſich uͤber ihre Lage
auszuſprechen, von der ihm nichts ahnete. Selten ſich
einer oͤffentlichen Subſcription entzogen und faſt immer
erkleckliche Beitraͤge ausgeworfen zu haben, wird er der
Oſtentation bezuͤchtigt. Man muß, daͤucht mich, dem
Gemeingeiſte ſeine Schwaͤchen zu gut halten. An ſich
ſelbſt ſparte, ja knauſerte er. Das Wohlfeilſte war
ihm das Liebſte. So trank er z. B. ſchlechten Wein,
und war nicht zu bewegen, beſſern anzuſchaffen. Die
paarmal, da in ſeinen beſſern Zeiten ihn die Luſt an¬
gewandelt, ſeine Freunde zu bewirthen, laſſen ſich an
den Fingern abzaͤhlen. Dem, der in die Vielſeitigkeit
des menſchlichen Gemuͤths einzudringen und die Wider¬
ſpruͤche deſſelben auszugleichen weiß, darf ich es ſagen,
daß Schlabrendorf, bei aller ſeiner Freigebigkeit, einen
natuͤrlichen Hang zum Geize beſaß. Die betraͤchtlichen
Summen, welche er zehn, zwanzig Jahre, und laͤnger,
ohne Nutzung in fremden Haͤnden liegen und lieber
ſchwinden ließ, als ſie verlieh oder verſchenkte, unter¬
ſtuͤtzen meine Behauptung. Bis in ſein hohes Alter
blieb er, trotz ſeines Schmutzes, liebenswerth und gefiel
den Frauen. Es iſt zu bedauern, daß keine ihn ge¬
[167] feſſelt hat. Seine, nicht eben hackele, Sinnlichkeit zu
reizen und zu beſchaͤftigen, hielt nicht ſchwer. Zu ſei¬
nen Idealen gehoͤrte eine kinderreiche Ehe. Ihm waͤre
ſie ein wahrer Segen geweſen. Bei meinem erſten
Aufenthalte in Paris lernte er durch mich eine junge,
ſehr anziehende Schottlaͤnderin kennen, Miß Chriſtie,
die, vor einiger Zeit noch, gluͤcklich verheirathet zu
Inverneß lebte. Mit ihr verſprach er ſich. Die Paͤſſe
lagen bereit, ſie, ihrem Bruder und ihre Schwaͤgerin
nach der Schweiz zu begleiten, um dort die Ehe zu
ſchließen, als Schlabrendorf verhaftet ward. Durch
ſeine Gefangenſchaft und ihre nothgedrungene Abreiſe
aus Frankreich zerſchlug ſich die Sache. Dieſes Mi߬
geſchick ſcheint ihm nicht ſonderlich zu Herzen gegangen
zu ſein. Perſoͤnliche Anhaͤnglichkeiten waren bei ihm
nie ſehr ſtark. Deſtomehr beſaß er allgemeines Wohl¬
wollen. Er ſahe mich gern, er ſchaͤtzte mich und be¬
zeigte Achtung fuͤr meine Anſichten und Urtheile; auch
war er zu jeder Gefaͤlligkeit geneigt, die ich haͤtte ver¬
langen koͤnnen. Allein ich konnte wegbleiben, ihn un¬
beſucht laſſen, ſo lang ich wollte, ohne daß er es be¬
merkte. Unſer hauptſaͤchlicher Verkehr beſtand in Con¬
verſation. Ich brauche Ihnen ſeinen Umgang nicht zu
ſchildern. Nachſicht und Vertraͤglichkeit, offener, fuͤr
jede moͤgliche Situation empfaͤnglicher Sinn, Theil¬
nahme und Mittheilung aus einer reichmoͤblirten Denk¬
kraft machten Schlabrendorf zu dem anmuthigſten und
[168] einnehmendſten Geſellſchafter, deſſen unbefangene Seele,
deſſen Selbſtvergeſſenheit ihm die Herzen gewann.
Kein Menſch iſt je, wie er, aller Art von Umtreiberei
fremd geblieben. Und doch haͤtte er, in ſeinen letzten
Tagen noch, dem Polizeiweſen in die Haͤnde gerathen
koͤnnen. Ein junger Maler hat vor einigen Jahren
ein wohlgetroffenes Bildniß von ihm verfertigt. An
jenen wandten ſich einige junge Deutſche, zuerſt ſchmei¬
chelnd, dann mit Gelderbietungen. Sie verlangten
Kopie. Der Kuͤnſtler, dem die Erlaubniß zu malen
nur unter der Bedingung bewilligt worden, daß er
Niemanden Abſchrift liefre, iſt ein zu ehrlicher Mann,
um nicht Wort zu halten, oder ſich beſtechen zu laſſen.
Alſo wurden die Verſuche abgewieſen. Die vielfaͤltige
Wiederholung derſelben erregte indeß ſeine Neugier, zu
wiſſen, warum man den Gegenſtand mit ſolcher Hart¬
naͤckigkeit beziele. Er erfuhr, daß die Thorheit wuͤnſche,
den herrlichen Kopf mit ſeinem Barte in ihren Ver¬
ſammlungen aufzuſtellen. Denken Sie ſich die Folgen
fuͤr den unſchuldigen Greis, wenn ſein Bildniß als
eine Art von Baphomet irgendwo entdeckt wurde!“ —
— „Der ſonderbare Mann hat die geringfuͤgigſten
Papierſchnitzel aufbewahrt. Ein maͤchtiger Schwall von
Schriften zeigt ſich in ſeinem Nachlaß. Ich habe den
Wunſch geaͤußert, daß Hrn. — die ſchriftſtelleriſchen
Arbeiten, die moraliſch-politiſchen wenigſtens, zur Sich¬
tung uͤberantwortet werden. Die linguiſtiſchen zeigen
[169] einen ungeheuern, oft unleſerlichen Kram. Aber mit
wieviel Allotrien ſich der gute Mann doch auch be¬
ſchaͤftigt hat! Ganze lange Liſten von Ordensgliedern
zu kopiren! Tag fuͤr Tag ſind die Beſuche angemerkt,
die er erhalten hatte. Wollte er ſie dereinſt vielleicht
wiedererſtatten? Den zahlreichſten Papierſtoß bilden die
Huͤlfsgeſuche. Man ſiehet daraus, daß er viel wohl¬
gethan, und wie ſein Ruf bis in die entlegenſten Ho¬
ſpitaͤler gedrungen. Bei alledem war es ein verfehltes
Leben. Er hat es oft ſelbſt gefuͤhlt. In einer der
mehreren Grabſchriften druͤckt er den Gedanken aus,
daß mit ihm nichts als Projekte, aber unermeßlich viele
und unglaubliche zu Grabe gehn.“ —
— „Schlabrendorf wollte im Handeln vorſichtiger
ſein und kluͤger, als die ganze uͤbrige Welt. Niemand
hat je in Hinſicht ſeiner ſelbſt ungluͤcklicher fehlgegriffen.
Im Widerſpruche mit ſeiner Natur machte er ſich zum
Klausner, waͤhrend er nicht ohne Umgang leben und
denken konnte; denn Verkehr mit Andern wirkte auf
ihn wie magnetiſche Reibung, er gerieth dann wachend
in einen Zuſtand von Somnambulism, der, ſeinen Geiſt
aller unmittelbaren Umgebung entruͤckend, wahre Ge¬
nialitaͤt in ihm erzeugte. Sich ſelbſt uͤberlaſſen hin¬
gegen war der ſeelengute, wohlwollende, aͤcht fromme
Greis von tauſend Bedenklichkeiten umfangen, die ſeine
Eingezogenheit ihm laͤſtig, oͤde, traurig machten. Stolz
verſperrte den Austritt; man wollte nicht eingeſtehn,
[170] geirrt zu haben. Wie ſehr ihn die thoͤrichte Lebensart
druͤckte, zeigt die ſtete Bereitwilligkeit, den Pult, an
dem er Silben zaͤhlte, zu verlaſſen, um ſich dem erſten
beſten unbedeutenden Beſuche auf halbe Tage hinzu¬
geben. Waͤre ſein Gedanke nach innen gerichtet, ſtark
oder leidenſchaftlich an einen Gegenſtand der Betrach¬
tung gefeſſelt geweſen, ſo haͤtte er unmoͤglich an dem
langen Eroͤrtern und oft zweckloſen Geplauder Behagen
gefunden. Doch Friede und Ehre ſchwebe uͤber ſeiner
Aſche! Kein Sterblicher hat es mit Zeit und Nachwelt
beſſer gemeint.“ —
Schließlich theilen wir von Schlabrendorf ſelbſt hier
einige der ſchon erwaͤhnten Kernſpruͤche, — oder Ein¬
zelblicke, wie er ſie nannte, — in der Faſſung und
Geſtalt mit, wie er ſie eigenhaͤndig aufgeſetzt und zu
verſchiedenen Zeiten uns freundlich zugefertigt hat. Die
Wunderlichkeit des Ausdrucks und der Sprachfuͤgung
wird freilich oͤfters Anſtoß geben. Er fuͤhlte ſelbſt das
Mißliche, und wuͤnſchte ſich durch den Beifall der
Freunde geſtaͤrkt und gerechtfertigt zu ſehen. Oelsner,
dem er ſolche Proben zur Beurtheilung vorgelegt, ſchrieb
ihm unverhohlen wie folgt:
„Einiger Bedenklichkeiten wußte ich mich nicht zu
erwehren bei Leſung des Blattes, von deſſen hohem
Werthe ich uͤbrigens durchdrungen bin, denn der Lehre
gehet das Muſter zur Seite, beide wie nur ein Tief¬
forſcher ſie uns geben kann. Zuerſt entſtand die Frage,
[171] wird der Vortrag Eingang finden? Es iſt faſt un¬
moͤglich, daß ein ſehr gedraͤngter in gleichem Verhaͤlt¬
niſſe buͤndig und fließend ſei. Geſuchte Wendung, un¬
noͤthiger Zwang ſind anſtoͤßig. Man ſieht keinen Grund
z. B. „des fuͤnften Karls“ dem uͤblichen und daher
allgemein verſtaͤndlicheren „Karls des Fuͤnften“ vorzu¬
ziehen. Sinnſpruͤchen, die entweder einen politiſchen
Satz, doch nicht ohne Ruͤckhalt kund thun, oder eine
moraliſche Betrachtung ans Gemuͤth legen ſollen, wie
die mir gefeierten Einzelblicke, ſind der pythiſche Ton
und Rhythmos gluͤcklich angemeſſen. Sollten dieſe aber
nicht fuͤr einen rein didaktiſchen Gegenſtand allzu gra¬
vitaͤtiſch ſein? Ganz gewiß erſchweren ſie den mi߬
trauiſchen Gang auf neugebrochener, uneingetretener
Bahn. Daß Anwendung der ertheilten Vorſchriften
mannigfaltigen Nutzen ſtiften werde, unterliegt keinem
Zweifel. Aber laufen wir nicht Gefahr, die Zeugungs¬
kraft unſrer Sprache uͤber Maß zu wecken? Leicht
koͤnnte ſie in polypenartige Geilheit ausſchweifen, und
wir geriethen dann in nicht geringe Verwirrung. An¬
drerſeits iſt eine vollkommen ſchulrechte Sprache noch
darum keine anmuthige. Ich kann irren; aber mir
ſcheint, daß, wenn jeder Vorſtellung ein ſtreng abge¬
zeichneter Ausdruck beſchieden waͤre, dieſe Einmarkung
ihrer Regſamkeit hoͤchlich ſchaden wuͤrde. Erſt ſeitdem
ſich unſre Sprache in ihren Formen und Gebaͤrden den
ausgebildeteren Nachbarinnen genaͤhert hat, iſt ſie um¬
[172] gaͤnglicher geworden. Deſſenungeachtet hauſet ſie im
Mittelpunkte von Europa noch immer ziemlich verlaſſen.
Dem Auslande behagt ſie wenig. Ich fuͤrchte, wenn
wir ihr die altgothiſche Tracht gar zu eng anſchnuͤren,
daß ſie noch mißfaͤlliger wird. Ihren modernen Schwe¬
ſtern muß ſie ſich huͤten fremd zu werden. Der leben¬
dige Verkehr zwiſchen den europaͤiſchen Voͤlkern ſorgt
dafuͤr, und macht eine gaͤnzliche Reform unmoͤglich.
Iſt der Vortheilt einer voͤllig homogeneu Sprache wirk¬
lich ſo groß, wie wir uns einbilden? Denken die
deutſchen Koͤpfe heller in ihrer Urſprache, als der Eng¬
laͤnder in ſeiner aus den fremdartigſten Elementen zu¬
ſammengeſetzten? Zu beſtimmen waͤre, wie weit ſich
die Spracheinigung erſtrecken ſoll. Bannen wir Woͤrter,
wie Komplott, Magiſtrat, Proviant, ſo kann am Ende
man auch Kehraus machen mit Ordnung, Fenſter, Bi¬
ſchof und dergleichen. Aufnahme auslaͤndiſcher Sub¬
ſtantiven bereichert die deutſche Sprache mit Endigun¬
gen, deren ſie keine große Mannigfaltigkeit beſitzt. Die
meiſte Huͤlfe thut dem Zeitworte noth. Wer das ge¬
lenker machen koͤnnte! Auch erſetzt die Leichtigkeit, Deri¬
vativen zu ſchaffen, ganz und gar nicht, was uns hier
an Stammwoͤrtern gebricht. Zuletzt ſaͤhe ich unſre
Sprache lebensgern von einer Menge nichtsſagender
Sylben gereinigt. Vielfach bitte ich um Nachſicht, auf
Belehrung hoffe ich.“ —
[173]
Wiefern die hier ausgeſprochenen Bedenken und
Warnungen Guͤltigkeit haben, beurtheile jeder kundige
Leſer ſelbſt. Daß ſie im Ganzen gegen die Vorliebe
und beinah Leidenſchaft, mit denen die verfuͤhreriſche
Richtung einmal ergriffen und die im buͤrgerlichen Leben
mißbilligte Herrſchwillkuͤr auf das Sprachgebiet geworfen
war, wenig ausgerichtet hat, werden die Spruͤche ſelbſt,
welche nun folgen, auch ihrem ſonſtigen Goͤnner noch
oft genug darthun. Daß bei manchem Gelungenen
hier vieles Mißrathene ſtehe, wollen wir auch unſrer¬
ſeits gar nicht laͤugnen.
I.
Der cherubiniſche Wandersmann von Angelus Sile¬
ſius uͤberraſchte mich um ſo mehr, als der zum See¬
lenarzt gewordne kaiſerliche Leibarzt, eine Umwandlung,
die auch heut ſo uneben nicht duͤnkt, — mir noch voͤllig
unbekannt war. Allein beim erſten Durchblaͤttern fand
ich mich oft ganz wie zu Hauſe, wovon ich dem geiſt¬
reichen Dollmetſcher, als Belaͤge meines Dankgefuͤhls,
nur einige Nummern hier anfuͤhren will. Ja, bald
erinnerte ich mich auch, wohl ſchon manches, freilich
nach meiner Art, und ich bin weder Seelen- noch Leib¬
arzt, dem Papiere laͤngſt anvertraut zu haben. Hier¬
von ebenfalls ein paar Belaͤge.
[174]
1.
Der Prieſter, Angelus Sileſius:
Die ſchönſte Weisheit.
Der Laie, Eremita Pariſienſis:
Ausflug und Reiſegewinn.
Der Meßkunde Borhof, der Staatsweisheit Hei¬
ligthum, ſtempelt Kinderwahrheiten: wer ſein Forſchen
nie kindlich begann, wird kein Meßkuͤnſtler; wer es
nie kindlich abſchloß, kein Staatsweiſer.
2.
Wiederum der Prieſter:
Die volle Seligkeit.
Und der Einſiedler:
Weltenmuſterung.
Was Sinnlichkeit vereinzelt, ſoll der Menſch wieder
aneinen, Liebe ſtets umfaſſen: drum, wie beide wachſen,
durch neuen Bezug, hoͤheren Zweck, gliedert ſich fri¬
ſches Geein; wohl nur der Hausnaͤchſten zuerſt; dann
auch der Gemuͤthsnaͤchſten; der Lichtgenoſſen; bald viel¬
leicht der Buͤrger; einſt der Voͤlker; endlich der Welten;
und ſogar der Zeiten: oder ſchuf Urwille nicht die un¬
abſehliche Stufenleiter perſoͤnlicher Enteinzlung? —
[175]
Indem ich das Letzte abſchreibe, werde ich freilich
gewahr, daß ich mir erlaubt habe, die biedre Mutter¬
ſprache nach meinem Sinne umzuformen, und das geht
denn nicht immer gluͤcklich ab; wenigſtens gefaͤllt ſelten
der erſte Eindruck. Dennoch koͤnnte ich mich nie ent¬
ſchließen, ein buntdeutſcher (auch ein ſelbſtgepraͤgtes
Woͤrtchen) Schriftſteller zu werden. Uebrigens erin¬
nert, glaub' ich, meine Weltenmuſterung nicht blos an
den herzlichen Angelus Sileſius, ſondern auch an den
eben nicht leichtglaͤubgen Leſſing, der eine kleine Ab¬
handlung ſchließt: „Und wo hoͤrt die Reiſe auf? —
Im Schooße Gottes!“
3.
Angelus Sileſius:
Durch die Menſchheit zu der Gottheit.
Eremita Pariſienſis:
Aller Entweihungen ärgſte.
Entſchwebt nicht Zauberſinn ſchon, ſobald Kunſt
muß dienen, wie Schemen, zu erſchnappen Tagesbe¬
darf? Auch Gotteslehr, auch Gotteshuldigung, dient
etwa je nur ſtolzer Willkuͤr ſie zum Wehrſchild, ſie
zum Strafſchwert, verlaͤugnet ihre Himmelskraft; zeugt
im Duͤnkel nie Gottinnigkeit! Auf Erden hoͤher nichts,
als Menſchenwuͤrde; wer am Zeitgeiſte ſie haßt, mag
[176] der fromm noch heißen vorm Schoͤpfer? Rein bleibt
kein Zweck, gilt uns fuͤr Mittel bloß das Heiligſte.
4.
Angelus Sileſius:
Ein wachendes Auge ſiehet.
Eremita Pariſienſis:
Lebensergebniß.
Beengt ſei, oder noch ſo rieſenhaft, des Menſchen
Umblick; wie mag auf des Grundes Tiefe ſich ihm be¬
waͤhren zuletzt wohl jede Anſicht hienieden? Wie Rau¬
penhuͤlle zwar, wie Seifenblaſe, wie Schattenbild nur!
Doch Licht und Leben unerſaͤttlich einſaugend, uͤber¬
ſchwaͤnglich zuruͤckſtrahlend, je wie unſer Geiſt hinein¬
zulegen verſtand mehr gediegene Wahrheitskoͤrner; unſer
Gefuͤhl zu aͤrnten begehrte mehr unvergaͤnglicher Freude.
5.
Angelus Sileſius:
Des Weiſen Adel.
Eremita Pariſienſis:
Gilt kein Heldenblut, gilt Heldenſinn.
Wer uͤberzaͤhlt die Geſtalten, miſſet jeden Umriß,
ordnet jede Farbe, unter deren Zauberhuͤlle das Edle,
[177] das Erhabene, uns Erdengeiſter ſchon beſuchte, beſuchen
darf? Fand es im Ritterhelme dein Stammvater,
athmet in dir noch ſein Geiſt, — muß auch bannen
ſich dieſer in jene Einzelform? lebendige Tugend nur
ſpuken heut im Leichentuch?
6.
Angelus Sileſius:
Die Einigkeit.
Eremita Pariſienſis:
Schattenriß.
Volkleben iſt Bethaͤtigungsverein als Selbzweck;
daher ſoll's auch Kunſtgeſchick ſein, Willensvielartigkeit
ungelaͤhmt anzueinen: Hauptgraͤnzen pflanzt Urſatzung;
naͤhere jedes Umſtandsgeſetz, durch wie fuͤr Alle: ſo be¬
graͤnzt, herrſchen kraͤftge Staatsgewalten; abgeſtuft wie's
der Tag heiſcht; nicht anders einzeln gezuͤchtet; nur
zuletzt Alle, durch Aller Augen.
7.
Angelus Sileſius:
Die Augen der Seele.
Eremita Pariſienſis:
Des Freiſinns Verzücktheit.
Wachſenden Tagesdruck miſſet Erdenblick ſchnell;
doch eben ſo ſtirbt er auch hin! Daͤmmernden Fern¬
ſchutz erſpaͤht Vernunftblick allgemach; aber lebt ewig!
Dieſen quaͤlt Ungeduld nie; bloß jenen ſtets: unſerm
Fernrohr entnebelt Weisheit ein Ziel, reicht muͤhſelger
Forſchweg die Mittel; drum ſcheint ihm nichts frech:
nur Tageshand ſoll buͤßen fuͤr Einzelthat, gleichviel wie
hoch ſtrebend. Will Tagesrolle dennoch entſcheiden vor¬
weg; nicht minder untruͤglich, unerbittlich alsbald, wie
Ferngeſchick einſt; raubt heut ſchon deine Suͤnderhand
oben zoͤgerndes Rachſchwert, o dann verhaͤngt in dir
ein Gott, vollſtreckt hienieden ein Verbrecher.
Ein Gericht, drei Fragen.
„Den Meuchelſtahl zuͤckt heut auch Biederſinn?
... wo noch herrſcht der Stimmen fortan wohl mehr
als Eine!“
— Nur Eine uͤber Thatſchuld; ſo wills des Rech¬
tes Urgrund, Buchſtabe, Nothdrang.
„Und Thaͤter?“
— Geſetz ergreife, richt' und vernicht' ihn; ſein
Wahn ſcheuche Jugend; den furchtbar Haſtigen beweine,
wer Thraͤnen kennt; gebuhlt um ſein Herz haͤtte ſelbſt
... der Opfergreis.
„Allein des Suͤnders Nachlohn?“
[179]
— Klang fuͤr Erdenpilger es gar zu frech, hier
zerſchmettern wie Himmelsfuͤrſt, um ſo frecher klingt’s
wahrlich, dort ſchon allrichten wie Er! *
8.
Angelus Sileſius:
Zufall und Weſen.
Eremita Pariſienſis:
Tageslauf und ewiges Ziel.
Sinnlich erwacht und entſchlaͤft irdiſches Einzelleben;
ja ſelbſt im edelſten Nu geiſtiger Kraft bleibt's noch
ſinnlich gemiſcht: doch auf hohem Zeitenmeere bildet
endlich auch der Menſchheit Lebenslauf ſich rein geiſtig;
ſtoͤßt von ſich das Vergaͤngliche, das Ordnungswidrige,
das Unwahre; und Wahrheit allein, wirkt ſie minder
gerecht wohl morgen als heut? Iſt denn im Geſchoͤpfe
ſie nicht des Urweſens Athemzug?
II.
1. Wortlob und lebendiges.
„Des Alterthums unſterbliche Weiſen und Helden,
o wie viel Großes haben ſie thaͤtlich uns gelehrt!“
— Noch magſt du's allenfalls ruͤhmen, nur waͤhne
deßhalb nie, es duͤrf' ein mit uns athmender Geiſt un¬
geſtraft ſich regen, wie ſonſt Jene: denn Traͤumer be¬
gruͤßt man ſofort dich; bald auch Heuchler; vielleicht
Weltſtuͤrmer ſchon; oder gaͤlt' etwa nicht fuͤr Hoͤllen¬
ſpuk ſo mancher altverehrten Buͤrgeraſche friſch auf¬
loderndes Jugendfeuer?
Selbſt neuerlich klang edler nichts, aus der Ferne,
als Nordamerika's unadlicher Freiſinn! bis er, zu uns
heruͤberſchiffend, nun bloß wie Scheuche droht, jeder
erbtraͤgen Knechterei, jedem aufgedunſ'nen Herrſchling.
Umſonſt fuͤr uns erwacht jetzt Hellas ſo ſpaͤt! oder
ſoll wohl der Nachbarn alte Geiſteserbſchaft, — lange
freilich entruͤckt, durch des Turbans Schwertrecht, den¬
noch unvertilgbar, und mit jedem Feſſelroſt, wie leiſ'
auch, uͤberliefert, — ſich drum fuͤr gluͤcklich're Enkel
neu begruͤnden, durch des Vernunftrechts, des Rieſen¬
glaubens Heldenkampf? *
2. Einzelwunſch und Geſammtblick.
„Kann es geben oͤffentliche Meinung, Volkswillen,
Gemeingeiſt?“
— Ernſter wohl keine Frage: verneint ſie ein Staats¬
mann, woher noch fernweiſes Ziel, naͤchſtkluger Vor¬
ſchritt! Nirgend freilich ſchaut Erdenſinn Geiſt, waͤhrend
dieſer maulwurfsartig ſpukt uͤberall, wie Hamlets Vater¬
geſpenſt *: ja, was heimlich begehrt jeder Wuͤſtling,
verwirft er in jedem Schaukreiſe doch, als Mitbuͤrger
ſtets und laut **; denn wer Pflicht nie hoͤrte fuͤr ſich,
erkennt Rechtsheil dennoch fuͤr alle: drum nicht aus
lichtſcheuer Willkuͤr, nein aus offnem Freiheitsdrange,
quillt aͤchtes Geſetz; und ſo wohnt im Volkmunde Him¬
melswort, ſollt' auch Erbduͤnkel es nennen Verſchwoͤrung.
3. Kinderfrage, Thronfehde.
Gemeinwohl, kann's Gemeinblick tragen? wer ſchlich¬
tet den langen Zwiſt? kein Gewaltſchlag, kein Ver¬
nunftbruͤten allein: Erfahrenheit nur beſchwichtiget Lei¬
denſchaft, erhebt zum Allbeduͤrfniß endlich der Geſammt¬
regel Unantaſtbarkeit: dann ſteht das Unmoͤgliche da,
lichtſcheue Macht erſt maͤchtig vorm Lichte; laͤngſt Wahres
im Kleinen, bald noch wahrer im Großen; und man
vergiſſet allmaͤhlig den Preis, der heute billig erſchreckt.
4. Waltungskreis.
Wohin? lehrt Weisheit; woher? Geſchichte; Staats¬
kunde ſieht das Heute; Staatsklugheit regelt das
Morgen; wie? abgeſtuft nach jenem Wohin. Feſtnageln
will Thorheit; nach Neuerung ſpringt Leidenſchaft; denn
friſch wieder aufputzen haltloſes Erbgetruͤmmer mißbe¬
hagt viel zu bald jedem: doch Meinungsgewitter zuͤndet,
gern Schlag auf Schlag; alles ertraͤnken moͤchte Loͤſch¬
wuth; immer taucht Buͤrgerſinn auf: waͤhrend noch
Starrduͤnkel ſich aͤfft, und Vermorgung ſich laͤhmt; bis
Herrſchgrimm wuͤrfelt, grauer Trug endlich ſtuͤrzt. Denn
nur Gemeinziel macht weiſe; nur dorthin, auch Schritt¬
maß erſt klug. *
[183]
5. Zung’ und Ohr, Waltung und
Volkſinn.
Zum ſchulgerechten Singen wie Reden fuͤhrt unſrer
Klang- und Hoͤrwerkzeuge Brudergefuͤhl nur: zwar
haͤufet bloße Stimmgebaͤrkraft manch derben Verſuch;
doch mitfuͤhlender Sinn erſt miſſet ihn ſicher, leitet ihn
ſtreng, bis zur Hoͤhe menſchlicher Kunſt: taͤglicher An¬
reiz zum Pruͤfen bildet das Ohr; wie allpruͤfendes
Horchen die Stimme.
Anders nicht erklimmt ſein Hochziel auch Waltungs¬
beruf: darf pruͤfen kein Waltungshoͤriger, woher dann
jedes Pruͤfſinns gedeihlicher Wachsthum? und woher je
Vollreife der Waltung, darf ihrer Haͤupter Pruͤfſchau
ſich einſchanzen fuͤr immer? Schon zu hoͤren dachte
Holberg’s Kannengießer, wo Keiner ihm vorſang; eben
ſo glaubt richtig zu ſingen, wer kaum hoͤrt.
6. In naͤmlicher Mundart Partheiſinn.
„Schwanken nicht jene uͤppig-aͤrmlichen Buͤrger,
denen Hofgunſt Obdach erbaut, noch im Sprachbau
unfindig, zwiſchen Mir zeitlebens und Mich?”
— O nein, in beide haben ſie laͤngſt ſich foͤrmlich
getheilt; denn ausſchließlich gehoͤrt den Vornehmſten ihr
ewiges Mir; drum bleibt auch der rohen Menge nichts
weiter, als das geringere Mich: und warum belaͤchelt
ihr Spoͤtter den ſtillen Vertrag? Theilt Recht und
Pflicht man wohl anders! Fuͤhlt zum Herrſcher erſt
jemand den Ruf, gleich kennt er ſonſt nichts, als ſein
Recht, doch weh dem Machtloſen, der ſtets nur be¬
herrſcht wird; ihm gebuͤhrt bloß zu wiſſen, zu uͤben,
ſeine Pflichten allein.
7. Bruderzeichen und Sammelort.
Das noch Geſtaltloſe, wer zeichnet’s! dennoch ahn¬
den wir fern hinaus geiſtiges Menſchthum, ſchon nicht
raſtend mehr heut, und ewig nicht mehr: nur verhuͤllt
ein heiliges Dunkel oft uns der Weihe Pfad zum hehren
Bundeskreiſe: liegt doch ſein raͤthſelhaftes Wo und Wie
nicht bloß hienieden und nicht jenſeits allein; denn
immerfort, zwiſchen beiderlei Welten, ſchwebet und
ſchwanket der aͤchte Menſch*: drum blickt er, bald mit¬
leidsvoll, herab auf die eine, bald verzagend, hinauf
nach der andern; und ſo ſchwingt, uͤber manch irdiſche
Argheit, gern ſich Vernunftſtolz; ja ſo ſchmiegt auch
[185] unter der Staubhuͤlle an himmliſche Reinheit, gern und
heitrer alsbald, ſich Herzensdemuth.
* Des Menſchen SeeleGleicht dem Waſſer:Vom Himmel kommt es,Zum Himmel ſteigt es,Und wieder niederZur Erde muß es,Ewig wechſelnd.
(Goethe.)
8. Fernſpur und Fußraum.
Auf unbegraͤnztem Zeitenmeere gehorcht des Menſch¬
thums Entdeckungsfahrt unſerm engen Regelſinne zwar
nicht: doch bedarf im ſterblichen Leben der Gattungs¬
keime vielartiges Saatfeld mancher eindaͤmmenden Schutz¬
wehr; uns Erdbewohnern heißend, geſetzliche Freiheit
des Buͤrgers: drum erweitert mehr ſich dieſe und mehr
durch wachſende Kunſt unſers Fernblicks; pruͤft Recht
und Pflicht aller ſinnlichen Waltung, bis ausgemeſſen,
abgewogen daſtehn, fuͤr lebende Buͤrgerwelt, des juͤngſt¬
gebildeten Tages rechtliche Hemmkraft; haͤrter nie zuͤgelnd,
als heut noch billig, denn ſinnlichen Zoͤgling geiſtiger
Ewigkeit. *
[186]
III.
Kuͤnſtlermaͤhrchen aus der Urzeit,
wie noch kuͤrzlich ein ſechsundſechzigjaͤhriger Graubart
es humoriſtiſch nachzuerzaͤhlen vermochte.
1815.
? „renascentur quae jam cecidere, —“
Nachdem jenes Altmuͤtterchen, das im Munde ihrer
ſpaͤtern Abkoͤmmlinge, wenn nicht vielmehr Abartlinge,
heutigen Tages nur ſchlechthin noch Natur betitelt wird,
ſich bereits durch kraͤftige und liebliche Vollendung ſo
mancher Menſchenform hinlaͤnglich in der Bildhauerei ver¬
ſucht hatte, fing die Gute auch an zu mahlen; Haut,
[187] Naͤgel, Lippen, Augen und Haar. Ob ſie es damals
ſchon verſtand, gehoͤrig Farbe zu wechſeln und zu ver¬
ſchmelzen, das mag an ihren ziemlich ungleich ausge¬
mahlten Enkeln jeder Kunſtkenner mit noch ſo eigen¬
liebigem Forſchglaſe, wenn nur ſtets nach allguͤltigen
Grundſaͤtzen vom neueſten Zuſchnitt, in Augenſchein
nehmen. Doch ſogar aufputzen mußte nothwendig eine
Mutter, und am fruͤhen Morgen ſchon, ihre juͤngſten
Kinder; ſo entſtand denn bald hier ein Lockenſpiel, bald
dort ein Wellenſchlag, der Haupthaare und des maͤnn¬
lichen Bartes.
Aber welcher tiefere Meiſterſinn mag wohl vorzuͤg¬
lich ihre bildende und ſchmuͤckende Hand geuͤbt, ihr
liebendes Auge ergetzt haben? Darf man der Sage
trauen, ſo war es jene zarte und ſtrenge Sonderung
der Geſchlechter, beide vor ihrer voͤlligen Reife nie zu
grell abſtechend, und nur deſto greller hinterdrein.
Eben daher geſchah fuͤr den vollkraͤftigen Mann
noch ein Uebriges. Als ihn der Kuͤnſtlerin Scharfblick
mit jener vorrechtlichen Zierde ſeines baͤrtigen Kinnes
beſchenkte, da verbot ſie ihm nicht allein, je weiblich,
geſchweige denn weibiſch oder kindiſch zu erſcheinen, ſon¬
dern ſtempelte ſogar an dieſer augenfaͤlligen Lebensuhr
aller Mannhaftigkeit jede ſpaͤtere Jahrziffer mit haͤrterem
Nachdruck: damit, unter noch ſo verſchiedenartigen Be¬
zuͤgen, ſtets der fortgeſchlichene Schattenweiſer auch den
aͤchten Naturſohn beſtimmt ankuͤndigen muͤſſe, wie jeder
[188] laͤngere Erfahrungslauf eben gebeut, daß er in Sinn
und That wirklich ſei.
Laͤchelnd ſprach darauf das Muͤtterchen: Begegnen
ſich nun meine Soͤhne und Enkel, in noch ſo weitem
Kreiſe, zum aͤmſigen Geſchaͤft, zum frohen Genuß, ei,
ſo lieſet auch der Juͤngſte ſofort, im unverkennbar ab¬
geſtuften Jahrſchmuck aller Mitgeſellen, was er an gei¬
ſtiger Bildung und Kraft ſich von jedem Einzelnen
verſprechen duͤrfe.
Doch fuͤr des Tages herrſchende Empfindungsweiſe
ſchon von jener Altmaͤhre ſicherlich zu viel; und ſelbſt
fuͤr den gutmuͤthigſten unſerer bartſcheuen Zeitgenoſſen
wenigſtens genug. Denn Ruͤckblicke dieſer Art ſind ja
in der feinen Welt nur geſchmackloſe, widerſinnige Traum¬
geſichte, aus einer unertraͤglich rohen Vorzeit. Wer,
im kluͤgſten der Jahrhunderte, glaubt noch an weiſe
Bedeutſamkeit einer angeblichen Naturzierde, die, kraft
altvererbter Sitte, niemand mehr aufzeigen darf! Wer
von unſern Geſchmackpredigern erinnert und erfreuet ſich
wohl noch der kunſtſinnigen Vorſorge, die ſo bedachtſam
einſt am maͤnnlichen Antlitz jenen ſtattlichen Schleier
zwar uͤber den Sitz nahrungsgieriger Sinnlichkeit fallen
ließ, nur uͤber keinen der beſeelten Zuͤge, wo im ent¬
wildeten Menſchthiere Gefuͤhl oder Gedanken zu leſen
ſind!
Nein, ſtatt ſolcher unfreundlichen Denkſtreifereien
oder Empfindungsfluͤge durch Altvaterwelten, die außer¬
[189] halb eines engen Gehirns doch nunmehr unbeſchaulich
bleiben, laſſet uns lieber mit wachen Augen, auf ſo
mancher lockenden Prunkbuͤhne, unſere Tageswelt er¬
forſchen, die allein der Mehrheit fuͤr wirklich gilt; laſſet
uns jedes that- und genußreiche Erfahrungsleben durch¬
wandern, und dort Umfrage halten, ob heute wohl der
vollreife Mann ſich darnach ſehne, daß mit jeder hoͤheren
Sproſſe ſeiner Lebensleiter auch ſtets das Eigenthuͤm¬
liche der abgeaͤnderten Beſtimmung eben ſo ſchnell und
ſicher in die Auge falle, als, mit Beihuͤlfe unſerer
Trachten, der Geſchlechtsunterſchied? Wuͤrde in unſern
aͤndrungsbeduͤrftigen Tagen etwa jenes uͤberſtrenge Ur¬
geſetz wieder allgemein anerkannt, und ploͤtzlich einge¬
fuͤhrt, wie gar wenige nur von den Feinergeſitteten
vermoͤchten fernerhin ihres geſelligen Umkreiſes froh zu
werden!
Dank alſo, kindlichen Dank der liebreichen Ur¬
kuͤnſtlerin! daß ſie, aus Nachſicht fuͤr die unaufhaltbare
Bewegſamkeit irdiſcher Sittenzuſtaͤnde, nicht allgebiete¬
riſch verwehren mochte, bald in dieſem, bald in jenem
Erdbezirk oder Volkſchwarm, ihren muͤtterlichen Wink ein
paar Jahrhuͤndertchen lang zu verkennen; ja, daß ſie die
Widerſpaͤnſtigen, obgleich meiſtens beſtimmt, dem aͤrgſten
Witterungsabſtich zu trotzen, wenn nicht gar die ungleich¬
artigſten Himmelſtriche zu durchfliegen, haͤrter nicht, als
etwa durch leidendes Kinn- und Zahngebein, erinnern
wollte an die eigenwillig abgemaͤhete Beſchirmung!
IV.
Maͤnnerbart.
und Natur.
Kawlirparrol?
Sankt Petri Bart.
erſt ... kuͤßt friſch.
nerblick?
erſt ganz.
kinn doch.
ſtets Natur.
bloß falſcher.
krauſe.
volk nicht?
V.
Volkthuͤmlichkeiten.
ſenbahn.
ſein.
[192]
ummauert!
drein.
geiſt'ges.
Scharwerk.
nach.
dort wann?
ſinn ... gnuͤgt uns.
deutſch?
koͤmmt.
Recht, im Frohkreis!
Knecht.
zu ordnen.
ſtenbund.
13[194]
chen ja.
Fluͤchtling.
nun ſelbſt!
VI.
[195]
Gewand.
kreis beut.
Gnade.
Macht.
13 *[196]
muͤthsfroſt.
gier.
Ewigkeit.
deutſch?
ſchelten.
allein.
Unſtern?
[197]
puppen.
Kaiſer Alexander von Rußland.
December 1825.
Die Welt hat einen großen Todesfall zu beweinen.
Alexander der Erſte, Kaiſer von Rußland und Koͤnig
von Polen, verſchied am 1. December zu Taganrog,
dem jetzigen Aufenthalte ſeiner erhabenen Gemahlin, der
Kaiſerin Eliſabeth. Die Groͤße des Verluſtes, der in
dieſem Ereigniſſe zu beklagen iſt, ermißt ſich nicht aus
den gewoͤhnlichen Umſtaͤnden allein, welche den Hintritt
eines großen Monarchen immer begleiten; ſondern es
treten hier die außerordentlichen Beziehungen hinzu, welche
aus der Verknuͤpfung der groͤßten Welt-Ereigniſſe und
der edelſten Perſoͤnlichkeit fuͤr die Betrachtung ſo reich
hervorgehen. In der That bildet der Verein der ſel¬
tenſten Eigenſchaften des Geiſtes und des Gemuͤthes,
wie ſie je auf dem hoͤchſten Standpunkte des irdiſchen
Daſeins erſchienen ſind, im Konflikt mit den Erſchuͤt¬
terungen eines tiefbewegten Welttheils, eine Reihe von
großen, folgenreichen Wirkungen, deren ſegenvollen Fort¬
ſchritt an den Begebenheiten ſelbſt zu entwickeln, wir
[199] dem kuͤnftigen Geſchichtſchreiber uͤberlaſſen, jedoch in dem
Bilde, welches im Wiederſcheine des Karakters des Hin¬
geſchiedenen ſich davon faſſen laͤßt, einen Augenblick hier
feſthalten wollen.
Von fruͤher Jugend durch weiſe Fuͤrſorge mit allen
Elementen der hoͤheren Bildung umgeben, eignete er
ſich vorzugsweiſe alles an, was der Feinheit eines edlen
Sinnes, der Anmuth einer wohlwollenden Seele, dem
Beduͤrfniß eines hellen Geiſtes entſprechen konnte. Doch
wurde auch ſchon in fruͤher Zeit dieſe ſchoͤne und heitre
Bildung durch truͤbe Eindruͤcke verduͤſtert, ſowohl der
Welt im Allgemeinen, die ſich in Kampf und Zerſtoͤrung
darſtellte, als auch der eignen perſoͤnlichen Erfahrung,
deren Pruͤfung ihm in großen Maßen beſchieden war.
Fuͤr edle Gemuͤther ſind Pruͤfungen zugleich Staͤr¬
kungen. Nur groͤßer und reiner ging Alexander aus
ihnen hervor. Den innern Kern einer wahrhaften, tiefen
Religioſitaͤt vermochten alle widerſtreitenden Bewegungen
der Zeit, die verwirrenden Ereigniſſe und ſchwankenden
Umſtaͤnde, welchen auch der ſonſt Maͤchtigſte nicht immer
zu gebieten noch zu entgehen vermag, niemals in ihm
zu erſchuͤttern. Dieſer Kern entfaltete ſich vielmehr im
Gedraͤnge der Schwierigkeiten, von welchen jede politiſche
Richtung umgeben war, nur immer kraͤftiger, und wurde
ihm zur Weihe ſeiner weltgeſchichtlichen Beſtimmung,
die in den Jahrbuͤchern wenige ihres Gleichen finden
duͤrfte.
[200]
Was er fuͤr Rußland gethan, im Innern dieſes
weiten, von mannigfaltigem Leben erfuͤllten Reiches, in
ununterbrochener Sorgfalt des Menſchenfreundes, in
ſegenvollſter Thaͤtigkeit des Monarchen, nach außen zu
des Landes Schutz, Erweiterung und Ruhm, das alles
wird den dankbaren Voͤlkern, die ſein Zepter vereinte,
in fortdauernder Wirkung noch lange gegenwaͤrtig blei¬
ben, und ihrer Anerkennung wollen hier unſre Worte
nicht vorgreifen. Aber nicht Rußland allein, ſondern
ganz Europa — Deutſchland, Preußen ſeien hier ins¬
beſondere genannt — haben ihm Großes zu verdanken,
und in ſofern gehoͤrte er uns Allen an, wie jetzt uns
Alle ſein Verluſt betrifft. Hoͤchſt ſelten wohl erſcheint
eine Regierung durch ſo umfaſſende, glorreiche Welt¬
ereigniſſe ausgezeichnet, wie es die ſeinige war. Von
keinem falſchen Ehrgeize getrieben, keiner eitlen Selbſt¬
ſucht huldigend, hat er im Waffenkampfe groͤßere
Triumphe errungen, als ſonſt dem leidenſchaftlichſten
Streben in dieſer Bahn zu Theil werden. Nachdem
ſo viele Verſuche der Entgegenſetzung wie der Verſoͤh¬
nung erſchoͤpft worden, um die unerſaͤttliche Begier der
wilden Eroberungsſucht, den Zwang treuloſer Willkuͤr,
unter welchen Europa ſeufzte, zu ſtillen, zu beſchraͤn¬
ken, erſchien endlich dieſen Geſchicken ein Ziel durch den
heldenmuͤthigen Entſchluß und die großherzige Beharr¬
lichkeit Alexanders in dem rieſenhaften Kampfe, der in
dem Jahre 1812 begann, einem Kampfe, deſſen Groͤße
[201] und Bedeutung durch keinen ſpaͤtern verdunkelt werden
wird, und in welchem die Schickſale der Welt zu neuen
Richtungen uͤbergingen. Das innere Bewußtſein und
die gottvertrauende Zuverſicht, welche den Kaiſer bei
ſeinem Entſchluß und in ſeiner Beharrlichkeit leiteten
und ſtaͤrkten, wurden ihm zur Weihe des großen Be¬
rufs, daß an ſeinem Widerſtande zuerſt die revolutio¬
naͤre Gewalt einer alles zerſtoͤrenden Uebermacht gebro¬
chen wurde, und daß in ſeiner maͤchtigen und kraͤftigen
Bundesgenoſſenſchaft das vereinte Europa jenes verderb¬
liche Unheil voͤllig uͤberwaͤltigte.
Auch in dieſen glaͤnzenden Erfolgen, wie in den
fruͤher beſtandenen Pruͤfungen, verlaͤugnete ſich der edle
Karakter Alexanders keinen Augenblick. Die Forderungen
der Staatsklugheit ſcharf erwaͤgend und beachtend, wußte
er dieſelben ſtets mit den Regungen der Großmuth zu
verbinden; edles Wohlwollen und milde Menſchenfreund¬
lichkeit bezeichneten uͤberall ſein Wirken. Immer ſchoͤner
und feſter, je nachdem der Raum dieſes Wirkens ſich
erweiterte, entfaltete ſich in ſeinem Staatshandeln die
reine und große Geſinnung, welche ihn fuͤr das Gute
und Rechte beſeelte. Durch ihn zum erſtenmal ſah die
Welt die Stiftung eines Bundes, der in der Politik
einzig die Grundſaͤtze der Religioſitaͤt, des Friedens,
der allgemeinen Wohlfahrt anerkennt, und der bei aller
Unvollkommenheit, welche den menſchlichen Abſichten in
ihrer Anwendung beigegeben iſt, fuͤr immer das ehren¬
[202] vollſte Denkmal ſein wird, wie Sieg und Macht den
reinſten Zwecken huldigen. Die Moͤglichkeit eines ſol¬
chen Bundes konnte ſich nur auf die gleiche Geſinnung
der Mitverbuͤndeten gruͤnden, auf ihre gleich religioͤſe,
menſchenfreundliche, friedliebende Denkart; dieſe erkannt
und gewuͤrdigt, dieſe vereint zu haben in gemeinſame,
ausgeſprochene Verpflichtung, bleibt das hohe Verdienſt
Alexanders.
Dieſer geſtifteten, mit Recht heilig genannten Bun¬
desgenoſſenſchaft, immer ſtrenger, immer gewiſſenhafter
anzugehoͤren und zu folgen, in ihr immer thaͤtiger und
reiner zu wirken, wurde ſein entſchiedenſtes Bemuͤhen.
Ihr wußte er Opfer zu bringen, die ſeiner Neigung
ſchwer fallen konnten, aber ſeinem Gewiſſen nicht. Doch
er war nicht nur der Bundesgenoſſe ſeiner Mitverbuͤn¬
deten, er war als ſolcher zugleich ihr Freund. In dieſer
Beziehung duͤrfen wir Preußen insbeſondere anerkennend
preiſen, welche Bande wechſelſeitiger Zuneigung, bereit¬
williger Dienſte, treuer Gemeinſchaft und feſter Ver¬
bindung unter ſo gluͤcklichen Auſpizien beiderſeits geknuͤpft
worden!
Nach einer ſo herrlich und ruhmvoll zuruͤckgelegten
Laufbahn, deren begluͤckenden Einfluß noch ſpaͤte Ge¬
ſchlechter dankbar empfinden werden, duͤrfen wir den
Kaiſer Alexander mit Wahrheit den edelſten und groͤßten
Monarchen beizaͤhlen, deren die Weltgeſchichte gedenkt.
Sie zeigt uns in ihm — ein ſeltenes Beiſpiel — den
[203] frommen, den menſchenfreundlichen, den friedliebenden
Beherrſcher des groͤßten Reiches in dem nichtgeſuchten,
aber uͤberreich erlangten Schmucke des glorreichſten Sie¬
geslorbeers, deſſen Rußland ſeit Peter dem Großen in
der Reihe ſeiner zahlreichen Kriegserfolge ſich ruͤhmen
darf, und den der reine und große Sinn Alexanders
nur einzig der Befeſtigung des Friedens, der Segnung
der Welt geweihet hat. Mit Recht mag Europa den
Hintritt eines ſeiner Wohlthaͤter beweinen, welchen es
jetzt, nachdem er nicht mehr unter den Lebenden wan¬
delt, am wenigſten wird verkennen wollen.
Denkwuͤrdigkeiten
des Philoſophen und Arztes
Johann Benjamin Erhard.
Zueignung an Hegel.
Indem ich dieſe Denkwuͤrdigkeiten eines aͤlteren Freun¬
des herausgebe, und dabei erwaͤge, in welcher Ferne
ſchon die Anſichten und Geiſtesrichtungen uns liegen,
zu denen er ſich bekannte, welch andere Bildungswelt,
als die war, in welcher er ſeine Bluͤthezeit erlebte,
dieſe Blaͤtter empfaͤngt: ſo hab’ ich wohl Anlaß genug,
ſorglich umherzublicken, welcherlei Verſtaͤndniß und Auf¬
nahme einer ſolchen Erſcheinung in unſrer Zeit irgend
zu hoffen ſein mag.
In hoͤchſt werthvollen und merkwuͤrdigen Perſoͤn¬
lichkeiten zeigt ſich hier die Kantiſche Philoſophie, das
hoͤchſte Licht jener Tage, aus der Schule zum Leben
ſelbſt uͤbergehend. Dieſes Licht, welches ſchon in jenen
[205] Perſoͤnlichkeiten ungenuͤgend wird, theils ſie zum Still¬
ſtande befangen haͤlt, theils duͤſtern Irrwegen und Ab¬
gruͤnden ausgeſetzt laͤßt, iſt ſeitdem auch in der Wiſſen¬
ſchaft voͤllig erloſchen, ſofern daſſelbe nicht in die nach¬
gefolgten Einſichten aufgenommen und mit hoͤheren
Strahlen vereinigt worden. Nun aber wird es immer
bedenklich ſein, die Aufmerkſamkeit eines vorwaͤrtsge¬
ſchrittenen, anſpruchsvollen und reichen Geſchlechts auf
eine fruͤhere Stufe zuruͤckzuverſetzen, deren Erinnerung
feſtzuhalten und deren Werth anzuerkennen die Mehr¬
zahl wenig Neigung zu haben pflegt, wenn nicht eine
richtigſtellende Kritik vermittelnd zu Huͤlfe kommt.
Die ſolchergeſtalt begruͤndeten Zweifel loͤſen ſich mir
aber in Beruhigung und Zuverſicht beim Anblick der
ſo tiefſinnigen als lichtvollen Wuͤrdigung, welche von
dem Hochpunkte geiſtiger Forſchung in unſeren Tagen
ſowohl den uͤberſtiegenen Stufen des allgemeinen Ganges,
wie den abweichenden Windungen einzelner Nebenwege,
mit freieſter Umſicht und wahrer Billigkeit ſo wohl¬
meinend zugewendet wird.
Erlauben Sie, Hochverehrter, daß ich durch Nen¬
nung Ihrer vortrefflichen, ſo ſcharfen zugleich als milden
Karakteriſtiken von Solger und Hamann, in welchen
Sie die heutige Bedeutung und das Recht andrer Zei¬
ten und Verhaͤltniſſe gleichmaͤßig beruͤckſichtigt haben,
das ſchoͤnſte Vorbild derjenigen maßvollen und gehalt¬
reichen Kritik bezeichne, in deren Kreis ich dieſes Buch
[206] am liebſten niederlegen moͤchte, und deren Vermittlung
ihm zumeiſt gewuͤnſcht ſein darf, um daſſelbe weder
unhaltbar geprieſen, noch ungerecht verworfen, ſondern
nach ſeinen geſchichtlichen Standpunkten wahrhaft ge¬
wuͤrdigt zu ſehen!
Vorrede.
Ich erfuͤlle durch die Herausgabe gegenwaͤrtiger
Denkblaͤtter eine Pflicht der Pietaͤt, die mir durch fuͤnf¬
undzwanzigjaͤhrige Freundſchaftsgeſinnung des Verſtor¬
benen wie durch das Vertrauen ſeiner Angehoͤrigen und
aͤlteren Freunde auferlegt iſt. Erhard hat ſeine Lebens¬
geſchicke, Anſichten, Stimmungen und Wuͤnſche, und
ſo auch die Herausgabe ſeines Lebenslaufs und andrer
dahin einſchlagender Mittheilungen, die er noch ſelbſt
auszufuͤhren hoffte, ſo vertraulich und wiederholt mit
mir beſprochen, daß ich mir wohl erlauben darf, mich
in den Sinn und Geiſt, in welchem er ein ſolches Ge¬
ſchaͤft von einem Nachlebenden vollbracht wuͤnſchen koͤnnte,
als hinlaͤnglich eingeweiht zu betrachten. In gleicher
guͤnſtigen Vorausſetzung haben ſeine Hinterbliebenen zu
ſolchem Behuf mir ſeine ſaͤmmtlichen Papiere uͤber¬
wieſen, und entfernte Freunde den Vorrath durch ihre
Zuſendungen bereitwillig vermehrt.
[207]
Meine Aufgabe bei dieſem Unternehmen hat ſich
mir hauptſaͤchlich unter zwei Geſichtspunkte geſtellt,
welche beide gleicherweiſe dahin wirken mußten, die be¬
abſichtigte Mittheilung eher reichlich als kaͤrglich anzu¬
ordnen. Der Stoff ſelbſt bot fuͤr das daraus zu Lie¬
fernde einen zweifach wichtigen Inhalt dar. Zuerſt einen
Beitrag fuͤr die Bildungs- und Litterargeſchichte des
achtzehnten Jahrhunderts, ſodann die Schilderung einer
merkwuͤrdigen Perſoͤnlichkeit.
Die Litteratur der Deutſchen hat zu Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts als ein großes, in ſich leben¬
diges, fortwachſendes und ſelbſtbewußtes Ganzes zuerſt
eine Haltung gewonnen, die auch nach außen ein ſichres
Auftreten erlaubt, und alles kuͤndet an, daß die naͤchſte
Folgezeit den Bildungskreis derſelben noch mehr er¬
weitern, und fortwaͤhrend zu neuen, fruchtbaren und
anſehnlichen Verhaͤltniſſen erheben wird. Was aber
immer in ſolcher Art Außerordentliches erfolgen moͤge,
grade dieſes wird uns immer noͤthigen, auf unſre An¬
faͤnge zuruͤckzugehen, und auch das Ausland, nach
Maßgabe, daß es unſrer Geiſtesbildung mehr und mehr
Seiten abgewinnt, wird durch jedes Neueſte und Groͤßte,
das wir ihm darbieten, ſich veranlaßt fuͤhlen, auch das
Aeltere zu beruͤckſichtigen. Nun iſt aber — mag man
es auch nur geſchichtlich nehmen — der Grund und
Kern unſrer litterariſchen Entwicklung die Philoſophie,
welche in dieſem Bezug eigentlich mit Kant anhebt,
[208] und daher wird alles, was deſſen Zeitalter betrifft,
bei unſern Nachkommen noch langehin ein Gegenſtand
aufmerkſamer Betrachtung bleiben. So werden die
Schriften und das Wirken nicht nur der erſten Meiſter,
ſondern auch der zweiten und dritten, welche ſich bei
uns als eine hoͤchſt ehrenwerthe Klaſſe darſtellen, und
als Beiſpiele des Lebens und des Schreibens oft in
erſter Reihe ſtehen, in der Folge eine ſteigende Theil¬
nahme finden, und wir duͤrfen hoffen, mit den Werken
Kant's, Fichte's und ihres Gleichen, auch die Schrif¬
ten Mendelſohn's, Garve's, Maimon's, Reinhold's,
und inſonderheit auch Erhard's, des nicht Geringſten
unter dieſen, als Zeugniſſe der vielfachſten, treuſten,
philoſophiſchen Bemuͤhungen, geſammelt und herausge¬
geben zu ſehn, ja vieles dieſer Art moͤchte von den
Entfernteren ſogar ſorgfaͤltiger aufgenommen und be¬
wahrt werden, als es von den Mitlebenden geſchah,
und den noch Naheſtehenden jetzt moͤglich ſein will. Sollte
ich befuͤrchten, daß mir zum Tadel gereichen koͤnnte,
bei dieſer Herausgabe ſo weitausſehenden Gedanken
einige Einwirkung geſtattet zu haben?
Aus den eignen Lebensurkunden eines bedeutenden
Mannes deſſen treues Geiſtesbild hervorzuordnen, iſt
ohne mancherlei tiefer eingehende Mittheilungen, fuͤr
deren Zulaͤſſigkeit jede Sinnesart ihren eignen Maßſtab
hat, nicht denkbar. Es galt hier noch inſonderheit die
Schilderung eines Mannes, der in einer gewiſſen Voll¬
[209] ſtaͤndigkeit ſeines eigenthuͤmlichen Weſens erſcheinen mußte,
wenn nicht das ganze Bild zur Unwahrheit verſchoben
werden ſollte; denn eine große Mannigfaltigkeit zuſam¬
menhaͤngender Zuͤge laͤßt ſich nicht durch wenige allge¬
meine Umriſſe wiedergeben, und ein Karakter, der nach
allen Seiten hin ſtark ausgedruͤckt iſt, ſich nicht blos
von einer oder zweien Seiten genuͤgend auffaſſen. Hiezu
kommt, daß dieſem Manne ſelbſt die Wahrheit uͤber
alles ging, und daß es zu ſeinen Ehren und in ſeinem
Sinne verfahren heißt, manche ſeiner Zuͤge nicht um
deßwillen, weil ſie ihn vielleicht in den Augen manches
Beſchauers weniger guͤnſtig erſcheinen laſſen, ſofort zu
unterdruͤcken. Die Schmeichelei der Verſchweigung iſt
hier nicht beſſer, als die der Andichtung; moͤge der
Menſch ſich zeigen, wie er geweſen, das iſt auch im
ſchlimmen Falle noch Vortheil genug, denn fuͤr den
liebevollen Menſchenkenner vermindern die Fehler und
Schwaͤchen des Menſchen nicht deſſen Werth, ſondern
dieſer wird ihm nur gehoben durch jene, indem ſie als
Hinderniſſe zu betrachten ſind, trotz deren er dennoch
dahin gediehen, wo wir ihn wahrnehmen. Dieſemnach
hat mich die feige Angſt mancher Ueberzarten wenig
bekuͤmmern koͤnnen, denen der Schein zur Hauptſache
des Lebens wird, und die jedes Perſoͤnliche als ein
Heiligthum gehalten wiſſen wollen, damit nur ihre eigne
Jaͤmmerlichkeit hinter der gleißneriſchen Decke wohlge¬
hegt bleibe. Solchen Leuten alle Anſtoͤßigkeit erſpart
14[210] zu haben, will ich mich nicht ruͤhmen, aber die gegruͤn¬
dete Ruͤckſicht und wahre Schonung, welche die beſtehen¬
den Lebensverhaͤltniſſe mit Recht anſprechen duͤrfen,
glaube ich darum keineswegs gefliſſentlich außer Acht
geſetzt zu haben.
Ueber das Bekanntmachen vertraulicher Briefe hat
es von jeher ſehr entgegengeſetzte Meinungen gegeben;
man hat in Deutſchland uͤber einige Freigebigkeit hierin
ohne Noth gar großen Laͤrm erhoben, und ſcheint noch
vieler Orten in dem Maße empfindlich uͤber jede Oeffent¬
lichkeit, als man ihrer beduͤrftig ſein mag. Durch die
Herausgabe von Jacobi’s Schriften und Briefwechſel
iſt uns endlich ein Beiſpiel gegeben worden, wie in
ſolchem Falle Freimuͤthigkeit und Beſcheidenheit verbun¬
den werden koͤnnen; wir ſollten daſſelbe zur feſtſtehen¬
den Regel erheben, auf welche man ſich als ein guͤl¬
tiges Maß des Rechts und der Sitte in ſolcher Be¬
ziehung kuͤnftig berufen duͤrfte. Ich bekenne, daß ich
jenem Vorbilde gern habe nachſtreben wollen, obgleich
die große Verſchiedenheit der Richtungen, in welchen
dort und hier das Eigenthuͤmliche zu verfolgen war, fuͤr
den aͤußeren Anſchein nicht immer das Gleiche darbieten
konnte. Von noch lebenden Perſonen habe ich, jenem
Muſter getreu, ein paar Ausnahmen unverfaͤnglichen
und dabei doch nicht gern entbehrten Inhalts abgerech¬
net, keine Briefe mitgetheilt, an noch lebende nur mit
deren eigner Zuſtimmung.
[211]
Iſt unter dem Mitgetheilten dennoch manches auch
nach meinem Gefuͤhl Bedenkliche und Unangenehme, ſo
moͤge man darin den Zwang erkennen, welchen ein
ſolches Geſchaͤft auch dem beſten Willen auferlegt; ich
durfte ſolche Stellen um ſo weniger unterdruͤcken, als
ſie an ſich bedeutend und merkwuͤrdig erſchienen; ſo bin
ich weit entfernt, die mancherlei harten und ſeltſamen
Urtheile, z. B. uͤber Fichte, die Anſicht von dem Kampfe
der Griechen, und manche auffallende Aeußerung uͤber
religioͤſe Gegenſtaͤnde zu unterſchreiben: allein um de߬
willen hielt ich mich noch nicht befugt, dergleichen aus¬
zuloͤſchen, denn meine Pflicht hier iſt nicht die Ver¬
tretung oder Berichtigung von Erhards Irrthuͤmern,
wohl aber die Darlegung ſeiner Eigenheiten. Uebrigens
duͤrfte nichts beſſer die Guͤte und Staͤrke einer Sache
beweiſen, als daß ſie Mißurtheile ruhig ertragen kann,
und inzwiſchen nur fortfaͤhrt, ſich als das zu bewaͤhren,
was ſie ſein ſoll. Moͤchte dieſe Bemerkung verhaͤltni߬
maͤßig auch auf dieſes Buch einſt ihre guͤnſtige Anwen¬
dung zu finden haben!
Johann Benjamin Erhards
eigne
Lebensbeſchreibung.
Ich bin 1766 den 8. Februar geboren. Mein Vater,
Jakob Reinhard Erhard, iſt Scheibenziehermeiſter in
14 *[212] Nuͤrnberg. Meine Mutter war eine Rothſchmieddrech¬
ſelmeiſters Tochter. Ich war das einzige Kind, das
ſie gebar, weil ſie ein heftiger Blutverluſt im Wochen¬
bette auf immer ſchwaͤchte. Mein Vater verlor ſeinen
Vater ſchon im zehnten Jahre, und mußte von dieſem
Jahre an ſich ſchon ſelbſt zu ernaͤhren ſuchen. Eine
gute Stimme kam ihm dabei zu ſtatten, und er wurde
Chorſchuͤler. Seine Anlage zur Muſik, und deßgleichen
ſeines juͤngern Bruders, der es beſonders auf dem
Waldhorn zu einer ausgezeichneten Fertigkeit brachte,
und den mein Vater accompagniren lehrte, fuͤhrte ihn
in gebildetere Geſellſchaften ein, als ſonſt Leute ſeines
Standes gewoͤhnlich kommen. Dieſer Umgang und die
Bildung meines Großvaters, der, ein vertrauter Freund
Doppelmeiers, mit dieſem die fruͤheſten elektriſchen Ex¬
perimente machte, und ſeinem Sohn ſchon eine fruͤhe
Neigung zu Wiſſenſchaften beibrachte, ließen bei meinem
Vater eine große Liebe zu Kuͤnſten und Wiſſenſchaften
entſtehen, ob ihn gleich ſeine Duͤrftigkeit verhinderte,
ſich darin auszubilden, und die Unterſtuͤtzung, die er
ſeiner Mutter gewaͤhren mußte, ihn in die Nothwen¬
digkeit verſetzte, ſeines Vaters Profeſſion, ſobald ſeine
Kraͤfte hinreichten, noch neben dem Singen zu treiben.
Die Muſik war ihm aber das Angenehmſte, was
er kannte, und der Himmel haͤtte ihm keine groͤßere
Gnade erzeigen koͤnnen, als wenn er ihm einen Sohn
geſchenkt haͤtte, der ein Virtuoſe geworden waͤre. Es
[213] geſchahe aber nicht alſo, und ich hatte nicht die geringſte
Anlage dazu. Er gab ſich alle moͤgliche Muͤhe mit
mir, aber es zeigte ſich bald, daß ich nicht zum Vir¬
tuoſen beſtimmt war.
Die viele Muͤhe, die ſich mein Vater mit mir gab,
brachte mich aber doch in der Muſik ſo weit, daß ich
die Scala ſingen und ein Inſtrument rein ſtimmen lernte.
Es iſt dies ein Beweis, wie viel unverdroſſener Fleiß
beim Unterricht bewirken kann; denn ich erinnere mich
noch ſehr wohl, wie ich anfangs gar nicht hoͤren konnte,
ob ein von mir meinem Vater nachgeſungener Ton der
naͤmliche, oder ein anderer war. Das Gefuͤhl der ſtaͤr¬
keren oder ſchwaͤcheren Anſtrengung meiner Stimm¬
organe und die groͤßere oder kleinere Hebung des Luft¬
roͤhrenkopfes, wodurch ich endlich nach meines Vaters
Ausſpruch den Ton traf, wurden mir das Maß von
der Hoͤhe und Tiefe der Toͤne, und endlich fuͤhlte ich,
ob ich den gleichen Ton mitſang oder nicht. Bei dieſem
Gefuͤhl blieb ich auch ſtehen, und nur dies Gefuͤhl der
Aenderung meiner Stimmorgane, um den gleichen Ton
hervorzubringen, kann mich entſcheiden laſſen, welcher
unter wenig verſchiedenen Toͤnen der hoͤhere oder tiefere
iſt. Dieſe Muͤhe, die es mir koſtete, Hoͤhe und Tiefe
der Toͤne zu unterſcheiden, hatte ich aber nicht noͤthig,
mir zu geben, um die ſpecifiſche Art des Klanges zu
unterſcheiden; nie, nachdem ich einmal ein Inſtrument
gehoͤrt hatte, verwechſelte ich dieſes ungeſehen mit einem
[214] andern. Das Gefuͤhl, wodurch wir einen hoͤhern und
tiefern Ton unterſcheiden, muß alſo von dem, wodurch
wir aͤhnliche und unaͤhnliche Klaͤnge, z. B. Trompete
und Floͤte, unterſcheiden, verſchieden ſein, und von
unterſchiedenen Theilen unſers Gehoͤrorgans abhaͤngen.
Naͤhere Beobachtung hieruͤber, die ich gemacht habe,
kann ich hier nicht mittheilen. Beſſer als mit der
Muſik gelang es meinem Vater mir Luſt und Liebe
zu den bildenden Kuͤnſten und der Matheſis beizubrin¬
gen, und ſehr fruͤhe entwickelte ſich die Wißbegierde
in mir.
Meine Erinnerungen gehen in einigen Dingen bis
in mein erſtes Jahr zuruͤck, und werden in meinem
zweiten in vielen Dingen nur dadurch ungewiß, daß
ich bis in mein viertes oͤfters meine Traͤume mit wirk¬
lichen Anſchauungen verwechſelte. Es kam bisweilen
zwiſchen mir und meinen Aeltern zu einem lebhaften
Streit, wenn ich oͤfters behauptete, daß gewiſſe Per¬
ſonen uns beſucht, oder gewiſſe Dinge vorgefallen waͤren,
wovon es mir doch nur getraͤumt hatte.
Noch in ſpaͤtern Jahren hatte ich einigemal noͤthig,
Traum und Wachen nach klaren Vorſtellungen meiner
vergangenen Handlungen und den Geſetzen der Kauſal¬
verbindung, und nicht durch das bloße Gefuͤhl der leb¬
haftern oder ſchwaͤchern Erinnerung der Eindruͤcke zu
unterſcheiden. Noch im Jahre 1798, da ich mich in
Ansbach aufhielt, war dies der Fall. Es traͤumte mir,
[215] ich haͤtte bei einem Mechanikus in Nuͤrnberg ein Teleſkop
und ein Mikroſkop beſtellt, und als mir es dieſer brachte,
ſo konnte ich es ihm nicht bezahlen, woruͤber dieſer,
nach ſeiner Schilderung, in aͤußerſt große Verlegenheit
kam; und beim Erwachen war mir die genaueſte Ruͤck¬
erinnerung von Allem, was ich ſeit einem Jahre in
Nuͤrnberg gethan hatte, noͤthig, um mich zu uͤberzeugen,
daß es ein Traum war. Aber noch war es damit nicht
abgemacht; ein halbes Jahr lang aͤngſtigte mich oͤfters
der Gedanke, daß die Sache doch wahr ſein koͤnnte,
und ich mußte mich von neuem von ihrer bedingten
Unmoͤglichkeit uͤberzeugen. Aus dieſem Vorfall iſt mir
wahrſcheinlich, daß bei einer Krankheit des Senſoriums,
welche die Erinnerungskraft ſchwaͤcht, oft ein Traum
die Urſache der Verruͤckung eines Menſchen werden kann.
Der entgegengeſetzte Fall iſt bei dem Nachtwandeln, wo
wirklich veruͤbte Handlungen ganz aus dem Bewußt¬
ſein verſchwinden. Die genauere Entgegenſtellung dieſer
Zuſtaͤnde iſt einer groͤßern Aufmerkſamkeit werth, als
bisher darauf verwandt worden; ſo iſt z. B. bei dem
lebhaft Traͤumenden die Waͤrme ſeines Koͤrpers uͤber
die gewoͤhnliche erhoͤht, bei dem Nachtwandler bis zur
auffallenden Kaͤlte deſſelben vermindert. Ich kann hier
die Sache nicht weiter verfolgen, und komme wieder
zu meiner fruͤhern zuruͤck.
Außer der fruͤhen Liebe zu Kuͤnſten und Wiſſen¬
ſchaften, welche mir mein Vater einfloͤßte, verdanke ich
[216] ihm auch die Freiheit von aller Furcht vor Geſpenſtern,
denn niemand durfte mich durch eine Drohung dieſer
Art ſchrecken, und einigen Nachbarinnen, welche mich
durch den Mann draußen und den großen Hund be¬
ſaͤnftigen wollten, wurde gleich die Thuͤre gewieſen.
