und
vermiſchte Schriften
In demſelben Verlage ſind erſchienen:
- Bauernfeld, Theater, 1r und 2 r Bd. Inhalt: die Bekennt¬
niſſe.— Franz Walter. — Helene. — Der Zauberdrache. 1835
und 1836. 8. br. 3 Thlr. - Bechſtein, L., die Reiſetage. Aus meinem Leben. 2 Theile,
1836. 8. br. 2 Thlr. 16 gr. - Erlach, Freih. K. von, die Volkslieder der Deutſchen. Eine voll¬
ſtaͤndige Sammlung derſelben von der Mitte des fuͤnfzehnten
bis in die erſte Haͤlfte des neunzehnten Jahrhunderts. Fuͤnf
Baͤnde. gr. 8. 1834—36. 8 Thlr. 8 gr. - Geib, K., die Sagen und Geſchichten des Rheinlandes. In um¬
faſſender Auswahl geſammelt und bearbeitet. 1836. gr. 8. cart.
2 Thlr. - Guttenſtein, D. B. F., Geſchichte des ſpaniſchen Volkes. In ge¬
draͤngter Ueberſicht dargeſtellt. 1r. Bd. 1836. br. 1 Thlr. 6 gr. - Hamilton, Oberſt, die Menſchen und die Sitten in den vereinig¬
ten Staaten von Nordamerika. Zwei Theile in einem Band.
1834. gr. 8. 1 Thlr. 12 gr. - Laube, H., Moderne Charakteriſtiken. 2 Theile. 1835. 8. 3 Thlr.
- — Reiſenovellen. 1r 2r Bd. 1835. 8. br. 4 Thlr.
- — Reiſenovellen. 3r 4r Bd. 1836. 8. br. 3 Thlr.
- — Liebesbriefe. 1836. 8. br. 1 Thlr.
- — die Poeten. Novelle. 8. broſchirt. 1 Thlr. 12 gr.
- — die Schauſpielerin. Novelle. 1836. 8. 1 Thlr. 4 gr.
- Le Petit, Sittengallerie der Nationen. Das Buch der Voͤlker
in Bildern und Vignetten. 1836. gr. 8. cart. 1 Thlr. 12 gr. - Lewald, A., Aquarelle aus dem Leben. 4 Theile. 1836 und 1837.
6 Thlr. - Saintine, der Verſtuͤmmelte. Aus dem Franzoͤſiſchen nach der
4ten Auflage. 1835. gr. 12. 18 gr. - Schuͤtt, Ado, Pſyche. Epiſches Gedicht in drei Geſaͤngen. 1836.
8. cart. 1 Thlr. 8gr. - Zinkgref’s, J. W., ſcharfſinnige Spruͤche der Deutſchen, Apoph¬
thegmata genannt. In einer umfaſſenden Auswahl heraus¬
gegeben von D. B. F. Guttenſtein. 1835. gr. 8. 1 Thlr.
[[III]]
und
vermiſchte Schriften
Verlag von Heinrich Hoff.
1837.
[[IV]]
Druck von Hoff \& Heuſer in Mannheim.
[[V]]
Inhalt des zweiten Bandes.
- Herkommen. Erſte Jugend 3
- Jugendfreunde 25
- Die Univerſitaͤt 86
- Rahel 151
- Die Schlacht von Deutſch-Wagram 179
- Das Feſt des Fuͤrſten von Schwarzenberg 252
- Am Hofe Napoleons 292
- Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Von Goethe.
Vierter Theil. Nemo contra deum nisi deus ipse. Stutt¬
gart und Tuͤbingen, Cotta, 1833. 12. 311 - Kritiſche Tagesworte 332
- Immermann:
- 1.Trauerſpiele von Karl Immermann. Hamm und
Muͤnſter, 1822. 8. 340 - 2. Brief an einen Freund uͤber die falſchen Wanderjahre.
Von Karl Immermann. Muͤnſter, 1823. 8. 345 - 3. Cardenio und Celinde. Trauerſpiel von Karl Im¬
mermann. Berlin, 1826. 8. 349
- 1.Trauerſpiele von Karl Immermann. Hamm und
- Helene von Tournon. Erzaͤhlung von Amalia von Hel¬
vig, geborne Freiin von Imhof. Berlin, 1824. 12. 355 - Beitraͤge zur Poeſie, mit beſonderer Hinweiſung auf Goethe.
Von Johann Peter Eckermann. Stuttgart, bei Cotta,
1824 358 - Das Maͤdchen von Andros, eine Komoͤdie des Terentius, in
den Versmaßen des Originals, uͤberſetzt von F. M. B.
Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von K.
W. L. Heyſe. Berlin, 1826. 4. 360 - Das Leben der Frau von La Mothe-Guyon, von ihr ſelbſt
beſchrieben. Aus dem Franzoͤſiſchen uͤberſetzt von Hen¬
riette von Montenglaut, geb. von Cronſtain. Drei
Theile. Berlin, Sander, 1826. 8. 364 - Magnus Gottfried Lichtwer’s Schriften. Herausgege¬
ben von ſeinem Enkel Ernst Ludwig Magnus von Pott.
Mit einer Vorrede und Biographie Lichtwer’s, von Fried¬
rich Cramer. Halberſtadt, 1828. 12. 369 - Rußland in der neueſten Zeit. Eine Skizze von E. Pabel.
Dresden und Leipzig, 1830. 8. 373 - Wanderung durch Vaterhaus, Kriegeslager und Akademie zur
Kirche. Mittheilungen aus dem bewegten Leben eines evan¬
geliſchen Geiſtlichen. Magdeburg 1832. 8. 378 - Notice sur Goethe. Genève,1832. 8. 382
- Ueber Goethe's Fauſt, als Einleitung zu Vortraͤgen daruͤber.
Von Dr. K. E. Schubarth. Hirſchberg, 1833. 4. 386 - Memoiren eines deutſchen Staatsmannes aus den Jahren
1788–1816. Leipzig, 1833. 8. 391 - Memoiren eines preußiſchen Offiziers. Herausgegeben von C.
Herloßſohn. Leipzig, 1833. Zwei Theile 12. 396 - Biographiſche Nachrichten von der Graͤfin Maria Aurora
Koͤnigsmarck. Erzaͤhlt von Dr. Friedrich Cramer. Mit
einem Facſimile. Quedlinburg und Leipzig, 1833. 8. 400 - Zwei Jahre in Petersburg. Ein Roman aus den Papieren
eines alten Diplomaten. Leipzig, Brockhaus 1833. 8. 403 - Erzaͤhlungen, Skizzen und Gedichte von Ludwig Rell¬
ſtab. Berlin, Duncker und Humblot, 1833. Drei Theile. 8. 407 - Die Xenien aus Schiller's Muſenalmanach fuͤr das Jahr
1797. Geſchichte, Abdruck und Erlaͤuterung derſelben.
Danzig, 1833. 12. 411 - Abendſtunden; herausgegeben von Dr. Franz Theremin.
Berlin 1833. Duncker und Humblot 8. 415 - Goethe's Fauſt. Andeutungen uͤber Sinn und Zuſammen¬
hang des erſten und zweiten Theils der Tragoͤdie. Von Dr.
F. Deycks. Koblenz, 1834. 8. 423 - Friedrichs des Zweiten Anti-Machiavel, nach einer
Original-Handſchrift herausgegeben. Hamburg, 1834.
Friedrich Perthes. 8. 420 - Veranlaſſung und Geſchichte des Krieges in der Mark Bran¬
denburg im Jahre 1675. Nach Archivalien des Geheimen
Staatsarchivs zu Berlin u. ſ. w., bearbeitet von H. von
Gansauge. Berlin, bei G. Reimer 1834. 8. 436 - Le Monde comme il est; par le marquisde Custine.
Paris, chez Eugène Renduel.1835, 2Vols. 8. 444 - Die drei Perioden der koͤniglich preußiſchen Akademie der
Wiſſenſchaften, und: Koͤnig Friedrich der Zweite als Ge¬
ſchichtſchreiber. Zwei akademiſche Reden von Friedrich
Wilken. Berlin, 1835. Bei Duncker und Humblot, 8. 455 - Erinnerungen an Winckelmann. Abhandlung von A. Krech.
Berlin, 1835. 4. 461 - Leben des koͤniglichen preußiſchen Geheimen Rathes und Doctors
der Arzneiwiſſenſchaft Ernſt Ludwig Heim. Aus hinter¬
laſſenen Briefen und Tagebuͤchern herausgegeben von Georg
Wilhelm Keßler. Leipzig, Brockhaus, 1835. Zwei
Theile. 12. 464 - Facſimile von Handſchriften beruͤhmter Maͤnner und Frauen.
Bekannt gemacht und mit hiſtoriſchen Erlaͤuterungen
begleitet von Dr. Wilhelm Dorow. Auf Stein ge¬
ſchrieben im lithographiſchen Inſtitute des Verlegers.
Erſtes Heft. Berlin, 1836. Verlag von L. Sachſe und
Comp. 4. 471
[VIII]
- Epigramme des Platon 479
- Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen 486
- Die Bruͤder Warnawa in Hameln 487
- An eine ſchoͤne Frau 488
- Maͤdchenſpiegel 490
- Romanze 492
- Betrachtung 494
- Herbſtgefuͤhl 495
- An den Ueberſetzer Voß 496
- Weſentliches 501
- Verlorne Gegenwart 503
- Auf der Reiſe 506
- Der Edelknabe der Kaiſerin Kunigunde 509
- Johanna Stegen in Luͤneburg 519
- Der Fuͤrſtengarten 521
- Stimme des Kranken 523
- Die Ruſſen in Holland 525
- An der Nordſee 527
- Sand 529
- Wie es geht 530
- Uebereinſtimmung 532
- Fiat applicatio! 533
- Falſche Goͤtter 535
- Goethe's Werke 536
- Friedrich Auguſt Wolf's Marmorbuͤſte 537
- In Rauch's Werkſtatt 538
- Tieck's Gedichte aus Italien 539
- Verſagt und gewaͤhrt 543
- Nur weiter 544
Aus eignen Denkwürdigkeiten.
II. 1[[2]][[3]]Herkommen. Erſte Jugend.
Familiennachrichten und Geſchlechtsregiſter hat man
bisher hauptſaͤchlich nur aus Abſichten der Eitelkeit und
des aͤußern Vortheils geſammelt und aufgeſtellt, es iſt
aber kein Zweifel, daß ſolche auch zu einer tiefen und
wichtigen Belehrung gereichen koͤnnten, wenn man ſie
ſie zu ſolchem Behuf einrichtete. Die Aufeinanderfolge,
Verbreitung und Dauer eines Geſchlechts, die Miſchun¬
gen, welche es durch Aufnahme und Abgabe von Glie¬
dern erfaͤhrt und bewirkt, die Verpflanzungen nach
andern Orten und Laͤndern, die Wandlungen der aͤußern
Verhaͤltniſſe, die Geſtaltungen der Karaktere und der
Talente, alles dies wuͤrde, in gehoͤriger Maſſe beſtimm¬
ter Einzelheiten uͤberſichtlich dargelegt, der Gegenſtand
ungemein anziehender und lehrreicher Betrachtungen
ſein. Solche Faͤden des Privatlebens, — denn auch
die Koͤnigsgeſchlechter duͤrften in dieſem Sinn keine
andre Auffaſſung anſprechen, — durch groͤßere Zeit¬
raͤume fortgefuͤhrt, muͤßten ſelbſt den Lauf der weltge¬
1 *[4] ſchichtlichen Ereigniſſe in einer eignen, neuen Verwe¬
bung und Faͤrbung zeigen. Die fortſchreitende Wiſſen¬
ſchaft der geſelligen Lebensverhaͤltniſſe, wozu doch, aus
ihren geringen Anfaͤngen, die ſtatiſtiſchen Bemuͤhungen
ſich kuͤnftig emporheben muͤſſen, haͤtte die neuen That¬
ſachen zu ergreifen, und wuͤrde unfehlbar die außer¬
ordentlichſten, uͤberraſchendſten Folgerungen und An¬
wendungen daraus gewinnen. Es entſtuͤnde ſolcherge¬
ſtalt eine neue Art die Genealogie zu treiben, in einem
hoͤheren Sinn und zu edlerem Zweck, als die bisherige,
nur der aͤußern Vornehmheit duͤrftig — und nicht ſelten
unwahr — dienende. Freilich kaͤme hierbei alles auf
den eindringenden Blick und die ordnende Hand des
Bearbeiters an. Ich will keineswegs ein ſolches Muſter
zu geben hier unternehmen, inzwiſchen moͤgen im Sinne
des Geſagten einige fluͤchtige Familiennachrichten, die
ſich grade darbieten, meiner eignen Lebensſchilderung
vorangehen.
Der Stamm, dem ich angehoͤre, iſt altſaͤchſich, in
Weſtphalen von fruͤhſten Zeiten heimiſch und ausge¬
breitet. Das „uralte, beruͤhmte, ritterliche Geſchlecht
von Enſe,“ wie der weſtphaͤliſche Geſchichtſchreiber
von Steinen es nennt, theilte ſich fruͤh in zwei Linien,
deren eine, mit Beibehaltung des goldnen Wappen¬
feldes, von der im Walde bei Arensberg gelegenen und
in der Soeſter Fehde zerſtoͤrten Burg Varnhagen ſich
mit dieſem Namen nannte, die andre ein ſilbernes Feld
[5] und den Namen Schnidewindt annahm. Schon vom
dreizehnten Jahrhundert an kommen die von Enſe, als
Ritter, Burgherren, Droſten, fuͤrſtliche Raͤthe, Dom¬
herren und Freiſtuhlherren, im Kreiſe der weſtphaͤliſchen
Heimath zahlreich vor, bald kriegeriſch bewegt, bald
friedlich ſeßhaft. Gleich darauf erſchienen auch die bei¬
den Linien, von welchen die Varnhagen’ſche ſich als
die hervorragende zu erkennen giebt. Im fernern Ver¬
laufe der Zeit finden wir dies Geſchlecht von den Waffen
und Fehden des Ritterlebens mehr und mehr ablaſſend,
hingegen deſto ſtaͤrker dem geiſtlichen und gelehrten
Stande nachgehend, wo mit nicht geringern Ehrenvor¬
zuͤgen ſich Wohlfahrt und Bildung vereinigten. Dieſe
Richtung gewann entſchiednere Staͤtigkeit durch Konrad
von Enſe genannt Varnhagen, koͤlniſchen Kanonikus,
der als Paſtor zu Iſerlon daſelbſt im Jahre 1520, mit
Vollmacht des Kurfuͤrſten-Erzbiſchofs von Koͤln, eine
Blut- und Erbvikarie zu St. Martin ſtiftete, und mit
Grundbeſitz und fuͤr die damalige Zeit betraͤchtlichem
Einkommen ausſtattete. Dieſe Predigeranſtellung beſteht
noch heutiges Tages mit mannigfachen Vortheilen, als
ausſchließlicher Beſitz der Familie Varnhagen. Gleich
der erſte Inhaber jedoch, Johann von Enſe genannt
Varnhagen, nahm eifrigen Antheil an der durch Luther
bewirkten Glaubens- und Kirchenreformation, fuͤhrte
ſie, nach manchem Widerſtreit, in Iſerlon ſiegreich ein,
und mit ihm wurde, unter Zuſtimmung des Stifters,
[6] ſowohl die Vikarie als auch die uͤbrige Familie pro¬
teſtantiſch. Die naͤchſte Folge war die Verheirathung
des bisher eheloſen Vikarius. Seine erſte Frau, —
denn er heirathete ſpaͤter zum zweitenmal — war eine
von Kettler, Schweſter des nachherigen Herzogs von
Kurland, Gotthard von Kettler, und aus dieſer Ver¬
bindung entſprang die Reihe meiner naͤheren Vorfahren,
die nun faſt ohne Ausnahme, indem auch jene Stif¬
tung fortwaͤhrend einwirkte, ſich vorzugsweiſe dem ge¬
lehrten, und, neben dem geiſtlichen, beſonders noch
dem aͤrztlichen Stande widmeten. Befriedigt in heimi¬
ſchem Anſehn, mittlerem Wohlſtand und gedeihlichem
Wirken, lebte die Familie lange Zeit ſtill fort, ohne
aus dem engen vaterlaͤndiſchen Bezirk herauszutreten.
Durch erwaͤhlten Stand und Verhaͤltniſſe dem Buͤrger¬
thume zugewendet, hegte ſie auch einen dieſem ent¬
ſprechenden Freiſinn, dem der kleine ruͤckwaͤrts liegende
Schimmer nicht ſchadete; dieſer mochte erloͤſchen oder
ſich erneuen, beides ſchien nicht ſehr erheblich. —
Das fruͤhſte Beiſpiel eines in weiterer Welt ſich
verſuchenden Sinnes gab einer von Johann von Enſe’s
Enkeln, der waͤhrend des dreißigjaͤhrigen Krieges in
Roſtock ſtudirt hatte, dann des Koͤnigs Guſtav Adolph
von Schweden und ſpaͤter der Koͤnigin Chriſtina Leib¬
arzt geworden war; er ließ ſich in Schweden haͤuslich
nieder, und hatte daſelbſt eine anſehnliche Nachkommen¬
ſchaft, deren Fortbeſtehen noch in neuern Zeiten kund
[7] war, und erſt in den neuſten aus Mangel an Nach¬
richten ungewiß geworden iſt.
Ein Bruder dieſes nach Schweden gegangenen Varn¬
hagen hatte die Rechte ſtudirt und war Buͤrgermeiſter
in Altena geworden; ſein Sohn, mein Aeltervater,
folgte ihm in dieſem Amte, war aber zugleich Doctor
der Arzneikunde, die er nach dem Vorgange jenes
Oheims ebenfalls in Roſtock ſtudirt hatte, und deren
Wuͤrden und Ausuͤbung fortan in dieſer Linie ſich
durch alle Geſchlechtsfolgen herab vererbten.
Doch geſchah in andrer Hinſicht eine wichtige Un¬
terbrechung des gewohnten Familienganges durch meinen
Urgroßvater Johann Bernhard, der ſich als Arzt in
Paderborn niederließ, und daſelbſt durch das uͤberwie¬
gende Einwirken der Jeſuiten, welche von jeher viel
Anziehendes fuͤr gelehrte und kluge Leute hatten, zur
katholiſchen Kirche uͤbertrat. Dieſer Glaubensweg lei¬
tete nun natuͤrlich auch ſeine Nachkommen, und zwar
aͤußerlich trennend genug von dem proteſtantiſch geblie¬
benen Theil der Familie, innerlich aber nicht ohne die
ſtarke Zugabe eines freien Unterſuchens und Zweifelns,
mitunter ſogar eines in Scherz und Ernſt muthvollen
Widerſpruchs, welchen die herrſchenden Einfluͤſſe der
ſpaͤtern Zeit ohnehin maͤchtig hervorriefen, und den die
Beſchaͤftigung mit Natur- und Heilkunde auch nur noch
foͤrderte.
[8]
Mein Großvater ſtudirte gleich wieder auf einer
proteſtantiſchen Univerſitaͤt, zu Leyden in Holland;
machte dann große Reiſen, beſuchte Rußland und
Oeſterreich, und wollte Wien zu ſeinem Wohnort er¬
waͤhlen, wo aber ſeine Niederlaſſung durch ausgebro¬
chene Verdrießlichkeiten mit dem beruͤhmten und ein¬
flußreichen Arzte van Swieten geſtoͤrt wurde. Er kam
darauf nach Duͤſſeldorf, wurde kurpfaͤlziſcher Rath da¬
ſelbſt, und nahm, ungewoͤhnlich in der Familie, eine
Frau aus weiter Fremde, die Tochter eines Kaufmanns
aus St. Petersburg. Das gute Anſehen, in welchem
er bei Stadt und Regierung geſtanden, verſchafften
ſeiner Wittwe nach ſeinem fruͤhzeitigen Ableben die
nicht unbedeutende Hofſtelle einer Oberkammerfrau
(Garde des Dames) bei der Gemahlin des Kurfuͤrſten
Karl Theodor von der Pfalz, deſſen Hof in Mannheim
durch Kunſtbildung und Glanz ſich vor vielen aus¬
zeichnete.
Mein Vater genoß zwar auch zuerſt bei den Jeſuiten
den gewoͤhnlichen Schulunterricht, doch ohne daß ihre
Leitung und Geſinnung ihn einnehmen konnten, er
ſtudirte dann, dem Beiſpiele der Voraͤltern folgend,
die Arzneiwiſſenſchaft, erſt in Heidelberg, darauf in
Straßburg und Paris, heirathete, nicht ohne Bedenken
ſeiner ſehr katholiſchen Mutter, eine Proteſtantin, aus
Straßburg, mit der er ſich ſchon waͤhrend der Univer¬
ſitaͤtsjahre verlobt hatte, und ließ ſich in Duͤſſeldorf
[9] nieder. An dieſem Orte kam ich den 21. Februar 1785
zur Welt.
1785.
Daß die Stellung der Himmelskoͤrper im beſtimmten
Augenblicke der Geburt eines Menſchen auf deſſen
ganzes Geſchick einen entſcheidenden Einfluß uͤbe, kann
man ſchon gelten laſſen; wenigſtens liegt in dieſer An¬
nahme der Sinn eines großen Verhaͤltniſſes, in welchem
der Mikrokosmus zu dem Makrokosmus unmittelbar
zu ſtehen ſich wohl beruͤhmen darf. Naͤher indeß, als
die Berechnung und Deutung jenes Einfluſſes der Ge¬
ſtirne, draͤngt ſich uns heutiges Tages als bedingend
fuͤr das anhebende Einzelleben die Stellung der Ge¬
ſchichtsbahnen auf, in welche die neue Geburt eintritt;
und von Goethe’n hierzu angeleitet, muͤſſen wir dieſen
einige Betrachtung widmen, um den nachherigen Ver¬
lauf klarer einzuſehen.
Das Jahr 1785 bezeichnet, wie jeder Zeitpunkt
der Geſchichte, eine ganz beſtimmte Stufe von Ge¬
wordenem und Werdendem, und darin fuͤr jeden, der
dieſem Moment angehoͤrt, ein unwiderruflich gegebenes
Schickſal. Was auch die Umſtaͤnde ſonſt, guͤnſtig oder
unguͤnſtig, darbieten, wie auch Geſinnung und Kraͤfte
innerhalb des freigelaſſenen Raumes auf die Schranken
ſelbſt zuruͤckwirken, immer bleibt die allgemeine Noth¬
wendigkeit jenes beſondern Moments das Umfaſſende
[10] und Bedingende, dem nicht zu entfliehen iſt. Auch in
meinen Lebensereigniſſen kann ich das Entſcheidende
jenes Anfangspunktes uͤberall deutlich genug verfolgen,
und daß ich damals, dort, und unter ſolchen Umſtaͤnden
geboren wurde, erkenne ich, wenn auch nicht als meine
erſte That, wie ein Freund es einſt allzuſtark aus¬
druͤcken wollte, doch als meine erſte Habe und unver¬
lierbare Mitgift, deren Signatur in allen meinen Be¬
gegniſſen ſich wiederfindet.
Das achtzehnte Jahrhundert hatte ſeine weitaus¬
ſehenden, mit allgemeiner Anſtrengung verfolgten Auf¬
gaben bereits tuͤchtig gefoͤrdert, das Muͤhſamſte und
Undankbarſte ſeiner Arbeiten war gethan, das Wuͤn¬
ſchenswertheſte glaubte man nah, die bewegteſte Ent¬
wickelung war im Gange, die gewaltſamſten Erfolge
aber ſtanden noch bevor. Die eigentliche Mitte, von
woher eine gaͤnzliche Umwandlung aller europaͤiſchen
Lebenszuſtaͤnde betrieben wurde, war Frankreich; reli¬
gioͤſe Denkart, Staatsverfaſſung, Erziehung, Geſellig¬
keit, alles wollte ſich auf neuen Grundlagen voͤllig
veraͤndert erheben, die alten Verhaͤltniſſe wichen, der
Staat ſelbſt erwies ſich alsbald fuͤgſam, und die leb¬
hafte, geiſtreiche, fuͤr Umgang und Mittheilung hoͤchſt
ausgebildete Nation wirkte durch ihre Gaben und Thaͤ¬
tigkeit unwiderſtehlich auf die andern Laͤnder ein, ſelbſt
Polen und Rußland nicht ausgenommen, welche weder
entlegen genug, noch ſo weit zuruͤck waren, um ſich
[11] dem anmuthigen und verheißenden Einfluß entziehen zu
koͤnnen. Die neue Richtung gewann die Haͤupter der
Nationen, die Kaiſer, Koͤnige, Fuͤrſten, und hatte ſich
der hoͤheren Staͤnde laͤngſt vollkommen bemaͤchtigt, ehe
ſie zu den mittlern und untern gelangen konnte. In
Nordamerika hatte dieſer Einfluß zu einer neuen Frei¬
heitsgeſtalt mitgewirkt, gegen welche die in England
und Holland, in der Schweiz, und zum Theil auch in
Deutſchland, beſtehenden Formen der Freiheit nur noch
als ein Schein galten.
Man wuͤrde jedoch ſehr irren, wenn man den An¬
theil der Deutſchen an der umfaſſenden Arbeit dieſes
Jahrhunderts fuͤr geringer halten wollte, als den der
Franzoſen, obgleich der Glanz des voranſchreitenden
Thuns meiſt bei dieſen war; jene hatten nicht minder
einen voͤllig neuen Lebensinhalt hervorgearbeitet, der
ſeiner neuen Formen harrte, und inzwiſchen nachhaltig
uͤberall einwirkte, wo dieſe daheim und in der Fremde
ſich oͤffneten. Der preußiſchen Monarchie leuchtete noch
das letzte Jahr Friedrichs des Großen, fuͤr die oͤſter¬
reichiſchen Erblande und das deutſche Reich wirkten
ſchon die lichten Beſtrebungen Kaiſer Joſephs des Zweiten.
Auf groͤßeren und kleineren Thronen ſah man die Zoͤg¬
linge der Menſchenfreundlichkeit, der Aufklaͤrung, der
Duldungs- und Gleichſtellungslehren; in vieljaͤhrigem
Frieden war Wohlſtand, Verkehr, Unterſuchung und
Einſicht aller Art gewachſen; alle Staͤnde befleißigten
[12] ſich der Bildung, der Ablegung von Vorurtheilen, und
die Nation hatte fuͤr ihren allgemeinen Aufſchwung, fuͤr
ihre Geſinnung, fuͤr ihre Gemuͤths- und Gedankenkraft,
eben jetzt in Litteratur, Sprachausbildung und Kunſt¬
beſtreben ſo gluͤckliche als harmloſe Organe errungen.
Indeß hielten die alten Einrichtungen noch vor, und
das Leben wogte friſch und kraͤftig, aber zugleich be¬
ſcheiden und erfreulich, zwiſchen ſeinen oft ſeltſam ver¬
bauten oder ganz vernachlaͤſſigten Ufern hin.
Am Niederrhein ſchlugen die Wellen dieſer deutſchen
Fluthen beſonders lebhaft und vielartig. Dem Han¬
delsverkehr mit Holland und England offen, nach
Frankreich in beſtaͤndiger Theilnahme an dortiger Bil¬
dung und Mode hingewandt, von Oeſterreich in Belgien,
noch naͤher von preußiſcher Macht beruͤhrt, aus fuͤrſt¬
lichen Gebieten, freien Reichsſtaͤdten, erzbiſchoͤflich-kur¬
fuͤrſtlichen und andern geiſtlichen Herrſchaften zuſammen¬
geſetzt, ritterſchaftliche, moͤnchiſche, buͤrgerfreie Elemente
vereinend, boten dieſe Gegenden das wunderbarſte Ge¬
miſch von lebendiger Wechſelwirkung.
Duͤſſeldorf ragte in mancher Beguͤnſtigung hervor.
Fruͤher eine fuͤrſtliche Reſidenz, und noch ſtets, wiewohl
die kurpfaͤlziſche Hofhaltung immer in Mannheim blieb,
als ſolche angeſehen und gehalten, als Hauptſtadt der
Herzogthuͤmer Juͤlich und Berg der Sitz einer eigenen
Landesregierung, nach bequemer Lage am Rheinhandel
theilnehmend, heiter gebaut und fortwaͤhrend erweitert
[13] und verſchoͤnert, durch gebildete Einwohner von freiem
und muntrem Sinn, durch zahlreiche Beamte, Militaͤr,
benachbarten reichen Adel und viele Fremde belebt,
welche zum Theil wegen der beruͤhmten Bildergalerie
verweilten, im Winter auch wohl um des zu Zeiten
wohlbeſetzten Schauſpiels willen kamen, durfte dieſe
Stadt unter die vorzuͤglichſten und angenehmſten am
Rhein gezaͤhlt werden. Als namhafte Repraͤſentanten
dieſes Lebenskreiſes kann ich zuvoͤrderſt den Kanzler
Grafen von Neſſelrode nennen, der mir als ein edles
Bild hoher Amtswuͤrde und milder Vornehmheit noch
vor Augen ſteht, dann ſeinen Sohn, der innig befreun¬
det mit Jakobi und in brieflichem Verkehr mit dem
Grafen von Mirabeau war, den Freiherrn von Hom¬
peſch, den Hofkammerrath Beuth, der eine ſchoͤne Kunſt-
und Naturalienſammlung beſaß, den Medizinalrath
Brinkmann, den Regimentsarzt Naͤgele, ferner manche
Offiziere, Kaufleute, Kuͤnſtler und Schauſpieler, die
durch Talent und feines Betragen zu der beſten Geſell¬
ſchaft Eingang hatten; als Frauen von hoͤchſter Aus¬
zeichnung ſind zwei Graͤfinnen von Hatzfeldt, die beiden
Schweſtern Jakobi’s und die juͤngere Graͤfin von Neſſel¬
rode, ſchon aus anderweitigen Erwaͤhnungen bekannt;
unter den gebildeten Damen der vornehmen Klaſſe fehl¬
ten aber auch ſolche nicht, deren glaͤnzende Vorzuͤge nicht
immer guͤnſtig zu beurtheilen waren.
[14]
Durch Jakobi’s Nennung iſt ſchon ein Mittelpunkt
bezeichnet, mit dem die erſten Geiſter des Vaterlandes
in Verbindung ſtanden, und deſſen Strahlen ſogar uͤber
Deutſchland hinaus ſich verbreiteten. Zunaͤchſt aber ge¬
hoͤrte er durchaus dem Niederrhein und deſſen Nachbar¬
ſchaft an, indem mit Koͤln, Aachen, Koblenz, und auf
andrer Seite mit Elberfeld, Duisburg, Xanten, Muͤn¬
ſter, der lebhafteſte Verkehr unterhalten wurde. In
Pempelfort, neben einer bedeutenden Fabrikanſtalt, gab
ein ſchoͤnes großes Wohnhaus und angenehmer Garten
die reichſte Gelegenheit zur edelſten Gaſtfreundſchaft, die
ſelten in ſolcher Ausdehnung mit gluͤcklichem Maß, und
ohne allen Prunk ſo reichlich, ausgeuͤbt worden. Dies
Verhaͤltniß war fuͤr Duͤſſeldorf, wo Jakobi ſeines Am¬
tes wegen eben ſo wie in Pempelfort zu Hauſe war,
uͤberaus belebend, und Geſelligkeit, Litteratur und Kunſt¬
bildung hatten ihren feſten Anhalt an ihm. Ich habe
ſpaͤterhin oft bedauert, daß von dieſem Hauſe, mit wel¬
chem doch mein Großvater ſchon wohlbekannt geweſen,
mein Vater ſich aus einer ich weiß nicht welcher ſtolzen
Verſtimmung zuruͤckgehalten hat. Er pflog niemals
Umgang nach jener Seite hin, wiewohl er die Perſonen
nach Gebuͤhr achtete, und von ihrem Daſein und Wir¬
ken vielfach beruͤhrt ſeyn mußte.
Meine fruͤheſten Eindruͤcke und Erinnerungen ſind
nicht aus dem ſtaͤdtiſchen Leben, ſondern von Garten
und Fluſſe her. Das kleine Haus, welches wir in einer
[15] Seitenſtraße bewohnten, ging ruͤckwaͤrts auf den Rhein,
dem hier noch grade ſo viel Boden abgewonnen war,
um ein Gaͤrtchen und ein ſchmales Weidenufer zu bil¬
den, durch einige vorgelagerte Felſenſtuͤcke gegen den
Andrang des Stromes, ſelbſt bei einigem Schwellen
deſſelben, ziemlich geſchuͤtzt. Aus einem Fenſter des
Wohnzimmers fuͤhrten Treppenſtufen in dieſen Raum
hinab, der in ſeiner engen Umhegung, nach kleinſtem
Maßſtabe mit Raſen und Beeten, Straͤuchern und
Baͤumchen verſehen, bei großem Himmelsblick und rei¬
cher Ausſicht aufwaͤrts auf die maͤchtig voruͤberſtroͤmende
Waſſerfluth und ihre jenſeitigen Ufer, bei naͤhrend ge¬
ſunder Luft von Sonnenwaͤrme und friſchem Hauche
zugleich getroffen, in ſeiner ſtillen, gedraͤngten Abge¬
ſchloſſenheit uns Kindern ein wirkliches Paradies war,
und als ſolches mir noch jetzt vor Augen ſchwebt. Ich
erinnere mich deutlich des genoſſenen reinſten Gluͤcks,
der unſchuldigſten Freudigkeit des Gemuͤths, des klar¬
ſten Auffaſſens der Welt und des harmloſeſten Verbrin¬
gens ſchoͤner Tage. Meine Schweſter, Roͤschen genannt,
um anderthalb Jahr aͤlter, gewaͤhrte mir das Gluͤck einer
lieblichen, in Spiel und Ernſt gleich wohlthaͤtigen Genoſſen¬
ſchaft, und dabei eines reiferen Vorbildes, fuͤr Rath und
Anhalt immer bei der Hand. Wir liebten uns wahrhaft,
hatten ein unbeſchraͤnktes Kindervertrauen zu einander, und
wenn ja kleine Zaͤnke eintraten, deſſen ich mich doch kaum
erinnere, ſo gingen ſie ſchnell und ſpurlos voruͤber.
[16]
Selten wagten wir die Hecke des Gaͤrtchens gegen
das Waſſer hin zu uͤberſchreiten, die Gefahr ſtellte ſich
uns um ſo erſchreckender vor Augen, als eines Morgens
ſich ergab, daß ein Rabe, der zahm und redend uns
ſo vertraut geworden als wunderbar geblieben war, ſein
Gitterhaus uͤber Nacht durchbrochen, und wahrſcheinlich,
da er nicht fliegen konnte, ſeinen Tod im Rhein ge¬
funden hatte. Um ſo reizender war es, wenn wir denn
doch zuweilen, unter Aufſicht des Vaters, uͤber die
ſtrenge Graͤnze vorgingen, das mit Weiden und Gebuͤſch
bewachſene Ufer durchſtoͤrten, die daran feſtgelegten
ſchwimmenden Floßbalken betraten, moͤglichſt nah die
großen Schiffe und die ungeheuern Floͤße, die von vie¬
len hundert Armen fortgerudert nach Holland hinabgin¬
gen, ſtolz vorbeiziehen, Nachen heranrudern, zuweilen
Schwimmer ſich ergoͤtzen ſahen, oder auch nachſinnend
zu unſern Fuͤßen das lebendige Spiel der Wellen und
Wirbel betrachteten, und wohl gar in das reine Waſſer
unſre Stuͤcken Weißbrod eintauchten, die ſo benetzt uns
das labendſte Gericht duͤnkten.
Von meinem dritten Jahre ungefaͤhr bis uͤber mein
fuͤnftes hinaus ſind meine Erinnerungen in dieſer Gar¬
tenluſt zuſammengedraͤngt, als das Bild eines ununter¬
brochenen großen Sommers, ſo wie die dazwiſchenlie¬
genden Winter gleichfalls zu einem zuſammenhaͤngenden
Ganzen ſich mir ausgeſchieden haben. Die Zeitbeſtim¬
mung meines fuͤnften Jahres wird mir durch den Um¬
[17] ſtand ſicher, daß mir ein anhaltendes allgemeines
Glockengelaͤut, welches aus den kurkoͤlniſchen Ortſchaften,
und beſonders, von Neuß her, lange Zeit tagtaͤglich in
regelmaͤßigen Friſten erſchallte, durch ſein betruͤbendes
Einerlei, das der Rhein als Leiter nur allzuhell heran¬
fuͤhrte, zur unleidlichſten Qual wurde, dieſes Gelaͤut
aber geſchah wegen des Ablebens Kaiſer Joſephs, der
am 20. Februar 1790 geſtorben war.
Mit dieſer ſtillen Gartenluſt wetteiferte bald ein
buntes Theilnehmen an lebhafterem Verkehr. Der ſchoͤne
Hofgarten wurde mit beiden Eltern und der Schweſter
haͤufig beſucht, ich fing an, den Vater auf vielen ſeiner
Ausgaͤnge zu begleiten, zu ſtaͤdtiſchen Beſuchen, auf
das Land zur geſelligen Einkehr in nahen Gaͤrten und
Doͤrfern, oder auch zu entfernteren Ortſchaften, nach
Grafenberg, Benrath, Neuß, Ratingen, Zons, wohin
den Vater zum Theil Amtsberuf, zum Theil das Be¬
duͤrfniß groͤßern Ausflugs fuͤhrte. Auch in das Theater,
welches jeden Herbſt in Duͤſſeldorf ſich einfand, wurde
ich fruͤhzeitig mitgenommen, und habe zwiſchen Mutter
und Schweſter, obwohl ich ſogar letztere manchmal dar¬
uͤber laͤcheln ſah, bei ruͤhrenden Vorgaͤngen, die ich
doch nur im Allgemeinen als ſolche faſſen konnte, heiße
Thraͤnen geweint.
Was aber inmitten aller dieſer Dinge meinen Sinn
und ganzes Daſein außerordentlich erhob, und meinem
Bewußtſein einen ungewoͤhnlichen Schwung gab, war
II. 2[18] die Sonderbarkeit, daß ich, wenigſtens zum Ausgehen,
als Tuͤrke gekleidet war. Das achtzehnte Jahrhundert
hatte in ſeinen Zuͤgen, ehe ſie ſchrecklich wurden, unge¬
mein viel Kindiſches, beſonders in Deutſchland, wo
die Vorſtellungen und Triebe eines lebhaft angeregten
Beſſern, zu dem man ſtrebte, fuͤr die Ausuͤbung in die
engſten Schranken geklemmt waren, und da, wo ſie
ſich nun doch Luft machten, oft nur als naͤrriſche Spie¬
lereien hervorkamen. Sprachbildung und Kinderzucht
waren die jedem Thaͤtigen am naͤchſten offnen Gebiete;
wer ſonſt nichts konnte, machte ſich eine eigne Ortho¬
graphie, worin die Deutſchen, zwiſchen den ſiebzig und
neunziger Jahren, zahlloſe Verſuche angeſtellt, oder
bearbeitete ſeine Kinder, was niemand wehren konnte.
Durch Jean Jacques Rouſſeau's dringende Mahnungen
war man auf bequeme, der Geſundheit vortheilhafte
Bekleidung der Kinder allgemein bedacht, er ſelbſt trug
ſich armeniſch, die orientaliſche Tracht uͤberhaupt hatte
unlaͤugbare Vorzuͤge, und mit ihr ſtimmten die neuauf¬
gebrachten Kleidungsſtuͤcke wenigſtens in Weite und Fuͤlle
uͤberein. Es war nur ein Schritt auf dieſem Wege
weiter, machte aber dennoch allgemeines Aufſehn, als
mein Vater, mit eigengeſinnter Kuͤhnheit, ſeinen Kna¬
ben voͤllig tuͤrkiſch gekleidet einhergehen ließ. Ich war
lange Zeit fuͤr Erwachſene und Kinder ein Gegenſtand
des Staunens, des Bewunderns, wohl auch des Nei¬
des, denn mein Kaftan und meine Schaͤrpe leuchteten
[19] in buntem Glanz, und mein Bund war mit Perlen und
Steinen reich beſetzt. Das Aergerniß einiger pfaͤffiſch¬
geſinnten Leute, welche von ſolcher, den Unglaͤubigen
nachgeahmten, Kleidung auch auf die unchriſtlichen
Grundſaͤtze ſchließen wollten, die ſich darin argwoͤhnen
ließen, konnte nur den Trotz verſtaͤrken, und die Be¬
friedigung erhoͤhen, welche mein Vater dabei empfand,
daß dieſer Augenſcherz auch ein erfreuliches Bild ſein
wolle, das auf die allgeprieſene Toleranz ſo gluͤcklich
hindeutete. —
Ein Gefuͤhl von Einſamkeit, das ich freilich damals
mir nicht deutlich zu machen wußte, begleitete mich aus
der Stille auch in Geraͤuſch und Laͤrm. Ich hatte keine
eigentliche Spielkammeraden, nur gelegentlich und auf
abgeriſſene Stunden fand ich ſolche Geſellſchafter; meine
Sinnesart und Tagesgewoͤhnung aber floß nie mit der
ihrigen zuſammen, ich behielt in der groͤßten aͤußern
Hingebung innerlich etwas Fremdes gegen ſie, wie uͤber¬
haupt etwas Abſonderndes gegen die Welt und ihre
Darbietungen. Meinem Vater hing ich mit der groͤ߬
ten Zaͤrtlichkeit an, und ich hatte ein unbegraͤnztes Ver¬
trauen zu ihm; allein daſſelbe ſollte ſchon fruͤh durch
einen Vorfall betraͤchtlich leiden.
Eines Tages, bei ſchoͤnem Sonnenwetter, trafen
wir auf dem Grafenberg eine muntere Geſellſchaft, wor¬
unter auch mehrere unſrer Schauſpieler und Schauſpie¬
lerinnen. Nichts konnte reizender fuͤr mich ſein, ich
2 *[20] fand unter dieſen wunderbaren Weſen meine Lieblinge
leicht heraus, und konnte mich beſonders an einer Ma¬
dame Lange gar nicht ſatt ſehen. Ich hatte fuͤr ſie ein
ſo eignes und ſtarkes Gefuͤhl, daß ich dem Beduͤrfniſſe,
davon zu reden, nachgeben mußte, ich zog meinen Va¬
ter abſeits, und vertraute ihm ſo bewegt als verſchaͤmt,
daß ich in dieſe Dame verliebt ſei. Schon ſein Lachen
uͤber die Eroͤffnung machte mich betroffen, nichts aber
glich meiner Beſtuͤrzung und meinem Aerger, als er,
der Geſellſchaft mich wieder zufuͤhrend, der Dame vor
dem ganzen Kreiſe nun laut mittheilte, welche Erobe¬
rung ſie gemacht, und ich darauf mich den Gegenſtand
vielfachen Scherzes werden ſah. Ich war empoͤrt uͤber
dieſen Mißbrauch meiner Zutraulichkeit, und verdachte
meinem Vater um ſo mehr ſein gegen mich begangenes
Unrecht, als mir auch hoͤchſt empfindlich auffiel, daß
die ſchoͤne Frau durch jene Entdeckung zu keiner weitern
Aufmerkſamkeit fuͤr den Knaben veranlaßt wurde; haͤtte
ſie mich wenigſtens an ſich gezogen, mir geliebkoſt und
mich gekuͤßt, wie ich es nun faſt erwartete, ſo haͤtte
ich mir den Erfolg der Sache noch gefallen laſſen, die
mir jetzt, da ſie durch Gleichguͤltigkeit von der einen
und Scherz von der andern Seite nur verwundend fuͤr
mich war, den Reſt des Tages verdarb. Ich hatte
nun ſchnell und gruͤndlich gelernt, daß es Regungen
gebe, die man, um ſicher zu ſein, ganz fuͤr ſich bewah¬
ren und gegen niemand aͤußern muͤſſe. Die Erfahrung
[21] wurde von andrer Seite her durch Eindruͤcke verſtaͤrkt,
wo Nachdenken und Schweigen vereint die Folge waren. —
In meine fruͤhere Kindheit faͤllt auch ein Beſuch im
Kloſter zu St. Barbara-Garten in Rheinberg, wo meines
Vaters Schweſter Eleonora Nonne war. Dieſes fuͤr
adelige Fraͤulein beſtimmte Kloſter war ihr durch die
Gunſt des Hofes eroͤffnet worden, wiewohl ſie keine
Ahnenprobe ablegen konnte, und leicht entſchloß ſich die
jugendlich Unerfahrne zum dargebotenen Seligkeitswege.
Schon als Novize jedoch ſoll ſie ihren Entſchluß bereut
haben, den ſie aber dennoch, aus Scham und Rath¬
loſigkeit, unwiderruflich ausfuͤhrte. Wir fanden ſie noch
jugendlich ſchoͤn, freundlich vornehmen Weſens, gefaßt
und leidlich zufrieden. Sie ſpielte die Orgel vorzuͤglich
gut, zeichnete und ſchrieb vortrefflich gut, und wußte
ſich auch außer ihrem geiſtlichen Berufe ſo wuͤrdig als
angenehm zu beſchaͤftigen. Mein Vater, den ſie Herr
Bruder und Sie nannte, ſprach mit ihr allein, fragte
genau nach ihrem Zuſtande, und erbot ſich, ihr aus
dem Kloſter herauszuhelfen, ſobald ſie es verlange; er
machte ſich anheiſchig, dieſes, wenn nicht im Guten,
wie er hoffte, auch mit Liſt und Gewalt durchzuſetzen,
und fuͤr ſolchen aͤußerſten Fall gewaͤhrte die Naͤhe der
preußiſchen Graͤnze die beſte Zuflucht und Sicherheit.
Das Anerbieten wurde indeß mit Dank abgelehnt, die
Tante hatte ſich in ihr Verhaͤltniß gefunden, und wußte
ein anderes ſich weder vorzuſtellen noch zu wuͤnſchen.
[22]
Dies alles wurde mir natuͤrlich erſt ſpaͤterhin er¬
zaͤhlt; damals erfuͤllte mich nur der Eindruck der ſchoͤnen
Raͤume, die gute Bewirthung und froͤhliche Beſuchge¬
ſellſchaft, die ſich von mehreren Seiten zahlreich einge¬
funden hatte, ſo wie die einladenden Spielplaͤtze in Hof
und Garten, wo man den ſchoͤnſten Nachmittag im
Freien genoß. Ein ſchauerlicher Reiz von Ernſt und
Abgeſchloſſenheit, worauf doch manches in dem Kloſter¬
weſen deutete, ſo wie einzelne Worte von Mitleid und
Bedauern, die ich fuͤr die armen Nonnen hatte aͤußern
gehoͤrt, machten mir doch am Abend die Ruͤckfahrt
ganz lieb.
Das Geſchick der guten Tante erfuhr ſpaͤterhin noch
die trauervollſte Wendung. Sie erblindete, und ihre
Geiſteskraͤfte wurden ſchwach. Sei es, daß ihrem Zu¬
ſtande an ſich eine ſtrenge Behandlung in den Augen
der uͤbrigen Nonnen gemaͤß duͤnkte, ſei es, daß eine
aus fruͤherer Abneigung gegen das Kloſter jetzt wieder¬
erwachende Unzufriedenheit ſich in Aeußerungen zeigte,
die man als widerſpenſtige beſtrafen zu duͤrfen glaubte,
genug die Ungluͤckliche wurde von den Schweſtern grau¬
ſam in ein abgelegenes, dunkles, faſt unterirdiſches
Gemach verſtoßen, wo ſie in troſtloſer Einſamkeit unter
den haͤrteſten Entbehrungen viele Jahre zubrachte. Ihr
juͤngerer Bruder, als Profeſſor in Koͤln lebend, wollte
ſie mehrmals beſuchen, konnte aber nie bis zu ihr drin¬
gen, wie ſehr er auch darauf beſtand, ſie wenigſtens zu
[23] ſehen. Nachdem aber die Franzoſen jene Laͤnder als
Sieger beſetzt hatten, nahm er die Gelegenheit wahr,
und eines Tages, von franzoͤſiſchen Beamten und Gen¬
darmen begleitet, forderte er unvermuthet im Namen
der Obrigkeit augenblicklichen Einlaß, der nun nicht zu
verweigern war; die Nonnen fanden keine Friſt zu
irgend einer Vorbereitung, man draͤngte ſie, und folgte
ihnen auf dem Fuße, und ſo mußten ſie ungemildert
den jammervollſten Anblick offenbaren. Auf bloßer Erde
ſaß die Unſelige ohne alle Bekleidung; kein Gewand,
kein Stroh, weder Tiſch noch Stuhl, nur die nothduͤrf¬
tigſten Gefaͤße! Man brachte ihr zu eſſen, die Nonnen
boten ihr zwar Loͤffel und Gabel dringend an, ſie aber
achtete nicht darauf, ſondern nahm die Speiſen eilig
mit den Fingern, ſchon laͤngſt jener Werkzeuge entwoͤhnt,
wie ſich jetzt deutlich ergab, ſo gern die harten Schwe¬
ſtern es verbergen wollten. Als der Bruder ſie anre¬
dete, erkannte ſie ſogleich ſeine Stimme, weinte, be¬
jammerte ihren Zuſtand, wollte aber niemand anklagen,
und wuͤnſchte nur, es moͤchte ihr fortan etwas beſſer
gehen. Sie war allerdings ſchwachſinnig und abge¬
ſtumpft, wer weiß ob nicht zumeiſt in Folge der langen
ſo ſchrecklich hingebrachten Leidensjahre, aber durchaus
nicht raſend, wodurch allein ſolche Einkerkerung und
Entbloͤßung noch waͤre ſcheinbar zu begruͤnden geweſen;
ihre Freundlichkeit und Sanftmuth, im Gegentheil, blie¬
ben ſich durch alle Folgezeit unveraͤndert gleich, und
[24] Werke der Andacht und frommer Milde fortdauernd ihre
troͤſtliche Beſchaͤftigung. So lebte ſie zu Koͤln in einer
Stiftung, wohin ſie auf Koſten des Kloſters verſetzt
worden war, noch viele Jahre in ſchwachem doch leidli¬
chen Zuſtande, ſtill und ſanft, erfreut durch den oͤftern
Beſuch des Bruders und der Frau und Kinder deſſel¬
ben, mit denen ſie ſich zwar wenig aber doch gern
unterhielt, und ſtarb eines ſeligen Endes verſichert um
das Jahr 1814 in hohem Alter.
Jugendfreunde.
Berlin, 1803. 1804.
Selten moͤgen einem Menſchen ſo begluͤckte Lebensauen
ſich ausbreiten, als mir der Zeitraum darbot, in wel¬
chen ich, vom Ende des Maimonats bis tief in den
Sommer hinab, mit allen Kraͤften und Entzuͤckungen
der Jugend jetzt einging! Durch mein Verhaͤltniß fand
ich mich grade nur in ſo weit gebunden, um Anhalt
und Maß fuͤr das hoͤchſte Freiheitsgefuͤhl zu haben, meine
Pflichten bezeugten mir nur meine Selbſtſtaͤndigkeit, ich
genoß zum erſtenmal die Vollempfindung des perſoͤn¬
lichen Daſtehens und Geltens. Was ich war, dachte,
urtheilte, wuͤnſchte und that, rechnete mir niemand mit
fremder Vorſchrift in der Hand nach, ſuchte niemand
durch aͤußere Ruͤckſichten und Zwecke beengend nieder¬
zuhalten; meine Eigenſchaften, die bisher gleichſam hin¬
ter ihrem Ertrag und ihrer Leiſtung hatten zuruͤckſtehen
muͤſſen, konnten nun als ſie ſelbſt hervortreten, mein
eignes ungeſtoͤrtes Weſen durfte mir Quell und Spie¬
[26] gel jedes Antriebs und jeder Handlung ſein. Dieſes
Gefuͤhl haͤtte in jedem Fall das Ergebniß meiner ver¬
aͤnderten Lebensſtellung ſein koͤnnen, daß ihm aber durch
eine Dauer von Monaten eine nur ſtets geſteigerte Ge¬
waͤhrung entſprach, war die Folge des gluͤcklichſten Zu¬
ſtroͤmens von Beguͤnſtigungen, wie ſie nicht oft ſich
vereinigen wollen!
Ich muß zuerſt als eines wunderbaren Reizes, der
in taͤglich erneutem Werthe ſich als unſchaͤtzbar erwies,
der Lokalitaͤt gedenken, welche nicht gluͤcklicher ſein konnte.
Schloßartige Wohnung, weit uͤber das Beduͤrfniß hin¬
aus geraͤumig und vielfach, im Innern mit allem Behoͤr
einer behaglichen, theils hollaͤndiſchen, theils engliſchen
Lebensart verſehen, erhob ſich, auch fuͤr den aͤußern
Anblick bedeutend und geſchmackvoll, zwiſchen tiefem
Vorhof und ausgedehntem Garten. Von der Straße
zuruͤckgezogen wandte ſich das ganze Leben des Hauſes
um ſo entſchiedener nach der Gartenſeite hin. Schattige
Gaͤnge, Raſenplaͤtze, hochſtaͤmmige Baͤume und mannig¬
faches Gebuͤſch, Blumenbeete, Obſt- und Kuͤchenpflan¬
zungen, zuletzt ein Pavillon zwiſchen Treibhaͤuſern, gaben
dem weiten Raume in ſinniger Anordnung die heiterſte
Mannigfaltigkeit, und dieſer gruͤnende und bluͤhende
Bezirk gab jedem Tag und jedem Augenblicke die nahe,
offne und lockende Gelegenheit zu dem reinſten Genuſſe,
welcher das Herz erfreuen kann, zu dem Genuſſe der
Jugend und des Sommers in ihrem ſchoͤnſten Verein.
[27]
Waͤhrend der erſten Zeit ſchlief ich nach dem Gar¬
ten hinaus, in einem Saale, der als phyſikaliſches Ka¬
binet diente. Mit dem fruͤhſten Tage, vom Glanze der
bewegten Wipfel, von den Stimmen der Voͤgel, dem
erquickenden Morgenhauche getroffen, ſtand ich lebens¬
froh auf, eilte in das thauige Gruͤn, fruͤhſtuͤckte dort
oder am offenen Fenſter des Bibliothekzimmers, und
hatte mit wechſelndem Entzuͤcken ſchon viel geluſtwandelt
und geleſen, wenn nach und nach das uͤbrige Haus
erſchien, und die Geſchaͤfte und Pflichten des Tages ſich
mahnend einſtellten. — Faſt kein Tag verging ohne
Geſellſchaft, theils in der Stadt, theils auf dem Lande.
Graf Alexander zur Lippe, Profeſſor Darbes, Graf
Caſa-Valencia von der ſpaniſchen Geſandtſchaft, die
herrliche Saͤngerin Marchetti-Fantozzi nebſt dem italiaͤ¬
niſchen Dichter Filiſtri, lernte ich in dieſem Kreiſe
kennen, auch dem damals jugendlichen und geiſtesregen
Adam Muͤller und der von ihm gefuͤhrten Madame San¬
der, die als ſchoͤne Frau durch den Ruf mir ſchon be¬
kannt war, begegnete ich hier zuerſt, nicht ohne wech¬
ſelſeitige Anziehung. — Graf Alexander zur Lippe, edel,
zartſinnig, gebildeten und ſtrebenden Geiſtes, aber auch
wirrkoͤpfig, einbilderiſch und abſchweifend, lebte in em¬
pfindſamſter Seelenſchwingung, und verbreitete Ruͤhrung
und Innigkeit um ſich her, die aber bei leiſen Anlaͤſſen
wunderlich aus der unbefriedigten Spannung auch in
Schaͤrfe und Saͤure umſchlugen, womit er ſich und
[28] Andre dann nicht wenig quaͤlte, bis man ihn wieder,
was nicht ſchwer wurde, auf Scherz und Laune zuruͤck¬
brachte. In erhabenen Freundſchaften lebte er mit edlen
Frauen; einen abweſenden Freund, Herrn von Brockes,
fuͤhrte er bei jeder Gelegenheit zaͤrtlichſt im Munde;
auch mit mir tauſchte er jetzt Haͤndedruck und Ver¬
trauensworte, und durchflocht meine Neigungen und
ſeine; die Leidenſchaft, zu welcher eine jugendliche Schoͤne
ihn entflammt hatte, verbarg er keineswegs, wenn auch
die letztere ſelbſt als ein zartes Geheimniß verſchwiegen
blieb.
Einen neuen Mitſtrebenden entdeckte und gewann ich
in einem jungen Manne, der in dieſem Hauſe von Kind¬
heit an lebte, wie ein Sohn gehalten wurde, und auf
dem Komtoir beſchaͤftigt war, aber ſich außer den be¬
ſtimmten Zeiten wenig ſehen ließ, und uͤberhaupt in
ſeiner ſchweigſamen Stille ſich kaum bemerkbar machte,
obgleich er fuͤr durchaus klug und kundig galt. Eines
Tages fuͤhrte zufaͤlliges Geſpraͤch uns naͤher zuſammen,
wir vertieften uns in Betrachtungen des Lebens und
der Poeſie, ſeine Verſchloſſenheit hielt gegen meine an¬
dringende Waͤrme nicht aus, er bekannte mir, daß auch
er dichte, und wollte mir ſeine Erzeugniſſe nicht vor¬
enthalten. Seine Gedichte waren klar und empfindungs¬
voll; ſie entzuͤckten mich; und als ich den Andern meine
gemachte Entdeckung mittheilen, ihnen die Verſe wieder¬
holt vorleſen durfte, wollte man das Wunder kaum
[29] glauben; vereinigte ſich aber bald in Lob und Beach¬
tung des aus ſeinem bisherigen Inkognito hervorge¬
tretenen Dichters, und ich genoß die reinſte Freude, in
Wilhelm Neumann einen ſo wuͤrdigen als faͤhigen Freund
erworben zu haben. Daß er eine Neigung im Herzen
hegte, war nicht aus ſeinen Gedichten allein zu ge¬
wahren; ſeine Gewoͤhnung zu ſchweigen ließ jedoch kei¬
nen naͤheren Aufſchluß erfolgen, erſt ein Jahr ſpaͤter
wurde dieſer mir durch ungluͤckliche Umſtaͤnde enthuͤllt;
inzwiſchen war die ganze Gemuͤths- und Geiſtesſtim¬
mung von dieſer innern Waͤrme belebt und erhoͤht.
Neues Zuſtroͤmen erfolgte zu dieſen ſchon anſchwel¬
lenden poetiſchen und ſentimentalen Fluthen durch die
Bekanntſchaft, die mir nach einiger Zeit in Charlotten¬
burg mit einem preußiſchen Offizier zu Theil wurde,
der, auf die erſten leiſen, gleichſam freimaureriſchen
Zeichen einer ſolchen Bruͤderſchaft, ebenfalls ganz un¬
vermuthet ſich mir als Dichter enthuͤllte, und zwar als
einer von der ſeltſamſten Art, die groͤßtentheils ſchon
darin begruͤndet lag, daß dieſer deutſche Dichter eigent¬
lich ein Franzoſe war. Herr von Chamiſſo hatte als
Knabe mit ſeinen Aeltern die Heimath beim Ausbruche
der Revolution verlaſſen, war als Emigrirter nach Ber¬
lin gekommen, hier bei der verwittweten Koͤnigin als
Page und darauf als Offizier im Infanterieregiment von
Goͤtz angeſtellt worden, und in dieſem Verhaͤltniſſe ge¬
blieben, waͤhrend ſeine Familie, gleich den meiſten andern
[30] Emigrirten, denen es geſtattet war, begierig das Vater¬
land wieder aufgeſucht hatte. Den Franzoſen konnte
Chamiſſo in keinem Zuge verlaͤugnen. Sprache, Be¬
wußtſein, Sinnesart, Memoiren und Wendungen, alles
erinnerte an ſeine Herkunft, nur war ſein ganzes Weſen
dabei mit einer beſondern, ſeinen Landsleuten ſonſt nicht
grade eignen Ungeſchicklichkeit behaftet, die doch viele
Gewandtheiten und Fertigkeiten gar nicht ausſchloß,
ſondern ihnen nur etwas Wunderliches zugeſellte, wor¬
aus denn allerlei hervorging, was er ſelbſt oder Andre
als Unfall oder Uebelſtand zu tragen hatten. Seine
langen Beine, die knappe Uniform, der Hut und Degen,
der Zopf, der Stock und die Handſchuhe, alles konnte
ihm unvermuthet Aergerniß machen; am meiſten aber und
ſichtbarſten kaͤmpfte er mit der Sprache, die er unter
gewaltigen Anſtrengungen mit einer Art von Meiſter¬
ſchaft und Gelaͤufigkeit radebrechte, welches er auch in
der Folge zum Theil beibehalten mußte. Er hatte deutſche
Lieder und Elegieen gedichtet, ſogar einen Fauſt in
Jamben angefangen, und ich hoͤrte mit Staunen und
Bewunderung, was er davon mit ſeiner zerquetſchenden
Ausſprache, in einer Thuͤr ſtehend, und den Durchgang
hemmend, mir aus dem Gedaͤchtniß herſagte. Auch
dieſer Poeſie wurde ich ſogleich ein ruͤhmender Verbreiter,
und alsbald des Dichters, der ſich als der bravſte Kerl
von der Welt zu erkennen gab, vertrauter Herzens¬
bruder. Die deutſche Bildung und Sprache waren der
[31] Gegenſtand ſeiner tiefſten Verehrung und Sehnſucht,
und unſre Beſtrebungen in dieſem Gebiete arbeiteten
ſeitdem im foͤrderlichſten Verein. War aber ſein Geiſt
durchaus den Deutſchen zugewandt, ſo hatte doch in
ſeinem Herzen eine ſchoͤne Landsmaͤnnin den Vorzug
behalten, welche durch Schickſale hierher verſchlagen war;
ſie vereinte mit tiefer Schoͤnheit eine ſeltne Bildung, wie
ſie denn Engliſch und Italiaͤniſch vollkommen ſprach,
und eben ſo den Shakſpeare und Taſſo wie ihren Racine
las. Ihre Auszeichnung und Lage deutete auf hoͤhere,
doch ungluͤckliche Verwickelungen, deren Geheimniß aber,
aller Forſchungen ungeachtet, ſtets bewahrt geblieben.
Unſer verſtaͤrkter Bund gerieth nun in thaͤtige Be¬
wegung, wir bereicherten durch Austauſch unſre Gefuͤhle
und Anſichten, theilten einander unſre Schriftſteller mit,
und ſuchten uns gemeinſchaftlich zur Hoͤhe der Littera¬
tur emporzuheben. Ich begann Klopſtock, Voß und
Wieland weniger feſtzuhalten, wiewohl ich ſie nicht auf¬
gab, ſondern ihren ſchon mißkannten Werth noch mit
Gluͤck behauptete, ſelbſt einmal gegen Adam Muͤller,
der mir auch Hoͤlty, Salis und andre ſolche noch ein¬
raͤumen mußte. Dagegen ſtieg Schiller maͤchtig empor,
und alle uͤberragte mehr und mehr Goethe, deſſen
Schriften, und beſonders Wilhelm Meiſter, unſre Haupt¬
buͤcher wurden. Die Paradoxen des Athenaͤums und
die Spruͤche des Novalis fuͤhrte hauptſaͤchlich Lippe bei
uns ein, die Gedichte von Wilhelm Schlegel las ich
[32] ſtill und laut zu vielenmalen. Neumann hatte ſich man¬
ches von Tieck erſehen; Schleiermacher wurde genannt,
ich erhielt ſeine Monologen zum Geſchenk, und dieſer
ſtrenge, aber ſchwungvoll ausgedruͤckte wiſſenſchaftliche
Inhalt wurde mit dem lyriſch-ſentimentalen des Hoͤl¬
derlin’ſchen Hyperion als gleichartige Erquickung von
uns Duͤrſtenden genoſſen. Wir hatten Alle erſtaunlich
viel zu lernen, und nicht bloß nach innen, ſondern auch
nach außen hin zu lernen, um unſrem geiſtigen Erſchauen
die erforderliche Unterlage zu geben, und dieſes Lernen
konnte fuͤr uns nur aus fortwaͤhrendem Erleben und
Betreiben hervorgehen. Wir ſahen einander bei allen
Gelegenheiten; jeder ſonſt gleichguͤltige Beſuch, jede Fahrt
uͤber Land, jedes Geſchaͤft wurde uns bedeutend und
fruchtbar, und wir waren weit entfernt, dieſe Bildungs¬
ſchule unangenehm zu finden, ſo ſehr wir deren Maͤn¬
gel in Betreff der wuͤnſchenswerthen gelehrten Kennt¬
niſſe und Uebungen einſahen. Die Geſellſchaft gewann
durch dieſe geiſtige Bewegung zuſehends an Leben und
Reiz, und die Spruͤche des paradoxen Ernſtes, die Ein¬
faͤlle der Laune und des Witzes fielen ſo reichlich ab,
daß wir anfingen, ſie in ein kleines, zu dieſem Zwecke
gehaltenes blaues Heft zu ſammeln, wo beſonders die
wunderlichen und oft ungemein treffenden Schlagworte
Lippe’s ſich anhaͤuften. Die Frauen behaupteten in
dieſem Treiben ihre Stelle, und waren ihm nach Kraͤf¬
ten foͤrderlich, wiewohl ſchon mitunter einige Regungen
[33] zuckten, die wegen des Weitergehens bedenklich machen
konnten, denn eine der erſten Wirkungen unſrer wett¬
eifernden Thaͤtigkeit mußte ſein, daß wir gewahr wur¬
den, wir ſeien bisher, wie in der Litteratur, ſo auch
im Leben, allzu zahm und billig geweſen, und nun
annahmen, wir duͤrften vieles keck als gemein und ge¬
ring verwerfen, was wir bisher geachtet, und muͤßten
uns, um nicht als geduldige Haſenfuͤße zu gelten, als
ſtoͤßige Boͤcke gebaͤrden. Die Schlegel’ſchen Geſinnun¬
gen und Beiſpiele hatten viel Verfuͤhreriſches fuͤr junge
Leute, welchen, bei ſchon befeſtigter Bildung, ihre ab¬
getragenen Unarten als etwas doch vielleicht Geniales
zum nochmaligen Wiederanprobiren noch nicht zu entfernt
lagen. Aber wir hielten, gutgeartet und brav, uns bei
allen Lockungen doch beſcheiden genug. —
In dieſe chaotiſche Gaͤhrung, aus der ſich nach Zu¬
fall und ohne Ziel und Ordnung alles neu geſtalten
ſollte, fiel uns zum Gluͤck bald ein ſtaͤrkeres Licht der
Autoritaͤt, durch welche, neben ſo vielem Schwankenden
und Verworrenen, auch wieder Feſtigkeit und Zuſammen¬
hang vor Augen ſtand. Ich lernte naͤmlich Fichte’n
kennen. Eine Dame, die ich oͤfters beſuchte, lud mich
mit ihm zuſammen in ihre Loge, um die Braut von
Meſſina zu ſehen. Spaͤterhin ſahen wir ebenſo die
Eugenie von Goethe. Mit Ehrfurcht huldigte ich dem
tiefen Geiſt und großen Karakter, mit Freimuͤthigkeit
forderte und beſtritt ich ſeine Ausſpruͤche, ſoweit meine
II. 3[34] Kraͤfte reichten. Er ließ mich freundlich gewaͤhren, und
beſchied mich wohlwollend in ſeine Wohnung. Hier ſah
ich einen Weiſen, deſſen Handlungen mit ſeinen Worten
und Lehren Eins waren, und der vom Lichte der Ge¬
danken wie von ſittlicher Wuͤrde ſtrahlte. Willig gab
er mir Beduͤrftigen ſeine leitenden Rathſchlaͤge, ließ ſich
auf das Einzelne meiner Lage und meiner Studien mit
mir ein, empfahl mir dringend das klaſſiſche Alterthum,
ſagte mir gradezu, ich muͤſſe vollſtaͤndiger die Roͤmer
und gruͤndlich die Griechen kennen lernen, zeigte mir
Ziel und Weg, gebot ſtrengen Wandel und eiſernen
Fleiß, und wies mich dagegen fuͤr jetzt noch von aller
Bemuͤhung mit eigentlicher Philoſophie entſchieden zuruͤck.
Ich glaubte einen goͤttlichen Mann vor mir zu ſehen,
wenn er ſo ſprach, die Gradheit und Redlichkeit leuch¬
teten ihm aus den Augen, und liebevolle Guͤte beglei¬
tete ſeinen erhabenen Ernſt. Wenn ſeinen Ermahnungen
ganz nachzuleben auch weder mein Sinn noch ſelbſt die
Gelegenheit erlaubte, ſo blieb doch dies Vorbild tief in
meiner Seele, und ich nahm von Zeit zu Zeit immer
meine Zuflucht zu dem herrlichen Mann, der dann
jedesmal mit Nachſicht und Kraͤftigung meinem guten
Willen beiſtand. Auch Chamiſſo machte ſeine Bekannt¬
ſchaft und erfuhr gleiche Einwirkung von ihm, die andern
Freunde nicht minder, und fuͤr uns Alle blieb fortan
uͤber allem truͤben irren Gewoge des Lebens dieſer Stern
in hellem Glanze leuchtend und leitend, zu dem wir
[35] zuverſichtlich emporblickten, um uns zum Rechten und
Wahren zu vereinigen und zu ſtaͤrken. — —
Fuͤr mich gab es in meinen Verhaͤltniſſen fortwaͤhrend
Ertrag genug, um von dem, was ſich Widriges und
Laͤſtiges andraͤngte, mich nicht gaͤnzlich befangen zu laſſen.
Eine Fahrt nach Potsdam ließ uns heitre geſellige Freude
an dieſem ſchoͤnen Orte genießen, und ich wurde mit
dieſem denkwuͤrdigen Aufenthalt eines großen Koͤnigs
umſtaͤndlich bekannt. Ich ſah Fichte'n von Zeit zu Zeit,
und immer mit nachhaltiger Herzſtaͤrkung. Mit den
juͤngern Freunden ging der poetiſche Verkehr lebhaft
fort, und unſre Poeſie athmete nicht blos in unſern
Gedichten, ſie war das Element, in welchem wir lebten.
Mit Chamiſſo knuͤpften ſich die Bande ſtets feſter. Da¬
gegen war mit Lippe mehrmals Gefahr voͤlliger Ent¬
zweiung, er nahm alles uͤbel, auch die Erwiederung
deſſen, was er doch ſelbſt eben veruͤbt hatte, und einſt
ging er in duͤſtrer Wuth grimmig von mir weg, weil
ich ihm den ſchlechten Spaß, daß er mir den Knoten
der Halsbinde im Geſpraͤch neckend geloͤſt hatte, nicht
ohne die gleiche Vergeltung hingehen ließ; da er dann
ſchmerzlich bei Chamiſſo klagte, daß ich ihn haͤtte erwuͤrgen
wollen, bis dieſer von mir den Anlaß erfuhr, und mit
mir daruͤber lachte, ja ſogar einige heroiſche Verſe da¬
ruͤber lieferte. Dergleichen beguͤtigte ſich doch auf der
Stelle wieder, und ſolche Vorfaͤlle und Begegniſſe trugen
3 *[36] unſrem Zuſammenleben nur eine ſtaͤrkere Unterlage von
Geſchehenem und Verarbeitetem zu.
Aber auch an wichtigen Gegenſtaͤnden konnt’ ich
meine Betrachtung in dieſer Zeit uͤben. Unerwartet
fand ich mich mit der Freimaurerei beſchaͤftigt. Ich
hatte gehoͤrt, daß Fichte, nachdem er weder bei den
Gelehrten noch beim großen Publikum hatte durchdrin¬
gen koͤnnen, zu dem Verſuche gekommen war, ſeine
Lehre dem Freimaurerorden zur Pflege und Ausbreitung
zu uͤbergeben, und dieſem ſelbſt dadurch eine neue Weihe
zu verſchaffen. Der Gedanke, dieſe geheimnißvolle Ge¬
ſellſchaft, die ſich in ihrer eignen Geſchichte und Bedeu¬
tung laͤngſt nicht mehr zurecht zu finden ſchien, und
deßhalb nach Umſtaͤnden, bald abentheuerlicher Sehnſucht,
bald menſchenfreundlichen Allgemeinheiten ihre weite Form
und bequeme Maſſe leihen mußte, dieſen in allen Welt¬
theilen wirkſamen Bund von Verbruͤderten zu einem
Organ der Philoſophie zu machen, die Stufen ſeiner
Weihe nach dem Lichte der Wiſſenſchaft beſtimmen zu
laſſen, und gleichſam ein Pythagoraͤiſches Inſtitut in
unſrer Zeit wieder hervorzurufen, ein ſolcher Gedanke
hatte allerdings etwas Großes und Lockendes, womit
grade ein Fichte die hoffnungsvollſten Ausſichten ver¬
binden durfte. Freilich war die Sache gleich bei der
erſten Beruͤhrung voͤllig geſcheitert, und es zeigte ſich,
daß man uͤber die Faͤhigkeit des Ordens wie uͤber die
Stimmung der Mitglieder durchaus falſch geurtheilt hatte,
[37] und daß die Zwecke, Gewohnheiten, Liebhabereien und
Kaͤmpfe der Loge auf tauſend Meilen von der Wiſſen¬
ſchaftlehre abſtanden. Aber daß Fichte auch nur einen
Augenblick hatte glauben koͤnnen, hier feſten Grund zu
finden, gereichte noch immer bei uns der Maurerei zum
Ruhme, und durfte das Intereſſe naͤhren, mit welchem
gelegentlich die Geheimniſſe zur Sprache kamen, uͤber
die man am liebſten doch perſoͤnlich zu erfahren wuͤnſchte,
wie es damit beſchaffen und was eigentlich daran ſei.
Meine Aufmerkſamkeit war durch obige Erwaͤhnung
wieder auf die Freimaurerei gewandt, und ich aͤußerte
wohl einmal die Ungeduld, noch nicht das in Preußen
geſetzlich erforderte fuͤnfundzwanzigſte Lebensjahr erreicht
zu haben, um zu dieſen Myſterien zutrittfaͤhig zu ſein.
Dies war nicht unbeachtet geblieben. Profeſſor
Darbes, ein nicht ungeſchickter Portraitmahler, vorzuͤg¬
lich aber als heitrer und kundiger Lebemann geſchaͤtzt
und geſucht, war in der Berliner Geſellſchaftswelt ſehr
ausgebreitet; ſeine Kunſt, ſein unterhaltender Humor,
ſeine gewandte Sprechfertigkeit, und beſonders auch die
Freimaurerei, welche er von Grund aus zu kennen und
mit Eifer zu treiben im Rufe ſtand, gaben ihm in den
vornehmſten wie in den mittlern Kreiſen leichten Zutritt
und ein gewiſſes Anſehn. In Kopenhagen geboren,
von katholiſchen Aeltern ſtammend, die ihn zum geiſt¬
lichen Stande beſtimmt hatten, aber bald verwaiſt und
fruͤh in die Weltſchule gekommen, hatte er ſich in
[38] St. Petersburg und Riga, wo er am meiſten gelebt, fran¬
zoͤſiſche Denkweiſe, Bildung und Betragen, wie ſie in
der vornehmen Geſelligkeit andrer Nationen wiederzu¬
finden waren, und ebenſo den vollkommen freien Ge¬
brauch der franzoͤſiſchen Sprache, gluͤcklich angeeignet;
die Freimaurerei fuͤgte ſo vielen Leichtfertigkeiten einen
gewiſſen Ernſt und feierlichen Hintergrund bei, wodurch
die ganze Perſoͤnlichkeit eine vortheilhafte Bildung erhielt.
Man konnte ihn fuͤr einen Abbé halten, fuͤr einen klugen
und ausgearbeiteten, dem das Geiſtliche nur ein Mittel
zum Weltlichen iſt. Er war ein kleiner, blonder, raſcher
Mann, auf magern aber breit und feſt geſtellten Beinen
mit zuruͤckgebogener Haltung einen etwas haͤngenden
Leib und ein zugeſpitztes kahles Haupt tragend, von
ſtrenggehaltener Miene, die ſich aber jeden Augenblick
in die poſſenhafteſte Grimaſſe verziehen konnte, aus
grauen lebhaften Augen feſt und keck umherblickend,
dabei ſtets bereit zu reden und vorzutragen, ſei es, daß
er Geſchichten erzaͤhlte, oder Lebensmaximen dozirte,
oder auch, indem er die Geſellſchaft anredete, bald Ein¬
zelne heranzog, bald wieder allein ſprach, die wunder¬
lichſten Poſſen mehr auffuͤhrte als vortrug, und dies
alles mit einem Sprudel von Humor und Gebaͤrden
begleitete. Die Aufmerkſamkeit der Hoͤrer fehlte ihm
nie, ihres Lachens war er gewiß, und ihr Beifall ent¬
ging ihm ſelten. Seine Hauptmaxime war, man muͤſſe
es gut haben und froͤhlich ſein, und indem er ſich faſt
[39] zum Narren der Geſellſchaft machte, bezeigte er den
groͤßten Abſcheu, der Narr des gemeinen Lebens zu
ſein. Er hatte den Uebermuth, den vornehmen Leuten
an ihrer reichbeſetzten Tafel mit heftiger Beredſamkeit
begreiflich zu machen, daß er ja nur deßhalb zu ihnen
komme, weil er ſich gerne hoͤren laſſe, und lieber bei
ihnen Kapaunen und Champagner genieße, als fuͤr ſich
allein magres Rindfleiſch und Weißbier. Seine betrieb¬
ſame Klugheit erſtreckte ſich auf hundert kleine Erfin¬
dungen und Vortheile, die er hoͤchlich anpries, und in
allen kleinen Verlegenheiten des Lebens war er uner¬
ſchoͤpflich an Auskunft und Huͤlfsmitteln. Mit Stolz
ruͤhmte er, daß ich weiß nicht welcher geiſtreiche Mini¬
ſter von ihm geſagt: „C'est un grand homme dans
les petites choses!“ Eben ſo wußte er ſich viel damit,
daß er ſeine Dienſtfertigkeit ſtreng auf ſolche Faͤlle be¬
ſchraͤnke, wo dieſelbe als letzte Zuflucht in Anſpruch
genommen werde, nur wenn man bei allen andern
Freunden ſchon vergebens geweſen, dann erſt ſolle man
zu ihm kommen, und dann ließ er ſich auch keine Muͤhe
und Anſtrengung verdrießen. Von ſeinen Sonderbar¬
keiten und Einfaͤllen waͤre noch viel zu erzaͤhlen, der
Stoff beduͤrfte aber eines Diderot, um nach allen Seiten
gebuͤhrend ausgebildet zu werden. Denn neben dem
oberflaͤchlichen Weltgetriebe war ihm eine tiefere Richtung
nicht abzuſprechen, und im Grunde ſeines Weſens wohnte
die menſchenfreundlichſte Gutmuͤthigkeit, rechtliche Ge¬
[40] ſinnung, und wahrhafte Tugenden der Geſelligkeit. Er
hatte Zeiten der tiefſten Schwermuth, in denen er ſich
aber nicht ſehen ließ, ſondern einſame Spaziergaͤnge
machte, oder ſich auf ſein Zimmer verſchloß. Als ſeine
Einkuͤnfte ſchwaͤcher wurden, ſchraͤnkte er ſich mit vielem
Gleichmuth ein, ging zum Beiſpiel in das groͤbſte Tuch
gekleidet, und zeigte ſich ſo mit Behagen in den Saͤlen
der Reichen und Vornehmen, von denen er jede Geld¬
huͤlfe ſtolz verſchmaͤhte. Bei den Eindruͤcken, die ich
von dem Manne ſo lange Jahre in der Seele trug,
war es mir keine geringe Freude, als ich vor einiger
Zeit ſeinen Namen unerwartet in des Architekten Wein¬
brenner Selbſtbiographie vorkommen fand, begleitet von
Erzaͤhlungen und Zuͤgen, worin ich ihn ganz wieder¬
erkenne. Auch freut es mich, in Weinbrenners Buche
die guten Eigenſchaften des Mannes, bei anfangs zwei¬
deutiger Erſcheinung, durch den Verfolg in helles Licht
geſetzt zu ſehen.
Dieſer Mann erſuchte mich eines Nachmittags in
Charlottenburg, wo er einige Zeit wohnte, ihm auf
ſein Zimmer zu folgen, wo er geheim und vertraut
mit mir zu reden habe. Wir ſetzten uns auf das
Sopha, den Thuͤren gegenuͤber, die er weit offen ſtehen
ließ, denn ſo, ſagte er, nicht durch Zuſchließen, ſichre
man ſich am beſten gegen alles Lauſchen, indem man
die Thuͤren des Vorzimmers im Auge habe, und jeden
Kommenden gleich in der Ferne wahrnehme. „Sie
[41] ſprachen neulich, ſo hob er an, von der Freimaurerei,
und wuͤnſchten von ihren Geheimniſſen naͤher unterrichtet
zu ſein. Ich kann Ihre foͤrmliche Aufnahme in den
Orden nicht bewirken, weil hier das obrigkeitliche Verbot
nicht zu umgehen iſt, und dann bin ich auch ſelbſt ohne
Einfluß und Verbindung mit den hieſigen Logen, ſeit¬
dem die Feßler’ſche Spaltung, von der neulich die Rede
war, ſein und mein Ausſcheiden zur Folge hatte. Allein
ich kann dennoch Ihren Wunſch erfuͤllen. Hoͤren Sie
mir zu! Seit langer Zeit ſchon fuͤhlen wir, die wir
hoͤher im Orden ſtehen und tiefer eingeweiht ſind, daß
ſeine Grundlagen veraͤndert werden muͤſſen. Die großen
Geheimniſſe und der furchtbare Eid, ſie zu verſchweigen,
kamen uns laͤngſt als veraltet vor, wir entbanden uns
dieſer Feſſeln, und berechtigten uns gegenſeitig, mit
dem Inhalte wie mit der Form der Sache im Intereſſe
derſelben nach eignem freien Urtheil zu ſchalten. Was
als weſentlich der Maurerei noch inwohnt oder mit
Wahrheit ihr beigelegt werden kann, hat mit ihrer
jetzigen Beſchaffenheit nur noch ſchwachen Zuſammen¬
hang. Man iſt nicht Maurer, weil man in die Loge
aufgenommen worden, man kann es in hoͤherem, und
ſelbſt von der Loge anerkannten Sinne, auch außerhalb
derſelben ſein. Ich finde bei Ihnen alle Eigenſchaften,
die Ihnen Anſpruch geben, dem Orden anzugehoͤren,
und ich will, wenn es Ihnen genehm iſt, Sie in den¬
ſelben vollſtaͤndig einweihen.“ Dieſer Rede, die ich
[42] mit Dank und Eifer annahm, folgten weitlaͤufige Mit¬
theilungen aus der Geſchichte und uͤber die gegenwaͤr¬
tigen Verhaͤltniſſe der Freimaurerei, uͤber ihre Gebraͤuche,
Einrichtungen, und andre Aeußerlichkeiten. Mir wurde
empfohlen, der Sache weiter nachzudenken, und gegen
niemand ein Wort davon zu reden. Dieſe Belehrungen
wiederholten ſich, wobei meine Erwartung doch im
Ganzen wenig befriedigt wurde; weder der eigentliche
Urſprung der Geſellſchaft noch ihre beſtimmten Zwecke
wollten recht hervortreten, die Zeichen und Worte und
Ceremonien erſchienen als iſolirte Alterthuͤmer, deren
Bedeutung in dem Schwall modernen Auslegens und
Hinzumiſchens ganz untergegangen; das Vorhandene
wurde groͤßtentheils als gemein und verwerflich vorge¬
ſtellt, das Beſſere als erſt in Kuͤnftigem zu hoffen.
Und bei allen dieſen Gebrechen und Scheinſamkeiten
ſollte das freimaureriſche Treiben uͤberhaupt doch in
hoͤchſtem Werthe ſtehen, und die Neigung des ausge¬
ſtoßenen und abtruͤnnigen Bruders hielt, der Einſicht
entgegen, an demjenigen feſt, was durch ſo lange Jahre
die richtigſte und vertrauteſte Lebensgewoͤhnung, der
Gegenſtand ſo vieler Thaͤtigkeit und die Quelle ſo
mannigfachen Ertrages geweſen war! Aus dieſem
Zwieſpalt der Zuneigung und des Widerwillens kam
Darbes nicht heraus, wie ein Liebhaber, der die un¬
getreue Geliebte zugleich ſchelten und doch noch preiſen
moͤchte, und in dem Mißgefuͤhle, welches ſich einſtellte,
[43] wenn ich dergleichen Widerſpruch nicht mitmachen konnte,
fanden auch unſre Lehrſtunden nach und nach ihre
Stockung. Mir aber war der Blick in ein weites Feld
menſchlicher Thaͤtigkeiten und Beziehungen eroͤffnet
worden, in die lockendſten Fluren der Begeiſterung und
der Schwaͤrmerei, deren Eintritt mir nur als gleich¬
zeitige Enttaͤuſchung gewaͤhrt wurde, wie ſie wohl ſelten
einem jungen Manne an ſolcher Schwelle vorausgege¬
ben wird.
Von einer andern Seite her ſollte nicht minder ein
Streifen der Welthaͤndel aus ihren dunklen Wirrgaͤngen
mich einen Augenblick hell anſchimmern. Ein engliſcher
Jude Lewis Goldſmith, damals geruͤhmt als Verfaſſer
freimuͤthiger politiſchen Schriften, dann als Herausgeber
des zu Paris in engliſcher Sprache erſcheinenden Tage¬
blattes Argus bekannt, und ſpaͤter als Urheber der
luͤgenhaften Schmaͤhſchrift uͤber den Hof von Saint-
Cloud beruͤchtigt, kam waͤhrend des Sommers 1803
nach Berlin, und ſprach als alter Bekannter in unſerm
Hauſe ein. Er ſchien mit Geld uͤberfluͤſſig verſehen
und in großem Behagen zu leben, von den politiſchen
Verhaͤltniſſen und Perſonen wußte er viel Merkwuͤr¬
diges mitzutheilen, und fuͤr den Erſten Konſul Bona¬
parte nahm er heftig Parthie, doch ſichtlich weniger
aus Ueberzeugung als aus Prahlerei und Vortheil,
denn er verhehlte nicht, daß er ſein Gluͤck auf jenen
Mann geſtellt habe, und noch weniger, daß ſein Gluͤck
[44] in Wohlleben beſtehe. Seine Munterkeit gefiel ſich im
Anſtoͤßigen und im Schadenfrohen, und ſo ſehr uns
Andern dies widrig war, ſo ſehr unterhielt es den
Hausherrn, dem der kecke Ton des Geſellen faſt nicht
weniger imponirte, als die Sendung, auf welcher der¬
ſelbe jetzt begriffen war, und die er ihm als altem
guten Freunde nicht hatte verhehlen wollen. Er befand
ſich naͤmlich auf einer Reiſe nach Warſchau, mit ge¬
heimen Auftraͤgen Bonaparte’s und großen Vollmachten
und Kreditbriefen verſehen, um den dort wohnenden
franzoͤſiſchen Kronpraͤtendenten, nachherigen Koͤnig Lud¬
wig den Achtzehnten, zu verſuchen, ob er gegen große
Geldvortheile, die ihm Bonaparte anbieten ließ, zu
deſſen Gunſten auf die Krone von Frankreich wuͤrde
verzichten wollen. Gleich nach der Abreiſe des Gold¬
ſmith vertraute mir der Hausherr dies Geheimniß, wo¬
durch er, zur Berichtigung meines geringſchaͤtzigen Ur¬
theils, ſeinen Freund mir recht hoch zu ſtellen meinte.
In der That war die Sache bedeutend, und ſehr ge¬
heim; ſie gab einen fruͤhzeitigen Blick in die damals
noch ſorgſam verhuͤllten Plane des Erſten Konſuls,
und man hat ſpaͤter den Vorgang laͤugnen wollen.
Der Mann kam nach einiger Zeit von Warſchau zuruͤck,
ich ſah ihn auch dann wieder, aber nur fluͤchtig, ſeine
mißmuthige Eile ließ genug errathen, daß er keinen
Erfolg gehabt, wie denn auch ſeine eigne Ausſage be¬
ſtaͤtigte. Mir war in meiner damaligen Stimmung
[45] nichts gleichguͤltiger, als die politiſchen Angelegenheiten,
ein Gedicht war mir wichtiger, als der ganze Staat,
ein Ereigniß im Kreiſe unſrer Herzens- und Geiſtes¬
beſchaͤftigung bedeutender, als alle Schlachten und
Friedensſchluͤſſe: aber gleichwohl war mir das nahe
Vorbeigehen einer ſo beziehungsreichen Staatsſache zu
merkwuͤrdig, als daß ich nicht vielfach daruͤber nachge¬
dacht und ein fruͤhes Vorbild fuͤr viele ſpaͤtere Erfah¬
rungen darin aufgefaßt haͤtte. —
Ein Staatsmann beſſerer Art und hoͤherer Ordnung
wurde mir in dem portugieſiſchen Geſchaͤftstraͤger Pin¬
heiro-Ferreira vertraulich bekannt. Aeußerſt klein und
ſchmaͤchtig von Geſtalt, faſt nur ein Knaͤbchen von
Anſehn, ſo daß man von ihm ſagte, er ſei ein Kuͤchlein
uͤber der Sparlampe ausgebruͤtet, wußte er doch durch
gemeſſenes und feines Betragen, und durch einen ſchoͤnen
Ernſt, wie er Suͤdlaͤndern oͤfters eigen iſt, einen wirk¬
ſamen Eindruck von Wuͤrde zu geben, und um ſich her
Achtung zu gebieten. Ich weiß nicht, wodurch eigent¬
lich ſeine Zuneigung mir gewonnen wurde, allein er
ſchenkte ſie mir in hohem Grade, und ſprach viel mit
mir uͤber deutſche Dichter, denen er anhaltenden Fleiß
widmete, ſo wie er mir auch von portugieſiſcher Litte¬
ratur vieles erzaͤhlte, und beſonders den Dichter Dinis
anruͤhmte, von dem er Verſe mit Begeiſterung her¬
ſagte. Auch uͤber Homer und Homeriſche Mythologie
nahm er unſre deutſchen Einſichten, ſo weit ich ſie mit¬
[46] theilen konnte, begierig auf, und bezeigte nur einiges
Mißtrauen gegen das, was unmittelbar von den Schlegel
herruͤhrte. Er machte mir kein Geheimniß von ſeiner
politiſchen Lage, und ich erſchrack zu hoͤren, daß er ein
Gefangener der Inquiſition geweſen, und vom ſichren
Tode nur durch den großmuͤthigen Freiſinn des Prinz-
Regenten von Portugal gerettet worden, der ihm eine
diplomatiſche Anſtellung im Auslande zum Schutz ge¬
geben, welchen im Inlande dauernd ihm zu gewaͤhren
alle ſeine Macht nicht ausgereicht haben wuͤrde. Die
erlittenen Drangſale hatten ihm ein truͤbes Gewoͤlk auf
der Seele zuruͤckgelaſſen, das ihn doch noch hinderte,
auch den zarteren Gefuͤhlen ihr Recht zu geben. Denn
das unſcheinbare Maͤnnchen hatte ſchon von Portugal
einen huͤbſchen Knaben mitgebracht, der auf fruͤhere
Verbindungen deutete; in Berlin aber durfte er ſich
der Aufmerkſamkeit zweier Damen zu gleicher Zeit
erfreuen, die gleichſam um ihn wetteiferten. Er hei¬
rathete ſpaͤter die eine derſelben und nahm ſie mit nach
Braſilien, wo er zwanzig Jahre ſpaͤter als Miniſter
der auswaͤrtigen Angelegenheiten, und darauf als ſolcher
in Portugal ſelbſt, eine wichtige Rolle ſpielte, und den
gemaͤßigten Konſtitutionellen angehoͤrte, bis die Umge¬
ſtaltung der Dinge ihn ſeinen Aufenthalt in Paris neh¬
men ließ. Ich las ſeinen Namen in den Zeitungen
nie ohne innigen Antheil, und begruͤßte ihn fernhin
[47] mit Worten ſeines Lieblingsdichters Dinis, die er mir
in mein Stammbuch geſchrieben hatte. —
Hier iſt nun auch eines perſoͤnlichen Erſcheinens zu
gedenken, deſſen erſter Eindruck mir in jener Zeit wurde.
Eines Abends, da ich den zum Thee Verſammelten
aus Wieland einiges vorlas, wurde Beſuch gemeldet,
und bei dem Namen entſtand ſogleich die Art von Be¬
wegung, welche ſich der Erwartung von Ungewoͤhn¬
lichem und Guͤnſtigem verknuͤpft. Es war Rahel Levin
— oder Robert, denn auch den letztern Namen fuͤhrte
ſie ſchon damals. Oft ſchon hatte ich ſie nennen hoͤren,
von den verſchiedenſten Seiten her, und immer mit
einem ſo beſondern Reize der Bezeichnung, daß ich mir
dabei nur das außerordentlichſte, mit keinem andern zu
vergleichenden Weſen denken mußte. Was von ihr in¬
ſonderheit Lippe und Frau von Boye mir geſagt, deutete
auf ein energiſches Zuſammenſein von Geiſt und Natur
in urſpruͤnglichſter, reinſter Kraft und Form. Auch
wenn man einigen Tadel gegen ſie verſuchte, mußte
ich im Gegentheil oft das groͤbſte Lob daraus nehmen.
Man hatte von einer gerade jetzt waltenden Leidenſchaft
viel geſprochen, die, nach den Erzaͤhlungen, an Groͤße
und Erhebung und Ungluͤck alles von Dichtern Beſun¬
gene uͤbertraf. Ich ſah in geſpannter Aufregung, den
Andern zum Laͤcheln, dem nahen Eintritte der Ange¬
kuͤndigten entgegen. Es erſchien eine leichte, grazioͤſe
Geſtalt, klein aber kraͤftig von Wuchs, von zarten und
[48] vollen Gliedern, Fuß und Hand auffallend klein; das
Antlitz, von reichem, ſchwarzen Haar umfloſſen, ver¬
kuͤndete geiſtiges Uebergewicht, die ſchnellen und doch
feſten dunklen Blicke ließen zweifeln, ob ſie mehr gaͤben
oder aufnaͤhmen, ein leidender Ausdruck lieh den klaren
Geſichtszuͤgen eine ſanfte Anmuth. Sie bewegte ſich
in dunkler Bekleidung faſt ſchattenartig, aber frei und
ſicher, und ihre Begruͤßung war ſo bequem als guͤtig.
Was mich aber am uͤberraſchendſten traf, war die klang¬
volle, weiche, aus der innerſten Seele herauftoͤnende
Stimme, und das wunderbarſte Sprechen, das mir
noch vorgekommen war. In leichten, anſpruchsloſen
Aeußerungen der eigenthuͤmlichſten Geiſtesart und Launen
verbanden ſich Naivitaͤt und Witz, Schaͤrfe und Lieb¬
lichkeit, und allem war zugleich eine tiefe Wahrheit wie
von Eiſen eingegoſſen, ſo daß auch der Staͤrkſte gleich
fuͤhlte, an dem von ihr Ausgeſprochenen nicht ſo leicht
etwas umbiegen oder abbrechen zu koͤnnen. Eine wohl¬
thaͤtige Waͤrme menſchlicher Guͤte und Theilnahme ließ
hinwieder auch den Geringſten gern an dieſer Gegen¬
wart ſich erfreuen. Doch kam dies alles nur wie
ſchnelle Sonnenblicke hervor, zum voͤlligen Entfalten
und Verweilen war diesmal kein Raum. Kleine Necke¬
reien mit Graf Lippe, der kuͤrzlich bei ihr nicht war
angenommen worden, und deßhalb boͤſe thun wollte,
erſchoͤpften ſich bald; der ganze Beſuch war uͤberhaupt
nur ſehr kurz, und ich wuͤßte mich eigentlich keines
[49] beſtimmten Wortes zu erinnern, in welchem etwas aus¬
gepraͤgt Geiſtreiches, Paradoxes oder Schlagendes ſich
zur Bewahrung dargeboten haͤtte, aber die unwider¬
ſtehliche Einwirkung des ganzen Weſens empfand ich
tief, und blieb davon ſo erfuͤllt, daß ich nach der bal¬
digen Entfernung des merkwuͤrdigen Beſuchs einzig
von ihm reden und ihm nachſinnen mußte. Man
ſcherzte daruͤber, und weil der Scherz faſt verdrießlich
wurde, ſo trotzt' ich ihm deſto eifriger durch Nieder¬
ſchreiben eines Sonetts, das den empfangenen Eindruck
begeiſtert ſchildern wollte, und das ich die Dreiſtigkeit
hatte, eben weil man ſie mir bezweifelte, am andern
Tage verſiegelt abzuſchicken, ohne daß ich weiterhin
etwas von der Sache gehoͤrt oder ihr nachgefragt haͤtte.
Rahel Levin ſelbſt wiederzuſehen war mir darauf Jahre
lang nicht beſchieden. Ihr Namen aber blieb mir als
ein ungeſchwaͤchter Zauber in der Seele, nur ahnete
ich auf keine Weiſe, daß mit jenem fruͤhen Begegnen
und jenen vorlauten Zeilen ein erſter Ring gefuͤgt
worden, an welchen viele folgende ſich anreihen und
die entſcheidenſte Wendung und die dauernſte Vereini¬
gung meines Lebens geknuͤpft ſein ſollte. —
Alles und jedes mehrte nur immer unſre Gedichte,
und ſie wuchſen bald allzu gedraͤngt, als daß ſie nicht
endlich aus dem Pult unruhig an das Licht geſtrebt
haͤtten. Der Gedanke des Druckenlaſſens ging mir
und Chamiſſo'n ploͤtzlich auf, als wir am ſpaͤten Abend
II. 4[50] allein im Garten wandelten, wir vereinigten uns auf
der Stelle zu gemeinſamer Ausfuͤhrung, zu welcher
die Herausgabe eines Muſenalmanachs ſo bequem als
anſtaͤndig erſchien. Wir theilten die Sache Neumann
mit, der voll Eifer beitrat. Als wir aber unſre Vor¬
raͤthe naͤher unterſuchten, fanden wir das Meiſte wegen
perſoͤnlicher Ruͤckſichten kaum mittheilbar, und da wir
uͤberhaupt nur das Beſte liefern wollten, ſo fiel die
Auswahl ſo klein aus, daß wir uns nach andern Zu¬
ſchuͤſſen umſehen mußten. Chamiſſo unternahm es auf
Werbung auszugehen, und einige Freunde anzuſprechen,
von deren poetiſchen Liebhabereien er ſchon Kenntniß
hatte. Allein, noch ehe wir ſelbſt gedruckt waren, ſahen
wir uns gleich zuerſt in Stolz und Macht des Richter¬
amts verſetzt, und mußten die erſten Beitraͤge, die uns
angeboten wurden, des Druckes unwerth erklaͤren. Beſſer
gelang es mit andern. Der damalige Referendarius beim
Kammergericht, jetzige Kriminaldirektor Hitzig, uͤbergab
willkommene Ueberſetzungen aus dem Spaniſchen, Engli¬
ſchen und Italiaͤniſchen nebſt ein paar eignen Stuͤcken
unter ſeinem Vornamen Eduard; Ludwig Robert, Bruder
von Rahel Levin, ſteuerte aus ſeinem Schatze reichlich bei;
und Franz Theremin, Kandidat des Predigtamtes von
der franzoͤſiſchen Kolonie, begluͤckte uns mit einigen
Blaͤttern. Durch eine ungluͤckliche Nachgiebigkeit kam
auch ein Gedicht von dem ſogenannten Naturdichter Gott¬
lieb Hiller hinein, das wir nachher hundertmal weg¬
[51] wuͤnſchten. Nun war ein leidliches Manuſcript bei¬
ſammen und geordnet, allein jetzt mußte damit ein
Durchbruch bei irgend einem Verleger verſucht werden,
und hier zeigten ſich große Schwierigkeiten. Chamiſſo’s
und meine Bemuͤhungen bei Buchhaͤndlern, die wir
kannten oder nicht kannten, ſchlugen ſaͤmmtlich fehl,
man wagte nicht an der Vortrefflichkeit unſrer Gedichte
zu zweifeln, aber man wollte Namen, die ſchon be¬
ruͤhmt und bekannt waͤren, und wir mußten voll In¬
grimm ſehen, daß man dafuͤr auch ſolche gelten ließ,
uͤber die wir uns weit erhoben glaubten, und deren
wir uns nur geſchaͤmt haͤtten. Endlich war nichts an¬
deres zu thun, wenn wir gedruckt ſein wollten, als es
auf unſre Koſten zu werden, und es fand ſich ein
guter Mann in Leipzig, der ſeine Firma dazu hergab.
Chamiſſo war es eigentlich, der mit ſeinem Gelde das
Unternehmen machte, und obgleich Neumann und ich
einen Theil der Exemplare ihm abkauften, wird er
doch, bei dem ſonſtigen geringen Abſatz, nicht ganz ohne
Einbuße davon gekommen ſein. Genug, wir waren
gedruckt, wir Alle zum erſtenmal, und das war keine
Kleinigkeit! —
Von dem litterariſchen Werthe dieſer Jugendver¬
ſuche kann gar keine Rede mehr ſein; ganz unabhaͤngig
von dieſem aber verknuͤpfte ſich fuͤr uns Theilnehmer
ein unendlicher Lebensgewinn mit dieſem gruͤnen Buche,
wie es von der Farbe ſeines Umſchlags fortan hieß.
4 ✷[52] Unſre Freundſchaft befeſtigte ſich durch dieſes gemein¬
ſame Auftreten, neue ſchloſſen ſich zahlreich an, ver¬
wandtes Streben und empfaͤnglicher Sinn nahm, wenn
auch nur im Stillen, von uns Kunde, und in weiter
Ferne und ſpaͤten Jahren begegneten uns noch werthe
Wirkungen einer damals erregten guͤnſtigen Aufmerk¬
ſamkeit. Aber auch unmittelbar durften wir unſern
Muth, unſre Zuverſicht und ſelbſt unſer Talent durch
ein Erſcheinen erhoͤht fuͤhlen, das wir unter keines
fremden Namens Gunſt und Schutz, ſondern als Neu¬
linge ſelbſtſtaͤndig in eigner Leitung gewagt. In den
Stand eines Autors zu treten, waͤre es auch nur mit
ſo geringen Mitteln, als die unſrigen damals, duͤrfte
zu keiner Zeit, ſo lange nicht die litterariſchen Verhaͤltniſſe
und ſelbſt die Sitten eine große Umwandlung erfahren,
als etwas Gleichguͤltiges anzuſehen ſein. Die Ehre und
der Reiz, welche damit verbunden ſind, ſchimmern lockend
auch den Koͤnigen und Helden, und von allen Genuͤſſen,
die dem Alter nach und nach abſterben, haͤlt dieſer am
laͤngſten aus. Man denke daher, welch ein Schritt fuͤr
uns Juͤnglinge dies war; wir empfingen damit eine neue
Muͤndigkeit, die wir ſelbſt ausgaben; wir traten auf das
Feld, wo die Kraͤnze lagen, und wenn wir Dichter zu
ſein behaupteten, ſo mochte dies im aͤſthetiſchen Sinne
noch ferner wie bisher bejaht oder verneint werden
koͤnnen, im litterariſchen waren wir es aber einmal
gewiß.
[53]
Aufſehen genug bewirkten wir, in unſrem naͤchſten
Kreiſe das außerordentlichſte; die Frauen beſonders wa¬
ren gereizt und geſchmeichelt, an dem Schmuck unſrer
Dichtung, der jetzt erſt gefaßt worden, ſo nahen Theil
zu haben. Ein aͤlterer Mann von Gewicht und Anſehn
unter uns war faſt empfindlich, und pruͤfte ſich, ob
er ſelber nicht auch zu dem Muſenalmanach haͤtte bei¬
tragen koͤnnen, er wollte ſich das gar nicht verneinen,
und gab zu verſtehen, ſein ſchlummerndes Talent haͤtte
wohl gleiche Aufmerkſamkeit, wie das der juͤngeren ver¬
dient. Kieſewetter, den ich noch von Zeit zu Zeit ſah,
fand unter meinen Gedichten zwar die Ueberbleibſel
deſſen, was er an mir geruͤhmt und gefoͤrdert hatte,
allein zugleich ein Sonett von Friedrich Schlegel, und
uͤberhaupt ſo viel Sonette, daß er mich geradezu fuͤr
verloren gab. Bald kamen aber auch die oͤffentlichen
Kritiken, einige Tagesblaͤtter gaben uns ein maͤßiges
Lob, andre ſetzten uns tief hinab. Man wußte nicht
recht, was man aus uns machen ſollte; die Hauptfrage,
ob wir der neuen oder der alten Schule angehoͤrten?
war nicht leicht zu entſcheiden, da wir keine Fahne tru¬
gen, und ſowohl fuͤr das eine wie fuͤr das andre ſich
Zeichen fanden. Einige Schlegelianer ſahen das Alte
fuͤr uͤberwiegend an, und geißelten uns tuͤchtig, indem
ſie auch das, was zu dem Neuen ſtrebte, fuͤr verfehlt
erklaͤrten. Am ſchlimmſten aber verfuhr Garlieb Mer¬
kel mit uns, der verrufene kleine Kritiker, der den
[54] Verſtand und Geſchmack gegen die neue Schule zu ver¬
fechten unternommen hatte, und in dieſem Kampfe das
poſſierlichſte Schauſpiel und die traurigſten Bloͤßen gab.
Doch galt er bei vielen Leuten noch als eine Stuͤtze der
guten Litteratur, und weil er uns unbedingt fuͤr Juͤn¬
ger der neuen Schule erklaͤrte, ſo mußten wir es auch
ſein, obgleich weder durch litterariſche Richtung noch
durch perſoͤnliches Anſchließen irgend einer von uns bis
jetzt dahin zu rechnen war, ſondern bei Einigen viel¬
mehr noch Abneigung und Widerwillen beſtand. Der
Fall, daß ich Partheifarbe tragen ſollte, die mir fremd
war, hat ſich in der Folge oft wiederholt, und wird
ſich da immer einfinden, wo ein redlicher Sinn dem
eignen Lichte folgt, ohne dieſes ſo ſtark leuchten laſſen
zu koͤnnen, daß Andre ihm folgen; denn nichts will
die Welt ſchwerer glauben, als daß man nicht ſein Heil
in der Menge ſuche, und daher, wenn man nicht Dienſte
austheilen kann, ſolche nehme.
Ich kann es noch heute (1831), da achtundzwanzig
Jahre ſeitdem verfloſſen ſind, mit tiefſter Wahrheit
ebenſo wie damals betheuern, daß mir dieſe unguͤnſti¬
gen und zum Theil hoͤhniſchen Kritiken wenig Kummer
machten, ſie empoͤrten mich eher, aber mich niederſchla¬
gen konnten ſie nicht. Der aͤchten Lebensquelle in mir
war ich verſichert; daß ſie ſtroͤmte, war nicht meine
Willkuͤr, ob meine Gedichte fuͤr ſich ſelbſt vor dem Publi¬
kum beſtehen konnten, oder nur zu dem Gedichte mei¬
[55] nes Lebens gehoͤren ſollten, das mußte ſich eben erwei¬
ſen, und wie ſehr ich das erſtere wuͤnſchen und hoffen
mochte, ſo blieb doch das letztere auch noch ein gutes
Loos. Auch wandten wir Freunde den Sinn von dem
Publikum voͤllig ab, und ſuchten Gewinn und Luſt ein¬
zig im Innern unſres eignen Treibens, welches in ſich
ſelbſt erhoben wurde, und auch von außen Zuwachs
erfuhr.
Chamiſſo machte mich zuvoͤrderſt mit den Poeten des
Almanachs, die mir perſoͤnlich noch fremd waren, be¬
kannt. Ich ſah Hitzig, Robert, und endlich auch The¬
remin, der mir ſogleich als ein hoͤherer Geiſt erſchien,
und mich beſonders durch ſeine ſchoͤne, wohlklingende
und edle Sprache einnahm. Was fuͤr Ideen wir aus¬
tauſchten, mit welchen Kenntniſſen wir einander gegen¬
ſeitig aushalfen, in was fuͤr Anſichten und Urtheilen
wir uns abwechſelnd einigten und ſchieden, welche Ent¬
deckungen uns aufgingen, das ließe ſich fuͤr ſolche, die
nicht Aehnliches erlebt haben, kaum darſtellen. Weil
jeder den Tag uͤber ſeine Geſchaͤfte hatte, ſo verlegten
wir unſre Zuſammenkunft auf den ſpaͤten Abend bis tief
in die Nacht. Dieſe poetiſchen Thee's des gruͤnen Bu¬
ches, wie wir ſie nannten, weil daſſelbe die Grundlage
und die Hauptbeziehung unſres Zuſammenkommens
blieb, nahmen ihren Anfang ſehr einfach bei Hitzig, der
vielen Raum hatte, und durch liebenswuͤrdigen Sinn
und geſelligen Geiſt den anziehendſten Vereinigungspunkt
[56] bildete; und ſo gaben uns dieſe Zuſammenkuͤnfte durch
innige Waͤrme der Freundſchaft und durch geiſtige Er¬
hebung ein reines Gluͤck zu koſten, welches die Nacht
uns von den Sternen herabzurufen ſchien, im Gegen¬
ſatze des Tages, der die Verbundenen wieder in die
mannigfachſten Geſchaͤfte einer Wirklichkeit zerſplitterte,
die ſich auch noch von jenem geheimen Lichte moͤglichſt
erhellen ſollte. Die ſpaͤteren Thee’s, die dann abwech¬
ſelnd auch bei Lippe, Robert und Theremin gehalten
wurden, hatten ſchon die Einfachheit und Unſchuld der
erſten nicht mehr, es draͤngten ſich ſchon mehr Anſpruͤche
und Abſichten herzu. Auch hatte die Geſellſchaft ſchnell
zugenommen. Ein ſinnvoller gutmuͤthiger Stubengenoſſe
und nachheriger Schwager Hitzigs, von Uthmann, und
ein liebenswuͤrdiger Schickſalsgefaͤhrte Chamiſſo’s, Graf
von Lafoye, franzoͤſiſcher Emigrirter und preußiſcher Of¬
fizier wie er, und auch in Kenntniß und Uebung des
Deutſchen ihm nachſtrebend, brachten dem urſpruͤnglichen
Ton und Behagen keine Aenderung. Unruhiger, ver¬
ſchiedenartiger, belebter und zerriſſener wurden die Abende
durch die Einfuͤhrung Koreff’s, eines jungen Arztes aus
Breslau, der ſeine, Studien in Berlin vollendete, und
ſeine univerſelle Genialitaͤt auch in Gedichten, uner¬
ſchoͤpflich aber in jeder Redeweiſe, in erhabenen, humo¬
riſtiſchen und poſſenhaften Ausbruͤchen, an den Tag
legte; mit ihm gleichzeitig wurde auch Georg Reimer
und darauf noch einige andre wirkliche oder angebliche
[57] Poeſiefreunde zu unſern Verſammlungen gezogen, wo
nun die glaͤnzendſte Unterhaltung gepflegt wurde. In
der Folge kehrte mehr Einfachheit und Innigkeit zuruͤck,
die Geſellſchaft war kleiner, Koreff tiefer mit uns be¬
freundet und gefuͤhlvoll-ernſt in ſeinen Mittheilungen;
meiſtens trafen wir bei Chamiſſo auf der Wache zuſam¬
men, wenn er ſie am Brandenburger oder Potsdammer
Thore hatte, und zwiſchen militaͤriſchen Unterbrechungen
hin verwachten wir halbe und ganze Naͤchte in Geſpraͤ¬
chen uͤber Poeſie oder Studien- und Lebensplanen,
deren Ausfuͤhrung uns leider noch ferne lag.
