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DER KAMPF DER THEILE
IM ORGANISMUS
.

EIN BEITRAG ZUR VERVOLLSTÄNDIGUNG DER MECHANISCHEN
ZWECKMÄSSIGKEITSLEHRE.


LEIPZIG,:
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN.
1881.

[[II]][[III]]
DER KAMPF DER THEILE
IM ORGANISMUS
.

EIN BEITRAG ZUR VERVOLLSTÄNDIGUNG DER MECHANISCHEN
ZWECKMÄSSIGKEITSLEHRE


LEIPZIG,:
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN.
1881.

[[IV]]
[[V]]

Vorwort.


Bereits von vielen Autoren ist mehr oder minder er-
kannt worden, dass die Entwickelungslehre der Organismen
in der Weise, wie sie von ihren Begründern geschaffen
worden ist, trotz eminenter Leistungen nicht ganz aus-
reichend zur Ableitung aller Einrichtungen der Organismen
sei; und je nach der feindlichen oder freundlichen Stellung
dieser Autoren zur ganzen Lehre sind die Mängel bald
unter Verkennung aller Leistungen in der übertriebensten
Weise hervorgehoben, bald ruhig urtheilend abzuwägen
versucht, bald kaum leise anzudeuten gewagt worden.
Trotz dieser vielseitigen Kritik aber und der fleissigen
Arbeit zur Ergänzung des Fehlenden scheint noch viel zu
vervollständigen und noch mancher Mangel neu aufzu-
weisen.


Wenn ich mich nun im Folgenden bestrebe, die Un-
vollständigkeit nach einer der am wenigsten beachteten
[VI]Vorwort.
Leser nicht zu sehr durch Ausführlichkeit in Anspruch zu
nehmen. Doch glaube ich, dass dadurch die Verständ-
lichkeit und Bestimmtheit des Ganzen keine wesentliche
Beeinträchtigung erfahren hat, und dass man aus dem
angegebenen Grunde gern auch über den Mangel, resp.
die Kürze historischer Darstellung hinwegsehen und zu-
frieden sein wird, Literaturangaben allein da vorzufinden,
wo sie direct Bürgschaft zu leisten haben.


So empfehle ich denn die Arbeit der wissenschaft-
lichen Beachtung und Kritik.


Breslau, October 1880.


W. Roux.


[[VII]]

Inhalt.


  • Seite
  • Vorwort III—VI
  • I. Die functionelle Anpassung1
  • A. Leistungen derselben 1
  • 1. Wirkung des vermehrten und verminderten Ver-
    brauches 5
  • 2. Functionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen
    Structur 26
  • B. Erblichkeit ihrer Wirkungen 34
  • 1. Thatsächliches 34
  • 2. Theoretisches über Vererbung und Entwickelung 47
  • II. Der Kampf der Theile im Organismus64
  • A. Begründung 64
  • B. Arten und Leistungen 72
  • 1. Der Kampf der Molekel 73
  • 2. Der Kampf der Zellen 88
  • 3. Der Kampf der Gewebe 96
  • 4. Der Kampf der Organe 103
  • C. Uebersicht der Leistungen des Kampfes der Theile 106
  • III. Nachweis der trophischen Wirkung der functio-
    nellen Reize
    111
  • 1. Für die passiv fungirenden Theile 112
  • 2. Für die activ fungirenden Theile 117
  • Seite
  • 3. Ueber trophische Nerven 125
  • 4. Ueber die Entstehungsursachen der Geschwülste 133
  • 5. Ueber die gestaltende Wirkung der Blutvertheilung 137
  • 6. Résumé 161
  • IV. Differenzirende und gestaltende Wirkungen der
    functionellen Reize
    165
  • V. Ueber das Wesen des Organischen210
  • VI. Résumé236
  • Specielles Inhaltsverzeichniss242
[[1]]

I.
Die functionelle Anpassung.


A. Leistungen derselben.


Das Problem einer Erklärung der Zweckmässigkeit in der
Natur hat schon die ältesten Philosophen beschäftigt, und hat
auch schon im classischen Zeitalter der Antike seine allgemeine
und principiell vollständige Lösung durch Empedocles ge-
funden. Er erreichte bereits das Endziel der Zweckmässigkeits-
lehre: Die Erkenntniss der Art und Weise, auf welche Zweck-
mässiges sich bilden könne, ohne Einwirkung einer nach vor-
bedachten Zielen gestaltenden Kraft, rein aus mechanischen
Gründen heraus.


Dieser grosse Denker fasste1) die materielle Grundsubstanz
als das in sich unveränderliche Ursein, und liess sie gemischt
und gestaltet werden durch die Kräfte der Liebe und des
Hasses. In diesem mit zwei einander entgegenwirkenden Kräf-
ten versehenen Stoffgemenge musste ein lang dauernder Wech-
selkampf stattfinden, aus welchem blos die dauerfähigen Ag-
gregationen schliesslich allein übrig bleiben konnten, da alle
gebildeten Gruppirungen so lange immer wieder gelöst werden
mussten, so lange in der Wechselwirkung noch stärkere Con-
glomerate sich bilden konnten.


Roux, Kampf der Theile. 1
[2]I. Die functionelle Anpassung.

So war durch ihn zum ersten Male die Möglichkeit der
Entstehung sogenannter zweckmässiger Einrichtungen auf rein
mechanische Weise, auf dem Wege der Ausmerzung aller
sich in der Wechselwirkung der Kräfte nicht dauerfähig er-
weisenden Combinationen gefunden, und es war damit die Mög-
lichkeit einer mechanischen Entstehung des in allen seinen
Theilen so wunderbar zweckmässigen thierischen Organismus
wenigstens philosophisch nachgewiesen.


Die Zweckmässigkeit war keine gewollte, son-
dern eine gewordene, keine teleologische, sondern
eine naturhistorische, auf mechanische Weise ent-
standene; denn nicht das einem vorgefassten Zwecke
entsprechende, sondern das, was die nothwendi-
gen Eigenschaften zum Bestehen unter den gegebe-
nen Verhältnissen hatte, blieb übrig
.


Allein in diesem Sinne reden wir im Folgenden
von Zweckmässigkeit
.


Man könnte nun denken, dass dieser philosophischen Lö-
sung der Aufgabe die empirische bald hätte nachfolgen müssen.
Wer aber die Geschichte der griechischen Philosophie kennt,
weiss, wie weit die Griechen noch in ihrer Weltanschauung
gebunden waren, theils durch Mangel an Beobachtungen, theils
durch falsche Beobachtungen, aus welchen sich ganze Reihen
von Wahnvorstellungen ergaben, und dass die Fähigkeit, wirk-
lich objectiv und mit Selbstkritik zu beobachten, nur einigen
wenigen der bedeutendsten Männer zu Theil gewesen ist.


So wurde sowohl die Bedeutung der Empedocleïschen Lö-
sung dieses grossen Problems nicht erkannt, geschweige denn,
dass man sie für die Specialforschung genutzt hätte. Sie ging
gänzlich verloren und musste auf dem mühsamen Wege empi-
rischer, wissenschaftlicher Detailforschung, nach langem, ver-
geblichen Suchen vieler ausgezeichneter Männer, vollkommen
[3]A. Leistungen derselben.
neu entdeckt werden. Dafür war es dieses Mal nicht blos eine
philosophische, principielle Lösung, sondern eine exact wissen-
schaftliche.


Ch. Darwin und A. Wallace entdeckten, wie bekannt,
nicht blos von neuem das Princip des Kampfes als die Ursache
der mechanischen Entstehung des Zweckmässigen, sondern sie
wiesen zugleich auch nach, dass in Folge der geometrischen
Vermehrung der Organismen ein derartiger Kampf unter ihnen
wirklich stattfinden müsse, und dass weiterhin in Folge der
fortwährenden Variationen der Organismen in allen ihren Thei-
len auch immer die Möglichkeit des Uebrigbleibens eines
Besseren vorhanden ist.


Indem die übriggebliebenen Wesen ihre bevorzugten Eigen-
schaften unter gleichzeitigen neuen Modificationen von diesem
Fundament aus vererben, ist die Möglichkeit gegeben, von
den neuen, im Mittel schon vollkommneren, Modificationen wie-
derum die besten auszulesen, so dass eine fortwährend stei-
gende Vervollkommnung stattfinden muss. Und diese Vervoll-
kommnung wird zugleich zu einer Mannigfaltigkeit der Formen
führen, wenn, wie es thatsächlich der Fall ist, die äusseren
auslesenden Bedingungen selber mannigfaltig und mit der Zeit
wechselnde sind.


So ist mit dem Nachweise der Wirksamkeit des Selec-
tionsprincipes und dem Hilfsprincip der Variabilität der Orga-
nismen und der äusseren Existenzbedingungen die Nothwen-
digkeit der Entstehung einer stetig sich steigern-
den Mannigfaltigkeit und Anpassung an die
äusseren
Bedingungen bewiesen, und damit zugleich die Möglichkeit
eröffnet worden, die hochgradige Verschiedenheit und Compli-
cation der höheren Organismen durch allmähliche Umbildung
aus niederen, einfachen, ja einfachsten Zuständen abzuleiten.
Zu diesem Zwecke der Nachweisung der Entstehung der Arten
1*
[4]I. Die functionelle Anpassung.
durch allmähliche weitergehende Differenzirungen nach bestimm-
ten Richtungen und der Descendenz der höheren Orga-
nismen von niederen
wurde die Lehre geschaffen, und
an ihrer Vervollständigung nach dieser Seite hin seit zwanzig
Jahren emsig gearbeitet.


Dagegen wurde weniger für die Erforschung der Ent-
stehungsweise und -Ursachen der zweckmässigen
Einrichtungen im
Innern, sowohl zum Theil derjenigen,
welche Speciescharaktere darstellen, als besonders der all-
gemeineren, ganzen Klassen oder Ordnungen ge-
meinsamen
gethan, und daher auch die Lehre im Einzelnen
noch nicht eingehend geprüft, ob sie fähig sei, alle vorhande-
nen inneren Zweckmässigkeiten der Organisation als nothwendige
Folgerungen der bisher aufgestellten mechanischen Principien
hervorgehen zu lassen, oder ob nicht noch andere Principien
als helfend wirksam sowohl angenommen werden müssen als
nachgewiesen werden können.


Da ich nach, wie ich glaube, eingehender Prüfung zu der
letzteren Ansicht gekommen bin und diese hier darzulegen
beabsichtige, so muss ich einmal den Nachweis führen, dass
in der That die vorhandenen Principien nicht ausreichen, und
fernerhin, dass ein oder mehrere andere Principien mitwirkend
thätig gewesen sind.


Ich kam zu diesem Resultate bei der Anwendung der bis-
herigen Descendenzlehre zur Erklärung der in den Organismen
sich findenden Einzelzweckmässigkeiten; und wir wollen im
Folgenden uns eng an diese Aufgabe halten und daher die
Descendenzlehre, soweit sie andere Verhältnisse betrifft, als
bereits vollkommen sichergestellt und den Lesern ausreichend
bekannt annehmen.


Das Zweckmässige entsteht nach Obigem vorwiegend oder
fast ausschliesslich durch die Auslese aus beliebigen gestalt-
[5]A. Leistungen derselben.
lichen Variationen einmal im Kampfe um’s Dasein, zwei-
tens durch die geschlechtliche Auslese. Von diesen bei-
den Principien ist das erste ein rein mechanisches, während
über das letztere, infolge seiner Abhängigkeit von geistigen
Einflüssen, noch kein definitives Urtheil gefällt werden kann.
Da dieses letztere Princip für unsere Zwecke fast gar nicht in
Betracht kommt, so können wir es mit dem ersteren zusammen-
fassen und ihnen bei der Untersuchung ihrer Leistungsfähigkeit
ein gemeinsames Ausleseconto eröffnen.


Ausser ihnen ist aber schon von den Begründern der De-
scendenzlehre ein Princip der Umgestaltung mit angeführt wor-
den, welches auf viel näherem Wege, als dem der Auslese aus
beliebigen Variationen, welches direct das Zweckmässige hervor-
zubringen im Stande ist. Es ist dies das schon von Lamarck
aufgestellte Princip der Wirkung des Gebrauches und
Nichtgebrauches
. Dasselbe wird von den verschiedenen
Autoren in sehr ungleichem Maasse als mitwirkend zugelassen,
theils weil der Grad der Erblichkeit seiner Wirkung nur sehr
schwierig und zumeist nicht sicher zu beurtheilen ist, theils
wohl auch, weil man gar nichts über die Ursache desselben
kennt und nicht weiss, ob es als ein mechanisches und alsdann
möglichst auszubeutendes, oder als ein metaphysisches, teleo-
logisches, möglichst zu unterdrückendes aufzufassen ist.


Es fehlt aber ausser an Untersuchungen über die Erblich-
keit und über die Ursache auch noch an eingehenden Unter-
suchungen über die Wirkungsweise dieses Principes und wir
beabsichtigen, im Folgenden nach diesen drei Richtungen etwas
zur Vervollständigung der Kenntnisse beizutragen.


Dabei wird uns die Untersuchung nach der letzteren Rich-
tung, nach der der Wirkungsweise, auf diejenigen zweckmässigen
Einrichtungen führen, welche nicht aus den vorgenannten mecha-
nischen Principien der Auslese nach Darwin und Wallace
[6]I. Die functionelle Anpassung.
direct ableitbar sind, sowie auch die Wirkung des Gebrauches
und Nichtgebrauches selber nicht allein aus diesen Principien
sich folgert.


Darwin äussert sich über die Wirkungen des Ge-
brauches und Nichtgebrauches
, die wir, unter einen
etwas allgemeineren, im Folgenden zu erörternden Begriff sub-
summirend, kurz functionelle Anpassung nennen wollen, fol-
gendermassen 1):


»Veränderte Gewohnheiten bringen eine erbliche Wir-
kung
hervor, wie die Versetzung von Pflanzen aus einem
Klima in’s andere deren Blüthezeit ändert. Bei Thieren hat der
vermehrte Gebrauch oder Nichtgebrauch der Theile einen noch
bemerkbareren Einfluss gehabt; so habe ich bei der Hausente
gefunden, dass die Flügelknochen leichter und die Beinknochen
schwerer im Verhältniss zum ganzen Skelete sind als bei der
wilden Ente; und diese Veränderung kann man getrost dem
Umstande zuschreiben, dass die zahme Ente weniger fliegt und
mehr geht, als es diese Entenart im wilden Zustande thut. Die
erbliche stärkere Entwickelung der Euter bei Kühen und
Geisen in solchen Gegenden, wo sie regelmässig gemolken
werden, im Verhältniss zu demselben Organ in anderen Län-
dern, wo dies nicht der Fall, ist ein anderer Beleg für die
Wirkung des Gebrauches.«


Ferner, pag. 53: »Etwas (und vielleicht viel) von der Varia-
bilität mag dem Gebrauche oder Nichtgebrauche der Organe
zugeschrieben werden.« Die eingeklammerten, den Einfluss
verstärkenden Worte befanden sich nicht in der I. Auflage des
Buches.


Pagina 150 fügt er hinzu: »Die im ersten Capitel ange-
führten Thatsachen lassen wenig Zweifel, dass bei unseren
[7]A. Leistungen derselben.
Hausthieren Gebrauch gewisse Theile verstärkt und vergrössert
und Nichtgebrauch sie verkleinert hat, und dass solche Ab-
weichungen erblich sind
. In der freien Natur hat man
keinen Maassstab zur Vergleichung der Wirkung lang fortgesetz-
ten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die elterlichen
Formen nicht kennen; doch tragen manche Thiere Bildungen
an sich, die sich am besten als Folge des Nichtgebrauches
erklären lassen.« So führt er die amerikanische Dickkopfente,
welche nur schwach über der Oberfläche sich flatternd erhalten
kann, die Unfähigkeit des Strauss, zu fliegen, die verkümmer-
ten Vordertarsen vieler männlicher Kothkäfer1) an.


Ferner sagt er2): »Die Augen der Maulwürfe und einiger
wühlender Nager sind an Grösse verkümmert und in manchen
Fällen ganz von Haut und Pelz bedeckt. Dieser Zustand der
Augen rührt wahrscheinlich von fortwährendem Nichtgebrauch
her, dessen Wirkung aber vielleicht durch natürliche Zucht-
wahl unterstützt wird.« »Es ist wohl bekannt, dass mehrere
Thiere aus den verschiedensten Klassen, welche die Höhlen in
Kärnthen und Kentucky bewohnen, blind sind. Bei einigen
Krabben ist der Augenstiel noch vorhanden, obwohl das Auge
verloren ist. Da man sich schwer vorstellen kann, wie Augen,
wenn auch unnütz, den im Dunkeln lebenden Thieren schäd-
lich werden sollten, so schreibe ich ihren Verlust auf Rech-
nung des Nichtgebrauches.«


Die eben zugestandene Bedeutung dieses Princips schwächt
er aber gleich wieder ab, indem er nach Anführung des Beispie-
les, dass ein Cirripede, wenn er an einem andern als Schmarotzer
lebt, mehr oder weniger seine eigene Kalkschale verliert, be-
merkt3): »Darnach glaube ich, wird es der natürlichen Zucht-
wahl
in die Länge immer gelingen, jeden Theil der Organisa-
[8]I. Die functionelle Anpassung.
tion zu reduciren und zu ersparen, sobald er durch eine ver-
änderte Lebensweise überflüssig geworden ist. Und ebenso
dürfte sie umgekehrt vollkommen im Stande sein, ein Organ
stärker auszubilden, ohne die Verminderung eines anderen be-
nachbarten Theiles als nothwendige Compensation zu verlangen.«


Hieraus, aber auch als Folgerung aus seinem ganzen Werke
über die Entstehung der Arten, ergiebt sich, dass Darwin trotz
der Anerkennung des Principes im Grunde doch der directen
umgestaltenden Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch nur
einen geringen Antheil zuschreibt, und das meiste an der Ver-
kleinerung unnöthiger und an der Vergrösserung nützlicher Or-
gane von der Wirkung der Zuchtwahl aus freien Variationen
ableitet. Das unglückliche Beispiel der Verkleinerung der Kalk-
schale, welche allerdings nicht durch nachträgliche Atrophie hat
entstehen können, scheint ihm hierin nachtheilig geworden zu
sein.


Haeckel erkennt der Wirkung des Gebrauches und Nicht-
gebrauches eine viel grössere Bedeutung zu. Er weist 1), ohne
indessen irgendwie auf eine Erklärung der direct das Zweck-
mässige gestaltenden Wirkung einzugehen, einmal nach, dass
diese Aenderungen der Gewohnheit letzthin auch nur durch
Aenderungen äusserer Umstände bedingt werden, und führt dann
im Einzelnen aus, wie gross die dadurch hervorgerufenen Aen-
derungen sind. Er lässt so 2) die Muskeln eines Turners sich
um das Doppelte verdicken und dabei die Leistungsfähigkeit
um das Vielfache sich vergrössern Er sagt: »Der Uebungsact
selbst, die oft wiederholte Bewegung des Muskels, veranlasst
eine Veränderung in der Ernährung des Muskels, welche einen
vermehrten Zufluss von Nahrungsstoff herbeiführt. Dadurch
wächst der Muskel, er nimmt zu an der Zahl der Primitivfasern,
[9]A. Leistungen derselben.
vielleicht auch an denjenigen chemischen Bestandtheilen der
Muskelsubstanz, welche vorzugsweise bei der Contraction thätig
sind, er verbessert sich also wahrscheinlich nicht blos quanti-
tativ, sondern auch qualitativ, indem die im ungeübten Muskel
abgelagerten Fette durch die Uebung verschwinden und durch
edlere Eiweissbestandtheile ersetzt werden.«


Ferner führt er an 1): »Wie mächtig dieses Gesetz der An-
gewöhnung wirkt, ist so allbekannt, dass wir keine weiteren
Beispiele anzuführen und blos an das bekannte Sprichwort zu
erinnern brauchen: Consuetudo altera natura. Wir wollen noch
ausdrücklich hervorheben, dass der Nichtgebrauch der Organe,
welcher rückbildend auf dieselben wirkt, nicht minder wichtig
ist, als der Gebrauch der Organe, welche für die Dysteleologie
so bedeutsam sind.«


Hauptsächlich beruht aber seine grössere Schätzung der
Wichtigkeit der functionellen Anpassung auf der hochgradigen
Erblichkeit, die er ihren Bildungen zuschreibt. Er behauptet2)
in seinem »Gesetz von der angepassten oder erworbenen Ver-
erbung« ganz allgemein: »Alle Charaktere, welche der Orga-
nismus während seiner individuellen Existenz durch Anpassung
erwirbt, und welche seine Vorfahren nicht besassen, kann der-
selbe unter günstigen Umständen auf seine Nachkommen ver-
erben.« Pagina 187 fügt er hinzu: »Viel wichtiger als die
monströsen, auffallend vortretenden Abänderungen, welche durch
die angepasste Vererbung übertragen werden, sind die unschein-
baren und geringfügigen Abänderungen, welche erst im Laufe
von Generationen durch Häufung und Befestigung ihre hohe
Bedeutung für die Umbildung der organischen Formen erhalten.«
Er spricht ferner aus, dass diese Vererbung um so sicherer
und vollständiger für alle folgenden Generationen eintritt, je
[10]I. Die functionelle Anpassung.
anhaltender die causalen Anpassungsbedingungen einwirken
und je länger sie noch auf die nächstfolgenden Generationen
einwirken.


Er ist somit von vorn herein nicht unwesentlich von Dar-
win
abgewichen, welcher diese Charaktere trotz der ausgelese-
nen anerkennenden Beispiele in seinem ersten Werke über die
Entstehung der Arten für nicht genügend erblich hielt, um
ihnen gegenüber der Wirkung der Zuchtwahl einen bedeuten-
den Einfluss zuzuerkennen, Dass Darwin diese Auffassung in
diesem gelesensten seiner Werke auch in den jüngsten Auf-
lagen nicht geändert hat, ist wohl der Grund, dass die that-
sächliche Aenderung seiner Ansicht, wie er sie in dem Werke
»Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen etc.«1) ausführlich
darlegt, nicht genügend gewürdigt worden ist, und dass in
Folge dessen manche seiner vermeintlich strenggläubigsten An-
hänger, z. B. G. Seidlitz2), anders Denkenden, welche gleich
Haeckel, O. Schmidt und also Darwin selber der functionellen
Anpassung grössere Bedeutung und Erblichkeit zuschreiben, den
Vorwurf der Apostasie von der vermeintlich wahren Lehre
machen.


Darwin hat sich indessen, wie wir gleich sehen werden,
in dem erwähnten neuen Werke fast vollkommen den Ansich-
ten, welche Haeckel in seiner »generellen Morphologie« aus-
gesprochen hatte, angeschlossen. Er sagt3) in seiner Zusammen-
fassung der als erblich verwendeten Variabilitäten: »Vermehr-
ter Gebrauch
vergrössert einen Muskel und zwar in Ver-
bindung mit den Blutgefässen, Nerven, Bändern, Knochenleisten,
an welchen er befestigt ist, ganzen Knochen und anderen da-
[11]A. Leistungen derselben.
mit verbundenen Knochen. Dasselbe gilt für verschiedene Drü-
sen. Vermehrte functionelle Thätigkeit stärkt die Sinnesorgane,
vermehrter und intermittirender Gebrauch verdickt die Epider-
mis und eine Aenderung in der Natur der Nahrung modificirt
zuweilen die Haut des Magens und vermehrt oder vermindert
die Länge der Därme. Andererseits schwächt und verringert
fortgesetzter Nichtgebrauch alle Theile der Organisation. Thiere,
welche während vieler Generationen nur wenig Bewegung ge-
habt haben, haben in der Grösse reducirte Lungen, und in Folge
hiervon wird der knöcherne Brustkorb und die ganze Form des
Körpers modificirt. Bei unsern seit Alters her domesticirten
Vögeln sind die Flügel wenig gebraucht und daher bedeutend
reducirt worden. Mit ihrer Abnahme ist der Brustbeinkamm,
sind die Schulterblätter, Coracoide und Schlüsselbeine sämmt-
lich reducirt worden.« Er schränkt indessen für den Nicht-
gebrauch die Wirkung sehr ein, indem er sagt 1): »Bei dome-
sticirten Thieren ist die Reduction in Folge Nichtgebrauches
niemals so weit geführt worden, dass nur ein blosses Rudiment
übrig bleibt, aber wir haben guten Grund zur Annahme, dass
dies im Naturzustande oft eingetreten ist. Die Ursache dieser
Verschiedenheit liegt wahrscheinlich darin, dass bei domesti-
cirten Thieren nicht blos keine hinreichende Zeit für eine so
tiefe Veränderung geboten ist, sondern dass auch, weil sie
keinem heftigen Kampf um’s Dasein ausgesetzt wurden, das
Princip der Oekonomie der Organisation nicht in Thätigkeit trat.«


Weiterhin bemerkt er noch 2): »Körperliche und geistige
Eigenthümlichkeiten werden unter der Domestication verändert
und die Veränderungen werden oft vererbt.« »Solche ver-
änderte Gewohnheiten können an jedem organischen Wesen,
besonders wenn es ein freies Leben führt, oft zum vermehrten
[12]I. Die functionelle Anpassung.
oder verminderten Gebrauch verschiedener Organe und in Folge
dessen zu ihrer Modification führen. In Folge lang fortgesetzter
Gewohnheit und noch besonders in Folge der gelegentlichen
Geburt von Individuen mit einer unbedeutend verschiedenen
Constitution werden Hausthiere und cultivirte Pflanzen in einer
gewissen Ausdehnung acclimatisirt.«


Darwin räumt also in diesem Werke der Wirkung der
functionellen Anpassung einen viel erheblicheren Einfluss
auf die Umbildung der Organismen neben der natürlichen Zucht-
wahl ein, als in der »Entstehung der Arten« und, da diese Ver-
änderungen durch functionelle Anpassung direct zweckmässig
sind, so anerkennt er damit ein Princip, welches auf viel kür-
zerem Wege als die Zuchtwahl ganz direct das Zweckmässige
hervorbringt, somit also letzterer die stärkste Concurrenz macht
und den Anschein erweckt, den glücklich für beseitigt gehal-
tenen Dualismus wieder einführen zu wollen.


Schon A. W. Volkmann sagt 1): »Die Zuchtwahl reicht auch
nicht aus, die wechselseitige Abhängigkeit der Organe zu er-
klären.« Er erinnert dafür an den Ausspruch Cuvier’s, dass
man nur das Kiefergelenk eines Säugers zu untersuchen brauche,
um zu ermitteln, ob man die Knochen eines Fleischfressers,
eines Wiederkäuers oder eines Nagers vor sich habe.


Der Umfang der Wirkung des öfteren Gebrauches in
Bezug auf das Vorkommen an den einzelnen Organen ist durch
die Beispiele Darwin’s vollkommen erschöpft; denn er zeigt die
Wirkungen an allen Organen, sogar für diejenigen Organe, für
welche er eine directe Umgestaltung oder Functionsstärkung
nicht nachgewiesen hat, für die Sinnesorgane, nimmt er sie an.
Wir vermögen aber in diesen Fällen nicht zu unterscheiden,
ob die Sinnesorgane selber schärfer geworden sind, oder ob
[13]A. Leistungen derselben.
blos unsere Fähigkeit, die von ihnen zugeleiteten Reize genauer
wahrzunehmen, sich verbessert hat, ob also die Uebung die
Endorgane selber afficirt, oder blos eine centrale, im Gehirn
sich vollziehende ist. Die einzige bezügliche anatomische Beob-
achtung rührt von Gudden her. Er fand 1), dass bei Neu
geborenen die bulbi olfactorii (die Riechzwiebeln) sich über das
gewöhnliche Maass vergrösserten, wenn den betreffenden Thie-
ren beide Augen exstirpirt und die Ohren verschlossen wurden.
Diese Thatsache deutet aber für sich blos auf eine Veränderung
der Centralorgane; wodurch natürlich die Möglichkeit einer Ver-
änderung der Endorgane nicht ausgeschlossen ist.


Für die Anpassung innerhalb der nervösen Centralorgane
an bestimmte Gebrauchsweise will ich hier ein treffendes Bei-
spiel von Helmholtz anführen. Er sagt 2): »Nimmt man Pris-
men von 16—18° brechendem Winkel so vor beide Augen, dass
beide Prismen die äusseren Gegenstände z. B. nach rechts ver-
schieben, und betrachtet irgend ein Object genau auf seine Lage,
schliesst dann die Augen und greift nach demselben, so greift
man natürlich rechts an ihm vorbei. Manipulirt man aber auch
nur wenige Minuten mit diesen Brillen, so wird man bei Wie-
derholung ganz sicher nach dem Objecte greifen. Es hat sich
also in dieser kurzen Zeit die ganze Innervationscombination
der Extremitäten geändert und den neuen Erfahrungen ange-
passt. Nimmt man jetzt die Brillen fort, so greift man links
an den Objecten vorbei, weil die neue Innervationsart auf die
alten Verhältnisse nicht mehr passt.«


Exner bemerkt dazu sehr treffend 3): »Es ist auch noth-
wendig, dass unsere Innervationscombinationen in hohem Grade
[14]I. Die functionelle Anpassung.
modificirbar sind, denn im entgegengesetzten Falle würden wir
schon bei Ermüdung des Muskelapparates und noch mehr bei
ungleichmässiger Ermüdung der einzelnen Muskeln desselben
die Fähigkeit, correcte Bewegungscombinationen auszuführen,
verlieren.«


So ist die Fähigkeit der functionellen Anpassung eine Vor-
bedingung der Erwerbung jeglicher körperlichen Geschicklich-
keit; und die Uebung ist weiter nichts, als die Ausbildung sol-
cher Anpassungen im Organismus, ja die Fixation aller Sinnes-
eindrücke in der Hirnrinde muss als directe functionelle An-
passung an die Aussenwelt aufgefasst werden.


Weiterhin ist hier aufzuführen das eigenthümliche Verhal-
ten, dass nach Philipeaux, Vulpian, Cyon, Schiff1) und
einigen Schülern Hermann’s 2) nach Durchschneidung des Zun-
genbewegungsnerven (Nervus hypoglossus) ein Geschmacksnerv
der Zunge, die Chorda des Nervus facialis, motorische Wirkung
auf die Zunge bekommt, so dass jetzt bei Reizung der Chorda die
Zunge sich hebt, ein Effect, welcher nach Wiederherstellung
des Hypoglossus wieder schwindet. Das zeitweilige Vicariiren
von Nerven ist gewiss ein auffälliger Grad functioneller An-
passung.


Die Thatsächlichkeit der directen Anpassung der Knochen
an neue Verhältnisse stösst nach meiner Erfahrung auf beson-
deren Widerstand bei denjenigen, welche sie selber noch nicht
beobachtet haben. Es erscheint daher nicht überflüssig, einen
besonders demonstrativen Fall meiner eigenen Beobachtungen zu
erwähnen. Er betrifft einen nicht geheilten Bruch des Schien-
beines. Die beiden Enden des in der Mitte gebrochenen Knochens
waren abgerundet und verdünnt, dagegen das Wadenbein in
ganzer Ausdehnung auf das 6—8fache des normalen Querschnittes,
[15]A. Leistungen derselben.
mit Erhaltung annähernd der normalen Formen und besonders ganz
normaler, entzündliche Knochenbildung ausschliessender glatter
Oberfläche, verdickt. Die Köpfe des Knochens waren weniger
verdickt, aber so geformt, dass sie vermittelst ausgebildeter,
sehr starker Bindegewebszüge zwischen ihnen und jedem zu-
gehörigen Ende des Schienbeines den neuen Functionen der
Uebertragung des Druckes vom oberen Ende des Schienbeins
auf das untere zu genügen vermochten. Derartige Beispiele der
Activitätshypertrophie der Knochen und des Bindegewebes wer-
den sich wohl in jeder pathologischen Sammlung vorfinden.


Pflüger erwähnt ganz allgemein 1): »Es ist aber eine
Thatsache, dass bei grösserem Verlust in Folge verstärkter Ar-
beit solche Bedingungen entstehen, denen zufolge immer etwas
mehr wiedergewonnen wird, als verloren ging, denn der anhal-
tende stärkere Gebrauch des Organes lässt dasselbe an Masse
und Kraft zunehmen.


Mit der Ausdehnung der umgestaltenden Wirkung der func-
tionellen Anpassung auf alle Organe ist implicite auch ausge-
sprochen, dass alle Gewebe des Körpers, also Ganglienzellen,
Nerven, Sinneszellen, Muskel-, Drüsen-, Epithel-, Binde-,
Knorpel- und Knochen-Gewebe davon betroffen werden.


Um so weniger ist die Art der Wirkung berücksichtigt
worden. Darwin und alle anderen Autoren erwähnen blos,
dass vermehrter Gebrauch die Organe vergrössert, verminderter
sie verkleinert.


Es scheint mir indessen lohnend, die Wirkungsweise an
den einzelnen Organen zu untersuchen. Es ergiebt sich schon
bei blosser Prüfung des gegenwärtig Bekannten ohne besondere
daraufhin angestellte Beobachtungen mit grosser Wahrschein-
lichkeit das folgende morphologische Gesetz der func-
tionellen Anpassung:

[16]I. Die functionelle Anpassung.
»Bei verstärkter Thätigkeit vergrössert sich
jedes Organ blos in derjenigen, resp. denje-
nigen Dimensionen, welche die Verstärkung
der Thätigkeit leisten


Dieses Gesetz der dimensionalen Hypertrophie,
wie wir es kurz bezeichnen wollen, bekundet sich am deutlich-
sten in dem Verhalten der Muskeln bei Vergrösserung durch
verstärkte Inanspruchnahme ihrer Function. Während der Mus-
kel, an Dicke zunehmend, sich nach und nach eventuell bis
zum Doppelten seines ursprünglichen Querschnittes vergrössert,
bleibt seine Länge unverändert; wenigstens nimmt sie, wenn
überhaupt, nur in so geringem Maasse zu, dass es noch Nie-
mandem aufgefallen ist, und es bestehen Gründe, im Gegentheil
eher eine Verkürzung zu erwarten.


Die Vergrösserung hat sich also auf die zwei Dimensionen
des Querschnittes beschränkt.


Die mikroskopische Untersuchung eines solchen Muskels
zeigt, dass die einzelnen Muskelfasern zwar etwas dicker sind,
als an anderen weniger beschäftigten Muskeln desselben Indivi-
duums; aber durchaus nicht in dem Maasse, dass die Verdickung
des ganzen Organes allein darauf bezogen werden kann; viel-
mehr findet noch eine Vermehrung der Zahl der Fasern statt. (S.
Zielonko, Virchow’s Archiv. Bd. 61.) Die erstere Erschei-
nung, die Vergrösserung der specifischen Elementartheile, der
Zellen, wollen wir in Folgendem nach Virchow analytisch als
Hypertrophie von der letzteren, von der Vermehrung der
Zahl der specifischen Elementartheile oder der Hyperplasie
unterscheiden, wenn auch beide meist nur zugleich vorkommen.


Es hat sich im vorliegenden Falle also die Hypertrophie
der einzelnen Muskelfasern auf die beiden Dimensionen des
Querschnittes beschränkt, ohne Vergrösserung der dritten Di-
mension, der Länge. Das Ausbleiben der letzteren ergiebt sich
[17]A. Leistungen derselben.
bei den kurzen Muskeln, deren ganze Länge durch nur eine
Faser gebildet wird, schon aus der äusseren Betrachtung. Bei
den langen Muskeln, deren Länge durch Aneinanderreihungen
von mehreren Muskelfasern sich zusammensetzt, gleichfalls aus
dem Ausbleiben einer Verlängerung des ganzen Organes, denn
diese müsste nothwendig ebenfalls eintreten, wenn die Elemen-
tartheile länger würden. Es sei denn, dass sie entweder ihre
relative Lage zu den anderen änderten, indem sie sich mehr
in der Richtung der Länge zusammenschieben, oder dass, ent-
sprechend der Verlängerung der Fasern an einigen Stellen, an
den anderen Theilen des Muskels Verkleinerung derselben statt-
fände, beides schon an sich gleich unwahrscheinliche Vorgänge,
ganz abgesehen von der damit entstandenen Abweichung von
dem Verhalten bei den kürzeren Muskeln. Dass aber die Mus-
keln die Verstärkung der Thätigkeit mit dem Querschnitt zu
leisten haben, bedarf wohl keiner Erläuterung.


Warum ordnen sich die neugebildeten Protoplasmatheil-
chen der Faser blos in die Dimensionen des Querschnittes mit
Ausschluss der Länge? Warum thun dasselbe die neugebildeten
Muskelfasern?


Abweichungen von diesem typischen Verhalten kommen
am Herzen und den anderen Höhlenmuskeln in Blase,
Magen, Darm, Gebärmutter etc. nicht selten vor, indem mit
der Verdickung auch entsprechende oder nicht entsprechende
Verlängerung der Fasern, somit Vergrösserung des umschlosse-
nen Hohlraumes verbunden ist. Gerade das principiell andere
Verhalten an diesen Localitäten giebt uns einen bedeutsamen
Fingerzeig nach der Ursache der obigen Erscheinung an der
Skeletmuskulatur.


Ferner ist zum Belege des oben ausgesprochenen Gesetzes
anzuführen das Verhalten der Sehnen und Gelenkbänder.
Diese werden bekanntlich bei stärkerer Function gleichfalls
Roux, Kampf der Theile. 2
[18]I. Die functionelle Anpassung.
nicht länger, sondern blos dicker. Ersteres würde, wenn es
stattfände, sofort die Function vermindern, resp. aufheben. Also
auch hier findet blos Anordnung der neuen Molekel und Fasern
in der Richtung des Querschnittes statt.


Vielleicht ist auch die ungleiche Dicke der Nerven-
fasern
, wie sie uns jeder Querschnitt eines Nervenstammes
oder des Rückenmarkes zeigt, durch ungleich starke Function
bedingt, während auch hier eine Verlängerung dabei nicht vor-
kommt; denn man findet in Nervenstämmen keine geschlängel-
ten Fasern.


Bei der Hypertrophie der acinösen Drüsen, welche
sich in Vermehrung der Zahl und in Vergrösserung der Drüsen-
beeren äussert, muss die Hyperplasie blos in den beiden Dimen-
sionen der Secretionsfläche erfolgen, da das Drüsenepithel bei
dieser Vergrösserung einschichtig bleibt. Bei den Schlauch-
drüsen
erfolgt die Aneinanderlagerung der neugebildeten Zel-
len fast ausschliesslich blos in der Richtung der Länge, wäh-
rend die Verdickung des Schlauches blos durch die Hypertrophie
der Zellen bedingt ist. Da indessen diese Organe in den letz-
ten Stadien der Entwickelung auch schon blos nach diesen
Dimensionen gewachsen sind, so kann man sagen, die Weiter-
bildung erfolgt hier einfach nach den vererbten Bildungsgesetzen,
wenn man nicht eben die Entstehung dieser Gesetze mit dem
vorliegenden Princip in Zusammenhang bringen will.


Die Epidermis vermehrt sich blos nach Substanzverlust
nach den zwei Dimensionen der Fläche, und zwar nur so lange,
bis ihre Zellen wieder allseitig an gleichartige Zellen stossen;
und wenn dies, wie bei Fisteln, nicht geschehen kann, so
wachsen sie nach Friedländer den ganzen Fistelkanal aus.


Durch jeden anderen Reiz aber werden sie nur zur Ver-
mehrung nach der Einen Dimension der Dicke angeregt, unter
gänzlichem Ausschluss der beiden anderen Dimensionen. Nicht
[19]A. Leistungen derselben.
aber wirkt der Reiz auch zur stärkeren Vergrösserung nach der
Fläche, sodass unter passiver Betheiligung der Lederhaut Fal-
tenbildung entstünde wie im Darmtractus. In letzterem sind
die Falten aber auch nicht durch Vermehrung des Flächenepi-
thels, sondern durch Vermehrung der Drüsen bedingt, und wohl
nur passiv nachfolgend findet die entsprechende Flächenver-
grösserung des Oberflächenepithels und der Schleimhaut statt.


Auch für dieses Beispiel des Epithels lässt sich ein zu
berücksichtigender Einwand machen, nämlich der, dass der
Widerstand der dicken Lederhaut gegen Faltung durch stärkeres
Wachsthum des aufliegenden Epithels ein wohl zu grosser ist.
Die Berechtigung dieser Einwände kann nur durch eingehende
Specialuntersuchungen für jedes Organ festgestellt werden.


Lockeres Bindegewebe wird bei Dehnung allmählich
länger, hypertrophirt in der Einen Dimension der Länge. Das-
selbe findet bekanntlich auch am straffen Bindegewebe bei lang-
anhaltendem übermässigen Zuge statt, während, wie erwähnt,
normaliter, d. h. bei blos spannendem, in angemessenen Inter-
missionen erfolgendem Zug dasselbe blos in dem Querschnitt
sich verstärkt.


Die Zapfen der Netzhaut sind in der Fovea centralis
des Auges, der Stelle des deutlichsten und am meisten ge-
brauchten Sehens, am höchsten in der Richtung des einfallen-
den Lichtes und dabei zugleich schmaler als an den seitlichen
Partien des Auges. Es ist vielleicht anzunehmen, dass die
stärkere Function dieser Theile durch die grössere Länge ge-
leistet wird und dass die geringere Dicke nur eine Folge der
stärkeren Tendenz zur Vermehrung der Zellen durch den stär-
keren functionellen Reiz ist. Es würde nicht gegen diese Auf-
fassung sprechen, wenn die bezügliche Verschiedenheit auch
schon angeboren würde, da sie wohl vererbt werden könnte,
auch wenn sie ursprünglich durch Gebrauch entstanden wäre.


2*
[20]I. Die functionelle Anpassung.

Die Milz und die Lymphdrüsen leisten ihre Function
der Bildung von Blutzellen mit allen drei Dimensionen gleich-
mässig und vergrössern sich dem entsprechend auch bei ver-
stärkter Function nach diesen drei Dimensionen gleichmässig,
soweit es bei der Milz der Raum der Umgebung gestattet. Dass
in diesen Organen keine Vermehrung der Zellen blos nach be-
stimmten Richtungen stattfindet, ergiebt sich mit Sicherheit
daraus, dass nie in diesen Organen die Zellen in Reihen ge-
ordnet sind, wie es sich doch dabei ausbilden müsste, sondern
dass die Zellen in hyperplastischen Organen ebenso angeordnet
liegen, als in nicht vergrösserten.


Ich will hier nicht weitere Beispiele anführen, insbeson-
dere nicht das interessanteste, ungleiche Verhalten der Blut-
gefässwandung in den verschiedenen Dimensionen erwähnen,
da ich beabsichtige, die zur Sicherstellung des obigen Gesetzes
nöthige, auf neue, daraufhin angestellte Beobachtungen sich
stützende Specialarbeit selber zu machen. Alsdann werde ich
auch auf die charakteristischen Unterschiede der Activitätshyper-
trophie von der bei einigen Organen vorkommenden Hyper-
trophie infolge vermehrter Blutzufuhr, hinweisen.


Am evidentesten tritt das Typische des Gesetzes natürlich
an denjenigen Organen hervor, wo die verschiedenen Dimen-
sionen verschiedene Function haben und daher mit verschiede-
nen Umständen sich ändern, so bei den Muskeln, Sehnen, Bän-
dern und Gefässen.


Gegenwärtig sehen wir jedenfalls so viel, dass durch die
Verstärkung der Function nicht alle Dimensionen der Organe
gleichmässig vergrössert werden, auch wo, wie bei Muskeln
und Bändern, der Raum es verstattete, sondern blos diejenigen
Dimensionen, welche die Grösse der Function besorgen. Dabei
ist das Verhältniss derartig, dass an denjenigen Organen, deren
specifische Function durch Eine Dimension besorgt wird, wie
[21]A. Leistungen derselben.
bei den Muskeln, Sehnen, Drüsen und Nerven, die Grösse der
Function von den beiden anderen Dimensionen vollzogen wird,
und dass umgekehrt in den anderen Organen, welche, wie
Epidermis, Gefässwandung, Fascien und vielleicht auch die
Zapfen der Netzhaut, die specifische Function mit zwei Dimen-
sionen verrichten, die Grösse der Function durch die dritte be-
stimmt wird.


Ueber die Ursache des obigen Gesetzes enthalten wir uns
an dieser Stelle jeglicher Erörterung. Ich habe demselben des-
halb auch blos die Fassung des Thatsächlichen gegeben, ob-
gleich ein Hinweis darauf, dass die Function selber die Ur-
sache der Vergrösserung der die Grösse der Function besor-
genden Dimensionen sei, nahe gelegen hätte.


Die functionelle Hypertrophie bringt also nicht immer Aehn-
lichkeitswachsthum, d. h. Vergrösserung nach allen Durchmes-
sern proportional ihrer Grösse hervor, sondern sie bildet durch
die eventuelle Beschränkung der Vergrösserung auf eine oder
zwei Dimensionen morphologisch neue Charaktere. Dieselben
entstehen durch functionelle Hypertrophie, ausserdem auch noch
in Folge der ungleichmässigen Vergrösserung der verschiedenen
Organe bei gleicher Verstärkung der Function, am meisten
aber durch die ungleiche Vertheilung der Hyperfunction auf die
verschiedenen Organe des Körpers.


Ist dadurch schon principiell die Möglichkeit zu jeder denk-
baren Formenwandlung gegeben, so wird diese Möglichkeit
noch erleichtert und quantitativ unterstützt durch das entgegen-
gesetzt wirkende Princip, durch die Verkleinerung in Folge der
Verringerung der Function, durch Inactivitätsatrophie.
In Verbindung mit diesem Princip können nun auch alle mög-
lichen Grössen wieder rückwärts bis zum gänzlichen Schwunde
hervorgebracht werden.


Auch die Inactivitätsatrophie zeigt Beschränkung ihrer Wir-
[22]I. Die functionelle Anpassung.
kung auf die die Grösse der Function vollziehenden Dimen-
sionen der Organe, so dass für sie ein Gesetz der dimen-
sionalen Atrophie
aufgestellt werden muss. Auch hierbei
ergeben sich in einigen Organen wieder Unterschiede von der
einfachen Atrophie in Folge Verringerung der Blutzufuhr, und
ich behalte mir auch hierüber specielle Untersuchung und Nach-
weise vor.


Damit nun aber durch diese beiden Principien
Umgestaltungen entstehen, sind dauernd zwin-
gende Ursachen anderen Gebrauches nöthig
, wie
sie für Thiere nur durch embryonale Variationen einiger Theile,
welche dann alterirend auch auf die Functionen der anderen
wirken oder durch Aenderung der äusseren Verhältnisse ge-
geben werden, beim Menschen aber auch als dauernd in der-
selben Richtung wirkender Wille, z. B. in Folge der Wahl des
Berufes, vorkommen.


Diese dauernd zwingende Ursache zu anderem Gebrauche
ist eine unerlässliche Vorbedingung der umgestaltenden Wir-
kungen der functionellen Anpassung, und sie muss wohl viele
Generationen hindurch gleichmässig anhalten, wenn die Verän-
derungen auch erblich werden sollen.


Ausser dieser quantitativen, die Gestalt beeinflussenden
Wirkung der functionellen Anpassung ist noch hinzudeuten auf
eine fast unbeachtet gebliebene qualitativ ändernde Wir-
kung vermehrten und verminderten Gebrauches
,
auf die Erhöhung resp. Erniedrigung der specifi-
schen Leistungsfähigkeit der Organe
.


Zuerst wurde derartiges nachgewiesen von Henke und
Knorz1), welche fanden, dass dasselbe Volumen Muskelsubstanz
des rechten Armes 20% mehr leisten könne, als vom linken.
[23]A. Leistungen derselben.
Gleichzeitig wurde dasselbe, aber ohne Angabe directer Be-
stimmungen, von Haeckel in der oben citirten Stelle ausge-
sprochen.


Ferner weisen die Untersuchungen von Tiegel1) eine Er-
höhung der specifischen Leistungsfähigkeit innerhalb einer ein-
zigen kurzen physiologischen Reizperiode des Muskels nach,
indem sie ergaben, dass bei gleichen Reizen eine Zeit lang die
Hubhöhen, also die Verkürzungen, grösser werden, ehe sie
durch Erschöpfung sich verkleinern.


Für die nervösen Centralorgane scheint die alltägliche Er-
fahrung das Gleiche zu bestätigen; es weiss Jeder, wie durch
jahrelange Uebung mühselig erlernte Bewegungen, etwa beim
Spielen musikalischer Instrumente etc., später leicht ausführbar
werden, sodass sie schliesslich fast ohne bewusste Innervation
als feste Mechanismen von selber sich abspielen, wenn nur der
Anfang dazu befohlen worden ist. Man wird hier nicht wohl
annehmen können, dass die die Ganglienzellen des Rückenmar-
kes verbindenden Fasern so viel hundertmal dicker geworden
wären, um allein durch Vergrösserung des Querschnittes die
Widerstandsabnahme in den Bahnen hervorzubringen, sondern
es ist wahrscheinlicher, dass die Verbindungsbahnen neben
gleichzeitiger Vergrösserung ihres Querschnittes auch qualitativ
besser leitend geworden sind, und dass die Ganglienzellen rela-
tiv mehr Impuls auf eine Anregung produciren.


In gleicher Weise werden auch die Organe unserer Seelen-
thätigkeit leistungsfähiger durch öfteren und intensiveren Ge-
brauch, durch Uebung, wie wir sagen. Alles, was wir körper-
lich und geistig lernen, ist Product der functionellen Anpassung;
ohne dieselbe würden wir in keiner Beziehung etwas lernen
können. Und Jeder weiss, wie viel rascher und leichter all-
[24]I. Die functionelle Anpassung.
mählich selbst das Lernen, nicht blos die Ausführung des Er-
lernten wird, was auf eine Erhöhung der specifischen Leistungs-
fähigkeit des ganzen Systemes in Folge vielseitigen Gebrauches
hinweist.


Wir sind daher wohl berechtigt, dem obigen morphologi-
schen Gesetz der dimensionalen Hypertrophie für die genannten
Organe das physiologische Gesetz der functionellen
Anpassung
hinzuzufügen:
Durch verstärkte Thätigkeit wird die speci-
fische Leistungsfähigkeit der Organe erhöht
.


Selbstverständlich gilt dies Gesetz, wie alle organischen
Leistungsgesetze, blos innerhalb gewisser Grade, und es soll
damit nicht gesagt werden, dass nicht Ueberanstrengung die
Leistungsfähigkeit schwächte.


Ob dieses Gesetz auch für die Sinnesorgane Geltung hat,
oder ob die Uebung in der Auffassung und Differenzirung der
Sinneseindrücke blos eine cerebrale ist, da ja diese Organe
zumeist in gleicher Weise von aussen durch die Eindrücke ge-
troffen werden und bei mangelnder Aufmerksamkeit auf die
Eindrücke die Auffassungsfähigkeit nicht erhöht wird, haben
wir schon oben als zur Zeit nicht entschieden hingestellt.


Und ebenso sind wir über die eventuelle Erhöhung der
specifischen Leistungsfähigkeit der Drüsen, sowie auch der
passiv fungirenden Organe: der Knochen und Bänder etc., ohne
Kenntnisse. Aber doch ist für Sinnesorgane eine qualitative,
mit Erhöhung der Leistungsfähigkeit verbundene Aenderung
durch den Act der Function bekannt, welche vielleicht nicht
blos als passives Ertragenlernen, als Gewöhnung, sondern activ
als Uebung aufzufassen ist. So der Umstand, dass wir anfangs
überwältigend starke Sinneseindrücke allmählich nicht blos er-
tragen, sondern auch unterscheiden lernen, wenn sie unter
einander selber wieder an Intensität verschieden sind. Aber es
[25]A. Leistungen derselben.
lässt sich auch hier wieder nicht auseinander halten, wie viel
von der Uebung central im Gehirn sich ausbildet.


Für qualitative functionelle Anpassung spricht bei den
Drüsen ihr oft beobachtetes Verhalten im Nichtgebrauch, die
Herabsetzung der Leistungsfähigkeit bei verminderter Thätig-
keit. So hat z. B. neuerdings Luchsinger1) gefunden, dass
nach Durchschneidung der Nerven, deren Reizung Schweiss-
absonderung an der Hinterpfote hervorruft, in wenigen Tagen
die Erregung der Drüsenzellen zur Secretion selbst durch Pilo-
carpin nicht mehr möglich ist, und er vermuthet wohl mit Recht,
dass dies die Folge gesunkener, resp. verlorener Erregbarkeit
der Drüsenzellen ist.


Für Nerven und Muskeln ist eine Herabsetzung der Erreg-
barkeit durch längere Unthätigkeit jedem Arzte bekannt, und
die pathologische Anatomie weist in hochgradigen Fällen durch
Umstände erzwungener Unthätigkeit neben dem Schwund auch
noch die qualitativen Aenderungen im Vorhandensein von Fett-
körnchen im Protoplasma nach.


Ausserdem dürfen wir dem Leser den merkwürdigen Fund
von C. K. Hoffmann2) und von Exner3) nicht vorenthalten,
welche im Gegensatz zu Schiff und zu Colasanti nach
Durchschneidung des Riechnerven des Frosches fettige Degene-
ration und entweder nachfolgende Atrophie oder Verlust der
specifischen Eigenschaften des Riechepithels eintreten sahen.


Ueber den Grad der qualitativen Aenderungen durch ver-
mehrten Gebrauch, insbesondere darüber, ob die Erhöhung der
specifischen Leistungsfähigkeit eine stetig fortschreitende ist
oder, wie wahrscheinlich, nach kurzer Uebung eine maximale
Höhe erreicht, womit ihre Bedeutung für die allmähliche Diffe-
[26]I. Die functionelle Anpassung.
renzirung der Organe nur eine sehr geringe sein würde, ver-
mögen wir keine entscheidenden Beobachtungen anzuführen.
Einiges Theoretische für oder wider wird sich noch aus den
folgenden Betrachtungen ergeben.


Mag auch die Wirkung der qualitativen functionellen An-
passung eine beschränkte sein, immerhin ergiebt sich, dass
sowohl sie als auch die quantitative functionelle Anpassung von
der grössten Bedeutung für die thierischen Organismen sind,
da letztere ohne dieselben ewig auf der Stufe des Angeborenen,
Vererbten stehen bleiben würden. Wir müssten dann in allen
unseren Fähigkeiten und Leistungen wie neugeborene Kinder
bleiben, und das so berechtigte Wort Schiller’s im Wallenstein:
»Es ist der Geist, der sich den Körper schafft« hätte keinen
Sinn.


Nachdem wir so kurz analytisch die umbildenden Wir-
kungen vermehrten oder verminderten Gebrauches besprochen
haben, müssen wir, bevor zur Erörterung der Vererblichkeit
dieser Bildungen übergegangen werden kann, eine Gruppe von
Gestaltungen anführen, welche sich in ihren Ursachen diesen
Veränderungen auf das engste anschliessen und auch in Bezug
auf ihre Erblichkeit viel Gemeinsames mit den erwähnten Er-
scheinungen haben.


Während die bisher besprochenen Erscheinungen der Wir-
kung der Häufigkeit und Intensität des Gebrauches von der
Physiologie mit wenigen Ausnahmen unverdient vernachlässigt
worden sind, wohl weil sie zumeist nicht in der Kürze des
physiologischen Experimentes ablaufen und zu beobachten sind,
sondern erst im Laufe von Jahren genügend hervortreten und
zum Theil nur auf statistischem Wege festgestellt werden können,
und obgleich sie, als alle quantitativen Verhältnisse im Körper
bestimmend, physiologisch von der grössten Bedeutung sind,
so sind die jetzt zu besprechenden Erscheinungen von den Ver-
[27]A. Leistungen derselben.
tretern der Descendenzlehre bisher gänzlich unberücksichtigt
geblieben, trotzdem sie gerade für diese Lehre von principiell
entscheidender Wichtigkeit sind.


Es sind Erscheinungen, welche mit den vorhergehenden
unter dem gemeinsamen Namen functionelle Anpassung
zusammengefasst werden können. Das Besprochene stellte die
Wirkung der Quantität der Function auf die äussere Gestalt
und die Qualität der Organe dar. Die nun folgenden Erschei-
nungen zeigen uns die Wirkung der Function für die
innere Gestalt, für die Structur der Organe
.


Da wir auch das diesen Erscheinungen zu Grunde liegende
Princip als ein direct das Zweckmässige durch den Act der Function
hervorbringendes kennen lernen werden, so können wir sie beide
auch als Principien der functionellen Selbstgestal-
tung des Zweckmässigen
zusammenfassen, Ersteres als
die äussere Gestaltung, Letzteres als die innere Gestaltung der
Organe beeinflussend. Daraus ergiebt sich von selber, dass
beide in inniger Wechselbeziehung stehen müssen.


Die ersten hierher gehörigen Beobachtungen verdanken wir
Hermann Meyer1), welcher erkannte, dass die schwammige
(spongiöse) Substanz der Knochen eine ganz bestimmte Archi-
tectur besitzt, welche an jeder Stelle genau die Linien stärksten
Druckes oder Zuges, welchem das Organ ausgesetzt ist, dar-
stellt. Indem so die Knochenbälkchen überall blos in den Rich-
tungen stärksten Druckes und Zuges verlaufen, wird mit dem
geringsten Materialaufwand die grösstmögliche Festigkeit er-
reicht, genau in der Weise, wie dies die moderne constructive
Technik zu verwirklichen sucht. Erweitert wurden unsere be-
züglichen Kenntnisse dann von J. Wolf2), H. Wolfermann3)
[28]I. Die functionelle Anpassung.
K. Bardeleben1), Merkel2), Aeby3) und P. Langer-
hans
4) und so auf fast alle Knochen des menschlichen Körpers
und einiger Säugethiere ausgedehnt.


J. Wolff entdeckte darauf zuerst und Kastor und Martiny
sowie L. Rabe1) bestätigten, dass derartige Structurverhältnisse
sich auch unter ganz neuen, abnormen Verhältnissen, den neuen
statischen Verhältnissen entsprechend, z. B. bei schief ge-
heilten Knochenbrüchen, ausbilden. Daraus geht hervor, dass
diese Bildungen nicht feste, vererbte zu sein brauchen, sondern
sich immer nach den jeweiligen Verhältnissen selbst erzeugen.
Da die statische Knochenstructur erst nach den ersten Lebens-
jahren sicher erkennbar sich ausbildet, so lässt sich über ihre
eventuelle erbliche Uebertragbarkeit ohne besondere daraufhin
gerichtete Untersuchungen nichts aussagen.


Ferner ist hierher gehörig eine Mittheilung, welche Prof.
K. Bardeleben vor zwei Jahren mir machte, und die ich mit
seiner Erlaubniss hier anführe. Er sprach die Vermuthung und
die Wahrscheinlichkeit aus, dass auch in den Fascien, den
Häuten, welche die Muskeln einhüllen, die Fasern, wie in den
Knochen die Bälkchen, die Richtungen stärksten Zuges ein-
nähmen. Da der genannte Autor noch nicht dazu gekommen
ist, die beabsichtigte eingehende Untersuchung anzustellen, so
habe ich, ohne den speciellen Mittheilungen desselben irgendwie
vorgreifen zu wollen, durch eigne Beobachtung mich wenigstens
soweit von der Richtigkeit überzeugt, um dies hier bestätigen
und verwerthen zu können. Ich muss noch hinzufügen, dass
Prof. H. Meyer vor einem Jahre denselben Gedanken und die
Absicht gegen mich äusserte, von diesem Gesichtspunkte aus
[29]A. Leistungen derselben.
Untersuchungen auf alle bindegewebigen Bildungen auszudehnen.
Ohne den Publicationen auch dieses Autors vorgreifen zu wollen,
spreche ich blos aus, dass ich diese Absicht für sehr berechtigt
halte, denn warum sollte z. B. nicht auch schon die Richtung
der Sehnenfasern oder der Fasern des Lig. interosseum anti-
brachii etc., welche immer der Richtung des Zuges entsprechen,
in der gleichen Weise aufgefasst werden?


Eines der lehrreichsten Beispiele dieser Verhältnisse er-
scheint mir die bekannte Faserung des Trommelfelles darzu-
bieten, indem dieses in seinen beiden Hauptfaser-Systemen, dem
radiären und dem circulären, blos diejenigen Richtungen un-
substantiirt zeigt, welche bei den Schwingungen desselben die
stärkste Dehnung auszuhalten haben; dabei ist noch ein drittes
System deutlich ausgebildet, welches die Schwingungen des
Trommelfelles auf den eingefügten langen Fortsatz des Hammers
überträgt und auch wieder die hierzu günstigste Richtung der
stärksten Spannung, d. h. senkrecht zum Fortsatz des Hammers
darbietet.


Ausser bei diesen beiden passiv fungirenden Organsystemen
erkennen wir vergleichbare und aus denselben Ursachen ableit-
bare Structurverhältnisse bei dem dritten mechanisch fungiren-
den, aber activ thätigen System der Muskeln. Bei den Skelet-
muskeln erscheinen die Verhältnisse einfach, auf den ersten
Blick beinahe selbstverständlich einfach; sie sind es aber doch
nicht überall; und ich will mir besondere Mittheilungen darüber
auf die Beendigung einer speciellen daraufhin gerichteten Unter-
suchung aufsparen.


Von den glatten Muskelfasern dagegen ist längst be-
kannt, dass sie in den cylindrischen Hohlorganen, wie Darm,
Harnleiter, Blutgefässen etc., blos in zwei Richtungen geordnet
vorkommen: in der Längs- und in der Querrichtung, den Rich-
tungen leistungsfähigster Funktion; und wir haben daher ein
[30]I. Die functionelle Anpassung.
Recht, sie als hierher gehörig zu betrachten. Das Gleiche gilt
von den blasenförmigen Organen: bei ihnen verlaufen die Fasern
blos in aequatorialer und meridionaler Richtung, wiederum den
Richtungen stärkster Leistungsfähigkeit.


Auch von den Organen mit quergestreiften Muskeln gehört
eines hierher, das Herz, dessen Faserrichtung bei derartiger
Betrachtung, nachdem einmal das Princip festgestellt ist, uns
belehrende Rückschlüsse über die Art seiner Function und die
Richtungen der grössten Leistungen bei der Action zu gestatten
verspricht.


Alle diese Bildungen in Knochen-, Binde- und Muskelgewebe
hätte die Auslese aus formalen Einzelvariationen nach Darwin
nie in solcher Regelmässigkeit und Vollkommenheit hervor-
bringen können, da hier schon Tausende zufällig in dieser Weise
zweckmässig geordneter Fasern resp. Bälkchen nöthig gewesen
wären, um nur den geringsten im Haushalte bemerkbaren und
durch die Auslese züchtbaren Vortheil durch Materialersparniss
hervorzubringen und da bei Hungersnoth gerade diese Theile
(abgesehen vom Herzen) in Folge ihres geringen Stoffwechsels
am spätesten leiden würden, viel später als die anderen lebens-
wichtigeren Organe mit grösserem Stoffwechsel.


Alle diese Bildungen können deshalb nicht durch Auslese
aus formalen Einzelvariationen, wie sie die Grundlage der
Darwin’schen Lehre bilden, hervorgehen, sondern blos von
Qualitäten der betreffenden Gewebe abgeleitet werden, welche
das Zweckmässige bis ins Einzelnste hinein direct gestalten; von
derartigen Qualitäten, wie wir sie in dieser Schrift vertreten und
in den folgenden Kapiteln in der Nothwendigkeit ihrer Entstehung
und der Thatsächlichkeit ihres Bestehens darzulegen beab-
sichtigen.


Die bezüglichen Bildungen der bindegewebigen Organe und
der aus den glatten Muskelfasern gebildeten Häute werden schon
[31]A. Leistungen derselben.
angeboren, und könnten daher als Beweise für die Erblichkeit
der functionellen Anpassungen angesehen werden. Wir werden
aber bei der speciellen Untersuchung der Erblichkeit erkennen,
dass dieser Schluss trotz dieses angeborenen Vorkommens ohne
weiteres nicht gezogen werden darf.