Die Ueberzeugung von der Nichtigkeit der Geſpenſter
konnte nicht im geringſten durch die Erzaͤhlungen meiner
Großmutter muͤtterlicher Seite geſtoͤrt werden. Dieſe
hatte, nebſt der Eigenſchaft Geſpenſter zu ſehen, noch
eine, welche Manchem fehlte, der keine glaubt, naͤmlich
die, ſich nicht im geringſten vor ihnen zu fuͤrchten. Sie
erzaͤhlte die Auftritte, die zwiſchen ihr und den Geſpen¬
ſtern vorfielen, ſo unbefangen wie den Beſuch einer
Nachbarin; und ihr Glaube, daß es Geſpenſter gebe,
konnte daher, wenn es auch haͤtte meinen Unglauben
wankend machen koͤnnen, doch keine Furcht bei mir
hervorbringen. Ich war vielmehr ſo begierig, ihre Aus¬
ſagen durch die Erfahrung zu pruͤfen, daß ich in mei¬
nem dritten Jahre oft bei ihr ſchlief, um das Geſpenſt
zu ſehen. Allein nie ließ es ſich ſehen, wenn ich da
war, und ich glaubte daher, gegen ſie den Sieg uͤber
ihren Glauben errungen zu haben. Dies war aber ver¬
gebens, denn ſie behauptete, daß ich einen unſichtbaren
guten Geiſt bei mir haͤtte, vor dem ſich der andere
fuͤrchtete. So lernte ich fruͤhe, daß es ungeraͤumt iſt,
gegen Behauptungen, welche die Bedingungen moͤglicher
Erfahrung aufheben wuͤrden, durch die Erfahrung ſtrei¬
[217] ten zu wollen, denn ſie laſſen ſich immer durch eine
eben ſo ungereimte Vorausſetzung, als die Behauptung
ſelbſt iſt, vertheidigen. Der Aberglaube kann durch
Erfahrung wohl in gewiſſen Faͤllen beſchaͤmt, aber nicht
uͤberzeugt werden, weil er immer durch das Nichter¬
fahrbare ſich entſchuldigen kann. Ich machte auch nach¬
her in meinem ganzen Leben nicht mehr den Verſuch,
etwas ſehen zu wollen, was, wenn ich es ſaͤhe, mir
nur den Verluſt meines Verſtandesgebrauchs anzeigen
koͤnnte.
Nachdem ich voͤllig drei Jahre alt war, wurde ich
in eine gewoͤhnliche Schule geſchickt. Hier glaubte ich
nun die gewoͤhnlichen Dogmen eben ſo leicht, als ich die
Geſpenſter nicht glaubte; denn mein Vater hatte ſich
nicht gegen ſie erklaͤrt. Mit Demuͤthigung erinnere ich
mich noch, daß ich gar nichts Empoͤrendes darin fand,
daß ein Menſch, der an dem Glaubensbekenntniß des
heiligen Athanaſius zweifelte, eben ſo behandelt wuͤrde,
als wenn er die groͤßten Uebelthaten begangen haͤtte.
Mein Vater, der damals nichts weniger als ein Zweifler
war, wollte mich dadurch Toleranz lehren, daß er in
der angenommenen Rolle eines Ketzers oder eines Frei¬
geiſts gegen die Dogmen mit mir disputirte, und ich
vergoß haͤufig Thraͤnen, wenn es mir an Gruͤnden
fehlte, ihn zu widerlegen. Der Grund meiner leichten
Ueberzeugung lag in dem Gefuͤhle fuͤr Wahrhaftigkeit;
ich konnte nicht ahnen, daß Millionen Menſchen eine
[218] Ungereimtheit glauben und die Entdeckung derſelben als
ein Verbrechen anſehen koͤnnten. Haͤtte ſich mein Vater
ſo in eigner Perſon dagegen erklaͤrt, wie gegen die
Geſpenſter, ſo wuͤrde ich ihm freilich mehr als den Mil¬
lionen geglaubt haben. Nichts iſt dem Menſchen wohl
ſchwerer als Toleranz in Glaubensſachen, ich halte ſie
fuͤr unmoͤglich; und nur die feſte Ueberzeugung, daß
der Andre wohl in dieſer oder jener Welt, auch ohne
unſer Zuthun, die Wahrheit unſers Glaubens wird an¬
erkennen muͤſſen, kann den Schein von Toleranz geben.
Der wahrhaft Ueberzeugte handelt daher, als waͤre er
tolerant, und uͤberlaͤßt im feſten Vertrauen, daß es
geſchehen werde, die Bekehrung oder Verdammung Gott;
der aber durch den Nichtbeifall noch in ſeiner Ueber¬
zeugung, die zu heucheln er ſich Maxime gemacht hat,
geſtoͤrt wird, ſucht den Zweifler ſelbſt, wenn er es
kann, zu vertilgen.
So viel Schwierigkeit ich fand, Hoͤhe und Tiefe
der Toͤne zu unterſcheiden, ſo leicht war es mir, die
Artikulation derſelben zu unterſcheiden, und ich danke
es nur dem ſehr ſchlechten Dialekt meiner Vaterſtadt,
daß ich nicht zu einer ganz reinen und deutlichen Aus¬
ſprache meiner Mutterſprache gelangte. So gut mein
Gedaͤchtniß war, ſo zeichnete ich mich doch in meiner
Schule nicht dadurch aus, denn ich ſtrebte nur, den
Inhalt einer Sache zu wiſſen, ohne mich aͤngſtlich um
die Worte zu bekuͤmmern. Ich erinnere mich noch,
[219] daß mein Schulmeiſter, als ich die Evangelien auswen¬
dig lernen ſollte, und ſie ihm herſagte, oft aͤrgerlich
ausrief: „So ſpricht er ohne Anſtoß fort, und lauter
andere Worte, als im Buche ſtehen.“ Waͤhrend ich
noch in die gewoͤhnliche Schule ging, erhielt ich Unter¬
richt in der lateiniſchen Sprache, und kam in meinem
neunten Jahre in die zweite Klaſſe der lateiniſchen
Schuͤler, wie man in Nuͤrnberg die oͤffentliche Schule,
auf welcher ſich die Juͤnglinge zur Beziehung der Uni¬
verſitaͤt vorbereiten ſollen, nennt; die erſte Klaſſe iſt
die, von der man auf die Univerſitaͤt geht, und, ſo viel
ich weiß, zaͤhlt man auf allen proteſtantiſchen Schulen
ſo, da hingegen auf der katholiſchen Schule die erſte
Klaſſe (infima) die entfernteſte von der Univerſitaͤt iſt.
Woher mag dieſe verſchiedene Art zu zaͤhlen kommen?
ſollte es auch von den Proteſtanten zum Unterſcheidungs¬
zeichen von den Katholiken geſchehen ſein, wie die erſten
Chriſten den erſten Wochentag zum Sabbath machten?
In dieſer Klaſſe wurde ich, da ich der juͤngſte war,
der vielleicht je darin wer, nicht der Erſte, und es
wurde mir daher von Andern voruͤberſetzt; dies war die
Urſache, daß ich in der Latinitaͤt nicht die geringſten
Fortſchritte machte, denn mein gutes Gedaͤchtniß ließ
mich das voͤllig behalten, was ich einmal gehoͤrt hatte,
und ſo erſparte ich mir die Muͤhe, zu uͤberſetzen, und
ſagte bloß, obgleich nicht ganz woͤrtlich, nach. Etwas
von der griechiſchen Sprache, welche meine Aufmerkſam¬
[220] keit reizte, weil ſie mir ganz neu war, war das einzige,
was ich aus dieſer Schule herausbrachte. Ich blieb
nur zwei Jahre darin, weil eine erduldete Beſchimpfung
mir ſie ſo verbitterte, daß ich nicht nachließ, bis mich
mein Vater herausnahm. Die Schuͤler mußten naͤmlich
alle Sonntage in die Predigt gehen, und der Prediger
ſprach ſo leiſe, daß man ihn an dem Ort, wo die
Schuͤler ſaßen, ſchlechterdings nicht verſtehen konnte;
ich nahm daher, um der Langweile zu entgehen, Buͤcher
zum Leſen mit. Dies wurde dem Prediger angezeigt,
und er gab mir deßwegen bei der Austheilung einer
Stiftung einen oͤffentlichen Verweis, und daruͤber ward
ich ſo aufgebracht, daß ich nicht mehr in der Schule
bleiben mochte. Dieſer Vorfall iſt wohl das groͤßte
Gluͤck, das mir in meinem Leben aufſtieß! denn obgleich
mein Vater nicht die Abſicht hatte, mich dem gelehrten
Stande zu widmen, ſo wuͤrde ein laͤngerer Aufenthalt
in der Schule mich doch zum Profeſſioniſten verdorben,
und mir das Studentenleben als das hoͤchſte Gut vor¬
geſpiegelt haben, und ich wuͤrde dann in meinem ſechs¬
zehnten Jahre auf Univerſitaͤt gegangen, und da der
Ehrgeiz, mich auszuzeichnen, mich zum beſtaͤndigen Sitzen
uͤber Buͤchern wuͤrde verleitet haben, ein fruͤhes Opfer
der ſitzenden Lebensart und der einſeitigen Ausbildung
des Gedaͤchtniſſes geworden ſein.
Waͤhrend ich in die lateiniſche Schule ging, lernte
ich in der deutſchen Schule rechnen. Ich faßte dies
[221] ziemlich ſchnell, und mit Huͤlfe einiger Buͤcher, die ich
hatte, uͤbte ich dem muͤndlichen Unterricht ſo weit zu¬
vor, daß ich, bis ich in der Schule, wo der Unterricht
mir dadurch verdrießlich gemacht wurde, daß ich die
berechneten Exempel in ein Buch, welches der Buͤrger¬
meiſter hieß, ſauber einſchreiben ſollte, zum zehnten
Theil des Rechenbuches kam, ſchon das ganze Buch zu
Hauſe durchgerechnet hatte.
So weit meine Erinnerungen auch in meine fruͤheſte
Jugend zuruͤckgehen, ſo erinnere ich mich doch nicht,
daß ich zaͤhlen lernte; es iſt mir, als haͤtte ich es von
jeher gekonnt. Eben ſo wenig kann ich mich erinnern,
wann ich das Sprechen von ſich ſelbſt in der dritten
Perſon, welches den Kindern ſo eigen iſt, mit dem Ich
vertauſchte. Wahrſcheinlich folgt das Zaͤhlen bei dem
Kinde erſt auf das Ich; denn ehe es ſich als Einheit
nicht bloß fuͤhlt, ſondern ſich, im Gegenſatze mit allen
Andern, auch ſo denkt, hat es kein feſtes Schema von
Eins; es ſieht wohl einzelne Sachen, aber es ordnet
ſie nicht nach dem abſtrakten Begriffe von Eins. Es
kann, bei dem Zaͤhlen, der Begriff von der Moͤglichkeit
der Faͤhigkeit, es wirklich zu vollbringen, nicht voraus¬
gehen, und daher kein Bewußtſein des Nichtkoͤnnens
ſtattfinden.
Eine Begebenheit hatte in meiner fruͤhen Jugend
ſehr großen Einfluß auf meinen Karakter — der nord¬
amerikaniſche Krieg. Mein Vater las die Zeitungen
[222] meiner Mutter zu Gefallen laut, und hatte fuͤr die
Staaten Partei genommen. Mich intereſſirten ſie daher
ſo fruͤhe, als ich nur einen Vortrag einigermaßen be¬
greifen konnte, und es wurde dadurch eine Vorliebe
fuͤr eine wahrhaft republikaniſche Verfaſſung, deren we¬
ſentlicher Karakter darin beſteht, daß die Regierung,
von welcher Form ſie uͤbrigens ſei, alle Angelegenheiten
der Menſchen als eine res publica und nicht als ihre
res privata behandelt, gegruͤndet, die nie, als mit mei¬
nem Leben, verloͤſchen wird. Das Leſen der Schrift¬
ſteller, aus denen die Jugend nur Latein und Griechiſch
lernen ſoll, befeſtigte dieſe Neigung noch mehr, und ich
werde ſie nie verlaͤugnen, da ich, getreu meinen einge¬
gangenen Verbindlichkeiten, gehorche, wo ich Unterthan
bin, und meine innern Wuͤnſche und Hoffnungen der
Vorſehung anheim ſtelle, die ich allein als den Rich¬
ter daruͤber anerkenne, und keine Regierung mir Ver¬
letzung der Wahrhaftigkeit und des Rechts befehlen wird
und darf. Dies Gefuͤhl fuͤr Freiheit war aber auch
außerdem eine nothwendige Folge meiner Erziehung.
Bei aller Neigung, welche mir von meinem Vater zu
den Kuͤnſten und Wiſſenſchaften eingepflanzt worden,
war nie von ihm in mir der Gedanke erweckt worden,
daß ich je etwas Andres zu meinem Lebensunterhalt
treiben ſollte als ſeine Profeſſion. Alles, was ich lernte,
lernte ich, weil ich Vergnuͤgen daran fand, oder mei¬
nem Vater zu lieb, denn ich liebte meinen Vater ſo
[223] ſehr, daß ich keinen mir angenehmern Spielkameraden
kannte als ihn. Wenn mein Vater von ſeinen gewoͤhn¬
lichen Geſellſchaften auf meine Bitte zu Hauſe blieb,
um ſich mit mir zu beſchaͤftigen, ſo war dies ein Feſt
fuͤr mich, dem kein andres gleich kam. Dieſe Erziehung,
welche mich Kuͤnſte und Wiſſenſchaften um ihrer ſelbſt
willen lieb gewinnen ließ, erweckte in mir ein ſolches
Gefuͤhl fuͤr Freiheit von allem aͤußern Zwang, daß ich
in der Wahl meiner Beſchaͤftigungen immer nur meiner
Neigung, oder der von mir erkannten Pflicht folgte,
und alle andern Ruͤckſichten, am erſten die auf aͤußern
Vortheil, vernachlaͤſſigte.
Bei dieſer mir fuͤr meinen Karakter ſo vortheilhaften
Erziehung fuͤhrte mein Temperament aber doch einen
Nachtheil herbei, den ich, da meine Lebensbeſchreibung,
ſo weit ich ſie, ohne in das Leben andrer Perſonen
unerlaubter Weiſe einzugreifen, fortfuͤhren kann, doch
nur als ein paͤdagogiſches Experiment Werth haben kann,
nun der vielleicht noch nicht genug auf dieſen Gegen¬
ſtand geleiteten Aufmerkſamkeit der Erzieher nicht ver¬
ſchweigen darf: denn es iſt ſehr wichtig, daß man lerne,
den freien Gang der Entwickelung, ſo lange er zum
Guten fortſchreitet, nicht zu unterbrechen, ohne deßhalb
die Aufmerkſamkeit auf den Weg, den er nimmt, zu
vernachlaͤſſigen. Mich fuͤhrte gerade das, was man am
erſten ſeinen eigenen Gang nehmen zu laſſen fuͤr rath¬
ſam halten koͤnnte, naͤmlich der religioͤſe Karakter, der
[224] mir von meiner zarteſten Jugend an eigen war, auf
ſonderbare Ausſchweifungen. Ein altes Buch mit Holz¬
ſchnitten, das die Geſchichte der Heiligen der Monats¬
tage enthielt, von der ihre ſich auferlegten Buͤßungen
und die wegen ihres Glaubens erduldeten Martern im¬
mer den groͤßten Theil ausmachten, erweckte in mir den
Hang zur Selbſtzuͤchtigung, und ich legte mir wegen
der Vergehungen, deren ich mich ſchuldig glaubte, aller¬
lei Buͤßungen auf. So ſehr ich mich fuͤr verbunden
hielt, jede Vergehung durch koͤrperlichen Schmerz zu
buͤßen, ſo ſehr war ich uͤber die Zuͤchtigungen, die mir
einigemal von meinem Vater und in der Schule wider¬
fuhren, aufgebracht: denn ich war feſt uͤberzeugt, daß
mir jedesmal unrecht geſchah, und ich weinte immer
mehrere Naͤchte daruͤber. Eine bigotte Erziehung haͤtte
mich wahrſcheinlich zu einem Heiligen gemacht, und ich
wuͤrde den gewoͤhnlichen Karakter der Heiligen, ſich ſelbſt
der groͤßten Verworfenheit zu beſchuldigen, und zu pre¬
digen, daß man nicht werth ſei der geringſten Gnade
Gottes, waͤhrend man jeden, der dies einem auf's Wort
glauben, und einen ſo behandeln wollte, fuͤr einen Ab¬
geſandten des Teufels erklaͤrt, in ſeiner ganzen Staͤrke
gezeigt haben. Dieſe Selbſtzuͤchtigungen erzweckten in
meinem eilften Jahre eine Empfindung in mir, die ich
noch nicht haͤtte haben ſollen, und welche, von mir
gaͤnzlich mißverſtanden, die Veranlaſſung wurde, daß
ich meine Peinigungen bis zu dieſem Punkte trieb. Dies
[225] hatte auf meine Geſundheit einen ſchlimmen Einfluß.
Dieſen Nachtheil zog mir die Verdachtloſigkeit meiner
Aeltern zu, welche nichts Arges ahneten, wenn ich
allein in einer entlegenen Kammer oder auf einem Bo¬
den mich aufhielt. Als ich endlich den Nachtheil dieſer
Peinigungen, durch das Leſen mediciniſcher Buͤcher, in¬
dem fruͤher ſchon durch die Aeußerungen viel aͤlterer
Jungen meine Aufmerkſamkeit darauf erweckt worden
war, einſahe, ſo koſtete es mir große Muͤhe, mir dies
als Unart abzugewoͤhnen, was ich mir als ein verdienſt¬
liches Werk angewoͤhnt hatte.
Als ich aus der lateiniſchen Schule kam, ſo dachte
ich an keine andere Beſtimmung, als meines Vaters
Profeſſion einſtens zu treiben; ich arbeitete darauf, und
kuͤmmerte mich bis in mein dreizehntes Jahr wenig um
Buͤcher, ſondern trieb mich in den freien Stunden mehr
mit meinen Spielkameraden herum. Bloß im Zeichnen,
im Klavierſpielen, in franzoͤſiſcher und italieniſcher
Sprache, hatte ich einigen Unterricht. Da mein Vater
gepreßten Draht machte, ſo hielt er es fuͤr noͤthig, daß
ich die Walzen ſelbſt ſchneiden koͤnnte; ich lernte daher
graviren, und dies war mittelbar die Urſache, daß ich,
wie ich etwas weiter unten zeigen werde, wieder dem
Hang zu den Wiſſenſchaften mehr nachhing.
Meine Aeltern waren nicht wohl im Stande, mir
außer den noͤthigen Schulbuͤchern noch andere anzu¬
ſchaffen, und meine Wuͤnſche in dieſem Falle zu befrie¬
15[226] digen; was mir ſo, um ganz geringen Preis, auf den
Troͤdel in die Haͤnde kam, waren meine erſten Quellen,
aus denen ich lernte. Unter dieſen waren die Welt
in einer Nuß und Hederichs Lehrbuͤcher die er¬
ſten, die mir in die Haͤnde kamen; ich erwarb mir dar¬
aus meine fruͤheſten mathematiſchen und hiſtoriſchen
Kenntniſſe; darauf folgte Imhofs hiſtoriſcher Bil¬
derſaal. Wolfs Anfangsgruͤnde und Kruͤgers
Naturlehre. WolfsElementa Matheseos in
4., die ich ſpaͤter auf dieſem Wege erhielt, waren der
Grund, daß ich wieder anfing, Latein zu lernen. Aus
dieſen Schriften mochte ich lernen; die eigentlichen Kin¬
derſchriften, die damals in die Mode kamen, und die
ich bei einigen meiner Kameraden fand, waren meinem
Geſchmacke zuwider; es kam mir vor, als wenn mich
der Autor zwingen wollte, kindiſch zu ſein, was ich
doch durchaus nicht ſein wollte. Kaͤſtners Epigramm
auf Raff's Naturgeſchichte fuͤr Kinder:
war mir recht aus der Seele geſchrieben *).
Nun ereignete ſich ein Vorfall, der auf meine fernere
Entwickelung großen Einfluß hatte. Von meiner fruͤhe¬
ſten Jugend an war ich ſehr heftigem Naſenbluten aus¬
[227] geſetzt, und als ich in meinem dreizehnten Jahre mehre¬
mal Blut auf meinem Kopfkiſſen fand, ſo glaubte ich
daher, daß mir die Naſe im Schlaf geblutet haͤtte; doch
da ich endlich ſtarke Schmerzen in der Zunge empfand,
ſo wurde ich aufmerkſam, und entdeckte, daß ich mich
in die Zunge gebiſſen hatte. Ich dachte daruͤber nicht
weiter nach, bis ich in meinem vierzehnten Jahre bei
Tage einen Anfall von Epilepſie, und kurz darauf in
der Oſterwoche 1780 in zwei Tagen dreizehn Anfaͤlle
bekam. Meine Aeltern waren daruͤber in der groͤßten
Beſtuͤrzung, und konſultirten einen Arzt, Herrn Dr.
Beyer, daruͤber. Dieſer verordnete, daß ich kein Bier
mehr und außer Meliſſenthee auch kein warmes Getraͤnke
trinken, daß meine Aeltern mir keine Lehrſtunde mehr
geben laſſen, und mich von allem Leſen und Rechnen
abhalten ſollten. Dies wurde getreulich erfuͤllt, und
ich hatte ein Halbjahr, laͤnger hielt ich es nicht aus,
keine andre Beſchaͤftigung, als meine Profeſſion, aß
dabei ſehr ſtark Fleiſch und Obſt, und trank viele Milch.
Dieſe Diaͤt beobachtete ich, mit wenigen Ausnahmen,
bis in mein dreiundzwanzigſtes Jahr. Was mein Arzt
und meine Aeltern aber nicht wußten, und ich oben er¬
zaͤhlte, ſchien mir die Haupturſache meiner Zufaͤlle, und
ich trug nun von meiner Seite wohl eben ſo viel zu
meiner Kur bei, als mein Arzt durch die angeordnete
Diaͤt. Ich bekam zwar keinen Anfall von Epilepſie
mehr, behielt aber, bis ich nach und nach zu einer
15 *[228] etwas erregenden Lebensart uͤberging, eine große Nerven¬
ſchwaͤche, und hatte haͤufige Ohnmachten, und bei jeder
Gemuͤthsbewegung heftiges Naſenbluten. Von dieſer
Zeit an lernte ich ein Gefuͤhl kennen, was mir bisher
voͤllig fremd war, die Furcht in einſamer Dunkelheit.
Ueberall ſah ich Geſtalten, die ich zwar als Geſchoͤpfe
meiner Phantaſie anerkannte, die mich aber deßwegen
um nichts weniger aͤngſtigten. Gaͤnzliches Verſchließen
der Augen, oder die Bewaffnung mit meinem Stock,
Degen, oder auch nur einen Rappier, waren die Mittel,
wodurch ich dieſe Furcht beſiegte. Erleuchtung der Zim¬
mer, oder des Weges, den ich ging, half aber auch
nicht immer, wenn ich allein war, und beſonders aͤng¬
ſtigte mich, wenn ich ſpaͤt Abends noch Klavier ſpielte,
eine große weibliche Figur in einer ſchwarzen Saloppe,
welche zur Thuͤr herein kam, und uͤber meine Schultern
und in die Noten ſahe. Dieſe Figur erſchien mir zum
letztenmale 1791 in Kopenhagen, wo ich mir ein Klavier
gemiethet hatte. So lebhaft die Geſichtsvorſtellung von
dieſer Figur war, ſo erſchien ſie doch nie vor meinen
Augen. Die Taͤuſchung war hier alſo nicht unmittelbar
von der Schwaͤche der Augen abhaͤngig, ſondern von der
Staͤrke meiner Phantaſie, gegen welche die Verneinung
ihrer Vorſpiegelungen durch meine Augen nichts ver¬
mochte. Die Eindruͤcke meiner Sinne waren ſchwaͤcher
als meine Vorſtellungen, und doch waren meine Sinne
ſehr reizbar. Wenn ich an einer Mauer ging, ſo ſchien
[229] ſie auf mich zu fallen; waren bei truͤbem Himmel und
nach einem Regen die Pflaſterſteine ſehr bald trocken
und dadurch ſehr weißſcheinend geworden, ſo ſchien es
mir, daß ſie mir bis an den Hals gingen, und daß
ich durch ſie, wie durch dicken Schlamm, waten muͤßte;
und bei Nacht hoͤrte ich das Echo meiner Tritte an den
Mauern ſo ſtark, daß es mir vorkam, als wenn immer
jemand mir auf dem Fuße nachfolgte. Mein Geiſt war
uͤbrigens ſtark genug, meine Urtheile richtig zu erhalten,
aber die aͤngſtlichen Gefuͤhle konnte er nicht abhalten.
Ich finde, daß mein Zuſtand gegen den meiner Gro߬
mutter, die Geſpenſter zu ſehen glaubte, ohne aͤngſtlich
zu ſein, ſich zu meinem auf aͤhnliche Art verhielt, wie
der des Nachtwandlers gegen den, den ſeine Traͤume
noch nach dem Erwachen aͤngſtigen. Sie wurde durch
die geglaubten Erſcheinungen gar nicht anders afficirt,
als wenn es gewohnte Sinneneindruͤcke geweſen waͤren,
ob ſie in die Reihe der objektiven Kauſalverbindung
paßten, das kuͤmmerte ſie nicht. Der Nachtwandler
verliert ſeine ganze That aus dem Gedaͤchtniß, hier bleibt
zwar die Erſcheinung und die dadurch veranlaßten Hand¬
lungen im Gedaͤchtniß, aber ſie bleiben außer dem Ge¬
biet der Reflexion. Das aͤngſtliche Gefuͤhl, was in mir
entſtand, war gar keine Folge der Erſcheinungen, die
ich hatte, denn ich haͤtte mich nicht gefuͤrchtet, wenn
ich ſie gleich als wirkliche Dinge genommen haͤtte, ſon¬
dern der Reflexion, daß ſie nicht wirklich ſein ſollten.
[230] Wenn ich kolorirte und gekleidete Wachsfiguren in Le¬
bensgroͤße ſehe, ſo iſt mein Gefuͤhl, obgleich etwas
ſchwaͤcher, genau daſſelbe, was ich damals hatte. Per¬
ſonen, die ſie, wie ich einigemal erfahren hatte, fuͤr
lebendig hielten, hatten kein aͤngſtliches Gefuͤhl, es ent¬
ſtand erſt, als ſie ſich uͤberzeugten, daß jene es nicht
waͤren. Die Angſt entſteht daher aus der Schwierigkeit,
zu einem objektiv guͤltigen Urtheil zu gelangen, das zu¬
gleich ſubjektive Evidenz fuͤr uns hat. Eine merkwuͤr¬
dige Erſcheinung, die hieher gehoͤrt, iſt das Alpdruͤcken,
welches mich auch manchmal, aber ſelten, befiel; hier
glaubt man zu wachen, waͤhrend man ſchlaͤft, man ſtellt
Proben an, kneipt ſich, reflektirt, um gewiß zu werden,
ob man wache oder ſchlafe, erhaͤlt immer das Reſultat,
daß man wache und ſich nicht bewegen koͤnne, und alles
zuſammen iſt Traum. Viele Perſonen, wie ich gefun¬
den habe, glauben nicht, daß alles Traum iſt, und
ſind ſchwer davon zu uͤberzeugen, daß ihre Ueberzeugung,
daß ſie nicht traͤumten, auch nur Traum war; mich
fuͤhrte dieſer Zuſtand nicht irre, eine kurze Reflexion
war hinlaͤnglich, mich davon zu uͤberzeugen. Nach die¬
ſer kleinen Ausſchweifung will ich nun wieder auf meine
Juͤnglingsjahre zuruͤck kommen.
Durch das Graviren fing ich nun an einiges Geld
zu verdienen, und da ich gar keine andern Beduͤrfniſſe
hatte, als Kupferſtiche und Buͤcher, ſo vergroͤßerte ſich
meine Bibliothek. Von einigen Wiſſenſchaften fanden
[231] ſich nun zufaͤllig auf dem Troͤdel nur lateiniſche Buͤ¬
cher; ich mußte daher mich wieder auf’s Lateiniſche
legen. Ich that dies aber nur zum Behuf meiner Buͤ¬
cher, und verſtand daher Wolf und Baumgarten ſehr
gut, ohne daß ich einen Vers im Virgil verſtand.
Ein Jahr nach meinem letzten Anfalle von Epilepſie
uͤberließ ich mich meinem Hange zum Studiren wieder
ungehindert, nur hatte ich, außer im Zeichnen und
Klavier, in keiner Sprache oder Wiſſenſchaft mehr einen
Lehrmeiſter. Ich verſahe auch von der Zeit an meinem
Vater ſein ganzes Geſchaͤft.
Von meiner fruͤheren Jugend an war der Hang,
mich zu unterrichten, mit dem verbunden, Andere zu
lehren; ich hatte beſtaͤndig in allen Faͤchern, worin ich
etwas wußte, wieder Schuͤler, die ich unterrichtete.
Dies war ein großer Vortheil fuͤr mich, weil ich mich
nicht wohl mit einem dunkeln Bewußtſein von der Sa¬
che behelfen konnte; denn da meine Schuͤler in einer
Sache oft wieder meine Lehrer in einer andern waren,
ſo ließen ſie ſich nicht mit leeren Behauptungen von
mir abſpeiſen, ſondern ich mußte mich gruͤndlich und
deutlich erklaͤren.
Meine fruͤhe Bildung war Urſache, daß ich meiſtens
Umgang mit aͤltern Knaben hatte, dies erzeugte bei
mir eine fruͤhe Bekanntſchaft mit der Liebe. Es war
von meinem zwoͤlften bis zum ſechszehnten Jahre gera¬
de die Siegwart-Wertheriſche Epoche in meiner
[232] Vaterſtadt herrſchend. Einer meiner Bekannten hatte
ſich erſchoſſen, und ein anderer, Namens Doͤrrbaum,
mit dem ich am innigſten vertraut war, hatte nebſt vie¬
len ſehr guten Eigenſchaften einen ſehr phantaſtiſchen
Liebeshandel. Dies ſteckte mich an, und ich waͤhlte
mir auch eine Dame, und ſchwaͤrmte in Geſellſchaft mit
meinem Freunde. Keine von dieſen Damen erfuhr aber
etwas von meiner Liebe zu ihr, und erſt 1784 machte
ich die erſte Liebeserklaͤrung. Fruͤher hatte ich aber
ſchon mich zur engſten Freundſchaft mit obenerwaͤhntem
Doͤrrbaum verbunden, und 1781 hatten wir meinen
bis jetzt noch unveraͤnderlich getreuen Freund Oſterhau¬
ſen in unſern Bund mit aufgenommen. Im Jahre
1782 ſtarb Doͤrrbaum, und ich und Oſterhauſen ſchloſ¬
ſen ſich nun noch inniger aneinander. Keine Fuͤgung
des Schickſals hat ſeitdem unſre Herzen getrennt, kein
Schein von Glauben an Untreue uns in unſerm Ver¬
trauen irre gemacht, und wenn wir zwar einigemal mit
einander unzufrieden waren, ſo war doch nie der leiſeſte
Verdacht von Unredlichkeit in unſere Seele gekommen.
Doͤrrbaum hatte außer einem nicht ganz guten Ein¬
fluß auf meine Gefuͤhle, weil er mich zu verliebten
Schwaͤrmereien zu fruͤhe verleitete, einen ſehr guten
auf meine Urtheilskraft. Als ich nach meiner Krankheit
wieder zu ſtudiren anfing, ſo gab mir dieſer etwas
Unterricht im Griechiſchen. Wir exponirten das Neue
Teſtament, und er legte es nach der damals gangbaren
[233] kuͤhnen Exegeſe aus. Dies ſchwaͤchte in mir den Glau¬
ben an die unbedingte Guͤltigkeit der Lutheriſchen Ueber¬
ſetzung, an der richtigen Ableitung der in den Luthe¬
riſchen Katechismus aufgenommenen Dogmatik aus der
Bibel, und an der Richtigkeit meiner Religionsbegriffe.
In meinem dreizehnten Jahre empfing ich mit vieler
Andacht das Abendmahl, und bis in mein fuͤnfzehntes
hatte ich keinen Begriff, daß man in dem Dogma der
Euchariſtie anders denken koͤnne, als die evangeliſche
Lutheriſche Kirche, und doch noch an die Bibel glauben.
Dieſen Begriff erhielt ich durch Doͤrrbaums Exegeſe,
aber ich ging ſchnell weiter, und bald folgten auf meh¬
rere Hypotheſen uͤber den wahren Zweck des Todes
Jeſu kuͤhnere an der gaͤnzlichen Ungewißheit dieſer Ge¬
ſchichte an ſich, und der Akkomodation derſelben nach
den Begriffen der an Opfer gewoͤhnten Voͤlker. Ich
ſahe in der Erzaͤhlung, daß aus der Seite Jeſu Blut
und Waſſer floß; die Nachahmung des Homers, der
den Goͤttern auch kein rothes Blut vergießen laͤßt, und
die Abſicht, dadurch, daß Blut und Waſſer floß, den
Heiden recht einleuchtend zu machen, daß er Gott und
Menſch ſei, und dergleichen Erklaͤrungen, warum ſo
oder anders erzaͤhlt wuͤrde, fand ich ſehr viele; kurz,
wie mein Aufklaͤrer ſtarb, war ich gegen ihn ſchon ein
Freigeiſt. Aus dieſem Beiſpiel mag man ſehen, wie
ſchwer es iſt, den Glauben zu laͤutern, ohne ihn auf¬
zuheben. Der meinige wurde nicht veredelt, nicht mit
[234] der Vernunft uͤbereinſtimmender gemacht, ohne daß ſich
meine Vernunft nicht uͤber ihn erhoben und ihn zum
Gegenſtand einer [pſychologiſchen] Aufgabe, ſeine Moͤg¬
lichkeit zu begreifen, gemacht haͤtte. Man wuͤrde aber
ſehr uͤbereilt die Lehre daraus ziehen, daß man nie
Glaubensſachen vor den Richterſtuhl der Vernunft zie¬
hen muͤßte, denn nur, was dieſe wahr findet, iſt es,
und macht unſer wahres Leben aus, weil es die Ein¬
heit unſers Bewußtſeins bewirkt. Alles andere, was
nicht aus dem von der Vernunft Erkannten entſpringt,
iſt iſolirt, wie Thaten des Nachtwandlers, oder die
geglaubten Geſpenſtererſcheinungen. Der Glaube haͤngt
von den zufaͤlligen Eindruͤcken ab, uͤber die wir nicht
denken, und es kann daher wohl Einheit im gedanken¬
los ausgeſprochenen Glaubensbekenntniß, aber nie in
dem Glauben ſelbſt geben. Nur die Vernunft bringt
Einheit hervor; wo ſie noch nicht entſcheiden kann, er¬
laubt ſie zu glauben; ſie ſtoͤrt daher nie den Glauben,
ohne etwas Beſſeres, Erkenntniß, dafuͤr zu geben;
aber der Glaube, der herrſchen will, ſtoͤrt die Vernunft,
um das Schlechteſte in den Menſchen, Verzicht auf
Einſicht, bei den Menſchen hervorzubringen. Waͤhrend
dieſer Religionsunterſuchungen ſtudirte ich zugleich wie¬
der Mathematik, und es gelang mir in meinem funf¬
zehnten Jahre, die erſte mathematiſche Evidenz zu em¬
pfinden. Ich hatte bis dahin die mathematiſchen Lehren
eben ſo gelernt, wie man Sprachregeln und Regenten¬
[235] folgen in der Geſchichte lernt. Ich wollte durchaus
die mathematiſchen Saͤtze aus den Begriffen mir erklaͤ¬
ren, und hatte mich bis zur Ohnmacht mit dem Ver¬
ſuche gequaͤlt, aus den Begriffen der geraden Linie,
des Raumes und des Einſchließens, ſchlußgerecht zu
beweiſen, daß zwei gerade Linien keinen Raum ein¬
ſchließen koͤnnen. Dieſe logiſche Bemuͤhung, die Ma¬
thematik zu begreifen, hatte mir vorzuͤglich Wolf mit¬
getheilt, denn ich ſahe damals noch nicht ein, daß die¬
ſer ſo verdiente und noch nicht nach Verdienſt geſchaͤtzte
Mann die Taͤuſchung hatte, als haͤtte er die mathema¬
tiſche Methode in die Philoſophie eingefuͤhrt, da er
vielmehr ſich eben ſo vergebens beſtrebt hatte, die dog¬
matiſch philoſophiſche in die Mathematik zu uͤbertragen.
Endlich ging mir bei dem Lehrſatz, daß Parallelogram¬
me von gleicher Baſis zwiſchen zwei Parallelen einander
gleich ſind, auf Einmal Licht auf, und mit einem mir
noch unvergeßlichen Gefuͤhle fuͤhlte ich mich nun durch
Anſchauung uͤberzeugt, und hatte das Bewußtſein des
Unterſchiedes zwiſchen mathematiſcher Evidenz und logi¬
ſchem Ueberweiſen. Ich empfand nun, daß Mathematik
immer uͤberzeugt, ſobald ihre Beweiſe gefaßt werden,
und Logik oͤfter zum Rechtgeben zwingt, ohne daß man
ſich uͤberzeugt fuͤhlt. So ſehr ich dieſen Unterſchied
empfand, ſo konnte ich mir doch noch nicht Rechenſchaft
davon geben; dies lernte ich erſt aus Kant. Eine
aͤhnliche Bewandtniß, wie mit der Entwickelung des
[236] Gefuͤhls der mathematiſchen Evidenz, hatte es bei mir
mit der Einſicht in die nothwendige Unterwerfung unter
das ſtrenge Recht, welche jenem Gefuͤhl der Evidenz
erſt ein Jahr nachher erfolgte. Sehr fruͤhe hatte ich
die Erzaͤhlung aus Xenophons Cyropaͤdie von den beiden
Knaben, deren beide Roͤcke ſich verwechſelt paßten, ge¬
leſen, aber bis in mein ſiebenzehntes Jahr konnte ich
die Richtigkeit des Urtheils des Perſers uͤber Cyrus
Entſcheidung nicht einſehen. Ich erinnere mich aber
keines ſo ploͤtzlichen Ueberganges zur Einſicht, wie bei
der Mathematik. Das Leſen der Gedichte Oſſians
und der Schriften Shaftsbury's, um welcher beiden
Schriftſteller willen ich Engliſch verſtehen zu lernen
ſuchte, hatte den ſtaͤrkſten mir erinnerlichen Einfluß auf
die Bildung meiner moraliſchen Gefuͤhle, und bereitete
die deutlichere Einſicht vor.
Ehe ich aber noch Kant's Kritik der reinen
Vernunft las, ſo wurde ich durch Mendelſohn's
ſchoͤne und Sulzer's klare Darſtellung mehrerer Saͤtze
der Wolfiſchen Philoſophie immer mehr fuͤr ſie gewon¬
nen, und ich bemuͤhte mich, ſie unumſtoͤßlich zu be¬
gruͤnden. Das Studium von Lambert's Organon,
von Spinoza's nachgelaſſenen Schriften, und vor
allem eine Fertigkeit in der Dialektik, die ich mir in
den Disputiruͤbungen mit meinem Freunde erworben
hatte, fuͤhrten mich [auf] viele Maͤngel in Wolf's Syſtem,
und beſonders empfand ich, ſeitdem ich die Evidenz der
[237] Geometrie fuͤhlte, den Unterſchied zwiſchen ihr und der
Art Ueberzeugung, welche aus Wolf’s demonſtrativer
Methode hervorgehen ſollte. So wie es mir in der
Geometrie mit dem Satze der Gleichheit der Parallelo¬
gramme ging, ſo ging es mir mit dem Beweiſe, den
Baumgarten in ſeiner Metaphyſik von dem Satz des
zureichenden Grundes giebt: ich fuͤhlte das Spiel mit
Worten, aber aufloͤſen konnte ich den dialektiſchen Schein
noch nicht. Ich zweifelte an allen Saͤtzen der Wolfi¬
ſchen Philoſophie, nur nicht an der Richtigkeit ihrer
Methode. Ich verſuchte immer noch ihre evidente Be¬
gruͤndung: und ich verſuchte ſie vorzuͤglich durch die
Konſtruktion des Realen oder in der Anſchauung Er¬
kennbaren, durch das bloße Denken, worauf mich die
Wolfiſche Erklaͤrung der Wirklichkeit, die ich als richtig
vorausſetzte, brachte. Von dem Satz: ich denke mich,
wollte ich durch Entwickelung deſſen, was ich nothwen¬
dig denke, wenn ich mich denke, zu allen nur denkbaren
Praͤdikaten einer Subſtanz, und von da aus, durch
Aufhebung der Schranken dieſer Praͤdikate, zu Gott,
und, durch das Beſtimmen der Grade dieſer Schranken
und der Kombinationen dieſer ſo beſtimmten Praͤdikate,
zur Welt gelangen. An dieſem abſoluten Dogmatis¬
mus, der Gott und die Welt aus mir hervorgehen ließ,
und den ich immer noch nur als die Vollendung der
Wolfiſchen Philoſophie anſah, ob es gleich eigentlich
Spinozismus haͤtte werden muͤſſen, ſobald es nicht als
[238] analytiſch aus dem Erkenntnißvermoͤgen abgeleitet, ſon¬
dern ſynthetiſch als Dogmatismus dargeſtellt, von mir
gedacht worden waͤre, arbeitete ich, als mir von einem
meiner Freunde geſagt wurde, er haͤtte eine Anzeige
von Kant’s Schriften geleſen, aus der hervorginge,
daß Kant die Unmoͤglichkeit der Begruͤndung des Wol¬
fiſchen Dogmatismus zeigen wollte. So wie ich dies
hoͤrte, ſo war auch mein Vorſatz gefaßt, Kant’s Schriften
zu leſen und zu widerlegen, um fuͤr mein Syſtem Raum
zu gewinnen. Dies war im Fruͤhjahr 1786.
Was Kant in der transcendentalen Aeſthetik vor¬
trug, das ſchien meinem Syſtem nicht entgegen, denn
an die Idealitaͤt des Raums und der Zeit hatte mich
die Leibnitziſche Art zu philoſophiren gewoͤhnt, und ich
begriff nicht ſogleich, wie ſehr dieſer die Kantiſche Dar¬
ſtellung entgegen war, zumal da ich nach Lamberts
Erinnerung, daß Leibnitz in ſeiner Erklaͤrung des Raums,
„er ſei die Ordnung der Dinge außer uns,” in dem
Worte „außer uns” ja ſchon den Raum vorausſetze,
an dieſer Erklaͤrung gekuͤnſtelt hatte. Ich fand daher
in der ganzen Analytik wenig Anſtoß, und erſt die
Paralogismen der reinen Vernunft machten mich auf
die gaͤnzliche Verſchiedenheit des Wolfiſchen Dogmatis¬
mus mit Kants Kriticismus aufmerkſam, aber ich gab
noch die Hoffnung, ihn da, wo er jenem entgegen ſtehe,
zu widerlegen, nicht auf. Die Antinomien weckten meine
hoͤchſte Anſtrengung, und ich entdeckte die Wortſpiele
[239] in den Beweiſen, welche eine unvermeidliche Folge der
Behauptung ſind, daß Raum und Zeit Gegenſtaͤnde
fuͤr einen Begriff waͤren, und aus dem Begriff wieder
erkannt werden koͤnnten; aber mit dieſer Einſicht ſchwand
auch der dialektiſche Schein, welcher in Wolf’s Syſtem
herrſcht, welchem eine im Gehorſam des Glaubens
erzogene Vernunft, die dieſen Gehorſam als Wahl der
Freiheit beſchoͤnigen will, nothwendig unterliegen muß.
Nun belebte mich der Geiſt von Kant’s Kritik der
reinen Vernunft, der mich anfangs zu toͤdten ſchien,
nun fuͤhlte ich mich erſt als denkendes Weſen, unbe¬
ſchraͤnkt durch alles, was die Menſchen gut fanden,
einander glauben zu machen, und ungeſtoͤrt in meinem
der Vernunft nicht widerſprechenden Glauben durch den
Vorwurf, daß ich ihn nicht ſchulgerecht beweiſen konnte.
Ich fuͤhlte ein neues Leben und Streben in mir, die
Gegenſtaͤnde meines Wiſſens und Glaubens waren mir
beſtimmt, und keine fruchtloſe Anſtrengung verzehrte
mehr meine Kraͤfte.
Kant’s Prolegomena zu einer jeden kuͤnftigen Me¬
taphyſik waren mir nur angenehme Wiederholung der
Lehren ſeiner Kritik, und ich las ſeine Grundlegung
der Metaphyſik der Sitten mit dem Vergnuͤgen, das
eine Unterhaltung mit einem vertrauten, aber an Weis¬
heit uns vorausgeſchrittenen Freund giebt. Aller Genuß
aber, den ich in meinem Leben erhielt, ſchwindet gegen
die Durchbebung meines ganzen Gemuͤths, die ich an
[240] mehreren Stellen von Kant’s Kritik der praktiſchen
Vernunft empfand. Thraͤnen der hoͤchſten Wonne ſtuͤrz¬
ten mir oͤfters auf dies Buch, und ſelbſt die Erinnerung
dieſer gluͤcklichen Tage meines Lebens naͤßt jederzeit
meine Augen, und richtete mich auf, wenn nachher
widrige Ereigniſſe und eine traurige Stimmung meines
Gemuͤths mir alle frohe Ausſicht in dieſem Leben ver¬
ſperrten. Sollte mein Leben eine Begebenheit in der
Geſchichte der Menſchen werden, und nicht blos ein
Mittel zur Erhaltung der Menſchengattung ſein; werde
ich ausdauern im Kampfe mit dem niederſchlagenden
Gedanken, den mir die Geſchichte der Zeit ſo oft, wie
ein feindſeliger Daͤmon, in die Seele blaͤſt: der Glaube
an Entwickelung der Menſchheit im Gewuͤhle des Trei¬
bens und Thuns des Menſchen iſt ein Ammenmaͤhrchen,
um das Kind vom Mittreiben und Mitlaufen auf der
Straße des rohen Genuſſes abzuhalten, und ein leerer
Troſt uͤber den verſaͤumten Jubel ſeiner Kameraden,
— werde ich ihm widerſtehen, dieſem geiſterdruͤckenden
Gedanken, ſo iſt es dein Werk, mein Lehrer, mein
Vater im Geiſte! Fuͤhle ich mich nach dieſem oͤfter
wiederkehrenden Fieberanfall der Gemeinheit fortdauernd
noch durch das Bewußtſein geſtaͤrkt: ich bin, der ich
bin, kein Anderer hat meine Pflichten, kein Anderer
darf fuͤr mich denken, die Welt, die ich anſchaue, iſt
die Aufgabe fuͤr mein Wiſſen, das Gefuͤhl der Freiheit
in mir iſt allein der Richter meines Werths; was ich
[241] im Laufe der Welt nuͤtzte, iſt Aufgabe der Unterſuchung
kuͤnftiger Menſchen; was ich ſein wollte, iſt allein mein
Eigenthum: ſo iſt es dein Werk, mein Lehrer, mein
Vater im Geiſte!
Hier ſchließt ſich meine philoſophiſche Erziehung, ich
ging nicht mehr zuruͤck auf die erſten Gruͤnde, ſondern
ſuchte vielmehr in den andern Wiſſenſchaften von meiner
Philoſophie zulaͤſſigen Gebrauch zu machen. Kant's
Kritik der Urtheilskraft gab mir unendliches Vergnuͤgen,
aber keine mich befremdende Lehre mehr, ſie erweiterte
noch meine Einſicht, aber ſie zeigte mir keinen neuen
Weg mehr.
Die Art meiner Bildung, wie der Leſer wohl ſchon
ſelbſt bemerkt haben wird, ſchloß die Uebung in ſchrift¬
lichen Aufſaͤtzen ganz aus, und meine erſten Verſuche
waren einige Aufſaͤtze, die ich in einer Geſellſchaft, von
welcher Doͤrrbaum und Oſterhauſen die Stifter waren,
verfertigte. In dieſer Geſellſchaft, die woͤchentlich zu¬
ſammen kam, mußte jeder nach der Reihe einen Aufſatz
liefern, und jedes Mitglied die Woche darauf eine Re¬
cenſion daruͤber mitbringen. Dieſe Geſellſchaft dauerte
aber nur bis 1783, da mein Freund Oſterhauſen und
einige andere Mitglieder auf Univerſitaͤt gingen. Der
Briefwechſel mit meinem Freunde war nun meine einzige
Uebung im Schreiben, bis mich auch die Liebe veran¬
laßte, oͤfters zu ſchreiben. Dieſe wenige Uebung im
Schreiben, welche mir das Mechaniſche des Schreibens
16[242] ſchon zu einem unangenehmen Geſchaͤft machte, hatte
auf mein ganzes Leben großen Einfluß. Da ich ſehr
ungern ſchrieb, ſo ſtrebte ich nach moͤglichſter Kuͤrze,
und meine Freunde, welche den Gang meiner Ideen
kannten, fanden dieſe Kuͤrze ſelten dunkel, aber um ſo
mehr ward ich es fuͤr Andere. Ferner hatte ich den
Styl nur in meinen Gedanken, aber nicht in meiner
Feder, und viele zur Sprachrichtigkeit gehoͤrige Kennt¬
niſſe, die eine fruͤhe Uebung im Styl ausuͤben lernt,
ohne daß man ſie deutlich denkt, dachte ich mir ſehr
deutlich, ohne ſie in Ausuͤbung zu bringen. Dieſe
Kargheit im Schreiben war Urſache, daß ich in einigen
meiner Schriften mehr einen kurzen Inhalt von dem,
was ich dachte, als das Gedachte ſelbſt lieferte, und
daß ich ſelten einen Grund angab, warum ich dieſe
oder jene Anſicht der Sache nicht billigte, ſondern nur
die wahre darſtellte. Ohne Freundſchaft und Liebe haͤtte
ich wahrſcheinlich das Schreiben verlernt. Der in mir
geweckte Hang zur romanhaften Liebe hatte durch meine
philoſophiſchen Unterſuchungen uͤber die Liebe ſelbſt eine
eigene Wendung genommen. Ich hielt es zu meiner
gaͤnzlichen Unabhaͤngigkeit fuͤr nothwendig, eine Geliebte
zu haben. Meinen Geſchlechtstrieb hatte ich mir unter¬
worfen, und ich ſuchte blos freundſchaftliche Liebe, bis
meine aͤußere Lage es mir geſtatten wuͤrde, Vater von
Kindern zu ſein; aber ich wußte durch meine aͤltern
Freunde, daß dieſer Trieb noch ſtaͤrker in mir erwachen
[243] wuͤrde, und ich wollte daher ihm ſeinen Gegenſtand
noch bei ruhigerer Gemuͤthsſtimmung waͤhlen. Die voll¬
kommenſte freundſchaftliche Eintracht in den Zwecken
des Lebens, und die, wenn es die Umſtaͤnde erlauben,
durch den wechſelſeitigen Sinnengenuß vor aller Be¬
herrſchung durch den Trieb geſicherte Freiheit, war das
Ideal meiner Liebe. Ich glaubte dies Ideal zu reali¬
ſiren, und wenn ich auch nach einigen Jahren meine
Taͤuſchung erkennen mußte, ſo moͤchte ich doch um
nichts dieſe Jahre ſeliger Traͤume aus meiner Erinnerung
verlieren. Noch fuͤhrt mich jede helle Mondnacht in
dieſen ſuͤßen Wahn zuruͤck, — ach nein, es war nicht
Wahn, es war damals Wirklichkeit, dieſes feſte Ver¬
trauen auf Harmonie unſerer Seelen, dieſe Abgeſchie¬
denheit von allem Koͤrperlichen in unſerer Vereinigung,
dies Vollendete in unſerm Sein! Frei fuͤhlte ich mich
von allem Einfluß der Welt auf mich an deiner Seite,
und unendlich ſtark, auf ſie zu wirken! In dieſem
Kraftgefuͤhl entſtand die kuͤhne Idee in mir, eine voll¬
ſtaͤndige Theorie der Geſetzgebung liefern zu koͤnnen,
und dies zur Beſtimmung meines Lebens zu machen,
weil ich noch nicht daran dachte, von was, ſondern
nur, fuͤr was ich leben wollte.
Bald nachdem mein Oſterhauſen auf die Univerſitaͤt
gegangen war, machte ich Bekanntſchaft mit Herrn von
Grundherr, der damals Lieutenant bei den nuͤrnbergi¬
ſchen Truppen, der zehn Jahr aͤlter als ich, und mir
16 *[244] in Sprachkenntniſſen weit uͤberlegen war. Mit ihm
las ich Epiktet und Cebes zuerſt; Marc Antonin hatte
ich ſehr fruͤhe in einer franzoͤſiſchen Ueberſetzung geleſen,
und ehe ich noch Kant's Moralprincip kannte, hatte
ich mir ſchon die aͤchten Stoiker zum Muſter gewaͤhlt,
und mir meine Heftigkeit, mein Weinen, wenn es mir
nicht nach Wunſche ging, abgewoͤhnt. Rollin's Ma¬
nière d'enseigner les belles lettres war mir ſchon
in meinem vierzehnten Jahre in die Haͤnde gekommen,
und weckte in mir das Verlangen nach klaſſiſcher Lit¬
teratur, und mit meinem Freunde von Grundherr fand
ich die Gelegenheit, es zu ſtillen. Dieſen konnte ich
bei Schwierigkeiten, die mir in lateiniſchen und griechi¬
ſchen Schriftſtellern aufſtießen, zu Rathe ziehen, und
er verlangte dafuͤr oͤfter meinen Rath bei mathematiſchen
und philoſophiſchen. So ſehr entſchieden ſeine Ueber¬
legenheit war, wo ich ſeiner bedurfte, ſo problematiſch
war die meinige, da, wo er meiner zu beduͤrfen glaubte.
Unbedingte Liebe zur Wahrheit kettete uns an einander,
und ſeine Freundſchaft fuͤr mich, die ſich auf dieſe Ein¬
ſtimmung des Karakters gruͤndete, ließ es nicht zu,
daß er der uneigennuͤtzige Wohlthaͤter gegen mich ſchien,
er wollte von mir bezahlt ſcheinen. Wir lebten mehrere
Jahre viele gluͤckliche Stunden mit einander, und ohne
daß unſere Herzen ſich getrennt haben, ſind wir doch
durch einige ungluͤckliche Ereigniſſe in unſerm Verhaͤlt¬
niſſe geſtoͤrt worden. Dieſe Jahre der Freundſchaft
[245] und Liebe, wo mir das Forſchen nach Wahrheit der
einzige Zweck meines Lebens, die Mittheilung meiner
Entdeckungen an meine Freunde meine einzig gewuͤnſchte
und erhaltene Belohnung, und die Unterhaltung mit
meiner Geliebten uͤber Freundſchaft und Liebe der vollen¬
dete Genuß der Liebe war, dieſe Jahre machen bis jetzt
noch mein wahres Leben aus; thaͤtig werde ich ſein,
ſo lange ich lebe, und vieles Vergnuͤgen habe ich ſeit¬
dem noch empfunden, aber mein Leben ſelbſt, ohne
alles Einzelne ſeiner Verhaͤltniſſe, als unmittelbaren
Genuß des Seins, hatte ich nur damals, als ihr, meine
mir ewig Unvergeßlichen, meine ganze Welt, fuͤr die
ich da ſein wollte, ausmachtet!
Bei der freien Wahl meiner Gegenſtaͤnde der Er¬
kenntniß traf ich auch auf die Heilkunde; als Theil der
Phyſik lag ſie in dem Kreis, den ich fuͤr mein Wiſſen
als den nuͤtzlichſten ausgezeichnet hatte, und die beſtaͤn¬
dige Kraͤnklichkeit meiner Mutter und meine eigenen
Zufaͤlle lenkten meine Aufmerkſamkeit auch noch beſon¬
ders auf ſie. Aus den Buͤchern, die mir in die Haͤnde
fielen, hatte ich ſo viel gelernt, daß ich meine Mutter
im Jahre 1785 von einer falſchen Lungenentzuͤndung
gluͤcklich heilte.
Da in Nuͤrnberg ein anatomiſches Theater iſt, auf
dem zu Zeiten Vorleſungen fuͤr die Chirurgen gehalten
werden, ſo hatte ich ſehr fruͤhe Gelegenheit, die Knochen-,
Muskel- und Eingeweidelehre einigermaßen kennen zu
[246] lernen, und ich begriff dadurch ſehr leicht Haller’s kleine
Phyſiologie. Die Anlage meines Geiſtes, von ſynthe¬
tiſcher Darſtellung vorzuͤglich angezogen zu werden, die
der Wolfiſchen Methode bei mir ſogleich Eingang ver¬
ſchaffte, mußte mich in der Heilkunde ſo bald fuͤr Boer¬
have’n gewinnen, als ich ihn kennen lernte, und Gau¬
bius mir in der Medicin werden, was mir Baumgarten
in der Philoſophie war. Doch konnte meine Anhaͤng¬
lichkeit, da ich einmal zweifeln gelernt hatte, nicht ſo
lange dauern, und nachdem ich mir einige Kenntniſſe
in den theoretiſchen Theilen der Heilkunde erworben
hatte, wandte ich meine Dialektik gegen die Heilkunde
an, und fand ſie ſehr ſchwach begruͤndet. Dies for¬
derte mich zur Unterſuchung ihrer Grundſaͤtze auf, und
dieſe Unterſuchung wurde der Gegenſtand mehrerer im
Jahre 1786 mit meinem Oſterhauſen gewechſelten Briefe.
Mit den Reſultaten, die ich damals fand, bin ich noch
einverſtanden, und was ich nachher von meinen ent¬
worfenen Organen der Heilkunde bekannt machte, iſt
eine weitere Ausfuͤhrung der Briefe. Eine Beſchaͤfti¬
gung des Geiſtes, die durch die Zeitgeſchichte veranlaßt
wurde, lenkte mich von der Fortſetzung dieſer Unter¬
ſuchungen ab; naͤmlich durch die damalige Verfolgung
und Aufhebung des Illuminatenordens wurde meine
Aufmerkſamkeit auf geheime Geſellſchaften gelenkt, und
ich unterhielt mich mit meinen Freunden daruͤber. Da
es ſo ſehr leicht iſt, zu bemerken, daß die Menſchen
[247] ſelten ſind, wie ſie nach einem moraliſchen Ideal ſein
ſollten, und die Eitelkeit uns veranlaßt, ſich zu den
Beſſern zu zaͤhlen, ſo ſtieg in mir der Wunſch auf,
die andern Menſchen ſo gut zu machen, als ich nebſt
meinen Freunden zu ſein glaubte, und einen Plan zu
einem Bunde aller beſſern Menſchen zur Erziehung der
uͤbrigen zu entwerfen. Mein Plan erhielt den Beifall
meiner innigſten Freunde, aber wie er ins Werk zu
ſetzen, das wußte keiner, denn alle aͤußern Vortheile,
welche geheime Geſellſchaften dem groͤßern Haufen wuͤn¬
ſchenswerth machen, waren daraus verbannt, und wir
konnten dadurch nicht inniger vereint werden. Die Kritik,
die mir einer meiner fruͤhern Lehrer, ein Jugendfreund
meines Vaters, Rektor Lederer, als ich ihm den Plan
meines Bundes zur Erziehung des Menſchengeſchlechts
vorlas, daruͤber mit den Worten machte: „Ach Gott,
wie leid thut es mir, daß ich keine Mitglieder dazu
vorzuſchlagen weiß!“ ſchlug meine Hoffnung nieder und
erweckte die Ueberzeugung, daß es zu dem wahren
Guten keiner andern Verbindung, als der eines tugend¬
haften Wandels beduͤrfe.
Mit vieler Wehmuth erfuͤllte mich aber der Gedanke,
daß es unmoͤglich ſei, in meiner Lage etwas fuͤr die
Menſchheit Wichtiges zu beginnen. Das Streben nach
idealiſcher Groͤße in meinem Innern und die Unmoͤg¬
lichkeit, durch meine Thaten ſie auch fuͤr andere ſchein¬
bar zu machen, hatte mich ſchon fruͤher manchmal ſchwer¬
[248] muͤthig gemacht, und nur die Erkenntniß, daß ich mei¬
nem Ideale ſelbſt noch nicht Genuͤge leiſtete, erhielt
mich in fortdauerndem Streben nach Vervollkommnung.
Oft aber ſtieg meine Unzufriedenheit mit der Welt zu
einem Grade, der mir den Gedanken des Selbſtmordes
eingab, und mich vielleicht auch haͤtte dahin fuͤhren
koͤnnen, wenn nicht Freundſchaft und Liebe mich wieder
erheitert und mir den Geſchmack am Leben erhalten
haͤtten. Eben ſo viel trug aber auch dies dazu bei,
mich von dieſem Verbrechen abzuhalten, daß ich uͤber
die Unrechtmaͤßigkeit des Selbſtmordes bei kaltem Nach¬
denken entſchieden, und ich es mir uͤberhaupt zur Maxime
gemacht hatte, in allen Kaͤmpfen der Leidenſchaft nicht
mehr zu vernuͤnfteln, ſondern die von meinen fruͤhern
Unterſuchungen im Gedaͤchtniß behaltenen Reſultate als
unbedingte Gebote zu beobachten. Es iſt eine prag¬
matiſche Regel fuͤr jeden Menſchen, wenn ihn eine Ge¬
muͤthsbewegung zu etwas treibt, ſich nach den fruͤheren
Reſultaten ſeiner Unterſuchungen ſchlechterdings zu richten,
oder wenn er ſich keiner bewußt iſt, ſeiner Neigung,
ohne zu vernuͤnfteln, zu folgen, denn dann kann er
Andern oder ſich nur Schaden zuziehen, den er abbuͤßen
kann, wenn ſie wider Recht oder Klugheit iſt; aber
will er, waͤhrend die Neigungen ihn ziehen, erſt unter¬
ſuchen, ſo bringen ſie gewiß ſeine Urtheilskraft unter
ihren Fuß, und er ſetzt ſich der Gefahr aus, anſtatt
[249] nur eine ſchlechte Handlung begangen zu haben, ein
ſchlechter Menſch geworden zu ſein.
Nun entwickelte ſich endlich meine Beſtimmung.
Fruͤher, im Jahre 1785, machte ich die Bekanntſchaft
des Hofraths von Siebold auf einer ſeiner Reiſen durch
Nuͤrnberg. Dieſen fuͤr ſeine Kunſt einzig lebenden Mann
gewannen meine wenigen mediciniſchen und chirurgiſchen
Kenntniſſe, er ermahnte mich, mich ganz der Heilkunde
zu widmen, und verſprach mir, wenn ich Wuͤrzburg
zu meinem Aufenthalte waͤhlen wollte, mich auf das
moͤglichſte zu unterſtuͤtzen. Ich dachte aber nicht daran,
bis im Jahr 1787 meine Mutter ſtarb. Nach beſtaͤn¬
digem Kraͤnkeln fand ich ſie eines Morgens mit einer
rothlaufaͤhnlichen Geſchwulſt am Kopfe und im Geſichte
ohne Beſinnung im Bette, und meine Verſuche, ſie
ihr zu geben, waren fruchtlos, ſie ſtarb noch am naͤm¬
lichen Tage. Ich habe bisher noch keinen Kranken
in aͤhnlichem Zuſtande geſehen, und kann daher auch
nicht ſagen, ob ich ſie richtig oder falſch behandelt;
ich waͤhlte zur verſuchten Heilung Blutegel, Blaſen¬
pflaſter und Klyſtiere. Der Tod meiner Mutter ver¬
anlaßte mich, uͤber meine kuͤnftige Lebensart reiflicher,
als bisher, nachzudenken. Ich fand es billig, daß mein
Vater nochmals heirathen ſollte, und daß ich, um ihm
nicht im Wege zu ſein, das Haus verließe. Ich er¬
innerte mich Siebold's Verſprechen und ging im Herbſte
1788 mit meinem Freunde Oſterhauſen nach Wuͤrzburg.
[250] Hofrath von Siebold hielt mir Wort. Ich genoß von
ihm allen Unterricht, den er ertheilte, unentgeltlich,
ich ward von ihm wie ein Sohn behandelt, und er
gehoͤrt unter die wenigen Perſonen, denen ich fuͤr ge¬
noſſene Wohlthaten verpflichtet bin, und wo mir die
Erinnerung derſelben noch ſo angenehm iſt, als wenn
ich ſie erzeigt, anſtatt genoſſen haͤtte.
Zwei Jahre verlebte ich in Wuͤrzburg in einem
Kreiſe von Juͤnglingen, denen es ein Ernſt war, ſich
zu unterrichten, und dies gab unſeren Freuden, die
wir uns nicht verſagten, die Wuͤrde verdienter und
nothwendiger Erholung von unſerer Anſtrengung.
Durch meine Art mich zu bilden zu ſehr gewohnt,
den theoretiſchen Unterricht nur von Buͤchern zu em¬
pfangen, beſuchte ich außer Siebold’s Vorleſungen und
dem praktiſchen Klinikum von Hofrath Wilhelmi keinen
andern Lehrvortrag, ſondern widmete meine Zeit der
Beſorgung von Patienten unter Siebold’s Leitung,
den Anatomien, dem Leſen, dem Nachdenken und dem
Briefwechſel uͤber wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde mit mei¬
nen Freunden. Der Verkehr mit meinen Freunden
milderte in etwas den nachtheiligen Einfluß, welchen
das ausſchließliche Lernen aus Buͤchern auf meinen
Karakter hatte. Was man aus Buͤchern lernt, dafuͤr
glaubt man niemand verbindlich zu ſein, es bildet ſich
ein ſtolzes Gefuͤhl von ſelbſterworbenem Werthe, und
man beurtheilt alle Menſchen nur nach dem, was ſie
[251] einem ſagen koͤnnen, das noch in keinem Buche ſteht.
Man achtet nur das geniale Selbſtdenken und ver¬
achtet zu ſehr das zu den wirklichen Vorfaͤllen des
menſchlichen Lebens nothwendige Ausuͤben deſſen, was
man weiß, wenn es auch kein voͤllig gruͤndliches Wiſſen
iſt. Man ſetzt das Brauchbare mit dem Gemeinen in
eine Klaſſe und ſtrebt nur nach dem Bewunderns¬
wuͤrdigen, wenn es auch dem Menſchen nichts nuͤtzen
kann.
Im Jahr 1790 im Fruͤhjahr verließ mich zuerſt
mein Freund Oſterhauſen, um eine weite Reiſe zu
machen, und im Sommer darauf verließ ich auch
Wuͤrzburg. Ich reiſ'te nach Frankfurt am Main, um
die Wahl und Kroͤnung Kaiſer Leopolds zu ſehen, und
hatte davon den Nutzen, daß ich allen Geſchmack, ſol¬
chen koſtbaren Ceremonien nachzulaufen, verlor, und
ging mit reiflicherer Erwaͤgung des Spruchs: „Alles
iſt eitel,“ zuruͤck, als ich gekommen war. Meine Ge¬
muͤthsſtimmung war in dieſer Zeit trauriger, als ſie
bisher noch je war, denn nun ſollte ich waͤhlen, wie
ich der Welt nuͤtzlich ſein und mich ſelbſt ernaͤhren
wollte. Meine Wahl des mediciniſchen Studiums war
mehr ein ſchneller Entſchluß als eine durch Ueberlegung
auf Anregung beſtimmter Neigung getroffene Wahl.
Alles, was ich gelernt hatte, lernte ich, weil ich Ge¬
ſchmack daran fand. Was ich that, that ich ohne alle
Ruͤckſicht auf Belohnung, weil es mir gefiel. Dies
[252] freie Spiel meiner Kraͤfte mußte nun aufhoͤren, ich
ſollte arbeiten, um mein Brod zu verdienen, und zwar
nicht mit meinen Haͤnden, wie es in meines Vaters
Hauſe geſchehen war, ſondern mit meinem Geiſt. Fuͤr
das, was meine Haͤnde leiſteten, Geld zu nehmen,
das kam mir natuͤrlich vor, weil ich es von Jugend
auf von meinem Vater geſehen hatte, und ward in
meinem Gefuͤhle noch dadurch veredelt, daß ich von
dieſem Gelde keinen andern Gebrauch, als fuͤr die
Bildung meines Geiſtes, machte; aber dies freie Spiel
meiner Geiſteskraͤfte einzuſchraͤnken, und das nur durch
ſie hervorzubringen, was von andern Menſchen des Gel¬
des werth gehalten wird, dies ſchien mir unmoͤglich.
Haͤtte meines Vaters Geſchaͤft zwei Haushaltungen er¬
naͤhren koͤnnen, ſo waͤre mein Entſchluß gefaßt geweſen,
ich waͤre bei meiner Profeſſion geblieben und haͤtte die
Wiſſenſchaften und Kuͤnſte zu meiner Erholung getrieben;
aber ſo haͤtte ich auch hier ein anderes Fach waͤhlen und
nicht blos fuͤr Geld arbeiten koͤnnen, ſondern mir erſt
Kundſchaft machen und meine Abneigung gegen alle Kol¬
liſſion in Erwerbsſachen mit andern Menſchen uͤberwinden
muͤſſen. Die Stimmung meines Gemuͤths neigte ſich
gaͤnzlich zur Melancholie, und der Gedanke, verhungern
zu muͤſſen, der mich ſchon in der Periode meiner Nerven¬
ſchwaͤche manchmal aͤngſtigte, waͤre wahrſcheinlich zur
fixen Idee geworden, wenn meine vielſeitige Bildung
mir nicht uͤberall Gegenſtaͤnde zur Zerſtreuung gezeigt
[253] und meine Religion nicht den Gedanken in mir lebendig
erhalten haͤtte, daß, wenn mein Leben in den Plan der
Vorſehung zur Erziehung der Menſchheit gehoͤrte, ſie
auch fuͤr daſſelbe ſorgen wuͤrde, und wenn es nur ein
Glied in der Kette der Naturweſen ſein ſollte, es fuͤr
mich auch keinen Werth haben und ich nichts daran ver¬
lieren koͤnnte. Dieſer Gedanke war ſtets mein Troſt in
allen Gefahren, und damals erhielt er meine Kraft,
daß ich, ohne mich um die entfernteſte Zukunft zu be¬
kuͤmmern, mich entſchloß, ein Reiſe zu machen und den
Zufall uͤber mich walten zu laſſen. Um meinen Leſern
meine Schwermuth begreiflich zu machen, muß ich noch
bemerken, daß ich eine ſtarke Abneigung hatte, unter
den Aerzten meiner Vaterſtadt zu leben, weil ſie mich,
ſo wie die uͤbrigen Fakultaͤtsgelehrten, zu haſſen ſchienen;
daß ich auf keinen einzigen Goͤnner zu rechnen hatte,
weil ich nur daran dachte, die Freundſchaft derer, die
ich achtete, aber mir die Gewogenheit derer, die mir
nuͤtzen konnten, zu erwerben. Um dieſen Zug meines
Karakters zu erklaͤren, muß ich noch einmal auf die
Umſtaͤnde meiner fruͤhern Bildung zuruͤckgehen.
