[][][][][]

Allgemeine
Geſchichtswiſſenſchaft,

worinnen
der
Grund zu einer neuen Einſicht
in allen Arten der Gelahrheit

geleget wird.

[figure]

Leipzig: ,
beyFriedrich Lanckiſchens Erben,1752.

[][]

Dem Hochwohlgebohrnen
Herrn,
Herrn Johann Paul
Freyherrn
von Vockel
,
Seiner Kayſerlichen Majeſtaͤt
hochverordnetem Reichshofrath,
Meinem Gnaͤdigen Herrn
und hohem Goͤnner.


[][]
Hochwohlgebohrner Freyherr,
Gnaͤdiger Herr Reichshofrath,

Ew. Freyherrl. Gnaden gehoͤren
zu der edlen Art erhabner Maͤn-
ner, welche ſich durch weiſe Ver-
waltung der wichtigſten Ge-
ſchaͤffte um gantze Staaten verdient ma-
chen. Jndem Dero treue Dienſte der
a 3glor-
[]glorwuͤrdigſt regierenden Kayſerli-
chen Majeſtaͤt
gewidmet ſind, ſo brei-
ten ſich zu gleicher Zeit die Fruͤchte von
Dero Gerechtigkeitseyfer durch gantz
Deutſchland aus. Dero großen Ver-
dienſte kommen mit der hohen Wuͤrde,
zu der der groͤſte Monarch Dieſelben be-
ruffen hat, vollkommen uͤberein: und
große Wiſſenſchafft, lange Erfahrung,
ſtarcke Proben eines unermuͤdeten Fleiſ-
ſes, nebſt der angebohrnen reitzenden Ei-
genſchafft, die Gewogenheit der Hohen,
und die Gnade der Hoͤchſten in der Welt
zu erwerben, ſind die Mittel und Stuf-
fen geweſen, durch welche die goͤttliche
Vorſehung Dero Tugend zu ſo hohen
Belohnungen hat aufſteigen laſſen.


Nach einem alten Gebrauche, pflegen
Gelehrte ihre Wercke Maͤnnern aus ei-
ner hoͤhern Sphaͤre zu widmen. Einige
haben ihre Ehrfurcht und Ergebenheit
dadurch zu bezeigen geſucht: andere ha-
ben ſolches aus Danckbarkeit nicht un-
terlaſſen zu koͤnnen geglaubt: andere
haben ſich den Weg zur Gewogenheit
maͤchtiger Goͤnner zu bahnen geſucht:
wiederum andere haben ihre Arbeit
demjenigen widmen wollen, von dem ſie
ver-
[] verſichert geweſen, daß ſie die geneigte
Aufnahme ihres großen Goͤnners, als
die erſte Frucht ihrer angewandten Muͤ-
he und Arbeit, zuverlaͤßig einſammlen
wuͤrden.


Ew. Freyherrl. Gnaden geprieſe-
ner Nahme ſoll der Schmuck meines ge-
genwaͤrtigen Buches ſeyn. Deswegen
wird es Hochdenenſelben, vor andern
hohen Kennern aͤchter Wiſſenſchafften
gewidmet. Dargegen habe die gegruͤn-
deſte Hoffnung, daß der Jnnhalt deſſel-
ben ſich Dero hohen Einſicht gefaͤllig
machen, und mithin dem Verfaſſer die
guͤtigſte Aufnahme gar leicht zuwege
bringen werde. Die vor Augen liegen-
den Wuͤrckungen von Dero Geſinnung,
laſſen mich daran nicht zweifeln.


Ew. Freyherrl. Gnaden haben
Dero beſondere Achtung vor unſere Uni-
verſitaͤt dadurch werckthaͤtig bezeiget,
daß Dieſelben zwey Hoffnungsvolle
Herren Soͤhne nirgend beſſer, als bey
uns aufgehoben zu ſeyn geglaubt haben.
Dieſe haben Jhren Academiſchen Lauf
allbereit auch mit dem beſten Erfolg an-
getreten: und mir iſt dabey die angeneh-
a 4me
[] me Gelegenheit zu theil worden, zu der
Vollkommenheit und Ausſchmuͤckung ſo
edler und wohl zubereiteter Gemuͤther
etwas beytragen zu koͤnnen. Richtig
dencken, ſcharf urtheilen, Wahrheiten
aller Art leicht uͤberſehen koͤnnen, ſind die
Stuͤcke, zu welchen ich noch niemahls
mit ſo großer Hoffnung, als bey dieſen
Ew. Freyherrl. Gnaden ſo nahe an-
gehoͤrigen Perſonen, Anleitung gegeben
habe.


Ew. Freyherrl. Gnaden ſehen dann,
auch aus gegenwaͤrtigem Buche, daß
Dero Geliebte Sich auf einer hohen
Schule befinden, wo man die Wercke
des Verſtandes nicht laͤßig treibet; wo
man das Reich der Wahrheiten zu er-
weitern ſucht; und wo man unter an-
dern, auch durch den Vortrag neuer
Lehren kraͤfftigſt angetrieben wird, zu-
foͤrderſt die alten Wahrheiten, worauf
die neuen gebauet werden, begierigſt
einzuſammlen. Dieſe verſicherte Nach-
richt kan Denenſelben nicht anders als
angenehm ſeyn; und jedes Document,
wodurch ſolche beſtaͤtiget wird, muß De-
ro Aufmerckſamkeit, mitten unter den
groͤſten
[] groͤſten Geſchaͤfften nothwendig auf ſich
ziehen.


Jndem ich aber durch Ueberreichung
dieſer neuen Wiſſenſchafft dem Triebe
meiner innigſten Ehrerbietung einiges
Gnuͤge thue, ſo gehet zugleich mein
eyfrigſtes Wuͤnſchen dahin, daß Ew.
Freyherrl. Gnaden
die Fruͤchte von
Dero weiſeſten vaͤterlichen Vorſorge
zu rechter Zeit reichlich einſammlen,
und daß Dero ruhmvolleſten Jahre,
bis jene zur voͤlligen Reiffe kommen,
unter taͤglich vermehrten Verdienſten
und erneuerten goͤttlichen Seegen fort-
dauren moͤgen. Deutſchland und viele
hohe Haͤuſer in demſelben, die die Er-
haltung ihrer ihnen unſchaͤtzbaren Ge-
rechtſame Ew. Freyherrl. Gnaden
hohen Einſicht und gerechteſt abge-
faſſeten Ausſpruͤchen zu dancken ha-
ben, werden auch in den ſpaͤteſten Zei-
ten Dero ſchon erworbenen großen
Ruhmes unvergeſſen ſeyn. Der Hoͤch-
ſte aber wolle denſelben in Dero
Nachkommen, die die vaͤterlichen Fuß-
tapfen ſo gluͤcklich betreten, auf den
a 5hoͤch-
[] hoͤchſten Gipfel der Dauerhaftigkeit ſtei-
gen laſſen.


Hochwohlgebohrner Freyherr,
Gnaͤdiger Herr Reichshofrath,
Ew. Freyherrl. Gnaden


zu Gebet und Dienſt gehorſamſt
verbundenſter

Johann Martin Chladenius, D.


[]
Geneigter Leſer!

Es ſind mancherley Banden, durch wel-
che mich die goͤttliche Vorſehung gelei-
tet hat, dieſes neue Syſtem mit uner-
muͤdeter Emſigkeit, unter hoͤherm Beyſtand
auszuarbeiten. Die verſchiedenen Veraͤnde-
rungen des Standes und der Aemter, welche
mich der Wille des Hoͤchſten ſeit der erſten
Entſchluͤßung zu ſolcher Unternehmung erfah-
ren laſſen, haben meinen Vorſatz ſo wenig un-
terbrochen, daß ſie mir vielmehr von Zeit zu
Zeit zu einer neuen Triebfeder gedienet haben,
ein Vorhaben, das ich immer nuͤtzlicher befun-
den, in der That ſelbſt auszufuͤhren. Jetzo, da
das Werck zum Preiſe des Hoͤchſten vollbracht
iſt, koͤnten jene Umſtaͤnde, die nur den Verfaſ-
ſer betreffen, gar wohl in Vergeſſenheit geſtellt
werden. Ein Werck wird darum nicht beſſer,
und die Wahrheiten, die man vortraͤgt, werden
dadurch nicht fruchtbarer, die Umſtaͤnde des Ver-
faſſers,
[]Vorrede.
faſſers, die ihn darzu angetrieben, moͤgen be-
ſchaffen ſeyn, wie ſie wollen: ſo wie ein Berg-
werck darum nicht ergiebiger wird, man mag
durch Regeln der Kunſt, oder durch einen noch
ſo ſonderbaren Zufall, zu der Entdeckung deſ-
ſelben gekommen ſeyn. Viel gewoͤhnlicher iſt
es, ſich um die Abſicht eines Buches, zumahl
von einer neuen Art, zu bekuͤmmern; und
man iſt in Sorgen, daß man daſſelbe ent-
weder nicht recht verſtehen, oder nicht recht
zu Nutzen anwenden moͤchte, wenn man von
derſelben nicht gnugſam belehret wird. Die
meiſten Leſer dieſer Vorrede werden daher ge-
waͤrtig ſeyn, daß ihnen in derſelben die Ab-
ſicht der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft
bekannt gemacht werde. Daraus entſtehet
vor mich eine Verbindlichkeit, der ich mich
nicht fuͤglich entziehen kan. Doch die Frey-
heit bleibt mir uͤbrig, es auf diejenige Art zu
thun, welche ich vor die beqvemſte halte, mei-
ne Leſer am vollſtaͤndigſten, und vielleicht auch
zugleich aufs kuͤrtzeſte davon zu belehren. Sie
werden aber meine Abſicht am beſten erken-
nen, wenn ich ihnen meine Anleitungen, der
allgemeinen. Geſchichtswiſſenſchaft immer
mehr und mehr nachzudencken, in natuͤrlicher
Ordnung erzehlen werde.


Schon
[]Vorrede.

Schon bey meinen philoſophiſchen Vorle-
ſungen auf der Univerſitaͤt Wittenberg, beſon-
ders uͤber die Vernunftlehre, iſt mir bey oͤfte-
rer Wiederholung derſelben vorgekommen, als
wenn die gegenwaͤrtige Einrichtung dieſer
vortrefflichen Wiſſenſchaft ſo beſchaffen waͤre,
daß, ohngeachtet ihre Lehren gantz allgemein
zu ſeyn ſchienen, ſolche dennoch mehr eine
Hauptart der Wahrheiten, als die Wahrheit
in ihrer voͤlligen Abſtraction zum Gegenſtan-
de haͤtten. Bey der Lehre von Begriffen
zum Exempel, kommt zwar vieles vor, wel-
ches von allen Begriffen gelten kan, aber die
gantze Tabelle der Eintheilungen derſelben,
ratione formæ, ſchickt ſich doch mehr vor die
allgemeinen Begriffe, als vor das Gegentheil
derſelben; nemlich vor die individuellen Be-
griffe. Die Lehre von Definitionen betrifft
gleichfalls nur die Begriffe der Geſchlechter
und Arten. Und ſo wird man durch Zuſam-
menhaltung aller uͤblichen Lehren in dieſer Di-
ſciplin gewahr werden, daß man in denſelben
durchgaͤngig auf die hiſtoriſche Erkenntniß
wenig oder gar nicht geſehen habe. Dieſer
Umſtand iſt mir alſo nach und nach in die
Augen geleuchtet; und wie natuͤrlich war es
nicht, daß daraus ein innerlicher Trieb ent-
ſtanden iſt, die Gedenckart der menſchlichen
Seele
[]Vorrede.
Seele bey den hiſtoriſchen Wahrheiten eben
ſo in Regeln verfaſſet zu ſehen, als uns nun-
mehro faſt alle Triebfedern des menſchlichen
Verſtandes bey Erfindung allgemeiner Wahr-
heiten, beſonders durch die Bemuͤhungen des
unſterblich verdienten Freyherrn von Wolfs,
erklaͤrt vor Augen liegen.


Mein Unternehmen, die Hermenevtick
philoſophiſch und ſyſtematiſch vorzutragen,
welches ebenfalls noch in Wittenberg zu
Stande gekommen, ohngeachtet die Ausgabe
meiner Einleitung zur richtigen Auslegung
vernuͤnftiger Reden und Schriften, erſt bey
meinem Aufenthalt auf der Univerſitaͤt zu
Leipzig erfolget iſt; hat mich ſodann veran-
laſſet, ja genoͤthigt, der Sache naͤher zu treten.
Die verſchiedenen Arten der Auslegungen,
woraus Commentarii und Noten beſtehen,
muſten unter andern, ja vornehmlich, aus dem
verſchiedenen Jnnhalte der Buͤcher, und aus
ihrer Materie, hergeleitet werden. Die Ein-
theilung der Buͤcher und Stellen in dogmati-
ſche und hiſtoriſche, war der Hauptgrund,
worauf ich zu bauen hatte. Jch muß geſte-
hen, daß es mit der Auslegung der erſten Art,
in Vergleichung alles uͤbrigen, wenig Schwie-
rigkeit hatte. Denn da hatte ich in der Ver-
nunft-
[]Vorrede.
nunftlehre alle, auch die kleinſten Theile eines
dogmatiſchen Buches ſchon ſo zergliedert vor
mir, nemlich die Definitionen, die Grundſaͤtze,
die Theorems u. ſ. w. daß es nicht viel Muͤhe
erforderte, bey jedem Stuͤcke eines dogmati-
ſchen Buches zu zeigen, wie dabey vor gewiſſe
Leſer Dunckelheiten entſtehen koͤnnten; und
wie dieſe durch eine geſchickte Auslegung zu
heben waͤren. Aber mit den hiſtoriſchen Buͤ-
chern war es gantz anders beſchaffen. Alles
was in dogmatiſchen Buͤchern, die allgemeine
Wahrheiten in ſich faſſen, vorkoͤmmt, trifft
man in hiſtoriſchen Buͤchern nicht an: Hin-
gegen, was man in dieſen antrifft, iſt, wie ge-
dacht, in der Vernunftlehre gar nicht erklaͤ-
ret. Hier war es alſo unumgaͤnglich noͤthig,
daß ich uͤber die hiſtoriſchen Stellen, als die
elementa hiſtoriſcher Buͤcher, neue Betrach-
tungen anſtellte, und alſo die Beſchaffenheit
der hiſtoriſchen Erkenntniß genauer unter-
ſuchte. Wie weit ich dazumahl in dieſer ver-
wickelten und vorher gantz nicht aufgeklaͤrten
Materie gekommen ſey, wird das achte Capi-
tel meiner Einleitung zur richtigen Auslegung
am klaͤrſten bezeigen. Man kan leicht ermeſ-
ſen, daß der Vorſatz, gegenwaͤrtiges Buch zu
ſeiner Zeit auszuarbeiten, unter jener Arbeit
nicht wenig ſey beſtaͤtiget worden.


Das
[]Vorrede.

Das oͤffentliche Lehramt der Kirchenalter-
thuͤmer, welches mir nachher auf der Univer-
ſitaͤt Leipzig zu theil wurde, drunge mich, ei-
nen ſo wichtigen Theil der hiſtoriſchen Erkennt-
niß auf alle Weiſe genauer zu beleuchten.
Nun weiß man, was vor Schwierigkeiten in
dieſer vortrefflichen Art der Gelahrheit vor-
walten; zumahl wenn man den Urſprung der
Gebraͤuche, Verfaſſungen und Kirchenanſtal-
ten nebſt ihren Veraͤnderungen, durch welche
ſie oͤfters mit der Zeit ein gantz ander Anſehen
bekommen haben, begreiflich machen will.
Doch die handgreiflichſten Stuͤcke der Alter-
thuͤmer ſind eben ſowohl, als die ruchtbarſten
Geſchichte der Kirche, ſchon laͤngſt aus den
alten Schriftſtellern geſammlet und dergeſtalt
in Ordnung gebracht worden, daß, was in
jenen mit deutlichen und duͤrren Worten ent-
halten iſt, nunmehro faſt nicht ohne Eckel
wiederholet werden kan. Unſre Vorfahren
haben, nach ihrem unuͤberwindlichen Fleiße,
ſchon alles erſchoͤpfet. Die Nachleſe, welche
vor uns uͤbrig geblieben iſt, beſtehet aus lau-
ter ſolchen Nachrichten, die man mehr als
Spuren gewiſſer Geſchichte, als vor eigent-
liche Erzehlungen anſehen kan. Aus dieſen
muß man durch Muthmaßungen und Zuſam-
menhaltung mancherley Stellen noch eine
und
[]Vorrede.
und andere Particularitaͤt entdecken, welche
etwa von unſern Vorfahren nicht iſt bemerckt
worden. Hier kommt man freylich ins
Wahrſcheinliche. Jndem ich alſo, vermoͤge
meines Amts, oͤfters mit ſolchen mißlichen
Stuͤcken der Kirchengeſchichte und Kirchen-
alterthuͤmer umgegangen bin, wobey wider
meinen natuͤrlichen Trieb, ohne Regeln zu
dencken genoͤthigt wurde, ſo konnte nichts an-
ders als eine ſtarcke Neigung in mir entſte-
hen, ſolche Regeln ausfuͤndig zu machen, die
in ſo ſchweren Unterſuchungen ſtatt eines Leit-
fadens dienen koͤnnten.


Waͤhrender Zeit habe unter andern Bemuͤ-
hungen an meiner Einleitung in die ſyſtema-
tiſche Theologie ſtarck gearbeitet; obgleich de-
ren voͤllige Ausfertigung erſt in Coburg erfol-
get iſt. Jndem ich nun hierbey zufoͤrderſt
alle Theile unſerer Glaubenslehren genau
durchgienge, um deutlich erklaͤren zu koͤnnen,
wie ſolche aus der heiligen Schrift, als der
einzigen Qvelle aller unſerer geoffenbarten
Erkenntniß, muͤſten hergeleitet und erwieſen
werden; ſo leuchtete mir gar bald in die Au-
gen, daß ein großer Theil der heiligen Lehren
von der Art der hiſtoriſchen Erkenntniß waͤ-
ren. Jederman wird auch ſolches mit mir
berken-
[]Vorrede.
erkennen, und einraͤumen muͤſſen; und wer
daran zweifeln wollte, den koͤnnte faſt allein
der Nahme des Evangelii, welcher bekann-
ter maßen eine froͤliche Botſchaft anzeiget,
davon voͤllig verſichern. Wie leicht war
daraus nicht der Schluß zu machen, daß eine
genauere Erkenntniß, was es mit der hiſtori-
ſchen Erkenntniß uͤberhaupt vor Bewandniß
habe, auch bey der Erklaͤrung und der Ver-
theidigung der geoffenbarten Wahrheiten
großen Nutzen ſchaffen muͤſſe. Und zwar
dieſes um ſo viel mehr, da ſehr viele Stuͤcke
der heiligen Schrift, welche unmittelbar nicht
zu den Geſchichten gehoͤren, dennoch mit der
hiſtoriſchen Erkenntniß große Gemeinſchaft
haben. Jch habe ſolches von den meiſten
Bitten, von den Verheiſſungen, von den
Drohungen, von den Ermahnungen erwie-
ſen; woraus zugleich erhellet, wie weit ſich
die hiſtoriſche Erkenntniß, unter mancherley
Nahmen und Geſtalt erſtrecke. Unter dieſer
Abhandlung alſo, welche die Gewißheit und
Vertheidigung der reinen Lehre lediglich zur
Abſicht gehabt, iſt der Vorſatz, mich ſelbſt an
die Ausarbeitung der allgemeinen Geſchichts-
wiſſenſchaft zu wagen, dergeſtalt in mir ge-
wachſen und befeſtiget worden, daß ich den
erſten Anfang und die erſten Anlagen gegen-
waͤr-
[]Vorrede.
waͤrtiger Abhandlung ſchon damahls, in die
Einleitung zur ſyſtematiſchen Theologie, als
einen beſondern Abſchnitt eingeſchaltet habe.


Das an dem academiſchen Gymnaſio zu
Coburg gefuͤhrte Directorat hat mir ſodann
noch anderweitige Gelegenheit gegeben, dieſer
neuen Wiſſenſchaft, deren Grundriß ich ein-
mahl in Sinn gefaſſet hatte, weiter nachzu-
dencken. Es war meines Amts, auf die Er-
leichterung bey Erlernung der ſchoͤnen Wiſ-
ſenſchaften, da man ietzo alles gerne leicht er-
lernen will, meine Gedancken gerichtet ſeyn
zu laſſen. Hier aber herrſchet uͤberall die
hiſtoriſche Erkenntniß augenſcheinlich. Nur
eins ins beſondere zu gedencken. Welchen
Rang hat nicht unter den ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften die Beredſamkeit? Man ſehe aber
nur die groͤſten Meiſterſtuͤcke alter und neuer
Redner an, ſo wird man gewahr werden, daß
jede Rede nichts anders als ein rechtes Ge-
webe von lauter Erzehlungen von verſchiede-
ner Groͤße und Einrichtung iſt. Die meiſten
Reden ſind gleich ihrem Hauptinnhalte nach
hiſtoriſch. Wenn aber auch ein Redner ſich
allenfalls mit einer allgemeinen Wahrheit be-
ſchaͤfftiget, ſo wird man doch finden, daß der
oratoriſche Vortrag ſolcher Wahrheiten faſt
b 2in
[]Vorrede.
in nichts anders beſtehen, als daß man alle
Theile einer ſolchen Rede mit Erzehlungen
und Geſchichten, die anmuthig und bewegend
ſind, gleichſam zu durchflechten weiß. Eine
Geſchichte deutlich und annehmlich zu erzeh-
len wiſſen, kan man faſt vor mehr, als vor
die Helfte der Beredſamkeit anſehen. Sollte
alſo einem Redner die allgemeine Geſchichts-
wiſſenſchaft nicht eben ſo dienlich ſeyn, als er
die Regeln der Vernunftlehre zu wiſſen unum-
gaͤnglich noͤthig hat?


Doch die Gewißheit iſt allem andern
Schmucke weit vorzuziehen, in welchen man
die Wahrheit nicht ohne Nutzen einkleiden kan.
Alle Bemuͤhungen der Gelehrten ſollen deswe-
gen zufoͤrderſt auf jene edle Eigenſchaft gerichtet
ſeyn. Die neuere Lehre von der Wahrſchein-
lichkeit aber, wuͤrde der Gewißheit einen uner-
ſetzlichen Schaden zufuͤgen, wenn ſie auf die
Art weiter getrieben werden ſollte, wie ſie ge-
trieben zu werden angefangen hat. Die
Wahrſcheinlichkeit iſt einmahl nichts anders,
als eine Art der Ungewißheit; und wo man
es nicht weiter als auf eine, obgleich große
Wahrſcheinlichkeit, bringen kan, da muß man
ſich auch die Ungewißheit gefallen laſſen. Man
urtheile, ob meine Bemuͤhung, folgende Saͤtze
zu
[]Vorrede.
zu widerlegen, entweder uͤberfluͤßig, oder un-
gegruͤndet geweſen? nemlich dieſe Saͤtze: daß
die gantze Auslegungskunſt, die gantze Hiſto-
rie, die gantze Phyſick, die gantze Einrichtung
unſrer Handlungen, nur wahrſcheinlich ſey?
Die gewiſſe Erkenntniß leidet ohnſtreitig ſehr
viel, wenn ſo viele und gewaltig große Theile
unſerer Erkenntniß derſelben entzogen werden.
Und es iſt nicht abzuſehen, warum ſo viele
wichtige Erkenntnißarten auf einmahl mit dem
Vorwurfe der Ungewißheit ſollen beſchmitzt
werden? Mir iſt wenigſtens auch die hiſtori-
ſche Erkenntniß viel zu ehrwuͤrdig, als daß mir
gleichguͤltig ſeyn ſollte, wenn ſolche in lauter
Ungewißheit verkehrt wuͤrde. Jch habe da-
her dieſelbe, wie die uͤbrigen Erkenntnißarten,
in den vernuͤnftigen Gedancken vom Wahr-
ſcheinlichen, und deſſen gefaͤhrlichen Mißbrau-
che ſorgfaͤltig vertheidigt. Es iſt aber ſolches,
nach meinem damahligen Inſtituto, die Sache
in Programmatibus abzuhandeln, nur uͤber-
aus kurtz geſchehen. Wie ich aber bey ge-
nauerer Pruͤfung gefunden, daß der Scepti-
ciſmus
in der Hiſtorie ſeine meiſte Nahrung
daraus erhielte, daß man von der hiſtoriſchen
Erkenntniß gar keine Grundſaͤtze, gar keine be-
ſtimmten Lehrſaͤtze hatte; ja daß die Grund-
begriffe derſelben, in der groͤſten Verwirrung
b 3ſich
[]Vorrede.
ſich befaͤnden, ſo hat mich die Liebe zur gewiſ-
ſen Erkenntniß auch in dieſem Stuͤcke ange-
trieben, dem ausbrechenden hiſtoriſchen Sce-
pticiſmo
durch eine vollſtaͤndige Erklaͤrung der
hiſtoriſchen Erkenntniß auf die nachdruͤcklichſte
Art zu begegnen.


Jederman, der auf die Zeichen der gegen-
waͤrtigen Zeiten Achtung hat, wird es vor eine
unumgaͤnglich noͤthige Bemuͤhung erkennen
muͤſſen, wenn Gottesgelehrte ſich denen ſo
kuͤhnen, als gefaͤhrlichen Unternehmungen der
Naturaliſten mit allen Kraͤften widerſetzen,
und ſie zwar nicht mit fleiſchlichen Waffen,
aber doch mit den Waffen des Lichts zu daͤm-
pfen ſich beſtreben. Man darf ſich aber nur
etwas in den Schriften der engliſchen Frey-
geiſter, und was nach ihrem Exempel auch
Spoͤtter in Deutſchland geſchrieben haben,
umſehen, ſo wird man bald gewahr, daß we-
nigſtens die Helfte ihrer Einwuͤrfe und Spoͤt-
tereyen, wider die hiſtoriſchen Capitel und
Stellen der heiligen Schrift gerichtet ſind.
Bald tadelt man die gantze Erzehlungsart, die
in der Schrift gebraucht worden, daß ſolche
gar nicht nach den Regeln der Kunſt, und nach
den beſten Beyſpielen der Griechiſchen und
Roͤmiſchen Geſchichtſchreiber eingerichtet ſey:
bald
[]Vorrede.
bald beſchuldiget man einzelne Stuͤcke der hei-
ligen Geſchichte der Unwahrſcheinlichkeit, oder
des Widerſpruchs, oder einer Unbilligkeit, die
dennoch in der Schrift nicht ſey geahndet
worden; bald findet man Stellen und Um-
ſtaͤnde in Profanſcribenten, mit deren kund-
baren Wahrheit, dieſe oder jene Erzehlung in
der Schrift, nicht beſtehen koͤnne. Man darf
des hoͤchſtverdienten Herrn D. Baumgartens
erſten Theil ſeiner vortrefflichen Kirchenge-
ſchichte nachſehen, ſo wird man finden, daß
faſt kein Artickel der Geſchichte, die die heili-
gen Evangeliſten aufgezeichnet haben, von ſol-
chen Vorwuͤrfen frey geblieben ſey. Soll
man ſolchen unſeligen Unternehmungen ſich
nicht, wie dieſer große Gottesgelehrte bey un-
zaͤhligen Stuͤcken der heiligen Geſchichte ſchon
gethan, eifrigſt widerſetzen? Nun iſt wohl an
dem, daß Streitigkeiten uͤber hiſtoriſche Wahr-
heiten ſich nicht ſowohl aus allgemeinen Prin-
cipiis,
als vielmehr aus den beſondern Um-
ſtaͤnden, und ſorgfaͤltigſt aufgeſuchten und un-
terſuchten Particularitaͤten der ſtreitigen Ge-
ſchichte, ingleichen aus Zuſammenhaltung ver-
ſchiedener Zeugniſſe, und aus der ſpeciellen
Kenntniß der Geographie, Chronologie und
Antiquitaͤten entſcheiden laſſen. Doch wird
man auch geſtehen muͤſſen, daß wie die aller-
b 4meiſten
[]Vorrede.
meiſten Streitigkeiten in andern Wiſſenſchaf-
ten zwar nicht lediglich aus der Logick, den-
noch aber auch nicht ohne Beyhuͤlfe der Lo-
gick, koͤnnen entſchieden, noch in ein voͤlliges
Licht geſetzt werden; alſo auch die hiſtoriſchen
Streitigkeiten zwar nicht alles, aber doch vie-
les, und oͤfters ihr unentbehrliches Licht, aus
der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft erhal-
ten muͤſſen. Meines Orts nun habe mich
ſeit Antretung meines Lehramts der Gottes-
gelahrheit verbunden geachtet, das Maaß der
mir verliehenen Kraͤfte, hauptſaͤchlich nach
den Umſtaͤnden der gegenwaͤrtigen Zeiten, zum
Dienſte der Gemeinde Chriſti anzuwenden,
und in dieſer Abſicht zufoͤrderſt die gantze Ge-
denckart der Naturaliſten in ihrer Bloͤße dar-
zuſtellen. Meine Unterſuchung der Frage:
Ob Joſeph ſich gegen die Egyptier tyranniſch
erwieſen? ingleichen der andern, noch wichti-
gern: Warum unſer hochgelobter Heyland
nicht im Angeſicht ſeiner Feinde auferſtanden
ſey? wird jeden Leſer gar bald uͤberzeugen,
daß ich mir dabey die Lehren der allgemeinen
Geſchichtswiſſenſchaft zu nutze gemacht habe.
Und mit goͤttlicher Huͤlfe ſollen mit der Zeit
noch mehrere nutzbare Anwendungen bey
Streitigkeiten und Fragen dieſer Art ans Licht
geſtellt werden.


Unter
[]Vorrede.

Unter ſo vielerley andern Arbeiten und Be-
muͤhungen auf den Grund der Dinge zu kom-
men, hat ſich nach und nach gegenwaͤrtige
Abhandlung in mir ausgewickelt; und der
Grundriß der gantzen hiſtoriſchen Erkenntniß
mehr und mehr aufgeklaͤrt; Es fehlte nur
noch an einer bewegenden Veranlaſſung, die
Feder ſelbſt anzuſetzen, und dieſes neue Lehr-
gebaͤude wuͤrcklich aufzufuͤhren, deſſen Schwie-
rigkeiten gar leicht den Aufſchub von einer Zeit
zur andern haͤtten verurſachen koͤnnen. Die
oͤftere Vorſtellung einer neuen Academie, auf
der ich, mitten unter andern vortrefflichen
Maͤnnern, zum Lehrer geſetzt worden, hat
endlich der Sache den Ausſchlag gegeben.
Eine neue Academie iſt beynahe ſchuldig und
verpflichtet, einen mercklichen Beytrag zum
Wachsthum der wahren und nuͤtzlichen Er-
kenntniß zu thun. Ein Theil ſolcher Ver-
bindlichkeit lieget auf meinen Schultern, ſo
viel nemlich als dieſelben von ſolcher Laſt tra-
gen koͤnnen. Jch habe alſo nicht Anſtand
nehmen wollen, mich eines Theils derſelben,
ſo bald als moͤglich, zu entſchuͤtten. Und in
dieſer Geſinnung iſt die Ausarbeitung und
Ausgabe gegenwaͤrtiges Buchs unter goͤttli-
chen Beyſtande, erfolget. So viel bin ver-
b 5ſichert,
[]Vorrede.
ſichert, daß dieſelbe vor das Reich der Wahr-
heit nicht ohne allen Nutzen ſeyn werde. Re-
geln, wo vorhin keine geweſen ſind, koͤnnen
unmoͤglich gantz unfruchtbar ſeyn. Sollten
aber die Leſer meines Buchs die darinne vor-
getragene allgemeine Geſchichtswiſſenſchaft
von großem Nutzen zu ſeyn befinden, ſo
wuͤrde mir ſolches uͤberaus angenehm ſeyn;
nicht ſowohl um des Werthes willen, der
demſelben dadurch zuwachſen wuͤrde, als viel-
mehr darum, weil durch die Anrichtung einer
ſo nuͤtzlichen Wiſſenſchaft die große Abſicht
wenigſtens einestheils erfuͤllet wuͤrde, welche
der Durchlauchtigſte Stiffter unſerer Frie-
drichsuniverſitaͤt, nach ſeiner hohen Weis-
heit bey der Stifftung derſelben gehabt hat.


Es iſt leicht zu ermeſſen, daß es bey der
Ausarbeitung an muͤhſamen Ueberlegungen
nicht werde gefehlet haben, wie theils der
gantze Grundriß, theils einzelne Capitel, auf
die brauchbarſte Art moͤchte eingerichtet wer-
den. Bey bekannten und ſchon oͤfters ab-
gehandelten Diſciplinen iſt die Einrichtung
großer und kleiner Theile viel leichter gefun-
den. Eine Entſchlieſſung vornehmlich iſt erſt
nach einem langen Zweifel getroffen worden.
Es
[]Vorrede.
Es war nemlich die Frage: Ob ich lieber
dieſe Lehren von der hiſtoriſchen Erkenntniß
unmittelbar zum beſondern Gebrauch der
Gottesgelahrheit einrichten wollte? oder aber
dieſelbe ſo allgemein abfaſſen, daß ſie in allen
Theilen der Gelahrheit, in hiſtoriſche Erkennt-
niß einen Einfluß hat, mit gleichem Nutzen
koͤnnten gebraucht werden? Das erſte zu
thun ermunterte mich meine Hauptabſicht,
welche allerdings auf die Erklaͤrung und Ver-
theidigung der geoffenbarten Wahrheiten ge-
richtet iſt. Ja ich habe auch auf Seiten
meiner Leſer ſicher vermuthen koͤnnen, daß
gar vielen eine Abhandlung dieſer Art, nem-
lich mit der beſtaͤndigen unmittelbaren An-
wendung, auf Stellen der heiligen Schrift,
auf Glaubensartickel, auf polemiſche Wahr-
heiten, auf die Kirchengeſchichte angenehmer
ſeyn duͤrfte, als eine gantz allgemeine Ab-
handlung. Jm Gegentheil zeigte mir die
allgemeine Abhandlung auch ihre Vortheile.
Einmahl theilet ſich das gantze Reich aller
Wahrheiten in zwey große Theile; nemlich
der allgemeinen Wahrheiten, und der hiſto-
riſchen
Wahrheiten. Jene ſind mit den
ſchoͤnſten Regeln in der Logick verſehen: jeder
erlernet ſolche Regeln: man ſiehet ſie als das
Leben
[]Vorrede.
Leben der Gelahrheit an: man haͤlt denjeni-
gen vor einen verdorbenen Gelehrten, der ſich
niemahls mit ihnen bekannt gemacht hat.
Sollten die hiſtoriſchen Wahrheiten, die in
den hoͤhern Facultaͤten ein ſo großes Stuͤck
ausmachen, nicht gleiches Recht genieſſen, in
Regeln gefaſſet zu werden? und ſollten dieſe
Regeln nicht ebenfalls die Gelahrheit, obgleich
auf eine neue Art befoͤrdern, aufklaͤren und
erleichtern? Meines Orts bin davon voͤllig
uͤberzeugt, und eine ſolche Ueberzeugung wird
mich bey allen billigen Leſern ohnſchwer recht-
fertigen, daß ich lieber eine allgemeine Ge-
ſchichtswiſſenſchaft der Welt liefere, die zufoͤr-
derſt der Gottesgelahrheit gute Dienſte thun
kan, als daß ich eine Abhandlung habe liefern
wollen, die bloß der Gottesgelahrheit gewid-
met geweſen waͤre.


Um eben den Einfluß der in dieſem Buche
abgehandelten Wahrheiten in die Gottesge-
lahrheit, und beſonders auch in die Dogma-
tick, nur etwas zu erlaͤutern, ſo will folgen-
den Satz meinen Leſern zur Erwegung vor-
legen. Jch ſage: alles, was bey der Ge-
ſchichtserkenntniß auſſer der Theologie, wie
im kleinen vorkommt, daſſelbe trifft man in
der
[]Vorrede.
der Offenbarung im großen, und in der An-
wendung auf viel hoͤhere und herrlichere Ge-
genſtaͤnde an. Exempel ſollen dieſe Wahr-
heit beſtaͤtigen. Die gemeinen Weltgeſchich-
te gehen doch nur mit Thaten der Men-
ſchen
um, die Offenbarung aber mit den
großen Thaten Gottes; jene beſtehen hoͤch-
ſtens aus ſeltenen Begebenheiten, dieſe
aber lehret uns die groͤßten Wunderthaten:
jene beſtehet und beruhet auf Zeugniſſen der
Menſchen;
dieſe aber beziehet ſich ſogar auf
Zeugen im Himmel: jener ihre Zierde
ſind geheime Nachrichten; dieſe aber zeigt
uns hohe und goͤttliche Geheimniſſe: jene
beſchaͤfftiget ſich mit Anſchlaͤgen der Men-
ſchen;
dieſe aber vornehmlich mit den ewi-
gen Rathſchluͤſſen Gottes,
die Seligkeit der
Menſchen betreffend: jene beſtehet aus Tha-
ten und Begebenheiten, die in die Augen der
Menſchen fallen;
dieſe haͤlt eine große
Menge von Begebenheiten des Hertzens,
ſowohl der Frommen, als der Boͤſen, in ſich:
in jener finden wir Denckmahle der menſch-
lichen Thaten;
in der Offenbarung aber
Denckmahle der goͤttlichen Wunder:
in jenen beziehet man ſich oft auf Brief und
Siegel; in dieſer werden uns Siegel der
goͤtt-
[]Vorrede.
goͤttlichen Verheiſſungen und Gnade,
an den Sacramenten, ja eine Verſiegelung
der Glaͤubigen
gewieſen, u. ſ. w. Nun
urtheile ich alſo: Wer von den goͤttlichen Tha-
ten, von den Wundern Gottes, von himm-
liſchen Zeugniſſen und Zeugen, von goͤttlichen
Rathſchluͤſſen, von Geheimniſſen, von Bege-
benheiten und Geſchichten des Hertzens, von
Denckmahlen der goͤttlichen Wercke, von den
Siegeln der goͤttlichen Verheiſſungen, han-
deln, und dieſe hohe Wahrheiten vertheidigen
und anpreiſen ſoll, der wird ſolches viel
leichter, ausfuͤhrlicher und gruͤndlicher thun
koͤnnen, wenn er uͤberhaupt von der innern
Beſchaffenheit der Thaten, der Zeugniſſe und
Zeugen, der Denckmahle, der Siegel, der
Geheimniſſe, der Rathſchlaͤge, u. ſ. w. gruͤnd-
lich unterrichtet iſt, als wenn er von allen
dieſen Dingen keine weitere Erkenntniß hat,
als diejenige, die jederman im gemeinen Le-
ben, bloß aus Exempeln, ohne weiteres Nach-
dencken erlanget. Von allen dieſen Dingen
aber gruͤndlich zu handeln, iſt eben das eigene
Werck der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft,
die unſere Leſer hierdurch in die Haͤnde gelie-
fert bekommen.