Manches Aufmunternde kam uns waͤhrend dieſer
Zeit noch von andern Orten zu. Zacharias Werner,
Verfaſſer der Soͤhne des Thales, ſandte von Warſchau
eine umſtaͤndliche Rezenſion unſres Almanachs an ſeinen
Freund Hitzig mit einem begeiſterten Brief, er nahm
jeden von uns einzeln vor, urtheilte mit verſchiedenen
Modifikationen von jedem guͤnſtig, und belegte ſein Ur¬
theil durch angefuͤhrte Stellen; dies war ſo ſchmeichel¬
haft, als belehrend, und ſetzte uns in einige Bewegung,
doch blieb die Rezenſion ungedruckt, weil wir den
noͤthigen Betrieb nicht daran wandten. Auguſt Wilhelm
Schlegel hatte ſich, ſo hoͤrten wir, aufmunternd fuͤr
uns geaͤußert, und nahm als unzweifelhaft an, daß wir
Juͤnger der neuen Schule ſeien, ſchon weil uns Merkel
als Dahingehoͤrige geſchimpft hatte. Mit Bernhardi
machten wir Bekanntſchaft, mit Winzer, der als Schrift¬
[58] ſteller Adolph Werden hieß, und damals einen ſtaͤrkern
Schwung nehmen wollte, als er ausfuͤhren konnte.
Auguſt Bode bezeigte von Weimar her ſeine Theilnahme
fuͤr uns. Den groͤßten Werth aber behielt Fichte's Ur¬
theil, und daſſelbe war beſonders mir vortheilhaft, wie
ich bei folgender Gelegenheit erfuhr. Als ich eines
Tages die Treppe zu ihm hinauf ſtieg, hoͤrte ich hinter
mir einen Offizier nach ihm fragen; wir wurden beide
vorgelaſſen, und der Offizier uͤbergab einen Brief aus
Warſchau von Mnioch. Es war ein Freund von Hitzig
und Uthmann, und ſchon laͤngere Zeit von ihnen er¬
wartet. In dieſem rauhen Kriegshelden hatte ſich die
ſchaͤumendſte poetiſche und philoſophiſche Begeiſterung
angeſetzt, und trieb ihre Blaͤschen immerfort, bis zur
groͤßten Berauſchung. Von Mnioch und Werner auf¬
gereizt, kam er nach Berlin, bloß um Fichte und Schle¬
gel zu hoͤren, und nebenher einige wilde Aufſaͤtze drucken
zu laſſen, welche er wie Thaten behandelte, die fuͤr
ihn und die Welt gleiche Wichtigkeit haͤtten. Er hat
nachher im Kriege ſich ſehr brav gehalten, und dieſe
Wirklichkeit ſcheint ihn von ſeinen Phantaſien geheilt zu
haben. Damals aber mußte man ihm ſeinen guten
Willen anrechnen, wie auch Fichte that. Dieſer nun
fragte mich bei Gelegenheit dieſes Beſuchs, ob ich Mnioch
kenne, welches ich verneinte. Aber aus ſeinen Schrif¬
ten wuͤrde ich ihn doch kennen, meinte jener, und als
ich auch dies verneinte, und eine Art Befremden dar¬
[59] uͤber durch die Bemerkung beſeitigen wollte, daß ich
erſt ſeit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der
neueſten Litteratur umzuſehen, wunderte ſich Fichte und
ſetzte unerwartet hinzu: „Wenigſtens geſchafft haben
Sie laͤnger, das ſieht man!“ Ein beſtimmtes Urtheil
uͤber meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten
wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es
liege ſchon in dem vorigen; ſagte aber denn doch, er
halte mich fuͤr den kunſtreichſten der Genoſſen, daß aber,
um Dichter zu ſein, jetzt kleine lyriſche Stuͤcke nicht
ausreichten, ſondern man muͤſſe ein groͤßeres Ganze,
einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬
ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem
erſtern Theil ſeines Spruches aber konnt' ich im Innern
nicht beiſtimmen, als hoͤchſtens in Betreff einiger pro¬
ſodiſchen Fertigkeit; fuͤr das Weſentliche der Poeſie ſetzt'
ich Chamiſſo groͤßtentheils und Theremin unbedingt
uͤber mich.
Da Auguſt Wilhelm Schlegel zum Winter aͤſthetiſche
Vorleſungen ankuͤndigte, ſo ließen wir uns dieſe gute
Gelegenheit nicht entgehen. Seine Ueberſicht der deut¬
ſchen Dichtkunſt in ihrer geſchichtlichen Entwicklung, und
die Beiſpiele, die er aus fruͤheren Zeiten reichlich mit¬
theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wuſt
von einzelnen Kenntniſſen und Anſichten, die ich nach
Zufall aufgehaͤuft, kam mehr Ordnung und Zuſammen¬
hang, ich lernte auch fuͤr mein eignes Dichten feſtere
[60] Bahn betreten, und was zu vermeiden und zu erſtre¬
ben ſei, wurde mir klarer. Uebrigens muß ich geſtehen,
daß Schlegel uns ſchon damals ſchien, mehr Talent als
Geiſt zu haben, und wenn ihm auch Neumann und ich
noch großes Zutrauen widmeten, ſo wollte er doch den
Andern wenig mehr genuͤgen, und ſie ſprachen gering¬
ſchaͤtzig von ihm, welches ich ihnen als Uebermuth an¬
rechnete. Eine ſtarke Stuͤtze gab ihnen freilich das Ur¬
theil Fichte’s, der einmal unumwunden erklaͤrte, Tiefe
fehle dem aͤltern Bruder und Klarheit dem juͤngern, ge¬
meinſam ſei ihnen beiden aber der Haß, welchen ſie
allerdings gegen das Gemeine haͤtten, und die Eiferſucht,
die ſie gegen das Hoͤhere empfinden, welches ſie ſelbſt
doch weder zu ſein noch zu laͤugnen vermoͤchten, und
daher aus Verzweiflung uͤbermaͤßig lobten, ſo ihn ſelbſt
und Goethe’n. Unwillkommen ſchloſſen ſolche Aeußerun¬
gen mir das zerruͤttete Innere von litterariſchen Zuſtaͤn¬
den und Verhaͤltniſſen auf, die ich fuͤr die reinſten und
eintraͤchtigſten gehalten hatte. Allein mir ſchien, daß
auch der Eigenheit Fichte’s etwas nachzuſehen ſei, und
ich wollte daher die Sachen nicht ſo ganz ſchlimm glau¬
ben, als er ſie ausſprach, und am wenigſten konnt’ ich
den andern zugeſtehen, ihrerſeits ſo zu richten und zu
verdammen, wie dies etwa Fichte thun durfte, weil er
eben Fichte war.
Einen luſtigen Abend brachte uns die Auffuͤhrung
von Roberts Ueberbildeten nach Moliere’s Précieuses
[61] ridicules, die er ſehr artig bearbeitet und den neueſten
Thorheiten angepaßt hatte. Wir waren ſaͤmmtlich im
Theater, und obwohl die Ausfaͤlle auf die neue Schule und
beſonders das Laͤcherlichmachen der Sonettform und der
Aſſonanzen im Alarcos uns zum Theil nicht behagten,
ſo dachten wir doch ſchon partheiiſch genug, um daruͤber
hinzuſehen und durch vereintes Klatſchen ſowohl das
Einzelne wie das Ganze gegen Wind und Wetter durch¬
zubringen. Nach geendigtem Schauſpiel gingen wir zum
Italiaͤner, ließen Punſch und ſuͤße Weine geben, und
berauſchten uns mehr noch als in dieſen in unſern eige¬
nen Reden, Stegreifgedichten und theatraliſchen Auf¬
tritten. Ich zog im erhitzten Taumel Chamiſſo’s Degen,
und als man mich entwaffnen wollte, wurde Lafoye an
der Hand geritzt, gluͤcklicherweiſe nicht bedeutend, auch
ging der Abend ungeſtoͤrt fort, bis tief in die Nacht,
wovon mir weiter keine Erinnerung blieb, und ein paar
wuͤſte Tage die ſtrafende Folge waren.
Der Winter war unter ſolchen Freuden und Fahr¬
ten verſtrichen und ein neuer Fruͤhling angebrochen.
Unſrer Dichtergenoſſenſchaft aber drohte, nachdem ſie
kaum ſich recht einzuleben angefangen, leider auch ſchon
ein nahes Auseinandergehen. Hitzig wurde durch ſeine
juriſtiſche Laufbahn von Berlin nach Warſchau entfuͤhrt,
Theremin ſollte in Genf ſeine geiſtlichen Weihen empfan¬
gen, Koreff wollte nach Halle zuruͤckkehren um zu pro¬
moviren, Lafoye erhielt die Nachricht von dem Todesfall
[62] ſeines Vaters, und ſeine Mutter berief ihn dringend
nach Caen, wo er fortan ihr zum Troſt immer verblei¬
ben ſollte. In dieſer Zeit grade ſchloſſen ſich aufs
innigſte unſre Herzen aneinander, unſre Empfindungen,
Vorſaͤtze und Geiſtesrichtungen entfalteten und erhoben
ſich auf den Schwingen der gluͤhendſten Vereinbarung,
unſer Vertrauen kannte keinen Ruͤckhalt, alles Aeußere
lag zwiſchen uns wie vernichtet. Als Haupt und Mei¬
ſter unſres Bundes ſtand jetzt entſchieden Koreff da,
welcher an Kenntniſſen und Geiſtesregſamkeit uns Alle
uͤbertraf, und durch ſein tiefergriffenes Gemuͤth, in wel¬
chem eine hoffnungsvolle Leidenſchaft mehr und mehr
aufwogte, und ihn weicher und lyriſcher ſtimmte, wie
durch ſeine verſchwenderiſche Phantaſie uns hinriß und
feſſelte. Was wir noch zu lernen hatten, war ihm
laͤngſt erworben, er gab uns Anleitung und Rath, ſelbſt
den erſten Unterricht, zum Beiſpiel im Griechiſchen,
wollte er beſtreiten. Seine Liebe und ſein Willen fuͤr
uns zeigten ſich graͤnzenlos. Beſonders mir galt ſeine
Zuneigung und Aufmunterung. Er tadelte mich heftig,
daß ich der Medizin entſagen wolle, er pries die goͤtt¬
liche Heilkunſt als den erhabenſten Beruf, er ſtellte ſie
in das hellſte poetiſche Licht, und verſetzte ſie aus dem
duͤrftigen Boden, auf welchem ich ſie nur kannte, in
Mitte alles Ideenreichthums der Naturphiloſophie, die
mir durch ihn zuerſt aufging, als auf ihr wahres Ge¬
biet, wo ſie als Koͤnigin ſchalte. Mit der Poeſie ließ
[63] er die Medizin Hand in Hand gehen, ein Sonett und
ein Rezept waren in ſeiner Darſtellung nur verſchiedene
Ausfluͤſſe derſelben Goͤttlichkeit. Genug, es war ihm
ausgemacht, daß ich den Homer und Platon griechiſch
leſen, aber daneben Schelling und Reil ſtudiren, und
zugleich eigne Dichtungen hervorbringen muͤſſe. Seine
Vorſtellungen waren lebhaft, eindringlich, bezaubernd,
ſein eignes Beiſpiel wirkte verfuͤhreriſch, denn ſelten mag
ſich in einem Menſchen ein ſolch angeborner Sinn und
Geiſt fuͤr die Heilkunſt mit ſo zuſtimmend entwickelter
allgemeinen Bildung vereinigen, wie in Koreff der Fall
war, der auch als Student ſchon nach allen Weltſeiten
hin ein gemachter Mann war, und als Arzt vielfach in
Anſpruch genommen wurde. —
Im Fruͤhjahr 1804 ſah Berlin bedeutende littera¬
riſche Gaͤſte. Schillers Anweſenheit erregte große Be¬
wegung; nicht nur in allen Geſellſchaftskreiſen bemuͤhte
man ſich um ihn, auch im Theater und auf der Straße
vor ſeiner Wohnung ſchallte ihm der Jubel entgegen.
Leider hab' ich ihn nicht geſehen, ich war grade ver¬
ſtimmt, und mochte die Gelegenheit, die ich beſonders
bei Fichte ſehr gut finden konnte, nicht aufſuchen. Ebenſo
entging mir Frau von Staël, von der allgemein ge¬
ſprochen wurde, und die uns ſchneller, als ihre Abſicht
war, wieder entſchwand, weil ſie die Nachricht von der
lebensgefaͤhrlichen Krankheit ihres Vaters empfangen
hatte. Sie entfuͤhrte Schlegel'n mit ſich nach der
[64] Schweiz, was wir nicht umhin konnten ihr zur Ehre
zu rechnen, obgleich wir es ihm verdachten. Ungefaͤhr
in dieſer Zeit kam auch Johann von Muͤller von Wien,
um in Berlin eine hoͤchſt liberale Anſtellung zu genie¬
ßen, und der Geſchichtſchreiber Friedrich des Großen zu
werden. Auch dieſe Erſcheinung machte Aufſehen, und
der Name klang uns bedeutungsvoll entgegen, wenn
auch wenigſtens mir der Mann ſelbſt damals noch nicht
bekannt wurde. Noch ehe der Sommer kam, und be¬
vor die Freunde ſich dahin und dorthin nach ihrem Be¬
rufe zerſtreut hatten, ſchien auch fuͤr mich die Nothwen¬
digkeit eines Entſchluſſes zur Aenderung meiner Lage
ſich dringender aufzuſtellen. Mir waren neue Lockungen,
Entwuͤrfe und Ausſichten zum Studiren geworden, dann
mußte ich mein bisheriges Verhaͤltniß als voͤllig unter¬
hoͤhlt erkennen, ich konnte meiner Arbeit auf dieſem
Boden taͤglich weniger Frucht und Gedeihen verſprechen,
auch ſeine Lebensbluͤthen fuͤr mich waren abgebluͤht.
Nach einigen Rathſchlaͤgen und Ueberlegen ſchied
ich aus dem Hauſe, nicht ohne den innigſten Schmerz;
denn die theuerſten Erinnerungen und die treuſte An¬
haͤnglichkeit hielten mich ihm auf immer verknuͤpft. Ich
zog zu Chamiſſo, der mir gaſtliche Zuflucht angeboten
hatte. In dieſer Zeit machte ich mit dem Grafen Caſa-
Valencia naͤhere Bekanntſchaft. Wir laſen zuſammen
deutſche und ſpaniſche Gedichte, ich erklaͤrte ihm jene,
er mir dieſe. Er ſelbſt war ein gluͤcklicher Dichter,
[65] und oft ſchrieb er in meiner Gegenwart improviſirend
artige Verſe hin, oder uͤberſetzte die eben geleſenen
deutſchen in ſpaniſche, die Spinnerin von Goethe, und
ein Lied von mir, waren ihm in Aſſonanzen, die ich
noch bewahre, beſonders wohlgelungen. Zwei Baͤndchen
ſeiner handſchriftlichen Gedichte, die er als Offizier im
Felde mitfuͤhrte, hatte er durch einen Ueberfall in den
Pyrenaͤen eingebuͤßt, aber da die Quelle ſeiner Lieder
ihm nach Wunſch immer ſtroͤmte, ſo bekuͤmmerte jener
Verluſt ihn wenig. Die ſpaniſche Litteratur kannte er
gut, und als gruͤndlicher Sprachkenner wurde er dem
Profeſſor Ideler bei ſeiner in Berlin erſchienenen vor¬
trefflichen Ausgabe des Don Quijote ſehr behuͤlflich.
Er ſprach mir auch von Rahel Levin, die er oft ſah,
und deren Witz und Art ihn lebhaft anregte; er konnte
ihr Weſen nicht ganz begreifen, bewunderte aber deſſen
Eigenheiten, indem er zugleich verſuchte, wiefern ſich
ihnen widerſprechen ließe. Meinen eifrigen Wunſch,
dort eingefuͤhrt zu werden, wollte er erfuͤllen, wir
kamen aber zu ſchnell auseinander. Er wurde nach
einiger Zeit vom Geſchaͤftstraͤger, welches er damals
war, zum Geſandten befoͤrdert, und verließ Berlin
noch vor dem Jahre 1806. In der ſpaniſchen Revo¬
lution nahm er, gleich den meiſten ſpaniſchen Diplo¬
maten, mehr gezwungen als willig, Parthei fuͤr Joſeph
Bonaparte, gerieth ſpaͤter in’s Gedraͤnge und zog ſich
nach Amerika, wo er das Ungluͤck hatte, in einer Volks¬
II. 5[66] bewegung zu Mejico das Opfer des Haſſes zu werden,
der ihn als Vornehmen und als Altſpanier treffen
mußte.
Die freie Zeit benutzt’ ich nach Herzensluſt. Wir
ſahen auch den von Brockes und Lippe empfohlenen
Heinrich von Kleiſt, einen liebenswuͤrdigen belebten
jungen Mann, der ſich uns freundſchaftlich anſchloß,
aber ſorgfaͤltig noch verhehlte, daß er ſchon als Dichter
aufgetreten und Verfaſſer des Trauerſpiels „Die Familie
Schroffenſtein“ ſei, und uͤberhaupt den Genius und
die Kraft noch nicht verrieth, durch die er ſich nachher
beruͤhmt gemacht, er gab ſich nur als einen antheil¬
vollen Strebenden, und ſchrieb mir in ſolchem Sinne
in mein Stammbuch: „Juͤnglinge lieben in einander
das Hoͤchſte der Menſchheit, denn ſie lieben in ſich die
ganze Ausbildung ihrer Naturen ſchon, um zwei oder
drei gluͤcklicher Anlagen willen, die ſich eben entfernen.
Wir aber wollen einander gut bleiben. Heinrich Kleiſt.“
Eine ſtaͤrkere Bewegung verurſachte Julius Klaproth
unter uns, der von Halle ankam, und Briefe, Empfeh¬
lungen und Gedichte von Koreff an uns mitbrachte.
Ein gemachter Gelehrter, der in ſeinem Fache, der
chineſiſchen Sprachkunde, fuͤr einen Adler galt, oder
zum wenigſten gelten wollte, der ganz friſch von
Weimar, Jena und Halle kam, uͤberdies von Koreff
uns geſendet war, und ſich unſren jungen, unreifen
Sachen mit nachſichtsvoller Gleichſtellung anſchloß,
[67] mußte uns von außerordentlichſtem Reize ſein. Fuͤr
ſeine orientaliſchen Studien und einige Poeſieen der
neuen Schule bezeigte er vollen Ernſt und große Ach¬
tung, alle andere Gegenſtaͤnde behandelte er mit Scherz
und Uebermuth. Poeſieen deklamirte er in Fuͤlle, und
meiſt ging er aus dem urſpruͤnglichen Text in paro¬
direnden Humor und in die tollſten Stegreiffratzen uͤber.
Wir gingen viel mit ihm, und brachten Tage und
Naͤchte mit einander zu, im Thiergarten, beim Ita¬
liaͤner, bei ihm, bei uns, oft bei ganz geringer, zu¬
weilen bei uͤppiger Bewirthung. Er ſchien darauf aus¬
zugehen, alle Leute und Verhaͤltniſſe zu verhoͤhnen,
und leiſtete darin alles, was geuͤbter Witz, muthwillige
Ausgelaſſenheit und freche Dreiſtigkeit vermoͤgen. Aus
kleinen Unfaͤllen machte er ſich nichts, gegen manche
ſchuͤtzte ihn das Anſehn des beruͤhmten und geachteten
Vaters, bei welchem er auch wohnte, andern wich er
zu rechter Zeit durch Davonreiſen aus. Wir erlebten
tauſend Spaß mit ihm, und ließen uns um deswillen
auch manche Verlegenheit oder uͤble Nachrede gefallen,
beſonders hielt ſich Neumann zu ihm, und war faſt
ſein beſtaͤndiger Begleiter. Wir waren indeß ſo leicht
nicht abzufinden, und auch eine ernſte und fruchtbare
Seite mußte das Verhaͤltniß uns gewaͤhren; Klaproth
konnte nicht umhin, uns mit der Lage und dem Inhalt
ſeiner naͤheren Studien bekannt zu machen, und dies
blieb nicht im Allgemeinen ſtehen, ſondern bildete ſich
5 *[68] auch im Beſondern zu foͤrmlichen Unterrichtsſtunden im
Perſiſchen aus, das er uns als leicht und gewinnreich
anruͤhmte, und Chamiſſo draͤngte ihn ſogar zu den An¬
fangsgruͤnden des Chineſiſchen. So wenig dieſe Studien
eigentlichen Grund bei uns hatten und ſo bald ſie auch
abbrachen, lieferten ſie den Gewinn, fuͤr alle Folgezeit
immer auf's neue ſchaͤtzbar, dieſe eigenthuͤmliche Welt
einmal aus einem ihr ſelbſt angehoͤrigen, mit ihren
eignen Mitteln errichteten Standpunkt auch nur von
der Graͤnze naͤher angeſehen zu haben. Klaproth war
auf dieſem Gebiete, wenn auch nicht ganz gruͤndlich
und zuverlaͤſſig, doch noch am meiſten feſt und ſicher,
in jeder andern Richtung durfte man ihm keinen Augen¬
blick trauen, er trieb mit Kenntniſſen wie mit Ver¬
ſprechungen Scherz, und ſeine lebhaften Thorheiten
gingen ohne viel Bedenken auch in ſchlimme Wirklich¬
keit uͤber. Wenn er einen mahnenden Glaͤubiger in
unſrer Gegenwart wegkomplimentirte, und dem Ver¬
troͤſteten, den kaum die Thuͤre entlaſſen hatte, feierlich
den Homeriſchen Vers anwandte:
„Jener hofft's! doch mit nichten gewaͤhrt ihm dieſes Kronion!“
oder wenn er die Akademie der Wiſſenſchaften, in
deren Verſammlungsſaal er bei Gelegenheit, daß Hand¬
werker darin zu thun hatten, als muͤßiger Herum¬
ſtoͤrer einen Augenblick mit hereingedrungen war, da¬
durch verhoͤhnte, daß er einen alten Degen an Bind¬
[69] faden von der Decke des Zimmers auf den gruͤnen
Tiſch herunterſchweben ließ, und auf dieſen dazu die
Verſe aus Horaz mit dicker Kreide ſchrieb:
Destrictus ensis cui super impia
Cervice pendet ...
ſo war dies allerdings nur poſſenhaft, und im Noth¬
fall bezahlte der Vater die Schulden, wußte auch den
Zorn ſeiner akademiſchen Mitbuͤrger zu beſaͤnftigen.
Aber es gab auch andre Faͤlle, wo die Tuͤcke wirklichen
Schaden anrichtete, oder gar ernſtliche Strafe zur Folge
haben konnte. —
Hamburg, 1804 – 1806.
Als willkommene Erſcheinung kam aus Berlin der
verſpaͤtete aber noch endlich dem Drucke fertig entwun¬
dene zweite Jahrgang des Muſenalmanachs zu. Die
Beitraͤge der fruͤhern Theilnehmer bezeugten ohne Zweifel
manchen Fortſchritt, das Steigen unſers poetiſchen Ver¬
eins aber that ſich bedeutend in den neuen Theilneh¬
mern dar. Koreff, Karl von Raumer, Auguſta Klap¬
roth und Wolfart waren hinzugekommen, Theremin
hatte ſeinen Namen genannt, unſern Stolz und Ruhm
aber kroͤnte, daß Fichte ſelber mit vier Gedichten in
unſrer Reihe ſtand. Der Almanach war diesmal in
ordentlichen Verlag gegeben, es fehlte nicht an den
Huͤlfsmitteln der Verbreitung, auch kam er in den
[70] Tagesblaͤttern genug zur Sprache, aber im Buchhandel
konnte er, gleich dem vorigen, zu keinem Leben ge¬
langen. Seine Wirkung war dennoch in einem weiten
Kreiſe nicht unbedeutend, und mehrte bei ſolchen Poe¬
tiſchgeſinnten, welche dem neuern Weſen ihren Sinn
oder ihr Herz eroͤffnet hatten, unſer Anſehn und unſre
Verhaͤltniſſe. —
Einige Bekanntſchaften von hoͤherer Anregung hatten
inzwiſchen auch in meinem naͤchſten [Bereiche] ſich auf¬
gethan, und es kamen die poetiſchen und uͤberhaupt die
litterariſchen Intereſſen bei Gelegenheit des gruͤnen
Buͤchleins nur um ſo lebhafter zur Sprache. Am
eifrigſten und hingegebenſten zeigte ſich Heinrich Julius,
der nach einer in Berlin bei Feßler uͤberſtandenen Er¬
ziehung nun im vaͤterlichen Hauſe bequem ſeine Kennt¬
niſſe erweiterte, bis er zu ſeiner Zeit irgend einen
Lebensentſchluß faſſen wuͤrde. Er ſtudirte ſpaͤter in
Heidelberg Medizin und hat ſich in der Folge durch
ſeine verdienſtlichen Arbeiten zur Verbeſſerung der Straf¬
anſtalten und Gefaͤngniſſe bekannt gemacht. —
Der bedeutendſte Mann, welchen ich in dieſer Zeit
ſah, war ohne Zweifel Doctor Veit, ein aus Breslau
gebuͤrtiger, in Hamburg anſaͤſſiger Arzt. Zwar verhielt
er ſich zu meinen mediziniſchen Vorſtellungen noch pro¬
blematiſch; allein er hatte ſtrengwiſſenſchaftlichen Grund
und Geiſt, und ſein tiefer, gebildeter Verſtand fuͤhrte
ihn ſicher und feſt auch in Gebieten, die nicht gerade
[71] die ſeinigen waren. Ein Aufſatz von ihm uͤber Pascal,
auch manche muͤndliche Eroͤrterungen, gaben mir einen
hohen Begriff von ſeiner Einſicht, desgleichen mußte
ich in ihm den Arzt dankbar verehren; gleichwohl ermaß
ich ſeinen vollen Werth damals nicht, woran zum Theil
ſeine ſcherzhafte und etwas mephiſtopheliſche Manier
Schuld war, die ihn als Hausarzt am wenigſten kleidete,
und ihm auch oft genug voͤllig verungluͤckte. Daß ich
in ihm einen Jugendfreund Rahel’s zu ſchaͤtzen, und
ſeine gehaltreichen, mit ihr gewechſelten Briefe einſt
kennen lernen wuͤrde, lag in jener Zeit ungeahnet ver¬
borgen.
Ein helleres Licht ſtrahlte mir auf, als Friedrich
Heinrich Jacobi im Februar 1805 zum Beſuch von
Eutin nach Hamburg kam. Er ſtand im Begriff Hol¬
ſtein zu verlaſſen und ſich nach Muͤnchen zu begeben,
wohin er als Mitglied der Akademie der Wiſſenſchaften
mit anſehnlicher Beſoldung berufen war. Wollte ich
den beruͤhmten Landsmann noch ſehen, der, ſchon ein
Dreiundſechziger, aus dem noͤrdlichen Deutſchland ſich
fuͤr immer entfernte, ſo durfte ich dieſe Gelegenheit
nicht verſaͤumen. Mehr aber, als der Landsmann,
reizte mich in ihm der mit Fichte in Verkehr ſtehende,
der von Fichte im Leben Nicolai’s hoch anerkannte
Geiſtgenoſſe, der Freund von Goethe, von Voß, von
Jean Paul Richter und ſo vielen Andern. Ich faßte
mir ein Herz und ging zu ihm. Mit ungemeiner Lie¬
[72] benswuͤrdigkeit nahm er mich auf, er hatte meinen
Vater kaum, aber noch ſehr wohl meinen Großvater
gekannt; meine Beziehung zu Fichte und mein Eifer
fuͤr die neuere Poeſie regten ſein beſonderes Intereſſe
und ich darf ſagen ſeine lebhafte Neugier auf, denn es
war das erſtemal, daß ihm ein Juͤnger aus jenem
Kreiſe perſoͤnlich vor Augen ſtand, und dieſes lebendige
Beiſpiel gab ihm einen offnen Blick in dieſe Zuſtaͤnde
und Geſinnungen, von denen ſo viel Abentheuerliches
im Schwange ging, und in ſein eignes Verhaͤltniß zu
denſelben, wie er denn kaum erwartet hatte, dort noch
ſo gut zu ſtehen und ſo gerechnet zu werden, wie er
an mir es erkennen mußte. Er fuͤhrte mich zu ſeinen
beiden Schweſtern, in welchen mich die niederrheiniſche
Natur ſtaͤrker anſprach, als in ihm, der in allgemeiner
geiſtigen Bildung das Oertliche oder Provinzielle mehr
uͤberwunden hatte. Da er bei Sievekings im Hauſe
wohnte, wurde ich ſeinetwegen daſelbſt eingeladen, wo
ich mich in einer großen gemiſchten Geſellſchaft von
Herren und Damen fand, aber nicht ahnete, daß ich
es war, auf den dieſe Verſammlung ihr Augenmerk
vorzuͤglich richtete. Denn Jacobi hatte das Wunder
erzaͤhlt, daß er unvermuthet einen Landsmann gefunden,
der noch nicht lange von Berlin gekommen, und ein
eifriger Schlegelianer ſei, und nun hatten es die Andern
recht darauf angelegt, mich auf die Probe zu ſtellen.
Jacobi redete mich uͤber Tiſch bei allgemeiner Stille
[73] mehrmals ſehr liebreich an, und gab mir Anlaß man¬
cherlei Urtheile zu aͤußern, weitere Geſpraͤche verknuͤpften
ſich damit, und wiewohl alles in beſter Geſtalt und
ohne eigentliches Gefecht ablief, ſo hatte das Ganze
doch etwas von kriegeriſcher Demonſtration, bei welcher
man die Truppen, die ſich ſchlagen koͤnnten, wenigſtens
hin und her ruͤcken laͤßt. Mir fiel aber gar nichts bei
der Sache auf, und mir ahnete nichts von der ge¬
faͤhrlichen Rolle, in die man mich geſtellt hatte. Ich
war, freimuͤthig wie immer, und beſcheiden aus wahrer
Achtung. Erſt viele Jahre nachher ſagte mir Perthes,
der auch zugegen und im Geheimniß geweſen, daß man
mich habe auf's Korn nehmen und zum Uebermuth ver¬
leiten wollen, da man denn nachher um ſo leichter
mich wuͤrde in Verwirrung und in mir die Schlegel’ſche
Schule zu einer Niederlage gebracht haben. Aber
Perthes meinte, ich habe mich damals vortrefflich aus
der Sache gezogen, mit ſolcher ſchicklichen Haltung und
gemeſſenen Gewandtheit, daß man mir nichts anhaben
gekonnt, ſondern mit Verwunderung mich habe gelten
laſſen. Er fuͤgte hinzu, ich haͤtte ſchon damals meinen
Beruf zum Diplomatiker voͤllig bewaͤhrt. Wenn ich
dieſes Lob einmal annehmen ſoll, ſo traͤgt lediglich
meine Unbefangenheit davon die Ehre, denn ich kann
betheuern, daß ich weder Abſicht merkte noch hatte,
und dieſe Wirkung einer Eigenſchaft, an deren Statt
man meiſtentheils lieber Klugheit vorausſetzen will, habe
[74] ich noch oft zu meinem großen Vortheil, aber auch
nicht ſelten zu meiner gaͤnzlichen Verkennung, erfahren
muͤſſen.
Bei wiederholten Einladungen und vertraulichern
Geſpraͤchen konnte ich Jacobi'n meine ganze Lage um¬
ſtaͤndlich aufdecken. Er bewieß mir vaͤterliches Wohl¬
wollen, verſprach in Muͤnchen, wo ſich ihm ſo mannig¬
facher Einfluß eroͤffne, an mich zu denken, und hielt
nicht fuͤr unmoͤglich, daß ich als geborner Pfalzbaier
von der dortigen Regierung beruͤckſichtigt wuͤrde. Vor
allen Dingen ermahnte er mich zum Fleiß, zum immer¬
waͤhrenden, beharrlichen Fleiß, um, nach Seneca's
Spruch, mit der Eile der Zeit durch die Schnelligkeit
ihrer Benutzung zu wetteifern. An meinem Verlangen
zum Griechiſchen nahm er um ſo erregtern Antheil, als
er ſich in gleichem Falle mit mir befand, und den
Mangel ausreichender Kenntniß dieſer in neuere Bildung
ſtets gewaltiger eingreifenden Sprache mit jedem Jahre
ſchmerzlicher empfunden und nie erſetzt hatte. Mein
Bemuͤhen fand ſeinen ganzen Beifall, aber es duͤnkte
ihn zu hart und ſchwer, ohne fremde Huͤlfe durch die
Anfangsgruͤnde ſich durchzuringen, er machte mich mit
dem Profeſſor am Gymnaſium und Direktor der Jo¬
hannisſchule, dem erſt kuͤrzlich von Kloſter-Bergen hier¬
her verſetzten Doctor Gurlitt bekannt, und hoffte, es
werde ſich mit dem trefflichen gelehrten Mann ein Unter¬
richt irgendwie verabreden laſſen. Bald nachher reiſ'te
[75] Jacobi nach Muͤnchen ab, und ich habe ihn nicht wieder¬
geſehen, noch mit ihm eine weitre Verbindung gehabt.
Der edle Eindruck aber ſeiner ſchoͤnen hohen Geſtalt,
der geiſtreichmilden Geſichtszuͤge, der eindringlich ange¬
nehmen Rede und der wuͤrdigen und feinen Weltbildung,
kann mir niemals erloͤſchen. In ſeiner Erſcheinung
war die Vornehmheit eines Weiſen und eines Staats¬
mannes vereinigt, wobei doch ſein Gemuͤth einige Reizung
verrieth, die auf einen, weder dem Geiſte noch der Lei¬
denſchaft nach, voͤllig beruhigten Zuſtand deutete, wel¬
chen er gleichwohl in ſich zu haben und nach außen
darzuſtellen nicht aufgeben konnte. Sein perſoͤnlicher Um¬
gang aber war ſo anmuthig und gewinnend, daß auch
entſchiedene Gegner, wie Tieck und Schleiermacher, ihren
fruͤheren litterariſchen Urtheilen zum Trotz, bei perſoͤn¬
lichem Beſuch in Muͤnchen als ſeine innigen Verehrer
von ihm geſchieden ſind. Neumann kam gegen Ende
des Maͤrz nach Hamburg. Mit welchem Entzuͤcken nahm
ich ihn auf, welch erhoͤhtes Leben brachte mir ſeine
Gegenwart! Jetzt war ich wieder in unmittelbarem
Zuſammenhange mit allem, was ich in Berlin gewonnen
hatte, und alles, was mich in Hamburg umgab, wurde
mir freundlicher. Auch er ſchien unſer Zuſammenſein
als ein Gluͤck zu empfinden, und vermehrte dadurch das
meinige. Er fand mich uͤbrigens in dem angedeuteten
Zuge des Griechiſchlernens, und ſaͤumte nicht ſich an¬
zuſchließen, ich fuͤhrte ihn zu Gurlitt, der einen zweiten
[76] Schuͤler dieſer Art mit freudiger Verwundrung aufnahm,
und ihm denſelben Gang, wie fruͤher mir, anwies. —
Gegen Ende des Mai hatten wir eine Gelegenheit
unſre Faſſung und Standhaftigkeit bei einer harten An¬
fechtung darzuthun. Die bisherigen unguͤnſtigen Rezen¬
ſionen unſrer Almanache hatten uns mehr oder minder
verdroſſen, aber nicht kraͤnken duͤrfen, da ſie von keinem
Orte herkamen, den wir anerkannten, ſondern im Gegen¬
theil meiſt von ſolchen, denen wir zuerſt uns als Feinde
gezeigt. Wir troͤſteten uns mit unſrem eignen Bewußt¬
ſein und mit der ausgeſprochenen oder vorausgeſetzten
Zuſtimmung der Haͤupter, welchen wir als erwaͤhlten
Fuͤhrern angehoͤren wollten. Die neue jenaiſche Litte¬
raturzeitung, das Blatt, bei welchem Goethe an der
Spitze ſtand, Auguſt Wilhelm Schlegel, Bernhard, und
ſogar Werner mitwirkten, und welches uͤbehaupt als
das Organ des raſchen geiſtreichen Fortſchreitens galt,
hatte bisher uͤber uns geſchwiegen, wir dachten, wenn
daſſelbe nur erſt von uns ſpraͤche, ſo wuͤrde damit unſre
litterariſche Empfehlung vollendet ſein. Jetzt brachte
die jenaiſche Zeitung uns ihren Spruch, aber wie ſollten
wir uͤberraſcht werden! Nicht mit Einer Rezenſion,
wie gewoͤhnlich, ſondern ausnahmsweiſe gleich mit
zweien, einer kuͤrzern und einer ausfuͤhrlichern, durch
zwei verſchiedene, in aͤtzender Schaͤrfe wetteifernde Re¬
zenſenten, wurden wir abgefertigt, fuͤr flache, talentloſe
Nachahmer der Schlegel erklaͤrt, als abſchreckende Bei¬
[77] ſpiele der traurigſten Verirrung aufgeſtellt, gaͤnzlich ver¬
worfen, und zuletzt noch durch ein Spottſonett grimmig
verhoͤhnt! Das war mehr, als wir verdient hatten;
in manchen Beſchuldigungen war die Ungerechtigkeit
offenbar, der Tadel auf aͤußern Schein begruͤndet, z. B.
die Bezeichnung einiger Gedichte in unſrem Almanache
durch Sternchen wurde fuͤr eine ſchlechte Nachaͤfferei des
Schlegel-Tieck’ſchen Muſenalmanachs ausgegeben, wo
auch ſolche Sternchen vorkaͤmen, wobei der Rezenſent
freilich nicht ahndete, daß jene wie dieſe grade ein- und
dieſelbe Perſon verdeckten, naͤmlich Fichte’n. Ich hielt
die Litteraturzeitung ſelbſt, und bekam die Blaͤtter ganz
friſch von der Poſt. In ſolcher Lage befindet man ſich
wohl ſelten, wir ſahen einander an, zergliederten das
Geſagte, und jemehr wir Stoff darin zum Widerſpruche
fanden, um deſto ſchlimmer ſtellte ſich die Thatſache,
daß wir gerade von dorther ſo arg mißhandelt waren.
Unter den entfernten Freunden richtete dieſe geplatzte
Bombe nicht geringe Verwuͤſtung an, der Eine war
hoͤchſt unwillig, der Andre konnnte nach Jahren noch
ſeine ſchmerzliche Empfindlichkeit nicht verlaͤugnen, Ro¬
bert verſchwor in ſeiner Unluſt alles fernere Drucken¬
laſſen. Was mich uͤber die Mißempfindung ſchneller
hinweg hob, war der Eindruck, welchen die Sache nach
außen machen wollte. Ein Uebelwollender hatte ſich die
einzelnen Blaͤtter am Tage ihrer Ankunft verſchafft, und
ſie in unſrem Hauſe anonym abgegeben. Man verſtand
[78] ſoviel, daß uns darin ſehr weh gethan ſei, wollte mit
zarter Schonung alles in Stillſchweigen voruͤbergehen
laſſen, und war voll aͤngſtlicher Sorge, bis ich ſelbſt
von der uns zu Theil gewordenen Geißelung zu reden
anfing, und ich nun auch jene Bosheit und dieſes Mit¬
leid erfuhr. Das aber ſetzte mich gleich in geruͤſtete
Verfaſſung, ich konnte jenen uͤblen Willen verachten,
und bedurfte dieſer bedauernden Schonung nicht; mit
Heiterkeit bot ich den forſchenden Blicken und lispeln¬
den Gereden den uͤberlegenſten Trotz, und mir war
wirklich ſo zu Muth, daß ich mich uͤber das ganze
Ereigniß ernſthaft und ſcherzend weit hinausſetzen konnte.
Veit, der vielleicht mit etwas Schadenfreude mich ge¬
beugt zu ſehen erwartet hatte, und mich ſo guter Dinge
fand, urtheilte gleich geringer von dem, was ſo wenig
erſchuͤttert hatte, und Reinhold lachte nur mit uns uͤber
die uns widerfahrne Ehre. Denn auffallend zeigte ſich
von den boͤſen Rezenſionen durch Ruͤckſchlag ſogar eine
guͤnſtige Wirkung, wo wir ſie am wenigſten erwartet
hatten. Richtung und Gang der neuen jenaiſchen Zei¬
tung waren keineswegs allgemein gebilligt, geheim und
oͤffentlich ſtanden dem neuen Geiſte viele durch Gelehr¬
ſamkeit und Wuͤrden achtbare Maͤnner entgegen, und
weit entfernt, daß wir z. B. bei Gurlitt durch den
Tadel von Jena her verloren haͤtten, ſtiegen wir da¬
durch bei ihn, und der alte wackre Ebeling meinte, daß
[79] wir zu gut waͤren, um der neuen Schule anzugehoͤren,
und uns derſelben nun voͤllig entſchlagen ſollten.
Aber ganz und gar nicht war das unſre Meinung.
Ein Brief von Friedrich Schlegel aus Koͤln erfriſchte
und beſtaͤrkte in dieſer noch mehr das Vertrauen, wel¬
ches uns nach dieſer Seite zog. In einem Hefte der
Europa hatte Schlegel die litterariſche Anfrage ergehen
laſſen, ob und wo die deutſche Ueberſetzung, welche
Adam Olearius, wie die Vorrede zu Meninsky's Lexikon
erwaͤhne, von dem Guliſtan und Boſtan des Dichters
Saadi aus Perſien mitgebracht habe, vielleicht hand¬
ſchriftlich noch vorhanden ſei? Der Zufall aber hatte
mich dieſe Ueberſetzung gedruckt auffinden laſſen, und
ich nicht verſaͤumt dies zu melden, indem ich zugleich
unſren Almanach uͤberſandte und von unſren Beſtre¬
bungen umſtaͤndlichen Bericht gab. Hierauf nun ant¬
wortete Schlegel ſehr freundlich und wohlmeinend, billigte
unſre Studien, weniger unſre Poeſie, indem er, wie
ſchon fruͤher Fichte, ſtatt kleiner lyriſchen Stuͤcke, bei
welchen noch uͤberdies die Gefahr walte, daß ſie nach
und nach bloß Wiederholungen ihrer ſelbſt wuͤrden,
groͤßere Arbeiten verlangte; und wiewohl ſeine Worte
eher abſchreckend als aufmunternd zu deuten waren, ſo
dankte ich ſie ihm, der ernſten Meinung und des ge¬
wichtigen Inhalts wegen, doch von ganzem Herzen, und
fand mich durch ſolchen Zuſpruch mehr geehrt, als durch
Schmeichelei oder Schonung. Der Brief wurde auch
[80] den Freunden aͤmſig mitgetheilt und von allen hoch auf¬
genommen, hatte jedoch in Betreff unſrer Gedichte keinen
hemmenden Einfluß, wir machten lyriſche nach wie vor,
je nachdem der Tag ſie gab und erlaubte, und ver¬
ſchoben groͤßere Plane auf kuͤnftige Zeit. —
Ich zog bei Neumann ein, und wir befanden uns
zwar in einiger Enge, aber doch ganz gut. Ungehemm¬
ten Eifers warfen wir nun mit allen Kraͤften uns auf das
Griechiſche, und nahmen jede Gelegenheit wahr, die ſich
unſrem Verlangen darbot. Wir ließen uns foͤrmlich zu
Mitgliedern des Gymnaſiums aufnehmen, beſuchten aber
hauptſaͤchlich die Lehrſtunden des Johanneums. Zum
erſtenmal genoß ich frei und ungetruͤbt das hohe Gluͤck,
ohne Hemmung und Ablenkung die herrlichſten Geiſtes¬
wege zu durchſchreiten, zu welchen heiße Neigung und
tiefes Beduͤrfniß mich ſchon ſo lange Zeit hindraͤngten,
wie keine Jugendleidenſchaft es heftiger zu andern Ge¬
genſtaͤnden gekonnt haͤtte. Die ſchoͤnen Sommertage
waren es jetzt mir dadurch erſt recht, daß ich, dem
Freunde gegenuͤber, im Genuß aller Lockungen des lich¬
ten und milden Wetters, aber durch noch hoͤheren Reiz
gefeſſelt, vom fruͤhen Morgen bis zum ſpaͤten Abend
angeſtrengt uͤber den Buͤchern ſitzen konnte, und ich
empfand in dem beharrlichen, nachdruͤcklichen Fleiß eine
Befriedigung, ein Wohlſein und Gedeihen, wie ſie nicht
oft im ſo vielfach geſtoͤrten Leben erreicht werden. Die
Wochen, welche uns auf dieſe Weiſe dahin floſſen,
[81] gehoͤren gewiß zu den beſten, die wir gelebt haben.
Warum konnten ſie nicht ungehemmt ſo fortdauern und
ſich zu Jahren aufreihen? Weiß der Himmel, was hier dem
klaren Aether ſich wieder als Streifgewoͤlk einſchleichen
durfte, aber dieſer Zug von Tagen wollte ſich nicht in’s
Unbegraͤnzte fortfuͤhren laſſen. Nicht daß wir aufgehoͤrt
haͤtten, fleißig und eifrig zu ſein, keineswegs! Aber
der friſche, grade Hauch, der in unſre Segel blies, der
uns raſch und freundlich auf hoher Fluth unſren Ster¬
nen zufuͤhrte, dieſer Gluͤckswind, der zugleich in und
um uns wehte, hatte etwas von des Wetters Wandel¬
barkeit, wie er von deſſen Schoͤnheit hatte. Der Erfolg
wuͤrde außerordentlich geweſen ſein, haͤtten wir ſo fort¬
fahren koͤnnen, denn zum Erſtaunen ſahen wir uns die
ſchaͤumenden Wogen durchſchneiden und die Strecken des
Weges hinter uns laſſen; ich kann ſagen, daß dieſer
Ruck mir fuͤr alles weitre Studium den eigentlichen
Durchbruch gegeben. Wir hatten Uebungen in Latein¬
ſchreiben, hoͤrten Vortraͤge uͤber den Cicero vom Redner,
uͤber den Livius, dann uͤber Homers Ilias, uͤber den
Herodotos, und bald auch uͤber den Pindar, die Sati¬
ren des Horaz und den Plutos des Ariſtophanes. Wir
waren ſolchergeſtalt auf einmal mitten in das Wogen¬
gedraͤnge des Alterthums verſetzt, und mußten wacker
arbeiten, um ſchwimmend im Strom zu bleiben. Gur¬
litt hatte ſeine Freude daran, und half uns wohlwollend
II. 6[82] Und einſichtsvoll mit Rath und That. Der Homer war
mir nach Inhalt und Farbe nicht mehr ſo neu, daß
ich ihm eine erſte Liebe jetzt erſt haͤtte zuwenden koͤn¬
nen, aber ein wachſendes Verſtehen im Zauber dieſer
herrlichen Sprache und im Reize der befluͤgelten Hexa¬
meter ſich anzueignen, war eine beſtaͤndige Luſt, ein
uͤberbelohntes Bemuͤhn. Staͤrker noch zog diesmal der
gute Herodotos meine Neigung an, den ich zuerſt hier
und gleich in ſeiner urſpruͤnglichen Anmuth und Lieblich¬
keit kennen lernte. Die Erzaͤhlung des griechiſchen Frei¬
heitskriegs gegen die Perſer entzuͤckte mich, ich eilte
aber der Schule, wo dieſer Abſchnitt grade geleſen wurde,
weit voran, und ſuchte in den Autor von mehreren
Seiten zugleich einzudringen, wozu ich mir auch die
Weſſeling'ſchen und Valckenaer'ſchen Anmerkungen, in
welchen ich das eigentlich philologiſche Weſen naͤher be¬
ſchauen lernte, zu Huͤlfe nahm. Mit dem Lateiniſchen
mocht' ich mich weniger befaſſen, und die gebildeten
Horaziſchen Sermonen wurden neben den gewaltigen
Griechen mir faſt peinlich.
Wir konnten mit den zahlreichen Mitſchuͤlern nicht
taͤglich zuſammen ſein, ohne alsbald diejenigen unter
ihnen ausgefunden zu haben, mit denen eine geiſtige
Annaͤherung moͤglich war. Dieſe gelehrte Schule hegte
in ihrer ſtillen Tuͤchtigkeit mehr wackern und ausgezeich¬
neten Geiſt, als wir je vermuthet haͤtten. Zuerſt habe
[83] ich Karl Sieveking zu nennen, den jetzigen Syndikus
ſeiner Vaterſtadt, der ſchon damals durch ſeine Bildung
und vielfache Kenntniſſe ſich bemerkbar machte, ſo z. B.
hatte er zu Luſt und Uebung eine Tragoͤdie des Aeſchy¬
los metriſch uͤberſetzt; ferner Middeldorpf, der jetzt Pro¬
feſſor der Theologie in Breslau iſt, und ſchon damals
ſeine Vorliebe fuͤr das Hebraͤiſche zeigte; dann waͤre
Emanuel zu nennen, der ſpaͤter ein tuͤchtiger Schulmann
im Preußiſchen geworden, Noodt, erſt Prediger in Ber¬
lin und dann im Hamburg, Moldenhawer, Arzt in
Berlin, und manche Andre.
Zu wahrhaft innigem Verein aber gelangten wir mit
David Mendel, einem ſtillen und ſcheuen Juͤngling, der
aber von tiefer Gluth erfuͤllt war. Aus Goͤttingen ge¬
buͤrtig, war er mit Mutter und Schweſtern fruͤh nach
Hamburg gekommen, wo er den Schulſtudien fleißig
oblag. Sein Aeußeres war ganz vernachlaͤſſigt; die
Sinnenwelt hatte fuͤr ihn keinen Reiz, bot ihm kein
Vergnuͤgen, keine Zerſtreuung, ja kaum einen Gegen¬
ſtand, und er ſuchte in ſeinem Innern Erſatz fuͤr all'
dieſe Entbehrungen. Er beſaß in den alten Sprachen
große Gelaͤufigkeit. Das Griechiſche hatte ihn auf den
Platon gefuͤhrt, und ſeit er dieſen gefunden, ſaß er nun
und ſtudirte ihn unablaͤſſig, beſonders die Buͤcher vom
Staat, deren Ideen er ganz in ſich aufnahm und ver¬
arbeitete. Es gereicht dem wuͤrdigen Gurlitt zur Ehre,
6 *[84] und zeigt von dem beſſern Geiſte, der unter ſeiner Lei¬
tung die hamburgiſche ſtudirende Jugend beſeelte, daß
David Mendel, bei ſolchem Aeußern und ſolcher Eigen¬
heit, wegen ſeines Wiſſens und Eifers wahrhaft geach¬
tet wurde, worin die angeſehenſten und grade nach
außen ſtattlichſten Mitſchuͤler das Beiſpiel gaben. Sein
philoſophiſcher Eifer verband ſich leicht mit unſrem poe¬
tiſchen, beide waren in ihrer Unreife einander aͤhnlich
genug. Er zog uns in ſeine Platoniſchen Kreiſe hin¬
ein, und wir gewannen wenigſtens an Kenntniß und
Uebung des Griechiſchen, ſo wenig ihm ſelbſt an der
Sprache als ſolcher etwas gelegen war; dafuͤr brachten
wir ihm manchen Funken und Strahl aus der neuern
Litteratur zu. Fuͤr den griechiſchen Staat, fuͤr die
griechiſchen Religionsvorſtellungen, uͤberhaupt fuͤr das
griechiſche Leben, war er leidenſchaftlich eingenommen,
ebenſo fuͤr die franzoͤſiſche Freiheit und Gleichheit, von
deren Erſcheinungen er genug wußte, um ſich als er¬
klaͤrten Anhaͤnger der Girondiſten zu bekennen, als welche
mit Geiſt und Tugend einen Freiſtaat gewollt, und fuͤr
ihre Ideen groͤßtentheils das Leben geopfert haͤtten.
Dergleichen Beſonderheit erregte Kopfſchuͤtteln, wie auch
die ungemeine Liebe zum Platon, welche zwar nachge¬
ſehen, aber doch als Schwaͤrmerei mißbilligt wurde; ſie
dauerte jedoch beharrlich fort, und ſchloß nach und nach
auch andre Philoſophen, beſonders die Pythagoraͤer,
[85] mit ein, von den Neuern Spinoza und Fichte. Nie¬
mals vielleicht war mehr ſpekulativer Drang bei weni¬
ger ſpekulativem Talent, denn im Grunde, wie die
Folge gezeigt, mangelte dies ganz, wenn auch ein ach¬
tungswuͤrdiger und begeiſterter Eifer fuͤr das erkannte
Gute ſich immerfort bewaͤhrte. —
Die Univerſität.
Halle, 1806. 1807.
In der erſten Tagesfruͤhe des 21. Aprils fuhren wir
in Halle ein, Raſſeln und Stoͤße des Wagens auf dem
holprigen Steinpflaſter entriſſen uns der Schlaftrunken¬
heit, und die alterthuͤmliche, noch in tiefer Ruhe liegende
Stadt mit ihren ſtillen Straßen und Fenſtern ſprach
uns Ermunterte geiſterhaft an. Ich fuͤhlte das ganze
Gewicht dieſes Augenblickes, der mich in ein neues
Leben eingehen ließ, das ich laͤngſt erſehnt und gehofft
hatte, und in ſeiner Erfuͤllung noch bezweifelte! Mir
war zu Muth, als betraͤte ich ein Heiligthum, eine
geweihte Staͤtte. Die Stille hatte etwas Ahndungs¬
volles und Schauerliches, ſie verhuͤllte ein unendliches
Leben, der Jugend und des Geiſtes, das mit der ſtei¬
genden Sonne ſogleich neben allem Treiben der ſtaͤdti¬
ſchen Welt in tauſendfachen Regungen zu erwachen
begann. Unſer Freund Loͤbell, der von Hamburg ſchon
fruͤher unſre Auftraͤge empfangen hatte, war ſchnell
[87] aufgefunden, und ein erſter Ausflug nach Wohnung
verſchaffte uns gleich die entzuͤckendſte, außerhalb des
Thores, in den ſogenannten Pulverweiden, dicht an
der Saale, die hier einen ihrer rauſchenden Waſſerfaͤlle
bildete; unſre Fenſter zeigten uns uͤppige Wieſen, ſchoͤne
Pappelreihen, dahinter die ſich erhebende Stadt, auf
der andern Seite den gebogenen Lauf der Saale, Feld
und Wald jenſeits, und uͤber die hohe Bruͤcke hinaus
die Felſenwaͤnde eines großen Steinbruches. Mit welch
ſeliger Befriedigung ſetzten wir uns hier feſt, mit welchen
herrlichen Ausſichten auf den Vollgenuß des goͤttlichſten
Studienlebens! Unſre Zimmer lagen in zweien Stock¬
werken, ſie waren nicht dreifach abzutheilen, und Einer
von uns mußte Neander'n bei ſich aufnehmen, wir
looſten, und er fiel mir zu, da wir uns denn in Stube
und Kammer gemeinſchaftlich zu behelfen ſuchten. Von
einem kaͤrglichen Mittageſſen an einem Studententiſche,
das unſrer Begeiſterung nicht ſtoͤrend wurde, eilten
wir in Stadt und Umgegend vorlaͤufige Kenntniß der
Oertlichkeit zu nehmen, und ſo fuͤr viele bedeutende
Namen und Beziehungen, die wir ſchon wußten, nun
auch die wirklichen Gegenſtaͤnde zu erblicken. Beſonders
begluͤckte uns Gibichenſtein, mit ſeinen traulichen Ufern,
hohen Felſen, alten Sagen und friſchen Erinnerungen,
die ſich uns dort aus Koreff's Erzaͤhlungen anknuͤpften.
Zum erſtenmal in einer Univerſitaͤtsſtadt von dem An¬
blicke des Studentenweſens getroffen, empfingen wir
[88] auch von dieſer Seite Reiz und Stoff der lebhafteſten
Betrachtung; Benehmen, Kleidung und Sprache der
Juͤnglinge bezeugte ihre Freiheit, die denn doch durch
eigne Satzungen und Regeln in vieler Art gezuͤgelt
und auch ſonſt durch Sitte, Duͤrftigkeit und Ruͤckſichten
genugſam wieder beſchraͤnkt wurde. Die Mehrzahl der
Burſchen zwar lebte in dem uͤblichen Herkommen, hatte
ihre Fechtuͤbungen und Zweikaͤmpfe, ſo wie ihre Gelage
und Heldenthaten in Breihantrinken und Tabakrauchen,
goͤnnte aber jedem, der ſich nicht zu ihnen halten mochte,
und ihr Treiben nur nicht etwa ſonderbar finden
wollte, — wie denn dieſer Ausdruck ſelbſt hoͤchlich ver¬
poͤnt war — gern ſeinen eignen Weg, ſogar auf dem
breiten Stein in der Mitte der Straßen, den man ſich
untereinander ſchon leichter freigab, und nur den ſoge¬
nannten Philiſtern mit Eiferſucht beſtritt. Die Frequenz
war ſehr groß, man rechnete gegen fuͤnfzehnhundert
Studirende, die ſich in verſchiedene Landsmannſchaften
theilten, wiewohl eine auch nicht geringe Anzahl ſich
wenig oder gar nicht an dieſe Vereine hielt. Wir blieben
natuͤrlich von ſolcher Theilnahme fern, und konnten uns
uͤberhaupt nicht verhehlen, daß wir das eigentliche
Studentengefuͤhl doch nicht in uns hegten, daß wir in
manchem Betracht die Univerſitaͤt, die vor uns lag, ſchon
im Ruͤcken hatten, und ſchon weitern Verhaͤltniſſen an¬
gehoͤrten, die mit voͤlliger Hingebung an die neue Lage
kaum vereinbar waren.
[89]
Der Bezug dieſer Verhaͤltniſſe erſchien mir in ſtarker
Mahnung gleich bei dem Immatrikulieren, zu welchem
wir uns bei dem Prorektor Maaß meldeten. Schon
waͤhrend der Reiſe hatte ich uͤber die zukuͤnftige Geſtalt
meines Lebens ernſtlich nachgedacht, und wohl gefuͤhlt,
daß es Frevel waͤre, ohne Ruͤckſicht auf die gewoͤhn¬
lichen Fuͤgungen durchaus eine geniale Laufbahn anzu¬
ſprechen. Wollte ich einen freien Stand und eine gruͤnd¬
liche Thaͤtigkeit in der buͤrgerlichen Welt haben, dachte
ich ſo viele Erwartungen und Wuͤnſche, die mir zuge¬
wachſen waren, nicht voͤllig zu taͤuſchen, oder in unge¬
meſſene Form zu ſchieben, ſo mußte ich nothwendig die
Arzneiwiſſenſchaft wieder pflegen, da die Philologie,
entweder nur handwerksmaͤßig dem Schulfache zufuͤhrte,
oder fuͤr andre Stellung eine Meiſterſchaft erforderte,
die wir uns keineswegs vermaßen ſo ſchnell — wenn
irgend je — zu erwerben. Ich ließ mich daher als
Befliſſenen der Medizin und der Philologie einſchreiben,
zur Verwunderung der Andern, die meines Sinnes
noch nicht kundig waren, und indem ich mein Augen¬
merk fortan wieder auf jene Studien richtete, gab ich
mir nur die beruhigende Friſt noch, wenigſtens das erſte
halbe Jahr ungetheilt meinen freieſten Neigungen zuzu¬
wenden, welches auch um ſo leichter anging, als mir
eine gewiſſe Stufe in der Kenntniß der Alten und in
allgemeiner Geiſtesbildung unentbehrliches Beduͤrfniß war,
und meine mediziniſchen Vorkenntniſſe mich uͤber die
[90] ſchwierigſten Anfaͤnge dieſes Studiums weit hinweg¬
ſetzten.
Nach der Einſchreibung begaben wir uns zufoͤrderſt
zum Geheimen Rath Wolf, an den uns Gurlitt und
Nolte Empfehlungsſchreiben gegeben hatten, und meldeten
uns zu ſeinen Vorleſungen; leider las er diesmal nicht
uͤber den Homer, noch ſonſt uͤber einen alten Schrift¬
ſteller, doch waren wir auf ſeine Geſchichte der alten
Voͤlker ſehr begierig. Friedrich Auguſt Wolf erſchien
unter den Gelehrten wie ein Koͤnig, umgeben von ſolchem
geiſtigen Anſehn, von ſolcher Macht und Groͤße der
Gegenwart. Seine hohe, behagliche Geſtalt, ſeine gro߬
artige Ruhe und alles wie durch Gebot leicht beherr¬
ſchende Thaͤtigkeit, gaben ihm den Glanz einer Wuͤrde,
deren er nicht einmal zu beduͤrfen ſchien, denn er ſtellte
ſich bereitwillig den Andern gleich, und liebte, nach Art
eines Friedrich, auch ohne den Prunk ſeiner Macht blos
als Menſch, in freiem Witz, in Laune und Scherz,
noch immer herrſcherlich zu wirken. Er beſaß alle Guͤter
und Huͤlfsmittel der Pedanterie, aber alle hatte er durch¬
geiſtet, und ſchaltete frei mit ihnen, ſo daß er wie
uͤber ſeinem Wiſſen auch uͤber allen ſeinen Wiſſensge¬
noſſen ſtand, und hinwieder durch ſein Wiſſen jedem
andern Gelehrten eine beneidenswerthe Grundlage aller
Geiſtesbildung zu ſchauen gab. Sein freundlicher Empfang,
ſeine Fragen und Rathſchlaͤge, ließen uns gleich die ſcharf¬
geiſtige Munterkeit empfinden, auf die man uns ſchon
[91] vorbereitet hatte; ſeine herzliche Achtung fuͤr Gurlitt
that uns wohl, uͤber Bernhardi und Nolte hatten wir
auch nur Erwuͤnſchtes zu vernehmen, und als wir nicht
ohne Abſicht uns ruͤhmten, von letzterem auch an Nie¬
meyer empfohlen zu fein, der uns laͤngſt als Zielſcheibe
der ſcharfen und neckenden Pfeile des fernhintreffenden
Helden bekannt war, hatten wir uns des heiterſten
Scherzes zu freuen, der hoͤchſt anmuthig den Gegen¬
ſtand gleichſam durch die Finger gleiten ließ, ohne ihn
halten zu wollen, noch geradezu wegzuwerfen. Spaͤter
fand ich bei Niemeyer denn doch einen wohlmeinenden
Sinn, der an ſeiner Stelle viel Gutes gewirkt haben
mag, aber freilich im Wiſſenſchaftlichen einer eitlen
Mittelmaͤßigkeit froͤhnte, die ſich auch im Geſelligen nicht
verlaͤugnen konnte, und mich, ungeachtet der eifrigſten
Einladungen, nur abſchreckte, ihn und ſein Haus oͤfters
zu beſuchen.
Von Hamburg her war ich dem Kapellmeiſter Rei¬
chardt empfohlen, der in Gibichenſtein mit zahlreicher
Familie ein eignes Haus bewohnte und einen ſchoͤnen
Garten mit gluͤcklichen Anlagen und Pflanzungen huͤgelauf
erweiterte. Kunſtuͤbend und gaſtfrei, dabei litterariſch
und nach Umſtaͤnden politiſch vielfaͤltig, mit Gelehrten
und Vornehmen weit und breit verbunden oder bekannt,
fuͤhrte Reichardt in Halle gleichſam das Anſehn und
Wort des gebildeten Weltmanns, und wenn auch ſeine
vermittelnde und beſchuͤtzende Vornehmheit heimlich
[92] einigen Spott erfuhr, ſo wurde ſie doch in offenbarer
Weiſe nicht leicht ſtreitig gemacht. Selbſt die Studen¬
ten, von denen er in einer Zeitſchrift allzu leichtſinnig
geſagt, ſie ſeien leider noch ſehr roh und ungeſittet,
und die ihm deßhalb kuͤrzlich die Fenſter eingeworfen
hatten, erkannten ſeine Ueberlegenheit mit laͤchelnder
Billigung an, als er gleich darauf in derſelben Zeit¬
ſchrift, unter Berufung auf das Vorgefallene, ſeine
fruͤhere Aeußerung widerrief. Auch fuͤr mich und Neu¬
mann eroͤffnete ſich freundlich ſeine Goͤnnerſchaft, und
er machte es zu einer Hauptſache, daß wir ſeinen
Schwiegerſohn Steffens, und deſſen und ſeinen Freund
Schleiermacher, fuͤr welche wir unbegraͤnzte Verehrung
bezeigten, zuerſt bei ihm ſehen ſollten. Dies geſchah
am naͤchſten Sonntage zu Mittag, und grade in der
reichen Umgebung weniger guͤnſtig. Denn der heitre,
jugendliche, huͤbſche, von beredter Geiſtigkeit ſprudelnde
Steffens ließ zwar unter keinen Umſtaͤnden ſich in ſeiner
Lebhaftigkeit ſtoͤren, und war eine ſo liebenswuͤrdige
als geniale Erſcheinung, aber der unanſehnliche, in
ſeinem Benehmen zuruͤckhaltende, Gemuͤth und Begeiſte¬
rung verlaͤugnende, und nur zuweilen kurz und ſcharf
dazwiſchenredende Schleiermacher verſchwamm in der
Geſellſchaft, die ihn mehr bedeckte als trug, und beide
Freunde zeigten ſich in eingeuͤbten Scherzen und uͤber¬
einkoͤmmlichen Redensarten dieſes Kreiſes mehr daheim
und behaglich, als uns, die wir ſolchen Maͤnnern vor
[93] allem unſre Bewunderung und unſer Zutrauen anzu¬
bringen ſtrebten, lieb ſein konnte. Beſonders war
Schleiermacher ganz wider unſre Erwartung, ohne daß
dies jedoch der großen Verehrung, die wir fuͤr ihn
hegten, Abbruch that, denn was er der Einbildungskraft
nahm, erſetzte er durch klaren, leuchtenden Verſtand.
Die Frauen des Hauſes huldigten ihm ſehr, und man
widerſprach ihm nicht leicht, welches deſto haͤufiger
Andern widerfuhr, indem beſonders Reichardt ſeine
Naͤchſten auch wohl in Dingen, worin ſie ihn uͤberſahen,
zu berichtigen liebte.
Schleiermacher und Steffens luden uns zu ihren
Geſellſchaften ein, wozu jeder von ihnen einen beſtimm¬
ten Abend in der Woche auserſehen hatte. Wir kamen
dadurch ſogleich in ein naͤheres Vernehmen mit dieſen
Lehrern, denen uns anzuſchließen wir die entſchiedene
Neigung auch in jeder Weiſe darlegten. Nicht an feſt¬
geſetzten Tagen, aber zuweilen, nach Gunſt und Ge¬
legenheit, lud uns auch Wolf zu ſich, und Haus und
Garten von Reichardt ſtanden faſt jederzeit dem Beſuch
eroͤffnet. Von allen dieſen Beziehungen hatte ſich gleich
anfangs Neander hartnaͤckig zuruͤckgehalten, und ſeine
zum ſtarren Trotz gewordene Schuͤchternheit war durch
kein Zureden zu uͤberwinden. Er machte die nothduͤrf¬
tigen Beſuche bei den Profeſſoren, deren Vorleſungen
er zu hoͤren dachte, ließ ſich mit ein paar jungen Theo¬
logen bekannt werden, die hinter dem Sonderling einige
[94] bedeutende Eigenſchaften witterten, und ſaß uͤbrigens
immerfort bei ſeinen Buͤchern, indem weder Natur
noch Geſelligkeit fuͤr ihn den geringſten Reiz hatten.
Dieſe angehende Entfernung zwiſchen uns mußte aber
grade durch die große Naͤhe unſres Zuſammlebens noch
ſtaͤrker hervorwachſen. Dabei wurde der weite Weg
von den Pulverweiden zur Stadt, und von da zuruͤck,
wobei er ſich faſt regelmaͤßig verirrte, ihm hoͤchſt ver¬
drießlich, und ſo entſchloß er ſich eines Tages kurz und
gut, und nahm mit Huͤlfe jener Theologen eine eigne
Wohnung in der Stadt, wodurch ich einer großen Laſt
ledig wurde, wiewohl ich mit Neumann nicht wenig in
Sorgen ſtand, was nun aus ihm werden ſolle, bis wir
uns verſichert hatten, daß ſeine neuen Bekannten ihm
die dringendſte Aushuͤlfe nicht fehlen ließen.
Aber auch ich ſollte des reizenden Wohnortes auf
dem Lande in dieſer gewonnenen Erleichterung nicht
lange froh ſein. Das Haus hatte eine Gaſtwirthſchaft,
welche in der Woche faſt gar nicht, und ſelbſt an Sonn¬
tagen nur maͤßig beſucht wurde. Die meiſte Zeit war
der ganze Raum, Saal, Garten, Stromufer und Wieſen,
fuͤr uns allein da, herrliche Vormittage und Abende
verlebten wir im Freien, und nicht ſelten ließen wir
den Geſang Homers am Waſſerfall mit den ſchaͤumen¬
den Wogen laut in die Wette rauſchen. In dieſer
ſchoͤnen Freiheit fand mich noch ein Freund, der mich
auf ein paar Tage von Leipzig her beſuchte, und ſich
[95] meines Gluͤckes theilnehmend freute. Gleich nachher aber
aͤnderte ſich alles dieß ploͤtzlich, indem der Saal dicht
neben mir vermiethet wurde, und die pommerſche Lands¬
mannſchaft ihren Fechtboden dahin verlegte. Hunderte
von Studenten ſtroͤmten nun zu allen Tageszeiten ab
und zu, und das Geklirr der Waffen und das Geſchrei
bei den Fechtuͤbungen uͤberſtieg alle Vorſtellung, keine
Abgezogenheit hielt gegen dieſe Betaͤubung Stand, und
da mir ſolche Naͤhe auch in andrer Hinſicht manches
gegenſeitige Mißbehagen und Graͤnzſtreitigkeiten erwecken
mußte, die noch zum Gluͤck, bei großer Dreiſtigkeit von
meiner Seite, ohne Reibung abliefen, ſo fand ich es
gerathen, dieſe Wohnung zu verlaſſen und ebenfalls in
die Stadt zu ziehen, waͤhrend Neumann ein Stockwerk
hoͤher ungeſtoͤrt noch verbleiben konnte. So war, wenige
Wochen nach unſerer Ankunft, das gewollte und ver¬
langte Zuſammenleben durch zufaͤllige Aeußerlichkeiten
ſchon wieder aufgehoben, und von uns Dreien wohnte
keiner mehr mit dem Andern, ja ſogar die Studien, in
welchen wir ſo vereint zu ſein dachten, trieben uns
bereits in abweichenden Richtungen!
Die Vorleſungen hatten angefangen, und fleißiger
und eifriger, als wir in dieſer Zeit waren, ließen ſich
wohl keine Zuhoͤrer denken. Die alte Geſchichte bei
Wolf war ungemein reichhaltig und anregend, er trug
weniger eine Erzaͤhlung, als vielmehr eine fortlaufende
Kritik vor, und verſetzte die Zuhoͤrer unmerklich in ſolche
[96] Selbſtthaͤtigkeit und Mitarbeit, daß man am Schluſſe
der Stunde ſich ſtets in der heiterſten und waͤrmſten
Stimmung, in der angenehmſten Aufregung aller Geiſtes¬
kraͤfte fand. Meiner philologiſchen Neigung verſagte ich
nicht, in den Fruͤhſtunden die Exegeſe der Briefe des
Apoſtel Paulus bei Schleiermacher zu hoͤren, und meinen
mediziniſchen Abſichten ſollten vorlaͤufig die zweifachen
Vorleſungen von Steffens uͤber philoſophiſche Phyſio¬
logie und experimentale Phyſik genuͤgen, indem vor den
voͤllig mediziniſchen Vorleſungen eines Reil, Coder oder
Kurt Sprengel mich noch ſchauderte. Bei Schleierma¬
cher empfand ich bald entſchiedenen Gewinn; ſeine Be¬
handlung des Gegenſtandes, die ſichre Kritik, die feine
Dialektik, waren bildend auch fuͤr anderweitige Einſicht,
und ſelbſt dem Gemuͤth eroͤffneten ſich aus dieſen geord¬
neten und klaren Geiſteswegen ſittliche Einwirkungen.
Steffens hingegen riß gleich im Anfang ſeine Zuhoͤrer
in Begeiſterung fort, es war unmoͤglich in dieſem
Gedraͤnge von tiefen Anſchauungen, großartigen Ver¬
knuͤpfungen und bluͤhenden Sprechweiſen, die ſeiner
Beredſamkeit entquollen, ſich einer aufwallenden Theil¬
nahme zu erwehren. Ich verſetzte mich mit Leichtig¬
keit in die naturphiloſophiſchen Anſichten und Ausdruͤcke,
ich ſah mit Bewunderung den begeiſterten Lehrer einen
ungeheuern Stoff herrſchend durchſchalten, ich freute
mich der Liebenswuͤrdigkeit eines Vortrags, der immer
ein bewegtes Herz erkennen ließ, und ſelbſt in dem ſteten
[97] Kampfe des Daͤnen mit der damals nur halb bezwun¬
genen deutſchen Sprache einen neuen Reiz empfing.
Dieſe Vorleſungen waren auf ſolche Weiſe ein ſtets
erneuertes Feſt, ein Genuß, dem man mit gleichem
Vergnuͤgen nachſah und wieder entgegenblickte; ſie zeig¬
ten aber ihren hoͤchſten Werth erſt dann, wenn man ſie
mit den Schleiermacher'ſchen gleichſam in ein Ganzes
verflocht; dieſe Beſonnenheit und jene Begeiſterung
ſchienen ſich wechſelſeitig zu vervollſtaͤndigen, und beide
Maͤnner, in den Hauptſachen einverſtanden und zuſam¬
menſtimmend, ſahen ſich gern in dieſe Gemeinſchaft ge¬
ſtellt, welche fuͤr die naͤheren und vertrauteren ihrer
Juͤnger in aller Kraft wirklich beſtand, ſo daß die
Theologen auch Steffens hoͤrten und die Naturbefliſſe¬
nen ſich Schleiermachern anſchloſſen.
Mit treuem Fleiße ſetzten wir neben allem andern
unſre griechiſchen Studien fort, und beſonders blieb unſer
Eifer dem Homer zugethan. Wir verſchafften uns leicht
die fruͤheren Vorleſungen Wolf's uͤber die Ilias in nach¬
geſchriebenen Heften, die Prolegomena wurden nach Inhalt
und Form wiederholt in Betracht gezogen, und ſelbſt
die Weitlaͤuftigkeiten des Euſtathios ſchreckten nicht ab,
ich las einen großen Theil ſeines Kommentars mit ge¬
nauem Aufmerken durch. Wie das Homeriſche durch
Wolf war aber auch das Platoniſche durch Schleier¬
macher jetzt in Halle ſtark im Schwunge, und wir
ſelbſt hatten deſſen auch ſchon zu viel mitgebracht, als
II. 7[98] daß nicht die fernere Beſchaͤftigung damit ſich uns in
dieſer Luft unwiderſtehlich aufgedraͤngt haͤtte. Die Arbeiten
von Heindorf, in welchem ſich der Schuͤler Wolf's und
der Freund Schleiermachers bei demſelben Stoffe gluͤck¬
lich vereint fanden, und die Wolfiſche Ausgabe des
Gaſtmahls, ſo wie die beiden Baͤnde der Schleierma¬
cher'ſchen Ueberſetzungen gewaͤhrten die erwuͤnſchteſten
Huͤlfsmittel und unerſchoͤpfliche Anregungen. Ich ſetzte
auch den Herodotos noch fort, und machte mir man¬
cherlei mit der griechiſchen Anthologie zu ſchaffen. Das
Tuͤchtigſte aber, was wir unternahmen, und was uns,
haͤtten die Umſtaͤnde nicht ſo fruͤhe Unterbrechung her¬
beigefuͤhrt, außerordentlich gefoͤrdert haben wuͤrde, war
die Privatuͤbung, die wir unter Leitung Immanuel
Bekker's, welchen damals Wolf ſeinen gediegenſten und
liebſten Schuͤler nennen durfte, im Leſen des Ariſtopha¬
nes und im Schreiben des Griechiſchen anſtellten. Es
war uns ſchon heilſam, des geringen Standes unſrer
Anfaͤnge neben einer ſolchen Meiſterſchaft recht inne zu
werden und zu bleiben.
Was irgend in Halle von ausgezeichneten jungen
Leuten war, konnte uns nicht entgehen, denn außer
den genannten Vereinigungsorten gab es ſchwerlich andre,
wo Geiſt und Bildung bedeutend aufgeſtrebt haͤtten.
Ich muß einige dieſer Juͤnglinge hier vorlaͤufig nennen,
auf deren Weſen und Wirkung ich noch oͤfter werde
zuruͤckkommen muͤſſen. Einer der erſten und merkwuͤr¬
[99] digſten war Nikolaus Harſcher aus Baſel, der Medizin
befliſſen, aber ſeit laͤngerer Zeit faſt nur Zuhoͤrer von
Steffens und Schleiermacher, indem die philoſophiſche
Richtung bei ihm jede andre zuruͤckdraͤngte. Sein dialek¬
tiſches Hebezeug, durch eine unglaubliche Leichtigkeit
eines gar nicht ſchoͤnen, aber raſchen und bezeichnungs¬
vollen Sprechens unterſtuͤtzt, ſcheute weder die groͤßten
Maſſen noch die feinſten Verwickelungen. Mit den
Naturwiſſenſchaften ſchon ziemlich vertraut, hatte er ſeine
Staͤtte jetzt vorzuͤglich in Schleiermacher’s Ethik aufge¬
ſchlagen, und von hier aus ſich um das Alterthum,
worin er ebenfalls mit Huͤlfe Bekkers das Verſaͤumte
nachzuholen ſtrebte, um Geſchichte und Dichtkunſt eifrig
bekuͤmmert, beſonders aber die Lebensverhaͤltniſſe ſelbſt,
die Neigungen, Thaͤtigkeiten und Formen des einzelnen
Daſeins wie die Geſelligkeit, zum Gegenſtande ſeiner
nie raſtenden Unterſuchungen und Beſprechungen erwaͤhlt.
Da er mit ſeinen eignen Zwecken und Neigungen gar
nicht auf dem Reinen war, auch in perſoͤnlicher Hinſicht
durch eine Druͤſenkrankheit ſich in ein eignes Mißbe¬
hagen gegen die Natur verſetzt fand, ſo war ſein Geiſt
ſehr zum Ironiſchen und Humoriſtiſchen hingetrieben,
und darin eben ſo gewandt als kuͤhn, und oft wirklich
bewundrungswerth. Eine Eitelkeit, die er ſelbſt ver¬
dammte, beherrſchte ihn; er mochte ſich nicht unvor¬
theilhaft zeigen, und weil er doch in mancher Hinſicht
nicht anders konnte, that er es grade aus Rache, und
7 ✷[100] eitelte mit ſeiner gekraͤnkten Eitelkeit, wie er denn ſein
etwas roͤthliches Haar, das ihm ſehr mißfiel, doch wie¬
der mit Stolz in groͤßter Ueppigkeit an Backen und
Unterkinn erſt recht zur Schau trug. Ich fuͤhlte mich
ſehr zu ihm hingezogen, und voll Theilnahme fuͤr ſeine
Gaben und Schwaͤchen, er aber hielt ſich anfangs etwas
zuruͤck, und ließ ſich erſt nach und nach gewinnen. Einen
naͤheren Freund hatte er ſchon an Adolph Muͤller, einem
Mediziner aus Bremen, der in vieler Hinſicht das
Gegentheil von ihm war. Ein ſchoͤner, geſunder und
einfacher Juͤngling, hatte dieſer ſein erwaͤhltes Studium
gemeſſen verfolgt, und dabei die hoͤheren Bahnen der
Naturphiloſophie und der Ethik nicht verabſaͤumt, auch
die Gaben der Poeſie reich in ſich aufgenommen. Kuͤnſt¬
leriſche Uebung der Muſik, worin auch Harſcher mit
ausuͤbender Liebhaberei wiſſenſchaftliche Einſicht verband,
vollendete ſeine perſoͤnliche Bildung zu harmoniſcher
Bedeutenheit. Mit beiden in geiſtiger mehr als herz¬
licher Innigkeit ſtand Alexander von der Marwitz, aus
der Mark, erſt neunzehnjaͤhrig, aber an klaſſiſcher
Bildung, an Geſchichtskenntniß, philoſophiſcher Auf¬
faſſung und perſoͤnlicher Haltung ganz außer Verhaͤlt¬
niß dieſer Jahre reif und ſicher. Er war edel, ſtolz,
ernſt und raſch, gebieteriſch von Gemuͤth und Geiſt,
aber auch fein und zart im Beſchauen und Bemerken,
fuͤr kuͤnſtleriſche Sprachdarſtellung mit Sinn und Gaben
vorzuͤglich ausgeſtattet, wodurch auch ſeine Freundſchaft
[101] mit Bekker um ſo feſter begruͤndet wurde. Ein Schle¬
ſier, von Przyſtanowski, ungeachtet ſeines polniſchen
Namens ganz deutſch, bildete ſeine guten Anlagen fuͤr
philoſophiſche Naturwiſſenſchaft im Stillen beharrlich aus.
Zwei Bruͤder Ruſt aus Deſſau, beide der Muſik wohl¬
kundig, zeigten den beſten Willen. Andre draͤngten ſich
lebhaft heran, Manche mit mehr Eifer als Berechtigung,
wie es ſchien, und daher ohne ſonderlichen Erfolg und
Dank. Noch Andre machten ihren Namen und Em¬
pfehlungen einen Augenblick geltend, ohne doch ſonder¬
lich beachtet zu werden. Ein Doctor Klinger aus Wien
und der Prediger Blanc, welcher von Berlin nach Halle
geſetzt worden war, fehlten bei Schleiermacher ſelten;
auch ſah ich daſelbſt vor ihrem Abgange von der Uni¬
verſitaͤt noch mehrmals die Philologen Karl Thiel und
Johannes Schulze, von welchen der letztere in Littera¬
tur und Staatsverwaltung durch ſeine wiſſenſchaftliche
Wirkſamkeit und ſeinen fuͤr das geſammte Unterrichts¬
weſen in Preußen gedeihlichen Eifer die ehrenvollſte Be¬
ruͤhmtheit erlangt hat. Ich ſuchte ferner einen juͤngern
Bruder von Theremin auf, lernte Neanders neue Freunde
Strauß und Budde kennen, und erinnerte mich auch
dem damals ſehr jungen Boͤrne aus Frankfurt am Main,
der unter Reils Aufſicht und Obhut ſtudirte, oͤfters be¬
gegnet zu ſein.
Umgang und Freundſchaft ſolcher Art auf der
Univerſitaͤt zerſtreuen nicht, ſie beleben und kraͤftigen
[102] vielmehr die Studien, und gehoͤren weſentlich mit ihnen
zuſammen, denn die Wiſſenſchaften und Geiſtesarten
treten dabei in ihrer Wechſelbeziehung hervor, und die
Gemeinſchaft wie die Verſchiedenheit der Gegenſtaͤnde,
mit denen man beſchaͤftigt iſt, wird jedem aͤchten Stre¬
ben zur groͤßten Foͤrderung. Ein wichtiges Erforderniß
ſcheint jedoch hierbei, daß der Verkehr moͤglichſt unter
Studirenden abgeſchloſſen bleibe, und nicht nach andern
Lebensgebieten ſo ſehr hinausverlockt werde, wo der
wiſſenſchaftliche Boden weicht, und die befangnen und
auch wohl oberflaͤchlichen Verhaͤltniſſe einer entwickelte¬
ren Lebensſtufe anheben. Neumann und ich, die wir
fruͤher in die Pruͤfungen des Erlebens geworfen, als zu
den Studien gekommen waren, hatten den Willen, uns
jetzt in dieſe redlich einzuhalten, allein die Thatſache,
daß unſer Sinn groͤßtentheils daruͤber hinausging, ließ
ſich weder laͤugnen noch abwenden, ſo wenig eine voͤllig
aufgegangene Bluͤthe ſich wieder auf den Stand einer
geſchloſſenen Knoſpe zuruͤckzwaͤngen laͤßt. Schon den
Andern waren wir mehr als gewoͤhnliche Studenten.
Unſere Schriftſtellerei machte ſich ruchbar, und fand
hier ſogar Beachtung; unſer neuſtes Opus, der Aus¬
fall gegen Merkel, wurde gut geheißen, und man las
in vielen Zeitſchriften Lob daruͤber. Die Profeſſoren
behandelten uns als junge Gelehrte. Dies trat recht
auffallend hervor, als gegen Ende des Mai Bernhardi
auf ein paar Tage nach Halle kam. Wir waren be¬
[103] ſtaͤndig mit ihm, und wer ihn wollte, lud auch uns
mit ein. So war ich der Gaſt des Geheimenraths
Schmalz und des Profeſſor Hoffbauer in der Geſellſchaft
auf dem Jaͤgerberg, einem ſchoͤnen Luſtorte in der Stadt,
wo der Berliner Freund bewirthet wurde. Wir genoſſen
auch das gute Gluͤck des vertrauten Zugegenſeins und
Theilnehmens, als die wuͤrdigen Alten bei Froͤhlichkeit
und Wein wieder jung wurden, und ihren Geiſt in
ſtudentiſche Freiheit ſetzten. Der gute Hoffbauer ließ
nicht nach, ſondern ſchleppte uns Alle zu noch beſſerem
Weine, wie er ſelbſtgefaͤllig verſicherte, in ſeine Behau¬
ſung, wo er uns, waͤhrend er ſelbſt in den Keller
hinabſtieg, zu einer Gartenlaube wies. Hier trafen wir
einen Mitbewohner des Hauſes, den Profeſſor Konopack,
der im Schlafrock bei einer Pfeife den Brunnen trank,
und ſich ungern geſtoͤrt ſah. Da er dies ſogar merken
ließ, ſo wurde er ſogleich die Zielſcheibe eines Schwarms
von Sticheleien, die mehr oder minder empfindlich aus¬
fielen. Wolf ergriff eine Waſſerflaſche, und ihren In¬
halt veraͤchtlich erkennend rief er aus: „Was iſt das,
Herr Kollege, ich glaube gar, Sie laſſen das jus strictum
laxiren? Nun, das wollen wir auch thun, und ſo machen
Sie uns vor allem etwas Platz, damit wir das ſchlechte
Waſſer hier durch guten Wein erſetzen.“ Der Nuͤch¬
terne entzog ſich hierauf ganz im Stillen. Wolf aber
war im Zuge, freute ſich, daß der Konopack ſich gepackt
habe, und alle die Scherze, Launen, Bemerkungen und
[104] Witzeleien, die geiſtreich und unerſchoͤpflich aus ihm her¬
vorgingen, waͤren ſchon damals kaum zu behalten ge¬
weſen, geſchweige denn jetzt wiederzugeben. Als Hoff¬
bauer endlich mit Flaſchen beladen taumelnd emporſtieg,
wandte ſich die Verhoͤhnung auch gegen ihn, ſeinen koͤſt¬
lichſten und theuerſten Wein fand man bei weitem nicht
gut genug, ja ganz abſcheulich, und Wolf, der unge¬
achtet der luſtigen Stimmung ſich durchaus nicht betrinken
wollte, wußte alles Aufnoͤthigen des beeiferten Wirthes,
der grad jenes zu bewirken wuͤnſchte, durch das einfache
Huͤlfsmittel zu taͤuſchen und zu vereiteln, daß er die
erneuten vollen Glaͤſer ſtets willig annahm, aber jedes¬
mal vor unſern Augen den Inhalt hinterruͤcks ausgoß;
indem er laut verſicherte, es fehle an Feuchtigkeit, die
Pflanzen verdorrten und muͤßten begoſſen werden. Ich
deute natuͤrlich nur den aͤußerlichen Umriß dieſer Sachen
an, die geiſtige Belebung derſelben mag ſich jeder nach
dem Bilde hinzudenken, welches er von Wolfs aufge¬
regtem und voͤllig freigelaſſenen Genius zu faſſen im
Stande iſt. Aber auch Bernhardi’s muntere Geſellig¬
keit muß dabei in Anſchlag kommen, ſo wie der liebens¬
wuͤrdige Eifer des tauben Hoffbauer, der ſchon des Zu¬
ſtandes genoß, in welchen die Andern gleichfalls zu
verſetzen er weder Koſten noch Bemuͤhen ſparte. Mir
wenigſtens blieb dieſer Abend als Maßſtab und Bei¬
ſpiel fuͤr ſo manches dieſer Art, was erlebt oder berich¬
tet wird, zum ſteten Ruͤckblick unzerſtoͤrbar im Andenken.
[105]
Waͤhrend der ſchoͤnen Sommermonate kam hierauf
noch andrer Beſuch nach Halle, der ſchon eine Zeit lang
angekuͤndigt und uns hoͤchſt erwuͤnſcht war. Achim von
Arnim erſchien, und bezog in Gibichenſtein bei Reichardt
die fuͤr ihn ſchon bereit gehaltene Wohnung. Seine
ſtattliche Groͤße und edle Haltung, ſein ungezwungener
Freimuth und geſelliger Frohſinn, vereinigten ſich zu
einem durchaus wohlthaͤtigen Eindruck. Man ſah ihm
ſogleich an, daß in ihm, weder uͤber ihn ſelbſt noch uͤber
die Außendinge, ein ſtoͤrender Zweifel war, daß er ſei¬
nen Neigungen harmlos folgte, und durch keinerlei
falſche oder verdeckte Anſpruͤche geleitet wurde. Auch
daß das Gluͤck ihn durch Naturgaben und Umſtaͤnde
guͤnſtig bedacht, ihn zu keinen verkehrten oder beengten
Verhaͤltniſſen hinabgedruͤckt, ſondern ihm jede Entwick¬
lung erleichtert hatte, ließ ſich an dieſem gelungenen
Menſchengebilde wohl wahrnehmen. Ich ſpreche hier
von ſeiner damaligen Erſcheinung, was in ſpaͤterer Zeit
dieſes heitre Bild hin und wieder getruͤbt haben mag,
bleibe kuͤnftigem Orte, ſofern es noͤthig ſein wird, vor¬
behalten. Arnim war fuͤr mich ein herrlicher Anblick,
den einiges uͤbelwilliges Reden Harſchers und kopfſchuͤt¬
telnde Laͤcheln von Marwitz und ſelbſt von Steffens, ſo
wenig wie die Reichardt’ſche Umgebung, welche hier
ganz untrennbar war, mir nicht verkuͤmmern konnten.
Mit mehr liebevoller Offenheit war mir noch niemand
entgegengekommen, mein gruͤßendes Wort aus Hamburg
[106] hatte den freundlichſten Sinn zu herzlichſter Erwiederung
aufgefordert, und ich ſah mich auf den beſten Fuß zu
dem anſehnlichen jungen Mann geſtellt. Gleichwohl ent¬
ſtand keine eigentliche Vertraulichkeit, und ſowohl das
Reichardt'ſche Weſen, als auch unſre ſehr abweichenden
Beſchaͤftigungen, hielten uns auseinander. Eine zweite
ausgezeichnete Erſcheinung war Karl von Raumer, der
Freund Koreff's, und auch ſchon unſer Genoſſe durch
ſeine Almanachsbeitraͤge. Von mittlerer Geſtalt, leicht
und beweglich in Gliedern und Sinn, verband auch er
Heiterkeit und Ernſt in ſeinem jugendlichen Weſen, das
neben kraͤftigem Uebermuth auch zarte Schwaͤrmerei durch¬
blicken ließ. Er hatte mit befluͤgeltem Geiſte die Kun¬
den der Natur und der Geſchichte ausgebeutet, und
alles Wiſſen zu den glaͤnzendſten Ideen verarbeitet, die
er reich gebildet und ſanft in jeder Mittheilung lebhaft
darbot. Steffens war mit ihm in traulicher Freund¬
ſchaft, Schleiermacher aber, der ſich mit dem Juͤnglinge
Du nannte, zeigte faſt verehrende Liebe fuͤr ihn, und
nahm ſeine nur oft fluͤchtigen Aeußerungen wie goldne
Spruͤche eines Begeiſterten auf. Auch Raumer eilte
uns mit Herzlichkeit zu empfangen, ſprach mir von ſei¬
nen großen Studien zur Begruͤndung philoſophiſcher
Geſchichtseinſicht, die nach Maßgabe der noch ſehr duͤrf¬
tigen Mittel ſchon geradezu auf Indien und auf das
Sanskrit losdrangen, nnd zeigte mir in ſeinen Auszuͤ¬
gen und Sammlungen Fruͤchte eines erſtaunlichen Fleißes,
[107] die ich aus meinen Buͤchern mit einigen ſeltenen Gaben
ſehr erwuͤnſcht vermehren konnte. Zu meinem Leidwe¬
ſen aber war auch Raumer von dem Reichardt'ſchen
Kreiſe ganz befangen, und zwar mit den ſtaͤrkſten Ban¬
den, denn er war heftig verliebt, ſchon mit der Hoff¬
nung zu heirathen, wie auch ſpaͤter in Erfuͤllung ging.
Dieſe Gebundenheit wirkte kuͤhlend auf unſer Verhaͤltniß,
und die außerordentliche Gunſt Schleiermachers und die
kuͤnftige Verſchwaͤgerung mit Steffens konnte Raumern
auch ſonſt in den juͤngern Kreiſen nicht gegen die ſchar¬
fen Zweifel und Angriffe ſchuͤtzen, welche Harſcher und
Marwitz, deren ſtolze Strenge im Verſagen bis zur
Haͤrte ging, uͤber die Tuͤchtigkeit und Gruͤndlichkeit ſei¬
nes Strebens und Wiſſens faſt mit Feindſchaft aus¬
druͤckten; ihren Liebling gegen dieſe zu vertheidigen ge¬
lang den Meiſtern ſelbſt nicht immer, um ſo weniger
mir, der ich mich ſeiner ſtets annahm, waͤhrend jene
dagegen feſt auf ihrem Sinn auch in der Folgezeit ver¬
harrten. Bekker und Przyſtanowski aber, welche auch
ſchwer ſich zur Anerkennung bequemten, und Raumern
damals gar nicht wollten gelten laſſen, mußten in ſpaͤ¬
terer Zeit ſeine Anziehungskraft um ſo ſtaͤrker erfahren,
indem ſie bei naͤherem Zuſammenleben leidenſchaftliche
Zuneigung fuͤr ihn faßten.
Unter den Ausfluͤgen, die wir in die Landſchaft
machten, — am haͤufigſten nach Gibichenſtein, niemals
nach Paſſendorf, wo die Menge der Studenten jenſeits
[108] der preußiſchen Acciſe im Saͤchſiſchen zu wohlfeilerem
Taback und Bier taͤglich hinzog, — war auch eine Fahrt
nach Lauchſtaͤdt, dem lieblichen Badeorte, wo die wei¬
mariſche Schauſpielertruppe im Sommer ihre Vorſtel¬
lungen gab. Neumann, Marwitz, ich und noch zwei
Andre beſtiegen an einem ſchoͤnen Tage zuſammen ein
Waͤgelchen, das uns auf den ſchlechten Wegen, mit
Huͤlfe eifrigen Geſpraͤchs noch ſchnell genug an Ort und
Stelle brachte. Die ſchattenreichen, breiten Anlagen,
einladenden Gebaͤude, und bunte regſame Geſellſchaft,
uͤberraſchten uns wie eine erquickliche Oaſe in der Oede
der zuruͤckgelegten und nochmals zuruͤckzulegenden Stun¬
den und Raͤume. Wir trafen, wie dies an Theater¬
abenden gewoͤhnlich war, noch viele halliſche Gaͤſte dort,
ſo wie auch aus Leipzig, Merſeburg und Weimar der
Beſuch nicht fehlte. Unſre Hoffnung, Goethe'n zu
finden, blieb aber leider getaͤuſcht. Um ſo eifriger
waren wir, ſeine Eugenie zu ſehen, welche zu unſrer
Freude ſtatt eines angekuͤndigten andern Stuͤckes gege¬
ben wurde. Arnim, der auch mit Geſellſchaft gekommen
war, fand ſich zwiſchendurch zu uns, und unſer gemein¬
ſames Vergnuͤgen wurde noch durch den Reiz erhoͤht,
welchen die anmuthige Erſcheinung der Demoiſelle Jage¬
mann aus Weimar fuͤr uns hatte; ſie war nicht zum Mit¬
ſpielen, ſondern nur als Zuſchauerin gekommen, da ſie
jedoch mit Arnim wohlbekannt und von ihm lebhaft em¬
pfangen war, ſo hatten auch wir naͤheren Gewinn von ihrer
[109] Gegenwart. Das Stuͤck wurde vortrefflich gegeben, die
Hauptrollen mit leidenſchaftlicher Wirkung, das Ganze
mit einem ſchoͤnen Maße und wohlthaͤtiger Ordnung,
daß man alsbald fuͤhlte, uͤber dieſem Kunſtweſen muͤſſe
großer Verſtand und tiefe Bildung maͤchtig ſchalten.
Graff als Herzog, Madame Wolff als Eugenie, mach¬
ten einen tiefen Eindruck, der auch die ſonſt laute Stu¬
dentenſchaar zu aufmerkſamer Stille bezwang. Ueber¬
haupt thaten Schauſpieler und Zuhoͤrer beiderſeits ihr
Beſtes, und das kleine Haus, von deſſen Erbauung
uns Goethe ſo antheilvollen Bericht giebt, konnte in
der That ein Muſentempel duͤnken, in welchem Sinn,
Anſtand und Zuſammenſtimmung des Oertlichen wie des
Spiels den Mangel reicherer Mittel vergeſſen machten.
Die Verbindung mit den entfernten Freunden litt
bei den neuen Bekanntſchaften auf keine Weiſe; mein
in jedem Sinn belebteſter Briefwechſel fand mit Ham¬
burg Statt, desgleichen mit Berlin. Am wenigſten wurde
Chamiſſo vergeſſen, der in Hameln ſeiner verlangten Ent¬
laſſung aus dem Kriegsdienſt ungeduldig harrte, und
dann unverzuͤglich zu uns zu kommen gedachte. Er
hatte in Nenndorf die Bekanntſchaft des Barons und
der Baronin von Fouqué gemacht, und uns von dem
Ehepaar viel Liebes mitgetheilt. In ſeinen Planen und
Abſichten wurde er auch von dieſer Seite nur beſtaͤtigt,
da Fouqué ebenfalls das Kriegsweſen verlaſſen und ſich
ganz der Dichtkunſt ergeben hatte. Der Sommer war
[110] indeß ſtark vorwaͤrts geſchritten, und die Antwort auf
das eingereichte Abſchiedsgeſuch kam nicht; aus ſehr na¬
tuͤrlichem Grunde, denn daſſelbe war unbefoͤrdert bei
dem Oberſten liegen geblieben, und mußte wiederholt
werden. Aber in der Zwiſchenzeit hatten die politiſchen
Ausſichten ſich wieder getruͤbt, und die Moͤglichkeit ei¬
nes Krieges war naͤher getreten, der Abſchied, welcher
fruͤher ohne Schwierigkeit zu erlangen geſchienen, wurde
jetzt unthunlich, und Chamiſſo genoͤthigt, eine entſchie¬
dene Wendung der Dinge in ſeiner bisherigen Lage fer¬
ner abzuwarten. Er und wir mußten uns in das Un¬
vermeidliche fuͤgen, und hofften nur, daß die Ungewißheit
nicht lange dauern wuͤrde. Unſer Briefwechſel aber
diente zugleich unſrer litterariſchen Thaͤtigkeit, denn ich
hatte mit Chamiſſo die Fortſetzung des Almanachs und
mit Neumann die Herausgabe einer andern Sammlung
von Aufſaͤtzen im Sinn, wozu wir die angemeſſenen
Beitraͤge verabreden und einfordern mußten. Chamiſſo
ließ uns Verſe und Proſa nicht fehlen, Bernhardi gab
ein humoriſtiſches Todtengeſpraͤch, meine Schweſter eine
wohlgearbeitete Novelle, und Reinhold und Theremin
verſprachen Gedichte, ſo wie auch Fouqué, der mir
durch Bernhardi ein Exemplar ſeiner eben erſchienenen
dramatiſchen Hiſtorie vom Ritter Galmy uͤberſandt, und
mir durch ein ſolches unverhofftes Ehrengeſchenk, an
welches ein brieflicher Verkehr ſich ſogleich anſchloß, keine
geringe Freude gemacht hatte. Zwar der Almanach kam
[111] nicht zu Stande, weil der hamburgiſche Buchhaͤndler
der unentgeldlich angebotenen Waare mißtraute, gern
aber verlegte er die andre Sammlung, fuͤr welche er
ſogar ein billiges Honorar zu geben ſich bereit erklaͤrte.
Manche der dem Almanach beſtimmt geweſenen Gedichte
mochten wir ungern zuruͤcklaſſen, und ſchoben ſie daher
zwiſchen die andern Aufſaͤtze ein, da der gewaͤhlte Titel
„Erzaͤhlungen und Spiele“ jede Miſchung erlaubte; wir
handelten darin ganz naiv und arglos, und waren eini¬
germaßen betroffen, aber doch gleich mit dem Witze des
Schickſals einverſtanden, auf welchen Chamiſſo aus der
Ferne uns erſt aufmerkſam machen mußte, daß durch
unſre Anordnung der bethoͤrte Verleger nun dennoch
drucke, und ſogar bezahle, was er umſonſt nicht ge¬
wollt hatte!
Ich zeigte mehreres zum Druck beſtimmte vorher
Schleiermachern, und erbat ſein Urtheil und ſeine Rath¬
ſchlaͤge. Neumanns Ueberſetzungen aus dem Italiaͤni¬
ſchen des Boccaccio und Macchiavelli konnten, als zu
woͤrtlich der fremden Sprache folgend und daher die
deutſche verrenkend, keinen foͤrmlichen Beifall erhalten,
allein ſo uͤberwiegend neigte die von Voß und W. Schle¬
gel in Gang gebrachte Ueberſetzungskunſt, zu der auch
Schleiermacher bei ſeinem Platon ſich bekannte, auf
Nachbildung aͤußerer Formen hin, daß jene Mißgebilde,
welche ſpaͤter in Woltmanns Tacitus noch ſogar uͤber¬
boten wurden, als aͤußerſte Verſuche noch immer des
[112] Druckes werth duͤnkten. Ein Maͤhrchen von Chamiſſo
fand Schleiermacher ſehr ſchoͤn, und lobte auch ein dra¬
matiſches Spiel von mir, welches in kuͤnſtlichen Formen
einen erzwungenen Stoff mit einiger Gewandtheit ver¬
arbeitete. Fruͤher ſchon hatte er meine Ueberſetzung der
Epigramme Platons mit Wohlgefallen aufgenommen,
und mit genauer Sorgfalt mir manche Verbeſſerung
angegeben. Der Beifall und die Aufmunterung eines
ſolchen Meiſters waren mir unſchaͤtzbar, und ich ver¬
hehlte nicht, mit welchen heißen Empfindungen ich hier
mich anzuſchließen begehrte, wo mir ſolche Gunſt und
Foͤrderung ſchon gewaͤhrt wurde. Dergleichen ſentimen¬
tale Bezeigungen wies die ſonſt kuͤhle Beſonnenheit
Schleiermachers gar nicht ab. Jemehr ich aber unter
Einwirkung ſeines Umgangs und ſeiner Vortraͤge in
eigner Bildung fortſchritt, deſto mehr empfand ich Zu¬
ruͤckhaltung und Scheu, meine Verehrung in jener
anſpruchsvollen Weiſe nach augenblicklichen Aufwallun¬
gen darzulegen; durch ſteigenden Gehalt und tiefere
Innigkeit wurde meine Ehrfurcht nur beſcheidener und
ſchweigſamer. Dies aber wurde von Schleiermacher
ungluͤcklicherweiſe verkannt; die Veraͤnderung entging
ihm nicht, allein er ſchob ſie irrig auf ſelbſtiſche Kaͤlte
und hochfaͤhrtigen Duͤnkel, welche ihm mein beſſeres
Gefuͤhl zu verdraͤngen ſchienen. Er aͤußerte etwas die¬
ſer Art, Loͤbell erfuhr davon ich weiß nicht wie, und
machte eine gehoͤrige Klatſcherei daraus, die mir durch
[113] Neander endlich zu Ohren kam. Kein groͤßeres Unrecht
konnte mir widerfahren, ich empfand es gekraͤnkt, aber
mehr noch empoͤrt, und ſtand jetzt nur um ſo trotziger
in dem Scheine da, welchen zu zerſtreuen ich um kei¬
nen Preis auch nur die kleinſte Bewegung gemacht haͤtte.
Daß zugleich meiner vielen und ſchoͤnen Kenntniſſe ge¬
dacht worden, und Schleiermacher gemeint hatte, ſie
machten mich hochfaͤhrtig, erregte mein bitteres Lachen,
denn ich fuͤhlte tief die Unzulaͤnglichkeit alles meines
Wiſſens, ſah mich in vielem hinter den gemeinſten An¬
faͤngern zuruͤckſtehen, glaubte nie genug zu thun, um
die beſchaͤmenden Bloͤßen zu decken, deren ich mir be¬
wußt war. Meine Hochachtung fuͤr Schleiermacher
wurde jedoch durch dieſes Begegniß nicht geſchwaͤcht,
noch mein Benehmen gegen ihn ſeitdem veraͤndert. Auch
wandte er ſich bei nachfolgenden Gelegenheiten auszeich¬
nend und traulich zu mir, indem er zugleich gegen
Andre meine Geſinnung und meine Faͤhigkeiten ruͤhmte;
aber dennoch warf jenes erſte ungluͤckliche Mißverſtehen
den Keim einer Unvereinbarkeit zwiſchen uns aus, welche
in der Folge neue Irrungen nur um ſo leichter entſte¬
hen ließ.
Von Berlin her war die Gruͤndung eines beſondern
Gottesdienſtes fuͤr die Univerſitaͤt betrieben und ſo weit
gefoͤrdert worden, daß dieſe Anſtalt am 3. Auguſt, als
dem Geburtstage des Koͤnigs, wirklich eroͤffnet werden
konnte. Eine leerſtehende, bisher zu andern Zwecken
II. 8[114] gebrauchte Kirche war der Akademie uͤberwieſen, und
Schleiermacher zum akademiſchen Prediger beſtellt. In
jetzigen Tagen wuͤrde ſich niemand uͤber ſolche Einrich¬
tung wundern, ſondern die Meiſten ſie ganz in der
herrſchenden Ordnung finden, und Mancher vielleicht
mit jammerndem Ruͤckblick auf die arge Vergangenheit
ſogar die Frage aufſtellen, wie man bis dahin ohne
dergleichen nur habe beſtehen und einen ſolchen Mangel
verantworten moͤgen? Man muß aber in die Stim¬
mung von damals ſich zuruͤckverſetzen, um zu begreifen,
welch auffallende Neuerung und welch gewagter Verſuch
dieſe Sache war. Das Chriſtenthum war durch philo¬
ſophiſchen Anſchluß und poetiſche Behandlung in der
letzten Zeit allerdings wieder zu groͤßerem Anſehn ge¬
kommen, aber deßhalb glaubte man doch der kirchlichen
Seite noch voͤllig fremd bleiben zu duͤrfen. Es gehoͤrte
der ganze Ruf Schleiermachers als eines tiefdenkenden,
geiſtreichen, gelehrten Mannes dazu, um ein ſolches
neues Predigtamt bei Ehren zu halten, indem Pro¬
feſſoren, Buͤrger und Studenten, deren Mehrzahl ſich
kaum einfallen laſſen konnte, eine fromme Erbauung
zu ſuchen, und doch insgeſammt gewiß ſein durften,
eine durch Scharfſinn und Gewandtheit merkwuͤrdige
Rede zu vernehmen. Wirklich war die Kirche gepreßt
voll, und eine angemeſſene Stille ehrte den Redner,
der aber die herrſchende Stimmung ſeiner bunten Ge¬
meinde ſo gut kannte, daß er einen hoͤheren Stand¬
[115] punkt, auf welchen er ſie zu erheben wuͤnſchte, gleich
durch die Wahl des Textes andeutete, und uͤber die
Worte des Apoſtels Paulus predigte: „Ich ſchaͤme mich
des Evangelii von Chriſto nicht; denn es iſt eine Kraft
Gottes, die da ſelig macht Alle, die daran glauben.“
Man hoͤrte ihn aufmerkſam und ehrerbietig an, und
verſprach ſich, dieſe wuͤrdige Unterhaltung fortzuſetzen,
in welcher wir naͤheren Juͤnger eine ſegenreiche Kraft
ſchon lebendiger verſpuͤrten. In der That hatte die
Sache guten Fortgang, und das religioͤſe Element,
auf deſſen Hervorrufung Schleiermacher ſeine ganze
Kraft richtete, gewann mehr und mehr Boden, indem
auch die hierfuͤr empfaͤnglichen Gemuͤther ſich eifriger
heranzogen, und die blos aus Bildung oder Neugier
zuhoͤrenden mehr und mehr abfielen.
Ich verſaͤumte dieſe Vortraͤge nie, wiewohl mich
kein eigentlich religioͤſes Beduͤrfniß zu ihnen zog. Ich
wuͤßte keinen Abſchnitt meines Lebens, in welchem ich
der Innigkeit frommer Empfindungen ganz entbehrt
haͤtte, ein geheimes Erkennen und Verehren der goͤtt¬
lichen Macht und Liebe hatte mich nie verlaſſen; ich
fuͤhrte meinen Gnadenbrief, um hier ſo zu ſprechen,
wenn auch noch ſo zuſammengedruͤckt und zerknittert,
ſtets bei mir, und er konnte jeden Augenblick wieder
entfaltet werden. Allein keine meiner Beziehungen zur
Froͤmmigkeit hatte bis dahin einer Kirche ſich wahr¬
haft verknuͤpfen koͤnnen; die proteſtantiſche ſchien den
8 *[116] Glauben, mit welchem ſie ſich noch trug, entbehren zu
koͤnnen, und was dann uͤbrig blieb an guten Lehren
und Bildern, pflegte wahrlich trocken und nuͤchtern
genug zu ſein. In dem Zwieſpalte der Vernuͤnftelei
dieſer Kirche und des Aberglaubens der katholiſchen
ſchien das religioͤſe Gebilde voͤllig entſchwunden; das
Reinſittliche konnte ohne ſolche Unterlage fuͤr ſich recht
gut beſtehen, und die Gottergebenheit war auch aus
der Philoſophie herzuleiten, womit die vorchriſtlichen
Weiſen der Griechen und Roͤmer ſich ohnehin hatten
behelfen muͤſſen. Die geſchichtlichen Geſtalten der welt¬
lichen Erſcheinungen des Chriſtenthums durften am
wenigſtens anziehen, ſie hatten zu der verkuͤndigten
Liebe nur allzu oft kein andres Verhaͤltniß, als die
Schreckenszeit der franzoͤſiſchen Revolution zu den Ver¬
heißungen der Freiheit und Gleichheit, und es war faſt
allgemein die Anſicht verbreitet, daß alles Hierarchiſche
ſich uͤberlebt habe und voͤllig weichen muͤſſe, waͤhrend
der geiſtige Hauch und die liebliche Waͤrme der urſpruͤng¬
lichen Liebe freilich zu ewigem Fortwirken berufen ſeien.
