[][][][][][][][[1]]
William Lovell.

We make ourselves fools, to disport
ourselves;
And spend our flatteries, to drink those
men,
Vpon whose age we roid it up again,
With poisenous spite and ensy. Who
lives, that's not
Depraved, or depraves? who dies, that
bears
Not one spurn to their graves of their
friend's gift?

(Shakspeare.)

Dritter Band.

Berlin und Leipzig,:
beyCarl Auguſt Nicolai.
1796.
[[2]]

William Lovell.
Erſtes Buch.



[[4]][[5]]

1.
William Lovell an Roſa.



Es iſt nicht anders, ich ſtehe wirklich hier,
und ſehe nach den weißen, ſchroffen Klippen
hinauf, die mich ſo entzuͤckten, als ich damals
von England Abſchied nahm. Ich bin endlich
wieder zuruͤckgekommen, und alles Vorige liegt
hinter mir; es iſt nicht anders, und konnte
vielleicht nicht anders werden.


Ich glaubte daß mich eine frohe Ruͤhrung
ergreifen wuͤrde, wenn ich den Boden meines
Vaterlandes wieder betraͤte, aber duͤrr und ver-
druͤßlich bin ich noch immer, noch immer fuͤh-
le ich dieſelbe widrige Empfindung in mir, mit
der ich landete.


Ich danke dem Andrea unaufhoͤrlich, daß
ich jetzt in den widerwaͤrtigſten Situationen mit
einer großen Kaͤlte in das Leben ſehen kann,
denn ein Gefuͤhl das er mir gegeben hat, be-
[6] gleitet mich allenthalben. Die Veraͤchtlichkeit
der Welt liegt in ihrer groͤßten Betruͤbniß vor
mir, ich ſtoße ſie nur um ſo geringſchaͤtzender
von mir, je wunderbarer ich mir ſelbſt erſchei-
ne. Durch meine Ahndungen und ſeltſamen
Gefuͤhle, hat er mich vom Daſeyn einer frem-
den Geiſterwelt uͤberzeugt, ich habe eigenmaͤch-
tig meinen Zweifeln ein Ziel geſetzt, und ich
freue mich jetzt innig, daß ich auf irgend eine
Art mit unbegreiflichen Weſen zuſammenhaͤnge,
und kuͤnftig mit ihnen in eine noch vertrautere
Bekanntſchaft treten werde. Unaufhoͤrlich be-
gleitet mich dieſe Ueberzeugung, und alle Gegen-
ſtaͤnde umher erſcheinen mir nur als leere For-
men, als weſenloſe Dinge. Ich errege oft jene
geheimen unbegreiflichen Gefuͤhle in mir, in der
Nacht, oder in der Einſamkeit, jene ſeltſamen
ſchauernden Ahndungen die uns unwiderſtehlich
wunderbaren Maͤchten entgegen draͤngen. So,
Freund, iſt die Welt mir in manchen Stunden
nichts, als ein buntes, beſtandloſes Schatten-
ſpiel, Wogen die den Bach hinunterlaufen oh-
ne zu wiſſen wohin.


Alle betruͤbten Stunden die ich hier in Eng-
land erleben werde, ſtehen gleichſam noch hin-
[7] ter den Couliſſen und warten nur auf ihr Stich-
wort, um ſchnell hervorzutreten, ich muß in
meiner Rolle fortfahren, und vor keinem ploͤtz-
lichen Auftritt erſchrecken.


Der noͤrdliche Himmel hier, mit ſeinen gro-
ßen und tiefhaͤngenden Wolken, macht einen
ſeltſamen Eindruck auf mich, nachdem ich mich
in ſo langer Zeit in Italien verwoͤhnt habe.
Die Umriſſe der Berge und Waͤlder bilden ſich
ſo hart und widrig in dieſer rauhen Luft, ich
fuͤhle ſchon jetzt ein Heimweh nach Italiens
lauem Himmel, nach Ihnen und Andrea und
meinen uͤbrigen Freunden.


[8]

2.
Eduard Burton an ſeinen Freund
Mortimer.



Wir haben nun endlich unſer gewoͤhnliches Le-
ben wieder angefangen, und die Zeit fließt uns
eben und ohne widrige Abſchnitte voruͤber. Vie-
le Menſchen irren darinnen ſehr, wenn ſie nur
immer ſtreben recht viele frohe und glaͤnzende
Epochen in ihren Lebenslauf zu bringen, denn
jede dieſer Epochen zieht mehrere Tage nach
ſich, die durch ihre Nuͤchternheit unſere Seele
leer und melancholiſch machen; je einfoͤrmiger
und ruhiger die Zeit voruͤberfließt, um ſo mehr
genießt man ſeines Lebens. Wir beyde, lieber
Freund, haben uns in dieſen Genuß eingelernt,
und ich haſſe jetzt das Planmachen, wodurch
man immer in einer fernen Zukunft lebt, un-
ſinnigerweiſe die Gegenwart verſchleudert, und
ſich im Leben gleichſam uͤbereilt, um nur deſto
fruͤher zu jenem Ziele zu kommen, das man ſich
aufgeſteckt hat.


[9]

Geſtern kam der alte Willy ganz matt und
athemlos hier an, um ſeinen Bruder Thomas
zu beſuchen. Er war die letzten Meilen, ſo alt
er auch iſt, zu Fuß gelaufen, um ſeinen Bruder
nur deſto fruͤher zu ſehen. Der alte Mann hat
ſich eingebildet, er muͤſſe jetzt ſterben, und dar-
um will er noch vorher von Thomas Abſchied
nehmen. Die Ermuͤdung, ſo wie ſein Aber-
glaube haben es wirklich dahin gebracht, daß
er krank geworden iſt, und jetzt im Bette
liegt. Er hat mich aber innig durch ſeine Liebe
gegen ſeinen Bruder geruͤhrt, den ſeine einge-
bildete Klugheit hindert ihn wieder eben ſo zu
lieben. Viele Menſchen, beſonders unter den
gemeinern, ſchaͤmen ſich ein Herz zu haben, ſo-
bald ſie nur einigen Verſtand zu haben glau-
ben. Willy ſpricht viel vom Lovell, und mit
einer auſſerordentlichen Innbrunſt; mir ſtanden
die Traͤhnen in den Augen, als ich ihm zuhoͤr-
te. Meine ganze Seele ſtreckt ſich in mir aus,
ſo oft ich dieſen Nahmen nennen hoͤre, es iſt
jedesmal als wollte man mir einen Vorwurf
damit machen, weil er nicht mehr mein Freund
iſt. — Und konnt' ich anders handeln? —
That ich nicht alles um mir ſeine Liebe aufzu-
[10] bewahren? — Aber er hat ſein Herz verſpielt,
und kann mich nicht mehr lieben.


Leben Sie wohl, und erſetzen Sie mir
durch Ihre Freundſchaft den Verluſt der ſei-
nigen.


[11]

3.
Thomas an den Herrn Fenton Gaͤrt-
ner in Kenſea
.



Sie werden es verzeihen werthgeſchaͤtzter Herr,
und Kollege, wenn mein Bruder vielleicht eini-
ge Tage laͤnger ausbleibt, als er ſich anfangs
vorgeſetzt hatte, und Sie indeſſen die Aufſicht
des ganzen Gutes beſorgen muͤſſen, denn er iſt
hier krank geworden, ſo daß er wohl ſobald
noch nicht wird zuruͤckreiſen koͤnnen. Er iſt ein
klein wenig naͤrriſch der alte Mann, und das
werden Sie eben ſo gut wiſſen als ich. Alte
Leute haben, wie man zu ſagen pflegt, ihre
wunderlichen Launen, und mein Bruder hat ſie
gewiſſermaßen im vollſten Grade.


Er hat mir viel von ihrem Garten erzaͤhlt,
und es thut mir recht ſehr leid, daß Sie mit
dem wilden Werke ſo viele Muͤhwaltung vorzu-
nehmen haben. Ich habe jetzt Gottlob! einen
Goͤnner an meinem Herrn, der die Kunſt ſchaͤtzt
[12] und viel an die Vortreflichkeit des Gartens
wendet. Ein ſolcher Goͤnner fehlt Ihnen frey-
lich, und doch iſt er gewiſſermaßen unentbehr-
lich, um etwas Großes zu Stande zu bringen,
denn ohne Geld, und ohne die noͤthigen Arbei-
ten laͤßt ſich in dieſer Welt nur wenig aus-
richten.


Mein Bruder glaubt, daß er hier wird ſter-
ben muͤſſen, denn er iſt noch ſo ſehr von der
alten Welt, und wenn ihm etwas traͤumt, ſo
glaubt er auch immer, daß es eintreffen muß,
was denn die vernuͤnftigen Leute mit Recht
einen Aberglauben nennen koͤnnen, denn er weiß
wuͤrklich nicht viel von einer beſſern Aufklaͤrung,
wie man zu ſagen pflegt. — Ich denke aber
wohl, daß er in einigen Tagen ſowohl geſun-
der, als auch vernuͤnftiger werden wird. Gott
gebe ſeinen Seegen dazu, damit er bald wieder
an ſeine Geſchaͤfte gehen koͤnne!


Verzeihen Sie uͤbrigens, werthgeſchaͤtzter
Herr und Kollege, daß ich mir die Freyheit ge-
nommen habe, Ihnen mit meinem ſchlechten
Briefe beſchwerlich zu fallen; da aber mein
[13] Bruder noch bis dato die Feder nicht fuͤhren
kann ſo habe ich ſolches fuͤr meine Pflicht ge-
halten. — Ich wuͤnſche eine fortdauernde Ge-
ſundheit und langes Leben, und nenne mich


Ihr
werthſchaͤtzender Freund Thomas,
Gaͤrtner in Bonſtreet.


[14]

4.
William Lovell an Roſa.



Ich treibe mich jetzt wie ein abgeriſſener
Zweig in den Fluthen und Wirbeln des wuͤh-
lenden Lebens auf und ab. Ohne Ruhe bin ich
bald hier, bald dort, bald in einem gemeinen
Wirthshauſe, unter den niedrigſten, aber ori-
ginellſten Menſchen, bald in einer Geſellſchaft
von Spielern, bald auf den oͤffentlichen Spa-
ziergaͤngen, bald in den vollgedraͤngten Thea-
tern. Ich bin in einer unaufhoͤrlichen Traͤume-
rey verſunken, und das Gewuͤhl um mich er-
hebt mich und macht mich froh.


In manchen Stunden verlier' ich mich ſel-
ber. Sagen Sie mir, Roſa, ob meine innere
Ahndungen Recht haben. Mein Vater, Pietro
und Roſaline ſtarben durch mich, Amalia iſt
durch mich vielleicht ungluͤcklich geworden; wer
weiß wie manches Auge meinetwegen naß iſt,
von dem ich nichts weiß, und dem ich mittel-
bar und ungekannt Schmerzen uͤberſendet habe.
[15] — Ich kann manchmal alles vergeſſen, was ich
vormals daruͤber dachte, und eine heiße Roͤthe
breitet ſich dann von innen heraus uͤber meine
Wangen. — Und doch, — wie wenig ſind alle
dieſe Menſchen werth! Wen unter ihnen kann
man bedauern? Von wem ſollen wir uns in
unſerm Wege zuruͤckhalten laſſen? — Ich rich-
te mich durch jene hohen Ahndungen und wun-
derbaren Gefuͤhle, durch jene goͤttliche Ueber-
zeugung wieder auf, deren die uͤbrigen Menſchen
entbehren muͤſſen.


So wenige Menſchen mich hier auch ken-
nen, ſo huͤte ich mich doch ſehr erkannt zu wer-
den. Neulich ſprach ich einen Bekannten des
jungen Valois, der mit der Blainville hier-
hergereiſt war, er hat ſich wirklich erſchoſſen,
aber von der Komteſſe wußte er mir keine
Nachricht zu geben.


Manche Straßen hier reden mich mit einer
wunderbaren Sprache an, vorzuͤglich die in de-
nen Amalia wohnt. Ich bin ſchon mehrmals
Ihrem Hauſe voruͤbergegangen, aber weder am
Fenſter noch auf irgend einer Promenade habe
ich ſie geſehen. Auch noch keine Nachrichten
[16] habe ich von ihr erhalten koͤnnen, aber ſie muß
hier in London ſeyn. — Geſtern war ich im
Theater, es wurde Macbeth gegeben, und
ich war mit einer aͤchten Jugendempfindung in
die Darſtellung vertieft. Alle Ideen umgaben
mich auf eine wunderbare Weiſe, und die Mu-
ſik der Zwiſchenakte machte, daß ich mich ſelbſt
und alles um mich her vergaß. — Im letzten
Akte zog ein Geſicht in einer Loge meine ganze
Aufmerkſamkeit auf ſich, denn es glich Ama-
lien vollkommen. Ich vergaß das Stuͤck, und
ſuchte mir nur die Erinnerung ihrer recht ge-
genwaͤrtig zu machen, um ſie mit dieſem Bilde
zu vergleichen. Sobald man ein Geſicht beob-
achten will, das uns bekannt vorkoͤmmt, ſo ge-
raͤth man bald in einen gewiſſen Schwindel und
Zweifel, denn alles uͤberzeugt uns und wieder-
ſpricht uns dann wieder, man ſchwoͤrt dafuͤr,
und laͤugnet es wieder, und alles wechſelt im-
mer beynahe in einer Sekunde.


Ich war noch immer verwirrt, und in tie-
fen Gedanken, als das Stuͤck ſchon geſchloſſen
war. Ich draͤngte mich mit den andern hin-
aus, und erwartete an der Treppe die Herun-
terkommenden. Viele Geſichter liefen durchein-
[17] ander, und meine Augen wurden muͤde ſie zu
bemerken, um dasjenige was ich erwartete,
herauszufinden. Endlich erſchien die Dame die
ich fuͤr Amalien hielt, und in einem Augenblicke
ſchoß mir die Ueberzeugung durch den Kopf,
daß ſie es auch wirklich ſey. — Und bey Gott
ſie war es! — [Hundert] Menſchen liefen mir
vor und wieder zuruͤck, es war mir unmoͤglich
naͤher zu kommen. Man ſtieß und draͤngte mich
und ich ſtieß und draͤngte ebenfalls, und die
Geſtalt war verſchwunden. Meine Augen fan-
den ſie nachher nicht wieder.


Es muß Amalia geweſen ſeyn, es iſt nicht
anders moͤglich. Ihre Schleppe, und der
Saum ihres Kleides war mir in dem Momente
heilig, als ich ihm nachzufolgen ſtrebte. Ich
haßte die Menſchen recht innig, die mich durch
ihr wildes widriges Gedraͤnge hinderten ihr zu
folgen.


Ich kann es nicht unterlaſſen ganz gegen
Sie aufrichtig zu ſeyn, weil ich es gegen irgend
jemand ſeyn muß. Und kann ich fuͤr meine
Empfindungen, die mich unwillkuͤhrlich ergrei-
fen und quaͤlen, und beſeeligen?


Lovell. 3r Bd. B
[18]

Daß nur nicht ein Zufall macht, daß ich
auf Mortimer treffe, und er mich erkennt! —
Am liebſten gehe ich in der Daͤmmerung, oder
am Abend ſpatzieren, und es iſt uͤberdies ſchwie-
rig, in dieſem großen Gewuͤhle von Menſchen
erkannt zu werden.


[19]

5.
William Lovell an Roſa.



So bin ich denn endlich wieder hier, hier wo
der Fruͤhling meines Lebens zu bluͤhen anfing,
und wo ich immer noch einzelne Ruinen davon
wiederfinde? — Wie iſt hier alles noch ſo,
wie ich es damals verließ, jede Hecke, und je-
der Teich erinner mich an meine damaligen
Empfindungen.


Hier war's, wo Melodien aus jedem Baum-
wipfel ſumſeten; hier hing der Morgen-Him-
mel voll goldener Hoffnungen; jeder Ton in
der Natur klang mir Geſang, und ich ging un-
ter einem ewigen lautrauſchenden Koncerte. —
Und was iſt nun aus allem dem geworden? —
Und was war es auch das ich hoffte? — Ju-
gendlich und unbeſonnen kannt' ich mich ſelbſt
nicht, und wußte nicht was ich von mir und
der Welt verlangte.


Ich ſaß wieder in demſelben Zimmer des
Wirthshauſes, in dem ich damals einen ſo em-
pfindſamen Brief an Eduard Burton ſchrieb,
B 2
[20] wohl gar wenn ich nicht irre, Verſe machte.
Es iſt eine niedrige unangenehme Stube, und
mir wuͤrde jetzt kein poetiſcher Gedanke dort
einfallen. Die Gegend umher, die mir im
Mondſchein damals ſo romantiſch vorkam, iſt
nichts als ein weiter gruͤner Haideplatz, mit
einigen Baͤumen, in der Ferne ſieht man Wald.
Wie naͤrriſch war damals die ganze Welt fuͤr
mich ausgeputzt!


Auch die Stelle im Walde habe ich wieder-
gekannt, auf der ich damals von Amalien Ab-
ſchied nahm, als ſie von Bonſtreet nach Lon-
don reiſte. Alle dieſe Plaͤtze ſind ſtumm gewor-
den, ich finde ſie widerwaͤrtig und armſeelig,
da ſie mir damals ſo theuer, ſo uͤberaus theuer
waren. Manchmal iſt es, als liefe noch durch
die Gebuͤſche ſaͤuſelnd eine der lieblichen Erin-
nerungen, aber ſie koͤnnen nicht zu mir, ſie tre-
ten ſcheu vor mir zuruͤck.


Verkleidet bin ich ſchon einigemal im Gar-
ten hier in Bonſtreet auf und abgegangen.
Hier hatten alle Empfindungen, alle Erinnerun-
gen in den gruͤnen Lauben, auf den ſchoͤnen
Raſenſtellen, unter den dichten Zweigen der
Alleen geſchlafen; ſie wachten auf, als mein
[21] Fuß den Garten betrat, und kamen mir alle
ſtuͤrmend entgegen. Alle haben mich begruͤßt,
und jeder Baum ſcheint mich zu fragen: wo
ich ſo lange geblieben ſey? Ach Roſa! die Traͤ-
nen ſtiegen mir in die Augen, und ich konnte
keine Antwort geben.


Die hohen Baͤume in der Allee rauſchen
noch in gebrochenen Toͤnen einige Stellen des
Oſſian, den ich ihr immer am Morgen vor-
las; dieſelbe Sehnſucht ergrif mich wieder, als
ich oben auf dem Huͤgel dem Fluſſe nachſahe,
der ſich zwiſchen dem Felſenufer hindurch win-
det; alles iſt mir noch befreundet, nur ich ma-
che allen Gegenſtaͤnden ein fremdes Geſicht. —
Ach! ich bin ein Traͤumer, — ich moͤchte ſa-
gen: Die lebloſe Natur hat inniger an mir ge-
hangen, als je die Menſchen. —


Lange ſtand ich vor der Linde ſtill, in der
ich meinen und Amaliens Nahmen eingrub.
Nur wenig haben ſich die Zuͤge durch den
Wachsthum des Baumes veraͤndert. — Wie
vieles nahm ich mir damals vor, als ich dieſe
Zuͤge langſam und bedaͤchtlich dem Baume ein-
ſchnitt! —


[22]

Vieles im Garten iſt geaͤndert, und ſeit
dem Tode des alten Burton mit mehrerem Ge-
ſchmacke angelegt. — Mich duͤnkt Andrea weiß
es ſchon daß Burton geſtorben iſt. — Aber
alle Veraͤnderungen hier haben mir wehe gethan.
Ich wollte manche der alten Anlagen beſuchen,
und fand eine neuere, beſſere. Der Gaͤrtner
den ich durch einen Zufall traf, hat mir vie-
les daruͤher geſagt, er iſt ein Bruder von mei-
nem Willy.


Willy ſelbſt iſt hier zum Beſuche, und ich
erſchrak, als ich ihm geſtern ploͤtzlich begegnete
aber er hat mich nicht erkannt.


Ich habe mich nach manchen Sachen genau
erkundiget, und darauf einen Plan gegruͤndet,
um in das Haus zu kommen. Daß ich nicht
erkannt werde, dafuͤr will ich ſchon ſorgen,
und dieſe Schwierigkeit iſt im Grunde die un-
bedeutendſte.


Wie ſchwach iſt der Menſch! — Seit wie
lange glaubte ich nun ſchon, uͤber alle dieſe
Eindruͤcke erhaben zu ſeyn, und doch haben ſie
mich nun mit neuer Gewalt angefallen, und
dann lach' ich wieder uͤber mich, und finde
mich ſelbſt kindiſch.


[23]

Vielleicht iſt es eine Nothwendigkeit, daß
der Menſch unaufhoͤrlich mit ſeinem Weſen
wechſelt, wenigſtens liegt darin ein großer Ge-
nuß ſeines Lebens. — Bunt wie das Kamaͤleon
traͤgt er bald dieſe bald jene Farbe, je nachdem
die Sonne ſcheint, oder ſich verdunkelt.


Leben Sie wohl; bald erhalten Sie von mir
naͤhere Nachrichten.


[24]

6.
Mortimer an Eduard Burton.



Ich ſchicke Ihnen hier das Manuſkript Ihres
Vaters zuruͤck, das ich mit großer Aufmerk,
ſamkeit geleſen habe. Wie viele Wege giebt es
in unſerm Verſtande, die den Menſchen ſo
leicht auf eine falſche Bahn bringen koͤnnen!
Die Sucht uͤber uns ſelbſt zu gruͤbeln, liegt in
uns, und doch lernen wir beym aufmerkſamſten
Studium nichts und alles Einfache, und Gute
verliert ſich aus uns bey dieſen Betrachtungen.
Der Menſch gewoͤhnt ſich dabey gar zu leicht,
ſich nur als ein ſpekulirendes Weſen, als eine
abſtrakte Idee anzuſehen, und mit eben den
Augen die uͤbrigen Geſchoͤpfe zu betrachten. —
Ich ſage Ihnen fuͤr Ihr Zutrauen vielen Dank;
ſolche Aufſaͤtze ſind Wegweiſer und Leuchtthuͤr-
me fuͤr andere Menſchen.


In mir iſt wieder die Sucht aufgewacht,
eine kleine Reiſe zu machen, und wenn ich
durch nichts gehindert werde, will ich auch die-
ſe Neigung naͤchſtens befriedigen. Dann beſu-
[25] che ich zugleich Sie, und ihre liebenswuͤrdige
Schweſter. — Amalia iſt auf ein paar Tage
in der Stadt geweſen, um Ihre Eltern, und
ihren fleißigen Bruder zu beſuchen. — In ei-
nigen Monathen hoffe ich Vater zu ſeyn, und
ich bin neugierig wie mich dieſe neue Wuͤrde
kleiden wird.


[26]

7.
Emilie Burton an ihre Freundinn
Amalie
.



Liebe Freundinn, ich fuͤhle mich zum Schreib-
tiſche ordentlich mit Gewalt hingezogen, um
mich mit Ihnen zu unterhalten. Sie haben ſo
oft Ihren Kummer in Briefen gegen mich aus-
geſchuͤttet, und ich denke eben daruͤber nach,
ob jetzt vielleicht an mich die Reihe iſt. Ich
habe oft von Ruͤhrung reden hoͤren und ſelbſt
geſprochen, aber bis jetzt iſt es nur ein Wort
fuͤr mich geweſen, deſſen eigentliche Bedeutung
ich erſt heute habe kennen lernen.


Schon ſeit einigen Tagen haͤlt ſich ein kran-
ker armer Menſch in unſerm Hauſe auf, dem
mein Bruder aus Mitleid ein klein Zimmer
hat einraͤumen laſſen, weil der Gaͤrtner fuͤr ihn
bat. Die Bedienten haben ihn bis jetzt ver-
pflegt, und wir bekamen ihn faſt gar nicht zu
ſehn, denn er hielt ſich immer auſſerordentlich
ſtill und eingezogen, und jedermann im Hauſe
[27] glaubte, daß ſeine Krankheit vorzuͤglich in ei-
ner tiefen Melancholie beſtehe.


Mein Bruder war geſtern ausgeritten und
ich ſaß allein im Garten. Sie kennen die [Lau-
be]
, in der ich am liebſten bin, wo man nur
den einen ſchmalen Gang hinunter ſehn kann
und allenthalben von dichten Hecken eingeſchloſ-
ſen iſt. Ich las und arbeitete, und bemerkte
nach einiger Zeit den Kranken, der tiefſinnig
im Gange auf- und abging, bald mit [verſchraͤuk-
ten]
Armen ſtille ſtand und den Blick ſtarr auf
den Boden heftete, bald Blumen abriß und ſie
mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Ich war auf alle
ſeine Bewegungen aufmerkſam, denn aus jeder
ſchien ein tiefer Kummer zu ſprechen. Ich weiß
ſelbſt nicht, auf welche wunderbare Weiſe mein
Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz
wie bey einer guten Tragoͤdie zu Muthe, wo
ein unbekannter Elender unſre ganze Theilnah-
me an ſich reißt.


Ich konnte es nicht unterlaſſen, ich mußte
aufſtehn und ihm naͤher treten. Er ſchien be-
wegt und erſchreckt, als er mich erblickte, er
wußte nicht, ob er gehen ſollte, oder bleiben.
Ich redete ihn freundlich an, um ihn uͤber ſei-
[28] nen Kummer zu troͤſten. Er antwortete und
jedes Wort enthielt ein tiefes Gefuͤhl ſeines
Ungluͤcks, mit jeder Antwort ward meine Ruͤh-
rung groͤßer und ich konnte am Ende meine
Thraͤnen nicht verbergen.


Was iſt es doch, was unſer Herz oft ſo ge-
waltſam zuſammenzieht? Wer kann jene Gefuͤh-
le beſchreiben, die wir Ruͤhrung nennen, und
wer kann ihre Entſtehung begreifen? — Wenn
das Mitleid in unſer Herz eintritt, o Freun-
dinn, dann breitet es ſich gewaltſam wie mit
Engelſchwingen darinn aus, daß unſer armes
irdiſches Herz erzittert und ſich zu klein fuͤr
den goͤttlichen Fremdling fuͤhlt, dann moͤchten
wir in dieſem ſchoͤnen Augenblicke ſterben, weil
wir empfinden, daß unſer voriges Leben kalt
und duͤrr dagegen war, weil wir es wiſſen, daß
die Zukunft nach dieſem ſchoͤnen Augenblicke
nur leer und nuͤchtern ſeyn wird: wir moͤchten
ganz in wolluͤſtigen Thraͤnen zerfließen, wir koͤn-
nen uns nicht daruͤber zufrieden geben, daß wir
nach dieſer Seeligkeit noch leben ſollen. Ach
das Herz begehrt zu brechen, und die Seele
den Flug aufwaͤrts zu nehmen, — nein, ich
kann keine Worte fuͤr dieſe Gefuͤhle finden, ob
[29] mir gleich auch jetzt die Augen voll von großen
Thraͤnen ſind. — Kann es denn wirklich Men-
ſchen geben, die nie das Mitleid empfunden
haben, die nie Thraͤnen vergoſſen? — O denen
ſey es erlaubt, die Unſterblichkeit ihrer Seele
zu bezweifeln, ihnen ſey es vergoͤnnt, die Men-
ſchen zu haſſen, denn ſie muͤſſen es nicht be-
greifen koͤnnen, warum man ſie liebt. —


Ich kann nicht dafuͤr, liebe Freundinn, daß
ich hier deklamirt habe, denn meine ganze See-
le hat ſich in mir aufgethan. Sie kennen ja
auch dieſe zarten Regungen des Herzens, Sie
werden mich verſtehen, und mich keine Schwaͤr-
merinn nennen. Mit Maͤnnern kann man uͤber-
haupt nicht ſo ſprechen, ſie ſind viel zu ſehr in
die Geſchaͤfte des Lebens verwickelt, um ihre
Gefuͤhle rein und hell in ihrem Buſen zu behal-
ten, ſie handeln und denken und eben dadurch
wird alles uͤbrige in ihnen verdunkelt. Nur
der Mann von dem ich Ihnen erzaͤhlen wollte,
und den ich beynahe ganz vergeſſen haͤtte, nur
er, vielleicht unter ſeinem Geſchlechte der Ein-
zige, iſt faͤhig mich ganz zu verſtehn, aber er
kommt aus der Schule des Ungluͤcks und der
[30] Leiden, die dem Herzen die verlohrne Menſch-
lichkeit wiedergeben.


Zeigen Sie Niemanden dieſen Brief, liebſte
Freundinn, denn er iſt nur fuͤr Sie allein ge-
ſchrieben, jedes andre Auge wuͤrde ihn entwei-
hen und nur uͤber meine Schwachheit ſpotten.
So wenige Menſchen verſtehen es, froͤhlich zu
ſeyn, und noch weit weniger zu trauern, der
Schmerz redet ſie in einer himmliſchen Sprache
an und ſie koͤnnen nur mit ihren unbeholfenen,
irdiſchen Toͤnen antworten. Wer ſich freuen
oder wer weinen will, ziehe ſich ja zu Blumen
und zu Baͤumen zuruͤck.


Der Unbekannte redete ſehr herzlich und
bald ſchien mir ſeine Sprache ſo bekannt. Es
kamen wunderbare Erinnerungen in meine See-
le; ich betrachtete ihn genauer und auch ſeine
Geſichtszuͤge ſchienen mir nun nicht mehr fremd.
— O Amalie, welche Empfindung ergriff mich,
als ich in dem armen Verſtoßenen, in dem kran-
ken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund
von mir entdeckte, — und wie er ſich mir nun
ſelbſt zu erkennen gab und viel von den Men-
[31] ſchen und ihrer Grauſamkeit ſprach, — wie
Thraͤnenguͤſſe aus ſeinen Augen ſtuͤrzten und er
zu meinem Fuͤßen ſank und um Vergebung fleh-
te, — o Freundinn, ich wußte nicht, ob ich
lebte, oder todt ſey, — ob ich mich nicht
ploͤtzlich im Lande der wunderbarſten Traͤume
befinde, — ach, ich kann immer noch nicht zu
mir ſelber kommen.


Seinen Nahmen darf ich Ihnen noch nicht
nennen, ſo wie er auch unſerm ganzen Hauſe
ein Geheimniß iſt, aber bald, bald will ich Ih-
nen alles aufloͤſen, und Sie werden eben ſo
ſehr erſtaunen. — Alle Gegenſtaͤnde flimmern
mir ſeit dieſem Augenblicke vor den Augen, ich
kann nichts recht feſt angreifen, und mein Ge-
muͤth iſt zu den ſeltſamſten Vorfaͤllen und Ver-
wandlungen vorbereitet. Meine Augen wollen
unaufhoͤrlich weinen und jeder freundlich lachen-
de Mund ruͤhrt mich innig: eine große Weh-
muth hat mir alle Gegenſtaͤnde der Welt in die
Ferne geruͤckt und der Schreck beym Erkennen
zittert immer noch in mir fort.


Wunderbar gehn die Schickſale und Leiden
der Welt und [noch] nie iſt mir dieſer fuͤrchterli-
[32] che Gang ſo deutlich vor die Augen getreten.
Ich habe noch wenig gelitten, und ich moͤchte
nun fuͤrchten, daß ich noch viel zu leiden habe.


Sehn Sie, liebe Amalia, ſo melancholiſch
hat jener Ungluͤckliche Ihre Freundinn gemacht;
der ganze Brief iſt ein Beweis von der Span-
nung meiner Phantaſie. — Leben Sie recht
wohl und gluͤcklich.


8.
[33]

8.
Karl Willmont an Mortimer.



Ich habe doch hier, bey aller meiner Philoſo-
phie manche ungeduldige Stunde, und ich glau-
be, ich habe ſo gut wie jeder andre Verliebte
ein Recht dazu. — Ich will verſuchen, ob ich
mich dadurch zerſtreuen kann, wenn ich an Dich
einen Brief ſchreibe.


In den erſten Tagen kam es mir ſo auſſer-
ordentlich leicht vor, von Emilien entfernt zu
ſeyn, daß ich ordentlich im Stillen wuͤnſchte,
man moͤchte mir eine ſchwerere Probe auflegen.
Es ging mir grade wie dem Kranken, der eine
gefaͤhrliche Kriſis uͤberſtanden hat, ſich in den
erſten Tagen nach dieſer ſchon fuͤr geneſen haͤlt,
und ſich nicht genug daruͤber wundern kann,
wie ihn die uͤbrigen Menſchen noch bedauren:
aber bald fuͤhlt er die Krankheit und Mattig-
keit in allen ſeinen Gliedern von neuen, er
wird von neuem ungeduldig und vergißt die
ſchmerzhaften Tage gaͤnzlich, die jetzt hinter ihm
liegen. — Du wirſt mir wenigſtens zugeben,
Lovell. 3r Bd. C
[34] daß der Menſch immer bey dieſer kurioſen Ein-
richtung ſeiner Natur die herrlichſten Urſachen
hat, unzufrieden zu ſeyn.


Wie unermeßlich lang kommt mir jetzt oft
bey meinen Arbeiten ein Bogen vor, den ich
vollſchreiben ſoll, da er mir in den erſten Tagen
nur wie ein Spatziergang war. Alle dummen
und klugen Streiche laufen in der Welt doch
wahrhaftig auf eins hinaus. Du nennſt es nun
ſelbſt einen vernuͤnftigen Plan, daß ich beym
Miniſter angeſtellet bin, und wie wenig hab' ich
daran gedacht, als ich mich anſtellen ließ?
Wahrlich, ich ließ mich eben mit der phlegma-
tiſchen Unbefangenheit zu ihm ſchleppen, als
waͤre die Reiſe nach einem Alehouſe gegangen;
meine allerdummſten Streiche haben mir weit
mehr Kopfbrechens gekoſtet. — Ich glaube,
ich koͤnnte der edelſte und tugendhafteſte Mann
von der Welt werden, ohne daß ich ein Woͤrt-
chen davon wuͤßte. — Lieber [Mortimer], wenn
das irgend einmal der Fall ſeyn ſollte, ſo ma-
che mich doch um des Himmels willen aufmerk-
ſam darauf, damit ich nicht ſo in meiner
Dummheit hin auſſerordentlich edel bin und
ſelbſt gar keine Freude daran habe.


[35]

Du biſt mir zum erſtenmale in Deinem Le-
ben mit Deinem neulichen, ſo uͤberaus ernſt-
haften Briefe ein wenig naͤrriſch vorgekommen.
Seit Du ein Ehemann biſt, fuͤhrſt du einen
gewiſſen altklugen Ton und uͤbſt Dich an mir
zum kuͤnftigen Erzieher Deiner Kinder. Du
biſt bey weitem nicht mehr ſo launigt, als ehe-
dem, ich wette, daß Du jetzt nie einen Perio-
den anfaͤngſt, ohne zu wiſſen, wie Du ihn en-
digen willſt; und doch gefiel mir eben das ſonſt
ſo ſehr an Dir, wo Du ſelbſt einen weiſen
Spruch zuweilen anhubſt, ohne zu wiſſen, wie
er ſchließen ſolle. Du verlierſt vielleicht nach
und nach das wahre Leben und wirſt am Ende
nur eine Ruine vom ehemaligen Mortimer,
wenn ich Dich denn beſuche und Du hinter
Deinem Tiſche mit dem ernſthaften Geſichte
ſitzeſt; ſo muß ich in Gedanken alle Deine ehe-
maligen Vortreflichkeiten in Dich hineinlegen,
um nicht auf die Meinung zu gerathen, daß
ich den leibhaftigen Grandiſon vor mir ſehe.


Aber laß uns einmahl ernſthaft ſprechen. —
Dein neulicher Brief kann Dir unmoͤglich ganz
Ernſt geweſen ſeyn, denn was Du da von den
Geſchaͤften und der Elaſticitaͤt ſagſt, iſt ſo alt-
C 2
[36] fraͤnkiſch, ſo philoſophiſch und ſo unwahr, daß
ich beynahe Luſt haͤtte, Dir alle meine Geſchaͤf-
te zu uͤbertragen, damit Du es ſelber mit Haͤn-
den griffeſt, wie ſehr Du gelogen haſt. Du
haſt in Deiner laͤndlichen Ruhe gut ſprechen,
aber wenn Du nur die langweiligſten, unbe-
deutendſten Sachen mit einer Emſigkeit und
Genauigkeit abſchreiben muͤßteſt, als wenn dar-
an die Seeligkeit von zehn Maͤrtyrern hinge,
wenn Du es nur ſelber fuͤhlteſt, wie bey einer
ſolchen Arbeit die Waͤnde umher immer enger
zuſammenruͤcken, und das Herz aͤngſtlich klopft
und Du nach dem letzten Worte mit der flie-
genden Feder hinrennſt, als wenn das Haus
einfallen wollte. Dann holt man Athem, um
es von neuem durchzuleſen, und kaum iſt man
eine halbe Stunde ausgegangen, ſo findeſt Du
ſchon neue Stoͤße, die auf Deine Abfertigung
warten. — Wo da die Elaſticitaͤt herkommen
ſoll, kann ich gar nicht einſehn. — Die Ge-
danken im Kopfe werden immer duͤnner, und
gehn am Ende gar aus; ſtatt daß ich ſonſt
Stellen aus dem Triſtram Shandy auswendig
wußte, uͤbe ich meine Memorie jetzt an den
mancherley Titulaturen.


[37]

Ich bin mir in manchen Stunden ſchon un-
gemein abgeſchmackt vorgekommen, daß ich mir
ſo viele edelmuͤthige Bedenklichkeiten ausge-
dacht und Emilien nicht auf der Stelle gehei-
rathet habe. — Gluͤck! iſt das nicht das hoͤch-
ſte Wort im Leben, unſre erſte Pflicht, ein
Wort, gegen das jede Delikateſſe albern er-
ſcheint? — Doch ich bin einmal eingeſpannt,
und ſo werde ich denn auch wohl aushalten
muͤſſen.


[38]

9.
Emilie Burton an ihre Freundinn
Amalie.



Ich bin auf Ihre Antwort begierig, da Ihr
Herz mit dem meinigen immer ſo ſympathiſirt
hat. — Ach, liebe Freundinn, ich kann Ihnen
nicht alles ſo ſagen, wie ich es gerne moͤchte,
ich ſpare dies Vertrauen noch fuͤr eine andre
Zeit auf.


Welch ein Menſch iſt jener Unbekannte, von
dem ich Ihnen neulich ſchrieb! — Er iſt ganz
uͤber das kleinliche Leben hinuͤber, in dem ſich
die gewoͤhnlichen Menſchen ſo aͤngſtlich abarbei-
ten. Sein Geiſt iſt durch und durch gelaͤutert
und gereinigt und er gehoͤrt nicht mehr der Er-
de an. Ich kann es nicht unterlaſſen, ihn zu
bewundern, ſo oft ich ihn ſehe oder ſpreche, er
hat eine andre als die gewoͤhnliche Menſchen-
ſprache. — Wenn ich an ihn denke, geht im-
mer eine innige Ruͤhrung durch meine Bruſt,
ich moͤchte faſt beſtaͤndig in ſeiner Geſellſchaft
ſeyn, ſein tiefes Urtheil uͤber das und uͤber je-
[39] nes hoͤren, und ihm mit meinem Troſte den
Gram etwas aus ſeinem duͤſtern Angeſichte
ſchmeicheln.


Niemand kennt ihn hier und Niemand weiß
daß ich ihn kenne, ich muß Ihnen ſeinen Nah-
men auch noch verhehlen, weil es ſein Wille ſo
iſt und weil er gegruͤndete Urſachen dazu hat.


Es iſt ſo etwas Wunderbares um ihn her,
daß man ſich in ſeiner Gegenwart wie in eine
andre Welt entruͤckt fuͤhlt. Alle, ſelbſt die all-
taͤglichſten Ideen, erhebt er zur hoͤchſten Poeſie,
ſo daß er wie ein fremder Geiſt auf dieſer Er-
de wandelt. Wenn ich dabey an ſein Ungluͤck
denke, ſo kann ich nicht muͤde werden, von
ihm zu ſprechen, mich freut es, daß er mich
ſeine Freundinn nennt, da ihn kein Weſen auf
dieſer Erde weiter liebt. — O, denken Sie
ſich den ſchrecklichen Gedanken: ich bin das ein-
zige Geſchoͤpf, das ſich fuͤr ihn intereſſirt!


Wozu ſind die Millionen Menſchen auf die-
ſer Erde, da ſo wenige nur Einen finden, der
ſie liebt! — Ach, ſie koͤmmt mir wuͤſt und ent-
voͤlkert vor, wenn ich daran recht lebhaft den-
ke, ſie iſt nur eine große Erdmaſſe, voller ſtum-
men Leichen, die in und auf ihr ſind. Sind
[40] ſich alle die Armſeeligen ſelber genug? Haben
ſie kein Beduͤrfniß noch Liebe und Mitempfin-
dung? — Sie ſterben alle, ohne gelebt zu ha-
ben, ſie ſind Leichen, die ſich bewegen, und
denn auch die Faͤhigkeit zu eſſen, an die Na-
tur abgeben und ſich hinlegen und verweſen.


Nennen Sie mich nicht truͤbſinnig, liebe
Amalie, denn es iſt ſo: Der ganze Lebenslauf
des Unbekannten enthaͤlt nur dieſe Wahrheit.
— Leben Sie recht froh und recht gluͤcklich! —


[41]

10.
William Lovell an Emilie Burton.


Hier ſitz' ich nun, theureſte Emilie, in mei-
nem [engen] einſamen Zimmer und denke und
traͤume nur Sie. Mein Fenſter ſtoͤßt auf den
Gang, in welchem ich ſchon damals mit Ama-
lien ſo oft an Ihrer Seite ſaß — Amalie,
die mich vergeſſen, die mich niemals geliebt
hat. — Ach, Ungluͤcklicher! und Du darfſt
noch klagen? Hat ſich der huldreichſte Engel
nicht deiner mit einem himmliſchen Mitleid an-
genommen? — Kannſt Du von dieſer irrdiſchen
Erde noch mehr Gluͤck, noch eine hoͤhere Won-
ne erwarten?


Ach, Emilie, immer, immer moͤcht' ich bey
Ihnen ſeyn und den ſuͤßen Ton Ihrer troͤſten-
den Stimme hoͤren, immer den ſanften Augen
begegnen, die dem Verſtoßenen, dem Elenden ſo
koſtbare Thraͤnen ſchenkten. Die ganze Welt
verkennt und verlaͤßt mich. Ihr harter Bruder
hat mir ſeine Freundſchaft aufgekuͤndigt. — O,
mag er ſie zuruͤcknehmen, wenn ich nur die Zu-
neigung ſeiner goͤttlichen Schweſter behalte. —
[42] Was kuͤmmern mich die Augen der uͤbrigen
Welt, wenn mich nur die Ihrigen bemerken
und nicht zuͤrnend auf mich blicken!


Sie kennen, Sie dulden und lieben den
Menſchen, o das hab' ich daran erfahren, daß
Sie mich nicht verſtießen, als ich die freche
Erklaͤrung wagte, als ich Ihnen entdeckte, war-
um ich verkleidet dieſes Haus betreten habe. —
O Himmel, was kann ich denn auch fuͤr die
heißen Empfindungen meines Herzens? — Iſt
es ein Verbrechen, Sie zu lieben? — O ja ſo
bin ich ein Verbrecher, verachten und haſſen
Sie mich und mit dem Ende dieſes unertraͤg-
lich ſchweren Lebens iſt meine Suͤnde abgebuͤßt.
— Aber nein, Sie haben mir verziehen, Sie
haben ſich meines Elendes mit der Guͤtigkeit
eines Engels erbarmt, Sie wollen mich gegen
meine wilde Verzweiflung ſchuͤtzen, Sie haben
es mir zugeſagt, — o warum bin ich denn
nicht froh und gluͤcklich? — Weil ich immer
noch an dieſem Gluͤcke zweifle, weil ich in die-
ſem Leben gelernt habe, daß uns alle Hoffnun-
gen hintergehn, weil ich es nur fuͤr eine ſchuld-
loſe Verſtellung halte, um mich auf einige Ta-
ge zu troͤſten. — O Emilie! bedenken Sie, wie
[43] ich denn zu meinem gewoͤhnlichen Leben wieder
erwachen werde!


Warum ſollte aber nicht ein Ungluͤcklicher in
ſeinem duͤrren Lebenslaufe, unter den unzaͤhli-
gen leeren Larven, die ihm begegnen, auch ein-
mal einen Bothen des Himmels antreffen, der
ihm von oben her Frieden verkuͤndigt? — Ach,
mein ganzes verſchloſſenes, verwelktes Herz
wuͤrde ſich wieder wie eine Blume aufrichten,
die ein warmer Fruͤhlingsregen trifft. Ein ſchoͤ-
ner Regenbogen wuͤrde den Horizont meines
dunkeln Daſeyns umarmen, und Hoffnung, Lie-
be, Gluͤck und Seeligkeit wuͤrde aus jedem
Sterne der Nacht, wie aus einem goldnen Au-
ge auf mich herniederblicken.


Wenn ich leben ſoll, ſo muͤſſen Sie mir die-
ſe Hoffnung nicht nehmen; wenn ich laͤcheln
ſoll, o ſo muͤſſen Sie ſie erfuͤllen.


[44]

11.
Emilie Burton an William Lovell.


Ich halte es fuͤr meine Pflicht, Sie zu beru-
higen; — doch nein, das Wort iſt zu kalt und
aͤngſtlich. — Ich bin es meinem klopfenden
Herzen ſchuldig: ich kann nicht anders, wenn
ich auch wollte. Aber ich will nun ſo und nicht
anders. — Koͤnnen Sie einen groͤßern Beweis
fordern, als daß ich Ihnen ſchreibe, daß ich
Ihr Geheimniß verſchweige, daß ich gern und
geheim mit Ihnen ſpreche? — Ach, koͤnnten
Sie alle die Thraͤnen ſehn, die ich um Ihrent-
willen vergieße, Sie wuͤrden nicht laͤnger
zweifeln.


Und darf ich denn mehr thun? — Hab' ich
nicht ſchon zu viel gethan? — O ungluͤcklicher
Lovell, Sie haben Ihre Emilie vielleicht mit
ungluͤcklich gemacht; Sie haben vielleicht den
ſchwarzen Saamen in dieſem friedlichen Hauſe
ausgeſtreut, — und dann, — was ſoll ich denn
thun? Was ſoll ich denn ſagen? —


[45]

O beruhigen Sie ſich und leſen Sie nicht
alle Worte zu ernſthaft und aufmerkſam. —
Mir iſt es, als wenn mein Herz in mir ſprin-
gen wollte, ich kann kaum mehr Athem ſchoͤ-
pfen. —


[46]

12.
William Lovell an Emilie Burton.


Und ich ſoll nicht ſeufzen und klagen? Nicht
trauern und verzweifeln? — Mehr hat Emilie
gethan als ſie durfte? — O dann wird es ſie
auch gereuen, dann, — o dreymal ungluͤcklicher
Lovell, — dann iſt auch kein Herz auf der wei-
ten Erde das fuͤr dich ſchluͤge! — Ach nein,
denn das einzige, das uͤbrig war, bereut es,
daß es gewagt hat, dich zu bemitleiden! —


[47]

13.
Emilie Burton an William Lovell.


Ich fuͤrchtete Ihre Klagen und Ihren bethraͤn-
ten Blick, das war's, warum ich Sie heute
gern vermeiden wollte. — Gott! Und nun Ihr
Geſpraͤch im Garten! — O ich fuͤhle noch das
Erſtarren in allen meinen Adern. — O Lovell,
Sie haben mich heut viel dulden laſſen, ich
ſagte es, Sie machen mich zur Gefaͤhrtinn Ih-
res Ungluͤcks.


[48]

14.
William Lovell an Emilie Burton.


O wuͤrden Sie die Gefaͤhrtinn meines Un-
gluͤcks! Wie ſchnell wuͤrde der arme Lovell der
frohſte und gluͤcklichſte unter den Menſchen wer-
den! — Aber nein, Sie haben ſich ganz deut-
lich von mir zuruͤckgezogen; — o warum hofft'
ich denn auch noch auf Freuden? — Bin ich
nicht langſam zum hoͤchſten Elende gereift und
nun ſollte ſich ploͤtzlich alles umwandeln? — —
Nein, ich will fort, fort ohne Troſt und Ab-
ſchied, uͤber Niemand ſoll mein Elend zur Haͤlf-
te kommen; beſſer daß ich vergehe! —


O daß ich nie hieher gekommen waͤre! —
Daß ich nie die letzte Blume gefunden haͤtte,
die ein hoͤhniſcher Fuß zertritt! — Leben Sie
wohl! — Ach wohin ſoll ich mich wenden? —
Wohin? — Der Tod wohnt in allen Weltge-
genden, fuͤr ein Grab iſt die Erde noch allent-
halben gut genug!


15.
[49]

4.
William Lovell an Roſa.



O Roſa! was, was ſind die Menſchen? —
Warum bedauerte ich je Roſalinen und Pietro?
Vergaß mich Roſaline, und allen ihren Schmerz
nicht auf einen Tag in Ihren Armen? — Ama-
lie
hat mich vergeſſen, und iſt an Mortimer
verheiratet, und Emilie, die Schweſter des
jungen Burton — Doch laſſen Sie mich erſt
zu Athem kommen, denn ich muß hier aus vol-
lem Halſe lachen; — O! gewiß, mein Vater iſt
nicht aus Gram uͤber mich geſtorben. —


Eduard beſitzt ganz ruhig meine Guͤter,
ohne daß ihm ſein zartes Gewiſſen einen Vor-
wurf daruͤber macht. Hat er ſie doch in einem
rechtmaͤßigen Prozeſſe gewonnen. — O! um die-
ſe
Menſchen ſollte man ſich noch haͤrmen? —
Man ſollte fuͤrchten ihnen Unrecht zu thun? —
O, nein! ich bin nun ganz ruhig daruͤber.


Doch ich wollte Ihnen meine Lage ſchildern,
ich wollte Ihnen von Emilien erzaͤhlen.


Ich ſtellte mich als ein verarmter Kranker,
Lovell. 3r Bd. D
[50] der Gaͤrtner ſprach von mir mit Burton, und
dieſer ließ mich in das Schloß bringen, mir ein
Zimmer anweiſen, und mich mit Eſſen und Trin-
ken verſorgen. Emilie kannte ich ſchon etwas
aus vorigen Zeiten, und ich beſchloß mit ihr
einen Verſuch zu machen. Ich konnte darauf
rechnen, daß ſie vorzuͤglich neugierig war, wer
ich ſeyn moͤchte, ich ſuchte daher ihre Aufmerk-
ſamkeit noch mehr auf mein ſtilles, melancholi-
ſches Weſen zu richten. Es gelang mir. Ihr
Bruder war an einem Tage abweſend, und ich
ſehe ſie allein nach dem Garten gehen, und ſich
in ihre Lieblingslaube ſetzen. — O Roſa! Sie
hat ſich wirklich ſehr verſchoͤnert, ſeit dem ich
ſie nicht geſehen habe; ihr Wuchs iſt ſehr gra-
zioͤs, und ihr Auge klug und ſanft.


Sie hat einen gewiſſen Verſtand, den ſie be-
ſonders an ſich ſchaͤtzt; ſie hat viele Buͤcher
geleſen, und manches daruͤber gedacht, daher iſt
ſie im Leben ihrer Sache immer ſehr ge-
wiß; ſie meinet daß es keine kritiſche Faͤlle
gebe, in denen man zweifeln koͤnne, wie man
ſich zu betragen habe. Ich brauche Ihnen, Ro-
ſa, wohl nicht zu ſagen, daß dieſe Geſchoͤpfe
grade am leichteſten zu gewinnen ſind, daß ſie
[51] ſelber jedem Plane entgegen laufen, und eben
durch ihre Weisheit einfaͤltiger ſind, als die
Duͤmmeren.


Ich ging truͤbſinnig in dem Gange auf und
ab, der an ihre Laube ſtieß, und ſie bemerkte
mich ſehr bald. Sie konnte ihre Neugierde nicht
unterdruͤcken, ſondern ſtand auf und trat mir
naͤher. Unſer Geſpraͤch nahm eine ſehr ſchwer-
muͤthige Wendung, und ich ſagte vieles uͤber
die Welt und uͤber die Menſchen, was ich wirk-
lich ſo meinte: meine Rolle ward mir alſo da-
durch um vieles leichter. Ich bemerkte daß ſie
weinen mußte, und als ſie auf die ſtaͤrkſte Art
geruͤhrt war, entdeckte ich ihr, wer ich ſey.


Ich konnte auf ihrem Geſichte bemerken, daß
die wunderbarſten Empfindungen ſchnell in ih-
rem Innern wechſelten. Sie war auf eine ſol-
che Ueberraſchung, auf den Schmerz der darinn
lag, nicht vorbereitet; um ſie voͤllig zu verwir-
ren, ſuchte ich ſie daher noch einmal, und am
kraͤftigſten zu uͤberraſchen.


Ich warf mich ploͤtzlich zu ihren Fuͤßen nie-
der, und geſtand ihr, daß zu dieſer Verkleidung,
zu meinem Aufenthalt im Schloſſe, mich allein
eine heftige Liebe zu ihr vermocht habe; dieß
D 2
[52][ſolle] mein letzter Verſuch ſeyn, ob es irgend ein
menſchliches Herz gebe, daß ſich meiner noch
annehme, um mich mit dem Leben, und dem
Schickſale wieder auszuſoͤhnen. — Sie war ſchoͤn,
und wie in einem Schauſpiele, ſpielte ich meine
Rolle, auf eine wunderbare Weiſe begeiſtert,
fort; es gelang mir alles was ich ſagte, ich
ſprach mit Feuer und doch ohne Affektation. —
Sie ſtand unbeweglich vor mir, und wußte im-
mer noch nicht, wie ſie alles in ihrem Kopfe
reimen ſollte.


Haben Sie mich nicht gehoͤrt, ſchoͤnſte Emi-
lie
? rief ich aus.


Sie fuhr auf, und gab eine unverſtaͤndliche
Antwort, ich erhob mich, und ſetzte meine
Klagen fort. Sie erweichte ſich ſehr fuͤr mich
und mein Ungluͤck traf ihr Herz. Ich klagte
uͤber Amalien und ihren Bruder, uͤber die gan-
ze Welt, die mich von ſich geſtoßen habe; ich
nahm meine Zuflucht zu ihrem weichen und zaͤrt-
lichen Herzen, und ſchwur, daß ſie mich nicht
verwerfen koͤnne, ſondern daß ſie mitleidiger
ſeyn wuͤrde, als die uͤbrige Welt.


Nie, Roſa, habe ich ſo gut geſprochen, und
nie ſo tief empfunden. Es war als wenn ſich
[53] mein ganzes Herz in mir eroͤffnete, und ich muß-
te uͤber mich ſelbſt erſtaunen. — Ach was iſt
Wahrheit und Ueberzeugung im Menſchen! Ich
war jetzt von allem uͤberzeugt was ich da ſagte,
ich war ſchwermuͤthig, und in ſie verliebt, ich
haͤtte mich wirklich in dieſem Augenblicke ermor-
den koͤnnen. O! man rede mir doch kuͤnftig
nicht von den Menſchen die ſich verſtellen. Was
iſt die Aufrichtigkeit in uns?


Emiliens Ruͤhrung ward immer heftiger, und
ſie legte am Ende ihre Hand in die meinige;
ſie hatte meinen Worten geglaubt, und ihr Herz
neigte ſich mir unwiderſtehlich entgegen. Sie
ſagte mir: daß Sie mich troͤſten wolle, wenn
ſie mich troͤſten koͤnne, daß ſie mich gern fuͤr
mein Ungluͤck entſchaͤdigen wolle, wenn es in ih-
rer Gewalt ſtehe. Die ganze Scene ſchloß ſich
in der Manier wie ſie angefangen hatte.


Jetzt ſuchte ich ſie nun immer mit den Au-
gen: wenn es moͤglich war, ſprach ich ſie allein
im Garten, da wir aber oft gehindert wurden,
ſuchte ich ihr ein kleines Billet zuzuſtecken. —
Es ward beantwortet, wie ich gar nicht gehofft
hatte; nun hatte ich die deutlichſten Proben ih-
rer Liebe. Das Billetſchreiben ging fort, und
[54] meine Schwermuth machte, daß ich ihr nie we-
niger intereſſant vorkam.


Geſtern war ſie ganz allein im Garten,
denn ihr Bruder war ausgeritten, um jemand
in der Nachbarſchaft zu beſuchen. Es war ge-
gen Abend, und ich ſuchte ſie auf. Wir gin-
gen auf und ab, und unſer Geſpraͤch ward im-
mer hitziger, und verwickelter; wir kamen zur
Laube zuruͤck, der Mond ſchien, und wir ſetz-
ten uns auf die Raſenbank nieder.


Sie war ſehr weich geſtimmt, und ich be-
merkte die Thraͤnen deutlich, die heimlich aus
ihren Augen troͤpfelten; raſch umarmte ich ſie,
und kuͤßte ihre Thraͤnen weg, dann fielen meine
Lippen auf ihren zarten Mund. Sie wußte
nicht, was ſie antworten ſollte, ſie war voͤllig
in meiner Gewalt, davon war ich innig uͤber-
zeugt. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schul-
ter, und fing laut an zu weinen, dann umarmte
ſie mich freywillig, und druͤckte einen herzlichen
Kuß auf meine Lippen. — Ich liebte ſie innig
in dieſer Minute, ich druͤckte ſie an meine
Bruſt, und unſere Seufzer begegneten ſich.
Ungewiß war alles umher und in mir, ich
wußte nicht ob ich Amalien, oder ſie, oder
[55] Roſalinen in den Armen hielt; der ganze Sturm
meiner Sinnlichkeit wachte in mir auf, und ſie
war gefallen, als ſie es noch kaum bemerkt hatte.


Als ſie wieder ihrer Sinne maͤchtig wurde,
wußte ſie nicht, ob ſie mir Vorwuͤrfe machen,
oder ob ſie weinen ſollte. Ich troͤſtete ſie durch
Kuͤſſe, wir gingen ſtumm Hand in Hand aus
dem Garten, am Eingange kuͤßte ich ſie noch
einmahl, dann ging ſie fort.


Ich ging im Mondlicht durch die dicht be-
laubten Gaͤnge; jetzt fiel mir ein, daß ſie mit
dem jungen Wilmont ſo gut wie verlobt ſey. —
Ich wußte nicht, ſollte ich lachen, oder heiße,
[brennende] Thraͤnen vergießen: mein Mund zog
ſich zum hoͤhniſchen Laͤcheln, und große Thraͤ-
nen fielen aus meinen Augen.


Iſt das der Menſch, und der edlere Menſch?
Welch elendes, veraͤchtliches Gewuͤrme! — Was
mag ſie jetzt denken, wenn ſie uͤberlegt, wohin
ſie von ihrer regen Empfindſamkeit gefuͤhrt iſt?


Ich koͤnnte meine Eitelkeit ſehr naͤhren, und
mir einbilden, ſie liebe mich ganz unbeſchreib-
lich, und nur dieſe graͤnzenloſe Liebe habe den
Fall ihrer Tugend verurſacht. — Aber die Schwaͤ-
che des Menſchen allein hat ſie dorthin getrie-
[56] ben. — Und wenn ſie mich auch liebte, wie
koͤnnt' ich eitel darauf werden? — Denn was
iſt Liebe? — Ein voruͤbergehend dunkel Gefuͤhl,
und ein Wort. — Sie liebt vielleicht auf ei-
nige Tage den Begriff des Ungluͤcklichen in mir,
und haßt mich, wenn ſie mich naͤher kennen
lernt. —


Burton bringt mich auf, ſo oft ich ihn nur
ſehe; ſchon mehr als einmal war ich im Begriffe,
mich ihm zu entdecken, um meiner Hitze nur
freyen Lauf zu laſſen, aber bald, bald muß ich
ihn fuͤr das ſtrafen, was er gegen mich verbro-
chen hat.


Leben Sie wohl! Da ich dieſen Brief jetzt
nicht gut fortſchicken kann, ſo will ich ihn ſo-
lange liegen laſſen, bis Sie ihn zugleich mit
einem zweiten erhalten.


[57]

16.
Eduard Burton an Mortimer.



Wie ſoll ich dieſen Brief anfangen, mein Freund,
wie ſoll ich ihn endigen? — Noch nie bin ich
auf dieſe Art erſchuͤttert geweſen, noch nie ſo ſehr
aller meiner Beſinnung beraubt. Ich ſitze hier
einſam auf meinem Zimmer und weine, und bin
noch immer erſtarrt. — Daß ich das erleben
mußte! — Haben Sie Geduld mit mir, lieber Mor-
timer, ich kann mich noch immer nicht troͤſten.


Seit einigen Tagen hatte ich einen armen
Kranken in meinem Hauſe aufgenommen, der
mich durch einem meiner Leute um eine Frey-
ſtaͤtte auf einige Tage hatte bitten laſſen. Man
beſchrieb ihn mir als ſo ſchwermuͤthig, und un-
gluͤcklich daß ich mich lebhaft fuͤr ihn intereſſirte.


Ich ließ mir heute am Morgen, wie ge-
woͤhnlich, ein Glas Wein vom Bedienten brin-
gen, er ſtellte es hin, und ich wollte eben zu
fruͤhſtuͤcken anfangen, als der alte Willy ploͤtz-
lich bleich und mit weinenden Augen herein-
ſtuͤrzte, und mich beſchwur den Wein nicht an-
[58] zuruͤhren; ich wußte nicht was ich ſagen ſollte;
und Willy ſtand immer noch wie in einer Be-
geiſterung vor mir.


Ich fragte ihn endlich: was ihm fehle; ich
glaubte er ſey wahnſinnig geworden, er wollte
nicht beſtimmter antworten, er zitterte am gan-
zen Koͤrper, er ſtammelte und vermochte nicht
deutlich ein Wort hervor zu bringen. — In
den Wein iſt etwas hinein geſchuͤttet! rief er
endlich laut. — Ich weiß ſelbſt nicht, wie
mich die Verwirrung darauf brachte, daß ich
ihn fragte: ob er es gethan habe? Aber ſein
Zittern, ſeine Angſt, ſeine bleiche Geſtalt ſchie-
nen mir ein ſolches Geſtaͤndniß vorzubereiten. —
Da weinte der alte Mann, und ſchluchzte laut,
ſein Gemuͤth ward durch dieſen Argwohn noch
verwirrter; ehe ich es bemerkte faßte er zitternd
nach dem Glaſe, und trank es aus.


Seine Kraͤfte verließen ihn, er ſank in ei-
nen Stuhl; ich rief um Huͤlfe, und es waͤhrte
nicht lange, ſo offenbarten ſich die Wirkungen
eines Giftes. Er war faſt ohne Beſinnung,
und wollte doch noch immer nicht ſprechen;
ſein Bruder warf ſich auf ihn, und bedeckte
ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen, alle weinten und
[59] drangen in ihn, daß er reden ſollte. Ich konn-
te bei dieſem Anblicke meine Thraͤnen nicht zu-
ruͤckhalten, ich konnte nicht begreifen, wie ſich
das Raͤthſel aufloͤſen wuͤrde. — Wie von einer
hohen Angſt gedruͤckt, rief er nun ploͤtzlich den
Nahmen Lovell aus. Ach! und der Ton ſchnitt
durch mein Herz, er ſagte ſeinem Bruder ein
Paar Worte heimlich, — alle erſtarrten — jener
fremde verſtellte Kranke, — Niemand anders als
Lovell war es, — er hatte den Wein vergiftet.


Was ich in dieſer Minute empfand kann ich
nicht beſchreiben. Wie duͤrftig ich mich ploͤtz-
lich fuͤhlte, daß ich ein Menſch war! — Ach,
Mortimer es giebt Stunden, im Leben, deren
Hefen ſelbſt das hoͤchſte Gluͤck nicht aus dem
Herzen wieder wegſpuͤhlen kann, das fuͤhle ich
jetzt innig. — Mein ganzes kuͤnftiges Leben
iſt durch dieſen Augenblick krank geworden; ein
Pfeil iſt in meine Bruſt gedrungen, den ich
nicht wieder werde herausziehen koͤnnen, ohne
zu verbluten.


Es war ſchrecklich, wie dem alten Willy
jetzt ſeine zu raſche That gereute, wie er dann
weinte und ſchluchzte, weil er den Nahmen ſei-
nes Herrn genannt hatte, und wie er dann
[60] wieder nicht leben wollte, wie er ſich freuete,
daß er ſterben muͤßte, weil ſein Lovell die Bahn
der Tugend ſo ganz verlaſſen habe. Dann phan-
taſirte er wieder und war mit ſeinen Gedanken
weit weg, und kam nur wieder zu ſich, um uͤber
Lovell von neuem [zu]/choice\> weinen.


Wie wenn ich aus einem Traume erwacht
waͤre und die Begriffe noch nicht zu ordnen
wuͤßte, ſo ſtand ich unter ihnen, ich konnte jetzt
nicht an die Menſchheit, nicht an die Freund-
ſchaft glauben. — Ach! und mein Kopf ſchwin-
delt noch jetzt.


Endlich verlangte der ſterbende Willy ſeinen
Herrn noch einmahl zu ſprechen. Man hohlte
ihn. Alles im Zimmer ging mit mir herum.
Ich ſah wie Willy niederſank, ſich auf ſeine
Hand beugte und ſie kuͤßte, — er war es, —
ich erkannte ihn, und taumelte aus dem Zim-
mer und fand mich dann auf ein Sopha nie-
dergeſunken.


Wie ſchwer mein Herz in mir pochte! —
Mir ward leichter, als die Thraͤnen endlich
ausbrachen. — Aber ganz leicht wird mir nie
wieder werden.


[61]

Willy iſt geſtorben. —


Ich habe die Vorhaͤnge herunter gelaſſen
denn das Licht beleidigt meine Augen. —
Mein Kopf ſchmerzt heftig. — Ich fuͤhle
ein inniges Mitleiden mit mir ſelber, — und
doch moͤchte ich mich haſſen und verabſcheuen.


Iſt es denn moͤglich: daß dies aus dem
Menſchen werden kann? — O Freund! ich
moͤchte ſterben. In einzelnen Sekunden fuͤh-
le ich eine ſeelige Ruhe durch mein Herz ge-
hen, und dieß habe ich ſchon einige mahl
fuͤr den Anfang des Todesſchlafes gehal-
ten. — —


Aber ich muß mich ermannen. — Ich
muß den ganzen Vorfall meiner ſchwachen reitz-
baren Schweſter zu verbergen ſuchen; ich
muß fuͤr Lovells Sicherheit bedacht ſeyn! —
Wo werde ich den Muth hernehmen, nur
die Augen aufzuſchlagen? — Aber es muß
ſeyn. —


Leben Sie recht, wohl lieber Freund. —
Was iſt ſo ploͤtzlich aus mir und meinem Hauſe
geworden!


Ach! die arme Amalia! — Es iſt wohl
am beſten, Sie verſchweigen ihr alles; wie
[62] ſoll ihr Herz das ertragen, da ſchon das mei-
nige bricht? — Ich wuͤnſche manchmal, ich
haͤtte das Gift getrunken, dann waͤre mir jetzt
beſſer.


[63]

17.
Eduard Burton an Mortimer.



Mein Brief hat Sie gewiß recht ſehr erſchreckt;
auch Sie muͤſſen truͤbe und melancholiſch ſeyn,
da Sie ihn auch gekannt haben, da auch Sie
ſein Freund waren. — Jetzt bin ich etwas
mehr geſammelt, ich habe ihn geſprochen, und
ich zwinge mich ruhiger zu ſeyn.


Ich ging auf ſein Zimmer, er war fin-
ſter und in ſich verſchloſſen, er wollte mich
nicht anſehen. — So mußt' ich ihn nach ſo
langer Zeit wieder finden!


Lovell! rief ich unwillkuͤhrlich aus. —


Was verlangen Sie, ſagte er ſchwer und
mit einem unterdruͤckten Tone.


Es fiel nun eine dichte Scheidemauer zwi-
ſchen uns. Ich hatte ihn nicht ſo erwartet.
Er war mir ploͤtzlich ganz fremd geworden, und
ich konnte unmoͤglich darauf kommen, ihn um
[64] ſeine Abſichten zu fragen, und um die Gruͤnde
ſeiner Verkleidung oder Niedertraͤchtigkeit.


Dies iſt alſo der Menſch, indem mein
Geiſt den Bruder ehemals zu entdecken glaubte;
dieſem wollt' ich mein ganzes Leben wi[d]men?


Er hat ſich außerordentlich veraͤndert, er
iſt bleich und entſtellt, ſein Auge unruhig, ſein
Blick ſtarr, ganz das Bild eines Menſchen der
mit ſich ſelber zerfallen iſt.


Willy's Tod iſt ruchtbar geworden, und ich
muß ihn noch in dieſer Nacht fortzuſchaffen
ſuchen, um ihn den Gerichten und dem Gefaͤng-
niſſe zu entziehen.


Waͤr' es zu verwundern wenn ich in dieſer
Situation alle Beſinnung [verloͤhre]? — Ach ich
ſagte Ihnen ich waͤre ruhiger, ich bin blos noch
verwirrter, und das hat meinen ſcharfen Schmerz
etwas abgeſtumpft.


So iſt meine Jugend wiedergekehrt, —
ſo ſind meine Traͤume in Erfuͤllung gegangen!
Er ſollte hier nahe bey mir in Waterhall woh-
nen, wir wollten uns faſt taͤglich ſehen, wir
wollten nur Ein Leben genießen, und gleichſam
mit Einer Seele haushalten, und nun! — War-
um hat das Schickſal alles ſo umgeaͤndert, und
mir
[65] mir nichts, gar nichts uͤbrig gelaſſen? — Wenn
meine Augen noch weinen koͤnnten, wuͤrd' ich
unaufhoͤrlich weinen. — Und koͤnnten denn mei-
ne Thraͤnen alles wieder umaͤndern?


Haben Sie Geduld mit mir, lieber Morti-
mer. — Ich weiß nicht, welchen Eindruck alle
dieſe Vorfaͤlle auf Sie gemacht haben.


Lovell. 3r. Bd. E
[66]

18.
Eduard Burton an Mortimer.



Er iſt fort; es iſt Nacht, und ich will
Ihnen noch ſchreiben, weil ich doch nicht ſchla-
fen kann.