Doch
[]Vorrede.

Doch ich bemuͤhe mich vielleicht mehr, als
noͤthig iſt, die Anwendung der hier vorgetra-
genen deutlichen Begriffe bey hoͤhern Wahr-
heiten, und beſonders bey den geoffenbarten,
darzuſtellen. Wenigſtens iſt zu beſorgen,
daß ich daruͤber die Graͤntzen einer Vorrede
ſchon uͤberſchritten habe. Und dieſe Beſorg-
niß haͤlt mich vollends ab, von der Anwen-
dung derſelben bey andern Arten der Gelahr-
heit, auch nur ein weniges zu ſagen. Der
Gebrauch, den einige gelehrte Goͤnner davon
zu machen willens ſind, denen ich den Grund-
riß dieſer Wiſſenſchaft ſchon vor einiger Zeit
mitgetheilet habe, wird die Sache am klaͤrſten
beſtaͤtigen. Und die tieffe Einſicht, welche
ich von dem mehreſten Theil meiner Leſer ver-
muthen kan, uͤberhebt mich vollends der
Nothwendigkeit, in der Vorrede weitlaͤuftig
zu ſeyn. Sie werden an dem Nutzen nicht
zweifeln, woferne ſie nur verſichert ſind, daß
Wahrheiten in dieſem Buche vorgetragen
ſind. Und damit ſie zu verwahren, bin ich
aͤuſſerſt befliſſen geweſen. Ja! mein einiger
Wunſch gehet dahin, daß durch die ange-
ſtellten Unterſuchungen manches Vorurtheil,
manche Verwirrung, mancher Jrrthum moͤge
gehoben werden, welcher bisher ungepruͤft
durch-
[]Vorrede.
durchgegangen iſt; und alſo in dem Verſtan-
de der Menſchen den Fortgang der Erkennt-
niß gehindert, ja dem Glauben wohl ſelbſt
zum Anſtoße gereichet hat. So wird denn
auch durch dieſe meine geringe Arbeit, die
Ehre des Hoͤchſten befoͤrdert, und manchem
Feinde der Wahrheit Zaum und Gebiß in den
Mund geleget werden. Geſchrieben auf der
Friedrichsuniverſitaͤt zu Erlangen den 22ten
Sept. 1751.

[figure]

[[1]]

Erſtes Capitel,
Von der hiſtoriſchen Erkentniß
uͤberhaupt.


§. 1.
Die Menſchen ſtellen ſich die Begebenheiten der
Welt auf eine beſondere Art vor.


Da die Welt nichts anders, als eine un-
begreifflich groſſe Menge, oder
Reyhe, von lauter endlichen und
eingeſchrenckten Weſen iſt; ſo muͤſſen in derſel-
ben, und in allen ihren groſſen und kleinen Thei-
len unaufhoͤrlich Veraͤnderungen vorgehen.
Gleichwie nun der unendliche Geiſt, und das
hoͤchſte Weſen ſich dieſelben insgeſamt auf das
allerdeutlichſte vorſtellet; alſo treffen wir bey de-
nen mit Verſtand begabten Geſchoͤpfen, oder end-
lichen Geiſtern, ebenfals eine Krafft an, ſich die
AWelt
[2]Erſtes Capitel,
Welt mit ihren Veraͤnderungen, jedoch auf eine
gantz andere und eingeſchrenckte Art, vorzuſtel-
len: indem ſie weder alle Veraͤnderungen oder Be-
gebenheiten erkennen, noch ſich dieſelben auf ein-
mahl, und in ihrer gantzen Verbindung vorſtel-
len koͤnnen. Und da jede Art der endlichen Gei-
ſter eine beſondere Art haben muß, ſich die Welt
vorzuſtellen, ſo iſt uns zu wiſſen beſonders noͤthig,
wie der Menſchen ihre Erkentniß von denen
Veraͤnderungen der Welt beſchaffen iſt.


§. 2.
Was die hiſtoriſche Erkentniß iſt?


Wenn wir die Wircklichkeit einer Sache, wel-
che fortdauret, anzeigen wollen, ſo ſprechen wir:
ſie iſt. Z. E. die Sonne iſt: Es iſt Friede:
auf dem Felde ſind Steine. Wenn wir aber
Sachen anzeigen wollen, welche entweder gantz,
oder in ihren Theilen augenblicklich vergehen: ſo
ſprechen wir: ſie geſchehen. Z. E. es geſchie-
het
eine Schlacht: es geſchiehet ein Donner-
ſchlag. Die Erkentniß der Dinge, welche ſind
oder geſchehen, wird zuſammen genommen die
Hiſtoriſche Erkentniß genennet.


§. 3.
Was Begebenheiten und Umſtaͤnde ſind?


Eine Veraͤnderung in der Welt, in ihrer
Wircklichkeit, und vor ſich betrachtet, heiſſet eine
Begebenheit. Wenn man nehmlich eine Sa-
che abgebrochen erzehlet, ſo ſpricht man gemeini-
glich: es begab ſich. Eben dieſelben Dinge
werden aber auch ſowohl Veraͤnderungen als
Bege-
[3]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
Begebenheiten genennet; nachdem man ſie ent-
weder vor ſich, oder aber in der Verbindung mit
dem vorher gegangenen betrachtet. Eine Sache
die da iſt, welche entweder in dem Begriff einer
andern enthalten iſt, oder wenigſtens damit zu-
ſammenhanget, und ihr gleichſam an die Seite
geſetzet iſt: heiſſet ein Umſtand. Eine Bege-
benheit, die die Folge einer andern aͤndert, heiſ-
ſet ein Zufall.


§. 4.
Was ein hiſtoriſcher Satz iſt?


Wenn wir bey einer Begebenheit gegenwaͤr-
tig ſind, und wir uns derſelben bewuſt ſind, ſo
entſtehet in unſerm Verſtande ein Urtheil. Ein
Urtheil pflegt gemeiniglich uns der Worte zu er-
innern, wodurch man ſolches ausdrucken koͤnte.
Wenigſtens, wenn wir unſere Vorſtellung von
einer Begebenheit andern bekannt machen wollen,
ſo brauchen wir Worte dazu, und ſuchen ſolche,
wodurch ſich unſer Urtheil geſchickt ausdrucken
laͤſſet. Ein Satz, dadurch eine Begebenheit,
oder unſer Urtheil von der Begebenheit ausge-
druckt wird, wollen wir einen hiſtoriſchen Satz
nennen.


§. 5.
Was wir eine einige Begebenheit heiſſen?


Gleichwie jeder eintzelne Satz nur ein einiges
Praͤdicat haben ſoll; alſo ſoll auch durch einen
hiſtoriſchen Satz nur eine einige Begebenheit ausge-
druckt werden. Wir muͤſſen daher genauer be-
ſtimmen, was eine einige Begebenheit ſey?
A 2Die
[4]Erſtes Capitel,
Die Begebenheit iſt nehmlich eine Veraͤnderung
in einem vorhandenen Dinge (§. 3.). Wenn
ich nun in einer vorgehenden Veraͤnde-
rung, durch die bloſſe Aufmerckſamkeit
nichts weiter unterſcheide, ſo wird die
Veraͤnderung als eine einige angeſehen.

Z. E. man ſiehet es blitzen. Die Veraͤnderung
iſt das helle Licht, welches auf einmahl entſtehet.
Wie man nun darinne, wegen der groſſen Geſchwin-
digkeit, nichts durch die Aufmerckſamkeit unter-
ſcheiden kan, alſo iſt ein geſchehener Blitz eine
Begebenheit. Ein Ziegel faͤllt vom Dache: auch
hier iſt wegen der Geſchwindigkeit wenigſtens in
manchen Faͤllen, nichts zu unterſcheiden: daher
iſt dieſer Fall eine Begebenheit.


§. 6.
1. Art, viele Begebenheiten als eine an-
zuſehen.


Wenn eine Reyhe von aͤhnlichen Ver-
aͤnderungen unmittelbar auf einander er-
folgen, ſo werden dieſelben zuſammen als

eine Begebenheit angeſehen. Z. E. Ein an-
haltender Donnerſchlag iſt eine anhaltende, oder
welches einerley iſt, eine vielfache Erſchuͤtterung
der Lufft. Man kan aber dieſelben unmittelbar
auf einander erfolgende Erſchuͤtterungen nicht von
einander unterſcheiden; daher wird ein noch ſo
lange anhaltender Donnerſchlag, zumahl wenn
ſich der Klang ſelbſt nicht aͤndert, als eine Bege-
benheit angeſehen.


§. 7.
[5]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.

§. 7.
2. Art, viele Begebenheiten als eine
anzuſehen.


Eben ſo, wenn eine Reyhe von aͤhnlichen
Veraͤnderungen neben einander zugleich entſtehet,
ſo werden ſie ebenfals als eine Begebenheit an-
geſehen. Ein Regiment Soldaten z. E. giebt
auf einmahl Feuer; hieraus entſtehet ein lang aus-
gedehnter Rauch, den man aber vor eine Sache
anſiehet.


§. 8.
3. Art, viele Begebenheiten als eine
anzuſehen.


Wenn Veraͤnderungen in einer gewiſſen Ord-
nung auf einander erfolgen; ſo werden dieſelben
(ob man ſie gleich von einander unterſcheiden koͤn-
te, auch wohl gar wircklich unterſcheidet,) als ei-
ne
Veraͤnderung, und mithin als eine Begeben-
heit angeſehen. Ein Aufzug und Proceßion, ſo
lang dieſelbe auch immer ſeyn mag, wird von al-
len als eine einige Sache angeſehen; nehmlich die
Ordnung, die die Perſonen unter einander und im
Aufziehen beobachten, macht ſie zu einer Sache.
Siehet man einer Proceßion aber von ferne zu, wo
man die Partheyen, woraus ſie beſtehet, oder we-
nigſtens eintzelne Perſonen nicht mehr unterſchei-
den kan; ſo wird ihr Aufzug nach dem 6. §. als
eine einige Begebenheit angeſehen.


§. 9.
4. Art, viele Begebenheiten als eine anzuſehen.


Wenn viele Veraͤnderungen, entweder zu-
gleich, oder nach einander in einerley Abſicht ge-
A 3ſchehen,
[6]Erſtes Capitel,
ſchehen, ſo machen ſie zuſammen eine Begeben-
heit und eine Veraͤnderung aus. Wie viele Hand-
lungen werden nicht unter dem Worte: der Aus-
richtung einer Hochzeit begriffen? wie vielerley
gehoͤrt nicht zu einer Kriegsruͤſtung? Nehmlich
ſo vielerley Handlungen werden bloß wegen der
gemeinſchafftlichen, oder einerleyen Abſicht, als
eine Begebenheit betrachtet.


§. 10.
5. Art, viele Begebenheiten als eine
anzuſehen.


Wenn viele Veraͤnderungen unter einem
moraliſchen oder phyſicaliſchen Begriffe enthalten
ſind, der dem Zuſchauer bekant iſt, ſo gehoͤren
dieſelben zu einer Art, und werden daher als ei-
ne
Begebenheit angeſehen. Z. E. Streitlieb hat
ſehr viele Gelehrte angefochten, und ſeinen auf-
geſuchten Gegnern fleißig geantwortet: er ſelbſt
iſt von vielen angegriffen worden, und iſt nie-
mahls iemanden etwas ſchuldig geblieben. Alles
dieſes wird ſeiner Aehnlichkeit wegen in einem all-
gemeinem Begriffe zuſammen gefaſſet, und man
ſagt kuͤrtzlich: Streitlieb habe ſein Leben mit Con-
troverſien zugebracht.


§. 11.
6. Art, viele Begebenheiten als eine
anzuſehen.


Alle Begebenheiten, welche ſich in einer, und
mit einer Sache zugetragen, werden als eine
Begebenheit angeſehen. Denn nicht allein ihre
Aehnlichkeit, daß ſie zu einer Sache gehoͤren,
ſon-
[7]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
ſondern auch, weil hier gemeiniglich eines den
Grund des andern in ſich enthaͤlt, macht, daß ſie
als eine Sache angeſehen werden. Wenn man
ſagt: Das Leben Alexanders, Carl des groſſen,
Luthers, ſo faſſet man alle Begebenheiten ſolcher
Maͤnner in einen Begriff zuſammen, und der
Grund davon iſt die Einheit der Perſon.


§. 12.
Allgemeine Anmerckung und Regel.


Ohngeachtet alſo eine Begebenheit eigentlich
dieienige iſt, darinnen durch die bloſſe Aufmerck-
ſamkeit nichts unterſchieden werden kan (§. 5.):
dennoch pflegen oͤffters Begebenheiten, die ſich
entweder der Zeit (§. 6.), oder dem Orte nach
(§. 7.), oder auch durch ihre innerliche Beſchaf-
fenheiten (§. 9. 10. 11.) unterſcheiden lieſſen, als
eine Begebenheit angeſehen zu werden; weil man
ſie nehmlich entweder nicht ſo gleich unterſcheiden
kan, oder auch in einer gewiſſen Abſicht (als der
Kuͤrtze halber,) nicht unterſcheiden will.


§. 13.
Was eine Geſchichte ſey?


Eine Reyhe von Begebenheiten wird eine
Geſchichte genennet. Das Wort Reyhe be-
deutet allhier, wie es auch der gemeine Gebrauch
deſſelben mit ſich bringet, nicht bloß eine Vielheit
oder Menge; ſondern zeigt auch die Verbindung
derſelben unter einander, und ihren Zuſammen-
hang an; welcher, wie kuͤnfftig wird gezeiget
werden, vielerley ſeyn kan. Man wird aus den
vorhergehenden leichte begreiffen, wie eine Bege-
A 4benheit
[8]Erſtes Capitel,
benheit, wenn man ſie nehmlich auswickelt, zu ei-
ner Geſchichte; und wiederum eine Geſchichte,
wenn man ſie zuſammen ziehet, zu einer Bege-
benheit werden kan. Die Begriffe aber der Be-
gebenheit,
und der Geſchichte, muͤſſen dennoch
an und vor ſich ſelbſt unterſchieden bleiben.


§. 14.
Die Geſchichte iſt von der Erkentniß derſelben,
wie auch von der Erzehlung und Nach-
richt unterſchieden.


Gleichwie die Vorſtellung der Begebenheit
von der Begebenheit ſelbſt unterſchieden iſt, und
durch einen hiſtoriſchen Satz ausgedruckt wird
(§. 4.), alſo iſt auch von der Geſchichte die Er-
kentniß der Geſchichte
zu unterſcheiden. Wird
nun eine Begebenheit durch ein Urtheil dem Ver-
ſtande vorgeſtellt, und durch einen Satz ausge-
druckt (§. 4.): ſo wird die Geſchichte, als eine
Reyhe oder Menge von Begebenheiten, durch
viele Urtheile dem Verſtande vorgeſtellt, und
durch viele Saͤtze ausgedruckt werden muͤſſen.
Die Saͤtze, wodurch eine Geſchichte ausgedruckt
wird, heiſſen eine Erzehlung. Worte, wo-
durch entweder eine Begebenheit, oder auch eine
Erzehlung ausgedruckt wird, heiſſen uͤberhaupt
eine Nachricht. Man ſuchet durch dieſe ſorg-
faͤltige Erklaͤrungen nicht etwa den Worten
zu ſtatten zu kommen, als wenn ſie unbe-
kant oder auch unverſtaͤndlich waͤren, ſondern es
iſt uns bloß um die Grundbegriffe der hiſto-
riſchen Erkentniß zu thun, welche auf das aller-
genaueſte
[9]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
genaueſte und auf das allerrichtigſte beſtimmet
werden muͤſſen.


§. 15.
Geſchichte koͤnnen ohne Erzehlungen, dieſe
aber nicht ohne jenen ſeyn.


Begebenheiten ſind Veraͤnderungen wirckli-
cher Dinge (§. 4.); und Geſchichte ſind nicht
minder wirckliche Veraͤnderungen derer wirckli-
chen Dinge (§. 13.). Wie nun die wircklichen
Dinge nicht noͤthig haben, daß ſie durch Men-
ſchen erkant, und von ihnen durch Worte aus-
gedruckt werden; alſo koͤnnen Begebenheiten und
Geſchichte vorgehen, ohne daß eben deswegen hi-
ſtoriſche Saͤtze, Erzehlungen und Nachrichten
daraus entſtehen. Hingegen da die Erkentniß
wircklicher Dinge nicht ſeyn kan, wenn nicht die
Wircklichkeit der Dinge ſelbſt ſchon vorausgeſetzt
wird: ſo koͤnnen hiſtoriſche Saͤtze, Erzehlungen
und Nachrichten nicht ſtatt finden, wo nicht Be-
gebenheiten und Geſchichte vorausgeſetzt werden.


§. 16.
Geſchichte und Erzehlungen gehoͤren
zuſammen.


Weil hiſtoriſche Saͤtze, Erzehlungen und
Nachrichten nicht ſtatt finden, wo nicht die da-
durch ausgedruckten Begebenheiten und Geſchich-
te vorausgeſetzt werden (§. 15.): hingegen Be-
gebenheiten und Geſchichte, die uns nicht vorge-
ſtellt werden, auch kein Vorwurff unſerer Betrach-
tung ſeyn koͤnnen; ſo gehoͤren zum Begebenheiten
auch Erzehlungen und Nachrichten; und wieder-
A 5um
[10]Erſtes Capitel,
um zum Erzehlungen und Nachrichten gehoͤren
Geſchichte. Mithin gehoͤren dieſe Dinge ſo zuſam-
men, daß eins ohne das andere nicht ſeyn kan. Sie
muͤſſen aber dennoch von einander unterſchieden
werden; weil die hiſtoriſchen Schwierigkeiten bald
aus der Geſchichte und Begebenheit ſelbſt, bald aber
aus den Nachrichten und Erzehlungen entſpringen.


§. 17.
Was das Wort Hiſtorie bedeute!


Das eigentlich Griechiſche Wort: Hiſtorie,
zeiget ſowohl die Begebenheit an und vor ſich be-
trachtet, als auch die Vorſtellung derſelben, und
die daraus erſt flieſſende Erzehlung an. Eben
dieſes Wort wird auch ſowohl von denen eintzel-
nen Begebenheiten und Geſchichten gebraucht;
wie aus den haͤufigen Exempeln klar iſt. Daher
iſt der Begriff und die Bedeutung des Wortes:
Hiſtorie ſehr weitlaͤufftig; und begreifft die Be-
gebenheiten,
die Zufaͤlle, die hiſtoriſchen
Saͤtze,
die Umſtaͤnde, die Geſchichte, die
Erzehlungen und Nachrichten unter ſich:
Das iſt, alle dieſe verſchiedenen Begriffe werden
uns zuſammen, und in einer groſſen Verwirrung
vorgeſtellt, wenn wir das Wort Hiſtorie brauchen.
Und da dieſe Dinge gewiſſer maſſen zuſammen gehoͤ-
ren, ſo iſt auch dienlich, daß man ſie ſich, wenigſtens
in gewiſſen Faͤllen zuſammen vorſtellt. Wir
werden hingegen auch jedesmahl, wo es noͤthig iſt,
jedes ins beſondere mit ſeinem eigenen Nahmen
benennen.


§. 18.
[11]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.

§. 18.
Geſchichte muͤſſen ein gewiſſes Subject haben.


Die Begebenheiten, und mithin auch die
Geſchichte ſind Veraͤnderungen (§. 3. 13.) Ver-
aͤnderungen ſetzen ein Subject, ein dauerhafftes
Weſen oder Subſtantz voraus. Folglich muͤſſen
1. die Begebenheiten und Geſchichten ein Sub-
ject haben, dahin dieſelben gehoͤren. Und ſo muͤſ-
ſen 2. auch die hiſtoriſchen Saͤtze, Erzehlungen
und Nachrichten, jedesmahl ihr Subject haben,
deſſen Veraͤnderungen darinnen vorgetragen wer-
den. Nur, daß einmahl das Subject einer Sub-
ſtantz aͤhnlicher ſiehet und uns vorkomt, als das
andere mahl. Die Geſchichte Caͤſars haben ihr
ungezweifeltes und zwar einiges Subject: inglei-
chen die Hiſtorie von Rom. Aber die Hiſtorie
der Roͤmiſchen Freyheit, die Hiſtorie der En-
thuſiaſterey
hat ein Subject, welches nicht von
jedem ſogleich als was ſubſtantielles duͤrffte ange-
ſehen werden.


§. 19.
Wie ſie mehrere Subjects haben koͤnnen?


Weil endliche Dinge mit andern endlichen,
und mithin veraͤnderlichen Dingen zu thun haben,
ſo gehoͤren die Begebenheiten des einen oͤffters
mit zu den Begebenheiten des andern: Wie die
Geſchichte eines Menſchen gemeiniglich etwas von
den Geſchichten ihrer Eltern und ihrer Kinder
in ſich faſſen. Daher komt es nun, daß die Thei-
le einer Geſchichte, nicht allemahl ein Subject ha-
ben,
[12]Erſtes Capitel,
ben, ſondern auch offt von gantz verſchiedenen
Dingen handeln.


§. 20.
Art des Subjects.


Die Veraͤnderungen wechſeln ab, da unter-
deſſen das Subject der Begebenheiten, und der
Geſchichte, beſtaͤndig fortdauert. Dannenhero ge-
hoͤret das Subject jeder Begebenheit, Veraͤnde-
rung, Geſchichte, Erzehlung und Hiſtorie unter
die Dinge welche ſind (§. 2.).


§. 21.
Wo die Erkentniß einer Geſchichte anfaͤngt.


Das Subject einer Veraͤnderung und Bege-
benheit gehoͤret unter die Dinge, welche ſind (§. 20).
Es iſt aber auch zugleich das Subject des hiſtori-
ſchen Satzes, wodurch die Begebenheit ausge-
druckt wird. Da nun das Subject eines Satzes
eher erkant wird, als ſein Praͤdicat; ſo muß das
Subjectum der Begebenheit und Geſchichte eher
erkant ſeyn, als die Begebenheit ſelber.


§. 22.
Die Erkentniß der Geſchichte hat zwey
Objecte.


Ein hiſtoriſcher Satz beſtehet theils aus der
Erkentniß des Subjects, theils aus der Erkent-
niß der Veraͤnderung (§. 18.): Das Subject
gehoͤret unter die Dinge, welche ſind (§. 20.):
und die Veraͤnderung hingegen unter die Dinge,
welche geſchehen (§. 2.). Daher 1. iſt in jedem
hiſtoriſchen Satze die Erkentniß eines Dinges,
wel-
[13]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
welches iſt, mit der Erkentniß einer Sache ver-
bunden, die geſchiehet. Weil aber die Erkent-
niß des Subjects voraus geſetzet wird, und die
Erkentniß der Begebenheit, oder Praͤdicats dar-
auf folget (§. 21.): ſo 2. richtet ſich die Einſicht
in die Veraͤnderungen eines Dinges, nach der
Erkentniß, die wir von der Sache an und vor
ſich betrachtet haben. Z. E. der Gelehrte hat
gleich eine andere Jdee vom Monde, wie ſolcher be-
ſtaͤndig ausſiehet, als der gemeine Mann: und nach
dieſer verſchiedenen Erkentniß entſtehen auch ver-
ſchiedene Vorſtellungen, wenn ſich eine Finſter-
niß, ein Monden-Hoff, oder ſonſt etwas nicht
alltaͤgliches damit begiebet.


§. 23.
Die Erkentniſſe der Dinge welche ſind und ge-
ſchehen, gehoͤren zuſammen.


Weil ſich die Erkentniß der Veraͤnderungen
eines Dinges, nach der Erkentniß richtet, die man
von dem Dinge ſelbſt hat (§. 22.): dieſes Ding
aber unter diejenigen gehoͤret, welche ſind (§. 20.):
ſo kan 1. man von der Erkentniß der Weltbegeben-
heiten nicht Rechenſchafft geben, wenn man nicht
weiß, was es vor Beſchaffenheit habe, mit den
Dingen, welche ſind. Wie nun die Erkentniß
der Dinge, welche ſind und geſchehen, die hiſto-
riſche Erkentniß ausmachen (§. 2.): alſo ſiehet
man 2. daß man den einen und bekanteſten Theil
der Geſchichte, der nehmlich die geſchehene
Dinge betrifft, nicht wohl ohne dem andern, durch
eine brauchbare Theorie erlaͤutern koͤnne.


§. 24.
[14]Erſtes Capitel,

§. 24.
Jede Hiſtorie erfordert einen Zuſchauer.


Die Geſchichte werden zu Erzehlungen und
Nachrichten, wenn man ſich dieſelbe vorſtellt, und
durch Worte ausdruckt (§. 14.): und die Hiſto-
rie begreifft alles dieſes in ſich (§. 17.). Eine
Hiſtorie erfordert daher eben ſowohl, als jede Er-
zehlung, einen Zuſchauer der Begebenheit, wel-
cher ſich dieſelbe vorgeſtellt, und ſie in eine Er-
zehlung und Hiſtorie gebracht hat.


§. 25.
Eintheilung der Dinge, welche geſchehen.


Die Dinge, welche geſchehen, haben unter
ſich eine groſſe Abtheilung: theils ſind ſie ge-
ſchehen;
theils werden ſie geſchehen: jenes
heiſſen vergangene, dieſes zukuͤnftige Dinge.
Man koͤnte nun zwar bey der hiſtoriſchen Erkent-
niß, die dritte Art, nehmlich die gegenwaͤrti-
gen
Dinge, als die wichtigſten und betraͤchtlich-
ſten auſehen: allein weil dasjenige, was geſchie-
het,
augenblicklich geſchiehet, und mithin indem
und ſo lange es geſchiehet, keine beſondere Be-
trachtung und Ueberlegung leidet, als worzu Zeit
erfordert wird: ſo wird die hiſtoriſche Erkentniß
gemeiniglich davor angeſehen, als ob ſie bloß auf
vergangene und zukuͤnftige Dinge gerichtet
waͤre.


§. 26.
Zukuͤnfftige Dinge gehoͤren zum Geſchichten.


Die Erkentniß der vergangenen Dinge
wird im gemeinen Leben vor die gantze hiſtoriſche
Erkent-
[15]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
Erkentniß angenommen; weil ſie nehmlich den
groͤſten Theil derſelben ausmachet. Es iſt aber
bekant, daß unſere Eintheilungen der Sachen und
unſerer Erkentniß, die wir im gemeinen Leben
brauchen, nicht allemahl geſchicklich abgefaſſet ſind.
Wir folgen allda der Regel: a potiori fit deno-
minatio.
Und dieſes trifft bey dem Begriff der
hiſtoriſchen Erkentniß ein. Denn ohngeachtet die
Erkentniß des Zukuͤnfftigen gegen die Erkentniß
des Vergangenen ſehr enge und kurtz geſaſſet iſt;
ſo haben wir doch mancherley Einſicht ins Zukuͤnff-
tige, nicht allein durch die Offenbarung, ſondern
auch in der Aſtronomie und in buͤrgerlichen Ge-
ſchaͤfften. Die Artzneykunſt hanget von dieſer
Erkentniß ſo ſtarck ab, daß der Artzt nicht weni-
ger ſeine Aufmerckſamkeit aufs Kuͤnfftige, als
auf den gegenwaͤrtigen Zuſtand des Patienten zu
richten hat. Und daher muß in der Vernunfft-
lehre der Geſchichte, dieſer Begriff allerdings ſo
weitlaͤufftig gefaſſet werden, daß er das Zukuͤnff-
tige unter ſich begreiffet.


§. 27.
Zuſammenhang der Willensmeinungen und
der Hiſtorie.


Wenn wir etwas wollen, ſo betrifft es alle-
mahl etwas zukuͤnfftiges: wir ſtellen uns nehmlich
mancherley moͤgliche Dinge vor, welche kuͤnfftig
zur Wircklichkeit gelangen koͤnnen: was uns nun
darunter am beſten gefaͤllt, dabey bleiben wir ſte-
hen, und daſſelbe wollen wir. Die Erkentniß
demnach, woraus unſer Wollen entſtehet, ge-
hoͤret
[16]Erſtes Capitel,
hoͤret zur hiſtoriſchen Erkentniß (§. 25.): und
man kan von der Beſchaffenheit unſers Wollens
nicht Rechenſchafft, wenigſtens nicht genaue Re-
chenſchafft geben, wenn man nicht von der Be-
ſchaffenheit der hiſtoriſchen Erkentniß unterrich-
tet iſt.


§. 28.
Viele Arten der Dinge, die von der hiſtori-
ſchen Erkentniß abhangen.


Jm gemeinen Leben iſt nicht ſowohl der all-
gemeine Begriff der Willensmeinungen, als viel-
mehr die Arten derſelben bekant, als da ſind:
Befehle, Geſetze, Verſprechungen, Pacte,
Drohungen, Verheiſſungen
u. ſ. w. Was
wir aber von den Willensmeinungen uͤber-
haupt gewieſen haben (§. 27.), daß ſie ſich auf
hiſtoriſche Saͤtze gruͤnden, und daß man von ih-
rer innerlichen Beſchaffenheit nichts erweiſen kan,
ohne die hiſtoriſche Erkentniß voraus zu ſetzen,
das gilt auch von allen ihren angeſuͤhrten Arten.
Man kan nehmlich die Beſchaffenheit der Befeh-
le, Geſetze, Verſprechungen, Pacten, Verheiſ-
ſungen, Drohungen u. ſ. w. nicht recht einſehen,
wenn nicht die Beſchaffenheit der hiſtoriſchen Er-
kentniß vorher in ein helles Licht geſetzet worden.


§. 29.
Rechtsgelahrheit und hiſtoriſche Erkentniß
werden verglichen.


Da die Jurisprudentz mit lauter buͤrgerli-
chen
Geſetzen zu thun hat, welche, wie offenbar,
Geſetze, und mithin Willensmeinungen ſind; die
Erkent-
[17]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
Erkentniß und tieffere Einſicht aber der Willens-
meinungen von der hiſtoriſchen Erkentniß abhan-
get (§. 27.): ſo iſt nicht zu zweifeln, daß die
Rechtsgelahrheit aus einer gruͤndlichen Abhand-
lung der hiſtoriſchen Erkentniß einen betraͤcht-
lichen Vortheil erhalten werde. Man wird wi-
der dieſen Beweis nichts einwenden koͤnnen, man
muͤſte denn glauben, daß die Beſchaffenheit der
hiſtoriſchen Erkentniß an und vor ſich, auch oh-
ne Regeln, ſo ſo klar und bekant waͤre, daß es
keiner Anweiſung und beſondern Wiſſenſchafft da-
bey beduͤrffe; welches aber durch dieſe gantze Ab-
handlung wird widerlegt werden: worinnen die
Lefer gar vielerley Betrachtungen antreffen wer-
den, welche bis hieher noch niemahls ſind gemacht
worden, und wodurch man vielen Vorurtheilen
begegnen kan, die ſich bey der hiſtoriſchen Erkent-
niß aus Ermangelung der Regeln eingeſchlichen
haben.


§. 30.
Weiſſagungen ſind eine Art von Geſchichten.


Gewiſſe und zuverlaͤßige Nachrichten von
kuͤnfftigen Dingen, die ſich aber doch nicht durch
Schluͤſſe aus dem gegenwaͤrtigen erweiſen laſſen,
werden Weiſſagungen oder Prophezeyungen
genennet. Es iſt klar, daß dieſelben ſowohl auf
Seiten deſſen, der ſie vortraͤgt, als auf Seiten
deſſen, der dadurch benachrichtiget wird, zur hi-
ſtoriſchen Erkentniß gehoͤren (§. 14. 25.). Je
begieriger der Menſch iſt, kuͤnfftige Dinge zu wiſ-
ſen, deſto mehr und lieber beſchaͤfftiget er ſich mit
BWeiſ-
[18]Erſtes Capitel,
Weiſſagungen, wenn dergleichen vorhanden ſind.
Man ſiehet ſolches nicht allein daraus, daß ſo gar
die eitelſten Ausſpruͤche von kuͤnfftigen Dingen,
welche gar nicht den ehrwuͤrdigen Nahmen der
Weiſſagungen verdienen, dennoch bey vielen Per-
ſonen eine groſſe Aufmerckſamkeit verurſachen;
ſondern auch daraus, daß die wahren Weiſſagun-
gen, welche in der heiligen Schrifft anzutreffen
ſind, faſt bey allen Leſern eine Begierde erwecken,
noch mehr, und die Sachen umſtaͤndlicher zu
wiſſen, als da ſtehet. Was ſich aber auch an de-
nen ſo genanten Auslegungen vor Fehler befin-
den, iſt mehr als zu bekant. Wollte man nun
ſowohl einen unzeitigen Vorwitz zu daͤmpfen, als
auch, wo es moͤglich, tieffer in den Verſtand der
goͤttlichen Weiſſagungen einzudringen Regeln er-
finden; ſo koͤnnen dieſe nirgends anders, als aus
den allgemeinen Eigenſchafften der hiſtoriſchen Er-
kentniß hergeleitet werden. Ohngeachtet wir al-
ſo hier nicht von den Weiſſagungen handeln wer-
den, ſo iſt doch zuverlaͤßig abzuſehen, daß die vor-
zutragenden Lehren auch dem exegetiſchen Capitel,
von Weiſſagungen, nicht geringen Nutzen ver-
ſchaffen werden.


§. 31.
Fabeln und Geſchichte werden mit einan-
der verglichen.


Fabeln ſind eine Nachahmung der Geſchich-
te, welche die Einbildungskrafft, oder vielmehr
die Dichtkunſt hervorbringet. Bey ihnen iſt die
Wahrſcheinlichkeit dasjenige, was bey den
Geſchich-
[19]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
Geſchichten die Wahrheit iſt, nehmlich ihre vor-
nehmſte Tugend. Jm uͤbrigen ſind ſie denen Ge-
ſchichten aͤhnlich. Die ungeſchickten Fabeln, wel-
che dann und wann zum Vorſchein kommen ſind,
haben Gelegenheit gegeben, auf Regeln zu den-
cken, wornach man Fabeln verfertigen, oder we-
nigſtens beurtheilen koͤnte. Es iſt aber nicht zu
zweifeln, daß durch die Erklaͤrung der wahren
Geſchichte, oder der eigentlichen hiſtoriſchen Er-
kentniß auch die Beſchaffenheit der Fabeln erlaͤu-
tert werde. Und wie leicht pflegt nicht auch de-
nen wahren Geſchichten etwas fabelhafftes ange-
klebet zu werden? Wie offte beſchuldiget man
nicht auch wahrhaffte Geſchichte eines fabelhafften
Anſehens? alles dieſes macht die Erkentniß der
hiſtoriſchen Wahrheit uͤberhaupt noͤthig.


§. 32.
Einfluß der Hiſtorie in die Beredſamkeit.


Die Beredſamkeit hat mit lauter eintzelnen
Wahrheiten, oder mit Geſchichten zu thun. Die
drey Arten der Reden, demonſtratiuum, deli-
beratiuum
und iuridiciale, welche die alten Leh-
rer der Beredſamkeit geſetzt haben, gehen mit
nichts anders um, als mit hiſtoriſchen Saͤtzen.
Doch laͤugne ich nicht, daß ſowohl alte, als be-
ſonders unſere neuen Redner, ihre Beredſamkeit
auch bey allgemeinen Wahrheiten angewendet
haben; ja daß man ſie jetzo hauptſaͤchlich dabey
anwendet. Carneades hat zu Rom die Gerech-
tigkeit an dem einem Tage mit allgemeinem Beyfall
gelobt, und ſie den andern Tag wieder laͤcherlich
B 2gemacht.
[20]Erſtes Capitel,
gemacht. Doch wenn man auf den Vortrag die-
ſer Redner genauer achtung giebt, ſo wird man
bald mercken, daß, indem ſie die allgemeinen
Wahrheiten lebhafft vortragen wollen, ſie uͤberall
Metaphorn, Gleichniſſe, Exempel brauchen, Per-
ſonen redend einfuͤhren, und die Eigenſchafften
der Dinge in beſondere Weſen verwandeln; wel-
ches alles aus der hiſtoriſchen Erkentniß genom-
men iſt. Wann daher die Beredſamkeit, auch
wo ſie mit allgemeinen Wahrheiten umgehet, ſich
dennoch mit der hiſtoriſchen Erkentniß beſchaͤffti-
get; ſo kan man wohl ſicher uͤberhaupt ſchluͤſſen,
daß die hiſtoriſche Erkentniß in dieſelbe den groͤ-
ſten Einfluß habe. Und dieſes wuͤrde ſich noch
deutlicher zeigen, wenn man in der Redekunſt
nicht wie bisher, bloß die Beſchaffenheit der groͤſ-
ſern
Theile einer Rede, ſondern auch die klei-
nern,
ja die kleinſten, in Betrachtung zu ziehen
anfinge.


§. 33.
Einfluß der Hiſtorie in die Poeſie.