In dieſem Sinne verfuhr auch Schleiermacher, und
ſein unverhohlenes Beſtreben ging hauptſaͤchlich dahin¬
aus, die Religionslehre von dem Buchſtaben der Bibel
ganz unabhaͤngig zu machen. Durch meine fortgeſetzte
Aufmerkſamkeit bei Schleiermacher und durch die nach¬
ziehende Macht ſeiner Lehrweiſe fand ich mich hier zum
erſtenmal aus der weiten Breite meiner Religionsan¬
[117] ſichten zu einer beſtimmten Kirchenlehre hingeleitet,
und es gelang mir einigermaßen, dieſe, ſo weit ich ſie
kennen konnte, in ſolcher Fuͤhrung aufzufaſſen. Allein
ſchon verlautete, dieſe Lehre ſei keineswegs die altbe¬
glaubigte und anerkannte, und ich konnte mir nicht
verhehlen, daß ich ſelber das Beduͤrfniß und die Empfin¬
dungen, die mir urſpruͤnglich gegeben waren, ergaͤnzend
hinzuthun mußte. In dieſen lag mir aber die ſicherſte
Ausgleichung fuͤr manches Vorgetragene, dem in ſeiner
glaͤnzenden Ausſtattung geiſtig zu widerſtehen ich nicht
geruͤſtet war, das aber gleichwohl in mein Gemuͤth
nicht eindrang. So hielt Schleiermacher unter andern
eine gewaltig fortreißende Predigt uͤber das Sterben,
in welcher die Verneinung perſoͤnlicher Fortdauer nach
dem Tode von den lichtvollſten Gedankenreihen umhuͤllt
war, die ſich gleichſam zum Erſatz jenes abgewieſenen
Troſtbildes herandraͤngten; ich ließ mich eine Zeit lang
uͤberreden, jenes Verneinen, dem auch die Naturphilo¬
ſophie ihrerſeits kuͤhn zuſtimmte, ſei die Wahrheit, und
ich fuͤhlte, nach einigem Schrecken, den eine ſo neue,
bisher nie an meine Seele gelangte Anſicht wohl er¬
regen durfte, mich bei ihr alsbald ſo beruhigt, wie ich
es vorher geweſen war: allein mit beſſerem Fug und
Recht, als in ihr ſelbſt lag, denn es dauerte nicht
lange, ſo wurde ich gewahr, daß ich die neue Anſicht
nur als ſolche gefaßt, ſie aber nicht als Ueberzeugung
in mein Innerſtes aufgenommen hatte, ſondern im
[118] Gegentheil, waͤhrend ich mich zu ihr zu bekennen
meinte, der feſte Glauben an die Unſterblichkeit der
Seele mir im tiefſten Weſen unerſchuͤtterlich fortlebte.
So ging es mir auch mit andern Lehrſaͤtzen, bei denen
mehr eine geiſtige Entwickelung, und oft nur eine
dialektiſche Gewandtheit im Spiele war, kaum aber ein
wahrhaft religioͤſer Inhalt zur Sprache kam, daher
denn auch dieſer fuͤr ſeine anderweitige Entwickelung
gluͤcklich frei blieb.
Dieſe Schleiermacher’ſchen Predigten waren kaum
im Zuge, als uns die Religion auch von einer unge¬
woͤhnlichen Seite und in einer ganz beſondern Zube¬
reitung nahegelegt und angetragen werden wollte. Za¬
charias Werner hatte ſeine Weihe der Kraft geſchrieben,
und Iffland ſie in Berlin auf die Buͤhne gebracht.
Der Dichter wollte die Religion, welche an und fuͤr
ſich als unſchmackhaft und bitter ſo haͤufig nicht mundete,
mit Huͤlfe eines guten Geſchmacks, den er hinzumiſchte,
dem Publikum eingeben, und hoffte bei dieſer Gele¬
genheit auch ſeine vorraͤthigen aͤſthetiſchen Gaben nur
um ſo beſſer an Mann zu bringen. Die Soͤhne des
Thals und das Kreuz an der Oſtſee waren ſchon in
dieſem Sinne gearbeitet. Ein Schritt weiter, und
Luther ſtand auf der Buͤhne, wo er in jedem Falle
von Wirkung ſein mußte; um dieſe jedoch auf’s aͤußerſte
zu verſtaͤrken, hatte der Verfaſſer dem tuͤchtigen und
derben proteſtantiſchen Helden ein kindiſches Beiwerk
[119] von myſtiſch ſein ſollender Taͤndelei geſellt, wie ſolche
wohl auf der unterſten Stufe katholiſcher Bildung grob¬
ſinnig dargeboten wird. Dies Beiwerk war ihm
eigentlich die Hauptſache, die er nur noch nicht einge¬
ſtehen wollte, auf dem Theater aber galt vorzuͤglich
die Rolle Luthers, oder vielmehr in ihr Iffland, der
ſie mit Meiſterſchaft darſtellte. Jetzt kam er mit dem
Manuſcript nach Halle, und da hier keine theatraliſche
Auffuͤhrung moͤglich war, ſo las er das ganze Stuͤck
gegen ein maͤßiges Eintrittsgeld oͤffentlich vor. Alles
war neugierig und draͤngte ſich heran. Iffland las
vortrefflich, und aͤrntete beſonders in ſeiner eignen
Rolle, die er aus dem Gedaͤchtniſſe herſagen konnte,
und groͤßtentheils wirklich ſpielte, lauten Beifall. Dieſen
Beifall auch dem Stuͤcke ſelber anzueignen, waren im
Anfang manche Stimmen ſehr bemuͤht; Reichardt, der
bei neuen Dingen ſtets voran war, und ſeine Unter¬
ſtuͤtzung ſeinem preußiſchen Landsmanne Werner, Iff¬
landen, und dem ganzen Vorgange ſchuldig glaubte,
draͤngte ſich umher, und munterte zur Bewunderung
auf; Madame Eliſe Buͤrger, die eigends wegen dieſer
Vorleſung nach Halle gekommen war, ſprach ihr Ent¬
zuͤcken mit dem Nachdruck einer Kunſtverwandten aus,
welche ſich nicht ſcheute, in ſolcher Verſammlung ziemlich
laut zu reden, da ſie ſchon gewohnt war als Haupt¬
perſon ſelber einem aͤhnlichen Zuhoͤrervolke muthig da¬
zuſtehen. Dergleichen Fuͤrſprache und Bemuͤhen gab
[120] ſich aber nutzlos Bloͤßen, und ſchadete ſogar; das Stuͤck
mißfiel auch dem natuͤrlichen Sinne der meiſten Stu¬
denten, wir Freunde ließen uns hart daruͤber aus,
und hatten die Befriedigung, unſre Urtheile durch hoͤhere
Autoritaͤten ſofort beſtaͤtigt zu finden. Reichardt, nach¬
dem er inne geworden, woher und wie ſtark der Wind
wehte, zog die Segel wieder ein, und that dies, wie
er pflegte, mit guter Art, indem doch immer einige
Punkte uͤbrig blieben, an welchen ein Lob des drama¬
tiſchen Talents, der guten Verſe, und anderes der Art
haften konnte, die Meiſterſchaft Ifflands aber ohnehin
kaum beſtritten wurde. Werner hatte ſchon vor laͤn¬
gerer Zeit durch einen Brief an Chamiſſo voll der
albernſten und frechſten Fratzen uns widrig abgeſtoßen,
indem er uns heftig anzuziehen wuͤnſchte. Die Zeichen
unſers Polarſternbundes waren ihm aufgefallen, er hatte
ſich darnach erkundigt, hielt uns fuͤr eine gute Beute,
und glaubte ein ſolches noch ziemlich loſes Buͤndel jun¬
ger Leute fuͤr ſeine Zwecke beſſer zuſammenſchnuͤren zu
koͤnnen. Dieſes Geluͤſt, unſre Leitung zu uͤbernehmen,
zog ihm nur zu, daß ich durch ſcheinbare Hingebung
ihn zu myſtifiziren beſchloß, und in dieſem Sinne auch
an ihn ſchrieb. Was weiter hierin zu verſchiedenen
Zeiten erfolgte, iſt bereits im Zuſammenhang auf einem
beſondern Blatte aufgezeichnet, das kuͤnftig irgend ein¬
zuſchalten ſein wird.
[121]
Die Kriegsgeruͤchte und Truppenbewegungen hatten
ſchon den ganzen Sommer mit ſchwaͤcheren Friedens¬
ausſichten abgewechſelt, nachdem aber Napoleon durch
Stiftung des von ihm abhaͤngigen und offenbar gegen
Preußen gerichteten Rheiniſchen Bundes tief in Deutſch¬
land hinein feſten Fuß gefaßt, mußte die Friedens¬
hoffnung voͤllig ſchwinden, und in Preußen verlangte
alles, was eine Stimme hatte, heftig nach Krieg.
Reichardt war nicht der letzte, und verſuchte ſich in
Kriegsliedern, die an den preußiſchen Grenadier nicht
eben vortheilhaft erinnerten, es wurde den Oeſterrei¬
chern darin ſehr unziemlich vorgehalten, man habe im
vorigen Jahre bei Ulm wohl geſehen, daß keine Preußen
dort geweſen. Auch Achim von Arnim dichtete eine
Anzahl Lieder von politiſchem Inhalt, und ein Lied
auf den Rheinbund, das er mir vorlas, war in der
That von gluͤcklichſter Tonart und ſchoͤnſter Laune.
Preußiſche Truppen, welche ſich allmaͤhlig gegen Suͤden
und Weſten zogen, waren in und bei Halle zu ſehen,
und erhoͤhten das Vertrauen und die Luſt zum Kriege.
Einige Hitzkoͤpfe geriethen voͤllig in Wuth, wenn man
friedlichen Vergleich noch fuͤr moͤglich halten, oder die
Ueberlegenheit der preußiſchen Kriegsmacht uͤber die
franzoͤſiſche nicht unbedingt annehmen wollte. Ich erin¬
nere mich, daß ich mit dem Geheimen Rath Schmalz
uͤber den Markt ging, und ein andrer Profeſſor ihn
mit Neuigkeiten anſprach, daß der Krieg nun entſchieden
[122] ſei, und nichts den tollen Bonaparte mehr vom Unter¬
gange retten koͤnne. Als man von franzoͤſiſchen Gene¬
ralen ſprechen wollte, fiel er heftig ein: „Generale?
wo ſollten die herkommen? Wir Preußen haben Gene¬
rale, die den Krieg verſtehen, die von Jugend auf ge¬
dient haben, jene Schneider und Schuſter, die erſt durch
die Revolution etwas geworden, koͤnnen vor ſolchen
Maͤnnern nur gleich davon laufen. Ich bitte Sie um
Gottes willen, ſprechen Sie mir nicht von franzoͤſiſchen
Generalen!“ Das war denn doch zu arg, man er¬
wiederte kurz, die wahren Generale ſeien gerade die,
welche es, trotz ihrer Geburt oder ihres fruͤheren Stan¬
des, durch den Krieg geworden, ſie kaͤmen uͤberall her,
vom Dreſchflegel, von der Elle, ſogar zuweilen vom
Paradeplatz und vom Nachtdienſt! Der Mann ſah mit
grimmigem Erſtaunen drein, Schmalz aber, der als
heftiger Preuße ſolchen Unſinns doch ſich ſchaͤmte, trat
eilig vermittelnd auf, beſtaͤtigte jedoch im Allgemeinen
die letztere Aeußerung, indem er ſie zugleich milder
einkleidete, und das ungebaͤrdige Geſpraͤch verlief ſich
zuletzt in einem Schwall nutzloſer Redensarten, unter
denen man ſich trennte.
Die Truppenzuͤge dauerten fort, in Halle nahm der
General Graf von Wartensleben ſein Quartier, und es
hieß, ſeine Mannſchaft wuͤrde fuͤrerſt in dieſer Gegend
ſtehen bleiben. Wir waren Freitag Abends wie gewoͤhn¬
lich bei Schleiermacher beiſammen, und beſprachen dieſe
[123] Dinge, als wir unerwartet durch die Nachricht geſtoͤrt
wurden, am naͤchſten Sonntage werde Schleiermacher
nicht predigen koͤnnen, indem der Graf von Wartens¬
leben ſich die akademiſche Kirche habe uͤberweiſen laſſen,
um ein Magazin dort unterzubringen, und man fange
bereits an, Saͤcke hineinzuſchaffen. Schleiermacher war
aͤußerſt betroffen, er ſah die kaum eingerichtete Anſtalt,
welche ſo reichen Segen verhieß, durch dieſe Widerwaͤr¬
tigkeit im Beginn auf weithinaus gehemmt, denn man
konnte vorausſehen, daß auch mit dem Abzuge der
Truppen die Fortſchaffung des Magazins noch keines¬
wegs erfolgen wuͤrde. Der Magiſtrat war beeifert ge¬
weſen, dem General dieſen ſchon fruͤher zu ſolchen
Zwecken gebrauchten Raum anzuweiſen, der Prorektor
hatte dazu die Achſeln gezuckt, und ſo ſchien die Sache
fuͤr diesmal nicht mehr zu aͤndern. Waͤhrend nun Alle
in groͤßter Aufregung den Fall beſprachen, uͤber die
Willkuͤr der einen und die Laͤſſigkeit der andern Behoͤrde
ſich ausließen, und was zu thun ſei hin und her riethen,
regte ſich in mir ein raſcher Thattrieb, ich hatte ſchnell
einen Plan gemacht, ſchlich im Stillen fort, und eilte
zur Ausfuͤhrung. Es war offenbar, daß beiderlei Be¬
hoͤrden den akademiſchen Gottesdienſt fuͤr etwas Gleich¬
guͤltiges angeſehen hatten, dies ſollte widerlegt werden
durch den Eifer der Studenten ſelbſt, welchen aufzu¬
regen ich mich unterfing. Nichts Durchgreifendes aber
konnte geſchehen ohne die Landsmannſchaften, mit denen
[124] ich keine Verbindung hatte, und zugleich war kein
Augenblick zu verlieren, denn bis zum naͤchſten Sonn¬
tage war nur noch ein Tag uͤbrig. In dieſer Noth
wandte ich mich zunaͤchſt, um nur Namen und Woh¬
nung der Senioren der Landsmannſchaften zu erfahren,
an die Frau Gevatterin, eine unter dieſem Namen weit
und lange beruͤhmte Obſthaͤndlerin, die ihre Bude auf
dem Markte hatte, und ſchon ganz herkoͤmmlich, gleich
den Halloren, das Vertrauen der Studenten beſaß.
Dieſe gute Frau gab mir willig die erwuͤnſchte Auskunft,
und dazu einen Knaben, der mich, da es ſchon dunkel
geworden, die Wege fuͤhrte. Als ein ganz Fremder
mich den Senioren vorzuſtellen, ſie nur zu dem Ge¬
ſtaͤndniß zu bewegen, daß ſie dieſe ſeien, und dann ihre
Unterſtuͤtzung fuͤr eine ſo ungewoͤhnliche, dazu von einem
Nichtbruder betriebene Sache zu gewinnen, dies alles
durfte wahrlich fuͤr keine Kleinigkeit gelten! Ich weiß
ſelbſt nicht mehr, was ich fuͤr gluͤckliche Formen fand,
und mit welch eindringlicher Beredſamkeit ich den Gegen¬
ſtand, von dem ich freilich ſelber gluͤhend ergriffen war,
ihnen als eine Sache ſtudentiſcher Ehre und Begeiſte¬
rung vortrug, genug es gelang mir mit dem Erſten,
den ich anſprach, und nach ſo gutem Anfang, auf den
ich mich berufen konnte, mit Allen; ſie erwiederten mein
Benehmen mit freundlichem Sinn, fanden ſich geſchmei¬
chelt, daß ſie, wie bisher in gemeinen perſoͤnlichen Haͤn¬
deln, nun auch in hoͤhern geiſtigen Dingen ſollten an¬
[125] geſprochen werden, und ſagten ihm kraͤftige Mitwirkung
zu. Noch am naͤmlichen Abend war in ihren Haͤnden
ein ſchriftlicher Entwurf, durch welchen die Studirenden
bezeugten, wie hohen Werth der akademiſche Gottes¬
dienſt fuͤr ſie habe, wie ſchmerzlich ihnen die drohende
Unterbrechung ſein wuͤrde, und ſchließlich den Prorektor
baten, ihr Recht und ihre Wuͤnſche bei der Militair¬
behoͤrde geltend zu machen. Mehrere Abſchriften waren
ſchnell genommen, und am andern Morgen, durch die
Genehmigung der Landsmannſchaften empfohlen, in den
fruͤhſten und beſuchteſten Vorleſungen zur Unterſchrift
ausgelegt. Gegen Mittag ſtanden ſchon uͤber ſechshundert
Namen unterzeichnet. Die Gleichguͤltigen wurden fort¬
geriſſen, die neue Bewegung freute jeden, und ſelbſt
viele Profeſſoren laͤchelten antheilvoll zu dem lebhaften
Treiben. Jetzt rief ich Marwitz auf, der nebſt Harſcher
anfangs die Sache nur unglaͤubig mitangeſehen hatte,
nun aber ſich bereit finden ließ, mit noch einem Stu¬
denten als Abgeordnete der Geſammtheit die Adreſſe
dem Prorektor zu uͤberbringen, ſo wie auch dem General
von dem Vorgegangenen unmittelbar Nachricht zu er¬
theilen, denn ich fuͤhlte, daß ich mein perſoͤnliches Auf¬
treten hier klugerweiſe abzubrechen und auch die Ehre
und Verantwortung Andrer in die Sache zu verflechten
hatte. Die Abgeordneten wurden ſehr wohl aufgenommen,
und erhielten guten Beſcheid; die Kirche konnte zwar
ſo ſchnell nicht mehr geraͤumt werden, aber der Pro¬
[126] rektor und der General nahmen Ruͤckſprache mit dem
Magiſtrat, der nun nicht umhin konnte, uns den Mit¬
gebrauch der ſtaͤdtiſchen Kirchen zu vergoͤnnen, ſo daß
der akademiſche Gottesdienſt ſeinen guten Fortgang be¬
halten konnte, und bis zu den Ferien ich glaube nur
ein einzigesmal ausgeſetzt blieb. Dieſe Geſchichte, in
welcher ich mir allerdings eine raſche und erfolgreiche
Thaͤtigkeit anrechnen darf, gewaͤhrte mir ungemeine Be¬
friedigung, und erwarb auch von Seiten Andrer mir
Beifall und Lob. Die Adreſſe ſelbſt wurde nach Berlin
an das Miniſterium der geiſtlichen Angelegenheiten ein¬
geſandt, das ſie mit vorzuͤglicher Gunſt aufnahm, und
in ſolchem Sinne die Univerſitaͤtsbehoͤrde darauf beſchied;
dies erzaͤhlte mir bald nachher in Berlin mein alter
Lehrer Nolte, mit beſonderer Annehmlichkeit, indem er
als Rath im Miniſterium die Sache zu leſen gehabt,
und mich als den Schreiber des Aufſatzes gleich durch
meine Handſchrift erkannt, und deßhalb auch als den
Anſtifter des Ganzen vermuthet hatte.
Die kriegeriſchen Zeitumſtaͤnde veranlaßten mich noch
in einer andern Sache perſoͤnlich aufzutreten, aber mit
ungleichem Erfolg. Der hamburgiſche Buchhaͤndler ließ
das Buch, welches er von Neumann und mir in Ver¬
lag genommen, zu unſrer Bequemlichkeit in Halle drucken,
und daſſelbe unterlag daher der dortigen Cenſur. Nun
war uns eine gute Anzahl Epigramme zugeſchickt worden,
in welchen allerlei Scherze auch uͤber die politiſchen
[127] Verhaͤltniſſe vorkamen, das Ganze ſollte Enchiridion
heißen, und konnte bei aller Freimuͤthigkeit mancher
Wendungen, noch immer recht gut von jedem Preußen
unterſchrieben werden. Wir hatten auf die Wirkung
dieſes Beitrags ſchon vorzuͤglich gerechnet, als unerwartet
die Cenſur ihm das Imprimatur verweigerte. Der
Prorektor Maaß war Cenſor, und ich eilte zu ihm in
der Abſicht ihm vorzuſtellen, daß der Aufſatz von ſeinem
Verfaſſer perſoͤnlich vertreten wuͤrde, das Buch aber als
ein in Hamburg verlegtes gelten muͤſſe, der Druck eben
ſo gut dort wie in Halle geſchehen koͤnne, und der
Cenſor daher nur geſtatten moͤge, was er doch nicht
ganz zu hindern im Stande ſei. Er war etwas ver¬
wundert, daß ein Student auf dieſe Weiſe mit ihm in
Eroͤrterung treten wollte, behauptete aber ſein Recht
der Verweigerung, und gab mir, als ich allzudreiſt ihm
ſagte, ich wuͤrde ihn verklagen, ruhig ſelbſt die Behoͤrde
an, wo ich meine Beſchwerde anbringen koͤnnte, worauf
ich ihn ſehr unzufrieden verließ. Eine Beſchwerde in
Berlin durfte wenig Erfolg verſprechen, und die Bogen
in Hamburg drucken zu laſſen, wo nur fuͤr Zeitungen
eine Cenſur beſtand, ſchien doch zu umſtaͤndlich; um
daher ohne Weitlaͤufigkeit von der Sache zu kommen,
mußten wir uns entſchließen, den Beitrag aufzuopfern,
wodurch das Buch grade die paar Floßfedern verlor,
mit denen es in der ungluͤcklichen politiſchen Ueber¬
[128] ſchwemmung, in die ſein Erſcheinen fiel, noch einiger¬
maßen haͤtte ſchwimmen koͤnnen.
Die Herbſtferien waren unterdeß herangekommen.
Marwitz war ſchon fruͤher nach Friedersdorf, dem bei
Kuͤſtrin liegenden Gute ſeines Bruders abgegangen, um
daſelbſt die Verwaltung zu fuͤhren, waͤhrend ſein Bruder
als Offizier dem Kriegsrufe zu folgen hatte. Neumann
ſchloß ſich mehreren Kammeraden an, die einen Aus¬
flug nach Sachſen machten, und ich, von Theremin
wiederholt eingeladen, nahm gutes Muthes den Weg
nach Berlin, um vor dem Winter und ſeinem neuen
Studienlaufe das Gemuͤth erſt recht wieder in Freund¬
ſchaft und Muße zu erfriſchen. In wenigen Wochen
mußten wir in demſelben Kreiſe wieder zuſammen ſein.
Keinem fiel ein, daß die Ereigniſſe unſre Bahn im ge¬
ringſten ſtoͤren koͤnnten. Daß große Entſcheidungen ſich
vorbereiteten, daran wurde ich doch auf dem ganzen Wege
lebhaft genug erinnert, uͤberall begegneten mir Soldaten
in groͤßern und kleinern Abtheilungen, Kriegsfuhrwerk,
Geſchuͤtz. In Treuenbriezen ſah ich den alten Feld¬
marſchall von Moͤllendorf, der gleichſam als letztes Zeichen
des nun nicht mehr zu bezweifelnden Krieges zum Heer
abreiſte, und dieſem als einer der Helden Friedrichs des
Großen noch die letzten Funken damaliger Thaten zur
Entflammung neuen Sieges und Ruhms uͤberbringen
ſollte. Ich ſah ihn aus ſeinem Wagen heraus dem um¬
ſtehenden Volke lachend und behaglich die ſchoͤnſten Ver¬
[129] heißungen zurufen, und unter dem Jubel der Menge
abfahren. Die Soldaten ſangen muntre Lieder, freuten
ſich, daß es endlich in’s Feld ging, und uͤberall war
es lebhaft von Nachzuͤglern und ſonſtigen Leuten, die
ſich dem Kriegsweſen anſchloſſen. Ueber Potsdam hin¬
aus verklang allmaͤhlig dieſer bunte Laͤrm, alles lag in
ungewoͤhnlicher Stille, und bei heiterem Sommerwetter
durfte ich meine waͤrmſten Empfindungen wieder unge¬
theilt den Erwartungen zuwenden, die mich perſoͤnlich
angingen. —
(Inzwiſchen war der Krieg ausgebrochen, und die
Schlachten von Auerſtaͤdt und Jena verloren worden.
Halle ſelbſt wurde der Schauplatz eines ungluͤcklichen
Gefechts, ein ſtrenger Befehl des Kaiſers Napoleon
hieß alle Studirenden die Univerſitaͤt ungeſaͤumt verlaſſen,
und nur unter Verlaͤugnueg meiner Eigenſchaft konnte
ich noch im Winter dahin zuruͤckkehren, um wenigſtens
an dem ruhigen Orte der Studien die gehoffte Wieder¬
aufnahme derſelben abzuwarten.)
1807.
Der Anblick Halle’s war freilich ganz veraͤndert.
Die Abweſenheit der Studenten machte die Straßen leer
und die Haͤuſer oͤde, alles hatte ein trauerndes Anſehn,
nicht einmal durch franzoͤſiſche Einquartierung belebt,
denn außer den noͤthigſten Verwaltungsbeamten und
wenigen dienſtfaͤhigen Kriegsleuten waren hauptſaͤchlich nur
II. 9[130] Verwundete und Kranke dort geblieben, von welchen
man die Geneſenden hin und wieder ſchleichen ſah.
Herzlich empfingen mich Harſcher und Adolph Muͤller,
die den Sturm ruhig uͤberſtanden und dem franzoͤſiſchen
Bannſpruche nicht gehorcht hatten, eben ſo mit Trau¬
lichkeit Schleiermacher und Steffens, ſehr freundſchaft¬
lich und heiter Wolf.
Fuͤr die Univerſitaͤt waren alle Ausſichten noch ver¬
ſchloſſen, die Studenten unwiderruflich ausgetrieben, die
Profeſſoren ohne Wirkſamkeit und Beſoldung. Die Buͤr¬
ger hatten zu der uͤberſtandenen Pluͤnderung auch noch
die vorauszuſehende Nahrungsloſigkeit und mit den zu¬
ruͤckgelaſſenen Schulden der akademiſchen Jugend zugleich
die Laſten des fortwaͤhrenden Krieges, die Unterhaltung
eines franzoͤſiſchen Lazareths, und manches andre zu
tragen, und dieſe Umſtaͤnde mußten dem begonnenen
Winter einen duͤſtern Verlauf allgemein troſtloſer Lebens¬
tage verheißen. Aber es kam grade das Gegentheil.
Zwar entbehrte man in allen Staͤnden viel des gewohn¬
ten Behagens; und ſelbſt, was in andern Zeiten als
Anſtaͤndiges oder gar als Nothduͤrftiges gelten wollte,
wurde knapp oder ging voͤllig ein; aber da man ſich
des Mangels nicht ſchaͤmte, und die Zeitlaͤufte grade
nur ſtaͤrker zur Mittheilung und zur Gemeinſchaft hin¬
draͤngten, ſo ruͤckte man gern naͤher zuſammen, richtete
ſich kleiner und ſparſam ein, ſah einander darum an¬
ſpruchsloſer und oͤfter, und da der Krieg durch ſeine
[131] Fortdauer die Gemuͤther in Spannung und den Blick
und die Hoffnung in die Ferne wach erhielt, ſo lebte
man getroſt ſo fort, und war bei dem Wenigen ſo ver¬
gnuͤgt und heiter, als man vorher bei dem Reichlichern,
unter wechſelſeitig geſteigerter Anforderung, kaum ge¬
weſen war.
Die Profeſſoren vermochten zum Theil aus gutem
Ertrage fruͤherer Zeiten einiges zuzuſetzen, Andern half
irgend ein Nebenerwerb aus, hauptſaͤchlich Schriftſtellerei,
wozu die Muße, bei dem Stillſtehen der Vorleſungen,
um ſo groͤßer, und die Gelegenheit in dem leſe- und
ſtudirbeduͤrftigen Deutſchland, auch neben dem verheeren¬
den Kriege, und faſt mitten in ihm, noch genugſam
dargeboten war. Wolf, Reil, Niemeyer, Kurt Spren¬
gel und andre ſolche Altſaͤſſige gehoͤrten zu der erſtern
Klaſſe, Schleiermacher und die meiſten juͤngern zu der
zweiten; dieſer hatte gleich nach der erſten Verwirrung
ſich ſchnell gefaßt, und mit verdoppeltem Eifer ſeine
Platoniſchen und theologiſchen Arbeiten wieder aufge¬
nommen. Steffens folgte bald den Einladungen ſeiner
noͤrdlichen Freunde, die ihm theils in Kopenhagen neue
Anſtellung, theils in Holſtein und Hamburg gaſtliche
Zuflucht boten. Sein Weggehen war uns Allen ein
tiefer Schmerz, die nothwendigen Beſtandtheile unſres
Zuſammenlebens ſchienen unvollſtaͤndig geworden, in
allen gewohnten Kreiſen wurde ein geiſtiger Zuſatz ver¬
mißt, in manchen die ganze Wuͤrze, ſelbſt bei Schleier¬
9 *[132] macher entbehrte man den wohlthaͤtigen Einfluß der
friſchen Naturfuͤlle auf dieſe ſanften, weiten, aber zu¬
weilen auch in’s Kleine zuſammengeengten und ſchwach¬
haltigen ethiſchen Gebilde.
Von andern halliſchen Einwohnern ſah ich wenige,
und dieſe nicht oft, nur Schmalz, Hoffbauer, und ein
paar Andre, denen ich von Berlin her etwan Beſtellun¬
gen zu machen hatte. Ich mußte natuͤrlich von der
Hauptſtadt viel erzaͤhlen, und man hoͤrte mich genugſam
ab. Dies geſchah ganz beſonders auch in der Geſell¬
ſchaft auf dem Jaͤgerberge, wohin Schmalz mich in eine
Art von Klub fuͤhrte, der politiſche und freimaureriſche
Elemente verband. Hier fuͤhrte der als Kriegsgefangene
auf ſein Ehrenwort entlaſſene General von Hinrichs
das Wort, derſelbe, welcher ſpaͤterhin den unfruchtbaren
Spaß machte, den von den Franzoſen in Sansſouci
weggenommenen Degen Friedrichs des Großen fuͤr einen
unaͤchten, ſchon vorher vertauſchten, auszugeben, und
den aͤchten als gerettet und in guter Hand befindlich
anzudeuten.
Einen Patrioten eigner Art lernte ich in dem Kano¬
nikus Auguſt Lafontaine kennen, an den ich einen Brief
ſeines Freundes, des Buchhaͤndlers Sander, abzugeben
hatte. Dieſer einſtmalige Liebling der deutſchen Frauen
und Maͤdchen hatte im behaglichen Genuſſe des Ertrages
ſeiner Feder, und der Pfruͤnde, die ihm der Koͤnig und
die Koͤnigin von Preußen als dankbare Leſer ſeiner be¬
[133] liebten Romane zugewendet, ſich zu faßartiger Beleibt¬
heit ausgemaͤſtet, und war dabei als Schriftſteller ſo
ruͤſtig und raſch geblieben, daß er, wie er mir ſelbſt
erzaͤhlte, ſeiner Geſchwindigkeit dadurch Hemmketten
anlegte, daß er ſich nur an zweien Tagen der Woche
erlaubte zu ſchreiben, weil er ſonſt ganz uͤbermaͤßig viel
ſchreiben wuͤrde, und den Werth ſeiner Hervorbringungen
durch Ueberfuͤlle nur herabzudruͤcken fuͤrchtete. Er hatte
eine haͤßliche Frau, aber eine artige junge Nichte bei
ſich, die er ſehr eingezogen hielt; er glaubte ihre Un¬
ſchuld nicht zart genug bewachen zu koͤnnen, und erlaubte
ihr kaum unter Leute zu gehen, nur zu Reichards allen¬
falls, wo die ſtrenge Haltung ſeine Anforderungen be¬
friedigte und ſeine Vorurtheile ſicher machte; das gute
Maͤdchen hatte nicht einmal den Genuß, an dem reich¬
lichen Hausbrunnen den jugendlichen Durſt zu ſtillen,
denn ſie durfte keine Zeile von des Oheims Romanen
leſen, die er wie das aͤrgſte Gift ihr vorenthielt, mit
dem er doch alle fremde Haushaltungen zu uͤberſchwem¬
men kein Bedenken trug, wenig ſchmeichelhaft in der
That fuͤr das Publikum, das er ohne Umſtaͤnde mit
einer Ladung abfand, deren geiſtige und moraliſche Ver¬
daulichkeit er bei den Seinigen mehr als zweifelhaft ver¬
neinte! Er hatte in ſeinem artigen Landhaus und
Garten, an der Saale dicht vor dem Thore, durch die
Pluͤnderung hart gelitten, brauchte aber nur einen dritten
Tag mehr in der Woche ſich zum Schreiben zu geſtatten,
[134] um hoffen zu duͤrfen, daß aller Verluſt bald wieder
eingebracht ſein werde. Die vielen weichlichen Empfin¬
dungen und edlen Verhaͤltniſſe, welche er in ſeinen Ro¬
manen durcharbeitet und ausgelegt hatte, waren bei ihm
ſelbſt, vielleicht eben wegen des ſteten Aufwandes und
Verbrauchs, jetzt in geringem Vorrathe zu ſpuͤren, er
nahm alles ziemlich hart und plump, und wollte die
Zaͤrtlichkeit fuͤr ſeinen Freund Sander, deſſen traurige
Gemuͤthskrankheit ich ihm ſchilderte, nicht ſonderlich auf¬
kommen laſſen. Als preußiſcher Patriot dagegen zeigte
er ſeine Eigenheit in dem Bekenntniß, daß er ſich auch
unwahre Siegsnachrichten mit Vergnuͤgen erzaͤhlen laſſe,
und bei dem beſtimmten Vorauswiſſen, man luͤge ihm
was vor, ſeine Begierde weiter zu hoͤren doch nicht
geſchwaͤcht wurde!
Harſcher lebte in dieſer halliſchen Zeit ſeine ver¬
gnuͤgteſten Tage; nicht durch eigne Verſaͤumniß, die
er ſich doch immer zum Gewiſſen gemacht haͤtte, ſondern
durch die Macht der Umſtaͤnde, gegen die ſein Wider¬
ſpruch nicht fehlte, ſah er ſich von allem Zwange be¬
freit, den ſeine Beſtimmung ihm auferlegte, die medi¬
ziniſchen Vorleſungen, vor denen er ſich fuͤrchtete, und
denen er ſich endlich um ſo ſtaͤrker hingeben mußte, je
laͤnger er ſie bisher gemieden hatte, wurden gleich
allen uͤbrigen nicht gehalten, ihn konnte nicht der ge¬
ringſte Vorwurf treffen, daß er ſie nicht beſuchte; an
Fleiß und Eifer andrer Art ließ er es aber nicht mangeln,
[135] im Gegentheil, er war einer der Menſchen, die unauf¬
hoͤrlich ſtudiren, nicht nur uͤber den Buͤchern ſitzend,
was er auch vortrefflich konnte, ſondern im Gehen und
Stehen, in jedem Geſpraͤch, bei allen Gegenſtaͤnden,
aber ſeine Studien wollten dieſer Art gemaͤß auch moͤg¬
lichſt frei ſein, ohne aͤußern Plan und vorgeſtecktes Ziel
nur ihren eignen Beduͤrfniſſen folgen, dies fuͤgte ſich
jetzt von ſelbſt, alles war ja fuͤr die naͤchſte Zeit ſtill¬
geſtellt, und er wie jeder andre einzig auf’s Abwarten
angewieſen.
Der Kreis der dagebliebnen oder in der Stille zuruͤck¬
gekehrten jungen Leute war in Halle noch anſehnlich
genug. Adolph Muͤller, Harſchers hochvertrauter Freund,
Przyſtanowski, die beiden Ruſt aus Deſſau, der junge
Loder, dazu noch Bekker, machten ſchon eine bunte
Geſellſchaft aus. Bald kam auf meine dringende Auf¬
forderung auch Neumann von Goͤttingen zuruͤck, wohin
er mit Neander verſprengt worden war, bezog ein
Zimmer auf gleichem Flur mit dem meinigen, und wenn
unſre Beſchaͤftigungen uns mitunter trennen durften, ſo
hielten alle andern Bezuͤge uns doch taͤglich und innig
vereint.
Durch den Fortgebrauch der Arzneien Erhards war
meine Geſundheit allmaͤhlig geſtaͤrkt worden, ich griff
das Leben und die Studien wieder mit heitern Kraͤften
an. Mit ſtaͤrkſtem Willen warf ich mich auf die Arznei¬
wiſſenſchaft und quaͤlte mich mit dem Gruͤndlichſten,
[136] mit der nie genug zu wiederholenden Betrachtung der
Knochen, rechtſchaffen ab; auch las ich mediziniſche
Buͤcher mit fleißigem Bedacht. Aber wie ſtreng ich
auch wollte, die Sache ging ſchlecht von Statten, ſie
fand in der Unmittelbarkeit der Gegenwart keinen fort¬
wirkenden Trieb, keine Genoſſenſchaft, und kaum die
noͤthige Gelegenheit, denn auch der Bedarf an Buͤchern
und andern Huͤlfsmitteln war nicht immer leicht herbei¬
geſchafft. Die Studien allgemeiner Bildung dabei zu
verabſaͤumen, haͤtte mir uͤberdies ein Hochverrath geſchie¬
nen, ich pflegte ihrer alſo nebenher, und ſchnell waren
und blieben ſie im Vortheil. Ich arbeitete mit groͤßtem
Fleiße den Homer durch, beſonders zu wiederholten
Malen die Ilias, wobei ich wiederum Wolfs Hefte und
den Euſtathios zu Huͤlfe nahm, ſuchte in den Platon
einzudringen, in den griechiſchen theils, theils in den
durch Schleiermacher verdeutſchten, las mit Neumann
zuſammen und deshalb mit erhoͤhtem Vergnuͤgen den
Xenophon, und war auch mit andern griechiſchen und
lateiniſchen Autoren noch mannigfach beſchaͤftigt. Das
Anregendſte und Ergiebigſte aber waren unſre gemein¬
ſchaftlichen Unterhaltungen, wo Harſcher, unter ſtets
erneutem Zweifel und Gegenſtreit, mit eigenthuͤmlicher
und unerſchoͤpflicher Dialektik uns alle Heer- und Schleich¬
wege der philoſophiſchen Forſchung durchmachen ließ,
und wir die Lehren von Schleiermacher und Steffens,
daneben Platons und Plotin's aus entſprechendem Stand¬
[137] punkte, dann Schellings und Fichte’s, im Hintergrunde
ferner Kants, Leibnitzens und Spinoza’s, in vielfachſter
Wendung betrachteten und handhabten, zu unſaͤglicher
Geiſtesuͤbung, wenn auch nicht zu ſonſtigem Stoffertrag.
Eine ſtets erneute Staͤrkung und Nahrung fuͤr dieſe
Geſpraͤche waren die Abende bei Schleiermacher, die
regelmaͤßig Freitags wieder gehalten wurden, und fuͤr
die ſich hoher Ernſt und frei Laune wie Offenheit und
feine Ruͤckſicht zum ſchoͤnſten Gleichmaße verbunden
hatten. Schleiermacher war an ſolchen Abenden meiſt
ſehr liebenswuͤrdig, ſeine Schaͤrfe galt damals mehr den
Gegenſtaͤnden als den Perſonen, den Anweſenden nie,
er ſprach ſinnig und angenehm uͤber wiſſenſchaftliche
Dinge, beſonders uͤber die ſchwierigſten und anziehendſten
ethiſchen Fragen, welche Harſcher mit unermuͤdetem
und gewandtem Eifer zur Sprache brachte; dabei wur¬
den auch die politiſchen Nachrichten, zwar mit ſtaͤrkſten
Wuͤnſchen und Hoffnungen fuͤr Preußen, doch im Gan¬
zen, beſonders von Schleiermacher ſelbſt, mit Umſicht
und Billigkeit, ihrem Intereſſe gemaͤß aufgenommen
und beurtheilt.
Wir Juͤngern ſaßen oft ſchon Nachmittags in ernſten
und lebhaften Geſpraͤchen zuſammen, bis die Stunde
heranruͤckte und wir zu Schleiermacher gingen, wo wir
das heftig Durchgeſtrittene nun vor der leitenden Ein¬
ſicht, gleichſam in hoͤherer Klaſſe, nochmals ruhiger und
feiner beſprachen, und ſchneller und entſcheidender zu
[138] einem Ziele kamen; ja es geſchah mitunter, daß wir
am ſpaͤten Schluſſe des Schleiermacher’ſchen Abends noch
nicht des Eroͤrterns und Verhandelns genug hatten,
ſondern dort weggegangen wieder bei mir einkehrten,
und noch bis in tiefer Nacht unſre arbeitende Geſellig¬
keit fortſetzten, welche ſelten durch irgend eine Be¬
wirthung, und niemals durch andre, als die maͤßigſte
getragen wurde. Einmal blieben Harſcher, Neumann
und ich auf dieſe Weiſe nach dem Schleiermacher’ſchen
Abend auf meinem Zimmer die ganze Winternacht hin¬
durch beiſammen, und das Geraͤuſch des wiederaufſtehen¬
den buͤrgerlichen Verkehrs und das graue Licht des
ſpaͤten Morgens fiel in unſre noch lebhaften Geſpraͤche;
ein heißer Kaffe nahm uns die Schauer der Ueberwachung
leicht hinweg, erfriſcht und geſtaͤrkt mochten wir jetzt
nicht ſchlafen gehen, der Tag leuchtete heller auf den
gefrornen Schnee, und ſo waren wir kurz entſchloſſen,
und ſchritten frohen Muthes nach dem drei Meilen ent¬
legenen Petersberge zu, beſtiegen die Ruine, hielten in
einer Bauernſchenke mit Eiern unſre Mittagsmahlzeit,
und kehrten dann, durch die anfangs noch ſonnenglaͤn¬
zenden, ſpaͤter nur ſchnee- und ſternenhellen, ſchweigen¬
den Froſtgefielde nach Halle zuruͤck, mehr noch erregt
als ermuͤdet durch die aͤußere und innere Bewegung,
aber denn doch endlich des Schlafes beduͤrftig, den wir
uns reichlich verdient hatten.
[139]
Wolf war uns in dieſer Zeit weniger zugaͤnglich,
ausgenommen Bekker'n, der ſeine Neigung, wie ſein
Heil ganz auf ihn geſtellt hatte, und ihn faſt jeden
Tag ſah. Wahrhaft vornehm in Studien und Leben
hielt Wolf ſich mit Ernſt und Witz den Zeitumſtaͤnden
ſtets uͤberlegen. Wir wußten ihn thaͤtig und munter,
vernahmen manches ſchlagende Wort von ihm, genoſſen
unablaͤſſig mittel- und unmittelbar der Fruͤchte ſeines
Geiſtes und Wiſſens, und waren ſehr mißvergnuͤgt, als
ploͤtzlich dieſer Mann in den Laͤrm eines niedrigen Ge¬
klatſches gezogen wurde, und gegen gemeine Gegner
oͤffentlich in die Schranken treten mußte. Die zahlrei¬
chen Unbedeutenheiten, die ſich, durch trockne, geiſtloſe,
doch unlaͤugbar auch ſo noch ihres Orts nuͤtzliche Fort¬
pflanzung des gemein Erlernten, zu dem Profeſſorſtand
aufgeſchwungen haben, in welchem ſie ſich aͤußerlich auf
gleicher Stufe mit dem ſchoͤpferiſchen und tiefdenkenden
Genie ſehen, ſind auf unſern Univerſitaͤten von jeher
gegen die einzelnen Bedeutenheiten verſchworen, durch
die ſie verdunkelt werden. Dies war in Halle, bei
großer Achtung und Furcht, auch die herrſchende Rich¬
tung gegen Wolf, der in ſeiner Groͤße und Ruͤſtung
einem Reil, Steffens, Schleiermacher, Noͤſſelt, und
ihres Gleichen zwar eine Freude, vielen Andern aber
ſtets ein heimlicher, nie zu verwindender Aerger war.
Nun hatte ſich auch in letzterm Kreiſe, wie in jedem,
die Einnahme und Pluͤnderung von Halle mit allen
[140] ihren Auftritten und Bedraͤngniſſen gehoͤrig durchge¬
klatſcht; manches beſchaͤmende Geſchichtchen eigner Ver¬
wirrung und Schwaͤche hatte man durch Aufſpuͤren und
Heranziehen fremder Begegniſſe wenigſtens auszuglei¬
chen, wo nicht zu uͤberbieten geſucht. Wolfs beißender
Witz war ſeinen Kollegen oft genug empfindlich gewor¬
den, mit hoͤchſter Schadenfreude daher vernahm und
foͤrderte man das Gerede, auch Wolf, der große Wolf,
habe zur Zeit des Gefechts im Keller geſeſſen, und nach¬
her, als er ein Exemplar ſeines Prachthomer zur be¬
guͤtigenden Ehrengabe dem Marſchall Bernadotte habe
darbringen wollen, ſei ihm die Zueignung an den Koͤnig
bedenklich geworden, die er daher, durch den das Buch
tragenden Bibliothekdiener noch auf der Straße habe
herausſchneiden laſſen, der ſie auch ſpaͤter, da die Ueber¬
reichung durch Zufaͤlligkeit unterblieben war, wieder
habe hineinkleben muͤſſen. Die erſte Angabe warf einige
Laͤcherlichkeit auf Wolf, die zweite aber war durchaus
gehaͤſſig, ſeiner Ehre wie ſeinen kuͤnftigen Verhaͤltniſſen
zum hoͤchſten Schaden geſtellt. Manche Leute glaubten
dergleichen uͤberhaupt gern, andre, die ein ſo thoͤrichtes
und ſchlechtes Benehmen nur mit dem Verſtande Wolfs
nicht zu reimen fanden, wollten doch ſeinen Karakter
weniger als Hinderniß dabei angeſehen haben.
Kaum indeß vernahm Wolf die ſchmaͤhliche Nachrede,
als er ſich mannhaft hinſtellte, und in dem halliſchen
Wochenblatt eine ausfordernde Zurechtweiſung ergehen
[141] ließ, welche in ihrer gelungenen buͤndigen Art hier eine
Stelle wohl verdient. Seine Erklaͤrung lautete: „Es
umſchleicht mich ſeit ein paar Monaten hier in der
Stadt, vielleicht auch in Briefen nach fremden Orten,
uͤber eine am 18. Oktober vorigen Jahres von mir be¬
abſichtigte Handlung, ein luͤgenhaftes unwuͤrdiges Ge¬
rede, welches auch weiterhin von Perſonen, die mich
nicht kennen, oder von der Veranlaſſung nichts wiſſen,
noch mehr von Uebelwollenden, auf eine gehaͤſſige, ja
ehrenruͤhrige Weiſe wiederholt und ausgebildet werden
kann. Dies zwingt mich, hierdurch oͤffentlich anzuzeigen,
daß ich ſeit dem 20. Januar, nach dem Gutachten eines
Rechtsgelehrten, eine rechtliche Unterſuchung daruͤber bei
einem hieſigen Gerichtshofe veranlaßt habe. Bis zur
Beendigung der Unterſuchung erklaͤre ich hiermit einem
jeden, der ohne Beweis die verbreitete Geſchichte weiter
erzaͤhlt, oder ſie auf irgend eine Art zum Nachtheil
meiner Ehre erwaͤhnt, den erſten fuͤr einen leichtſinni¬
gen, veraͤchtlichen Schwaͤtzer, den letzten fuͤr einen bos¬
haften Verlaͤumder. Moͤchte dieſe Anzeige, außer ihrer
naͤchſten Abſicht, zugleich jedem, der es in gegenwaͤrti¬
ger Zeit bedarf, bei ſeinen Reden nicht weniger, als
bei Handlungen, Vorſicht empfehlen, damit ihm nicht
nach ſo vielen andern auch Geſundheit des gemeinen
Menſchenverſtandes oder des Herzens verloren gehe. Fuͤr
ſolche werden hier, dem Zwecke dieſes Blattes gemaͤß,
[142] ein paar Verſe eines alten Sittenlehrers am rechten
Orte ſtehen:
Halle, den 15. Februar 1807. F. A. Wolf.“ Der
Schluß fand inſonderheit allgemeinen Beifall, wegen
der anmuthigen Nutzanwendung, die auf manche der
Schaͤcher, die man ſo ziemlich alle namentlich herzaͤhlen
konnte, nur allzu gut paßte. Schleiermacher hatte ſeine
herzliche Freude uͤber Wolfs Erklaͤrung, und zweifelte
nicht an deſſen gutem Rechte dazu, wir Juͤngern ſtimm¬
ten ganz uͤberzeugt und mit Leidenſchaft fuͤr ihn.
Allein, grade weil man die Namen ſo beſtimmt wußte
und nannte, konnten die ſcharf Getroffenen doch nicht
ſogleich ſchweigen, ſondern mußten wenigſtens verſuchen,
ſich ſolchem Unglimpf leidlich zu entwinden. Die Sache
wurde vielfach verhandelt, auch vor Gericht in aller
Ausfuͤhrlichkeit, und nach mancher Verwicklung und
Weiterung durch Zeugen und Eide, kam es zu dem
Beſchluſſe, daß der Bibliothekdiener, auf deſſen verworr¬
ner Ausſage zuletzt alles beruhte, und dem jene Leute
in unſchicklicher Vertraulichkeit die fuͤr ihren Appetit
mundrechten Getraͤtſche gleichſam aufnoͤthigend abgefragt
hatten, wegen ſeiner verlaͤumderiſchen Angaben, die er
nicht erweiſen konnte, mit verdienter Gefaͤngnißſtrafe
[143] belegt wurde. Hiermit war aber alles noch nicht abge¬
than; einer der Gegner ließ nach einigen Monaten, da
Wolf ſchon Halle mit Berlin vertauſcht hatte, eine ſo¬
genannte aktenmaͤßige Erzaͤhlung der Sache drucken,
welches fuͤr Wolf der Anlaß werden mußte, die Unrich¬
tigkeiten, die er hier vorgelegt ſah, durch eine ausfuͤhr¬
liche Schrift darzuthun, welche jedoch durch die Ungunſt
eines ſolchen verdrießlichen Stoffes, den die auch ihrer¬
ſeits diesmal etwas gezwungene Witzlaune des Verfaſ¬
ſers nicht aus aller Langweiligkeit herausfoͤrdern konnte,
einen nicht befriedigenden Eindruck machte, ja das Mi߬
geſchick hatte, manche ſchon weggeworfene Zweifel uͤber
die Sache wieder aufzuregen, und das Endurtheil im
Ganzen unſicher geſtellt zu laſſen. Ich meinerſeits aber
war und blieb uͤberzeugt, daß Wolf's wohlbekannte
Schwaͤchen, die in kleinen Liſten und Vorkehrungen
zuweilen ſichtbar wurden, doch nie zu dem Aeußerſten
einer ſolchen Thorheit und Unſchicklichkeit ſich verirrt
haben konnten, als jenes angebliche Herausſchneiden der
Zueignung, dem auch alle Zeichen und Umſtaͤnde voͤllig
widerſprachen, unter den damaligen Verhaͤltniſſen gewe¬
ſen waͤre.
Auf der Univerſitaͤt ohne ſogenannte Suiten zu le¬
ben, haͤtte keine Art gehabt. Wir hatten aber die
unſrigen in eigner Weiſe. Dahin kann wohl gerechnet
werden, daß wir bei dem Konditor Schelling am Markte
unſre Laune, bald gegen einander ſelbſt, bald gegen die
[144] dort verkehrenden Philiſter, doch meiſtens harmlos, wal¬
ten ließen. — Einmal hatte einer von uns den Cid
von Herder aus der Hand gelegt, der neugierige, durch
ſeinen vornehmen Philoſophennamen noch beſonders zum
Scherz aufregende Ladenwirth greift darnach, ſchlaͤgt
das Buch auf, und ſieht den Titel an, man fragt, ob
er ſich auch auf Buͤcher verſtehe? — O ja, meine
Herren, erwiederte er, das ſeh ich gleich, daß dies ein
juriſtiſches Buch iſt. — Ein juriſtiſches? fragen wir
verwundernd, ei wie ſo? — Nun es heißt ja der Eid,
antwortete er, das iſt doch ein juriſtiſcher Gegenſtand.
Man kann denken, wie gelacht wurde. Aber nun wollte
man dem Alten zeigen, mit wie großem Rechte man
ihn auslache. Keine Moͤglichkeit! Er blieb feſt bei ſei¬
nem Eide, man mochte ſich noch ſo viele Muͤhe geben
ihm das deutliche C vorzuhalten, ihn zu belehren, daß
das Wort Cid ein Name ſei, ihn zu uͤberzeugen, daß
das Buch eine Geſchichte in Verſen und keine Abhand¬
lung enthalte, er ließ ſich nichts weismachen, wie er
fuͤr unſre Abſicht nahm, ſah zwanzigmal wieder das ihm
aufgedrungene Blatt an, und las mit ſelbſtzufriedenem
Lachen, wie einer, der ſeiner Sache gewiß und uͤber
ſolche Fopperei hinaus iſt, richtig jedesmal: der Eid!
Wir hatten wirklich die volle Verzweiflung, in unſrer
Weisheit und Geſchicklichkeit — denn nun war es zur
ordentlichen Aufgabe des Ehrgeizes und Wetteifers ge¬
worden — keine Mittel zu haben, keinen Weg zu fin¬
[145] den, um den guten Mann ſeines groben und offenbaren
Irrthums inne werden zu laſſen. Wir mußten beſchaͤmt
abziehen, und verkannten in Scherz und Lachen keines¬
wegs die ernſte Seite eines ſolchen im Leben oft bedeu¬
tend hervortretenden Beiſpiels von vergeblichem Kaͤmpfen
entſchiedner Einſicht gegen die in ihrer Beſchraͤnktheit
nur um ſo feſter ſtehende vorgefaßte Meinung. —
Zwiſchen unſren geiſtigen Arbeiten und geſelligen
Scherzen draͤngte ſich aber noch eine beſondre Thaͤtigkeit
hervor, welche beide Elemente in ein gemeinſames Er¬
zeugniß geſtaltend vereinigte. Unſre Studien, Geſpraͤche
und Erholungen, wie reichhaltig und lebhaft ſie auch
ſein mochten, blieben doch, ohne den Zuſchuß der Vor¬
leſungen, gleichſam verwaiſt, konnten kaum unſre Zeit
ganz ausfuͤllen, aber bei weitem nicht unſre Triebe und
Kraͤfte, welche viel groͤßere Anſpruͤche machten, als wir
ſelbſt befriedigen konnten. Daß wir in dieſem Zuſtande
die Dichter zu leſen nicht vergaßen, verſteht ſich von
ſelbſt, wir lebten eben ſo ſehr mit den Geſtalten ihrer
Welt, als mit denen der wirklichen. Da regte ſich der
Eifer eignen Hervorbringens, und durch Jean Paul
Richters Flegeljahre, die uns wie alle Schriften dieſes
Autors ſehr anzogen, geriethen Neumann und ich auf
den Einfall, gemeinſchaftlich einen Roman zu ſchreiben.
Kein Plan wurde verabredet, als der, die neuſte Zeit
und deutſche Verhaͤltniſſe zu behandeln, die aͤußere
Gleichmaͤßigkeit zu beachten und moͤgliche Einheit zu
II. 10[146] ſuchen, im Uebrigen aber nach Kraͤften einander entge¬
genzuarbeiten. Ich ſchrieb flugs das erſte Kapitel, Neu¬
mann eben ſo raſch das zweite, ſo ging es mit dem
dritten und den folgenden weiter, und wir hielten uns
mit widerſtreitenden Richtungen, mit ſtoͤrenden Wen¬
dungen und abſichtlich bereiteten Schwierigkeiten ſo treu¬
lich Wort, daß eine Reihe von mehr als zehn Kapiteln
ſich in groͤßter Spannung und ganz beſonderem, dieſer
Entſtehungsart zu verdankendem Reize darſtellte, wir
uns aber auch ſo verfahren hatten, daß wir kaum noch
hofften, ohne Gefaͤhrde des auch aͤußerlichen Zuſammen¬
hangs weiterzukommen. Nun griff von Nennhauſen her
noch Fouqué, dem ich davon geſchrieben hatte, als
dritter Theilnehmer bereitwillig ein, und loͤſte durch ein
huͤbſches Kapitel den Knoten, den er ſofort aber wie¬
der ſchuͤrzte. Das auf dieſe Weiſe vermehrte Manu¬
ſkript gab auch uns neuen Sporn, und ſo ruͤckte der
Roman, bei nicht grade regelmaͤßigem Wechſel der Aus¬
arbeitung, endlich bis zu einem vollſtaͤndigen erſten
Bande vor, unter tauſend geſelligen Erheiterungen, die
durch wiederholtes Vorleſen und Beſprechen des Ferti¬
gen, durch eifriges Erſinnen des Kuͤnftigen, durch zahl¬
loſe Anſpielungen, Ironien, kleine Raͤnke und Frevel
der Abfaſſung, ſo wie durch hunderterlei Beziehungen
des Tages, die ſich an ſolche Thaͤtigkeit anknuͤpften, fuͤr
uns und unſern engern Kreis eine unerſchoͤpfliche Quelle
des Vergnuͤgens wurden. Außerdem, daß wir uns
[147] ſelbſt und andre lebende Perſonen, mehr oder minder
deutlich, und nicht grade geſchmeichelt, darin abgebildet
hatten, war dem Buche, hauptſaͤchlich durch Neumanns
Einfall und Talent, noch ein beſondrer Gewinn der
wirkſamſten Figuren geworden. Gleich im zweiten Ka¬
pitel parodirte er vortrefflich des Geſchichtsſchreibers
Johann von Muͤller ſchwungvollen und knappen Stil,
dann kam Jean Paul Richter in komiſchem Abbild, ich
brachte ein ſolches von Johann Heinrich Voß in ſchwer¬
faͤlligſten Hexametern aus, endlich ließen wir gar, die
Wanderjahre Wilhelm Meiſters vorwegnehmend, dieſen
Helden mit dem Markeſe umherreiſen und gar uͤble
Begegniſſe erleben; ſpaͤter zogen wir die Vorfaͤlle des
letzten Krieges herbei, wo denn einige Deutſchheit und
einiges Preußenthum mit einfloß, und wenigſtens an
gedraͤngter Fuͤlle des mannigfachſten Inhalts und In¬
tereſſe's hat es dieſem Buche nicht gefehlt. Ich fuͤrchte
nicht, daß Freundſchaft oder Eigenliebe mein Urtheil
hier beſtechen, wenn ich ſage, daß einige Parthieen des
Buches, namentlich aber das Bruchſtuͤck aus Hans
Striezelmeiers eigner Lebensbeſchreibung in Johann von
Muͤllers Manier und der Steckbrief Jean Paul Richters
auf ſich ſelbſt, beides von Neumann, zu den koͤſtlichſten
Scherzen unſrer Litteratur gehoͤren, und durchaus werth
ſind erhalten zu werden.
Um hier gleich alles abzuſchließen, was dieſen Roman
betrifft, ſo fuͤhr' ich noch an, daß wir uns mit dem
10 *[148] Manuſkript noch lange herumtrugen, in Berlin manchen
Kreis damit ergoͤtzten, ſogar Schleiermacher zum Be¬
wundrer hatten, in Nennhauſen bei Fouqué, in Frieder¬
dorf bei Marwitz die groͤßte Ehre einlegten, und endlich
das Ganze, wozu noch Fouqué ein paar Kapitel, Bern¬
hardi eine Epiſode von Anekdoten beizutragen hatte,
Harſcher aber ein Kapitel uͤber Muſik, welche beſonders
gegen Reichardt gerichtet werden ſollte, ſchuldig blieb,
und ein Beitrag von Chamiſſo zu ſpaͤt kam, unſerm
Freunde Reiner unter dem Titel: „die Verſuche und
Hinderniſſe Karl's“ in Verlag gaben. Der Druck wurde
erſt gegen Ende des Jahres 1808 fertig, da im ſuͤd¬
lichen Deutſchland ſchon ein neuer Krieg Oeſterreichs
gegen Frankreich bevorſtand, und im noͤrdlichen allerlei
Unruhen drohten; die Verlagshandlung fand nicht ge¬
rathen, ſich auf dem Titel zu nennen, noch ließ ſie
das Buch gehoͤrig anzeigen, und ſo gewann dieſes nicht
den Schwung und machte nicht das Gluͤck, wozu ſonſt,
nach dem Inhalt und den Beziehungen, alle Hoffnung
begruͤndet geweſen waͤre. Doch ging die Erſcheinung
nicht ohne einiges Aufſehen ab, und wurde in manchen
Kreiſen lebhaft beſprochen. Auguſt Wilhelm Schlegel,
dem ich das Buch nach Genf, wo er bei Frau von
Staël lebte, zugeſchickt hatte, glaubte mich den alleini¬
gen Verfaſſer und der beruͤhmte Kritiker, der fruͤher
ſchon einmal die Proſa der Frau von Wolzogen fuͤr die
von Goethe gehalten hatte, merkte nichts von der Ver¬
[149] ſchiedenheit der Zeugſtuͤcke, die hier, und zum Theil
doch mit ziemlich großen Naͤthen, zuſammen gefuͤgt
waren!
Zwoͤlf Jahre ſpaͤter, als mit den aͤchten Wander¬
jahren Wilhelm Meiſters zugleich die falſchen erſchienen
waren, kam auch unſer Doppelroman wieder zur Sprache.
Unſer Einfall, Wilhelm Meiſtern perſoͤnlich und gegen
Goethe tadelnd auftreten zu laſſen, war offenbar die
Wurzel jenes beruͤchtigten Buches, und ich erlebte fuͤr
meinen Antheil an der Ungebuͤhr die gerechte Strafe,
an vielen Orten, und auch in Weimar ſelbſt, eine Zeit
lang fuͤr den Verfaſſer der falſchen Wanderjahre gehalten
zu werden. Er hat nur ſeinen fruͤhern Einfall weiter
ausgefuͤhrt, dachte man, und ließ meine ſonſtige Denk¬
art, Richtung und ich darf ſagen, Faͤhigkeit, die alle
dem ſchlechten, heuchleriſch-albernen Buche widerſtritten,
ganz außer Rechnung. In Hamburg war das Geruͤcht
ſo allgemein verbreitet und ſo beſtimmt geglaubt, daß
ich mich zu einer oͤffentlichen Berichtigung gedrun¬
gen ſah.
An einen zweiten Theil des Doppelromans war
wohl gedacht worden; einiges lag ſogar angefangen und
mehreres war vorbereitet; allein Reiſen und andrer
Wechſel des Lebens hielten uns zuerſt viele Jahre ge¬
trennt, und als Neumann und ich uns vom Jahre 1819
an wieder auf laͤngere Zeit in Berlin vereint ſahen,
und es uns artig duͤnkte, dieſe Jugendluſtbarkeit wieder
[150] aufzunehmen, wobei Neumann ſchon vorſchlug, nun der
Zeit gemaͤß mit gleicher Keckheit die Schreibart der
neuen Schriftſteller zu parodiren, und die Ironie dadurch
zu vollenden, daß auch mancher der fruͤhern Mitarbeiter
jetzt als tauglicher Stoff zum Inhalte des Romans
verwendet wuͤrde, unterblieb doch jeder Verſuch, da
wir bald wahrnehmen konnten, wie uns die Jahre und
Verhaͤltniſſe zwar nicht die Freude an dem Einfall ver¬
kuͤmmerten, aber doch den zur Ausfuͤhrung erforder¬
lichen nachhaltigen Humor und Eifer, ſo wie ſelbſt die
noͤthige Muße, verſagen duͤrften.
Rahel.
1807.
Unter den mancherlei Perſonen, die wir in unſrem
Kreiſe oft beziehungsreich nennen oder ſchildern hoͤrten,
waren die angeſehenſten Maͤnner und die merkwuͤrdig¬
ſten Frauen, die Bruͤder Wilhelm und Alexander von
Humboldt, Frau von Humboldt, Friedrich Schlegel und
ſeine Frau, Burgsdorf, Ludwig Tieck, und noch Andre
ſolchen Ranges, mit welchen jedes edle Intereſſe unſrer
Bildung ſich verknuͤpft fand. Kein Name jedoch war
vielfaͤltiger und bedeutender genannt, als der von Rahel
Levin; das Verlangen, ſie kennen zu lernen, wurde
deßhalb oftmals rege. Die Dame des Hauſes, wo wir
zuſammen kamen, ſprach von ihr immer als von etwas
Einzigem, Unvergleichbaren, und wenn auch in das
ſtroͤmende Lob hin und wieder einiger Tadel einfloß,
z. B. daß zuweilen mehr Bedacht auf aͤußern Schein
und mehr Einklang, wenn auch nur verſtellter, mit der
[152] gewoͤhnlichen Welt zu wuͤnſchen waͤre, ſo hatte ſie es
doch in keiner Weiſe hehl, daß ſie vor ihr ſonſt in jeder
weſentlichen Beziehung ſich beuge und ihr unterordne.
Wenn eine Frau, die ſelber ſo gebildet, ſo kenntni߬
reich, ſo fein und ſittig vor unſern Augen ſtand, daß
ſie uns fuͤr alles Frauenweſen faſt ein hoͤchſtes Muſter
zu ſein ſchien, in ſolcher Weiſe von einer andern ſprach,
und ſie unbedingt uͤber jede Vergleichung erhob, ſo war
das freilich ſehr auffallend, und Harſcher insbeſondere
drang darauf, jene moͤchte ihre Freundin einmal mit
uns zuſammen einladen, wo er denn doch die Ver¬
gleichung zu Gunſten der erſtern ausfallen zu ſehen im
voraus entſchloſſen war, und dies offen genug bekannte.
Der Beſuch wurde verabredet, Rahel erſchien, aber
nur auf eine Stunde, da ſie nicht ganz wohl war, und
alſo wenig dazu geſtimmt, den etwas befangenen Zu¬
ſchnitt der kleinen Geſellſchaft abzuaͤndern. Harſcher
gewann ihr keine Aufmerkſamkeit ab, und als Schleier¬
macher kam, und gleich erfreut und ermuntert ſich neben
ſie ſetzte, und mit ihr ein lebhaftes Geſpraͤch einging,
wurde jede andre Anknuͤpfung unmoͤglich. Wir waren
nicht wenig erſtaunt, ſowohl im Scherzen als im Ernſte
Schleiermacher nur in zweiter Rolle zu ſehen, indem
er willig jede Unterordnung anzunehmen ſchien, und
wirklich ein paarmal wie geſchlagen verſtummte, oder
doch gar ſehr zu kurz kam. Als nach raſchem Verlauf
eines ſeltſamen Geſpraͤchs ihr Wagen ihr gemeldet wurde,
[153] und ſie mit dem Verſprechen kuͤnftigen laͤngeren Beſuches
ſich wegbegab, bot Schleiermacher mit Beeiferung ſich
zum Begleiter an, brachte ſie zu ihrem Wagen, und
konnte, als er zuruͤckgekehrt war, ihres Ruͤhmens kein
Ende finden; mehr aber, als die Worte, zeugte ſeine
Stimmung fuͤr den guten Eindruck, denn ſie blieb auf¬
geweckt und gekraͤftigt fuͤr den ganzen Abend. Fuͤr uns
war das ein doppeltes Phaͤnomen, wir hatten ihn noch
niemals untergeordnet, und ſeit langer Zeit nicht ſo
belebt geſehen. Die Dame des Hauſes ſuchte vergebens
bei Harſcher den Dank fuͤr ihre bereitwillige Veranſtal¬
tung, er war mißvergnuͤgt, daß alles gleichſam nur fuͤr
Schleiermacher geweſen, und dann verſchwunden war,
ihn aͤrgerte ſogar deſſen fortdauernde Munterkeit, und
gern haͤtte er die ganze Erſcheinung verneint oder ver¬
kleinert, deren Uebergewicht er doch zu fuͤhlen genoͤthigt,
und deren vollen Werth zu ahnden er gewiß faͤhig war.
Ich theilte ſeine Mißempfindung, allein in ganz anderm
Bezuge, denn ich wuͤnſchte ſehnlich, mit dieſem wunder¬
baren Weſen naͤher bekannt zu werden, gegen welches
die andern ſo ſchnell verblaßten, und ſchon ſah ich ins¬
geheim mich mit ihm einverſtandener und zuſammenge¬
hoͤriger, als mit allen dieſen.
— In dieſem Herbſt hielt Fichte ſeine Reden an
die deutſche Nation. Unter den Zuhoͤrern fand ich
Ludwig Robert, mit dem ich die faſt abgebrochene Be¬
kanntſchaft erneuerte; auch ſeine Schweſter Rahel ſah
[154] ich mit ihm regelmaͤßig eintreffen, und ich widmete
ihrer anziehenden Erſcheinung die lebhafteſte Aufmerk¬
ſamkeit, wobei doch ein ſo nah und leicht unter ſolchen
Umſtaͤnden ſich ereignendes Anknuͤpfen des Geſpraͤchs
diesmal durch Eigenſinn des Zufalls unterbleiben ſollte.
1808.
— In dieſer Stimmung, ſo vorbereitet, ſo empfaͤng¬
lich, reif und beduͤrftig in Geiſt und Gemuͤth fuͤr neuen
Reiz und neuen Troſt, begegnete ich eines Nachmittags
in noch ſchneeigem Fruͤhlingswetter unter den Linden
Rahel; ihre Begleiterin war mir wohlbekannt, ich redete
dieſe an, und indem ich eine Strecke mitging, ergab
ſich, ſo unbefangen als erwuͤnſcht, auch ein Geſpraͤch
mit Rahel ſelbſt. Ich fand mich außerordentlich ange¬
zogen, und bot all meinen Witz auf, um die ſchoͤne
Gelegenheit nicht ungenutzt vergehen zu laſſen; ich wußte
unter andern eines ihrer eigenthuͤmlich ausdrucksvollen
Worte, das auf Umwegen bis zu mir gelangt war,
mit Bedeutung ſo hinzuwerfen, daß darin halb eine
ſchmeichelhafte Aufmerkſamkeit, halb ein neckender Angriff
lag. Sie bemerkte beides, ſah mich durchdringend an,
gleichſam mein Unterſtehen an mir ſelber abzumeſſen,
und erwiederte dann, ſie koͤnne es wohl vertragen, daß
man ſie citire, aber nicht fuͤglich zugeben, daß es falſch
geſchehe; ſie hatte in der That einiges in der Aeußerung,
welche als die ihrige gegeben war, zu berichtigen. Ich
[155] entſchuldigte mich, daß ich die Aechtheit deſſen, was ich
leider ſo weit von ſeinem Urſprunge nach Gunſt des Zu¬
falls auffangen muͤſſe, nicht verbuͤrgen koͤnne, und die
Folge meiner artigen Wendung war der Rath, mich lie¬
ber ſelbſt bei der Quelle ſolcher Aeußerungen einzufinden.
Gleich in den naͤchſten Tagen machte ich von dieſer
Erlaubniß den erſehnten Gebrauch. Rahel wohnte damals
in der Jaͤgerſtraße, der Seehandlung ſchraͤg gegenuͤber,
in Obhut und Fuͤrſorge der trefflichen Mutter, deren
altwuͤrdiges und reichliches Hausweſen den ſchoͤnſten
geſelligen Verhaͤltniſſen von jeher offen ſtand. Zuweilen
hatte ich, um Ludwig Robert zu beſuchen, dieſe Woh¬
nung betreten; mit wie aufgeregten Erwartungen und
Geſinnungen, und zu welch andern Geiſteseinfluͤſſen,
betrat ich ſie jetzt!
In einzelnen Menſchen, oder in einer Gemeinſamkeit
zuſammengehoͤriger, und einander ſich ergaͤnzender und
uͤbertragender Perſoͤnlichkeiten, war mir ſchon einigemal
das Heil widerfahren, mich durch das bloße Lebensbe¬
gegniß, ohne muͤhſames Streben und Verdienſt, ohne
Pein der Allmaͤhligkeit, ſondern im Schwunge des vollen
Gluͤckes, und gleichſam durch einen Ruck, auf ein erhoͤhtes
Lebensfeld verſetzt zu ſehen, wo ſchon die Luft, die ich
athmete, die Sinneseindruͤcke, die mir zukamen, das
lebendige Spiel der umgebenden Elemente, mir ein
neues Daſein erſchloſſen und mich einer neuen Bildung
theilhaft machten, wo dann weiterhin wohl Eifer und
[156] Muͤhe folgerecht und nachhaltig mitwirkten, und den
Gewinn ordnen und bewahren konnten, ihm ſelbſt aber
nimmermehr hervorzubringen vermocht haͤtten. Solcher
geſteigerten Lebensſtufen zaͤhlte ich bis dahin hauptſaͤch¬
lich drei, das erſte Andringen allgemeinen geiſtigen Lebens
im Beginn meiner Studien zu Berlin, das Freiwerden
eines ſich ſelbſt beſtimmenden und lebensthaͤtigen Da¬
ſtehens, und die kraͤftigende Weihe der akademiſchen
Herrlichkeit zu Halle. Jetzt kam, acht Jahre nach jener
erſten, die vierte Stufe hinzu, durch das Bekanntwerden
mit Rahel; ein Wiederaufnehmen, ein Zuſammenfaſſen
und ein Abſchließen aller fruͤheren, ja der ganzen Er¬
lebungsweiſe, — denn wie viel Neues, Großes und
Unerwartetes auch ferner mir in einem wechſelvollen
Leben begegnet iſt, wie mancherlei Gutes und Liebes
ſich mir entwickelt und angeeignet hat, ſo iſt doch in
dieſen vierundzwanzig Jahren, die ich ſeit jenem Zeit¬
punkte zaͤhle, mir kein Begegniß, keine innere noch
aͤußere Lebenserfahrung mir wiedergekehrt, die ich jener
genannten anreihen, und mit ihr, und den vorher¬
gegangenen in gleichen Werth ſtellen koͤnnte. So iſt
mir noch heute *Rahel das neueſte und Friſcheſte
meines ganzen Lebens, und indem ich aufzeichnen will,
von welchen Umſtaͤnden und Stimmungen unſer begin¬
nendes Verhaͤltniß begleitet war, darf ich den warmen
[157] und zarten Hauch jener ſchoͤnen Tage in meiner Vor¬
ſtellung nicht erſt kuͤnſtlich hervorrufen, denn ich fuͤhle
ihn und freue mich ſeiner noch wie damals, aber zu
fuͤrchten hab’ ich gleichwohl, daß meine Schilderung ſich
durch die Bekuͤmmerniß verduͤſtert, welche, waͤhrend ich
dieſes ſchreibe, meiner Seele in vielfacher Sorge um die
geliebte, von ſtuͤrmiſchen Leiden hart befallene Freundin
angſtvoll auferlegt iſt! Welch troͤſtlichſter Ruͤckblick wird
hier zum ſchmerzlichſten gewandelt! —
Ich darf hier keine Schilderung meiner geliebten
Rahel verſuchen; ſie ganz zu kennen und zu wuͤrdigen,
kann ich niemanden zumuthen, der nicht in anhaltender
Fortdauer und in allen Beziehungen ihr vertrauter
Lebensgenoſſe war; denn ſelbſt ihre Briefe, wie reich
und eigenthuͤmlich auch die Quellen ihres Geiſtes und
Gemuͤthes dort ſprudeln, geben nur ein unvollkommenes
Bild von ihrem Weſen, deſſen Hauptſache grade die
urſpruͤngliche, unmittelbare Lebendigkeit iſt, wo alles
ganz anders auſſieht, leuchtet und ſchattet, erregt und
fortreißt, beguͤtigt und verſoͤhnt, als irgend Bericht
oder Darſtellung wiederzugeben vermag. Ich will nur
unternehmen, in kurzen Zuͤgen den Eindruck zu bezeichnen,
welchen dies Weſen damals auf mich machte.
Zuvoͤrderſt kann ich ſagen, daß ich in ihrer Gegen¬
wart das volle Gefuͤhl hatte, einen aͤchten Menſchen,
dies herrliche Gottesgeſchoͤpf in ſeinem reinſten und voll¬
ſtaͤndigſten Typus vor Augen zu haben, uͤberall Natur
[158] und Geiſt in friſchem Wechſelhauche, uͤberall organiſches
Gebild, zuckende Faſer, mitlebender Zuſammenhang fuͤr
die ganze Natur, uͤberall originale und naive Geiſtes-
und Sinnesaͤußerungen, großartig durch Unſchuld und
durch Klugheit, und dabei in Worten wie in Hand¬
lungen die raſcheſte, gewandteſte, zutreffendſte Gegen¬
wart. Dies alles war durchwaͤrmt von der reinſten
Guͤte, der ſchoͤnſten, ſtets regen und thaͤtigen Menſchen¬
liebe, der lebhafteſten Theilnahme fuͤr fremdes Wohl
und Weh. Die Vorzuͤge menſchlicher Erſcheinung, die
mir bisher einzeln begegnet waren, fand ich hier bei¬
ſammen, Geiſt und Witz, Tiefſinn und Wahrheitsliebe,
Einbildungskraft und Laune, verbunden zu einer Folge
von raſchen, leiſen, grazioͤſen Lebensbewegungen, welche,
gleich Goethe’s Worten, ganz dicht an der Sache ſich
halten, ja dieſe ſelber ſind, und mit der ganzen Macht
ihres tiefſten Gehaltes augenblicklich wirken. Neben allem
Großen und Scharfen quoll aber auch immerfort die
weibliche Milde und Anmuth hervor, welche beſonders
den Augen und dem edlen Munde den lieblichſten Aus¬
druck gab, ohne den ſtarken der gewaltigſten Leidenſchaft
und des heftigen Aufwallens zu verhindern.
Ob man ſich in dieſer Miſchung von entgegenſtehenden
Gaben und ſtreitigen Elementen, wie ich ſie anzudeuten
verſucht habe, ſogleich zurechtfinden wird, bezweifle ich
faſt. Mir wenigſtens war es beſchieden, erſt vermittelſt
mancher Ungewißheit und manches Irrthums auf die
[159] rechte Bahn zu kommen, indem ich nur in Einem auf
der Stelle beſtimmt und auf immer feſt war, daß mir
der außerordentlichſte und werthvollſte Gegenſtand vor
Augen ſei. Irgend ein Vorurtheil, wie das mißfaͤllige
Gerede der Leute aus den verſchiedenſten Kreiſen und
Standpunkten ſeit ſo langer Zeit mir wohl haͤtte auf¬
buͤrden moͤgen, hatte ich nicht, auch waͤre daſſelbe an
ihrer Gegenwart ſogleich zerſchellt; der ſchlichte, natuͤr¬
liche Empfang, die harmloſe Klarheit und das anſpruchs¬
loſe Wohlbehagen des anfaͤnglich nur auf Gleichguͤltig¬
keiten fallenden Geſpraͤchs, mußten jede mitgebrachte
Spannung aufloͤſen, und nach und nach erhob ſich da¬
gegen eine neue, die ganz dem Augenblicke ſelber ange¬
hoͤrte, und ſchon darin begruͤndet lag, daß jedes Wort,
rein und lauter wie der friſche Quell aus dem Felſen,
auch dem Gleichguͤltigſten einen Reiz des Lebens, einen
Karakter von Wahrheit und Urſpruͤnglichkeit gab, welche
durch die bloße Beruͤhrung jedes Gewoͤhnliche zu Unge¬
woͤhnlichem verwandelten. Ich empfand auf dieſe Weiſe
eine neue Atmoſphaͤre, die mich wie Poeſie anwehte,
und zwar durch das Gegentheil deſſen, was gemeinhin
ſo heißt, durch Wirklichkeit anſtatt der Taͤuſchung, durch
Aechtheit anſtatt des Scheins. Es konnte jedoch nicht
fehlen, daß unſer Geſpraͤch, dem nach allen Seiten ſo
viele Wege vollkommen vorbereitet waren, ſehr bald
auf bedeutendere Dinge uͤberging, und endlich ganz in
Beziehungen des innern Lebens verweilte, zu welchen
[160] Buͤcher, Perſonen und Verhaͤltniſſe, die jeder von ſeiner
Seite kannte, und auch dem andern bekannt wußte,
den ergiebigen Stoff nicht mangeln ließen. Wir ſprachen
von Friedrich Schlegel, von Tieck, von Frau von Staël,
von Goethe, theils in litterariſcher, theils in geſellſchaft¬
licher Hinſicht, und unſre eigne Sinnesweiſe konnte ſich
an dieſen bedeutenden Anknuͤpfungspunkten ſehr gut
entfalten und ungewoͤhnliche Bekenntniſſe mit vieler
Freiheit wagen, ohne die Zuruͤckhaltung einer erſten
Bekanntſchaft zu uͤberſchreiten.
Nicht gar zu lange waren wir allein geblieben, ſo
fand ſich andre Geſellſchaft ein; der Major von Schack,
vom Regimente Gendarmes, der das Ungluͤck und die
Schmach des preußiſchen Militairs mit großer Faſſung
trug, und noch ſogar einigen Schimmer in die juͤngſt¬
vergangene Zeit zuruͤckwarf, wo er und die Seinigen
als Glanz und Bluͤthe dieſes ſtolzen Kriegsweſens er¬
ſchienen waren; der ſtattliche, weltmaͤnniſch frei und klug
ſich bewegende, in allen Klugheiten erfahrene, dabei
perſoͤnlich tapfre Edelmann wuͤrde doch ſchwerlich einen
ſo guͤnſtigen Eindruck gemacht haben, haͤtte ihm nicht
als Zuflucht das Beſſere in ihm und als Aufloͤſungs¬
mittel von Schlechterem, ein unerſchoͤpflicher Humor
gedient, der in Witz und Satire einen geiſtigen Gehalt
kund gab, und dadurch manchem andern Stoff ein
Gegengewicht wurde; ihn begleitete bei ſeinen podagri¬
ſchen Leiden ein fuͤhrender Freund, ein ausgemachter
[161] Civiliſt, vortrefflich angezogen, frei und gewandt mehr
ausweichend als vordringend, nach eignem Sinne auf¬
merkſam und traͤumeriſch, in ſeinen unwillkuͤrlichen
Aeußerungen meiſt uͤberraſchend original und launig,
und von ſeiner Stimmung oder ſeinem Standpunkt
aus auch gruͤndlich wahr. Ich hatte von ihm ſchon
oft und mancherlei gehoͤrt, jetzt konnte ich die fremden
Urtheile an ihm ſelber meſſen. Naͤchſt einigen andern
Perſonen, worunter ein gutmuͤthiger franzoͤſiſcher Offizier,
Kapitain Bribes als Einquartirung, erſchien auch un¬
vermuthet noch Frau von Boye, die als freundliche
Bekannte fuͤr mich unter ſo vielen Fremden vermittelnd
wirkte. Die Geſellſchaft war ungemein belebt, in groͤßter
Freiheit und Behaglichkeit; jeder gab ſich als das, was
er ſein konnte, es war kein Grund noch Hoffnung des
Gelingens, hier irgend einen Schein zu heucheln; die
Unbefangenheit und gute Laune Rahel's, ihr Geiſt der
Wahrheit und des Geltenlaſſens, walteten ungeſtoͤrt;
ich durfte mich mit jugendlicher Uebertreibung gegen
die Franzoſen ereifern, ein Andrer ſeine theatraliſchen
Mittheilungen auskramen; der Franzoſe empfing in
ſeinen Liebesangelegenheiten launigen Rath von Schack,
und dieſen ließ der Civiliſt ſeine heftig demokratiſchen
Geſinnungen anhoͤren; alles ging leicht und harmlos
dahin, jeder zu herbe Ernſt wurde von Witz und Scherz
aufgefangen, die ihrerſeits wieder, bevor ſie ausarten
konnten, von Wahrheit und Verſtand ergriffen wurden,
II. 11[162] und ſo blieb alles belebt zugleich und gemaͤßigt; ein
wiederholter Anflug von Muſik, wozu das offne Forte¬
piano einlud, — Rahel war ſinnvolle Kennerin in
fruͤherer Zeit und fertige Meiſterin, — vollendete das
Ganze, und man trennte ſich noch bei guter Zeit, in
erhoͤhter und klarer Stimmung, die ich fuͤr mich allein
dann unter dem reinen Sternenhimmel noch eine Weile
nachgenoß, indem ich vergebens in meinen bisherigen
Erinnerungen einen aͤhnlichen Abend ſuchte.
Wenige Tage nur ließ meine Ungeduld einem wie¬
derholten Beſuche vorangehen, und ſchon mit dieſem
wuchs das Vertrauen ſo ſchnell, daß ich nun taͤglich
zu kommen mich berechtigt hielt. Ich war begierig,
dieſe neuen Anſchauungen zu verfolgen, dieſen eigen¬
thuͤmlichen Wahrheiten und großartigen Aufſchluͤſſen,
welche ſich mit jedem Schritte glaͤnzender vor mir aus¬
breiteten, noch naͤher zu treten, und dieſe neuen, von
Einſicht durchſtroͤmten Empfindungen zu genießen, deren
ich gewahr wurde. Unendlich reizend und fruchtbar
war dieſe Erſtlingszeit eines begeiſterten Umganges, in
welchem auch ich die beſten Guͤter zum Tauſche brachte,
die ich beſaß, und inſofern kaum geringere, als ich
empfing. Hier fand ich das Wunder anzuſtaunen, daß
Rahel, in gleichem Maße, als Andre ſich zu verſtellen
ſuchen, ihr wahres Innere zu enthuͤllen ſtrebte, von
ihren Begegniſſen, Leiden, Wuͤnſchen und Erwartungen,
mochten ihr dieſelben auch zum Nachtheil auszulegen
[163] ſein, ja ihr ſelber als Gebrechen und Fehl erſcheinen,
mit eben ſolcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit
ſprach, als haͤtte ſie nur Guͤnſtiges und Schmeichel¬
haftes anzufuͤhren, ſich nur der ſchoͤnſten Gluͤckesfuͤlle
zu ruͤhmen gehabt. Dieſe Aufrichtigkeit, derengleichen
ich nie in einem andern Menſchen wiedergeſehen habe,
und deren ſogar Jean Jacques Rouſſeau nur in ſchrift¬
licher Mittheilung faͤhig geweſen zu ſein ſcheint, konnte
mich ſogar einigermaßen bedenklich und irre machen,
indem oft ſcharfe Haͤrten aus den leidenſchaftlichen Be¬
kenntniſſen hervorſpruͤhten, und in dem Erlebten, wie
in dem daruͤber Gedachten ein eignes Element aufwogte,
das als gewaltſam und ſchonungslos leicht Mißempfin¬
dungen weckte, beſonders wenn man vorausſetzte, daß,
nach der gewoͤhnlichen Weiſe, auch hier neben dem Aus¬
geſprochenen noch Verſchwiegenes im Hintergrunde liege.
Dies war aber hier der Fall keineswegs; Rahel ſagte
in Betreff ihrer ſelbſt ruͤckſichtslos die ganze Wahrheit,
und wuͤrde auch die beſchaͤmendſte und nachtheiligſte,
waͤre eine ſolche vorhanden geweſen, demjenigen nicht
verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und
einſichtiger Theilnahme ſie darum befragt haͤtte. Sie
glaubte, indem ſie wahr ſei, niemals ſich etwas zu
vergeben, noch durch Verſchweigen etwas zu gewinnen,
und ein ſolches hoͤchſtes, ausgleichendes, verſoͤhnendes
Intereſſe fuͤr die Mittheilung der Wahrheit, welches ſie
empfand, ſetzte ſie fuͤr deren Wuͤrdigung auch bei Andern
11 *[164] ſtets, wiewohl leider meiſt faͤlſchlich, immer aufs neue
voraus. Ich ſah nun Rahel nach und nach in ihrem
ganzen Lebens- und Umgangskreiſe. Hier mußte mir
nun ſofort ein unermeßlicher Abſtand klar werden, der
zwiſchen ihr und ihrer Umgebung lag. Sie ſtand in
der Mitte eines großen Kreiſes gaͤnzlich allein; nicht
verſtanden, nicht anerkannt, nicht gehegt, nicht geliebt,
wie ſie es bedurfte und verdiente, ſondern gleichguͤltig
außer Acht gelaſſen, oder auch eigenſuͤchtig benutzt und
mißbraucht, wenn die Gelegenheit ſich anbot; ihre außer¬
ordentlichen Gaben, ſofern ſie als Thatſachen auch
aͤußerlich hervortraten, konnte man ihr nicht abſprechen,
eigenthuͤmliche Denk- und Sinnesart, Gemuͤthskraft,
Geiſt, Witz und Laune mußte man ihr zugeſtehen, aber
leicht glaubten die Andern davon wenigſtens ebenſoviel
zu haben, und noch dazu die groͤßere Beſonnenheit und
Ruhe, wofuͤr ſie ſich die nuͤchterne Selbſtſucht und
theilnahmsloſe Mattigkeit anrechneten. Mit dem, was
Rahel ihnen großmuͤthig lieh und als Almoſen ſpendete,
glaubten ſie ihr uͤberlegen zu ſein. Von der Flamme
edler Begeiſterung, von dem Triebe menſchlich-reinen
Mitgefuͤhls, von dem heiligen Dienſte der Wahrheit,
welche Rahel’s Inneres erfuͤllten, ihre Eigenſchaften be¬
ſeelten und bewegten, von dieſem innern Weſen wußten
die Meiſten nichts. Sie ſelbſt aber ſetzte alles, was
in ihr war, bei Allen voraus, nahm jeden Funken
von Gabe und Willen, von Sinn und Leiſten, mit
[165] hoͤchſter Anerkennung, mit entzuͤckter Guͤte auf, und
konnte es nicht begreifen, wenn die weitern Aeuße¬
rungen und Handlungen dann mit dem ſo guͤnſtig Ge¬
deuteten nur allzu bald nicht mehr uͤbereinſtimmen
wollten. Aus dieſem Gegenſatz und Irrthum entſtanden
natuͤrlich viele Unrichtigkeiten und Nachtheile, deren
Folgen ſich ſpaͤterhin traurig genug darſtellten; die
Sache ſelbſt aber war mir ſchon damals deutlich, und
ich wollte mein Einſehen nicht einmal ſehr verhehlen.
Ich glaubte Iphigenien unter den Barbaren in Tauris
aufzufinden, und fuͤhlte mich nun um ſo ſtaͤrker zu ihr
hingezogen, als ich mir bewußt war, ihr einen Erſatz
anbieten zu koͤnnen, ihr eine Gebuͤhr darbringen zu
duͤrfen, die ihr nur allzu oft verſagt wurde.
Unſer Vertrauen wuchs mit jedem Tage. Gar zu
gern theilte ich alles mit, was ich als wichtigſten und
daher auch in mancher Art geheimſten Ertrag meines
bisherigen Lebens wußte, und dem ich keine edlere
Staͤtte finden konnte, keine, wo ein ſo lebhafter, ein¬
ſichtsvoller und wahrheitfriſcher Sinn ihm entgegenge¬
kommen waͤre. Weit entfernt, Billigung fuͤr alles zu
finden, vernahm ich manchen Tadel, und andres Mi߬
fallen konnt’ ich auch unausgeſprochen errathen; nur
fuͤhlte ich wohl, daß die Theilnahme fuͤr mich dabei
nicht litt, ſondern eher wuchs, und bei dieſem Gewinn
konnte mir alles Uebrige nichts anhaben. Auch wurde
ich mir ſelbſt gleichſam entruͤckt in der gewaltigen An¬
[166] ziehung der außerordentlichen Gebilde, welche zum Aus¬
tauſche ſich vor mir ausbreiteten. Mir war vergoͤnnt,
in das reichſte Leben zu blicken, wie nur der Mund
der Wahrheit und die Hand der Darſtellung daſſelbe
aus der nahen Vergangenheit herauf zu beſchwoͤren
vermochten. Das Leben war reich in ſeinen aͤußern
Verhaͤltniſſen, unendlich reicher aber durch ſeinen innern
Gehalt, dem jene ſich gaͤnzlich unterordneten. Prinz
Louis Ferdinand, der geniale, heldiſche Menſch, den
ſein hoher Standpunkt leider mehr fuͤr ſeine Fehler,
als fuͤr ſeine großen und ſchoͤnen Eigenſchaften, beguͤn¬
ſtigte, hatte hier ſeine reinſten Empfindungen, ſein
innigſtes Streben und Denken, ſeine edelſten Erhebungen,
im Genuß einer geiſtesregen gemuͤthvollen Freundſchaft
genaͤhrt, einer Freundſchaft, deren ſtarkem Vertrauen
ebenſo ſein politiſches Sinnen wie ſeine verliebte Leiden¬
ſchaft und jede Wendung des bedraͤngten Geiſtes und
Herzens ſich erſchließen durfte, des Antheils gewiß, wie
ſonſt nur die mitergriffene Neigung ihn hervorzubringen
pflegt. Maͤnner, wie Gentz und Friedrich Schlegel
und beide Humboldt, waren dieſem Kreiſe beeifert zu¬
gethan, bald um Bluͤthen und Fruͤchte von daher zu
ſammeln, bald um deren zu bringen, und immer ihren
beſten Beifall hier zu finden. Graf Tilly, Guſtav
von Brinckmann, Hans Genelli, von Burgsdorf, Major
von Gualtieri, Ludwig und Friedrich Tieck, Fuͤrſt von
Ligne, Graf Caſa-Valencia, Fuͤrſt Reuß, Navarro, und
[167] ſo viele andre Diplomaten, Militairs, Gelehrten und
Kuͤnſtler, hatten ſich eingefunden, und mit hoͤherem
Sinn und erregtem Beduͤrfniß geiſtigen Behagens ſich
angeſchloſſen und einheimiſch gemacht. Von ausgezeich¬
neten Frauen waͤren viele zu nennen, aus den ver¬
ſchiedenſten Lebensſphaͤren, doch ſaͤmmtlich darin gleich,
daß kein ſcheinſamer und muͤßiger, ſondern irgend ein
aͤchter und wahrer Bezug dem Verhaͤltniſſe zum Grunde
lag. Eine herrliche Bildergalerie, durch welche ich unter
lebenſpruͤhenden Erklaͤrungen geleitet wurde! Die Bilder
naͤmlich allein waren noch gegenwaͤrtig, der Kreis ſelber
jetzt durch die Zeitverhaͤltniſſe voͤllig aufgeloͤſt, nachdem
ſchon die einzelnen Menſchengeſchicke durch Tod, Ent¬
fernung und andre Wandelbarkeit die dichten Reihen
gelockert hatten.
Aber nicht nur dieſe reiche Sammlung bedeutender
Bildniſſe wurde mir gezeigt, ſondern noch ein andrer
Schatz aufgeſchloſſen, der das antheilvolle Gemuͤth un¬
gleich ſtaͤrker anſprach. Rahel gehoͤrte zu den ſeltenen
Weſen, denen die Natur und das Geſchick die Gabe
zu lieben nicht verſagt hatten. Was dazu gehoͤrte, was
daraus entſtehen mußte, wenn die Weihe der hoͤchſten
Empfindung dieſen Geiſt und dieſen Sinn vereinend
ergriff, ſie emporzuheben, ſie zu zerſchmettern, das
konnte ein Dichtungskundiger ahnen; doch uͤbertrafen
die Einblicke, die mir wurden, alles was ich zu ahnen
faͤhig geweſen war. Die Gluth der Leidenſchaft hatte
[168] hier uͤberſchwaͤnglich die edelſte Nahrung gefunden und
aufgezehrt; andres Leid und andrer Untergang erſchien
dagegen gering und kaum noch mitleidswerth. Die
Briefe und Tageblaͤtter, welche mir aus einziger Gunſt
des Vertrauens zum Leſen gegeben wurden, enthielten
eine Lebensfuͤlle, an welche das, was von Goethe und
Rouſſeau in dieſer Art bekannt iſt, nur ſelten hinan¬
reicht; ſo moͤgen die Briefe an Frau von Houdetot ge¬
weſen ſein, deren Rouſſeau ſelbſt als unvergleichbar
mit allem andern erwaͤhnt, ein ſolches Feuer der Wirk¬
lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Dieſe
Papiere, nachdem ſie lange in meiner Verwahrung ge¬
weſen, ſind leider im Jahre 1813 verloren und wahr¬
ſcheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein
genuͤgendes Bild geben. Es ſcheint, als ſolle derglei¬
chen nicht zum litterariſchen Denkmal werden, ſondern
heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar
gehoͤrte. Naͤchte lang ſaß ich uͤber dieſen Blaͤttern, ich
lernte kennen, wovon ich fruͤher keinen Begriff gehabt,
oder vielmehr, was in meiner Ahnung geſchlummert,
wurde mir zur wachen Anſchauung. Nur das duͤnkte
mich ein Traum, daß ich zu dieſen Schriften gekom¬
men war, und an ſolchem Daſein ſo nahen Antheil
gewann.
Die Fuͤlle und Kraft perſoͤnlicher Lebensentwicklung
waren mit der Schoͤnheit und Erhebung dichteriſchen
und philoſophiſchen Geiſtlebens in engem Buͤndniſſe, ſie
[169] bewegten ſich beiderſeits in bezugvoller Uebereinſtim¬
mung. Schon ſehr fruͤh, weit fruͤher, als irgend eine
litterariſche Meinung der Art ſich gebildet hatte, war
Rahel von Goethe's Außerordentlichkeit getroffen, von
der Macht ſeines Genius eingenommen und bezaubert
worden, hatte ihn uͤber jede Vergleichung hinausgeſtellt,
ihn fuͤr den hoͤchſten, den einzigen Dichter erklaͤrt, ihn
als ihren Gewaͤhrsmann und Beſtaͤtiger in allen Ein¬
ſichten und Urtheilen des Lebens enthuſiaſtiſch ange¬
prieſen. Jetzt erſcheint das ſehr leicht und natuͤrlich,
und niemand will Goethe's hohes Hervorragen ver¬
neinen, denn ſogar im Bemuͤhen ſie einzuſchraͤnken
giebt man die Bejahung zu, allein damals, wo der
kuͤnftige Heros noch in der Menge der Schriftſteller
mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit
voranſtanden, wo die Nation uͤber den Gehalt und
ſogar uͤber die Form der geiſtigen Erzeugniſſe noch ſehr
im Truͤben urtheilte, und meiſt an kleinlichen Neben¬
ſachen und aͤußerlichen Uebereinkommniſſen hing, damals
war es kein Geringes, mit geſundem Sinn und Herzen
aus dem Gewirr von Taͤuſchungen und Ueberſchaͤtzungen
ſogleich das Aechte und Wahre herauszufuͤhlen und mit
freiem Muthe zu bekennen. Die Liebe und Verehrung
fuͤr Goethe war durch Rahel im Kreiſe ihrer Freunde
laͤngſt zu einer Art von Kultus gediehen, nach allen
Seiten ſein leuchtendes, bekraͤftigendes Wort einge¬
ſchlagen, ſein Name zur hoͤchſten Beglaubigung geweiht,
[170] ehe die beiden Schlegel und ihre Anhaͤnger, ſchon be¬
ruͤhrt und ergriffen von jenem Kultus, dieſe Richtung
in der Litteratur feſtzuſtellen unternahmen. Gedenkens¬
werth erſcheint es, daß, waͤhrend dieſe Maͤnner ihre
Anbetung doch nicht ohne einige Abſicht auf Ertrag
und Lohn ausuͤbten, Rahel ihrerſeits dabei mit voͤlligem
Selbſtvergeſſen verfuhr; ſie hatte Goethe’n im Karls¬
bade perſoͤnlich kennen gelernt, und er mit Aufmerk¬
ſamkeit und Antheil ihres Umgangs gepflogen, wie auch
noch ſpaͤterhin deſſelben mit Hochſchaͤtzung gedacht, ohne
daß ſie im geringſten eine Verbindung feſtgehalten,
einen Briefwechſel veranlaßt haͤtte, im Gegentheil, ſie
erwaͤhnte wenig der Perſon, deſto beeiferter aber des
Genius, und nicht die zufaͤllige Bekanntſchaft, ſondern
die weſentliche, die das Leſen ſeiner Schriften gab,
genoß und zeigte ſie mit Stolz und Freude. Spaͤt
erſt entdeckte ich unvermuthet in alten Briefen die aus
Goethe’s Mund vernommenen fuͤr Rahel ruͤhmlichen
Aeußerungen, welche ihr von Freunden berichtet, von
ihr ſelbſt aber vergeſſen waren. In der Philoſophie
ſtand ihr gleicherweiſe der edle Fichte voran, fuͤr deſſen
Geiſteskarakter ſie ſtets in gleicher Verehrung blieb,
wenn auch ſein Geiſtesgehalt bei weitem nicht alles
abſchloß, was ihr Gedankenflug forderte oder geſtalten
mochte. Friedrich Schlegel, Novalis, Schleiermacher,
ja ſelbſt Schelling und Steffens, waren ihr theils per¬
ſoͤnlich, theils den Schriften nach bekannt und werth.
[171] In der Muſik waren ihre Lieblinge Gluck, Mozart
und Righini; die italiaͤniſche Schule im Geſang, und
nebenher auch im Tanze, allem andern vorausgeltend.
Und damit dem Schaͤtzen und Lieben auch der Gegenſatz
des Mißachtens und Verwerfens nicht fehlte, ſo waren
ihr eben ſo fruͤh und ſo entſchieden, wie jene im Guten,
die damals beliebten Buͤhnenherrſcher Kotzebue und
Iffland im Schlechten bemerkt, lange vorher, ehe noch
die zum Bewußtſein erwachende litterariſche Kritik ihre
muthigen Angriffe gegen dieſe Goͤtzen der Menge ge¬
richtet hatte. Namentlich klagte ſie, daß Iffland, ab¬
gerechnet ſein großes perſoͤnliches Talent, das doch
dem aͤchten Genius eines Fleck nicht zu vergleichen war,
durch ſein wachſendes Anſehen und Einwirken die Buͤhne
und Schauſpielkunſt in Berlin auf weithinaus zu Grunde
richte, in’s Gemeine und Manierirte hinabziehe, und
der leitenden Behoͤrde, wie ſelbſt dem Publikum, die
falſcheſten Maximen und Urtheile einfloͤße und verhaͤrte.
Dieſe Polemik hat Wurzel gefaßt, und ſich in der
Folge durch namhafte Autoritaͤten ausgebreitet, doch
lange nicht ſo ſehr, daß nicht noch heutiges Tages das
Verdienſt der richtigen Vorausſetzung durch vielfaͤltigen
Augenſchein leider bewaͤhrt ſtuͤnde. — —
Ich war nicht ſo bald in dieſen neuen Lebensſtrom
eingegangen, als ich ſchon eilte, auch meinen Freunden
eifrigen Bericht zu geben, ihnen Schritt fuͤr Schritt
den neuen Gewinn aufzuzeigen, und ihnen alles zu
[172] goͤnnen, was ſie davon ſich anzueignen Faͤhigkeit und
Neigung haben mochten. Sie ließen anfangs manchen
Zweifel und Unglauben ſpielen, der mich ſcherzend ver¬
wirren ſollte, mußten aber bald den Ernſt meiner Ueber¬
zeugung erkennen, und ſich zuletzt der durch hundert
unabweisliche Zeugniſſe ſprechenden Geiſtesmacht beugen.
Eine Freundin war verwundert und wollte nicht begrei¬
fen, wie Rahel und ich uns auf die Dauer verſtehen
koͤnnten, meinte jedoch laͤchelnd, intereſſant und original
wuͤrde ich nachher nicht leicht eine Frau mehr finden.
Ein hartnaͤckiger Widerſacher blieb mir Harſcher, wie¬
wohl ich grade ihm die eindringlichſten und haͤufigſten
Mittheilungen machte. Er war ſehr faͤhig anzuerkennen
und zu bewundern, und zeigte ſich oft ganz hingeriſſen
von tiefen und reichen Einzelnheiten, die ich ihm be¬
richtete, ſo daß er die Andern ſchalt und beſchaͤmte,
welche bei ihm Tadel und Widerſpruch gehofft hatten,
und es gab wohl Faͤlle, wo er ſtaunend ausrief: „Hier
iſt alle Tiefe der Schleiermacher'ſchen Ethik, was ſag'
ich, hier iſt mehr als Schleiermacher, denn hier iſt die
Wiſſenſchaft in Form des Lebens ſelbſt!“ Doch der¬
gleichen Entflammung dauerte nicht lange, ſondern gab
unvermerkt wieder einem Mißwollen und einer Uebel¬
laune Raum, welche tief in ſeinem Gemuͤthe lagen,
und gegen ein ſo freies und geſundes Weſen, wie ſich
in Rahel darſtellte, um ſo bitterer ausbrachen, als dies
mit ſeinem krankhaften und zerknitterten im hellſten
[173] Gegenſatze war. Er konnte etwas ſo Selbſtſtaͤndiges,
aus dem Ganzen Lebendes, und, ohne Kunſt und An¬
ſtrengung, Wahrheit und Schoͤnheit Produzirendes
ſchlechterdings nicht vertragen, ja eine Art Neid und
Eiferſucht ergriff ihn, und er wandte alles an, um
mich von dem neuen Verhaͤltniſſe wieder abzuziehen.
Er ſelbſt folgte mir zwar zu Rahel, erfuhr die lieb¬
reichſte Aufnahme, genoß der belebendſten Geſpraͤche,
und konnte des Staunens und Betrachtens kein Ende
finden; allein grade das verdroß ihn wieder, er wollte
ſich nicht uͤberboten ſehen, und blieb wieder weg, weil
er den Zauber, wie er ſagte, nicht wollte Herr uͤber
ſich werden laſſen. Seine ernſtlichen Eroͤrterungen aber,
ſeine ſpoͤttiſchen Launen, und was er ſonſt verſuchte,
nichts hatte diesmal die geringſte Gewalt auf mich, er
ſah es ſelber ein, und ließ mich meiner Wege gehen,
zufrieden, daß ich neben der neuen Hinneigung auch
unſrem alten Verhaͤltniſſe nach wie vor die treuſte Be¬
fliſſenheit widmete, und mich nach dieſer Seite ebenſo¬
wenig wie nach jener irre machen ließ. — —
Rahel bezog im Laufe des Sommers eine laͤndliche
Wohnung in Charlottenburg, und ich ließ mir ange¬
legen ſein, ſie dort ſo oft als moͤglich zu beſuchen.
Meine Arbeiten draͤngte ich zuſammen auf den fruͤheren
Theil des Tages, meinen ſonſtigen Umgang ſchraͤnkte
ich mehr und mehr ein, und wenn der Nachmittag mir
noch nicht frei wurde, ſo ließ ich ſelbſt den dunkelnden
[174] Abend mich nicht abhalten, die Stunde Weges zu
Wagen oder zu Fuß eilig zu durchmeſſen, um den
meiſt drangvollen Tag in der labendſten Erholung zu
beſchließen. Die groͤßere Einſamkeit, in welcher ich die
Freundin hier ſah, gab unſerm Geſpraͤch und ganzen
Zuſammenſein einen freieren Gang und reicheren Ertrag;
der heimliche Schattenplatz vor der Thuͤre des kleinen
Hauſes in der abgelegenen Schloßſtraße, die kuͤhlen
Spaziergaͤnge in den duftenden Gartenwegen, durch
die breiten baͤumereichen Straßen des damals uͤberaus
ſtillen Ortes, laͤngs des Ufers der Spree und uͤber die
Bruͤcke, dieſe Reize der Oertlichkeit, oft noch erhoͤht
durch die Pracht des Mond- und Sonnenhimmels, ſind
mir in der Erinnerung unaufloͤslich verwebt mit den
erhebendſten Geiſtesfluͤgen und den zarteſten Schwin¬
gungen des erregten Gemuͤths, welches denn doch
zugleich leidenſchaftlichen Spannungen und geſelligem
Widerſtreite genugſam eroͤffnet blieb, und daher von
ſentimentaler Verweichlichung gar nicht bedroht war.
Theils mit ſich ſelber als maͤchtiger Gegenwart
erfuͤllt, theils zur unbeſtimmten Zukunft gewaltſam hin¬
ausſtrebend, war die ſchoͤne Sommerzeit verfloſſen, und
waͤhrend der Ferien mußten die Entſcheidungen ausge¬
fuͤhrt werden, welche wir gefaßt hatten. Jemehr der
Zeitpunkt der Trennung herannahte, deſto inniger fuͤhlten
Rahel und ich den Werth und das Gluͤck unſrer Ver¬
bindung. Wir ſuchten den Schmerz durch Geiſtesſtaͤrke
[175] zu verſcheuchen, aber mitten in aller Freudigkeit, daß
wir noch zuſammen ein Gluͤck empfanden, dem auch
die Trennung ſein Weſen laſſen mußte, uͤberſchlich uns
die trauervollſte Wehmuth. Es ſchien Thorheit, Wahn¬
ſinn, daß wir uns trennten, und doch blieben die ge¬
faßten Vorſaͤtze unveraͤndert, und durchaus einwilligend
ſtimmte Rahel mir bei. Wir hatten den Muth, uns
zu trennen, geſtaͤrkt durch die Kraft des Zuſammenſeins.
Meine Lebensentwicklung war noch unvollſtaͤndig ſogar
in ihren Umriſſen, deren Geſtalt ſich abſchließen, ſich
nach vielen Seiten uͤber viele Luͤcken hin ergaͤnzen mußte.
Wie haͤtte ich bleiben ſollen, in welcher Stellung, in
welcher Richtung? Der ſtrebenden Thaͤtigkeit haͤtte kein
Gluͤck mich entſagen laſſen, im ruhigen Genuſſe weicher
Tage waͤre ich nur ungluͤcklicher geweſen. Ich mußte
fort, um als ein Andrer wiederzukommen, und mußte
immer wieder fort, bis nach genugſamen Kaͤmpfen und
Stuͤrmen das innere Leben ſich zu dem aͤußern in
gehoͤriges Verhaͤltniß gebracht hatte. Ich fuͤhlte dieſe
unwiderſtehliche Nothwendigkeit, ohne derſelben klar
bewußt zu ſein, und alle entgegengeſetzten Verſuche
mußten mißlingen, bis die rechte Zeit gekommen war.