Ausser diesen statischen Anpassungen der inneren Structur
der Stützorgane und den dynamischen der glatten Muskelfaser-
Gebilde an die Richtungen der höchsten Leistung, welche mit
dem Minimum von Material das Höchste zu leisten vermögen,
ist noch eine Gruppe von Gestaltungen zu nennen, welche den-
selben Charakter in Bezug auf die Leistung hat, und sich blos
dadurch von den anderen unterscheidet, dass die Kräfte, an
welche hier Anpassung stattfindet, nicht statische und auch
nicht so einfache dynamische, sondern viel complicirtere hydrau-
lische
, in specie hämodynamische sind, da es sich um die
Gestalt des Lumens der Blutgefässe handelt.


Das Thatsächliche dieser Verhältnisse ist im Allgemeinen
Folgendes1): Das Lumen der Blutgefässe zeigt am Ursprung
jedes Astes nicht die cylindrische Gestalt, wie im Verlaufe des
Gefässes, sondern die eigenthümlich konische Gestalt, welche
ein ungehemmt aus der seitlichen runden Oeffnung eines durch-
flossenen Cylinders ausspringender Strahl von selber, d. h. zu-
folge der in ihm wirkenden hydraulischen Kräfte annimmt; und
diese Gestalt ändert sich bei den Blutgefässen mit den gleichen
Umständen und genau in der gleichen Weise, wie die Gestalt
solches frei ausspringenden Strahles; diese Aenderung erfolgt
daher mit der Aenderung der Grösse des Neigungswinkels des
Astes zum durchflossenen Rohre, mit der Stärke des Astes im
Verhältniss zur Stärke des Stammes etc.


Dies schliesst zugleich ein, dass der Astursprung der Blut-
gefässäste aus ihrem Stamme in derjenigen Richtung erfolgt,
[32]I. Die functionelle Anpassung.
welche als die Resultante aus der Stromgeschwindigkeit und der
Grösse des Seitendruckes sich ergiebt; und aus dieser Richtung
biegt er erst allmählich zu derjenigen um, welche ihn an den
Ort seines Verbreitungsbezirkes führt.


Wenn ferner ein Arterienstamm Aeste abgiebt, welche
stärker als ⅖ des Durchmessers des Stammes sind, so erfährt
dabei der Stamm selber eine Ablenkung nach der entgegen-
gesetzten Seite, und diese Ablenkung wächst wieder ganz ent-
sprechend den hydraulischen Verhältnissen mit der Grösse des
Astursprungswinkels und mit der Stärke des Astes im Verhält-
niss zur Stärke des Stammes.


Alle diese Einrichtungen haben zur Folge, dass die Ver-
breitung des Blutes im Körper an den unzähligen Verästelungs-
stellen unter der geringsten Reibung erfolgt, dass also der Be-
trieb der Circulation mit einem Minimum von lebendiger Kraft
und von Wandungsmaterial ermöglicht ist.


Ihnen sind noch einige längst bekannte und im gleichen
Sinne wirkende Eigenschaften der Gestalt des Blutgefässlumens
anzuschliessen, so die vollkommene Glattheit der Innenwandung,
die cylindrische Beschaffenheit des Lumens im Verlauf der Ge-
fässe und vor allem die Ausbildung von Hauptbahnen in der
netzförmigen Anlage.


Alle diese Eigenschaften werden schon angeboren und ab-
gesehen von den Richtungsverhältnissen bilden sie sich auch
unter abnormen Verhältnissen von selber aus und weisen da-
durch auf das Vorhandensein einer ganz wunderbaren Eigen-
schaft der Blutgefässwandung hin. Die Letztere muss nämlich,
um zu ermöglichen, dass der Blutstrahl durch die in ihm ent-
haltenen Kräfte die geschilderten Verhältnisse überall von selber
gestaltet, die Eigenschaft haben, blos der kräftigen Blutspannung
Widerstand zu leisten, dagegen den feinsten Flüssigkeitsstössen
durch Anprall vollkommen nachzugeben.


[33]A. Leistungen derselben.

Wenn die Blutgefässwandung diese Eigenschaften hat, so
ergeben sich alle angeführten und auch die der Kürze halber
hier nicht erwähnten, aber gleichfalls in der oben genannten
Schrift beschriebenen Gestaltungen ganz von selber!


Andererseits hat aber auch die Blutgefässwandung an den
Stellen, wo es für den Organismus nöthig ist, die Fähigkeit,
selbst dem stärksten Flüssigkeitsstoss zu widerstehen, womit
das Wunderbare ihrer Eigenschaften noch bedeutend vermehrt
wird. Und doch erscheint es naturgemässer, diese drei Eigen-
schaften, welche für todte Substanz sich widersprechen würden,
der lebenden Wandung zuzuschreiben, als jede einzelne der
Millionen Verästelungsstellen durch formale Einzelgesetze ent-
stehen zu lassen, womit auch die Ausbildung der gleichen Ein-
richtungen in abnormen neuen Verhältnissen, nach Unterbindung
von Arterien etc., keine Erklärung fände. Aus diesem letzteren
Verhalten folgt wieder, wie bei den vorher besprochenen Bildungen,
dass die bezüglichen Gestaltungen nicht durch Einzelvariation
und Auslese entstanden und gezüchtet worden sein können;
ganz abgesehen davon, dass diese Züchtung wiederum auch gar
nicht möglich gewesen wäre, da das zufällige Vorkommen einiger
derartiger Variationen im Kampfe um’s Dasein absolut nichts
genützt haben würde, und ausserdem ein zufälliges Vorkommen
solcher Formen bei der Feinheit derselben, gegen welche die
Architectur der Knochenspongiosa balkengrob ist, durchaus in
das Bereich der Unwahrscheinlichkeit gehört, denn die Charaktere
am Astursprungskegel sind so feine, dass sie beim Abzeichnen
durch eine Abweichung von nur Strichbreite oft ganz verloren
gehen.


So weisen auch diese Gestaltungen wieder auf
das Vorhandensein von Qualitäten im Organismus
hin, welche auf die Einwirkung functioneller Reize
das Zweckmässige in höchster denkbarer Vollkom-

Roux, Kampf der Theile. 3
[34]I. Die functionelle Anpassung.
menheit direct hervorzubringen, direct auszuge-
stalten vermögen
.


Aber woher sind diese wunderbaren Eigenschaf-
ten? E. Du Bois-Reymond
hat sich schon vor Jahren
diese Frage gestellt, denn er sagt1): »Auch die Fähigkeit der
Organismen, durch Uebung sich zu vervollkommnen, scheint
mir mit Rücksicht auf die natürliche Zuchtwahl noch nicht
hinreichend Beachtung gefunden zu haben.«


Führt diese Fähigkeit nicht die Teleologie und
damit den glücklich durch Darwin beseitigten Dua-
lismus wieder ein
? Die Antwort auf diese Fragen werden
die nächsten Kapitel zu geben versuchen.


B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.


1. Thatsächliches.


Die individuelle Wirkungsgrösse der functionellen Anpas-
sung, die Anpassungsbreite, ist bekanntlich eine beschränkte.
Jedes Individuum kann sich durch eigenen Fleiss blos bis zu
einer gewissen Stufe erheben, betreffe es nun die Erwerbung
körperlicher Geschicklichkeiten oder geistige Vervollkommnung.
Diese für das Individuum sehr vortheilhaften Veränderungen
würden aber für die Entwicklung und Vervollkommnung des
ganzen Thierreiches durchaus nutzlos gewesen sein, wenn sie
nicht vererbbar, auf die Nachkommen übertragbar wären und
wenn sie nicht letztere damit von vornherein auf eine höhere
Stufe zu stellen vermöchten, von welcher sie wiederum weiter
schreitend mit Hülfe der individuellen Anpassung sich zu noch
höherer Vollkommenheit emporarbeiten könnten.


Von dem Grade der Vererbung dieser erworbenen, zweck-
mässigen Eigenschaften würde die Geschwindigkeit des auf
[35]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
diese Weise möglichen Fortschrittes abhängig sein. Wenn z. B.
die erworbenen Eigenschaften sich ganz auf die Nachkommen
übertrügen, so würde der Fortschritt ein ungemein rascher sein
können. Die Erfahrung weist aber im Gegentheil durch die
Langsamkeit des Fortschrittes darauf hin, dass nur ein geringer
Bruchtheil der Grösse der erworbenen Eigenschaften vererbt
wird. Ja es scheint, als wenn überhaupt erst Generationen
hindurch andauernde Wirkung der functionellen Anpassung nach
einer Richtung hin nöthig sei, um die Eigenschaften so zu be-
festigen, dass sie sich auf die Nachkommen durch Vererbung
übertragen.


Bei der Feststellung der Vererbung erworbener Eigen-
schaften handelt es sich immer um die Entscheidung zwischen
zwei Möglichkeiten, welche fast nie sicher zu treffen ist; und
von diesen Möglichkeiten scheint fast immer die zuletzt anzu-
führende, für die Entwicklung ungünstige, die wahrscheinlichere.
Es handelt sich darum, zu entscheiden, ob in der That die
vererbte günstige Eigenschaft vom Vater vollkommen neu er-
worben und dann vererbt worden ist, oder ob sie in ihm nicht
schon durch embryonale Variation potentia aufgetreten und im
späteren Leben von ihm eigentlich blos entwickelt worden ist.


Dass aber im Embryo auftretende neue Variationen sehr
häufig und in hohem Grade vererbt werden, ist sicher festge-
stellt und kann von Niemandem mehr bezweifelt werden, wenn-
gleich auch Fälle vorkommen, in denen embryonale Variatio-
nen, wie z. B. der halbseitige, stets angeborene Riesenwuchs1)
und viele Geschwülste, deren Keime angeboren werden, sich
nicht vererben.


Auf diesen Einwand kann man sich stützen zur Erklärung
der hochgradigen, von Generation zu Generation sich steigern-
3*
[36]I. Die functionelle Anpassung.
den gewerblichen Fertigkeiten, welche man in Gegenden beob-
achtet, wo fast die ganze Bevölkerung viele Generationen hin-
durch denselben Industriezweig gepflegt hat. Man kann auch in
diesen Fällen immer den nicht unberechtigten Einwand machen,
es seien diejenigen von den Geschwistern zur Fortsetzung des
väterlichen Gewerbes herangebildet worden, welche von Jugend
auf besonderes Geschick dazu verriethen, welches ihnen also
durch zufällige embryonale Variation angeboren sei. Durch
diese Generationen hindurch fortgesetzte Auslese sei die Stei-
gerung der Leistungsfähigkeit nach dieser Richtung hin be-
dingt, abgesehen von der, durch frühzeitige jugendliche Be-
schäftigung hervorgerufenen Vergrösserung der individuellen
Anpassungsbreite.


Die meisten Autoren haben sich begnügt, über die Erb-
lichkeit functioneller Anpassungen subjective Meinungen zu
äussern; thatsächliches Material haben nur wenige geliefert.


Zunächst weist Darwin auf die wichtige Thatsache der
Vererbung der Instincte hin. Wenngleich viele Instincte durch
embryonale Variationen entstanden gedacht werden können,
wie z. B. die Geruchsinstincte, so giebt es doch auch welche,
die nur durch eigene Beobachtung und Erfahrung, also durch
functionelle Anpassung, erworben werden konnten. So führt
Darwin an die Erwerbung der Furcht der Thiere vor dem
Menschen. Wenn Menschen zum ersten Male auf bisher unbe-
wohnte Inseln kommen, so haben die Thiere oft keine Furcht
vor ihnen; aber schon nach mehreren Generationen ist ihnen
die Menschenfurcht angeborener Instinct. Fernerhin führt Ex-
ner
an1): »Nicht nur das Gedächtniss als die Fähigkeit, Ge-
dächtnissbilder längere oder kürzere Zeit festzuhalten, ist ver-
erblich, sondern auch der Inhalt des Gedächtnisses, die Ge-
[37]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
dächtnissbilder selbst. Es kommt vor, dass junge Jagdhunde,
die niemals auf der Jagd waren, noch sonst Gelegenheit hat-
ten, je einen Flintenschuss und seine Wirkung kennen zu
lernen, wenn sie auf dem Felde den ersten Schuss gewahren,
mit voller Lust, wie ein alter Jagdhund, auf die Beute stür-
zen, um zu apportiren, auch wenn sie keine fallen sehen. Es
ist das ein Beweis, dass seit der Erfindung des Schiesspulvers
das Gedächtnissbild eines Schusses und seiner Folgen in das
Hundegehirn erblich übergegangen ist, also in den sogenannten
Instinct erblich aufgenommen wurde.«


Weitere Beispiele der Erwerbung und Vererbung des In-
stinctes finden sich bei E. Hering1), von Hensen2), L.
Büchner3), Karl Schneider4), A. E. Bown5) und An-
deren.


Der Umstand, dass dagegen beim Menschen die Vererb-
lichkeit concreten Seeleninhaltes so gering ist, ist auffallend,
muss aber als eine im Kampfe um’s Dasein besonders erwor-
bene und gezüchtete sehr günstige Eigenschaft betrachtet wer-
den, da sie, wie bekannt, die Ursache unseres Hauptvorzuges
vor den Thieren, unserer Universalität ist; denn wenn wir in
gleicher Weise, wie die Thiere, die Kenntnisse unserer Vorfah-
ren ererbten, so würde dadurch die Freiheit der individuellen
Ausbildung auch in der gleichen Weise, wie bei den Thieren,
beschränkt werden.


Es scheint übrigens denkbar, dass diese Eigenschaft blos
von einer geringeren angeborenen Disposition zur Vererbung des
Seeleninhaltes ihren Ausgangspunkt genommen hat und dann
[38]I. Die functionelle Anpassung.
durch den grossen Wechsel der Lebensweise der Menschen wei-
ter ausgebildet worden ist, da zur Erwerbung von Instincten
viele Generationen hindurch in der gleichen Weise sich wieder-
holende Eindrücke, verbunden mit einer gewissen Einfachheit
und Beschränktheit des ganzen Seeleninhaltes, nöthig sind.


Ein Beispiel der Vererbung von Eigenschaften, deren er-
worbener, nicht durch Auslese gezüchteter Charakter sich aus
der Unzweckmässigkeit desselben ergiebt, führt Overzier1)
an, indem er die erbliche Uebertragung der krummen Bäcker-
beine feststellt.


Ich habe mich bestrebt, die Zahl dieser sicheren Beispiele
zu vermehren, und es erhellt, dass als zweifellose Vererbung
functioneller Anpassung blos die Ausbildung derartiger Quali-
täten angesehen werden kann, welche entweder nicht als durch
zufällige embryonale Variation entstanden oder nicht als durch
Auslese gezüchtet angenommen werden können.


Nicht durch embryonale Variation kann meiner Meinung
nach die angeborene Disposition zur Muttersprache entstanden
sein. Es werden uns die Coordinationen, die Anordnungen und
Verbindungen der Ganglienzellen, welche die Sprachmuskeln
innerviren, schon so weit angeboren, dass wir unsere Mutter-
sprache am leichtesten sprechen lernen, während z. B. Euro-
päer, auch wenn sie schon als Kind unter die Nama gebracht
werden, deren Sprache nicht oder nur mit grösster Schwierig-
keit so vollkommen erlernen, als diese selber.


Auch sind die coordinirten Augenbewegungen, welche beide
Augen in jeder Blickrichtung immer so stellen, dass die Bilder
jedes Gegenstandes immer auf identische Punkte beider Netz-
häute fallen und daher einfach gesehen werden, vererbt, da
sie nach den Untersuchungen von Raehlmann und Wit-
[39]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
kowsky1) in den ersten zehn Lebenstagen schon die vorherr-
schenden sind. Dies widerspricht nicht den Beobachtungen W.
Preyer’s2), dass dieselben nicht gleich angeboren, sondern erst
innerhalb dieser Zeit erworben werden; es beweist aber, dass
wenigstens ihre Disposition angeboren sein muss. So unendlich
complicirte Verbindungen der Muskelbewegungen können meiner
Meinung nach nicht durch zufällige embryonale Variationen
entstanden sein.


Wichtiger, d. h. beweisender als diese beiden Beispiele,
erscheint mir die folgende Betrachtung.


Es handelt sich, wie erwähnt, in der vorliegenden Frage
immer um die Unterscheidung dessen, was durch zufällige em-
bryonale Variationen und Auslese nach Darwin’s Selections-
princip entstanden ist, von dem durch functionelle Selbstgestal-
tung Gebildeten und danach Vererbten. Die Wirkungen des
ersteren Princips erscheinen unbegrenzt; wir können fast keine
noch so grossen Veränderungen nachweisen, von welchen mit
absoluter Sicherheit behauptet werden könnte, dass sie prin-
cipiell nicht durch genügend wiederholte embryonale Variationen
und Auslese hätten entstehen können, sofern die letztere fein
genug wirkte und die nöthige Zeit dazu gegeben wäre. Trotz-
dem giebt es Eine Art Vorkommniss in der Entwicklung des
Thierreiches, von welchem wir mit Bestimmtheit das Gegentheil
behaupten können. Es giebt nämlich einen Punkt in der
Entwicklungsgeschichte des Thierreiches, von wel-
chem wir mit Bestimmtheit behaupten können, dass
die Vervollkommnung keine successive in den ein-
zelnen Theilen war, sondern in fast allen Organen
des Körpers eine gleichzeitige gewesen sein muss,

[40]I. Die functionelle Anpassung.
weil günstige Variationen blos einzelner Theile auf ein-
mal
das Ueberschreiten dieser Periode nicht ermöglicht hätten.
Es ist eine Periode, in der mit Sicherheit die gleichzeitige
Ausbildung von Tausend, ja Million zweckmässigen Einzeleigen-
schaften hat stattfinden müssen. Solches kann die Auslese aus
freien, nicht auf das Zweckmässige tendirenden Variationen
nicht leisten. Sie kann immer blos wenige Charaktere auf einmal
züchten. Welches ist nun der Moment, von welchem wir diese
Nothwendigkeit behaupten können? in welchem Falle kann der
Uebergang kein allmählicher, kein in den verschiedenen Orga-
nen successiver gewesen sein? Es ist in der Periode des Ueber-
ganges vom Wasser- zum Land- oder richtiger zum Luftleben.
Wir sind gewohnt, diesen Uebergang alljährlich bei den jungen
Amphibien als etwas ganz Selbstverständliches zu betrachten;
doch hier finden die Veränderungen des Thieres in allen seinen
Theilen, wie alle anderen embryonalen Umbildungen zufolge
bestimmter vererbter Bildungsgesetze statt, und die Umwand-
lung einer Kaulquappe in einen Frosch ist insofern nichts Be-
sonderes. Aber wie sind diese Umbildungsgesetze erworben
worden? Wodurch sind diese Eigenschaften zum ersten Male
entstanden, als sie, Tausend oder Million, alle auf einmal
nöthig wurden? Vielleicht sind ihrer gar nicht so viele und
vielleicht ist doch eine allmähliche Umbildung bei dieser An-
passung möglich gewesen. Gewiss! Graduell ist die Anpassung
eine allmähliche gewesen. Die Thiere werden zuerst einen nur
kurzen Aufenthalt auf dem Lande genommen haben und bald
wieder in das Wasser zurückgekehrt sein. Aber was ist nöthig,
wenn ein Wasserthier auch nur kurze Zeit auf dem Lande
leben soll?


Betrachten wir diesen Vorgang blos bei den Wirbelthieren
und geben wir den Thieren schon als durch früheres Luftschnap-
pen unter Beihülfe von Auslese erworben neben den Kiemen
[41]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
noch eine zur Lunge umgewandelte, d. h. gefässreiche Schwimm-
blase im Voraus mit für seinen Versuch, auf das Land über-
zugehen, und sehen wir zu, wie dieser Versuch auf den Körper
wirken wird, und was zum Gelingen desselben nöthig ist.


Sobald das Thier auf das Land aus dem Wasser heraus-
kommt, müsste es zunächst das schrecklichste Unbehagen em-
pfinden, denn es werden mit einem Male sein Körper und seine
Glieder vielmal schwerer, als vorher, da sie im Wasser blos
so viel, oder subjectiver gesprochen, so wenig wogen, als sie
schwerer sind, als das verdrängte Wasser. Wie unangenehm
ist es z. B. uns schon, wenn wir längere Zeit im Wasser ge-
schwommen haben und, an das Land steigend, plötzlich unsern
Körper wieder selber tragen müssen. Dieser geringe Grad von
Unannehmlichkeit, den wir, an das Tragen unserer Gliedmassen
unser Leben lang gewöhnt, bei diesem Uebergange empfinden,
ist aber gar nicht zu vergleichen mit dem Eindruck, den ein
Thier haben muss, welches seine Körpertheile nie selber ge-
tragen hat.


Ferner müssen die Thiere sich sofort ganz anders bewegen,
in anderen Coordinationen ihre Muskeln gebrauchen; sie können
eine Menge Bewegungen, die sie im Wasser, der Schwere fast
nicht unterworfen, auszuführen gewohnt waren, nicht machen,
sondern müssen ganz energisch fast alle Muskeln des Körpers
in bestimmter, durch die Statik vorgeschriebener Weise ge-
brauchen. Ferner die Knochen, welche bisher fast blos der
Muskelwirkung Widerstand zu leisten hatten, müssen jetzt auf
einmal nach den statischen Verhältnissen tragen, und zwar so
stark, dass das Tragen des Körpers im Wasser, beim Laufen
auf dem Grunde, kaum als Vorübung dazu in Betracht kom-
men kann. Das Gleiche gilt von den Gelenkeinrichtungen, den
Knorpeln und Bändern; sie werden alle plötzlich viel stärker
[42]I. Die functionelle Anpassung.
in Anspruch genommen, und die letzteren in neuen Haupt-
richtungen.


Die Blutvertheilung im Körper wird sofort eine ganz andere:
Das Blut, welches bisher der Wirkung der Schwere ganz ent-
zogen war, wird sich jetzt in die der Erde näher befindlichen
Theile des Körpers senken, indem es aus Hirn und Rückenmark
heruntersinkt. Es wird eine lähmende Anämie des Centralnerven-
systems eintreten, oder die den Blutzufluss zu den verschiedenen
Organen regulirenden Mechanismen müssen sofort nach ganz
neuen Regeln das Blut vertheilen, wenn nicht totale Störung der
Functionen aller Organe eintreten soll.


Sauerstoffmangel wird eintreten; denn die Lungen sollen
jetzt auf einmal den ganzen Bedarf für eine grössere Dauer
allein beschaffen.


Durch das Trockenwerden der Haut, der Kiemen und der
Seitenorgane werden abnorme Sensationen entstehen. Der ge-
wohnte, sichere Verkehr mit der Aussenwelt wird aufgehoben,
denn die Sinnesorgane treten für das Thier ausser Function, da
sie alle ganz neue, nicht durch Erfahrung verständlich gewor-
dene Eindrücke empfangen.


Das Gehörorgan wird, an die stärkere Leitung durch das
Wasser mit Uebertragung der Eindrücke durch den ganzen
Schädel gewöhnt, fast gar nicht angesprochen werden. Das
Auge wird seine Function als Bild bildender Apparat verloren
haben.


Ob bei diesen kaltblütigen Thieren der Wärmeverlust durch
Wasserverdunstung einen Nachtheil haben wird, muss dahin-
gestellt bleiben.


Diese Uebelstände werden zum Theil mit der Dauer des
Aufenthaltes auf dem Lande wachsen, und der Aufenthalt
daher zunächst nur ein sehr kurzer sein und sie werden auch
bei blos partiellem aus dem Wasser Kommen sich an den
[43]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
herausragenden Theilen einstellen. Was aber das Wichtigste
ist, sie werden immer alle zugleich eintreten, und wenn das
Thier trotzdem auf das Land gehen kann, so muss auch die
Correction in den meisten zugleich eintreten können.


Was bedeutet aber eine derartige Correction in allen Organen
des Körpers mit Ausnahme derer der Ernährung und Fort-
pflanzung? Sie bedeutet das Vorhandensein höchst vollkommener
functioneller Anpassungsmechanismen in fast allen Theilen des
Körpers, welche im Stande sind, beim Uebergange des Orga-
nismus in neue Verhältnisse direct die nöthigen zweckmässigen
Aenderungen hervorzubringen. Sie sind ein nöthiges Erforder-
niss, eine unerlässliche Vorbedingung der auch nur zeitweiligen
Vertauschung des Wasserlebens mit dem Luftleben, und sie
werden sich um so gebieterischer nöthig machen, je länger der
Landaufenthalt dauert.


Wir kennen solche Selbstregulationsmechanismen von den
höheren Thieren und schliessen daraus zurück, dass sie viel-
leicht auch die niederen hier in Betracht kommenden besitzen.
Wir kennen unsere Fähigkeit, ganz fremde Bewegungsweisen
uns anzueignen und durch Uebung zur leicht ausführbaren ge-
wohnten zu machen, alle die motorischen Centralorgane in
Gehirn und Rückenmark entsprechend umzubilden. Wir wissen,
dass die Knochen und Bänder mit der stärkeren Inanspruch-
nahme ihrer Function stärker werden an den betreffenden Stellen.
Von der möglichen Exactheit der Regulation der Blutvertheilung
überzeugen wir uns täglich, wenn wir uns am Morgen vom
Lager aufrichten, ohne, bei normalem Zustand des Körpers,
auch nur einen Moment Blutarmuth des Gehirnes zu bemerken.
Die Athmung regulirt sich bei pathologischen Störungen gleich-
falls sehr erheblich von selber, und für den Proteus ist von
Schreiber1) beobachtet worden, dass beim Leben in seichtem
[44]I. Die functionelle Anpassung.
Wasser die Lungen grösser und gefässreicher werden, während
die Kiemen sich entsprechend verkleinern.


Ueber den Grad der directen Anpassungsfähigkeit der Sinnes-
organe können wir uns von den höheren Thieren keinen Schluss
auf die hier nöthigen Verhältnisse gestatten. Da indessen zu
dieser Zeit noch keine Feinde am Ufer vorhanden waren, so
war vielleicht die Verminderung der Function dieser Organe
zunächst von geringerem Nachtheil.


Es ist hier also nöthig, dass auf einmal in fast allen Organen
gleichzeitig zweckmässige Aenderungen eintreten. Es ist die
Frage, ob die functionelle Anpassung dies zu leisten vermag,
oder ob dies ihrem Wesen widerspricht. Wir werden weiter unten
ausführlich darlegen, dass dies gerade ihr Wesen ist, ebenso
wie sie an Millionen Einzelstellen desselben Organsystemes
oder Organes gleichzeitig zweckmässig umgestaltend zu wirken
vermag.


Es muss gerade hervorgehoben werden, dass die functio-
nelle Anpassung bei der Aenderung der Lebens-
bedingungen in allen betroffenen Organen des
Körpers zugleich zweckmässige Aenderungen her-
vorzubringen vermag; und diese Gleichzeitigkeit
der Wirkung in Millionen Theilen muss als ihr
Charakteristisches der Wirkung der Zuchtwahl
gegenüber gestellt werden, welche immer blos
ganz wenige zweckmässige Eigenschaften gleich-
zeitig ausbilden kann
.


Danach können wir in der Untersuchung der Erblichkeit
der Wirkungen der functionellen Anpassung weiter gehen.


Nehmen wir zunächst an, die Wirkung der functionellen
Anpassung sei nicht erblich. In diesem Falle wird jede Gene-
ration, welche den Versuch macht, am Ufer ausserhalb des
Wassers Nahrung oder Schutz vor Feinden zu suchen, von
[45]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
dem gleichen Stadium anfangen müssen und daher in der An-
passung an das Landleben auch nie eine gewisse Stufe der
Vollkommenheit überschreiten können, denn die Uebung hat
für das Individuum ihre bestimmten Grenzen. Es werden aber
im Laufe der Generationen allmählich zufällig angeborene
günstige Variationen vorkommen und vielleicht ihren Trägern
einen Vortheil verschaffen. Dabei ist indessen zu berücksich-
tigen, dass dieser nur sehr gering sein kann, da die günstigeren
Eigenschaften blos in einigen Theilen bestehen, während
doch die gleichzeitige entsprechende Aenderung aller nöthig
ist; ja es ist möglich, dass er aus diesem Grunde vielleicht
gar nicht zur Geltung kommt. Nehmen wir aber an, er komme
zur Geltung; so würde dieses Thier in der Anpassung etwas
weiter schreiten, und indem sich dieses wiederholt, könnte
allmählich durch Variation und Auslese vollkommene Anpassung
stattfinden, und die functionelle Anpassung hätte dabei blos die
Rolle gespielt, die Uebergangszeit zu ermöglichen.


Sehen wir nun aber zu, wie die zufällig angeborenen und
daher erblichen Eigenschaften, welche durch natürliche Zucht-
wahl gehäuft worden wären, eigentlich beschaffen sein müssten,
so finden wir, dass sie auf allen Stufen des Ueberganges immer
genau das darstellen müssten, was die functionelle Anpassung
bereits gebildet hat, was aber in Folge der ihrer Wirkung
mangelnden Erblichkeit nicht auf die Nachkommen übertragbar
gewesen wäre. Also alle diese Millionen Veränderungen, welche
das Individuum durch functionelle Anpassung in einer gewissen
Stärke gleich auf einmal erwirbt, müssten nach und nach auf
dem unendlich weiten Umwege der beliebigen Variation und
der Auslese von neuem erworben und fixirt worden sein. Und
dies müsste nicht blos für jeden Theil einmal stattgefunden,
sondern für jeden Theil Stufe für Stufe bis zum Grade der
vollkommenen Anpassung sich wiederholt haben. Dass wir aber
[46]I. Die functionelle Anpassung.
nicht zu viel gesagt haben, als wir von Millionen Einzeleigen-
schaften redeten, geht daraus hervor, dass die Elementartheile
fast aller Organe des Körpers mehr oder weniger umgeändert
werden müssen; wir hätten daher wohl richtiger von Milliarden
reden können.


Es müsste nicht blos hier, sondern es müsste überall bei
der weiteren Entwickelung der Organe dasjenige, was die
functionelle Anpassung in tausend Theilen des Organismus gleich-
zeitig Zweckmässiges geschaffen hätte, dann erst durch Tausende
von Generationen dauernde zufällige Variationen und Auslese
immer wieder von Neuem, aber in vererbbarer Form, erworben
worden sein und erworben werden, wenn die Wirkung der
functionellen Anpassung absolut nicht vererblich wäre. Ueber-
tragen sich dagegen ihre Bildungen, sobald sie mehrere Gene-
rationen hindurch erworben und erhalten worden sind, auf die
Nachkommen, so findet damit eine grosse Zahl der Zweckmässig-
keiten des thierischen Organismus ihre Erklärung, sofern nur
die functionelle Anpassung selber erklärt ist, und es ist ver-
ständlich, dass bei den Menschen diese Vererbung sehr gering
ist, weil fast jede Generation eine andere Lebensweise und
Beschäftigung hat und die ungemeine Vielseitigkeit der Thätig-
keit des Individuums mit der Ausbildung fester Mechanismen
auch ihre Vererbung erschwert. Deshalb finden wir bei ihnen
blos diejenigen functionellen Anpassungen vererbt, welche trotz
des sonstigen allgemeinen Wechsels constant sind: die Coordi-
nationen der Muttersprache, die coordinirten Augenbewegungen
und die allgemeinsten Begriffe von Raum, Zeit, Causalität.


Die Sprach- und Augenmuskel-Coordinationen müssen, wenn
sie irgend etwas nützen sollen, immer gleich in so viel tausend
Ganglienzellen-Verbindungen stattfinden, dass eine Entstehung
durch zufällige embryonale Variation und Summirung derselben
durch Auslese nicht möglich ist, und wenn also eine Disposition
[47]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
für diese Ausbildung als angeboren angenommen werden muss,
so kann sie nur von Vererbung erworbener, functioneller An-
passung herrühren.


2. Theoretisches über Vererbung und
Entwickelung
.


Nach diesem Thatsächlichen über die Vererbung wollen
wir noch einiges Principielle, Theoretische darüber
anführen.


Zunächst ist auf einen Irrthum hinzuweisen, welcher bei
der Beurtheilung der Erblichkeit von Bildungen oft gemacht
wird. Viele betrachten diejenigen und zwar nur diejenigen
Bildungen als ererbte, welche regelmässig angeboren
werden. Diese Auffassung aber muss nach beiden Richtungen
hin als unrichtig bezeichnet werden. Weder sind alle regel-
mässig angeborenen Bildungen als direct vererbt anzusehen, noch
dürfen alle Bildungen, welche nach der Geburt auftreten, als
nicht vererbte, sondern erworbene gedeutet werden.


Wenn Ersteres richtig wäre, wenn alle angeborenen Bil-
dungen vererbt wären, so würden wir in dem obigen angeführten
Beispiele der angeborenen functionellen Structur der Binde-
gewebshäute und der Arterien einen der besten Beweise für
die Erblichkeit der durch functionelle Anpassung hervorge-
brachten Bildungen haben, und man würde wohl auf die erste
Ueberlegung hin geneigt sein, sie so zu verwenden. Leider
wäre dies incorrect; denn dieser Schluss beruhte alsdann auf
einer nicht richtigen, oberflächlichen Auffassung des Vererbten.


Der Moment der Geburt kann durchaus nicht als eine Grenz-
scheide von Ererbtem und Erworbenem betrachtet werden. Denn
einmal tritt in Wahrheit ein principiell neuer Zustand durch
die Geburt blos für die Athmungs- und Verdauungsorgane ein;
alle anderen Organe wurden schon in der Gebärmutter von
[48]I. Die functionelle Anpassung.
functionellen Reizen getroffen und fungirten somit mehr oder
weniger.


Die Bewegungen des Embryo im Mutterleibe sind allen
bekannt; aber dass solche embryonalen Bewegungen schon in
den allerfrühesten Stadien und in andauerndster Weise vor-
kommen, verdanken wir erst den neuesten Untersuchungen von
Preyer1), den Resultaten seiner an Hühnereiern angestellten
Embryoscopie. Er sah, dass der Hühnchenembryo schon vom
dritten Brüttage an den Rumpf und die Extremitäten lebhaft
rhythmisch bewegte.


Daher stehen schon vom Anfang ihrer Bildung an die be-
treffenden Muskeln mit ihren Sehnen, Aponeurosen und Fascien,
sowie die Skelettheile mit ihren Gelenkenden, mit Kapseln und
Bändern unter dem gestaltenden Einflusse dieser Function und
wir sind aus diesem Grunde nicht berechtigt, die betreffenden
angeborenen Bildungen rein als vererbte anzusehen. Wir sind
nicht im Stande, zu beurtheilen, wie viel vererbt, wie viel durch
functionelle Anpassung erworben ist, weil wir die embryonale
functionelle Anpassungsgrösse und -Geschwindigkeit nicht kennen
und weil wir noch nicht die primär vererbten von den secundären
Bildungen zu unterscheiden vermögen. Aus dem Nachstehenden
wird sich ergeben, dass nur relativ wenige primäre Charaktere
vererbt zu werden brauchen, vorzugsweise vielleicht diejenigen,
die auch ursprünglich durch embryonale Variation entstanden
waren und dann mit Hilfe der dadurch bestimmten Richtung der
functionellen Anpassung die specifischen Einzelformen hervor-
gebracht haben.


Noch weniger als für die Muskeln, Skelettheile, Bänder
und Fascien kann die innere Structur und die äussere Form der
angeborenen Blutgefässe als vererbt aufgefasst werden; denn
die Blutgefässe fungiren fortwährend im Embryo von ihrer ersten
[49]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
Anlage an, und die erwähnte Structur ihrer Wandungen und
die Gestalt ihrer Lichtung wird also in der gleichen Weise durch
functionelle Anpassung entstehen können, wie im Erwachsenen
die berufsmässige ungleiche Ausbildung der Organe.


Die Sinnesorgane werden mehr oder weniger von Reizen
getroffen und letztere können ausgestaltend bei der Bildung der
percipirenden Theile derselben mitwirken, wenn auch wohl diese
Wirkung zumeist nur gering sein wird.


Das Gleiche wie für die Säugethiere gilt von der Ent-
wicklung der Vögel; auch hier ist ein fester Zeitpunkt vor-
handen, wo eine augenfällige, der nicht eingehenden Betrach-
tung als wesentlich genug imponirende Wandlung der Lebens-
bedingungen eintritt, um ihn als die Grenzscheide des Ererbten
und des Erworbenen anzusehen: der Moment des Auskriechens
aus dem Ei. Ist schon diese Auffassung nach dem Obigen
durchaus unberechtigt; wo aber liegt nun die entsprechende
Grenzscheide bei Amphibien und Fischen, welche von vorn
herein fast wie im Freien leben und durch ihre Eihülle nur
relativ wenig vor den Reizen der Aussenwelt geschützt sind?
Wer will hier wagen, einen Moment festzusetzen, wo die ver-
erbten Bildungen aufhören und das Erwerben von Eigenschaften
durch functionelle Anpassung des Embryo anfängt! In wie
relativ frühem Stadium der Entwickelung sind hier die Thiere
schon auf Selbsternährung angewiesen! Will man hier vielleicht
als Grenzscheide des Vererbten und des Erworbenen den Moment
nehmen, von welchem an das Thier blos noch dem Aehnlich-
keitswachsthum folgt, blos noch in allen Theilen gleichmässig
sich vergrössert? Dann müsste man aber analog das Menschen-
leben fast bis zum Ausgewachsensein als Embryonales oder
Vererbtes bezeichnen, denn bekanntlich findet wirkliches Aehn-
lichkeitswachsthum überhaupt nicht statt, sondern in jeder Ent-
wickelungsperiode wachsen die verschiedenen Organe ungleich.
Roux, Kampf der Theile. 4
[50]I. Die functionelle Anpassung.
Bezüglich der äusseren Proportionen lehrt uns die Anatomie für
Künstler, dass jedes Alter durch gewisse Proportionen seiner
Körpertheile charakterisirt ist, und die Wägungen der inneren
Organe in den verschiedenen Altern ergeben das Gleiche. Ein-
gehende morphologische Untersuchungen bestätigen dies in allen
Organen1).


Wo hört nun das vererbte Wachsthum auf? Alle diese un-
gleichen Veränderungen der Organe in den verschiedenen Ent-
wicklungsperioden bis zum Ausgewachsensein sind, soweit sie
innerhalb des fest Normirten sich halten, offenbar vererbt.


Es lässt sich hier nichts entscheiden, so lange wir nicht
klar darüber sind, was überhaupt unter vererbten Bildungen
zu verstehen ist. Jedenfalls ist es willkürlich, die Entstehung
der vererbten Bildungen in den embryonalen Zeitraum zu bannen
und alle postembryonalen Bildungen als erworben zu bezeichnen.
Embryonal, von ἔμβρυος, das (in einen andern Körper) Ein-
geschlossene, bezeichnet blos einen einzigen Umstand des Ge-
schehens, den eines gewissen Abgeschlossenseins, und gewiss
kann alles, was in dieser Zeit sich vollzieht, embryonal genanut
werden. Aber einmal ist, wie erwähnt, dieses Abgeschlossensein
von der Aussenwelt von äusseren Einwirkungen ein sehr un-
vollkommenes, und zweitens fällt, wie wir gezeigt haben, diese
Periode keineswegs mit der Ausbildung des Vererbten zusammen.
Wenn wir aber die Bezeichnung »embryonal«, um der Gewohn-
heit zu folgen, identisch mit »vererbt« gebrauchen wollen, nach
dem Principe a potiori fit denominatio, weil die in der embryo-
nalen Zeit ablaufenden Bildungen zumeist vererbte sind, so
dürfen wir uns nicht scheuen, auch die Entwickelung des Jüng-
lingsalters zum grossen Theil noch als embryonale zu benennen.


Unter »vererbt« versteht man im gewöhnlichen Sinne Bil-
[51]B. Erblichkeit der Wirkungen den functionellen Anpassung.
dungen, welche schon die Vorfahren eines Individuums besassen
und ohne Weiteres auf die Nachkommen übertragen haben, wie
ein durch Arbeit erworbenes Vermögen des Vaters durch Ver-
erbung einfach auf die Kinder übergeht, ohne dass diese wieder
etwas von der Arbeit der Vorfahren zu leisten haben, um es
zu gewinnen. Diese Bedeutung scheint mir das Wesen zu
treffen und geeignet zu sein, auf das biologische Geschehen
übertragen zu werden. Von den Eltern werden die neuen Eigen-
schaften durch Thätigkeit, durch Anpassung an functionelle und
andere Reize erworben und bilden den biologischen Vermögens-
zuwachs zu dem ihnen selbst durch Vererbung Ueberkommenen,
welchen sie als ihren Erwerb den Nachkommen überlassen.
Ererbt sind also nun diejenigen Bildungen, welche auf die
Kinder von selber übertragen werden, ohne functionelle Thätig-
keit, ohne Mitwirkung gestaltender Reize.


Da aber, wie erwähnt, viele Muskeln im Embryo fungiren,
so werden die davon abhängigen Theile, die Sehnen, die Skelet-
theile, Gelenkkapseln, Bänder und Fascien der Thätigkeit unter-
worfen und daher gezwungen, die abhängigen Eigenschaften
auszubilden; und wenn die Anlage der Muskeln durch patho-
logische Einwirkung gestört ward, so wird Niemand erwarten,
die Sehnen, Fascien, Knochen etc. in normaler Weise entwickelt
vorzufinden, was denn nach Alessandrini und E. H. Weber
auch dem thatsächlichen Verhalten entspricht. Diese1) fanden
an Missbildungen, dass beim Fehlen der Anlage des Rücken-
marks im entsprechenden Nervenbezirk mit den Nerven auch
die Muskeln fehlten und dass die zugehörigen Knochen und
Gelenke abnorm gebildet, letztere zum Theil steif waren. Sehnen
und Sehnenhäute fand Weber zwar vorhanden, aber ob sie
vollständig normal waren, berichtet er nicht, und es erscheint
4*
[52]I. Die functionelle Anpassung.
sehr unwahrscheinlich. War dagegen das Rückenmark ursprüng-
lich angelegt, aber im späteren Embryonalleben durch Krank-
heit zerstört (Spina bifida), so fanden sich die Theile des Be-
wegungsapparates anscheinend vollkommen normal, und es muss
danach weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, zu ent-
scheiden, wie weit active embryonale Function der Muskeln
oder blosser Tonus derselben zur normalen Ausbildung ihres
Stützapparates nöthig ist.


Ebenso fand G. Joessel1) beim Fehlen der Sehne des
langen Kopfes des Biceps auch den Sulcus intertubercularis,
in welchem sie verläuft, nur schwach ausgebildet und die
Synovialkapsel war nicht in diesen Sulcus ausgestülpt; eine
Angabe, welche ich aus eigner mehrfacher Beobachtung bestä-
tigen kann. Mit der Abhängigkeit der Ausbildung der passiv
fungirenden Theile von embryonaler Functionirung der activen
stimmen ferner überein die Resultate der Untersuchungen von
Heiberg2), welcher fand, dass die Gelenkkapseln des Neu-
geborenen noch stärker und straffer an den Beuge- und Streck-
seiten sind, als beim Erwachsenen, dass die accessorischen
Bänder schwächer sind oder noch ganz fehlen, und ferner hier
nicht weiter aufzuzählende Merkmale.


Aug. Förster3) beschreibt eine Orbita (Augenhöhle), in
welcher kein Auge war; aber sie war auch nicht normal, son-
dern enger, als die Orbita mit Auge.


Aus diesen Beispielen scheint hervorzugehen, dass die
Gebilde der Stützsubstanzen zwar selbständig angelegt, aber nur
unter Mitwirkung der von ihnen gestützten Theile, also unter
dem Einflusse der Function ihre normale Ausbildung erlangen.


Beispiele anderer, vielleicht aber auch functioneller, Ab-
[53]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
hängigkeit sind folgende: Wenn von einem Muskel im Embryo
ein Theil der Fasern aberrirt, so variiren in der entsprechenden
Weise zugleich auch die zugehörigen Nerven, Blutgefässe und
Sehnenfasern. Wenn man nach J. Carrière1) einer Schnecke
das Fühlerganglion zugleich mit dem Fühler und dem Auge weg-
schneidet, so wächst kein neues Auge wieder, während es
ausserdem in der vollkommensten Weise geschieht.


Aus dem Vorstehenden folgt also nicht, dass die passiv
fungirenden Theile, die Stütz-Substanzen, in absoluter Abhängig-
keit von den activen Theilen entstünden. Es scheint mir viel-
mehr nicht unmöglich, dass auch gelegentlich das Verhältniss
sich umkehren kann, dass z. B. eine ursprünglich durch embryo-
nale Variation erworbene und von der Auslese gezüchtete Ver-
änderung der Knochen, welche zu einer Aenderung des Ge-
brauches der Extremität und somit zu entsprechender Umgestal-
tung der Muskeln durch functionelle Anpassung Veranlassung
gegeben hat, auch im Embryo wiederum primär entstehen und
erst secundär zur Ausbildung der nöthigen Muskelformen führen
werde.


Das Gleiche gilt von den Blutgefässen. Auch sie müssen,
wie erwähnt, immer schon fungiren, und wenn das Organ, zu
welchem sie gehören, z. B. eine Niere, fehlt, so bleiben die
Blutgefässe nicht erhalten, bilden sich nicht etwa normal weiter
aus in der gleichen Weise, als wenn die Niere vorhanden wäre.
Sie sind abhängige Bildungen, welche durch functionelle An-
passung im Embryo ihre normale Grösse und Gestalt erhalten,
nicht aber zufolge fester Vererbungen selbständig sich entwickeln
und ausbilden. Es kann nicht als dagegen sprechend angesehen
werden, dass gelegentlich auch die Blutgefässe selbständig
wachsen und Geschwülste bilden wie die Teleangiome (rothe
[54]I. Die functionelle Anpassung.
Muttermäler) und cavernösen Angiome (venöse Blutgefässge-
schwülste). Denn wir kennen für diese Theile ebensowenig
einen sicheren Grund, wie für alle anderen, welcher sie zu
besonderem Wachsthum anzuregen vermag, als welcher dies zu
verhindern vermöchte, und zeigen doch gerade die nach dem
Erwähnten bei der Gestaltbildung abhängigen Theile, die Binde-
oder Stützsubstanzen, Knochen, Knorpel und Bindegewebe, am
häufigsten Geschwulstbildungen, während die activ thätigen
Ganglienzellen, Nerven und Muskeln nur selten dazu kommen,
wahrscheinlich weil sie, wie später erörtert werden wird, zu
rasch und zu vollkommen unter die Herrschaft der functionellen
Reize gelangen, so dass sie ohne diese letzteren nicht leben,
also auch nicht wachsen und Geschwülste bilden können.


Also nur diejenigen Bildungen, welche ohne Einwirkung
oder Mitwirkung, oder nur soweit sie ohne solche Einwirkung
gestaltender functioneller Reize im Embryo entstehen, sind als
direkt vererbte zu bezeichnen.


Wenn wir einer erwachsenen Schnecke die Augen ab-
schneiden, so wachsen sie wieder, auch wenn die Schnecke
im Dunkeln gehalten wird. Die Neubildung des Auges ist also
ein embryonales Geschehen, welches sich hier am Erwachsenen
vollzieht, denn der Akt des Abschneidens kann nicht als wirk-
liche Ursache der Bildung eines Auges angesehen werden, son-
dern blos als Gelegenheitsursache. Die Gestaltung des Auges
erfolgt ohne äussere Ursache zufolge innerer Eigenschaften der
Theile. Der Fühler hat also ausser seiner Qualification als
Träger noch die embryonalen Eigenschaften zur Bildung eines
Auges bewahrt. Die Zellen oder blos bestimmte Zellen dieser
Thiere enthalten vielleicht, sei es etwa in ihrem Kerne oder in
der Umgebung desselben, noch wirkliche, nicht modificirte Reste
embryonaler Substanz, welche dann bei Defecten Gelegenheit
erhält, ihre bildnerischen Eigenschaften zu bethätigen.


[55]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.

Wir werden nach dem Gesagten fernerhin blos das, was
rein aus inneren Ursachen ohne jede ausserhalb des
Theiles selber gelegene differenzirende Einwir-
kung formal oder chemisch sich differenzirt oder
auch nur grösser wird, als vererbt oder embryonal
bezeichnen
. Also was aus eigener Kraft wächst und sich
differenzirt, schon das, was aus eigener Kraft die Fähigkeit
hat, mehr Nahrung anzuziehen und sich zu assimiliren, als es
verbraucht, also aus eigener Kraft zu wachsen, ist embryonal im
Gegensatze zu der Vergrösserung der normalen Organe des Er-
wachsenen, welche letzteren, wie wir in späteren Kapiteln dar-
zulegen beabsichtigen, blos unter Einwirkung der functionellen
oder anderer Reize zu weiterem Wachsthum angeregt werden
können: eventuell auch, wie vielleicht die Bindesubstanzen,
schon wenn ihnen durch Reizeinwirkung nur mehr Blut zuge-
führt wird, sich zu vergrössern vermögen.


Die Consequenzen, die sich aus dieser Auffassung ergeben,
werden weiter unten ausführlich dargelegt und begründet werden.
Hier wollen wir rückwärts schreitend die Entwickelung des Ver-
erbten und dann das Wesen der Vererbung selber etwas discu-
tiren, so viel oder richtiger so wenig es uns mit den Kenntnissen
unserer Zeit förderlich erscheint.


Die Vorbedingungen der Entwickelung sind von den
wesentlichen Eigenschaften des Organischen der Stoffwechsel
und die Gestaltung aus chemischen Processen. Beide sind uns
unverständlich, am vollkommensten indessen das letztere Ge-
schehen.


Das Wesen des Stoffwechsels besteht darin, dass im Ver-
laufe der Processe, welche die Organismen darstellen, die den
Process vollziehenden Bestandtheile in ihrer chemischen An-
ordnung verändert werden, so dass sie zu weiterem Fortgange
des Processes untauglich sind und abgeschieden werden müssen,
[56]I. Die functionelle Anpassung.
während gleichzeitig die Fähigkeit entwickelt wird, dafür aus
der Umgebung im Bereich der Molecularattraction befindliche,
different gruppirte Theile anzuziehen und in sich Gleiches um-
zugruppiren. Letzterer Vorgang heisst Assimilation, ersterer
Dissimilation (Hering). Die Fähigkeit der Dissimilation
hat nichts Wunderbares, da sie in den anorganischen Processen
fortwährend uns entgegen tritt. Dagegen ist die Assimilation
weniger verständlich. Sie ist zu vergleichen der Ausbildung
der Recruten bei einem Regimente; immer werden neue Mann-
schaften durch die Unterofficiere eingeschult, »assimilirt«, und
dies geschieht in den Regimentern jeder Waffengattung in anderer
Weise. Und immer scheiden wieder alte oder getödtete aus dem
Verbande aus. Als Ganzes betrachtet, wechselt fortwährend
das Material, die Insubstantiirung und das Bleibende ist blos das
Regiment als Abstractum, vertreten durch seine Statuten. Ebenso
wie in einer Schule dem Regulativ gemäss im Laufe der Zeit
durch ganz verschiedene Directoren und Lehrer den Schülern
das Gleiche gelehrt wird; und immer ist dabei die Zahl der
Lehrer, der Assimilatoren, eine relativ geringe gegen die Zahl
der Schüler, der Assimilanden.


Bei der Entwickelung des Embryo ist es aber doch an-
ders. Hier kommt zur Assimilation ein neuer Factor hinzu. Sehr
wenige Lehrer, die Bestandtheile des befruchteten Eies, nehmen
viele neue Bestandtheile von aussen auf und assimiliren sie.
Aber das Neue, das Wunderbare ist nun, dass die Lehrer sich
dabei weiter verändern und die Schüler ebenfalls. Die Statuten
sind also keine festen, sondern für jede folgende Zeit andere
für Lehrer und Schüler. Ob nun den Statuten zuerst die Lehrer
folgen und diese blos immer die Schüler assimiliren oder ob die
Statuten auf Lehrer und Schüler zugleich fortbildend wirken,
wissen wir nicht. Es ist eine Wanderung wie durch Elementar-
schule, Volksschule, Gymnasium, Universität nach einander, aber
[57]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
mit der Besonderheit, dass die Schüler immer gleich zu Lehrern
werden, dann in der nächst höheren Schule als Schüler ein-
treten, daselbst assimilirt, lehren und zur nächst höheren Schule
als Schüler übergehen. Der Lehrer ist hier dem Schüler wohl
immer nur um ein weniges voraus. Im Ganzen dasselbe findet
bei unseren Schulen auch statt, aber das Räthsel in der Ent-
wicklung des Eies ist, wodurch und wie sich aus den ursprüng-
lichen Statuten der Elementarschule von selber nach einander
die der Volksschule, des Gymnasiums und der Universität ent-
wickeln. Ganz abgesehen von der Frage, wie die Einwirkung
der Statuten auf die Lehrer stattfindet, indem wir annehmen,
dass die Materie des Eies in ihrer chemischen Constitution bereits
die geschulten Lehrer der Elementarschule darstellt.


Es ist aber klar und selbstverständlich, dass es keine ein-
fachen Elementarlehrer sein können, wenn sie die Fähigkeit
haben, sich von selber zu Gymnasiallehrern weiter zu entwickeln
und ihre Schüler bereits in der nächsten Zeit ebenfalls zu Gymna-
siallehrern vorzubereiten und diese letzteren nun sich selber zu
Universitätslehrern ausbilden. Es wird von Anfang an wohl
der Elementarunterricht anders gelehrt werden, er wird schon
etwas von dem geläuterten Geiste des Gymnasiums an sich
tragen, etwa als wenn ein Gymnasiallehrer den Elementar-
unterricht giebt, und die Fähigkeit der weiteren Entwicklung
muss potentia schon vorhanden sein. Diese nothwendige Ver-
schiedenheit von vorn herein ist es, welche His und Andere
dem biogenetischen Grundgesetze von Fritz Müller
und Häckel mit Recht entgegenhalten. Unmöglich kann, wie
His hervorhebt, ein Ei, welches die chemischen Bestandtheile
zur späteren Entwickelung eines Menschen in sich trägt, in
irgend einem Stadium wirklich gleich sein einem Ei, welches
zur Entwicklung eines Vogels oder Amphibium fähig ist. Diese
nothwendige chemische Differenz kann nicht eine Zeit vollkommen
[58]I. Die functionelle Anpassung.
wirkungslos sein und sie wird nicht blos zu Abkürzungen der
Vererbung, sondern zu wirklichen Abweichungen führen müssen.
Da aus dem chemischen Geschehen sich erst das morphologische
ableitet, so werden auch diese chemischen Differenzen sich
morphologisch in früherer Zeit schon irgendwie, sei es für uns
erkennbar oder nicht erkennbar, geltend machen müssen, ganz
abgesehen von den allseitig anerkannten speciellen Anpassungen
an die Geschlechtsorgane der Mutter.


Das biogenetische Grundgesetz in der Fassung, dass die
embryonale Entwicklung eine, wenn auch in mancher Beziehung
abgekürzte Wiederholung der Stammesgeschichte der Vorfahren
sei, ist also principiell falsch, ebenso principiell falsch, wie auch
das Newton’sche Gravitationsgesetz, das Mariotte’sche Gesetz
wie das Fallgesetz in Wirklichkeit falsch sind. Ersteres wäre
blos richtig, wenn die Massen der gegen einander gravitirenden
Körper beiderseitig blos in einem Punkte vereinigt wären; das
zweite wäre blos richtig, wenn die Molekel selber keinen Raum
einnähmen, und wer hat drittens je einen geworfenen Stein
nach dem Fallgesetz fallen sehen, ihn je eine wirkliche Parabel
beschreiben sehen? Niemand! Und trotzdem wird es immer
in der Schule und mit Recht gelehrt werden. Die analytische
Betrachtung berechtigt, nöthigt uns dazu. Die Eine Componente
des Luftwiderstandes weggedacht, ist das Gesetz richtig, aber
beim wirklichen Geschehen wirkt sie stets alterirend mit. Je
kräftiger die ändernde Componente wirkt, um so mehr wird
die Wirkung der anderen beeinträchtigt und schwerer erkennbar
gemacht sein. Trotzdem aber nöthigt uns das Bestreben nach
Verständniss der zusammengesetzten wechselnden Erscheinungen,
analytisch zu verfahren und die einzelnen Componenten aufzu-
suchen und gegen einander abzuwägen. An der geworfenen
Flaumfeder wird man auch bei sogenannter Windstille nichts
mehr von einer Parabelbewegung beobachten; trotzdem ist ihr
[59]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
zu Anfang die Tendenz einer solchen Bewegung mitgetheilt
worden und die Parabel würde sich aus der zickzackförmigen
Falllinie rein herausconstruiren lassen, wenn man den Wider-
stand der bewegten Luft genau abzuziehen vermöchte.


Eine solche gestaltende Componente der Entwicklungs-
geschichte bezeichnet nun das biogenetische Grundgesetz, denn
die Entwickelung der Organismen ist nicht blos eine Hervor-
bildung des Complicirten aus dem Einfachen auf dem geraden
Wege, sondern es kommen Umwege dabei vor, und mancher
gethane Schritt muss wieder zurückgethan werden. Wir er-
innern nur an die bekannten Beispiele der Kiemenspalten und
Kiemenarterien, welche nachträglich wieder zuwachsen müssen,
ebenso an die Chorda dorsalis und an die durchaus überflüssigen
functionslosen Gebilde, den Hirnanhang Hypophysis, und die
Zirbeldrüse. Mit dem Range einer solchen wichtigen, form-
gebenden Componente wird das Gesetz seine dauernde Berech-
tigung haben. Die Grösse seiner erkennbaren Wirkung aber
muss für jedes Stadium der Entwickelungsgeschichte, für jedes
Organ und für jede Thierklasse und Species besonders fest-
gestellt werden.


Schliesslich sei es gestattet, noch einiges Theoretische über
den Grad der Vererbung, über die Verschiedenheit in der
Uebertragung elterlicher Eigenschaften auf das Ei, respective
auf den Samen zu sagen. Die Geschlechtszellen, also die ersten
Fortpflanzungsproducte, sondern sich nach C. Grobben1) und
M. Nussbaum2) schon vor der Bildung der Keimblätter in
dem angelegten neuen Individuum ab. Dies weist auf eine
gewiss hochgradige Selbständigkeit derselben hin, und da sie
schon so früh von ihrem Vater sich absondern, ehe dieser nur
selber zu irgend etwas differenzirt ist, so beweist das, dass
[60]I. Die functionelle Anpassung.
sie die Erbschaft ihrer Vorfahren sehr bald potentia als eine
Anweisung erhalten, ehe ihr Vater nur selber im Stande ge-
wesen ist, die seine in Specialbesitz, in Einzelbildungen um-
zusetzen.


Trotzdem aber bleibt dieses früh von dem Vater, respective
von der Mutter gesonderte Wesen doch in Abhängigkeit und in
Verkehr mit ihnen, denn es muss sich nähren, vergrössern,
vermehren, und dazu erhält es die Nahrung vom Vater durch
chemischen Stoffverkehr, und durch diesen kann es nun auch in
seiner Natur beeinflusst werden. Demnach muss es am wahr-
scheinlichsten sein, dass die chemischen Differenzirungen, die
chemischen Alterationen der Eltern sich am leichtesten auf die
Nachkommen übertragen, leichter voraussichtlich, als blos formale
Veränderungen, wie etwa stärkere Ausbildung dieser oder jener
Muskelgruppe. Weil wir die geistigen Eigenschaften, die Tem-
peramente, chemischen Alterationen, nicht morphologischen zu-
schreiben müssen, so ist die hochgradige Erblichkeit derselben
verständlich und in gleicher Weise die hochgradige Vererblich-
keit der Instincte und der Geisteskrankheiten. So ist es auch
denkbar, dass chemische Alterationen der anderen Theile, etwa
thatkräftigere chemische Constitutionen der Muskeln oder der
Drüsen, welche durch geeignete Nahrung erworben worden sind,
sich leichter auf das Kind übertragen.


Ob aber etwa Theile mit stärkerem Stoffwechsel, wie die
Muskeln, Ganglienzellen, Drüsen, deren Nahrungsbestandtheile
also vielleicht auch in grösserer Menge im Blute befindlich sind
oder leichter diffundiren, chemische Alterationen leichter über-
tragen, als die Theile mit geringerem Stoffwechsel, wie die
Stützsubstanzen, ist nicht bekannt. Eine analytische Unter-
suchung hätte jedenfalls aber darauf zu achten, neben der haupt-
sächlichen Beobachtung des Unterschiedes der Vererblichkeit
erworbener formaler und erworbener qualitativer Charaktere.


[61]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.

Die geringere Vererbbarkeit später im Leben erworbener
Eigenschaften als früherer, schon im Embryonalleben erworbener,
angeborener könnte danach beruhen theils auf einer immer mehr
zunehmenden Selbständigkeit des Lebens der Geschlechtszellen,
welche sich trotz der nöthigen grossen Nahrungszufuhr in
electiven Eigenschaften bewähren kann, andererseits aber darauf,
dass im Embryo oder im jugendlichen Körper ändernde Einflüsse
leichter nicht blos lokal-formal bleiben, sondern man möchte
sagen, leichter chemisch werden. Alle Gestaltung ist doch durch
chemische Verhältnisse bedingt, so z. B. die Gestaltung des
Oberarmes und seiner Muskeln, obgleich sie jedenfalls nicht
anders zusammengesetzt sind, als die des Oberschenkels. So
könnte vielleicht auch eine formale Veränderung, durch äussere
Einwirkung auf den Embryo oder auf das geborene Individuum
hervorgebracht, leichter eine chemische Veränderung bedingen
und als solche sich leichter auf den Samen übertragen. Die
Leichtigkeit der Uebertragung chemischer Aenderungen auf die
Geschlechtsproducte ist am bekanntesten durch die Uebertrag-
barkeit der Infectionskrankheiten, z. B. Blattern, Syphilis, auf
den Foetus oder auf den Samen; und bekanntlich kann nach
v. Rosen, J. Hutchinson, E. Fränkel u. A. die Syphilis
vom Vater allein auf das Kind übertragen werden, ohne dass
die Mutter erkrankt.


Durch die Zurückführung erworbener Formänderungen auf
chemische Aenderungen und durch deren leichtere Uebertrag-
barkeit auf den Samen und auf das Ei in dem chemischen
Stoffwechsel, welcher zwischen ihnen und dem Vater resp. der
Mutter stattfindet, wird das Problem der Vererbung als
solches aufgehoben
und die Erscheinung auf ein allgemei-
neres Problem, das der Gestaltung aus chemischen
Processen,
welches die Grundlage der ganzen Biologie ist,
zurückgeführt. Neben diesem Probleme bleibt dann noch das
[62]I. Die functionelle Anpassung.
speciellere Problem der successiven chemischen Aen-
derung im Ei, der chemischen Entwickelung des
Eies,
aus welchem sich dann die successive formale Entwicke-
lung nach dem ersten Principe von selber ableitet.


Das Zeitliche der Vererbung ist noch mit einem
Blicke zu berücksichtigen; zwar nicht in der Hoffnung, dass
vielleicht die primären, direct vererbbaren Charaktere erkenn-
bar früher auftreten sollten, als die von ihnen erst in Abhän-
gigkeit entstehenden secundären, denn die Fühlung in allem
Organischen ist eine sehr feine und das Primäre ist dem Secun-
dären meist nur um ein Zeit- und Raumdifferential voraus, so
dass sie für unsere Blicke leider fast immer als gleichzeitig
erscheinen und die Feststellung eines causalen Zusammenhan-
ges blos experimentell durch Aenderungen einer Componente
erforscht werden kann. Nicht also in solcher Hoffnung geden-
ken wir am Schlusse dieses für seinen nothwendig dürftigen
Inhalt überflüssig langen Capitels der zeitlichen Verhältnisse
der Vererbung, sondern um für die Vererbung erworbener Eigen-
schaften eine gerechtere Beurtheilung zu erwirken.