Eben die Bewandniß hat es mit den Ge-
dichten.
Sie ſind theils gemahlte Geſchichte,
theils gemahlte Fabeln, theils aus beyden zu-
ſammengeſetzt. Die poetiſche Mahlerey ſelber
beſtehet aus einer Menge kleiner Umſtaͤnde und
Begebenheiten, welche augenſcheinlich zur Hiſto-
rie gehoͤren. Wollte man in einem Gedichte
allgemeine Wahrheiten vortragen, ohne ei-
ne Menge von Geſchichten zu Huͤlffe zu
nehmen, ſo wuͤrde ſolches gewiß auſſer den Reim
und
[21]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
und das Sylbenmaaß nichts Poetiſches an ſich
haben. Kurtz, die Gedichte gehoͤren nicht allein
zur hiſtoriſchen Erkentniß, ſondern halten auch ſo
gar das allerfeinſte von der hiſtoriſchen Erkent-
niß in ſich.


§. 34.
Einfluß der Hiſtorie in die Critick.


Die Critick wird in ſo mannigfaltiger Be-
deutung genommen, daß es ſchwer werden wird,
dem Worte iemahls eine beſtimte Bedeutung zu
verſchaffen: Man mag ſie aber in einem ſo weit-
laͤufftigen
Verſtande nehmen, als man immer
will, ſo erſtrecket ſich doch ihre Herrſchafft nicht
weiter, als uͤber hiſtoriſche Dinge. Hingegen
mag man auch eine ſo enge Bedeutung dieſes
Wortes annehmen, als man nur will, ſo wird
man doch allemahl mit einem Stuͤcke der hiſtori-
ſchen Erkentniß zu ſchaffen haben. Man urtheilt
nehmlich uͤber hiſtoriſche und poetiſche Schrifften,
uͤber Reden, ob ſie nach der Sprachkunſt unta-
delhafft; ob ſie vollſtaͤndig, ob ſie ſchoͤn geſchrie-
ben? ob ſie dem vorgeblichen Verfaſſer zukom-
men, oder untergeſchoben ſind? ob ſie gantz, oder
mit Fehlern in unſere Haͤnde gekommen? und
wie dieſen abzuhelffen ſey? Alles dieſes iſt hiſto-
riſch; und eine bloſſe Anwendung der allgemei-
nen Beſchaffenheit hiſtoriſcher Dinge auf eintzelne
Faͤlle. Daher iſt klar, daß die Critick uͤberhaupt,
und in allen ihren Theilen, durch die allgemeinen
Regeln der hiſtoriſchen Erkentniß muͤſſe erkannt,
erklaͤret und bewieſen werden: woferne man nicht
B 3unter
[22]Erſtes Capitel,
unter dem Titul der Critick ein Befugniß, den
andern nach ſeinem Duͤnckel und Eigenſinn zu ta-
deln, und mit einer alten Schrifft nach ſeinem
Gefallen zu ſchalten und zu walten, verſtehen
und einfuͤhren will.


§. 35.
Einfluß der Hiſtorie in die Gottes-
gelahrheit.


Die Gottesgelahrheit hat mit der hiſto-
riſchen Erkentniß mehr zu ſchaffen, und iſt mit
derſelben genauer verbunden, als man ſich gemei-
niglich einbildet. Jhr Grund iſt die heilige
Schrifft. Betrachtet man den Jnhalt derſelben,
ſo faͤllt es gleich in die Augen, daß eine recht groſſe
Menge derſelben Geſchichte ſind. Gantze Buͤcher
werden deswegen ſchlecht weg darinnen die hiſtori-
ſchen
Buͤcher genennet. Die Prophezeyungen
ſowohl altes als neuen Teſtamentes, ſind ohne
Zweifel denen hiſtoriſchen Wahrheiten beyzuzeh-
len. Jm uͤbrigen finden wir durchgaͤngig die
ſchaͤrfſten Geſetze, Ermahnungen, Verheiſſungen
und Drohungen, welche mit der Hiſtorie eine ge-
naue Verbindung haben (§. 28.). Das Ev-
angelium
iſt gleich ſeiner Benennung nach, ei-
ne gute Bothſchafft, oder eine erfreuliche
Nachricht.
Selbſt die Gebete und Bitten, der-
gleichen in der Schrifft in Menge vorkommen,
gehoͤren zur hiſtoriſchen Erkentniß (§. cit.). Kan
man alſo wohl zweifeln, daß eine genauere Er-
kentniß von der Beſchaffenheit der hiſtoriſchen Er-
kentniß uͤberhaupt, eine gute Einleitung zum Ver-
ſtande
[23]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
ſtande ſehr vieler Stellen der heiligen Schrifft ge-
ben werden? oder wird dieſelbe nicht vielmehr
hoͤchſt noͤthig ſeyn?


§. 36.
Was die allgemeine Betrachtung der hiſtori-
ſchen Erkentniß denen Geſchichten
nutzet?


Endlich und vornehmlich, die Erkentniß der
Geſchichte ſelbſt beruhet zwar hauptſaͤchlich auf
vielen und guten Urkunden und Nachrichten; und
wenn ſie darinnen klar und deutlich vorgetragen
werden, ſo kan man ſie gar wohl erlernen und
verſtehen, ohne eben mit einer allgemeinen Ein-
leitung zur hiſtoriſchen Erkentniß verſehen zu ſeyn.
Allein, haben wir auch allemahl die Nachrichten
in der Beſchaffenheit, wie ſie in Abſicht auf den
bloſſen Unterricht beſchaffen ſeyn ſollten? Finden
wir nicht oͤffters an ſtatt der trockenen Erzeh-
lungen, woraus eigentlich die Geſchichte erlernet
werden ſollten, nur ſinnreiche Beſchreibungen
und Nachrichten, woraus die wahre und eigent-
liche
Beſchaffenheit der Sache, gleichſam als
aus einer Huͤlle erſt ausgewickelt und ausgelegt
werden muß? finden wir nicht oͤffters ſtatt deut-
licher
Nachrichten nur dunckele? und erlernen
wir nicht vieles ſo gar nur aus Spuren? Bey
allen dieſen Stuͤcken ſind gewiß allgemeine Re-
geln der hiſtoriſchen Erkentniß noͤthig; woferne
man ſie unter einander verſtehen, und vor ſich
ſelbſt nicht nach einem bloſſen Gutduͤncken verfah-
ren will. Erfordert nicht ferner die Gewißheit
B 4der
[24]Erſtes Capitel,
der hiſtoriſchen Erkentniß uͤberhaupt, eine allge-
meine Betrachtung? Und die hiſtoriſche Wahr-
ſcheinlichkeit
wird vollends niemahls eine ver-
nunfftmaͤßige Geſtalt bekommen, wenn man ſie
nicht aus einer allgemeinen Betrachtung der hi-
ſtoriſchen Erkentniß herleitet? Unſere Ausfuͤh-
rung davon wird ſolches augenſcheinlich beweiſen.
Wir verlangen daher gar nicht, die Geſchichte,
die man bisher ohne alle Kunſtlehren erkannt hat,
durch unſere Wiſſenſchafft in weit ausſehende ſpe-
culationes
zu verwandeln. Wir wollen nur das
Schwere, und Dunckele, woruͤber die Gelehrten
einander bisher gar nicht haben bedeuten koͤnnen,
deutlich machen. Dieſes kan aber nicht geſche-
hen, ohne die gantze Materie bis auf den Grund
unterſucht zu haben.


§. 37.
Weitlaͤufftiger Umfang der hiſtoriſchen
Erkentniß.


Da ſich nun aus der Natur der Rechtsge-
lahrheit (§. 29.), der Beredſamkeit (§. 32.),
der Poeſie (§. 33.), der Fabeln (§. 31.), der
Critick (§. 34.), der Weiſſagungen (§. 30.), der
Gottesgelahrheit (§. 35.), der Geſchichte (§. 37.),
ja auch der Artzneykunſt (§. 26.) veroffenbaret,
wie weitlaͤufftig ſich die hiſtoriſche Erkentniß, un-
ter vielerley Nahmen, und Geſtalten, mittelbar
und unmittelbar, erſtrecke; ſo laͤſſet ſich leichte
ermeſſen, daß alle eintzelne Puncte der hiſtori-
ſchen Erkentniß einer beſondern und gruͤndlichen
Betrachtung wuͤrdig ſind; weil jeder Punct, wenn
er
[25]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
er gleich in einen oder den andern Theil unſerer
Erkentniß und Gelahrheit keinen Einfluß haben
ſollte, oder keinen zu haben ſcheinen moͤchte, den-
noch in einem andern ſeinen offenbaren Nutzen
haben wird. Woraus ſich die Nutzbarkeit der
gantzen Wiſſenſchafft von der hiſtoriſchen
Erkentniß
von ſelbſten zu Tage leget.


§. 38.
Die Regeln der hiſtoriſchen Erkentniß ge-
hoͤren zur Vernunfftlehre.


Da ſich unſer Verſtand ſo oͤffters, ob wohl
unter vielerley Titeln, mit der hiſtoriſchen Er-
kentniß beſchaͤfftiget (§. 37.); ſo wird derſelbe,
wie bey andern oͤffters wiederhohlten Handlun-
gen, alſo auch hier, nach gewiſſen, ob gleich
nicht bekannten Regeln verfahren. Man kan aber
dieſe Regeln, ſo, wie mit den Regeln der allge-
meinen
Erkentniß ſchon geſchehen, deutlich er-
klaͤren, aus einander herleiten; und mithin in ei-
ne Wiſſenſchafft bringen. Da nun dasjenige al-
les zur Vernunfftlehre gehoͤret, was unſer Ver-
ſtand bey Erkentniß der Wahrheit zu beobachten
hat: ſo ſind die Regeln, mit der hiſtoriſchen Er-
kentniß gebuͤhrend umzugehen, ein Stuͤck der
Vernunfftlehre.


§. 39.
1. Anmerckung.


Wenn aber die Wiſſenſchafft der hiſtoriſchen
Erkentniß vor ein Stuͤck der Vernunfftlehre aus-
gegeben wird, ſo iſt dabey, um allen Mißver-
ſtand zu vermeiden, mancherley zu beobachten.
B 5Denn
[26]Erſtes Capitel,
Denn ſo iſt 1. gewiß, daß vom Ariſtotele an bis
auf die jetzigen Zeiten, in der Vernunfftlehre
hauptſaͤchlich auf das Lehrgebaͤude der allgemei-
nen
Wahrheiten geſehen worden; wie ſolches or-
dentlich und gruͤndlich eingerichtet werden moͤchte;
und daher iſt darinnen von der Beſchaffenheit der
hiſtoriſchen Erkentniß kein ausfuͤhrlicher Unter-
richt, ja faſt nicht die geringſte Nachricht gegeben
worden; als welches nach dem Zuſtande der alten
Philoſophie nicht einmahl moͤglich war. 2. Es
hat auch unſer Lehrſatz nicht die Meinung, daß
die bisherige Verfaſſung der Vernunfftlehre ge-
aͤndert, und dieſe Abhandlung, die wir vor uns
nehmen, mit jener vermengt werden ſolle. Selbſt
dieſe Wiſſenſchafft ſetzet die Logick im bisherigen
Umfange genommen, voraus: nicht allein, daß
man durch dieſelbe geſchickt werde, die Beweiſe
in dieſer Kunſt beſſer zu faſſen; ſondern ſie legt
auch die Begriffe und Saͤtze der Vernunfftlehre
zum Grunde: indem faſt alles, was in der hiſto-
riſchen Erkentniß kuͤnſtlich, und denen Menſchen
vor den Thieren eigen iſt, aus der allgemeinen
Erkentniß herruͤhret; mit welcher wir ſchon ver-
ſehen ſeyn muͤſſen, wenn wir geſchickte Zuſchauer
der vorgehenden Veraͤnderungen, Begebenhei-
ten und Geſchichte abgeben wollen.


§. 40.
2. Anmerckung.


Es iſt aber nichts gantz neues, daß man ſich
einen weitlaͤufftigern Begriff von der Vernunfft-
lehre
macht, als ſich unſere Vorfahren gemacht
haben.
[27]von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt.
haben. Leibnitz hat ſchon den Gedancken ge-
habt, daß, wenn man das Recht der Natur
in der buͤrgerlichen und Staatsrechtslehre anwen-
den wollte, ſo muͤſte eine von der damahligen
gantz unterſchiedene Vernunfftlehre noch erfun-
den werden. So hat man auch wahrgenommen,
daß der Begriff des Wahrſcheinlichen eine
viel groͤſſere Ausdehnung verdiene, als dieſes Ca-
pitel ſonſt in der Vernunfftlehre gehabt. Unter-
deſſen wenn auch dieſe und andere Stuͤcke noch ſo
weitlaͤufftig abgehandelt werden, ſo wird doch die
Vernunfftlehre, in ihren bisherigen engern Ver-
ſtande genommen, an ihrem Werthe nichts ver-
lieren, ſondern ſie wird in Anſehung der uͤbrigen
Theile allemahl das ſeyn, wovor des Euclides
Elemente, in Anſehung der gantzen auch hoͤhern
Geometrie, angeſehen werden.



Zweytes Capitel,
von den
Begebenheiten der Coͤrper.


§. 1.
Coͤrper werden uns durchs Geſichte.


Wir werden durch unſere Sinne, beſonders
durch Geſichte, viele Dinge gewahr,
welche, ſo offte wir unſere Sinne darauf
richten wollen, allemal anzutreffen ſind: jedoch
ſind
[28]Zweytes Capitel,
ſind ſie nicht von einerley Dauer. Die ſo ge-
nannten Weltcoͤrper ſind die allerdauerhaffte-
ſten: als welche, weil Menſchen auf der Erde
ſind, gedauert haben; auſſer daß die Sternſe-
her einen und andern Stern vermiſſen, der ſonſt
geſehen worden. Die Cometen hat man, weil
ſie eben zu geſchwinde erſcheinen, und wieder
unſichtbar werden, lange Zeit nicht vor Weltcoͤr-
per angeſehen. Auf unſerer Erde ſind theils eben
ſo alte Stuͤcke anzutreffen; theils aber, beſonders
die kleinern, ſehen wir hauffenweiſe entſtehen und
wieder vergehen.


§. 2.
Hauptſaͤchlich aber durchs Gefuͤhl vor-
geſtellt.


Ohngeachtet wir faſt alle Coͤrper durch die
Augen entdecken, ſo iſt es doch eigentlich das Ge-
fuͤhl,
wodurch wir von der Exiſtentz der eintzeln
Coͤrper auſſer uns, verſichert werden. Wenn
wir in der Daͤmmerung etwas ſehen, oder zu ſe-
hen vermeinen, ſo gehen wir hin und wollen den
geſehenen Coͤrper auch anfuͤhlen, um uns dadurch
von ſeinem Daſeyn zu verſichern. Finden wir
nichts das wir greiffen koͤnnten, ſo ſagen wir: Es
ſey nichts da. Hingegen wenn wir etwas fuͤh-
len, wenn wir es gleich nicht ſehen, wie im ſtock-
finſtern, ſo zweifeln wir nicht, daß ein Coͤrper
vorhanden ſey? und das Sehen, wenn es hin-
zukomt, hilfft uns nur genauer zu erkennen, was
es vor ein Coͤrper ſey?


§. 3.
[29]von den Begebenheiten der Coͤrper.

§. 3.
Das Daſeyn eines entfernten Coͤrpers wird
geſchloſſen.


Da nun das Gefuͤhl der Sinn iſt, wodurch
wir eigentlich von dem Daſeyn eines Coͤrpers ver-
ſichert werden; und wir dennoch ungemein viele
Dinge vor wuͤrckliche Coͤrper halten, die wir nur
bloß geſehen, nie aber beruͤhrt haben, ſo folgt,
daß wir die Exiſtentz deſrelben nicht ſowohl un-
mittelbar durch die Sinne, als vielmehr durch
einen Vernunfftſchluß, obgleich dunckeln, erken-
nen, deſſen Beſchaffenheit wir genauer betrach-
ten muͤſſen. Nehmlich wir erfahren, daß Din-
ge, die wir von ferne ſehen, auch koͤnnen ange-
ruͤhret und gefuͤhlet werden, wenn wir nur nahe
genug hinzu kommen. Dieſes geſchiehet taͤglich
und ſtuͤndlich ſo offte, daß wir bey nahe eine all-
gemeine Regel daraus machen koͤnnen: was wir
uns durch die Augen vorſtellen, das kan auch,
wenn wir nahe genug kommen, beruͤhret werden;
und iſt alſo ein Coͤrper. Die Beſchaffenheit ei-
nes bloſſen Scheines macht, daß man dieſe Er-
fahrungsregel nicht ſo ſchlecht weg vor wahr-
hafftig allgemein
annehmen kan. Dem Schei-
ne fehlet es gemeiniglich an der Dauerhafftig-
keit.
Wenn wir alſo etwas in der Ferne ſehen,
und ſolches beſtaͤndig und lange ſehen, ſo ſchluͤſ-
ſen wir daraus, daß es ein beſonderer und wahr-
haffter Coͤrper ſeyn muͤſſe; wie an des Mondes
und uͤbriger Planeten und Sterne Wircklichkeit
niemand zweiffelt.


§. 4.
[30]Zweytes Capitel,

§. 4.
Jrrthum in Anſehung des Daſeyns eines
Coͤrpers.


Man kan ſich aber auch durch die Augen, oder
vielmehr durch den mit dem Geſichte verknuͤpfften
Schluß, betruͤgen laſſen; daß man etwas vor ei-
nen Coͤrper und etwas fuͤhlbares haͤlt, welches
es doch nicht iſt. Ein gantz Einfaͤltiger kan doch
wohl die Perſonen, die er im Spiegel ſiehet, vor
wirckliche Perſonen anſehen; und zu ihnen nahen
wollen. Wenn man ſonſten ſo offte Ruͤſtungen
und Kriegsheere in der Lufft geſehen hat; ſo mag
ſolches von einer zwiefachen Wirckung der Ein-
bildungskrafft hergeruͤhret haben, die ſich theils
den wahrhafften Schein anders gedichtet, als er
an ſich geweſen, theils aber, nach den nicht all-
gemeinen Foͤrderſatz (§. 3.) dieſen Schein in ei-
nen wircklichen Coͤrper verwandelt hat.


§. 5.
Seyn und Schein eines Coͤrpers.


Da wir nun Vorſtellungen durch die Augen
von Sachen haben koͤnnen, die nicht fuͤhlbar, und
mithin nicht Coͤrper ſind (§. 2.); ſondern nur ei-
ne Wirckung anderer Coͤrper: ſo muͤſſen wir auch
in der Vorſtellung wircklicher Coͤrper den Schein
von dem Seyn unterſcheiden. Der Schein iſt
was uns von den Coͤrpern in die Augen faͤllet:
das Seyn, oder die Wircklichkeit der Coͤrper be-
ſtehet darin, daß er fuͤhlbar iſt. Die Beſchaf-
fenheit des Scheins iſt in der Optick auf das
treflichſte allbereit erklaͤret worden. Noch allge-
meiner
[31]von den Begebenheiten der Coͤrper.
meiner ſolches abzuhandeln und zu zeigen, wie
man auf den Verdacht des bloſſen Scheins kom-
men koͤnne, und ſolle, gehoͤret in die Theorie der
Phaͤnomenen, wie wir den Grundbegriff da-
von gelegt haben in der Philoſophia noua defi-
nitiua C. II. Def.


§. 6.
Unterſchied des Anblicks und Anſchauens.


Eine ſehr kurtze Vorſtellung, oder auch die
erſte Vorſtellung eines Coͤrpers durchs Geſicht,
wird ein Blick, oder Anblick genennet. Eine
fortgeſetzte Vorſtellung aber von coͤrperlichen Din-
gen durchs Geſicht, wird das Anſchauen ge-
nennet. Das Anſchauen iſt daher ein vielfacher
und ununterbrochener Anblick. Doch iſt ein groſ-
ſer Unterſchied, ob ich einen Coͤrper bloß erblicke,
oder ob ich ihn anſchaue.


§. 7.
Was die Ausſicht heiſſet?


Weil alles, wovon Stralen in unſere Augen
fallen, uns auch vorgeſtellet wird, und es offen-
bar iſt, daß zu gleicher Zeit uns gar viele Coͤr-
per in die Augen fallen; ſo wird uns auch durch
die Augen jedem Augenblick nicht ein Coͤrper, ſon-
dern gar viele vorgeſtellet. Auf einer Hoͤhe koͤn-
nen wir gar weit, auch mit unverwandten Augen
ſehen. Alle die Coͤrper, welche unſerm Auge auf
einmal vorgeſtellet werden, heiſſen eine Ausſicht
oder Proſpeckt.


§. 8.
[32]Zweytes Capitel,

§. 8.
Was es heiſſet: auf eine Sache ſehen?


Ohngeachtet wir uns jedem Augenblick einen
gantzen Proſpeckt, und mithin eine Menge Coͤr-
per vorſtellen (§. 7.), ſo iſt doch aus der Erfah-
rung bekannt, daß wir uns nur eines gewiſſen
Gegenſtandes, aus der gantzen Ausſicht, auf ein-
mahl bewußt ſeyn. Und dieſes iſt allemahl der-
jenige Coͤrper, von welchem die Stralen perpen-
diculaͤr auf unſere Sehe fallen. Man ſagt von
dieſem Theile der Ausſicht: man ſehe drauf.
Z. E. ich ſehe aufs Buch: ich ſehe jemanden auf
die Finger. Jngleichen, weil derſelbe Coͤrper zu
derſelben Zeit das vornehmſte von der gantzen
Ausſicht iſt; ſo pflegt man, wenn man ſagen ſoll,
was man ſiehet, nicht die gantze Ausſicht anzuge-
ben, ſondern nur das, was directe in unſere
Augen faͤllet.


§. 9.
Wie der erſte Anblick einer Sache be-
ſchaffen?


Der erſte Anblick eines Coͤrpers iſt nicht zu-
reichend, einen klaren Begriff davon in uns zu
erwecken. Die Erfahrung beweiſet ſolches zur
Gnuͤge. Man laſſe jemanden einen Blick durchs
Vergroͤſſerungsglaß auf einen Coͤrper thun, ſo
wird er nicht wiſſen, was er geſehen hat, ohn-
geachtet es gewiß iſt, daß er nicht allein eine neue
Ausſicht gehabt, ſondern auch einen gewiſſen Theil
des Coͤrpers insbeſondere erblickt hat. Ein an-
ders iſt, wenn ihm die Sache ſchon vorher bekannt
iſt;
[33]von den Begebenheiten der Coͤrper.
iſt; als in welchem Falle ein ſehr kurtzer, und ſo
zu reden, ein einiger Blick zureichen kan, einen
klaren Begriff zu erwecken. Wir reden aber je-
tzo nicht vom oͤffters wiederhohlten, ſondern vom
erſten Anblicke.


§. 10.
Warum das Anſchauen zu klaren Begrif-
fen noͤthig iſt?


Da wir durch das Anſchauen klare Begriffe
von den uns dargeſtellten Coͤrpern erlangen, wie
die taͤgliche Erfahrung lehret; ſolches aber durch
den erſten Anblick nicht geſchiehet (§. 9.); ſo muß
in der Wiederhohlung des Blicks der Grund lie-
gen, warum ein klarer Begriff endlich entſtehet
(§. 6.). Weil es uͤberhaupt beſſer iſt, wenn man
weiß, wie und warum eine Sache geſchiehet,
als wenn man bloß weiß, daß ſie geſchiehet: ſo
iſt freylich nicht undienlich, wenn man einſiehet,
was die Wiederhohlung des Blicks zur Hervor-
bringung eines klaren Begriffes beytraͤget. Nun
geſchiehet die gantze Erzeugung eines ſolchen Be-
griffes oͤffters in ſehr kurtzer Zeit, als in einer
halben Secunde und darunter. Weil nun die-
ſes zur Geſchwindigkeit im gedencken gehoͤret,
daß man eher oder langſamer mit einem klaren Be-
griffe fertig wird, ſo haben wir in unſerer Diſ-
ſertation, de celeritate inprimis cogitandi, un-
ter andern auch dieſes unterſuchen muͤſſen, wie
durch wiederhohlte Blicke ein klarer Begriff er-
zeugt werde? §. XVI.


C§. 11.
[34]Zweytes Capitel,

§. 11.
Wenn die Ausſicht deutlich erkannt wird.


Da uns anfangs durchs Geſicht allemahl ei-
ne gantze Ausſicht vorgeſtellet wird: ſo lernen wir
nach und nach die darinnen enthaltenen Coͤrper
von einander unterſcheiden; und erhalten auf ſol-
che Art einen deutlichen Begriff von der gan-
tzen Ausſicht. Denn indem wir auf dieſen oder
jenen Coͤrper insbeſondere ſehen, ſo erhalten wir
davon einen klaren Begriff (§. 7.); und zwar
auf eben die Art, wie es bey der gantzen Aus-
ſicht geſchiehet (§. 8.): nur daß wir zugleich be-
mercken, daß es nur ein Theil der gantzen Aus-
ſicht ſey. Dannenhero, wenn wir bald dieſen,
bald jenen Theil nach einander anſehen, und die
erlangten klaren Begriffe davon im Sinne behal-
ten, ſo wird die totalidee, oder der Begriff der
gantzen Ausſicht, deutlich.


§. 12.
Wenn der Stand gar zu offte veraͤndert
wird?


Wenn wir unſern Stand offte oder augen-
blicklich veraͤndern, ſo koͤnnen wir von den um-
ſtehenden Coͤrpern weder einen klaren noch deut-
lichen Begriff erlangen. Denn wenn wir unſern
Stand augenblicklich veraͤndern, ſo entſtehet auch
alle Augenblicke ein neuer Proſpeckt oder Aus-
ſicht: wie aus der Optick klar iſt; und wir koͤn-
nen auf jeden Proſpeckt nur einen Blick thun.
Dieſes iſt denn auch der erſte Anblick; daraus
aber kein klarer Begriff entſtehen kan (§. 9.).
Einen
[35]von den Begebenheiten der Coͤrper
Einen Coͤrper aber davon insbeſondere wahrzu-
nehmen, iſt nichts anders, als ſich davon einen
fernerweiten klaren Begriff machen, auſſer dem,
den man von der gantzen Ausſicht hat; welches
aber noch mehr Zeit erfordert. Folglich gehet es
nicht an, bey immerwaͤhrender Veraͤnderung ſei-
nes Standes, von den Sachen klare und deutli-
che Begriffe zu erlangen.


§. 13.
So erlangen wir keinen deutlichen Begriff.


Dieſen Satz beſtaͤtiget die Erfahrung: indem
wir bey ſehr geſchwinder Bewegung unſeres Kopfs
und mithin der Augen, nichts von den umſtehen-
den Sachen unterſcheiden. Doch vertragen
Sachen, die uns vorher ſchon laͤngſt bekannt ſind,
eine groͤſſere Geſchwindigkeit, als Sachen, die
wir zum erſten mahle ſehen. Man kan uͤbrigens
aus dieſer Regel eines theils erklaͤren, warum die
Menſchen in ihrer Kindheit ſo viel Zeit brauchen,
ehe ſie zu einer klaren Erkentniß der Coͤrper, die
um ſie herum ſind, gelangen. Ein Kind be-
kommt nehmlich theils durch die oͤfftere Veraͤnde-
rung des Orts, theils auch durch die Wendung
der Augen beſtaͤndig eine neue Ausſicht. Ehe
dieſe recht klar wird, entſtehet eine neue; und
das Anſehen der eintzeln Coͤrper veraͤndert ſich da-
bey zugleich; ſo daß ein Kind, nicht anders als
ſpaͤte, einen Coͤrper von dem andern unterſcheiden
lernet: als welches noch beſondere Umſtaͤnde er-
ſordert.


C 2§. 14.
[36]Zweytes Capitel,

§. 14.
Wie man eintzelne Coͤrper dencken lernet.
Erſte Art.


Die Theile einer Ausſicht hangen, dem Ge-
ſichte nach, alle an einander, ſie ſcheinen anfangs
aus einem Stuͤck zu ſeyn: aber nach und nach
lernen wir die Theile der Ausſicht (die wir an-
fangs nur als verſchiedene Theile eines Coͤrpers
anſahen,) als beſondere Coͤrper betrachten. Und die-
ſes geſchiehet zwar anfangs durch derſelben oͤfftere
Bewegung. Denn indem der Coͤrper bewegt wird,
ſo wird er uns bald bey dieſer, bald bey jener Sa-
che ſtehend, oder liegend, vorgeſtellt. Dieſer
Sachen werden endlich ſo viel, daß wir ſie ins-
geſamt vergeſſen; und uns die Sache gar ohne
derjenigen Verbindung vorſtellen, die ſie jedes
mahl, vermittelſt unſers Proſpeckts, mit ſo vielen
andern Sachen gehabt hat. Wir gedencken alſo
einen ſolchen Coͤrper beſonders; ohne gemeini-
glich zu wiſſen, wie eigentlich eine ſolche Jdee in
uns entſprungen ſey. Durch die bloſſen Augen
geſchiehet es nicht, weil wir niemahls einen Coͤr-
per gantz allein ſehen.


§. 15.
Wie man eintzelne Coͤrper dencken lernet.
Zweyte Art.


Eben dieſes erhalten wir auch, wenn die Sa-
che zwar ihren Ort nicht veraͤndert, wir aber die-
ſelbe bald aus dieſem, bald aus jenem Geſichts-
punckte anſehen. Denn jedesmahl wird ſie uns
mit andern Sachen, und in Verbindung mit
denſelben vorgeſtellt. Weil der Verbindungen
endlich
[37]von den Begebenheiten der Coͤrper.
endlich zu viel werden, ſo werden ſie auch endlich
alle vergeſſen; und wir lernen den Coͤrper vor
ſich, und als einen beſondern Coͤrper gedencken.


§. 16.
Einen Coͤrper uͤberſehen, und was eine
Seite ſey?


Die Coͤrper haben auſſer ihrer Oberflaͤche
auch ihre Dicke. Die Oberflaͤche iſt, wovon
Lichtſtralen auf unſer Auge zuruͤckprallen. Nach
der Natur des Lichts, welches in gerader Linie
fortgehet, und nach einer gewiſſen Regul zuruͤck-
prallet, koͤnnen von der gantzen Oberflaͤche nicht
auf einmahl Strahlen auf unſer Auge fallen, ſon-
dern nur von einem Stuͤcke. So weit als auf
einmahl Lichtſtrahlen von dem Coͤrper in unſere
Augen fallen: ſo weit uͤberſehen wir ihn: und die
Oberflaͤche, die wir auf einmahl uͤberſehen koͤn-
nen, nennen wir eine Seite: dergleichen alſo
ein Coͤrper ſehr viele hat.


§. 17.
Vom Sehepunckte.


Der Ort, den unſer Auge bey Beſchauung
eines Coͤrpers einnimmt, heiſſet der Geſichts-
punckt:
oder der Sehepunckt. Dieſer hat
auf dreyerley Weiſe einen Einfluß, daß uns ein
Coͤrper ſo, und nicht anders vorgeſtellet wird:
1. Durch die Entfernung von der Sache, daß
ſie nahe oder ferne iſt: 2. Durch den Stand
des Auges, daß nehmlich dem Auge juſt dieſe
Seite des Coͤrpers, und keine andere entgegen
ſtehet. 3. Durch die Materie, welche zwi-
C 3ſchen
[38]Zweytes Capitel,
ſchen dem Auge und dem Objeckt iſt, als wo-
durch die Strahlen auf mancherley Weiſe nicht
ohne Veraͤnderung des daraus entſtehenden Bil-
des, pflegen gebrochen zu werden. Von dieſer
Art der hiſtoriſchen Erkentniß ſind wir freylich
ſchon laͤngſt aus der Optick treflich verſehen.
Nur muͤſſen wir hie und da deutliche Begriffe
noch ſuchen, damit man allgemeinere Begriffe
abſtrahiren kan, die ſich auch auf Geſchichte, die
nicht ſichtlich ſind, anwenden laſſen.


§. 18.
Wie ein und mehrere Coͤrper vermengt
werden?


Wenn ein Coͤrper B eben die Empfindung
bey uns verurſachet, welche ſchon vorher ein Coͤr-
per A bey uns hervorgebracht hat; ſo halten wir
beydes vor einen Coͤrper. Es kan nehmlich ent-
weder wircklich eben derſelbe ſeyn, oder es kan
auch ein anderer ſeyn, den wir aber durch einen
Jrrthum vor den vorigen halten. Es iſt aber
leicht zu ermeſſen, wie es anzufangen ſey, daß
wir nicht aus Jrrthum zwey Coͤrper vor einen
halten, oder auch, wie es manchmal zu geſchehen
pflegt, einen einigen Coͤrper vor zwey ver-
ſchiedene Coͤrper halten.
Die Lehre von der
Aehnlichkeit giebt Licht genug in dieſer Mate-
rie; daher wir uns dabey nicht auf halten wollen.


§. 19.
Wir ſehen keinen Coͤrper allein?


Wir ſehen weder auf der Erde, noch auch in
der Hoͤhe jemahls einen Coͤrper allein: ſondern
es
[39]von den Begebenheiten der Coͤrper.
es wird allemahl anſcheinen, als wenn er von an-
dern Coͤrpern umgeben waͤre. Es ſtehet z. E.
ein Baum in einer ziemlichen Entfernung von
uns; hinter demſelben aber eine weiſſe Wand:
ſo wird es ſcheinen, als wenn er von der Wand
umgeben waͤre, oder als ob er in der Wand ſtuͤn-
de: ingleichen wenn hinter ihm eine groſſe Ebene
iſt, dergeſtalt, daß ich hinter ihm und auf der
Seite nichts als den Himmel ſehe, ſo wird es
ſcheinen, als ob er von dem Himmel umgeben
waͤre; woraus die Poetiſche, oder vielmehr recht
ſinnliche
Redensart entſtanden iſt, daß die ho-
hen Baͤume ihren Gipfel bis in die Wolcken
ſtrecken.


§. 20.
Gedencken aber doch eintzelne Coͤrper allein?


Wir haben aber auch von vielen Coͤrpern ſol-
che Vorſtellungen, daß wir ſie auſſer irgend einer
Verbindung mit umſtehenden Coͤrpern betrachten.
Eine Bildſaͤule z. E. ſtelle ich mir gantz allein vor,
ohne denen umſtehenden Dingen, womit man ſie
doch, nach dem (§. 19.) verbunden geſehen. Eben
ſo ſtellet man ſich alle bekannte Perſonen vor, oh-
ne die Sachen ſich mit vorzuſtellen, die um ſie
herum geſtanden haben, zu der Zeit, da wir ſie
haben kennen lernen.


§. 21.
und wie ſolches zugehet?


Da wir uns Coͤrper auſſer der Verbindung
mit andern umſtehenden gedencken (§. 20.); dem
bloſſen Augenſchein aber nach kein Coͤrper erkannt
C 4wird,
[40]Zweytes Capitel,
wird, ohne daß er von andern umgeben ſeyn ſoll-
te (§. 19.): ſo koͤnnen ſolche Vorſtellungen von
Coͤrpern, auſſer aller Verbindung, keine bloſſe
ſinnliche Vorſtellungen ſeyn: ſondern es muß noch
eine andere Wuͤrckung der Seele oder des Ver-
ſtandes dazu behuͤlflich ſeyn. Wie es nun ge-
ſchehe, iſt zum theil ſchon (§. 14. 15.) gezeiget
worden. Es kan aber auch etwas von Schluͤſ-
ſen
daran Antheil nehmen. Z. E. ich ſehe beym
Eintritt in das Zimmer jemanden mitten im Zim-
mer ſtehen; ſo werde ich nach der Beſchaffenheit
des Sehens (§. 19.) mir ihn vorſtellen, wie er
von der Wand, die hinter ihm iſt, umgeben
wird, oder, als ob er in der Wand ſtuͤnde. Den-
noch wird niemand ſo urtheilen (nehmlich wer ſei-
nes Geſichtes von Kindheit an maͤchtig geweſen
iſt,), ſondern ſo gleich, wie man ſpricht, ſehen,
daß er nicht an der Wand, ſondern mitten im
Zimmer ſtehe. Jn der That aber iſt dieſes kein
bloß ſinnliches Urtheil, das jeder machen muͤſte,
wenn er auch gleich nur erſt ohnlaͤngſt zu ſehen an-
gefangen haͤtte: Sondern theils giebt uns das
durch die Uebung erlangte Augenmaaß, wie weit
wir von der Perſon, und wie weit wir von der
Wand hinter ihm entfernet ſind, Gelegenheit zu
ſchluͤſſen, daß er mitten in dem Zimmer ſtehe:
theils da es eine andere Ausſicht giebt, nachdem
eine Perſon nahe oder ferne von der Wand iſt,
wegen des verſchiedenen Schattens, (welches wir
eben erſt aus der Erfahrung lernen); ſo ſchluͤſſen wir
auch auf dieſe Art den wahren Ort eines Coͤrpers,
der zwar frey ſtehet, aber doch nach dem bloſſen
Geſichte,
[41]von den Begebenheiten der Coͤrper.
Geſichte, von andern, obgleich entfernten, um-
geben wird. Eben ſo gehet es zu mit den Coͤr-
pern, als Bergen, Thuͤrmen, die wir ſchon
in der Weite, da ſie noch eine gantz andere Ge-
ſtalt, als in der Naͤhe haben, erkennen. Wel-
che Wuͤrckung der Seele von uns iſt erklaͤret
worden in den Erlangiſchen gelehrten Anzei-
gen
1750. No. XLIX. LI. unter dem Titul: Die
Gedancken von ferne.


§. 22.
Ort, Lage und Stand der Coͤrper.


Der Ort eines Coͤrpers beſtehet darinne, daß
er andern ſicht- und fuͤhlbaren Coͤrpern nahe oder
ferne iſt. Woraus dann folget, 1. daß wir je-
den Coͤrper an einem gewiſſen Orte ſehen; 2. weil
wir aber eintzelne Coͤrper auch ohne denen, die ſie
umgeben, gedencken (§. 14. 15. 21.); ſo lernen
wir auch die eintzeln Coͤrper auſſer ihren Ort ge-
dencken. Mithin 3. koͤnnen wir ſie auch in Ge-
dancken an einen andern Ort verſetzen, welches
einen Theil der Dichtkunſt ausmacht. Der
Ort liegender Coͤrper heiſt die Lage, gleichwie
der Ort ſtehender oder wandelnder Coͤrper, der
Stand.