Der gewonnene Schatz aber blieb mir fortan gewiß,
der Wechſel des Lebens und die Vielgeſtalt der Welt
vermochten uͤber ihn nichts; auch wußten wir beide dies
mit ſtaͤrkſter Gewißheit, und in der hierdurch gewaͤhrten
Herzensfreudigkeit erſchien ſelbſt die Trennung nur als
[176] Nebenſache, die ſich nur jetzt nicht aͤndern ließe, kuͤnftig
aber unfehlbar weichen werde. Bis zuletzt nahmen
zerſtreuende Thaͤtigkeiten uns in Anſpruch. — — Als
die Tage des Scheidens nun wirklich eintraten, ich mir
vorſtellen mußte, daß ich dieſe Augen bald nicht mehr
ſehen, dieſe Hand nicht mehr kuͤſſen, dieſe Stimme nicht
mehr hoͤren ſollte, da mußt’ ich gleichwohl verzagen, und
das nahe Bild der verlaſſen zuruͤckbleibenden Freundin
brachte mich zur Verzweiflung, aus der nur die Geluͤbde
des Wiederſehens ſich um ſo ſtaͤrker emporhoben, und
einigen Troſt gewaͤhrten. — —
Ich war damals vierundzwanzig Jahr alt, Rahel
um mehr als die Haͤlfte dieſer Jahre aͤlter, und dieſer
Umſtand, welcher unſre gange Lebensſtellung weit aus¬
einander zu ruͤcken ſchien, haͤtte dies vielleicht wirklich
vermocht, waͤre er in ſich ſelber wahr geweſen. Allein
er beſtand nur als Zufaͤlliges, und war in allem Weſent¬
lichen aufgehoben und vernichtet. Dieſes edle Leben,
dem ſchon ſo mannigfache Weltanſchauung geworden,
ein ſo großer Reichthum von Gluͤcks- und Leidenslooſen
zugetheilt geweſen, dieſes Leben erſchien unzerſtoͤrbar
jung und kraͤftig, nicht nur von Seiten des maͤchtigen
Geiſtes, der in freier Hoͤhe uͤber den Tageswogen
ſchwebte, ſondern auch das Herz, die Sinne, die Adern,
das ganze leibliche Daſein, waren wie in friſche Klar¬
[177] heit getaucht, und die reinſte, erquickendſte Gegenwart
ſtand herrſchend mitteninne zwiſchen erfuͤllter Vergangen¬
heit und hoffnungsreicher Zukunft. Eine dauernde Ver¬
einigung mußte uns jedoch damals noch verſagt ſein.
Meine Univerſitaͤtsjahre waren noch nicht abgelaufen,
der Verſuch in das buͤrgerliche Leben einzutreten durfte
nicht unterbleiben, und kaum an der Schwelle von
dieſem ſah ich mich durch innere Unruhe und den Drang
der Zeiten zu dem mannigfachſten Wechſel der Verhaͤlt¬
niſſe fortgeriſſen. Zweimaliger Kriegsdienſt, Reiſen,
Zerſtreuung in glaͤnzender Welt, Lockungen des Ehr¬
geizes, Neigungen und Mißverſtaͤndniſſe, zu welchen die
langwierige Entfernung Anlaß geben wollte, nichts konnte
jemals in meinem Innern das feſte Band beruͤhren,
das mich mit Rahel verknuͤpft hielt, die tiefe Ueber¬
zeugung, daß ich mein Lebensgluͤck gefunden wiſſe,
erſchuͤttern, und das unermuͤdete Hinſtreben zu dieſem
Ziel auch nur einen Augenblick ſchwaͤchen. Sechs Jahre
vergingen auf dieſe Weiſe, nur unterbrochen durch kurze
Zeiten des Wiederſehens, in welchen die Vorſaͤtze und
Hoffnungen ſich neu beſtaͤrkten. Endlich, nach erfolgtem
Umſchwunge der allgemeinen Verhaͤltniſſe, nach erlangtem
Sieg und Frieden des deutſchen Vaterlandes, von Paris,
wo ich ſchwer krank gelegen, unter gluͤcklichen Zeichen
heimkehrend, konnte ich, aller Hemmungen frei, die
geliebte Freundin in Boͤhmen wiederfinden, den ſchoͤnſten
Sommer mit ihr verleben, und darauf in Berlin, am
II. 12[178]27. September 1814, mein Lebensloos fuͤr immer dem
ihren anſchließen.
Die neunzehnjaͤhrige Zeit unſres ſodann wenig unter¬
brochenen, zu ſtets erneutem Bewußtſein des Gluͤckes
erhobenen und an innerer Entwicklung reichen Zuſammen¬
lebens zu ſchildern, darf ich vielleicht in ſpaͤterer Zeit,
wenn die Fortſetzung der begonnenen Denkſchriften mich
wieder anziehen kann, mit geſtaͤrkten Kraͤften zu unter¬
nehmen hoffen. —
Die
Schlacht von Deutsch-Wagram,
am 5. und 6. Juli 1809.
Nach den großen Unfaͤllen in Bayern, dem Verluſte
von Wien, und dem Fehlgehen ſo mancher Aufſtands¬
verſuche, von denen man die groͤßte Erwartung gehegt,
mußte die oͤſterreichiſche Sache, und mit ihr die deutſche,
diesmal wiederum verloren ſcheinen; — und urploͤtzlich,
ein paar Tage ſpaͤter, da niemand dies mehr hoffen
durfte, ſtand ſie in dem herrlichſten Siegesglanze! Die
geſchlagenen, ermuͤdeten, mit allen Nachtheilen eines
ſchleunigen Ruͤckzuges ringenden Truppen hatten den
ſtolzen Gegner bei ſeinem weiteren Vordringen uͤber
die Donau ſtreitfertig aufgenommen, in zweitaͤgiger
Schlacht am 21. und 22. Mai bekaͤmpft und uͤberwaͤl¬
tigt, und uͤber den Fluß zuruͤckgeworfen. Die Schlacht
von Aſpern erklang weithin durch Deutſchland, und
erregte maͤchtig die Gemuͤther. Napoleon war, ſeit
12 *[180] ſeinem Auftreten, noch in keiner Schlacht uͤberwunden
worden; dies war die erſte, die er verlor, und voll¬
ſtaͤndig verlor, im offnen Kriegsfelde, eine große Haupt¬
ſchlacht. Der Erzherzog Karl zuerſt entrang dem gewaltig¬
ſten Schlachtengewinner der neuern Zeit einen ſolchen
Sieg; und wenn auch ſpaͤterhin Napoleon wiederholte
und groͤßere Niederlagen erleiden mußte, ſo uͤberließ er
doch niemals wieder nur Einem Gegner ſo ungetheilt
den Siegeskranz.
In Berlin, in Schleſien, wo wir durchreiſten, war
die Begeiſterung allgemein; der Zauber der Unbeſieg¬
barkeit, durch die juͤngſten Gluͤcksfaͤlle erſt recht befeſtigt,
war von Napoleon gewichen, man ſah die Moͤglichkeit
durch die That; im vollen Siegeslaufe hatte der Wider¬
ſtand ihn gehemmt; er war geſchlagen, ſein Heer zer¬
ruͤttet, auch er konnte zu Grunde gehen, wie er bisher
die Andern zu Grunde gerichtet hatte. Ja, wenn man
die Landkarte betrachtete, wie tief im feindlichen Lande,
und wie entfernt und faſt geſchieden von Frankreich,
er die mißlichſte Lage uͤberſtehen ſollte, ſo konnte die
Hoffnung ſchimmern, es wende ſich mit ihm ſchon jetzt
zum Untergange; und er habe die Worte an ſeine
Soldaten, im Beginne des Krieges, dies ſolle ſein
letzter Feldzug in Deutſchland ſein, ſich ſelber zum Ver¬
haͤngniſſe geſprochen. Wirklich war Tyrol noch im vollen
Aufſtande, Norddeutſchland jeder neuen Bewegung offen,
England thaͤtig, Preußen zum Ausbruche geneigt, der
[181] Rheinbund ſelbſt nicht ſicher, ſeine Fuͤrſten konnten von
Napoleon abfallen, gegen ihn die Volkskraͤfte ſich uͤberall
erheben. Man hielt alle guͤnſtigen Ausſichten, mit denen
man ſich vor Eroͤffnung dieſes Krieges geſchmeichelt,
abermals, und mehr als vorher, der Erfuͤllung nahe.
Unter ſolchen Vorſtellungen, Gluͤckwuͤnſchen und
Verheißungen, ſetzten wir eilig unſre Reiſe fort. Zwei
unſrer Reiſegenoſſen mußten aber in Schleſien noch
zuruͤckbleiben, und wir kamen nur unſer vier nach Maͤhren,
mit deſſen Boden wir nun unwiderruflich eine neue
Lebensbahn betreten hatten. Herrlich ſprach uns das
Land mit ernſten und heitern, von maͤchtigen Verhaͤlt¬
niſſen und großem Zuſammenhange zeugenden Eindruͤcken
an. Sonderbar duͤnkte uns die Stimmung der Menſchen,
weder lebhaft aufgeregt durch den Sieg, wie wir ſie zu
finden dachten, noch eigentlich antheillos, wie dieſer
Mangel an Begeiſterung zu fuͤrchten gab. Ein gelaſſenes
Zutrauen ſchien uͤber Gluͤck und Ungluͤck hinaus ſich einer
guten Sache verſichert zu halten, und fuͤr dieſe pflicht¬
maͤßig und treu zu handeln, ohne damit einen ungewoͤhn¬
lichen Aufwand geiſtiger Bewegung zu verbinden. Alt¬
hergebrachtes weitſchichtiges Regierungsweſen, und das
Verhaͤltniß einer groͤßtentheils ſlawiſchen Bevoͤlkerung
zu dieſem, ſchienen uns, bei naͤherer Betrachtung, den
anfangs befremdlichen Eindruck hinlaͤnglich zu erklaͤren.
Auch waren, wo nicht alle verfuͤgbaren, doch die hoͤheren
und tuͤchtigeren Kraͤfte des Landes ſchon vorwaͤrts in
[182] Thaͤtigkeit; die Beſitzer der Herrſchaften und Guͤter, die
junge Mannſchaft aus den Doͤrfern und Staͤdten, die
kaiſerlichen Beamten ſelbſt, alles war zur allgemeinen
Vertheidigung bei Linientruppen oder Landwehr einge¬
ruͤckt, und nur hin und wieder ſah man einige ſchwache
Abtheilungen neuausgehobener Truppen, welche gleich¬
falls zu dem Heere ſtoßen ſollten, und vorher nur noth¬
duͤrftig abgerichtet wurden.
In Olmuͤtz fanden wir den ausfuͤhrlichen Bericht
uͤber die Schlacht von Aſpern, wie er amtlich abgefaßt
worden und eben im Druck erſchienen war. Begierig
griffen wir nach dieſem Heft, welches den fruͤheren,
eiligen und kurzen Nachrichten zur Ergaͤnzung diente,
und uns nunmehr ein deutliches Bild des großen Ereig¬
niſſes vor Augen ſtellte. Die ſachgruͤndliche Erzaͤhlung,
zuweilen lebhafter einſchreitend, machte auf uns einen
begeiſternden Eindruck, ſie wurde laut vorgeleſen, viel¬
faͤltig uͤberdacht und beſprochen; vor- und ruͤckwaͤrts
knuͤpften ſich hier die mannigfachſten Betrachtungen fuͤr
uns an. Als wir den Verluſt der Oeſterreicher mit
ihrer anfaͤnglichen Staͤrke verglichen, und das Ergebniß
fanden, daß der vierte Mann getoͤdtet oder verwundet
worden, lag die Bemerkung nah, daß fuͤr eine neue
Schlacht in gleichem Verhaͤltniß auch von uns Vieren
Einer zu rechnen ſei, und ich warf die Aeußerung hin,
ich wuͤrde dieſer wohl ſein; ich mußte das ausſprechen,
[183] ohne daß weder ich ſelbſt noch die Andern ſich weiter
dabei aufhielten.
Wie eilten weiter zu kommen, voll Sorgen und
Unruhe, daß wir etwas Bedeutendes verſaͤumen koͤnnten,
da ſchon die bis dahin dauernde Waffenſtille ein Wunder
duͤnkte, deſſen Fortſetzung mit jedem Tage ſich weniger
glauben ließ. Fuͤr Marwitz war noch ein beſonderer
Grund der Eile; ein juͤngerer Bruder von ihm war
ſchon fruͤher in des oͤſterreichiſche Heer getreten, bei
Aſpern verwundet und darauf nach Nikolsburg gebracht
worden, wo er ſchwer danieder lag. Wir fanden ihn
in einem uͤblen, faſt hoffnungsloſen Zuſtande. Ihm
war aufgetragen worden, mit einer kleinen Schaar gegen
feindliches Geſchuͤtz anzuſprengen, damit deſſen Aufſtellung
und Staͤrke durch das Abfeuern kund wuͤrde; dieſer
Zweck wurde erreicht, dem edlen Juͤngling aber dabei
durch eine Kartaͤtſchenkugel der Oberſchenkel zerſchmettert,
und kaum hatten die Seinigen ihn vor den Muͤndungen
der feindlichen Kanonen noch aufraffen und zuruͤckbringen
koͤnnen. Den Bruder, ſo weit von der Heimath in
dieſem Jammer, und ſo mancher Huͤlfe und Pflege
doch entbehrend, wiederzuſehen, war ein großer Schmerz,
der dadurch noch vermehrt wurde, daß dieſes Wieder¬
ſehen nicht einmal dauernd, ſondern nur auf kurze Zeit
beſchraͤnkt ſein konnte. Das Beiſpiel eines ſolchen trau¬
rigen Voranganges mußte den Eifer der beſchloſſenen
Nachfolge noch anſpornen und befeſtigen; man fuͤhlt ſich
[184] fremdem Leide wie verpflichtet, dem eignen nun um ſo
williger entgegenzugehn. Da jedoch Marwitz mancherlei
Unordnungen zu treffen hatte, und dabei ſeine troͤſtliche
Gegenwart dem Ungluͤcklichen gern einige Tage goͤnnen
wollte, wir Andern aber nur muͤßige Zuſchauer ſein
konnten, ſo trennten wir uns hier, um jeder nach eignem
Rath und Mittel ſein ferneres Geſchick aufzuſuchen.
Marwitz war des Eintritts in das Regiment Klenau
Chevauxlegers, wo ſein Bruder diente, ſo gut wie
gewiß, die Andern hatten ihr Abſehen gleichfalls auf
die Reiterei geſtellt, ich aber dachte bei dem Fußvolk
einzutreten, und wollte ein ganz friſches Verhaͤltniß
nur durch mich ſelber finden, daher ich auch alle Empfeh¬
lungsbriefe und ſonſtige Anknuͤpfungen verſchmaͤht hatte.
Wir ſchieden froh und leicht, und ich zuerſt fuhr mit
Kourierpferden dem großen Hauptquartiere zu.
Einem Feldwebel, der auf der Landſtraße gleichen
Weges dahinſchritt, war mein Fuhrwerk eine gute Ge¬
legenheit, um ſchneller fortzukommen, und mir ſein
Geſpraͤch ganz erwuͤnſcht, um von manchen Dingen,
die mir jetzt wichtig werden mußten, naͤhere Kundſchaft
einzuziehen. Aller Eindruck, den ich bisher von preußi¬
ſchem oder franzoͤſiſchem Soldatenweſen gehabt, mußte
hier gaͤnzlich ſchwinden, und ein durchaus verſchiedener
nahm die Stelle ein. Hier waren alle Beſtandtheile
und Verhaͤltniſſe anders geſtellt, wie ſchon dem fluͤch¬
tigſten Blick auffallen mußte, und eine zwar in Worten
[185] ſchwer auszudruͤckende, aber fuͤr die Anſchauung unver¬
kennbare Eigenart trat deutlich hervor, die auch in der
Folge ſich nur beſtaͤtigte, und mit dem Namen: ein
oͤſterreichiſcher, oder vielmehr, wie aus fruͤherer Gewoͤh¬
nung noch uͤblich war zu ſagen, ein kaiſerlicher Sol¬
dat, die urſpruͤnglichſte, ſelbſtſtaͤndigſte, und man moͤchte
ſagen unveraͤnderlichſte Geſtalt eines Kriegsweſens be¬
zeichnete, das auf der ſtarken Verknuͤpfung der ver¬
ſchiedenartigſten Voͤlkerſchaften und auf der ununterbro¬
chenen Ueberlieferung von Jahrhunderten ruht.
Mit der fruͤhſten Morgenhelle des 21. Juni traf
ich in Deutſch-Wagram ein, und bevor ich dem Halb¬
ſchlummer mich voͤllig entwunden, der in der Nachtfriſche
uͤber mich gekommen war, fuhr der Poſtillon bis vor
die Wohnung des Erzherzogs, wo die aufgepflanzte
Fahne und eine Grenadierwache mir ſogleich in die Au¬
gen fielen. Man glaubte, ich ſei ein Kourier, und
wollte den Erzherzog eiligſt wecken, welches ich nur mit
Muͤhe hindern konnte, indem ich wiederholt verſicherte,
daß ich keine Botſchaft zu uͤberbringen haͤtte, ſondern
nur in meinen perſoͤnlichen Angelegenheiten kaͤme. Man
verſtand wenigſtens, daß der Generaliſſimus nicht duͤrfe
geſtoͤrt werden, und ließ es damit gut ſein. Ich aber
fand mich in einer ſonderbaren Lage. Saͤmmtliche Ge¬
baͤude des großen Dorfes waren mit Einlagerung uͤber¬
fuͤllt, die naͤchſten alle mit hohen Offizieren oder Kanz¬
leien beſetzt, wie ſich an den vielen Schildwachen abneh¬
[186] men ließ, die faſt vor jeder Thuͤre ausgeſtellt waren;
ein Wirthshaus gab es unter ſolchen Umſtaͤnden uͤber¬
haupt nicht mehr. Da der ganze Ort noch in großer
Stille lag, auch einſtweilen ſich niemand um mich be¬
kuͤmmerte, ſo ſuchte ich auf gut Gluͤck in dem naͤchſten
Hauſe, wo ſchon einige Bewegung zu blicken war, ein
vorlaͤufiges Unterkommen. Ich fand Stabsfouriere dort,
die mich gaſtlich aufnahmen, und mir ſogar Theil an
ihrem Fruͤhſtuͤck anboten. Hier konnte ich mich den
neuen Eindruͤcken und Betrachtungen, die ſich aufdraͤng¬
ten, bequem uͤberlaſſen, und mir den ferneren Verlauf
meines Abenteuers in Gedanken feſtzuſtellen ſuchen.
Einige Offiziere kamen, und nachdem ſich leicht ein
Geſpraͤch angeknuͤpft, ſahen ſie mich faſt ſchon wie einen
der Ihrigen an, und gaben mir guten Rath, den ich
aber nicht recht verſtehen konnte, auch widerſprachen ſich
ihre Meinungen theilweiſe. Ich ſetzte mein Anliegen,
jedoch in Kuͤrze, ſchriftlich auf, und ließ dies Blatt
durch dienſtwillige Hand hoͤheren Ortes abgeben.
Als die Sonne hoͤher geſtiegen und das ganze
Hauptquartier lebhaft geworden war, begab ich mich
wieder in’s Freie. Ich ſah mir Deutſch-Wagram und
das anſtoßende Lager an, und wunderte mich nur, daß
ein Fremder, unter Hunderttauſenden hier vielleicht der
einzige dunkelblau Gekleidete, uͤberall ſo ungehindert
umhergehen konnte; niemand fragte mich, wer ich ſei
oder was ich wolle, meinen Paß hatte ſeit Olmuͤtz noch
[187] niemand wieder zu ſehen begehrt. Ein wunderbares
Gewirr bewegte ſich vor meinen Augen. Die unabſeh¬
baren Lagerreihen wimmelten von Kriegsvolk, und in
Wagram floſſen die Stroͤmungen dieſer mannigfachen
Regſamkeit zuſammen. Alle Truppengattungen und
Grade, in den verſchiedenſten Geſchaͤften und Koſtuͤmen,
in Kitteln und im Glanze, zur Arbeit, zum Wachdienſte,
zur Erkundigung von Neuigkeiten und zum Genuß und
Verkehr jeder Art, bewegten ſich bunt durcheinander
hin. Unter den Uniformen in Oeſterreich ſind die ſchoͤ¬
nen ganz außerordentlich ſchoͤn, die der Huſaren, Uhla¬
nen und ungariſchen Grenadiere gewaͤhrten den herrlich¬
ſten Anblick; neben dieſen nahmen ſich freilich manche
andre, beſonders auch die des deutſchen Fußvolks, um
ſo unanſehnlicher aus, wiewohl das letztere in groͤßeren
Maſſen zuſammenſtehend doch auch einen vortrefflichen
Eindruck machte. Merkwuͤrdig erſchien die Tracht der
Generale, die durch hechtblaue Roͤcke und rothe Hoſen
das Unſcheinbare und Auffallende ſonderbar vereinigten.
In dem Ausdrucke der Geſtalten und Geſichter waren
aͤhnliche Gegenſaͤtze wahrzunehmen; zwangloſe Beweg¬
lichkeit und pedantiſche Starrheit, muntre Laune und
finſtrer Ernſt, behagliche Trockenheit und wilde Leiden¬
ſchaft. Deutſche, Franzoſen, Wallonen, Slaven, Ita¬
liaͤner, Madſcharen erkannte man weniger im Einzelnen,
als vielmehr in dem Ganzen das Gemiſch aller dieſer.
Daß die Verſchiedenheit ſo vieler Voͤlker, Sprachen,
[188] Geſtalten und Sitten hier in der Gemeinſchaft nicht
verſchwand, aber doch wie von einem hoͤheren Zuſam¬
menhange gebunden erſchien, war grade das Eigenthuͤm¬
liche dieſes kaiſerlichen Heeres. Im Allgemeinen konnte
man glauben, noch daſſelbe Soldatenweſen vor Augen
zu haben, welches Schiller im Lager Wallenſteins dar¬
geſtellt hat, und in der That haͤtten ſich nicht nur die
aͤhnlichen Verhaͤltniſſe und Vorgaͤnge, ſondern großen¬
theils auch noch dieſelben Truppenſtaͤmme jener Zeit in
den heutigen Regimentern nachweiſen laſſen. Aus den
wunderlichen Scenen und altbewahrten Redensarten,
welche hier im Vorbeigehen ploͤtzlich die Aufmerkſamkeit
anregten, wehte mich unterweilen auch die Luft des
abenteuerlichen Simpliciſſimus noch an, jenes einſt
vielgeleſenen Romans aus dem dreißigjaͤhrigen Kriege;
und als der Generalgewaltiger reitend durch das Lager
mir gezeigt wurde, glaubte ich den Rumormeiſter jener
wilden Zeit leibhaftig vor mir zu ſehen!
War in dem Hauptquartiere die Bewegung freier,
glaͤnzender, und nicht ohne die Zugaben vornehmer und
reicher Lebensweiſe, ſo ging es dagegen im eigentlichen
Lager ernſthafter und ſtiller zu. Jeder Raum war
abgemeſſen, die Anordnung der Reihen und Gaſſen
ſtreng beobachtet. Ueberall war die wachſamſte Aufſicht
und Ordnung, kein wilder Laͤrm, kein Streit; die
Truppen ſah man beſchaͤftigt, theils ihre Waffen und
Geraͤthe in Ordnung zu halten, theils andre Arbeiten
[189] zu verrichten, welche der Tag erforderte, am meiſten
aber mit Exerziren. Vom fruͤhen Morgen an wurden
kleinere und groͤßere Abtheilungen eingeuͤbt; denn die
erlittenen ſtarken Verluſte waren durch junge Mannſchaft
erſetzt worden, welche nun eilig ausgebildet werden
ſollte. Dieſe fleißigen Uebungen, und die Puͤnktlichkeit,
mit welcher die mannigfachen Dienſtverrichtungen nach
eingetheilter Zeitfolge wechſelten, gab der kriegeriſchen
Bewegung einen Anſchein ruhiger Friedensordnung.
Dreimal taͤglich traten die Regimenter herkoͤmmlich zum
Gebet in’s Gewehr; immer auf’s neue berief der Trom¬
melſchlag die Feldwebel und Korporale zum Anhoͤren
der auszutheilenden Befehle; wurde Vergatterung geſchla¬
gen, ſo war im Augenblicke die unabſehbare Front
ſchweigſam aufgeſtellt; die zahlreichen Lagerwachen hiel¬
ten vorwaͤrts ihre Poſtenkette beſetzt, und nur mit
einbrechender Dunkelheit unterbrach ihr wechſelſeitiger
Zuruf die große Stille. Die Truppen lagen ſaͤmmtlich
unter freiem Himmel; aus der Mitte jedes Regiments
erhob ſich nur Ein Zelt, welches als Feldkapelle fuͤr
den Gottesdienſt beſtimmt war, zugleich aber dem Ober¬
ſten einen bedeckten Raum darbot; alle uͤbrigen Offi¬
ziere, wie die Gemeinen, begnuͤgten ſich mit Erdgruben,
denen etwan ein Dach von Raſen und Laubgezweig
das Anſehn von Huͤtten und einigen Schutz gegen das
Wetter lieh. Betrachtete man dieſes Kriegsvolk in
ſeiner ausdruckvollen Kraͤftigkeit, gelaſſenen Bewegung,
[190] maͤßigen Lebensart und unwandelbaren Gehorſam, ſo
mußte man ſich wohl bekennen, ein ausgepraͤgtes Bild
des deutſchen Charakters vor Augen zu haben, und
wenn man ſich gegenuͤber die franzoͤſiſche Beweglichkeit,
uͤppige Luſt und entzuͤndbare Leidenſchaft dachte, ſo
glaubte man jenen Kraͤften um ſo ſichrer vertrauen zu
duͤrfen, als ſie diesmal von beſter Feldherrnhand gefuͤhrt
wurden. Einige Zuͤge, welche den oͤſterreichiſchen Sol¬
daten ganz bezeichnen, moͤgen als jenen Tagen ange¬
hoͤrig hier aufbewahrt ſtehn. Ein ſchwerverwundeter
Reiter wurde waͤhrend der Schlacht zuruͤckgebracht, und
von begegnenden Kameraden theilnehmend angerufen,
wie es ihm gehe? „O recht gut,“ erwiederte er, „der
Feind iſt ſchon im vollen Zuruͤckweichen gegen die Donau
hin!“ Einem Grenadier wurde das Gewehr in der
Hand durch eine Kanonenkugel wie ein Waldhorn zuſam¬
mengekruͤmmt, ſtaunend betrachtete er den Schaden,
und ſagte bedauernd: „Ein ſo gutes Gewehr!“ Einen
Trupp Grenadiere, die eben Sturm gelaufen hatten,
fragte ein heranſprengender Offizier, wo ihr Bataillon
ſei? „Wir ſind das Bataillon,“ war die ſchlichte
Antwort; die Andern lagen dahingeſtreckt. Der einfache
Gradſinn macht hier das Erhabene.
An dieſem und dem naͤchſten Tage war ich auch
von der Gegend und der eigentlichen Heeresſtellung einen
beſtimmten Begriff zu erlangen bemuͤht. Die Oeſter¬
reicher ſtanden ſeit dem Siege von Aſpern noch faſt
[191] auf derſelben Stelle, nur hatten ſie ihre Linie mehr
ruͤckwaͤrts gezogen und in groͤßeren Bogen ausgedehnt.
Aſpern und Eßlingen lagen weitab vor der Fronte,
beide Doͤrfer jetzt außerordentlich verſchanzt, und mit
Geſchuͤtz und Truppen wohlbeſetzt. Die Donau ſtroͤmte
zwiſchen ihnen und dem Feinde, der hauptſaͤchlich auf
der Inſel Lobenau, gewoͤhnlich Lobau genannt, ſich
feſtgeſetzt und durch große Schanzarbeiten gedeckt hatte.
Weiter oberhalb, bei Nußdorf und hoͤher hinauf, war
das oͤſterreichiſche Heer mit dem rechten Fluͤgel unmit¬
telbar an die Donau gelehnt, entfernte ſich dann ſchraͤg
von dieſer gegen Stamersdorf und Wagram hin, und
dehnte ſeinen linken Fluͤgel, der am fernſten von der
Donau war, in das Marchfeld bis nach Markgrafen-
Neuſiedel aus. Deutſch-Wagram lag faſt im Mittel¬
punkte der Stellung; links von dieſem Ort erhebt ſich
der Boden, und bildet oſtwaͤrts eine Hochflaͤche, die
gegen Suͤden terraſſenfoͤrmig abfaͤllt; etwa hundert
Schritt vorwaͤrts fließt in der tieferen Ebne ein mit
Weiden bepflanzter Bach, der Rußbach, welcher von
Wolkersdorf her durch Wagram, Baumersdorf und
Markgrafen-Neuſiedel ſich in das Marchfeld hinzieht.
In weiter Ferne, uͤber die Ebne hinweg und jenſeits
der Donau, erblickte man am nebligen Horizont den
Stephansthurm von Wien; und es war ein eigenthuͤm¬
licher Reiz, die vom Feinde beſetzte Hauptſtadt taͤglich
vor Augen zu haben, und nicht anders erreichen zu
[192] koͤnnen! Die oͤſterreichiſche Hauptſtellung war nicht
verſchanzt, durch ihre natuͤrliche Beſchaffenheit aber vor¬
theilhaft genug, und beſonders bot ſie, im Fall es hier
zu einer neuen Schlacht kommen ſollte, der Reiterei in
dem weiten Marchfelde den freiſten Spielraum. Dage¬
gen waren laͤngs der Donau, beſonders bei Aſpern und
Eßlingen, wo die beſten Uebergangspunkte zu ſein
ſchienen, ſtarke und weitlaͤufige Verſchanzungen angelegt.
Sich gegenſeitig in ihren guten Stellungen beobachtend
und feſthaltend, ohne viel unternehmen zu koͤnnen, hat¬
ten beide Theile das unnuͤtze Schießen groͤßtentheils
eingeſtellt. Bei der Fortdauer dieſer ſtillen Spannung
mußte, ſo ſchien es, der Vortheil ſich mehr und mehr
auf die Seite der Oeſterreicher wenden. Napoleon ſtand
im feindlichen Lande, mitten in einer unruhigen Bevoͤl¬
kerung, die Donau war geſperrt, man fuͤrchtete in
Wien ſchon Mangel an Lebensmitteln, Tyrol war im
Aufſtande, Steiermark nicht ſicher, die Bewaffnung in
Ungarn gewann taͤglich an Staͤrke und Ausbildung.
Durch Entſendungen nach der obern Donau ſuchten die
Oeſterreicher dem Feinde ſeine Verbindungen im Ruͤcken
noch mehr zu erſchweren, die Aufſtaͤnde zu foͤrdern;
abwaͤrts, bei Preßburg, behaupteten ſie auf dem rech¬
ten Donauufer den ſtarken Bruͤckenkopf, welchen der
tapfre Erzherzog Johann gegen die taͤglichen Stuͤrme
der Franzoſen ruhmvoll vertheidigte. So konnte das
Wort des Erzherzogs Karl, das man ſich mittheilte:
[193] jeder Tag, den man hier ſtehn bleibe und den Feind
unthaͤtig feſthalte, ſei als ein Sieg zu betrachten, unter
ſolchen Umſtaͤnden ſehr wohl gelten, beſonders da auch
die politiſche Ausſicht, die ſchon zum Theil ſich erfuͤllte,
durch Zeitgewinn die guͤnſtigſten Wandlungen verſprach.
Daß vielfachere und raſchere Thaͤtigkeit dem Feinde
haͤtte verderblich werden, daß die Vorkehrungen haͤtten
ausgedehnter und eifriger ſein koͤnnen, laͤßt ſich wohl
behaupten; indeß muß man bedenken, daß der Geiſt
der Kriegfuͤhrung weſentlich von dem Koͤrper abhaͤngig
iſt, mit dem er wirken ſoll, und daß dieſer aus alten
Einrichtungen und Gewoͤhnungen durch den kraͤftigſten
Willen nicht ploͤtzlich zu jeder neuen Brauchbarkeit
umgewandelt werden kann. Dies gilt von manchen
Vorſchlaͤgen, welche zu jener Zeit gemacht wurden, die
aber in’s Werk zu ſetzen damals allzu ſchwierig duͤnkte.
Das Abſehen des Erzherzogs Karl war mit Recht auf
eine Feldſchlacht gerichtet, fuͤr welche die Truppen frei
verfuͤgbar bleiben, und an keine Verſchanzungen gebun¬
den ſein ſollten, als deren Zweckmaͤßigkeit fuͤr die kuͤnftig
moͤglichen Umſtaͤnde doch nichts voraus zu berechnen
war, und deren Vorhandenſein dann ſtoͤrend und nach¬
theilig werden konnte. Jenem weſentlichen Zwecke, das
Heer fuͤr eine Schlacht in Bereitſchaft zu halten, mußte
die Hauptſorge des Feldherrn gewidmet bleiben und
ihm raſtlos zu thun geben, alle uͤbrigen Huͤlfsmittel
konnten erſt nach jenem in Betracht kommen, ſo ſehr
II. 13[194] man auch ſpaͤterhin wuͤnſchen durfte, daß der linke
Fluͤgel auf Verſchanzungen der Hohenleithen ſich geſtuͤtzt,
daß bewaffnete Schiffe die Donau beherrſcht, und daß
eine Telegraphenlinie zur ſchleunigen Verbindung zwi¬
ſchen den getrennten Heerestheilen beſtanden haͤtte!
Sehr hatte mich verlangt den Erzherzog ſelbſt end¬
lich zu ſehen, wozu die Gelegenheit ſich bald darbot,
und dann vielmals wiederholte. Schon am erſten Vor¬
mittage konnte ich vor ſeinen Fenſtern ihm zuhoͤren,
wie er eine Stunde der Muße damit verbrachte, auf
dem Fortepiano zu phantaſiren, worin er meiſterhafte
Geſchicklichkeit hatte. Nicht lange darauf trat er hervor,
ſtieg zu Pferde und ritt in das Lager hinaus, kehrte
zuruͤck, und machte dann einen Gang zu Fuß. Sein
Anblick war vortheilhaft und erfreuend. Er ſah aus,
wie ein tapfrer, biedrer und menſchenfreundlicher Mann,
der ſogleich Zutrauen erweckte, aber auch Scheu und
Ehrfurcht gebot, denn aus dem Feldherrnblick leuchtete
die Macht und die Gewohnheit des Befehlens hervor,
wie aus den freundlichen Mienen Ernſt und Hoheit.
Seine kleine ſchmaͤchtige Geſtalt erſchien kraͤftig und
gewandt genug, vielleicht durfte man aber aus ihr auch
die feinnervige Beſchaffenheit erkennen, die man ihm
allgemein beimaß. Der Krieg mit ſeinen Anſtrengungen
und Rauhigkeiten hatte eine ſanfte Anmuth aus dieſen
Gliedern nicht verdraͤngen koͤnnen, wie auch Napoleon
bei ſeinem erſten Auftreten gehabt haben ſoll, der im
[195] Beginn ſeiner Laufbahn eben ſo mager geweſen war,
jetzt aber ſtark geworden ein weniger gutes Anſehen
hatte. Was aber den Erzherzog beſonders auszeichnete,
war die voͤllige Einfachheit und Natuͤrlichkeit ſeines
Weſens, die gaͤnzliche Abweſenheit alles Gemachten und
Geſpannten; aus der Laͤſſigkeit mancher ſeiner Bewegun¬
gen wuͤrde man zuweilen faſt auf einen Mangel an
Kraft geſchloſſen haben, haͤtte nicht das Feuer ſeines
heldiſchen Auges jeden ſolchen Gedanken niedergeblitzt.
Sein unerſchrockener Muth, der ſtets das Beiſpiel per¬
ſoͤnlicher Aufopferung und Verlaͤugnung gegeben, ſeine
menſchenfreundliche Sorgfalt, ſein gerechter und ſtand¬
hafter Sinn, ſo wie das Andenken ſeiner fruͤhen Thaten
und Siege, hatten ihm die hoͤchſte Liebe des Heeres
erworben, die Offiziere hingen ihm eifrig an, die Ge¬
meinen waren ihm unbedingt ergeben, vorzuͤglich die
boͤhmiſchen Soldaten, denen er als Generalkapitaͤn ihres
Landes noch beſonders angehoͤrte. Wo er ſich zeigte,
ſchallte ihm jauchzender Leberuf entgegen, der auf den
Vorpoſten dem Feinde leicht ſeine Anweſenheit verrieth,
aber nicht ganz unterſagt werden konnte. Als Gene¬
raliſſimus ſtand er in einer Macht und Wirkſamkeit,
wie ſie ſeit Waldſtein kein oͤſterreichiſcher Feldherr aus¬
geuͤbt hatte; durch das ganze Kriegsweſen erſtreckte ſich
ſein unmittelbarer Befehl; er konnte befoͤrdern und ent¬
fernen, ſtrafen und belohnen, nach eignem Ermeſſen;
die Fuͤhrung des Krieges ſollte ſeiner Einſicht durchaus
13 *[196] uͤberlaſſen, alle Kraͤfte des Staates ihm hiezu verfuͤg¬
bar ſein. Nur wegen Ungarns offenbarten ſich in dieſem
Betreff einige Schwierigkeiten, und auch andre geheime
ſcheinen den bedungenen Rechten ſchon im Beginn ſtoͤrend
entgegengewirkt zu haben.
Schon zwei lange Tage hatte ich mich in dem
Hauptquartier und Lager umgetrieben, und der wuͤſte
Zuſtand, in welchem ich mich fuͤhlen mußte, wurde mit
jeder Stunde unertraͤglicher. Auf meine ſchriftliche Ein¬
gabe war mir durch Mißverſtand eine verkehrte Ant¬
wort zugekommen; dagegen hatte ein Fluͤgeladjutant
des Erzherzogs, Major Graf von Cavriany mir ſehr
freundlich und theilnehmend muͤndliche Auskunft und
Anleitung gegeben, mich dem Oberſten von Oberndorf
empfohlen, welcher das Regiment Reuß-Plauen befeh¬
ligte, und uͤber das Wunder ſcherzte, daß nun doch
wirklich einige Deutſche in Folge der Aufrufe des Kai¬
ſers und des Erzherzogs ſich zum Kriegsdienſte einfaͤn¬
den; er bedauerte, daß bei ſeinem Regiment alle erledig¬
ten Offizierſtellen eben erſt wieder beſetzt worden, meinte
jedoch, dies habe noch nicht bei allen Regimentern
geſchehen koͤnnen, und verſprach mir deshalb Erkundi¬
gung einzuziehen. Er machte mich auch mit ſeinem
Regimentsinhaber, dem Feldzeugmeiſter Fuͤrſten von
Reuß-Plauen bekannt, und dieſer treffliche Mann be¬
zeugte mir gleich das groͤßte Wohlwollen. Indeß ver¬
ging ein dritter Tag, ohne daß ſich etwas entſchied; ich
[197] hatte aber die Freude, Williſen eintreffen zu ſehen, mit
dem ich weite Spazirgaͤnge machte, wobei wir uns in
allerlei Betrachtungen ergingen, und die allgemeinen
und perſoͤnlichen Verhaͤltniſſe vielfach uͤberlegten. Er
begab ſich dann zu dem General Grafen von Carneville,
um in deſſen Freiſchaar einzutreten; die ruͤckwaͤrts von
Wagram, bei Bockfließ, errichtet wurde. Mich aber
rief, da meine Gedanken faſt ſchon andre Richtung nah¬
men, der Oberſt von Oberndorf unvermuthet an, und
wies mich zu dem Oberſten des Regiments Vogelſang,
das links von Wagram auf der oben erwaͤhnten Ter¬
raſſenhoͤhe lagerte; dort, meinte er, wuͤrde ich ſogleich
zum Dienſt eintreten koͤnnen. Dieſer Oberſt war der
Graf zu Bentheim, aus Weſtphalen, ein noch junger
Mann, von ſchoͤnem Anſehn und einnehmendem Weſen,
der durch ſeine Auszeichnung in der Schlacht bei Aſpern
ſo fruͤh zu der anſehnlichen Befehlshaberſtelle gelangt
war. Ein kurzes Geſpraͤch ſetzte mein Verhaͤltniß leicht
in’s Klare, der Oberſt war ſehr zufrieden mich in ſein
Regiment aufzunehmen, ernannte mich zum Faͤhnrich,
und gab mich zu der erſten Kompanie, die der wackre
Hauptmann von Marais befehligte. Ich erkaufte die
Equipirung eines bei Aſpern gebliebenen Offiziers, ver¬
tauſchte den Hut mit dem Tſchako, ſchnallte die breite
Degenkuppel mit dem kaiſerlichen Doppeladler um den
Leib, machte mit den Offizieren naͤhere Bekanntſchaft,
und ſchlief in der erſten Nacht in der Erdhuͤtte neben
[198] meinem Hauptmann und noch einem Offizier, als haͤtte
ich nie ein anderes Verhaͤltniß gehabt!
Die naͤchſten Tage hingegen waren ſchwer und oͤde.
Die große Sommerhitze hatte Laub und Gras verdorrt,
die Weiden des Rußbaches waren laͤngſt entblaͤttert und
zum Theil entrindet, auf der endloſen Ebene zeigte ſich
nirgends ein Schatten, nur dunkle Staubwolken, von
Stoßwinden ploͤtzlich herangefuͤhrt, verhuͤllten augenblick¬
lich den Sonnenhimmel, und uͤberſchuͤtteten alles mit
heißem Sandregen. Man mußte das Exerciren ein¬
ſtellen, und verkroch ſich in die Erdhuͤtten. Der beſte
Wille der Kriegskameraden brachte doch nur eine trau¬
rige Unterhaltung zuwege. Geſichtspunkte und Antriebe,
die wir Norddeutſchen fuͤr dieſen Krieg hatten, waren
hier groͤßtentheils fremd; man ſah in dem Kriegshand¬
werk ein erwaͤhltes Fach, deſſen Vortheile man geltend
machte, man rechnete die zu hoffenden Befoͤrderungen
aus, man ruͤhmte das Garniſonleben in Prag. Der
Oberſt allein kannte Gentz und wußte von Friedrich
Schlegel, den Andern waren dies unbekannte, bedeu¬
tungsloſe Namen. Das Regiment war uͤberdies ein
boͤhmiſches, und die meiſten Soldaten ſprachen nur dieſe
Sprache. Begeiſterung und Poeſie mußten hier voͤllig
erloͤſchen; auch ſelbſt die der Gefahr fehlten fuͤr jetzt;
weit und breit fiel kein Schuß, alles war in tiefſter
Ruhe. Man zweifelte, daß noch eine bedeutende Waf¬
fenentſcheidung vorfallen wuͤrde; man ſprach vom nahen
[199] Frieden, und wuͤnſchte ihn. Daß unterhandelt wurde,
ſtand außer Zweifel; franzoͤſiſche Beauftragte waren
wiederholt in Wagram geſehen worden, ſelbſt ſeinen
Vertrauten Duroc wollte man von dem Kaiſer Napo¬
leon mit Vorſchlaͤgen an den Erzherzog Generaliſſimus
abgeſchickt wiſſen. Ich konnte die Niedergeſchlagenheit,
die ich hievon empfand, nicht verhehlen; in meinem
Unmuthe muß ich mich ganz verzweiflungsvoll, und den
Wunſch, wieder fortzugehn, ſehr heftig ausgedruͤckt
haben, denn der Hauptmann von Marais eroͤffnete mir
mit großer Theilnahme, wenn dies mein Ernſt ſei, ſo
koͤnne mir vielleicht noch geholfen werden, er zweifle,
daß ich hoͤheren Ortes ſchon gemeldet ſei, und ſo koͤnne
der Oberſt wahrſcheinlich noch ohne fremdes Zuthun
mich entlaſſen. Mir fuhr der Gedanke durch den Kopf,
zu dem Herzoge von Braunſchweig-Oels zu gehen,
von deſſen Unternehmungen die Rede war, oder zu
dem Major von Noſtitz, des Prinzen Louis Ferdinand
von Preußen geweſenem Adjutanten, der an der Graͤnze
von Franken eine Freiſchaar ſammelte; von dieſen Beiden
ſagte man laut, ſie wuͤrden keinen Frieden machen,
ſondern lieber wie Schill auf eigne Hand zu Grunde
gehen. Es war aber zu ſpaͤt; bereits in die Liſten
eingetragen, haͤtte ich ein foͤrmliches Abſchiedsgeſuch
einreichen muͤſſen, was waͤhrend der Kriegszeit unthun¬
lich war. Der Oberſt, dem ich meine Unruhe nur im
Allgemeinen, nicht aber in ihren beſondern Gruͤnden
[200] zeigen mochte, wußte nicht, was er von mir denken
ſollte; uͤber die Waffenruhe und den Friedensanſchein
aber, die ich verwuͤnſchte, ſuchte er mich zu troͤſten,
und meinte, mit jedem Tage koͤnne ſich das aͤndern,
woruͤber niemand froher ſein wuͤrde, als er ſelbſt. Ich
blieb alſo einſtweilen wo ich war.
Die ſchlimmſte Pruͤfung war in der That ſchon
uͤberſtanden. Nach einem heißen, langweiligen, ver¬
zehrenden Tag, der nur eben ſolchen wieder erwarten
ließ, erſcholl am 30. Juni Abends ploͤtzlich von der
Donau her Kanonendonner, dem Gemuͤth eine labende
Erfriſchung! Eine Parthei Franzoſen, ſo vernahm man
bald, waren von der Lobau mittelſt Kaͤhnen auf eine
kleine Aue, die Muͤhleninſel genannt, uͤbergegangen,
die ſich nur noch durch einen ſchmalen Arm von dem
linken Donauufer ſcheidet; ſie legten eine Bruͤcke auf
dieſes Ufer heruͤber und beſchuͤtzten dieſelbe durch einen
kleinen Vorwall; unſre Batterien bei Eßlingen wollten
dem Feinde dieſe Ausbreitung nicht geſtatten, und ſeine
naͤchſten Kanonen auf der Lobau feuerten nun eben¬
falls. Die Unterhandlungen, hieß es, ſeien abgebro¬
chen, der Kaiſer Napoleon habe ſeine Truppen zuſam¬
mengezogen, um neuerdings mit ganzer Macht uͤber¬
zugehen und eine Schlacht zu liefern. Die Beharrlich¬
keit des Erzherzogs Generaliſſimus in ſeiner Stellung
mußte ſich hiedurch gerechtfertigt zeigen, da der Feind
keine beſſere Gegend fuͤr ſeinen Verſuch wußte, als
[201] dieſe gegen ihn vorbereitete und vertheidigte. Mit ein¬
brechender Nacht ſahen wir in der vor uns liegenden
Ebene die Alarmſtangen brennen, und das ganze Lager
gerieth in Bewegung. Der Kanonendonner verſtummte
zwar nach einiger Zeit, allein um 1 Uhr nachts erhiel¬
ten die auf der Anhoͤhe bei Wagram lagernden Regi¬
menter den Befehl, in der Stille anzutreten, und
ruͤckten ſchweigend etwa anderthalb Stunden gegen die
Donau hinab; der erſte, zweite und dritte Heertheil
lagerten daſelbſt zwiſchen Breitenlee und Stadt-Enzers¬
dorf, der vierte Heertheil ſtellte ſich bei Wittau, die
Reiterei bei Rasdorf; jeden Augenblick erwarteten wir,
daß der Feind angreifen wuͤrde; das Kanoniren erneuerte
ſich von Zeit zu Zeit; allein die Franzoſen ruͤckten nicht
vor, ſondern begnuͤgten ſich, ihre begonnene Bruͤcken¬
ſchanze zu vollenden. Der Erzherzog begab ſich zuerſt
nach Rasdorf, ſodann nach Stadt-Enzersdorf, und beſtieg
den dortigen Thurm, um die Anſtalten des Feindes zu
uͤberſchauen, darauf nahm er ſein Hauptquartier in
Breitenlee. Indeß mußte bald klar werden, daß die
Anſtalten an dieſer Stelle fuͤr einen ernſtlichen Ueber¬
gang zu unbedeutend blieben; es war offenbar, daß der
Feind hier nur die Aufmerkſamkeit beſchaͤftigen wolle,
und daß er ſeinen wahren Uebergang entweder ober¬
halb bei Nußdorf, oder unterhalb in der Gegend von
Ort vorhabe, wobei das oͤſterreichiſche Heer in ſeiner
jetzigen Stellung ſogleich die rechte oder linke Flanke
[202] bloßgeben wuͤrde; daher ſchien es vortheilhafter, bei der
Ungewißheit, welchen Punkt der Feind waͤhlen werde,
die ruͤckwaͤrtige Stellung wieder einzunehmen, aus wel¬
cher man frei und leicht nach jeder noͤthigen Richtung
hervorbrechen koͤnne. Dieſem Rathſchluſſe zufolge erhiel¬
ten wir am 3. Juli mittags unvermuthet Befehl, wie¬
der in unſre vorige Stellung bei Wagram zuruͤckzu¬
kehren. Dieſer Vor- und Ruͤckmarſch iſt in dem oͤſter¬
reichiſchen Bericht unerwaͤhnt geblieben, und doch war
die Vorwaͤrtsbewegung nicht gleichguͤltig; ſie erlegte
dem Feinde gleichſam eine Schlacht in aͤhnlichen Ver¬
haͤltniſſen wie die von Aſpern auf, waͤhrend unſer Ruͤck¬
marſch ihm ſtatt jener Enge die erwuͤnſchtere Ausdeh¬
nung freigab, in welcher die Schlacht von Wagram
moͤglich wurde. Da dieſe verloren ging, ſo konnte man
nachher bedauern, zu ihrer Entwickelung den Raum
gegeben zu haben, den man, wie es ſchien, gleich
anfangs verſagen, wenigſtens mit Vortheil ſtreitig machen
konnte, wenn man naͤher an der Donau den Kampf
aufnahm.
Der Anſchein, als ſolle das Leben der vorigen
Tage, ohne andern Inhalt als Sonnenbrand und
Staubwolken, auf's Neue fortgehen, dauerte diesmal
nicht lange. Von den Abſichten des Feindes hatte man
keine zuverlaͤſſige Kenntniß, nur unſichere Vermuthun¬
gen, doch deuteten alle ſeine Anſtalten auf irgend ein
großes Unternehmen. Die Befeſtigungen der Lobau,
[203] die Herſtellung und Sicherung der Hauptbruͤcken uͤber
den großen Arm der Donau, die Anlegung vieler Ver¬
bindungsbruͤcken zwiſchen der großen und den kleinern
Inſeln, die fortgeſetzte Arbeit an Zimmerwerk und
Schiffen, die Inſtandſetzung der Wege auf der Lobau,
die Anfuhr von Geſchuͤtz und Pulverwagen, alles dies
konnte nicht verborgen bleiben, am entſcheidendſten
aber waren die Bewegungen der Truppen, die von der
obern und untern Donau ſich hierherzogen; unter andern
ſah man vom Biſamberge aus am 2. Juli das ſoge¬
nannte italiaͤniſche Heer in jener Richtung anruͤcken.
Der Erzherzog Generaliſſimus beſchloß, das Unter¬
nehmen des Feindes zu zerruͤtten, dem Hauptangriffe
zuvorzukommen, und ihm den Ruͤckhalt zu verderben,
den die Lobau darbot. Die oͤſterreichiſchen Abtheilungen
an der obern Donau hatten Befehl erhalten, den Feind
lebhaft zu beunruhigen; desgleichen der Erzherzog Johann,
mit ſeiner Hauptſtaͤrke aus dem Bruͤckenkopfe von Pre߬
burg auf das rechte Ufer der Donau hervorzubrechen;
jetzt wurde dieſem am 4. Juli um 7 Uhr Abends der
Befehl geſandt, ſeine Truppen wieder auf das linke
Ufer heruͤberzuziehen, und zugleich bis Marcheck vorzu¬
ruͤcken, um fuͤr den Fall einer Schlacht auf die rechte
Flanke des Feindes wirken zu koͤnnen. Auch bei uns
war ein kraͤftiges Eingreifen angeordnet. Am 4. Juli
abends erhielten wir die Weiſung, wenn in der Nacht
kanonirt wuͤrde, bis Tagesanbruch in Ruhe zu bleiben,
[204] dann aber marſchfertig zu ſein. Wirklich begann, ſo¬
bald es dunkel geworden, vor uns an der Donau ein
heftiges Geſchuͤtzfeuer, der Himmel leuchtete immerfort
von den Blitzen der Kanonen, von den Wurfbahnen
der Bomben und Granaten; faſt zwei Stunden dauerte
der Wetteifer von beiden Seiten, denn die Franzoſen
hatten faſt gleichzeitig auch ihren Angriff unternommen,
und waͤhrend wir ihre Werke auf der Lobau zu zer¬
ſtoͤren dachten, die Zerſtoͤrung der unſrigen und die
Einaͤſcherung von Stadt-Enzersdorf vorbereitet. Das
oͤſterreichiſche Geſchuͤtz vermochte wenig gegen die ſtarken
Werke der Lobau; die franzoͤſiſche Mannſchaft auf der
Muͤhlau, welche als vermuthlicher Uebergangspunkt am
heftigſten beſchoſſen wurde, legte ſich nieder und litt
nicht viel, Dagegen zeigte ſich die Wirkung des feind¬
lichen Angriffs bald nachtheilig; in ſeinem Zwecke lag
zuſammenhaͤngendere Abſicht und ſtaͤrkerer Nachdruck;
ſein Geſchuͤtz war zahlreicher und wirkſamer; in kurzer
Zeit ſtand Stadt-Enzersdorf in Flammen, und unſre
Batterien ſtrebten fruchtlos gegen die feindliche Ueber¬
macht. Nachdem die Gegend eine Zeit lang durch den
Brand der kleinen Stadt erhellt geweſen, verdunkelte
ſich der Himmel mit ſchwarzen Gewitterwolken, der
Regen ſtroͤmte nieder, die Flammen minderten ſich, das
Geſchuͤtz feuerte ſeltner und verſtummte zuletzt voͤllig.
Ein furchtbares Sturmgewitter, wie niemand ein aͤhn¬
liches erlebt zu haben meinte, wuͤthete nun uͤber das
[205] weite Marchfeld, das von dem Gekrach des Donners
erbebte, und im Brauſen der Regenfluthen und dem
Geheul des Windes ſo ertoſte, daß daneben auch das
Geſchuͤtz haͤtte verhallen muͤſſen.
Den Feind, deſſen Vorſatz feſt und reif und deſſen
Huͤlfsmittel bereit waren, mußte dieſe Sturmnacht
aͤußerſt beguͤnſtigen. Er hatte die neben der Lobau
ſtromabwaͤrts auf dem linken Ufer uͤber Muͤhlleithen
und Wittau ſich erſtreckende Flaͤche zum erſten Antritt
ſeines Ueberganges erſehen, wo ſeine Truppen unge¬
hindert Fuß faſſen und im Angeſichte des Brandes von
Stadt-Enzersdorf ſich rechtshin ungehindert entwickeln
konnten. Dieſe Richtung hatte man oͤſterreichiſcherſeits
am wenigſten moͤglich erachtet; ſie war kuͤhn und
gefahrvoll, beſonders wenn der vierte oͤſterreichiſche
Heertheil bei Wittau ſtehen blieb, oder ſogleich wieder
dorthin vorruͤckte; es gehoͤrte zu ihrem Erfolge die
ganze Meiſterſchaft der gruͤndlichen Anordnungen und
zutreffenden Berechnungen Napoleon's, die ſichere Aus¬
fuͤhrung aller ſeiner Befehle durch eben ſo ſtrenge als
geſchickte Werkzeuge, die Schnelligkeit und Kraft, welche
dadurch ſeinen Bewegungen verliehen war. Er rechnete
darauf, den bedenklichen Augenblick ſchon uͤberſtanden
zu haben, bevor der Gegner ihn benutzen koͤnnte.
Schon um zehn Uhr Abends ließ der General Oudinot
1500 Voltigeurs unter der Anfuͤhrung des Generals
Conroux uͤberſetzen; ſie wurden von dem Oberſten Baſte
[206] mit 10 Kanonierſchaluppen begleitet, deren Feuer die
Landung beſchuͤtzte. Die oͤſterreichiſchen Vorpoſten zogen
ſich aus den Schanzen, welche ſie hier aufgeworfen und
mit einigen Feldſtuͤcken beſetzt hatten, ohne Verluſt
zuruͤck, und der Feind konnte ſich vor Muͤhlleithen auf
der Schuſterwieſe und dem Hanſelgrunde feſtſetzen.
Gleichzeitig war der Oberſt Sainte-Croix, Adjutant des
Marſchalls Maſſena, mit 2500 Mann uͤbergeſchifft und
weiter abwaͤrts bei Schoͤnau gelandet. Hierauf wurden
in der Eile 6 Bruͤcken geſchlagen, zu denen alle Ge¬
raͤthſchaft fertig gehalten war. In raſchem Laufe zog
zuerſt das Fußvolk des Marſchalls Maſſena, nebenan
deſſen Reiterei und Geſchuͤtz, auf das linke Ufer, weiter
abwaͤrts die Truppen des Marſchalls Davouſt, des
Generals Dudinot; ſtill und geordnet nahmen ſie ihre
vorherbeſtimmten Stellungen. Um drei Uhr Morgens
ſtanden mehr als 40,000 Mann zuſammengedraͤngt bei
Muͤhlleithen, waͤhrend die uͤbrigen Truppen eiligſt nach¬
ruͤckten; erſt um Mittag trafen die letzten ein, waͤhrend
die vorderſten ſchon im vollen Gefecht und Vormarſch
waren. Die anfaͤngliche Schlachtordnung war folgende.
Im erſten Treffen als linker Fluͤgel, zunaͤchſt der Donau,
der vierte Heertheil, unter dem Marſchall Maſſena;
als Mitte der zweite Heertheil, von dem General
Dudinot befehligt; als rechter Fluͤgel, gegen Wittau,
der dritte Heertheil, unter dem Marſchall Davouſt;
hinter dieſem, als zweites Treffen, die Truppen des
[207] Marſchalls Bernadotte oder der neunte Heertheil, das
italiaͤniſche Heer unter Anfuͤhrung des Vicekoͤnigs Eugen,
und der eifte Heertheil des Marſchalls Marmont; als
Schluß und Ruͤckhalt die Garden und die Kuͤraſſiere.
Die ganze Streitmacht Napoleons betrug hier mehr
als 160,000 Mann, worunter 15,000 Mann Reiterei
nebſt 600 Kanonen. Uebergang und Aufſtellung waren
mit bewundernswerther Schnelligkeit und Haltung im
Sturm und Regen und bei groͤßter Dunkelheit be¬
gonnen, wie nachher im vollen Tagesglanze vollendet
worden.
Die erſte Morgenfruͤhe des 5. Juli beleuchtete dieſes
gelungene Ergebniß; der Sturm hatte ſich inzwiſchen
gelegt, die Sonne verſprach einen heitern Tag, und
nach vier Uhr erhob ſich mit erneuter Gewalt der
Donner des Geſchuͤtzes. Neue Rauchſaͤulen ſtiegen aus
Stadt-Enzersdorf empor, der Marſchall Maſſena ließ
durch ſeine Adjutanten Sainte-Croix und Pelet den Ort
wiederholt angreifen, den ein Bataillon des Regiments
Bellegarde tapfer vertheidigte, aber der Oberſt Sainte-
Eroix endlich wegnahm; eben ſo wurde das Schloß
Sachſengang zwiſchen Muͤhlleithen und Wittau nach
kurzem Widerſtand erobert. Ein Theil der oͤſterreichi¬
ſchen Vortruppen unter dem General von Nordmann
bedrohte, uͤber Rutzendorf anruͤckend, noch einen Augen¬
blick die rechte Flanke der Franzoſen, aber der General
Oudinot draͤngte ſie bald zuruͤck, und unaufhaltſam
[208] entfaltete ſich nun die Angriffslinie Napoleons, uͤberall
durch zahlreiches vorangehendes Geſchuͤtz bezeichnet. Der
Marſchall Davouſt draͤngte die oͤſterreichiſchen Vortruppen
von Großhofen zuruͤck, und zog rechts von Rutzendorf
gegen Markgrafen-Neuſiedel heran, ſeine aͤußerſte Rechte
durch zwei Dragonerdiviſionen unter den Generalen
Grouchy und Pully ſo wie durch eine Diviſion leichter
Reiterei unter dem General Montbrun gedeckt; die
Mitte unter dem Marſchall Bernadotte wandte ſich
gegen Pysdorf und Rasdorf; der Marſchall Maſſena
ruͤckte rechts gegen Breitenlee vor, links hielt er ſich
an der Donau, und beſetzte, nach Maßgabe, daß ſie
geraͤumt wurden, die oͤſterreichiſchen Verſchanzungen
von Eßlingen und Aſpern. Dieſe Verſchanzungen, gegen
die Lobau gerichtet, waren im Ruͤcken offen, und durch
die Bewegung des Feindes jetzt uͤberfluͤgelt nicht mehr
haltbar; ſie wurden nur langſam verlaſſen, und ſogar
die ſchwerſten Geſchuͤtze ruhig mit fortgefuͤhrt.
Der Erzherzog Generaliſſimus hatte den raſchen und
unter Beguͤnſtigung der ſtuͤrmiſchen Nacht ſo gluͤcklich
gelungenen Uebergang nicht mehr hindern koͤnnen; die
feindliche Staͤrke hatte nicht nur Fuß gefaßt, ſondern
ſich auch ſchon betraͤchtlich ausgebreitet und zum ferneren
Angriffe guͤnſtig geordnet; ihre ſaͤmmtlichen Heertheile
waren in zuſammenhaͤngender Bewegung, uͤberall wech¬
ſelſeitiger Unterſtuͤtzung faͤhig und verſichert; die oͤſter¬
reichiſchen Heertheile aber ſtanden noch viel zu weit
[209] auseinander, als daß ſie dem ſo raſch entwickelten Feinde
gleich mit gehoͤriger Macht haͤtten entgegenruͤcken und
ihn gegen die Donau zuruͤckwerfen koͤnnen. Die
Geſammtſtaͤrke der Oeſterreicher betrug nicht voll
100,000 Mann, nebſt 410 Stuͤck Feldgeſchuͤtz; die
Truppen waren in nachfolgender Weiſe eingetheilt.
Eine Vorhut von allen Waffen, unter dem Befehl des
Feldmarſchalllieutenant von Nordmann hatte vorwaͤrts
an der Donau geſtanden, weiter hinauf lehnte ſich an
den Strom rechts der ſechſte Heertheil unter dem Feld¬
marſchalllieutenant Grafen von Klenau, welcher den
Freiherrn von Hiller, mit dem der Oberfeldherr unzu¬
frieden war, in dieſer Befehlfuͤhrung abgeloͤſt hatte;
weiter zuruͤck hielt der fuͤnfte Heertheil unter dem Feld¬
zeugmeiſter Fuͤrſten von Reuß-Plauen die Umgegend
des Biſambergs beſetzt; dann folgte linkshin ruͤckwaͤrts
der dritte Heertheil unter dem Feldzeugmeiſter Grafen
von Kolowrat bei Hagenbrunn, hierauf die von ſaͤmmt¬
lichen Regimentern zuſammengezogenen Grenadiere unter
dem Feldmarſchalllieutenant von Prochaska bei Saͤuring,
und bei Breitenlee die Maſſe der Reiterei unter dem
General der Reiterei Fuͤrſten von Liechtenſtein; ferner
bei Wagram der erſte Heertheil unter dem General der
Reiterei Grafen von Bellegarde, und in derſelben Rich¬
tung angeſchloſſen bei Baumersdorf, der zweite Heer¬
theil unter dem Feldmarſchalllieutenant Fuͤrſten von
Hohenzollern, und der vierte Heertheil bei Markgrafen¬
II. 14[210] Neuſiedel unter dem Feldmarſchalllieutenant Fuͤrſten von
Roſenberg. Es waͤren daher zu jenem Zwecke nur die
drei Heertheile hinter dem Rußbach nebſt der Reiterei
zur Hand geweſen, die Grenadiere nicht ſogleich, und
die beiden Heertheile am Biſamberge ſtanden noch faſt
zwei Meilen entfernt. Unter dieſen Umſtaͤnden ſah ſich
der Erzherzog Generaliſſimus genoͤthigt, die Schlacht
nicht an der Donau, ſondern erſt weiter ruͤckwaͤrts
anzunehmen, die Zeit des Anruͤckens der Franzoſen zur
Zuſammenziehung ſeiner Kraͤfte zu verwenden, und in
der vortheilhaften Stellung, die er zwiſchen Samers¬
dorf und Markgrafen-Neuſiedel einnahm, den erſten
Stoß abzuwehren, dann aber mit aller Staͤrke ſelbſt
anzugreifen, ſich vorzugsweiſe auf den linken Fluͤgel
des Feindes zu werfen, ihn von ſeiner Bruͤckenverbin¬
dung abzudraͤngen, und durch das unerwartete Ein¬
treffen des Erzherzogs Johann in der rechten Flanke
und im Ruͤcken des Feindes den Hauptſchlag zu thun.
In dieſem Sinne traf er alle Anordnungen. Die Vor¬
truppen hatten den Befehl, ſo wie auch die laͤngs der
Donau vorgeſchobenen Abtheilungen des ſechſten Heer¬
theils, ſich fechtend zuruͤckzuziehen, und ſich, jene dem
linken Fluͤgel, dieſe dem rechten der Hauptſtellung an¬
zuſchließen. Der vierte Heertheil und die Grenadiere
wurden aus ihrer zu großen Entfernung naͤher heran¬
gezogen, um hierdurch den weiten Halbkreis, welchen
das Heer bildete, enger zuſammenzuziehen. Die an die
[211] obere Donau bei Krems und Linz entſendeten Truppen
waren zu fern, und in jenen Gegenden, beſonders
wenn der Feind eine Niederlage erlitt, zu wichtig, um
auch ſie herbeizurufen; dagegen wurde dem Erzherzog
Johann am 5. Juli fruͤh Morgens nach Preßburg ein
neuer Befehl geſandt, mit allen dortigen Truppen unge¬
ſaͤumt aufzubrechen, uͤber Marcheck heran zu marſchiren,
und in Gemeinſchaft mit dem linken Fluͤgel des Heeres
an der Schlacht Theil zu nehmen. Derſelbe Befehl
wurde gleich darauf nochmals wiederholt, weil die Be¬
ſorgniß, daß der linke Fluͤgel des Heeres, der keinen
rechten Stuͤtzpunkt hatte und ſeitwaͤrts blosgegeben war,
bis zur entſcheidenden Stunde einen ſchweren Stand
haben koͤnnte, das Herbeikommen friſcher Truppen auf
dieſer Seite noch beſonders zu beſchleunigen fand. Der
am 4. Juli Abends nach Preßburg abgeſandte Kourier
war am 5. fruͤh dort eingetroffen, die folgenden kamen
ebenfalls ungehindert an; aus den zuruͤckkehrenden Nach¬
richten ergab ſich, daß zwar am ſelbigen Tage jene
Truppen nicht mehr zu erwarten ſeien, daß aber ihrer
Ankunft fruͤh am 6. auf dem Schlachtfelde kein Hin¬
derniß entgegenſtehe. Bis dahin jedoch ſchien der Kampf
ſich leicht und gewiß ausdehnen und ſchwebend erhalten
zu muͤſſen, da ſo große Kraͤfte in ſo weiten Raͤumen
ſich auszutoben hatten.
Zur naͤheren Beobachtung des Feindes war ein Theil
der Reiterei des Fuͤrſten von Liechtenſtein von Breitenlee
14 ✷[212] gegen Rasdorf und Pysdorf vorgeruͤckt, wo ſie gegen
Mittag ein lebhaftes Gefecht mit dem uͤber Rutzendorf
andringenden Heertheil des Marſchalls Bernadotte beſtand,
und die ſaͤchſiſche Reiterei deſſelben mehrmals zuruͤck¬
warf; in dieſem Begegnen fuͤgte es der Zufall, daß
auch zwei Regimenter auf einander trafen, oͤſterreichiſche
Kuͤraſſiere und ſaͤchſiſche Dragoner, welche beide von
demſelben Inhaber, dem Herzoge Albert von Sachſen-
Teſchen, den Namen fuͤhrten. Die oͤſterreichiſche Reiterei
behauptete eine Zeit lang das Feld, mußte dann aber
dem zahlreich entwickelten Fußvolk und Geſchuͤtz weichen.
Sein Hauptabſehen hatte der Kaiſer Napoleon auf die
Stellung von Wagram ſelbſt und auf den linken Fluͤgel
der Oeſterreicher gerichtet, deſſen aͤußerſte Spitze durch
einen alten viereckten Thurm bei Markgrafen-Neuſiedel
bezeichnet wurde. Oeſterreichiſcherſeits erkannte man die
Richtung ſehr wohl, beſetzte die Anhoͤhe jenes Thurms
mit einer Batterie, und wollte ſogar in der Eile noch
Schanzen aufwerfen. Aber der Anmarſch des Feindes
ließ wenig Zeit zu neuen Vorkehrungen. Nachmittags
hatte Napoleons rechter Fluͤgel Glinzendorf erreicht;
ſeine Mitte ſtand in Rasdorf; am wenigſten war der
linke Fluͤgel vorgedrungen, er hielt nur Aſpern beſetzt.
Immer ſtaͤrkere Batterien fuhren auf, immer groͤßere
Truppenmaſſen kamen in's Gefecht, die ganze Linie
ſtand im Feuer und ruͤckte immer vor. Wir hatten
von unſrer hoͤheren Stellung bisher den Bewegungen
[213] und Kaͤmpfen vor uns wie einem Schauſpiele zugeſehen,
jetzt ruͤckte der Kampf naͤher heran, die Luft uͤber uns
ſauſte von Kanonenkugeln, die man uns verſchwenderiſch
zuſchickte, und bald krachten antwortend auch unſre
Batterien. Das Fußvolk erhielt Befehl, ſich auf die
Erde niederzulegen, und die feindlichen Kugeln trafen
anfangs wenig, da jedoch der Feind unaufhoͤrlich vor¬
ruͤckte, ſo ſtellten die Regimenter ſich alsbald in’s Gewehr.
Der Erzherzog Generaliſſimus ſprengte mit ſeinem Stabe
voruͤber und hielt dann vor unſrer Fronte; er theilte
Befehle aus, blickte in die Ebne nieder, wo die feind¬
liche Linie ſtets naͤher ruͤckte, man ſah es ihm an, daß
er Gefahr und Tod nicht achtete, daß er ganz in ſeinem
Beruf als Feldherr lebte; der Entſcheidungskampf ſchien
ſeinem ganzen Weſen ein nachdruͤcklicheres Anſehen zu
verleihen, eine hoͤhere Spannung voll freudigen Muthes,
den er auch rings um ſich her einfloͤßte; die Soldaten
blickten auf ihn mit Stolz und Zuverſicht, manche
Stimme begruͤßte ihn. Nachdem er weiter gegen Bau¬
mersdorf geritten war, kam einer ſeiner Adjutanten
raſch zuruͤck, und rief: „Freiwillige vor!“ Sogleich
war faſt die ganze Kompagnie des Hauptmanns von
Marais bereit; wir dachten, es gelte die naͤchſte Batterie
des Feindes zu ſtuͤrmen, welche durch die vorliegenden
Kornfelder herannahte, und jauchzend mit lautem Geſchrei
eilten wir den Abhang hinab; da kam ein zweiter Adju¬
tant mit dem Befehl, wir ſollten nur den Rußbach
[214] beſetzen, dort den Uebergang vertheidigen, aber nicht
eher feuern, als bis der Feind ganz nahe ſei. In
Plaͤnkler aufgeloͤſt, hinter Weidenſtaͤmmen und hohem
Korn, harrten wir ſchußfertig, gegen die Kanonenkugeln
gedeckt, aber durch Flintenſchuͤſſe und Haubitzgranaten
getroffen, die der Feind zahlreich auf unſre Gegend
richtete. Ueber eine Stunde weilten wir hier, unter
dem unaufhoͤrlichen Krachen des Geſchuͤtzes, das uͤber
uns hinwegſchoß; leider mußten wir bald bemerken,
daß das feindliche die Uebermacht der Zahl hatte und
wenigſtens doppelt ſo viele Schuͤſſe lieferte, als das
unſre, welches doch weit beſſere Bedienung hatte, um
ſo mehr aber bewunderten wir den thaͤtigen Eifer und
die wackre Ausdauer, durch welche der ungleiche Kampf
dennoch unterhalten wurde. Da unſer Geſchuͤtz batterie¬
weiſe vereinigt ſtand, ſo konnte der Feind ſich ihm
leichter entziehen, dagegen das ſeinige laͤngs der ganzen
Linie auf allen Punkten wie ausgeſaͤet war, und gleich¬
ſam anſtatt der Plaͤnkler uͤberall das Gefecht eroͤffnete.
Gegen Baumersdorf allein hatte der General Oudinot
40 Kanonen vereinigt, und wiederholt war ſein Fu߬
volk, die Diviſionen Grandjean und Tharreau, in den
brennenden Ort eingedrungen, aber von dem tapfern
General Grafen Ignaz von Hardegg immer wieder
zuruͤckgeſchlagen worden.
Der Kaiſer Napoleon indeß ſah mit Ungeduld den
Tag unentſchieden hingehen, er glaubte den Hauptſchlag
[215] noch heute ausfuͤhren zu koͤnnen, und wollte nicht um¬
ſonſt ſein Uebergewicht hierher gewendet haben. Raſch
ordnete er ſeine Truppen zum Sturm. Der Marſchall
Bernadotte erhielt Befehl, uͤber Atterkla gegen Wagram
vorzudringen, und durch Wegnahme dieſes Ortes die
Mitte der oͤſterreichiſchen Linie zu ſprengen. Zwei
gedraͤngte Sturmſchaaren ſollten zu gleicher Zeit rechts
und links von Baumersdorf uͤber den Rußbach dringen,
die Hoͤhen der oͤſterreichiſchen Stellung erſteigen und
die dortigen Truppen aufrollen. Feindliches Fußvolk
war mittlerweile ſchon dicht an unſre Stellung heran¬
gekommen; die Plaͤnkler wurden vom Rußbach zuruͤck¬
gerufen und traten in die Linie wieder ein, laͤngs deren
ganzer Ausdehnung ſich nun ein furchtbares Gewehr¬
feuer entſpann. Dieſer ungeheure Laͤrm des immerfort
erneuten Losknallens und noch weit mehr des unend¬
lichen Eiſengeraͤuſches bei Handhabung von mehr als
zwanzigtauſend Flinten in ſolcher Naͤhe und Enge, war
eigentlich der einzige neue und wunderbare Eindruck,
der mir in dieſen erſten Kriegsauftritten, die ich erlebte,
zu Theil wurde; alles andre war theils meiner voraus¬
gefaßten Vorſtellung gemaͤß, theils ſogar unter ihr;
alles aber, auch der Donner des zahlreichſten Geſchuͤtzes
duͤnkte mich gering gegen das Sturmgetoͤſe des ſoge¬
nannten Kleingewehrs, dieſer Waffe, durch welche
gewoͤhnlich auch unſre neueren Schlachten zumeiſt moͤr¬
deriſch werden. Indem dieſes Feuer eine Weile lebhaft
[216] anhielt, und der Erzherzog Generaliſſimus nach Wagram
ſprengte, weil auch dort das Schießen zunahm, hieß
es ploͤtzlich, feindliche Reiterei breche auf dem linken
Fluͤgel hervor. Es war nicht Reiterei, ſondern Fußvolk,
welches auf die Hoͤhen ſtuͤrmend andrang. Der Brand
von Baumersdorf und der Pulverdampf des Geſchuͤtz-
und Gewehrfeuers beguͤnſtigte den Ueberfall. Ein
Schwarm von Plaͤnklern, in wilder Unordnung und mit
Geſchrei anlaufend, brach zuerſt die Bahn. Hierauf
ging rechts von Baumersdorf ein Theil der franzoͤſiſchen
Garden unbemerkt uͤber den Rußbach, ſie erſchienen
ploͤtzlich auf der Hoͤhe und ſtuͤrmten gegen den linken
Fluͤgel des Heertheils von Hohenzollern, wo jedoch der
General Bureſch an der Spitze der Regimenter Zach
und Joſeph Colloredo ſie mit Entſchoſſenheit empfing,
und der Fuͤrſt von Hohenzollern das Chevauxlegers¬
regiment Vincent gegen ſie anfuͤhrte. In dem Gefolge
dieſes tapfern Generals muͤſſen wir den damals neun¬
zehnjaͤhrigen Huſarenlieutenant Joſeph von Zedlitz anmer¬
ken, der ſchon im Laufe des Krieges durch Tapferkeit
ſich ausgezeichnet hatte, ſpaͤterhin als Dichter beruͤhmt
wurde. Durch das Gewehrfeuer des ſtandhaften Fu߬
volks erſchuͤttert, durch das ungeſtuͤme Einhauen der
Reiter uͤbereinander geworfen, war der Feind ſchnell
genoͤthigt, uͤber den Rußbach zuruͤckzuweichen; der Gene¬
ral Graf Ignaz von Hardegg brach nun aus Baumers¬
dorf hervor, fiel auf die Fliehenden und trieb ſie mit
[217] großem Verluſt weit in die Ebene gegen Rasdorf. Der
links von Baumersdorf uͤber den Rußbach gedrungene
Feind, zwei Diviſionen, gefuͤhrt von den Generalen
Macdonald und Lamarque, denen zwei andre Diviſionen,
vom General Grenier befehligt, unter des Vicekoͤnigs
Eugen eigner Anfuͤhrung nachruͤckten, benutzte eine
Schlucht, welche ſie ſchnell auf die Hoͤhe und grade
auf den Zwiſchenraum des erſten und zweiten Heer¬
theils fuͤhrte; ſie warfen ſich gegen den Fluͤgel des erſteren,
und begannen denſelben aufzurollen. Der franzoͤſiſche
General Dupas fuͤhrte den Angriff mit aller Kraft;
es erhob ſich ein ſcharfer Kampf, man wechſelte Gewehr¬
feuer in groͤßter Naͤhe, man erhob die Kolben und
und legte das Bajonet ein. Der feindliche Stoß auf
unſern linken Fluͤgel war jedoch zu heftig, als daß die
ſchwache Linie haͤtte widerſtehen koͤnnen, ſie wurde ge¬
ſprengt, die aͤußerſten Enden ſchlugen ſich in Haken
um, und die Regimenter Argenteau, Vogelſang und
ein Theil von Erzherzog Rainer ſahen ſich auf das
zweite Treffen zuruͤckgeworfen. Im erſten Anſtuͤrmen
des Feindes traf mich ein Schuß durch den Oberſchenkel,
und ich konnte von nun an nur muͤßiger Zeuge der
ferneren Vorgaͤnge ſein, welche das Schlachtfeld darbot.
Die Verwirrung war eine Zeit lang ſehr groß, und
konnte ſchlimme Folgen haben. Der Erzherzog Gene¬
raliſſimus, begleitet von ſeinen Gehuͤlfen, den Generalen
Graf von Gruͤnne und Freiherrn von Wimpfen, eilte
[218] ſelbſt herbei, rief und ordnete die Truppen, und fuͤhrte
ſie perſoͤnlich gegen den Feind wieder vor; der General
Graf von Bellegarde bewies denſelben Eifer; der Oberſt
Graf zu Bentheim ergriff eine Fahne des von ihm
befehligten Regiments Vogelſang, ermuthigte durch Ruf
und Beiſpiel die Truppen, und gewann mit ihnen im
Sturmſchritt den verlorenen Boden wieder; zugleich eilte
aus dem zweiten Treffen das Regiment Erbach, von
dem Major von Fromm angefuͤhrt, in Diviſionsmaſſen
heran und warf die Stuͤrmenden zuruͤck; der Fuͤrſt von
Hohenzollern, mit ſeinen tapfern Chevauxlegers von dem
ſiegreichen Einhauen wiederkehrend und dieſe zweite
Abtheilung des Feindes wahrnehmend, ſaͤumte nicht,
auch dieſe anzugreifen, und waͤhrend ſie unter den Saͤbel¬
ſtreichen blutete, richtete zugleich der Oberlieutenant
Loͤffler eine halbe Batterie mit Kartaͤtſchenſchuͤſſen in
die Flanke der Fluͤchtigen. So von allen Seiten und
von allen Waffen gedraͤngt und zerſchmettert, erleiden
die Franzoſen ungeheuern Verluſt; ſie ſind ohne Geſchuͤtz,
weil daſſelbe nicht uͤber den Rußbach hatte folgen koͤnnen;
ihre Reiterei, vom General Sahuc befehligt, nach großen
Schwierigkeiten endlich kuͤhn hinuͤberdringend, will zwar
die Sachen aufnehmen, aber auch ſie wird von dem
Fuͤrſten von Hohenzollern, der zu den Chevauxlegers
von Vincent noch 4 Schwadronen Huſaren von Heſſen-
Homburg heranzieht, voͤllig niedergerannt, und nur
Truͤmmer retten ſich. Ueberall, wo der Kampf am
[219] heißeſten, ſah man den Erzherzog Generaliſſimus voran;
der Hauptmann von Weitenfeld vom Regimente Vogel¬
ſang hieb einen Franzoſen nieder, der eben auf den
Erzherzog ganz nah ſein Gewehr abſchießen wollte; ein
franzoͤſiſcher Offizier, der in der Verwirrung noch einen
guten Fang zu machen dachte, wurde zuſammengeſchoſſen,
als er ſchon dem Erzherzoge zurief, er ſolle ſich erge¬
ben; der Erzherzog bekam einen Streifſchuß, ungeachtet
deſſen er zu Pferde blieb und ſeine Aufmerkſamkeit auf
ſein Feldherrnamt keinen Augenblick unterbrach. Der
damalige Prinz von Oranien, jetzige Koͤnig der Nieder¬
lande, der im oͤſterreichiſchen Heere als General diente,
hatte ſchnell hintereinander zwei Pferde unter dem Leibe
verloren. Auf beiden Seiten war großer Verluſt an
Todten und Verwundeten. Die Oeſterreicher, als zuletzt
im Vortheil, machten viele Gefangene, unter ihnen einen
General und mehrere Stabsoffiziere. Eine Fahne wurde
vom vierten Legionsbataillon erobert; eine des Regi¬
ments Argenteau ging verloren, weil der Fahnentraͤger
niedergehauen war; dagegen riß, dieſen Schimpf zu
raͤchen, der Oberlieutenant Tittmayer deſſelben Regiments
einen franzoͤſiſchen Adler aus Feindesreihen. Der Erz¬
herzog Generaliſſimus verlieh auf der Stelle, nach der
ihm zuſtehenden Befugniß, mehrere Belohnungen fuͤr
tapfre Thaten, unter andern dem Regiment Erbach das
Vorrecht, den Grenadiermarſch zu ſchlagen.
[220]
Inzwiſchen hatte auch der Marſchall Davouſt mit
einem Theile ſeiner Truppen bei Markgrafen-Neuſiedel
den Rußbach uͤberſchritten, und waͤhrend er die oͤſterrei¬
chiſche Stellung aus 40 Kanonen in der Front mit
groͤßtem Nachdruck beſchoß, griffen die beiden Diviſionen
Morand und Friant auf dem linken Ufer des Rußbachs
den Ort heftig an, waͤhrend die leichte Reiterei des
Generals Montbrun die linke Flanke der Oeſterreicher
zu gewinnen ſuchte. Alle dieſe Angriffe wurden durch
den Fuͤrſten von Roſenberg muthig abgeſchlagen, und
mit einbrechender Nacht mußten die Franzoſen uͤber den
Rußbach zuruͤckweichen; ſie lagerten hinter Glinzendorf.
Etwas ſpaͤter, als dieſe geſcheiterten Angriffe, kam
der gegen Wagram gerichtete zur Ausfuͤhrung. Der
Marſchall Bernadotte fuͤhrte die Sachſen gegen dieſen
Ort, welchen der Oberſt von Oberndorf mit dem Regi¬
mente Reuß-Plauen heldenmuͤthig vertheidigte; nachdem
dieſer verwundet worden, drang der Feind auf kurze
Zeit durch den Eingang von Atterkla her in die Mitte
des Dorfes ein, wurde jedoch durch zwei Bataillone,
die von beiden Seiten anruͤckten, in ein moͤrderiſches
Kreuzfeuer genommen und mit großem Verluſt an Tod¬
ten, Verwundeten und Gefangenen hinausgeſchlagen.
Die Dunkelheit hemmte jede weitere Unternehmung,
manches brennende Dorf jedoch beleuchtete hin und
wieder die Gegend; ganz in unſrer Naͤhe loderten hohe
Flammen von Baumersdorf und Wagram auf; dieſer
[221] ſchauerliche Anblick und der freudige unſres Oberſten
mit der Fahne in der Hand waren die letzten, die ich
von dem Schlachtfelde mit mir nahm. Lange noch,
waͤhrend ich mit andern Verwundeten langſam zuruͤck¬
gebracht wurde, flogen die Kanonenkugeln um uns her,
bis tief in die Nacht hoͤrten wir den Geſchuͤtzdonner,
allein er entfernte ſich mehr und mehr, und uns beglei¬
tete der Eindruck eines ſiegreichen Vorſchreitens. Wirk¬
lich war das hoͤchſt gewagte, aber großartige Unterfan¬
gen Napoleons, das noch unerſchuͤtterte Heer im erſten
Anlaufe zu ſprengen, gaͤnzlich fehlgeſchlagen und in eine
theilweiſe Niederlage ausgegangen. Er konnte ſeinen
Verdruß und Grimm daruͤber nicht verhehlen, und
beſchuldigte theils den uͤblen Zufall, daß Franzoſen und
Sachſen aus Irrthum auf einander geſchoſſen haben
ſollten, theils die Laͤſſigkeit des Marſchalls Bernadotte,
dem er ohnehin ſchon grollte und den er in der Mei¬
nung herabſetzen mochte. Jedoch konnte er ſeinem Gluͤcke
noch danken, welches zwar den raſchen Sieg ihm heute
noch verſagte, aber auch groͤßeres Unheil ihm abwandte.
Denn haͤtte der Erzherzog Generaliſſimus hier noch
friſche Truppen in’s Gefecht bringen, oder uͤber eine
zahlreichere Reiterei verfuͤgen und ſeinen Vortheil augen¬
blicklich mit Nachdruck verfolgen koͤnnen, ſo wuͤrde es
um das franzoͤſiſche Heer ſchlecht ausgeſehen haben; die
vier von der Hoͤhe zuruͤckgeſchlagenen Diviſionen warfen
ſich auf die ruͤckwaͤrtsſtehenden, und riſſen ſie mit ſich
[222] fort, die ganze Linie war in groͤßter Verwirrung und
wich waͤhrend der Nacht immerfort zuruͤck. Nur die
kaiſerliche Garde ſtand bei Rasdorf unerſchuͤttert, und
gab einen feſten Anhalt, um welchen ſich die Truppen
wieder ſammelten. Die oͤſterreichiſchen Heertheile aber,
welche noch nicht gefochten hatten, waren zu fern, auch
ihren ſchon fruͤher feſtgeſetzten Beſtimmungen nicht ohne
Gefahr zu entziehen; die geſammte Reiterei bei dem
Heere betrug nicht uͤber 10,000 Mann, und von dieſen
waren ſtarke Abtheilungen einzeln verwendet, andre
ſchon den ganzen Tag im Gefecht geweſen. Die Nacht
verfloß daher ohne weitere Unternehmung, und beide
Theile benutzten ſie nur, um den Kampf am naͤchſten
Tage mit geruͤſteten Kraͤften zu erneuern. Den Ver¬
folg dieſer Ereigniſſe, welche bisher aus unmittelbarem
Anſchauen erzaͤhlt worden, liefern vielfache Nachrichten,
denen eine ſichre Pruͤfung und zuverlaͤſſige Geſtalt um
ſo leichter zu geben war, als fuͤr ſo engverknuͤpfte Be¬
gebenheiten jener Vortheil auch da, wo er eigentlich
ſchon aufhoͤrt, noch gewiſſermaßen nachwirkt.
Diesmal ſcheint auf oͤſterreichiſcher Seite der Ueber¬
blick und Entſchluß, was nunmehr zu thun ſei, ſchneller
und kraͤftiger gefaßt worden zu ſein, als auf franzoͤſi¬
ſcher, wo der unguͤnſtige Ausgang des letzten Gefechts
in der Dunkelheit nur Ungewißheit und Schwanken
erhielt. Der Kaiſer Napoleon begnuͤgte ſich waͤhrend
der Nacht, ſeine Truppen bei Rasdorf zuſammenzuzie¬
[223] hen, um aus dieſer Mitte ſie leichter in jeder Richtung
verwenden zu koͤnnen, und erſt mit Tagesanbruch ent¬
ſchied er ſich zu neuen Angriffsbewegungen. Der Erz¬
herzog Generaliſſimus aber ließ noch vor Mitternacht
aus Wagram, wo er nach geloͤſchtem Brande in einem
der geretteten Haͤuſer wiederum ſein Hauptquartier
genommen, fuͤr die zu erneuernde Schlacht an ſaͤmmt¬
liche Befehlshaber folgende Anordnungen ergehen. Der
rechte Fluͤgel, beſtehend aus dem ſechſten und dritten
Heertheil und den Grenadieren, ſollte ſich auf den
feindlichen linken werfen, und rechts an die Donau
geſtuͤtzt in gleichlaufender Richtung mit dem Fluſſe von
Stamersdorf gegen Breitenlee und Suͤßenbrunn vor¬
dringen, in der linken Flanke durch die Reiterei des
Fuͤrſten von Liechtenſtein gedeckt. Mit dieſer Bewegung
im Zuſammenhang beſtimmte ſich das Vorruͤcken der
Mitte; der erſte Heertheil nach Atterkla, links an den
Rußbach geſtuͤtzt, jedoch die Hoͤhe links von Wagram
auch noch beſetzt haltend, welche Stellung gleichfalls
dem zweiten Heertheil angewieſen blieb. Der linke
Fluͤgel oder der vierte Heertheil erhielt den Auftrag, den
feindlichen angreifend zu beſchaͤftigen, bis der Erzherzog
Johann demſelben von Preßburg her in den Ruͤcken
fiele. Der fuͤnfte Heertheil blieb als Ruͤckhalt in ſeinen
Poſten an der obern Donau, wo der Feind gleichfalls
Truppen zeigte, und von dem dritten Heertheil wurde
eine Brigade nebſt einer Batterie auf der Hoͤhe von
[224] Stamersdorf aufgeſtellt. Der ſechſte und dritte Heer¬
theil ſollten um 1 Uhr aufbrechen, die Grenadiere um
3 Uhr, der erſte und vierte Heertheil um 4 Uhr. Die
Stille wurde beſonders empfohlen und das unwirkſame
Schießen auf zu große Entfernungen verboten. Die
Schlachtordnung des Fußvolks waren Bataillonsmaſſen,
mit Plaͤnklern voran. Dieſe Schlachtordnung hatte der
Erzherzog Generaliſſimus bei dem Heere eingefuͤhrt,
und ſie war in der Schlacht bei Aſpern durch den groͤ߬
ten Erfolg bewaͤhrt worden. Die Bataillone, jedes
gewoͤhnlich zu ſechs Kompagnieen, ſtellten dieſe zu zwoͤlf
bis achtzehn Gliedern Tiefe, und bildeten hiedurch gefuͤllte
Vierecke, welche, in großen Zwiſchenraͤumen von ein¬
ander aufgeſtellt, eine Reihe von undurchdringlichen
Koͤrpern darboten; ſie marſchirten in dieſer Ordnung,
ſchlugen Reiterangriffe zuruͤck, ſtuͤrmten ihnen ſogar ent¬
gegen, wurden im Weichen nicht leicht zerſprengt; gegen
Geſchuͤtz waren ſie im Nachtheil, doch gab es auch
hiergegen manche Aushuͤlfe.
Der ganze Angriff war berechnet, den Feind von
ſeiner Verbindung mit der Lobau abzuſchneiden und in
die Ebene des Marchfeldes zu verſprengen. Der Schnel¬
ligkeit und Kraft des Entſchluſſes entſprach leider die
Ausfuͤhrung nicht; ſchon die Ueberbringung der einzelnen
Befehle verzoͤgerte ſich in der Dunkelheit der Nacht;
fuͤr die Truppenbewegung ſelbſt aber waͤre bei ſo großen
Raͤumen ein raſcheres Einſchreiten noͤthig geweſen, als
[225] in ſo kurzen Friſten die gewohnte Ordnung leiſten
konnte. Neue Befehle an den Erzherzog Johann, zur
Beſchleunigung ſeines Anruͤckens, wurden am 6. Juli
fruͤh um 2 Uhr abgefertigt.
Der Kaiſer Napoleon, welcher in dieſer Schlacht
keineswegs mit ſo ſichrer Ueberlegung und Vorausſicht,
als man ſpaͤter wollte glauben machen, einen feſten
Plan verfolgt, ſondern mehrmals ſchwankend nur nach
den Umſtaͤnden des Augenblicks verfahren zu haben ſcheint,
und dabei große Wagniſſe beging, dachte am 6. Juli
den am vorigen Abend fehlgeſchlagenen Verſuch zu
erneuern, aber mit groͤßerer Vorſicht und Staͤrke. Er
zog deßhalb ſeine Macht mehr zuſammen gegen die
Mitte ſeines Heeres, in die Gegend bei Rasdorf, wo
die Gezelte ſeines Hauptquartiers aufgeſchlagen waren
und er ſelbſt, an der Spitze ſeiner Garde, waͤhrend der
weiteren Schlacht, ſich aufhalten wollte. Der Marſchall
Davouſt mußte mit dem rechten Fluͤgel ſich dieſer Mitte
naͤhern, und hinter Großhofen aufſtellen, der Marſchall
Maſſena mit dem linken Fluͤgel die Donau verlaſſen,
wo nur die Diviſion Boudet bei Aſpern zum Schutze
der Lobaubruͤcken ſtehen blieb, und ſich rechts gegen
Atterkla heranziehen. Schon waren dieſe Bewegungen
angeordnet und Napoleon harrte ungeduldig ihrer Aus¬
fuͤhrung, als unerwartet das Feuer des Geſchuͤtzes und
des Kleingewehrs laͤngs der Linie von Markgrafen-
Neuſiedel bis Wagram begann und durch ſein Naͤher¬
II. 15[226] kommen zeigte, daß die Oeſterreicher zum Angriff vor¬
ruͤckten. Napoleon bewunderte dieſe Kuͤhnheit, und traf
ſeine Anſtalten nur deſto ſorgſamer, um ſeinem ent¬
ſchloſſenen Gegner keine Bloͤße zu geben. Kein Unge¬
ſtuͤm, keine Verwegenheit fand in den naͤchſten Stunden
auf der Seite der Franzoſen Statt, ſie wichen aus
mehreren Punkten zuruͤck, und es bedurfte mannigfacher
Vorbereitung, ehe die gewohnte Leitung des Kampfes
wieder fuͤr ſie zu gewinnen war. Ein erneueter Verſuch
gegen Wagram, wie er wohl im Sinne Napoleons
gelegen haben mag, waͤre in dieſem Augenblicke ſchon
deßhalb unmoͤglich geweſen, weil auch auf dieſer Seite
der Angriff der Oeſterreicher im Vortheil war.
Der erſte Heertheil naͤmlich, bei welchem der Erz¬
herzog Generaliſſimus ſeinen perſoͤnlichen Aufenthalt
waͤhlte, hatte das wenigſt ferne Ziel fuͤr ſeinen Marſch.
Der Rittmeiſter von Tettenborn machte an der Spitze
einer Schwadron von Klenau Chevauxlegers den Vor¬
trab, fand Atterkla von den Sachſen verlaſſen, die
waͤhrend der Nacht nach Rasdorf abgezogen waren, und
beſetzte das mit ſaͤchſiſchen Verwundeten angefuͤllte Dorf.
Hierbei nahm er mehrere Offiziere gefangen, darunter
einige vom Generalſtabe des Marſchalls Bernadotte,
warf dann die naͤchſten feindlichen Poſten zuruͤck, und
ſchloß darauf dem Regimente ſich wieder an, welches
vorgeruͤckt war, um zwei Batterien zu decken, deren
Feuer den Feind noͤthigte, den rechten Fluͤgel ſeines an
[227] den Rußbach vorgeruͤckten Treffens, die Diviſion Dupas,
gegen Rasdorf zuruͤckzunehmen. Atterkla wurde von
Jaͤgern und dem Fußvolk unter dem General Karl von
Stutterheim beſetzt; der ganze Heertheil ruͤckte zwiſchen
Atterkla und Wagram vor, das erſte Treffen in Ba¬
taillonsmaſſen mit gehoͤrigen Zwiſchenraͤumen, das zweite
hinter demſelben in geſchloſſener Linie. Hier entſpann
ſich der erſte Kampf dieſes Tages, und weil die andern
Heertheile noch im Anruͤcken waren, ſo konnte der Feind
das ganze Geſchuͤtzfeuer ſeiner bei Rasdorf vereinigten
Truppen gegen dieſen Angriff wenden. Die Oeſter¬
reicher kamen daher bald wieder in Nachtheil, da ihr
minderes Geſchuͤtz gegen entſchiedene Uebermacht ringen
mußte; dennoch unterhielten ſie den Kampf mehrere
Stunden hindurch mit feſter Standhaftigkeit.
Inzwiſchen war der vierte Heertheil von den An¬
hoͤhen bei Markgrafen-Neuſiedel um vier Uhr aufge¬
brochen, und ruͤckte gegen Großhofen und Glinzendorf
vor, um dieſe beiden Doͤrfer zu nehmen, welche der
Marſchall Davouſt mit Geſchuͤtz und Fußvolk beſetzt
hielt, waͤhrend Reiterei in zwei Treffen ruͤckwaͤrts auf¬
marſchirt ſtand. Der dritte franzoͤſiſche Heertheil war
eben im Begriff, ſich dem erhaltenen Befehle gemaͤß
gegen die Mitte zu ziehen. Die franzoͤſiſchen Plaͤnkler
raͤumten das Feld, und die Oeſterreicher, trotz des
moͤrderiſchen Feuers ſchon zum Eingange der genannten
Doͤrfer vorgedrungen, ruͤſteten ſich zum Sturm. Der
15 *[228] Angriff hielt die Franzoſen nun feſt; der General Puthod
hielt ſich mit ſeiner Diviſion in Großhofen, der General
Friant mit der ſeinen in Glinzendorf, der Marſchall
Davouſt ließ die Diviſion Gudin den Oeſterreichern die
Flanke bedrohen. Der Kaiſer Napoleon eilte in Perſon
herbei, ihm folgte die ſchwere Reiterei unter den
Generalen Nanſouty und Arrighi, und ein Theil der
Garde. Waͤhrend er nun eine furchtbare Reihe Geſchuͤtz
auffahren und feuern ließ, ſandte er zugleich ſtarke Trup¬
penzuͤge von allen Waffen gegen Loibersdorf, wo ſie
uͤber den Rußbach gingen und ſich auf Ober-Sieben¬
brunn richteten. Dieſe Bewegung in ſeine und des
ganzen Heeres Flanke noͤthigte den Fuͤrſten von Roſen¬
berg, ſeine Reiterei, welche den Angriff ſeines Fu߬
volks unterſtuͤtzen ſollte, links zuruͤckzuhalten, um jene
Umgehung zu beobachten. Der Angriff des oͤſterreichi¬
ſchen Fußvolks wurde fortgefuͤhrt, doch im Augenblicke,
da der Sturm geſchehen ſollte, traf der Befehl des
Erzherzog Generaliſſimus ein, auf dem linken Fluͤgel
innezuhalten, weil die Heertheile des rechten Fluͤgels
ihrerſeits noch außer dem Gefecht waren, und das des
linken Fluͤgels allein, ſo lange der Feind uͤber ſeine
meiſten Kraͤfte frei verfuͤgen konnte, leicht nachtheilig
werden konnte, beſonders da von dem Anruͤcken des
Erzherzogs Johann noch nichts zu vernehmen war.
Dieſes durch keinen oͤrtlichen Nachtheil hier bewirkte,
aber im Zuſammenhange des Ganzen noͤthig erachtete
[229] Innehalten war das erſte ſchlimme Zeichen, welches uͤber
den Ausgang dieſes Tages bedenklich machen konnte.
Der Feind erſah darin ſeinen erſten Vortheil, den zu
ergreifen und in ſeinem ganzen Umfange zu entwickeln
er mit raſcher Kraft ſogleich bereit war. Auf den Hoͤhen
von Stamersdorf blinkten die Bajonette der oͤſterreichi¬
ſchen Heertheile, welche gegen den franzoͤſiſchen linken
Fluͤgel heranzogen, allein ihr Gefecht hatte noch nicht
begonnen, und der Kaiſer Napoleon glaubte, daß ihm
nun Zeit bleiben wuͤrde, den linken Fluͤgel der Oeſter¬
reicher zu ſchlagen, bevor ſein rechter in Gefahr kaͤme,
und er ſah ſich ſtark genug, den letztern, ehe er uͤber¬
waͤltigt wuͤrde, noch immer aus ſeiner Mittelſtellung
zu rechter Zeit zu unterſtuͤtzen. Er ließ dem Marſchall
Davouſt die Kuͤraſſiere von Arrighi, befahl ihm den
Angriff gegen Markgrafen-Neuſiedel nachdruͤcklich fort¬
zuſetzen, und kehrte nach Rasdorf zuruͤck. Die uͤbrigen
nach dem rechten Fluͤgel in Bewegung geſetzten Garde¬
truppen erhielten den Befehl, gleichfalls in die Stellung
bei Rasdorf zuruͤckzumarſchiren. Indeß behielt der Mar¬
ſchall Davouſt nun Truppen genug, um ſtarke Abthei¬
lungen immerfort rechts auszudehnen und in die linke
Flanke der Oeſterreicher mehr und mehr vorzudringen.
Beſonders wurde das franzoͤſiſche Geſchuͤtz immer zahl¬
reicher und zertruͤmmerte durch ſein furchtbares Feuer
einige der Batterien gegenuͤber. Der oͤſterreichiſche linke
[230] Fluͤgel mußte fortan auf bloße Vertheidigung beſchraͤnkt
bleiben.
Die Grenadiere von Saͤuring, uͤber Gerasdorf gegen
Suͤßenbrunn vorruͤckend, erſchienen nunmehr mit Ba¬
taillonsmaſſen in zwei Treffen auf dem Kampfplatze;
die Reiterei ſtellte ſich zur Unterſtuͤtzung des erſten und
dritten Heertheils in beider Flanken und Ruͤcken auf.
Endlich eroͤffnete auch der ſechſte Heertheil zwiſchen
Breitenlee und Hirſchſtaͤtten ſeinen Angriff auf den
linken Fluͤgel der Franzoſen; ihr zahlreiches Fußvolk
ſtand bei Aſpern, die Auen zwiſchen Aſpern und Sta¬
delau waren mit Plaͤnklern angefuͤllt; hier aber war
das oͤſterreichiſche Geſchuͤtz uͤberlegen und erſchuͤtterte
den Feind durch wirkſames Feuer, dem bald ein allge¬
meines Anſtuͤrmen folgte; der General Freiherr Auguſt
von Vecſey drang in die Auen ein und reinigte ſie
von den feindlichen Plaͤnklern, der Major Michailowich
an der Spitze des St. Georger Bataillons ruͤckte im
Sturmſchritt durch Aſpern in die linke Flanke des Fein¬
des, waͤhrend in deſſen rechte der General Graf von
Wallmoden mit dem Huſarenregimente Liechtenſtein ein¬
brach, ihm viele Leute toͤdtete und neun Kanonen
eroberte, worauf die Franzoſen theils bei Aſpern vorbei
in die Muͤhlau, theils uͤber Eßlingen nach Stadt-Enzers¬
dorf zuruͤckwichen und viele Gefangene verloren. Der
Graf von Klenau beſetzte hierauf Aſpern und Eßlingen,
wie auch die Verſchanzungen innerhalb dieſes Bereiches
[231] wieder. In Bataillonsmaſſen zwiſchen Aſpern und Brei¬
tenlee aufgeſtellt, harrten die Truppen ſodann der wei¬
teren Vorgaͤnge, welche zu ihrer Linken aus dem Kampfe
der Mitte ſich ergeben mußten. Es war bereits zehn
Uhr vormittags, und inzwiſchen die Schlacht auf den
andern Punkten ununterbrochen fortgefuͤhrt worden.
Der dritte Heertheil, bei Gerasdorf in zwei Treffen
aufmarſchirt, war mittlerweile uͤber Suͤßenbrunn vor¬
geruͤckt, und ſtuͤtzte ſich rechts auf Breitenlee, welches
Dorf drei Bataillons beſetzten. Mit großer Kuͤhnheit
ruͤckte der Feldzeugmeiſter Graf von Kolowrat, indem
er ſeinen linken Fluͤgel verſagte und ſich auf den des
Feindes warf, gegen die feindliche Hauptſtellung bei
Rasdorf im Sturmſchritt an, drang bis zum neuen
Wirthshauſe vor, und war eine Zeit lang im Vortheil,
konnte dieſen aber nicht behaupten, ſondern mußte ſeinen
rechten Fluͤgel wieder auf Breitenlee zuruͤckziehen.
Der Kaiſer Napoleon hatte im Galopp die ganze
Ausdehnung ſeiner Linie beritten, ſich den Truppen
gezeigt, ſie angefeuert, ihren begeiſternden Zuruf empfan¬
gen. Gegenuͤber von Atterkla traf er den Marſchall
Maſſena, der eben mit drei Diviſionen ankam, er ſelbſt
im Wagen fahrend, weil er geſtuͤrzt war und kein Pferd
beſteigen konnte. Napoleon umarmte ihn, befahl ihm
Atterkla ungeſaͤumt anzugreifen, und ſprengte nach Ras¬
dorf zuruͤck, um zu ſehen, was bei den Heertheilen des
Vicekoͤnigs Eugen und des Generals Oudinot vorginge.
[232] Er gab unausgeſetzt Befehle und ordnete die Bewe¬
gungen an, welche den Stand entſcheiden ſollten; noch
immer ließ er Truppen gegen Markgrafen-Neuſiedel
ziehen und die dortige Umgehung der oͤſterreichiſchen
linken Flanke eifrig fortſetzen; er hielt ſich fuͤr ſtark
genug, beide Angriffe, den gegen den linken Fluͤgel
und den gegen die Mitte, gleichzeitig auszufuͤhren. Der
naͤchſte und dringendſte Zweck war allerdings, durch die
Wegnahme von Atterkla ſeine Mitte ſicherzuſtellen, welche
der ungeſtuͤme und nachtheilige Andrang der Oeſter¬
reicher zu gefaͤhrden anfing.
In der Ebene vor Rasdorf, gegen Atterkla und
Breitenlee, ließ der Marſchall Maſſena nunmehr eine
ſtarke Linie franzoͤſiſcher Reiterei aufmarſchiren, und
unmittelbar darauf fuͤhrt er ſelbſt, weil ihm der General
Carra Saint-Cyr mit ſeiner Diviſion nicht raſch genug
vordringt, zwei gedraͤngte Schaaren Fußvolk rechts und
links gegen Atterkla ſtuͤrmend an; nicht das heftige
Gewehrfeuer der oͤſterreichiſchen Grenadiere noch der
moͤrderiſche Kartaͤtſchenhagel des Geſchuͤtzes hemmt dieſe
unerſchrockenen Truppen, bei jedem Schritt werden ihre
Reihen gelichtet, aber ſie ſtuͤrmen unaufhaltſam vor¬
waͤrts. Schon war Atterkla von ihnen erobert, und
die oͤſterreichiſchen Bataillone wichen beſtuͤrzt dem un¬
geſtuͤmen Anfall, der ploͤtzlich uͤber ſie kam und den
Feind ſchon in ihre Linie eingedrungen zeigte. Die
Gefahr war groß, und der Sieg auf dieſem Punkte
[233] konnte den des ganzen Tages nach ſich ziehen; die
Franzoſen glaubten ihn ſchon gewiß, warfen ſich in die
Zwiſchenraͤume der Maſſen, die ſie abzuſchneiden und
aufzuloͤſen dachten. Allein jetzt wurde die Unordnung,
in welche das Vordringen ſie ſelber brachte, auch ihnen
verderblich. Der Erzherzog Generaliſſimus, der General
Graf von Bellegarde, die andern Generale und Stabs¬
offiziere, von denen der Oberſt Freiherr von Zechmeiſter
verwundet wurde, ſtellten durch Beiſpiel, Zuruf und
Anordnung die erſchuͤtterten Truppen wieder her, uͤber¬
zeugten ſie von der Kraft ihres gedraͤngten Zuſammen¬
haltens, und fuͤhrten die ermuthigten Maſſen nun mit
gefaͤlltem Bajonet auf den Feind zuruͤck. Dieſer ver¬
mochte ſeine auseinander gekommenen Schaaren nicht ſo
ſchnell wieder zu vereinigen, wurde geworfen, uͤber¬
fluͤgelt und in ungeordnetem Haufen, bevor er Atterkla
erreichte, großentheils niedergemacht; zwei franzoͤſiſche
Regimenter, das vierundzwanzigſte und das vierte,
wurden hier faſt aufgerieben, mehr als 1000 Mann
fielen, 500 wurden gefangen und vier Fahnen erobert.
Ein Bataillon von Kolowrat, von dem Major Haberein
gefuͤhrt, und drei Grenadierbataillone Scoveaux, Pu¬
theany und Brzezinsky, ſtuͤrmten hierauf Atterkla und
bemaͤchtigten ſich nach hartem Kampf auch dieſes Dorfes
wieder. Der General Karl von Stutterheim wurde
hierbei durch eine Kanonenkugel verwundet, worauf der
Erzherzog Generaliſſimus die fernere Vertheidigung dieſes
[234] Ortes ſeinem Bruder, dem Erzherzog Ludwig, uͤber¬
trug. Noch mehrmals ſtuͤrmte der Feind mit friſchen
Truppen an, um das Dorf wieder zu nehmen, wurde
aber jedesmal von den Grenadierbrigaden Merville und
Hammer tapfer zuruͤckgeſchlagen, verlor viele Todte,
mehrere Gefangene und noch zwei Fahnen. Auf oͤſter¬
reichiſcher Seite war gleichfalls der Verluſt nicht gering,
noch zuletzt wurde der General Merville, nachdem er
den wiederholt eingedrungenen Feind zweimal aus dem
Dorfe hinausgetrieben, durch eine Flintenkugel ver¬
wundet. Die franzoͤſiſche Reiterei war waͤhrend dieſes
Gefechts aufmarſchirt ſtehen geblieben; eine Diviſion
der oͤſterreichiſchen unter dem Fuͤrſten Moritz von Liech¬
tenſtein hielt ſie durch drohendes Heranruͤcken auf ihre
Flanke in Unthaͤtigkeit; zwei Reiterregimenter, Kron¬
prinz und Roſenberg, hatten das vorwaͤrts Atterkla
aufgepflanzte Geſchuͤtz gerettet, welches bei dem erſten
Andringen des Feindes einen Augenblick verloren ſchien.
Der Kaiſer Napoleon ſah die verwirrte Flucht ſeiner
Truppen und eilte herbei. Seinen und des Marſchalls
Maſſena’s vereinten Anſtrengungen gelang es, die
Ordnung einigermaßen herzuſtellen; es war Zeit, denn
ſchon wieder wurde neue Kraftentwicklung noͤthig, um
andrem Andrang zu begegnen.