Die Erde koͤmmt mir vor wie ein dunkles
Reich von Schatten, wie ein Traumland, wo-
rinn nichts weſentlich, nichts beſtaͤndig iſt; der
Schein des Tages iſt ein betruͤgeriſches Licht,
nur das Dunkel der Nacht, iſt die wahre Far-
be dieſer duͤſtern Kugel. — Wir ſehen dunkle
Schatten in der Ferne ſtehen, und nennen ſie
Freundſchaft und Liebe, als Fremdlinge ziehen
ſie voruͤber, und ein ſchwaͤrzeres Dunkel folgt
ihnen nach. Die Menſchen ſehen in dieſer
ſchwarzen Nacht nur aus, wie eine dichtere
Finſterniß, kein Strahl in ihrem Herzen, ach!
kein Funke in ihrer Bruſt. — Dies Gefuͤhl
[67] das mich jetzt durchdringt, hatten gewiß die
Einſiedler, die ſich in ſchwarzen einſamen Waͤl-
dern anbauten, und mit Felſen und Baͤumen
die Geſellſchaft der Menſchen vertauſchten. —
Die ſtillſte Einſamkeit iſt mir jetzt erwuͤnſcht,
der ferne Geſang der Nachtigall ſtoͤrt mein Ge-
muͤth, das Rauſchen der Baͤume toͤnt mir zu
froh und heiter. Ich glaube nicht, daß ich ihn
wiederſehe, und wenn ich ſeine Briefe noch ein-
mahl uͤberleſe, ſo ſcheint es wie ein goldener
Traum in meine Seele hinein. — Alles Schoͤ-
ne und Poetiſche in der Natur iſt ploͤtzlich fuͤr
mich untergeſunken, ich ſehe nur Tod und Ver-
weſung, ich kann an keinen Edelſinn mehr glau-
ben, ja ich kann meinem eigenen Herzen nicht
vertrauen. Die Blumen und Kraͤuter, die Pflan-
zen von denen ſich der Menſch naͤhrt, kommen
mir vor wie verfuͤhreriſche Winke, wie bunte
Nichtswuͤrdigkeiten, die aus der finſtern kalten
Erde ein boshafter Daͤmon emporſteckt, um
uns wie Kinder zutraulich zu machen; wir fol-
gen nach, argwoͤhnen nichts, und werden ſo in
unſer ſchwarzes, enges Grab gelockt.


E 2
[68]

Ich bin ſehr erhitzt, weil ich einige Naͤch-
te nicht geſchlafen habe, und ich weiß nicht
genau was ich niederſchreibe. —


Um Mitternacht eroͤffnete ich Lovell's ver-
ſchloſſenes Zimmer. Es war alles ſtill im Hau-
ſe, die Bedienten ſchliefen, ich hatte die Schluͤſ-
ſel zu mir geſteckt, und eine Laterne angezuͤn-
det. Ich ſagte ihm er ſolle mir folgen, weil
er in meinem Hauſe nicht mehr ſicher ſey. Er
antwortete nichts, ſondern betrachtete mich mit
einem duͤſtern Blicke und ſtand auf.


Wir gingen uͤber die ſchallenden Gaͤnge,
und ich ſah mich zuweilen nach ihm um; ein
bleicher Schein meines Lichtes fiel auf ſein Ge-
ſicht, und entſtellte es auf eine wunderbare
Weiſe. — Ich ſchloß das Haus auf, und wie-
der hinter mir zu. Der Himmel war dick und
ſchwarz rund umher bezogen.


Wie im Traume ging ich mit ihm fort,
keiner von uns ließ einen Laut vernehmen, wie
zwey Geſpenſter ſchlichen wir durch den Garten.
— Es war mir wunderbar, als wir den Lauben
und den Baͤnken voruͤbergingen, wo ich ſo oft mit
[69] ihm geſeſſen hatte; die Baͤume neigten ſich weh-
muͤtig, als wir unter ihren Wipfeln hinweg-
gingen. — Arm in Arm war ich ſonſt hier mit
Lovell auf und abgegangen, hier hatte ſich uns
mit Entzuͤcken die Welt Oſſians und Shakſpears
aufgeſchloſſen, hier hatte ich ihn am Morgen
zuerſt geſucht, und noch der Abend traf uns in
dieſen Gebuͤſchen, wenn die uͤbrigen ſchon laͤngſt
zu den Zimmern zuruͤckgekehrt waren, — hier
hatte er mir ſein ganzes Herz enthuͤllt, und ich
ihm das meinige; — o! und nun gingen wir
mit dicht verſchleierten Seelen nebeneinander;
kein Mund oͤffnete ſich, keine Hand ſtreckte ſich
nach einem Drucke aus.


Wir kamen an das Gartenthor, und ich
benutzte dieſen Stillſtand, um ihm einen Wech-
ſel in die Hand zu geben. Er ſagte nichts, ſon-
dern ſteckte ihn mechaniſch ein. — Stillſchwei-
gend gingen wir nun wieder den Fußſteig im
Walde hinab, die Laterne ſchoß nur einzelne
bleiche Strahlen durch die ſchwarze Nacht des
Forſtes, alle Baͤume ſahen ſeltſam aus. In ein
zelnen Momenten grauſte mir vor der Einſamkeit,
mein Herz zitterte wenn ich mir wiederhohl-
[70] te, daß die Geſtalt die neben mir gehe Lovell
ſey.


So waren wir an die Graͤnze von Bon-
ſtreet gekommen. Ich ſtand ſtill, er ebenfalls.
Ich konnte ihn nicht anſehen, und nicht ſpre-
chen; und doch ſchien er es zu erwarten, daß
ich ihm etwas ſagen ſollte. Im Herzen arbei-
teten tauſend Empfindungen durch einander,
und ich wartete nur auf einen Laut von ihm,
ach! um ihm um den Hals zu fallen, um zu
weinen [und] ihm alles zu vergeben. — Aber
er blieb ſtumm, und jedes Wort blieb in mei-
ne Bruſt zuruͤckgedraͤngt. — Wir ſtanden im-
mer noch ſtill, und die Zeit ſchien mit uns ſtill
zu ſtehen, und nur auf den erſten Ausbruch der
Angſt zu warten, um alles in einem raſcheren
Laufe wieder einzuhohlen.


Hier muß ich zuruͤck gehen, ſagte ich end-
lich mit ſchwacher Stimme, und kehrte mich
um. — Es war als wenn ſich die ganze Welt,
und mein eignes Herz von mir abwendete, und
ich ſtand wieder, und ſah nach dem ſtummen
tief in ſich verſunkenen Lovell hin. Der Bru-
der des Miſſethaͤters kann in der Stunde der
[71] Hinrichtung nicht mehr empfinden als ich jetzt
fuͤhlte.


Er redete immer nicht, und es ging ploͤtz-
lich wie ein eiskalter Wind durch das Innerſte
meines Herzens, ich haßte ihn jetzt nicht, aber
ich wendete mich gleichguͤltig um, und ging ei-
nige Schritte in den Wald zuruͤck. — Das
Licht war herunter gebrannt, und die Laterne
erloſch; — ich hoͤrte ſeinen Fußtritt, der ſich
von mir entfernte. — Dickes Dunkel war um-
her, und der glimmende Docht beleuchtete nur
auf einen Augenblick noch eine kleine gruͤne
Stelle auf dem Boden.


O! jetzt haͤtt' ich ihn gegen uͤber haben
moͤgen! ich haͤtte ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen
erſtickt. — Sein Schritt toͤnte ſchon viel
ſchwaͤcher, — ach! ich ſehe ihn nicht wieder,
ſagte ich zu mir ſelber, und die Thraͤnen ran-
nen heiß und dicht gedraͤngt uͤber meine Wan-
gen. — Ich ſehe ihn nicht wieder, und es iſt
Lovell! — Ich wollte ihm nach, und ſtieß an
einen Baum, ich ſank zur Erde, und rief ſo
laut als ich konnte, von gewaltigem Schluch-
zen unterbrochen: Lebe wohl, recht wohl! —
Ich weiß nicht ob er mich gehoͤrt hat, ob er es
verſtanden hat.


[72]

Ich lag auf der feuchten Erde, und ſtreck-
te mich ganz aus, ich verbarg mein heißes Ge-
ſicht in dem naſſen Graſe. Ich ſchlief beynahe
ein.


Kalt und ohne Beſinnung ſuchte ich dann
den Ruͤckweg. Wie ein großes eiſernes Ge-
faͤngniß, hing der dunkle Himmel um mich
her.


In meinem Zimmer ſitze ich nun hier, und
die Morgenroͤthe bricht ſchon hervor. Lovell
ſieht ſie jetzt auch, und unſere truͤben Gedanken
begegnen ſich vielleicht.


Ach Freund, mich quaͤlt eine gewaltige
Unruhe; — habe ich nicht dem Armen zu viel
gethan? — Bin ich nicht verfuͤhrt worden,
ſchon ſeinen letzten Brief an mich zu ernſthaft
zu nehmen? — Warum habe ich ihn nicht ſo
wie die vorigen beantwortet? Alles waͤre dann
vielleicht anders geworden. — Ich war viel zu
ſehr von mir eingegommen, und darum verletz-
te dieſer Brief meine Eitelkeit. Ich konnte
nicht wiſſen in welcher Stimmung er geſchrie-
ben war; und doch war ich meiner Sache ſo
gewiß, daß ich anfing, Lovell perlohren zu ge-
[73] ben. — O! es war unrecht von mir, es war
ſchlecht, Mortimer, wenn Sie aufrichtig ſind.
— Ich bin nun Schuld an Lovell's Verzweif-
lung, und an ſeinem Ungluͤcke; ich verdiene ſei-
nen Haß und ſeine Verachtung, und das war
es auch, warum er nicht mit mir ſprechen
wollte. — O! wenn ich nur einen Haͤndedruck
von ihm mit genommen haͤtte: ſo koͤnnte ich
mich doch zufrieden geben.


Jetzt geht er nun einſam auf dem kalten
Felde, und weicht den Menſchengeſichtern aus,
und ich bin die Urſache daß er ſich vor ihnen
fuͤrchtet! — Sein Eduard, der Freund ſeiner
Kindheit, iſt von ihm abgefallen, jedes Menſchen
Auge kuͤndiget ihm nun Krieg an. — Wohin
ſoll ich mich vor mir ſelbſt verbergen? —


Wenn er nur geſagt haͤtte: Eduard, lebe
wohl, o! ſo haͤtt' ich doch die Hoffnung, daß
er mir vielleicht vergeben habe. — Aber ich
ſcheuchte ihn mit meiner Hartherzigkeit zuruͤck.


Wie ſoll ich kuͤnftig einem fuͤhlenden Men-
ſchen unter die Augen treten? — Ach wie ſehr
bin ich in mir ſelber gedemuͤthiget! — Ich
[74] kann nicht weiter, mein Koͤrper zittert, — ich
will mich ſchlafen legen. — Leben Sie recht
wohl, lieber Mortimer, verachten Sie mich
nicht, und ſtoßen Sie mich nicht zuruͤck; ich
will beſſer werden, ich verſpreche es Ihnen.


[75]

19.
Eduard Burton an Mortimer.



Sie werden von meinen Briefen beſtuͤrmt, lie-
ber Mortimer. — Man weckt mich eben mit
einer ſchrecklichen Nachricht auf: — Emilie
wird vermißt!


Ein Schlag trift nach dem andern mein
Herz. — Wo kann ſie ſeyn? — Sie wird al-
lenthalben geſucht, und ich ſitze hier und zittre
in banger Erwartung. —


Noch keine Nachricht! noch keine Spur!
Man geht auf dem Gange. Nein! Sie iſt es
nicht. — Gott! wo kann ſie ſeyn! — Sie kann
nicht fort ſeyn, und doch iſt ſie nicht da, und
es iſt ſchon ſpaͤt nach Mittag. —


Ich will ſie ſelbſt ſuchen. — Aber vielleicht
iſt ſie nur im Garten ſpatzieren gegangen; —
vielleicht hat ſie im Dorfe eine arme Familie
beſucht. —


[76]

Willy wird ſo eben begraben; wenn ſie nur
von dem ganzen Vorfalle [nichts] erfahren hat!


Wie mein Herz klopft! — Mein Blut
draͤngt ſich gewaltig nach meinen Augen. —


Noch keine Nachricht! Sie iſt nicht im
Garten, ſie iſt nicht im Dorfe. — — —


Ich bin auf ihrem Zimmer geweſen, und
das Raͤthſel hat ſich nun auf eine ſchreckliche
Art aufgeloͤſt. — In eben dieſer Nacht, in der
ich um Lovell klagte, iſt ſie entflohn und mit
ihm entflohn. — Koͤnnen Sie es glauben, koͤn-
nen Sie's nur denken? Alle Begriffe in meinem
Kopfe verwirren ſich. — Beyde waren einver-
ſtanden. — O Lovell! Nun haſt du meinem
Herzen den letzten Stoß gegeben. —


Ich lege Ihnen den unvollendeten Brief
bey, den ſie an ihre Freundin geſchrieben hat.
— Sie thun wohl am beſten, ihn ihrer Gattin
nicht in die Haͤnde zu geben. — Haͤtt' ich ihn
ſelber nicht geleſen! —


O! ich beſchwoͤre Sie, eilen Sie wenn ſie
irgend etwas von meiner ungluͤcklichen Schwe-
ſter hoͤren; eilen Sie, ſie zu retten.


[77]

Nun bin ich ganz einſam, nun iſt mir nichts
uͤbrig geblieben, und ich habe nun wenigſtens
den Troſt, daß ich nichts mehr verlieren kann.


Aber daß ſie ſich ſo weit verirren konnte!
— O Gott! Warum brechen alle Leiden ſo ploͤtz-
lich uͤber mich herein?


[78]

20.
Einlage des vorigen Briefes.
Emilie Burton an ihre Freundinn
Amalie.



Endlich, endlich muß ich es Ihnen bekennen,
daß jener Unbekannte, von dem ich ſprach, Lo-
vell
iſt. — Sie werden erſchrecken, Sie wer-
den bey dem Nahmen zittern; — O! Amalie,
Sie haben ihn nie gekannt, Sie haben ſein
Herz nie genug gewuͤrdiget. — Wie waͤre es
moͤglich geweſen, daß ich ſeinen Thraͤnen, ſei-
nen Klagen haͤtte widerſtehen koͤnnen? — Sein
Jammer hat mein Herz getroffen, und nein,
Amalie, ich kann mir keine Vorwuͤrfe daruͤber
machen.


Ach der Arme! er iſt von der ganzen Welt
verſtoßen, und hoͤhniſch von jedem Herzen zuruͤck-
gewieſen, er ſieht ſich um, ob ſich nicht noch
irgendwo ihm eine Seele wohlwollend entgegen
neigt, und nirgends, nirgends. — Ohne Freun-
[79] de, ohne Liebe muß er ſeinen Kummer tragen;
ja Amalia, ich habe mein Gluͤck dem ſeinigen
aufgeopfert, ich will ihm folgen, und ſeine har-
ten Schickſale mit ihm theilen. — Mein Bru-
der hat kein Herz, da er ihn ſo unbarmherzig
verſtoßen kann, ich bin die einzige in der Welt
die ihn liebt, die einzige die ihn wieder mit
der Welt und den Menſchen verſoͤhnen wird. —
Iſt mein ganzes Leben nicht verdienſtlich genug,
wenn ich dieſe eine Seele von der Verzweiflung
gerettet habe?


In dieſer Nacht fliehe ich mit ihm fort,
ich folge ihm, wohin er mich fuͤhrt. — Ach
Amalie! Sie haben ihn ſchnell vergeſſen. —
Der Wagen haͤlt eine Meile von hier im Wal-
de, um Ein Uhr bin ich dort. Ich kann von
meinem Bruder nicht Abſchied nehmen, weil
er jetzt Lovell haßt. Ich aber kann mich nicht
von ihm trennen, ich habe ihm meine Liebe und
Seele zugeſchworen, dieſe Liebe hat ſein Leben
gerettet, ſie wird ihm ſeinen Fruͤhling wieder-
bringen.


Meinetwegen war er hier in Bonſtreet
ungekannt, gleich am zweiten Tage entdeckte er
ſich mir. Er gehoͤrt mir nur einzig an, und
[80] niemand weiter in der Welt, ſo wie ich allein
die Seinige bin.


Und wenn ich ihn auch nicht liebte, ſo
wuͤrd' ich ihm doch folgen, ſo innig hat er mich
erſchuͤttert, ſo ſehr bin ich von ſeinen ſchweren
Leiden durchdrungen. Ich wuͤrde ihm meine
Gegenliebe heucheln, blos um ihn wieder zu troͤ-
ſten, mit Freuden wuͤrde ich mein eigenes Herz
aufopfern, blos um das ſeinige zu retten.


Sie werden mich eine Schwaͤrmerinn nen-
nen, aber glauben ſie mir, ich kann nicht an-
ders, Amalia. — Wenn er fort iſt, was ſollt'
ich dann noch hier bey meinem Bruder im ein-
ſamen Schloſſe? hier unter den kalten, wieder-
waͤrtigen Geſichtern? — Nein ich muß ihm fol-
gen, auch wenn ich nicht wollte.


Gruͤßen Sie Ihren Bruder. — Ich weiß
nicht was er ſagen wird, aber ich kann meinem
Schickſale nicht entgegen handeln. — Jeder muß
nach ſeiner Ueberzeugung leben, und ich fuͤhle
in mir daß ich recht thue. — Ich fuͤrchte Karls
Hitze, ſuchen Sie ihn daher zu beruhigen, wenn
es irgend moͤglich iſt. — Er hat mich nie recht
herzlich geliebt, das habe ich immer ſehr deut-
lich
[81] lich empfunden, ſo wenig wie ich ihn lieben
konnte. —


Wie in der Zukunft alles werden wird,
kann ich jetzt nicht wiſſen, aber in dieſem Au-
genblicke kuͤmmert es mich wenig.


Ich haͤtte Ihnen noch mehr zu ſagen, aber
die Zeit wird zu kurz; gruͤßen Sie Mortimer,
— entſchuldigen Sie mich bei den harten Men-
ſchen, die mich verdammen, und bleiben Sie
immer meine Freundinn.


Ihrem Bruder ſagen Sie: er ſoll mich ver-
geſſen, und es wird auch geſchehen. Sie ſelbſt,
liebſte Freundinn — —


Lovell. 3r Bd. F
[82]

21.
William Lovell an Roſa.



Wie moͤgen Sie in Rom und Tivoli leben?
Ich denke kaum noch an meine Exiſtenz, ſo bunt
und verworren wirft ſich alles uͤber einander.
Ich fange Zufaͤlle und Bege[be]nheiten auf, ohne
zu wiſſen, was ich mit ihnen thun ſoll.


Wenn ich aus meinem Herzen nur den in-
nigen Widerwillen fortſchaffen koͤnnte, mit dem
ich jede menſchliche Geſtalt betrachte, wenn ich
den Neid unterdruͤcken koͤnnte, gegen jedermann,
der laͤchelt und froh iſt! — Warum muͤſſen ſich
Tauſende unter den nichtswuͤrdigen Menſchen
gluͤcklich fuͤhlen, und nur ich allein bin in mir
ſelbſt zu Boden getreten?


Sie ſehn aus der Ueberſchrift, daß ich nicht
mehr in Bonſtreet bin, alles iſt mißlungen, ich
bin in Verzweiflung. Eduard hat triumphirt
und ich bin beſiegt. — Doch nein, ich habe
mich wenigſtens an ihm geraͤcht.


Als ich in Bonſtreet war, erwachte alles
in mir, wie er die Guͤter meines Vaters gewiß
[83] auf eine unrechtmaͤßige Weiſe beſitze, wie mir
nun nichts uͤbrig ſey, als das unbedeutende
Waterhall und das armſeelige Kenſea. Der
Haß ſtand verdoppelt in meiner Bruſt auf, wenn
ich bedachte, daß dieß derſelbe Menſch ſey, der
immer ſo viel uͤber Edelmuth und Tugend ge-
ſchwatzt habe. Es kam mir von neuem in den
Sinn, wie mir von je alle Plane mißlangen,
wie der heimtuͤckiſche Mortimer mir nun Ama-
lien entriſſen hat, wie ſie ſelbſt mich ſo ſchnell
vergeſſen konnte, der Eigenſinn meines Vaters,
die Niedertraͤchtigkeit des alten Burton, — o
alles kam ſo friſch und neu in meine Seele,
daß ich mit den Zaͤhnen knirſchte, daß ich wuͤ-
thend daran dachte, wie armſeelig es um mein
eignes Her; ausſehe, daß ich mir zuͤrnend vor-
nahm, mich endlich zu raͤchen, Bosheit gegen
Bosheit zu ſetzen und durch einen großen Streich
dem Kriege ein Ende zu machen. Wir koͤnnen
nichts anders thun, als ſiegen oder beſiegt
werden; die ſogenannte Tugend iſt nur Geſchwaͤtz
und beſteht meiſtentheils nur in Traͤgheit oder
Einfalt, bey den andern iſt ſie erzwungen, oder
haͤngt mit ihr[e]m Vortheile zuſammen; ſie iſt
eben ſo gut ein Gewerbe, wie irgend ein anderes.


F 2
[84]

Meine Liebſchaft mit der abgeſchmackten
Emilie ging indeſſen immer ihren Gang fort.
Durch meine zerſtoͤrte Zufriedenheit bin ich nun
wenigſtens manchem aberwitzigen Maͤdchen inter-
eſſant; wahrlich, bey jedem Verluſt iſt doch im-
mer noch irgend ein Gewinn.


Nach jenem Abend, von dem ich Ihnen
neulich erzaͤhlte, wußte ſie nicht recht, wie ſie
ſich mit mir nehmen ſolle, ihre Empfindſamkeit
war etwas geſtoͤrt, und ihr eigentliches Gefuͤhl
mehr in Bewegung gebracht. Aber ſie empfand
es jetzt, daß ſie mir einzig angehoͤre, ſie war
leicht dahin zu bereden, daß ſie mit mir ent-
fliehen wolle, ja ſie war auf dem Wege, es
mir ſelber anzutragen, wenn ich es nicht gethan
haͤtte. Tag und Stunde ward feſtgeſetzt, und
ſie war mit ihrem Plane und ihrer hohen Auf-
opferung außerordentlich zufrieden.


O uͤber die Abgeſchmacktheit der Menſchen!
Ich kenne nichts Alberners und Veraͤchtlichers,
als dies Geſchlecht. Der Kluͤgere thut Recht,
ſie zu haſſen und zu verfolgen.


Ich glaubte ſchon in jeder Ruͤckſicht ſicher
zu ſeyn und dennoch hatte mich ein Menſch im
Schloſſe erkannt, mein alter Bedienter Willy.
[85] Ohne daß ich es merkte, war er auf alle meine
Bewegungen ſehr aufmerkſam, er beobachtete
mich beſtaͤndig und ſeine Blicke waren mir oft
aͤngſtlich. Die Liebe dieſes Menſchen hat mich
von je verfolgt, und jetzt hat ſie mich elend,
ja unſinnig gemacht. — Ich haßte Eduard aus
dem tiefſten Herzen und dachte dabey unauf-
hoͤrlich an meine Auftraͤge, unbemerkt, wie ich
glaubte, ſchuͤttete ich an einem Morgen ein fei-
nes Gift in ein Glas mit Wein, um mich ſo
zu raͤchen und alles wieder gut zu machen.


Bald darauf entſteht ein gewaltig Gelaufe
im Hauſe, Thuͤren werden zugeſchlagen, man
ſchreit laut nach Huͤlfe, ich werde endlich mit
Gewalt von meinem Zimmer herunter geſchleppt,
— und Willy hat mich bemerkt, Eduard ge-
warnt, und endlich in einer Art von Verruͤk-
kung und um zu beweiſen, daß er Recht habe,
ſelbſt den Wein getrunken. Er war ſchon halb
ohne Bewußtſeyn, das Gift wirkte auf den al-
ten ſchwachen Koͤrper unmittelbar, das in dem
ſtaͤrkern, jugendlichern erſt nach einigen Wochen
ſeine Folgen gezeigt haͤtte. — Willy kuͤßte mei-
ne Haͤnde, weinte und klagte, ich war voͤllig
betaͤubt. Er ſank zu meinen Fuͤßen nieder und
[86] beſchwur mich auf meine Seeligkeit bedacht zu
ſeyn. Ich wußte nicht, was ich ſagen ſollte und
ward endlich geruͤhrt. Ich weinte laut, und
mir war zu Muthe, wie einem Kinde. — Wil-
ly's Bruder konnte ſich uͤber deſſen Tod gar nicht
zufrieden geben, er heulte laut und die Bedien-
ten weinten mit ihm. Das ganze Zimmer er-
toͤnte vom Klaggeſchrei, Eduard war nicht zu-
gegen.


Aber bald verſiegten meine Thraͤnen, ein kalter
Haß ging durch mein Herz und durch meine
ganze Bruſt, ich ſah mich mit gleichguͤltigem
Auge um, ob nicht in jedem Winkel eine Furie
ſtuͤnde, mit Schlangen in den Haaren. Ich
wuͤnſchte ſie alle herbey, und ich haͤtte mich vor
keiner entſetzt. — Ich berechnete jetzt, wie lan-
ge der Schmerz wohl noch in allen dieſen Men-
ſchen kaͤmpfen wuͤrde, und es war intereſſant zu
beobachten, wie nach und nach die gewoͤhnliche
Traͤgheit zu jedem zuruͤckkehrte. Sie erſchienen
mir nun wie unbeholfene Maſchinen, die an
groben Faͤden bewegt werden, ſie drehen die
verſchiedenen Gliedmaßen nach vorgeſchriebenen
Regeln, und ſetzen ſich dann wieder in Ruhe.
Keiner ſchien mir lebendig und ich ging kalt auf
[87] mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht
davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey.


Und was iſt denn das Leben, und was iſt
es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um
einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft
Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer-
den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden-
ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand
ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt,
das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und
Schlaf rauben? — Man ſollte gar nichts in
der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche
Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter
Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu-
ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man
kann nur daruͤber lachen.


Am andern Tage kam Eduard auf mein
Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte,
philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit
dem er mich von oben herab betrachtete! Wie
zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr
edel und vollendet halten und nie etwas erfah-
ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern
Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des
Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge-
[88] fahren, wie von Fabeln reden hoͤren und laͤchelnd
den Kopf ſchuͤtteln! — Welche Geduld iſt hier
eiſern genug, um nicht zu brechen? Man moͤch-
te bei einem ſolchen Anblicke raſend werden!


O ihr Sichern und Ueberzeugten! ihr rich-
tet, und wiſſet nicht, was ihr thut. Ihr wuͤr-
felt mit plumpen Haͤnden darum, was ihr gut
und was ihr boͤſe nennen wollt, ihr ſeid kalte
und alberne Zuſchauer, die eine Tragoͤdie in ei-
ner Sprache ſpielen ſehen, die ſie nicht verſte-
hen, und die ſich nur zunicken und bedeutende
Winke geben, um einer vor dem andern ſeine
Unwiſſenheit zu verbergen.


Eduard ſprach nur wenig mit mir, er ſpielte
den gnaͤdigen Herrn; es war mir lieb, daß er
bald ging. Er verdiente nicht, daß ich ihm
antwortete, und er bemerkte es recht gut, wie
ſehr ich ihn verachtete.


Es nahte ſich die Nacht, in der ich mit
Emilien entfliehen wollte. Ich war eben im Be-
griffe aus dem Fenſter zu klettern, als ſich die
Thuͤr eroͤffnete und Burton mit einer kleinen
Laterne hereintrat. Er ſagte mir, ich ſolle
ihm folgen, weil ich in ſeinem Hauſe nicht
mehr ſicher ſey. Wir gingen ſtillſchwei-
[89] gend durch den Garten und er gab mir ein Pa-
pier in die Hand, das, wie ich nachher geſehen
habe, ein anſehnlicher Wechſel war. Hinter
dem Garten liegt ein Wald und wir gingen auf
einem ſchmalen gewundenen Fußſteige. Ich war-
tete immer darauf, daß Burton ſprechen ſolle,
aber er war heimtuͤckiſch und ſtill. In meinem
Innern war ich duͤrr und ausgeſtorben, alles
kam mir vor, wie ein Scherz, und aus einer
gewiſſen Furcht haͤtt ich ein paarmahl die Stil-
le beinahe durch ein lautes Gelaͤchter unter-
brochen.


Wir ſtanden endlich ſtill. Wir ſchwiegen
und wie druͤckende Gewitterluft aͤngſtigten mich
dieſe Minuten. Ich ſuchte nach Gedanken um
das Graͤßliche, das darin lag, zu verſcheuchen, —
ich wollte fort, und verzoͤgerte dann gern wieder
den Moment der Trennung, — es war eine
von jenen ſeltſamen Pauſen, in denen die Seele
unſchluͤſſig iſt, ob ſie uͤber den Koͤrper gebieten
ſoll, in denen ſie an ihrem Willen zweifelt und
ſich an der traͤgen Maſchine nicht auf eine be-
denkliche Probe ſtellen will.


Durch ein Paar Worte unterbrach Eduard
das Stillſchweigen und ging zuruͤck; er kehrte
[90] wieder um, als wenn er etwas vergeſſen haͤtte,
dann ging er wieder, und eine große Thraͤne
preßte ſich in mein Auge, eine Angſt draͤngte
fuͤrchterlich aus der Bruſt zur Kehle hinauf;
mir war, als wenn ich erſticken ſollte. Ich ging
einige Schritte und ſuchte durch meinen lauten
Gang mein Schluchzen zu uͤbertoͤnen. — Ich
ſah zuruͤck, er hatte die Laterne ſchon ausge-
loͤſcht, damit ich ihn nur deſto fruͤher aus dem
Geſichte verlieren moͤchte.


Was empfand ich in dieſem Augenblicke! —
Roſa, Sie koͤnnen es nicht begreifen. — Ich ha-
be ihn noch vor einigen Jahren ſo innig geliebt,
ich glaubte damals, daß es ihm eine Kleinigkeit
ſey, ſein Leben fuͤr mich zu verſpruͤtzen — und
jetzt, in dieſer Stunde meines Lebens, in der
er wußte, daß er mich nie wiederſehen wuͤrde,
jetzt ließ er mich gehen, ohne ein Wort zum
Abſchiede zu ſagen, ohne meine Hand zu neh-
men, ohne ein Lebewohl! Ich habe ihm ſo oft
die Hand gedruͤckt, ohne daß er es verdiente,
er haͤtte es ja wohl auch jetzt thun koͤnnen, und
wenn es auch nur Verſtellung geweſen waͤre.


Doch beſſer, daß es nicht geſchehen iſt. Ich
war zu weich; haͤtt' er nur ein gutes Wort ge-
[91] ſagt, ſo waͤr ich ihm an die Bruſt geſtuͤrzt, und
haͤtte ihm alles bekannt, ich waͤre wieder in
meine Kindheit zuruͤckgeſunken, ich haͤtte alle
meine Erfahrungen abgeſchworen; ich haͤtte ihm
die Flucht Emiliens, und alles entdeckt, ich waͤ-
re in der gewaltigen Ruͤhrung vielleicht zu Grun-
de gegangen. — Er verdiente es nicht, wie ſehr
ich ihn liebte; alles kam mir zuruͤck, was er
mir einſt geweſen war, [und] was ich von ihm
gehofft hatte; — es war mir als wenn er mich
riefe, und ich ſtand ſtille und wollte umkehren,
aber es war nur der Schall des Windes im
Forſte.


Ich wußte immer noch nicht, ob ich nicht
dennoch zuruͤckgehen ſollte; je weiter ich fort-
ſchritt, je aͤngſtlicher klopfte mein Herz, — ach
und er hat ſich nicht nach mir umgeſehen, er
hat nicht weiter an mich gedacht.


Ich war zweifelhaft, ob ich nach dem Or-
te hingehen ſollte, wo Emilie auf mich wartete.
Alles war mir jetzt zuwider. Ich haͤtte mich
niederwerfen moͤgen, und weinen und ſterben.
Aber mein Haß kehrte endlich zuruͤck. Sonder-
bar! daß er mich ſelbſt auf den Weg nach Emi-
lien hatte bringen muͤſſen, den ich ohne ihn in
[92] der finſtern Nacht vielleicht verfehlt haͤtte! —
Sie hatte ſchon ſeit einer halben Stunde aͤngſt-
lich auf mich gewartet, ich ſetzte mich in den
Wagen, und wir fuhren davon.


Emilie hielt mich feſt in ihren Armen; der
Wind ging ſcharf, und ein feiner Regen trieb
in den halb offenen Wagen hinein. Meine Le-
bensgeiſter waren erſchoͤpft; ich ſchlief ein, und
erwachte nur, als ſich ein blaſſes Morgenroth
am Himmel herauf zog.


Wie nuͤchtern kam mir die ganze Welt mit
ihren Bergen, Waͤldern und Menſchen entgegen!
Ich hatte angenehm getraͤumt, und die wuͤrkli-
che Natur ſtand ſchroff und unbeholfen vor mir
da; Emilie neben mir, mit ihrer affektirten
hochbetruͤbten Miene. Wie ein bettelhaftes Win-
keltheater kam mir die ganze Welt vor, o! ich
haͤtte aus ihr entlaufen moͤgen. — Und was
wuͤrde mich noch auf dieſer truͤben Dunſtkugel
zuruͤckhalten, wenn es nicht die Hoffnung waͤre,
Sie, Andrea, und meine uͤbrigen Freunde bald
wieder zu ſehen? mich der unbekannten, geheim-
nißvollen Welt noch mehr zu naͤhern, und als
der Schuͤler einer hoͤhern Weisheit mit Recht
jede irdiſche verachten zu koͤnnen?


[93]

Ich bin mit Burtons Schweſter unter frem-
den Nahmen hieher gereiſet, und ich merke es
ſehr deutlich, daß ſie es ſich ſelber nicht geſte-
hen will, daß ſie ſich nicht mehr ſo ſehr fuͤr
mich intereſſiret. Natuͤrlicher weiſe! weil es
wahrſcheinlich ja gewiß iſt, daß ich gegen ſie
kaͤlter geworden bin.


Leben Sie wohl. Sie werden dieſen Brief
mit einem fruͤhern zu gleicher Zeit erhalten.


[94]

22.
Eduard Burton an ſeinen Freund
Mortimer
.



Wie ich mich jetzt hier einſam fuͤhle, lieber
Mortimer, kann ich Ihnen nicht beſchreiben.
Ich gehe oft noch in Gedanken nach dem Zim-
mer meiner Schweſter, um ſie dort anzutreffen;
ich ſuche ſie im Garten auf, und gehe mit wei-
nenden Augen jeder Laube voruͤber, weil ſie
nicht drinnen ſitzt. — Ich fuͤhle jetzt nicht mehr
recht deutl[i]ch warum ich lebe, denn alle Weſen,
die mit mir in ſo naher Beziehung ſtanden ſind
mir entriſſen. — Sollte ich auch meine Schwe-
ſter niemals wieder ſehen? — Wenn ich nur
wuͤßte, wo ich ſie ſuchen ſollte, wenn nur nicht
ein Fieber meinen Koͤrper erſchoͤpft haͤtte. —
Und dann iſt es ja ihr Wille geweſen, mich zu
verlaſſen; Sie wuͤrde mich jetzt nicht einmal
gerne ſehen.


O! wie vielen Menſchen habe ich Unrecht
[95] gethan! War ich durch ein kraͤnkendes, men-
ſchenfeindliches Mißtrauen nicht Urſache, daß
der arme, geaͤngſtete Willy nach dem Gifte griff,
und es austrank, um mich von ſeiner Unſchuld
zu uͤberzeugen? Ich habe ſeit dem oft an den
alten frommen Mann gedacht, und ich kann
mich recht in ſeine Seele verſetzen; halb wahn-
ſinnig, aus Gram uͤber Lovell den er ſo innig
liebte, in der ſchrecklichſten Verlegenheit, mich
zu warnen, und doch ſeinen Herrn nicht zu ver-
rathen, uͤberraſcht und erſchreckt durch meinen
Argwohn, — von allen Seiten gedraͤngt, greif[t]
er zerſtreut und unwillkuͤrlich nach dem Tode,
um nur ſeinem Leben ein Ende, und ſeine Un-
ſchuld deutlich zu machen. — Haͤtt' ich ihm
nicht mit Liebe entgegen gehen ſollen, um ſei-
nen Jammer zu lindern? — Ach Mortimer, ich
war es, der ihm die ſchrecklichſte Minute ſei-
nes Daſeyns erleben ließ; ich war Schuld an
ſeinem Tode.


Hab' ich nicht durch eigne Schuld Lovells
Seele verlohren? Konnt' ich ihn nicht vielleicht
mir und ſich ſelber wiedergeben? — Ich war
geſpannt, und mein Schmerz hatte mich ſoweit
uͤberwaͤltigt, daß ich unmenſchlich war. Durch
[96] meine Kaͤlte habe ich meine Schweſter von hier
vertrieben; kein Menſch liebt mich, keiner fragt
nach mir, alle fliehen weit von mir weg, um
mich nur aus dem Geſichte zu verliehren.


Nein, Mortimer! ich will mich nie wieder
ſo uͤberraſchen laſſen. Ich will alle Menſchen,
ohne irgend eine Ausnahme, lieben, und mir
ſo ihre Gegenliebe verdienen. Ach! wenn auch
Schwaͤchen und Gebrechen an ihnen ſichtbar
ſind, ſie ſollen mich dadurch nicht wieder zu-
ruͤckſtoßen, denn eben das ſind ihre Kennzeichen
daß ſie Menſchen und meine Bruͤder ſind.
Warum wollen wir denn auch immer die Beſ-
ſern, und die Schlechtern von einander ſondern?
Koͤnnen wir es mit dieſen ſchwachen irdiſchen
Augen? Ach! Mortimer, wenn wir ſie alle
lieben, ſo thun wir keinem Unrecht. — Muͤſ-
ſen ſie nicht alle in einer kurzen Zeit ſterben
und in Staub zerfallen? Wir ſollten uns be-
ſtaͤndig in Acht nehmen, keines dieſer gebrech-
lichen Gebilde zu verletzen. Moͤgen ſie doch
lachen und uns haſſen und verfolgen; — o!
ich will lieber von Tauſenden betrogen werden,
als Einem Unrecht thun.


Koͤnnt'
[97]

Koͤnnt' ich nur alles wieder gut machen!
Aber Lovell iſt fort, und es iſt zu ſpaͤt. —
Wir koͤnnen unſere Uebereilungen gewoͤhnlich
nur bereuen; und eben das ſollte uns bewe-
gen, uns mehr vor ihnen in Acht zu nehmen.


Lovell. 3r Bd. G
[98]

23.
William Lovell an Roſa.



Ich bin wieder hier auf dem großen Tummel-
platz einer dichtgedraͤngten, geraͤuſchvollen Welt.
Ich konnte unmoͤglich laͤnger in Emiliens Ge-
ſellſchaft bleiben, die mir mit ihrer aufdringli-
chen Liebe alle Laune verdarb. — Sie iſt noch
[in] Nottingham, und ich habe bey ihr eine noth-
wendige Reiſe nach einer der naͤchſten Staͤdte
vorgegeben. Wenn ſie erfaͤhrt daß ich nicht
dort bin, mag ſie zu ihrem Bruder zuruͤck-
kehren.


Der Haß und die Liebe der Menſchen iſt
mir jetzt in einem gleich hohen Grade zuwider,
es ſoll ſich keiner um mich kuͤmmern, ſo wie
ich nach keinem zuruͤckſehe, um ihn mit einem
freundlichen oder verdruͤßlichen Geſichte zu be-
trachten. — Fuͤr mich giebt es nichts Widri-
gers als das Aufdringen der Menſchen, um
mir ihre Freundſchaft, ihre Liebe zu ſchenken;
es ſind Narren die nicht wiſſen, was ſie mit
ſich ſelber machen ſollen, und daher andere Nar-
[99] ren noͤthig haben, um mit ihnen aus Langewei-
le zu ſympathiſiren. Wie veraͤchtlich iſt die kin-
diſche Empfindſamkeit einer Emilie, die gleich-
ſam ſeit Jahren darauf gewartet hat, um ihre
tragiſche Aufopferung an den Mann zu bringen.
Sollte ich nun ein ſo großer Thor ſeyn, und
ihre theatraliſche Affektation fuͤr Ernſt nehmen,
und mich wunder! wie ſehr geruͤhrt fuͤhlen? —
Man kann wirklich etwas beſſeres thun, als je-
de Narrheit der Menſchen mitmachen, und der
iſt der veraͤchtlichſte Thor, der dieſe Narrheiten
abgeſchmackt findet, und ſich dennoch ſcheut ſie
als Kindereyen zu behandeln. — Sie weint jetzt
vielleicht, und bald trocknet ſie aus Langeweile
ihre Thraͤnen, dann iſt ſie boͤſe auf mich, dann
ſchaͤmt ſie ſich vor ſich ſelber, und dann hat ſie
mich vergeſſen.


Daß ſie ſich ſelbſt auf einige Zeit ihr haͤus-
liches Gluͤck zerſtoͤrt hat, iſt ihre eigene Schuld;
daß ſie ſich nach dem Uebereinkommen jetzt vor
manchen Menſchen ſchaͤmen muß, kann mir zu kei-
nem Vorwurfe gereichen. Ich uͤbte eine Rolle
an ihr, und ſie kam mir mit einer andern ent-
gegen, wir ſpielten mit vielem Ernſte die Kom-
poſition eines ſchlechten Dichters, und jetzt thut
G 2
[100] es uns wieder leid, daß wir die Zeit ſo verdor-
ben haben.


Ich bin indeſſen durch Kenſea gereiſt, den
Ort wo ich jetzt eigentlich wohnen ſollte. —
Ein altes gothiſches Gebaͤude ſteht hier in ei-
ner wuͤſten waldigen Gegend, der Garten iſt
verwildert, alle Bedienten ſehen aus wie Bar-
baren, das ganze Haus hat ein kaltes unbeque-
mes [Anſehen], viele Fenſter ſind zerſchlagen, die
eine Mauer hat Riſſe. — O! mit welchem Wi-
derwillen habe ich alles betrachtet! — Hier
ſollt' ich leben, in einer dunkeln, langweiligen
druͤckenden Einſamkeit? — Von der ganzen
Welt abgeriſſen, wie ein vertriebener Bettler?
einer ſcheuen Eule gleich, die vor dem laͤſtigen
Tageslichte endlich einen duͤſtern Schlupfwinkel
findet? — Nein, die ganze weite Welt ſteht mir
freundlich offen, und ich kehre dem einſiedleri-
ſchen Schloſſe veraͤchtlich den Ruͤcken. So wie
ich hier leben wuͤrde, kann ich es allenthalben;
und in einem fremden Lande, unter einem an-
dern Klima wuͤrde mich keine Sklaverey ſo hart
druͤcken.


Ich lebe hier in London unter dem bunten
Gewuͤhle; ich ſpiele und mache anſehnliche Ge-
[101] winnſte. Dies raſche und doch ungewiſſe Leben,
in dem die Leidenſchaften unaufhoͤrlich in Bewe-
gung geſetzt ſind, hat einen großen Reitz fuͤr
mich. Und welche lehrreiche Schule, um hier
die Menſchen erſt voͤllig verachten zu lernen! —
Wie der niedrigſte Eigennutz, die kleinſten Be-
gierden ſich in den Geſichtern ſo hart und wi-
drig abſpiegeln! Wie jeder nur alles fuͤr ſich
[hinraffen] moͤchte, und dem Verluſt und der Ver-
zweiflung ſeines Nachbars gelaſſen zuſieht. —
Ich bin ſchon einigemal ſchwach genug geweſen,
meinen Gewinnſt wieder zuruͤck zu geben, um
nur die Mienen der Niedertraͤchtigen, die mir
ſo unausſtehlich waren, wieder aufzuheitern.
Dann nennt man mich großmuͤthig und edel.
O, es iſt um toll zu werden!


Lange werde ich es unter dieſen Menſchen
nicht mehr aushalten, ich muß zu Ihnen zu-
ruͤck. Ich ſehe Italien jetzt als mein Vaterland
an, denn Andrea iſt dort. Ich erſtaune oft,
mich hier unter dieſen gemeinen Menſchen zu
finden, wenn ich an die wunderbare Welt denke
mit der er mich vertraut machte. Ich kann Ihnen
die Empfindung nicht beſchreiben, die mich zu-
weilen ſchon mitten in einem Geſpraͤche befallen
[102] hat, wenn ich ploͤtzlich daran dachte: daß ich
ſonſt mit Andrea geſprochen hatte. In dieſen
Augenblicken fuͤhle ich mich hier ganz am un-
rechten Orte, ich fuͤhle eine Sehnſucht fortzu-
gehn, daß ich mich dann nicht zu laſſen weiß.
Ich moͤchte oft alle wunderbaren Phantome her-
beyrufen, die mir dort voruͤbergiengen; ich
moͤchte mich in die grauenvolle Nacht hinunter-
tauchen, aus der die Schauder emporſteigen,
die ſo gewaltig das ſchwache menſchliche Herz
ergreifen und es beynahe zerdruͤcken. O! wenn
doch die Zeit erſt wieder da waͤre, in der mei-
ne ungeduldige Bruſt voͤllig mit Wundern ge-
ſaͤttiget wuͤrde, in der ich voͤllig die Erde und
ihre Menſchen und auch mich ſelbſt vergeſſen
koͤnnte! —


[103]

24.
Emilie Burton an William Lovell.



Lieber Lovell, Sie halten nicht Wort, Sie
ſind nun ſchon ſechs Tage laͤnger ausgeblieben,
als Sie mir bey Ihrer Abreiſe verſprochen hat-
ten. O ſechs ewig lange Tage und heute iſt es
ſchon der ſiebente. Gott! wenn Sie nicht ge-
zaͤhlt haͤtten, wenn Ihnen die Tage nicht ſo
lang wie mir vorgekommen waͤren!


Ach nein, William, ſo lang koͤnnen ſie Ih-
nen nicht geworden ſeyn, aber das kann und
will ich auch nicht verlangen; denn mir war,
als wenn die Zeit indeſſen ſtill ſtaͤnde und mir
langſam und bedaͤchtig einen Tropfen ihres
Schmerzes nach dem andern auf das Herz fal-
len ließe. Ich habe viel unterdeß gelitten, und
ich fuͤrchte, daß ich krank werde. Mein Kopf
iſt in Verwirrung und alle meine Glieder zittern.


Ach Lovell, kehre ſchnell, ſchnell zuruͤck.
Ich weiß mich in der Einſamkeit nicht zu laſ-
ſen: ach, ich bedarf Deiner Huͤlfe in mehr als
einer Ruͤckſicht, Du weißt, daß ich kein Ver-
[104] moͤgen mitnehmen konnte, und das wenige, das
ich hatte, iſt fort. Was ſoll ich anfangen,
wenn Du noch laͤnger ausbleibſt? Aber nein,
Du koͤmmſt, Du biſt nicht grauſam, Du biſt
nicht leichtſinnig; und beides muͤßteſt Du ſeyn,
wenn Dich meine Bitte nicht ruͤhrte.


Ich werde hier auf das benachbarte Dorf
ziehn, das uns beyden auf der Reiſe hieher ſo
ſehr gefiel, dort wirſt Du mich antreffen.


Mein Brief wird Dich doch finden? — Es
waͤre ein Ungluͤck, wenn Du nicht grade da waͤ-
reſt, und er muͤßte einen Tag oder noch laͤnger
liegen bleiben. Lovell, ich wuͤrde untroͤſtlich ſeyn.


Ich habe ſchlimm getraͤumet, denn es war
im Schlafe als habeſt Du mich verlaſſen und ich
hoͤrte Dich ganz deutlich uͤber meine Schwaͤche
und meine Liebe lachen. Da that ſich die ganze
Welt wie ein Gefaͤngniß eng und immer enger
uͤber mir zuſammen, alles Helle wurde dunkel,
die ganze Zukunft war ſchwar; und ohne Mor-
genroth. — Aber nein, Du liebſt mich? nicht
wahr Lovell? — O, die Traͤume werden uns
nur geſchickt, um unſer armes Leben zu aͤngſti-
gen; ſchon von Kindheit auf haben ſie mich da-
durch gequaͤlt, daß ſie mir alles als nichtig und
[105] veraͤchtlich zeigten, was ich ſo innig liebte. Ich
will mich dadurch nicht irre machen laſſen.


Aber warum biſt Du noch nicht gekommen?
— O Lovell, wenn Dir meine Liebe zur Laſt
gefallen waͤre! — Mir faͤllt jetzt ſo manches ein,
was ich wohl ehedem in Buͤchern geleſen, und
nachher wieder vergeſſen habe. O, es waͤre
ſchrecklich! — Aber wie koͤnnte Liebe und Wohl-
wollen Dich aͤngſtigen, wie koͤnnteſt Du es ver-
geſſen, daß ich Dir alles aufgeopfert habe? —
Ach nein, — waͤr' es moͤglich, o ſo wuͤrd' ich
wuͤnſchen, daß ich dann auch alles vergeſſen
koͤnnte.


Du ſiehſt, wie ſchwermuͤthig ich geworden
bin; das macht bloß die Einſamkeit und weil
ich Dich nicht ſprechen hoͤre. Du haſt mir zu-
erſt Deine Liebe angetragen, und jetzt ſollteſt
Du mich vergeſſen? — Ich habe um Dich Ta-
ge und Naͤchte hindurch geweint, und Du ſoll-
teſt jetzt nicht kommen, um meine Thraͤnen zu
trocknen? — Nein, es iſt nicht moͤglich, wenn ich
daran glauben koͤnnte, o ſo waͤre mir beſſer ich
waͤre nie gebohren worden.


Meine Schwachheit nimmt zu, ich fuͤhle
mich ſehr krank; glaube ja nicht, William, daß
[106] ich uͤbertreibe, komm ja ſogleich; und findeſt Du
mich denn vielleicht etwas beſſer, als Du glaub-
teſt; ſo ſey nur, ohne daß ich es ſage, uͤber-
zeugt, daß mich die Hoffnung, Dich wieder zu
ſehen, ſtaͤrker machte.


[107]

25.
Karl Wilmont an Mortimer.



Himmel! was habe ich hier erfahren muͤſſen!
— Unbefangen reiſt' ich von London hieher,
weil es mir dort keine Ruhe mehr ließ, und
nun bin ich hier, — o Mortimer, nicht wie
im Traum und doch nicht wie wachend, mit ko-
chendem Herzen und ohne Beſinnung, entſchloſ-
ſen etwas zu thun, und doch weiß ich nicht,
was. — O der ſchoͤnen Reiſe! — meiner Aus-
ſichten, meines Gluͤcks!


Kann ich Worte finden, um Dir zu ſagen,
was ich denke und fuͤhle? — Ich bin bis jetzt
wie ein Kind durch die Welt gegangen, und ich
nehme nun mit Entſetzen wahr, daß ſie weit
ſeltſamer, weit abgeſchmackter, und weit un-
gluͤckſeliger iſt, als ich geglaubt hatte. — O ich
moͤchte mir den Kopf an einen Baum zerſtoßen,
ich moͤchte mich ſelbſt zerreiſſen, daß es ſo und
nicht anders iſt. — Wer konnte nun dieſen
Schlag erwarten? Hab' ich hierbey irgend etwas
[108] verſchuldet? Eine unſichtbare Gewalt greift nach
meinem Herzen und zerquetſcht es, und ich
kann nichts weiter thun, als an der Wunde
ſterben.


Mit meinen Geſchaͤften hat es nun von ſelbſt
ein Ende, mit meinem Gluͤcke, vielleicht mit
meinem Leben. — Emilie hat mich alſo nie
geliebt? — O, was iſt doch der Menſch! Wer
kann ihn verſtehn, wer darf uͤber ihn urtheilen?
— Und ich haͤtte ſie nicht geliebt? — O das
iſt eine ſchreckliche Luͤge! Ich konnte nicht wei-
nen, und ich ſchaͤmte mich, die Empfindungen
meines heißen Herzens bey jeder Gelegenheit zu
aͤußern; o ich war zu gut um Emilien zu ge-
fallen, ich putzte meine Empfindungen zu wenig
auf, ich konnte nicht luͤgen, ſo wie der nieder-
traͤchtige Lovell, — o Emilie! ſo warſt Du
denn auch nur eins der gewoͤhnlichen Weiber,
die es nicht unterlaſſen koͤnnen, ſogar ihre Em-
pfindungen zu ſchminken, die die natuͤrlichen
guten Menſchen verachten, und ihre Zuneigung
den Elenden ſchenken, die ſie durch Grimaſſen
und ſtudirte Seufzer, durch theatraliſche Stel-
lungen und auswendig gelernte Worte unter-
halten!


[109]

Nie hab' ich einen Menſchen ſo wie dieſen
Lovell gehaßt! Sein Name brennt ſchmerzhaft
in meiner Bruſt, wenn ich ihn nur durch einen
Zufall nennen hoͤre. Es flimmert mir alles vor
den Augen, wenn ich an ihn denke; ich koͤnnte
ihn mit den Zaͤhnen zerreißen, den nichtswuͤrdi-
gen Komoͤdianten! — Aber ich werde ihn ir-
gend einmal finden und dann ſoll er mir Stand
halten und Rechenſchaft ablegen: dann ſoll er
mir nicht entfliehen, und er ſoll mir alles dop-
pelt bezahlen.


O daß uns der Gedanke der Rache im Un-
gluͤcke nicht erquicken kann! — O ich Thor! daß
ich in London ſaß und mit dem Fleiße einer
Ameiſe arbeitete! — Dies iſt mein Lohn. —
War bey dieſer Emilie meine uͤbertriebene, un-
gehirnte Delikateſſe wohl angewendet? — Doch,
ſie hat mich nie geliebt, — o wenn ich mich
nur davon [uͤberzeugen] koͤnnte! Aber ich werde
von meinen unſtaͤten Gedanken hiehin und
dorthin geworfen, keine Idee wird in meinem
Kopfe einheimiſch. — Ach, Emilie! Wo biſt
Du jetzt vielleicht und ſprichſt reuig meinen Na-
men aus? — Koͤnnt' ich Dich finden und dann
mich raͤchen!


[110]

Ich moͤchte ſo lange Wein trinken, bis ich
alle Beſinnung verloͤhre und mich denn zum fe-
ſten Schlafe hinwerfen, denn mir iſt wie einem
Moͤrder, der von allen Seiten verfolgt wird.
Ich kann mir ſelber nicht entfliehn.


Ich muß ſie ſuchen, ich muß ihn finden,
ich will das ganze Land nach ihnen durchſtrei-
chen; irgend wo muͤſſen ſie ſeyn. — Lebe wohl,
bis ich Dich ſelbſt auf meinem Zuge beſuche.


[111]

26.
William Lovell an Roſa.



Ich habe anſehnliche Summen gewonnen, und
ich denke bald damit England zu verlaſſen. Es
iſt nichts leichter, als eine Rolle in der Welt
zu ſpielen und es giebt tauſend Arten ſich in-
tereſſant zu machen. Man riß ſich nach mir,
weil ich mir in London einen ſonderbaren ita-
liaͤniſchen Namen gegeben hatte und immer
viele Seltſamkeiten von mir vermuthen ließ;
ich erzaͤhlte zuweilen einigen Freunden aben-
theuerliche Bruchſtuͤcke aus einer erdichteten Ge-
ſchichte, die es dann nicht unterließen, ſie Je-
dermann wieder unter dem Siegel der Verſchwie-
genheit anzuvertrauen. Man war in allen Fa-
milien neugierig, mich kennen zu lernen, in
vielen Geſellſchaften gab ich den Ton an und
entſchied, wenn ſtreitige Faͤlle vorkamen. Man
fand mich ungemein klug, weil ich ein paarmal
etwas geſagt hatte, was ich ſelbſt nicht ver-
ſtand, man dachte daruͤber nach, und es gab
[112] mir ſelbſt Stoff zum Spekuliren. Es laͤßt ſich
fuͤr und gegen jede Idee in der Welt ſprechen,
und es iſt daher gar keine Kunſt, mit jeder-
mann zu ſtreiten, und da ich nach meiner Ueber-
zeugung immer der Skeptiker ſeyn muß und ihn
manchmal noch mehr ſpiele, als ich es bin, ſo
wird es mir leicht, ſelbſt den Geſcheidteſten
ſcheinbar zu beſiegen. Frauenzimmern beſonders
gefiel ich ungemein, erſtlich, weil ich blaß und
krank ausſahe, dann weil ſie mich fuͤr einen
Fremden und fuͤr eine Art von Atheiſten hiel-
ten. Sie moͤgen nichts in der Welt ſo gern
bewundern, als wovor ſie ſich fuͤrchten, ja
Furcht und Bewunderung iſt bey ihnen einer-
ley. — Sie boten immer ihren ganzen Verſtand
auf, um eben die Ideen zu aͤußern, die ich
meinte, und ſtets trafen ſie auf ganz verſchiedene.
Ihr Verſtand beſteht uͤberhaupt mehr in Schlau-
heit, als Ueberlegung; ſie uͤberlegen, nachdem
ſie einen Schluß gemacht haben, und ihre Phi-
loſophie iſt aus Eigenſinn entſtanden, und wird
daher immer mit Hartnaͤckigkeit vertheidigt.
Sie kennen die Menſchen nie, die ſie lieben,
weil ſie ſich keine der Bemerkungen, die ſie
uͤber dieſe gemacht haben, eingeſtehn, und kein
Weſen
[113] Weſen iſt daher ſo leicht zu hintergehn, als
ein verliebtes Weib. Wen ſie haſſen, kennen ſie
bis auf ſeine verſteckteſten Zuͤge, ja ſie kennen
ihn beſſer, als er ſich ſelbſt, ſie finden ſeine vor-
zuͤglichſten Schwachheiten heraus und beweiſen dar-
aus augenſcheinlich, daß aus ihnen zugleich das
fließe, was die uͤbrigen Menſchen an einem ſol-
chen gut und lobenswuͤrdig nennen. Wenn ſie
neue Ideen in ihren Kopf aufnehmen; ſo be-
ſteht ihr Denken darin, daß ſie ſelbſt ihre vo-
rigen Gedanken uͤberliſten und ſie dann deſpo-
tiſch vertreiben, ohne ſie nachher auch nur der
Muͤhe werth zu halten, daß ſie daruͤber ſpre-
chen, und wer das Ungluͤck hat, dieſe Ideen
grade zu aͤußern, den halten ſie unter allen
Einfaͤltigen fuͤr den Einfaͤltigſten. In jedem
Luſtrum wechſeln ſie mit einigen Hauptgedanken,
die ſich ganz verſchieden organiſiren, je nachdem
ſie heyrathen, oder ledig bleiben; je aͤlter ſie
werden, je mehr beleidigt man ſie durch Nach-
laͤßigkeiten und um ſo weniger durch wirkliche
Beleidigungen: aber ſelbſt in der hoͤchſten Ver-
traulichkeit, ſelbſt in der aufrichtigſten Stim-
mung kann man es nie dahin bringen, daß ein
Weib gegen einen Mann ganz aufrichtig ſey.
Lovell. 3r. Bd. H
[114] denn das Gefuͤhl verlaͤßt ſie nie, daß die Maͤn-
ner ein fremdartiges Thiergeſchlecht ſind, und
dieſe verletzen durch ihre Unbeholfenheit ihren
feinern Sinn auch unaufhoͤrlich. Wer bis in
ſein zwanzigſtes Jahr nur unter Weibern lebte,
muͤßte nachher alle Maͤnner betruͤgen koͤnnen.


Wie komme ich aber zu dieſer weitlaͤuftigen
Charakteriſtik? — Nichts kam mir in den Ge-
ſellſchaften ſo abgeſchmackt vor, als das Draͤn-
gen der jungen und alten Maͤnner, um bey Ti-
ſche neben irgend einem weiblichen Geſchoͤpfe zu
ſitzen, wie ſie ſich dann gluͤcklich prieſen und
affektirten, als wenn dies ihnen mehr, als alles
gaͤlte. Wenn man dies Geſchlecht erſt gekannt
und genoſſen hat, ſo kann man durch dieſe Zie-
rerey ganz ſchwermuͤthig werden. — Aber unſer
Leben laͤuft in einer ewigen Affektation fort,
und wer ſie nicht mitmacht, den nennen die
Uebrigen einen affektirten Narren.


Manche unter den vorzuͤglichſten Schoͤnhei-
ten haͤtten mich vielleicht gar geheyrathet, wenn
ich haͤtte darauf ſchwoͤren wollen, daß ich ent-
weder bald ſterben oder Zeitlebens ſo naͤrriſch
bleiben wuͤrde. Keins von beyden war mein
[115] Wille, und ich ließ mich daher gar nicht in
naͤhere Traktaten ein.


Ich ward endlich des Gewuͤhls muͤde und
reiſte ab. Ich konnte es nicht unterlaſſen, Ro-
ger- place zu beſuchen, den Ort, wo Mortimer
mit Amalien wohnt: von hier erhalten Sie die-
ſen Brief. Es trieb mich faſt wieder meinen
Willen hieher, und nun will ich Amalien noch
einigemal ſehn und dann abreiſen.


Sie geht alle Morgen mit Mortimer ſpazie-
ren, denn es iſt eine angenehme Allee vor ih-
rem Hauſe, die ſich in einen ſchoͤnen Wald ver-
liehrt; dann trinken ſie Thee. Amalie iſt recht
heiter und Mortimer hat ſich ganz umgeaͤndert,
er kommt mir weit menſchlicher oder vielmehr
weiblicher vor. Amalie ſieht aͤlter und verſtaͤn-
diger aus. — Ich habe einigemal des Abends
unter den rauſchenden Baͤumen gelegen und nach
ihren Fenſtern hinaufgeſehn. Ich war geſtern
in Verſuchung, hineinzuſteigen. Mein Herz
kocht Haß und Wuth gegen Mortimer, und
doch wuͤßt' ich jetzt grade nicht warum. Aber
ich hatte Amalien nicht vergeſſen, ich log es
nur mir und andern, und darum haͤtte ſie auch
mich nicht vergeſſen ſollen; und Mortimer, der
H 2
[116] meine Liebe gegen ſie ſo tief verachtete, haͤtte
ſie mir nicht entreißen ſollen! — O und was
iſt es denn mehr? Wuͤrde ich ihrer nicht eben
ſo wie Emiliens uͤberdruͤßig werden? — Doch
nein, denn dieſe habe ich nie geliebt.


Es iſt eine ſehr haͤßliche Aufwaͤrterinn im
Hauſe, dieſe will ich zu ſprechen ſuchen; es
muͤßte ſonderbar kommen, wenn ich ſie nicht
auf meine Seite braͤchte. Wenn ich erſt die ge-
nauern Umſtaͤnde weiß; ſo laͤßt ſich auf dieſe
vielleicht ein kluger Plan gruͤnden.


Ob Amalie auch zu den Weibern gehoͤrt,
von denen ich vorher ſprach? Ich habe ſie da-
mals zu ſehr geliebt, um ſie zu beobachten und
damals haßt' und liebt' ich die Menſchen uͤber-
haupt noch, ohne ſie vorher zu kennen. Jeder
Menſch hat eine Periode im Leben, in der Lie-
be und Freundſchaft mit der Selbſtliebe zuſam-
men fallen; von beyden weiß er ſich dann keine
Gruͤnde anzugeben.


Leben Sie wohl und gruͤßen Sie Andrea. —


[117]

27.
William Lovell an Roſa.



Es giebt Stunden im Leben, Roſa, in denen
ſich uns der Idealismus faſt unwiderſtehlich auf-
draͤngt, Zufaͤlle treten oft zuſammen, ſo kin-
diſch wunderbar au einander gereiht, daß wir
die Welt umher auf einzelne Augenblicke fuͤr
ein Hirngeſpinnſt halten muͤſſen. Ich bin
noch immer in dieſer Stimmung, wenn ich an
alles zuruͤckdenke; es kommt mir oft in der
Welt nichts ſo ſeltſam vor, als daß irgend ein
Zufall mit einem fruͤheren zuſammenhaͤngt, ſo
daß wir oft wirklich auf die Idee von dem ge-
fuͤhrt werden, was die Menſchen gewoͤhnlich
Schickſal nennen.


Ich habe nehmlich in jener haͤßlichen Auf-
waͤrterinn, von der ich Ihnen ſagte, eine alte
Bekannte wiedergefunden. Ich ſuchte ſie auf,
und wir waren bald mit einander vertraut, ſie
nannte meinen wahren Namen, und ich erſchrak.
Es war, als wenn ein boͤſer Genius aus ihr
[118] ſprach, der mich nun meinen Feinden verrathen
wuͤrde. Ich betrachtete ſie genauer, und konn-
te mich doch durchaus nicht erinnern, ſie ir-
gendwo geſehn zu haben. — Endlich entdeckte
ſie ſich mir, und o Himmel! — es war Nie-
mand anders, als die Comteſſe Blainville!


Lange wollte ich es nicht glauben. Die
Blainville, jenes junge, lebhafte, reizende Weib,
— und hier ſtand ein Ungeheuer vor mir, von
Pockengruben entſtellt, einaͤugig, mit allen moͤg-
lichen Widrigkeiten reichlich ausgeſtattet, —
und dennoch war ſie es, ſelbſt unter der gro-
ben Huͤlle lagen einige ihrer ehemaligen Zuͤge,
wie fern, verborgen.


Ihre Geſchichte kann ich Ihnen mit weni-
gen Worten ſagen. Der Graf Melun ſtarb
bald, nach dem er ſie geheyrathet hatte, ſie ließ
ſich durch ihren Liebhaber den Chevalier Valois
zu jeder Verſchwendung verleiten; ſie verließ
mit ihm Paris und gieng nach England, ihr
Ver[m]oͤgen war bald vom Valois verſpielt, ſie
ward krank, denn die Blattern offenbarten ſich
an ihr, der Chevalier erſchoß ſich, ſie ge-
nas, aber ihre Schoͤnheit, ihre Jugend war
jetzt zugleich mit ihrem Vermoͤgen dahin. Sie
[119] ſuchte Huͤlfe bey den Menſchen, weil ſie dieſe
nicht kannte, und dieſe ſtießen ſie veraͤchtlich
von ſich, wie ſie es auch in []ihrer Stelle ge-
than [haben] wuͤrde; zur druͤckendſten Armuth er-
niedrigt, ſuchte ſie endlich Dienſte, und Amalie,
hier in Roger-place, nahm ſich ihrer an. Und
hier muß ich ſie nun treffen; meine beyden Ge-
liebten in einem ſeltſamen Kontraſte neben ein-
ander.


Ich habe ihr das ſtrengſte Stillſchweigen ge-
lobt, ſo wie ſie mir: Mortimer, der ſie einſt
ſo ſchoͤn fand, weiß es nun nicht, daß ſie in
ſeinem Hauſe wohnt. Sie liebt mich noch, wie
es ſcheint; — o Roſa, Sie ſollten ſie jetzt ſehn!


Es iſt ſchauderhaft, wenn ich uͤberlege, daß
dies Ungeheuer doch ſchon damals verlarvt in dem
ſchoͤnen Weibe lag, das ich umarmte, — bey jedem
Weibe und Maͤdchen faͤllt mir jetzt der Gedanke
ein: Die Alte, die mit grauen Haaren, abge-
fallen, mit rothen Augen und auf einer Kruͤcke
voruͤber hinkt, war auch einmal jung und hatte
ihre Anbeter, ſie dachte damals nicht daran,
daß ſie ſich aͤndern koͤnne; ihrem begeiſterten
Liebhaber fiel es nicht ein, uͤber ſich ſelbſt zu
lachen, denn er kannte die Geſtalt nicht, gegen
[120] die er ſeine Deklamationen richtete. — O hin-
weg davon! — Aber was ſind alle Freuden
dieſer Welt? — Es iſt mir ein widriger An-
blick, wenn ich ein Paar gehn ſehe, das zaͤrt-
lich gegen einander thut. In der Kindheit wuͤn-
ſchen wir uns Glasperlen, dann Liebe, dann
Reichthum, dann Geſundheit, dann nur noch
das Leben; auf jeder Station glauben wir wei-
ter gekommen zu ſeyn und fahren doch im Kreiſe
herum, ſo daß wir nie ſagen koͤnnen: jene Ge-
gend liegt jetzt fern von mir.


[121]

28.
William Lovell an Roſa.



Ich muß zuruͤckkehren, denn ich weiß mich
hier in England nicht mehr zu laſſen. — O es
giebt Menſchen, die noch unendlich tiefer ſtehen,
als ich, die Schandthaten mit einer Kaͤlte be-
gehn, als wenn ſie gar nicht anders koͤnnten
und muͤßten.


Ich zittre noch, wenn ich daran denke, wie
tief ich haͤtte ſinken koͤnnen, wie nahe ich dem
Verſuche war, der mich ganz aus der Reihe der
Menſchen ausgerottet haͤtte. — Ich fuͤhle es,
daß ich bisher in meiner Frechheit zu weit gieng,
ich war meiner ſelbſt zu ſehr verſichert, und
dachte nicht daran, wie nahe jedes Verbrechen,
wie dicht es mir vor den Fuͤßen lag. Meine
Empfindung verabſcheut das Laſter, ob mir
gleich die Sophismen des Verſtandes beweiſen
wollen, daß es kein Laſter giebt, und auch Sie,
Roſa, und auch Andrea, — es iſt unmoͤglich,
Sie koͤnnen nicht davon uͤberzeugt ſeyn.


[122]

Ich will England verlaſſen, um wieder zu
mir ſelbſt zu kommen. O, lieber Roſa, ertra-
gen Sie heute noch einmal meine Stimmung,
ſo wie Sie es ſchon ſo oft gethan haben; ich
fuͤhle mich heute ſo ganz anders, als ſonſt, ſo
ganz von dem Muthe verlaſſen, der gewoͤhnlich
aus mir ſpricht. Alles iſt noch die Folge einer
Begebenheit, die mich in Roger- place zu Bo-
den geworfen hat.


Ich kann Ihnen die Empfindungen nicht be-
ſchreiben, mit denen ich dort herumgieng; bald
im Haß gegen Mortimer, der mir unausloͤſch-
lich ſchien und doch bald wieder von einer tie-
fen Selbſtverachtung verdraͤngt ward, dann war
mir alles gleichguͤltig und ich ſtand wie ein
muͤßiger Zuſchauer in der Welt da, der an ih-
ren mannichfaltigen Rollen keinen Antheil be-
kommen hatte. Wenn ich denn Amalien wie-
der ſah, o ſo ergriff mich eine ſo heiße, ſo ei-
ne bruͤnſtige Sehnſucht, ſie in meine Arme zu
ſchließen, an meinen Mund, an mein ſchlagendes
Herz zu druͤcken, ſie nur in Einem armſeligen Au-
genblicke mein nennen zu koͤnnen, daß mich ein
Zittern und eine Fieberhitze ergriff. Es war,
als gehoͤrte es zu meinem Leben, als ſey es der
[123] letzte und einzige Zweck, weswegen ich bisher
gelebt haͤtte, ihr nur noch einmal zu ſagen, daß
ich noch lebe, daß ich ſie noch, wie ehemals,
liebe. Ich glaubte, daß ich nach dieſem Augen-
blicke ruhig und zufrieden ſeyn wuͤrde, daß ich
dann Tod und Leben mit gleich feſtem Auge be-
trachten koͤnnte. Alle Empfindungen meiner
fruͤheren Jugend kamen zuruͤck, ich wuͤnſchte im
Momente der Erkennung an ihrem Halſe zu
ſterben, kein Gefuͤhl und keinen Gedanken weiter
nach dieſem Stillſtande meiner Seele zu erleben.
— O waͤr' ich, waͤr' ich geſtorben! Tod und
Grab ſind das einzige Aſyl des verfolgten Elen-
den. Duͤrft' ich dieſe Wohnung der Ruhe be-
ſuchen, losgeſchuͤttelt vom wilden Getuͤmmel
der lebendigen Welt: aber alles, worauf ich
mich freute, koͤmmt mir kalt und freudenleer naͤ-
her, und geht ſo voruͤber, ich bleibe einſam zu-
ruͤck, und ſehe dem Zuge nach, der ſich nicht
weiter um mich kuͤmmert. Ich will auch auf
keine Freude weiter hoffen, ich will die kalte
Luft als meinen Freund umfangen, ich will todt
ſeyn, in der todten Maſſe, die mich umgiebt,
kein Gefuͤhl ſoll mir naͤher treten, ich will alle
Sehnſucht, alles Schmachten nach Liebe in die-
[124] ſem Buſen vertilgen und mir wie ein frecher,
hohnſprechender Bettler ſelber genuͤgen, — ach,
meine Sehnſucht iſt jetzt nach der Verweſung
hingerichtet, nach der kalten Erde, die endlich
dies klopfende Herz zur Ruhe bringen wird.
Mir iſt, als ſollt' ich mit dem Meſſer dem ſie-
denden Blute einen freyen Ausweg machen, das
in meinem Hals draͤngt und nach dem Gehirne
ſtroͤmt.