§. 23.
Vom Anſehen und Geſtalt der Coͤrper.


Die Vorſtellung eines Coͤrpers durch die Au-
gen, heiſſet das Anſehen deſſelben. Die Vor-
ſtellung, welche ein Coͤrper mit Beyhuͤlffe derer,
die ihn umgeben, verurſachen, heiſſet die Geſtalt.
Dieſe Definition, welche von der gemeinen Er-
C 5klaͤrung
[42]Zweytes Capitel,
klaͤrung allerdings abgehet, hat dennoch ihren gu-
ten Grund; nehmlich in demjenigen, was (§. 19.)
gelehret worden, und kommt mit denen gemeinen
Urtheilen der Menſchen genau uͤberein. Wir ge-
ben z. E. auf nichts ſo ſehr achtung, als auf die
Geſtalt der Menſchen: Wenn aber ſehen wir
wohl eines Menſchen Angeſicht, ohne daß die um-
ſtehenden Sachen in das Bild deſſelben einen Ein-
fluß haben ſollten? Wie aͤndert es nicht gleich die
Geſtalt des Geſichts, nachdem die Haare beſcho-
ren, oder aber haͤuffig vorhanden ſind: Uns hilfft
der Schmuck, womit der Kopf gezieret wird,
wenn die umſtehenden Dinge keinen Einfluß in
die Geſtalt der Dinge haben. Doch gegenwaͤr-
tiger Abhandlung wegen, kan man ebenfalls An-
ſehen und Geſtalt mit einander vermengen, wenn
anders jemahls eine Vermiſchung zweyer Begrif-
fe unſchaͤdlich ſeyn kan.


§. 24.
Woraus die Geſtalt beſtehet?


Wenn wir aber etwas genauer achtung ge-
ben, was in dem Begriffe des Anſehens oder der
Geſtalt eines Coͤrpers enthalten ſey, ſo werden
wir finden, daß uns theils die Figur, theils die
Farben unter dieſen Nahmen vorgeſtellet werden.


§. 25.
Die Groͤſſe gehoͤrt auch zur Geſtalt.


Auſſer der Geſtalt wird zum Anſehen des Coͤr-
pers die Groͤſſe deffelben zu rechnen ſeyn; welche
in der Hoͤhe und Breite des Coͤrpers beſtehet.
Die Dicke eines Coͤrpers laͤſſet ſich unmittelbar
durchs
[43]von den Begebenheiten der Coͤrper.
durchs Geſichte nicht erkennen; ſondern gehoͤrt
zu den Eigenſchafften, welche wir durch Schluͤſ-
ſe herausbringen muͤſſen, die aber deswegen nicht
allemahl in ihrer Form, oder deutlich muͤſſen er-
kannt werden.


§. 26.
Was Beſchreibungen ſind.


Wenn wir unſern deutlichen Begriff von ei-
nem Coͤrper durch Worte an den Tag legen; ſo
wird dieſe Rede eine Beſchreibung genennet.
Jch will eben nicht behaupten, daß man jetzo das
Wort allemahl ſo genau in dieſer Bedeutung neh-
me; maſſen es auch wohl bey Dingen gebraucht zu
werden pfleget, welche geſchehen ſind: dieſes aber
kommt von der Verbindung der Begriffe her,
daß man Sachen, welche geſchehen, oͤffters we-
gen ihrer Dauer, als: es iſt ein Gewitter, vor
Dinge anſiehet, welche ſind. Wenn man aber
in der Philoſophie Beſchreibungen (deſcriptio-
nes
) vor verdorbene und mißrathene Definitio-
nen annimmt, ſo iſt dieſes ein Mißbrauch eines
gemeinen Wortes, welchem man auch ſeine ge-
meine
Bedeutung haͤtte laſſen ſollen.


§. 27.
Was in Beſchreibungen ſtehet.


Wir bekommen deutliche Begriffe von eintzeln
Coͤrpern, indem wir ſie anſehen. Das Anſehen
aber derſelben enthaͤlt die Figur und Farben (§. 24.)
nebſt der Groͤſſe in ſich (§. 25.); ſolglich wird
auch die Beſchreibung jedes Coͤrpers aus dieſen
drey Stuͤcken beſtehen.


§. 28.
[44]Zweytes Capitel,

§. 28.
Figuren laſſen ſich nicht gut erklaͤren.


Nachdem man uͤberall Maaßſtaͤbe hat, ſo iſt
nichts leichter als die Groͤſſe eines Coͤrpers durch
Worte dem andern bekannt zu machen. Die
Figuren aber laſſen ſich ſchwerer beſchreiben; wel-
ches jedoch auf folgende Art geſchiehet. Die
Menge eintzelner Coͤrper, welche einerley Figur
haben, veranlaſſet bey uns einen allgemeinen Be-
griff dieſer oder jener Figur. So erlernen wir
von Jugend auf die verſchiedenen Figuren, von
allerhand Arten der Thiere, Baͤume, Pflantzen,
Steine, und ſo weiter. Jedoch kommen die Men-
ſchen in Anſehung dieſer Begriffe, wenn ſie ſich
gleich auf einerley Art durch Worte ausdrucken,
dennoch nicht vollkommen, mit einander uͤberein,
und zwar aus folgenden Urſachen.


§. 29.
Wie man von Figuren verſchieden denckt.


Anfangs iſt bekannt, daß man bey den Figu-
ren nicht allemahl auf die Groͤſſe ſiehet, ſondern
Dingen von gantz ſehr verſchiedener Groͤſſe den-
noch einerley Figur zuſchreibt. Ein Strauſſeney
und ein Taubeney haben beyde die Figur eines
Eyes: eine Zuckerpyramide und eine Egyptiſche
Pyramide ſind beydes Pyramiden. Daraus ent-
ſtehet nun folgender Unterſchied der Begriffe und
Gedancken. Wer lauter ſolche Coͤrper von einer-
ley Figur geſehen hat, die auch zugleich von einer-
ley oder von wenig unterſchiedener Groͤſſe gewe-
ſen, der wird auch die Groͤſſe mit zur Figur rech-
nen:
[45]von den Begebenheiten der Coͤrper.
nen: wer aber lauter Coͤrper, die im uͤbrigen von ei-
nerley Figur, aber von ſehr verſchiedener Groͤſſe wa-
ren, geſehen hat; der wird bey dem Begriffe der-
ſelben Figur keinesweges auf die Groͤſſe ſehen
Ein gemeiner Mann, wenn er zum erſten mahl
ein Strauſſeney zu ſehen bekommt, duͤrffte es an-
fangs kaum vor ein natuͤrliches und wahres Ey
halten; weil wir nehmlich in unſern Landen lauter
viel kleinere Eyer zu ſehen bekommen. Zweytens:
wer lauter Coͤrper von einerley Figur, aber auch da-
nebſt von einerley, oder wenig unterſchiedenen Far-
ben geſehen hat; der wird die Farbe ſelbſt mit zur
Figur rechnen; hingegen wird derjenige auf die
Farbe nicht reflectiren, wer Dinge von einerley
Figur, aber dabey von verſchiedenen Farben ge-
ſehen hat. Denen meiſten unter uns iſt ein weiſ-
ſer Rabe
ein Paradoxon; wer aber weiß, daß
es auch weiſſe Raben gebe, der wird bey dieſer
Art Thieren, wie bey denen uͤbrigen, bloß auf
die Figur achtung geben. Durch Beſuchung der
Naturalien-Cabinetter werden gemeiniglich
unſere Begriffe von den verſchiedenen Arten der
Coͤrper gar ſehr erweitert, die ſonſt ein jeder nach
den indiuiduis, die in ſeinem Vaterlande anzu-
treffen ſind, einzuſchrencken pfleget.


§. 30.
Vom Klumpen.


Wenn die Oberflaͤche eines Coͤrpers aus aͤhn-
lichen Theilen beſtehet, aber auch dabey auf kei-
ner Seite eine uns bekannte Figur hat, ſo wird
es ein Klumpen genennet. Z. E. ein Klum-
pen
[46]Zweytes Capitel,
pen Wachs, Bley, Thon u. ſ. w. Was aber die
Alten von der Materie lehreten, daß es kleine
Theilgen, oder kleine Coͤrper gebe, welche ſich
voͤllig einander aͤhnlich waͤren, iſt eine Einbildung,
welche aus Vermiſchung der Phyſick und Meta-
phyſick entſtanden iſt.


§. 31.
Verſchiedene Arten der Seiten.


Weil ein Coͤrper viele Seiten hat (§. 16.):
ſo kan es geſchehen, daß eine davon die mehreſte
Abwechſelung in der Geſtalt der Theile in ſich ent-
haͤlt. Dieſe Seite pfleget man die foͤrdere Sei-
te,
oder von forne zu nennen: die entgegen ge-
ſetzte aber von hinten. Bey Coͤrpern, die kei-
ne merckliche Dicke haben, nennet man es die
rechte und lincke Seite. Es iſt wohl an dem,
daß, wenn wir uns in gemeinen Worten aus-
drucken wollten, man ſagen muͤſte: von forne,
oder die rechte Seite ſey die, welche die meiſte
Schoͤnheit hat; allein unſere gegebene Erklaͤrung
hanget mit andern philoſophiſchen Begriffen ge-
nauer zuſammen, und wird daher billig vorge-
zogen.


§. 32.
Unzehlige Seiten eines Coͤrpers.


Jn der Geometrie werden die leichteſten Ar-
ten der Figuren in natuͤrlicher Ordnung erklaͤret,
wie dieſelben immer mehr und mehr Seiten ha-
ben: dieſe uns beywohnenden allgemeinen Begrif-
fe machen, daß wir auch denen uns vorkommen-
den eintzeln Coͤrpern eine gewiſſe Anzahl, als
4. 6. 10.
[47]von den Begebenheiten der Coͤrper.
4. 6. 10. und ſo weiter Seiten beylegen. Ei-
gentlich aber hat ein Coͤrper unendlich viele
Seiten. Denn eine Seite iſt das Theil der Ober-
flaͤche, welches man auf einmahl uͤberſiehet (§. 16.):
So offte ich alſo ein ander Stuͤck nehmen kan,
welches ſich auf einmahl uͤberſehen laͤſſet, ſo offte
finde ich auch eine neue Seite. Wie ſich nun
um dem Coͤrper herum unzehlig viele Geſichts-
punckte, und zwar nur in einerley Entfernung
dencken laſſen, aus welchem jedem ein anderes
Stuͤck der Oberflaͤche uͤberſehen wird, ſo laſſen
ſich auch unzehlige Seiten daran gedencken. Bey
unbeweglichen Coͤrpern, wie bey Staͤdten, Ber-
gen, u. ſ. w. macht und ſetzet man hauptſaͤchlich
4. Seiten, gegen Morgen, Abend, Mittag und
Mitternacht.


§. 33.
Arten der coͤrperlichen Begebenheiten.


Die Veraͤnderungen der Coͤrper ſind uns ſo
wohl aus der Erfahrung, als durch Metaphyſi-
ſche Betrachtungen uͤber die zuſammen geſetz-
ten
Dinge bekannt. Sie veraͤndern nehmlich ih-
re Figur und Geſtalt: ſie entſtehen oder wer-
den ſichtbar, und vergehen, oder werden wieder
unſichtbar: ſie veraͤndern endlich ihren Ort, oder
bewegen ſich. Bey dieſer letztern Veraͤnderung
giebt es bey lebloſen Coͤrpern wenig Abwechſe-
lung,
und dieſe beſtehet bloß in einer Veraͤnde-
rung der Richtung oder des Weges, und der
Geſchwindigkeit: Bey lebendigen Coͤrpern aber,
als den Thieren, beſonders den Menſchen, giebt
es
[48]Zweytes Capitel,
es deſto mehr Abwechſelung: indem jede Kunſt
und Uebung, derer unzehlige ſind, eine beſondere
Art der Bewegung erfordert. Mithin entſtehen
aus dieſen Arten der coͤrperlichen Veraͤnderungen
auch ſo viele Arten der Begebenheiten (§. 3. C. 1.)
und der Geſchichte (§. 16. C. 1.) von Coͤrpern,
die hernach durch Erzehlungen zu einem Theile
der Hiſtorie werden (§. 16. 17. C. 1.).


§. 34.
Die innerlichen Begebenheiten werden nach
ihren Wuͤrckungen benennet.


Bey lebendigen Coͤrpern iſt man gewohnt die
meiſten Handlungen und Veraͤnderungen, nicht
ſowohl darnach zu rechnen, was in der handeln-
den
Sache ſelbſt vorgehet; als darnach was die-
ſelbe wuͤrcket, oder auſſer ſich hervorbringet,
und hervorbringen will. Z. E. der Wolff friſt
das Schaaf, man ſchieſt breche, man bauet ei-
ne Kirche. Man ſiehet nehmlich die Sache auf
der Seite an, wo ſie am meiſten in die Sinne
faͤllt,
oder auch, woran uns am meiſten ge-
legen
iſt. Nun faͤllet uns bey vielen Sachen der
Effect, oder das hervorgebrachte Werck am mei-
ſten in die Sinne; und daher wird auch die Be-
nennung genommen. Z. E. Apelles mahlet ei-
nen Kriegsgott: ſeine Handlung iſt eigentlich die
Bewegung ſeiner Finger, die den Pinſel fuͤhren:
diß aber faͤllt viel weniger in die Augen, als der
nach und nach entſtehende Mars. Wir benen-
nen alſo von ihm die Handlung des Mahlers.
Beym breche ſchieſſen wuͤrde es vor die Canoniers
einerley
[49]von den Begebenheiten der Coͤrper.
einerley Handlung ſeyn, wenn ſie gleich die Ku-
geln nur in die freye Lufft ſchoͤſſen, aber weil es
dabey nicht um die Abfeurung der Canonen, ſon-
dern um den Umſturtz des Walles zu thun iſt, ſo
wird davon die Arbeit der Canonirer benennet.


§. 35.
Ein anſcheinender Widerſpruch bey coͤr-
perlichen Begebenheiten.


Die Handlungen der Dinge ſind oͤffters ver-
gebens, beſonders der Menſchen: wie viele ma-
chen
nicht, wie man ſagt, Gold, ohne jemahls
darzu zu gelangen? Wie viele fahren nach Oſt-
indien, die daſſelbe doch nie zu ſehen bekommen?
man fuͤhret offt die Feder, da doch wegen Zaͤhig-
keit der Dinten keine Buchſtaben werden. Da
man nun die Handlungen nach ihren Wuͤrckun-
gen zu benennen pflegt (§. 34.); ſo kan eine Er-
zehlung vorkommen, daß etwas geſchehen ſey,
welches nach einer andern Erzehlung doch nicht
geſchehen iſt: Sie ſind beyde wahr, aber im ver-
ſchiedenen Verſtande. Man ſagt z. E. in dieſer
oder jener Stadt wuͤrden die Armen reichlich
verſorgt:
wenn nehmlich milde Stifftungen und
andere noͤthige fonds darzu vorhanden ſind. Ob
es aber deswegen wuͤrcklich geſchehe, iſt eine an-
dere Frage. Wir wollen ein noch ſinnlicher Ex-
empel beyfuͤgen. Der Schloſſer wird zu Oeff-
nung einer Thuͤre herbey geholt; man ſiehet ihm
zu, wie er ſich ans Werck macht: jedermann ſagt:
er mache die Thuͤre auf: gleichwohl wenn das
Schloß wegen ſeiner kuͤnſtlichen Riegel nicht auf-
Dgehet,
[50]Zweytes Capitel,
gehet, wird man ſagen muͤſſen: er habe die Thuͤ-
re nicht aufgemacht. Wer den Zuſammenhang
nicht weiß, ſondern nur dieſe beyde Erzehlungen
hoͤret, wird ſie vor widerſprechend halten.


§. 36.
Empfindung ſetzt die Wahrheit der
Sache voraus.


Wenn wir eine Sache empfinden, ſo muß
dieſelbe auch wuͤrcklich vorhanden ſeyn. Denn
was wuͤrcken ſoll, muß da ſeyn. Nur machen
ſolche Faͤlle dieſen Satz irre, wo man ſich einbil-
det empfunden zu haben, was man doch nicht em-
pfunden hat; ſondern nur durch Einbildungskrafft
und Schluͤſſe zur Empfindung hinzu geſetzet hat.
Dieſes iſt eine Art erſchlichener Saͤtze (vitium
ſubreptionis
), welche durch die Lehren der Optick,
und durch eine allgemeine Abhandlung, was und
wie weit man Dinge durch die bloſſen Sinne er-
kennen kan, muͤſſen vermieden werden.


§. 37.
Vom Verborgenen bey coͤrperlichen Dingen.


Es laͤſſet ſich aber der vorige Satz (§. 36.)
nicht umwenden und behaupten: was ich nicht
empfinde, daſſelbe iſt nicht vorhanden; ſondern
darzu gehoͤret mehrere Vorſicht, daß ich von der
Verneinung der Empfindung auf die Verneinung
der Sache ſelbſt ſchluͤſſen kan. Wie offte glaubt
man nicht, daß nach vielen Corrigiren ein Bo-
gen von Druckfehlern gantz frey ſey; da doch wohl
noch welche vorhanden ſind, welche man auch
wohl nachher noch nicht durch vieles Durchleſen
wahr-
[51]von den Begebenheiten der Coͤrper.
wahrnimmt, da ſie einem andern hingegen gleich
in die Augen fallen. Dieſes fuͤhret uns auf den
Begriff des Verborgenen bey coͤrperlichen Din-
gen. Und da haͤtten wir ein weites Feld vor uns,
eine ſo weit ausſehende Sache in voͤllige Ordnung
zu bringen. Wir wollen aber Kuͤrtze halber nur
einige Grade bemercken. Das Verborgenſte
iſt, was durch keine Kunſt von uns kan empfun-
den werden: als kleine Plaͤtze im Monde, das
innerſte der Erde: wovon wir alſo nichts anders,
als durch Schluͤſſe wiſſen koͤnnen. Dann folget,
was man nicht ohne Kunſt, und angewandte
Huͤlffsmittel empfinden kan: weiter: was einen
beſondern Grad der Aufmerckſamkeit erfor-
dert: wie Reaumur und Roͤßler bey Jnſeck-
ten, Pflantzen u. ſ. w. vieles durch die bloſſe Auf-
merckſamkeit entdeckt haben, was andere vor ih-
nen aus Mangel derſelben nicht entdeckt haben:
endlich, was nur eine Vorſicht erfordert,
als ob niemand in der Stube, darinnen man
niemanden ſiehet, ſich etwa verſteckt hat.


§. 38.
Ob die Kunſt bey Empfindungen dienlich.


Die Kunſt zu erfahren, oder vielmehr zu
empfinden, iſt eine Wiſſenſchafft, die Coͤrper in
ſolchen Zuſtand zu ſetzen, daß ſie und ihre Eigen-
ſchafften koͤnnen empfunden werden. Die heutige
Aſtronomie und Phyſick zeiget uns davon tauſend
herrliche Exempel. Wenn es einmahl nun da-
hin gebracht iſt, daß die Sache, die verborgen
ware, kan empfunden werden, alsdenn iſt die
D 2Em-
[52]Zweytes Capitel,
Empfindung von der Empfindung gemeiner Din-
ge nicht weiter unterſchieden. Beyde koͤnnen nur
obenhin, oder auch im Gegentheil mit vieler Auf-
merckſamkeit
und gelehrt angeſehen werden.


§. 39.
Viele Geſchichte betreffen nicht eintzelne, ſon-
dern gantze Hauffen Coͤrper.


Wenn man mit einem eintzeln Coͤrper zu
thun hat, ſo wird ſich bey Beobachtung ſeiner
Veraͤnderungen und Begebenheiten, und mithin
auch bey denen daraus flieſſenden Erzehlungen
faſt gar keine Schwierigkeit finden. Sind ja
welche, ſo entſtehen ſie aus der Beſchaffenheit
und dem Zuſtande des Zuſchauers; welche am
gehoͤrigen Orte genau ſollen bemercket werden.
Allein dieſe Begebenheiten eintzelner Coͤrper ma-
chen nur einen Theil der Begebenheiten der coͤr-
perlichen Dinge aus. Denn ein nicht geringer
Theil derſelben betreffen nicht eintzelne Coͤrper,
ſondern einen gantzen Hauffen: als, daß die Baͤu-
me in einem gewiſſen Striche von Raupen abge-
freſſen werden: daß die Fluͤſſe eines Landes zu ei-
ner gewiſſen Zeit hoch angelauffen ſind. Die
Vorſtellung eines Hauffens, das iſt, einer un-
gezehlten Menge aͤhnlicher Dinge, iſt im gemei-
nen Leben eine alltaͤglich und ſtuͤndlich vorkommen-
de, auch gantz bekannte Sache: die aber in der
Philoſophie und Vernunfftlehre gar nicht bemerckt
zu werden pfleget: weil man da gemeiniglich ſein
Abſehen nur auf abſtracte Wiſſenſchafften gerich-
tet hat; welche nicht mit Hauffen, ſondern mit
Arten
[53]von den Begebenheiten der Coͤrper.
Arten und Geſchlechtern umgehen. Unſere Ab-
handlung von locis communibus in der Logica
S. p.
147. wird wohl die erſte von dieſer Gattung
ſeyn; auf die wir uns Kuͤrtze halber beziehen, und
nur dasjenige daraus anfuͤhren wollen, was das
nachfolgende zu verſtehen unumgaͤnglich noͤthig iſt.


§. 40.
Kurtze Theorie eines Hauffens.


Wenn man von einem Hauffen denckt und
redet, ſo ſtellt man ſich nur einige eintzelne Din-
ge klaͤrlich vor, die darinnen nebſt andern enthal-
ten ſind: was wir an denſelben wahrnehmen, das
pflegen wir hernach dem gantzen Hauffen beyzu-
legen. Z. E. zwey Soͤhne eines Mannes, die
ich kenne, ſind untugendhafft; ich ſage daher:
des Mannes ſeine Soͤhne ſind uͤbel gerathen. Es
kan ſeyn, daß eben derſelbe Mann auf der Acade-
mie zwey andere Soͤhne hat, die ſich gut auffuͤh-
ren und fleißig ſind; allda wird man ſagen: Des
Mannes ſeine Soͤhne ſind wohl gerathen: Dieſe
Saͤtze ſcheinen widerſprechend zu ſeyn; koͤnnen aber
doch und muͤſſen vereiniget werden. Dieſes aber
kan nicht ohne folgender Reyhe von Begriffen ge-
ſchehen, welche den Gelehrten, zum Behuf der hi-
ſtoriſchen Erkentniß, eben ſo bekannt werden muͤſ-
ſen, als ſchon laͤngſt die Eintheilungen der Saͤtze
und der Schluͤſſe bekannt ſind. Eine ungezehlte
Menge Dinge (wenn ſie gleich konten gezehlet
werden,) heiſſet ein Hauffen. Diejenigen ein-
tzeln Dinge, die uns aus einem Hauffen beſonders
bekannt ſind, heiſſen Exempel, Muſter, Pro-
D 3ben,
[54]Zweytes Capitel,
ben, Beyſpiele: Diejenigen Dinge aus einem
Hauffen, die wir eintzeln nicht kennen, wollen
wir das uͤbrige, oder den Reſt, (turbam fine
nomine
) nennen.


§. 41.
Unterſchied der allgemeinen Anmerckungen?


Wenn man die Eigenſchafften eines oder meh-
rerer Exempel dem gantzen Hauffen beylegt, ſo
heiſſet das eine allgemeine Anmerckung,lo-
cus communis.
Nun ſiehet man gleich, daß die
indiuidua, welche zuſammen genommen einen
Hauffen ausmachen, ihrer Aehnlichkeit, wodurch
ſie zu einem Hauffen werden, ungeachtet, widrige
Eigenſchafften haben koͤnnen, wie das Exempel
(§. 40.) beſaget; und alſo auch zu widerſprechen-
den allgemeinen Anmerckungen Anlaß geben koͤn-
nen. Wenn alſo ein ſolcher Fall von zwey widerſpre-
chenden allgemeinen Anmerckungen vorkommt, ſo
iſt kein anderer Weg zur Entdeckung der Wahrheit
vorhanden, als daß man die Exempel, worauf ſich je-
de von beyden Anmerckungen gruͤndet, aufſuchet, und
daraus den Urſprung des Widerſpruches erkennet.


§. 42.
Und der allgemeinen Saͤtze.


Noch mißlicher iſt es, wenn man von einer
Menge eintzelner Dinge und ihrer Beſchaffenheit
auf die gantze Art ſchluͤſſet, und ſolche allg mei-
ne Anmerckungen denen wuͤrcklich allgemeinen Saͤ-
tzen, welche aus allgemeinen Begriffen herge-
leitet
werden, gleich ſetzen will: als daß alle Ra-
ben ſchwartz ſeyn ſollten; daß kein Fiſch fliegen
kan;
[55]von den Begebenheiten der Coͤrper.
kan; welche Saͤtze man ſonſten ohne dem gering-
ſten Bedencken unter die philoſophiſchen allgemei-
nen Wahrheiten wuͤrde gerechnet haben, und die
dennoch falſch ſind. Ob es moͤglich ſey, aus der
bloſſen Erfahrung wuͤrcklich allgemeine Wahrhei-
ten herauszubringen, betrifft bloß die Erweite-
rung der Phyſick, nicht aber der Geſchichtskun
de, und kan alſo von uns uͤbergangen werden.
Hingegen iſt uns an dem eigentlichen Begriffe der
Erfahrung allerdings gelegen.


§. 43.
Eintheilung eines Hauffens.


Weil ein Hauffen aus ſolchen indiuiduis be-
ſtehet, die dennoch ihre verſchiedene Qualitaͤten
haben koͤnnen, ſo iſt eine beſondere Art der hiſto-
riſchen Erkentniß, daß man an einem Hauffen be-
merckt, wie viel er indiuidua von dieſer oder je-
ner Gattung in ſich halte: als bey dem groſſen
Hauffen der Sterne, wie viel von der erſten,
zweyten, dritten
Groͤſſe ſind, u. ſ. w. Bey
einem Buſche, der nicht groß iſt, kan man durch
zehlen erfahren, wie viel Eichen, Buchen, Bir-
cken, Fichten u. ſ. w. vorhanden ſind.


§. 44.
Unterſchied der Erfahrungen und Em-
pfindungen.


Eine Erfahrung iſt, wenn man aus Em-
pfindungen einen allgemeinen Satz macht: es
mag derſelbe nun entweder allgemein ſeyn, oder
nur von einem Hauffen gelten. Die Erfahrung
D 4iſt
[56]Zweytes Capitel,
iſt daher von der Empfindung unterſchieden, und
entſtehet aus derſelben, entweder durch die Ein-
bildungskrafft, oder durch Schluͤſſe. Die Em-
pfindungen haben in Anſehung der Wahrheit
gar keine Schwierigkeit, wenn nur die Empfin-
dung ſelbſt vorhanden iſt: Die Erfahrung aber
kan dennoch falſch ſeyn, wenn gleich die Empfin-
dungen richtig ſind, worauf ſich dieſelbe gruͤndet;
weil noch gar nicht ausgemacht iſt, wie man auf
eine Art, die Beſtand hat, aus eintzeln Faͤllen
eine allgemeine Anmerckung, oder einen allge-
meinen Satz zu machen befugt ſey. Am wenig-
ſten aber thut es gut, daß man Empfindungen
und Erfahrungen mit einander vermenget, wel-
ches bisher beſtandig geſchehen, und deswegen
von uns iſt widerlegt worden in den Erlangi-
ſchen gelehrten Anzeigen
No. XIX. 1749. in
der genauern Beſtimmung, was Erfahrun-
gen ſind?


§. 45.
Schluͤſſe von einem Hauffen auf die uͤbrigen.


Wie man von einigen indiuiduis auf die
uͤbrigen zu ſchluͤſſen pflegt (§. 41.), alſo pfleget man
auch von den Begebenheiten des einen Hauffens,
oder einiger Hauffen auf die Eigenſchafften und
Begebenheiten der andern Hauffen, von ſolcher
Art, zu ſchluͤſſen. Als man hat wahrgenommen,
daß in Londen von 100. Woͤchnerinnen zweye
ſterben, und dieſes hat man in verſchiedenen Jah-
ren wahrgenommen: man ſchluͤſſet daraus, daß
es nicht allein in Paris, und andern groſſen Staͤd-
ten
[57]von den Begebenheiten der Coͤrper.
ten Europens eben ſo ſeyn werde, ſondern daß
es auch in kuͤnfftigen Jahren in Londen eben ſo
ſeyn werde, woferne nicht auſſerordentliche Faͤlle
darzu ſchlagen. Reaumur bemerckt, daß in je-
dem Bienenſchwarme nur 1. Koͤnig; der bloſſen
Arbeiter 5 mahl mehr als Bienen maͤnnlichen Ge-
ſchlechts waͤren: er hat dieſes nehmlich bey ver-
ſchiedenen Schwaͤrmen gefunden: man ſchluͤſſet
aus den Exempeln, die man gehabt, auf die
uͤbrigen Hauffen.


§. 46.
Man kan nicht von einer Zeit auf die an-
dere ſchluͤſſen.


Es iſt aber klar, daß ſo wenig man von dem
jetzigen Zuſtande eines eintzeln Dinges, ſchlecht
weg auf den zukuͤnfftigen Zuſtand deſſelben ſchluͤſ-
ſen kan: eben ſo wenig gehet es auch an, daß ich
von dem gegenwaͤrtigen Zuſtande eines Hauffens
ſchluͤſſen kan auf eine andere Zeit. Jch finde
z. E. in einem Garten keine gemeine Raupe: dar-
aus kan ich nicht ſchluͤſſen, daß derſelbe nicht zu
einer andern Zeit, wenigſtens in einem andern
Jahre, von ſolchen Raupen wimmeln ſollte. Die
Vorſicht, die bey ſolchen Schluͤſſen, wenn man
ſie ja machen will, zu gebrauchen iſt, wollen und
haben wir hier nicht noͤthig zu unterſuchen: uns
iſt nur daran gelegen, daß mit denen Empfin-
dungen,
welche eigentlich der Grund aller Er-
zehlungen ſind, nichts anders vermenget werde.


D 5§. 47.
[58]Zweytes Cap. von den Begebenheiten ꝛc.

§. 47.
Was aͤuſſerlich, innerlich, verdeckt und
offenbar iſt.


Was man an der Sache, ohne an ihr ſelbſt
etwas zu aͤndern, wahrnehmen kan, das iſt dar-
an aͤuſſerlich. Was erſt durch gemachte Ver-
aͤnderungen in der Sache kan wahrgenommen
werden, daſſelbe iſt innerlich. Wenn zwiſchen
uns und einem gewiſſen Coͤrper A ein anderer B
ſtehet oder lieget, oder kurtz zu reden, da iſt,
der die Empfindung von jenem hindert, ſo heiſſet
jener verdeckt, wo aber kein Hinderniß der Em-
pfindung vorhanden, da liegt die Sache vor
Augen,
oder ſie iſt offenbar. Und dieſes gilt
von allen Arten der Sinnen.


§. 48.
Verſchiedene Arten coͤrperlicher Begebenheiten.


Hieraus aber entſtehen verſchiedene Arten der
Begebenheiten bey coͤrperlichen Dingen: ſie ſind
zum Theil aͤuſſerlich, als, ein Haus wird an-
geſtrichen; theils ſind ſie innerlich, als, daß die
Zapffen der Balcken verfaulen; theils ſind ſie of-
fenbar,
als, was dem Menſchen an der Haut
fehlet; theils ſind ſie verborgen, als,
was ihm innerlich
fehlet.



Drittes
[59]

Drittes Capitel,
von den
Begebenheiten der Moraliſchen
Weſen oder Dinge.


§. 1.
Sichtbare Willen gehoͤren zur Hiſtorie?


Ohngeachtet die Veraͤnderungen der menſch-
lichen Seele, beſonders des Willens, von
groſſer Wichtigkeit ſind, weil daraus die
Entſchluͤſſungen, Handlungen, Wuͤrckun-
gen
und Wercke der Menſchen entſtehen; ſo
pflegen doch bloſſe Gedancken und bloſſe
Willensmeinungen
unter den Menſchen in kei-
ne ſonderliche Betrachtung gezogen zu werden:
beſonders darum, weil Fremde dieſelben nicht
wiſſen koͤnnen. Sie koͤnnen alſo auch in der Hi-
ſtorie nicht ſehr in Anſchlag kommen. Jm gemei-
nen Leben wird nur auf ſolche Gedancken und
Willensmeinungen gerechnet, welche aͤuſſerlich in
Worte und Wercke ausbrechen, und durch die un-
mittelbar aus ihnen flieſſenden Wuͤrckungen ſicht-
bar
werden.


§. 2.
Und werden nach ihren aͤuſſerlichen Folgen
betrachtet.


Eintzelne Gedancken bringen auch eintzelne
ſichtbare Handlungen und Wuͤrckungen herfuͤr.
Und wie ſie ihrer Natur nach genau mit einander
verbun-
[60]Drittes Capitel,
verbunden ſind, alſo werden ſie auch gemeiniglich
als eine Sache angeſehen. Wer mit Worten
jemanden verſpottet, der hat ihn mit Gedancken
und Worten verſpottet: beydes zuſammen wird
unter dem Worte: ſpotten, begriffen. Wer
den andern verwundet, muß auch von dem Wil-
len ihn zu verwunden Rechenſchafft geben. Man
kan aber zugleich aus dieſen Exempeln ſehen, wie
manchmal eine Trennung der innerlichen und
der aͤuſſerlichen Handlung moͤglich ſey; welches
genauer zu unterſuchen vor die Moraliſten gehoͤ-
ret. Nimmt man nun die innerliche und aͤuſſer-
liche Handlung vor eine Sache an; ſo werden
die eintzeln Begebenheiten der Seele nach eben
den Regeln zu beurtheilen ſeyn, welche wir bey
den Begebenheiten der Coͤrper angemercket ha-
ben: denn ſie werden vor Menſchenaugen nur
nach ihrer coͤrperlichen und aͤuſſerlichen Wuͤrckung,
die daraus erfolget, angeſehen.


§. 3.
Welcher Wille beſonders merckwuͤrdig iſt?


Ein Wille, der fortdauret, iſt ſchon in der
Menſchen Augen eine Sache von mehrerer Wich-
tigkeit. Er gehoͤrt unter die Dinge, welche ſind
(§. 2. C. 1.). Ein treuer Freund macht einen
groſſen Theil unſerer Gluͤckſeligkeit aus: ein un-
verſoͤhnlicher Feind aber iſt im Stande, uns un-
ſer gantzes Leben ſauer zu machen. Alſo auch
ein Menſch, der eine Profeßion treibet, oder
den Willen hat, ſolche beſtaͤndig zu treiben, be-
kommt dadurch gleichſam das Anſehen eines be-
ſondern
[61]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
ſondern Weſens, wornach ſich eine unzehlige
Menge anderer Menſchen richten koͤnnen: und
ein ſolches Weſen verliehret ſich wieder, wenn
der Menſch den Willen, ſeine Profeßion zu trei-
ben, ablegt. Alſo iſt z. E. kein Schmid in
der Stadt, wenn niemand in der Stadt dieſes
Handwerck treibt, oder treiben will, wenn gleich
tauſend Perſonen in der Stadt waͤren, die daſſel-
be verſtuͤnden. Ein verborgener beſtaͤndiger Wil-
le aber, der keine aͤuſſerliche Folgen hat, wie
manche in ihrer Stube verſauren, hat keinen Ein-
fluß in die Geſchichte (§. 1.).


§. 4.
Moraliſche Weſen werden erklaͤtet.


Wenn Menſchen einen beſtaͤndigen Willen
haben, (nehmlich ſowohl eintzelne Menſchen als
mehrere,) und zwar der bekannt iſt, ſo daß ſich
andere darnach richten koͤnnen, ſo heiſſet dieſes
ein moraliſches Weſen. Dergleichen iſt ein
Lehrer, andere wiſſens und erkennen ihn davor,
und richten ſich darnach; beſonders die lernen
wollen. Ein Fabricant verfertiget immer ei-
nerley Waare, und man kan ſich auf die Fortſe-
tzung ſeiner Arbeit verlaſſen. Ein Gaſtwirth
hat den Willen beſtaͤndig, Gaͤſte und Fremde
aufzunehmen, und ſie zu bedienen: er machts
bekannt, und jeder richtet ſich darnach. Ein
Lehrſtuhl, eine Fabrique, ein Gaſthof ſind
alſo moraliſche Weſen, die eigentlich in dem Wil-
len der Menſchen beſtehen, ohngeachtet ſie mit
coͤrperlichen Dingen verknuͤpft ſind. So iſt auch
ein
[62]Drittes Capitel,
ein Koͤnigreich, eine Wuͤrde, jeder Stand
beſchaffen. Und ſolche moraliſche Dinge, wenn
ſie aus mehrern Menſchen beſtehen, pflegen ge-
meiniglich viel laͤnger, als die Menſchen ſelbſt zu
dauren, weil bey Abgang eines oder des andern,
dennoch der Wille der uͤbrigen unveraͤndert bleibt,
der erledigte Platz aber gar leicht mit einem an-
dern indiuiduo wieder erfuͤllet wird.


§. 5.
Wie moraliſche Weſen ſichtbar werden.