Mein Vater hatte bei einer froͤhlichen Laune das
Talent, die meiſten Menſchen bis zur Taͤuſchung nach¬
zuahmen. Ich erinnere mich noch, daß ein Bierwirth,
als er an der Thuͤre ſeiner Schenkſtube ſtand, waͤhrend
mein Vater, der immer ſeine Rolle ſpielte, mit aͤngſt¬
licher Verlegenheit ausrief: „Nun weiß ich nicht, bin
[254] draußen oder drinn!“ Da mein Vater deßwegen von
luſtiger Geſellſchaft geſucht wurde, und ich daher von
Jugend auf uͤber die laͤcherlichen Gebrechen Andrer ſpot¬
ten hoͤrte, ſo erwachte in mir ein Hang zur Satyre,
der ſich vorzuͤglich fruͤhe zur Ironie ausbildete. Dieſe
Art des Spottes war aber bei mir, ſo wie in der Ge¬
ſellſchaft, wo ich ihn lernte, ohne alle Boͤsartigkeit,
und jeder ertrug ihn eben ſo gutmuͤthig, wenn er uͤber
ihn ergoſſen wurde, als er ihn muthwillig bei irgend
einer Gelegenheit uͤber Andre ergehen ließ. Dies ver¬
leitete mich, den Spott bloß als eine Gelegenheit, ſeinen
Witz zu zeigen und gar nicht als eine Beleidigung an¬
zuſehen, die jemand uͤbel nehmen koͤnnte. Meine Nach¬
forſchungen uͤber wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde gaben mir
eine ernſthafte Miene, und meine Gleichguͤltigkeit gegen
alles Gewoͤhnliche im menſchlichen Leben, das unter
dem Namen von Neuigkeiten die Unterhaltung vieler
Menſchen ausmacht, machte mich ſtill und gab mir fuͤr
Viele das Anſehen von Einfaͤltigkeit. Ich ſprach nur
dann einige Worte, wenn ſich mir Gelegenheit zu witzi¬
gem Spott zeigte, und beleidigte dadurch, ohne daß ich
es wollte, um ſo tiefer, da es ganz unerwartet kam
und mein Spiel des Witzes fuͤr einen Ausfluß eines
boshaften Herzens gehalten wurde. Ich machte mir
dadurch viele heimliche Feinde, ohne daß ich es wußte,
und jeder, der mich nicht ganz kannte, und dies waren
ſehr wenige, machte es ſich zum Geſchaͤft, mich zu
[255] demuͤthigen, oder, wenn dies nicht gelang, mich noch
Mehreren verhaßt zu machen. So lange ich nicht
daran dachte, daß man ohne Gunſt ſeiner Mitbuͤrger
nicht gluͤcklich unter ihnen leben kann, ſo lebte ich dar¬
uͤber in gaͤnzlicher Sorgloſigkeit; aber nun, da ich meine
Lebensart mir waͤhlen ſollte, fing ich es an zu fuͤhlen,
und es vermehrte meine Aengſtlichkeit uͤber mein kuͤnf¬
tiges Schickſal, ohne den lebendigen Entſchluß hervor¬
zubringen, mich zu aͤndern, ſondern ich fing vielmehr
an, diejenigen, uͤber deren Fehler ich bisher nur ge¬
ſpottet hatte, zu verachten. Nur mein unbedingtes
Vertrauen auf meine Freunde, und die Gewißheit, daß
dieſe mich liebten, rettete mich von der Klippe, an der
Rouſſeau ſcheiterte: mich auf der einen und alle andern
Menſchen auf der andern Seite als zwei Parteien zu
betrachten. Ich entſchloß mich alſo, eine Reiſe zu
machen und meinen Lieblingsgedanken auszufuͤhren, Kant
zu ſehen und zu ſprechen. Reinhold in Jena hatte mich
durch ſeine Theorie des Vorſtellungsvermoͤgens ſehr an¬
gezogen, und ich verſprach mir eine Erweiterung meiner
philoſophiſchen Kenntniſſe durch ſeinen Umgang; ich be¬
ſchloß daher, den Winter in Jena zuzubringen. Ich
fand hier Reinhold ſo liebenswuͤrdig, als ich mir ihn
vorgeſtellt hatte, und ſein Haus war mein liebſter Aufent¬
halt. Ich kam in vertraulichen Umgang mit Schiller
und erlangte die Freundſchaft Wielands. Dies war
Lohn genug fuͤr dieſe kleine Reiſe, aber es war mir
[256] noch mehr beſchieden, — ich fand dort einen Baron
Herbert aus Klagenfurt, den die Liebe zum Wiſſen
allein bis dorthin gefuͤhrt hatte, und der daher meine
ganze Aufmerkſamkeit auf ſich zog. So wie das In¬
tereſſe am Vergaͤnglichen die Menſchen theilt und Zwie¬
tracht unter ſie bringt, ſo einigt ſie das Intereſſe am
Unvergaͤnglichen, d. h. an Wahrheit, Kunſt und Recht,
und verbindet ſie zur Freundſchaft. Wir wurden daher
bald die innigſten Freunde, und die ſeligen Stunden,
die wir in Geſellſchaft verlebten, erſetzten mir meinen
Oſterhauſen. Ich verſprach ihm, nach meinem Beſuch
bei Kant zu ihm zu kommen.
Durch Schillers Bekanntſchaft wurde ich veranlaßt,
ihn in Rudolſtadt bei ſeinem Schwager zu beſuchen.
Ich verlebte hier einige der gluͤcklichſten Tage meines
Lebens, unter lauter gebildeten Menſchen, die mich an
aͤußerer Bildung alle uͤbertrafen, und die doch Guͤte
genug hatten, mir meine innere als einen Erſatz fuͤr
die aͤußere anzunehmen. Die Prinzen und Prinzeſſinnen
kamen beſtaͤndig in dieſes Haus, und meine geringe
Fertigkeit im Zeichnen und Kenntniß des Generalbaſſes
erwarb mir ihre Gunſt. Ich wurde hier zum erſtenmal
Schriftſteller und ſchrieb den Anfang einer Sammlung
von Geſpraͤchen, wozu ich den Plan ſchon fruͤher ge¬
macht hatte. Sie wurden unter der Aufſchrift: „Mi¬
mer und ſeine jungen Freunde“ in der Thalia ab¬
gedruckt.
[257]
Der Ton, der hier herrſchte, war die unſchuldigſte
Geſelligkeit, die ich bisher geſehen hatte. Ich war eines
Abends auf dem Schloſſe und phantaſirte auf Verlangen
auf einem Fortepiano; meine Laune gab mir deutſche
Taͤnze ein, und dieſe wirkten auf die Geſellſchaft ſo,
daß ſie zu tanzen anfing und ich meine Taͤnze fort¬
ſpielen mußte. Reinhold, der auch auf Beſuch hier war,
ſagte mir in's Ohr: „Nun erfahre ich, was ich in
meinem Leben nicht erwartet habe, daß ein Hof nach
der Muſik eines Philoſophen tanzt“; es hoͤrte es aber
doch ein Naheſtehender, der Scherz wurde in der Ge¬
ſellſchaft verbreitet und gefiel jedermann. — O mein
Vaterland, was koͤnnte die Menſchheit von dir hoffen
— und was erlebe ich an dir! —
Mit dem Buchhaͤndler Goͤſchen ging ich zu Fuß
zuruͤck nach Jena, und fand auch in ihm einen Freund.
Unſere Hoffnungen von der deutſchen Literatur waren
groß. Er leiſtete fuͤr ſie, was kaum zu erwarten war,
und ich blieb in meinen Verſprechungen, doch nicht ganz
mit meiner Schuld, zuruͤck. — Auf unſerm Wege be¬
ſchaͤftigte uns der Plan einer Bibeluͤberſetzung als Toi¬
lettenbuch. Die Ueberſetzung wurde von uns vertheilt,
und wir ſahen im Geiſte die Fruͤchte dieſes Unterneh¬
mens der groͤßern Mittheilung dieſer Geſchichte der
Menſchheit, welche dieſes Buch nicht ſowohl durch die
Erzaͤhlungen ſelbſt, als vielmehr durch die Art, wie er¬
zaͤhlt wird, und durch das Umfaſſende in der Darſtel¬
17[258] lung aller Situationen, in welche die Menſchen als
Naturweſen kommen muͤſſen, liefert. Wir ergoͤtzten uns
an dem Einfluß, den das Studium der Bibliothek des
aͤlteſten uns bekannten Volks auf die Bildung der
Menſchen haben wuͤrde, wenn man es einmal als ein
in den Plan der goͤttlichen Vorſehung gehoͤriges Mittel
zur Verſtaͤndigung des Menſchen mit ſich ſelbſt, und
nicht mehr als von Gott eingegebenen Buchſtaben be¬
trachten wuͤrde. Der Weg wurde uns durch dieſe Be¬
trachtungen ſo angenehm, wie ein Weg zur ewigen
Seligkeit. Aus dem Vorhaben iſt zwar nichts gewor¬
den, aber es hat ſich doch hinlaͤnglich durch den Genuß,
den mir die Erinnerung noch giebt, belohnt.
Von Jena reiſ’te ich uͤber Goͤttingen durch den Harz
und uͤber Hamburg und Kiel nach Kopenhagen, wo ich
von Reinhold an Profeſſor Baggeſen empfohlen war,
und von dieſem in das Haus des Miniſters Schimmel¬
mann eingefuͤhrt wurde. Mein Aufenthalt daſelbſt ge¬
hoͤrt auch unter meine ſeligen Erinnerungen. Von
Kopenhagen ging ich zur See nach Memel, und von
da nach Koͤnigsberg. Hier genoß ich den Umgang Kants
und lebte ſelige Tage. Die Art, wie ich mit Kant
uͤber ſeine Werke ſprach, ſchien ihm unerwartet zu ſein,
ich verlangte von ihm keine Erlaͤuterungen, ſondern
dankte ihm nur fuͤr die Wonne, die ſie mir verſchafft
hatten, und ſagte ihm kein ſchmeichelhaftes Wort de߬
wegen. Dieſe Leichtigkeit ihn zu verſtehen, die ſich in
[259] mir ausdruͤckte, ſchien ihn anfangs zweifelhaft zu machen,
ob ich ſeine Werke geleſen haͤtte, aber bald verſtaͤndigten
wir uns und fanden uns als fuͤr einander paſſende
Geſellſchafter. Es troͤſtete mich uͤber manches widrige
Urtheil, das manche Gelehrte uͤber mich faͤllten, daß
mir Kant, nachdem ich wieder in meiner Vaterſtadt
angelangt war, ſchrieb: „Unter allen Perſonen, die
ich bisher nah kennen lernte, wuͤnſchte ich mir keinen
mehr zum taͤglichen Umgange, als Sie.“ — Von Koͤ¬
nigsberg ging ich, nach einigem Aufenthalt in den merk¬
wuͤrdigſten Staͤdten, wo ich mehrere mir intereſſante
Bekanntſchaften machte, zu meinem Freund Herbert
nach Klagenfurt, der mich durch Venedig, Verona und
Tyrol nach meiner Vaterſtadt begleitete. Auf dieſer
Reiſe lernten wir uns ganz kennen. Unſere Freund¬
ſchaft wurde fuͤr die Ewigkeit geſchloſſen, kein Schwan¬
ken wurde daher in ihr angetroffen, und ich danke ihm
meine bisherige Unabhaͤngigkeit von allem, was nicht
den Beifall meines beſſern Selbſts hat. Wenn ich es
erleben ſollte, daß ich meinen Lebenslauf weiter, als
bis zu dieſer Epoche, mit der Genauigkeit in der Ent¬
wickelung der Einfluͤſſe auf mein Schickſal und meine
Bildung fortfuͤhren kann, ohne unbefugter Weiſe in die
Lebensverhaͤltniſſe noch lebender Perſonen einzugreifen,
ohne mich nothwendig parteiiſchen Richtern preiszugeben:
dann kann ich erſt ſagen, was ich meinem Herbert ver¬
danke! Mit der erworbenen Freundſchaft meines Her¬
17 *[260] berts ſchließe ich die Geſchichte meines innern Lebens
und erzaͤhle mein aͤußeres mit aller Wahrhaftigkeit in
dem, was ich erzaͤhle, aber auch mit Weglaſſung von
allem, was ich nicht ganz wahrhaft ſagen zu duͤrfen
glaube. Ich erzaͤhle nun nicht weiter, was nur ich
wiſſen kann, ſondern was auch jemand, der mich be¬
obachtet, wiſſen koͤnnte, und ich ſollte von nun an auch
in dem Tone des Geſchichtſchreibers von mir reden,
aber der Gleichfoͤrmigkeit wegen werde ich in dem naͤm¬
lichen Tone von mir zu erzaͤhlen fortfahren.
Ob ich gleich, wie ich oben ſchon erwaͤhnte, in Nuͤrn¬
berg nicht praktiziren wollte, ſo promovirte ich doch
auf der Univerſitaͤt Altdorf. Meine Disputation wurde
uͤber eine Diſſertation, die einen Theil von meinem Or¬
ganon der Heilkunde unter dem Titel: „Idea organi
medici“ enthielt, gehalten, welche nun, da ich meine
Gedanken, durch meine Ungeſchicklichkeit latein zu ſchrei¬
ben, entſtellte, vergeſſen iſt, und es auch bleiben muß.
Mein Examen konnte mir wenig Ehre bringen, denn
ich ſagte meinem Examinator in der Anatomie, daß es
eilf Paar Gehirnnerven gebe, und dieſer wußte nur
neun; dem in der Chemie, daß reines Kali zur Seife
gehoͤrte, und dieſer hielt das kauſtiſche fuͤr verunreinig¬
tes; und ein dritter, der mich uͤber mitgebrachte Pflan¬
zen examinirte, die ich gerade kannte, nahm es mir
uͤbel, daß ich uͤber die Frage, welche Kraͤfte, ob ape¬
rativas, carminativas, incidentes u. ſ. w. ſie beſaͤßen,
[261] lachen mußte, und wurde noch boͤſer, als ich, da er
mit hochweiſer Miene uͤber mein thema de nutritione
bemerkte, daß ich darinnen der membrana ruyschiana
nicht einmal erwaͤhnt haͤtte, ihm ſagte, daß zu ihrer
Erzeugung keine Gelegenheit im geſunden lebenden Koͤr¬
per ſich faͤnde. Ich wurde aber doch zur Disputation
zugelaſſen und promovirt. Ich weiß mir nur aus mei¬
ner melancholiſchen Gemuͤthsſtimmung, die ich oben
ſchilderte, und die mich verhinderte, frei uͤber die Be¬
gebenheiten zu reflektiren, zu erklaͤren, daß mich mein
Examen weniger belehrte, als mein Streit mit meiner
Großmutter uͤber die Geſpenſter, und daß ich erſt ſeit
kurzem lernte, daß, ſo wie der Aberglaube nicht durch
Erfahrung, der Eigenduͤnkel der Gelehrſamkeit auch nicht
durch gruͤndliche Beurtheilung der von ihm nachgebeteten
angeblichen Erfahrung zu bezwingen iſt. Nach erlangter
Doctorwuͤrde heirathete ich, und wollte mich einer bloß
ſchriftſtelleriſchen Laufbahn widmen, um meinen ſehr
fruͤhe gemachten Entwurf einer Theorie der Geſetzgebung
auszufuͤhren. Mein Organon der Heilkunde, eine Un¬
terſuchung uͤber die Verruͤckungen, und der philoſophiſche
Roman: Mimer und ſeine jungen Freunde, ſollten in
Zwiſchenzeiten zur Erholung ausgearbeitet werden, da¬
mit mein Geiſt nicht durch Einfoͤrmigkeit des Gegen¬
ſtandes erlahmte. Durch ein freies Spiel meiner Gei¬
ſteskraͤfte mit allen Gegenſtaͤnden des Wiſſens und
Koͤnnens, unter dem Titel: Arkeſilas, wollte ich mich
[262] theils auch erholen, theils der Welt meine Staͤrke in
der Dialektik zeigen. Durch Aufforderungen wurde ich
auch Recenſent. Unter meine Recenſionen rechne ich
die uͤber Herrn Profeſſor Schmids Moral in der All¬
gemeinen Jenaer Literaturzeitung, wo ich den Begriff
vom Recht in ſeiner ganzen Sphaͤre darzuſtellen ſuchte,
zu den gehaltreichſten. Als Schriftſteller ſetzte ich Mimer
und ſeine jungen Freunde in der neuen Thalia fort und
arbeitete fuͤr den neuen Merkur eine Abhandlung uͤber
die Alleinherrſchaft aus. Ich wurde zu dieſer Abhand¬
lung durch eine Rede des Boettie, die ſich als Anhang
bei Montagne's Verſuchen findet, veranlaßt. Ich machte
mir zuerſt die bloß dialektiſche Aufgabe, ſie zu wider¬
legen, und hielt es dann aber auch fuͤr nothwendig,
weil es zur Theorie der Geſetzgebung gehoͤrt, um aus
philoſophiſchen Principien die Zulaͤſſigkeit oder Verwerf¬
lichkeit der Alleinherrſchaft zu unterſuchen. Ich fand
bald, daß alle moraliſchen Principien in der Lehre von
der beſten Regierungsform ohne direkten Gebrauch ſind,
weil hier der Menſch nicht nach dem genommen werden
kann, was er ſein ſoll, ſondern nach dem, was er iſt
und nicht ſein ſoll; ferner, daß die Form der Regie¬
rung keine Garantie fuͤr die wirkliche Guͤte derſelben
ſein kann, und alſo die Form der Regierung keinen
andern Werth haben kann, als daß ſie ein ſchoͤnes Sym¬
bol der Achtung fuͤr Menſchenrechte iſt. Ich leitete
daher, was ich noch bei keinem politiſchen Schriftſteller
[263] fand, die Form der Regierung aus der Form eines
moraliſchen Entſchluſſes ab. Meine Abhandlung gefiel
Wieland und wohl auch noch einigen Leſern, aber kein
Recenſent bemerkte das Eigenthuͤmliche derſelben. Viel¬
leicht war auch das Reſultat, daß die Alleinherrſchaft
ſo ſtatt finden koͤnne, daß ſie alle Forderungen, die der
moraliſche Menſch an eine Regierung machen kann, be¬
friedige, nicht in dem Geiſte des Jahrzehents, bei einem
Theile der gelehrten Welt, und die freie Unterſuchung
daruͤber nicht nach dem Geſchmack des andern. Der
Antheil, den ich von fruͤher Jugend an den Welthaͤn¬
deln nahm, wenn ſie die Rechte der Menſchheit betrafen,
machte die franzoͤſiſche Revolution zu einem wichtigen
Gegenſtand meiner Aufmerkſamkeit, aber ſo groß meine
Freude uͤber das Unternehmen war, kosmopolitiſche
Ideen zu realiſiren, ſo wenig konnte mir die Ausfuͤh¬
rung gefallen; ich zitterte fuͤr Deutſchland und fuͤrchtete
mich vor der Verlegenheit, eine Partei ergreifen zu
muͤſſen, wo ich beide haßte, die eine, nach damaligem
Sprachgebrauch die ariſtokratiſche, wegen dem, was ſie
wollte, und die andere, die demokratiſche, wegen dem,
was ſie that. Meine buͤrgerliche Lage gefiel mir auch
nicht, und ſo hegte ich den Wunſch, Europa verlaſſen
zu koͤnnen. In dieſer Stimmung wurde mir von Wuͤrz¬
burg aus ein Menſch empfohlen, der ſich fuͤr einen
amerikaniſchen Oberſten ausgab, ſich William Pearce
nannte und mit allen noͤthigen Zeugniſſen dieſes Karakters
[264]
verſehen war. Wie dieſer Menſch zu dieſen Urkunden
kam, womit er ſich auch in Muͤnchen und an der oͤſter¬
reichiſchen Graͤnze legitimirte, kann ich mir noch nicht
befriedigend erklaͤren. Kurz dieſer Menſch gewann durch
ſeine Urkunden mein Zutrauen, ich glaubte ihm, daß
er mir eine Regimentschirurgenſtelle in amerikaniſchen
Dienſten verſchaffen koͤnnte, und war entſchloſſen, mit
ihm nach den Vereinigten Staaten zu gehen. Mein
Schwiegervater gab ihm auf ausgeſtellte Anweiſungen
Geld, ich reiſ’te mit ihm nach Muͤnchen und Salzburg,
von wo er nach Linz und ich zu meinem Freund Her¬
bert, um Abſchied zu nehmen, nach Klagenfurt reiſ’te.
In Salzburg wollte er mich wieder erwarten. Bei
meiner Ankunft in Salzburg fand ich nicht ihn, ſondern
einen Brief, in dem er mir ſagte, daß er gleich nach
Muͤnchen abgereist ſei, und in Muͤnchen fand ich anſtatt
ſeiner die Gewißheit, daß er ein Betruͤger war. Hier
fand ich nun das erſtemal in meinem Leben den Schmerz,
ſich in ſeinen Hoffnungen getaͤuſcht und dem Spott
preisgegeben zu ſehen. Wo ich mich hinwenden, was
ich beginnen ſollte, das war mir im Anfang unmoͤglich
zu entſcheiden; endlich faßte ich den Entſchluß, zu mei¬
nem Freund Herbert, der eine Reiſe nach Italien machte,
zu ſtoßen und ihn in Verona zu erwarten. Dieſer Ent¬
ſchluß rettete mein Leben, und ich lernte in den Armen
meines Freundes mich uͤber den Betrug troͤſten; der
mich nur aͤrmer gemacht und dem Hohn meiner Feinde
[265] einige Zeit preisgegeben, aber an meinem Karakter nichts
aͤndern, meinen wahren Werth nicht vermindern konnte.
Ich finde nun wahr, was mir der Geiſtlicherath Ober¬
thuͤr in Wuͤrzburg ſagte: „Ich bin von Ihnen uͤber¬
zeugt, daß Sie fuͤr das Geld, was Ihnen dieſe Geſchichte
koſtet, genug Unterricht erhalten haben, und daß Sie ſie
einſt nicht mehr unter ihre Ungluͤcksfaͤlle zaͤhlen werden.“
Bei meiner Ruͤckkehr nach Nuͤrnberg beſchaͤftigte ich
mich wieder mit meinen litterariſchen Planen, und be¬
ſonders mit meiner Theorie der Geſetzgebung, von der
ich einzelne Abſchnitte ausarbeitete. Die Beſtimmung
des formalen Princips iſt in den Horen abgedruckt,
unter dem Titel: „Ueber die Idee der Gerechtigkeit
als Princip der Geſetzgebung.“ Die Eroͤrterung der
Geſetzgebung in der Idee entgegengeſetzten Princips,
oder die bloß materielle Beſtimmung des Willens, iſt
in Niethammers Journal unter dem Titel: „Apologie
des Teufels“ abgedruckt. Ich waͤhlte dieſe Einkleidung,
um zu ſehen, wie geſchickt die Herren Recenſenten waͤren,
Einkleidung und Stoff zu unterſcheiden, und fand, daß
ſie das nicht konnten. In eben dieſem Journal finden
ſich die Eroͤrterung uͤber das materielle Princip der
Geſetzgebung und uͤber die Unſchuld. Der Abhandlung
uͤber die Unſchuld, oder den durch die Natur der Ge¬
ſetzgebung unterworfenen, ſollte ſogleich eine zweite fol¬
gen, uͤber das Verderben oder den durch die Natur
gegen die Geſetzgebung empoͤrten Willen.
[266]
Zu gleicher Zeit arbeitete ich auch einen Abſchnitt
von meinem Arkeſilas aus und ließ ihn in den deutſchen
Merkur einruͤcken. Es war der uͤber die Heilkunſt.
Hatte ich durch meine Apologie des Teufels die philo¬
ſophiſchen Recenſenten in Verſuchung gefuͤhrt, ſo zeigten
ſich die mediciniſchen hier in voller Bloͤße, und die
Angſt, daß ſich die Leute nun weniger Recepte, als
ſonſt, von ihnen verſchreiben laſſen duͤrften, raubte ihnen
alle liberale Anſicht, mit der dieſer Aufſatz beurtheilt
werden mußte. Von den angefuͤhrten Recenſenten nehme
ich aber die, von welchen die Reviſion der philoſophi¬
ſchen, theologiſchen und mediciniſchen Litteratur in den
Ergaͤnzungsblaͤttern der Allgemeinen Litteraturzeitung
herſtammt, aus.
Nachſchrift.
So weit nur hat der Verfaſſer ſeine Lebensgeſchichte
fortgefuͤhrt. Sie war durch eine im Jahr 1805 von
einem Zeichner unternommene Sammlung der Bildniſſe
berliniſcher Gelehrten, zu welchen dieſe ſelbſt ihre bio¬
graphiſchen Umriſſe liefern ſollten, veranlaßt worden;
Johann von Muͤller hatte den Anfang gemacht, einige
Andre waren gefolgt, und auch Erhard wollte ſeinen
Beitrag nicht verſagen, als aber das Unternehmen nach
geringem Fortgange ſtockte, ließ er auch ſeinerſeits die
[267] Arbeit alſobald ruhen, und ſo blieb ſie, wiewohl noch
oft mit Vorliebe bedacht und ſelbſt fuͤr ausfuͤhrliche Um¬
arbeitung zu einem ſelbſtſtaͤndigen Werk in's Auge ge¬
faßt, unvollendet liegen. Aber auch als Bruchſtuͤck,
wie ſie hier gegeben worden, beſteht ſie in feſtem, viel¬
fache Vergleichung aushaltendem Werthe, und darf ohne
Frage den ſchaͤtzenswertheſten Mittheilungen ſolcher Art
beigezaͤhlt werden. Sie findet in der nachfolgenden
Auswahl von Briefen theils ihre umſtaͤndlichere Erlaͤu¬
terung, theils ihre weitere Ergaͤnzung. Wir werden
von unſerer Seite in beiderlei Hinſicht am gehoͤrigen
Orte manche Bemerkung einzuſchalten haben, duͤrften
aber zweckmaͤßig hier ſogleich die hauptſaͤchlichſten aͤußeren
Zuͤge des ferneren Lebensganges in raſche Ueberſicht
zuſammenfaſſen.
Erhard hatte anderthalb Jahre zu Wuͤrzburg ſtudirt,
und die Unterſtuͤtzung, die ſein Vater ihm zukommen
ließ, war bei ſeiner Lebensweiſe, die jeden unnuͤtzen
Aufwand mied, fuͤr ihn zureichend geweſen. Allein das
Gewerbe des Vaters erfuhr mißliche Stoͤrung, und die
Huͤlfsmittel fuͤr Erhard hoͤrten von dieſer Seite auf;
ihm blieben jetzt wegen ſeiner ferneren Studien nur
betruͤbte Ausſichten. Sehr gelegen kam unter dieſen
Umſtaͤnden das Anerbieten des wohlhabenden Kaufmanns
und nuͤrnbergiſchen Buͤrgers Golling, dem ausgezeich¬
neten jungen Manne, der ſo große Erwartungen erregte
und zum Theil ſchon erfuͤllte, zur Vollendung ſeiner
[268] wiſſenſchaftlichen Bildung und zur Ausfuͤhrung einer
groͤßeren Reiſe, die ihm als ein ſchoͤnſtes Ziel der Be¬
friedigung vor der Seele ſchwebte, die noͤthigen Geld¬
ſummen darzuleihen; eine Tochter Gollings, mit welcher
ſchon freundliche Bekanntſchaft beſtand, war hierbei
naͤherer Antrieb, ihre Neigung gewann Erwiederung,
und Erhard trug kein Bedenken, ſeine geiſtigen Hoff¬
nungen wie ſeine haͤuslichen Geſchicke durch denſelben
Entſchluß feſtzuſetzen. Er ſtudirte noch ein halbes Jahr
in Jena und trat dann ſeine große Reiſe an, nach
deren Beendigung er im Juli 1792 zu Altorf die
Doctorwuͤrde annahm, und unmittelbar darauf zu Nuͤrn¬
berg ſich mit ſeiner bisherigen Braut verheirathete.
In Nuͤrnberg hatte er mannigfachen Verdruß. Die
dortigen Aerzte verweigerten ihm die Aufnahme in ihr
Kollegium unter dem Vorwande, daß er nicht her¬
koͤmmlich drei Jahre auf Univerſitaͤten gelebt. Die aͤrzt¬
liche Praxis, in welcher ihm als einem autodidakten
Neuerer der zunftmaͤßige Widerſpruch nicht erſpart blieb,
machte ihm keine Freude. Nur allein von Schrift¬
ſtellerei zu leben, mußte ſich bald als ſchwierig aus¬
weiſen. Mancherlei Plane kamen unter dieſen Umſtaͤn¬
den in Anregung; ein akademiſches Lehramt waͤre ſeinem
Wunſche wie ſeinen Faͤhigkeiten gemaͤß geweſen, aber
weder in Jena, noch in Erlangen, noch in Straßburg
zeigten ſich befriedigende Ausſichten; eine Niederlaſſung
in Polen, wo ſchon ein Bruder ſeiner Frau anſaͤſſig
[269] war, blieb gleichfalls unausgefuͤhrter Vorſchlag. Die
zuletzt getroffene Wahl einer vermeintlichen Anſtellung
in nordamerikaniſchen Dienſten hatte den ungluͤcklichſten
Erfolg. In dieſer Kataſtrophe nahm Erhard, wie er
ſelbſt erzaͤhlt, ſeine Zuflucht zu ſeinem Freunde Herbert,
mit dem er nochmals eine Reiſe nach Oberitalien machte.
Wieder nach Nuͤrnberg zuruͤckgekehrt, fand er daſelbſt
ſeine Verhaͤltniſſe um nichts gebeſſert; er blieb in aͤrzt¬
lichen und ſchriftſtelleriſchen Thaͤtigkeiten bemuͤht, ohne
dabei buͤrgerlich zu gedeihen.
Ein Freund wurde die Veranlaſſung, ihm endlich
einen andern Wirkungskreis zu eroͤffnen. Der als ſachſen¬
koburgiſcher Miniſter verſtorbene, damals aber in Bai¬
reuth bei der preußiſchen Staatsverwaltung thaͤtige Ge¬
heimerath Kretſchmann, mit welchem er ſchon fruͤh in
litterariſcher Verbindung geſtanden, machte ihn im Jahre
1795 mit dem preußiſchen Staatsminiſter Freiherrn von
Hardenberg, damaligen Provinzialminiſter der fraͤnki¬
ſchen Fuͤrſtenthuͤmer, perſoͤnlich bekannt. Dieſer geiſtes¬
rege Staatsmann freute ſich des kenntnißreichen Selbſt¬
denkers, ließ ſich gern mit ihm in freiſinnige Unter¬
ſuchungen ein, und forderte ihn auf, von ſeiner Theorie
der Geſetzgebung zunaͤchſt den Theil zu bearbeiten, der
die mediciniſche Geſetzgebung betrifft; wegen ſeines ge¬
aͤußerten Wunſches, in preußiſche Dienſte zu treten,
verſprach er ihm bei der bevorſtehenden Organiſation
des Medicinalweſens in den Fuͤrſtenthuͤmern die beſte
[270] Beruͤckſichtigung. Wirklich wurde Erhard im Jahre 1797
durch ein Miniſterialſchreiben aus Berlin foͤrmlich nach
Ansbach berufen, allein nicht zu Medicinalgeſchaͤften,
ſondern um verſchiedene ſtaatsrechtliche Arbeiten, ins¬
beſondere die Widerlegung der ſeit einiger Zeit erſchiene¬
nen oͤffentlichen Angriffe in Betreff der Ausuͤbung der
brandenburgiſchen Landeshoheit in den fraͤnkiſchen Fuͤr¬
ſtenthuͤmern, zu uͤbernehmen, wofuͤr ihm eine Beſoldung
von jaͤhrlich 1500 Gulden, eine den Verhaͤltniſſen da¬
maliger Zeit nach betraͤchtliche Summe, ausgeſetzt wurde.
Doch dieſe Beſchaͤftigung konnte ihrer Art nach nur
eine voruͤbergehende ſein, und da ſich in Franken nicht
ſogleich eine ſeiner wuͤrdige Stelle fand, ſo faßte er
mit Hardenberg’s Rath und Empfehlung den Entſchluß,
geradezu nach Berlin zu gehn, dort als Arzt aufzu¬
treten und kuͤnftige weitere Anſtellung abzuwarten.
Erhard kam gegen Ausgang des Jahres 1799 nach
Berlin und machte daſelbſt den vorgeſchriebenen ana¬
tomiſchen und kliniſchen Kurſus. Wegen des erſtern
gab es ſogleich ein Aergerniß; denn die Behoͤrde, dem
in eigengeſtalteten Anſichten eben ſo ſtrengen als er¬
giebigen Autodidakten vorweg nicht ſonderlich hold ge¬
ſtimmt, erlegte ihm auf, den einen ſeiner Vortraͤge,
weil er, ſeinem Urtheile nach, „vieles Wichtige und
Noͤthige von ſeinem Thema gar nicht vorgetragen,
manches Unwahre geſagt, und ſich dagegen mit dem
Vortrage mancher dahin eigentlich nicht gehoͤrenden
[271] Dinge eingelaſſen,“ nochmals zu halten, welches er
denn endlich auch zur Zufriedenheit vollbrachte. In
der oͤffentlichen Pruͤfung hingegen beſtand er als vor¬
zuͤglich gut, und wurde demnach im Fruͤhjahr 1800
zur aͤrztlichen Praxis zugelaſſen. Durch die Brown'ſche
Methode, die er in Berlin zuerſt laut verkuͤndigte und
folgerecht anwandte, machte er Aufſehn, fand mancher¬
lei Anhang, aber auch Gegner; doch da ihm der Ruf
großen Scharfſinns und ausgebreiteten Wiſſens, der
ihm vorangegangen, ſtets zur Seite blieb, ſo konnten
ihn die letztern an ſeinem Emporkommen auf die Dauer
nicht hindern. Im Anfange hatte er jedoch oͤfters mit
Verlegenheiten zu kaͤmpfen, wobei ſein Freund Herbert
ihm nach Kraͤften beiſtand. Gleich im Spaͤtwinter
1800 machte Erhard auch den Verſuch, im Lehramte
aufzutreten. Er unternahm, nach erlangter hoͤchſter
Erlaubniß, Vorleſungen fuͤr Mediciner uͤber die wich¬
tigſten Lehren der praktiſchen Heilkunde, und zugleich
fuͤr das groͤßere gebildete Publikum beiderlei Geſchlechts
Vortraͤge uͤber phyſiſche Erziehung, Lebensordnung und
Krankenpflege, jedoch ohne den gewuͤnſchten Erfolg,
weil die Mediciner damals in Berlin zu gering an
Zahl und die wenigen zu zunftmaͤßig waren, das
groͤßere Publikum aber dergleichen allgemeinen Vor¬
traͤgen noch nicht ſo entſchieden, wie ſpaͤter nach ver¬
vielfachten Beiſpielen, oͤffentlichen Antheil widmete.
An ſchriftſtelleriſchen Arbeiten lieferte Erhard in den
[272] erſten Jahren ſeines Aufenthalts zu Berlin, außer Auf¬
ſaͤtzen in ſeines Freundes Roͤſchlaub Magazin fuͤr die
Heilkunde, und in Hufeland's Journal fuͤr die prak¬
tiſche Heilkunde, ſeine Theorie der Geſetze, die ſich auf
das koͤrperliche Wohlſein beziehen, und ſeine Schrift
uͤber hoͤhere Lehranſtalten, in welcher letztern er Ge¬
danken ausſpricht, die im gelehrten Kreiſe damals wenig
Beachtung fanden, ſeitdem aber in der buͤrgerlichen
Welt zu tiefeingreifender und weitausſehender Wirk¬
ſamkeit gekommen ſind. Seine Praxis breitete ſich all¬
maͤhlig aus, mehrere gluͤckliche Kuren, oft in außer¬
ordentlichen Faͤllen, wo andre Aerzte ſchon keine Huͤlfe
mehr hoffen ließen, begruͤndeten fortan ſeinen unbe¬
ſtrittenen Ruf. Ungeachtet ſeiner Eingenommenheit fuͤr
die Saͤtze Brown's ließ er doch am Krankenbette ganz
der Erfahrung ihr Recht, und befolgte deren Vor¬
ſchriften auch dann, wenn ſie mit jenen Saͤtzen noch
nicht in Zuſammenhang zu ſtellen waren. Sein durch¬
dringender Scharfſinn, der unter dem Gewirr der Er¬
ſcheinungen leicht und ſicher die weſentlichen erkannte,
ſein ungeheures Gedaͤchtniß, welches alles Geſehene
oder Geleſene fuͤr immer feſthielt und in jedem Augen¬
blick des Bedarfs darbot, leiſteten ihm hier die groͤßten
Dienſte. Seine Art hatte etwas Beſonderes, Trocknes,
Stilles; ſeiner Fragen waren wenige, aber faſt immer
trafen ſie den weſentlichen Punkt, oft bis zur hoͤchſten
Ueberraſchung des Kranken, der das Eigenthuͤmlichſte
[273] und Verborgenſte ſeines Zuſtandes errathen ſah, be¬
vor noch deſſen muͤhſame Schilderung begonnen hatte.
Er konnte zerſtreut ſcheinen, wahrend er ſehr aufmerk¬
ſam war, von fremdartigen Dingen reden, waͤhrend
ſeine volle Theilnahme dem Kranken gewidmet blieb.
Zutrauen und Anhaͤnglichkeit floͤßte er jedem ein, der
ſeine Huͤlfe erfuhr. Sein ſchlichtes, unbekuͤmmertes
Weſen, das auf die aͤußeren Formen des geſelligen
Umgangs wenig Werth legte, ihn Schmeicheleien weder
ausuͤben noch annehmen ließ, ihn von den niedrigen
Kuͤnſten der Sucht zu gelten, der heuchleriſchen Welt¬
klugheit und des ſchnoͤden Eigennutzes fern hielt, und
dabei die klare Sicherheit und Beſtimmtheit ſeines Ur¬
theilens und Handelns, kamen auch ſeiner aͤrztlichen
Wirkſamkeit zu gut. In ſpaͤteren Jahren verließ er,
wie ſchon vor ihm Roͤſchlaub, das Brown'ſche Syſtem,
welches durch anhaltende Erfahrung bei ihm erſchuͤttert
worden war, doch gab er nicht zu, daß er den Saͤtzen
deſſelben aus bloßem Irrthum angehangen, ſondern
meinte, die Stimmung des menſchlichen Organismus
und der Karakter der Krankheiten ſelbſt veraͤndre ſich,
und es ſei daher gar wohl anzunehmen, daß eine aͤrzt¬
liche Methode, die wir jetzt verwerfen muͤſſen, zu ihrer
Zeit vollkommen zweckmaͤßig geweſen ſei. Den Wunder¬
kuren, dem magnetiſchen Treiben war er ſtets feind.
Gleichwohl hatte er in der Phyſik, mit der er ſich vor¬
zugsweiſe gern beſchaͤftigte, die eigenthuͤmlichſten Ideen,
18[274] welche, was bei ſeiner auf Erfahrungswiſſenſchaften und
Mathematik gegruͤndeten Naturforſchung ſehr merkwuͤrdig
iſt, ihn uͤber die Graͤnzen dieſer Wiſſenſchaften weit
hinausfuͤhrten, und ihn demjenigen naͤherten, was ihm
als Myſtik ſonſt verhaßt war.
Die Zeit der franzoͤſiſchen Bedruͤckung ſtoͤrte Erhard's
beginnenden Wohlſtand ſehr; die Zerruͤttung ſo vieler
Verhaͤltniſſe, die Unſicherheit andrer, die Unvereinbar¬
keit ſo mancher fremden eindringenden und dawider auf¬
geregten einheimiſchen Richtungen mit ſeiner beſtimmten
Denkweiſe, alles dieſes wurde ihm Grund zu vielfacher
Unzufriedenheit. Um ſo lebhafter nahm er in der Folge
Theil an den großen Ereigniſſen, welche die Wieder¬
herſtellung Preußens, Deutſchlands bewirkten, und auch
ihn dem preußiſchen Leben, das wieder mit dem ſuͤd¬
deutſchen zu vertauſchen er wohl in einigen Augenblicken
verſucht geweſen war, nun fuͤr immer feſt verbanden.
Eine Anſtellung im Staatsdienſte hat er nicht geſucht;
allein der ausgezeichnete Geiſt und die nuͤtzliche Thaͤtig¬
keit des trefflichen Mannes blieb von Seiten des Staats
nicht unberuͤckſichtigt. Im Jahre 1817 wurde er zum
Mitgliede der mediciniſchen Ober-Examinations-Kom¬
miſſion ernannt, im Jahre 1822 zum Ober-Medicinal¬
rath. Sein redliches Wollen, ſein thaͤtiger Eifer be¬
waͤhrten ſich auch in dieſem Verhaͤltniſſe. Eine beſondre
Ehrenauszeichnung widerfuhr ihm durch den Koͤnig der
Niederlande, der ihm, als ſeinem bewaͤhrten Arzte, aus
[275] eigner Bewegung den Ritterorden vom belgiſchen Loͤwen
verlieh, welchen anzulegen ſein gnaͤdigſter Landesherr
ihm huldreichſt erlaubte. Seine zunehmende Praxis ließ
ihm wenig Zeit mehr zu ſchriftſtelleriſchen Arbeiten;
auch liebte er das Schreiben immer weniger. Doch
gab er noch im Jahre 1821 ſeinen Aufſatz uͤber die
Alleinherrſchaft in neuer Bearbeitung und vermehrt mit
geiſtreichen Abhandlungen uͤber Ritterthum, Buͤrgerthum
und Moͤnchthum heraus. Ein durch dieſe Schrift ver¬
anlaßter Brief, worin er mit freier Aufrichtigkeit den
geaͤußerten Einwendungen ſeines Kritikers Buchholz voͤllig
Recht gab, iſt das Letzte, was unter ſeinem Namen
im Druck erſchienen iſt.
Allzufruͤh entriß den trefflichen Mann ſeinem viel¬
beſchaͤftigten Leben und ſegensreichen Beruf ein Schlag¬
fluß, der ihn am 25. November 1827 waͤhrend eines
Gaſtmahls im Thiergarten, wo die ſchon kalte Jahrs¬
zeit doppelt empfindlich war, unerwartet traf, und trotz
aller angewandten Huͤlfe ſchon am 28. toͤdtlich wurde.
Die Heiterkeit ſeines Gemuͤths, die ruhige Klarheit
ſeines Sinnes, die Eigenheit ſeiner Denkweiſe, zeigten
ſich hier bis zum letzten Schimmer des Bewußtſeins,
das ihn erſt am dritten Tage verließ, ganz als dieſelben,
die ſie waͤhrend ſeiner kraͤftigſten Lebenszeit geweſen
waren. Er ſtarb mit dem Troſte des Rechtſchaffenen;
die gefaßte Hingebung in den Willen des Hoͤchſten hatte
ihn ſchon immer auf ſeiner Bahn geleitet. Sein Leichen¬
18 *[276] begaͤngniß gab die große Anzahl und die innige Trauer
ſeiner Freunde und Verehrer zu erkennen. Er hinterließ
einen Sohn und zwei Toͤchter, ſaͤmmtlich verheirathet,
und acht Enkel; ein wuͤrdiger Familienkreis, in deſſen
Mitte er ſeine gluͤcklichſten Stunden zugebracht. Auch
die Gegenwart einer Schweſter, in welcher ein dem
ſeinigen verwandter Karakter ihn mit großer Innigkeit
anſprach, hatte ſeinen letzten Lebensjahren erhoͤhte An¬
nehmlichkeit gegeben. Seine Frau war nach langwieri¬
ger Kraͤnklichkeit ſchon vor mehreren Jahren ihm vor¬
angegangen.
Ueber Erhards perſoͤnlichen Karakter herrſcht bei
Allen, die ihn kannten, nur Eine Stimme. Als tief¬
ſten Grund aller ſeiner Anſichten, ſeines Strebens und
Wirkens muͤſſen wir die ſtrengſte Sittlichkeit angeben,
auf die er alles zuruͤckfuͤhrte; ſein ganzes Denken und
Trachten blieb unter allen Umſtaͤnden zuerſt auf Wahr¬
heit und Recht hingewandt, verbunden mit der aͤchte¬
ſten Menſchenfreundlichkeit, die er wohlwollend und un¬
eigennuͤtzig, aber auch fern von aller gleißneriſchen
Ziererei, fuͤr alle ſeine Mitbruͤder hegte und bewies,
deren Tauſende in ihm nicht bloß den geſchickten Arzt,
ſondern auch den bewaͤhrten Freund und Rathgeber, den
guͤtigen Wohlthaͤter ehrten. Sein großer Verſtand,
ſeine unermeßliche Gelehrſamkeit, ſein freundlicher, an¬
ſpruchloſer und doch — koͤnnte man ſagen — ſtolzer
Sinn machten ſeinen Umgang eben ſo lehrreich als an¬
[277] ziehend. Seine Anſichten, von eignen Geſichtspunkten
ausgehend und mit geiſtreicher Dialektik vorgetragen,
entfernten ſich meiſt auffallend von den herrſchenden
Tagesmeinungen, denen er ſelten beiſtimmte, und auch
dann nur aus Gruͤnden, die faſt ihm allein gehoͤrten.
Wie oft er auch durch ungewoͤhnliche Kombinationen
uͤberraſchte, ſo fand man doch bei naͤherer Pruͤfung ſtets
einen feſten Gedanken in ihm dafuͤr zu Grunde liegen,
denn ein bloßes Spiel willkuͤrlicher Verknuͤpfungen war
ihm verhaßt. Wenn er z. B. anmerkte, wie viele und
große Muͤhe ſich die Menſchen zu geben pflegen, nur
um nicht zu arbeiten, ſo wirkte die Sache ſelbſt in ihm
den Witz, welchen das Wort hier ausdruͤckt. Von ſei¬
nen Eigenheiten im Leben pflegte ſchon Schiller zu er¬
zaͤhlen; unter anderm, daß er in Nuͤrnberg, als ihm
durch Erbſchaft ein kleines Haus zugefallen, beim erſten
Hineintreten nichts Eiligeres zu thun gehabt, als gleich
in die Kuͤche zu gehen und auf dem Heerde Feuer
anzuzuͤnden, um durch dieſe Handlung recht eigentlich
ſein Beſitzergreifen auszudruͤcken. Mehr als alle Ge¬
lehrſamkeit und Bildung war ihm der ſchlichte geſunde
Menſchenverſtand lieb und werth; ihn auszubreiten und
aufzuſuchen ermuͤdete er nie; daher ſuchte er ſeine Er¬
holung gern an ſolchen Orten, wo ſich bei maͤßigen
Abendgenuͤſſen einfache Buͤrgersleute zuſammenfanden,
deren zwangloſe Unterhaltung nicht nur von ihm ge¬
wann, ſondern auch ihm ſelbſt manchen Gewinn treffen¬
[278] den Urtheils und richtiger Einſicht wiedergab. Alles
was den Verkehr, die Gewerbe, die Sitten und Kennt¬
niſſe des untern Volkes betraf, hatte fuͤr ihn den groͤ߬
ten Reiz. In dieſer Hinſicht duͤrfte er wohl mit Frank¬
lin verglichen werden, dem er auch in religioͤſer Denkart
und Empfindungsweiſe aͤhnlich war. Bemerkenswerth
iſt es, daß der Kirchenglaube, die Myſtik, der Mag¬
netismus, und was er ſonſt verneinte, dennoch große
Wirkung auf ihn hatte. Die geiſtlichen Spruͤche des
Angelus Sileſius entzuͤckten ihn, und er ſagte deren
viele auswendig, in welchen er oft nur einen ſolchen
Inhalt zu finden glaubte, der ſeinen eignen Meinungen
zuſtimmte; aber dieſe, wie ſchroff ſie auch haͤufig er¬
ſchienen, vereinten ſich in ihm mit den froͤmmſten, kind¬
lichſten Ueberzeugungen, die er in bewegten Stimmungen
gern und innig ausſprach.
Zwiſchenworte zur Briefſammlung.
l.
Briefe des ſiebenzehnjaͤhrigen Juͤnglings Erhard an
ſeinen Freund Oſterhauſen, der ſchon auf der nahen
Univerſitaͤt ſtudirt, eroͤffnen die Reihe. Sie ſind um
ſo merkwuͤrdiger, als der Schreiber damals dem aͤußeren
Stande nach nichts weiter als ein junger Handwerker
iſt, der vor allem ſeine Arbeit thut, daneben aber in
[279] ſeinem Geiſt und Herzen das vornehmſte Leben fuͤhrt,
und aus eignen, alleinigen Kraͤften, in fortgeſetzten
ſchwelgeriſchen Genuͤſſen, eine Bildung erreicht, deren
eine beguͤnſtigtere Stellung zur Welt unter beeifertem,
vielfachen Mitwirken noch ſich zu ruͤhmen haben koͤnnte.
Von dieſer erſten Geſtalt ſeiner anhebenden Entwickelung
bleibt Erhards ganzes folgendes Leben bezeichnet, die
Art ſeines Geiſtes und ſeines Gemuͤths, ſeine Hand¬
lungs- und ſeine Erſcheinungsweiſe, alles nimmt und
behaͤlt von daher ſein Gepraͤge. Er iſt ein Autodidaktus
im vollen Sinne, den das Wort haben kann; er genießt
und leidet alle Bedingungen dieſer ausgezeichneten und
in ihrem Werthe gleichwohl oft zweifelhaften Eigenſchaft.
Selten werden uns von einer ſolchen Laufbahn ſo fruͤhe
Urkunden geboten, die mit den ſpaͤteſten noch ſo ſehr
uͤbereinſtimmen. Aber wenn dieſe Briefe vor allem
das perſoͤnlich Karakteriſtiſche darlegen, ſo muͤſſen ſie
demnaͤchſt doch wieder auch darin gelten, was ſie als
Ausdruck ihrer Zeit ſind. Dieſes Allgemeine damaliger
deutſcher Gemuͤthswelt ſtroͤmt gewaltig in dieſen Be¬
ſonderheiten. Denn wenn auch in jedem Jugendgeſchlecht
ein Streben ſich wiederholt, welchem das Mißverhaͤltniß
des Wollens und der Stoffe immer einen aͤhnlichen
Karakter verleiht, ſo iſt doch dieſes ſittlich-geiſtige Ver¬
arbeiten der kleinſten Begebniſſe, dieſes Eroͤrtern der
Begriffe, dieſes Abfragen und Sichten der Gefuͤhle,
dabei das Trockne, Einfaͤrbige, der bei allem redlichſten
[280] Bemuͤhn unzulaͤngliche Ausdruck, ganz entſchieden jener
Zeit angehoͤrig, wo der Verſtand der Deutſchen und
ihre Empfindſamkeit aus truͤber Vernachlaͤſſigung muͤhſam
zu neuer Bildung aufrangen.
Die Art, wie hier Philoſophie und Liebesneigung
gleiches Schrittes in den Juͤnglingen ſich entfalten, er¬
hoͤht durch wechſelſeitige Ruͤckſtrahlen den Glanz jeder
einzelnen von dieſen beiden Richtungen. Wir gewinnen
dabei den Vortheil, mit dem Bilde der Hauptperſon
auch eine weitere Umgebung derſelben zu erſehen, ja
mit einem Theile des buͤrgerlichen Lebens von einer
Seite bekannt zu werden, die ſich in ſolch urſpruͤnglicher
Geſtalt ſelten dem Beobachter darbietet. Dieſe viel¬
fachen hoͤheren Beſtrebungen und dieſe gebildeten Ver¬
haͤltniſſe in einer Klaſſe, die im Ganzen auf Bildung
wenig Zeit zu verwenden und Anſpruch zu machen hat,
beſtaͤtigen die guͤnſtigſte Vorſtellung von unſrem deut¬
ſchen Mittelſtande, der von jeher in ſich die beſten
Eigenſchaften der Nation hegte, und waͤhrend einer
langen Zeit faſt allein bewahrte. Zugleich duͤrfen wir
die treuherzige Sitteneinfalt dieſer guten damaligen
Reichsſtadt preiſen, in welcher ohne fremde wie ohne
eigne Bedenklichkeit die reizenden Buͤrgermaͤdchen mit
den muntern Juͤnglingen harmloſen Umgang pflegen,
und weder an ſchoͤnen Sommerabenden einſamen Spa¬
ziergang, noch bei andrer Gelegenheit zeugenloſen Beſuch
ſcheuen, dagegen aber auch in freimuͤthiger Zaͤrtlichkeit
[281] vor Freunden und Aeltern weder Zwang noch Arg
finden. Zwar bleibt auch hier, ſobald erſt Aufmerk¬
ſamkeit oder gar Neid erregt wird, die ſchlimme Nach¬
rede nicht aus, und ſtiftet Verdruß und Hinderniß,
aber die Neigungen gewinnen in ſolchen Stoͤrungen oft
nicht weniger, als ſie verlieren koͤnnen, und ein tuͤch¬
tiger Karakter weiß auch zu trotzen. Der junge Phi¬
loſoph, im Gedraͤnge dieſer mannigfachen, theils wirk¬
lichen, theils nur als moͤglich gedachten Liebeshaͤndel,
nimmt ſich uͤbrigens wunderlich genug aus, und man
erachtet leicht, wie bei dem ungemeinen Erfolg und
herrſchenden Anſehn, die ihn begleiten, manche uͤble
Verwicklung eintreten koͤnnte, waͤre nicht ſein Sinn
rein und ſtark vor allem auf Sittliches und Edles geſtellt.
II.
Wir gelangen zu dem Zeitpunkt, wo die Kantiſche
Philoſophie dem Juͤngling aufgeht und ihn mit allen
Entzuͤckungen uͤberſtroͤmt, welche die kundige Sehnſucht
in ihrer vollen Gewaͤhrung finden mag. Nicht auf eine
fremde Bahn fuͤhlt Erhard ſich gerufen durch das neue
Licht, vielmehr auf der bisherigen ſelbſteignen nur gluͤck¬
licher an’s Ziel gefoͤrdert. Alles wird ihm nun gewiß
und feſt, fuͤr das ganze Leben ſind ſeine Ueberzeugungen
entſchieden, faſt koͤnnte man ſagen erſtarrt, durch dialek¬
tiſches Bemuͤhen nicht mehr aufzuloͤſen. Alsbald wen¬
det ſich nun die Macht der mit der Fackel der Kritik
[282] durchleuchteten Vernunft in das Leben; als Lehre, Bei¬
ſpiel, Botſchaft dringt ſie nach allen Seiten vor, alle
Gebildeten, Strebenden nehmen daran Theil, es iſt
gleichſam eine neue Religion, die ſich ausbreitet. Unſre
Briefſammlung liefert in dieſer Hinſicht bedeutende
Zeugniſſe und Proben; hier iſt die Kantiſche Philoſophie
in Handlung und Wirkſamkeit; wir ſehen ſie als Gegen¬
ſtand der hoͤchſten Beziehungen und Beduͤrfniſſe eines
weiten Menſchenkreiſes von Koͤnigsberg uͤber ganz
Deutſchland bis nach Hamburg und Kopenhagen und
bis nach Wien und Trieſt ausſtrahlen, ſehen, wie ſie
erweckt, befeuert, das Hoͤchſte verheißt, und zuletzt doch
nur eine mißliche Befriedigung gewaͤhrt. Die redlichſten,
begabteſten Maͤnner und Juͤnglinge, ja auch Frauen,
durchwandeln mit Eifer dieſe Bahn, erreichen auch das
Ziel; aber nach der erſten Freude finden ſie ſich bald
in unleidlichem Zwieſpalt, in fuͤrchterlicher Enge. So
lange ſie unterſuchen, iſt alles gut, aber mit ihrem
Ergebniß wiſſen ſie nichts anzufangen, und moͤchten es
doch zu allen Leiſtungen gebrauchen. In die Breite
des Lebens folgt ihnen kein Gewinn, in der Wiſſenſchaft
wird jeder Fortſchreitende ihr Feind, ihrer eignen Phi¬
loſophie nach muͤſſen ſie aufhoͤren zu philoſophiren. Sie
haben weggeraͤumt, was in ihrem Ruͤcken lag; was
vor ihnen aufkeimt, muͤſſen ſie verneinen; aber die Le¬
bensfluthen des Vorhergegangenen wie des Nachfolgen¬
den uͤberſtroͤmen unaufgehalten die machtloſe Verneinung.
[283] Wie dieſes Schickſal der Kantiſchen Philoſophie, ſich
nicht als ethiſches Heil der Menſchheit zu legitimiren,
verbunden mit der Enttaͤuſchung, welche die Geſchichte
dem Wahn, in der franzoͤſiſchen Revolution ein ſolches
materielles Heil alſogleich zu erleben, durch deren eigne
Entwickelung ſpielt, wie dieſes Geſchick von den einzel¬
nen Betheiligten getragen und verarbeitet wird, iſt hier
in merkwuͤrdigen Verſchiedenheiten dargelegt. Wir ſehen
dem Tode gewaltſame Opfer fallen, ſehen das beweg¬
liche Talent ſich in neue Geſtaltungen hinuͤberwinden,
zarteres Gemuͤth nur hoher Liebesinnigkeit pflegen, andern
Sinn ſich zur gemeinen Welt zuruͤckwenden. Erhard
war einer der beharrlichſten Anhaͤnger ſeines großen
Meiſters; aber auch ihn draͤngte ſeine hauptſaͤchliche
Lebensthaͤtigkeit zu andern als philoſophiſchen Gegen¬
ſtaͤnden, und ſeine noch uͤbrige philoſophiſche Beſchaͤfti¬
gung ging, darin aͤcht Kantiſch, nicht auf eigentliche
Spekulation mehr aus, denn dieſe ſollte abgethan ſein,
und in ihren Ergebniſſen gleichſam als angewandte
Philoſophie nur fortſchreiten. Haͤtte er ſtaͤrkeren Antrieb
oder mehr Muße gehabt, ſpekulativem Denken ſich fort¬
waͤhrend hinzugeben, ſo wuͤrde ſein ſcharfer Geiſt, wir
zweifeln nicht, zu neuen Wegen eigenthuͤmlich durchge¬
brochen, oder doch in den Bahnen von Kants großen
Nachfolgern zu neuen Ergebniſſen ſelbſtſtaͤndig mitge¬
ſchritten ſein.
III.
Der Trieb zur Aſſociation, welcher bei den Fran¬
zoſen vorzugsweiſe Kotterien angenehmer Geſelligkeit, bei
den Englaͤndern Societaͤten fuͤr Zwecke des buͤrgerlichen
Fleißes hervorruft, hat ſich bei den Deutſchen von jeher
mit vorherrſchender Gewalt auf innerliche Bezuͤge, auf
Gegenſtaͤnde ſittlicher und geiſtiger Bildung gewandt.
Beſonders in dem letzten Drittheil des achtzehnten Jahr¬
hunderts, wo die kirchlichen Anſtalten nur ein mattes
Licht warfen, Koͤrperſchaften und andres Genoſſenthum
ſich allmaͤhlig aufloͤſte, war das Beduͤrfniß geſelligen
Zuſammenſtehens und gemeinſamer Foͤrderung zum
Beſſern faſt ganz im Freien, und jener Trieb zeigte
ſich in wuchernder Thaͤtigkeit. Die Freimaurer, die
Illuminaten, die Univerſitaͤtsorden nahmen fortwaͤhrend
moraliſche Beſtrebungen in Pflege. Aber auch in klei¬
neren Formen und geſonderteren Kreiſen nahmen Vereine
und Buͤnde uͤberhand, um einen geiſtigen Mittelpunkt
jeder Art fanden ſich leicht Maͤnner und Frauen zu¬
ſammen, man wollte ſich gegenſeitig bewachen, ermahnen,
ſtaͤrken, ausbilden, und nach Befund auch wohl welt¬
lich foͤrdern; Zuſammenkuͤnfte und Briefwechſel wurden
angeordnet, Geheimſprache und Ziffern fehlten nicht,
und ſo muͤhten oder taͤndelten ſich viele Perſonen, unter
welchen manche durch Geiſt und Wirkſamkeit nachher
beruͤhmt gewordene, eine Zeitlang in ſolchen Formen,
[285] wenn auch ohne ſonderlichen Gewinn, doch nicht ohne
Annehmlichkeit umher. Hat ſpaͤterhin manches dieſer
Art ſich in's Gemeine verloren, oder zu bedenklichem
Gebieten gewagt, ſind auch oͤfters dabei ſelbſtſuͤchtige
und betruͤgliche Raͤnke eingemiſcht worden, ſo waren
doch die Anfaͤnge gewiß in den meiſten Faͤllen edel und
unſchuldig. Auch in Erhards Kopfe regten ſich der¬
gleichen Vorſtellungen, und zwar die reinſten und erha¬
benſten; er ſtellte ſich das allgemeine Ziel, die Menſch¬
heit durch Tugend und Wahrheit zu veredeln. Darauf
das Beſtreben naͤher in's Auge faſſend, wollte er einen
Frauenzimmerbund ſtiften, der nichts Geringeres zum
Zwecke hatte, als dem halben Menſchengeſchlechte ſeine
verlorenen, Jahrtauſende lang verkannten Rechte durch
geiſtige Ausbildung und ſittliche Foͤrderung wiederzugeben.
Einem feurigen Geiſte, einem ſtarken Gemuͤth wie Er¬
hard, durfte das Gelingen eines ſolchen Planes ſehr
nahe liegen; Juͤnglinge und Maͤdchen huldigten ſeinem
ſtrengen Karakter und fuͤgten ſich ſeiner geiſtigen Ueber¬
legenheit, indem ſie ſich ſeinem warmen Herzen an¬
ſchloſſen. Die Aufſaͤtze, welche ſich von Erhards Hand
hieruͤber noch vorfinden, ſind zu merkwuͤrdig, als daß
ſie nicht aufbewahrt bleiben ſollten, zum vergleichenden
Ruͤckblick — aus welchem ja der ſinnende Menſch
immer die wahre Geſchichtsbelehrung uͤber die Welt
wie uͤber ſich ſelbſt zu ſchoͤpfen hat — auf die Ver¬
ſchiedenheit, welche jeder Zeitabſchnitt des allgemeinen
[286] Lebensganges auch fuͤr den einzelnen in Stoffen und
Richtungen bedingt.
IV.
Den Briefen an Wilhelmine muͤſſen wir einen Blick
zuwenden, um das Verhaͤltniß im Ganzen zu betrach¬
ten, damit nicht das Einzelne, wie es nach und nach
hervorgetreten, uns in irriger Anſicht befangen halte.
Die ganze Verbindung iſt nur von Einer Seite be¬
urkundet, da von den Briefen Wilhelminens ſich nichts
vorfindet, indeß vereinigt ſich auch ſchon auf jener
Einen Seite alles, um uns von der Geliebten ein
uͤberaus vortheilhaftes Bild zu geben: ein guͤnſtiges
Aeußere, beſonders die ſchoͤne Geſtalt und ſchoͤne Augen,
dazu eine anmuthige Lebhaftigkeit des Benehmens,
werden uns als begleitende Erſcheinung der edelſten
Empfindungen, der reinſten Gedanken und wuͤrdigſten
Vorſaͤtze dargezeigt. Solchem Verein von Eindruͤcken
war nicht zu widerſtehen, der philoſophirende Juͤngling,
der in pruͤfender Annaͤherung noch lange zu uͤberlegen
und zu waͤhlen meinte, fand ſich ſchon fortgeriſſen, und
erfuhr das ganze Uebergewicht eines lebhaften, reizenden
Maͤdchens, zu welchem die abſtrakten Wuͤnſche und
Vorſaͤtze, die ſich herniederzulaſſen waͤhnten, vielmehr
hinaufſtreben mußten. In der That wird Geiſt und
Gemuͤth des Juͤnglings ganz entzuͤndet, er bittet der
Geliebten jeden Zweifel, jede Verkennung ab, er ſieht
[287] in ihr das Vollkommenſte, er erwartet von ihr jede
geiſtige Erhebung und ſittliche Foͤrderung, er ſchwelgt
in Bewunderung und leidenſchaftlicher Zuneigung. Sein
Geiſt macht inzwiſchen große Fortſchritte, ſeine Denk¬
art entſcheidet ſich zu feſter Beſtimmtheit, er iſt zwar
fuͤr die Welt noch nicht, aber fuͤr ſich zum Manne ge¬
worden, und auch dieſe Gewinnſte ſaͤmmtlich haben die
innigſte Verknuͤpfung mit ſeiner Liebe, die an ihnen
gebend und empfangend Theil hat. Und dennoch, bei
allem Feuer, bei aller Begeiſterung, bei aller Zaͤrtlich¬
keit, welche hier ausgedruͤckt wird, fehlt im Grunde,
wir muͤſſen es ſagen, doch eigentliche Liebe ganz! In
Wahrheit, dies iſt, wenn auch oft ihr Wort, nicht ihre,
Art und Richtung. Das Leidenſchaftliche, die Span¬
nung, das Beduͤrfniß, die Vertraulichkeit, dies alles
entbehrt, wie wir wenigſtens hier es ſehen, des einen
Vorzuges, der einzig den Karakter wahrer Liebe aus¬
macht, — der Nothwendigkeit dieſer beſtimmten Per¬
ſoͤnlichkeit! Das unbedingt Individuelle des Menſchen,
als tiefſter Grund der unerklaͤrbaren Zuneigung, er¬
ſcheint hier nicht als Gegenſtand; Eigenſchaften ſind es
vielmehr, die mit Bewußtſein gefaßt, geſchaͤtzt ſind,
vielleicht vorausgeſetzt. Koͤnnte dem aͤußeren Sinne
die Taͤuſchung bereitet, dem Bewußtſein die Verſetzung
entzogen werden, ſo ließe ſolche blos auf Eigenſchaften
gerichtete allgemeine Leidenſchaft mit all ihrem Zubehoͤr
ſich auf die verſchiedenſten Perſonen leichtlich uͤbertra¬
[288] gen, ohne daß etwas dabei vermißt wuͤrde, ſobald nur
die Einbildungskraft ſich nicht geradezu abgewieſen
findet. Wir koͤnnen in ſolchem Falle nur das arme
Maͤdchen bedauern, welches, anſtatt wirklicher Gegen¬
ſtand perſoͤnlicher Liebe zu ſein, nur gleichſam einer
metaphyſiſchen Erhitzung zum Gegenbilde, zum Nicht¬
Ich, dienen muß; es kann dabei in keiner Art ein
wahres Gluͤck herauskommen, wenn auch ein voͤlliges
Ungluͤck wohl vermieden bleibt. Erhard ſelbſt begruͤn¬
det in ſeinen Briefen einen Unterſchied von Lieben und
Verliebtſein; was er unter dem einen und dem andern
zu verſtehen ſcheint, wuͤrde erſt verbunden das Gefuͤhl
bilden, das er auf die eine Seite allein feſtſetzen will;
die Trennung fuͤhrt aber auf beiden Seiten zum Un¬
genuͤgenden. Er muß dieſes wohl gewahr werden; da
er die Geliebte nicht liebt, wie ſie iſt, ſondern wie ſie
ſein ſoll, oder wenigſtens werden ſoll mit ihm und
durch ihn, ſo ſchwindet alle ſichre Gegenwart in un¬
gewiſſe Zukunft. Die Verſuche, Pruͤfungen, Bildungs¬
arbeiten, welche eine Zeitlang der Empfindung foͤrder¬
lich geweſen, uͤberdraͤngen dieſe, wie ſehr auch guter
Wille und freundliches Eingehn die Schaͤrfe mildern.
Noch andre Stoffe werden herbeigezogen, der Spiel¬
raum wird erweitert, die Freunde ſollen mitwiſſen und
mitleben in dem Liebesbunde, aber jemehr hinzukommt,
deſto bedenklicher wird der Zuſtand, es entſtehen Ein¬
miſchungen, Gerede, Benachrichtigungen, Rathſchlaͤge,
[289] der entſcheidende Nachtheil andauernder perſoͤnlicher Ab¬
weſenheit macht alle dieſe Uebel unheilbar, und am
Ende muß die voͤllige Unvereinbarkeit des beiderſeitigen
Weſens und Treibens in ausgeſprochenem Bruch ſich
offen darlegen. Solchem Gange dieſer Liebesgeſchichte
hatte unſre Betrachtung bisher zu folgen, und wenn
der unerfreuliche Schluß von dem einen Theile dem
andern als Folge der enthuͤllten Unwuͤrdigkeit ange¬
rechnet werden will, von dem andern aber jenem viel¬
leicht als Erkaltung und grundloſe Haͤrte vorgeworfen
ſein mag, ſo wollen wir, fuͤr beide Theile billiger, den
ſo gewordenen Ausgang als einen ſchon im Anbeginn
begruͤndeten und ſonach unvermeidlichen bezeichnen.
V.
Baggeſen gehoͤrt zu den abenteuerlichen Naturen,
in welchen der ganze Menſch an ein Talent, — ſei
es nun ein groͤßeres oder kleineres —, auf- und dran¬
gegeben iſt; anfangs gedeiht das Talent uͤppig von
ſolcher allzu koſtbaren Nahrung, nachher aber ſiecht
und welkt es um ſo ſchneller dahin, denn die thoͤrichte
Gefaͤlligkeit, die ihm allen Willen laͤßt, wird ihm als
ſchaͤdliche Ungebuͤhr zuletzt verderblich. Solche Naturen
koͤnnen hoͤchſt reizend erſcheinen, ihre bewegte Perſoͤn¬
lichkeit beſchaͤftigt und unterhaͤlt eine geſellige Aufmerk¬
ſamkeit, bei welcher das Verdienſt klarer Bildung und
feſten Karakters eiliger abgefertigt wird. Baggeſen
19[290] hat dieſen Reiz der im Talent ſchwelgenden Perſoͤn¬
lichkeit in hoͤchſten Maßen ausgeuͤbt, gebraucht, und
dann auch verbraucht; geiſtig ſchoͤner und menſchlich
liebenswuͤrdiger als Zacharias Werner und Hoffmann,
hat er mit dieſen ſeinen unlaͤugbaren Vettern doch zu¬
letzt gleiches Schickſal gehabt. Die guͤnſtige Theil¬
nahme fuͤr eine beſeelte und vielverſprechende Eigenart
mußte nach und nach dem Eindruck einer leeren Ver¬
zerrung weichen; ein ſchmerzliches Bedauern konnte
den Freunden noch verbleiben, das Widerwaͤrtige mußte
aber auch ſie abſtoßen. Fuͤr Baggeſen, der, berauſcht
in Kantiſcher Philoſophie und franzoͤſiſcher Revolution,
ſeine kuͤhnſten Launen im Leben wie in Schriften mit
Anmuth, um derentwillen ſie ſogar am Hofe verziehen
wurden, geltend gemacht hatte, behielt Erhard immer
eine große Vorliebe, ſeiner Erinnerung an die fruͤhere
Gegenwart miſchte ſich gern ein Laͤcheln bei; allein das
mehr als dichteriſche Spiel, das jener mit ſich ſelbſt
und Andern bis zum Uebermaße trieb, konnte einer
fortgeſetzten Verbindung zwiſchen zwei ſo voͤllig ver¬
ſchiedenen Naturen durchaus nicht Boden ſichern. Wir
durften dieſen Denkwuͤrdigkeiten das Hereinſchimmern
der dargebotenen Strahlen dieſes Meteors nicht wohl
verſagen.
VI.