Was werden Sie zur Blainville ſagen? Was
empfinden, wenn Sie es hoͤren, wie tief der
Menſch ſinken kann? — Seit ſie mich erkannt
hatte, verfolgte ſie mich unaufhoͤrlich mit ihren
freundſchaftlichen Liebkoſungen, ſie erinnerte
mich an unſere Vertraulichkeit in Paris und
auf welche Art ſie mich damals hintergangen
habe; ich ſpottete uͤber mich ſelbſt, und wuͤnſch-
te doch innerlich die Unſchuld und Unbefangen-
heit jener Zeit zuruͤck. Ich entdeckte ihr mei-
nen Wunſch, Amalien nur einmal zu ſehn und
zu ſprechen, und ſie verſprach mir ein Mittel
auszufinden, wenn ich mich dazu verſtehen woll-
te, ihr eine Nacht hindurch Geſellſchaft zu lei-
ſten. O Freund, wie kamen mir in dieſer Nacht
Liebe, Wolluſt, und alle Freuden dieſer Welt vor!


[125]

»Ein ungeſaͤuberter Garten, wo alles in
»Saamen ſchießt und mit Unkraut und Diſteln
»uͤberwachſen iſt; — o pfuy, pfuy der Welt!«—


Ich erroͤthe noch jetzt, wenn ich daran zu-
ruͤckdenke; es iſt, als wenn ich von je alle
Gelegenheiten begierig ergriffen haͤtte, um mich
ſelbſt zu erniedrigen. In dieſer Nacht verſprach
mir die Blainville, eine Gelegenheit zu verſchaf-
fen, Amalien im Garten hinter dem Hauſe al-
lein zu ſprechen. Mortimer reiſe am folgenden
Morgen fort, und ſie wolle denn auf dem
Abend einen gewaltigen Rauch und ein unſchaͤd-
liches Feuer erregen, ein gewaltiges Geſchrey
erheben, alle Bedienten wuͤrden mit den An-
ſtalten beſchaͤftigt ſeyn und Amalie wuͤrde ſich
[auf] ihren Rath nach dem Garten retten; dann
wolle ſie mir das Haus eroͤffnen und mich zu
Amalien fuͤhren.


Schon fruͤh am Morgen ſah ich Mortimer zu
Pferde ſteigen und wegreiten. Mit welcher Un-
ruhe erwartete ich den Untergang der Sonne!
Amalie ließ ſich nicht blicken, und ich konnte
auch die Blainville nicht wieder ſprechen. End-
lich ward es Abend; ich gieng in der Allee vor
dem Hauſe auf und ab, die Baͤume rauſchten
[126] gewaltig und verkuͤndigten ein herannaͤherndes
Gewitter, ich ſah ein Licht in Amaliens Zim-
mer brennen und mein Her; klopfte aͤngſtlich
und ungeſtuͤm. Die letzte Blume meines Gluͤcks
ſollte jetzt gewaltſam hervorgetrieben werden,
und meine ganze Seele war nach dieſem Au-
genblicke hingeſpannt.


Der Himmel ward dunkler, her Wind ſauſ-
te ſtaͤrker und ich ſah bange und unverwandt
nach dem Hauſe hin. Kein [Laut] von innen,
vom Dorfe aus der Ferne hoͤrt' ich den Nacht-
waͤchter und das Bellen der Hunde.


Endlich ſah ich einen ſtarken Rauch aus dem
Fenſter von der Seite dringen. Es blieb noch
immer ruhig. — O wie beklommen ward mir,
als jetzt eine Nachtigall uͤber mir in den Baͤu-
men laut zu ſchlagen anfieng. Sie koͤnnen es
nicht faſſen und nicht begreifen, Roſa, kein
Menſch kann mir dies Gefuͤhl nachempfinden.


Die Bedienten mußten ſchon ſchlafen gegan-
gen ſeyn, denn es regte ſich nichts im ganzen
Hauſe und doch ſtieg ſchon eine helle Flamme
aus dem Fenſter zum Dache hinauf, der Rauch
ſtieg in groͤßern Wolken zum Himmel und waͤlz-
te ſich nach der Vorderſeite hin. Es entſtand
[127] noch immer kein Geſchrey, die Blainville eroͤff-
nete mir auch nicht die Thuͤr; das Licht in
Amaliens Zimmer blieb ruhig an ſeiner Stelle.
Ich zitterte vor Ungeduld, vor Angſt und Ver-
gnuͤgen. Wie man im Traume zuweilen auf ei-
ner ſchwindelnden Hoͤhe ſteht, ſich vor dem Ab-
grunde entſetzt und dennoch weiß, daß man hin-
unter ſtuͤrzen wird, wie man denn in unbeſchreib-
licher Angſt den Augenblick des Hinabfallens
wuͤnſcht, ſo, grade ſo kamen mir dieſe Sekun-
den vor. Ich konnte nicht begreifen, wo die
Blainville ſo lange zoͤgerte: ich gieng heftig auf
und ab und ſtand dann wieder ſtill, ich traute
meinen Augen und meinen Ohren nicht, daß al-
les, gegen die Abrede, noch ſtill blieb und ſich
die Thuͤr noch immer nicht eroͤffnete, und den-
noch ruͤckte die Zeit unaufhaltſam und fuͤrchter-
lich weiter. Die Flammen brannten hell zum
Dache hinauf, Ziegel ſtuͤrzten herunter, der Wi-
derſchein zitterte in den gruͤnen Baͤumen, das
ganze Haus war mit Rauch umgeben und jetzt
glaubte ich eine ſchwache Stimme zu hoͤren, die
nach Huͤlfe rief. Als ich noch ungewiß war,
was ich thun ſollte, eroͤffnete ſich Amaliens
Fenſter, ſie ſah heraus und fuhr mit einem
[128] Schrey des Entſetzens wieder zuruͤck: lauter und
geaͤngſtigter rief ſie dann um Huͤlfe; das Zim-
mer war voller Rauch, ich ſah es deutlich,
Da fiel mir ploͤtzlich eine Stelle aus einem ih-
rer Briefe ein, den ſie mir Unwuͤrdigen noch
nach Paris ſchickte und in dem ſie mit liebens-
wuͤrdiger Beſorglichkeit ſchrieb, weil ſie ſeit
lange keine Nachrichten von mir erhalten hatte:


Ich ſehe Sie ohnmaͤchtig gegen die
Wellen kaͤmpfen, — oder in einem bren-
nenden Hauſe vergebens nach Rettung
rufen
. —


Das ſchrieb ſie mir damals als ich ſie uͤber
die elende Blainville vergeſſen hatte, dieſelbe
Blainville, die jetzt die verzehrenden Flammen
gegen ihre Wohlthaͤterinn ausſchickte. — Wie
ein Wirbelwind faßte es mich nun an, es war
das Schickſal ſelbſt, das mich allmaͤchtig ergriff;
— ich nahm eine große Leiter und legte ſie an
das Fenſter, — ich wußte nicht, was ich that.
— Ich ſtand in Amaliens Zimmer, ſie lag oh-
ne Beſinnung auf einem Sofa. Ich druͤckte ſie
[an] meine Bruſt, meine Arme umſchloſſen ihren
zarten Koͤrper und ſo trug ich ſie die Leiter hin-
ab und legte ſie auf eine Raſenſtelle unter den
Baͤu-
[129] Baͤumen nieder. — Sie ſah mich mit einem
matten Blicke an, ich kniete neben ihr nieder.
— Alle meine Sinne wandten ſich gleichſam
um, ich dachte nichts, und ſah ſie nur vor mir
liegen, und die holden blauen Augen und den
ſanften, menſchenfreundlichen Mund, von dem
ſonſt mein Nahme ſo oft getoͤnt war. — Sie
zitterte und ich ſtammelte einige Woͤrte[r, i]ch
weiß ſelbſt nicht was, dann druͤckt ich mein Ge-
ſicht an ihren Buſen, ich wuͤnſchte zu ſterben;
— meine heiſſe Wange ruhte dann an der ihri-
gen, und ſie war kalt, — ich hielt ſie fuͤr todt
und umarmte ſie noch einmahl, — ein verworrenes
Getuͤmmel umgab das brennende Haus, — dann
ſtand ich auf und eilte fort, — ſie rief mir et-
was nach, ich habe es nicht verſtanden. Ich
wollte umkehren, aber mir ſelbſt zum Trotze ging
ich weiter. —


Im Walde ſank ich unter einem alten Bau-
me nieder. — Ich hoͤrte ein Geſchrey aus der
Ferne, und große Funken ſtiegen zum Him-
mel und erloſchen dann: ich ſah ihnen kalt
nach, und weinte endlich laut und heftig:
— Die Winde rauſchten durch den Wald und
wie Millionen ſcheltender und verhoͤhnender Zun-
Lovell. 3r Bd. J
[130] gen bewegten ſich die Blaͤtter toͤnend umher;
verlaſſen von allem was lebt, verlaſſen von der
lebloſen Natur ſtieß ich meinen Kopf verzwei-
felnd gegen den Stamm des Baumes: eine wuͤ-
ſte Dunkelheit erfuͤllte mein Inneres, ich war
von mir ſelbſt abgetrennt, und betrachtete und
bemitleidete mich als ein fremdartiges Weſen.
— O ich haͤtte nur einen Hund haben moͤgen,
der ſich winſelnd an mich gedruͤckt haͤtte, er
haͤtte mich getroͤſtet, ich haͤtte ihn fuͤr meinen
Freund gehalten.


Das Gewitter brach jetzt herein. Laute
Donnerſchlaͤge hallten den Wald hinab und Re-
genguͤſſe rauſchten durch die Baͤume. Die gan-
ze Natur ſchien zu erwachen und ſich zu ent-
ſetzen. Blitze flogen durch das Dunkel und ſchie-
nen mich zu ſuchen, Thiere winſelten aus der
Ferne, Eulen flogen ſcheu umher, und die gro-
ßen Wolken arbeiteten ſich muͤhſam durch den
Himmel. — Vom Regen durchnaͤßt ſchlief ich
endlich ein, als ſich das Getoͤſe vermindert hatte.


Der Morgen grauete als ich erwachte, der
Traum verflog und uͤbergab mich meiner eigenen
Exiſtenz wieder. — Ich wandte keinen Blick
zuruͤck, ſondern ging in gerader Richtung fort;
[131] jedem Menſchen ging ich aus dem Wege, ich
ſchlich um die Doͤrfer herum. —


Ich freue mich jetzt daruͤber, daß ich Ama-
lien gerettet habe; — aber fuͤr Mortimer! —
Doch ich will fort; ſie ſoll mich weiter nicht
kuͤmmern, ich will ſie und Alles vergeſſen. —


Sie ſehn mich bald wieder. —


J 2
[132]

29.
Mortimer an Eduard Burton.



Ich ſchreibe, um Ihnen einen ſonderbaren
Vorfall zu melden. Ich bin innig erſchuͤttert
und ich wuͤnſche nur, daß dieſe Begebenheit fuͤr
Amalien keine uͤblen Folgen haben moͤge.


Vorgeſtern ritt ich nach einem Dorfe ohn-
gefaͤhr dreyßig Meilen von hier, weil ich ge-
hoͤrt hatte, daß ſich dort ſeit einiger Zeit ein
Frauenzimmer aufhalte, von der man nicht ge-
nau wiſſe wer ſie ſey. Manches in der Beſchrei-
bung paßte auf Ihre ungluͤckliche Schweſter,
ſo daß ich ſogleich hineilte, ſie ſelbſt zu ſehen.
Es war aber die Tochter eines armen Edel-
manns, die ſich nach vielen erlittenen Ungluͤcks-
faͤllen mit ihrem armen Vater in das Dorf
niedergelaſſen hatte. Ich war von ihrer Erzaͤh-
lung geruͤhrt, und kehrte ſchon geſtern wieder
zuruͤck. — Wie erſtaunt' ich aber als ich naͤ-
her kam, und mein Wohnhaus ſo ganz verwuͤ-
ſtet fand! Allenthalben die deutlichſten Spuren
[133] eines Brandes und ein Nebengebaͤude rauchte
ſelbſt jetzt noch. Amalie war krank.


Ich erfuhr, daß an dem Abend meiner Ab-
weſenheit wirklich Feuer ausgekommen, das aber
bald durch die Anſtalten und durch einen einfal-
lenden Regenguß geloͤſcht worden ſey. Amalie
war als noch niemand weiter das Feuer bemerkt
hatte, von einem Fremden gerettet, den niemand
weiter nachher geſehn hatte.


Das Ganze erhielt aber noch ein weit aben-
theurlicheres Anſehn, als man jetzt die erſtickte
Charlotte fand, die ſich in der Angſt oder Zer-
ſtreuung aus einer verſchloſſenen Thuͤre nicht
hatte retten koͤnnen, ob ſie gleich den Schluͤſſel
in der Taſche hatte. Man fand zugleich eine
Brieftaſche bey ihr, die ich unterſuchte, und zu
meinem Erſtaunen aus einigen Papieren ſah,
daß eben dieſe haͤßliche Charlotte die Comteſſe
Blainville war, die ich in Paris gekannt hatte.
— Seit dieſer Entdeckung habe ich allerhand
ſeltſame Vermuthungen, die auf der einen
Seite aber ſo unwahrſcheinlich ſind, daß ich ſie
Ihnen nicht einmahl mittheilen mag. — Ich
danke Gott, daß derganze Vorfall ſich noch
ſo gluͤcklich geendigt hat.


[134]

Amalie weiß noch immer nicht das ungluͤck-
liche Schickſal Ihrer Schweſter, ſie will daher
durchaus einen Brief an dieſe einlegen; ich kann
ihr ihr Verlangen nicht abſchlagen, ohne Ver-
dacht bei ihr zu erregen, ihr aber noch weniger
die Geſchichte ihrer Freundinn entdecken, weil es
ſie jetzt zu ſehr erſchuͤttern wuͤrde. Sie erhalten
alſo in dieſem Briefe zugleich einen andern an
Ihre Schweſter.


[135]

30.
(Einlage des vorigen Briefes.)
Amalie an ihre Freundinn Emilie
Burton
.



Schon ſeit lange, liebe Emilie, habe ich auf
Briefe von Ihnen gehofft, ich wollte Ihnen nicht
eher antworten, bis Sie mir Ihrem Verſpre-
chen gemaͤß den Nahmen des intereſſanten Un-
bekannten genannt haͤtten. Ihr Stillſchweigen
aber und ein Vorfall, den Sie ſchon durch Mor-
timers Brief werden erfahren haben, macht daß
ich Ihnen fruͤher ſchreibe. — Ach, Emilie, ich
habe die Furcht des Todes auf eine recht fuͤrch-
terliche Art empfunden. Ich las am Abend,
weil ich allein und Mortimer auf einige Tage
verreiſt war; ich war muͤde und wollte ſchon
ſchlafen gehen, als ich in meinem Zimmer einen
Rauch bemerkte. Ich konnte nicht begreifen,
wo er herkaͤme; ich ging umher, der Dampf
verſtaͤrkte ſich, ich muſte huſten, in einem Au-
[136] genblicke aber ward er ſo ſtark, daß ich zu er-
ſticken fuͤrchtete; ich wollte das Zimmer verlaſ-
ſen, allein ich hatte die Thuͤr ſchon verſchloſſen,
und konnte jetzt in der Dunkelheit, in der
Verwirrung den Schluͤſſel nirgends finden. Das
Athmen ward mir ſchwer, und ich fuͤhlte es,
wie mich mein Bewußtſeyn nach und nach ver-
ließ. Ich rief nach Huͤlfe, aber meine Stimme
war nur ſchwach. In der groͤßten Angſt oͤfnete
ich endlich das Fenſter und Dampf und Feuer-
flammen fuhren mir entgegen. — Niemand war
in der Naͤhe, ich ſah einen unvermeidlichen
furchtbaren Tod vor und neben mir: ich ſank
ohnmaͤchtig nieder. — Wie in einem Wagen
fuͤhlte ich mich nun fortgefuͤhrt, eine kalte Luft
wehte mich an, ich erwachte und lag unter den
Baͤumen vor meinem Hauſe. Es war finſter,
die Flammen erhellten die Nacht; Getuͤmmel
von Bedienten in der Ferne, und ein Unbekann-
ter kniete neben mir. Ich wußte nicht, ob ich
traͤumte, oder wachte; der Fremde, der mich
gerettet hatte, ſchloß mich in ſeine Arme, —
ich bin Lovell! keuchte er mir mit erſtickter
Stimme entgegen. — Mein Bewußtſeyn ver-
ließ mich wieder; die ſeltſamſten Bilder, die
[137] fernſten Erinnerungen gingen durch meinen Kopf
— o Lovell, — Ungluͤcklicher, — lieber Lovell!
rief ich ihm laut nach, denn er war ſchon da-
von geeilt. —


O was empfand ich nun, liebſte Emilie!
— Ich habe ſo oft gewuͤnſcht ihn nur noch ein-
mahl zu ſehen, und nun koͤmmt er und verſchwin-
det in demſelben Augenblicke wieder. — Warum
hab' ich ihm nicht manches ſagen koͤnnen, was ich
ſchon ſeit ſo langer Zeit auf dem Herzen habe?
— Warum iſt er hieher gekommen, und durch
welchen Zufall muß er es gerade ſeyn der mich
rettet? — Ich habe ihm nicht einmahl danken
koͤnnen, — ach! ich habe viel deswegen geweint,
daß ich ihn nicht geſprochen habe.


Die Bedienten trugen mich in's Garten-
haus; ein ſchreckliches Gewitter tobte jetzt in
der Luft; alles vereinigte ſich, mich zu be-
truͤben.


Die arme Charlotte hat man in einem Zim-
mer todt gefunden; o wie bemitleide ich ſie,
da ich ſelbſt das Schreckliche ihrer Lage em-
[138] pfunden habe! — Sie hat ſich gewiß nicht [ret-
ten]
koͤnnen; auch daruͤber habe ich geweint.
— Ach wie viel Ungluͤck, liebe Freundinn,
giebt es im menſchlichen Leben!


[139]

31.
Eduard Burton an Mortimer.



Wie hat mich die Einlage Ihres Briefes
von neuem geruͤhrt! Es iſt keine Emilie mehr
hier, an die ich ſie, wie wohl ſonſt geſchah,
haͤtte abgeben koͤnnen. Und noch immer keine
Nachrichten von meiner Schweſter? — Wil-
mont iſt umhergeſtrichen und wiedergekommen;
er hat nichts von ihr erfahren koͤnnen. Er
will jetzt von neuem umherreiſen; ich fuͤrchte
fuͤr ſeine Geſundheit. — Sie haben eine Un-
gluͤckliche getroffen, die Sie anfangs fuͤr meine
Schweſter gehalten haben, und auch Wilmont
hat mir von mehrern erzaͤhlt, die ihn oft auf
die Vermuthung brachten, daß es wohl die ar-
me Emilie ſeyn koͤnnte. Sehn Sie, Mortimer,
wie viele Menſchen noch außer uns leiden. —
Wenn ich doch nur in dieſem Gedanken einigen
Troſt finden koͤnnte!


[140]

Das Gefuͤhl der Einſamkeit quaͤlt mich
faſt zu Tode, alle Zimmer ſind mir zu eng,
die Luft im Garten iſt mir nicht frey genug.
Unaufhoͤrlich traͤume ich von Emilien; — giebt
es einen Kummer, der groͤßer waͤre, als den
man uͤber einen lieben Gegenſtand empfindet?


Ich wuͤnſche es oft innig, krank zu wer-
den, und ſo zu ſterben, denn es iſt ja doch
niemand, der uͤber mich weinen wuͤrde. — Ich
ſuche den Armen wohl zu thun, aber was iſt
das dagegen, wenn ich Emilien wohl thun,
wenn ich den ungluͤcklichen Lovell wieder zu
meinem Freunde machen koͤnnte? — Jedes All-
moſen, das ich gebe, jede Linderung, die ich
verſchaffe, iſt nur ein kleiner Abtrag von mei-
ner großen Schuld.


Ich war vor einiger Zeit ſchwach genug,
daß ich Emilien und Lovelln an dunkeln Stel-
len meines Gartens Denkmaͤhler errichten woll-
te; ich vergaß uͤber dieſe kindiſche Spielerey
meinen Schmerz waͤrend eines halben Tages,
aber da ich wieder einige ihrer Kleidungs-
ſtuͤcke ſah, da ich meinen Schreibtiſch oͤffnete,
[141] und mir etwas Geſchriebenes von ihr in die
Haͤnde fiel, o da kam der Jammer von neuem
uͤber meine Seele, und ich empfand es, daß
mein armes, zerriſſenes Herz keiner Denkmaͤh-
ler brauche, um zu trauern. Es iſt betruͤbt,
daß wir alles gern putzen und verſchoͤnern moͤ-
gen und oft uͤber den Putz und die Zufaͤlligkei-
ten die Sache ſelbſt vergeſſen. — Dein blo-
ßer Nahme, Emilie, ruft alles in meine Seele
zuruͤck; alle Erinnerungen ehemaliger Freude,
jede Liebkoſung von Dir, jeden Scherz, die
Spiele der Kinderjahre, — ach Mortimer, ich
moͤchte manchmal verzweifeln, wenn es mir ſo
ganz friſch wieder einfaͤllt, daß alles nun wirk-
lich voruͤber iſt, daß es nicht aͤngſtliche Einbil-
dung von mir, ſondern daß es wir klich iſt.
— O ich glaube, daß ich nicht genug leiden,
daß ich nicht laut genug klagen kann.


Koͤnnt' ich doch die Vergangenheit zuruͤck-
rufen! O ihre zaͤrtlichſte Liebe ſollte mir nun
gewiß nicht entgehen, ſie ſollte jetzt gewiß
nicht vor mir fliehen! — Aus uͤbelverſtande-
ner Maͤnnlichkeit, mit einem ſchlecht ange-
[142] brachten Ernſte war ich von je zu kalt gegen
ſie: ich fuͤhlte oft die ſchoͤnſte bruͤderliche
Liebe, die waͤrmſte Zuneigung gegen [ſie], daß
ich haͤtte an ihre Bruſt ſinken moͤgen und
ſie umarmen und kuͤſſen, als waͤre ſie eben
von einer ſchweren Krankheit geneſen, oder
als waͤre ſie von einer langen Reiſe zuruͤckge-
kommen. Aber dann uͤberraſchte mich wieder
die kleinliche Furcht, nicht fuͤr affektirt oder
ſonderbar zu gelten, und ich blieb in dem ge-
woͤhnlichen Tone des Umgangs; ich war oft
gegen ihr herzlichſten Aeußerungen zuruckſto-
ßend, und das hat ſie mir am Ende fremd ge-
macht; ſie hat mir ihre Gefuͤhle nicht zuge-
traut und aus Verdruß und Schmerz hat ſie
ein naͤher verwandtes Herz ſuchen wollen: —
Auch gegen Lovell war ich immer zu kalt, ich
fuͤhlte ſeine Uebertreibung in der Freundſchaft,
und um nicht in denſelben Fehler zu fallen,
war ich froſtig. — O die Menſchen wiſſen es
gar nicht, ſie koͤnnen es nicht wiſſen, wie
ſehr ich ſie liebe, — und darum moͤcht' ich
ſie wieder hier haben, um ihnen alles zu ſa-
gen, und mich zu erkennen zu geben, um
wie ein Verirrter die Heimath wieder zu fin-
[143] den. — Aber, ach! der Ruͤckweg iſt mir ver-
ſchloſſen; ich bin in meinen gegenwaͤrtigen Ge-
fuͤhlen eingekerkert und ſie werden meine Hei-
math bleiben.


[144]

32.
William Lovell an Roſa.



Sie erhalten jetzt aus England meinen letzten
Brief, denn in einigen Tagen will ich abreiſen.
Ich habe meinen Muth wieder, den ich neulich
ganz verlohren hatte; ich bin wandelbarer wie
Protheus oder ein Kamaͤleon, das gebe ich Ih-
nen gern zu. — Die Nichtswuͤrdigkeit des gan-
zen Menſchengeſchlechts hat mich von neuem ge-
troͤſtet, ich gebe mich uͤber mich ſelbſt zufrieden,
weil ich ſo ſeyn muß und nicht anders ſeyn
kann.


Die Betruͤbniß iſt ſo gut eine Trunkenheit,
wie die Freude, beide verfliegen, und um ſo
fruͤher, je heftiger ſie ſind: im Augenblicke des
Affekts aber will man nur ſchwer daran glau-
ben, und dies iſt auch ſehr gut, denn [ſonſt] wuͤr-
den wir nur immer ein traͤges phlegmaͤtiſches
Daſeyn ſchleppen, das nicht aus der Stelle will;
alle Leidenſchaften werden wie muntre Pferde
angeſpannt, um die ſchwerfaͤllige Maſſe uͤber
Huͤgel und Berge, durch Thaͤler und Stroͤme,
immer
[145] immer zu und unaufhaltſam fortzureißen: wo-
hin? — daran denkt man nur, wenn man wie-
der Schritt vor Schritt weiter ſchleicht.


Ich ſehne mich jetzt oft nach der Einſamkeit,
denn ich bin mit den Menſchen zu bekannt, als
daß ſie noch Intereſſe fuͤr mich haben koͤnnten.
Sie taͤuſchen mich nicht mehr und alles Ver-
gnuͤgen an dieſem Schauſpiele iſt dahin, es er-
ſcheint mir fade und abgeſchmackt. Die Men-
ſchen ſind weit beſſer dran, die ſich und ihre
ſogenannten Bruͤder noch gar nicht kennen, denn
ihnen ſieht das Leben bunt und angenehm aus,
ſie trauen jedem und werden von jedem betro-
gen; eine Ueberraſchung folgt dicht auf die an-
dere, und ſie bleiben in einer beſtaͤndigen Ver-
wickelung, in einem unaufhoͤrlichen Erſtaunen.
— Aber jetzt laͤchle ich und druͤcke die Hand,
ich mache Gebehrden, wie man es verlangt,
und ſammle andre von andern ein und doch bin
ich dabey nicht beſchaͤftigt. Ich ſchwoͤre, wie
die uͤbrigen, auf tauſend Sachen, und weiß
nicht, wovon die Rede iſt, ich bejahe und ver-
neine und bin dieſer und dann wieder jener, ei-
ne Kugel, die ſich nach allen Seiten wenden
kann, — aber wie langweilig, wie zuwider iſt
Lovell, 3r Bd. K
[146] mir nun auch jedes Geſicht! Keiner erreget mei-
ne Aufmerkſamkeit, weil ich ihn bis auf ſeinen
kleinſten Gedanken auswendig weiß.


Ich ſprach in einem meiner Briefe uͤber
die Weiber, — aber o Himmel! — was ſind
denn die Maͤnner? — Wenn ich die Menſchen
achten muͤßte; ſo wuͤrde ich mir doch nur die
Weiber auswaͤhlen, denn dis unbeholfene, lin-
kiſche, aufgeblaſene und kriechende Thier, das
wir Mann nennen, — o ich kenne nichts ver-
aͤchtlichers, als dieſe widerſprechende Miſchung
von Verſtand und Narrheit, Feſtigkeit und ver-
aͤnderlichem Weſen. — In der Jugend haͤngen
die Maͤnner von den Blicken, von dem Laͤcheln
der Weiber ab: ſie ſuchen zu gefallen und for-
men ſich nach hingeworfenen Winken, ſie halten
ſich fuͤr die Herren der Welt und laſſen ſich ei-
ner Nichtswuͤrdigkeit wegen tyranniſiren. Ihre
kuͤhnſten Wuͤnſche, ihre frechſten Plane ſind nur
Lakayen und nachtretendes Gefolge der ſinnlichen
Begierde. — Der ſtupide Bauer ſchaͤtzt ſich gluͤck-
lich, wenn der vorbeyfahrende Miniſter ſeinem
Gruße dankt, er glaubt einfaͤltig, es ſey ihm
nur allein geſchehn, und unterlaͤßt nicht, es der
ganzen Dorfſchaft zu erzaͤhlen: und der Miniſter
[147] ſieht dreymahl oͤfter in den Spiegel, wenn ihn
ein Maͤdchen angelaͤchelt hat, das ihn bis da-
hin kalt betrachtete. — Nach jedem Betruge
glaubt der Mann, das ſey nun auch das letzte
Weib, das ihn hintergangen habe: er haͤlt am
folgenden Tage eine andere fuͤr vollſtaͤndig tu-
gendhaft, er ſchwoͤrt darauf, alle uͤbrigen waͤren
nichts werth geweſen, aber dieſe nur, dieſe ſey
ordentlich fuͤr ihn gebohren, dann iſt er auf je-
den Blick eiferſuͤchtig, dann faͤngt er jedes aus-
geſprochene Wort auf, damit es ja kein anders
Ohr, als das ſeinige, begluͤcke. — Ein ewiger,
raſtloſer Kampf, beſtaͤndige Disharmonie, alle
Kraͤfte und Anlagen widerſprechen ſich, er will
herrſchen, und iſt Sklave, er will lieben und
haßt, Blicke lenken ihn gegen ſeinen Willen,
er verachtet die Eitelkeit und iſt ſelbſt eitel, —
er, — o er verdient wahrlich am Ende nicht,
daß man ſich die Muhe giebt, uͤber ihn zu ſpre-
chen! —


Wenn nun das Blut langſamer durch die
Adern fließt, dann treten die Leidenſchaften
nach und nach in den Hintergrund zuruͤck. Das
Hirngeſpinnſt des Stolzes beſetzt den Thron al-
lein. Vorher konnte der Mann nur von Wei-
K 2
[148] bern regiert werden, jetzt aber von jedermann.
Kinder haben ihn in den Haͤnden und werfen
ſich ihn abwechſelnd, wie ein Spielzeug, zu.
Wer ihm ſchmeichelt, iſt ſein Freund, und ſelbſt
wenn er das Grobe, das Unzuſammenhaͤngende
in der Schmeicheley bemerkt, ſo beleidigt ſie
ihn doch nicht, er laͤßt ſich freywillig fangen,
er glaubt ſelbſt an alle Vortrefflichkeiten, die
ihm der unverſchaͤmteſte Poet in einem Geburts-
tagsgedichte beylegt. Er iſt eine Blume, die
von allen Inſekten ausgeſogen wird, er denkt
uͤber ſich ſelbſt nie mehr nach, ſondern hat ſich
voͤllig unter fremden Urtheilen gebeugt, er kennt
ſich ſelbſt nur vom Hoͤrenſagen, und meint, an-
dre Leute haͤtten fuͤr unſre Vorzuͤge und Fehler
ein ſchaͤrferes Auge, als wir ſelbſt. Der groͤßte
Dummkopf kann dann dieſe Maſchine zu ſei-
nem Vortheile regieren, und der kluͤgere Menſch
wird die ganze Welt nur fuͤr eine große Fabrik
anſehn, in der dieſe Maſchinen hingeſtellt ſind,
und die er zu ſeinem Vortheile in den Gang
bringen muß.


Ich will fort, und zu Ihnen zuruͤckkehren,
ich brenne vor Begierde, von Andrea mehr zu
[149] erfahren, und zu lernen; je mehr ich dieſe Welt
haſſe und verachte, je mehr fuͤhle ich mich zu je-
ner uͤberirdiſchen hinzugezogen, die mir Andrea
aufſchließen will. Dieſe Bekanntſchaft iſt die
letzte frohe Ausſicht, die ich habe.


Leben Sie wohl!


[150]

33.
Emilie Burton an Mortimer.



Sie werden erſtaunen, indem Sie dieſen Brief
eroͤffnen; Sie werden vielleicht unwillig, wenn
Sie die Unterſchrift ſehen, aber der Freund-
ſchaft wegen, die Sie fuͤr meinen Bruder ha-
ben, wuͤrdigen Sie mich, meine Worte anzu-
hoͤren. — Mein ungluͤcklicher Irrthum wird
Ihnen ſchon bekannt ſeyn, verſchonen Sie mich
alſo mit der Erzaͤhlung, wie ich elend ward. O
theurer Freund (wenn ich Sie noch ſo nennen
darf) wuͤßten Sie, wie viel ich gelitten habe,
Sie wuͤrden mir gern vergeben.


Ich ſcheue mich an meinem Bruder zu ſchrei-
ben, ich ſchaͤme und fuͤrchte mich ihn zu ſehn;
ich habe ihn zu ſehr beleidigt. Seine Liebe
wuͤrde mir weh thun. Ich verließ ihn in ei-
ner Trunkenheit, in einer Raſerey, ich wuß-
te nicht was ich that. Ich folgte einem
Unwuͤrdigen, dem ich mein ganzes Herz gege-
ben hatte. — Ich bildete mir mancher-
ley ein; ach, ſchon auf dem Wege, ſchon
[151] eine Stunde nachher, als ich das Haus verlaſ-
ſen hatte, erwacht' ich; der glaͤnzende Irrthum,
die Taͤuſchung, die Eigenliebe, alles verſchwand;
ich ſah ein, daß Lovell mich nicht liebte, ach!
und ich entdeckte in meinem eigenen Herzen, daß
es ihn nie geliebt hatte. Ich ſah meine Ver-
aͤchtlichkeit ein, die erzwungene Spannung einer
hochfliegenden Phantaſie, die Sucht etwas Ei-
genes und Beſonderes zu empfinden, — ach, wie
ich mich ſeit der Zeit verachtet und gehaßt ha-
be! — Aber ich habe hinlaͤnglich dafuͤr gelit-
ten. — O theureſte, theureſte Amalie, vergieb
mir, daß ich mich immer uͤber Dir erhaben
fuͤhlte, daß ich Dein Betragen und Deine Ge-
fuͤhle unaufhoͤrlich meiſterte. — O Gott! wie
groß, wie heilig erſcheinſt Du mir jetzt in Dei-
nem einfaͤltigen Wandel!


Ich kann die Feder kaum halten, — ich
fuͤhle mich ſehr ſchwach. — Er hat mich ver-
laſſen, unter fremden Menſchen lieg ich hier oh-
ne Huͤlfe, krank, auf dem Todtenbette, das
fuͤhl' ich; der Gram, die Verzweiflung, ſie ha-
ben die Kraft meines Lebens hinwegg nommen.
O, er haͤtte mich doch nicht ſo verlaſſen ſollen,
das hatt' ich doch nicht um ihn verdient!


[152]

Warum verließ ich jenes ruhige, ſchoͤne Gluͤck,
das bei mir wohnte; Liebe und Wohlwollen,
die mich von allen Seiten umgaben? — Ach!
mein Bruder! wenn er mir nur vergeben hat!
wenn er nur keine Thraͤne um ſeine unwuͤrdige
Schweſter vergießt! — Doch wuͤnſcht' ich ihn
zu ſehn, ihn um Vergebung zu bitten: ach, ich
wuͤrde ſeinen Anblick nicht aushalten koͤnnen.


Erbarmen Sie ſich meiner und beſuchen Sie
mich; helfen Sie mir; vergelten Sie den armen
Leuten hier, was ſie an mir gethan haben. —


O Amalie! liebſte Freundinn! — wenn ich
Ihr Angeſicht noch einmahl ſehen koͤnnte! —


Ich kann nicht weiter. —


[153]

34.
Mortimer an Eduard Burton.



O Freund, ſeyn Sie ein Mann, bezaͤhmen Sie
Ihren Gram. — Ihre Schweſter iſt nicht mehr.
Ich fand ſie bloß um ſie ſterben zu ſehn.


Meine Augen ſind noch immer von Thraͤ-
nen naß, ob ich gleich faſt nie geweint habe;
aber dieſe Scenen haben mich ganz erſchuͤttert
und alle Standhaftigkeit in mir umgeworfen.
Sie nannte Ihren Nahmen oft, ſie wuͤnſchte
Sie herbey, ſie laͤßt Sie durch mich um Ver-
zeihung bitten. — Wilmont war grade bey mir,
als der Brief ankam, er ritt mit mir hieher.
— Als ſie ihn ſah, wandte ſie mit der groͤßten
Betruͤbniß ihr Geſicht abwaͤrts. Karl ſah f[uͤ]rch-
terlich aus. Er ſtarrte mit ſeinen Augen immer
gerade vorwaͤrts, — ſie ſchluchzte, — ein gro-
ßer Krampf druͤckte an ihrem matten Herzen, —
o ich wuͤnſche eine ſolche Scene nicht noch ein-
mahl zu erleben. —


[154]

Troͤſten Sie ſich; und doch kann ich Ihnen
nichts zu Ihrem Troſte ſagen: ich bedarf ſelbſt
eines troͤſtenden Freundes.


O Lovell! wie viele Seufzer und [Thraͤnen]
brennen auf Deiner Seele!


Leben Sie wohl, ich kann nichts weiter hin-
zufuͤgen. —


[155]

20.
Karl Wilmont an Eduard Burton.



So iſt es denn aus, voͤllig aus! — Alle Hoff-
nungen ſind todt! — Ach Emilie! Emilie! —
O koͤnnt' ich Dir folgen! — Aber bald; erſt
muß ich aber den Niedertraͤchtigen aufſuchen
[und] ſtrafen. — Er kann nicht mehr in England
ſeyn, ich will fort und ihn finden. — Dann,
Emilie, ſehn wir uns wieder. — Sie nannte
ſeinen Nahmen, noch ehe ſie ſtarb; es war ein
Feldgeſchrei zur Rache! —


Leben Sie wohl, Freund! Troͤſten Sie ſich,
ich will nicht getroͤſtet ſeyn. — Mortimer nann-
te meinen neulichen Brief unmenſchlich und er
hat Recht, ich bin kein Menſch mehr, ich mag
es nicht ſeyn; ein Daͤmon der Rache bin ich,
der jetzt durch die Welt zieht, die Strafe, die
den Verbrecher aufſucht. — Leben Sie wohl! —


[156]

36.
Eduard Burton an Mortimer.



Ich kann mich kaum uͤberwinden, Ihnen einige
Worte zu ſchreiben. Meine Haͤnde zittern,
Thraͤnenguͤſſe haben meine Augen verdunkelt. —
O Gott! ich habe ſie nicht noch einmal geſehn!
— Sie hat ſich in der Stunde des Todes nicht
an mich gewandt. — Siehſt Du, Eduard, ſo
wirſt du geliebt! — Ach, was kann ich ſagen?
— Ich kann nur ſchluchzen und jammern! —
Mußte es ſo mit Emilien endigen? — Und
durch Lovell, durch Lovell mußte mir dieſer
Jammer zubereitet werden? — O Emilie!
haͤtteſt Du mir vertraut, fruͤher vertraut, ſo
haͤtte ja noch alles koͤnnen gut werden! —
Aber nun, — wuͤſt und todt iſt alles; keine
Ausſicht, keine Hoffnung!


Der Kirchhof ſieht mir ſo ſchoͤn und freund-
lich aus; ich wuͤnſchte dort zu ruhen. —


Ach Willy! Du thateſt Recht, daß
Du ſtarbeſt. — Was giebt es hier fuͤr Freu-
den? —


[[157]]

William Lovell.
Zweites Buch.



[[158]][[159]]

1.
Andrea Coſimo an Adriano.



Du biſt nun ſchon ſeit zwey Wochen von Rom
entfernt, und noch habe ich keine Nachrichten
von Dir erhalten. Welche Geſchaͤfte koͤnnen Dich
in Florenz ſo ſehr beſchaͤftigen, daß Du Deinem
Freunde nicht eine kleine, armſeelige Stunde
ſchenkſt? — Findeſt Du es gar nicht der Muͤhe
werth, auch in der Entfernung unſern Umgang
fortzuſetzen? und uͤberdieß kann ich bis jetzt noch
gar nicht einſehen, warum dieſe Entfernung aus
Rom nothwendig war. Deine Eltern und Ver-
wandten hatten bis dahin ohne Deine Perſon
leben koͤnnen: und ich kann nicht begreifen was
Deine Gegenwart jetzt ſo unentbehrlich machen
ſollte. Willſt Du Dich wieder in jene enge
[160] Welt verkriechen, die Du ſeit einem Jahre mit
ſo vieler Freude verlaſſen haſt? Biſt Du in
Deiner Vaterſtadt von kleinlichen Verhaͤltniſſen
geſeſſelt, die ſo oft den Menſchen anders ſtellen
und ihn anders handeln laſſen, als er es mit
freyerem Willen thun wuͤrde? Dann ſollteſt Du
wenigſtens den Rath eines aͤltern Freundes hoͤ-
ren. Wenn es kein ander Mittel giebt, muß
man ſolche Verbindungen mit Gewalt zerreiſſen,
man muß Eine unangenehme Stunde veranlaſſen,
um ſich tauſend zu erſparen. Aber ich fuͤrchte,
Du biſt zu einem ſolchen Entſchluſſe zu ſchwach,
Du duldeſt lieber taͤgliche Martern als nur auf
eine Viertelſtunde die Pein auf die Menſchen
zu wenden die Dir das Leben verbittern; glaube
mir, daß man jede Verbindung aufheben kann,
wenn man nur ernſtlich will; dem feſten, eigen-
ſinnigen Muthe erliegt am Ende jeder Menſch.
Oder ſollteſt Du vielleicht Thor genug ſeyn,
Dich in Florenz verliebt zu haben und deshalb
nicht zu uns zuruͤkkehren? Nun, ſo wuͤnſche ich
Dir recht baldige Erhoͤrung, damit Du ſchnell
wieder in einen Menſchen verwandelt werdeſt. —


Ich bin es uͤberdruͤſſig, noch weiter etwas
hinzuzuſetzen; antworte mir wenigſtens auf die-
ſen
[161] ſen Brief, damit ich die Urſache erfahre, warum
du mich ſo ganz vernachlaͤſſiget haft. Oft ſind
wir nur unbeſonnen und veraͤchtlich, weil wir
uns den Magen verdorben haben; es kann ſeyn,
daß Du krank biſt; in dieſem Falle hoffe ich,
daß wir uns wieder ſehen, ſobald Du Dich ge-
beſſert haſt. — Lebe wohl.


Lovell. 3r. Bd. L
[162]

2.
Adriano an Andrea Coſimo.



Ich freue mich uͤber Deinen Brief, weil er mir
ein Beweis Deiner Freundſchaft iſt, und es
thut mir jetzt ſehr leid, daß ich Dir nicht ſchon
fruͤher Nachricht von mir gegeben habe. Deine
Vermuthungen finden bey mir nicht ſtatt, denn
ich bin weder verliebt, noch in einer aͤngſtlichen
Lage feſtgehalten, ſondern mein Aufenthalt hier
iſt nur die Erfuͤllung einer Pflicht, an die mich
mein Herz ſchon laͤngſt erinnerte. Mein edler
Freund wird nicht von mir verlangen, daß ich
jetzt ploͤtzlich meine Eltern, die kraͤnklich ſind,
verlaſſe, die die Gegenwart eines geliebten
Sohnes, wo nicht heilen aber doch in einen
leidlichern Zuſtand verſetzen kann. Glaube nicht,
daß dies eine Empfindſamkeit iſt, die ich aus
Affektation in meine Lage hineinlege, um das
Druͤckende derſelben nicht zu fuͤhlen; ich denke,
ich bin nie in Verſuchung geweſen, in dieſen
Fehler zu fallen; es ſollte mir uͤberhaupt wehe
thun, wenn Du uͤber dieſen Brief ſpotten koͤnn-
[163] teſt, wenn ich mir dadurch deinen Unwillen zu-
zoͤge. Ich bin aber uͤberzeugt, daß Du mich wahr-
haft liebſt, und ich kann daher unbekuͤmmert
ſeyn. Sobald es moͤglich iſt, ſehe ich Dich wie-
der; ich nenne mich indeß immer noch


Deinen Freund,
Adriano.


L 2
[164]

3.
Adriano an Francesko.



Schon ſeit ich von Rom entfernt bin, wollte
ich Ihnen ſchreiben, ja ich wollte Sie ſchon
vor meiner Abreiſe einmahl muͤndlich ſprechen,
allein eine gewiſſe Bloͤdigkeit hielt mich immer
davon zuruͤck. Ich bin wirklich darin ungluͤck-
lich, daß ich meinem Verſtande gegen die uͤbri-
gen Menſchen zu wenig zutraue, ich muß erſt
in einen gewiſſen Enthuſiasmus gebracht wer-
den, und dann traue ich meinen Ueberzeugun-
gen vielleicht wieder zu viel: wenn ich alſo bis
jetzt gegen Sie zuruͤckhaltend war, ſo ſchieben
Sie es allein auf dieſe Unentſchloſſenheit, auf
kein Mißtrauen, das ich wahrlich gegen Sie
am wenigſten kenne.


Andrea hat mir geſchrieben, und ſein Brief
iſt ein Beweis ſeines Unwillens daruͤber, daß
ich Rom verlaſſen habe; und dennoch, was kann
ihm an mir liegen, da er andre Freunde hat,
mit denen er oͤfter und lieber umgeht? Was
kann ihn wenigſtens bewegen, mir einen ſol-
[165] chen
Brief zu ſchreiben? — Doch, ich will oh-
ne Umſchweife zu Ihnen ſprechen.


Seit einem Jahre kenne ich Sie und An-
drea, und ich hielt im Anfange Andrea's Be-
kanntſchaft fuͤr das hoͤchſte Gluͤck meines Lebens.
Er gab meinem Geiſte eine gewiſſe enthuſiaſtiſche
Richtung, die ich bis dahin noch nicht gekannt
hatte. Meine Seele ward durch ihn fuͤr muͤn-
dig erklaͤrt, und ſie erſchrak im erſten Augen-
blicke uͤber das große Vermoͤgen, das ihr jetzt
ploͤtzlich zu Gebote ſtand, und eben dieſes Er-
ſchrecken war die Urſache, daß ich es viel zu hoch
anrechnete; ich hatte viel gewonnen, aber doch
noch nicht die Kunſt, mich ſelbſt zu beobachten,
und richtig zu ſchaͤtzen. Es liegt vielleicht et-
was Wahres darin, daß der Menſch, der zuerſt
den ganzen Gebrauch ſeines Verſtandes lernt,
dem Verliebten gleicht, beide bringen ſich und
ihren Zuſtand viel zu hoch in Anſchlag, beide
halten den Gegenſtand ihrer Liebe fuͤr den ein-
zigen in der Welt. Andrea nahm mir Vorur-
theile und Irrthuͤmer; ich hatte vieles bis da-
hin angenommen, ohne je daruͤber gedacht zu
haben, meine eigene Seele war mir gleichſam
fremd geblieben, und ich hatte das große Feld
[166] des Denkens nicht gekannt, und auch keine
Sehnſucht nach dieſer Bekanntſchaft gefuͤhlt.
Andrea lehrte mich die große Kunſt, alles auf
mich ſelbſt zu beziehn und ſo die ganze Natur
meinem Innern naͤher zu ruͤcken. Wie hab' ich
dieſen Mann damahls verehrt! mit welcher Lie-
be habe ich in der erſten Zeit an ihm gehan-
gen!


Nicht, daß ich ihn nicht noch jetzt achtete,
aber meine ehemalige Liebe hat er verlohren.
Er hat oft uͤber mich geſpottet, daß ich mit
meinem Verſtande immer nur grade aus will,
und alle Gedanken rechts und links am Wege
liegen laſſe, er hat mir immer eine gewiſſe Ein-
falt zugeſprochen, und ich weiß, daß mich ſein
Scherz nie erbittert hat, denn er hatte voll-
kommen Recht: es fehlt meinem Geiſte jene Faͤ-
higkeit gaͤnzlich, durch das ganze Gebiet ver-
wandter Gedanken zu ſtreifen, eine Ueberzeugung
zu finden, und gegenuͤber den Zweifel dazu zu
ſuchen, alle Kombinationen zu ahnden und ſie
dann mit dem Scharfſinne wuͤrklich zu entdek-
ken, mit den Analogien zu ſpielen, und die ent-
fernteſte kuͤhn mit der erſten zu verbinden; mein
Blick iſt beſchraͤnkt, die Natur hat mir wie
[167] einem Zugpferde die Augen zu beiden Seiten
bedeckt, und ich kann immer nur die gebahn-
te Straße vor mir ſehen. Draͤnge mein Blick in
die ungeheuren Abgruͤnde der Zweifelſucht, die
neben meinem Wege liegen, und ſaͤhe er ſeit-
waͤrts die unuͤberſteiglichen Gebirge, ſo wuͤrde
ich vielleicht ſcheu werden, und mein wilder
Geiſt uͤber unebene Wege mit mir davon rennen,
um ſich in die Abgruͤnde zu ſtuͤrzen.


Ich fand daher die Zweifelſucht, als die
erſte Veranlaſſung des Denkens ſehr ehrwuͤrdig,
aber ich erſchrak vor dem Gedanken immer nur
zweifeln zu koͤnnen, keine Wahrheit, keine
Ueberzeugung aus dem großen Chaos der
kaͤmpfenden Gedanken zu erringen. Wenn der
Geiſt zweifeln muß, und ſich auf dieſes Be-
duͤrfniß die wahre Verehrung des Skeptizismus
gruͤndet, ſo verlangt eben dieſer Geiſt auch end-
lich einen Ruhepunkt, eine Ueberzeugung und ich
kann alſo darauf auch die Nothwendigkeit der
Ueberzeugungen gruͤnden.


Sollten wir denn auch die troſtloſe Aus-
ſicht haben, unſer Leben hindurch zu denken,
Gedanken gegen Gedanken und Zweifel gegen
Zweifel unaufhoͤrlich abzuwaͤgen, indeß die Wa-
[168] ge ewig in einem ermuͤdenden Gleichgewichte
ſteht? Sollte unſer Geiſt nur immer die Reihe
von Gedanken wie bunte Bilder muſtern, ohne
ſich ſelbſt in einem einzigen zu erkennen?


Als die Zeit voruͤber war, in der mich
meine Eitelkeit vorzuͤglich an Andrea knuͤpfte,
glaubte ich doch in ihm ſelbſt eine gewiſſe Unvol-
lendung zu entdecken, die Sucht, mehr durch
ſeine Gedanken zu glaͤnzen und zu erſchrecken,
als die Wahrheit und das letzte Beduͤrfniß der
Seele zu ſuchen. Er verachtet die uͤbrigen
Menſchen ſo wie ſich ſelbſt, ihm iſt daher
nichts in ſeinem Innern ehrwuͤrdig, er ſpielt
mit den Menſchen nur ſo wie mit ſeinen
Gedanken, er iſt nichts als ein gefaͤhrlicher
philoſophiſcher Charlatan, bey dem ein witzi-
ger Einfall und ein ſcharfſinniger und gro-
ßer Gedanke einerlei iſt, der ſich ſelbſt bis auf
den Grund zu kennen glaubt, indem er nur ſeine
Faͤhigkeiten und Anlagen bemerkt hat. Er iſt,
wenn ich mich ſo ausdruͤcken darf, die Skitze
zu einer kolloſſaliſchen Figur, aber die Vollen-
dung, die Vertheilung des Lichtes und Schat-
tens fehlt ihm gaͤnzlich.


[169]

Sie werden dies nur fuͤr eine Hypotheſe
annehmen, wofuͤr ich es auch nur ausgeben
will, denn ich kann Ihnen nur beſchreiben, wie
mir Andrea vorgekommen iſt. Andern ſcheint
er vielleicht nicht ſo, und es iſt dann nur noth-
wendige Bedingung meiner Art zu denken, daß
ich ihn ſo und nicht anders ſehe.


Ich glaube, daß Sie mich kennen und daß
Sie es mir zutrauen, wie gern ich mich unter
den groͤßern Faͤhigkeiten einer hoͤhern Seele
beuge; ich werde mich nie daruͤber wundern,
wenn ein Freund eine Gefaͤlligkeit von mir und
Nachſicht gegen ſeine Meinungen verlangt, denn
es werden ſich Gelegenheiten finden, wo ich
von ihm daſſelbe fordre; — aber welcher Freund
[w]ird den andern tyranniſiren wollen, wie es
Andrea doch unaufhoͤrlich that? Hielt er uns
nicht alle wie ein Heer von Dienern, die auf
alles ſchwoͤren mußten was er ſagte, die be-
ſtimmt waren, ihm in den wunderlichſten und
ſeltſamſten Grillen nachzugeben? Ja, iſt es
Ihnen nie eingefallen, daß er uns nicht viel-
leicht zu noch ſchlimmeren Abſichten gemiß-
[170] braucht hat? — O gewiß, nur waren Sie zu
gutmuͤthig, den Argwohn in ſich deutlich
werden zu laſſen und meine Zuruͤckhaltung ver-
anlaßte die Ihrige.


Wozu waren jene ſeltſamen naͤchtlichen
Verſammlungen, in denen er uns immer in
eine gewaltſame Spannung zu verſetzen ſuchte?
Ich war Thor genug, einigemal dort mit Hef-
tigkeit zu deklamiren, um von einer Schaar
von Dummkoͤpfen bewundert zu werden, die bei
Andrea in der veraͤchtlichſten Knechtſchaft ſte-
hen. — Aus welchen Urſachen kettete Andrea
den jungen Lovell ſo feſt an ſich? Wozu jene
Gaukeleyen und Erſcheinungen, von denen Sie
doch ſo wenig wie ich werden hintergangen ſeyn,
und die den jungen Englaͤnder faſt wahnſinnig
machten? Ich ſtand ſeitwaͤrts und zum erſten-
male ſchlich ſich ein verachtender Widerwille gegen
Andrea in mein Herz. — Wozu Lovell's ge-
heimnißvolle Abreiſe? — Was will er mit die-
ſem jungen Menſchen, und warum muß er uns
als mittelbare Maſchinen brauchen, ſeine Plane,
ſeyen ſie auch welche ſie wollen, durchzu-
ſetzen? —


Alle dieſe Gedanken fielen mir ſchon ſeit
[171] lange ein, aber ich traute mir ſelber nicht. Ich
hatte Andrea ſonſt ſo ſehr verehrt, daß ich es
fuͤr wahrſcheinlicher hielt, daß ich ſeine Groͤße
nicht begreifen koͤnne, als daß er nicht ganz
groß ſeyn ſollte: aber ſeit ich hier in einem
ruhigern Leben und unter einfachern und ein-
faͤltigern Menſchen bin, koͤmmt mir alles von
Rom aus ſo ſeltſam wie ein Traum vor. An-
drea erſcheint mir in einem andern Lichte und
alles, was ſonſt in mir nur ferne, leiſe Ahn-
dung war, iſt nun zur Gewißheit geworden.
Aus dieſem Grunde werde ich nicht nach Rom
zuruͤckkehren, um mich nach und nach dem An-
drea und ſeinen Geſellſchaftern fremd zu machen;
denn moͤgen Sie es Einfalt nennen oder wie ſie
wollen, ich habe jetzt vor ihm und ſeinen Mey-
nungen eine gewiſſe Scheu; ich moͤchte mein
Herz und meinen Verſtand beruhigen, und er
wuͤrde alles anwenden um beides zu zerſtoͤren.
Ich koͤnnte leicht durch neue Wendungen zu
einer vielleicht noch ſchlimmern Verehrung hin-
geriſſen werden, wer weiß, welche Schwaͤchen
er noch in mir entdeckte, die er zu ſeinem Vor-
theile nuͤtzen koͤnnte! — Freilich iſt es etwas
Thoͤrichtes, ſich vor ſich ſelber und vor etwas,
[172] das man noch nicht kennt, zu fuͤrchten, aber
vieles Thoͤrichte iſt ſehr menſchlich, das fuͤhl'
ich, und vielleicht eben darum gut, und des-
wegen will ich nach dieſem Gefuͤhle handeln.
Ich bin nicht leichtſinnig genug, um ein Roſa,
und nicht Enthuſiaſt genug, um ein Lovell zu
werden, und beide ſind vielleicht ſchon ſehr
ungluͤcklich.


Sagen Sie mir uͤber meinen Brief Ihre
aufrichtige Meynung. — Leben Sie wohl.


[173]

4.
Franzesco an Adriano.



Mich freut das Zutrauen, das Sie in Ihrem
Briefe zeigen, ich kann Ihnen nichts weiter
darauf antworten als, daß ich glaube, Sie ha-
ben Recht, und daß ich ſogar darauf ſchwoͤren
wollte, daß Sie Recht haben. — Sie kennen
mich ſehr gut, wenn Sie meynen, daß ich im
Stillen eben ſo wie Sie uͤber Andrea gedacht
habe, aber ich geſtand mir ſelbſt nicht, wie ich
dachte, es war mir grade ſo wie einem, der
ſich ſelbſt gern eine Krankheit ablaͤugnen moͤchte,
um ſich nur eine langweilige, muͤhſeelige Kur
zu erſparen. Nun ich aber die erſte Medicin
genommen habe, kann ich unmoͤglich wieder zu-
ruͤcktreten, ohne alles zu verderben.


So wie man ſich an alles in der Welt ge-
woͤhnt, ſo hatte ich mich auch daran gewoͤhnt,
unſern Andrea zu bewundern, ich ſchob da-
bey immer die Schuld auf mich, wenn mir
mancherley an ihm ſeltſam und abentheuerlich
[174] vorkam. — Man kann wirklich annehmen, daß
wir, ſo wie Andrea und alle Menſchen, in einem
gewiſſen Grade wahnſinnig oder toll ſind, wir
glauben es aber nur von denen, bei denen dieſe
Tollheit eine ſolche Konſiſtenz erhalten hat, daß
ſie zur ſichtbaren Einheit wird und daß man ſie
als ein ſeltſames Kunſtwerk betrachten kann.
Aber jedermann hat irgend etwas an ſich, das
wahrhaftig nicht im mindeſten mit ſeinem ordi-
naͤren, ſogenannten Verſtande zuſammenhaͤngt.
Ich habe Leute geſehen, die Geſchmack hatten,
und die abgeſchmackteſten verſchimmelten Schar-
teken mit einem ſolchen Eifer zuſammenkauften,
als wenn es ihre Lieblingsſchriftſteller geweſen
waͤren; andere, die philoſophiſche Schriften
uͤber alles ruͤhmten und von einigen behaupte-
ten, daß man ſie nicht oft genug leſen koͤnne,
die ſie aber nie laſen; Freigeiſter giebt es, die
vor ihrem Schatten zittern, Aberglaͤubiſche,
deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen
widerſprechen. Es iſt als wenn dieſer Kampf
von ungleichartigem Weſen in uns das hervor-
braͤchte, was wir einen gewoͤhnlichen Menſchen
nennen; wer von dieſer Kompoſition abweicht,
auf der einen oder andern Seite ausſchweift
[175] und alle Tollheit oder allen Verſtand in ſich
erſtickt, der iſt einer von jenen ungewoͤhnlichen
Menſchen, die wir wohl anſtaunen, aber nicht
begreifen koͤnnen, einer von jenen ſchrecklichen
Magiern, die wir in Felſenſchluͤften, oder in
Tollhaͤuſern beſuchen; wir uͤbrigen ſtehn am
Kreuzwege zwiſchen einem Heiligen und einem
Wahnſinnigen. — So macht' ich mir im An-
drea jenes Naͤrriſche zum menſchlichen, und
fand ihn darum nur um ſo liebenswuͤrdiger,
es war das, was ſeine Glorie verdunkelte, die
wahre Narrenkappe, an der man den Menſchen
von den Thieren und den Engeln unterſcheiden
kann.


Andrea gab dem kalten, einfachen Men-
ſchen ſehr viele Bloͤßen. Er geht mit ſeinen ſo-
genannten Freunden auf eine ſeltſame Art um,
er ſcheint ſelbſt muthwillig das von ſich zu ent-
fernen, was man Zutrauen und Wohlwollen
nennt, um es dann doch auf einem andern
muͤhſeeligern Wege wieder zu ſuchen; er ließ
uns in Zweifel, ob wir ſeine Geiſtererſcheinun-
gen fuͤr Spaß oder Ernſt nehmen ſollten, aber
alles dies ſchrieb ich auf die Rechnung der
ſchon oft erwaͤhnten Tollheit, die mich nach und
[176] nach anſteckte, ſo daß ſie mir am Ende gar
nicht mehr ſeltſam vorkam, ſo ſehr ſie mir auch
im Anfange aufgefallen war. — Jetzt aber bin
ich ganz und gar Ihrer Meinung, ich ahnde
Plane und Maſchinerien, und dies wird mich
bewegen, mich ebenfalls von Andrea zuruͤckzu-
ziehn. — Wenn es nur moͤglich iſt! Ich bin
zu bequem, um große Schritte zu thun und die
kleinen dienen bei einem ſolchen Menſchen nur
dazu, uns ihm wieder naͤher zu bringen. —
Wir ſollten an Roſa ſchreiben, vielleicht daß
er uns die beſten Winke geben koͤnnte, da er
immer mit Andrea am vertrauteſten geweſen iſt.
— Sagen Sie mir doch, wie Sie uͤber dieſen
Vorſchlag urtheilen.


Lovell iſt mir immer als ein Narr vorge-
kommen, aber ſeine Narrheit iſt eine tragiſche,
und das thut mir um ſo mehr leid, da ich ihm
gut bin.


5.
[177]

5.
Adriano an Francesko.



Sie zweifeln an der Moͤglichkeit, ſich von
Andrea loszumachen? Er ſelbſt ſagt in einem
andern Bezuge in ſeinem Briefe an mich, daß
es uns leicht ſey, uns von jeder Verbindung
loszureißen, und daß dem ſtandhaften Eigen-
ſinne endlich ein jeder Menſch erliege. Ich
glaube nur, daß Sie bei dieſem Entſchluſſe ei-
nige kuͤhne Schritte werden thun muͤſſen, denn
beides laͤßt ſich unmoͤglich vereinigen, ſich von
ihm zu entfernen und ihm doch dieſe Entfer-
nung unmerklich zu machen. Je mehr Sie ihn
auf die Bemerkung hinleiten, um ſo viel leich-
ter haben Sie Ihr Spiel gewonnen, denn er
wird gewiß nicht mehr als Einen vergeblichen
Verſuch anſtellen, Sie wieder zuruͤckzubringen,
dazu verachtet er die Menſchen viel zu ſehr.
Ob Roſa unſrer Meinung ſeyn werde, iſt eine
andre Frage: und wenn er auch unſre Ueberzeu-
gung hat, ob er dann auch zu uns uͤbertreten
Lovell. 3r Bd. M
[178] werde. Ich kann mir Verhaͤltniſſe denken, die
den Menſchen nach und nach ſo verſtricken, daß
ſein Wille gaͤnzlich zum Schweigen gebracht
wird, daß er in eine [...]aviſche Abhaͤngigkeit
verſinkt; dies iſt vielleicht mit Roſa der Fall.
Schreiben Sie ihm indeſſen, wenn er ſich noch
in Tivoli aufhaͤlt. —


[179]

6.
Francesko an Adriano.



Ich bin Ihrem Rathe gefolgt und ich finde,
daß ſelbſt Unbequemlichkeiten bei weitem nicht
ſo unbequem ſind, als man ſich im Anfange
vorſtellt. Andrea hat mein veraͤndertes Betra-
gen bemerkt, aber er ſcheint keine beſondre
Theilnahme daruͤber zu aͤußern. Es iſt wirklich
gut, daß Sie mich in Ihrem neulichen Briefe
auf alles aufmerkſam gemacht haben. Warum
ſollen wir denn nicht auf unſre eigne Hand
vernuͤnftig ſeyn duͤrfen, und immer nur auf die
Beſtaͤtigung dieſes Andrea warten? Darf er
denn nur unſerm Kopfe das Privilegium er-
theilen, zu denken? — Ich koͤnnte es niemals
uͤber's Herz bringen, irgend einen Menſchen auf
eine aͤhnliche Art zu beherrſchen; ich wuͤrde
mich vor mir ſelber ſchaͤmen.


Hat denn nicht jede Schule und jede Sekte
etwas ſehr Veraͤchtliches? Muß jeder Stifter
und jedes Oberhaupt einem Baͤrenfuͤhrer glei-
M 2
[180] chen, der ſeine Untergebenen zu gewiſſen Kuͤn-
ſten abrichtet, die ſie nach ſeinem Belieben
wiederholen? Warum ſoll ich nun nicht ſo den-
ken duͤrfen, wie mir der Kopf gewachſen iſt? —


Ich habe an Roſa geſchrieben und ich bin
auf die Antwort begierig. —


[181]

7.
Roſa an Francesko.



Sie haben mir durch Ihren Brief ſehr weh
gethan, lieber Francesko. Soll ich Ihnen ſa-
gen, daß Sie Recht haben, ſoll ich den Ver-
ſuch machen, Ihnen das Gegentheil zu beweiſen?
Beides wag' ich nicht. Schon ſeit lange bin
ich von allen Seiten mit Irrthuͤmern und Zwei-
feln umgeben; ich kann keinen Schritt vor und
keinen zuruͤck thun, ohne zu ſtraucheln. Wie
glucklich ſind Sie und Adriano, da Sie ſich ſo
ungebunden fuͤhlen, da Sie uͤberzeugt zu ſeyn
glauben!


Sie koͤnnen ſich meine Lage vielleicht gar
nicht vorſtellen. In einer Ungewißheit, daß ich
daruͤber wuͤrfeln moͤchte, wie ich von Andrea
denken ſoll, bald zu einer tiefen Verehrung
hingeriſſen, bald von einem niedrigen Argwohn
angelockt, — mir bewußt, wie ſehr ich gegen
mich ſelbſt geheuchelt und wie viel ich ihm zu
danken habe, — o Francesko, es waͤre um
[182] wahnſinnig zu werden, wenn man dieſen Ge-
danken nachhaͤngen wollte. Was habe ich je
gedacht, was nicht urſpruͤnglich aus Andrea's
Kopfe gekommen waͤre? Ich fuͤhle und bekenne
meine Schwaͤche. Sollte ich ihn aufgeben, ſo
wuͤrde ich mit ihm alles dahin geben, was mich
zuſammenhaͤlt, ich habe ſo vieles gethan, um
ihm nahe zu kommen und alles ſollte nun ver-
geblich ſeyn!


Und dann iſt es unmoͤglich! Ich kann Ih-
nen nicht ſagen, warum, aber glauben Sie
mir, es iſt unmoͤglich. Wenn der Menſch wuͤß-
te, zu welchen Folgen ihn ein ganz gleichguͤltig
ſcheinender Schritt fuͤhren koͤnnte, er wuͤrde es
nicht wagen, den Fuß aus der Stelle zu ſetzen.


Am wenigſten kann ich mir jene Luͤgen
vergeben, die ich mir ſelber vorſagte; in einer
gewiſſen Spannung ſucht man das Wunderbare
und ſtellt ſelbſt das Gewoͤhnliche auf eine ſelt-
ſame Weiſe. Dieſe Uebertreibung druͤckt mein
Herz ſchwer nieder, ob ich gleich nicht ganz
Ihrer Meynung ſeyn kann, daß Andrea nicht
in einem hohen Grade Verehrung verdiene;
wenn wir ihn auch nicht begreifen koͤnnen,
[183] ſo berechtigt uns das noch gar nicht, ihn gaͤnz-
lich zu verwerfen.


Ich habe oft abgeſetzt und war ſehr oft
ungewiß, ob ich den Brief abſchicken ſollte.
Moͤgen Sie ihn indeß nehmen, wie Sie wollen,
bey einem billigdenkenden Manne wird er mich
entſchuldigen.


[184]

8.
Andrea Coſimo an Roſa.



Alle meine Freunde ſcheinen mir jetzt fremd zu
werden. Adriano iſt nach Florenz gereiſt und
koͤmmt nicht zuruͤck, den wohlbeleibten Fran-
cesko habe ich ſchon ſeit einer Woche nicht ge-
ſehn, und auch Du laͤſſeſt nichts von Dir hoͤren.
Es ſcheint, als waͤre ich euch allen zu alltaͤglich
geworden und als muͤßtet ihr mich eine Weile
ungenuͤtzt liegen laſſen, um mich neu und un-
terhaltend zu finden. Es iſt mir neu, daß man
auf die Art ein Spiel aus mir macht, das nur
als Seltenheit beluſtigen kann und oft wieder-
holt ſchaal und ermuͤdend wird. — Wie ver-
aͤchtlich ſind jene Menſchen, die ſich aus kindi-
ſcher Furchtſamkeit von mir entfernen, weil
vielleicht manches, was ich ihnen ſagte, eine
gewiſſe Bloͤdigkeit in ihrem Innern verurſachte,
daß ſie ſich ſelbſt als Raͤthſel, oder als bejam-
mernswuͤrdige Maſchinen vorkamen. Sie ziehn
als Knechte an dem Joche ihrer Vorurtheile
[185] und Irrthuͤmer, ſie ſind die erniedrigten Laſt-
thiere beſtandloſer Traͤume, die ſie aͤngſtigen
duͤrfen, weil ſie nicht wagen die Augen aufzu-
thun und zu erwachen. Moͤgen ſie denn in ih-
rem Schlummer liegen bleiben und die wirkliche
Welt und ſich ſelbſt nie kennen lernen.


Aber warum habe ich Dich ſeit ſo langer
Zeit nicht geſehen, warum haſt Du mir nicht
geſchrieben? Gehoͤrſt Du etwa auch zu jenen
Menſchen, die einen Gedanken nicht zu denken
wagen, weil er ihre bequeme Verdauung ſtoͤrt?
Iſt das Eure Freundſchaft und Eure Seelen-
ſtaͤrke? Willſt Du den elenden Lovell nachah-
men, der nicht weiß, was er denken und was
er empfinden ſoll? Der uͤber die Erde in ſeiner
Einfalt geht, ſich in Dornen ritzt und meynet,
unterirdiſche Rieſen ſtaͤchen nach ihm mit ge-
waltigen Speeren? Der ſich uͤber Vorfaͤlle ent-
ſetzt, mit denen Kinder ſchon vertraut ſeyn ſoll-
ten? Habe ich mich darum aus dem großen
Haufen der Menſchen zuruͤckgezogen, um unter
den ausgewaͤhlten Freunden dieſelbe veraͤcht-
liche Brut anzutreffen, der ich entrinnen
wollte?


Noch an dem Graͤnzſteine meines Lebens
[186] treffe ich die Uebertellgung an, daß jenes menſch-
liche Gepraͤge in jedem Bilde ſteht, das wir
antreffen; ſo verſchiedenartig es auch ſcheint,
ſo iſt es doch nur ein Stempel.