Wer als vererbte eigentlich blos die angeborenen Charak-
tere betrachtete, konnte natürlich functionell erworbene Anpas-
sungen der Eltern nicht als vererbbar constatiren; denn es trat
allerdings nicht ein, dass die im zwanzigsten Lebensjahre des
Vaters erworbenen Eigenschaften sogleich bis in die embryo-
nale Zeit zurückrückten. Bekanntlich findet dieses Zurück-
rücken erworbener Eigenschaften ins Embryonalleben nur sehr
langsam statt, und es ist daher selbstverständlich, dass die erst
im höheren Alter erworbenen Eigenschaften auch nur wenig
früher durch Vererbung bei den Nachkommen auftreten werden,
wie es selbstverständlich ist, dass die embryonal erworbenen
Variationen auch gleich wieder im Embryonalleben der Nach-
kommen zum Vorschein kommen. In Folge dieses langsamen
[63]B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
Zurückrückens müssen viele Generationen vergehen, ehe eine
im Mannesalter erworbene Eigenschaft schon in früheren Ju-
gendstadien auftritt. Daher kann bei der wechselnden Beschäf-
tigung der Menschen sehr leicht eine vererbte Eigenschaft, ehe
sie noch offenbar geworden ist, durch andere Lebensweise des
Nachkommen wieder aufgehoben werden, so dass ihre Verer-
bung gar nicht erkennbar zu Tage tritt.


Das sind wohl die Gründe, warum zur erkennbaren Ver-
erbung sogenannter erworbener Veränderungen viele Genera-
tionen hindurch dauernde Einwirkung der umgestaltenden Ur-
sache erforderlich ist, einmal, um die Eigenschaft mehr zu be-
festigen, andererseits, um sie in früheren Stadien des Lebens
auftreten zu lassen.


Es scheint mir ferner eine berechtigte Auffassung zu sein,
welche Darwin in einem trefflichen Beispiele ausspricht, ohne
indessen das Princip zu entwickeln, indem er erwähnt, dass mit
dem zunehmenden Alter die Handschrift des Menschen manchmal
mehr Aehnlichkeit mit der des Vaters erlange. Dem liegt der Ge-
danke zu Grunde, dass vererbte erworbene Eigenthümlichkeiten
der Vorfahren, statt nach der Jugend zurückzurücken, durch
die ändernden Einflüsse der Aussenwelt auf die bildsame, an-
passungsfähige Jugend unterdrückt werden können und erst im
reiferen Alter, wenn einmal diese Wechselwirkung mit der
Aussenwelt eine geringere geworden ist, mehr und mehr her-
vortreten. Ich glaube dem entsprechend beobachtet zu haben,
dass beim Manne die Familiencharaktere, besonders die geisti-
gen, manchmal erst im späteren Alter mehr und mehr sich
ausbilden und zum Vorschein kommen, nachdem sie in der
Jugend durch Erziehung ausserhalb der Familie unterdrückt
worden waren.


[[64]]

II.
Der Kampf der Theile im Organismus.


A. Begründung.


Wohl Manchem mag die Aufschrift dieses Capitels und des
Buches befremdlich erscheinen, da sie andeutet, dass in dem
thierischen Organismus, in welchem alles so vorzüglich geord-
net ist, in dem die verschiedensten Theile so trefflich ineinander
greifen und zu einem hochvollendeten Ganzen zusammenwirken,
dass darinnen ein Kampf unter den Theilen stattfinde, also an
einem Orte, wo alles nach festen Gesetzen sich vollzieht, ein
Widerstreit des Einzelnen existire. Und wie könnte ein Gan-
zes bestehen, dessen Theile unter einander uneins sind?


Und doch ist es so. Es geht im Organismus, wie sich
zeigen wird, nicht alles friedlich neben einander und mit ein-
ander hin, weder im Stadium der Gesundheit und noch weniger
in dem der Krankheit. Für letzteren Fall ist zwar die Vor-
stellung einer inneren Uneinigkeit der Theile geläufig, aber
die deletären Wirkungen derselben haben wir auch täglich vor
Augen.


Wie aber soll das Gute, das Dauernde aus dem Streite,
aus dem Kampfe hervorgehen? So fragt vielleicht noch einmal
ein durch die Arbeit der letzten Decennien nicht von der all-
gemeinen Wahrheit Ueberzeugter, dass alles Gute nur aus dem
Kampfe entspringt.


[65]A. Begründung.

»Der Streit ist der Vater der Dinge«, sagt Heraklit, und
die Folgerungen, welche Empedocles, Darwin und Wal-
lace
aus diesem Principe abgeleitet haben, sind bekannt und
im vorigen Capitel besprochen. Wie dort der Kampf der Gan-
zen zum Uebrigbleiben des Besten führte, so kann er es wohl
auch unter den Theilen gethan haben und noch thun, wenn
Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile im
Innern gegeben ist. Kann der Staat nicht bestehen, wenn die
Staatsbürger allenthalben unter einander wetteifern und blos
die Tüchtigsten zu allgemeinerem Einfluss auf das Geschehen
gelangen? Ist nun aber im Organismus Gelegenheit zu einer
derartigen Wechselwirkung der Theile gegeben? Das ist die
Frage, von welcher in erster Instanz alles abhängen muss.


Zunächst ist zur Beantwortung derselben zu erwähnen, dass
selbst in den höchsten Organismen die Centralisation zum Gan-
zen gar nicht eine so vollkommene, wie man sie sich noch oft
vorstellt, nicht derartig ist, dass alle Theile nur in dem Orga-
nismus, welchem sie angehören, und nur an der Stelle ihres
normalen Sitzes bestehen könnten und somit, vollkommen in
Abhängigkeit, nur als Theile des Ganzen in fest normirter
Weise zu leben vermöchten.


Virchow hat schon vor fast dreissig Jahren1) auf die Selbst-
ständigkeit der Zellen hingewiesen, und die Transplantations-
fähigkeit von Zellen des einen Organismus auf den anderen
und von einer Stelle desselben Organismus auf eine andere
dafür angeführt. Gegenwärtig sind wir im Stande, Theile der
Oberhaut (Epidermis), ganze Stücke der vollständigen Haut mit
Drüsen und Haaren, ferner der Knochenhaut, der Hornhaut des
Auges und einzelne Haare von einem Individuum vollkommen
losgelöst auf das andere zu übertragen, so dass sie eine Zeit
Roux, Kampf der Theile. 5
[66]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
lang oder dauernd leben bleiben und eventuell weiter wachsen.
Aber viel grösser ist bekanntlich diese Fähigkeit bei denjenigen
Organismen, welche dem Vorgange den Namen gegeben haben,
bei den Pflanzen, wo ganze Organcomplexe, Knospen, über-
tragbar sind und ein abgeschnittener Zweig sich zu einem
selbständigen Stock entwickelt.


Virchow1) spricht danach folgendes Urtheil aus:


»Wenn es möglich ist, aus dem Verbande des menschlichen
Körpers gewisse Elemente oder Gruppen von Elementen zu
trennen, ohne dass sie aufhören, Lebenseigenschaften zu äussern
und sich zu erhalten, so folgt daraus, dass jener Verband nicht
in dem hergebrachten Sinne ein einheitlicher, sondern vielmehr
ein gesellschaftlicher oder genauer ein genossenschaftlicher
(socialer) ist. Aus demselben können Elemente oder Elemen-
targruppen ausscheiden, ohne dass der Bestand der Genossen-
schaft vernichtet wird; ja der Eintritt kann sogar die Wirkung
haben, die Genossenschaft aufzubessern und zu stärken.«


Ausser diesem Beweise, dass viele Theile nicht in abso-
luter Abhängigkeit von dem Ganzen stehen, spricht sich eine
gewisse individuelle Freiheit derselben schon in der embryona-
len Entwickelung dadurch aus, dass die vererbten Formenbil-
dungen nicht durch eine vererbte Normirung der Leistungen
jeder einzelnen Zelle, sondern blos nach allgemeinen Normen
für die Grösse, Gestalt, Structur und Leistung jedes Organes
hergestellt werden, so dass für die Einzelausführung, für den
Aufbau aus den einzelnen Zellen ein gewisser Spielraum bleibt,
innerhalb dessen sich das Geschehen gegenseitig selber regulirt.


Dies erkennen wir aus der Ungleichheit der Theile jedes
Organes. Keine Leberzelle gleicht vollkommen in Grösse und
Gestalt der andern, und doch fügen sie sich alle zu dem nach
[67]A. Begründung.
einem bestimmten Typus gebauten leistungsfähigen Organe zu-
sammen. Unmöglich kann durch die Vererbung von vorn-
herein bestimmt sein, dass die hundertste oder eine andere
Leberzelle genau diese von allen anderen etwas abweichende
Grösse und Gestalt haben und unter diesem Winkel, welcher
für jede etwas verschieden ist, sich mit den vorhergebildeten
und nachfolgenden Zellen verbindet, sondern die nachfolgende
Zelle fügt sich nach ihrer Individualität an die vorhergehende
an, dabei blos bestimmt durch die in ihrer vererbten Qualität
liegenden Bedürfnisse einer gewissen Berührung mit der Capil-
lare, mit Nachbarzellen etc. im Uebrigen aber frei.


Das embryonale Geschehen findet offenbar statt wie die
Ausführung von Submissionsarbeiten, z. B. eines Baues, für
welchen Material, Grösse, Gestalt, innere Einrichtung und dieses
blos, soweit sie durch die beabsichtigte Verwendung, also durch
die Function des Hauses bestimmt werden, normirt wird. Da-
gegen ist vieles in der Einzelausführung, z. B. die Lagerung
der einzelnen Steine, und wenn sie Natursteine, also ungleich
sind, ihre Zusammenfügung dem Unternehmer und seinen Ge-
hülfen frei überlassen, wenn sie nur so geschieht, dass sie die
bedungene Function zu verrichten vermögen. So wird denn ein
Stein nach dem anderen eingefügt und der nachfolgende dem
vorhergehenden in Lage, Grösse und Gestalt angepasst, oder
eventuell auch einmal umgekehrt kommt es vor, dass der nach-
folgende, wenn er gross genug ist, die vorhergehenden zwingt,
sich ihm anzupassen.


Aber durch all’ das entsteht noch kein Kampf, keine zur
Bevorzugung des geeigneteren führende Wechselwirkung der
Theile. Diese ergiebt sich erst, wenn wir die vitalen Eigen-
schaften des Organischen zur Geltung kommen lassen.


Beim Organischen sind die Bausteine nicht vorher alle
fertig gemacht und werden dann blos nacheinander zusammen-
5*
[68]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
gefügt, sondern hier sind die nachfolgenden immer die Pro-
ducte, die Nachkommen der vorherigen. Sofern nun die schon
anwesenden nicht alle einander gleich sind, sondern das eine,
durch irgend eine besondere Eigenschaft begünstigt, mehr
zu produciren vermag als das andere, so wird dieses mehr
Nachkommen hervorbringen, einen grösseren Antheil an dem
Baue haben als das andere, und indem seine Nachkommen die
günstige Eigenschaft von ihm ererbt haben, wird die schon
grössere Zahl derselben wiederum im Stande sein, sich in her-
vorragenderer Weise durch Vermehrung am Aufbaue des Ganzen
zu betheiligen.


Ist das Individuum schon erwachsen, handelt es sich also
blos um die physiologische Regeneration, so kann dabei ganz
das Gleiche stattfinden; denn sobald eine Zelle im Absterben
ist, wird von den Nachbarzellen diejenige, welche zufolge ihrer
chemischen Natur am kräftigsten ist, am meisten zur Ver-
mehrung tendirt, die abgeschiedene ersetzen, und da deren
Nachkommenschaft wiederum kräftiger sein wird, so wird bei
Wiederholung der Gelegenheit dieselbe allmählich in immer
weitere Kreise dringen.


Ein solcher Kampf ist aber, wie sich aus unserer Annahme
ergiebt, nur möglich, wenn die Theile nicht vollkommen gleich
unter einander sind, sich also nicht fortwährend das Gleich-
gewicht zu halten vermögen. Bei absoluter Gleichheit aller
gleich fungirenden Theile müsste auch der Antheil aller am Auf-
bau des Organismus oder an der Regeneration desselben der
gleiche sein und nur äussere begünstigende Momente, wie gün-
stigere Lage zu einem Blutgefässe etc., könnten eine Bevor-
zugung hervorbringen, welche aber nur gering und vorüber-
gehend wäre, da sie nicht auf die Nachkommen übertragbar
ist. Uebertrüge sie sich aber auf die Nachkommen, so wäre
das ein Beweis, dass sie in der Natur der mütterlichen
[69]A. Begründung.
Zelle begründet, also eine innere, keine äussere Begünstigung
war.


Die Ungleichheit der Theile wird also die
Grundlage des Kampfes der Theile sein
müssen; aus
ihr ergiebt sich der Kampf von selber infolge des
Wachsthums und,
wie wir hier gleich hinzufügen wollen,
auch schon einfach infolge des Stoffwechsels. Denn,
da alle Theile sich im Stoffwechsel verzehren, so werden sie
zur Erhaltung und zur Production sich ernähren müssen, und
dabei werden diejenigen Theile, welche mit der vorhandenen
Nahrung oder aus sonst einem Grunde weniger gut, d. h.
weniger rasch und weniger vollkommen sich zu regeneriren
vermögen, bald in erheblichen Nachtheil gegen andere günsti-
ger angelegte kommen.


Aber die Voraussetzung des Ganzen, die Ungleichheit der
Theile von vornherein, ist sie vorhanden? Ist sie nicht eine
willkürliche Annahme? So wird heutzutage, wo wir uns ge-
wöhnt haben, auf alle Verschiedenheiten selbst des scheinbar
ganz Gleichartigen zu achten, nur noch der Laie fragen, der
vielleicht einen Blick in diese Schrift wirft. Jeder Naturkun-
dige weiss, dass nie dasselbe Geschehen unverändert längere
Zeit fortbesteht, nie in vollkommen gleicher Weise wieder-
kehrt, dass alles in fortwährendem Wechsel ist, das Anorga-
nische wie das Organische.


Wie schwer ist es und was für besonderer Vorkehrungen
bedarf es, um nur relativ einfaches Geschehen gleichmässig zu
erhalten, z. B. eine gleichmässige Glasmischung zu dem Ob-
jectiv eines grösseren astronomischen Fernrohres herzustellen;
wie theuer müssen wir jede Gleichmässigkeit bezahlen in allen
Producten unserer Industrie, seien es gleichmässige Stoffe oder
Färbungen, oder eine gleichmässige Theilung oder Dicke oder
Oberfläche etc., kurz jede Gleichmässigkeit auf einen grösseren
[70]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
Raum oder in der Wiederholung an mehreren Gegenständen,
weil es so schwer ist, etwas constant zu erhalten; denn alles,
selbst die metallenen Maschinen werden fortwährend verändert,
sei es durch Wärme oder Abnutzung oder sonst etwas. Nichts
ist absolut constant zu erhalten, denn alles ist in fortwähren-
dem Wechsel und alles beeinflusst sich gegenseitig. Immer
erfüllen die lebendigen Kräfte, sei es in Form von Massenbe-
wegung oder von Molekularbewegung als Wärme, Licht, Elec-
tricität den Raum und wirken verändernd aufeinander und auf
das Material der Spannkräfte. Nichts steht isolirt in der Welt
da, am wenigsten aber der Organismus, der fortwährend von
der Aussenwelt Stoffe aufnehmen und umsetzen muss. Je com-
plicirter das Geschehen, um so schwerer die Constanterhaltung.
Gleichen schon nie zwei Krystalle in allen Eigenschaften voll-
kommen einander, um wie viel weniger zwei Organismen.


Nicht die Jungen Eines Wurfes, nicht die Theile Eines
Organes, nicht die Zellen desselben Gewebes gleichen einander,
sind mit einander identisch in Form und Qualität. Das äussert
sich schon sehr nützlich darin, da sie nicht alle zugleich in
denselben Perioden ihres Lebens sich befinden, denn sonst wür-
den sie beim physiologischen Tode alle zugleich absterben
und durch den Ausfall des betreffenden Organes der Organis-
mus vernichtet werden.


Zwar ist jetzt der Organismus regulirt, dass er trotz des
Wechsels der äusseren Bedingungen und der unendlichen Com-
plication des eigenen Innern sich annähernd constant erhält,
aber die Constanz ist doch nur eine annähernde, blos für flüch-
tige Betrachtung vorhandene; und die steten Veränderungen
lassen sich, wie Darwin uns gelehrt hat, zu recht erheblichen
Graden summiren. Auf niederer Stufe des organischen Lebens
ist die Variabilität noch grösser und sie muss früher, ehe auch
für diese Organismen ein gewisses sich in’s Gleichgewicht
[71]A. Begründung.
setzen mit der Umgebung eingetreten, und die regulatorischen
Fähigkeiten so ausgebildet waren, noch viel grösser gewe-
sen sein.


So ist denn schon jedes Samenthierchen und jedes Ei
vom andern unterschieden und, da es das Wesen der Ent-
wickelung ist, aus dem Gleichartigen das Ungleichartige, aus
dem Einfachen das Complicirte hervorzubilden, so liegt es da-
bei besonders nahe, dass durch alterirende äussere Einwirkun-
gen diese Bildungen differenter Qualitäten und Formen etwas
abgelenkt und so immer neue Verschiedenheiten unter den
Theilen des Organismus hervorgebracht werden.


Durch diese Ungleichartigkeiten, welche durch den Wechsel
der Bedingungen fortwährend nicht blos an den Ganzen, son-
dern auch an den Theilen hervorgebracht werden, war es von
vornherein unmöglich, dass Vererbungsgesetze sich ausbilden
konnten, welche das Einzelgeschehen bis in die letzte Zelle
und das letzte Molekel von vornherein normirten. Derartige
Bestimmungen hätten bei dem fortwährenden Wechsel in den
Verhältnissen nie zum Aufbaue eines Organismus führen können,
wie ein Feldherr keine Schlacht gewinnen würde, der statt der
allgemeinen Befehle an die Generäle über die Aufstellung und
Verwendung der Truppen, von vornherein Specialbefehle bis
herab zu den Thaten des Lieutenants oder des einzelnen Mannes
geben wollte; denn die Leistungen aller müssen fortwährend
den wechselnden Verhältnissen angepasst werden und das Ge-
schehen im Kleinen umsomehr, als dessen Umstände leichter
verändert werden als die des Geschehens im Grossen. So
müssen die einzelnen Zellen sich immer aneinander und an
neue, durch ändernde Einwirkung hervorgebrachte Verhältnisse
anpassen können.


Der durch die Verschiedenheit der lebenden Theile her-
vorgerufene Kampf unter denselben wird also mit der vor-
[72]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
maligen Entstehung des Lebens begonnen und seitdem nicht
aufgehört haben, und es ist dabei natürlich, dass die allge-
meinsten Eigenschaften zuerst gezüchtet worden sind, so dass
der erste Anfang dessen, was wir im Folgenden zu entwickeln
haben werden, zum Theil schon in der Zeit der Entstehung
des Organischen zu suchen ist. Und ebenso ist es selbstver-
ständlich, dass in Zeiten stärkerer Variabilität der Kampf der
Theile auch entsprechend heftiger und von grösserer Bedeutung
hat sein müssen als in den Perioden der annähernden Constanz
der Arten. Ueber die Zeiten aber, oder physiologisch ge-
sprochen über die Zahl von Generationen, welche nöthig war
zur Ausbildung der zu besprechenden Eigenschaften, können
wir ebenso wenig etwas auch nur annäherungsweise Richtiges
sagen, als wir über die Grösse der in früherer Zeit auf ein-
mal vorgekommenen Variationen und über die Energie der
früheren Lebensprocesse etwas wissen.


B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.


Gehen wir nun nach dieser allgemeinen Begründung zur
Untersuchung der Art und der Leistungen des Kampfes der
Theile im Speciellen über, so muss er nothwendig in ebenso viele
Unterinstanzen zerfallen, als selbständig variirende Einheiten
da sind, also in einen Kampf der Zellentheilchen, der Zellen,
der Gewebe und der Organe, jede Einheit nur mit Ihresgleichen
kämpfend. Denn ein Kampf zwischen Angehörigen verschiede-
ner Einheiten, etwa eines Plasson-Moleküls mit einer Zelle,
oder einer Zelle mit einem Organ wäre wie eine Summation
von Differentialen verschiedener Ordnung. Erst wenn sich die
Eigenschaft eines Theilchens niederer Ordnung durch Ausbrei-
tung zu einer Individualität höherer Ordnung vergrössert hat,
also erst, wenn das Differential zweiter Ordnung zu einem
[73]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
erster Ordnung integrirt ist, kann der Kampf mit einem ande-
ren Individuum dieser höheren Ordnung beginnen.


1. Der Kampf der Molekel.


Diese Bezeichnung wollen wir der Kürze wegen wählen
für den Kampf der Zelltheile, also der Plasson-Molecüle oder
Plastidulen oder der kleinsten organischen Process-
einheiten
.


Wenn nach unserer Voraussetzung die Theile der Zelle,
abgesehen von der Scheidung in Zellleib und -Kern, nicht ganz
gleich unter sich beschaffen sind, sondern bei Individuen ohne
Varietät in dem Gewebe, welchem die Zelle angehört, ein Mini-
mum oder bei Individuen mit neuen Varietäten etwas mehr von
einander verschieden sind, so werden diese verschiedenen Sub-
stanzen derselben Zelle sich unter verschiedenen Umständen
nothwendig verschieden verhalten müssen.


Nehmen wir an, es wären zwei verschiedene Qualitäten
ursprünglich in gleicher Menge in der Zelle vorhanden, und
betrachten ihr Verhalten zunächst im Stoffwechsel während
der Periode des Wachsthums. So wird zunächst bei dem Er-
satze des im Stoffwechsel Verbrauchten das mit stärkeren Affi-
nitäten Versehene und stärker Assimilirende sich ra-
scher regeneriren,
als das weniger mit diesen Eigen-
schaften Ausgestattete. Ersteres wird also ceteris paribus sich
räumlich mehr entfalten in der gleichen Zeit, als das andere,
und ihm damit den Platz wegnehmen. Bei der nächsten Wie-
derholung dieses Processes ist die schwächere Partie, welche
jetzt schon einen geringeren Raum einnimmt, wiederum nicht
im Stande, sich so rasch zu regeneriren und wird wiederum
eine procentische Raumeinbusse erleiden; sie wird bei längerer
Dauer immer mehr zurückgedrängt werden und schliesslich
schwinden, und die Zeit dieser Dauer wird dabei blos von der
[74]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
Grösse des Unterschiedes in der Affinität der beiden im Uebri-
gen gleich lebensfähigen Substanzen abhängen.


Es wird sich also zunächst in jeder Zelle ceteris paribus
das unter den durch die Blutbeschaffenheit, Diffusionsmöglich-
keit etc. gegebenen Umständen am raschesten sich Regeneri-
rende erhalten und die anderen Qualitäten unterdrücken.


Sind die Unterschiede derartig, dass die beiden Substan-
zen ungleich rasch sich verbrauchen, so wird dieses
cet. par. einen nachtheiligen Einfluss für die rascher sich ver-
zehrende Substanz und die langsamer sich verzehrende wird
die Herrschaft erlangen; denn da sie sich langsamer verzehrt,
aber nach der Voraussetzung ebenso rasch regenerirt, als die
schneller sich verzehrende, wird sie immer mehr räumlich
überwiegen und so den Platz schliesslich allein einnehmen.


In den beiden bisher besprochenen Fällen war es Kampf
um den Raum,
der stattfand; denn wenn der Raum nicht
beschränkt wäre, würde die schwächere Substanz ihren Nach-
theil durch längere Dauer der Regeneration wieder auszuglei-
chen vermögen, sofern der Verbrauch kein continuirlicher, gleich
starker ist, sondern Pausen vorkommen, wo die Regeneration
stärker ist als der Verbrauch.


Dass aber dieser Kampf um den Raum stattfinden muss,
werden wir bei Betrachtung der Raumeinheit, innerhalb deren
sich der hier besprochene Kampf vollzieht, beim Kampf der
Zellen ersehen. Jedenfalls muss der Kampf um den Raum ein
viel heftigerer innerhalb des Organismus sein, wo alles zu einer
räumlichen Einheit verbunden an einander liegt und sich drängt,
als bei den freien Individuen selber, als beim Kampf der Per-
sonen unter einander. Dass Raumbeschränkung wirk-
lich die Entwickelung der Zelle zu hemmen im
Stande ist,
ergiebt sich z. B. aus der Abplattung der Epithel-
zellen an einander und aus der Aenderung, welche deren Gestalt
[75]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
sofort erfährt, wenn die Raumbeschränkung fortfällt. So wird
nach Verlust von Epithelzellen das schmale cylindrische Epithel
der Luftröhre breit, plattenförmig und vermehrt sich. Ausser-
dem aber ist auch die mögliche lebensfähige Grösse der Zelle,
selbst bei Mangel äusserer Raumbeschränkung, für jede Zelle
nach der Art ihrer Zusammensetzung und der Ernährungsver-
hältnisse und der Beweglichkeit ihres Protoplasma eine be-
schränkte, wohl in Folge der beschränkten Wirkungsgrösse
und -Geschwindigkeit der Diffusion, so dass auch bei Wachs-
thum über dieses Mass hinaus die Zelle im Innern wieder atro-
phiren müsste in Folge mangelhafter Gelegenheit zur Regene-
ration.


Wenn die Substanzen derartig verschieden sind, dass die
eine mit der gebotenen Qualität des Nahrungsmaterials voll-
kommener sich regeneriren kann,
als die andere, so
wird schliesslich die so günstiger gestellte die stärkere werden
und beim Wachsthum die andere verdrängen, wiederum im
Kampfe um den Raum.


Tritt eine Aenderung der Nahrung der Zellen,
der Blutzusammensetzung ein, so werden dieser entsprechend
andere chemische Qualitäten die Herrschaft zu erlangen be-
fähigt werden und die früheren verdrängen.


Ist dauernder Nahrungsmangel vorhanden, so wird
zwar kein Kampf um den Raum stattfinden können, aber es
werden nur solche Verbindungen übrig bleiben, welche cet.
par. am wenigsten Material zum Wiederersatz ge-
brauchen,
während die anderen Processe einfach ausgehun-
gert werden, also durch Selbstelimination verschwinden.


Sind die Varietäten beider Substanzen derartig, dass
bei der einen Substanz mit dem stärkeren Verbrauch
auch die Affinität, Regenerationsmaterial aus der
nächsten Umgebung aufzunehmen, wächst,
also, um
[76]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
in der Sprache der ganzen Individuen zu sprechen, der Appetit
mit dem Nahrungsbedürfniss sich steigert und die Regenerations-
geschwindigkeit sich entsprechend vergrössert, während die
andere Substanz diese Fähigkeit nicht hat, sondern immer, einer
mittleren Verbrauchsstufe entsprechend, gleichmässig Nahrung
anzieht und assimilirt, so würde bei längere Zeit anhaltendem
gesteigertem Verbrauch erstere Substanz den Sieg über die andere
davontragen, denn sie würde sich vollkommener regeneriren
können.


Ist endlich die chemische Zusammensetzung einer Varietät
derartig, dass im Stoffwechsel die Assimilation die Zer-
setzung übersteigt,
dass Uebercompensation des
Verbrauchten,
also Wachsthum eintritt, während den ande-
ren Substanzen diese Eigenschaft abgeht, so muss diese wich-
tige Eigenschaft die Alleinherrschaft über alle anderen Quali-
täten gewinnen, wie sie sie denn auch bekanntlich hat. Wir
kennen keinen Organismus, keine Zelle, welchen nicht in einem
Stadium ihres Lebens diese Eigenschaft der Uebercompensation
des Verbrauchten, das Wachsthum, zukäme, und es erhellt,
dass ohne diese sich das Leben überhaupt nicht hätte ausbrei-
ten können, dass die Lebensprocesse immer auf diejenigen
Dimensionen hätten beschränkt bleiben müssen, in welchen sie
ursprünglich entstanden waren.


Dies sind also alles Eigenschaften, welche in Folge des
Stoffwechsels die Herrschaft innerhalb der Zelle auf dem Wege
des Kampfes der Theile um Nahrung und Raum erlangen
mussten, sobald nur einmal Spuren dieser Qualitäten durch
Variation in den Zellen aufgetreten waren; sofern also als erste
Vorbedingung die Zusammensetzung der Zelle nicht vollkommen
homogen ist, sofern auch für die Theile der Zelle dieselbe
Variabilität gilt, wie für die ganzen Individuen.


Wer aber möchte wohl diese Wahrscheinlichkeit bestreiten,
[77]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
wer möchte annehmen, dass bei Entstehung des Organischen
die Substanzen durchaus gleichartig nach den erwähnten Rich-
tungen hin gewesen seien, und dass bei Entstehung der unend-
lich vielen Qualitäten des Organischen, die wir in den ver-
schiedenen Organen der verschiedenen Klassen, Gattungen und
Species des Thierreiches erkennen, immer gleich von selber in
vollkommen homogener Weise aufgetreten wären, so dass ein
Kampf innerhalb ihrer Theile nicht hätte stattfinden können?


Diese Qualitäten brauchen sich natürlich nicht überall alle
und nicht alle gleichzeitig auszubilden; und es kann wohl vor-
kommen, dass eine Substanz durch einen hervorragenden Grad
in einer dieser Eigenschaften trotz eines Fehlers nach einer der
anderen Richtungen hin, die Herrschaft in der Zelle behält,
so lange die Umstände nicht wechseln und den Fehler gegen-
über anderen, vielseitiger günstig beschaffenen Qualitäten nicht
zu grösserer Bedeutung gelangen lassen.


Dass aber die Ableitung dieser höchst zweckmässigen
Eigenschaften: des geringsten Verbrauches und raschester und
vollkommenster Regeneration mit der geringsten Materialmenge
und der Ausbildung der für die vorhandene Nahrung stärksten
Qualitäten und der Steigerung des Hungers und der Assimilation
mit der Zunahme des Nahrungsbedürfnisses keine willkürliche,
an Eventualitäten anknüpfende gewesen ist, welche in den
Organismen nicht vorgekommen sind, wird wohl jeder, der die
Exactheit der bezüglichen Processe kennt, soweit sie uns die
Physiologie bis jetzt erkennen gelehrt hat, als höchst wahr-
scheinlich bezeichnen. Wenn aber die Organismen diese gün-
stigen Eigenschaften wirklich haben, wenn also derartige stoff-
liche Variationen überhaupt möglich waren und vorgekommen
sind, so müssen sie sich auf dem geschilderten Wege durch
den Kampf der Theile von selber ausgebildet haben ohne Mit-
wirkung des Kampfes der Individuen um das Dasein.


[78]II. Der Kampf der Theile im Organismus.

Aber die Theile leben nicht blos ruhig für sich im Stoff-
wechsel, sondern sie werden bekanntlich durch äussere Einwir-
kungen, durch Reize in ihren Processen beeinflusst, eventuell
beschleunigt, und wenn die Zelle aus verschiedenen Stoffen
zusammengesetzt ist, so wird jede solche Einwirkung für die
verschiedenen Substanzen verschiedenen Erfolg haben müssen.
Für unsere Zwecke kommt aber ihr Verhalten nur zu Reizen in
Betracht, welche häufig einwirken, sich während des Lebens
oft wiederholen, weil sie allein im Stande sein werden, dauernde
Veränderungen hervorzubringen, allmählich bestimmte Qualitäten
in den Zellen zu züchten. Die Wirkungsweise der Eingriffe
dieser Agentien, dieser lebendigen Kräfte, kann eine sehr ver-
schiedene sein.


Ist zunächst durch zufällige Variation eine der ver-
schiedenen Zellsubstanzen derartig, dass sie cet. par. bei der
durch die Einwirkung des Reizes veranlassten Um-
setzung weniger rasch sich verbraucht als die
anderen
bei derselben Einwirkung, so wird das Gleiche ein-
treten, wie oben für die weniger rasch im Stoffwechsel sich
verzehrenden Substanzen dargestellt ist. Sie wird die Allein-
herrschaft in der Zelle bekommen.


Ebenso wird fernerhin eventuell diejenige Substanz siegen
und schliesslich allein übrig bleiben, welche durch den Reiz
in ihrer Affinität zur Nahrung und in der Fähig-
keit, sie zu assimiliren, erhöht wird
, denn sie hat
einen wesentlichen Vorzug in ihrer Vermehrung vor anderen
nicht oder weniger durch den Reiz in günstiger Weise beein-
flussten.


Wenn es nun auch noch organische Processe gäbe, die
durch den Reiz nicht blos in ihrer Regeneration einfach
gekräftigt, sondern bis zur Ueberkompensation des Ver-
brauchten gestärkt
würden, welche also bei der Anpassung
[79]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
an einen Reiz diejenige Eigenschaft, die nach Obigem alle
anderen Zellen von selber haben, sich bewahrt, aber in Ab-
hängigkeit von der Reizeinwirkung gebracht hätten, so müsste
diese im Kampfe der Theile bei genügender Ruhepause noch
eher den Sieg und die Alleinherrschaft erlangen, denn sie wird
cet. par. noch mehr sich vermehren als die anderen Substanzen
und dieselben zunächst mehr und mehr procentisch und schliess-
lich bis auf Nichts zurückdrängen bei der Beschränktheit des
von aussen her und durch die Diffusion etc. gestatteten Raumes.


Die hier gemachte Annahme, dass vielleicht auch Substan-
zen oder richtiger Processe aufgetreten und daher zur Herr-
schaft gelangt seien, welche durch die Zufuhr von Reizen
in ihrer Lebensfähigkeit, besonders
in der Assi-
milation erhöht
werden, für welche also der Reiz eine
trophische, die Ernährung hebende Wirkung habe, erscheint
vielleicht Manchem auf den ersten Blick vollkommen willkür-
lich, wenigstens für thierische Processe, während das ent-
sprechende Verhalten für die Pflanzen bekanntlich die Grund-
bedingung ihrer Existenz ist, indem diese in ihrer Assimilation
ganz von Sonnenlicht und Wärme abhängen. Und neuerdings
ist von C. W. Siemens ein gleicher Einfluss des electrischen
Lichtes durch ungewöhnlich rasche Entfaltung und Fructifica-
tion der Pflanzen in solcher Beleuchtung nachgewiesen worden.


Aber auch für thierische Organismen sind derartige Reiz-
wirkungen und gerade auch vom Lichte bekannt. Beclard1)
sah die Eier von Musca carnaria am schnellsten sich entwickeln
im violetten Licht und dann successive im blauen, rothen,
weissen und grünen Lichte immer langsamer. Young2) fand
als das günstigste ebenfalls violett, dann blau, gelb und weiss,
[80]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
während roth und grün nach ihm direct schädlich auf die Ent-
wickelung von Rana esculenta und temporaria wirkten; und
Dunkelheit verlangsamte die Entwickelung dieser Thiere. Ein-
wirkung des Lichtes in anderer Weise auf die Entwickelung
der Thiere war bereits im Jahre 1870 von Auerbach1) durch
Beleuchtung von Froscheiern von unten als eine Art Heliotro-
pismus nachgewiesen worden, indem die Pigmentansammlung
oder Ausbildung immer auf der Lichtseite constatirt wurde.
S. L. Schenk2) beobachtete neuerdings dasselbe und zwar
besonders stark im blauen Licht, weniger im gelben.


Für andere thierische Theile hat trophische Wirkungen von
Reizen auch Hering in seiner Theorie der Sinnesnervenfunc-
tion 3) behauptet, indem er annimmt, dass bei den Sinnesorga-
nen gewisse Reize ebenso die Assimilation wie die anderen die
Dissimilation, die Zersetzung erhöhen. Ausserdem aber nimmt
ja die heutige Physiologie diese Wirkung auch principiell an in
ihrer Lehre von den trophischen Nerven. Nur knüpft sie die
Zufuhr solcher Reize an besondere Nervenbahnen. Wenn wir
nun auch, wie unten dargelegt wird, dieses Letztere im allge-
meinen nicht billigen, so ist doch das Princip der Erhöhung der
Assimilation durch Reize damit schon anerkannt.


Sind aber einmal derartige Variationen der Zellsubstanz
aufgetreten, deren Lebenskraft durch die Zufuhr von verschie-
denen oder blos einem besonderen Reiz erhöht wurde, so musste
ctc. par. immer diejenige Variation in den Zellen den Sieg
und die Alleinexistenz erlangen, welche den Reiz
leichter aufnahm
, denn sie wurde zufolge dieser Eigen-
[81]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
schaft in ihrer Vitalität mehr gekräftigt und musste sich also
mehr vermehren. Bei beschränkter Reizgrösse musste, indem
die leichter erregbare Substanz relativ mehr Reiz aufnahm und
dadurch zu grösserer Entfaltung befähigt wurde, eine Art
Kampf um den Reiz und Sieg durch Reizentziehung
und grössere räumliche Verbreitung entstehen.


Wenn nun diese Reize dauernd einwirkten, so war bei
weiteren Variationen mit der sich steigernden Vollkommenheit
der Anpassung der Stoffe an die Reize durch immer neue
Kampfauslese in den Zellen der Weg zu einem schliesslichen
Endstadium eingeschlagen, in welchem Processe übrig bleiben
mussten, welche im höchsten Maasse zur Aufnahme des Reizes
befähigt und durch ihn gekräftigt wurden, aber ohne den
Reiz
nun auch überhaupt nicht mehr sich am Leben
zu erhalten vermochten
, welche also beim Ausbleiben
der Reize sich ohne Regeneration verzehren, schwinden mussten,
da ihnen diese Reize zu unentbehrlichen Lebensrei-
zen geworden sind
.


Wir werden später sehen, wie wichtig eine so hochgradige
Anpassung für die Vervollkommnung und die Gestaltung der
Organismen werden musste, und dass wir die Berechtigung
haben, manchen unserer Zellen derartige Eigenschaften zuzu-
schreiben.


Wenn fernerhin einmal Reize kräftigend auf vitale Pro-
cesse wirkten, so mussten verschiedene Reize auch ver-
schiedene chemische Qualitäten kräftigen
. Es musste
also directe Anpassung an die verschiedene Natur der Reize
eintreten und durch den Kampf der Theile bei neuen Variatio-
nen sich steigern, wenn immer derselbe Reiz auf eine Zelle
wirkte.


Wirken dagegen abwechselnd, doch wiederholt wieder-
Roux, Kampf der Theile. 6
[82]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
kehrend verschiedene Reize auf dieselbe Zelle, und
enthält dieselbe eine Substanz, welche durch beide oder mehrere
Reize gekräftigt wird, so wird eventuell diese Substanz die
Herrschaft erlangen können, je nach der Art der Pausen und
dem Verhältniss der Natur der Reize zu einander. Diese Viel-
seitigkeit einer einzigen Substanz wird sich aber nur selten zu
erhalten im Stande sein, denn sie schliesst ein, dass die Sub-
stanz doch nicht in dem Maasse jedem einzelnen Reize ent-
sprechen, ihn so leicht aufnehmen und so vollkommen umsetzen
kann, als dies eine besonders für Einen Reiz angepasste ver-
mag; da einmal jede Aenderung der Beschaffenheit, wie sie
für die Substanz durch Einwirkung bald des einen bald des
andern Reizes entsteht, nothwendig immer mit einem Kraftver-
lust verbunden sein muss. Denn es muss eine neue Umordnung
der Molekel eintreten. Und zweitens kann eine Substanz nie
so vollkommen an zwei verschiedene Reize angepasst sein, also
auch nicht so stark gekräftigt werden, als für jeden Reiz eine
besondere.


Wenn aber einmal Qualitäten, welche durch je einen
Reiz besonders gekräftigt werden, aufgetreten sind, so werden
sie nach dem Maasse der Reizgrösse im Verhältniss zu der
Grösse und Stärkungsfähigkeit der andern Reize für die anderen
Substanzen ein gewisses Volumen in der Zelle dauernd einzu-
nehmen im Stande sein. Die Zelle wird dauernd aus sehr ver-
schiedenen Stoffen, welche der verschiedenen Natur und Grösse
(der Intensität und Häufigkeit) der Reize entsprechen, zusam-
mengesetzt bleiben können, wie wir das bei den Protozoën so
ausgebildet sehen.


Der Kampf der Theile wird also zugleich ein zwingendes
Princip für immer weiter gehende Differenzirung, immer voll-
kommenere Specialanpassung an die Reize sein, sofern Reize
die Lebensprocesse zu kräftigen vermögen; dass sie dieses
[83]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
thun, darüber werden wir im nächsten Kapitel ausführliche
Darlegungen machen.


Aendert sich mit den äusseren Umständen eines Organes
auch der Reiz, an welchen dasselbe angepasst war,
so werden die alten Qualitäten nicht blos der Atrophie unter-
liegen, dem Schwunde in Folge Mangels des Lebensreizes ver-
fallen, sondern die durch den neuen Reiz gekräftigten Sub-
stanzen werden, den Sieg erringend, die anderen direct in der
geschilderten Weise beeinträchtigen und die Rück- und Umbil-
dung beschleunigen.


Ebenso wie die neue Zelle fähig ist, sich durch Ausbil-
dung verschiedener Bestandtheile an verschiedene Reize anzu-
passen, so können auch verschiedene Zellen sich an denselben
Reiz in verschiedener Weise anpassen; denn je nach der ur-
sprünglichen Natur der Zellen kann in jeder durch denselben
Reiz eine verschiedene Substanz am meisten gekräftigt werden.


Alle diese für die Erhaltung auch der ganzen Individuen
höchst nützlichen und zweckmässigen Eigenschaften werden
also, sobald sie einmal in Spuren aufgetaucht sind, sich er-
halten und unter Unterdrückung der weniger dauerfähigen sich
in der Zelle ausbreiten, und sobald ein Mal durch neue Varia-
tionen Substanzen auftreten, welche diese Eigenschaften in noch
höherem Maasse haben, so werden diese die früheren besiegen
und es wird so fort und fort eine den Grad der Qualität stei-
gernde Auslese der Variationen stattfinden.


Alles dieses geschieht ohne den Kampf der Individuen, ja
eventuell wohl gegen denselben, denn es muss fraglich erschei-
nen, ob die Auslese durch den Kampf der Individuen, auch
wenn es sehr Nützliches beträfe, etwas züchten könnte, was
im Kampf der Molekel nicht siegreich bestehen kann.


Die Geschwindigkeit, mit der die Ausbreitung einer neuen
Variation in der Zelle erfolgt, lässt sich natürlich nicht sicher
6*
[84]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
beurtheilen. Aber es ist wohl anzunehmen, dass bei der stetigen
Dauer des Stoffwechsels, also auch des Kampfes derselbe schon
im Leben Einer Zelle oder noch rascher zur Alleinexistenz der
günstigeren Eigenschaft führen kann, falls nicht neue Variatio-
nen auftreten. Eventuell könnte die vollkommene Ausgleichung
auch erst in den Nachkommen der Zelle stattfinden.


Aus den so allein erhaltenen und verbreiteten Eigenschaften,
welche sich, als in ihrer Art stärkste, dauerfähig erwiesen
haben, und nur aus diesen wird dann die Auslese im Kampf
der Individuen diejenigen
zur wirklichen dauernden Er-
haltung auswählen, welche sich auch für das ganze Indi-
viduum nützlich erweisen. Also z. B. von allen den Stoffen,
welche durch einen Reiz in ihrer Ernährungsfähigkeit erhöht
werden und bei der veranlassten Umsetzung am wenigsten ver-
brauchen etc., wird der Organismus an der einen Stelle die-
jenigen auslesen, welche sich dabei am kräftigsten und raschesten
zusammenziehen, an der anderen diejenigen, welche einen Reiz
am besten zur Attraction und Umwandlung von abzuscheiden-
den Stoffen verwenden, an dritten Stellen endlich diejenigen,
welche den Reiz am wenigsten selber verbrauchen, sondern am
besten weiter gehen lassen, ihn leiten. So wird der Kampf
der Individuen aus den durch den Kampf der Theile gezüch-
teten im Allgemeinen leistungsfähigsten Processen Muskeln,
Drüsen, Nerven durch Sonderauslese hervorbilden.


Ist der Reiz specifischer Natur, so wird der Wahlkreis ein
etwas engerer sein, z. B. für die Einwirkung des Lichts; aber
immerhin war die Wahl auch hier noch unter sehr verschie-
denen Arten der Reaction zu treffen, wie wir daraus ersehen,
dass gleichzeitig Qualitäten in demselben Organismus erhalten
worden sind, welche auf Licht mit Farbstoffbildung reagiren,
und andere, welche durch Lichtbewegung möglichst stark er-
regt werden, ohne sie zu verzehren, sondern möglichst stark
[85]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
weiter leiten, wie die Sehzellen. Und es besteht dabei, wie
wir oben zeigten, die Nothwendigkeit, dass, wenn geeignete,
auf den Reiz reagirende Variationen auftauchen, diese speci-
fisch gerichteten Reactionen durch den Kampf der Theile zu
immer höherer Stufe der Vollkommenheit gezüchtet werden.
Die Grenze ist dabei nur durch die Leistungsfähigkeit der
chemischen Elemente unseres Planeten gesetzt, welche vielleicht
die höchsten Grade der Vollkommenheit mancher Qualität nicht
hervorzubringen vermag. Indessen sind doch die Reactions-
substanzen unseres Organismus zum Theil schon sehr feine;
wir erinnern nur an die Feinheit des Geruchssinnes, mit welchem
wir Quantitäten Moschus bestimmt wahrnehmen können, welche
nicht das Millionstel eines Milligrammes betragen. Wir er-
innern auch an die Feinheit des Geschmackes, des Gesichts,
des Gehörs und des Tastsinnes, welch letzterer uns die feinste
Berührung einer Flaumfeder von dem Fusse ins Gehirn signali-
sirt. Dazu gehört eine Vollkommenheit der Aufnahme des
Reizes durch die Endorgane und eine ungehemmte Fortlei-
tung, welche schon als ziemlich vollkommen bezeichnet werden
können.


Mit den vorstehenden Ausführungen ist die Zahl der durch
den Kampf der Molekel ohne Mitwirkung des Kampfes der In-
dividuen eventuell sich züchtenden Eigenschaften noch nicht
erschöpft und wir streben auch gar nicht danach, dies zu thun
und damit dem Physiologen vorzugreifen. Uns kam es hier
lediglich darauf an, zu zeigen, in welcher Weise überhaupt
der Kampf der Molekel wirkt, und die Nothwendigkeit der
Züchtung gewisser Eigenschaften nachzuweisen, welche wir zur
Erklärung gewisser morphologischer Leistungen der Organismen
für nöthig erachten und in den folgenden Kapiteln verwenden
werden. Wir haben also gesehen, dass der Kampf der Molekel,
so weit er an den Stoffwechsel anknüpft, immer die unter den
[86]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
gegebenen Verhältnissen kräftigsten Processe züchtet und dass er
bei Reizeinwirkung wiederum in irgend einer Weise dadurch
Gekräftigtes auslesen wird, aber ohne jede Rücksicht auf Spe-
cialzweckmässigkeit für den ganzen Organismus. Es ergiebt
sich ferner, dass er dabei zugleich für Homogeneïtät der
Zellzusammensetzung
sorgt, indem immer blos Eine Qua-
lität die Herrschaft in jeder Zelle gewinnt, falls nicht geradezu
einmal zwei durch verschiedene Eigenschaften ausgezeichnete,
aber sich das Gleichgewicht haltende Verbindungen auftreten.
Da aber absolutes Gleichgewicht fast nie vorkommen wird und,
wenn es da ist, beim Wechsel der Umstände nicht bestehen
kann, so wird durch den Kampf der Theile möglichste Homo-
geneïtät der Zellzusammensetzung bewirkt werden; natürlich
nach dem oben Gesagten blos, sofern nicht die Zelle abwech-
selnd unter verschiedene Bedingungen kommt.


Dieser Sieg Einer Eigenschaft, welcher zur Homogeneïtät
innerhalb jeder Zelle führt, hat noch eine wesentliche, hervor-
zuhebende Folge für die Auslese durch den Kampf der Indi-
viduen. Indem nämlich durch den Kampf der Theile jede
neue kräftigere, in Spuren aufgetretene Qualität sich innerhalb
eines gewissen Gebietes ausbreitet, nämlich in allen Zellen, in
denen sie gleichzeitig als Spur entstanden ist, dann, wie wir
weiterhin sehen werden, auch noch in weiteren Gebieten
durch den Kampf der Zellen Herrschaft gewinnt, so er-
langt sie damit auch grössere Bedeutung
und wird, im
Falle sie für die Erhaltung des Ganzen günstig ist, gleich mehr
nützen oder, im Falle sie nachtheilig ist, mehr schaden, und
also entweder energischer erhalten oder rascher durch Selbst-
auslese eliminirt werden.


Es ist selbstverständlich, dass nicht überall eine Zellsub-
stanz mit allen den Sieg verleihenden Eigenschaften entstanden
sein wird, und es wird dann von den speciellen Verhältnissen
[87]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
abhängen, welche Combination von günstigen Eigenschaften die
Herrschaft gewinnen wird. Es werden die mannigfachsten Com-
binationen zum Siege führen können, welche thatsächlich fest-
zustellen vielleicht eine dereinstige Aufgabe der Physiologie
sein wird.


Hier will ich nur noch andeuten, in welcher Weise noch
andere Eigenschaften durch dieses Princip des Kampfes der
Molekel oder der kleinsten Processe sich Ausbreitung bis zur
Alleinanwesenheit verschaffen können.


Ausser durch den Kampf der Theile um den Raum im
Stoffwechsel, oder um die Nahrung bei Mangel an derselben
mit oder ohne Reizwirkung können neu auftretende Eigen-
schaften auf directem Wege, nämlich im directen Kampfe
mit den alten siegen und sich ausbreiten, indem letztere ent-
weder direct zerstört oder von den neuen verbraucht, assimilirt
werden (die Assimilation ist ja selber der allgemeinste pro-
gressive Process), vielleicht unter fermentativer Wirkungsweise
oder ähnlich wie der Erregungszustand in Nerven und Muskeln
sich ausbreitet, oder auf sonst eine noch unbekannte Weise.
Es können ähnliche Arten der Ausbreitung, wie wir sie patho-
logisch sich vollziehen sehen, früher normal vorgekommen sein,
oder gegenwärtig noch in fördersamer Weise vorkommen, so
wie die Ausbreitung der progressiven Krankheiten des Nerven-,
Muskelsystems, z. B. der progressiven Atrophie des Rücken-
marks, der progressiven Bulbärparalyse, der Paralysis acuta
ascendens, der progressiven Muskelatrophie (nach Friedreich
und Lichtheim), welche alle sich continuirlich innerhalb der
zusammenhängenden Gebilde, blos ihnen folgend, weiter aus-
breiten; oder auch in der Art, wie man sich früher die Aus-
breitung der Entzündungen durch phlogogene (entzündungser-
regende) Wirkung der Entzündungsproducte dachte, und wie
[88]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
neuerdings Virchow1) sie für diejenigen Infectionskrankheiten
als möglich erachtet hat, für welche kein lebendes Contagium
nachgewiesen werden kann; oder wie die Aenderung der Qua-
lität sich innerhalb der Zellen ausbreitet nach Vergiftung mit
Arsen, Phosphor oder Blei, oder nach Einführung des Hunds-
wuth- oder Syphilisgiftes in den Organismus etc.


Es muss überflüssig erscheinen, bei dem gegenwärtigen
geringen Stand unserer Kenntnisse weitere Vermuthungen über
den Umfang solcher Processe innerhalb des physiologischen Ge-
schehens aufstellen zu wollen.


Aehnliche Vorgänge der Ausbreitung bestimmter Eigen-
schaften durch den Kampf der Theile müssen natürlich ebenso,
wie die hier für den Zellleib geschilderten, auch in dem Zell-
kern vorkommen, nur dass sie vielleicht weniger oder gar nicht
unter der Einwirkung von Reizen stehen.


2. Der Kampf der Zellen.


Da, wie wir gesehen haben, das Einzelgeschehen als solches
nicht fest normirt ist und da von vorn herein nicht alle Zellen
desselben Gewebes von vollkommen gleicher Lebenskraft sein
werden, so muss in der Zeit, in welcher die Zellen eines Ge-
webes sich noch vermehren, ein Kampf der Zellen stattfinden;
denn diejenigen Zellen, welche unter den vorhandenen Ver-
hältnissen am günstigsten zur Vermehrung disponirt sind, werden
sich rascher vermehren, als die anderen, und damit bei der Be-
schränktheit des Raumes den Nachkommen der anderen mehr
oder weniger den Platz wegnehmen, also ihre weitere Aus-
bildung und Vermehrung hemmen. Die kräftigeren werden also
eine grössere Zahl Nachkommen liefern, als die schwächeren.


Wenn wir nach den Eigenschaften fragen, die in diesem
[89]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
Kampfe Ausschlag gebend sein werden, so finden wir, dass es
wiederum die im Kampf der Molekel bereits bewährten Eigen-
schaften sind. Es werden voraussichtlich die im Stoffwechsel
durch stärkere Affinitäten sich leichter regenerirenden und ebenso
die weniger verbrauchenden cet. par. über die weniger mit diesen
Eigenschaften ausgerüsteten die Uebermacht erlangen; denn
bessere Fähigkeit, sich zu ernähren, und geringerer Verbrauch für
die eigenen Bedürfnisse sind sicher als günstige Vorbedingungen
des Wachsthums anzusehen. Das Gleiche gilt von jenen Zellen,
welche mit der Qualität des vorhandenen Nahrungsmaterials am
besten sich nähren können, ebenso von solchen, welche bei
grösserem Mangel eine grössere Affinität nach Nahrung be-
kommen, und ebenso werden auch hier wieder bei Nahrungs-
mangel diejenigen am ehesten verhungern und aussterben, welche
cet. par. zu ihrem Stoffwechsel die meiste Nahrung ver-
brauchen.


Ingleichen werden unter Zellen, welche Reizen ausgesetzt
sind, diejenigen einen wesentlichen Vortheil haben und sich
cet. par. mehr vermehren, welche bei der Reizeinwir-
kung am wenigsten rasch sich verzehren
, welche
durch den Reiz in ihrer Affinität zur Nahrung und in der
Regeneration gestärkt werden; und eventuell werden
noch mehr diejenigen Zellen die anderen überholen, welche
durch den Reiz bis zur Uebercompensation gekräftigt
werden. Auch müssen alsdann wiederum Zellen, die mit ihrer
Zellsubstanz den Reiz leichter aufnehmen, einen Vortheil
davon haben; und wenn blos ein Reiz auf ein Gewebe wirkt,
so wird diejenige Zell-Qualität, welche am meisten durch diesen
specifischen Reiz gekräftigt wird, sich cet. par. am meisten
durch Vermehrung der Zellen ausbreiten.


Diese Vermehrung der Zellen wird, da alles Geschehen
nach dynamischen Aequivalenten sich vollzieht, so lange statt-
[90]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
finden, bis jede der vorhandenen Zellen, auf deren Summe der
Reiz sich vertheilt, nur noch so viel Reiz erhält, dass sie bei
der mittleren Reizgrösse nicht mehr zu weiterer Vermehrung
angeregt wird, bis also der Reiz vollkommen in den Zellen
aufgeht.


Aendert sich die Qualität des Reizes, so wird wiederum,
wie beim Kampf der Molekel, aus den vorkommenden Variationen
auch eine neue Zellqualität gezüchtet werden, welche siegend
die alte direkt in ihrer Ernährung beeinträchtigt, ganz ab-
gesehen davon, dass die alte durch den ihr nun mangelnden
Lebensreiz auch von selber schon der Atrophie verfallen muss.
Wirken dagegen abwechselnd und wiederholt verschiedene
Reize
, so werden auch hier wieder schliesslich nicht Zellarten,
welche zugleich durch die verschiedenen Reize gekräftigt werden,
sondern verschiedene Zellsorten neben einander, von welchen
jede blos durch Einen Reiz, aber von diesem besonders stark
gekräftigt wird. Auch der Kampf der Zellen schliesst so eine
Tendenz zu immer speciellerer Differenzirung ein, wie der
Kampf der Molekel. Denn auch hier kann unmöglich Eine
Qualität durch zwei verschiedene Reize so gekräftigt werden,
als zwei verschiedene Qualitäten, von denen jede vollkommen
blos für Einen Reiz angepasst ist. Wenn daher dem letzteren
Verhältniss entsprechende Varietäten aufgetreten sind, müssen
sie das Uebergewicht erhalten.


Diese allgemeine Ableitung der Eigenschaften, welche
eventuell im Kampfe siegen müssen, mag auf den ersten Blick
als sehr müssig erscheinen; sie ist es aber nicht so ganz. Denn
einmal ist sie nicht ohne Nutzen für unsere Erkenntniss, be-
sonders als heuristisches Princip, und zweitens werden wir bei
der Betrachtung der realen Verhältnisse sehen, dass in der
That nicht unwichtige Anhaltspunkte für die Annahme vorhanden
sind, dass die hier bei eventuellem Auftreten als Sieg ge-
[91]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
winnend geschilderten Eigenschaften wirklich existiren und also
die Qualitäten der unseren Planeten zusammensetzenden Elemente
in der That ausreichend gewesen sind, diese theoretisch er-
wiesenen Sieger hervorzubringen.


Es scheint somit im Kampfe der Zellen alles so zu sein,
wie beim Kampfe der Molekel, ganz dieselben Eigenschaften
den Sieg zu gewinnen, somit die Ausführung erledigt zu sein.
Dies wäre aber voreilig. Zunächst bedingt schon der Umstand,
dass nicht blos Vergrösserung, sondern auch Vermehrung der
Zellen stattfinden muss, einen Unterschied, denn es ist möglich
und wahrscheinlich, dass zur Vermehrurg der Zellen andere
Momente noch gehören, als zur blossen Vergrösserung, wenn
auch, wie im obigen angenommen, die allgemeinen Vorbe-
dingungen beider dieselben sind.


Wir unterscheiden nach unserer heutigen Auffassung zwei
Zellbestandtheile, einen die Function der Zelle besorgenden,
somit das Specialleben führenden Theil, den Zellleib, einen
anderen die eventuelle Vermehrung einleitenden, abgesonderten,
den Zellkern, und es ist Grund, diesen beiden Theilen, wie
sie verschiedene Functionen haben, auch ganz verschiedene
Qualitäten zuzuschreiben.


Jedenfalls müssen also auch diejenigen Qualitäten des
Kernes, welche unter den gegebenen Bedingungen am besten
sich nähren können, sich stärker ausbreiten, und ebenso werden,
im Falle Reizeinwirkungen bis zu ihm dringen, derartige Quali-
täten des Kernes, welche durch den Reiz in ihrem Lebens-
process gekräftigt und zur Vermehrung ihrer Substanz angeregt
werden, einen Vortheil durch grössere Ausbreitung erlangen,
und all die oben erwähnten Eigenschaften müssen also auch
auf den Kern übertragen werden, müssen in ihm und mit ihm
siegen, und es muss diesen Eigenschaften des Kernes gegen-
über fraglich bleiben, ob und wie weit die des fungirenden
[92]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
Zellleibes als günstige Vorbedingungen auch für die Kernver-
mehrung, also für den Ausgangspunkt der Zellenvermehrung
anzusehen sind. Wir können daher bei unserer Unkenntniss
dieser Verhältnisse zur Zeit nicht sicher beurtheilen, wie weit
der Kampf der Zellen dasselbe züchtet als der Kampf der
Molekel, in wie weit sie sich fördern oder widerstreben, aber
wir werden doch im weiteren aus dem empirisch beobachteten
Verhalten Gründe finden, zu schliessen, dass sie sich fördern.
Auch lässt sich eine Wahrscheinlichkeit dafür aus dem Principe
des Kampfes ableiten; denn wenn Qualitäten im Kern und Zell-
leib auftreten, welche beide durch dieselben äusseren Be-
dingungen gekräftigt werden, so werden die so zusammen-
gesetzten Zellen wiederum einen Vortheil vor anderen haben,
in welchen blos Ein Bestandtheil gekräftigt wird.


Eine Tendenz zu einem Kampfe um den Raum zwischen
diesen beiden Zellbestandtheilen scheint noch in Organen höherer
Organismen vorhanden zu sein, denn sobald in den Muskeln
der specifisch fungirende Theil atrophirt, findet eine Ver-
mehrung der Zellkerne statt, die sogenannte »atrophische Kern-
wucherung« 1), welche aber nicht zu einer Vermehrung der Zellen
führt. Das Gleiche ereignet sich auch nach Flemming in
den Zellen atrophischen Fettgewebes 2). Doch sind diese Er-
scheinungen vor der Hand für uns von keiner Wichtigkeit und
wir knüpfen den Werth unserer Ableitungen in keiner Weise
an die Auffassung, welche diese Vorgänge erfahren.


Wir kommen nun zu einem weiteren Unterschied des Kampfes
der Zellen von dem Kampf der Molekel. Und da wir es hier
mit grösseren Verhältnissen zu thun haben, welche der directen
Beobachtung zugänglich sind, so sind wir hier auch im Stande,
[93]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
die thatsächliche Berechtigung der Annahmen genauer zu con-
troliren.


Es handelt sich um die Verhältnisse beim Kampfe um
den Raum
. Wenn der Raum, um welchen gekämpft wird,
ganz frei ist, so wird, wie oben geschildert, die grössere
Wachsthumsgeschwindigkeit an sich siegen. Das Ende des
Wachsthums ist allemal durch den Widerstand an den Nachbar-
theilen gegeben. Also muss Druck dem Wachsthum Schranken
setzen können. Das ist im allgemeinen sehr bekannt, aber
gleichwohl für die thierischen Organismen nicht in der Weise
bewiesen, wie es hier nöthig ist. Der Druck, von dem es be-
kannt ist, ist immer Druck, welcher ausgebreiteter auf eine
ganze Stelle mit Zellen und Blutgefässen wirkt. Da nun letztere,
insbesondere die Capillaren, leicht comprimirbar sind, so wird
den betreffenden Stellen des Gewebes die Nahrung entzogen und
dasselbe damit der Atrophie unterliegen. Hier, beim Kampfe
der einzelnen Zellen, kann natürlich eine solche Compression
der Blutgefässe nicht stattfinden; trotzdem kann wohl der Druck
der Zellen an einander in der gleichen Weise mechanisch nach-
theilig wirken, denn auch die Zelle selber ist von einem Netz-
werk mit Flüssigkeit erfüllter Räume durchzogen, welche bei
der Compression verengt werden, wodurch die Ernährung be-
einträchtigt werden muss. Dabei ist noch abgesehen von den
Nachtheilen innerer Erhöhung der Spannung für die Diffusion,
für die Protoplasmabewegung oder für die chemischen Um-
setzungen. Und auch schon im Kampf der Molekel wird das
Feld von den Besiegten nicht activ geräumt, sondern letztere
müssen verdrängt werden oder es muss dem weiteren Wachs-
thum bei der Regeneration durch den Druck Widerstand ge-
leistet werden, wie denn jeder Kampf um den Raum nur auf
mechanische Weise durch Druck entschieden werden kann.


Es erhellt nun, dass diese wichtige Eigenschaft der Wider-
[94]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
standsfähigkeit gegen Druck, wenn sie einer Zelle und ihren
Nachkommen in höherem Masse zu Theil ist, als den anderen
in der Umgebung, gleichfalls zum Siege und zur allgemeinen
Ausbreitung führen kann, selbst wenn die Vermehrung eine
langsame, aber stetige ist. Ob solches auch schon innerhalb
der Zelle, also im Kampf der Molekel möglich ist, wird davon
abhängen, ob der Druck blos mechanisch oder auch chemisch
hemmend zu wirken im Stande ist, und im ersteren Falle, ob
die Theile der neu auftretenden Variation in der Zelle fest ge-
schlossen an einander congregirt sind, dass sie als neuer, zu
einem Ganzen geformter Bestandtheil wie eine Geschwulst
mechanisch als Ganzes gegen die Nachbarschaft kämpfen können.
Ueber das Vorkommen dieser Eigenschaft haben wir kein Urtheil
und ich habe es deshalb unterlassen, sie beim Kampf der
Molekel zu erwähnen und zu verwerthen.