Wir ſehen Erhard bisher in dem Kreiſe ſeiner
jedesmaligen Umgebung perſoͤnlich hervorragen, die An¬
[291] dern ihm huldigen, ihn verehren, von ihm Lehre und
Beiſpiel ſtets erwarten. Die Selbſtſtaͤndigkeit ſeiner
Geiſtesbildung und die Feſtigkeit ſeines auf jene gegruͤn¬
deten Karakters erzeugten dieſe ungeſuchte Wirkung,
die ſich nicht nur in dem beſchraͤnkten Kreiſe des Ju¬
gendumgangs in Nuͤrnberg zeigt, ſondern auch auf dem
freien Schauplatze der belebteſten Univerſitaͤtsſtudien,
und ſelbſt auf der Hoͤhe der vornehmen großen Welt
behauptet. Selbſt wo ſeine Anſicht mehr Verwunde¬
rung als Beifall, ſein Benehmen nicht volle Billigung
erfaͤhrt, bleibt dieſe anerkennende Verehrung ungeſchwaͤcht.
Allein jedem, der eines perſoͤnlichen Anſehens genießt
oder bedarf, iſt als Bedingung geſetzt, daſſelbe fort¬
waͤhrend in der Welt durch Erfolge zu rechtfertigen;
Ungluͤck und Fehlſchlagen laſſen es ſchwer beſtehen.
Doch giebt es Ausnahmen, und Erhard gehoͤrt zu die¬
ſen. Die Kataſtrophe, aus welcher ſein Brief an Wa¬
ſhington hervorgegangen, war zerſchmetternd fuͤr jeden
Stolz, der ſich auf weltliches Wirken beziehen wollte;
welches Vertrauen, welche Fuͤhrerſchaft durfte der wohl
anſprechen, der eben ſelbſt ſo groͤblich und verderblich
getaͤuſcht worden? Jener Stolz erſcheint auch wirklich
in dem Schreiben an Waſhington voͤllig gebeugt, aber
das ergriffene Huͤlfsmittel ſelbſt iſt ſchon wieder ganz
des Mannes wuͤrdig, der zu kaͤmpfen weiß, er nimmt
alle Kraft ſeiner inneren Eigenthuͤmlichkeit und das
klarſte Bewußtſeyn der aͤußeren Umſtaͤnde zuſammen,
19 *[292] und wendet ſich damit ſo kuͤhn als frank unmittelbar
an die Behoͤrde, deren Namen gegen ihn ſo betruͤglich
mißbraucht worden war. Konnte dieſer Schritt auch
ſchwerlich zum Ziele fuͤhren, — wir wiſſen nicht, ob
das Schreiben wirklich abgegangen und angelangt ſei,
auch im letzteren Fall aber durfte ein ſo ferner Huͤlfe¬
ruf in ſeinem Deutſch kaum hoffen beachtet zu werden —,
ſo zeigte er doch den unverlorenen Kern des edelſten
Selbſtgefuͤhls, das die beſchaͤmende Demuͤthigung zwar
empfindet, aber nicht in ihr untergeht, ſondern ſie ein¬
geſtehend abwirft, und nach wie vor zu Hoͤherem ſtrebt.
Wirklich beſteht das Anſehn Erhards unter ſeinen Freun¬
den auch nach dieſer Kataſtrophe faſt ungeſchwaͤcht fort;
ihn zu tadeln, ihm ſogenannten guten Rath zu erthei¬
len draͤngt ſich niemand herbei, ihm wahrhaft zu helfen
iſt die tuͤchtigſte Freundeshand bereit. Nur ſein Freund
Grundherr, durch redlichen Eifer und ſittliche Ruhe mehr
als durch Talente ansgezeichnet, nimmt in dem nach¬
folgenden Briefe aus dem Ungluͤck Erhards nothgedrun¬
gen Anlaß, ihm mancherlei vorzuhalten, was mit jenem
Irrſal naͤher zuſammenhaͤngt, und ſo ihm den einzigen
Gewinn, der bei ſolchem Sturze noch zu erraffen iſt,
hervorzuheben und zu wahren. Auch von Schiller fin¬
det ſich ſpaͤter ein Brief, der die hochfliegenden That¬
gedanken in ſtillere, gelaſſene Wirkſamkeit herabzuſtim¬
men ſucht. Doch beherrſcht die hohe Meinung, welche
die Freunde von ihm haben, immer den guten Willen,
[293] den ſie ihm bezeigen. Perſoͤnliche Lebensbedingungen
und die allgemeine Lage der Welt uͤbten hierin groͤßere
Macht, als der Rath und die Warnung der Freunde,
und es ſchien in ſpaͤteren Jahren kaum denkbar, daß
grade bei ihm, der vor allem das Naͤchſte, das Auf¬
erlegte, das dem ausgeſprochenen Beruf Gemaͤße that,
das Entlegne oder Weitfuͤhrende dagegen willig der
Vorſehung anheimgab, ſolcher Zuruf je haͤtte anwend¬
bar duͤnken koͤnnen.
VII.
Herberts erſtem Briefe, den dieſe Sammlung dar¬
bietet, ſenden wir einige Worte voraus, welche das
Verhaͤltniß Erhards zu ſeinem Freunde naͤher andeuten
moͤgen. Die Art von Geheimniß, welches Erhard in
ſeinem biographiſchen Aufſatze durch die Erklaͤrung be¬
merklich macht, daß er ſeine innere Lebensgeſchichte mit
der erworbenen Freundſchaft Herberts abzuſchließen habe,
findet jetzt nicht mehr den fruͤher beſtandenen Grund.
Daſſelbe vollſtaͤndig aufzuhellen, duͤrfte jedoch auch ge¬
genwaͤrtig weder in unſrem Berufe, noch ſelbſt in unſe¬
rem Vermoͤgen ſeyn. Allein wir ſehen uns in Gemaͤ߬
heit einer durch vieljaͤhriges Vertrauenverhaͤltniß fuͤr
dieſen Gegenſtand geleiteten Beurtheilung wohl befugt,
den Leſer hier wenigſtens um einige Schritte weiter zu
fuͤhren, da wir ihn alsdann auf gehoͤrigem Standpunkte
ſeiner eignen Sehweiſe wieder uͤberlaſſen. Das Geheim¬
[294] nißvolle, Verſchwiegene, in dem Verfolg der inneren
Lebensgeſchichte Erhards, kann nur die unabweislichen
Verwickelungen betreffen, zu welchen mit der inneren
Geiſtes- und Gemuͤthswelt die widerſprechenden aͤußeren
Lebensgeſtaltungen ſich verflechten. Seine Verheirathung,
ſeine buͤrgerliche Stellung, ſeine Vermoͤgensumſtaͤnde,
mußten einer Menge von Beziehungen nach außen ihr
nahes Ziel ſetzen, welche von innenher mit allen Be¬
dingniſſen eines lebendigen Fortſchreitens noch behaftet
waren. Statt eines fortgeſetzten Aufſchwungs, ſo weit
die reinſten und edelſten Kraͤfte zu eignem wie zu aller
Menſchen Gewinn nur irgend kommen koͤnnten, trat
eine allſeitige Reſignation ein, die uͤberall hemmen mußte,
aber doch nirgend vernichten konnte. Solche Konflikte,
welche, nach Erhards Geiſtesart, ſogleich eine innere
Verarbeitung in erhoͤhtem Selbſtbewußtſein und erwei¬
terter Weltanſicht empfingen, fanden ihre vertrauteſte
Staͤtte, ihre moͤglichſte Erledigung, fuͤglich in einer
Freundſchaft, welcher ohnehin ſchon jeder kuͤhnſte Ge¬
dankenflug ſich leicht vereinte. In den Bildern und
Gefuͤhlen, die den eigentlichen, ſtets erneuten Kern des
Lebens bilden, welchen die Meiſten freilich unenthuͤllt
durch ihre dunkeln Tage tragen, mag Erhard das gleich¬
geſtimmte Weſen Herberts, welches genug Reize der
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit darbot, als groͤßten
Lebenstroſt in ſich genaͤhrt und durchlebt haben, wenn
auch ausdruͤckliche Bekenntniſſe daruͤber nicht vorhanden
[295] ſind, noch vielleicht je ſtatt fanden. Daß Herbert auch
aͤußerlich ſeinem Freunde zum feſten Anhalt gedient, ihn,
wie auch manchen Andern, nach Kraͤften durch Geld¬
mittel unterſtuͤtzt, in welcher Hinſicht die großartigſte
Unbefangenheit zwiſchen ihnen waltete, darf hiebei nur
als Nebenſache anzumerken ſeyn. War Erhard aus
freiem Geiſteswirken, wie es ihm vorgeſchwebt und zum
Theil ſchon wirklich geworden, zur ſtrengen Ausuͤbung
einer beſonderen buͤrgerlichen Thaͤtigkeit herabgedraͤngt,
die er bei ihren reichen geiſtigen Beſtandtheilen doch
nur hinnehmen, nicht mit ſeinem hoͤchſten Berufe fuͤr
eins halten konnte, ſo war die Wendung, welche die
Geſchichte ſeines Herzens nahm, nicht guͤnſtiger. In
ſeinem idealen Streben voruͤbergehend geſtoͤrt, aber dar¬
um weder der hoͤchſten Anſpruͤche deſſelben ledig, noch
ſelbſt ihre erſcheinenden Geſtalten entbehrend, knuͤpfte er
ein Band, welches ſeinen augenblicklichen Neigungen
zwar genuͤgen, aber jene nicht ausloͤſchen, noch zu
ihnen zuruͤckfuͤhren konnte. Hier war der Knoten von
Erhards Schickſal unaufloͤslich geſchuͤrzt, durch abwei¬
chende Art und Richtung ein weiter Raum des inneren
Zwieſpalts eroͤffnet, und dem Betrachter duͤrfte bei die¬
ſem Beiſpiele vielleicht wie bei manchem andern der
nachdenkliche Ausſpruch einleuchten, daß fuͤr Maͤnner,
die irgend einem Hoͤchſten unbedingt leben wollen, ein
ſolches Band uͤberhaupt nicht ſtatt finden duͤrfe, da ein
durchaus entſprechendes im einzelnen Fall kaum gehofft
[296] werden koͤnne. Wir geben dieſer Betrachtung fuͤr un¬
ſern Fall, wiewohl alle Perſonen, die er betrifft, ſchon
verſtorben ſind, hier keine weitere Ausfuͤhrung, und
fuͤgen nur noch hinzu, um ſie nicht ſchlimmer deuten
zu laſſen, als ſie an ſich iſt, daß Erhard ſpaͤterhin noch
ſeine Frau fuͤr die einzige erklaͤrte, in die er im eigent¬
lichen Sinn verliebt geweſen, und daß wir unter ſeinen
hinterlaſſenen Schriften die Briefe derſelben aus den
erſten Jahren ihrer Verheirathung durch die Aufſchrift
aus nicht viel ſpaͤterer Zeit bezeichnet fanden: Lettres
of a dear wife. — Was Herberts eignes Schickſal
betrifft, ſo wird auch daruͤber mancher Aufſchluß im
Folgenden zu wuͤnſchen bleiben; der Selbſtmord indeß,
mit dem er endigte, liegt in den phyſiſchen und meta¬
phyſiſchen Zuſtaͤnden, deren dieſe Briefe erwaͤhnen, ſchon
fruͤhzeitig angedeutet. Wir koͤnnen dem edlen und kuͤh¬
nen Geiſte, der ſo, indem er auf den Hoͤhen der Spe¬
kulation ſchwebt, ſich freventlich in ihren Abgrund
ſtuͤrzt, unſer Bedauern wie unſere Bewunderung nicht
verſagen. —
VIII.
Die Briefe der hochgeſinnten und liebenswuͤrdigen
Frau, welche in der Sammlung durch den Namen Eliſe
bezeichnet erſcheint, wird kein Gefuͤhlvoller ohne den
lebhafteſten Antheil durchleſen koͤnnen. Dieſe tiefe Er¬
gebenheit, dieſes unerſchuͤtterliche Vertrauen, welche ſich
[297] ein ganzes Leben hindurch zu einem entfernten, jedem
Wiederſehen entruͤckten und dadurch gewiſſermaßen ſchon
abgeſchiedenen Freunde gleichbewahren, der einſt als
junger Mann der eben erweckten, geiſt- und lebendur¬
ſtigen Jungfrau als Lehrer der Weisheit und Tugend
in allem Zauber dieſes Verhaͤltniſſes erſchienen, und ihr
fortdauernd als ein Vorbild ſittlichen Wandels und rein¬
ſten Wahrheitsdienſtes gegenwaͤrtig iſt, — dieſes innige,
in der Gattin, Mutter und Matrone gleich ungeſchwaͤcht
ergluͤhende Herzensfeuer hat in der einfachnatuͤrlichen
Sprache der Briefe, welche hier vorliegen, einen Ka¬
rakter von Kindlichem zugleich und Erhabenem, der die
innerſte Seele zu tiefer Ruͤhrung fortreißt. Keine Lie¬
besneigung im gewoͤhnlichen Sinn iſt hier vorhanden,
wiewohl alles ihr Verwandte und was ſonſt ihrem Ele¬
mente ſich verſtaͤrkend beimiſcht, aus reicher Quelle
ſtroͤmt; das Perſoͤnliche fehlt inmitten dieſer Gebilde,
oder iſt kaum ſchwach angedeutet; an deſſen Statt er¬
ſcheint die anſpruchsloſe Entſagung, die in reinſter Ver¬
ehrung zaͤrtlichſte Freundſchaft, die aufrichtigſte Wen¬
dung zu einem Hoͤheren, die herzlichſte Beachtung und
Pflege des naͤchſten Dargebotenen. Wir glauben nicht
noͤthig zu haben, dem ſinnvollen Leſer hieruͤber noch
mehreres zu ſagen. Dem Bilde Erhards aber wuͤrde
ein ſchoͤnſter und weſentlichſter Zug fehlen, wenn wir
nicht dieſe Zeugniſſe eines Eindrucks mittheilten, der ſeine
perſoͤnliche Erſcheinung beſonders in ſeinen fruͤheren Jah¬
[298] ren unwiderſtehlich begleitete, und ihn bei Juͤnglingen
und Maͤdchen, bei dem Weiſen von Koͤnigsberg wie
bei Staatsmaͤnnern und gebildeten Frauen der vorneh¬
men Welt, gleicherweiſe empfahl, hier aber in ſeiner
ſchoͤnſten und volleſten Wirkung als das Hochbild eines
ganzen Lebens am dauerndſten ſich ausgepraͤgt hat.
IX.
In Goethe’s weſt-oͤſtlichem Divan wird der Houri,
welche vor Mahomet’s Paradieſe Wache haͤlt, um nach
des Propheten Satzung vorzugsweiſe die Helden und
Kaͤmpfer einzulaſſen, von dem angehaltenen Dichter
keck erwiedert:
Iſt demnach jeder Menſch uͤberhaupt als Krieger anzu¬
nehmen, ſo bedarf es keiner beſonderer Herleitung, daß
auch kein Gelehrter ohne Polemik recht zu denken ſei;
die Friedensliebe mag Angriffskriege unterlaſſen, aber
zum Vertheidigungskriege wird auch der Nichtwollende
genoͤthigt, und da litterariſche Verhaͤltniſſe vielfach mit
den buͤrgerlichen ſich durchflechten, ſo werden oͤfters auch
dieſe mit jenen zuſammen auf den Kampfplatz gerathen.
Hier gilt es denn nicht mehr allein, welche Sache,
ſondern auch, welche Waffen man fuͤhrt, und mit Recht
ſtehen die Maͤnner in beſtem Anſehn, welche mit einer
[299] guten Sache und bei redlicher Liebe zum Frieden doch,
ſo oft es gilt, die tuͤchtigſte Kriegsfertigkeit verbinden.
Erhard’s erſtes Auftreten faͤllt in eine Zeit der hef¬
tigſten Kaͤmpfe im litterariſchen Deutſchland. Der Durch¬
bruch tieferen Geiſtes und freieren Sinnes fand in der
Oberflaͤchlichkeit eines an Einſichten beſchraͤnkten und
an Duͤnkel ſchrankenloſen Autorengeſchlechts den feind¬
lichſten Widerſtand. Die Art, wie Goethe’n, Schiller’n,
Jacobi’n und allen vorzuͤglichſten Koͤpfen, inſonderheit
aber Kanten begegnet und mitgeſpielt wurde, war ohne
Zorn wirklich nicht anzuſehen. Das Benehmen der
Nicolai und Andrer dieſes Gleichen, welche mit alberner
Anmaßung die hoͤchſten Beſtrebungen in den niedrigen
Kreis ihrer poͤbelhaften Beurtheilung zogen, verdiente
Zuͤchtigung, und ſie wurde ihnen richtig zu Theil. Was
Schiller und Goethe durch die Xenien, was Fichte durch
die Lebensbeſchreibung Nicolai’s, hierauf die beiden
Schlegel, Tieck und Andre durch andres aͤhnlicher Art
in Deutſchland gethan, kann in ganzem Werth nur
dem Sinne einleuchten, welcher ſich alle Umſtaͤnde und
Lagen jener Zeit zu vergegenwaͤrtigen im Stande iſt.
Unſre Litteratur hat ſolchen abwehrenden Arbeiten nicht
weniger zu verdanken, als den gruͤndenden, und zwei¬
mal im achtzehnten Jahrhundert, in der Mitte deſſelben
gegen die Gottſchede, und zu Ende deſſelben gegen die
bezeichnete Maſſe der Gemeinen, iſt ſie aus der drohen¬
den Gefahr des traurigſten Verkommens gerettet worden;
[300] denn jene Erſcheinungen, uͤber die wir jetzt lachen,
waren in der That von dringender Gefahr, indem auch
die Beſſern und die Beſten, wie es bei allgemeinen
Einfluͤſſen unvermeidlich iſt, ſich in den ſchlechten Rich¬
tungen mehr oder minder hintreiben ließen, und daher
auch ihres Theils von den hereinbrechenden Reinigungs¬
wettern mitgetroffen werden mußten. So war z. B.
der ſonſt hochverdiente Herder, ſeinen Beruf und ſeine
Faͤhigkeit bedauernswerth verkennend, in der Philoſophie
als Gegner Kant’s mit unwuͤrdigſten Waffen aufge¬
treten; ſein Name war jedoch einer der groͤßten, und
wenn derſelbe ſeinen vorigen Glanz ſeitdem nie voͤllig
wiedergewonnen hat, ſo zeigt dies, wie ernſt und nach¬
druͤcklich der Streit gegen ihn gefuͤhrt werden mußte.
Schon als Juͤngling hatte Erhard mancherlei Anlaͤſſe
zu polemiſcher Uebung; ſpaͤterhin ſtand er mit wiſſen¬
ſchaftlichen Autoritaͤten in ausgeſprochenem Zwiſt; ſeine
erſten litterariſchen Arbeiten erfuhren uͤbermuͤthige und
haͤmiſche Angriffe. In allen dieſen Faͤllen bewies er
die entſchloſſenſte Tapferkeit, immer zur Entſcheidung
vordringend, in der Sache ganz ohne Schonung, und
alle Kraft der Einſicht und des Ausdrucks zur moͤglich¬
ſten Wirkung zuſammennehmend, und wiewohl ſo ruͤſtig,
doch immer zum Frieden bereit, ſobald er das Noͤthige
geſagt glaubte. Mehrmals perſoͤnlich verletzt, traf er
auch wohl den Gegner perſoͤnlich, und bei der Schaͤrfe
ſeiner Waffen oͤfters toͤdtlich; aber aus eigner Wahl
[301] verließ er nie die Sache, um die Perſon aufzuſuchen.
Auch Nicolai hatte ihn perſoͤnlich und ſogar buͤrgerlich
verunglimpft, eine Antwort mußte erfolgen, und ſie
erfolgte mit Bitterkeit. Dem oͤffentlichen Schreiben
an Nicolai fuͤgte er noch ein handſchriftliches bei, welches
eine Milderung bedeuten wollte, aber ſelbſt bei ſolcher
Abſicht nicht vermochte, ohne Ironie zu bleiben. Die
ſpaͤtere Druckſchrift an Jean Paul Richter und an Herder
muß gleichfalls in der Tagesbeleuchtung jener Zeit be¬
urtheilt werden; ſie iſt ihr nicht eben unguͤnſtig. Wie
gemeſſen, nachgiebig und doch kraͤftig Erhard buͤrgerliche
Beleidigungen zu behandeln wußte, ſehen wir aus ſeiner
Antwort an einen Arzt in Berlin, der ihn uͤbereilt und
grundlos einer Ungebuͤhr beſchuldigt hatte. Ueberhaupt
ſtritt er, wo es Erkenntniß galt und eine Sache aus¬
zumitteln war, ſtrenger und hartnaͤckiger; in Faͤllen
andrer Art glaubte er oft lieber ein Unrecht oder einen
Nachtheil halb oder ganz hinnehmen zu koͤnnen, als
ſich in Kampf einzulaſſen, oder den begonnenen voͤllig
durchzufechten. Seine ſpaͤteren Lebensjahre waren im
Ganzen milde und nachſichtig im geſelligen wie im buͤr¬
gerlichen Verkehr, ohne darum der Strenge ſeines Ur¬
theils und der Beharrlichkeit ſeiner Anſicht das Geringſte
zu vergeben; wer dieſe unmittelbar herauszufordern
verſucht war, konnte leicht eine ſcharf treffende, in
ihrer Wirkung ſchnoͤde abfertigende Zurechtweiſung von
ihm erfahren, er muͤßte denn ſelbſt eine Aenderung
[302] ſeines Behauptens als richtig anerkannt haben, wie in
der durch Friedrich Buchholz veranlaßten Eroͤrterung
geſchah, deren ſpaͤter noch gedacht werden wird. Und
ſo duͤrfen wir in Betreff der polemiſchen Seite unſre
Karakteriſtik Erhard’s fuͤglich in den Ausſpruch zuſam¬
menfaſſen: er kaͤmpfte viel, in Vergleich ſeiner wenigen
Neigung, und in Betracht ſeiner erfolgſichern Kraft,
wenig.
X.
Erhard war zu ſehr Philoſoph, um aͤußerer Ehre
und ihren Gebraͤuchen, welchen er innerem Werthe
gegenuͤber doch nur eine untergeordnete Stelle zuge¬
ſtehen wollte, jede zu verſagen. Den Unterſcheidungen
und Zeichen, die er freilich nicht erfunden haben wuͤrde,
wußte er, da die Welt ſie einmal hat, ihre Schaͤtzung
nach den Verhaͤltniſſen der Welt richtig anzuweiſen;
auch das ſelbſtſtaͤndigſte Werthgefuͤhl mag eine aͤußere
Beglaubigung ſich gefallen laſſen, wenn gleich dieſe bei
Thoren und Schwachen auch gar die Sache ſelber
werden moͤchte, mit der ſie doch immer nur unter Zu¬
laſſung moͤglichen Irrthums zuſammenhaͤngt. Wie in
allen Dingen, ſo ſuchte Erhard auch bei dieſem Gegen¬
ſtande vor allem den aͤchten Grund der Sache hervor¬
zuwenden, und hielt ſich an dieſen. So empfing er
die von dem Koͤnige der Niederlande ihm durch den
Ritterorden vom belgiſchen Loͤwen gewaͤhrte Auszeich¬
[303] nung nicht ohne Freude, und druͤckte ſeinen Dank in
einem Schreiben an den Koͤnig nach einer beſonderen
Weiſe gebuͤhrend aus. Eben ſo eigenthuͤmlich iſt das
Schreiben abgefaßt, durch welches er bei ſeinem Lan¬
desherrn, dem Koͤnige von Preußen, die Erlaubniß nach¬
ſucht, den fremden Orden annehmen und tragen zu
duͤrfen. So wußte der in ſeiner Art wohlgegruͤndete
Mann bei dargebotener Gelegenheit bis an den Stufen
des Thrones die eigenſte Denk- und Empfindungs¬
weiſe nicht weniger ſchicklich als freimuͤthig darzulegen.
Friedrich Wilhelm Meyern.
Die Zeitungen meldeten im Mai 1829, am 13. deſſel¬
ben Monats ſei zu Frankfurt am Main der oͤſterreichiſche
Hauptmann Friedrich Wilhelm Meyern, Verfaſſer der
Dya-Na-Sore, im achtundſechzigſten Jahre geſtorben.
Seine Leiche ſei nach Mainz gebracht, und dort von
ſeinen Waffenbruͤdern zur Erde beſtattet worden.
Vergebens haben wir, ſeit dieſer einfachen Anzeige,
nach einem groͤßeren, das Andenken des trefflichen
Mannes wuͤrdig belebenden Aufſatz in unſern zahlreichen
Blaͤttern uns umgeſehn. Jede fernere Kunde ſchweigt.
Bereitet eine Freundeshand uns vielleicht ein ausfuͤhr¬
liches Bild des Lebens und Karakters des edlen Ver¬
ſtorbenen, vielleicht mit Huͤlfe ſeiner nachgelaſſenen,
uͤberaus zahlreichen, aber freilich an vielen Orten zer¬
ſtreuten Papiere? Oder war in ſeinen letzten Jahren
ihm niemand nah, der als Vertrauter ſeines Geiſtes
und Sinnes die Faͤhigkeit und Pflicht zur Uebernahme
eines ſolchen Ehrengedaͤchtniſſes haͤtte vereinen koͤnnen?
[305] Wie dem auch ſei, wir glauben unſrerſeits Dank zu
verdienen, wenn wir zur Schilderung des Mannes
einen Beitrag liefern, den der Zufall gerade in unſre
Haͤnde ſpielt.
Es iſt dies der Brief eines damaligen oͤſterreichiſchen
Offiziers, der nach dem Wiener Frieden in Paris die
Bekanntſchaft des durch ſeinen Geiſt und ſeine Sonder¬
barkeit beruͤhmten Grafen von Schlabrendorf gemacht
hatte, und an den einen wunderlichen Alten das Bild
eines andern Urvogels zu uͤberſchicken ſich gedrungen
fuͤhlte.
Wir laſſen hier, mit Uebergehung der erſten Seiten
des Briefes, deſſen eigne Worte folgen.
„Zumeiſt duͤrften jetzt wohl die auf den Staat gerichteten
Strebungen und Faͤhigkeiten ihre Muͤhen und Bedraͤngniſſe haben,
ja von ihrem Berufe ganz ausgeſchloſſen bleiben. Gewiß ſind
die Voͤlker und die Zeiten zu beklagen, die ſolche Kraͤfte hervor¬
brachten, ohne ſich ihrer Wirkungen zu erfreun; aber noch mehr
die Staatsmaͤnner ſelbſt, die im Stillen hingelebt, ohne den Stoff
ihrer hoͤchſten und ſchwerſten Kunſt gefunden zu haben, weil ſie
ihn auf ſchlechten, unvaterlaͤndiſchen Wegen verſchmaͤhten. Um
ſo inniger haͤngt mein Herz an denen, die ich in dieſem Geſchick
erkannt habe, und in denen vielleicht auch meinem Eifer das
Bild geſetzt iſt der Beſchraͤnkung, in welcher auch mein Streben
erfolglos verkommen ſoll. Mein Leben kann noch tauſendfaͤltigen
Wechſel erfahren; ich bleibe ihm wider Willen hingegeben, ſo
lange um mich her nichts Staͤtiges iſt; was man Freude und
20[306] Gluͤck nennt, erwarte ich wenig, ſo lange dieſe Richtung der
Zeiten fortdauert; vielleicht ſieht das fernſte Ziel meines Lebens
das nicht im geringſten erfuͤllt, wonach ich ſtrebe; aber meine
ſpaͤteſte Zukunft wird dennoch fuͤr meinen Blick erhellt, wenn
ich mir denke, ich koͤnne in hohem Alter, nach uͤberſtandenen
Kaͤmpfen und im Schmerz uͤber ihr Mißlingen, ſtill und feſt ſo
daſtehn, wie ich Sie, Verehrungswuͤrdiger, geſehn habe! Es iſt
mir, falls ich lange lebe, ein troͤſtliches Bild hoch aufgeſtellt
ich wuͤnſche dann ſo zu ſein, wie ich Sie, und wie ich Meyern
jetzt ſehe, die mir verſtaͤndlichere Lebensbilder ſind, als die Muſter
der Vorwelt, von denen auch nur die auf uns gekommen ſind,
die in fruͤherem oder ſpaͤterem Erfolg die Kraft und Frucht
ihres politiſchen Wollens zu zeigen vermocht! — Ich machte mir
ſchon oft zum Vorwurf, Ihnen damals von dieſem Meyern nicht
geſprochen zu haben, und ich will es jetzt thun, um mich zugleich
zu rechtfertigen, daß ich ihn neben Sie geſtellt habe, obgleich
ſeine Weiſe und beſonders die Lebensbahn, die er durchgangen,
von der Ihrigen ganz verſchieden iſt, und nur in der politiſchen
Tugend, die ich nirgends groͤßer geſehn, will ich die Einheit ge¬
funden haben! Ich machte ſeine Bekanntſchaft vorigen Winter
in Prag, und es traf ſich gluͤcklicherweiſe, daß er einige Monat
hindurch mit mir daſſelbe Zimmer bewohnte. Er war beim Aus¬
bruche des letzten Kriegs in oͤſterreichiſche Dienſte getreten, und
Hauptmann bei der Landwehr geworden. Von ſeinen fruͤheren
Verhaͤltniſſen habe ich nur wenig, und durch ihn ſelbſt, unge¬
achtet wir ziemlich vertraut waren, beinahe nichts erfahren,
weil ſeine Perſoͤnlichkeit uͤberall hinter die Sachen zuruͤcktrat,
und er ſich ſelbſt nie bedachte, ſondern nur die Dinge, die er
geſehn, und die Gedanken, die er gefaßt, bei ſeinen Geſpraͤchen
vor Augen hatte. Dazu ſtimmte auch ſein aͤußeres Leben, das
nach Selbſtwahl in jeder Art enthaltſam, ſtreng und hart iſt;
[307] er bedarf wenig Schlafs, geringer Koſt, ſeine Kleidung zeigt,
daß er ein Mann iſt, der ihrer zu keinem Scheine braucht. Be¬
ſchwerden, Arbeiten, Gefahren, ſcheut er nicht, und hat die Art
von Vertrautheit damit, die auf maͤnnliche Weiſe jedes Unnoͤthige
zu umgehn, und das Unternommene ſtandhaft zu Ende zu fuͤhren
weiß. Der Ruhm und das Gluͤck ſeines Volkes ſind ihm das
Einzige und Hoͤchſte; er wuͤrde dieſes auch auf ungerechte
Art herbeizufuͤhren ſuchen; was dem entgegen iſt, das iſt ihm
feind; das tiefſte Ungluͤck iſt ihm, und faſt das einzige, ſein Volk
ſchmachvoll unterjocht zu ſehn. Dieſe Geſinnung hat er feurig
und edel in einem Jugendwerke ausgeſprochen, in einem politi¬
ſchen Roman, Dya-Na-Sore genannt, einem Buche, das mehrere
Auflagen erlebt hat, und zu einem großen Rufe gelangt iſt, das
in ſeiner etwas wunderlichen Form die edelſten und tiefſten Ge¬
danken darſtellt, und das gediegene Gemuͤth, und den geſchicht¬
lichen Blick ſeines Verfaſſers nicht verkennen laͤßt. Durch dieſen
ſelbſt haͤtte ich aber wohl nie etwas von dieſem Buche erfahren;
er betrachtete ſich davon wie abgeloͤſt, und wurde verdrießlich,
wenn die Rede darauf kam. Seine ſtrenge Rechtſchaffenheit,
ſeine thaͤtige Menſchenfreundlichkeit, ſeine Kenntniſſe und Talente,
ſein Schweigen, wo Reden unnuͤtz geweſen waͤre, und ſeine
Anſpruchloſigkeit grade in den Dingen, in welchen die Menſchen
gewoͤhnlich am meiſten durch Wetteifer beleidigt werden, haben
ihn ſeit langer Zeit den Großen angenehm gemacht, und bei der
ausgebreitetſten Bekanntſchaft unter ihnen genießt er uͤberall die
groͤßte innere Achtung, die ihn der etwa mangelnden aͤußeren
Auszeichnung leicht entbehren laͤßt. Er hat große Reiſen mit
Geſandten, Generalen und andern wichtigen Perſonen gemacht,
Deutſchland in allen Richtungen durchwandert, England und
Schottland beſucht, Ungarn und Polen geſehn, Italien in allen
ſeinen Theilen durchſtrichen, ſieben Monate auf Sicilien gelebt,
20 *[308] und ſich lange in Griechenland, in Konſtantinopel und auf der
Kuͤſte von Kleinaſien aufgehalten. Ueberall hat er die Voͤlker
ſtudirt und die Natur der Laͤnder erforſcht; ich kann nicht ſagen,
mit welcher inneren Freude ich ihm zugehoͤrt habe, wenn er
Abends mir, ſeinem juͤngeren Freunde, belehrend erzaͤhlte, gleich¬
ſam durch mein Hoͤren aus ſeinem Schweigen geriſſen, und bald
von Bergwerken, von Bruͤcken, Waͤldern und Fluͤſſen, bald von
venezianiſchen Sitten, von dem Leben der engliſchen Matroſen
(die er uͤberaus liebt), vom Schiffsweſen, von dem Zuſtande
der Neugriechen und dem des tuͤrkiſchen Reiches, bald von
militaͤriſchen Operationen und alten Schlachtfeldern, lebhaft,
ruhig, ſicher, geiſtvoll und treffend erzaͤhlte, daß ich oft un¬
willkuͤrlich an den freundlichen Herodotos denken mußte! Die
Kriegskunſt verſteht er in allen ihren Zweigen; er wuͤrde Sol¬
daten nicht nur anzufuͤhren, ſondern auch zu bilden wiſſen.
Alle dahin bezuͤglichen Gegenſtaͤnde ſind ihm ſo vertraut, und
gelaͤufig, daß ihm die richtige Kombination von Menſch und
Natur zum Behuf des Kriegs in jedem gegebenen Falle wie von
ſelbſt verſtehn muͤßte, und er gewiß immer das Eine nothwen¬
dige traͤfe. Der Fuͤrſt Ypſilanti wollte einmal durch ihn ſeine
kleine Kriegsmacht, die groͤßtentheils erſt geſchaffen werden ſollte,
gegen den Paswan Oglu fuͤhren laſſen; die eingetretenen, fried¬
lichen Verhaͤltniſſe nahmen ihm dieſe Gelegenheit, wirklich zu
zeigen, was er im Felde vermocht haͤtte. Alles was den Staat
angeht, die Anordnung und Erzeugung allgemeiner Geſellſchafts¬
verhaͤltniſſe, hat er mit tiefem Sinn durchdacht; die große Be¬
zwingung der Natur zu menſchlichen Zwecken, die vielen Bau¬
werke, die gegen ihre Feindſeligkeiten der Menſch unternommen,
das Weſen der Landwirthſchaft und des Handels, die Kraft der
Finanzen, alles hat er in ſeinem klaren Geiſte bearbeitet, alles
vielfach geſehn, und in Erfahrungen gepruͤft. Der Geſchichte iſt
[309] er kundig, und vorzuͤglich der deutſchen: Poeſie in Kunſtform
ſteht ihm fern, aber vom Staat und von der Geſchichte aus hat
er den Shakespeare ausgefunden. Im Gegenſatze der katholi¬
ſchen Umgebung, in der er ſich meiſt befunden, iſt er ſtets ein
ſtrenger Proteſtant. Von der Welt will er nichts; ſein Leben
iſt ihm gleichguͤltig; freie Voͤlker, und vorzugsweiſe freie Deutſche
zu ſehn, waͤre ihm der einzige Troſt: er hatte fruͤher mit den
Englaͤndern unterhandelt, Deutſche als Koloniſten nach Sicilien
zu fuͤhren, wo ſeiner Ausſage nach fuͤr mehr als dreißigtauſend
Menſchen unbebautes Land liegt; zu einer Auswanderung faͤnde
ſonſt er Candia am beſten, das wenige Plaͤtze zum Angriff, und
faſt uͤberall gute Vertheidigung darbietet; daß dort aus geret¬
teten Deutſchen gegen die Unterdruͤcker des Mutterlandes eine
Art Malteſerorden ſich feſtſetzte, gehoͤrt unter die Ideen, die er
vielfach genaͤhrt hat, und deren Nicht-Ausfuͤhrung noch nichts
gegen ihre Ausfuͤhrbarkeit beweiſt. Dieſer treffliche Mann, der
wohl, wenn irgend einer, zum Staatsmann geboren ward, —
nur daß er nicht auch die Umſtaͤnde, die ſeinen Gaben noͤthig
waren, ſchaffen konnte, und ſeiner Perſoͤnlichkeit keine glaͤnzende
Erſcheinung zu geben wußte, — der nun uͤber fuͤnfzig Jahre
alt iſt, und wohl unzaͤhlige Schmerzen und Leiden in ſeiner
Laufbahn erfahren hat, wie jeder, der mit hellem Geiſte die
Verkehrtheit der Handelnden erkennt, und ſein leiſes Reden und
Warnen, bei allem Fehlſchlagen ſeiner Muͤhe, doch immer wieder
erneuern muß, haͤtte auf verſchiedene Weiſe dreimal die Schlacht
von Wagram entweder unmoͤglich gemacht, oder fuͤr uns ent¬
ſchieden, wenn man ihn gehoͤrt haͤtte! Er benutzte ſeine Be¬
kanntſchaft und gewohnten Umgang mit Generalen und Vorneh¬
men, um anſpruchslos, wie er war, Einzelnen, die ihm freund¬
lich Gehoͤr gaben, folgende Vorſchlaͤge zu thun, die insgeſammt
unbeachtet blieben. Erſtens gab er eine Zeichnung ein, wie ver¬
[310] mittelſt einiger Balken jeder Donaukahn zum Kanonierboot um¬
gewandelt werden konnte, eine Einrichtung, die er vom engli¬
ſchen Seeweſen her kannte, und mit einigen alten Schiffern
voͤllig ins Werk zu ſetzen ſchon verabredet hatte. Alsdann waren
auch wir im Beſitz einer Flottille, wie die Franzoſen, und dieſe
konnten nicht ſo leicht Meiſter des Fluſſes werden. Zweitens
gab er eine Art von Telegraphen fuͤr die Linie unſerer Armee
an, die es unmoͤglich gemacht haͤtten, daß der Erzherzog Johann
den Befehl, nach Wagram zu ruͤcken, zu ſpaͤt erhielt. Drittens
hat er oft die einflußreichſten Perſonen dringend aufmerkſam
darauf gemacht, wie ſehr es noͤthig ſei, das Gebirge Hohenlei¬
then zu verſchanzen; dann war unſer linker Fluͤgel beim erſten
Weichen nicht gleich bloßgeſtellt, wodurch die Schlacht eigentlich
verloren ging. — Welche Tugend gehoͤrt dazu, um in einem
Leben, das faſt unaufhoͤrlich in ſolchem vergeblichen Wiſſen und
Bemuͤhen ſich hinſchleppt, doch wieder thaͤtig und freudig einzu¬
greifen, ſo oft nur der geringſte Keim des Beſſern ſich leiſe
regt! Und wie waͤre dieſer Mann vielleicht in einer guͤnſtigen
Lage erſt erſchienen? Wer will ergruͤnden, welche Kraft dann
entfaltet worden waͤre? Was wir ſehn, ſind gerettete Truͤmmer;
von ihnen haben wir auf das moͤgliche Ganze zu ſchließen! Sie
ſehn, Verehrungswuͤrdiger! daß jener nicht unwerth iſt, neben
Ihnen genannt zu werden, und daß ich nicht unbillig ſeinen
treuen ſtillen Ernſt, und ſein geſchichtliches Daſtehn mit dem
verglich, das aus Ihnen zu mir ſprach, und mir iſt es, als
haͤtte ich mich einer laͤngſt verſchuldeten Pflicht entledigt, daß
ich Ihnen von dieſem Mann endlich geſprochen habe! — Die
Geſchichte rauſcht voruͤber im Sturme, und die Nachwelt erfaͤhrt
nicht, welches Licht im Verborgenen dieſe Zeit durchleuchtete;
ſie traͤgt wohl gar die Klage und den Vorwurf mit hinuͤber,
daß arm die Deutſchen in ihr geweſen an großen Talenten fuͤr
[311] den Staat, und eine auf Buͤcherweſen gerichtete Geiſtesbildung,
mehr in Wort als in That, das einzige ſei, was in dieſen Zei¬
ten uns gegeben worden; und dennoch ſcheint die ganze Ge¬
ſchichte doch nur um ſolcher Maͤnner willen da zu ſein! War
nicht auch der Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen ein junger
Held, den unguͤnſtige Schickſale den Anſpruͤchen ſeines Volkes
ſchon zerſtoͤrt und verzehrt hatten, als er anfangen ſollte, ſpaͤt
dieſelben zu erfuͤllen? Ich weiß es; Sie lieben dieſen Prinzen
nicht, und ich erinnere mich wohl, daß Sie ihn hart beſchul¬
digten; aber Sie kannten ihn nicht, und niemand wurde jemals
ſo wie er von wahrhaftigen Geruͤchten dennoch nur verlaͤumdet,
weil dieſe Geruͤchte wohl die aͤußere Thatſache zum ſcheinbaren
Beleg hatten, aber nicht die inneren Gruͤnde zur wahrhaften
Erklaͤrung. Deßhalb auch wuͤrde ein Dichter in einem Trauer¬
ſpiel dieſen Prinzen treuer darſtellen koͤnnen, als ein noch ſo
begabter, aber undichteriſcher Geſchichtſchreiber.“ —
So weit unſer Brief. Auch in den ſpaͤtern Ereig¬
niſſen oͤffnete ſich fuͤr Meyern die Bahn der Thaͤtigkeit
nicht, auf der ihm ein Blatt in der Geſchichte der
Ereigniſſe haͤtte werden moͤgen! Aber Denkwuͤrdig¬
keiten ſeines Lebens und Wirkens waͤren wohl zu
einem Buche zu ſammeln, das einen edlen Menſchen
uns zu reicher, aufweckender und troͤſtlicher Unterhal¬
tung aufbewahrte. Er lebte ſpaͤter in Wien, dem großen
Generalſtab angehoͤrig, und unter der Leitung des geiſt¬
vollen Generals Grafen von Radetzky, fuͤr militaͤriſche
Bildung und Geſetzgebung vielfach thaͤtig.
[312]
Im Jahre 1815 war er mit den Truppen in Paris,
wo er den Grafen von Schlabrendorf perſoͤnlich kennen
lernte. Beide achteten ſich gegenſeitig, zogen einander
jedoch nicht an. Meyern erhielt den Auftrag, die aus
den oͤſterreichiſchen Staaten in Paris befindlichen Kunſt¬
werke in ihre Heimath zuruͤckzuſenden. Spaͤter lebte
er in Rom, der dortigen oͤſterreichiſchen Botſchaft bei¬
gegeben. In Frankfurt am Main war er, ſo viel uns
bekannt, der Bundes-Militaͤrkommiſſion zugetheilt. Im
Jahre 1809 war er Hauptmann, nach zwanzig Jahren
war er es noch; freilich fuͤhrte er den ſchoͤnen Namen
mit der That, und bedurfte fuͤr ſeine eigne Zufrieden¬
heit keines hoͤheren! —
(Seitdem iſt eine treffliche Lebensbeſchreibung des
wuͤrdigen Mannes von edler und feſter Hand in den
Zeitgenoſſen (Leipzig bei Brockhaus) erſchienen, und
hoͤchſt ſchaͤtzbare, anziehende und gehaltreiche Nachrichten
von ihm hat Theodor Mundt in der Zeitſchrift Zodiakus
und in dem erſten Theile ſeiner Dioskuren dankenswerth
mitgetheilt.)
Ludwig Achim von Arnim.
Ludwig Achim von Arnim verſchied zu Wiepersdorf, im
Laͤndchen Baͤrwalde, am 21. Januar im zweiundfuͤnf¬
zigſten Jahre ſeines Alters durch einen ploͤtzlichen Ner¬
venſchlag.
Schon fruͤh durch wiſſenſchaftliche Kenntniſſe und
gebildeten Geiſt ausgezeichnet, lieferte er bereits als
Juͤngling im Gebiete der Naturforſchung bedeutende Ar¬
beiten, deren Werth noch jetzt anerkannt wird und erſt
neuerdings wieder zur Sprache gekommen iſt. Sodann
feuriger zur Poeſie gewendet, nahm er in ihr einen
eben ſo kuͤhnen, als wunderbaren Schwung, der ſeine
eignen Bahnen ſuchte und fand.
Seine Weltanſchauung erweiterte er darauf durch
Reiſen und Aufenthalt in der Fremde, ſowohl im Aus¬
lande, als auch beſonders in Deutſchland ſelbſt, deſſen
verſchiedene Laͤnder und Volksſtaͤmme ihm durch Neigung
und Einſicht ganz eigen vertraut und heimiſch wurden.
Aus dieſer tiefen Empfindung und Wuͤrdigung deutſcher
[314] Volksart ging ſein verdienſtliches und fruchtbares Be¬
muͤhen um die Lieder hervor, deren herrliche Sammlung
er gemeinſchaftlich mit Clemens Brentano, ſeinem nach¬
herigen Schwager, in dem beruͤhmten, auch von Goethe
mit gebuͤhrendem Preis angezeigten Werke, des Knaben
Wunderhorn genannt, mit geiſtreicher Sorgfalt heraus¬
gegeben.
Aber auch ſeine eigene Poeſie entfaltete nun ihre
Schwingen glaͤnzender. Die Graͤfin Dolores, Halle und
Jeruſalem, die Novellen und Schauſpiele mannigfacher
Geſtalt, welche nach und nach erſchienen, ſind Werke
eines ſo heitern, als tiefen Genius, dem es jedoch be¬
ſchieden war, in einer auffallenden Sonderbarkeit gegen
das Publikum dazuſtehen, welche aufzuheben dieſes keinen
Drang und der Dichter ſelbſt kaum den Willen hatte,
daher das Verhaͤltniß zwiſchen beiden nicht das lebendig
durchgreifende und ausgebreitete werden konnte, wozu
doch die Anlagen ſonſt ſo uͤberſchwenglich vorhanden
waren und einige Nachgiebigkeit von einer oder der
andern Seite nothwendig haͤtte fuͤhren muͤſſen.
Inzwiſchen hatten ſchwere und langwierige Unfaͤlle
das Vaterland betroffen, und Arnim wurde von ihren
Wirkungen in ſeinem Gemuͤthe wie in ſeinen perſoͤnlichen
Verhaͤltniſſen ernſtlich heimgeſucht. Ein ungluͤcklicher
Vorfall wirkte verhaͤngnißvoll auf ſein ganzes folgendes
Leben. Als Grundbeſitzer und Landwirth dem Drucke
der Zeitumſtaͤnde vorzuͤglich ausgeſetzt, hatte er mit allen
[315] Verwicklungen und Bedraͤngniſſen zu kaͤmpfen, welche
den ausdauernden Haushalter, den Vaterlandsfreund,
den ſorgſamen Familienvater wechſelsweiſe in Anſpruch
nahmen.
Unter großen Sorgen und Arbeiten, mit Selbſtver¬
laͤugnung dem glaͤnzenderen Anreiz entſagend, und nur
die unerlaͤßlichſte, naͤchſte Pflicht erfuͤllend, ſah er end¬
lich die Tage der Befreiung, die Herſtellung des gelieb¬
ten Vaterlandes, deſſen großer Sache er die reinſte
Geſinnung gewidmet hatte, wenn gleich ein beſonderes
Mißgeſchick ihn fuͤr daſſelbe thaͤtig aufzutreten immer
verhindert hatte.
Ein neues Aufleben begann in dem wieder gewon¬
nenen Lebensraum nun auch der deutſchen Literatur.
Arnim hatte die ſchoͤnſten und gehaltreichen Gaben, die
er im Sturm und in der Stille der Zeiten gleicherweiſe
gepflegt, den erwartungsvollen Landsleuten darzubieten;
allein die Befremdung, um nicht zu ſagen die Ent¬
gegenſetzung, zwiſchen Autor und Publikum hatte ſich
auf keiner Seite gehoben und wollte ſich auch jetzt nicht
ausgleichen; die belebende Wechſelwirkung zwiſchen beiden
trat wohl mit ungemeiner Staͤrke, doch nur in verein¬
zelten Kreiſen ein, der entſprechende allgemeine Erfolg
unterblieb, und eine neue Stockung war nicht zu ver¬
meiden. Doch werden die Kronenwaͤchter, die Gleichen
und ſo manche andere erzaͤhlende und dramatiſche Dich¬
tung Arnims immer bedeutende Denkmale einer gro߬
[316] artigen Phantaſie und außerordentlichen Dichterkraft
bleiben, deren volle Anerkennung vielleicht nun nicht
mehr fern iſt und gewiß nur um ſo glaͤnzender zu er¬
warten ſteht, als ſie den Spaͤterlebenden ſich neben dem
Unwerthe ſo vieles Gleichzeitigen nur immer deutlicher
hervorheben muß. Immer jedoch wird es tief zu bekla¬
gen ſein, daß ein ſo großes dramatiſches Talent ſeine
volle Entfaltung und Wirkſamkeit, aus Mangel einer
eingreifenden und begeiſternden Schaubuͤhne, unſerem
gerade in dieſem Fache ſo uͤbelberathenen Zeitalter nicht
beweiſen durfte!
Ihn ſelbſt vermochten in ſeiner einfachen Haltung,
in ſeinem Gleichmuthe, der niemals einem Scheine nach¬
hing, ſondern unter allen Bedingungen nur dem innern
Genius folgte, keine aͤußerliche Mißſtaͤnde noch Stoͤrun¬
gen zu beugen. In den Wiſſenſchaften, in der Dicht¬
kunſt, in den Geſchaͤften des buͤrgerlichen Lebens, wie
in den Vergnuͤgungen der Geſelligkeit, uͤberall nur dem
Schoͤnen und Geiſtigen, der Redlichkeit und Bildung
zugewandt, war er eine ſtets erfreuende Erſcheinung,
deren Naͤhe Gehaͤſſiges verſcheuchte und Geringes nieder¬
hielt, und das Element, in welchem er lebte, auch fuͤr
Andre darbot.
Doch, was Arnim durch hohen und ſchoͤnen Sinn,
durch dichteriſches Talent, durch perſoͤnliches Handeln
und Anregen, als Stifter und Genoſſe mannigfach loͤb¬
[317] licher Thaͤtigkeit, ſowohl im Leben, als in der Litera¬
tur, nach den verſchiedenſten Richtungen gewirkt und
geleiſtet, iſt hier nicht umſtaͤndlich darzulegen. Hier ſei
nur noch erwaͤhnt, daß er ſo thaͤtig als anſpruchslos,
ſo eifrig als gelaſſen, allen Verhaͤltniſſen ein uneigen¬
nuͤtziges, freies und kraͤftiges Gemuͤth zubrachte, allem
Menſchlichen offen, insbeſondere aber dem Vaterlaͤndi¬
ſchen hold war, in deſſen feſtem Grunde ſein Weſen
tief wurzelte und dabei uͤber jede Schranke mit dem
Geiſte doch frei hinausblickte.
Durch Verwandtſchaft, Freundſchaft und jedes andere
Band eines reichen Lebens den erſten und bedeutendſten
Maͤnnern der Nation verknuͤpft, zaͤhlt ſein Name in
allen Gegenden von Deutſchland verehrende Freunde
und Angehoͤrige, die ſich vereinigen werden, um ſein
ehrenvolles Andenken mit treuer Neigung auch als ein
allgemeines zu bewahren und zu erhoͤhen.
Wir ſchließen unſere Anzeige mit folgendem ſchoͤnen,
aus den Kronenwaͤchtern entlehnten Gebete des Dich¬
ters, welches nun als eine merkwuͤrdig prophetiſche
Grabſchrift, beſonders auch durch die letzte Zeile, erſchei¬
nen darf:
Wilhelm Nolte,
Königlicher wirklicher Oberkonſiſtorialrath.
Geſtorben zu Berlin, den 2. Juli 1832.
Wir haben den Verluſt eines unſerer edelſten Mitbuͤr¬
ger, eines liebevollen und thaͤtigen Menſchenfreundes,
in dem Hinſcheiden des Mannes zu betrauern, deſſen
ehrwuͤrdiger Name Ueberſchrift dieſer Zeilen bildet, und
wir fuͤhlen uns um ſo eifriger gedrungen, ihm einen
Nachruf des Schmerzes und der Anerkennung oͤffentlich
zu widmen, als er ſelbſt, waͤhrend eines ſchoͤnen und
verdienſtvollen Lebens, welches fuͤr die Welt durch ſeltene
Eigenſchaften des Geiſtes und Herzens die ſegenreichſten
Wirkungen raſtlos ausuͤbte, fuͤr ſich keinen Gewinn in
Ruhm und Namen ſuchte, ſondern in ſtiller Wuͤrde
und reinem Wandel beſcheiden dahin lebte. Doch muͤſſen
wir an dieſem Orte fuͤrerſt uns begnuͤgen, den Umriß
ſeines Lebens und Karakters in gedraͤngtem Ueberblicke
darzulegen.
[320]
Johann Wilhelm Heinrich Nolte wurde am 27. No¬
vember 1786 zu Berlin geboren. Er ſtammte aus einer
achtbaren Buͤrgerfamilie, und der Vater, ein uͤberaus
redlicher und mit ungewoͤhnlicher Klarheit in die Ver¬
haͤltniſſe des Lebens blickender Mann, ſorgte eifrig dafuͤr,
durch guten Unterricht die fruͤhzeitig ſichtbaren Anlagen
des Sohnes zu entwickeln. Dieſer beſuchte von der
zarteſten Jugend an die Realſchule, ging mit einem
reichen Vorrathe von Kenntniſſen und Fertigkeiten zu
dem mit dieſer Schule in enger Verbindung ſtehenden
Paͤdagogium, dem nachmaligen Friedrich-Wilhelms¬
Gymnaſium, uͤber, und gewann hier inſonderheit das
Studium der aͤlteren und neueren Sprachen lieb, worin
er bald die ausgezeichnetſten Fortſchritte machte. Ohne
hinlaͤngliche Mittel, eine Univerſitaͤt zu beziehen, und
fuͤr die Erweiterung ſeiner Vorkenntniſſe eifrig, haͤtte
er gern noch laͤnger die Schule beſucht, als ein guͤnſti¬
ger Umſtand ihn unerwartet zur Univerſitaͤt befoͤrderte.
Die Oberkonſiſtorialraͤthe Teller, Buͤſching und Gedike
pruͤften ihn gleichzeitig mit ſeinem Jugendgenoſſen Kieſe¬
wetter und einigen Anderen, und die Folge war, daß
ihm das kurmaͤrkiſche Stipendium auf drei Jahre und
gleich darauf noch ein zweites zu Theil wurde. Er
ging daher Oſtern 1785 nach Halle, waͤhlte das Studium
der Theologie und hoͤrte die wichtigſten theologiſchen
Vorleſungen bei Noͤſſelt, Knapp und Niemeyer, philo¬
ſophiſche und philologiſche bei Eberhard, Jakob und
[321] Friedrich Auguſt Wolf, aber auch die Naturwiſſenſchaf¬
ten und die Geſchichte zog er mit Eifer in den Kreis
ſeiner Studien.
Um Oſtern 1788 nach Berlin zuruͤckgekehrt und
noch ſchwankend, ob er die theologiſche Laufbahn ver¬
folgen oder ſich ganz dem Lehr- und Erziehungsfache
widmen ſolle, nahm er, jedoch nur auf kurze Zeit, eine
Lehrerſtelle in einem vornehmen Hauſe an, worauf er,
dem Miniſter Grafen von Hertzberg durch ſeine perſoͤn¬
liche Erſcheinung und ſeine vielverſprechenden Faͤhigkeiten
empfohlen, bei dieſem beruͤhmten Staatsmanne Sekre¬
tair wurde. Eine Anſtellung in dem auswaͤrtigen De¬
partement konnte ihm hier nicht entgehen, und es iſt
kein Zweifel, daß in dieſer Bahn ſeine Faͤhigkeiten volle
Anerkennung gefunden haben wuͤrden; allein der Aus¬
tritt ſeines Goͤnners aus den Geſchaͤften vereitelte dieſe
Hoffnungen. Er ließ ſich dies nicht allzu leid ſein, und
kehrte gern zu dem Unterrichtsfache zuruͤck, wo ihm,
wenn auch minder glaͤnzende, doch um ſo gruͤndlichere
Erfolge beſtimmt waren. Er wurde im Jahre 1791
Lehrer an dem Paͤdagogium und der Realſchule, wo er
ſowohl in den gewoͤhnlichen Schulgegenſtaͤnden, als auch
im Franzoͤſiſchen und Engliſchen den vortrefflichſten
Unterricht ertheilte. Im Jahre 1798 empfing er die
Stelle eines Profeſſors am Friedrich-Wilhelms-Gym¬
naſium, wie auch eines Lehrers der deutſchen Sprache,
der Geographie und Geſchichte bei der Koͤniglichen
21[322] medeziniſch-chirurgiſchen Pepinière. Seine Klarheit im
Vortrage, ſein unverdroſſener Eifer und ſeine freundliche
Sanftmuth machten ihn ſeinen Zuhoͤrern eben ſo nuͤtz¬
lich als werth und angenehm, und ſelten hat ein Lehrer
von einer gemiſchten Jugend ſo allgemeinen Dank und
allgemeine Zuneigung eingeerntet.
Sein ausgezeichnetes Verdienſt in dieſer bis zum
Jahre 1804 ſo gluͤcklich fortgeſetzten Thaͤtigkeit blieb
aber auch hoͤheren Ortes nicht unbemerkt noch unbelohnt.
Man ſchaͤtzte ſeine Kenntniſſe und Lehrgaben, mehr aber
noch die ſchoͤnen ſittlichen Eigenſchaften, welche ihn da¬
bei beſeelten, den reinen Antrieb und Eifer, die Gewiſ¬
ſenhaftigkeit, den Fleiß, den ſicheren und feinen Takt
in Behandlung der Geſchaͤfte und Menſchen, den hellen
Verſtand und die feſte Ausdauer, welche er in kleinen
wie in groͤßeren Dingen bewies. Er wurde deshalb in
die Oberbehoͤrde des geſammten Unterrichtsweſens berufen
und in dem damaligen Koͤniglichen Oberkonſiſtorium
und Oberſchulkollegium zuerſt als Aſſeſſor, dann im
naͤmlichen Jahre ſchon als Oberkonſiſtorialrath angeſtellt.
Hier begann eine neue, ihm hoͤchſt erwuͤnſchte und
unter ſeinen Haͤnden uͤberall fruchtbare Geſchaͤftsthaͤtig¬
keit, in welcher er ſein uͤbriges Leben hindurch getreu
geblieben iſt.
Die Unfaͤlle des Jahres 1806 erſchuͤtterten ihn ſehr,
ſtaͤrkten aber zugleich ſeinen Muth in treuer Anhaͤnglich¬
keit an Koͤnig und Vaterland zu ſtets erneuter Hoff¬
[323] nung und zu jeder erhoͤhten Anſtrengung und Hingebung.
Bei Gelegenheit der neuen Organiſation der Staatsbe¬
hoͤrden, und da in Folge derſelben auch das ſeitherige
Oberkonſiſtorium aufgeloͤſt wurde, erhielt er im Jahre
1809 eine neue Stellung in der geiſtlichen und Schul¬
kommiſſion der Koͤniglichen Regierung zu Potsdam.
Im Jahre 1816 trat er in das neu errichtete Kon¬
ſiſtorium der Provinz Brandenburg uͤber, bei welchem
er ſeitdem verblieb. Im Januar des folgenden Jahres
geruhte der Koͤnig, ihm unter ehrenvoller Anerkennung
ſeiner vielfachen Verdienſte den rothen Adlerorden dritter
Klaſſe zu verleihen. Im Jahre 1826 erhielt er die
Auszeichnung, zum wirklichen Oberkonſiſtorialrath er¬
nannt zu werden.
Unmoͤglich waͤre es, hier die Mannigfaltigkeit, den
Umfang und die Schwierigkeit der Geſchaͤfte und Ar¬
beiten aufzuzaͤhlen, die ihm in dieſer Stellung theils
von Amts wegen oblagen, theils durch das Vertrauen
ſeiner Mitbuͤrger zugewendet wurden, theils durch frei¬
williges Anbieten ſeines gepruͤften Rathes und ſeiner
thaͤtigen Huͤlfe ſich anhaͤuften. Einige der gemeinnuͤtzi¬
gen Anſtalten, wir nennen hier vor allen die Louiſen¬
ſtiftung, das Friedrichsſtift und die Gewerbsſchulen, —
welchen er Mitvorſteher und Theilnehmer war, haben
in oͤffentlichen Blaͤttern bereits ausgeſprochen, was ſie
ihm verdanken, wie ſie ihn vermiſſen; und von wie vielen
Seiten noch koͤnnten aͤhnliche Bekenntniſſe geſchehen,
21 *[324] wenn uͤberall der Gedanke und das Gefuͤhl ſogleich die
beredten Worte faͤnde!
Obgleich waͤhrend ſeines ganzen Lebens vorzugsweiſe
durch, die naͤchſten Pflichtarbeiten und in praktiſchen Ver¬
haͤltniſſen ſtets und ſtark beſchaͤftigt, wußte der treffliche
Mann doch einige Muße auch zu litterariſchen Arbeiten
zu benutzen. Er haͤtte als Schriftſteller, waͤre ihm ver¬
goͤnnt geweſen, eigene groͤßere Kompoſitionen zu liefern,
unſtreitig ſehr bedeutend werden koͤnnen, und ſeine
Schreibart gehoͤrt auch jetzt zu den muſterhafteſten im
Deutſchen; allein er hatte auch hier zunaͤchſt den prak¬
tiſchen Zweck der Verbreitung von Kenntniſſen und der
Erleichterung des Unterrichts im Auge. So entſtanden
außer einer ſchon in vielen Auflagen wiederholten Chreſto¬
mathie zum Ueberſetzen aus dem Deutſchen in's Fran¬
zoͤſiſche, einer mit Anmerkungen verſehenen ſehr ſchaͤtz¬
baren Ausgabe des Vicar of Wakefield und einer
aͤhnlichen des Macbeth, insbeſondere die trefflichen Hand¬
buͤcher der franzoͤſiſchen und engliſchen Litteratur und
Sprache, die er in Gemeinſchaft mit ſeinem Freunde
Ideler bearbeitet und herausgegeben, und worin die
gedraͤngten, aber alles Nothwendige und Karakteriſtiſche
gluͤcklich zuſammenfaſſenden Lebensbeſchreibungen der
Autoren in ſolchen gegebenen Rahmen nicht ſelten wahre
Meiſterſtuͤcke geworden ſind.
Seine aͤußeren Lebensverbindungen waren ſehr ein¬
fach. Er hatte das Gluͤck, ſeinen wackeren Vater, der
[325] in dem Sohne ſo ſchoͤne Hoffnungen erfuͤllt ſah, bis zu
dem Lebensalter von zweiundachtzig Jahren bei ſich zu
pflegen. Verheirathet war er nie. Mit einer einzigen
Schweſter, die ihn eben ſo heiß liebte, als ſie ihn ein¬
ſichtig zu wuͤrdigen verſtand, lebte er in edlem haͤusli¬
chen Verhaͤltniſſe gluͤcklich vereint.
Einem reichen Kreiſe bewaͤhrter Freunde brachte er
ſtets unveraͤnderte Innigkeit und Treue zu; auch die
Beziehungen der allgemeineren Geſelligkeit belebten und
erhoͤhten ſich in ſeinem Umgange; die wohlwollende Hei¬
terkeit ſeines Gemuͤthes, ſein angenehmer Sinn und
reich ausgeſtatteter Verſtand aͤußerten ſich in den feinſten
und gebildetſten Formen, und ſein ganzes Benehmen
und Geſpraͤch ſtellten einen Mann dar, deſſen auch die
hoͤchſten Klaſſen der Geſellſchaft ſich haͤtten ruͤhmen
duͤrfen. Seine Guͤte und Sanftmuth, welche doch dem
Ernſt und der Feſtigkeit, deren das Recht oder die
Wahrheit bedarf, niemals Eintrag thaten, blieben ſich
auf hoͤheren und niederen Stufen vollkommen gleich.
Dieſe Eigenſchaften waren bei ihm durchaus Tugenden,
keiner Schwaͤche entſpringend, noch ſolche erzeugend, mit
dem erfreuenden Anſchein auch das wohlthuende Weſen
verbindend. Von ihm kann die ſeltene Verſicherung
gelten, daß er waͤhrend ſeiner ganzen Laufbahn niemals
einen Mitmenſchen gekraͤnkt, ihm aus Abſicht oder
Leichtſinn geſchadet, ihn gehaßt, verkleinert oder gehemmt
[326] habe; vielmehr erſchien er ſelbſt Gegnern wohlmeinend,
behuͤlflich und zu jedem Guten freudig.
In den Herzen derer, die ihn gekannt und geliebt,
die mit ihm gearbeitet, die durch ihn gewonnen haben,
wird er unvergeßlich fortleben, wie in dem Wirken
ſelber, das von ihm ausgegangen, und deſſen Segen
noch beſtehen wird, wenn auch der theure Name dabei
nicht mehr im Einzelnen uͤberall deutlich genannt zu
werden vermag! —
Ludwig Robert.
Ludwig Robert wurde geboren zu Berlin im December
des Jahres 1778. Die wohlhabende und geachtete
Familie, der er angehoͤrte, fuͤhrte damals den Namen
Levin, den ſie ſpaͤter mit dem Namen Robert-Tornow
vertauſchte. Er genoß im elterlichen Hauſe, das durch
geiſtige Bildung und geſellige Verhaͤltniſſe vor vielen
andern ausgezeichnet war, eine ſorgfaͤltige Erziehung,
und den Unterricht, welcher ſeinen vorzuͤglichen Anlagen
zu entſprechen ſchien. Sodann beſuchte er das franzoͤ¬
ſiſche Gymnaſium. Den Verſuch, ſich dem Kaufmanns¬
ſtande zu widmen, weßhalb er nach Breslau und Ham¬
burg reiſ'te, gab er ſehr bald auf, und lebte fortan
ganz den freien Studien und dichteriſchen Arbeiten, zu
welchen er die entſchiedenſte Neigung trug. In dem
Geſellſchaftskreiſe ſeiner Schweſter Rahel fand er hiezu
jede Anregung und Foͤrderniß durch den belebten Um¬
gang der intereſſanteſten Maͤnner und Frauen, welche
damals in Berlin zu finden waren. Sein Sinn war
[328] aber in gleicher Weiſe dem philoſophiſchen Nachdenken
wie dem aͤſthetiſchen Bilden zugewendet, und neben
Goͤthe wurde ſchon fruͤh Fichte ſein Leitſtern auf dem
Wege des Lebens und der Wiſſenſchaft. Eine beſondre
Selbſtſtaͤndigkeit bewies er darin, daß er ſich von dem
Einfluſſe der Schlegel, die er beide perſoͤnlich wohl zu
wuͤrdigen verſtand, nicht fortreißen oder beherrſchen
ließ, ſondern eine Bahn verfolgte, welche dem Karakter
der fruͤheren deutſchen Litteratur mehr entſprach, und
zu dem auch die ſpaͤtere, in den ausgezeichnetſten Ta¬
lenten der Nation, wieder zuruͤckkehrte.
Die lyriſchen Erſtlinge ſeiner Dichtkunſt erſchienen
in dem Muſenalmanach von Chamiſſo und Varnhagen
fuͤr das Jahr 1804. Sie wurden weniger guͤnſtig auf¬
genommen, als ſie verdienten; vielleicht, weil ſie auch
in der Form weniger, als die der andern jungen Ge¬
noſſen, jener Schule huldigten. Sein Eifer wandte
ſich aber bald vorzugsweiſe der Buͤhne zu. Ein Luſt¬
ſpiel, „die Ueberbildeten,“ dem er die Précieuses ridi¬
cules von Molière ſehr gluͤcklich zum Grunde gelegt,
wurde in Berlin mit Beifall aufgefuͤhrt, wiewohl die
ſatiriſchen Scherze uͤber die Schlegel'ſche Schule und
die Parodirung ihrer Formen ihm auch viele Gegner
weckten. Der Muſik wohl kundig, dichtete er eine
Oper, „die Sylphen,“ die von dem Kapellmeiſter
Himmel komponirt wurde, aber bei der Auffuͤhrung
nur theilweiſe gefiel, weil Dichter und Muſiker alles
[329] Maß auch des Guten und Beſten, was man dem Pu¬
blikum an Einem Abend anfzunehmen zumuthen darf,
uͤberſchritten hatten. Das Gedicht aber iſt mit großer
Sorgfalt entworfen und ausgearbeitet, und darf auch
ohne Huͤlfe der Kompoſition, als dramatiſches Erzeug¬
niß, mit vollem Rechte fuͤr ſich beſtehen.
Nachdem Robert einen Theil von Deutſchland ge¬
ſehen, und auch in Wien einen laͤngeren Aufenthalt
gemacht, beſuchte er die Univerſitaͤt Halle, wo er jedoch
den Vorleſungen wenig Geſchmack abgewann, ſondern
meiſt eignen Studien und edlem Freundesumgange
lebte. Er machte hierauf eine Reiſe nach Holland,
und begab ſich dann nach Paris, wo er ein dichteriſch
genußreiches und fleißiges Leben fuͤhrte, bis ihn die
Ungluͤcksfaͤlle Preußens im Jahre 1806 nach Berlin
zuruͤckriefen. Fuͤr die Buͤhne lieferte er hier zunaͤchſt
wieder eine Ueberſetzung, die des Trauerſpiels „Omaſis“
von Baour-Lormian, welche, in trefflichen Alexandri¬
nern gearbeitet, dieſer Versart fuͤr den tragiſchen Ge¬
brauch im Deutſchen neuen Eingang verſchaffen wollte.
Eigne Hervorbringungen hielt er, wiewohl ſehr frucht¬
bar und ſonſt auch gern mittheilend, aus der Oeffent¬
lichkeit immer lange zuruͤck; auch konnte die Ruͤckſicht
auf das Publikum ihn ſelten bei ſeinen Arbeiten be¬
ſtimmen, die er im Gegentheil voͤllig frei, nach ganz
perſoͤnlichen Antrieben und Stimmungen, oft nur fuͤr
einzelne Gelegenheiten, oder fuͤr einen kleinen Kreis
[330] von Hoͤrern abſichtlich einrichtete, und grade an ſolchen
Erzeugniſſen das meiſte Behagen fand. Doch uͤbergab
er der Buͤhne nun bald nach einander zwei eigne Werke,
„Jephtha’s Geluͤbde,” ein Trauerſpiel in Jamben,
das in Berlin, Weimar, Hamburg, Mannheim und
andern Orten mit Beifall gegeben wurde, und dann
„die Macht der Verhaͤltniſſe,” ein Trauerſpiel in Proſa,
welches auf allen Buͤhnen Deutſchlands eine große
Wirkung hervorbrachte, und heutiges Tages hervor¬
bringt; daſſelbe iſt ohne Zweifel die gehaltreichſte, eigen¬
thuͤmlichſte und kraftvollſte ſeiner dramatiſchen Arbeiten.