Ungeachtet nun der Wille der Menſchen un-
ſichtbar iſt, und mithin die moraliſchen Dinge
auch an ſich unſichtbar ſind, ſo werden ſie doch
auf zweyerley Art ſichtbar und kentlich, daß
man von ihrem Daſeyn, ja von ihrer Dauer, ſo
wohl verſichert iſt, als von der Exiſtentz eines in
die Augen fallenden Coͤrpers: nehmlich 1. durch
die coͤrperlichen Dinge, und den apparat, der
dazu noͤthig iſt, den Willen und Vorſatz auszufuͤh-
ren. Als man legt einen Eiſenhammer an: man
kan da aus den koſtbaren Anſtalten, ja aus der
Art des Baues leicht urtheilen, daß es nicht dar-
auf angefangen ſey, den Hammer etwa einen Tag
gehen zu laſſen; ſondern daß es ein dauerhafft
Werck ſeyn ſolle. 2. Durch aͤuſſerliche Zeichen,
welche den beſtaͤndigen Vorſatz bekannt machen.
Alſo pflegt eine neue Handlung ihre Einrichtung
oͤffentlich bekannt zu machen. Hieher gehoͤren die
Nahmen, welche ſich Geſellſchafften geben, Pri-
vilegien, Stifftungsbrieffe,
wodurch mora-
liſche Weſen theils zu ihrer Exiſtentz gebracht wer-
den,
[63]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
den, theils aber ihre Dauerhafftigkeit verſichert
und bekannt gemacht wird.


§. 6.
Zwey Arten von Begebenheiten der mora-
liſchen Dinge.


Die Begebenheiten der moraliſchen Weſen
gruͤnden ſich zwar auf den vereinigten Willen der
Menſchen (§. 4.); da ſie aber aͤuſſerliche Dinge
zu ihren Vorwurff haben (§. 1.): ſo entſtehen
ihre Veraͤnderungen und Begebenheiten auf
zweyerley Art: einmahl in und an den Willen
der Menſchen, der veraͤnderlich iſt; und ſo wohl
eyfriger, als nachlaͤßiger, beſſer und ſchlimmer
werden kan; ingleichen daß mehrere Menſchen
ihren Willen mit der Zeit vereinigen, oder im
Gegentheil von ihrem vorigen Willen abgehen;
wie bey allen Dingen geſchiehet, bey welchen es
auf den Beyfall der Leute ankommt. So dann
werden auch die moraliſchen Weſen veraͤndert,
durch die Begebenheiten der Coͤrper, welche mit
den moraliſchen Dingen verbunden ſind; als wel-
che den menſchlichen Willen und deſſen Ausfuͤh-
rung foͤrdern, hindern, aͤndern und gar aufhe-
ben koͤnnen. Ein Bergwerck hoͤret auf, ſowohl
wenn die Stollen erſaͤufft werden, als wenn die
Gewercken abſtehen. Der Fiſchfang vermehret
ſich, ſowohl wenn mehrere ſich auf die Fiſcherey,
hauptſaͤchlich auf dem Meere, legen, als wenn
der Strich der Fiſche ſtaͤrcker wird.


§. 7.
[64]Drittes Capitel,

§. 7.
Eine Haupteintheilung der Begebenheiten.


Die Begebenheiten der moraliſchen Weſen
ſind mithin von den Begebenheiten eintzelner Men-
ſchen gantz unterſchieden; ob wohl die Geſchichte
eintzelner Menſchen in jene den groͤſten Einfluß
haben. Eine Handlung beſtehet zwar noch im-
mer, wenn ſie gleich ihren treuen und klugen Di-
recteur verlohren hat, aber ſie leidet doch da-
durch. Hingegen ſind die Geſchichte derjenigen
Menſchen, welche mit einem moraliſchen Weſen
zu thun haben, groſſen theils auch nicht zu den
Geſchichten der moraliſchen Weſen ſelbſt zu rech-
nen: als ob der Directeur eine Frau gehabt, wie
viel er Kinder gehabt, u. ſ. w. Beym Regiment
und Koͤnigreichen iſt am deutlichſten zu erſehen,
wie die Geſchichte eintzelner Perſonen den Zuſtand
moraliſcher Weſen aͤndern koͤnnen. Die Weiß-
heit und Tapfferkeit eines Koͤniges giebt dem gan-
tzen Reiche eine groſſe Staͤrcke: und ſein Todt in
einem Wahlreiche, macht das gantze Land zu ei-
nem Schauplatz vieler Unruhen.


§. 8.
Vom Urſprunge eines moraliſchen Weſens.


Die Hauptbegebenheit eines moraliſchen We-
ſens iſt der Urſprung deſſelben; welcher um ſo
viel merckwuͤrdiger iſt, da er den Grund zu allen
nachfolgenden Begebenheiten abgiebt, ohne wel-
chem dieſe nicht wohl begriffen werden koͤnnen.
Weil nun die moraliſchen Weſen eine Vereini-
gung vieler Menſchenwillen ſind (§. 4.); ſo pflegt
der
[65]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
der Anfang, oder der Urſprung derſelben in dem
Willen eintzelner Perſonen angetroffen zu werden.
So iſt es geſchehen, daß bey einer Kirchweyhe,
wo viel Volck zuſammen gekommen, ein Kauff-
mann auf den Einfall gerathen, wo viel Menſchen
zuſammen kaͤmen, waͤre leicht etwas zu loͤſen: er
iſt mit ſeinen Waaren hingezogen; er hat Geld
geloͤſet, andere haben es nachgethan; man hat
es an mehrern Orten nachgethan, ſo ſind Jahr-
maͤrckte und Meſſen entſtanden. Der Moͤnchs-
orden, deſſen Verfaſſung in der Welt ſo vieles
geaͤndert, iſt von zwey Menſchen Anton und
Paul entſtanden, die ſich aus verſchiedenen Ab-
ſichten in die Wuͤſte und Einſamkeit begeben
haben.


§. 9.
Warum der Anfang der Dinge meiſt unbe-
kannt iſt?


Hieraus nun werden zwey Eigenſchafften be-
greifflich, welche man gemeiniglich bey dem Ur-
ſprunge moraliſcher Weſen antrifft. Erſtlich,
warum der Urſprung moraliſcher Weſen, die doch
wohl von groſſer Wichtigkeit ſind, ſo offte unbe-
kannt iſt; nehmlich weil das Thun und Laſſen
eintzelner Perſonen nicht ſo groſſes Aufſehen macht,
und daher auch nicht ſo leichte aufgeſchrieben wird:
Wenn es aber wegen ſeiner gar wichtigen Folgen
recht merckwuͤrdig wird, ſo weiß man gemeini-
glich nicht einmahl mehr, wie ſich die gantze Sa-
che angeſponnen habe. Man ſiehet aber leichte,
daß hier der Wille groſſer Herren etwas voraus
Ehabe,
[66]Drittes Capitel,
habe, und noch eher, wiewohl es auch oͤffters
genug nicht bemerckt wird, angemercket werden,
oder nach einiger Zeit doch eher aufzuſuchen ſey.
So kan man z. E. leſen, wie die Academie des
Inſcriptions et belles lettres
entſtanden iſt, in
den I. Tome der Memoires. Den erſten Buch-
drucker aber weiß man wohl nicht ſo genau.


§. 10.
Warum ſich die moraliſchen Weſen in
kurtzen aͤndern?


Sodann erkennet man aus dem (§. 8.) an-
gemerckten Umſtaͤnden, warum die moraliſchen
Dinge mit der Zeit gemeiniglich eine gantz an-
dere Geſtalt
gewinnen, als ſie im Anfange ha-
ben. Denn ſobald viele Menſchen ſich an eine
Sache machen: ſo mengen ſich ihre Perſonell Um-
ſtaͤnde mit darein, und die Nachfolger ſehen eine
Sache allemahl gantz anders an, als die Erfinder.


§. 11.
Wie eine moraliſche Sache ſichtbar wird.


Die zweyte Begebenheit eines moraliſchen
Dinges iſt, daß es ſichtbar wird. Um hier
ein bequemes Merckmal zu haben, wollen wir fol-
gendes davor annehmen: Wenn man aus den
Anſtalten abſehen kan, daß es eine Sache ſey,
die nicht von der Menſchen, die es treiben, ihrem
Leben abhangen ſoll. So iſt anfangs ein Werck
vor eintzelne Perſonen, daß ſie in einem Fluſſe
Lachs fangen: es entſtehet aber ein Lachsfang,
wenn man ein Wehr bauet, um ihren Zuruͤck-
gang zu verhindern; denn da ſiehet man gleich,
daß
[67]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
daß wenn die ietzigen Lachsfaͤnger nicht mehr da-
ſeyn werden: dennoch andere ſich berechtiget zu
ſeyn duͤncken werden, den Lachsfang fortzuſetzen,
oder die wenigſtens die einmahl vorhandene gute
Gelegenheit ſich zu Nutze machen werden. Eine
Ketzerey wird ſichtbar, wenn man andere dar-
innen unterrichtet. Wenn nun vollends eine or-
dentliche Verbindung, Beruff, Stifftung
u. ſ. w. gemacht und angetroffen wird, ſo iſt das
moraliſche Weſen ſichtbar: Nun kan man das
Daſeyn deſſelben wiſſen, ohne von den eintzelnen
Perſonen, die darzu gehoͤren, Nachricht zu haben.


§. 12.
Verfaſſung oder Geſtalt moraliſcher Weſen.


Die Geſtalt oder Verfaſſung eines morali-
ſchen Weſens beſtehet darinnen, daß in den dazu
gehoͤrigen Stuͤcken eine gewiſſe Verhaͤltniß iſt, der-
geſtalt, daß das eine das Hauptwerck, das an-
dere
nur eine nothwendige Folge des Haupt-
wercks: das dritte ein Nebenwerck; das vierte
etwas zufaͤlliges iſt, welches nur von Zeit und
Ort, oder den Umſtaͤnden der eintzelnen Perſonen
abhanget, die damit zu thun haben. Z. E. bey
einer Academie iſt der Unterricht derer Schuͤler
der Wiſſenſchafften das Hauptwerck: eine noth-
wendige Folge iſt, der Unterhalt der Lehrer, weil
dieſe ſonſt nicht beſtehen koͤnnen: ein Nebenwerck
iſt, daß durch den Zufluß der Studierenden die
Stadt bereichert wird: was zufaͤlliges iſt, daß
die Lehrer auch noch andere Aemter in der Stadt
mit verwalten, oder daß ſie Characters haben.


E 2§. 13.
[68]Drittes Capitel,

§. 13.
Und wie ſolche geaͤndert wird?


Die dritte Begebenheit eines moraliſchen We-
ſens beſtehet alſo in der Veraͤnderung der Ge-
ſtalt,
oder der Verfaſſung, welches geſchiehet,
wenn die Verhaͤltniß der Theile und der innerli-
chen Umſtaͤnde geaͤndert wird, als wenn eine
nothwendige Folge etwa zum Hauptwerck ſelbſt
gemacht wird, oder wenn Nebenſachen zur Haupt-
ſache, oder zufaͤllige Dinge zu nothwendigen Ei-
genſchafften gemacht werden. So wurde die Ge-
ſtalt des Einſiedlerſtandes veraͤndert, als man
anſinge Lehrer aus ihnen zu nehmen; da doch
die Faͤhigkeit zum Lehren eine ſo zufaͤllige Sache
vor einen Muͤnch, nach der erſten Verfaſſung war,
als dieſes, daß er alt oder jung war: die Verfaſ-
ſung aber aͤnderte ſich noch mehr, da man ſie um
der Zucht willen in coenobia und Geſellſchafften
vereinigte, da ſich vorher die Zucht bey ihnen oh-
ne ſolche Anſtalt gefunden. Die Einſamkeit,
als das ehemahlige Hauptwerck, wurde nicht allein
zum Nebenwercke, ſondern verſchwand gantz
und gar.


§. 14.
Wachsthum und Verbeſſerung der Dinge.


Man bemercke weiter, als die vierte Ver-
aͤnderung eines moraliſchen Weſens, das Wachs-
thum,
und die entgegen geſetzte Abnahme deſ-
ſelben: erſterer erfolgt, wenn mehrere Menſchen
durch ihren Willen, freywillig oder gezwungen,
daran Theil zu nehmen anfangen; das letztere aber
geſchie-
[69]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
geſchiehet, wenn der Menſchen, die ihr Wille
vereiniget hatte, weniger werden. Hievon aber
iſt die Verbeſſerung und Verſchlimmerung
der Dinge wohl zu unterſcheiden; denn es folgt
eben nicht, daß wenn eine Sache ſich ausbreitet,
daß ſie darum beſſer wird, oder daß die Abnah-
me derer, die daran Theil nehmen, allemahl die
Sache verſchlimmere. Meiſtens werden Kuͤn-
ſte,
wenn ſie allgemein werden, durch Stuͤmper,
Betruͤger, und andere Fehler eintzelner Menſchen,
theils veraͤchtlich, theils verfaͤlſcht, und verfallen
wohl gar durch die Menge.


§. 15.
Auf ſichern Fuſſe ſtehen.


Eine Sache kommt zu ihrer Conſiſtentz, oder
wird auf einen ſichern Fuß geſetzet, wenn die
Unternehmung gewiſſer Perſonen einige gerechte
Macht bekommt; denn ohne Macht kan es mit
jeder Sache taͤglich und ſtuͤndlich aus werden.
Dahingegen Dinge, welche Fuͤrſten anfangen,
gar bald zur Conſiſtentz kommen, und auf einen
ſichern Fuß pflegen geſetzt zu werden; bey Unter-
nehmungen der Privatleute hat es Noth, daß et-
was jemahls auf einen ſichern Fuß geſetzt wird,
wo nicht die Macht des Landes, oder des Landes-
herrn, darzu kommt, welches durch ſo genannte
Privilegia und Stifftungen geſchiehet. Das
Wort gerechte Macht nehmen wir hier nicht
eben ſo genau, ſondern ſo wie es im gemeinen
Leben genommen wird, da nur erfodert wird, daß
keine offenbare Ungerechtigkeit und Gewaltthaͤtig-
E 3keit
[70]Drittes Capitel,
keit vorgehet, und da jeder, der in ſeinem Beſi-
tze nicht geſtoͤhrt wird, einsweils vor einen recht-
maͤßigen Beſitzer gehalten wird.


§. 16.
Wenn Sachen ihren Weg gehen.


Die Sache gehet ihren Weg, und iſt in
Ruhe, wenn das, woraus ſie beſtehet, fortgeſetzt
wird, jedoch ohne hefftige Zunahme oder Ab-
nahme, ingleichen ohne Veraͤnderung der Ver-
faſſung. Dieſes iſt die ſchlimſte Zeit vor die Ge-
ſchichtſchreiber: denn was an einem Tage geſchie-
het, das geſchiehet auch am andern, und alles
zuſammen laͤſſet ſich aus der Verfaſſung der Sa-
che, wenn dieſe einmahl beſchrieben worden, a
priori
ſchluͤſſen. Vor die Mitglieder aber pfle-
get es die beſte Zeit zu ſeyn; weil die Abnahme
und Veraͤnderung der Verfaſſung einer Sache
faſt nothwendig mit Unruhe und Ungelegenheit
verknuͤpfft iſt; ja ſelbſt eine ſchnelle Zunahme, des
Vergnuͤgens ohngeachtet, meiſt viel zu ſchaffen
macht.


§. 17.
Die letzten Begebenheiten moraliſcher
Weſen.


Jeder merckt von ſich ſelbſt, daß der Unter-
gang
eines Dinges eine Hauptbegebenheit jedes
Dinges, und alſo auch moraliſcher Dinge und
Weſen ſey. Der Untergang aber iſt hier dem
Anfange aͤhnlich. Nicht allein, wenn die Per-
ſonen ausſterben, welche darzu gehoͤren, oder
wenn ſie ihren Willen insgeſamt aͤndern, hoͤret
eine
[71]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
eine Sache auf, ſondern auch denn ſchon, wenn
es anfaͤngt ein Werck eintzelner Menſchen zu wer-
den, mit deren Tode es aufhoͤren ſoll. Alſo ge-
het ein Cloſter ſchon unter, wenn weiter keine
novitii duͤrffen aufgenommen werden; es wird
nunmehr zu einem perſonell Werck, von deren
Leben die gantze Dauer der Sache abhanget.
Manchmahl traͤgt ſich aber bey Sachen, die ehe-
ſtens voͤllig untergehen wuͤrden, noch vor dem Un-
tergang eine Erneuerung zu: wie ſolches beym
Adel ſehr gewoͤhnlich iſt.


§. 18.
Das Aenſſerliche, Geheime und Jnnerliche
der moraliſchen Dinge.


Das Aeuſſerliche und Jnnerliche muß
bey moraliſchen Dingen etwas anders genommen
werden, als bey coͤrperlichen Dingen. Das
Aeuſſerliche und Offenbare iſt, was an der
Sache und denen Perſonen, die damit zu thun
haben, auch Fremden in die Sinne faͤllt: als bey
einer Handlung das Waarenlager, welches ent-
weder gefuͤllet, oder im Gegentheil groſſen theils
leer iſt: das Geheime iſt, was nur denen, die
mit der Sache ſelbſt zu thun haben, in die Sin-
ne faͤllet: als der Zuſtand einer Handlung, wel-
cher der Buchhalter aus den Contobuͤchern, wie
auch alle die hineinſehen duͤrffen, bekannt und of-
fenbar iſt, aber Fremden unbekannt iſt: das Jn-
nerliche
aber beſtehet eigentlich in den Willen
der Menſchen, die bey der Sache concurriren.
Z. E. das Aeuſſerliche kan bey einer Handlung
E 4gut
[72]Drittes Capitel,
gut beſtellt ſeyn, als da iſt das Waarenlager:
das Geheime kan auch noch in guter Verfaſſung
ſeyn, wenn nehmlich die Handlung ein groſſes in
Caſſa oder auf Conto bey andern ſtehen hat. Laß
es aber ſeyn, daß dieſelbe ietzo von unverſtaͤndigen
und untreuen Handlungsfuͤhrern getrieben wird,
ſo iſt es mit derſelben, voriger guten Umſtaͤnde
ungeachtet, doch in Anſehung des Jnnerlichen
ſchlecht beſtellt. Alſo bey einer Academie kan das
Aeuſſerliche und Geheime noch viel Splendeur ha-
ben: wenn aber den Lehrern die Faͤhigkeit zu ab-
ſtrahiren abgehet, ſo wird ſich aus der Folge der
da aufwachſender Lehrer, welche immer ſeichter
werden, offenbaren, daß in dem Jnnerlichen ein
Fehler verborgen geweſen ſeyn muͤſſe.


§. 19.
Seiten der moraliſchen Dinge?


Das Wort Seite gehoͤrt eigentlich vor die
Coͤrper (§. 16. C. 1.); aber es iſt ſchon laͤngſt ge-
woͤhnlich, daß man ſo gar allen Dingen, und
alſo auch insbeſondere denen moraliſchen Weſen,
Seiten beylegt. Man kan den Eheſtand, den
Soldatenſtand, das Seeweſen auf dieſer und auf
jener Seite betrachten. Dieſes muß nun von der
Betrachtung beſonderer und eintzelner Theile
und Umſtaͤnde der Sache was unterſchiedenes
ſeyn, und beſtehet darinnen, daß man vielen
Theilen, die aus beſondern Urſachen von uns zu-
ſammen genommen werden, zuſammen betrach-
tet: alſo ſiehet man die Sachen auf der guten und
ſchlimmen, auf der ſchweren und leichten
Seite,
[73]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
Seite, auf der ſtarcken und ſchwachen Seite
an, wenn man das Gute oder das Boſe, das
Leichte oder das Schwere, das Vollſtaͤndige oder
Unvollſtaͤndige davon zuſammen nimmt, und in
Erwegung ziehet.


§. 20.
Und was daraus vor Begriffe entſtehen?


Eine Sache nach und nach auf mancherley
Seite betrachten, heiſſet die Sache beleuchten.
Nachdem man eine Seite betrachtet hat, und ſo
dann das Gegentheil derſelben in Betrachtung
gezogen wird, das heiſſet man eine Sache um-
wenden.
Man hat z. E. eine neue Abgabe
erſonnen: das Project wird beleuchtet, indem
man es nach ſeinem Ertrage, nach den erfor-
derlichen Unkoſten bey der Einnahme, nach der
Schwierigkeit bey der Eintreibung, nach der
Beſchwerde, womit die Unterthanen aufs neue
belegt werden, nach dem Schaden, der daraus
in der Handlung entſtehen kan, unterſucht. Man
wendet aber das Project um, wenn man etwa
anfangs das Gute und hernach das Boͤſe be-
trachtet: wenn man erſt, wie es ſich in Anſehung
des Fuͤrſten verhaͤlt, erweget, und ſo dann wie
in Anſehung der Unterthanen.


§. 21.
Wie man gegen ein moraliſches Weſen ſich
verhalten kan.


Diejenigen, deren vereinigter Wille die Ex-
iſtentz eines moraliſchen Dinges ausmacht, heiſſen
Glieder. Da nun leicht zu erachten, daß wo
E 5viele
[74]Drittes Capitel,
viele Willen zuſammen kommen, ſolche nicht von
einerley Wichtigkeit bey der Sache ſeyn werden,
alſo unterſcheiden ſich, wo Glieder ſind, diejeni-
gen gar bald, auf deren Willen das meiſte an-
kommt, welche man Hauptperſonen nennet.
Da aber jedes moraliſches Weſen in anderer Men-
ſchen ihr Thun und Laſſen einen Einfluß haben
muß, ſo werden dieſe, nachdem ſie Nutzen oder
Schaden davon haben, oder zu haben ſich ein-
bilden, gemeiniglich unter dem Nahmen der
Freunde und Feinde begriffen. Um ſie, in ei-
nen Begriff zuſammen zu faſſen, wollen wir ſie
Theilnehmer nennen. Wer aber weder Scha-
den noch Nutzen von einem moraliſchen Weſen
hat, und doch davon weiß, der heiſſet ein Frem-
der.
Derjenige, der mit einer Sache gar nichts
zu thun hat, und auch nicht einmahl davon weiß,
der kommt gar nicht in Anſchlag, und wird in An-
ſehung deſſelben Dinges vor ein non ens zu ach-
ten ſeyn. Als in Anſehung des Wechſelcurſes
ſind die Hottentotten und die Hurons vor non en-
tia
zu achten.


§. 22.
Woraus Eintheilungen der Begebenheiten
entſtehen.


Die Begebenheiten eines moraliſchen Dinges
koͤnnen alſo verſchiedene Subjecta haben, und ent-
weder die Menſchen ſelbſt, die mit einer Sache
umgehen, betreffen, oder die coͤrperlichen Din-
ge,
die zum moraliſchen Weſen gehoͤren. Was
die Perſonen anlanget, ſo betrifft die Begeben-
heit,
[75]v. d. Begebenheiten der moral. Dinge.
heit, entweder die Glieder, worunter die Be-
gebenheiten der Hauptperſonen die merckwuͤrdig-
ſten ſind; oder die Theilnehmer: oder endlich
die Fremden oder Zuſchauer. Die letztern
werden in der Welt wenig geachtet, auſſer bey
den Gelehrten. So wird denen Faͤrbern wenig
daran liegen, was man in einem andern Welt-
theile, wo man ihre Faͤrberey nicht braucht, da-
von dencken moͤchte oder nicht: ein Gelehrter aber
hat gemeiniglich Freude daran, wenn nur eine
Menge Leute von ſeinen Gedancken und Erfin-
dungen Nachricht haben. Der Unterſchied kommt
daher, weil man von Wiſſenſchafften nicht leichte
Nachricht erhaͤlt, oder auch einen bloſſen Zuſchauer
abgiebt, ohne endlich ſelbſt daran durch die er-
langte Erkentniß Theil zu nehmen.


§. 23.
Andere Eintheilungen der Begebenheiten.


Da wir auch die Umſtaͤnde eines moraliſchen
Weſens in das Aeuſſerliche, Verborgene, und Jn-
nerliche eingetheilt haben; ſo koͤnnen die Begeben-
heiten dieſer Dinge auch ſo eingetheilt werden,
daß ſie ſich entweder in Anſehung des Aeuſſerli-
chen,
oder des Geheimen, oder des Jnnerli-
chen
begeben. Alſo bey einer Banco iſt eine
aͤuſſerliche Veraͤnderung, nachdem recht vieles
baares Geld, oder nicht vorhanden; ingleichen,
daß dieſelbe wenig oder mehr Vorſteher hat:
in Anſehung des Geheimen, ob ſie mehr activ- oder
paſſiv-Schulden hat: in Anſehung des Jnnerli-
chen, ob ſie Credit hat. Die Hiſtorien beſtehen
ge-
[76]Viertes Capitel,
gemeiniglich aus lauter aͤuſſerlichen Veraͤnderun-
gen. Als wenn z. E. Tacitus die Hiſtorie des
Roͤmiſchen Reaiments oder Republick gleich zu
Anfang ſeiner Annalen erzehlet, ſo haͤlt ſolche
lauter aͤuſſerliche Veraͤnderungen in ſich, welche
aus dem vorhergehenden innerlichen entſtanden
ſind; an ſich aber auch denen, die an der Roͤmi-
ſchen Buͤrgerſchafft keinen Theil gehabt haben,
haͤtten bekannt ſeyn koͤnnen. Mit denen darauf
folgenden ausfuͤhrlichen Erzehlungen vom Ende
des Auguſts, und der Regierung ſeiner Nachfol-
ger, gehet es hernach anders; und weil da viele,
ſowohl geheime als innerliche Begebenheiten von
Rom bemercket werden, ſo iſt auch der Tacitus
immer, als was wunderbares von einem Hiſto-
rienſchreiber, verehret worden.



Viertes Capitel,
von den
Begebenheiten der Menſchen,
und denen eintzeln Weltge-
ſchichten.


§. 1.
Begebenheiten an Leib und Seele machen
nur eine Sache aus.


Der Menſch beſtehet aus Leib und Seele,
die aufs genaueſte mit einander verbun-
den ſind, ſo daß die Begebenheiten dieſer
we-
[77]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.
weſentlichen Theile, als Begebenheiten einer eini-
gen Sachen angeſehen werden: wie ſie denn auch
ſo genau an einander hangen, daß es nicht moͤg-
lich iſt, nur eine Begebenheit des Leibes anzuge-
ben, daran die Seele nicht Antheil naͤhme; und
ſo auch mit den Veraͤnderungen der Seele. Doch
aͤuſſern ſich dieſe Begebenheiten bald hauptſaͤch-
lich in der Seele, bald hauptſaͤchlich im Leibe.
Denn ſo kommen in Anſehung des Verſtandes,
Erkentniß und Unwiſſenheit, Jrrthum und Wahr-
heit; in Anſehung des Willens, Tugend und
Laſter, Affecten und Entſchluͤſſungen vor; in An-
ſehung des Leibes aber Kranckheit und Geſund-
heit. Dieſes alles ſind Veraͤnderungen der gan-
tzen Perſon, die wir aber hauptſaͤchlich nur auf
der einen Seite erkennen. Ein Scholaſtiſcher
Philoſoph wuͤrde den Leib oder die Seele das ſub-
jectum quo
ſolcher Begebenheiten nennen.


§. 2.
Die erſten Begebenheiten des Menſchen.


Die Geburt iſt die erſte augenſcheinliche Be-
gebenheit der Menſchen. Die Erzeugung aber
gehoͤrt zu den verborgenen oder geheimen (§. 18.
C. 3.) Begebenheiten der Eltern; wodurch der
Anfang von dem Daſeyn eines andern Menſchen
gemacht wird. Der Vater aber iſt vor geſitte-
te Voͤlcker ein Hautptumſtand, den die Menſchen
von ihren und anderer ihrem Urſprunge zu wiſſen
hauptſaͤchlich noͤthig haben.


§. 3.
[78]Viertes Capitel,

§. 3.
Nothwendige und beſondere Begebenheiten
der Menſchen.


Die Veraͤnderungen, welche ſich mit dem ein-
mahl gebohrnen Menſchen zutragen, ſind entwe-
der nothwendige und natuͤrliche, die nach
dem Lauffe der Natur bey allen Menſchen ange-
troffen werden; als die Folge der verſchiedenen
Lebensalter; eſſen und trincken, mannbar werden
u. ſ. w. oder es ſind beſondere Begebenheiten,
die ſich nicht bey jedem zutragen, und alſo nicht
vermuthet werden koͤnnen. Letztere laſſen ſich
zwar auch auf gewiſſe Arten und Geſchlechter
reduciren, davon einige ſehr gaͤnge und gaͤbe in
der Welt ſind: als daß man verwaͤyſet iſt, daß
man arm iſt: daß man Unpaͤßlichkeiten hat. Sie
koͤnnen aber doch, als bey Perſonen von Wich-
tigkeit, mit gutem Grunde bey jedem individuo
angemercket werden, weil man ſie doch nicht
a priori wiſſen kan: da hingegen die nothwendi-
gen Begebenheiten bey eintzeln Menſchen nicht
pflegen angemerckt zu werden, als daß er Zaͤhne
bekommen, denn man kan ſolches von ſelbſt er-
meſſen.


§. 4.
Jeder Menſch befindet ſich allezeit in
einem Stande.


Weil die Menſchen in einer beſtaͤndigen und
ſehr alten Geſellſchafft mit einander leben; ſo iſt
faſt kein Zuſtand zu erſinnen, der nicht ſchon ſei-
nen bekannten Nahmen haben, und als eine ge-
wiſſe
[79]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.
wiſſe Art menſchlicher Zuſtaͤnde, allgemein be-
kannt ſeyn ſollte; dergeſtalt, daß man einen ſol-
chen Zuſtand als ein moraliſches Weſen betrach-
tet; die Armuth, die Kranckheiten, die Aemter,
die Ergoͤtzungen, alles hat ſchon ſeinen bekannten
Nahmen, und iſt ein ſchon bekannter Zuſtand. Da-
her ſo bald der Menſch gebohren, ja ſo bald er
empfangen worden, befindet er ſich in einem ge-
wiſſen Stande; der wie er das erſte mahl in der
Welt vorgekommen iſt, ſchon Aufſehens mag ge-
macht haben; als z. E. ein Vater und Mutter-
loßer Wayſe zu ſeyn; aber nunmehro ſchon ſo
bekannt iſt, daß jeder mit einem allgemeinem Be-
griffe ſolches Standes verſehen iſt.


§. 5.
Wie man den Stand eines Menſchen


Jeder Menſch befindet ſich in mancherley
Stande: er iſt z. E. ein Buͤrger, ein Handwercks-
mann, ein Ehemann, ein Kirchenvorſteher, ein
Vormund, ein Nachbar u. ſ. w. Man ſehe nur,
wie viel Dienſte manchmahl ein einiger Mann
hat. Unterdeſſen pflegen wir jedem nur einen
Stand zuzuſchreiben; und da gilt die Regel: a po-
tiori ſit denominatio.
Den vornehmſten Stand
eines Menſchen pflegt man alſo ſchlechtweg den
Stand deſſelben zu nennen.


§. 6.
im gemeinen Leben zu rechnen pfleget.


Nun fragt es ſich: welches der vornehmſte
Stand ſey? hier koͤnnen dreyerley in Anſchlag
kommen. 1. Derjenige Stand, womit ſich je-
mand
[80]Viertes Capitel,
mand am meiſten beſchaͤfftiget; 2. der Stand,
welcher uns am meiſten eintraͤgt; 3. der Stand,
der am meiſten Ehre hat. Der letztere wird ge-
meiniglich den andern vorgezogen, und im gemei-
nen Leben der Stand eines Menſchen genennet:
wovon wir die Urſache denen Moraliſten zu un-
terſuchen und zu beurtheilen uͤberlaſſen. Jn die-
ſer Abhandlung aber koͤnnen wir uns an dieſen ge-
meinen
Maaßſtab des Standes nicht halten,
ſondern der eine wird uns in den meiſten Faͤllen
ſo gut ſeyn als der andere.


§. 7.
Viele Begebenheiten verſtehen ſich von ſelbſt,
andere nicht?


Weil die Beſchaffenheit derer verſchiedenen
Arten von Staͤnden, aus der Erfahrung ſchon
laͤngſt unter den Leuten bekannt iſt; ſo kan man
von jedem, wenn uns ſein Stand bekannt, gleich
aus dieſem unſern Begriffe, und a priori vieles
einſehen, was ihm, vermoͤge ſeines Standes,
zu thun oblieget, und was ihm, vermoͤge deſſel-
ben, begegnen kan. Hingegen kan es auch ge-
ſchehen, daß in einem Stande ſich, wegen der
Umſtaͤnde der Zeit, manches zutraͤgt, welches
man bloß aus dem allgemeinen Begriffe von ſol-
chem Stande nicht hat einſehen koͤnnen: als daß
eine Gemeinde eine Verfolgung uͤberfaͤllt, dar-
auf rechnet jetzo wohl nicht leicht jemand, der ein
Predigtamt annimmt. Ueberhaupt aber kommen
bey eintzeln Perſonen auch individuelle Umſtaͤnde
vor, die mir der allgemeine Begriff nicht an die
Hand
[81]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.
Hand giebt. Als, ich weiß von jemanden, daß
er als Advocat practicirt; daraus kan ich freylich
nicht abſehen, wie viel er Proceſſe hat? und wem
er bedient iſt?


§. 8.
Woraus alltaͤgliche Begebenheiten


Was ſich aus dem allgemeinen Begriffe des
Standes, worinnen ſich jemand befindet, ſchluͤſ-
ſen laͤſſet, das heiſſen taͤgliche Verrichtungen,
und alltaͤgliche Begebenheiten; als daß ein
Cantzelliſt copirt, oder mundirt, daß der Soldat
auf die Wache ziehet, daß der Caßirer Geld ein-
nimmt und auszahlet. Das alles laͤſſet ſich aus
den allgemeinen Begriffen dieſer Staͤnde ſchon ab-
ſehen. Dergleichen Handlungen nun pflegen die
Aufmerckſamkeit der Menſchen wenig auf ſich zu
ziehen: niemand bekuͤmmert ſich drum, als wer
an ſolchen Verrichtungen ſelbſt Theil hat: Frem-
de, Abweſende, Nachkommen
bekuͤmmern
ſich nicht darum, auſſer wer vorwitzig iſt. Un-
terdeſſen machen doch dieſe taͤglichen, und nicht in
ſonderlicher Achtung ſtehenden Begebenheiten den
groͤſten Theil unſers Lebens aus.


§. 9.
und Thaten entſtehen.


Was aus dem allgemeinen Begriff unſers
Standes nicht fluͤſſet, und alſo auch nicht daraus ge-
folgert werden kan, und doch von uns geſchiehet,
das heiſſen Thaten. Es iſt zwar an dem, daß
man dieſes Wort hauptſaͤchlich von ſehr wichtigen
Handlungen, und beſonders von Kriegsthaten
Fbraucht:
[82]Viertes Capitel,
braucht: doch iſt jene weitlaͤufftigere Bedeutung
des Wortes nicht unbekannt; und da man ſelbſt
im gemeinen Leben ſowohl von ſchlechten als von
groſſen Thaten zu reden pfleget, ſo wird bey die-
ſer Eintheilung jener allgemeine Begriff aller-
dings voraus geſetzet. Die Thaten aber ſind ei-
gentlich das, was man unter eines Menſchen
Thun und Laſſen zu bemercken pflegt; denn ſolche
Handlungen ſind vor die Zuſchauer, und die, ſo
davon hoͤren, etwas unerwartetes, oder gar
was gantz neues; und ſie lernen ſich in vorkom-
menden Fallen darnach richten. Beydes macht
ihre Aufmerckſamkeit rege.


§. 10.
Was vom Stande eines Menſchen zur
Hiſtorie gerechnet werde?


Ohngeachtet jede Handlung eines Menſchen
zu ſeinen Begebenheiten gehoͤret, welche daher
ſaͤmtlich koͤnnten bemerckt, erzehlt, und in hiſtori-
ſche Nachrichten verwandelt werden: ſo werden
doch gemeiniglich die taͤglichen Verrichtungen und
alltaͤglichen Begebenheiten (§. 8.) wegen ihrer
groſſen Menge bald vergeſſen; hingegen bemerckt
man genauer, 1. wenn ein Menſch ſeinen Stand
veraͤndert: denn dieſes iſt allemahl was zufaͤlliges
und kan a priori nicht eingeſehen werden; es fol-
gen aber daraus eine Menge anderer, obgleich
nur taͤglichen Verrichtungen, die ſich aber auf
einmahl daraus uͤberſehen laſſen (§. 8.), folglich
ſind ſie hoͤchſt merckwuͤrdig. 2. Bemerckt man
die Thaten, wegen der (§. 9.) angefuͤhrten Ur-
ſachen.


§. 11.
[83]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.

§. 11.
Fernere Hauptbegebenheiten der Menſchen: als
Gluͤcks- und Ungluͤcksfaͤlle.


Und ſo bemerckt man auch bey eintzeln Men-
ſchen ihre Gluͤcks- und Ungluͤcksfaͤlle; ſie moͤ-
gen ſich nun in Anſehung des Leibes, oder der
Guͤter, oder in dem Verhaͤltniß gegen andere
Menſchen zutragen, und eine wichtige Veraͤnde-
rung verurſachen. Alſo wird bemerckt, wenn je-
manden ſeine naͤchſten Freunde abgeſtorben ſind,
daß ſeine Stadt abgebrannt iſt, daß ſie belagert
worden, daß er eine Erbſchafft gethan, daß er
der Aelteſte im Collegio geworden. Nun haben
aber auch dieſe Gluͤcks- und Ungluͤcksfaͤlle, we-
gen der langen menſchlichen Erfahrung, ihre ge-
wiſſe Arten und Geſchlechter, deren Folgen
ſchon bekannt ſind: daher pfleget man auch von
dieſen Begebenheiten ihren Folgen wenig anzu-
mercken; es waͤre denn, daß ſie zu einer beſon-
dern That Anlaß gegeben haben.


§. 12.
Veraͤnderung der Sitten und Faͤhigkeiten?