Die ſiegreiche Behauptung von Atterkla vereitelte
die Hoffnung Napoleons, in dieſer Richtung die oͤſter¬
reichiſche Linie zu ſprengen; nicht wiſſend, daß ſeine
[235] Truppen ſich des Dorfes wirklich ſchon bemaͤchtigt hatten,
ſoll er mehrmals ausgerufen haben: „Waͤre ich doch
nur einige Minuten im Beſitz von Atterkla geweſen!“
Durch die Tapferkeit der Oeſterreicher war allerdings
eine große Gefahr abgewehrt. Indeſſen hatte der Stoß
des Feindes gegen Atterkla das Vorruͤcken der oͤſter¬
reichiſchen Linie aufgehalten, die verſchiedenen Heertheile
ſchloſſen noch nicht in engerem Bogen zuſammen, und
die Truppen waren nicht zahlreich genug, um den aus¬
gedehnten Raum zu fuͤllen. Die noch uͤbrigen beiden
Grenadierbrigaden Murray und Steyrer ruͤckten zwar
ebenfalls in die Linie von Atterkla und Breitenlee vor;
allein ihre Bataillonsmaſſen konnten nur das erſte
Treffen bilden, hinter welchem als zweites ſich die
Reiterei aufſtellen mußte. Der Fuͤrſt Johann von
Liechtenſtein, ſcharfblickend und wohlentſchloſſen, wollte
deßhalb weiter vordringen und gemeinſchaftlich mit dem
dritten und ſechſten Heertheil die Hauptſtellung des
Feindes in der Flanke und im Ruͤcken angreifen. Durch
den fruͤher bereits erwaͤhnten Abzug des Marſchalls
Maſſena von der Donau gegen Rasdorf und Atterkla
war dem rechten Fluͤgel des oͤſterreichiſchen Heeres freier
Spielraum gegeben. Sein drohendes Vorruͤcken ge¬
faͤhrdete ſchon die Verbindung Napoleons mit der Lobau;
der dritte und ſechſte Heertheil brauchten vereinigt nur
links einzuſchwenken, um in dem Ruͤcken des franzoͤſi¬
[236] ſchen Heeres zu ſtehen und daſſelbe zwiſchen zwei Feuer
zu bringen.
Dieſer Bedraͤngniß weiß der Kaiſer nicht nur unge¬
ſaͤumt Huͤlfe, ſondern er benutzt ſie, um einen großen
Schlag zu thun. Er zieht aus ſeiner Mitte betraͤcht¬
liche Streitkraͤfte heran und ordnet ſie zum Angriff;
der Marſchall Maſſena laͤßt ſeine Diviſionen links gegen
Neu-Wirthshaus abmarſchiren, dem oͤſterreichiſchen dritten
Heertheil entgegen, an ſeine Stelle ruͤckt mit drei andern
Diviſionen der General Macdonald, der Vicekoͤnig
Eugen und die Garden folgen zur Unterſtuͤtzung. Furcht¬
bares Geſchuͤtzfeuer eroͤffnet die Bahn. Der Marſchall
Beſſières fuͤhrt ſechs ſchwere Reiterregimenter der Garde
zum Angriff, Napoleon ermuntert jedes durch kraͤftigen
Zuruf und ermahnt ſie, ihre Waffen nicht zum Hauen,
ſondern zum Stechen zu gebrauchen; ſie ſtuͤrzen gegen
den Punkt hin, wo die oͤſterreichiſchen Grenadiere und
der dritte Heertheil noch nicht vollkommen zuſammen¬
ſchließen. Der Fuͤrſt Johann von Liechtenſtein laͤßt
ſeinen rechten Fluͤgel wieder gegen Suͤßenbrunn zuruͤck¬
weichen, wodurch dem Feind ein Spielraum eroͤffnet
wird, welchen das Feuer der Grenadiere und das des
dritten Heertheils gleicherweiſe beſtreicht. Hinter und
neben der franzoͤſiſchen Reiterei hat ſich auch Fußvolk
zum Sturm geſtellt, die gedraͤngten Schaaren achten
des kreuzenden Feuers nicht, dringen muthig vor, und
greifen die Bataillonsmaſſen Georgi und Friſch mit
[237] dem Bajonet an. Dieſe halten ſtandhaft aus und
ſtrecken den mehrmals herandringenden Feind auf hun¬
dert Schritt mit einem moͤrderiſchen Gewehrfeuer nieder,
waͤhrend die Grenadierbataillone Porter und Leiningen
eben ſo die feindliche Reiterei durch muthiges Entgegen¬
gehen abweiſen und zuruͤckwerfen. Eine feindliche Schaar
gelangt bis an die Bajonete des Bataillons Georgi,
und verliert daſelbſt ſeinen Anfuͤhrer, der vom Pferde
geriſſen und gefangen wird, und in der oͤſterreichiſchen
Maſſe noch zwei Angriffe ſeiner Reiter und ein unauf¬
hoͤrliches Kanonenfeuer aushalten muß. Der Oberſt¬
lieutenant Graf von Leiningen nimmt perſoͤnlich vor der
Fronte ſeines Bataillons einen franzoͤſiſchen Stabsoffizier
gefangen.
Allein der Kaiſer Napoleon hatte bereits einen neuen
Ruͤckhalt herangezogen. „Das Geſchuͤtz der Garde ſoll
vorruͤcken,“ rief er, und 60 Kanonen, befehligt von
den Oberſten Drouot und Daboville, werden von jen¬
ſeits Rasdorf herbeigeholt, 40 andre ſchließen ſich an,
ſie fahren im ſchrecklichſten Feuer der Oeſterreicher auf
halbe Schußweite auf, und aus dieſen 100 Stuͤcken,
deren Reihe faſt eine Viertelmeile einnimmt, ſpruͤht ein
Regen von Kugeln, Haubitzgranaten und Kartaͤtſchen,
wie niemand einen aͤhnlichen erlebt zu haben meint;
die Maſſen der Oeſterreicher werden gelichtet, ihr Ge¬
ſchuͤtz zuſammengeſchoſſen; mehrere Bataillone ſtuͤrmen
wiederholt in dieſes moͤrderiſche Feuer, ſie ſuchen die
[238] franzoͤſiſchen Kanonen wegzunehmen, aber Kartaͤtſchen¬
hagel ſtreckt ſie nieder, wirft ſie zuruͤck; doch leiden
auch die Franzoſen großen Verluſt, ſie buͤßen einen
Theil ihrer Kanoniere, ihrer Beſpannung ein.
Der Kaiſer Napoleon hatte den Marſchall Maſſena
linkshin zuruͤckgewendet, hielt jedoch deſſen weitere Be¬
wegung noch feſt. Er ſelbſt verweilte zwiſchen Rasdorf
und Atterkla im ſtaͤrkſten Kanonenfeuer unbeweglich,
mit ſcharfem Auge alles beachtend und anordnend.
Durch den mehrmaligen Wechſel der Truppen war die
Schlachtordnung ſeiner Mitte mehrmals geſtoͤrt worden,
er ſtellte ſie durch Aufreihung neuer Truppen her.
Inzwiſchen kamen Meldungen von Maſſena, der rechte
Fluͤgel der Oeſterreicher gewinne noch immer Boden,
die Diviſion Boudet ſei auf die Lobau zuruͤckgeworfen
und habe ihr Geſchuͤtz verloren, die Oeſterreicher ſeien
der Bruͤcke nah, ihr Geſchuͤtz feure ſchon im Ruͤcken
des franzoͤſiſchen Heeres. Napoleon hatte bisher alles
ruhig vernommen und nichts erwiedert, ſondern nur den
Blick mehrmals forſchend auf die Gegend von Mark¬
grafen-Neuſiedel gerichtet. Als er wahrnahm, daß der
Marſchall Davouſt die Hoͤhe dort gewonnen und ſein
Geſchuͤtz die Flanke der Oeſterreicher uͤberfluͤgelt habe,
rief er: „Jetzt iſt es Zeit!“ und ſandte dem Marſchall
Maſſena den Befehl zum Angriff des oͤſterreichiſchen
rechten Fluͤgels, er ſelbſt ordnet die Diviſionen Lamarque
und Brouſſier, denen andre folgen, und wendet dieſe
[239] Schaaren unter der Anfuͤhrung des Generals Macdonald
neben Atterkla voruͤber gegen Suͤßenbrunn, auf den
oͤſterreichiſchen dritten Heertheil, deſſen linken Fluͤgel
der erſte Stoß trifft. Der Erzherzog Generaliſſimus
iſt auch hier gegenwaͤrtig, fuͤhrt die Bataillone zum
Kampf, verwandelt die Vertheidigung wieder zum An¬
griff. Der tapfre General Vukaſſovich empfaͤngt im
Vorruͤcken eine toͤdtliche Wunde, allein ſeine Truppen
laſſen ſich nicht erſchuͤttern; die Generale Graf von
Saint-Julien und Lilienberg dringen in die linke Flanke
des Feindes, deſſen geſchwaͤchte Schaaren kaum noch
widerſtehen. Napoleon laͤßt ſein Fußvolk durch die
Kuͤraſſiere des Generals Nanſouty und durch die Reiterei
der Garde unter dem General Walther unterſtuͤtzen,
allein ſie wurden durch Kartaͤtſchen zuruͤckgeſchmettert.
Darauf ruͤcken die franzoͤſiſche Diviſion Serras und die
baieriſche Diviſion Wrede vor, gefolgt von der jungen
Garde unter dem General Reille; zu beiden Seiten
von Macdonald, um dieſem Luft zu machen, wenden
ſich die Diviſionen Pacthod unb Durutte, jene auf
Wagram, dieſe auf Breitenlee. Das Gefecht, hart¬
naͤckig und moͤrderiſch auf beiden Seiten, kommt eine
Weile zum Stehen, doch haben die Oeſterreicher einen
betraͤchtlichen Raum eingebuͤßt.
Es war unter dieſen Ereigniſſen Mittag geworden,
und die Schlacht dauerte auf der ganzen Linie mit
Heftigkeit fort. Wo die Truppen noch nicht in der
[240] Naͤhe fochten, wie der ganze zweite oͤſterreichiſche Heer¬
theil, der zur Vertheidigung des Rußbachs bei Bau¬
mersdorf aufgeſtellt war, oder wo ſie theilweiſe inne¬
hielten, wie der ſechſte oͤſterreichiſche Heertheil bei Aſpern,
der das Vorruͤcken der andern abwartete, da ſtanden
ſie doch unausgeſetzt im Bereiche des heftigſten Kanonen¬
feuers, das von der Donau bis jenſeits Markgrafen-
Neuſiedel ununterbrochen wuͤthete, ja mit jedem Augen¬
blicke ſchien die Zahl und die Gewalt der Geſchuͤtze ſich
zu vermehren.
Der linke Fluͤgel aber des oͤſterreichiſchen Heeres
war mittlerweile nicht weniger hart bedraͤngt worden.
Gegen 10 Uhr hatten die franzoͤſiſchen Truppen, welche
bei Loibersdorf uͤber den Rußbach gegangen waren, bei
Ober-Siebenbrunn die Beobachtungs-Reiterei des Ge¬
nerals von Frelich vertrieben, und ſtanden dem vierten
Heertheil voͤllig in der linken Flanke, gegen welche
ſie zum Angriff vorruͤckten. Waͤhrend nun der Fuͤrſt
von Roſenberg gegen dieſe Umgehung zwei ſeiner Regi¬
menter eine Flankenſtellung nehmen und die uͤbrigen
in Bataillonsmaſſen zuſammenruͤcken ließ, zogen drei
andre feindliche Treffen von Ober-Siebenbrunn und
Glinzendorf heran, vor ihrer Front eine lange Reihe
von Geſchuͤtz, welches feuernd naͤher kam; der Erzherzog
Generaliſſimus war perſoͤnlich hierher geeilt und leitete
das Gefecht. Mehrere Stuͤrme des Feindes auf Mark¬
grafen-Neuſiedel waren tapfer abgewehrt worden. End¬
[241] lich aber, nachdem auch der Erzherzog durch die gemeldete
Gefahr ſeines rechten Fluͤgels wieder abgerufen worden,
hatten die ermuͤdeten Truppen der Uebermacht weichen
muͤſſen und das Dorf den Franzoſen uͤberlaſſen. Der
tapfre General Freiherr Peter von Vecſy wurde hier
toͤdtlich verwundet. Sehnlichſt hoffte man, der Erzherzog
Johann werde endlich im Ruͤcken des Feindes erſcheinen
und dem allzu nachtheiligen Kampfe eine andre Wen¬
dung geben. Schon war zu fuͤrchten, dieſe Truppen
wuͤrden zu ſpaͤt eintreffen, allein ſo lange ihr Eintreffen
noch moͤglich ſchien, mußte die Stellung mit angeſtreng¬
ter Kraft behauptet werden. Der Feind indeß zog immer
zahlreichere Truppen rechtshin und ſuchte die Umgehung
des linken Fluͤgels mehr und mehr auszudehnen. Da
hiedurch dem zweiten Heertheile bei Baumersdorf nur
wenige Truppen gegenuͤber blieben, der Fuͤrſt von Hohen¬
zollern alſo fuͤr ſeine Front nicht beſorgt ſein durfte,
wohl aber den vierten Heertheil hart bedraͤngt ſah, ſo
ſandte er dieſem aus eignem Antriebe 5 Bataillone und
4 Schwadronen Verſtaͤrkung; das Gefecht wurde durch
deren allmaͤhliges Eintreffen auf der aͤußerſten linken
Flanke, die ſie verlaͤngern halfen, wohlzeitig erfriſcht,
jedoch in ſeinem Gange nicht veraͤndert. Das Mißver¬
haͤltniß der Kraͤfte war ſchon zu groß. Der Marſchall
Davouſt hatte ein Drittheil der ganzen franzoͤſiſchen
Heeresſtaͤrke hier beiſammen. Die oͤſterreichiſchen Truppen
waren alle ſchon im Kampfe, kein Ruͤckhalt ſtand zu
II. 16[242] ſchneller Aushuͤlfe bereit, waͤhrend die bei Rasdorf auf¬
geſtellte feindliche Truppenmaſſe unerſchoͤpflich nach jeder
Richtung immerfort Verſtaͤrkungen ausſandte. Der
General Oudinot ruͤckte nun auch wieder gegen Bau¬
mersdorf vor, und der zweite Heertheil der Oeſterreicher
ſah ſich neuerdings angegriffen. Der hitzigſte Kampf
aber wurde fortwaͤhrend bei Markgrafen-Neuſiedel unter¬
halten. In ſechs geſchloſſenen Maſſen, zahlreiches Ge¬
ſchuͤtz vor und neben ſich fuͤhrend, von Plaͤnklerſchwaͤrmen
umgeben, drangen die feindlichen Diviſionen Gudin und
Puthod wiederholt zum Sturm heran, waͤhrend die
Diviſionen Morand und Friant ihre Linie rechtshin
immerfort ausdehnten. Die oͤſterreichiſche Reiterei unter
dem Feldmarſchalllieutenant Grafen von Noſtitz, dem
General Grafen von Wartensleben, dem Oberſten Sar¬
dagna und Prinzen von Koburg, den eine Kugel ver¬
wundete, warf ſich wiederholt den Angreifenden entgegen,
ſie ſchlug die Reiterei der Generale Gruchy und Mont¬
brun mehrmals zuruͤck, allein ſie war zu ſchwach, um
in das Fußvolk einzudringen, und mußte zuruͤckweichen.
Das Fußvolk der Brigade Mayer, an deren Spitze der
Feldmarſchalllieutenant von Nordmann ſich geſtellt hatte,
hielt gegen die beiden erſten Treffen des Feindes guten
Stand, als aber dieſer tapfre Anfuͤhrer getoͤdtet, der
General von Mayer verwundet und das dritte feindliche
Treffen herangekommen war, konnte die hiedurch erſchuͤt¬
terte Truppe nicht laͤnger widerſtehen und der Feind
[243] gewann mehr und mehr Raum. Jetzt griff die Divi¬
ſion Morand den Thurm von Markgrafen-Neuſiedel an
und ſetzte ſich in demſelben feſt. Bei dieſem Angriffe
— nach einigen Nachrichten fruͤher, oder gar ſchon am
Tage vorher — wurde der Anfuͤhrer des 17. Linien¬
regiments, Oberſt Oudet, toͤdtlich getroffen, von deſſen
Zauber der Perſoͤnlichkeit uns Nodier ſo wunderbare
Dinge meldet. Noch hielten ſich die oͤſterreichiſchen
Bataillonsmaſſen auf dem rechten Fluͤgel des Heertheils
am Rande der Hoͤhen; unter Anfuͤhrung des Feldmar¬
ſchalllieutenant Fuͤrſten von Hohenlohe-Bartenſtein und
des heldenmuͤthigen Prinzen Philipp von Heſſen-Hom¬
burg, der hier durch eine Kartaͤtſchenkugel verwundet
wurde, ſchlugen ſie mehrere Angriffe ſtandhaft zuruͤck.
Der Fuͤrſt von Roſenberg wollte ſogar dem Feinde den
Thurm wieder entreißen, mußte jedoch den Verſuch
aufgeben, da ein kreuzendes Kartaͤtſchenfeuer ſeine Leute
niederſchmetterte und das Uebergewicht des Feindes nicht
mehr zweifelhaft erſchien. Auf die Ankunft des Erzher¬
zogs Johann war jetzt nicht mehr zu harren noch zu
rechnen, der letzte guͤnſtige Augenblick, wo das uner¬
wartete Erſcheinen friſcher Truppen im Ruͤcken des
Feindes entſcheidend einwirken konnte, war voruͤber. Der
rechte Fluͤgel der Oeſterreicher hatte bisher geſiegt, die
Mitte ſich ſtandhaft behauptet, allein der linke Fluͤgel
war umgangen und geſchlagen, und ſein Loos mußte
den Ruͤckzug des ganzen Heeres entſcheiden.
16 *[244]
Gegen 1 Uhr Nachmittags kam vom Erzherzog Gene¬
raliſſimus dem vierten Heertheil der Befehl, ſich zuruͤck¬
zuziehen. Nochmals warf die oͤſterreichiſche Reiterei hier
die franzoͤſiſche von Arrighi zuruͤck und erleichterte den
Abmarſch des Fußvolks, allein der Feind drang nichts¬
deſtoweniger unaufhaltſam vor, entwickelte zuletzt 8 Divi¬
ſionen, und folgte langſam den oͤſterreichiſchen Truppen,
die ſich in Bataillonsmaſſen geſchloſſen fortbewegten, in
der Richtung auf Bockfließ.
Haͤtten die waldigen Anhoͤhen der Hohenleithen durch
Verſchanzungen einen feſten Anhalt dargeboten, ſo wuͤrde
hier der linke Fluͤgel des oͤſterreichiſchen Heeres ſich haben
ſtuͤtzen und den Feind geraume Zeit hemmen, ja mit
Verluſt zuruͤckſchlagen koͤnnen. Am Vormittage hatte
man wirklich angefangen, einige Schanzen aufzuwerfen,
allein ehe die Arbeit noch vorgeruͤckt war, wurde ſie
als verſpaͤtet und zwecklos wieder aufgegeben. Der
vierte Heertheil blieb die Nacht auf den Anhoͤhen ſtehen
und hielt Bockfließ beſetzt. Die Regimenter Hiller und
Sztarray hatten die Nachhut gebildet und die Verfolger
ſtets in gehoͤrige Ferne zuruͤckgewieſen; bei Bockfließ
hielt eine ſchwache Bataillonsmaſſe des Regiments
Kerpen gegen die feindliche Reiterei Stand, bis 4 oͤſter¬
reichiſche Schwadronen von Erzherzog Ferdinand Huſaren
herbeieilten und den Feind durch unerwarteten Angriff
verjagten. Einige Bataillons und Huſarendiviſionen
unter dem Feldmarſchalllieutenant Grafen von Radetzky,
[245] von welchem bei dieſem Anlaß in dem amtlichen Berichte
geſagt wird, daß er die ruͤhmlichſten Beweiſe ſeines
Eifers und ſeiner militairiſchen Talente abgelegt habe,
beſetzten die Uebergaͤnge des Weidenbachs bei Schwein¬
wart und Hohen-Ruppertsdorf. Hierauf mußte der
zweite Heertheil, der nun in der linken Flanke ganz
entbloͤßt und bald heftig angegriffen war, beſonders aber
durch das ſeitwaͤrts einſchmetternde Geſchuͤtzfeuer litt,
ebenfalls ſeinen Ruͤckzug nehmen. Auch in der Fronte
drang der Feind jetzt ungeſtuͤmer an, und ſein verhee¬
rendes Kreuzfeuer traf die oͤſterreichiſchen Maſſen. Der
General Graf Ignaz von Hardegg vertheidigte Bau¬
mersdorf gegen alle Angriffe, und erſt, als er Befehl
dazu erhalten, uͤberließ er den Ort dem Feinde. Hinter
Wagram mußte das Fußvolk uͤber den Rußbach, der
hier aufwaͤrts ſich gegen Weſten wendet, zuruͤckgehen
und ſeine geſchloſſene Ordnung einen Augenblick unter¬
brechen, dieſen wollte die feindliche Reiterei benutzen
und ſprengte heran, wurde jedoch durch das unerwartete
Feuer einiger Bataillone, welche den Graben des Ru߬
bachs beſetzt hielten, und durch das Chevauxlegersregi¬
ment Vincent zuruͤckgewieſen. Alles Geſchuͤtz wurde
gluͤcklich fortgebracht und der ganze Heertheil zog ohne
Verluſt in feſter Ordnung uͤber Saͤuring gegen Enzers¬
feld. Die eine Brigade des erſten Heertheils, welche
auf der Hoͤhe bei Wagram ſtand, folgte dieſer Bewe¬
gung; die uͤbrigen Truppen dieſes Heertheils behaupte¬
[246] ten ſich noch in ihrer Stellung bei Atterkla, wo beſonders
die auf den linken Fluͤgel aufgepflanzte Batterie des
Oberlieutenants Loͤffler dem Feinde großen Abbruch
that, bald aber in der Fronte und in der Flanke zugleich
durch uͤberlegenes Geſchuͤtz beſchoſſen wurde. Erſt nach
2 Uhr empfing dieſer Heertheil Befehl zum Ruͤckzuge,
der geordnet und langſam angetreten wurde. Als der
zahlreiche Feind ungeſtuͤmer nachdraͤngte, warf der Oberſt
Graf von Bentheim mit dem Regimente Vogelſang ſich
im Sturmſchritt entgegen, wobei er verwundet wurde,
und hemmte durch dieſen muthigen Angriff einige Zeit
die Verfolgungsluſt. Der Marſch wurde ſodann uͤber
Gerasdorf in beſter Haltung fortgeſetzt. Doch mußte
man in den Doͤrfern Atterkla, Suͤßenbrunn, Gerasdorf,
Baumersdorf u. ſ. w. eine große Anzahl Verwundeter
zuruͤcklaſſen, von denen wenige gerettet wurden, als
dieſe Doͤrfer, zum Theil ſchon Tags vorher in Brand
gerathen und wieder geloͤſcht, abermals in Flammen
aufgingen. Nun kam in dem allgemeinen Ruͤckzuge
die Reihe an die Grenadiere und die Reiterei, welche
derſelben Richtung uͤber Gerasdorf folgten. Der Feind
beſchoß die Abziehenden lebhaft, und eine Kanonenkugel
verwundete toͤdtlich den Feldmarſchalllieutenant d’Aſpre,
als er die von ihm befehligten Grenadiere durch das
brennende Dorf Atterkla fuͤhrte. Der dritte Heertheil
zog uͤber Suͤßenbrunn auf die Hoͤhen von Stamersdorf
in ſo guter Verfaſſung, daß der Feind anfangs nichts
[247] gegen ihn zu unternehmen wagte; als aber die Daͤmme¬
rung eintrat, ſtuͤrmten unerwartet die franzoͤſiſchen Gar¬
den heran, nahmen eine Batterie, und ſuchten ihren
Vortheil zu verfolgen, waͤhrend zugleich die Reiterei in
das Fußvolk des erſten Heertheils einzubrechen ſtrebte;
dieſer aber, ſchnell in Maſſen geordnet, ſchlug die drei¬
maligen Angriffe zuruͤck. Die oͤſterreichiſche Reiterei
ſprengte nun herbei, das Kuͤraſſierregiment Liechtenſtein
fiel in die Flanke des Feindes, die Uhlanen von Schwar¬
zenberg und die Chevauxlegers von Klenau machten
wiederholte Angriffe, der Rittmeiſter von Gallois des
erſtern Regiments hieb die verlorne Batterie wieder aus
den Haͤnden des Feindes, der Rittmeiſter von Tetten¬
born mit ſeiner Schwadron Ehevauxlegers warf die
feindlichen Kuͤraſſiere zuruͤck, und wurde von dem Erz¬
herzog Generaliſſimus noch auf dem Schlachtfelde zum
Major befoͤrdert, worauf er ferner ſeine Schwadron
und ein unter ſeinen Befehl geſtelltes Jaͤgerbataillon
zunaͤchſt am Feinde hielt. Der ſechſte Heertheil hatte
bereits um 1 Uhr Eßlingen, eine Stunde ſpaͤter Aſpern
geraͤumt, und darauf ſeinen Ruͤckzug langſam unter
ſtetem Gefecht gegen Stamersdorf fortgeſetzt. Auch hier
wurde der ungeſtuͤm nachdringende Feind durch die tapfre
Haltung der Bataillousmaſſen des Fußvolks und durch
die kuͤhnen Anfaͤlle der Huſaren von Kienmayer mit
Verluſt zuruͤckgeſchlagen. Der weitere Ruͤckzug geſchah
in geordneter und ſchlagfertiger Haltung; dem Feinde
[248] blieb das Schlachtfeld, allein der Sieg, den er gewann,
war keine Niederlage der Oeſterreicher, und alle An¬
ſtrengung der franzoͤſiſchen Befehlshaber und ihrer ſelbſt¬
eifrigen Truppen brachte die unwillig Weichenden nicht
zu Verwirrung und Flucht. Der Kaiſer Napoleon
bewunderte die ſtrenge Ordnung der vor ſeinen Augen
langſam ſich entfernenden Heertheile, und verſagte dem
Erzherzog Generaliſſimus das Lob nicht, welches ein ſo
hartnaͤckiger Widerſtand und eine ſo feſte Fuͤhrung auch
in dem Feind erweckten.
Auf beiden Seiten hatte der Kampf ungeheure
Anſtrengungen und Opfer gefordert. Der Feind hatte
alle ſeine Kraͤfte vereint und noch waͤhrend der Schlacht
alle Truppen von jenſeits der Donau an ſich gezogen,
ſo daß er im Ganzen gegen 200,000 Streiter zaͤhlte,
von denen wenigſtens 160,000 gefochten hatten. Die
Franzoſen verloren uͤber I4,000 Mann an Todten und
Verwundeten, 7000 an Gefangenen, 12 Adler und
Fahnen, und 11 Kanonen. Von ihren Anfuͤhrern blie¬
ben Laſalle und Duprat, Beſſières, Wrede und 14
andre wurden verwundet. Die Oeſterreicher entbehrten
der Mitwirkung des Erzherzogs Johann, deſſen Vor¬
truppen erſt Nachmittags um 4 Uhr bei Ober-Sieben¬
brunn anlangten, und einige Gefangene im Ruͤcken des
Feindes machten; allein da die Schlacht bereits verlo¬
ren war, auch die Franzoſen jetzt Streitkraͤfte genug
verfuͤgbar hatten, um der ihnen unerwarteten Erſchei¬
[249] nung zu begegnen, ſo ruͤckte der Erzherzog nicht naͤher
heran, ſondern ging den Abend unverfolgt uͤber die
March zuruͤck. Er war auf keinen Feind geſtoßen, der
die Beſtimmung gehabt haͤtte, ihn abzuhalten oder auch
nur zu beobachten; unbemerkt und unvermuthet kam er
heran, und das franzoͤſiſche Heer war von dieſer Seite
dem verderblichſten Ueberfall ausgeſetzt. Vergebens
bemuͤht ſich der General Pelet, in ſeinem uͤbrigens treff¬
lichen Werke, uns glauben zu machen, der Kaiſer Na¬
poleon habe gleich im Beginn der Schlacht auch dieſen
Zug in ſeinen Berechnungen aufgenommen, bei ſeinen
Anordnungen beruͤckſichtigt und das Noͤthige vorgekehrt.
Die Thatſachen zeigen das Gegentheil. Dem Erzherzog
iſt ſein ſpaͤtes Eintreffen zum Vorwurf gemacht wor¬
den, er hat ſich dagegen mit Nachdruck vertheidigt. Die
Tapferkeit, der Geiſtesmuth und die Feldherrngaben
dieſes Prinzen ſind anerkannt, und niemand wird in
Betreff dieſer Eigenſchaften ihn beſchuldigen. Im All¬
gemeinen muß geſagt werden, daß die Bewegung groͤße¬
rer Truppenmaſſen im oͤſterreichiſchen Heere nicht immer
ſo leicht und raſch auszufuͤhren war, als in manchen
Faͤllen gewuͤnſcht wurde, und ſelbſt der Erzherzog
Generaliſſimus hatte waͤhrend ſeines oberſten Kriegsbe¬
fehls, unter welchem das oͤſterreichiſche Heer ſich zur
groͤßten Tuͤchtigkeit ausbildete, ihm dieſen Vorzug des
Feindes nur zum Theil aneignen koͤnnen. Auf oͤſter¬
reichiſcher Seite fochten bei Wagram hoͤchſtens 100,000
[250] Mann. Von dieſen waren uͤber 20,000 getoͤdtet oder
verwundet, gegen 8000 gefangen. Es blieben 4 Gene¬
rale, unter welchen das franzoͤſiſche Bulletin den General
von Nordmann einen Verraͤther ſchmaͤhte, weil er fran¬
zoͤſiſcher Abkunft war und im Heere von Dumouriez
das Loos dieſes Feldherrn getheilt hatte; der Erzherzog
Generaliſſimus ſelbſt und 10 Generale wurden verwun¬
det. Nur Eine Fahne blieb in den Haͤnden des Fein¬
des; an Geſchuͤtz gingen 9 Stuͤcke verloren, deren Be¬
ſpannung getoͤdtet war. „Es gehoͤrt unter die ſonder¬
baren Ereigniſſe dieſes Krieges,“ ſagt der oͤſterreichiſche
Bericht, „daß in dieſer Schlacht der Sieger mehr
Trophaͤen verlor, als der Beſiegte.“
Wie wenig der Muth und die Kraft des oͤſterrei¬
chiſchen Feldherrn und ſeines Heeres gebeugt waren,
zeigten ſchon die naͤchſten Tage. Der Erzherzog hatte
ſeinen Ruͤckzug, mit Ausnahme des vierten Heertheils,
der aber auch gleich wieder herangezogen wurde, nicht
gegen Bruͤnn, ſondern wider alles Erwarten, aber
kuͤhn und abſichtsvoll, gegen Znaym genommen, wo er
das Heer hinter der Taya aufſtellte, und am 10. und
11. Juli dem Sieger abermals eine Schlacht lieferte,
deren lange zweifelhafter Vortheil ſich endlich ebenfalls
auf die Seite der Franzoſen neigte; jedoch hemmte der
Abſchluß eines Waffenſtillſtandes die weiteren Feindſelig¬
keiten. Bald darauf, nachdem auch der Erzherzog,
durch perſoͤnliche Verhaͤltniſſe bewogen, ſeinen bisherigen
[251] Oberbefehl niedergelegt hatte, folgte der Friedensſchluß
von Wien. Der Friede war durch große Nachtheile
bezeichnet. Allein der Krieg des Jahres 1809, und
beſonders die Schlachten von Aſpern, Wagram und
Znaym, ließen in Oeſterreich das Gefuͤhl eines Muthes
und einer Staͤrke zuruͤck, deren Bewußtſeyn nicht unter¬
gehen konnte. Auch den Franzoſen blieb dieſer Krieg
ein Gegenſtand ernſten Eindrucks, und wenn ihre Kriegs¬
erfahrnen die Schlacht von Wagram erwaͤhnten, daͤmpfte
Ehrerbietung die Ruhmredigkeit. Unter den Deutſchen
aber, wem noch die Sache des Vaterlandes, der Ruhm
deutſcher Tapferkeit und Kriegsehre am Herzen lag, der
blickte mit Stolz und Vertrauen auf den Erzherzog Karl
und das oͤſterreichiſche Heer des Jahres 1809. —
Das Feſt
des Fuͤrſten von Schwarzenberg zu Paris,
im Jahre 1810.
In raſchem Fluge hatten wir die reichen Laͤnderſtrecken
von Wien bis Straßburg und von da nach Paris
zuruͤckgelegt. Der Juni ſtrahlte verſengend in ſeiner
ganzen Kraft, und nachdem Staub und Hitze der Son¬
nengluthen uns im gruͤnenden Freien faſt verzehrt hat¬
ten, tauchten wir Nachmittags in die dumpfe Schwuͤle
und duͤſtre Straßenenge der unermeßlichen, volksbe¬
wegten Stadt. Im Hotel de l’Empire der Rue Cérutti,
deren Namen ſeitdem gewechſelt haben, fanden wir
beſtellte Zimmer und jede erwuͤnſchte Erquickung, und
konnten von den Muͤhen und Wallungen der Reiſe faſt
ohne Ausruhen ſofort in den Wirbel dieſer geſchaͤftigen
und genießenden Welt uͤbergehen.
Wir ſahen von allen Seiten beſtaͤtigt, was uns
ſchon unterwegs uͤberall war verkuͤndet worden, daß in
[253] Paris jetzt kein groͤßeres Anſehen, keine wirkſamere
Empfehlung gelte, als die des oͤſterreichiſchen Namens.
Auch war derſelbe, abgeſehen von dem uͤberragenden,
jedem Franzoſen ehrfurchtgebietenden Daſtehen der Kai¬
ſerin Marie Louiſe, fuͤr welches die Geſchichte nichts
Vergleichbares zu haben ſchien, in einer Weiſe repraͤ¬
ſentirt, mit der ſchwerlich von irgend einer Seite gewett¬
eifert werden konnte. Der oͤſterreichiſche Botſchafter,
Fuͤrſt Karl von Schwarzenberg, ein ſchoͤner ſtattlicher
Mann voll Wuͤrde und Heiterkeit, als Kriegsmann und
Diplomat ſeiner ſelbſt ruhig bewußt, ſtellte ein entſpre¬
chendes Bild der Hoheit ſeines Gebieters und zugleich
des gutmuͤthigen Biederſinnes jener deutſchen Landsleute
dar, die dem einſt allgemeinen Oberhaupte noch in
ſeiner Beſonderheit angehoͤrig verblieben waren. Der
leutſeligen Freundlichkeit des Fuͤrſten ſtimmte die geiſt¬
volle Guͤte und regſame Theilnahme ſeiner Gemahlin,
gebornen Graͤfin von Hohenfeld, trefflich zu, die heran¬
wachſenden, wohlgebildeten Soͤhne, von einem wackern
Fuͤhrer geleitet, zeigten ſich in gleichem Sinne belebt,
und ſo die ſaͤmmtlichen Hausgenoſſen. Die Ehren- und
Geſchaͤftsverhaͤltniſſe der Botſchaft waren durchaus guͤn¬
ſtig und angenehm geſtellt, ſie waren in Paris die
einzigen, welche von franzoͤſiſcher Seite mit Wohlwollen
und Auszeichnung behandelt wurden, und nichts von
der geaͤngſteten und huͤlfloſen Aufmerkſamkeit, von der
peinlichen Spannung zu haben brauchten, welche den
[254] andern politiſchen Beziehungen am Hofe Napoleons,
ſelbſt die ſeiner Bruͤder nicht ausgenommen, hoͤchſt wi¬
drig aufgezwungen blieben. So vermochten denn auch
die verſchiedenen Diplomaten und Militaͤrperſonen, welche
dem Botſchafter beigegeben waren, in ihrer Thaͤtigkeit
und ihrem Benehmen die Gunſt ſolcher Umſtaͤnde aͤußerſt
vortheilhaft geltend zu machen. Der Hofrath von Flo¬
ret, ein feiner, ſtillfleißiger und undurchdringlicher Ge¬
ſchaͤftsmann, der Major von Tettenborn, durch die
glaͤnzendſten ritterlichen Eigenſchaften ausgezeichnet, der
Major Graf von Wratislaw, der Rittmeiſter von Boͤhm
und andere hoͤhere Angeſtellte, Alle lebten und wirkten
in dem vergoͤnnten Element, und inmitten der uͤppigen
Pracht und feierlichen Wuͤrde, die der aͤußeren Erſchei¬
nung im Ganzen uͤberſchwenglich verliehen war, athmete
das ſchwarzenbergiſche Haus ein allgemeines, vertrau¬
liches Wohlbehagen, ein faſt unterſchiedloſes Zuſammen¬
gehoͤren, woran auch Fremde, welche dieſen Kreis
betraten, nach Sinn und Luſt Theil nahmen. Wir
Oeſterreicher aber wurden ſaͤmmtlich als Mitglieder des
Hauſes gerechnet, fanden zu jeder Stunde freundliche
Aufnahme, guͤnſtigen Rath, wirkſame Foͤrderung, und
waren fuͤr immer, wie groß auch die Zahl ſein mochte,
zu Mittag wie zu Abend eingeladen.
Der Kreis der Oeſterreicher aber war damals in
Paris nicht klein. Der aͤltere Bruder des Botſchafters,
Fuͤrſt Joſeph von Schwarzenberg, hatte nebſt ſeiner
[255] Gemahlin und uͤbrigen zahlreichen Familie, ſeinen Auf¬
enthalt fuͤr einige Zeit in Paris genommen; ebenſo der
Fuͤrſt von Eſterhazy. Die Generale Graf von Wall¬
moden und Graf von Neipperg hatten beſondre Auftraͤge
des oͤſterreichiſchen Hofes mit den franzoͤſiſchen Behoͤrden
zu verhandeln. Der Oberſt Graf von Bentheim, als
Ueberbringer eines Schreibens des Kaiſers an ſeine
Tochter die Kaiſerin, der Graf Kaspar von Sternberg,
der Graf von Paar, zwei Grafen von Sickingen, der
Graf von Coudenhoven, und noch mehrere andre Oeſter¬
reicher von Rang und Bedeutung, waren theils durch
Geſchaͤfte und Verbindungen, theils durch die Anziehung
der großen Welt und der Schauwuͤrdigkeiten dort feſt¬
gehalten. Politiſche Verhandlungen von groͤßter Wich¬
tigkeit hatten ſogar dem Miniſter der auswaͤrtigen An¬
gelegenheiten, Grafen von Metternich, den Anlaß gege¬
ben, auf erhaltene Einladung des Kaiſers Napoleon,
ſich perſoͤnlich nach Paris zu verfuͤgen, wohin Gemah¬
lin, Kinder und Bruder, nebſt ſeinen diplomatiſchen
Angehoͤrigen, unter welchen der Ritter von Lebzeltern
hervorragte, ihn begleitet hatten. Die wohlgebildete
Perſoͤnlichkeit des im kraͤftigſten Mannesalter ſtehenden
Miniſters war hoͤchſt einnehmend und bedeutend, bei
gemeſſener Haltung vollkommen frei, in heiterer Gelaſ¬
ſenheit lebhaft, und gleicherweiſe faͤhig erſcheinend, ſowohl
den ſchwierigſten Staatsgeſchaͤften als den fluͤchtigen
Bewegungen liebenswuͤrdiger Geſelligkeit die entſchie¬
[256] denſten Erfolge abzugewinnen. Ihm als dem Gaſte des
franzoͤſiſchen Kaiſers war das Hotel des Marſchalls Ney,
welches die herrlichſte Ausſicht auf den Kai der Seine
hatte, zur Wohnung angewieſen, und alle Pracht und
Ueppigkeit kaiſerlicher Bewirthung und Dienerſchaft zu
Gebote geſtellt. Auch hier war jeder Oeſterreicher taͤg¬
lich eingeladen und willkommen, ſowie auch Fremde
nicht fehlten; der Kreis aber, der ſich hier beſonders
gern an den Vormittagen bildete, ging zuletzt doch wie¬
der in den Schwarzenbergiſchen uͤber.
War auf dieſe Weiſe ein großer Lebensraum auf
beiden Seiten der Seine fuͤr uns heimathlich bezeichnet
und erfuͤllt, ſo erweiterte ſolcher ſich doch noch ins
unbeſtimmte durch den eigenthuͤmlichen Umſtand, daß in
jener Zeit nicht bloß die Oeſterreicher, ſondern faſt alle
Deutſchen in Paris, die Geſandten der Staaten des
Rheinbundes, die Mitglieder der ſouverain gewordenen
wie der mediatiſirten deutſchen Haͤuſer, alle Vornehmen,
welche in Paris Huldigung oder Reklamation anzubrin¬
gen hatten, und ebenſo die deutſchen Gelehrten und
Kuͤnſtler, ſich eifrig und beharrlich zu der oͤſterreichiſchen
Botſchaft hielten, an deren Annehmlichkeiten und Vor¬
zuͤgen Theil zu nehmen ſuchten, und perſoͤnliches wie
geſchaͤftliches Vertrauen ihr zuwandten, ſo daß vielleicht
niemals vor- und nachher auf dieſem Punkte die ſaͤmmt¬
lichen deutſchen Intereſſen eine ſo wahrhaft vereinigende
Mitte gehabt haben.
[257]
Dieſer zugleich glaͤnzenden und angenehmen Welt
als oͤſterreichiſcher Offizier ſchon vollkommen angehoͤrig,
noch beſonders aber durch guͤnſtige Bezuͤge und Umſtaͤnde
ihrem Innern vertraut geworden, durfte ich bald die
gluͤckliche Entdeckung machen, daß, ungeachtet der mit
den Franzoſen befreundeten Außenſeite, in dieſem gan¬
zen Kreiſe durchgaͤngig eine wahrhaft deutſche Geſinnung
lebe, ein unzweideutiger Widerwille gegen die neuge¬
knuͤpften Bande, ein feſtes Halten an dem Vaterlaͤndi¬
ſchen, daß man den Kaiſer Napoleon noch immer als
verhaßten Feind anſehe, und ſich in dem Andenken an
die vergangenen Waffenthaten mehr als in dieſem Frie¬
densglanze gefalle, ja im voraus an der Ausſicht auf
kuͤnftig zu erneuernden Krieg ſchon jetzt ſich labe. Dieſe
Empfindungen nach Erfodern des politiſchen Verhaͤltniſ¬
ſes zu verbergen, konnte nicht ſchwer fallen, da hier
blos Formen zu erfuͤllen waren, an deren leichten Aus¬
tauſch, ſowie an die Unſicherheit ihres Inhalts, die
Hof- und Staatswelt laͤngſt gewoͤhnt war, und Napo¬
leon naͤhrte jenen Sinn faſt gewaltſam, indem ſein
Verfahren es nicht hehl hatte, daß er auf die oͤſterrei¬
chiſche Verbindung zwar den hoͤchſten Werth lege, ſofern
ſie ihm ſchmeichle und ihn den Augen der Welt auf dem
Gipfel der Groͤße zeige, daß er ſelbſt aber dadurch in
nichts gebunden, noch zu irgend einer Ruͤckſicht bewo¬
gen ſein wolle; und wirklich war er nur in den Formen
minder ſchroff, in den Sachen aber nach wie vor hart
II. 17[258] und feindlich. Aus den herkoͤmmlichen und als ſolchen
ausdruͤcklich vorgeſchriebenen und demnach nichts weite¬
res beſagenden Redensarten und Bezeigungen durfte
die abgeneigte Geſinnung um ſo freier zu Zeiten her¬
vorblicken, als auch ein großer Theil der Franzoſen
ſelbſt, und zwar der angeſehenſten und einflußreichſten,
ihr zuſtimmte, und nicht blos die Altadelichen und
heimlichen Royaliſten, die ſich zahlreich am neuen Hofe
eingefunden hatten, ſondern ſogar Maͤnner, die ganz
der Revolution oder auch allein dem Gluͤcke Napoleons
anzugehoͤren ſchienen; ſie ſuchten ihrem durch des letz¬
tern Handlungsweiſe oft erregten Unwillen, ihrer durch
vielfache Umſtaͤnde geſteigerten Oppoſition, gern einen
auswaͤrtigen Anhalt, um ſo mehr, als ihnen jeder Eifer
in dieſer Richtung jetzt nur guͤnſtig auszulegen, ja
gleichſam als Schmeichelei fuͤr den Kaiſer geboten war,
und ſie dabei, wenn ihr Vertrauen und Bemuͤhen wei¬
ter ging, in jedem Falle ſich auf dem Gebiete des
unverbruͤchlichſten Geheimniſſes ſicher wußten. So ſchwach
war die Herrſchaft Napoleons in der Zuneigung der
Gemuͤther gegruͤndet, daß man in der großen Zahl ſei¬
ner hoͤheren Vertrauten, Diener, Guͤnſtlinge und ſon¬
ſtigen Angehoͤrigen, die er alle maͤchtig und reich
gemacht, ſchon damals kaum drei oder vier, namentlich
Duroc, Rapp und Savary, bezeichnete, auf deren wahr¬
hafte und unbedingte Hingebung er perſoͤnlich rechnen
duͤrfte.
[259]
Aber mehr als Politik und große Welt erfuͤllten
mich die Gemuͤths- und Geiſtesneigungen, welche mir
an dieſem Orte ſchon beſchieden waren, oder noch wer¬
den ſollten. Gleich am erſten Abende ſuchte und fand
ich gluͤcklichſt meinen Freund Chamiſſo, der nicht wenig
uͤberraſcht war, mich hier und ſo wiederzuſehen. Auch
Immanuel Bekker, der halliſche Freund und Gefaͤhrte,
ließ ſich auf der kaiſerlichen Bibliothek, dem taͤglichen
Felde ſeines ſtaunenswerthen Fleißes, leicht erfragen.
Schwerer war Koreff anzutreffen, der, als geiſtreicher
und gluͤcklicher Arzt von der vornehmen Welt gewaltig
in Anſpruch genommen, im eleganten Kabriolet faſt
immer unterwegs war. Ganz unerwartet fand ich in
der Galerie des Louvre die lieben Tuͤbinger, Ludwig
Uhland und Pregitzer, und bald auch zeigte ſich aus
Hamburg Karl Sieveking anweſend. Dieſen aͤltern
Freunden reihten ſich ſchnell neue deutſche Bekanntſchaf¬
ten an, die an Reiz und Herzlichkeit mit jenen zum
Theil wetteifern konnten. Ich nenne zuerſt den alten
ehrwuͤrdigen Grafen von Schlabrendorf, dann den treff¬
lichen Bibliothekar Dr. Haſe, ferner einen juͤngern
Harſcher aus Baſel, Olivier aus Deſſau, den lebens¬
frohen von Pilat, damals Privatſekretair des Grafen
von Metternich; ſpaͤterhin wird auch noch Dr. Gall und
endlich Alexander von Humboldt, hier zufaͤllig zuletzt,
immer aber weſentlich als ein erſter, zu erwaͤhnen ſein.
17 *[260]
Wir Juͤngere lebten faſt jeden Tag gemeinſam, und
unſre Beſchaͤftigungen, die jedem ſehr verſchieden und
zum Theil ſehr ernſtlich und dringend oblagen, wovon
ſpaͤterhin manches bedeutende Zeugniß kund geworden,
wußten wir mit unſern Vergnuͤgungen, worin wir ganz
uͤbereinſtimmten, auf das ſchoͤnſte zu verflechten. In
dem Muſé Napoleon hatten wir unſern zuverlaͤſſigen
Sammelort, nahmen von hieraus unſre Gaͤnge zu andern
Merkwuͤrdigkeiten und Geſellſchaften, wo wir auf eigne
Hand, abgezogen von der großen Welt, ein idylliſches,
von geiſtigen und gemuͤthlichen Intereſſen erfuͤlltes Leben
fuͤhrten, fuͤr welches ich mir von dem glaͤnzenden Kreiſe,
dem ich nicht ganz fehlen durfte noch wollte, jeden
moͤglichen Urlaub nahm. Unſre ſtillen Abende in dem
damals ganz verlaſſenen, aber noch ſtets dem wetter¬
wendiſchen Publikum zum Trotz regelmaͤßig eroͤffneten
und glaͤnzend erleuchteten Frascati, wo wir oft ganz
allein die leeren Saͤle durchſchritten und der zahlreichen
Dienerſchaft zu einiger Bewegung Anlaß gaben, der
eben ſo ſtille Aufenthalt in einem ſchoͤnen Garten der
Rue Richer, wo eine Verwandte Friedrich Schlegel's
wohnte, die mancherlei deutſche und franzoͤſiſche Bezie¬
hungen um ſich her vereinigte, konnten wohl zu den
erfreulichſten und ſeltſamſten Gebilden zu rechnen ſein,
die aus dem gewoͤhnlichen Lebensgewuͤhl von Paris
ſich als demſelben ungleichartig abſonderten und fort¬
erhielten.
[261]
Das Intereſſe des Tages drang inzwiſchen uͤberall
durch, und ſo hoͤrten wir denn auch von allen Seiten
ſowohl die Feſtlichkeiten ruͤhmen, welche bereits voruͤber
und von uns verſaͤumt waren, als auch beſonders das
eine letzte Feſt hochpreiſend ankuͤndigen, durch das unſer
Botſchafter die ganze Reihe der bisherigen glaͤnzend
abſchließen und, wie Jedermann vorausſehe, uͤberbieten
werde. Wirklich ſah man in dem Botſchaftshotel, und
hauptſaͤchlich in dem weiten Gartenraume deſſelben, die
umfaſſendſten Anſtalten taͤglich fortſchreiten, und bekam
nach und nach einen Begriff von den verſchiedenen
Theilen, aus welchen das Ganze zu einem wahren Wun¬
derwerke ſinnreicher und uͤppiger Pracht ſich aufgliedern
ſollte. Man betrat mit unglaͤubigem Zweifel wieder¬
holt die Staͤtte, wo noch der Zimmermann geſchaͤftig
war, und in wenigen Tagen ſchon ſeine rohe Arbeit
unter dem koſtbarſten Prunke verſchwunden ſein mußte.
Der 1. Juli war, nach manchem Verſchieben, als der
Tag des Feſtes endlich angeſetzt, der Kaiſer und die
Kaiſerin hatten die Einladung angenommen, und ſo
ſtand dies Ziel unwiderruflich feſt. Der Eifer und die
Huͤlfsmittel mußten nun verdoppelt werden, man arbei¬
tete die Naͤchte hindurch, deren Friſche den Werkleuten
ſogar zur Erleichterung wurde, denn viel haͤrter war
es, daß auch die brennende Mittagshitze des ſeit Wo¬
chen unabgekuͤhlten Himmels keine Raſt bringen durfte.
Heiß waren Balken und Bretter anzufuͤhlen, noch heißer
[262] die Steine, welche taͤglich von der Sonne gegluͤht
wurden; das Laub der Baͤume und Straͤucher verdorrte
rings, und Raſen und Zweige, die gruͤnend dem Feſte
dienen ſollten, mußten kuͤnſtlich erhalten werden. Ueber
das Oertliche muͤſſen wir noch einiges Beſtimmtere
angeben.
Der Botſchafter bewohnte das ehemalige Hotel de
Monteſſon in der Rue de Montblanc, ein anſehnliches,
zwiſchen Hof und Garten gelegenes Gebaͤude, das jedoch
fuͤr die außerordentliche Feierlichkeit nicht genuͤgend ſchien;
man hatte auch das nebenliegende Hotel fuͤr dieſe Zeit
gemiethet, und uͤberall die noͤthige Verbindung ange¬
bracht. Dieſe weitlaͤuftigen Raͤume waren mit geſchick¬
ter Anordnung eingetheilt, und den verſchiedenen Scene¬
rien und Momenten des Feſtes zugewieſen. Zunaͤchſt
den Prachtſaͤlen des erſten Hotels hatte man ſeitwaͤrts
einen Gartenraum, der uͤber Gras und Blumen gegen
die vertiefte Mitte hin zu einer maͤßigen Waſſerſtelle
fuͤhrte, mit großen Balken uͤberlegt, und auf dieſen,
nach damals in Paris uͤblicher und auch bei allen vori¬
gen Feſten angewandter Sitte, den ungeheuern Haupt¬
ſaal von ſtarkem Zimmerwerk aufgeſchlagen. Die fuͤr
ſolchen Fall ſchon bewaͤhrten und empfohlenen Baumei¬
ſter hatten dieſen Aufbau, gleich den fruͤheren, ſo
geſchickt als geſchmackvoll ausgefuͤhrt, und in dieſer
Hinſicht war alles nur in der hergebrachten Ordnung
geſchehen. Die Decke und die Seitenwaͤnde, nach außen
[263] mit Wachsleinwand uͤberhangen, wurden inwendig mit
den praͤchtigſten Tapeten bekleidet, mit großen Spiegeln,
Wandleuchtern, farbigen Lampen und glaͤnzendem Zier¬
rath ausgeſtattet, die Saͤulenbalken, welche den mittlern
Raum von einer galerieartigen Umfaſſung abſonderten,
mit den koſtbarſten Stoffen reich umhuͤllt, und durch
zahlloſe Gewinde gemachter Blumen und durch Gehaͤnge
von Muſſelin, Gaze und andern zarten Geweben ſchoͤn
verbunden; maͤchtige Kronleuchter von Kryſtall ſchweb¬
ten im Innern, luftig getragen von gold- und ſilber¬
durchzogenen Blumenketten, durch Draperien und Baͤn¬
derſchleifen mit den uͤbrigen Verzierungen in gedraͤngter
Fuͤlle zuſammenfließend. Im Hintergrunde des Saales,
auf einer maͤßig erhoͤhten, mit golddurchwirkten Teppi¬
chen belegten Buͤhnenſtufe, waren zwei prachtvolle
Thronſitze aufgeſtellt, vor dieſen gab der ſchoͤn zuſam¬
mengeſetzte und ſorgſam geglaͤttete Fußboden dem Tanze
freien Raum. Der Saal hatte drei Ausgaͤnge; einer
derſelben, im Hintergrunde, zunaͤchſt den Thronſitzen,
fuͤhrte in das Innere des Hotels, und ſollte nur den
noͤthigen Verkehr der Hausgenoſſen erleichtern; im Vor¬
grunde, nach der Gartenſeite hin, ging zuerſt links eine
breite und lange Galerie ab, welche, gleicherweiſe wie
der Saal gebaut und verziert, ſich laͤngs des Hotels
hinzog, und deſſen Gemaͤchern wie dem Garten ſich in
vielfacher Verbindung unmittelbar anfuͤgte; rechts, die¬
ſer Galerie gegenuͤber, in halber Hoͤhe des Saales,
[264] befand ſich eine Buͤhne fuͤr die Muſiker, zu der aber
nur mittelſt einer aͤußern Treppe zu gelangen war; der
Hauptausgang des Saales, ein praͤchtiges Portal, eroͤff¬
nete ſich in der Mitte des Vorgrundes, und fuͤhrte
uͤber mehrere breit- und wohlgelegte Stufen in den
Garten hinab, deſſen naͤchſter Raum hier auch fuͤr das
Aus- und Einſtroͤmen einer großen Menſchenmenge
gehoͤrig erweitert und eingerichtet war.
Fuͤr Pracht und Bequemlichkeit, fuͤr Ordnung und
Angemeſſenheit, war von allen Seiten beſtens Sorge
getragen, und nichts verſaͤumt, was dem Feſte zur
Auszeichnung dienen konnte. Im Gefuͤhle jedoch, daß
hier einmal, mitten in Paris und vor den Augen Na¬
poleons, auch die Deutſchheit ſich in voller Guͤltigkeit
duͤrfe ſehen laſſen, hatte Jemand den Einfall gehabt,
da doch uͤber dem Portal des Saales billig eine Inſchrift
Platz finde, ſo muͤſſe der Nationalſtolz darauf beſtehen,
daß ſie in deutſcher Sprache verfaßt ſei, und wenn ſich
die Franzoſen daruͤber wundern und aͤrgern wollten, ſo
moͤchten ſie es thun, denn ſie duͤrften es doch nicht
allzu laut werden laſſen, da es die Sprache der Kaiſerin
ſei, die man anwende, und die oͤſterreichiſche Botſchaft
gewiß das Recht habe, bei einem jener zu Ehren gege¬
benen Feſte ihr, wie die Bilder, ſo auch die Sprache
der Heimath zu vergegenwaͤrtigen. Dies fand allſeitige
Zuſtimmung, und noch am letzten Tage wurde die
Hand ans Werk gelegt. Fuͤr zwei Zeilen war der
[265] Raum leicht ermittelt, aber auch nur zwei Zeilen nicht
ſogleich ſchicklich ausgeſonnen. Die es vielleicht beſſer
gemacht haͤtten, z. B. ich ſelbſt, lehnten die Auffor¬
derung kluͤglich ab, und ſo drang freiwilliger Eifer um
ſo leichter vor, und lieferte die beiden zwar nicht
von beſtem Korn, aber doch von gehoͤrigem Schrot
befundenen und durch den Reim wohlgeloͤtheten Alexan¬
driner:
Von Lapidarſtil eben kein Muſter, aber in Pappe fuͤr
transparentes Oelpapier ausgeſchnitten von guter Wir¬
kung; die Hauptſache waren die deuten Lettern, und
dieſe prangten in bedeutender Groͤße an ihrer hohen
Stelle ſtolz genug.
Der große Tag war endlich angebrochen, und unter
letzten raſchen Nachhuͤlfen ſchon großentheils dahinge¬
ſchwunden, die Anſtalten waren vollendet, und auch die
Letztbeſchaͤftigten konnten ſich nun eilig und ganz der
Sorge fuͤr die perſoͤnliche Erſcheinung widmen. Nichts
war verſaͤumt, dieſe praͤchtig und geſchmackvoll auszu¬
ſtatten. Der Reichthum und die Schoͤnheit der oͤſter¬
reichiſchen Uniformen uͤberſtrahlte alles, was die Fran¬
zoſen in dieſer Art aufbieten konnten. Die Dienerſchaft,
ſchon immer zahlreich und praͤchtig, war auf mehrere
Hundert verſtaͤrkt, deren ein Theil in franzoͤſiſcher
Staatskleidung prangte.
[266]
Bei guter Zeit erſchien eine Abtheilung Grenadiere
der kaiſerlichen Garde, und bezog als Ehren- und
Sicherheitswache die angewieſenen Poſten. Noch war
es heller Tag, als ſchon das ganze Hotel mit Ange¬
baͤuden und Garten in tauſendfacher Beleuchtung ſchim¬
merte, und zwiſchen dem zu beiden Seiten der Straßen
gehaͤuften Volksgedraͤnge bereits die Wagen der Gaͤſte
heranrollten. Saͤmmtliche Oeſterreicher hielten ſich zum
Empfange der Ausſteigenden bereit, die Damen wurden
mit ſchoͤnen Blumenſtraͤußen beſchenkt und zu dem
großen Saale hinbegleitet.
Schon fuͤllten ſich die ringsgeſtellten Sitze deſſelben,
und ſchon fluthete in ſeinem mittleren Raume die Be¬
wegung enger. Die Schoͤnheit, der Reiz, die Erlaucht¬
heit und Bedeutung der Perſonen wetteiferten ſteigend
mit jedem Augenblicke. Schon waren Koͤnige und
Koͤniginnen eingefuͤhrt, aber dieſe ſelbſt harrten noch
der hoͤchſten Erſcheinung. Endlich verkuͤndigte der krie¬
geriſche Befehlsruf und das Anſchlagen der Waffen,
dann das Wirbeln der Trommeln und das Schmettern
der Kriegsmuſik die Ankunft des Kaiſers und der
Kaiſerin, deren Prachtwagen unter zahlreicher Beglei¬
tung zwiſchen den aufgeſtellten Truppenreihen glaͤnzend
einfuhr. An den Stufen des Eingangs empfingen die
Familien Schwarzenberg und Metternich dieſe erhabenen
Gaͤſte, der Botſchafter hielt eine kurze Anrede, und die
fuͤrſtlichen Frauen uͤberreichten auserleſene friſche Blumen,
[267] welche der Kaiſer annahm und ſeiner Gemahlin ein¬
haͤndigte, darauf ihr den Arm gab und ſie in das
Innere fuͤhrte, geleitet von dem Botſchafter, und gefolgt
von nachdringenden dichten Schaaren. Ich ſah den
Kaiſer hier ganz nah, und blickte ihn feſt an; zum
erſten Male war ich von der Schoͤnheit ſeiner Geſichts¬
zuͤge getroffen, aber auch von der Macht ſeines eiſernen
Ausſehens. Seine Miene war ſtreng, unbiegſam, faſt
boͤſe, ſein Blick vor ſich hingeworfen, von Freundlichkeit
keine Spur, aus dieſem Munde konnten jeden Augen¬
blick furchtbare Befehlsworte hervorgehen. Ich ſuchte
dieſem Eindrucke, der mich befangen wollte, Trotz zu
bieten, und es gelang mir, ihn ſoweit zu bemeiſtern,
daß ich Gedanken verfolgen konnte, deren ſich zu ruͤhmen
damals nicht rathſam geweſen waͤre.
Unter ſchmetternden Fanfaren ſchritt der Kaiſer
durch die Vorſaͤle und die erwaͤhnte Galerie bis in den
Hauptſaal, wo er einige Minuten verweilte, den Ort
und die Menſchenmenge mit ſcharfen Blicken fluͤchtig
uͤberſchaute, die dargebotenen Erfriſchungen zuruͤckwies,
und mit wenigen abgeriſſenen Worten einige naͤchſt¬
ſtehende Perſonen nachlaͤſſig anredete. Auf die Ein¬
ladung des Botſchafters zu einem Gange durch den
Garten, folgte er nebſt der Kaiſerin dem vortretenden
Fuͤhrer durch das Portal, und die ganze Verſammlung
zog gedraͤngt nach. In den kunſtreich erleuchteten
Gaͤngen und Gebuͤſchen waren an gewaͤhlten Punkten
[268] Saͤnger- und Muſikchoͤre vertheilt, die bei Annaͤherung
des Kaiſers ihre Lieder und Harmonien begannen, und
ſolchergeſtalt dem Fortſchreitenden eine ununterbrochene
Triumphbegleitung bildeten. Andere ſchmeichelhafte
Ueberraſchungen, Sinnbilder und Anſpielungen, waren
gleichzeitig fuͤr das Auge vorbereitet.
Vor einem großen, ſorgfaͤltig geebneten Raſenplatze
wurde Halt gemacht, fuͤr das kaiſerliche Paar und einige
andere hoͤchſte Perſonen waren Sitze geordnet, und die
Ausſicht von da geradehin auf das Schloß Laxenburg
gerichtet, das in gluͤcklicher Nachbildung taͤuſchend da¬
ſtand. Um den heimathlichen Erinnerungen der Kaiſerin
noch lebendiger zu ſchmeicheln, erſchienen aus den Ge¬
buͤſchen, welche eine laͤndliche Buͤhne begraͤnzten, in
oͤſterreichiſcher Tracht Taͤnzer und Taͤnzerinnen, es
waren die der großen Oper, und ſie fuͤhrten mit un¬
uͤbertrefflicher Kunſt oͤſterreichiſche Volkstaͤnze und eine
artige Pantomime auf, welche fuͤr dieſen Anlaß eigends
ausgeſonnen war; Krieg und Frieden ſpielten darin die
Hauptrollen, von jenem blieben nach allen Schreckniſſen
nur glorreiche Siegesehren zuruͤck, und dieſer vereinte
mit ihnen ſeine gabenreichen Segnungen.
Dieſes Schauſpiel endete kaum, als die Aufmerk¬
ſamkeit ſchon durch einen neuen Gegenſtand angezogen
war. Wiederholtes Peitſchenknallen und andringendes
Pferdegeſtampf verkuͤndigte einen Kurier, der beſtaͤubt
mitten aus der glaͤnzenden und geſchmuͤckten Verſamm¬
[269] lung hervordrang, ſich achtlos bis zu dem Kaiſer Bahn
machte, und ihm beeifert ſeine Depeſchen uͤberreichte.
Ein freudiges Gemurmel von großen Siegesnachrichten
aus Spanien durchlief einen Augenblick die geſpannte
Menge, allein der Kaiſer, der im Geheimniß war,
ſagte ſogleich mit Laͤcheln, es ſeien Briefſchaften aus
Wien, und ſtellte der Kaiſerin ein wirkliches Schreiben
ihrers Vaters zu, welches fuͤr den Gebrauch eines
ſolchen Augenblicks eigends abgefaßt und dafuͤr aufbe¬
wahrt worden war.
Nach dieſer Scene, die nicht ohne heitre Theilnahme
der Zuſchauer voruͤberging, wurden die Sinne wieder
in vollen Anſpruch genommen durch ein ploͤtzlich auf¬
blitzendes Feuerwerk, bei welchem die Kunſt alle ihre
Erfindung angeſtrengt und keine Verſchwendung geſcheut
hatte. Mitten im feuerſpruͤhenden Getoͤſe drangen jedoch
ploͤtzlich zwiſchen den kunſtgerechten auch wilde Flammen
hervor, durch einen Zufall war eines der Geruͤſte in
Brand gerathen, und der Anblick erregte Beſorgniß
und Unruhe; allein mit groͤßter Schnelligkeit ruͤckten
die ſchon bereitgeſtandenen Spritzenleute aus ihrem
Hinterhalte zum Loͤſchen heran, und ſogleich war auch
der Brand gluͤcklich erſtickt. Man freute ſich des raſchen
Erfolgs, belobte die Anſtalten und den Eifer der Leute,
und Niemand dachte, daß ſchon im naͤchſten Augenblicke
ihre Huͤlfe noch dringender noͤthig, und, wo nicht
gaͤnzlich vermißt, doch durchaus unzureichend ſein wuͤrde!
[270]
Der glaͤnzende Zug hatte ſich ſchon wieder in Be¬
wegung geſetzt, und war durch mannigfach geſchmuͤckte
Wege allmaͤhlig zu dem großen Saale zuruͤckgelangt.
Hier brannte die deutſche Inſchrift uͤber dem Portal
den Kommenden hell entgegen, und wurde geleſen,
buchſtabirt, gedolmetſcht. Der Kaiſer ſoll anfangs uͤber
die fremde Sprache geſtutzt, dann aber ſchnoͤde gelaͤchelt
haben, und manche franzoͤſiſche Anmerkung gloſſirte den
deutſchen Text. Von abermaligen Fanfaren begruͤßt,
traten der Kaiſer und die Kaiſerin in den Saal, nah¬
men die im Grunde deſſelben bereiteten Sitze ein, und
die Muſik fuͤr den Tanz hob unverzuͤglich an. Die Zeit
neigte ſich ſchon zur Mitternacht. Der glaͤnzendſte und
ſchwierigſte Theil des Feſtes war zuruͤckgelegt, der noch
uͤbrige beſtens im Gange, und Ball und Banket ver¬
hießen ihm in rauſchenden Freuden und uͤppigen Genuͤſſen
die prunkvollſte Dauer bis zum andern Morgen. Die
Koͤnigin von Neapel hatte den Ball mit dem Fuͤrſten
von Eſterhazy und der Vicekoͤnig Eugen von Italien
mit der Fuͤrſtin von Schwarzenberg, der Schwaͤgerin
des Botſchafters, eroͤffnet.
Nach den Quadrillen wurde eine Ecoſſaiſe getanzt.
Waͤhrend dieſes Tanzes waren der Kaiſer und die Kai¬
ſerin aufgeſtanden und nach entgegengeſetzten Seiten
laͤngs den Reihen der Zuſchauenden vorgetreten, wandten
das Wort an mehrere Perſonen, und ließen ſich einige
zum erſten Mal Erſcheinende vorſtellen. Die Kaiſerin
[271] beendigte ihren Umgang ſehr bald, und war bereits zu
ihrem Seſſel zuruͤckgekehrt, der Kaiſer aber weilte noch
am andern Ende des Saales, wo ihm ſo eben durch
die Fuͤrſtin Pauline von Schwarzenberg, geborne Prin¬
zeſſin von Aremberg und Schwaͤgerin des Botſchafters,
ihre Toͤchter waren vorgeſtellt worden, und er ſetzte
hin und wieder einiges Geſpraͤch fort, als unverſehens
nahebei, in der hinter den Saͤulen umlaufenden Galerie,
unfern des Ausgangs zu der großen Galerie, welche
den Saal mit dem Hotel verband, eine der tauſend
Kerzen und Lampen ihre Flamme, von einem zufaͤlligen
Luftſtrome bewegt, gegen eine leichte Gaze zuͤngeln ließ,
welche kaum beruͤhrt ſogleich aufflackerte und einen augen¬
blicklichen hellen Schein gab, der indeß gleich wieder
verſchwand, und nur noch ſchwach in ein paar getheilten
Flocken nachſchimmerte. So gering war die Sache
anfangs anzuſehen, daß der Graf von Bentheim durch
Anwerfen ſeines Hutes eines der Flaͤmmchen gluͤcklich
erſticken konnte, der Graf Dumanoir aber, Kammerherr
des Kaiſers, an einem der Saͤulenbalken emporkletternd
einen Theil des ſchon im Fallen erloͤſchenden zarten
Gewebes herabriß und auf dem Boden voͤllig austrat.
Einige Flocken jedoch hatten ſich ſchon aufwaͤrts mitge¬
theilt, hoͤhere Gehaͤnge, den Haͤnden nicht mehr erreich¬
bar, nahmen das Feuer an, und augenblicklich ſchlugen
in verſchiedenen Richtungen raſche Flammen auf, die
uͤberall in naͤhrende Stoffe fielen, uͤber dem Sims der
[272] Saͤulen hin unaufhaltſam in den hoͤheren Mittelraum
des Saales uͤberſprangen, und ſchnell die ganze Decke
des Saales durchkreuzten. Die Muſik verſtummte, und
erſchreckt verließen die Muſiker ihre zunaͤchſt bedrohte
Buͤhne, die zu einer aͤußern Treppe fuͤhrende Thuͤre
ließ eine ſtuͤrmiſche Gewitterluft eindringen, welche mit
aller Wuth in die Flammen ſtuͤrzte, und ſie noch wilder
anfachte. Der Tanz war ſchon aufgeloͤſt, man draͤngte
verworren durcheinander, doch ſuchte man nur erſt zu
faſſen, was geſchah, was geſchehen koͤnne.
Napoleon hatte den Urſprung der Sache mit ange¬
ſehen, und wurde daher durch kein falſches Urtheil
geſtoͤrt, er war zu der Kaiſerin getreten, und ſtand
kalt und ruhig, den weitern Verlauf beobachtend, waͤh¬
rend mehrere ſeiner Getreuen, die im erſten Taumel
Verrath und ſchwarze Verbrechen fuͤrchteten, ſich unge¬
ſtuͤm zu ihm durchdraͤngten und zu ſeinem Schutze die
Degen zogen. Der oͤſterreichiſche Botſchafter jedoch,
voll Ruhe und Wuͤrde, war dem Kaiſer unverruͤckt zur
Seite geblieben, und als er die Flammen mit erſchrecken¬
der Eile weitergreifen ſah, foderte er ihn dringend auf,
den Saal, der nicht zu retten ſein wuͤrde, augenblick¬
lich zu verlaſſen. Napoleon ohne zu antworten, gab
der Kaiſerin ſogleich den Arm, und folgte dem Bot¬
ſchafter gemeßnen Schrittes zu dem Gartenportale, indem
er die rechts und links raumgebende Menge mit kurzen
Worten zur Ordnung und Beſonnenheit ermahnte. Auch
[273] hielt ſich Alles in leidlicher Faſſung, bis der Kaiſer
hinausgetreten war, dann aber hoͤrte jede Ruͤckſicht auf,
und angſtvoll und gewaltſam draͤngte ſich die tobende
Maſſe dem Ausgange zu.
Der Botſchafter hatte kaum vernommen, daß der
Kaiſer ſogleich wegfahren wolle, als er auch ſchon mit
klugem Vorbedachte von unterwegs einen ſeiner Adju¬
tanten abſchickte, um die kaiſerlichen Wagen von dem
Hofe des Hotels, wo ſie hielten, und wo jetzt die groͤßte
Verwirrung und Gefahr zu befuͤrchten ſtand, nach einer
ſtilleren Seitenſtraße beordern zu laſſen, die den Garten
begraͤnzte, und wo der Kaiſer an einer kleinen Pforte
ungeſtoͤrt einſteigen, und unbemerkt abfahren, dadurch
aber jedem Anſchlage, wenn ein ſolcher mit dieſem
ungluͤcklichen Zufalle ſich verbinden moͤchte, am ſicherſten
entgehen konnte. Allein Napoleon, bei dem weiteren
Gange durch den Garten ſogleich der veraͤnderten Rich¬
tung inne, ſtand ploͤtzlich ſtill, fragte wohin man ihn
fuͤhre, und den erhaltenen Beſcheid des Botſchafters
nicht gutheißend ſagte er kurz und beſtimmt: „Nein,
nach der Hauptpforte will ich,“ kehrte ſtracks um, und
hieß die Wagen, welche ſchon in die Seitenſtraße ein¬
gelenkt hatten, an die erſte Stelle zuruͤckfahren, wodurch
ein großer Zeitverluſt entſtand, welchen der Botſchafter
in qualvoller Unruhe, doch aͤußerlich gelaſſen, Napoleon
aber mit vieler Geduld abwartete, indem er einen feind¬
lichen Streich dort viel eher als hier fuͤr moͤglich zu
II. 18[274] halten ſchien. Die Angabe des Moniteurs, daß der
Kaiſer bei der Gartenpforte eingeſtiegen ſei, iſt, wie
manche andre jener Schilderung des Vorganges, eine
irrthuͤmliche.
Spaͤterhin erſt wurden dieſe Umſtaͤnde mir aus dem
Munde der unmittelbaren Zeugen ſo genau bekannt.
Wie mich ſelbſt aber das Ereigniß zunaͤchſt traf und in
Anſpruch nahm, will ich kuͤrzlich angeben.
Ich war aus der ungeheuern Hitze, welche durch
das Gewuͤhl der Menſchen im Saale auf einen uner¬
traͤglichen Grad geſteigert wurde, einen Augenblick zuruͤck¬
gewichen, und ſuchte in der freieren Galerie friſche Luft
zu athmen, als das Geſchwirr und Geraͤuſch des Feſtes
unerwartet in einen anderartigen Laͤrm uͤberging; ich
hoͤre hinter mir einzelne Schreie, aufbrauſende verwirrte
Stimmen, ich wende mich um, und will neugierig zu
dem Saale zuruͤckkehren, mein erſter Blick ſieht helle
Flammen zucken, die ſich raſch ausbreiten; aber weder
Zeit zum Erkennen noch Raum zum Vordringen iſt
mehr frei, eine wogende Menſchenfluth ſtroͤmt auf mich
ein, und reißt mich ungeſtuͤm in ihrer Bahn fort;
einige ſtarkbeleibte Generale, die voll Entſetzen ſchrieen:
„O mein Gott, der Kaiſer, der Kaiſer iſt nicht geret¬
tet,“ und Andre, die ebenſo nach Waſſer riefen, hatten
mich ſo in ihre Flucht verwickelt, daß ich mich erſt im
dritten Zimmer von ihnen losmachen und nach dem
Schauplatze des Unheils zuruͤckeilen konnte. Hier hatte
[275] die Galerie ihre Fluͤchtenden ſchon groͤßtentheils in den
Garten entlaſſen, der Zugang war durch Menſchen nicht
mehr verſperrt, allein der ganze Saal ſtand in heller
Gluth, waͤhrend an dem Portale noch ein furchtbares
Fluchtgedraͤnge wogte, das unter entſetzlichem Weh-
und Angſtgeſchrei mit gewaltſamer Eile in den Garten
abſtuͤrzte, waͤhrend von innen die Flammen jeden Mo¬
ment in verſtaͤrkter Wuth nach ihrer Beute griffen,
gluͤhende Rauchwolken wirbelnd aufſtiegen, ſchwere Kron¬
leuchter praſſelnd niederfielen, Latten, Bretter und
Balken brennend uͤbereinander ſtuͤrzten, und der ganze
Raum nur Gluth und Zerſtoͤrung zeigte. Das in der
Sommerhitze viele Tage hindurch ausgedoͤrrte Holz, die
feuerfangenden Stoffe aller Art, die Farbenfirniſſe, die
Bekleidungen, Alles brannte wie vorbereitet zum Luſt¬
feuer, die Eimer Waſſers, die man hineingoß, zerſtiebten
augenblicklich in Daͤmpfe, und uͤberall fand die Gluth
Nahrung, nirgends Einhalt. Kein Gedanke an Huͤlfe,
an Rettung, konnte hier aufkommen. Schneller, als
hier es ſich leſen laͤßt, war Alles geſchehen, und in
den paar Augenblicken, die ich zum Heraneilen und
Hineinſchauen im Fluge verwendete, liefen auch uͤber
mir ſelbſt die Flammen an der Decke der Galerie ſchon
weit hinaus, fielen in meinem Ruͤcken ſchon brennende
Draperien, Lampen und Leuchter herab, und ich durfte
nicht ſaͤumen, ehe der Weg verſperrt wurde, in den
Garten zu entkommen.
18 *[276]
Hier zeigte ſich nun das graͤßlichſte, bewegteſte Schau¬
ſpiel! Wer vermoͤchte es zu beſchreiben! Das ganze
Feſtbauwerk loderte in Flammenſaͤulen empor, die noch
eben in dieſen geſchmuͤckten Raͤumen verſammelte Welt,
an Pracht, Schoͤnheit, Auszeichnung und Bedeutung
jeder Art ein Inbegriff der Herrlichkeiten Europas,
brauſte aufgeloͤſt durcheinander; allgemeiner Schrecken,
perſoͤnliche Gefahr, Angſt und Sorge fuͤr die Naͤchſten,
waren an die Stelle des freudigen Reizes, der ehr¬
geizigen Spannung getreten. Man ſuchte und rief die
Seinigen, man durchbrach ruͤckſichtslos das Gedraͤnge,
jeder hatte nur ſein perſoͤnliches Ziel im Auge, ſtieß
hinweg, was ihn hemmte, trat ohne Wahrnehmung
daruͤber hin. Maͤnner ſuchten ihre Frauen, Muͤtter
waren von ihren Toͤchtern getrennt, hatten ſie zuletzt
nur in den Reihen des Tanzes noch geſehen, oder dort
gluͤcklich fortgezogen, ohne ſie an der Hand behalten
zu koͤnnen. Keiner wußte das Schickſal des andern,
man hoͤrte Jammernde und heftig Tobende, man erblickte
Andre, die ſich mit leidenſchaftlicher Freude den wiederge¬
fundnen Lieben in die Arme warfen, man ſah Ohnmaͤch¬
tige, Verwundete. Die Stufen des Portals waren unter
der Laſt der Rettungſuchenden eingebrochen, viele Per¬
ſonen geſtuͤrzt, von Nachdringenden zertreten, von fal¬
lenden Braͤnden ſchwer verletzt, von den Flammen ereilt
worden. Die Koͤnigin von Neapel war zu Boden geſun¬
ken, der Großherzog von Wuͤrzburg wurde ihr Retter.
[277] Die Koͤnigin von Weſtphalen dankte ihrem Gemahl und
dem Grafen von Metternich die Rettung aus groͤßter
Gefahr. Der ruſſiſche Botſchafter, Fuͤrſt von Kurakin,
wurde brennend und ohnmaͤchtig durch den Dr. Koreff
mit Huͤlfe oͤſterreichiſcher und franzoͤſiſcher Officiere aus
dem Gewuͤhl hervorgezogen, und von andern huͤlfreichen
Haͤnden mit Pfuͤtzenwaſſer geloͤſcht, waͤhrend noch andre
ihm die diamantnen Knoͤpfe vom Rock ſchnitten. Beſon¬
ders hatten viele Frauen das Ungluͤck, durch das Feuer
an ihren leicht brennbaren Kleidern erfaßt und lebens¬
gefaͤhrlich verwundet zu werden.
Zwiſchen dieſes Gewuͤhl draͤngten ſich die Diener
und Arbeiter aller Art, die theils fuͤr die Aufwartung,
theils fuͤr andre Beduͤrfniſſe der Feſtlichkeit zahlreich
vorhanden waren, und jeder Unterſchied des Standes
ſchien aufgehoben, nie wurde Stern und Ordens¬
band gleichguͤltiger behandelt, die Hoheit und Majeſtaͤt
weniger angeſehen. Auch die vom Trinken abgerufenen
Spritzenleute machten ſich fuͤr ihre ſpaͤte Huͤlfleiſtung
gewaltthaͤtig Raum, und die von feſtlicher Bewirthung
aufgeſchreckten Taͤnzer und Taͤnzerinnen draͤngten ſich
in ihren flitterhaften Koſtuͤmen und mit noch geſchmink¬
ten Geſichtern neugierig zwiſchen dem reichen Prunk
und Staat der ſtolzen Hofwelt umher, die in ſolcher
Zerruͤttung jede Gleichheit unbeachtet walten ließ.
Mit leidenſchaftlicher Innigkeit hatte der Fuͤrſt Joſeph
von Schwarzenberg im Garten ſeine gerettete, doch
[278] ſchwer verletzte Tochter umarmt, aber um ſo verzweif¬
lungsvoller ſuchte er nun die noch vermißte Gattin.
Die Tochter war an ihrer Seite geweſen, aber durch
brennendes Gebaͤlk, das zwiſchen beide niederſtuͤrzte, von
ihr getrennt worden, und ſie hatte darauf die Mutter
aus den Augen verloren. Wir ſchalten hier am beſten
die Worte ein, mit welchen der Major von Prokeſch,
in ſeinen leſenswerthen Denkwuͤrdigkeiten Schwarzen¬
berg's, die folgenden Umſtaͤnde wiedergiebt: „Der Fuͤrſt
Joſeph hatte, als der Brand ausbrach, unfern der
Kaiſerin im Geſpraͤche geſtanden. Er wandte ſich auf
den erſten Ruf der Gefahr hin nach dem Raume, wo
die Reihen der Tanzenden ſo eben zerſtoben, und wies
noch, da ihm die Gemahlin des Prinzen Eugen ent¬
gegenkam, dieſer und dem Vicekoͤnige ſelbſt eine nahe
Seitenthuͤre, durch welche beide entkamen. Im Saale
kaͤmpften bereits Flammen und Dampf um die Herr¬
ſchaft. Er eilte hinauf, hinab; er fand ſeine Gemahlin
nicht. Er gelangte gluͤcklich uͤber die Treppe in den
Garten; er fragte dieſen, jenen; man wollte ſie geſehen
haben; man verſicherte endlich ſogar mit Gewißheit, ſie
ſei bereits im Garten. „Dort iſt ſie!“ rief eine Stimme
ihm zu. Er ſtuͤrzt nach dem Orte hin, und — es iſt
eine Dame, die ihr aͤhnlich ſah. Da faßt ſeine Seele
unnennbares Grauen. Die Folter der Ahndung, die
ihn ergriffen hatte, war alle Grade durchgelaufen, und
die Gewißheit leuchtete, ein ſchrecklicherer Brand, vor
[279] ihm auf. Er kehrt zuruͤck zum Saale. Die Treppe
iſt geſtuͤrzt. Uebereinander waͤlzt ſich die fallende Menge.
Man bringt ſein Kind halb verbrannt in ſchonender
Verhuͤllung vorbei. Man ſchleppt die Gemahlin ſeines
Bruders, der aller Schmuck vom Haupte getreten war,
an ihm voruͤber. Sein Blick faͤllt, in der fuͤrchterlichen
Beleuchtung des Brandes, auf eine winſelnde Geſtalt,
der das Kleid am Leibe verzehrt und das ganze Diadem
tief in die Stirne gegluͤht war. Es iſt die Fuͤrſtin von
der Leyen. Ein ſchwediſcher Officier, der dieſe ſo eben
aus dem Saale getragen hatte, verſichert, mitten in
den Flammen eine Geſtalt wandeln geſehen zu haben,
wunderbar zugleich und entſetzlich! Fuͤrſt Joſeph kommt
an den Eingang. Er will hinaufklettern uͤber die bren¬
nenden Stufen. Da ſtuͤrzt mit dumpfem Geraſſel die
ganze Fußdecke des Saales ein, und wie aus hohler
Eſſe wallt Rauch und Gluth aus den Truͤmmern empor.
Alles iſt verloren.“
So weit dieſer Bericht. Seit dem Ausbruche des
Feuers bis zu dieſem bezeichneten Augenblicke war kaum
eine Viertelſtunde verfloſſen, und ich fortwaͤhrend auf
dem Schauplatze des Ereigniſſes zugegen. Die mannig¬
fachſte Huͤlfsthaͤtigkeit fuͤr die Beſchaͤdigten, Suchenden,
Auffodernden, und die ſtuͤrmende Eile aller Vorgaͤnge
ließen den fluͤchtig aufgedrungenen Eindruͤcken keine ſorg¬
ſame Pruͤfung zu. Allein fuͤr manche Angaben durften
ſowohl die Wahrnehmungen des einzelnen Beobachters,
[280] als auch die allſeitigen damit verglichenen Ausſagen
aller andern Augenzeugen ein ziemlich feſtes Ergebniß
liefern. Wenn der Moniteur die Fuͤrſtin von Schwar¬
zenberg ſchon außerhalb des Saales, im Garten, mit
dem Koͤnige von Weſtphalen, dem Fuͤrſten Borgheſe
und dem Grafen Regnauld ſprechen laͤßt, ſo iſt dies
zuverlaͤſſig unbegruͤndet; die Verwechslung des Namens
war ſo leicht, auch konnte gutgemeinte Abſicht ſolche
Verſicherung im Augenblicke hervorrufen. Wenn aber
gar der ehemalige Palaſtpraͤfekt von Beauſſet in ſeinen
Denkwuͤrdigkeiten erzaͤhlt: „On vit s’élancer une
femme jeune, belle, d' une taille élégante, ...
poussant des cris douloureux, des cris de mère“ ...
und in dieſer Weiſe fortfaͤhrt, die „désolante appari¬
tion” zu beſchreiben, ſo folgt er lediglich einer dichte¬
riſchen Einbildung. Niemand hat die ungluͤckliche Fuͤrſtin
als ſchon gerettete außerhalb des Saales geſehen oder
geſprochen, Niemand ſie in denſelben zuruͤckkehren geſehen.
Eine ſolche Ruͤckkehr waͤre ſogar eine voͤllige Unmoͤglich¬
keit geweſen. In der erſten Zeit wuͤrde der entgegen¬
ſtuͤrzende Menſchenſtrom es verhindert haben, und gleich
nachher, ehe dieſer noch ganz verſiegt war, die unge¬
heure Gluth ſelber, welcher ihn jagte und ſchon ereilte,
und unmittelbar ſeine Stelle einnahm. Dieſe Gluth
wurde in wenigen Minuten ſo heftig, daß man dem
brennenden Eingange, wie ich als Augenzeuge, der
ſelber das Aeußerſte hierin verſucht, betheuern darf,
[281] auf zehn Schritte nicht ohne die Gefahr nahen konnte,
in dem verſengenden Anhauche des toͤdtlichen Qualms
niederzuſtuͤrzen, ja ſelbſt der Blick vermochte in dieſes
Meer von Flammen und Rauch nicht mehr einzudrin¬
gen, und die erwaͤhnten Darſtellungen, ſo wie jede
kuͤnftige, ſind nach dieſen verbuͤrgten Angaben zu berich¬
tigen. Von dem Schickſale der Fuͤrſtin hatte man
anfangs noch keine ſo ſchlimme Vermuthung, man durfte
ſie gerettet hoffen, ſie konnte mit andern Perſonen
weggefahren, ſie konnte ohnmaͤchtig irgendwo im Gar¬
ten hingeſunken, oder unerkannt in einem der Nachbar¬
haͤuſer aufgenommen ſein; man hoͤrte nicht auf, ſie zu
ſuchen, zu erforſchen, und der ungluͤckliche Fuͤrſt Joſeph
erſchoͤpfte ſich in thaͤtiger Nachfrage, in Sendungen und
Verſprechungen.
Mittlerweile waren Saal und Galerie voͤllig nieder¬
gebrannt, und ungeachtet die Feuerſpritzen ſchon eine
Weile thaͤtig wirkten, hatte die Flamme doch das Hotel
ſelbſt ergriffen, und drohte auch dieſes in Aſche zu legen.
Das Archiv gerieth zuerſt in Gefahr, es zu retten war
die groͤßte Anſtrengung noͤthig; alle Oeſterreicher legten
Hand an, Waſſer zu tragen, Geraͤthe fortzuſchaffen,
Haken und Aexte, wo es noͤthig, anzuwenden. Man
warf Hut und Degen ab, ſelbſt die Uniform, die in
der Hitze nur laͤſtig, und wie die ganze Bekleidung,
durch Brand, Waſſer und Arbeit ſchon vielfach beſchaͤ¬
digt war.
[282]
Die Fremden hatten ſich groͤßtentheils verzogen;
nur noch die naͤheren Angehoͤrigen und einige vertraute
Bekannte des Hauſes, ſowie mehrere franzoͤſiſche amtliche
Perſonen arbeiteten und forſchten noch immer auf dem
Schauplatze ſo großen Unheils und Jammers. Anſtatt der
geſchmuͤckten und frohen Gaͤſte fuͤllten kaiſerliche Garde¬
ſoldaten, durch herbeigeeilte Verſtaͤrkung wohl gegen
tauſend Mann betragend, den Hof, die Saͤle und den
Garten, und dieſer neue ernſtpraͤchtige Anblick ergriff
das Gemuͤth durch den Kontraſt mit eigenthuͤmlicher
Macht. Ein noch ſtaͤrkerer Eindruck ſtand bevor.
Der Kaiſer hatte die Kaiſerin nur bis zu ihrem
Wagengefolge gebracht, das zur Ruͤckfahrt nach St. Cloud
in den elyſaͤiſchen Feldern ihrer harrte, und war dann
nebſt einem Adjutanten ſtracks zuruͤckgekehrt. Unver¬
muthet trat er hervor im grauen Ueberrock, und ſein
Erſcheinen verbreitete Ernſt und Schweigen. Er hieß
alle vorhandene Fremden ſogleich den Platz raͤumen,
befahl die Zugaͤnge uͤberall zu beſetzen, und ordnete
ſelbſt die Anſtalten gegen das noch nicht voͤllig bezwun¬
gene Feuer; der Waſſerſtrahl einer Spritze ſoll ihn hie¬
bei unverſehens getroffen und faſt umgeworfen haben,
ohne daß er ſich dadurch ſtoͤren ließ. Die Erkundigun¬
gen uͤber die Beſchaͤdigten brachten nunmehr bald eine
zuverlaͤſſige Ueberſicht zuwege, die Nachforſchungen wegen
der noch ſtets vermißten Fuͤrſtin wurde mit durchgrei¬
fender Macht betrieben. Zugleich ging ein furchtbares
[283] Gericht uͤber die Anſtalten und die dabei betheiligten
Behoͤrden. Der Polizeipraͤfekt von Paris, Graf Dubois,
hatte einen harten Stand, er ſollte Alles wiſſen, Allem
vorgeſehen haben, von Allem Rechenſchaft geben; die
rauhe Strenge Napoleons beeiferte den geſchmeidigen
Diener nur zu erhoͤhter Thaͤtigkeit, er entſchuldigte ſich
nur leiſe, wandte ſich nach allen Seiten, ordnend, bittend,
fragend, jeden Augenblick zu dem Kaiſer zuruͤckeilend,
und ihm die inzwiſchen angehaͤuften neuen Vorwuͤrfe
und anfahrenden Worte demuͤthig abnehmend. Am
ſchlimmſten erging es dem Anfuͤhrer der Spritzenleute.
Der General, Graf Hulin, der ſeinen Eifer zeigen und
auch wohl zu eignem Beſten den Zornausbruͤchen des
Kaiſers einen Gegenſtand anweiſen wollte, ſtuͤrmte mit
brutaler Gewalt auf den armen Mann los, ſtieß ihn
mit der Fauſt mehrmals vor die Bruſt und trat mit
dem Fuße nach dem Zuruͤcktaumelnden, unter heftigen
Vorwuͤrfen und Schimpfreden; Napoleon ſah ſtreng
und blitzend in einiger Entfernung zu. Der Auftritt
endete mit Verhaftung und Hinwegfuͤhrung des Spritzen¬
meiſters, der nach langer Gefaͤngnißſtrafe ſchimpflich aus
dem Dienſt entlaſſen wurde. Von einiger Schuld der
Fahrlaͤſſigkeit mag er, wie der Herzog von Rovigo
behauptet, nicht freizuſprechen geweſen ſein, die Huͤlfe
war nicht ſchlagfertig, nicht im erſten Augenblicke wirk¬
ſam, allein es gab damals viele Stimmen, die ihn
entſchuldigten, und allgemein war die Ueberzeugung,
[284] daß ſchon bei dem Austritte des Kaiſers aus dem
Saale, — und vorher konnte keine Spritze auf dem
Platze, ja kaum gerufen ſein, — keine Macht der
Loͤſchanſtalten das brennende Gebaͤude koͤnnte gerettet
haben.
Indeſſen wurden die Bemuͤhungen, uͤber das Ge¬
ſchick der vermißten Fuͤrſtin Auskunft zu erlangen, heftig
und angſtvoll fortgeſetzt. Die vornehmen Hof- und
Staatsdiener Napoleons flogen hin und her, die Boten
eilten nach allen Richtungen und kamen wieder, immer
fruchtlos, nirgends war eine Spur der Geretteten ſo
wenig als der Verungluͤckten zu finden. Alle Wohnun¬
gen der Freunde und Bekannten waren beſchickt, die
ganze Nachbarſchaft, jeder Winkel des Gartens, und
auch die noch ſpruͤhende Brandſtaͤtte ſo viel als moͤglich
durchſucht; Alles umſonſt. Ein Bild des troſtloſeſten
Jammers irrte der ungluͤckliche Fuͤrſt umher, bald in
den Gartengaͤngen, bald in den Saͤlen erſcheinend, die
koͤrperliche Erſchoͤpfung ließ ihn faſt ſchon zuſammen¬
ſinken, waͤhrend die Qual des Gemuͤths ihn zu immer
neuen Anſtrengungen aufregte. Man ſuchte ihn fortzu¬
bringen, zu beruhigen, aber nichts wirkte auf ihn, auch
die Gegenwart und Anrede des Kaiſers glitten ſtumpf
an dieſer ſtarren Verzweiflung ab.
Napoleon, des fruchtloſen Daſeins uͤberdruͤſſig, und,
nachdem das Feuer bis auf einzelne Gluthſtellen bezwun¬
gen worden, ſchon ohne Gegenſtand perſoͤnlicher Thaͤ¬
[285] tigkeit, kehrte nach St. Cloud zuruͤck. Die Grenadiere
ſeiner Garde aber richteten ſich zum Uebernachten ein,
und ſelten mag ein Biwack ſo glaͤnzende und koͤſtliche
Bewirthung gefunden haben. Die fuͤr das Gaſtmahl
des Hofes beſtimmten Speiſen und Weine wurden ohne
vielen Unterſchied ausgetheilt.
Auch wir Andern, nach ſo vielfacher Arbeit und
Erregung endlich muͤßig und matt, von den aufein¬
ander gefolgten heftigen Eindruͤcken verſtoͤrt und uͤber¬
waͤltigt, mußten zuletzt Erholung und Staͤrkung ſuchen,
ſetzten uns zu den erſten den beſten der reichgedeckten
Tiſche, und genoſſen der vorhandnen Labung. Begierig
tauſchten wir jetzt unſre einzelnen Wahrnehmungen und
Vermuthungen aus, hier erlaͤuterten ſich die mannig¬
fachen Umſtaͤnde, ergaͤnzten ſich die getheilten Anſchauun¬
gen, ſtellte ſich allmaͤhlig einiger Zuſammenhang auf;
man hatte ſo vieles zu fragen, ſo vieles zu berichten,
allein Schrecken und Beſorgniß wogten noch immer
auf und nieder, und bei ſo vielem Ungluͤck, das man
wußte, blieben noch unruhige Zweifel und bange Ahndun¬
gen genug.
Das Gewitter, welches ſchon lange am Himmel
geſtanden, brach jetzt als ein grauſenvolles Zwiſchenſpiel
hervor, graͤßliche Blitze entzuͤndeten den Himmel, furcht¬
bare Donner folgten Schlag auf Schlag, die Gebaͤude
erzitterten, der Regen rauſchte in Stroͤmen nieder, und
[286] die letzten Gluthen des Brandes wurden erſt durch ihn
geloͤſcht.
Als nach kurzem Austoben die Gewitternacht ſich
wieder zertheilte, ſah zwiſchen den ſchweren Wolken
ſchon die Tageshelle durch, und die Unruhe trieb uns
neuerdings auf, die ſo eben durchlebten Ereigniſſe,
welche, wie ein verworrener Traum, nicht faßbar noch
verſcheuchbar auf der Seele lagen, in ihren daliegenden
Ueberbleibſeln zu unterſuchen, zu betrachten. Wir waren
nur noch wenige Maͤnner, und vereinzelten uns bald
in ſchweigendem Umherwandeln. Ich betrat die Brand¬
ſtaͤtte, ein duͤſtres Angehaͤuf von Schutt und Wuſt;
verkohlte Balken, zertruͤmmerte Mauerſteine, Geraͤth
und Scherben durcheinander geworfen, in den zufaͤlligen
Tiefluͤcken ſchmutzige Waſſerpfuhle zuſammengeſtockt.
Man fand Theile von Kronleuchtern, zerkruͤmmte Degen,
Armbaͤnder und andern Schmuck, den die Gluth faſt
unkenntlich gemacht. Nicht weit von mir ſtiegen Graf
Hulin und Dr. Gall forſchend uͤber die Truͤmmer hin.
Auf einmal bleibt Hulin ſtehen, ſieht ſtarr vor ſich
hinab, und ich hoͤre die halblaut gerufenen Worte:
„Doctor Gall, kommen Sie hierher, hier iſt ein menſch¬
licher Koͤrper!“ Ich gedenke noch mit Schauder des
furchtbar eindringenden Tones, den dieſe Worte hatten;
jeder Nerv wurde erſchuͤttert, die Bruſt mit Angſt
erfuͤllt. Gall trat hinzu, ich war der Dritte, wir
mieden jedes Geraͤuſch und ſuchten uns im Stillen des
[287] gefundenen Anblicks zu vergewiſſern; erſt nach und nach
wurde er unſern Augen deutlich. Von Balken und
Kohlen halbverdeckt lag in der Tiefe ein ſchwarzge¬
brannter, eingeſchrumpfter Leichnam, ganz unkenntlich,
die menſchliche Geſtalt in dieſer Zerruͤttung nur mit
Huͤlfe der Einbildungskraft herauszufinden. Die eine
Bruſt nur, welche zufaͤllig im angeſammelten Waſſer
zu liegen gekommen war, hatte ſich erhalten, und ihre
friſche Weiße ſtach graͤßlich gegen die uͤbrigen mumien¬
ſchwarzen Koͤrpertheile ab. Von Jugend auf nicht
ungewohnt ſolcher Zerſtoͤrungsanblicke, ſtieß doch dieſer
mein Auge unwillkuͤrlich zuruͤck. Gall ſtieg in die Ver¬
tiefung hinab und glaubte die Fuͤrſtin von Schwarzen¬
berg zu erkennen; ein paar Ringe und ein Halsband
fanden ſich an dem Koͤrper, ſie wurden dem Botſchafter
gebracht, der unfern im Garten mit einigen Begleitern
umherging, und es blieb kein Zweifel mehr, das Hals¬
band fuͤhrte die Namenszuͤge ihrer Kinder; ſie hatte
deren acht, ein neuntes, noch nicht geboren, theilte
ihren Tod. In dieſem Augenblicke der ſich entfaltenden
Gewißheit entſank Allen der Muth, tiefe Trauer ſenkte
jedes Haupt, Thraͤnen entquollen dem Auge. Ein paar
ſtarke Gewitterſchlaͤge, die letzten, erſchuͤtterten gleich¬
zeitig die Atmoſphaͤre, und ein betaͤubender Donner
hallte lange nach.
Jetzt war die Sorge, dem Fuͤrſten Joſeph von
Schwarzenberg ſein Ungluͤck beizubringen, und zu gleicher
[288] Zeit die noͤthige Vorkehr in Betreff der Leiche gehoͤrig
anzuordnen. Der Ort und die Umſtaͤnde ihrer Lage
gaben wenigſtens die troͤſtliche Vermuthung, daß die
Ungluͤckliche nicht lebendig verbrannt ſei. Wahrſcheinlich
hatte ſie, abgeſchnitten von dem Hauptausgange, oder
das dort ſtockende Gedraͤnge zu meiden wuͤnſchend, den
Nebenausgang in das Innere des Hotels zu gewinnen
geſucht, war unterwegs gefallen, durch Rauch erſtickt
und erſt nachher durch die Flammen ſelbſt ergriffen
worden, mit dem einſtuͤrzenden Bretterboden aber in
jene Waſſertiefung hinabgeſunken.
Wir verließen nunmehr den Ort der Zerſtoͤrung
und des Jammers; doch an Schlaf und Ruhe war
nirgends zu denken, die furchtbarſten Traumbilder
ſchreckten das hinſinkende Haupt ſchnell wieder zum
wachen Anſchauen der Wirklichkeit auf, und in den
Straßen, welche durch das Ereigniß der Nacht nur um
ſo volkreicher belebt waren, zeigte der Morgen ſchon
ſeine volle Thaͤtigkeit.
Ganz Paris war durch Schrecken und Neugier
in unruhige Bewegung verſetzt. Die Nachricht von
dem Brande, durch den Glutſchein unmittelbar ver¬
kuͤndet, hatte ſich mit Schnelligkeit weithin ausgebreitet.
Man vermuthete Anſchlaͤge gegen das Leben des Kaiſers,
den Ausbruch irgend einer großen Verſchwoͤrung, Un¬
gewißheit jeder Art ſpannte die Gemuͤther. Der Ver¬
dacht, daß das Feuer angelegt geweſen ſei, daß die
[289] Feinde des Kaiſers, innere und aͤußere, durch einen
kuͤhnen Streich ſich des verhaßten Herrſchers, ſeiner
Familie und ſeiner anhaͤnglichſten Diener entledigen
gewollt, beſtand einen Augenblick allgemein, ſtreifte
wenigſtens die Vorſtellung der meiſten Franzoſen, und
war bei manchen auch ſpaͤterhin nicht leicht auszutilgen,
die dawiderlaufenden Berichte und Zeugniſſe wurden
zweifelnd angehoͤrt; erſt am dritten Tage erſchien der
ausfuͤhrliche Bericht im Moniteur, deſſen abſichtsvolle
Faſſung wiederum nicht ganz befriedigte. Doch konnte
gegen die Uebereinſtimmung ſo vieler Augenzeugen und
gegen den ſtarken Beweis, welcher in Napoleons
fortgeſetztem Benehmen lag, kein grundloſer Wahn
ſich halten, und zuletzt mußte in Frankreich wie im
Auslande die verbuͤrgte Wahrheit doch den Sieg be¬
haupten.
Nun folgte eine Reihe trauriger Tage, in denen
man faſt nur in dem Ruͤckblick auf die allbeſprochene
Begebenheit und in den duͤſtern Nachwirkungen der¬
ſelben fortlebte. Die Beſtattung der Fuͤrſtin Pauline
von Schwarzenberg wurde mit herkoͤmmlichem Trauer¬
prunke feierlich vollbracht. Dann kamen hintereinander
die Leichenbegaͤngniſſe der Fuͤrſtin von der Leyen, der
Generalin Touzard und noch mehrerer andern Frauen
hohen Standes, die nach ſchrecklichen Leiden im Ver¬
laufe der naͤchſten Tage oder Wochen an ihren Brand¬
II 19[290] wunden ſtarben; im Ganzen waren uͤber zwanzig Per¬
ſonen verungluͤckt, mehr oder minder beſchaͤdigt uͤber
ſechzig. Die junge Fuͤrſtin von Schwarzenberg, der
Mutter gleichnamig, und nur kaum dem Loos entriſſen,
das der ungluͤcklichen geworden, lag an den empfan¬
genen Verletzungen viele Wochen danieder, waͤhrend
deren man fuͤr ihr Leben beſorgt war; auch das Wieder¬
aufkommen des ruſſiſchen Botſchafters Fuͤrſten Kurakin
blieb noch lange zweifelhaft. Sehr bedeutend war von
allen Seiten der Verluſt an Koſtbarkeiten; man ſchaͤtzte
ihn auf ein paar Millionen; der oͤſterreichiſche Bot¬
ſchafter trug neben ſeiner eignen großen Einbuße auch
die vieler andern Perſonen, denen er das Verlorne
oder Beſchaͤdigte erſetzte.
Ein tiefer und unheilvoller Eindruck des ganzen
Ereigniſſes war unverkennbar. Er ſetzte ſich unwider¬
ſtehlich in Gemuͤth und Einbildungskraft feſt, und wie¬
wohl man von obenher Alles anwandte, um ihn herab¬
zuſtimmen und auszuloͤſchen, ſo erhob er ſich doch in
duͤſtren Weiſſagungen, welche auf die Ungluͤcksfaͤlle bei
Vermaͤhlung der oͤſterreichiſchen Erzherzogin Marie An¬
toinette und des franzoͤſiſchen Dauphins, nachherigen
Koͤnigs Ludwigs XVI., zuruͤckgingen, ſolche mit dem
ſpaͤteren jammervollen Ausgange des koͤniglichen Ehe¬
paars in Bezug ſetzten, und den neuſten Vorfall nur
zur Beſtaͤtigung dienen ließen, daß uͤber den Verbin¬
[291] dungen Frankreichs nach dieſer Seite ein warnendes
Verhaͤngniß ſchwebe. Die Folge der Begebenheiten
aber wollte dem aberglaͤubiſchen Wahne auch diesmal
zum Theil ein wenigſtens ſcheinbares Recht nicht fehlen
laſſen! —
19 ✷
Am Hofe Napoleons.
Paris, 1810.
Unſre Anweſenheit in Paris dauerte ſchon mehrere
Wochen, und noch immer fand keine diplomatiſche Au¬
dienz Statt. Endlich wurde dieſe angeſagt, und wir
ruͤſteten uns, dem Kaiſer Napoleon vorgeſtellt zu wer¬
den. Vorher fuͤhrte der Fuͤrſt von Schwarzenberg uns
noch zu einigen Großen des Hofes und Reichs, beſon¬
ders aber zu Berthier, dem Fuͤrſten von Neufchatel und
Wagram, wie er damals hieß. Wir fanden eine zahl¬
reiche Verſammlung, die Herren herumgehend und im
wechſelnden Geſpraͤch, dem man doch einige Behutſam¬
keit anmerkte, die Damen feierlich auf ihren Stuͤhlen,
und nicht ſehr lebhaft unterhalten. Der General Graf
von Neipperg, mein Oberſt, und ich, waren wie es
ſchien die einzigen Fremden, und man bemaͤchtigte ſich
unſer mit Beeiferung. Berthier war aͤußerſt freundlich,
er hatte ein gutmuͤthiges, zuvorkommendes Weſen, und
die Art Ruhe, welche mit großer Tuͤchtigkeit ſich immer
[293] gern verbindet. Mir hat er ſehr gefallen, und ich
konnte die Meinung, welche ſchon damals ihm alle
hoͤhere Faͤhigkeiten abſprechen wollte, gar nicht gelten
laſſen. Kraft, Sicherheit und Erfahrung ſprachen aus
ſeinem ernſten Geſicht, und was er ſagte, war lebendig
und klar. General Neipperg noͤthigte ihn zu einem
ziemlich ausfuͤhrlichen Geſpraͤch uͤber die Schlacht von
Marengo, und einige Einzelheiten derſelben wurden
eifrig durchgeſprochen. Berthier hatte dieſe Schlacht in
einer beſondern Druckſchrift geſchildert, aber mit großen
Irrthuͤmern, ſowohl in Verſchweigungen als in falſchen
Angaben, welche man faſt nur als abſichtliche anſpre¬
chen konnte, die Vorgaͤnge waren ſo geſtellt, wie die
ſpaͤtere Willensmeinung des Kaiſers ſie forderte; haupt¬
ſaͤchlich ging die Sage, dem in der Schlacht gebliebenen
General Deſaix ſei manches Verdienſtliche beigelegt
worden, welches noch Lebenden gebuͤhre, aber in dieſen
anzuerkennen und zu belohnen dem Sinne des Kaiſers
nicht genehm ſei. Dem kundigen Neipperg gegenuͤber
hatte Berthier einen harten Stand, doch fuͤhrte er ſeine
Sache gut, wußte immer neue Thatſachen und Gruͤnde
anzufuͤhren, und wie damals, ungeachtet der Vortheile
der Oeſterreicher, der Sieg dennoch den Franzoſen zufiel,
ſo blieb hier auch im Geſpraͤch Berthier, ungeachtet der
Gegner gewiß groͤßeres Recht hatte, im Vortheil. Als
darauf hingedeutet wurde, wie zweifelhaft noch ganz
zuletzt, da Deſaix ſchon gefallen war, die Sachen geſtan¬
[294] den, und wie Bonaparte ſelber noch unſicher mißtraut
habe, meinte Berthier, darin habe der Feldherr ganz
Recht gehabt, wenn auch der Sieg ihm bereits errun¬
gen gedaͤucht, und fuͤgte nachdruͤcklich hinzu: „C'est
toujours après les succès que je crains le plus dans
la guerre, et rien de si dangereux que le commen¬
cement d'une victoire.“ Die Ankunft mehrerer Da¬
men ſtoͤrte die Unterredung, Berthier ging jene zu
begruͤßen, und that es mit vieler Anmuth.
Man ruͤhmte Berthier, daß er, ungeachtet ſeiner
fuͤrſtlichen Hofhaltung und großen Reichthums, in ſei¬
nem Benehmen ſchlicht und in ſeinen Anſpruͤchen maͤßig
geblieben ſei, noch immer den alten Ton mit ſeinen
Kriegsgenoſſen habe, und fuͤr den Kaiſer wohl die treuſte
Anhaͤnglichkeit, doch keineswegs den hoͤfiſchen Dienſteifer
zeige, den ſo viele Andre, und namentlich Davouſt,
auf die alleruntergebenſte Weiſe an den Tag legten.
Von Bernadotte hingegen erzaͤhlte man, daß er mit der
ihm eignen Froͤhlichkeit laut uͤber das Hofweſen ſpotte,
den Kaiſer in ſeiner angenommenen Scheinwuͤrde laͤcher¬
lich finde, ſich ſelber noch immer zu republikaniſchen
Grundſaͤtzen bekenne, und ſeiner Fuͤrſtenwuͤrde ungeach¬
tet mit den alten Waffengefaͤhrten ganz auf bruͤderliche
Art umgehe.
Berthier hatte uns freundlich gefragt, wie wir uns
in Paris vergnuͤgten, ob wir die Kunſtſammlungen
ſchon alle beſucht haͤtten, und davon nahm ein aͤltlicher
[295] franzoͤſiſcher General, deſſen Namen ich nicht erfahren
konnte, die Gelegenheit uͤber das Muſée Napoléon zu
ſprechen, wobei er ſeine Verwunderung bezeigte, nur
ſo wenige der eroberten Kunſtwerke in Paris zu ſehen,
denn er habe in den fremden Laͤndern, ſagte er, wohl
dreimal ſo viel einpacken ſehen, zwiſchen dem Abſchicken
und Ankommen aber ſcheine ein großer Theil einzu¬
ſchwinden. Wie nachlaͤſſig man uͤberhaupt mit dem
Weggeſchleppten umging, davon kann folgendes Beiſpiel
genuͤgen. Napoleon hatte das preußiſche Siegesdenkmal
auf dem Schlachtfelde von Roßbach wegnehmen und
nach Frankreich abfuͤhren laſſen; daſſelbe war ohne Kunſt¬
werth, eine ſchlichte Saͤule von Sandſtein, aber durch
ſeine Bedeutung dem franzoͤſiſchen Kriegsruhm ein un¬
ſchaͤtzbarer Beſitz. Gleichwohl verlor ſich dieſe Saͤule,
und als man nach geſchloſſenem Frieden Muße fand an
ihre Aufſtellung zu denken, war ſie nirgends zu finden.