In dieſer Zeit hatte er ſich auch durch Fichte’s
Umgang und Lehre vollkommen in deſſen philoſophiſchen
Anſichten befeſtigt, mit welchen er ſeine gluͤcklichſten
Ueberzeugungen verbinden konnte, und denen er zu¬
gleich den leichteſten Uebergang zu den Lehren des
Chriſtenthums verdankte, welchen er ſeitdem mit ernſter
Wahrhaftigkeit, aber auch mit aller Freiheit eines pro¬
teſtantiſchen Forſchers, anhing.
Die fruchtbare Thaͤtigkeit ſeines philoſophiſchen und
dichteriſchen Geiſtes wurde durch die Kriegsbewegungen
des Jahres 1812 unterbrochen. Geſchaͤfte, welchen er
ſich aus Ruͤckſicht fuͤr Andre frriwillig unterzog, fuͤhrten
ihn auf einige Zeit nach Polen, von wo er krank zu¬
ruͤckkehrte. Im Fruͤhjahr 1813, als Preußen ſich gegen
den Feind erhob, war auch Robert fuͤr die Sache des
Vaterlandes begeiſtert, und verbreitete, noch unter des
[331] Feindes Herrſchaft, und nicht ohne Gefahr, einen kraͤf¬
tigen Aufruf zum Kampfe. Er ſelbſt hatte fruͤher rit¬
terliche Uebungen ſehr geliebt, als Fechter und Turner
große Geſchicklichkeit gezeigt; in juͤngeren Jahren wuͤrde
der Kriegsdienſt ihm eine willkommene Laufbahn ge¬
weſen ſein. Jetzt, nicht jung genug, um unter den
freiwilligen Jaͤgern zu dienen, getrennt von den Freun¬
den, bei welchen er eine ihm gemaͤße Stellung haͤtte
finden koͤnnen, krank und mißmuthig im Gefuͤhl per¬
ſoͤnlichen Zuruͤckſtehens, mußte er ſich der Verknuͤpfung
unguͤnſtiger Umſtaͤnde fuͤgen, und einen andern Aus¬
weg waͤhlen, ſeine Geſinnung und ſeinen Eifer zu be¬
thaͤtigen. Er benutzte das Anerbieten des ruſſiſchen
Geſandten Grafen Goloffkin, der bei ſeiner Miſſion in
Stuttgart ihm eine diplomatiſche Thaͤtigkeit eroͤffnete,
welche fuͤr die gemeinſame Sache auf dieſem Punkte
ſo wichtig als erſprießlich ſein mußte.
Mit ehrenvollſter Anerkennung ſeiner geleiſteten
Dienſte ſchied er noch waͤhrend des Sommers 1814
aus dieſem angenehmen und zu vertraulicher Freund¬
ſchaft gewordenen Verhaͤltniſſe, indem er zu der freien
Muße gern zuruͤckkehrte, die ſeiner Lebensgewoͤhnung
mehr als andre Vortheile noͤthig geworden war. Den
großen Ereigniſſen hatte inzwiſchen auch ſeine Dichtung
eigenthuͤmliche Darſtellungen und Erguͤſſe gewidmet,
und ein Theil der begeiſterten Geſaͤnge, welche ſpaͤter
unter dem Titel „Kaͤmpfe der Zeit“ im Druck her¬
[332] auskamen, waren in Stuttgart gedichtet, und von dem
Verfaſſer dort in gewaͤhlten Kreiſen, und auch am
Hofe, unter groͤßtem Beifall vorgeleſen worden.
Nach einigem Aufenthalt in Frankfurt am Main,
ſah er zuvoͤrderſt Berlin wieder, lebte dann einige Zeit
in Breslau, wo er in Verbindung mit ſeinem Freunde
Schall eine heilſame Wirkung auf die Schaubuͤhne
moͤglich glaubte, wohin ſeine Neigung, ſein Nachdenken
und ſeine Thaͤtigkeit noch ſtets gerichtet waren. Doch
lebten in ſeiner Erinnerung die angenehmen Eindruͤcke
des Aufenthalts in Suͤddeutſchland fort, und als ſeine
Schweſter ihren Wohnort auf laͤngere Zeit in Karls¬
ruhe hatte, folgte auch er den Einladungen, welche ihn
dorthin und nach Stuttgart zuruͤckriefen.
Hier lebte er darauf mehrere Jahre, im Genuſſe
der gluͤcklichſten Freiheit, angeſehen und beliebt in den
erſten Kreiſen, die er doch faſt mied und ſtets ver¬
nachlaͤſſigte, einzig ſeinen dichteriſchen Beſchaͤftigungen
nachhaͤngend, und in vertraulichem Freundſchaftsum¬
gange nur ſeiner gemuͤthlichen Neigung folgend. Da¬
bei nahm er an den Bewegungen der Zeit lebhaften
Antheil, und ſprach ſeine Geſinnung, die ſtets den
Fortſchritten der allgemeinen Entwicklung, dem Men¬
ſchenwohl, der Sache vernuͤnftiger Freiheit und aͤchter
Bildung gewidmet war, bald in ſtrengem Ernſte, bald
in ſcharfem Witz und heitern Scherzen aus. Der
Wechſel des Aufenthalts in den nahe liegenden Staͤdten
[333] Stuttgart, Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg, Baden,
Straßburg, erhoͤhte den Reiz eines Dichterlebens, dem
nichts in der Welt zu fehlen ſchien, und das gleich¬
wohl ſeinen beſten Gewinn noch erſt finden ſollte.
Im Jahre 1818 lernte er ſeine kuͤnftige Gattin
kennen, Friederike Braun, ausgezeichnet durch bewun¬
dernswuͤrdige Schoͤnheit, ſo wie durch ſeltne Vorzuͤge
des Herzens und einnehmende Geiſtesgaben. Robert
hatte fruͤher nie an ein Heirath gedacht; jetzt war ſein
Entſchluß, als er ſeine Neigung erwiedert fand, un¬
widerruflich entſchieden. Doch erſt im Jahre 1822
konnte die gewuͤnſchte Verbindung erfolgen, und gleich
darauf wurde eine Reiſe nach Norddeutſchland ange¬
treten.
Er begab ſich zuerſt nach Dresden, wo er ſeine
Schweſter Rahel fand, welche den Aufenthalt in Karls¬
ruhe ſeit ein paar Jahren wieder mit dem in Berlin
vertauſcht hatte; auch zog der Umgang mit Ludwig
Tieck ihn beſonders an. Hierauf lebte er einige Jahre
in Berlin, und ſeine dichteriſche Thaͤtigkeit wurde nun
mehr und mehr auch eine litterariſche, wozu die ſchon
fruͤher angeknuͤpfte freundſchaftliche und geſchaͤftliche Ver¬
bindung mit Cotta reiche Gelegenheit gab. Er nahm
beſtimmten und geregelten Antheil an mehreren Zeit¬
ſchriften; beſonders aber blieb die Schaubuͤhne ſein
Augenmerk, fuͤr welche er nicht nur durch eigne groͤßere
und kleinere Erzeugniſſe, die zum Theil, wie das Luſt¬
[334] ſpiel „Blind und lahm,” allgemeines Gluͤck machten,
zum Theil, wie das ſatiriſche Stuͤck „Kaſſius und
Phantaſus,” dem gemiſchten Publikum nicht eingaͤng¬
lich genug werden konnten, ſondern auch durch Ueber¬
nahme von mancherlei Arbeiten, zu welchen Talent
und Selbſtverlaͤugnung vereint ſein mußten, durch willi¬
gen Beirath, durch belehrenden Unterricht und durch
oͤffentliche Kritik, wirkſam blieb.
Dieſe Thaͤtigkeit und Richtung erlitten durch eine
abermalige Veraͤnderung ſeines Aufenthalts, den er im
Jahre 1824 auf einige Zeit wieder in Karlsruhe nahm,
wenig Unterbrechung. Die Schaubuͤhnen von Karls¬
ruhe und Mannheim erfreuten ſich ſeiner wohlmeinen¬
den uneigennuͤtzigen Theilnahme. Eine mit ſeiner Gattin
nach Paris unternommene Reiſe blieb ebenfalls nicht
ohne Frucht fuͤr die Angelegenheiten der Buͤhne und
der Litteratur uͤberhaupt.
Im Jahre 1827 kam Robert wieder noch Berlin,
um ſich daſelbſt, wie es ſchien, gaͤnzlich feſtzuſetzen.
Ihm waren hier durchaus guͤnſtige Lebensverhaͤltniſſe
beſchieden; er genoß des reinſten und vollſtaͤndigſten
haͤuslichen Gluͤckes durch ſeine liebenswuͤrdige und liebe¬
volle Gattin; ſeine Schweſter war ihm eine ſorgſame,
zaͤrtliche Freundin; er fand Achtung und Anſehn in
jedem Kreiſe, den er beſuchen mochte; ſein Ruf als
Dichter hatte ſich ausgebreitet und befeſtigt. Auch in
ſeinem Wirken fuͤr die Buͤhne zeigte ſich erwuͤnſchte
[335] Foͤrderniß, und ſeine Arbeiten fuͤr das Koͤnigsſtaͤdtiſche
Theater ſchienen dieſem einen neuen Aufſchwung zu
verheißen. Allein dieſe letztere Ausſicht beſtand nicht
lange, und auch fuͤr das Koͤnigliche Theater, wo man
durch friſchen Willen die großen Huͤlfsmittel bisweilen
zu einer wuͤrdigen und fruchtbaren Kunſtanſtalt orga¬
niſirt zu ſehen hoffte, mußten die eifrigſten Beſtrebun¬
gen ſich meiſt als vergebliche bekennen.
Die Juli-Revolution in Frankreich und die Zer¬
ruͤttungen, welche ſie in den Niederlanden und Polen
zur Folge hatte, ſo wie die Unruhen, die in mehreren
deutſchen Laͤndern ausbrachen, wirkten auf Roberts
Gemuͤth ſehr verduͤſternd. Seine Freiheitsliebe knuͤpfte
ſich an geſetzliche Formen, er wollte Eroͤrterung, Fort¬
ſchritt durch Einſicht; rohe Gewalt und wilde Zerſtoͤ¬
rung waren ihm verhaßt. Die Sache des Vaterlandes
und des vaterlaͤndiſchen Koͤnigthums erregte ſeinen tief¬
ſten Antheil, ſeinen reinſten Eifer. Indeß mußte er
bald erfahren, daß Zeiten der Unruhe und Verwirrung
es am meiſten durch das Verkennen ſind, welches ſo¬
wohl die richtigen Grundſaͤtze im Allgemeinen, als auch
die Denkungs- und Verfahrungsart des Einzelnen
trifft. Er ſah die Mehrzahl der Menſchen von ganz
andern Geſichtspunkten ausgehen, als die ſeinigen
waren; ſeine Aeußerungen wurden mißverſtanden, ſeine
Triebfedern nicht begriffen; zwiſchen heftigen und blinden
Partheimeinungen fand er fuͤr ſeine Ueberzeugungen
[336] und Urtheile ſelten eine Staͤtte. Mißmuthig zog er
ſich mehr und mehr in ſein Innres und auf einen
kleinen Kreis des Umgangs mit ſeiner Schweſter, mit
einigen juͤngeren Verwandten und bewaͤhrten Freunden
zuruͤck.
In ſolcher tiefen Verſtimmung uͤberkam ihn noch
der Eindruck der ſteten Annaͤherung des furchtbaren
aſiatiſchen Uebels, welches von Rußland und Polen her
ganz Europa in Schrecken ſetzte. Als es unvermeidlich
zu werden ſchien, daß die Cholera ſich auch dieſſeits
der Oder ausbreiten wuͤrde, faßte Robert den Entſchluß,
Berlin zu verlaſſen, und fuͤrerſt noch einige Zeit ruhi¬
gen Lebens und Dichtens zu gewinnen, fern von den
Stuͤrmen der politiſchen Welt und den Angriffen der
moͤrderiſchen Seuche. Die Seinigen redeten ihm leb¬
haft zu, ja er konnte glauben, ſie durch ſein Beiſpiel
zur heilſamen Nachfolge zu bewegen. So reiſ'te er
im Sommer 1831 ab, und nahm ſeinen Aufenthalt in
Baden, wo er auch den Winter zubringen wollte.
Die gehoffte Ruhe jedoch fand er auch hier nicht.
Verdaͤchtigungen ſeiner Denkart und abentheuerliche
Mißreden folgten ihm aus der Heimath nach, und er
glaubte oͤffentlich dagegen auftreten zu muͤſſen. In
Baden ſelbſt waren die Gemuͤther hoͤchſt erregt, die
Aeußerungen heftig und ſchrankenlos; er ſah ſeine Mei¬
nung mit der ihn umgebenden noch mehr in Wider¬
ſpruch, als dies in Berlin der Fall geweſen war, und
[337] mußte es geſchehen laſſen, daß Leichtſinn und auch
mitunter Bosheit ſeinen redlichen Sinn laut verun¬
glimpften. Stille dichteriſche Thaͤtigkeit und ſein gluͤck¬
liches Gattenverhaͤltniß wurden in dieſer Zeit um ſo
mehr ſeine Zuflucht.
Der allgefuͤrchteten Krankheit ſchien er gluͤcklich
entgangen, aber in dem bisher bewahrt gebliebenen
Lande ſchlich ihn ein andres Uebel todbringend an.
Er erkrankte im Juni des Jahres 1832 an einem Ner¬
venfieber, das durch einen Ruͤckfall toͤdtlich wurde. Er
entſchlief, nach vorausgegangenem mehrwoͤchentlichen
Kampfe, gefaßt und ſanft am 5. Juli, unter der treuen
Pflege der troſtloſen Gattin, die ſchon nach wenigen
Wochen, von der gleichen Krankheit ergriffen, ihm
nachfolgte!
Der Eindruck dieſes doppelten Todesfalles wurde
allgemein tiefſchmerzlich empfunden. Dem ausgezeich¬
neten Dichter und edlen Menſchen, der ſchoͤnen, holden
Frau und lieblichen Dichterin, — denn auch ihr war
die Gabe des anmuthigen Liedes verliehen, — folgten
aus der Naͤhe und Ferne viele herzliche Klagelaute,
voll Anerkennung, Bedauern und Sehnſucht. Von
den oͤffentlichen Nachrufen, welche uns bekannt gewor¬
den, fuͤgen wir als Zeugniß ehrenvoller Theilnahme
hier die beiden nachſtehenden an, einen deutſchen und
einen franzoͤſiſchen, die zugleich als bezeichnende Wuͤr¬
digung des Dichtertalents dienen moͤgen, deſſen kritiſche
22[338] Eroͤrterung und Feſtſtellung wir unſrerſeits hier nicht
verſuchen.
Noch im naͤmlichen Monate, da Robert geſchieden
war, ſprach W. Haͤring uͤber ihn im Freimuͤthigen unter
andern Folgendes.
„Der Schmerz um einen bewaͤhrten Freund, einen
geiſtreichen Dichter, einen werthen Mitarbeiter dieſer
Blaͤtter iſt zu neu, unſere Zeit zu gemeſſen, um dieſe
Nachricht fuͤr unſere Leſer mit mehr als wenigen An¬
deutungen zu begleiten.“
„Ludwig Robert iſt in Berlin geboren, in den letzten
ſiebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, von beguͤ¬
terten Aeltern. Seine ausgebreitete Familie lebt hier
im Wohlſtande und ehrenvollen Stellungen. Auch er
ſelbſt gehoͤrte zu der gluͤcklichen Minderzahl deutſcher
Dichter, welche nicht mit dem Beduͤrfniß zu kaͤmpfen
haben. Ohne reich zu ſein, konnte er ſein Leben hin¬
durch eine unabhaͤngige Stellung behaupten.“
„Seine Erziehung und ſeine Studien hat er groͤ߬
tentheils in Berlin vollendet. Vielleicht laͤßt ſich — im
guten Sinne — behaupten, daß ſein beißender Witz
nach ſeiner Vaterſtadt ſchmeckt. Natuͤrlich hatte er ihn
auf ſeine geiſtreich feine Weiſe ausgebildet.“
„Robert arbeitete langſam. Gedankenloſes Phan¬
taſiren war ihm zuwider. Er mußte ſich uͤber alles,
was er ſchuf, volle Rechenſchaft geben koͤnnen. Nur
in dem Cyklus von Gedichten nach Napoleons Sturz,
[339] „die Kaͤmpfe der Zeit,“ erhob ihn die Bedeutung des
Momentes zu dithyrambiſchem Schwunge, und dieſe
Geſaͤnge ſind wohl poetiſch das Werthvollſte, was Ro¬
bert geleiſtet.“
„Sonſt war ſeine Muſe eigentlich eine epigramma¬
tiſche, ein Kind unſeres reflektirenden Geſchlechtes. In
kurzen Sinngedichten, die von Mund zu Munde gehen,
z. B. „Was iſt das Publikum?“ in kritiſchen Paro¬
dieen, z. B. das Geſpraͤch der Koͤniginnen, hat er
Ausgezeichnetes geleiſtet.“
„Es darf nicht gelaͤugnet werden, daß ein großer
Mißmuth, der bis zur Bitterkeit ging, dem Dichter
das Leben verkuͤmmerte. Die Mißverhaͤltniſſe des deut¬
ſchen Theaters tragen hievon die Hauptſchuld. Er hatte
ſich viel von deſſen Fortſchreiten verſprochen, er hatte
viel gehofft fuͤr daſſelbe zu wirken, (er hatte es in ſeiner
Bluͤthe kennen gelernt!) und er mußte Zeuge ſein ſeines
ſchnellen Verfalls.“
„Der Unmuth, wie man in blinder Thorheit die
Rechte der Dichter verkannte, verſchwendend in Garde¬
robe, Dekorationen und dem anhangenden Tand, zu
profitiren glaubte, indem man die laͤngſt kuͤmmerlichen
Honorarſaͤtze fuͤr die Dichtungen, noch herabſetzte (!) und
dadurch dem Kunſtwerthe des Inſtituts den Stab brach,
uͤbermannte ihn. Er konnte, lange von ſuͤßen Hoff¬
nungen genaͤhrt, einem ihm ſehr werthen Inſtitute nicht
ſo ſchnell und gelaſſen den Ruͤcken kehren, wie die mei¬
22 *[340] ſten unter den beſſern deutſchen Dichtern, die es laͤngſt
aufgegeben, fuͤr die bunte Schau- und Gaukel-Anſtalt,
heut noch Theater genannt, ihre beſſern Kraͤfte zu ver¬
geuden. Er hoffte noch lange, er wollte nicht ohne
Kaͤmpfe davon gehen, und das war ehrenwerth.“
„Beſonders hatte er durch das neue Koͤnigsſtaͤdtiſche
Theater zu wirken gehofft. Er fand nicht genuͤgende
Unterſtuͤtzung. Auch war der Ruin dieſes Theaters
ſchon durch die zu breite Grundlage, auf der es errichtet,
ausgeſprochen. Indeß war die Zeit, wo er mitwirkte,
die Bluͤthezeit des Schauſpiels dort. — Haͤtten die da¬
maligen Direktoren nur ſo viel als den einjaͤhrigen Gehalt
Einer Saͤngerin angewandt, um die produktiven Kraͤfte
der Luſtſpieldichter einmal aufzumuntern und einiger¬
maßen nur fuͤr die Arbeit zu entſchaͤdigen, ſo wuͤrde
dieſe Anſtalt vielleicht mit geringſten Koſten fortgedauert
und gebluͤht haben.“
„Unter ſeinen Luſtſpielen haben wohl diejenigen den
meiſten innern Werth, welche im Publikum am wenig¬
ſten anſprechen, eine Erſcheinung, die ſehr nahe liegt,
weil eine bittere Zeitſatire, wo das negative Element
vorwaltet, wie z. B. ſein „Phantaſus und Kaſſius“
und ſein: „Er wird zur Hochzeit gebeten,“ vom Theater
herab nicht anziehen kann.“
„Ein geiſtreicher Mann wie Robert, deſſen reflek¬
tirendes Dichtertalent ringsum nach Gegenſtaͤnden fuͤhlte,
konnte auch nicht fremd bleiben dem oͤffentlichen Leben.
[341] Er trat nicht poſitiv als Politiker auf, aber ſeine Schrif¬
ten ſind voller politiſchen Anſpielungen; ſeine ſatiriſche
Geißel flog ruͤſtig umher — ohne zu beleidigen. Allein
ein Dichter und Politiker aus Fichte’s Schule, der an
Perfektibilitaͤt glaubte und ihr Herannahen in jedem
Zeitumſchwunge zu gewahren meinte, mußte auch darin
in der allerletzten Zeit bittere Taͤuſchungen erfahren.‟
„Robert gehoͤrt zu den außerordentlichen deutſchen
Dichtern, welche nicht jede Zeile, die ſie ſchreiben, fuͤr
den Druck beſtimmen. Er dichtete fuͤr ſich; viele Sa¬
tiren, Xenien, ganze Parodieen, lagen in ſeinem Pulte,
die er nur vertrauteſten Freunden dann und wann mit¬
theilte. Es gehoͤrte zu ſeiner inneren Genugthuung,
ſich gelegentlich ſo Luft zu machen; dann aber wurde
es verſchloſſen, um niemand zu beleidigen.‟
„Er ſelbſt war oft bitter, ſeine Satire aber blieb
nur witzig und ſcharf. Und doch darf von dem Menſchen
Robert geſagt werden, daß, wo er jener Bitterkeit Herr
wurde, er liebenswuͤrdig war und ein edles, wohlwol¬
lendes Gemuͤth zeigte. Friede ſeiner Aſche!‟
Die zweite, franzoͤſiſche, Stimme iſt die eines jun¬
gen liebenswuͤrdigen Schriftſtellers, Eduard de la Grange,
welcher noch in der letzten Lebenszeit Roberts deſſen
Umgang in Baden genoſſen hatte, und in der Revue
des Deux-Mondes ſich uͤber den Hingeſchiedenen alſo
vernehmen ließ:
[342]Genève, 10. Aout 1832.
Permettez-moi, monsieur, de consacrer, dans votre
Revue, un souvenir à la mèmoire de Louis Robert, de
Berlin, qu'une mort prèmaturée vient d'enlever à ses amis.
Il n'y a pas encore six semaines que, nous promenant sous
les délicieux ombrages de Baden-Bade, nous devisions en¬
semble sur la poésie et la littérature germaniques. Gra¬
vissant ces montagnes hérissées de noirs sapins, au milieu
de ruines pittoresques des châteaux du moyen âge, il me
lisait des vers que lui avaient inspirés lesOrientalesde
Victor Hugo, et se plaisait a me faire remarquer la sin¬
gulière facilite avec laquelle la langue allemande peut
s'approprier les beautés de nos chefs-d'oevre romantiques;
quelquefois, par une transition soudaine, s'élançat des
régions de la poésie à celles de la philosophie, il me
commentait des passages de Fichte, dont il avoit èté le
disciple et l’ami. Sa conversation ètait tout-à-la-fois pi¬
quante et instructive, son esprit aimable et enjoué, il y
avait de la finesse dans ses observations et de l'atticisme
dans ses critiques; mais elles glissaient sur le individus
sans faire grâce aux ridicules. Robert appartenait au passé
par les goûts et les liaisons de sa jeunesse. Vèteran de
l’ecole de Gœthe et de Tieck, dont il se montrait l'admi¬
rateur passionné il avoit milité pour eux, pendant vingt
ans, dans les feuilles littéraires, comme une soldat qui
défend ses chefs et ses drapeaux. Il a composé plusieurs
comédies: l'une d'elle,die Ueberbildeten, dont le canevas
est tiré desPrécieuses ridiculesde Molière, mais revêtu de
couleurs empruntées aux mœurs et aux localites allemandes,
a été jouée, pour la première fois avec beaucoup de sucies,
[343] en 1804; depuis elle a été rajeunie dans ses détails et n’a
pas obtenu moins de faveur: je citerai encore Cassius et
Fantasus, pièce allégorique et satirique, dont le sujet est
purement littéraire: Cassius est la caisse, et Fantasus
l’imagination; enfin une tragédie bourgeoise,die Macht der
Verhältnisse(la puissance des raports), qu’on représente
aujourd’hui sur plupart des théâtres de l’Allemagne.
En 1817, Robert paya son tribut à l’enthousiasme de
l’epoque, par un volume de poésies sur les grands événe¬
mens qui, depuis 1813, avoient changé la face de l’Europe;
mais sa lyre ne connut jamais la flatterie, il ne venait pas
bravement au secours des monarques vainquers, sa voix
généreuse s’élevait comme celle de Jean-Paul en faveur
des peuples: véritable patriote dans le bon sens de ce mot,
et sincère ami d’une sage liberté, il tirait du passé des
leçons pour l’avenir. Il publia ensuite successivement plu¬
sieurs nouvelles qui rappellent, par leur côté satirique, la
manière de Cervantes, et les poésies, épigrammatiques[qu’il]
inséra dans lesRheinblüthen, en 1824 et 1825, sont presque
toujours, présentées sous la forme la plus heureuse.
Robert écrivait dans lesAnnales critiques de Berlin, et
plus fréquemment encore dans leMorgenblatt, ou, depuis
1830, il avoit publié lesNouvelles lettres d’un mort. C’était
une suite à celles du prince Puͤckler, qui eurent tant de
vogue en Allemagne; Robert sut s’approprier ce cadre in¬
génieux: il datait cette correspondance, tantôt de l’autre
monde, et tantôt de celui-ci, soit que l’ombre du dandy
voyageur erre encore sur cette terre, soit qu’elle se pro¬
mène de planète en planète. La veille du jour de notre
séparation, il me montra une de ces lettres qu’il venait de
terminer, elle était écrite de Saturne; j’y remarquai quel¬
[344] ques allusions à Bœrne et au journal de l'église évangélique
de Berlin; la tendance de cette feuille est une sorte de jesui¬
tisme protestant, et Robert a toujours été l'antagoniste le
plus d'ecidé des pietistes et des mystiques modernes. Cette
épitre est d'ailleurs entièrement politique: c'est une argu¬
mentation judicieuse et serrée qui s'attaque également eux
théories radicales et absolutistes. Les lettres précédentes
traitait des théatres et de la littérature. Peu de temps avant
que la mort ne le frappât, Louis Robert avait composé un
prologue pour une représentation que les acteurs de Carls¬
ruhe donnèrent à la mémoire de Gœthe. Ce sont les der¬
niers vers qui soient sortis de sa plume. A le voir dans son
intérieur, si plein d'aménité, et environné de tant de bon¬
heur domestique, aurais-je pu croire qu'une existence si
paisible et si douce se fût si tôt brisée? — Je lui avais fait
lireStello; il fut saisi d'un tel enthousiasme pour le talent
original et la verve creatrice de ce livre si profondément
pensé et animé de couleurs si vives, que, malgré sa répug¬
nance habituelle pour les traductions, il avait entrepris de
le faire passer dans la langue allemande, croyant ne pou¬
voir plus richement doter la littérature de son pays qu'en
y naturalisant un tel ouvrage.
Wilhelm Neumann.
Friedrich Wilhelm Neumann, geboren zu Berlin den
8. Januar 1781, war der Sohn eines Kaufmanns,
der fruͤh ſtarb und kein Vermoͤgen hinterließ; bald nach¬
her ſtarb auch die Mutter, und der aͤlternloſe Knabe
kam zu einem Stiefgroßvater, der ein anſehnliches Buch¬
haͤndlergeſchaͤft betrieb. Bis in ſein vierzehntes Jahr
beſuchte er das Gymnaſium und machte gute Fortſchritte;
weil aber die aͤußern Mittel zur Fortſetzung der Studien
fehlten, mußte er ſich wider ſeine Neigung den Han¬
delsgeſchaͤften widmen; ein bedeutendes Haus nahm ihn
wohlwollend auf, und waͤhrend zehn Jahren, die er
hier verweilte, erwarb und uͤbte er eine große Geſchaͤfts¬
einſicht, die ihm ſpaͤterhin auch im Staatsdienſte nuͤtz¬
lich wurde. In der Familie wurde er wie ein Sohn
des Hauſes angeſehen, und konnte an allen Vortheilen
eines reichen Lebens Theil nehmen. Da jedoch man¬
ches in der Umgebung ſeinem Sinne widerſprach, ſo
gewoͤhnte er ſich fruͤh an ſchweigſame Zuruͤckgezogenheit
[346] und widmete ſeine Muße am liebſten der Erwerbung
von Kenntniſſen, wie ſein Verhaͤltniß dies nur irgend
geſtattete. Er beſchaͤftigte ſich mit Muſik und Dicht¬
kunſt, mit Philoſophie und Geſchichte, las die beſten
Schriftſteller in franzoͤſiſcher und engliſcher Sprache,
mit deren gruͤndlicher Kenntniß er auch ſehr bald die
der hollaͤndiſchen und italiaͤniſchen verband. In dem
erwaͤhnten Hauſe machte er im Jahre I803 die Be¬
kanntſchaft Varnhagen’s, mit welchem ihn bald die engſte
und treuſte Freundſchaft verknuͤpfte, und gleich darauf er¬
oͤffnete ſich ihm ein weiterer Freundſchaftskreis, zu welchem
Chamiſſo, Eduard Hitzig, Koreff, Ludwig Robert, Graf
Alexander zur Lippe, Franz Theremin und noch mehrere
Andere gehoͤrten, denen insgeſammt die Poeſie und
hoͤhere Lebensbildung das vereinigte Ziel war. Unter
dem Titel eines Muſenalmanachs gaben Chamiſſo und
Varnhagen mit ihren eignen die Gedichte der Freunde
heraus, und Neumann’s Beitraͤge erſchienen dabei nicht
unvortheilhaft.
In jener Zeit hielt Auguſt Wilhelm Schlegel zu
Berlin Vorleſungen vor einem auserleſenen Kreiſe von
Zuhoͤrern und Zuhoͤrerinnen; der Zuſtand der Litteratur
und Kunſt uͤberhaupt, ihre bisherige und kuͤnftige Ent¬
wickelung, waren der reiche Stoff dieſer Vortraͤge, welche
nicht ohne bedeutende Wirkung blieben, beſonders weil
viele gleichzeitige Beſtrebungen Friedrich Schlegel’s,
Tieck’s, Schleiermacher’s und ſelbſt Fichte’s, ſich damit
[347] zu verbinden ſchienen. Es war eine Art Verkuͤndigung
neuen Aufſchwunges zum Dichten und Leben, wozu
hauptſaͤchlich die ſtrebende Jugend ſich berufen fuͤhlte.
Was man gemeinhin die neue Schule nannte, und wozu
allerdings die Schlegel'ſchen Lehren und Beiſpiele den
Kern lieferten, war jedoch weit entfernt, nur aus ſtren¬
gen Bekennern dieſes Namens zu beſtehen. Der ge¬
heime Zwieſpalt, welcher von Beginn her die Haͤupter
trennte, war noch weit mehr unter den Juͤngern zu
finden, und trat in vielfachen Abweichungen deutlich
hervor. Weder Neumann ſelbſt, noch ſeine obengenann¬
ten Freunde, einen einzigen vielleicht ausgenommen,
konnten als eigentliche Schlegelianer gelten, obgleich im
Ganzen die Richtungen befolgt wurden, fuͤr welche die
beiden Schlegel ſelbſt nicht ſowohl Meiſter und Fuͤhrer
als vielmehr Organe geworden waren. Neumann in¬
ſonderheit hat niemals die Bekanntſchaft Auguſt Wil¬
helm Schlegel's gemacht oder geſucht; ſeine groͤßte Ver¬
ehrung war vielmehr Fichte'n eifrig zugewandt, der die
Annahmen und Behauptungen von jenem groͤßtentheils
verwarf und dies unverholen ausſprach. Ueberſchwaͤng¬
lich aber, bis zum Mißbrauch, war die Nachbildung der
poetiſchen Reimformen, welche die neue Schule von den
Italiaͤnern und Spaniern entlehnt hatte, und durch
welche auch Neumann derſelben anzugehoͤren ſchien.
Durch Erbſchaft war ihm eine Summe Geldes uͤber¬
kommen, welche er ſogleich anwandte, um ſeine Neigung
[348] zu den Studien vollſtaͤndiger zu befriedigen. Er fuͤhlte,
daß er einen feſtern Grund, als ihm bisher moͤglich
geweſen war, in den alten Sprachen gewinnen muͤſſe,
und die Umſtaͤnde fuͤgten es, daß er dieſen Gewinn in
Hamburg ſuchte, wo die Leitung und der Unterricht
des trefflichen Gurlitt, der ihn ſehr liebte und ſeinen
Karakter wie ſeine Faͤhigkeiten vollkommen wuͤrdigte,
ihm die erfolgreichſte Foͤrderung waren. Im Jahre 1806
bezog er gemeinſchaftlich mit Varnhagen und Auguſt
Wilhelm Neander, deſſen Freund und Taufpathe er ge¬
worden war, die Univerſitaͤt Halle. Hier hoͤrte er
Friedrich Auguſt Wolf mit großem Fleiße, doch leider
nur ein halbes Jahr, denn das Kriegsunheil vertrieb
die Studirenden von Halle, und Neumann wandte ſich
mit Neander nach Goͤttingen, wo er neben den philo¬
ſophiſchen auch theologiſche Vorleſungen hoͤrte, und durch
dieſe Studien auch mit Geſenius naͤher bekannt wurde.
Nach einiger Zeit traf er doch wieder in Halle ein, und
trieb neben ernſtlichen Arbeiten auch die ſcherzhafte, mit
einigen Freunden einen Roman zu ſchreiben, der im
folgenden Jahre unter dem Titel: „Die Verſuche und
Hinderniſſe“ im Druck erſchienen iſt. Schon vorher
hatte er an einer ſatiriſchen Druckſchrift gegen den ver¬
rufenen Kritiker Garlieb Merkel Theil genommen, ſo
wie an der Herausgabe vermiſchter Schriften unter dem
Titel: „Erzaͤhlungen und Spiele.“ Auch der Kreis
der Freunde hatte ſich inzwiſchen ſehr erweitert, und
[349] ſind hier vorzuͤglich Fouqué, Achim von Arnim und
Alexander von der Marwitz namhaft zu machen.
Da die Vorleſungen in Halle fortwaͤhrend unterſagt
blieben, ſo wandte ſich Neumann mit mehreren Freun¬
den wieder nach Berlin, wohin auch Wolf und Schleier¬
macher zogen. Jedoch der Krieg, welcher alle Verhaͤlt¬
niſſe zerruͤttete, erſchoͤpfte auch fruͤher, als es ſonſt
geſchehen waͤre, die Huͤlfsquellen Neumann's, und er
war genoͤthigt, den Ausfall durch Erwerb zu decken.
Vertraut mit den italiaͤniſchen Schriftſtellern und be¬
ſonders eingenommen von Machiavelli, begann er deſſen
florentiniſche Geſchichte zu uͤberſetzen, wozu Johann von
Muͤller eine Vorrede und Anmerkungen zu liefern ver¬
ſprach, aber nicht lieferte, weil er bald nachher Berlin
verließ und dann in weſtphaͤliſche Dienſte trat. Die
Ueberſetzung, eines ſo wichtigen und ſchon angekuͤndigten
Beitrags entbehrend, gelangte nun um ſo ſchwieriger
zum Druck, und erſchien erſt im Jahre 1809 in zwei
Baͤnden, die, weil der Verleger fallirte, wenig in den
Buchhandel kamen, aber in Wien nachgedruckt wurden.
Des ungewiſſen litterariſchen Erwerbes uͤberdruͤſſig,
trat Neumann hierauf in das angeſehene Haus des
Hofmarſchalls Grafen von Redern als Erzieher der bei¬
den Soͤhne deſſelben. Es bezeichnet eben ſo ſehr den
Werth des wackern Erziehers, als den edeln und tuͤch¬
tigen Sinn dieſer achtungswuͤrdigen Familie, daß das
voruͤbergehende Verhaͤltniß eine dauernde Verbindung
[350] der Anhaͤnglichkeit und des Wohlwollens begruͤndete,
welche fuͤr beide Theile bis zuletzt erfreulich beſtand,
und auch uͤber den Tod hinaus noch fortwirkt!
Bald auf's neue in den Stand geſetzt, die unter¬
brochenen Studien wieder aufzunehmen, glaubte Neu¬
mann die Philoſophie und Theologie verlaſſen und da¬
gegen die Kameralwiſſenſchaften erwaͤhlen zu muͤſſen.
Zwei Jahre lang widmete er auf der inzwiſchen zu
Berlin errichteten Univerſitaͤt angeſtrengt dieſem Studium.
Nebenher beſorgte er im Jahre 1811 eine Zeit lang
die Redaktion des „Preußiſchen Vaterlandsfreundes“
und gab im Jahre 1812 mit Fouqué die Zeitſchrift
„Die Muſen“ heraus. Im Anfange des Jahres 1813,
als die Noth der Zeit auch ihn abermals bedraͤngte,
fand er eine erwuͤnſchte Freiſtaͤtte bei ſeinem Freunde
Hitzig, in deſſen Buchhandlung er ein thaͤtiger Gehuͤlfe
wurde.
Als das Fruͤhjahr 1813 alle Preußen zu den Waffen
rief, war auch Neumann bereit, ſich in die Reihen der
vaterlaͤndiſchen Streiter zu ſtellen, ſeine Geſinnung war
voll Eifer und Muth, ſeine Koͤrperbeſchaffenheit jedoch
mußte ihn vom Kriegsdienſt abhalten, denn, wenn auch
uͤbrigens wohlgebaut und eines nicht unangenehmen
Aeußern, ſah er doch allzu ſchwaͤchlich aus, und haͤtte
auch den Anſtrengungen des Feldlebens ſchwerlich lange
widerſtehen koͤnnen. Um aber dennoch der vaterlaͤndi¬
ſchen Sache zu dienen, meldete er ſich zu einer Stelle
[351] bei dem Feld-Kriegskommiſſariat, und ließ ſich durch
die untergeordnete, die ihm anfangs zu Theil wurde,
nicht abſchrecken. Seine Geſchicklichkeit, ſein ſorgſamer
Fleiß, ſeine unerſchuͤtterliche Rechtſchaffenheit, und, man
darf es zur Ehre ſeiner Vorgeſetzten ſagen, auch ſeine
ausgezeichnete Bildung und ſein feines, taktvolles Be¬
tragen, blieben waͤhrend der drei Feldzuͤge, die er mit¬
machte, nicht unbemerkt noch fruchtlos. Er wurde im
August 1815 zum ſtellvertretenden Kriegskommiſſair be¬
foͤrdert und ſtand als ſolcher, anderthalb Jahre hindurch,
theils in Koblenz, theils in Trier, mit groͤßtem Eifer
den ihm zugewieſenen Geſchaͤften vor. Seine Erholung
blieben auch in dieſer Laufbahn Poeſie und Litteratur,
und ſelbſt das Studium der Alten ſetzte er inmitten
aller Stoͤrungen fort.
Der Oberpraͤſident Graf von Solms-Laubach, auf¬
merkſam gemacht auf Neumann's ſeltne Geiſtesbildung
und eben ſo ſeltne Geſchaͤftsbrauchbarkeit, hegte fuͤr ihn
die guͤnſtigſten Abſichten und wuͤnſchte ihn zu der Lan¬
desverwaltung heruͤberzuziehen, wo ihm ohne Zweifel
bedeutende Vortheile und ein raſcheres Aufſteigen eroͤff¬
net geweſen waͤren, als in ſeiner bisherigen Bahn zu
hoffen ſchien. Allein der gute Wille jenes Staatman¬
nes fuͤhrte zu keinem Erfolg, weil Neumann ſo wenig
damals, wie zu irgend einer Zeit, ſich entſchließen
konnte, fuͤr ſeine eignen Angelegenheiten den Eifer und
die Thaͤtigkeit zu haben, die er ſeinen Dienſtgeſchaͤften
[352] widmete, ſondern lieber in untergeordneten Verhaͤltniſ¬
ſen blieb, als nach hoͤheren gefliſſentlich zu ſtreben und
ſich perſoͤnlich geltend zu machen.
Im Jahre 1818 nach Berlin verſetzt, fand er ſich
hier ſehr gluͤcklich im Kreiſe der alten Freunde, denen
ſich auch neue anſchloſſen. Er lernte die Tochter des
einſt vielverſprechenden und durch ein hoͤheres Geiſtes¬
ſtreben ausgezeichneten, aber fruͤh geſtorbenen Dichters
Johann Jakob Mnioch kennen, die bald darauf ſeine
Gattin wurde. Seine Ehe war gluͤcklich und durch
fuͤnf Kinder geſegnet, die ſeine zaͤrtlichſte Liebe erfuh¬
ren, aber auch ſeine thaͤtige Fuͤrſorge in erhoͤhten An¬
ſpruch nahmen.
Im April 1822 wurde Neumann zum Koͤniglichen
Intendantur-Rath bei der Intendantur des dritten Ar¬
meekorps ernannt und behielt ſeitdem ſeinen feſten
Wohnſitz in Berlin, von wo nur oͤftere Dienſtreiſen im
Bereiche ſeines Amtes ihn auf kuͤrzere Zeit abriefen.
Wie ausgezeichnet er in dieſem ſeinem Berufe wirkte,
und wie ſehr ſeine Faͤhigkeit und ſein Verdienſt von
wuͤrdigen Vorgeſetzten anerkannt wurde, beweist folgen¬
des Zeugniß derſelben, welches der hoͤhern Behoͤrde,
ohne daß er ſelbſt darum wußte, im Jahre 1831 vor¬
gelegt wurde: „Der Rath Neumann gehoͤrt unſtreitig
zur Zahl unſerer vorzuͤglichſten Raͤthe, denn er verei¬
nigt Geſchaͤftstreue mit wiſſenſchaftlicher Bildung, leich¬
tes und richtiges Urtheil mit Gruͤndlichkeit, gefaͤlligen
[353] Formen, wegen Dienſteifer und einer hoͤchſt achtungs¬
werthen Haltung. Die uͤberhaͤuften Geſchaͤfte der Ab¬
theilung fuͤr das Kaſſen- und Rechnungsweſen, welchen
er mit ſo vieler Auszeichnung vorſteht, haben beſonders
im letzten Jahre den hoͤchſten Grad der Anſtrengung
erfordert. Nur ein in aller Beziehung ſo tuͤchtiger un¬
ermuͤdet thaͤtiger Geſchaͤftsmann konnte die ihm gewor¬
dene ſchwierige Aufgabe ſo ruͤhmlich loͤſen.“ Ueberhaupt
war es ein eigner und bemerkenswerther Zug in ſeinem
Weſen, daß ihm, der in fruͤhern Jahren wohl eines
Hanges zu gleichguͤltiger Laͤßigkeit beſchuldigt wurde,
gleich die eifrigſte Anſtrengung und der eiſernſte Fleiß
natuͤrlich waren, ſobald er aus innerer Neigung oder
in beſtimmter Pflicht arbeitete.
Fuͤr Wiſſenſchaft und Litteratur war ſein Sinn un¬
ausgeſetzt rege geblieben, doch zu eignen Hervorbrin¬
gungen fanden ſich Muße und Antrieb ſeltner vereinigt.
Die Aufmunterung ſeiner Freunde und der Wunſch, aus
ſeinen Gaben einigen Ertrag zu erndten, erneuten aber
auch ſeine litterariſche Thaͤtigkeit. Die von Hitzig ge¬
ſtiftete Mittwochsgeſellſchaft, ein Verein von Freunden
der Poeſie, welchem er ſich eifrigſt anſchloß, gab ihm
Gelegenheit zu Gedichten und Aufſaͤtzen mancher Art,
auch nahm er Theil an Hitzig's Zeitſchriften fuͤr Kri¬
minalrechtspflege, an den Jahrbuͤchern fuͤr wiſſenſchaft¬
liche Kritik in Berlin, und an den Blaͤttern fuͤr lite¬
rariſche Unterhaltung in Leipzig. Der Karakter ſeiner
23[354] ſchriftſtelleriſchen Erzeugniſſe, die ihm, auch wenn er
auf Erwerb dabei Ruͤckſicht zu nehmen hatte, niemals
zum bloßen Gewerbe werden konnten, iſt aͤchter Gehalt
mit feiner Bildung vereinigt. Dies gilt von ſeinen
Gedichten wie von ſeiner Proſa, von ſeinen fruͤhern
launigen Verſuchen, wie von ſeinen ſpaͤtern kritiſchen
Arbeiten. Alles in dieſen hat eine feſte Grundlage, iſt
eigenthuͤmlich gedacht und geſtaltet. Er ſchrieb nicht,
wenn er nichts zu ſagen hatte; hohle Redensarten wa¬
ren ihm unmoͤglich; dagegen glaubte er nicht, jedesmal
Auffallendes und Ueberſchwaͤngliches ſagen zu muͤſſen,
ihm genuͤgte, das Verſtaͤndige und Angemeſſene auszu¬
ſprechen. Sein Scharfſinn und Takt in Erfaſſung des
Individuellen wurden beſonders fuͤr ſeine kritiſchen Ar¬
beiten mehr und mehr bedeutend. Durch Beſonnenheit,
verſtaͤndige Einſicht, klare gebildete Sprache, treffendes
Urtheil und ſchickliche Freimuͤthigkeit reihen ſich ſeine
Kritiken den beſten unſerer Literatur an. Man fuͤhlt
es gleich beim Leſen derſelben, daß ihm bei Beurthei¬
lung des Einzelnen ſtets der Bezug auf ein groͤßeres
Ganzes des litterariſchen Bildungszuſtandes gegenwaͤrtig
bleibt, und daß auch wieder dieſer letztere ihm mit
einem hoͤhern geiſtigen Geſammtleben eng verbunden iſt.
Seine Aufſaͤtze fanden uͤberall verdiente Anerkennung.
Als Goͤthe von mehreren Seiten angeregt wurde, ein
oͤffentliches Wort uͤber die Gedichte des Koͤnigs Ludwig
von Baiern zu ſagen, lehnte er es mit dem Bemerken
[355] ab, daß er doch nur wuͤrde wiederholen koͤnnen, was
Neumann daruͤber in den Jahrbuͤchern fuͤr wiſſenſchaft¬
liche Kritik erſchoͤpfend geſagt habe. Ein anderer ge¬
ſchaͤtzter Beurtheiler ruͤhmt von ihm, daß er jeden Werth,
der ihm begegnete, willig anerkannte, auch wenn die
Anſicht der ſeinigen widerſprach, und daß er, ein Mann
des Fortſchreitens, aber keiner der Bewegung im fran¬
zoͤſiſchen politiſchen Sinne, doch auch Werke, die aus
dieſem Sinne hervorgegangen, mit Unabhaͤngigkeit und
Milde zu wuͤrdigen wußte, ſobald ſie nur wahre Ueber¬
zeugung und innere Tuͤchtigkeit zeigten. Eine groͤßere
Arbeit uͤber den Saint-Simonismus, die er ſich vor¬
geſetzt hatte, wuͤrde den Anfang und die Kraft ſeiner
Gedanken uͤber die Richtung und die Entwickelungsſtufe
unſers Zeitalters am beſten dargethan haben.
Durch ein ehrenvolles Vertrauen wurde Neumann
in den letzten Jahren auch berufen, als Mitglied eines
durch die Behoͤrde eigends hiezu ernannten Ausſchuſſes,
an der Pruͤfung der fuͤr die Koͤnigliche Schaubuͤhne
eingereichten dramatiſchen Arbeiten Theil zu nehmen.
Doch ſchied er aus dieſem Verhaͤltniſſe bald wieder, weil
ihm ſeine anderweitigen Geſchaͤfte dafuͤr zu wenig Zeit
ließen.
Als die Freunde Tieck's in Berlin dem abweſenden
Dichter zu deſſen ſechszigjaͤhrigen Geburtstag ein oͤffent¬
liches Ehrenfeſt veranſtalteten, war Neumann einer der
erſten Unternehmer und Befoͤrderer dieſer durchaus in
23 *[356] dem beſten Sinne geleiteten Angelegenheit. Auch bei
andern Vorgaͤngen, wo Gemeingeiſt und Geſelligkeit ſich
angeſprochen fanden, bezeigte er lebhaften Eifer und
heitern Sinn, den ſichtbar zu truͤben ſchon ein ernſter
und bedeutender Anlaß erfodert wurde.
So durfte Neumann bei arbeitsvollen Muͤhen, aber
leidlicher Geſundheit und gutem Muth, in haͤuslichem
Gluͤck und frohem Freundesumgang noch manches Le¬
bensjahr zu genießen, noch vielerlei zu bilden und ge¬
deihen zu ſehen hoffen, als ihn, unerwartet ihm ſelbſt
und den Seinen, im vierundfuͤnfzigſten Jahre der Tod
abrief. Er ſtarb auf einer Dienſtreiſe, von Magdeburg
zuruͤckkehrend, am 9. Oktober 1835 zu Brandenburg,
nach kurzer Krankheit, unter der Pflege einer befreun¬
deten Familie, die den Erkrankten liebevoll aufgenom¬
men hatte.
Sein reiner und ſo guͤtiger als feſter Karakter war
ſich ſtets gleich geblieben und hatte ihm in Allen, die
ihn kannten, nur Freunde erworben; ſein perſoͤnliches
Andenken laͤßt nirgends einen feindlichen Stachel zuruͤck.
Von Natur ſchweigſam und verſchloſſen, doch nie ver¬
ſtockt; wenig ſelbſtthaͤtig; aber leicht erregbar, beſchei¬
den und nachgiebig, doch freimuͤthig und feſt, bei ſtil¬
lem Ernſte ſtets aufgelegt zu Witz und Laune; mit die¬
ſen Eigenſchaften noch die tiefern und werthvollern der
Wahrheitsliebe, des hoͤchſten Strebens und der edelſten
Geſinnung vereinigend, konnte er nur eine freundliche
[357] Erſcheinung ſeyn, die man hoͤchſtens unbemerkt laſſen,
aber nicht unangenehm noch laͤſtig finden konnte. In
ſeiner ganzen Eigenthuͤmlichkeit wird er immer eine
merkwuͤrdige Geſtalt in dem Bildungsgange ſeines Zeit¬
alters ſeyn, deren Daſein und Wirken nicht der Ver¬
geſſenheit anheimfallen kann, auch in der Litteratur nicht,
wenn gleich das von ihm Geleiſtete weder durch großen
Umfang, noch durch ſeltſame Geſtalt hervorleuchtet.
Chriſtian Günther, Graf zu Bernſtorff.
Der Name Bernſtorff, einem uralten edlen Geſchlecht
in Hannover und Mecklenburg angehoͤrig, glaͤnzt ſeit
vielen Geſchlechtsfolgen in den ſchoͤnſten und reinſten
Erinnerungen deutſchen Lebens. Im Anfange des vori¬
gen Jahrhunderts hatte die Staatsklugheit und Thaͤ¬
tigkeit des Freiherrn Andreas Gottlieb von Bernſtorff
weſentlichen Antheil an den Verhandlungen, durch welche
das Haus Hannover zur Thronfolge in Großbritannien
gelangt iſt. Spaͤter ſehen wir den Grafen Johann
Hartwig Ernſt von Bernſtorff in daͤniſchen Staatsdien¬
ſten die hoͤchſten Ehrenſtufen erreichen, und als Freund
und Beſchuͤtzer Klopſtock's ſich ein dauerndes Denkmal
in der deutſchen Geiſtesbildung ſtiften. Sein Neffe,
Andreas Petrus Graf von Bernſtorff, vermehrte dieſen
Ruhm, und zeigte als Staatsmann eine ſeltene Groͤße
der Einſicht und des Karakters, durch die er waͤhrend
ſtuͤrmiſcher und drangvoller Zeiten Daͤnemark in gluͤck¬
licher Friedensruhe und geachtetem Anſehen erhielt. Die¬
[359] ſem großen Vater entſproß der wuͤrdige Sohn, deſſen
Leben hier in gedraͤngten Umriſſen zu vergegenwaͤrtigen
die Abſicht nachſtehender Zeilen iſt.
Chriſtian Guͤnther Graf von Bernſtorff, geboren zu
Kopenhagen am 3. April 1769, war der dritte Sohn
aus ſeines Vaters erſter Ehe mit Henrietten Graͤfin
zu Stolberg-Stolberg. Seine Erziehung im Hauſe der
Eltern, theils in Kopenhagen, theils auf dem Familien¬
gute Dreiluͤtzow in Mecklenburg, wurde mit liebevoller
Sorgfalt in dem Geiſte geleitet, welcher dieſen Kreis
von jeher auszeichnete. Der Juͤngling fand in der hei¬
miſchen Umgebung die trefflichſten Vorbilder edler Ge¬
ſinnung und Wirkſamkeit. Seine Oheime, die beiden
Grafen zu Stolberg, ſchon als Dichter beruͤhmt, die
ſtete Verbindung mit Klopſtock, und der Zutritt vieler
andern Maͤnner von hoͤherer Bildung und Wuͤrdigkeit,
erhoͤhten den geiſtigen Glanz des Hauſes. Wiſſenſchaft¬
lichen Unterricht empfing er durch Privatlehrer. Seine
ausgezeichneten Faͤhigkeiten entwickelten ſich fruͤh. Der
Tod der geliebten Mutter, die er in ſeinem dreizehnten
Jahre verlor, ließ den Gang dieſes haͤuslichen Lebens
unveraͤndert, und bei den guten Fortſchritten des Juͤng¬
lings wurde der Beſuch einer oͤffentlichen Anſtalt nicht
fuͤr noͤthig erachtet. Dagegen war der Vater fruͤhzeitig
bedacht, die vielverſprechenden Anlagen ſeines Sohnes
durch ausuͤbende Thaͤtigkeit zur Reife zu bringen. Kaum
achtzehn Jahr alt, verſuchte dieſer ſich bereits in man¬
[360] nigfachen diplomatiſchen Arbeiten, unter der unmittel¬
baren Aufſicht und zur großen Zufriedenheit des Vaters,
der ihn zu ſeiner Belehrung alsbald auch eine Reiſe
nach Schweden machen ließ, wo gerade der Reichstag
eroͤffnet war, und ſodann, nach der Ruͤckkehr von die¬
ſem erſten Ausfluge, im Jahre 1789, ihn bei dem daͤni¬
ſchen Geſandten in Berlin, ſeinem Oheim, dem Gra¬
fen Friedrich Leopold zu Stolberg, als Legationsſekretaͤr
anſtellte.
Hier zeichnete er ſich ſowohl durch ſeine Arbeiten,
als auch durch ſein perſoͤnliches Benehmen ſo vortheil¬
haft aus, daß er in kurzer Zeit zum Geſchaͤftstraͤger
ernannt wurde, und ſchon im Jahre 1791 die Befoͤr¬
derung zum bevollmaͤchtigten Miniſter erhielt. Die
durch Glanz und Bildung hervorragende Geſelligkeit
Berlins ſah in Bernſtorff eine ihrer ſchoͤnſten Zierden;
ſeine jugendliche Erſcheinung war ſo wuͤrdevoll als an¬
muthig; ſein offener, redlicher Sinn floͤßte das ſicherſte
Vertrauen ein; ſein freundliches Wohlwollen erwarb jede
Zuneigung, und der guͤnſtige Eindruck, welchen ſein
damaliger Umgang den trefflichſten Menſchen aus allen
Staͤnden hinterließ, hat aus jener fruͤhen Zeit bis in
die ſpaͤteſte fuͤr ihn unausloͤſchlich fortgedauert.
Im Sommer des Jahres 1794 machte er in Be¬
gleitung ſeines juͤngeren Bruders, des Grafen Joachim
von Bernſtorff, eine Urlaubsreiſe in die Schweiz, wurde
jedoch unerwartet von hier abgerufen, um den daͤniſchen
[361] Geſandtſchaftspoſten in Stockholm zu uͤbernehmen. Bei¬
nahe zwei Jahre hatte er dieſem Poſten vorgeſtanden,
als er im Sommer 1796 Befehl erhielt, mit beſondern
Auftraͤgen ſeines Hofes ſich nach St. Petersburg zu
begeben, wo ſein Aufenthalt aber nur von kurzer Dauer
war. Nach Stockholm zuruͤckgekehrt, wurde er im Mai
1797 ſchleunigſt nach Kopenhagen berufen, weil ſein
Vater ſchwer erkrankt war, und er fuͤr dieſen, ſo lange
derſelbe verhindert bliebe, die Leitung der Geſchaͤfte
uͤbernehmen ſollte. Die Krankheit jedoch endete den
21. Juni mit dem Tode des großen Mannes, und ſein
Sohn, zum Staatsſekretair fuͤr die auswaͤrtigen Ange¬
legenheiten mit Sitz und Stimme im Geheimen Konſeil
ernannt, trat unmittelbar als Nachfolger fuͤr ihn ein.
Bernſtorff verwaltete das ihm uͤbertragene Amt in
demſelben Geiſt und Sinne, welcher bisher fuͤr Daͤne¬
mark ſo heilſam und fruchtbringend ſich erwieſen hatte.
Er wußte verſoͤhnliche Milde und ſtrenge Feſtigkeit zu
vereinigen, und es gelang ihm, das politiſche Anſehen,
welches ſein Vater erworben hatte, ungeſchwaͤcht fort¬
zuſetzen. Im Sommer 1800 wurde er zum Staats¬
miniſter und Miniſter der auswaͤrtigen Angelegenheiten
ernannt, und ihm ſein Bruder, Graf Joachim von
Bernſtorff, als Direktor des auswaͤrtigen Departements
zum erwuͤnſchten Gehuͤlfen beigegeben.
Der zwiſchen Großbritannien und Frankreich mit
erbitterter Anſtrengung gefuͤhrte Seekrieg brachte damals
[362] das neutrale Daͤnemark in die unangenehmſten Verwicke¬
lungen; die Englaͤnder nahmen daͤniſche Schiffe weg,
und bedrohten Kopenhagen durch ihre Flotte. Die feſte
Sprache und geſchickte Unterhandlung Bernſtorff's wand¬
ten fuͤrerſt das Unheil eines Krieges noch ab; der zwei¬
unddreißigjaͤhrige Staatsmann vertrat mit Erfolg das
Recht gegen die Uebermacht, und die Englaͤnder mu߬
ten ſogar die Ruͤckgabe ſaͤmmtlicher genommenen Schiffe
zugeſtehen. Das folgende Jahr aber ſah dieſelben Ver¬
wickelungen nur heftiger wiederkehren, und es erfolgte
am 2. April 1801 die Schlacht vor Kopenhagen, wor¬
auf dieſe Hauptſtadt ſelbſt von dem Feinde bombardirt
wurde. Auf einer Baſtion der Feſtungswerke ſtand
Bernſtorff mit dem Kronprinzen-Regenten, jetzigen Koͤ¬
nige Friedrich dem Sechsten, den Gang des Kampfes
naͤher zu beobachten, die Bomben flogen in allen Rich¬
tungen uͤber ſie hin, und eine fiel und zerplatzte dicht
neben ihnen, gluͤcklicherweiſe ohne zu beſchaͤdigen. Der
Sieg entſchied ſich, trotz der Tapferkeit der Daͤnen, zu
Gunſten der Englaͤnder, und Daͤnemark mußte fuͤr den
Augenblick nachgeben; die ſchwierigen und raſchen Un¬
terhandlungen aber, welche mit den engliſchen Befehls¬
habern gepflogen wurden, fuͤhrte Bernſtorff ſo kraͤftig
und vortheilhaft, daß er guͤnſtigere Bedingungen erlangte,
als man damals zu hoffen wagte. Schon erkrankt,
aber ſich gewaltſam aufrecht erhaltend, brachte er den
Waffenſtillſtand noch zum Abſchluſſe, kaum aber war
[363] dies geſchehen, ſo brach die Maſernkrankheit bei ihm
aus, und er mußte jede Thaͤtigkeit aufgeben. Noch
nicht voͤllig geneſen, uͤbernahm er, zur ſchließlichen Feſt¬
ſtellung der Verhaͤltniſſe mit England, eine außerordent¬
liche Sendung nach London, wo er mehrere Monate
zubrachte.
Im Jahre 1806 ereignete ſich durch beſondere Ver¬
haͤltniſſe der Anlaß, daß Bernſtorff auf einige Zeit ſich
wiederum nach Berlin begab. Die guͤnſtigſten Eindruͤcke
blieben auch von dieſer zweiten Anweſenheit Bernſtorff's
daſelbſt am Hofe und in den Geſellſchaftskreiſen zuruͤck.
Daſſelbe Jahr brachte ihm die Begruͤndung ſeines
eigenen haͤuslichen Gluͤckes; er vermaͤhlte ſich im Som¬
mer 1806 zu Emkendorf mit ſeiner Nichte, der Graͤfin
Eliſabeth von Dernath.
Dieſes und die naͤchſtfolgenden Jahre war Bernſtorff
durch die Zeitumſtaͤnde genoͤthigt, im Gefolge des Kron¬
prinzen-Regenten groͤßtentheils in Kiel zuzubringen, wo
eine daͤniſche Truppenmacht zum Schutze Holſteins auf¬
geſtellt war. Daͤnemark fand ſich zwiſchen den entge¬
gengeſetzten Zumuthungen der kriegfuͤhrenden Maͤchte in
der mißlichſten Lage, und beſonders gab der fortdau¬
ernde Seekrieg theils neuen Anlaß zu widerwaͤrtigen
Eroͤrterungen und Spannungen, die zu beſeitigen immer
weniger gelingen wollte. Am 9. Auguſt 1807 hatte
Bernſtorff die entſcheidende, in der diplomatiſchen Ge¬
ſchichte beruͤhmt gewordene Unterredung mit dem engli¬
[364] ſchen Geſandten Jackſon, in welcher die unſtatthaften
Forderungen Englands zuruͤckgewieſen wurden. Die
Folge war der Friedensbruch und unerwartete Angriff
auf Kopenhagen, durch welchen die Englaͤnder ſich der
daͤniſchen Kriegsflotte bemaͤchtigten und ſie nach Eng¬
land abfuͤhrten.
Die Wendung der Angelegenheiten war ungluͤcklich,
aber die Standhaftigkeit und Wuͤrde, mit welcher Bern¬
ſtorff das Recht und die Ehre des daͤniſchen Staates
vertreten hatte, wurde von allen Seiten ruͤhmend an¬
erkannt, und von ſeinem Koͤniglichen Herrn durch Ver¬
leihung des Elephanten-Ordens belohnt.
Die Treue und Geradheit, die er in ſeinem Dienſt¬
verhaͤltniſſe wie in jedem andern Lebensbezuge gewiſſen¬
haft uͤbte, war durch kein Mißgeſchick zu erſchuͤttern,
und ſollte bald auch von einer andern Seite her eine
ſeltene Pruͤfung beſtehen. Eine Angelegenheit, welche
nicht unmittelbar den Staat, ſondern zunaͤchſt die per¬
ſoͤnlichen Verhaͤltniſſe eines Dritten betraf, hatte ihn zu
einer Vorſtellung veranlaßt, durch welche er ein Unrecht
abwenden zu muͤſſen glaubte, und da er auf Schwie¬
rigkeiten ſtieß und nicht durchdringen konnte, ſo zwei¬
felte er keinen Augenblick, daß er der Ehre ſeiner Ueber¬
zeugung ein Opfer bringen und ſeinem Amte entſagen
muͤßte. Er nahm im Mai 1810 ſeine Entlaſſung, ohne
Trotz und Groll, wie ohne Ungunſt. Der Koͤnig blieb
von ſeiner treuen Verehrung und Anhaͤnglichkeit innig
[365] uͤberzeugt und ihm mit aller fruͤheren Zuneigung ge¬
wogen.
Um jedoch nicht unthaͤtig zu ſeyn und um ferner
dem Staate zu nuͤtzen, erbot ſich Bernſtorff, durch be¬
ſondere Umſtaͤnde ihm ſelbſt unerwartet dazu veranlaßt,
im folgenden Jahre zur Uebernahme der daͤniſchen Ge¬
ſandtſchaft zu Wien, die ſich gerade offen fand, und
ihm auch ſogleich gewaͤhrt wurde. In dieſer Anſtellung
hoffte er neben ſeiner amtlichen Thaͤtigkeit einiger Ruhe
und Erholung zu genießen, deren er auch nach ſo wech¬
ſelvollen und bewegten Jahren, in welchen auch ſeine
Geſundheit ſehr gelitten hatte, wohl bedurfte. Gleich
das naͤchſte Jahr aber bereitete durch Napoleons Zug
nach Rußland nur neue und groͤßere Bewegungen, von
denen auch Daͤnemark hart beruͤhrt werden ſollte.
Nach den Ungluͤcksfaͤllen, welche die Franzoſen in
Rußland erlitten, blieb Daͤnemark ihrer Sache durch
verhaͤngnißvolle Umſtaͤnde anfangs noch verknuͤpft, und
von der großen Verbuͤndung gegen Napoleon ausge¬
ſchloſſen. Bernſtorff, deſſen Amtsverrichtungen in Wien
zufolge der Ereigniſſe des Jahres 1812 aufhoͤren mu߬
ten, ſah ſich den Ruͤckzug nach Daͤnemark durch die
Kriegsheere verſperrt, und wollte mit ſeiner Familie
nach Mannheim abreiſen, um hier die weitere Wendung
der oͤffentlichen Angelegenheiten ſtill abzuwarten. Der
edle Kaiſer Franz, hiervon benachrichtigt, ſchickte zu
ihm, ließ ihm die Verſicherung ſeiner beſondern Achtung
[366] ertheilen, und zugleich den Wunſch ausdruͤcken, daß er
ſeinen Aufenthalt in Wien, wo ihn Niemand ſtoͤren
wuͤrde, fortſetzen moͤchte. Im Anfange des Jahres 1814
ſchloß Daͤnemark ſich der Sache der Verbuͤndeten foͤrm¬
lich an, und Bernſtorff trat wieder in ſeiner vorigen
Eigenſchaft auf. Er folgte dem Kaiſer in das große
Hauptquartier, und traf nach dem Sturze Napoleons
im April zu Paris ein, wo er den Friedens-Verhand¬
lungen beiwohnte, und fuͤr die Sache Daͤnemarks, be¬
ſonders auch durch ſeine Perſoͤnlichkeit, ſo vortheilhaft
einwirkte, als es unter den damaligen Umſtaͤnden irgend
moͤglich war.
Demnaͤchſt wurde er beauftragt, in Gemeinſchaft mit
ſeinem Bruder an den Verhandlungen des Kongreſſes
zu Wien Theil zu nehmen, und beſonders auch zu der
allgemeinen Anordnung der deutſchen Verhaͤltniſſe thaͤtig
mitzuwirken. Hier und bei dem zweiten Aufenthalte
zu Paris, wohin Bernſtorff den verbuͤndeten Monarchen
folgte, bei denen ſaͤmmtlich er jetzt beglaubigt war,
gelang es ſeinem regen und beharrlichen Eifer, den
daͤniſchen Intereſſen uͤberall die guͤnſtigſte Beruͤckſichti¬
gung zu erhalten.
Seine Ruͤckreiſe von Paris nahm er durch die Schweiz,
beſuchte dann in Weſtphalen ſeinen Oheim Friedrich
Leopold Grafen zu Stolberg, und fand ſich mit dem
Schluſſe des Jahres 1815 auf dem Gute Dreiluͤtzow,
wohin auch Stolberg zum Beſuche kam, mit ſeiner
[367] Familie, die er in Wien verlaſſen hatte, wieder ver¬
einigt. Auf der Weiterreiſe nach Kopenhagen gerieth
er in Lebensgefahr, der er jedoch gluͤcklich entging,
Er war mit ſeiner Stellung in Wien aͤußerſt zu¬
frieden, und genoß in den diplomatiſchen wie in den
geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſen jeder Auszeichnung und
Annehmlichkeit. Jedoch hatte er bisweilen wohl im
Vertrauen geaͤußert, daß er einen dem Vaterlande naͤhe¬
ren Poſten vorziehen wuͤrde, wenn ein ſolcher ſich zeigen
ſollte. Als nun die Geſandtſchaft am preußiſchen Hofe
dem Grafen Joachim von Bernſtorff angetragen wurde,
wuͤnſchte dieſer, voll Zartgefuͤhl und Fuͤrſorge fuͤr den
geliebten Bruder, daß demſelben die Wahl zwiſchen
beiden Poſten, den Geſandtſchaften zu Wien und Berlin,
freigeſtellt wuͤrde. Hoͤchſten Ortes wurde dies gern be¬
willigt, und der aͤltere Bruder waͤhlte allerdings Berlin,
nicht ohne ſeine alte Anhaͤnglichkeit an den Hof und
das Land, ſo wie ſeine Vertrautheit mit Sitten und
Lebensweiſe der ihm ſo ſehr befreundeten Stadt, bei
dieſem Entſchluſſe weſentlich in Rechnung zu bringen.
Er ahndete nicht, wie ſehr dieſe Antriebe ſich in der
naͤchſten Zeit bewaͤhren und zu welcher feſten Geſtalt
ſie gedeihen ſollten!
Im Januar 1817 verließ er Holſtein und kam mit
den Seinigen nach Berlin. Hier fand er alles ſeinen
Wuͤnſchen gemaͤß; die groͤßte Zuneigung und Hochach¬
tung begegneten ihm von allen Seiten, und waͤhrend
[368] ſeine edle Erſcheinung und hohe Liebenswuͤrdigkeit offen
hervortraten, konnten auch die hellen Einſichten und
reinen Geſinnungen des vielerfahrenen Staatsmannes
nicht verborgen bleiben. Dieſer Verein ſeltener Eigen¬
ſchaften erzeugte und rechtfertigte den Gedanken, daß
die Leitung der politiſchen Geſchaͤfte Preußens in den
damaligen Zeitumſtaͤnden keinen beſſeren Haͤnden anver¬
traut werden koͤnnte, als Bernſtorff’s, der durch be¬
ſonnene Haltung und maßvolle Kraft den Erforderniſſen
des Tages am meiſten zu entſprechen ſchien, und in
Berlin ſchon laͤngſt nicht mehr als ein Fremder anzu¬
ſehen war.
Die erſten Eroͤffnungen hinſichtlich eines Uebertrittes
in den preußiſchen Staatsdienſt wurden ihm bereits im
April 1818 gemacht, und gleich im folgenden Monat
mit groͤßtem Nachdruck wiederholt. Bei dieſer wichtigen
Angelegenheit, welche fuͤr ihn mehr eine Sache großen
Pflichtberufs, als lockenden Ehrgeizes war, wollte Bern¬
ſtorff nicht ſelbſtthaͤtig eingreifen, ſondern unterwarf die
Entſcheidung unbedingt ſeinem Herrn, dem Koͤnige von
Daͤnemark. Dieſer guͤtige Fuͤrſt mißte den treuen Staats¬
diener ſehr ungern, wollte denſelben aber ſo ehrenvollem
Rufe und großen Wirken nicht entziehen, ſondern ertheilte
dem angeregten Uebertritte ſeine volle Genehmigung.