Wenn Du aber ſo ſehr von Deiner Wahr-
heit uͤberzeugt biſt, ſo mache den Verſuch, mich
zu widerlegen. Biete alle Deine Seelenkraͤfte
auf, um mich aus dem Felde zu ſchlagen, das
ich bis jetzt behauptet habe Welchen Gedan-
ken haſt Du je ausgeſprochen, den ich Dir
nicht geliehen habe? Wer anders als ich hat
Dich aus einer kuͤmmerlichen Exiſtenz heraus-
gehoben und Dich mit dem Leben bekannt ge-
macht? Was waͤrſt Du ohne mich und was
wuͤrde aus Dir werden, wenn ich Dich jetzt
ploͤtzlich wieder fallen ließe?


Moͤgt Ihr doch alle zu Eurer Sklaverey
wieder zuruͤckkehren, da Ihr mit der Freyheit
nicht umzugehen wißt! Ihr liebt die Feſſeln
und euren Block, an den ihr geſchloſſen ſeyd,
um nur nicht in die Gefahr zu gerathen, in
der Irre zu gehn. Ich brauche euch nicht; ich
habe nichts weiter von euch gelernt, als daß
ich meinen Irrthum einſehe, daß ich euch noch
fuͤr etwas beſſer hielt, als ihr wirklich ſeid. —


[187]

9.
Roſa an Andrea Coſimo.



Du irrſt, Andrea, wenn Du mein Stillſchwei-
gen fuͤr etwas mehr als eine gewoͤhnliche Nach-
laͤſſigkeit in der Freundſchaft haͤltſt. Wie koͤnn-
te ich es je vergeſſen, was Du mir warſt, ſeit
ich Dich kennen lernte? Wie kannſt Du von
mir glauben, daß jene Menſchen mehr als Du
auf mich wuͤrken koͤnnten? Ich muͤßte alles
vergeſſen, was ich je gedacht und von Dir ge-
lernt habe. — Wie Schulknaben kommen ſie
mir vor, die ihrem Meiſter entlaufen wollen.
Sie dachten damals nur, um Dir einen Gefallen
zu erzeigen, nicht um ſich ſelbſt wohl zu thun;
ihr Magen liegt ihnen jetzt naͤher am Herzen
als der Kopf, ſie kehren unter den großen Hau-
fen ihrer Bruͤder zuruͤck, und bitten jeden, den
ſie auf dem Kaffeehauſe treffen, in Gedanken
um Verzeihung, daß ſie irgend einmal haben
kluͤger ſeyn wollen als er. Sie gehn nun und
graſen auf der duͤrren Gemeinweide des Wiſ-
[188] ſens und Denkens, ſie ſchonen ihrer Seele und
ihrer neuen Kleider, um ſie nicht zu fruͤh abzu-
tragen und auf die Feſttage nichts uͤbrig zu be-
halten. — O mir ekelt, wenn ich mir ihren
Zuſtand recht lebhaft vorſtelle; ſie kommen mir
vor, wie Knaben, die auf einem Karouſſel nach
Ringen ſtechen, und wenn ſie einen erwiſchen,
ſich nach Beifall umſehn und Wunder! meynen
was ſie erobert haben. — Nein, Andrea, zu
dieſen wird ſich Roſa nie geſellen koͤnnen, und
wenn er es auch noch weniger verdiente, Dein
Freund zu ſeyn. — Aber Du biſt ſeit einiger
Zeit unwillig auf mich. — Was kann ich fuͤr
Lovell? —


Ich mache mich eben fertig, um nach Rom
zu reiſen. Ich will Dir zeigen, wie ſehr ich
Dich liebe, wie ſehr ich Dich verehre und auf
welche Art Du mir Unrecht gethan haſt.


[189]

10.
Roſa an Francesko.



Ich ſchrieb Ihnen neulich in der Eil, um nur
Ihren Brief zu beantworten, aber jetzt habe
ich der Sache reiflicher nachgedacht, und ich
ſchreibe Ihnen jetzt, um Ihnen meine ernſtliche
Meinung zu ſagen.


Ihr Argwohn und Ihre Beſorgniſſe hatten
mich auf einige Tage angeſteckt, denn es macht
eine große Veraͤnderung in unſerm Gemuͤthe,
wenn man uns einen bekannten und geliebten
Freund ploͤtzlich in einer andern Geſtalt darzu-
ſtellen ſucht. Was ſind aber alle jene Beſorg-
niſſe, die Sie in Ihrem Briefe aͤußerten, wenn
man ſie genauer betrachtet? Vieles iſt in der
Welt nur Redensart, wenn man es unterſucht,
was ausgeſprochen ſehr wichtig klingt; und dies
iſt, wie ich glaube, auch hier der Fall. — Sie
fragen: wozu koͤnnen nicht Andrea's Behauptun-
gen fuͤhren? — Ich glaube, daß man ſo etwas
niemals fragen muͤſſe: denn es kann doch nichts
[190] ſchlimmers daraus entſtehn, als daß dieſe Nei-
gung zum Forſchen, dieſer Trieb nach dem Un-
endlichen, ja dieſe Furcht vor uns ſelber ſchon
in uns iſt. Was kann von außen zu meiner
Seele hinzukommen; und wie klein heißt das
von mir ſelber denken, daß eine Gedankenreihe,
ein Mechanismus meines Gehirns, mich ver-
derben koͤnne? Es iſt die Furcht der Kinder,
die ſich ſcheuen, den Namen Satans auszuſpre-
chen, weil er ihnen unmittelbar darauf erſchei-
nen koͤnnte. Man bekaͤmpfe Gedanken durch
Gedanken und ſehe dann, welche als Sieger zu-
ruͤckbleiben.


Ich komme jetzt nach Rom, aber ich bitte
Sie, nicht weiter mit mir daruͤber zu ſprechen,
denn ich werde immer dieſer Meinung bleiben. —


[191]

11.
William Lovell an Roſa.



Ich bin auf der Ruͤckreiſe nach Italien, ich
ſchreibe Ihnen dieſen Brief aus Paris. — Hier
befinde ich mich beſſer, als auf der Reiſe hie-
her; wenn man die Menſchen in einem dicht
gedraͤngten Gewuͤhle ſieht, ſo ſind ſie weit er-
traͤglicher, aber in armſeeligen Doͤrfern oder
kleinen Staͤdten, in der Einſamkeit mit einigen
von ihnen zuſammengebannt, — o eine ſolche
Sklaverei macht jedesmal einen ſchrecklichen
Eindruck auf mein Herz. Man ſieht ſie dann
ſo einzeln und abgeriſſen, und jede Armſeelig-
keit an ihnen erſcheint dann vergroͤßert. Wie
ſie alles nur auf ſich, einzig auf ſich beziehn!
Wie der armſeeligſte Bauer meynt, daß man
ihm ſein Haus und ſeinen wuͤſten Garten be-
neide, — wie jeder von der Narrheit und von
den Schwaͤchen des andern ſpricht, ihn muſtert
und ſich ſo unendlich uͤber ihm erhaben fuͤhlt!
— Wie keiner daran denkt, daß er einſt mit
[192] den Wuͤrmern und den wilden Blumen des
Kirchhofs verwandt werden wird, — ach! wie
ſie den ekelhaften Koͤrper, jeglicher auf ſeine
eigene Art, ausputzen und verherrlichen! — O,
ich moͤchte gar nicht daran denken, wenn ſich
mir dieſe Gedanken nicht unaufhoͤrlich auf-
draͤngten.


Hier in den betaͤubenden Zirkeln, in denen
ſich alle Maſchinen auf die lebendigſte Weiſe
bewegen, und jeder den andern durch witzige
Einfaͤlle, oder durch Reichthum, oder Gluͤck,
oder Schoͤnheit verdraͤngt, hier in dieſen bunten
abwechſelnden Scenen iſt mir um vieles beſſer.
Man ruͤhrt ſich mit unter den beweglichen Pup-
pen, man lacht, trinkt und ſpielt, und vergißt
dabey, daß man ein Menſch iſt; eben je mehr
man unter ihnen iſt, je mehr vergißt man, daß
man zu ihnen gehoͤrt.


Ich ſpiele viel und ich habe bei weitem
nicht ſo viel Gluͤck, als in England. — Ta-
deln Sie mich nicht, denn iſt nicht alles, was
wir Genuß der Seele nennen, etwas das dar-
auf hinauslaͤuft? Ob ich mit Worten, oder
Karten, Definitionen, Wuͤrfeln oder Verſen
ſpiele, gilt das nicht alles gleich? — An die
Karten
[193] Karten und ihre wunderbaren, unerwarteten
Abwechſelungen kann man alle Empfindungen
knuͤpfen; das Gluͤck ſteigt und faͤllt, wie Ebbe
und Fluth, mit jedem Spiele beginnt ein neues
Schickſal und unſer Innres bewegt ſich harmo-
niſch mit den Abwechſelungen der bunten Bil-
der. Die Seele intereſſirt ſich fuͤr dieſe gefaͤrb-
ten Zeichen und wird vertraut mit ihnen, und
das Leben bleibt in einem unaufhoͤrlichen mun-
tern Schwunge, die Leidenſchaften ſinken nie
unter, Freude und Schreck wechſeln und jagen
immer ſchneller und ſchneller das Blut durch
die Adern, — was koͤmmt gegen dieſe Empfin-
dungen das unbeholfene Geld in Rechnung,
das man zuweilen verliert? Jeder Menſch
braucht eine Erſchuͤtterung, der eine ſucht ſie
im Theater, der andere in irgend einem Ste-
ckenpferde, dem er ſich mit der innigſten Liebe
hingiebt; ein andrer macht Plane, ein vierter
iſt verliebt, — das Spiel erſetzt mir alles, es
entfernt mich vom Bewußtſeyn meiner ſelbſt
und taucht mich in dunkle Gefuͤhle und wunder-
bare Traͤumereyen unter. Es iſt oft, als kaͤme
man dem eigenſinnigen Gange des Zufalls auf
die Spur, als ahndete man die Regel, nach
Lovell. 3r Bd. N
[194] der ſich die durch einander gezogenen Kreiſe
bewegen.


Auf der Fahrt von Southampton nach
Guernſey hatten wir einen heftigen Sturm.
Der Blitz zerſplitterte den einen Maſt und die
Wogen donnerten und brauſten fuͤrchterlich.
Wir alle kaͤmpften mit der Furcht des Todes
und dicke Nacht lag um uns her. Die Winde
ſtrichen pfeifend uͤber das empoͤrte einſame
Meer hin, und beim Leuchten des Blitzes ſahn
wir den Aufruhr der Fluth; das Geſchrey der
Matroſen dazwiſchen, das Wehklagen der Ge-
aͤngſtigten, — o es waren fuͤrchterliche Stun-
den! Nie hab' ich mich ſo verlaſſen gefuͤhlt
und dem blinden Ohngefaͤhr ſo gaͤnzlich Preis
gegeben. Mit der Kaͤlte der Verzweiflung er-
wartete ich rieſengroße Wogen, die das Schiff
verſchlaͤngen, krachende Blitze, die es zerſchmet-
terten, den Orkan, der es auf eine Klippe
ſchleuderte. Eine fremde, bis dahin unbekannte
Gewalt, die Liebe zum Leben, der Inſtinkt alles
Lebendigen ſtand in meiner Bruſt auf [und] be-
herrſchte mich und mein Bewußtſeyn. Ich
lernte zum erſtenmale die Furcht, die Angſt vor
dem Tode kennen; ich klammerte mich an den
[195] Maſt ſo feſt, als wenn ich das Schiff durch
meine eigne Kraft uͤber den Fluthen empor hal-
ten wollte. Ich wuͤnſchte nur zu leben, und
vergaß jedes andere Gluͤck und Elend der Erde;
der Tod war mir jetzt ein graͤßliches, rieſen-
maͤßiges Ungeheuer, das ſeine Hand kalt und
unerbittlich nach mir ausſtreckte; von allen Sei-
ten hatten mich ſeine Waͤchter eingeſperrt und
das Entrinnen war unmoͤglich! Wie lieb ge-
wann ich in dieſen Augenblicken den Arm, der
mich an den gefuͤhlloſen Maſt kettete, wie ſehr
liebt' ich mich ſelbſt! —


Das Wetter ward endlich ruhiger und alle
erwachten wie aus einem ſchweren Traume,
das Land, das wir erreichten, kam uns ſo neu
und doch wie ein alter Freund vor. —


Ich mag nicht noch eine ſolche Stunde er-
leben, und wie leicht iſt es moͤglich, daß ſie
mich ploͤtzlich uͤberraſcht. — Ach, noch weit
entſetzlicher iſt das einſame Krankenbette, in
das der Tod nach und nach mit hineinkriecht,
ſich mit uns unter einer Decke verbirgt und ſo
vertraulich thut. — Ich entſetze mich in man-
chen Stunden davor, daß ich irgend einmal
ſterben muß; man denkt daran nur ſo ſelten
N 2
[196] ernſthaft, und doch iſt es wahr. Wie zittert
der Suͤnder vor dem Tage ſeiner Hinrichtung
— und kann einer von uns dieſem Schickſale
entgehn? — Ach, das Leben iſt veraͤchtlich und
fuͤrchterlich, aber der Tod iſt entſetzlich und
abſcheulich; der arme, geaͤngſtigte Menſch ſteht
in der Mitte und weiß nicht, wonach er grei-
fen ſoll. — Wie kaltbluͤtig uns die Dichter
immer Sterbliche! anreden, und wie wenig
wir ſelbſt meiſtentheils dabey empfinden!


[197]

12.
Eduard Burton an Mortimer.



Wie geht es Ihnen, lieber Mortimer? Ich
habe lange keine Nachrichten von Ihnen bekom-
men. — Der alte Sir Ralph mit ſeiner Toch-
ter, von denen Sie mir jetzt ſchreiben, wohnt
jetzt in meiner Gegend, und er ſcheint ſich in
ſeinem einſamen Hauſe recht wohl zu befinden.
— Es iſt eine Erquickung meines Herzens, es
iſt eine Schuld, die ich abbezahle, wenn ich
dieſen Leuten wohl thue. Ich beſuche ſie oft,
und ich muß Ihnen geſtehn, daß ihr Umgang
mich faſt am meiſten getroͤſtet hat.


Der alte Mann, der gut erzogen war, und
nun am Rande des Grabes in die ſchrecklichſte
Armuth verſinkt, halb blind, mit allen Bequem-
lichkeiten des Lebens vertraut, und nun ploͤtz-
lich von allem entbloͤßt, der gern ein Stricker
ſeyn moͤchte, wenn er nur koͤnnte, der ſein
Elend ſo innig fuͤhlt und ſich doch, ſo ſehr er
Huͤlfe wuͤnſcht, davon zu ſprechen ſchaͤmt: er
[198] iſt mir nach und nach ſo intereſſant geworden,
daß es mir vorkoͤmmt, als fehle mir irgend et-
was, wenn ich ihn an einem Tage nicht ge-
ſehn habe.


Seine Tochter iſt ein reizendes Bild der
Unſchuld, ohne alle Praͤtenſion und voller
Schaam. Sie wundert ſich uͤber Gluͤck und
Ungluͤck gleich wenig in der Welt, und nicht
aus Standhaftigkeit, ſondern weil ſie ſo unbe-
fangen iſt, daß ſie glaubt, es muß ſo ſeyn.
Sie iſt ein erwachſenes Kind, das mit allen
Gegenſtaͤnden ſpielt, die es erreichen kann. —
O wohl dir, gluͤckliches Weſen! Wie bunt und
luftig ſieht dir ſelbſt in deinem Elende die
Welt aus, du gehſt mit neugierigem Auge hin-
durch, und betrachteſt eifrig jede Nichtswuͤr-
digkeit als etwas ſehr Merkwuͤrdiges. — Sie ge-
nießt das Leben wie man ſonſt nur ein Kunſt-
werk genießt, es iſt ihr ein großer Jahrmarkt,
mit nett ausgeputzten Seltenheiten. —


Ach ich denke an Emilien zuruͤck. Alle
meine Sorgen, alle ſchlafloſen Naͤchte fallen
mir ein, wenn ich ein liebenswuͤrdiges Geſicht
ſehe. Wo ich mich freuen will, tritt mir eine
ſchwarze Erinnerung entgegen, und wenn ich
[199] mich zuweilen vergeſſe, ſo mache ich mir nach-
her uͤber meinen Leichtſinn nur deſto ſchmerz-
haftere Vorwuͤrfe. Als nun ihr Rauſch nach
und nach entfloh, was muß Sie da gelitten
haben! als ſie ſich die Entdeckungen in dem
Innern ihrer Seele geſtand und alles wie nich-
tiges ſchaales Spielzeug da lag, das ſie in der
Entfernung immer mit ſo vieler Ehrerbietung
betrachtet hatte. Ihre hohe Empfindung hatte
ſie fuͤr etwas Einziges gehalten, ſie hatte un-
vollendete ſchoͤne Eigenſchaften darinn geahn-
det und ſich ſelbſt als ein Weſen betrachtet,
das mit ſeinen großen und mannigfaltigen Faͤ-
higkeiten unbekannt ſey. Dies iſt der gefaͤhr-
lichſte Stolz im Menſchen, er macht ihn frech
und zuverſichtlich auf Gaben, die er nicht be-
ſitzt, und ungluͤcklich, wenn die Seele endlich
ſelbſt jene eingebildeten Schwingen verſuchen
will. — Wenn das Sterben ein Erwachen
vom Leben iſt, ſo war ſie ſchon vor dem Tode
auf eine aͤhnliche Art erwacht, das beweißt ihr
letzter Brief. Sie muß es innig gefuͤhlt haben,
daß ſie nur getraͤumt und nicht gelebt habe;
wie muß ſie erſchrocken geweſen ſeyn, als ſie
[200] ſich beim Erwachen an einem ſo fernen und
fremden Orte wiederfand?


Ach Emilie! Dein Name toͤnt in meinen
Ohren ſo ſuͤß, meine ganze Kindheit liegt in
dem Laute. — Ich ſchwaͤrme oft und bilde
mir ein, daß ſie mich hoͤrt, daß ſie es ſieht,
wenn ich ihre Papiere kuͤſſe und mit meinen
Thraͤnen benetze. — Ich habe aus dem Ge-
daͤchtniß ihr Bildniß gezeichnet, und es iſt,
nach meiner Meinung, ſehr aͤhnlich, bey jedem
Zuge, der mir gelang, entſtuͤrzten Thraͤnen-
ſtroͤme meinen Augen, es war als wenn ſie
ſelbſt ploͤtzlich wieder aus dem Papiere hervor-
brechen wuͤrde, und mir ſagen, alles, alles ſey
nur eine unnuͤtze Angſt geweſen, daß ſie mir
dann, wie in der Kindheit, den Kopf herum-
drehen wuͤrde, und ich muͤßte dann uͤber den
grauſamen Schelmſtreich lachen. — Ach! Mor-
timer, wir ſind und bleiben immer Kinder,
wir ſchaͤmen uns nur am Ende unſers Spiel-
zeugs.


Was mich in meinen Schmerzen am mei-
ſten niederſchlug, war, daß die Natur und alle
Gegenſtaͤnde umher ſo kalt und empfindungslos
ſchienen. In mir ſelbſt war der Mittelpunkt
[201] aller Empfindungen, und je mehr ich aus mir
hinausging, je weiter lagen die Empfindungen
auseinander, die in meinem Herzen dicht neben
einander wohnten. — Aus dieſer Urſache fuͤhlt
ſich der Ungluͤckliche in der Welt unter allen
Geſchoͤpfen ſo fremd, denn man nimmt auf ſei-
nen Schmerz nie Ruͤckſicht genug, man achtet
ihn nie ſo, wie er es wuͤnſcht. — Die Menſchen,
die mich umgaben, trockneten bald ihre Augen,
andre hatten nie geweint, noch entferntere
Emilien nie gekannt. — Ich ſchalt auf alle und
war ungerecht. Dieſes mannichfaltige und wi-
derſprechende Intereſſe der großen Menſchheit
ſollte uns im Gegentheile im Ungluͤcke troͤſten,
denn dadurch wird unſer Egoismus bekaͤmpft. —


Leben Sie wohl und antworten Sie mir
bald.


[202]

13.
Mortimer an Eduard Burton.



Es iſt im Leben nicht anders, es wechſelt alles
wie Sonne und Mond, wie Licht und Finſter-
niß. Hoffnung und Furcht iſt die Lebenskraft,
die unſer Herz in Bewegung erhaͤlt und in je-
dem Moment der Leidenſchaft ſollten wir ſchon
auf dieſe Abwechslung rechnen. Das Leben iſt
nichts anders, als ein ewiges Laviren zwiſchen
Klippen und Sandbaͤnken, die Freude verdirbt
unſer Herz eben ſo ſehr als die Quaal, und
eine feſte Ruhe und gleichfoͤrmige Heiterkeit iſt
unmoͤglich. Ungluͤck macht menſchenfeindlich,
mißtrauiſch, verſchloſſen, der Menſch wird da-
durch ein finſtrer Egoiſt, und indem er auf
alles reſignirt, hat er den Stolz ſich ſelbſt zu
genuͤgen. Das Gluͤck iſt die Mutter der Eitel-
keit, ſelbſt der Vernuͤnftigſte wird ſich im Stil-
len fuͤr wichtiger halten, als er iſt; Eitelkeit
und Selbſtſucht laſſen den Menſchen vielleicht
nie ganz los, im ewigen Kampfe mit ihnen be-
[203] ſteht am Ende ſein Verdienſt; und ſelbſt, daß
der Menſch irgend etwas Verdienſtliches an
ſich haben will, iſt wieder Eitelkeit. —


Ich ſpreche aus dem Herzen, lieber Bur-
ton. Ich bin noch einer von den kaͤltern Men-
ſchen, und doch bin ich immer mit Wogen ge-
ſtiegen und geſunken. — Wenn ich einmal me-
lankoliſch wuͤrde, ſo koͤnnte ich mit Hamlet
ſagen:
»Ich bin noch keiner der Schlimmſten,
»und doch koͤnnt' ich mich ſolcher Ver-
»brechen anklagen, daß es beſſer waͤre,
»man haͤtte mich nicht geboren.« —

Im Gluͤcke war ich ſtolz und eigenſinnig, beim
kleinſten Ungluͤcke glaubt' ich, daß es mir nur
allein begegne, jedermann hatt' ich dann im
Ver[d]achte, daß er mich verfolge und haſſe, ich
hielt die Menſchen ſogleich fuͤr viel beſſer und
ſchlechter, als ich war; ich uͤbertrieb alles auf
eine kindiſche Art, um mir nur recht ungluͤck-
lich, zuweilen, um mir ſelbſt nur recht ſchlecht
vorzukommen. Ich unterſchied mich von an-
dern nur dadurch, daß ich weniger ſprach und
mich mehr verſtellte, daß ich einige Philoſophe-
me herſagte, die mir immer zu Gebote ſtan-
[204] den und die die Augen der Menſchen verblen-
deten. — Wahrlich, wir ſind am Ende alle
Bruͤder einer Mutter.


Trauen Sie es mir wohl zu, daß ich lange
fuͤr mich glaubte, Lovell habe mein Haus an-
gezuͤndet, weil er mir meinen Frieden beneide?
Ich hatte eben keine Gruͤnde zu dieſem Arg-
wohne, als mein mißtrauiſches Herz. — Aber
ich habe es ihm auch mit dieſem Herzen wieder
abgebeten.


Von welchen Zufaͤlligkeiten hing es nun
vielleicht ab, daß ich nicht wirklich ſchlecht
wurde? — Und wer ſteht mir denn dafuͤr daß
ich am Ende gut bin, wie ich es glaube?


Ach, ich muß die Feder niederlegen, denn
iſt nicht auch das, daß ich ſo uͤber mich ſpreche,
wieder Eitelkeit? — Es giebt gewiſſe Gedanken,
die man zu den Curioſitaͤten der Seele rech-
nen ſollte. — Ich moͤchte dieſe Idee gerne
weiter ausſpinnen, denn ich habe eine Ahn-
dung, daß noch mehrere Gedanken in ihr lie-
gen, aber mein Kopf verſagt mir ſeine Dienſte:
in dieſer chaotiſchen Dunſtkugel koͤmmt nur
ſelten die Geſtalt zum Vorſcheine, die man
zitirt. —


[205]

Ich bete alle Naͤchte fuͤr Amaliens Nieder-
kunft — und es iſt nicht wieder die Hoffnung,
die mir dieſe Laune giebt, die vielleicht unbarm-
herzig genug gegen ihre Melankolie anrennt? —
Aber verzeihen Sie mir und dem Menſchen,
und leben Sie wohl.


[206]

14.
Eduard Burton an Mortimer.



Ihr Brief hat mich nicht beleidigt, ſondern
getroͤſtet. Warum verſtand ich jenen, der mich
zuerſt gegen Lovell aufbrachte, nicht eben ſo gut?
Bin ich denn nicht aller derſelben Schwaͤchen
ſchuldig, ach! und noch vielen andern. — Eben
unſer Herz, das uns von innen veredelt und
beſſert, indem Empfindungen auf und nieder-
ſteigen, um es zu erwaͤrmen und zu reinigen,
eben dies bewegt uns am Ende wieder, dieſe
Empfindungen fuͤr ganz etwas Einziges zu hal-
ten, ſie viel zu hoch uns ſelber anzurechnen,
und dadurch eine Scheidemauer zwiſchen uns
und die uͤbrigen Menſchen zu ziehn. In Lo-
vell's Bekenntniſſen finde ich jetzt mich ſelbſt
wieder, nur daß er uͤbertreibt, wie denn alles
uͤbertrieben iſt, was man abſondert, um es
einzeln hinzuſtellen, damit es andre faſſen und
[207] begreifen. Unſer Sprechen beſteht darinn, daß
wir ganze Haufen von Ideen als Eine Idee
hinſtellen, wir nehmen die Phantaſie zu Huͤlfe,
um der fremden Seele zu erlaͤutern, was uns
ſelbſt nur halb deutlich iſt; und auf dieſe Art
entſtehn Gemaͤhlde, die dem kaͤlteren Geiſte,
der nicht geſpannt iſt, Mißgeburten ſcheinen.
Es iſt ein Fluch, der auf der Sprache des
Menſchen liegt, daß keiner den andern verſtehen
kann, und dies iſt die Quelle alles Haders
und aller Verfolgung; die Sprache iſt ein toͤdt-
liches Werkzeug, das uns wie unvorſichtigen
Kindern gegeben iſt, um einer den andern zu
verletzen. — Ach, habe ich nicht dadurch Lo-
vell und Emilien verlohren?


Vielleicht verſtehn Sie mich auch nicht
ganz, denn Ihr Brief hat mich in eine gewiſſe
Erhitzung verſetzt, in der mir dieſe Ideen ſehr
gelaͤufig ſind.


Ich ſehe Ralph und ſeine Tochter taͤglich.
Sie iſt in ihrer Unſchuld verehrungswuͤrdig,
und dieſe Menſchen ſoͤhnen mich nach und nach
mit der Welt und ihren Bewohnern wieder
[208] aus. — Ich wuͤnſche Sie bald als einen gluͤck-
lichen Vater begruͤßen zu koͤnnen. Es iſt
doch recht erfreulich, wenn jeder die kleine
Stelle, auf der er ſteht, fuͤr die vornehmſte
auf der Erde haͤlt.


15.
[209]

15.
Mortimer an Eduard Burton.



Es iſt endlich entſchieden, lieber Freund,
Amalie iſt außer Gefahr, und ich bin der Va-
ter eines jungen hoffnungsvollen Sohnes. Man
kann nicht in die Zukunft ſehn, ſonſt wuͤrde ich
mich vielleicht noch mehr freuen, als es ge-
ſchieht; Amalie iſt ſehr gluͤcklich.


Ob denn auch bey mir jene Eitelkeit ein-
treten wird, die mir an andern Vaͤtern oft ſo
ſehr mißfallen hat? Man kann freilich fuͤr
nichts ſtehn, am wenigſten fuͤr irgend eine
menſchliche Schwaͤche, allein ich glaube es doch
nicht. Ich habe ſchon ſehr genau auf mich Acht
gegeben, aber ich muß Ihnen geſtehn, daß mir
das Schreyen meines Kindes eben ſo unharmo-
niſch vorkoͤmmt, als das aller uͤbrigen, daß ich
es nicht ſchoͤn finde, ſo wie es bis jetzt iſt, daß
ich auch noch keinen Funken von Verſtand oder
Genie an ihm entdeckt habe; ich habe Vaͤter
gekannt, die darinn unendlich ſcharfſichtiger
Lovell. 3r Bd. O
[210] waren, als ich, die es uͤbel nahmen, wenn ſich
jemand beym Gekreiſch ihres Sohnes die Ohren
zuhielt, oder meynte, daß er die Fragen, die
man an ihn that, wohl noch nicht verſtehn
moͤchte. Es giebt nichts Widrigers, als das
Geziere der Eltern mit ihren Kindern, die be-
wundert werden, wenn ſie den Mund oder die
Augen aufthun.


Ich bin nicht ſo luſtig, als es neue Vaͤter
gewoͤhnlich zu ſeyn pflegen; der Anblick des
Kindes macht mich ſehr ernſthaft. Kann ich
wiſſen, von welchen Zufaͤlligkeiten, die ſchon
jetzt eintreten und die ich nicht einmal bemerke,
ſein kuͤnftiges Schickſal abhaͤngt? Die ganze
unendliche Schaar der Gefuͤhle und Erfahrun-
gen wartet auf ihn, um ihn nach und nach in
Empfang zu nehmen. Gluͤck und Ungluͤck wech-
ſelt, er wird in alle Thorheiten eingeweiht und
glaubt ſich in jeder verſtaͤndig. So treibt er
den Strom des Lebens hinunter, um endlich
wieder, wie wir alle, unterzugehn.


Wenn ich lange uͤber ſo etwas nachdenke,
koͤmmt mir das Leben, ſelbſt bey meiner gluͤck-
lichen Situation, unangenehm vor. Es kann
auch nicht das letzte und hoͤchſte ſeyn, da wir
[211] ſo oft das Leere und Unzuſammenhaͤngende dar-
inn empfinden. Jedesmal, wenn wir ernſthaft
werden, ohne zu wiſſen warum, erinnern wir
uns vielleicht dunkel eines beſſeren ehemaligen
Zuſtandes. Dem Schwaͤrmer iſt es vielleicht
gegoͤnnt, dieſe fluͤchtigen Erinnerungen feſtzu-
halten, und er entfernt ſich daher mit jedem
Tage mehr vom gewoͤhnlichen Leben.


Auf dieſem Wege koͤnnte man aber auf
eine recht vernuͤnftige Art verruͤckt werden, und
dieſer Zuſtand mag nun in ſich ſelbſt ſo vor-
treflich ſeyn, als er will, ſo ſieht er doch in
der Entfernung zu abſchreckend aus, als daß ich
ihm ſollte naͤher kommen.


Leben Sie recht wohl und ſchreiben Sie
mir bald einen recht heitern Brief.


O 2
[212]

16.
Adriano an Francesko.



Jetzt zeigen ſich die Folgen, lieber Francesko,
von Andrea's Groll. Er muß auch hier viele
Freunde haben, die ſeinem Winke gehorchen,
denn ganz gegen alle Erwartung habe ich die
Rathsſtelle nicht bekommen, um die ich mich
bewarb. Alle Wahrſcheinlichkeiten waren fuͤr
mich, denn die meiſten Leute, die Einfluß haben
konnten, waren meine Freunde oder Verwand-
ten, und dennoch fiel ich durch. Es iſt am kluͤg-
ſten, wenn ich mich nicht ſehr dieſes mißlunge-
nen Verſuchs wegen kuͤmmere; ich werde jetzt
mit meinen Eltern auf einem Landhauſe in der
Naͤhe der Stadt leben. Im Grunde iſt mir
eine Wohlthat geſchehn, denn ich habe nun
alle Zeit fuͤr mich, und habe nicht noͤthig, mich
mit unangenehmen Geſchaͤften zu quaͤlen. Nur
meinem Vater thut es leid, der mich gern in
Thaͤtigkeit ſehn moͤchte, und weil er daruͤber ver-
drußlich iſt, bin ich es auch. —


[213]

17.
Francesko an Adriano.



Danken Sie doch Gott, daß Sie durchgefal-
len ſind, lieber Freund; Sie wiſſen Ihr Gluͤck
gar nicht zu ſchaͤtzen, wenn Sie nur irgend be-
truͤbt daruͤber ſind. Ich erſchrecke immer, wenn
ich nur das Wort, Geſchaͤfte, nennen hoͤre.
Sie ſind gewiß noch nie in Geſchaͤften geweſen,
daß Sie eine Sehnſucht darnach fuͤhlen, oder
ſie irgend jemand zu Gefallen uͤbernehmen wol-
len. Ich war ſonſt einmal eingeſpannt, und da
kann ich aus der Erfahrung ſprechen. Lieber
Freund, es giebt gar nichts ſo Fuͤrchterliches,
als wenn man irgend etwas zu thun bat; da
ſitzt man denn in ſeinem Stuhle, die Geſchaͤfte
vor einem hoch aufgepackt, und je laͤnger man
ſich beſinnt, je hoͤher werden ſie: dann ſoll man
ausgehn und allerhand beſorgen, und man bliebe
lieber zu Hauſe; ein andermal muß man zu
Hauſe bleiben, und man ginge bey dem ſchoͤnen
Wetter lieber ſpatzieren. — Nein, lieber Freund,
[214] glauben Sie mir, wenn ich ein Dichter waͤre,
mein erſtes Gedicht waͤre ein Lob der Faul-
heit; aber ich lobe ſie dadurch vielleicht am
beſten, daß ich keine Verſe auf ſie mache.


Wenn Andrea uns jetzt zu verfolgen ſucht,
ſo muͤſſen wir uns entweder gar nicht darum
kuͤmmern, oder gleiches mit gleichem zu vergel-
ten trachten: aber das erſte iſt bey weitem be-
quemer, und darum finde ich dies Mittel auch
vorzuͤglicher. Ich wuͤnſche nichts ſo ſehr, als
daß er mich in Ruhe laſſe, ich will ihm gewiß
nicht zur Laſt fallen.


[215]

18.
Roſa an Adriano.



Sie kommen alſo wirklich nicht zu uns zuruͤck?
Wir alle ſprechen unaufhoͤrlich von Ihnen, wir
alle wuͤnſchen Sie wieder in unſre Geſellſchaft.
Ich habe gehoͤrt, daß Sie in Florenz Verdruͤß-
lichkeiten haben, Sie ſollten daher wieder nach
Rom kommen, um ſich zu zerſtreuen, Andrea
findet gewiß Mittel Sie zu troͤſten. Wer ei-
genſinnig war, Adriano, hat nur noch ſelten
ſeine Abſichten durchgeſetzt, und wenn die Um-
ſtaͤnde ſich nicht nach uns fuͤgen wollen, ſo zeigt
ſich der Menſch eben darinn am vernuͤnftigſten,
daß er ſich nach ihnen fuͤgt: denn was ſoll er
auch ſonſt thun? Jeder Menſch kann und darf
zwar ſeine eigne Meinung haben, und es iſt ge-
wiſſermaßen gut, wenn er es in dieſem Leben
ſo weit gebracht hat, aber ſehr oft iſt es unſre
Pflicht, dieſe Meinung zu verlaͤugnen und auf
eine Zeitlang die Geſinnung eines andern zu
adoptiren. Was iſt es auch fuͤr ein Opfer, das
[216] ich dadurch bringe? Wir ſind oft einem Frenn-
de zu Gefallen zuruͤckhaltend, und ſollten es zu
unſerm eigenen Vortheile nicht ſeyn duͤrfen? —
Sagen Sie mir doch, wo hier das Vernuͤnftige,
oder das Philoſophiſche liegt? Ich bemerke nur
eine kleinliche Eingeſchraͤnktheit, Vorurtheil
ſtatt eines freyeren Sinnes. — Sie haben viel-
leicht jetzt Zeit genug uͤbrig, mir nur mit eini-
gen Zeilen zu antworten. —


[217]

19.
Adriano an Roſa.



Sie irren, Roſa, wenn Sie vielleicht glaub-
ten, daß Ihre Spoͤtterey mich aufbringen wuͤr-
de, noch mehr aber, wenn Sie der Meinung
waren, mich dadurch zu uͤberzeugen. Ich mag
und kann Ihnen hier meine Gruͤnde nicht weit-
laͤuftig auseinander ſetzen, warum ich jetzt noch
nicht nach Rom zuruͤckkehren werde. Ich wuͤnſch-
te durch mein ganzes Leben einen geraden Weg
vor mir zu haben, den ich uͤberſehn kann, von
dem ich weiß, wohin er mich fuͤhrt. Ich mag
lieber nicht weit kommen, als mich auf's Unge-
wiſſe einem unbekannten Fußſteige vertrauen.


Das Gleichniß wird Ihnen vielleicht laͤ-
cherlich duͤnken, — aber mags! Es iſt vielleicht
nothwendig, daß manche Menſchen uns verach-
ten, damit uns andre wieder ſchaͤtzen. — Ich
beſitze freilich nicht jene Faͤhigkeit, jede Mei-
nung ſogleich zu verſtehn und in ihr zu Hauſe
zu ſeyn, ich bin ungelenk genug, manches fuͤr
[218] Unſinn zu halten, weil ich es nicht begreifen
kann, aber verzeihen Sie mir [meine] Schwaͤche
ſo wie ich Ihre Groͤße bewundre. — Ich ſpotte
jetzt nicht, Roſa, ſondern es iſt mein voͤlliger
Ernſt; ich habe uͤber mich ſelbſt nachgedacht
und gefunden, daß alle meine Schwaͤchen mit
meinen beſſern Seiten zuſammenhaͤngen, wie
es vielleicht bey jedem Menſchen iſt: die ge-
waltſamen Aenderungen ſind auf jeden Fall
immer ein ſehr mißliches Unternehmen, es giebt
keine ſo geſchickte Hand, die mit dem Unkraute
nicht zugleich die guten Pflanzen ausraufte.
Laſſen Sie mich darum lieber ſo, wie ich bin,
Sie moͤchten mich ſonſt ganz verderben.


Auch daß ich dies fuͤrchte, iſt eins von
den Vorurtheilen, die Sie verlachen Aber,
lieber Freund, entkleiden Sie den Menſchen
von allen Vorurtheilen, und ſehn Sie dann,
was Ihnen uͤbrig bleibt. Genau genommen,
muͤßten wir an allem, und ſelbſt wieder an
den Zweifeln zweifeln, denn jede Meinung iſt
am Ende doch nur Vorurtheil, Sie koͤnnen ſich
fuͤr keine verbuͤrgen Die Sucht, ganz als
freyer Menſch zu handeln, fuͤhrt am Ende wie-
der den ſchlimmſten Vorurtheilen, oder dem
[219] Wahnſinne entgegen. Ich will lieber manches
glauben, um nur mit mir ſelbſt zur Ruhe zu
kommen. Sagen Sie mir aufrichtig, ob Sie
es ſind, ob es auf Ihrem Wege moͤglich iſt?


Doch laſſen Sie mich lieber die ganze Un-
terſuchung abbrechen, denn ſie fuͤhrt doch zu
nichts.


[220]

20.
Roſa an Andrea Coſimo.



Gieb jene elenden Menſchen auf, denn Du
haſt nichts an ihnen verlohren. Sie fuͤrchten
ſich vor ſich ſelbſt und noch mehr vor jeder
fremden Seele; man ſollte wahrlich am Ende
glauben, unſer Geiſt ſey den Geſetzen der Elek-
tricitaͤt unterworfen, ſo wunderbar ſtoßen ſich
manche Verſtandskraͤfte zuruͤck und wollen ſich
unter keinen Bedingungen naͤher kommen. Lies
ſelbſt den einfaͤltigen Brief, den mir Adriano
geſchrieben hat; nach ſeiner Meinung beſtand
der Suͤndenfall unſrer Eltern darinn, daß ſie
ihr erſtes Vorurtheil ablegten. Schon wenn
ich einen Menſchen auf dieſe Art ſprechen hoͤre,
wird es mir in der Seele bange; die Aengſtlich-
keit, mit der ſie gewoͤhnlich Verſtand und
Dummheit, Vorurtheil und Aufklaͤrung abſon-
dern wollen, thut mir immer innerlich weh.
Daß die Thoren nicht fuͤhlen, wie laͤcherlich
ſie werden, indem ſie ſich ſelber ſo wichtig
[221] und ernſthaft vorkommen. Sie ſind der Mit-
telpunkt der Welt, und nachdem ſie ſich fuͤr
dieſe oder jene Meinung erklaͤren, wird die
Weltgeſchichte eine andere Wendung nehmen.
— Ich glaube, Du wirſt dieſen Adriano nie
entbehren.


[222]

21.
Andrea Coſimo an Roſa.



Wenn ich oft das Heer der Sterne betrachte
und mir dabey die Nichtigkeit des ganzen menſch-
lichen Lebens einfaͤllt, ſo moͤcht' ich zuweilen
alle meine Plane und Ideen aufgeben. Allein
die wahre Standhaftigkeit beſteht darinn, auch
von ſeinen eignen Ideen nicht abzuhaͤngen, ſon-
dern ſich ſelbſt wie einen fremdartigen Gegen-
ſtand zu beherrſchen. — Ich habe A [...] auf-
gegeben, er iſt ein Thor, aber Du ein noch
groͤßerer, daß Du meinteſt, ihn durch einen
Brief zuruͤckbringen zu koͤnnen.


[223]

22.
Roſa an Francesko.



Warum hoͤren wir gar keine Neuigkeiten von
unſerm launigen Francesko? Maulen Sie auch
mit mir, ſo wie Ihr ernſthafter Freund
Adriano? Laſſen Sie ihn gehn, denn er weiß
vor lauter Philoſophie nicht, was er thut. —
Haben Sie ſich vielleicht an Andrea geſtoßen,
ſo bedenken Sie auch, daß jedermann ſeine
Freunde zu pruͤfen wuͤnſcht, und daß ſich Ih-
nen bey Gelegenheit alle Zweifel aufklaͤren
werden. Es iſt aber unbillig, um mich keines
haͤrtern Ausdrucks zu bedienen, wenn man
ſchon im Voraus uͤberzeugt iſt; dann helfen
freilich keine Einwendungen. Warum wollen
Sie aber fuͤr eine Sache ſchwoͤren, von der
Sie nicht unterrichtet ſind? Sie thun eben da-
durch das Unrecht, das Sie gerne vermeiden
wollten: dieſe Aengſtlichkeit iſt bey weitem ge-
faͤhrlicher, als eine dreiſte Zuverſicht. —


[224]

23.
Francesko an Roſa.



Sie ſind ſehr guͤtig, daß Sie ſich meiner noch
erinnern — etwas, das ich aus Ihrem neulichen
Briefe nicht ſchließen konnte. Sie ſprechen von
Gefahren, und ſagten doch ſelbſt, daß ſie ſich in ei-
ner Gefahr befaͤnden, die groͤßer iſt, als jede an-
dre, die mich vielleicht einſt treffen kann. Jene
dreiſte Zuverſicht hat mich nun einmal verlaſſen
und ich weiß nun nicht, wie ich ſie wiederbe-
kommen ſoll. Ihr neulicher Brief war auch
eben nicht gar zu zuverſichtlich — ein Beweis,
daß es leichter ſey, einen Rath zu ertheilen,
als ihn zu befolgen. Sie tadeln meine Philo-
ſophie, aber die Ihrige iſt mir viel zu ſpitzfin-
dig, als daß ſie mir bequem ſeyn ſollte, und
ich liebe die Bequemlichkeit ſo ſehr, daß ich ſie
ſogar beym Denken mit in Betrachtung ziehe.


Moͤgen Sie uͤbrigens dieſe Erklaͤrung fuͤr
Scherz nehmen, denn ich glaube ſogar, daß wir
einen viel zu großen Unterſchied zwiſchen Ernſt
und
[225] und Scherz machen. In manchen Stunden
koͤmmt mir nichts auf der Welt ernſthaft vor.
— Ob ich mich in Andrea geirrt habe, weiß
ich nicht: aber in welchem Menſchen irrt man
ſich wohl nicht? Sie irren ſich in mir und ich
wahrſcheinlich in Ihnen. Und warum iſt uns
denn Andrea ſo nothwendig? Koͤnnen wir beyde
nicht auch ohne ihn Freunde ſeyn? Ich ſehe
wenigſtens die Hinderniſſe nicht. — Leben Sie
wohl.


Lovell. 3r. Bd. P
[226]

24.
Bianka an Laura.



Beſuchen Sie mich doch, liebſte Freundinn,
ich habe den ganzen Tag geweint. Der Arzt
hat mir heute Morgen endlich angekuͤndigt, daß
ich die Schwindſucht habe. Ich weiß vor Be-
truͤbniß nicht zu bleiben. — Ich habe gebeich-
tet, allein ich bin nur wenig getroͤſtet; kommen
Sie und heitern Sie mich durch einige luſtige
Erzaͤhlungen auf.


Wen haben Sie denn jetzt zum erklaͤrten
Liebhaber? O erzaͤhlen Sie mir doch von ihm
recht viele Thorheiten, damit mir die Welt nur
wieder etwas luſtig vorkoͤmmt. — Ob denn
die Schwindſucht immer ſo gefaͤhrlich ſeyn mag,
als man ſagt? — Ach, liebe Freundinn, der
Gedanke an den Tod iſt ſehr bitter — Wenn
Sie nicht kommen, weiß ich nicht, wie ich den
Abend zubringen ſoll. Ich werde dann wieder
weinen und beten. — Aber kommen Sie ja,
ich beſchwoͤre Sie.


[227]

25.
Laura an Bianka.


Ich kann Sie heute unmoͤglich beſuchen, aber
morgen. Alle unſre Bekanntſchaften haben mich
verlaſſen und ich habe eine Zeitlang recht ein-
ſam gelebt; aber ſeit geſtern habe ich wieder
einen guten Freund angetroffen. — Mit Ihrer
Krankheit wird es mit der Zeit wohl beſſer
werden, Sie muͤſſen nur nicht die Hoffnung
verlieren, denn die Hoffnung iſt die beſte Arz-
ney. — Wenn Sie aber wirklich die Schwind-
ſucht haͤtten, ſo koͤnnte dieſe Krankheit fuͤr
andre leicht anſteckend ſeyn; wenigſtens ſagt
man es ſo. Aber ich will doch morgen zu Ih-
nen kommen, aber Sie muͤſſen auch huͤbſch hei-
ter und luſtig ſeyn, denn wenn ich jemand ſehe,
der weint, ſo werde ich gleich mit betruͤbt, und
nichts in der Welt faͤllt mir ſo zur Laſt, als
die Betruͤbniß. Man ſollte nie betruͤbt ſeyn,
wenn man es moͤglich machen koͤnnte, es iſt ſo
nicht viel an dieſer Welt, und wir muͤſſen ſie
P 2
[228] uns alſo nicht noch muthwillig verbittern. Der
junge Lovell hat mir ſonſt mit ſeinem ſauren
Geſichte manche boͤſe Stunde gemacht und ich
weiß nicht, warum mir an einem Manne die
Ernſthaftigkeit noch fataler iſt, als an einem
Frauenzimmer. — Schicken Sie mir doch etwas
von Ihrer Schminke, die meinige iſt zu Ende
und ich kann noch keine neue bekommen. Es
iſt doch wirklich unangenehm, daß die Haut
davon ſo gelb wird, ich bemerke das ſeit drey
Wochen: auf jedem Topfe ſteht, daß die
Schminke unſchaͤdlich ſey, und doch iſt es dann
nicht wahr, wenn man es unterſucht. — Was
haben Sie fuͤr einen Arzt? — Armes Kind, ich
kann mir Ihre Betruͤbniß recht denken und Sie
haben auch Urſache dazu; aber Sie muͤſſen ſich
dennoch troͤſten, denn das Klagen und Weinen
macht es doch nur ſchlimmer. Wenn Sie aus-
gehn duͤrfen, ſo kommen Sie heute vor Abend
etwas zu mir.


[229]

26
William Lovell an Roſa.



Ich weiß nicht, warum ich immer noch hier
bin. Ich ſollte endlich zuruͤckkehren. Es iſt
unbegreifliche Traͤgheit von mir, daß ich noch
nicht in Rom bin. Wie kann man ſo ganz von
aller Kraft, von aller innern Staͤrke verlaſſen
ſeyn!


Mein Gluͤck im Spiele hat aufgehoͤrt und
doch bin ich an den Tiſch wie feſtgezau-
bert. Wenn ich Karten ſehe, laͤuft mein Blut
lebendiger und ich traͤume nur von gluͤcklichen,
oder ungluͤcklichen Spielen. Ich verſtehe jetzt,
was man unter der Leidenſchaft des Spiels ſa-
gen will. Ich habe ſchon anſehnlich verlohren,
das Geld was ich aus England mitbrachte und
einen großen Theil von B. Geſchenk: ich
aͤrgre mich daruͤber nicht, aber uͤber die platte
Freude der jaͤmmerlichen Menſchen, die von
mir gewinnen. Sie halten das blinde Gluͤck
fuͤr einen Vorzug, der ihnen eigenthuͤmlich iſt,
[230] ſie verachten mich, indem ich verliere. Ich
lerne jetzt zuerſt den Werth des Geldes empfin-
den, und kann doch nicht zuruͤck, wenn ich die
verdammten Bilder ſehe. — Rathen Sie mir,
was ich thun ſoll. Und weiß ich nicht alles im
voraus, was Sie ſagen werden? O, es iſt um
toll zu werden, daß man ſo naͤrriſch iſt!


Der Begriff von Zeit iſt mir jetzt fuͤrchter-
lich. Wenn ich einen Tag vor mir habe,
ohne zu wiſſen, was ich mit ihm anfangen ſoll,
— o, und dann den Blick uͤber die leere Wuͤſte
von langweiligen Wochen hinaus! Und wieder
eine Stunde nach der andern von der Zeit zu
betteln, ſich vor dem Gedanken des Todes zu
entſetzen! Wie elend iſt der Menſch, daß er
ſterben muß und wie hoͤchſt ungluͤckſeelig muͤßte
er ſeyn, wenn er ewig lebte! Wie toll und un-
ſinnig iſt unſer Leben durch dieſe unaufhoͤrlichen
Widerſpruͤche!


Sie kennen die Menſchen auch, Roſa, und
Sie verachten ſie eben ſo, wie ich. O, ich
moͤchte in manchen Stunden ein Komplott ge-
gen dieſe Thiere machen, ſchwarze Verraͤtherey,
daß keiner auf der Erde zuruͤckbliebe.


Wie veraͤchtlich iſt alles um mich her,
[231] durch ſeine Sinnlichkeit, die ihn unerbittlich
an Nichtswuͤrdigkeiten feſſelt. Alles, was Freu-
de, Schoͤnheit, Genuß und Witz heißt, bezieht
ſich immer unmittelbar auf die groͤbſte Sinnlich-
keit; das Menſchengeſchlecht ermuͤdet nicht bey
denſelben froſtigen Spaͤßen, die Phantaſie be-
koͤmmt keinen Ekel vor ſich ſelber. O, mir zit-
tert oft das Herz, wenn ich die Menſchen um
mich her lachen ſehe, wenn ich junge Leute be-
trachte, die ſich in ihrer Veraͤchtlichkeit ſo
gluͤcklich fuͤhlen. Kein Gedanke hebt dies Ge-
ſchlecht uͤber ſeine jaͤmmerliche Eingeſchraͤnktheit
hinaus. Ach, wenn ich dann aus ihrer Geſell-
ſchaft unter den freyen Himmel trete, und die
ewige Schaar der unendlichen Welten uͤber mei-
nem Kopfe funkeln, wenn ich mich mit
Schwindeln in die Millionen dieſer Erden verliere
und andre und noch hoͤhere ahnde, wenn ich den
Mond betrachte und Staͤdte, Berge und Waͤl-
der auf ſeiner Scheibe entdecken moͤchte, — und
ich komme dann zu mir und zur gewoͤhnlichen
Heimath meiner Gedanken zuruͤck! Karten,
Wuͤrfel und unzuͤchtige Geſpraͤche. Die Seele
laͤugnet ſich ſelbſt ihre Schwingen ab und wohnt
mit Wohlbehagen in einem ſchmutzigen Kerker,
[232] weil der Aether und die Sonne und jede freye
und glaͤnzende Bahn eine ſtrenge Rechenſchaft
von ihr fordert.


O Roſa! Wie oft erwachen jetzt kindliche
Gefuͤhle in meiner Bruſt, die wie unvermuthete,
laͤngſtvergeſſene Freunde bey mir einkehren und
den Hauch des ehemaligen Fruͤhlings mit ſich
bringen. Bilder von Gegenden, die mich ſonſt
ſchwermuͤthig entzuͤckten, kommen in mein Ge-
muͤth und machen mich von neuem melankoliſch:
es reichen ſuͤße Stimmen uͤber alle Abgruͤnde
zu mir heruͤber und nennen ſehnſuchtsvoll und
anlockend meinen Namen. Ach, wie unaus-
ſprechlich ungluͤcklich macht mich alles! — Und
dann kehre ich zu den Karten und zu meinen
gemeinen Geſellſchaftern zuruͤck.


Oft, wenn ich mich in wuͤſte Traͤume ver-
liere und die Erde mit allen ihren Schaͤtzen wie
ausgebrannte Schlacken vor mir lieget, geht
Amaliens Name wie die erſte Blume nach dem
Winter in meinem Herzen auf. Wie von vor-
uͤberfliegenden Engeln werd' ich dann gegruͤßt,
wie Morgenroth umgiebt es mich, das muͤhſam
nach mir hinuͤberklimmt. Dann moͤcht' ich die
unendlichen Gefilde des Himmels vergeſſen und
[233] zur Erde, wie zu einer lieben Huͤtte zuruͤckkeh-
ren. — Ach, meine Traͤume ſind mehr werth,
als die Wirklichkeit! Und mußt' ich erſt die
Wirklichkeit ſo kennen lernen, um auf dieſe
Art traͤumen zu koͤnnen?


[234]

27.
Karl Wilmont an Mortimer.



Ich habe keine Ruhe und kann ihn auch nicht
finden. Es iſt mir oft, als triebe es mich in
ein Haus hinein, daß er dort ſeyn muͤſſe, und
wenn ich hineintrete, iſt er doch nicht da. Eine
unbeſchreibliche Ungeduld quaͤlt mich Tag und
Nacht, ich traͤume nur von ihm, und oft glaub'
ich am Morgen, daß er zu mir in das Zimmer
hereintrete. Ich laufe an oͤffentlichen Oertern
herum, ohne zu ſehn und zu hoͤren. Dann em-
poͤrt ſich meine Wuth in mir von neuem und
eine gaͤnzliche Erſchlaffung aller Kraͤfte folgt
dieſer Anſpannung. — Wenn ich an alles zu-
ruͤckdenke, ſo moͤchte ich manchmal an der
Wirklichkeit zweifeln, ich gerathe dann in einen
Taumel, in dem mir alles gleichguͤltig iſt.
Dann koͤnnt' ich meine Rache aufgeben und
mich mit Lovell verſoͤhnen.


Ach, wie koͤmmt mir das Leben vor? Von
Thorheiten wird es zuſammengehalten, damit
[235] es nicht zerfaͤllt; je aͤlter und ſchwaͤcher der
Menſch wird, je mehrere dieſer Narrheiten fal-
len ihm aus, und der Tod beſteht am Ende
darinn, daß die letzte Thorheit aus dem Men-
ſchen ſpringt und ſo dem Geiſte Platz macht;
und ſo ſterbe ich vielleicht, wenn ich meine Ra-
che ganz aufgebe. Denn was will ich denn da-
mit, oder was kann ſie mir helfen? Man
moͤchte zuweilen alles nur fuͤr Scherz halten.


Ich verzweifle an mir ſelber; ich wuͤnſchte,
dies klaͤgliche Leben waͤre erſt zu Ende, damit
mir beſſer und ruhiger wuͤrde. — Und doch
muß ich ihn ſuchen und finden, dann werde ich
ſterben! — Lebe wohl.


[236]

28.
Eduard Burton an Mortimer.



Was ſagen Sie, lieber Freund, wenn ich
ganz offenherzig gegen Sie werde? — Doch
weiß ich nicht ſchon Ihre Meinung im Voraus?
Und es kann ſeyn, daß eben dies die Urſache iſt,
warum ich noch frage.


Ich ſehe den alten Ralph und ſeine Toch-
ter taͤglich, Betty hat ſich meines Herzens be-
maͤchtigt, ich kann es mir ſelber nicht ablaͤug-
nen, mein Blut fließt wieder froher durch die
Adern, die Welt und das Leben ſind mir wie-
der lieb. Wenn ich ihr nun meine Hand gebe
und ich dann ein ſtilles und gluͤckliches Leben
mit ihr fuͤhre; — kann ich mehr und anders
wuͤnſchen? Das Bild Ihres haͤuslichen Gluͤcks
hat mich zuerſt auf dieſen Wunſch gefuͤhrt. —
Ich mag nichts weiter hinzuſetzen; leben Sie
wohl.


[237]

29.
Mortimer an Eduard Burton.



Was kann ich Ihnen ſagen? — Erwarten Sie
keine langweiligen Spaͤße von mir, denn ich be-
trachte jetzt manche Dinge in der Welt recht
ernſthaft; ich ließ es mir wohl ehedem zu Schul-
den kommen, uͤber manche Arten des menſchli-
chen Gluͤcks zu ſpotten, aber die Zeiten ſind
jetzt voruͤber. — Heyrathen Sie das Maͤdchen
und kuͤmmern Sie ſich um die ganze uͤbrige
Welt nicht; ſo lautet mein Rath. Es freut
mich, daß die Menſchen dadurch gluͤcklich wer-
den, die ich damals ſo innig bemitleidete, als
ich ſie zum erſtenmale ſah.


Mein kleiner Georg iſt friſch und geſund,
Amalie laͤßt gruͤßen.


[238]

30.
Ralph Blackſtone an Eduard
Burton
.


Dieſelben haben mir geſtern Ihre guͤtige Mei-
nung eroͤffnet und ich will nun nach der bewil-
ligten Bedenkzeit meine Meinung uͤber den guͤ-
tigen Antrag ſagen. Sie erhalten ihn hiemit
ſchriftlich, wie wir ausgemacht hatten. Ich
kann uͤber die Ehre und uͤber den guͤtigen Vor-
ſchlag nichts ſagen, ich kann nichts dagegen
einwenden, gnaͤdiger Herr, als daß wir es
nicht verdienen. — Doch das Gluͤck verdient
der Menſch nie, und habe ich doch auch mein
bisheriges Ungluͤck nicht verdient. — Ich bin,
indem ich ſchreibe, geruͤhrt bis zu Thraͤnen,
meine Augen thun mir weh und das Schreiben
wird mir [ungemein] ſauer, denn ich habe ſeit
lange keine Feder in die Hand genommen.
Mag es denn alſo geſchehn wie der Himmel
will; meine Tochter betet Sie an, noch aber
weiß ſie keine Sylbe von dem Plane. Sie
[239] wird vor Freude aus den Wolken fallen, ſie
wird ſich in ihrem Gluͤcke nicht zu finden wiſ-
ſen. Doch, das lernt ſich bald, leichter als
Elend, die menſchliche Natur neigt mehr zum
Gluͤcke hin, und das iſt auch natuͤrlich. Ich
bin aber ſelbſt wie im Traume, denn ich flehte
freilich wohl oft zu Gott um Lindrung meines
Elends, aber doch nicht um ſo viel Freude und
Ehre; dergleichen freche Gedanken ſind mir nie
in den Sinn gekommen. Ich glaube, daß
manche Menſchen ſchon auf dieſer Welt zu En-
geln werden, und zu ſolchen Menſchen gehoͤren
Sie ganz gewiß und ohne Zweifel: ſolche Men-
ſchen muß es geben, damit man an Gott und
an ſeine Barmherzigkeit glaubt. — Nehmen
Sie meine Schreiberey nicht uͤbel, gnaͤdiger
Herr, in der Jugend wußte ich eine Buͤchſe
gut loszuſchießen, aber mich nicht in Worten
gut auszudruͤcken, und Sie wiſſen, wie es geht,
im Alter holt man ſo etwas nur ſelten nach:
aber Sie nehmen wohl den guten Willen fuͤr
die That, und ich wuͤnſchte wirklich von Her-
zen, es ſtuͤnde hier eine recht feine und zierliche
Antwort, die Hand und Fuß haͤtte, wie man
zu ſagen pflegt, und Lebensart verriethe und
[240] in lauter ehrerbietigen Ausdruͤcken abgefaßt
waͤre. Es iſt mir aber nicht gegeben, und ich
nenne mich auf meine einfaͤltige Art


Ihren ergebenſten Freund und Diener,
Ralph Blackſtone.


31.
[241]

31.
William Lovell an Roſa.



Und ſollt' ich den letzten Pfennig wagen und
verlieren, ſo muß ich weiter ſpielen und entwe-
der nichts uͤbrig behalten, oder meinen Verluſt
wieder gewinnen! Rund iſt das Rad der Gluͤcks-
goͤttinn und ſie iſt blind. Ich will es mit dem
Zufalle und mit allen Teufeln aufnehmen; blei-
ben Sie mir doch, bleibt mir doch Andrea
uͤbrig. Was iſt Furcht und Vorſicht? —
Schwache Stuͤtzen des Schwachen! — Ich kann
auch ohne ihre Huͤlfe auskommen, und es iſt
bis jetzt geſchehn. Trinken, trinken will ich,
bis ſich alle Zufaͤlle nach meinem tollen Willen
bequemen, und wenn alles ſchief geht, je nun,
ſo darf ich ja nur an Sie ſchreiben und die
Summen Geldes kommen auf meinen Wink zu
mir heruͤbergeflogen. Nicht wahr, da kann ich
der uͤbrigen jaͤmmerlichen Menſchen lachen?


Tod und Hoͤlle! Ich habe von je im Stil-
len vermuthet, daß Andrea große Schaͤtze be-
Lovell. 3r. Bd. Q
[242] ſitzt, und ich bin ja doch, wie Sie wiſſen wer-
den, ſein beſter Freund! Mir wird er's ja
nicht fehlen laſſen, wenn es ſo weit kommen
ſollte, oder ich wuͤrde ihn oͤffentlich fuͤr einen
Schurken erklaͤren! Oeffentlich, verſtehn Sie
mich wohl, das will viel ſagen.


Ich bin ſchon darauf aus geweſen, die
dunkeln heimlichen Regeln in den Hazardſpielen
ausfindig zu machen, es liegt gewiß alles nur
an Kleinigkeiten, allein ich kann es nicht deut-
lich herauskriegen. Je nun, mag's laufen! Ich
will einmal mit Andrea daruͤber ſprechen.


Ich freue mich darauf, daß ich ihn wieder
ſehe. Er ſoll mir Geiſter zitiren, bis mir der
Verſtand vergeht; das ſoll ein luſtiges Leben
werden. Mit einer Wette habe ich zwey Bou-
teillen Champagner gewonnen und die ſind nun
faſt leer; ich muß jetzt ſo armſeelig wetten,
ſehn Sie, weil ich, unter uns geſagt, nicht
mehr viel Geld uͤbrig habe. So geht's in der
Welt! —


Was machen Sie jetzt? Ich habe ſeit lan-
ge nichts von Ihnen gehoͤrt. Wie koͤmmt das?
Sie ſind im Briefſchreiben noch ſaumſeeliger
als ich, das iſt ein großer Fehler von einem
[243] Menſchen, der ein guter Freund ſeyn will. —
Apropos von guten Freunden! Ich glaube, ich
habe keinen einzigen mehr in Paris, ſeit die
Leute merken, daß ich kein Geld mehr habe:
das iſt eine magnetiſche Kraft des Metalls,
die man bis jetzt noch nicht bemerkt hat; die
Naturgeſchichte koͤnnte dadurch eine große Ver-
beſſerung leiden. Denn was die Leute oft Liebe,
Inſtinkt, Sympathie, haͤusliches Gluͤck nen-
nen, — was iſt es oft anders, als die Attrak-
tion des gemuͤnzten Metalles?


Ich muß fort. Man wartet beym Spiel-
tiſche auf mich. Es waͤre doch viel, wenn
man das Gluͤck nicht zwingen koͤnnte. Sterben
will ich eher, als verlieren: die Leute nennen
es Aberglauben, wenn man manches beym Spiele
beobachtet, aber ich habe mir eine Menge von
Sachen ausgedacht, die gewiß helfen, und die
kein Aberglauben ſind. — Was nennen wir
denn Aberglauben? Haben wir eine andre
Weisheit? Eine ohne Aberglauben? Am Ende
iſt es ein Aberglaube, daß ich exiſtire; ein
Satz, den ich ſo auf gut Gluͤck annehme, weil
es mir ſo vorkoͤmmt. Aber wer iſt jenes Ich,
dem es ſo vorkoͤmmt? — Die Frage kann mir
Q 2
[244] keiner beantworten, und das waͤre doch wahr-
haftig aͤußerſt nothwendig.


Leben Sie wohl, Roſa, und ſchicken Sie
mir bey Gelegenheit etwas Geld; denn wenn
ich auch gewinne, es kann nie ſchaden, wenn
man Geld hat, das werden Sie hoffentlich auch
zugeben. — Was machen unſre uͤbrigen Freunde?
Ich kann mir denken, wie ſich Andrea nach mir
ſehnt, troͤſten Sie ihn, denn ich werde bald
zuruͤckkommen.


[245]

32.
Betty an Amglie.



O liebſte, liebſte Freundinn! Ich kann Ihnen
noch immer nicht beſchreiben, wie mir zu Mu-
the iſt. — Wir haben Sie recht hieher gewuͤnſcht
und Ihre Kraͤnklichkeit recht bedauert; bey der
Hochzeit nehmlich. Mein Vater hat mir frei-
lich wohl geſagt, ich ſoll mich in meinem Gluͤcke
nicht uͤbernehmen, aber das laͤßt ſich leicht ſa-
gen und ſchwer thun. Ich weiß immer noch
nicht, wie mir zu Muthe iſt, ich ziehe mich
manchmal am Arme, um zu erwachen. Wenn
ich im Garten, oder im Dorfe ſpatzieren gehe,
ſo gruͤßen mich alle Leute ſehr freundlich und
betrachten mich als ihre Herrſchaft, Eduard
darf ich bey ſeinem Vornamen und ihn Du
nennen, denſelben Menſchen, den ich bis jetzt
nur aus der Ferne, wie eine Gottheit, angebe-
tet habe. Mein Vater iſt froͤhlich und hat
einigemal vor Ruͤhrung geweint, mit ſeinen
ſchwachen Augen kannte er mich geſtern in den
[246] neuen Kleidern ſelbſt nicht, — ach, liebſte
Freundi[n]n, kann man wohl dem Himmel fuͤr
eine ſolche Veraͤnderung genug danken? Gewiß
nicht. Wenn doch meine Mutter noch lebte
und alle dieſe Herrlichkeiten ſaͤhe! Die iſt nun
im Kummer und Elend geſtorben, und jetzt
koͤnnte ich ſie ſo ſchoͤn troͤſten. Aber es hat
nicht ſeyn ſollen, und es iſt, ſo wie es iſt,
ſchon Gluͤck genug. — Wer haͤtte das damals
gedacht, als Sie mich und meinen Vater mit
ſo himmliſcher Guͤte in unſrer Armuth unter-
ſtuͤtzten? O, und Eduard iſt ein himmliſcher
Menſch; er laͤßt es mich gar nicht fuͤhlen, daß
ich ohne ihn nichts war, er ſpricht mit mir,
als wenn ich ſein Gluͤck gemacht haͤtte. So
gute Menſchen, wie ihn, giebt es gewiß nicht
viele. — Sie haͤtten nur hier den Aufwand bey
der Hochzeit ſehn ſollen; nun, Herr Mortimer
kann Ihnen ja erzaͤhlen, ob es nicht koſtbar
war. — Beſuchen Sie uns doch ſobald Sie
koͤnnen. —


[247]

33.
Amalie an Betty.



Ich freue mich uͤber Ihr Gluͤck, liebſte Freun-
dinn, faſt eben ſo ſehr, als Sie ſelbſt. Es
giebt nichts Erfreulichers, als den Anblick von
gluͤcklichen Menſchen. Ach! man ſieht ſie in
dieſer Welt ſo ſelten. Bleiben Sie immer ſo
vergnuͤgt, als Sie jetzt ſind, und erhalten Sie
mir Ihre Freundſchaft. Ich werde Sie beſu-
chen, ſobald ich wieder Kraͤfte geſammelt habe.


[248]

34.
Betty an Amalie.



Wie freue ich mich, Sie wieder zu ſehn und
Ihnen hier alles zu zeigen! Ich getraue mich
oft noch gar nicht, zu thun, als wenn ich hier
zu Hauſe waͤre. Geben Sie mir einen Rath,
wie ich mir immer die Liebe Eduards erhalten
kann, auf welche Art ich ſein Wohlwollen und
ſeine Zuneigung verdienen ſoll. Er thut mir
alles zu Gefallen, wenn er nur irgend glaubt,
daß es mir Vergnuͤgen machen koͤnnte, er iſt ſo
gut, daß ich mich immer ſchaͤme, daß ich nicht
beſſer bin: aber ich will das zuſammengezogen
von ihm lernen. Mein Vater laͤßt ſich Ihnen
recht ſehr empfehlen; der alte Mann beſchaͤftigt
ſich jetzt vorzuͤglich mit dem Gartenbau und
mit der Jagd; die Jagd iſt ihm etwas recht
Neues, und er trift ordentlich noch, ſo ſchwach
auch ſeine Augen ſind. Es wird jetzt uͤber-
[249] haupt vielleicht mit ſeinen Augen beſſer, da
er froͤhlicher lebt und ſich nicht mehr ſo zu
graͤmen braucht, wie ſonſt. — Leben Sie
wohl, liebſte Freundinn, und ſpotten Sie nicht
uͤber meine Briefe.