Man bemerckt auch gerne an einem Men-
ſchen ſeine Sitten und Faͤhigkeiten. Dieſe,
wie ſie nicht auf einen Tag entſtehen, und auch
ſelten auf einmahl wieder abgelegt werden, ſo ge-
hoͤren ſie zu den Dingen, welche ſind: als daß
jemand ein Zaͤncker, ein Saͤuffer, ein ſtiller, ein
fleißiger Mann iſt. Der Sitz derſelben iſt haupt-
ſaͤchlich in der Seele; laſſen ſich aber zuverlaͤßig
aus den aͤuſſerlichen Wercken und Thaten erken-
F 2nen.
[84]Viertes Capitel,
nen. Jndem man aber aus eintzeln Faͤllen und
Exempeln auf eine Faͤhigkeit, und auf eine be-
ftaͤndige Gemuͤthsverfaſſung
ſchluͤſſet, ſo ge-
ſchiehet ſolches unter dem Titul der Erfahrun-
gen,
und iſt eigentlich nicht ein Schluß, ſondern
ein locus communis; bey denen allerdings Vor-
ſicht zu gebrauchen iſt; wie ſolches bey denen Phy-
ſicaliſchen Erfahrungen noͤthig iſt (§. 41. C. 2.).
Die Veraͤnderung der Sitten waͤre freylich eine
der wichtigſten Begebenheiten eines Menſchen,
der mit denen Veraͤnderungen des Standes in
gleichen Paare gehet (§. 10.): weil aber ſolches
gemeiniglich nach und nach und unvermerckt
geſchiehet, ſo kan bey Veraͤnderung der Sitten
leichter bemerckt werden, daß ſie geſchehen, als
daß, und wenn ſie geſchiehet.


§. 13.
und der Todt.


Wenn der Menſch verſchiedene Alter durch-
gegangen (§. 3.), ſich in mancherley Staͤnden
befunden (§. 5.), darinnen theils alltaͤgliche Ar-
beit getrieben (§. 8.), theils aber Thaten verrich-
tet (§. 9.), und unterdeſſen mancherley Gluͤcks-
und Ungluͤcksfaͤlle erfahren (§. 11.), auch wohl
ſeine Sitten geaͤndert hat (§. 12.); ſo iſt ihm
nichts uͤbrig, als ſein Ende, und der Todt; wel-
cher, als die letzte Begebenheit in dieſer Welt,
nicht weniger merckwuͤrdig iſt, als ſeine
Geburt.


§. 14.
[85]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.

§. 14.
Geſchlechtsnachrichten.


Es iſt ſehr gewoͤhnlich, ſich einen Menſchen,
als den Mittelpunckt vieler andern vorzuſtellen,
von denen er theils in Anſehung ſeiner Erzeugung
abhaͤnget, und die er theils erzeuget hat: welches
denn ſeine Vorfahren, theils ſeine Nachkom-
men
unter ſich begreifft. Er wird in Anſehung
der erſteren, als ein Zweig, in Anſehung aber
der letztern, als der Stammvater angeſehen.
Wenn nun die um ihn herumſtehenden Perſonen
ein beſonderes Anſehen haben, ſo kan es nicht
fehlen, daß ihm dieſes ein groſſes Anſehen, und
eine anſehnliche Geſtalt giebt; weil wir bey
coͤrperlichen Dingen das Anſehen derſelben eben-
falls, nach den umſtehenden Dingen, zu ſchaͤtzen
pflegen (§. 23. C. 2.).


§. 15.
Zufaͤllige Verbindung vieler Menſchen-
geſchichte.


Man pflegt auch vieler Menſchen ihre Ge-
ſchichte, nach der Einbildungskrafft, mit einan-
der zu verbinden, wegen einer gewiſſen Aehnlich-
keit,
obgleich ſonſten ihre Begebenheiten keine
Verbindung mit einander haben. So ſind des
Spizeliigluͤckliche und ungluͤckliche Gelehr-
te, Goetzens gelehrte Junggeſellen
bekannt.
Mein ſel. Vetter, U. G. Siber, hat von den
beruͤhmten Alemannen, und Gottſchalcken
geſchrieben, auch von denen Makarien, und
Martinen zu ſchreiben vorgehabt. Jn der in-
F 3nerlichen
[86]Viertes Capitel,
nerlichen Einrichtung der auf dieſe Art vereinig-
ten Geſchichte
iſt, auſſer dem, was wir von
eintzeln Lebensbeſchreibungen angemercket,
nichts beſonders zu beobachten.


§. 16.
Hiſtorie der Geſchaͤffte.


Eigentlich ſind die Begebenheiten, die wir zu
wiſſen verlangen, Begebenheiten eintzelner Men-
ſchen:
und es waͤre alſo eine recht natuͤrliche Er-
kentniß der Geſchichte, wenn wir wuͤſten, was de-
nen indiuiduis der Menſchen eintzeln begegnet iſt;
wie ſolches in denen Lebensbeſchreibungen geſchie-
het, deren inerliche Verfaſſung wir umſtaͤndlich
erklaͤret haben (§. 13. 14.). Allein es iſt uns
auch auf der andern Seite daran gelegen, daß
wir die Beſchaffenheit der Begebenheiten
ſelbſt erkennen, ſo daß uns an den eigentlichen Per-
ſonen, die in dieſelbe verwickelt ſind, weniger ge-
legen iſt. Daraus entſtehen nun verſchiedene Ar-
ten der Geſchichte. Denn ſo wird oͤffters 1. die
Hiſtorie dieſes oder jenes moraliſchen Dinges
ſorgfaͤltig aufgezeichnet. Denn wie dieſe ohne
Perſonen nicht ſeyn koͤnnen, als kan man die
dabey theilhabenden Menſchen (wenn man will,)
nur in ſo ferne betrachten, als ſie an dieſem oder
jenem moraliſchen Dinge Theil gehabt haben.
Von dieſer Art ſind die Hiſtorien der Reiche, der
Staͤdte, der Kloͤſter und anderer Geſellſchafften:
die biſchoͤffliche Wuͤrde u. ſ. w.


§. 17.
[87]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.

§. 17.
Hiſtorien von Kriegen und Haͤndeln.


Es ſind 2. die ſo genannten Haͤndel be-
kannt, da nehmlich Uneinigkeit und Zwietracht
mit denen daraus gefloſſenen Handlungen nach
ihren Anfang, Fortgang und Ende betrach-
tet werden. Die Kriege und Kriegshaͤndel ſind
als die wichtigſten, auch die bekannteſten: denn
kommen Rebellionen, Meutereyen, Proceſſe, wo-
bey Gewalt vor Recht gehet, Controverſten, da-
bey es an Schmaͤhungen, auch wohl Verfolgung
nicht fehlet, ingleichen verbotene Liebeshaͤndel ſind
auch bekannte Nahmen; welche alle ſolche Ge-
ſchichte anzeigen, wo man mehr auf die Folgen
der Begebenheit ſelbſt, als auf die Perſonen ach-
tung giebt.


§. 18.
Hiſtorien der Thaten.


Ferner werden 3. neue und ſonderbare Tha-
ten
bemerckt, mehr der Sache, als der Perſo-
nen wegen: als die erſten Reiſen nach Oſt- und
Weſt Jndien: die Hauptconcilia: Geſandſchaff-
ten: praͤchtige Beylager und Leichenbegaͤngniſſe.


§. 19.
Hiſtorien von wichtigen Geſchaͤfften.


Man iſt endlich 4. auch aufmerckſam auf ein-
tzelne wichtige Geſchaͤffte, welche ihre beſon-
dere Einrichtung haben, ſo daß man die Folge
derſelben aus dem allgemeinen Begriffe nicht wohl
abſehen kan, oder die von beſonderer Art ſind,
F 4und
[88]Viertes Capitel,
und Gelegenheit zu einer neuen Art von Ge-
ſchaͤfften
geben. Als vor dieſen iſt der recurſus
ad Comitia
nicht ſo bekannt geweſen, welcher
Reichsſtand aber es zuerſt gethan hat, der hat
ein neu Geſchaͤffte unternommen, das, wie noch
ietzo alle Recurs-Sachen thun, das Publicum ſehr
aufmerckſam gemacht hat. Wenn dergleichen
Geſchaͤſfte nach den buͤrgerlichen Geſetzen ſollen
beurtheilet werden, ſo werden es Faͤlle,caſus,
genennet, wiewohl auch die Aertzte die caſus
ſehr fleißig bemercken; und wenn man dieſe Ge-
ſchaͤffte nach den goͤttlichen Geſetzen beurthei-
len ſoll, ſo werden ſie caſus conſcientiae genen-
net. Alle Arten von Handlungen koͤnnen durch
beſondere Umſtaͤnde ſehr merckwuͤrdig werden:
als der Kauff von Dynkercken; die Erbauung
der hohen Pyramiden in Egypten. Auch werden
ſelbſt grobe Schandthaten, wo dieſelben ſelten
ſind, ſehr bemercket.


§. 20.
Eintheilung der Geſchichte in die Geſchichte ein-
tzelner Menſchen, und eintzelne Welt-
geſchichte.


Nun iſt es allerdings noͤthig, daß dieſe Art
der Geſchichte, welche den Geſchichten eintzelner
Menſchen entgegen geſetzt ſind, mit einem beſon-
dern Nahmen benennet, und unter einen allge-
meinen Begriff gebracht wuͤrden, damit man de-
ſto bequemer von allen zuſammen auf einmahl re-
den koͤnte. Wir wollen daher ſolche die eintzeln
Weltgeſchichte
nennen. Denn die ſo genann-
ten
[89]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.
ten Weltgeſchichte, welcher Nahme bekannt ge-
nug iſt, beſtehen aus lauter ſolchen Dingen, wie
wir (§. 16. 17. 18. 19.) bemerckt haben. Von
eintzeln Perſonen findet man ſelten weitere Nach-
richt, als in ſo ferne ſie in gewiſſe moraliſche We-
ſen einen Einfluß gehabt, oder beſondere Thaten
verrichtet, und auſſerordentliche Schickſale, wie
Ulyſſes, erlitten haben. Daher wir auch von
den uͤbrigen perſonellen Umſtaͤnden, ſelbſt groſſer
Monarchen, wenig Nachricht haben. Das uͤbri-
ge wird nehmlich entweder zu ihren natuͤrlichen
und nothwendigen Begebenheiten (§. 3.), oder
zun alltaͤglichen Verrichtungen (§. 8.), oder zu
den gemeinen Gluͤcks- und Ungluͤcksfaͤllen gehoͤ-
ren (§. 11.), die man der Aufmerckſamkeit nicht
wuͤrdig achtet, auch wohl niemanden, als die al-
lernaͤchſt dabey ſind, etwas angehen; andern auch
wohl deswegen, als was Geheimes, unbekannt
bleiben. Unſere haupthiſtoriſche Erkentniß iſt da-
her die Erkentniß eintzelner Weltbegeben-
heiten.


§. 21.
Alle Begebenheiten haben ihre Arten.


Bey allen Dingen, die da ſind, oder geſche-
hen,
haben wir zwar allgemeine Begriffe, dar-
unter die eintzeln Geſchaͤffte und Begebenheiten
koͤnnen gebracht werden, als Krieg, Frieden,
Reiſen, Kuͤnſte, Staͤdte, Kranckheiten, Be-
ſchimpffungen, u. ſ. w. dieſe allgemeinen Begriffe
aber ſind kein Stuͤck der hiſtoriſchen Erkentniß, ſon-
dern entſtehen aus derſelben durch die Abſtraction;
F 5helffen
[90]Viertes Capitel,
helffen aber nachher, und dienen, neu vorkommen-
de aͤhnliche Faͤlle deſto eher zu uͤberſehen. Der allge-
meine Begriff eines Congreſſes ſetzt uns bey einem
vorſeyenden Congreß gleich in Stand, daß wir
vieles davon gleich von uns ſelbſt und a priori
wiſſen koͤnnen, was einem andern, der keinen all-
gemeinen Begriff davon hat, nicht ins Hertz kom-
men wuͤrde. An ſich aber gehoͤren dieſe Begriffe
in die Philoſophie.


§. 22.
Unterſchied eintzelner Dinge, ſowohl von einan-
der ſelbſt, als von ihren Arten.


Die eintzeln Geſchichte und Dinge uͤber-
haupt, unterſcheiden ſich von denen allgemeinen
Begriffen, unter welchen ſie enthalten ſind: durch
die individuellen Umſtaͤnde, die in dem allge-
meinen Begriffe gar nicht enthalten ſind. Alſo
obgleich alle Brieffe, Brieffe ſind, ſo ſtehet doch
in jedem etwas anders, als in allen uͤbrigen: Je-
der Brieff wird auch von einer beſondern Per-
ſon,
an einem beſondern Orte, zu einer beſon-
dern Zeit geſchrieben. Jeder Kauff ſetzt beſon-
dere Perſonen, beſondere Sachen voraus. Eben
ſo werden auch individuelle Begebenheiten von
einerley Art durch die beſondern Umſtaͤnde der
Perſonen und Coͤrper, die dabey concurriren, von
einander unterſchieden. Die allerkuͤrtzeſte Art
aber eintzelne Geſchaͤffte und uͤberhaupt eintzelne
Dinge von einander zu unterſcheiden, iſt, daß man
Zeit und Ort ſich davon bekannt macht: indem
viel Dinge an einem Orte und zu einer Zeit nicht
geſchehen koͤnnen. Und bey Perſonen iſt der
Nah-
[91]v. d. Begebenheiten der Menſchen ꝛc.
Nahme ein Hauptmerckmahl, wodurch er von
andern Menſchen unterſchieden wird.


§. 23.
Willkuͤhrliche Verbindungen eintzelner
Weltgeſchichte.


So wenig es etwas in der hiſtoriſchen Erkent-
niß ſelbſt aͤndert, wenn man die Geſchichte vieler
Perſonen, die aber unter einander keine Verbin-
dung haben, wegen einer Aehnlichkeit, in eine
Abhandlung zuſammen bringt (§. 15.), ſo we-
nig kan es auch etwas aͤndern, wenn man etwa
Geſchaͤffte wegen einer Aehnlichkeit zuſammen
traͤget; die ſelbſt unter einander keine Verbindung
haben. Z. E. eine Sammlung von Verbrennung
der Ketzer iſt leicht zu machen, ſo bald man die
Materialien dazu, oder die eintzeln Geſchichte, wie
Ketzer ſind verbrannt worden, bey der Hand hat.
Es liegt nichts dran, ob man ſie nach alphabeti-
ſcher, chronologiſcher, geographiſcher, oder einer
andern Ordnung zuſammen traͤget.



Fuͤnfftes Capitel,
vom
Zuſchauer und Sehepunckte.


§. 1.
Der Zuſchauer iſt bey einer Erzehlung
eine Hauptſache.


Die Begebenheiten, und mithin auch die Ge-
ſchichte, ſind Veraͤnderungen derer wuͤrck-
lichen Dinge; und koͤnten alſo vorgehen,
wenn
[92]Fuͤnfftes Capitel,
wenn auch gleich keine Zuſchauer dabey waͤren.
Jeder vernuͤnfftiger Menſch iſt zwar in Anſehung
ſeiner eigenen Handlungen und Begebenheiten,
wegen ſeiner Vernunfft, ein Zuſchauer: doch han-
get die Exiſtentz ſeiner Handlungen und Begeben-
heiten von dieſem Zuſchauer nicht ab: und eben
ſo iſt es mit den Begebenheiten jedes Menſchen
in Anſehung anderer beſchaffen, daß es ihm an
Zuſchauern nicht fehlet: wie daraus erhellet, weil
etwas ſo ſchwer zu verbergen iſt. Aber alle die-
ſe Zuſchauer ſind zur Exiſtentz der Begebenheiten
ſelbſt gar nicht noͤthig. Allein bey der Erkent-
niß der Begebenheiten,
und denen daraus
fluͤſſenden Erzehlungen, iſt es eben ſo noͤthig, auf
den Zuſchauer und deſſen Beſchaffenheit achtung
zu geben, als auf die Sache ſelbſt. Von beyden
hanget die Erkentniß der Begebenheiten, und mit-
hin auch die Wahrheit der Erzehlungen ſelbſt ab.


§. 2.
Beſonders bey coͤrperlichen Dingen.


Denn ſo iſt bey Coͤrpern offenbar, daß ihre
Veraͤnderungen und Begebenheiten eine gantz an-
dere Geſtalt bekommen, nachdem ſich der Zu-
ſchauer in Anſehung derſelben verhaͤlt, ob er na-
he oder ferne, hoͤher oder tieffer ſtehet: ob er ach-
tung giebt, oder nicht. Die Fixſterne, wie itzo
alle Gelehrte wiſſen, ſind vor diejenigen, die nahe
genug ſind, Sonnen, vor uns aber, ſind ſie we-
gen der unbeſchreiblichen Weite, kleine Himmels-
lichter. Der Mond iſt bald voll, bald halb, bald
noch weniger erleuchtet, nehmlich vor uns; denn
aus einem andern Sehepunckte betrachtet, iſt er
alle-
[93]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
allemahl halb, oder weil er viel kleiner als die
Sonne iſt, etwas mehr als halb erleuchtet. Der
gantze Begriff der Mondesviertheile beruhet auf
dem Stand der Erdbewohner. Und dieſes gilt
nun von allen coͤrperlichen Veraͤnderungen, daß
dabey auf den Zuſchauer, nicht in Anſehung der
Erzehlung allein, ſondern auch der Empfindung
und der Begebenheit ſelbſt (weil wir ſie von der
Vorſtellung derſelben nicht trennen koͤnnen,) vie-
les ankommt. Der Zuſchauer aber iſt, der ei-
ne Sache als gegenwaͤrtig empfindet. Nach die-
ſen Erklaͤrungen kan man ſowohl durch die in-
nerliche,
als durch die aͤuſſerliche Empfindung
einen Zuſchauer abgeben; durch jene von dem,
was in uns ſelbſt vorgehet; durch dieſe aber von
dem, was auſſer dem Zuſchauer vorgehet.


§. 3.
Verſchiedene Begriffe des Sehepuncktes.


Bey der Empfindung der Coͤrper giebt man
allezeit hauptſaͤchlich aufs Sehen achtung, welches
nicht allein der deutlichſte Sinn iſt, ſondern auch der-
jenige, womit wir am weiteſten reichen; und bey die-
ſem Sinn nun iſt klar genug, was der Sehepunckt
ſey, nehmlich der Ort, wo das Auge des Zu-
ſchauers ſich befindet. Davon dependiren offen-
bar die ſichtbaren Begebenheiten, jeder er-
kennt ſie nach dem Stande ſeines Auges: und
was ſich dabey zutragen kan, iſt in der Optick
ſchon alles auf das klaͤrſte aus einander geſetzt wor-
den. Zum Gebrauch der hiſtoriſchen Erkentniß
aber muß dieſer Begriff auch ſchon bey ſichtlichen
Dingen etwas ausgedehnet werden: man muß
ihn
[94]Fuͤnfftes Capitel,
ihn uͤberhaupt vor den Zuſtand des Auges neh-
men; dergeſtalt, daß die Schaͤrffe des Auges,
die Krafft in die Naͤhe oder Ferne zu ſehen, mit
zum Sehepunckte zu rechnen iſt. Und dieſes iſt
die erſte Erweiterung des Begriffes vom Se-
hepunckte. Da wir aber mehrere Sinne haben,
auf deren innerliche und aͤuſſerliche Beſchaffenheit
oder Zuſtand, es eben auch ankommt, daß wir
gewiſſe Dinge ſo oder auch anders empfinden;
ſo muß man, wenn man des andern ſeine Empfin-
dungen begreiffen will, allerdings auf den Zuſtand
ſeiner Sinne ſehen; und daher muß bey den Em-
pfindungen uͤberhaupt, der Zuſtand unſerer Sinne,
der Sehepunckt genennet werden. Welches die
zweyte Ausdehnung dieſes Begriffes iſt, die wir
nicht enbehren koͤnnen.


§. 4.
Wozu noch der dritte kommt.


Die Erfahrung aber lehret, daß, nachdem
ein Menſch in ſeiner Seele beſchaffen iſt, wenn er
mit ſinnlichen Dingen umgehet, er bald Sachen
zu empfinden anfaͤnget, die er vorher nicht em-
pfunden hat, bald aber Dinge und Umſtaͤnde
nicht wahrnimmt, die ein anderer gleich wahr-
nimmt: daß er auch Sachen anders empfindet,
widrig, angenehm, leichte, langſam, nachdem er
geſund und munter, oder irgendwo beſchwert iſt.
Denn ſo ſind alle Krancken ſehr empfindlich und
unleidlich. Es iſt auch bekannt, daß ſelbſt Din-
ge, die mit Haͤnden gemacht werden, nicht alle
Stunden gleich gerathen wollen, ſondern daß ſich
manchmahl eine beſondere Unfaͤhigkeit aͤuſſert.
Jm
[95]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
Jm Durſte ſiehet man nicht darauf, was ſich et-
wa vor Unreinigkeiten im Waſſer oder Gefaͤſſe
befinden; in der Flucht fuͤhlet man die Sachen,
die ſonſt druͤcken, oder reiben, oder wohl gar ei-
ne groſſe Wunde machen, nicht. Daher hat
auch der innerliche Zuſtand der Seele eines Men-
ſchen einen Einfluß in das, was er durch die Sin-
ne empfindet, und in die Erzehlungen, die aus
ſolchen Empfindungen entſtehen. Nun bemerckt
man aber den Sehepunckt beym Auge deswegen,
weil davon die Empfindungen des Auges, und
die Geſchichte, die man dadurch erkennet, abhan-
gen (§. 3.); alſo wird auch noͤthig ſeyn, den Zu-
ſtand des Leibes und der Seele, mithin des gan-
tzen Menſchen zuſammen zu nehmen, wenn man
von ſeinen gehabten Empfindungen, und denen
daraus fluͤſſenden Erzehlungen Rechenſchafft geben
ſoll. Der Zuſtand alſo des gantzen Menſchen,
der einer Sache und Begebenheit zuſchauet, ma-
chet den Sehepunckt deſſelben Zuſchauers aus:
welches die dritte Erweiterung des Begriffes
vom Sehepunckte iſt (§. 3.).


§. 5.
Was ein Menſch vor Zuſchauer hat?


Bey Geſchichten eintzelner Menſchen iſt oh-
ne Zweifel jeder zufoͤrderſt ſein eigener Zu-
ſchauer,
ſowohl deſſen, was er thut, als deſ-
ſen, was ihm begegnet. Jm uͤbrigen iſt jeder
Menſch ein Zuſchauer vieler anderen; und jeder
Menſch hat gar viele Zuſchauer. Hierbey giebt
es nun ſo viele Arten der Zuſchauer, als es Ar-
ten
[96]Fuͤnfftes Capitel,
ten der Verbindungen giebt, unter Leuten, die
an einem Orte leben, oder die in der Naͤhe bey-
ſammen ſind: als Hausgenoſſen, und dieſe
von verſchiedener Gattung, Nachbarn, Mit-
buͤrger, Collegen, Clienten, Creditores
u. ſ. w.
und je mehr ſolche Verbindungen in einer Perſon
zuſammen kommen, deſto eher kan die eine die
andere genau in Obacht nehmen, und einen Zu-
ſchauer in Anſehung ſeiner mehreſten Handlungen
abgeben: daher man zu ſagen pfleget, man ken-
ne jemanden auswendig und inwendig. Nehm-
lich worzu jemand nicht gelangen kan, einen Zu-
ſchauer abzugeben, das haben wir das Geheime
geheiſſen (§. 18. C. 3.); welches bey eintzeln Per-
ſonen, als Perſonen, mit den Jnnerlichen einerley
iſt, (denn was ſo innerlich iſt, daß man es aͤuſſerlich
gantz und gar nicht mercken kan, das kan hier gar
nicht in Anſchlag kommen). Wer nun wegen
ſeiner vielfachen Verbindung faſt alles Thun und
Laſſen des andern zu beobachten Gelegenheit hat,
der erkennet alſo allerdings ſein Auswendiges und
Jnwendiges.


§. 6.
Die Zuſchauer eines moraliſchen Weſens.


Bey moraliſchen Weſen ſind augenſcheinlich
ſowohl die Mitglieder, als auch die Theilnehmer,
und Fremden, welche nahe bey der Sache ſind
(§. 21. C. 4.), vor Zuſchauer anzuſehen. Denn
alle dieſe wiſſen, und zwar als Gegenwaͤrtige,
was mit und in der Sache vorgehet. Doch ſie-
het man auch gleich, daß ſich alle dieſe Leute auf
ſehr
[97]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
ſehr vielerley, und auf ſehr verſchiedene Art ge-
gen das moraliſche Weſen verhalten koͤnnen, deſ-
ſen Zuſchauer ſie ſind. Denn ſo ſehen in einem
Collegio der Praͤſident und die Subalternen die
Sache auf gantz verſchiedene Art an. Die Ge-
ſandten ſowohl als ihre Livrebedienten haben an
einem Congreſſe Theil, und ſind Zuſchauer auf
gantz verſchiedene Art; daher gantz natuͤrlich folgt,
daß ſie ſich auch die vorgehenden Dinge auf gantz
verſchiedene Weiſe vorſtellen.


§. 7.
Die Zuſchauer der Haͤndel, Geſchaͤffte
und Thaten.


Bey Haͤndeln (§. 17. C. 4.), Thaten (§. 18.
C. 4.), und Geſchaͤfften (§. 19. C. 4.) pflegen vie-
lerley Perſonen vorzukommen, die wir, wie bey dem
moraliſchen Weſen (§. 21. C. 4.) in Mitglie-
der, Theilnehmer
und Fremde eintheilen koͤn-
nen. Jeder von dieſen giebt einen Zuſchauer,
der Haͤndel, Thaten und Geſchaͤffte ab, oder uͤber-
haupt der Weltgeſchichte (§. 20. C. 4.), mit wel-
chen er zu thun hat. Aber auch bey Haͤndeln,
Thaten, Geſchaͤfften, haben die daran nur eini-
gen Theil nehmen, nicht einerley Verhaͤltniß; ſon-
dern die nur jetzo angefuͤhrte Perſonen, die Mit-
glieder, Theilnehmer und Fremden, koͤnnen ein-
tzeln
noch von gantz verſchiedener Gattung ſeyn.
Jeder derſelben aber betrachtet die Sache nach
ſeinen Umſtaͤnden, das iſt, ſo viel ihn theils ſei-
ne Umſtaͤnde darzu veranlaſſen, theils aber ihm
ſeine Umſtaͤnde zulaſſen. Daher giebt es denn
Gſehr
[98]Fuͤnfftes Capitel,
ſehr viel Arten von Zuſchauern bey jeden Haͤndeln,
Thaten, Geſchaͤfften, und uͤberhaupt bey jeden
eintzeln Weltgeſchichten.


§. 8.
Jeder betrachtet die Sachen nach ſeinem
Stande;


Daß jemand mit gewiſſen eintzeln Perſonen,
oder mit gewiſſen moraliſchen Weſen, oder auch
mit gewiſſen Haͤndeln, Thaten, oder Geſchaͤfften
zu thun hat, oder damit verwickelt iſt, das ge-
hoͤret zu ſeinem Stand (§. 4. C. 4.). Nun be-
trachtet jeder die Sache nach ſeiner beſondern Ver-
bindung, die er vor ſich mit derſelben hat (§. 5.
6. 7.): folglich richtet ſich die Vorſtellung, oder
das Anſchauen der Geſchichte nach jedes Zuſchauers
ſeinem Stande, dergeſtalt, daß ſein Stand dar-
an ſchuld iſt, daß der eine dieſes, der andere je-
nes wahrnimmt, daß er die Sache auf dieſer, der
andere auf jener Seite betrachtet.


§. 9.
ingleichen nach ſeiner Stelle;


Wenn diejenigen, die in einerley Stande ſich
befinden, dennoch ſich zugleich in ſehr mercklich
verſchiedenen Umſtaͤnden befinden, ſo heiſſet
ein ſolcher beſonderer Zuſtand eine Stelle. Man
kan bey einer Sache die obere, untere, oder auch
eine mittlere Stelle haben: wie ſolches bey einem
Regimente zu erſehen, das aus gar ſehr ver-
ſchiedenen Perſonen zuſammen geſetzet iſt, die doch
alle zum Regimente gehoͤren, und mit demſelben
als Glieder verbunden ſind. Wie nun das An-
ſchauen
[99]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
ſchauen einer Geſchichte von dem Stande abhan-
get, alſo wird das Anſchauen einer Geſchichte
ebenfalls von der Stelle eines jede[n] abhangen.


§. 10.
und nach ſeinem innerlichen Zuſtande.


Wenn Leute ſich nicht allein in einerley Stand,
ſondern auch bey nahe in einerley Stelle, ja voͤl-
lig in einerley Stelle, (welches geſchiehet, wenn
einer der Nachfolger des andern iſt,) befinden, ſo
betrachten ſie doch einerley Sache oͤffters nicht auf
einerley Art; ſondern ihre Faͤhigkeit, Sitten,
ſchon habende Erkentniß, ja ihr gegenwaͤrtiger
verdrießlicher oder froͤlicher Zuſtand macht, daß
ſie verſchiedene Umſtaͤnde bemercken und zu Her-
tzen nehmen. Und ſo kan ein eintzelner Menſch
zu verſchiedener Zeit, wegen des veraͤnderten Zu-
ſtandes ſeiner Seele, die Sache gantz mit andern
Augen
anſehen. Wie ſolches die taͤgliche Er-
fahrung lehret, daß man den einen Tag mit der
Sache zufrieden iſt, die uns den andern Tag hoͤch-
ſtens mißfaͤllet, ohne daß ſich die Umſtaͤnde der-
ſelben geaͤndert haben. Der bloſſe Zuſtand der
Seele, welcher nicht immer einerley iſt, bringet
dieſe verſchiedenen Vorſtellungen hervor.


§. 11.
Stand, Stelle und Gemuͤthsverfaſſung ma-
chen einen Sehepunckt aus.


Bey coͤrperlichen Begebenheiten bemerckt man
den Sehepunckt, nach den drey verſchiedenen Be-
griffen, die (§. 3.) feſt geſetzt worden ſind, weil
davon die Vorſtellung der Sache, mithin die hi-
G 2ſtoriſche
[100]Fuͤnfftes Capitel,
ſtoriſche Erkentniß und die Erzehlungen abhan-
gen: und der Sehepunckt iſt nichts anders, als
der Zuſtand des Zuſchauers, in ſo ferne daraus
die Art des Anſchauens, und die Beſchaffenheit
der Erzehlung kan verſtanden werden. Da nun
die moraliſchen Dinge, Haͤndel, Geſchaͤffte und
Thaten von denen Zuſchauern auf verſchiedene
Weiſe angeſehen werden, nachdem dieſe ſich in
verſchiedenen Staͤnden (§. 8.), Stellen (§. 9.),
und Gemuͤthsverfaſſungen befinden (§. 10.), ſo
iſt dieſes zuſammen genommen, der Sehepunckt
in Anſehung aller ſolcher Dinge, die von Coͤr-
pern unterſchieden ſind. Und dieſes iſt alſo die
vierte Ausdehnung des Begriffes vom Sehe-
punckte (§. 4.).


§. 12.
Allgemeiner Begriff des Sehepunckts.


Da nun der Sehepunckt nach den verſchiede-
nen Beſchaffenheiten der Objeckten und der Zu-
ſchauer, in ſo verſchiedener Weitlaͤufftigkeit muß
genommen werden, ſo iſt dienlich, daß man dieſe
Begriffe ſaͤmtlich unter einen allgemeinen Begriff
bringe: welcher folgender iſt. Der Sehepunckt
iſt der innerliche und aͤuſſerliche Zuſtand eines
Zuſchauers, in ſo ferne daraus eine gewiſſe und
beſondere Art, die vorkommenden Dinge anzu-
ſchauen und zu betrachten, fluͤſſet. Ein Begriff,
der mit den allerwichtigſten in der gantzen Philo-
ſophie im gleichen Paare gehet, den man aber
noch zur Zeit zu Nutzen anzuwenden noch nicht
gewohnt iſt, auſſer daß der Herr von Leibnitz
hie
[101]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
hie und da denſelben ſelbſt in der Metaphyſick und
Pſychologie gebraucht hat. Jn der hiſtoriſchen
Erkentniß aber kommt faſt alles darauf an.


§. 13.
Bey moraliſchen Dingen kommen die Seiten
lediglich vom Zuſchauer her.


Wenn man den Coͤrpern Seiten beylegt, ſo
findet man manchmahl den Grund in der innerli-
chen Beſchaffenheit derſelben, oͤffters aber auch
in dem Zuſtande des Zuſchauers (§. 16. 31. C. 2.),
wenn man aber dem moraliſchen Weſen Seiten
beylegt, ſo beſtehet es darinnen, daß man gewiſ-
ſe Umſtaͤnde und Theile zuſammen nimmt, und
ſie ſich auf einmahl, oder unmittelbar auf einan-
der vorſtellet (§. 19. C. 3.). Davon kan nun
nicht der Grund in der Sache ſelber liegen, ſon-
dern er muß in dem Zuſchauer zu ſuchen ſeyn, der
vermoͤge ſeiner beſondern Umſtaͤnde und Gedenck-
art, ſolche Determinationen vor andern bemerckt
und zuſammen nimmt. Wenn alſo dem morali-
ſchen Weſen, mithin auch den Geſchaͤfften, Haͤn-
deln und Thaten Seiten beygelegt werden, ſo
kan dieſes ohne Vorausſetzung eines Zuſchauers
nicht gedacht werden. Es handelt z. E. jemand
von den Jlluminationen der Alten, wie Mahudel
gethan, ſo bringt und traͤgt er aus dem weitlaͤuff-
tigen Felde der Alterthuͤmer alles das zuſammen,
was zu den unnoͤthigen Gebrauch des Feuers an-
getroffen wird. Jn dem Autor liegt hier offen-
bar der Grund, warum ihm die Alterthuͤmer eben
auf dieſe Weiſe, und nicht auf eine andere, vor-
G 3ge-
[102]Fuͤnfftes Capitel,
geſtellet werden; und die Urſach wird wohl ſeyn,
daß er an dieſer Vorſtellung ein beſonderes Ver-
gnuͤgen findet.


§. 14.
Sehepunckte bringen auſſer den Seiten noch
eine gewiſſe Einſicht hervor.


Wenn denn alſo geſetzt wird, daß viele Per-
ſonen einerley Sache auf einer gewiſſen Sei-
te
anſehen, ſo betrachten ſie dennoch dieſelbe des-
wegen noch nicht auf einerley Art; ſondern ſie
beweiſen ferner daran eine verſchiedene Einſicht.
Man fuͤhre z. E. eine Menge Kriegs- und Artil-
leriekundige, Schuͤler und Meiſter in ein Zeug-
hauß, ſo werden ſie den groſſen Vorrath vom Ge-
ſchuͤtze, alle als eine Sache, die zu ihrer Profeſ-
ſion gehoͤret, anſehen, ſie werden ihn auch alle,
in Anſehung ſeines Gebrauchs, und alſo auf ei-
nerley Seite anſehen; aber deswegen doch nicht
alle einerley beobachten: Viele werden noch man-
ches mit Verwunderung anſehen, was ein ande-
rer gar uͤberſiehet: manche werden bloß auf die
Menge, andere aber zugleich und hauptſaͤchlich
auf die Ordnung achtung geben; einige werden
die Proportion der verſchiedenen Gattung von Ge-
ſchuͤtze beobachten. Und ſo werden auch bey
Beſchauung eines Muͤntzcabinets die Zuſchauer
auf gar ſehr verſchiedene Urtheile verfallen, wel-
che von einer verſchiedenen Einſicht zeugen.


§. 15.
[103]vom Zuſchauer und Sehepunckte.

§. 15.
Hauptarten der Sehepunckte, wovon die
Einſicht abhanget.


Nun laͤſſet ſich jede Sache auf gar vielen Sei-
ten anſehen, nachdem Staͤnde moͤglich ſind, von
welchen Zuſchauer daruͤber kommen. Und wie dieſe
Staͤnde unzehlig ſind, alſo ſind auch die Seiten
unzehlig, auf welchen einerley Sache betrachtet
werden kan. Was vor eine Menge Leute von
verſchiedenen Staͤnden kommen nicht bey einer
Kaͤyſerwahl und Kroͤnung zuſammen: jeder da-
von giebt nach ſeinem Stande auf verſchiedene
Dinge achtung: jeder haͤlt das, wenigſtens in
Anſehung ſeiner Perſon vor das wichtigſte, was
ihm am meiſten angehet. Und ein nicht gerin-
gerer Wechſel findet in Anſehung der Einſicht
ſtatt, mit welcher man einerley Sache betrachten
kan. Unterdeſſen giebt es doch gewiſſe hauptſaͤch-
liche Sehepunckte, welche eine beſondere Art der
Einſicht nach ſich ziehen, die man bey einem an-
dern Sehepunckte nicht haben kan. Und dieſe
Arten verdienen in unſerer Anleitung zur hiſtori-
ſchen Erkentniß beſonders bemercket zu werden:
weilen die daraus fluͤſſenden Erzehlungen in man-
chen Faͤllen ſo verſchieden ausfallen koͤnnen, daß,
wenn Leute von verſchiedenen Sehepunckten ihre
Erzehlungen gegen einander halten, ſie einander
gar nicht verſtehen: Fremde aber ſich einbilden,
einer muͤſſe darunter muthwillig die Unwahrheit
geſagt haben.


G 4§. 16.
[104]Fuͤnfftes Capitel,

§. 16.
Sehepunckt der Jntereſſenten und der
Fremden.


Wir haben vorher die Zuſchauer in Mitglie-
der, Theilnehmer und Fremde eingetheilt (§. 7.),
man kan aber daraus zu gegenwaͤrtiger Abſicht
zwey Claſſen machen: Der Jntereſſenten und
der Fremden. Jhr Unterſchied iſt dieſer, daß
Fremde, als Fremde von einer Sache nicht mehr
wiſſen koͤnnen, als was oͤffentlich geſchiehet;
als bey einer Kaͤyſerwahl koͤnnen die Fremden
nichts mehr wiſſen, als was oͤffentlich vorgehet:
die Einzuͤge und Aufzuͤge der Geſandten und an-
weſenden Fuͤrſten: die Zuſammenkuͤnffte, aller-
hand Solennitaͤten: zu den Geſchaͤfften ſelbſt wer-
den Fremde nicht zugelaſſen, und alſo koͤnnen ſie
dieſelben auch nicht durch ſich ſelbſt wiſſen; ſon-
dern muͤſſen ſie erſt von denen Theilnehmern, als
den Zuſchauern, in Erfahrung bringen. Nun
heiſſet das an einer Sache geheim, was nur die
Theilhaber wiſſen (§. 18. C. 3.); daher wiſſen
die Fremden unmittelbar von einer geheimen Sa-
che nichts: aber die Mitglieder ſind nach ihren
verſchiedenen Gattungen Zuſchauer des Ge-
heimen.