Der Kaiſer tobte, man erkundigte ſich unter der Hand,
unter andern auch bei Chamiſſo, wie ſie denn wohl
ausgeſehen habe, und war nahe daran, eine falſche
unterzuſchieben. Endlich fand ſich doch die rechte unver¬
hofft in Breſt wieder, und man wußte nicht, wie ſie
dorthin gerathen ſei. Sie ſteht jetzt, durch die Tapfer¬
keit der Preußen wieder erobert, als zweifaches Sieges¬
denkmal auf ihrem urſpruͤnglichen Ort.
Bei Berthier ſah ich auch Denon wieder, der aber
mit all ſeiner Freundlichkeit nur einen widrigen Eindruck
[296] machte, und in ſeinem habit habillè mit Stahldegen
und Spitzemanſchetten einem geputzten Affen gleich ſah.
Auch ein ehemaliger Adjutant des Kaiſers, und jetziger
Kammerherr, den ich in Wien als Militair ſehr huͤbſch
gefunden, nahm ſich in ſeinem rothen geſtickten Hofrocke
ganz vertrackt aus. Damit die Geſellſchaft noch bunter
wuͤrde, kamen auch zwei Geiſtliche in rothen Struͤmpfen,
und ſchienen ſich des bischen Lebens, das an dieſer
Staͤtte der Revolution ihnen wieder zugefloſſen war,
gar ſehr zu freuen. Berthier hatte ſich mittlerweile in
ein Nebenzimmer entfernt, und die Geſellſchaft war
entlaſſen. Als die Geiſtlichen weggingen, fluͤſterte mir
der eine, — es war der Kardinal Maury — im Vor¬
beiſtreichen die Worte bedeutend in's Ohr: „Nous avons
beaucoup de joie de vous voir ici!“ Ich ſah ihm
erſtaunt nach; was er laut und oͤffentlich als eine gewoͤhn¬
liche Artigkeit haͤtte ſagen koͤnnen, ſagt er mit heimlicher
Freude, und mir? Es bezog ſich aber wohl auf den
Umſtand, daß von oͤſterreichiſcher Seite ganz kuͤrzlich
die dringendſten Verwendungen fuͤr den Pabſt geſchehen
waren.
Am Sonntage den 22. Juli war ſeit dem Brand¬
ungluͤck wieder die erſte Audienz des Kaiſers, und man
verhieß, ſie wuͤrde ungemein feierlich und praͤchtig ſein.
In Berlin hatte ich Napoleon oftmal unvermuthet und
ungeſucht geſehen, auch in Wien und Schoͤnbrunn noch¬
mals, aber ſtets in zu großer Entfernung, als daß es
[297] ein beſtimmter Eindruck haͤtte werden koͤnnen. Bei dem
Feſte des Fuͤrſten von Schwarzenberg hatte ſich mir
der Anblick des Mannes in dem Sturme der entſetz¬
lichen Vorgaͤnge, welche dieſes Feſt unterbrachen, wieder
verdunkelt. Ich nehme daher an, daß ich ihn zuerſt
an dem Tage geſehen, wo ich ihn recht geſehen, nah
und bequem, und hinreichend lange, an dem Tage jener
Vorſtellung. Die haͤufige Gelegenheit, die ſich mir ſeit¬
dem erneute, in den Tuilerien und in Saint-Cloud,
— an letzterem Orte beſonders bei den herrlichen, nur
fuͤr den Kaiſer und ſeine Hofgaͤſte beſtimmten Buͤhnen¬
darſtellungen, wo Talma, Fleury und die Raucourt
glaͤnzten, — diente nur dazu, jenen Haupteindruck zu
befeſtigen und gleichſam auszuarbeiten.
Wir waren nach den Tuilerien gefahren und kamen
durch ein großes Gedraͤnge von Garden und Volk in
ein Gemach, von welchem ich unter dem Namen der
Salle des ambassadeurs ſchon gehoͤrt hatte. Die Art,
wie hier in dem engen, uͤbelverzierten Pferch ſo viele
erlauchte Perſonen dicht zuſammengedraͤngt ſtanden, hatte
etwas laͤcherlich Beleidigendes, woran die Scherze der
Pariſer ſich gar zu gern uͤbten. Die reichſten Uniformen
und Staatskleider arbeiteten ſich mit Muͤhe und Sorge
durcheinander hin und her, von Kaiſerlichen Livreen
untermiſcht, die im Gedraͤnge Erfriſchungen ausriefen,
und durch die nahe Gefahr immer ihre Naͤchſten in allen
Bewegungen gleichſam ſuſpendirten. Das Geſpraͤch war
[298] laut und lebhaft von allen Seiten, man ſuchte Bekannte,
beſſern Platz, groͤßere Helle. Eine feierliche Stimmung,
eine wuͤrdige Spannung ſchien Allen fremd, und was
man mitzubringen nicht vermochte, war nichts vermoͤ¬
gend hier zu erregen. Der ganze Anblick hatte etwas
Fatales, man befand ſich ſchlecht, und wartete verdroſſen.
Mit beſonderem Wohlgefallen jedoch verweilte mein Auge
auf den Mitgliedern der oͤſterreichiſchen Botſchaft, deren
Haltung und Betragen nicht die Wuͤrde verlaͤugnete,
die dem alten Kaiſerhauſe gebuͤhrte. Beſonders hatte
der Fuͤrſt Schwarzenberg ein ſtattliches Anſehen, ſeine
Ruhe war ohne Laͤſſigkeit, ſein Ernſt ohne angenommenes
Gewicht, und eine rechtſchaffene Guͤte lag in dem Aus¬
druck ſeines ganzen Weſens, das ſich auf dieſe Art vor¬
theilhaft unterſchied von der laͤchelnden Salonbetrieb¬
ſamkeit, der hofmaͤnniſchen Spannung, und der welt¬
maͤnniſchen Nichtigkeit, die aus dem Weſen ſo vieler
Andern, die ihre Stellung an dieſem Hofe nicht erkann¬
ten, und kein Gefuͤhl ihres Verhaͤltniſſes hatten, widrig
hervorblickten. Dies galt beſonders von den Perſonen,
welche von der Zeit mit fortgeriſſen und doch von ihr
vergeſſen waren, wie dies bei ſo vielen Hofleuten der
neuen Hoͤfe der Fall ſein mußte. Wenn dieſe Leute,
die vornehmſten und gewandteſten, die in ſo vielen und
weiten Kreiſen zu finden waren, wenn dieſe hier ſo
unbedeutend und leer daſtehen, wenn ſie hier nicht glaͤnzen,
in ihren Edelſteinen, Stickereien und Kreuzen, im Gefuͤhl
[299] aller Auszeichnung, in der Anerkennung aller ihrer An¬
ſpruͤche, hier, wo einer der Augenblicke iſt, zu denen ſie
erzogen, auf welche alle ihrer Thaͤtigkeit, ihre Einrich¬
tung und Gewoͤhnung von Jugend auf gewandt worden,
was ſollen ſie denn im Rathe des Fuͤrſten, in des Lan¬
des hoͤchſten Verwaltungsſtellen, im Angeſicht des Heeres
ſein, lauter Dinge, die ſie nie ſo ernſtlich bedacht und
geuͤbt haben, als die Vortheile geſellſchaftlicher Erſchei¬
nung? Mich ergriffen dieſe Betrachtungen um ſo leb¬
hafter, als man gewohnt war, in oͤffentlichen Berichten,
namentlich von den franzoͤſiſchen Hoͤfen, als von dem
Wohnſitze der Wuͤrde, der Feierlichkeit und imponiren¬
den Groͤße zu reden, da man doch faſt nur Unordnung,
Armſeligkeit und Laͤcherlichkeit fand.
Endlich erſchien die Zeit, zur Audienz hinaufzugehen;
auf die erſte Ankuͤndigung davon ſtuͤrzte alles ordnungs¬
los gegen die Thuͤre, man draͤngte ſich, ſtieß und ſchob
den Nachbar ohne Umſtaͤnde. Kammerherren, Pagen
und Garden fuͤllten die Gaͤnge und Vorzimmer; unruhige
Geſchaͤftigkeit zog auch hier die Augen auf ſich, und die
Soldaten ſchienen die einzigen, die ſich mit einiger Sicher¬
heit in ihrem Dienſte zu benehmen wußten, was ſie
freilich auch nicht am Hofe, ſondern von ihren Feld¬
webeln gelernt hatten.
Nachdem man im Audienzſaale einen Halbkreis ge¬
bildet, und ſich in mehrere gedraͤngte Reihen geſtellt
hatte, kuͤndigte bald der Ruf: l'Empereur! die Erſchei¬
[300] nung Napoleons an, der von der hintern Seite des
Saales hereintrat. In einfacher blauer Uniform, ſeinen
kleinen Hut unter dem Arm, ging er ſchwerfaͤllig auf
uns zu. Seine Haltung druͤckte den Widerſtreit eines
Willens aus, der etwas erreichen moͤchte, und eine
Verachtung derjenigen, bei welchen es erreicht werden
ſoll. Ein guͤnſtiges Erſcheinen waͤre ihm wohl lieb
geweſen, und doch ſchien es ihm nicht recht der Muͤhe
werth, der Muͤhe, die er ſich darum geben ſollte, denn
von Natur hatte er es wahrlich nicht. Daher Nach¬
laͤſſigkeit und Abſicht abwechſelnd in ihm hervortraten,
und nur in Unruhe und Mißbehagen zuſammenfloſſen.
Er wandte ſich zuerſt an die oͤſterreichiſche Botſchaft,
welche die eine Spitze des Halbkreiſes einnahm. Die
Folgen des ungluͤcklichen Feſtes waren Anlaß mancher
Fragen und Bemerkungen. Der Kaiſer wollte theil¬
nehmend erſcheinen, er brauchte ſogar Worte der Ruͤh¬
rung; doch gelang ihm dieſer Ton keineswegs, und er
ließ ihn auch bald wieder fallen. Fuͤr den ruſſiſchen
Botſchafter Kurakin hatte er ſchon minder freundlichen
Ausdruck, und im weiteren Fortſchreiten mußte ihn
irgend ein Anblick oder Gedanke heftig aufreizen, denn
er gerieth in furchtbaren Aerger, fuhr gegen einen der
Anweſenden, der nicht zu den bedeutendſten gehoͤrte und
deſſen Namen mir nicht mehr erinnerlich iſt, ſchrecklich
los, war mit allen Antworten unzufrieden und forderte
immer neue, ſchalt und drohte, und hielt den armen
[301] Menſchen eine geraume Zeit in qualvoller Vernichtung.
Die naͤhergeſtandenen Zeugen, welche nicht ohne eigne
Angſt dieſen Auftritt mitanſahen, betheuerten nachher,
es ſei gar keine Urſache zu ſolchem Grimm geweſen,
der Kaiſer habe nur Gelegenheit geſucht, ſeine uͤble
Laune auszulaſſen, und er thue dies ſogar abſichtlich
an ſolchem armen Wichte, damit alle Andern in Schrecken
geſetzt und jeder Trotz im voraus unterwuͤrfig geſtimmt
wuͤrde.
Als er weiterging, ſuchte er wieder gemaͤßigter zu
reden, allein ſeine Mißſtimmung klang noch immer
durch. Er ſprach kurz, haſtig, hingeworfen, die gleich¬
guͤltigſten Sachen mit einer leidenſchaftlichen Schnelle,
ja wenn er guͤtig ſein wollte, klang es immer noch,
als ſei er zornig. Ich habe kaum eine ſo rohe, unge¬
zaͤhmte Stimme gehoͤrt, als die ſeinige.
Seine Augen waren dunkel umwoͤlbt, auf die Erde
vor ſich niedergeheftet, und ſtreiften nur ruckweiſe ſchnell
und ſcharf uͤber die Anweſenden hin. Wenn er laͤchelte,
ſo laͤchelte blos der Mund mit einem Theile der Backen,
unbeweglich finſter blieben Stirn und Augen. Zwang
er, wie ich ſpaͤterhin wohl geſehen habe, auch dieſe, ſo
bekam ſein Geſicht einen noch verzerrtern Ausdruck.
Dieſe Verbindung von Laͤcheln und Ernſt hatte etwas
furchtbar Abſchreckendes. Ich weiß nicht, was ich von
den Leuten denken ſoll, die in dieſem Geſicht Anmuth
und ſeine Freundlichkeit einnehmend gefunden haben.
[302] Waren doch ſeine Zuͤge, bei unlaͤugbarer plaſtiſchen
Schoͤnheit, wie Marmor hart und ſtreng, jedem Ver¬
trauen fremd, jeder Herzlichkeit unfaͤhig!
Was er ſprach, war immer, ſo oft ich ihn reden
hoͤrte, gering, ſowohl dem Inhalt als dem Wortaus¬
drucke nach, ohne Geiſt, ohne Witz, ohne Kraft, ja
bisweilen ganz gemein und laͤcherlich. Faber hat in
ſeinen Notices sur l'intérieur de la France ausfuͤhr¬
lich uͤber die Fragen geſprochen, welche Napoleon bei
vielen Gelegenheiten zu machen pflegte, und deren
Scharfſinn und Kunde ſo oft mit Unrecht geprieſen
worden, ich hatte damals das Buch noch nicht geleſen,
fand aber ſpaͤter alles darin beſtaͤtigt, was ich ſelbſt
geſehen und gehoͤrt hatte. Sein Fragen glich nicht
ſelten der Lektion eines Schulknaben, der, ſeiner Sache
nicht ganz gewiß, beſtaͤndig leiſe fuͤr ſich herſagt, was
er fuͤr den Augenblick des Gebrauchs ſonſt vergeſſen zu
haben fuͤrchtet. Dieſes iſt woͤrtlich wahr von einem Be¬
ſuche welchen Napoleon kurz vorher auf der großen
Bibliothek gemacht hatte, da er ſchon auf der Treppe
immerfort nach der klaſſiſchen Stelle im Joſephus ſchrie
wo dieſer von Jeſus ſpricht, und fuͤr diesmal kein andres
Anliegen zu haben ſchien, als dieſe ſeine wahrſcheinlich
eben erſt erlangte Kenntniß zu zeigen; es ſchien durch¬
aus, als habe er ſeine Frage auswendig gelernt. Einen
anſehnlichen Mann aus dem noͤrdlichen Deutſchland fragte
er, aus welchem Lande er ſei, und als dieſer die nah
[303] an Holland gelegene Gegend genannt hatte, rief Na¬
poleon im Weggehn halb trotzig und halb freudig: „Ah!
je sais bien, c'est du Nord, c'est de la Hollande!“
Nicht ſo gluͤcklich traf er es mit Lacepede in der Natu¬
ralienſammlung, dort ſah er die Giraffe fuͤr einen Vogel
an, und pries das langhalſige Thier als ſolchen ſogar
ſeiner Gemahlin, welche mit Lacepede uͤber den Irrthum
des Kaiſers ganz aͤngſtlich wurde, ſo daß dieſer, dadurch
aufmerkſam gemacht, in ſeiner Rede unwillig abbrach,
und außerordentlich mißvergnuͤgt davonging. Der klein¬
liche Eifer, mit dem Napoleon auch in dem Kreiſe der
geſelligen Mittheilung, der ihm ganz fremd iſt, bewun¬
dert zu ſein ſtrebt, war ſehr oft gradezu laͤcherlich, es
mißlang ihm hier alles in dem Grade, als ihm in andern
Dingen, zu unſem Ungluͤck, alles gelang. Er liebte
zwar eigentlich nur, den Menſchen etwas Beleidigendes
oder wenigſtens Unangenehmes zu ſagen, allein auch
dann, wenn er etwas anderes ſagen wollte, brachte
er es hoͤchſtens zum Unbedeutenden, und da traf es
ſich wohl einmal, daß er einer ganzen Reihe von Damen,
wie ich in Saint-Cloud ſelber mit anhoͤrte, zwanzig¬
mal nur immer daſſelbe Wort wiederholte: „Il fait
chaud.“
Wahr iſt es, man fuͤhrt ſehr kraͤftige Machtworte
von ihm an, und ſeine Befehle ſind meiſtens ſtreng und
kurz; allein ſelbſt darin iſt mehr die Macht bedeutend,
[304] und der Nachdruck der Worte kommt vom Kaiſer, nicht
vom Redner. Mehrere gluͤckliche Einfaͤlle, welche die
Herumtraͤger ſeines Hofes ihm zuzuſchreiben pflegten,
gehoͤrten Andern an, die ihr geiſtiges Eigenthum, das
der Kaiſer einſteckte, ehrfurchtsvoll verlaͤugneten. Sprach
er anhaltend, in groͤßerer Fuͤlle der Mittheilung, wie
er dies auch oft liebte, und ſich dann graͤnzenlos in
Redensarten erging, Thatſachen und Gruͤnde mit groͤßter
Gelaͤufigkeit aufeinander haͤufend, ſo vermißte man nur
allzuſehr Ordnung und Folge, Klarheit und Feſtigkeit
der Begriffe; nur ſeine Zwecke und Abſichten verlor er
dabei nicht aus dem Auge, wiewohl er dieſelben am
wenigſten durch ſeine Reden, ſondern ſichrer durch andre
Mittel, durch ſeine Ueberlegenheit als Feldherr und
durch das eiſerne Machtgebot ſeines Willens erreichte.
In dieſen Eigenſchaften iſt ſeine wahrhafte Groͤße, und
man braucht ihm keine andre anzudichten, um in ihm
ſtets einen der außerordentlichſten Menſchen zu ſehen,
welche jemals erſchienen ſind. Die Gabe ſchoͤner Rede
und anmuthigen Ausdrucks, deren Alexander, Caͤſar und
Friedrich theilhaft waren, hatte ſich Napoleons Eigen¬
genſchaften nicht geſellen koͤnnen, ſein Geiſt widerſprach
ihr, und noch mehr ſein Gemuͤth.
Deßhalb, weil er auf dieſem Gebiete gar keine
Waffen hatte, und nichts erwiedern konnte, war Napo¬
leon auch ſo uͤber alle Maßen empfindlich und aufge¬
[305] bracht, wenn irgend ein geiſtreiches, ſcharfes oder ſcherz¬
haftes Wort gegen ihn laut wurde, und ein ſpoͤttiſches
Lied, ein ſchmaͤhender Witz konnte ihn zu wahrer Wuth
bringen. In jener Zeit ging ein Lied auf ſeine zweite
Vermaͤhlung umher, das ganz im unterſten Volkston
gedichtet, doch ohne Zweifel ſeinen Urſprung in der
hoͤheren Klaſſe haben mußte. Der Kaiſer ſah ſeinen
Glanz und ſeine Macht durch ein gemeines Lied befleckt,
und ſchnaubte Rache; aber die Polizei wußte den Ver¬
faſſer ſo wenig als die Verbreiter zu entdecken. Auch
mir war daſſelbe durch die Stadtpoſt ohne Namen in
ſchlechter Abſchrift zugeſchickt worden, ich hatte mich mit
den vertrauteren Freunden heimlich an den luſtigen
Verſen ergoͤtzt, und konnte ſie ſchon auswendig herſagen.
Sehr ungelegen traten mir jetzt, als grade der Kaiſer
uͤbellaunig und finſter an mir voruͤberging, unwillkuͤrlich
Worte und Melodie jenes Liedes in den Sinn, und
jemehr ich ſie abweiſen wollte, deſto heftiger draͤngten
ſie ſich hervor, ſo daß die von der Spannung des Augen¬
blicks gereizte Einbildungskraft ſchon ſchwindelte, und
bei dem geringſten Anſtoß unvermeidlich in das toͤdt¬
lichſte Aergerniß ſtuͤrzen zu muͤſſen glaubte, — als
gluͤcklicherweiſe die Audienz ihr Ende erreichte, und wie¬
derholte tiefe Verbeugungen das Abtreten Napoleons
begleiteten, der an mich keines ſeiner Worte, ſondern
nur einen durchdringenden Blick gewendet hatte, mit
II. 20[306] deſſen Weiterſchweifen eine wirkliche Gefahr mir zu
ſchwinden ſchien.
Nach der Entfernung des Kaiſers athmete alles auf,
wie befreit und erloͤſt von einer ſchweren Laſt. All¬
maͤhlig wurde die Geſellſchaft auch wieder laut, und
ging dann voͤllig in die laͤrmende Unordnung, in die
draͤngende Eile uͤber, welche zu Anfang geherrſcht hatte.
Beſonders waren die franzoͤſiſchen Hoͤflinge bemuͤht, ihre
noch eben gehabte furchtſame und erſchrockne Haltung
durch nunmehrige Luſtigkeit wegzulaͤugnen, und noch
auf den Treppenſtufen, die wir hinabſtiegen, erſchallten
Ausbruͤche des Lachens und Witzelns uͤber den Hergang
der Audienz, deren Wuͤrde und Schrecken ſchon hier
aufhoͤrten.
Napoleons Perſoͤnlichkeit wirkte zauberhaft und maͤch¬
tig, wo er wirklich er ſelbſt war, an der Spitze der
Truppen, im Felde, wenn er kriegeriſche Anordnungen
traf, ſeine Machtgebote ergehen ließ. Wollte er aber
ihm Uneignes vorſtellen, beabſichtigte er Eindruͤcke, ſuchte
er in Gebieten zu gelten, die nicht die ſeinigen waren,
ſo gab er nur allzu leicht die ſchlimmſten Bloͤßen, und
bethoͤrte nur etwa Neulinge und Schwachſinnige. Die
Erinnerung an ihn und ſein im Geiſte der Nachlebenden
neuerſchaffenes Bild haben mehr Begeiſterung fuͤr ihn
erweckt, als ſeine Gegenwart es vermocht. Es klingt
unglaublich, iſt aber beſtimmt wahr, daß in Paris, bei
[307] aller Bewunderung und Furcht, welche der Kaiſer ein¬
floͤßte, doch weder im Volk, noch in den hoͤhern Klaſſen,
und am wenigſten in ſeiner gewohnten Umgebung, eine
eigentliche Verehrung fuͤr ihn, ein Glauben an ihn als
an ein hoͤheres Weſen beſtand; die Franzoſen, ſofern
ſie ihn als groß anerkannten, hielten ihn doch nur
fuͤr groß in dem, was ſie Alle zu leiſten ſich getrau¬
ten; ſie ſahen in ihm nicht andre, ſondern die gemei¬
nen, gaͤng und gaͤben Eigenſchaften, nur in ungemeinen
Maßen.
Den damals in Paris ſehr zahlreichen Deutſchen
muß ich es zur Ehre nachſagen, daß wenige von der
Erſcheinung Napoleons geblendet waren und ſeine Gunſt
oder Ungunſt hoͤher anſchlugen, als ihr nach lediglich
aͤußerer Waͤhrung zukam. Die juͤngeren Freunde, theils
von Haß gegen den Unterdruͤcker des Vaterlandes erfuͤllt,
theils gleichguͤltig abgewandt von Beziehungen, die ſie
nicht lenken noch ergreifen konnten, ſcherzten nur uͤber
den Vorzug, daß ich den Hof des Kaiſers beſuchte,
und beneideten mir ihn nicht. Insbeſondere war unter
den vielen Oeſterreichern meines Wiſſens keiner, welchen
der Schimmer des augenblicklichen Verhaͤltniſſes getaͤuſcht
oder befangen haͤtte. Die deutſche Ruhe, Gradheit und
Einfachheit erhielt ſich hier, wo ſo vieles verwirren
konnte, in beſonnenem und klarem Urtheil. Die in
dieſem Betreff Gleichgeſinnten hatten ſogar unter den
20 *[308] Augen des Maͤchtigen durch einen gemeinſamen Ring,
deſſen innere Zeichen ſeinen Sinn andeuteten, ſich zu
dem Bekenntniſſe vereinigt, daß ſie der in Napoleon
dargeſtellten Geſchickesmacht entgegenblickten, ohne ſich
ihr zu beugen, noch ihr zu erſtarren! —
Kritiken.
[[310]][[311]]Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Von
Goethe. Vierter Theil. Nemo contra deum
nisi deus ipse. Stuttgart und Tuͤbingen, Cotta,
1833. 12.
Ein Zeitraum von zwanzig Jahren liegt zwiſchen dem
Erſcheinen der fruͤheren Theile von Goethe’s Lebens¬
bekenntniſſen und der Herausgabe dieſes vierten, mit
welchem nun das Ganze leider ſchon ſich abſchließt.
Dieſe Zwiſchenzeit hat uns ſonſtige Mittheilungen aus
Goethe’s Leben, gehalt- und anmuthvolle Berichte von
Reiſen, Feldzuͤgen, litterariſchen und geſellſchaftlichen
Thaͤtigkeiten aller Art, reichlich zukommen laſſen; doch
konnte keine dieſer Gaben uns fuͤr den abgebrochenen
Erzaͤhlungsfaden ſchadlos halten, den wir ſo lange ver¬
gebens hofften in dem zuſammenhaͤngenden und ausge¬
arbeiteten Vortrage von Dichtung und Wahrheit
fortgefuͤhrt zu ſehen. Nun ſind dieſe Hoffnungen erfuͤllt,
und ſchoͤner und groͤßer, als wir es denken konnten;
dieſes kleine Baͤndchen, deſſen fuͤnf Buͤcher kaum die
Haͤlfte des Raums einnehmen, welchen die gleiche Zahl
[312] ſolcher Abtheilungen fruͤher abmaß, erweiſt ſich als ein
Juwel, das im geringſten Umfange den groͤßten Werth
zuſammenfaßt. Fruͤhere Worte, je das Erſcheinen der
einzelnen Theile dieſes Werkes nah begleitend, haben
die ſeltnen und eignen Vorzuͤge deſſelben fuͤr die damali¬
gen Leſer anzudeuten geſucht, und wenigſtens den heißen
Dank und Eifer ausgeſprochen, mit welchen der Eindruck
und Gewinn eines ſolchen Buches ein zuſtimmendes
Gemuͤth erfuͤllt hatte. Nach ſo langjaͤhriger Unterbre¬
chung vermag nun noch immer die naͤmliche Bericht¬
erſtattung, die dem ſchon weit entlegenen Anfange ſich
beigeſellte, auch den Schluß aufzunehmen, und wie der
große Zwiſchenraum den Sinn und die Geſtalt des
Autors noch unveraͤndert als dieſelben hervorgehen laͤßt,
ſo nimmt auch noch jetzt unveraͤndert derſelbe Antheil
und Eifer das Wort, und darf in dieſem Falle gleich
zuvoͤrderſt die Gunſt bemerklich machen, welche mit der
Treue der Geſinnungen hier zugleich die der aͤußerlichen
Umſtaͤnde ſo weithin hat bewahren moͤgen.
Ein kurzes Vorwort erinnert den Leſer an die Noth¬
wendigkeit, in welcher ſich der Autor bei ſeiner Betrach¬
tungsweiſe befindet, die Zeitfolge der aͤußerlichen Ereig¬
niſſe bisweilen einem hoͤheren Zuſammenhange der geiſti¬
gen Beſtandtheile unterzuordnen, und ſo macht er auch
gleich bemerklich, daß die hier fortgeſetzte Erzaͤhlung
nicht grade das Ende des vorigen Buches, ſondern viel¬
mehr deſſen Hauptfaͤden ſaͤmmtlich nach und nach wie¬
[313] der aufnehmen und weiterweben ſoll. Hierauf eroͤffnet
ſich der eigentliche Vortrag mit einem heiteren Blick
auf die gluͤcklichen Verhaͤltniſſe und Einfluͤſſe, welche
fuͤr den jungen Mann zuletzt dahin zuſammengewirkt,
nach manchen Kaͤmpfen und Zweifeln, einen aͤußeren
und inneren Frieden hervorzubringen. Solche Ruhe¬
punkte ſind die Hoͤhen, die Haftungs- und Kraͤftigungs¬
momente des Lebens, das aber ſeiner Natur nach in
ihnen am wenigſten zu weilen vermag, und ſo ſehen
wir auch hier dieſen Frieden, kaum angedeutet, ſogleich
wieder zu wachſender Bewegung uͤbergehen. Schon
das philoſophiſche Nachdenken, welches ſich den Buͤchern
und der Lehre des Spinoza widmet, und hiebei Be¬
ruhigung und Klarheit findet, vermag in dieſem Kreiſe
der Spekulation nicht lange auszudauern, ſondern eilt,
den Ertrag und die Geſtalten deſſelben dichteriſch anzu¬
wenden. Was hier uͤber Spinoza ſo ſchoͤn als tief aus
unmittelbarer Lebenserfahrung ausgeſprochen iſt, wird
fuͤr jede kuͤnftige Betrachtung dieſes gegen die Welt
in immer von Zeit zu Zeit erneutes Mißverſtaͤndniß
untertauchenden Philoſophen ein unverloͤſchbares, will¬
kommenes Licht bleiben, und darf einigermaßen dafuͤr
troͤſten, daß uns die Ausfuͤhrung des ſo reizend als
erhaben zu denkenden dichteriſchen Gebildes von einem
Beſuche des ewigen Juden bei Spinoza hat entgehen
muͤſſen. Die innige Verknuͤpfung, welche bei Goethe
alles und jedes mit ſeinem produktiven Talente hat,
[314] fuͤhrt ihn mit leichter Wendung aus den dunkeln und
ſchauerlichen Tiefen wieder auf die heitre Bahn ſeines
dichteriſchen Treibens, wo ſich aber auch ſogleich, durch
fremdes Eingreifen in ſein Autorrecht, durch unbefugtes
Herausgeben und Nachdrucken ſeiner Schriften, ein wider¬
waͤrtiger Zwieſpalt oͤffnet, den er zwar fuͤr diesmal
durch ein lieblich-kraͤftiges Gedicht wohlgemuth abthut,
deſſen Grund aber auch in der Folgezeit noch oft in
wechſelnden Mißverhaͤltniſſen ſtoͤrend fortgewirkt hat.
Nach Erwaͤhnung von ein paar muntern, den Geiſt
und Anblick Goethiſcher Jugend leicht und lebhaft bezeich¬
nenden Vorgaͤngen, finden wir uns zu glaͤnzender Ge¬
ſellſchaft eingefuͤhrt, und hier einem holden Weſen gegen¬
uͤber geſtellt, deſſen Lieblichkeit uns feſſelnd anleuchtet,
noch ehe wir durch den Namen Lilli erfahren, welch
ſchon bekanntes Gebiet anmuthiger Bezauberung uns
aufgenommen. Nun kann wohl von hoͤchſtem Lebens¬
gefuͤhl, von reichſtem Gewinn der Tage, von Gluͤck
und Segen die Rede ſein, aber an jenen aͤußeren und
inneren Frieden, welcher ſich anfangs verkuͤndigen wollte,
iſt nicht mehr zu denken, und an ſeiner Statt waltet
die erregteſte Leidenſchaft, von allem Wechſel begleitet,
den ſie erſt im innern Leben entzuͤndet, und dann unauf¬
haltſam auch in das aͤußere hinaustreibt. Bevor wir
aber in dieſen Zauberkreis voͤllig eingehen, doch ſchon
mit dem erſten guten Eindruck deſſelben, laͤßt uns der
Autor noch ſchnell die duͤſtern und ſehr betruͤbenden
[315] Verhaͤltniſſe zuruͤcklegen, in welchen Jung-Stilling uns
hier wiederbegegnen muß. Mit dieſen ſchweren, durch
die angeknuͤpften Betrachtungen des Dichters zu den
wichtigſten Bezuͤgen erhobenen, und ſogar im eignen
Stoffe noch erheiterten Drangſalen ſchließt das ſechs¬
zehnte Buch.
In dem ſiebzehnten Buche bluͤht, leuchtet und
athmet ganz das Verhaͤltniß zu Lilli. Wir haben den
Dichter von den fruͤhſten Empfindungen, fuͤr welche
das unſchuldige Gretchen ihm Gegenſtand ſein mußte,
mit Antheil und Mitgefuͤhl zu den hoͤheren Stufen
begleitet, die nach und nach ſeine Neigung erſtieg, und
wir ſind durch Friederikens liebliche Erſcheinung mit¬
ſchuldig der Unbeſtaͤndigkeit geworden, die man dem
Erloͤſchen oder Aufgeben fruͤherer Neigung zum Vor¬
wurfe zu machen pflegt. Nicht ganz ſo hell, und alſo
minder gerechtfertigt, zeigten ſich die ungenannten und
wie es ſcheint in einiger Miſchung durcheinder wogen¬
den Leidenſchaften, gegen welche Friederikens Bild zuruͤck¬
weichen mußte, und aus denen die Werther’ſchen Stim¬
mungen ſich naͤhrten. Dagegen tritt nunmehr dieſe
neue Leidenſchaft in allem Glanz und in aller Kraft
ihres vollen Uebergewichts und ihrer ureigenen Berech¬
tigung auf. Wie gegen die aufhebende Sonne der ſchoͤnſte
Stern, ſo muß gegen Lilli ſelbſt Friederike dahinſchwin¬
den, und da von Pflichten und Verbindlichkeiten, welche
ſchon außerhalb des Gebietes der Neigung liegen und
[316] dann oft ungluͤcklich genug bedingend zuruͤckwirken, hier
gluͤcklicherweiſe keine Rede iſt, ſo darf der getroffene
Sinn frei und froh dem neuen Lichte folgen. Daß
jede neue Regung in dem Dichter einen Fortſchritt
bezeichnet, immer nur einen hoͤheren Gegenſtand auch
mit erhoͤhtem Gemuͤth erfaßt, dies thut ihn dar als
der Liebe treu und der Wahrheit, in ihrer menſchlich
moͤglichen und gebotenen Entwickelung, welches eine
hoͤhere Treue iſt, als die gewoͤhnlich dafuͤr geltende
aͤußere Beharrlichkeit bei einem zufaͤllig erſten Begeg¬
niß. Das Verhaͤltniß zu Lilli zeigt ſich aber nicht nur
reicher, tiefer und ſchoͤner, als alle fruͤheren, ſondern
in der Reihe der Jugendneigungen auch als das hoͤchſte
und letzte; ihm folgt kein aͤhnliches; was weiterhin von
Neigungen und Leidenſchaften „unſeres Freundes“ ſicht¬
bar wird, und groͤßtentheils in Dichtungsgeſtalt fuͤr alle
Zeiten zu verehrender, ſinnender, lehrreicher Betrach¬
tung daſteht, gehoͤrt einer neuen Folge an, worin andre
Richtungen und Bezuͤge hervortreten, nicht geringeren
Werthes, als die bisher dargelegten, aber von einem
ganz verſchiedenen Karakter, und daher mit jenem dar¬
gebotenen hoͤchſten Lebensgluͤcke, wofuͤr Goethe ſelbſt
es erklaͤrt hat, nicht zu vergleichen noch zu meſſen.
Der Verlauf dieſer Liebesgeſchichte, von dem erſten
Sehen und Kennenlernen bis zur Verlobung, wohin
diesmal die Sache wirklich gelangt, iſt ein ununter¬
brochenes Gedicht, das den reitzendſten und bedeutend¬
[317] ſten Stoff in den ſchoͤnſten Formen und Maſſen mit¬
theilt, und gleichſam die beiden Endpunkte der Poeſie
zuſammenſchlingt; denn der Stoff iſt ganz in dem Ele¬
mente ſeiner urſpruͤnglichen Naivetaͤt und Unſchuld, ſeiner
idylliſchen und lyriſchen Naturfriſche verblieben, und
zugleich iſt die Darſtellung mit aller Kraft und Ueber¬
legenheit der hoͤchſten, bewußten und reifen Kunſt¬
ſchoͤpfung ausgeruͤſtet. Achtzigjaͤhrige Weisheit und
Ueberſicht und fuͤnfundzwanzigjaͤhriges Feuer der Empfin¬
dung und des Geiſtes ſind hier in lieblicher Gemein¬
ſchaft gegenwaͤrtig, und beleben einander wechſelſeitig.
Dieſe ſo zarten als gediegenen Blaͤtter bilden in dieſer
Art ein Kleinod, das wahrhaft als einzig zu ſchaͤtzen
iſt, dem keine Litteratur etwas Gleiches zur Seite zu
ſtellen hat. An Schoͤnheit und Macht der Schilderung
ſolcher innigen, lebenvollen und dabei fluͤchtigen Zuſtaͤnde
koͤnnen nur einige der herrlichſten Blaͤtter von J.J.Rouſ¬
ſeau neben dieſen noch zu nennen ſein, aber an Geiſt
und Reife ſchon nicht. Die Feier des Geburtstages von
Lilli, die traͤumeriſche Wandernacht Goethe’s und andre
ſolche Vorgaͤnge, ſind beinah ſceniſche Idyllen mit
plaſtiſcher und muſikaliſcher Ausſtattung geworden, und
jeder Umſtand und Bezug dieſer gluͤcklichen Tage iſt
in den goldnen Worten des Dichters zu einem ſelbſt¬
ſtaͤndigen kleinen Kunſtwerk ausgepraͤgt. Die ſchon
bekannten Lieder erſcheinen faſt neu, ſo ſehr gewin¬
nen ſie ſelbſt durch den Ort, wo ſie nun ſtehen, und
[318] ſo ſehr ſtreuen ſie Licht und Waͤrme auf ihre Umge¬
bung aus.
Die Gunſt der Wirklichkeit kann aber auch ſelten
fuͤr dichteriſches Erforderniß ſo gluͤcklich gefunden wer¬
den, wie hier der Fall iſt. Die Lage von Offenbach,
ſo nah bei Frankfurt, und doch abſeits von dem ge¬
draͤngten ſtoͤrenden Stadtleben, dabei ſelber im ſtaͤdtiſchen
Werden begriffen, und ſchon in dieſer Art geſellig, bei
noch laͤndlichem Zuſchnitt; die gluͤckliche Miſchung der
Perſonen, ihr guter Zuſammenhang, ihre nicht zu große
Zahl, welche grade hinreicht, um den Schauplatz zu
beleben, ohne ihn zu uͤberdraͤngen; die eifrige Thaͤtig¬
keit des heitern Muſikers André, die antheilvolle Ge¬
noſſenſchaft eines wuͤrdigen Ehepaars, des Pfarrers
Ewald und ſeiner Frau; endlich die beiden Hauptge¬
ſtalten ſelbſt, die reizende Lilli und der ſchoͤne Juͤngling
Goethe, beide zu freier Entfaltung ihres reichen begabten
Innern gegenſeitig angezogen, und wenigſtens eine Zeit
lang allen Aeußerlichkeiten uͤberlegen: dieſe Aufzaͤhlung
allein ſchon laͤßt das beinah fertige Gedicht erblicken!
Und doch iſt es hier nur die wirkliche Wahrheit, welche
zur Dichtung geworden, ohne ihre eigenſte Geſtalt auf¬
zugeben. Wir haben hiefuͤr ein beſondres Zeugniß bei¬
zubringen, das bei dieſer Gelegenheit ausgeſprochen ſei.
Vor vielen Jahren, als dieſer Theil von Goethe's Leben
noch nicht geſchrieben war, pflegte der nun verſtorbene
Pfarrer Ewald, als Theilnehmer und Vertrauter jener
[319] Verhaͤltniſſe, uns ſeine Erinnerungen aus der gluͤcklichen
Zeit, die er als die ſchoͤnſte und belebteſte ſeiner eignen
Jugend mit froher Innigkeit gern zuruͤckrief, vielfaͤltig
und umſtaͤndlich vorzutragen, und ſeine Erzaͤhlungen,
die ſich bis zu den kleinſten Zuͤgen und Bemerkungen
verliefen, wie er denn auch die mannigfachen Gedichte
an Lilli mit dem Ton und Ausdruck ihrer fruͤhſten Re¬
citation behalten hatte, bewirkten dem eifrigen und auf¬
merkſamen Hoͤrer durchaus denſelben Eindruck, welchen
er jetzt aus der von Goethe ſelbſt gegebenen Darſtel¬
lung empfaͤngt, und durch die Einzelheiten, deren er
ſich aus jenen Erzaͤhlungen erinnert, werden ihm ſowohl
die beſonderſten Zuͤge als auch das Ganze dieſes neuen
Bildes auf das vollſtaͤndigſte und zuſtimmendſte beſtaͤtigt.
So daß alſo auch bei dieſem Theile von Goethe's Leben
abermals das wichtige Wort Jacobi's gelten duͤrfte, der
von den fruͤheren in einem Briefe an Dohm ſagt: „Ich
muß den Erzaͤhlungen Goethe's das Zeugniß geben (ich
erlebte ja ſo vieles mit!), daß ſie oft wahrhafter ſind,
als die Wahrheit ſelbſt.“
Die durch Erwiederung gluͤckliche Liebe hatte anfangs
keine Hinderniſſe, in ihrem Fortgange nur ſolche, die
zu uͤberwinden oder doch zu beſtehen waren, und nahm
aus ihnen, durch Vermittlung einer beiderſeitigen Haus¬
freundin, Dlle. Delf, deren ſelbſtwilliger Eifer in vor¬
geſetztem Handeln trefflich bezeichnet wird, bald den
Aufſchwung zu der ſchoͤnen Stufe, wo die Liebenden
[320] ihre Vereinigung gebilligt ſahen, und ſich als Braut
und Braͤutigam begruͤßen durften. Hier jedoch entwickelt
ſich in den Grundlagen der Verhaͤltniſſe, die nun naͤher
vor Augen kommen, ein ernſtlicher Widerſtreit, der die
ſchon vergoͤnnten Hoffnungen truͤb umhuͤllen muß. Die
Verſchiedenheit der Lebenskreiſe, Gewoͤhnungen und An¬
ſpruͤche, die ſich vereinigen ſollen, tritt fuͤr die naͤhere
Betrachtung ſcharf und beaͤngſtigend hervor, und die
Liebenden ſelbſt, obwohl ihrer Neigung verſichert, und
ihr zu folgen entſchloſſen, fuͤhlen es, daß ihr beſter
Wille in den gegebenen Umſtaͤnden wenig ausrichten
koͤnne, ſondern lieber, mit Verzichtung auf alles Ueber¬
kommene, einen ganz neuen Boden und Anfang des
Lebens zu ſuchen habe. Dies fuͤhrt den Autor zu einer
uͤberſichtlichen Betrachtung der ganzen damaligen Welt¬
lage, ihrer großen politiſchen Beziehungen, der Geſtal¬
tung der Standesunterſchiede, der von dieſen Bedin¬
gungen abhaͤngigen Lebensausſichten, und insbeſondre
der ihm perſoͤnlich offenſtehenden, wobei ſeine zweifache
Eigenſchaft, die litterariſche und buͤrgerliche, wiederholt
zur Sprache kommt.
Es braucht nicht verſichert zu werden, daß dieſe
Schilderung durch Tiefe und Klarheit des Richtigein¬
geſehenen und Treffendausgeſprochenen abermals die
ganze Meiſterſchaft darlegt, die wir in aͤhnlichen Ueber¬
blicken der fruͤheren Theile bewundert haben; die Bio¬
graphie hat ihren Zuſammenhang mit der allgemeinen
[321] Geſchichte nie ſchoͤner und gruͤndlicher dargethan, und
dieſe Abſchnitte koͤnnen als einzelne fertige Kapitel einer
deutſchen Nationalgeſchichte gelten, deren Ganzes noch
fehlt, und lange noch fehlen wird. Die Stellung Goethe's
im buͤrgerlichen Leben erſcheint zwar gleich anfangs vor¬
theilhaft und befriedigend, indem die doch engen Schran¬
ken, von welchen ſie umgeben iſt, dem Einzelnen kaum
fuͤhlbar geworden; allein die Bedeutung, welche er
durch das Uebergewicht geiſtiger Faͤhigkeiten in einem
allgemeinen Kreiſe mehr und mehr gewinnt, entbehrt
des entſprechenden Ausdrucks in den aͤußeren Verhaͤlt¬
niſſen; die Wege der Litteratur gingen damals noch
durch oͤdes Gefild, nur der eine Klopſtock war auf
ihnen als Dichter zu einer leidlichen Lebensſtellung ge¬
langt, und dabei hatte noch der religioͤſe Gegenſtand
ſeiner Dichtkunſt entſcheidend eingewirkt; fuͤr Goethe
war eine ſolche Beguͤnſtigung nicht abzuſehen, und ſeine
praktiſche Tuͤchtigkeit in Geſchaͤften, wie fertig und
fruchtbar ſie auch erſcheinen mochte, verſprach dafuͤr
keinen nahen Erſatz. Seine eignen Anſpruͤche, wie die
ſeiner Geliebten, waren willig, ſich in's Enge zu ziehen,
um ein beſcheidenes Gluͤck zu gewinnen, welches aller¬
dings der groͤßten Opfer werth ſchien. Allein im tiefſten
Bewußtſein konnte man ſich nicht verhehlen, daß die
Richtungen und Bilder, welche man aufgeben wollte,
ſchon im Gemuͤth und Sinn unberechenbar eingedrungen
ſein mußten, und auch jenſeits des Weltmeeres, wohin
II. 21[322] der Blick ſich gewendet hatte, unheimlich Stoͤrendes
befuͤrchten ließen. Die Ferne als ſolche lockte nicht,
das Naͤchſte an und fuͤr ſich ſtieß nicht ab; die beiden
Bahnen, welche einzeln jedem heiter und angemeſſen
waren, wurden erſt durch ihre Vereinigung ſchwierig,
und auch der Muth und das Selbſtvertrauen der Jugend
konnten, durch die Bilder, welche ſich herandraͤngten,
beunruhigt werden. Dabei rief kein offner Widerſpruch
die Geiſter des Trotzes und Eifers in den Kampf;
ihrem eignen Gange war die Sache uͤberlaſſen, nur
wohlwollende Warnung und verſtaͤndiger Rath wirkten
ein. So konnte es geſchehen, daß die ſchon verlobten
Liebenden, ohne ausdruͤcklichen Zwang und fremdes
Hinderniß, durch die leiſe, aber maͤchtige Wirkung der
gefuͤhlten Unvereinbarkeit ihrer unreifen und nicht ein¬
ander entſprechend ausgeſtatteten Zuſtaͤnde, ſich wieder
trennen ließen, indem ſie wohl nicht in die Trennung
willigten, aber ſie werden ſahen und anerkannten.
Dieſer ganze Hergang, welcher im Weſentlichen fuͤr
das Verſtaͤndniß keine Dunkelheit behaͤlt, iſt gleichwohl
von dem Autor in den einzelnen Zuͤgen mit einem
zarten Helldunkel behandelt, welches nur eben verhin¬
dert, auf das Einzelne zu ſcharf den Blick zu heften,
und dieſen grade im Hingleiten uͤber das Ganze die
Bedeutung zu ſuchen noͤthigt. Merkwuͤrdig ſind in
dieſem Betreff die Worte Goethe’s, die er muͤndlich
gegen einen Freund geaͤußert, daß die Tiefe und Zart¬
[323] heit ſeines Gefuͤhls fuͤr Lilli noch auf die Schreibart
und den Ton ſeiner Erzaͤhlung gewirkt, und er den
leidenſchaftlichen Gehalt dieſes Verhaͤltniſſes keineswegs
ausgeſprochen habe; was denn insbeſondere auch von
dieſem wunderbaren Auseinandergehen gelten muß.
Die Empfindungen, welche den wiederkehrenden
Kaͤmpfen dieſer nur allmaͤhligen und im Augenblicke
niemals unwiderruflichen Entſagung angehoͤren, haben
durch den Dichter zum Theil ihren lyriſchen Ausdruck
empfangen. Schmerz und Trauer ſind in dieſen Ge¬
dichten aber ſtets von dem Eindruck einer gegenwaͤrtigen
oder doch erreichbaren Anmuth und Lieblichkeit uͤber¬
wogen, und auch bittrer Verdruß wandelt ſich in wun¬
derliche Laune, ſo daß das Gluͤck und die Heiterkeit
dieſes Verhaͤltniſſes auch in dieſem Betreff hervorragend
bleiben. Ueberhaupt aber zeigt ſich in Goethe's Poeſie
eine kraͤftige Steigerung, und es iſt karakteriſtiſch, daß
er, in deutſcher Vorzeit nach Anhalt und Beiſpiel um¬
herblickend, nicht zu den Dichtern des Mittelalters zu¬
ruͤckgeht, ſondern bei dem derben und tuͤchtigen Hans
Sachs ſtehen bleibt, wofuͤr denn auch die guͤltigſten
Erklaͤrungsgruͤnde gegeben werden. Die Wirkung dieſes
Meiſterſaͤngers iſt bei Goethe, dem er doch mehr Lieb¬
ling als Muſter ſein konnte, lebenslaͤnglich merkbar ge¬
blieben, und ein weſentliches Element ſeines aͤcht-deut¬
ſchen Karakters. Wir koͤnnen nur beklagen, daß grade
von dieſer Art ſo manches verloren iſt, andres nur in
21 *[324] Andeutungen noch fortlebt, oder wenigſtens fuͤr jetzt
nicht mitgetheilt werden ſoll. Wir duͤrfen nicht ver¬
kennen, daß auch das Grundgedicht des Goethe’ſchen
Genius, welches keinem ſeiner Jahre und keiner der
Epochen ſeiner Dichtung, ſondern gradezu allen ange¬
hoͤrt und ſie alle umfaßt, daß der Fauſt, wenigſtens
in ſeinen Anfaͤngen, aus jenem Element hervorgeht.
Mit dieſem großen Gegenſtande finden wir den Dichter
auch in jener Zeit erfuͤllt, indem er lebhaft vermißt,
daß die Gegenwart ihm weder die Stoffe noch die
Formen anbietet, deren er bedarf, und die erſt eine
ſpaͤtere Entwicklungsſtufe bringen ſollte.
Mitten in die mannigfachen Bewegungen jener Her¬
zensunruhen und dieſer dichteriſchen Angelegenheiten
trifft der Beſuch der beiden Grafen zu Stolberg, die
mit dem Grafen von Haugwitz auf einem Ausfluge
nach der Schweiz begriffen ſind, und Goethe’n leicht
zur Mitreiſe bereden. Ein lebendiges Bild wird uns
von dieſen in der Geſchichte deutſcher Geiſtesbildung
hoͤchſt bedeutenden Maͤnnern gegeben; wenige Auftritte,
kurz und ſchlicht erzaͤhlt, ſtellen uns ohne Muͤhe auf
den Standpunkt, wo uns ſo viele ſpaͤtere Verwirrungen
und Mißverſtaͤndniſſe voͤllig begreiflich werden, mehr
ſagen uns ganze Buͤcher nicht, als dieſe wenigen Seiten
klar machen. Goethe berichtigt und ergaͤnzt die An¬
klageſchriften von Voß, ohne daß er ihm eigentlich
widerſpraͤche. Wer die Zeiten und Zuſtaͤnde vergleichen
[325] will, mag zu lehrreichem Nachdenken veranlaßt ſein,
wenn er die Juͤnglingsgeſtalt betrachtet, in welcher die
nachher ſo geſetzten und geſetzlichen und hochverehrten
Maͤnner damals jene Gegenden durchſtuͤrmen, wo doch
ein regeres Lebensfeuer ſchon minder aufzufallen pflegt.
Die vor einigen Jahren vernommene Erzaͤhlung des
Grafen von Haugwitz von manchen Vorgaͤngen jener
Reiſe moͤge hier abermals fuͤr die Treue der Goethe'¬
ſchen Darſtellung als ein Zeugniß angefuͤhrt ſein, indem
ſie, mit dieſer ſonſt uͤbereinſtimmend, nur die geniale
Perſoͤnlichkeit Goethe's heller leuchten ließ, als deſſen
eigne Nachrichten es wollen zu erkennen geben. Daß der
Ungeſtuͤm der Gefaͤhrten von andrer Art war, als die
Genialitaͤt des auch nicht eben zaghaften Dichters, ge¬
ſteht dieſer ſelbſt, wie auch, daß er nicht ungern, was
der Scharfblick des Freundes Merck richtig vorausge¬
ſehen hatte, auf der weiteren Wanderung ſich von ihnen
trennte. Einiges Verwundern und Laͤcheln muß es
hiernach wohl erwecken, wenn man gedenkt, daß, nur
ein Jahr ſpaͤter, der gute Klopſtock den juͤngern Stolberg
nicht wollte nach Weimar reiſen laſſen, weil er fuͤr ihn
die dortige Lebensart fuͤrchtete, und in wehmuͤthiger
Beſorgniß ſich die Autoritaͤt nahm, den verſprochenen
Beſuch deſſelben unglimpflich abzuſagen. —
Merck, den wir eben genannt, erſcheint ferner, wie
in den fruͤheren Theilen, als ein durch Karakter und
Verſtand eigenthuͤmlich ausgezeichneter Mann, deſſen
[326] Freundſchaft und Denkart nicht ohne Einfluß auf
Goethe bleibt. Sehr waͤre zu wuͤnſchen, daß die zer¬
ſtreuten Blaͤtter und Nachrichten, welche von dieſem
Manne noch uͤbrig ſind, zu rechter Zeit geſammelt
wuͤrden, da es doch immer denkwuͤrdig ſein wird, die
wirklichen Zuͤge naͤher zu betrachten, von welchen einige
dem Fauſtiſchen Mephiſtopheles verglichen werden konnten.
Naͤchſt dieſem alten Bekannten finden wir in dieſem
Theile auch Goethe’s Schweſter wieder, und zwar nicht
mehr im aͤlterlichen Hauſe, ſondern als Schloſſers
Gattin. Ihr Zuſtand in Emmendingen, das Verhaͤltniß
ihrer aͤußern und innern Bildung, die Wirkſamkeit ihrer
Eigenſchaften, und beſonders ihr Einfluß und ihre Macht
uͤber den Bruder, dem ſie die Trennung von Lilli als
unerlaͤßlich einleuchten laͤßt, werden mit außerordent¬
lichen Meiſterſtrichen hingezeichnet, und waͤhrend der
Autor faſt verzichtet, das ſchwierige Bild zu vollbringen,
ſo iſt es ihm unter dem Zweifel ſchon fertig geworden.
In ſolchen Zeichnungen offenbart ſich der wahre Seher,
deſſen Auge die tiefſten und abſonderlichſten Kombina¬
tionen, die ſich zu dem Weſen eines Menſchen ver¬
einigen, durch ſein Hinblicken auch ſogleich fuͤr Andre
ſichtbar macht. Eben ſo vollendet ſich uns auch das
Bild Lavaters, der, allerdings ſchon ein andrer, als
in dem dritten Theile, doch noch genug derſelbe iſt,
um nicht einer ganz neuen Schilderung zu beduͤrfen.
Liebenswuͤrdig und ehrenwerth bleibt ſeine Perſon, da¬
[327] gegen erſcheint ſein phyſiognomiſches Talent in faſt
daͤmoniſcher Macht, und ſein religioͤſer Eifer uͤberlaͤßt
ſich mehr und mehr der Ueppigkeit eines warmen und
uͤberſchwaͤnglichen Dahinwallens, das ohne feſte Ge¬
dankentiefe, und ſelbſt ohne den erforderlichen Gehalt
gelehrter Kenntniß, bei aller hineingelegter Gefuͤhls¬
ſtaͤrke, ſich zuletzt doch nur in Schwaͤche verliert. Sehr
wichtig und beziehungsreich iſt alles, was Goethe uͤber
die Lavater'ſche Phyſiognomik ſagt, und es waͤre wohl
der Muͤhe werth, jenes Werk und die ganze Richtung
aus dem heutigen Standpunkte kritiſch zu beleuchten,
wozu die Mittel in Hegel's Phaͤnomenologie reichlich
gegeben ſind. Die phyſiognomiſche Beſchreibung der
beiden Stolberg iſt hier aus Lavater eingeruͤckt, und
mag den Reiz wecken, das Buch ſelber wieder zur
Hand zu nehmen.
Von neuen Perſonen lernen wir in dieſem Theile,
außer den bereits erwaͤhnten, nicht viele kennen. Der
alte Bodmer iſt mit billiger Achtung als ein guter
Alter dargeſtellt. Goethe's Freund Paſſavant tritt nicht
bedeutend hervor. Die Markgraͤflichen Herrſchaften in
Karlsruhe werden nur im Voruͤbergehen, und daſelbſt
auch der Herzog und die Herzogin von Weimar eben
nur erwaͤhnt. Hingegen erſcheint Dlle. Delf, die ver¬
mittelnde Hausfreundin, noch zuletzt ausfuͤhrlich in der
ganzen Thaͤtigkeit ihres Karakters.
[328]
Die Schweizerreiſe iſt eine der gluͤcklichen Schilde¬
rungen, wie ſie Goethe ſo einzig gelingen, in welchen
Naturanſchauung, aͤußerliche Begebenheiten und Zu¬
ſtaͤnde, und die tiefſten Geiſtes- und Gemuͤthsſtim¬
mungen zu dem lebendigſten Geſammteindruck ſich ver¬
binden. Die Neigung zu Lilli begleitet den Wandrer
in dieſe Berge, haucht ihm ſuͤße Lieder ein, und reißt
ihn zuletzt, da er ſchon im Begriff ſteht nach Italien
hinabzuſteigen, gewaltſam in das heimiſche Mainthal
zuruͤck. Zwar weiß er ſchon, und hat mit dem Ver¬
ſtande ſchon zugegeben, daß die Geliebte nicht mehr
ihm angehoͤren ſoll, allein dem Herzen und den Augen
gehoͤrt ſie dennoch an, und der begluͤckende Umgang
dauert fort, wenn auch unterbrochen und geſtoͤrt. Der
Kampf erhoͤht nur die Leidenſchaft, ſie ringt mit Moͤg¬
lichkeiten und Entſchluͤſſen, ſie ſtroͤmt poetiſches Leben
aus, mit welchem ſie auch das Stoͤrende ſich unter¬
ordnet und aneignet; doch zwiſchen allen dieſen waͤchſt
unaufhoͤrlich die Trennung, beſtaͤrkt ſich nur immer die
Entſagung.
Wie ſchon mehrmals nimmt auch jetzt den Bedraͤng¬
ten ſein produktives Talent in Obhut; ein heitrer und
fruchtbarer Zeichner Kraus regt die Kunſtliebe nach
dieſer Seite zu praktiſchen Uebungen an und ruͤckt
durch ſeine Bilder nebenher die Weimariſchen Verhaͤlt¬
niſſe nah und traulich vor den Sinn. Jedoch kann
dieſe Lockung, da kein aͤchter Beruf ihr geſellt iſt, nicht
[329] lange feſthalten, und Goethe ſtuͤrzt ſich in ſein eigent¬
liches dichteriſches Element; wir ſehen den Egmont aus
den Wogen emporſteigen, und zwar aus dem tiefſten
Grunde einer großen, erſchuͤtternden Betrachtung uͤber
das Walten eines Daͤmoniſchen, das in Natur und
Geſchichte ſich offenbart. Was uͤber die Erforderniſſe
und die naͤhere Behandlung dieſes großen dramatiſchen
Stoffes erlaͤuternd geſagt wird, muß jeden nachdenken¬
den Leſer willkommen anregen. Hier wird auch der
dieſem Baͤndchen vorgeſetzte Spruch: Nemo contra
deum nisi deus ipse als der Sache angehoͤrig ent¬
wickelt und aufgeſtellt.
Nun aber wird dieſer vielfach erfuͤllte Zuſtand nicht
laͤnger haltbar, die hoͤchſte Spannung draͤngt zu Ent¬
ſcheidungen, zu Entſchluͤſſen. Was aufzugeben ſei,
ſteht feſt; wohin aber nun Sinn und Muth ſich wenden
ſoll, daruͤber ſchwankt alles, und doch muß der naͤchſte
Schritt die ganze Lebensfolge beſtimmen. Die Neigung
iſt fuͤr Weimar entſchieden, wohin die dringendſten Ein¬
ladungen, die guͤnſtigſten Ausſichten locken, vor denen
aber der Vater warnt, und bemuͤht iſt, das herrliche
Bild Italiens vorzuſchieben. Dieſes Schwanken ver¬
laͤngert ſich durch nothgedrungenes Abwarten nicht ge¬
rechneter Zufaͤlle, und ſetzt ſich ſogar in die genom¬
menen Entſchluͤſſe hinein unangenehm fort, die Leiden¬
ſchaft ſucht in dem Aufſchub noch einigen Gewinn zu
faſſen, der aber ſchon entruͤckt iſt, und ſo erſcheint
[330] gleichſam im Schlußchor aller Elemente und Motive,
welche dieſes Leben zuſammenbilden, die Hauptent¬
wicklung deſſelben, wodurch, nach einem letzten Kampfe,
der dem Spruche ahndungsvoller Neigung uͤber alle
Gegenrede warnender Verſtaͤndigkeit und lockender Vor¬
ſtellungen den Sieg laͤßt, unſer Freund und Dichter
endlich dem verheißungsvollen Weimar zugefuͤhrt wird,
wo ſich die groͤßten und gluͤcklichſten Schickungslooſe
fuͤr ihn erfuͤllen ſollten.
Auf dieſem Boden angelangt, bleibt uns der Dichter
fortan in heitrem Tageslichte, von nun an wird ſeine
Erſcheinung und ſeine Thaͤtigkeit mehr und mehr oͤffent¬
lich, der Nation angehoͤrig, und kann nicht mehr in
voͤlliges Dunkel zuruͤcktreten. So groß der Verluſt
auch in aller Hinſicht ſein mag, daß ſeine Erzaͤhlung
uns nicht auch in die reizenden, geſtaltenreichen und
bewegten Anfaͤnge dieſer neuen Lebensſtufe einfuͤhrt, ſo
koͤnnen wir denſelben doch, was den Stoff anbelangt,
eher verſchmerzen, als wenn uns eine der fruͤheren
Perioden fehlte; dieſe konnte nur Goethe ſelbſt mit¬
theilen, fuͤr jene duͤrfen allenfalls auch andre Erzaͤhler
eintreten. Ueberhaupt moͤgen wir bei dem Abſchluſſe
dieſer vier Theile von Wahrheit und Dichtung nicht zu
ſehr trauern uͤber das, was noch fehlt. Gleich im Be¬
ginne dieſes Werkes ſprach ſich die Meinung aus, fuͤr
den wahren Vertrauten und Freund des Dichters be¬
duͤrfe es dieſer Erlaͤuterungen nicht, das eigentliche
[331] Leben deſſelben ſei vollſtaͤndig in ſeinen Dichtungen,
und Goethe ſelbſt hat in ſolchem Sinne geſagt, ſeine
Denkſchriften ſeien ein Verſuch ſeine poetiſche Konfeſſion
zu ergaͤnzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze
jener Meinung uns erheben, ſondern uns des Gege¬
benen ſehr beduͤrftig und durch ſolches unendlich berei¬
chert eingeſtehen, ſo duͤrfen wir doch hinwieder uns
dabei beruhigen, und allen dringendſten Forderungen
genuͤgt finden. In der That haben wir ein wenn auch
nicht geendigtes, doch vollſtaͤndiges Werk vor uns; die
Grundlagen ſind unveraͤnderlich, die Beſtandtheile nach
allen Verhaͤltniſſen beſtimmt, der Aufbau bis zu ge¬
wiſſer Hoͤhe durchgefuͤhrt; nun koͤnnen weiter hinauf
die Gebilde doch nur mit geringen Veraͤnderungen ſich
wiederholen, und in dieſem Sinne haͤtten wir, waͤre
die Stelle nicht ſchon beſetzt, als Titelſpruch dieſes
Theiles die eignen Goethe’ſchen Worte vorzuſchlagen:
„Mit den Jahren ſteigern ſich die Pruͤfungen.“ Wirklich
koͤnnte uns die Folge faſt nichts anderes zeigen, und
ſchon bisher mußte bemerklich ſein, daß auch die groͤßte
Macht des Genius und die reichſte Fuͤlle des Lebens,
welche den einzelnen Menſchen bedeutend machen, im
Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen
ſind, zweier oder dreier tiefen Erſchaue oder Empfin¬
dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachſten
Erſcheinungen bewirkt wird. —
[332]
Kritiſche Tagesworte.
1. Lord Byron.
Ein vornehmer, genialer Englaͤnder, zu reich, um
zu arbeiten, zu frei, um zu dienen, zu uͤberdruͤſſig, um
blos empfindend zu genießen, zu geiſtvoll, um ein Narr
zu ſein, zu unruhig, um nichts zu thun — er dichtet.
Die Poeſie iſt ihm, wie einſt dem Grafen Alfieri, ein
Surrogat des Lebens, daher, bei allen großen Vor¬
zuͤgen ſeines Genie's, nicht gluͤckliche Befriedigung,
ſondern truͤber Behelf des zerriſſenen Innern. Die
Fluth des Tages traͤgt ſeine Werke, wie die Meeres¬
wogen die Schaͤtze ſeiner Landsleute, auf den ſeemaͤch¬
tigſten Schiffen, unter der guͤnſtigſten Flagge.
2. Lady Morgan.
Als Miß Owenſon zeigte ſie fruͤh in ihren Roma¬
nen tiefe Gluth des Herzens, hohen Adel der Seele,
geiſtvolle Weltkenntniß, großen Naturſinn. Als Lady
Morgan reizte ſie manche Feindſchaft durch die Freiheit
ihrer Denkart und die Offenheit ihrer Aeußerungen.
Liebe fuͤr ihr Volk und Land — ſie iſt eine Irlaͤnderin
— heißer Antheil bei deſſen Ungluͤck und Bedruͤckung,
beſeelt ohne Ausnahme alle ihre Schriften. Ihr dar¬
ſtellendes Talent ragt weit vor dem ihrer Rivalen
empor, an Waͤrme, an Raſchheit, an Tiefe und Wahr¬
heit des Sinnes.
3. Walter Scott.
Walter Scott verſteht das dichteriſche Handwerk,
und gefaͤllt ſich darin; daher ſeine breite, einzelne Aus¬
fuͤhrung. Seine Romane ſind auseinander gezogene,
mit wohlgearbeiteten Verzierungen uͤberladene Novellen.
Er wuͤrde aus jeder Novelle des Cervantes, wenn ihm
der Stoff zur Bearbeitung vorgelegen haͤtte, drei Baͤnde
gemacht haben. Er macht ſeine Beſchreibungen, weil
er will, und weil er ſeine Bilder fuͤr ſich ſelbſt, ſtatt
durch innere Zuͤge im Geiſte, erſt durch aͤußere auf
dem Papiere gewinnt und feſthaͤlt. Er iſt nicht durch
den Stoff ſelbſt genoͤthigt zu einer Schilderung, ſon¬
dern nur immer gemuͤßigt. Das eigentliche Leben der
dichtenden Kunſt fehlt ihm; und wie nahe er daran
hinſtreifen moͤge, die kleinſte Scheidelinie bleibt hier
unerfuͤllbar tiefe Kluft.
4. Génie du Christianisme.
Der Verfaſſer iſt ein Dichter in allen Lebens- und
Geiſtesrichtungen, mit Ausnahme der — Dichtkunſt.
Das Buch iſt das unfroͤmmſte und unchriſtlichſte von
der Welt. Das ganze Chriſtenthum iſt darin nur als
eine Vorrathskammer von Zierrath und Prunk ange¬
ſehen, den man im Leben noch nicht ſo nutzbar ange¬
wandt, noch nicht ſo ergoͤtzlich vorgezeigt habe, als es
hier nun durch den neuen Conſervateur und Kuͤſter
dieſer alten Schaͤtze mit glaͤnzendſter Rede und modern¬
[334] ſtem Geſchmacke zur Schau geſtellt werden ſoll! Ihm
ſind Kirche, Hof, Große, Kuͤnſtler, Gelehrte und
Prieſter, Alles zuſammen nur poetiſche Motive, die ſeit
einiger Zeit zu ſehr vernachlaͤſſigt werden. Er fuͤhrt
das Chriſtenthum gleichſam in Galla vor, ein Anblick,
der den Weltmann ergoͤtzen kann, aber den Frommen,
der von dem Weſen des Evangeliums erfuͤllt iſt, be¬
leidigend zuruͤckſchrecken muß.
5. Fouqué.
Er hatte ein ſchoͤnes Talent fuͤr Lied, Romanze,
Nachbildung; als letztere gelang ihm ſelbſt das drama¬
tiſche Heldengedicht einmal, im Sigurd dem Schlangen¬
toͤdter. Aber ſelbſt Undine haͤtte keine Erzaͤhlung, ſon¬
dern nur eine Romanze werden ſollen. Vom Uebrigen
ſchweigen wir. Die Poeſie will nicht als geſpenſtiſche
Wache auf die oͤden Truͤmmer des Ritterthumes ſich
bannen laſſen.
6. Hoffmann.
Auch der geiſtreichſte Witz, ſoll er nicht allzu bald
ſich verfluͤchtigen, muß von Gefuͤhls-Innigkeit gebunden
ſein. Darum iſt Hoffmann nicht Jean Paul. Aber
gerade an dieſem gefaͤllt Vielen das Sentimentale nicht,
ſondern blos das Komiſche. Nun gut, hier haben ſie
ihr herausgeſondertes Theil, mit vielen neuen originellen
Zuͤgen und Gebilden derſelben Art, aber, wie geſagt,
es verfluͤchtigt ſich allzu bald.
7. Clemens Brentano.
So Mancher will ein Dichter ſein, und kann nicht;
hier iſt einer, der alles dazu hat, ſogar die ſchon fer¬
tigen Gedichte, und nicht will, — ein Fall, der ſelten
vorkommen wird! Brentano verdirbt ſeine Dichtungen
durch Uebermuth, und die er nicht verdirbt, haͤlt er
zuruͤck.
8. Schul-Aufgabe.
Was iſt Accent und was iſt Quantitaͤt? Was iſt
Hoͤhe und Tiefe der Silben? Welches ſind die Geſetze
der klaſſiſchen und der romantiſchen Versbildungen?
Wie beſtehen beide Gattungen, durch angemeſſene Mil¬
derung der ſtrengſten Regel in beiden, in unſerer
Sprache gluͤcklich neben einander? Bei der faſt allge¬
meinen Wirrniß, die heutiges Tages in dieſen Punkten
unſere lautredenden Kunſtrichter in oͤffentlichen Blaͤttern
oft auf die laͤcherlichſten Abwege gerathen laͤßt, mag
der Gegenſtand dieſer wenigen Fragen den Dichtern
und Kritikern dringend empfohlen ſein. So leicht iſt
die Sache uͤbrigens nicht!
9. Kunſtwerk.
Wer aus lebendigem Geiſte dichtet, giebt Leben,
und wo dieſes iſt, iſt eine Unendlichkeit der Beziehungen
aufgethan, die der Dichter nicht beabſichtigt, nicht be¬
rechnet hat, ſondern geſchaffen. Daher man Jahrtau¬
ſende hindurch an dieſen Beziehungen Neues forſchen,
[336] deuten, finden, verſtehen kann — was der Urheber
nie gedacht oder gemeint hat — ohne das Werk zu
erſchoͤpfen oder zu uͤberladen. Shakſpeare, Cervantes,
Goethe, wachſen mit den nachlebenden Geſchlechtern und
und durch deren geiſtige Miteiferung und Betrachtung
immer ſchoͤner zu ihrer vollſtaͤndigen Groͤße empor.
10. Ludwig Uhland.
Sein Lied iſt reich und kuͤhn, voll großer Geſinnung
in reinſter Kunſt. Sein Fuͤhlen und ſein Schauen ſind
gleichzeitig und ebenmaͤßig, uͤbereinſtimmend in Wahr¬
heit und Schoͤnheit; dies ſein beſonderer Vorzug!
11. Grillparzer.
Wahres und Schoͤnes umfaßt ſeine tiefempfindende
Seele; in gluͤcklichen Formen dringen ſeine edlen Anla¬
gen hervor. Seine „Sappho“ iſt aͤchte Poeſie. Aber
die Schwingen ſind ihm geſchwaͤcht, bevor der Grimm
des Lebens und Trotz und Gewalt der Erde ihm noch
recht unterthan geworden. Zum tragiſchen Dichter haͤtte
er vielleicht anderswo geboren werden ſollen.
12. Ruͤckert.
Friſche Sangesſtimme auf froher Wanderſchaft! Er
dringt in das Dickigt der Waͤlder, auf die kahlen Fels¬
haͤupter der Berge; er beſucht liebliche Auen und oͤde
Sandflaͤchen. Er weiß, was er will, und wenn er
einmal im Finſtern tappt, ſo iſts, weil er auch ein¬
mal im Finſtern tappen will. Ihr braucht ihn dann
[337] nicht aͤngſtlich zurecht zu rufen, als verirre er ſich; er
weiß recht gut, wo er iſt, und wohin er zuruͤckkehren
muß.
13. Jouy.
Seine Lebensſchilderungen ſind ein Spiegel, in wel¬
chem Alles ſich getreu und heiter abbildet. Als Sit¬
tenmaler hat er richtige Zeichnung, kraͤftige Farbe, gluͤck¬
liche Kompoſition. Er iſt fuͤr das Stillleben, was
Walter Scott fuͤr das Heroiſche, eben ſo getreu und
genau, nur gluͤcklicher Weiſe minder breit.
14. Frau von Genlis.
Sie iſt in der Konvenienz bis zur Natuͤrlichkeit
gekommen. Ihren Figuren ſind die Kleider dieſer Kon¬
venienz wieder zu einer Art Haut geworden; ſie wuͤr¬
den noch nackt ſcheinen, wenn ſie nicht neue Bedeckung
erhielten. Aber an Einſicht fehlte es dieſer Schriftſtel¬
lerin nicht, an Kenntniß nicht, an Geſchmack nicht, am
wenigſten an Talent; ſie ſchreibt rein und klar im
ſchoͤnſten Fluſſe der Rede. Was ihr fehlt? Anfaͤngliche
Wahrheit, und Freiheitsmuth.
15. Arnim.
Golderz, aber voll Schlacken; ſolches Metall, wie
edel und aͤcht, hat keinen Kours im Leben, aber man
kann Reichthuͤmer auf dieſe Art beſitzen.
II. 22[338]
16. Johann Heinrich Voß.
Die Sprache ſeufzt auf dem Ambos unter ſeinen
Hammerſchlaͤgen; aber ſie dankt ihm Ausbildung, die
lange dauern und deren Gewinn noch ſpaͤten Nachleben¬
den zu Gute kommen wird.
17. Friedrich Auguſt Wolf.
Luſtwandelnd gelegentlich durch die Werkſtaͤtte deut¬
ſcher Proſa und deutſcher Verskunſt ordnet er neue
Gebilde des groͤßten Stils und der feinſten Verhaͤlt¬
niſſe aus den der Meiſterhand ſtets unerſchoͤpften Vor¬
raͤthen!
18. Ludwig Boͤrne.
Wie nahverwandt der Kritiker dem Kuͤnſtler, beweiſt
Boͤrne durch ſeine Kunſtbeurtheilungen; ſie ſind ſelber
Kunſtgebilde. Weich und milde weiß er ſich ſeinem
Gegenſtande, dieſen befeſtigend, anzuſchmiegen, und
ſcharf und ſchneidend in ihn einzudringen, um ihn bis
in das Innerſte zu zerlegen.
19. Tieck.
Er iſt ein Dichter; und der einzige, der bei uns
neben Goethe jetzt ſtehen darf!
20. Verbindung.
Der Geſchichtſchreiber ſteht dem Dichter ganz nahe;
wo ſie ſich beruͤhren, ſcheint jeder den andern entbehr¬
lich zu machen. Herodot iſt auch Dichter, Shakſpeare
[339] auch Geſchichtſchreiber. Geſchichtſchreibung iſt Krieg mit
der Gemeinheit der Meinungen der Gegenwart, Dich¬
tung iſt ihre Veredlung. Wer Dichtung und Wahrheit
nur in Widerſtreit ſieht, kennt weder Dichtung noch
Wahrheit.
21. Sprachmeiſterei.
Wenn kuͤmmerliche Schriftgelehrte unſren ſchoͤpferi¬
ſchen Geiſtern ihre bewußten Kuͤhnheiten und Neuerun¬
gen in Sprache und Verskunſt als ungeſchickte Verſtoͤße
gegen die Regel oder unerlaubte Erdreiſtungen vorhal¬
ten, ſo iſt dies nicht beſſer, als wenn Diener und
Aufſeher in die ihnen verbotenen Gemaͤcher nun auch
ihre gebietenden Herren und Meiſter nicht einlaſſen
wollten!
22. Deutſchthum, wahres.
Die Aufgabe, welche Goethe'n geſtellt war, um das
zu werden, was er geworden, war groͤßer und ſchwie¬
riger, als die dem Cervantes oder Shakſpeare beſchie¬
dene. Alle drei ſind Schriftſteller, in welchen und um
welche das geiſtige Leben ihrer Nation ſich verſammelte.
Aber die Bildung der deutſchen Nation iſt nicht ſo
einfach und offen zu erfaſſen, nicht ſo alleinherrſchend
und abgemeſſen zu verwalten, wie die Bildung der
ſpaniſchen oder engliſchen es erlaubte. Umfaßt nicht
nur und verwaltet, auch geſteigert mußte dieſe Bildung
von dem Dichter werden, wenn er ein Licht der Ge¬
22 *[340] genwart und Zukunft dieſer Nation ſein ſollte, wie
jene Dichter es den ihrigen geworden.
Immermann.
1.
Trauerſpiele von Karl Immermann, Hamm und
Muͤnſter, 1822. — Dieſer Trauerſpiele ſind drei: „das
Thal von Ronceval;“ „Edwin;“ „Petrarca.“ — Unſere
jungen Dichter pflegen zuerſt mit leichteren Fahrzeugen
die See der Litteratur zu verſuchen, oft nur in kleinen
Nachen lange daſſelbe Ufer zu berudern; mit großem
Schiffe gleich in das hohe Meer geſchieht die erſte Aus¬
flucht ſchon ſelten, aber gleich mit einer ganzen Flotte
am ſeltenſten. Hier iſt letzteres der Fall; wir hoͤren
den Dichternamen Karl Immermann zum erſtenmal,
aber gleich in achtbarer Staͤrke, welche die Aufmerk¬
ſamkeit nicht erbittet, ſondern herausfordert. — Shak¬
ſpeare und Goethe ragen bei uns in ihrer Geiſtesver¬
buͤndung als eine entſchiedene Macht hervor, deren dich¬
teriſche, gebietende und befruchtende Wirkung jedes
andere Anſehen uͤberwiegt, obgleich ſie — dem deutſchen
Gemeinweſen gemaͤß, das nun einmal, zum Heil oder
auch zum Unheil, in allen Beziehungen zerſplittert iſt
— viele andere, verwandte, befreundete, ja auch ganz
[341] entgegengeſetzte und feindliche poetiſche und unpoetiſche
Maͤchte neben ſich duldet und gewaͤhren laͤßt. An jene
Macht nun und an ihre Richtung ſchließt ſich unlaͤug¬
bar unſer Verfaſſer an, und das muͤſſen wir fuͤr ſehr
gut erklaͤren, da man mit den Maͤchtigſten und Reich¬
ſten immer auch am ſicherſten und wohlhabendſten iſt;
gerade in dieſem Gebiet, und das iſt ein Hauptvorzug,
iſt auch der kuͤnſtlichen Taͤuſchung und des bethoͤrenden
Prunkes am wenigſten moͤglich; hier gilt es vor allem
Wahrheit und Kraft, und der innere Gehalt muß hier
zuletzt denn doch fuͤr die aͤußere Form einſtehen. Schil¬
ler, Calderon, Tieck, gewaͤhren ihren Anhaͤngern und
Folgern in dieſem Betreff nicht ſo vortheilhafte Selbſt¬
ſtaͤndigkeit, wie Shakſpeare und Goethe den ihrigen;
man kann bei dieſen nicht ſo ſehr Nachahmer ſein, als
bei jenen, die Art und Weiſe taugt weniger dazu. —
Nun aber fragt es ſich, in welchem Grad und Range,
zu welchem Beruf und mit welchen Kraͤften gehoͤrt der
Verfaſſer dieſem Reiche an? Man kann in einem Heere
vielerlei ſein zwiſchen dem Feldhauptmann und Gemei¬
nen! Hier finden ſich fuͤr unſere Beurtheilung allerlei
Schwierigkeiten. Es fragt ſich nicht nur, was Einer
jetzt iſt, ſondern hauptſaͤchlich, was Einer naͤchſtens
werden wird, und ein Faͤhnrich, der den Oberſten ſchon
in ſich traͤgt, iſt ohne Zweifel mehr werth, als ein
Hauptmann, der lebenslang Hauptmann zu bleiben hat.
Iſt unſer Verfaſſer zwanzig Jahr alt, und ſchreitet fort,
[342] ſo haben wir in ihm unſerem Vaterlande einen neuen
aͤchten Dichter zu preiſen; iſt er vierzig Jahr alt, und
bleibt ſtehen, ſo iſt in ihm ein ſchoͤnes Talent zu bekla¬
gen, das eines hoͤheren Zieles wuͤrdig ſchien, ohne daſ¬
ſelbe erreicht zu haben. — Wir koͤnnen wirklich uͤber
die vorliegenden Trauerſpiele kein vollſtaͤndiges Urtheil
ausſprechen. Sie ſind nicht das Vortrefflichſte, was
wir kennen; ſie ſind weit entfernt von dem Schlechte¬
ſten; dabei ſind ſie aber auch durchaus nicht mittelmaͤßig.
Man ſieht, der Platz iſt ſchwierig fuͤr ſie zu beſtimmen;
vielleicht waͤre unſere Verlegenheit gehoben, wenn wir
uns entſchloͤſſen, ihnen verhaͤltnißmaͤßigen Antheil an
jedem Platze zuzugeſtehen. Die Unbilligkeit, die dadurch
an dem Dichter dennoch ausgeuͤbt wuͤrde, haͤlt uns aber
wieder zuruͤck. Seine Dichtungen ſind Erſcheinungen,
die bedeutend anregen und vielfach befriedigen, aber in
der Befriedigung ſelbſt doch zumeiſt nur wieder anre¬
gen; ſie ſind Glieder aus einer Reihe, die in noch
groͤßerer Folge uͤberſchaut ſein will, um erkennen zu
laſſen, ob die Richtung zum Hoͤchſten, die ſich un¬
zweifelhaft offenbart, in Anfang und Ende dieſelbe bleibt,
und alle etwan abweichenden Seitenrichtungen entweder
fruͤhzeitig verlaͤßt, oder zuletzt noch wieder aufnimmt.
Es ſind Stellen von groͤßter Schoͤnheit darin, eigen¬
thuͤmliche Zuͤge voll Tiefe und Wahrheit, wir hoffen,
dieſe Seite werde nur immer zunehmen.
[343]
Eine Hauptfrage, ob dieſe Dichtwerke die Eigen¬
ſchaft, auf die es hier vor allem ankommt, beſitzen, ob
ſie den Vorzug haben, wahrhaft dramatiſch zu ſein,
muͤſſen wir nach einigem Bedenken denn doch bejahen.
Beſonders kommt dieſer Name dem Tauerſpiel „Pe¬
trarca“ zu, worin das Geſchick eines Dichters, nach
Goethe's „Taſſo“ wahrlich kuͤhn und neu und gluͤcklich
genug in dieſer Geſtalt, mit tragiſcher Lebensfuͤlle dar¬
geſtellt wird. „Das Thal von Ronceval“ ſteht dieſem
zunaͤchſt an dramatiſchem Verdienſt, zuletzt „Edwin,“
welches der Entſtehung nach leicht das erſte ſein duͤrfte.
Wenn wir die Frage nach dem Dramatiſchen nur nach
einigem Bedenken bejahten, ſo mag daran das ſtoͤ¬
rende Verhaͤltniß Schuld ſein, in welchem die Elemente
dieſer Gattung des romantiſchen Trauerſpiels hier noch
zu einander ſtehen. Sie durchdringen einander nicht,
ſie walten zu ſehr neben einander. Das Komiſche, bei
ſehr guten, ja bei ganz vortrefflichen Einzelheiten, iſt
im Ganzen nicht reif, und mit dem Ernſte noch nicht
zum wahren Humor verknuͤpft, daher manche Theile
und Geſtalten ſich zu viel herausnehmen, und dadurch
andere Theile und Geſtalten zu ſehr in das Epiſche
niederdruͤcken. Wir haben ſo viele aͤußerlich dramatiſche
Werke, die es innerlich nicht ſind, die blos Romanzen
bleiben wollten, oder Idyllen. Vor ſolcher Gefahr,
welcher ſelbſt Oehlenſchlaͤger nicht ganz und Fouqué am
wenigſten entgangen, iſt unſer Verfaſſer, der gutes
[344] Muths auf dieſe ausgezeichneten Beiſpiele blicken darf,
denn doch zu warnen! Er vergeſſe nicht, daß das
Drama, nach des Meiſters Ausſpruch, Karaktere und
Theater will, den Konflikt der Nothwendigkeit und der
Freiheit, die ſtrenge Entwickelung aͤußerer Handlung aus
inneren Bedingniſſen, und er wird ſich, von ſtarkem
Bewußtſein geleitet, feſter und ſicherer in ſeinen Anord¬
nungen auf dem erwaͤhlten Gebiete des Dramatiſchen,
ja des Theatraliſchen — welches nicht getrennt werden
ſollte von jenem — behaupten. Den Lockungen der
Scherzgebilde gebe er ſich nicht allzu leicht hin! Die
Geſinnung, welche die neuere altdeutſche und altnordi¬
ſche Ritterthuͤmelei verhoͤhnt, iſt bei einem jungen Dich¬
ter gewiß ein gutes Zeichen; aber die Ausfaͤlle gegen
Fouqué ſind in dem altengliſchen Trauerſpiele nicht wohl
angebracht, und in Betreff des Sigurd noch dazu hoͤchſt
ungerecht. — In Sprach- und Versbildung hat der
Verfaſſer vielleicht nicht ſowohl mehr zu lernen, als nur
mehr zu wollen. Er wird in ſtrengeren, ausgebilde¬
teren Toͤnen und Wendungen nur um ſo eigenthuͤmli¬
cher ſein. Maß und Ernſt werden ihm, da es ihm an
Naturkraft nicht fehlt, mehr zuſagen, werden ihn mehr
foͤrdern, als Ungebundenheit und Eigenmacht; an Frei¬
heit und Laune wird es ihm deshalb nicht mangeln: je
weniger ſie abgeſondert vorkommen, deſto ſchoͤner kom¬
men ſie dem Ganzen zu gut; auch in dieſer Beziehung
[345] iſt „Petrarca“ das vorzuͤglichſte unter den gegebenen
Stuͤcken.
2.
Brief an einen Freund uͤber die falſchen Wander¬
jahre Wilhelm Meiſters. Von Karl Immermann.
Muͤnſter, 1823. — Dieſe Erſcheinung iſt in einer Zeit,
wo das Beduͤrfniß aͤchter Kritik auf allen Seiten ſo
dringend gefuͤhlt, und ihre Einwirkung in allen Zweigen
der Litteratur doch ſo aͤngſtlich vermißt wird, als kein
geringer Gewinn zu rechnen. In der That iſt der Man¬
gel an aͤchter Kritik auffallend, bei ſeltſamen Reich¬
thuͤmern in allen uͤbrigen, ſind wir in dieſem Fache
verwaiſt und verarmt. Wenn wir die gelegentlichen
Spruͤche Goethe’s — die goldenen Worte z. B. uͤber
Calderon und Shakſpeare, uͤber Lukrez, Byron, Man¬
zoni, in den Heften von Kunſt und Alterthum — nicht
ausdruͤcklich anrechnen, ſo bleibt im weiten Umfange
deutſcher Lande jetzt, nachdem die bedeutenden Stimmen
von A. W. und Fr. Schlegel, von Tieck, von Hum¬
boldt, und einigen Andern dieſes Ranges, verſtummt
ſind, nur der einzige Boͤrne zu nennen, welcher Ein¬
ſicht, Geiſt, Witz und Kraft in dem Maße vereint, um
ein Kritiker im hoͤheren Sinne zu heißen. Als wuͤrdiger
Genoſſe tritt jetzt Immermann auf. Aus dieſer erſten
kleinen Schrift iſt ſein ganzer Beruf zu erkennen. Auch
hat er ſich gleich einen Gegenſtand von großem Inhalt
[346] erwaͤhlt, um ſeine erſte Kraft daran zu verſuchen. Dieſer
Gegenſtand fordert nicht weniger, als die muthige Er¬
oͤrterung des auch in der Aeſthetik waltenden Urſtreites
zwiſchen Licht und Finſterniß, die entſchiedene Sonderung
des Guten und Schlechten, der Wahrheit und der Luͤge;
alle Taͤuſchung, Heuchelei, Verlarvung und Entartung
des aͤſthetiſchen Sinnes mußte zur Sprache kommen.
Der Verfaſſer hat ſeine Aufgabe trefflich geloͤſt. Das
frevle Beginnen, welches von dem Troſſe der Litteratur
mit Jubelgeſchrei empfangen wurde, auch hin und wieder
einige beſſere, doch ſchwachmuͤthige Seelen verwirrte,
hat bei den Einſichtigen durch ſeine Geringfuͤgigkeit nur
Mitleid, durch ſeinen ſchlechten Zweck nur Entruͤſtung,
durch ſeine ſittlich-aͤſthetiſche Verkehrtheit nur Ekel er¬
wecken koͤnnen. Nicht einmal die geringe Erfindung der
ganzen Unterlage ſeines Buches gehoͤrt dem Verfaſſer
der „falſchen Wanderjahre“ eigen an. Der Einfall,
Wilhelm Meiſtern mit dem Markeſe auf Wanderſchaft
zu ſchicken und uͤber Goethe’n ſchwatzen zu laſſen, kommt
ſchon in dem Buche: „Die Verſuche und Hinderniſſe
Karls, Berlin 1808“, doch nur in Kuͤrze, ohne boͤs¬
liche Abſicht, als voruͤbergehender Scherz vor, der aber
ſchon damals harten Tadel erfuhr, und hier keineswegs
vertheidigt werden ſoll. Aus dieſen Paar Seiten iſt nun
eine ganze Reihe von Buͤchern hervor geſponnen! —
In ſolchem Falle war es ſchwer, inmitten der gerech¬
ten Empoͤrung nicht leidenſchaftlich zu werden, und da
[347] nur immer aus Gruͤnden fort zu ſprechen, wo dieſen
im voraus boͤsliche Willkuͤr entgegentritt. Deſto lobens¬
werther iſt hier Immermann's Verfahren. Er ſagt zwar
ſelbſt im Verfolge ſeines Briefes, er verlaſſe den Stand¬
punkt der Unpartheilichkeit, und ſchlage ſich ganz auf
die Seite Goethe's: aber welcher Richter thut dies nicht
am Ende durch ſeinen Urtheilsſpruch? Die Unter¬
ſuchung aber fuͤhrt er voͤllig partheilos; er verlaͤugnet
ſich ſein vorausgeahndetes Ergebniß ſo lange, bis er es
auch auf dem Wege der Eroͤrterung wirklich gefunden
hat. Er theilt ſich ſeine Sache ordentlich ein, und nimmt
ſie Punkt fuͤr Punkt vor; kein Scheingrund iſt ihm zu
gering, um ihn ungehoͤrt zu verwerfen, keine Ausflucht
zu abſchweifend, um ſie unverfolgt zu laſſen. Er iſt
dabei weder pedantiſch ausgeſponnen, noch vornehm breit,
ſondern gedraͤngt und feſt beiſammen, und obwohl in
abkuͤrzender Zeiterſparung, giebt er die Unterſuchung doch
vollſtaͤndig und mit allen Belegen. Er hat eben ſo klare
als tiefe Anſchauungen von dem Weſen der Poeſie und
ihren Verhaͤltniſſen. Eine edle, treue Geſinnung —
und nicht blos in dichteriſchen Dingen — reife Einſicht
und ſicheres Bewußtſein, mit allen Waffen des Talents
ausgeruͤſtet, ſind in dieſen Blaͤttern unverkennbar. Die
Quellen, aus denen ein dichteriſches Kunſtwerk entſteht,
die Art und Weiſe, wie es ſich hervorbildet, die Be¬
ziehungen, in welche es tritt — dieſe zarten, wichtigen,
oft beruͤhrten, immer wieder abhanden kommenden Ge¬
[348] heimniſſe ſind hier in buͤndiger Wahrheit zu Tage gelegt.
Ueber die Beziehung der Dichtkunſt zum Chriſtenthum
iſt ein koͤſtliches Wort ausgeſprochen, wie es bisher
noch nicht gehoͤrt war! Sehr neue und auffallende Saͤtze
ſprach der Verfaſſer mit ſo ſicherem Urtheil, in ſo be¬
gruͤndeter Geſtalt aus, daß man ſich taͤuſchen koͤnnte
und meinen, er ſage Bekanntes. Manche einfache Be¬
merkungen und Ausdruͤcke, die faſt unſcheinbar im Rede¬
fluſſe dahingehen, konnten nicht ohne Wegraͤumung ganzer
Maſſen von Irrthuͤmern dieſe freie Bahn finden. Ueber
Schiller ſagt er unvergleichliche Sachen, treffliche Wahr¬
heiten, durch Vorurtheil und Feigheit auch in erweck¬
teren Gemuͤthern bisher faſt erſtickt. Ueber den Karak¬
ter des Zeitalters, Goethe’s, uͤber die Eigenheiten ſeiner
Poeſie, dann einzeln uͤber den Fauſt, den Egmont, die
Iphigenia, Eugenia — lauter goldene Worte, und darun¬
ter ſolche, die vorher noch nicht geſagt worden! Nur
ein großer Sinn iſt ſolcher Auffaſſung faͤhig. — Sehr
treffend hat der Verfaſſer in dieſer Schrift ſelbſt den
Grund angegeben, weßhalb in verſchiedenen Zeitaltern
auch der Dichter in verſchiedener Beſchaffenheit daſteht.
Unſer Zeitalter hat mit ſeiner ganzen Bildung auch die
Dichtkunſt offenbar zu der Hoͤhe gefuͤhrt, wo die geſon¬
derten Gebiete des Geiſtes in Verbindung treten, ſich
vermiſchen und durchdringen. Unſere Dichter ſind nicht
die des Mittelalters, wo heitere Naturgabe dem gluͤck¬
lichen Minneſaͤnger ſein fertiges Fach anwies, innerhalb
[349] deſſen er zufrieden wirkte und ruhte; unſere Dichter
muͤſſen außer jener Gabe noch manche andere beſitzen;
ſie duͤrfen nicht nur, ſie muͤſſen ſogar, in gewiſſem
Betracht, als Dichter zugleich Philoſophie, Religion,
Natur- und Geſchichtskunde, Gelehrtheit und Kritik ver¬
einigen, weil dieſe insgeſammt jetzt ein Theil des Lebens¬
ſtoffes geworden ſind, den fuͤr jene Zeit die Einrichtun¬
gen und Abentheuer der Welt allein ausmachten. Unſere
Dichter ſind unſere Lehrer zugleich und unſere Weiſen.
Seit Leſſing hat dieſer Karakter in unſerer Litteratur ſich
immer reicher entwickelt; Herder, Jean Paul, Schiller,
die beiden Schlegel, Tieck, und Goethe ſelbſt, ſind leuch¬
tende Beiſpiele. Hiermit iſt denn auch genug erklaͤrt,
wie wir denſelben Schriftſteller, den wir kuͤrzlich als
wacker aufſtrebenden Dichter angeruͤhmt, dieſem unbe¬
ſchadet nun auch als aͤchten Kritiker preiſen duͤrfen,
und wir wuͤnſchen, daß beide Richtungen, in wechſel¬
ſeitiger Erhellung, ſich in dieſem edlen Geiſte, zur Freude
vieler Gleichgeſinnten, immer herrlicher entfalten moͤgen.
3.
Cardenio und Celinde. Trauerſpiel in fuͤnf Aufzuͤgen
von Karl Immermann. Berlin, 1826. Ein in
jedem Betracht hoͤchſt ausgezeichnetes Werk, ein Erzeug¬
niß, dem unverkennbar ſein Gepraͤge aufgedruͤckt iſt!
Der Verfaſſer, welcher vor fuͤnf Jahren mit drei Trauer¬
ſpielen ſeine dichteriſche Laufbahn ſehr bedeutend begann,
[350] und ſeitdem durch mehrere wuͤrdige Werke fortſchreitend
auszeichnete, hat in dieſem neueſten einen abermaligen
Fortſchritt beurkundet, der ihn entſchieden auf eine Stufe
ſtellt, welche keiner der vielen gleichaltrigen Mitſtreben¬
den in dieſem dramatiſchen Fache bis jetzt erreicht hat.
Dieſe Anpreiſung geben wir um ſo zuverſichtlicher und
unpartheiiſcher, als gerade das gegenwaͤrtige Trauerſpiel,
welches ſie veranlaßt, uns auch zu nicht geringem Tadel
noͤthigt. Unſer Dichter verbindet mit Kraft und Fuͤlle
der Dichtung eine Eigenthuͤmlichkeit derſelben, welche
durch Annaͤherung an große Muſter keinesweges gefaͤhr¬
det iſt in Nachahmung uͤberzugehen. Im Gegentheil,
ſie hat ſich mehr zu huͤten, daß ſie nicht, durch uͤber¬
großes Feſthalten an ſich ſelber, ihre urſpruͤnglich freie
Geſtalt veliere, und in Eigenſinn ausarte. Der Dichter
bedarf, wie jeder im Leben wahrhaft Thaͤtige, zu ſeiner
groͤßeren Selbſtſtaͤndigkeit einer fortwaͤhrenden Hingebung
derſelben, und nur in dem ſteten Wechſel beider Rich¬
tungen wird in der Poeſie wie im Leben wahrhaft Großes
vollbracht. Wer nichts hinzugeben hat, als ganz und
immer ſich ſelbſt, der iſt zum Nachahmer verdammt,
und gehoͤrt in aller Weiſe der Maſſe an; wer aber zu
ſehr zuruͤckhaͤlt und beharrt, der vereinſamt; beide ſchei¬
den aus dem Kreiſe des eigenthuͤmlichen Lebens und
Wirkens ab. Die Eigenthuͤmlichkeit muß ſich hervor¬
tretend gleichſam mit der Welt ausgleichen, mit dem
umgebenden Leben in Harmonie ſetzen, erſt dann iſt ſie
[351] gelungen ſie ſelbſt. Hierin nun, glauben wir, hat Im¬
mermann durch das vorliegende Trauerſpiel einen großen
Erfolg dargethan; auf dieſen gruͤndet ſich unſer entſchie¬
denes Lob; wo der Erfolg noch unvollſtaͤndig erſcheint,
darf ſich verhaͤltnißmaͤßig unſer Tadel anknuͤpfen. —
Der gewaͤhlte Stoff iſt einer der ſchoͤnſten und gluͤcklich¬
ſten fuͤr die tragiſche Behandlung. Wir koͤnnen hier
nicht in die Vergleichung eingehen, wiefern Immermann
von ſeinen Vorgaͤngern, die den naͤmlichen Stoff behan¬
delt haben, abweicht, oder mit ihnen zuſammenſtimmt.
Andere Blaͤtter haben hieruͤber bereits Einiges beige¬
bracht. Uns genuͤge hier im Ganzen die kraftvolle,
ſichere Haltung anzuerkennen, welche ſowohl den Fort¬
ſchritt der Begebenheit als die Entwickelung der Karak¬
tere in dem Immermann’ſchen Werke vortheilhaft be¬
zeichnet. Durch eine weiſe Oekonomie, die von großer
Selbſtbeherrſchung zeugt, iſt in der Fuͤlle hier ein ſelte¬
nes Maß beobachtet, deſſen Graͤnzen in den meiſten
Faͤllen weder Ueppigkeit uͤberſchreitet, noch zu enge Zu¬
ſammenziehung des Nothwendigen unerfuͤllt laͤßt. In
der Handlung iſt raſcher Fortgang, nirgends muͤßige
Hemmung, und die Karaktere beduͤrfen zu ihrer voͤlligen
Entwickelung keiner andern Huͤlfsmittel, als der in der
Handlung begruͤndeten Thaͤtigkeit. Die Karakterzeich¬
nung Cardenio’s, des dunkelgluͤhenden Spaniers, iſt
meiſterhaft; dann Celinde’s, der reizenden Selbſtſtaͤndig¬
keit in Liebeshuld; ferner Olympia’s und Lyſander’s,
[352] an welchen beiden einer minder kundigen Hand viel mi߬
lingen konnte. Auch die uͤbrigen Karaktere ſind gut
gehalten, und gemaͤß ihrer verſchiedenen Betheiligung
gebuͤhrend hervorgehoben. Durch die warme, ja gluͤhende
Farbengebung des dichteriſchen Ausdrucks iſt gleichwohl
der Konflikt herber Gegenſaͤtze in heitere Gemeinſchaft
zuſammengefaßt. So wird der Leſer, angezogen von
dem Inhalt und von der Darſtellung, durch den Wechſel
der Scenen und Akte von Anfang bis zu Ende von
ſtets belebter Theilnahme begleitet, und kommt erſt mit
dem Schluſſe wieder zu Athem, und mag alsdann erſt
uͤberlegen und pruͤfen, was ihm denn eigentlich darge¬
boten worden. Von wenig Buͤchern laͤßt ſich dergleichen
ruͤhmen! — Betrachten wir aber nun naͤher die orga¬
niſchen Beſtandtheile, auf welche das Gegebene ſich in
dieſer Bearbeitung zuruͤckfuͤhren laͤßt, ſo unterſcheiden
wir zunaͤchſt vierfachen Gehalt, der ſich zu dem Ge¬
maͤhlde gruppirt. Zuerſt die Liebesgeſchichte in ihrer
einfachſten Auffaſſung, der eigentliche Kern des Ganzen;
dann die Univerſitaͤt, welche den Schauplatz liefert; hier¬
auf die Zauberei, die als Einwirkendes bedeutend wird;
endlich im Hintergrunde die Schlacht von Lepanto, gleich¬
ſam den Anfang und das Ende verſoͤhnt zuſammen¬
ſchlingend. Von dieſen vier Hauptſtuͤcken finden wir die
Liebesgeſchichte durchaus gelungen, den Hintergrund
trefflich benutzt und an das Weſentliche gluͤcklich ange¬
ſchloſſen, die Univerſitaͤt groͤßtentheils mit Wirkung auf¬
[353] gefuͤhrt, beſonders auch zuletzt, wo die Worte des Kanz¬
lers ernſt und wuͤrdig das Tragiſche zu hoͤherer Beziehung
auſſchließen:
Dagegen koͤnnen wir dem, was in der Univerſitaͤt ſich
als Studentenweſen, und, zum Gegenſatz deſſelben, aus
dem Buͤrgerleben als Philiſterei darſtellt, nicht vollen
Beifall geben; es finden ſich gluͤckliche Umriſſe eines
aͤchten Humors, einzelne treffende Zuͤge, aber das Ganze
laͤßt unbefriedigt, man fuͤhlt darin ein Zuwenig, und
doch zugleich ein Zuviel, woraus man ſchließen muß,
daß hier das rechte Maß noch nicht vorhanden. Voͤllig
tadelhaft aber duͤnkt uns die Art, wie der vierte jener
Beſtandtheile, die Zauberei, den uͤbrigen beigemiſcht
worden. Sie erſcheint uns gar nicht dramatiſch, ſon¬
dern macht den an ſich ganz dramatiſchen Stoff durch
ihre Beimiſchung novellenartig. Das Geiſterreich wird
bei Shakſpeare auf ganz andere Weiſe in's Spiel gebracht,
als Bild und Ausdruck fuͤr das Menſchlich-Wirkliche,
nicht aber an deſſen Statt; wir ſprechen natuͤrlich nicht
II. 23[354] von denjenigen Stuͤcken, wo das Feenhafte als eine
eigene Welt in willkuͤrlicher Selbſtſtaͤndigkeit auftritt,
ſondern von Hamlet, Macbeth u. ſ. w. Aber in der
That iſt in dem Immermann'ſchen Trauerſpiele die Zau¬
berei nicht nur ſtoͤrend, ſondern auch uͤberfluͤſſig, und
es muͤßte dem Dichter ein Leichtes ſein, durch wenige
Zuͤge die Hexe Tyche aus dem novellenartigen Karakter
in den aͤcht dramatiſchen heruͤberzufuͤhren. Die Geſichts¬
punkte, aus welchen dieſer Tadel ſich ergiebt, laſſen
ſich hier nicht ausfuͤhrlich begruͤnden. Gehen wir von
dem Ganzen auf das Einzelne zuruͤck, ſo finden wir in
dieſem neuen Stuͤcke Immermann's den reichſten Schmuck
poetiſcher Zuͤge, den wir ſchon ſeinen fruͤheren Erzeug¬
niſſen nachruͤhmen konnten, in nur noch groͤßerer Ge¬
diegenheit wieder. Nicht nur einzelne Stellen in großer
Anzahl, ſondern ganze Auftritte ließen ſich zum Beweis
anfuͤhren. Meiſterhaft iſt z. B. das Geſpraͤch Cardenio's
mit Celinde'n, wo dieſe ihren Widerwillen gegen die
Ehe, ſelbſt gegen die Ehe mit dem Geliebten, kund
giebt, und wo der Dichter das groͤßte Lob verdient,
dieſen zum vollen Laufe ſo verfuͤhrenden Stoff in dem
Maße ſo weniger feſten Schritte gehalten zu haben. Wir
ſchließen unſere Anzeige mit lebhaftem Dank fuͤr den
Dichter, mit neuen Erwartungen von ihm, und mit dem
guten Vertrauen, daß ſeine dramatiſchen Erzeugniſſe
kuͤnftig nicht nur dem Leſer aus dem Buche, ſondern
[355] auch dem Zuſchauer und Hoͤrer von der Buͤhne herab
zum Genuſſe gereichen werden.
Helene von Tournon. Erzaͤhlung von Amalia von
Helvig, geborne Freiin von Imhof. Berlin,
1824. 12.
Die ſchoͤne Erzaͤhlung, welche die geiſtreiche Verfaſſerin
uns hier ſchenkt, gehoͤrt der beliebten Gattung an, die
das Geſchichtliche mit dem Dichteriſchen verwebt, und
unter den Haͤnden der beruͤhmteſten Schriftſteller in
unſern Tagen ſo großes Gluͤck gemacht hat. Der Stoff
iſt aus den Memoiren der Koͤnigin Margaretha von
Valois genommen und eben ſo anmuthig als ruͤhrend;
ſchon fruͤher hat die Hand einer franzoͤſiſchen Schrift¬
ſtellerin von Ruf, der Frau von Souza, ſich daran ver¬
ſucht; die gegenwaͤrtige Bearbeitung aber iſt ganz un¬
abhaͤngig von jener entſtanden. Wir wollen dem Genuſſe
der Leſer durch Mittheilung des Ganges und der Haupt¬
zuͤge der Geſchichte nicht vorgreifen; wir begnuͤgen uns
blos, unſere Meinung auszuſprechen, daß die Behand¬
lung eben ſo gelungen, als die Wahl des Stoffes gluͤck¬
lich iſt. Die Pracht des Hoflebens, die feine Sitte da¬
maliger Bildung, die tiefſte Liebesinnigkeit erregter Her¬
zen, wie ſie in dieſen Formen ſich zu geſtalten und zu
23 *[356] entwickeln hat, alles dies hat hier eine wuͤrdige, mit
den Gegenſtaͤnden vertraute, in beiden Sphaͤren, jenes
aͤußeren und dieſes inneren Lebens, einheimiſche Feder
gefunden. Frau von Helvig, an Staͤrke und Schoͤnheit
des Talents wie an Reinheit und Sicherheit der Rich¬
tung gewiß eine der erſten unſerer jetztlebenden deutſchen
Dichterinnen, hat ihre reiche Gabe der Darſtellung wie
im lyriſchen Fache, ſo auch im epiſchen ſchon fruͤh be¬
waͤhrt. Schiller ſelbſt war es, der die Erſtlinge ihrer
zarten Jugendmuſe, das liebliche Epos: „Die Schwe¬
ſtern von Lesbos“ in die Litteratur einfuͤhrte. „Die
Sagen vom Wolfsbrunnen“, ein ſpaͤteres Erzeugniß,
in welchem nordiſche Dichtung an die Oertlichkeit von
Heidelberg gluͤcklich angeſchloſſen worden, bewies, daß
die Dichterin nicht minder in ſchoͤner Proſa als in wohl¬
lautenden Hexametern zu ſchalten vermag. In gegen¬
waͤrtiger Novelle aber zeigt ſie ſich als Meiſterin von
mehr als einer Kunſt. Viele der ſchoͤnen dichteriſchen
Zuͤge verrathen zugleich das Auge und die Hand, die
mit der Kunſt der Mahlerei innig befreundet ſind. Mit
Leichtigkeit ſtellen ſich die einzelnen Auftritte ihrer Er¬
zaͤhlung dem Leſer ſichtbar vor Augen, und wie die
Einbildungskraft kann auch ſogleich der Griffel ihrem
Vortrage folgen. Dabei weiß ſie die beſchreibende Aus¬
mahlung todter Einzelheiten, welche Walter Scott's
Romane ſo ſehr dehnen und belaſten, zu vermeiden, viel¬
mehr iſt alles hier fortſchreitend und lebendig, und nir¬
[357] gends ein Uebermaß, das in dem Umfange des kleinen
Werkes von anderthalbhundert Seiten ſtoͤrend wuͤrde.
In das Ganze iſt ein eigenthuͤmlicher geiſtiger Reiz ver¬
flochten, der die Begebenheit in dem Lichte einer reichen
Vorſtellungsweiſe und feſten Denkart erſcheinen laͤßt.
Man ſieht, daß die Verfaſſerin uͤber die Looſe der Welt,
die Schickungen des Lebens und die edleren Bezuͤge
deſſelben, mit Ernſt und Waͤrme tief gedacht hat, und
daß die Ergebniſſe dieſer Gedanken, auch wenn die letz¬
teren nicht ausdruͤcklich hingeſtellt ſind, jedem Gegen¬
ſtande zu gute kommen, der in die Sphaͤre dieſer Be¬
handlung tritt. Der Quelle, aus welcher der Stoff
diesmal geſchoͤpft iſt, mag es zum Theil zuzuſchreiben
ſein, daß der Ton der Erzaͤhlung, beſonders im Anfang,
etwas alterthuͤmlich gehalten worden, welches jedoch die
meiſten Leſer nicht einmal tadeln werden. — Das artige
kleine Buch, dem eine entſprechende Ausſtattung beſon¬
ders auch durch eine Zeichnung von Cornelius gegeben
worden, iſt der hohen deutſchen Fuͤrſtin, Prinzeſſin Wil¬
helm Koͤnigliche Hoheit, in ſechs ſchoͤnen Stanzen zuge¬
eignet, und verdient allgemein die guͤnſtige Aufnahme,
die ihm in dieſem hoͤchſten Kreiſe noch vor der oͤffent¬
lichen Bekanntwerdung ſo reich zu Theil geworden iſt.
[358]
Beitraͤge zur Poeſie, mit beſonderer Hinweiſung auf
Goethe. Von Johann Peter Eckermann.
Stuttgart, bei Cotta, 1824.
Von dieſem Buche muͤſſen wir ein Wort ſagen.