[250]

35.
William Lovell an Roſa.



Lieber Roſa, ich habe nun mein Vermoͤgen
voͤllig, durchaus verloren. Ich erinnere mich
dunkel meines neulichen Briefes und ſeines In-
halts, verzeihen Sie mir, er mag enthalten,
was er will, denn ich ſchrieb ihn in einer
Stimmung, in der ich mich ſelbſt nicht kannte.
Es geſchieht zuweilen, daß wir gegen unſern
Willen etwas ſagen oder thun, was der Freund
immer als voͤllig ungeſchehen anſehn muß. Ich
weiß nicht, wie ich zu Ihnen nach Italien
kommen ſoll: ich bereue jetzt meinen Wahnſinn
und verachte mich eben dieſer Reue wegen.
Haͤtt' ich jetzt nur die Haͤlfte, nur das Viertel
von jenen Summen zuruͤck, die ich in England
als Dummkopf an Dummkoͤpfe verſchenkte!
Gegen mich iſt keiner ſo großmuͤthig geweſen,
die uͤbrigen Menſchen ſind kluͤger, und halten
ihren Gewinnſt fuͤr ihr foͤrmliches Eigenthum.
O, in welcher Welt iſt man gezwungen zu le-
[251] ben! Alles zieht ſich von mir zuruͤck, meine
vertrauteſten Freunde kennen mich nicht mehr,
wenn ſie mir auf der Straße begegnen, und
noch vor kurzem waren ſie lauter Hoͤflichkeit,
lauter Demuth. Im Grunde iſt das menſch-
liche Geſchlecht und vor allem der kultivirte
Theil deſſelben eine große Heerde von Kanni-
balen. Im gewoͤhnlichen Umgange ſieht man
Verbeugungen gegen einander, die hoͤchſte Auf-
merkſamkeit, daß keiner den andern verletze,
oder auf irgend eine Art beleidige, man thut
als wuͤrde man durch Hochachtung, durch Blicke
und Komplimente begluͤckt, — o, und wenn
dieſe Menſchen dadurch reich werden koͤnnten,
ſie zerriſſen denſelben Gegenſtand lebendig mit
den Haͤnden, ja mit den Zaͤhnen. — Es hat
hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe-
der, eine kleine Muͤnze, mit der groͤßten Ehr-
erbietung wieder reichten, zehn beeiferten ſich
um die Wette, mir den Dienſt zu thun, und
jetzt wuͤrden alle zehn mir keinen Thaler geben,
und wenn ſie mich dadurch von dem Verhun-
gern retten koͤnnten. — Noch nie, als jetzt,
habe ich den Druck der Armuth gefuͤhlt und
ihre Leiden ſind fuͤrchterlich, man kann leicht
[252] die Menſchen verachten, wenn ſie ſich mit ihrer
Verehrung zu uns draͤngen, aber jetzt wird es
mir ſchwer. Ich wage es kaum, den Reichen
in's Geſicht zu ſehn, ich habe eine ſklaviſche
Ehrfurcht vor den Vornehmen, und es iſt mir,
als gehoͤrte ich gar nicht in die Welt hinein,
als waͤre es nur eine vergoͤnnte Gnade, daß ich
die Luft einathme und lebe; ich fuͤhle mich in
der niedrigſten Abhaͤngigkeit. — Dulden Sie
es nicht, lieber Roſa, daß Ihr Freund auf
dieſe Art leidet, machen Sie es mir moͤglich,
daß ich Sie und Italien wiederſehe, Sollte es
noͤthig ſeyn, ſo entdecken Sie Andrea meine
Lage, und er wird keinen Augenblick zaudern
und ſich bedenken. Sollt' ich hier noch laͤnger
bleiben muͤſſen? Schon leb' ich unter den nie-
dern Volksklaſſen und eſſe in den Wirthshaͤu-
ſern in der Geſellſchaft von gemeinen Leuten,
die jetzt auf ihre Art eben ſo hoͤflich gegen mich
ſind, wie noch vor kurzem die Reichen; wenn
ich nun auch das wenige Geld ausgegeben habe,
ſo werden ſie mich ebenfalls verachten und lau-
fen laſſen. Jede Bezeugung der Hoͤflichkeit
kraͤnkt mich jetzt innig, weil ſie mich an meine
ganze Lage erinnert. — Retten Sie mich, Freund,
[253] und ohne Zoͤgern, ich beſchwoͤre Sie! Sie ha-
ben von meiner Verlegenheit keinen Begriff;
jene Summen, die wir ehedem der armſeeligen
Bianka und Laura gaben, waͤren jetzt große
Schaͤtze fuͤr mich, ich beneide manchem Bettler
das, was ich ihm in beſſern Zeiten gab, ich
habe noch nie eine ſolche Ehrfurcht vor dem
Gelde empfunden. — Denken Sie ſich das hin-
zu, was Ihnen ein Freund ſagen koͤnnte, um
Sie zu bewegen: — doch, ich vergeſſe, mit
wem ich ſpreche; ich weiß ja, daß ich zu Roſa
rede, alle meine Beſorgniſſe ſind unnuͤtz, die
gemeinen Menſchen leben nur hier. — Es reut
mich jetzt lebhaft, daß ich nicht ſchon fruͤher
abgereiſt bin, allein bin ich darum um ſo beſſer
dran? — Leben Sie wohl, ich ſehe mit Sehn-
ſucht einer Antwort entgegen.


[254]

36.
Roſa an William Lovell.



Ihre Briefe, lieber William, haben die leb-
hafteſte Theilnahme bey mir erregt. Ich halte
es fuͤr den betruͤbteſten Anblick, wenn ein
Freund, der unſer Herz ſo nahe angeht, ſich
und ſeine Vorſaͤtze ſo ſehr aus den [Augen] ver-
liert. Ihre Briefe ſind alle ein Beweis eines
gewiſſen zerruͤtteten Zuſtandes, der Sie verhin-
dert, ſich ſelbſt in Ihrer Gewalt zu haben.
Mit Freuden wuͤrde ich Sie aus Ihrer unan-
genehmen Lage ziehn, wenn es auf irgend eine
Art in meiner Gewalt ſtaͤnde, aber ich weiß
nicht, ob Sie es nie bemerkt haben, als Sie
hier waren, (wenn es nicht iſt, ſo muß ich es
Ihnen jetzt offenherzig geſtehn) daß ich in der
allergroͤßten Abhaͤngigkeit von Andrea lebe. Er
ſucht mich ſelbſt immer in einer gewiſſen Ver-
legenheit zu erhalten, aus Urſachen, die ich frei-
lich nicht begreifen kann. Er iſt eigenſinnig,
ſo ſehr er mir auch meiſtentheils gewogen ſcheint,
[255] und ich darf nicht leicht irgend etwas Wichti-
ges, oder nur Auffallendes gegen ſeine Einwil-
ligung thun. Ich habe ihn ſeit lange nicht ge-
ſehn, ſo ſehr ich ihn auch ſeit einiger Zeit auf-
geſucht habe, es war mir daher unmoͤglich, ihm
Ihre Lage zu entdecken, und ich kann mich auch
nicht verbuͤrgen, ob er etwas oder viel fuͤr Sie
zu thun im Stande waͤre, da ich ihm ſchon
zur Laſt falle, da er Sie immer fuͤr reich ge-
halten hat, und da es vielleicht der Fall iſt,
daß Sie ſeine Auftraͤge nicht auf die gluͤcklichſte
Art ausgerichtet haben. Doch, wie ich Ihnen
ſage, alles dies kann ich nicht beurtheilen, und
ich hoffe, daß er ſich ganz zu Ihrem Beſten
erklaͤren wird, ſobald ich ihn ſpreche.


Mich wundert nur, und es iſt mir in der
Welt unbegreiflich, wie Sie ſo gaͤnzlich unvor-
ſichtig handeln konnten. Die Art Ihrer Ver-
ſchwendung ſcheint Sie gar nicht beluſtigt zu
haben, und dennoch konnten Sie dieſem Hange
nicht widerſtehn. Sie verachten die Menſchen,
und dennoch haben Sie recht darnach geſtrebt,
ſich von ihnen abhaͤngig zu machen, weil Sie
das Druͤckende der Abhaͤngigkeit noch nie em-
pfunden haben. Warum riſſen Sie ſich nicht
[256] aus Ihren langweiligen Zirkeln los und kamen
fruͤher zuruͤck? Sie haͤtten mir, Ihrem Freunde,
dadurch die Unannehmlichkeit erſpart, Ihnen
eine ſo dringende Bitte abſchlagen zu muͤſſen.
Ueberhaupt, um aufrichtig zu [reden], wie konnte
der verſtaͤndige Lovell in den Irrthum jener ge-
meinen Menſchen verfallen, die morgen auf
mein Eigenthum Anſpruch machen, weil ich
geſtern mit ihnen in Geſellſchaft luſtig geweſen
bin. Das iſt eben das Kennzeichen der rohern
Menſchen, die nicht eine Stunde vertraulich
ſeyn koͤnnen, ohne auf den Gedanken zu kom-
men, zu borgen, ſie ſetzen dadurch ſich und den
andern in eine fatale Situation. Die feinern
Menſchen werden immer ſuchen neben einan-
der, ſtatt einer durch den andern, zu leben:
ſie werden jeden andern Dienſt eher, als die
Unterſtuͤtzung durch das Eigenthum, verlangen,
denn auf jeden Fall muß der andre ſich deran-
giren, er muß ſich Bequemlichkeiten verſagen,
die ihm vielleicht zu Beduͤrfniſſen geworden
ſind. — Doch alles das, lieber Lovell, ſagt'
ich nicht im Bezuge auf Sie, denn koͤnnt' ich
Ihnen helfen, ſo wuͤrde ich es ſogleich, ohne
weitere Einleitung, thun, denn es iſt mir eben
ein
[257] ein Beweis von der Groͤße Ihrer Verlegenheit,
daß Sie alle dieſe Vorſtellungen bey Seite ge-
ſetzt haben, aber um ſo mehr bedaure ich es
auch, daß ich nicht im Stande bin, Ihnen zu
helfen. — Leben Sie recht wohl indeß, und
ſuchen Sie bald zu uns zu kommen, ich will
mit Andrea Ihrentwegen ſprechen, ſobald ich
ihn finde.


Lovell. 3r Bd. R
[258]

37.
William Lovell an Roſa.



Es iſt gut, Roſa, alles was Sie mir da
ſchreiben, und doch auch wieder nicht gut. Sie
haben Recht, und doch kann ich es nicht glau-
ben; am Ende iſt alles einerley. Nur Vor-
wuͤrfe haͤtten Sie mir nicht machen ſollen, denn
dieſe habe ich wenigſtens nicht ſo verdient. In
der Geſellſchaft muß man vergeſſen, daß man
unter Menſchen lebt; und ich will es auch ver-
geſſen. O der ſchoͤnen, der theuren Freund-
ſchaft! Doch laſſen Sie es gut ſeyn, Roſa,
ich will nicht weiter daran denken. — Ich war
ein Thor, auf Huͤlfe zu hoffen, das ſehe ich
jetzt ſehr deutlich ein, vergeſſen Sie es auch
und rechnen Sie es zu meinen uͤbrigen Thor-
heiten, die Sie ſo oft bemitleidet haben.


Und was will ich denn auch mehr? Lebe
ich nicht hier noch eben ſo, wie ſonſt? Was
kann man mehr verlangen, als zu leben? Ich
bin jetzt mit dem Elende der ungluͤcklichſten
[259] Geſchoͤpfe vertraut, keine Menſchenklaſſe iſt
mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren
und gelernt. — Ich wohne jetzt unter Bett-
lern und lebe in ihrer Geſellſchaft, ich ſehe es,
wie ſich die Menſchheit im niedrigſten Aus-
wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niedertraͤch-
tigkeiten hier in ihrer ſchoͤnſten Bluͤthe pran-
gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich
den Anblick des Jammers genau betrachte, wie
ſie von allen Beduͤrfniſſen entbloͤßt ſind und
ihre Sinnlichkeit ſie beherrſcht, wie ſie gierig
verſchlingen was ſie zuſammengebettelt haben und
ohne Thraͤnen fuͤr ihr eignes Elend ſind; wie
ſie ſich verlaͤumden und gegenſeitig verachten,
wie es unter ihnen ſelbſt Prahler und Ver-
ſchwender giebt, — ach! was ſoll man zu den
Menſchen ſagen?


Neulich lag ich im Sonnenſchein in der
Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump-
tes Weib kam und fuͤhrte ihren blinden Sohn
an der Hand; ſie ſetzten ſich nicht weit von
mir nieder. — Mutter, fing der Blinde an,
es brennt mir ſo auf den Augen, die [Sonne]
ſcheint gewiß, wie Du immer ſagſt. — Ja,
ſagte die Mutter, liebes Kind, ſetze Dich hier
R 2
[260] nieder und ruhe aus. — Er hob langſam den
Kopf in die Hoͤhe, als wenn er den Himmel
und ſeinen Sonnenſchein ſuchen wollte.


Die Alte kramte nun jetzt ihre Beute aus.
Brod mit Stuͤcken rohen Fleiſches, einige kleine
Wuͤrſte, Kuchen, alles lag vermiſcht in einem
ſchmutzigen leinenen Sacke; ſie biß oft von den
einzelnen Stuͤcken mit großer Gier etwas ab;
dann gab ſie dem Sohne einen Kuchen und be-
fahl ihm, hier zu bleiben und ihre Ruͤckkehr
abzuwarten.


Der Junge betaſtete den Kuchen mit allen
Zeichen der Freude und des Wohlbehagens: er
drehte den Kopf oft nach der Sonne, als wenn
er ſich gewaltig anſtrengte, um endlich einmal
zu ſehn. Ein anderer Bettelbube ſchlich ſich
indeſſen naͤher, hob ploͤtzlich den Kuchen von
der Erde auf und lief ſchnell davon. Der
Blinde ſuchte nun ſeine Nahrung, auf die er
ſich gefreut hatte, und fand ſie nicht; ſchwermuͤ-
thig ſenkte er den Kopf nieder, und wie an alle
Leiden gewoͤhnt und auf alle moͤgliche Ungluͤcksfaͤlle
vorbereitet, legte er ſich hin und ſchlief ein.
Sein Schlaf war wie ein Ausruhn in einer
beſſern Welt. — Ich ſchlich mich davon, um
[261] nicht, wenn die Mutter zuruͤckkaͤme, fuͤr den
Dieb angeſehn zu werden.


Dies iſt das Bild der Menſchheit! — O,
wie iſt meine Phantaſie mit Schmutz und ekel-
haften Bildern angefuͤllt! — Wie oft leid' ich
hier in der groͤßten Verſammlung der Menſchen
heimlichen Hunger, und keiner weiß es, und
keiner fragt darnach. — O Amalie, wenn Du
es wuͤßteſt, gewiß, Du wuͤrdeſt mir helfen. —
Doch nein, nein, auch Du gehoͤrſt den Men-
ſchen an; Du wuͤrdeſt Dir eine Bequemlichkeit
verſagen muͤſſen, die Dir vielleicht zum Be-
duͤrfniſſe geworden iſt. — Ich wuͤrde Dich
nicht darum bitten, wenn ich Dich auch vor
dem Lager meines Elends voruͤbergehen ſaͤhe. —
Es ſoll aber anders werden! Es muß ſich aͤn-
dern! Es giebt keine Liebe und ich kann bey
dieſer keine Huͤlfe ſuchen; ich muß mir durch
mich ſelber helfen. Iſt es nicht ſchaͤndlich,
daß ich hier liege und in meiner Traͤgheit jede
Gelegenheit vorbeyſchluͤpfen laſſe? — Es iſt
endlich Zeit, daß ich mich zuſammenraffe. Sie
werden mich nicht tadeln, Roſa, und Sie ha-
ben auch kein Recht dazu. — Leben Sie wohl,
bis Sie einen beſſern Brief von mir erhalten.


[262]

38.
William Lovell an Roſa.



Es iſt gelungen, Roſa, es iſt gelungen, und
ich bin wieder muthiger. Ich Thor! daß ich
nun ſchon ſeit lange die Menſchen kenne und
dieſe Kenntniß doch noch nicht benutzte! Nein,
ich will nicht mehr ruhig neben ihnen, ſondern
durch ſie leben. Sie haben Unrecht, Roſa, of-
fenbar Unrecht, denn unſer Verſtand, die Noth-
wendigkeit, alles fordert uns dazu auf. Sie
haben mir muͤſſen Stand halten, das Gluͤck
hat mir gehorchen muͤſſen, und alles iſt nun
wieder gut.


Schon ſeit lange waren mir durch eine zu-
faͤllige Bekanntſchaft einige Spielerkniffe gelaͤu-
fig geworden, die ich naͤrriſch genug war, nie-
mals anzuwenden. Ich Narr ſaß immer mit
meinen ehrlichen Haͤnden da und hob toͤlpiſch
und unbeholfen die Karten ab, indeß mein
Geld und mit ihm die Achtung der Menſchen,
aller Lebensgenuß, jede Freude von meiner
[263] Seite ſchwanden. Wenn ich mir jetzt nicht als
der groͤßte Dummkopf vorkomme, Roſa, ſo ſol-
len Sie mich nie wieder Ihren Freund nennen:
ich that in meiner Einfalt mehr, als je die be-
ruͤhmteſten Philoſophen, zuſammengenommen,
gethan haben, ich war ehrlich, in der ſchlimm-
ſten Situation meines Lebens, ich verſchenkte
mein Geld, wenn ich gewonnen hatte, und war
die Großmuth ſelbſt, ich uͤbte die groͤßte Selbſt-
verlaͤugnung aus, indem ich beim verdruͤßlich-
ſten Verluſte, der mich elend machte, kalt blieb
und ganz vergaß, daß ich ein Betruͤger ſeyn
konnte. O der dummen, ungehirnten Ehrlich-
keit! Nachher lag ich mit meiner Ehrlichkeit
auf den Marktplaͤtzen und bettelte, ſtatt zu
morden, ich flehte das Wohlwollen der Men-
ſchen an, ſtatt ihnen ihr Eigenthum mit Ge-
walt zu entreißen: o Himmel! es waren oft
dieſelben Menſchen, die durch mich waren reich
geworden und die mir nun ſo kalt und mit ſo
vieler Verachtung voruͤbergingen, als wenn ich
der unbekannteſte und verworfenſte Gegenſtand
waͤre! Und doch hatten ſie mich wahrſcheinlich,
ja gewiß, um mein Geld betrogen, und ſie
fuhren jetzt durch ihren Diebſtahl in Kutſchen
[264] und ich lag mit meiner Ehrlichkeit am Wege
und bettelte! — Das empoͤrt [j]eden Menſchen
und auch mein Blut ward endlich erhitzt. Ich
ſchwur mir ſelbſt, daß es anders werden ſollte,
und wahrhaftig, es iſt nun auch anders gewor-
den. Ich that nichts weiter, als daß auch ich
meinen Beytrag zum allgemeinen Betruge lie-
ferte, daß ich die Kuͤnſte ſpielen ließ, die in
meiner Gewalt waren. — Warum gab es Nar-
ren, die ſich mit mir einließen? Sie haben mir
nur meine verlorne Zeit und die Niedertraͤch-
tigkeit ihrer Bruͤder bezahlt: jetzt iſt nun alles
wieder von allen Seiten richtig; ich bin ſogar
mit den Menſchen auf eine gewiſſe Art wieder
ausgeſoͤhnt, ſoviel man ſich mit ihnen wieder
ausſoͤhnen kann, wenn man ſie einmal gekannt
hat, und waͤr' es [auch] nur in dem kleinen Raume
einer Stunde.


Ich ſpielte anfangs nur niedrig und nach
und nach hoͤher und immer hoͤher. Sie haͤtten
ſehn ſollen, Roſa, wie alle die Menſchen ſich
wieder um mich verſammelten, und mir ſchmei-
chelten, und herzlich gegen mich waren, die
mich noch vor wenigen Tagen auf der Straße
hatten liegen und hungern laſſen. Ihrer aller
[265] Leben, aller Vermoͤgen ſtand mir zu Gebote;
man bewunderte die ſeltſame Laune des kuͤhnen
Englaͤnders, der ſich ſo gut habe verſtellen koͤn-
nen, um ſich auf einige Zeit mit dem Elende
der menſchlichen Natur recht bekannt zu machen.
Ich haͤtte jedem eine Piſtole vor den Kopf
ſchießen moͤgen, wenn ich nicht gehofft haͤtte,
von ihnen zu gewinnen und mich ſo zu raͤchen.
Es geſchah; mein eignes ſchoͤnes Geld floß in
meine Boͤrſe zuruͤck, und je reicher ich wurde,
je mehr Freunde bekam ich wieder. Die ganze
Welt mit allen ihren Freuden war mir nun
wieder aufgeſchloſſen. — O Geld! allmaͤchtiges
Geld! Ich will deinen Beſitz kuͤnftig nicht wie-
der ſo gutmuͤthig fahren laſſen, ich habe dich
nun erſt kennen und ſchaͤtzen gelernt, ich ver-
ehre deine Allmacht! —


Ich moͤchte in manchen Stunden anfangen,
meine eigne Geſchichte und meine Empfindun-
gen uͤber mich und die Menſchen niederzuſchrei-
ben. Wenn ich mich ſo mancher Buͤcher erin-
nere, die ich ehedem geleſen habe, und in de-
nen uns die tugendhaften Menſchen ſo viele
Langeweile machen, indeß die Laſterhaften wie
Vogelſcheuchen daſtehn, um die Leſer ſchaaren-
[266] weiſe, wie Sperlinge, von der Bahn des Boͤ-
ſen zuruͤckzuſchrecken, — und mir dann einfaͤllt,
daß irgend ein eingebildeter Dummkopf ſich hin-
ſetzen koͤnnte, um meine Geſchichte, die er
Stuͤckweiſe durch die dritte oder vierte Hand
erfahren hat, bedaͤchtig aufzuſchreiben, ſo moͤchte
ich lachen und ſelbſt die Feder nehmen, nicht
zu meiner Rechtfertigung, denn dieſe brauche
ich nicht, ſondern bloß um zu zeigen, wie ich
bin und wie ich denke. Meilenweit ſtehn jene
Armſeeligen, die in drey Buͤchern die Men-
ſchen ſtudirt haben und die ſie nun ſelbſt
ſchildern wollen, von der Menſchheit zu-
ruͤck. Sie haben nichts erfahren und nichts
geduldet, ſie ſind nur von den kleinlich-
ſten Leidenſchaften geſtreift, kein Sturm iſt an
ihrem Herzen voruͤbergefahren, und voll Ver-
trauen ſetzen ſie ſich nieder und maßen ſich an,
die Herzen der Menſchen zu richten und ihre
Gefuͤhle darzuſtellen. Wie jaͤmmerlich wuͤrde
ich mich in einem ſolchen Buche ausnehmen!
Wie wuͤrde der Verfaſſer unaufhoͤrlich meine
guten Anlagen bedauern und uͤber die Verderbt-
heit meiner Natur jammern, und gar nicht
ahnden, daß alles ein und eben daſſelbe iſt,
[267] daß ich von je ſo war, wie ich bin, daß von
je alles berechnet war, daß ich ſo ſeyn mußte.
— Doch, keiner wird ſo naͤrriſch ſeyn, ſich um
mich und meine Geſchichte zu bekuͤmmern; im
Herzen eines jeden Bekannten ſteht ſie anders
geſchrieben, und alle, nur ich ſelbſt, leſen ſie
vielleicht falſch.


Jetzt will und kann ich zu Ihnen zuruͤck-
kehren; ich bin ſchon auf dem Wege. Ich habe
alles vergeſſen, Roſa, und Sie duͤrfen mir
ohne Scheu oder Zuruͤckhaltung naͤher kommen;
ich hoffe, auch Sie haben alles das von mir
vergeſſen, was mich in Ihrer Geſellſchaft in
Verlegenheit ſetzen koͤnnte: fuͤr vernuͤnftige
Menſchen muß nie eine Verlegenheit entſtehen
koͤnnen, denn das hoͤchſte, was ſie thun koͤnnen,
iſt, daß ſie geſtehn, daß ſie irgend einmal Nar-
ren waren, und das verſteht ſich ja immer von
ſelbſt, und ſie ſind von neuem Narren, indem
ſie es geſtehn. Alſo koͤnnen wir beyde daruͤber
ganz ruhig ſeyn. — Gruͤßen Sie vor allen
Dingen Andrea; er wird doch nicht krank ſeyn,
da Sie ihn damals ſo lange nicht geſehn hat-
ten? — Leben Sie wohl, bald ſeh' ich Sie
wieder. —


[268]

39.
Ralph Blackſtone an Mortimer.



Wie befinden Sie ſich, lieber Freund, wenn
ich Sie ſo nennen darf? — Doch, warum ſollte
ich es nicht duͤrfen? Sie ſind ja mein beſter
und mein aufrichtiger Freund; ohne Ihre Huͤlfe
waͤre ich ja damals ſchon mit meiner Tochter
Todes verblichen. Ach, ich glaubte damals
nicht, unter den Menſchen noch Huͤlfe und Er-
barmen anzutreffen, und da kamen Sie gerade
und fanden mich durch einen gluͤcklichen Zu-
fall. Was waͤre aus mir geworden, wenn Sie
mich nicht angetroffen haͤtten? Ich kann es
immer noch nicht vergeſſen. Manche Menſchen
wiſſen gar nicht, was Elend heißt, und ſie
koͤnnen ſich die große menſchliche Noth, aber
auch die menſchliche Dankbarkeit nicht vorſtel-
len, und es iſt ihnen nicht zu verargen, wenn
ſie glauben, es gaͤbe gar keine dankbare Men-
ſchen. Es giebt auch viele undankbare Leute in
[269] der Welt, aber ich denke, daß ich nicht zu
dieſen gehoͤre; nachher giebt es ſolche, die,
wenn ſie aus der Armuth in einen gewiſſen
Wohlſtand verſetzt ſind, ſich nachher ihrer ehe-
maligen Armuth ſchaͤmen und wuͤnſchen, daß
alle Menſchen die Wohlthaten und Unterſtuͤz-
zungen vergeſſen moͤchten, die ſie ihnen in
ſchlimmern Zeiten erwieſen haben, ja ſie ſuchen
ſie ſogar ſelbſt zu vergeſſen, und daraus ent-
ſteht wieder eine andre Art von Undankbarkeit,
die aus einer falſchen Schaam herruͤhrt; man
kann nicht ſagen, daß die Urſache ganz ſchlecht
ſey, aber der Erfolg davon wird oft recht nie-
dertraͤchtig. Ich glaube, daß der Menſch auf
recht verſchiedenen Wegen ſchlimm werden
kann, aber dafuͤr hat der Menſch auch ſeinen
Verſtand, um ſich vor ſolchen Abwegen zu huͤ-
ten. Nehmen Sie mir mein weitlaͤuftiges Ge-
ſchwaͤtz nicht uͤbel, denn es kommt wirklich aus
dem Herzen. — Ich lebe hier ſehr froh und
vergnuͤgt, wie ein Vogel in den Luͤften und in
den gruͤnen Baumzweigen. Ich ſuche, ſoviel
es mir in meinem Alter noch moͤglich iſt, mei-
nem Schwiegerſohne auf irgend eine Art nuͤtz-
[270] lich zu ſeyn, ich fuͤhre daher eine fleißige Auf-
ſicht uͤber den Garten, und mit meinen Augen
beſſert er ſich taͤglich und zuſehends, ſo daß
ich dieſem Geſchaͤfte mit Bequemlichkeit vorſte-
hen kann. Mit dem Gaͤrtner, der ein etwas
eigenſinniger, aber ſonſt ganz guter Mann iſt,
habe ich manchen Streit, er bildet ſich ein,
einen gewiſſen guten Geſchmack zu haben und
will mir den Garten immer viel zu kuͤnſtlich
machen. Man muß aber bey einem Manne
eine Schwaͤche uͤberſehn, wenn er ſonſt gute
und lobenswuͤrdige Eigenſchaften hat, und die
kann man wirklich dem alten Thomas nicht ſo
ganz und geradezu abſtreiten: nur hat er ein
Ungluͤck, welches vielen aͤltern Leuten begegnet,
daß er ſich fuͤr kluͤger haͤlt, als er wirklich iſt,
er macht mir daher oft mit ſeinen langwierigen
Geſpraͤchen eine ziemliche Langeweile. Er wurde
neulich ſehr boͤſe, als er manches, was er ein-
gerichtet hatte, wieder einreißen mußte, aber
die Ordnung machte es noͤthig. Die Jagd hatte
mein Schwiegerſohn und ſein ſeeliger Vater
faſt ganz eingehn laſſen, aber ich denke ſie noch
mit Gottes Huͤlfe wieder in Flor zu bringen.
[271] Es waͤre ſonſt wirklich um das ſchoͤne und herr-
liche Revier Schade.


Meine Tochter iſt immer munter und ver-
gnuͤgt, dabey iſt ſie außerordentlich geſund und
liebt ihren Mann ungemein; und wie ſollte es
auch moͤglich ſeyn, daß ſie ihn nicht liebte?
Jedes Kind muß ihm gut ſeyn, und ich habe
hier auch noch keinen Menſchen getroffen, der
ihn nicht leiden moͤchte; ſelbſt die ſchlechten
Menſchen moͤgen ihn gern, nur von einem ge-
wiſſen Lovell habe ich hier unter der Hand
manches gehoͤrt, der ſein unverſoͤhnlicher Feind
ſeyn ſoll, das muß dann gewiß ein aͤußerſt
ſchlechter Menſch ſeyn. Er iſt aus Italien
hieher gekommen und hat hier die Italiaͤniſche
Mode mit Vergiften einfuͤhren wollen, aber
das geht in unſerm England nicht ſo, wie er
vielleicht gedacht hat, und darum hat er auch
heimlich wieder abreiſen muͤſſen. Man ſagt,
er ſey in der Fremde geſtorben, und ein ſolcher
Menſch verdient auch nicht, daß er lebt, denn
er wendet ſein Leben nur zum Schaden und
zur Aergerniß ſeiner Nebenchriſten an, und
das iſt auf keinen Fall recht und loͤblich. —
Ich habe dieſen ganzen Brief meiner Tochter
[272] diktirt, weil ſie ſchneller und fertiger ſchreibt,
als ich. Leben Sie recht wohl und gluͤcklich;
ich nenne mich


Ihren aufrichtigen Freund
Ralph Blackſtone.


40.
[273]

40.
Betty an Amalie.



Wie befinden Sie ſich, theuerſte Amalie? —
Wenn Sie eben ſoviel an mich denken, wie ich
an Sie, ſo denken Sie recht oft an mich; doch
das darf ich nicht hoffen. Sie ſind immer ſo
gut und Ihre Briefe ſind ſo gut, daß ich glaube,
ich koͤnnte auf Erden keine beſſere Freundinn
finden. Nach Eduard liebe ich Sie und mei-
nen alten lieben Vater am meiſten, der zwar
zuweilen etwas viel ſpricht, es aber doch immer
herzlich gut meint. Manche Leute haben ihm
daraus zuweilen einen Vorwurf gemacht, aber
man laſſe doch den alten Mann, wenn es ihm
nur Vergnuͤgen macht. Sehn Sie, in ſeinem
Elende konnte er ſich manchmal recht gut troͤ-
ſten, wenn er ſelbſt lange Reden uͤber das Un-
gluͤck, oder uͤber ſeine Standhaftigkeit hielt;
er ſagte ſelbſt, daß im Sprechen eine große
Erleichterung ſtecke. Freilich, wird mein Vater
keinem andern Menſchen ſo liebenswuͤrdig vor-
Lovell. 3r Bd. S
[274] kommen, wie ich ihn ſehe, indeſſen wird ihn
doch gewiß jeder fuͤr einen guten und recht-
ſchaffenen Mann halten, und das iſt fuͤr mich
weit mehr, als die Liebenswuͤrdigkeit. Mich
freut es immer von neuem, daß er ſich jetzt ſo
gluͤcklich fuͤhlt, da er wieder Bedienten befehlen,
und ausreiten, und Anordnungen uͤber die Jagd
treffen kann, und Eduard thut ihm alles Er-
ſinnliche zu Gefallen.


Mir iſt oft recht ſonderbar zu Muthe,
wenn ich jetzt unter Eduards Buͤchern manche
wiederfinde, die ich in meiner ungluͤcklichen
Lage las und die mich oft troͤſteten; ich
habe ſie von neuem und mit einer unbeſchreib-
lichen Sehnſucht durchgeleſen, ſie haben mich
wieder geruͤhrt und ich halte ſie in großen
Ehren. Ach, von je hab' ich unſern armen
Otway recht innig bemitleidet, der ſo großen
Mangel litt, um den ſich Niemand kuͤmmerte,
und [aus] dem doch ſo oft ein recht himmliſcher
Engel ſchreibt: wie konnten die Menſchen
ſo wenig fuͤr ihn ſorgen! Sie verdienen es
gar nicht, daß ſie ihn leſen duͤrfen. — Ich
moͤchte alle jene Buͤcher wieder zuruͤckhaben,
mit denen ich im truͤben Wetter ſo vertraut
[275] ward, die ich mit verweinten Augen und mit
einem mattklopfenden Herzen las: ich kann mich
in manchen Stunden ſo zuruͤckfuͤhlen, daß ich
noch jetzt uͤber manche Vorfaͤlle von neuem wei-
nen muß, und wenn ich dann meine Thraͤnen
auf den Wangen fuͤhle, ſo iſt mir oft ploͤtzlich,
als waͤre alles noch eben ſo, als waͤren alle
bisherigen Freuden nur ein leichter Schlummer
geweſen. Wenn man erſt uͤber das Ungluͤck
hinuͤber iſt, ſo erinnert man ſich ſeiner mit
einer gewiſſen ſtillen und unbeſchreiblichen
Freude. — Leben Sie recht wohl.


S 2
[276]

41.
William Lovell an Roſa.



Ich bin wohl recht der Narr des Schickſals,
moͤcht' ich mit Lear ausrufen. Hierhin und
dorthin werd' ich geſtoßen; wie eine wunderbare
Seltenheit gehe ich durch alle Haͤnde, jeder-
mann betrachtet mich genau, und ich kann es
nicht unterlaſſen, mich uͤber mich ſelbſt zu ver-
wundern. — Ich weiß noch nicht, wie Sie die-
ſen Brief erhalten werden, aber ich muß mich
zerſtreuen, ich muß mich beſchaͤftigen, und dar-
um ſchreibe ich Ihnen. — Ich bin nun hier in
einer ganz neuen Situation, ich kann nicht fort
und moͤchte doch nicht gerne bleiben: doch, ich
will Ihnen ruhig erzaͤhlen, wie ich hieherge-
kommen bin.


Ich reiſete mit meinem neuerworbenen Gelde
von Chambery aus, mein Herz war ziemlich
leicht, mein Gemuͤth zuweilen heiter geſtimmt,
die ganze Welt kam mir vor wie eine große
Raͤuberhoͤle, in der alles gemeinſchaftliches Gut
[277] iſt und jedermann ſoviel an ſich reißt, als er
bekommen kann; kaum beſitzt er es, ſo wird es
ihm von neuem entriſſen, um auch dem neuen
Eroberer nicht zum Genuſſe zu dienen. Ich
vergab Burton, ich vergab mir ſelbſt, denn je-
dermann thut nur, was er vermoͤge ſeiner Be-
ſtimmung thun muß: wir ſind von Natur ei-
gennuͤtzig, und durch dieſe Einrichtung der Na-
tur Raͤuber, die ſich deſſen, wonach ſie geluͤſtet,
mit Gewalt oder mit Schlauheit zu bemaͤchti-
gen ſuchen. Dies iſt der Grundſatz der Politik
im Großen und Kleinen, es giebt keine andre
Philoſophie wie dieſe und es kann keine andre
geben, denn jedes Syſtem naͤhert ſich dieſer
Klugheit mehr oder weniger, ſie iſt mehr oder
weniger darinn verſteckt, alle Spitzfindigkeiten des
Verſtandes ruhen am Ende auf dem Egoismus.
Warum ſollen wir alſo nicht gleich lieber den
einfachen Satz annehmen, vor dem jedermann
zuruͤckzuſchrecken affektirt und an den doch jeder
glaubt?


Ich bin ſeit kurzer Zeit mehr mit mir
einig geworden, das heißt eigentlich, ich be-
trachte die Ideen kaͤlter, die ich bis jetzt nur
ahndete und deren dunkles Vorgefuͤhl mich in
[278] eine Art von Erſchuͤtterung ſetzte. Ich habe
jene Gutmuͤthigkeit abgelegt, die mich vor an-
dern oft ſo laͤcherlich und mich ſelbſt ſo unru-
hig machte. Ich ertrug ſonſt die Affektation
der Menſchen mit einer unglaublichen Geduld.
Stundenlang konnte ich einem zuhoͤren, der ſich
fuͤr einen ungluͤcklichen oder verfolgten Tugend-
haften hielt, ohne eine Mine zu verziehen.
Welche Unverſchaͤmtheit beſitzen dieſe Menſchen,
alle ihre Lehrſaͤtze, alle ihre niedrige Heucheley
einem Weſen vorzutragen, das vor ihnen ſteht
und an dem ſie doch einen Kopf gewahr wer-
den! Kann man ſie beſſer beſtrafen, als wenn
man ihnen zeigt, wie ſehr man ſie verachtet,
wenn man ſie dadurch bewegt, ſich ſelbſt auf
eine Stunde zu verachten? Ich that es jetzt
und ward in der ganzen Welt als ein Boshaf-
ter verſchrieen: jene jaͤmmerlichen Weſen ſpra-
chen mir das menſchliche Gefuͤhl ab, weil ich
mit ihren klaͤglichen, zuſammengeflickten Leiden
nicht ſympathiſiren wollte. Bosheit iſt nichts,
ein Wort; es giebt keine Bosheit; dieſen Satz
will ich gegen die ganze Welt vertheidigen.


Aber ich wollte Ihnen ja meine Geſchichte
erzaͤhlen. Von Chambery machte ich die Reiſe
[279] zu Pferde. Es war ein wunderbarer Weg, und
ich verirrte mich, ich hatte die große Straße
ganz verlaſſen und befand mich nun auf Neben-
wegen, die bald ausgingen, bald dahin zuruͤck-
zukehren ſchienen, woher ich kam. Ich fand
nur einzelne Huͤtten, in denen ich einkehren
konnte, und die Kohlenbrenner, oder Holzhau-
er, die ich dort traf, wußten den Weg ſelber
nicht, den ich ſuchte. An einem Morgen, als
ich einen ſteilen Huͤgel hinaufritt, befiel mich
eine ſeltſame Beklemmung ſo gewaltig, als
wenn ſie mein Herz zerdruͤcken wollte, alles um
mich her war mir ploͤtzlich ſo bekannt, keine
dunkle, ſondern eine ganz deutliche Erinnerung
trat mir entgegen, daß ich an dieſem Platze
ſchon geweſen ſey. Ein wuͤſter Rauch lag auf
den fernen Bergen, und eine grauenvolle Daͤm-
merung machte die tiefen Abgruͤnde noch furcht-
barer. Mit gewaltigem Schrecken ergriff mich
das Gefuͤhl der Einſamkeit, es war, als wenn
mich die Gebirge umher mit entſetzlichen Toͤnen
anredeten; ich ward ſcheu, als ich die großen
und wilden Wolkenmaſſen ſo frech am Himmel
uͤber mir haͤngen ſah. Ich ſtand mit dem
Pferde ſtill, um uͤber meinen eigenen Zuſtand
[280] nachzuſinnen: jetzt brach ein Sonnenſtrahl her-
ein und ich erkannte ploͤtzlich mich und die Ge-
gend. — Es war dieſelbe, Roſa, Sie werden
ſich ihrer noch erinnern, in der ich von Raͤu-
bern angefallen wurde, als ich mit Ihnen zuerſt
nach Italien reiſte: es war derſelbe Ort, an
welchem mich Ihre verkleidete Geliebte ſo
tapfer vertheidigte. Die Spitzen der fernen
Berge hoben ſich wieder, wie damals, golden
aus dem Nebel heraus, das tiefe Thal flim-
merte in tauſend bunten Sonnenſtreifen: ein
Wagen fuhr den großen Weg muͤhſam den
Berg herauf. — Ich bildete mir ein, daß
Sie mit Balder darinn ſaͤßen, Willy vorne
auf dem Bock: ich ſah genauer hin und es war
mir ſogar, als koͤnnte ich die Geſichtszuͤge des
alten Willy erkennen. Ich folgte dem Wagen
mit den Augen und konnte mich immer noch
nicht von meinen Traͤumereyen losreißen, als
ein Schuß, der mein Pferd zu Boden ſtreckte,
mich aus meiner Betaͤubung aufriß. Vier
Menſchen ſtuͤrzten aus dem Gebuͤſche auf mich
zu: alles war mir wie ein wiederholtes Poſſen-
ſpiel und ich ſah mich kalt nach dem blonden
Ferdinand um, daß er mir mit ſeinem Hirſch-
[281] faͤnger zur Huͤlfe eilen ſolle. Aber er kam nicht,
er war nicht da, und ich gab mich ohne Ge-
genwehr gefangen; ich uͤbergab den Raͤubern
ſelbſt alles Geld, das ich bey mir hatte: ſie
ſchienen uͤber meine Kaltbluͤtigkeit erſtaunt. —
Man ſchleppte mich auf geheimen Wegen zu
ihrer Wohnung. Ich wußte immer noch nichts
von mir ſelbſt, nicht aus Verzweiflung, ſondern
weil ich ungewiß war, ob ich ſchliefe, oder
wachte, ich glaubte, ich duͤrfte mir nur recht
ernſthaft Muͤhe geben, aufzuwachen, und es
wuͤrde auch geſchehen, das heißt, ich wuͤrde
ſterben.


Als ich einige Stunden ſo zugebracht hatte,
ſchlug mir ein anſehnlicher Mann vor, ein
Mitglied ihrer Geſellſchaft zu werden. Sie er-
rathen es vielleicht, Roſa, daß ich ohne alles
Bedenken dieſen Vorſchlag annahm. Dieſer
laͤcherlich wunderbare Umſtand fehlte meinem
Leben noch bis jetzt, er ſchloß ſich ſo herrlich
an alles Vorhergehende, er beſtaͤrkte mich ſo in
meinem Traume, ich war ſo uͤberzeugt, daß
ich hier ſeyn muͤſſe und nicht anderswo ſeyn
koͤnne, daß ich den Raͤubern, als ſie mich kaum
gefragt hatten, ſchon mein Jawort gab. —
[282] Und ſagen Sie ſelbſt, was kann unſer Leben
anders ſeyn, als ein leeres groteskes Traum-
bild? Wir halten es immer fuͤr etwas ſo ernſt-
haftes, und es iſt eine plumpe, unzuſammen-
haͤngende Farce, der nuͤchterne, verdorbene Ab-
hub einer alten, beſſern Exiſtenz, eine Kinder-
komoͤdie ex tempore, eine ſchlechte Nachaͤffung
eines eigentlichen Lebens.


Jetzt ſitze ich nun hier in einer tiefen Ein-
ſamkeit, denn alle meine Gefaͤhrten ſind aus-
gegangen. Der Wind pfeift durch die gewun-
denen Felſen, die Zweigen knarren laut und die
todte Stille wiederholt jeden Schall. Nichts
als Felſen, Baͤume und ferne Gebirge ſieht
mein Auge, das Geſchrey des Wildes toͤnt
durch die feyerliche Ruhe. Einzelne Wolken
ziehn ſchwer durch die Gebirge; der Sonnen-
ſchein geht und koͤmmt wieder. — Warum
ſitz' ich nun hier und denke und ſchreibe an
Sie? — Was ſoll ich hier? — Und doch kann
ich noch nicht fort: die Raͤuber haben aus
meinem Aeußern geſchloſſen, ich koͤnnte ein
tuͤchtiges Mitglied ihrer Geſellſchaft werden,
und darum wollen ſie mich behalten. Aus
einem verdorbenen Menſchen wird vielleicht noch
[283] ein ganz guter Raͤuber aus mir. Zum Men-
ſchen bin ich verdorben, das heißt, daß ich fuͤr
einen Menſchen jetzt viel zu gut bin: man muß
ſeinen Verſtand und ſeine Gefuͤhle nur bis auf
einen gewiſſen Punkt aufklaͤren, tauſend Dinge
muß man blindlings und auf gut Gluͤck anneh-
men, [um] ein Menſch zu bleiben. — Leben
Sie wohl, ich will in dieſem Briefe bey Gele-
genheit fortfahren, weil ich noch nicht einſehe,
auf welche Art Sie ihn bekommen ſollen. —


Es iſt Nacht, und ich muß jetzt ſchreiben,
weil ich meinen Geſellſchaftern nicht gerne die-
ſen Brief ſehen laſſen moͤchte. Ich habe eigent-
lich nichts zu ſchreiben, aber ich bin nicht ru-
hig genug, um einzuſchlafen. Es liegen einige
erbeutete franzoͤſiſche Tragoͤdien da, die mich
aber anekeln: ich aͤrgre mich, daß ich nichts
von Shakſpear hier habe, der mein Gefuͤhl
vielleicht noch mehr empoͤrte, um es zu be-
ruhigen.


Ich komme mir hier in der dunkeln einſa-
men Huͤtte wie ein vertriebener Weiſer vor,
der die Welt und ihre Albernheiten verlaſſen
[284] hat. Wenn ich mir einen ſolchen Eremiten
recht lebendig vorſtelle, ſo wird mir gleich recht
verſtaͤndig zu Muthe. Balder ſollte jetzt mit
mir dieſe Wuͤſte bewohnen, ich wuͤrde jetzt
recht leicht mit ihm ſympathiſiren.


Ich moͤchte ſcherzen, um die Schauer von
mir zu entfernen, die mich umgeben. Der
Wind rauſcht einſam uͤber die Waͤlder daher
und die Sterne ſtehn wehmuͤthig uͤber Baͤume
und Felſen: Mondſchein ſchimmert heruͤber und
dichte Schatten fallen von den Bergen herun-
ter. Ich ſtrecke in Gedanken die Hand aus,
um der Hand eines Freundes zu begegnen, vor-
zuͤglich ſehn' ich mich nach dem alten ehrlichen
Willy: ich bilde mir ein, er ſitzt neben mir
und fuͤhre ein tiefſinniges Geſpraͤch mit ihm.
Es iſt, als wollten wohlbekannte Stimmen aus
der Wand herausreden, und ich entſetze mich
vor jedem Schalle. Wirft das Licht nicht ſelt-
ſame Schatten gegen die Mauer? Wer kann
wiſſen, was ein Schatten iſt und was er zu
bedeuten hat? — Schlaͤfrige Nachtſchmetterlinge
ſind zum offnen Fenſter hereingeſchluͤpft und
wuͤſt' und traͤge ſummen ſie jetzt durch das Ge-
mach: in immer engern Kreiſen treiben ſie ſich
[285] um die Flamme des Lichtes, um ſich zu ver-
ſengen und zu ſterben. Ein Zweig des Bau-
mes klatſcht gegen mein Fenſter, er faͤhrt auf
und nieder und verdeckt mir bald die Sterne,
bald zeigt er ſie mir im blaͤulicht gruͤnen Luft-
raume. Ich weiß nicht, warum mich alles er-
ſchreckt, warum der Himmel mit ſeinen Ster-
nen ſo wehmuͤthig uͤber mir ſteht. — In der
Einſamkeit liegt eine Bangigkeit, die unſre
ganze Seele zuſammenzieht; wir entſetzen uns
vor der großen, ungeheuren Natur, wenn kein
Sonnenſchein die große Scene beleuchtet und
unſern Blick und unſre Aufmerkſamkeit auf die
einzelnen Parthien richtet, ſondern wenn die
Finſterniß alles zu einem unuͤberſehlichen Chaos
vereinigt. Dann gehen wir voͤllig im wilden,
ungeheuern Meere unter, wo Wogen ſich auf
Wogen waͤlzen und alles geſtaltlos und ohne
Regel durcheinander fluthet. Nirgends kann
man ſich feſthalten; unſre Welt ſieht dann aus
wie eine ehemalige Erde, die ſo eben in der
Zertruͤmmerung begriffen iſt — und wir werden
unbemerkt mit verſchlungen.


Ich wuͤnſche in Rom zu ſeyn und Andrea
zu ſehn und zu ſprechen. — Das Leben hier
[286] mißfaͤllt mir ſeiner Einfoͤrmigkeit wegen, mein
Geiſt muß jetzt einen andern Schwung nehmen,
oder ich gebe mich ſelbſt verloren. Eine groͤßere
Seele muß mich jetzt beſchuͤtzen, oder ein Elend,
wie es vielleicht noch keinem Menſchen zu Theil
ward, iſt mein Loos. —


Wer iſt das, der unter unſern Wipfeln
hinweggeht? ſo ſcheinen mir die Baͤume nach-
zurufen; jede Wolke und jeder Berg macht eine
drohende Gebehrde, — ach, und die Menſchen
um mich her! ſie demuͤthigen mich am meiſten.
Auf eine betruͤbte Art ſind ſie ſich ſelbſt genug,
ihre Traͤgheit und einen jaͤmmerlichen Leichtſinn
halten ſie fuͤr Staͤrke der Seele; ſie bemerken
die Leere in ihrem Geiſte nicht, die Anlage im
Verſtande, die ohne die mindeſte Vollendung
liegen blieb. Sie ſind nichts als redende Bil-
der, die den Menſchen und mich verachten,
weil ſie ſich ſelbſt nicht achten koͤnnen.


Sie ſprechen oft viel von einem Rudolpho
und Pietro, die ſich immer durch ihre Brav-
heit ausgezeichnet haͤtten und die bey einem
Ueberfalle umgekommen waͤren. Sie wiſſen es
nicht, Roſa, daß ſie durch mich und durch
Ihren Ferdinand umkamen; ſie wuͤrden mich
[287] ſogleich ermorden, wenn ich es ihnen entdeckte.
— Ich habe ihre Leichenſteine beſuchen muͤſſen,
die ihnen die ganze Geſellſchaft geſetzt hat; ſie
dienen dieſen Menſchen zur Kirche. —


Warum koͤnnt' ich nicht naͤchſtens Roſali-
nen, oder meinen Vater wiederfinden? — In
dieſer ſeltſamen Welt iſt nichts unmoͤglich. —


Der Morgen bricht an, der Mondſchein
wird bleicher, ich will mich niederlegen, um
noch einige Stunden zu ſchlafen. — Jetzt habe
ich vor dem Schaudern Ruhe: die Geſpenſterzeit
iſt voruͤber. — Sie lachen vielleicht, Roſa, —
leben Sie wohl.


Ich durchſuche heute meine Brieftaſche und
finde noch ein altes, uraltes Blatt darinn; es
iſt ein Gedicht, das ich einſt auf Amaliens
Geburtstag machte. Das Papier iſt ſchon gelb
und abgerieben, die Worte kaum noch zu leſen:
darinn lag ihre Silhouette, die ich im Garten
in Bonſtreet an einem ſchoͤnen Nachmittage
ſchnitt. Mein ganzes Herz hat ſich bey dieſen
Entdeckungen umgewandt. Alles Ehemalige,
Laͤngſtverfloſſene und Laͤngſtvergeſſene koͤmmt zu
[288] mir zuruͤck, ich ſehe ſie vor mir ſtehn, ich hoͤre
die Baͤume im Garten von Bonſtreet rauſchen,
die ganze Landſchaft zaubert ſich vor meine Au-
gen hin. — Ich will Ihnen die Phantaſie hie-
herſetzen, die mich ſo innig geruͤhrt hat.


Erſter Genius.
Wo find' ich wohl den Bruder?

Schwärmt er im Regenbogen?

Schwebt er auf jener Wolke?

Bald müſſen wir uns finden,

Die Sonne ſinkt ſchon unter.

Zweyter Genius.
Hier bring' ich Thau von Blumen,

Den Duft von jungen Roſen,

Und aus der Abendröthe

Die kleinen goldnen Punkte;

Nun laß uns fürder eilen

Und holden Abendſchimmer

Ihr auf die Wangen ſtreuen,

Den Mund ihr röther färben,

Mit lichter Ätherbläue

Die ſanften Augen tränken,

Und in die blonden Locken

Die goldnen Lichter ſtreuen,

Die wir vom Regenbogen,

Vom Abendſchein erbeutet.

Beyde
[289]
Beyde.
Wir ſchweben auf Blumen,

Wir tanzen auf Wolken

Vorüber dem Mond.

Es leuchten uns freundlich

Zum nächtlichen Tanze

Die Stern' und der Mond.

Dann ſammeln wir Blumen,

Dann ſuchen wir Kräuter,

Von uns nur gekannt,

Und kehren zum Schutze

Der glücklichſten Menſchen

Vom Wandern zurück.

Der Dichter.
Schützende Genien, wenn ihr zu ihr flieget

Und die Schönſte mit neuer Schönheit ſchmücket,

O ſo hört noch, höret die fromme Bitte:

Nehmet die Seufzer, nehmt die ſchönſten Thränen,

Tragt das treueſte Herz als Gabe zu ihr,

Dann ach! wird ſie meiner gewiß gedenken! —

Die Verſe ſind ſchlecht und die ganze Idee
iſt geſucht, aber ich ſchrieb es damals mit der
waͤrmſten Empfindung nieder; meine Spannung
Lovell, 3r Bd. T
[290] erlaubte mir es nicht, mich in die Schranken
einer natuͤrlichen und einfachen Empfindung zu
halten. Jedes Wort dieſes Gedichts bringt
mir tauſend ſuͤße und ſchmerzliche Erinnerungen
zuruͤck, die Vergangenheit zieht mir ſchaden-
froh durch das Herz, noch ſchoͤner vielleicht,
als ſie damals war. —


Seid mir gegrüßt, ihr frohen goldnen Jahre,

So ſehr ihr auch mein Herz mit Wehmuth füllt!

Ach! damals! damals! — immer ſtrebt mein Geiſt

zurück

In jenes ſchöne Land, das einſt die Heimath war.

Das goldne, tiefgeſenkte Abendroth,

Des Mondes zarter Schimmer, der Geſang

Der Nachtigallen, jede Schönheit gab

Mir freundlich ſtillen Gruß, es labte ſich

Mein Geiſt an allen wechſelnden Geſtalten

Und ſah im Spiegel friſcher Phantaſie

Die Schönheit ſchöner: Willig fand die Anmuth

Zum Ungeheuren ſich, und alles band ſich ſtets

In reine Harmonie zuſammen. — Doch

Entſchwunden iſt die Zeit, das eh'rne Alter

Des Mannes trat in alle ſeine Rechte.

Mich kennt kein zartes, kindliches Gefühl,

Zerriſſen alle Harmonie, das Chaos

Verwirrter Zweifel ſtreckt ſich vor mir aus.

Von jäher Felſenſpitze ſchau' ich ſchwindelnd

[291]
In ſchwarze, wüſte, wildzerrißne Klüfte.

Ein wilder Reigen dreht ſich gräßlich unten,

Ein freches Hohngelächter ſchallt herauf,

Und bleiche Fackeln zittern hin und her.

Dämonen, fürchterliche Larven feyern

Mit raſchem Schwung ein nächtlich Luſtgelage.

Wer iſt der ſchwarze Rieſe unter ihnen? —

Er nennt ſich Tod und ſtreckt den bleichen Arm

Nach mir herauf! — Hinweg du Gräßlicher! —

Was rührt ſich in den Bäumen? — Iſt's mein Vater?

Er will zu mir! er kömmt mit Roſalinen

Und langſam geht Pietro hinter ihm,

Auch Willy's Kopf ſtreckt ſich aus feuchtem Grabe! —

Hinweg! — ich kenn' euch nicht! — zur Höll'

hinab!!—

Doch laut und immer lauter rauſcht die Waldung,

Es brauſt das Meer und ſchilt mit allen Wogen, —

Und in mir klopft ein ängſtlich feiges Herz. —

Ihr alle richtet mich? verdammt mich alle? —

Du ſelbſt biſt gegen Dich? — O Thor, laß ja

Den Geiſt in dir, den frechen Dämon nie

Gebändigt werden! Laß das Schickſal zürnen,

Laß Lieb' und Freundſchaft zu Verräthern werden,

Laß alles treulos von dir fallen: ha! was kümmern

Dich Luftgeſtalten? — ſey dir ſelbſt genug!

Was meinen Sie, Roſa? — Wenn ich
uͤber mich ſelbſt ein Trauerſpiel machte, muͤßte
T 2
[292] ſich da dieſe Tirade nicht am Schluſſe des vier-
ten Akts ganz gut ausnehmen?


Die Raͤuber verachten mich jetzt von Her-
zen, weil ſie ſehn, daß ich zu ihrem Gewerbe
ganz unbrauchbar bin. Sie gehn aus und laſ-
ſen mich meiſtentheils zuruͤck, um die Wohnun-
gen zu bewachen.


Einer von ihnen iſt erſchoſſen. Ich bin zu-
weilen der Zeuge der niederſchlagendſten Sce-
nen, ich moͤchte mir oft ſelber entfliehen. —
Ich bin wieder allein und ſchwarze Gewitter-
wolken bedecken den ganzen Horizont. — Wie
wuͤſte und verlaſſen iſt alles um mich her! —
Der Blitz zuckt durch den ſchwarzen Wolken-
vorhang und ein Donnerſchlag laͤuft krachend
durch die Gebuͤrge. Ein wildes Gebrauſe von
Regen und Hagel ſtuͤrzt herab, alle Baͤume
wanken bis in ihren Wurzeln. —


Ich erinnere mich meines Aufenthaltes in
Paris. — Wie iſt es moͤglich, daß manche
Menſchen, die ich dort kannte, noch den
Wunſch nach dem Leben haben koͤnnen? —
Von allem, was das Leben theuer und ange-
[293] nehm macht, waren ſie entbloͤßt, ſie mußten
ſich unter Schimpf und Verfolgung von einem
Tage zum andern hinuͤberbetteln, ſie wurden
von Noth und Mangel erdruͤckt und dennoch
ſahen ſie dem naͤherſchreitenden Tode mit einer
bleichen Wange entgegen. — Ich kann es
nicht begreifen und wuͤrde es in einer Erzaͤh-
lung nicht glauben.


Nein, ich muß mir vor mir ſelber endlich
Ruhe ſchaffen. — Soll mir alles nur draͤuen
und kein Weſen liebevoll die Hand nach mir
ausſtrecken? Iſt fuͤr mich der Name Freund-
ſchaft und Wohlwollen todt? — Und wenn der
Himmel noch lauter zuͤrnte, ſo will ich mich
dennoch nicht entſetzen. In einer noch hoͤhern
Wildheit, im ſtuͤrmendſten Wahnſinne will ich
einen Zufluchtsort ſuchen und mich dort gegen
alles verſchanzen! Ich will ſo lange trinken bis
mir Sinne, Athem und Bewußtſeyn entgehn,
und ſo als ein taumelnder Schatten zum Orkus
wandern, damit mir dort alles noch ſeltſamer
und unbegreiflicher erſcheine.


Hoch moͤcht' ich mit den Stuͤrmen durch
[294] des Himmels Woͤlbung fahren, mich in das
ſchaͤumende Meer werfen und gegen die don-
nernden Wogen kaͤmpfen, mit den Abgruͤnden,
mit den tiefen, undurchdringlichen Schachten
der Erde will ich mich vertraut machen und
endlich, endlich irgendwo die Ruhe entdecken. —


Und warum will ich ruhig ſeyn? Warum
dies laͤcherliche Streben nach einer Empfindung,
die an ſich nichts iſt? die nur aus einer Ab-
weſenheit von Gefuͤhlen entſteht? — Nein, ich
will anfangen, in den Folterſchmerzen, im
Kampfe des Gewiſſens meine Freuden zu finden!
— Alle Verbrecher, alle Boͤſewichter ſollen
leben! Der Tugend, der Gottheit zum Trotz
ſollen ſie ſich nicht elend fuͤhlen! ich will es
ſo und ich hab' es mir ſelber zugeſchworen.


Mit meinen jaͤmmerlichen Geſellen iſt nichts
anzufangen, ſie trinken und ſpielen nicht.
Raub und Mord und Mord und Raub iſt ihr
einziges Beginnen, und wenn ſie ſpielen, iſt
man in Gefahr, von ihnen umgebracht zu
werden.


Wie mir der Kopf, wie mir alle Sinne
ſchwindeln. — Es giebt nichts Hoͤheres im
Menſchen, als den Zuſtand der Bewußtloſigkeit;
[295] dann iſt er gluͤcklich, dann kann er ſagen, er
ſey zufrieden. Und ſo wird er im Tode ſeyn.
Dumpfe Nacht liegt dann uͤber mir, kein Stern
leuchtet zu mir in den finſtern Abgrund hinein,
kein Schall aus der Oberwelt findet den Weg
dahin, unaufloͤslich an gaͤnzliche Vergeſſenheit
gebunden lieg' ich dann da und bin nicht mehr
ich ſelbſt, ich kenne mich nicht mehr und die
Steine umher ſind meine Bruͤder, — nun,
warum ſollt' ich mich denn alſo vor dem Tode
fuͤrchten? Er iſt nichts, er hebt die Furcht
auf, er iſt die letzte Spitze, in der alle menſch-
liche Gefuͤhle und Beſorgniſſe zuſammenlaufen
und in Nichts zerſchmelzen.


Wohl mir, wenn der Tod erſt mein Ge-
hirn und Herz zertreten hat, wenn Steine uͤber
mir liegen und Gewuͤrme von meinem Leich-
name zehren! —


Der Menſch iſt nichts als ein alberner Poſ-
ſenreißer, der den Kopf hervorſteckt, um Fraz-
zen zu ziehn, dann druͤckt er ſich wieder zuruͤck in
eine ſchwarze Oeffnung der Erde und man hoͤrt
nichts weiter von ihm.


Mein Blut laͤuft ſchmerzhaft ſchnell durch
meine Adern. Aber es wird einſt ſtille ſtehn,
[296] kein Wein wird es dann ſchneller herumtreiben
und nach dem Gehirne jagen, es wird ſtehn
und verweſen. —


Wo die Menſchen bleiben! — Wenigſtens
mag ich noch jetzt nicht allein ſeyn, dazu habe
ich im Tode noch Zeit genug.


Reiſen Sie ja nicht hieher, Roſa, glauben
Sie mir, wir wuͤrden Sie ohne alle Barmher-
zigkeit rechtſchaffen pluͤndern, denn hier gilt
keine Freundſchaft, keine Ausnahme der Perſon.
Ja, wir ſchonen nicht einmal andrer Diebe; ſo
ſtrenge halten wir auf Gerechtigkeit. —


O Freund, was kann der Menſch denken
und niederſchreiben, wenn er ohne Beſinnung
iſt! Jetzt, da ich nuͤchtern bin, ſchaͤme ich
mich vor mir ſelber, ich wache in mir ſelbſt
auf, und alles wird zu nichte, was ſchon in
ſich ſelbſt ſo nichtig war. Seit ich hier bin,
iſt mein Herz mehr zerriſſen als je, ich
habe mich nie vorher mit dieſen Augen betrach-
tet. In der duͤſtern Einſamkeit reißen ſich alle
Sophismen, alle Truggeſtalten mit Gewalt von
mir los, ich fuͤhle mich von allen jenen Kraͤf-
[297] ten verlaſſen, die mir ſonſt ſo willig zu Gebote
ſtanden. Eine ſchreckliche Nuͤchternheit befaͤllt
mich, wenn ich an mich ſelbſt denke, ich fuͤhle
meine ganze Nichtswuͤrdigkeit, wie jetzt nichts
in mir zuſammenhaͤngt, wie ich ſo gar nichts
bin, nichts, wenn ich aufrichtig mit mir ver-
fahre. O es iſt ſchrecklich, Roſa! ſich ſelbſt
in ſeinem Innern nicht beherbergen zu koͤnnen,
leer an jenen Stellen, auf denen man ſonſt mit
vorzuͤglicher Liebe verweilte, alles wuͤſt durch-
einander geworfen, was ich ſonſt nach einer
ſchoͤnen und zwangloſen Regel dachte und em-
pfand: von den niedrigſten Leidenſchaften hin-
geriſſen, die ich verachte und die mich dennoch
auf ewig zu ihrem Sklaven gemacht haben.
Ohne Genuß umhergetrieben, raſtlos von die-
ſem Gegenſtande zu jenem geworfen, in einer
unaufhoͤrlichen Spannung, ſtets ohne Befriedi-
gung, luͤſtern mit einer verdorbenen, in ſich
ſelbſt verweſten Phantaſie, ohne friſche Lebens-
kraft, von einem zerſtoͤrten Koͤrper zu einer
druͤckenden Melankolie gezwungen, die mir un-
aufhoͤrlich die große Rechnung meiner Suͤnden
vorhaͤlt; — nein, Roſa, ich kann mich ſelber
nicht mehr ertragen. Waͤre Andrea nicht, ſo
[298] wuͤrde ich wuͤnſchen, ewig ein Kind geblieben
zu ſeyn, der Duͤmmſte zu ſeyn, den Sie nicht
eines Wortes, nicht Ihres Anblicks wuͤrdigen,
ach, ich waͤre zufrieden auch mit Ihrer Verach-
tung, ich wuͤrde von keiner andern Heimath
wiſſen und mich in der dunkeln, beſchraͤnkten
Huͤtte gluͤcklich fuͤhlen. Aber ich weiß, daß
noch nicht alles verloren iſt, die groͤßere und
beſſere Haͤlfte meines Lebens iſt noch zuruͤck.
Andrea hat den Schluͤſſel zu meiner Exiſtenz,
und er wird mir wieder ein freyeres Daſeyn
aufſchließen: er wird mich in eine hoͤhere Welt
hinuͤberziehn und ich werde dann die Harmonie
in meinem Innern wieder antreffen. So muß
es ſeyn, oder es giebt fuͤr mich keinen Troſt
auf dieſer weiten Erde, keinen Troſt im Grabe,
vielleicht keinen Troſt in einer Unſterblichkeit.
Glauben Sie nicht, Roſa, daß ich in einer truͤ-
ben Laune uͤbertreibe, daß ich mich mit Be-
ſchuldigungen uͤberlade, um mir nur die Ent-
ſchuldigung wieder deſto leichter zu machen:
nein, ich habe dies in allen Stimmungen em-
pfunden, ſelbſt im Wahnſinne der Trunken-
heit, ſchwebte dieſe Ueberzeugung fuͤrchterlich
deutlich vor meinen Augen, nur habe ich ſie
[299] mir ſelber abgelaͤugnet; ich kann jetzt mit die-
ſen Luͤgen nicht weiter kommen, ein unbeſtech-
licher, unſichtbarer Genius verdammt mich von
innen heraus, und was mich am meiſten zu
Boden wirft, iſt, daß ich mir nicht als ein
Ungeheuer, ſondern als ein veraͤchtlicher, ge-
meiner Menſch erſcheine. Waͤre das erſtere der
Fall, ſo laͤge in der Vorſtellung ſelbſt ein
Stolz und alſo auch ein Troſt. — O, Sie
glauben es nicht, wie abgeſchmackt ich mir vor-
komme, wenn ich irgend einen Schluß machen,
oder etwas Geſcheutes ſagen will, alles erſcheint
mir dann ſo ohne Zuſammenhang mit mir ſel-
ber, ſo aus der Luft geriſſen, ſo im Wider-
ſpruche mit dem jaͤmmerlichen Lovell, daß ich
wie ein Schulknabe erroͤthen moͤchte.


Sie ſehn, Roſa, ich muß zuruͤck und An-
drea muß mich von mir ſelbſt erloͤſen.


[300]

42.
Amalie an Betty.



Ihre Briefe, liebſte Freundinn, ſind mir im-
mer ſehr willkommne Bothen. Ich finde dar-
inn den natuͤrlichen Menſchen und ſehr oft
mich ſelber wieder; Sie ſagen mir manchmal
ſehr viel, indem Sie gar nichts zu ſagen glau-
ben. Bleiben Sie ſtets in dieſer ſchoͤnen Un-
befangenheit und Sie werden immer gluͤcklich
ſeyn und Ihren Eduard immer gluͤcklicher ma-
chen, Sie ſtehn im reizendſten Bluͤthenalter des
Lebens, genießen Sie Ihrer jugendlichen und
ſpielenden Phantaſie. Ich habe es bisher nie
glauben moͤgen, daß ſich der Menſch innerlich
ſo veraͤndern koͤnne, daß ihm ſeine Einbildung
die Welt umher und ſeine Traͤume weniger
friſch und bunt abſpiegelte: allein ſo ſehr ich
dies auch fuͤr eine bloße Redensart hielt, ſo
habe ich doch jetzt die Erfahrung an mir ſelber
gemacht. Manches, was mir ſonſt erhaben
vorkam, faͤllt mir jetzt als kindiſches Spielwerk
[301] auf, und manches Gemeinere hat jetzt mein
Sinn geadelt. Manche Traͤumereyen und ſelt
ſame Gefuͤhle liegen mir jetzt nicht ſo nahe wie
ſonſt, ich fuͤhle mich mit feſteren Ketten an die
Erde geſchloſſen und ich liebe ſie mehr, als ich
meine vorige Freiheit liebte. Ich halte jetzt
das Leben nicht mehr fuͤr einen Taumel, ſon-
dern ich finde es ernſthafter, ob es mir gleich
proſaiſcher vorkoͤmmt: man ſollte nie ein ande-
res ſuchen, um das Wirkliche zu finden, denn
ſonſt lockt uns leicht die abentheuerliche Wen-
dung ſo ſehr an, daß wir der Ruͤckkehr ver-
geſſen.


Vergeben Sie mir mein Geſchwaͤtz, liebe
Betty, aber Sie werden vielleicht eben ſo em-
pfinden, wenn Sie Mutter ſind; ich wollte
Ihnen nur meine jetzige Empfindung ſchildern
und in dieſem Beſtreben ward die Beſchreibung
zu weitlaͤuftig. Ich komme mir jedesmal ein-
faͤltig vor, wenn ich etwas Ernſthaftes ſagen
will, und doch liegt das Ernſthafte meinem
Herzen immer ſo nahe. Die Affektation ſcheint
in der menſchlichen Natur ſo einheimiſch zu
ſeyn, daß, wenn wir uns auch nicht zieren, doch
immer ein leiſer Verdacht in uns anſchlaͤgt,
[302] es koͤnnte doch wohl mit dem ganzen Weſen
nur Affektation ſeyn, denn wir haben uns hun-
dert und tauſendmal auf dieſer Schwaͤche ertappt,
und das verleidet uns dann am Ende alle ern-
ſten Empfindungen. Man traut den Frauen-
zimmern auch immer ſo wenig Verſtand zu,
daß wir uns am Ende ſelbſt an dieſes Vorur-
theil gewoͤhnen und vielleicht wirklich daruͤber
dumm werden; denn ſehr oft iſt man das, was
man zu ſeyn glaubt, und nur deswegen, weil
man es glaubt.