§. 17.
Sehepunckt eines der zum erſten mahl zur
Sache kommt.


Es iſt ferner ein Hauptumſtand, ob man bey
einer Sache zum erſten mahle einen Zuſchauer
abgiebt, oder ob man ſchon mehrmahlen dabey
gewe-
[105]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
geweſen. Der Unterſchied beſtehet in dieſem Fal-
le darinnen: daß man das erſte mahl ohne Vor-
bereitung,
und der Sache unkundig, dieſelbe
betrachtet, bey den nachfolgenden und wiederhohl-
ten Vorſtellungen aber, die erſtere zu einer An-
leitung
dienet, ſo daß man die Sache nunmeh-
ro als derſelben kundig und verſtaͤndig anſiehet.
Es iſt wohl an dem, daß man aus Erzehlungen,
Beſchreibungen und Nachrichten im voraus Wiſ-
ſenſchafft von einer Sache erlangen kan, die man
beſchauen will, welches auch ſehr gute Dienſte da-
bey thut. Nur ſind ſolche aus Nachrichten er-
langten Jdeen gemeiniglich von der ſinnlichen
Vorſtellung, die man hernach erlanget, himmel-
weit unterſchieden. Und uͤberhaupt gehoͤren ſol-
che Nachrichten zur gelehrten Erkentniß, welche
einen beſondern Sehepunckt ausmacht. Die
Neuigkeit der Sache bringt theils die Verwun-
derung
hervor, theils eine Unentſchluͤßigkeit,
was man an der Sache bemercken ſoll, oder was
man mit ihr anfangen ſoll, welches beym wieder-
hohlten Anſchauen wegfaͤllet.


§. 18.
Sehepunckt der Freunde und Feinde.


Ferner iſt als ein Hauptſehepunckt bey allen
und jeden Sachen zu betrachten: ob man derſel-
ben Freund oder Feind iſt. Dieſe Eintheilung
iſt von der vorigen (§. 16.) ſehr unterſchieden.
Denn es kan geſchehen, daß ſelbſt die Hauptper-
ſonen bey einer Sache derſelben feind ſind: und
unter den bloſſen Zuſchauern und Fremden koͤnnen
G 5ſich
[106]Fuͤnfftes Capitel,
ſich Freunde der Sache finden. Der Unterſcheid,
der daraus im Anſchauen und in der Vorſtel-
lung entſtehet, iſt dieſer; daß, wer abgeneigt iſt;
welches der geringſte Grad der Feindſchafft iſt,
und alſo in allen Graden der Feindſchafft ent-
halten iſt, 1. nicht die Aufmerckſamkeit zur Sa-
che bringt, als wie der Freund. Die Natur der
Abneigung bringt dieſes ſo mit ſich, und nur die
Begierde zu ſchaden kan einen Feind aufmerck-
ſam machen. 2. Daß dem Feinde das Boͤſe
und die Fehler allezeit mehr einleuchten, als das
Gute; ſo wie hingegen der Freund auf das Gute
allemahl aufmerckſamer iſt, als auf das Boͤſe.


§. 19.
Sehepunckt aus einer hoͤhern und niedern
Sphaͤre.


Ferner iſt ein groſſer und wichtiger Unter-
ſcheid, ob man eine Sache aus einer hoͤhern
Sphaͤre
anſiehet, oder aus einer niedrigen
und geringern. Eine Handlung kan ſowohl
von einem Amſterdammer Kauffmanne, der nach
Oſt- und Weſt-Jndien handelt, betrachtet werden,
als von einem Landkraͤmer. Jeder von dieſen
wird ſie gantz gewiß anders anſehen. Ein Car-
dinal ſiehet ein Bißthum gewiß mit andern Au-
gen an, als ein Canonicus bey einem kleinen
Stiffte. Bey dieſem Sehepunckte aͤuſſert ſich
der Unterſchied darinne, daß, was dem einen ei-
ne Kleinigkeit iſt, das wird dem andern eine
Sache von groſſer Wichtigkeit ſeyn: was der
eine uͤberſiehet, das wird der andere ſorgfaͤltig
bemer-
[107]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
bemercken. Ein Bibliothecarius des Vaticans
ſiehet einen Vorrath von Buͤchern gewiß anders
an, als der Bibliothecarius einer Privatbiblio-
thec, welche gemeiniglich aus Ermangelung der
fonds nicht allzugroß zu ſeyn pflegen: wiewohl
dieſe beyden, als Gelehrte, die Sache auf ge-
wiſſe Weiſe aus einerley Sehepunckte anſehen;
und daher einander ziemlich nahe kommen koͤn-
nen, welchen Sehepunckt wir gleich beſonders be-
mercken wollen.


§. 20.
Sehepunckt der Gelehrten und Ungelehrten.


Gelehrte nennen wir, die mit Wiſſenſchaff-
ten, wenigſtens eine Zeitlang, beſtaͤndig umge-
gangen ſind, und ſich auſſer eintzeln vielen Nach-
richten, eine Faͤhigkeit mit allgemeinen Wahr-
heiten umzugehen erworben haben: denen alſo die
Ungelehrten entgegen geſetzt werden, d. i. ſol-
che, die von abſtracten Wiſſenſchafften keine Er-
kentniß haben, ob ſie gleich ſonſten guten natuͤrli-
chen Verſtand beſitzen, und denſelben durch dieſe
oder jene Kunſt, und durch die bloſſe Erfahrung
gebeſſert haben. Der Unterſcheid dieſer Men-
ſchen, als Zuſchauer betrachtet, iſt folgender:
Daß ein Gelehrter zu allem, was ihm zum er-
ſten mahl vorkommt, dennoch einiger maſſen
zubereitet
kommt, und ſich alſo auch eher darein
muß finden koͤnnen, als ein Ungelehrter. Will
man aber bey eintzeln Menſchen eine Vergleichung
anſtellen, ſo muß man allerdings ſubiecta von ei-
nerley natuͤrlichen Faͤhigkeit nehmen, deren einer
zun
[108]Fuͤnfftes Capitel,
zun Wiſſenſchafften angefuͤhret worden, der an-
dere aber nicht: ſo muß ſich ein groſſer Unter-
ſcheid zeigen. Ja, ein Gelehrter von mittelmaͤſ-
ſiger natuͤrlicher Munterkeit, muß es, wenn er
anders recht angefuͤhret worden, einem Ungelehr-
ten vor weit mehrern natuͤrlichen Geſchicke zuvor-
thun. Auch wiſſen Gelehrte die Wuͤrckungen der
Einbildungskrafft von den Empfindungen beſſer
zu unterſcheiden.


§. 21.
Sehepunckt eines academiſchen Lehrers.


Unter den Gelehrten aber, moͤchte denen Leh-
rern auf hohen Schulen,
wenn ſie geuͤbt
ſind, ein beſonderer Sehepunckt zugeſchrieben
werden. Denn nicht allein ihr anhaltendes Nach-
dencken und Lernen, welches bey andern gemeini-
glich mit den academiſchen Jahren aufhoͤret, auſ-
ſer was etwa die Erfahrung ihnen noch lehret,
muß bey denſelben eine beſondere Faͤhigkeit erwe-
cken, ſondern auch ihr beſtaͤndiges Lehren giebt
dem Verſtande eine beſondere Krafft. Denn da-
durch werden die Jdeen, welche die Gelehrſam-
keit ausmachen, immer erneuert, und zu einem
hoͤhern Grade der Klarheit gebracht, welche
zu erlangen ohnmoͤglich iſt, wenn man ſeine Ge-
dancken andern bekannt zu machen keine Gelegen-
heit hat: ſie werden auch durch die oͤfftern Leſ-
und Diſputiruͤbungen mehr und mehr gelaͤutert,
worzu, auſſer dieſen Umſtaͤnden, keine Veranlaſ-
ſung vorhanden iſt. Weil auch Lehrer auf Aca-
demien beſtaͤndig mit Lehrern von andern Facul-
taͤten
[109]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
taͤten und Wiſſenſchafften umgehen, ſo werden
ihre Jdeen gegen tauſenderley andere obiecta ge-
halten; wodurch erſt ihr Nutzen, ihre moͤglichen
Anwendungen, aber auch ihre Maͤngel erhellen.
Ja endlich jeder Begriff wird zu einer gantzen
Abhandlung in der Seele, da man denſelben
Stunden lang zu erwegen und auf allen Seiten zu
betrachten nicht allein Gelegenheit hat, ſondern
auch oͤffters ſo gar genoͤthiget wird.


§. 22.
Sehepunckt der Traurigen und der
Froͤlichen.


Es bekommen auch alle Sachen ein ander
Anſehen, nachdem man dieſelben mit froͤlichem
und aufgeheitertem Gemuͤthe, oder mit einer
niedergeſchlagenen Seele, ingleichen ob man
ſie ſatt oder hungrig anſiehet. Der Unterſchied
aͤuſſert ſich darinne, daß Verdrießliche uͤberall das
Unangenehme am erſten bemercken, welches Froͤ-
liche uͤberfehen; ſondern auch daran, daß ein Froͤ-
licher vieles eher bemerckt und geſchwinder iſt, als
ein Trauriger. Kommt eines von beyden zu ei-
nen hoͤhern Grad, den man Affeckt nennet; ſo
wird die verſchiedene Art, ſich die Sachen vorzu-
ſtellen, noch viel wichtiger.


§. 23.
Sehepunckt eines gantz Fremden.


Nicht weniger iſt betraͤchtlich, ob der Zuſchauer
mit denen, die die Begebenheit angehet, einerley
Sitten habe oder nicht; einerley Religion, oder
nicht; mithin, da Laͤnder und Voͤlcker, die zu-
mahl
[110]Fuͤnfftes Capitel,
mahl weit von einander entfernet ſind, gemeini-
glich andere Sitten und andere Religion haben,
ob der, der einer Begebenheit zuſiehet, aus eben
dem Lande ſey, oder nicht? Der Unterſchied iſt,
daß wenn eine Geſchichte und Begebenheit einen
Zuſchauer von gantz fremden Sitten hat, er ſich
ein gantz ander Bild und Vorſtellung davon macht,
als die Einheimiſchen vermuthen; und die Sache
dieſen ſelbſt fremde vorkommt, wenn ſie ſie nach
des Auslaͤnders Gedenckart erzehlen und beſchrei-
ben hoͤren. Die Verfaſſer der Juͤdiſchen, Per-
ſiſchen und Chineſiſchen Brieffe haben durch An-
nehmung einer ſolchen fremden Gedenckart, de-
nen bey uns bekannteſten Sachen ein gantz ander
Anſehen zu geben gewuſt. Wir muͤſſen aber die-
ſes etwas naͤher erklaͤren.


§. 24.
Nach was vor einer Regel die Anſchauungs
urtheile gemacht werden.


Der Menſch braucht zwar, als ein Zuſchauer,
ſeine fuͤnff Sinne; aber nicht allein: er nimmt
dabey auch die Vernunfft zu Huͤlffe; das iſt: ſei-
ne Seele iſt mit einer groſſen Menge allgemei-
ner Begriffe
angefuͤllet, die er bey vorkommen-
den eintzeln Empfindungen gleich anwendet; der-
geſtalt, daß er ſeine Empfindungen mit denen ihm
beywohnenden allgemeinen Begriffen, ſo viel als
moͤglich, verknuͤpfft. Z. E. Es ſiehet jemand ei-
nen Stein, der ſehr funckelt; dieſer wird gleich
dieſe beyden Eigenſchafften und die Empfindungen,
die er davon hat, zuſammen nehmen, und ſolches
nicht
[111]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
nicht einen funckelnden Stein, ſondern nach dem
ihm ſchon beywohnenden Begriff einen Diaman-
ten
nennen. Wenn wir jemanden ſchreiben ſe-
hen, ſo ſtellen wir uns kaum die beſondern Um-
ſtaͤnde, oder was in dem Begriff des Schreibens
enthalten vor, wenigſtens bemercken wir ſie nicht
eintzeln, als daß er eine Feder in der Hand habe,
daß ſie unten zugeſpitzt ſey, daß ſie in Dinte ein-
getaucht ſey, und daß ſie auf dem Papiere herum-
gefuͤhret werde: ſondern wir faſſen dieſes alles ſo
gleich in dem uns ſchon bekannten Begriffe und
Worte des Schreibens zuſammen; welches der-
jenige nicht thun wuͤrde noch koͤnte, der vom
Schreiben uͤberhaupt keine Nachricht haͤtte. Da-
her macht jeder Zuſchauer einer Sache nicht ſo
viel Urtheile davon, als ſich nach der Anzahl der
verſchiedenen Empfindungen machen lieſſen, ſon-
dern er bemerckt nur die verſchiedenen Abwechſe-
lungen und Veraͤnderungen, die nach denen ihm
beywohnenden allgemeinen Begriffen zuſammen
als eine Veraͤnderung und Begebenheit pflegen
angeſehen zu werden. Wie aber dieſes aus vie-
lerley Gruͤnden geſchehen koͤnne, iſt (§. 6. 7-11.
C. 1.) gewieſen worden. Als man ſiehet einem
Buchbinder und ſeinen Leuten zu: man wird
wahrnehmen, der eine legt Bogen zuſammen, der
andere ſchlaͤgt das Buch, der dritte hefftet, ein
vierter beſchneidet, ein anderer vergoldet, ein an-
derer endlich collationiret. Jede von dieſen Be-
gebenheiten beſtehet aus mehreren Handlungen,
die wir wuͤrcklich geſehen haben, welche man aber
ſo gleich in allgemeine Begriffe und gewiſſe Ar-
ten
[112]Fuͤnfftes Capitel,
ten der Begebenheiten verwandelt. Dieſes ge-
ſchiehet nun ſo geſchwind, und iſt mit denen Em-
pfindungen nach der natuͤrlichen Art zu gedencken
ſo genau verbunden, daß eines theils Zuſchauer,
wenn er ſich nachher auf das Geſehene beſinnt,
nichts mehr als ſolche Hauffen der Begebenheiten
zuſammen genommen, vorſtellt, andern theils
der Vortrag der auf ſolche Art angemerckten Be-
gebenheiten, durchgaͤngig vor die wahre, richtige
und vollſtaͤndige Erzehlung gehalten wird, ja nicht
geglaubt wird, daß die Sache auch wohl auf ei-
ne andere und umſtaͤndlichere Art koͤnne erzehlet
werden.


§. 25.
Sehepunckt eines Barbarn.


Nun weiß man, daß die Menſchen, nach ih-
ren verſchiedenen Landesarten, in den Eintheilun-
gen der Dinge, und in den allgemeinen Begrif-
fen, die man von Jugend auf zu erlangen pfle-
get, nicht genau uͤbereinkommen, ſondern daß ſie,
je weniger ſie wegen der Entfernung mit einander
zu thun haben, auch deſto mehr in ihren Begrif-
fen und Gedenckart unterſchieden ſind. Beſon-
ders, wenn die eine Nation cultivirt wird, die
andere aber in ihren rohen und wilden Weſen
bleibet, ſo erlangen die Leute von jener Nation
eine unſaͤgliche Menge von allgemeinen Begrif-
fen und Eintheilungen der Dinge, beſonders
der kuͤnſtlichen Coͤrper, der Wuͤrden, der Aemter,
der Geſchaͤffte, die den Leuten aus dem noch bar-
bariſchen Volcke nicht bekannt ſind. Sind die
See-
[113]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
Seelen mit andern Begriffen erfuͤllet, ſo bringt
auch jeder gantz andere Begriffe zur Betrachtung
jeder vor Augen habenden Sache; und macht da-
her auch gantz andere Urtheile, als der andere.
Geld umſetzen kommt uns ſchon als eine wich-
tige Handlung vor: ein wilder Amerikaner, der
den Handel nicht verſtehet, wuͤrde ſolches vor ein
bloſſes Umtauſchen anſehen, ohne daran zu geden-
cken, was wir agio nennen, und weil ihm die Ab-
ſicht unbekannt, ſolches vor ein Spiel halten, wie
Kinder mit einander zu treiben pflegen.


§. 26.
Ein Zuſchauer erlangt keine vollſtaͤndige
Geſchichte.


Wenn ein Zuſchauer die Begebenheiten, wel-
che er ſelbſt wahrnimmt, ſorgfaͤltig zuſammen faſ-
ſet, ſo wird doch gemeiniglich keine vollſtaͤndige
Geſchichte daraus entſtehen. Denn weil er die
Sache nach ſeinem Stande anſiehet (§. 8.) ſo iſt
ihm manches verborgen, welches doch zur Geſchich-
te gehoͤret. So ſollte man meinen, daß von dem
Artzte die Hiſtorie einer Kranckheit am allerbe-
ſten zu erfahren ſey; und ſo iſt es auch wuͤrcklich,
nehmlich in ſo ferne der Artzt nach ſeinem Stan-
de, oder Amte, Nachricht von der Kranckheit ha-
ben kan und muß. Wie aber ſein Amt nicht iſt,
den Krancken zu warten, oder beſtaͤndig um ihn
zu ſeyn: alſo kan gleichwohl, ohne ſein Vorwiſ-
ſen, vieles vorgehen, viele Zufaͤlle koͤnnen ſich er-
eignen, wodurch der Zuſtand der Kranckheit gar
ſehr geaͤndert wird (§. 3. C. 1.). Wenn man
Heine
[114]Fuͤnfftes Capitel,
eine Geſchichte daher nur aus ſeinem eigenen Se-
hepunckte betrachtet, ſo wird manches vorkom-
men, welches nach den vorhergehenden Umſtaͤn-
den unbegreiflich iſt; und man merckt alſo, daß
an der Geſchichte etwas fehle, was dieſelbe be-
greiffen zu koͤnnen noͤthig iſt. Die Wahrheit,
daß ein Zuſchauer die mehreſten Sachen nicht
uͤberſehen, und nach ſeinem eigenen Sehepunckte
allein, nicht in eine foͤrmliche Erzehlung bringen
koͤnne, erhellet aus mehreren Exempeln. Bey
einer Schlacht iſt unmoͤglich, die groſſe Geſchich-
te aus einem einigen Sehepunckte zu uͤberſehen:
weil nicht allein vieles zu weit entfernet iſt, ſon-
dern auch manches durch Huͤgel, Baͤume, Haͤu-
ſer und Doͤrffer bedeckt wird. Jedem Zuſchauer
ſind dabey nothwendig viele Dinge verdeckt. Bey
einem Friedenscongreß mag einer noch eine ſo
wichtige Perſon vorſtellen, ſo weiß er doch nicht
alles, was wichtiges daſelbſt vorgehet. Er muß
wahrnehmen, daß ein paar Partheyen auf den
point ſind, einen Particularfrieden zu ſchluͤſſen,
von deren Tractaten er wenig oder nichts gehoͤret.
Eine ſo groſſe und vortrefliche Erzehlung des Weſt-
phaͤliſchen Friedens, als das geprieſene von
Mayeriſche
Werck iſt, haͤlt dennoch von denen
Churbrandenburgiſchen und Churſaͤchſiſchen Un-
terhandlungen wenig in ſich: ohne Zweifel, weil
in denen Archiven, daraus dieſe Nachrichten ge-
nommen worden, jene Nachrichten nicht haͤuffig
vorhanden geweſen. So iſt es bey allen Ge-
ſchichten:
jeder Zuſchauer hat nur eine gewiſ-
ſe Ausſicht und Einſicht in dieſelbe: und das
hat
[115]vom Zuſchauer und Sehepunckte.
hat hernach ſeine ſichtbare Folgen in alle Erzeh-
lungen
derſelben.


§. 27.
Der Zuſchauer macht Anſchauungsurtheile.


Wenn wir nun die Handlungen eines Zu-
ſchauers nach der Vernunfftlehre und ihren Be-
griffen abwaͤgen, ſo findet ſich, daß 1. lauter Em-
pfindungen vorgehen; 2. daß wenn wir aber auf
jede acht geben, ein Anſchauungsurtheil in
unſerer Seele entſtehe. Denn indem wir genauer
darauf achtung geben, was vorgehet, ſo wird ſich
das Beſtaͤndige von der Veraͤnderung, die in
ihm vorgehet, diſtinguiren; und ſo entſtehet ein
Urtheil. Weil aber hierzu kein Schluß, noch
andere beſondere Handlung der Seele erfordert
wird, ein ſolches Urtheil zu faͤllen, ſo iſt es ein
Anſchauungsurtheil.



Sechſtes Capitel,
von der
Verwandelung der Geſchichte
im erzehlen.


§. 1.
Jnhalt dieſes Capitels.


Wenn man die wahre Beſchaffenheit der
Geſchichte, oder vielmehr der Erzehlun-
gen recht einſehen will, ſo iſt nicht ge-
nug, daß wir wiſſen, wie die Begebenheiten de-
H 2nen
[116]Sechſtes Capitel,
nen Zuſchauern auf verſchiedene Weiſe, gleichſam
als in Spiegeln von verſchiedener Gattung und
Stellung vorgeſtellet werden, wie ſolches im vo-
rigen Capitel ausgefuͤhret worden; ſondern wir
muͤſſen auch noch eine andere Handlung der See-
le, welche vor der Erzehlung vorhergehet, bemer-
cken, welche wir die Verwandelung der Ge-
ſchichte
nennen wollen; weil die Begebenheit
niemahls vollkommen ſo, wie ſie empfunden
worden, erzehlet wird, ſondern vielmehr nach ei-
nem gewiſſen Bilde, welches aus der Empfin-
dung und deren Vorſtellung durchs Gedaͤchtniß
herausgezogen wird. Denn wir erzehlen die Sa-
chen nicht in der Empfindung, und waͤhrender
Vorſtellung, ſondern nach derſelben: und rich-
ten uns alſo nach dem Bilde, welches durch die
Empfindung in unſere Seele iſt eingepraͤgt wor-
den. Da nun dieſes ſchon nicht der Empfindung
vollkommen gleich iſt, ſo wird noch erſt mancher-
ley Veraͤnderung damit vorgenommen, ſo bald
als der Vorſatz, die Sache andern zu erzehlen,
darzu kommt.


§. 2.
Nothwendige, Theilung der Begebenheiten,
die zugleich vorgegangen.


Jn der Empfindung werden uns viele Sa-
chen zugleich vorgeſtellt, die ſich bey der vorha-
benden Erzehlung einer Sache unmoͤglich auf ein-
mahl ausdrucken laſſen. Bey einer Solennitaͤt
werden zugleich die Glocken gelaͤutet, und die
Stuͤcken geloͤſet: aber ich kan beydes nicht auf
ein-
[117]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
einmahl erzehlen, ſondern eines muß auf das an-
dere warten. Ein Menſchengeſichte ſehe ich zu-
gleich und auf einmahl, aber ich kan es nicht auf
einmahl beſchreiben. Und ſo beſtehen faſt alle
eintzelne Empfindungen aus ſo vielen Umſtaͤnden,
daß ſie, ob ſie gleich auf einmahl empfunden wer-
den, dennoch nicht auf einmahl koͤnnen erzehlet
werden. Hieraus entſtehet nun offte eine Schwie-
rigkeit, wo man die Erzehlung, oder Beſchrei-
bung anfangen ſolle?
Faͤnget man ſie aber
nicht bey dem rechten Ende an, ſo entſtehet her-
nach eine Verwirrung, daß man aus der Sa-
che nicht klug werden kan, oder daß die Sache
wenigſtens unluſtig und unangenehm zu hoͤren
und zu leſen wird.


§. 3.
Nothwendige Weglaſſung vieler Umſtaͤnde.


Jn der Empfindung iſt ſehr vieles, ja al-
les determinirt, nach der Laͤnge, Groͤſſe, Brei-
te, die wir nur nach dem Augenmaſſe, auch wohl
deutlich, angeben koͤnnen: nach der Zahl, wenn
der Sachen nicht allzuviel ſind, als wie viel Ti-
ſche, Stuͤhle, Spiegel vorhanden ſind; nach der
Farbe, welche durch Staub und andere Umſtaͤn-
de ſich gar ſehr aͤndern kan, ohne daß noch dieſel-
be ihren Nahmen oder Gattung veraͤndert:
auch nach dem Grade: als bey der Waͤrme,
bey dem Lichte u. ſ. w. Dieſes alles iſt nicht allein
ſchwer mit Worten auszudrucken, ſondern auch
uͤberaus weitlaͤufftig; ſo daß man mit Beſchrei-
bung einer gemachten ſehr kurtzen Viſite gar leicht
H 3ein
[118]Sechſtes Capitel,
ein paar Stunden zubringen koͤnte. Dieſe bey-
den Schwierigkeiten noͤthigen den geweſenen Zu-
ſchauer, daß er bey ſeiner vorhabenden Erzehlung
eine Menge von individuellen Umſtaͤnden
auslaͤſſet,
und auslaſſen muß. Man unterſu-
che nur, wenn man erzehlet, wie es in einer Kir-
che, in einem Saale, in einer Werckſtaͤte, auf
einer Gaſſe ausgeſehen, ob man nicht allezeit,
auch wenn man auf das ausfuͤhrlichſte die Sache
erzehlen und beſchreiben will, dennoch gar ſehr
vieles weglaͤſſet, und im Sinne behalte.


§. 4.
Ausdruck der Begebenheit durch allgemeine
Woͤrter.


Und dieſe Auslaſſung geſchiehet nun auf eine
nicht ſo merckliche Art, wenn man, wie doch be-
ſtaͤndig und unvermeidlich geſchiehet, die indivi-
duellen Jdeen, die uns beywohnen, in der Er-
zehlung durch allgemeine Worte ausdruckt: denn
auf dieſe Art wird der individuelle Begriff in den
Begriff einer Art verwandelt, welche Begriffe
allezeit viel weniger determiniret ſind. Als ich
ſage: Da ſtunde eine Saͤule mit einem Knauffe:
welch ein Unterſcheid iſt nicht zwiſchen dem indivi-
duellen Begriff der Saͤule, den ich im Sinn ha-
be, und der die Geſtalt derſelben in ſich begreifft,
und dem allgemeinen Begriff, der die Bedeutung
des Wortes Saͤule ausmacht: wenn ich auch gleich
noch hinzuſetze: von doriſcher Ordnung, ſo
iſt doch dieſes nur ein allgemeiner Begriff, davon
die indiuidua ein gar ſehr unterſchiedenes Anſehen
haben
[119]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
haben koͤnnen. Nun aber beſtehet auch die al-
lerweitlaͤufftigſte Erzehlung aus ſolchen allgemei-
nen Worten: man kan alſo daraus ermeſſen, wie
vieles der Zuſchauer bey Erzeugung ſeiner Erzeh-
lung bey ſich und im Sinne behalten habe; weil
nehmlich ſolches alles zu erzehlen nicht moͤglich iſt.


§. 5.
Vermengung ſeiner Empfindungen mit den
innerlichen Eigenſchafften.


Wenn wir eine Sache nicht ohne Bewe-
gung
empfunden haben, ſo pflegen wir an ſtatt
die bloſſe Sache zu beſchreiben, die Bewegung,
die wir gehabt, in die Sache mit einzuflechten.
So ſagt man: Der Loͤwe macht ein fuͤrchterli-
ches
Gebruͤlle: man ſiehet eine ſchreckliche
Feuersbrunſt: der Fiſch Torpedo hat eine wun-
derbare
Wuͤrckung, nehmlich durch das bloſſe
Anruͤhren Krampff zu verurſachen: dieſes oder
jenes hat eine altvaͤteriſche Geſtalt. Man ſie-
het, daß alle dieſe Beywoͤrter nicht die innerli-
chen Eigenſchafften der Dinge, ſondern die Be-
wegungen, die durch ihre Vorſtellung in der
Seele entſtehen, anzeigen. Solche Verwicke-
lungen ſind in Geſchichten nicht zu vermeiden:
weil nehmlich in der Erzehlung nicht ſowohl un-
mittelbar die Begebenheit ſelbſt, als die Vor-
ſtellung
davon (§. 14. C. 1.), und zwar wie ſie
in dem Gedaͤchtniſſe hafften bleibet (§. 1.), aus-
gedruckt wird. Wer hierbey einen Anſtoß hat,
der darf ſich nur erinnern, daß der Zuſchauer ein-
mahl eine Hauptſache bey der Geſchichte iſt (§. 1.
H 4C. 5.):
[120]Sechſtes Capitel,
C. 5.): ohne welchen die Geſchichte zwar geſche-
hen, aber nicht zu einem Stuͤcke unſerer Erkent-
niß werden moͤgen.


§. 6.
Unvermeidliche Vergroͤſſerung und Ver-
kleinerung der Dinge.


Jndem man ſich beym Ausdruck ſeiner Em-
pfindungen, als gantz determinirter Begriffe, nur
allgemeiner Worte bedienen muß (§. 4.): ſo
brauchen wir mit unter ſolche, die bey jedem Men-
ſchen einen andern Begriff haben, nachdem jeder
denſelben von dieſen oder jenen Exempeln abſtra-
hiret hat, wie (§. 29. C. 2.) in der Materie von
allerhand Arten der Figuren gewieſen worden.
Wer eine Kirche beſchreibt, der ſollte eigentlich
ſagen, wie lang und breit dieſelbe waͤre: weil aber
dieſes entweder eine Ausmeſſung, oder wenigſtens
ein gutes Augenmaaß erforderte, in beyden Faͤl-
len aber eine langweilige Erzehlung verurſachen
wuͤrde, ſo ſagt man kuͤrtzlich: eine groſſe, oder
eine kleine Kirche. Allein dieſes Wort hat gantz
verſchiedene Bedeutungen, nachdem jemand nur
Dorfkirchen, oder Stadt- und Thumkirchen geſe-
hen hat. Jſt nun der Erzehlende von der erſten,
der Zuhoͤrer aber von der letzten Art, ſo wird ſich
dieſer einen gantz andern Begriff von der Kirche
machen, als des Erzehlers Meinung iſt. Die-
ſer hat die Sache ohne ſein Vorwiſſen und in ſei-
ner Einfalt vergroͤſſert. So iſt es auch mit
der Kleinheit, Schoͤnheit, Menge, Ueber-
fluß, Ordnung,
und vielen andern Begriffen
be-
[121]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
beſchaffen, darinnen die Menſchen, ohngeachtet
ſie einerley Worte brauchen, gar nicht mit einan-
der uͤbereinkommen. Durch ſolche allgemeine
Ausdruͤcke nun werden die Sachen in der Erzeh-
lung bald vergroͤſſert, bald verkleinert, nicht ſo-
wohl durch die Schuld des Erzehlers, als wel-
cher ſich nach ſeiner Empfindung richtet (§. 1.);
als durch die Schuld deſſen, der ſich die Sache
erzehlen laͤſſet, und die gehoͤrige Vorſicht nicht
braucht. Man muß nehmlich, wie bey den all-
gemeinen Anmerckungen, auf die Exempel ſehen,
worauf ſich des Erzehlers ſeine Begriffe gruͤnden,
(§. 40. 41. C. 2.), daß man daraus urtheilen kan,
was er groß, was er ſchoͤn u. ſ. w. heiſſet. Wenn
Leute aus kleinen Staͤdten von Pracht oder Reich-
thum erzehlen, ſo muß es von denen, die in der
Reſidentz wohnhafft ſind, und in Handelsſtaͤdten
wohnen, cum grano ſalis angenommen werden.


§. 7.
Vermengung der Begebenheit mit der all-
gemeinen Anmerckung.


Eine nicht minder gewoͤhnliche Veraͤnderung,
die der Zuſchauer mit dem, was er geſehen, vor-
nimmt, iſt, daß er eine allgemeine Anmer-
ckung
macht, und ſolche ſtatt der Begebenheit
ſelbſt vortraͤget. So ſagt man von jemanden:
er ſtehe fruͤh auf, er gehe dem andern vor, er
ſey reich, er ſey gelaſſenen Gemuͤths, an ſtatt,
daß man eigentlich nicht mehr weiß, als daß er
dieſen oder jenen Tag fruͤh aufgeſtanden, er ſey
dem andern bey einer gewiſſen Gelegenheit vor-
H 5gegan-
[122]Sechſtes Capitel,
gegangen: er habe eine gewiſſe Menge baaren
Geldes in ſeiner Stube gehabt, er habe ſich bey
einer gewiſſen Gelegenheit gelaſſen bezeigt. Manch-
mahl trifft es zu, daß der locus communis, den
wir gemacht, auch wahr iſt; oͤffters auch truͤgen
ſie. Worauf gemeiniglich ein groſſer Theil des
Betruges ſich gruͤndet, der bey Verheyrathun-
gen vorgehet, daß die Verlobten nach der Hoch-
zeit die Sachen gantz anders befinden, als vorher.
Wer aber mit der hiſtoriſchen Erkentniß umge-
het, muß ebenfals dieſe Gedenckart der Menſchen,
die nicht zu aͤndern iſt, wohl zu Hertzen nehmen,
theils um nicht ſelbſt ſolche falſche allgemeine An-
merckungen zu machen, theils auch manche wi-
derſprechende Zeugniſſe dadurch zu vereinigen: wie
wir ein ſolch Exempel insbeſondere beleuchtet ha-
ben, in einer Schrifft, von des Epiphanii Gebet,
vor des Biſchoffs Johannis zu Jeruſalem Recht-
glaͤubigkeit. Opuſc. Academ. Tom. II. p. 122.


§. 8.
Bedaͤchtliche Ausſonderung gewiſſer Stuͤcke
der Begebenheit.


Da der Sehepunckt eines Zuſchauers ſchon ſo
viel verurſacht, daß die Zuſchauer die Sache nicht
auf einerley Weiſe anſehen (§. 8. ſeqq. C. 5.); ſo
gilt dieſes nochmehr von einer Geſchichte, wenn
es mit derſelben zur Erzehlung kommt. Beym
Zuſchauen ſind wir nicht voͤllig Meiſter, was
wir wahrnehmen wollen, weilen es hauptſaͤchlich
darauf ankommt, was unſere Sinnen am meiſten
und ſtaͤrckſten in Bewegung ſetzet. Ein Kleid
mit
[123]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
mit vielen groſſen Diamanten wird bey einer groſ-
ſen Solennitaͤt auch ſolche Zuſchauer aufmerckſam
machen, welche nichts weniger willens waren,
als auf den Kleiderpracht achtung zu geben: ſie
werden die Macht des funckelnden Lichtes ſpuͤhren.
Ein bellender Hund macht auch die aufmerckfam-
ſten Zuhoͤrer irre. Kurtz, wir wiſſen, daß wir
unſere Sinne nicht voͤllig in unſerer Gewalt ha-
ben (S. v. Wolfs Gedancken von GOtt, der
Welt ꝛc. §. 226.). Wenn wir aber die Vorſtel-
lung der Sache einmahl in Sinn gefaſſet haben,
denn ſind wir Meiſter von unſerer Vorſtellung;
dabey kan hernach jeder nach ſeinem Sehepunckte
recht frey gedencken. Und da gehet auch haupt-
ſaͤchlich das an, was wir gewieſen haben, daß
man die Sachen nur immer auf einer Seite an-
ſehe (§. 13. C. 5.), und dabey eine gewiſſe Ein-
ſicht aͤuſſere (§. 14. C. 5.). Wir laſſen nehmlich
weg, was uns nicht anſtehet, und laſſen ſolche
Umſtaͤnde bey uns dunckel werden; und wir be-
ſchaͤfftigen
uns mit dem, was uns gefaͤllet, oder
zu unſern Umſtaͤnden dienet: welches denn in un-
ſere Erzehlungen, wenn wir es gleich nicht mer-
cken, und nicht willens ſind, etwas daran zu aͤn-
dern, dennoch einen groſſen Einfluß hat: oͤffters
aber auch wiſſentlich und vorſetzlich geſchiehet.


§. 9.
Einrichtung der Erzehlung nach einer ge-
wiſſen Abſicht.


Denn es muß doch, wenn wir etwas erzehlen
wollen, eine Urſach vorhanden ſeyn, warum wir
es
[124]Sechſtes Capitel,
es erzehlen wollen; deren ſich verſchiedene Arten
gedencken laſſen. 1. Hat der Menſch einen na-
tuͤrlichen Trieb, ſeine Gedancken andern bekannt
zu machen; und es iſt wie eine groſſe Erleichte-
rung des Hertzens, wenn wir unſere Angelegen-
heiten,
welche nichts anders als Geſchichte ſind,
andern eroͤffnen duͤrffen. Dies iſt die erſte Quel-
le vieler Erzehlungen; bey welcher insbeſondere
zu mercken iſt, daß ein jeder bald merckt, es ſey
einem andern mit Anhoͤrung alltaͤglicher Geſchaͤff-
te und Begebenheiten wenig gedienet, als die er
vor ſich ſelbſt wiſſen kan (§. 8. C. 4.); daher ſu-
chet denn ein jeder ſeine Erzehlung nach ſeinem
Vermoͤgen ſo einzurichten, daß ſie ein ſonderba-
res,
oder gar wunderbares Anſehen bekom-
me, und was neues ſey. 2. Jſt jeder, dem
was aufgetragen worden zu erkundigen, oder aus-
zurichten, verbunden, von dem, was geſchehen,
und wie er die Sachen befunden, Bericht ab-
zuſtatten. Dabey wird hauptſaͤchlich das Um-
ſtaͤndliche
erfordert. 3. Offters erzehlet einer
dem andern etwas zum Schertz und Zeitvertreib;
wobey nothwendig das Verdruͤßliche wegblei-
ben muß; auſſer in ſo ferne es auf einer plaiſan-
ten Seite vorgeſtellet werden kan. 4. Haupt-
ſaͤchlich aber erzehlen wir, daß ſich der Zuhoͤrer
darnach richten, und eine Entſchluͤſſung faſſen ſoll,
und denn iſt klar, daß man hierbey nur ſo viel
aus der uns beywohnenden Geſchichte heraus zu
nehmen habe, als zu dem Geſchaͤffte und zu der
Entſchluͤſſung dienen kan: ſo wird wegen der ver-
ſchiedenen Abſichten die Erzehlung immer etwas
anders
[125]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
anders ausſehen, als die Empfindung, wor-
auf ſich die Erzehlung gruͤndet, beſchaffen war.
Und dieſe Arten, die Geſchichte zu verwandeln,
ſind principia Logicæ naturalis, die von ſelbſt
ſich in der Seele aͤuſſern; und als eine ange-
bohrne
Erzehlungskunſt koͤnnen angeſehen
werden.