Für den Kampf der Zellen aber haben wir Beweise dafür
in pathologischen Vorkommnissen, wo Zellen in andere hinein-
wachsen, so z. B. bei der lacunären Usur der Muskelfasern
durch Sarcomzellen, nach R. Volkmann1), Klemensiewicz2),
oder durch Wanderzellen in Folge vorübergehender Aufhebung
der Blutcirculation nach R. Erbkam3). Ferner aus dem normalen
Vorgange bei der Regeneration der Epithelien, wie wir sie für
die Epidermis von G. Lott4), für die Flimmerepithelien der Luft-
röhre von O. Drasch5) kennen gelernt haben, ergiebt sich auf
das bestimmteste eine gegenseitige Beeinflussung durch Druck,
welche unter Durchbrechung, Zertheilung und Zerstückelung der
alten Zellen dieser Gewebe zum Schwunde und zur Ausstossung
führt.


[95]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.

Zu den wichtigen allgemeinen Lebensbedingungen gehört
auch die Beseitigung der Stoffwechselproducte;
denn ihre Anhäufung würde schädlich sein, einmal weil sie
als für den Organismus todtes Material unnützer Weise Raum
einnehmen oder weil sie eventuell durch ihre chemische, vom
Organismus different gewordene Beschaffenheit direct schädlich
wirken werden. Es werden daher ceteris paribus ebensowohl
Zellen, welche weniger schädliche Stoffwechselproducte bilden,
als auch diejenigen, welche die Abfuhr derselben leichter be-
sorgen können, einen wesentlichen Vortheil im Kampfe vor den
anderen Zellen voraus haben und daher leichter sich erhalten
und ausbreiten.


Die Wirkungsgrösse des Kampfes der Zellen ist
bedingt durch die Zahl von Zellgenerationen, in welchen er zur
Wirkung gelangt, und diese ist natürlich abhängig von dem
Zeitpunkte des Auftretens der neuen Eigenschaft im Leben des
Individuums. Tritt sie erst im erwachsenen Individuum auf,
wo blos noch physiologische Regeneration stattfindet so kann
sie überhaupt nur in jenen Organen wirken, deren Zellen noch
einer physiologischen Vermehrung entweder zur Regeneration
oder zur Arbeitshypertrophie unterliegen, also in den Epithelien,
den Schleim- und vielleicht noch anderen Drüsen, in Muskeln,
Knochen, im Knorpel- und im Bindegewebe und in den Nerven;
nicht aber, so viel wir bis jetzt wissen, in den Lagern der
Ganglien- und Sinneszellen.


Tritt dagegen die neue Variation schon frühzeitig im Em-
bryo auf, so wird alles von ihr abstammende Gewebe ihren
Charakter tragen, und da sie irgend einen Vorzug für die Aus-
breitung hat, wird sie nach dem Maasse desselben ihr Verbrei-
tungsgebiet über das ihrer ursprünglich gleichstehenden Genos-
sinnen ausdehnen, so dass eine neue günstige moleculare Va-
riation, auch wenn sie erst nach der Bildung der Keimblätter
[96]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
auftritt, sich eventuell gleich fast in einem ganzen Gewebe
verbreiten kann. Und was so gezüchtet ist, ist also wieder
das zum Leben Kräftigste, eventuell die kräftigste Reaction auf
Reize Gebende, seien letztere nun physikalischer oder chemi-
scher Natur und, falls bis zur Uebercompensation des Ver-
brauchten durch den Reiz gekräftigt wird, die Fähigkeit zur
Arbeitshyperplasie.


Aus diesen so gezüchteten allgemeinen Eigenschaften wird
secundär erst wieder aber gleichzeitig die Auslese im Kampfe
um’s Dasein dasjenige züchten, was dem ganzen Individuum
dienlich ist. Diese Züchtung wird dadurch erleichtert, dass
in Folge der durch den Kampf der Zellen erfolgenden weiteren
Verbreitung der neuen kräftigeren Eigenschaften der neue Cha-
rakter gleich mit entschiedenerer Bedeutung auftritt, und wenn
er nützlich ist, gleich in höherem Maasse förderlich zur Geltung
kommt, oder wenn er nachtheilig, wieder durch Selbstelimina-
tion aus der Reihe des Lebenden verschwindet.


Auch direct gestaltend kann der Kampf der Theile bei
den Zellen wirken, indem er einmal solche Zellen erhält, wel-
chen eine günstigere Lage zu den Blutgefässen, zu der Fläche,
von welcher die Nahrung zu ihnen kommt, eigen ist, anderer-
seits unter Einwirkung von Reizen, sofern dieselben selber be-
stimmt gestaltet sind, wie der Druck in den Knochen, der
Zug in den Sehnen, Bändern und Fascien, worüber in dem
Kapitel der Reizwirkung ausführlicher erörtert werden wird.


3. Der Kampf der Gewebe.


Auch zwischen den verschiedenen Geweben ist natürlich
ein Kampf möglich. Indessen, da es ein Kampf heterogener
Dinge ist, so kann er nicht, wie der Kampf der Molekel und
der der Zellen, zur Auslese des Besseren führen, er kann nicht
die Entwickelung des Organismenreiches durch Steigerung der
[97]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
Eigenschaften fördern und abkürzen. Sein Resultat wird mit
Nothwendigkeit nur das Gleichgewicht zwischen den Theilen
sein. Denn Gewebe, welche zu lebenskräftig für die anderen
sind, auch wenn sie selber oder die anderen sehr nützlich
wären, müssen zur Vernichtung des Ganzen führen, wie uns
dies zahlreiche pathologische Beispiele thatsächlich zeigen. Die
Geschwülste sind bekanntlich solche mit abnormer Lebenskraft
ausgestattete Gewebe, die sich auf Kosten der Nahrung und
des Raumes der anderen entfalten und mit diesen den Orga-
nismus zerstören. Ebenso ist die Stärkung der Bindesubstan-
zen, wie sie z. B. das Syphilisgift hervorbringt, hierher zu
zählen. Sie vermehren sich bekanntlich nach Einwirkung die-
ses Giftes (ob blos nach Hinzutreten eines anderen Reizes, ist
für uns irrelevant) und bringen schliesslich die eingelagerten,
specifisch fungirenden Theile der Organe zum Schwund. In
ähnlicher Weise wirkt Arsen bei lange dauerndem Genuss ausser
auf andere Theile auch stärkend auf die Entwickelung des
Fettgewebes. Ist dies oft vortheilhaft, so ist dagegen nach-
theilig die übermässige Vermehrung des Fettgewebes bei der
allgemeinen Fettleibigkeit, insbesondere, indem sie die Bewe-
gungen des Herzens erschwert. Ferner zeigt uns jede Entzün-
dung in ihrer Auflösung und Zerstörung des normalen Gewebes
einen solchen Kampf.


Auch schon allein durch abnorme Schwächung des einen
Gewebes kann das andere das Uebergewicht gewinnen und sich
auf Kosten des Raumes des geschwächten entfalten. So thun
dies nach Thiersch1) im Alter die Epithelien in Folge der
Schwächung des Bindegewebes; so erklärt Cohnheim2) das
Einwachsen der Blutgefässe in alten geschwächten Knorpel,
Roux, Kampf der Theile. 7
[98]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
so dringen nach C. Friedländer1) atypische Epithelwuche-
rungen in entzündlich verändertes Bindegewebe ein.


Diese Beispiele demonstriren deutlich, dass das normale
Leben an das Gleichgewicht der Gewebe gebunden ist. Das
sehen wir auch noch in anderer Weise; wenn z. B. ein Schnitt
in die Hornhaut des Auges gemacht wird, so vermehrt sich
nach H. v. Wyss2) sehr rasch das Epithel derselben und
wächst in den entstandenen Spalt des Bindegewebes hinein,
bis es ihn erfüllt; dann, allmählich nachfolgend, drängt das
nachwachsende Bindegewebe den Epithelzapfen wieder heraus.
Wenn eine Wunde vom Rande des Substanzverlustes her nicht
rasch genug mit Epithel überhäutet wird, wächst bekanntlich
das Granulationsgewebe als sogenanntes wildes Fleisch an der
offenen Stelle heraus, während es am Rande durch den ganz
feinen neugebildeten Epithelsaum in den normalen Schranken
zurückgehalten wird.


Da Mangel des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen
Geweben sehr rasch zum Tode der Individuen und somit zur
Elimination derselben und ihrer nachtheiligen Qualität aus der
Reihe der Lebenden führt, so mussten in den überlebenden In-
dividuen blos Zustände des Gleichgewichts der Gewebe übrig
bleiben und so eine harmonische Einheit des ganzen Or-
ganismus
durch Selbstelimination des Abweichenden gezüchtet
werden. Das so entstandene Gleichgewicht wurde aber blos für
eine gewisse normale Lebensbreite erworben und kann durch
Veränderung der Bedingungen leicht gestört werden. Sind
z. B. die Bindesubstanzen abnormer, nicht durch eigene Thä-
tigkeit bewirkter Vergrösserung der Blutzufuhr längere Zeit
unterworfen, wie z. B. bei chronischen Unterschenkelgeschwü-
[99]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
ren, so wuchert das Bindegewebe der Haut, zuweilen auch der
darunterliegenden Muskeln, und bringt dann die letzteren an
den betreffenden Stellen zum Schwund.


Ob nun aber gegenwärtig im ganzen normalen Leben sol-
ches Gleichgewicht besteht, oder ob nicht vielleicht im Embryo
manchmal das eine Gewebe über das andere activ siegen muss,
um die normalen Bildungen herzustellen, ist schwer zu beur-
theilen. Boll1), der dies auf eine histologische Beobachtung an
der Lunge hin sofort als allgemeines Princip der ganzen em-
bryonalen Entwickelung kategorisch aufgestellt hat, bekundet
aber in seiner Arbeit, dass er gar keine Vorstellung von den
Methoden gehabt hat, welche nöthig sind, derartiges überhaupt
festzustellen. So stützt sich denn auch sein Schluss, dass das
Bindegewebe, in die specifischen Theile der Organe activ ein-
wuchernd, an manchen Stellen in den letzteren die normale
Structur ausbilde, während an anderen Stellen das Gleiche
durch die umgekehrte Wechselwirkung entstehe, auf eine
durchaus zweideutige Beobachtung. In diesem Sinne ist von
ihm der Ausdruck: Kampf der Gewebe angewendet und
in die Literatur eingeführt worden. Da sich wohl Niemand
finden wird, der diese einseitige Auffassung der Morphogenese
vertheidigen wird, so wäre es unnütz, weiter darauf einzugehen,
und so mag denn auch die Arroganz des Verfassers in der
Beurtheilung der Leistungen unserer verdientesten Männer, die
nur in der Dürftigkeit der ganzen Ausführungen seiner Arbeit
ein Aequivalent findet, ungerügt bleiben. Soweit Richtiges an
seiner Auffassung ist, nämlich soweit er meint, dass im Embryo
nicht immer ein gleichmässiges sich neben einander Entwickeln
der Theile stattfindet, sondern dass oft bei der Gestaltung der
neuen Formen bald der eine, bald der andere Theil eine mehr
7*
[100]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
active oder mehr passive Rolle spielt, war es bereits von
Früheren erkannt und die Erforschung dieser Verhältnisse im
Einzelnen mit den Methoden zur genauesten Topographie des
Geschehens von His in Angriff genommen worden.


Da die specifisch fungirenden Gewebe immer in Stütz-
gewebe, welches zugleich die Ernährungsgefässe einschliesst,
eingebettet sind und dadurch von anderen specifischen Theilen
desselben Organes, z. B. den zugehörigen Nerven, getrennt
werden, so muss der Kampf der specifischen Gewebe immer
zunächst mit dem Bindegewebe stattfinden. Es scheint aber,
dass letzteres auch im Erwachsenen noch an vielen Stellen eine
Tendenz zu fortwährender Vermehrung hat, denn wenn irgendwo
in Drüsen, Nervensystem oder Muskeln die specifischen Theile
zu Grunde gehen, so pflegt die interstitielle Bindesubstanz zu
hypertrophiren und den frei gewordenen Raum mehr oder minder
einzunehmen. Besonders beweisend sind derartige Vorkommnisse
bei den strangförmigen Degenerationen des Rückenmarkes, weil
hier mit Sicherheit die Bindegewebshypertrophie als secundäre
Erscheinung nach der Atrophie der nervösen Theile aufgefasst
werden kann, da einmal die Affectionen noch im Stadium der
blossen Atrophie beobachtet worden sind, andererseits aber, weil
primäre Erkrankung des Bindegewebes längs einzelner Nerven-
bahnen des Rückenmarkes oder Gehirnes bei der gleichmässigen
Beschaffenheit der Bindesubstanz nebeneinander liegender Ner-
venbahnen absolut unverständlich wäre. Das schliesst aber natür-
lich nicht aus, dass am ersten Entstehungsorte, wie für die
Rückenmarksschwindsucht wohl in manchen Fällen angenom-
men werden muss, der Process in der Bindesubstanz begonnen
hat; aber das strangweise Weiterschreiten des Processes erfolgt
dann von den hier zerstörten nervösen Theilen aus, und daran
schliesst sich die strangförmige compensatorische Hypertrophie
der Stützsubstanz 1). Dasselbe findet statt bei jeglichem Substanz-
[101]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
verlust durch Verwundung. Der Ersatz des Verlorengegange-
nen durch Bindegewebe wird zwar in diesem letzteren Falle
gewöhnlich als »Regeneration« bezeichnet, verdient aber diese
Bezeichnung deshalb nicht, weil dabei die normale Structur
der Stelle nicht wieder hergestellt wird. Der Vorgang ist also
nicht mit der auf Erhaltung embryonaler Eigenschaften in den
Zellen beruhenden Regeneration niederer Thiere, z. B. der
Amphibien, vergleichbar, welche nach Entfernung eines Kör-
pertheiles denselben wieder selbst bis auf die Speciescharak-
tere normal herstellt.


Im erwachsenen Individuum scheint ein Kampf der Gewebe
als normaler Process blos noch vorzukommen in den Knochen,
indem hier die Zerstörung des Alten unter dem Einwachsen von
Capillarschlingen stattfindet, welchen die von Kölliker2) in
ihrer Function erkannten grossen vielkernigen Zellen, die Osteo-
klasten oder Myeloplaxen, durch Auflösung der Knochensubstanz
den Weg bahnen. Aehnliches findet im embryonalen und jugend-
lichen Individuum bei der der Verknöcherung vorangehenden
Zerstörung der knorpeligen Skelettheile statt. Auch kommt
gelegentlich ein physiologischer Kampf der Gewebe noch an
anderen Stellen vor. So hindert z. B. nach W. Krause3) der
Musculus transversus menti, wenn er ausgebildet ist, die An-
sammlung von Fett im Unterhaut-Bindegewebe an der Stelle,
wodurch alsdann das Grübchen im Kinn entsteht.


Trotz dieser im Allgemeinen geringen und, wie wir sahen,
die Entwickelung und Kräftigung des Organischen nicht fördern-
den Wirkungsweise des Kampfes der Gewebe kann derselbe
[102]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
in einer Beziehung doch noch von grösserer, direct nützender
Bedeutung werden. In dem Falle nämlich, dass die Gewebe die
Eigenschaft haben, blos durch Reize ihre Kräftigung zu erhal-
ten, wird bei ausschliesslicher Einwirkung der functionellen Reize
der Kampf der Gewebe sofort zu einem Kampfe der Functions-
stärke der Gewebe und er wird als solcher bestrebt sein, jedem
Gewebe die für den Gebrauch, den das Ganze von seiner Function
macht, nöthige Dimension zu geben. Wenn z. B. durch stär-
keren Reiz zur Thätigkeit das Drüsengewebe zur Vermehrung
angeregt wird, so werden durch diese Vermehrung auch das
stützende Bindegewebe und die Blutgefässe zu entsprechender
Vermehrung angeregt werden. Das Gleiche gilt von allen
anderen Geweben und ihren functionellen Wechselbeziehungen.
Diejenigen Gewebe, welche bei einer Aenderung der functio-
nellen Verhältnisse weniger in Anspruch genommen werden als
bisher, werden ausser der Inactivitätsatrophie auch noch der
Druckatrophie durch die stärker den Raum beanspruchenden
Nachbartheile verfallen.


Es wird damit der Kampf der Gewebe zu einem alle quan-
titativen Verhältnisse im Körper direct regulirenden Princip, zu
einem Principe der functionellen Selbstgestaltung
der zweckmässigsten Grössenverhältnisse
.


Dies setzt aber, wie erwähnt, voraus, dass die Gewebe im
erwachsenen Organismus ihre Kräftigung blos noch durch die
functionellen Reize erhalten, mit der Zunahme derselben also zu
stärkerer Entwickelung und zu stärkerem Widerstand gegen die
Nachbarn gekräftigt, mit der Abnahme derselben zur Verringe-
rung dieser Eigenschaften geschwächt werden.


Ob und wie weit wir berechtigt sind, Geweben des thierischen
Organismus derartige wichtige Qualitäten zuzuschreiben, wird
im III. Kapitel ausführlicher erörtert werden.


[103]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.

4. Der Kampf der Organe.


Auch im Kampfe der Organe sind es wieder heterogene
Theile, welche mit einander um den Raum und vielleicht auch
um die Nahrung zu streiten haben. Die nächste Folge wird
daher auch hier wieder die sein, dass blos solche Verhältnisse
bestehen können, in welchen diese chemisch und physiologisch
ganz ungleichwerthigen Theile sich morphologisch das Gleich-
gewicht zu halten vermögen; denn wenn einer in seiner Wachs-
thumskraft so stark wäre, dass er die anderen verdrängte, so
würde das Ganze zu Grunde gehen. Wenn der Kampf der
Organe somit das Gute hat, dass er Unhaltbares aus der
Reihe des Lebenden rasch entfernt, so muss auch daran gedacht
werden, dass er zugleich im Stande sein kann, manche viel-
leicht das stärkste für den Organismus leistenden Verbindungen
zu unterdrücken, wenn sie morphologisch kräftiger sind als die
der anderen Organe.


Eine Wechselwirkung der Organe auf einander ist lange
bekannt und in mannigfacher Weise gewürdigt worden; aber
nicht als züchtender Kampf um den Raum. So ist die gegen-
seitige Beeinflussung der Eingeweide in ihrer Gestalt, besonders
die passive Abhängigkeit der Gestalt der Leber von ihren
Nachbarorganen, schon von Vesal, Cruveilhier und neuer-
dings von Braune, Toldt und Zuckerkandl, His1) und
Anderen beobachtet und hervorgehoben worden und Th. Rott2)
fand, den Beweis ergänzend, dass beim Fehlen der rechten
Niere und Nebenniere auch die normal vorhandene, diesem Or-
gane entsprechende Grube in der Leber fehlte. Bei den Fischen
sieht man noch mehr die vollkommene Abhängigkeit der Ge-
[104]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
stalt der Leber von den Nachbarorganen, indem hier die Leber oft
weit zwischen den Darmschlingen, die von letzteren gelassenen
Lücken abgussartig ausfüllend, nach hinten reicht. Ebenso zeigt
sich bekanntlich die Lunge in ihrer Gestalt abhängig von der
Brustwand, vom Herzen und von der Gestalt der Zwerchfell-
kuppel; die Nebenniere ist abhängig von der Niere, die Milz
von Magen und Darm und das Grosshirn plattet die Hemisphären
des Kleinhirns ab. Sehr interessant und morphologisch wichtig
ist die Abplattung der Muskeln z. B. der Wadenmuskeln an-
einander. Bei angeborener abnormer Grösse der Zunge wer-
den die Schneidezähne durch den Druck des Organes allmählich
nach vorn gebogen, und wenn ein Zahn ausgezogen ist, rücken
seine beiden Nachbarn allmählich näher gegen einander und
verkleinern so die Zahnlücke. Es liessen sich noch viele solcher
gegenseitiger Beeinflussungen anführen. Das für uns Wichtige
an ihnen ist, dass diese Beeinflussung zur möglichsten Aus-
nutzung des Raumes geführt hat, und dass danach nun eine
Vergrösserung des einen Organes zumeist nur auf Kosten des
anderen geschehen kann, sobald das letztere nicht die Kraft
hat, dem Wachsthumsdruck des anderen zu widerstehen und
das andere zu zwingen, sich blos noch aussen zu vergrössern.


Falls, wie schon beim Kampf der Gewebe erwähnt und
angenommen wurde, die Gewebe die Eigenschaft haben, durch
den functionellen Reiz ihre Kräftigung zu erfahren, so wird
damit der Kampf der Organe in gleicher Weise wie der Kampf
der Gewebe zu einem sehr nützlichen Principe, zufolge dessen
einmal die Organe so gross sich entwickeln, als dem Bedürf-
niss des Organismus entspricht, und zweitens bei Verringerung
des Gebrauchs nicht blos der einfachen Inactivitätsatrophie ver-
fallen, sondern, von ihren stärkeren Nachbarn direct beeinträch-
tigt, rasch bis auf jenes Volumen verkleinert werden, welches
allein noch durch den Grad seiner Function für den Organismus
[105]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
von Nutzen ist und durch diesen Grad der Function die Kraft
erhält, weiteren Verkleinerungen durch die Nachbarorgane Wi-
derstand zu leisten. Letzteres zeigt z. B. der Musculus plan-
taris der Wade, welcher beim Menschen, entsprechend der Ver-
ringerung seiner Function, zu einem ganz geringen, in seiner
Gestalt von den beiden anderen Wadenmuskeln abhängigen
Gebilde reducirt ist, trotzdem aber in seinem erhaltenen Reste
ein durchaus frisches, leistungsfähiges Aussehen zeigt. Daraus
folgt ferner von selber, dass fast nicht gebrauchte Organe an
Stellen, wo sie keine Concurrenz um den Raum zu bestehen
haben, sich längere Zeit erhalten können, wie wir dies bei
den Ohrmuskeln des Menschen sehen.


Ich glaube, dass durch diesen directen Kampf der Organe
um den Raum manche derjenigen Erscheinungen, welche Dar-
win
unter dem Principe der Oeconomie des Wachsthums zu-
sammenfasst 1), auf näherem Wege sich erklären, als wenn, wie
Darwin als Hauptfactor ihrer Entstehung annimmt, die Organe
vorwiegend durch Auslese aus zufälligen Variationen die den
jeweiligen Umständen angemessene Reduction ihrer Grösse er-
fahren hätten.


Ausser um den Raum kann der Kampf der Organe
auch noch um die Nahrung stattfinden. Und in dieser Be-
ziehung scheint er schon längst erkannt und auch richtig auf-
gefasst gewesen zu sein, denn schon Goethe und Geoffroy
St. Hilaire
haben gleichzeitig ein Gesetz der Compensation
des Wachsthums aufgestellt, welches besagt, dass, wenn viel
organische Substanz zum Aufbau irgend eines Theiles ver-
wandt wird, anderen Theilen die Nahrung entzogen wird und
sie damit reducirt werden. Darwin2) erkennt diesem Gesetz
[106]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
neben der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl eine nur geringe
Wirkung zu, indem er sagt:


»Da der Zufluss organisirter Substanz nicht unbegrenzt ist,
so kommt zuweilen das Princip der Compensation mit in Thätig-
keit, so dass, wenn ein Theil bedeutend entwickelt wird, be-
nachbarte Theile oder Functionen ganz reducirt werden. Dieses
Princip ist aber wahrscheinlich von viel geringerer Bedeutung als
das allgemeinere der Oeconomie des Wachsthums.«


Eine solche Wirkung braucht nicht blos auf dem Wege
collateraler Blutentziehung stattzufinden, indem mit der Erweite-
rung der Gefässe des einen Organes die der Nachbarorgane da-
durch ceteris paribus weniger Blut zugeführt erhalten; sondern
es scheinen derartige Wechselwirkungen auch in ganz anderer
Weise vor sich gehen zu können. So kommt bekanntlich bei
Frauen, welche Jahre lang stillen, eine Krankheit, die sogenannte
Osteomalacie, Knochenerweichung, vor, darin bestehend, dass
bei der fortwährenden Abfuhr von Kalksalzen durch die Milch-
drüsen den Knochen der Mutter die Kalksalze aus der Nahrung
vorweggenommen werden, so dass die fortwährend neu gebildete
Knochensubstanz weich bleibt und schliesslich, wenn die alte
Knochensubstanz ganz durch die neue kalklose ersetzt worden
ist, die Knochen von wachsartiger Weichheit sind und sich in
jede beliebige Form verbiegen. Hier findet also der Kampf der
Milchdrüsen mit den Knochen dadurch statt, dass die Zellen der
ersteren die Kalksalze stärker aus dem Transsudate anziehen
als die Knochengrundsubstanz und sie so der letzteren vor-
wegnehmen.


Uebersicht der Leistungen des Kampfes
der Theile
.


In dem vorstehenden Kapitel wiesen wir zunächst darauf
hin, dass die Entwickelung der Organismen zwar nach im
[107]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
Grossen gültigen, festen Gesetzen erfolgt, aber trotzdem nicht
Constantes liefert, sondern schon in der Keimanlage und in der
embryonalen Entwickelung durch äussere Einwirkungen alterirt
wird und noch mehr in der postembryonalen Entwickelung,
so dass eine Variabilität in allen Theilen angenommen werden
musste, welche in dem thatsächlich beobachteten Verhalten ihre
Bestätigung fand. Ferner führten wir aus, dass in Folge derselben
die Vererbung nicht bis zur Bestimmung des letzten Einzel-
geschehens gehen kann, sondern sich begnügen muss, allgemeine
Normativbestimmungen für das Geschehen zu treffen.


Eine nothwendige Folge dieser Freiheit und der Verschieden-
heit der Theile war es, dass im Stoffwechsel und Wachsthum
die stärkeren Theile die schwächeren durch Entziehung von
Raum und eventuell auch von Nahrung beeinträchtigen und sich
auf Kosten derselben in höherem Maasse ausbreiten mussten.


Wir sahen danach, dass der Kampf der Molekel und der
Kampf der Zellen eine Reihe von Qualitäten züchtete, welche
in Folge ihres allgemeinen Charakters auch dem Individuum
in seinem Kampfe ums Dasein höchst nützlich sind. Dies ist
natürlich, da einmal die allgemeinen Eigenschaften, welche im
Kampfe den Sieg verleihen, überall dieselben sind und zwei-
tens das Ganze, als die Resultante der Theile, mit ihnen die-
selben Bedürfnisse hat und blos durch sie kämpfen kann. Wenn
aber die Theile im Kampfe gegen einander sich zu immer
höherer Leistungsfähigkeit ausbilden, so muss damit auch ihre
Gesammtwirkung entsprechend zunehmen, in der gleichen Weise,
wie sich die Leistungsfähigkeit eines Heeres steigert, dessen
Offiziere unter einander wetteifern und in welchem immer blos
die besten derselben zur Heranbildung des Nachwuchses aus-
gewählt werden.


Dagegen muss aus der grossen Anzahl dieser im allge-
meinen dynamischen Sinne leistungsfähigsten Eigenschaften die
[108]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
Auswahl des zu besonderen Verrichtungen für den ganzen
Organismus, für das Individuum, in seinen Beziehungen zur
Aussenwelt Passenden natürlich einzig und allein durch den
Kampf ums Dasein unter den Individuen stattfinden.


Die Individuen stellen somit blos Specialfälle und Com-
binationen dessen dar, was im Kampf der Theile sich zu er-
halten fähig ist, während diejenigen im Kampf der Theile
erhaltungsfähigen Substanzen, welche nicht für die Erhaltung
des Ganzen in seinem Kampfe mit der Aussenwelt sich eigne-
ten, mit ihren Trägern aus der Reihe des Lebenden eliminirt
wurden.


Nahmen wir noch an, dass unter den vorgekommenen
Variationen der organischen Substanzen auch solche gewesen
seien, welche auf Zufuhr von Reizen in ihrer Assimilations-
fähigkeit erhöht wurden, auf welche also der Reiz eine trophische,
die Ernährung fördernde Wirkung direct oder indirect ausübt,
so sahen wir, dass diese Qualitäten siegen mussten. Der Kampf
der Molekel und der Zellen musste alsdann die Fähigkeit, auf
Reize zu reagiren, immer höher steigern und eventuell konnte
auch eine Fähigkeit zur Uebercompensation des durch den Reiz
Verbrauchten sich ausgebildet haben, welche ihrerseits zur Ar-
beitshypertrophie führte, wie umgekehrt der Umstand, dass der
Reiz schliesslich zum unentbehrlichen Lebensreiz werden musste,
beim Ausbleiben desselben zur Inactivitätsatrophie Veranlassung
gab. Diese beiden Qualitäten sind dann im Stande, alle quan-
titativen Verhältnisse im Organismus nach dem Maasse des Be-
dürfnisses von selber zu reguliren.


Ausserdem ergab sich bei der Annahme der trophischen
Reizwirkung aus dem Kampf der Theile auch gleich das Prin-
cip der fortwährend sich steigernden Differenzirung, weil nur
diejenigen Verbindungen durch Einen Reiz am meisten gekräf-
tigt werden können, welche blos an ihn allein, nicht auch
[109]B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.
noch in gleich vollkommener Weise an andere Reize angepasst
sind, und weil daher an einen sich wiederholenden Reiz voll-
kommen angepasste Eigenschaften, wenn sie einmal in Spuren
aufgetreten waren, die Herrschaft gewinnen mussten.


Ferner folgerte, dass mit der grösseren Ausbreitung, welche
neu auftretende stärkere Qualitäten durch den Kampf der Mole-
kel und der Zellen erlangen, einmal für Homogenität der Zu-
sammensetzung innerhalb der Zellen und der Gewebe gesorgt
wird, andererseits aber, was wichtiger ist, die neu auftretende
Variation mit der grösseren Verbreitung gleich zu grösserer
Bedeutung gelangt, so dass eventuell ihr Nutzen gleich erheb-
licher, ausschlaggebender im Kampf der Individuen werden
kann oder im entgegengesetzten Falle, wenn die Eigenschaft
nachtheilig ist, die damit beladenen Individuen sofort aus der
Reihe der Lebenden ausgeschlossen werden.


Andere sind dagegen die Leistungen des Kampfes der Ge-
webe unter einander und ebenso die des Kampfes der Organe.
Der Kampf dieser Theile führt durch Selbstelimination zum
alleinigen Ueberbleiben von Organqualitäten, welche sich im
Körper morphologisch das Gleichgewicht zu halten vermögen,
und ferner noch ebenfalls wieder zur möglichsten Ausnutzung
des Raumes. Bei Annahme der Stärkung der Gewebe durch
Reize bewirkt er ausserdem noch die Selbstregulation der quan-
titativen Entfaltung der Gewebe und der Organe nach den Be-
dürfnissen des Ganzen.


Durch jede der vier Kampfesstufen werden demnach die
functionell nöthigen Grössenverhältnisse von selber ausgebildet,
nach der Seite der Vergrösserung durch Stärkung der Ernäh-
rungsfähigkeit, nach der Seite der Verkleinerung durch Schwä-
chung derselben und durch directe Beeinträchtigung im Kampfe
um den Raum mit dem stärker Gebrauchten.


Schliesslich wurde noch kurz angedeutet, dass die so im
[110]II. Der Kampf der Theile im Organismus.
Kampfe der Theile erworbenen Reactionseigenschaften auch zur
directen functionellen Selbstgestaltung nöthiger und höchst
zweckmässiger Formverhältnisse fähig seien, und wir verspra-
chen, die Gründe für die Annahme der Existenz solcher un-
schätzbar wichtigen Eigenschaften darzulegen, was im folgen-
den Kapitel geschehen wird.


Wenn man, wie bisher geschehen, alle guten Eigenschaften
eines Organismus blos von der directen Auslese in dem Kampf
ums Dasein unter den Individuen ableitet, so ist dies dasselbe,
als wollte man ausser den direct zur Wehrfähigkeit gehörigen
auch alle anderen guten Einrichtungen eines Staates in Re-
gierung, Gesetzgebung, Verwaltung, Wissenschaft, Kunst, Han-
del und Gewerbe und auch in der Leistungsfähigkeit der Ver-
treter dieser Stände allein auf den Kampf mit den kriegerischen
Nachbarn zurückführen. Mit diesem Gleichniss glaubte ich
schon vor zwei Jahren 1) die Bedeutung des Kampfes der Theile
zwar kurz, aber verständlich angedeutet zu haben. Denn wem
möchte nicht einleuchten, dass die Concurrenz und der Wett-
kampf der Vertreter desselben Standes und auch die regulirende
Wechselwirkung der verschiedenen Stände auf einander mit zu
den mächtigsten Factoren des stetigen Fortschrittes gehören?
Wie weit würden wir ohne diesen Wettkampf der Einzelnen
blos durch den Kampf mit den Nachbarstaaten gekommen sein?


[[111]]

III.
Nachweis der trophischen Wirkung der
functionellen Reize.


Von den im vorstehenden Kapitel angeführten Eigenschaf-
ten, welche im Kampf der Molekel und im Kampf der Zellen
siegen müssen, wird das thatsächliche Vorhandensein derjenigen,
welche einfach im Stoffwechsel siegen, welche also sich mit
dem vorhandenen Nahrungsmaterial am besten nähren und am
wenigsten verbrauchen, Niemand bestreiten. Einmal, weil die
Prämisse, der Stoffwechsel, eine unzweifelhafte Thatsache ist,
mit welcher auch der Sieg des in demselben Begünstigteren eine
Nothwendigkeit wird, und zweitens, weil die hochgradige Lei-
stungsfähigkeit des Organismus, wie sie uns die Physiologie
erkennen lässt und uns den Organismus als die die zugeführte
Spannkraft am meisten ausnutzende Maschine hinstellt, direct
beweist, dass solche vorzüglichen Eigenschaften vorhanden sind.
Es ist aber wohl genügend dargelegt worden, dass, wenn diese
Eigenschaften vorhanden sind, sie durch den Kampf der Theile
ihre Ausbreitung gewonnen haben müssen, und dass durch den
Kampf der Individuen blos diejenigen Specialfälle derselben,
welche für die äusseren Bedingungen der organischen Species
die günstigsten sind, ausgelesen werden konnten. Diese Eigen-
schaften sind zudem rein physiologische und ohne direct gestal-
tende Wirkung, so dass wir keine Veranlassung haben, weiter
[112]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
auf sie einzugehen. Trotzdem soll über die Arten ihres Vor-
kommens in den Organismen, sowie über die Momente, welche
den betreffenden Organen ihre Gestaltung verleihen, im IV.
Kapitel noch Einiges aufgeführt werden.


Anders ist es dagegen mit der Annahme, dass Substanzen
oder richtiger Processe in den Organismen vorhanden seien,
welche durch zugeführte Reize in der Assimilation gekräftigt
werden und daher die Herrschaft in den bezüglichen Theilen
des Organismus gewinnen müssen, sofern diese Reize während
des ganzen Lebens wiederkehrend einwirken. Dass solche
Eigenschaften, wenn sie einmal auftreten, siegen müssen, glaube
ich im vorigen Kapitel gleichfalls genügend dargelegt zu haben:
es bleibt demnach noch der Nachweis zu liefern, dass solche
Eigenschaften in den Organismen vorkommen, ehe schliesslich
zu einer aphoristischen Darstellung der speciellen Leistungen
derselben bei der Entwickelung des Thierreiches geschritten
werden kann.


Infolge der Schwierigkeit des Existenznachweises derartig
qualificirter Stoffe wird es das Beste sein, wenn wir, um ihr
Vorhandensein erkennen zu können, zunächst die allgemeine
Wirkungsweise derselben ableiten und mit den that-
sächlich vorliegenden Verhältnissen vergleichen
.


Processe, welche unter Reizeinwirkung in ihrer Assimilation
stärker gekräftigt werden, als dem erhöhten Verbrauche ent-
spricht, bei welchen also die Fähigkeit der Uebercom-
pensation
, diese ursprünglich allgemeine Fähigkeit des Wachs-
thums trotz der Abhängigkeit bestehen geblieben ist, werden
sich mit der Häufigkeit, also mit der grösseren Menge des
Reizes zu grösserem Volumen entfalten oder insubstantiiren. Es
wird also eine quantitative Selbstregulation der
Grösse der Organe
nach der Grösse des ihnen zugeführten
Reizes stattfinden. Im Organismus sind nun bekanntlich die Theile
[113]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
vor fremden Reizen geschützt, abgesehen von der inneren und
äusseren Oberfläche. Die Reize, welche wirken, sind somit
blos die functionellen Reize, so der Impuls für Ganglien-, Ner-
ven-, Muskel- und manche Drüsenzellen, Druck und Zug für
die Binde- oder Stützsubstanzen, für Knochen, Knorpel, Binde-
gewebe und elastisches Gewebe.


Es wird also, wenn die Anpassung an den ausschliesslich
einwirkenden Reiz durch den Kampf der Theile erfolgt ist,
jedes Organ um so grösser sich entfalten, je häufiger der Reiz
einwirkt. Da diese Reize aber blos infolge der Thätigkeit des
ganzen Organismus stattfinden, indem sie alle direct oder in-
direct von dem Reizcentrum in dem Gehirn abhängen, so wer-
den sie eben blos das für den ganzen Organismus Zweck-
mässige hervorbringen, also direct das Zweckmässige für die
Erhaltung des Individuums gestalten, wie dies bekanntermassen
in den genannten Organen nach Lamarck, Darwin und
Anderen nach der Darlegung im Kapitel I stattfindet. Wir
erinnern für die Grösse solcher Uebercompensation an die Unter-
suchungen von Volkmann1), welche angaben, dass die Blut-
gefässe das Zehn- bis Vierzehnfache ihrer normalen Spannung
auszuhalten vermögen; von den Muskeln weiss jeder, dass,
wenn er in der Jugend mit zehnpfündigen Hanteln zu üben
angefangen hat, welche er nur mit grösster Willensanstrengung
in gewisser Weise zu heben vermochte, er dies nach einiger
Zeit mit Leichtigkeit kann und jetzt bei derselben stärksten
Willensanstrengung vierzehn- oder sechzehnpfündige Hanteln
zu bewegen vermag. Ebenso ist durch alltägliche Erfahrung
bekannt, dass die Knochen und Bänder normaler Weise viel
grössere Belastungen auszuhalten vermögen, als an welche sie
durch gewohnten Gebrauch angepasst sind. So finden wir in
Roux, Kampf der Theile. 8
[114]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
der Uebercompensation die erste Uebereinstimmung des That-
sächlichen mit dem von der hypothetischen Eigenschaft zu
Leistenden.


Ist die Anpassung an den Reiz eine so vollkommene, dass
derselbe zum unentbehrlichen Lebensreiz geworden ist, dass
ohne ihn die Assimilation und die Erhaltung der normalen
Qualität überhaupt nicht stattfindet, so wird ein Weiteres sich
ergeben. Die organischen Theile werden sich blos da erhalten
und ausbilden können, wo der Reiz wirkt; und wo ferner der
Reiz in bestimmter Gestalt auftritt, wird eine Ausgestal-
tung der Reizform stattfinden;
die Organe werden die
Gestalt und die Structur des Reizes annehmen müssen. Wirkt
z. B. der Reiz, wie in den Knochen, vorzugsweise in gewissen
Richtungen, so werden die in diesen letzteren liegenden Mutter-
zellen am meisten zur Bildung von Knochensubstanz angeregt
werden, und da sie mit Uebercompensation arbeiten, wird bald
in diesen Richtungen so viel Knochensubstanz gebildet sein,
dass sie allein den Reiz aufnehmen und verzehren; während
die in anderen Richtungen gelegenen Theile, wenn sie über-
haupt gebildet worden waren, infolge der Reizentziehung nicht
wieder regenerirt werden können, also dauernd in Wegfall
kommen. So entlastet jedes vorhandene Knochenbälkchen seine
nächste Umgebung. Und wenn die am stärksten gebrauchten
Richtungen durch Substanz unterstützt sind, so werden sie in-
folge der Uebercompensation auch fähig sein, die Anspannungen
in anderen seltener und schwächer gebrauchten Richtungen
auszuhalten und dieselben zu entlasten.


Das Gleiche wird beim Bindegewebe, überhaupt bei allen
Organen und Geweben, welche eine blos mechanische Function
haben, und deren Reiz also eine bestimmte innere und äussere
Gestalt hat, wie sie uns die graphische Statik kennen lehrt,
stattfinden.


[115]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Wäre eine Fascie aus ganz verwirrten Fasern zusammen-
gesetzt, so würden diejenigen Zellen und Fasern, welche in
der Richtung stärksten Zuges liegen, am meisten gedehnt, also
gekräftigt und, am meisten Intercellularsubstanz ausscheidend,
allmählich immer mehr den anderen Zellen den Reiz entziehen,
wodurch diese an ihrer eigenen Regeneration und der ihrer Fasern
verhindert werden, so dass sie schliesslich schwinden und die
Fasern in den das stärkste leistenden Richtungen allein übrig
bleiben. Hat das Gewebe von vornherein die Eigenschaft,
blos unter der Einwirkung des Reizes gebildet zu werden, so
werden derartige falsch gelagerte Fasern nur in den Anfangs-
stadien und nur schwach entwickelt vorkommen.


Für beide Organsysteme trifft, wie oben gezeigt, alles voll-
kommen zu; sie haben die Structur, welche den Druck- und
Zuglinien entspricht.


Ob der Reiz etwa auch in den Muskel-, Drüsen-, Sinnes-
und Ganglienzellen sich in bestimmter Weise verbreitet und
daher eine bestimmte innere Structur dieser Theile hervorzu-
rufen fähig sein kann, lässt sich zur Zeit nicht beurtheilen, und
wir können somit die vorhandene Structur der betreffenden
Theile in keine hierher gehörige Beziehung zu ihrem functio-
nellen Reize bringen.


Es war im vorigen Kapitel dargelegt worden, dass, wenn
überhaupt Reizanpassung stattfindet, an verschiedene Reize
auch verschiedenartige Anpassungen
stattfinden müs-
sen. Und da der Reiz, sobald er ein organisches Gebilde trifft,
durch dasselbe verändert wird, so muss in dem Falle, dass er
wie bei den Sinnesorganen nicht verzehrt, sondern weiter ge-
leitet wird, immer weiter gehende Differenzirung
durch Anpassung an immer feiner unterschiedene
Reizqualitäten
stattfinden. Es wird also nicht blos für
jeden öfter wiederkehrenden Sinnesreiz eine besondere Qualität
8*
[116]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
der percipirenden Elemente sich ausbilden müssen, sondern es
wird auch eine ganze Reihe den Reiz beim Durchlaufen all-
mählich umformender Zellen entstehen müssen, wenn nicht
schon die erste aufnehmende Zelle die Fähigkeit besitzt, ihn
in die den Bewusstseinszellen adäquate Form zu verwandeln.
Es ist dies ein Verhalten, welches uns die mehrfachen Unter-
abtheilungen, in welche die Umsetzung der Lichtbewegung abge-
gliedert ist, so dass ausser der Sinneszelle noch drei Ganglien-
zellen in der Netzhaut durchlaufen werden, ehe der Reiz die
zur Fortleitung und zur Verarbeitung im Gehirn geeignete
Qualität erlangt hat, thatsächlich vor Augen stellt.


Es wäre beim Vorhandensein der supponirten Eigenschaft
ferner erforderlich, dass mit der Zeit auch an die Reizinten-
sitäten,
soweit sie regelmässig wiederkehren, besondere
Anpassungen
durch Züchtung gerade auf diese vorhandenen
Reizstärken am stärksten reagirender Substanzen hätten statt-
finden müssen. Dies ist nun bekanntlich auch bei den Reiz-
organen, den Muskeln, Drüsen, Nerven und Sinnesorganen, in
ausgeprägtem Maasse der Fall, denn sie alle reagiren blos auf
bestimmte mittlere Reizstärken am vollkommensten in ihrer spe-
cifischen Weise, auf erheblich grössere oder geringere Inten-
sitäten aber relativ viel schwächer; bei den Muskeln giebt sich
dasselbe Verhalten auch noch in einem besonderen Formver-
hältniss kund, welches ich anderen Ortes ausführlich zu er-
örtern gedenke.


Die Uebereinstimmung dieser eventuellen Leistungen tro-
phisch durch die Reize beeinflusster Substanzen mit den that-
sächlichen Verhältnissen in den Organismen, insbesondere die
Uebereinstimmung der Structur der Knochen und der Fascien
mit den Spannungslinien, welche, wie im Kapitel I gezeigt,
nicht durch Auslese nach Darwin erklärt werden kann, be-
[117]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
weist meiner Meinung nach für diese Substanzen sehr evident
die ihnen von uns supponirte Qualität.


Für die anderen Gewebe, für die Muskeln, Drüsen, Ner-
ven, Ganglien- und Sinneszellen kann ich indessen das Ange-
führte nicht als zum Beweise ausreichend erachten. Für die
aus diesen Geweben gebildeten Organe sind indessen noch
andere Gründe vorhanden, um auch in ihnen dem functionellen
Reize einen die Assimilation stärkenden Einfluss zuzuerkennen.


Für diese activ fungirenden Organe liegt eine grosse
Reihe sehr interessanter und wichtiger Beobachtungen vor, von
denen wir zunächst diejenigen vorführen werden, welche die
Folgen der Reizentziehung nach Durchschneidung der den
Reiz zuführenden Nerven uns erkennen lassen.


Nach Durchschneidung eines Bewegungsnerven atrophirt
nach den übereinstimmenden Beobachtungen zahlreicher Unter-
sucher der zugehörige Muskel mit absoluter Sicherheit innerhalb
weniger Wochen zu einem bindegewebigen Strang. L. Her-
mann
1) sagt in Bezug darauf: »Ein beständiger erhaltener Ein-
fluss des Nervensystemes ist durch diese Thatsache erwiesen,
so viel auch noch zu ihrem Verständniss fehlt.« Schon nach
drei bis vier Tagen nimmt die directe und indirecte Erregbar-
keit des Muskels ab. Die Atrophie erfolgt unter Undeutlich-
werden der Querstreifung, körniger Trübung, Schwund der
specifischen Substanz, Fettkörnchen-Ansammlung und schliess-
lichem gänzlichen Schwund der specifischen Gebilde. Es fin-
det also unter dem Zugrundegehen des Normalen, Specifischen
ein anderer Stoffwechsel statt, von welchem es unbekannt ist,
ob er blos ein Stehenbleiben des normalen Stoffwechsels auf
niedrigerer Stufe darstellt, oder ob er eine eigene besondere
Beschaffenheit besitzt, welche direct der normalen Regeneration
[118]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
hinderlich ist. Dieser Process erfährt nach Schiff durch regel-
mässige elektrische Reizung des der Atrophie verfallenen Organes
eine bedeutende Verzögerung. Er kann dagegen in geringerem
Grade auch ohne Durchschneidung der Nerven schon durch
blosse vollkommene Aussergebrauchlassung des Muskels ein-
treten, wie dies bei chirurgischen Krankheiten oft genug als
Nebenerscheinung, z. B. chronischer Gelenkentzündung oder
grosser Geschwülste vorkommt. Es scheint mir daraus hervor-
zugehen, dass der functionelle Reiz zur Erhaltung der Muskeln
unerlässlich nöthig ist, und auch Cohnheim sagt.1) »Die
Elemente der Arbeitsorgane assimiliren blos, wenn sie erregt
werden, nicht bei blosser Hyperämie.


Die fundamentale Thatsache, dass Drüsen auf Nerven-
einfluss thätig sind, wurde zuerst von C. Ludwig an der
Unterkieferdrüse entdeckt und dann von anderen Autoren auf
die anderen Speicheldrüsen und in letzterer Zeit von Luchsin-
ger
2) auf die Schweissdrüsen ausgedehnt.


Können also Reize die Function von Drüsen auslösen, so
ergiebt sich aus Versuchen mit Nervendurchschneidung, dass
der funktionelle Reiz auch zur Erhaltung der normalen Be-
schaffenheit der Drüse nöthig ist. Newton und nach ihm
Obolensky3) fanden nach Ausschneidung des Hodennerven
(N. spermaticus) gänzlichen Schwund der Drüsenzellen des
Hodens und an ihrer Stelle fettreiches Bindegewebe. Ent-
sprechend beobachteten Bidder4) und Heidenhain5) nach
Durchschneidung der Nerven der Unterkieferdrüse an der letzteren
eine sehr rasche Verkleinerung und Verringerung ihrer Consistenz.
[119]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
Bidder erhielt 20 Tage nach der Durchschneidung ein Gewicht
der Drüse von 8,7 grm. auf der Seite der Durchschneidung, bei
15,5 grm. auf der normalen Seite. Luchsinger1) fand, dass
6 Tage nach der Durchschneidung des Nervus ischiadicus Pilo-
karpin, welches sonst auch direct auf die Schweissdrüsenzellen
wirkt, keine schweisstreibende Wirkung mehr zu erzielen ver-
mag, wohl in Folge einer nach der Durchschneidung eingetretenen
Entartung der Drüsenzellen. Dass diese Folgen der Nerven-
durchschneidung bei Muskeln und Drüsen nicht wohl auf
Alteration der Blutzufuhr zurückzuführen sind, wird weiter
unten dargelegt werden.


Werden Empfindungsnerven durchschnitten, so atro-
phirt nach den übereinstimmenden Urtheilen aller Untersucher
in gleicher Weise wie nach Durchschneidung von Be-
wegungsnerven blos
das periphere, vom Centrum abge-
trennte Stück desselben und zwar in sehr kurzer Zeit, während
das centrale Stück und bei den Empfindungsnerven auch die
Endorgane, die Sinnesorgane, intact bleiben. Dieses letztere
Verhalten ist für den Sehnerven wiederholt, zuletzt von Krause
festgestellt worden; für die Tastkörperchen von Langerhans,
mit welchem indessen Meissner und Krause nicht überein-
stimmen, indem sie in diesen Organen nach Nervendurchschnei-
dung Atrophie gefunden zu haben angeben.2) Und ebenso sah
Colasanti3) Degeneration der Riechzellen nach Durchschnei-
dung des Riechnerven eintreten. Indessen die Beobachtungen
dieser Verhältnisse sind sehr schwierig und die Folgen eines
solchen Eingriffes sind vielleicht complicirter als wir uns gegen-
wärtig vorzustellen vermögen; deshalb müssen wir das Urtheil
noch aufsparen. Jedenfalls aber würde die Erhaltung der Sinnes-
[120]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
organe nach Durchschneidung ihrer Nerven für die von uns
vertretene Ansicht sprechen, dass die specifischen Reize zugleich
die Erhalter der Lebensfähigkeit seien, da sie hier nach wie
vor einwirken. Die experimentelle Abhaltung der Sinnesreize
erscheint für die meisten Sinne nicht möglich. Nur am Auge
liesse sich die Abhaltung des Lichtes durch Zunähen der Augen-
lider und Herüberziehen und Zusammennähen der Haut von den
Nachbartheilen und im Dunkeln Erhalten des Thieres bewerkstel-
ligen, um zu sehen, ob die Netzhaut danach atrophirt. Dieses Ex-
periment ist noch nicht gemacht, aber vielleicht ist das grosse
Experiment der Natur, dass bei Thieren, welche in dunklen
Höhlen leben, die Augen entartet oder ganz geschwunden sind,
in gleicher Weise zu deuten.


Die Atrophie des peripheren Nervenstückes nach Durch-
schneidung findet nach Waller1) sehr rasch statt und ist sehr
vollkommen, indem nicht blos der Achsencylinder und das
Nervenmark, sondern nach einigen Tagen auch das Neurilemma
(die äussere Nervenscheide) schwindet, während, wie erwähnt,
der centrale Stumpf in der Form intact bleibt. Versuche von
Vulpian, Schiff2) und Anderen mit doppelter Durchschnei-
dung eines Nerven ergaben, dass wiederum blos das noch mit
dem Centralorgan in Verbindung stehende Stück erhalten blieb,
dass also die Entartung und der Schwund als Folgen der Los-
trennung von demselben angesehen werden muss.


Weitere Versuche von Waller mit Durchschneidung der
hinteren sensiblen Rückenmarkswurzel zeigten, dass danach der
ganze periphere Nerv erhalten blieb, während jetzt der centrale
Stumpf entartete, woraus zu schliessen ist, dass die erhaltende
Kraft für die Empfindungsnerven nicht von den Ganglienzellen
[121]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
des Rückenmarks, sondern von denen des Zwischenwirbel-
ganglion ausgeht. Diese Experimente beweisen mit Sicherheit
den erhaltenden Einfluss, welcher von den Ganglienzellen aus
auf den Nerven ausgeübt wird. Für die Bewegungsnerven,
welche in den Zwischenwirbelganglien keine Verbindung mit
Ganglienzellen eingehen, muss dagegen nach den Befunden
und nach Analogie mit den Empfindungsnerven die erhaltende
Kraft von den grossen Ganglienzellen der Vorderhörner des
Rückenmarks ausgehen, da diese Ganglienzellen die einzigen
sind, welche mit den Nerven direct in Verbindung stehen. Diese
Auffassung wird weiterhin bestätigt durch im Folgenden anzu-
führende pathologische Vorkommnisse, in welchen Zerstörung
dieser Ganglienzellen eingetreten ist. Die centralen Nerven-
stümpfe erhalten sich nach der Durchschneidung Jahre lang
intact, abgesehen davon, dass nach Engelmann auch am
centralen Stumpf der Inhalt der Faser immer gleich bis zur
nächsten Ranvier’schen Einschnürung zur Gerinnung kommt
und abstirbt. Diese Erhaltung soll nach Kühne durch directe
Ernährung des Nerven von der Ganglienzelle aus stattfinden.
Aber es ist meiner Meinung nach absolut unmöglich, dass ein
meterlanges Fädchen von mikroskopischer Feinheit, welches oft
stark beschäftigt wird, von Einem Ende aus ernährt wird, noch
dazu, da dieses Fädchen selbst wieder aus Hunderten von
Einzelfäden besteht, wodurch ein absolut unüberwindlicher
Widerstand für Fortbewegung materieller Theile auf grössere
Strecken hin entsteht.


Ich halte daher die Annahme der anderen Autoren, dass
die Nervenernährung unter dem Eindringen der Nahrung von
den Ranvier’schen Einschnürungen aus stattfinde, für wahr-
scheinlicher und nehme an, dass von den Ganglienzellen blos
ein erhaltender Lebensreiz ausgeht.


Es ist noch zu erwähnen, dass an den Nervenenden in
[122]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
Amputationsstümpfen nicht selten Nervenanschwellungen, Neu-
rome vorkommen, und wir werden sie nach dem Gesagten als
durch Stauung des von den Ganglienzellen ausgehenden Lebens-
reizes, welcher eine vergrösserte Ernährung zur Folge haben
wird, entstanden annehmen können, und vielleicht auch directen
Erregungen durch mechanische Insulte, von welchen sie von
der Amputationsfläche her getroffen werden, einen grösseren
oder geringeren Antheil daran zuschreiben.


Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Erhaltung
der centralen Stümpfe trotz der scheinbaren In-
tactheit keine vollkommene ist
, denn sie verlieren all-
mählich ihre Erregbarkeit; somit reicht der von den Ganglien-
zellen ausgehende Reiz allein doch nicht zur Erhaltung aus,
sondern es scheint, dass auch dem specifischen functionellen
Reiz zugleich noch eine erhaltende Wirkung zukommt.


Auch lässt sich für die motorischen Nervenstümpfe an-
nehmen, dass sie immer noch schwache functionelle Reize
zugeführt erhalten, denn in dem Netzwerk der Rückenmarks-
ganglienzellen irradiiren Reize sehr leicht. Dies erkennt man
oft beim Erlernen schwer auszuführender Bewegungen; sehr
gewöhnlich bewegt man dabei Muskeln mit, welche zur beab-
sichtigten Bewegung gar nichts beitragen können. Wie hierbei
die Reize in falsche Bahnen sich verbreiten, so werden wohl
auch bei Innervation benachbarter Ganglienzellen schwache
Reize gelegentlich in die verlassenen Bahnen eindringen. Dies
geschieht vielleicht häufiger und allgemeiner, als wir gegen-
wärtig vermuthen, da wir blos auf Impulse achten, welche
stark genug sind, um Contractionen auszulösen; denn es wird
vielleicht die folgende Aeusserung Hermann’s Bestätigung
finden. Er sagt1): »Möglicherweise besitzt der Muskel Er-
regungsgrade, welche sich in chemischen oder galvanischen,
[123]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
aber noch nicht in Contractionsvorgängen äussern, und beim
Nerven ist es sogar wahrscheinlich, dass er Erregungsvorgänge
besitzt, die zur Hervorrufung einer Muskelcontraction nicht aus-
reichen.«


Es ist noch von Durchschneidungsversuchen zu erwähnen,
dass nach Magendie1) in Folge der Durchschneidung des
Sehnerven nicht blos das periphere, sondern auch das centrale
Stück degenerirt, worüber Hermann bemerkt, dass viel-
leicht der Umstand, dass dieser Nerv keine Ranvier’schen
Einschnürungen habe, die Ursache sein könne.


Heilen durchschnittene Nerven wieder zusammen, was stets
durch Sprossung von dem centralen Stumpfe aus stattfindet, so
wird dann auch der inzwischen in fettiger Entartung begriffene
periphere Stumpf rasch wieder normal, indem die Fettkörnchen
verschwinden und er wieder normal erregbar und leitungs-
fähig wird. Durch den gewohnten Reiz werden also wohl die
specifischen Processe gekräftigt, so dass sie sich wieder stärker
insubstantiiren und die anderen Vorgänge zum Schwunde ge-
bracht werden.


Ausser diesen wichtigen experimentellen Thatsachen seien
noch einige von den zahlreichen bezüglichen pathologischen
Vorkommnissen
angeführt, welche gleichfalls die Folgen
der Abhaltung des functionellen Reizes vor Augen führen.


Die sogenannte spinale Kinderlähmung, eine Krankheit des
Nervensystems, welche hauptsächlich in der Zerstörung der
motorischen Ganglienzellen des Rückenmarks besteht, gelegent-
lich aber auch mit einer Erkrankung der peripheren Nerven
beginnt und eine Fernhaltung des functionellen Reizes von den
Muskeln zur Folge hat, ist mit hochgradiger Atrophie der den
betroffenen Ganglienzellen oder Nerven zugehörigen Muskeln
[124]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
verbunden. Es geht daraus hervor, dass selbst für jugendliche,
noch wachsende Muskeln der functionelle Reiz zur normalen
Entwickelung nöthig ist, dass die Entwickelung nicht rein durch
vererbte Eigenschaften der Theile stattfindet.


Ferner giebt es eine ganz entsprechende Affection bei Er-
wachsenen, welche gleichfalls mit atrophischen Lähmun-
gen
nach Eichhorst1) und Leyden2) einhergeht; wie denn
überhaupt bei Affection des Rückenmarks die zugehörigen Mus-
keln der Atrophie verfallen.


Wir schliessen wohl mit Recht aus den vorstehend mitge-
theilten experimentellen und pathologischen Beobachtungen, in
welchen bei Muskeln und Drüsen nach dem Ausfall des func-
tionellen Reizes Entartung und Schwund eintritt, dass der func-
tionelle Reiz in diesen Organen nicht blos den Stoffverbrauch,
die Dissimilation bewirkt, sondern auch zur Wiederanbildung,
zur Assimilation unerlässlich nöthig ist. Und eine ähnliche
aber für sich allein zur Erhaltung im Stoffwechsel nicht aus-
reichende Wirkung muss dem functionellen Reize auch für die
Nerven selber zuerkannt werden. Der grössere Antheil an
der Erhaltung muss hier aber, wie wir sahen, einem von den
Ganglienzellen ausgehenden Reize zukommen.


Eine derartige Wirkung der Reize ist, wie erwähnt, bereits
von Hering in neuerer Zeit angenommen und zur Erklärung
der Erscheinungen beim Sehen und bei der Wärmeempfindung
verwendet worden; nur lässt er in diesen Organen die Assi-
milation und die Dissimilation jede durch besondere Reize an-
geregt werden.


Ausserdem aber sind trophische, die Ernährung der Theile
stärkende Wirkungen von Reizen, welche zur normalen Er-
[125]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
nährung nöthig sein sollen, schon länger von den Physiologen
angenommen worden. Man denkt sich, dass diese Reize den
Theilen durch besondere trophische Nerven zugeleitet wer-
den, und manche Autoren sind geneigt, ihnen ein ausgebreitetes
Vorkommen und entsprechend hohe Wichtigkeit zuzuschreiben.
Indessen, so sehr mir die trophische Wirkung der Reize richtig
zu sein scheint, ebenso sehr muss ich gegen das gesonderte
Vorkommen solcher Reize und ihrer Leitungsbahnen Einsprache
erheben. Ich schliesse mich darin ganz Sigm. Mayer an,
welcher diese Frage in neuester Zeit ausführlich erörtert hat.1)


Zuerst wurde auf trophische Nerven geschlossen aus den
Folgen der Durchschneidung des Trigeminus (des Empfindungs-
nerven des Gesichts). Es traten danach sehr regelmässig Ent-
zündungen des Auges und Geschwüre in der Mundhöhle auf,
welche man auf eine Störung der Ernährungsfähigkeit der
Theile bezog. Es ist indessen durch die Untersuchungen vieler
Forscher z. B. von Rollett2), und in letzterer Zeit von Senft-
leben
3) und Feuer4) sicher gestellt worden, dass diese Ent-
zündungen eine Folge des Verlustes der Sensibilität und somit
des Ausbleibens der Entfernung von Schädlichkeiten durch
schützende Reflexbewegungen sind.


Ausser diesen entzündlichen Veränderungen zeigen sich
aber noch andere trophische Störungen nach Durchschneidung
der Nerven. Schiff5) fand die Knochen eines Beines dünner,
dessen Nerven (N. ischiadicus und cruralis) durchschnitten
waren, und die Knochenhaut verdickt, aus mehreren Knochenla-
mellen bestehend. Aehnliches fanden Vulpian6) und Kasso-
[126]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
witz.1). Die Verdünnung der compacten Knochen lässt sich
wohl eher nach dem Obigen auf mangelnden functionellen Reiz
infolge der Lähmung der Muskeln und dadurch bedingte unge-
nügende Wiederanbildung des physiologisch Resorbirten, auf
Inactivitätsatrophie zurückführen, als auf Wirkung besonderer
trophischer Nerven, für welche wir anatomisch kein Verständ-
niss haben könnten und physiologisch nicht wüssten, wo dieser
gestaltende Reiz producirt werden soll und wie er die richtigen
Gestaltungen hervorzubringen vermöchte. Die Selbstgestaltung
durch die Wirkung des functionellen Reizes erscheint dagegen
das Einfachste und Selbstverständlichste. Die Verdickung der
Knochenhaut mit unregelmässiger Knochenbildung lässt sich
wohl eher auf die nach Nervendurchschneidung eintretende Er-
weiterung der Blutgefässe zurückführen, denn es ist Veran-
lassung, den Knochen und den Bindesubstanzen die Fähigkeit
zuzuschreiben, bei vermehrter Blutzufuhr mehr zu wachsen.


Für unsere Ansicht spricht gewiss auch das Resultat von
Joseph2) und L. H. Schulz3), welche Fröschen nach Durch-
schneidung der Nerven eines Hinterbeines beide Hinterbeine zur
vollkommenen Ruhestellung eingypsten und danach in der That
an beiden Beinen die gleichen Veränderungen vorfanden. Ebenso
erklärt sich auch das Resultat von Schiff, dass nach Durch-
schneidung des Plexus ischiadicus (des Beinnervengeflechtes)
bei einem Frosche die Verdünnung der Beinknochen ausblieb,
welchen er sechs Monate lang täglich galvanisirte; denn da-
durch wurden die Muskeln täglich zur Contraction gebracht
und so vor Atrophie bewahrt und damit zugleich auch die
Knochen unter fast normalen functionellen Bedingungen, unter
[127]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
der Wirkung des Muskelzuges erhalten. Auch ist es verständ-
lich, dass derselbe Forscher nach Durchschneidung der Nerven
einer hinteren Extremität einer trächtigen Hündin nach der
Säugungsperiode Osteomalacie (Knochenerweichung) neben Ver-
dünnung blos auf der Seite der Nervendurchschneidung fand.
Denn wenn die normale Bildung der Knochensubstanz an die
Einwirkung des functionellen Reizes auf die Knochen bilden-
den Zellen gebunden ist, so musste bei Kalkmangel das ge-
lähmte Bein zuerst betroffen werden.