Mein kleiner Georg hat gluͤcklich die Zaͤhne
uͤberſtanden, und ich glaube, ich koͤnnte noch
laͤnger und noch weitlaͤuftiger ſchwatzen, wenn
ich mir nicht mit Gewalt Einhalt thaͤte. —
Leben Sie wohl. —


[303]

43.
Ralph Blackſtone an Mortimer.



Es geht alles gluͤcklich und uͤber die Maaßen
wohl mit den Verbeſſerungen; ich halte es fuͤr
meine Schuldigkeit, Ihnen einige ſummariſche
Nachrichten davon zu geben, weil Sie ſich fuͤr
den hieſigen Garten vorzuͤglich intereſſirten.
Die alten Linden, die vertrocknet waren, ſind
abgehauen und ausgegraben, es fand ſich der
Name Ihrer Gemahlin in der einen, neben ihr
ſtand Lovell eingeſchnitten; man hat junge
Birken dort geſetzt; der Teich iſt ausgetrocknet,
weil der Garten doch an Waſſer Ueberfluß hat:
einiges Nadelholz am Abhange des Berges iſt
fortgeſchafft, weil es oben die ſchoͤne, herrliche
Ausſicht einſchraͤnkte. Manche kleine Verbeſſe-
rungen werden Sie noch antreffen, wenn Sie
ſich wieder ſelbſt einmal herbemuͤhen wollten;
der Garten kann ſich nun bald vor jedem Ken-
ner ſehen laſſen; manches freilich koͤnnte beſſer
ſeyn, aber man muß nicht alles in der Welt
[304] auf die beſte Art haben wollen. ſonſt bleibt es
am Ende ganz ſchlecht. — An mir liegt frei-
lich nicht die Schuld, ſondern immer nur an
dem Gaͤrtner Thomas, von dem ich Ihnen
ſchon neulich ſchrieb, daß ich vielen Streit mit
ihm haͤtte; ein Menſch, der ſeinen wahren und
aͤchten Geſchmack gar nicht ausgebildet hat und
der nun doch immer in allen Sachen Recht ha-
ben will. Nun iſt das eine ſehr große und faſt
unausſtehliche Praͤtenſion, ſelbſt von einem ſehr
geſcheidten Menſchen, und nun vollends von
einem Manne, der nicht drey vernuͤnftige Gaͤr-
ten Zeit ſeines ganzen Lebens geſehn hat. Aber
es iſt ein ſchlimmer Umſtand bey dieſem Manne,
er wird ſehr gekraͤnkt, wenn man ihm zu ſehr
widerſpricht, oder ganz gegen ſeinen Willen
handelt, er hat eine Art von empfindſamen Ei-
genſinn, den man gar nicht brechen kann, ohne
ihm ſelber das Herz zu brechen. Er war neu-
lich heftig geruͤhrt, als ich ein Blumenbeet an-
gebracht hatte, von dem er nichts wußte. Er
hielt mir das Unrecht, das ich ihm, als einem
ſo alten Manne, thue, daß ich ſeinen Reſpekt
bey den Gartenknechten vermindre, recht be-
weglich vor, und ich alter Narr ließ mich
uͤber-
[305] uͤbertoͤlpeln und wurde ordentlich mit geruͤhrt.
Seit der Zeit ſind wir nun ſehr gute Freunde,
ich thue ihm ſehr vieles zu Gefallen und er
thut mir auch dagegen manches zu Gefallen:
ich habe es mir uͤberlegt, daß ich lieber den
Garten und den guten Geſchmack, als einen
lebendigen Menſchen etwas kraͤnken will, und
darum ſehe ich jetzt durch die Finger und laſſe
manchmal fuͤnfe gerade ſeyn.


Von der Jagd ſind Sie eben ſo wenig,
wie mein Schwiegerſohn, ein großer Liebhaber,
und darum will ich Ihnen von ihren Fortſchrit-
ten lieber nichts erzaͤhlen. Mein Schwieger-
ſohn iſt Willens, das benachbarte Gut Water-
hall
zu kaufen, und ich glaube, daß er ver-
nuͤnftig daran thut, denn es iſt zu einem ſehr
billigen Preiſe zu haben. — Ich empfehle mich
Ihrer fernern Gewogenheit und nenne mich


Ihren ergebenſten Freund
Ralph Blackſtone.


Lovell. 3r. Bd. U
[306]

44.
William Lovell an Roſa.



Wohin ſoll ich mich wenden? — Ein entſetz-
licher Schreck hat mich bis hieher gejagt, und
nun weiß ich nicht, ob ich hier bleiben, ob ich
ruͤckwaͤrts, oder vorwaͤrts gehen ſoll.


Die Raͤuber waren endlich meines muͤßigen
Lebens uͤberdruͤßig, ſie forderten, daß auch ich
ein nuͤtzliches Mitglied der Geſellſchaft werden
ſollte. Man gab mir ein Pferd, und ich mußte
an einem Morgen mit zwey andern ausreiten.


Wir lagen noch nicht lange am Wege, als
ein Reiter in großer Eile voruͤbertrabte, wir
lenkten auf einen verborgenen Fußſteig ein, ſo
daß wir ihm entgegenkamen. Er ſchien uns
nicht zu fuͤrchten, denn er ſuchte nicht auszu-
weichen, wir ſtießen auf einander — und o
Himmel! nie werd' ich dieſen Augenblick ver-
geſſen, — Karl Wilmonts Geſicht ſtand
vor mir, bleich und entſtellt. — Kaum er-
kannte er mich, als in ſeinen Augen ein hoͤhe-
[307] res Feuer aufloderte. Ich ſah' es, wie er nach
meinem Blute lechzte, er ſprach den Namen
Emilie aus und ſtuͤrzte wie ein wildes Thier
auf mich ein. — Ich konnte ſeinen Blick nicht
aushalten, er zwang mich unwiderſtehlich zu
entfliehn: ich hoͤrte ihn hinter mir, indem er
graͤßliche Fluͤche ausſtieß; mein Haar ſtand em-
por, das Pferd lief mir immer noch nicht
ſchnell genug, eine unbeſchreibliche Angſt draͤngte
mich vorwaͤrts und ich ſpornte unbarmherzig
das Thier. — Meine beyden Gefaͤhrten waren
weit zuruͤck, und als ich mich nachher noch
einmal umſah, war auch Wilmont verſchwun-
den. —


Wo iſt er geblieben? — Soll ich nun
nach Rom kommen, ſoll ich nach Frankreich
zuruͤckkehren? Wo bin ich vor dieſem Ver-
zweifelten ſicher? Aller Muth, der mir ſonſt
zu Gebote ſteht, verlaͤßt mich, wenn ich an
ihn denke. Er koͤmmt, um mich zu ſuchen; —
und wenn er mich nun findet? — Wie vermag
ich's, ihm Stand zu halten? —


Tauſend Zweifel peinigen mich. Verdammt
ſey dieſe Unentſchloſſenheit!


U 2
[308]

45.
Karl Wilmont an Mortimer.



Ich hatte ihn, bey meiner Seele, ich hatte
ihn ſchon! Aber er iſt mir wieder entkommen,
der ſchaͤndliche Boͤſewicht. — Von Raͤubern
ward ich in den [P]iemonteſiſchen Alpen angefal-
len, und denke Dir, Mortimer, er war unter
ihnen. Ich erkannte ihn ſogleich und er er-
kannte mich und flohe. — Mein lahmer Gaul
kam nicht nach. Schon gegen mir uͤber, daß
ich ihn erreichen konnte, hatt' ich ihn gehabt
und nun war er wieder von mir hinweggeflohn.
Mein Pferd ſtuͤrzte endlich an einem hervorra-
genden Stein und brach ein Bein, ich lag eine
Weile ohne Beſinnung; als ich wieder zu mir
ſelbſt kam, ſah ich ihn nirgends mehr. — Aber
ich muß ihn finden! — Wuͤßt' ich nur, wohin
ich mich wenden ſollte! — In welchen Schlupf-
winkel hat ſich der Elende jetzt vor meiner
Wuth verkrochen? — Aber daruͤber bin ich
[309] unbeſorgt; endlich muß ich ihn treffen, Emi-
liens Geiſt wird meine ungewiſſen Schritte
leiten: fand ich ihn doch da, wo ich ihn am
wenigſten vermuthet hatte.


Gruͤße meine Schweſter.


[[310]][[311]]

William Lovell.
Drittes Buch.



[[312]][[313]]

1.
Eduard Burton an Mortimer.



Ich muß Ihnen melden, lieber Freund, daß
ich noch das angenehme Gut Waterhall gekauft
habe, weil es mir bequem liegt und eine ſchoͤne
Abwechslung macht, wenn man dort einmal
eine Zeitlang wohnen will. Ich koͤnnte mich
freilich wohl mit Bonſtreet begnuͤgen, allein die
Bedingungen waren ſo vortheilhaft, daß ich der
Luſt gar nicht widerſtehn konnte. Jetzt muͤſſen
Sie mich bald einmal beſuchen, um die neuen
Einrichtungen zu bewundern, die mein Schwie-
gervater gemacht hat, er hat Ihnen gewiß et-
was davon geſchrieben, denn er ſpricht davon
zu jedermann.


[314]

Man hat mir die zuverlaͤſſige Nachricht ge-
geben, daß Lovell in Frankreich geſtorben iſt;
ſein Erbe verkauft deſſen Guͤter. — Lovell's
Andenken wird mir mein ganzes Leben hindurch
theuer und ſchmerzhaft ſeyn; ihm iſt gewiß
wohl, da er nun geſtorben iſt. Manche Zufaͤlle
erneuern noch oft meinen Schmerz, wenn ſie
mir die Vergangenheit ſo recht lebhaft in's Ge-
daͤchtniß zuruͤckbringen. Doch, die Zeit heilt
jede Wunde, dieſen Ausſpruch habe ich an mir
ſelbſt als wahr befunden. —


[315]

2.
Mortimer an Eduard Burton.



In einigen Wochen komme ich zu Ihnen, und
dann will ich mit eigenen Augen die Verwand-
lungen in Bonſtreet betrachten, die ich bis jetzt
nur aus Beſchreibungen kenne. Ihr Schwie-
gervater hat mir in mehreren Briefen davon
geſchrieben, und alles hat meine Neugierde
aͤußerſt rege gemacht. Der alte Mann hat fuͤr
mich einen ſehr liebenswuͤrdigen Charakter, ſeine
Schwaͤchen ſind in ihm ſo hervorſtechend und
eben darum ſo wenig beleidigend. Durch ge-
wiſſe Thorheiten kann mich ein Menſch ſehr
zu ſeinem Vortheile ruͤhren, wenn er ſie unbe-
fangen zur Schau traͤgt und zwar viel darauf
haͤlt, aber doch nicht allen ſeinen Nebenge-
ſchoͤpfen damit in den Weg tritt. Ich mag die
Eitelkeit nicht ſo grimmig anfeinden, die den
Menſchen oft aufrecht haͤlt, wenn ihn alles
uͤbrige verlaͤßt; ſie iſt eine gutmuͤthige Thor-
heit, die ihn uͤber alle ſeine uͤbrigen Thorhei-
[316] ten troͤſtet, ſie iſt der Wundarzt in der Welt
des Menſchen, und der Menſch leidet gewiß
am meiſten, wenn dieſer ſein Chirurgus krank
darnieder liegt; wenn ihn die Eitelkeit verlaͤßt,
oder er ſeine Eitelkeit verachtet, ſo durchlebt
[er] die ungluͤcklichſten Stunden ſeiner Exiſtenz.
Wenn ſich nun ein Mann irgend ein Spielzeug
ausſucht und ſehr ernſthaft damit umgeht, ſoll
man ihn denn deswegen tadeln? Der alte Black-
ſtone ruͤhrt mich immer durch ſeine Briefe, der
jetzt, der Sorgen entbunden, ſeine Talente
wieder will glaͤnzen laſſen; er iſt dabey der gut-
muͤthigſte Menſch von der Welt und wuͤnſcht
keinen andern zu kraͤnken. An den Thorheiten
erkennen wir erſt das recht Menſchliche im
Menſchen, ſie machen am Ende den Menſchen
aus. Ich will mich uͤber alle Schwaͤchen zu-
frieden geben, die ich mit der Zeit noch an
mir bemerken ſollte, ſie hoͤren nie auf, und
man graͤmt ſich nur daruͤber, indem man an-
faͤngt ſich kennen zu lernen, dann will man ſich
gern fuͤr uͤberaus vortreflich halten und findet
dann ſo viel naͤrriſches Unkraut unter dem
Waizen, daß man den Waizen oft gar nicht
gewahr wird; iſt man aber erſt mit ſich ſelbſt
[317] vertraut, ſo iſt man auch an dieſe Ueberraſchun-
gen ſo gewoͤhnt, daß man am Ende nicht mehr
in die Verſuchung faͤllt, ſich fuͤr vortreflich zu
halten, und — ſeltſam! — eben in dieſer
Lage iſt man vielleicht am beſten. Im Grunde
ſind uͤberhaupt die Menſchen immer gut, man
ſollte ſich nicht anmaßen, uͤber die feinen
Nuancen und Schattirungen ein Urtheil zu
ſprechen, denn indem mir die eine Thorheit
anklebt, muß ich nothwendig eine andre falſch
beurtheilen, und durch Thorheit ſind doch Men-
ſchen den Menſchen verwandt, und man ſollte
nicht immer ſelbſt ſoviel von den Familienfeh-
lern ſprechen. — Leben Sie recht wohl.


[318]

3.
Thomas an den Herrn Ralph
Blackſtone
.



Wohlgeborner Herr,

Ich habe die Ehre Ihnen zu melden, daß ich
mit den Einrichtungen des hieſigen Gartens,
ſo zu ſagen, uͤber Hals und Kopf beſchaͤftigt
bin. Es bringt mir viele Muͤhe, aber ich denke
immer, es ſoll mir auch einige Ehre bringen,
und damit gebe ich mich denn uͤber die Muͤhe
zufrieden. Dieſelben werden wiſſen, daß wir
in dieſer Welt faſt gar nichts ohne Muͤhe ha-
ben, und obgleich die gemeinen Leute immer
zu behaupten pflegen, umſonſt ſey der Tod,
ſo muͤſſen ſich doch die meiſten ganz außeror-
dentlich bemuͤhen, ja faſt quaͤlen, ehe ſie nur
an's eigentliche Sterben kommen; ich meyne
nehmlich die letzten Zuͤge, in denen man immer
zu liegen pflegt; mit dem letzten Athemholen
muͤſſen wir das bequeme Luftholen fuͤr unſer
ganzes Leben bezahlen.


[319]

Der Garten hier iſt in einige Unordnung
gerathen; ich muß Ew. Wohlgebohren die
Ehre haben zu verſichern, daß ich hier ſonſt
ſchon einmal Gaͤrtner geweſen bin und noch
jeden Buſch und jeden Steg kenne, aber da-
mals hatte ich keine freye Hand, denn die
gnaͤdige Beſitzerinn hatte, wenn ich der Wahr-
heit die Ehre geben ſoll, nicht ſehr viel Ge-
ſchmack, es war ihr nur darum zu thun, daß
der Garten gruͤn ſey, und damit war dann alles
gut und fertig. Dieſelben aber werden wohl
einſehn, daß das noch lange keinen Garten
ausmacht, und wir beyde wiſſen es am beſten,
was wir in Bonſtreet fuͤr Arbeit gehabt haben
und gewiß noch haben werden. Seit unſere
Eltern aus dem Paradieſe getrieben ſind und
auf die Erde ein Fluch gelegt wurde, haͤngt
ſie ganz außerordentlich nach dem Verwildern
hin, nun muß der Menſch immer dagegen ſtrei-
ten und arbeiten, um nur alles in der gehoͤrigen
Ordnung zu halten; und ſo ſind die Gaͤrten
entſtanden. Die Gartenkunſt iſt gewiß eine
große Kunſt, und ich hoͤre, daß man jetzt auch
ordentliche gedruckte Buͤcher daruͤber hat, und
das verdient ſie auch ganz ohne Zweifel. Ew.
[320] Gnaden ſchaͤtzen auch die Kunſt nach ihren
Wuͤrden und laſſen ſich ſogar ſelbſt mit der
Arbeit ein, das muntert dann unſer einen auf,
alle ſeine Kraͤfte daran zu wagen. Ich wuͤnſchte
nur, ich waͤre erſt hier mit allem fertig, um
nach unſerm Bonſtreet zuruͤckkommen zu koͤnnen.
— Ich empfehle mich Ihrer fernern gnaͤdigen
Freundſchaft und habe die Ehre mich zu nennen


Ew. Wohlgebohren
ergebenſter Freund und Diener
Thomas.


4.
[321]

4.
William Lovell an Roſa.



Ich bin jetzt entſchloſſen, zuruͤckzureiſen, ich
will in Rom meinen Andrea aufſuchen, bey
ihm bleiben und von ihm lernen. Wilmont
mag mich dann in ſeiner Geſellſchaft treffen
und ich bin uͤberzeugt, der freche Juͤngling
wird vor dem Greiſe zuruͤckzittern. Andrea
wird ihm dann ſeine Rache und ſeine Wuth
als etwas Veraͤchtliches vorſtellen, und ich bin
dann ſo vor ihm geſichert. Vermag es dieſer
Greis nicht durch einige Worte, uns die Welt
und uns ſelbſt als etwas beweinenswuͤrdiges
darzuſtellen, wer wuͤrde nicht ſich und alle ſeine
Plane dabey vergeſſen? Sind Sie nicht auch
der Meinung, daß es in Andrea's Geſellſchaft
unmoͤglich ſey, ein gemeiner oder gewoͤhnlicher
Menſch zu bleiben? Auf jeden Fall reiſe ich
jetzt nach Rom zuruͤck, es iſt wenigſtens der
einzige Ort auf der Erde, wo ich mich hin-
wuͤnſche. —


Lovell. 3r Bd. X
[322]

5.
Bianka an Laura.


Es wird mit jedem Tage ſchlimmer, liebſte
Laura; es will mir nichts mehr einen rechten
Zeitvertreib machen, ſondern alles koͤmmt mir
ſo gemein und veraͤchtlich vor. Iſt es nicht
genug, daß ich krank bin? Muß mir auch das
noch zuſtoßen? Und kein Menſch bekuͤmmert ſich
recht um mich, ich bin mir ſelber ganz uͤber-
laſſen, waͤr' es ein Wunder, wenn ich jetzt
melankoliſch wuͤrde? — Sie beſuchen mich auch
faſt gar nicht; iſt Ihre Freundſchaft nur fuͤr
die frohen und geſunden Tage? Ach, wenn ſie
mich erſt werden begraben haben, werden Sie
es gewiß bereuen, und dann iſt es zu ſpaͤt;
bedenken Sie das, liebe Laura. Sie ſind frei-
lich jetzt geſund und noch ziemlich jung, aber
die Zeit wird auch voruͤbergehn, und dann
werden Sie ſich eben ſo wie ich nach einer
Freundinn umſehn. Glauben Sie mir, liebes
[323] Kind, die Einſamkeit iſt unſer einem fuͤrchter-
lich, man erinnert ſich an tauſend Sachen,
die man ſchon laͤngſt vergeſſen zu haben glaubte.
— Genau genommen, Laura, haben wir nicht
recht gelebt; doch, das ſteht nun nicht mehr
zu aͤndern.


X 2
[324]

6.
Laura an Bianka.


Wie ich es gleich befuͤrchtete, liebſte Freun-
dinn, Sie ſind viel zu aͤngſtlich, das verdirbt
jedermann die Laune, der Sie beſucht, und ich
muß Ihnen aufrichtig geſtehn, daß man Sie
eben darum ungern beſucht, denn die menſch-
liche Natur hat einen Widerwillen gegen alle
Traurigkeit und Finſterniß, alles in der Welt
koͤmmt einem dann gleich ſo klein und unbe-
deutend vor, und auf dieſe Art nutzt ſich am
Ende das Leben ſo wie ein Kleid ab. Sie neh-
men auch alles gar zu genau, liebe Bianka;
wer wollte es im Leben genau nehmen? Sind
nicht Prieſter und Praͤlaten bey uns geweſen
und haben ſich mit uns gefreut? Auf ſie faͤllt
groͤßere Schuld, als auf uns ſelbſt, denn ſie
haben uns in unſerm Lebenswandel beſtaͤrkt.
Beichten Sie, liebſte Freundinn, und ſeyn Sie
dann außer Sorgen, gegen alles iſt Huͤlfe, nur
nicht gegen den Tod, und dieſen werden Sie
[325] durch Ihre Traurigkeit beſchleunigen. Wenn
ich Sie oͤfter beſuchen ſoll, muͤſſen Sie durch-
aus luſtig ſeyn. Sie ſagen mir, ich werde alt
werden. Ich fange wirklich ſelbſt an, ſo et-
was zu merken. Es iſt eine ſchlimme Sache
mit der Zeit, die immer ſo unmerklich weiter
ruͤckt und die, wenn man ſich dann umſieht,
einen ungeheuern Weg zuruͤckgelegt hat. Man
muß aber an ſo etwas gar nicht denken, das
iſt mein Grundſatz, Bianka, es giebt ja noch
tauſend andre Dinge in der Welt, die unſern
Verſtand und unſre Phantaſie beſchaͤftigen koͤn-
nen. Leben Sie recht wohl, und vergeſſen Sie
nicht wieder, was ich Ihnen geſagt habe.


[326]

7.
William Lovell an Roſa.



Ich komme bald, Roſa, ſehr bald, ich brauche
nur noch eine kleine Friſt, um auf dem Wege
manches zu erfahren, was ich ſchon ſeit lange
gerne wiſſen moͤchte. Ich ſagte es ſchon neu-
lich, daß es nichts Wunderbares giebt und daß
ſich alles um mich her vereinigt, um mich an
Seltſamkeiten zu gewoͤhnen.


Ich ſtreifte geſtern Abends durch die Gaſ-
ſen der Stadt, der Mondſchein und die kuͤhle
Luft lockten mich heraus. Ich wollte mich ein-
mal wieder im Taumel der Phantaſie vergeſſen,
wie ich mich denn jetzt zuweilen mit Vorſatz in
einen gewiſſen poetiſchen Rauſch verſetze, um
alle Gegenſtaͤnde anders zu ſehn und zu fuͤhlen.
Einzelne Maͤdchen ſtreiften in den einſamen
Gaſſen umher, und es waͤhrte nicht lange, ſo
folgte ich einer nach ihrer abgelegenen Woh-
nung. Warum mich dieſe gerade und keine an-
dre anzog, weiß ich nicht zu ſagen.


[327]

Als in der Stube ein Licht angezuͤndet
war, ſah ich ein entſtelltes ſchmutziges Geſchoͤpf
vor mir, mit triefenden Augen, von mittlerer
Groͤße und, wie alle ihres Gelichters, mit
einem ſchamloſen Betragen. Als wir uns ge-
nauer betrachteten, ſchrie ſie laut auf, und ich
erinnerte mich ihrer Zuͤge dunkel. Sie befreite
mich bald von meiner Ungewißheit und nannte
mir ihren Namen. Denken Sie ſich mein Er-
ſtaunen, Roſa, als ich erfuhr, daß es niemand
anders, als die kleine Blondine war, die Sie
von Paris mitgenommen hatten, die unter dem
Namen Ferdinand Sie begleitete.


Sie wußte jetzt nicht recht, wie ſie ſich
mit mir nehmen ſolle; ſie fing an, auf die un-
verſchaͤmteſte Weiſe in der Stube umherzu-
ſchwaͤrmen, freche Lieder zu ſingen und mich
dann in ihre Arme zu ſchließen; ich blieb ernſt-
haft, und ploͤtzlich brachen ihre Thraͤnen, wie
ein lange zuruͤckgehaltener Strom, hervor, ſie
warf ſich in einer Ecke des Zimmers auf den
Boden und ſchluchzte laut. Ich war ungewiß,
ob ich bleiben ſollte; ihre Stellung ruͤhrte mich,
ſie hatte das Geſicht mit den Haͤnden verdeckt,
es ſchien, als wollte ſie ſich aus Schaam in
[328] die Mauern hineindraͤngen. Ich ging endlich
zu ihr und richtete ſie auf; ſie wandte ihr Ge-
ſicht ab, ſie konnte vor Zittern und heftigem
Weinen ſich nicht aufrecht erhalten und ſank in
einen kleinen Seſſel. Wie von gewaltigen
Kraͤmpfen ward ſie hin und hergeworfen; nach
dieſem heftigen Sturme erlebte ſie endlich einen
Stillſtand aller Empfindungen, und ſie ſah
mich nun mit einem unbeſchreiblich beruhigten
Geſichte an.


Ich mußte weinen, Roſa, alle Erinnerun-
gen, alle Empfindungen drangen ſo lange auf
mich ein, bis ich meiner Schwaͤche freyen Lauf
ließ. Dadurch ſchien ſie getroͤſtet und aufge-
richtet zu werden. Wir ſprachen nun mitein-
ander, die Erhitzung hatte ihr Geſicht angeneh-
mer gemacht, ſie ſah nicht mehr ſo verzerrt
aus.


Ich glaube, ich habe Ihnen ſchon ehemals
erzaͤhlt, daß ſie mich einſt in Rom in einem
Billette vor Ihrer Geſellſchaft gewarnt habe,
ſie ſagte mir jetzt die Urſache davon, ſie habe
einſt durch einen Zufall gehoͤrt, daß Sie irgend
einen Plan auf mich haͤtten, der mir ſchaͤdlich
ſeyn koͤnnte. — Doch dieſe Kinderey iſt laͤngſt
[329] vergeſſen und ich hoͤrte kaum darnach hin, als
ſie mir von neuem davon erzaͤhlte. Es kommt
mir jetzt laͤcherlich vor, daß mich jenes kleine
Billet und jener Argwohn damals ſo ſehr er-
ſchreckten. Es iſt im Laufe des Lebens etwas
Laͤppiſches, ſich immer fuͤr verfolgt zu halten,
die Menſchen nicht zu verſtehn und ſich auch
keine Muͤhe zu geben, ſie kennen zu lernen,
ſondern ſtatt deſſen ſie blos zu fuͤrchten. Sie
hatten den Plan mich kluͤger zu machen, und
es iſt nachher auch geſchehn; freilich, mag das
wohl etwas Unerlaubtes ſeyn, etwas, das die
meiſten Menſchen fuͤrchten und dem ſie aus
dem Wege gehn. Kluͤger zu werden iſt das
groͤßte Verbrechen, das man ſich in der Welt
nur immer erlauben kann, dadurch empoͤrt man
alle Menſchen gegen ſich, es heißt die Ordnung
der Dinge umſtoßen und ſich gegen die Geſetze
der Natur auflehnen, nach denen der Menſch
mit jedem Jahre mehr zuſammenſchrumpfen und
in eine immer engere Einfalt hineinkriechen
muß. Die ſich von dieſer Nothwendigkeit los-
machen, werden daher von allen uͤbrigen Buͤr-
gern dieſer Erde verfolgt, die auf Recht und
Ordnung halten.


[330]

Als wir uns beyde etwas getroͤſtet und be-
ruhigt hatten, fragte ich ſie um ihre Geſchichte,
die mir in dieſem Augenblicke unendlich intereſ-
ſant war. Es waren ihr aus einem ehemaligen
Leben ſo viele ſchoͤne Fragmente von Unſchuld
uͤbrig geblieben, daß ich mich innig ſehnte zu
hoͤren, wie ſie gerade ſo tief und immer tiefer
geſunken ſey. Sie ſah mich lange mit einem
aufmerkſamen Blicke an, dann ſagte ſie, daß
ſie meine Neugier befriedigen wolle.


Ich bin noch jetzt geruͤhrt, und ich will ver-
ſuchen, Ihnen die eigenen Worte des Maͤdchens
herzuſetzen, ſoviel ich mich ihrer noch erinnern
kann.


Ich bin, fing ſie an, in einer Vorſtadt
von Paris geboren. Das erſte, was ich von
der menſchlichen Sprache verſtand, war, daß
ich keine Mutter mehr hatte; die erſte Empfin-
dung, die ich kennen lernte, war der Hunger.
Mein alter Vater ſaß, das iſt meine fruͤhſte
Erinnerung, vor meinem Bette und weinte,
indem er eine Laute in den Haͤnden hielt, auf
der er ein wunderbares Lied ſpielte. Als ich
nur ſprechen konnte, ſuchte er mich mit dieſem
Inſtrumente bekannt zu machen und mir die
Kunſt, es zu ſpielen und mit Geſang zu beglei-
[331] ten, beyzubringen, ſoviel es in ſeiner Gewalt
ſtand. Alle meine Erinnerungen aus der Kind-
heit ruhen auf Lautentoͤnen aus, alle meine
Empfindungen, mein ganzes Leben iſt aus die-
ſen wunderbaren Toͤnen herausgefloſſen; ſie um-
ſch[l]ießen wie ein unuͤberſehliches, melodiſches
Meer die Graͤnze meiner Erinnerung und mei-
ner Kindheit. Fromme Ahndungen und Ge-
fuͤhle ſchweben leiſe von dort heruͤber und ziehn
langſam meinem Herzen vorbey, es iſt, als
wenn mich einer ruft, deſſen Stimme ich nicht
kenne, den ich nicht verſtehe. — Ach! wenn
ich jetzt manchmal in der tiefen einſamen Nacht
Lautentoͤne hoͤre, — zuweilen dieſelben Lieder,
die ich ſonſt ſpielte, — o Lovell, mein Herz
wollen dieſe Toͤne aus mir herausreißen. —


Als ich etwas groͤßer geworden war, mußte
ich meinen Vater auf ſeinen Wanderungen
durch die Stadt und in den nahgelegenen Gaͤr-
ten begleiten. Noch oft ſpaͤt in der Nacht zo-
gen wir durch die Straßen, indem mein Vater
die Laute ſpielte und ich dazu ſang, und bey
manchen Stellen eine kleine Handpauke ſchlug.
Wir erhielten auf die Art ein mageres Almo-
ſen, das wir am folgenden Tage verzehrten
[332] Mein Vater fuͤrchtete ſich vor Geſpenſtern, und
ſah oft in den Ecken etwas ſtehn, vor dem er
ſich innig entſetzte: er theilte mir dieſe unbe-
kannte und unbegreifliche Furcht mit, und die
Welt und das menſchliche Leben kamen mir
dadurch noch ſeltſamer vor. — Bey Tage
ſaßen wir oft unter einer großen und laͤrmenden
Geſellſchaft von gemeinen Leuten, und ließen
unſre Lieder hoͤren; das Getuͤmmel, die Ver-
ſchwendung, Unmaͤßigkeit und die wenige Auf-
merkſamkeit auf uns ruͤhrte mich ganz außeror-
dentlich; mein Vater troͤſtete mich dann und
ſagte mir, daß dies ſo die Weiſe der Menſchen
ſey, daß daraus das menſchliche Leben beſtehe.
— O wie lebhaft und ſchmerzlich faͤllt mir heute
alles, alles wieder ein, was ich immer zu ver-
geſſen ſuchte.


Ein paar arme Maͤdchen geſellten ſich zu
mir und manchmal waren wir jugendlich luſtig,
und es kam mir dann ordentlich vor, als ge-
hoͤrte ich auch mit zur Welt, ich war dann in
mir ſelber dreiſter. — Wenn ich aber wieder
unter die uͤbrigen Menſchen trat, ſo ſchlug mich
jeder gute Anzug nieder, jede vorbeyfahrende
Kutſche beſchaͤmte mich und ich verachtete mich
[333] ſelbſt eben ſo, wie mich alle uͤbrigen Menſchen
verachteten. — Die muthwilligen Geſpraͤche
der Maͤdchen verſetzten mich dann wieder in
einen gewiſſen Rauſch, den ich ſelbſt in der
Freude nur als eine Trunkenheit anſah und in
denſelben Augenblicken recht gut wußte, daß
ich zu einer nuͤchternen Selbſtverachtung, zu
einer elenden, kriechenden Geiſtesdemuͤthigung
wieder erwachen wuͤrde. — Ich verachtete aber
meine Freundinnen ganz von Herzen, ja ich
weinte uͤber ſie, als ich bald nachher von mei-
nem Vater hoͤrte, daß ſie ſich in ein ſchlechtes
Haus als gemeine Dirnen hingegeben haͤtten. —
Wer haͤtte mir damals ſagen koͤnnen, — o, und
doch iſt es gar nicht wunderbar, es iſt ſo be-
greiflich, — ach! Lovell, der Menſch iſt in ſich
nichts werth.


Unſer Ungluͤck wurde noch vergroͤßert; von
innigem Grame, von vielen vergoſſenen Thraͤnen
ward mein Vater blind. Ich war ihm jetzt
ganz unentbehrlich; ich war jetzt ſein einziger
Troſt. Ich that ihm alle Dienſte gern und
willig, ich liebte ihn nur um ſo mehr, je un-
gluͤcklicher er war. Meine Phantaſie hatte jetzt,
bey der gaͤnzlichen Unterdruͤckung von auſſen,
[334] einen hohen Schwung genommen, ich war
innerlich zufrieden, und erſetzte mir durch erha-
bene Traͤume den Verluſt der wirklichen Welt.


Spaͤt in der Nacht las ich oft noch die
Schilderung der großen Richardſonſchen Men-
ſchen, mich erquickte die Welt voll erhabener
Geiſter, die mich dann umgab, und ich war
uͤberzeugt, daß die Menſchen mich nur
nicht genug kennten, um ſich mit mir auszu-
ſoͤhnen. Dann war ich uͤber alles Ungemach
getroͤſtet, dann war ich uͤber alle Leiden beru-
higt, die mich einſt noch treffen koͤnnten. Wel-
chen Eindruck machten aber dann wieder die
gemeinen Geſichter auf mich, von denen ich
durch meinen Geſang ein Almoſen erbetteln
mußte: ihre plumpen Spaͤße, ihre groben Zwei-
deutigkeiten, die ich ertragen mußte, thaten
mir dann innerlich im Herzen wehe. Ich war
gezwungen, einer kleinen Muͤnze wegen jede
Demuͤthigung zu ertragen. Warum haͤngt der
innere Menſch ſo ſehr von der groben aͤußern
Natur ab!


Ach, Lovell, was moͤgen Sie von mir den-
ken, daß ich jetzt noch ſo ſprechen kann? —
Nicht wahr, Sie moͤchten laͤcheln? Die Zeit
[335] geht grauſam mit dem armen Menſchen um;
erſt ſtellt ſie ihn als ein ſchoͤnes und liebens-
wuͤrdiges Kunſtwerk hin, und dann arbeitet ſie
ſo lange an ihm, bis er endlich ſelbſt eine Sa-
tyre auf ſeinen ehemaligen Zuſtand wird. —
Ich bin ganz erhitzt, verzeihen Sie mir meine
umſtaͤndliche, poetiſche Erzaͤhlung.


Jetzt kam eine Zeit, die ich nie vergeſſen
werde, die mir immer ein Raͤthſel bleiben wird.
So widrig mir anfangs die elenden Witzeleyen,
die unausſtehlichen Liebkoſungen dieſer gemeinen
Menſchen geweſen waren, ſo gewoͤhnte ich mich
doch am Ende daran, ja ſie gefielen mir ſogar.
Ich horchte waͤhrend dem Singen auf ihren un-
zuͤchtigen Witz, und widerholte mir in Gedan-
ken die Einfaͤlle, die ich gehoͤrt hatte. Mein
Blut war in einer beſtaͤndigen Erhitzung, ich
lebte wie in einer unaufhoͤrlichen Trunkenheit.
Meine Buͤcher waren mir jetzt zuwider, ſie ka-
men mir laͤcherlich vor: die ſchoͤne Natur zog
meine Blicke und meine Aufmerkſamkeit nicht
mehr auf ſich, ſie kam mir vor wie eine ſtrenge,
langweilige Sittenpredigerinn. Meine Phanta-
ſie ward in gemeinen und unangenehmen Bil-
dern einheimiſch, alle meine vorigen Vorſtel-
[336] lungen erſchienen mir albern und unwuͤrdig. —
Zuweilen war es dann wieder, als wenn ich
aus meinem Schlafe erwachte: dann erinnerte
ich mich meiner vorigen ſchoͤnen Empfindungen,
ich bekam dann einen Abſcheu vor mir ſelber,
mein Leben kam mir in dieſen Augenblicken
wuͤſte und dunkel vor, ich beſchloß, mich zu
meinem ſonſtigen Zuſtande zuruͤck zu retten, —
aber dann trat es mir wieder wie ein ſteiler
Berg entgegen, mein gemeiner Sinn ergoͤtzte
ſich wider meinen Willen an ſchaͤndlichen Vor-
ſtellungen und das ſchoͤne Land der kindlichen
Unſchuld lag wieder weit zuruͤck und wie von
einem ſchwarzen Nebel verfinſtert. Um dieſe
Zeit ſah mich Roſa durch einen Zufall, ich ge-
fiel ihm, er kam mir entgegen und ich machte
die andre Haͤlfte des Weges, er lehrte mich
das Laſter kennen, und ohne Beſinnung, ohne
einen Gedanken verließ ich meinen armen, un-
gluͤcklichen, blinden Vater, und folgte ihm. —
Ach, er wird nun wohl ſchon geſtorben ſeyn;
aber ich bin beſtraft, ſein Fluch iſt mir nach-
gefolgt. — — —


Sie hielt hier ein und weinte von neuem.
Ich erinnerte mich jetzt eines alten blinden
Bett-
[337] Bettlers, den ich in Paris gekannt und der
mir ſelbſt einmal von einer undankbaren, ent-
laufenen Tochter erzaͤhlt hatte. Es iſt ganz
ohne Zweifel derſelbe. An manchen Tagen war
er wahnſinnig und ſang wilde und prophetiſche
Lieder, indem er dazu auf ſeiner Laute phanta-
ſirte: dann liefen ihm die Jungen in den Gaſ-
ſen nach, um ihn zu verſpotten. —


Sie hatte ſich jetzt wieder erholt und fuhr
nun in ihrer Erzaͤhlung fort:


Es erwachte jetzt ein ganz neues Leben in
mir, ich ſah mich zum erſtenmale geſchaͤtzt und
geliebt, in guten Kleidern, vertraut mit einem
Menſchen, den ich noch vor wenigen Tagen
als ein fremdartiges Weſen, als einen Gott
verehrt hatte. Ich kaufte jetzt alle Zuverſicht,
allen Genuß zuruͤck, die ich bis dahin entbehrt
hatte. Meine Munterkeit wurde zur Frechheit,
denn ich hielt mich fuͤr eines der vorzuͤglichſten
Geſchoͤpfe in der Welt, ich hatte den Unter-
ſchied unter den Menſchen nie gelernt, ich
kannte jetzt nur die reichern und aͤrmern, mir
fehlte jetzt zu einem angenehmen Leben nichts,
und ich verachtete jetzt alle Menſchen, die nicht
ſo gut leben konnten wie ich. — In dieſem
Lovell. 3r Bd. Y
[338] Zuſtande ſah ich Sie, Lovell, und ein Gefuͤhl,
wie ich es noch nie gekannt hatte, bemaͤchtigte
ſich meiner. Es war die Liebe, die mir bis
dahin fremd geblieben war. Ohne zu wiſſen,
was ich that, rettete ich Ihr Leben bey jenem
Ueberfalle der Raͤuber. Meine Zuneigung wuchs
mit jedem Tage, aber ich bemerkte, daß Roſa
eiferſuͤchtig wurde. Ach, Lovell, von jetzt lebt'
ich ein ſchweres Leben, denn alle meine Em-
pfindungen lagen im Kampfe miteinander, meine
Gefuͤhle waren ſo rein und ſchoͤn, und eben
durch ſie erhielt ich einen Aufſchluß uͤber meine
eigene Veraͤchtlichkeit. — Sie wiſſen, wie ich
Sie bat, zu mir zu kommen; Roſa uͤberraſchte
uns. Seit der Zeit war ich ihm zuwider, ja
er haßte mich endlich und uͤberließ mich mei-
nem Schickſale. — Ich konnte von Ihnen da-
mals nichts weiter erfahren, als daß Sie mit
einer gewiſſen Roſaline lebten: als ich dies
hoͤrte, wagte ich es nicht, zu Ihnen zu kom-
men, ich fuͤrchtete mich auch vor Roſa. — Es
fanden ſich einige Menſchen, die mich einer
nach dem andern unterhielten, denn ich war
einmal an dieſe Lebensart gewoͤhnt und hatte
viele Beduͤrfniſſe. — Ich ſank immer tiefer,
[339] ich verließ Rom und zog von einer Stadt zur
andern, — und nun, Lovell, — Reue im Her-
zen, ohne Geld, mit den gemeinſten Geſchoͤpfen
verſchwiſtert, krank — — —


Sie konnte nicht weiter ſprechen. Ich war
erſchuͤttert, ich gab ihr alles Geld, das ich bey
mir hatte, und verließ ſie. — Ich will ſie heute
beſuchen und ſie mit mehrerem Gelde verſorgen,
damit ſie wenigſtens ihre Geſundheit wieder
herſtellen kann.


Sie haͤtten ſie nicht ſo ganz verlaſſen ſol-
len, Sie haben nicht recht gethan. — Doch,
bin ich mit Roſalinen nicht noch ſchaͤndlicher
umgegangen? — Leben Sie wohl.


Y 2
[340]

39.
Ralph Blackſtone an Thomas.



Es iſt hier noch immer alles beym Alten,
mein lieber Thomas, außer daß im Garten
wieder manche kleine Veraͤnderungen vorgefallen
ſind. Ich finde doch, daß Er bey allen den
Anlagen unentbehrlich iſt, denn die uͤbrigen
Menſchen ſind dumm und es iſt nichts mit
ihnen anzufangen. Ich habe noch allerhand
neue Projekte im Kopfe, die ſich vielleicht noch
mit der Zeit ausfuͤhren laſſen. Er muß nur
den Garten in Waterhall bald zu Stande zu
bringen ſuchen, denn im Grunde gehoͤren wir
beyde zuſammen, wenn wir uns auch manchmal
ein wenig geſtritten haben. Vier Augen ſehn
immer weiter, als zwey, das iſt mein Wahl-
ſpruch und ich finde es immer beſtaͤtigt, daß
ich daran nicht Unrecht habe. Man muß nur
[341] immer ſuchen, in der Welt irgend etwas zu
Stande zu bringen, es mag auch dann ſeyn,
was es will; es iſt zwar nichts merkwuͤrdiges
eben, wenn wir den hieſigen Garten beyde ver-
ſchoͤnern, es wird immer noch keinen Einfluß
auf die Weltgeſchichte haben, aber es iſt dann
doch immer ſehr angenehm und ſehr loͤblich.
Wenn man im Kleinen etwas Gutes thut, ſo
kann man es doch berechnen, wie weit es ſich
erſtreckt, und das iſt immer ſehr viel werth;
von dem Guten aber, das im Großen geſchieht,
oder geſchehn ſoll, kann man nie wiſſen, wie
weit es gehn wird, es geht oft gar zu weit
und iſt nachher nicht mehr zu aͤndern, eben
weil es gleich in der Anlage zu groß war.
Er thut mir daher einen ſehr großen Gefallen,
lieber Thomas, wenn Er ſobald als moͤglich
wieder zuruͤckkommt, mit Ihm kann man re-
den, und Er iſt ein Mann, der den Verſtand
da hat, wo er hingehoͤrt; das kann man nicht
von allen Leuten ſagen, Thomas, denn manche
haben ihn in den Fußſohlen, andre im Ruͤcken,
andre auf der Zunge, das ſind ſolche Leute,
die man zu gar nichts brauchen kann. Er
[342] ſieht, wie hoch ich ihn ſchaͤtze, und er wird
darum machen, daß er bald zuruͤckkoͤmmt. Ich
nenne mich


Seinen Freund
Ralph Blackſton.


[343]

9.
Betty an Amalie.



Ich glaube Ihren letzten Brief zu verſtehn,
liebe Amalie. Es iſt wahr, daß man ſich ge-
wiß einmal von dem bunten Spielzeuge des Le-
bens trennen muß, aber es iſt denn doch eine
betruͤbte Wahrheit, es iſt eine Erfahrung, die
ich lieber an mir nicht machen moͤchte. Ich
kann es mir noch gar nicht vorſtellen, daß ich
irgend einmal in meinem Leben recht geſetzt und
verſtaͤndig ſeyn ſollte, ich habe vor tauſend
Kleinigkeiten noch eine recht große Achtung und
kann nie an etwas Wichtiges denken. Es iſt,
als wenn mir ein jeder große Gedanke ordent-
lich aus dem Wege ginge, um nur meinem
Kopfe nicht zur Laſt zu fallen. Im Grun-
de liegt mir die Kinderzeit noch recht nahe
und es koͤmmt mir oft vor, als wenn ich nur
ſo die Erwachſene ſpielte. — Es findet ſich
aber alles in der Welt, und ſo wird auch wohl
mein Gemuͤth mit der Zeit ernſthafter werden;
[344] ſchon daß ich darauf gekommen bin, iſt viel-
leicht eine heimliche Veranſtaltung dazu. —
Ach, liebe Amalie, meine Briefe klingen immer
recht einfaͤltig, wenn ich ſie von neuem durch-
leſe, ich ſcheue mich dann, ſie abzuſchicken,
weil ich Ihnen damit gar nichts ſchicke, aber
Sie ſind immer ſo gut, ſich irgend etwas Klu-
ges herauszuziehn, was Sie im Grunde nur in
Ihrem eigenen Kopfe leſen: machen Sie es mit
dieſem Briefe wieder eben ſo. — Leben Sie
recht wohl.


[345]

10.
William Lovell an Roſa.



Es neigt ſich alles zum Ende, mein Leben
koͤmmt mir vor, wie eine Tragoͤdie, von der
der fuͤnfte Akt ſchon ſeinen Anfang genommen
hat. Alle Perſonen treten nach und nach von
der Buͤhne und ich bleibe allein uͤbrig.


Ich beſuchte in Padua das Maͤdchen am
folgenden Morgen wieder. Meine Ruͤhrung
hatte den ganzen Tag uͤber fortgedauert, ich
ſtellte mir recht lebhaft vor, wie ſehr ſie mir
danken wuͤrde, und als ich nun hinkam, fand
ich ſie im hitzigen Fieber, ſo daß ſie mich gar
nicht wieder erkannte. Ich ließ das Geſchenk
zuruͤck, das ich fuͤr ſie beſtimmt hatte, aber
ich hatte ſehr unangenehme Empfindungen. Es
war alles ſo leer und proſaiſch in mir, indem
ich mir doch noch eine recht erſchuͤtternde Scene
gedacht, ja beynahe darauf gehofft hatte. Jetzt
war es, als wenn ich zu einer Unbekannten ge-
gangen waͤre. Alle meine Empfindungen, als
[346] ich ſie zuerſt geſehn hatte, kamen mir nun al-
bern vor, es war mir, als haͤtte ich nur vor
mir ſelber affektirt. — Ich reiſte ab, und ein
Zufall, oder eine ſeltſame Laune, verſchlug
mich nach Genua.


Ich labte mich hier am Anblicke des großen
allmaͤchtigen Meeres. Mein Geiſt ward in mir
groͤßer und ich fuͤhlte mich einmal wieder uͤber
die Menſchen und uͤber die Natur hinausragen.
Die unuͤberſehliche F[l]aͤche redete mich erhaben
an und ich antwortete ihr innerlich mit be-
ſtimmter Kuͤhnheit. Alle meine Sorgen, die
mich ſonſt ſo ſchwer druͤckten, waren hinwegge-
flogen, und ich war frey und unbeaͤngſtigt.
Aber Wolken ſtiegen am fernen Horizonte auf
und mit ihnen truͤbe Zweifel in meiner Seele,
alles ſtand wieder ſtill, die Uhr zeigte wieder
jene traurige, ſchwarze Stunde, — ich ward
mir ſelbſt wie ein entſprungener Gefangener zu-
ruͤckgegeben. O uͤber den verhaßten Wechſel in
unſerm Innern!


Ich ging an einem Morgen durch eine ein-
ſame Straße, und hinter einem vergitterten
Fenſter glaubte ich Balders Geſicht zu ſehn.
Ich erſtaunte, ich erkundigte mich unten im
[347] Hauſe nach ihm, man beſtaͤtigte, daß er dort
wohne, und wies mir mit einem Laͤcheln, das
ich nicht verſtand, die Treppe nach ſeinem Zim-
mer. — Ich trat hinein, er war es wirklich,
er erkannte mich ſogleich und umarmte mich
mit großer Herzlichkeit. Er war gut gekleidet,
ſeine Mine war ganz geaͤndert, ſein Auge ſchien
heiter und ungetruͤbt. Er war ganz zu den ge-
woͤhnlichen Menſchen wieder zuruͤckgekehrt, er
war froher und menſchlicher, als er ſelbſt da-
mals war, als ich ihn in Paris zuerſt kennen
lernte. Mein Erſtaunen war ohne Graͤnzen und
ich konnte mich immer noch nicht uͤberzeugen,
daß jener ungluͤckliche, wahnſinnige Balder
wirklich vor mir ſtehe.


Wir fruͤhſtuͤckten miteinander, und ich
konnte nicht muͤde werden, ihn aufmerkſam zu
betrachten. Sein Geſicht war voller und ge-
ſunder, in ſeinen tiefliegenden Augen waren
einige Spuren des Wahnſinnes zuruͤckgeblieben,
ob ſie gleich ziemlich hell und lebhaft waren.
Alle ſeine Bewegungen waren lebendiger, er
war durchaus koͤrperlicher geworden, und des-
wegen kam er mir in einzelnen Momenten ganz
fremd vor. Das Zimmer war ordentlich und
[348] aufgeraͤumt, nur an der hintern Wand lag ein
großer rother Mantel uͤber den Boden und
uͤber Stuͤhlen ausgebreitet.


Balder war ſehr geſpraͤchig, und wir un-
terhielten uns von manchen Vorfaͤllen aus der
Vergangenheit. Ich bat ihn endlich, mir zu
erzaͤhlen, durch welche Zufaͤlle er ſich ploͤtzlich
ſo ſehr veraͤndert habe; ſein Geſicht ward trau-
riger, indem er daruͤber zu reden anfing; ich
will es verſuchen, Roſa, Ihnen ſeine eigenen
Worte niederzuſchreiben.


Du wirſt vielleicht, fing er an, meinen
ſeltſamen Brief aus den Apenninen erhalten
haben, denn daß ich dort gewohnt hatte, er-
fuhr ich nachher. Ich kann mich jenes Zuſtan-
des nur noch dunkel und mit Muͤhe erinnern.
Ich weiß, daß mich ein unaufhoͤrlicher, wun-
derbarer Traum umgab. Mein Bewußtſeyn lag
gleichſam fern ab in mir verborgen, die aͤußere
Natur ſchimmerte nur dunkel in mich hinein,
mein Auge ſtarrte vorwaͤrts und die Gegenſtaͤn-
de veraͤnderten ſich dem ſtieren, angeſtrengten
Blicke. Zu allen meinen Empfindungen und
Ideen fuͤhrten gleichſam keine Taſten mehr, die
ſie anſchlagen konnten, ſondern eine unbekannte
[349] Hand fuhr uͤber den Reſonanzboden auf den ge-
ſpannten Saiten umher und gab nur dunkle, ver-
worrene und einſylbige Toͤne an. Wie in Berg-
werken eine Leuchte oft hin und wieder geht
und das Licht an den Quarzwaͤnden und dem
naſſen Geſtein wunderbar zuruͤckſchimmert, ſo
erſchien mir der Gang meiner Vorſtellungen in
mir ſelber.


Ploͤtzlich ergriff mich wieder, ſo wie in
meinen geſundern Tagen, das Gefuͤhl einer hef-
tigen Unruhe, ich fand mich in mir ſelber un-
zufrieden. Das fernſtehende proſaiſche Leben
kam wieder naͤher auf mich zu und eine unbe-
ſchreibliche Sehnſucht zog mich nach ſich. Ich
kam zu mir ſelbſt zuruͤck und fand mich wie
ſonſt eingeengt und gepreßt, ich wuͤnſchte und
wußte nicht was: in der Ferne, in einer an-
dern Heimath ſchien alles zu liegen, und ich
verließ endlich den Ort, wo ich ſo lange ge-
wohnt hatte.


Andre Gegenden begruͤßten mich wieder mit
denſelben Empfindungen, die ich ſonſt gehabt
hatte, die Zirkel und das Getuͤmmel des menſch-
lichen Lebens ergriffen mich von neuem, ich
legte meine ſeltſame Kleidung ab und beſchloß
[350] nach Deutſchland, nach meiner Heimath, zu-
ruͤckzureiſen. Es war als wenn ſich die ver-
ſchlungenen Gegenſtaͤnde mehr von einander ab
ſonderten, was zuſammen gehoͤrte, flog zuſam-
men, und ich ſtand in der Mitte der Natur.
Die Poſthoͤrner nahmen nun wieder uͤber Berge
und Seen nach fernen Gegenden meine Seele
mit ſich, der Trieb zur Thaͤtigkeit erwachte
wieder und das dumpfe, unverſtaͤndliche Ge-
raͤuſch, das mich bisher innerlich betaͤubt hatte,
verlor ſich immer ferner und ferner.


Ich hatte noch einiges Geld uͤbrig be-
halten und mit dieſem kam ich in Genua
an. — O Freund, ich wußte nicht, daß ich
hier meine fruͤhſte Jugend wiederfinden ſollte,
ein neues Leben, um es nachher noch einmal
zu verlieren. — Ich lernte hier ein Maͤdchen
kennen, — o Lovell, Du laͤchelſt und verachteſt
mich, — nein, ich kann Dir nicht ſagen, wer
ſie war, Du kannſt es nicht begreifen. Ich
hatte ſchon einſt vor langer Zeit meine Hen-
riette begraben, ich hatte viel auf ihrem Grabe
geweint und hier fand ich ſie nun ganz und gar
wieder und ſie hieß Leonore. — Ach, wie
[351] gluͤcklich war ich, als ſie mich wieder liebte,
als ſie meine Gattinn ward.


Ich weiß nicht, wie es geſchah, aber jetzt
verließ mich alle meine Schwermuth, ich konnte
ſelbſt nicht mehr an meinen ehemaligen Zuſtand
glauben. Mein Leben war ein gluͤckliches, ge-
woͤhnliches Menſchenleben, und keiner meiner
Gedanken verlor ſich auf jener wuͤſten Haide,
auf der bis dahin meine Seele raſtlos umher-
geſtreift war. Ich ließ mir mein Vermoͤgen
aus Deutſchland uͤberſchicken, die Familie mei-
ner Gattinn war reich, es fehlte meinem Gluͤcke
nichts weiter, als daß mich das Schickſal in
Ruhe ließ. — — —


Er hielt hier ein und fing an zu weinen.
Ich kann nicht ſagen, was ich alles empfand.
Iſt dies derſelbe Menſch, ſagte ich zu mir, der
ſonſt das Leben mit allen ſeinen Menſchen ſo
innig verachtete? der von jeder Menſchen-
freude auf ewig losgeriſſen war? Ein Weib
alſo konnte jene entſetzlichen Phantaſien ver-
ſcheuchen, die ihn belagert hielten? — Dabey
ergriff mich ein Schauder, daß eben der Bal-
der, den ich im heftigſten Wahnſinne geſehn
[352] hatte, jetzt als ein ganz gewoͤhnlicher Menſch
vor mir ſtand.


Er fiel in meine Arme und fing von neuem
an zu ſprechen: — Ach Lovell! rief er aus, auch
dieſe hat mir der Tod entriſſen. Und ich darf
den Kirchhof, ich darf ihr Grab nicht beſuchen!
Wie ſehn' ich mich oft nach meiner einſamen
Wohnung in den Apenninen zuruͤck! — —


Ich wollte ihn troͤſten; ich ließ einige
Worte uͤber den gewoͤhnlichen Gang des menſch-
lichen Lebens fallen.


Recht! rief er mit großer Bitterkeit, das
Leben wuͤrde kein Leben ſeyn, wenn es nicht
nach dieſer tyranniſchen Vorſchrift gefuͤhrt
wuͤrde. Wir ſind nur darum auf kleine arm-
ſeelige Augenblicke gluͤcklich, um unſer Ungluͤck
nachher deſto ſchaͤrfer zu fuͤhlen. Es iſt der
alte Fluch, der auf der Veraͤnderung liegt;
Gluͤck muß mit Ungluͤck wechſeln, es iſt nicht
anders moͤglich, und eben darinn beſteht unſer
Leben und unſer Elend.


Er war heftig erſchuͤttert und ich ging im
Zimmer auf und ab; ich naͤherte mich dem
Mantel und wollte ihn in Gedanken aufheben.
Halt! rief mir Balder ploͤtzlich zu, um Gottes-
willen
[353] willen halt ein! — Seine Stimme war ganz
unkenntlich, ich ſtand erſchrocken ſtill und ſah
ihn befremdet an. — Da unten, ſagte er mit
zitterndem Tone, liegen die Denkmaͤhler, die
man Henrietten geſetzt hat. — Neugierig hob
ich den Mantel auf, — und wie entſetzte ich
mich, als ich einen dicken Pfahl und ſtarke
Ketten erblickte. Einige Glieder der Kette fielen
raſſelnd herunter und Balder tobte nun wie ein
wildes Geſpenſt im Zimmer auf und ab, er
rannte mit dem Kopfe gegen die Waͤnde, er
ſchrie und zerfleiſchte ſich das Geſicht, er warf
ſich laut lachend auf den Boden nieder.


Boͤſewichter! ſchrie er mit einer graͤßlichen
Stimme, ſo geht ihr mit mir um? — Das iſt
alſo der Menſch? — Gebt ſie mir zuruͤck und
nehmt dieſe Ketten wieder! —


Die Raſerey erſtickte bald ſeine Sprache.
Sein Geſicht war jetzt blau und aufgetrieben,
alle Glieder ſeines Koͤrpers bewegten ſich mit
einer unglaublichen Schnelligkeit, in ſeinen
graͤßlichen Bewegungen lag etwas Niedriges
und Komiſches, das mein Entſetzen noch ver-
mehrte. Jetzt ſprang er auf mich zu und warf
mich mit einem gewaltigen Stoße gegen die
Lovell. 3r Bd. Z
[354] Wand, er grinzte mich mit einem hoͤhniſchen
Laͤcheln an und druͤckte ſeine Fauſt gegen meine
Bruſt; es war mir unmoͤglich mich von ihm
loszumachen. Noch nie hab' ich ein ſo inniges
Entſetzen gefuͤhlt, als in dieſem Augenblicke:
ich wußte nicht mehr, welche verzerrte Geſtalt
vor mir ſtand, ich war in Verſuchung, laut
aufzuſchreyen und zu ſingen, und aus einem
faſt unwiderſtehlichen Triebe Balders graͤßliche
Poſſen nachzuahmen. Schon fuͤhlt' ich wie mir
Sinne und Bewußtſeyn vergingen, ich mußte
mich ganz ſammeln, um im Stande zu ſeyn,
nach Huͤlfe zu rufen.


Mehrere Menſchen mit großen Ruthen und
Knuͤtteln traten herein. Balder ließ von mir
ab. Man ſchleppte ihn nach dem Winkel des
Zimmers und ſchloß ihn an den Block. Er
ließ alles ruhig geſchehn und laͤchelte nur dazu;
als er ſich aber feſtgeſchloſſen fuͤhlte, brach ſeine
Wuth von neuem aus, er ſchleuderte ſich wie
ein wildes Thier in den Ketten hin und wieder,
alle ſeine Sehnen und Muskeln waren ange-
ſpannt, ſein Geſicht gluͤhte, ſeine Augen waren
keine menſchlichen. Er ſtemmte ſich mit den Ket-
ten, um ſich vom Blocke loszureißen, ſo daß
[355] die Ringe laut erklangen: ſeine Waͤrter ſchlu-
gen jetzt ohne Erbarmen auf ihn zu, aber er
ſchien keine Empfindung davon zu haben. Un-
ter der Anſtrengung aller Kraͤfte ſchien er groͤ-
ßer zu werden, ſein Geſicht war rund und gluͤ-
hend wie der Vollmond: ich konnte den Anblick
nicht laͤnger aushalten, ich verließ ſchnell das
Zimmer. Noch unten, noch auf der Straße
hoͤrt' ich ihn ſchreyen; Thraͤnen kamen in meine
Augen.


So hab' ich ihn wieder gefunden; doch be-
ruhigen Sie ſich, Roſa, er iſt ſchon nach zweyen
Tagen in dieſer Raſerey geſtorben. Alles, was
er mir erzaͤhlt hatte, iſt wahr, gleich nach dem
Tode ſeiner Frau iſt er wieder raſend geworden,
in Zwiſchenzeiten ganz kalt und vernuͤnftig.
Die Verwandten ſeiner Frau haben fuͤr ſeinen
Unterhalt geſorgt.


Scheint dieſem Ungluͤcklichen der Wahnſinn
nicht von der Geburt an ſchon mitgegeben zu
ſeyn? Zuerſt ging er langſam alle Grade deſ-
ſelben durch, bis er durch eine neue Liebe
ſchneller und raſcher zum letzten Extreme hin-
getrieben ward. — In einigen Tagen ſehn Sie
mich in Rom. —


Z 2
[356]

11.
Adriano an Francesko.



Je laͤnger ich hier bin und je mehr ich uͤber
Andrea nachdenke, je ſeltſamer, ich moͤchte
ſagen, je alberner koͤmmt er mir vor. Es fuͤ-
gen ſich in meinem Gedaͤchtniſſe erſt jetzt ſo
manche Zuͤge zuſammen, die mir bedeutender
als damals erſcheinen. Es iſt fuͤr mich ſchwer
einen Menſchen zu beurtheilen, ſo lange ich
ihn vor mir ſehe, ſo lange ſeine Freundſchafts-
bezengungen, ſeine Aufmerkſamkeit fuͤr mich
meine eigene Aufmerkſamkeit beſtechen. Ich
muß Ihnen geſtehn, daß ich mir jetzt nichts
Laͤcherlicheres denken kann, als irgend eine ge-
heime Geſellſchaft mit großen Anſtalten und tief
angelegten Entwuͤrfen; ich begreife jetzt ſelbſt
nicht, wie ich mich vor dieſem Gedanken ir-
gend einmal fuͤrchten konnte. Ich kann es nicht
unterlaſſen, die Menſchen jetzt zu verachten,
die ſich ſo ernſthaft in die Mitte der Welt
hinſtellen, und dann verlangen koͤnnen, man ſoll
[357] ſich vor ihnen entſetzen, jeder ſimple Bauer,
der auf dem Felde arbeitet und nachher ein
Weib nimmt, iſt mir bey weitem ehrwuͤrdiger.
Muß denn alles am Menſchen ſchwuͤlſtig und
aufgedunſen ſeyn? Will keiner den Weg zu
jener Simplicitaͤt gehn, die den Menſchen zum
wahren Menſchen macht, und zwar aus [k]einer
andern Urſache, als weil uns dieſer Weg zu
ſehr vor den Fuͤßen liegt? Es iſt ſehr ſchlimm,
daß der feinere Verſtand gewoͤhnlich nur dazu
dient, die Einfalt zu verachten, ſtatt daß wir
lieber den Verſuch machen ſollten, ob wir nicht
auf einem beſſern Wege zu denſelben Reſultaten
kommen koͤnnten. Es iſt ein ewiger Streit im
ganzen menſchlichen Geſchlechte, und keiner
weiß genau, was er von dem andern verlangt;
die Menſchen ſtehn ſich wie zwey gedungene
Heere gegenuͤber, die ſich einander bekaͤmpfen,
ohne daß einer den andern kennt. Ich will
dies ganze Leben aufgeben, ich will mich mit
mir ſelbſt und mit meinem Verſtande zur Ruhe
ſetzen, ſo weit es ſich thun laͤßt; ich bin es
uͤberdruͤßig, unnuͤtze Reiſen hin und her zu
machen. — Mag mein Leben doch recht pro-
ſaiſch weiter laufen, dieſer Zweifel ſoll mich
[358] nun nicht mehr kuͤmmern, denn ich werde es
dann nur um ſo hoͤher achten; mein Vater
wuͤnſcht, daß ich heirathe, damit er noch Enkel
ſieht, und ich will das auch bey der erſten Ge-
legenheit thun. Jene ſeltſamen Stimmungen,
jene ſonderbaren Exaltationen, mit denen uns
Andrea bekannt machen wollte, ſind der verbo-
tene Baum im Garten des menſchlichen Lebens,
nichts will uns nachher genuͤgen, die Welt thut
ſich immer enger und enger zuſammen, nichts
genuͤgt dem Menſchen mehr, jede unſchuldige
Menſchenfreude tritt ſcheu vor ihm zuruͤck, denn
er findet ſie laͤcherlich und abgeſchmackt. Was
meinen Sie, Francesko, wollen wir uns nicht
unter jene verachteten Spießbuͤrger einſchreiben
laſſen? Wir laufen wenigſtens mit der Menge,
und koͤnnen uns darum um ſo ſicherer halten.


[359]

12.
Francesko an Adriano.



Recht ſo, Adriano! Sie glauben nicht, in
welche luſtige Stimmung mich ihr Brief ver-
ſetzt hat. Es iſt, als ſeh' ich uns beyde ſchon
verheirathet, die Braͤutigamswochen uͤberſtanden
und dann als geſetzte und wohlkonditionirte
Ehemaͤnner. Das ganze menſchliche Leben, alle
Pla[ͤ]ne, alle Romane und alles was gedacht und
getraͤumt wird, laͤuft am Ende denn doch nur
auf eine einfache, ganz proſaiſche Heirath hin-
aus. Wir ſchließen den Roman unſers Lebens
mit dieſer alltaͤglichen, aber ſtets intereſſanten
Entwickelung. — Ich glaube, Sie haben bey
Ihrem Briefe eine Ahndung von meinem Zu-
ſtande gehabt. Ich habe hier nehmlich ein
Frauenzimmer kennen gelernt, — ein Frauen-
zimmer, — verlangen Sie keine Beſchreibung
von mir, denn die iſt mir viel zu umſtaͤndlich,
aber wenn ich Ihnen ſage, daß ich ſie inter-
eſſant
finde, ſo hoffe ich, ich habe Ihnen da-
[360] mit alles geſagt. Man kann mir von einem
Frauenzimmer alles moͤgliche erzaͤhlen, ein guter
Freund kann mir ihre Schoͤnheit, ihren Ver-
ſtand, ihren Witz, ja ſogar ihren Reichthum
loben, ohne daß ich auf den Gedanken fallen
werde, der gute Freund moͤchte ſich vielleicht
verheirathen: ſobald er mir aber von einem
Frauenzimmer ſagt, es ſey intereſſant, ſo
faß ich ihn genauer in's Auge, ich betrachte
alle ſeine Zuͤge, um zu bemerken, in welcher
Ruͤckſicht er ſich nachher als Ehemann veraͤn-
dern wird.


Hab' ich mir nun nicht ſchon ſeit meinem
ſechszehnten Jahre eine Menge von vortreflichen
Bemerkungen uͤber die Frauenzimmer gemacht?
Ich verſichre Sie, wenn ich in irgend einer
Sache ſcharfſinnig bin, ſo iſt es in den Beob-
achtungen, die ich Ihnen uͤber die Weiber mit-
theilen koͤnnte. Wenn ich manchmal alles
fuͤr mich allein uͤberlegte, ſo war ich hin-
laͤnglich uͤberzeugt, nicht nur, daß mich keine
mehr hintergehn wuͤrde, ſondern daß auch nie
irgend ein weibliches Geſchoͤpf eine große Ge-
walt uͤber mich haben koͤnnte. Die Probe
nachher hat aber nie mit dem ausgerechneten
[361] Exempel zuſammenſtimmen wollen. Ich habe
ſchon tauſend Ausnahmen von meinen Regeln
gemacht, ja mehr Ausnahmen als Regeln ge-
funden und nachher wieder eingeſehn, daß meine
Regel doch dauerhafter ſey, als ich vermuthet
hatte. Lieber Adriano, ich habe wunderbare
Erfahrungen uͤber meine Erfahrungen gemacht,
ich habe endlich nach einem muͤhſeeligen Stu-
dium eingeſehn, daß ich ein Narr bin. Das
Wort iſt leicht ausgeſprochen, aber Sie werden
es nicht glauben wollen, wenn ich Ihnen ſage,
daß ich zwanzig Jahre daran ſtudiert habe, um
die ganze tiefe Bedeutung dieſes kleinen einſyl-
bigen Wortes einzuſehn. Wenn wir die Men-
ſchen zu kennen glauben, kennen wir ſie viel-
leicht am wenigſten, eben weil wir es glauben,
weil wir in einer Wiſſenſchaft (in der Men-
ſchenkenntniß nehmlich) einen Standpunkt ge-
funden zu haben glauben, in der es durchaus
keinen giebt: wenn ein Nebel auf der Land-
ſchaft liegt, ſo ſcheint uns die Ausſicht oft
am weiteſten. — Was ich ſagen wollte: fuͤh-
len Sie bey dem Namen Caroline nicht eine
ganz beſondere Wallung in Ihrem Blute? Ich
ſehe im Geiſte ſchon alles voraus, wie es mit
[362] mir kommen wird, ich will mich geduldig dar-
ein ergeben, denn zu aͤndern iſt es doch nicht
mehr, weil ich mit ihr ſchon verlobt bin und
weil ich auch zweytens gar keine Aenderung
wuͤnſche. Zum Gluͤcke habe ich ſo viel Vermoͤ-
gen, daß ich und meine kuͤnftige Frau gemaͤch-
lich davon leben koͤnnen; dann will ich auch,
ſo wie Sie, uͤber alle moͤglichen geheimen Ge-
ſellſchaften lachen. Wenn ich etwas duͤnner
waͤre, daͤchte ich vielleicht anders, und ich
werde vielleicht noch proſaiſcher, wenn ich dicker
werde; indeſſen Adriano, wir ſind nach meiner
Meinung alt genug, um alle Kindereyen able-
gen zu konnen. Man kann ſich aber nicht beſſer
gegen Thorheiten waffnen, als wenn man ſich
mit einer recht großen Thorheit bepanzert, die
uns vom Kopfe bis zu den Fuͤßen bedeckt,
und darum eben will ich jetzt heirathen. Ich
will mich in alle die Kleinigkeiten, in alle
Albernheiten eines gluͤcklichen Ehegatten und
uͤbervorſichtigen Vaters einſtudiren, damit
alle uͤbrigen Poſſen des Lebens keinen Platz
mehr an mir finden, wo ſie einkehren koͤnnten.
Man ſichert ſich gegen die Schwaͤrmerey da-
[363] durch am beſten, daß man fuͤr die Aufklaͤrung
ein Schwaͤrmer wird, und ſo will ich es auch
meinerſeits machen. — Aber mein Geſchwaͤtz,
das ich fuͤr einen freundſchaftlichen Brief
ausgebe, wird zu weitlaͤuftig; ich breche da-
her ab.


[364]

13.
William Lovell an Roſa.



Ich bin hier, Roſa, in Rom wieder. Kom-
men Sie doch, liebſter Freund, ſo ſchnell als
moͤglich, ſogleich zu mir hinuͤber. Ich bin erſt
heut Abend hier angekommen, kaum ſeit einer
Stunde bin ich hier. Ich wohne in demſelben
Hauſe, das ich ſonſt bewohnt habe. Es iſt mir
ganz ſeltſam, ich ſehe aus dem Fenſter, und
dieſelbe alte, wohlbekannte Straße ſtreckt ſich
wieder vor mir aus. Ich habe es nicht unter-
laſſen koͤnnen, ich habe ſchon einen Spatzier-
gang durch die benachbarten Gaſſen machen
muͤſſen. Ich bin vielen Geſichtern begegnet,
die mir ſchon damals bekannt waren, weil man
ſie immer auf den Straßen ſieht; ich kann Ih-
nen nicht beſchreiben, mit welcher Liebe ich die
bekannten Pallaͤſte und Kirchen betrachtet habe.
— Ich moͤchte faſt noch Andrea beſuchen, aber
ich will dennoch bis morgen warten. Wie
harr' ich auf den erſten Klang ſeiner Worte!
[365] wie wohl wird ſein ernſtes Geſicht meinem wun-
den Herzen thun! — O Andrea! — er kann
es nicht wiſſen, wie ſehr ich ihn liebe, er
wuͤrde mir's nicht glauben, wenn ich's ihm
ſagte. In ihm liegt jetzt alles verſammelt,
was mir ſonſt theuer und ſchaͤtzenswuͤrdig war.
— Wie ungeduldig werd' ich den morgenden
Tag erwarten! — Kommen Sie, Roſa, eilen
Sie, ich beſchwoͤre Sie; noch nie hat ein
Freund den Freund mit der Ungeduld erwartet,
mit der ich Sie hieherwuͤnſche.