Der Verfaſſer hat eine gelaſſene, ruhige Einſicht in
die Poeſie und Kritik, und iſt ein feiner, kundiger
Leſer der Goethe'ſchen Schriften, zu deren Verſtaͤnd¬
niß und Wuͤrdigung er nach ſeiner Weiſe redlich bei¬
traͤgt. Mit den klaſſiſchen Alten ſcheint er wohlver¬
traut, wenigſtens hinlaͤnglich, um durch ihren Geiſt
die Scheu empfangen zu haben, ihren großen Ge¬
ſtaltungen nicht mit modernem Duͤnkel abentheuerliche
Phantasmen unterzuſchieben. Unter den Neuern iſt
ihm wie billig Shakſpeare hochgeehrt, unter den Neue¬
ſten unſer geiſt- und lebensvoller Jean Paul Richter.
Uns haben dieſe wohlgemeinten Blaͤtter mehr zugeſagt,
als manche der geruͤhmten, aber doch nur faſtidioſen
Wunderlichkeiten, die uͤber Goethe in kritiſchen Baͤnden
an den Tag gekommen ſind. Ohne Anſpruch auf blen¬
dende Blitzſchlaͤge oder gewaltiges Wetterleuchten in
ſeinem aſthetiſchen Bemuͤhen, giebt Herr Eckermann
meiſt nur einfache Saͤtze, gleichſam die Elemente des
Dichter-Verſtaͤndniſſes, ſtillkraͤftige Wahrheiten, verkannt
oft genug und außer Acht geſetzt, aber dennoch feſtbe¬
[359] ſtehend und unentbehrlich, wie die Lehrſaͤtze der Gram¬
matik, auf die auch der beſte Redner zuweilen verwieſen
werden muß. — Das Buch wird eroͤffnet durch ein¬
zelne Gedanken und Anſichten, in denen ſehr viel
Schoͤnes und Treffendes vorkommt. Ueber Natur und
Kunſt in der Poeſie, uͤber poetiſche Karaktere, uͤber
die Ausbildung der ſinnlichen Anſchauung, uͤber den
poetiſchen Stoff und die poetiſche Form, uͤber die Wahl
der letztern z. B. bei dem deutſchen Trauerſpiel, und
uͤber andere Gegenſtaͤnde dieſer Art verbreiten ſich die
folgenden Aufſaͤtze. Die ausfuͤhrlichen Bemerkungen uͤber
die „Wahlverwandtſchaften“ machen dem ſicheren, durch
keinen Wahn bethoͤrten, durch keine Schwaͤche der Ge¬
woͤhnlichkeit geaͤngſteten Kunſtſinne des Verfaſſers, ſo
wie ſeiner liebevollen Aufmerkſamkeit fuͤr dieſes Goethe’ſche
Meiſterwerk, alle Ehre; doch ließe ſich fuͤr die Anſicht
des Ganzen auch wohl noch ein andrer Geſichtspunkt
feſthalten, als der hier gewaͤhlte, und wir moͤchten,
nicht zum Schaden der tiefen Dichtung, wohl das grade
Gegentheil der von dem Verfaſſer aufgeſtellten Ergeb¬
niſſe ausfuͤhren! — Hoͤchſt merkwuͤrdig iſt die Rich¬
tung, in welcher der Verfaſſer die Poeſie, nachdem ihre
Unabhaͤngigkeit von moraliſchen Zwecken im Einzelnen
nun wohl hinreichend bei den kritiſchen Richterſtuͤhlen
feſtſteht, dennoch im Ganzen wieder auf ein hoͤchſtes
ſittliches Gebiet zuruͤckleitet, und dieſe ſittliche Beziehung
in allen Abſtufungen ſinnreich durch Goethe’s Gedichte
[360] verfolgt. — Sehr treffend und beachtenswerth ſind
die Bemerkungen uͤber den Zuſtand und den Einfluß
unſerer heutigen Kritik-Verwaltung, beſonders in den
Tagesblaͤttern, und wie noͤthig oder doch wenigſtens
wuͤnſchenswerth es ſei, daß eine litterariſche Erſcheinung
nicht blos durch den Verlauf der Zeit allmaͤhlig, ſon¬
dern augenblicklich und gleichzeitig in lebendiger Be¬
ruͤhrung durch aͤchte Kritikworte zu ihrer gebuͤhrenden
Wuͤrdigung gelange. — Wir glauben, daß nicht nur
jeder ſinnvolle Leſer deutſcher Dichtungswerke manche
Befriedigung, ſondern auch insbeſondere jeder Genoſſe
der zahlreichen Schaar, die an unſerem Parnaß aufzu¬
klimmen bemuͤht iſt, manche gute Belehrung aus dieſem
Buͤchlein ſchoͤpfen kann!
Das Maͤdchen von Andros, eine Komoͤdie des
Terentius, in den Versmaßen des Originals,
uͤberſetzt von F. M. B. Mit Einleitung und An¬
merkungen herausgegeben von K. W. L. Heyſe.
Berlin, 1826. 4.
Es iſt ein gluͤckliches Zeichen der Bildung, ſowohl
bei Nationen als bei Individuen, wenn ihnen, neben
eigenthuͤmlicher, ſelbſtgeſchaffener Geiſtes- und Kunſt¬
welt, die klaſſiſche Litteratur der Griechen und Roͤmer
[361] in rechten Ehren und guter Uebung bleibt. Der Werth
der unſterblichen Hervorbringungen des Alterthums be¬
ruht, außer den Vorzuͤgen einer in ſich ſelbſt vollendeten,
ihrer Art unerreichbaren Meiſterſchaft, fuͤr uns noch
beſonders auch darauf, daß ſie uns eine andere, eine
abgeſchloſſene Welt darbieten, eine Vergleichung fuͤr die
unſrige, einen neuen Standpunkt fuͤr dieſelbe, und ſomit
alle die Beziehungen und Verbindungen, Anregungen
und Thaͤtigkeiten, durch welche zu wahrhafter, freier
Bildung der Geiſt emporringt. Dieſes Vortheils wird
ſchon jeder inne, der nur zwei oder mehre Sprach- und
Litteraturgebiete, wenn auch nur moderner und nahver¬
wandter, verbindet und umfaßt, um wie viel mehr aber
derjenige, dem die ganze Macht und Herrlichkeit der
antiken Welt in die moderne heruͤberſtrahlt! Wir Deutſche
haben es uns von jeher angelegen ſein laſſen, die klaſ¬
ſiſche Litteratur aͤmſig zu pflegen, ihren Geiſt und ihre
Werke uns treulichſt anzueignen, und die ausgezeichnet¬
ſten, fruchtbarſten Erfolge haben dieſe Bemuͤhungen
gekroͤnt. Der eigentlichen philologiſchen Arbeiten zu
geſchweigen, ſo ſind in unſrer eignen Litteratur, binnen
etwa ſiebenzig Jahren, in jener Richtung Ergebniſſe
hervorgebracht worden, dergleichen in ſo kurzem Zeit¬
raum die ganze Litteraturgeſchichte kaum noch ein Bei¬
ſpiel aufweiſen kann. Unſre Sprache iſt eine andere
geworden, eine ganz neue Dichtung hat ſich erhoben,
eine neue Ueberſetzungskunſt, die ſich auch fuͤr moderne
[362] Sprachen und Formen ergiebig beweiſt. Die Arbeiten
Klopſtock’s, Ramler’s, Voß’s, Goethe’s, Schlegel’s,
Wolf’s und Anderer, die in ſolcher Weiſe das klaſſiſche
Alterthum unter uns gepflegt und angeſiedelt, ſtellen
ſich als ein Nationalverdienſt dar, dem wir die wichtigſte
geiſtigſte Eroberung verdanken. Noch ſind wir indeß
keineswegs in genuͤgendem Beſitz, wir haben noch vieles
zu gewinnen und anderes wiederholt zu befeſtigen; immer
neu will dieſer Boden bearbeitet ſein. Nicht erfreulich
waͤre daher, wenn der litterariſche Eifer, durch ſo man¬
cherlei andere Gegenſtaͤnde und Reize angezogen, in jener
Hinſicht geſchwaͤcht erſchiene oder minder fruchtbar; den¬
noch war dies in den letztern Jahren einigermaßen der
Fall; der von Voß, von Humboldt und Wolf gebahnte
Weg zeigt ſich weniger befolgt als in fruͤherer Zeit. Um
ſo freundlicher begruͤßen wir eine Erſcheinung, welche,
wie die hier anzuzeigende, ebenſo beſcheiden als ver¬
dienſtlich und werthvoll, in der feſten Bahn jener Vor¬
gaͤnger einen neuen Preis zu verdienen wagt; neu auch
in Betreff des Gegenſtandes, denn Terentius erſcheint
uns hier zum erſtenmal in dieſer ſeiner eigentlichen Ge¬
ſtalt. Der Ueberſetzer hat ſich ſeine Aufgabe mit Ein¬
ſicht und Strenge geſtellt, und ſie im Ganzen mit Treu
und Gewandtheit geloͤſt. Die Bedingungen dieſer noch
wenig behandelten Versmaße mußten um ſo ſchwieriger
zu erfuͤllen ſein, als auch die Sprachweiſe ſelbſt, in
welcher die roͤmiſche Komoͤdie ſich deutſch vernehmen
[363] laſſen ſoll, hier neu zu geſtalten oder zu waͤhlen war,
denn nichts Anerkanntes konnte zum Vorbilde dienen.
Die Leichtigkeit des Ausdrucks, die Natuͤrlichkeit und
Anmuth des Redefluſſes ſind hinwieder um ſo lobens¬
werther, je mehr ſie mit der metriſchen Genauigkeit und
Ausbildung, die oft nur auf Koſten jener ſich erreichen
zu laſſen ſcheint, gleichen Schrittes zuſammengeht. Der
Ueberſetzer hat in beiden, in der Leichtigkeit wie in der
Strenge, alles geleiſtet, was von gluͤcklichem Takt und
bewaͤhrter Geſchicklichkeit zu verlangen ſteht. Durch ſeine
gelungene Arbeit, in welcher ſich uͤberhaupt ein lebhafter,
auffaſſender und anſprechender Geiſt regt, iſt uns nicht
nur ein ſchaͤtzenswertes metriſches Gebild in unſerer
Sprache mehr geworden, ſondern nun auch fuͤr jeden
Laien, deſſen Verlangen das fremde Idiom entgegen¬
ſtand, die Moͤglichkeit eroͤffnet, eine Komoͤdie des Te¬
rentius in deſſen eigenſtem Geiſt und eigenſter Geſtalt
deutſch anzuſchauen und zu genießen. Hierzu hat der
Herausgeber durch ſeine zweckmaͤßigen Anmerkungen
beſtens beigetragen. Die Vorrede ſpricht mit gruͤnd¬
licher Einſicht und treffendem Urtheil von der Ueber¬
ſetzungskunſt und deren verſchiedenen Arten, ihren Schran¬
ken und Abwegen. Die Einleitung handelt von den
Versmaßen; die genaue und klare Darſtellung zeigt den
mit dem Gegenſtande voͤllig vertrauten Meiſter. Moͤchten
ſolche metriſche Studien, deren Werth nur derjenige
vollkommen wuͤrdigen kann, der ihre Tiefen erdringt,
[364] von unſern jungen Dichtern nicht ſo ſehr vernachlaͤſſigt
werden, als gewoͤhnlich zu geſchehen pflegt! Dieſe ſchein¬
bar geringfuͤgigen Einſichten und Uebungen haͤngen doch
zuletzt mit den hoͤchſten Erſcheinungen und Wirkungen
der Kunſtſchoͤnheit zuſammen, ſie bilden ſchon fuͤr ſich
allein einen weſentlichen Zweig der Dichtkunſt und Sprach¬
kunde. Den Schluß des Buches macht die Ueberſetzung
einer Satire des Horatius (I, 9) vom Herausgeber,
zu deren Lobe wir nur zu ſagen brauchen, daß ſie dem
von Friedrich Auguſt Wolf in dieſer Art aufgeſtellten
Muſter wuͤrdig zur Seite ſteht. Der Anlaß, welchen
wir in Betreff manches Einzelnen, ſowohl bei dieſer
als bei der erſtern Ueberſetzung, noch zu beſondern Be¬
merkungen nehmen koͤnnten, moͤge billig andern Blaͤttern,
welche derlei naͤher angeht, zur Benutzung verbleiben.
Das Leben der Frau von La Mothe-Guyon,
von ihr ſelbſt beſchrieben. Aus dem Franzoͤſi¬
ſchen uͤberſetzt von Henriette von Monten¬
glaut, geb. von Cronſtain. Drei Theile. Berlin,
Sander, 1826. 8.
Wie man auch urtheilen mag uͤber die Denk- und
Gefuͤhlsweiſe, welche in dieſem Buche herrſchen, ſoviel
kann als ausgemacht gelten, daß daſſelbe zu den merk¬
[365] wuͤrdigſten und eigenthuͤmlichſten Erzeugniſſen der litte¬
rariſchen Welt gehoͤrt. Sehen wir auf den wahren Ertrag
eines Buches, auf die Stimmung, welche nach dem
Leſen zuruͤckbleibt, auf den geiſtigen und ſittlichen Ge¬
winn, der in jener Stimmung ſich zu erkennen giebt,
ſo giebt es kaum eine Gattung, welche in dieſem Be¬
treff mehr leiſten und wirken kann, als wohlgeſchriebene
Selbſtbiographieen. Die verſchiedenſten Arten der Be¬
handlung, des Stoffes und des Talents erreichen auf
dieſer Bahn daſſelbe Ziel. Jedes aͤcht und wahrhaft
aufgezeichnete Menſchenleben iſt ein Spiegel, in welchem
jedes andere ſich beſchauen kann; im Innern der Seele,
in den geheimſten Eindruͤcken, Wuͤnſchungen und Be¬
gierden iſt das Geſchick des Menſchen gleich, das ver¬
ſchiedene Maß der Zutheilung, die verſchiedene Aeuße¬
rungsweiſe der Bildung, ja die verſchiedenen Verhaͤlt¬
niſſe ſelbſt, unter welchen jedes Leben auftritt, erſcheinen
nur als ſo viele verſchiedene Beleuchtungen deſſelben
Gegenſtandes, des immer anziehenden und hauptſaͤchlich
wichtigen, des Menſchendaſeins uͤberhaupt. Sei es Ben¬
venuto Cellini oder Rouſſeau, Jung-Stilling oder Retif
de la Bretonne, Alfieri oder Goethe, der uns ſeine
Lebensgeſchichte erzaͤhlt, immer wird ſich ein hohes In¬
tereſſe und eine reiche Belehrung damit verknuͤpfen,
freilich verſchieden nach dem Maße der Welt, die ſich
darbietet, und des Geiſtes, der ſie umfaßt. Wenn ſich
mit Rouſſeau und Goethe in dieſer Hinſicht ſchwerlich
[366] ein dritter Autor gleichſtellen laͤßt, ſo gebuͤhrt doch der
Frau von Guyon unter den Andern unbeſtreitbar ein
erſter Platz; ſelbſt der treffliche Jung-Stilling muß ihr
an geiſtiger Eigenheit und einem ſeltſamen Reize weit
nachſtehn, obwohl er mehr aͤußeres Leben mit darſtellt.
Dieſe wunderbare Frau, in deren Daſein alles, was im
Menſchen leibt und lebt, ſich vergeiſtigte, deren Sinne,
nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was ſonſt
nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemuͤth durch
Ueberreizung ſeine zarteſten Anlagen bis zur Heldenſtaͤrke
trieb, iſt ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen
Enthuſiasmus. In dieſem Gebiete, wo wir leider ſo
oft Schwaͤchlichkeit und Albernheit ihr truͤbes Unweſen
treiben ſehn, erſcheint ſie mit Licht und Kraft, mit
Philoſophiſchem Scharfſinn und aͤchter Begeiſterung, nicht
als verdrehte, unſichre Kopfhaͤngerin, ſondern als kuͤhne,
freie Virtuoſin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬
biſchof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet
und verfolgt von dem gewaltigen Biſchof von Meaux,
dem großen Boſſuet; auch Frau von Maintenon und
Ludwig der Vierzehnte ſelbſt nehmen an dieſen Dingen
nahen Antheil, es entwickelt ſich ein großer Kampf der
innerlichen Geiſtesgewalt mit den aͤußerlichen Maͤchten
der Kirche und des Staats. Die ſuͤße Liebesinnigkeit,
welche die edle Frau beſeelt, ihre Herzenskraft, welche
jene in ſeltſamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬
den jetzt leichteres Verſtaͤndniß finden, als damals, wo
[367] allgemeine Einſicht und umſchauende Geiſtesbildung un¬
gewoͤhnlich waren, und jedes Gebiet gleichſam nur von
ſeinem beſonderen Wiſſen und Wollen erfuͤllt war. Jetzt
wird niemand den reinen und hohen Verhaͤltniſſen mit
dem Pater Lacombe eine rohe Mißdeutung geben wollen;
im Gegentheil, wir werden die Umgeſtaltung, welche
hier die unteren Seelenkraͤfte in hoͤhere erfahren, mit
Bewunderung anerkennen, und dem philoſophiſchen Ge¬
halt nachforſchen, der dieſen ſogenannten Schwaͤrmereien
inwohnt und in ihnen fortwirkt. Solche Myſtiker, licht
und kraftvoll, duͤrfen uns willkommen ſein, auch wenn
wir ihrer Richtung nicht angehoͤren koͤnnen noch wollen;
ſie ſtaͤrken uns allenfalls auch in der unſrigen. Wir
empfehlen daher mit gutem Gewiſſen dieſes Buch allen
und jeden Leſern und Leſerinnen, denen die Betrachtung
innerer Zuſtaͤnde und der Einblick in merkwuͤrdige Ent¬
wickelung eines hochbegabten Menſchen nicht ohne Reiz
iſt, und welche Unterhaltung und Belehrung und Er¬
bauung ſich gern vereinen. Das franzoͤſiſche Original
iſt aͤußerſt ſelten, daher die Ueberſetzung daſſelbe nicht
blos in Hinſicht der Sprache vertritt, ſondern auch den¬
jenigen willkommen ſein muß, die das Buch ſonſt wohl
franzoͤſiſch zu leſen vorzoͤgen. Die Uebertragung des
Werkes der Frau von Guyon, welches ſie „die Stroͤme“
(les Torrens) genannt hat, von Koſegarten, iſt mit
Beifall aufgenommen worden; das eigentliche Haupt¬
werk unſerer fruchtbaren Verfaſſerin, dieſe Lebensbe¬
[368] ſchreibung, darf nicht minderen erwarten. Wir ſchließen
dieſe Anzeige mit ein paar karakteriſtiſchen Worten, welche
uns uͤber Frau von Guyon von guter Frauenhand zuge¬
kommen ſind. „Madame Guyon‟ — heißt es in einem
uns vorliegenden Fragment — „konnte nicht ohne Bild
leben, im gleichen Fall mit allen Menſchen, — und
wollte doch mit der Welt nichts zu thun haben; hatte
ein erregbares Gemuͤth und philoſophiſchen Geiſt. Sie
dachte mit großer Kraft in's Leere hinein, und bildete,
weil ihr Herz Nahrung bedurfte, die ganz beſtimmte,
erzaͤhlte Geſchichte von Chriſtus noch einmal nach. Sie
fuͤhrte gleichſam ſein Leben in ſich auf: lebte es noch
Einmal, wurde zum Chriſtuskinde; weil ſie ſich nicht
erlaubte, ein anderes Leben zu fuͤhren.‟ Noch iſt zu
bemerken, daß die Ueberſetzerin auch einige der zahl¬
reichen Gedichte der Frau von Guyon in deutſchen Verſen
wiedergegeben hat. Jedoch finden wir die Auswahl nicht
vortheilhaft; die kleinen lyriſchen Stuͤcke waͤren vorzu¬
ziehen geweſen, es giebt darunter Sachen von großer
Originalitaͤt und Kraft, wie z. B. dieſe Zeilen:
Sangbare Lieblichkeit iſt in folgenden:
Ein andermal forderte ſie gradezu, Gott wolle doch
nicht ſo lang Geduld haben, da er ja die Herzen aͤndern
koͤnne. Solche Stuͤcke wuͤnſchen wir uͤberſetzt zu ſehen,
ſo wie das herrliche Lied von Fenelon: „Adieu vaine
prudence, je ne te dois plus rien“, welches ganz im
Geiſt und Andenken der Guyon gedichtet iſt, und an
edler, kindlicher Einfalt, bei ſo erhabenen Gedanken,
wenig ſeines Gleichen hat.
Magnus Gottfried Lichtwer's Schriften.
Herausgegeben von ſeinem Enkel Ernſt Ludwig
Magnus von Pott. Mit einer Vorrede und
Biographie Lichtwer's, von Friedrich Cramer.
Halberſtadt, 1828. 12.
Lichtwer iſt unſeres Wiſſens der einzige deutſche Dich¬
ter, der aus Gottſched's verrufener Schule ſich in der nach¬
folgenden litterariſchen Periode mit Ruhm behauptet, ja
II. 24[370] den dort begonnenen hier noch anſehnlich geſteigert hat.
Dieſer Umſtand allein verbuͤrgt ſchon ein beſonderes
Verdienſt, einen gediegenen Gehalt, eine gelungene Form
ſeiner Gedichte. Und ſo verhaͤlt es ſich in der That.
Seine Fabeln vorzuͤglich ſind es, die ihm unter den
beſſern deutſchen Schriftſtellern einen ehrenvollen Rang
ſichern, und noch jetzt leben viele derſelben im Munde
der Jugend fort, gleich denen von Gellert und Gleim,
die man noch immer nicht, wie ſehr auch in dieſer
Beziehung alles Moͤgliche ſchon verſucht worden, durch
Angemeſſeneres und Gebildeteres hat verdraͤngen koͤnnen.
Um nur bei Lichtwer ſtehen zu bleiben, wem von uns
waͤren nicht „die ſeltſamen Menſchen“ und „der kleine
Toͤffel“ wohlbekannt und in angenehmer Erinnerung?
Die hier dargebotene Sammlung der ſaͤmmtlichen Schrif¬
ten dieſes wackern Dichters fehlte bisher unſerer Litte¬
ratur, wir begruͤßen ſie als eine dankenswerthe Gabe.
In einem kleinen Duodez-Bande, bequem in die Taſche
zu ſtecken, huͤbſch und rein gedruckt, findet ſich alles
beiſammen, was von Lichtwer noch vorhanden iſt, vier
Buͤcher Fabeln, ein Lehrgedicht: „das Recht der Ver¬
nunft“ in fuͤnf Buͤchern, und vermiſchte Gedichte. Un¬
ter den letztern ſind einige ganz vorzuͤgliche, und laſſen
bedauern, daß deren nicht mehrere aufzufinden geweſen.
Der Autor war, wie man ſieht, nicht ſonderlich frucht¬
bar, er dichtete nicht Tag fuͤr Tag, noch fuͤr Honorar;
nicht auf Beſtellung, ſondern in Stunden der Muße,
[371] neben großer Geſchaͤftsthaͤtigkeit, zu ſeiner eigenen Freude,
und fuͤr ein ſtaͤtiges, ausdauerndes Publikum. Von
ſeinen Lebensumſtaͤnden erhalten wir durch die voraus¬
geſandte, ſehr wohlgeſchriebene Biographie ausreichende
Nachricht. Er gehoͤrte einer Familie an, welche, wie¬
wohl buͤrgerlich, von ihren Vorfahren weit zuruͤck eine
zuverlaͤſſige Kenntniß bewahrte, und ſich immerfort in
ehrenvollen und anſehnlichen Verhaͤltniſſen erhalten hatte.
In Sachſen 1719 geboren, machte er ſeine Studien
in Wurzen und Leipzig, und dachte ſich in Wittenberg
dem akademiſchen Lehramte zu widmen; allein guͤnſtige
Umſtaͤnde brachten ihn in preußiſchen Staatsdienſt und
er wurde in Halberſtadt bei der Juſtiz angeſtellt. Das
preußiſche Verhaͤltniß uͤbte diejenige Anziehung, welche
demſelben von jeher eigen war und ſich fortdauernd
herrlich bewaͤhrt: Fremdes ſo in ſich aufzunehmen und
zu geſtalten, als ob es ſchon laͤngſt einheimiſch geweſen,
auch auf Lichtwer aus; er wurde mit ganzer Seele
preußiſch, und ſelbſt in den ſchweren Kriegszeiten, da
Sachſen auf der Gegenſeite ſtand, vermochten die alten
Erinnerungen an dortige vieljaͤhrige Begruͤndung ſeiner
Familie den friſchen Eindruͤcken der Gegenwart keinen
Eintrag zu thun. Der Geiſt und die Kraft, welche
Preußen zeigte, und die Bewunderung des großen Koͤ¬
nigs, zu welcher man hingeriſſen war, bildeten den
Grund zu einem hoͤchſten Patriotismus, den auch Licht¬
wer heiß empfand. Auch genoß er in ſeinem neuen
24 *[372] Verhaͤltniſſe bald Anerkennung, Befoͤrderung, litterari¬
ſches Anſehn und geiſtige Befreundung in reichem Maaße.
Dennoch mußte er am Abend eines ſo ausgezeichneten
und gluͤcklichen Lebens eine Kraͤnkung erfahren, die er
nicht ſtark genug war zu verwinden. Der Großkanzler
von Carmer machte eine Beſichtigungs-Reiſe durch die
Provinzen, um den Zuſtand der Juſtizbehoͤrden naͤher
einzuſehen. Er kam auch nach Halberſtadt, und wohnte
einer Sitzung der dortigen Regierung bei. Lichtwer hatte
den Vortrag einer ſehr verwickelten Sache und wurde
dabei ungewoͤhnlich weitſchweifig. Der Großkanzler legte
deutlich Ungeduld an den Tag; Lichtwer wollte dieſes
nicht bemerken, ſondern fuhr fort im nicht lichtvollen,
breiten Vortrage, welcher ohnehin keine Annehmlichkeit
hatte und durch manche Gewohnheiten, ſo wie durch
den ſaͤchſiſchen Dialekt, dem nicht daran Gewoͤhnten
auffallen mußte. Als er endlich zum Schluſſe gekom¬
men, hielt der Großkanzler ſeinen Unwillen nicht zuruͤck;
er machte Lichtwer'n Vorwuͤrfe uͤber die Weitſchweifig¬
keit und ſagte ihm, daß er ſich bei'm Vortrage doch der
einfach klaren Kuͤrze, welche alle Welt in ſeinen Fabeln
bewundere, befleißigen moͤchte. Der Dichter haͤtte ſich
geſchmeichelt fuͤhlen koͤnnen, aber der Geſchaͤftsmann,
der bisher eines nicht geringeren Ruhmes genoſſen, war
toͤdtlich verletzt; er zog es ſich zu Herzen und ſtarb
kurze Zeit nachher, im Juli 1783. „Das Denkmal
der Unſterblichkeit,“ ſo ſchließt ſein Biograph, „errich¬
[373] tete Lichtwer ſich ſelbſt: in keiner Galerie deutſcher Na¬
tionaldichter fehlt ſein Name. Ein ſchoͤnes National-
Eigenthum des Vaterlandes ſind ſeine Dichtungen, welche
von Geſchlechtern zu Geſchlechtern, Eltern dem Kinde,
Lehrer dem Schuͤler uͤbergeben zur Erheiterung des
Geiſtes, zur Erweckung der Tugend und zur Pflege des
Schoͤnen!“ Ein guter Kupferſtich, das Bild Lichtwer's
und ſeine Unterſchrift gebend, iſt der huͤbſchen Ausgabe
beigefuͤgt.
Rußland in der neueſten Zeit. Eine Skizze, von
E. Pabel. Dresden und Leipzig, 1830. 8.
Einer Schrift, welche dreiſt auftritt, und ſchon da¬
durch bei einem Theile des Publikums Anſehn gewinnen
moͤchte, dabei einen Gegenſtand betrifft, von welchem
die gehoͤrige Kunde und Anſicht zu haben, dem Gelehr¬
ten wie dem Geſchaͤftsmanne wichtig ſein muß, einer
ſolchen Schrift, gleich der vorliegenden uͤber Rußland,
darf wohl ein kurzes Wort, welches ſie auf ihre wahre
Geltung zuruͤckſetzt, hier gewidmet ſeyn.
Der Verfaſſer will unſern Blicken Rußland in ſei¬
ner neueſten Geſtalt und in deren bedeutendſten Haupt¬
theilen kuͤrzlich vorzeigen. Er hat, ſeiner Verſicherung
[374] nach, lange Jahre in Rußland gelebt, und ohne Zwei¬
fel vieles dort naͤher kennen gelernt, was dem Fern¬
ſtehenden entweder gar nicht, oder doch nur unſicher
kund wird. Soll indeß dieſer Umſtand den Vortheil,
welchen er fuͤr den beſtimmten Zweck wohl verheißen
kann, auch wirklich leiſten, ſo muͤſſen noch viel hoͤhere
Bedingungen eingeraͤumt und erfuͤllt werden. Eine
Schilderung Rußlands! Wen duͤrfte dieſe Aufgabe nicht
erſchrecken, in welcher ſo unermeßlicher Stoff der ſel¬
tenſten Auffaſſung und der ſchwierigſten Erforſchung ſich
zuſammenhaͤuft! Die Maſſe von Laͤndern und Voͤlker¬
ſchaften, von Einrichtungen und Zuſtaͤnden, von Staats-
und Volksleben, von altem Geſchichtsboden und neuen
Willenskraͤften, wodurch das ruſſiſche Reich die mannig¬
fachſten und aͤußerſten Gegenſaͤtze, wie ſie bei andern
Nationen nur in der Aufeinanderfolge vieler Jahrhun¬
derte wiederzufinden ſind, als gleichzeitige darſtellt, dieſe
Fuͤlle von Beziehungen, welche hier ſich durchkreuzen,
in einen Geſammtabriß zu faſſen, erfordert einen Mann,
der mit gruͤndlicher Geſchichtskunde und heller Einſicht
in die Getriebe alles Volks- und Staatslebens, mit
dem gelaͤuterten Wiſſen ſo vieles unentbehrlichen Ein¬
zelnen, zugleich hochragenden Geiſt und großartigen
Ueberblick vereinigt, und bei ſolchen Eigenſchaften auch
allenfalls nur kuͤrzere Zeit an Ort und Stelle geweſen
ſein duͤrfte. Der Verfaſſer verraͤth die Luſt, auf alles
dies Anſpruch zu machen, ſo beſtimmt und fertig beſpricht
[375] er ſeinen Gegenſtand nach allen Rubriken, als wuͤrden
dieſe durch ſeine Nachrichten und Behauptungen wirklich
erledigt, da er doch im Grunde nichts liefert, als was
jedem Fremden von nur nicht verſchloſſenem Sinn ein
gelegentliches Sehen und Hoͤren auch bei kuͤrzerem Auf¬
enthalte von ſelber zuſpielt. Nur ſolche zufaͤllige Er¬
gebniſſe, und zum Theil ſchon ganz allgemein bekannte,
zum Theil einſeitige und mangelhafte, ſind hier zu fin¬
den, nicht die eines gruͤndlichen, auf eine vollſtaͤndige
Durchdringung gerichteten Studiums, noch die eines
genialen Wahrnehmungsſinnes.
Die geſchichtliche Einleitung iſt duͤrftig. Der Ver¬
faſſer ſieht in dem Geſchehenen nur das Aeußere; die
große Folge von Graͤueln, welche in der ruſſiſchen Ge¬
ſchichte freilich nicht fehlen, laͤßt ihn dieſe als eine bar¬
bariſche tief herabſetzen, wobei er nicht bedenken mag,
daß auch die hoͤchſtgebildeten Voͤlker, Franzoſen, Eng¬
laͤnder und Italiaͤner, und ſelbſt Griechen und Roͤmer,
hierin den Ruſſen ziemlich gleichſtehen, und daß alſo der
Werth und der Gehalt der Geſchichte wohl in andern
Bezuͤgen muͤſſe zu ſuchen ſein, als in dieſen. Was der
Verfaſſer behauptet, daß „das ruſſiſche Volk mit ſeiner
eignen Geſchichte bekannt zu machen bisher den Abſich¬
ten ſeiner Herrſcher geradezu entgegen geweſen,“ wird
ihm niemand glauben, der aus der großen Reihe for¬
ſchender, von der Regierung veranlaßter und unterſtuͤtz¬
ter Arbeiten uͤber die ruſſiſche Geſchichte auch nur die
[376] von Schloͤzer und Ewers kennt. Der Ausſpruch, Karam¬
ſin's Werk ſei mehr ein hiſtoriſcher Roman, iſt dadurch
noch nicht begruͤndet, daß in demſelben einige politiſche
Ruͤckſichten beobachtet worden, von welchen, auch ohne
den Einfluß einer noͤthigenden Behoͤrde, ſelbſt ein Hume
und Johannes Muͤller nicht frei ſind, deren Schriften
unter die Romane deßhalb zu verſetzen niemand berech¬
tigt iſt.
Die abſprechend rauhe Behandlungsart, welche in
dieſer erſten Abtheilung auffaͤllt, ſchimmert auch in den
folgenden durch, wo die innere Staatsverwaltung, die
verſchiedenen Staͤnde, der Adel, der Buͤrger, die Geiſt¬
lichkeit, der Bauer, darauf die Juden, dann noch ins¬
beſondere Eſthland und Liefland, und ſeltſam genug
auch die Moldau und Wallachei, durch allerlei Ausſpruͤche
und beiſpielartige Hiſtoͤrchen beleuchtet werden ſollen.
Ueber das Heer werden die einſeitigſten Aeußerungen
vorgebracht. Manches uͤber neuere Ereigniſſe Geſagte
iſt durch die Zeitungen bekannt, andres entſchieden falſch,
z. B. daß der Kaiſer Alexander dem Grafen Roſtop¬
ſchin die Vernichtung Moskau's anbefohlen habe. Eini¬
ger Vorgaͤnge und Verhaͤltniſſe, die allerdings fuͤr den
Geſchichtforſcher des Stoffes und Reizes uͤberviel haben,
gedenkt der Verfaſſer auf eine Weiſe, die freimuͤthig
ſein ſoll, bei der aber in Ermanglung hinreichender Auf¬
ſchluͤſſe doch nichts herauskommt, als bei dem ernſten
[377] Leſer etwa die Meinung, daß es beſſer geweſen waͤre,
die Sachen lieber gar nicht, als ſo zu beruͤhren.
Im Verfolge der Schrift muß der Verfaſſer denn
doch mit gerechtem Sinne die vielen Segnungen, welche
ſeit den letzten Regierungen uͤber das ruſſiſche Reich
ausgegangen ſind, huldigend anerkennen. Er thut es
mit ausdrucksvollem Eifer, der aber doch gegen den
andern Inhalt in einem unangenehmen Mißklange bleibt,
ſo daß man zweierlei Richtungen zu ſehen glaubt, die
getrennt nebeneinander laufen, und ſich nicht vereinigen
wollen, weil der hoͤhere Standpunkt fehlt, in welchem
die Widerſpruͤche ſich loͤſen koͤnnten.
Die Darſtellung des ruſſiſchen Reichs in ſeinen viel¬
geſtalteten inneren und aͤußeren Beziehungen harrt eines
Schriftſtellers von ſtaͤrkerem Beruf, eines Werkes von
andrer Geſtalt. Die wahre Wuͤrdigung des koloſſalen
Stoffes, der ſich dorten aufthut, und der eben ſo koloſ¬
ſalen Kulturbewegung, zu welcher ihn mehr und mehr
die Zeit emporhebt, muͤßte, wir ſind es uͤberzeugt,
grade jetzt fuͤr Europa von hoͤchſtem Intereſſe ſein, und
ſtatt der ſo oft mit aller Uebertreibung vorgeſpiegelten
Gefahr vielmehr die groͤßten Erwartungen dorther verkuͤn¬
den, welchen in der That die Erfuͤllung ſtets nur maͤch¬
tiger entgegenkommt! Solche Maſſen und Kraͤfte, dem
Strome der Bildung, des Voͤlkerwohls, des Rechtes
und der Ordnung unwiderruflich zugefuͤhrt, haben nur
ſelten ſich der Weltgeſchichte in ſolch buͤndigem Werk¬
[378] zeuge zum gedeihlichen Dienſte dargeboten, als wie in
dieſem, auf den vielfachſten Wegen gleichzeitig begon¬
nenen Fortſchreiten des ruſſiſchen Reichs. —
Wanderung durch Baterhaus, Kriegeslager und
Akademie zur Kirche. Mittheilungen aus dem
bewegten Leben eines evangeliſchen Geiſtlichen.
Magdeburg 1832. 8.
Die Geſchichtſchreibung liefert uns von großen Be¬
gebenheiten und Thaten gewoͤhnlich nur ein unvollſtaͤn¬
diges Bild, das wir durch anderweitige Mittheilungen,
wie Poeſie, Romane, Memoiren, Briefe und ſonſtige
zufaͤllige Schriften ſie darbieten, zu einem lebendigen
Gemaͤlde ergaͤnzen muͤſſen. Wir ſehen an den Zeiten,
fuͤr welche uns dieſe Art von Ueberlieferungen ganz
fehlen oder doch nur ungenuͤgend vorhanden ſind, wie
vieles uns ohne ſie dunkel und in unſicherem Zweifel
bleibt. Waͤren aber auch die großen Geſtalten und Er¬
gebniſſe fuͤr die geſchichtliche Anſchauung des fortſchrei¬
tenden Menſchengeſchlechts allein hinreichend, ſo wuͤrde
doch der menſchliche Antheil, der auch das perſoͤnliche
Leben, die kleinen, das taͤgliche Daſein ausmachenden
Umſtaͤnde erkennen will, ſich nicht abweiſen laſſen.
Welchen Reiz wuͤrde nicht fuͤr jeden Hiſtoriker das
[379] Tagebuch eines fraͤnkiſchen Kriegers aus der Zeit Karl’s
des Großen haben, oder jedes Bruchſtuͤck von Denk¬
wuͤrdigkeiten eines Moͤnchs, der mit dem heiligen Anno
von Koͤln gelebt haͤtte! Welchen Preis wuͤrden wir
nicht fuͤr irgend ſolche Ueberlieferungen aus der Zeit
des großen Kaiſers Heinrichs des Voglers gern hin¬
geben! Wir Deutſchen wiſſen den Werth des ſtill¬
kraͤftigen Einzellebens wohl zu ſchaͤtzen, die eigenthuͤm¬
liche Tuͤchtigkeit auch des Untergeordneten anzuerkennen
und ausbildend zu erhoͤhen; aber Denkmale deſſelben
haben wir weniger als andere Nationen aufzuzeigen,
wir haben ſie weniger hervorgebracht oder doch weniger
bewahrt und geſammelt. Unſere neueſte Zeit indeß
verſpricht, dieſen Vorwurf etwas zu mindern, und bietet
uns ſchon manche gegluͤckte Schilderung des mittleren
und unteren Volkslebens dar. Die von Goethe her¬
ausgegebene Reihe von Lebenslaͤufen und Kriegsge¬
ſchichten, des Deutſchen Gil Blas, des Feldjaͤgers und
ſeiner Kameraden, ferner Nettelbecks Leben und noch
andere Schriften ſolcher Art bezeugen den Werth dieſer
Richtung.
In einer ſchon hoͤheren und gebildeteren Sphaͤre,
aber durchaus eben ſo auf dem Boden des Perſoͤnlichen
und Privaten und eben ſo im Gewande ſchlichter Na¬
tuͤrlichkeit und liebenswuͤrdiger Offenheit, bewegt ſich
der Inhalt des kleinen wohlgeſchriebenen Buches, welches
wir gegenwaͤrtig zur Anzeige bringen. Der Verfaſſer,
[380] geboren 1797 zu Muͤhlhauſen, Sohn eines trefflichen
Predigers, deſſen Ernſt und Redlichkeit er mit wahrer
Pietaͤt ruͤhmt, erzaͤhlt ſeine im Elternhauſe und auf der
Schule verlebte Kindheit und Jugend mit allen den
kleinen, aber dem inneren Menſchen wichtigen Zuͤgen
und Begebenheiten, welche die erſten Lebenserfahrungen
bilden und hierdurch den Karakter begruͤnden helfen.
Im Jahre 1815 wird er, dem Rufe des Koͤnigs fol¬
gend, was ihm in den fruͤheren Kriegsjahren bei ſeiner
großen Jugend der Wille des Vaters verſagt hatte,
preußiſcher Jaͤger, macht die Schlacht von Ligny mit,
wird verwundet und kehrt, nach mannigfachem ferneren
Wechſel des Kriegslebens, endlich in das aͤlterliche
Haus zuruͤck. Nun bezieht er die Univerſitaͤt, zuerſt
Halle, dann Jena, und auch hier dringt das allgemeine
Leben der Zeit noch maͤchtig genug auf ihn ein. Das
theologiſche Studium fuͤhrt ihn ſodann ruhig den vor¬
gezeichneten Weg, er wird Kandidat und hierauf Pre¬
diger in dem Kreiſe des lieben Heimathlandes. Seinem
Berufe mit pflichtmaͤßiger Treue und Thaͤtigkeit folgend,
bleibt er raſtlos bemuͤht, auch die weltlichen Verhaͤlt¬
niſſe uͤberall aufmerkſam zu betrachten und, ſo viel er
vermag, zum Guten hinzulenken. Sein Wirken erwei¬
tert ſich fruchtbar, die in ihm durch die erlebten Er¬
eigniſſe geweckten Geiſtes- und Gemuͤthskraͤfte finden
des Stoffes genug in der naͤchſten Umgebung, den Sinn
und die That eines tuͤchtigen, wohlgeſinnten, ſeinem
[381] Koͤnige und Lande innig anhaͤnglichen Mannes darzu¬
thun. Als durch die Ereigniſſe des Jahres 1830 neue
Unruhe uͤber die Voͤlker kommt und auch ſein geliebtes
Vaterland einen Augenblick neuer Kriegsgefahr ausge¬
ſetzt ſcheint, vereint all ſein Denken und Trachten ſich
in dem hohen Gedanken, fuͤr den geliebten Koͤnig und
das wohlgeordnete Vaterland jede Kraft anzuſtrengen.
Aus ſeiner Denkart und ſeinen Verhaͤltniſſen ging eine
kleine volksmaͤßige Schrift hervor: uͤber die noth¬
wendigen Eigenſchaften eines tuͤchtigen Schul¬
zen oder erſten Orts-Vorſtehers, worin dieſer
Gegenſtand mit praktiſcher Kenntniß und in einer loͤb¬
lichen Geſinnung frommer Naͤchſtenliebe und redlicher
Pflichttreue gruͤndlich eroͤrtert iſt. Die kurze Lebens¬
beſchreibung iſt gleichfalls ein Erzeugniß der Erholungs¬
ſtunden dieſer Zeit und nicht minder mit praktiſchen
Bemerkungen aus dem buͤrgerlichen und amtlichen Leben
angemeſſen durchflochten.
Was nun aber unſeren wackeren Verfaſſer vor An¬
deren auszeichnet, mit denen wir ihn litterariſch zu¬
ſammenſtellen duͤrften, das iſt die nicht abenteuerliche
und zufaͤllige, ſondern feſte und unwandelbare innere
Richtung, die durch die beſten nnd reinſten Antriebe
gleichmaͤßig begruͤndet bleibt. Er iſt ein ſchoͤnes Bei¬
ſpiel derjenigen Bildung, Vaterlandsliebe, Unterthanen¬
treue, die wir im deutſchen Mittelſtande gern uͤberall
verbreitet und wirkſam wuͤnſchen, und die namentlich
[382] unſerem Vaterlande als eine tiefe Kraft inwohnen, auf
welche in Zeiten des Dranges immer zu zaͤhlen ſein wird.
Mit Recht begruͤßen wir daher eine Erſcheinung, die
in ihrer Anſpruchsloſigkeit uns gleichwohl ein erfreu¬
liches Zeichen iſt, und die wir als ein ſolches jedem
Leſer empfehlen.
Notice sur Goethe. Genève, 1832. 8.
Einige hin und wieder durchblickende Zeichen laſſen
mit Sicherheit als den Verfaſſer dieſes ſchaͤtzbaren Auf¬
ſatzes Herrn Soret erkennen, welcher den edlen und
reichen Stoff, der fuͤr uns bereits ſo gluͤcklich durch
den Kanzler Friedrich von Muͤller bearbeitet worden,
mit geſchickter, taktvoller Hand abermals aufgenommen,
und von neuem Standpunkt aus fuͤr einen beſondern
Leſekreis eigenthuͤmlich dargelegt hat. Die Genfer
Bibliothèque universelle, fuͤr welche der Verfaſſer zu¬
naͤchſt ſchrieb, bezeichnet in der That ein eignes Gebiet,
das nicht mehr das Deutſche, und noch nicht das Fran¬
zoͤſiſche iſt, aber aus ſeiner Zwiſchenſtellung nicht nur
in dieſe beiden, ſondern vorzuͤglich auch nach England
und Italien ſtark einwirkt, und es war ſehr zweckmaͤßig,
auch von ſolchem Orte her ein gehaltreiches und ver¬
ſtaͤndigendes Wort uͤber den Mann auszuſprechen, deſſen
Groͤße weit uͤber ſeine dichteriſchen Eigenſchaften hin¬
[383] ausgeht, und noch immer zu neuen Enthuͤllungen An¬
laß giebt. Dem Beduͤrfniſſe ſeiner Leſer gemaͤß, ver¬
ſucht der Verfaſſer einen raſchen [gedraͤngten] Abriß von
Goethe's Lebensumſtaͤnden mit eben ſolchen kurzen und
feſten Hauptzuͤgen der inneren Geſchichte deſſelben zu
verbinden, und auf ſolche Weiſe ein vollſtaͤndiges, klares
Bild dieſer perſoͤnlichen und geiſtigen Krafterſcheinung
hervorzurufen. Dies iſt ihm vortrefflich gelungen, durch
ruhige, milde Anreihung von Thatſachen, durch heitre,
partheiloſe Eroͤrterung, durch einfache, lichtgebende Aus¬
drucksweiſe. Sehr natuͤrlich kann fuͤr uns nicht alles
neu ſein, was der Verfaſſer mittheilt, weder in den
Sachen, noch in den Urtheilen und Betrachtungen, die
ſich damit verbinden, allein auch das Bekannte gewinnt
in ſo gebildeter Hand einen neuen Reiz, und man ver¬
nimmt gern eine ſolche Wiederholung, die denn doch in
ihrem Zuſchnitt und Zweck eigenthuͤmlich iſt, und neue
Verknuͤpfungen theils giebt, theils veranlaßt. So
empfaͤngt in dieſer Darſtellung alles, was Goethe's
wiſſenſchaftlichen Geiſt und Gang betrifft, eine beſonders
helle [Beleuchtung], wie es ſich von dem Verfaſſer aller¬
dings erwarten ließ, der ſich als ſinnvoller und thaͤtiger
Gefaͤhrte ſeines hohen Freundes in manchen Wegen jener
Richtung bereits oͤffentlich dargethan hat. Auch nach
andrer Seite jedoch uͤberraſcht uns dieſe Schrift mit
[unerwarteten] und bedeutenden Neuigkeiten. Einige Nach¬
richten, die Verbindung Goethe's mit Lilli betreffend,
[384] muͤſſen wir als vorlaͤufige Aufſchluͤſſe, die uns auf wei¬
tere vorbereiten, ſehr willkommen heißen. Eben ſo die
merkwuͤrdigen Aeußerungen uͤber Mirabeau’s angefoch¬
tene Selbſtgroͤße und Urſpruͤnglichkeit, auf Anlaß der
neuerlich von Dumont herausgegebenen Erinnerungen
an dieſen Revolutionshelden; ſagar ein Streiflicht aus
den Memoiren des Fuͤrſten von Talleyrand blitzt hier
auf, wodurch zum erſtenmal das bisher zweifelhafte
Daſein aͤchter Denkſchriften des Erzdiplomaten unſrer
Zeit durch ein unbeſtreitbares Zeugniß erwieſen wird.
Die noch ſonſt aus Goethe’s Geſpraͤchen beigebrachten
Urtheile und Bemerkungen ſind wichtig und anmuthig,
und regen, wie alles von ihm, das eigne Nachdenken
ſtill und maͤchtig auf. Ueberhaupt wird Goethe’s Wort,
wie ſehr ſich die Menge der theils ſchon alten verſtock¬
ten, theils noch jungen verwahrloſten Kinder der Zeit
dagegen ſtraͤubt, noch weithinaus das wirkſamſte und
maͤchtigſte in unſrer Nation verbleiben, und auch die
Gegner werden ſich wider Willen vorzugsweiſe mit ihm
beſchaͤftigen muͤſſen, und grade an ihm ihre gefaͤhrlichſten
Proben beſtehen. Sind doch diejenigen, welche ſo ſehr
uͤber Mangel an Religion in ihm klagen, durch den
liebloſen Eifer, den ſie bei dieſer Gelegenheit zeigen,
mit ihrer eignen Froͤmmigkeit ſchon im zweideutigſten
Lichte! und machen doch ebenſo diejenigen, welche wohl
noch den fruͤheren Goethe gelten laſſen, aber den ſpaͤ¬
teren fuͤr ſchwach geworden erklaͤren, nur gefaͤhrlich auf¬
[385] merkſam auf die Schwaͤche, in der ſie ſelber laͤngſt
haben ſtill ſtehen muͤſſen, und den ungeſtoͤrt und kraͤftig
Fortſchreitenden weder aufzuhalten noch zu begleiten
vermochten! Denn in Wahrheit, wer von ſeinen jetzigen
lauten oder heimlichen Verunglimpfern duͤrfte ſich ruͤh¬
men, an lebendigem Antheil, an vielſeitiger Thaͤtigkeit
und friſcher, ſtets neuer und wechſelnder Produktivitaͤt
bis in das hohe Alter hinein mit Goethe gleichen Schritt
gehalten zu haben? Unſer Verfaſſer kann von dem
Greiſe, deſſen letzte Lebenszeiten er mit angeſehen, mit
vollem Rechte ſagen: „Son esprit était resté créa¬
teur, observateur et productif jusqu'à la fin, et ne
s'arrêait dans son action que là où s'arrêtaient les
forces physiques; celles-ci étaient tout ce qu'elles
pouvaient être à cet âge. Non, Goethe n'a point
eu le douloureux avertissement de sa fin prochaine
par le sentiment du déclin de ses facultés; mais il
l'a pressentie en supputant le nombre des ses an¬
nées, et à la vue des vides cruels qui se formaient
autour de lui.“ —
Hier ſei zum Schluſſe noch des artigen ſchlimmen
Streiches gedacht, der den Widerſachern Goethe's neulich
von einer Seite geſpielt worden, woher ſie ihn am
wenigſten erwarten mochten. Heine trat aus den Reihen,
wohin man ihn ſchon ſicher zaͤhlte, ploͤtzlich hervor, und
erklaͤrte, die Triebfedern der Andern zur Feindſchaft
gegen Goethe kenne er nicht, von ſich ſelbſt aber wiſſe
II. 25[386] und geſtehe er, daß ihn der Neid getrieben; durch
welches ſchalkhafte Bekenntniß nun gleichſam von ſelbſt
die umgekehrte Probe von Cendrillons Pantoffel erfolgt,
denn dem feinen gewandten Fuße, welcher den plumpen
ſchmierigen Stiefel unter die Menge geſchleudert, kann
dieſer nimmermehr paſſen und angehoͤren, aber die vielen
Andern — moͤgen zuſehen, wie ſie das Anprobiren
vermeiden! —
Ueber Goethe's Fauſt, als Einleitung zu Vortraͤ¬
gen daruͤber. Von Dr. K. E. Schubarth.
Hirſchberg, 1833. 4.
Wir duͤrfen dieſe kleine Schrift nicht mit Still¬
ſchweigen uͤbergehen, obgleich der Anlaß, ihren Inhalt
vollſtaͤndig zu beleuchten, hier nicht dringend genug iſt.
Herr Schubarth hat ſich bisher durch Schriften ausge¬
zeichnet, welche ein eigenthuͤmliches kritiſches Talent
kund geben, das aber in einer gewiſſen Einſamkeit ver¬
harrt. Dieſe Einſamkeit beſteht indeß nicht darin, daß
er in oͤde, noch kaum beſuchte Orte vordringt, und
hier einen muͤhſamen, dankenswerthen Anbau verſucht:
nein, er verkehrt auf den belebteſten Plaͤtzen unſrer
Kritik, behandelt deren ſchon am meiſten bearbeitete
Gegenſtaͤnde, und gruͤndet und ſtuͤtzt ſich auf alle beſten
Vorarbeiten. Das Eigenthuͤmliche und Einſame, das
[387] Reizvolle und Ungenuͤgende, welches in ſeinem Streben
verbunden iſt, gruͤndet ſich auf die beſondre Richtung,
die er ſich gegen das Vorhandene gewaͤhlt hat. Dieſe
Richtung ſchneidet quer durch uͤber alle bisherigen Wege,
und indem er, ohne andern Ausgangspunkt, als den
einer ziemlich willkuͤrlichen Wendung, und ohne rechtes
Ziel, jener Richtung folgt, iſt er in kurzen Zwiſchen¬
raͤumen immer wieder auf den gangbaren Straßen,
welche Leſſing, die Schlegel, Tieck und Andere gebaut
und geſchmuͤckt haben, aber auch dazwiſchen auf oͤdem
Feld und muͤhſamem Geſtein. Hierbei fehlt es nicht
an ſcharfen Wahrnehmungen, geiſtreichen Ueberblicken,
feinſinnigen Einzelheiten. Aber eine ſichre, feſte Grund¬
lage, die zugleich fuͤr Nachfolgende brauchbar waͤre,
mangelt uͤberall. Dieſe Kritik iſt fuͤr eine philoſophiſche
nicht philoſophiſch genug, fuͤr eine hiſtoriſche nicht genug
hiſtoriſch, auf eine dieſer Seiten aber muß jede aͤſthe¬
tiſche Kritik ſich wahrhaft gruͤnden, wenn ſie nicht blos
eine humoriſtiſche, ſondern eine wiſſenſchaftliche ſein will;
und die geniale wird ſogar beide vereinen. Sollten
wir den Verfaſſer mit einem ſchon bekannten Schrift¬
ſteller vergleichen, ſo muͤßte es mit Adam Muͤller ge¬
ſchehen, der eine aͤhnliche Erſcheinung war, und eigent¬
lich durch die bloße Stellung, welche er querein gegen
die vorhandenen Richtungen nahm, — indem er dieſe
ſaͤmmtlich benutzte, — alles Glaͤnzende, Geiſtreiche,
Wirkſame gewann, worin ſeine ſchoͤnen Gaben auf¬
25 ✷[388] traten. Dabei hat unſer Verfaſſer zwar nicht den ele¬
ganten Schwung verfuͤhreriſcher Beredſamkeit, aber ſtatt
deren mehr Ernſt und Tiefe der Betrachtung ſelbſt.
Die kritiſchen Andeutungen Adam Muͤllers uͤber manche
Stuͤcke Shakſpeare’s, und die Standpunkte, welche
er ſich fuͤr Goethe’ſche Werke zu waͤhlen pflegt, duͤrfen
hier der Erinnerung im Ganzen nicht abzulehnen ſein.
Zuvoͤrderſt will der Verfaſſer den Karakter der
Deutſchen in ihrer geiſtigen Entwickelung, ſodann die
Stellung Goethe’s in dieſer nach ſeinen vorzuͤglichſten
Erzeugniſſen, endlich ihn als Dichter des Fauſt be¬
trachten. Die Art, wie er zu erſterem Behufe mit
Hermann, Theodorich, Karl dem Großen, ſodann mit
Luther gebart, kann unmoͤglich befriedigen, ja kaum
laͤßlich hinhalten; auch die Verſuche, aus der Lage und
den Bedingungen des Allgemeinen die Nothwendigkeiten
der Geſtalt Goethe’s begriffsmaͤßig zu konſtruiren, ent¬
behren des feſten Grundes, auf welchem ſicher aufzu¬
treten iſt, man eilt daruͤber hin, wie uͤber ein noch zu
duͤnnes Eis, dem man nicht trauen kann. Mit den
Annahmen uͤber Roman und Drama koͤmmt es nicht
auf’s Reine, dieſe Formen der Poeſie wollen ſich ſo
nicht einfangen laſſen, hier wird Walter Scott ohne
Fug und Recht mit eingepackt, dort bleibt Cervantes
vergeſſen liegen, und da faͤllt der ganze Byron aus
dem Netze heraus! Jemehr der Verfaſſer ſeine gegen¬
ſaͤtzigen Schemata verlaͤßt, und auf das Einzelne kommt,
[389] deſto fruchtbarer und gehaltvoller wird er. Die Be¬
merkungen uͤber Shakſpeare'ſche Karaktere ſind in ihrer
Einzelheit ſchaͤtzbar, eroͤffnen weitern Einblick und Nach¬
denken. Dagegen verleitet ihn ſein Schema zu voͤlli¬
gem Mißkennen der Iphigenia und des Taſſo, in denen
er alle tragiſchen Maͤchte verabſchiedet meint! Ueber
den Werther ſagt er Treffendes, Tiefeindringendes.
Wir erwaͤhnen hierbei vor allem eines wichtig-ſonder¬
baren Umſtandes mit den eignen Worten des Verfaſſers:
„Aus muͤndlicher Mittheilung — ſagt er — erinnere
ich mich, wie Goethe erzaͤhlte, Napoleon ſei der einzige
geweſen, der ihn, den Dichter, auf ein Mißverhaͤltniß
im Werther aufmerkſam gemacht, das bis dahin den
ſchaͤrfſten, kritiſchen Blicken entgangen, weil er es aller¬
dings ſo kuͤnſtlich verſteckt, wie der Schneider ſeine
kuͤnſtliche Naht anzubringen pflege, wenn ihm durch
ein Ungluͤck in ein ganzes Stuͤck Tuch irgendwo ein
Riß kommt. Als ich um naͤhern Aufſchluß bat, erwie¬
derte er mir, ich ſei durch das, was ich uͤber Werther
in meiner Beurtheilung bereits geſagt, auf beſtem Wege
es ſelbſt zu finden; er wolle mir daher nicht vorgreifen.“
Sollte hiermit das von dem Verfaſſer kurz vorher An¬
gemerkte gemeint ſein, daß es auffallen muͤſſe, wie
Werther ſo ganz und gar nichts dafuͤr thut, in den
Beſitz Lottens zu gelangen, da es doch moͤglich und
erlaubt, und ſie noch durch kein entſchiedenes Band
ihm entzogen war, ſo koͤnnten wir dies doch nicht un¬
[390] beſtritten gelten laſſen, und muͤßten, wenn darin wirklich
Napoleons von Goethe zugeſtandene Bemerkung beſtehen
ſollte, auch dieſen beiden Autoritaͤten fuͤrerſt noch zwei¬
felnd gegenuͤber bleiben. Auch uͤber die Wahlverwandt¬
ſchaften ſagt der Verfaſſer Wuͤrdiges und Klares, woran
viel albernes Geſchrei, das man noch heutiges Tages
uͤber das angeblich Unſittliche dieſes Romans verfuͤhrt,
voͤllig zerſchellen muß. In Wilhelm Meiſters Lehr¬
jahren eine Verlaufsaͤhnlichkeit mit dem Alten Teſta¬
mente zu finden, wo denn fuͤr die Wanderjahre, was
zwar nicht ausdruͤcklich geſagt iſt, das Neue Teſtament
zur Vergleichung ſich von ſelbſt bietet, iſt wenigſtens
neu und ſeltſam genug; der Verfaſſer wird uns erlau¬
ben, erſt mehrmals Athem zu holen, ehe wir uͤber
einen ſolchen Gegenſtand mitreden. Das verfehlteſte
Wort ſcheint uns das uͤber Eugenien, mit welcher eine
Art Apologie der mittlern Staͤnde gemeint ſein ſoll.
Ueber den Fauſt, den eigentlichen Gegenſtand der
Schrift, finden wir unter vielem andern Gutgedachten
die Kernbemerkung, der Dichter lege in dieſem Werke
nicht das Geſtaͤndniß ab: ſo ſei der Menſch, weil
er ſo ſein muͤſſe; ſondern habe nur ſagen wollen:
ſo ſei der Menſch, weil er die Freiheit ſich
nimmt, es zu ſein, ohne zu muͤſſen. Doch wird
jetzt, da das vollendete Gedicht unſern Augen und
unſerm Nachdenken eroͤffnet liegt, die Kritik dieſes koloſ¬
ſalen Werkes einen ganz neuen Aufſchwung zu nehmen
[391] haben, und ſchon iſt dazu in dieſen Blaͤttern ein ſo
gruͤndlicher als geiſtreicher Anfang gemacht worden, wie
er in ſo fruͤhem Augenblick nur irgend zu erwarten ſein
konnte.
Der Verfaſſer ſchließt damit, daß die neidloſe, wahr¬
hafte Anerkennung unſeres Dichters in ſeiner ganzen
Groͤße, Herrlichkeit und Einzigkeit auch eine Art ſitt¬
lichen Problems ſei, und uͤbergiebt die in Widerſpruch
und Verneinung verharrenden Gegner ihrer eignen,
troſtloſen Verdammniß.
Eine wichtige Angabe iſt der von Goethe ſelbſt ent¬
worfene Plan zu einem zweiten Theile von Pandora's
Wiederkunft, wo man uͤber den Reichthum, welchen
der Dichter in dieſer großartigen Dichtung noch ent¬
falten und ordnen wollte, mit Recht erſtaunen muß. —
Memoiren eines deutſchen Staatsmannes aus den
Jahren 1788–1816. Leipzig, 1833. 8.
Ein wirkliches Leben, das ſich waͤhrend eines wich¬
tigen Zeitraums in großer Welt und Staatsſachen hin¬
reichend umgethan hat, liegt dieſen Memoiren zum
Grunde, die Perſon, an welcher ſich die Erlebniſſe auf¬
[392] reihen, iſt nicht ſchwer zu errathen, und wir finden es
glaublich genug, daß der Text, der vor uns liegt,
groͤßtentheils aus des Mannes eignen Aufzeichnungen
ſtamme. Nach dieſen vorausgeſchickten Angaben ſollte
man nun meinen, daß eine fuͤr Unterhaltung und Be¬
lehrung ergiebige Ausbeute erfolgen muͤßte. Das iſt
aber nicht der Fall. Zwar langweilig kann man dieſe
Memoiren nicht nennen, es wird immerfort raſch erzaͤhlt,
und auf jeder Seite ſtehen einige Thatſachen, ſo daß
man ſo viele Mannigfaltigkeiten ſich nicht eben verdrießen
laͤßt. Aber im Ganzen iſt doch die Bearbeitung gar
zu oberflaͤchlich, und die wichtigſten Ereigniſſe und merk¬
wuͤrdigſten Perſonen werden aufgenommen und entlaſſen,
ohne daß etwas Sonderliches dabei gewonnen wuͤrde,
weder allgemeine Schilderungen, noch einzelne Zuͤge,
wodurch eine hellere Beleuchtung der Gegenſtaͤnde und
eine beſtimmtere Einſicht in ihre Beſchaffenheit und ihren
Zuſammenhang hervorginge. Eben ſo, wo geſellige
Verhaͤltniſſe beruͤhrt und die kleinen Geheimniſſe des
Privatlebens enthuͤllt ſind, erkennt man zwar genugſam
den Stoff, der durch Aergerliches und Beißendes ergoͤtzen
koͤnnte, aber aus Mangel gehoͤriger Behandlung bleibt
dieſer Stoff groͤßtentheils ohne Wirkung, und man
genießt ihn ohne rechten Geſchmack und Dank. Der
Verfaſſer hat es doch ſogar fuͤr einen bloßen Weltmann
etwas zu leicht genommen, ſowohl mit dem Aufſchreiben,
als auch wie es ſcheint mit dem Leben ſelbſt, das wenig
[393] Eigenthuͤmliches zeigt, ſondern faſt nur ein gewoͤhnliches
Mitmachen deſſen, was die Verhaͤltniſſe des Tages dem
Tage auswerfen. Dabei koͤnnen wir große Geſinnun¬
gen und tiefe Gedanken allenfalls miſſen, aber irgend
eine Feinheit der Beobachtung, irgend eine Anmuth des
Beſchreibens haben wir dafuͤr von dem gebildeten Welt¬
mann zu fordern, es muͤßte denn ſein, daß er uns an
deren Statt das noch ſeltnere Geſchenk einer im ver¬
feinertſten Lebenselement bewahrten Unbefangenheit des
Sinnes und Naivetaͤt des Ausdrucks braͤchte! Von dem
allen aber iſt hier nichts. Unſer Graf von Schlitz geht
durch ſeine Bahn, wie ein Handwerksgeſell durch die
ſeine, er laͤßt das Meiſte dahingeſtellt, oder vorausge¬
ſetzt, und bemerkt nur das nothduͤrftigſte Naͤchſte. Dies
letztere bei den Handwerksgeſellen kennen zu lernen, hat
noch ſeinen Reiz, eben weil es uns nicht ſo nahe liegt,
und etwas Eigenes ſich darin abſpiegeln kann, aber bei
dem Grafen iſt es nur das gleichguͤltige Alltaͤgliche, dem
erſt ein Intereſſe durch beſondre Ereigniſſe oder durch
geiſtige Verarbeitung herzukommen muͤßte. In Frank¬
reich wuͤrde der Verfaſſer ſelbſt, oder auch ein Freund,
ein Gehuͤlfe, der Herausgeber, ja noͤthigenfalls der
Buchhaͤndler ſogar, dieſe Materialien, welche doch ein¬
mal eine gute Grundlage bilden, mit einigen Haͤnden
voll Salz beſtreut haben, und es waͤren hoͤchſt genie߬
bare Memoiren geworden; bei uns ſind ſie in ihrer
ungewuͤrzten Bereitung aufgetiſcht, und ſie ſchmecken
[394] weniger, und naͤhren gar nicht. Dazu kommt noch der
große Uebelſtand, daß die meiſten Namen, an die ſich
irgend ein voruͤbergehender Reiz knuͤpfen will, faſt immer
nur mit Buchſtaben und Sternchen angedeutet ſind,
fuͤr den nicht ſchon unterrichteten Leſer eine wahre Qual,
denn hundert Vorſtellungen und Beziehungen, die er
mit dem wirklichen Namen allenfalls verbinden und
dadurch das Erzaͤhlte beleben und erhoͤhen koͤnnte, muͤſſen
nun unterbleiben, und er bewegt ſich zwiſchen Masken
und Raͤthſeln fort, deren Loͤſung ihm aus dem Buch
allein nicht werden kann. Zu ruͤgen iſt daneben noch
die Ungenauigkeit in Beſchreibung der wirklich mitge¬
theilten Namen; auf der erſten Seite wird des Grafen
Hofmeiſter irrig Leiſering genannt; er hieß aber Leuch¬
ſenring, ein ſchon aus Goethe’s Leben und aus Jakobi’s
Briefwechſel ſehr bekannter Name, und es haͤtte ſich
uͤber den Mann, der als ein ſentimentaler Ordensſtifter
aus dem Reich nach Berlin kam, von da den Baron
Labes (nachherigen Grafen von Schlitz) auf Reiſen beglei¬
tete, nachher eine Hofdame heirathete, und mit dieſer
aus Liebe zum Jakobinerthum nach Paris ging, wo
er unter der Kaiſerregierung und Reſtauration ein herbes
dunkles Leben fuͤhrte, und im Jahre 1827 ſtarb, noch
viel Merkwuͤrdiges ſagen laſſen, ſo daß der Leſer gleich
anfangs auf den intereſſanteſten Boden geſtellt geweſen
waͤre. Aus dem Gebiete der eigentlichen Staatsſachen
iſt uns nichts vorgekommen, was als erheblich und neu
[395] zu bemerken waͤre; einige Anekdoten aus dieſer Sphaͤre
moͤgen doch beides vielleicht fuͤr manche Leſer ſein. Die
Nachrichten uͤber den diplomatiſchen Gang der Verhand¬
lungen wegen Sachſen auf dem Wiener Kongreſſe konn¬
ten im Augenblicke, als der Verfaſſer ſie ſchrieb, ein
gutes Zeugniß fuͤr ſeine diplomatiſche Gegenwart und
Aufmerkſamkeit abgeben; ſeitdem iſt die Neugier in
dieſem Betreff vollſtaͤndiger befriedigt worden, oder auch
unbefriedigt erloſchen. Der Verfaſſer hat es auch eigent¬
lich mehr auf ſeine perſoͤnliche Geſchichte angelegt, und
da finden ſich freilich Andeutungen und Bekenntniſſe
genug, die aber nicht zu gehoͤriger Reife kommen, und
ſowohl Verwicklungen als Aufſchluͤſſe auf halbem Wege
ſtehen laſſen. Wenn man auf ſo bedenkliche Sachen
hinweiſen mag, wie S. 80 in den erſten Zeilen, ſo
ſollte man mit andren Dingen nicht mehr ſo große
Umſtaͤnde machen. Die litterariſche Geſtalt und vielleicht
auch der hiſtoriſche Werth des Buches wuͤrde allerdings
gewonnen haben, wenn die darin unlaͤugbare Richtung
zum Aergerniß und Verfaͤnglichen noch etwas mehr waͤre
ausgebildet worden; und daß der moraliſche Werth dabei
noch ungefaͤhr eben ſo gut zu ſtehen kaͤme, als bei der
jetzigen halben Zuruͤckhaltung, iſt ganz außer Zweifel. —
[396]
Memoiren eines preußiſchen Offiziers. Herausge¬
geben von C. Herloßſohn. Leipzig, 1833.
Zwei Theile. 12.
Der Herausgeber deutet in dem Vorworte mit ver¬
ſtaͤndiger Einſicht den nicht zu verkennenden Werth ſol¬
cher Denkſchriften an, welche auf untern Stufen des
Lebens und der Bildung dennoch ein eignes und in
ſeiner aͤchten Wirklichkeit ſtets betrachtungswuͤrdiges Da¬
ſein abſpiegeln, und ſelbſt den groͤßeren Geſchichtsereig¬
niſſen im Widerſcheine der perſoͤnlichen und oͤrtlichen
Einzelheiten oft eine ganz neue und uͤberraſchende Faͤr¬
bung leihen, die den Gang und Gehalt des Geſchehenen
nicht ſelten beſſer einſehen laͤßt, als manches weitaus¬
holende Darlegen und Erklaͤren in's Allgemeine hin.
Aus dieſem Geſichtspunkte zeigen wir dieſes kleine Buch
gern als eine Vermehrung der ſchon bekannten Familie
der Feldjaͤger, des Deutſchen Gil-Blas u. ſ. w. an,
um welche ſich Goethe faſt zuerſt ein ſo großes Ver¬
dienſt erworben.
An der Aechtheit dieſer Memoiren haben wir keinen
Zweifel; als Dichtung waͤren ſie das groͤßte Beiſpiel
von Enthaltſamkeit, das ein Autor je geben koͤnnte, denn
uͤberall herrſcht darin das Wirkliche nur als ſolches,
und verſchmaͤht jeden Zuſatz von Abentheuerlichem und
[397] Reizendem, das nicht ſchon in jenem laͤge; auch bleibt
das geiſtige Auffaſſen der Dinge fortwaͤhrend im gleich¬
maͤßigen Verhaͤltniſſe mit dieſen ſelbſt, und ſo macht
das Ganze den ruhigen Eindruck einer natuͤrlichen, ihrem
angewieſenen Kreiſe treu verbleibenden Unbefangenheit.
Das Buch iſt bei dieſer Beſchaffenheit fuͤr geſchichtliches
Intereſſe wie fuͤr bloße Unterhaltung am rechten Orte
und zu ſeiner Zeit empfehlenswerth genug, und moͤge
mit vielen Bruͤdern, die auch nichts Ueberſchwengliches
bringen und anſprechen, unverkuͤmmert dahingehen.
Der Sohn eines Buͤrgermeiſters von Neuſtadt bei
Neiße in Schleſien iſt es, der hier ſeine Lebensgeſchichte
erzaͤhlt; im Jahre 1770 geboren, ſah er noch die letz¬
ten Ereigniſſe der Regierung Friedrichs des Großen,
wurde durch jugendliche Unbeſonnenheiten fruͤhzeitig dem
Kriegsdienſte zugefuͤhrt, und durfte in Berlin mit guten
Ausſichten bei der Artillerie eintreten. Hier hatte er
einen Vetter, den Mahler Rode, deſſen Hausweſen und
Kuͤnſtlerart geſchildert wird. Als Bombardier zog unſer
Autor mit nach Polen, wo die ungluͤcklichen Verhaͤlt¬
niſſe des Landes und der Einwohner den guten Sinn
des Mannes nicht gleichguͤltig ließen, auch eine ordent¬
liche Liebſchaft an- und abſpann, alles aber in Maß
und Schranken blieb, ohne Abentheuer und Kataſtrophe.
Der Krieg gegen Frankreich bricht aus, und fuͤhrt uns
zuerſt in die Champagne, ſpaͤter, nach dem fuͤrchterli¬
chen Ruͤckzug, zur Belagerung von Mainz, und nach¬
[398] dem dieſe Feſtung erobert worden, kehrt alles im Frie¬
den zur Heimath. Unſer Autor, der inzwiſchen Offizier
geworden, wird in Schleſien angeſtellt, und leiſtet da¬
ſelbſt bei dem Einbruche der Truppen Napoleons in den
Jahren 1806 und 1807 treffliche Dienſte, beſonders
bei der Vertheidigung der Feſtung Silberberg, die auch
von dem Feinde nicht erobert wird. Mit dem Frieden
von Tilſit hoͤren die Denkſchriften auf, obwohl der Ver¬
faſſer erſt viel ſpaͤter geſtorben zu ſeyn ſcheint.
Ein wackres Gemuͤth, von keinen ausgezeichneten
Faͤhigkeiten, aber von gutem leichten Sinn und thaͤti¬
ger Lebhaftigkeit getragen, bildet hier eine Art maͤßigen
Deutſchen Karakters, wie er uns in den mittlern Re¬
gionen des Lebens oft und leidlich genug zu begegnen
pflegt. Auch ſein Mittheilungstrieb gehoͤrt ganz in dieſe
Sphaͤre, und wird in ſeinem einfachen Zuge nur bis¬
weilen geſtoͤrt durch etwas geſteigerte, koſtbare oder auch
geſchmacklos muntre Ausdruckweiſen, die theils noch von
der Schule Zeugniß geben, theils als zufaͤllige Beute
aus dem Weltverkehr aufgehaſcht ſind. Die Betrach¬
tungen, die unſer Verfaſſer haͤufig anſtellt, wollen ſich
gern erheben, und ſind meiſtens gut und brav, ohne
doch ihren Flug ſonderlich auszudehnen. Seltſam aber
nimmt ſich ein Abriß der Franzoͤſiſchen Revolutionsge¬
ſchichte aus, den er in aller Kuͤrze nach damaligen fluͤch¬
tigen Auffaſſungen mittheilt. Man ſieht wenigſtens,
welche Thatſachen zumeiſt, und in welcher Geſtalt dieſe
[399] ſich im Publikum feſtgeſetzt hatten. Die meiſten Namen
ſind dabei grauſam verſtuͤmmelt, welches der Herausge¬
ber wohl mit ganzem Recht ſo gelaſſen hat. Nur an
ein paar Stellen wird eine ſpaͤtere Handanlegung ſicht¬
bar, z. B. wo im Revolutionskriege ein Großherzog
von Baden genannt wird, und nur ein Prinz von Baden
gemeint ſein kann. Manche Anfuͤhrungen aus dem Kriegs¬
zug in der Champagne koͤnnten faſt aus Goethe entlehnt
ſcheinen, wenn nicht die Uebereinſtimmung weit beſſer
noch ſich daraus erklaͤrte, daß gleichzeitig und unter
gleichen Umſtaͤnden von derſelben Sache geredet wird.
Die hoͤchſten Punkte des Buͤchleins ſind gleich im
Anfange das perſoͤnliche Erſcheinen Friedrich des Großen
— wo dieſer Namen vorkommt, fuͤhlt man gleich eine
ſtaͤrkende Luft —, und ſpaͤterhin die tapfre Geſinnung
und der treue Eifer fuͤr die Sache Preußens. Man
moͤchte wuͤnſchen, die glaͤnzenden Ereigniſſe der nachfol¬
genden Kriege gleichfalls dieſem Leben zu Gute kommen
zu ſehen.
Wir rechnen es dem Herausgeber zum Verdienſt,
daß er dieſe Blaͤtter, zu welchen er in dem Vorworte
ſeine eignen Gefuͤhle und Empfindungen nicht ganz uͤber¬
einſtimmend andeutet, dennoch mit Billigkeit gewuͤrdigt
und litterariſch gefoͤrdert hat. —
[400]
Biographiſche Nachrichten von der Graͤfin Maria
Aurora Koͤnigsmarck. Erzaͤhlt von Dr. Fried¬
rich Cramer. Mit einem Facſimile. Qued¬
linburg und Leipzig, 1833. 8.
Die Staats- und Kriegsgeſchichten aus den Zeiten
des Ablaufes des ſiebzehnten Jahrhunderts und des Ein-
und Vorſchreitens des achtzehnten ſind uns hinlaͤnglich
bekannt. Auch das Privatleben aus jenem Zeitraum
kennen wir bei den Franzoſen ſehr reichlich und vielar¬
tig, wenig aber das der Deutſchen, und auch da faſt
nur denjenigen Theil, der ſich als Nachahmung des
franzoͤſiſchen Lebens darſtellt, und in franzoͤſiſcher Spra¬
che uͤberliefert worden iſt. Die damalige Stufe der
Geſellſchaftsausbildung in Deutſchland, wie die der Deut¬
ſchen Sprachentwicklung verwieſen das augenblickliche
Lebensbeduͤrfniß nothwendig auf die Huͤlfsmittel des
Auslandes, welches ſie bequem und ſchmeichelnd darbot.
Fuͤr die Schilderung der deutſchen Hoͤfe und der hoͤhe¬
ren Geſellſchaft, ihrer Tagesverhaͤltniſſe, Vergnuͤgungen,
Liebſchaften, Geiſtesarten, Beſchraͤnkungen und Freihei¬
ten war die Thaͤtigkeit des Baron Poͤllnitz uͤberall voran,
und faſt ohne Mitbewerber, das ganze Fach in ſeinen
verſchiedenen Unterabtheilungen verſah er faſt allein; er
ſchrieb ernſte Denkſchriften der Regierungs- und Hof¬
geſchichten, leichte Reiſenachrichten zur launigen Unter¬
[401] haltung, und die Herzens- und Liebes-Geſchichten wußte
er in ein romanenhaftes Bild angenehm zuſammenzu¬
faſſen, in dem beruͤhmten Buche, das unter dem Titel
la Saxe galante unſere Vorfahren einſt allgemein anzog
und bezauberte, und noch bis in die ſpaͤte Zeit hinein
gern geleſen wurde. Die Geliebte des Kurfuͤrſten von
Sachſen, Auguſts des Starken, die ſchoͤne und geiſtreiche
Graͤfin Aurora von Koͤnigsmarck, trat in dieſer Darſtel¬
lung beſonders anmuthig und bedeutend hervor, weit
uͤber den Kreis der gewoͤhnlichen Maitreſſen hervor, und
gab ein Gegenbild zu den beruͤhmten franzoͤſiſchen Frauen
dieſer Art, denen der Hiſtoriker nicht umhin kann, wie
ſehr es ihn auch verdrießen moͤge, eine große und an¬
haltende Aufmerkſamkeit zu widmen. In Auroren ſchien
ſogar die zweifache Rolle einer la Vallière und einer
Maintenon einigermaßen verbunden zu ſein, und die
Mutter des tapfern Grafen von Sachſen ſchien auch den
Ruhm einer Monteſpan ſich aneignen zu duͤrfen, ſo daß
die drei Hauptmaitreſſen Ludwigs XIV. gleichſam hier
in Einem Bilde vereinigt ſcheinen duͤrften. Dieſes Bild
fand ungemeine Gunſt, und ſelbſt unter den Deutſchen,
wo die Sittenſtrenge, auch wenn die That ihr gar oft
wie anderwaͤrts entſchluͤpft, doch oͤffentlich gern und ſtark
das Wort fuͤhrt, iſt Aurora faſt immer mit beſonderer
Milde und Nachſicht beurtheilt worden; man glaubte
fuͤr ſie faſt eine Ausnahme zulaͤſſig. — Indeß hat dieſe
Gunſt ihr bisher keinen eignen Geſchichtsſchreiber wecken
II. 26[402] koͤnnen, ihre merkwuͤrdigen Schickſale und Verhaͤltniſſe
blieben in dem Helldunkel, in welches Poͤllnitz ſie geſtellt
hatte, auf welchen als einzigen Gewaͤhrsmann der gaͤng
und gaͤben Nachrichten man ſich glaͤubig verließ. Erſt
jetzt verkuͤndet ſich ein ganz neues Licht uͤber dieſes
bewegte Leben, ſeitdem ein gluͤcklicher Zufall viele wich¬
tige und ausfuͤhrliche Denkſchriften, die Familie Koͤnigs¬
marck betreffend, in die Haͤnde des Dr. Cramer gebracht
hat, dem als ſorgfaͤltigen Erforſcher und Mittheiler
hiſtoriſcher Denkmale wir ſchon fuͤr mehrere wichtige
Gaben Dank ſchuldig geworden ſind. Von dieſen ſchaͤtz¬
baren Urkunden empfangen wir in vorliegender kleinen
Schrift vorlaͤufig im Auszuge den weſentlichen Ertrag,
und wir ſehen daraus, daß die Erzaͤhlungen von Poͤll¬
nitz durchaus ohne feſte Grundlage, theils willkuͤrlich
erſonnen, theils unzuverlaͤſſig aufgegriffen ſind, und faſt
in allen Beziehungen weſentliche Berichtigung erfahren.
Das Merkwuͤrdige, Bedeutende und Romanhafte ver¬
ſchwindet deshalb aber keineswegs aus dieſer Lebens¬
beſchreibung, im Gegentheil ſie gewinnt faſt eben ſo an
Reiz wie an Gehalt, und die Wahrheit der Geſchichte
iſt hier ſo phantaſiereich wie nur die erdichtete Fabel es
ſein mochte. Durch den abentheuerlichen Ausgang ihres
Bruders, der in Hannover ploͤtzlich verſchwand und nie
wieder zum Vorſchein kam, wird Aurorens eignes Schick¬
ſal mitbedingt, und die geſammte Familie erſcheint in
Ereigniſſen und Karakter als ein zuſammengehoͤriges
[403] Ganze. Im Intereſſe der Geſchichtskenntniß jener Zeit
und Verhaͤltniſſe koͤnnen wir daher nur eifrigſt wuͤnſchen,
daß der Verfaſſer die umſtaͤndlichen Koͤnigsmarckiſchen
Denkwuͤrdigkeiten, auf welche dieſe Schrift zuruͤckweiſt,
baldigſt herausgeben moͤge, in der Geſtalt und Bear¬
beitung, wie es die Sache erfordert. Die gegenwaͤrti¬
gen Blaͤtter beweiſen zur Genuͤge, daß der Verfaſſer
ſorgfaͤltige Forſchung und eindringende Kritik in gefaͤlli¬
gen Vortrag gluͤcklich zu verfloͤßen weiß; doch wuͤrde
man immer von den urkundlichen Schriften ſelbſt eine
nicht allzu ſparſame Mittheilung wuͤnſchen duͤrfen. —
Zwei Jahre in Petersburg. Ein Roman aus den
Papieren eines alten Diplomaten. Leipzig, Brock¬
haus. 1833. 8.
In dem anmuthigen Gewand eines leichtfaßlichen
Romans empfangen wir durch dieſes Buch eine inhalt¬
ſchwere Mittheilung. Die Angabe „aus den Papieren
eines Diplomaten“ koͤnnte der Form nach erdichtet ſein,
und ſie duͤrfte dem Weſen nach gleichwohl richtig blei¬
ben, denn dieſe Blaͤtter beurkunden ihren Verfaſſer als
einen klugen und eindringenden Beobachter der vorneh¬
men Geſelligkeits- und Staatswelt, die ſich ſeinem
Anſchauen darbot, und nichl alle Diplomaten duͤrften
26 *[404] im Stande ſein, ſo weſentliche Verhaͤltniſſe gleich her¬
auszufinden und ſicher auszuſprechen, als hier in Betreff
Rußlands vielfaͤltig geſchehen iſt. Daß ein Augenzeuge
ſpricht, laͤßt ſich nicht bezweifeln, und ſeinen hoͤheren
Standpunkt bezeichnen die milde Ruhe, der bei aller
Strenge mancher Urtheile doch freundliche Sinn, wir
moͤchten ſagen die ſittliche Zartheit, die durch das Ganze
verbreitet ſind. Wenn uns jemand verſicherte, eine
Frauenhand habe beim Niederſchreiben dieſer Papiere die
Feder gefuͤhrt, ſo haͤtten wir dagegen nichts einzuwen¬
den, und der maͤnnliche Gehalt waͤre deßhalb nicht ge¬
ringer anzuſchlagen.
Die Schilderungen der vornehmen Welt finden in
allen Laͤndern ſo ziemlich denſelben Stoff, und muͤſſen
auch großentheils dieſelben Reſultate liefern; allein neben
dem Allgemeinen bildet ſich uͤberall doch immer ein
eigenthuͤmliches Beſondere aus, das hier als Ruſſiſch,
oder genauer zu reden, als Petersburgiſch, genug her¬
vorgehoben wird. Die aͤußerſten Spitzen dieſer Erſchei¬
nung werden uns gezeigt, und zugleich ihr tiefſter
Grund enthuͤllt. Ueber einige Verhaͤltniſſe, an welchen
das ruſſiſche Staats- und Einzelleben noch leidet, wird
mit großer Unbefangenheit die ſchlichte Wahrheit aus¬
geſprochen, wie man ſie ſelten findet.
Als eigentliche Mitte des Ganzen und als Haupt¬
figur dieſer beweglichen Gruppen erſcheint die edle, feſte
Geſtalt des Generals von Klinger, der redend und
[405] handelnd eingefuͤhrt wird. Dieſer ehrenwerthe Lands¬
mann, welcher den Ruhm deutſcher Redlichkeit und
Treue waͤhrend eines langen Lebens durch ſein ſtrahlen¬
des Beiſpiel im unſichern Auslande herrlich bewaͤhrt hat,
iſt unſres Wiſſens noch nie ſo gruͤndlich geſchildert, ſo
ganz in ſeinem tiefſten Weſen erfaßt und erklaͤrt wor¬
den. Unſer Autor muß den trefflichen Mann genau
gekannt haben, von deſſen Geiſt und Anſichten gewiß
manches in dieſe Blaͤtter uͤbergegangen iſt. Nicht min¬
der anziehend und wichtig iſt die Karakterzeichnung,
welche uns in das reiche Gemuͤth des Kaiſers Alexander
blicken laͤßt, und uns mit der innigſten Theilnahme fuͤr
den wahrhaft edlen und liebenswuͤrdigen Monarchen
erfuͤllt, dem ein hoͤheres Streben entſchieden inwohnte,
und grade deßhalb perſoͤnliches Gluͤck in ſeiner hohen
Stellung verſagt blieb. Der Geſchichtsforſcher empfaͤngt
hier wichtige Aufſchluͤſſe uͤber die zum Theil widerſpre¬
chenden Richtungen, die ſich in Alexanders Regierung
gezeigt haben. Ueber das Verhaͤltniß zur Frau von
Kruͤdener wird hier mehreres mitgetheilt, was wir der
Wahrheit gemaͤß glauben duͤrfen, und dabei noch nir¬
gend ſonſt ausgeſprochen wiſſen. Daß Frau von Kruͤ¬
dener zum Behuf ihrer Wirkſamkeit allerlei Huͤlfsmittel
nicht verſchmaͤhte, die ſich auf keine Weiſe entſchuldigen
laſſen, hat ſogar ihr Freund Bergaſſe ihr vorgeworfen,
der mit im Geheimniß war, als die beruͤchtigte Gau¬
kelei mit der Seele Labédoyère's angeſtellt wurde, und
[406] ſpaͤterhin von dieſem Auftritt im Vertrauen bekannte,
er habe ſich ordentlich geſchaͤmt, ein ſo plumpes Spiel
mitzumachen! Eine Notiz, daß der Fuͤrſt Hardenberg
in Paris die erſte Kenntniß von der Stiftung der Hei¬
ligen Allianz durch ſeinen Leibarzt Doctor Koreff empfan¬
gen habe, ſcheint uns nicht ohne naͤheren Erweis an¬
zunehmen. —
Die Anſichten des Verfaſſers uͤber Welt und Leben
zeugen von einem redlichen, wahrheitsliebenden Sinn,
der weit um ſich ſchaut in ſeiner Zeitumgebung, und
doch eben ſo gern, wie Geſellſchaft und Staat, die
Angelegenheiten des Gemuͤths und des Herzens zum
Gegenſtande ſeiner Betrachtungen nimmt. Manches
wird in fremder Perſon ausgeſprochen, z. B. die ziem¬
lich Saint-Simoniſtiſche Anſicht uͤber den Vorzug andrer
Auszeichnung und Groͤße vor der kriegeriſchen. In
einigen Urtheilen fehlt es nicht an Kuͤhnheit, die uͤberall
zu vertreten ſchwer ſein moͤchte. Zuweilen finden wir
auch Mißgriffe, wie z. B. die Parallele der Entfuͤhrung
des Herzogs von Enghien mit einem neuern Vorgange,
der in allen Motiven, Umſtaͤnden und Folgen eine
gaͤnzlich verſchiedene Bewandtniß hatte, und unſres Wiſ¬
ſens auch im geringſten nicht von der Einwirkung ge¬
weſen iſt, die ihm hier beigemeſſen wird.
Als einen artigen Gedanken, deſſen Ausfuͤhrung gar
nicht uͤbel waͤre, fuͤhren wir folgende Stelle an: „Ich
moͤchte wohl, daß zur Rechtfertigung des jetzigen, ſo
[407] ſehr verrufenen Zeitgeiſtes, jemand eine Sammlung der
Ideen veranſtaltete, die vor fuͤnfzig Jahren als frech,
gottlos, neu und kuͤhn verrufen und wie Kontrebande
nur mit Gefahr fuͤr den Verbreiter in Umlauf gebracht
wurden, und jetzt als Gemeingut durch alle Klaſſen
der Geſellſchaft bekannt und verbreitet ſind. Ein ſol¬
ches Buch wuͤrde viel zu denken geben, und nach fuͤnf¬
zig Jahren wuͤrde ſich ein zweiter Theil dazu ſchreiben
laſſen, von deſſen Inhalt wir jetzt vielleicht nur traͤu¬
men duͤrfen.“ —
Die von allgemeinen Schilderungen und Betrach¬
tungen durchflochtene Liebesgeſchichte iſt in moͤglichſt
einfachen, ohne geſuchte Abenteuerlichkeit herbeigefuͤhr¬
ten Auftritten und Entwicklungen gluͤcklich zu einem
befriedigenden Ende gebracht. In den als handelnd
oder ſprechend mitwirkenden Figuren beſtimmte Perſonen
zu vermuthen, duͤrfen wir uns nicht erlauben, ſondern
nehmen vielmehr als gewiß an, daß dieſer Theil des
intereſſanten und lebenvollen Buches ausſchließlich Dich¬
tung iſt.
Erzaͤhlungen, Skizzen und Gedichte von Ludwig
Rellſtab. Berlin, Duncker und Humblot, 1833.
Drei Theile. 8.
Oft genug hat der Kritiker, wenn er tadelte, die
Forderung hoͤren muͤſſen, er ſolle es beſſer machen. Dieſe
[408] Zumuthung iſt in neuerer Zeit als eine unbegruͤndete
und ganz unbillige mit großem Erfolg abgewieſen wor¬
den, und ſie koͤmmt nur ſelten noch vor. Wir wollen
ſie nicht wieder aufleben laſſen, glauben aber doch, daß
man den Kritiker in Betreff des Machens ſeitdem etwas
zu ſehr freigeſprochen hat. Die Verpflichtung des Beſ¬
ſermachens kann ihm freilich nicht auferlegt werden, aber
die des Auchmachens darf ihm ſchwerlich erlaſſen ſein;
wie ſoll er ſonſt den Beweis liefern, daß er wirklich
alle Bedingungen, Graͤnzen, Vortheile und Schwierig¬
keiten des Kunſtgebietes kenne, uͤber deſſen Erzeugniſſe
er urtheilt, daß er ſeine Forderungen nicht ſchrankenlos
ausdehne, und ein erreichtes Wirkliche nach ertraͤumten
Moͤglichkeiten abmeſſe? In der That haben unſre beſten
Kritiker von jeher auch durch eigne Kunſtſchoͤpfungen
ſich hervorgethan, und wir finden faſt immer, daß der
Werth von dieſen mit dem ihrer Kritiken gleichen Schritt
haͤlt, von Leſſing an gerechnet bis auf A. W. vor
Schlegel herab. Unſre Bemerkung wird auch durch die
vorliegende Sammlung bekraͤftigt.
Der Verfaſſer, als ein ſcharfer, und dabei ſcharf¬
ſinniger und nicht ungruͤndlicher, ruͤſtiger Kritiker vor¬
theilhaft bekannt, nimmt durch dieſe Dichtungen auch
im Gebiete des Selbſtmachens die Stelle ein, welche
der Stufe, worauf er in jenem Gebiete ſteht, nicht nur
entſpricht, ſondern ihn auf ihr auch beſtaͤtigt. Eine große
Mannigfaltigkeit von Gebilden und Ausdrucksweiſen, die
[409] Form der Novelle, des Liedes, des Reiſeberichts, der
Romanze, der launigen und der ſtrengen Kritik, ſind
hier vereinigt, und geben von der vielſeitigen Gewandt¬
heit des Verfaſſers das beſte Zeugniß. Sollen wir die
innern Vorzuͤge dieſer Arbeiten kuͤrzlich aufzaͤhlen, ſo
haben wir zuvoͤrderſt entſchiedene Richtung zum Schoͤnen,
Klarheit der Auffaſſung und des Stils, Lebhaftigkeit,
Witz, Humor, mannigfache Anmuth und viele aͤſthetiſche
und ſittliche Feinheit namhaft zu machen. Als Humoriſt
verdient der Verfaſſer auch alles Lob wegen des Maßes,
das er beobachtet, und worin er faſt immer die Schran¬
ken einer harmloſen Munterkeit haͤlt, ohne in gewalt¬
ſame Abſpruͤnge und verzwickte Unformen zu gerathen;
wiewohl wir gern zugeben, daß ihm ſelber hierin noch
eine gluͤckliche Fortbildung und Laͤuterung offen ſtehe.
Anerkennen muͤſſen wir auch die Sicherheit und Anſchau¬
lichkeit in Darſtellung des nach Ort und Zeit eigen¬
thuͤmlichen Stoffes, z. B. der Vorgaͤnge in ſchweizeri¬
ſcher Gebirgslandſchaft, und des Koſtuͤms engliſcher
Verhaͤltniſſe, welches alles leicht und treffend, und ohne
aͤngſtliche Pedanterei vollkommen genuͤgend, dem Leſer
vor Augen geruͤckt wird. Die Freunde der Erzaͤhlungs¬
weiſe von Leopold Schefer werden hier bisweilen einige
Aehnlichkeit finden; doch iſt Rellſtab im Ganzen raſcher
und leichter, wobei die Umſtaͤnde, unter welchen beide
Autoren ſchreiben, ſehr in Betracht kommen moͤgen:
indem Schefer mit einer durch große Reiſen genaͤhrten
[410] Weltanſchauung in einſamer Ruhe ſtill zuruͤckgezogen
behaglichen Fleißes arbeitet, unſer Autor dagegen uͤber
unruhige Lebenswirbel und die Treibhauseile des drin¬
genden Augenblickes klagt. Auch hat er bei vielem
Wohlmeinen mehr Galle, als Schefer, ſo wie hingegen
bei vieler Schaͤrfe weniger, als Boͤrne, mit welchem
Ausſpruche wohl jeder der Genannten zufrieden ſein wird!
Unter den Erzaͤhlungen muͤſſen wir diejenigen beſon¬
ders auszeichnen, morin ein idylliſches Element vor¬
waltet, z. B. im zweiten Theile „James Skey“ und
„die Gemsjaͤger“, auch „die Gewerke“ im erſten Theile,
wo ein Gegenſtand, der ſehr zur Ueberladung verleiten
konnte, mit Gluͤck durch jenes Element gemaͤßigt wor¬
den. In beiden letztern Novellen hat der Verfaſſer mit
beſonderer Zuneigung den Schwindel behandelt, und iſt
dabei ſeinen Vorgaͤngern Baggeſen und Schefer nichts
ſchuldig geworden, ja ſich ſelber nicht einmal, denn nach¬
dem er die Aufgabe vom Thurme herab in lauter ſtaͤdti¬
ſcher Umgebung und Bedingung gluͤcklich geloͤſt, variirt
er das Thema ſo neu als treffend in der ganz verſchie¬
denen Geſtalt, welche Gebirgshoͤhen und freie Natur
dafuͤr bedingen.
Sehr anziehend ſind die Nachrichten uͤber die per¬
ſoͤnlichen Verhaͤltniſſe des Verfaſſers mit Karl Maria
von Weber, welchem Komponiſten er beſonders huldigt.
Seine ſonſtigen muſikaliſchen Zu- und Abneigungen
koͤnnen wir hier weder vertreten noch tadeln. Indeſſen
[411] duͤnkt uns, daß in dieſem Kunſtgebiete es immer ſchwerer
wird, einen wirklich freien Standpunkt und einen gro߬
artigen Ueberblick zu faſſen, jemehr die techniſchen Kennt¬
niſſe ſich vervielfachen, und in Verbindung mit man¬
cherlei der Muſik an ſich ganz fremden, aber im Zeit¬
geiſte wuchernden einſeitigen Vorſtellungen ſich fuͤr die
wahre Kunſtanſicht ausgeben.
Unter den Gedichten, welche jedem Baͤndchen zum
Schluſſe beigefuͤgt ſind, findet ſich manche lyriſche Bluͤthe,
die den vollen Beruf des Verfaſſers in dieſer Gattung
darthut. Wir bemerken ſchließlich, daß ein Werk, wel¬
ches alle die hier ſo mannigfach zuſammengeſtellten Ein¬
zelheiten zu einem Ganzen vereinigte, in ſolcher reichen
Ausſtattung noch vortheilhafter erſcheinen muͤßte, als
die jetzige Sammlung, und daß wir dem Verfaſſer alle
Muße und Ruhe zu ſolcher groͤßern Hervorbringung
wuͤnſchen, fuͤr welche gewiß kein inneres Erforderniß
ihm mangelt. —
Die Xenien aus Schiller’s Muſenalmanach fuͤr
das Jahr 1797. Geſchichte, Abdruck und Er¬
laͤuterung derſelben. Danzig, 1833. 12.
Schillers Muſenalmanach fuͤr das Jahr 1797 hat
in der deutſchen Litteratur Epoche gemacht, wie kein
andrer vorher oder nachher. Die demſelben angefuͤgten
[412] zahlreichen Epigramme, Xenien genannt, das gemeinſame
Erzeugniß Goethe’s und Schiller’s, brechen wie ein
ploͤtzliches Strafgericht in das verwilderte und verſchwaͤchte
Treiben, welches ſich in dem Gebiete der Geiſtesbildung
uͤppig eingeniſtet hatte. Ein allgemeiner Schrei des
Schmerzes, der Angſt, des Ingrimms und der Gegen¬
wehr erſchallte bei dieſen Streichen, man rief Himmel
und Erde zu Zeugen an, daß dergleichen Gewalt ganz
unerhoͤrt ſei, man hoffte die Friedensſtoͤrer ihren Frevel
buͤßen und die gefeierten Dichter als beſchaͤmte Buben
heimkehren zu ſehen. Was die Schwaͤche und Gemein¬
heit ſich angemaßt hatte, ſollte als richtiger Beſitz, ein
duͤnkelhaftes Behagen als unverletzlicher Zuſtand gelten,
und von der Geſammtheit geſchuͤtzt werden. Aber man
hatte vergeſſen, daß in der Litteratur das Fauſtrecht
beſteht, und kein Beſitz und Stand gilt, als der mit
den Waffen in der Hand behauptet und jeden Tag
erneut wird. Der Erfolg bewaͤhrte das gute Recht der
aufgetretenen Ritter, die Geſchlagenen und Geſtraften
mußten weichen, der Raum wurde freier, und manche
beſudelte Stelle gluͤcklich gereinigt. Die Helden hatten
ihre eigne Sache gefuͤhrt, aber nicht fuͤr ſich allein, ſie
uͤberließen den groͤßten Theil der Eroberung einem beſſern
Geſchlecht neuer Anſiedler, die jenen Fuͤhrern in ge¬
wiſſem Sinn folgſam blieben, ohne ſich gradezu pflichtig
noch allzu dankbar gegen ſie zu verhalten. Die Xenien
aber haben vollkommen geſiegt, und ihr Feldzug wird
[413] in den Jahrbuͤchern litterariſchen Ruhmes ehrenvoll mit¬
gezaͤhlt.
Man hat fruͤh das Beduͤrfniß empfunden, einem
ſchon zweiten und dritten Geſchlecht, das auf die Zeit¬
genoſſen dieſer denkwuͤrdigen Ereigniſſe gefolgt iſt, den
Zuſammenhang und das Einzelne der damaligen Kriegs¬
thaten zu uͤberliefern, und die zum Theil dunkle und
raͤthſelhafte Haupturkunde verſtaͤndlich zu machen. Aber
es war ſchwer und mißlich, dieſem Beduͤrfniſſe zu ent¬
ſprechen. Eine von Goethe beabſichtigte Prachtausgabe
des Textes, den ein reicher Kommentar begleiten ſollte,
unterblieb. Ein in Breslau vor mehreren Jahren ver¬
anſtalteter Privatabdruck gab nur den unerlaͤuterten Text.
Erſt durch Erſcheinung des Briefwechſels zwiſchen Goethe
und Schiller ergab ſich mit vielen neuen Aufſchluͤſſen
die geſteigerte Anregung, dieſes wunderbare Gemeingut
unſrer beiden großen Dichter hellbeleuchtet aufzuſtellen.
Die vorliegende kleine Ausgabe leiſtet in dieſem Betreff
die noͤthigſte Vorarbeit. Wir koͤnnen aber keineswegs
ſagen, daß damit ſchon alles gethan ſei. Die ſorgfaͤl¬
tige Zuſammenſtellung der in dem erwaͤhnten Brief¬
wechſel enthaltenen Aufſchluͤſſe, die richtige Entzifferung
der abgekuͤrzten oder ſonſt verſteckten Bezeichnungen,
die genaue Angabe der perſoͤnlichen Bezuͤge und Umſtaͤnde,
alles dies iſt verdienſtlich und dankenswerth. Allein wir
haͤtten gewuͤnſcht, daß der Herausgeber, der ſich in
allem Betracht ſo kundig erweiſt, in die geiſtigen Rich¬
[414] tungen dieſes hoͤchſt wichtigen, mit allen Angelegenheiten
unſrer Geiſtesbildung tief verflochtenen und noch immer
nicht ausgekaͤmpften großen Kampfes auch geiſtig mehr
einzugehen, und ſeine wahre Bedeutung zu enthuͤllen
verſucht haͤtte.
Die deutſche Litteratur hat vor den Xenien und auch
nachher Kaͤmpfe und Strafgerichte genug gehabt, per¬
ſoͤnliche und einzelne zu jeder Zeit uͤberviel, in beſondern
Richtungen manche bedeutende, ganz allgemeine doch
ſelten. Die Xenien, einen Ritterzug der letztern Art
darſtellend, werden lange Zeit noch unuͤbertroffen blei¬
ben, ſie bilden fuͤr alles Nachfolgende gleichſam ein
homeriſches Zeitalter, in welchem ſich das Vorangegan¬
gene reſumirt, und wohin das Spaͤtere ſich nothwendig
zuruͤckbezieht. Sie haben auch mit den homeriſchen Er¬
zeugniſſen das nicht leicht wieder zu erneuende Verdienſt
gemein, mit einer naturkraͤftigen Urſpruͤnglichkeit auch
den vollen Reiz einer gebildeten Form zu vereinigen.
Goethe und Schiller ſind hier ritterliche Helden, neben
der Strenge fein und anmuthig, ſie ſchlagen das feind¬
liche Geſindel aus dem Felde, aber laſſen es dann laufen,
ohne es zu Schmach und Marter einzufangen, und nach
dem Kriege noch erſt einem hochnothpeinlichen Halsge¬
richt zu uͤbergeben. In den ſpaͤtern Zeiten haben wir
leider die letztere Erſcheinung vorwalten, und in der
Litteratur wahre Hinrichtungen und Torquirungen an¬
ſehen muͤſſen, ſtatt der Ritter die Scharfrichter in Thaͤ¬
[415] tigkeit! Es mag ſein, daß Zeiten und Umſtaͤnde das
Geſchaͤft des Scharfrichters noͤthig machen, auch mag
dieſer wohl nur vollziehen, was wirklich Rechtens iſt,
und in der Litteratur kann manches Opfer fallen muͤſſen,
das in der buͤrgerlichen Welt jede Achtung verdient,
und vielleicht hundertmal beſſer iſt, als ſeine Richter und
Quaͤler; aber einen Autor, hinter dem doch zuletzt der
Menſch in jedem Falle ſteht, unter kaltberechneten Mar¬
tern ſterben zu laſſen, giebt immer einen widerlichen
Anblick, und gern wendet man ſich von ihm zu der
heitern und edlen Jagdfreude der Xenien zuruͤck, in wel¬
cher der Geiſt und die Laune nur zur Milderung der
unerlaͤßlichen Geißelhiebe dienen, nicht aber aufgewendet
werden, den Schmerz und die Qual zu mehren! —
Abendſtunden, herausgegeben von Dr. Franz The¬
remin. Berlin 1833. Duncker und Humblot 8.
Bei dieſem kleinen Buche, worin ein angeſehener
Theolog und Kanzelredner fuͤr ſeine Mittheilungen die
Form heitrer Kunſt gewaͤhlt hat, moͤgen uns zuvoͤrderſt
einige allgemeine Bemerkungen erlaubt ſein.
Die tiefſten und heiligſten Wahrheiten, welche den
Geiſt ergreifen und das Gemuͤth erfuͤllen, beduͤrfen ganz
gewiß keines Schmuckes, wie ihn die Kunſt aus ihren
[416] reichen Schatzkammern allem Erſcheinenden darbietet.
Die hoͤchſten Ergebniſſe des Denkens, die reinſten Ueber¬
zeugungen der Religion, wirken unmittelbar durch ihr
eigenſtes Weſen, ohne Beimiſchung kuͤnſtlichen Vortrags,
der das einfache ſtarke Licht durch die Mannigfaltigkeit
bunter Farben in vielen Faͤllen ſogar verdunkeln wuͤrde.
Die Kunſt hinwieder weiß jene Wahrheiten, mit denen
ſie im tiefſten Einverſtaͤndniſſe lebt, eben ſo wenig fuͤr
ſich als Schmuck und Huͤlfe zu benutzen; und ein Bund
der Kirche mit den Kuͤnſten, den man zu ſolchem Be¬
hufe wechſelſeitigen Leiſtens oft genug verkehrterweiſe
hat ſchließen wollen, iſt immer ein unfruchtbarer ge¬
blieben. Doch wird eine Vereinigung beider Gebiete
deßhalb nicht entbehrt, ſondern nur in andrer Art, als
jener aushuͤlflichen, bewirkt, indem keines derſelben ſich
an das andre veraͤußert, ſondern beide ſelbſtſtaͤndig in
dem reinſten menſchlichen Antriebe zuſammenfließen. Der
Weiſe, der ein Kuͤnſtler, der Fromme, der ein Dichter
iſt, wie ſollten ſie, ihrem hoͤchſten Berufe folgend, auf¬
hoͤren dieſe Begabten zu ſein? wie duͤrften ſie jemals
dieſe edlen Gaben verwerfen oder verlaͤugnen, ohne das
ganze Gewebe der ihnen verliehenen Eigenſchaften zu
zerreißen? Wo dieſe Gaben wahrhaft vorhanden ſind,
da muͤſſen ſie den Geiſt uͤberall begleiten, und es wird
immer ein erfreuender Anblick ſein, die hoͤchſte Bildung
der Kunſt, die Anmuth und Lieblichkeit des Vortrags,
den Zauber der Poeſie, ſich den ſchmuckloſen Ergeb¬
[417] niſſen der Wiſſenſchaft und der Religion anſchmiegen,
dieſe zu jenen einkehren zu ſehen. Auf beiden Seiten
bleibt das Weſen dabei unveraͤndert, und die Verbin¬
dung iſt nur in der perſoͤnlichen Begabung, ohne auf
die Sachen ſelbſt uͤberzugehen.
An ſolchen gluͤcklichen Talenten hat es niemals ge¬
fehlt, und wie im Alterthum die philoſophiſche, ſo iſt
in neuerer Zeit die religioͤſe Wahrheit oͤfters in ſchoͤnem
Kunſtgebilde aufgetreten. Sehen wir jedoch naͤher an,
was beſonders die ſpaͤtere Zeit bisher in dieſer Richtung
geleiſtet hat, ſo faͤllt uns ſehr auf, daß der eben be¬
zeichnete Verein ſich im proteſtantiſchen Bereiche noch
ſelten, und im Ganzen auf einer minderen Stufe zeigt,
als im katholiſchen. Eine kleine Auswahl von geiſtli¬
chen Liedern, und eine vielleicht nicht ſtaͤrkere von Pre¬
digten, abgerechnet, ſteht die dichteriſche und redneriſche
Bildung in jenem Gebiete ſehr zuruͤck, und auch das
Beſte davon duͤrfte ſchwerlich die Lieder eines Spee
und Angelus oder die Reden eines Boſſuet und Maſ¬
ſillon uͤbertreffen. Der Meſſias von Klopſtock iſt bei
großen Schoͤnheiten des Einzelnen im Ganzen ein ver¬
fehltes Werk. Von andern poetiſchen Geſtaltungen der
Froͤmmigkeit laͤßt ſich auch das Einzelne nicht ruͤhmen.
Spaͤtere Schriften uͤber Religion, mit großem Anſpruch
an theoretiſches Verdienſt abgefaßt, tragen grade deſſen
Mangel zur Schau, und chriſtliche Gegenſtaͤnde pla¬
II. 27[418] toniſch zu dialogiſiren iſt bisher auch nur immer mi߬
rathen.