Ferner nöthigt die nach Durchschneidung der Drüsennerven
vorkommende, bereits erwähnte Atrophie der Unterkieferdrüse
und des Hodens in keiner Weise zur Annahme besonderer tro-
phischer Nerven, durch welche besondere die Ernährung för-
dernde Reize zugeleitet werden, wenn, was gewiss das Ein-
fachere ist, angenommen wird, dass der functionelle Reiz zugleich
eine die Assimilation stärkende, also trophische Wirkung hat.


Ganz das Gleiche gilt von den entsprechenden Atrophien
der Muskeln nach Durchschneidung ihrer Nerven, oder nach
krankhafter Entartung derselben oder der Ganglienzellen des
Rückenmarks.


Wie sich die vorstehenden Versuche alle durch Inactivitäts-
atrophie infolge mangelnden functionellen Reizes erklären lassen,
ohne Annahme besonderer trophischer Nerven, ebenso ist es
möglich, die Resultate der Durchschneidung des Nervus sym-
pathicus (des Eingeweide- und Gefässnervensystems) rein auf
Gefässstörungen zurückzuführen, theils durch entstehende Ver-
grösserung der Blutzufuhr, welche bei den Stützsubstanzen
(Bindegewebe und Knochen) jugendlicher und erwachsener In-
dividuen und auch bei den Arbeitsorganen, besonders den Mus-
keln und Drüsen noch jugendlicher Personen auch bei nicht
verstärkter Function zur verstärkten Ernährung ausreicht, theils
durch Atrophie infolge entstehender Blutarmuth. Die Ursache
[128]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
dagegen herauszufinden, warum nach Durchschneidung des Ner-
vus sympathicus bald Verengerung, bald Erweiterung der Blut-
gefässe und damit bald Atrophie bald Hypertrophie beobachtet
worden ist, ist Sache der Physiologie.


Es erhielten dabei Atrophie: Schiff1) nach Durchschnei-
dung der Nerven für die Fleischlappen der Kehle eines Trut-
hahnes; Legros2) nach Exstirpation des oberen Halsganglion
bei einem jungen Hahn Atrophie des Kammes der entsprechen-
den Seite; und Brown-Séquard3) fand nach Durchschnei-
dung des Halssympathicus beim Meerschweinchen das Gehirn
dieser Seite deutlich atrophisch geworden; C. Vulpian4) konnte
dies in Einem Falle bestätigen.


Eine Steigerung des Wachsthums erhielten Bidder, Schiff,
Sigm. Mayer
und Andere.


Vielleicht auch auf vasomotorische Störung zurückzuführen
sind die bei Neuralgieen (Nervenschmerzen) und in anderen
pathologischen Fällen beobachteten Störungen der Ernährung. So
kommen bei Neuralgieen vor: Veränderungen der Zahl, Farbe,
Dicke und Verbreitung der Haare, Verdünnung der Haut,
Schwund des Fettpolsters, ferner von Hautausschlägen: Herpes,
Urticaria, Pemphigus etc. Die gleichen Störungen treten auch
bei Anästhesieen (Gefühllosigkeit) infolge peripherer Leitungs-
unterbrechung der Nerven gelegentlich auf. Infolge peripherer
Lähmungen zeigt die Haut oft Atrophie, wird papierdünn, glatt
und glänzend an den Fingern und Zehen und neigt zu Decu-
bitus und Ulceration (Verschwärung). Mitchell sah dabei
Schwund der Haare, Schiefferdecker dagegen vermehrten
[129]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
Haarwuchs. Auch kamen dabei Knochenatrophie und Leber-
affectionen vor. Aber auch Hypertrophie der Haut, der Nägel
und Vermehrung des Haarwuchses sind beobachtet.


Besonders schien für trophische Nerven zu sprechen der
bei Verletzungen des Rückenmarkes nicht selten auftretende
acute Decubitus (Charcot), der dann auch bei möglichstem
Schutz vor Druck und bei grösster Reinlichkeit rasch um sich
greift. Aber da hier vor allem die Haut und das unterliegende
Bindegewebe abstirbt, an welchem nie Jemand Nerven hat zu
den Zellen oder Fasern treten sehen, so ist hier die directe
Einwirkung von Nerven, abgesehen von den Gefässnerven, am
wenigsten begründet und es ist wohl richtiger, sich für diese
Fälle, sowie auch für die Hemiatrophia facialis progressiva
(halbseitigen Gesichtsschwund) nach allen denkbaren anderen
Ursachen umzusehen, als gleich ein durch sonst nichts bekun-
detes neues Nervensystem mit unverständlicher Reizquelle und
Reizregulation anzunehmen.


Ferner sind noch zu erwähnen Gelenkerkrankungen bei
peripheren Lähmungen und bei Verletzung des Rückenmarkes,
bei Tabes dorsualis (Rückenmarksschwindsucht), bei spontaner
Rückenmarksentzündung und bei halbseitigen Lähmungen durch
Gehirnaffection. Diese alle aber lassen sich bei unseren jetzigen
geringen Kenntnissen freilich nur mehr oder minder auf die
unausbleiblichen Folgen der Lähmung zurückführen und nöthigen
nicht zur Annahme besonderer trophischer Nerven. Doch deuten
schon die von Schiff, Brown-Séquard und Ebstein1)
gefundenen kleinen Blutaustritte in den Lungen, Magen und
im Rippenfell nach Verletzung der Sehhügel, der Streifenhügel
und des Pons im Gehirn auf eigenthümliche vasomotorische
Störungen als Folgen solcher Veränderungen des Centralner-
vensystemes hin.


Roux, Kampf der Theile. 9
[130]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Zusammenfassend glaube ich, dass die citirten Verände-
rungen der Organe durch Nervenaffection bei den Muskeln und
Drüsen durch den Ausfall der functionellen Reize bedingt sind,
bei allen anderen, den passiv thätigen Organen (Knochen- und
Bindegewebsbildungen) hauptsächlich auf Gefässstörung zurück-
geführt werden müssen. Doch ist für die letzteren nicht zu
vergessen, dass auch sie, besonders die Knochen, der Inactivi-
tätsatrophie unterliegen.


Dies schliesst indessen nicht aus, dass einzelne Organe
doch besondere trophische Reize und durch besondere dieselben
leitende Nerven erhalten, aber dieselben sind dann keine all-
gemeinen, sondern eben specielle beschränkte Einrichtungen.
So nimmt Eichhorst an, dass dem Herzen trophische, zur
Erhaltung des Herzmuskels unerlässliche Reize in der Bahn
des Nervus vagus zugeleitet werden; und wir waren oben
schon genöthigt, von den Ganglienzellen der Zwischenwirbel-
ganglien einen unentbehrlichen erhaltenden Einfluss auf die
Empfindungsnerven ausgehen zu lassen, wenn er, wie wir
sahen, auch allein (ohne den Reiz der specifischen Function)
nicht im Stande ist, den Nerven erregungsfähig zu erhalten.


Heidenhain folgerte aus eigenthümlichem, weiter unten
dargelegtem Verhalten der Unterkieferdrüse bei Vergiftungen
und Reizung des Nerv. lingualis, dass in der Bahn des letz-
teren, ausser den gefässerweiternden noch besondere secre-
torische, von ihm als trophische bezeichnete Nervenfasern ent-
halten sind. Diese letzteren Fasern, welche den Umsatz der
organischen Bestandtheile in den Drüsenzellen anregen, wirken
vielleicht nicht blos auf die raschere Abscheidung des Secretes,
auf die Dissimilation, da sonst sofort nach Abgabe des Vor-
rathes der Zellen Erschöpfung eintreten müsste, sondern sie
wirken vielleicht indirect oder direct auch auf die Assimilation
steigernd und sind dann trophische Nerven ganz in dem Sinne,
[131]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
wie er von uns postulirt wird, denn sie sind trophisch und
functionell zugleich und der durch sie zugeleitete Reiz, sei er
physiologisch oder künstlich, hätte diese doppelte Wirkung.
Die Natur dieser Nerven wird für uns dadurch nicht beein-
flusst, dass an demselben Organ noch andere Nerven vorkom-
men, unter deren Einfluss die Wasserabsonderung steht.


Ebenso sind als trophische Nerven in unserem Sinne auf-
zufassen die functionellen Nerven der anderen Drüsen und der
Muskeln, während für die Bindesubstanzen der functionelle
Reiz ein mechanischer ist und keiner Nervenvermittelung zur
Uebertragung auf die Gewebe bedarf. Es giebt jedenfalls auch
Drüsen und wahrscheinlich gehört die Niere, vielleicht auch
die Leber dazu, welche durch chemische, im Blute befindliche
Reize erregt werden und daher keine functionellen oder trophi-
schen Nerven brauchen. Für die Sinneszellen würde der Sinnes-
reiz als dasselbe leistend anzusehen sein.


Sigm. Mayer ist im allgemeinen der gleichen Ansicht
bezüglich des Werthes der Annahme besonderer trophischer
Nerven und erkennt auch schon dem functionellen Reiz für
Muskeln und Drüsen einen gewissen trophischen Einfluss zu,
wenn auch seine Fassung, wie mir scheint, etwas geheimniss-
voll ist. Er sagt1) bezüglich der Drüsen und Muskeln:


»Die Centralnervensubstanz (graue Substanz), die periphere
Faser und ihre peripheren Endorgane stellen nicht nur eine
functionelle oder Reizeinheit dar, sondern auch eine Absonde-
rungs- oder nutritive Einheit.«


Ferner pag. 210: »Unter dieser Annahme ist es erklärlich,
warum im Nerven und Muskel Ernährungsstörungen sich aus-
bilden, wenn der normale Zusammenhang zwischen beiden ge-
löst wird. Nach einer derartigen Trennung verfällt jeder Theil,
um mich so auszudrücken, seinem eigenen Schicksal, während
9*
[132]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
die Zwecke des Organismus sein Schicksal eng mit jenem
anderer Apparate verknüpft halten. Mit der Auflösung der
Erregungseinheit schwindet auch die nutritive Einheit. Die
alsdann sich ausbildenden Processe sind nicht sofort Atrophie,
sondern vielmehr Allotrophie. Die Ernährungsprocesse in Ner-
ven, Muskeln und Drüsen, die von ihren Centren getrennt
werden, hören nicht auf, sondern werden nur in Bahnen gelenkt,
die den Zwecken des Gesammtorganismus nicht mehr unterthan
sind, gerade so wie in functioneller Beziehung ein derartiger
Muskel, der gelähmt ist, für die normale, den Zwecken des
Organismus dienende Bewegung, im Uebrigen aber sowohl
spontan sich bewegt (Lähmungsoscillationen), als auch für die
künstlichen Reize (Electricität), wenn auch in veränderter Weise,
erregbar bleibt.«


Pag. 211 spricht er dann die Meinung aus, »dass die Central-
nervensubstanz ebenso von den peripheren Organen, mit denen
sie eine Erregungseinheit bildet, in ihrer Ernährung beeinflusst
wird« und dass er »die centrale Nervensubstanz nicht einseitig,
gleichsam als nutritive Vorsehung der peripherischen Gebilde«
ansehe.


Aber er giebt zu, dass die peripheren Theile leichter leiden
als die centralen, weil »periphere Nerven, Muskeln oder Drüsen
nur die Glieder einer einzigen Erregungseinheit bilden.« »Sobald
diese Einheit zerstört ist, muss auch die normale Ernährung,
die auf die Unversehrtheit dieser Einheit angewiesen ist, leiden.
Die centrale Substanz hingegen ist offenbar, wie aus vielen
Beobachtungen hervorgeht, Mitglied verschiedener functioneller
und nutritiver Einheiten; wenn so z. B. der Zusammenhang
eines motorischen Nerven mit dem Rückenmark getrennt wird,
so sehen wir den peripheren Stumpf des Nerven mit sammt
dem Muskel der Allotrophie verfallen; der centrale Stumpf und
das Rückenmark bleiben durch lange Zeit intact, wohl aus
[133]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
keinem anderen Grunde, als weil das Deficit an Ernährungs-
impuls, das in dem Rückenmarke durch Wegfall des Muskels
und eines Stückes Nervensubstanz gesetzt wird, übercompensirt
werden kann, durch den innigen Zusammenhang der betreffenden
Rückenmarkspartie mit anderen Theilen der nervösen Central-
organ- und der Körperperipherie.«


Abgesehen von dem von Mayer hier angenommenen be-
lebenden Einfluss, den die Muskel- und die Drüsenzellen rück-
wärts auf die ihnen zugehörigen Nerven haben sollen und der
mir durch nichts bewiesen zu werden scheint, stimmen wir,
wie dargelegt, mit dem citirten Autor überein, nur fassten wir
uns etwas kürzer, indem wir sagten: Der functionelle Reiz
erregt neben der specifischen Function zugleich auch direct oder
indirect die Assimilation, welche ohne seine Einwirkung nicht
normal von statten gehen kann, und wirkt somit zugleich
trophisch, die Ernährung hebend.


Beim Ausbleiben dieses Reizes finden nun natürlich andere
Stoffwechselvorgänge statt, von denen es indessen unbekannt
ist, ob sie von eigenartiger Natur sind und die Herrschaft über
die alten normalen Processe gewinnend, dieselben activ im Kampf
der Molekel um Raum und Nahrung beeinträchtigen, oder ob sie
blos ein Stehenbleiben des normalen Stoffwechsels auf niederer
Stufe darstellen oder was sonst ihre Natur ist.


Indessen wir beginnen schon Folgerungen abzuleiten, bevor
noch die Beweisführung soweit erbracht worden ist, als wir es
zur Zeit in dieser Schrift im Stande sind.


Ausser in der Lehre von den trophischen Nerven ist tro-
phische Wirkung von Reizen schon seit alter Zeit angenommen
worden in der Lehre von der Entstehung der Geschwülste.
Da es sich dabei indessen um abnorme Bildungen und ab-
norme Reize handelt, gehört ihre Besprechung eigentlich nicht
hierher. Wir wollen aber doch nicht unterlassen, einen flüch-
[134]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
tigen Blick auf ihre Entstehungsursache zu werfen, um eventuell
eine nützliche Analogie zur trophischen Wirkung der uns an-
gehenden functionellen Reize zu erhalten. Danach erst soll
dann zum letzten, apagogischen Theil der Beweisführung über-
gegangen werden.


Seit alten Zeiten haben Chirurgen und Aerzte angenommen,
und es ist gegenwärtig noch eine sehr verbreitete Meinung,
dass Geschwülste durch einmalige oder leichter durch Jahre
lang wiederholte Einwirkung von Reizen entstehen und dann
auch nach dem Aufhören des Reizes von selber fort und fort
unbegrenzt weiter wachsen könnten, bis sie den Organismus
zerstört haben, so dass also ein mechanischer oder sonstiger
Reiz eine ganz eminente trophische Wirkung äussern könne.


Cohnheim1) hat neuerdings, gegen diese Auffassung vor-
gehend, mit Recht zunächst hervorgehoben, dass, wenn der
Reiz blos auf die Blutgefässe wirkt, vermehrte Blutzufuhr zum
betroffenen Theil veranlasst, die Folge blos eine Hypertrophie,
eine einfache Vergrösserung resp. Vermehrung der Theile, aber
kein unbegrenztes Wachsthum sein kann. Wir schliessen uns
dieser Ansicht an, denn zu letzterem gehört nicht blos eine
Erweiterung der Blutgefässe, wie sie der Reiz wohl hervor-
bringen kann, sondern ein stetig fortschreitendes Wachsthum
und Vermehrung derselben; und es ist nicht einzusehen, warum
dieser Process, wenn er auch, was wir aber gar nicht wissen,
durch Reize hervorgerufen werden könnte, nach dem Aufhören
des Reizes noch ohne Aufhören weiter fortgehen sollte. Das
Gleiche gilt, wenn nicht die Blutgefässe, sondern die Zellen
des Parenchyms direct durch den Reiz angeregt würden; auch
hier wird es unverständlich bleiben, warum die progressive
Wirkung die Ursache überdauern könnte, wie die Uebercom-
[135]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
pensation in der Ernährung, welche durch einen Reiz veranlasst
worden ist, nach dem Aufhören des Reizes dauernd fortbestehen
kann. Da derartiges nie durch Beobachtung sicher hat fest-
gestellt werden können und die Procentzahl derjenigen Ge-
schwülste, für welche Reize als Ursache vermuthungsweise
angegeben worden sind, blos 14 % beträgt, so können wir mit
Cohnheim der ganzen Lehre keine Berechtigung zuerkennen.
Vielmehr stimmen wir mit letzterem Autor1) überein, wenn
er die früher von Virchow und Lücke für Specialfälle aus-
gesprochene Idee zu dem allgemeinen Princip erweitert hat,
dass alle diese durch unbegrenztes Wachsthum charakterisirten
Geschwülste als überschüssige Reste embryonalen Gewebes an-
zusehen sind, welche später ihre bewahrte embryonale Eigen-
thümlichkeit fortschreitenden Wachsthums zur Geltung bringen,
sobald die umgebenden Gewebe geschwächt genug sind, um
ihnen nicht mehr genügend Widerstand zu leisten zu vermögen.


Damit können also diese Geschwülste keine Analogiestütze
für unsere Auffassung der trophischen Wirkung der functionellen
Reize abgeben.


Anders ist dies mit einer anderen, besonderen Gruppe von
Geschwülsten, den Infectionsgeschwülsten oder den Granu-
lationsgeschwülsten Virchow’s
, zu denen die Syphilis-,
Aussatz- (Lepra-), Tuberculose-, Typhus- und Lupusneubildung
gehören. Hier können wir der Ansicht Cohnheim’s, dass
diese Geschwülste, welche nach einer nachweisbar stattge-
habten Vergiftung des Körpers mit einem specifischen Krank-
heitsgifte an verschiedenen Stellen des Körpers zunächst als
kleine Knötchen aus lauter dicht bei einander gelagerten Rund-
zellen im Bindegewebe auftreten, blos durch locale Erweiterung
der Blutgefässe bedingt seien2), nicht beipflichten, da wir uns
[136]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
eine ausschliessliche Wirkung umschriebener Erweiterung der
Blutgefässe nicht von der Art vorstellen können, dass sich an
einer Stelle so viel Zellen entwickeln, dass sie sich drängend
sogar ihre Ernährungsgefässe allmählich selber zusammen-
drücken, wie dies beim Typhus und bei der Tuberculose ge-
schieht, sodass sie danach selber absterben müssen; und da wir
fernerhin entgegen Cohnheim annehmen, dass wohl chemische
und mechanische Reize im Stande sind, eine Vermehrung der
Zellen der Bindesubstanzen hervorzurufen, in der Weise, wie
dies bei Pflanzen durch den Stich oder das Gift der Gallwespe
oder durch die Ansiedelung von Blattläusen geschieht, so glauben
wir, dass hier das specifische Gift als Vermehrungsreiz ge-
wirkt hat. Die besondere Localisation und die Knötchenform
der Geschwulst ist dabei eben nicht schwerer verständlich, als
wenn man capillare Hyperämieen als Ursache annimmt, denn
im letzteren Falle ist nicht einzusehen, warum bei der che-
mischen Natur mehrerer dieser Gifte blos capillare, umschriebene
und nicht ausgedehntere Hyperämieen entstehen. Es kann uns
natürlich nicht nahe kommen, etwas darüber präjudiciren zu
wollen, ob etwa diese Anhäufung von Zellen durch Vermehrung
der fixen Bindegewebszellen oder durch Ansammlung und Ver-
mehrung von weissen Blutzellen zu Stande kommt. Die Fort-
setzung des Vorganges bis zur Compression der Blutcapillaren
bleibt in beiden Fällen verständlich; denn auch bei Vermehrung
der Zellen in loco kann das Wachsthum so lange dauern, als
die Capillare noch ein Minimum offen ist und also noch Nahrung
abzugeben vermag, wenn nur die Theile selbst genügend zur
Nahrungsaufnahme angeregt sind. Diese Geschwülste haben
auch nicht den Charakter des unbegrenzten Wachsthums und
ihre weitere Bildung, sowie die weitere Fortdauer des Gebil-
deten scheint nach der Tilgung oder Entfernung des ursäch-
lichen Giftes aufgehoben zu werden. Somit scheint es uns das
[137]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
Wahrscheinlichste zu sein, dass sie in gleicher Weise durch
die zur Vermehrung anregende Wirkung des specifischen Giftes
entstehen, wie uns dieses vom Kropfe sicher bekannt ist.
Dieser entsteht, wenn die disponirten Individuen in die Kropf-
gegend kommen, und das weitere Wachsthum hört auf, ja die
gebildete Geschwulst selber schwindet manchmal nach dem
Verlassen derselben wieder.


So würden wir denn in diesen Geschwülsten Beispiele tro-
phischer Wirkung durch Reize zu erkennen haben; und zwar
sind es wahrscheinlich chemische, nicht physikalische Reize,
was nicht ausschliesst, dass dieselben in einigen dieser Krank-
heiten, wie nicht ohne eine gewisse Berechtigung vermuthet
wird, von Mikroorganismen producirt werden.


Danach gehen wir nun zum letzten Theil unserer Beweis-
führung der trophischen Wirkung der functionellen Reize, zum
apagogischen Beweise über, zum Ausschluss der von manchen
Autoren als Ursache der functionellen Anpassung betrachteten
Wirkung der functionellen Hyperämie, resp. der
beim Ausbleiben der Functionirung entstehenden
Anämie
. Wir gedenken zu zeigen, dass diese Alterationen
der Blutzufuhr nicht die Erscheinungen der functionellen An-
passung zu erklären und daher dem Princip von der trophischen
Reizwirkung keinen Abbruch zu thun vermögen.


Man hat behauptet oder stillschweigend angenommen, dass
eine Vergrösserung der Blutzufuhr während der Function
und kurze Zeit nach derselben die Ursache der Vergrösserung
des Organes sei, welche bei dauernder Verstärkung der Function
sich ausbildet. Dass zur vermehrten Nahrungsaufnahme der
Organe vermehrte Zufuhr von Nahrungsmaterial nöthig ist, er-
scheint selbstverständlich, und da für die thätigsten Organe, die
Muskeln, eine die Function begleitende Vergrösserung der Blut-
zufuhr, eine functionelle Hyperämie, von Ludwig und Sczel-
[138]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
kow nachgewiesen worden ist, so lag es nahe, dass unter der
Evidenz dieses Zusammenhanges man die nothwendige Vorbe-
dingung der verstärkten Aufnahme mit der Causa efficiens iden-
tificirte und behauptete, die Hyperämie sei die Ursache der
vergrösserten Nahrungsaufnahme, der Vergrösserung des Or-
ganes, also der Hypertrophie. Dies ist aber ein voreiliger
Schluss; denn einmal können principiell schon die nothwendige
Vorbedingung und die Ursache eines Processes sehr verschieden
von einander sein; und zweitens ist Verstärkung der Blutzu-
fuhr während oder nach der Function nicht für alle Organe
nachgewiesen, schliesslich aber ist sowohl principiell als auch
thatsächlich vermehrte Blutzufuhr zur vermehrten Thätigkeit
nicht absolut, sondern blos in den Fällen nöthig, dass für ge-
wöhnlich kein Ueberschuss von Ernährungsgelegenheit vorhan-
den ist, dass die den einzelnen Organen normaler Weise durch
die Blutgefässe dargebotene Nahrung immer vollkommen aus-
genutzt wird. Das Bestehen eines Ueberschusses von Ernäh-
rungsgelegenheit ist nur dann möglich, wenn die Ernährung
nicht blos von der Zufuhr des Nahrungsmaterials abhängt, son-
dern noch von anderen Factoren; und umgekehrt ist vermehrte
Nahrungszufuhr zur vermehrten Ernährung blos dann absolut
nöthig, wenn die Blutzufuhr zugleich die Ursache der Ernährung
ist. Dann wird immer so viel aufgenommen, als vorhanden ist,
aber dieser Fall ist eben der, der erst bewiesen werden müsste.
Es wird also bei dem gewöhnlichen Schlusse, dass zur ver-
mehrten Ernährung vermehrte Blutzufuhr durchaus nöthig ist,
das schon als constatirt vorausgesetzt, was erst bewiesen wer-
den soll, nämlich, dass die nöthige Vorbedingung auch zugleich
Causa efficiens ist. Ist dies nicht der Fall, so kann ein Nah-
rungsüberschuss vorhanden sein, ohne Ausnutzung desselben;
und blos in dem Einen Specialfalle, dass normal immer das
Minimum von Nahrung zugeführt würde, so dass immer die
[139]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
grösstmögliche Ausnutzung der Ernährungsgelegenheit auch beim
Erfolgen der Ernährung aus anderen Ursachen stattfände, fiele
die Wirkung dieser verschiedenen ursächlichen Verhältnisse zu-
sammen. Aber die Erfahrung belehrt uns, dass wir für ge-
wöhnlich einen Ueberschuss an Blut besitzen, sodass wir be-
trächtliche Blutverluste zu ertragen vermögen; somit wird wohl
auch den Organen normaler Weise ein Ueberschuss von Blut
zugeführt.


Gehen wir nun nach dieser Erörterung des Principiellen
zu dem thatsächlichen Verhalten über.


Daraus, dass für die Stützgewebe: für Knochen-, Knorpel-
und Bindegewebe, eine functionelle Vergrösserung der Nahrungs-
zufuhr nicht nachgewiesen ist, folgt noch nicht, dass sie nicht
stattfindet. Wir müssen daher diese Frage unentschieden lassen
und können daraufhin nicht der Annahme, dass verstärkte
Thätigkeit immer mit Verstärkung der Blutzufuhr verbunden
sei, nicht direct entgegentreten.


Es ist nun bekanntlich sehr schwer, wenn wie hier zwei
Erscheinungen immer zusammen beobachtet werden, zu erkennen,
in welcher Beziehung sie zu einander stehen, welche von beiden
von der anderen abhängt, oder ob beide von einem dritten
Factor gemeinsam in Abhängigkeit sich befinden; denn die Logik
lehrt uns blos, dass stets zusammen vorkommende Erscheinungen
in einem causalen Zusammenhange stehen müssen.


Wir sind aber gegenwärtig nicht mehr in dieser unange-
nehmen Lage; uns stehen jetzt Beobachtungen zur Verfügung,
welche diese beiden Erscheinungen getrennt zeigen.


Zunächst wissen wir, dass Hyperämie nicht die Func-
tion hervorruft
, weder bei Muskeln und Nerven, bei wel-
chen die Function an den Stoffverbrauch blos unerlässlich ge-
knüpft ist, noch auch bei denjenigen Organen, bei welchen die
Producte des Stoffumsatzes die Function für den Organismus
[140]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
vollziehen, bei den Drüsen. Obgleich nun für letztere Organe
der Stoffumsatz selber das Wesen und der Zweck ihrer Function
ist, somit die Möglichkeit, dass die Zufuhr von Stoffen direct
die Function auslöse, besonders nahe zu liegen scheint, so wies
doch Keuchel nach, dass nach Vergiftung mit Atropin Rei-
zung des Nerv. lingualis trotz erfolgender Hyperämie der Un-
terkieferdrüse keine Vermehrung der Secretion bewirkt. Bei
den blos passiv fungirenden Stützorganen schliesslich kann
selbstverständlich vermehrte Blutzufuhr nicht die Functionirung
veranlassen.


Zweitens wäre es möglich, dass umgekehrt durch die Func-
tion die Vermehrung der Blutzufuhr, die Hyperämie,
hervorgerufen würde
. Diese Möglichkeit scheint den that-
sächlichen Verhältnissen in manchen Fällen zu entsprechen, und
es wird daher im Folgenden noch näher auf dieselbe ein-
gegangen werden. Indessen ist das Verhältniss kein absolut
festes derart, dass ohne Hyperämie hervorzurufen die Function
nicht stattfinden könne, denn nach Vergiftung mit Physostigmin
werden die Blutgefässe bei Reizung des Nerv. lingualis nicht
erweitert, die Secretion jedoch verstärkt; und Luchsinger1)
fand, dass man durch Pilocarpin Schweissabsonderung an der
Hinterpfote hervorrufen kann, auch wenn die Bauchaorta unter-
bunden, also die Circulation aufgehoben ist. Natürlich aber
kann diese Function nicht länger als bis zur Erschöpfung der
Drüsen dauern, da durch Aufhebung der Circulation die Rege-
neration aufgehoben ist. Dieses Verhalten der Unterkieferdrüse
bei Vergiftung des Thieres mit Physostigmin und mit Atropin
veranlasste Heidenhain zur Annahme der oben erwähnten
besonderen »trophischen« Nervenfasern.


Die dritte Möglichkeit war, dass die Function und die
Hyperämie nicht in einem directen Abhängigkeitsverhältniss von
[141]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
einander stehen, sondern beide von dritten Verhältnissen gemein-
sam abhängig sind. Verbindung dieser Art scheint allerdings
vorzukommen bei Muskeln und Drüsen. Wenigstens nehmen
manche Autoren an, dass mit dem Thätigkeitsimpuls für diese
Organe gleich ein Impuls zur Erweiterung der Blutgefässe von
den Centralorganen ausgehe.


Es genüge hier, diese Möglichkeiten erwähnt und auseinan-
der gehalten zu haben. Des Weiteren werden wir besser erst
darauf eingehen, nachdem ein anderer Zusammenhang erörtert
worden ist; denn es handelt sich für uns zunächst weniger um
die Art der Causalverbindung von Function und Hyperämie,
als um die Ursache der mit der stärkeren Function
auftretenden stärkeren Ernährung
.


Diese stärkere Ernährung kann abhängig sein allein von
der grösseren Nahrungszufuhr, sofern die Theile immer so viel
Nahrung aufnehmen, als ihnen geboten wird, oder wenn dies
nicht der Fall, von einer stärkeren Aufnahme, also von stärkerer
Anziehungs- und Assimilationskraft. Zwischen diesen beiden
Möglichkeiten muss nun vor allem entschieden werden.


Die Beobachtungen am ganzen Menschen zeigen, dass, wenn
man einem Körper mehr Nahrung zuführt, er mehr ansetzt, bis
zu einem für jedes Individuum gewissen Grad. Dies ist so-
wohl im ausgewachsenen Menschen der Fall und in noch höherem
Maasse ceteris paribus, d. h. bei gleichem Grade der Function,
während der Periode selbständigen Wachsthums, also in der
Jugend. Wenn ein kindlicher oder erwachsener Organismus
eine bestimmte Thätigkeit ausübt bei guter Nahrung, so setzt
er mehr davon an, als bei gleicher Thätigkeit und geringer
Nahrung. Also ist die Nahrungsaufnahme der Theile des Kör-
pers cet. par. abhängig von der Menge der gebotenen Nahrung.


Andererseits aber beobachten wir auch, dass dies seine
Grenzen hat. Man kann durch reichliche Nahrung das Wachs-
[142]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
thum eines jungen Menschen nur wenig, den Ansatz nicht an-
nähernd proportional der Nahrung beschleunigen. Und ebenso
findet beim Erwachsenen mit der Verbesserung der Kost die
grössere Volumensentfaltung der Organe an specifischen Theilen,
von Fettanhäufung also abgesehen, blos in gewissen Grenzen
statt, über welche sie nicht hinausgeht. Dem entsprechend sagt
Cohnheim1), dass vermehrte Nahrungszufuhr nicht zu ver-
mehrter Eiweissaufspeicherung im Blute oder in den Geweben
führe, wenn nicht zugleich mehr Arbeit geleistet wird, und die
Resultate Voit’s sind bekannt, welcher fand, dass mit der
grösseren Zufuhr von Eiweiss zum Körper cet. par. auch die
Verbrennung desselben, kenntlich an der grösseren Ausschei-
dung von Harnstoff, steigt, und dass nur relativ wenig mehr
im Körper zurückgehalten wird, und dieses auch zum grössten
Theil nicht als Organeiweiss unter Vermehrung des Protoplasma
der Zellen, sondern nur als Circulationseiweiss, als Vorraths-
nahrung.


Wie so der ganze Körper die Aufnahme, die wirkliche
Assimilation gebotener Nahrung verschmähen kann, so
können es auch die einzelnen Theile desselben.


Virchow2) hat schon vor vielen Jahren diese Bedeutung
des Experimentes der Durchschneidung des Halssympathicus
hervorgehoben. Nach dieser Operation sahen er, Schiff
u. A. wochenlang anhaltende Erweiterung der Blutgefässe ent-
stehen, ohne dass eine Verdickung der Haut oder vermehrte
Abschuppung stattfand. Ingleichen erhielten Cl. Bernard,
Ollier
3) in 15 Fällen, Cohnheim4) selbst bei jugendlichen
Individuen keine Hypertrophie nach der gleichen Operation.
[143]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
Es ist aber zu erwähnen, dass nur in seltenen Fällen die so
bewirkte Hyperämie der Haut des Kopfes längere Zeit anhält,
sondern meist nach einigen Tagen oder Wochen wieder schwindet.


In gleicher Weise sah ich bei einem Arzte eine Erweiterung
der Blutgefässe der Haut an den Kleinfingerballen beider Hände,
sodass sie dunkelrosa aussahen, ohne jede Verdickung der
Lederhaut oder der Epidermis oder vermehrte Abschuppung
der letzteren, obgleich dieser Zustand bereits 7 Jahre andauerte;
und derartiges Verhalten der Gewebe bei chronischer Erwei-
terung der Gefässe infolge Affection der Gefässnerven (vaso-
motorische Neurosen) ist in neuerer Zeit, seitdem man darauf
aufmerksam geworden ist, oft beobachtet worden.


Gegen diese Fähigkeit der Theile, die Nahrungsaufnahme
zu verschmähen, können Experimente, in welchen Hypertrophie
sich einstellte, nichts beweisen; sie zeigen blos, dass in anderen
Fällen, deren wesentliche Unterschiede uns nicht bekannt sind,
Hyperaemie vermehrte Aufnahme hervorrufen kann. So er-
hielten A. Bidder1) und Stirling2) beträchtlicheres Wachs-
thum des Ohres der operirten Seite nach obigem Experiment,
und ebenso beobachtete Schiff3) danach und Sigm. Mayer4)
bei gleichzeitiger Durchschneidung des N. auricular. magnus,
dass auf der betreffenden Seite die Haare des Ohres rascher
wuchsen.


Paget5) verpflanzte den Sporn eines Hahnes auf den Kamm
desselben und sah ihn auf diesem gefässreichen Gewebe in
ungemein starker Weise wachsen. Da aber der Hahnenkamm
[144]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
selber trotz dieses überschüssigen Blutes nicht immerfort wächst,
so spricht dies zugleich dafür, dass er selber nicht blos nach
der Menge der vorhandenen Nahrung wächst, sondern dass ihm
zur Nahrungsaufnahme noch etwas anderes nöthig ist.


Dass die Organe in der Periode selbständigen er-
erbten Wachsthums
, also in der Jugend, bei stärkerer
Nahrungszufuhr, wenn auch, wie erwähnt, nicht proportional
derselben und nur bis zu einem gewissen Grade stärker wachsen,
ist eine allgemein bekannte Thatsache und für die abweichen-
den Resultate in einigen Experimenten müssen besondere Ur-
sachen gesucht werden.


Aber es scheint auch, dass es Gewebe giebt, welche selbst
im ausgewachsenen Zustande bei künstlich bewirkter Hyperaemie,
also Vergrösserung der Nahrungszufuhr, wieder zum Wachsthum
angeregt werden können. Dafür sprechen mancherlei patho-
logische Erfahrungen.


So kann vielleicht die Verdickung des Bindegewebes, welche
wir in der Umgebung und in der Tiefe unter chronischen Unter-
schenkelgeschwüren bis tief in die Muskeln hinein finden, auf
solche langdauernde Hyperaemie zurückgeführt werden, und
ebenso beobachtet man gelegentlich bei chronischer Hyperaemie
der Haut Hypertrophie derselben sowohl in Bindegewebe und
Epithelschicht, und bei Hyperaemie der Knochenhaut vermehrte
Knochenbildung.


Wir wissen indessen nicht, ob nicht in diesen und ähn-
lichen Fällen entzündlicher Hyperaemie zugleich noch chemische
oder mechanische Reize zur Vermehrung anregend wirksam sind,
wollen aber, um die Ungewissheit eher zu unseren Ungunsten
zu verwenden, im Folgenden annehmen, dass die Stütz-
substanzen
(Knochen, Knorpel und Bindegewebe), sowie auch
die Deckepithelien, also die Epithelien ohne secretorische
Function, durch Vergrösserung der Nahrungszufuhr
[145]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
ohne weitere Reize sich zu vermehren im Stande
seien
. Ein Gleiches ist auch für Lymphdrüsen, die Milz und
die Niere behauptet worden; da indessen Grund ist, anzunehmen,
dass der Reiz zur specifischen Function für diese Organe im
Blute gelegen ist, so werden sie bei vermehrter Blutzufuhr somit
zu vermehrter Fungirung angeregt und die erfolgende Hyper-
trophie kann daher als eine Activitätshypertrophie aufgefasst
werden.


Das Verhalten der Stützsubstanzen, der passiv fungirenden
Organe ist demnach principiell zu trennen von dem der activ
thätigen, der Arbeitsorgane (Muskeln, Drüsen, Nerven, Ganglien-
zellen und Sinneszellen), welche durch vermehrte Blutzufuhr
allein nicht zur Hypertrophie oder Hyperplasie angeregt werden.


Es könnte daher, wenigstens für die passiv fungirenden
Theile, die Annahme gemacht werden, dass bei ihnen die
functionelle Hypertrophie durch die functionelle Hyperaemie
bedingt sei. Aber gerade für diese Organe ist, wie erwähnt,
die functionelle Hyperaemie mit Ausnahme der Haut nicht nach-
gewiesen und ausserdem zeigen dieselben, wie oben dargelegt,
eine Structur, welche nur von der trophischen Wirkung der
functionellen Reize abgeleitet werden kann.


Sehen wir nun zu, wie weit überhaupt die Annahme
der passiven Ernährung der Zellen
gerechtfertigt ist,
und was ihr widerspricht.


Schon im befruchteten Ei findet nach der Bildung
der Keimblätter vor der Anlage der Blutgefässe, wo also die
Nahrung noch gleichmässig vertheilt ist, ungleichmässiges
Wachsthum statt, welches zur Bildung der Primitivrinne, zur
Bildung des Medullarrohres, des Achsenstranges (der Chorda
dorsalis) und der Urnieren führt. Hier muss also, da die Theile
unter gleichen Ernährungsbedingungen sich befinden, aber spe-
cifische Formen hervorbringend ungleich wachsen, die Nah-
Roux, Kampf der Theile. 10
[146]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
rungsaufnahme eine ungleiche sein. Und da sie sich auch
schon qualitativ verschieden ausbilden, muss eine qualita-
tive und quantitative Nahrungswahl stattfinden
.
Diese Ungleichheit der Nahrungsanziehung muss um so grösser
sein, als die verschiedenen Zellen der Keimscheibe gar nicht,
wie angenommen, vollkommen gleich zur Nahrungsquelle ge-
legen sind, sondern gerade die am raschesten sich differenziren-
den und wachsenden, neben der Achse gelegenen Theile von
der Nahrungsquelle am weitesten entfernt sind. Dasselbe be-
kundet sich bei den blutlosen niederen Thieren, z. B. der
Hydra, unserem einheimischen kleinen Wasserpolypen. Auch bei
diesen Thieren finden bekanntlich besondere morphologische
Differenzirungen durch ungleich starkes Wachsthum, z. B. in
der Bildung der Tentakeln statt, obgleich das erforderliche un-
gleiche Wachsthum hier nicht auf ungleicher Vertheilung, son-
dern nur auf ungleicher Aufnahme der Nahrung beruhen kann.


Andererseits aber würde eine Zurückführung des ungleichen
Wachsthums im Embryo nach der Bildung der Blutgefässe auf
verschiedene Vertheilung der Nahrung durch dieselben bedeuten,
dass die Wachsthumsgesetze eigentlich blos in den Blutgefässen
lägen, dass die specifischen Theile nicht selbständig sich ent-
falteten, nicht nach ihnen innewohnenden, aus ihrer specifischen
chemischen Natur sich ergebenden Gesetzen wüchsen, sich ge-
stalteten und vergrösserten, sondern blos nach der Vertheilung
der Nahrung. In den Blutgefässen lägen die eigentlichen Wachs-
thumsgesetze und die specifischen Zellen, welche doch specifische
Nahrung aus der allgemeinen Ernährungsflüssigkeit auslesen
müssen, wären in Bezug auf die Quantität der Aufnahme voll-
kommen unselbständig, vollkommen abhängig allein von der
Zufuhr.


Da aber die Blutgefässe, welche die Nahrung vertheilen,
selber wieder aus Zellen bestehen, die unter Nahrungsaufnahme
[147]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
wachsen müssen, so müssten, soweit es die grösseren von
vasa vasorum (Ernährungsgefässen der Blutgefässe) ernährten
Gefässe angeht, die Wachsthumsgesetze der Organe
in den ersteren, in den vasa vasorum, liegen
; soweit
es aber die vasa vasorum selber und die anderen kleinen Ge-
fässe des Körpers betrifft, welche direct aus dem in ihnen
fliessenden Blute sich nähren, müssten die Wachsthumsgesetze
in den Zellen selber, in denen, welche die Capillarwandung
bilden, liegen; denn diese müssten mehr Nahrung aufnehmen,
stärker wachsen, ehe sie das Gefäss erweitern oder ehe sie
neue Capillaren anlegen könnten. So muss denn in letzter
Instanz doch wieder grössere active Aufnahme der
Nahrung seitens bestimmter Zellen die Entfaltung
im Embryo und im wachsenden Individuum be-
dingen
. Dem entsprechend haben nach H. Fischer1) die
meisten Autoren angegeben, dass bei angeborenem halbseitigen
Riesenwuchs die zuführenden Blutgefässe (Arterien) nicht nach-
weisbar weiter waren als die entsprechenden des normalen
Gliedes der anderen Körperhälfte; auch blieben lang fortgesetzte
Compressionen der Arterien auf der vergrösserten Seite ohne
Erfolg für die Verkleinerung des Gliedes. Es ist also eine
durchaus unberechtigte Vorstellung, die morphologische Differen-
zirung des Organismus, die Ausbildung all der zahllosen Einzel-
formen von ungleicher Vertheilung des Blutes allein ableiten zu
wollen, wenn schon letztere hier und da ein begünstigendes
Moment abgegeben haben mag.


Virchow hat eine ähnliche Ansicht gleichfalls bereits in
seiner Cellularpathologie auf Grund pathologischer Beobach-
tungen vertreten. So sagt er l. c. p. 160: »Wir werden daher
am Ende immer genöthigt, die einzelnen Elemente als die wirk-
10*
[148]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
samen Factoren bei diesen Anziehungen zu betrachten. Eine
Leberzelle wird aus dem Blute, welches durch das nächste
Capillargefäss strömt, bestimmte Substanzen anziehen, aber
sie muss eben zunächst vorhanden und sodann ihrer ganz be-
sonderen Eigenthümlichkeit mächtig sein, um diese Anziehung
auszuüben.« Hierzu will ich nur noch bemerken, dass es für
unsere Zwecke ohne Bedeutung ist, ob die Zelle aus der
Capillare die specifischen Stoffe direct anzuziehen vermag oder
ob die Zelle diese Stoffe nur aus der sie umspülenden Lymphe
aufnimmt und infolge dieser Wegnahme aus der Lymphe diese
Stoffe nun rascher aus der Capillare diffundiren, als die anderen
nicht entfernten, und ob die Capillaren der verschiedenen Organe
sich schliesslich an dieses stärkere Hindurchtreten besonderer
Stoffe angepasst haben, so dass auch der Diffusionswiderstand
für sie in ihrem specifischen Organe ein geringerer geworden ist.


Wenn nun einmal actives Wachsthum der Zellen durch
grössere active Nahrungsaufnahme eine unumstössliche Voraus-
setzung aller Differenzirungen ist, so ist es gewiss das Näher-
liegende, Einfachere, diese verschiedene Activität und somit die
Wachsthumgesetze in diejenigen Theile zu verlegen, welche die
specifischen Qualitäten haben, also in die specifisch fungirenden
Zellen der Organe und nicht in die indifferenten, in allen
Organen gleichen oder erst secundär differenzirten der Capillar-
wandung. Wir müssen die ganze formale Differen-
zirung der Organismen auf selbständige quantita-
tive und qualitative Auswahl der Zellen und zwar
der specifischen Zellen jedes Organes zurück-
führen. Remak
handelte sehr wohl erwogen, wenn er vor
allem die Differenzirung der specifischen Theile der Organe
ins Auge fasste und als das Primäre, Formengebende ansah,
entgegen der oben erwähnten, im Allgemeinen durchaus un-
motivirten Behauptung Boll’s.


[149]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Wenn so die embryonale und die postembryonale vererbte
Entwickelung ganz durch active quantitative und qualitative Nah-
rungsauswahl der Zellen bestimmt wird, soll nun für die
Activitätshypertrophie im noch jugendlichen und im erwachsenen
Individuum auf einmal ein ganz anderes, geradezu entgegen-
gesetztes Gesetz gelten? Soll die Ernährung jetzt auf einmal
eine rein passive geworden sein, welche blos abhängig ist von
der jetzt durch Nervenvermittelung von irgend einem Centrum
aus besorgten Regulation der Blutgefässe?


Bei der functionellen Vergrösserung der Organe findet nun
nicht blos einfache Vergrösserung der Elementartheile statt,
sondern auch Vermehrung derselben und Vermehrung der
Capillaren. Hierbei müssten also wiederum, wenn die Ernährung
rein passiv erfolgte, die Capillaren auf einmal anfangen, stärker
zu wachsen, Sprossen zu treiben etc., und da nach dem im
I. Kapitel begründeten Gesetz von der dimensionalen Hyper-
trophie die Organe blos in denjenigen Dimensionen sich ver-
grössern, welche die Verstärkung der Function leisten, also
auch die Capillaren blos nach diesen Richtungen hin sich ent-
wickeln, so müssten wiederum die Bildungsgesetze des Speci-
fischen in den Zellen der Capillarwandung liegen, denn blosse
Vergrösserung der Blutzufuhr zum Organ mit passivem Wachs-
thum der Capillaren und der von ihnen als abhängig an-
genommenen specifischen Theile würde eine gleichmässige Ver-
grösserung nach allen drei Dimensionen zur Folge haben. Wie
aber sollen durch verstärkte Function die Capillaren blos zur
Vermehrung nach zwei Dimensionen mit Ausschluss der dritten
angeregt werden?


Wenn nun das Wachsthum der Organe nur wenig durch
die Blutgefässe bestimmt wird, sondern umgekehrt vorwiegend
die specifischen Theile durch active Auswahl den Nahrungs-
verbrauch bestimmen, so fragt sich, wie unter diesen Verhält-
[150]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
nissen die Regulation der Blutgefässe überhaupt stattfinden kann,
wie es möglich ist, dass die zuführenden und vertheilenden
Blutgefässe eines Organes immer die den Bedürfnissen ent-
sprechende Weite erlangen.


Ich will hier dieses schwierigste morphologische Problem
der Blutgefässregulation im Embryo
, welches mich
seit Jahren beschäftigt, nicht eingehend erörtern, um einer
besonderen Darstellung nicht vorzugreifen. Aber es muss noch
bemerkt werden, dass wir die Weite derselben nicht nur für die
wenigsten Gefässe als vererbt betrachten, sondern dass wir sie
fast durchweg als auf dem Wege der Selbstregulation von dem
Verbrauch der Parenchyme aus bestimmt und ausgebildet auf-
fassen zu müssen glauben.


Zur Begründung solcher Abhängigkeit der Blutgefässe von
den selbständigen, activ sich ernährenden specifischen Theilen
seien hier wenigstens einige, wie ich glaube, demonstrative
Beispiele angeführt.


Wenn man auch die Entwickelung der Gefässe innerhalb
der Geschwülste
als mit den Geschwulstkeimen potentia an-
geboren auffassen könnte, so wäre dies doch schon weniger
wahrscheinlich für die Entwickelung der zuführenden und ab-
führenden Blutgefässe, welche ausserhalb der Geschwulst liegen.
Und sollen diese letzteren nun immer zuerst wachsen und da-
durch erst den in der Geschwulst gelegenen Theilen die Ge-
legenheit zur weiteren Vergrösserung gegeben werden, sodass
die Geschwulst in absoluter Abhängigkeit bliebe?


Der Einwand der Blutgefässentwickelung nach vererbten
formalen Gesetzen ist aber schon gar nicht möglich für die
Entwickelung des Blutgefässnetzes, welches sich nach Ein-
wanderung von Parasiten um dieselben ausbildet. Wenn
ein solcher, z. B. ein Echinococcus, in irgend einem Organe sich
festsetzt, so zieht er offenbar aus Molekulardistanz immerfort
[151]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
Nahrungsflüssigkeit an, veranlasst damit ein constantes Nach-
strömen aus den Blutgefässen mit allmählicher Vermehrung der
Capillaren und zwingt so den Wirth, bei welchem er haust,
ihn mit einem Capillarnetz und zugehörigen grösseren Gefässen
zu umspinnen und dem Todfeinde die nöthige Nahrung zu geben.
Es ist nicht denkbar, dass die Flüssigkeitsansammlung im
Echinococcus und besonders das Wachsthum desselben einfach
mechanisch durch Diffusion vor sich gingen wie bei todten Sub-
stanzen, denn dazu müsste der eingeführte microscopisch kleine
Embryo ganze Haufen von Salzen enthalten, vielmal grösser
als er selber ist, und trotzdem würden sie bald alle verschwunden
und Stillstand hergestellt sein.


Die Blutgefässe der Echinococcushülle, welche der Wirth
ihm liefert, sind meist nicht gross und dies könnte Jemanden
zu Widerspruch veranlassen.


Wir sehen aber dasselbe noch evidenter bei der Ent-
wickelung der metastatischen Geschwülste
im Kör-
per. Wenn einige oder mehrere Zellen einer bösartigen Ge-
schwulst, in die Blutgefässe gelangt und mit dem Blute ver-
schleppt, irgendwo hängen geblieben sind, so ernähren sie sich
daselbst und zwingen ihre Umgebung zur ernährenden Capillar-
bildung und weiterhin zur Bildung auch grösserer Blutgefässe
für das weitere Wachsthum der Geschwulst. Auch hier haben
wir eine Selbstregulation der Blutgefässe, sowohl der in der
Geschwulst selber liegenden, als auch der im normalen befind-
lichen grösseren zu- und abführenden Gefässe je nach dem
Verbrauche der Geschwulst; und zwar an Stellen, wo die
Tendenz, dereinst diese Gefässe zu bilden, nicht vererbt sein
kann, da die Metastasen an beliebigen Stellen haften bleiben.


Dasselbe zeigt sich bei der Entwickelung des Eies
im Mutterleibe
. Wo das Ei haften bleibt und Nahrung
anzieht aus der Mutter, vermehren sich die Capillaren derselben
[152]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
und es bilden sich dem Bedürfniss entsprechende zuführende
und abführende Blutgefässe durch Selbstregulation aus, nicht
blos in der Gebärmutter, sondern auch in der Bauchhöhle an
jeder beliebigen Stelle, an welcher bei Extrauterinschwanger-
schaft das Ei zufällig liegen geblieben ist. Auch in diesem
Falle kann also eine Tendenz, an dieser Stelle dereinst diese
Blutgefässe zu entwickeln, nicht angeboren sein, sondern es
muss eine allgemeine Reactionsfähigkeit des Organismus existiren,
zufolge welcher überall die dem Verbrauche entsprechenden
Blutgefässe auf dem Wege der Selbstgestaltung und Selbst-
regulation sich ausbilden.


Ich glaube, dass diese Beispiele beweisen, dass sich die
Theile activ ernähren können, und dass der Organismus passiv
mit Capillarbildung und mit Bildung entsprechender zuführender
und abführender Gefässe reagirt. Auf welche Weise diese
Regulation der zu- und abführenden Blutgefässe stattfindet, ist
ausserordentlich schwierig zu erklären. Es setzt wiederum
Reactionsqualitäten voraus, von welchen wir bisher nichts ge-
ahnt haben. Diese wenigen Qualitäten aber angenommen, er-
klärt sich sofort die zweckmässige Ausbildung der Blutgefäss-
weite im ganzen Körper und ebenso dieselbe in pathologischen
Neubildungen und bei den erwähnten parasitären Bildungen,
als welche hier auch die Frucht im Mutterleibe betrachtet
werden muss.


Es scheint, dass diese Regulation der Blutgefässe, welche
wir ganz in Abhängigkeit sehen von dem Bedürfniss der das
Blut verzehrenden Theile, auch durch neugebildete Nerven ver-
mittelt wird, wenn die Gefässe grösser werden, denn die glatten
Muskelfasern, welche die Gefässe auch der metastatischen Ge-
schwülste haben, werden wohl auch von Nerven versorgt. Diese
nervöse Mithilfe bei der Regulation bekundet sich wohl auch
schon nach Unterbindung von Blutgefässen. Es bilden sich
[153]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
hier nicht blos auf mechanische Weise neue Nebenwege aus,
sondern gleichzeitig muss auch eine neue nervöse Regulation
entstehen, welche ebenfalls nicht vererbt sein kann, sondern
mittelst Selbstgestaltung und Selbstregulation ihre Ausbildung
erfahren muss. Man denke sich, was entstehen müsste, wenn
die Ernährung rein passiv stattfände, ganz in Abhängigkeit
von der Blutzufuhr, und wenn nach Unterbindung die Vertheilung
blos mechanisch durch collaterale Wirkung sich ausgliche,
welche Functionsstörungen und Umformungen des ganzen Theiles
entstehen müssten! Wenn z. B. die Oberarm-Arterie unter-
bunden wäre, müssten die Schultermuskeln und die Haut über
denselben unförmig verdickt und der Unterarm würde dünn
und schwach werden; aber nichts von dem tritt ein, die Re-
gulation ist meist eine vollkommene, und da die betreffen-
den Muskelgruppen später wieder vollkommen functionsfähig
werden, so muss sich wohl auch eine neue nervöse Regulation
zur Herstellung der functionellen Hyperämie ausgebildet haben,
welche aber nur in directer Abhängigkeit von dem Verbrauch
der Theile entstehen kann. Alle diese Verhältnisse deuten also
auf Selbstregulation durch den Bedarf hin, so dass wir an-
nehmen müssen, dass die specifischen Parenchyme sowohl die
Aufnahme als auch die Zufuhr ihres Bedarfs selber reguliren,
und dass auch die nervösen Regulationsapparate in Abhängig-
keit von dem Verbrauche sich ausbilden und ihm untergeordnet
sind. Denn ebenso, wie sie unter ganz neuen, also nicht ver-
erbten Verhältnissen hervorgebracht werden, in denen sie blos
in Abhängigkeit von den verbrauchenden Theilen entstehen
können, müssen sie auch in normalen Verhältnissen sich in der
gleichen Weise auszubilden vermögen.


Wir wollen noch erwähnen, dass zweierlei Regulationen
wohl zu unterscheiden sind, ein Mal die nervöse, blos vorüber-
gehende, wechselnde, zweitens die durch wirkliches Wachs-
[154]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
thum der Gefässe entstehende dauernde. Die letztere, welche
ursprünglich im Embryo und beim Anfang der Ausbildung der
erwähnten Parasiten und Geschwülste jedenfalls ohne Nerven-
vermittlung, also rein mechanisch stattfindet, kann, sobald die
Gefässe grösser werden und Nerven haben, vielleicht als eine
der durch die Nervenregulation hergestellten mittleren Weite
nachfolgende Anpassung angesehen werden. Wir wissen aber
nichts darüber und können daher nicht behaupten, dass das
betreffende Wachsthum nicht vielleicht auch ganz ohne Nerven-
vermittlung stattfände.


Die Regulation der Gefässweite vermittelst der Nerven
kann zu Stande kommen erstens durch Theilung des functio-
nellen Reizes, indem immer ein Theil derselben zugleich auf
die Gefässe übergeht. Die Reizqualitäten sind aber, wie wir
sehen werden, ausserordentlich mannigfaltig im Körper und die
glatten Muskelfasern der Gefässwandung müssten auf diese ver-
schiedenen Reize immer in entsprechender Weise reagiren, ent-
weder indem sie direct von den Reizen getroffen werden oder
indem ihnen ein Theil des functionellen Reizes durch beson-
dere Bahnen zugeleitet wird. In den chemisch zur Thätigkeit
angeregten Organen müssten unter dieser Voraussetzung z. B.
die glatten Muskeln der Nierenarterien auf Harnstoffansamm-
lung im Blute mit Erschlaffung reagiren, in dem gleichen Grade
wie die Epithelien der Nierenkanälchen dadurch zur Function
und zur Vergrösserung ihres Stoffwechsels, respective zur Er-
nährung und Vermehrung angeregt werden, wie letzteres nach
Ausschneidung einer Niere bei der compensatorischen Hyper-
trophie der anderen stattfindet.


Gegenwärtig ist zwar noch die Meinung herrschend, dass
diese Hypertrophie durch collaterale Hyperämie, durch Vergrös-
serung des Blutzuflusses zu den Nachbartheilen nach der Ab-
sperrung eines Bezirkes des Blutgefässnetzes bedingt sei, in-
[155]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
dem infolge des Verschlusses der einen Nierenarterie das Blut
aus mechanischen Gründen entsprechend mehr in die andere
flösse. Diese Erklärung der Hypertrophie ist aber unrichtig;
denn es würde in die andere Nierenarterie nicht mehr Blut
fliessen, als ihrer relativen Weite im Verhältniss zur Bauchaorta
resp. zu den anderen in der Gegend entspringenden Gefässen
zukommt. Es müssten alle Organe, welche aus dieser Gegend
ihr Blut beziehen, also die ganze Lendengegend, der Dick-
darm, die Hoden, hypertrophiren. Davon ist indessen nichts
beobachtet worden: Dagegen würde nach Entfernung eines
Hodens gar keine Hypertrophie des anderen eintreten, denn
der Ausfall einer so engen Arterie und ihres kleinen Capillar-
gebietes aus dem ganzen von der Bauchaorta versorgten Be-
zirk, welcher fast den halben Körper darstellt, könnte den
Blutdruck in der Gegend nur unmessbar wenig erhöhen, und
von dieser Erhöhung würde wiederum nur der entsprechende
minimale Theil dem anderen Hoden zu Gute kommen. Trotz-
dem aber hypertrophirt bekanntlich der übriggebliebene Hoden
manchmal in sehr beträchtlichem Maasse. Zudem könnte die
compensatorische Hypertrophie der Lymphdrüsen des übrigen
Körpers, welche stets nach zu Grunde gehen dieser Organe
eines Körpertheiles stattfindet, überhaupt nicht durch collaterale
Hyperämie ihre Erklärung finden, denn wie sollte collaterale
Hyperämie auf ganz entfernte kleine Organe in anderen Kör-
pertheilen wirken? Dagegen ergiebt sich die Hypertrophie bei
unserer Annahme, dass der functionelle Reiz dieselbe ver-
anlasst, ganz von selber, denn diejenige Qualität des Blutes,
welche die Thätigkeit der Lymphdrüsen veranlasst, wird nach
Wegfall eines Theiles derselben entsprechend stärker auf die
anderen wirken.


Ausserdem ist zu erwähnen, dass die Regulation durch
Nervenvermittlung so mächtig ist, dass der Einfluss der Ver-
[156]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
schliessung schon ziemlich starker Arterien vollkommen com-
pensirt werden kann, wodurch die mechanische collaterale
Hyperämie in ihrer Wirkung für Arterien mehr oder weniger
aufgehoben werden kann.


Es müssten nach der gemachten Voraussetzung bei den
verschiedenen Organen, welche ihre Anregung zur Thätig-
keit, gleich der Niere, durch chemische Bestandtheile des Blutes
erhalten, also wohl die Leber, die Hoden (?), die Milz und
die Lymphdrüsen, immer auch die Muskelzellen ihrer Blutge-
fässe auf diese chemischen Reize in entsprechender Stärke
reagiren, während bei denjenigen Drüsen, welche durch Ner-
venvermittlung zur Thätigkeit angeregt werden, z. B. den
Speicheldrüsen, ein Theil dieses Reizes sich abzweigen und auf
die Gefässe übergehen müsste. Dasselbe müsste bei den Mus-
keln und selbst auch bei den Ganglienzellen des Hirns und des
Rückenmarks stattfinden. Alles dies erscheint ausserordentlich
complicirt, überall müssten die in allen Organen physiologisch
gleichen glatten Muskelfasern auf besondere Reize mit
bestimmter zweckmässiger Stärke reagiren; und wie eine Re-
gulation in neuen Verhältnissen entstehen könnte, dafür würde
uns jegliches Verständniss fehlen. Auch ist es undenkbar, wie
eine derartige Regulation für die Knochen thätig sein könnte;
denn wie soll hier der Reiz, welcher den Knochen trifft, auch
proportional die Blutgefässe treffen? Oder wie soll der Vor-
gang in dem Centralnervensystem sein? Wenn bestimmte Ner-
venbahnen oder Ganglienzellen mehr in Anspruch genommen
werden, also vermehrter Nahrung bedürfen, so müsste für jede
Faser, für jede Ganglienzelle eine besondere nervöse Blut-
gefässregulation da und zugleich dafür gesorgt sein, dass
die Reize nicht irradiiren (sich weiter ausbreiten), denn sonst
würden immer alle benachbarten Theile auch hypertrophisch.
Ich erinnere nur an das vorn citirte Beispiel rasch verlaufender
[157]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
functioneller Anpassung von Helmholtz, in welchem wir
beim Sehen mit die beiden Bilder vertauschenden Brillen uns
so rasch anpassen in Tausend oder Millionen Ganglienzellen
und ihren Ausläufern, dass wir schon nach Uebung von einigen
Minuten und nach Abnahme der Brille gegen unseren Willen
noch nach dieser eben gelernten Weise greifen. Soll diese
tausendfältige Veränderung von Nervenverbindungen passiv
durch Hyperämie entstehen, welche in diese tausendfältigen
Bahnen geleitet würde? Oder wenn man einwendet, dass hier-
bei blos der Verbrauch von schon in den Zellen aufgespeicherten
Vorräthen stattfinde, so brauchen wir nur ein anderes Beispiel
anhaltenderer Uebung, etwa des Klavierspiels zu gedenken, in
welchem alle Vorräthe erschöpft werden. Wenn dagegen nicht
so vollkommen auf diese einzelnen Bahnen beschränkte Hyper-
ämie bei rein passiver Ernährung der Gewebe möglich wäre,
so würde die Mitausbildung der gleichzeitig hyperämischen
Nachbartheile jede Erwerbung besonderer Kunstfertigkeiten un-
möglich machen.


Auch aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass die
Aufnahme der Nahrung activ geschieht, gemäss der Anregung
durch den functionellen Reiz, und dass die Blutgefässregulation,
auch diejenige durch Vermittlung von Gefässnerven, wo sie
überhaupt stattfindet, nämlich wohl blos, wenn grössere Zell-
gruppen zugleich mehr Nahrung aufnehmen, im allgemeinen
abhängig sein wird von den specifischen Theilen der Organe,
sei es in directer oder indirecter Weise.


Ueber die Art, wie diese Regulation stattfindet, will ich
den Physiologen durch das Aussprechen von Vermuthungen nicht
vorgreifen; indessen sind relativ einfache Modi denkbar. Für
die morphologische, dauernde Bildungen liefernde Gefäss-
regulation, welche allein in mein Gebiet gehört, hoffe ich nach
[158]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
meinen gegenwärtigen Beobachtungen, sie dereinst auf mecha-
nische Principien zurückführen zu können.