[366]

14.
William Lovell an Roſa.



Ich weiß nicht, was ich denken, ich weiß
nicht, was ich ſagen ſoll. Mein Gemuͤth iſt in
der geſpannteſten Unruhe. Sie kommen nicht,
Roſa, und ſeit drey Tagen wuͤnſch' ich Andrea
zu ſprechen und er laͤßt mich immer zuruͤckwei-
ſen. Er ſey krank, laͤßt er mir ſagen. Was
ſoll ich denken? Was ſoll ich beginnen? Kann
er mich nicht auch in der Krankheit ſprechen?
O, ſchreckliche Gedanken, vernichtende Gedan-
ken ſteigen in meinem Gehirne auf. Warum
muß er mich zuruͤckweiſen? —


Bianka habe ich geſehn, ſie iſt bleich und
abgefallen, die Schwindſucht nimmt ihre Kraͤfte
hinweg. Ihr Anblick hat mich erſchreckt, denn
er brachte ein ſonderbares Bild in meinen
Kopf, ich kann mich aber nicht erinnern, wel-
ches. Francesko iſt kalt und zuruͤckgezogen, er
wird jetzt heyrathen, ich weiß nicht, ob Sie es
ſchon wiſſen. Alle uͤbrigen, die ich ſonſt haͤufig
[367] bey Andrea ſah, thun, als kennten ſie mich
nicht. — O Himmel! welche Urſache kann es
geben, daß Andrea nicht mit mir ſprechen will!
Soll dies der Schlußſtein meines truͤben Lebens
werden? So ſchaal und nuͤchtern ſollte ſich nun
alles endigen? — O nein, es iſt nicht moͤglich,
er wird mich endlich vor ſich laſſen, und ge-
ſchaͤhe es auch nur, um meines Andringens los
zu werden. Ich weiß jetzt keinen meiner Sinne
recht zu gebrauchen, faſt ohne Bewußtſeyn geh [...]
ich umher. — Erbarmen Sie ſich, Roſa, und
kommen Sie zu mir nach Rom, dann wird
alles gut werden, dann wollen wir beyde An-
drea mit Bitten beſtuͤrmen: laſſen Sie mich
jetzt nicht vergeblich bitten, kommen Sie ja.


[368]

15.
William Lovell an Roſa.



Ich kann Ihnen kaum ſchreiben. — Warum
ſind Sie nicht gekommen, oder warum haben
Sie mir wenigſtens nicht geantwortet? — Ach,
ich weiß auch ſelbſt nicht, was ich alles frage.


Ich habe Andrea geſprochen. Mit Zittern
ging ich geſtern wieder hin; man ſagte mir, ich
koͤnnte hineintreten. Nur in wenigen Momen-
ten meines Lebens bin ich von einer Freude
ſo ganz und gar durchdrungen geweſen, ſo ſehr
durch ein ploͤtzliches, unerwartetes Entzuͤcken
uͤberraſcht. — O wie theuer, wie unausſprech-
lich theuer hab' ich dieſe kurze Freude bezahlen
muͤſſen!


Ich trat in Andrea's Zimmer. Er lag
auf einem kleinen Ruhebette und ſchrieb; er
hob die Augen bey meinem Eintritte nicht em-
por. Er war ſehr eingefallen, ſein ganzes Ge-
ſicht war nur ein Skelet von ſeinem ehemaligen,
die Augen brannten heftiger als je. Ich wagte
es
[369] nicht, mich zu regen, ſo vertraut ich auch ſonſt
mit ihm geweſen war, ſondern ich ſtand in
einer ehrerbietigen Entfernung. Endlich be-
merkte er mich, oder er hoͤrte vielmehr nur auf
zu ſchreiben. — O Roſa, mit welchem Blicke
durchbohrte er mich! Es war, als wenn ſich
meine Seele in mir furchtſam zuſammenkruͤmmte,
ſo entſetzlich ward ich von dieſem durchſchnei-
denden Blicke getroffen. —


Nun, Lovell? fragte er mit einer matten
Stimme.


Ich wußte nichts zu antworten; ich fing
an zu zittern. Alles, was ich je gedacht hatte,
ging in raſchen, verwirrten Zuͤgen durch meinen
Kopf. Ich wußte mich ſelbſt nicht zu [faſſen].


Was willſt Du? fragte er mit einer eiſigen
Winterkaͤlte, mit einem verdammlichen, ſchaͤnd-
lichen Tone, als wenn er mich necken und
mit meiner ehemaligen Vertraulichkeit verſpot-
ten wollte.


Ich konnte mich nicht laͤnger halten: ich
mußte laut weinen. Andrea! rief ich, aber er
konnte nur mein Schluchzen hoͤren, ſo ſehr er-
ſtickte der Ton in ſich ſelber.


Du weinſt? fragte er laͤchelnd.


Lovell, 3r Bd. A a
[370]

Soll ich es nicht? rief ich aus; bin ich
nicht ganz elend? —


Elend? — Und, — o Roſa! hoͤren Sie's,
fuͤhlen Sie's, wenn es eine andre Menſchen-
bruſt, ſo wie ich, fuͤhlen kann, — o Roſa,
nun fing er an ſo laut und ſo graͤßlich zu la-
chen, daß es mir durch Mark und Bein drang,
daß ſich mir die Haare aufrichteten. — Hab'
ich mich wohl ſchon je in der Welt ſo fremd
gefuͤhlt, als ſie mir ploͤtzlich in dieſem Augen-
blicke ward?


Ich wußte nicht, ob ich raſete, ob Andrea
wahnſinnig ſey; er lachte noch immer fort, und
ſo eifrig, als wenn er mit dieſem Lachen der
Menſchheit den Kauf aufkuͤndigen wollte. —
Mein Entſetzen war ihm ein Spaß, meine
toͤdtliche Todesblaͤſſe ein luſtiges Spiel. —


Wie ich zur Thuͤre wieder hinausgekom-
men bin, weiß ich jetzt nicht, aber ich ſtand
ploͤtzlich draußen, dann war ich auf der Straße
und fremde Menſchengeſichter rannten vor mir
voruͤber, und alle waren mir lieber und ver-
wandter, als Andrea's Blick.


Wo iſt nun alles hin, was ich hoffte und
[371] wuͤnſchte? Zukunft und Vergangenheit ſind er-
loſchen und die Spuren von beyden gleich
unſichtbar. — Kann ich jetzt etwas anders
thun, als ſterben? — Doch, auch dazu gehoͤrt
Ruhe.


A a 2
[372]

16.
Eduard Burton an Mortimer.



Ich kann Ihnen immer nichts ſchreiben, lie-
ber Freund, als daß ich noch gluͤcklich bin
und ſo gluͤcklich zu bleiben hoffe; es er-
eignen ſich keine Veraͤnderungen hier, außer
einigen unbedeutenden im Dorfe, die Sie
unmoͤglich intereſſiren koͤnnen. Von unſerm Gar-
ten giebt Ihnen mein Schwiegervater Nachricht,
ſo daß ich durchaus nicht weiß, was ich Ihnen
ſchreiben ſoll. Das Leben fließt uns voruͤber,
ohne daß wir daran weiter denken, daß dies
das ſogenannte Leben ſey, und da wir ſo un-
aufmerkſam ſind, kommen wir auch gar nicht
darauf, Bemerkungen uͤber uns ſelbſt zu machen.
Es iſt auch eine uͤble Sache um dieſe Bemer-
kungen, wir tragen oft erſt nachher das in uns
hinein, was wir gerne bemerkt haben moͤchten,
und glauben dann ſelbſt daran, um uns nur zu
beruhigen.


Die Geſundheit beſteht darin, daß man
[373] ſeinen Koͤrper nicht empfindet; und wahrhaft
gluͤcklich iſt man nur dann, wenn man gar nicht
weiß, daß man gluͤcklich iſt.


Betty iſt immer wohl und vergnuͤgt; ich
glaube, ſie iſt jetzt ſchwanger. Wir werden
in die ſtilleren Freuden des Lebens einge-
weiht und die Zukunft zeigt uns aus der Ferne
ein großes, bis oben angefuͤlltes Fruchthorn.
Das Schickſal ſcheint jetzt immer freundlich
gegen uns zu bleiben und wir machen daher
auch dem Schickſale ein freundliches Geſicht.
Mehr kann offenbar von beyden Partheyen nicht
verlangt werden.


Die Freude meines Schwiegervaters macht
mich oft ſehr froͤhlich und erfuͤllt mein Herz
mit einer milden, warmen Menſchenfreundlich-
keit. Der Anblick von gluͤcklichen Menſchen
beſſert uns eben ſo gut, ja vielleicht noch ſchoͤ-
ner, als der von ungluͤckſeeligen; man kann
nichts anders als Wohlwollen empfinden, wenn
man Geſichter gegenuͤber ſieht, bey denen ſich
in jeder Thorheit, in jeder kleinen Eitelkeit das
heiterſte und wohlwollendſte Gemuͤth abſpiegelt.
Wer wollte da auf die Schwaͤchen der Menſchen
zuͤrnen, wer ſeine Feder ſchaͤrfen, um etwas
[374] recht bittres und ſchneidendes dagegen zu ſagen?
Ich vermoͤchte es nicht, und ſelbſt wenn ich
weniger froh und gluͤcklich waͤre.


Gruͤßen Sie Ihre Gattinn; Betty hat
mir ſehr viele Gruͤße und Worte aufgetragen,
da ſie heute zu traͤge iſt, ſelbſt etwas zu ſchrei-
ben. Antworten Sie mir, wie es Ihnen geht,
Sie ſind jetzt auch ein ſehr ſaumſeeliger Brief-
ſchreiber. — Etwas zu beſſern und zu tadeln
werden wir an uns finden, ſo lange wir leben,
und wir wollen Gott bitten, daß er uns nicht
alle Fehler auf einmal nehme. —


[375]

17.
Mortimer an Eduard Burton.



Ich kann Ihnen ebenfalls nichts anders erzaͤh-
len, als was Sie mir in Ihrem Briefe ſchrei-
ben: ſoll ich noch hinzuſetzen, daß es mich freut,
daß Sie ſo froh und gluͤcklich ſind? Sie wer-
den es glauben, wenn Sie es gleich nicht
Schwarz auf Weiß haben.


Wenn ich manchmal vor dem Spiegel ſtehe
und zu mir ſage: da ſiehſt Du nun den vor-
treflichen Herrn Mortimer vor Dir, der ein-
mal in Italien und zweymal in Frankreich ge-
weſen iſt, der ſo manches Kluge gedacht und
ſo manchen Menſchen kennen gelernt hat, —
ſo muß ich jedesmal uͤber mein Bild im Spie-
gel und uͤber mich ſelber lachen. Ich erinnere
mich dann der unzaͤhligen Entwuͤrfe und Vor-
ſaͤtze, der ſo ſchoͤn berechneten Plane fuͤr mein
Leben, der mannichfachen Bemerkungen, die
ich uͤber den Menſchen in meiner Seele nieder-
geſchrieben und wieder ausgeſtrichen habe. Un-
[376] ſer Leben iſt nichts, als ein ewiger Kampf der
neuen Eindruͤcke mit der eigenthuͤmlichen Bil-
dung unſers Geiſtes: wir glauben oft, daß un-
ſer Charakter auf immer eine neue Wendung
nimmt, und ploͤtzlich ſind wir dann wieder eben
ſo, wie wir gewoͤhnlich waren. Ich habe mich
uͤber alle Heyrathen luſtig gemacht, bis ich
ſelbſt heyrathete; nun glaubte ich, gaͤbe es
nichts Ernſthafteres in der Welt, und jetzt
waͤre es mir doch wieder moͤglich, in die un-
ſchuldigen Scherze mit einzuſtimmen. Es giebt
eine Urverfaſſung in uns ſelbſt, die nichts zer-
ſtoͤren kann, ſie wird ploͤtzlich wieder da ſeyn,
ohne daß wir es ſelbſt begreifen koͤnnen, wie
wir uns ſo ſchnell in einen ganz alten ehema-
ligen Menſchen haben umaͤndern koͤnnen. Daß
wir aber mit einem gewiſſen neuen und beſſern
Verſtande zu dieſer alten Verfaſſung zuruͤckkeh-
ren, glaube ich ſelbſt, denn ſonſt muͤßte man
bey dieſem zirkelmaͤßigen Leben in Verzweiflung
fallen: aber ſo liegt in dieſem Wiederkehren
ein großer Troſt, der, daß wir uns innerlich
nie aus den Augen verlieren koͤnnen, ſoviel wir
uns auch manchmal aͤußerlich bemuͤhen, es zu
thun.


[377]

18.
William Lovell an Roſa.



So iſt es denn nun aus? voͤllig aus? — Ich
weiß mich noch immer nicht zu faſſen. Ich
moͤchte laut ſchreyen und klagen, ich moͤchte es
in die ganze weite Natur hineinheulen, wie
elend ich bin. — O wie unbeſchreiblich nuͤch-
tern und armſeelig endigt ſich nun alles, was
mich einſt in ſo hohe Begeiſterung ſetzte, was
mir eine ſo ſeelige Zukunft aufſchloß. — O
eine wilde, blinde Wuth ergreift mich, wenn
ich daran denke, wenn ich mir alles und jeden
Umſtand von neuem in die Seele zuruͤckrufe:
eine Raſerey erſchoͤpft nicht alles, was ich fuͤhle,
es giebt keine Aeußerung, die menſchliche Na-
tur koͤnnte ſie nicht aushalten, ſo wie ich mei-
nen Schmerz und Verluſt darſtellen muͤßte.


Und warum das? werden Sie fragen. —
Ach, Roſa, bey Ihnen iſt es bloße Neugier,
die ſo fragt. — Sie ſind ein gluͤcklicher Menſch.
Ich kann mein Ungluͤck an den Gefuͤhlen keines
[378] andern Weſens ermeſſen. — So hoͤren Sie
denn: — Andrea iſt todt. —


Ich ſah ihn ſterben. — Nie habe ich einen
Menſchen in ſeiner letzten Stunde ſo geſehn.
Er lachte und verwuͤnſchte dann ſich und die
Welt; er ſchien ſelbſt den Tod und ſeine Zuk-
kungen als ein laͤcherliches Poſſenſpiel anzuſehn,
das keine Aufmerkſamkeit verdiente: er verbarg
und unterdruͤckte ſein Zittern, er ſchien die
Angſt des Todes zu beſiegen. — Ueber mein
zerrißnes Herz, uͤber meine zermalmte Gluͤckſee-
ligkeit lachte er immer wieder von neuem und
ſagte, das kaͤme mir nur ſo vor, weil ich ein
Narr ſey. Dann ſtoͤhnte er wieder dazwiſchen,
und nannte den Namen Gottes mit bebenden
Lippen, und ſchlug dann wieder ein helles Ge-
laͤchter auf. Ich konnte mich am Ende nicht
mehr finden, wo ich war, in einem Wahnſinns-
taumel war ich von der Erde und aus mir ſel-
ber hinausgeruͤckt, ich konnte zuletzt mit
kaltem, ſtarrem Auge die Todeszuckungen An-
drea's betrachten, ſein pochendes Herz, ſeine
ſchwer arbeitende Bruſt. — Als wenn ein frem-
des, ungekanntes Weſen in ihm haͤmmerte und
zum Tageslichte heraus wollte, ſo lag er mit
[379] ſeinen Kraͤmpfen vor mir da, und ich lachte
am Ende ſelbſt uͤber die ſeltſamen Verzerrungen
ſeines alten Geſichts. — Und nun war er todt.
— Kein Athemzug, kein Pulsſchlag mehr in
ihm: es graute mir nicht, ich entſetzte mich
nicht vor dem Leichnam, und doch ſtuͤrzte ich
mit bebendem Knie zum Zimmer hinaus.


Und nun fuͤhlte ich's mit aller Gewalt des
ganzen ſchrecklichen Gefuͤhls, — daß nun alles
aus ſey
, — keine Wiederkehr einer Empfin-
dung, kein Zittern und Zagen, ſondern alles
eine dumpfe, nuͤchterne Gewißheit; alles in ein
jaͤmmerliches Grab hineingeſunken, was einſt
mein war und mein werden ſollte. — Fuͤhlen
Sie's, Roſa? — Nein, es iſt nicht moͤglich.


O ich koͤnnte — — ach, was? — wahnſin-
nig werden! ſterben! — ſonſt ſeh' ich nichts. —
Ich drohe mir ſelber, um vor mir ſelber zu
zittern, ich fuͤhle mich bis in mein innerſtes
Weſen hinein vernichtet, bis in die letzte Tiefe
meiner Gedanken zerſtoͤrt.


Wollen Sie mich beſuchen? — Sie werden
es nicht thun, weil ich Sie nicht unterhalten
kann. — Ich weiß nicht mehr, was ich em-
pfinden ſoll: alles in der Welt koͤmmt mir
[380] gleich armſeelig vor, und ſo iſt es auch. Aber
warum es gerade ſo kommen mußte? So, wie
ich es am wenigſten erwartete? —


O Roſa, wie herzerhebend muͤßte jetzt das
Gefuͤhl ſeyn, ſich als einen recht großen Boͤſe-
wicht zu kennen; ſich ſelbſt zu fuͤrchten und zu
achten: dies Gluͤck war mir nicht gegoͤnnt. —


Wollen wir in Geſellſchaft ſterben?


[381]

19.
Adriano an Francesko.



Ich ſehe aus Ihren Briefen, daß wir auf eine
beynahe wunderbare Weiſe ſympathiſiren, denn
werden Sie es mir wohl glauben wollen, wenn
ich Ihnen ſage, daß ich wirklich ſchon Braͤuti-
gam bin? Bey einer Heyrath iſt das Gluͤck, ſo
wie im ganzen uͤbrigen Leben, ein Zufall, und
das lange Waͤhlen iſt daher voͤllig unnuͤtz. Wir
leben wie in einem großen Lotto, wo Nieten
und Gewinnſte unkenntlich durcheinander liegen,
das Ausſuchen und Beſinnen iſt nur laͤcher-
lich. So hab' ich jetzt, ohne es ſelbſt zu
wollen, eine Stelle bekommen, die anſehnlicher
und eintraͤglicher iſt, als jene, um die ich an-
hielt; die feine Klugheit will zwar immer den
Gang des Lebens und ſeiner Zufaͤlle errathen,
allein ſie irrt ſich doch weit haͤufiger, als ihre
Berechnungen eintreffen; ich ſetze die Klugheit
darinn, alle Zufaͤlle auf eine Art aufzufangen,
daß ſie mir nicht ſchaden koͤnnen, hierbey laͤuft
[382] man weit weniger Gefahr. Ich wende ſtatt der
Vorſicht immer, wenn ich ſo ſagen darf,
eine Ruͤckſicht an, denn fuͤr mich iſt es un-
moͤglich, mit Vorſichtigkeit vorſichtig zu ſeyn;
die Meiſten thun auch hierinnen zu viel,
wie in allen Regeln, die ſie ſich im Laufe ihres
Lebens abſtrahirt haben; man kann ſelbſt auf
Extreme verfallen, indem man immer nur den
Mittelweg gehen will. —


[383]

21.
Francesko an Adriano.



Wenn Sie Braͤutigam ſind, ſo bin ich im
Stande, Ihnen zu melden, daß ich ſchon ein
Ehemann bin. Ich halte das lange Entſchlie-
ßen ebenfalls fuͤr Thorheit, die Maͤdchen muͤſ-
ſen ſuchen je eher je lieber unter die Haube,
ſo wie die Maͤnner unter den Pantoffel zu kom-
men, denn was hilft es am Ende, wenn man
ſich ſeinem Schickſale auch noch ſo lange wider-
ſetzt? Wir haben nun das Ende aller unſrer
Schickſale erlebt, die, aufrichtig geſprochen,
eben nicht ſehr verflochten waren, indeſſen, es
iſt beſſer, daß wir ohne vorhergegangene Ver-
wickelung die Entwickelung erlebt haben: die
Mißverſtaͤndniſſe in dem Luſtſpiele des Lebens
ſind fuͤr mich immer etwas aͤußerſt Langweiliges
geweſen. Wir treten nunmehr von der Buͤhne
der menſchlichen Thorheiten ab und errichten
ganz in der Stille ein Privattheater. Ich halte
den fuͤr ſehr gluͤcklich, den das Schickſal nicht
[384] mit in die weitlaͤuftigen Verwickelungen der
Welthaͤndel zieht, er ſteht unter einem ſchimmern-
den Dache, und man mag mir ſagen, was man
will, ein Platzregen macht wenigſtens naß,
wenn er auch uͤbrigens unſchaͤdlich ſeyn ſollte.


Andrea iſt hier geſtorben und aus dieſer
Urſache haben Sie wahrſcheinlich ein Amt er-
halten. Lovell iſt zuruͤckgekommen, und ſieht
ſehr krank und verdruͤßlich aus. Er dauert mich
inniglich, ſo oft ich ihn ſehe.


21.
[385]

21.
Eduard Burton an Mortimer.



Meine Betty hat mir eine Tochter ge-
boren, die wir Amalie genannt haben.
Warum ſoll ich heucheln und nicht lie-
ber geſtehn, daß ich mich ganz außerordentlich
freue? Ich habe nicht jene Groͤße der Seele,
die mich immer uͤber die Erde und ihre kleinen
Gluͤckſeeligkeiten hinuͤberhebt. Das Leben thut
ſich bey mir immer enger zuſammen, ich habe
alle Reiſen und alle meine jugendlichen Plane
aufgegeben, jedem glaͤnzenden Gluͤcke entſagt,
aber eben dadurch eroͤffnet ſich mir eine immer
hellere Ebene, die Ausſicht der Zukunft wird
immer breiter und glaͤnzender. Ungluͤck und
Schmerz ſind wie ein heftiger Regen, der zwar
die Pflanzen niederſchlaͤgt, ſie aber nachher nur
deſto friſcher wieder aufrichtet: ſo iſt es auch
vielleicht mit mir und mit meinen Empfindun-
gen geweſen. Lovell's Schickſal wird mir im-
Lovell. 3r. Bd. B b
[386] mer wie ein Gewicht in meiner Seele liegen
und ſo die Spannung derſelben erhalten. Ich
habe von ihm viel gelernt, ich habe geſehn,
wie leicht bloßer Eigenſinn und die Sucht, et-
was Beſonderes zu ſeyn, den Menſchen viel
weiter locken koͤnnen, als er anfangs gedacht
hat, ich bin dadurch gegen die Ungluͤcklichen
toleranter geworden, die wir oft zu ſchnell und
zu ſtrenge Boͤſewichter nennen, da wir ihnen
nur den Namen der Thoren beilegen ſollten:
ihre Thorheit dient uns nur nicht zum Gelaͤch-
ter, ſondern wir fuͤrchten ſie, und darum wer-
den wir ſo ſtrenge Richter. — Es kommt mir
in manchen Stunden vor, als waͤre ich ſeit
zwey Jahren außerordentlich alt geworden; wenn
ich mich zuruͤckerinnere, ſo duͤnken mich dieſe
Jahre eine Ewigkeit.


Wir muͤſſen irgend ein Mittel ausfinden,
lieber Mortimer, um uns oͤfter zu ſehn; wie
waͤr' es, wenn Sie das nahgelegene Water-
hall
von mir zu einem billigen Preiſe kauften
und Ihr Roger-place einem andern uͤberließen?
Dann waͤren wir ganz nahe Nachbarn, dann
koͤnnte ich Sie recht genießen. Je mehr ich
daruͤber nachdenke, je feſter wird der Gedanke
[387] bey mir, ſo daß es mir ſehr wehe thun wuͤrde,
wenn er Ihnen mißfiele. Ich habe das Gut in
einen beſſern Stand ſetzen laſſen, der Garten,
der ſonſt ganz verwildert war, iſt wieder einge-
richtet, die Gegend um Waterhall iſt bei wei-
tem ſchoͤner und intereſſanter, als die um Ro-
ger-place: kurz, Sie ſehn wohl ein, ich moͤchte
Sie gerne uͤberreden. Antworten Sie, lieber
Freund, was Sie zu meinem Vorſchlage denken.


B b 2
[388]

22.
Mortimer an Eduard Burton.



Ich wuͤnſche Ihnen Gluͤck und zwar recht von
Herzen. Wir koͤnnen jetzt ein recht ſchoͤnes
Parallelleben fuͤhren, und ſo langſam und un-
vermerkt in das Alter hineinkriechen. Es giebt
eine Periode im Leben, in der der Menſch
ploͤtzlich alt und reif wird; bey manchen Men-
ſchen bleibt dieſe Periode freilich ganz aus, ſie
bleiben immer nur Subalternen in der großen
Armee, ihnen iſt es nie vergoͤnnt, den Plan
und die Abſicht des Ganzen zu uͤberſehn, ſon-
dern ſie muͤſſen ſich unter elenden Muthmaßun-
gen und laͤcherlichen Hypotheſen abquaͤlen; ſie
werden immer fortgetrieben, ohne daß ſie wiſ-
ſen, wohin ſie kommen: ich glaube, daß wir
beyde uns freyer umſehn [koͤnnen] und jetzt in
den Zufaͤllen ſelbſt das Nothwendige entdecken,
die Rechenſchaft von ihnen zu fordern verſtehn,
warum ſie ſo und nicht anders eintreten. In
ſo fern die Kunſt, gluͤcklich zu ſeyn, die Kunſt
[389] iſt, zu leben, in ſofern beſitzen wir dieſe
Kunſt.


Sie haben doch auch den Vorſatz, ſich bey
Ihrem Kinde nicht auf eine ſogenannte gute
oder feine Erziehung einzulaſſen, keine von den
jetzigen Moden mitzumachen, die ſchon die Kin-
derſeelen im achten Jahre mit Eitelkeit fuͤllen
und ſie ſo verderben. Ich habe beſchloſſen,
meinen Georg ganz einfach aufwachſen zu laſ-
ſen, ich hoffe, er ſoll auf die Art am erſten
ein guter und einfacher Menſch werden; Kinder
merken nichts leichter, als wenn ſie mit einer
gewiſſen Wichtigkeit behandelt werden; dies iſt
die Urſache, warum viele ſich ſchon fruͤh ſelbſt
ſehr wichtig vorkommen, jede Art von Affekta-
tion wird dadurch bey ihnen erzeugt, ſie halten
ſich fuͤr Genie's und außerordentliche Menſchen,
und denken nie daran, ſich und der Welt Be-
weiſe davon zu geben. Ich bin uͤberzeugt, daß
Lovell von ſeinem Vater mit zu vieler Sorg-
falt erzogen wurde, und daß dies die erſte
Quelle ſeiner Thorheit und ſeines Ungluͤcks war.
Die Liebe der Eltern artet gar zu leicht in et-
was aus, das keine Liebe mehr iſt, ſondern an
laͤcherliche Ziererey und Weichlichkeit graͤnzt,
[390] beſonders wenn ſie nur ein einziges Kind haben:
dies ſoll dann mit allen Vortreflichkeiten uͤber-
laden werden, es darf ſich nicht der kleinſten
Zugluft des gemeineren Lebens ausſetzen, die
doch ſo oft dazu dient, unſern Geiſt abzuhaͤrten
und ihn maͤnnlich zu machen, und daher koͤmmt
es denn, daß wir an dieſen Sonntagsgeſchoͤpfen
meiſtentheils ſo wenig Energie und Kraft be-
merken; ein Menſch, der Geſchwiſter hat, iſt
ſchon deswegen gluͤcklicher. Ich wurde offenbar
nur deswegen beſſer als meine geſtorbenen Bruͤ-
der, weil mich meine Eltern vernachlaͤſſigten,
ja faſt verachteten; ſie glaubten, ihre Sorgfalt
ſey an mir doch verloren, und daher gaben ſie
mir die Erlaubniß, mich ſelbſt erziehn zu duͤr-
fen: ich erzog mich freilich durch Ungezogenhei-
ten, aber immer noch beſſer, als ganz verzogen
zu werden. Ich ward haͤufiger gedemuͤthigt,
als meine Bruͤder, und eben dadurch ſtolzer; ein
gewiſſer Stolz iſt die Feder, die den Menſchen
in den Gang bringt, die den Wunſch in ihm
erzeugt, von keinen fremden Meinungen und
Geſichtern abzuhaͤngen, und die ihm die Kraft
giebt, dieſen Wunſch ſich ſelber zu erfuͤllen.


Wenn wir nun alt ſind, erleben wir viel-
[391] leicht die Freude, daß unſre Kinder ſich ver-
heirathen. Doch, ich will mir das nicht in
den Kopf ſetzen, wenn dieſe Kinder nicht ſelbſt
auf den Gedanken kommen ſollten, wenn ſie
nehmlich die Zeit erleben, in der der Menſch
ſich verlieben muß. Man ſollte uͤberhaupt keine
Plane fuͤr die Zukunft machen, am wenigſten
ſolche, deren Ausfuͤhrung nicht von uns ſelber
abhaͤngt. — Ich bemerke aber, daß ich, ſeit
ich Vater geworden bin, unaufhoͤrlich in Sen-
tenzen ſpreche; eine Sache, die ich ſonſt nie
an einem andern Menſchen leiden konnte, denn
es iſt im Grunde nichts weiter, als die Sucht,
ſich ſelbſt immer in kleine Stuͤcke zu zerſaͤgen
und beſtaͤndig Proben von unſrer Vortreflichkeit
herumzureichen: unſern Geiſt in vielen Silhouet-
ten abzuzeichnen und dieſe dann aus dem Fen-
ſter an die Voruͤbergehenden auszutheilen. Dies
iſt die Schwaͤche, wodurch manche Menſchen ſo
unausſtehlich werden, als ein moraliſcher
Schriftſteller im Umgange nur ſeyn kann, der
uns immer ſeine laͤngſtvergeſſenen Buͤcher re-
petirt.


Jetzt will ich auf Ihren Vorſchlag kom-
men. Der Gedanke iſt mir gewiß eben ſo er-
[392] freulich, als er Ihnen nur immer ſeyn kann,
denn ich waͤre beynahe ſchon bey dem Verkaufe
von Waterhall ſo unverſchaͤmt geweſen, Sie
zu uͤberbieten, doch es iſt beſſer, daß es nicht
geſchehn iſt, denn ich kann es jetzt auf eine
ehrlichere Art bekommen. Roger-place kann
ich gerade jetzt unter ſehr vortheilhaften Bedin-
gungen verkaufen, und alles vereinigt ſich, um
mich zu bewegen, nach Waterhall zu ziehn.
Amalie hat ſich zwar an den hieſigen Aufent-
halt ſehr gewoͤhnt und ſie liebt ihn gewiß auſ-
ſerordentlich, indeſſen hat ſie mir doch ſchon
ihre Einwilligung gegeben: ſie freut ſich eben-
falls ſehr, Ihrer liebenswuͤrdigen Gattinn naͤher
zu kommen. — Kurz, ich reiſe morgen ab, um
Sie zu beſuchen, Waterhall zu ſehn, und mich
mit Ihnen uͤber die Bedingungen zu vereinigen:
ich denke aber daran, daß ich eben deswegen
dieſen Brief hier abbrechen kann.


[393]

23.
Thomas an den Herrn Ralph
Blackſtone
.



Gnaͤdiger Herr,

Der Garten waͤre nun hier in ſo weit fertig
und es fehlt im Grunde nichts weiter als daß
ich noch auf den Befehl warte, nach Bonſtreet
zuruͤckzureiſen. Ich haͤtte ſelbſt im Anfange
nicht gedacht, daß man aus der hieſigen Wild-
niß noch ſoviel zu machen im Stande ſey: doch
Gottes Seegen und fleißige Arbeit kann bey-
nahe Wunderwerke hervorbringen, das bin ich
hier gewahr geworden. Wie wuͤrde ſich die
alte gnaͤdige verſtorbene Frau wundern, wenn
ſie jetzt wieder aus dem Grabe auferſtehn ſollte!
Sie wuͤrde gar nicht glauben wollen, daß es
daſſelbe Gut ſey, und ſie wuͤrde es ſogar ſchlech-
ter finden als vorher, denn darinn kenne ich
ſie; ſie war, wenn ich der Wahrheit die Ehre
geben ſoll, ein wenig eigenſinnig, wie es denn
im Grunde alle alten Frauen ſind, beſonders
[394] aber die vornehmen: ſie haben dann nur noch
an dem Befehlen in der Welt ihre Freude.


Ich bin ordentlich neugierig, Ew. Gnaden
und den Garten in Bonſtreet wieder zu ſehn.
Es mag ſich unterdeſſen manches auf Ew. Gna-
den Befehl veraͤndert haben. Das Erdreich
hier in Waterhall iſt beynahe beſſer, als auf
unſerm Gute, weil es tiefer liegt, das Waſſer
in der Naͤhe macht es friſcher. Das Obſt, das
hier gezogen wird, iſt offenbar ſchoͤner, als das
unſrige, ich habe es ſelber gegeſſen, und kann
daher recht gut daruͤber urtheilen. — Ich em-
pfehle mich Ihnen, gnaͤdiger Herr, mit der
ergebenſten Bitte, mich nun bald nach Hauſe
kommen zu laſſen.


Thomas.


[395]

24.
Ralph Blackſtone an Thomas.



Es iſt mir ſehr lieb zu hoͤren, lieber Thomas,
daß er in Waterhall fertig iſt, er kann ſich
alſo aus dieſem Grunde zur Abreiſe nur immer
fertig machen. Hier hat ſich indeſſen mancher-
ley zugetragen, was wohl große und betraͤcht-
liche Veraͤnderungen nach ſich ziehen duͤrfte.
Vor allen Dingen muß ich Ihm nur melden,
daß ich jetzt Großvater bin und mein Kopf mit
allerhand wichtigen Gedanken angefuͤllt iſt. Es
iſt eine junge Tochter, die meine Betty zur
Welt gebracht hat, und ich uͤberlege eben jetzt
immer, wie man ſie wohl am beſten erziehn
koͤnnte. Das wendet meine Gedanken nun von
dem Garten und von den Baumſchulen gaͤnzlich
ab, denn eine junge menſchliche Seele iſt ein
zarterer und beſſerer Baum, der den Menſchen
naͤher angeht. Ich habe meine Tochter, wie
die ganze Welt ſagt, ſehr gut erzogen, ich
werde daher auch wohl noch im Stande ſeyn,
[396] einen kleinen Enkel zu erziehn. Alles dies hat
mich bewogen, einen Entſchluß zu faſſen, der
Ihm, Thomas, gewiß ſehr lieb ſeyn wird: ich
will Ihm naͤhmlich kuͤnftig ganz allein die Ein-
richtung und Bearbeitung des Gartens uͤber-
laſſen, ich behalte mir nur die Jagd vor, um
dort ſo zu ſchalten und zu walten, ſo wie es
mich gutduͤnkt. Auch habe ich noch einen an-
dern Plan entworfen, nehmlich den, die hieſi-
gen Fiſchteiche zu verbeſſern: wir muͤſſen oft
Fiſche aus fernen Gegenden kommen laſſen, und
das iſt ſehr unangenehm, ſie haben dann bey
weitem nicht ihren guten und natuͤrlichen Ge-
ſchmack; dem Uebel muß auf irgend eine Art
abgeholfen werden, und ich weiß es auch ſchon,
wie ich mich dazu anſtellen will. Vielleicht
weiß Er mir einen tuͤchtigen Mann vorzuſchla-
gen, der unter meiner Aufſicht die Beſorgung
uͤber ſich nehmen koͤnnte. — Komm' Er jetzt
uͤbrigens nur nach Bonſtreet, oder vielmehr
bleibe Er nur da, bis wir Ihn abholen, denn
wir alle werden hinreiſen und Herr Mortimer
noch obendrein mit uns, denn unter uns geſagt,
ich habe ein Voͤgelchen ſingen hoͤren, daß Herr
Mortimer das ganze Gut Waterhall gekauft
[397] hat; doch, das bleibt in den erſten drey Tagen
noch unter uns, bis es ihm abgetreten wird,
welches ſehr bald geſchehen ſoll. Es iſt uns um
eine gute Geſellſchaft in der Naͤhe zu thun, und
dazu iſt Herr Mortimer ganz ohne Zweifel ein ſehr
tuͤchtiger Mann. — Wegen ſeiner Verdienſte, lie-
ber Thomas, ſoll Er auch Zulage bekommen,
und wenn Er es wuͤnſcht, eine ganz ſtille und
ruhige Penſion genießen, denn Er iſt ſchon alt,
muß Er wiſſen, und wenn Ihm der Garten
nicht gar zu ſehr am Herzen liegt, ſo mag Er
nun nur die ganze Arbeit wegwerfen. — Lebe
Er recht wohl, bis wir uns perſoͤnlich wieder-
ſehn; mein Schwiegerſohn laͤßt gruͤßen.


[398]

25.
William Lovell an Roſa.



Nun iſt es entſchieden. — Es fehlt nichts
weiter. — Ich kann mich nun hinlegen und
ſterben, denn alles, alles iſt voruͤber. — Leſen
Sie das beygelegte Paket, es iſt von Andrea,
es iſt ſein Teſtament, in dem er mich unbarm-
herzig verſtoͤßt, in dem er nichts von mir wiſ-
ſen will. — Es iſt wahrſcheinlich daſſelbe,
woran er noch in ſeiner Krankheit ſchrieb, als
ich ihn beſuchte. —


Kann ich noch etwas ſagen, oder auch nur
denken? — O Gott, ich bin aus dem Reiche
der Schoͤpfung hinausgeworfen. — Leſen Sie
und fuͤhlen Sie dann, wenn es moͤglich iſt, wie
jedes Wort mich zermalmt hat. — Ach, Roſa!
— Es iſt, als wenn ich zuweilen uͤber mich
ſelber lachen und ſpotten koͤnnte. — Weinen
kann ich nicht, und doch wuͤrde es mir wohl
thun: — ach, jetzt iſt alles einerley.


[399]

26.
(Einlage des vorigen Briefes.)


Ich erwarte Deine Zuruͤckkunft, Lovell, und
bis dahin will ich fuͤr Dich dieſe Aufſaͤtze ſchrei-
ben, damit Du endlich die ſo ſehnlich ge-
wuͤnſchte Erklaͤrung erhaͤltſt. Du haſt Recht,
wenn Du glaubſt, daß es nicht moͤglich ſey,
immer unter Traͤumen umherzugehn, daß der
Geiſt endlich nach einer trocknen Ueberzeugung
ſchmachtet, und dieſe ſoll Dir auch jetzt wer-
den. — Ich habe alle Deine Briefe an Roſa
geleſen und alles hat mich in meiner Meynung
von Dir beſtaͤtigt; ich habe Dich jetzt kennen
lernen und Du ſollſt nun auch erfahren, ſoviel
es moͤglich iſt, wie ich beſchaffen bin.


Du wirſt aber alle meine Gedanken viel-
leicht zu ernſthaft nehmen und ſie eben darum
weniger verſtehn: es iſt ſehr Deine Sache, aus
allzugroßer Heftigkeit in einer Idee einen ganz
andern Gedanken zu finden, als der andere ge-
meynt hat. Du gehoͤrſt zu jenen Leſern, die
[400] in allen Buͤchern nur ſich ſelber ſuchen, und
nicht die Faͤhigkeit beſitzen, ſich in fremde Koͤr-
per hineinzudenken. — Ich hoffe, Du ſollſt
durch einige Nachrichten erſchuͤttert, durch
manche Ideen ſollſt Du kluͤger werden, und
wenn beydes geſchieht, will ich meine Zeit und
Muͤhe nicht bereuen. — Meine Krankheit
zwingt mich zu irgend einer Beſchaͤftigung; ich
will Dir alſo dieſe Papiere als ein Denkmal
von mir zuruͤcklaſſen, als ein Teſtament, als
die Erbſchaft ſelbſt, die Du von mir erwarten
kannſt. Wenn Du dadurch auch nur um Eine
Idee bereichert wirſt, ſo haſt Du genug ge-
wonnen.


Meine Jugend.


So wiſſe denn, daß ich Waterlao heiße
und ein Englaͤnder bin. Ich bin mit Deinem
Freunde Burton nahe verwandt, denn ich bin
der Oheim ſeines Vaters, Du kennſt durch
Deinen Vater vielleicht ſchon meinen Namen,
ja Du mußt ſogar oft mein Gemaͤhlde geſehn
haben, welches in einem von euern Zimmern
haͤngt.


Ich
[401]

Ich habe ſchon ſeit lange darauf gedacht,
meine Geſchichte kurz niederzuſchreiben, nur
habe ich noch nie eine gelegene Zeit dazu finden
koͤnnen: jetzt, da ich nichts zu thun habe, da alle
meine Bekannten mich verlaſſen, will ich mir
die Vergangenheit zuruͤckrufen, um mit ihr
und mit mir ſelber zu taͤndeln, ſo wie ich bis-
her mit den Menſchen ſpielte. —


Mein Vater war ein rauher und ſtrenger
Mann, ich war ſein einziges Kind. Er hatte
ſein Vermoͤgen in den buͤrgerlichen Kriegen ver-
loren, er lebte daher auf dem Lande aͤußerſt
ſparſam und eingezogen, die Eitelkeit und die
Pracht der Welt kannte ich nur vom Hoͤrenſa-
gen. In einem einſamen Thale wuchs ich auf,
und faſt immer mir ſelbſt uͤberlaſſen, entwickel-
ten ſich in meiner Seele wunderbare Traͤume,
die ich fuͤr die Wirklichkeit anſah. Froͤmmig-
keit erfuͤllte mein Herz, ich war in einem be-
ſtaͤndigen andaͤchtigen Taumel, es verging alles
vor meinen Sinnen und Gedanken, wenn ich
mir Gott und die Unſterblichkeit vorzuſtellen
ſuchte. Heilige Stimmen liefen oft durch den
Wald, wenn ich allein dort lag, alle Wipfel
vereinigten ſich dann zu einem leiſe brauſenden
Lovell. 3r. Bd. C c
[402] Chor, und der Geſang der Voͤgel erſchallte
munter dazwiſchen, wie ein Wettgeſang der
weltlichen Freuden mit dem Seegen des Him-
mels. Ich ſchlummerte oft ein und faßte dann
die groͤßten und froͤmmſten Entſchließungen;
dann hob ich meine Haͤnde kindlich zum Him-
mel empor, und alle Gefuͤhle zerrannen in mei-
nem Herzen und vereinigten ſich in einen
Punkt. Thraͤnen ſtuͤrzten dann aus meinen Au-
gen und endigten ſo meinen hohen Taumel.
Ich hatte von der großen Liebe Gottes zu den
Menſchen gehoͤrt, und dies Gefuͤhl hielt ich fuͤr
dieſe Liebe, denn es war, als wenn mein Herz
ein magnetiſcher Mittelpunkt waͤre, der vom
Himmel unwiderſtehlich angezogen wuͤrde und
den die koͤrperliche Huͤlle kaum noch auf der
Erde zuruͤckhielte. Mein Vater war ſelbſt im
Alter fromm geworden, und ſeine Geſpraͤche
dienten ſehr dazu, meine Phantaſie noch mehr
zu erhitzen.


Enthuſiasmus.


Ich hielt mich in meinem Sinne, wenn ich
die Geſchichte, oder andre Buͤcher uͤber Men-
[403] ſchen las, fuͤr einen ganz vorzuͤglichen Geiſt.
Ich traute keiner andern Bruſt die Empfindun-
gen zu, die wie eine ſanftwechſelnde Muſik in
meinem Herzen auf und niederſtiegen. Dieſe
Vorſtellungen hoben mich uͤber die ganze Natur
hinaus, ich vergaß alle Duͤrftigkeiten des Le-
bens und war nur in reinen Strahlen ein-
heimiſch.


Faſt jeden Menſchen beherrſcht in der Zeit,
wenn er vom Kinde zum Juͤnglinge uͤbergeht,
ein hoher Enthuſiasmus; der iſt gluͤcklich, der
ſehr ſchnell den Zirkel aller taͤuſchenden Empfin-
dungen durchlaͤuft, um endlich, wenn er die
Runde gemacht hat, ſich ſelber anzutreffen.
Die hohe Reizbarkeit dient dazu, uns in tau-
ſend Thorheiten zu verwickeln, aber auch, uns
uͤber dieſe Thorheiten zu belehren; je feinere
Sinnlichkeit ein Menſch beſitzt, um ſo eher iſt
es ihm moͤglich, recht fruͤh klug zu werden.


Ich moͤchte den jugendlichen Enthuſiasmus,
ſo wie manches Andre im Menſchen, nichts als
eine Anlage nennen, die ſich zur Geſchicklich-
keit ausbilden laͤßt. Es iſt eine Kunſt, die
man ſich durch Uebung erwirbt, keine von den
Armſeeligkeiten zu erblicken, die uns in der
C c 2
[404] ſpaͤtern Zeit oft zuruͤck und auf der Erde feſt-
haͤlt, wenn uns eben ein fliegender Taumel er-
greifen will: wir ſtellen in der Jugend alles in
einen dunkeln Hintergrund, was vor uns hin
die ſchoͤne Ausſicht verdecken koͤnnte. Man
nimmt ſich nur vor, ein großer Menſch zu
werden, ſo lange man die Menſchen und ſich
ſelber nicht kennt: es iſt ein Spiel, das uns
erhaben vorkoͤmmt, weil wir uns ſo lange zwin-
gen, bis wir es ſo finden. Dem kaͤlteren Men-
ſchen erſcheint der Enthuſiasmus gerade ſo, wie
derjenige, der kein Spiel verſteht, denen zu-
ſieht, die ſich mit vieler Aufmerkſamkeit mit
einem ſcharfſinnigen Kartenſpiele beſchaͤftigen.


Der Enthuſiaſt meint, die ganze Welt ſey
nur darum da, um ſeine Entwuͤrfe darinn aus-
zufuͤhren, die Welt ſey nur darum ſo ſonderbar
[aus] Uebeln und Vortreflichkeiten zuſammenge-
ſetzt, damit er durch die Ueberwindung der
Schwierigkeiten ein deſto groͤßeres Verdienſt er-
ringe. Er wuͤrde nicht mehr gut ſeyn wollen,
wenn es leicht waͤre, gut zu ſeyn, und wenn
es alle Menſchen mit ihm zugleich waͤren.


[405]

Liebe.


Bey den meiſten Menſchen iſt der Enthu-
ſiasmus fuͤr das Große und die Tugend nur
eine Vorbereitung zur Liebe, es iſt derſelbe
Trieb, der ſich nur in die Allgemeinheit ver-
liert und Ideen ſucht, weil er keinen Gegen-
ſtand vor ſich hat: die Liebe verarbeitet die
Menſchen eine Zeitlang und fuͤhrt ſie nachher
zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem ſie
verſtaͤndiger, aber auch weit groͤßere Thoren
als vorher werden koͤnnen. Es iſt der Kreuz-
weg, auf dem die Meiſten ſich in verwickelten
Irrgaͤngen verlieren und umzukehren glauben,
wenn ſie immer tiefer in die Wildniß hinein-
rennen.


Mein Vater ſtarb, als ich ſechszehn Jahr
alt war, ein tauber Schmerz erdruͤckte und ver-
finſterte meinen Geiſt, ich glaubte alles verlo-
ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Menſch
beym erſten Verluſte begeht, weil er noch nicht
in den Wechſel des Lebens eingelernt iſt. — Ich
trieb mich lange in der Einſamkeit herum, um
meinem Schmerze nachzuhaͤngen und aus ihm
nach der erſten Betaͤubung eine Art von Kunſt-
[406] werk zu bilden, in welchem ich mir wieder ge-
fiel. Ich zog nach und nach meine vorigen
Ideen in meinen jetzigen Zuſtand hinein, und
ſo war es, als wenn ſich ein ſanfter Mond-
ſchimmer uͤber mir bildete, in deſſen melancho-
liſcher Daͤmmerung ich gerne wandelte.


Ich lernte eine Familie in der Nachbar-
ſchaft kennen, oder vielmehr, ich beſuchte ſie
nur fleißig, weil mein Vormund mich dort ein-
gefuͤhrt hatte. Antonie, die einzige Tochter des
Hauſes, lenkte nach kurzer Zeit alle meine Auf-
merkſamkeit auf ſich; die Daͤmmerung um mich
her ward immer traulicher, und ich hatte am
Ende meinen Schmerz vergeſſen, indem ich
immer noch ſehr ungluͤcklich zu ſeyn glaubte.


Mein ganzes Leben bekam einen neuen
Schwung und es ward mir auf eine andere Art
lieb. Alle meine großen Entwuͤrfe fielen zuſam-
men, meine große heroiſche Biographie kroch in
einen Seufzer ein, ein einziger holdſeeliger
Blick erfuͤllte alle meine Wuͤnſche.


In dieſer Zeit iſt man von allen Frauen-
zimmern gern geſehn, weil man ſie verehrt und
fuͤr goͤttliche Weſen haͤlt; ſie ſind immer in
der Geſellſchaft eines jungen unerfahrnen Men-
[407] ſchen gluͤcklich und unbefangen; je bloͤder, je
verlegener er ſich nimmt, je lieber iſt er ihnen,
wenn ſie ihn oͤffentlich auch noch ſo ſehr ver-
ſpotten. Als ich in mehreren Familien bekannt
ward, war ich bey allen Frauenzimmern eine
ordentliche Modewaare; alle bildeten ſich ein,
daß ſie mich erziehn wollten, um mich zu einem
ganz vorzuͤglichen Menſchen zu machen, jede
entdeckte in mir Talente, die ſich unter ihrem
hohen Schutze gewiß vortreflich in mir entwi-
ckeln wuͤrden. Es ward nun an mir ſo fein
erzogen, daß ich es ſogar in meiner damaligen
Verſtandesbloͤdigkeit bemerkte, man wandte
alles an, um mich eitel und verkehrt zu machen,
meine Erzieher arbeiteten recht muͤhſam dahin,
daß ich ſie verachten mußte, weil ſie eine noch
hoͤhere Verehrung von mir erzwingen wollten.


Antonie war das einzige Maͤdchen, das ſich
nicht um mich zu kuͤmmern ſchien. Ich hoͤrte ſo oft
mit Verachtung von ihr ſprechen, daß ich mir
ſelbſt am Ende einbildete, ſie waͤre mir veraͤcht-
lich; man ſagte von ihr, daß ſie keinen Ver-
ſtand beſitze, und es ſchien auch ſo, denn ſie
[408] ſprach nur ſelten und ſehr furchtſam mit, wenn
die uͤbrigen ihre feinen Ideen auf eine glaͤn-
zende Art entwickelten. Wenn ich allein bey
ihr war, fuͤhlte ich mich aber auf eine unbe-
greifliche Art zu ihr hingezogen, im einfaͤltigen,
faſt kindiſchen Geſpraͤche wurde mir dann der
Verſtand aller uͤbrigen weit zuruͤckgeruͤckt, ſie
intereſſirten mich dann nicht, ich konnte ſie
ſelbſt in der Erinnerung nicht achten. Ich
wunderte mich oft uͤber dieſe ſeltſamen Wider-
ſpruͤche, ich uͤberlegte oft in der Einſamkeit,
wodurch ich ſo wunderbar geſtimmt werden
koͤnne, daß ich immer die entgegengeſetzte Seite
faͤnde und ſie jedesmal fuͤr die wahre hielte.
In kurzer Zeit ward dieſer Widerſpruch in mir
gehoben, denn ich gab mich gegen meine Ueber-
zeugung Antonien ganz hin, die Geſellſchaft
aller uͤbrigen Menſchen war mir ſchaal und er-
muͤdend, ich lebte nur fuͤr ſie, ich dachte nur
ſie, ich traͤumte nur von ihr. — Selbſt jetzt
in der Erinnerung koͤnnt' ich mir, ein achtzig-
jaͤhriger Greis, jene ſchoͤne Zeit zuruͤckwuͤnſchen.


Vielleicht haben nur wenige Menſchen ſo
geliebt, wie ich, denn noch in keinem Dichter
habe ich meine damaligen Empfindungen ganz
[409] wiedergefunden. Es ſind nur Stuͤckwerke, jaͤm-
merliche Fragmente, wenn ich andre Menſchen
davon reden hoͤre, ihre Phantaſie hat es nicht
gewagt, ſich ganz in den reinen Aetherſtrom
der Liebe unterzutauchen, ſie haben immer noch
aͤngſtlich zur duͤrren Erde zuruͤckgeblickt, als ſie
ſich von den allmaͤchtigen Fittigen aufwaͤrts ge-
tragen fuͤhlten. — Meinem Ohre gab die
ganze Natur jetzt nur einen einzigen Ton an,
es war als wenn die Poeſie mit himmelbreiten
Fluͤgeln uͤber die Welt hinrauſchte, und Sonne,
Mond und Sterne anruͤhrte, daß ſie toͤnten:
alles Volk ſtand unten und ſtaunte aufwaͤrts,
vom neuen Glanz, von der nie gehoͤrten Har-
monie betaͤubt und verzaubert.


Ohne daß ich oft vernahm, was ſie ſagte,
konnte mich der bloße Ton ihrer Stimme in
Entzuͤcken verſetzen, alle meine Gedanken ſchlie-
fen gleichſam in Blumen und in ſuͤßen Toͤnen,
meine Seele ruhte in der ihrigen aus, und in
einem Elemente, das fuͤr den Menſchen zu fein
iſt, ſchwamm und ſpielte ich umher.


Meine uͤbrigen Freundinnen ſahen nun mit
Hohngelaͤchter auf mich hinab, ſie gaben mich
verloren und meinten, ich werde nun eben ſo
[410] einfaͤltig bleiben, als es meine Geliebte ſey.
Ich verſtand Antoniens himmliſche Unſchuld,
die ihren eigenen Werth nicht kannte, die ſo-
gar erroͤthete, wenn man ſie nur fuͤr gut
hielt.


Ich wuͤnſchte tauſendmal, fuͤr Antonien
ſterben zu koͤnnen, fuͤr ſie irgend ein Verdienſt
zu erringen. Ich wuͤnſchte ſie arm und in Un-
gluͤck, um ſie zu retten, in Todesgefahr, ich
flehte, daß wenn ſie mich nicht lieben koͤnne,
ſo wie ich ſie liebte, der Himmel ſie moͤchte
ſterben laſſen, damit ich dann Ruhe haͤtte, da-
mit ich auf ihrem Grabhuͤgel ſo lange weinen
koͤnnte, bis ich ihr nachſtuͤrbe. — Der Menſch
kann nie in irgend etwas groß ſeyn, ohne zu-
gleich ein Thor zu ſeyn.


Ich bemerkte nur zu bald, daß ſie mich
nicht liebte; ſie war zwar immer freundlich ge-
gen mich und mehr, wie gegen manchen an-
dern, allein ſie war mit mir nie in Verlegen-
heit: ſie errieth mich und doch kam ſie mir
nicht entgegen, in jedem Worte, das ſie ſprach,
fuͤhlte ich es innig, daß ſie mich nicht liebe.
Alle meine Empfindungen peinigten mich mit
Folterſchmerzen, ich wußte nicht, was ich
[411] wollte, ich begriff nicht, was ich dachte, alles
war im Widerſpruche mit ſich ſelber, die Na-
tur umher ward wieder ſtumm, die duͤrre Wirk-
lichkeit kroch wieder langſam und traͤge aus
ihrem Winkel hervor, in den ſie ſich verſteckt
hatte: es war, als wuͤrde das Inſtrument mit
allen ſeinen klingenden Saiten in tauſend
Stuͤcke geſchlagen.


In einer recht vertraulichen Stunde ge-
ſtand ſie mir nun ſelbſt, daß ſie mich nicht lie-
ben koͤnne, weil ſie ſchon an einen reichen jun-
gen Menſchen verſprochen ſey, dem ſie ihr gan-
zes Herz hingegeben habe.


Alles in mir loͤſte ſich auf. Ein tauber
Schmerz ſaß in meinem Herzen und dehnte ſich
immer weiter und weiter aus, als wenn er das
Herz und die Bruſt zerſprengen wollte, und
doch kam ich mir zugleich albern und abge-
ſchmackt vor. Ich verachtete meine Thraͤnen
und Seufzer, ich hielt alles in mir fuͤr Affek-
tation, alle lebendige Poeſie flog weit von mir
weg, alle Empfindungen zogen voruͤber wie et-
was Fremdes, das mir nicht zugehoͤrte. —


Der Liebhaber kam, um ſie abzuholen.
Sie reiſte ab, und dachte nicht daran, in wel-
[412] cher Einſamkeit ſie mich zuruͤckließ: ich hatte
ihr noch ſelber alles zur Reiſe einpacken helfen.
Die Zimmer waren ausgeleert, und in der
Mitternachtſtunde ging ich dem oͤden Hauſe
voruͤber, und hoͤrte nur noch drinnen eine
Wanduhr, die ewig und langweilig ihre wie-
derkehrenden Schwingungen abmaß. Es war
mir, als hoͤrte ich den Takt, der kalt und em-
pfindungslos das menſchliche Leben abmißt:
ich ahndete im voraus den Gang der Zeit und
alle die truͤben Veraͤnderungen, die ſich traͤge
in der Einfoͤrmigkeit abloͤſen und gaͤhnend wie-
derkehren.


Melancholie.


Es iſt, als wenn die Liebe wie ein Fruͤh-
lingsſchein im Anfange unſers Lebens hingelegt
waͤre, damit wir dieſe ſchoͤne Empfindung in
uns recht lange naͤhren und fortſetzen, damit
uns der ſchoͤnſte Genuß der Seele durch unſer
ganzes Leben begleite, und durch die bloße Er-
innerung uns dies Leben theuer mache. We-
nige nur wagen es, nachdem ſie durch dies
goldene Thor gegangen ſind, das Leben und
[413] ſeine Freuden zu verachten, ſie kommen ſich
dadurch ſelbſt als etwas Großes und Erhabenes
vor, und dies iſt die eigentliche Grundlage von
dem, was die Menſchen gut nennen. Be-
gruͤßte uns nicht die Liebe am Eingange des
Lebens, ſo wuͤrden ſich alle Menſchen ohne
Muͤhe von ihren Vorurtheilen losmachen koͤn-
nen, keiner wuͤrde ſich um die Tugend kuͤm-
mern und keiner uͤber den Verluſt ſeiner jugend-
lichen Gefuͤhle Reue empfinden. Aber ſo wird
uns ein Talisman mitgegeben, der uns be-
herrſcht, ohne daß wir es wiſſen.


Ich fuͤhlte mich jetzt von der ganzen Welt
losgeriſſen, ohne allen Zuſammenhang mit ir-
gend etwas, das in ihr war. Oft lag ich
ganze Tage hindurch im Walde und weinte,
mit unſichtbaren Weſen fuͤhrte ich Geſpraͤche
und klagte ihnen mein Leid. Oft war es, als
wenn die Natur und die rauſchenden Baͤume
meinem Herzen ploͤtzlich naͤher ruͤckten, und ich
ſtreckte dann meine Arme aus, um ſie mit einer
unnennbaren Liebe zu umfangen, aber dann fiel
es wieder vor meine Seele nieder, ich war in
meinem Schmerze mit mir ſelber nicht befreun-
det, und alles uͤbrige erſchien mir kalt und
[441[414]] ohne Intereſſe. Menſchen, die dann in der
Ferne voruͤbergingen, beneidete ich, indem ich
ſie verachtete: ein verworrenes Gewuͤhl von
tauſend Geſtalten lag druͤckend in meiner Phan-
taſie; keine konnte ſich losarbeiten, um als ein
einzelnes, anſchauliches Bild dazuſtehn. — Dies
ſind die Empfindungen eines jungen unentwickel-
ten Menſchen, der nach etwas greift, das er
ſelbſt nicht kennt.


Das hohe Ideal der Tugend und der Vor-
treflichkeit des Menſchen kam jetzt in meine
Seele zuruͤck. Ich nahm mir vor, alle meine
Gefuͤhle in dieſer Vorſtellung zu verbinden, ich
ſah jetzt meine ungluͤckliche Liebe als ein Opfer
an, das ich der Tugend und der Nothwendig-
keit gebracht hatte. Ich fand in vielen Stun-
den Troſt in dieſem Gedanken, und ich nahm
mir von neuem vor, ein recht edler und voll-
endeter Menſch zu werden, alle die gewoͤhnli-
chen Armſeeligkeiten wegzuwerfen und mich
ganz der hohen Vorſtellung zu weihen, die mein
Herz erweiterte. Dieſer Vorſatz iſt es eigent-
lich nur, der den Menſchen ſo oft uͤber dieſe
Welt hinuͤberhebt, denn in der langſamen und
weitſchweifigen Ausuͤbung geht bald aller En-
[415] thuſiasmus verloren. Mir ging es aber bey
weitem uͤbler. Die Menſchen witterten etwas
von meinen Ideen, die ſie Schwaͤrmerey nann-
ten, um mich zu beſſern, verfolgten ſie mich
nun mit falſchem Witze, mit Sticheleyen auf
die gemeinſte Weiſe. Alles, was ich that und
ſagte, war ihnen nicht recht und zu jugendlich;
ſie ließen mir nicht die Zeit, ſelbſt Erfahrun-
gen zu machen, um meine Thorheiten einzu-
ſehn, ſondern ich ſollte in einem Treibhauſe
kluͤger werden.


Es iſt gewiß leicht, ein großer Menſch zu
werden und zu bleiben, wenn ſich uns ſogleich
große Ungluͤcksfaͤlle in den Weg werfen, die
die Bahn zu verſperren drohen. Dann nimmt
ein ſolcher Mann alle ſeine Kraͤfte zuſammen,
um keinen Schritt zuruͤck zu thun. Gefaͤngniß
und Ketten, Todesgefahr und allgemeiner Haß
ſind nur Mittel, die ſeine Seele ſtaͤrken und
verhaͤrten, er lebt in einem unaufhoͤrlichen
Kampfe gegen die wilden Maſſen, die ihn um-
geben, und dieſer Kampf erhaͤlt ihn munter
und lebendig. Eigenſinn wird endlich ſeine
Haupttugend werden, an dem ſich ſeine uͤbrigen
Tugenden nur lehnen, er wird ſich ſelbſt ver-
[416] achten, wenn er fuͤhlt, daß er innerlich nach-
zugeben im Begriff iſt, und auf die Art wird
die Spannung ſeiner Seele niemals nachlaſſen.
Das Bild eines ſolchen Mannes iſt groß, wenn
man will, aber noch groͤßer waͤre der, der ſei-
nen Vorſatz durchfuͤhrt, wenn er gleich nicht
bemerkt wird, dem nichts Großes entgegengeht,
ſondern der in einer ſchaalen Unbedeutenheit
lebt und von allen verachtet wird; vor dem
der eine Tag ſo wie der andere voruͤbergeht,
und um den ſich die Zeit und das Ungluͤck gar
nicht zu kuͤmmern ſcheint. Ein ſolcher Menſch
wird ſeinen Werth bald aufgeben, alles wird
ihm nur ein Hirngeſpinnſt ſcheinen, und er
wird entweder zu den ganz gewoͤhnlichen Men-
ſchen hinabſinken, oder ſich an dieſen zu raͤchen
ſuchen.


Wie oft ward mein guter Wille verkannt
und das beſte in mir verhoͤhnt: wem ich mit
meiner Freundſchaft entgegen ging, der wies
mich kalt zuruͤck, meine jugendliche Empfindung
nannte man ſich gemein machen. Alle
Menſchen waren kluͤger, verſtaͤndiger und beſſer,
als ich, und ich glaubte es am Ende ſelbſt;
ich verachtete mich jetzt ohne Grund, ſo wie
ich
[417] ich mich vorher ohne alle Urſache verehrt hatte;
ich hielt es am Ende nicht der Muͤhe werth,
an mich ſelbſt zu denken, es war mir laͤcherlich,
daß ich mich verbeſſern wollte, die Welt und
ich ſelber ward mir gleichguͤltig, und ſo ſchlief
ich von einem Tage zum andern hinuͤber, ohne
Wuͤnſche und ohne Reue, in mir ſelber ausge-
ſtorben und ohne Lebenskraft, neue Bluͤthen zu
treiben.


Denn Bluͤthen ſind gewoͤhnlich nur das,
was wir ſchon Fruͤchte nennen, und die Fruͤchte
ſelbſt ſind fuͤr uns nur deswegen ein Bild der
Vollendung, weil ſie unſern Beduͤrfniſſen zu
ſtatten kommen: in ihnen liegt der Stamm, der
in der Zukunft wieder Bluͤthen und Fruͤchte
bringen wuͤrde. —


Ploͤtzlich erwachten in mir ganz alte und
vergeſſene Traͤume. Bilder von Laͤndern, Land-
karten, die ich in meiner Kindheit betrachtet
hatte, gingen meiner Phantaſie voruͤber, ich
hoͤrte entfernte Stroͤme rauſchen und ſah einen
fremden Himmel uͤber mir. Eine unbeſchreib-
liche Luſt, die Menſchen und die wohlbekann-
ten Gegenden zu verlaſſen, ergriff mich, ich
ahndete ſoviel Neues, und in dem Neuen ſo-
Lovell. 3r Bd. D d
[418] viel Mannigfaltigkeit, daß ich ploͤtzlich mein
Vermoͤgen zuſammenraffte, und in der groͤßten
Eile England verließ.


Sinnlichkeit.


Es war alles nicht ſo, wie ich es mir ge-
dacht hatte. Ich traf allenthalben dieſelben
Menſchen wieder an, eben das flache, abgegrif-
fene Gepraͤge, das mich in meiner Heimath
innerlich ſo oft empoͤrt hatte. — Ich glaubte
endlich, es ſey Narrheit, anders ſeyn zu wollen,
ich zwang mich in dieſe Form hinein, und nun
war ich ihnen lieb.


Schon vorher hatte ich von einigen ſoge[-]
nannten Vertrauten gehoͤrt, daß in meinem
Geſichte etwas liege, das die Menſchen im
Anfange von mir zuruͤckſtieße; eine verborgene
Widrigkeit, die man nicht genau zu beſchreiben
wiſſe, die mich aber bald laͤcherlich, bald wie-
der zu einem Gegenſtande der Furcht mache.
Nun wußt' ich doch, warum die Menſchen mich
haßten und verfolgten; weil meine Naſe etwas
anders ſtand als ſie es wuͤnſchten, fanden ſie
mich verwerflich.


[419]

Ich uͤberließ mich jetzt dem frohern Genuß
des Lebens, alle meine dunkeln Empfindungen
loͤſten ſich in Sinnlichkeit auf, ich glaubte, das
ſey nur ein Weg dahin geweſen, eine Vorberei-
tung zu dieſer Vollkommenheit.


Ich verachtete jetzt alles in mir ſelbſt, was
mir als groß und erhaben erſchienen war; mir
ſelbſt zum Trotz zeichnete ich mir meine Liebe
als das Laͤcherlichſte vor, ich machte mich mit
den widrigſten Vorſtellungen vertraut, und galt
nun bald allenthalben fuͤr einen witzigen Kopf,
weil ich im Grunde den Verſtand verloren
hatte.


So durchſchwaͤrmte ich ohne Genuß Ita-
lien und Frankreich. Man ſah mich allenthal-
ben gern, und allenthalben war ich mir ſelbſt
zur Laſt: ich bemerkte endlich mit Schrecken,
daß mein kleines Vermoͤgen faſt gaͤnzlich verlo-
ren ſey, ich war meinem Vaterlande ganz
fremd geworden, weil ich ohngefaͤhr ſechszehn
Jahre entfernt geweſen war; ein Zeitraum, der
mich jetzt außerordentlich kurz duͤnkte. — Mit
dem Gelde, das mir uͤbrig blieb, beſchloß ich
nun nach England zuruͤckzukehren, weil mir
indeß das Alte etwas Neues geworden war. —
D d 2
[420] Ich betrat das Engliſche Ufer, um hier neue
Erfahrungen zu machen.


Klugheit.


Ich kam mit der feſten Ueberzeugung zu-
ruͤck, die Menſchen zu kennen. Ich hatte im
Laufe meines wilden Lebens nicht unterlaſſen,
ſie zu beobachten, aber ich war mir dieſer Be-
obachtungen viel zu ſehr bewußt, als daß ſie
haͤtten richtig ſeyn koͤnnen. Es iſt ſchwer, die
Menſchen in der Gegenwart zu kennen, weit
richtiger beurtheilt man ſie in der Entfernung,
wenn wir nach und nach die wahrgenommenen
Merkmale ſammeln. Ueber meine Freunde in
Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den-
ken, und doch brachten mich die Menſchen, die
ich in England traf, von neuem in Verwirrung:
ich ſuchte mich in jede Geſtalt, die mir auf-
ſtieß, hineinzuſtudiren, und daruͤber geſchah es
denn unvermerkt, daß ich ſelbſt manches von
dem Menſchen annahm, den ich mir nur ver-
ſtaͤndlich machen wollte; es iſt dieſelbe Erfah-
rung, die jeder Ueberſetzer macht, der waͤhrend
der Arbeit ſein Original zu hoch anſchlaͤgt.


[421]

Meine ehemalige Geliebte traf ich als eine
zaͤnkiſche, eigenſinnige Hausfrau wieder, ſelbſt
in ihrer Geſtalt waren nur wenige Spuren
ihrer ſonſtigen Liebenswuͤrdigkeit zuruͤckgeblieben.
Wir gingen mit einander um, wie alle uͤbrigen
Menſchen mit einander ſprechen, und alle meine
jugendlichen Empfindungen fuͤr ſie erſchienen
mir ſchaal und abgeſtanden, alle Feſttage waren
fuͤr mich im menſchlichen Leben ausgeſtrichen,
und mein Blick verlor ſich in der unabſehlichen
Folge der alltaͤglichen Stunden und Vorfaͤlle,
von keinem Gefuͤhle aufgeputzt, von keiner
Schwaͤrmerey beglaͤnzt. Wie albern erſchien
mir jetzt die Erinnerung meines ehemaligen
Lebens und meiner jugendlichen Gefuͤhle! Ich
trat unter dem Haufen der Menſchen, und be-
trachtete jedes Geſicht mit einem kalten Blicke:
keiner ging mein Herz naͤher an, als der
andre.