Bernſtorff reiſte darauf nach Holſtein, um perſoͤnlich
Abſchied von dem Koͤnige zu nehmen, der ihm die
gnaͤdigſten Geſinnungen unveraͤndert bewahrte. Unmit¬
[369] telbar nach ſeiner Entlaſſung trat er in preußiſche Dienſte
als Geheimer Staats- und Kabinetsminiſter und Chef
des Departements der auswaͤrtigen Angelegenheiten.
Auf dem Kongreſſe von Aachen erſchien er zuerſt
in dem neuen Verhaͤltniſſe, mit und neben dem Staats¬
kanzler Fuͤrſten von Hardenberg. Beide Staatsmaͤnner,
ſchon aus fruͤherer Zeit befreundet, und die edlen Formen
der hohen Lebenskreiſe, denen ſie beide durch Geburt
und Bildung angehoͤrten, auf ihre amtlichen Bezuͤge
uͤbertragend, wirkten eintraͤchtig zur Loͤſung der diplo¬
matiſchen Aufgaben, die ihnen gemeinſam geſtellt waren,
und wobei die etwanigen Meinungs-Verſchiedenheiten,
welche nach andern Seiten beſtehen mochten, groͤßten¬
theils unberuͤhrt bleiben konnten. Bernſtorff empfing
hier auch gleich im Beginne ſeiner neuen Laufbahn das
ſchmeichelhafteſte Zeugniß der Achtung und der Gnade
von Seiten des Koͤnigs, ſeines nunmehrigen Dienſt¬
herrn, durch Verleihung des Schwarzen Adler-Ordens,
waͤhrend der Kaiſer Alexander von Rußland ihn gleich¬
zeitig mit dem hoͤchſten ruſſiſchen Orden, dem des Hei¬
ligen Andreas, als dem Zeichen ſeines hohen Vertrauens,
ſchmuͤckte. Nach der Ruͤckkehr von Aachen trat Bern¬
ſtorff in Berlin an die Spitze des ihm untergebenen
Departements, und uͤbernahm die Leitung der diplo¬
matiſchen Geſchaͤfte.
Gleich im naͤchſten Jahre rief ihn der Gang der
Ereigniſſe zu dem Kongreſſe deutſcher Bevollmaͤchtigten
24[370] nach Karlsbad, wo zur Sicherſtellung des deutſchen
Gemeinweſens gegen ruheſtoͤrende Bewegungen die Be¬
ſchluͤſſe vorbereitet wurden, welche ſpaͤterhin durch die
deutſche Bundesverſammlung zur Oeffentlichkeit gelang¬
ten. Dem neuen Kongreſſe, der hierauf in Wien zur
Befeſtigung und Erweiterung der deutſchen Bundesver¬
haͤltniſſe gehalten wurde, wohnte Bernſtorff gleicher¬
weiſe als Bevollmaͤchtigter von Seiten Preußens bei,
und ſeine beſonnene Klarheit wie ſein redlicher Eifer
blieben auch hier nicht ohne fruchtbare Einwirkung.
Die neuen politiſchen Verwickelungen, welche in
Folge der ſpaniſchen Revolution nach und nach hervor¬
traten, gaben in den naͤchſtfolgenden Jahren Anlaß zu
den Kongreſſen von Troppau, Laybach und Verona,
wo die wichtigſten und fuͤr Europa folgenreichſten Be¬
ſchluͤſſe zu Stande kamen, zugleich aber auch die er¬
hoͤhten Schwierigkeiten ſichtbar wurden, welche fortan
in dem Gange der europaͤiſchen Politik ſich geltend
machten. Bernſtorff nahm an den Verhandlungen dieſer
Kongreſſe Theil, in welchen das Intereſſe und die
Sprache Preußens ſtets folgerecht in der gewaͤhlten
Richtung zu beharren wußten.
Nicht leicht duͤrfte die neuere Geſchichte einen Zeit¬
raum darbieten, wo die politiſchen Aufgaben groͤßer,
die diplomatiſchen Wirkſamkeiten wichtiger und zarter
geweſen waͤren, als die fuͤnfzehn Jahre, waͤhrend welcher
in Frankreich der Kampf der Revolution gegen die Re¬
[371] ſtauration ununterbrochen fortdauerte, und alle politiſchen
Verhaͤltniſſe Europa's durch dieſen Kampf durchkreuzt
und bedingt wurden. Die Ereigniſſe dieſes Zeitraums
und die ihnen entſprechenden oͤffentlichen Maßregeln
ſind bekannt, die Thaͤtigkeiten aber, welche darauf ein¬
gewirkt haben, der Antheil und das Verdienſt, die
hierbei den einzelnen Kabineten und den mit ihrer
Geſchaͤftsleitung beauftragten Staatsmaͤnnern zuzurech¬
nen ſind, in Rettung und Foͤrderung des Guten und
Rechten, in Abwendung und Milderung der Uebel, dieſe
Einwirkungen koͤnnen ihrer Natur nach nur einem engen
Kreiſe von Mitwiſſenden vertraut ſein, und es bleibt
kuͤnftiger Geſchichtſchreibung vorbehalten, dieſe noch ver¬
huͤllten perſoͤnlichen Bezuͤge einſt genau zu erforſchen
und darzulegen. Wir beſcheiden uns, hier nur im All¬
gemeinen auf die haltungsvolle und gedeihliche Friedens¬
ſtellung hinzudeuten, welche Preußen waͤhrend jenes
Zeitraums immerfort behauptet hat, auf das Anſehen
und Vertrauen ſeines Kabinets, auf die guten Fruͤchte,
welche dieſem Boden entſproſſen ſind, und wir duͤrfen
mit Zuverſicht, ohne irgend ein anderes Verdienſt damit
beſchraͤnken zu wollen, die Ueberzeugung ausſprechen,
daß die von Bernſtorff gefuͤhrte Geſchaͤftsverwaltung
im Einzelnen wie im Ganzen durch jede kuͤnftige Be¬
leuchtung nur immer ehren- und ruhmvoll fuͤr ihn ſich
darſtellen wird.
24 *[372]
Und hier iſt der Ort, wo wir vor andern Eigen¬
ſchaften, die er beſaß, der einen gedenken muͤſſen, die
allen uͤbrigen zur feſten Mitte diente, und die ihm ſelbſt
die gluͤcklichſte Befriedigung und ſeinem ganzen Wirken
eine erhoͤhte Kraft und Sicherheit verlieh! Bernſtorff
war in ſeiner Denkart und Geſinnung durchaus monar¬
chiſch; ſein innerſtes Weſen und jede ſeiner Handlungen
folgten dieſer Richtung. Seinem Koͤniglichen Dienſt¬
herrn und Gebieter mit hoͤchſter Liebe und Verehrung
zugethan, ſtrebte er vor Allem, den beſtimmten Willen
deſſelben zu vernehmen und auszufuͤhren, und dem Sinn
und der Anſicht des Monarchen im Allgemeinen nach¬
zufolgen. Dieß that der offenen Darlegung und frei¬
muͤthigen Eroͤrterung ſeiner eigenen Anſicht keinen Ein¬
trag; er wuͤrde dieſe niemals zu verhehlen faͤhig geweſen,
und in manchen, hier undenkbaren Faͤllen lieber ganz
zuruͤckgetreten ſein; aber wo das Gewiſſen geſichert war,
fand ihn die Pflichttreue des Dienſtes immer zur Selbſt¬
verlaͤugnung bereit.
Mehrmals im Verlaufe dieſer Jahre ſah Bernſtorff
ſeine Thaͤtigkeit durch heftige und langwierige Krank¬
heitsleiden unterbrochen. Ein erbliches Uebel, die Gicht,
pflegte ſeit fruͤher Zeit, in laͤngern oder kuͤrzern Friſten
wiederkehrend, ihn zu befallen. Die Leitung der Ge¬
ſchaͤfte fuͤhrte er auch noch vom Krankenbette mit gluͤck¬
lichem Erfolge fort, nur in ſeltneren Faͤllen mußte er
kuͤrzere Zeit auf alle Thaͤtigkeit verzichten. Wiederholt
[373] ſuchte er, wo nicht Geneſung, doch Linderung, in heil¬
ſamen Baͤdern und im ſtillen Kreiſe der Seinen. Die
erneuten Kraͤfte aber widmete er mit erhoͤhtem Eifer
ſogleich wieder ſeinem Dienſtberufe.
Schon im Jahre 1824 aͤußerte er gegen Freunde
im Vertrauen, daß ſeine Kraͤnklichkeit ihn wohl bald
noͤthigen wuͤrde, ſeinem Amte zu entſagen, und zwei
Jahre ſpaͤter glaubte er, dieſen Zeitpunkt wirklich ein¬
treten zu ſehen; allein das hoͤchſte Zutrauen, welches
in ihn geſetzt wurde, und die ſtrenge Pflichtgeſinnung,
mit der er ſolches erwiederte, bewogen ihn ſtets wieder,
dieſen Schritt noch aufzuſchieben, und das Zureden ſei¬
ner Freunde wie die oͤftere Beſſerung ſeiner Geſund¬
heitsumſtaͤnde ließen ihn nach uͤberſtandener Unterbrechung
jedesmal friſchen Muthes die Geſchaͤfte wieder aufnehmen.
In ſolchem Wechſel war der Sommer des Jahres
1830 herangekommen, und Bernſtorff nach abermaligen
ſchweren Leiden in das Bad zu Nenndorf gereiſt, deſſen
Gebrauch ſich ihm ſchon, fruͤher wohlthaͤtig erwieſen hatte.
Jedoch kaum angelangt, empfing er die raſch auf ein¬
einander folgenden Nachrichten von der in Paris aus¬
gebrochenen neuen Revolution, deren Umfang und Er¬
gebniß mit jedem Tage ſich bedeutender darſtellte. Der
Eindruck dieſer zerſtoͤrenden Ereigniſſe wirkte ſo gewalt¬
ſam auf ſein Gemuͤth, daß er auf's neue erkrankte;
ſein Geiſt und Wille aber blieben ungebeugt, er vertrieb
den heftigen Gichtanfall durch heiße Baͤder, und eilte
[374] nach Berlin, wo er in der Mitte des Auguſt noch ſehr
leidend eintraf. Er uͤbernahm ſogleich mit ruͤſtiger Kraft
die Leitung der Geſchaͤfte. Die politiſche Lage mit klarer
Beſonnenheit uͤberſchauend, wirkte er mit feſtem Eifer
in derjenigen Richtung, welche den Umſtaͤnden des
Augenblicks die einzig angemeſſene erſchien, und in
welcher, zu verſtaͤrkter Kraft und Verbuͤndung, die ver¬
ſchiedenſten Anſichten zuletzt ſich vereinigten.
Die Erſchuͤtterung in Frankreich wirkte weit uͤber
die Graͤnzen dieſes Landes hinaus, von allen Seiten
erhoben ſich Bewegungen, die durch Klugheit zu be¬
ſchraͤnken, durch Einſicht zu meiſtern oder durch Gewalt
zu hemmen waren. Bernſtorff zagte keinen Augenblick,
auch unter dem Zuſammentreffen der verwirrendſten
Eindruͤcke nicht, ſondern wandte gegen jede neue Gefahr
nur kaͤltere Faſſung und erhoͤhte Vorſicht. Die Ereig¬
niſſe nahmen in der That bald wieder eine minder
drohende Geſtalt, die Hauptkriſis gelangte durch ihre
eigenen Gegenwirkungen zum Stillſtande, und die wich¬
tigſten Streitfragen wurden allmaͤlig in die Schranken
friedlicher Verhandlung eingelenkt, wo das Anſehen
und die Macht der erhaltenden Grundſaͤtze ſich der Re¬
volution gegenuͤber im uͤberwiegenden Vortheil finden
mußte.
Dieſer Stand der Dinge war vorbereitet, allein
noch keineswegs vollendet, als Bernſtorff in Folge der
unausgeſetzten Anſtrengung und Thaͤtigkeit aufs neue
[375] ernſtlich erkrankte, und nun entſchieden glaubte, den
vielen weiteren Kaͤmpfen, die ſich vorausſehen ließen,
mit ſeinen geſchwaͤchten Kraͤften nicht mehr gewachſen
zu ſein. Doch ließ er deshalb in ſeinem Pflichtberufe
keineswegs nach; die heftigſten Fieberanfaͤlle, die ſchmerz¬
lichſten Kopfleiden durften ihn nicht abhalten, die Ge¬
ſchaͤftsarbeiten regelmaͤßig fortzufuͤhren, und insbeſondere
auch die muͤndlichen diplomatiſchen Verhandlungen taͤglich
zu beſtehen. Ganz in den Leiſtungen lebend, welche
die Zeitumſtaͤnde von ihm forderten, achtete er nicht
ſeiner eigenen Hinopferung. Erſt nachdem ſein Zuſtand,
durch dieſe Anſtrengung ſelbſt, endlich dahin gebracht
war, daß er glaubte, den Aufgaben ſeiner Stellung
mit ſeinen geſchwaͤchten Kraͤften nicht mehr gewachſen
zu ſein, reifte der Vorſatz in ihm, ſich aus dem Staats¬
dienſte zuruͤckzuziehen. Auch die guͤnſtigere Ausſicht, zu
welcher im Allgemeinen die politiſchen Angelegenheiten
nicht ohne ſeine thaͤtige Mitwirkung zuruͤckgefuͤhrt waren,
ſchien ein ſchicklicher Abſchnitt fuͤr die eigne Laufbahn,
und er aͤußerte im Fruͤhjahr 1831 den beſtimmten
Wunſch, von derſelben abzutreten. Doch ſein Wunſch
wurde noch nicht gewahrt, ſondern einſtweilen durch
die Ernennung eines Staatsſekretairs fuͤr die auswaͤr¬
tigen Angelegenheiten nur eine erleichternde Geſchaͤfts¬
Anordnung eingerichtet.
Als jedoch die Krankheitsleiden, anſtatt nachzulaſſen,
in der naͤchſten Zeit nur immer haͤufiger eintraten, und
[376] gleichwohl der oͤffentliche Zuſtand eine fortdauernd ge¬
ſteigerte Aufmerkſamkeit erforderte, da hielt Bernſtorff
es fuͤr ſeine Pflicht, den Zeitpunkt nicht abzuwarten,
wo ihn die bisherige Klarheit des Ueberblicks verließe,
ſondern ſeine Geſchaͤftsfuͤhrung ungetruͤbt einem kundigen
Nachfolger zu uͤbergeben, und von einem Poſten abzu¬
treten, deſſen Aufgaben und Verantwortung die naͤchſte
Zukunft noch vergroͤßern konnte. Er bat im Fruͤhjahr
1832 mit beſcheidenem, doch dringenden Ernſt um ſeine
Entlaſſung; und erhielt zwar dieſe nicht, aber die Er¬
nennung eines Amtsnachfolgers entband ihn aller eigent¬
lichen Departementsgeſchaͤfte. Der Koͤnig behielt ſich
vor, in geeigneten Anlaͤſſen ihn fortwaͤhrend zu Rath
zu ziehen, und wollte ihn deßhalb auch fernerhin zu
ſeinen wirklichen Staatsdienern gerechnet wiſſen. Dank¬
baren Herzens erkannte Bernſtorff die huldvolle Gnade
und das ehrende Vertrauen des geliebten Monarchen,
und durfte mit innerer Befriedigung auf eine Laufbahn
zuruͤckblicken, die mit nicht minderer Auszeichnung ſchloß,
als ſie begonnen hatte.
Nur allzubald nach ſeiner Zuruͤckziehung beſtaͤtigte
ſich leider die Beſorgniß, die ihn zu jener bewogen
hatte; am 10. Maͤrz 1833 erlitt er einen erſten Anfall
von Schlagfluß. Doch erholte er ſich wieder, und die
Ruhe und Muße, deren er nunmehr genoß, wirkten ſo
guͤnſtig auf ſeine Geſundheit, daß er ſogar auch an ein¬
zelnen Geſchaͤften wieder Theil nehmen konnte, fuͤr
[377] welche ſeine Einſicht und Erfahrung begehrt wurden.
Im Sommer 1834 fuͤhlte er ſich ſo weit geſtaͤrkt, daß
er einem ſehnlichen Wunſch, den er lange gehegt, will¬
fahren zu koͤnnen glaubte, und mit den Seinigen eine
Reiſe nach Kopenhagen unternahm. In dieſer fruͤheren
Heimath fand er ſich durch liebe Erinnerung und Gegen¬
wart doppelt angeregt, und freute ſich insbeſondere auch
des Wiederſehens und der Huld des Koͤnigs von Daͤne¬
mark, der den treuen Sinn ſeines ehemaligen Dieners
mit Ruͤhrung anerkannte.
Von Kopenhagen im Herbſte nach Berlin zuruͤckge¬
kehrt, empfand er bald wieder die Nachtheile der rauhe¬
ren Jahreszeit, doch gab ein wechſelvoller Zuſtand auch
Zeitabſchnitte, in denen er eine zunehmende Beſſerung
hoffen konnte. In ſolchen Zeiten hegte ſein Gemuͤth
beſonders Ein Verlangen, das er wiederholt und mit
Lebhaftigkeit aͤußerte; er wuͤnſchte herzlich, noch Einmal
den Koͤnig ſeinen Herrn zu ſehen! Ihn ſeiner innig¬
ſten Ehrfurcht und Dankbarkeit verſichern, ſie perſoͤnlich
ausdruͤcken zu koͤnnen, war ihm ein Beduͤrfniß, dem
in ſeiner Seele jede tiefe und zarte Empfindung ſich
verknuͤpfte. Die Erfuͤllung dieſes Wunſches vermochte
er nicht mehr zu erreichen. Zwar traten wiederholt
guͤnſtigere Tagesreihen ein, und die Heiterkeit ſeines
Geiſtes wie die Waͤrme ſeines Gemuͤths erwieſen ſich
noch im Anfange des Jahres 1835 in erhoͤhter Lebens¬
friſche, allein gerade in ſolchem verſprechenderen Zuſtande
[378] uͤberfiel ihn unerwartet am 18. Maͤrz ein erneuter
Schlagfluß. Die Huͤlfe der Aerzte war vergebens.
Von treuer Liebe der Seinen umgeben, erfuͤllt mit dem
reinen Bewußtſein eines tugendhaften Lebens, und er¬
hoben durch frommes Gottvertrauen, entſchlief er am
28. Maͤrz im beinahe vollendeten ſechsundſechzigſten
Jahre ſanft und ruhig zu einem hoͤhern Daſein, an das
er geglaubt, mit dem er ſich ſtets heiter beſchaͤftigt hatte.
Die Beſtattung geſchah am 1. April mit allem
Glanz und herkoͤmmlichen Ehren, die dem innegehabten
Range und der Stellung des Hingeſchiedenen gebuͤhr¬
ten; doch mehr als jene bezeichneten der ungeheuchelte
Schmerz und die tiefe Trauer aller Edeln, die ihn ge¬
kannt und ihn zu wuͤrdigen vermocht, die Groͤße ſeines
Werthes, ſo wie des Verluſtes, den ſein Scheiden uns
empfinden ließ.
In der That mag ſelten eine Perſoͤnlichkeit ſo aus¬
gezeichnete Uebereinſtimmung des aͤußern Erſcheinens
und des innern Weſens darbieten, als dieß in ihm der
Fall war. Der liebevolle, menſchenfreundliche Sinn,
die ſtrenge Rechtſchaffenheit, die hohe Bildung des
Geiſtes und die reiche Welterfahrung vereinigten ſich in
ihm zu dem ſchoͤnſten Ausdruck echten Menſchenadels,
dem Ehrerbietung und Zuneigung nie zu verſagen waren.
Bernſtorff's Karakter als Staatsmann iſt in obigen
Umriſſen ſeines Lebens und Wirkens den Hauptzuͤgen
nach bereits mitgeſchildert. Erwaͤhnen muͤſſen wir noch,
[379] daß er in jedem Geſchaͤft mit feſter Beſtimmtheit nur
auf die Sache ging, dem redlichen Zwecke nie andere als
redliche Mittel waͤhlte, und daß er die kuͤnſtlichen Ge¬
webe diplomatiſcher Feinheiten ſehr wohl kannte, doch
weder brauchte noch fuͤrchtete. Von ſelbſtſuͤchtigen An¬
trieben, von eigenem Ehrgeiz und Vortheil findet ſich
in ſeiner zwiefachen Dienſtlaufbahn wohl ſicherlich keine
Spur!
Perſoͤnliche Verhandlungen pflegte er nicht ohne
Lebhaftigkeit, aber ſtets in verſoͤhnlicher Geſinnung zu
fuͤhren. Die Klarheit ſeiner Anſichten gewann leicht
Eingang, und ſeine Gruͤnde beredeten nicht, ſondern
uͤberzeugten. Von ſeinen Gehuͤlfen, wie er ſeine Raͤthe
und Untergebenen nannte, forderte er viel; aber das
Geleiſtete wuͤrdigte er dankbar, und freute ſich jedes
Lobes, das er ertheilen konnte. Er wußte zu befehlen;
ließ aber zugleich die zarteſten Ruͤckſichten der Billigkeit
und Schonung walten. In ſeinen eigenen ſchriftlichen
Arbeiten leiſtete er alles ſelbſt, was er von Anderen
forderte; ſie vereinigten die gruͤndlichſte Darlegung der
Sache und die angemeſſenſte Ausdrucksweiſe. Sein
Takt fuͤr Schicklichkeit, Praͤciſion und Anmuth in jeder
Art von Abfaſſung war bewundernswuͤrdig, und die
ſchwierigſten und bedenklichſten Aufſaͤtze gingen klar und
gediegen aus ſeiner Redaktion hervor.
Der aͤſthetiſche Sinn, deſſen er von fruͤher Jugend
her theilhaftig war, und den ſeine ganze Geiſtes- und
[380] Lebensbildung treulich gepflegt hatte, zeigte ſich in ſpaͤte¬
ren Jahren auch durch eigene Hervorbringungen, welche
einen ernſten Inhalt, Gedanken und Bilder frommer
Liebe, mit dichteriſchem Ausdruck bekleideten. Bis zu¬
letzt war ſein Geiſt mit ſolchen Gegenſtaͤnden beſchaͤftigt,
bald die Schoͤnheit der Darſtellung, bald die Macht
der Gedanken erfaſſend; er wußte auch die ihm frem¬
deſten Denkarten und Sinnesweiſen zu durchdringen,
und in ihnen den Kern des Geiſtes und des Talents
hervorzuheben und zu ſchaͤtzen. Sein eigenſter Geiſtes¬
weg aber fuͤhrte ihn immer auf's neue zu dem Troſte
und der Beruhigung zuruͤck, die ihm, wie ſeinem gleich¬
geſinnten Naͤchſtenkreiſe von fruͤheſter Zeit durch evan¬
geliſchen Glauben verliehen waren, mit deſſen Kern
er ſeine eigenthuͤmlichen Forſchungen und Anſichten
durch umfaſſendes Gefuͤhl leicht vereinigte.
Wir haben bereits ſeiner Verheirathung zu erwaͤh¬
nen gehabt; ſeine Ehe war ein ununterbrochenes Gluͤck,
ein ſchoͤnes Vorbild hoher und ſegenreicher Verbindung.
Seine Wittwe und ſeine noch uͤbrigen Geſchwiſter be¬
trauern den liebevollſten Gatten und Bruder, ſeine hinter¬
laſſenen beiden Toͤchter den zaͤrtlichſten Vater; in dieſem
Kreiſe kann der Schmerz um den theuren Abgeſchiedenen
nie verſiegen, deſſen ſchoͤne Seele ſich hier am lichtvollſten
und begluͤckendſten entfaltete. Drei Soͤhne in fruͤhen
Jahren und eine ſchon verheirathete Tochter gingen ihm
voran.
[381]
Das Andenken des herrlichen Mannes wird fort¬
leben, und mit den Jahren, wir ſind es gewiß, nur
mehr und mehr hervorleuchten. Der Name Bernſtorff,
ſchon ſo vielfaͤltig ruhmvoll und dankbar genannt, iſt
durch ihn fortan auch in Preußen unvergeßlich.
Wie bei dem Grafen von Schlabrendorf wollen wir
auch von dem Grafen von Bernſtorff einige Proben
ſeiner Geiſtesart und Ausdrucksweiſe beifuͤgen. Die
einfach milden, aber ſinnigen und feinen Reimſpruͤche,
welche hier folgen, ſind zwar ſchon gedruckt, aber wenig
bekannt, und manches verwandte Herz wird die paar
Blaͤtter, welche ſie einnehmen, gern hier finden.
Stimmen aus Gräbern.
Vorwort.
Es iſt oft gefragt worden, ob die Lehre des Welt¬
erloͤſers, dieſe Lehre der Liebe, des Lichtes und des
Heils, nicht bei ihrer erſten Verbreitung, in den Ge¬
ſinnungen und Beduͤrfniſſen der beſſeren Menſchen, auch
unter den Voͤlkern, denen jede unmittelbare Offenbarung
des Goͤttlichen fremd geblieben war, ſchon einen Grund
fand, in dem ſie leicht und gluͤcklich Wurzel faſſen und
ſchnell zum weithinſchattenden Baume emporwachſen
konnte. Daß dieſes wirklich der Fall geweſen, war
[382] immer meine Ueberzeugung, und wie die nachſtehenden
Verſuche zum Theil aus dieſer Anſicht hervorgegangen
ſind, ſo wuͤnſche ich auch, um Mißdeutungen vorge¬
beugt zu ſehen, daß meine anſpruchsloſe Arbeit nur von
der naͤmlichen Anſicht aus beurtheilt werden moͤge.
Heidengräber.
1828.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
12.
14.
15.
16.
17.
[387]
18.
Chriſtengräber.
1828.
1.
2.
3.
4.
[389]
Neue Graͤber.
1.
Die Zukunft.
[390]
2.
Die Verführte.
3.
Die ewige Jugend.
4.
Rath.
5.
Die Treue.
6.
Die Selbſtverdammung.
[392]
7.
Die Braut.
8.
Der Geiſt.
Freundesgräber.
1.
Den 21. Juni 1797.
[394]
2.
1817.
3.
Den 18. Januar 1821.
[395]
4.
Den 24. Auguſt 1831.
5.
Den 9. Januar 1832.
Angelus Sileſius.
Johannes Angelus Sileſius hieß eigentlich Johann
Scheffler, und hatte den Namen Angelus, den er als
Dichter fuͤhrte, von einem ſpaniſchen Myſtiker des ſechs¬
zehnten Jahrhunderts, dem Franziskaner Johannes ab
Angelis, entlehnt, den Zunamen Sileſius aber von
ſeinem Vaterlande. Er war geboren zu Breslau im
Jahre 1624. Von ſeinen Aeltern iſt nichts bekannt,
nur wenig von ſeinen Studien. Man berichtet, ſchon
in ſeiner Jugend habe er einen entſchiedenen Hang zu
tiefen Geiſtesforſchungen gezeigt, und beſonders des
teutoniſchen Philoſophen Jakob Boͤhmens, ſo wie Va¬
lentin Weigels und Schwenkfelds Schriften fleißig ſtu¬
dirt. Die Heilkunde war das Fach, dem er auf der
Univerſitaͤt ſich widmete, und worin er auch die Doc¬
torwuͤrde empfing. Er ging ſodann auf Reiſen, hielt
ſich beſonders in Holland laͤngere Zeit auf, wo er die
Verſammlungen der Frommen fleißig beſuchte, und
wahrſcheinlich wurde er hier auch in die Gemeinſchaft
[398] der Eingeweihten foͤrmlich aufgenommen, welche in
Amſterdam fuͤr die Lehre Jakob Boͤhmens als Wiſſende
ſich zu einer Art Loge vereinigt hatten. Nach ſeiner
Ruͤckkehr in's Vaterland erlangte er bei Kaiſer Ferdi¬
nand III. den Titel und bei dem Herzoge von Wuͤr¬
temberg-Oels die Anſtellung als Leibarzt. In Oels
hielt er gute Freundſchaft mit Abraham von Frankenberg,
Jakob Boͤhmens vertrautem Schuͤler, der auch das Le¬
ben ſeines Meiſters geſchrieben hat. Nach Frankenbergs
Tod erbte Scheffler von ihm den Beſitz wichtiger und
ſeltner Buͤcher, ſo wie die handſchriftliche Ueberlieferung
mancher Geheimniſſe, welches alles er aber ſpaͤterhin
dem Feuer uͤbergab, vielleicht um einen moͤglichen Mi߬
brauch zu verhuͤten, aber wohl auch weil ſeine Denkart
mit dem Weſen jener Richtung nicht mehr ganz uͤber¬
einſtimmte.
Denn bereits im Jahre 1653, alſo in ſeinem neun¬
undzwanzigſten Lebensjahre, war in ihm der Entſchluß
zur That gereift, die proteſtantiſche Kirche zu verlaſſen,
und zur katholiſchen uͤberzutreten, deren Dienſt er ſich
fortan auch ganz widmete. Der bisherige Leibarzt wurde
Prieſter und biſchoͤflicher Rath in Breslau, entſagte
jedoch dem letztern Amte bald wieder, und zog ſich zu
den Kreuzbruͤdern mit dem rothen Stern in ein Kloſter
zuruͤck. Aus dieſer Abgeſchiedenheit aber ſuchte er nur
um ſo eifriger fuͤr das Gedeihen der katholiſchen Kirche
thaͤtig zu ſein. Er ſchrieb zuerſt eine kleine Schrift
[399] „Urſachen und Motiven weßhalb er katholiſch geworden“,
die noch im Jahre 1653 in Olmuͤtz an das Licht trat.
Darauf ließ er unermuͤdet eine Menge Gelegenheits¬
und Streitſchriften ausgehen, meiſt unter erdichtetem
Namen, und griff in die damaligen theologiſchen Kaͤmpfe
heftig ein. Kurz vor ſeinem Tode, der am 9. Juli
1677 zu Breslau erfolgte, erſchien eine Sammlung der
vorzuͤglichſten dieſer Schriften in zwei Folianten, und
zum Theil bezeugen ſchon die dort aufgereiheten Titel
der einzelnen Aufſaͤtze, mit welcher Wuth und in wel¬
cher Mißgeſtalt dieſe Eroͤrterungen in jener Zeit gefuͤhrt
wurden. Sein Hauptgegner in dieſen Kaͤmpfen war
der Profeſſor Adam Schertzer in Leipzig, mit dem er
viele Streitſchriften wechſelte. Als beſonderer Feind
ſtand ihm aber auch der Hofprediger Chriſtoph Freitag
in Oels entgegen, der auch den Druck der Schriften
deſſelben in Schleſien moͤglichſt hinderte. Dagegen hatte
Scheffler den Triumph, daß im Jahre 1662 in Breslau
ſelbſt, groͤßtentheils durch ſeine Bemuͤhung, die katho¬
liſche Geiſtlichkeit den Frohnleichnamstag mit oͤffentlicher
Prozeſſion, wobei er ſelber die Monſtranz trug, unter
Trompeten- und Paukenſchall feiern durfte, welches
dort ſeit der Reformation nicht geſchehen war.
Die Tiefe und Schoͤnheit unſres Autors ſind nicht
in jenen Schriften zu ſuchen, noch in dieſen Verhaͤlt¬
niſſen der aͤußern Lebensſtellung, ſondern vielmehr in
ſeinen reingeiſtigen, dichteriſchen Erzeugniſſen ausgedruͤckt.
[400] Unter dieſen ſind die geiſtlichen Lieder, welche unter
dem Titel „Heilige Seelenluſt“ oder „die verliebte
Pſyche“ zuerſt im Jahre 1657 zu Breslau, geſammelt
und mit Muſik des biſchoͤflichen Muſikus Georg Joſephi
verſehen, herauskamen, am bekannteſten geblieben. We¬
niger hat ſich das Gedicht, „Betrachtung der vier letzten
Dinge“, welches zu Schweidnitz im Jahre 1675 erſchien,
im Andenken erhalten. Das wichtigſte aber und genialſte
ſeiner Werke, „der cherubiniſche Wandersmann“, das
zuerſt in Breslau und zugleich in Wien im Jahre 1657
gedruckt wurde, und faſt ein Jahrhundert hindurch ein
weitverbreitetes Erbauungsbuch war, wie deſſen zahl¬
reiche Ausgaben bis zum Jahre 1737 bezeugen, ſank
um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in voͤllige
Vergeſſenheit hinab. Der Aufmerkſamkeit der Gelehrten
ſcheint dieſer Schatz am fruͤhſten entſchwunden zu ſein,
und eine Zeit lang wenigſtens noch im ſtillen Beſitze
der Frommen ſich erhalten zu haben, bis er auch hier
im Wechſel der Dinge allmaͤhlig unterging. Schon
Zinzendorf, der die Lieder des Angelus kannte, und
eine Auswahl neu herausgeben wollte, gedenkt des
cherubiniſchen Wandersmannes nicht. Die litterariſchen
Notizen, welche ſich uͤber den Autor haͤtten finden laſſen,
lagen unbeachtet, den Namen wie die Werke deſſelben
kannte keiner unſrer neueren Dichter noch Dichterfreunde.
Hoͤchſtens wurde noch, an hiezu geeigneten Orten, der
geiſtlichen Lieder gedacht, die zum Theil unter dem
[401] Schutze der ſchwerlich zu erweiſenden Angabe, daß die
meiſten vor des Verfaſſers Uebertritt zur katholiſchen
Kirche gedichtet worden ſeien, in proteſtantiſchen Geſang¬
buͤchern Aufnahme gefunden hatten. Die erſten Wieder¬
erwaͤhnungen des cherubiniſchen Wandersmannes ſprachen
von ihm als von einer neuen Entdeckung, und wußten
fuͤr dieſelbe noch gar keine Anknuͤpfungspunkte.
Friedrich von Schlegel war es, der zuerſt wieder von
dieſem Buche volle Kenntniß und gleichſam geiſtigen Beſitz
nahm. Durch ihn empfingen wir davon die erſte Nachricht
und Mittheilung. Bald wurde die auch andrerſeits ge¬
weckte Aufmerkſamkeit thaͤtig, es erſchienen mehrfache
Proben, und da nicht zu hoffen war, daß durch Schlegel
ſelbſt eine Herausgabe ſo bald zu Stande kommen wuͤrde,
die auch eigentlich kaum in ſeiner Abſicht lag, indem
er es vorzog, einzelne Spruͤche durch religioͤſe Betrach¬
tungen zu erlaͤutern: ſo waltete kein Bedenken, das aͤußerſt
ſeltne Beſitzthum wieder dem Gemeingute zu naͤhern, und
eine dem naͤchſten Beduͤrfniß entſprechende Auswahl fuͤr
befreundete Leſer dem Druck zu uͤbergeben.
Sie wurde mit groͤßter Gunſt auch in weiteren Krei¬
ſen aufgenommen. Daß hier eine außerordentliche und
tiefſinnige Geiſtesart ſich offenbarte, eine Genoſſenſchaft
der Weihe, die in Tauler und andern Geiſtern dieſer
Ordnung verehrt wird, mußte im Allgemeinen bald
einleuchten. Blieb auch das Verſtaͤndniß des Einzelnen
ſchwieriger, und ſchienen Gedanken und Bild bisweilen
26[402] eines beſondern Schluͤſſels zu beduͤrfen, der das Innre
eroͤffnete, ſo war hier der Leſer bei unſerm Autor doch
nur in aͤhnlichem Falle, wie bei allen Schriftſtellern
dieſer Art, und ſelbſt bei den eigentlichen Philoſophen,
deren nothwendigſte und ergiebigſte Bezeichnungen von
jeher den Schein der Unverſtaͤndlichkeit und ſelbſt des
Widerſinns tragen mußten. Aber auch genug allgemein
Verſtaͤndliches iſt hier vorhanden, und dem Ganzen darf
mit groͤßtem Recht ein aͤhnliches Vorurtheil zu Gute
kommen, wie jenen Schriften des Herakleitos, bei denen
der weiſe Leſer aus der Vortrefflichkeit des ihm Einleuch¬
tenden auf eine nicht geringere des annoch Dunklen ſchloß.
Wuͤnſchenswerth erſchiene nun allerdings, daß uͤber
das Leben und die Schriften des Angelus Sileſius eine
umfaſſende kritiſche Arbeit geliefert wuͤrde. Die Be¬
zeichnung ſeines Geiſtes, ſeiner Stellung in Zeit und
Leben, insbeſondere ſeines Standpunktes in der Reihe
fruͤherer und ſpaͤterer Gleichgeſinnten, endlich eine Wuͤr¬
digung ſeiner Eigenſchaften als deutſcher Schriftſteller
und Dichter, waͤre ein reicher Gegenſtand der Unter¬
ſuchung und Darſtellung. Derſelben haͤtte ſodann eine
neue vollſtaͤndige Ausgabe des cherubiniſchen Wanders¬
mannes zu folgen, ferner eine gute Auswahl geiſtlicher
Lieder und ſonſtigen Gedichte, endlich von den proſaiſchen
Schriften das Wichtigſte in Bruchſtuͤcken, Auszuͤgen oder
Berichten, und wir beſaͤßen, in wenigen Baͤndchen, wuͤrdig
und wohlbewahrt einen Schriftſteller, der in der Reihe
unſrer bedeutendſten nie mehr auszulaſſen iſt.
[403]
Inzwiſchen hat ſeit einer Reihe von Jahren, durch
unſre Anregung, die Aufmerkſamkeit in Deutſchland fuͤr
den Angelus Sileſius ungemein zugenommen. In
Baiern ſind zwei Ausgaben des cherubiniſchen Wan¬
dersmannes, wie auch ein neuer Abdruck der geiſtlichen
Lieder an’s Licht getreten. Jedoch haben auch ver¬
ſchiedene Urtheile ſich vernehmen laſſen, welche den Sinn
fuͤr eine ſo maͤchtige Erſcheinung noch in Unſicherheit
und Mißtrauen befangen zeigen, und einen Mangel
nicht nur des innern Aufſchwunges, ſondern auch ſogar
der gelehrten Einſicht darthun. So hat man unter an¬
dern den Vorwurf pantheiſtiſcher Anſichten, der eben
ſo bequem ſcheint als er meiſtens leer und grundlos iſt,
auch hier anbringen wollen. Wir machen dagegen nur
auf den Umſtand aufmerkſam, daß die katholiſche Kirche
ſchon die erſten Abdruͤcke des Angelus Sileſius geneh¬
migt hat, und daß proteſtantiſche Geiſtliche nicht minder
fuͤr die Verbreitung deſſelben thaͤtig geweſen ſind. Nur
ſchwaͤcher und zaghafter, nicht ſtrenger, als die katho¬
liſchen und proteſtantiſchen Theologen jener fruͤhern Zeit,
erſcheint hier der Eifer unſrer Tage.
Wir laſſen aber dieſen Gegenſtand gerne ruhen, und
begnuͤgen uns, dieſe Blaͤtter fernerhin als eine perſoͤn¬
liche Gabe der Liebe, der Freundſchaft und der Ver¬
ehrung denen zu widmen, die ſich an ihnen ohne Aer¬
gerniß erfreuen und erbauen!
26[✷]
Saint-Martin.
Ludwig Claudius von Saint-Martin wurde den 18. Ja¬
nuar 1743 zu Amboiſe geboren. Seine Eltern trugen
die groͤßte Sorgfalt fuͤr ſeine Erziehung, die in jeder
Hinſicht vortrefflich war: beſonders eine Stiefmutter
ruͤhmt er als die Quelle all ſeines Gluͤckes, indem ſie
ihm die Sanftmuth, Aufmerkſamkeit und Froͤmmigkeit
mitgetheilt habe, durch die er Gott und Menſchen lieb
geworden ſei. Weniger ſcheint der Vater ſeinem Ge¬
muͤthe verwandt geweſen. Obgleich von ſchwachem Koͤr¬
perbau, und außerordentlich reizbar, ertrug er doch mit
Erfolg alle Anſtrengungen, welche das Ringen nach
Kenntniſſen und eine bewegte Lebensart ihm auferlegten.
Sein Vater hatte ihn zum Rechtsgelehrten beſtimmt,
und ungeachtet entſchiedener Abneigung fuͤr dieſen Stand
war der Juͤngling auf dem Kollegium von Pontlevoi
in Kenntniſſen bald ſo ausgezeichnet fortgeſchritten, daß
er in Tours eine Anſtellung empfing. Allein ſeine
Neigung fuͤhrte ihn unter allen Studien und Geſchaͤften
[405] zu dem hoͤheren Gebiete innerer Forſchungen und frommer
Weisheit empor, dem er ſchon in ſeinem achtzehnten
Jahre durch ſelbſtſtaͤndigen Entſchluß in eigenthuͤmlicher
Bahn ſich gewidmet hatte. Die gewoͤhnlichen Wiſſen¬
ſchaften und Buͤcher ließen ihn unbefriedigt; noch auf
der Schule las er ſchon mit Entzuͤcken das Werk von
Abadie l'art de se connaître, welches ihn fuͤr hoͤhere
Dinge entſchied; ſpaͤter regten Burlamaqui's Schriften
ihn maͤchtig an. Seine Anſtellung in Tours war von
keiner Dauer; abermals dem Willen ſeines Vaters fol¬
gend, trat er in ſeinem zweiundzwanzigſten Jahre in
das Regiment von Foix als Offizier. Hier zeichnete
er ſich durch ſtrenge Erfuͤllung ſeiner Pflichten und durch
ſittlichen Lebenswandel aus; ſeine Kammeraden waren
uͤber ſeine Grundſaͤtze verwundert, fanden ſein Betragen
ſonderbar, aber gewannen ihn bald lieb, und ließen
ihn in ſeiner Art gewaͤhren, manche ſogar ſchloſſen ſich
ihm naͤher an. Seine Hauptbeſchaͤftigung machten nun
die alten und die neuen Sprachen, die ſchoͤnen Kuͤnſte
und beſonders die hoͤheren Wiſſenſchaften. Muſik und
laͤndliche Wanderungen wurden ſeine liebſte Erholung.
Von groͤßter Wichtigkeit aber war fuͤr ihn die Bekannt¬
ſchaft, die er zu Bordeaux, wo ſein Regiment in Be¬
ſatzung lag, durch einige ſeiner Kammeraden mit dem
in die hoͤheren Kenntniſſe eingeweihten Martinez Pas¬
qualis machte, der ihn zu ſeinem Schuͤler aufnahm.
Leidenſchaftlich fuͤr die Wahrheit ergluͤht, widmete er
[406] ſich ganz ihrer Erforſchung und Ausbreitung; er ver¬
ließ den Kriegsdienſt um fernerhin nur ihrem Dienſte
zu leben; er machte verſchiedene Reiſen zu ſeiner Be¬
lehrung; Studien und ſtille Wohlthaͤtigkeit erfuͤllten alle
ſeine Zeit. Inzwiſchen hatte ihn ſein Weg in allerlei
Verbindungen mit Geſellſchaften gefuͤhrt, die nach der¬
ſelben Richtung zu ſtreben ſchienen; ſein uͤberlegener
Geiſt ließ ihn bald entdecken, was fehlte und was noͤthig
war; er trat ſelbſt als Stifter einer Geſellſchaft auf,
die nach und nach in weiten Raͤumen ſich ausgebreitet,
aber auch in mancher Weiſe von dem Geiſte des Stif¬
ters ſich wieder entfernt hat. In dieſer Sache iſt vieles
dunkel geblieben, was wohl niemals voͤllig zu erhellen
ſein mag. Indeß war das neue Unternehmen wahr¬
ſcheinlich der erſte Antrieb zu ſeinen nachher zahlreich
gewordenen Schriften und zu ſeinen groͤßeren Reiſen in
Italien, Deutſchland und England. Sein erſtes Werk,
das beruͤhmte Buch des erreurs et de la vérité, ſchrieb
er um das Jahr 1774 zu Lyon, wo er ſich mehrere
Jahre aufhielt, und ſeine Grundſaͤtze in der Freimaurer¬
loge vortrug; er verfertigte das Buch innerhalb vier
Wintermonaten, am Feuerherde der Kuͤche, weil er kein
warmes Zimmer hatte. In Rom, Bern, Straßburg,
London und Paris ſetzte er abwechſelnd ſeine Arbeiten
fort; uͤberall fand er Verehrer und Freunde; angeſehene
und ausgezeichnete Perſonen huldigten ſeinem Geiſt und
ſeinem Gemuͤthe. Maͤchtige Goͤnner erboten ſich, ihm
[407] das Ludwigskreuz mit einem Jahrgehalte zu verſchaffen,
allein er lehnte beides ab. Mitten in dieſem großen
Weltverkehr blieb er dennoch einſam und zuruͤckgezogen;
ſeine Beſcheidenheit und ſein Ernſt hielten den Ruhm
ſeines Geiſtes von ſeiner Perſoͤnlichkeit ab, und die
aͤußere Welt war lang in Zweifel, wer unter dem Na¬
men des unbekannten Philoſophen, den er ſich in ſeinen
Buͤchern gegeben, verborgen ſein wollte. Nach der
Ruͤckkehr von ſeinen Reiſen lebte er zu Paris in dem
Hauſe der Herzogin von Bourbon, die ihn mit Guͤte
uͤberhaͤufte. Sie war eingeweiht in die Lehren der
Myſtiker, und bewegte ſich darin mit eine Art muntrer
Freigeiſterei, die ſie ſpaͤter, nachdem ſie in Spanien
geweſen, mehr und mehr ablegte, ſo wie ſie auch nach
Saint-Martin’s Tode ſich ganz den Vorſchriften der
katholiſchen Kirche hingab, und im Jahre 1824 das
erſehnte Loos hatte, betend in der Kirche der Heiligen
Genoveva todt hinzuſinken. Saint-Martin befand ſich
abermals im Auslande, und grade auf einer Reiſe in
Italien, als die franzoͤſiſche Revolution ausbrach. Er
eilte nach Paris, wo er von ſeinem hohen Standpunkte
den großen Bewegungen unerſchuͤttert zuſah, und dieſe
eigenthuͤmlich deutete. Den auferlegten Pflichten des
neuen Buͤrgerthums entzog er ſich nicht, ſondern verſah
mit Genauigkeit ſeinen Dienſt als Gemeiner bei der
Nationalgarde, welches jedoch die einzige Thaͤtigkeit blieb,
durch die er an der Revolution wirklich Theil nahm.
[408] Er ſtand unter andern zum letztenmal Schildwacht am
Tempel, wo der Dauphin gefangen gehalten wurde,
ein Umſtand, der ſein Inneres tief ergreifen, und ihm
nur deſto bedeutender ſein mußte, als er fruͤher zum
Lehrer des jungen Prinzen vorgeſchlagen worden war!
Durch eine Verfuͤgung, welche die Adlichen betraf, wurde
er genoͤthigt Paris zu verlaſſen, und ſeinen Aufenthalt
in Amboiſe zu nehmen. Er gab ſeinen Mitbuͤrgern
immer das Beiſpiel der Unterwerfung unter die Geſetze,
der Rechtſchaffenheit, des Wohlthuns; zugleich aber auch
des edelſten Muthes fuͤr die Wahrheit, denn inmitten
der gefahrvollſten Stuͤrme der Revolution wagte er ſeine
kuͤhnſten Schriften herauszugeben, und es iſt ein Wun¬
der, daß er unangefochten blieb. Nachdem die Zeiten
wieder ruhiger geworden waren, kehrte er nach Paris
zuruͤck, und lebte von neuem ſeinen Freunden und den
Studien. Seine Wißbegierde breitete ſich nach allen
Richtungen aus; bei ſeinem großen Geiſte verſchmaͤhte
er doch keine Gelegenheit auch von Geringern zu ler¬
nen, und ſelbſt wenige Monate vor ſeinem Tode beſuchte
er noch oͤffentliche Vorleſungen. Er hatte das Heran¬
nahen ſeines Todes geahndet, und ſeinen Freunden an¬
gekuͤndigt; mit ruhigem Bewußtſein ſah er ſeine letzte
Stunde kommen, und mit Freuden ſogar ſchien er ſeine
irdiſche Huͤlle zu verlaſſen. Er ſtarb gegen 11 Uhr
Abends den 13. Oktober 1804 zu Autray bei Chatillon,
in dem Landhauſe des Senators Lenoir-Laroche, wohin
[409] er am naͤmlichen Tage aus Paris zum Mittageſſen ge¬
kommen war. In ſeinen nachgelaſſenen Schriften ſagt
er vom 18. Januar 1803: „Dieſer Tag, der meine
ſechziz Jahre erfuͤllt, hat mir eine neue Welt eroͤffnet.
Meine geiſtlichen Hoffnungen wachſen immer mehr. Ich
naͤhere mich, Gott ſei es gedankt, den großen Genuͤſſen,
die mir ſeit langer Zeit angekuͤndigt ſind, und durch
welche die Freuden aufs Hoͤchſte ſteigen werden, von
denen mein Daſein in dieſer Welt wie beſtaͤndig begleitet
geweſen.” Sein Hinſcheiden war ſanft und freudig.
Einen Prieſter, den man herzugerufen, wollte er nicht
annehmen, durch die Weihe ſeiner geheimen Wiſſen¬
ſchaften und Verbindungen, wie er glaubte, ſchon hoͤheren
Graden einer Hierarchie einverleibt, in welcher die Kirche
ſelbſt nur als Mitbeſtandtheil angeſehen wurde. Wir
laſſen die Geheimniſſe dahingeſtellt, und halten uns an
ſeine offenbare Erſcheinung. Er war ein reiner und
edler Menſch, ſeine Tugenden entſprachen ſeinem Geiſte;
beſcheiden und ſtill verhehlte ſein Aeußeres die Schaͤtze,
die ſein Inneres hegte; mild und freundlich in ſeinem
Benehmen, heiter und lebhaft im Geſpraͤch, konnte er
unter Freunden hinreißend liebenswuͤrdig ſein. Er ge¬
hoͤrt zu den auserwaͤhlten Geiſtern, die von Zeit zu
Zeit gleich Weſen einer hoͤheren Ordnung unter den
Menſchen wandeln, damit deren urſpruͤngliche Wuͤrde
und Schoͤnheit in Abbildern ſichtbar bleibe. Seine zahl¬
reichen Schriften tragen das Zeichen eines eigenthuͤm¬
[410] lichen Geiſtes von außerordentlicher Kraft und Tiefe,
aber ſeine Wiſſenſchaft iſt in Geheimniſſe eingehuͤllt, die
einen großen Theil dieſer Schriften verdunkeln, und in
welche auf gewoͤhnlichem Wege einzudringen nicht moͤg¬
lich iſt. Dem Unbefangenen wird jedoch immer genug
Vortreffliches darin verſtaͤndlich ſein, um fuͤr das Un¬
verſtaͤndliche kein uͤbereiltes Verdammungsurtheil zu ge¬
ſtatten. — Die in ſeinen Oeuvres porthumes erſchie¬
nenen kurzen Saͤtze, Bekenntniſſe und Bemerkungen,
duͤrften die beſte Einleitung zu ſeiner naͤheren Bekannt¬
ſchaft ſein. —
Goethe.
[[412]][[413]]„Im Sinne der Wanderer.”
Als vor beinahe dreißig Jahren, im Gedraͤnge ſo
vieler Urtheile, Betrachtungen, Studien und Deutun¬
gen, zu welchen Wilhelm Meiſters Lehrjahre damals
in der deutſchen gebildeten Welt den unerſchoͤpflichen
Stoff boten, auch zuerſt der Spruch verlautete: Das
ganze Buch ſei gleichſam eine Frucht, reich und ſchoͤn
um den Kern herumgewachſen, der in ihm durch Text¬
ſtellen gebildet werde, von denen die eine bedeutungs¬
voll ausdruͤckt, wie die Erde in der alten Welt uͤberall
ſchon in Beſitz genommen ſei, und die andre ſchmerzlich
beklagt, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches
Unmoͤgliche, ſondern auch ſo manches Moͤgliche verſagt
worden; — als dieſer Spruch zuerſt vernommen wurde,
konnte er faſt nur befremden: denn der leichte Sinn
der meiſten Leſer wird im Genuſſe des Einzelnen durch
jede Hindeutung auf ein inneres Ganze faſt immer un¬
angenehm geſtoͤrt, und ſelbſt der tiefere ſcheut gar oft
vor dem Gedanken zuruͤck, der ihm als ungewohnte
[414] Geſtalt und auf noch unbetretenem Pfade erſcheint. So
wurde denn jene Aeußerung, obwohl von einer Seite
her kommend, der man ſonſt gern urſpruͤngliche und
lichte Wahrheit, einfaches und gradedurchgehendes Er¬
ſchauen anzuerkennen gewohnt war, von den Meiſten
als ein ſeltſames, nicht zu verſtehendes Paradoxon mit
bloßem Verwundern angehoͤrt, oder als ein willkuͤr¬
licher, nicht begruͤndbarer Einfall mit Kopfſchuͤtteln
beſeitigt.
Doch haͤtte ſchon damals ein weiteres Entfalten
der hier zum Grunde liegenden Gedankenverbindung
ſehr gut geſchehen und der Eingang zu allgemeinerem
Verſtaͤndniſſe ſich leicht eroͤffnen laſſen, wenn jemand
des Sinnes geweſen waͤre, auf den Gehalt jenes
Werkes eben ſo kritiſch Augenmerk und Fleiß zu rich¬
ten, als bis dahin vorzugsweiſe nur dem Stoffe und
der Geſtalt deſſelben zu Theil geworden war. In
dem Buche ſelbſt lagen noch Elemente und Beziehun¬
gen genug aufzufinden und zu vereinigen, welche jenen
Gedanken tragen und haben mußten, und die beiden
Textſtellen konnten in mehr oder minder verhuͤllten
Variationen dem leiſen Aufmerken noch oft vernehmbar
durchklingen. Weſſen Sinn auf inneren Zuſammenhang
und tiefere Bedeutung gerichtet war, mußte wohl dun¬
kel fuͤhlen, daß es mit den merkwuͤrdigen Bekenntniſſen
und Ausbruͤchen, welchen die Alte bei Erzaͤhlung von
Marianens Tod uͤber deren und ihre eignen Verhaͤlt¬
[415] niſſe ſich uͤberlaͤßt, und worin der Zuſtand der Prole¬
tarien, der Verwahrloſten und Bedruͤckten, in erſchuͤt¬
ternder Nacktheit gezeigt wird, noch etwas ganz anderes
auf ſich hat, als durch ein groteskes Nachtſtuͤck die
dichteriſche Wirkung wechſelvoll zu erhoͤhen.
Auffallend und bedeutend mußte es auch erſcheinen,
als unvermuthet nachgewieſen wurde, was einer neuen
Entdeckung gleichkam, daß jene beiden Texte, auf
welche ein ſo großer Werth gelegt werden ſollte, von
Goͤthe’n ſelbſt im Stillen ſchon mit einem beſondern
Nachdruck verſehen waren, indem er ſolche bei anderm
Anlaſſe wiederholt, und beide an verſchiedenem Orte
nochmals der Betrachtung ausgeſtellt hatte, den einen
naͤmlich in den Unterhaltungen deutſcher Ausgewander¬
ten, und den andern in den Beilagen zu Cellini’s
Lebensbeſchreibung. Vieler nicht ſo unmittelbaren Hin¬
deutungen oder Anklaͤnge zu geſchweigen, die ſich in
ſeinen Schriften auch ſonſt fuͤr dieſes Thema zahlreich
finden ließen.
Eine ſtarke Sammlung wuͤrde es geben, wollte
man alles vereinigen, was uͤber Wilhelm Meiſters
Lehrjahre, ſeit der erſten Erſcheinung dieſes Romans,
geſchrieben und vorgetragen, mit einſichtiger Wuͤrdigung
gedacht und belehrend ausgeſprochen, oder auch mit
unzugaͤnglichem Vermoͤgen gefabelt und vernuͤnftelt
worden. Der Dichter hat alles dieſes, den Tadel wie
das Lob, den guten wie den boͤſen Willen, ſchweigend
[416] voruͤbergehen laſſen, und ſich niemals uͤber ein Urtheil,
wiefern er ihm beiſtimme oder nicht, erklaͤrt. Die
richtige Deutung und das hellere Verſtaͤndniß ſeines
Werkes bereitete er auf die ſicherſte und buͤndigſte
Weiſe durch deſſen Fortſetzung, die denn auch endlich,
nach mehr denn zwanzigjaͤhrigem Zwiſchenraume, als
Wilhelm Meiſters Wanderjahre an das Licht trat.
Hier fand ſich unvermuthet, zum Wunder und
Staunen derer, welche jener Textſtellen eingedenk waren,
die eine derſelben, die Betrachtung uͤber den ſchon ge¬
nommenen Beſitz alles Bodens, in neuer Wendung
wiederholt, und die Beſtaͤtigung, welche dadurch fuͤr
die Wichtigkeit jener Stelle ausgedruͤckt wurde, mußte
um ſo groͤßer ſein, als Goͤthe'n nicht unbekannt ge¬
blieben war, zu welchem Werthe man ſie hatte erheben
wollen. Als nach abermaligem Verlauf einer Reihe
von Jahren das ganze Werk in veraͤnderter und vollerer
Geſtalt nochmals erſchien, kam jene Wiederholung darin
ſogar doppelt vor.
Mehr aber, als dieſes buchſtaͤbliche Zeugniß, ſprach
nunmehr der geſammte Gang und Inhalt des Werkes,
wie ſolche nun jedem Auge ſichtbar werden konnten,
fuͤr das Daſein eines tief eingreifenden, aus dem Zu¬
ſtande der Welt geſchoͤpften und in das Leben zuruͤck¬
wirkenden Gedankens, wie er in jenen Textworten
allerdings nach beiden Hauptſeiten, nach der materialen
und nach der idealen hin, ausgedruͤckt worden.
[417]
Und auch auf die Lehrjahre fiel jetzt eine neue Be¬
leuchtung zuruͤck; ein bisher wenig vortretender, ein
oft ganz uͤberſehener Inhalt erſchien inmitten der zarten
Herzens- und Geiſtesangelegenheiten wirkſam, und
zeigte ſich in unmittelbarer, ſtrenger Beziehung mit den
deutlicher herausgearbeiteten derartigen Beſtandtheilen
der Wanderjahre. Wir haben dies ſchon vor laͤngerer
Zeit ausgeſprochen und die Meinung aufgeſtellt: die
zwei letzten Buͤcher der Lehrjahre ſonderten ſich bereits
merklich von den fruͤheren ab, und reiheten ſich faſt
ſchon den Wanderjahren zu.
Bevor wir nun weiter ſchreiten, laſſen wir einige
allgemeine Betrachtungen, die ſich aufdraͤngen, hier
vorangehen, da ſie unſern Weg auf dieſe Art nur
erleichtern.
Was man von Shakſpeare geſagt hat, daß er auf
den Scheidewegen und Uebergaͤngen zweier Zeitalter
ſtehe, gilt im Grunde von jedem Dichter, dem dieſer
Name im großen Sinne des Wortes zukommt, und
dieſe Stellung gehoͤrt recht eigentlich zu den Bedingun¬
gen, welche ſein Erſcheinen tragen, ſeiner Ausbil¬
dung und Wirkſamkeit die Mittel darbieten, und ihm
die reife widerſtrebende Welt, ſo wie die unreife har¬
rende, gleichſam als die Stoffe ſeiner Kunſt in die
Haͤnde liefern.
Goͤthe's Leben und Dichten gehoͤrt ohne Frage
einem der Zeitabſchnitte an, die im Gegenſatze des Er¬
27[418] bauens und Vereinens mit Recht vom Zerfallen und
Zerſetzen den Namen erhalten koͤnnen, und die letzte
Haͤlfte des achtzehnten nebſt dem Anfange des neun¬
zehnten Jahrhunderts ſind unſtreitig als ein Gipfel
ſolcher weither vorbereiteten Epoche anzuſehen. Man
glaubte die Reformation des ſechzehnten Jahrhunderts
laͤngſt abgeſchloſſen, ihrem Weiterwirken feſte Schranken
geſtellt, als dieſes grade mit Rieſenſchritten ſich fort
und fort ausbreitete. Daſſelbe hatte den kirchlichen
Boden, den es der fruͤher allgemeinen Kirche gluͤcklich
abgekaͤmpft, nur verlaſſen, um ſich mit voller Kraft
in alle weltlichen Gebiete zu ergießen, und dort glei¬
cherweiſe aufzuraͤumen. Von dem in jener Bewegung
empfangenen Anſtoße laſſen ſich in ſtrenger Folge alle
fernere Bewegungen ableiten, welche die Mitte des
europaͤiſchen Lebens ſeitdem ergriffen und gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts in einen allgemeinen Kampf
gedraͤngt haben, der noch keineswegs geſchlichtet iſt,
ſondern ſeinen Zwieſpalt nur ſtets in hoͤhere Grundſaͤtze
und Intereſſen uͤberleitet. Es darf uns nicht irren,
daß der Gegenſatz zweier Zeitalter, eines weichenden
und eines andringenden, ſelber zu einer hohen Bildung
gedient hat, indem der Geiſt der Wiſſenſchaft und der
Dichtung ſich des Kampfes bemeiſterte und ſich uͤber
ihn erhob; das wirkliche Leben mußte darum nicht
weniger die tiefſten Leiden uͤberſtehen, mußte vom
Sturm hart ergriffen und vielfaͤltig zerſchellt werden.
[419]
Das Bild dieſes Lebens konnte deßhalb nur um ſo
reicher ausfallen, die Poeſie vor allem erfuͤllte den
Auftrag, daſſelbe zu erfaſſen und in ihren ewigen Ge¬
ſtalten veredelt aufzubewahren, ſo redlich als glaͤnzend.
Goͤthe's ganze Dichtung iſt faſt nur das Bild der
Zerruͤttungen einer mit ſich ſelber in Zwieſpalt gerathe¬
nen Welt, und wenn er auf der einen Seite die Ge¬
ſtaltungen dieſes Zwieſpalts durch den Zauber und die
Anmuth ſeines kuͤnſtleriſchen Genius mildert, jedes
Vorhandene durch die ihm inwohnende Wahrheit in
ſeiner Berechtigung zum Daſein darſtellt, und ſomit
gleichſam verſoͤhnt und harmoniſirt, ſo wird ihm von
anderer Seite nicht erlaſſen, kraft eben derſelben Kunſt
und Wahrheit auch manchen noch im Verborgenen
ruhenden Widerſtreit aus dem geheimen Dunkel her¬
vorzuziehen und grell und ſcharf an das Tageslicht zu
bringen. In dieſer Stellung und Aufgabe des Dichters
liegt vollſtaͤndig der Schluͤſſel zu allen verkehrten An¬
forderungen und Vorwuͤrfen, welche ein beſchraͤnkter
und von allem Unverſtandenen beunruhigter Sinn von
jeher dem Dichter in Betreff der Sittlichkeit machen
will, die doch ſeinen Werken im hoͤchſten Grade inwohnt,
auch wo er ſie fuͤr bloͤde Augen zu verletzen ſcheint.
Denn gerade die Zerruͤttung und Aufloͤſung der
alten Lebensformen, welche laͤngſt krank und ſchadhaft
das friſche Leben an ihren Tod feſſeln moͤchten, und
dieſes neue Werdende, welches noch keine Sanktion
27 *[420] hat, die unerkennbar gewordene Verwicklung der ewigen
Legitimimaͤt mit deren zeitlicher Uſurpation, gerade dies
iſt ja der Stoff, den die Poeſie einer ſolchen Epoche
aufnehmen und verarbeiten muß, wenn ſie ſelber nicht
auf das Leben verzichten will. Die Maſſe der Zeitge¬
noſſen vermag daher den Dichter wohl zu bewundern,
aber nicht vollſtaͤndig zu verſtehen; ſie wird ſeine Be¬
richte wie ſeine Intentionen tadeln; doch eine ſpaͤtere
Zeit ſtellt unfehlbar auch in dieſer Hinſicht die Gerech¬
tigkeit her, und erkennt an, wie in allen Wagniſſen
des Herzens und Freveln des Geiſtes der Kuͤnſtler un¬
ſchuldig und fromm, in aller Sinnlichkeit keuſch und
rein bleibt, gleich dem geiſtlichen Lehrer, der ohne
Scheu jedem Uebertritt und Irrthum nachgeht, ihre
Namen und Eigenſchaften nennt, und ſelbſt in die Ab¬
gruͤnde der Nacht ſich verſenkt, um mit dem ihnen
entriſſenen Leben bereichert zu dem Lichte wieder auf¬
zutauchen. Nicht anders thut der Dichter, inſofern er
es wahrhaft iſt; er kann nur aufhoͤren ſittlich zu ſein,
wo er aufhoͤrt Dichter zu ſein.
Fruͤhzeitig empfand Goͤthe die Verwickelungen einer
in ſich ſelbſt uneinigen Welt, in deren Mitte ſein
eignes Leben erwacht war und emporſtieg. Die erſten
Werke ſeines Genius, Werther, Goͤtz, Fauſt, Stella,
enthalten den Drang eines innern Lebens, das mit
den ihm von der aͤußern Welt angebotenen Formen
unruhig kaͤmpft, ſie nicht mehr erfuͤllen noch von ihnen
[421] umfaßt werden kann, und doch der neuen Formen noch
durchaus entbehrt, in welchen es ſich frei entfalten und
befriedigen duͤrfte. Dieſer Kampf, ein unaufhoͤrlich
wiederkehrendes Grundthema, ſetzt ſich durch alle fol¬
genden Goͤthe’ſchen Werke in den mannigfachſten und
hoͤchſten Geſtalten fort; Egmont, Taſſo, Hermann und
Dorothea, die natuͤrliche Tochter, ja ſogar Iphigenia —
durch dasjenige, was in dieſem ſchoͤnen Aufruf antiker
Welt doch als geheimer Lebensathem der Gegenwart
weht und wirkt — die Wahlverwandtſchaften, und be¬
ſonders Wilhelm Meiſter, ſind in ſolchem Betracht nur
engverbundene Glieder einer und derſelben Reihe.
Daß der Menſch unſers Zeitalters nicht in ein
naturfreies Leben, ſondern in eine kuͤnftige Welt hin¬
eingeboren wird, die, uͤberall von Schranken durch¬
ſchnitten und abgetheilt, zum voraus laͤngſt in Beſitz
genommen und durch Anhaͤufung todter Stoffe beengt,
den Anſpruͤchen der Entwickelung und des Berufs taub
oder gar feindlich iſt, daß das neueintretende Daſein
ohne Boden in kuͤnſtlich ſchwebende vielfach verworrene
Gewebe abgeſetzt wird, worin deſſen beſter Theil nur
allzu oft untergeht oder traurig dahin ſiegt, dieſe Ein¬
ſicht war ſchon dem Verfaſſer des Werther eigen. Hier
aber ſtehet die Verzweifelung noch ohne andern Aus¬
weg, als den die gewaltſame Selbſtzerſtoͤrung ihr bietet.
In ſpaͤtern Werken geſellt ſich ihr ſchon eine Beigabe
von Troſt und Heil. In Fauſt und Wilhelm Meiſter
[422] arbeitet ſich dieſe Richtung vollſtaͤndig zu Tage. Dort
wird im Geiſtigen der Sieg bis zur Ruͤckfuͤhrung und
Verſoͤhnung des zuerſt Abtruͤnnigen geſteigert; hier
werden dem Irdiſchen neue Formeln eines nach innen
und nach außen gleichmaͤßig befriedigten Daſeins an¬
gedeutet.
Der Dichter, in deſſen mittlere Lebenshoͤhe das
ungeheure Ereigniß der franzoͤſiſchen Revolution faͤllt,
die mit ihm in gleichem Stoffe, jedoch mit den gewalt¬
ſamſten und furchtbarſten Werkzeugen, arbeitet und
wuͤhlt, nimmt im ſteten Gegenſatze derſelben nur die
Bildung, die Einſicht und das Wohlwollen in Anſpruch,
um die große Aufgabe zu loͤſen, welche der Welt vor¬
liegt, und wenn er Waffen fuͤhrt, ſo iſt es nur gegen
die revolutionaͤren Gewalten ſelbſt, die ihm unter jeder
Form verhaßt ſind, weil ſie die eigne Sache nur zer¬
ſtoͤrend foͤrdern. Aber das Fortſchreiten in lebendiger
Entwickelung, die Veredlung und Erhebung alles deſſen,
was beſteht, die Reinigung und Harmoniſirung der
Welt beſeelen ſeinen Eifer unausgeſetzt, und das Vor¬
waͤrtsſchauen in eine reiche Zukunft trennt ihn fuͤr immer
von den Wahnvollen, welche einer verſchwindenden Ver¬
gangenheit als einem wiederzugewinnenden Heile nach¬
ſtarren. Die Lichtſtrahlen, welche ſchon in den Lehr¬
jahren auf den Unterſchied der Staͤnde, auf die Ver¬
haͤltniſſe des Grundbeſitzes und auf die Uebereinſtim¬
mung der Faͤhigkeiten und Berufswahlen hingeworfen
[423] ſind, haben ſelten gehoͤrige Beachtung, oft voͤllige Mi߬
deutung erfahren. Der Dichter will nicht das Ver¬
altete dem Gange der Natur zum Trotz feſthalten, nicht
die Forderungen eines neuen Aufſtrebens abweiſen, aber
er will das Vorhandene ergreifen, das Neue ihm ſicher
verknuͤpfen und beides auf ſein wahres Ziel richten.
Er ſchaͤtzt und preiſt das Dauernde, und goͤnnt ihm
Ausdehnung, nur weiß er daſſelbe auch im Wechſel zu
finden, und erkennt als das eigentliche Element der
Menſchheit das Bewegliche, worin ihre hoͤchſten Guͤter
ſchweben, wie das ganze Weltſyſtem ja ſelber nur auf
ununterbrochenes allgemeines Umſchwingen und Kreiſen
gegruͤndet iſt.
In den Wanderjahren wird dies klar ausgeſprochen,
und uͤberhaupt ein umfaſſendes Gebild neuer Lebens¬
ordnungen in feſten, doch nicht aͤngſtlichen Umriſſen mit
dichteriſcher Freiheit aufgezeigt. Hier liegen fruchtbare
Keime fuͤr eine Zukunft ausgeſtreut, welche den Dich¬
ter, nach Maßgabe, daß jene aufgehen, noch weithin¬
aus eben ſo fuͤr den ihrigen halten wird, als er uns
durch die ſchon entfalteten Bluͤthen der Gegenwart
angehoͤrt. Die eindringliche und erlaͤuternde Ueberſicht,
welche Hotho in den Berliner Jahrbuͤchern fuͤr wiſſen¬
ſchaftliche Kritik von dem Inhalt und der Geſtalt dieſes
Werkes ſo gluͤcklich gegeben hat, uͤberhebt uns des Ver¬
ſuchs einer neuen Analyſe, da wir auf jene als auf eine
durchaus gelungene und genuͤgende zuruͤckweiſen koͤnnen.