Aus dem über die Wirkung der Blutvertheilung und die
Art ihrer Regulation Gesagten geht also hervor, dass es allen
Thatsachen widersprechen würde, wenn man eine
passive Ernährung der Theile, allein abhängig von
der Nahrungszufuhr statuiren wollte, sondern es
ergab sich, dass im Gegentheil die Ernährung unter
qualitativer und quantitativer Auswahl seitens der
ernährten Theile stattfinde, und dass von der Ver-
brauchsstelle aus die Blutzufuhr entsprechend dem
Bedarfe in irgend einer Weise regulirt werden muss
.


Die functionelle Hyperämie, wo sie stattfindet,
kann daher keinesfalls die Ursache der functionel-
len Hypertrophie sein, sondern sie darf nur als eine
günstige, vielleicht nicht einmal immer unerläss-
lich nothwendige Vorbedingung derselben angesehen
werden
.


Werfen wir noch einen Blick auf die möglichen Leistungen
der Blutvertheilung beim Ausbleiben der Function
und der ihr folgenden Inactivitätsatrophie, so liegt hier
das ursächliche Verhältniss scheinbar einfacher, und die Ab-
hängigkeit von der Blutzufuhr scheint eine grössere und be-
stimmtere zu sein als bei der Hypertrophie. Denn wenn die
Nahrung in erheblich verminderter Menge zugeführt wird, so
muss nothwendigerweise die Ernährung entsprechend sinken.
Aber es ist die Frage, warum sinkt die Nahrungszufuhr, warum
bleibt sie nicht auf einem mittleren Zustand stehen, da doch die
Spannung der Blutsäule hier wie überall bestrebt ist, die vorhande-
nen Wege zu erweitern, statt sie verengen zu lassen. Diese stetige,
über das Maass des durch Nervenregulation Vermittelbaren hin-
ausgehende Verengerung, diese wirkliche morphologische Rück-
[159]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
bildung bedarf selber erst einer Erklärung und diese findet sie
erst, wenn das Capillargebiet mit der Atrophie der specifischen
Theile infolge mangelnder Function sich verkleinert hat.


Aber ganz abgesehen von dieser Auffassung der Entstehung
der Blutgefässschrumpfung, wie soll sich in dem Capillarnetz
der Blutgefässe, in welchem von allen Seiten Blutzufuhr statt-
finden kann, die Inactivitätsatrophie einzelner Nervenbahnen im
Rückenmark rein von den Gefässen aus erklären, da doch für
den ganzen Querschnitt jedes der sechs Stränge, also für viele
tausend Nervenfasern ein gemeinsames zusammenhängendes
Capillarnetz vorhanden ist? Um diese strangförmigen, auf be-
stimmte Nervenbahnen längs des ganzen Rückenmarks be-
schränkten Atrophieen durch Verminderung der Blutzufuhr her-
vorzurufen, müsste für jede Nervenfaser ein eigenes abge-
schlossenes Capillarnetz mit selbständiger Regulation vorhanden
sein. Das Gleiche gilt von der Atrophie der entlasteten
Knochenbälkchen, welche nach einem schief geheilten Knochen-
bruch bei Ausbildung der den neuen statischen Verhältnissen
entsprechenden Structur stattfindet.


Wie durch die functionelle Hyperämie das vorhandene,
feine Structurdetail in dem Centralnervensystem, in den Knochen
und Fascien, in den Höhlenmuskeln etc. als Wirkung der Blut-
vertheilung sich nicht hätte ausbilden können, da die Blutver-
theilung in dem Netz der Capillaren nicht in der dazu nöthigen
Weise regulirt und abgeschlossen werden kann, so kann auch
nicht eine so beschränkte Nahrungsentziehung stattfinden, dass
einzelne, mikroskopisch kleine scharf umschriebene Theile da-
durch zur Atrophie gebracht werden könnten.


Bei so allgemeinen, alle Organe und Organsysteme betreffen-
den Erscheinungen aber nach speciellen, für jedes Organ be-
sonderen Gründen zu suchen, wie bei den Muskeln geschehen
[160]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
ist, indem man die Activitätshypertrophie derselben durch eine
bei der Contraction stattfindende, den Durchtritt von Nahrung
begünstigende Dehnung des Sarkolemma (der Muskelfaserhaut)
als die Ursache hingestellt, und in gleicher Weise die Inacti-
vitätsatrophie aus dem Ausbleiben dieser günstigen Dehnung
zu erklären versucht hat, erscheint schon an sich nicht sehr
berechtigt, ganz abgesehen davon, dass es schwerlich gelingen
möchte, dasselbe leistende accessorische Moment für die anderen
Elementartheile, die Ganglienzellen, Nervenfasern, Knochen etc.
aufzufinden. Es ist gewiss verdienstlich, nach solchen Momenten
zu suchen und sie zu erwägen, aber sie können bei so allge-
meinen Erscheinungen doch mehr nur die Bedeutung accesso-
rischer Hülfsmomente haben.


So lässt sich denn weder die Activitätshyper-
trophie noch die Inactivitätsatrophie, noch die Ent-
stehung des functionellen Structurdetails aus der
Regulation der Blutzufuhr ableiten, und die Ent-
stehung dieser Verhältnisse als Folgen der tro-
phischen Wirkung des functionellen Reizes gewinnt
dadurch eine noch grössere Wahrscheinlichkeit
.


Es bleibt damit auch für die Activitätshypertrophie, für die
Uebercompensation, welche dieses selbe Structurdetail ausbil-
den hilft und die Organe blos nach den die Hyperfunction
leistenden Dimensionen vergrössert, die einzige Ursache die
trophische Wirkung des functionellen Reizes. Denn da die
Theile ohne letzteren nicht thätig sind und bei gänzlicher Fern-
haltung desselben sogar rasch entarten, in seiner Anwesenheit
aber hypertrophiren, so muss, da zudem die Ernährung keine
passive, durch die Nahrungszufuhr verursachte ist, diese Hyper-
trophie nunmehr als eine Folge der Stärkung der Lebenspro-
cesse durch die Reizwirkung angesehen werden.


Schliesslich erfreuen sich ja auch die trophischen Wirkun-
[161]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
gen der Reize im Allgemeinen einer verbreiteten Anerkennung.
So sagt Virchow:1)


»Wir haben es in der Hand, sowohl die ganzen Individuen,
als insbesondere einzelne ihrer Organe und Systeme auszubil-
den und damit die individuellen Eigenthümlichkeiten nach die-
ser oder jener Richtung zu entfalten.«


»Unter den Mitteln, Menschen mit mehr Fleisch, Blut und
Nervenmasse zu ziehen, sind vor allem entscheidend die Reize,
die Erregungsmittel. Ohne Reiz giebt es keine organische Ar-
beit, keine Aufnahme von neuen Bildungsstoffen, keine Ent-
wickelung.«


»Salze, Gewürze, gewisse Spirituosen und flüchtige Stoffe
bringen den Organen eine Erregung, welche sie zur Stoffauf-
nahme bestimmt, welche ihre innere und äussere Thätigkeit
wachruft.«


»Mechanische Anstösse, die Einwirkung des Lichtes, der
Wärme, der Electricität und zahlreiche andere Einflüsse, welche
die empfindenden Nerven oder die circulirenden Säfte oder die
Gewebe selbst treffen, üben die gleiche Wirkung. Vor allem
ist es die geistige Erregung, welche die grössten Resultate
giebt (nicht blos das Denken, sondern auch das Thätigsein,
Willensimpulse).«


Résumé.


Es war im Kapitel über den Kampf der Theile deducirt
worden, dass Processe, welche auf Reizwirkung nicht blos die
functionelle Veränderung erfahren, sondern zugleich auch in
ihrer Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und zu assimiliren, ge-
kräftigt würden, aus allgemein dynamischen Gründen in den
Organismen im Kampf der Theile die Herrschaft, die Allein-
existenz erlangen müssten, sobald sie einmal in Spuren in den
Roux, Kampf der Theile. 11
[162]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
Organismen aufgetreten wären. Da Ursache vorhanden war,
zu vermuthen, dass diese Eigenschaften nicht blos physiolo-
gisch, sondern auch morphologisch von grosser Wichtigkeit sein
würden, so unternahmen wir es, den Nachweis zu versuchen,
dass solche theoretisch annehmbaren Substanzen auch wirklich
entstanden seien, auch thatsächlich in den Organismen existirten.


Zu diesem Nachweise mussten wir getrennte Wege ein-
schlagen für die beiden Hauptgruppen der den Organismus zu-
sammensetzenden Theile. Für die Stützsubstanzen, insbeson-
dere für die Knochen- und für die Bindegewebsbildungen,
konnten wir darauf hinweisen, dass in der quantitativen Aus-
bildung der bezüglichen Organe und in der inneren und äusse-
ren Gestalt derselben, sowie in ihrem Verhalten, in pathologi-
schen neuen Verhältnissen eine Identität der Leistungen dieser
Gewebe mit den theoretisch ableitbaren nothwendigen Leistun-
gen der angenommenen Substanz besteht, welche bei der Viel-
gestaltigkeit, in der sich diese Leistungsidentität offenbarte, ein
zufälliges Zusammentreffen aus anderen, abweichenden Ursachen
ausschloss, so dass wir aus dieser Identität der Leistungen auf
eine Identität der Eigenschaften der Stützsubstanzen mit der
angenommenen Qualität schliessen konnten.


Für die Arbeitsorgane, für deren Structur in Folge des
Unbekanntseins der Gestalt der Reize keine eventuelle Ueber-
einstimmung mit der eventuellen Reizgestaltung nachweisbar
ist, schlugen wir einen anderen, ebenso sicheren Weg ein, wel-
cher durch die Experimente vieler ausgezeichneter Forscher
geebnet war. Die Schilderung der Wirkung, welche Fernhal-
tung des fnnctionellen Reizes auf diese Organe ausübte, zeigte
uns, dass dabei in diesen Organen Entartung, Rückbildung,
Schwund der specifischen Theile entstand, und daher mussten
wir dem functionellen Reiz eine erhaltende, also auch die As-
similation stärkende Wirkung zuerkennen.


[163]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Schliesslich erörterten wir die öfter ausgesprochene und
auf den ersten Blick nicht unwahrscheinliche Annahme, dass
die Activitätshypertrophie und die Inactivitätshypertrophie blos
Folgen der die Function begleitenden Hyperaemie, resp. des
Ausbleibens der letzteren mit dem Ausbleiben der Function
seien. In Folge der fundamentalen Bedeutung dieser Annahme
und in Folge der Schwierigkeit, die Einzelwirkung zweier fast
immer gleichzeitig auftretender Factoren zu beurtheilen, wurde
näher auf die erstere und auf das zu Grunde liegende Problem
der Ernährung der Theile eingegangen. Es zeigte sich dabei,
dass die Ernährung keine rein passive, einfach durch die Zufuhr
des Nahrungsmateriales bedingte sein kann, sondern dass sie von
den inneren Zuständen der Zellen abhängen muss, in der Weise,
dass die letzteren fähig sind, bei Vergrösserung der Nahrungs-
zufuhr durch die Blutgefässe eine grössere Aufnahme zu ver-
weigern und bei Verringerung der Nahrungszufuhr die Aufnahme
eventuell zu vergrössern oder constant zu erhalten und bei
constanter Nahrungszufuhr bald mehr, bald minder Nahrung
aufzunehmen und zu assimiliren. Ausserdem sahen wir, dass
die Blutzufuhr zu den Organen im Embryo in irgend einer
Abhängigkeit von den Zuständen der specifischen Theile stehen
muss, so dass die letzteren fähig sind, die Blutzufuhr zu sich
auf irgend einem Wege nach ihrem Verbrauche selbst zu regu-
liren. Ein gleiches wurde auch für die durch Nervenvermit-
telung bewirkte Regulation der Blutzufuhr im späteren em-
bryonalen und postembryonalen Leben wahrscheinlich.


Nachdem dadurch der einzig entgegenstehenden Ansicht
der Boden entzogen war, konnte die Activitätshypertrophie
nicht mehr als eine Wirkung der functionellen Hyperaemie und
und ebensowenig die Inactivitätsatrophie als eine Folge des
Ausbleibens derselben aufgefasst werden, sondern die erstere
erwies sich als eine Folge der Stärkung der Assimilationsfähig-
11*
[164]III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.
keit durch den functionellen Reiz, letztere als Folge der
Schwächung derselben durch das Ausbleiben dieses Reizes.
Die functionelle Hyperaemie dagegen erschien nur als eine
begünstigende, vielleicht aber nicht einmal unerlässliche Vor-
bedingung der functionellen Hypertrophie.


So ist mit der Nachweisung der trophischen Wirkung des
Reizes die functionelle Anpassung in ihren beiden Gruppen der
Wirkung des vermehrten und verminderten Verbrauchs und der
neu aufgestellten, der functionellen inneren Structur der Organe
auf ein mechanisches Princip, auf den Kampf der Theile zu-
rückgeführt, so dass ihre hervorragende, allenthalben direct
das Zweckmässige bis ins letzte Molekel und bis ins feinste
Structurdetail gehende und die angemessensten Grössenver-
hältnisse hervorbringende Wirksamkeit nicht mehr als eine
teleologische, sondern als eine mechanische aufzufassen ist.


[[165]]

IV.
Differenzirende und gestaltende Wirkungen der
functionellen Reize.


Dieses Kapitel stellt entsprechend seiner Ueberschrift die
Folgerungen dar, welche sich aus dem in den vorhergehenden
Kapiteln II und III ableiten lassen. Als Consequenzen selbst
noch der Anerkennung bedürfender Ausführungen können sie
natürlich nur einen untergeordneten Werth haben und sollen
nur dazu dienen, zu zeigen, wohin das von mir eingeführte
Princip etwa führen kann, und eventuell zur Inangriffnahme
mit den Mitteln unserer Zeit lösbarer, neu sich ergebender
Fragen anregen.


Kein Geschehen kann einseitig bedingt sein; jede Aende-
rung eines Zustandes muss durch eine hinzukommende ändernde
Kraft hervorgebracht werden. So auch die Differenzirung der
Organismen, sowohl die morphologische als die physiologische,
sowohl die quantitative als die qualitative.


Wir wollen zunächst die morphologisch-qualitative Diffe-
renzirung und zwar zuerst die Ausbildung der Grundqualitäten,
die Entstehung der Gewebe, zu erörtern suchen.


Jede Gewebsart muss also ihre besondere Entstehungs-
ursache gehabt haben, und es ergiebt sich daraus die Frage,
ob sie sie heut zu Tage noch haben müssen, oder ob gegen-
wärtig alle Qualitäten einfach durch Vererbung direct über-
[166]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
tragen werden. Die Vererbung als chemische Uebertragung
der Qualitäten der Eltern auf die Kinder als Theilstücke der-
selben ist kein Problem mehr, sondern eine mechanische Noth-
wendigkeit. Dass sie letzteres trotz des Stoffwechsels ist, be-
wirkt die Assimilation; denn diese ermöglicht die Uebertragung
des Gesetzes der Trägheit von den physikalischen auf chemi-
sche, mit Stoffwechsel verbundene Processe. Das Problem ist
also statt der Vererbung vielmehr die Entwickelung, die Her-
vorbildung des chemisch und morphologisch Differenzirteren
aus dem Einfacheren ohne differenzirende äussere Einwirkun-
gen, blos unter Zufuhr von Nahrungsmaterial. Dabei ist natür-
lich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass blos einige
Gewebe rein in Folge der vererbten Entwickelungsfähigkeit
sich differenziren, während die anderen Gewebe, so vielleicht
die Stützsubstanzen, secundär durch Einwirkung seitens der an-
deren aus dem embryonalen Blastem differenzirt werden. Wir
wissen aber noch nichts über die Art, wie solche beiderlei Vor-
gänge möglich sind, und wie sie in ihrem Wesen ablaufen;
denn was wir beobachten, ist blos der Verlauf der äusseren
Erscheinungen. Da die Veränderungen am erwachsenen Men-
schen nur durch äussere umgestaltende Einwirkungen vor sich
gehen, die embryonalen Differenzirungen dagegen ohne oder
fast ohne solche differenzirende Reize stattfinden, so ist Ver-
anlassung, anzunehmen, dass diese Resultate auf eine, wenn
auch sicher gesetzliche, so doch andere und uns zur Zeit un-
verständliche Weise [hervorgebracht] werden. Das Wesen der
embryonalen Differenzirung und ihre physikalisch-chemischen
Einzelursachen sind uns daher zur Zeit gänzlich verschlossen.
Es hat demnach keinen Zweck, sich des Weiteren darüber zu
ergehen, und es bleibt uns nur die Frage nach den vormali-
gen, phylogenetischen Ursachen der Gewebsdifferenzirung; aber
auch für die Beantwortung dieser Frage sind die thatsächlichen
[167]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Unterlagen sehr gering und wir werden uns mit sehr hypothe-
tischen Erwägungen begnügen müssen.


Ueber die wirklichen Ursachen der vormaligen Gewebs-
differenzirung sind wir ohne alle Kunde, aber wir haben noch
heut zu Tage Gelegenheit, das Entstehen einiger derartiger
Differenzirungen in Folge bestimmter Ursachen zu beobachten.


So sehen wir nach einem Knochenbruche in der grossen
Entzündungsmasse, wenn die Knochenenden nicht genügend
fixirt sind, nicht blos Knochen-, sondern auch Knorpel- und
Bindegewebsbildung auftreten, welche zur Entstehung einer
Pseudarthrose, eines »falschen Gelenkes« führen. Diese Aus-
bildung specifischer Gewebe aus einer noch indifferenten An-
lage unter bestimmten Bedingungen ist ein Princip, welches
histiogenetisch und vergleichend-anatomisch von der grössten
Wichtigkeit ist; denn es würde uns eine discontinuirliche Ent-
stehung der Bildungen gleichen Gewebes, z. B. der knorpelig
vorgebildeten Skelettheile, anzunehmen gestatten und in dem
gewählten Beispiele den Befund von E. Fick1) erklären, dass
die Rippen im Embryo von Tritonen sich von vorn herein ge-
trennt von dem Axenskelet knorpelig anlegen, also nicht erst
durch secundäre Abgliederung ihre Selbständigkeit erlangen.


Auch entsteht öfter Knochen im Bindegewebe an Stel-
len, welche häufig gedrückt oder geschlagen werden, so die
sogenannten Exercierknochen2) und Reitknochen.


Alle solche Metamorphosen von Geweben sind für uns sehr
bedeutungsvoll, denn wir sehen hier wirkliche Differenzirungen
des einen Gewebes aus dem anderen und zwar nicht zufolge
der Vererbung, wie bei der Neubildung eines abgeschnittenen
[168]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Auges aus dem Stumpf des Tentakels einer Schnecke, sondern
ohne Mitwirkung bestimmter Vererbung durch äussere Einwir-
kungen. Aber die so constatirbaren Gewebsdifferenzirungen
in Folge bekannter Ursachen beschränken sich vor der Hand
nur auf Umbildungen der verschiedenen Bindesubstanzformen
in einander.


Kann somit auch über die vormaligen Ursachen der phy-
logenetischen Gewebsdifferenzirungen, da letztere gegenwärtig
vererbt werden und uns jegliches Verständniss für die Selbst-
differenzirung im Embryo fehlt, heut zu Tage nichts Sicheres
festgestellt werden, so erscheint es doch nicht überflüssig, noch
einige weitere Betrachtungen darüber anzustellen.


Die verschiedenen Gewebe werden von verschiedenen func-
tionellen Reizen getroffen, welche eine chemische Umänderung
in den Zellen derselben hervorbringen können, sei es nun eine
Erregung, welche mit Stoffumsatz in der Form des Verbrauches
verbunden ist, wie bei den Muskel-, Ganglien-, Nerven- und
Sinneszellen, oder eine Erregung, welche vorwiegend mit Aus-
scheidung einhergeht, wie bei den Drüsen unter Abscheidung
des Secretes, bei den Stützsubstanzen unter Abscheidung von
Intercellularsubstanz.


Es liegt uns nun daran, zu erörtern, ob diese die spe-
cifische Function veranlassenden Reize bei der
ursprünglichen Gewebsdifferenzirung mitgewirkt
haben können
, ob also auch hier eine Art Selbstgestaltung,
Selbstdifferenzirung stattgehabt haben kann, oder ob die Ent-
stehung der entsprechenden Verschiedenheiten ganz allein auf
zufällige Variationen der Organismen und Erhaltung der Va-
rietäten durch den Nutzen für das ganze Individuum, also rein
auf Darwin’s und Wallace’s Principien zurückzuführen sind.
Hierbei wird uns das im II. Kapitel über den Kampf der
Theile Entwickelte zu statten kommen und wir werden uns
[169]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
mehrfach darauf zu beziehen oder dasselbe zu wiederholen
haben.


Wenn z. B. einmal durch zufällige Variation in einigen
Zellen der Körperoberfläche niederer augenloser Thiere Verbin-
dungen entstanden waren, welche auf Licht in irgend einer
Weise reagirten, sei es, dass sie dasselbe aufnahmen oder ver-
mittelst Farbstoffkörnchen in Wärme umsetzten, oder sonstwie
dadurch alterirt wurden, so war dies in dreierlei Weise mög-
lich. Entweder wurde der Lebensprocess der noch indifferenten,
an keinen anderen Reiz besonders angepassten und durch ihn
erhaltenen Zelle durch das Licht in seiner Regenerationsfähig-
keit, in der Assimilation, geschwächt; dann musste er im
Kampf der Theile zu Grunde gehen, allmählich eliminirt wer-
den, wie wir oben dargelegt haben. Oder die Vitalität der
Verbindung wurde durch das Licht nicht alterirt, dann konnte
sie bestehen bleiben, oder drittens, es wurde dadurch die As-
similation gestärkt, dann musste sich die Substanz den Sieg
erringen und sich ausbreiten, soweit nicht andere ebenso kräf-
tige Substanzen der Nachbarschaft Widerstand zu leisten ver-
mochten.


Indessen ist die Wahrscheinlichkeit schon des Vorkommens
für diese drei Fälle nicht gleich gross, was nicht unwichtig
ist, zu berücksichtigen. Der mittlere Fall, dass die Substanzen
durch das Licht nicht im geringsten in ihrer Lebenskraft alterirt
werden, ist blos ein Specialfall aus der Mitte der unendlichen
Reihe der Möglichkeiten und als solcher, mathematisch ge-
sprochen, höchst unwahrscheinlich, ganz abgesehen von dem fort-
währenden Wechsel des Geschehens. Denn ebenso wie ein
labiles Gleichgewicht sich in der Natur nicht als dauernder
Zustand findet, ebenso wenig kann eine solche Substanz in
dem Wechsel alles Geschehens bestehen, sofern sie nicht durch
besondere regulatorische Ursachen fortwährend erhalten wird.


[170]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.

Die beiden anderen Möglichkeiten dagegen haben, princi-
piell betrachtet, gleiche Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens,
aber nicht ihrer Erhaltung. Die erstere, diejenige, dass das
Licht die Assimilation schwächend beeinflusst, hat, wie wir
sahen, schon keine Chance, erhalten zu werden, gegenüber
dem Specialfalle der Einflusslosigkeit des Lichtes und noch
weniger natürlich gegenüber dem dritten, in welchem das Licht
die Lebensfähigkeit erhöht. Daraus ergiebt sich, dass, während
die Entstehung durch eine dauernd oder wiederkehrend ein-
wirkende lebendige Kraft ungünstig und günstig beeinflusster
Verbindungen gleich wahrscheinlich ist, doch blos die letztere
Art der Verbindung erhaltungsfähig und damit auch steigerungs-
fähig ist. Diese mathematische Wahrscheinlichkeit des Vor-
kommens, verbunden mit der ausschliesslichen Möglichkeit der
Erhaltung des Stärkeren im Kampf der Theile, giebt meiner
Meinung nach derartigen theoretischen Betrachtungen schon
einen gewissen positiven, nicht blos heuristischen Werth.


Im vorliegenden Falle folgert also, dass in noch indifferenten
Zellen bei Variationen leichter Processe auftreten, welche durch
Reize alterirt werden, und dass von ihnen nur derartige er-
haltungsfähig sind und daher in den gegenwärtigen Zuständen
sich vorfinden können, welche durch den Reiz in ihrer Assimi-
lation gestärkt werden.


Der Kampf der Theile ist damit ein Princip der Züchtung
von chemischen Processen in den Organismen, welche durch die
lebendigen Kräfte der umgebenden Natur immer mehr gestärkt
werden, also auch immer mehr darauf reagiren. Die Mög-
lichkeiten solcher Verbindung sind natürlich ausserordentlich
mannigfaltige, und der Kampf um’s Dasein der Individuen wird
aus ihnen, wie oben dargelegt, blos diejenigen auslesen und
der definitiven Erhaltung überliefern, welche sich in ihm als
auch für das Ganze nützlich bewährt haben. So z. B. bei den
[171]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Pflanzen solche Verbindungen, welche das Licht am vollkommen-
sten verzehren, bei den Thieren in den Zellen der Netzhaut,
dagegen Qualitäten, welche dasselbe am vollkommensten auf-
nehmen, aber am wenigsten verzehren und zur Weiterleitung
zum Gehirn am besten vorbereiten, so dass die Sehfähigkeit
des Individuums eine möglichst scharfe wird. Es ist somit
durchaus nicht ausgeschlossen, dass auch für denselben Reiz
verschiedene Qualitäten sich ausbilden und in immer weiter
gehender Weise durch ihn gezüchtet werden können, wenn
einmal durch Variation verschiedene Substanzen aufgetreten
sind, welche durch ihn erregt werden.


In gleicher Weise musste an alle specifischen Formen der
lebendigen Kräfte der Natur, welche häufig oder dauernd genug
vorkamen, Anpassung der Organismen eintreten, so lange die
letzteren noch genügend variirten, so lange sie noch nicht durch
specifische Ausbildung mit Regulation zur Erhaltung der speci-
fischen Natur eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegen alterirende
äussere Einwirkungen erlangt hatten, wie wir sie den heut zu
Tage lebenden Wesen von den Protisten bis zum Menschen
zuschreiben müssen. So ist es erklärlich, dass es Organismen
giebt, welche Aufnahmeorgane für alle specifischen, häufiger in
der Natur vorkommenden Kraftformen, für Licht-, Wärme-,
Schall-, chemische und Massenbewegung haben; und wenn
electrische Bewegung verbreiteter, dauernder und in nicht zu
heftiger Intensität vorkäme, so würde jedenfalls auch für sie
ein besonderes Perceptionsorgan ausgebildet sein.


Es sei hier, um Missverständnissen vorzubeugen, paren-
thetisch erwähnt, dass natürlich die Production lebendiger
Kräfte durch die Organismen, also die Production von Massen-,
Wärme-, Licht- und electrischer Bewegung, etwas ganz anderes
als die Anpassung an einwirkende lebendige Kräfte ist und
daher nicht hierher gehört.


[172]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.

Ob nun für jede Schwingungsgeschwindigkeit innerhalb
einer Kraftform, z. B. der Lichtbewegung, eine besondere An-
passung gezüchtet worden ist, hing natürlich ausser von den
möglichen chemischen Qualitäten von dem Nutzen solcher Einzel-
anpassung für das Individuum ab.


Wenn das Individuum fähig war, mit drei differenten Organen
die ganze Schwingungsreihe einer Kraftform zu percipiren, sie
alle auf diese drei Componenten zu reduciren, so war damit
seinem Bedürfniss genügt.


Da es jedenfalls für die Thiere von grossem Nutzen sein
musste, für alle Kraftformen, welche den Raum durchströmen
und welche daher Beziehungen zwischen fernen Theilen zu ver-
mitteln vermögen, indem jeder entgegenstehende Theil die Kraft-
formen nach seiner eigenen Natur mehr oder weniger aufnehmen
und modificiren, also ihm erkennbare Zeichen seiner Anwesen-
heit aufprägen muss, so war es selbstverständlich, dass von den
Anpassungen, welche durch den Kampf der Theile für alle
vorhandenen Kraftformen gezüchtet wurden, der Kampf der
Individuen bestimmte auslas, und dieselben allmählich zu immer
höherer Vollkommenheit der Wahrnehmung des äusseren Ge-
schehens züchtete.


Da wir aber für die theoretisch als möglich anzunehmenden
Schwingungen, welche schneller sind als die des ultravioletten
Lichts, keine Organe haben, obgleich dies doch von Nutzen
wäre, so können wir daraus vielleicht rückwärts schliessen,
dass derartige Kraftformen, wenn überhaupt, nur sehr schwach
oder sehr selten vorkommen. Die Ursache ihres Fehlens
könnte man vielleicht in der Grösse der Molekel oder in ihren
Spannungsverhältnissen zu einander erblicken, welche raschere
Schwingungen als etwa 800 Billionen in der Secunde nicht
gestatten. Es ist aber auch die andere Möglichkeit, welche wir
z. B. gleich für unseren Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit der
[173]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
ultravioletten, chemischen Strahlen des Lichts, annehmen müssen,
dass die organische Materie mit den vorhandenen Elementen
der Erde nicht im Stande war, aus diesen Schwingungen eine
durch Nerven fortleitbare Bewegung herzustellen oder sie durch
organische Substanzen unabsorbirt hindurch gehen zu lassen.


Sehr verschiedenartig unter sich sind sowohl die chemischen
als die mechanischen Kraftformen und daher sind auch die An-
passungen, welche für sie existiren, sehr mannigfache.


Für die Wirkung chemischer Kräfte ist die physikalische
Vorbedingung innerhalb der beiden Gruppen in derartige Wir-
kung zu einander tretender Stoffe, der flüssigen und der gas-
förmigen, dieselbe: molecularer Contact, und daher bestehen im
Wesentlichen blos zwei Organformen für die chemischen Percep-
tionen. Aber wie die chemischen Qualitäten verschieden sind,
so sind auch die Anpassungen daran verschieden. Und wenn
wir auch noch kein Verständniss dafür haben, wie die derartigen
Empfindungen stattfinden, so ist doch bekannt, dass wir tausende
von verschiedenen Geschmacks- und Geruchsqualitäten empfinden
können, welche in keiner Weise derartig gruppirt und zerlegt
werden können, dass man sie auf eine Minderheit von Elementar-
empfindungen zurückführen könnte, wie die Klänge und die
Farben.


Die meisten specifischen Sinneselemente haben zunächst ein
Aufnahmestück für die Sinnesbewegung, das Sinneshaar, dessen
Entstehung und Differenzirung in zweierlei Weise gedacht werden
kann, je nachdem dasselbe als Cuticulargebilde und dem Stoff-
wechsel entzogen, also gleichsam blos mechanisch fungirend,
oder als lebend und durch die Erregung chemisch verändert
aufgefasst wird. Im letzteren, nach unserer Ansicht wahrschein-
licheren Falle, kann es die Substanz des Sinneshaares selber
sein, welche vom Sinnesreiz verändert und gekräftigt worden
ist und daher proportional dieser Kräftigung sich entfaltet hat
[174]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
und selbständig durch grössere oder geringere Nahrungsaufnahme,
sei es aus ihrer zugehörigen Zelle oder aus der Umgebung, sich
regenerirt und vielleicht auch wächst. Letzteres, das Wachs-
thum des Sinneshaares, wird natürlich nur innerhalb sehr enger
Grenzen zweckdienlich sein, da ein zu starkes Wachsthum
theils die perceptionsfähige Gestalt des ganzen Sinnesorganes,
oder blos der Sinneszelle stören würde. So ist es verständlich,
dass in den Sinnesorganen Processe gezüchtet worden sind,
welche, wenn überhaupt, so nur in einem Minimum der Ueber-
compensation fähig sind. Die letzterwähnte Art der Entstehung
des Sinneshaares aus einem durch zufällige Variation aufge-
tretenen Fortsatz der Zelle wäre die einfachste, und wir haben
auch durch die Untersuchungen von W. Kühne1) Stoffwechsel-
erscheinungen in den Sehstäbchen kennen gelernt, welche sich
in Aufquellung derselben bei der Thätigkeit äussern. Im ersteren
Falle dagegen ist das Sinneshaar blos eine Ausscheidung der
Sinneszelle und müsste, obgleich an sich todt, durch Auslese
aus beliebigen Variationen im Kampf um’s Dasein nach Darwin,
also ohne direct züchtende Wirkung des Kampfes der Theile
die Fähigkeit erlangt haben, den Sinnesreiz aufzunehmen.


Indem der Sinnesreiz die Sinneszelle durchläuft, wird seine
Qualität eine Aenderung erfahren, und es erscheint daher
nicht auffallend, dass diese neue Qualität wieder ein beson-
deres Organ, die nächstfolgende Ganglienzelle gezüchtet hat.
So können durch ursprünglich vorhandene Uebercompensations-
fähigkeit der Sinneszelle, welche zur Vermehrung führte, mehrere
Zellen nach einander entstanden sein, welche von verschiedener
Qualität sind und den Reiz beim Durchlaufen allmählich in
der für die Gehirnganglienzellen nöthigen Weise metamorpho-
siren, wie wir das von den drei Ganglienzellenschichten der
[175]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Netzhaut uns vorstellen können. Ihre Natur ist schon so diffe-
rent, dass sie ebenso wie auch der Sehnerv selber nicht durch
Licht direct erregbar sind; ein Verhalten, welches auch bei
den anderen Sinnesorganen insofern wiederkehrt, als die Erreg-
barkeit der leitenden Theile für den specifischen Reiz entweder
ganz fehlt oder eine vielmal geringere ist als die des Endorganes.
An dem Umstand, dass nicht in allen Sinnesorganen der Reiz
mehrere Ganglienzellen zu durchlaufen hat, wird ebensowohl
oder noch mehr die Auslese im Kampfe der Ganzen als der
Theile betheiligt gewesen sein, wie ja stets beide Kampfesarten
beim Eintritt einer Neuerung gleichzeitig in züchtende Thätig-
keit treten müssen, sodass jede einzelne immer blos Eine Com-
ponente des Geschehens darstellt.


Ebenso wie die von aussen einwirkenden Reize sich be-
stimmte Reactionssubstanzen im Kampfe der Theile züchteten,
von welchen der Kampf der Individuen blos die dem Ganzen
nützlichen auslas, in der gleichen Weise werden auch die vom
Organismus producirten lebendigen Kraftformen und Reize
sich Reactionssubstanzen züchten, von welchen wiederum blos
die nützlichsten durch Auslese der Ganzen erhalten wurden:
die glatten und die quergestreiften Muskeln, die Drüsenzellen
und die Bindesubstanzen.


Auf die chemischen Reize, welche der Organismus produ-
cirt, wollen wir noch besonders mit einem Worte hinweisen.
Wie Pilocarpin auf die Schweissdrüsen direct Absonderung ver-
anlassend wirkt, auch nach Nervendurchschneidung, ebenso
können wohl chemische Bestandtheile des Blutes die Thätigkeit
der Niere, vielleicht auch des Hoden und der Leber anregen.
Für letzteres Organ wäre dabei der Regulationsmechanismus
der Thätigkeit sehr einfach, wenn die durch das Pfortaderblut
zugeführten Verdauungsbestandtheile die Erregung bewirkten.
Vielleicht ist auch die Vergrösserung der Milchdrüse während
[176]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
der Schwangerschaft auf anregende Wirkung chemischer Be-
standtheile, welche aus dem Stoffwechsel des Kindes stammen,
zurückzuführen. Und die Regulation der Thätigkeit der Lymph-
drüsen und der Milz wird meiner Meinung nach am besten als
direct durch die Beschaffenheit des Blutes vermittelt zu denken sein.


Die im Organismus wirksamen mechanischen Reize, welche
theils durch die Muskelthätigkeit, theils durch die Schwer-
kraft producirt, theils auch von aussen her übertragen wer-
den und die Theile bald aus einander zu ziehen, bald zu
comprimiren streben, sind mannigfaltig nach Intensität, Loco-
motionsgrösse, Dauer, Wiederkehr und Angriffswinkel, und
können danach verschiedene Reactionen des Organismus ausge-
bildet haben. Denn wo constant Eine bestimmte Combination
dieser Eigenschaften vorkommt, wird sie im Stande sein, eine
bestimmte Qualität zu züchten, wie wir das bei denjenigen Ge-
weben, welche rein mechanischen Reizen ausgesetzt sind, bei
den Bindesubstanzen sehen. Es wird ein anderer Reiz sein,
welcher Knochen bildet, als der, welcher Gelenkknorpel am
Leben erhält und vor der Zerstörung und Verknöcherung schützt.
Und ebenso wird es ein anderer Reiz gewesen sein, welcher
das leimgebende Bindegewebe und welcher die elastischen
Fasern gebildet hat. Es sollen hier keine Hypothesen über die
Charakterisirung der Reize für jede dieser Gewebsqualitäten
ausgesprochen werden, aber sicher wird sie früher oder später
versucht werden müssen, wenn die zu Grunde liegende Auffas-
sung, dass der functionelle Reiz sei es identisch mit dem ursprüng-
lich differenzirenden ist oder wenigstens gegenwärtig trophisch
erhaltend wirkt, Anerkennung findet. Aber es wird eine sehr
eingehende vergleichend-anatomische Erfahrung dazu gehören,
um das Wesentliche, Gemeinsame der Bedingungen, unter
welchen jede dieser Gewebsarten vorkommt, richtig zu erfassen,
wenn schon die Bedingungen im einzelnen Individuum ver-
[177]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
schieden genug sind, um dennoch vielleicht annäherungsweise
das Richtige zu erkennen. Von grossem Werthe werden dabei
die Uebergangszonen zwischen diesen verschiedenen Differen-
zirungen desselben Blastemes sein.


Der Grad der Anpassung des Gewebes oder der Zellen
an den specifischen Reiz konnte nach dem im Kapitel
von dem Kampf der Theile Dargelegten ein verschiedener sein.
Einmal derartig, dass der Reiz zwar die Assimilation zu stär-
ken im Stande ist, dass aber die organischen Substanzen auch
ohne Reiz sich einigermassen zu regeneriren, also zu erhalten
vermögen; ebenso wie wir annehmen, dass sie auch ohne Reiz
sich, wenn auch langsamer, so doch continuirlich zersetzen.


Die im Kapitel III erwähnten Versuche an den Muskeln,
Drüsen und Nerven ergaben aber nach Reizentziehung eine so
rasche Entartung der Theile, dass der Reiz als unerlässlich
nöthig zur Erhaltung für dieselben angesehen werden muss.
Von unseren Seelenfunctionen ferner wissen wir, wie gering sie
bleiben, wenn in der Jugend die Anregung derselben versäumt
wird, und wie die Aufnahmefähigkeit durch längere geistige
und sinnliche Unthätigkeit herabgesetzt wird, so dass auch hier
der functionelle Reiz zur normalen Erhaltung unerlässlich nöthig
zu sein scheint. Auch hatten wir Veranlassung anzunehmen,
dass die matrices der Bindesubstanzen physiologischer Weise
keine Intercellularsubstanz absondern, wenn sie nicht gereizt
werden, wenn ihnen also nicht lebendige Kraft zugeführt wird.
Es scheint daher, dass die Gewebe der höheren Thiere in ähn-
licher Weise des Reizes zu ihrem normalen Leben bedürfen,
wie die Pflanzen. Ob dies auch für die niederen Thiere gilt,
ist natürlich ohne entsprechende Beobachtungen nicht zu beur-
theilen. Wohl aber deutet die hohe Regenerationsfähigkeit,
welche nach früheren Untersuchungen und nach den jüngsten
Roux, Kampf der Theile. 12
[178]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
von P. Fraisse1) und J. Carrière2) fast jeden abgeschnitte-
nen oder ausgeschnittenen Theil aus der nächsten Umgebung
wieder in seiner typischen Weise herzustellen vermag, darauf
hin, dass hier die Zellen nicht durch und durch an ihre speci-
fische Function angepasst sind, sondern dass jede, sei es im
Kern, oder im Protoplasma noch einen Rest wirklichen em-
bryonalen Stoffes enthält, welcher in Thätigkeit tritt, sobald
und soweit er nicht mehr durch den Widerstand der physio-
logischen Umgebung daran verhindert wird.


Die Anpassung an den Reiz muss eine um so vollkom-
menere sein, je häufiger derselbe einwirkt. Und wenn eine
Substanz gewohnt ist, täglich, stündlich erregt zu werden, so
wird sie beim Ausbleiben des Reizes während mehrerer Tage
mehr leiden, als eine andere, welche gewohnt ist, nur selten
gereizt zu werden. Dies ist ein sehr wichtiges Moment. In
der gleichen Weise kann auch Anpassung an eine gewohnte
mittlere Intensität des Reizes stattfinden.


Knochen, welche häufiger gebraucht werden, wie z. B. die
Extremitätenknochen, werden bei Inactivität leichter der Atrophie
unterliegen, als seltener gebrauchte, wie die Schädelknochen.


Mögen die verschiedenen Gewebe ursprünglich in der Phy-
logenese durch embryonale Variation oder irgendwelche post-
embryonale Einwirkung entstanden sein und mag unter letz-
teren der functionelle Reiz gewesen sein oder nicht, so sind
die betreffenden Substanzen jedenfalls durch Einwirkung des
letzteren, durch Züchtung von Reizsubstanzen unter dessen Herr-
schaft gekommen, da wir sie gegenwärtig von ihm abhängig
erblicken. Durch ihn ist daher die formale, der Function auch
bei den niedersten Wirbelthieren so auf’s innigste angepasste
[179]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Ausbildung der Theile hervorgerufen worden, und wir hatten
im II. Kapitel Veranlassung zu der Annahme erhalten, dass
auch zur gegenwärtigen formalen Ausbildung im embryonalen
und postembryonalen Leben der functionelle Reiz für viele
Theile, besonders für die Stützorgane unentbehrlich ist. Aber
daraus erhalten wir keinen Anhaltepunkt zur Beurtheilung
darüber, ob bei der gegenwärtigen embryonalen Entwickelung
die embryonale Selbständigkeit der Theile von selber aufhört,
weil durch Vererbung die Phylogenese in der Ontogenese von
selber sich wiederholt, oder ob die selbständige Erhaltungs-
fähigkeit der Theile auch im Embryo erst durch die Einwir-
kung der functionellen Reize, also unter Züchtung von Reiz-
substanzen stattfindet.


Sei das eine oder das andere richtig, so ist es verständ-
lich, dass pathologische, also neue Knochenbildungen, Exostosen
etc., mögen sie schon im Embryo sich ausbilden, oder erst
später aus Resten embryonaler Substanz sich entwickeln, selbst-
erhaltungsfähig sind, da sie keine Wiederholung phylogene-
tischer Aequivalente darstellen und selber nicht unter Reizein-
wirkung kommen. So können Exostosen lebenslang an einem
Knochen unverändert sitzen, welcher selber bei Inactivität der
beträchtlichsten Atrophie unterliegen würde.


Ebenso ist es verständlich, dass Drüsentheile, welche nie
stark activ waren, welche vielleicht blos abgeschnürte Deck-
epithelien sind, wie der Hirnanhang, die Zirbeldrüse und die
Schilddrüse, auch nach Aufhebung ihrer Function, also ohne
dass sie noch wie sonst von dem Oberflächenreiz getroffen wer-
den, dauernd leben bleiben, während andere, thätige Drüsen
nach vollkommener Reizentziehung schon in wenig Wochen
gänzlich atrophiren.


Durch die Reizeinwirkung werden wir also abhängig von
derselben, wie die Pflanzen abhängig vom Lichte sind und ohne
12*
[180]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
dasselbe nicht normal leben können. Sie entwickeln sich als
Embryonen im Dunkeln, aber zur späteren Entfaltung, zum
späteren normalen Wachsthum bedürfen sie des Lichtes.


So können auch im erwachsenen Individuum, wo keine
embryonalen Eigenschaften, von Geschwulstkeimen abgesehen,
mehr vorhanden sind, die Theile blos noch durch Reizeinwirkung
wachsen, denn sie sind jetzt ganz in Abhängigkeit vom Reiz
gekommen.


Vollkommene Anpassung an den Reiz würde be-
deuten, dass jede Substanz, blos von dem Reize, welcher sie
physiologisch allein trifft, zur Function erregt, von ihm allein
am Leben erhalten und von ihm zur Vermehrung veranlasst
werden könnte. Aber so vollkommen ist die Anpassung bei
keinem Gewebe gediehen, denn bekanntlich werden die Nerven
und Muskeln von allen lebendigen Kräften mit Ausnahme des
Schalles und des Lichtes erregt, wenn auch nach Grützner1)
nicht in gleichem Maasse. Besondere Reizversuche mit ver-
schiedenen Kraftformen unter Messung der Quantität der zur
Reizung verwendeten oder gelangenden lebendigen Kraft werden
erst die verschiedenen Anpassungen an besondere Reizformen
zu ergeben haben.


Es müssen also, um das noch besonders hervorzuheben, in
dem Leben aller Theile zwei Perioden unterschieden werden:
eine embryonale im weiteren Sinne, wo die Theile sich von
selber entfalten, differenziren und wachsen, und eine des Er-
wachsenseins, wo das Wachsthum und bei Manchen auch schon
der vollkommene Ersatz des Verbrauchten nur unter Einwirkung
von Reizen stattfindet. Letztere Reize können dann auch Neues
hervorbringen, welches wiederum, wenn es Generationen hin-
durch so erzeugt worden ist, erblich wird, d. h. ohne diese
[181]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Reize sich in den Nachkommen ausbildet, also in unserem
Sinne embryonal wird.


Ebenso kann wohl auch ein allmähliches Sinken der
Nothwendigkeit des Lebensreizes
stattfinden, indem der
Reiz allmählich abnimmt, kann durch Züchtung anderer
Substanzen Anpassung an den geringeren Reiz eintreten und so
können Organe trotz verminderter Activität erhalten bleiben, wie
wir das bei den Ohrmuskeln des Menschen sehen, welche, wenn
überhaupt, so blos durch irradiirende Reize schwach und nicht
zur Contraction genügend erregt werden und trotzdem immer
noch, wenn auch nur in sehr geringem Volumen, erhalten bleiben.
Solche Erhaltung wird aber blos da möglich sein, wo das Organ
keinen Kampf um den Raum zu bestehen hat, wie dies eben
bei den Ohrmuskeln der Fall ist. An anderen Stellen, wo die
Organe um den Raum kämpfen müssen, können weniger ge-
brauchte Organe nur in einem so kleinen Theile erhalten bleiben,
als durch das geringe Maass der Function genügend zur Wider-
standsfähigkeit gekräftigt wird, wie dieses deutlich der rudi-
mentär gewordene, aber thatkräftige rothe Musculus plantaris der
Wade des Menschen zeigt.


Zu welcher Zeit nun für jedes Gewebe und in jedem Organ
die Periode des embryonalen Lebens aufhört und die des Reiz-
lebens beginnt, ist wahrscheinlich für jeden Theil verschieden.
Wir zeigten, dass die Gefässe, die Knochen und die Binde-
gewebsbildungen ihre normale Gestalt wahrscheinlich überhaupt
nicht selbständig im Embryo ausbilden, sondern blos secundär.
Und zwar ist diese Abhängigkeit wahrscheinlich nicht blos eine
morphologische, indem irgend ein morphologischer Zusammen-
hang zwischen der Ausbildung des Muskels und seiner Fascie
besteht, sondern eine functionelle in der Weise, dass die dyna-
mische Ordnung des Faserverlaufs der Fascie sich durch die
embryonale Function der Muskeln ausbildet. Das Gleiche gilt
[182]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
von den Blutgefässen, welche wohl neben dem Herzen am
frühesten von allen Theilen ihr Reizleben beginnen. Danach
folgen vielleicht die bindegewebigen Bildungen, aber wohl in
den verschiedenen Organen zu verschiedener Zeit. Das Allge-
meine ist, dass diejenigen Organe, welche schon im Embryo
ihre specifische Function versehen, auch schon im Embryo Reiz-
leben führen werden, nach dem Maasse dieser Function. Ob
die Drüsen schon fungiren, wissen wir im allgemeinen nicht,
aber von der Niere und der Leber haben wir Grund es an-
zunehmen.


Wenn es nicht Thiere gäbe, welche hörend und sehend
geboren werden, so könnte man nach den Beobachtungen
Preyer’s1), dass der Mensch erst mehrere Stunden nach der
Geburt auf Licht und noch beträchtlich später auf Schall reagirt,
glauben, dass die functionellen Reize für diese Sinnesorgane
erst nöthig wären, um dieselben in functionsfähigen Zustand
zu versetzen. Vielleicht auch müssen erst Nervenbahnen in
den Centralorganen durch den Reiz für denselben wegsam ge-
macht werden. Jedenfalls scheint es kein Unentwickeltsein in
Folge Zeitmangels zu sein in der Weise, dass durchaus vierzig
Wochen und einige Tage zur genügenden Ausbildung nöthig
wären, denn dann müsste bei früh geborenen Kindern der
Mangel sehr evident die entsprechende Zeit, zehn bis zwölf
Wochen dauernd, hervortreten. Da dies nicht der Fall ist, so
scheint es mir in der That annehmbar, dass den entsprechenden
Theilen eine Vollendung in den feinsten Molecularverhältnissen
fehlt, welche erst der functionelle Reiz hervorzubringen vermag.


Gehen wir nun nach dieser für ihren nothwendig hypo-
thetischen Character etwas ausführlichen Betrachtung der quali-
tativen Wirkung der Reize zur quantitativen, also vor-
[183]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
zugsweise gestaltenden Wirkung derselben über, um
sie noch in einigen Eigenschaften kennen zu lernen, welche im
vorigen Capitel beim Vergleich der eventuellen Leistungen durch
den Reiz gekräftigter Processe mit den thatsächlichen Einrich-
tungen der Organe nicht genügend erörtert worden waren.


Wir hatten gesehen, dass dem functionellen Reize eine
die Assimilation stärkende Wirkung bis zur Uebercompensation
des Verbrauchten zukommt und dass daher mit der Stärke oder
Häufigkeit des Reizes auch seine stärkende Wirkung zunehmen
müsse, womit ein Princip der zweckmässigsten quantitativen
Selbstregulation der Organentwickelung gegeben war. Diese
Selbstregulation wirkt in der Art, dass ein Organ durch stärkeren
Gebrauch selber auch grösser und stärker und so zu grösseren
Leistungen befähigt wird. Es ergiebt sich fernerhin auch, dass
ein Organ, welches zur Assimilation des functionellen Reizes
bedarf, bei vermindertem Gebrauch in seiner Ernährung sinken
und eine Verkleinerung seines Volumens erfahren muss, welche
eine höchst zweckmässige Materialersparniss darstellt. Dieses
Geschehen ist aber an den Stoffwechsel gebunden und es ist
morphologisch dabei einerlei, ob die Stoffzersetzung mehr oder
weniger an die Function geknüpft ist, wie bei den Muskeln und
Drüsen, oder etwa in einer gewissen Unabhängigkeit von ihr
stattfindet, wie vielleicht bei den Stützsubstanzen. Von letzteren
wissen wir eigentlich gar nichts darüber. Blos von den Knochen
haben uns Kölliker und Wegner gelehrt, dass fortwährend
durch besondere grosse Zellen, die Osteoblasten oder Myeloplaxen,
Auflösung der Knochensubstanz an vielen Stellen des Organes
stattfindet, während gleichzeitig an anderen Stellen durch andere
Zellen, die Osteoblasten, Knochensubstanz neu gebildet wird, so
dass also ein stetiger Stoffwechsel des Organes stattfindet; wenn
er auch nicht, wie bei den Arbeitsorganen, innerhalb der Zellen
sich vollzieht, sondern in gänzlicher Entfernung submacro-
[184]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
scopischer Theile und Neubildung an deren Stelle besteht.
Ausserdem wissen wir, dass in der That bei Inactivität die
Knochen schwächer werden, indem die einzelnen Bälkchen sich
verdünnen und vermindern und so das ganze Organ schwächer
wird. Eines der treffendsten Beispiele von Inactivitätsatrophie
der Knochen bietet der vollkommene Schwund der Zahn-
fortsätze der Kiefer nach dem Ausfallen der Zähne im Greisen-
alter, durch welchen z. B. der Unterkiefer um 1½ bis 2 cm
seiner Höhe erniedrigt und dadurch zu einer runden Spange
von Bleistiftstärke reducirt wird. Diese Atrophie nun lässt sich
in derselben Weise erklären, wie die Atrophie der Arbeitsorgane,
indem bei Mangel des functionellen Reizes weniger oder kein
Knochen neu gebildet wird, während die Knochenauflösung
entweder dieselbe bleibt, oder nur weniger sich verringert.
Welchen Gesetzen aber diese Knochenauflösung im Kampf der
Osteoklasten gegen die Knochensubstanz folgt, an welchen
Stellen sie stärker angreift, ob vielleicht an den Stellen, welche
nicht mehr genügend durch den Reiz getroffen werden, oder an
denen, welche schon lange fungirt haben, darüber ist nichts
bekannt.


Ueber den Stoffwechsel und die physiologische Regenera-
tion des Bindegewebes haben wir gleichfalls keine Kenntniss;
aber vorkommende Atrophieen deuten auf einen Stoffwechsel
des Gewebes hin, und es ist das Wahrscheinlichste, dass auch
hier der Vorgang ähnlich wie bei den Knochen stattfindet, dass
hier vielleicht die weissen Blutzellen normaler Weise, wie sie
es bei der Entzündung pathologisch thun, die Fasern auflösen,
während der verringerte functionelle Reiz die Bindegewebszel-
len nur in zum Ersatze ungenügendem Maasse veranlasst, neue
Fasern abzuscheiden.


Werden so alle Grössenverhältnisse in einer den physio-
logischen Bedürfnissen entsprechenden Weise auf dem Wege
[185]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
der Selbstregulation ausgebildet, so geschieht das Gleiche in
vielen Fällen durch dasselbe Princip mit den Gestaltver-
hältnissen der Organe
. Localisirt sich z. B. der Reiz vor-
zugsweise an Einem Theile eines Organes, z. B. bei einer be-
sonderen Bewegungsweise, an dem unteren oder oberen Rand
eines Muskels, der aus Fasern von verschiedener Richtung be-
steht, so werden sich die Muskelfasern blos an dieser Stelle
vermehren, während vielleicht am entgegengesetzten Rande
durch den geringen Gebrauch eine Atrophie stattfindet, wodurch
dann die ganze Gestalt des Organes mit der Zeit eine Umän-
derung erfährt. Dieses könnte z. B. vorkommen, wenn durch
embryonale Variation die Gelenkenden eines Knochens eine die
Bewegungsweise alterirende Aenderung der Gestalt erfahren
haben; und umgekehrt kann das Gleiche an den Knochen
stattfinden, wenn durch embryonale Variation die Muskelanord-
nung verändert worden ist; denn es werden dann durch den
anders wirkenden Druck der Muskeln bei der Thätigkeit die
Gelenkenden entsprechend umgeformt werden. Das gleiche
Schicksal muss dabei den zugehörigen Gelenkbändern zu Theil
werden, und auch die Fascien müssen, entsprechend dem an-
deren Zug, eine andere Structur erhalten. Als ein eclatantes
Beispiel derartiger Umformung der Knochen erinnere ich an
die Gestalt des Klumpfussskeletes; hier zeigen sich sämmt-
liche Knochen der Fusswurzel und des Mittelfusses beträchtlich
den neuen Verhältnissen entsprechend verändert.1) Eine gleiche
Umänderung der Gestalt des Organes durch ungleichmässige
Inanspruchnahme seiner Theile musste im Gehirn stattfinden,
wenn in besonderen Partien desselben durch besonders starken
Gebrauch die eingelagerten specifischen Elemente zur Vermeh-
[186]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
rung angeregt und so die betreffende Gegend vor den anderen
vergrössert wurde, nur dass hier der Process jedenfalls sehr
langsam vor sich gegangen sein wird, so dass erst nach einer
viele Generationen hindurch fortgesetzten Aenderung des Ge-
brauches die Aenderung der Gestalt bemerkbar wurde, während
dagegen bei den Muskeln und Knochen die Aenderung schon
im Laufe weniger Jahre, ja bei kleinen Thieren schon in we-
nig Monaten in erkennbarer Weise sich ausbildet, wenn durch
künstliche oder pathologische Eingriffe eine Aenderung der
Bewegung erzwungen worden ist.


Ob ungleiche Vertheilung der Function auch in den drü-
sigen Organen stattfindet, ist nicht bekannt und blos in dem
Falle wahrscheinlich, dass zuvor durch embryonale Variation
ungleiche Qualitäten aufgetreten sind. Ich glaube daher, dass
die Gestaltänderung dieser Organe bei der Activitätshypertro-
phie vorzugsweise durch ungleiche Widerstände bedingt sind.


Aber nicht blos die äussere Gestalt, sondern auch die
innere Structur
kann durch dasselbe Princip der Stärkung
durch den Reiz beeinflusst und direct auf das Zweckmässigste
gebildet werden, insofern der Reiz selber bestimmte Gestalt
besitzt oder anzunehmen bestrebt ist. Am erkennbarsten wird
dies bei denjenigen Theilen, welche eine statische Function
haben, da hier der Reiz bestimmte Formen annimmt, welche
uns die graphische Statik erkennen lehrt. Jeder weiss, dass
der Druck sich in einer gebogenen oder schief belasteten Säule
nicht im ganzen Querschnitt gleichmässig vertheilt, und dass
er sich längs gewisser Linien fortpflanzt. Diese Linien werden
bestimmt von der eigenen Gestalt des Gebildes, sowie von der
Lage und Gestalt der Fläche, auf welche der Druck zunächst
übertragen wird. In der gleichen Weise muss sich der Druck
auch in den Knochen innerhalb gewisser Linien am stärksten
fortpflanzen, und die in diesen Richtungen liegenden knochen-
[187]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
bildenden Zellen (Osteoblasten) werden also am stärksten von
dem Reize zur Knochenbildung getroffen und daher am stärk-
sten knochenbildend thätig sein. Daraus ergiebt sich, dass
diese Linien selbst bei gleichmässiger Vertheilung der Resorp-
tion durch die Osteoklasten am meisten hervortreten müssen.
Und es kommt ferner dazu, dass, wenn diese Linien genügend
fest durch Knochensubstanz ausgebildet sind, sie den anderen
Stellen den Druck entziehen, so dass nach der Resorption an
diesen Stellen kein Knochen wieder gebildet werden kann.
Unterbrechen ferner, wie wohl öfter vorkommen mag, die Osteo-
klasten die Drucklinien, so wird sich der Druck auf andere
benachbarte Partikel vertheilen und diese werden nun in Folge
stärkeren Reizes stärker werden. Also auch in dem eigenartigen,
mit gänzlicher Zerstörung der geformten Theile einhergehenden
Stoffwechsel der Knochen muss sich immer wieder die den
statischen Drucklinien entsprechende Structur ausbilden, wie
es denn auch thatsächlich und zwar selbst in ganz neuen Ver-
hältnissen, bei schief geheilten Knochenbrüchen etc. geschieht.


Auf dieselbe Weise finden auch die von Grossmann und
J. Wolff als beim appositionellen Knochenwachsthum nöthig
aufgewiesenen inneren Structurumwälzungen ihre Erklärung.
Diese Autoren wandten gegen die Theorie vom rein appositionel-
len Knochenwachsthum ein, dass bei demselben während des
Wachsthums der Knochen zur fortwährenden Erhaltung immer
derselben statischen Structur der Spongiosa fortwährende innere
Umwälzungen unter Resorption und Neubildung stattfinden müs-
sen, deren die Ausführung bestimmende Momente bisher allerdings
gänzlich unbekannt waren. Nach dem hier dargelegten Prin-
cipe der functionellen Selbstgestaltung der functionellen, in
specie »statischen« Structur ergiebt sich von selber, das jeder
Knochen während des Grösserwerdens immer von neuem die-
selbe Structur in grösserem Maassstabe unter Auflösung und
[188]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Anbildung erzeugen muss, so lange seine äussere Gestalt der
früheren im mathematischen Sinne »ähnlich« bleibt und die Be-
lastungsweise keine Aenderung erfährt. Das ist jetzt ebenso
selbstverständlich, wie sich bei Aenderung dieser Verhältnisse
die der neuen Druckvertheilung entsprechende Structur von selber
ausbilden muss.


Es ist vielleicht nicht überflüssig, in einem solchen letzteren
Falle, etwa bei einem Knochenbruche, den ganzen Vorgang nach
unserer Auffassung durch zu denken. Durch die Zusammen-
hangstrennung eines Knochens, auch wenn sie ohne Verletzung
der Haut und ohne Zertrümmerung des Knochens an den Bruch-
enden erfolgt, werden an der Bruchstelle die Osteoblasten der
inneren und äusseren Knochenhaut, (des Endost und des Periost)
und der den Knochen durchziehenden Haversischen Kanäle
fortwährend kleinen Bewegungsinsulten ausgesetzt, wofür sie,
die fest an den Knochen geschmiegt in fast absoluter Ruhe zu
leben gewohnt sind, höchst empfindlich sein werden. Da mecha-
nische Reize bei ihnen trophisch anregend wirken, so beginnen
sie eine sehr ungestüme Vermehrung mit allmählich nachfol-
gender, gegen die Bewegung schützender Knochenabsonderung,
welche letztere zunächst so lange andauern wird, bis dieser
Schutz ein genügender ist, bis die Ruhe wieder hergestellt ist,
oder eventuell bis die knochenbildende Kraft erschöpft ist, was
bei geschwächten Individuen nicht selten vor der neuen Con-
solidirung stattfindet. Die Ruhe ist wieder hergestellt, wenn
eine continuirliche, genügend dicke Knochenmasse beide Bruch-
enden wieder verbindet. Ist dies geschehen, so werden die
Verhältnisse mit einem Male andere; die fremden Reize hören
auf und die einzigen Reize sind wieder die statischen, welche
sich durch den Druck der alten Knochentheile in bestimmten
Richtungen in die neugebildete Reactionsmasse fortpflanzen.
Und es wird blos innerhalb dieser Drucklinien in Zukunft nach
[189]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
der Resorption wieder Neubildung stattfinden, so dass sich all-
mählich die den neuen Verhältnissen entsprechende statische
Structur ausbildet, während die übrige Kallusmasse und die
etwaigen überstehenden Knochenenden mit der Zeit mehr und
mehr resorbirt werden.


In ähnlicher Weise wird sich die Ausbildung der statischen
Structur an den Sehnen, Aponeurosen, Bändern und Fascien
und an dem Trommelfell vollzogen haben, indem gleichfalls
diejenigen Zellen, welche am meisten von dem in bestimmten
festen Richtungen am stärksten wirkenden Reiz, dem Zug,
getroffen werden, am meisten Intercellularsubstanz abscheiden,
und nach genügender Abscheidung den in anderen Richtungen
liegenden Fasern den Reiz gänzlich entziehen, so dass sie nach
ihrem physiologischen Schwund nicht wieder von neuem gebil-
det werden können. Um es noch im Einzelnen auszuführen,
so müssten in den Fascien und im Trommelfell, da sie nach
verschiedenen Richtungen dem Zug unterworfen werden, im
Laufe der Generationen blos die beiden Richtungen, welche am
meisten in Anspruch genommen werden und auf welche sich
auch alle anderen zerfällen lassen, als die alleinig insubstan-
tiirten sich ausbilden, denn selbst bei ursprünglich verwirrter
Faseranlage mussten diese Richtungen durch stärkere Reizung
der in ihnen liegenden Zellen hypertrophisch werden, wonach
sie allen Richtungen, welche schief zu ihnen liegen, mit der
Grösse des Cosinus dieses Winkels den lebenerhaltenden Reiz
entzogen und ihre Regeneration unmöglich machten. Zwei solche
in geeigneten Richtungen zu einander stehende Componenten in
einer Fläche werden, wenn sie genügend stark gestützt sind,
alle anderen Richtungen vollkommen entspannen, und es müssen
daher in allen flächenhaften Gebilden die Richtungen der beiden
stärker in Anspruch genommenen Componenten schliesslich die
alleinig insubstantiirten bleiben, indem sie alle anderen Rich-
[190]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
tungen durch Reizentziehung im Kampf der Theile besiegen.
Es findet also dasselbe statt, wie bei den Knochen innerhalb
dreier Dimensionen.