Ich erhielt bald in vielen Haͤuſern Zutritt,
weil ich, ich weiß nicht durch welchen Zufall,
den Namen eines witzigen Kopfes bekommen
hatte. Man iſt ſehr oft in der Welt witzig,
wenn man auf eine gewiſſe Art einfaͤltig iſt,
wenn man jeden Einfall und Gedanken wagt,
[422] ohne an alle die Ruͤckſichten zu denken, die der
kluͤgere Menſch nie aus den Augen verlieren
wird. Ich ſprach alles, was mir in den Sinn
kam, und machte mich beſonders durch abge-
ſchmackte Anekdoten ſehr beliebt; der wahre
Witz wird in Geſellſchaften ſelten geachtet und
verſtanden, die meiſten Leute haben immer nur
die Vorſtaͤdte des Verſtandes und des Witzes
kennen gelernt, ſie behalten daher Zeitlebens
ihre kleinſtaͤdtiſchen, entfernten Begriffe von
dieſen Vortreflichkeiten. Durch den allgemei-
nen Beyfall, deſſen ich genoß, ließ ich mich
verleiten; immer witziger zu werden, ich fand
Behagen an mir ſelbſt, und ſetzte am Ende in
meine Armſeeligkeiten einen eben ſo hohen
Werth, als es die uͤbrigen Menſchen thaten.
Man wird meiſtentheils durch den Umgang ein-
faͤltiger und eitler, ſelten kluͤger und beſſer.
Ich hatte damals uͤberhaupt gerade ſoviel Ver-
ſtand und Erfahrung, um mich ſehr dumm zu
betragen, der ganz Einfaͤltige geht einen weit
beſſern und ſicherern Weg, als der Menſch,
deſſen Klugheit im Wachsthume iſt; die einzig
ſchaͤdliche Dummheit iſt jene halbe Klugheit,
die ſich allenthalben zurecht finden will, alles
[423] zu ihrem Vortheile benutzen, das Widerſpen-
ſtige auf eine feine Art verbinden und ſo durch
einen feinen, unbemerkten Despotismus die
ganze Welt regieren. Dieſe Klugheit war eben
bey mir gruͤn in die Hoͤhe geſchoſſen, ſo daß
ich ſie zwar bemerken, aber noch keine Fruͤchte
davon einerndten konnte: dieſe unreife Klugheit
kann hoͤchſtens einem Schriftſteller zu Gute
kommen, der in ſeinen Buͤchern mit den Men-
ſchen machen kann, was er will, ohne daß ſie
ſich eben zu ſehr widerſetzen; aber in der wirk-
lichen Welt iſt ſie eben der Angelhaken, mit
dem dieſe Goldfiſche von kluͤgern Fiſchern ge-
fangen werden. Man ſollte daher entweder
Zeitlebens einfaͤltig bleiben, oder ſchnell jene
gefaͤhrliche Periode der Entwickelung zu uͤber-
ſtehen ſuchen.


Damals lernte ich einen jungen Menſchen,
Deinen Vater, kennen. Er ſtand noch in der
empfindenden Periode, und ich war ihm mit
meiner Ausbildung ſo ſehr gewachſen, daß er
mich bald fuͤr das Muſter eines Mannes hielt.
Er wuͤnſchte nichts ſo ſehr, als meine Freund-
ſchaft, und es traf ſich, daß wir in kurzer Zeit
recht vertraut mit einander wurden. Er ent-
[424] deckte mir ſeine Liebe zur Lady Milford, und
bat mich um meine Vermittelung, weil ich in
dem Hauſe oft war, und viel beym Vater
galt. Ich nahm mich ſeiner redlich an, und
es kam ſo weit, daß die Verlobung in kurzem
gefeyert werden ſollte. Marie Milford war
ein trefliches Maͤdchen, die mir mit jedem
Tage mehr gefiel, und ohne daß ich ſagen
koͤnnte, wie es geſchah, war ich ſelbſt in ſie
verliebt, noch ehe ich daran dachte, daß es
moͤglich waͤre. Ich dachte jetzt, Lovell von ihr
zu entfernen, ich that vieles, ohne genau zu
uͤberlegen, was und wie es ſey, und ſo gelang
es mir am Ende wirklich, daß ihm der Vater
das Haus verbot. Der junge Burton, der
Lovells Freund war, ward jetzt heimlich mein
Vertrauter, wir errichteten einen ordentlichen
Vertrag. So jung dieſer Menſch damals auch
war, ſo war er mir dennoch uͤberlegen; ob ich
gleich ſein Oheim war, ſo konnte ich es doch
nicht unterlaſſen, im Stillen eine große Ach-
tung fuͤr ihn zu empfinden. Es zeigte ſich auch
in der Folge, daß ich hierinn Recht hatte, ob
ich mich gleich im Ganzen in ihm geirrt
hatte.


[425]

Marie war ungluͤcklich, und alle meine
Bemuͤhungen, ihr Wohlwollen auf mich zu
lenken, waren vergebens. Je mehr ſie mir
widerſtand, um ſo heftiger wurde meine Be-
gierde. Ich glaubte daher, daß dieſe Liebe
noch ſtaͤrker ſey, als meine erſte jugendliche zu
Antonien. Der Vater ward immer mehr fuͤr
mich eingenommen, und er wuͤnſchte nichts ſo
ſehnlich, als mich zum Schwiegerſohne zu be-
kommen.


Ich hatte Lovell nach und nach und mit
einigem Scharfſinne beym Vater verlaͤumdet,
ich hatte allen meinen Ausſagen den Anſtrich
der Wahrheit zu geben gewußt, aber doch war
die ganze Intrigue ohne einen eigentlichen Plan
angelegt, ich verließ mich mehr auf den Zufall
und auf die Leichtglaͤubigkeit der Menſchen,
als auf mich ſelbſt. Ich dachte eigentlich nur
ſelten an den Erfolg, ſondern ließ ſich die Ma-
ſchine ſelber umtreiben, ſo wie es die meiſten
Menſchen machen, die eigentlich mehr ihre
Plane ausbeſſern und den uͤblen Folgen derſel-
ben aus dem Wege treten, als daß ſie ihre
Plane durchſetzen. Dieſe Schlaͤfrigkeit in der
Bosheit macht, daß die Menſchen noch ſo
[426] ziemlich mit einander fertig werden, daß es
dem einen nicht ſauer wird, den andern zu
uͤberliſten, und daß dieſer ſich wieder nicht
ſehr widerſpenſtig erzeigt, uͤberliſtet zu werden.


Die Tochter ſchien mir immer abgeneigter
zu werden, und doch war ſie bey Tage und in
der Nacht mein einziger Gedanke. Ich gab
mein ganzes voriges Leben verloren, und be-
ſchloß, durch ihren Beſitz gleichſam von neuem
geboren zu werden, mich und mein Gluͤck in
jeder Stunde recht bedaͤchtlich zu genießen und
mit mir ſelber ernſthafter umzugehen. Es ſchien
mir jetzt, als habe ich alle meine Jahre in
einem wilden, druͤckenden Rauſche verſchleu-
dert, ich erſchrak vor dem Gedanken, leer durch
das Leben zu gehn und dann ſo hinzuſterben.
Und doch uͤberfiel mich oft die Ueberzeugung,
daß es ſo kommen wuͤrde und muͤſſe, denn ich
fuͤhlte es in allen Stunden innig, daß ſich
Mariens Seele gaͤnzlich von mir zuruͤckneigte,
wie eine Blume von dem kalten Schatten.
Sie ward in einer Stunde offenherzig und ge-
ſtand mir ihr Gefuͤhl, wie alles ſie von mir
zuruͤckſtoße, mein Geſicht, mein ganzes Weſen,
ein Etwas, das ſie nicht beſchreiben koͤnne,
[427] das ihr aber voͤllig zuwider und in manchen
Stunden ſogar fuͤrchterlich ſey. Jetzt wußte
ich, woran ich war, es zog in demſelben Au-
genblicke ein grimmiger, ein entſetzlicher Haß
durch meine Bruſt, ein Haß gegen die ganze
Welt und gegen mich ſelbſt, alle die feinen
Nerven der Liebe und des Wohlwollens erſtarr-
ten, wie von einem beißenden Froſte getroffen.
Alle Bluͤthen meines Geiſtes, alle Selbſtachtung
jede Heiligkeit erſtarben in meinem Innern.
Aber ich nahm mir nun um ſo feſter vor, ſie
unter jeder Bedingung zu beſitzen, ihr und mir
zum Trotze; ſie von Lovell loszureißen, war
jetzt ſchon meine Gluͤckſeeligkeit.


Der beſtimmte Tag, an dem ich mit ihr
verheyrathet werden ſollte, nahte ſich nun wirk-
lich; alle Gaͤſte waren da, Muſik ertoͤnte, Ma-
rie war traurig und der Vater froh, als Lovell
ploͤtzlich hereinſtuͤrzte, der bis dahin in London
geweſen war, und nun ſich alles zu meinem
Schimpfe entwickelte, indeß ich kaum ein ein-
ziges Wort finden konnte.


Alles verließ mich, ich mußte Burton nach
meinem Verſprechen einige hundert Pfund ge-
ben, die gerade den Reſt meines Vermoͤgens
[428] ausmachten; er hatte mich wieder meinen Wil-
len in ſeiner Gewalt.


Haß.


Ich ſtand einſam da. Ich hatte nur Eine
Empfindung in meiner Bruſt, die mein Herz
zu zerreißen drohte; ein tiefer, unverſoͤhnlicher,
brennender Haß gegen Lovell. Mein ganzes
Leben haͤtte ich daran ſetzen moͤgen, um das
ſeinige zu verbittern. Ich konnte nicht an ſei-
nen Namen denken, ohne vor Wuth zu zittern:
mein Innres bewegte ſich auf die gewaltſamſte
Weiſe, wenn ich an alle Vorfaͤlle dachte, und
ich dann ſein Vorhaben gekroͤnt, ihn gluͤcklich
ſah. Ich ſchwur es mir, ihn ewig nicht zu
vergeſſen, mich nie im Herzen mit ihm auszu-
ſoͤhnen. Mein Leben hatte nun einen Faden
gefunden, an dem es ſich hinunterſpinnen
konnte.


Ich wußte es zu bewerkſtelligen, daß er
Gift bekam, allein er wurde wieder hergeſtellt;
eine kleine Genugthuung war es mir, daß Ma-
rie im erſten Wochenbette ſtarb, wie ich nach-
ber erfuhr, allein die brennende Wunde in
[429] meiner Bruſt blieb immer offen. Ich verſtand
jetzt, was man unter dem Worte Haß begreife,
mir war, als wenn mein Leben nun erſt einen
Zweck bekommen habe, und daß dieſer in nichts
anderm beſtehe, als Lovell unablaͤſſig zu verfol-
gen und zu peinigen: mein dunkles ungewiſſes
Daſeyn ſchloß ſich hinter mir zu, und eine
gewiſſere und ebnere Bahn lag vor mir. Ich
empfand, daß dieſer Haß die Hauptempfindung
in meinem Leben ſeyn wuͤrde; nach dieſem Mit-
telpunkte zog ſich alles. Ich knirſchte mit den
Zaͤhnen und verachtete mich ſelbſt, daß ich
nichts weiter thun konnte, aber ich ſchwur es
dem boͤſen Geiſte in mir, mich zu raͤchen, ſo-
bald ſich nur eine Gelegenheit zeigen wuͤrde.


Elend.


Es war jetzt die Zeit gekommen, daß ich
die Menſchen wirklich ſollte kennen lernen. Der
Menſch iſt nichts, wenn ihm ſeine Nebenge-
ſchoͤpfe fremd bleiben, und indem er ſie kennen
lernt, verliert er alles, was ihm Werth gab:
er iſt ein klaͤgliches und wieder laͤcherliches
Raͤthſel.


[430]

Alle Menſchen entfernten ſich nun von mir,
ich war von allen Geſellſchaften ausgeſchloſſen,
ich ſuchte Huͤlfe oder nur Mitleid, aber ich
ward kalt und hoͤniſch zuruͤckgewieſen. Man
hatte mich geſucht und an ſich gezogen, und
jetzt verachtete mich jeder Dummkopf, ohne
daß er ſich einen auch nur halbklugen Grund
anzugeben wußte. Ich aͤrgerte mich innig uͤber
dieſe Menſchen, die mich vorher ohne alle Ur-
ſache geſchaͤtzt hatten, und mich nun ſo ploͤtzlich
fallen ließen, und ſich dabey ſo hoch uͤber mir
erhaben duͤnkten. Ich war gebrandmarkt, und
jedermann vermied mich als einen Angeſteckten,
ſie hatten ſonſt einmal etwas von Tugend und
Rechtſchaffenheit gehoͤrt, und nun meinten ſie,
die Leute koͤnnten wohl gar denken, ſie hielten
nicht viel von dieſen hohen Dingen, wenn ſie
ſich mit mir abgaͤben. Es waren Menſchen
darunter, die nicht ihre einfaͤltigſten Gedanken
mit der Sprache von ſich zu geben wußten.


Die weite Welt lag jetzt vor mir, aber
ich begriff nicht, wie ich darinn leben wollte.
Mein ganzes Vermoͤgen war verloren, ich hatte
keine Freunde und keine Ausſichten, keinen
Muth, mir ſelber zu vertrauen, um das Ver-
[431] lorne wieder zu gewinnen. Ich haͤtte in Lon-
don eine Zeitlang bleiben koͤnnen, aber ich war
es muͤde, Anekdoten zu erzaͤhlen, oder hin und
her zu ſchwatzen, und mich abzuquaͤlen, um
einen witzigen Einfall zuſammenzubringen. Die
Menſchen hatten mir ſelbſt den Muth genom-
men, zu ſchmeicheln, um ſo ein kuͤmmerliches
Daſeyn durchzuſchleppen.


Und mit Mariens Vermoͤgen haͤtt' ich ſo
gemaͤchlich und ſo bequem leben koͤnnen, ſie
haͤtte mich doch vielleicht endlich geliebt, denn
es war unmoͤglich, daß der abgeſchmackte, geiſt-
loſe Lovell ſie ſo innig wie ich lieben konnte;
er allein war die Urſache meines Elendes. —
So ſprach ich oft mit mir ſelber, und mein
Ingrimm ward durch die Menſchen erhoben,
auf die ich ſtieß.


Ich reiſte wieder nach Frankreich, und
vermied die Geſellſchaft der Menſchen ſoviel
als moͤglich. Im Schatten von rauſchenden
Waͤldern uͤberlas ich nun oft alle die Erfahrun-
gen, die ich in meinem Gedaͤchtniſſe aufbe-
wahrt hatte, es thaten ſich viele Lichter da
hervor, wo bis jetzt in meiner Seele dickes
Dunkel, oder verworrene Daͤmmerung geherrſcht
[432] hatte. Nichts lehrt uns ſo ſehr die Menſchen
verachten, als die Einſamkeit, jede Armſeelig
keit dieſes Geſchlechts erſcheint noch aͤrmer,
wenn man ſich im einſamen Forſte ihrer erin
nert, indem ein Gewitter rabenſchwarze Schat-
ten hinunterwirft, und der Donner ungewiß
uͤber die zitternden Baumwipfel geht.


Ich ſuchte endlich Huͤlfe bey Menſchen,
die ſonſt meine vertrauten Freunde geweſen
waren, und denen ich aus ſchlecht angebrachter
Gutherzigkeit ſonſt tauſend Dienſte, ſelbſt mit
meinem Schaden, geleiſtet hatte. Keiner kannte
mich wieder, einige wurden ſogar auf meine
Unkoſten witzig, ich ſah jetzt ein, daß Achtung
und Freundſchaft nur ſo lange dauern koͤnnen,
als jeder der ſogenannten Freunde ohngefaͤhr
gleich viel Geld in der Taſche hat; ſie [v]erhalten
ſich wie Wageſchaalen, die nur im Gleichge-
wichte ſtehn, wenn in jeder von ihnen ein glei-
ches Gewicht liegt.


Mitten im volkreichen Paris lebte ich in
der groͤßten Einſamkeit, mein letztes Geld war
ausgegeben und eine Krankheit uͤberfiel mich.
Ich mußte zum Schmaͤhlichſten meine Zuflucht
nehmen; auf mein inſtaͤndiges, wiederholtes
Bitten
[433] Bitten nahm man mich in einem Hospitale
auf. Ich kann nicht ſagen, daß man fuͤr mich
ſorgte, denn ſelbſt der traͤgſte Gaͤrtner behan-
delt die Blumen, die ſchon verwelken wollen,
liebreicher und mit mehr Aufmerkſamkeit, als
hier die kranken, mit dem Tode ringenden
Menſchen gehandhabt wurden. Manche werden
dennoch wieder geſund, und zu dieſen gehoͤrte
auch ich. Man entließ mich, ein Geiſtlicher
gab mir ſogar fromme Wuͤnſche mit, und die
Sonne ſchien mir nun wieder auf der freyen
Straße entgegen. Ich war noch ſehr ſchwach,
abgefallen und bleich, aber dennoch ward Nie-
mand zum Mitleiden bewegt. Es giebt gar zu
viele Elende! rief man mir von allen Seiten
entgegen, weil ſelten ein Menſch ſo gewiſſen,
haft iſt, es aufrichtig zu geſtehn, daß er ſich
nicht berufen fuͤhle, die Noth des Menſchen
zu erleichtern. Ich bettelte gleich dem Ver-
worfenſten, aber mein Anzug war noch zu gut,
um das fluͤchtige Mitleid gefangen zu nehmen:
wer mir einen Sous gab, hielt ſich zugleich
fuͤr berufen, mir tauſend Bitterkeiten zu ſagen,
die mich noch mehr ſchmerzten, als Hunger
und Krankheit, ja manche thaten es gewiß nur,
Lovell. 3r Bd. E e
[434] um eine Gelegenheit zu haben, ihre guten Leh-
ren an den Mann zu bringen.


Ich ward immer aufgebrachter, und ſah
doch ein, daß mein Harm nur laͤcherlich war.
Ich ward meines Lebens uͤberdruͤßig, das wie
eine Kette um mich lag. Ich ſaß auf dem
Pont neuf, und hatte ſchon ſeit Sonnenaufgang
das Mitleid der Voruͤbergehenden angefleht.
Hunger und Durſt zehrten mich auf, ich erin-
nerte mich der Maͤhrchen von wohlthaͤtigen
Zauberern und Kobolden, und ſah jedem Vor-
uͤbergehenden in's Geſicht, aber alle ſahen zu
ſehr den Menſchen aͤhnlich, als daß ich etwas
haͤtte hoffen koͤnnen. Die Sonne ging unter,
und die rothen Wellen winkten mir, der Fluß
ſchien mir ein ſchoͤnes goldenes Bette, in dem
ich endlich alle Sorgen und allen Verdruß ver-
ſchlafen koͤnne. Immer gingen noch Menſchen
voruͤber, und keiner von allen warf mir auch
nur die kleinſte Muͤnze zu. Ich beſchloß noch
zwoͤlf Voruͤbergehende abzuwarten, und mich
dann, wenn mir von dieſen keiner etwas gaͤbe,
in den Strom zu ſtuͤrzen.


Da es ſchon ſpaͤt war, gingen die Leute
ſchon ſeltner, ich verdoppelte mein Flehn, um
[435] nicht durch Nachlaͤſſigkeit an meinem Tode
Schuld zu ſeyn, aber man hoͤrte nun in der
Daͤmmerung noch weniger auf mich. Schon
waren elf [Unbarmherzige] voruͤbergegangen, und
auch der zwoͤlfte kam und ſah ſich nicht nach
meinen Bitten um: ſchon war ich aufgeſtanden,
um mich nun koͤpflings uͤber das Gelaͤnder der
Bruͤcke in den Strom zu ſtuͤrzen, als ich einen
ſingenden Menſchen hoͤrte, der ſich naͤherte.
Ich hielt ein, um auch noch mit dieſem einen
Verſuch zu machen, von dem ich ſchon im vor-
aus uͤberzeugt war, daß er vergeblich ſeyn
wuͤrde, denn der Spatziergaͤnger war froh und
guter Dinge. Er kam naͤher. Es war ein
Betrunkener, der ſich kaum mehr aufrecht zu
erhalten [wußte], ſein Bewußtſeyn hatte ihn faſt
gaͤnzlich verlaſſen, und er brummte ein unver-
ſtaͤndliches Lied zwiſchen den Zaͤhnen hervor.
Es kam mir vor wie eine Satyre auf mich
ſelbſt und auf die Menſchheit, als ich mit de-
muͤthigen Bitten ſein Wohlwollen und ſein
chriſtliches Herz in Anſpruch nahm. Er ſtand
ſtill, betrachtete mich und lachte dann uͤber
mein kuͤmmerliches Ausſehen aus vollem Halſe.
Ich haͤtte beynahe mit eingeſtimmt. Mit einem
E e 2
[436] widrigen Geſichte griff er jetzt in die Taſche,
und zog gaͤhnend eine ſchwere Boͤrſe hervor,
er machte ſie auf und gab mir ein Goldſtuͤck:
ich dankte und er ging fort. Kaum war er
einige Schritte gegangen, als er aus Nachlaͤſ-
ſigkeit die Boͤrſe verlor und es nicht bemerkte.
So ſchnell ich konnte, lief ich hinzu, und hob
ſie auf: er hatte mich nicht geſehen, und ich
war ſchon jenſeit der Bruͤcke, als er hinter mir
drein keuchte und mich fragte, ob ich ſeine
Boͤrſe nicht geſehn habe. Ich verneinte es feſt,
und er fing nun an zu ſuchen, er kroch die
Bruͤcke auf und ab, und ich mußte ihm helfen,
wobey ich denn ſein Ungluͤck ſehr beklagte. Er
bog ſich endlich uͤber das Gelaͤnder, ſtieg hin-
uͤber, um auch dort nachzuſehn, weil man in
der Betrunkenheit ſelbſt gern an den Orten
ſucht, wo ſich die Sachen am unwahrſcheinlich-
ſten finden, er kam aus dem Gleichgewichte
und ſtuͤrzte in das Waſſer. Da ich ihn nicht
ſchreyen hoͤrte, ging auch ich ſtillſchweigends
fort. Ich weiß nicht, ob man ihn wieder ans
Land gezogen hat.


Das Geld machte mich bald wieder an-
ſehnlich; außerdem fand ich noch einige bedeu-
[437] tende Wechſel in der Boͤrſe; ich verließ die
Stadt, und ſetzte bey der erſten guͤnſtigen Ge-
legenheit die Wechſel in baares Geld um; mit
einem nicht unbetraͤchtlichen Vermoͤgen ging
ich unter einem erborgten Namen nach Italien.


Verſtand.


Ich kam nun mit dem feſten Vorſatze aus
der Schule, beſonnener zu leben. Ich verglich
mich mit den uͤbrigen Menſchen, und fand,
daß ſie haͤufig, ja meiſtentheils einfaͤltiger
waren, als ich, es gereute mich doppelt, daß
ich mich ſo von ihnen hatte beherrſchen laſſen.
Ich ſah ein, daß wenn ich verſteckter und fei-
ner handelte, als ſie, ich ſie alle um deſto eher
wuͤrde beherrſchen koͤnnen. Denn ſoviel iſt ge-
wiß, daß man die Geſellſchaft entweder verlaſ-
ſen muß, oder ſich zum Beherrſcher aufwerfen,
oder ſich beherrſchen laſſen. Es iſt traurig ge-
nug, daß dies die Definition vom Worte Um-
gang iſt.


Ich hatte es an allen Menſchen mit ſo
vielem Unwillen bemerkt, daß ſie ſich zuweilen
recht kluge Regeln aus ihren Lebenserfahrungen
[438] abſtrahirt hatten, daß dieſe ihnen aber immer
nur dazu dienten, in Geſellſchaften angenehm
und ſinnreich zu ſprechen; ſie dachten alle nur,
um uͤber ihr Denken zu reden, nicht aber um
ihre Reſultate in Ausuͤbung zu bringen. Da-
her koͤmmt es dann auch, daß ſie im Denken,
ſo wie in einem Hazardſpiele, wagen, daß ſie
oft ohne alle Ueberzeugung uͤberzeugt thun,
damit ſie nur Gelegenheit finden, ſcharfſinnig
zu ſeyn. Dieſe klaͤglichſte von allen Schwaͤchen
hatte ich ſchon ſeit lange verachtet; ich nahm
mir vor, jeden Gedanken uͤber die Welt und
den Menſchen recht genau zu nehmen, ihn treu
aufzubewahren, damit er mir nuͤtzen koͤnne.
So legte ich es freylich wenig darauf an, uͤber
Menſchen gut zu ſprechen, aber deſto mehr, ſie
von ihrer wahren Seite zu begreifen.


Jeder Menſch ſucht aus ſeinem Leben et-
was recht Bedeutendes zu machen, und jeder
glaubt, er ſey der Mittelpunkt des großen Zir-
kels. Keiner lebt im Allgemeinen, keiner kuͤm-
mert ſich um das große Intereſſe des Ganzen,
ſondern jeder weiß in dieſem unendlichen Stuͤcke
nur ſeine kleine armſelige Rolle auswendig,
die oft nur ſo wenig zum Ganzen beytraͤgt.
[439] Man kann ſich daher nicht beſſer gegen die
veraͤchtlichſten Schwaͤchen der Menſchen, gegen
blinde Eitelkeit und kurzſichtigen Stol; waff-
nen, als wenn man ſich das bunte Leben im-
mer unter dem Bilde eines Schauſpiels vor-
ſtellt; es iſt ein wirkliches Drama, weil jeder-
mann es dazu zu machen ſtrebt, denn keiner
kommt auf den Gedanken, ſo in den Tag,
oder in's Blaue hineinzuleben, wie man zu
ſagen pflegt, ſondern ſelbſt zum kuͤrzeſten Auf-
tritte buͤrſtet ein unbemerkter Bediente ſeinen
Hut ab, und will durch die Treſſen auf dem
Rocke blenden. Nie muß man ſich ganz an
einzelne Menſchen verlieren, ſondern immer
daran denken, daß dieſe von andern wieder
anders betrachtet werden, als wir ſie betrach-
ten; denn ſobald jemand Einfluß auf uns hat,
ſo iſt unſer Blick auch ſchon beſtochen.


Vorſaͤtze.


Wie jedermann Vorſaͤtze faßt, waͤr' es
auch nur am Geburts- oder Neujahrstage, ſo
faßte ich auch die meinigen. Wer nicht konſe-
quent handeln kann, ſollte lieber gleich unbe-
[440] ſehen alle Handlungen aufgeben, weil er ſich
ſonſt beſtaͤndig ſelber etwas in den Weg legen
wird, und zwar eben durch den Verſuch, ſich
manches aus dem Wege zu raͤumen. Ich hatte
nun einmal eine gewiſſe Art zu leben und zu
denken angenommen, und ich mußte ſo fort-
fahren, oder von neuem in's Hospital oder
Narrenhaus geſchickt werden. Ich uͤberlegte
aber, was man mir entgegenſetzen koͤnne, und
fand es alles abgeſchmackt. Daß die Welt nicht
beſtehen koͤnne, wenn alle Menſchen ſo daͤchten
und handelten, dieſer Gedanke iſt es ja eben,
der einzelne Koͤpfe aufrufen muß, von der ge-
woͤhnlichen Art abzuweichen, weil ſie durch die
Gewoͤhnlichkeit der andern Menſchen im Stande
ſind, ihr falſches Geld fuͤr aͤchtes auszugeben.
Sie ſind in dem wilden Kampfe des menſchli-
chen Lebens die Heerfuͤhrer, die es wiſſen,
wovon die Rede iſt, die uͤbrigen ſind ihre Un-
tergebenen, und die aͤcht Tugendhaften die
ewige ſchoͤne Urſache, daß dieſer Krieg nie zu
Ende koͤmmt, ſie gießen die Kugeln und thei-
len ſie gratis beyden Partheyen aus. — Der
wichtigſte Einwurf iſt nun, daß etwas in uns
wohne, das in uns ſchlaͤgt und zittert, wenn
[441] wir von dem Wege abweichen, von dem man
ſagt, daß ihn die Natur vorgezeichnet habe.
Aber eben von dieſem unſichtbaren Dinge, oder
ſogenanntem Gewiſſen konnt' ich mich nie
uͤberzeugen. Es giebt mehrere dergleichen fabel-
hafte Traditionen beym Menſchengeſchlechte,
wodurch der groͤßte Theil deſſelben wirklich in
einer gewiſſen Furcht gehalten wird, die man-
chen in muͤßigen Stunden, wenn er nicht zu
ſehr gedraͤngt und getrieben wird, tugendhaft
machen; es ſind die philoſophiſchen Nebenſtun-
den, auf Schreibpapier gedruckt und mit
Vignetten verziert. Ich beſchloß, es mit die-
ſer unſichtbaren Gewalt aufzunehmen, und ihr
nicht minder, als dem gewoͤhnlichen Gerede,
das man unter dem Namen Grundſaͤtze ſo
oft ableſen hoͤrt, Trotz zu bieten, und bis jetzt
habe ich keinen Anſtoß, keinen innern Ruf be-
merkt, ob ich gleich jeden Fehler, der mir im
Wege lag, mitnahm: es ſind mannigfaltige
Suͤnden von mir begangen worden, aber bis
jetzt bin ich immer noch ruhig geblieben. —
So hatte ſich nach und nach das Ideal eines
Menſchen veraͤndert, das ich mit ungeuͤbtem
Finger in der Kindheit entworfen hatte. Ich
[442] habe oft jene bekannten tugendhaften Buͤcher
geleſen, um mir die Sache recht nahe zu brin-
gen, aber weder Poeſie noch Proſa haben in
mir etwas angeſchlagen, ob ich mir gleich jene
armſeeligen gequaͤlten Menſchen ziemlich deut-
lich vorſtellen kann.


Doch ich werde wirklich zu weitlaͤuftig,
und Du verſtehſt mich am Ende doch nicht ganz;
ich will daher hier mehrere Jahre uͤbergehen,
um mich dem Schluſſe meiner Erzaͤhlung zu
naͤhern.


Geheime Geſellſchaft.


Als ich etwas aͤlter geworden war, fand
ich mich damit nicht beruhigt, daß mich die
Menſchen nicht betruͤgen konnten. Jeder Menſch
hat irgend ein Spielwerk, ein Steckenpferd,
dem er ſich mit ganzer Seele hingiebt, und da
jetzt bey mir der Trieb zur Thaͤtigkeit erwachte,
ſo wuͤnſchte ich mir auch irgend etwas einzu-
richten, worinn ich mit Vergnuͤgen arbeiten
koͤnnte. Ich hatte von je einen großen Hang
zu Seltſamkeiten in mir verſpuͤrt, und ſo war
es auch jetzt die Idee eines geheimen Ordens,
[443] die mich vorzuͤglich anlockte. Man hatte mir ſo
viel davon erzaͤhlt, ich hatte ſo oft behaupten
hoͤren, daß es ein außerordentlicher Mann ſeyn
muͤſſe, der an der Spitze einer ſolchen Geſell-
ſchaft ſtehe, daß ich den Wunſch gar nicht un-
terdruͤcken konnte, mich ſelbſt zu einem aͤhnli-
chen Oberhaupte aufzuwerfen. Die Menſchen
erſchienen mir in einem ſo veraͤchtlichen Lichte,
daß ich es fuͤr die leichteſte Sache von der
Welt hielt, ſie zu beherrſchen, kurz, ich nahm
mir vor, den Verſuch anzuſtellen, moͤgte er
gleich ausfallen, wie er wollte.


Ich hielt mich in Rom auf, und man hielt
mich fuͤr einen eingebornen Italiaͤner. Mein
ſeltſames, eingezogenes Weſen hatte ſchon die
Aufmerkſamkeit mancher Leute auf ſich gerich-
tet, man konnte aus mir nicht recht klug wer-
den, und es geſchah daher ſehr bald, daß ich
fuͤr einen intereſſanten, ja fuͤr einen aͤußerſt
intereſſanten Menſchen ausgeſchrien wurde, im
Grunde nur, weil man nicht ausfindig machen
konnte, in welcher Gegend ich geboren war und
wovon ich lebte. Ich ward nach und nach mit
manchen juͤngern und aͤltern Leuten bekannter,
und es ward mir nicht ſchwer, ſie um mich zu
[444] verſammeln. Ich ſah jetzt erſt ein, wie leicht
man die Menſchen in einer gewiſſen Ehrfurcht
erhalten koͤnne, alles was ſie nicht recht ver-
ſtehen, halten ſie fuͤr etwas ganz außerordent-
liches, eben deswegen, weil ſelbſt ſie es nicht
begreifen koͤnnen.


Ich ließ nur einige, die ich fuͤr die kluͤ-
geren hielt, mit mir vertrauter werden, die
uͤbrigen blieben ſtets in einer demuͤthigen Ab-
haͤngigkeit. Unſere Geſellſchaft breitete ſich
bald in mehrern Staͤdten aus, und bekam ent-
fernte Mitglieder, und jetzt war es die Zeit,
etwas durchzuſetzen, denn ſonſt waͤre ſie immer
nur ein albernes Poſſenſpiel geblieben. Es war
mein Zweck, das Vermoͤgen andrer Leute auf
ein oder die andre Art in den Schatz der Ge-
ſellſchaft zu leiten, und es gluͤckte mir mit
manchem. Derjenige, der mehrere Grade be-
kommen und viel zum Vortheile der Geſellſchaft
gewirkt hatte, konnte dann auf die Theilnahme
an dieſer allgemeinen Kaſſe Anſpruͤche machen.
So wurden alle mit Hoffnungen hingehalten,
und jeder einzelne war zufrieden; nur wenige
wußten um den Zweck des Meiſters, und ſelbſt
[445] dieſe durften nur mehr ahnden, als ſie uͤber-
zeugt ſeyn konnten.


Ich fuͤrchtete anfangs, daß kluͤgere Men-
ſchen meinem Plane auf den Grund ſehn moͤch-
ten, allein dieſe Beſorgniß fand ich in der
Folge ſehr ungegruͤndet. Sobald man ſich nur
ſelbſt fuͤr geſcheidter haͤlt, als die uͤbrigen
Menſchen, finden es dieſe auch ſelbſt ſo. Man
muß ſich nur nicht hingeben, ſondern ſich recht
koſtbar machen, nie ganz vertraut werden, ſon-
dern immer noch mit tauſend Gedanken zuruͤck-
zuhalten ſcheinen, ſo geraͤth jeder Beobachter
in eine gewiſſe Verwirrung, ſein Urtheil iſt
wenigſtens nicht ſicher, und damit iſt ſchon
alles gewonnen. Jeder wird ſuchen, einem
ſolchen wunderbaren Menſchen naͤher zu kom-
men, und um ihn zu ſtudiren wird man es
unterlaſſen, ihn zu beobachten: ſelbſt der ſcharf-
ſinnigſte Kopf wird beſorgt ſeyn, daß jener
ſchon alle ſeine Ideen habe, und jede Wider-
legung bey ihm in Bereitſchaft ſtehe. Alle
werden auf die Art die Eigenſchaften zu beſiz-
zen ſtreben, die ſie jenem zutrauen, und ſo
werden ſie am Ende ſelbſt die Faͤhigkeit verlie-
ren, eine vernuͤnftige Beobachtung anzuſtellen.
[446] — Den meiſten Menſchen thut es ordentlich
wohl, wenn man ihnen imponirt, und ſie kom-
men ſelbſt auf demſelben Wege entgegen. Es
waren auch gar nicht die ſcharfſinnigen Koͤpfe,
die mir auf die Spur kamen, ſie bemerkten
die Bloͤßen gar nicht, die ich gab, als ich mich
etwas zu ſehr gehn ließ, als mich Dein ein-
faͤltiges Benehmen in England aufbrachte und
eine Krankheit mich verdruͤßlich machte; ſon-
dern die Einfaͤltigſten reichten mit ihrem kur-
zen Sinne gerade ſo weit, um auf meine
Schwaͤche zu treffen. Ich kuͤmmerte mich jetzt
wenig um die Geſellſchaft, weil ich fuͤhle, daß
ſich mein Tod naͤhert, und ſo iſt ſie jetzt bey-
nahe eingegangen.


Hang zum Wunderbaren.


Dieſer war es vorzuͤglich, der die Men-
ſchen an mich feſſelte, weil alle etwas Außer-
ordentliches von mir erwarteten. Die meiſten
Leute glauben uͤber dem Aberglauben erhaben
zu ſeyn, und doch iſt nichts leichter, als ſie
von neuem zu verwickeln. Es liegt etwas Dun-
kles in jeder Bruſt, eine Ahndung, die das
[447] Herz nach fremden unbekannten Regionen hin-
zieht. Dieſen Inſtinkt darf man nur benutzen,
um den Menſchen aus ſich ſelbſt und uͤber dieſe
Erde zu entruͤcken. Ich fand, daß ich gar
nicht noͤthig hatte, feine Sophiſtereyen, oder
ſeltſam ſchwaͤrmeriſche und doch vernuͤnftig
ſcheinende Ideen zu gebrauchen, die die Auf-
klaͤrung und den geſunderen Verſtand nach und
nach untergruͤben: der Sprung, den dieſe Men-
ſchen immer zu thun ſcheinen, iſt wirklich nur
ſcheinbar. Deswegen, weil nichts die Unmoͤg-
lichkeit der Wunder beweiſen kann, glaubt
jedes Herz in manchen Stunden feſt an dieſe
Wunder.


So iſt dieſes ſeltſame Gefuͤhl eine Hand-
habe, bey der man bequem die Menſchen er-
greifen kann. Ich habe dadurch mehr wirken
koͤnnen, als durch das kluͤgſte Betragen. Es
war mein Grundſatz, daß wenn man die Men-
ſchen betruͤgen wolle, man ja nicht darauf aus-
gehn muͤſſe, ſie recht fein zu betruͤgen. Viel
Feinheit wuͤrde vorausſetzen, daß die andern
auch einen feinen Sinn haben muͤſſen, und
dann waͤre ſie angewandt, aber eben dadurch
verderben recht viele gute Plane, weil ſie viel
[448] zu ſehr kalkulirt waren, die nahe, unbeholfene
Einfalt tritt dazwiſchen und zerreißt alle Faͤden,
die zum leiſen Gefangennehmen dienen ſollten.
Wer recht vorſichtig und vernuͤnftig iſt, dem
wird auch bey der feinſten Machination der
Gedanke nahe liegen, daß man wohl darauf
ausgehn koͤnne, ihn zu taͤuſchen, und ſo iſt
dieſe Feinheit in jedem Falle verlorne Muͤhe.
Das Unwahrſcheinliche und Grobe glauben die
Menſchen eben darum am erſten, weil es un-
wahrſcheinlich iſt, ſie meinen, es muͤſſe denn
doch wohl irgend etwas Wahres dahinterſtecken,
weil ſich ja ſonſt kein Kind dadurch wuͤrde hin-
tergehn laſſen. Ich habe oft uͤber die weiſen
Herren lachen muͤſſen, deren Seele ich im vor-
aus ſo gut berechnen konnte, daß der Erfolg
auch nicht um einen Gran anders war, als ich
mir vorgeſtellt hatte.


Haben die Menſchen in die Wiſſenſchaft
des Glaubens erſt Einen Schritt hineingethan,
ſo iſt nachher kein Aufhalten mehr; ſie fuͤhlen
ſich nun uͤber die aufgeklaͤrten Menſchen erha-
ben, ſie glauben uͤber den Verſtand hinwegge-
kommen zu ſeyn, und jedes Kindermaͤrchen,
jede tolle Fiktion hat ſie jetzt in der Gewalt.
Ich
[449] Ich koͤnnte viele laͤcherliche Erfahrungen, die
ich hieruͤber gemacht habe, niederſchreiben,
wenn es nicht zu weitlaͤuftig waͤre.


Roſa.


Schon fruͤh ſuchte ich einen Schildknappen
zu bekommen, der mir immer meine Waffen
nachtruͤge, damit ich es um ſo bequemer haͤtte.
Jedermann wird, wenn er ſich einige Muͤhe
giebt, einen Menſchen antreffen, der es uͤber
ſich nimmt, auf die Worte ſeines Meiſters zu
ſchwoͤren, ihm jeden Gedanken auf ſeine eigene
Weiſe nachzudenken, dieſe dann wie Scheide-
muͤnze auszugeben, und ſo den Ruf ſeines
Herrn mit ſeinem eigenen zugleich zu verherrli-
chen. Man trift allenthalben Menſchen, die
nichts ſo gern thun, als ſich an einen andern
haͤngen, den ſie fuͤr kluͤger halten. — Einen
ſolchen Schuͤler ſuchte ich mir aus, der zugleich
fuͤr andre Abſichten tauglich waͤre. Ich fand
bald einen jungen Menſchen, der bey ſeinen
armen Eltern in einer ſehr druͤckenden Lage
lebte; er ſchien nicht ohne Kopf, er konnte
ſchnell etwas auffaſſen, dachte aber nie weiter,
Lovell. 3r. Bd. F f
[450] als es ihm vorgeſchrieben war. Dieſe ſchnelle
Langſamkeit ſchien mir gerade zu meinem End-
zwecke am dienlichſten. Ich nahm ihn zu mir,
und lehrte ihn den Genuß eines freyeren Lebens
kennen; er ward nach und nach meine haupt-
ſaͤchlichſte Maſchine, denn man darf einem jun-
gen lebhaften Menſchen nur die Ausſicht auf
ein angenehmes, unthaͤtiges Leben geben, ſo
kann man ihn zu allem bewegen. Roſa iſt ein
ganz ertraͤglicher Menſch, ſein groͤßter Fehler
iſt, daß er ſeinen Leichtſinn fuͤr Verſtand haͤlt;
er hat gerade ſoviel Scharfſinn, um einzuſehn,
daß er einer Stuͤtze bedarf, an der er ſich feſt-
halten kann. Ich konnte ihn recht gut gebrau-
chen, nur war er thoͤricht genug, daß er zu-
weilen ſeine Auftraͤge zu gut beſorgen wollte.
So hatte er den Gedanken, den jungen Valois
in unſre Geſellſchaft zu ziehn, um das Ver-
moͤgen der Blainville hieher zu bekommen, er
hatte ſich mit einem Narren eingelaſſen, der
mit ſich ſelbſt nicht fertig werden konnte, noch
weniger mit der Welt, und der ſich am Ende
erſchießen mußte, um nur irgend einen Schluß,
eine Art von vollendeter Handlung in ſeinen
Le[b]enslauf zu bringen.


[451]

Das Gefuͤhl hat dieſer Roſa nie gekannt,
eben ſo wenig die eigentliche Denkkraft, er hat
immer nur geſprochen, und ſich dabey ganz
wohl befunden. Fuͤr ſeine treuen Dienſte habe
ich ihm das Gut in Tivoli geſchenkt. Ich
haͤtte ihn leicht betruͤgen koͤnnen, aber irgend
einem Menſchen muß ich ja doch mein Vermoͤ-
gen hinterlaſſen; ich hoffe immer noch, er ſoll
es ſehr ſchnell verſchwenden.


Balder.


Mit Dir kam dieſes ſeltſame Geſchoͤpf nach
Italien, an das Du anfangs ſehr attachirt
warſt. Er war mir wegen ſeiner Originalitaͤt
intereſſant. Es war eine ſchoͤne Anlage zur
Verruͤcktheit in ihm, um die es ſehr Schade
geweſen waͤre, wenn ſie ſich nicht entwickelt
haͤtte. Da aber die meiſten Menſchen ſelber
nicht wiſſen, was in ihnen ſteckt, ſo nahm ich
mir vor, den Funken aus dieſem ſeltſamen
Steine herauszuſchlagen. Ich habe immer das
Seltſame geliebt, und ſo unterhielt es mich
denn, als ich ein paarmal als ein Geſpenſt
durch ſeine Stube ging, und er nachher nicht
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[452] begreifen konnte, wo ich geblieben ſey. Ich
habe ihn nachher fleißig beobachtet, und ich
fand zugleich, daß dieſe Vorfaͤlle meine kuͤnf-
tige Bekanntſchaft mit Dir ſehr gut praͤparir-
ten. Nachher wurde mir dieſer Menſch gleich-
guͤltig und langweilig, weil er ſich immer zu
aͤhnlich blieb, und er that recht wohl daran,
daß er fortlief.


Herr William Lovell.


Ich muß faſt lachen, indem ich Deinen
Namen niederſchreibe und nun von Dir die
Rede ſeyn ſoll. Soll ich weitlaͤuftig von Dir
ſprechen, der Du faſt Nichts biſt?


Ich hatte Nachrichten von Dir und wußte
um Deine Reiſe nach Italien. Roſa kam Dir
bis Paris entgegen. Mein alter Haß gegen
Deinen Vater wachte jetzt mit Gewalt in mir auf,
ich glaubte jetzt die beſte Gelegenheit gefunden
zu haben, mich an ihm zu raͤchen. Dich ſelbſt
wollt' ich gegen ihn empoͤren, Du ſollteſt von
ihm und von Dir ſelber abfallen, dann wollt'
ich Dich zuruͤckſchicken. So ließ ich Dich durch
alle Grade gehen, um Dich zu einer ſeltſamen
[453] Misgeburt zu machen. Du kraͤnkteſt Deinen
Vater, und er ſtarb nun weit fruͤher, als ich
es geglaubt hatte. Ich fuhr indeſſen mit mei-
nen Kuͤnſten fort, weil die Maſchinen einmal
in den Gang gebracht waren und ich mich
daran gewoͤhnt hatte, Dich als mein gehegtes
Wild zu betrachten. Du wirſt hier nicht von
mir verlangen, daß ich Dir weitlaͤuftig aus-
einanderſetze, auf welche plumpe Art Du Dich
hintergehen ließeſt, es wuͤrde Deiner Eitelkeit
nur zu wehe thun. Es gelang mir, Dich im-
mer in Spannung zu erhalten; ein Zuſtand,
der am leichteſten die Vernunft verdunkelt.
Jetzt hoͤrte ich, daß der alte Burton geſtorben
ſey, und ich ſchickte Dich nun mit Auftraͤgen
nach England, die Du ſo ungeſchickt wie ein
unwiſſender Knabe ausrichteteſt. Wenn Eduard
nicht mehr lebte, und ſeine Schweſter Dir zu-
gehoͤrte, oder auch aus dem Wege geſchafft
war, ſo hatte ich die naͤchſten Anſpruͤche auf
das anſehnliche Vermoͤgen dieſer Familie, Du
haͤtteſt dann Deine verlornen Guͤter wieder zu-
ruͤckbekommen, und alles waͤre in einem ganz
guten Zuſtande geweſen. Weil ich Dir aber
damals noch nicht ſagen mochte, daß ich Wa-
[454] terlao
ſey, ſo haſt Du Dich wie ein wilder,
unſinniger Menſch in Frankreich und England
herumgetrieben, haſt da manches fuͤhlen und
ſeltſame Dinge denken wollen, die fuͤr Dich
gar nicht gehoͤren. — Nun wirſt Du zuruͤck-
kommen und Dich ſelbſt daruͤber wundern, daß
es nicht ſo gegangen iſt, wie Du es Dir vor-
genommen hatteſt.


Du haſt Dich bis jetzt uͤberhaupt fuͤr ein
aͤußerſt wunderbares und ſeltenes Weſen gehal-
ten, und biſt doch nichts weniger; Du verach-
teſt jetzt die Menſchen mit einer gewiſſen Groß-
ſprecherey, die Dich ſehr ſchlecht kleidet, weil
Du nie im Stande ſeyn wirſt, ſie zu kennen,
und wenn Du ſie auch kennſt, ſie zu beurthei-
len und in das wahre Verhaͤltniß gegen Dich
ſelbſt zu ſtellen. Du haſt Dir ſeit lange eine
unbeſchreibliche Muͤhe gegeben, Dich zu aͤndern,
und Du bildeſt Dir auch ein, gewaltſame Re-
volutionen in Deinem Innern erlitten zu haben,
und doch iſt dies alles nur Einbildung. Du
biſt immer noch derſelbe Menſch, der Du warſt,
Du haſt gar nicht die Faͤhigkeit, Dich zu ver-
aͤndern, ſondern Du haſt aus Traͤgheit, Eitel-
keit und Nachahmungsſucht manches gethan
[455] und geſagt, was Dir nicht aus dem Herzen
kam. Deine Philoſophie war Eigenſinn, alle
Deine Gefuͤhle nichts weiter, als ein ewiger
Kampf mit Dir ſelber. Du haͤtteſt ein recht
ordentlicher, gewoͤhnlicher einfaͤltiger Menſch
werden koͤnnen; auf einem Kupferſtich in einer
Waldgegend, neben einer jungen Frau ſitzend,
wuͤrdeſt Du Dich ganz gut ausgenommen haben,
aber nun haſt Du alles daran gewandt, um
ein unzuſammenhaͤngender philoſophiſcher Narr
zu werden. — Ich bin neugierig, Dich zu
ſehn, und ſo magſt Du denn hereinkommen. —
Wahrhaftig, ich kann aufhoͤren, Dich zu be-
ſchreiben, denn da ſtehſt Du ja nun leibhaftig
vor mir. —


Zum Schluß


Einige Worte uͤber mich ſelbſt.


Und wer bin ich denn? — Wer iſt das
Weſen, das hier ſo ernſthaft die Feder haͤlt,
und nicht muͤde werden kann, Worte nieder-
zuſchreiben? Bin ich denn ein ſo großer Thor,
daß ich alles fuͤr wahr halte, was ich geſagt
habe? Ich kann es von mir ſelbſt nicht glau-
[456] ben. — Ich ſetze mich hin, Wahrheit zu
predigen, und weiß am Ende auch nicht, was
ich thue. — Ich habe mich auch in manchen
Stunden fuͤr etwas recht Beſonderes gehalten
— und was bin ich am Ende? War es nicht
ſehr naͤrriſch, mich unaufhoͤrlich mit abentheu-
erlichen Spielwerken zu beſchaͤftigen, indeß ich
in guter Ruhe haͤtte eſſen und trinken koͤnnen?
Ich freute mich ſehr, das Haupt einer gehei-
men, unſichtbaren Raͤuberbande zu ſeyn, ein
Geſpenſt zu ſpielen, und andre Geſpenſter her-
beyzurufen, die ganze Welt zum Narren zu
haben, und jetzt faͤllt mir die Frage ein, ob
ich mich bey dieſer Bemuͤhung nicht ſelber zum
groͤßten Narren gemacht habe. — Ich bin
vielleicht jetzt ernſthafter als je, und doch
moͤchte ich uͤber mich ſelber lachen.


Und daß ich mit ſolcher Gutmuͤthigkeit
hier ſitze, und noch kurz vor meinem Tode
mich mit Schreiben abquaͤle, um eine jaͤm-
merliche Eitelkeit zu befriedigen, iſt gar un-
begreiflich und unglaublich. — Wer iſt das
ſeltſame Ich, das ſich ſo mit mit mir ſelber
herumzankt? — O, ich will die Feder nieder-
legen, und bey Gelegenheit ſterben.


[457]

27.
William Lovell an Roſa.



Was ſagen Sie nun zu Andreas grauſamen
Erklaͤrungen? Ich kann manche Stellen gar
nicht aus dem Gedaͤchtniſſe verlieren. — Wie
freute ich mich, als mir eine Woche nach ſei-
nem Tode dieſe Papiere uͤberreicht wurden!
Ich hoffte nun noch eine Art von Beruhigung
zu finden, und eben nun war alles voruͤber.


Hab' ich mein ganzes Leben nicht verſchleu-
dert, um dieſem entſetzlichen Menſchen zu ge-
fallen, um ihm naͤher zu kommen? War ſein
Umgang, die Hoffnung auf ſeinen Betrug nicht
die letzte meines Lebens? Doch, das habe ich
Ihnen ja oft genug in meinen Briefen geſagt.


Ich mag gar nicht mehr klagen, denn
ſelbſt dazu iſt die Kraft in mir erloſchen.
Bianka iſt geſtorben, ich beſuchte ſie einige
Tage vor ihrem Tode. Sie geſtand mir, daß
ſie ſchon ſeit lange etwas auf dem Herzen habe,
das ſie mir entdecken muͤſſe. Sie ſagte mir,
[458] daß ſie durch Andrea, oder eigentlich Water-
lao, bewegt worden ſey, auf einer Maskerade
mich zu erſchrecken und die Rolle der Roſaline
zu ſpielen. Ich betrachtete ſie genauer, und
erſchrak, als ich wirklich eine auffallende Aehn-
lichkeit entdeckte; ich konnte es aber immer
noch nicht begreifen, daß ich mich ſo haͤtte
koͤnnen hintergehn laſſen; um mich voͤllig zu
uͤberzeugen, ſchminkte ſie ſich daher etwas,
faͤrbte die Augenbraunen dunkler, kaͤmmte die
Haare in die Stirn hinein, und ſchlug um den
Kopf ein lockeres ſeidnes Tuch. Ich ſchrie
laut auf, als ſie ſo wieder zu mir hineintrat;
gerade ſo trug ſich Roſaline, und ich weiß
jetzt, warum ich mich neulich ſo innerlich ent-
ſetzte, als ich Bianka beſuchte. Es iſt aber
unbegreiflich, wie Kleinigkeiten im Anzuge die
Geſichter veraͤndern koͤnnen. Bianka's matter
Blick machte, daß ich ſie in einzelnen Sekun-
den fuͤr Roſalinens Geiſt hielt: in der Finſterniß
und im Wagen war mein Erſchrecken damals
noch viel heftiger, weil mich die Geſtalt noch
mehr uͤberraſchte. — Bianka ſagte mir nun,
daß ſie mich ſchon vor meiner Abreiſe aus Ita-
lien gern geſprochen haͤtte, aber ich ſey auf
[459] ihre dringende Bitte nicht zu ihr gekommen,
ſonſt haͤtte ſie mir wahrſcheinlich ſchon damals
den ganzen Vorfall erzaͤhlt. — An manchen
Zufaͤlligkeiten haͤngt oft ein wichtiger Theil un-
ſers Lebens! Ich erinnere mich jetzt dieſes Bil-
lets, und auch, daß ich aus Traͤgheit nicht zu
ihr ging.


Ich habe mir oft im Stillen eingebildet,
daß Roſaline noch lebe, und daß ich ſie gewiß
einmal wiederſehen wuͤrde. Dieſer Gedanke,
ſo ſeltſam es auch klingen mag, hat mich heim-
lich in manchen Stunden beruhigt, ich glaubte
ſelbſt, daß das Weſen, das im Wagen neben
mir geſeſſen hatte, die wirkliche Roſaline gewe-
ſen ſey, — und nun iſt mir auch dieſe Hoff-
nung genommen.


Ich darf wohl kaum noch fragen, wie es
denn eigentlich mit der Erſcheinung zuſammen-
haͤngt, von der Sie mir einmal ſchrieben? —


Bianka wird heute begraben. Ich habe ſie
geſehn. Laura hat ſie mit Blumen aufgeputzt,
und die Leiche ſieht wieder Roſalinen ſo aͤhn-
lich, daß mir ein Schauder durch alle Gebeine
ging. Ich habe ſchon oft in den Kirchen vor
den mit Gold, Blumen und Baͤndern geſchmuͤck-
[460] ten Reliquien gezittert: die Skelette mit den
Kraͤnzen und ihren entbloͤſten Schaͤdeln, das
flimmernde Gold und die einzelnen Blumen,
die um die leeren Augenhoͤlen wanken, der glaͤ-
ſerne Schrank, alles ſchien mir dann ſo ſelt-
ſam und raͤthſelhaft zuſammengeſtellt, mich er-
ſchreckte hernach auch in den vollen blonden
Locken der Blumenkranz. Und ſo lag Bianka
vor mir.


Laura ſaß daneben und weinte. Sie nennt
die Geſtorbene unaufhoͤrlich ein gutes, liebes
Maͤdchen, und putzt ſich ſo ihren Schmerz auf,
und idealiſirt ſich ſelbſt und ihren Zuſtand. Es
iſt gut, wenn es die Menſchen noch koͤnnen,
denn es iſt noͤthig, ſich ſelber etwas vorzuluͤgen;
in mir iſt die Kraft und der Wille dazu er-
loſchen.


[461]

28.
Roſa an William Lovell.



Lieber Freund, Andrea's Papiere haben mich
vielleicht eben ſo gedemuͤthigt, wie Sie dadurch
niedergeſchlagen ſind. Ich kann mir jetzt Ihren
Zuſtand recht lebhaft denken, ich fuͤhle mit
Ihnen.


Sie ſollten mich nicht an jenen Brief er-
innern, in dem ich Ihnen von Andrea's wun-
derbaren Doppelheit ſagte; ich ſchaͤme mich, ſo
oft ich daran denke. Nicht, daß die ganze
Sache eine zu Andrea's Beſten erfundene Luͤge
geweſen waͤre, ſondern weil ich mich damals
von dieſem Menſchen ganz wie ein Kind behan-
deln ließ, ſo daß ich mir gleichſam auf ſeinen
Befehl tauſend Dinge einbildete und ſie feſt
glaubte. Er fand es fuͤr gut, mich noch fruͤ-
her als Sie zu verblenden, weil er allen Men-
ſchen nur bis auf einen gewiſſen Punkt traute,
er wollte mich nicht ganz zu ſeinem eigentlichen
Vertrauten machen, weil es denn doch immer
[462] in meiner Willkuͤhr ſtand, ihn zu verrathen:
es war ihm nicht genug, daß ich ihm verbun-
den war, er machte es mir unmoͤglich. Ich
war zwar uͤber ſeinen Charakter ungewiß, er
kam mir aber doch nie ſo nahe, daß ich irgend
eine beſtimmte Idee uͤber ihn haͤtte bekommen
koͤnnen: ſeine Klugheit beſtand hauptſaͤchlich
darinn, daß er alle Gelegenheiten vermied, um
naͤher gekannt zu werden, er verlor ſich darum
ſo gern in allgemeine Ideen und große Tiraden,
um die Aufmerkſamkeit zuweilen von ſich ſelber
abzulenken.


Er erhielt mich hier in Tivoli, als er
mich beſuchte, in einer ſteten Spannung, alle
unſre Geſpraͤche drehten ſich um die wunder-
bare Welt, und es koſtete ihm wenig, meine
Phantaſie zu erhitzen, denn Sie wiſſen es ſelbſt,
in welchem hohen Grade er die Gabe der Dar-
ſtellung beſaß. Ich konnte den Wunſch in mir
nicht unterdruͤcken, recht wunderbare Erfahrun-
gen zu machen, und wenn man dieſen Wunſch
recht lebhaft hat, ſo koͤmmt man in Gefahr,
dieſe ſeltſamen Erfahrungen auch wirklich anzu-
treffen. Die Phantaſie iſt fuͤr jeden Eindruck
empfaͤnglicher, und der Verſtand iſt bereit, ſich
[463] unterdruͤcken zu laſſen. Das Schlimmſte dabey
aber iſt eine gewiſſe dunkle, gefaͤhrliche Eitel-
keit, die uns mit der Phantaſie im Bunde
leicht fuͤr das Gewoͤhnliche etwas Abentheuer-
liches unterſchiebt, damit wir nur nicht verge-
bens hoffen duͤrfen. So erging es mir in jener
Nacht. Andrea ging zur Stadt zuruͤck, und
ich war immer noch voll von den ſeltſamen
Geſchichten und Ideen, die er mir mitgetheilt
hatte, ich verirrte mich, und meine Bangigkeit
nahm mit der Finſterniß zu. Endlich traf ich
auf jene Menſchen. Der eine, der mich bis
an's Thor brachte, hatte ein etwas ſeltſames
Geſicht, allein erſt nachher, als mich Andrea
ſchon wiedergefunden hatte, fiel es mir ein,
daß jener ihm entfernt aͤhnlich ſehe, ja viel-
leicht dacht' ich nur, daß es intereſſant waͤre,
wenn er ihm aͤhnlich geſehn haͤtte. So ſtellte
meine Phantaſie das Bild zuſammen, und nach
einer halben Stunde glaubte ich es ſelbſt, und
entſetzte mich [davor]. Auf die Art entſtand
jener Brief, und ich war dabey ſelbſt von allem
uͤberzeugt, was ich niederſchrieb. — Die Phan-
taſie hintergeht uns im gewoͤhnlichen Leben oft
auf eine aͤhnliche Art, indem ſie uns ihre Ge-
[464] dichte fuͤr Wahrheit unterſchiebt, am erſten
aber dann, wenn wir in einer wunderbaren
Spannung leben. Die Luͤgen, die wir uns ſelbſt
vorſagen, ſind im Grunde eben ſo unverzeihlich,
als die, womit wir andere hintergehn.


[465]

22.
William Lovell an Roſa.



Wie wahr iſt Ihr Brief, und wie ſchlimm
iſt's, daß es mit dem Menſchen ſo beſtellt iſt,
daß er wahr iſt! — O wenn ich doch meine
verlornen Jahre von der Zeit zuruͤckkaufen
koͤnnte! Ich ſehe jetzt erſt ein, was ich bin
und was ich ſeyn koͤnnte. Seit langer Zeit
hab' ich mich beſtrebt, das Fremdartige, Fern-
liegende zu meinem Eigenthume zu machen,
und uͤber dieſer Bemuͤhung habe ich mich ſelbſt
verloren. Es war nicht meine Beſtimmung,
die Menſchen kennen zu lernen und ſie zu mei-
ſtern, ich ging uͤber ein Studium zu Grunde,
das die hoͤheren Geiſter nur noch mehr erhebt.
Ich haͤtte mich daran gewoͤhnen ſollen, auch in
Thorheiten und Albernheiten das Gute zu fin-
den, nicht ſcharf zu tadeln und zu verachten,
ſondern mich ſelbſt zu beſſern.


War es mir wohl in meiner Verworfen-
heit vergoͤnnt, ſo uͤber die Menſchen zu ſpre-
Lovell. 3r Bd. G g
[466] chen? — O Amalie! dein heiliger Name macht,
daß ich Thraͤnen vergieße. Haͤtte mich Dein
ſchuͤtzender Genius nie verlaſſen! — Wie gluͤck-
lich haͤtt' ich werden koͤnnen!


Was iſt alles Gruͤbeln und Traͤumen, was
alle Freygeiſterey? Luxus und Verſchwendung,
bey denen der arme menſchliche Geiſt am Ende
darben muß. — Ich koͤnnte jetzt in ein Kloſter
gehn, ich koͤnnte mich in eine Einſiedeley ver-
graben.


[467]

30.
Roſa an William Lovell.



Lieber Lovell, Sie ſollen einſehn, daß ſowohl
Andrea als Sie ſich in mir geirrt haben. Ich
denke mein Vermoͤgen nicht zu verſchwenden,
ſondern auf eine angenehme Weiſe zu genießen,
und zwar in Ihrer Geſellſchaft. Sie ſtehn jetzt
einſam und verlaſſen in der Welt; kommen
Sie zu mir nach Tivoli, hier iſt Raum fuͤr
uns beyde, und in einer ſchoͤnen Einſamkeit
wird Ihr kranker Geiſt vielleicht etwas wieder
hergeſtellt. Denken Sie nicht mehr an meinen
unmenſchlichen Brief, den Sie in Paris erhiel-
ten, damals war ich gezwungen, ſo zu ſchrei-
ben, weil Andrea noch lebte, jetzt aber kann
ich nach meinem eignen, beſſern Willen handeln.


Wir ſind durch Andrea kluͤger gemacht,
und ſo mag denn ſeine truͤbe, hyperphyſiſche
Weisheit fahren! Wir wollen das Leben friſch
und ſinnlich genießen und uns um gar nichts
anders kuͤmmern. — Ich habe eine rechte Sehn-
G g 2
[468] ſucht nach Ihnen, kommen Sie ja recht bald.
Ich habe hier ſchon alles fuͤr Ihren Aufenthalt
eingerichtet: wir wollen, denk' ich, das Ver-
ſaͤumte im Leben wieder einholen. Sie ſollen
jetzt erfahren, wie ſehr ich Ihr Freund gewe-
ſen bin, ſeit ich Sie kenne, und wie ſehr mich
oft die Rolle gedemuͤthigt hat, die ich an Ihrer
Seite ſpielen mußte. — Ich erwarte Sie alſo
in einigen Tagen.


[469]

31.
William Lovell an Roſa.



Ja, Roſa, ich nehme Ihren Vorſchlag an,
ich komme zu Ihnen, aber nicht um von
neuem ein wildes und unſtetes Leben zu begin-
nen, ſondern mich ganz einer dunkeln, traͤume-
vollen Einſamkeit zu uͤberlaſſen. — Wie troͤ-
ſtet mich der Gedanke, dort in Tivoli bey
Ihnen zu wohnen! Ich will Ihren Garten
bauen, bald auf der Anhoͤhe uͤber die Wieſen
und Felder hinſehn, bald mich im tiefen Grunde
verlieren und immer an Vergangenheit und
Zukunft denken. Was ich an den Menſchen
verbrochen habe, will ich durch Sorgfalt an
Blumen und Baͤumen wieder abbuͤßen. Wie
ein ſchwacher Regenbogen in Gewitterwolken,
ſo ſteigt die Ausſicht meines kuͤnftigen Lebens
empor: ich glaube, ich koͤnnte dort manches
vergeſſen, und in einem tiefen Traume meine
vorigen unruhigen Traͤume begraben. Es iſt
[470] mir, als koͤnnte ich mich freuen, als wuͤrde
ich wieder wohl und geſund werden.


Mir faͤllt ein altes Lied ein, das mir einſt
in England ein guter Freund uͤberſetzte. Es iſt
ein Indianiſches Fruͤhlingslied:


Der Frühling kömmt!

Die Wolken fliehn,

Der Himmel glänzt.

Der Frühling kömmt!

Und Regenbogen

Sind ſeines Wagens

Gleitende Räder.

Blumengekränzt,

In Sonnenſtrahlen,

Schwebt unter ſäuſelnden Winden,

Nieder der Gott.

Tauſend Blumen bekränzen ſein Haupt,

Tauſend Blumen umflechten

Sein blaues Gewand.

Er lächelt, —

Aus goldenen Locken,

Vom blauen Gewande,

Fließen zur Erde die Blumen hinab —

Es blüht die Flur,

Es grünt der Hain,

Und jeder Zweig

Rauſcht ſüßen Genuß

Dem Frühlingsgotte.

[471]
Wonnegeſang,

Wonnegeſang,

Rauſcht durch den Palmenhain!

Durch die blühenden Bäume

Säuſelt der Weſt,

Mit den Blüthen ſcherzend.

Da ſchüttelt er Blüthen

Und duftende Blumen,

Auf den grünen Raſen. —

Wenn Mondſchein ſie küßt,

Wenn Thau ſie tränkt,

Mondſchein des Frühlings,

Frühlingsthau, —

Entſchweben ihnen

Mit leiſem Fluge,

Schöne blaue Schmetterlinge.

In den Blüthen der rauſchenden Bäume,

Unter den Blumen der duftenden Wieſe,

Flattern und ſchwärmen ſie hier und bald dort:

Sie ſuchen die Schweſtern,

Sie ſuchen die Brüder,

In Blüthen und Blumen,

Und küſſen ſie alle.

Haben ſie die Zwillingskinder aufgefunden,

Niſten ſie ſich in dem väterlichen Baum ein,

Bergen ſich in Blüthen oder Blumen,

An der ſüßen Wiederkennung ſterbend.

[472]

Ja, ich komme bald zu Dir, lieber Roſa.
Warum ſollt' es nicht moͤglich ſeyn, daß die
quaͤlenden Geiſter endlich wieder von mir
wichen und ich freyer athmete? O wohl dem,
der, wie dieſe blauen Schmetterlinge, in der
Heimath, zu ſeinen kindlichen Gefuͤhlen wieder
zuruͤckeilend, leben und ſterben kann.


Ich will die Welt vergeſſen und ganz von
ihr vergeſſen werden. An den einſamſten Plaͤz-
zen will ich mir heilige Denkmale errichten,
eins fuͤr Amalien, eins fuͤr meinen Vater,
ein andres fuͤr Eduard; in einiger Entfernung
von ihnen ſoll auch Roſaline ein Andenken
bekommen. Dort will ich mich dann der
ſtillen Betrachtung und meinen Empfindungen
weihen; ich will mir einen ſchoͤnen Gottes-
dienſt errichten, und ſo mein Herz wieder rei-
nigen. Ich will auf das Rauſchen der Baͤume
und Geſtraͤuche ſehen, und mir einbilden,
daß ſie zu mir ſprechen: ich will dort wieder
zum Kinde werden! Ich hoffe, daß es moͤg-
lich iſt. — Lebe recht wohl, ſehr bald ſeh' ich
Dich ſelbſt. —


[473]

O ich muß eilen, zu Ihnen zu kommen,
ſonſt iſt alles vergebens. Karl Wilmont iſt
hier in Rom; ich glaube, er hat mich geſehn.
— Ich komme ſo ſchnell als moͤglich.


[474]

32.
Karl Wilmont an Mortimer.



Es iſt geſchehn: wir ſind beyde zur Ruhe, er
und ich. Von Lovell iſt die Rede. Ich fand
ihn in Rom; er erſchrak, als er mich erblickte,
und ſuchte ſich ſeit der Zeit vor mir zu ver-
bergen. — Ich gab immer Acht auf ihn, und
traf ihn am folgenden Morgen ganz fruͤh auf
der Straße. Er konnte mir nun nicht entrin-
nen; er mußte mir folgen.


Ich hatte zwey Piſtolen bey mir; er war
ganz ſtill und in ſich verſchloſſen. Wir gingen
durch die Porta Capena und von da durch die
Ruinen. Er ſchien faſt ganz außer ſich zu
ſeyn, denn er ſprach fuͤr ſich mehr verwirrte
Reden aus. Wir kamen vor einem kleinen
Hauſe vorbey, er ſtand lange ſtill und ſah in
das Fenſter hinein, bis ich ungeduldig wurde
und ihn weiter trieb. Er ſah auf, brach aus
[475] einem kleinen nebenliegenden Garten eine
Malve ab, und rief mit Verwundrung aus:
die Malven bluͤhen ſchon wieder! — Dann hef-
tete er die Blume auf ſeine Bruſt und ſagte,
daß ich nun ſein Herz nicht verfehlen koͤnne. —


Wir waren jetzt von der Landſtraße ent-
fernt genug. Wir maßen unſre Plaͤtze; er
nahm eine Piſtole. Nachdem er ſich noch eini-
gemal umgeſehn hatte, druͤckte er los und
verfehlte mich: ich ſchoß, und die Blume und
ſeine Bruſt waren zerſchmettert. Er war
ſchon todt, als ich hinzukam. — Ich eilte
nach Neapel.


Und jetzt bin ich mit mir unzufrieden.
Es iſt mir unbegreiflich, wie das rohe Ge-
fuͤhl der Rache mich ſo bezaubern konnte, daß
er mich nicht ruͤhrte. Konnt' ich ihm nicht
dies aͤrmliche Leben laſſen, da er außer dieſem
vielleicht ſo nicht viel beſeſſen hat? — Was
iſt mir und Emilien nun damit geholfen, daß
er die Luft nicht mehr einathmet? — Jetzt iſt
es mir undenklich, wie ich ſo handeln konnte.
— Ach, welch ein armſeeliges Geſchoͤpf iſt der
Menſch! Was iſt all ſein Thun und Denken?


Adieu! — Ich fahre von hier nach Ame-
[476] rika. Der Krieg lockt mich dahin; es wird
in der Engliſchen Armee wohl eine Stelle fuͤr
einen Lebensſatten uͤbrig ſeyn, der ſich dann
wenigſtens noch einbilden kann, zum Beſten
ſeines Vaterlandes zu ſterben. — Gruͤße meine
Schweſter und Eduard.


Ende.


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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 3. William Lovell. William Lovell. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp8p.0