[424]
Wir wollen nur erinnern, wie das Buch nun nicht
mehr als ein Spiel heitrer Willkuͤr, die Einbildungskraft
zu vergnuͤgen, daſteht, ſondern den ganzen Ernſt und
die volle Schwere der Wirklichkeit in ſeine Dichtung
hinuͤbergezogen hat, ein im groͤßten Sinne didaktiſches
Werk geworden iſt. Die Nothwendigkeiten des irdi¬
ſchen Lebens nehmen darin ihren Rang neben den hoͤch¬
ſten Vergeiſtigungen; in gelaͤuterter Froͤmmigkeit wirkt
das Chriſtenthum; die Erziehung breitet ihre Anſtalten
auf eignem Boden maͤchtig und allumfaſſend aus; die
Bildung zur Kunſt, reich ausgeſtattet im Beſondern,
wird allgemeine Gabe; das Gewerbliche, aus zerſtoͤren¬
dem Wetteifer in weiſe Ordnung geleitet, ruͤckt ohne
Scheu zu Seiten der Kunſt heran, ſeiner Berechtigung
und Ehre neben dieſer gewiß; Beruf und Faͤhigkeit be¬
ſtimmen und adeln jede Verrichtung; in richtigen Ehe¬
buͤndniſſen, hier vorzugsweiſe die ungleichen Staͤnde
zuſammenfuͤgend, ſchwindet das Mißverhaͤltniß der Frauen,
deren Erſcheinung ſogar zum freien, prieſterlichen Se¬
genswirken geſteigert iſt; eine neue Wuͤrdigung der
Dinge und Thaͤtigkeiten, eine neue Wahl und Aus¬
theilung der Lebenslooſe, ein neuer Sinn des Schoͤnen
und Guten, eroͤffnen, — vermittelſt einer großen, uͤber
den Erdboden hin ſich verbreitenden, nach allen Rich¬
tungen edel thaͤtigen, die hoͤchſten Gegenſtaͤnde und die
geringſten beachtenden, Noth und Schlechtigkeit uͤberall
tilgenden, frei beweglichen und dabei hierarchiſch geord¬
[425] neten Aſſociation, — die reiche Ausſicht einer in Arbeit
und Bildung fortſchreitenden Menſchheit, deren hoͤchſten
Ausdruck wir zuletzt allerdings wieder auf die zwiefache
Textformel zuruͤckfuͤhren moͤgen: Im Irdiſchen fuͤr jedes
ihrer Mitglieder einen richtigen Antheil am Beſitz und
Genuſſe der vorhandenen Guͤter zu gewaͤhren, im Gei¬
ſtes- und Gemuͤthsleben aber, bei ſo vielem Unmoͤg¬
lichen, welches ewig verſagt bleiben muß, das verſagte
Moͤgliche aus den zerbrechbaren Feſſeln zu befreien.
Wir gedenken ſchließlich auch der wunderbaren Er¬
ſcheinung, daß mit dieſen Bildern gleichzeitig, doch
voͤllig unabhaͤngig von ihnen und einander gegenſeitig
voͤllig unbekannt, aus ganz andern Kraͤften und Re¬
gionen, unter demſelben Nachthimmel der Weltereig¬
niſſe fortſchreitend verhuͤllt, nachbarliche Gedankenreihen
verwandten Geiſtes aufſtiegen, als Lehre ſich geſtalteten,
und ſogar den Verſuch wagten, in ausuͤbender Ver¬
wirklichung die Welt unmittelbar anzuſprechen.
Hier aber halten wir inne. Fuͤr Betrachtungen
aller Art erweitert ſich der Raum unabſehbar; die
Urtheile und Einſichten jedoch, welche hier zu gewinnen
ſind, werden nur demjenigen fruchtbar ſein, welcher
dieſen Raum mit eignen Schritten zu durchmeſſen keine
Muͤhe ſcheut. —
Beſuch bei Goethe.
November, 1817.
(Aus einem Briefe.)
Ein Gegenſtand fordert und nimmt ſich ſein Recht;
indem ich dieſe Zeilen an Sie, verehrteſter Freund, be¬
ginne, draͤngt es ſich mir unwiderſtehlich auf, Ihnen
vor allen andern Dingen zu ſagen, daß ich Goethe’n
perſoͤnlich kennen gelernt habe; zum erſtenmal in meinem
Leben hab’ ich ihn geſehn, kaum der Gefahr entwunden,
ihn unbeſucht vorbeizureiſen, aber freilich auch nicht ahn¬
dend und vermuthend, welcherlei Gut mir dadurch un¬
zugetheilt geblieben waͤre! Ich kam Nachmittags gegen
4 Uhr in Weimar an, unmuthig, durchfroſtet, nach
ſchlechten Nachtfahrten, auf verdorbenen Wegen, voll
ungeduldiger Eile; in dieſer Stimmung beſchloß ich
dennoch zuletzt mein Heil zu verſuchen, ließ mich mel¬
den und wurde zu 5 Uhr angenommen. Ein Gang von
wenigen Schritten, aber in welcher Erregung legte ich
[427] dieſe zuruͤck! Es war mir, als wenn alles, was ich
bei dem Namen je gedacht und empfunden, ſich noch
eiligſt aufloͤſen, und zu einer Perſoͤnlichkeit verkoͤrpern
ſollte, die ſich ſogleich an der wirklichen, leibhaftig mir
gegenuͤberſtehenden, zu pruͤfen haben wuͤrde. Aber
welcher Empfang ſtand mir bevor! Ich mußte, als
ich Goethe'n vor mir hatte, alles fahren laſſen, was die
langjaͤhrige, tiefgenaͤhrte Bekanntſchaft mit dem Dichter
mir einfloͤßen gekonnt, um nur mit dem neubekannten,
wirkſamen Menſchen beſchaͤftigt zu ſein, der mild, freund¬
lich, treuherzig, anmuthig, geiſtvoll, kraftreich, mir das
Bild eines ganzen Menſchen — wenn dieſer geringe
Ausdruck der hohen Bedeutung faͤhig iſt, — in voll¬
ſtaͤndig ausgebreiteter großartiger, ſchoͤner Lebensent¬
wickelung vergegenwaͤrtigte. Das ſeltene Gluͤck — hier
wohl unverdient, doch nicht unwuͤrdig empfangen —
einer ſo milden und biedern Aufnahme, als ſei ich ein
alter Freund, der laͤngſt erwartet worden, mußte mich
um ſo mehr uͤberraſchen, als ich die ſcheue Zuruͤckhal¬
tung, die ihm ſo oft vorgeworfen worden, in den ſchrift¬
lichen Beruͤhrungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz
hatte vermiſſen koͤnnen. Nach der erſten Begruͤßung,
wobei er mir die Hand reichte, ſprachen wir gleich ſehr
vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir ſeine
Hand hin, und rief mit Innigkeit: „Sie muͤſſen mir
nochmal die Hand geben!“ Vergebens wuͤrde ich
Ihnen den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art
[428] des alsbald lebhaften Geſpraͤchs zu ſchildern ſuchen, es
war wie ein Stuͤck Leben, in tauſend Wellen fließend,
ein Gefuͤhl im Ganzen wirkend ohne die einzelnen Be¬
zuͤge geſondert feſthalten zu laſſen; jedes Wort eine
Bluͤthe am Zweige des Baumes, aus der tiefen dun¬
keln Wurzel her, aber ſelber doch nur als luftigheitres
Gebild des Augenblickes erſchloſſen. Wie jenen helleni¬
ſchen Fremden zu Athen, die nach mehreren mit Plato
verlebten Tagen ihn erſuchten, ſie nun auch zu ſeinem
beruͤhmten Namensvetter, dem Philoſophen zu fuͤhren,
ſo ging es faſt mir, der ich in taͤuſchender Beſinnung
leicht dieſen herrlichen Mann haͤtte bitten koͤnnen, mir
nun auch die Bekanntſchaft des ihm gleichnamigen
Schriftſtellers zu verſchaffen. Ich blieb auf Goethe’s
wiederholtes Anmahnen den ganzen Abend bei ihm, bis
Mitternacht ſogar; ſein Sohn und deſſen neuvermaͤhlte
Gattin waren die einzigen Mitgenoſſen eines Theils
dieſer Stunden. Schwer wuͤrde ich einige beſondere
Spruͤche aus dem lebenreichen Ganzen ausſondern! die
feſteſten, kraͤftigſten Aeußerungen, die feinſten, erfreu¬
lichſten Wendungen, voll Geſtalt im Hervorkommen,
zerfloſſen mir unter den Haͤnden, wenn ich ſie dem Ge¬
daͤchtniſſe zum Behalten und Ueberliefern einpraͤgen
wollte. Wir ſprachen uͤber alles, Goethe mit unge¬
woͤhnlichem — er ſagt es ſelbſt — Zutrauen von Din¬
gen, die ſeine Denkart ſonſt lieber uneroͤrtert laſſen
mag; auch uͤber den Geiſt und die Richtung der Ent¬
[429] wickelung der Gegenwart, uͤber die Geſtalten der naͤch¬
ſten Vergangenheit, Napoleon, Franzoſen, Deutſchland
Preußen; wie freut’ ich mich des unerſchuͤtterlichen Ver¬
trauens, das ich trotz aller Zwiſchendinge ſtets in unſres
vaterlaͤndiſcheſten Dichters Vaterlandstreue geſetzt! Wie
gerecht, einſichtig und unſchuldig waren ſeine Aeußerun¬
gen in dieſer Hinſicht, von wahrem Geſchichtsgefuͤhl, ſo
des Augenblicks wie der Jahrhunderte, beſeelt! Er
ſieht nur fruͤh und ſchnell die Dinge ſo, wie die Meiſten
erſt ſpaͤt ſie ſehen; er hat vieles ſchon durchgearbeitet
und beſeitigt, womit wir uns noch plagen; und wir
verlangen, er ſoll unſre Kindereien mitmachen, weil
wir ſie noch als Ernſt nehmen! — Goethe kein deut¬
ſcher Patriot? ein aͤchter und wahrhafter, wie es jemals
einen geben kann! In ſeiner Bruſt war alle Freiheit
Germaniens fruͤh verſammelt, und wurde hier, zu unſer
Aller nie genug erkanntem Frommen, das Muſter, das
Beiſpiel, der Stamm unſrer Bildung. In dem Schat¬
ten dieſes Baums wandeln wir Alle. Feſter und tiefer
drangen nie Wurzeln in unſern vaterlaͤndiſchen Boden,
maͤchtiger und aͤmſiger ſogen nie Adern an ſeinem
markigen Innern. Unſere waffenfrohe Jugend, die
hoͤhere Geſinnung, die in ihr wirkte, ſtehen wahrlich
bezugreicher zu dieſem Geiſte, als zu manchem andern,
der dabei beſonders thaͤtig geweſen ſein will. Iſt doch
nicht alles Freiheit, was ſo ausſieht, was einen Augen¬
blick ſo genannt wird; und manches franzoͤſiſche Wort
[430] iſt deutſcher, als das, welches man an die Stelle von
jenem bringen will!— Das Leben in kleineren Staͤd¬
ten, von groͤßeren Mittelpunkten der neuern Zeit entfernt,
hat fuͤr Goethe'n vielleicht manche Anſicht nicht ſogleich
in volle Beleuchtung treten laſſen, manche Anſchauung
dunkel gehalten: aber wie nimmt der weiſe Sinn den
kleinſten Schimmer aͤchten Lichtes, das ihm dargeboten
wird, ſicher auf, und vertheilt ihn mit Blitzesſchnellig¬
keit uͤber das ganze Bild!— Uebrigens iſt Goethe alt,
und grade darin jung, daß er die Weſenheit des Alters
mit gleicher Friſche und Wahrheit in ſich aufnimmt,
wie er jung die Jugend in ſich aufnahm; es iſt eine
Freude des Lebens, im Hintergrunde der Jahre ſolche
Alte moͤglich zu ſehn, wie Schlabrendorf und Goethe
ſind. Schoͤn von Antlitz und Bildung, kraͤftig von Hal¬
tung und mit hoffnungsvoller Geſundheit ſteht letzterer
noch mitten in des Lebens Thaͤtigkeit, auf Nahes be¬
dacht wie auf Fernes, aber die Zeit beiſammenhaltend,
und nicht das groͤßere Zuruͤckgelegte verkennend. Im
Ganzen giebt das Werk uͤber ſein Leben — dieſe ge¬
haltreichſten Denkwuͤrdigkeiten, in welchen die tiefſinnige
Kuͤrze des alten Philoſophen mit der homeriſchen Fuͤlle
des alten Dichters vereinigt iſt — den Standpunkt, auf
welchem er ſich als Menſch jetzt befindet, ſeine Art und
Weiſe des Daſeins, ziemlich vollſtaͤndig und ungefaͤlſcht
zu erkennen. Mehrere Theile werden noch folgen; eine
Art Erſatz fuͤr ſo vieles, das nicht geſchrieben zu haben
[431] er jetzt bedauert! — Dieſes Uebergewicht, das die er¬
wartete Wirkung des Dichters ſo ganz der Wirkung
des Menſchen unterordnete, und mich von dem erſteren
zwar vieles, aber faſt nur in Bezug auf den letzteren
ſehen ließ, wurde mir gleichſam zum Triumphbilde des
Mannes, von deſſen Anſchauen ich die folgenden Tage
mit einer ſanften Gluth erfuͤllt blieb, wie nur die außer¬
ordentlichſten Begegniſſe der innern Welt ſie uͤber die
Seele verbreiten koͤnnen, und fuͤr das ganze Leben, kann
ich nun ſagen, bin ich um ein großes Gut reicher! —
Rameau.
Das geiſtvolle Buch Diderot's hat uns unter dieſem
Namen in ſinnreicher Schaͤrfe einen Karakter dargeſtellt,
deſſen ſittliche Verkehrtheit, Konſequenz und Durchfuͤh¬
rung faſt mit der politiſchen des Fuͤrſten Michiavelli
wetteifern kann. Die meiſten eigenthuͤmlichen Zuͤge
ſcheint Diderot wirklich von jenem Rameau, dem Nef¬
fen des Muſikers, entlehnt zu haben, aber nur daß ihre
Zuſammenſtellung hier eine Nichtswuͤrdigkeit und Ver¬
worfenheit hervorbringt, die jener ſonderbare Menſch
keineswegs trug, dem vielmehr eine gewiſſe Unbefan¬
genheit eigen war, die dem Boͤſen entgegen iſt, und
das Gute nur in der allgemeinen Verderbniß nicht fin¬
den kann. Wenn ſchon an ſich ein ſolcher Karakter zur
Unterſuchung reizt und jede genauere Kenntniß deſſelben
willkommen iſt, ſo muͤſſen bei dem Aufſehn und Ver¬
gnuͤgen, das bei uns Goethe's reich ausgeſtattete Ueber¬
ſetzung des Diderot'ſchen Buchs erregt hat, folgende
Nachrichten, die von dem wirklichen Rameau ſich bei
[433] zweien wackern Franzoſen finden, einen doppelten Reiz
haben. Der erſte iſt der fromme und liebenswuͤrdige
Cazotte, der in dem zweiten Baͤndchen ſeiner Oeuvres
choisies et badines ſo von ihm ſpricht:
„Rameau war unter allen Menſchen, die ich ge¬
kannt habe, derjenige, der von Natur der ergoͤtzlichſte
war. Er war Neffe des beruͤhmten Muſikers, und auf
der Schule mein Kamerad geweſen; er hatte zu mir
eine Freundſchaft gefaßt, die ſich nie, weder von ſeiner
Seite noch von der meinigen, erkaltet hat. Dies Men¬
ſchenkind, der ſonderbarſte Mann, den ich gekannt habe,
war mit einem natuͤrlichen Talent zu mehr als einem
Fache geboren, was ihm aber der Mangel von Haltung
und Ruhe in ſeinem Geiſte nie erlaubte auszubilden.
Ich kann ſeine Art des Scherzens nur der vergleichen,
die der Doktor Sterne in ſeiner empfindſamen Reiſe
aufthut. Die Einfaͤlle Rameau's waren Einfaͤlle aus
Inſtinkt von einer ſo pikanten Art, daß es noͤthig waͤre
ſie zu mahlen, um ſie wiedergeben zu koͤnnen. Es wa¬
ren keine Wizworte, es waren treffende Strahlen, die
aus der tiefſten Kenntniß des menſchlichen Herzens her¬
vorzubrechen ſchienen. Seine Geſichtszuͤge, die in der
That poſſirlich waren, gaben dieſen Einfaͤllen, die von
ihm deſto unerwarteter kamen, als er gewoͤhnlich nur
albernes Zeug ſchwazte, ein außerordentliches Salz.
Er, der ein eben ſo großer und vielleicht groͤßerer Mu¬
ſiker als ſein Oheim, geboren war, konnte ſich nie in
28[434] die Tiefen der Kunſt verſenken; aber er war geboren
reich an Geſang, und hatte die wunderbarſte Leichtigkeit,
fuͤr welche Worte man immer wollte, aus dem Steg¬
reif angenehmen und ausdruckvollen Geſang zu finden:
nur haͤtte ein wahrer Kuͤnſtler ſeine Phraſen ordnen
und verbeſſern, und ſeine Partitionen ſetzen muͤſſen.
Er war von Geſicht eben ſo graͤulich als luſtiglich haͤ߬
lich, ſehr oft langweilig, weil ſein Genie ihn ſelten
begeiſterte; aber wenn ſeine Gluth ihm zu Gebote ſtand,
machte er lachen bis zu Thraͤnen. Er lebte arm, da
er keinen Erwerb verfolgen konnte. Seine vollkommene
Armuth machte ihm in meinem Sinn Ehre. Er war
nicht ganz ohne Vermoͤgen geboren, aber er haͤtte ſei¬
nen Vater des Vermoͤgens ſeiner Mutter berauben muͤſ¬
ſen, und er floh den Gedanken, den Urheber ſeines
Lebens, der wieder geheirathet und Kinder hatte, ins
Elend zu verſetzen. Er hat bei mehreren andern Gele¬
genheiten Proben von der Guͤte ſeines Herzens gegeben.
Dieſer ſeltſame Menſch lebte leidenſchaftlich fuͤr den
Ruhm, den er doch in keinem Fache erlangen konnte.
Eines Tages dachte er Dichter zu werden, um zu ver¬
ſuchen auf dieſe Weiſe von ſich ſprechen zu machen. Er
verfertigte ein Gedicht auf ſich ſelber, das er die Ra¬
meïde nannte, und das er in allen Kaffehaͤuſern her¬
umbrachte: aber kein Menſch ging es beim Drucker zu
holen. Ich machte ihm den Scherz eine zweite Rameëde
abzufaſſen. Der Buchhaͤndler verkaufte ſie zu ſeinem
[435] Beſten, und Rameau nahm nicht uͤbel, daß ich uͤber
ihn geſcherzt hatte, weil er ſich ziemlich gut getroffen
fand. Dieſer Menſch, geliebt von einigen unter denen,
die ihn gekannt hatten, ſtarb in einer geiſtlichen Anſtalt,
wo ihn ſeine Familie untergebracht hatte, nach vierjaͤh¬
riger Zuruͤckgezogenheit, die ihm lieb geworden war,
und nachdem er das Herz aller derer gewonnen hatte,
die anfangs nur ſeine Aufſeher geweſen waren. Ich
halte hier mit Vergnuͤgen ſeine kleine Leichenrede, weil
ich noch an dem Bilde haͤnge, das er mir von ſich ge¬
laſſen hat.“ — So ſpricht Cazotte, und welcher Leſer
dieſer Schilderung ſieht nicht mit geruͤhrter Theilnahme
den grauſamen Scherz, den ſich die Natur in dieſer
ſonderbaren Miſchung von einander widerſprechenden
Gaben gemacht zu haben ſcheint? Dieſer Rameau mit
ſeinem einzigen Talent fuͤr Muſik und mit ſeiner lie¬
benswuͤrdigen Gutmuͤthigkeit muß ſich mit ſeinem haͤ߬
lichen Geſicht, ſeiner Laͤcherlichkeit und Unbehuͤlflichkeit
in einem widrigen Leben verbrauchen, und niemand hat
gehoͤrt, wenn ſein Inneres aufgeſeufzt hat! Hoͤren wir
nun auch den wohlmeinenden Mercier, der weniger in¬
nig iſt als Cazotte, aber doch auch freier ſieht, als die
meiſten ſeiner Landsleute. Die Stelle iſt aus dem zwoͤlf¬
ten Bande des Tableau de Paris und lautet wie
folgt:
„Ich habe Rameau's Neffen gekannt der halb Abbé
war, halb Laye, in den Kaffehaͤuſern lebte, und alle
28 *[436] Wunder der Tapferkeit, alle Werke des Genie’s, alle
Hingebungen des Heldenmuths, kurz, alles, was man
Großes in der Welt thut, auf das Kauen zuruͤckfuͤhrte.
Ihm zufolge hatte alles dieſes keinen andern Endzweck,
noch anderes Ergebniß, als etwas unter die Zaͤhne zu
ſchaffen. Er predigte dieſe Lehre mit einem ausdruck¬
vollen Geſtus, und mit einer ſehr mahleriſchen Bewe¬
gung der Kinnlade; und wenn man von einem ſchoͤnen
Gedicht, von einer großen That, von einer Verordnung
ſprach, alles das, ſagte er, von dem Marſchall von
Frankreich an, bis zum Schuhflicker, und von Voltaire
bis zu Chabanes oder Chebanon, geſchieht unbezweifel¬
bar um etwas in den Mund zu ſtecken zu haben, und
die Geſetze des Kauens zu erfuͤllen. Eines Tages, im
Geſpraͤch, ſagte er, mein Oheim der Muſiker iſt ein
großer Mann, aber mein Vater der Geiger war ein
noch viel groͤßerer Mann als er; ihr moͤgt urtheilen!
Der wußte unter die Zaͤhne zu bringen! Ich lebte in
dem vaͤterlichen Hauſe mit vieler Sorgloſigkeit, denn ich
war immer ſehr wenig neugierig die Zukunft auszu¬
lauern; ich war uͤber volle zweiundzwanzig Jahr alt,
als mein Vater zu mir ins Zimmer trat, und ſo redete:
Wie lange willſt du noch ſo leben, in Faulheit und
Nichtsthun? es ſind zwei Jahre, daß ich auf deine Ar¬
beiten warte; weißt du, daß ich zu zwanzig Jahren
gehangen war, und einen Stand hatte? — Da ich ſehr
muntrer Laune war, ſo antwortete ich meinem Vater:
[437] Gehangen zu ſeyn, das iſt ſchon ein Stand; aber wie
wurdet Ihr gehangen, und noch mein Vater? — Hoͤr
zu, ſagte er; ich war Soldat und Maraudeur; der
Großprofoß erwiſchte mich, und ließ mich an einen Baum
knuͤpfen; ein kleiner Regen hinderte den Strick ſo zu¬
zuglitſchen, wie er ſollte, oder vielmehr wie er nicht
ſollte; der Henker hatte mir das Hemd gelaſſen, weil
es zerriſſen war; Huſaren kamen vorbei, die mir auch
noch nicht das Hemd nahmen, weil es nichts taugte,
aber mit einem Saͤbelhieb den Strick abſchnitten, daß
ich auf die Erde fiel. Die Kuͤhle machte, daß ich zu
mir ſelbſt kam; ich lief im Hemde nach einem benach¬
barten Flecken, ich ging in eine Schenke, und ſagte zu
der Frau: Erſchreckt nicht mich im Hemde zu ſehn, ich
habe mein Gepaͤck zuruͤck; Ihr werdet hoͤren.... Ich
verlange von Euch nur eine Feder, Tinte, vier Blaͤtter
Papier, ein Solsbrod und einen Schoppen Wein. Mein
durchloͤchertes Hemd ohne Zweifel bewegte die Frau der
Schenke zur Erbarmung; ich ſchrieb auf die vier Blaͤt¬
ter Papier: Heute großes Schauſpiel gegeben von dem
beruͤhmten Italiener; die erſten Plaͤtze zu ſechs Sols,
die zweiten zu drei; jedermann kommt herein gegen
Bezahlung. Ich verſchanzte mich hinter einer Tapete,
ich borgte eine Geige; ich ſchnitt mein Hemd in Stuͤk¬
ken; daraus machte ich fuͤnf Puppen, die ich mit Tinte
und ein wenig von meinem Blut bemahlt hatte, und
da laß ich nun wechſelsweiſe meine Puppen reden, ſinge,
[438] und ſpiele auf der Geige hinter meiner Tapete. Ich
hatte praͤludirt, indem ich meiner Geige einen ganz
außerordentlichen Ton gab. Der Zuſchauer kam, der
Saal war voll; der Geruch aus der Kuͤche, die nicht
weit entfernt war, gab mir neue Kraͤfte; der Hunger,
der ehemals den Horaz begeiſterte, wußte auch deinen
Vater zu begeiſtern. Waͤhrend einer ganzen Woche gab
ich jeden Tag zwei Vorſtellungen. Ich ging aus der
Schenke mit einem Rock, drei Hemden, Schuhen und
Struͤmpfen, und genug Geld, um uͤber die Graͤnze zu
kommen. Eine kleine Heiſerkeit, die von dem Haͤngen
gekommen war, war voͤllig vergangen, ſo daß man in
der Fremde meine wohltoͤnende Stimme bewunderte.
Du ſiehſt, ich war beruͤhmt zu zwanzig Jahren, und
hatte einen Stand; du biſt zwei und zwanzig Jahr alt,
du haſt ein neues Hemd auf dem Leibe; hier ſind zwoͤlf
Franken, jetzt kannſt du gehn. — So entließ mich mein
Vater. Ihr werdet geſtehn, daß es mehr hieß, da
heraus zu kommen, als Dardanus zu machen, oder
Caſtor und Pollux. Seit der Zeit ſah ich alle Leute
ihre Hemden nach ihrer Weiſe zerſchneiden, und vor dem
Publikum mit Puppen ſpielen, alles, um ihren Mund
zu ſtopfen. Das Kauen, nach mir, iſt das wahre Re¬
ſultat der erleſenſten Dinge dieſer Welt. Rameau's
Neffe, von ſeiner Lehre erfuͤllt, beging Thorheiten, und
ſchrieb dem Miniſter um etwas zu kauen zu bekommen,
als Sohn und Neffe zweier großen Maͤnner. Der Graf
[439] von Saint-Florentin, der als Miniſter, wie bekannt,
eine ganz abſonderliche Art hatte, ſich die Leute vom
Halſe zu ſchaffen, ließ ihn einſperren, als einen unbe¬
quemen Narren, und ſeit der Zeit hab' ich nicht mehr
von ihm reden gehoͤrt. Dieſer Neffe Rameau's hatte
an ſeinem Hochzeittage alle Leiermaͤdchen von Paris,
jede fuͤr einen Thaler, gedungen, und ſo trat er mit¬
ten unter ihnen einher, ſeine Neuvermaͤhlte am Arm,
zu der er ſagte: Ihr ſeid die Tugend, aber ich habe
gewollt, daß ſie noch gehoben wuͤrde durch die Schat¬
ten, die Euch umgeben. — Rameau war einſt bei einer
ſchoͤnen Dame zum Beſuch, ſtand ploͤtzlich von ſeinem
Stuhl auf, ergriff von dem Schooße der Dame einen
kleinen Hund, und wirft ihn ſchleunigſt zum Fenſter
hinaus vom dritten Stock. Die Dame fragt erſchro¬
cken: Nun, was machen Sie denn? — Er bellt falſch!
ſagt Rameau, und geht auf und ab mit dem Unwillen
eines Mannes, deſſen Ohr verletzt worden iſt.“—
Werther's fünfzigjähriges Jubiläum.
1825.
Fuͤnfzig Jahre ſind es, daß Werthers Leiden in der
deutſchen Litteratur hervortraten, die ganze Empfindungs¬
weiſe der Nation aufregten, und ſchnell durch ganz
Europa eine Wirkung verbreiteten, deren wenige Buͤcher
in der Welt ſich ruͤhmen koͤnnen. Die Macht des In¬
halts war ſo groß, daß ſie das Leben ſelbſt ergriff und
eine praktiſche Gewalt ausuͤbte, gegen welche jeder bloß
litterariſche Antheil in Schatten ſtehen mußte. England
insbeſondere bewies innigſte Theilnahme fuͤr die neue
Lebensfuͤlle dieſes Buchs, deſſen Stimmung allem ent¬
ſprach, was die moderne Zeit den Landsleuten Shak¬
ſpeare's in einem auslaͤndiſchen Geiſtesverwandten des¬
ſelben darbieten konnte.
Die Zeit jener Empfindſamkeit, deren Mittelpunkt
Werther wurde, war eine nothwendige Epoche unſerer
Kulturgeſchichte. In den bewegten Fluthen des ent¬
feſſelten Gefuͤhls mußten die ſtarren Formen eines in
[441] allen Bezuͤgen pedantiſch verengten Lebens ſich aufloͤſen,
ehe daraus neue Geſtalten zu freier Bildung ſich ent¬
wickeln konnten. Wir Jetztlebenden alle haben unſern
Antheil an dieſen Ergebniſſen, wir Alle genießen der Frucht
jener Bemuͤhungen, auch wo wir es nicht wiſſen, noch
ahnden. Jene Zeit iſt voruͤber als Epoche der Nation,
aber dem Einzelnen wiederholt ſie ſich als Uebergang noch
ſtets in eigner Lebenserfahrung. Den Eindruck, welchen
Werther einſt auf die ganze Generation machte, bewirkt
er noch heutiges Tages auf die einzelne Bildungsſtufe
des liebenden Maͤdchens, des beſeelten Juͤnglings.
Wir ſind hinweg, wie uͤber jenen erſten allzu hef¬
tigen Eindruck des Buches, auch uͤber jene erſten Vor¬
wuͤrfe, welche denſelben begleiteten, und in Gegenſchriften,
Verdammungsurtheilen und Warnungen uͤberſchwaͤnglich
an den Tag kamen. Wir ſind hinweg uͤber die er¬
traͤumten Gefahren, welche die Schwaͤche auch hier zu
finden glaubte, wie uͤberall, wo ihr Großes und Starkes
begegnet, das ſie dafuͤr zur Vergeltung zu allen Zeiten
ſo gern als Unſittliches bezeichnen wollte; die traurige
Schwaͤche, welche da meint, die Tugend ſei zaghafte
Furcht, und nicht muthige Tapferkeit! Denn welches
aͤchte Buch, von nur irgend wahrem Gehalt und Kunſt¬
werth, waͤre nicht zuerſt immer von dieſer Seite ange¬
taſtet worden? Wir ſind bei dem Werther gottlob uͤber
Aeußerlichkeiten aller Art hinweg; wir ſehen und leben ein
Inneres in ihm, das uns niemand mehr verkuͤmmern darf.
[442]
In der That iſt es nicht ſowohl die vorgetragene
Geſchichte, nicht das tragiſche Loos, zu welchem die
Verirrung des Beſten im Menſchen hier gefuͤhrt wird,
nicht die Kraft und Schoͤnheit einzelner Schilderungen,
wie ſehr ſie uns auch hinreißen, was uns jetzt mit dem
Buche zumeiſt verbindet; ſondern es iſt vielmehr der
Geiſt und Sinn, in welchem das Ganze erfaßt und
gegeben worden; und dieſer Geiſt iſt der der Natur
und Wahrheit, dieſer Sinn der der Schoͤnheit und
Liebe. Unſchuldig und hehr, in reiner Kunſtgeſtalt,
tritt die edle Erſcheinung vor uns hin.
Aber ſie tritt wirklich vor uns hin, eben jetzt, in
eigenſter Geſtalt; in einer neuen, ſtattlichen, handrechten
Ausgabe, von der erſten Verlagshandlung nach fuͤnf¬
zig Jahren in faſt unveraͤndertem Abdruck neu an’s
Licht gefoͤrdert! Es war ein ſchoͤner Gedanke, dieſes
Buͤchlein, das bisher nur immer in der Sammlung
der Goethiſchen Werke fuͤr das litterariſche Beduͤrfniß
wiederholt wurde, zur Feier ſeines fuͤnfzigjaͤhrigen Lebens
und Wirkens auch wieder abgeſondert hervortreten,
und, gleichſam auf ſeine eignen Fuͤße geſtellt, aus
eignen Kraͤften ſeine beſondere Bahn abermals durch¬
laufen zu laſſen. Und wahrlich nicht unausgeſtattet
erſcheint es vor der Welt! Der hohe Dichter hat die
Gluth der Jugend mit der Weisheit des Alters gekroͤnt.
Wie einſt vier unerreichbar ſchoͤne Stanzen den Fauſt
bei aͤhnlicher Gelegenheit dem Publikum erneuert vor¬
[443] fuͤhrten, ſo leitet hier den Werther ein wundervoller
Prolog auf ſeine neue Bahn, ein Gedicht, vor dem
man ſtaunend weilt, und fragt, in welcher Dichterbruſt
noch ſolche Kraft des Gefuͤhls und ſolche Reife der Lebens¬
einſicht zuſammenwohne? Mit aller Friſche des Juͤnglings¬
lebens redet der Dichter den „vielbeweinten“ Schatten an:
Und am Schluſſe heißt es:
Die Verlagshandlung hat ein wohl getroffenes ſchoͤ¬
nes Bild von Goethe dem Buͤchlein vorangeſetzt, das
ſich durch dieſe Mitgabe noch beſonders empfiehlt. In
Weihnachts- und Neujahrsgeſchenken wird noch immer
gern der Empfindſamkeit gehuldigt; die ſchlummernde
zu wecken und die geweckte zu befriedigen mag denn
auch Werther wieder einmal verſuchen! Moͤge ihm Heil
widerfahren auf ſeinen Wegen, moͤge ihm in wuͤrdigen
Kreiſen reich erneuerte Bluͤthe und Frucht gedeihen!
Goethe's natürliche Tochter. —
Madame Guachet.
Mit lebhaftem Antheil erſehen wir, daß die Memoiren
der Stephanie Louiſe von Bourbon-Conti, welche den
Stoff zu Goethe's Eugenie geliefert haben, jetzt eben
in einer neuen deutſchen Ueberſetzung oder vielmehr Be¬
arbeitung erſchienen ſind. Eines der wunderbarſten
tragiſchen Geſchicke breitet ſich hier vor unſern Augen
aus, und gewaͤhrt die anregendſten Betrachtungen. Der
Stoff war es werth, von Goethe'n ergriffen zu werden,
und es bleibt ewig zu bedauern, daß er ihn nicht bis
zum Schluſſe verarbeitet hat. Einem maͤchtigen und
glaͤnzenden Koͤnigsgeſchlechte blutsverwandt zu ſein,
jedoch von allen Vortheilen dieſes Verhaͤltniſſes ausge¬
ſchloſſen zu bleiben, dann ihretwegen verfolgt und in
niedres Ungluͤck verſtoßen zu werden, aus dieſem aber
nur aufzutauchen und den Koͤniglichen Verwandten ſich
wieder anzuſchließen in dem Augenblicke, da dieſe ſelber
ſchrecklich zu Grunde gehen: dieſe Verwicklung hegt in
[445] ſich ſelber einen Reiz, der durch die begleitenden Um¬
ſtaͤnde, durch den allgemeinen Sturm der Begebenhei¬
ten, worin das Ganze ſich verliert, und fuͤr uns auch
noch durch die Naͤhe der Zeiten, denen wir noch kaum
entwachſen ſind, erhoͤht wird.
Bei dieſer Gelegenheit hat ſich aber auch der Zwei¬
fel erneuert, ob nicht der Verlauf dieſer Geſchichten
eine Erdichtung ſei, die Perſon ſelbſt, welche ſich als
Verfaſſerin des Buches angiebt, gar nicht exiſtirt habe?
Von mehreren Seiten iſt dieſe Meinung aufgeſtellt und
mit mancherlei Gruͤnden unterſtuͤtzt worden. Man be¬
ruft ſich auf die Unwahrſcheinlichkeit, daß dieſe Perſon
und ihr Schickſal nicht groͤßeres Aufſehen erregt habe,
daß ſie ſpurlos habe verſchwinden koͤnnen, und weder
von den Freunden des Koͤnigthums noch von deſſen
Feinden eifriger und genauer beſprochen worden ſei.
Uns duͤnkt indeß, daß dieſe Unterlaſſung nichts gegen
die Aechtheit dieſer Geſchichte zu beweiſen braucht. Wenn
man bedenkt, welch ungeheurer und allgemeiner Zu¬
ſammenſturz der war, in welchen dieſe einzelne, damals
noch dunkle Exiſtenz mitfortgeriſſen wurde, wie viel
groͤßere und folgenreichere Schickſale und unmittelbare
Thaͤtigkeiten und Leiden ſich den Mitlebenden aufdraͤng¬
ten, und doch bald in ſchnellem Wechſel ebenfalls ver¬
ſchwanden und vergeſſen wurden, ſo kann man ſich nicht
wundern, daß der Klageſchrei eines ungluͤcklichen huͤlf¬
loſen Weibes faſt ungehoͤrt verhallte. Die anerkannten,
[446] thronberechtigten Mitglieder der Familie Bourbon er¬
regten kaum noch Aufmerkſamkeit, ſuchten von Land zu
Land eine Zuflucht, die ihnen zuletzt nur England noch
gewaͤhrte, und als die wunderbarſte Wandlung der Dinge
ſie unverhofft wieder zu Glanz und Macht berief, mußte
man erſt wieder ihre verwandtſchaftlichen Stellungen
und Namen lernen! Wie ſollte der um ſeine Aner¬
kennung noch kaͤmpfende, ausgeſtoßene, rechtloſe Sproͤ߬
ling eines Nebenzweiges jener Familie unter ſolchen
Umſtaͤnden ſich behauptet haben? Nur der Dichter hatte
Sinn und Achtſamkeit fuͤr ein ſeltnes Mißgeſchick, in
welchem fuͤr ihn eine ganze Weltkataſtrophe ſich deut¬
lich abbildete! Daß dieſes Ohr ihren Schmerz vernahm,
dieſes Gemuͤth ihr Verhaͤngniß auffaßte und dieſer Ge¬
nius es darſtellte, hat der unbeachteten und verkomme¬
nen Frau im Gebiete des Geiſtes glaͤnzenderes Daſein
geſichert, als das groͤßte Gelingen in der wirklichen
Welt ihr je haͤtte geben koͤnnen!
Daß aber eine ſolche Perſon, wie dieſe Memoiren
vorausſetzen und als ihre Verfaſſerin angeben, wirklich
exiſtirt habe, daruͤber koͤnnen wir aus zuverlaͤſſigen Nach¬
richten die beſtimmteſte Verſicherung ertheilen.
Unter den vielen franzoͤſiſchen Ausgewanderten,
welche waͤhrend der Revolution ſich in Deutſchland um¬
hertrieben, und gegen Noth und Elend eine Zuflucht
erſtrebten, kam auch eine Dame nach Berlin, welche
ſich Madame Guachet nannte, und auch in ihrem Reiſe¬
[447] paß mit dieſem Namen bezeichnet war. Sie theilte
mit ihren Ungluͤcksgefaͤhrten das allgemeine Loos, kein
anderes Intereſſe mehr zu erregen, als das in den
perſoͤnlichen Eigenſchaften oder Leiſtungen unmittelbar
dargebotene; der hoͤchſte Rang, die groͤßten Verhaͤlt¬
niſſe, die edelſte Geburt, verſchafften keine beſſere Auf¬
nahme, als auch der geringe Abentheurer erwarten
durfte; das Vergangene kam wenig in Betracht, wo
die Huͤlfsmittel der Gegenwart es nicht mehr unter¬
ſtuͤtzten. Man war es ſchon gewohnt, daß jeder Fran¬
zoſe ſich fuͤr vornehm ausgab, es waͤre nutzlos und
thoͤricht geweſen, der Herkunft eifrig nachzuforſchen, wo
das Daſein ihr ſo gar nicht mehr entſprach; man hielt
ſich an die Bildung, an die Talente, an das naͤchſte
Betragen der Fremdlinge, ſo wie an ihre etwanige
Brauchbarkeit, und ließ das Uebrige gern dahingeſtellt.
Mad. Guachet war an einige Perſonen in Berlin em¬
pfohlen, die zur hoͤheren Geſellſchaft gehoͤrten, der Ma¬
jor von Gualtieri machte ſie mit Fraͤulein von Schuck¬
mann bekannt, und dieſe brachte ſie zu einigen ihrer
Freundinnen, beſonders auch zu Rahel, aus deren Er¬
innerungen und Briefſchaften die folgenden Nachrichten
entlehnt ſind.
Hier fand ſich die freundlich aufgenommene Fremde
bald zu naͤherem Vertrauen hingezogen. Zwar nahm
ſie auf den erſten Blick durch ausgezeichnete Schoͤnheit
fuͤr ſich ein, ihr Betragen verrieth vornehme Bildung,
[448] ſie beſaß die mannigfachſten Talente und Kenntniſſe,
welche einen ſorgfaͤltigen und reichen Unterricht voraus¬
ſetzten. Sie mußte ſchon weit uͤber dreißig Jahre alt
ſein, hatte jedoch eine jugendliche Zartheit beibehalten,
die ihr im Gegenſatze mit einer faſt maͤnnlichen Staͤrke
und Gewandtheit, die ſich bisweilen nicht verhehlten,
einen ungemeinen Reiz gab. Sie machte die feinſten
Handarbeiten, kuͤnſtliche Bildwerke von Ton oder Teig,
die ſchoͤnſten Blumen, zeichnete und malte, uͤbte Mu¬
ſik, und wußte ihre Dichter mit bewundernswuͤrdigem
Ausdruck vorzuleſen. Aber ſie verſtand auch mit Pfer¬
den ruͤſtig umzugehen, zu reiten, zu fahren, ja ſogar
zum Hufbeſchlag und Wagenſchmieren bekannte ſie ihre
zarten Haͤnde nicht ungeuͤbt! Im Stichfechten und im
Piſtolenſchießen war ſie bereit, es mit jedem Mann
aufzunehmen! Als ihr uͤber dieſe ungewoͤhnliche Aus¬
bildung maͤnnlicher Faͤhigkeiten einiges Befremden be¬
zeigt, und die Erklaͤrung ſo ſeltſamen Vereins von Ei¬
genſchaften gewuͤnſcht wurde, glaubte ſie den Zweifeln,
welche ſie erregt ſah, nicht beſſer begegnen zu koͤnnen,
als durch Erzaͤhlung ihrer Lebensgeſchichte. Sie ſei aus
dem Hauſe Bourbon, vertraute ſie der Freundin, dem
Makel unehelicher Geburt ſei ſie durch Koͤniglichen Macht¬
ſpruch enthoben worden, aber ein feindliches Familien¬
verhaͤltniß habe dieſen Vortheil ihr zu vereiteln gewußt,
bis die Revolution gekommen und Allen zum Verderben
geworden ſei; ihr Vater, deſſen Liebling ſie geweſen,
[449] habe ihr dieſe ſonderbare Erziehung geben laſſen, ſie
habe alles lernen muͤſſen, was ein Maͤdchen, und alles,
was ein Knabe wiſſen ſolle, die beſten Lehrer, in allen
Faͤchern ſeien ihr gehalten worden, unter andern ruͤhmte
ſie ſich, Jean Jacques Rouſſeau’s Unterricht genoſſen
zu haben. Dieſe Erzaͤhlung erklaͤrte das Ungewoͤhnliche
durch nur noch groͤßere Sonderbarkeit, und konnte wenig
Glauben finden. In den Geſichtszuͤgen allerdings war
eine große Aehnlichkeit mit den Bourbons auffallend,
allein dieſe Aehnlichkeit konnte auch nur Anlaß geworden
ſein, ein Maͤhrchen zu erfinden, dem darin einige Be¬
glaubigung gegeben ſchien. In der Fremde ſich durch
erdichtete Bedeutung und Schickſale guͤnſtig vorzuſtellen,
einzuſchmeicheln, durchzuhelfen, lag den armen Fluͤcht¬
lingen ſo nah, wurde von ihnen ſo leichtſinnig und an¬
muthig geuͤbt, daß ein ſolcher Verſuch ſchon wenig mehr
auffiel, noch fuͤr beſonders ſtrafbar gehalten wurde.
Rahel mußte die Moͤglichkeit zugeben, daß die Sache
ſich ſo verhielte, wie Mad. Guachet ſie erzaͤhlte; allein
der Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit behielt die Oberhand,
und anſtatt hoͤherer Theilnahme trat vielmehr einige
Erkaltung ein. Das Geſchick, uͤber welches die Arme
klagte, erwies wenigſtens in dieſem Zuge ſeine Tuͤcke
aͤcht, daß das ausgeſprochne Ungluͤck keinen Glauben,
und ſich dadurch nur verſchlimmert fand!
Den Zuſammenhang dieſer Verhaͤltniſſe zu erforſchen,
waͤre damals in Berlin ſo ſchwierig als nutzlos geweſen.
29[450] Das Leben des Tages war von naͤheren Bezuͤgen er¬
fuͤllt; ein Maͤhrchen oder eine Geſchichte mehr zu den
vielen, die man ſchon vernommen hatte, konnte die
Aufmerkſamkeit nicht lange feſthalten. Mad. Guachet
verließ auch Berlin bald wieder, und wollte nach Ru߬
land reiſen, wo ſie ſich guͤnſtige Ausſichten eroͤffnet
glaubte.
Wir verlieren hier den Faden ihrer Geſchichte; ob
ſie ſchon damals nach Rußland gekommen und mit ge¬
ſcheiterten Hoffnungen dorther zuruͤckgekehrt ſei, koͤnnen
wir nicht angeben. Wir finden ſie aber in den Jah¬
ren 1800 und 1801 wieder bei ihrer Freundin Fraͤu¬
lein von Schuckmann, mit der ſie in Mecklenburg und
Holſtein laͤngere Zeit engverbunden lebte. Auf dieſe
Freundin wirkte ſie mit großer Anziehungskraft, ſie
hatte ſich deren Herz und Sinn voͤllig angeeignet. Die
Ungleichheit ſelbſt, in welcher ſie bald als herriſche Ge¬
bieterin befahl, bald als liebendes Kind ſich anſchmiegte,
erhoͤhte den Reiz ihres Weſens, das in allem Aben¬
theuerlichen und Geringern, wozu ihre Lage ſie noͤthi¬
gen konnte, immer etwas von urſpruͤnglicher Hoheit
behielt.
Unter Bonaparte’s Konſulat ſchienen in Frankreich
fuͤr die Ausgewanderten neue Hoffnungen aufzugehen,
und auch Mad. Guachet verlangte heftig, in ihre Hei¬
math zuruͤckzukehren, und ihre Anſpruͤche dort zu ver¬
[451] folgen. Fraͤulein von Schuckmann begleitete ſie, fand
aber die Reiſe und das ganze Verhaͤltniß je laͤnger je
mehr bedenklich und unbefriedigend. Als in Frankfurt
am Main noch ein andres Frauenzimmer von guter
Herkunft und einigen Mitteln, aber nicht erfreulichen
Karakters ſich angeſchloſſen hatte, und kleine Raͤnke und
Widrigkeiten das Zuſammenſein noch mehr verbitterten,
erklaͤrte Fraͤulein von Schuckmann, die Reiſe nach Paris
nicht fortſetzen zu wollen, und kehrte von Mainz allein
zuruͤck. Sie behielt aber zeitlebens eine liebevolle An¬
haͤnglichkeit fuͤr die raͤthſelhafte Freundin, deren ungluͤck¬
liches Loos ſie noch in ſpaͤter Zeit mit ſchmerzlicher
Theilnahme beklagte.
Mad. Guachet kam nach Paris, wo ſie jedoch die
Umſtaͤnde ihren Abſichten nicht guͤnſtig fand. Bona¬
parte wuͤnſchte die alten adligen Familien fuͤr ſeine
Herrſchaft zu gewinnen, aber die ehemals regierende
Familie mußte er um ſo feindlicher ausſchließen. Ein
zweideutiges, geheimnißvolles Mitglied des Hauſes Bour¬
bon konnte nur ſein Mißtrauen, ſeinen Widerwillen
aufregen. Da Mad. Guachet in Paris mit einigen
Leuten umging, die ſich in dem Kriege der Vendee
thaͤtig erwieſen hatten, ſo vermehrte dies nur den Arg¬
wohn des damaligen Machthabers. Sie war in Paris,
durch die fruͤhern Verhaͤltniſſe von Berlin her, mit Fried¬
rich Schlegel bekannt geworden, und lebte einige Zeit
29 *[452] in großer Vertrautheit mit ihm. Er hat uns das
obige Bild ihrer Erſcheinung und ihrer Eigenſchaften,
wie ſie zuerſt von dem Berliner Aufenthalt her uns
uͤberliefert worden, durchaus beſtaͤtigt. Doch wagte auch
er uͤber die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Angaben
hinſichtlich ihrer Abſtammung und Schickſale nicht ab¬
zuſprechen. Sie hatte ihm ihre Begebniſſe umſtaͤndlich
vertraut, und wiewohl er ſie als leichtſinnige Frau
kannte, die ſehr in das Weſen einer Abentheurerin ver¬
fallen war, ſo mochte er ſie doch nie fuͤr eine Betruͤ¬
gerin halten.
Sie hatte ihm unter andern erzaͤhlt, daß ſie auf
ihren fruͤheren Irrfahrten auch nach Weimar gekommen
ſei, und dort ihre Kenntniß der techniſchen Chemie zum
Behuf eines bedeutenden Unternehmens habe anwenden
wollen, das aber ohne Genehmigung und Unterſtuͤtzung
des Herzogs nicht zu Stande kommen konnte. Deſſen
Guͤnſtling und Rathgeber habe jedoch die Sache fuͤr
eine Schwindelei gehalten, das Geſuch ſei abgewieſen,
und ihr ſelber der laͤngere Aufenthalt in Weimar nicht
geſtattet worden. Goethe ahndete nicht, daß er die
Perſon, welche als Eugenie ſein Innres mit ihren
Schickſalen erfuͤllen und befruchten ſollte, aus ſeiner
Naͤhe verſtieß, und ein Ungluͤck, deſſen geiſtige Betrach¬
tung ihm Mitleid und Antheil einfloͤßte, in der Wirk¬
lichkeit noch vermehrte! Als ihm dieſer Umſtand lange
[453] nachher zufaͤllig eroͤffnet wurde, ſchien er von dem un¬
erwarteten Zuſammenhange tief ergriffen, ſagte aber kein
Wort, ſondern ging erſt ſchweigend mehrmals im Zim¬
mer auf und nieder, bis er mit einer Art gewaltſamen
Entſchluſſes ploͤtzlich einen andern Gegenſtand zu be¬
ſprechen anfing.
Mad. Guachet durfte nicht iu Paris bleiben; ſie
wurde genoͤthigt, einen andern Aufenthalt zu waͤhlen.
Nach mancherlei Verhandlungen wurde ihr geſtattet,
unter Aufſicht der Polizei in Mainz, oder vielmehr in
Laubenheim, anderthalb Stunden von der Stadt, zu
wohnen. Hier galt ſie fuͤr eine Emigrantin, welche im
Vendeekriege eine bedeutende Rolle geſpielt habe, und
der Praͤfekt, Jean Leon Saint-André, hatte auf die
myſterioͤſe Perſon, wie er ſie ſelbſt nannte, ein beſon¬
deres Augenmerk; auch ließ ihr die Regierung eine Art
Penſion auszahlen.
Ein haͤßlicher Prozeß, in welchen ſie mit einem
Emigranten Hubert Saint-Déſiré gerieth, fuͤr deſſen
Gattin ſie ſeit einiger Zeit galt, gab ihrer Stellung
vor der Welt den letzten Stoß. Einiges Vermoͤgen,
welches bisher den angeblichen Eheleuten gemeinſam zu
gehoͤren ſchien, war der Gegenſtand des Zwiſtes. Der
Mann ließ eine Denkſchrift drucken und austheilen,
worin er ſeine nunmehrige Gegnerin mit ſchonungsloſen
Schmaͤhungen behandelte, und aus ihrem fruͤheren Leben
[454] allerlei Zuͤge anfuͤhrte, die ihr zum Nachtheil gereichen
ſollten. Die Unterſuchung ihrer Papiere brachte jedoch
kein Ergebniß gegen ſie; ihre Herkunft und fruͤheren
Verhaͤltniſſe blieben zweifelhaft. Indeß urtheilte das
Gericht in der Vermoͤgensſache zu Gunſten des Hubert
Saint-Déſiré, und Mad. Guachet, um ſich den wei¬
tern Anſpruͤchen und Verfolgungen ihres Gegnes zu
entziehen, verließ Mainz und begab ſich nach Frankfurt
am Main, von wo ſie bald nachher in Geſellſchaft einer
Schweizerin, mit der ſie ſchon in Mainz befreundet
geweſen, eine abermalige Reiſe nach Rußland unter¬
nahm. Dort ſoll ſie mit dieſer Gehuͤlfin vereint eine
Erziehungsanſtalt gegruͤndet haben. Alle weitern Nach¬
richten aber fehlen ſeitdem; wahrſcheinlich hat ſie ihren
Namen veraͤndert, und iſt in der entlegenen Fremde
unbekannt und unbeachtet geſtorben. Wenigſtens iſt zu
vermuthen, daß ſie die Wiederherſtellung der Bourbons,
wenn dieſes Ereigniß noch in ihre Lebenszeit gefallen
waͤre, eifrigſt benutzt haben wuͤrde, um neue Hoff¬
nungen und Verſuche fuͤr ihre Anſpruͤche damit zu ver¬
knuͤpfen.
War dieſe Frau von ſo merkwuͤrdigen Eigenſchaften
und Schickſalen nun wirklich eine Tochter des Prinzen
von Bourbon-Conti, oder hatte ſie nur eine Taͤuſchung
geſpielt, die jedenfalls eine traurige und unfruchtbare
war, und aus der, bei den waltenden Umſtaͤnden ihre
[455] wirklichen perſoͤnlichen Vorzuͤge kaum eine Nachhuͤlfe
hoffen konnten: ſo viel bleibt gewiß, daß die Memoi¬
ren der Stephanie Louiſe von Bourbon-Conti auf dem
Grunde eines wirklichen Lebenslaufs, einer damit zu¬
ſammenhaͤngenden weiblichen Perſoͤnlichkeit beruhen, und
wenigſtens inſofern keine litterariſche Erdichtung ſind.
Fräulein von Klettenberg.
In der Reihe der ſchoͤnen und lieblichen Menſchen¬
bilder, die gleich Sternen uns auf dem tiefblauen
Grunde des Goethe'ſchen Lebens hervorſtrahlen, haben
wir uns immer von zweien beſonders angezogen ge¬
fuͤhlt, die wohl mit gutem Recht aus aͤußerer Getrennt¬
heit zu gemeinſamer inneren Wirkung ſich freundlich
vereinigen! Dieſe beiden ſind: Fraͤulein von Kletten¬
berg und Corona Schroͤter! Ueber Beide wuͤnſchten
wir wohl beſondere Denkblaͤtter geſammelt, Umriſſe
ihrer Erſcheinung, ihrer Gemuͤthsart, ihrer Begabung,
ihrer Schickſale. Von der Hand eines geſchickten Zeich¬
ners wuͤrden hier zwei koͤſtliche Bilder zu erwarten
ſein, beſonders auch durch die Zuſammenſtellung be¬
deutend und lehrreich, wie alles wahrhaft aus dem
Leben Geſchoͤpfte und dem Leben Wiedergegebene. Wie
ſchoͤn wuͤrde z. B. Theodor Mundt dieſe Aufgabe loͤſen,
der in zarter, ſinniger Auffaſſung der Frauenkaraktere
ſchon ſo Ausgezeichnetes geleiſtet hat!
[457]
Zu dieſer Betrachtung veranlaßt uns der Anblick
einiger Blaͤtter von und uͤber Fraͤulein von Kletten¬
berg, die uns zufaͤllig in die Haͤnde kommen, und
durch deren Mittheilung wir viele Leſer zu verpflichten
hoffen.
Fraͤulein von Klettenberg, welche als Stiftsdame
in Frankfurt am Main lebte und mit dem Goethe’ſchen
Hauſe innig befreundet war, iſt bekanntlich das Vorbild
zu der „ſchoͤnen Seele“ im Wilhelm Meiſter, deren
dort eingeſchaltete Bekenntniſſe eine der wunderbarſten
Leiſtungen des dichtenden Genius ſind, indem derſelbe
auch in den Gebieten, die ihm fremd ſcheinen, ſich
vollkommen heimiſch und ſogar herrſchend erweiſt. Die
reinſte Froͤmmigkeit, mit ihren zarteſten Wandlungen
und Ausdruͤcken, iſt in jenen Bekenntniſſen nicht nur
Schilderung, ſondern wirkliches Leben, ſo daß dieſes
Buch als wahrhafte Erbauung dienen kann, und ſchon
oft mit dieſer Wirkung geleſen worden iſt. Der Graf
Leopold Stolberg ſonderte die Blaͤtter, welche dieſe
Bekenntniſſe enthalten, von dem uͤbrigen Roman ſorg¬
ſam aus, ließ ſie einbinden, und hielt ſie wie ein
Kleinod, deſſen Zuſammenhang mit dem ſonſtigen,
fuͤr ihn abſtoßenden Inhalt des Wilhelm Meiſter er
nicht anerkennen wollte! So viel iſt gewiß, ein ſchoͤ¬
neres, edleres, beruhigenderes Bild, als das dieſer von
aͤchter Froͤmmigkeit durch die Wogen der Welt gluͤcklich
durchgefuͤhrten Seele, vermag kein Dichter innerhalb
[458] der gegebenen Bedingniſſe aufzuſtellen. Es war naͤmlich
nicht die Aufgabe, eine religioͤſe Heldin, eine begeiſterte
Prophetin oder Maͤrtyrerin zu ſchildern, ſondern nur
ein ſtilles Leben, ein Leben, das auf der gewoͤhnlichſten
Weltlichkeit ruht, aber dennoch in der Froͤmmigkeit den
Mittelpunkt findet, der es den hoͤchſten Lebensentwick¬
lungen gleichſtellt; Wilhelm von Humboldt hat Unrecht,
die Schranken, in welche der Dichter ſeine Schilderung
zuſammenfaßt, als eine Beſchraͤnktheit der geſchilderten
Perſon anzuſehen, wie er dies in einem Briefe an
an Schiller thut. Ueber Fraͤulein von Klettenberg hat
ſich eine muͤndliche Erzaͤhlung erhalten, die merkwuͤrdig
iſt. Was in den Bekenntniſſen einer ſchoͤnen Seele
von einem ausgezeichneten Manne, der dort mit dem
Namen Narciß bezeichnet iſt, und von ſeinem Verhaͤlt¬
niſſe zu der ſchoͤnen Seele geſagt wird, beruht auf
thatſaͤchlichen Erlebniſſen, die durch dichteriſche Einklei¬
dung nur wenig ausgefuͤhrt worden. Der Mann,
welcher Fraͤulein von Klettenberg heirathen wollte, und
mehrere Jahre als ihr Braͤutigam in ihrer Naͤhe lebte,
war ein Herr von Olenſchlager, ein geborner Frank¬
furter. Fraͤulein von Klettenberg hatte ſeinen Karakter
fruͤh durchſchaut, und wußte es lange vorher, daß er
ſich von ihr ganz zuruͤckziehen werde. Sie ſprach dies
auch mehrmals unbefangen gegen ihn aus, und bat ihn
nur um die einzige Aufrichtigkeit, daß er es ihr nicht
verhehlen moͤchte, wenn er einem andern Frauenzimmer
[459] gewogen wuͤrde, ſie wuͤnſche dies zuerſt von ihm zu
hoͤren, und wuͤrde ungern durch Andre damit uͤber¬
raſcht werden. Er war beſtuͤrzt, verlegen, und konnte
und mochte doch den Ausſpruch, der ihn freigab und
jene Moͤglichkeit ſetzte, nicht ablehnen. Er verſprach,
den billigen Wunſch genau zu erfuͤllen, betheuerte, daß
er jetzt noch keineswegs in dem vorausgeſetzten Falle
ſei, und fuͤgte unaufgefordert, durch ſein boͤſes Gewiſ¬
ſen gereizt, die Verwuͤnſchung hinzu, wenn er falſch
rede, ſolle ſein erſter Sohn taub und blind zur Welt
kommen! Fraͤulein von Klettenberg ſchauderte, und
verwies ihm den Frevel, den ſie nicht hoͤren wollte:
zweifelte aber nun nicht an ſeiner Falſchheit. Sie ſah
ihn nicht wieder. Nach einiger Zeit verheirathete ſich
Herr von Olenſchlager, und traf eine ſeinem Sinn und
ſeinen Verhaͤltniſſen ſehr entſprechende Parthie. Weitere
Umſtaͤnde in Betreff ſeines Verſprechens gegen Fraͤulein
von Klettenberg ſind nicht bekannt. Nur ergab ſich
die ſchreckliche Thatſache, daß Frau von Olenſchlager
in ihrem erſten Wochenbette mit einem Sohne nieder¬
kam, der taub und blind war!
Fraͤulein von Klettenberg hat ſich in Gedichten ver¬
ſucht. Man muß die Zeit, in welche ihre Jugendbil¬
dung und ihre Lebensbluͤthe faͤllt, in Anſchlag bringen,
die Zeit Gottſched's, und darauf Gellert's! In einer
unreifen, abgeſchwaͤchten Sprache, und in beſchraͤnkten
Versarten, wußte ſie Zartheit ihres Sinnes und die
[460] Kraft ihres Gemuͤths eigenthuͤmlich auszudruͤcken. Man
wird nicht ohne Ruͤhrung die nachſtehenden Zeilen leſen,
die ſich von ihr erhalten haben, werthe Reliquien eines
ſchoͤnen Daſeins, ſo viel uns bekannt die einzigen von
ihrer eignen Hand noch uͤbrigen, denn vergebens haben
wir nach mehreren Gedichten oder Briefen von ihr an
manchen Orten geforſcht. Die drei erſten dieſer Ge¬
dichte gehoͤrten zu einer groͤßeren Sammlung, die ſie
„Anfangslieder“ genannt hatte. Das vierte, eines
mehr weltlichen Inhaltes, ſchließt ſich doch ebenfalls
der frommen Betrachtungsweiſe an, die in den erſtern
herrſcht, und von welcher ſelbſt ihre heitern Launen
und Scherze, denen ſie auch in Krankheitsleiden ernſter
Art nicht entſagte, ſtets beſeelt geweſen ſein ſollen.
Dieſe Gedichte haben ſich in den Papieren Rahel’s vor¬
gefunden, welche ſie in Frankfurt am Main bekommen
zu haben ſcheint.
1.
Jeſus.
2.
In meine Bibel.
3.
An Ihn.
4.
An die Spindel.
Fraͤulein von Klettenberg.
Ueber die von Goethe gefeierte Corona Schroͤter,
deren Leben antik Heitres mit andern Tragiſchem ver¬
bindet, und die als eine Muſe in dem hoͤchſten und
geiſtreichſten Lebenskreiſe doch nur als eine Fremde
erſchien, dieſes einſah, und ſich mit Faſſung und An¬
ſtand zuruͤckzog — erſt aus dem Weltverkehr, dann
aus dem Leben — theilen wir vielleicht in der Folge
einige naͤhere Betrachtungen mit.
Briefwechſel zwiſchen Goethe und Schultz.
Bonn, 1836.
Der Briefe ſind nur wenige, und ſie beſchraͤnken ſich
auf einen engen Zeitraum; ihr Inhalt aber iſt bedeu¬
tend, und der Beitrag wichtig, den ſie zur perſoͤnlichen
Karakteriſtik liefern. In Betreff Goethe's iſt der letz¬
tere Gewinn leicht erfaßt, weil alles ſich an ſchon Be¬
kanntes anſchließt; aber fuͤr den zweiten Namen bedarf
es einiger naͤheren Angaben, um den ganzen Mann
ſehen zu laſſen, von dem ſich in den Briefen gleichſam
nur eine Fingerſpitze zeigt, oder hoͤchſtens einmal die
Hand vorſtreckt. Schultz aber war ein ſehr merkwuͤr¬
diger, im Leben ſich kraͤftig umthuender und nachdruͤck¬
licher Mann, der als Staatsrath, oder Geheimer Ober-
Regierungsrath, wie der Titel ſpaͤterhin lautete, gar
ſehr an ſeiner Stelle war, doch im Vaterlande die Be¬
dingungen, wobei ſein ganzes Weſen zur vollſten Ent¬
wicklung gekommen waͤre, gluͤcklicherweiſe nicht finden
konnte; wir ſagen gluͤcklicherweiſe, denn dazu haͤtte es
[464] ſchwieriger Gewaltherrſchaft, heftiger Einſchreitungen und
unnachſichtlicher Willensſtrenge bedurft, wie etwan ein
Praͤfekt Napoleons ſie in vielen Faͤllen ausuͤben mußte,
zu welcher Stellung Schultz gewiß trefflich getaugt haͤtte
wiewohl er in ſeiner gegebenen Laufbahn, durchaus
deutſchgeſinnt und ſeinem Fuͤrſten mit eifrigſter Treue
zugethan, das Reich und den Herrſcher der Franzoſen
mit gluͤhendem Haſſe ſtets bekaͤmpfte. In dem geord¬
neten, auf milde Gerechtigkeit geſtuͤtzten und friedlich
und erſchuͤtterungslos auf ſtufenweiſe Fortbildung ange¬
wieſenen Staate war fuͤr die Kraftrichtung unſres Schultz
keine Gelegenheit, und die Mißverhaͤltniſſe, in die ſein
Karakter ihn gerathen ließ, mußten ihn erdruͤcken.
Aus einer altpreußiſchen ehrbaren Bauernfamilie ſtam¬
mend hatte Schultz die ſtarre, trockne Unerſchuͤtterlich¬
keit, welche den Landleuten ſo haͤufig eigen iſt, und auf
ſolchem feſtem Grunde war bei ihm, der durch Schul¬
und Univerſitaͤtsſtudien ſich trefflich ausbildete, die feinſte
und zarteſte Geiſtesbeweglichkeit hervorgewachſen, in wel¬
cher doch immer wieder, und oft im ganz unerwarteten
Augenblick, der urſpruͤngliche Boden durchſchmeckte, und
eine leiſe Biegung ploͤtzlich zur eiſernen Feſtigkeit er¬
ſtarrte. Schultz war ein ſchoͤner Mann, von einneh¬
mender Grazie, edel in ſeinen Triebfedern wie in ſeinen
Gedanken, er ſtellte ſich von ſelbſt in die Reihe der ſitt¬
lich- und geiſtig-Beſten. Zuerſt in den fraͤnkiſchen Fuͤr¬
ſtenthuͤmern bei der Regierung angeſtellt, hatte er in
[465] dem Miniſter Freiherrn von Hardenberg ein ſchoͤnes Vor¬
bild einſichtiger und freundlicher Wirkſamkeit; auch ge¬
wann er durch das ſinnige und entſchloſſene Weſen, das
in ihm durchblickte, die gute Meinung dieſes Staats¬
mannes, der ihn nicht wieder aus den Augen verlor.
Durch den Krieg nach Berlin zuruͤckgeworfen, rang
Schultz waͤhrend der Ungluͤcksjahre muthig gegen die
Drangſale des Vaterlandes; er war einer der entſchie¬
denſten und heftigſten Franzoſenfeinde, hatte jedoch den
guten Sinn, bei bittrem Deklamiren ſich nicht lange
aufzuhalten, ſondern wandte ſeinen Geiſt wie ſeine Thaͤ¬
tigkeit, wo fuͤr gemeinnuͤtzige Zwecke nichts unmittelbar
zu leiſten war, alsbald auf hoͤhere Gegenſtaͤnde der Wiſ¬
ſenſchaft und der Kunſt, und ſchloß die mannigfachſten
Wege in dieſen Gebieten fuͤr ſeinen Forſchungstrieb auf.
Nach den Befreiungskriegen bekam er eine feſte Anſtel¬
lung in dem Kultusminiſterium. Hier wirkte er in
Verein mit Hirt nachdruͤcklich zu dem Ankauf der Solly’¬
ſchen Gemaͤldeſammlung, ein Gegenſtand, an welchen
noch viele Jahre hindurch ſich vielfacher Kampf und Wi¬
derſpruch leidenſchaftlich anknuͤpfte. Schultz war auch
in den politiſchen Eroͤrterungen, die darauf eine Zeit
lang die Menſchen uͤber Gebuͤhr beſchaͤftigten, einer der
heftigen Eiferer, und bildete mit Schleiermacher und
Andern eine Art doktrinairer Parthei.
Als aber, in Folge der Karlsbader Beſchluͤſſe, bei
den Univerſitaͤten beſondere Aufſeher unter dem Namen
30[466] Regierungsbevollmaͤchtigte gemacht und Schultz zu die¬
ſem wichtigen Amte fuͤr Berlin ernannt wurde, trennte
er ſich von ſeinen bisherigen Freunden, und entſagte
nicht nur jeder Oppoſition, ſondern verfolgte ſie mit
allem Nachdruck. Die ihm eroͤffnete außerordentliche
Wirkſamkeit nahm ihn gaͤnzlich hin, und der bisherige
Liberale wurde zum grimmen Ultra. Die Demagogen,
Buͤndler, Burſchenſchafter, und ihre Goͤnner und Unter¬
ſtuͤtzer, ſo wie die Schriftſteller, welche in der Oppo¬
ſition verharrten, bekamen in ihm den unerbittlichſten,
beharrlichſten Feind; er wußte in ſeinem Eifer kein
Maß, und achtete den Groll nicht, den er bei ſeinen
ehmaligen Freunden durch ſeine nunmehrige Art erweckte.
Sein Grimm, ſeine Starrheit, brachten ihn jedoch in
Verwicklungen, wo er keinen Ausweg fand. In ſeinem
Verdruſſe mißkannte er ſeine Stellung gegen hoͤhere
Staatsbehoͤrden, er trotzte, beſchuldigte, klagte an, wo
er nur haͤtte gehorchen und ſich fuͤgen ſollen. Zum Gluͤck
fuͤr ihn war die hoͤchſte Staatsverwaltung nicht ſo ein¬
ſeitig ſtreng, ſo ruͤckſichtslos hart, wie er ſie haben
wollte, wie er in ſeinem Wirken ſie auszudruͤcken ſuchte;
anſtatt entlaſſen zu werden, wie er von ſolchen Obern,
die ihm geglichen haͤtten, muͤßte erwartet haben, wurde
er bloß von ſeiner Amtswirkſamkeit entfernt, und mit
dem Genuſſe ſeiner vollen Beſoldung zur Ruhe geſetzt.
Er war ſich ſeiner Redlichkeit bewußt, und dieſe war
in der That fleckenlos, er trotzte auf ſeine Unentbehr¬
[467] lichkeit, doch hierin taͤuſchte ſein Stolz ihn allzuſehr;
genug, zuͤrnend und grollend zog er ſich zuruͤck, uͤber¬
zeugt, daß man ihn bald wieder rufen muͤſſe, und
waͤhlte ſich Wetzlar zum einſtweiligen Aufenthalt.