Die Thatsache des Vorkommens dieser Reducirung in vielen
Richtungen stattfindender Wirkungen auf die am stärksten in
Anspruch genommenen Componenten, diese höchst zweckmässige
Zerlegung, welche wiederum etwas von selber ausgebildet zeigt,
was die angewandte Physik erst seit relativ kurzer Zeit er-
kannt und dargestellt hat, halte ich für eines der wichtigsten
und unumstösslichsten Beweismittel für die von mir aufgestellte
Reizhypothese und habe sie daher oben in dieser Weise ver-
wendet. Die Beweiskraft liegt darin, dass die bezüglichen Bil-
dungen unendlich vielgestaltig sind und trotzdem durch die
aufgestellte Hypothese ihre vollkommenste Erklärung finden.


Wie viel Generationen aber zur Ausbildung einer so voll-
kommenen Reduction auf zwei Componenten nöthig gewesen
sind, kann natürlich erst beurtheilt werden, wenn wir durch
Beobachtungen in neuen pathologischen Verhältnissen festge-
stellt haben, wie gross die individuelle Anpassungsbreite in
dieser Beziehung ist. Es darf aber nicht unerwähnt bleiben,
dass wenigstens Andeutungen solcher Faserordnungen nach den
constanten Richtungen stärksten Zuges bei diesen weichen Bil-
dungen des Bindegewebes auch aus verwirrter Anlage, blos
durch wiederholte Wirkung dieses Zuges auf dem Wege ein-
facher mechanischer Umordnung hätten entstehen können.


Bei denjenigen bindegewebigen Organen, welche wie die
Haut und die Gelenkkapseln abwechselnd in verschiedener
Richtung in stärkster Weise in Anspruch genommen werden,
konnte natürlich eine derartige Zerfällung auf zwei Compo-
nenten nicht stattfinden, und es musste eine verwirrte Faseran-
lage bestehen bleiben. Wenn aber trotzdem einige Richtungen
wiederum vorzugsweise in Anspruch genommen wurden, so
[191]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
musste auch in diesen Richtungen die Faserung vorzugsweise
zur Ausbildung gelangen, wie wir das in der Haut auf der
Streckseite der Gelenke sehen.


Die Wirkung der stärkeren Activitätshypertrophie in den
stärker gebrauchten Richtungen und der ihr folgenden Reizent-
ziehung und Inactivitätsatrophie der weniger gebrauchten Rich-
tungen beschränkt sich nicht blos auf Ausbildung des inneren
Structurdetails der Organe, sondern sie erstreckt sich auch auf
die Ausbildung der Lage und Gestalt ganzer binde-
gewebiger Organe
und ihre Producte tragen auch hier
wieder den Charakter höchster Zweckmässigkeit.


Denken wir uns z. B. die Harnblase als eben phylogene-
tisch neu entstandenes kleines Organ in der Wirbelthierreihe
und als solches nur durch ein wenig Bindegewebe, in welchem
keinerlei Sonderung von Faserzügen zu unterscheiden ist, an
der vorderen Bauchwand befestigt. Wenn nun dieses Organ
längere Zeit bestehen bleibt und wächst, so werden in der
befestigenden gleichartigen Bindegewebsschicht allmählich Diffe-
renzirungen eintreten, welche davon herrühren, dass der Zug
des Organes und seines Inhaltes in manchen theils von der
gewohnten Haltung des Thieres, theils von den Configurations-
verhältnissen der Umgebung abhängigen Richtungen und an
manchen Stellen stärker wird. Indem an diesen am stärksten in
Anspruch genommenen Stellen das befestigende Gewebe hyper-
trophirt, wird das umgebende und zwischenliegende Gewebe
mehr und mehr entspannt und demgemäss atrophiren, genau
wie vorhin in den kleineren Verhältnissen innerhalb der
Organe. Sobald die bevorzugten Stellen stark genug sind, um
den Zug allein auszuhalten, ist die Umgebung derselben ganz
entspannt und wird ganz atrophiren, sodass die verstärkten
Theile jetzt als discrete Bänder erscheinen. Diese Discre-
tion wird um so stärker ausgeprägt sein, je constanter die Rich-
[192]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
tungen des Zuges sind, je weniger also durch Wechsel des Zuges
die Umgebung wieder mit benutzt wird; so sehen wir an den
accessorischen Gelenkbändern die Sonderung von der Umgebung
so vollkommen scharf ausgebildet, dass sie geradezu glänzende
Oberfläche haben, während dies bei den Bändern der Harnblase,
entsprechend der vielfach wechselnden Zugrichtung, natürlich
nicht der Fall ist. Mit demselben Umstand der mehr oder min-
der grossen Constanz der Zugrichtung bildet sich, wie oben
erwähnt, auch mehr oder weniger einheitliche Faserrichtung aus.


So führt dieses selbe Princip der trophischen Wirkung des
functionellen Reizes im Kampf der Theile beim Bindegewebe,
ausser zur Ausbildung der zweckmässigsten innern Structur, noch
zur Ausbildung das Stärkste leistender discreter Organe an den
leistungsfähigsten Stellen. Damit will ich aber nicht die Be-
hauptung aufgestellt haben, dass alle Bänder auf diesem Wege
der functionellen Selbstgestaltung entstanden seien; vielmehr
wird die Anlage wohl manches Mal durch embryonale Variation
nach Darwin stattgefunden haben und erst secundär die vor-
handene Gestalt und die durchgehende Faserrichtung durch
functionelle Anpassung ausgebildet worden sein. Dies scheint
mir z. B. für die Ligg. coracoacrom., sacrospinos. und sacro-
tuberos. der Fall gewesen zu sein. Entscheiden kann in diesen
Fragen nur die eingehendste vergleichend-anatomische Unter-
suchung; denn wo uns diese die Verhältnisse der ersten An-
fänge derartig aufweist, dass sie durch functionelle Selbstge-
staltung hätten hervorgebracht werden können, so werden wir
keinen Anstand nehmen, sie ihr auch zuzuschreiben.


Auch bei den Knochen entstehen grössere Gestalt-
verhältnisse
als die statische Anordnung der Spongiosa aus
denselben Principien. Da bei tragenden Säulen die äusseren
Theile mehr zu tragen haben, so werden auch beim Knochen
die äusseren Theile mehr zur Activitätshypertrophie angeregt
[193]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
werden und so den Knochen verdicken. In dem Maasse aber,
als der Knochen sich aussen verdickt, werden die inneren
Theile entlastet, sodass schliesslich im Innern durch Inactivi-
tätsatrophie gänzlicher Schwund der Knochensubstanz entsteht,
welcher zur Röhrenbildung führt. Es ist somit ein Princip ge-
geben, den Knochen immer nach aussen hin zu verdicken und
innen auszuhöhlen und dadurch mit immer weniger Knochen-
substanz das Höchste an Festigkeit zu leisten, denn je grösser
der Durchmesser einer hohlen Säule ist, um so weniger dick
braucht ihre Wandung zu sein. Wenn wir nun auch nicht
wissen, warum die derartige äussere Zunahme der Röhren-
knochen nicht stetig fortschreitet, sondern ihr bestimmtes Ende
findet, bei Säugethieren früher, bei Vögeln später, so muss
doch der Vorgang selber auf die angegebenen Ursachen zurück-
geführt werden. Und es ist kein Grund vorhanden, das Gesagte
blos von den Röhrenknochen gelten zu lassen, sondern in
gleicher Weise werden die Höhlungen im Stirnbein, im Ober-
kieferbein, im Wespenbeinkörper, im Siebbeinlabyrinth und im
Zitzenfortsatz des Schläfenbeines ihre dynamische Erklärung
finden, wenn uns auch hier wieder die Ursache der Abgren-
zung des Processes unbekannt ist. Welches Gewebe der Atro-
phie nachfolgt und den freien Raum einnimmt, ob sich Knochen-
mark bildet, wie in den Röhrenknochen, oder ob angrenzende
Epithelien nachwachsend den Raum auskleiden, wie in den er-
wähnten Höhlungen der Schädelknochen, oder ob dies wie bei
den Vögeln durch Auswüchse der Lungen geschieht, wird
jedenfalls durch accessorische Momente bestimmt, deren Er-
klärung an dieser Stelle Niemand verlangen wird.


Auf dem Wege der Selbstgestaltung unter Reizeinwirkung
entstehen wohl auch noch allenthalben an Stellen, wo grosse
Verschiebungen benachbarter Organe gegeneinander stattfinden,
durch Ueberdehnung und nachfolgende Atrophie des lockeren
Roux, Kampf der Theile. 13
[194]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Bindegewebes die Höhlungen der Schleimbeutel und Sehnen-
scheiden. Dagegen ist wohl die Entstehung der Pleuroperitonaeal-
höhle und noch mehr des Subduralraumes auf embryonale
Variation zurückzuführen. Nicht blos der Schwund, sondern
auch überhaupt die quantitative Ausbildung des lockeren Binde-
gewebes, welche allenthalben z. B. zwischen benachbarten
Muskeln genau dem Grade der vorkommenden Dislocation gegen-
einander entspricht, kann als durch functionelle Selbstgestaltung
hervorgebracht aufgefasst werden, da sie sich stets genau den
individuellen Verhältnissen, wie sie durch Berufsthätigkeit etc.
bedingt sind, angepasst zeigen. Sie brauchen und können
daher nicht als durch beliebige Variation und Auslese des Zweck-
mässigen nach Darwin entstanden angenommen werden.


Als Wirkung gestaltenden Reizes muss ferner die Ge-
staltung des Lumens der Blutgefässe
aufgefasst werden,
welche, wie ich beschrieben habe, die Gestalt eines frei aus
der runden seitlichen Oeffnung eines durchflossenen Rohres aus-
springenden Flüssigkeitsstrahles darstellt. Ich zeigte, dass diese
fein characterisirten Bildungen nur entstehen können, wenn die
Blutgefässwandung, insbesondere die Intima (die innerste Haut),
— welche ja keine Gefässe hat, so dass also schon aus diesem
Grunde die ernährenden Gefässe bei der Entstehung dieser
Einrichtungen gar nicht hätten mitwirken können — wenn die
Intima die wunderbare Fähigkeit hat, allein dem kräftigen
Seitendruck der Flüssigkeit Widerstand zu leisten, dagegen
jedem Anprall von Flüssigkeitsstrahlen, auch den unmessbar
feinsten, also jedem einseitig wirkenden Druck, vollkommen
nachzugeben. Von einer mechanischen Selbstgestaltung
durch den Flüssigkeitsstrahl kann hier nicht die Rede sein, da
es unmöglich ist, dass eine Substanz, welche in gewissen Rich-
tungen einen Druck von mehreren hundert Gramm, ohne im
geringsten nachzugeben, auszuhalten vermag, in der dazu senk-
[195]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
rechten Richtung einem Druck von Milligrammen nachgeben
sollte. Wir müssen hierfür schon an die Eigenschaften lebender
Substanz appelliren; aber bei Annahme dieser von uns sup-
ponirten, allerdings zur Zeit unverständlichen Eigenschaft, —
wie wir ja überhaupt die organischen Qualitäten noch nicht
verstehen — bei Annahme dieser Qualität ergeben sich dann
alle die im ersten Kapitel erwähnten verschiedenen Gestaltungen
der Blutgefässe in allen Theilen des Körpers von selbst.


Bei den Arbeitsorganen: Muskeln, Drüsen, Gan-
glienzellen
und Nerven, ist uns über eine bestimmte Form,
in welcher der Reiz sich zu verbreiten strebt, und welche er
daher den Gebilden, in welchen er sich verbreitet, zu verleihen
tendirt, nichts Sicheres bekannt. Aber vermuthungsweise könnte
man annehmen, dass aus solchem Grunde vielleicht die Nerven
cylindrisch, im ganzen Verlauf gleich dick und im Querschnitt
rund sind, und möglichst gerade, nie geschlängelt verlaufen,
so dass Biegungen nur vorkommen, wenn sie durch äussere
Verhältnisse erzwungen werden. Denn auch chemische Processe
werden, wenn sie eine Richtung haben, dem Gesetz der Träg-
heit folgen und die Richtung nicht ohne besondere Ursache
ändern. Warum aber die sympathischen Fasern bandförmig
sind, das vermögen wir nicht abzuleiten. Ebenso könnte man
für die kugelige oder spindelförmige Gestalt der Ganglienzellen
mit konischem Uebergang von und zu den Nerven vermuthen,
dass dies durch die Ausbreitungsformen der Erregung bedingt
sei. Aber es lassen sich bei unserer Unkenntniss der Verhält-
nisse ebenso gut andere Vermuthungen darüber aufstellen.


Aber bezüglich der Verbindung der Ganglienzellen zu Zu-
sammenordnungen (Coordinationen) der Gedanken und der Be-
wegungen scheint der Reiz von direct gestaltendem Einfluss
zu sein. Nach der heutigen Auffassung der Physiologie stellen
wir uns die Zusammenordnung der seelischen Einzeleindrücke
13*
[196]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
zu Gedanken und der Muskelfasern zu Bewegungen vor als
vermittelt durch fadenförmige Verbindungen der Ganglienzellen,
welche letzteren der Sitz der Einzel-Innervationen seien. In
dem reichen angeborenen Fadennetz zwischen den Ganglien-
zellen kann nun der Reiz Fäden ausbilden, gangbarer machen
und so die betreffenden Ganglienzellen und ihre Functionen in
festeren Zusammenhang bringen, sodass letztere leichter zugleich
oder nach einander ablaufen. Das ist die Art, wie wir uns
gegenwärtig den Vorgang der Uebung, so weit er in den Cen-
tralorganen abläuft, vorstellen müssen.


Etwas evidenter ist die gestaltende Wirkung an den
Muskeln, am wenigsten noch an den quergestreiften. Da in
diesen letzteren, wie im vorigen Kapitel erwähnt, die Quer-
streifung nach Durchschneidung des dem Muskel zugehörigen
Nerven undeutlich wird, so scheint es, dass der Reiz zugleich
eine polarisirende Wirkung auf die Disdiaklasten (Fleischprismen
in der Muskelfaser) ausübt, und dass er so die Ordnung der-
selben in Quer- und Längsreihen aufrecht erhält. Auch für
andere Formverhältnisse der Faser kann der Reiz noch be-
stimmend wirken; da ich indessen darüber eine Specialunter-
suchung begonnen habe, so verzichte ich an dieser Stelle auf
weitere Mittheilungen.


Bei den aus glatten Muskelfasern bestehenden Ge-
bilden zeigt sich bestimmt eine Gestaltung, welche in Beziehung
zur Wirkung des functionellen Reizes, sowie zur Funktion selber
stehen. Zur Erklärung der bezüglichen Bildungen muss näm-
lich angenommen werden, dass zur Erhaltung der glatten
Muskeln nicht blos der functionelle Reiz, sondern auch die
Function selber, die active Ueberwindung eines Widerstandes
unter Verkürzung nöthig ist. Ein Umstand, der wohl von ana-
tomischer Seite nicht bestritten werden wird, da jeder Anatom
weiss, dass überall da, wo durch Entwickelungsänderung diese
[197]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Gelegenheit geschwunden ist, auch die Muskeln schwinden.
So sagt z. B. Henle1): »Es ist eine bekannte anatomische
Thatsache, dass Muskeln zu Bindgewebe entarten, wenn die
Theile, zwischen welchen sie ausgespannt sind, unbeweglich
werden.« Die glatten Muskelfasern nun haben bekanntlich
keine bestimmten Ursprungs- und Ansatzpunkte, welche der
Faserung bestimmte Richtungen ertheilen, sondern sie bilden
Häute, in welchen sie eigentlich beliebig durch einander liegen
könnten. Das ist aber nicht der Fall, sondern sie liegen, wie
in Capitel I erwähnt, in den verschiedensten Organen, in denen
sie vorkommen, immer blos in den Richtungen der stärksten
Leistungsfähigkeit, und es spricht sich darin wieder die Re-
duction auf die kräftigsten Componenten aus. So sahen wir in
den cylindrischen Hohlorganen, dem Darm, den Harnleitern,
den Samenleitern, den Blutgefässen etc., blos Quer- und Längs-
muskelfasern, deren Entstehung wir abweichend von den be-
sprochenen ähnlichen Verhältnissen der bindegewebigen Organe
hier bei der Activität der Theile auf die Weise ableiten können,
dass aus einer verwirrten Anlage diejenigen Fasern, welche in
diesen Richtungen lagen, am meisten Gelegenheit zur Verkürzung
und der Ueberwindung von Widerständen fanden und dem ent-
sprechend den schief dazu gelagerten Fasern die Gelegenheit
zur Thätigkeit benahmen. An den blasenförmigen Organen,
wie der Harnblase und Gallenblase, welche blos in einer be-
stimmten Richtung, gegeben durch die Abflussöffnung, einen
locus minoris resistentiae darbieten, gegen welchen hin die
stärkste Verkürzung möglich ist, haben wir Faserzüge, welche
von diesem Orte aus meridional das Organ überziehen. Indem
diese in der Function bevorzugte Richtung durch die Ab-
fuhröffnung bestimmt gegeben ist, beraubt sie bei gehöriger
materieller Unterstützung alle schief zu ihr liegenden Faserzüge
[198]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
der Thätigkeit um den Cosinus dieses Winkels, so dass blos
die senkrecht dazu vorhandenen, also in Parallelkreisen das
Organ überziehenden die nach ihr leistungsfähigsten sein mussten.
Diese beiden aus diesen Gründen vorzugsweise ausgebildeten
Fasern waren im Stande, die Fasern aller anderen Richtungen
zu entspannen und damit dem Schwunde anheimzugeben.


Bei der Gebärmutter, welche beim Menschen nur relativ
selten zur Contraction gelangt, können wir vielleicht die weniger
vollkommen durchgeführte Anordnung auf diesen Umstand seltner
Functionirung zurückführen, abgesehen von den Aenderungen,
welche die seitliche Einmündung zweier Kanäle hervorbringt.
Bei Säugethieren, welche, wie Kaninchen und Mäuse, ihre Ge-
bärmutter mehr in dieser Weise gebrauchen, schien mir auch
die Faserordnung vielmehr unseren Regeln zu entsprechen.
Ich will gleich noch an dieser Stelle hinzufügen, dass ich
geneigt bin, die rasche Atrophie der Muskelsubstanz der ver-
grösserten Gebärmutter nach der Ausstossung des Kindes, welche
das Organ in 14 Tagen um ⅔ seines Gewichts verkleinert oder
nach Ausstossung einer grossen Geschwulst als eine Folge der
eingetretenen Entspannung aufzufassen; denn wenn bei diesem
Organ schon eine Vergrösserung des Inhaltes durch Spannung
zur Hypertrophie Veranlassung giebt, so kann auch die voll-
kommene Entspannung nach der Entleerung des Inhaltes eine
genügende Ursache zur Atrophie abgeben. Jedenfalls glaube
ich nicht, dass die letztere eine Folge plötzlicher, mit der Aus-
stossung eingetretener Anaemie ist, da die Ursache einer
spastischen Verengerung der Gefässe unverständlich wäre und
ohne Spasmus der Gefässmuskeln eine so plötzliche Verringerung
der Blutzufuhr aus haemodynamischen Gründen nicht ableitbar
ist. Im Gegentheil wird die Spannung der Blutsäule bestrebt
sein, die einmal vorhandenen Bahnen in der Erschlaffung der
Gebärmutter wieder, wie früher, zu füllen.


[199]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.

Was die Drüsen angeht, so sind wir bei diesen Organen
gänzlich ohne Kenntniss über etwaige gestaltende Wirkung ihres
functionellen Reizes. Dies fällt mir um so schwerer zu be-
kennen, als die Frage nach der Ursache der inneren Gestaltung
eines dieser Organe, der Leber, die Veranlassung derjenigen
Untersuchungen gewesen ist, deren Resultate ich in dieser
Schrift dem Leser vorgelegt habe. Es war die Frage nach der
Ursache des eigenthümlichen Verhaltens, dass der Schlauchtypus
in der Anordnung der Leberzellen, welcher bei allen anderen
Wirbelthierklassen vorhanden ist, bei den Säugethieren zu dem
von Hering1) und Kölliker2) beschriebenen Fachwerktypus
in der Anordnung der Zellen umgebildet ist. Ich glaube aber,
dass trotz unseres gegenwärtigen Unvermögens die von mir auf-
gestellten Principien dereinst zu einer Erklärung dieses schwie-
rigen morphologischen Problemes werden führen können, wenn
erst der ontogenetische und der phylogenetische Entstehungsmodus
genauer erforscht sein wird, obgleich schon ein wesentlicher
Anhaltepunkt durch die ausgezeichnete Arbeit von Toldt und
Zuckerkandl3) dazu gegeben worden ist. Vielleicht ist es
mir verstattet, an dieser Stelle die Bitte um eventuelle Zu-
sendung von Stücken frisch in absoluten Alkohol oder in
Müller’sche Lösung eingelegter Lebern niederster Säugethier-
formen aussprechen zu dürfen und die geehrten Geber im Voraus
meines Dankes und meiner Bereitwilligkeit zu jedem möglichen
Gegendienste zu versichern.


Endlich ist bei der Schilderung der gestaltenden Wirkungen
der functionellen Reize noch darauf hin zu weisen, dass auch
die von uns sogenannte dimensionale Hypertrophie, die aus-
schliessliche Vergrösserung der die Stärke der Function be-
[200]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
stimmenden Dimensionen der Organe bei der Activitätshyper-
trophie, jedenfalls hierher zu zählen ist.


Die Zeiträume, innerhalb welcher die Selbstgestaltung der
geschilderten Verhältnisse unter der Einwirkung der functio-
nellen Reize stattgefunden hat, vermögen wir gegenwärtig
grösstentheils nicht zu beurtheilen und es ist möglich, dass zu
manchen Bildungen Hunderte oder Tausende von Generationen
beigetragen haben. Nur für das Knochengewebe sahen wir,
dass sie schon innerhalb des individuellen Lebens in erkenn-
barer Weise sich ausbilden können. Die nöthigen Zeiträume
sind für die verschiedenen Gewebe jedenfalls sehr verschieden;
so wird es vielleicht unvergleichlich längere Zeit gedauert
haben, bis die dynamische Anordnung der glatten Muskelfasern
sich ausgebildet hat, als die geschilderte Structur der Sehnen-
häute.


Man könnte nach dem Vorstehenden vielleicht vermuthen,
ich sei der Meinung, dass im Grunde alle Bildungen durch
Selbstgestaltung unter Einwirkung des functionellen Reizes ent-
standen seien und durch letzteren am Leben erhalten werden
müssten, und es bliebe nun zu erklären, woher die gestal-
teten und somit gestaltenden Reize kommen sollten, wenn
alle Gestaltung erst durch den Reiz entstünde. Es ist aber
bereits oben bei der Betrachtung der qualitativen Reizwirkung
hervorgehoben worden, dass die Theile unter die Herrschaft
des Reizes erst nachträglich durch die dauernde oder wieder-
holte Einwirkung der Reize gekommen sein können und viel-
leicht auch in der Ontogenese gegenwärtig noch kommen, in-
folge dessen Theilen, welche derartigen Reizen nicht oder blos
sehr selten unterliegen, überhaupt keine Abhängigkeit von Rei-
zen zugeschrieben werden kann. Die Erfahrung lehrt, dass
die Anpassungsfähigkeit des Menschen, seine Fähigkeit zu
lernen und sich an Einwirkungen zu gewöhnen, in der Jugend
[201]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
am grössten ist und mit zunehmendem Alter qualitativ und
quantitativ abnimmt. Zugleich wird auch die sogenannte Rege-
nerationsfähigkeit desselben, freilich erst im höheren Alter
successive schwächer. Diese Erscheinungen finden bei unserer
Auffassung des Lebens der Theile ihre vollkommene Erklärung.
Indem nämlich unter der Einwirkung der Reize eine Züchtung
entsprechender Reizsubstanzen und Reizformen stattfindet, geht
die embryonale Indifferenz und selbständige Erhaltungsfähig-
keit der Theile mehr und mehr verloren. Der Organismus wird
durch längere Zeit hindurch fortdauernde Einwirkung bestimmter
Reize immer vollkommener an dieselben angepasst, also diffe-
renter und damit stabiler, sodass nachträglicher Umbildung zu
neuen Eigenschaften und Formen ein immer grösseres Hinder-
niss entgegen steht; denn das Indifferente wird natürlich leichter
zu einer einseitigen Beschaffenheit sich unter Verlust seiner
Vielseitigkeit ausbilden, als ein entschieden Differentes, ein-
seitig Beschaffenes zu einem anders Beschaffenen sich umbilden
kann. Da ferner die Ausbildung des Reizlebens mit dem Ver-
lust der embryonalen selbständigen Vermehrungsfähigkeit ver-
bunden ist, so wird damit auch die sog. Regenerationsfähigkeit
successive verringert, worüber ich in einer experimentellen
Arbeit Genaueres festzustellen beabsichtige.


Es ist oben dargelegt worden, dass diejenigen Gewebs-
differenzirungen, welche ursprünglich die Vorfahren durch be-
stimmte Reize erfahren haben, im Embryo ohne Reizeinwirkung
entstehen können und wahrscheinlich grösstentheils entstehen.
Dasselbe, wie für die Gewebsdifferenzirungen, musste auch für
die formale Differenzirung gelten. Ursprünglich durch functio-
nelle Anpassung Erwachsener erworbene formale Eigenschaften
können im Embryo ohne diesen functionellen Reiz ausgebildet
werden, und sich in der Jugendperiode ohne solche Thätigkeit,
oder bei einem Minimum derselben, infolge der vererbten Eigen-
[202]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
schaften mehr oder minder vollkommen weiter ausbilden und
sich eine Zeit lang erhalten. Aber allmählich werden sie beim
Ausbleiben der Functionirung atrophiren und im Laufe von
Generationen mehr und mehr individuell und auch in der Ver-
erbung schwächer werden und schliesslich schwinden.


Daraus ergiebt sich, dass auch überschüssig gebildete em-
bryonale Substanzen, wie sie Cohnheim 1. c. für die Ge-
schwulstkeime annimmt, ihre embryonale Eigenschaft selbstän-
digen Wachsthums behalten können, da sie entweder zufolge
ihrer falschen Lage vor der Einwirkung der functionellen Reize
geschützt sein können, oder, wenn dies nicht der Fall, infolge
ihres Zurückgebliebenseins auf die später einwirkenden functio-
nellen Reize nicht genügend reactionsfähig sind, um durch die-
selben in absolute Abhängigkeit von ihnen gebracht zu werden.


So können vielleicht überschüssig gebildete, oder durch
sonst einen Zufall von der Oberfläche abgeschnürte embryonale
Epithelzellen durch ihr Entferntsein von der Oberfläche und
von der Einwirkung des Oberflächenreizes ihre embryonalen
Eigenschaften bewahren. Und es ist denkbar, dass auch nicht
überschüssig gebildete Substanzen, wenn sie durch eine falsche
Bildung in der Nachbarschaft vor dem functionellen Reize be-
wahrt bleiben, infolge des verfehlten Anschlusses an die Function
ihre embryonalen Eigenschaften behalten; so etwa embryonale
Knorpel- oder Knochentheile, welche durch eine falsche Bildung
in der Nachbarschaft entspannt oder entlastet worden sind.


Es muss noch ein Unterschied hervorgehoben werden,
welcher in der Entstehung von Aenderungen durch
embryonale Variation und durch functionelle An-
passung
nothwendig vorhanden sein muss. Die formalen Um-
bildungen, welche auf dem Wege der Aenderung des Gebrauchs
entstehen, sind von dem Ausgangspunkt der Veränderung nur
nach und nach und immer nur nach gewissen Richtungen hin
[203]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
möglich. So konnten z. B. die inneren Gelenkbänder, die Ligg.
cruciata des Kniegelenks und das Lig. teres des Hüftgelenkes,
wenn sie, wie es für letzteres nach den Untersuchungen von
Welcker1) wahrscheinlich ist, durch functionelle Anpassung
erworben worden sind, nur durch allmähliche Ausbildung der
Gelenkkapsel nach innen bei ganz bestimmter, dies gestattender
Anordnung der das Gelenk bewegenden Muskeln entstehen;
ihre gegenwärtige vollkommene Selbständigkeit wäre demnach
erst eine secundäre, durch weitere Veränderungen der äusseren
Verhältnisse des Muskelapparates erworbene.


Die Aenderungen durch embryonale Variation dagegen,
welche nicht durch den functionellen Reiz, sondern durch mini-
male Aenderungen chemischer Qualitäten oder auf sonstige uns
unbekannte Momente hin entstehen, können eigentlich, so viel
wir es zur Zeit zu beurtheilen vermögen, nach jeder Richtung
hin erfolgen und von jedem Standpunkt aus beliebige neue
Formen hervorbringen. So könnte sie z. B. auf einmal ein
mitten im Gelenk gelegenes, vollkommen von der Wandung
freies Lig. teres hervorgehen lassen, ebenso wie sie auf einmal
einen ganz neuen Muskel, etwa einen Abductor dig. V longus
am Vorderarm hervorbringt. Sind nun aber solche embryonale
Variationen entstanden, so werden sie, wenn die Zeit des Ge-
brauches der Theile kommt, die Function derselben alteriren,
und es wird durch die so erzwungene Aenderung der Function
eine entsprechende Umgestaltung der Theile auf die vorstehend
beschriebene Weise eintreten müssen. Wenn z. B. durch em-
bryonale Variation ein Gelenkkopf verändert worden ist, wer-
den die Muskeln anders gebraucht werden müssen, manche
Gruppen sich stärker ausbilden, andere der Inactivitätsatrophie
mehr oder weniger verfallen. Das Gleiche kann durch em-
[204]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
bryonale Veränderung der Bänder entstehen. Oder umgekehrt
können durch embryonale Aenderungen der Muskeln, wie oben
schon erwähnt, die passiven Theile, die Knochen und Bänder,
umgestaltet werden. Welches von beiden das häufigere Vor-
kommen ist, können wir zur Zeit nicht sicher beurtheilen. Ich
bin aber geneigt, im Allgemeinen den activen Theilen in dieser
Beziehung ein Uebergewicht über die passiven zuzuschreiben.
Immer wird ein durch embryonale Variation veränderter Theil
mit den Aenderungen seiner Function auch die Function ande-
rer Theile alteriren und damit ihre entsprechende Umgestaltung
veranlassen.


So wird durch das Princip der trophischen Reizwirkung
auch beim Auftreten neuer Variationen die nöthige Harmo-
nie im Baue und in der Function der verschiedenen
Theile
des Organismus von selber sich ausbilden. Wie rasch
dieses geschieht und wie viel davon eventuell schon im Em-
bryo stattfindet, kann nur durch besondere Einzelbeobachtungen
festgestellt werden. Von denjenigen Gebilden, welche schon
im Embryo fungiren, also den Blutgefässen, nach Preyer,
wie erwähnt, auch vielen quergestreiften Muskeln und damit
auch den Ganglienzellen und den Stützsubstanzen, muss die
Möglichkeit der Ausbildung der Harmonie beim Auftreten neuer
Charaktere während des Embryonallebens entschieden ange-
nommen werden.


Es giebt nun aber auch Theile am Körper, welche gar
keine active oder passive Function haben, sondern
blos durch ihre Anwesenheit, durch ihr Sichtbarsein nach aussen
hin nützen und aus diesem Grunde erhalten worden sind, wie
z. B. viele Charaktere der geschlechtlichen Zuchtwahl. Der
gewaltige Rückenkamm, welcher dem männlichen Triton zur
Zeit der Brunst wächst, um nach derselben wieder rückgebil-
det zu werden, der Hahnenkamm oder die Kehlkopflappen des
[205]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Truthahns haben keine active Function, und ihre Gestalt ist
somit durch embryonale Variation entstanden, ebenso wie nicht
selten die Farbe und wohl immer die Zeichnung der Thiere.
Wenn aber auch das ganze Organ keine Function hat, so haben
doch die Theile eine Function im Ganzen, nämlich die, das
Ganze darzustellen und zu erhalten. Indem hierbei die einen
Theile mehr zu halten haben als die anderen, wird sich inner-
halb des Ganzen eine ungleiche Function der Theile und da-
mit eine entsprechende innere Structur des Ganzen ausbilden,
in den vorliegenden Beispielen also eine statische Structur.


Das Gleiche gilt von den durch ihre äussere Form wirken-
den Begattungsorganen. Hier ist die Gestalt sicher blos durch
embryonale Variation entstanden. Aber die innere Einrichtung
lässt erkennen, dass die einzelnen Bestandtheile sich nach dem
Maasse ausgebildet haben, als sie zur Herstellung dieser Form
beitragen. Ebenso ist es mit den anderen Theilen der Ge-
schlechtsorgane
. Die ganze Umbildung, durch welche z. B.
die Eileiter von den Harnleitern abgetrennt worden sind, kann
blos auf embryonale Variation und summirende Auslese nach
Darwin, nicht auf directe functionelle Anpassung zurückge-
führt werden, während die Structur ihrer Wandung aus Längs-
und Ringmuskeln, wie oben dargelegt, nur eine Folge der
functionellen Anpassung sein kann.


Ebenso gehören wohl die Hilfsapparate der Sinnesorgane
hierher; denn blos die specifischen Theile können durch den
Reiz selber beeinflusst werden, während die Hilfsapparate alle
durch embryonale Variation geformt und blos in ihrer Structur
durch functionelle Selbstgestaltung bestimmt werden.


Die embryonale Variation hat somit die Freiheit der äusseren
Gestaltung der Theile in jeder beliebigen Weise; aber die innere
Structur derselben, die Anordnung der Theile, welche diese
Gestalt hervorbringen müssen, ist dann nicht mehr frei, sondern
[206]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
wird durch functionelle Selbstgestaltung eventuell mit Hilfe des
Kampfes der Theile auf das Zweckmässigste eingerichtet.


Wenn dagegen die äussere Gestalt selber bestimmten Ein-
wirkungen ausgesetzt ist, wie die Gestalt der Knochen und
Bänder der Einwirkung der Muskeln, so ist auch sie nicht mehr
frei, sofern der bestimmende Charakter des anderen Organes,
hier der Muskeln, einmal gegeben ist.


Da im Embryo das Geschehen zunächst ein rein chemisches,
Gestaltung aus chemischen Processen ist, so ergiebt sich von
selber, dass gerade chemische Alterationen im Stande sein
werden, die Gestaltung ganzer Organsysteme auf einmal zu
beeinflussen, zu ändern, und es überbrücken sich so, wie schon
A. Graf Kayserling1) hervorgehoben hat, leichter grössere
Kluften im Thierreich, wie die zwischen Reptilien und Vögeln
und zwischen Amphibien und Säugern. Eine chemische Altera-
tion kann eine so grosse formale Umänderung in einem Organ-
system oder in allen Theilen des Organismus auf einmal her-
vorbringen, wie sie durch functionelle Anpassung allein vielleicht
nicht in Tausenden von Generationen entstanden sein würde.
Ein eclatantes Beispiel dieser Art beschreibt von einer Pflanze
W. Knop2). Er sah bei Maispflanzen nach Vertauschung der
schwefelsauren Magnesia der Nahrung mit unterschwefelsaurer
Magnesia eine Umwandlung des ganzen Blüthenstandes mit Um-
änderung der Blüthen selber entstehen, sodass an den meisten
Pflanzen gar nicht mehr die Form eines Maiskolbens entstand.
Nur an den niedrigsten Pflanzen traten später aus einer der
unteren Blattscheiden die Spitzen der Hülle eines Maiskolbens
hervor. Kölliker erwähnt3) gleichfalls ein sehr interessantes
[207]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Beispiel, indem er sagt, dass bei mangelnder oder ungenügender
Luftzufuhr zum bebrüteten Ei im Gefässhof des Hühnerembryo
sich die von E. Klein beschriebenen Endothelblasen mit vielen
Kernen und endogener Knospung ausbilden und zur Bildung
von Blutgefässen in einer vom normalen Vorgange durchaus
abweichenden Weise führen.


Da ferner, wie wir sahen, sehr Vieles in den Gestaltungen
theils schon im Embryo und noch mehr im Erwachsenen von
der Wirkung von Reizen abhängt, und da uns zugleich die
Pathologie lehrt, dass die Gewebe ausser auf die functionellen
Reize auch noch auf andere fremde Reize plastisch reagiren, so
ergiebt sich von selber, dass die Bildungen verändert werden,
von der normalen Gestaltung abweichen müssen, wenn die Ge-
webe der Einwirkung fremder Reize unterworfen werden.


Eines der einfachsten Beispiele ist die Ausbildung des an-
geborenen Plattfusses, welcher nach Martin, Volkmann,
Lücke, O. Küstner
1) u. A. bei absolutem oder relativem
Mangel an Fruchtwasser und daraus folgendem directen Druck
der Gebärmutter auf die Kindestheile entsteht. Wenn nun
aber, wie thatsächlich der Fall, die Entwickelung zumeist in
normaler Weise abläuft, so beweist dies einen sehr vollkommenen
Schutz des Organismus gegen andere, als die functionellen Reize.
Es beweist, dass die formbildenden Reize normal sich selber
im Embryo produciren, ohne äussere Einwirkungen. Wenn im
jugendlichen Individuum künstliche Hyperaemie eines Theiles
hervorgerufen, ihm also mehr Blut zugeführt wird, als er selber
zufolge der ihm vererbten Eigenschaften auf dem Wege der
oben erwähnten Selbstregulation sich zu verschaffen vermag,
so entsteht abnorm starkes Wachsthum, also abnorme Bildung,
da die Theile in diesem Stadium noch ohne Function wachsen
[208]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
können. Selbst im erwachsenen Individuum musste noch einigen
Geweben, den Deckepithelien und den Stützgeweben, die Mög-
lichkeit zuerkannt werden, blos infolge künstlich vermehrter
Nahrungszufuhr stärker zu wachsen. Jeder Arzt kennt die oft sehr
beträchtlichen Knochenverdickungen des Schienbeins nach heftigen
mechanischen Insulten (wobei nebenher aber auch die Osteoblasten
selber gereizt werden) und die Vermehrung des Bindegewebes
bei chronischen Entzündungen. Diese Bildungen sind aber nicht
dauerfähig, sondern sie schwinden allmählich wieder nach dem
Maasse und nach der Geschwindigkeit des Stoffwechsels, wel-
chem das betreffende Gewebe unterworfen ist. Eine Restitution
des Geschwundenen nach dem Aufhören der Entstehungsursache
kann nicht stattfinden, ausser wenn die Bildung durch vieljährige
Dauer der Ursache zu einer stabilen, aus sich selbst erhaltungs-
fähigen geworden ist. Uebrigens muss auch hier wieder, wie
schon oben, daran erinnert werden, dass wir zumeist nicht
wissen, ob selbst bei diesen Geweben die durch den Reiz her-
vorgebrachte Hyperaemie die alleinige Ursache der Gewebs-
vermehrung gewesen ist.


Da also die functionellen Reize so viel Zweckmässiges
hervorbringen, so ist noch ein Wort über die Reizcentrali-
sation
des ganzen Individuums zu sagen, indem von ihr die
für das Ganze zweckmässige Ausbildung der Theile abhängt.
Die vom Gehirn ausgehenden Willensimpulse gehen durch die
Ganglienzellenlager und die Nerven zu den Muskeln und be-
einflussen damit, neben der Ausbildung dieser Theile, zugleich
auch die ihrer Stützorgane, der Neuroglia (des Nervenkitts),
der Sehnen, Knochen, Knorpel, Bänder und Fascien in quanti-
tativer Weise. Indem von diesem Willenscentrum vermittelst
der Bewegungsorgane auch die Zufuhr von Substanzen in den
Körper stattfindet, unterliegen auch die Reize, welche von der
inneren Oberfläche aus auf den Körper, auf die Verdauungs-
[209]IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
organe reizend wirken, der Selbstregulation des Ganzen, und
das Gleiche gilt, aber nur in unvollkommenerer Weise für die
die äussere Oberfläche und die Sinnesorgane treffenden Reize,
an welche sich der Organismus im Uebrigen zwangsweise an-
passen muss.


So entsteht denn durch den Kampf der Theile und das in
demselben zum Siege gelangte Reizleben auf dem nächsten
Wege eine Vollkommenheit der Organisation, welche man bis
vor wenigen Jahren kaum geahnt hat, und die wir im Einzelnen
auch jetzt noch nicht im vollen Maasse kennen. Das Organ
wird ausgebildet bis zur abstractesten Definition seiner Function,
in einer Weise, wie wir sie bei unseren eigenen Werken blos
theoretisch construiren, aber nicht practisch darstellen können.
Es entsteht eine Zweckmässigkeit der Einrichtungen, wie sie das
summirende und steigernde Princip Darwin’s und Wallace’,
der Kampf um’s Dasein unter den Individuen, für sich allein
nie hätte hervorbringen können, wie sie blos durch das fort-
währende Zusammenwirken des Kampfes der Individuen mit
dem Kampfe der Theile möglich geworden ist.


Diese Vollendung der Theile bis zur materiellen Definition
ihrer Function für das ganze Individuum mehr und mehr an
den Organen und Geweben im Einzelnen nachzuweisen, wird
zu den nächsten Aufgaben der Forschung gehören; insbesondere
aber ist dies nöthig für die bisher fast ganz unbeachtet geblie-
benen Functionen der verschiedenen Bindesubstanzen.


Roux, Kampf der Theile. 14

[[210]]

V.
Ueber das Wesen des Organischen.


In der unendlichen Mannigfaltigkeit des Naturgeschehens
erkennen wir Eine Art von Processen, welche sich durch eine
Summe von Eigenschaften so augenfällig von allem anderen
Geschehen unterscheiden, dass sie schon in früher Zeit zur
Eintheilung alles Seins und Geschehens in organisches und
anorganisches geführt haben.


Trotzdem aber gelang es nicht, das eigentliche Wesen
dieser Processe klar zu erfassen und zu definiren, wenn sich
auch jedes Zeitalter daran versucht hat.


Je nach dem Standpunkt, auf welchem man stand, je
nach den naturwissenschaftlichen Kenntnissen, welche man be-
sass, musste das Urtheil verschieden ausfallen und der Wahr-
heit mehr oder weniger nahe kommen. So ist es erklärlich,
dass der grösste Naturforscher des Alterthums, Aristoteles,
eine der besten, bis in die neuere Zeit gültigen Definitionen
gegeben hat. Er erkannte, dass in den organischen Wesen
jeder Theil bestimmte Verrichtungen habe, dass er ein Werk-
zeug, ὄργανον, für das Ganze sei, und nannte daher das Ganze
»Organismus«, Complex von Werkzeugen. Seitdem man indes-
sen lebende Wesen ohne Organe hatte kennen lernen, Wesen,
welche blos ein Continuum von gleichartiger Substanz darstel-
len, ersah man, dass diese Definition doch nicht das Wesen,
[211]V. Ueber das Wesen des Organischen.
sondern blos eine hervorragende Eigenschaft der höheren Or-
ganismen bezeichnete; und die Philosophen hatten ihr schon
vordem ihren Beifall entzogen, weil ihnen die Innerlichkeit,
die zusammenfassende Seele dabei zu fehlen schien.


Wir wollen versuchen, ob wir vom Standpunkte der Ge-
genwart die Frage ein wenig weiter zu fördern, uns dem
Wesen des Organischen ein wenig mehr zu nähern vermögen.


Die einheitliche Verbindung verschiedener Theile zum Gan-
zen kann also nicht das Wesen sein, da es lebende Wesen
ohne solche Theile giebt.


Ebenso wenig können die psychischen Functionen der Or-
ganismen das Wesentliche bilden, denn wir haben keine irgend
gegründete Veranlassung, sie auch den niedersten thierischen
Organismen und den Pflanzen zuzuerkennen. Soweit wir sie
kennen, können sie alle an ihnen beobachteten Functionen ohne
Bewusstsein verrichten.


Ebenso wenig kann das mechanische Gedächtniss, das
Ueberdauern der Wirkung über die Ursache als Characteristi-
cum dienen, denn es ist nach dem Gesetze der Trägheit eine
allgemeine Function der Materie oder richtiger eine Eigenschaft
alles Geschehens.


Auch nicht das Für-Sich-Sein ist hier anzuführen,
denn dieses kommt jedem durch seine Consistenz oder sonstige
besondere Qualitäten von der Umgebung gesonderten Processe
ebenso viel oder richtiger ebenso wenig zu; denn streng ge-
nommen besteht es nirgends, sondern ist blos ein festeres un-
ter sich Verbundensein und in Wechselwirkung stehen als mit
der Umgebung, und der Grad desselben ergiebt sich aus der
Art der Unterscheidung von der Umgebung und der Art der
Verknüpfung unter sich ganz von selbst.


Es ist ferner weder die Aufnahme und der Verbrauch von
lebendiger Kraft, noch die Umsetzung von Spannkraft, denn
14*
[212]V. Ueber das Wesen des Organischen.
beide Arten des Kraftwechsels kommen im anorganischen
Geschehen fortwährend vor. Und ebenso wenig ist es der
Stoffwechsel in Verbindung mit dem Kraftwechsel;
denn die Verbindung beider zeigt uns täglich die Verdampfung
an der Oberfläche des Wassers, die Verwitterung der Felsen etc.


Auch nicht eine bestimmte Consistenz der organischen
Stoffe bildet das Wesen, wenn gleich schon für die thätigen
Theile Schwankungen derselben blos innerhalb gewisser enger
Grenzen vorkommen; aber es giebt anorganische Stoffe von
derselben Beschaffenheit. Eine bestimmte Consistenz kann dem-
nach blos als eine günstige, vielleicht nothwendige Vorbedin-
gung angesehen werden. Das Gleiche gilt von der Concen-
tration
, welche von den 12 Procent Wasser der Hülsen-
früchte bis zu den 99 Procent Wasser, welche in den Quallen
von dem Einen Procent fester Theile zu organischer Masse
verbunden werden, schwankt.


Vielleicht ist eine gewisse gemeinsame chemische Zusam-
mensetzung etwas Wesentliches, denn die Schwankungen in
dieser Beziehung sind nicht sehr grosse, aber wohl nicht das
Wesen selber; da die chemische Constitution des pflanzlichen
Protoplasmas von dem thierischen bei seiner fast entgegenge-
setzten Wirkungsweise jedenfalls sehr verschieden ist.


Nach Ausschluss dieser Eigenschaften bleiben blos noch
wenige, welche in den engeren Kreis der Betrachtung gezogen
werden müssen.


Zunächst gilt als wesentliches Characteristicum die Sen-
sibilität
, weil sie allen lebenden Wesen, wenn auch nicht
allen Theilen derselben, eigen ist. Es ist die Fähigkeit orga-
nischer Gebilde, auf Einwirkung lebendiger Kräfte ihre Gestalt
in einer Weise zu ändern, welche nicht als einfach passive
Umgestaltung durch die äussere Einwirkung angesehen werden
kann, sondern nur durch Erregung eines bestimmten Zustandes
[213]V. Ueber das Wesen des Organischen.
in der Materie möglich ist, welcher in Erhöhung der Cohäsion
oder in dem Wegfalle innerer Widerstände gegen letztere be-
steht.


Diese Reaction in der Form der Reflexbewegung ist nur
ein Specialfall der allgemeinen Reactionsfähigkeit aller Stoffe;
aber obgleich es anorganische Stoffe giebt, wie z. B. ein Ge-
menge von Chlorgas und Wasserstoff, welche durch Zufuhr
lebendiger Kräfte auch unter chemischer Umsetzung in ihrer
Cohäsion verstärkt werden, indem sie sich zu Körpern von ge-
ringerem Raume verdichten, so ist doch die Reflexbewegung
in so hohem Maasse von allen anorganischen Reactionen ver-
schieden, dass sie als ein charakteristisches Merkmal angenom-
men werden kann.


Indessen für sich allein genügt sie nicht zur Charakteri-
sirung. Niemand wird, die anderen Eigenschaften weg ge-
dacht, ein Gebilde mit dieser Eigenschaft als organisches be-
zeichnen, und wir können uns auch organische Processe mit
Stoffwechsel, Wachsthum, bestimmter Gestaltung vorstellen ohne
diese Eigenschaft; nichts beweist uns, dass diese Eigenschaft
dazu unerlässlich wäre. Doch wir greifen damit schon dem
Folgenden vor. Die Sensibilität kann daher gleichfalls nur als
eine eigenthümliche und sehr nützliche Nebeneigenschaft be-
zeichnet werden.


Gehen wir nun zur Prüfung des Verhaltens der organischen
Processe in den aprioristischen Eigenschaften alles Geschehens,
zu dem räumlichen und zeitlichen Verhalten über, so sei zu-
nächst das räumliche Verhalten, das der Ausbreitung
des Organischen besprochen. Hier treffen wir auf wichtige
Eigenschaften, auf das Wachsthum und die Fortpflanzung.


Das Wachsthum ist indess keine selbständige Eigen-
schaft, sondern es bezeichnet blos das quantitative Verhalten
einer anderen Eigenschaft, der Assimilation, und wird daher
[214]V. Ueber das Wesen des Organischen.
als in Abhängigkeit von dieser betrachtet werden müssen. Als
einfaches Grösserwerden kommt Wachsthum bekanntlich auch
bei den Anorganen vor, so bei den Krystallen, und ebenso
auch als Ausbreitung eines im Anfang auf ein kleineres Gebiet
beschränkten Processes auf grössere Dimensionen, wie bei der
Luftbewegung durch Insolation oder bei der Verdampfung oder
der Nebelbildung etc.


Aehnliches gilt von der Fortpflanzung, von dem sogenannten
Wachsthum über das individuelle Maass hinaus. Sie ist gleich-
falls abhängig von der Eigenschaft der Assimilation. —


Aber das zeitliche Verhalten der organischen
Processe
ist von grosser Bedeutung.


Die organischen Processe sind, soweit wir gegenwärtig ur-
theilen können, seit ihrer ersten Entstehung von ununterbrochener
Dauer gewesen. Wir sind gezwungen eine fortlaufende Con-
tinuität derselben vom Beginne an anzunehmen. Indessen es
giebt auch anorganische Processe, welche seit ihrer Entstehung
ewig continuirlich sind, wie das Organische, und nur in Inten-
sität und Ausbreitung wechseln. Ewig ununterbrochen ist die
Verwitterung an den Felsen, ewig ist der Wellenschlag des
Meeres, ewig verdampft das Wasser, ewig scheint die Sonne
seit ihrer Entstehung.


Dies beweist, dass die ewige Dauer, die Continuirlichkeit
des Geschehens, an sich nicht das Wesen des Organischen trifft;
und doch ist diese Dauer absolut nöthig. Denn wir wissen,
dass, wenn einmal die Continuität des Lebens wirklich unter-
brochen ist, sie durch nichts wieder hergestellt werden kann,
dass der Faden dauernd zu Ende ist. Niemand stellt heut zu
Tage in Abrede, dass die höheren Organismen continuirlich
sich von niederen, einfacheren und einfachsten abgeleitet haben.
Also müssen die organischen Processe dauerfähig gewesen sein.
Die ununterbrochene Dauerfähigkeit ist die erste Vorbedingung
[215]V. Ueber das Wesen des Organischen.
des Organischen, obgleich sie keinen Unterschied von den an-
organischen Processen einschliesst.


Wir werden zu untersuchen haben, durch welche Eigen-
schaft die Dauerfähigkeit bei beiden garantirt wird.


Die organischen Processe sind chemische Processe. Das
ist nichts Charakteristisches. Aber als solche sind sie mit Stoff-
und Kraftwechsel, mit Verbrauch verbunden, und laufen bald
ab, wenn nicht noch Bedingungen für die Dauer erfüllt sind.


Die anorganischen Processe mit Stoff- und Kraftwechsel
dauern blos, weil und so lange die äusseren, sie fort und fort
erzeugenden Bedingungen fortdauern; sobald sie nicht mehr
von den äusseren Bedingungen erzeugt werden, geht auch der
Process zu Ende. So läuft die Verwitterung fort, so lange die
Atmosphärilien: Luft, Kohlensäure, Wasser die Gesteine be-
rühren, und mit dem Aufhören dieses Zusammenkommens hört
auch der Process auf, und wenn sie wieder zusammenkommen,
beginnt der Process sofort wieder, weil er blos durch diese
äusseren Momente bedingt ist. Der Process ist hier gar nichts
für sich, sondern blos die Folge dieses Zusammenwirkens. Er
wird daher gewöhnlich auch gar nicht für sich betrachtet, und
es wird schon Ungeübten schwer fallen, solchen Process,
welcher in einer Schicht an der Oberfläche der Gesteine ab-
läuft, wirklich mit organischen Processen, welche in discreten
Wesen sich vollziehen, in der Vorstellung vergleichbar neben
einander hinzustellen.


Anders ist der organische Process: Seine Bedingungen sind
nicht blos äussere, im Gegentheil, er ist etwas für sich und
nicht blos von den äusseren Bedingungen abhängig. Wenn wir
die äusseren Vorbedingungen der Organismen, z. B. die Nah-
rungsmittel der Pflanzen und Sonnenlicht vereinen, oder wenn
wir dasselbe mit den Nahrungsmitteln der Thiere thun, es ent-
stehen keine organischen Processe daraus. Nur wenn diese
[216]V. Ueber das Wesen des Organischen.
Vorbedingungen in den organischen Process selber eingeführt
werden, wird der Lebensprocess daraus vermehrt. Der Lebens-
process trägt also die Ursache seiner Erhaltung in
sich selber, und die Nahrung ist blos die Vorbe-
dingung, während die anorganischen Processe blos
diese äusseren Vorbedingungen brauchen, um so-
fort zu entstehen
.


Somit haben die organischen Processe eine Be-
dingung mehr zu erfüllen
, und es könnte scheinen, dass
sie damit um so schwerer dauerfähig sein werden, als die an-
organischen. Trotzdem ist das Resultat gerade das umgekehrte.
Wir sehen den Lebensprocess dauerfähiger, wir
sehen ihn in ewiger Continnität, trotz des Wech-
sels der Bedingungen
.


Dazu muss er noch besondere Eigenschaften haben, welche
ihm diese Dauer ermöglichen, und wenn wir diese aufsuchen,
müssen wir an die wesentlichen Eigenschaften des organischen
Geschehens, an die unterscheidenden Merkmale vom Anorga-
nischen herankommen.


Die erste Eigenschaft, welche ihn unter diesen ungünstigen
Umständen in der Dauer begünstigt, ist die Assimilations-
fähigkeit
. Sie besteht darin, dass der organische Process
das Vermögen hat, fremd beschaffene Theile in ihm gleiche
umzuwandeln, differente Atomgruppirungen in ihm gleiche um-
zugruppiren, also Fremdes qualitativ sich anzueignen und so das
Nöthige sich selber zu produciren, wenn nur die Rohmaterialien
dazu vorhanden sind. Das Wesen dieser Fähigkeit ist
eine Art Selbstproduction
, »Selbstgestaltung des
Nöthigen
«. Und diese ist schon ein wesentlicher Vorzug vor
den anorganischen Processen.


Aber von den letzteren hat auch einer diese Eigenschaft,
und ist doch nicht fähig, sich dauernd zu erhalten: »die Flamme«.
[217]V. Ueber das Wesen des Organischen.
Auch sie hat die Fähigkeit, immer fremdes Material zu assi-
miliren.


In dem Grade der Assimilationsfähigkeit können verschie-
dene Möglichkeiten vorkommen, deren Dauerfähigkeit eine ver-
schiedene und daher für unsere Untersuchung wichtige ist.
Entweder assimilirt der Process weniger, als er verbrauchte, so
musste er von selber bald aufhören. Diese Qualität schliesst
also die Dauerfähigkeit principiell aus. Oder der Process assi-
milirt eben so viel, als er verbrauchte, dann wird er nie über
den Umfang, in welchem er entstanden ist, hinauskommen und
wenn sich an seinem jeweiligen Aufenthaltsort die Bedingungen
ändern, die Nahrung fehlt oder äussere störende Momente ent-
stehen, so wird er zu Grunde gehen. Dass dies der Fall ist,
ist bei dem fortwährenden Wechsel im Naturgeschehen sicher
anzunehmen. Dauerfähig können daher allein nur solche Assi-
milationsprocesse sein, welche mehr assimiliren, als sie ver-
brauchen. Wenn dies in genügendem Maasse stattfindet, dass
sie sich über grössere Räume mehr und mehr verbreiten können,
so steigt dementsprechend auch die Wahrscheinlichkeit der Er-
haltung im Wechsel der äusseren Bedingungen. Denn wenn
auch der grösste Theil dabei zerstört wird, an irgend einer
Stelle wird ein Theil erhalten bleiben.


Also neben der Assimilation ist das nächste all-
gemeine Erforderniss der organischen Wesen die
Uebercompensation des Verbrauches
.


Diese Fähigkeit haben bekanntlich alle Organismen: wenn
wir auch nicht wissen, wie sie im einzelnen zu Stande kommt.
Aber sie lässt sich dynamisch definiren. Die Uebercompen-
sation besteht darin, dass beim Ablauf des organischen Pro-
cesses mehr Assimilationskräfte frei werden, als zum blossen
Ersatze des Verbrauchten nöthig sind, oder umgekehrt, dass bei
Ueberführung fremden Materials in dem Organismus Gleiches
[218]V. Ueber das Wesen des Organischen.
weniger Kräfte erfordert, als das assimilirte Material bei seiner
Umsetzung bis zu den Endstadien des Processes zu liefern ver-
mag, und dass diese gelieferten Kräfte Assimilationsfähigkeit
haben. Das einfachste und daher verständlichste Beispiel bietet
wiederum die Flamme. Sie zeigt uns oft durch Umsichgreifen
in furchtbarer Weise ihre Eigenschaft, mehr zu assimiliren,
als sie verzehrt. Trotzdem hat sie keine ewige Dauerfähig-
keit auf der Erde. Dies liegt aber nicht an ihr, ihre Dauer-
fähigkeit ist im Gegentheil sehr gross und widersteht bekannt-
lich oft der Einwirkung der besten Dampffeuerspritze. Die
Ursache ihres Zugrundegehens ist zumeist die Aufzehrung ihres
Materials, und der Process würde in der Natur wol ebenso wie
das Organische ewige Dauer haben, wenn er nicht rascher ver-
liefe, als die anderen Naturprocesse wieder Material zu schaffen
vermögen. Im Organischen dagegen bestehen zwei Arten von
entgegengesetzten Processen, welche durch Selbstelimination
des Ungeeigneten sich in ein ewige Dauer verbürgendes Gleich-
gewicht gesetzt haben.


Es kann fernerhin vorkommen, dass Processe auftreten,
welche zwar mehr assimiliren, als sie verbrauchen, aber trotz-
dem nicht alles, was sie verbrauchen, zur Assimilation ver-
wenden, sondern wo Kraft noch übrig bleibt, wo der Process
noch etwas leistet, wie wir uns auszudrücken gewohnt sind,
indem wir die Assimilation blos als Vorbedingung des letzteren
Geschehens, der Leistung, würdigen. So leistet die Flamme
ausser der Uebercompensation in der Assimilation noch die
Bildung von Wärme, welche nicht zur Assimilation verwen-
det, sondern an die Umgebung abgegeben wird, und ausser-
dem producirt sie noch das Licht. Diese Leistungen nützen
ihr nichts, sondern sind vielmehr für die Assimilation und die
Dauerfähigkeit ein Verlust, eine unnöthige Ausgabe. Solche
Processe müssen daher ceteris paribus jenen nachstehen, welche
[219]V. Ueber das Wesen des Organischen.
alle Kräfte zur Vergrösserung der Dauerfähigkeit verwenden.
Dies Letztere braucht nun aber nicht blos in der Weise zu
geschehen, dass alles direct auf Assimilation verwendet wird,
sondern auch auf dem Wege der Leistungen, wenn dieselben
indirect der Dauerfähigkeit zu Gute kommen. Wenn sie z. B.
wie die Beweglichkeit der Monere die Nahrungserwerbsfähig-
keit vergrössert. Durch Ausstrecken von Theilen des Körpers
vergrössert sie ihren Ernährungsbezirk, und indem sie sich so-
fort zusammenzieht, wenn etwas an einen Fortsatz gekommen
ist, nimmt sie mehr Nahrung auf, als wenn sie blos als Kugel
daläge. Auch wird durch die Contractilität die Verdauung be-
schleunigt, indem bessere Vermischung der Theile im Inneren
eintritt und die Entstehung der Gleichmässigkeit daher nicht
blos auf die langsame Wirkung der Diffusion angewiesen ist,
ganz abgesehen von dem Vortheil, welchen die freie Loco-
motion durch das Verlassen eines erschöpften Nahrungsbezirkes
gewährt.


Eine derartige Leistung, welche dem Ganzen nützt,
welche also zu dessen Dauerfähigkeit beiträgt und aus diesem
Grunde sich erhalten hat, heisst Function, Verrichtung für das
Ganze. Die Lichtbildung ist also blos eine Leistung der Flamme
oder richtiger der Verbrennung, keine Function derselben; denn
sie nützt derselben nichts, sie ist blos eine unnütze Ausgabe in
gleichem, wie die zu starke Wärmebildung. Am besten wäre
es ihr, sie bildete nicht mehr, als sie zur Assimilation ver-
wendet, sie wäre ein reiner Assimilationsprocess. So aber
verzehrt sie nutzloser Weise rasend schnell ihr Nahrungsmaterial
und bleibt hierin schon hinter den organischen Processen zurück.


Es besteht von früher her noch bei Vielen die Neigung,
jeden solchen Process, der in einem Theile abläuft, aber zum
Nutzen des mehr oder weniger complicirten Ganzen ist, als
etwas Wunderbares anzusehen. Indessen dieser Nutzen für
[220]V. Ueber das Wesen des Organischen.
das Ganze liegt durchaus nicht in der Absicht der Theile. Die
Theile leben blos für die eigene Erhaltung, und dass dabei
etwas für das Ganze Nützliche geschieht, ist blos dadurch be-
dingt, dass eben blos solche Eigenschaften übrig bleiben konnten
und allein übrig geblieben sind, während die millionenmal
mehr anderen, welche aufgetreten waren, ohne dem Ganzen zu
nützen, das Ganze ruiniren und damit das Ganze und sich
selber von der Dauer ausschliessen mussten. Aber es ist wohl
unnöthig, die Wirksamkeit der Darwin’schen Principien hier
weiter zu erläutern. Wenn man sich nur immer erinnern will,
dass alles, was wir jetzt sehen, die Restbestandtheile sind des
ganzen irdischen Geschehens vor unserer Zeit. Alle Processe,
welche nicht dauerfähig in sich selbst waren, oder trotz dieser
inneren Fähigkeit nicht zugleich dauerfähig in den äusseren
Verhältnissen, hörten eben auf und wir finden von ihnen blos
noch Spuren oder auch diese nicht; während alles, was im
Lauf der Millionen Jahre und im ewigen Wechsel des Geschehens
Dauerfähiges entstanden ist, sich aufgespeichert hat. Genau so,
wie sich bei uns die Culturerrungenschaften aus der Unsumme
vergänglicher, ephemerer Leistungen aufhäufen.


Läuft der obige Leistungsprocess der Monere, die Bewegung,
continuirlich oder rhythmisch von selber ab, ohne besondere
äussere Ursache, so heisst er automatisch, findet er blos auf
eine äussere Einwirkung statt, so heisst er reflectorisch, und
letztere Art hat von vorn herein vor der ersteren den Vorzug
grösserer Dauerhaftigkeit. Denn es sind in der Umgebung nie
die gleichen Umstände constant. Die gleichmässig fortgehende
Leistung kann daher nicht immer den gleichen Nutzen haben;
sie wird daher oft nutzlos sein, oft dagegen zu gering, wenn
die äusseren Umstände günstiger sind, aber die Leistung nicht
zu beeinflussen vermögen.