Um ſo erfreulicher erſcheint nun dieſes kleine Buch,
von deſſen Verfaſſer man mit Recht ſagen kann, daß
er den aͤchten Kuͤnſtlerberuf in ſich traͤgt, wie denn
auch ſeine mannigfachen Schriften bisher ſeine Dichter-
und Rednergabe vielſeitig dargelegt haben. Der Inhalt
theilt ſich in zwei Abſchnitte, von welchen der erſte,
„der Kirchhof“ uͤberſchrieben, aus einer Reihe von Ge¬
dichten beſteht, die bei ſehr wechſelnder Form in der¬
ſelben Gemuͤthsſtimmung und Gedankenrichtung ver¬
weilen. Ein wehmuͤthiger Schmerz und ein inniges
Vertrauen athmen in dieſer Poeſie, die in den ſchoͤnſten
und klarſten Bildern ſich bewegt; und beſonders in den
Sonetten iſt ein melodiſches Auf- und Niederwogen,
wie es der Hauch Petrarcha's ſelber nicht ſchoͤner erre¬
gen koͤnnte; die ſchwierige poetiſche Form erſcheint hier
nur als der natuͤrliche Ausdruck der in frommer Liebe
emporgeſchwungenen Seele. Den Empfindungen zarter
Innigkeit und treuer Sehnſucht geſellen ſich auch Ge¬
fuͤhle erhabenen Schmerzes und Unwillens, wie in fol¬
gendem Sonett, das wir als Probe hier einruͤcken:
Auf dieſe Gedichte folgen „drei Geſpraͤche,“ worin die
ſinnige Kunſt des Verfaſſers ſich auch auf dieſem bisher
ſo wenig, und faſt immer ungluͤcklich, angebauten Felde
des Dialogs im groͤßten Vortheil zeigt. Sie ſind von
ſehr verſchiedenem Inhalt und Ton. In dem erſten
wird das Erwachen eines Verſtorbenen in den Gefilden
des Himmels und ſein ſteigendes Gewahrwerden des
neuen Ortes und Zuſtandes dargeſtellt. Jedermann
ſieht das Bedenkliche einer ſolchen Schilderung ein,
wobei der Einbildungskraft ein reiches und gleichwohl
nicht uͤberfuͤlltes Bild zu geben iſt, das ihr weithin
zur Thaͤtigkeit Anreiz und doch zugleich Beruhigung
geben muß, das beſonders aber den reingeiſtig chriſt¬
lichen Karakter nicht verlaͤugnen, noch dieſen unter ſinn¬
licher Fuͤlle verdecken darf. Das Bedenkliche wird zum
Wagniß, wenn die Ausfuͤhrung in ſchlichter Proſa, und
ſo zu ſagen im Tone einer ſtillen Lebensſcene geſchehen
27 ✷[420] ſoll. Dieſe Aufgabe nun iſt hier mit großer Meiſter¬
ſchaft behandelt, und zu dieſer rechnen wir auch den
Takt und das Maß, mit denen zu rechter Zeit abge¬
brochen wird. Aus ganz einfachen, ja gewoͤhnlichen
Zuͤgen entwickelt ſich eine geiſtige Wendung, der eine
ſchmerzſtillende Suͤßigkeit entquillt, und die das Ge¬
ſpraͤch eroͤffnende, vielleicht von manchem Leſer belaͤchelte
Frage: „Du haſt gut geſchlafen?“ fuͤhrt unvermerkt zu
ſchauerlich ergreifenden Andeutungen, deren Bild man
zerbrechen kann, ohne den Eindruck, den es gegeben
hat, zu verlieren. Das zweite Geſpraͤch: „die geiſt¬
liche Beredſamkeit,“ verhuͤllt ſeinen tiefernſten Gehalt
in einem faſt ſcherzhaften Gewande, das aber in der
Verhandlung ſelbſt mehr und mehr zerriſſen wird, und
abfaͤllt, um wichtige Wahrheiten in klarer Geſtalt er¬
ſchauen zu laſſen. Der Verfaſſer bewegt ſich in dieſem
Geſpraͤche mit vollkommener Freiheit und Leichtigkeit,
und wenn er groͤßere Stoffe ausfuͤhrlich in dieſer Art
durcharbeiten wollte, ſo waͤre ihm ein Erfolg zu ver¬
ſprechen, der unter uns Deutſchen noch niemanden, bei
unſern franzoͤſiſchen Nachbarn vielleicht nur Einem, den
wir aber hier nicht grade nennen moͤgen, zu Theil ge¬
worden iſt. Lebhafte Laune iſt auch in dem dritten
Geſpraͤch: „der Ritter von der traurigen Geſtalt;“
doch ſcheint uns dieſes weniger gelungen, und der Grund¬
gedanke mit der humoriſtiſchen Begleitung in einigem
Mißtone geblieben.
[421]
Die dritte Abtheilung, faſt die Haͤlfte der ganzen
Schrift, iſt ein Verſuch: „von dem Weſen der myſti¬
ſchen Theologie.“ In dieſem Aufſatze verlaͤßt der Ver¬
faſſer die Form des eigentlichen Kunſtgebildes, und
ſpricht im ſchlichten Vortrag der eroͤrternden Unter¬
ſuchung. Das Verdienſt ſeiner Kuͤnſtlerſchaft zeigt ſich
aber auch hier in der klaren Beſonnenheit, mit der er,
ohne redneriſche Erhebung und Abſchweifung, aber gleich¬
wohl mit innerer Waͤrme, ſeinen Weg forſchend dahin¬
ſchreitet, und bei jedem Schritte das Ziel feſt im Auge
behaͤlt. Er nimmt in der Theologie eine dreifache Rich¬
tung an, die hiſtoriſche, die philoſophiſche und die my¬
ſtiſche, deren jede ihren eigenen Grund haben, und
neben den andern wirkſam beſtehen, ja ihnen zur Ver¬
vollſtaͤndigung dienen ſoll. Nachdem er die Graͤnzen
einer jeden dieſer Richtungen beſtimmt, wobei doch der
philoſophiſchen, wie uns duͤnkt, ihr Standpunkt nicht
ganz nach Gebuͤhr geworden, unterſucht er naͤher das
Weſen der myſtiſchen Theologie, fuͤr welche er den
beſſer bezeichnenden Namen „Theologie der unmittel¬
baren Anſchauung“ vorſchlaͤgt, ſondert deren Abwege
und Verirrungen von der graden und ſichern Bahn,
auf welcher Johann Gerſon und Fenelon gewandelt,
und zeigt, daß dieſe mit den Wegen der hiſtoriſchen
und philoſophiſchen Theologie in voͤlliger Uebereinſtim¬
mung zu demſelben Ziele gelangt, und ihr Daſein auch
den beiden andern Richtungen huͤlfreich, ja in gewiſſem
[422] Sinn unentbehrlich iſt. Die wiſſenſchaftliche Pruͤfung
dieſer Begriffe, wie ſie der Verfaſſer feſtgeſtellt hat,
und die Eroͤrterung dieſes Gegenſtandes uͤberhaupt kann
in dieſer Anzeige keinen Raum finden. Wir wollen
hier nur dem Verfaſſer zum Ruhme bemerken, daß
ſeine Anerkennung einer philoſophiſchen Religionswiſſen¬
ſchaft und ſeine Vertheidigung der myſtiſchen Theologie
ihn vor vielen heutigen Theologen auszeichnen, die ſich
in beſchraͤnkteren, fuͤr jede freie Umſicht verſchloſſenen
Standpunkten ſicherer waͤhnen! Der ganze Aufſatz iſt
uͤbrigens in friedlichſtem Geiſte zur Verſoͤhnung und
zur Vereinigung geſchrieben, und der Verfaſſer bekennt
in der Vorrede, daß, wenn er bei dieſem Gegenſtande,
uͤber den ſo weniges feſtſtehe, geirrt habe, er gern eines
Beſſern ſich belehrt ſehen werde.
Die ganze Stimmung dieſer Abendſtunden, der
Zug gemeinſamer Gedanken und Empfindungen, der ſich
durch die verſchiedenen Aufſaͤtze windet, die geiſtig milde
Anregung, die uͤber dem Ganzen ſchwebt, alles dieſes
muß der Hoffnung des Verfaſſers, „daß auch nach
Abſonderung deſſen, was der Eigenthuͤmlichkeit der Form
angehoͤrt, etwas allgemein Lehrreiches und vielleicht Er¬
bauliches uͤbrig bleiben werde,” zur beſten Gewaͤhr
ſein, und ſie wird ſich gewiß reichlich erfuͤllt ſehen. —
[423]
Goethe's Fauſt. Andeutungen uͤber Sinn und Zu¬
ſammenhang des erſten und zweiten Theils der
Tragoͤdie. Von Dr. F. Deycks. Koblenz,
1834. 8.
Gleich nach dem Erſcheinen des zweiten Theils von
Goethe's Fauſt gab Roſenkranz in dieſen Jahrbuͤchern
einen kritiſchen Ueberblick des neuen Werkes. Den
erſten Worten, welche uͤber dieſe Fortſetzung und dieſen
Abſchluß des wunderbaren Gedichtes geſprochen wurden,
das neben einer vielbekannten und vertrauten Seite
ploͤtzlich eine befremdende und uͤberraſchende zeigte, ge¬
ziemte eine gewiſſe Zuruͤckhaltung in dem Allgemeinen,
welche jedoch nicht hinderte, daß der Inhalt ſcharfſinnig
erfaßt, gluͤcklich gedeutet und die reichen Geſtaltungen
und Bezuͤge des Ganzen zu eindringlichem Verſtaͤndniß
eroͤffnet wurden. Seit zwei Jahren, daß wir den voll¬
endeten Fauſt beſitzen, iſt keine andre Stimme laut ge¬
worden, welche mit gleicher Tiefe und Gruͤndlichkeit
daruͤber geſprochen haͤtte, und wir glauben, daß der
erwaͤhnte Aufſatz, den doch der Verfaſſer ſelbſt nur als
einen vorlaͤufigen anſehen will, auf weithinaus die Grund¬
lage und Richtung fuͤr alle geſunde Kritik des Fauſt
wird bleiben muͤſſen.
Jedoch laͤßt Roſenkranz, der es ſelber ausſpricht,
daß Jahre verſchwinden werden, bevor der Sinn des
[424] weltumfaſſenden Gedichtes ſich voͤllig entſchleiert, dem
kritiſchen Erforſchen noch ein weites Feld, deſſen Anbau
nur durch Zuſammenwirken der mannigfachſten Kraͤfte
und der reifenden Zeit erfolgen kann. Wir freuen uns,
dieſes Feld von einem ſo trefflichen Fuͤhrer, wie Herr
Deycks uns in dieſer Schrift erſcheint, mit ſo hellem
Sinn und ruͤſtiger Kraft, betreten zu ſehen! Durch¬
drungen von Goethe’ſchem Geiſte, mit wiſſenſchaftlicher
Kenntniß ausgeſtattet, und auf dem Standpunkte der
Bildung fußend, wo ſich Wahrheit und Schoͤnheit in
der hoͤchſten Lebensbetrachtung vereinigen, ſchreitet unſer
Verfaſſer, obwohl von ganz andrer Seite herantretend,
mit der von Roſenkranz eroͤffneten Bahn in groͤßter
Uebereinſtimmung, und wo die Anſichten und Urtheile
uͤber das Einzelne von einander abweichen, liegt ſelbſt
in dieſer Verſchiedenheit mehr gemeinſames Bemuͤhen,
als trennende Streitigkeit. In der Anerkennung des
Gegenſtandes, in der Wuͤrdigung ſeines Werthes und
ſeiner Bedeutung, in dem Urtheil uͤber die hohe Vor¬
trefflichkeit auch des zweiten Theils der Tragoͤdie und
uͤber den tiefen und nothwendigen Zuſammenhang des¬
ſelben mit dem erſten, ſind beide Kritiker durchaus einig.
Das Verhaͤltniß der beiden Theile des Fauſt, und
deren Gliederung in Akte und Scenen, ſo wie den
Inhalt und die Form jedes dieſer Glieder insbeſondere,
legt Herr Deycks durch die ſcharfſinnigſten Aufſchluͤſſe
uns klar vor Augen, und der Zuſammenhang des ganzen
[425] Gedichts, die Einheit und Feſtigkeit ſeines Ganges,
die Tiefe der Abſicht des Dichters und die kuͤnſtleriſche
Meiſterſchaft der ſpaͤteren wie der fruͤheren Ausfuͤhrung,
treten in ein ganz neues Licht. Er behauptet, mit
vollem Rechte, das ganze Werk ſei das Erzeugniß der¬
ſelben ſchoͤpferiſchen Kraft, deſſelben Dichtergeiſtes, und
in dieſem Betreff gleichartiger und zuſammenſtimmender,
als man bisher noch habe gelten laſſen. Man wußte
ja, daß Goethe zu hohen Jahren gekommen; man fand
ſich mit dem fruͤheren Fragment eingelebt; die ſpaͤtere
Ergaͤnzung befremdet und beunruhigt; es war die be¬
quemſte und ſcheinbar guͤltigſte Ablehnung, daß man
ſagte, man ſpuͤre Kaͤlte und Trockenheit des Alters,
der zweite Theil habe nicht das Leben des erſten, ja
kaum einen rechten Zuſammenhang mit ihm, man halte
ſich an das Werk der Jugend. Selbſt Roſenkranz laͤßt
dieſer, man kann ſagen faulen und heuchleriſchen Mei¬
nung, indem er ſolche zwar beſtreitet, noch zu viel Ge¬
wicht; ſie wird mit den Jahren immer mehr ſchwinden,
bei jedem wiederholten Leſen nimmt ſie ab. Hier aber
wird dies Verhaͤltniß durch gruͤndliche Nachweiſungen
gluͤcklich ins Klare gebracht; zuvoͤrderſt durch den Inhalt
und die Beziehungen der beſondern Scenen oder Grup¬
pen; dann aber auch durch die Aufmerkſamkeit, welche
der Verfaſſer der geſammten Geiſtesentwicklung Goethe’s
zugewendet hat, und als deren Ertrag ihm alles ſogleich
zur Hand iſt, was in den verſchiedenen Schriften
[426] Goethe’s, oft weit zerſtreut, uͤber die Abſicht und Rich¬
tung, ſo wie uͤber den Inhalt und Fortgang ſeines
Fauſt geſagt worden. Wir ſehen daraus, daß der
Dichter in dem Plane des Ganzen niemals irr geworden,
daß dabei die tiefſten Erſchaue ſeines Geiſtes und die
maͤchtigſten Lebenseindruͤcke ihn geleitet, daß jede Willkuͤr
und zweckloſe Laune ihm fern geblieben, und daß er
zwar im hoͤchſten Alter noch das Werk dichtend aus¬
gefuͤhrt, und die neueſten Vorfaͤlle und Anregungen
mit darin aufgenommen, allein daß zum Theil grade
diejenigen Scenen, die am ſpaͤteſten bekannt geworden,
und die man fuͤr das Erzeugniß ſeiner letzten Jahre,
wohl gar als eine nothbehelfliche Auskunft fuͤr den doch
endlich zu erzielenden Abſchluß, gehalten hatte, daß
grade dieſe in der Zeit ſeines mittleren Lebens und
ſeiner hoͤchſten dichteriſchen Kraft entſtanden ſind!
Herr Deycks folgt dem Goethe’ſchen Gedichte Schritt
fuͤr Schritt; indem er immerfort den Zuſammenhang
im Auge behaͤlt, beleuchtet er die einzelnen Geſtalten.
Sein deutlicher und angenehmer Vortrag, der niemals
muͤßig abſchweift oder unnuͤtz verweilt, macht dem Leſer
dieſe Wanderung leicht, und gewaͤhrt ihm als Ertrag
das reinere Verſtaͤndniß, den unendlich geſteigerten
Genuß des unabweislichen Gedichtes. Denn ſo ſteht
Goethe’s Fauſt in der Litteratur und dem Leben einmal
feſt, daß kein gebildeter Deutſcher ihn laſſen und auf¬
geben kann; ungern, muͤhſam, mit Widerwillen ſogar
[427] mag er daran gehen, immer wird er gezwungen ſein,
ihn durch und durch zu kennen, die Spruͤche deſſelben
als naͤchſte Lebensbezeichnungen anzunehmen, und in
dieſen wohlgelegten Geleiſen die Laſten des Tages und
der Zukunft fortzubewegen!
Wir koͤnnen hier in das Einzelne uns nicht ver¬
breiten. Andre, und an andern Orten, werden das
Geleiſtete dankbar aufnehmen, und ausfuͤhrlicher be¬
ſprechen. Nur zwei Punkte ſeien uns noch zu beruͤhren
erlaubt. Der eine iſt das ſeltſame und ſchauerliche
Raͤthſel, welches der Dichter als „die Muͤtter“ be¬
zeichnet hat. Der Scharfſinn und die Gelehrſamkeit
unſers Verfaſſers ſind daruͤber ſehr ergiebig, und wir
koͤnnen ſeine Erklaͤrungen vollkommen gelten laſſen;
allein aus jeder moͤglichen Erklaͤrung, und waͤre ſie uns
von Goethe ſelbſt noch uͤbrig, muͤſſen wir zuletzt zu der
von Roſenkranz gegebenen aufſteigen, als bei welcher
allein wir uns wahrhaft beruhigt finden; es iſt dies
ein gluͤcklicher Strahl kritiſcher Divination, dem der
Dichter, falls auch ihm dadurch ein erhoͤhter Ausdruck
ſeines Gebildes erſt geworden waͤre, nur um ſo freu¬
diger gedankt haben wuͤrde. Der zweite Punkt betrifft
den ariſtophaniſch kecken Streich, wo der Teufel durch
ſein auf die Engel gerichtetes Geluͤſt um ſeine Beute
kommt. Unſer Verfaſſer, der die Meiſterhand des
Kuͤnſtlers auch hier anerkennt, geſteht den Wunſch,
Goethe moͤchte dieſe den zarten Sinn verletzende Scene
[428] unterdruͤckt und die himmliſche Reinheit voͤllig außerhalb
des teufliſchen Bereichs gelaſſen haben. Wir pflichten
dieſer Meinung nicht bei. Dieſe Teufelei, worin die
kuͤhne Erfindungskraft Goethe’s durch die noch be¬
wahrte Anmuth und Heiterkeit ſich auf dem hoͤchſten
Gipfel der Meiſterſchaft zeigt, iſt der nothwendige Ge¬
genſatz des erhabenen, innigen und heiligen Elements,
in deſſen Meer das Ganze verſchwimmen ſoll. Die
Schilderung des Himmels ohne ſolchen Gegenſatz wuͤrde
nur fade ſein koͤnnen, wie auch Dante’s Paradies, ohne
ſeine Hoͤlle und ſein Fegefeuer, nur eine ſchwaͤchliche
Dichtung ſein wuͤrde, ja poetiſch gar nicht zu ertragen
waͤre.
Herr Deycks ſtellt einige der gangbaren Anklagen
und Vorwuͤrfe gegen Fauſt und gegen Goethe — be¬
ſonders die alberne Behauptung, Fauſt haͤtte ein Frag¬
ment bleiben muͤſſen, und habe als ſolches ſein gro߬
artigſtes Ende in Gretchens Verzweiflung gehabt, alles
ſpaͤter Hinzugekommene aber ſei vom Uebel — in ihrer
ganzen Bloͤße dar. Er widerlegt jedoch nicht eigentlich
polemiſch, ſondern ſucht mehr durch freundliche Er¬
weckung des Verſtaͤndniſſes den Unverſtand zu entfernen.
Ueberhaupt druͤckt er ſich ſtets mit Maß und Billigkeit
aus und laͤßt ſogar allzu nachſichtig die von M. Enk
in Wien erſchienenen Briefe uͤber Goethe’s Fauſt, in
welchen doch nur ſehr geringe Anſichten zu Tage kom¬
men, fuͤr ein achtbares Buch gelten. — Wir wuͤnſchen
[429] unſerm Verfaſſer, deſſen Beruf, in hoͤherer Geiſtes¬
ſphaͤre zu forſchen und zu bilden, durch ſeine gegen¬
waͤrtige Schrift außer allem Zweifel ſteht, zu den treff¬
lichen Eigenſchaften, welche er ſchon beſitzt, nur noch
ſtrengere Abfertigung derjenigen Widerſacher, die nicht
als wuͤrdige anzuerkennen ſind. Freilich bemerkt er am
Schluſſe des Vorwortes, „daß er denjenigen, welche
von vorn herein uͤberzeugt ſind, es koͤnne nicht das
Werk eines Greiſes Dichtergluth, und der Erguß
eines Naturverehrers Froͤmmigkeit enthalten, nichts
zu ſagen habe.“ Und damit ſind wir denn auch
zufrieden. —
Friedrichs des Zweiten Anti-Machiavel, nach
einer Original-Handſchrift herausgegeben. Ham¬
burg, 1834. Friedrich Perthes. 8.
Anti-Machiavelou examen duPrince de Machiavel.
Corrigé pour la plus grande partie d'après le
manuscrit original deFrédéricII. Avec une in¬
troduction et des notes historiques. Hambourg,
chez Frédéric Perthes. 1834. 8.
Friedrich der Große, deſſen Andenken und Wirkung
eine Reihe von Jahren durch Weltereigniſſe, die ſich zu
ihm fremdartig ſtellten, fuͤr uns einigermaßen zuruͤckge¬
[430] treten ſchien, lebt aufs neue unter uns auf, in ſeiner
alten Groͤße und Herrlichkeit, und nicht nur bei uns,
ſondern gleichzeitig im Auslande. In Frankreich, dem
mit ſich ſelbſt ſo viel beſchaͤftigten Frankreich, erſchien
vor wenig Jahren eine neue Lebensbeſchreibung des gro¬
ßen Koͤnigs; gleiches ereignete ſich in England. Bei
uns hatte die Geſchichte des ſiebenjaͤhrigen Krieges, be¬
arbeitet von den Offizieren des Generalſtabes, ein helles
Licht auf die Ereigniſſe jener Zeit geworfen, wobei die
Geſtalt des Koͤnigs nur ſtets gewinnen mußte. Das
Hauptwerk aber, worin alle Seiten Friedrichs zuſam¬
mengefaßt werden, lieferte Herr Profeſſor Preuß, der
zuerſt ein vollſtaͤndiges Bild des Lebens und der Re¬
gierung des Koͤnigs gegeben, und die wahre Wuͤrdi¬
gung deſſelben zuerſt moͤglich gemacht hat. Der erſte
Theil ſeines groͤßeren Werkes, das er mit muthigem
Eifer und langjaͤhrigem Fleiße, mit ſorgfaͤltiger Sach¬
kunde und freiſinniger Redlichkeit, ja man kann ſagen,
mit Selbſtverlaͤugnung, in patriotiſchem Sinn ausge¬
arbeitet hat, erſchien wie eine Wuͤnſchelruthe, welche
ploͤtzlich an alle verborgenen Schaͤtze der Erinnerung und
der Denkmale anſchlug, uͤberall das Bild Friedrichs
belebte, und fuͤr ſein Andenken jede Thaͤtigkeit aufregte.
Dies Buch hat unlaͤugbar, nicht nur fuͤr Friedrichs
Staat und Land, fuͤr Preußen, ja fuͤr die Monarchie
uͤberhaupt, neuen Eifer und Anhang geworben. Bloßem
Zufall iſt dieſe gleichzeitige Wiederbelebung nicht bei¬
[431] zumeſſen, ſie ſteht in dem Gange der allgemeinen Ent¬
wickelung, in der Reife des Gegenſtandes, in den Be¬
duͤrfniſſen und Ausſichten des Zeitalters begruͤndet. In
den Kreis der neuerwachten loͤblichen Thaͤtigkeiten ge¬
hoͤrt auch die aufmerkſamere Sorgfalt fuͤr die Schriften
des Koͤnigs, welche nur allzulange litterariſch verwahr¬
loſt worden, und deren vollſtaͤndige, hergeſtellte, ergaͤnzte
und gereinigte Sammlung den Wuͤnſchen der Vater¬
landsfreunde nicht vorenthalten bleiben wird! Aller¬
dings wird ein ſolches Unternehmen nicht ohne Aufſicht
und Huͤlfe der Staatsbehoͤrde geſchehen koͤnnen.
Einſtweilen aber bietet ſich hier zu einem ſolchen,
jedem Preußen und jedem Geſchichtsfreunde wuͤnſchens¬
werthen oͤffentlichen Ehrenmale ein wichtiger Beitrag
aus Privatmitteln dar. Herr Dr. Gottlieb Friedlaͤnder
fand im Beſitze ſeiner Familie die merkwuͤrdige Hand¬
ſchrift eines der fruͤhſten ſchriftſtelleriſchen Verſuche Fried¬
richs, der Pruͤfung und Widerlegung des beruͤhmten
Buches von Machiavelli, genannt vom Fuͤrſten. Fried¬
rich hatte dieſe Schrift bekanntlich noch als Kronprinz
entworfen und an Voltaire geſandt, der ſie in Holland
zum Druck befoͤrderte. Man wußte, daß Voltaire ſich
der ihm ertheilten Befugniß, an dem Buche zu feilen,
wegzuſchneiden, allenfalls auch hinzuzuthun, reichlich
bedient hatte. Der Koͤnig ſelbſt, der waͤhrend des
Druckes der Schrift auf den Thron geſtiegen war,
erklaͤrt in einem Briefe an Voltaire, daß er in dem
[432] Gedruckten ſeine eigene Arbeit nicht mehr wiederfinde;
doch ließ er den von Voltaire uͤberarbeiteten Text in
der Folge gelten, und die Berliner Zeitungen durften
das Buch lobend anzeigen.
Fuͤr uns aber beſteht freilich ein hoͤheres Intereſſe,
des Koͤnigs urſpruͤngliche Arbeit vor Augen zu haben.
Denn was ein ſolcher Mann eigenthuͤmlich will und
ausdruͤckt, ſei auch der Gegenſtand nicht gerade der wich¬
tigſte, kann fuͤr ſeine durch Liebe und Bewunderung
ihm angehoͤrigen Freunde — und ſolche wird Friedrich
wohl unter allen gebildeten Voͤlkern bis ans Ende aller
Zeiten haben — niemals gleichguͤltig werden, darf viel¬
mehr allgemein fuͤr wiſſenswerth und belehrend gelten.
Hier aber iſt nichts Geringfuͤgiges der Gegenſtand unſe¬
rer Nachfrage, es betrifft die geiſtige Form, worin ein
großer Koͤnig hinſichtlich ſeines Berufes als Volks- und
Staatsfuͤhrer ſeine wahren Ueberzeugungen niedergelegt
hat, an deren freiem Ausdrucke ſich ſeine ſpaͤtere Hand¬
lungsweiſe meſſen laͤßt, wo dann leicht zu ſcheiden ſein
mag, was dem ungehemmten Geiſtesfluge und was
dem bedingenden Drange der Welt zugerechnet werden
muͤſſe. Ein Theil dieſer urſpruͤnglichen Arbeit — leider
nicht das Ganze, aber doch ein betraͤchtlicher, weit der
groͤßte Theil — tritt nun wirklich aus langer Verbor¬
genheit an das Licht. Die Handſchrift war in guter
Hand bewahrt, ſie kam in die beſte zur Herausgabe.
Mit gruͤndlicher Sorgfalt, wie wir ſolche von dem deut¬
[433] ſchen Gelehrten ſtets erwarten duͤrfen, in klarer, buͤndi¬
ger Sprache, giebt Hr. Friedlaͤnder uns kritiſche Nach¬
richt von der Schrift des Koͤnigs, ihren Schickſalen,
ihren Ausgaben; ſodann handelt er von der ihm uͤber¬
kommenen, vorher noch nie benutzten Handſchrift, ihrer
Herkunft und Beſchaffenheit; wodurch denn der korrekte
Wiederabdruck des ganzen Textes gehoͤrig eingeleitet iſt.
Das bisher im Druck ſchon bekannt Geweſene iſt bei¬
behalten, ſofern nicht die Handſchrift eine aͤltere Ab¬
weichung darbietet; dieſe aber iſt jedesmal, ſo wie alle
groͤßeren und kleineren Zuſaͤtze, welche aus ihr herge¬
ſtellt worden, durch beſonderen Druck ausgezeichnet.
Bei der vergleichenden Ueberſicht, welche ſich nun
ſehr leicht gewinnen laͤßt, findet ſich die Bemerkung
des Koͤnigs freilich ſehr begruͤndet, daß in jener Geſtalt
das Buch ihm kaum noch das ſeine duͤnke. In der
That hat Voltaire nicht nur die Schreibart im Einzel¬
nen an hundert Stellen nachgebeſſert, ſondern auch
ebenſo oft ganze Saͤtze und Ausfuͤhrungen geradezu ge¬
tilgt oder ins Kurze gezogen. Wir koͤnnen deßhalb
aber noch nicht in den Tadel einſtimmen, zu welchem
ſowohl unſer Herausgeber, als bei gleichem Anlaſſe
Hr. Prof. Preuß, gegen Voltaire uns allzu geneigt
ſcheinen! In ſeinem Verfahren erkennen wir weder
Dreiſtigkeit noch Anmaßung, denn Friedrich hatte ihn
erſucht und ermaͤchtigt, dem Buche vor dem Abdrucke
jede kritiſche Nachhuͤlfe zu ertheilen, die ihm zweckmaͤßig
II. 28[434] duͤnkte. Was er aber in dieſer Art ausgeuͤbt, — mag
es auch noch ſo viel ſein, und ſelbſt dem Koͤnige einen
Augenblick allzu viel geduͤnkt haben, — muͤſſen wir fuͤr
den damaligen Zweck im Ganzen gutheißen und als
dankenswerth achten, ja die außerordentliche Gewandt¬
heit und den ſichern Takt, durch welche er in ſeinen
eigenen Schriften unuͤbertroffen daſteht, auch hier be¬
wundern! Damals kam es darauf an, dieſem merk¬
wuͤrdigen Buche, deſſen Urſprung nicht eingeſtanden
werden ſollte, dem aber die doch eigentlich deutſche und
noch dazu prinzliche Feder gar manche Rauhigkeit gelaſſen
hatte, eine litterariſch glatte und minder auffaͤllige Ge¬
ſtalt zu geben. Dies hat Voltaire ſehr gluͤcklich ausge¬
fuͤhrt, und das Ganze, gereinigt von Sprachwidrigkeiten
wie von Unfertigkeiten des Ausdrucks und der Behand¬
lung, lesbar in die Welt geſchickt. Wir duͤrfen uns uͤber
die Wiedererlangung und Veroͤffentlichung des urſpruͤng¬
lichen Entwurfes freuen, weil wir ein ganz anderes Inter¬
eſſe bei der Sache haben; allein, von Voltaire unſern
Geſichtspunkt zu fordern, den auch weder Friedrich noch
die Leſewelt damals haben konnte, waͤre ſehr ungerecht.
Unſer Herausgeber verweilt, wie es der Gegenſtand
erheiſcht, auch bei dem weſentlichen Mißverſtande, in
welchem ſowohl der große Koͤnig als Voltaire hinſicht¬
lich der Beurtheilung des Machiavelli mit dem groͤßten
Theile ihrer Zeitgenoſſen befangen waren. Sie hatten
keine Ahndung, daß das Buch vom Fuͤrſten, welches
[435] ihnen eine Unterweiſung in ſchaͤndlichen Grundſaͤtzen und
im verderblichſten Sinne abgefaßt ſchien, jemals eine
mildere Anſicht zulaſſen, und daß ſein Urheber als ein
edler und freigeſinnter Mann gelten koͤnnte. Es iſt das
Verdienſt der deutſchen Geſchichtsforſcher, daß Machia¬
velli jetzt allgemein in guͤnſtigerem Lichte betrachtet wird.
Sie haben den Verſuch, ihn zu rechtfertigen, vielfaͤltig
unternommen, zum Theil freilich in ganz widerſprechen¬
der Weiſe; dennoch hat, nicht ſowohl Machiavelli, deſſen
Leben und Karakter jetzt offen genug daliegen, um
niemanden mehr als ein moraliſches Ungeheuer erſchei¬
nen zu koͤnnen, wohl aber das Buch vom Fuͤrſten, un¬
geachtet aller ſcharfſinnigen Erklaͤrungen, geſchichtlichen
Aufſchluͤſſe und geiſtigen Vermittelungen, immer noch
etwas Raͤthſelhaftes, was am Ende der gelehrten und
ſinnreichen Unterſuchungen, aus welchen ſeine Unſchuld
hervorgehen ſoll, unaufgeloͤſt uͤbrig bleibt. Auch wir
ſind der Meinung, daß das fruͤhere unbedingte Ver¬
dammungsurtheil gegen das wunderliche Buch nicht be¬
ſtehen koͤnne, und daß eine beſchwichtigende Auslegung
fuͤr daſſelbe zu finden ſeyn muͤſſe. Allein wir glauben,
daß das eigentliche Wort, durch welches jeder Zweifel
gehoben und eine klare Einſicht begruͤndet waͤre, noch
nicht geſprochen iſt. Auch der Folgezeit nach wird das
Buch, ſo ſcheint es, immer wieder als Raͤthſel auftauchen
und verſinken, je nachdem die Verſuche, ſich ſeiner zu
bemaͤchtigen, dem Gelingen naͤher treten oder abfallen.
28 *[436]
Neben dieſem Raͤthſelhaften des Sinnes und Zweckes
wird dann auch mit vielen Saͤtzen des Buches, man
mag ſie nun als Ausſpruͤche des Thatſaͤchlichen oder als
wirkliche Lehren und Ermahnungen betrachten, immer¬
fort ein tiefer Abſcheu ſich verknuͤpfen, zu welchem, offen
oder geheim, das menſchliche Gefuͤhl ſich jedesmal erregt
findet, wenn das Gedeihen der Staaten wie der Ein¬
zelnen, anſtatt auf den Grundlagen der Gerechtigkeit
und der Wahrheit, auf denen des Verbrechens und der
Luͤge ſich erheben ſoll. Und wir werden immer den
Fuͤrſten preiſen und ſegnen, der ſolche ſcheinbare Lehren
zu widerlegen in fruͤher Jugend die Feder ergriff, und
auf dem Thron ſein langes Leben hindurch das Vor¬
bild eines klugen, tapfern, die Menſchheit ehrenden und
ſein Volk begluͤckenden Herrſchers geblieben iſt!
Veranlaſſung und Geſchichte des Krieges in der
Mark Brandenburg im Jahre 1675. Nach
Archivalien des Geheimen Staatsarchivs zu Ber¬
lin u. ſ. w., bearbeitet von H. von Gans¬
auge. Berlin, bei G. Reimer 1834. 8.
Die brandenburgiſch– preußiſche Geſchichte hat in neue¬
rer Zeit vielfache Bearbeitungen erfahren, durch welche
die große Schwierigkeit, dieſen merkwuͤrdigen Zuſam¬
[437] menlauf von Begebenheiten in ſeiner wahren Lebensrich¬
tung aufzufaſſen und in ſeiner eigenthuͤmlichen Geſtalt
und Bewegung klar hinzuſtellen, nur immer deutlicher
geworden iſt. Die Urſache der beſondern Schwierigkeit
liegt in dem Entwicklungsgange ſelbſt, in der Macht
der Fortſchritte, in dem ſtets hinausruͤckenden und noch
von keinem forſchenden Auge zu ermeſſenden Umfange
der Moͤglichkeiten kuͤnftiger Beſtimmung, zu welcher
dieſes Staatsleben emporzuwachſen hat. Außerdem aber
leidet die brandenburgiſch-preußiſche Geſchichte auch noch
gar ſehr an Aufhellung und Feſtſetzung vieler Einzel¬
heiten, wo die Angaben theils mangeln, theils ſich
widerſprechen, und die kritiſche Unterſuchung noch kein
ſicheres Ergebniß geliefert hat. Selbſt hoͤchſt wichtige
und glaͤnzende unſrer vaterlaͤndiſchen Vorgaͤnge ſchim¬
mern bis jetzt in einem Lichte, welches wenn auch nicht
die Haupterſcheinung, doch manche Nebenumſtaͤnde un¬
ſicher laͤßt; und das Beduͤrfniß, die Geſchichte nicht nur
zu wiſſen, ſondern auch lebendig anzuſchauen, entbehrt
ſehr ungern ſolcher Einzelheiten, durch die nicht ſelten
auch den Hauptſachen eine erhoͤhte Theilnahme zugewen¬
det wird.
Zu den Vorgaͤngen dieſer Art gehoͤrt der Feldzug
des großen Kurfuͤrſten gegen die Schweden im Jahre
1675, die wichtigen Ereigniſſe von Rathenau und Fehr¬
bellin, welche ſchon als Kriegsthaten und Beiſpiele
muthiger Entſchloſſenheit einen ſelbſtſtaͤndigen Werth
[438] haben, aber durch die ihnen verknuͤpften Folgen nicht
minder bedeutend ſind. Die vorliegende Schrift behan¬
delt dieſen anziehenden Gegenſtand, indem ſie die vor¬
handenen Nachrichten ſorgfaͤltig zuſammenſtellt, durch
Vergleichung unter einander pruͤft, und bisher unbenutzte
handſchriftliche Huͤlfsmittel mit heranbringt. Der Ver¬
faſſer hat ſeiner Aufgabe großen Fleiß und Eifer gewid¬
met, und ſeine Darſtellung bezeugt uͤberall den treuen
Sinn des redlichen Forſchers, der, wie er es ſelber
ausſpricht, „erſtlich bemuͤht iſt, der Wahrheit zu dienen.“
Sein Verdienſt erſcheint am groͤßten und fruchtbarſten
in genauer Ermittelung der eigentlichen militaͤriſchen
Bezuͤge, der Anordnung der Maͤrſche, des Laufs der
Gefechte, der ſichern Beſtimmung der Zeit und Oertlich¬
keit. In letzterer Hinſicht kam dem Verfaſſer die gruͤnd¬
liche Kenntniß der Landesgegend, welche der Schauplatz
jener Kriegsereigniſſe war, zu Statten; er hat ſolche
genau erforſcht, den in aͤltern Zeiten von der heutigen
Beſchaffenheit verſchiedenen Zuſtand hervorgehoben, und
nach dieſer zuverlaͤſſigen Leitung einer noch jetzt anſchau¬
lichen Wirklichkeit die geſchichtliche Ueberlieferung auf
ihre richtigen Punkte zuruͤckgefuͤhrt. Die beigefuͤgten
Abbildungen geben eine willkommene Ueberſicht, und wir
duͤrfen dieſe Unterſuchung, welche die Landesbeſchaffen¬
heit uͤberhaupt und das Terrain der einzelnen Kriegs¬
vorfaͤlle betrifft, und die ſchon in fruͤherer Zeit durch
einen Aufſatz des Freiherrn von Fouqué gluͤcklich einge¬
[439] leitet worden, durch die dankeswerthen Bemuͤhungen des
Verfaſſers nunmehr fuͤr vollſtaͤndig abgeſchloſſen erachten.
Den ſonſtigen Ergebniſſen der hier ausgeuͤbten hiſto¬
riſchen Kritik vermoͤgen wir nicht immer beizutreten.
Wir muͤſſen im Allgemeinen bemerken, daß in neuerer
Zeit, wo man mit beſonderem Eifer neuen handſchrift¬
lichen Quellen nachſpuͤrt, und aus dieſen die bisherige
Kenntniß und Darſtellung der Geſchichte nicht zu ergaͤnzen
und aufzuhellen, ſondern auch wohl in ganze neue Ge¬
ſtalt umzubilden unternimmt, dieſes Beſtreben ſehr oft
eine bedenkliche Richtung genommen und neue Irrthuͤmer
veranlaßt hat. Der Anblick alter Urkunden und Schrif¬
ten uͤbt einen eignen Reiz, die Beſchaͤftigung mit ſolchen
neu aufgefundenen und bisher wenig oder gar nicht
benutzten Blaͤttern erzeugt einen Hang, ſie zu uͤber¬
ſchaͤtzen, ſie zum einſeitigen Maßſtabe anzunehmen, und
alles zu verwerfen, was nicht aus ihnen geſchoͤpft, oder
mit ihnen nicht in Uebereinſtimmung iſt. Beſonders
legt man auf das Schweigen ſolcher Zeugniſſe ein un¬
verhaͤltnißmaͤßiges Gewicht, und thatſaͤchliche Angaben,
die ſich in bisherigen Ueberlieferungen vorfinden, ſollen
ploͤtzlich nichts gelten, weil ihrer in beſtimmten Papie¬
ren, deren Vollſtaͤndigkeit und Entſtehungsart noch erſt
zu pruͤfen waͤre, nicht gedacht worden iſt. So hat
man, auf Urkunden geſtuͤtzt, deren Unzulaͤnglichkeit grade
fuͤr den beſtimmten Zweck offenbar am Tage liegt, den
brandenburgiſchen Miniſter, Grafen von Schwarzenberg,
[440] gegen fruͤhere Anſchuldigungen zu rechtfertigen, den
Herzog von Friedland alles Verrathes gegen den Kaiſer
freizuſprechen gemeint, und die als Urtheil und Anſicht
der mit- und nachlebenden Welt auf uns gekommenen
Angaben durch bloße Verneinung aufzuheben geglaubt.
Man wird aber Zeugniſſe, die einmal beſtehen, nicht ſo
leicht verwerfen duͤrfen, wenn man nicht nachweiſen
kann, daß ſie in der Sache ſelbſt ihren Widerſpruch
finden, und wie, durch Irrthum oder Abſicht, ſie
haben beſtehen und ſich behaupten koͤnnen. So ſoll
auch die Erzaͤhlung Friedrichs des Großen von dem
Pferdetauſche zwiſchen dem großen Kurfuͤrſten und dem
Stallmeiſter Froben, ſo wie die Nachrichten uͤber den
Vorgang mit dem Prinzen von Heſſen-Homburg bei
Fehrbellin, blos deshalb ungegruͤndet ſein, weil das
Tagebuch des Kammerherrn von Buch und Pufendorfs
Geſchichte des großen Kurfuͤrſten dieſer Umſtaͤnde nicht
erwaͤhnen. Unſer Verfaſſer pflichtet den Kritikern eifrig
bei, welche jene Angaben, die neben Friedrich dem Großen
noch den Freiherrn von Poͤllnitz fuͤr ſich haben, durch¬
aus beſtreiten und verwerfen; nach unſerer Meinung
ſehr mit Unrecht. Als die genannten Schriftſteller
ſchrieben, war die lebendige Ueberlieferung jener fruͤhe¬
ren Zeiten noch nicht erloſchen (ſie iſt es ſogar noch
jetzt nicht, wie ſelbſt die vorliegende Schrift bezeugt),
und beide lebten in Verhaͤltniſſen und Stellungen, wo
eine weſentliche und buͤndige Kenntniß der juͤngſtver¬
[441] gangenen Vorfaͤlle und Umſtaͤnde ſicher uͤbertragen und
feſt bewahrt ſein konnte. Die Annahme, Poͤllnitz habe
jene Geſchichten erfunden, iſt hoͤchſt willkuͤrlich, und
kann, ſo lange man nicht nachweiſt, daß er uͤberhaupt
Fabeln erſonnen, und zu dieſer einen beſondern Anlaß
gehabt habe, nur als ein leeres Vorgeben erſcheinen.
Das Schweigen Pufendorfs und Buchs (und obendrein
auch der Leichenredner!) beweiſt gar nichts. Wie viele
Ereigniſſe und Bezuͤge von Wichtigkeit werden grade
von Zeitgenoſſen uͤbergangen, aus hundert Gruͤnden und
Zufaͤlligkeiten, die hier nicht aufzuzaͤhlen ſind! Man
muß dabei genau erwaͤgen, was alles zu einer beſtimm¬
ten Zeit unbekannt oder im Gegentheil allzu bekannt
ſein mochte, was bedeutend oder unwichtig erſchien,
unangenehm oder bedenklich zu erwaͤhnen war. Es gibt
heutigen Tages Dinge, die jedermann weiß, aber ſchwer¬
lich ſagt, und ſelbſt fuͤr ſich niederzuſchreiben Bedenken
traͤgt; und eben ſo andre, deren Erwaͤhnung aus Mi߬
laune oder Uebelwollen abſichtlich vernachlaͤſſigt wird.
Die beſtimmte Angabe Friedrichs und Poͤllnitzens iſt
durch zweifelnde Muthmaßung nicht zu beſeitigen, und
wird in der geſchichtlichen Kunde einſtweilen noch ihre
Stelle feſt behaupten. In der Sache ſelbſt iſt durchaus
keine Unwahrſcheinlichkeit aufzuſtellen; ein beſtimmter
Widerſpruch findet abſeiten der Erzaͤhler, welche die
erwaͤhnten Umſtaͤnde verſchweigen, auch nicht Statt. Der
Urheber all dieſes Zweifels iſt diesmal der als Samm¬
[442] ler und Schriftſteller bekannte Ordensrath Koͤnig, auf
den ſich auch unſer Verfaſſer als auf den Gewaͤhrsmann
beruft, der dieſe Sache ganz auf’s Reine gebracht habe.
Dieſer Mann war fleißig, aber ohne allen Geiſt und
Ueberblick. Er gehoͤrte zu den hiſtoriſchen Forſchern,
welche alles gethan zu haben glauben, wenn ſie Einzel¬
nes an Einzelnes reihen, dies gegen einander halten,
vergleichen und abwaͤgen. Aber auf ſolche Weiſe gedeiht
keine aͤchte hiſtoriſche Kritik; dieſe geht nur aus einer
umfaſſenden Durcharbeitung großer hiſtoriſcher Stoffe,
aus einer tiefern, auf Weltkenntniß und Lebenserfahrung
gegruͤndeten, und durch weitgreifende Studien allſeitig
geuͤbten Einſicht hervor, ohne welche die genaue Kunde
und das ſorgfaͤltige hin und her Wenden des beſonde¬
ren Falles ganz unfruchtbar bleiben muß.
Fuͤr die hier zu Sprache gekommene Streitſache tritt
aber noch ein ganz eigner Umſtand ein! Unſer Verfaſſer
ſtuͤtzt ſich in Betreff ſeiner gegen die erwaͤhnte Geſchichte
Frobens ausgeſprochenen Zweifel und Verneinung haupt¬
ſaͤchlich auf den Ordensrath Koͤnig: allein dieſer ſelbſt
hat ſeine Zweifel ja ſpaͤterhin bereut und zuruͤckgenom¬
men! Warum iſt dies nicht beachtet? Wie ſchwer
man, auch bei dem redlichſten Willen und ſtrengſten
Eifer, in dergleichen Eroͤrterungen und Zuſammenſtellun¬
gen die Gefahr vermeidet ſich in Irrungen zu verwickeln,
beweiſt eine andre Stelle unſrer Schrift, wo es heißt:
„Friedrich der Zweite macht ſein eignes Zeugniß zwei¬
[443] felhaft, da die ganze Erzaͤhlung aus den ſpaͤteren Aus¬
gaben der Memoires, namentlich aus der von 1762,
weggeblieben iſt. Nun iſt bekannt, daß der Koͤnig eine
Durchſicht und Verbeſſerung der erſten Auflage vor
deren Wiederabdruck vornahm, um ſie von eingeſchliche¬
nen Irrthuͤmern zu reinigen.“ So ſteht es hier; aber
die Sache verhaͤlt ſich umgekehrt; grade in den fruͤheren
Ausgaben, namentlich in dem erſten Abdruck, in den
Mémoires de l'Académie Berlin, fehlt jene Erzaͤh¬
lung, und erſt in ſpaͤtern iſt ſie hinzugefuͤgt, mit den
einleitenden Worten: „Il est digne de la majesté
de l'histoire de rapporter la belle action que fit
un écuyer de l'électeur dans ce combat.“ Auch iſt
es ungenau, wenn dem Koͤnige nachgeſagt wird, er
zeige uns den Prinzen von Heſſen-Homburg „als einen
leidenſchaftlich Unverſtaͤndigen“, der Koͤnig ſpricht nur
von bouillant conrage und vivacité, und d’avoir ex¬
posé avec tant de légèreté la fortune de tout l'état,
welche Ausdruͤcke von jener Bezeichnung noch ſehr ver¬
ſchieden ſind. Einige Kleinigkeiten z. B. daß der Verfaſſer
immer Doͤrfflinger ſchreibt, anſtatt Derfflinger, woruͤber
die vorhandene Biographie von Koͤnig ſichre Auskunft
gibt, — ſind leicht zu berichtigen, und duͤrften in einer
andern Schrift, wo nicht ſo gewiſſenhafte Genauigkeit
in jeder Art angeſtrebt und geleiſtet waͤre, kaum anzu¬
merken ſein.
[444]
Le Monde comme il est; par le marquisde
Custine. Paris, chez Eugène Renduel.
1835. 2Vols. 8.
Goethe nennt in einem Briefe an Zelter die neuſten
franzoͤſiſchen Romane und verwandte Dichtungen eine
Litteratur der Verzweiflung, und grade das
merkwuͤrdigſte und eigenthuͤmlichſte Werk aus dieſem
Kreiſe, Victor Hugo's Notre-Dame de Paris, muß ihm
hiefuͤr als Beleg dienen. Wir duͤrften ſeiner ſcharfen,
bis zum Unwillen geſteigerten Kritik dieſes Buches mit
gutem Grunde mancherlei entgegenſetzen; allein, auch
zugegeben, daß jener bezeichnungsvolle Ausſpruch im
Allgemeinen wohlguͤltig und treffend ſei, — wie denn
Goethe nie etwas Leeres und blos Eingebildetes oder
Willkuͤrliches ſagt, ſondern immer ein Wirkliches, An¬
geſchautes vor Augen hat, — ſo duͤnkt uns doch, der
weltkundige Greis, der von ſeiner hohen Warte das
ihn umwogende Leben mit ſeltner Einſicht und Klarheit
beobachtet und beurtheilt, habe diesmal den Gegenſtand,
der ihm ſo anſtoͤßig und widrig erſcheint, in einer zu
vereinzelten Betrachtung aufgefaßt. Die Litteratur ſteht
nicht fuͤr ſich allein; ihre Geſtalt, ihr Glanz und ihre
Verdunklung, ihr Stoff und ihre Richtung, haͤngen nicht
von der Laune der Schriftſteller ab, ſondern von Volks-
und Weltbezuͤgen, die ſich in den Geiſteserzeugniſſen
[445] abdruͤcken, und mit denen ſie ſtets im lebendigen Zu¬
ſammenhange anzuſchauen ſind. Goethe hat dieſe Ver¬
haͤltniſſe der franzoͤſiſchen Litteratur, eben ſo wie deren
innere Beſtandtheile, im gegenwaͤrtigen Falle, wie uns
ſcheint, mit zu eiligem Unmuth abgefertigt. Ihm werde
das nicht verargt, er hat mehr als jeder Andere das
Recht, auch eine Stimmung des Augenblicks abſchließend
auszuſprechen, und er hat auch in ihr ein gluͤckliches
Wort geſagt, das bleiben wird: uns aber gebuͤhrt,
daſſelbe anzuerkennen, ohne uns davon beſchraͤnken zu
laſſen.
So faͤllt uns bei jenem franzoͤſiſchen Romantismus
alſobald der Bezug auf, welchen dieſe Anhaͤufung von
Schreckniſſen und Ausſchweifungen, Abſonderlichkeiten
und Verzerrungen, worin ſich die Schriftſteller uͤberbie¬
ten, zu dem heutigen Lebenszuſtande hat, der ſolche
Bilder zum Vergnuͤgen annimmt. Da finden wir denn,
daß in dieſe Litteratur ſich alles Entſetzliche und Furcht¬
bare gezogen hat, was ein Menſchenalter fruͤher in zer¬
ſtoͤrender Wirklichkeit wuͤthete; wir finden als Dichtung
und zur Unterhaltung den Leſern in die Haͤnde gege¬
ben, was fruͤher als grimmige Gewaltthat uͤber ihren
Koͤpfen ſchwebte, und blutig ihre Nacken traf; waͤhrend
jetzt ſogar bei den anerkannteſten Verbrechen die To¬
desſtrafe nur ſelten noch in Anwendung kommt! Dieſe
Verwandlung jenes grauenvollen Zuſtandes, der politi¬
ſchen Terreur, an welche kein Franzoſe ohne tiefe Be¬
[446] ſtuͤrzung und Scham zuruͤckzudenken vermag, in einen
litterariſchen Nachklang, iſt ohne Zweifel ein nothwen¬
diges und heilſames Mittelglied in den Uebergaͤngen, zu
welchen die jetzige Welt genoͤthigt iſt. Wenn aber,
nach Geſetzen einer auch im Geiſtigen waltenden Natur¬
entwicklung, dieſe romantiſche Terreur als eine Buͤrg¬
ſchaft daſtehen duͤrfte, daß die politiſche erſchoͤpft und
ihre Wiederkehr ferner unmoͤglich iſt, ſo haͤtte man der
Phantaſie wohl nur zu danken, und mit Befriedigung
anzuerkennen, daß ſie den daͤmoniſchen Fluthen einen
Raum eroͤffnet, in welchem ſie unſchaͤdlicher hinſtroͤmen,
und ihre Macht ſchon verloren haben. Wer wuͤrde rei¬
cher und fruchtbarer ſeine Betrachtungen hier angeknuͤpft
haben, als eben Goethe, waͤre ſein Blick in dieſer
Richtung nur einen Moment feſtgehalten worden!
Aber auch fuͤr die innern Beſtandtheile ſelbſt, welche
jene Litteratur bilden, ſcheint uns eine ſchaͤrfere Unter¬
ſcheidung noͤthig, als der allgemeine Spruch Goethe's
zulaſſen will. An Gehalt wie an Darſtellung ſind die
Schriften, welche hier zuſammengefaßt werden, hoͤchſt
ungleich, und keineswegs in eine und dieſelbe Verdamm¬
niß zu werfen. Allerdings herrſcht in den meiſten eine
verzweiflungsvolle Stimmung, eine troſtloſe Weltanſicht,
und den vernichtenden Eindruck, den die Ausſchließung
der Himmelsmaͤchte aus den Schilderungen des jam¬
mervollen Irdiſchen im Gemuͤth hervorbringt, vermag
keine Verſchwendung von Geiſt und Talent aufzuheben.
[447] Die Verzweiflung fuͤr ſich allein hoͤrt auf poetiſch zu
ſeyn, ſie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem
Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen iſt ſie
darum aus der Poeſie noch nicht, ſie iſt in ihr, wie
im Leben ſelbſt, ein unabweisliches Element, und Goethe
ſelber ſagt: „Wer nicht verzweifeln kann, der muß
nicht leben.‟ Nur ſoll ſie in gehoͤriger Mischung her¬
antreten, und die entgegengeſetzten Elemente der Ver¬
ſoͤhnung, des Troſtes, der Erhebung duͤrfen uns nicht
fehlen. Dieſe nothwendige, mildernde und erweckende
Beimiſchung mangelt aber ſo wenig dem beruͤhmten
Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften
derſelben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬
druͤckliche Formeln und Geſtalten dafuͤr geſorgt iſt, jene
Elemente ſo beſtimmt, wie die des Schauderhaften und
Schrecklichen, hervorzuſtellen; ſie ſind in dem Ganzen
oft nur als Aufloͤſung vorhanden, aber darum nicht
minder lebendig, und ſie ſind es, welche ſolchen Schrif¬
ten, die ſonſt den geſunden Sinn nur abſtoßen muͤßten,
den maͤchtigen Reiz und die große Wirkung geben, die
niemand ihnen ablaͤugnen kann. Mag das hoͤhere Leben
in dieſen Dichtungen fuͤr den einzelnen Fall immerhin
erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geſchieht
nur da, wo daſſelbe ſchlechterdings gelaͤugnet, oder deſ¬
ſen Weſenheit ſich dadurch aufhebt, daß alle Erſcheinun¬
gen deſſelben auf Gemeines und Todtes zuruͤckgefuͤhrt
werden. Von dieſer letztern Art ſind allerdings manche
[448] Erzeugniſſe der franzoͤſiſchen Romantiker, die wir in
ihrer traurigen Menſchenfeindlichkeit und Gottentbehrung
nur mit einigen Verſuchen der franzoͤſiſchen Metaphyſi¬
ker des achtzehnten Jahrhunderts, zum Beiſpiel mit
dem verrufenen Système de la nature, vergleichen koͤn¬
nen. Allein die beſſern der heutigen Schriftſteller gehen
unlaͤugbar auf einer andern Bahn, und weit entfernt,
dem Schrecklichen, das ſie darſtellen, als einer Allmacht
zu huldigen, laſſen ſie uͤber demſelben ein Hoͤheres ahn¬
den, bei welchem Zuflucht und Troſt gewaͤhrt ſind.
Wir koͤnnen hier neben Hugo namentlich auf Alfred de
Vigny und Balzac hinweiſen, von denen freilich letzte¬
rer ſo ungleich in ſeinen Erzeugniſſen als fruchtbar iſt!
Seit kurzem indeß arbeitet ſich aus den Truͤmmern
ſo vieles Zerſtoͤrten, neben dem Nichtigen und Verwor¬
renen, welches noch lange Zeit den Hauptbeſtandtheil
der franzoͤſiſchen Romantik zu bilden beſtimmt ſcheint,
ein neubelebender Geiſt in ganz entſchiedener Geſtalt
hervor, und die bisher nur aufgeloͤſten Elemente eines
troſtreichen Hoͤheren erſcheinen in ausdruͤcklicher Selbſt¬
ſtaͤndigkeit. Es iſt bekannt, daß die franzoͤſiſchen Ro¬
mantiker ihrem politiſchen Karakter nach weſentlich dem
alten Frankreich, dem legitimen und hierarchiſchen, an¬
gehoͤren ; im Gegenſatze der revolutinairen Schriftſteller,
welche mit groͤßerer Strenge auf die ſogenannten klaſſi¬
ſchen Formen ihrer fruͤheren Litteratur halten; beide
Partheien ſcheinen hiebei in Widerſpruch mit ſich ſelber
[449] zu gerathen, folgen aber mit richtigem Takte nur dem
Gebot ihres wahren Verhaͤltniſſes. Die Republikaner
beduͤrfen der trockenen Denkart und Verſtandesaufklaͤ¬
rung, die vor der Revolution herrſchend waren; die
Freunde des Koͤnigthums und der Kirche wenden ſich
zu den Wunderkraͤften des Mittelalters. Die legitimi¬
ſtiſche Richtung iſt in der Politik zwar geſchlagen, aber
in der Litteratur iſt ſie die Herrſcherin des Tages; ſie
nimmt Theil an dem Sturme der Zerſtoͤrung, den auch
ſie nur fortſetzen muß, wenn ſie zu einem ihr gemaͤßen
Ziele gelangen will; aber ſie darf auch ſchon den Geiſt
und die Richtung zeigen, in denen ſie das wahre Leben
zu finden hofft, ja zu beſitzen meint. Nach den letzten
Stuͤrmen mag es in Frankreich unmoͤglich ſein, das
gefallene Koͤnigthum als Mitte eines hoͤheren Lebens
wiederaufzunehmen und anzupreiſen; die entſchiedenſten
Anhaͤnger verſuchen es nicht, dieſe politiſche Seite ihrer
Denkart durch aͤſthetiſche Behandlung geltend zu ma¬
chen. Anders aber ſteht die religioͤſe Seite, fuͤr dieſe
iſt kein weſentlicher Halt verloren, ſie hat vielleicht durch
Scheidung manches Unreinen nur gewonnen, ſie kann
noch als ein feſter Mittelpunkt geſchildert und angeboten
werden, und mit Eifer wird dieſes Element, die katho¬
liſche Religion und Kirche, in den Kreis der aͤſthetiſchen
Gebilde gezogen, die bisher eines ſolchen Beſtandtheiles
meiſt entbehrten. Koͤnnte es gelingen, dieſes Element
in ſeiner Weſenheit wirklich zum Geiſte der dichteriſchen
ll. 29[450] Erzeugniſſe und in dem Sinne der Leſer wurzeln zu
machen, ſo wuͤrde gegen ein ſo maͤchtiges Poſitive alle
Steigerung und Vielfachheit des Negativen nicht mehr
aufkommen, und mit der Litteratur der Verzweiflung
waͤre es dann vorbei. Ob es je zu dieſem Ergebniß
kommen koͤnne, und wie weit uͤberhaupt in dieſer Rich¬
tung vorzudringen ſei, wollen wir nicht entſcheiden.
Uns genuͤgt hier, den Verſuch anzumerken, der gemacht
wird, auf dieſe Weiſe dem truͤben Wuſte zu entſteigen,
und in der Zerſtoͤrung und Nacht eine helle Zuflucht
zu gewinnen. Mit großem Geiſt und Talent hat neuer¬
lich Sainte-Beuve nicht nur die Kraft des katholiſchen
Glaubens, ſondern ſogar die Formen des katholiſchen
Prieſterthums in eine Novelle verwebt, welche zu den
edelſten und ſchoͤnſten dichteriſchen Erzeugniſſen gehoͤren
wuͤrde, wenn der Autor vermocht haͤtte, die unreinen
Stoffe ſo wuͤrdig wie die reinen zu behandeln. Eine
merkwuͤrdige Erſcheinung in gleicher Hinſicht duͤnkt uns
das Buch von Cuſtine, zu deſſen Anzeige wir dieſe
Vorbetrachtungen noͤthig hielten.
Der Marquis von Cuſtine iſt ein Enkel des beruͤhm¬
ten Generals, verlor ſeinen Großvater und Vater durch
das Beil der Guillotine, und gehoͤrte, wie durch Ge¬
burt und Stand, ſo auch durch Sinn und Streben von
jeher der royaliſtiſch-kirchlichen Denkart an. Zuerſt
aufgetreten als Schriftſteller iſt er, unſres Wiſſens, durch
eine Novelle „Aloys,“ in welcher hoͤchſt eigenthuͤmliche
[451] Lebensverwicklungen und innere Erfahrungen ſpielen,
und endlich durch katholiſche Froͤmmigkeit abgeſchloſſen
und beruhigt werden. Darauf gab er unter dem Titel
Mémoires et voyages eine Reihe von Reiſebildern aus
Italien und England, voll geiſtreicher Anſichten und
Bemerkungen, die durch eine lebhafte und anmuthige
Schreibart noch beſonders gehoben ſind. Der gegenwaͤr¬
tige Roman vereinigt die beiden Richtungen des Ver¬
faſſers, welche bisher getrennt erſchienen waren, ſichre
Auffaſſung der aͤußern Welt, Schilderung der Natur
und der Lebensverhaͤltniſſe, und daneben Aufſchließung
der inneren Gemuͤthswelt, leidenſchaftliches Weſen der
Herzen, und Drang und Hinweiſung zum Religioͤſen.
Seiner Dichtung liegt unſtreitig Wahrheit zum Grunde,
wir moͤchten die einzelnen Beſtandtheile, Bilder wie
Gefuͤhle, ſaͤmmtlich aus dem Leben entlehnt glauben;
nur die Anlage, durch welche ſich alles zu einem Gan¬
zen reiht, iſt erfunden, und ſehr gluͤcklich erfunden. Der
Verfaſſer hat ein ganz neues und uͤberaus reiches Trieb¬
werk angewandt, wie daſſelbe noch in keinem Romane
vorkommt. Der Held iſt ein junger Mann, der ſich
auf den Wogen der Eitelkeit und des Genuſſes dahin¬
tragen laͤßt, die Gunſt des Augenblickes wahrnimmt,
und als eine ſolche auch den Beſitz einer reichen Erbin
betrachtet, die er ihres Vermoͤgens wegen heirathen will,
ungeachtet ſie ſehr haͤßlich iſt. Er bekennt ſeine Zwecke
und Meinungen, iſt aber im Innern beſſer als dieſe,
29 *[452] und er muß ſich in die Haͤßliche, die er nur zu heira¬
then dachte, leidenſchaftlich verlieben. Sie aber, die ihn
ſchon liebte, als er ſich und ſie noch mißkannte, muß
ihn verachten, da man ihr ſeine Denkart enthuͤllt; und
dieſer Keim des Unheils entwickelt ſich nun fort und
fort, unter ſtets erneuertem Verkennen und Leiden, zu
unwiderruflicher Trennung, zum voͤlligen Untergange.
Der Verfaſſer hat von beiden Motiven, der aͤchten Liebe,
welche das Herz eines ſich ſelbſt herzlos glaubenden
Mannes ergreift, und dem Mißtrauen eines Maͤdchens,
die das Erwuͤnſchte in dem falſchen Scheine nicht zu
erkennen vermag, allen reichſten Vortheil gezogen, und
ein großes, tiefes, verhaͤngnißvolles inneres Leben an
den Tag geſtellt. Wo die aͤußere Welt der Geſellig¬
keit, ihre Bewegungen und Raͤnke eingreifen, finden
wir die Schilderung oft allzu grell, die Perſonen zu
ſehr in Traͤger beſtimmter Richtungen und Eigenheiten
verwandelt, aber die einzelnen Zuſtaͤnde wahr und leben¬
dig, die Bilder der Zeit und ihrer Verhaͤltniſſe in ſpre¬
chenden Zuͤgen vortrefflich ausgedruͤckt. Von beſonderem
Werthe iſt das Gemaͤlde der Normandie, des landſchaft¬
lichen Karakters dieſer Provinz, und der Art und Sit¬
ten ihrer Einwohner. Der Verfaſſer, fuͤr das alte
Frankreich geſtimmt, verlaͤugnet keineswegs die traurige
Rolle, welche dieſes in der unreinen Vertretung ſpielt,
die ſich demſelben im Gemiſch und Kampfe der Neue¬
rungen aufgedraͤngt hat. Er verehrt das Koͤnigthum,
[453] aber den Hof, wie er ſich geſtaltet hat, giebt er preis;
die katholiſche Religion iſt ihm heilig, aber in dem fal¬
ſchen Treiben ihrer unredlichen Diener ſieht er nicht
das Prieſterthum; ebenſowenig will er die beſchraͤnkte
Gemeinheit des Volks und die Ariſtokratie in ihrer Ent¬
artung vertheidigen. Mit großer Geiſtesfreiheit ſondert
er die falſchen und verdorbenen Formen von dem Weſen
der Dinge, und haͤlt ſich an dies, indem er fallen laͤßt,
was nicht beſtehen kann. Er gewinnt auf dieſe Weiſe
wirklich ein hoͤheres Poſitive, das uͤber den Truͤmmern
der Lebenswirren ſiegreich ſchwebt. Das Hoͤchſte dieſes
Poſitiven iſt ihm die katholiſche Kirche, ſeine letzte Zu¬
flucht und Troͤſtung der katholiſche Prieſter, deſſen
Auftreten und Wirken allein die Stuͤrme der Welt zu
beruhigen vermag. Zwar in dem Verlaufe des Romans
ſelber hat dieſes Element keine Stelle gefunden, die
Geſchichtserzaͤhlung fuͤhrt alles dem Verderben zu, und
ohne die Lehre und Warnung, welche der Verfaſſer als
ſolcher eigends hinzugeſellt, waͤre der Ausgang einer
der verzweiflungsvollſten. Auf dieſe Weiſe jedoch, indem
der Autor gleichſam neben ſeiner Darſtellung mitwan¬
delt, und durch perſoͤnliche Meinung ergaͤnzt, was er
als Dichter unvollſtaͤndig laͤßt, nimmt das Buch eine
ſeltſame Geſtalt; es iſt weniger als ein Kunſtwerk, und
mehr; es iſt ein Buch voll wahren Lebensgehaltes, in¬
dem es die Erfahrungen, Gefuͤhlsweiſen, Anſichten und
Hoffnungen eines eigenthuͤmlichen, reichbegabten, in der
[454] Fuͤlle der Welt wie in den Tiefen der Seele heimiſchen
Menſchen darlegt. Wenn zuweilen die ordnende Kunſt
und die Maßverhaͤltniſſe des Meiſters vermißt wer¬
den, — wie dies beſonders in dem allzu ſtarken Ge¬
brauche des Zufalls haͤufig eintritt, — ſo fehlen doch
Talent und Anmuth nicht, und das Ganze durchblitzen
unzaͤhlige feine Zuͤge der ſchaͤrfſten Beobachtung, die
treffendſten Bemerkungen, die geiſtreichſten und gewich¬
tigſten Betrachtungen. Selbſt fuͤr die politiſche Beur¬
theilung des heutigen Frankreichs gewaͤhrt das Buch
eine ſchaͤtzenswerthe Ausbeute, und es iſt wohlthuend,
dieſes Land nebſt ſeinen Zuſtaͤnden einmal aus dem
Standpunkt einer eigenthuͤmlichen Gemuͤthsart betrachtet
zu ſehen.
Hr. von Cuſtine kennt Deutſchland und ſeine Litte¬
ratur. An einer Stelle ſeines Buches werden die Wahl¬
verwandtſchaften von Goethe angefuͤhrt, jedoch mit einem
Mißverſtande, der freilich auch in Deutſchland noch oft
genug vorkommt. Er meint naͤmlich, der Goethe’ſche
Roman lehre die Aufloͤſung der Ehe und vernichte deren
Heiligkeit. Dies iſt allerdings der Stoff des Buches;
aber nicht ſein Inhalt. Wann wird man dieſe Ver¬
wechslung aufhoͤren ſehen? Waͤre er richtig, waͤre es
erlaubt, den Inhalt lediglich nach dem Stoffe zu deu¬
ten, welches Verdammungsurtheil wuͤrde Hr. von Cuſtine
gegen ſein eignes Buch auszuſprechen haben? Wir ſind
weit entfernt, dieſem ſolche Mißdeutung zu geben, wie
[455] er ſie den Wahlverwandtſchaften giebt, uͤber deren rei¬
nen und hohen Gehalt die Tagesmeinung irren konnte,
die ſpaͤteren Leſer aber ſich mehr und mehr verſtaͤndigen
werden, und hierzu durch Weiße's und Goͤſchels ein¬
dringende Eroͤrterungen ſchon trefflichſt angeleitet ſind. —
Die drei Perioden der koͤniglich preußiſchen Aka¬
demie der Wiſſenſchaften, und: Koͤnig Friedrich
der Zweite als Geſchichtſchreiber. Zwei akade¬
miſche Reden von Friedrich Wilken. Berlin,
1835. Bei Duncker und Humblot. 8.
Von der Bedeutung, dem Werthe und der zweck¬
maͤßigen Geſtalt der akademiſchen Beredſamkeit iſt ſchon
fruͤher, bei Gelegenheit einer trefflichen Rede Friedrichs
von Roth, ausfuͤhrlich geſprochen worden, und es waͤre
unnuͤtz, das dort Geſagte zu wiederholen. Bei vorlie¬
gender kleinen Schrift duͤrfen wir uns um ſo mehr auf
jenes Fruͤhere beziehen, als die beiden hier mitgetheilten
Vortraͤge den von uns dort genommenen Geſichtspunkten
im vollſten Sinn entſprechen, und durch ihr ausgezeich¬
netes Beiſpiel unſre Andeutungen neuerdings beſtaͤtigen.
Fuͤr den Kundigen verbuͤrgt auch ſchon der Name des
verehrten Verfaſſers alle weſentlichen Eigenſchaften, welche
man von dem Redner gewaͤrtigt, der als gruͤndlicher
[456] Gelehrter und wiſſenſchaftlicher Forſcher einen Gegen¬
ſtand des hoͤchſten vaterlaͤndiſchen Intereſſe’s erfaßt, und
dieſen mit reifſter Sachkenntniß und klarer ſowohl als
gefaͤlliger Behandlung fuͤr allgemeine Einſicht und An¬
regung darlegt.
Die erſte der beiden Reden giebt eine gedraͤngte
Ueberſicht der wechſelnden Geſtaltung und Wirkſamkeit
der Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin, wobei der
geſchichtkundige Meiſter beſonders auch in der freien
Billigkeit zu erkennen iſt, womit er das, was einer
jeden Zeit gemaͤß und in ihren Verhaͤltniſſen begruͤndet
iſt, einſichtsvoll wuͤrdigt und gelten laͤßt, wenn auch
fuͤr unſre Zeit laͤngſt andre und entgegengeſetzte Forde¬
rungen eingetreten ſind. Da dieſe Rede, ſo wie die
folgende, eine eigentliche Feſtrede iſt, ſo darf gleich hier
fuͤr beide gemeinſam auch der wuͤrdigen Haltung gedacht
werden, mit welcher das dem Anlaſſe Gebuͤhrende warm
und eifrig geleiſtet, alles Ueberſchwaͤngliche dagegen ver¬
mieden worden.
Die zweite Rede iſt durch ihren Gegenſtand und
Umfang die bedeutendere. Das Andenken Friedrichs des
Großen lebt herrlich unter uns auf. Immer neue
Strahlen beleuchten ſein Bild, das immer ſchoͤner her¬
vortritt, jemehr der Beſchauer ſich von dem Unaͤchten
und Zufaͤlligen, das ſeinen Blick verwirren moͤchte,
abwendet, und das Wahre und Weſentliche herauser¬
kennt. Wir ſind dahin gelangt, auf einer Stufe gei¬
[457] ſtiger und politiſcher Entwicklung, die in den meiſten
Stuͤcken zu der von Friedrich gekannten und gehegten
einen entſchiednen Gegenſatz bildet, den hohen eigenthuͤm¬
lichen Werth dieſer letztern vollkommen anzuerkennen,
und wenn wir nicht laͤugnen duͤrfen, daß das Gedeihen
ſolcher freien Einſicht großentheils dem Geiſte zu danken
iſt, welcher den Koͤnig beſeelte und von ihm ausging,
ſo ſpricht die Anerkennung grade unſrer Zeit fuͤr den¬
ſelben wohl das groͤßte Lob aus, das einem Fuͤrſten
dieſer Art gezollt werden kann.
Als Feldherr, als Geſetzgeber, als landesvaͤterlicher
Walter, hat Friedrich durch die Ereigniſſe und Beiſpiele,
welche nach ihm die Weltbuͤhne erfuͤllten, ſo wie durch
die gruͤndlichen Forſchungen, die in neuſter Zeit uͤber
ſeine Thaten und Wirkſamkeit von den Offizieren des
Generalſtabs, von Preuß und andern verdienten Maͤn¬
nern angeſtellt worden, nur ſtets gewinnen muͤſſen.
Zweifelhafter durfte das Ergebniß duͤnken, wenn es dar¬
auf ankam, ſein unmittelbar geiſtiges Einwirken als
Schriftſteller zu betrachten. Die Sprache, das gelehrte
Wiſſen, die Anſpruͤche an Darſtellung, haben unerme߬
liche Fortſchritte gemacht. Zwar die Poeſieen des Koͤ¬
nigs, offenbar nur als anmuthige Spiele zur eignen
Geiſteserfriſchung gemeint und gegeben, koͤnnen wir
außer Acht laſſen, — wiewohl auch in ihnen viel Herr¬
liches und Denkwuͤrdiges fuͤr immer niedergelegt iſt, —
allein die geſchichtlichen Arbeiten, welche wir von ſeiner
[458] Hand beſitzen, haben einen zu wichtigen Zweck und ſind
durch Inhalt und Abſicht zu bedeutend, als daß er fuͤr
die Beurtheilung Friedrichs gleichguͤltig ſein koͤnnte, wel¬
chen ſelbſtſtaͤndigen Werth wir ihnen beizumeſſen haben.
Herr Geheimrath Wilken hat ſich dieſe ſchoͤne Auf¬
gabe geſtellt, und betrachtet Friedrich den Großen als
Geſchichtſchreiber. Wie andre Zweige unſrer Gelehr¬
ſamkeit und Litteratur hat auch die Geſchichtſchreibung
in neueren Zeiten einen gewaltigen Aufſchwung genom¬
men, und bei vielem Großen und Dankenswerthen, das
ſie geleiſtet, ihre Anſpruͤche doch bei weitem hoͤher ge¬
ſtellt, als ſie ſelber ſolche bisher noch zu erfuͤllen im
Stande war. Denn, wenn wir genauer zuſehen und
erwaͤgen, ſo moͤchte, in Betreff der Darſtellung, nur
ſehr wenig von den geruͤhmten Geſchichtsarbeiten unſrer
Zeit denen des achtzehnten Jahrhunderts unbedingt vor¬
zuziehen ſein. Gleichwohl haben Duͤnkel und Einbildung
auch in dieſem Kreiſe dem Hange nicht widerſtanden,
auf das Fruͤhergeleiſtete, und namentlich auf die Ge¬
ſchichtbuͤcher Friedrichs, mit vornehmer Geringſchaͤtzung
herabzuſehen, und manche Gelehrte wollten dieſe Werke
nur als Verſuche gelten laſſen, die man einer andern
als der koͤniglichen Hand kaum anrechnen wuͤrde. Jo¬
hann von Muͤller ſprach allerdings den hohen Werth
aus, welchen dieſe Schriften an und fuͤr ſich haben,
und beſtand beſonders auch auf dem Bezuge, der hier
den Schriftſteller und den Koͤnig ganz unzertrennlich
[459] macht; allein Muͤller iſt hinſichtlich des Koͤnigs immer
in einer gewiſſen Zweideutigkeit befangen geblieben, die
auch ſeinen groͤßten Lobſpruͤchen ſtets etwas Unheimliches
laͤßt. Deſto erwuͤnſchter vernehmen wir endlich den an¬
erkannten Mann vom Fach, den gruͤndlichen Geſchichts¬
gelehrten, der ſelber das Schaͤtzbarſte geleiſtet, mit freiem
unbefangenen Urtheil das Verdienſt Friedrichs auf dieſem
Gebiet hervorheben und mit Sicherheit ausſprechen.
Der Verfaſſer zeigt, wie der Koͤnig auch als
Geſchichtſchreiber ſeinen hohen Koͤniglichen Standpunkt
nicht verlaͤugnet, daß ihm die Wahrheit das Erſte und
Hoͤchſte geweſen, daß er nicht ſeinen Ruhm oder ſeine
Rechtfertigung zur Abſicht gehabt, ſondern die Ehre des
Vaterlandes, das Denkmal ſeiner Kampfgenoſſen, die
Belehrung ſeines Volks. Wie Friedrich von dem Ge¬
fuͤhle der Pflichterfuͤllung durchdrungen und beſeelt gewe¬
ſen, tritt uns auch hier wieder lebhaft vor Augen, und
geiſtreich wird mit dieſer Geſinnung „das ſo oft gemi߬
brauchte große Wort des Koͤnigs“ verknuͤpft und aus
ihr erklaͤrt: „daß der Fuͤrſt der erſte Diener des Staates
ſei.“ Seine Geſchichtſchreibung ging aus derſelben An¬
ſicht hervor, die ihm den Anti-Machiavell eingegeben
hatte, von welchem Buche hier ſehr treffend bemerkt
wird, daß er keinen eingebildeten Feind bekaͤmpft, ſon¬
dern daß die Grundſaͤtze, denen es entgegen tritt, doch
wirklich in Machiavelli's Buche vom Fuͤrſten, gleichviel
in welchem Sinne, ausgeſprochen daſtehen, und nur
[460] durch Muͤhe und Kunſt der Inhalt und die Einkleidung
auf eine fuͤr Machiavelli ehrenvolle Art ſich deuten laſſen.
Ueber das Verfahren Friedrichs in Betreff der Quel¬
len, die er bei ſeinen Geſchichtbuͤchern benutzt hat, und
uͤber ſein kritiſches Eindringen in den Zuſammenhang
der Ereigniſſe und Zuſtaͤnde, die er ſchildert, wird das
Erforderliche ſehr zu ſeinem Lobe geſagt. Wenn ihm
in Einzelheiten hin und wieder eine Unrichtigkeit nach¬
gewieſen, irgend ein Mangel geruͤgt werden kann, ſo
iſt unſer Verfaſſer ſo freiſinnig, darauf keinen zu großen
Werth zu legen. In der That iſt zu ſolchen Ruͤgen
in des Koͤnigs Schriften ſeltner Gelegenheit, als man
gewoͤhnlich glaubt, und er ſelbſt pflegt ſtrenger und ge¬
wiſſenhafter in ſeinen Angaben zu ſein, als mancher
ſogenannte gelehrte Geſchichtſchreiber, deſſen ganzer Stolz
und ganzes Verdienſt in kleinlicher Genauigkeit beſteht,
und wenn man ihm dieſe abſprechen muß, durchaus
zuſammenfaͤllt! In Friedrichs Geſchichtbuͤchern wird mit
Recht als die Hauptſache geprieſen, daß der Autor in
der Mitte der Begebenheiten geſtanden, als Feldherr und
Staatslenker auch die in der Zeit entfernten Ereigniſſe
ſcharf einzuſehen und richtig zu beurtheilen wußte, und
uͤberhaupt durch Stellung und Geiſt die groͤßten Vor¬
zuͤge vereinigte, die jemals einem Geſchichtſchreiber zu
Theil werden koͤnnen.
Es kann nicht verhehlt werden, daß die Darſtellung
des Koͤnigs, zwar immer lebhaft und kernig, doch im
[461] Ton und Ausdruck ungleich iſt. Ein hoher edler Fluß
der Rede iſt bei ihm oft durch beißende Scherze, durch
fluͤchtige Wendungen unterbrochen. Es iſt ein Koͤnig,
der ſchreibt, nach Trieb und Laune, der im Schreiben
zugleich ſich ſelber giebt und geben darf, nicht ein Schrift¬
ſteller, der ſich aͤngſtlich einer Regel fuͤgt, und ſich ſelbſt
verlaͤugnen oder in angenommener Haltung zeigen muß.
Doch darf der Koͤnig nichtsdeſtoweniger auch durch Stil
und Vortrag, im Ganzen betrachtet, noch immer den
beſten Geſchichtſchreibern nicht blos ſeiner Zeit, ſondern
aller Zeiten, beigezaͤhlt werden, und in einzelnen Schil¬
derungen verdient er, wie hier mit Recht behauptet
wird, den groͤßten Meiſtern des Alterthums, einem
Thukydides und Polybios, einem Salluſtius und Tacitus,
ehrenvoll zur Seite zu ſtehen. Wir danken es unſerm
Verfaſſer, daß er dieſe gerechte Anerkennung auszuſpre¬
chen ſich nicht geſcheut, die aus eines Andern Munde
leicht als enthuſiaſtiſche Vorliebe gelten koͤnnte, aus dem
ſeinen aber ſich als eine auf Kenntniß und Einſicht
gegruͤndete Ueberzeugung verbuͤrgt. —
Erinnerungen an Winckelmann. Abhandlung von
A. Krech. Berlin, 1835. 4.
Wenn bisweilen baͤndereiche Schriften in unſern An¬
zeigen ohne Nachtheil fuͤr die Wiſſenſchaften uͤbergangen
[462] werden duͤrfen, ſo haben wir dagegen um ihrer Bedeu¬
tung willen auch oͤfters kleine Schriften hervorzuheben,
deren Erſcheinungsweiſe die allgemeine Aufmerkſamkeit
ſonſt wenig in Anſpruch zu nehmen pflegt. Dies iſt
der Fall bei dem trefflichen Aufſatze, deſſen wir hier
gedenken. Als Einladungsſchrift zu einer Schulpruͤfung,
— unter welcher Geſtalt im Preußiſchen oft die ausge¬
zeichnetſten und werthvollſten Abhandlungen erſcheinen,
oder vielmehr verborgen bleiben, — wird uns hier eine
friſche und lebhafte Schilderung Winckelmann's darge¬
boten, in welcher einige Zuͤge wo nicht voͤllig neu, doch
mit beſonderer Kraft gezeichnet ſind. Was einen ſolchen
Heros unſrer Bildung und Litteratur auf wuͤrdige Weiſe
beſpricht, darf uns nicht gleichguͤltig ſein, es gehoͤrt nicht
uns allein mehr an, ſondern der ganzen kunſtgelehrten
Welt, die unſern großen Landsmann ſich angeeignet hat.
Nach der meiſterhaften Darſtellung durch Goethe, der
ſorgſamen Herausgabe der Werke durch J. Schulze und
Meyer, der Briefe durch Foͤrſter, und manchem guten
Worte von Gurlitt, Morgenſtern und Andern, iſt die
Betrachtung Winckelmann's und ſeiner Schriften und
Wirkſamkeit noch keineswegs abgeſchloſſen, ſondern eigent¬
lich erſt gruͤndlich angeregt, und wir freuen uns, hier
einen ſchaͤtzbaren Beitrag dazu mitgetheilt zu ſehen. Der
Herr Verfaſſer giebt durch denſelben ein ſchoͤnes Zeugniß
geiſtvoller und eindringender Beſchaͤftigung mit einem
ſo werthvollen Gegenſtande. Vier beſondere Karakter¬
[463] bezuͤge deſſelben ſind es, welche er diesmal hauptſaͤchlich
hervorhebt, und ſeinen Abſchnitten als Ueberſchriften
ſetzt. Sie heißen: Religion, Unabhaͤngigkeit, Darſtel¬
lung, Reiſeluſt. Dem Herrn Verfaſſer ſind Goethe’s
Anſichten und Ausſpruͤche wohlbekannt und in hohem
Werthe: es iſt kein geringes Lob fuͤr die ſeinigen, daß
ſie neben ſo Großem und Vollendeten ein ſelbſtſtaͤndiges
Verdienſt gar wohl behaupten koͤnnen. Von beſonderer
Wichtigkeit fuͤr die Einſicht in Winckelmann’s Karakter
erſcheint uns vorzuͤglich der erſte Abſchnitt, wo die Mei¬
nung Goethe’s, daß in Winckelmann das Heidniſche
eingeboren geweſen, beſtritten und dafuͤr die Nachweiſung
verſucht wird, er ſei im Herzen immerdar ein prote¬
ſtantiſcher Chriſt geblieben. Die Gruͤnde und Zeugniſſe
hiefuͤr ſind allerdings triftig, und die Vorliebe Winckel¬
mann’s fuͤr proteſtantiſche Lieder bleibt ein merkwuͤrdiger
und ruͤhrender Zug in ihm. Ob indeß die kindliche
Gewoͤhnung an eine beſtimmte Kirchenform, beſonders
wenn dieſe ſelbſt ſo mannigfache Denkweiſen in und
neben ſich gedeihen laͤßt, wie damals die proteſtantiſche,
einen wahren Glauben an deren dogmatiſchen Inhalt
nothwendig vorausſetze, daruͤber duͤrfte uns wenigſtens
einiger Zweifel bleiben. Uebrigens meint der Herr Ver¬
faſſer nicht, durch ſeine Deutung ein Lob fuͤr Winckel¬
mann einzutauſchen, ſondern nur den Tadel, dem der¬
ſelbe auch ſo nicht entgehen kann, aus andrer Richtung
herzuleiten. In den nachfolgenden Abſchnitten iſt glei¬
[464] cherweiſe viel Eigengeſchautes und gluͤcklich Zuſammen¬
geſtelltes, und das Ganze auch vortrefflich geſchrieben,
welches einer Schrift uͤber Winckelmann, der ſelber den
groͤßten Werth auf gut Schreiben legte und daſſelbe fuͤr
„das ſchwerſte Menſchenwerk” erklaͤrte, nur ein Merk¬
mal mehr giebt, daß ſie ihres Gegenſtandes wuͤrdig ſei.
Zu bemerken bleibt noch, daß dieſe Abhandlung zugleich
die hundertjaͤhrige Feier des Tages bezeichnet, an wel¬
chem Winckelmann als Schuͤler in das Koͤllniſche Gym¬
naſium zu Berlin aufgenommen worden; dieſe Aufnahme
geſchah am 18. Maͤrz 1735. —
Leben des koͤniglichen preußiſchen Geheimen Rathes
und Doctors der Arzneiwiſſenſchaft Ernst Ludwig
Heim. Aus hinterlaſſenen Briefen und Tage¬
buͤchern herausgegeben von Georg Wilhelm
Keßler. Leipzig, Brockhaus, 1835. Zwei
Theile. 12.
Unſer Bericht wird hier auf wenige Worte ſich be¬
ſchraͤnken duͤrfen. Der ganze Gehalt und Werth dieſes
reichen Buches iſt naͤmlich innerhalb des bewegungs¬
vollen, heitern und anziehenden Gebietes aufzufaſſen, wo
die Wiſſenſchaft und das Leben zuſammenfließen, und
ihre Vereinigung nach beiden Seiten erhoͤhten Gewinn
[465] zuruͤckwendet. Wenn aber ſonſt die Lebensbeſchreibungen
der Gelehrten ihr hauptſaͤchliches Intereſſe doch meiſt
nach dem beſonderen Fache hin behalten, dem dieſe grade
angehoͤren, ja ſogar die Abfaſſung in den meiſten Faͤllen
dies ausdruͤcklich bezweckt, ſo ſtellt dagegen das vorlie¬
gende Buch in dieſem Betreff ein andres Verhaͤltniß
auf. Auch hier findet ein naͤchſter Antheil und Reiz
unſtreitig fuͤr die Arzneiwiſſenſchaft und deren Ausuͤbung
Statt, da es das Leben eines Arztes iſt, das erzaͤhlt
wird; allein dieſe Seite hat hier, wie fruchtbar und
glaͤnzend ſie auch ſei, durchaus nicht das Uebergewicht,
ſondern dieſes gehoͤrt entſchieden der andern Seite an,
der des allgemeinen und perſoͤnlichen Lebens, bei wel¬
chem die Bezuͤge der Wiſſenſchaft, innerhalb deren jenes
ſich bewegt, nur noch als untergeordnete mitgehen.
Denn ſofern mit Recht ein Unterſchied anzunehmen
iſt, ſolcher Menſchen, deren ganzes Daſein aus urſpruͤng¬
licher, rein und voll ſtroͤmender, nie raſtender Quelle
zu fließen ſcheint, und ſolcher, denen nur ein abgelei¬
tetes, wechſelnd ſtockendes oder nur truͤb und karg
fließendes, verliehen ward, ſo muß der herrliche Mann,
deſſen Andenken hier gefeiert wird, als eines der ſelten¬
ſten und auserwaͤhlteſten Beiſpiele der erſtern Art gelten,
als unmittelbar hervordringend aus dem klarſten und
vollſten Strome des Daſeins, als ein fortwaͤhrender
Lebensquell ſelber, der durch Geſtein und Felder ſeine
ſegenvolle Fluth ergießt, und Friſche, Fruchtbarkeit und
II. 30[466] Heil ausbreitet, unermuͤdet im hellen Sonnenſchein wie
im daͤmmernden Sternenſchimmer. Alles in und an ihm
iſt Luſt und Muth des Lebens, Kraft und Thaͤtigkeit,
Genuß und Ertrag deſſelben; die ausgezeichnetſten Eigen¬
ſchaften, die er beſitzt, die hoͤchſten Verdienſte, die er
erwirbt, alles ſteht und gedeiht in ſeiner heitern Leben¬
digkeit, als dem gemeinſamen Elemente, welches in ihm
jedes andern Stoffes, der herandringt oder ausſcheidet,
maͤchtig bleibt. Dieſe Lebendigkeit iſt der Grund, die
Kraft und der Glanz ſeines ganzen Weſens.
Ernſt Ludwig Heim, geboren 1747 zu Solz im
Herzogthum Meinungen, geſtorben zu Berlin 1834, war
ein langes Leben hindurch, von der Univerſitaͤt an bis
in ſeine letzten Tage, einer der thaͤtigſten und gluͤcklich¬
ſten Aerzte, die es jemals gegeben hat. Er war vor¬
zugsweiſe dieſes, ein ausuͤbender, huͤlfreicher Arzt, und
alles andre, was er außerdem noch Ausgezeichnetes
leiſtete, als Naturforſcher, als Lehrer, tritt gegen ſeine
unmittelbar praktiſche Thaͤtigkeit in den Hintergrund.
Hiemit waͤre nun ſchon die außerordentliche Bedeutung
und Wirkſamkeit eines ſolchen Lebens genugſam ausge¬
ſprochen; allein auch dieſe ordnen ſich, wie ſchon erwaͤhnt
worden, einer hoͤheren Erſcheinung unter, die von ſeiner
Perſoͤnlichkeit ausgeht. Seine aͤrztliche Meiſterſchaft iſt
von der liebenswuͤrdigſten Eigenthuͤmlichkeit begleitet,
deren Grund unerſchuͤtterlicher Gradſinn, kindliche Un¬
ſchuld und Treue, reines Gottvertrauen und heitre
[467] Pflichterfuͤllung ſind, und in unverſiegbarem Frohſinn,
ruͤſtiger Thatkraft, kuͤhnem Freimuth und launiger Mun¬
terkeit immer friſch und ſelbſtſtaͤndig durch Welt- und
Tagesgedraͤnge die vorgezeichnete Bahn verfolgt. Seine
kraͤftige Originalitaͤt vereinigte herrſcherliche und kriege¬
riſche Eigenſchaften, — letztere ſogar von der raſchen,
bei anſcheinender Wildheit doch umſichtigen und klugen
Art eines leichten Reiters, wie er ja auch im eigent¬
lichen Sinne mit groͤßter Vorliebe war, — mit men¬
ſchenfreundlichen, liebevollen und zartſinnigen, die ins¬
geſammt, zu jedem Dienſte bereit und jeder Aufopferung
faͤhig, ganz wieder dem Arzte zu Gute kamen, ja ihn
gewiſſermaßen ausmachten, denn die Wirkſamkeit ſeiner
perſoͤnlichen Erſcheinung war nicht minder troſtreich und
heilſam, als die ſeiner aͤrztlichen Verordnungen.
Der Lebenseindruck eines ſolchen Mannes wird in
der Hauptſtadt, wo er in allen Klaſſen, geringen und
vornehmen, eine der namhafteſten, verehrteſten und ge¬
liebteſten Notabilitaͤten war, noch lange fortdauern; die
Zeitgenoſſen erſchoͤpfen dieſen Schatz des Andenkens nicht,
ſondern vererben ihn auf ein nachfolgendes Geſchlecht,
das der eignen Anſchauung entbehrt. Dieſem koͤmmt
nun das vorliegende Buch gluͤcklich zu Huͤlfe, indem es
die vorhandenen Ueberlieferungen in ein geordnetes Bild
zuſammenfaßt, und jeder beſondern Erinnerung einen
feſten Anhalt bietet, der auch viele hier bei dem großen
Reichthum uͤbergangene oder nicht ausdruͤcklich hervor¬
30 ✷[468] gehobene Zuͤge noch aufnehmen kann, z. B. den merk¬
wuͤrdigen Auftritt, wie Heim zum erſtenmale des Kur¬
fuͤrſten von Heſſen-Kaſſel anſichtig wurde, und manches
Aehnliche, was wenigſtens fuͤr kuͤnftige Mittheilung auf¬
zubewahren iſt.
Dieſes Buch in einem Auszuge zur Ueberſicht brin¬
gen zu wollen, waͤre das undankbarſte und unnuͤtzeſte
Geſchaͤft. Eine ſolche Gabe muß ganz und vollſtaͤndig
genoſſen werden, und niemand darf ſie ſich verkuͤmmern
laſſen. Die Schrift gleicht hierin dem Gegenſtande, den
ſie behandelt; man darf nur auf ſie hinweiſen, ſie
empfiehlt ſich durch ſich ſelbſt, und belohnt den Leſer
durch unmittelbare Einwirkung.
Lebensbeſchreibungen erfreuen gewoͤhnlich am meiſten
durch ihren Anfang, wo noch die fruͤhere Jugend, der
Kampf der Bildung und der mit der Welt geſchildert
wird; gelangt man in die mittlere Zeit, wo die Hoͤhe
erſtiegen iſt, die Bahn dann gleichfoͤrmig fortlaͤuft, ſo
ſchwindet groͤßtentheils der Reiz; und gegen das Ende,
wo vielleicht Ruhm und Ehre und Gewinn jeder Art
am reichſten ſich mehren, aber die Kraͤfte abnehmen
und das Alter allmaͤhlig dem gemeinſamen Schickſal ent¬
gegenſinkt, umduͤſtern ſich die glaͤnzendſten Lebenslaͤufe,
und laſſen oft nur einen ſchmerzlichen Eindruck zuruͤck,
den zu mildern bisweilen auch die geiſtige Ausſicht des
Fortwirkens und Weiterlebens mangelt, wozu der Menſch
ſo gern ſeine Zuflucht nimmt. Hier iſt dieſer Nachtheil
[469] kaum wahrzunehmen. Das Leben des thaͤtigen und
gluͤcklichen Arztes ſcheint am wenigſten zu altern; Heim
insbeſondere iſt kraͤftig und wirkſam bis in das hoͤchſte
Greiſenalter, iſt antheilvoll und vergnuͤgt bis zum letzten
Entſchlummern, und ſieht jenſeits deſſelben getroſt und
heiter nur neue Anfaͤnge und Entwicklungen.
Wir genießen des unſchaͤtzbaren Vortheils, Heim in
dieſer Lebensbeſchreibung großentheils durch ihn ſelbſt
kennen zu lernen. Aus ſeinen zahlreichen Papieren,
Briefen und Tagebuͤchern, ſind die meiſten Begegniſſe,
Stimmungen und Verhaͤltniſſe mit ſeinen eignen Worten
erzaͤhlt und ausgedruͤckt. Kein andres Mittel konnte
uns ſo in das aͤchte Weſen des Mannes blicken laſſen,
ihn uns ſo ganz in ſeiner Reinheit, Redlichkeit und
Herzensguͤte zeigen. Die Auswahl und Verarbeitung
ſolcher Bruchſtuͤcke zu einem gelungenen Ganzen iſt mit
gluͤcklicher Hand geſchehen; nur der innigſten, verehrungs¬
vollſten Liebe und dem kundigſten Takte konnte dieſe
Behandlung in ſolchem Grade gelingen. Der Reichthum
iſt mit ſeltener Maßhaltung dargeboten, nicht zu wenig,
aber auch nicht zu viel, denn da, wo ein Uebermaß zu
befuͤrchten ſein konnte, tritt alſogleich der geiſtig zuſam¬
menfaſſende, wuͤnſchenswerth ergaͤnzende, mit den Erfor¬
derniſſen der Anſchauung und Darſtellung wohlvertraute
Herausgeber ein. Wir muͤſſen ihm danken, daß er uns
Heims Worte ſo gern giebt, und koͤnnen hinwieder nur
bedauern, wenn er nicht ſelbſt das Wort fuͤhrt, denn
[470] Schreibart, Ton, Haltung, ſind immer vortrefflich.
Gleich im Anfange des Buches, in Schilderung des
Schauplatzes und der Vorgaͤnge der Jugendzeit, ſind
Beiſpiele der klarſten und kernhafteſten Schilderung, wie
nur eine Meiſterhand ſie geben kann.
Zum Schluſſe ſei noch eine Betrachtung erlaubt,
welche ſich unter dem Leſen das ganze Buch hindurch
mehr und mehr hat erheben und beſtaͤrken wollen, daß
naͤmlich in ſolchen Schriften unſre beſten Denkwuͤrdig¬
keiten zu erkennen ſind, welche das innere Leben der
Deutſchen in ſeiner beſcheidenen Weltlichkeit darlegen,
und meiſt ſchon durch ihren Stoff, eben ſo aber auch
durch die Richtung, in welcher ſie ihn bewegen, einen
troſtreichen, erheiternden, ja erbaulichen Karakter dar¬
thun. Vergleicht man ſolche Lebensgeſchichten, wie die
gegenwaͤrtige von Heim, und — um noch einige andre
zu nennen — die von Meierotto durch Brunn, die
Denkwuͤrdigkeiten Erhards, das Leben Fichte's durch
ſeinen Sohn, die eigne Lebensbeſchreibung Jung-Stil¬
lings, vergleicht man dieſe mit den hervorragenden Er¬
zeugniſſen der Franzoſen im Fache der Memoiren, ſo
giebt ſich ein ungeheurer Unterſchied zu erkennen, den
wir wohl befugt ſein duͤrfen in folgenden Spruch zu
faſſen: daß, wenn wir aus den franzoͤſiſchen Memoiren
vorzugsweiſe begreifen lernen, wieſo die Welt in ſich
zerfallen und zerbrechen muß, uns in den bezeichneten
[471] deutſchen Schriften wenigſtens einige der Faͤden und
Betriebe ſichtbar werden, wodurch ſie zuſammenhaͤlt.
Facſimile von Handſchriften beruͤhmter Maͤnner und
Frauen. Bekannt gemacht und mit hiſtoriſchen
Erlaͤuterungen begleitet von Dr. Wilhelm
Dorow. Auf Stein geſchrieben im lithographi¬
ſchen Inſtitute des Verlegers. Erſtes Heft. Berlin,
1836. Verlag von L. Sachſe und Comp. 4.
Wir hatten kuͤrzlich von einem talentvollen jungen
Schriftſteller das behaglich-kecke Geſtaͤndniß zu leſen,
ihm ſei perſoͤnliche Theilnahme und Verehrung fuͤr unſre
großen Maͤnner eigentlich fremd, wenigſtens nicht ange¬
boren. Muͤßten wir dieſe Aeußerung als ein Zeichen
der Zeit nehmen, worin ſich deren weitverbreitete Gleich¬
guͤltigkeit zu erkennen gaͤbe, ſo faͤnden wir ſie fuͤr das
Allgemeine nicht weniger bedaurenswerth, als ſie es
ſchon fuͤr den Einzelnen iſt, der ſich damit der reinſten
Quellen des Gluͤckes und der Freude verluſtig bekennen
will. Doch werden wir bei naͤherem Ueberblick unſern
ſorglichen Unmuth leicht wieder beruhigen. Solcher
unerfreulichen, und, wie uns duͤnkt, auch in jenem
Worte noch keineswegs erhaͤrteten Sinnesart widerſpre¬
chen von allen Seiten die thatſaͤchlichen Beweiſe des
[472] lebhafteſten Antheils, der beſeelteſten Verehrung, welche
mehr und mehr fuͤr unſre großen Namen ſich erheben.
Die Bildſaͤulen, deren Errichtung im Werk oder im
Vorſchlag iſt, die Denkwuͤrdigkeiten und Briefwechſel,
welche von Jahr zu Jahr den Schatz unſrer Lebens¬
kunde mehren, beweiſen eine ganz entgegengeſetzte Rich¬
tung, welche den Ertrag und das Werk des Geiſtes
nicht kalt abſondern und dahinnehmen, ſondern vielmehr
den Zuſammenhang mit der Waͤrme und Friſche des
perſoͤnlichen Daſeins, aus dem ſie hervorgegangen ſind,
eifrig bewahren will. Unter dieſen Geſichtspunkt duͤr¬
fen wir auch das Unternehmen ſtellen, welches ſich in
dem vorliegenden erſten Hefte gluͤcklich ankuͤndigt.
Der hohe Werth der Handſchrift, ihre unerſchoͤpf¬
liche Verſchiedenheit und Eigenthuͤmlichkeit, und ihre
tiefen Bezuͤge auf ein darin offenbar und geheim aus¬
gedruͤcktes Innere, ſtehen heutiges Tages in allgemei¬
ner Anerkennung feſt. Nach dem Abbilde der Perſon
ſelbſt, wie der Mahler oder der Bildhauer es giebt,
ruft kein andres Mittel ſo unfehlbar und beſtimmt uns
die Gegenwart eines Menſchen hervor, als ſein geſchrie¬
benes Wort, worin der Ausdruck ſeines geiſtigen We¬
ſens mit ſeiner leiblichen Eigenſchaft zuſammenfließt.
Der Reichthum ſinniger Unterhaltung und fruchtbarer
Einſicht, welche durch den Anblick handſchriftlicher Denk¬
male hervorzurufen ſind, wird jedoch erſt recht klar,
wenn groͤßere Sammlungen mit vollſtaͤndiger Wahl an¬
[473] geordnet und mit ſichrer Kenntniß erlaͤutert werden.
In neueren Zeiten hat eine hohe und edle Liebhaberei
ſich vielfach dieſem Gegenſtande zugewendet; wir koͤnnen
Goethe und den Fuͤrſten von Metternich als eifrige
Sammler nennen, deren Lebensſtellung freilich auch fuͤr
ſolchen Nebenzweck leicht einen Gewinn abwarf, der fuͤr
nicht ſo Beguͤnſtigte nur durch außerordentliche Gluͤcks¬
faͤlle erreichbar wird. Wenig aber iſt bisher in Deutſch¬
land geſchehen, ſolche Schaͤtze durch treue Nachbildung
in Gemeingut zu verwandeln, ſie der Nation zu Genuß
und Belehrung oͤffentlich anzubieten.
Wir muͤſſen dem Herausgeber der vorliegenden Probe
aufrichtig danken, mit dieſem Unternehmen hervorzutre¬
ten. Durch eigne Lebensverhaͤltniſſe voll reicher Bezie¬
hungen und ausgebreiteter Weltanſchauung, durch Eifer
und Ausdauer, ſo wie durch beſondere Gunſt der Um¬
ſtaͤnde, welche demjenigen nicht zu fehlen pflegt, der
mit Ernſt ein richtiges Ziel verfolgt, iſt Herr Hofrath
Dorow gewiß vor vielen Andern befaͤhigt, in dieſer Art
etwas Vortreffliches zu leiſten. Dies iſt um ſo mehr
gleich im Beginn anzuerkennen, als das ganze Geſchaͤft
ſeine Schwierigkeiten und ſein Verdienſt hinter dem
Gelingen ſelber gleichſam verbirgt, und ſeine Anſpruͤche
auf den Dank des Publikums keineswegs zur Schau
traͤgt. Die Eigenſchaften, deren ein Autor zur Aus¬
ſtattung eigner ſelbſtſtaͤndiger Schriften bedarf, ſind hier
ebenfalls unentbehrlich, um einer anſcheinend in Sam¬
[474] meln und Erlaͤutern abgethanen Arbeit geiſtigen Halt
und gutes Geſchick zu ſichern. Die Auswahl, ſowohl
der Perſonen als der Blaͤtter, die Sorgfalt in den be¬
gleitenden Angaben, die Geſichtspunkte, der Takt und
das Maß in den erlaͤuternden Bemerkungen, alles dies
wird hier von entſcheidender Wichtigkeit.
In jedem Betracht duͤrfen wir dieſe begonnene
Sammlung beſtens anempfehlen. Von dreißig beruͤhm¬
ten Perſonen, die theils der Welt im Allgemeinen wich¬
tig, theils vorzugsweiſe dem deutſchen Vaterlande werth
und bedeutend ſind, empfangen wir fuͤnfunddreißig
handſchriftliche Zeugniſſe, welche meiſtens noch durch den
beſondern Inhalt oder die eigenthuͤmlichen Umſtaͤnde,
unter denen ſie geſchrieben worden, ein erhoͤhtes Inter¬
eſſe haben. Die zwei Briefe des Fuͤrſten von Harden¬
berg, die merkwuͤrdigen Briefe von Gentz, Achim von
Arnim, Friedrich Auguſt von Wolf, Fichte, Wilhelm
von Humboldt, Heyne, Voltaire, Bluͤcher, Thielmann,
wuͤrden auch ohne das Bild der eigenthuͤmlichen Hand¬
ſchrift, in blos gewoͤhnlichem Druck, eine willkommene
Gabe ſeyn; um wie viel mehr ſind ſie es jetzt, da ſie
die unmittelbaren Lebenszuͤge darſtellen! Die Hand¬
ſchriften von Schleiermacher, Wieland, Buͤlow von
Dennewitz, Ferdinand von Braunſchweig, Jean Jaques
Rouſſeau, Katharina der Großen, Herder, Forſter,
Kant, Borowsky, Graͤfin Genlis, Iffland, Jung,
Reichardt, Johann von Muͤller, Heinrich von Kleiſt,
[475] Hippel und Dumouriez, erfreuen das Auge und den
Geiſt mit unendlichen Anregungen dieſer mannigfachen,
in bunter Miſchung praͤchtig leuchtenden Lebensgeſtalten,
welche der Herausgeber durch gedraͤngte biographiſche
und kritiſche Notizen dem Leſer noch vertraulicher nahe
ruͤckt. Ein ſehr karakteriſtiſches Bild von Gentz aus
deſſen Jugend ziert das Titelblatt als Vignette.
Wir billigen es, daß keinerlei Reihefolge noch Rang¬
ordnung bei den mitgetheilten Artikeln beobachtet wor¬
den; jede zu waͤhlende wuͤrde ihre Schwierigkeiten ge¬
habt, und den Beginn und Fortgang des Werkes nur
geſtoͤrt haben. Allein die Moͤglichkeit, die einzelnen
Artikel nach Gutduͤnken und Eigenwahl zuſammenzuſtel¬
len, haͤtten wir gern jedem Beſitzer bewahrt geſehen,
und deßhalb wuͤnſchten wir, daß jedem Artikel ein eig¬
nes Blatt beſtimmt und dieſem die noͤthigen Erlaͤute¬
rungen ebenfalls ſelbſtſtaͤndig beigegeben waͤren. Frei¬
lich wuͤrde das Ganze, welches jetzt auch durch ſeinen
maͤßigen Preis empfehlenswerth erſcheint, durch ſolche
Einrichtung etwas vertheuert werden. Einige Unge¬
nauigkeiten im Abdrucke des Textes wuͤrden zu ruͤgen
ſein, wuͤßten wir nicht, daß dergleichen in deutſchen
Schriften, aller Sorgfalt ungeachtet, ſich faſt unvermeid¬
lich einſchleichen!
Fuͤr das zu erwartende zweite Heft hoffen wir vor
allem die Handſchrift Friedrichs des Großen, welche
ſchon, wie wir vernehmen, dieſem erſten zugedacht war.
[476] Sodann moͤchten wir aber noch den Wunſch ausdruͤcken,
daß der Herausgeber auch die Handſchriften Lebender
nicht ausſchließen, ſondern im Gegentheil den Kreis
grade dieſer recht weit ausdehnen, und hierdurch auch
das naͤchſte Intereſſe der Gegenwart an ihren eigenen
Geſtalten beruͤckſichtigen moͤge! —
Gedichte.
[[478]][[479]]Epigramme des Platon.
1806.
An Friedrich Schleiermacher.
1.
Himmel,
2.
Lippen,
3.
Kummer
4.
5.
liebeſt,
6.
7.
8.
Auf einen ehernen Froſch.
ihn,
Stunde
9.
Auf die Bildſaͤule der Aphrodite von Praxiteles.
10.
Auf dieſelbe.
11.
12.
13.
An das Bild des Pan.
14.
Auf ein anderes Bild des Pan.
Felſen
15.
Auf einen Satyr an der Quelle, und den ſchlafenden
Eros.
16.
Auf die ſilberne Bildſaͤule eines Satyrs.
17.
Auf einen Siegelring.
18.
Gold ließ
19.
20.
ſchmettert,
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen.
1806.
ſchlacht,
gethan.
Die Bruͤder Warnawa in Hameln.
1806.
weichen,
An eine ſchoͤne Frau.
Espinelen.
Maͤdchenspiegel.
Espinelen.
Romanze.
Betrachtung.
Herbſtgefuͤhl.
Nuͤrnberg, am 28. Oktober 1808.
An den Ueberſetzer Voß.
Galliamben.
1809.
Weſentliches.
1809.
Verlorne Gegenwart.
1809.
Auf der Reiſe.
1810.
Der Edelknabe der Kaiſerin Kunigunde.
1.
2.
3.
4.
Johanna Stegen in Luͤneburg,
am 2. April 1813.
Der Fuͤrſtengarten.
1813.
Stimme des Kranken.
An Rahel.
1813.
Die Ruſſen in Holland.
1813.
An der Nordsee.
1814.
Sand.
Wie es geht.
1821.
Uebereinſtimmung.
Dresden, 1822.
Fiat applicatio!
Falſche Goͤtter.
Goethe's Werke.
Friedrich Auguſt Wolf's Marmorbuͤſte
von Friedrich Tieck.
1823.
In Rauch’s Werkſtatt.
Auf die Bildſaͤule der Koͤnigin von Preußen.
1828.
Lebens,
Hand nicht?
Tieck's Gedichte aus Italien.
1823.
Verſagt und gewährt.
Nur weiter.
Geſchrieben im Sommer 1832.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp7c.0