Hier warf er ſich, um ſeine ſelbſtauferlegte Bann¬
muße zu zerſtreuen, mit neuem Eifer auf wiſſenſchaft¬
liche Forſchungen, und hier beginnt auch die Mittheilung
ſeines Briefwechſels mit Goethe. Schon laͤngere Zeit
hatte er ſich dem Großmeiſter deutſchen Dichtens und
Forſchens mit Liebe genaht, war in deſſen Angelegen¬
heiten eingegangen, hatte der Farbenlehre deſſelben hef¬
tig zugeſtimmt, in Beobachtungen der Atmoſphaͤre, in
Alterthums- und Kunſtſachen, ſich ihm angeſchloſſen,
und nach ſeiner leidenſchaftlichen Art eine wahre Innig¬
keit der Verehrung und Liebe fuͤr Goethe'n huldigend
an Tag gelegt. In der jetzigen Lage, rauh und duͤſter
gegen die uͤbrige Welt, wandte ſein Gemuͤth nur um
ſo eifriger alle weiche Zaͤrtlichkeit auf dieſes Verhaͤltniß,
das in der That keine geringe Geltung fuͤr die eigne
Empfindung und die groͤßte fuͤr die Außenwelt haben
mußte.
Schultz hatte den Trieb, ſich mit abſonderlichen,
ſchwierigen Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen, und die Macht
ſeines Genius ſollte durchaus zu großen Reſultaten
durchdringen. Der Zufall fuͤhrte ihn auf roͤmiſche Bau¬
werke, ſodann auf die roͤmiſche Staatsverfaſſung. Un¬
gluͤcklicher konnte er ſeine Richtung nicht nehmen. In
30 *[468] dieſen Gebieten, wo ein ungeheurer Vorrath durchar¬
beiteter Kenntniſſe noͤthig iſt, koͤnnen Scharfſinn und
Divination ohne jene Grundlage wenig leiſten. Schultz
war auf dieſem Boden ein dilettantiſcher Autodidakt,
und ſein Eigenduͤnkel ging bis zur Verwegenheit. Ohne
eigentliche Geſchichts- und Antiquitaͤten-Kenntniß, ohne
Griechiſch und mehr als oberflaͤchlich Lateiniſch zu wiſ¬
ſen, meinte er die vorgefundenen Anſichten umſtoßen,
und ein ganz neues Licht anzuͤnden zu koͤnnen. In den
Briefen an Goethe legt er ſeine erſten Verſuche dieſer
Art nieder. Er verwirft ohne weiteres die Authentie
des Pomponius Mela, der ihm nicht in ſeine Vorſtel¬
lungen paßt, und eben ſo die Authentie des Vitruvius.
Er taͤuſcht ſich ſelber, und meint, indem er ſeinen Ei¬
genſinn und ſeine Willkuͤr in Einzelheiten weiterausbil¬
det, dadurch gruͤndlich zu ſein. So weiß er bald ganz
genau, daß der Pomponius Mela ein muthwilliges
Jugendwerk des Boccaccio iſt, der dabei wahrſcheinlich
eine im neunten oder zehnten Jahrhundert auf Monte
Caſſino kompilirte Skizze zum Grunde gelegt; ſo weiß
er nicht minder, daß Vitruvius im zehnten Jahrhundert,
wahrſcheinlich von Pabſt Sylveſter II., als Abt Gerbert
zu Bobbio, aus griechiſchen und roͤmiſchen Nachrichten
kompilirt worden, mit vielen andern genauen Vermu¬
thungen, die ſich ihm ſogleich als Gewißheit feſtſtellen.
Ihm iſt es ganz recht und lieb, mit der großen gelehr¬
ten Welt hier in offnen Widerſpruch und Krieg zu
[469] treten; er zweifelt nicht, die groͤßten Autoritaͤten unter
ſeinen Scharfſinn zu beugen, ſie ſeinem Genius zu un¬
terwerfen!
Merkwuͤrdig iſt es, wie Goethe ſich hiebei gegen
den leidenſchaftlichen Freund verhaͤlt! Er traut ihm Be¬
deutendes zu, er weiß, wie ſehr die Maͤnner vom Fach
oft verblendet ſind, wie beſtritten und verlacht oft das
Spaͤtbewaͤhrte anfangs hat auftreten muͤſſen; er mun¬
tert ihn daher auf, und ſtuͤtzt ihn, ſo weit er es ver¬
mag; allein er dringt mit Vorſicht auf ſtrenge Gruͤnd¬
lichkeit, und dieſe kann im vorliegenden Falle, bei dem
Mangel an gelehrter Umſicht und Vollguͤltigkeit, nur
in ſaͤchlich Poſitivem liegen. Auf dieſes weiſet daher
Goethe gern zuruͤck, auf die beſtimmte roͤmiſche Mauer,
die vor Augen iſt, auf den deutlichen Einzelbericht des
Frontinus von Waſſerleitungen. In die Wagniſſe phi¬
lologiſcher Kritik geht er nicht ein, nur den Weg freier
Anſchauung wuͤnſcht er fuͤr die Kritik offen zu erhalten.
Wir ſind unſrestheils uͤberzeugt, daß Schultz nicht
in bloßem Wahne gefaſelt, ſondern etwas Richtiges
wahrgenommen, aber mit Haſt und Gewalt uͤbel ver¬
arbeitet hat. Sein Karakter veruͤbte hier in der Wiſ¬
ſenſchaft, wie fruͤher in der Amtswirkſamkeit, die eigen¬
ſinnigſten Verkehrtheiten, und wie ſchon hier, ſo mußte
noch ſchneller dort ſein Verfahren in den groͤßten Nach¬
theil fuͤr ihn ſelbſt umſchlagen. Sein ſpaͤteres Werk, uͤber
roͤmiſche Verfaſſung, gegen Niebuhr, Savigny und Boͤckh
[470] gerichtet, kommt in dieſen Briefen noch nicht vor. Es
iſt bekannt, wie er damit in der gelehrten Welt voͤllig
verungluͤckt iſt; nicht einmal großen Laͤrm hat er damit
bewirken koͤnnen. Er ging an ſeiner Vermeſſenheit, an
ſeinem Stolz und Eigenſinn, buchſtaͤblich zu Grunde;
der Tod uͤbereilte ihn im Groll ſeiner allſeitigen Zer¬
wuͤrfniß und Niederlage.
Schultz bleibt jedoch bei allen ſeinen Maͤngeln, an
denen oft Andre leiden mußten, am meiſten aber er
ſelbſt litt, ein Mann von hoͤchſt achtbaren Seiten. Sein
Karakter hatte Großartiges, und wuͤrde in Verhaͤltniſ¬
ſen, die ihm ganz entſprochen haͤtten, das Außerordent¬
lichſte geleiſtet haben. Was er geiſtig zu Tage gefoͤr¬
dert, laſſen wir als problematiſch auf ſich beruhen,
gewiß aber iſt nicht alles geradehin zu verwerfen, und
es bleibt immer ein Verdienſt, ſo ruͤckſichtslos und mu¬
thig anzugehen, wie er gethan. Neben ſeiner Zankſucht
und ſeinem Eigenſinn konnte er aber auch ſehr liebens¬
wuͤrdig ſein, aͤcht liebevoll und liebebeduͤrftig, wie die¬
jenigen wohl erfahren, die ihn naͤher gekannt! Auch
Goethe kannte ihn von dieſer Seite, und legte gern ſein
inniges Herzensvertrauen in das empfaͤngliche Gemuͤth
ſeines Freundes und Anhaͤngers nieder. Zeugniß davon
giebt beſonders der Brief vom 10. Januar 1829, der
uͤber Goethe’s Verhaͤltniß zu ſeinen Werken und dieſer
zu dem Publikum die gehaltvollſten Bekenntniſſe mit¬
theilt. — In keinem Fall iſt der Briefwechſel hier ſchon
[471] vollſtaͤndig mitgetheilt. Es fehlt der Anfang und der
Schluß, die man nach dieſer Darlegung des Karakteri¬
ſtiſchen, welches an der Perſon haftet und von ihr auf
die Briefblaͤtter uͤbergeht, nur mit deſto groͤßerem An¬
reize begehren wird.
Geſpräche mit Goethe
in den letzten Jahren ſeines Lebens.
Von
Johann Peter Eckermann.
Wir empfangen hier Goethe’s Konverſationen — ein
herrliches Geſchenk, fuͤr das wir Herrn Eckermann
hoͤchlich verpflichtet ſind, — anſtatt aber den Inhalt
kritiſch zu eroͤrtern, und in dem Wolkenſpiel und Wet¬
terſtande der Unterhaltungen beſtimmte Formationen
aufzuſuchen und geſetzliche Folgerichtigkeiten darin nach¬
zuweiſen, wollen wir lieber die Gelegenheit benutzen
und hie und da ein Wort mitſprechen, alſo wirklichen
Antheil an der Konverſation nehmen, ſie erweitern, fort¬
ſetzen, ergaͤnzen, zuſtimmend, erlaͤuternd, beſtreitend,
wie es der Anlaß und der Stoff uns grade geſtatten
moͤgen. Das Buch ſelber zu leſen, und nach indivi¬
duellem Maß in ſich aufzunehmen, und ſich davon an¬
regen und befruchten zu laſſen, wird ohnehin kein Freund
deutſcher Bildung und Goethe’s verabſaͤumen. —
[473]
I.
Merkwuͤrdig iſt vor allem das Verhaͤltniß Goethe's
zu der ſogenannten neuen Schule, den beiden Schlegel,
Tieck, Novalis und ihren Freunden. Er wird von
ihnen geprieſen und vergoͤttert, ſo viel ſie nur koͤnnen;
ſie ſuchen alle andern geruͤhmten Namen um ihn her
auszuloͤſchen, um den ſeinen allein uͤbrig zu laſſen, dem
hinfort ausſchließlich aller Weihrauch duften ſoll. Be¬
ſonders gehen ſie darauf aus, den Naͤchſten nach ihm,
den ihnen Gefaͤhrlichſten und Unguͤnſtigſten unter allen
Namhaften, ſeinen Freund Schiller zu untergraben. Dies
gelingt ihnen auch zum Theil, zwar nicht bei dem
großen Publikum, wohl aber bei den aͤſthetiſch Gebil¬
deten, wo Schillers Anſehn noch jetzt an jenen Herab¬
ſetzungen leidet, deren Ziel er ſo lange Zeit geweſen.
Und wie treiben ſie es? Greifen ſie ihn wiſſenſchaftlich
an? durch gruͤndliche Unterſuchungen, tief eingehende
Pruͤfung ſeiner Erzeugniſſe? durch Beweisfuͤhrungen,
denen nicht zu widerſprechen iſt? ſchreiben ſie Buͤcher,
Abhandlungen, Kritiken gegen ihn? Nichts von allem
dieſen. Sie ſetzen mit laͤchelnder Selbſtgefaͤlligkeit feſt,
Schiller tauge nichts, ſie bemitleiden die Schwachen,
die das nicht einſehn, ſie wiederholen ihren Satz uner¬
muͤdet, in Verſen, in Proſa, in Vorleſungen, im Ge¬
ſpraͤch, ſie rufen ihn beſonders der Jugend zu, die leicht¬
ſinnig und pruͤfungslos das Vernommene tauſendfach
wiederholt. Erſt mit Schillers Tode, da ſeine Neben¬
[474] buhlerſchaft nicht mehr zu fuͤrchten iſt, bequemen ſie
ſich zu einiger Anerkennung, zu der auch ſchon die oͤffent¬
liche Meinung ſie zwingt, denn es verlautet von vielen
Seiten allzu herbe, daß Neid und Ohnmacht ihr ab¬
ſprechendes Urtheil einfloͤßen. Die Anerkennung Schillers
ſteigt darauf mit jedem Jahr, je nachdem die neue
Schule ſeiner mehr und mehr bedarf, um ihn Goethe’n
entgegenzuſetzen, mit dem ſie unzufrieden iſt, den ſie
auch gern wieder herabbringen und einſchraͤnken moͤchte,
gegen den ſie allerlei Winkelzuͤge verſucht, den aber
geradezu anzugreifen ſie weder den Muth noch die
Faͤhigkeit hat! Man ſehe nur die Vorleſungen nach,
in denen bald Wilhelm Schlegel, bald Friedrich ihre
fruͤhern Lobſpruͤche fuͤr Goethe bedingen, mit Tadel
verknuͤpfen, oder mittelbar zuruͤcknehmen! Die Urſache
hiervon iſt kein Geheimniß. Goethe hat die Vergoͤtte¬
rung hingenommen, ohne dafuͤr zu danken; er hat die
Talente der Schlegel gelten laſſen, er hat ihre beſſeren
Beſtrebungen unterſtuͤtzt, aber die Lobſpruͤche, die ihm
gegeben wurden, durch aͤhnliche zu erwiedern ließ er ſich
nicht bewegen; ja er ſcheint fruͤh erkannt zu haben,
daß die beiden Bruͤder weit mehr ſich ſelber meinten,
als ihn, daß ſie den Raum zu gewinnen dachten, den
ſie um Goethe herum ſaͤubern wollten, und es war
gar nicht ihre Rechnung, daß er ſie nicht hereinrief,
und als ſeines Gleichen aufnehmen wollte. Goethe hat
nie ſeine Lober angereizt, nie ſie zur Fortſetzung auf¬
[475] gemuntert, nie durch Ungerechtigkeit oder Einſtim¬
mung in bloße Partheiſache ſich die Gunſt der Kritiker
zu erhalten geſucht. Im Gegentheil, er zeigte es un¬
verholen, daß nur Wahrheit und Aechtheit ihn beſtim¬
men koͤnne, daß unreines Lob ihn eben ſo wenig angehe,
als unreiner Tadel. Er behielt ſeinen geliebten Schiller
in treuem Andenken, er wußte ſeinen Wieland zu ſchaͤtzen
und zu ehren, und ſonderte ſich ſchon dadurch von der
Schlegel'ſchen Parthei ſtreng ab, die ihn vergebens als
ihr Haupt und als ihren Fuͤhrer vorſtellen wollte, er
nahm die aufgedrungene Feldherrnſchaft niemals an, und
blieb in ſeiner abgeſonderten, ſelbſtſtaͤndigen, freien
Stellung. Erſt nachdem die Schlegel ſelber theils in
den Hintergrund gewichen, theils zu andern Richtungen
uͤbergegangen waren, traten Goethe's unbefangene Ur¬
theile uͤber ſie hervor, z. B. in den Briefen an Schiller,
an Zelter, in den Jahres- und Tagesheften, wo er ſie
nach Verdienſt wuͤrdigt, ſie in einigen Stuͤcken ruͤhmt
und ſich ihnen zu Dank verpflichtet bekennt, ſie in
andern tadelt, und an ihren Ort ſtellt. Zu bemerken
iſt hierbei, daß Goethe nach dem Verſtummen des
Schlegel'ſchen Beifalls in den ihm gebrachten Huldi¬
gungen keinen Abgang wahrnehmen konnte; die Zeit¬
genoſſen ſeiner fruͤheren Jahre blieben ſeine treuen Ver¬
ehrer, und unter den juͤngern Mitlebenden wandte ein
zweites und drittes Geſchlecht ſich ihm nur ſtets enthu¬
ſiaſtiſcher zu. Die Schlegel erſchienen ganz uͤberfluͤſſig
[476] fuͤr ihn, und konnten bleiben oder gehen, fuͤr den Glanz
ſeiner Stellung war beides unerheblich.
In dieſen Geſpraͤchen mit Eckermann wird dieſes
Verhaͤltniß auch mehrmals beruͤhrt, und bei allem
Tadel, der mitunter ausgeſprochen wird, iſt eine große
Anerkennung, und ſelbſt eine wirkſame Vorliebe nicht
zu verkennen. Ueberhaupt lobt Goethe lieber, als daß
er tadelt, und wo letzteres vorkommt, iſt er gewiß
dazu gezwungen. Die bedeutendſte Stelle in dieſem
Betreff iſt unſtreitig die, wo von Tieck die Rede iſt.
Goethe ſagt hier ganz unbefangen: „Als die Schlegel
anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu maͤchtig,
und um mich zu balanciren, mußten ſie ſich nach einem
Talent umſehen, das ſie mir entgegenſtellten. Ein
ſolches fanden ſie in Tieck, und damit er mir gegen¬
uͤber in den Augen des Publikums genugſam bedeutend
erſchiene, ſo mußten ſie mehr aus ihm machen, als er
war. Dies ſchadete unſerm Verhaͤltniß; denn Tieck
kam dadurch zu mir, ohne es ſich eigentlich bewußt zu
werden, in eine ſchiefe Stellung. Tieck iſt ein Talent
von hoher Bedeutung, und es kann ſeine außerordent¬
lichen Verdienſte niemand beſſer erkennen, als ich ſelber;
allein wenn man ihn uͤber ihn ſelbſt erheben und mir
gleichſtellen will, ſo iſt man im Irrthum.“ Hier wer¬
den die Gegner aufſchreien und ihn des Selbſtlobes
beſchuldigen, des Hochmuths, der Anmaßung! Aber
hoͤren wir ihn weiter! Er ſetzt ſogleich hinzu: „Ich
[477] kann dieſes gerade herausſagen, denn was geht
es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es
waͤre eben ſo, wenn ich mich mit Shakeſpeare verglei¬
chen wollte, der ſich auch nicht gemacht hat, und der
doch ein Weſen hoͤherer Art iſt, zu dem ich hin¬
aufblicke und das ich zu verehren habe.“ Wo
iſt wohl noch ein ſolches Wort geſprochen worden, in
welchem Hoheit und Demuth ſo herrlich und fromm
verbunden ſind?—
2.
Einem harten ſchroffen Satz uͤber Uhland, in Goethe's
Briefen an Zelter, ſtellen ſich hier mildere, anerken¬
nende und hochſchaͤtzende Aeußerungen zur Seite. Wir
ſehen, daß Goethe den edlen ſchwaͤbiſchen Dichter voll¬
kommen gelten laͤßt, aber auch die Seite nicht ver¬
ſchweigt, von der ſeinem Talente Gefahr drohte, und
ſeit einiger Zeit wirklich eingetreten iſt. Auffallend iſt
in Uhland die ſeit ſechzehn Jahren ſtockende Produk¬
tivitaͤt, und zu dieſem Stocken findet ſich der Grund
theils in ſeinem eignen Naturell, theils in den Lebens¬
umſtaͤnden, denen er ſich unterwerfen wollte. Doch
ſcheint auch in Goethe ſelber ein Hinderniß zu walten,
das ſeiner Anerkennung Uhlands immer noch einigen
Eintrag thut. Er, der Meiſter lyriſcher Poeſie, der zu
zwanzig und zu achtzig Jahren in ſeinen Liedern —
wie Friedrich Schlegel ſagt — gleich vortrefflich iſt,
[478] ſcheint fuͤr fremde lyriſche Poeſie nicht den freien und
erregbaren Sinn gehabt zu haben, den er fuͤr andere
Dichtungsarten ſo herrlich bewaͤhrt. Ein Urtheil uͤber
Paul Flemming, welches Eckermann mittheilt, beſtaͤtigt
uns in dieſer Meinung. Dieſer große, jugendfriſche
Lyriker, deſſen Gefuͤhl und Ausdruck uͤber zwei Jahr¬
hunderte hinaus noch heute dem hoͤchſten poetiſchen Be¬
duͤrfniſſe genuͤgen kann, befriedigt Goͤthe’n keineswegs,
und faſt findet er ihn ungenießbar! Hierin koͤnnen wir
ihm durchaus nicht beiſtimmen, obwohl wir es ihm
ſonſt nicht verargen, ſondern im Gegentheil hoch an¬
rechnen, daß er einer bloß philologiſchen Bewunde¬
rung und Begeiſterung, mit der ſo viele Leute ſich be¬
helfen, gar nicht faͤhig war. Uebrigens verhehlen wir
nicht, daß Flemming’s Talent uns dem Uhland’ſchen
wohl zu vergleichen ſcheint, in ſofern beide einer Le¬
bensjahrszeit angehoͤren, welche den Liederbluͤthen guͤnſtig
iſt, und nach deren Ablauf ſich dieſe verlieren. Denn,
wiewohl Flemming dieſen Ablauf nicht erlebt hat, ſon¬
dern nach der Ruͤckkehr von ſeiner Reiſe in den Orient
inmitten der ſchoͤnſten Jugend und reichſten Poeſie fruͤh¬
zeitig ſtarb, ſo macht uns doch alles den Eindruck, daß
er in ſeiner Poeſie nicht ſo haͤtte fortfahren koͤnnen,
ſondern daheim in eingerichteten Verhaͤltniſſen und ruhi¬
gen Geſchaͤften ſich mehr und mehr dem Dichten ent¬
zogen haben wuͤrde, bis dieſes zuletzt vielleicht verſiegt
waͤre. Dies deutet allerdings darauf hin, daß der
[479]bloß lyriſche Dichter in unſrer modernen Zeit nicht
mehr der Dichter par excellence ſein kann, ſondern
nur eine einſeitige, untergeordnete Stellung in der
Poeſie und eine kurze Bluͤthezeit hat, der wahre Dichter
aber in univerſeller Aufnahme und Schilderung des
Lebens nie des Stoffes noch der Formen entbehren
wird, ſondern in ſtetem Wechſel immer neue Bluͤthen
und Fruͤchte bringt!
3.
Einigemal ſind in Eckermann's Buche Sternchen
angebracht, wo wir gerne den Namen ſaͤhen. Zum
Beiſpiel, wenn es heißt: „Noch in dieſen Tagen habe
ich Gedichte von *** geleſen, und ſein reiches Talent
nicht verkennen koͤnnen. Allein, wie geſagt, die Liebe
fehlt ihm, und ſo wird er auch nie ſo wirken, als er
haͤtte muͤſſen. Man wird ihn fuͤrchten, und er wird
der Gott derer ſein, die gern wir er negativ waͤren,
aber nicht wie er das Talent haben.“ Hier iſt der
proſaiſche Kommentar zu dem vortrefflichen Xenien¬
ſpruch:
Dieſer Spruch ſei allen Kritikern und Urtheilern, denen
das Objekt in ihrer Subjektivitaͤt zu verſchwinden droht,
zur Beherzigung empfohlen! Heine, der doch mit
obigen Sternchen ohne Zweifel gemeint iſt, kann mit
[480] der Anerkennung ſeines Talents wohl zufrieden ſein;
denn, daß ihm Goethe die Liebe abſpricht, damit iſt
die Sache noch nicht ausgemacht, man kann auch von
Goethe'n appelliren; und eine folgende Zeit und mit
mehreren Akten verſehene Gerichtsbehoͤrde, der inzwi¬
ſchen mit dem Gegenſtande dieſer Liebe auch dieſe
ſelber klar geworden, duͤrfte einen ganz andern Aus¬
ſpruch geben. (Nach zuverlaͤſſiger Auskunft iſt jedoch
nicht Heine, ſondern Graf Platen gemeint.)
4.
Als eine Merkwuͤrdigkeit, die uns durch Eckermann's
Buch neu beſtaͤtigt wird, iſt es vorlaͤngſt geruͤgt wor¬
den, daß Goethe nirgend in ſeinen vielfachen Schriften
und Briefen, wo doch Tauſende ſeiner Zeitgenoſſen ge¬
nannt und wiedergenannt werden, den Prediger Schleier¬
macher erwaͤhnt, und auch in den muͤndlichen Memora¬
bilien kommt er nirgends vor. Dies Schweigen iſt
aber gegenſeitig, und auch Schleiermacher gedenkt
Goethe's nirgends — ſoviel uns bekannt — noch er¬
waͤhnte er deſſen gern im muͤndlichen Geſpraͤch. Wer
bloß die Schriften haͤtte, und aus dieſen folgerte, koͤnnte
in der Zukunft leicht auf die Behauptung kommen,
beide haͤtten gar nicht gleichzeitig gelebt, oder wenig¬
ſtens nicht von einander gewußt. Duͤrfen wir eine
Vermuthung wagen, ſo moͤchten wir den Schluͤſſel
dieſer Seltſamkeit in dem Verhaͤltniſſe vorausſetzen,
[481] das Goethe mit Herder hatte. Dieſes hatte ſich be¬
kanntlich ſehr ungluͤcklich geſtellt. Herder konnte den
ſteigenden Ruhm und den Geniusflug Goethe's nicht
ertragen, und wo er etwa noch haͤtte glauben koͤnnen
es ihm gleichzuthun, da hinderte ihn der geiſtliche
Stand, der uͤberhaupt Herder's Ungluͤck war. Dieſe
Hemmung wollte er ſich nun aber zur Tugend aus¬
legen, und machte daraus eine Wuͤrde und Heiligkeit,
mit denen er ſeinen Freunden und Naͤchſten ſehr zur
Laſt fiel, und ſich ſelber gegen die zunehmende Graͤm¬
lichkeit und Vertrocknung nicht rettete. Auch Schleier¬
macher war durch ſeinen Stand in ſeiner freien Ent¬
wickelung gehemmt, und der Gang der theologiſchen
und kirchlichen Sachen zwang ihn, immer mehr in jene
Hemmung ſich zu fuͤgen. Von ſolchem Mißverhaͤltniß
wollte Goethe ein- fuͤr allemal unberuͤhrt bleiben, und
wiewohl er Schleiermacher's Geiſt, Scharfſinn, Gelehr¬
ſamkeit und andre Gaben hoͤchlich anerkannte, ſo ſchau¬
derte ihn doch, mit ſolchen Gaben ſich einzulaſſen, die
er gegen die Welt und gegen ihn ſelbſt unwiderruflich
ſchiefgeſtellt wußte. Ein anderer Grund mag in der
aͤußeren Perſoͤnlichkeit gelegen haben, welche fuͤr Goethe
nothwendig Kraft oder Schoͤnheit haben mußte, wenn
er ſich mit ihr befreunden ſollte. Jung, Klinger,
Knebel, Meyer, Zelter, Wolf — alle waren von großer
wuͤrdiger Geſtalt, von tuͤchtigen Gliedern, kraͤftigem
Auftreten. —
31[482]
5.
Wir koͤnnen gar nicht zweifeln, daß in dieſer Stelle
„* * * haͤtte bei ſeinem großen Talent, bei ſeiner
weltumfaſſenden Gelehrſamkeit der Nation viel ſein
koͤnnen. Aber ſo hat ſeine Karakterloſigkeit die Nation
um außerordentliche Wirkungen und ihn ſelbſt um die
Achtung der Nation gebracht,“ wir koͤnnen gar nicht
zweifeln, wer durch dieſe Stelle bezeichnet iſt, wollen
aber diesmal nicht indiskreter ſein, als der weimariſche
Herausgeber.
Uns aber faͤllt dabei eine Antwort ein, worin
Goethe einen andern Mann, deſſen Karakter ebenfalls
in Mißverhaͤltniß mit ſeinem Talent und Wiſſen ſtand,
einen unlaͤngſt verſtorbenen Gelehrten, der auch wohl
als Freund Ubique wegen ſeiner Polypragmoſyne be¬
zeichnet worden iſt, mit guter Laune zwiſchen Anklage
und Entſchuldigung klemmt. Eine Freundin Goethe's
Frau von Grotthuß, ſtellte ihm einmal ſehr beweglich
vor, daß man dem armen Manne doch eigentlich Un¬
recht thue, wie er doch außerordentliche Kenntniſſe aller
Art beſitze, und alles ſo leicht und nutzbar zu behan¬
deln wiſſe. Lange ließ Goethe auf ſich einreden, und
hoͤrte die zum Theil triftigen Gruͤnde ruhig an; endlich
aber brach er ungeduldig aus: „Sie haben gar nicht
Unrecht, liebes Kind, es iſt ganz wahr, er brauchte
auch gar kein Lump zu ſein, wenn er nicht durchaus
wollte!“
6.
Wir finden unter andern einige merkwuͤrdige Aeuße¬
rungen uͤber Voltaire, uͤber die Groͤße und Bedeutung
ſeines Wirkens, die Macht ſeines Daſtehens, die Eigen¬
heit ſeiner Natur und die Vollkommenheit ſeines Ta¬
lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einſteigen
in den Wagen auf Verlangen von Kloſter-Penſionnai¬
rinnen noch ſchnell in allerliebſten Verſen einen Prolog
zur beabſichtigten Auffuͤhrung eines ſeiner Trauerſpiele
zu Papier gebracht, giebt den ſchoͤnſten Beweis ſeiner
Fertigkeit, ſeiner Geiſtesfuͤlle und Gegenwart. Wenn
jedoch Goethe von ihm ruͤhmt, er habe in ſeinem un¬
aufhoͤrlichen Schriftverkehr mit hohen und hoͤchſten Per¬
ſonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteſte
Schicklichkeit ſtets beobachtet, ſo muͤſſen wir einigen
Widerſpruch erheben. Voltaire'n ſind manche ſtarke
Uebertretungen vorzuwerfen, beſonders in ſeinem Brief¬
wechſel mit Friedrich dem Großen, woruͤber im Allge¬
meinen das treffliche Werk von Preuß nachzuſehen iſt.
Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬
heit oder Unwiſſenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus
Mangel an Takt, oder weil er ſich aus Irrthum ver¬
greift: es iſt vielmehr mit Bewußtſein und Abſicht, daß
er ſeine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien
uͤbt, es iſt der Uebermuth des Talents und ſeiner Stel¬
lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von
Heine geſagt werden kann, deſſen Grobheiten niemals
31 *[484] unwillkuͤrliche, ſondern mit Wiſſen und Willen ausgeuͤbte
ſind. Daß aber Voltaire in dieſer Art ſich Arges zu
Schulden kommen ließ, davon wollen wir nur das eine
Beiſpiel anfuͤhren, wo er im Mai des Jahres 1759
an den Koͤnig von Preußen ſo ungebuͤhrliche Scherze
gerichtet hatte, daß dieſer am 10. Junius aus ſeinem
Hauptquartiere zu Reich-Hennersdorf ihm ernſt und
ſcharf antwortete, und ſchließlich in einer Nachſchrift
dieſen Verweis ausdruͤckte: „Mais êtes-vous sage à
soixante et dix ans? Apprenez à votre âge de quel
style il vous convient de m'écrire. Comprenez qu'il
y a des libertés permises et des impertinences in¬
tolérables aux gens de lettres et aux beaux esprits.
Devenez enfin philosophe, c'est-à-dire raisonnable.
Puisse le ciel, qui vous a donné tant d'esprit, vous
donner du jugement à proportion! Si cela pouvait
arriver, vous seriez le premier homme du siècle,
et peut-être le premier que le monde ait porté:
c'est ce que je vous souhaiti. Ainsi soit-il.“ Die
Zurechtweiſung war in der That wohlverdient, und Vol¬
taire fuͤhlte ihr Gewicht, doch ohne aus der Faſſung zu
kommen. Was aber kann er darauf erwiedern, wie
ſoll er ſich nun benehmen? Hier zeigt er ſich in der
That bewunderungswuͤrdig und in ſeiner Natur und
Rolle ſo feſt als anmuthig! Er ſchreibt, nachdem er
alles Andere ruhig beſprochen, am Schluſſe ſeines naͤch¬
ſten Briefes: „Je tombe des nues quand vous m'écri¬
[485] vez qui je vous ai dit des durétes; vous avez été
mon idole pendant vingt années de suite,je l’ai
dit à la terre, au ciel, à Gusman même; mais votre
métier de héros et votre place de roi ne rendent pas
le coeur bien sensible; c’est dommage, car ce coeur
était fait pour être hamain, et sans l’héroisme et le
trône, vous auriez été le plus aimable des hommes
dans la société. En voilà trop, si vous êtes en
présence de l’ennemi, et trop peu, si vous étiez avec
vous-même dans le sein de la philosophie qui vaut
encore mieux que la gloire. Comptez que je suis
toujours assez sot pour vous aimer, autant que je suis
assez juste pour vous admirer: reconnaissez la fran¬
chise, et recevez avec bonté le profond respect
du suisseVoltaire.“ Alles in dieſer Erwiederung iſt
geſchickt, einlenkend, ſchmeichleriſch, wahr, geiſtreich,
und in der echteſten Manier des Schreibers, ſogar noch
ein wenig dreiſt, weil dies in ſeine Art gehoͤrt, und
weil er nicht allzu hart getroffen ſcheinen darf; die Hin¬
weifungen auf das Koͤnigthum und die Feldherrnſtellung
des Empfaͤngers ſind meiſterhaft, und auch im tiefſten
Grunde wahr, ſo daß der Koͤnig davon ergriffen und
durch die Hoͤhe ſeines Standpunktes recht zur Nachſicht
wieder geſtimmt werden muß. Auch verzieh der Koͤnig
ſogleich und ſchrieb gleich im naͤchſten Briefe: „Vous
me dites deux mots, et le reproche expire au bout
de ma plume.“ Solche Macht und Gewandtheit des
[486] Geiſtes wirkt unwiderſtehlich, und bezeugt ſich ſelber
durch ihre Wirkung. Goethe's Ausſpruch wird ſo zu¬
letzt auch hier doch eigentlich beſtaͤtigt. —
In Bezug auf Voltaire haben wir noch die nach¬
ſtehende Rechtfertigung dieſes Schriftſtellers beifuͤgen
wollen, gegen eine Anklage, die auch Goethe mit Un¬
willen verwarf, und deren authentiſche Widerlegung ihn
freute. Die Worte ſind einem Aufſatz entlehnt, der
eine reiche Bluͤthen- und Fruchtleſe aus Voltaire's
Briefen enthaͤlt, und kuͤnftig vielleicht vollſtaͤndig mit¬
zutheilen ſeyn wird. —
Voltaire, eine der Puiſſancen des achtzehnten Jahr¬
hunderts wird im neunzehnten abermals zu einer ſolchen
empor geſteigert, und zwar diesmal mehr durch die
Gegner, als durch die Anhaͤnger, welche eigentlich von
jenen erſt hervorgerufen werden. Dieſer einzig begabte
und vielſeitig regſame Geiſt hatte Schwaͤchen und Fehler
genug, an welchen ſeine Feinde auch nicht unterließen
zu zerren und zu quaͤlen nach beſten Kraͤften. Allein
der Partheigeiſt der Fanatiker, die er im Intereſſe der
Menſchlichkeit zu bekaͤmpfen nicht muͤde ward, ſuchte
ihm neben dem Tadel, den er verdiente, anderen, groͤ¬
ßeren anzuhaͤngen, den er niemals verſchuldet. Dies
erneut ſich in unſeren Tagen mit verdoppelter Heftig¬
keit. Seine Aeußerungen werden entſtellt, vergiftet,
verlaͤumderiſchen Vorausſetzungen Preis gegeben, wo die
geringſte litterariſche Kritik, falls ſie angewendet wuͤrde,
[487] ſogleich den Ungrund der Beſchuldigungen darthun
muͤßte. Ein merkwuͤrdiges Beiſpiel dieſes Verfahrens
ſei hier angefuͤhrt!
Es iſt bekannt, daß Voltaire eine lange Zeit hin¬
durch ſeine Briefe an die vertrauteſten Freunde gern mit
der abgekuͤrzten Formel écr. l'inf. ſchließen mochte; die¬
ſes écrasezl'infâme war die ſeinem Geiſte ſtets gegen¬
waͤrtige unablaͤſſige Mahnung zur Bekaͤmpfung des Fa¬
natismus und Aberglaubens, der zu Voltaire's Zeit eine
noch furchtbarere, blutigere Geſtalt hatte, als ihm in
ſpaͤterer Zeit wieder zu erlangen bisher noch moͤglich
war. Im achtzehnten Jahrhundert hat niemand die
Sache anders genommen. Was aber geſchieht im neun¬
zehnten? Franzoͤſiſche Schriftſteller und deutſche ſogar —
welche dadurch den Vorwurf der leichtſinnigſten Un¬
gruͤndlichkeit, den ſie gegen Voltaire ſo ſchnell bereit
haben, im vollſten Maße auf ſich ſelbſt laden — erdrei¬
ſten ſich zu der widerwaͤrtigen Behauptung, daß durch
jene Formel die chriſtliche Religion ſelbſt gemeint ſei,
ja was noch mehr iſt, einer jener Schriftſteller wagt
mit Zuverſicht die abſcheuliche Anklage, Voltaire meine
durch jene Formel mehr noch, als die chriſtliche Reli¬
gion; den zweideutigen apoſtrophirten Artikel auf ein
nachfolgendes Hauptwort maͤnnlichen Geſchlechts bezie¬
hend! Und was wird zur Unterſtuͤtzung dieſer ſchaͤnd¬
lichen Auslegung angefuͤhrt? Nichts, gar nichts, als
nur die wiederholte, eifrige Behauptung. Der frevel¬
[488] hafte Gedanke gehoͤrt ganz dem deutſchen Schriftſteller
an, der ihn Voltaire’n andichtet. Ein fleißiger Leſer
von Voltaire’s Schriften, der erſt neuerlich in deſſen
Briefwechſel eine in ſolchem Maße kaum vermuthete
Quelle der belehrendſten Unterhaltung gefunden, hat
nirgends eine Spur entdecken koͤnnen, daß jener Formel
ein ſolcher Sinn beizulegen waͤre; im Gegentheil, die
meiſten Stellen erfordern geradezu jenen erſten, zu allen
Zeiten und auch noch in unſern Tagen zu rechtfertigen¬
den Sinn, daß der Fanatismus, der Aberglaube, zer¬
ſtoͤrt werden ſollen; und jede andere Auslegung wird
zu einer aufgezwungenen. Hierzu kommt noch die
offenbare, unumwundene Erklaͤrung des Autors ſelbſt,
die allein hinreicht, um jene verlaͤumderiſche Unterſchie¬
bung in ihrer Nichtigkeit bloßzuſtellen. In einem ver¬
trauten Briefe Voltaire’s an d’Alembert (vom Jahre
1760), deſſen Inhalt jeden Gedanken an gleißneriſche
Beſchoͤnigung oder heuchleriſche Milderung voͤllig aus¬
ſchließt, heißt es zuletzt im Erguſſe innigſt verbundenen
Vertrauens: „Je voudrais que vous écrasassiez
l'inf ..., c'est-là le grand point. Il faut la réduire
à l'état où elle est en Angleterre, et vous en viendrez
à bout, si vous voulez: c'est le plus grand service
qu'on puisse rendre au genre-humain. Vous pensez
bien que je ne parle que de lasuperstition: car
pour lareligion, je l'aime et la respecte comme
vous.“ Wo bleibt hier die boͤswillige Anklage? Die
[489] Anfuͤhrung von Englands Beiſpiel iſt ſchlagend; das
Chriſtenthum ſteht in Englands Verfaſſung und Sitten
im hoͤchſten, begruͤndetſten Anſehn, aber jede fanatiſche
Wirkung auf den Staat und die buͤrgerliche Geſellſchaft
iſt ihm abgeſchnitten; wer ſchwaͤrmen will, mag es dort
auf eigne Hand und Gefahr thun, aber auch frei zu
denken iſt ihm geſichert, und niemand hat von des Nach¬
bars Fanatismus und Aberglauben einen Zwang fuͤr
ſich zu befuͤrchten. Dieſen Zuſtand wuͤnſchte Voltaire
auch in Frankreich, ja in der ganzen Welt zu ſehen;
iſt ihm dies zu verdenken? Wir, hierin gluͤcklicher, als
er, ſehen dieſen Zuſtand uͤber einen großen Theil der
Welt verbreitet, wahrlich zum groͤßten Gewinn der Re¬
ligion und Moral, und ſollten nicht vergeſſen, welchen
Bemuͤhungen wir dieſes auch ſchon wieder hier und da
bedrohte Beſſergewordene großentheils mitverdanken! —
7.
Goethe ſchrieb im Februar 1814 an eine Freundin
in Dresden folgende Worte uͤber das Werk von Frau
von Staël „de l'Allemagne,“ das er eine wohlbereitete
geiſtige Speiſe nannte: „Sie haben das Buch ſelbſt
geleſen, und es bedarf alſo meiner Empfehlung nicht.
Ich kannte einen großen Theil deſſelben im Manuſkript,
leſe es aber immer mit neuem Antheil. Das Buch
macht auf die angenehmſte Weiſe denken, und man ſteht
mit der Verfaſſerin niemals in Widerſpruch, wenn man
[490] auch nicht immer gerade ihrer Meinung iſt. Alles was
ſie von der Pariſer Societaͤt ruͤhmt, kann man wohl
von ihrem Werke ſagen. Man kann das wunderbare
Geſchick dieſes Buches wohl auch unter die merkwuͤrdi¬
gen Ereigniſſe dieſer Zeit rechnen. Die franzoͤſiſche
Polizei, einſichtig genug, daß ein Werk wie dieſes das
Zutrauen der Deutſchen auf ſich ſelbſt erhoͤhen muͤſſe,
laͤßt es weislich einſtampfen; gerettete Exemplare ſchla¬
fen, waͤhrend die Deutſchen aufwachen, und ſich, ohne
ſolch eine geiſtige Anregung, erretten. In dem gegen¬
waͤrtigen Augenblick thut das Buch einen wunderbaren
Effekt. Waͤre es fruͤher da geweſen, ſo haͤtte man ihm
einen Einfluß auf die naͤchſten großen Ereigniſſe zuge¬
ſchrieben, nun liegt es da wie eine ſpaͤtentdeckte Weiſ¬
ſagung und Anforderung an das Schickſal, ja es klingt,
als wenn es vor vielen Jahren geſchrieben waͤre. Die
Deutſchen werden ſich darin kaum wiedererkennen, aber
ſie finden daran den ſicherſten Maßſtab des ungeheuern
Schrittes, den ſie gethan haben. Moͤchten ſie, bei
dieſem Anlaß, ihre Selbſterkenntniß erweitern, und den
zweiten großen Schritt thun, ihre Verdienſte wechſel¬
ſeitig anzuerkennen, in Wiſſenſchaft und Kunſt, nicht,
wie bisher, einander ewig widerſtrebend, endlich auch
gemeinſam wirken, und, wie jetzt die auslaͤndiſche Skla¬
verei, ſo auch den innern Partheiſinn ihrer neidiſchen
Apprehenſionen unter einander beſiegen, dann wuͤrde
kein mitlebendes Volk ihnen gleich genannt werden
[491] koͤnnen. Um zu erfahren in wiefern dieſes moͤglich ſei,
wollen wir die erſten Zeiten des bald zu hoffenden Frie¬
dens abwarten.“ Goethe urtheilte zu allen Zeiten ſehr
billig uͤber Frau von Staël, und war von ihren großen
Gaben leicht eingenommen; in ihren Schriften ſah er
mehr das Weltwirkende, Konverſatoriſche, als das Kunſt¬
gebild oder Wiſſenſchaftliche, und gewiß kann man alles,
was ſie dichtend oder unterſuchend und lehrend geſchrie¬
ben, als eine Fortſetzung und Erweiterung ihres Ge¬
ſpraͤchs und ihres perſoͤnlichen Geſellſchaft-Einfluſſes
betrachten.
8.
Auf einem uns zufaͤllig vor Augen gekommenen
Denkblatt fanden wir folgende wehmuͤthig-unwillige
Klage von Ludwig Robert niedergeſchrieben: „Haſt du
nie etwas von deinen Arbeiten Goethe'n geſchickt?”
fragte mich ein Freund; „Niemals, antwortete ich;
denn, als ich einſt, ich glaube im Jahre 1804, bei ihm
zu Tiſche war, kamen Almanache, der Chamiſſo-Varn¬
hagen'ſche war auch darunter, und Goethe nahm einen
nach dem andern, hielt ſie an ſeine und ſeiner Frau
Ohren, und fragte: „Hoͤrſt du was? ich hoͤre nichts.
Nun! wir wollen die Kupfer betrachten, das iſt doch
das Beſte;“ und ſo legte man die Almanache bei Seite.
Da nahm ich mir vor, nie ihm etwas zu ſchicken, und
hab's auch gehalten, dieſe Art von Verachtung that
[492] mir zu weh. Iſt nur die Frage, ob der empfindliche
Autor, der eine muthwillige Laune ſo uͤbel nimmt, ſich
nie einer ſchlimmern Verhoͤhnung und Mißhandlung von
Schriften ſchuldig gemacht, deren Inhalt er aus Vor¬
urtheil ungepruͤft verworfen, oder gar nicht in ſeinen
Geſichtskreis fallen konnte? —
9.
Im Jahre 1828 ſchrieb Goethe an Zelter: „Ich
freue mich, daß du meiner Anmahnung ein Ohr ge¬
liehen und dich zu Molière gewendet haſt. Die lieben
Deutſchen glauben nur Geiſt zu haben, wenn ſie pa¬
radox, das heißt ungerecht, ſind. Was Schlegel in
ſeinen Vorleſungen uͤber Molière ſagte, hat mich tief
gekraͤnkt; ich ſchwieg viele Jahre, will aber doch nun
eins und das andere nachbringen, um zum Troſt man¬
cher vor- und ruͤckwaͤrts denkenden Menſchen, jetziger
und kuͤnftiger Zeit, dergleichen Irrſale aufzudecken.“
Aus derſelben Zeit ſind ein paar Aufſaͤtze in den nach¬
gelaſſenen Schriften Goethe’s, (W. Thl. 46. S. 151 ff.)
wo von Molière mit großem und wohlbegruͤndetem
Lobe geſprochen, und unter andern geſagt wird: „Wenn
einmal Komoͤdie ſein ſoll, iſt unter denen, welche ſich
darin uͤbten und hervorthaten, Molière in die erſte
Klaſſe und an einen vorzuͤglichen Ort zu ſetzen. Denn
was kann man mehr von einem Kuͤnſtler ſagen, als
daß vorzuͤgliches Naturell, ſorgfaͤltige Ausbildung und
[493] gewandte Ausfuͤhrung bei ihm zur vollkommenſten Har¬
monie gelangten. Dies Zeugniß geben ihm ſchou uͤber
ein Jahrhundert ſeine Stuͤcke, die ja noch, obſchon ſei¬
ner perſoͤnlichen Darſtellung entbehrend, die talentvoll¬
ſten, geiſtreichſten Kuͤnſtler aufregen, ihnen durch friſche
Lebendigung genug zu thun.“ Und vom Miſanthropen
deſſelben Autors wird bemerkt: „Man beſchaue ihn,
und frage ſich, ob jemals ein Dichter ſein Inneres
vollkommener und liebenswuͤrdiger dargeſtellt habe. Wir
moͤchten gern Inhalt und Behandlung dieſes Stuͤcks
tragiſch nennen, weil dasjenige vor Blick und Geiſt
gebracht wird, was uns ſelbſt oft zur Verzweiflung
bringt, und wie ihn aus der Welt jagen moͤchte. Hier
ſtellt ſich der reine Menſch dar, welcher bei gewonnener
großer Bildung doch unnatuͤrlich geblieben iſt, und wie
mit ſich, ſo auch mit Andern, nur gar zu gern wahr
und gruͤndlich ſein moͤchte; wir ſehn ihn aber im Con¬
flikt mit der ſozialen Welt, in der man ohne Verſtellung
und Falſchheit nicht umhergehen kann.“ In Eckerman's
Geſpraͤchen (Thl. I. S. 241) findet ſich dieſes Urtheil
uͤber Molière und die Bewunderung ſeiner Großheit
und Macht ſchon zu Anfang des Jahres 1826 ausge¬
ſprochen, und wir ſehen aus allen dieſen verſchiedenen
Stellen, daß Goethe's Anerkennung ſo großer Verdienſte
von keinen Tageseinfluͤſſen abhaͤngig, ſondern immer
auf's neue aus wahrer Wuͤrdigung hervorging. Gegen
die Schlegel'ſchen tadlendes Urtheil hatten auch andre
[494] tuͤchtige Geſinnungen ſich unerſchuͤttert behauptet, in die
Tagesmeinung nicht eingeſtimmt. So leſen wir bei
Rahel, die 1808 an Varnhagen ſchreibt: „Und Mo¬
lière, — dieſe Sprache! — die hatte ich wieder ver¬
geſſen — die ſprudelnde Bewegung, dieſer Witz, der
gar keiner mehr iſt; ſondern Leben, die Sache! O!
ich bitte dich, goutire den! oder vielmehr, hoͤre ihn
von Franzoſen, und du mußt es.“ Das Weitere iſt
im Buch ſelbſt nachzuleſen. Wir aber, indem wir dieſe
Urtheile, fuͤr Molière von Goethe und Rahel, wider
ihn von Schlegel, vergleichend erwaͤgen, glauben uns
berechtigt das Ergebniß feſtzuſtellen: fuͤr Molière ſpre¬
chen helle Kraft und Einſicht, wider ihn blinde Eigen¬
ſucht und duͤnkelhafte Schwaͤche. —
10.
Im Jahre 1825 ſprach ein Reiſender bei Goethe'n
ein, der folgende Aeußerungen von ihm in ſein Tage¬
buch niederſchrieb, und zu Hauſe den Freunden mit¬
theilte. Es war von Ségur's Geſchichte des Feldzuges
nach Rußland die Rede, und daß man ihm manche
Unrichtigkeiten vorwerfe; Goethe vertheidigte das Buch,
das in Lebhaftigkeit der Schilderung und in Glanz des
Ausdrucks kaum ſeines Gleichen habe, und ſagte: „Wie
ſoll es bei den Geſchichtſchreibern immer richtig ſein,
die Welt ſelber iſt es ja oft nicht.“ Auch bemerkte er,
daß aus einer Menge von Zuͤgen, die im Einzelnen
[495] nicht immer genau richtig ſeien, doch ein im Ganzen
richtiges Bild entſtehen koͤnne.— Seine Schwieger¬
tochter erinnerte ihn, er habe ihr etwas verſprochen.—
„Ja, das iſt bei mir ſehr leicht, fiel er mit liebens¬
wuͤrdiger Laune ein, ich kann ſehr gut verſprechen, da
ich nicht Wort halte“— als ob dies ſo eine zufaͤllige
Eigenſchaft waͤre, fuͤr die er nicht koͤnne!— Von Achim
von Arnim's Schriften und Dichtungen ſagte er: „Er
iſt leider wie ein Faß, wo der Boͤttcher vergeſſen hat
die Reifen feſt zu ſchlagen, da laͤuft's denn auf allen
Seiten heraus!“
11.
Im Sommer 1823 machte die Geheimraͤthin K.
aus Berlin in den boͤhmiſchen Baͤdern die Bekannt¬
ſchaft Goethe's, wozu die Fuͤrſtin von Hohenzollern ihr
die erſehnte Gelegenheit bot. Sie fand Goethe'n ſchoͤner
von Geſicht, als alle ſeine Abbildungen, ſein herrliches
braunes Auge nur am Rande der Iris durch einen
blaͤulichen ſchmalen Streif geſchwaͤcht; uͤbrigens erſchien
er ganz ruͤſtig, geſund, heiter, wie ein juͤngerer Mann.
Sein Lieblingswort, das bei vielen Gelegenheiten vor¬
kam, war in dieſer Zeit: „Wunderlich genug!“ und
die Abwechslungen im Tone und in der Anwendung
ſollen von ungemeiner Laune und anmuthigſtem Reize
geweſen ſein. Die Fuͤrſtin fragte ihn, ob er denn noch
nicht in Berlin geweſen ſei? Er verneinte es. Nach¬
[496] her war aber von Wilhelm von Humboldt die Rede
und von ſeiner jetzt ſehr verſchoͤnerten Beſitzung in Tegel;
„Ach ja, meinte Goethe, da haben wir einſt einen
frohen Tag verlebt.“ Die Fuͤrſtin rief aus: „So? da
waren Sie denn doch wohl auch in Berlin?“ worauf
Goethe ganz gelaſſen und laͤchelnd erwiederte: „Da ſehen
Sie, wie man ſich doch zuweilen verſchnappt!“ Er
wurde dann aber ſehr ernſt, und brach das Geſpraͤch
ab; man ſah wohl, daß er an jene Anweſenheit nicht
erinnert ſein wollte. — Er war allerdings in fruͤherer
Zeit in Berlin, wohin er den Herzog begleitet hatte.
Naͤhere Angabe der Zeit findet ſich in den Briefen an
Merck, ſo wie auch Einiges von der Stimmung, die
er dort gehabt. Friedrich der Große jedoch wollte von
ihm nichts wiſſen, und ſprach auch gar nicht mit ihm,
weil er ihn als Verfaſſer des Werther und des Goͤtz
von Berlichingen nur fuͤr einen Foͤrderer des Ungeſchmacks
hielt. Die Gelehrten aber zu beſuchen, fiel Goͤthe’n
gar nicht ein; was haͤtte er mit den Nicolai, Ramler,
Engel, Zoͤllner, Gedike, Erman, Caſtilhon, und ſo
weiter, fuͤr Geſpraͤch und Ausbeute haben koͤnnen?
Moritz kannte er noch nicht, den lernte er erſt in Rom
kennen. Humboldt beſuchte er in Tegel, aber dieſer
war noch ein junger Mann, und zaͤhlte noch nicht unter
die Notabilitaͤten. Dieſe aber, in ihrem Stolze gekraͤnkt,
daß der geniale Dichter ſie voruͤberging, ſpuͤrten ihm
nun eiferſuͤchtig ſeine andren Wege nach, und verbitter¬
[497] ten ihm durch uͤble Nachrede den kurzen Aufenthalt in
Berlin vollends. Daher ſeine Abneigung, dies Andenken
hervorzurufen und zu beſprechen.
12.
Wie ſehr Goethe ſein ganzes Leben hindurch befliſſen
war, im ſchoͤnſten Sinne dankbar zu ſein, das heißt
wahrhaft erkenntlich und liebevoll geſinnt fuͤr empfange¬
nes Gute, fuͤr jede Freude, Foͤrderung, Einſicht, deren
er theilhaft geworden; wie ſehr er ſelbſt mit Vorſatz
und Eifer dieſes Zuruͤckgehen auf die Quelle des Em¬
pfangenen geuͤbt und gelehrt: davon zeugen hundert
und hundert Stellen ſeiner Schriften. Aber neben die¬
ſer großartigen Dankbarkeit, deren er ſtets erfuͤllt und
befliſſen war, ging in den weichlichen Tugendlehren
fruͤherer Zeit noch eine andre Art im Schwange, eine
feige, heuchleriſche, treuloſe Dankbarkeit, die da rechnet
und waͤgt und ſich nur immer aͤußerlich abfindet, be¬
ſonders aber ein Anſpruch an Andre ſein will und ein
Schmuck und Glanz fuͤr den Inhaber. Dieſe niedrigen
Scheintugenden, wozu auch das uͤbelverſtandene, ſchlechte
Mitleid gehoͤrt, machten in der Moral, in der Poeſie
und im Leben eine ſo haͤßliche Figur, daß die tuͤchtigen
Leute ſie uͤberall hinauszuwerfen bemuͤht waren, und
auf die Gefahr, ſelber verkannt und geſcholten zu wer¬
den, ihnen laut abſagten. So wollte Schleiermacher
in ſeiner Ethik von Mitleid und Dankbarkeit als Tugen¬
32[498] den nichts wiſſen, ſo ſprach Friedrich Schlegel der eitlen
Beſcheidenheit Hohn, ſo verſpotteten Andre die Phili¬
ſterei der Wohlthaͤtigkeit, der Humanitaͤt, mit denen
der erbaͤrmlichſte Plunderwucher getrieben wurde. Dies
alles muͤſſen wir in’s Auge faſſen, um die folgende
Aeußerung Goethe’s zu verſtehen, die auch ihm von
ſchwachen Seelen arg mißdeutet worden iſt, jetzt aber
wohl nur als ein neues Zeugniß ſeines großartigen
tapfren Geiſtes gelten wird. Er warf einmal in einer
kleinen Geſellſchaft mit guter Laune die Frage auf —
wie er wohl oͤfters zu thun pflegte — was doch wohl
am Menſchen eigentlich das Beſte ſei? Manche gaben
mancherlei an. Endlich nannte Einer die Dankbarkeit,
und unterſtuͤtzte ſeine Meinung mit ziemlich platten
Gruͤnden. Da hielt ſich Goethe nicht laͤnger, „O Phi¬
liſterpack!” rief er aus, und langſam und mit Nachdruck
und Wegwerfung ſetzte er hinzu: „Die Dankbarkeit
iſt ein Laſter, das man ertragen muß!” —
„L'amour est un vrai recommenceur.“
„L'amour est un vrai recommenceur.“ Dieſen
Spruch lieſt man in Goethe's Maximen und Reflexionen,
und die fremde Sprache, ſo wie die Anfuͤhrungszeichen,
laſſen keinen Zweifel, daß hier nichts Eigenes, ſondern,
wie Goethe es nennt, „Angeeignetes“, von ihm mit¬
getheilt worden. Aber woher iſt der Spruch? Goethe
liebt es, ſich mit mancherlei Geheimniß, Raͤthſel und
Verhuͤllung zu umgeben, ſeine klaren Gedanken oft nur
in Daͤmmerlicht zu ſtellen, ſeine hellen Bilder zuweilen
in voͤlliges Dunkel ausgehen zu laſſen. Die Scheu,
Beſcheidenheit, Vorſicht, oder wie man es nennen will,
welche dieſem Verfahren zum Grunde liegt, und ein
weſentliches Element in Goethe's kuͤnſtleriſcher Sittlich¬
keit iſt, uͤbt einen großen Reiz auf den Leſer, dem bei
allem Reichthume der Andeutung noch immer ein groͤßerer
des Angedeuteten eroͤffnet wird, und der ſich bald ge¬
woͤhnt, in jedem einfachen Ausdrucke eine große Man¬
nigfaltigkeit des Lebens vorauszuſetzen, die nur ent¬
32 *[500] wickelt zu werden braucht. Man ſieht dies am voll¬
ſtaͤndigſten, wenn man z. B. vergleicht, wie Goethe
ſeine Bekanntſchaft in Straßburg mit Jung-Stilling
erzaͤhlt, und welche Schilderung dieſer ſelbſt von jenen
Vorgaͤngen gibt. Nicht ſelten erſcheint dies Geheimni߬
volle oder Unerklaͤrte auch blos im Aeußerlichen und
Oberflaͤchlichen, ohne Bezug auf die innere Bedeutung.
Aber dem Behagen, ſich hinter eine Maske zu ver¬
ſtecken, oder im Halbdunkel zu wandeln, geht das
andere zur Seite, das Verhuͤllte zu erkennen, das Zwei¬
felhafte hell zu beleuchten. Wie hat man ſich gequaͤlt,
wie verſchieden und immer unrichtig gerathen, um her¬
auszubringen, warum die beiden ihrem Inhalte nach
ganz verſtaͤndlichen Lieder „kophtiſche” uͤberſchrieben
ſind! bis ſich endlich aus Goethe’s eigener Mittheilung
ganz gelegentlich ergab, er habe ihnen dieſen Namen
gegeben, weil ſie anfangs zu einer Oper: „Der Gro߬
Kophta” beſtimmt geweſen! Dieſen Reiz hat auch der
obige Spruch erweckt, und in einer Geſellſchaft wurde
viel daruͤber hin und her geſtritten, welchem Autor er
wohl angehoͤren koͤnne? Scharfſinn, Beleſenheit, Witz
und Scherz aller Art kamen an den Tag, man genoß
der geiſtreichſten Unterhaltung, die Sache ſelbſt aber
blieb im Dunkel. Man glaubte, jene Worte in jedem
Falle bei einem neuern Autor ſuchen zu muͤſſen, viel¬
leicht bei einem der tiefern, weniger geleſenen, bei
Saint-Martin, Maiſtre, Ballanche, aber ſie aufzu¬
[501] finden wollte nicht gelingen. Endlich kam ein Zufall
zu Huͤlfe, und ein fleißiger Leſer, der aus dem wirren
Feuerwerke der Tageslitteratur zu dem ſtillen Glanze
der alten probehaltigen Schriften, zu dem ewig Werth¬
vollen, Leben- und Geiſt-Erfuͤllten, zuruͤckgekehrt war,
brachte den freudigen Aufſchluß, daß jener Spruch in
der Briefſammlung der Frau von Sevigné vorkomme,
und zwar von dem Grafen von Buſſy-Rabutin zuerſt
angeregt (Brief vom 3. Julius 1655), von ihr aber
dann aufgenommen und fortgefuͤhrt. Wir ſehen aus
dieſer unerwarteten Entdeckung auch ein Streiflicht auf
Goethe's Lektuͤre fallen, und was fuͤr edle, fruchtbare
und anmuthvolle Schriften er zur Erheiterung ſeiner
alten Tage waͤhlen und ausbeuten mochte!
Aehnliche Schwierigkeit verurſachten zwei franzoͤſiſche
Zeilen, welche gegen Ende des Buches Rahel ange¬
fuͤhrt ſind, und dort in hohen, eigenthuͤmlichen Werth
geſtellt werden. Es ſind die beiden Alexandriner:
„Il est assez puni par son sort rigoureux,
Et c' est être innocent que d' être malheureux.“
Die gewiegteſten Kenner franzoͤſiſcher Litteratur, fran¬
zoͤſiſche Schriftſteller in Paris ſelbſt, welche die Frage
vernahmen und ſie zu beantworten nun die eigenſinnigſte
Beharrlichkeit aufboten, konnten die urſpruͤngliche Stelle
jener Verſe nicht nachweiſen; ſie waren in Racine,
Corneille, Voltaire, Crebillon nicht zu finden, und
ſchienen doch einem aͤlteren und tragiſchen Autor ange¬
[502] hoͤren zu muͤſſen. Dieſer iſt nun endlich gefunden!
Allerdings eines aͤltern und gewiß edlen Dichters, aber
keines tragiſchen, ſondern eines heiter-anmuthigen, bei
dem man ſie wohl am wenigſten geſucht haͤtte! Die
beiden Zeilen ſind von Jean de La Fontaine, dem lie¬
benswuͤrdigen Fabeldichter; aber freilich aus einem Ge¬
dichte, das weniger geleſen wird als ſeine Fabeln,
obwohl es ihn als Menſchen hoͤchlich ehrt und ſeines
Dichterruhms keineswegs unwuͤrdig iſt. Er war ein
treuer Anhaͤnger des von Ludwig's des Vierzehnten
Ungnade hart getroffenen und grauſam verfolgten Finanz¬
miniſters Fouquet, zu deſſen Gunſten er ein ſchoͤnes
elegiſches Gedicht herauszugeben wagte, und auf das
harte Geſchick des Gefallenen jene beiden Verſe an¬
wandte, die allerdings die reinſte menſchliche Geſinnung
athmen und die ſchoͤnſte ſittliche Milde gleichſam in
einer Naturbetrachtung ſchoͤpfen.
Frauen in Mannskleidern.
Einem Leſer der Lehrjahre Wilhelm Meiſter's fiel es
neulich als eine Sonderbarkeit auf, daß die intereſſan¬
ten Frauen dieſes Romans großentheils in Manns¬
kleidern erſcheinen. In der That, die liebliche Mariane,
gleich im erſten Capitel, zeigt ſich uns als junger Officier,
den ſie eben auf der Buͤhne dargeſtellt, und bleibt den
uͤbrigen Abend in dieſem Coſtuͤm. Mignon wird ſogar
fuͤr einen Knaben gehalten, ihrer Kleidung wegen, und
wehrt ſich lange, dieſe mit weiblicher zu vertauſchen.
Die ſchoͤne Baronin auf dem Schloſſe erſcheint als
Jaͤgerburſche, ſpaͤterhin Natalie als Amazone zu Pferd,
doch auch halbmaͤnnlich, und die wirthſchaftliche Thereſe
kann auf ihren Wanderungen durch Feld und Wald der
Maͤnnertracht gar nicht entbehren. Dieſe Sonderbar¬
keit, die allerdings eine iſt, und bisher noch nicht ange¬
merkt worden, auch ſich anderwaͤrts unſers Wiſſens
nicht wiederholt, kommt jedoch weniger auf Rechnung
des Dichters, als man etwa glauben moͤchte. Sie iſt
[504] vielmehr eine Wirkung des Zeiteinfiuſſes, unter dem
die Anfaͤnge jenes Romans entſtanden ſind, und der
bei Herausgabe deſſelben noch nicht ſo fern und fremd
geworden war, um eine Abaͤnderung dieſes Koſtuͤms
zu bewirken. Die letzte Haͤlfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts hatte naͤmlich den entſchiedenen Hang, ſich
anders anzuziehen, als die vorhergegangene Zeit. Alles
wurde verſucht, armeniſche, tuͤrkiſche Tracht, fuͤr Kinder
die mannigfachſte Ausſtaffirung, zuletzt uͤberwog in Frank¬
reich die Maͤnnerkleidung der Englaͤnder, der einfache,
fuͤr Herren und Diener gleichfoͤrmige Frack, und dieſe
Mode, welche von den Vornehmſten des Hofes aus¬
ging, half nicht wenig den Unterſchied der Staͤnde auf¬
heben, der ſonſt durch die Verſchiedenheit der Kleidung
bezeichnet war. In dieſe Bewegung fiel auch die Sucht
der Frauen, ſich der nun ſo bequemen, jeder Freiheit
guͤnſtigen Kleidung zu bedienen; ja es fehlte nicht an
der Behauptung, die Maͤnnerkleidung ſei weit anſtaͤn¬
diger, fuͤr die Sitten guͤnſtiger und bewahrender als
die bisherige Tracht der Frauen. (Bei uns hat Friedrich
Schlegel in dieſer Hinſicht eine pikante Bemerkung in
ſeinem verrufenen Roman angebracht!) In Frankreich
war es bald allgemein guter Ton, daß vornehme Damen
in Maͤnnertracht ausgingen, unbegleitet und recht eigent¬
lich emancipirt, lange vorher, ehe dieſes Wort gebraucht
wurde! Die Koͤnigin Marie Antoinette machte große
Promenaden auf dieſe Weiſe, beſuchte ſogar, was ſonſt
[505] nicht moͤglich geweſen waͤre, in ſolcher Verkleidung den
Opernball. Die Kaiſerin Kathrine und andre Fuͤrſtin¬
nen erſchienen vor den Truppen in maͤnnlichem Kriegs¬
rocke. Natuͤrlich wurde die Mode in Deutſchland nach¬
geahmt, und ſie dauerte noch tief in die Zeiten der
Revolution hinein. In Berlin ſah man eine angeſehene
Dame, die fuͤr eine Freundin der Koͤnigin galt, ſehr
oft in Maͤnnertracht ſpazieren reiten. So finden wir
in dem Buche: „Galerie von Bildniſſen aus Rahel's
Umgang und Briefwechſel“ eine Graͤfin von Schlabren¬
dorf, die als Mann gekleidet reiſte. Sehr natuͤrlich,
daß mit anderem Koſtuͤm der Zeit auch dieſes in den
Roman uͤberging, der vor ſo vielen andern ein treues
Bild der Zuſtaͤnde, der Sitten und der Denkart ſeines
Zeitalters iſt, aus dem er hervorwuchs.
außer dem Eſel, ihre Geſchichte ſelbſt.
* Hugo in der „Schuld“:
Seht ihr wohl, ſo iſt der Menſch!
Drum, wenn Einer iſt gefallen,
Mag der Andre weinen; aber
Nicht zu richten ſich erkühnen.
* Was hat euch nun, ihr Völker, ſo ſcheu und bang gemacht?
Der Geiſt, den ihr beſchworen, er ſteigt aus tiefer Nacht
Empor in aller Größe, und beut euch ſeine Hand —
Erkennt ihr es nicht wieder, das freie Griechenland?
Die Funken in der Aſche, in der ihr oft gewühlt,
Die Funken, deren Gluthen ihr oft in euch gefühlt,
Sie ſchlagen luſtig lodernd zu hohen Flammen aus —
Kleinmüthige, ihr ſeht es — und euch erfaßt ein Graus!
O weh, ſo habt ihr, Freunde, mit Namen nur geſpielt?
— — — — — — — —
[181] Was ihr erträumt ſo lange, leibhaftig ſteht es da,
Es klopft an eure Pforte — ihr ſchließt ihm euer Haus —
Sieht es denn gar ſo anders, als ihr es träumtet, aus?
Wilhelm Müller.
* Für Aug' und Ohr gibt es keine Geiſterwelt, ſondern nur
die Körperwelt, in welcher jene waltet und erſchafft.
Jean Paul.
** Solch eine Thatſache konnt' auch einem Beobachter wie
Lichtenberg ſchwerlich entſchlüpfen. In eins ſeiner Gedankenbücher,
alſo freilich nur unter der Form eines abgeriſſenen Einfalls, hat
er ſie niedergelegt; und mit jener Laune, die zu den Eigenheiten
dieſes ſeltnen Geiſtes gehörte. Doch hier ſeine Worte ſelbſt:
„Wenn ein toller Kopf des Teufels Streiche anfängt, iſt es
deßwegen eine Folge, daß auch jede Rathsverſammlung von zwölf
ſolchen Leuten eben ſolches Zeug anfangen würde? Keineswegs,
ich bin vielmehr überzeugt, daß zwölf tolle Köpfe etwas beſchließen
könnten, das ausſehen müßte, als käme es von zwölf klugen.“
*Jedes Herrſchgebäude zur Unterjochung der Menſchen, von
Machthabern ausgebildet, ſei’s in Staat oder Kirche, muß end¬
lich den freien, immer regen, nie ganz ſchlummernden Geiſtes¬
kräften des Menſchen weichen. Werden dieſe ganz wach und
laut, ſo bleibt nichts übrig, als nur mit ihnen zu wirken, oder,
war man früh genug ſchon weiſe und vorſehend, ſo ließen ſie
auch urſprünglich ſofort bloß auf einen beſtimmt edlen Zweck ſich
leiten. Erſt der Widerſtand zwingt ihnen eine gefährliche Rich¬
tung auf, und ſpielt ſie Leuten in die Hand, die ſolche Zeitum¬
ſtände perſönlich zu nützen verſtehn.
General von Klinger.
* Bedürfniß, Noth und Gefahr, trieben zwiſchen des
Mittelalters Ritter- und Pfaffenthum einen dritten Stand her¬
vor, der gleichſam das arme Blut unſers großen, wirkſamen
Staatenkörpers ſein muß, oder es fällt der Körper in Verweſung.
Dies iſt der Stand der Wiſſenſchaft, der nützlichen Thätigkeit,
des wetteifernden Kunſtfleißes; durch ihn ging beiden jenen Par¬
theien der Zeitabſchnitt ihrer Unentbehrlichkeit auch nothwendig,
aber nur allmählig zu Ende. Hieraus wird demnach ſichtbar,
welcher Art die neue Ausbildung Europa's ſein konnte. Nur ein
Geiſtesanbau der Menſchen, wie ſie waren und ſein wollten; ein
Fortſchreiten durch Betriebſamkeit, Wiſſenſchaften und Künſte.
Wer dieſer nicht bedurfte, wer ſie verachtete oder mißbrauchte,
blieb wer er war; an eine durch Erziehung, Geſetze und Grund¬
verfaſſung der Länder allgemein durchgreifende Bildung ſämmt¬
licher Völker und Stände war damals noch nicht zu gedenken ....
und wann wird daran zu gedenken ſein? Indeſſen geht die Ver¬
nunft, und die verſtärkte gemeinſchaftliche Thätigkeit der Men¬
ſchen, ihren unaufhaltbaren Gang fort, und ſiehet's eben als
ein gutes Zeichen an, wenn auch das Beſte nicht zu frühe reifet.
Herder.
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- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp91.0