Dagegen stellen die reflectorischen Leistungen eine Wechsel-
[221]V. Ueber das Wesen des Organischen.
wirkung mit den äusseren Umständen, welche sie ausnützen
sollen, her, die im höchsten Maasse günstig ist. Denn wenn
die Umstände fehlen, wird auch die Leistung fehlen, wenn sie
vorhanden sind, wird die Leistung entstehen und je nach der
Intensität der äusseren Umstände wird sich von selber auch
die Intensität der Leistung herstellen. Die Reflexthätigkeit
ist somit ein höchst zweckmässiger Mechanismus der
Selbstregulation
, während die Automatie eine im Allge-
meinen unzweckmässige Einrichtung mit Materialverschwendung
und mit Insufficienz bei stärkeren Anforderungen darstellt.
Automatie wird daher blos bei constanten Verhältnissen, con-
stanten Umständen und Bedürfnissen, also sehr selten von Nutzen
sein, wie sie denn auch thatsächlich nur selten und nie voll-
kommen rein, z. B. bei den Wimperthieren oder bei den Herz-
ganglien vorkommt. Denn sie wird auch da immer noch durch
äussere Umstände regulirt.


Mit der Leistung tritt nun ein neuer Factor in dem Stoff-
wechsel auf, der Verbrauch. So lange der Process blos
Assimilationsprocess war und alles, was aus dem Material pro-
ducirt wurde, in der Assimilation zur Uebercompensation ver-
wendet wurde, war der Verbrauch eigentlich blos eine günstige
Vorbedingung der Vergrösserung, des Wachsthums des Indivi-
duums. Mit der Leistung aber traten Ausgaben ein, welche an
sich die Assimilation nicht vergrössern, obgleich sie doch
Material verzehren. Es werden in diesem Falle Processe nicht
dauern können, in denen die Functionen mehr verzehren, als
ersetzt werden kann. Dauerfähig werden blos diejenigen sein,
wo ein ökonomisches Gleichgewicht zwischen dem Materialver-
brauch bei den Functionen und der Grösse des indirecten Nutzens
für die Nahrungsbeschaffung und die Assimilationsgeschwindig-
keit besteht. Alle anderen Processe müssen zu Grunde gehen
und sich somit aus der Reihe des Lebenden ausschalten.


[222]V. Ueber das Wesen des Organischen.

Mit der Leistung und dem Verbrauch tritt ein neues Er-
forderniss ein, welches von der grössten Bedeutung ist und das
ganze organische Geschehen beherrscht. Da die reflectorischen
Leistungen die herrschenden sein müssen, diese aber ungleich-
mässig stattfinden, so muss auch der Verbrauch gleichmässig
bald erhöht bald vermindert sein, und es ist nun die Frage,
wie sich dazu die Assimilation stellt. Geht sie gleichmässig
fort, so wird bald Ueberschuss bald Gleichgewicht, bald bei
starker anhaltender Function Tod, Selbstelimination eintreten.
Um letzteres zu vermeiden, muss nothwendig die Assimilation
in Abhängigkeit sein von dem Verbrauche oder von dem Reiz,
welcher den Verbrauch hervorruft. Es muss also bei stärkerem
Verbrauch das Bestreben, Nahrung aufzunehmen, und die Fähig-
keit, sie zu assimiliren, gesteigert sein, statt durch die Ver-
minderung des Stoffes geschwächt zu werden. Die Dauer-
processe müssen Hunger haben
. Dieses Wort ist hier
natürlich nicht als eine bewusste Empfindung, sondern in der
Bedeutung einer stärkeren chemischen Affinität zur Nahrung bei
stärkerem Nahrungsbedürfniss aufzufassen. Also auch die
Nahrungsaufnahme und die Assimilation müssen
der Selbstregulation unterliegen
, wie wir das auch
noch in der einfachsten Weise bei der Flamme verwirklicht
sehen. Das Gleiche muss von der Ausscheidung des
Verbrauchten gelten
. Findet diese Ausscheidung unab-
änderlich gleichmässig statt, so würde bei stärkerem Verbrauch
Anhäufung desselben eintreten, da die Ausscheidungsprodukte
stets Differentes von dem Organismus, im günstigsten Falle
einfach Unbrauchbares darstellen und mindestens durch ihre
Anwesenheit hemmen oder, da sie chemisch nicht indifferent
sind, die Lebensprocesse direct chemisch stören. Also auch
die Ausscheidung muss der Selbstregulation durch das Bedürf-
niss unterworfen sein, wofür wir wiederum das einfachste Bei-
[223]V. Ueber das Wesen des Organischen.
spiel in der Flamme haben. Je rascher sich die Flamme ver-
zehrt, um so mehr bildet sie Hitze, um so mehr assimilirt sie,
um so rascher findet aber auch durch die Verminderung des
specifischen Gewichts die Abfuhr der Endproducte des Stoff-
wechsels statt.


Selbstverständlich können ebenso wie von den reinen Assi-
milationsprocessen auch von den mit Leistung verbundenen
Processen blos diejenigen sich erhalten, welche mit Ueber-
compensation einhergehen, aus denselben dort angeführten
Gründen.


Die Abhängigkeit der Assimilation von dem Umsatz kann
eine doppelte sein: entweder ist sie direct abhängig von dem
Reize, indem dieser zugleich auch auf die Assimilation er-
regend, steigernd wirkt, oder indirect, indem die Producte des
durch den Reiz beschleunigten Stoffwechsels in irgend einer
Weise die Assimilation anregen.


Mag nun die Abhängigkeit der Assimilation von dem Reize
eine directe oder indirecte sein, so ist für uns wichtig der Grad
dieser Abhängigkeit.


Einmal kann während der Unthätigkeit die Assi-
milation ruhig weiter laufen, während der Thätig-
keit aber und nach derselben noch eine Zeit lang
erhöht sein
. Diese Art Processe wird sehr erhaltungsfähig
sein und ich glaube, dass sie sehr verbreitet ist, dass sie viel-
leicht bei den niederen Thierstufen die allgemeine, die herrschende
ist. Diese Processe sind daran kenntlich, dass sie zwar stärkere
Leistungen auszuhalten vermögen, aber bei längerer Ruhe nicht
der Inactivitätsatrophie unterliegen, da sie auch während der-
selben assimiliren. Beseitigung für das Ganze überflüssig ge-
wordener Theile kann also hier blos auf die langsame Weise
der Auslese aus beliebigen Variationen nach Darwin statt-
finden.


[224]V. Ueber das Wesen des Organischen.

Ist dagegen der Process derartig, dass für ihn der
Reiz unentbehrlicher Lebensreiz geworden ist
,
ohne dessen Einwirkung nicht nur nicht die Leistung, sondern
auch nicht die Assimilation gehörig vor sich geht, so wird dieser
Process blos dann Chancen der Erhaltung haben, wenn dieser
Reiz sehr oft einwirkt, wenn die Kräftigung fort und fort erfolgt
und die Uebercompensation nach der Thätigkeit gross genug
ist, um auch während der Ruhe längere Zeit auszuhalten. Es
wird auch nöthig sein, dass schon die häufiger vorkommenden
schwächeren Reize die Assimilation zu erregen im Stande sind.
Bei dauerndem Fehlen des Reizes wird in Folge der mangeln-
den Erregung der Assimilation Inactivitätsatrophie eintreten,
bestehend in ungenügendem Wiederersatz des ohne Function
allmählich selber verzehrten.


Diese Art Process ist somit an bestimmtere Existenzbe-
dingungen gebunden, als die vorige, und wird daher von be-
schränkterem Vorkommen in der ganzen Thierreihe und eventuell
auch im einzelnen Organismus sein.


Aber sie hat Eigenschaften, welche ihr im Kampf um’s
Dasein einen grossen Vorzug geben. Sie stellt innerhalb der
vollkommensten Selbstregulation der Leistungsfähigkeit zugleich
die grösste Sparsamkeit mit dem Material dar, indem diejenigen
Theile, welche gebraucht werden, immer nach dem Maasse
ihres Gebrauches gestärkt und vergrössert werden, während die
nicht mehr gebrauchten der Rückbildung verfallen und das
Material für ihre Erhaltung erspart wird. Diese Art der Pro-
cesse stellt somit die höchste Oeconomie dar bei der höchsten
Leistungsfähigkeit des Ganzen, aber auf Kosten der Selbständig-
keit der Theile, die hier vollkommen aufgehört hat. Die Theile
leben hier blos von der Function, welche sie dem Ganzen
leisten, sie sind wie Staatsdiener, welche allmählich vollkommen
blos Beamte geworden sind, gar keine Interessen mehr für sich
[225]V. Ueber das Wesen des Organischen.
haben, sondern vollkommen in dem Dienste aufgehen und ohne
denselben nicht mehr leben können, nach der Pensionirung sofort
atrophiren, wie es bei alten Beamten so häufig der Fall ist.
Und man braucht sich nicht zu begnügen zu sagen: sie sind
»wie solche Beamte«, sondern umgekehrt, derartige Beamte sind
solche an Eine Verrichtung vollkommen angepasste Processe,
wie denn der Mensch im Allgemeinen fast in allen seinen
Theilen nach den Darlegungen der vorliegenden Schrift zu
diesen Processen gehört.


Solche Verhältnisse finden sich wohl blos bei den höheren
Organismen und bilden das charakteristische Merkmal derselben
gegen die niederen, in denen die Theile auch noch für sich,
ohne functionellen Reiz leben können und leben.


Zugleich sind, wie erwähnt, die Verhältnisse, unter denen
sich diese Qualitäten ausbilden, derart, dass sie blos da durch
den Sieg, durch Selbstzüchtung im Kampf der Theile entstehen
können, wo der Reiz oft genug einwirkt, während sie an den
Stellen, wo der Reiz selten wirkt, im Kampf der Theile unter-
liegen müssen, selbst wenn geeignete Variationen hin und wieder
aufträten. Der Kampf der Individuen aber wird sie infolge
ihrer höchsten Leistungsfähigkeit für das Ganze bei einem
Minimum von Materialverbrauch auf das Kräftigste zu erhalten
streben.


Ich habe in dem Capitel von der Reizwirkung gezeigt, dass
Veranlassung ist, eine derartige directe Abhängigkeit der ge-
sammten Lebensprocesse der Zellen von dem functionellen
Reize anzunehmen für Muskeln, Drüsen und wohl auch für die
Sinnesorgane, in beschränkterem Maasse für die Nerven und
Ganglienzellen; und der Umstand, dass bei vollkommener Reiz-
entziehung nicht langsame Atrophie durch mangelnden Wieder-
ersatz, sondern directe rasche Entartung des Vorhandenen ent-
steht, spricht für die directe Leben erhaltende Wirkung des
Roux, Kampf der Theile. 15
[226]V. Ueber das Wesen des Organischen.
functionellen Reizes. Ferner sahen wir, dass bei den Stütz-
geweben, dem Binde- und Knochengewebe, das Verhältniss, wenn
auch nicht derartig, dass directe Inactivitäts-Atrophie durch
Degeneration bei Inactivität einträte, was bei der abgeschiedenen
Intercellularsubstanz auch weniger möglich erscheint, so doch
so ist, dass der Reiz die Zellen in ihrer Assimilation und in
ihrer Abscheidung von Stützsubstanz kräftigt; denn nur so liess
sich die Entstehung der der Reizform entsprechenden Structur
dieser Theile erklären.


Alle die im Vorstehenden als allein dauerfähig nachge-
wiesenen Qualitäten sind zugleich auch diejenigen, welche, ein-
mal in Spuren aufgetreten, in dem betreffenden Gewebe im
Kampf der Theile siegen und so zur Alleinherrschaft gelangen
müssen, wie im Kapitel vom Kampf der Theile nachgewiesen
worden ist, sodass also die Verbreitung dieser nützlichsten
Eigenschaften, sobald sie einmal in Spuren aufgetreten waren,
durch ihren doppelten Sieg in beiden Kämpfen eine rasche sein
musste.


Wenn wir auf den Gesammtcharakter aller dieser lebens-
wichtigsten Eigenschaften zurückblicken, so ist es der der
Selbstgestaltung des zur Erhaltung Nöthigen, respective der
Selbstregulation, und zugleich der Uebercompensation.


Selbstregulation und Uebercompensation sind
also die Grundeigenschaften und die nöthigen Vor-
bedingungen des Lebens
. Mögen die Processe im Laufe
der weiteren Differenzirung noch so complicirt geworden sein,
diese Charaktere müssen erhalten sein und müssen bei allen
neuen Bildungen überall wieder vorkommen, denn sie allein
sind die Bürgen der Dauerfähigkeit im Wechsel der Verhält-
nisse.


Die Selbstregulationsfähigkeit kann eine mehr oder minder
grosse sein, je nach der Constanz oder Variabilität der Ver-
[227]V. Ueber das Wesen des Organischen.
hältnisse, und die Uebercompensation kann sich auf eine be-
stimmte Lebensperiode beschränken und danach aufhören so-
wohl für die einzelnen Gewebe, als in der Bildung von Ge-
schlechtsproducten. Immerhin bleiben sie die nöthigsten und
charakteristischsten Eigenschaften alles Organischen, die we-
sentlichen Vorbedingungen des Organischen. Die Häufung
dieser Eigenschaften aber nach mehrfachen Be-
ziehungen hin und ihre Ausbildung bis zur gröss-
ten Oekonomie bilden die erste wesentliche Eigen-
schaft des Organischen
. Erst als Zweites konnte dazu
kommen die Fähigkeit der Contractilität, als Drittes die der
Gestaltung aus chemischen Processen.


Was im Gegensatze zu dem Anorganischen, welches nur
durch die äusseren Bedingungen erhalten wird und mit dem
Wechsel derselben sofort in seiner bisherigen Natur aufhört,
was entgegen diesem sich selber erhalten soll, wie das Orga-
nische es muss, weil seine sonstigen eben erwähnten Eigen-
schaften zu complicirte sind, um einmal abgebrochen in Kürze
wieder von Neuem durch Zufälligkeit angelegt und dann zu
höheren Graden gezüchtet werden zu können, das muss sich
selbst zu reguliren vermögen. Wenn es im Wechsel der Ver-
hältnisse gleichmässig fortgehen will, geht es einfach zu Grunde.
Das ist nichts Neues, im Gegentheil eine nur zu bekannte, zu
oft erfahrene Thatsache, und es gilt ebenso für die Theile wie
für das Ganze, wie alle Grundbedingungen und Grundeigen-
schaften in gleicher Weise für die Theile wie für die Ganzen
zutreffen, denn das Ganze besteht blos aus den Theilen. Jedes
muss sich an die Verhältnisse anpassen können, und das ist
blos möglich durch die Selbstregulation, indem die geänderten
Verhältnisse andere, dem Ganzen nützliche Functionen aus-
lösen.


Die Selbstregulation ist die Vorbedingung, ist das Wesen
15*
[228]V. Ueber das Wesen des Organischen.
der Selbsterhaltung. Mit den Grenzen der Selbstregulation hat
auch die Selbsterhaltung ihre Grenzen.


Es liegt ausserhalb des Rahmens unserer Arbeit, alle Selbst-
regulationen, welche im Laufe der späteren höheren Differen-
zirung des Thierreiches aufgetreten sind, hier aufzuzählen.
Pflüger hat eine Reihe derselben vor einigen Jahren zusam-
mengestellt und auf die Thatsache ihres allgemeinen Vorkom-
mens hingewiesen, ohne indessen ihre Bedeutung für die Ent-
stehung und Charakterisirung des Organischen erkannt oder
ausgesprochen zu haben.


Er stellte folgendes allgemeine Gesetz auf1):


»Die Ursache jedes Bedürfnisses eines lebendigen Wesens
ist zugleich die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses«,
und fügt für das specielle Verhalten noch die beiden Gesetze
hinzu: »Wenn das Bedürfniss nur einem bestimmten Organe
zukommt, dann veranlasst dieses Organ allein die Befriedigung.«


»Wenn dasselbe Bedürfniss vielen Organen gleichzeitig zu-
kommt, dann veranlasst sehr häufig nur ein Organ die Befrie-
digung aller.«


Danach war er gewiss nahe daran, die Selbstregulation
als erste wesentliche Eigenschaft des Organischen, weil allein
die Dauer verbürgend, zu erkennen; aber statt dieses auszu-
sprechen, schliesst er mit der Resignation2): »Wie diese teleo-
logische Mechanik entstanden, bleibt eines der höchsten und
dunkelsten Probleme.« Ich hoffe indessen, dass durch den
Nachweis derjenigen Eigenschaften, welche allein in dem Dop-
pelkampfe Sieg und damit Dauer gewinnen können, dieses
Dunkel wenigstens in Bezug auf das Principielle der Entstehung
etwas gelichtet worden ist.


Es war ihm hinderlich, dass er die Selbstregulationen für
[229]V. Ueber das Wesen des Organischen.
fertige, angeborene Mechanismen hielt, obgleich er in einem
Hinweis auf das Verhalten in pathologischen Fällen schon den
richtigen Weg betreten hatte. Wir sind aber keine »Spieldosen
mit Tausend oder Millionen Liedern, welche auf Millionen mög-
licher Weise im Laufe des Lebens eintretender Bedürfnisse be-
rechnet und eingestellt sind«, mit denen er uns vergleicht, son-
dern wir sind Einrichtungen, welche jeden Tag neue Lieder
lernen können. Wie sich ein witziger Kopf, welcher in jeder
Situation sofort das Wesentliche erfasst und geistreich pointirt zum
Ausdrucke bringt, unterscheidet von einem blossen Colporteur
von Witzen, der aus seinem angesammelten Vorrath den für
die Situation passendsten aussucht, oder wie sich der richtige
Arzt, welcher für jeden Krankheitsfall nach den individuellen
Umständen desselben seine Ordination einrichtet, unterscheidet
von dem blossen Routinier, der jeden Tag seine auswendig
gelernten 50 Recepte immer von neuem an das kranke Publi-
kum verkauft, ebenso unterscheidet sich der thierische Orga-
nismus von einem fertigen Mechanismus, selbst von einem sol-
chen mit Selbststeuerung.


Dieser letztere Ausdruck ist eigentlich die richtige Be-
zeichnung für die Auffassung, welche Pflüger’s Arbeit zu
Grunde liegt, nicht aber Selbstregulation. Die Selbststeuerung
ist eine Selbstregulation, welche für eine bestimmte Variations-
breite nach beiden Seiten von einem bestimmten Mittelpunkte
hin eingerichtet ist; der Organismus aber hat Selbstregulatio-
nen allgemeinsten Charakters, bei denen nach einiger Zeit des
Verharrens in einer abweichenden Lage diese letztere zum Mit-
telpunkt der neuen Variationsbreite wird; und wenn die Ab-
weichung immer nach Einer Seite hin weiter fortgeht, so kann
der neue Mittelpunkt viel seitwärts abliegen von dem Maximum
der ursprünglichen Variationsbreite. Diese Distinction ist nicht
so spitzfindig und überflüssig, wie sie vielleicht scheint; sie
[230]V. Ueber das Wesen des Organischen.
muss sogar entschieden betont werden, da die letztere Eigen-
schaft die Grundlage der den Organismen innewohnenden gra-
duell unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit ist, während
die erstere blos eine für sehr viele Fälle eingerichtete Stabili-
tät darstellt.


Wenn ich mich nun noch mit einem Worte über das viel
discutirte Problem der Entstehung des Lebens ergehe,
so komme ich in Gefahr, damit gegen meine eigene Ueber-
zeugung zu handeln.


Denn ich bin der Meinung, dass wir mit unseren heutigen
Kenntnissen des Organischen nicht annähernd im Stande sind,
auch nur für irgend eine Möglichkeit eine grössere Wahrschein-
lichkeit herzuleiten, als für die andere. Ich beabsichtige daher
auch blos, meine ablehnende Auffassung zu begründen.


Wenn es verdienstlich von Tyndall, Preyer1) und
Pflüger2) gewesen ist, auf die Aehnlichkeit des Verbren-
nungsprocesses, des Feuers, dieses ältesten und meist gebrauch-
ten Gleichnisses des Lebens, mit dem Lebensprocesse selber
hinzuweisen, so vermögen wir doch nicht die geringste auf
thatsächliche Beobachtungen sich stützende Vermuthung auszu-
sprechen, dass der Lebensprocess sich aus dem Feuer herge-
leitet habe. Wir kennen die Leistungen der Atome für sich
und der organischen Gebilde viel zu wenig, um beurtheilen zu
können, ob ein directer Uebergang vom Feuer zum Leben mög-
lich gewesen ist. Ebenso erscheint es mir überflüssig, das
ganze Weltall nach dem möglichen Ort der Entstehung theore-
tisirend abzusuchen, da uns jegliche Vorstellungen über die
nothwendigen Qualitäten dieses Ortes fehlen. Wir können uns,
meine ich, bis auf Weiteres ebenso gut mit der Annahme zu-
frieden geben, dass der Lebensprocess in irgend einem Stadium
[231]V. Ueber das Wesen des Organischen.
der Erdgeschichte seinen Anfang genommen habe; nur muss
man nicht, wie immer geschieht, ihn gleich durchaus fertig mit
geordneter Contractilität und dem Verbrauche entsprechender
Assimilationsregulation verlangen.


Man muss vielmehr das Leben zunächst einfach als blossen
Assimilationsprocess wie das Feuer begonnen zu haben denken.
Allmählich bildeten sich dann unter dem Auftreten und Ver-
schwinden zahlloser Varietäten, unter fortwährender Steigerung
der dauerfähigen Eigenschaften, quantitative und qualitative
Selbstregulationen in der Assimilation und im Verbrauch aus.
Dem folgte die Entstehung von Reactionsqualitäten, als deren
schon ausserordentlich hohe Stufe nach Einer Richtung hin, in
vielleicht Millionen Jahre umfassenden Zeiträumen, nach und
nach die Reflexbewegung gezüchtet wurde in der niederen
Form, wie sie uns die Monere zeigt. Die weitere Ausbildung
von Reactionen, wie fest geordnete Bewegung, specifische Sinnes-
empfindung, folgte gewiss viel später und sie liegen unserer
Vorstellung schon so viel höher, dass Niemand sie von der
niedersten Stufe des Lebens verlangt. Aber die viel schwerere
Erwerbung der ihnen zu Grunde liegenden Eigenschaften soll
durchaus auf einmal als Spiel eines Zufalls erfolgt sein.


Was dazu gehört, ein Scheinfüsschen (Pseudopodium) zu
bilden und zu bewegen, wie viel Millionen Molekel beim Aus-
strecken in Ringform sich ordnen und sich einander nähern
müssen, um nachher dasselbe beim Wiedereinziehen des Füss-
chens in Längsrichtung zu thun, und was dazu gehört, diese
Fähigkeiten zu erwerben, pflegt man nicht zu erwägen.


Auf die Reflexbewegung folgte wohl die Ausbildung fester,
vererbbarer Richtungen, sowohl in Bewegungen als in Gestal-
tungen, und damit das grosse Princip der Gestaltungen aus
chemischen, dem Stoffwechsel unterliegenden Processen, das
Grundprincip der Morphologie. Dieses erscheint mir um nichts
[232]V. Ueber das Wesen des Organischen.
leichter verständlich, als die Sensibilität, eher schwerer, trotz
der häufig angeführten Analogie der Krystallbildung; denn letz-
tere findet eben nicht aus Processen mit Stoffwechsel statt.


Wie man früher den Homunculus fix und fertig aus der
Retorte hervorgehen lassen wollte, so verlangt man es heut zu
Tage von der Monere. Das erscheint mir nicht unähnlich, als
wenn man erwartete, dass zufällig einmal der Sturmwind ein
in sich geordnetes Kunstwerk, etwa wie eine Beethoven’sche
Symphonie bliese, oder dass er beim Zusammenbrechen alter
Felsen aus den Trümmern einen stylgemässen dorischen Tem-
pel aufbaute, oder dass ein Papua zufällig einmal die In-
tegralrechnung entdeckte. Wenn einmal das, zu dessen Ent-
stehung Jahrtausende lange Auslese immer des Besten nöthig
gewesen ist, plötzlich auf einmal ebenso vollkommen aus der
Hand des Zufalls hervorgehen kann, warum sollte es in diesen
Fällen nicht auch stattfinden können? Sind sie doch eher viel-
leicht noch einfacher, als die Zusammenordnungen der Theilchen
bei der Bewegung der Monere, welche nicht einmal feste, son-
dern fortwährend wechselnde sind.


Die Entwickelungsstufen von dem einfachen Assimilations-
process bis zu dem mit Sensibilität und von diesem Letzteren
bis zur Entstehung bestimmter, durch Vererbung übertragbarer
Richtungen und von diesem bis zum Menschen, erscheinen mir
nicht so ungleich. Das principiell Geleistete derselben ist nach
unserem heutigen, allerdings gänzlich unzureichenden Verständ-
niss ziemlich gleichwerthig; höchstens wird noch eine vierte
Stufe, die ihren Anfang mit der Entstehung des Bewusstseins,
mit der Zusammenfassung der Einzelerlebnisse zu einer Ge-
sammtwirkung einzuschieben sein. Aber wenn das Wesen des
Bewusstseins schon besser analytisch untersucht wäre, würde
uns dasselbe vielleicht gar nicht so wesentlich erscheinen, um
eine besondere Stufe für diese Art der Abstraction, aus welcher
[233]V. Ueber das Wesen des Organischen.
sich vielleicht das ganze übrige Seelentableau ableitet, darzu-
stellen. Jedenfalls aber erscheint es willkürlich, anzunehmen,
dass das Bewusstsein eine allgemeine Eigenschaft der Materie
sei, blos damit wir sie nur nicht als für das Organische neu
entstanden einführen müssen. Es sind unendlich viele ganz
neue Qualitäten im Laufe der Entwickelung der Organismen
aufgetreten und den ursprünglichen wenigen hinzugefügt wor-
den, welche wir ebenso wenig in ihrer specifischen Qualität
aus den Eigenschaften der Atome, des materiellen Substrates,
an welches sie gebunden sind, und als dessen Functionen wir
sie mit Recht betrachten, abzuleiten vermögen, als das Be-
wusstsein aus den Ganglienzellen der Grosshirnrinde.


Es ist aber eine aus dem Streben nach Zurückführung des
Mannigfachen auf das Einfache hervorgegangene Richtung unserer
Zeit, die Qualitäten zu leugnen und zu sagen, weil die Monere
dieselben Hauptfunctionen: Ernährung, Fortpflanzung und Re-
flexbewegung hat, als die höheren Organismen, seien keine
neuen Qualitäten aufgetreten. Denn die neuen seien blos Ab-
kömmlinge, allmähliche Differenzirungen des Einfacheren. Aber
ist ihr Differentes darum wirklich weniger neu? Jede chemische
Veränderung der Organismen ist eine neue Qualität, und wenn
sie noch so allmählich aus einer anderen hervorgegangen ist.
Sogar jede Uebergangsstufe ist schon eine neue Qualität. Vor
der Hand sind uns die chemischen Qualitäten Qualitäten im
vollen Sinne des Wortes, solange als unsere Elemente noch
nicht auf ein einziges zurückgeführt sind. Aber auch selbst
dann noch, wenn alle Verschiedenheit nach Demokrit blos
auf quantitative Unterschiede, auf ungleiche Gruppirung der
Molekel Einer Grundsubstanz zurückgeführt sein würde; denn
die verschiedenen chemischen Verbindungen, die verschiedenen
Gruppirungen derselben Elemente haben thatsächlich verschie-
dene Eigenschaften, sie verhalten sich verschieden, und es be-
[234]V. Ueber das Wesen des Organischen.
steht daher kein principieller Grund, die Annahme zu ver-
weigern, dass, wie manche chemische Verbindungen Licht oder
Elektricität produciren, nicht auch bestimmte chemische Pro-
cesse die Fähigkeit haben sollen, die physikalisch-chemischen
Erlebnisse des Individuums im Gehirn zu fixiren und sie durch
Reizeinwirkung wieder in grösserer oder geringerer Ausdeh-
nung erregen und zu einem Gesammteindrucke sich vereinigen
zu lassen. Ob dieses Selbstbewusstsein die erste Abstraction
war, oder ob diese zuerst durch andere öfter vorkommende,
einander ähnliche Eindrücke, als die natürliche stärkere Er-
regung des Gemeinsamen derselben entstanden ist, können wir
als Nichtfachmann nicht erörtern. Es liegt uns blos daran,
darauf hinzuweisen, dass vielleicht die psychischen Functionen
gar nicht so etwas absolut von allem anderen Geschehen Dif-
ferentes sind, als dass sie nicht ebenso wie dieses aus einer
der vielen verschiedenen Qualitäten, welche in den Organismen
vorhanden sind und nicht aufhören zu wirken, wenn sie auch
einmal einige Decennien hindurch geleugnet werden, ableitbar
wären. Auch hier wird die Entstehung eine sehr allmähliche
gewesen sein. Es kann Jahrmillionen gedauert haben, ehe die
erste Abstraction aus den alltäglichsten und genügend variiren-
den Dingen als eine noch unbewusste Auffassung des Gemein-
samen derselben gebildet worden ist, und dieselbe Zeit kann
darüber hingegangen sein, ehe die regelmässige Wiederkehr
des Schmerzes nach einem Schlage als nicht blosses regel-
mässiges Nacheinander, sondern wohl enger mit einander Ver-
bundenes aufgefasst worden ist, obgleich mir besonders die Er-
fassung des Causalverhältnisses eine verhältnissmässig leichte
Erwerbung zu sein scheint. Beisst doch jeder ältere Hund
nicht mehr in den Stock, mit welchem man ihn schlägt, son-
dern in die Beine des Schlagenden.


Dass man aber jede Eigenschaft, welche sich allmählich
[235]V. Ueber das Wesen des Organischen.
entwickelt hat und von welcher man daher nicht mit Bestimmt-
heit den ersten Anfang, das erste Auftreten anzugeben vermag,
auch den niedersten Organismen oder gar den anorganischen
Processen zuschreibt, ist eine reine Willkürlichkeit und es ist,
wie mir scheint, das ungelöste Problem des Kahlkopfes, welches
hierbei noch die Sinne verwirrt. Ebenso gut wie man der Mo-
nere Bewusstsein zuschreibt, kann man von dem Träger eines
prächtigen Haarschopfes sagen, er habe einen Kahlkopf, denn
auch bei Entstehung dieses kann man bekanntermassen den
Anfang nicht bezeichnen, sofern die Haare einzeln ausgezogen
werden.


Oder ebenso gut könnte man von einer Schachtel voll Zin-
nober sagen, sie enthalte ausser der rothen auch zugleich noch
blaue Farbe; denn wenn, mit einem unterhalb der Grenze der
Wahrnehmbarkeit liegenden Minimum anfangend, allmählich
mehr und mehr eines zweiten Farbstoffes hinzugefügt wird,
kann kein Untersucher den Anfang des Zusatzes genau angeben.


Es scheint mir danach überflüssig, noch Weiteres über
unsere gegenwärtige Unfähigkeit zur Beurtheilung der Zeit und
des Ortes der vormaligen Entstehung des Lebens und des suc-
cessiven Auftretens seiner wichtigsten Eigenschaften zu sagen,
und ich begnüge mich damit, für die Anerkennung der Ueber-
compensation und der Selbstregulation als erste wesentliche
Eigenschaften des Organischen meine Stimme erhoben zu haben.


[[236]]

VI.
Résumé.


Wir sahen im ersten Kapitel, dass die functionelle An-
passung, welcher die Fähigkeit der directen Selbstgestaltung
des Zweckmässigen auch unter ganz neuen Verhältnissen zu-
kommt, von Darwin und Wallace keine Erklärung erfahren
hat; dass sie einer solchen aber in hohem Maasse bedarf, weil
sie dem Hauptprincipe dieser Autoren, der Entstehung des
Zweckmässigen durch Auslese aus freien Variationen, die ge-
fährlichste Concurrenz macht und durch die directe Gestaltung
des Zweckmässigen den Schein eines metaphysischen Principes
gewinnt.


Die derartige Wirkung der functionellen Anpassung be-
kundet sich in der directen zweckmässigen Umgestaltung der
Organe, wenn sie durch eine neu aufgetretene embryonale oder
erworbene pathologische Variation eines Theiles in der Art und
Grösse ihres Gebrauches dauernd verändert werden, oder wenn
diese Aenderung durch eine Alteration der äusseren Lebens-
bedingungen oder beim Menschen durch den freien Willen er-
zwungen wird. Dieser längst bekannten Wirkungsweise wurde
eine neue Gruppe von Wirkungen hinzugefügt, bestehend einmal
in der Ausbildung der statischen Structur der Knochen und der
bindegewebigen Organe, sowie in der entsprechenden dynami-
schen Structur der aus glatten Muskelfasern gebildeten Organe,
[237]VI. Résumé.
und zweitens in der vollkommenen Anpassung der Blutgefäss-
wandungen an die eigene Gestalt des Blutstromes.


Im zweiten Kapitel wurde gezeigt, dass in dem Organis-
mus nicht alles Geschehen bis ins Einzelnste hinein, Molekel
für Molekel, fest bestimmt ist, wie dies in Folge des Stoffwech-
sels und des Wechsels der äusseren Bedingungen auch gar
nicht möglich ist, sondern dass bei dem fortwährenden Vor-
kommen von kleinen Variationen in den Qualitäten der Theile
ein Kampf der neuen Qualitäten mit den alten um Nahrung
und Raum stattfinden und von jeher in den Organismen statt-
gefunden haben muss.


In diesem Kampf der Theile mussten, wie wir sahen, im-
mer blos die in den vorhandenen Verhältnissen lebenskräftig-
sten Qualitäten siegen und schliesslich allein übrig bleiben.


In denjenigen Organen, auf welche oft Reize, z. B. die
Function auslösende Reize, einwirken, sind die siegreichen
Eigenschaften diejenigen, welche durch den einwirkenden Reiz
zugleich am meisten in ihrer Assimilationsfähigkeit gekräftigt
werden.


Es werden so durch den Kampf der Theile Processeigen-
schaften gezüchtet, welche im Stande sind, die Erscheinungen der
functionellen Anpassung hervorzubringen, und zwar war dies eine
Folge des Kampfes blos der Protoplasmatheilchen in den Zellen
und des Kampfes der Zellen desselben Gewebes unter einander.


Dagegen führte der Kampf der verschiedenen Gewebe und
Organe je unter einander ausser zur möglichsten Ausnutzung
des Raumes im Organismus zur inneren Harmonie, zur Aus-
bildung eines der physiologischen Bedeutung der Theile für
das Ganze entsprechenden morphologischen Gleichgewichtes
derselben.


Durch diese hervorragenden Leistungen des Kampfes der
Theile zeigte sich indessen die Bedeutung des von Darwin
[238]VI. Résumé.
und Wallace aufgestellten Principes des Kampfes der Indi-
viduen für die Entstehung der Mannigfaltigkeit und für die An-
passung an die äusseren Bedingungen nicht im geringsten be-
schränkt. Vielmehr ist das Verhältniss beider Kampfesarten
derartig, dass aus den vom Kampf der Theile gezüchteten, im
Allgemeinen lebenskräftigsten und am stärksten reagirenden
Substanzen oder richtiger Processen der Kampf der Individuen
um das Dasein überall diejenigen speciellen ausliest, welche
auch in diesem zweiten Kampfe zu bestehen geeignet sind.


Während so der Kampf der Theile die Zweckmässigkeit
im Innern der Organismen und die höchste Leistungsfähigkeit
derselben im allgemeinen dynamischen Sinne hervorbringt, be-
wirkt der gleichzeitige Kampf um’s Dasein unter den Individuen
die Zweckmässigkeit nach aussen, das sich Bewähren in den
äusseren Existenzbedingungen.


Für diese Wirkungsfähigkeit des Kampfes der Theile waren
aber Eigenschaften als in den Organismen gelegentlich auf-
getreten angenommen, und als in diesem Falle Sieg und Aus-
breitung bis zur Alleinexistenz gewinnend nachgewiesen worden,
deren thatsächliches Vorhandensein erst bewiesen werden musste.
In Folge dessen wurde im III. Kapitel dieser Nachweis an-
getreten und, wie ich glaube, in einer für die erste Fundirung
des Ganzen genügenden Weise erbracht.


Es handelte sich um die eventuelle Eigenschaft des Proto-
plasmas der verschiedenen Gewebe, durch den functionellen
Reiz nicht blos zur specifischen Thätigkeit, sondern auch zur
Assimilation (zum Ersatz und zur Uebercompensation des Ver-
brauchten) angeregt zu werden. Dies ist diejenige Qualität,
welche das Princip der functionellen Selbstgestaltung des Zweck-
mässigen einschliesst.


Das Verhalten des Knochengewebes, die statische Structur
auch in neuen Verhältnissen diesen angepasst hervorzubringen,
[239]VI. Résume.
spricht auf das Evidenteste für diese Eigenschaft ihrer Zellen
und die rasch ablaufende Entartung der activ fungirenden Theile,
der Muskeln, Nerven und Drüsen, bei gänzlicher Fernhaltung
des functionellen Reizes scheint das Gleiche auch für diese
Organe zu beweisen. Ausserdem zeigten wir, dass die bisherige
Begründung der Activitätshypertrophie, sowie der Inactivitäts-
atrophie auf mit der Function verbundene Alterationen der
Blutzufuhr zu den Organen vollkommen unzutreffend ist, indem
sie sowohl den allgemeinsten biologischen Erfahrungen wider-
spricht, als auch specielle Thatsachen direct die Unmöglichkeit
derartiger Entstehung beweisen.


Nachdem so die trophische Wirkung des functionellen Reizes,
soweit uns möglich, festgestellt war, wurde die specielle morpho-
logische Wirkungsweise dieses Principes noch besonders erörtert
und im IV. Kapitel der Nachweis geführt, dass in der That
diese Eigenschaft überall quantitativ und formativ das Zweck-
mässige direct hervorzubringen vermag.


Durch die Fähigkeit des Kampfes der Theile, derartige
Qualitäten zu züchten, musste eine viel höhere innere Voll-
kommenheit, die Zweckmässigkeit der fungirenden Theile bis
in’s letzte Molekel, hervorgebracht werden und viel rascher sich
ausbilden, als wenn sie nach Darwin-Wallace durch Aus-
lese aus formalen Variationen im Kampf um’s Dasein unter
den Individuen hätte entstehen sollen und können.


Zum Schlusse warfen wir noch einen Blick auf das Orga-
nische im allgemeinen und suchten dessen Wesen näher zu
treten.


Da wir als die erste nothwendige Eigenschaft des Orga-
nischen die Dauerfähigkeit auch unter wechselnden äusseren
Bedingungen erkannten, so ergab sich als Grundeigenschaft des
Organischen einmal die Fähigkeit der Selbstgestaltung des im
Wechsel der Verhältnisse zur Erhaltung Nöthigen, mit der
[240]VI. Résumé.
Assimilation als erster Specialeigenschaft beginnend und durch
vielfache Selbstregulationsmechanismen fortgeführt, und als
zweite gleichwerthige Eigenschaft die Uebercompensation des
Verbrauchten. Selbstregulation und Uebercompensation sind da-
her die ersten wesentlichen Eigenschaften des organischen Ge-
schehens und erst nach diesen konnte die Erwerbung der ein-
zigen ebenso allgemeinen Eigenschaft, der Sensibilität, der
Reflexbewegung, stattfinden.


Ist in der vorstehenden Arbeit vielleicht etwas zur Vervoll-
ständigung und Abrundung der allgemeinen Entwickelungslehre
der Organismen beigetragen worden, indem nachgewiesen wurde,
welche allgemeinen Eigenschaften allein in dem Wechsel des
Naturgeschehens Dauer gewinnen konnten und von Stufe zu
Stufe durch Summation oder richtiger durch sich Ueberbieten
von Variationen gesteigert werden mussten, so sind damit selbst-
verständlich die Probleme des Geschehens an sich, des Mole-
kular-Geschehens, wie es nach den physikalisch-chemischen
Gesetzen aus bestimmten Ursachen auf bestimmte Weise sich
vollzieht, nicht im geringsten gefördert.


Solches aber überhaupt von blossen Erhaltungs- und Stei-
gerungsprincipien, wie sie die allgemeine Entwickelungslehre
bilden, zu verlangen, heisst dasselbe, als etwa den Mathematiker
ersuchen, die Geschwindigkeit der Wärmeschwingungen rein
theoretisch zu bestimmen, heisst das concrete Geschehen, wel-
ches durch Quantitäten bestimmt wird, rein aus den Qualitäten
heraus (die wir nebenbei auch nicht kennen) entwickeln wollen.
Dieses erscheint allerdings Manchem nicht unmöglich; und mich
selbst fragte einst ein Gymnasialprofessor, ein ausgezeichneter
Philologe, nachdem ich ihm die Methoden zur Bestimmung der
Fluggeschwindigkeit der Kanonenkugeln beschrieben hatte, ver-
[241]VI. Résumé.
wundert, warum es dazu so umständlicher empirischer Methoden
bedürfe, das liesse sich doch einfach berechnen. Gleicher
Ansicht huldigen implicite die nicht wenigen Naturforscher,
welche der Descendenzlehre vorwerfen, dass sie eigentlich keinen
einzigen physiologischen Vorgang an sich erklärt habe.


So bleiben denn mit allem Geschehen auch die morpho-
logischen Grundprobleme nach wie vor ohne jede Erklärung: die
Ausbildung von Richtungen aus den an sich richtungslosen oder
die Gestaltung aus den an sich gestaltlosen chemischen Processen
und die embryonale Entwickelung, die Hervorbildung des Com-
plicirten aus dem Einfachen ohne äussere differenzirende Ursache;
und wir stehen vor diesen alltäglichen Erscheinungen nach wie
vor als vor unfassbaren, unbegreiflichen Wundern.


Roux, Kampf der Theile. 16

[[242]]

Specielles Inhaltsverzeichniss.


  • I. Kapitel. Die functionelle Anpassung.
    • A. Leistungen derselben.
      Allgemeine mechanische Zweckmässigkeitslehre p. 1. Wirkung
      des Gebrauches und Nichtgebrauches: Umfang der Wirkung p. 8.
      Art der Wirkung p. 15. Das Gesetz der dimensionalen Hypertro-
      phie p. 16. Nothwendigkeit dauernder Ursachen p. 22. Qualitative
      Wirkung p. 22. Begriff der functionellen Anpassung p. 27. Wir-
      kung der Function auf die Structur der Organe: der Knochen p. 27,
      der bindegewebigen Organe p. 28, der aus glatten Muskeln gebil-
      deten Organe p. 29. Functionelle Gestaltung der Blutgefässe p. 31.
    • B. Erblichkeit ihrer Wirkungen.
      • 1. Thatsächliches p. 34. Bedeutung der Erblichkeit für die
        Entwickelung der Organismen p. 35. Einwände p. 35. Beispiele
        der Vererbung p. 36. Bedeutung des Uebergangs vom Wasser- zum
        Luftleben p. 39. Unterschied der functionellen Anpassung und der
        Zuchtwahl in ihrer Wirkung p. 44..
      • 2. Theoretisches p. 47. Unterscheidung von Angeborenem
        und Vererbtem p. 47. Wirkung der functionellen Anpassung im
        Embryonalleben p. 48. Charakterisirung des Vererbten p. 50. Die
        embryonale Entwickelung p. 55. Das biogenetische Gesetz p. 57.
        Wesen der Vererbung p. 59. Analyse der embryonalen Entwicke-
        lung p. 61. Zeitliches der Vererbung p. 62.
  • II. Kapitel. Der Kampf der Theile im Organismus.
    • A. Begründung desselben p. 64.
      Vorbedingungen des Kampfes p. 65: Selbständigkeit der Theile
      p. 65. Unvollkommene Bestimmung der Einzelbildungen durch die
      Vererbung p. 66. Das Wachsthum p. 67. Der Stoffwechsel p. 69.
      Entstehung des Kampfes durch ungleiche Veränderungen der
      Theile p. 69.
    • B. Arten und Leistungen desselben. Eintheilung in Instanzen
      p. 73.
      • 1. Der Kampf der Molekel p. 73.
        a) Im einfachen Stoffwechsel: Bei ungleicher Assimilation p. 73.
        Bei ungleichem Verbrauch p. 74. Kampf um den Raum p. 74. Bei
        ungleich vollkommener Regeneration p. 75. Bei Aenderung der
        [243]Specielles Inhaltsverzeichniss.
        Nahrung p. 75. Bei Nahrungsmangel p. 75. Bei Selbstregulation
        des Ersatzes p. 75. Bei Uebercompensation des Verbrauches p. 76.
        Vorkommen dieser Verhältnisse p. 76. b) Bei Einwirkung von
        Reizen p. 77. Im Falle der Erhöhung der Assimilation p. 78. Bei
        Uebercompensation p. 78. Vorkommen p. 79. Bei ungleicher Auf-
        nahmefähigkeit des Reizes p. 80. Entstehung des Reizlebens p. 81.
        Wirkung verschiedener Reize p. 81. Aenderung der Reize p. 83.
        Selbststeigerung der Anpassung an den Reiz p. 83. Wirkung des
        Kampfes der Individuen p. 84. Allgemeiner Charakter der Leistun-
        gen des Kampfes der Molekel p. 85. Fernere Arten des Kampfes
        der Molekel p. 87.
      • 2. Der Kampf der Zellen p. 88.
        Im einfachen Stoffwechsel p. 89. Bei Reizeinwirkung p. 89. Nach
        dem Reizquantum p. 89. Bei verschiedenen Reizqualitäten p. 90.
        Unterschiede vom Kampf der Molekel p. 91. Kampf zwischen Zell-
        kern und Zellleib p 91. Begründung des Kampfes um den Raum
        p. 93. Kampf bei Ausscheidung der Stoffwechselproducte p. 95.
        Wirkungsgrösse des Kampfes der Zellen p. 95. Wirkung des Kam-
        pfes der Individuen p. 96.
      • 3. Der Kampf der Gewebe p. 96.
        Unterschied von den beiden ersten Kampfesweisen p. 96. Her-
        stellung des morphologischen Gleichgewichts p. 97. Mangel dieses
        Gleichgewichts im Erwachsenen p. 97, im Embryo p. 99. Kampf
        mit dem Bindegewebe p. 100. Normaler Kampf der Gewebe p. 101.
        Kampf der Reizgewebe p. 101.
      • 4. Der Kampf der Organe p. 103.
        Entstehung des morphologischen Gleichgewichts p. 103. Wech-
        selwirkung der Organe im Kampf um den Raum p. 103. Kampf
        der Reizorgane p. 104. Leistungen desselben p. 105. Kampf um
        die Nahrung p. 105.
        Uebersicht der Leistungen des Kampfes der Theile
        p. 106.
  • III. Kapitel. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize
    p. 111.
    Allgemeine Wirkungsweise durch den Reiz in der Assimilation
    gekräftigter Processe p. 112: Quantitative Selbstregulation p. 112.
    Ausgestaltung der Reizform p. 114. Fortwährend sich steigernde
    Differenzirung p. 115. Anpassung an die Reizintensitäten p. 116.
    Uebereinstimmung mit dem thatsächlichen Verhalten p. 116. Ver-
    halten der activ fungirenden Organe p. 117. Versuche mit Reiz-
    entziehung bei den Muskeln p. 117, bei den Drüsen p. 118, bei den
    Nerven p. 119. Pathologische Reizentziehung p. 123. Reizwirkung
    bei Sinnesorganen p. 124. Trophische Nerven p. 125. Entstehung
    der Geschwülste p. 133. Die Granulationsgeschwülste p. 135.
    Wirkung der functionellen Hyperaemie p. 137. Ursache der
    stärkeren Ernährung bei verstärkter Function p. 141. Wirkung
    verstärkter Nahrungszufuhr p. 141. Verschmähung der Nahrungs-
    aufnahme p. 142. Verhalten der Gewebe in der Jugend p. 144.
    Verhalten der Stützsubstanzen p. 144. Gegen die Passivität der Er-
    nährung p. 145. Formale Differenzirung im Embryo p. 145. Acti-
    vitätshypertrophie p. 149. Beweis der Selbstregulation der Blut-
    zufuhr nach dem Maasse des Verbrauches p. 150: Entwickelung
    16*
    [244]Specielles Inhaltsverzeichniss.
    der Geschwülste p. 150, der Parasiten p. 151, der metastatischen
    Tumoren p. 151, der Placenta p. 151. Beweis der Activität der
    Ernährung p. 152. Entstehung der Inactivitätsatrophie p. 158.
    Résumé p. 161.
  • IV. Kapitel. Differenzirende und gestaltende Wirkungen der functionellen
    Reize
    p. 165.
    Qualitative oder differenzirende Wirkung p. 165: Entstehung
    der Gewebe p. 165, der Sinneszellen p. 169, der Muskelzellen p.
    175, der Stützsubstanzen p. 176. Grad der Anpassung an den
    functionellen Reiz p. 177. Scheidung des Lebens in embryonales
    und in Reizleben p. 180. Sinken der Anpassung an den Reiz p. 181.
    Quantitative oder gestaltende Wirkung p. 182: Quantitative
    Regulation p. 183. Functionelle Umbildung der äusseren Gestalt
    der Organe p. 185. Ausbildung der inneren Gestalt, der Structur
    p. 186: der Knochen p. 186, der Fascien etc. p. 189. Bildung dis-
    creter Bänder p. 191. Hohlwerden der Knochen p. 192. Entstehung
    der lockeren Verbindungen und der Schleimbeutel p. 194. Ent-
    stehung der hydrodynamischen Gestalt der Blutgefässe p. 194.
    Ausbildung der Coordinationen p. 105. Entstehung der dynami-
    schen Structur der Hohlmuskeln p. 196. Structur der Drüsen p. 199.
    Zeitliches der functionellen Selbstgestaltung p. 209. Unter-
    schied der Aenderungen durch embryonale Variation und durch
    functionelle Anpassung p. 202. Ausbildung der Harmonie der
    Theile p. 204. Entstehung der secundären Geschlechtscharaktere
    und der Geschlechtsorgane p. 204. Umgestaltende Wirkung chemi-
    scher Aenderungen p. 206. Schutz der Theile im Organismus vor
    fremden Reizen p. 207. Die Reizcentralisation p. 208. Charakter
    der erreichten Vollendung der Organisation p. 209.
  • V. Kapitel. Ueber das Wesen des Organischen p. 210.
    Unwesentliche Eigenschaften p. 210. Die Sensibilität p. 212.
    Das räumliche Verhalten p. 214. Die Bedingungen der Dauer-
    fähigkeit p. 215. Die Assimilation p. 216. Die Uebercompensation
    p. 217. Die Leistung p. 218. Die Function p. 219. Selbstregula-
    tion der Function: Die Reflexthätigkeit p. 220. Selbstregulation
    des Verbrauches: Hunger p. 221. Selbstregulation der Ausschei-
    dung p. 222. Selbstregulation der Assimilation p. 223. Leistungen
    letzterer Fähigkeit p. 224. Vorkommen derselben p. 225. Ge-
    sammtcharakter p. 226. Problem der Entstehung des Lebens
    p. 230.
  • VI. Kapitel. Résumé p. 236.

Appendix A

Druck von Breitkopf \& Härtel in Leipzig.


[][][][][]
Notes
1).
Empedoclis Agrigentini fragmenta disposuit etc. H. Stein. Bonnae,
1852, p. 4. Aristoteles Phys. II. 8.
1).
Entstehung der Arten, übersetzt von V. Carus. 5. Aufl. 1872. p. 22.
1).
l. c. pag. 151.
2).
l. c. pag. 153.
3).
l. c. pag. 164.
1).
Generelle Morphologie. 1866. Bd. II. p. 211.
2).
l. c. II. pag. 231.
1).
l. c. II. pag. 215.
2).
l. c. II. pag. 186.
1).
Deutsch von V. Carus. 1873. Bd. II. p. 338—346 u. p. 400—401.
2).
Die Darwin’sche Theorie. 2. Aufl. p. 25, und Kosmos, Zeitschrift
f. einheitliche Weltanschauung. I. p. 547 u. 549.
3).
Das Variiren der Thiere etc. II. p. 400.
1).
l. c. II. pag. 404.
2).
l. c. II. pag. 104.
1).
Sitzungsber. der naturforsch. Gesellschaft zu Halle. Juli 1874.
1).
Archiv für Psychiatrie. Bd. II. p. 693.
2).
Helmholtz, Physiologische Optik. p. 601.
3).
Exner, Physiologie der Grosshirnrinde, in: Hermann, Handbuch
der Physiologie. Bd. II. Abth. 2. p. 249.
1).
Arch. d. sc. physiolog. et nat. 64. p. 59. 1878.
2).
Hermann, Handb. d. Physiol. Bd. I. Abth. 1. p. 131.
1).
Pflüger’s Archiv. Bd. 15. p. 84.
1).
Knorz, Ein Beitrag zur Best. der absoluten Muskelkraft. Diss.
Marburg 1865. Henke, Zeitschr. f. rat. Med. (3) XXIV u. XXXIII.
1).
Tiegel in: Hermann, Handb. d. Physiologie. Bd. 1. p. 135.
1).
Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 15.
2).
Diss. inaugur. Amsterdam 1866.
3).
Wiener Sitzungsbericht. Bd. 63. Abth. II. u. Bd. 65. Abth. III.
1).
Herm. Meyer, Archiv für Anatomie u. Physiologie. 1869.
2).
J. Wolff, Berliner klin. Wochenschrift, 1868, und Virchow’s Ar-
chiv f. patholog. Anatomie. Bd. 50, 1870, u. Bd. 61, 1874.
3).
H. Wolfermann, Archiv f. Anatomie u. Physiologie. 1872.
1).
K. Bardeleben, Beiträge zur Kenntniss der Wirbelsäule. Jena 1874.
2).
Virchow’s Archiv. Bd. 59.
3).
Aeby, Centralblatt f. d. med. Wiss. 1873.
4).
Virchow’s Archiv. Bd. 61.
1).
K. Bardeleben, Beiträge zur Kenntniss der Wirbelsäule. Jena 1874.
1).
W. Roux, Ueber die Verzweigungen der Blutgefässe. Jena 1878.
1).
Darwin versus Galiani. 1876. p. 20.
1).
H. Fischer in: Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 3.
1).
Exner, Physiologie der Grosshirnrinde, in: Hermann, Handbuch
der Physiologie. Bd. II. Abth. 2. p. 286.
1).
E. Hering, Das Gedächtniss als eine allgemeine Function der
Materie. Vortrag in der Wiener Akademie. 1870.
2).
von Hensen, Ueber das Gedächtniss. Rectoratsrede. Kiel 1877.
3).
L. Büchner, Aus dem Geistesleben der Thiere. 2. Aufl. 1880.
4).
Karl Schneider, Der thierische Wille. 1880.
5).
Kosmos, Zeitschrift etc. Bd. III. p. 447.
1).
Kosmos, Zeitschr. f. monist. Weltansch. Bd. I. p. 184.
1).
E. Hering, Physiolog. Optik, in: L. Hermann, Handb. d. Physio-
logie. Bd. III. p. 529.
2).
Kosmos, Bd. III. p. 32.
1).
Cit. nach: Darwin, Variiren der Thiere etc. II. p. 340.
1).
Preyer, Jenaer med. naturw. Zeitschr. 1880.
1).
Siehe W. Henke, Anatomie des Kindesalters, in: Gerhardt,
Handbuch der Kinderheilkunde. Bd. I. p. 227 ff. 1877.
1).
S. Archiv für Anatomie u. Physiologie. 1851. p. 547 ff.
1).
Zeitschr. f. Anatomie von His u. Braune. 1877. Bd. II. p. 143.
2).
Schmidt’s Jahrbücher. 1879. Bd. 182. Nr. 2.
3).
Die Missbildungen des Menschen. II. Aufl. Tafel VIII, Fig. 9.
1).
J. Carrière, Ueber die Regeneration bei den Landpulmonaten. 1880.
1).
Arbeiten aus dem zoolog. Institut in Wien. Bd. II.
2).
Archiv für mikrosk. Anatomie. Bd. 18.
1).
Virchow’s Archiv f. patholog. Anat. u. Physiol. Bd. IV. 1852.
p. 378.
1).
l. c. Bd. 79. p. 186.
1).
Note rélative à l’influence de la lumière violette. Compt. rend.
T. 46. 1858.
2).
Compt. rend. 1878. 1. Sémest. p. 998.
1).
Centralbl. f. d. med. Wiss. 1870.
2).
Mittheilungen aus d. embryolog. Inst. in Wien. Bd. I. Heft IV.
1880. p. 268.
3).
Hering, Sitzungsber. der Wiener Acad. d. Wiss. Bd. 69. Abth.
III. Bd. 75. Abth. III.
1).
Virchow’s Archiv Bd. 79. 1880. p. 120.
1).
Cohnheim, Allgem. Pathologie. Bd. I. p. 503.
2).
Archiv f. mikroskop. Anatomie. VII. p. 32. 328. Virchow’s Ar-
chiv. Bd. 52. p. 568.
1).
Virchow’s Archiv. Bd. 50. p. 543.
2).
Wiener Sitzungsber. Bd. 79. Abth. III. 1879.
3).
Virchow’s Archiv. Bd. 79. Heft 1.
4).
Centralblatt f. d. med. Wiss. 1871.
5).
Wiener Sitzungsber. Bd. 80. Abth. III. 1879.
1).
Thiersch, Der Epithelialkrebs, namentlich der Haut. Leipzig 1865.
2).
Cohnheim, Allgemeine Pathologie. Bd. I. p. 532.
1).
C. Friedländer, Ueber Epithelwucherung und Krebs. Strassburg
1877.
2).
Virchow’s Archiv. Bd. 69. p. 24.
1).
Boll, Das Princip des Wachsthums. Berlin 1876.
1).
Siehe z. B. Schieferdecker, Virchow’s Archiv. Bd. 67, und A.
Strümpell, Archiv für Psychiatrie von Westphal. Bd. 10 u. 11.
2).
Würzburger physik.-med. Gesellschaft, Sitzungsber. 1872. Gleich-
zeitig entdeckte G. Wegner dieselbe Function dieser Zellen in Fällen
pathologischer Knochenresorption. Siehe Virchow’s Archiv. Bd. 56.
3).
W. Krause, Handb. der menschl. Anatomie. Bd. 3. p. 91.
1).
S. His, Archiv für Anat. u. Physiologie. 1878.
2).
Verhandlungen der Physik-med. Ges. in Würzburg. N. F. XIII.
1879. p. 125 ff.
1).
Darwin, Entstehung der Arten. p. 162.
2).
Darwin, Das Variiren der Pflanzen. Bd. II. p. 403.
1).
Jenaische Zeitschrift f. Naturwiss. Bd. XIII. N. F. VI. p. 336.
1).
Volkmann, Haemodynamik. p. 290.
1).
L. Hermann, Handbuch der Physiologie. Bd. I. p. 138.
1).
Cohnheim, Vorlesungen über allgem. Pathologie. Bd. I. p. 586.
2).
Luchsinger, Pflüger’s Archiv f. Physiologie. Bd. 14.
3).
Obolensky, Centralblatt f. d. med. Wiss. 1867. p. 497.
4).
Bidder, Archiv f. Anat. u. Physiol. 1867. p. 25.
5).
Heidenhain, Stud. a. d. physiol. Inst. zu Breslau. IV. 1868. p. 77.
1).
Luchsinger, l. c. Bd. 15. p. 484.
2).
S. Hermann, Handbuch d. Physiologie. Bd. II. Abth. 1. p. 127.
3).
Archiv f. Anatomie und Physiologie. 1875 u. 1878.
1).
Waller, Philos. transact. 1850. II. p. 423. Archiv f. Anatomie u.
Physiol. 1852. p. 392.
2).
Schiff, Lehrb. d. Muskel- u. Nervenphysiologie. 1858. p. 122.
1).
l. c. p. 113.
1).
Hermann, Handbuch d. Physiologie. Bd. II. Abth. I. p. 136.
1).
Eichhorst, Virchow’s Archiv. Bd. 69. 1876. p. 265.
2).
Leyden, Beiträge zur acuten und chronischen Myelitis. Frerichs
und Leyden, Zeitschr. f. klin. Medicin. Bd. 1. p. 404.
1).
Hermann, Handbuch der Physiologie. Bd. II. Thl. 1.
2).
Wiener Sitzungsberichte. Bd. 51. p. 513.
3).
Senftleben, Virchow’s Archiv. Bd. 65. p. 69; Bd. 72. p. 278.
4).
Feuer, Wiener Sitzungsberichte. Bd. 74. p. 63.
5).
Schiff, Compt. rend. 1854. p. 1050.
6).
Vulpian, Leçons sur l’appareil vasomot. T. II. p. 352. Paris 1875.
1).
Kassowitz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1878. p. 790.
2).
Joseph, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1871. p. 721, u. Archiv f.
Anat. u. Physiologie. 1872. p. 206.
3).
L. Herm. Schulz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. p. 708.
1).
Schiff, Leçons de la physiolog. de la digest. redigées par E.
Levier. II. p. 539. 1867.
2).
Legros, Des nerfs vasomot. Paris 1873.
3).
Brown-Séquard, Compt. rend. de la soc. de biologie. 1872. p. 194.
4).
Vulpian l. c. II. p. 397.
1).
Siehe S. Mayer l. c. p. 208.
1).
l. c. p. 209.
1).
Cohnheim, Allgemeine Pathologie. Bd. I. 1877.
1).
Cohnheim, Allgem. Pathologie. Bd. I. p. 635 u. 644. 1877.
2).
l. c. p. 619.
1).
Luchsinger, Pflüger’s Archiv. Bd. 15. p. 487.
1).
Cohnheim, Allgem. Pathologie. Bd. I. p. 584.
2).
Siehe Virchow, Cellularpathologie. Aufl. IV. p. 158.
3).
Ollier, Journ. de la Physiol. VI. 1863. p. 107.
4).
Cohnheim l. c. I. p. 597. 1877.
1).
A. Bidder, Centralbl. f. Chir. 1874. Nr. 7.
2).
Stirling, Journ. of Anat. and Physiol. X. p. 511. 1876.
3).
Schiff, Untersuchungen z. Physiol. d. Nervensyst. 1855. p. 166.
4).
S. Mayer, Spec. Nervenphysiol., Hermann, Handb. d. Physiol.
II. 1. p. 205.
5).
Paget, Lect. on surg. pathol. I. p. 72. Cit. nach Cohnheim, Allgem.
Patholog. I. p. 602.
1).
Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 35. 1879.
1).
Deutsche Jahrb. f. Politik und Literatur. Bd. 6. 1863. p. 349.
1).
His und Braune, Archiv f. Anatomie und Entwickelungsgesch.
1879. p. 37. Bestätigt von C. Hasse u. G. Born im Zool. Anzeiger 1879.
Nr. 21.
2).
Virchow, Die krankhaften Geschwülste. Bd. II.
1).
Hermann’s Handb. d. Physiologie des Gesichtssinnes. p. 310.
1).
Tageblatt d. 52. Versammlung d. Naturforscher etc. in Baden-
Baden 1879. p. 223.
2).
Daselbst, p. 225.
1).
Pflüger’s Archiv f. Physiologie, Bd. 17. 1878.
1).
Kosmos, Zeitschr. f. monist. Weltauffass. Bd. III. p. 32.
1).
Die Anschauung dieses Verhaltens verdanke ich Herrn Prof. W.
Braune, welcher die Güte hatte, mir ein ausgezeichnetes Exemplar zur
Untersuchung zu überlassen.
1).
J. Henle, Handb. der syst. Anatomie, Muskellehre p. 13 u. 16.
1).
Wiener Sitzungsber. Bd. 54. 1866.
2).
A. Kölliker, Gewebelehre des Menschen. 1867. p. 425 ff.
3).
Wiener Sitzungsber. 1875.
1).
Welcker, Zeitschr. für Anatomie von His u. Braune, Bd. I u. II.
1).
Bulletin de la Société géol. de France. 2. sér. T. 10. p. 355. Cit.
nach G. Seydlitz, Die Darwin’scheTheorie. 1875. p. 50.
2).
Berichte der Kgl. Sächs. Acad. d. Wiss. Bd. 30. p. 39.
3).
Kölliker, Entwickelungsgesch. des Menschen etc. 1879. p. 177.
1).
Langenbeck’s Archiv. Bd. XXV. Heft 2.
1).
Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 15. 1875. p. 76.
2).
l. c. p. 102.
1).
Preyer, Deutsche Rundschau 1875, und Kosmos, Zeitschr. Bd. I.
2).
Pflüger’s Archiv. 1875.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Der Kampf der Theile im Organismus. Der Kampf der Theile im Organismus. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp6x.0