§. 10.
Groſſe Geſchichte werden in eine Begeben-
heit verwandelt.


Nun haben faſt alle moͤgliche Arten der Be-
gebenheiten ihre allgemeinen Begriffe und Ar-
ten, die ſo gar im gemeinen Leben bekannt ſind
(§. 21. C. 4.): dieſe fallen nun nebſt denen dazu
gehoͤrigen Worten einem Zuſchauer nothwendig
ein: er wird alſo unter andern Verkehrungen,
auch dieſe Veraͤnderung, deſſen, was er geſehen
und angeſchauet hat, vornehmen, daß er die gan-
tze Geſchichte auf einen ſolchen allgemeinen Be-
griff reducirt, und als eine einige Begebenheit in
einem eintzigen Satze
vorſtellet, der nur ſehr
wenige Merckmahle einer individuellen Begeben-
heit, als der Zeit, oder der Perſonen, oder des
Ortes, als die nothwendigſten (§. 21. C. 4.),
in ſich enthaͤlt: Z. E. es erzehlt jemand ein Bey-
lager,
eine Belagerung, eine Geſandſchafft,
eine Mißion, wo er dabey geweſen iſt. Da
wir Geſchichte von vielen Jahren und Jahrhun-
derten, als eine Geſchichte anzuſehen pflegen:
als der dreißigjaͤhrige Krieg: die Kriege der Nach-
folger des Alexanders: ſo iſt das wenige, wobey
ein
[126]Sechſtes Capitel,
ein eintzelner Menſch einen Zuſchauer abgegeben,
noch leichter in eine ſolche Kuͤrtze zuſammen zu
faſſen.


§. 11.
Das Hauptwerck aus einer Geſchichte her-
aus nehmen.


Wenn eine Geſchichte in einen einigen Satz
verwandelt wird, ſo heiſſet dieſer Satz und was
darinnen angegeben wird: das Hauptwerck,
der Hauptpunckt, die Subſtantz der Hiſto-
rie.
Es iſt alſo eine bey der Erzehlung merck-
wuͤrdige Veraͤnderung der Geſchichte, daß man
das Hauptwerck heraus nimmt (§. 10.). Die-
ſes iſt gemeiniglich das, was auch diejenigen, die
am wenigſten von der Sache wiſſen, dennoch wiſ-
ſen und in Erfahrung bringen, da hingegen die
Zuſchauer in Anſehung der Umſtaͤnde und Par-
ticularitaͤten
verſchiedene Nachrichten zu haben
pflegen. Der Urſprung dieſes Begriffes aber
giebt zu erkennen, daß das Hauptwerck doch
nicht lediglich von der innerlichen Beſchaffenheit
der Sache, ſondern hauptſaͤchlich mit vom Zu-
ſchauer abſtamme, der nach ſeiner Einſicht das-
jenige, was er an der Geſchichte wahrgenommen,
in einen einigen Satz zuſammen ziehet.


§. 12.
Urbild und Erzeugung der Erzehlung.


Alle Vorſtellungen der Dinge werden Bilder
genennet; zumahl wenn es Dinge ſind, die ſich
durch die Augen erkennen laſſen. Nunmehro ſe-
hen wir alſo, wie das Bild der Geſchichte,
welches
[127]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
welches ein Zuſchauer durch ſeine Sinne erhalten
hat, geaͤndert werde, ehe es zur Erzehlung kommt,
und zwar auf ſo verſchiedene Weiſe: als durch
Theilung der Dinge die zugleich geſchehen (§. 2.);
durch Vermiſchung der Empfindung und der Be-
gebenheit (§. 5.); durch allgemeine Ausdruͤcke
(§. 4.); durch unvermeidliche Auslaſſung vieler
individuellen Umſtaͤnde (§. 3.); durch unvorſetz-
liches Vergroͤſſern und Verkleinern (§. 6.); durch
die Bildung allgemeiner Anmerckungen (§. 7.);
durch Herauslaſſung vieler Stuͤcke (§. 8.), und
das auf verſchiedene Weiſe (§. 9.); endlich durch
Verwandelung der gantzen Geſchichte in eine ei-
nige Begebenheit (§. 10.); welches denn alles
auch wohl in einer einigen Erzehlung zuſammen
kommt. Damit wir nun von dieſen Bildern ei-
ner einigen Begebenheit ohne Vermengung reden,
und Lehrſaͤtze geben koͤnnen: ſo wollen wir die
Vorſtellung einer Geſchichte, wie ſie lediglich an-
fangs durch die Sinne iſt hervorgebracht worden,
das Urbild der Geſchichte nennen; die Veraͤn-
derungen aber die mit dieſem Bilde vorgehen, ehe
es zur Erzehlung kommt, wollen wir die Erzeu-
gung der Erzehlung
nennen.


§. 13.
Nothwendigkeit der Vergleichungen
im erzehlen.


Jn der Erzehlung ſelbſt aber pflegen noch
Veraͤnderungen des Urbildes vorzugehen. Denn
ſo haben zwar die meiſten Handlungen, Veraͤn-
derun-
[128]Sechſtes Capitel,
derungen, Eigenſchafften der Dinge ihre eige-
ne Nahmen
und Woͤrter, deren man ſich bey
und in der Erzehlung bedienen kan; allein dieſe
Worte wollen doch nicht allemahl, die Eigenſchaff-
ten der Dinge, die wir im Sinne haben, klar
und vollſtaͤndig genug ausdrucken; ſo daß wir
zu Gleichniſſen unſere Zuflucht zu nehmen uns
genoͤthiget ſehen, die theils unter dem Nahmen
der Metaphern, theils unter dem Nahmen der
Vergleichungen bekannt ſind. Alſo kan man
z. E. die Geſchwindigkeit eines Strohmes nicht
mit eignen Worten ausdruͤcken, wie ſich ſolche
dem Auge vorſtellt; ſondern man ſagt: Der
Strohm ſchuͤſſe fort wie ein Pfeil. Die Wen-
dungen der Baͤche in Gebuͤrgen weiß man nicht
anders zu geben, als daß ſie ſchlangenweiſe
lauffen. Das Blitzen, welches einige in der
Atmoſphaͤre des Mondes geſehen, wird wohl
nur in Ermangelung eines eigenen und vollkom-
men bequemen Wortes ſeyn gebraucht worden.
Nun iſt kaum zu verlangen, daß die Hoͤrer und
Leſer eines ſolchen Ausdrucks gantz genau eben die-
jenigen Begriffe damit verknuͤpffen ſollen, den
der Anſchauer und Erzehler damit verknuͤpfft:
denn dieſer weiß die Begebenheit an und vor ſich,
und haͤlt ſie gegen den Ausdruck: der andere aber
ſoll die Begebenheit aus der Beſchreibung erſt
lernen. Wie leicht geſchiehet es, daß er den
Ausdruck ſtaͤrcker annimmt, als es der Sinn
des Erzehlers mit ſich bringet.


§. 14.
[129]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.

§. 14.
Verwandelung der Geſchichte ins Sinnreiche.


Wenn aber der Zuſchauer uͤber dieſes ſinn-
reich
iſt, oder vor gut befindet, ſich bey ſeiner
Erzehlung ſinnreich auszudruͤcken; ſo werden die
Anſchauungsurtheile, woraus die Erzehlung be-
ſtehen ſoll (§. 27. C. 5.), noch ein ander Anſe-
hen bekommen. Die Rhetorick lehret uns, wie
man einen Satz, der Wahrheit unbeſchadet, auf
mancherley Weiſe ſinnreich ausdruͤcken kan: und
wer will einem Erzehler wehren, daß er ſich die-
ſer Gedenckarten bedienet? zumahl da alle dieſe
ſinnreiche Gedenckarten ſich nicht ſowohl vor all-
gemeine
Wahrheiten, und vor philoſophiſche
Lehrſaͤtze
ſchicken, als vor die hiſtoriſchen Wahr-
heiten. Wir haben aber dieſe Veraͤnderung der
Begebenheiten und ihrer Urbilder, welche die
Wahrheit derſelben keines weges aͤndern, ſondern
vielmehr in ein helleres Licht ſtellen ſoll, um ſo
viel mehr zu mercken, weil die aͤlteſten Geſchichte
gar offte in Liedern und Gedichten, und alſo
auf eine ſinnreiche Art ſind vorgetragen und fort-
gepflantzet worden. Wer wuͤrde von dem Troja-
niſchen Kriege viel wiſſen, wenn ihn nicht Homer
beſungen haͤtte? Trockene Erzehlungen hat man
ehedem nicht geachtet. Die Folge dieſer Ver-
wandelung der Geſchichte aͤuſſert ſich hauptſaͤchlich
in der Auslegung hiſtoriſcher Buͤcher; indem der-
gleichen ſinnreiche Erzehlungen, und zumahl poe-
tiſche Vorſtellungen, zwar eine Zeitlang, ſo lan-
ge ſich die Sitten und Begriffe nicht aͤndern, die
JSa-
[130]Sechſtes Capitel,
Sache ſehr erlaͤutern, aber bey gantz Fremden,
und bey der ſpaͤten Nachwelt eine ehrwuͤrdige
Dunckelheit
uͤber die Geſchichte ausbreiten.


§. 15.
Ein Sehepunckt giebt keine gantze Er-
zehlung.


Aus einem eintzigen Sehepunckte bringt man
nicht leicht eine gantze Geſchichte zuſammen; ſon-
dern es kommen auch wohl Dinge darinnen vor,
die unbegreiflich ſind (§. 26. C. 5.). Nun traͤgt
man Bedencken, ſolche Dinge zu erzehlen, von
denen man an ſich ſelbſt begreifft, daß ſie dem
Zuhoͤrer und Leſer unbegreifflich oder anſtoͤßig ſeyn
werden, und wovon er ehe das Gegentheil ver-
muthen muß. Man pflegt daher die Geſchichte,
die man erzehlen will, zu ergaͤntzen, und durch
eine Muthmaſſung, den Umſtand, wodurch die
Sache zuſammen hangend und begreiflich wird,
hinzuzufuͤgen. Weiß man aber zu gutem Gluͤck
aus Erzehlung anderer Zuſchauer, woran es ge-
fehlet, und was es mit dem Knoten vor Be-
wandniß habe, ſo pflegt man dieſe Nachrichten,
die eigentlich nicht unſer eigen ſeyn, dennoch
unter die ſeinigen zu miſchen. Wie man aber
durch Muthmaſſungen und Schluͤſſe Hiſtorien
und Umſtaͤnde entdecke, ſoll an ſeinem Orte ge-
zeigt werden. Nun aber geraͤth dieſe Ergaͤntzung
nicht allemahl. Andere bemercken dieſes Flick-
werck, und fangen an, demſelben zu widerſpre-
chen. Daher wird dieſer Umſtand in der Ein-
leitung zur hiſtoriſchen Erkentniß merckwuͤrdig.
So
[131]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
So hat mir bedencklich geſchienen, daß verſchie-
dene angeſehene Geſchichtſchreiber von der Bi-
bliotheck des Auguſtinus
erzehlen, die Van-
dalen haͤtten derſelben, bey Einaͤſcherung der
Stadt Hippon, verſchonet. Dieſes kam mir von
ſolchen Barbarn nicht glaublich vor, iſt auch bey
einer ſolchen Verwuͤſtung nicht recht thulich.
Kein Zeugniß funde davon nicht angefuͤhret, da-
her unterſuchte, was ein ſolches Vorgeben koͤnte
veranlaſſet haben; es ſchien mir aus dem Hertzen
der Geſchichtſchreiber, nicht aber aus Nachrich-
ten, die etwa nicht bemerckt worden, erwachſen
zu ſeyn. Sie erzehlen nehmlich, daß wenige Ta-
ge nach dem Tode dieſes Biſchoffs, der eine ſtar-
cke Bibliotheck geſammlet, die Stadt ſey erobert
und in Brand geſteckt worden; welches uns von
dem Schickſale derſelben Bibliotheck nichts gutes
hoffen laͤſſet; dennoch muſten ſie anfuͤhren, daß
ſeine Bibliotheck nach dieſem groſſen Ungluͤck uͤbrig
geweſen, und fleißig ſey gebraucht worden; die-
ſes waͤre nach den vorhergehenden Umſtaͤnden eben
nicht begreiflich: ſie haben es alſo durch dieſen
Umſtand, daß die Vandalen der Bibliotheck ver-
ſchonet, der ſich auf nichts anders als auf eine
Muthmaſſung gruͤnden kan, begreiflich machen
wollen. Eine ſolche Ergaͤntzung war auch dem
principio, daß man gerne was ſonderbares er-
zehlet (n. 1. §. 9.), gantz gemaͤß. Sie haben al-
ſo denſelben Umſtand ohne weiteres Bedencken
hinzugefuͤgt. Da ich aber in des Poßidons Le-
ben von dieſem Biſchoffe eine andere und natuͤrli-
chere Urſache gefunden, ſo habe jene verworffen
J 2in
[132]Sechſtes Capitel,
in dem Programmate: de fatis Bibliothecæ Au-
guſtini in excidio Hipponenſi.


§. 16.
Gruͤndliche Erzehlungen ſetzen noch andere
Verwandelungen voraus.


Alle dieſe Veraͤnderungen pflegen nun ſowohl
eintzeln, als in Menge, bey ſolchen Faͤllen vor-
zukommen, wo man nur gelegentlich die Ge-
ſchichte, wovon man ein Zuſchauer geweſen, vor-
traͤgt. Wenn man aber die Geſchichte, die
man als ein Zuſchauer weiß, gruͤndlich, nehm-
lich zur Belehrung der Entfernten, und der Nach-
welt, erzehlen und aufzeichnen will, ſo daß man
einen Geſchichtſchreiber ex inſtituto abgiebt, ſo
gehen noch mehr Verwandelungen vor, ehe es
mit der Beſchreibung und Erzehlung zur Wuͤrck-
lichkeit kommt. Zufoͤrderſt da jeder aus ſeinem
eigenen Sehepunckte keine vollſtaͤndige Geſchichte
erlangen kan, und aus den Umſtaͤnden, die ihm bey-
wohnend ſind, wohl abſehen kan, daß ihm mancher
betraͤchtlicher Umſtand verborgen ſeyn muͤſſe (§. 26.
C. 5.); ſo muß ſeine erſte Sorge ſeyn, daß er die ihm
ermangelnden Nachrichten von den uͤbrigen Zu-
ſchauern der Geſchichte herbeyſchaffe, und dieſe
dadurch ergaͤntze. Denn Muthmaſſungen wol-
len da nicht zureichen (§. 15.). Wer nur das
Leben eines Mannes beſchreiben will, den er noch
ſo wohl gekennet, wird dennoch der Nachrichten
von andern Leuten nicht entbehren koͤnnen. Die
Geſchichte einer eroberten Stadt wird nicht voll-
ſtaͤndig werden, wenn man nicht ſowohl die Nach-
richten aus der eroberten Stadt, als auch dem
Feld-
[133]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
Feldlager beyſammen hat und zuſammen haͤlt, und
wenn ſie auch der Feldherr ſelber, der ohne Zwei-
fel im Lager der vornehmſte Zuſchauer iſt, dieſel-
be beſchreiben wollte. Die Uebergabe geſchiehet
offt zu einer Zeit, da er ſich derſelben nicht gewaͤr-
tig iſt. Bey ſeinen eigenen Geſchichten, die man
doch am beſten wiſſen muß, kan man gleichwohl
ſolcher fremden Nachrichten nicht entbehren. Denn
der Feinde ihre Jntriguen und Anſchlaͤge, die ſo
groſſen Einfluß in unſer Leben haben, ſind uns
meiſtens nicht bekannt, weil ſie der Natur der
Sache nach, geheim gehalten zu werden pflegen.


§. 17.
Die Geſchichte muß vom Anfange uͤberſe-
hen werden.


Sodann muß der Zuſchauer, wenn er ſeine
Geſchichte ausfuͤhrlich erzehlen will, eine Haupt-
aͤnderung in ſeiner Vorſtellung vornehmen; daß
er nehmlich die Sache umwendet, und das erſte
zum letzten macht. Denn nach der Regel der
Einbildungskrafft und des Gedaͤchtniſſes, ſchwebt
ihm das am klaͤrſten und deutlichſten vor Au-
gen,
was an der Geſchichte das neueſte iſt.
Der Anfang der Geſchichte, wird, als das aͤlte-
ſte
daran, ihm am wenigſten klar und deutlich
vorgeſtellt. Bey der Erzehlung aber muß der
Anfang nothwendig von dem Anfange der Ge-
ſchichte ſelbſt gemacht werden. Der geweſene Zu-
ſchauer muß ſich alſo wieder in die erſten Umſtaͤnde
in Gedancken ſetzen, und den Erfolg der Geſchich-
te von ihrem Anfange uͤberſehen.


J 3§. 18.
[134]Sechſtes Capitel,

§. 18.
Grundriß einer langen Erzehlung.


Jſt nun die Geſchichte lang, ſo will ferner ein
Grundriß und Entwurff noͤthig ſeyn; wel-
ches, wenn es auch in Anſehung deſſen, was er
ſelbſt mit angeſehen, koͤnte erſparet werden; ſo iſt
es doch in Anſehung der erborgten Stuͤcke der
Geſchichte (§. 16.) noͤthig, damit er abſiehet, an
welchem Orte ein jedes Stuͤck einzuſchalten iſt,
nehmlich an demjenigen Orte, wo er es wuͤrde
erzehlen muͤſſen, wenn er ſelbſt dabey gegenwaͤr-
tig geweſen waͤre. Ein ſolcher Grundriß aber
entſtehet auf folgende Art. Aus der gantzen Ge-
ſchichte wird das Hauptwerck herausgenommen
(§. 12.); ſo daß die gantze Geſchichte in einen
Satz zuſammen gezogen wird, dadurch kommt ſie
einem allgemeinen Begriffe naͤher; daß man ſie-
het, zu was vor einer Art, Geſchichte, Geſchaͤff-
te, Haͤndel, moralifcher Weſen ſie gehoͤre, wo-
von im 4. Capitel gehandelt worden. Der all-
gemeine
Begriff giebt, nach ſeiner innerlichen
Beſchaffenheit, die Theile an die Hand, worin
ſich die gantze Geſchichte, wie von ſelbſten zerleget:
Z. E. eine Belagerung, als die von Bergenop-
zoom, zu beſchreiben, giebt der allgemeine Begriff
der Belagerung die Anleitung: wie nehmlich
die feindliche Armee in die daſige Gegend gekom-
men und die Feſtung berennet habe: Was von
Eroͤffnung der Aprochen an taͤglich geſchehen: Die
Eroberung, als der Ausgang der Geſchichte ſelbſt.
Wenn nun bey einer Geſchichte lauter Dinge vor-
kom-
[135]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
kommen, die nach einander geſchehen, oder
auf einander gefolgt waͤren, ſo wuͤrde der Grund-
riß ohne alle Schwierigkeit gemacht ſeyn: weil
aber vieles zugleich geſchiehet, welches doch
nicht zugleich erzehlt werden kan (§. 2.); ſo
muß eine Theilung vorgenommen, und eines dem
andern, anders als wuͤrcklich geſchehen, nachge-
ſetzt werden; welches denn Ueberlegung erfordert.
Wobey auf keine andere Art zu einer Entſchluͤſ-
ſung zu kommen, als daß man erweget, welches
zum Verſtande und Einſicht in das andere das
mehreſte beytrage, und deswegen dem andern
vorzuſetzen ſey.


§. 19.
Gelehrte und politiſche Erzehlungen.


Wenn man bey ſeiner Erzehlung nichts in-
tendirt, als den Unterricht der Leſer, oder der Zu-
hoͤrer, und daß derſelbe ſo vollſtaͤndig ſey als moͤg-
lich, ſo wuͤrde eine Geſchichte zu erzehlen weiter
kein Bedencken und keine Schwierigkeit haben.
Je umſtaͤndlicher auch die Kleinigkeiten ange-
fuͤhret wuͤrden, deſto mehrere und mancherleye Le-
ſer wuͤrden dabey ihre Rechnung finden. Die
Ordnung der Zeit wuͤrde jede Stelle, wo ein
jedes anzubringen ſey, gnugſam beſtimmen. Aber
ſolche Erzehlungen koͤnnen ſelten gemacht werden.
Diejenigen, welche von einer Geſchichte Zuſchauer
ſind, haben gemeiniglich auch mit der Sache ſelbſt
zu thun; und bleiben auch lange hernach in ei-
ne[r] ſolchen Verbindung, daß ſie nicht freye Haͤn-
de haben, mit einer voͤlligen Gleichguͤltigkeit alles
J 4und
[136]Sechſtes Capitel,
und jedes aufzuſchreiben, was ihnen von der Sa-
che bekannt iſt: eine muͤndliche Ausfuͤhrung und
ad unum actum, wird ſo niemahls vollſtaͤndig.
Und die wenigſten Perſonen, welche Zuſchauer
von wichtigen Begebenheiten abgeben, haben den
Willen vor die gantze Welt zu ſchreiben. Mit-
hin werden die Erzehlungen gemeiniglich nicht
bloß wegen der Belehrung und des Unter-
richts
vor die, die nicht gegenwaͤrtig geweſen,
abgefaſſet: ſondern in einer gewiſſen Abſicht,
und etwas dadurch zu erhalten. Ein Notarius
beſchreibt eine gewiſſe Begebenheit in ſeinem Jn-
ſtrumente, damit im Fall eines erfolgenden Pro-
ceſſes
der Richter hinlaͤnglich und zuverlaͤßig
davon unterrichtet ſey. Vor Gerichte erzehlet
jeder ſeine Geſchichte, oder laͤſſet ſie durch ſeinen
Advocaten erzehlen, um eine gewiſſe Sententz zu
erhalten. Fuͤrſten laſſen den Verlauff entſtan-
dener Jrrungen mit ihren Nachbarn bekannt ma-
chen, um die Gerechtigkeit ihres Verfahrens der
Welt vor Augen zu legen, oder gewiſſe Vorbil-
dungen, die ſich der gemeine Mann macht, zu
widerlegen. Erzehlungen nun, die bloß zum
Unterricht derer, die die Begebenheit nicht wiſſen,
abgefaſſet werden, wollen wir gelehrte Erzeh-
lungen
nennen, weil ſonſt niemand als Gelehr-
te dergleichen Nachrichten aufſetzen wird: die aber
in einer gewiſſen Abſicht abgefaſſet werden, ſol-
len politiſche Erzehlungen heiſſen. Wir ſe-
hen alſo hier gar nicht auf das Objeckt der Erzeh-
lung: ſondern lediglich auf die Art der Erzehlung,
wie ſie aus der verſchiedenen Abſicht fluͤſſet.


§. 20.
[137]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.

§. 20.
Unnuͤtze, noͤthige und ſchaͤdliche Umſtaͤnde
einer Geſchichte.


Bey politiſchen Erzehlungen alſo muͤſſen die
Stuͤcke der Geſchichte, die ſonſt bey einer gelehr-
ten Erzehlung eben derſelben Geſchichte gleiches
Recht haben wuͤrden, in drey Claſſen eingetheilt
werden. Erſtlich ſind Umſtaͤnde uͤberfluͤßig,
fremde, unnuͤtze,
welche der Abſicht nicht ſcha-
den und nicht nutzen. Als wenn ein Herr Trup-
pen in ſeines Nachbars Gebiet einruͤcken laſſen, ſo
iſt dabey der Nahme der Capitains offenbar zu
erzehlen uͤberfluͤßig: kaum daß die Regimenter
von ihren Oberſten benennet werden. Denn es
iſt einerley, welches Regiment eingeruͤckt, ſondern
es kommt dabey nur auf die Anzahl der Truppen
an. Sodann ſind die noͤthigen Stuͤcke, wel-
che zur Abſicht der Erzehlung etwas beytragen:
endlich die ſchaͤdlichen und nachtheiligen, die
der Abſicht zuwider ſind. So erzehlen die Leute
bey einer Jnjurienklage ſelten ihre harten Re-
den, wodurch ſie die darauf erfolgten Schimpf-
worte veranlaſſet haben; ſie bemercken hingegen
nicht allein die Schimpfworte, die der andere aus-
geſtoſſen, ſondern auch wohl ſeine Gebehrden.
Das letztere fuͤhren ſie als Beweiſe des animi in-
juriandi
an, damit die Gnugthuung deſto eher
moͤge erhalten werden; ihre Worte aber laſſen ſie
weg, weil ſie eher die Beleidigung mildern und
entſchuldigen, als vergroͤſſern moͤchten. Das er-
ſte nun bey einer politiſchen Erzehlung iſt, daß
das Ueberfluͤßige weggelaſſen werde. Nun
J 5iſt
[138]Sechſtes Capitel,
iſt dasjenige nicht vor uͤberfluͤßig zu halten, ohne
welchem das andere nicht verſtanden werden kan,
wenn es gleich an ſich zur Abſicht nichts beytraͤgt.


§. 21.
Sachen groß und klein vorſtellen, iſt vom
Vergroͤſſern und Verkleinern un-
terſchieden.


So erfordert auch die Abſicht der Erzehlung
in manchen Faͤllen die Sachen groß, in andern
Faͤllen aber ſie klein vorzuſtellen. Die Kunſt-
griffe hievon gehoͤren in die Rhetorick. Beydes
kan auch oͤffters, der Wahrheit unbeſchadet, ge-
ſchehen: Denn man weiß ja, daß bey allen Ge-
ſchoͤpffen und ihren Eigenſchafften, die Groͤſſe da-
von abhanget, ob man ſie mit was groͤſſern, oder mit
was kleinern zuſammen haͤlt. Und alſo kommt
die Groͤſſe auf die Vergleichung und auf die Art
der Vorſtellung an; und auf was vor einer Sei-
te man ſie betrachtet. Es wird auch, wenn man
gleich alles zuſammen nimmt, was man Groſſes
von der Sache ſagen kan, dennoch wohl noch nicht
die rechte Vorſtellung bey dem Zuhoͤrer, der etwa
traͤge im Dencken iſt, erwecket. Andere aber
machen ſich freylich dieſen Vortheil zu Nutz, daß
ſie die Sache groß vorſtellen, ohngeachtet ſie wiſ-
ſen, daß ihre Zuhoͤrer die Sache aus Mangel
der Ueberlegung noch fuͤr groͤſſer annehmen wer-
den, als ſie in der That iſt: ein ſolches betruͤgli-
ches Großvorſtellen gehoͤret nun ſchon zum
Vergroͤſſern, dem das Verkleinern entgegen
geſetzt iſt; deren beydes aber durch Hinzufuͤgung
fal-
[139]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
falſcher und erdichteter Umſtaͤnde bey der Erzeh-
lung geſchiehet: als wenn man die Anzahl der
Regimenter hoͤher angiebt, als wie ſie ſind, ſo
iſt das eine Vergroͤſſerung, weil ſie ſich auf ei-
ne Unwahrheit gruͤndet: wenn man aber an ſtatt
der Regimenter und ihrer Anzahl erzehlet, wie
viel Bataillons oder gar Compagnien beyſammen
ſind, ſo ſtellet man durch die ungleich groͤſſere
Zahl die Sache groß vor; denn in der Sache
und Wahrheit ſelbſt wird nichts geaͤndert. Der
Kaufmann, der in einem Conto eine falſche Sum-
ma einruͤckt, der vergroͤſſert die Sache; wenn er
aber nur an ſtatt der Thaler, Gulden, oder gar
Livres rechnete, der ſtellt nur die Sache groß vor:
und man weiß, was ſtarcke Zahlen auch bey ſol-
chen Menſchen, die doch leicht eine Reduction
vornehmen koͤnten, vor einen wunderbaren Ein-
druck zu machen pflegen.


§. 22.
Erſte Art, Sachen zu verdunckeln.


Man verdunckelt gewiſſe Umſtaͤnde, und
durch dieſelben die gantze Sache, nicht allein
durch vorſetzliche Weglaſſung gewiſſer Umſtaͤnde,
wovon hernach ſoll gehandelt werden, ſondern auch
auf andere Art. Denn wenn man anfangs,
etwas nur mit einem Worte, oder nur mit we-
nigen
beruͤhret; ſo kan dieſes nothwendig keinen
ſolchen Eindruck machen, als wenn Seiten lang
davon gehandelt und geredet wird: es wird von
denen Leſern und Zuhoͤrern wohl gar wegen ſeiner
Kuͤrtze uͤberſehen. Es iſt mit Erzehlungen wie mit
den
[140]Sechſtes Capitel,
den Gemaͤhlden: was den meiſten Platz einnimmt,
das faͤllt auch am meiſten in die Augen, es muͤ-
ſte denn der kleine Theil etwas beſonders glaͤntzen-
des an ſich haben, was die Augen, wie man zu
reden pfleget, ſonderlich frappirt: auſſerdem wer-
den Kleinigkeiten uͤberſehen. Was alſo nun in
einer Parentheſe, oder als ein Einwurff,
oder als ein Nebenumſtand angefuͤhret wird,
da es doch in einer gelehrten Erzehlung ſowohl,
als das uͤbrige, umſtaͤndlich angefuͤhret zu wer-
den verdiente, das wird verdunckelt.


§. 23.
Zweyte Art der Verdunckelung.


Nicht minder wird eine Begebenheit verdun-
ckelt, wenn ſie mit einem allgemeinern Worte
ausgedruckt wird, als nach der gemeinen Art zu
dencken und zu reden geſchehen ſollte: wenn man
z. E. eine Wechſelſchuld nur eine Anforderung
nennet; oder ein Ritterguth ein Landguth;
wenn man ein gantz Regiment nur Mannſchafft,
eine Bibliotheck nur Buͤcher nennet. Eine Bi-
bliotheck ſpoliren, und aus der Erbſchafft einige
Buͤcher zu ſich nehmen, ſtellt die Sache gantz
verſchieden vor. Weil bey allgemeinen Aus-
druͤckungen einer mehr, der andere weniger, zu
gedencken pflegt, ſo wird dadurch die Sache ver-
dunckelt,
oder ſie wird zweydeutig, welches
nicht weniger in Geſchaͤfften, als in Reden ſelbſt,
Dunckelheit verurſacht.


§. 24.
[141]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.

§. 24.
Dritte Art der Verdunckelung.


Auch wird eine Sache und Begebenheit ver-
dunckelt, wenn man ſie auf einer andern Seite
vorſtellig macht, als ſie in die gegenwaͤrtige und
vorhabende Sache einen Einfluß hat. Z. E. es
hat jemand im Gerichte einen Termin verſaͤumt:
er erzehlt und beklagt ſeinen Unfall mit Anfuͤh-
rung dieſes Umſtandes, daß er eben eine noͤthige
Reiſe vorgehabt haͤtte. So laͤſſet ſich vor gemei-
nen Ohren, als ein Ungluͤcksfall, der Mitleiden
verdienet, hoͤren; da doch dieſer Umſtand nach
der Proceßordnung zur Sache gar nichts beytraͤgt,
weil er, ſeiner Reiſe unbeſchadet, per mandata-
rium
haͤtte erſcheinen koͤnnen. Er erzehlet alſo
die Sache nach dem Sehepunckte eines gemeinen
Geſchaͤfftes, da es doch, als ein Gerichtshandel,
nach den Jdeen der Proceßordnung ſollte angeſe-
hen werden. Es wird jemand wegen ſeines Exa-
mens befragt; er giebt die Zeit deſſelben an, und
den Umſtand: es waͤren mehrere dabey geweſen,
die zugleich gepruͤft wurden, und wir erhielten
ein gutes Lob, eine gute Cenſur. Es kan
ſeyn, daß er den Repuls bekommen: aber dieſer
Zufall, ja ſelbſt die Muthmaſſung, welche etwa
von ohngefehr entſtehen koͤnnte, wird durch dieſe
Erzehlungsart verdunckelt: deren Wahrheit im
uͤbrigen ſich dadurch rechtfertigen laͤſſet; daß man
ja gemeiniglich, wenn man von einem Hauffen re-
det, die Eigenſchafft der meiſten, oder auch der
vornehmſten Indiuiduorum dem gantzen Hauffen
bey-
[142]Sechſtes Capitel,
beyleget (§. 41. C. 2.). Eine ſolche Verduncke-
lung veranlaſſet freylich gar leicht eine falſche Vor-
ſtellung von der Sache, welche daher, wenn ſie
vorſaͤtzlich und zu Verleitung anderer gebraucht
wird, zu denen Verdrehungen der Geſchichte
gehoͤret; wovon hernach ſoll gehandelt werden.


§. 25.
Geſchichte verſtuͤmmeln.


Auſſer der unvermeidlichen Auslaſſung vieler
Umſtaͤnde bey einer Erzehlung (§. 3.), und der
weißlichen Auslaſſung des Unnoͤthigen (§. 20.),
giebt es noch eine dritte Art, die man die Ver-
ſtuͤmmelung
einer Geſchichte nennet; welche
aber zu erklaͤren keine ſo leichte Sache iſt, weil
ſie noch einen andern Begriff, nehmlich der Ge-
ſtalt
der Geſchichte voraus ſetzt. Daran liegt
in Anſehung der hiſtoriſchen Wahrheit nichts;
ob man eine Geſchichte aus Unwiſſenheit ver-
ſtuͤmmelt, weil man nehmlich meinet, dieſer oder
jener Umſtand truͤge zur Abſicht der Erzehlung
nichts bey; wie einem Ungelehrten und Einfaͤlti-
gen gar leicht begegnen kan, wenn er dem Advo-
caten ſeinen Handel, oder dem Artzte ſeine Kranck-
heit erzehlet: oder ob er vorſaͤtzlich, nehmlich
der Geſchichte eine andere Geſtalt zu geben, noͤ-
thige Umſtaͤnde weglaͤſſet. Jn beyden Faͤllen
aber kan eine Weglaſſung gewiſſer Umſtaͤnde nicht
eher einer Verſtuͤmmelung beſchuldiget werden,
als wenn durch Weglaſſung die Geſtalt der Sa-
che wuͤrcklich geaͤndert wird. Statum cauſſæ
pflegt man bey einem Proceß, und was dem aͤhn-
lich
[143]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
lich iſt: oder ſpeciem facti, wenn die Sache erſt
zu einem Proceß gedeyen ſoll, dasjenige zu nen-
nen, was wir hier die Geſtalt heiſſen. Dieſes
aber iſt bey einer politiſcyen Erzehlung das Haupt-
werck, daß man der Geſchichte, davon ſich je-
der ſonſt nach ſeiner Willkuͤhr und gantz nicht
hinlaͤnglichen Einſicht einen Begriff machen wuͤr-
de, eine gewiſſe Geſtalt gebe.


§. 26.
Die bekannten Arten der Geſchichte ſind
nicht hinlaͤnglich.


Die Sache kommt darauf an, daß wenn von
einer Geſchichte ſoll geurtheilt werden; als von ih-
rer Gerechtigkeit, oder was nun weiter daraus er-
folgen kan, oder ſoll; ſo muß ſie zufoͤrderſt auf
eine gewiſſe Art der Handlungen, Geſchaͤffte oder
Thaten, reduciret werden: Und dieſer allgemei-
ne Begriff, oder die Art iſt hernach das Licht,
wobey man die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit,
und was irgend mit der Sache anzufangen iſt,
abſehen kan. Nun ſind viele Arten der Ge-
ſchaͤffte
weltkundig. Wenn alſo eine vorkom-
mende Begebenheit mit denen uns bekannten Ar-
ten der Handlungen und Geſchaͤffte vollkommen
uͤbereinkommt, ſo kan jedermann davon urtheilen:
als wenn jemand ſchuldig iſt, darbey auch der
Schuld geſtaͤndig iſt, ſo kan jeder vernuͤnfftiger
Menſch den Schluß machen, daß die Schuld
muͤſſe bezahlt werden. Wenn jemand juſt ſo ei-
ne That begangen hat, als wie ſie nahmentlich
im Geſetze verpoͤnt iſt: ſo kan jedermann die Stra-
fe
[144]Sechſtes Capitel,
fe dictiren und das Urtheil ſprechen. Nun aber,
da die Handlungen der Menſchen auf vielerley
Weiſe, ja unzehlige Weiſe, bald getheilt, bald
verwickelt, bald nur zum Schein und gefaͤhr-
licher Weiſe eingerichtet werden; ſo koͤnnen ſie
mit den bekannten Arten der Handlungen nicht
allemahl genau uͤbereinkommen; ſondern es giebt
von denen bekannten Arten, die man vielmehr
als genera anzuſehen hat, unzehlige Arten, ſo
viel als man nur Arten der Theilung und Ver-
miſchung der Begriffe erſinnen kan: daher eine
Erzehlung jedes Handels ſpecies facti, das iſt ei-
ne Art, oder neue Art der Handlungen pflegt
rubricirt zu werden. Alſo iſt Kauffen und Ver-
kauffen
eine ſo bekannte und begreifliche menſch-
liche Handlung: aber dieſes Geſchaͤffte wird auf
mancherley Art angegangen. Manchmahl wird
der Handel ſo getroffen, daß man nicht recht
weiß, ob ſie des Handels einig worden ſind, oder
nicht? man kaufft und bezahlt nicht: man kaufft
eine Sache, die noch nicht iſt, und auf Hoffnung:
man laͤſſet die gekauffte Waare dem Verkaͤuffer
uͤber dem Hals: man machet einen Scheinkauff:
man kaufft Bedingungsweiſe u. ſ. w. woraus ſo
viele Arten, oder ſubdiviſiones entſtehen, davon
jede noch gar auf ſehr vielerley Weiſe in eintzeln
Faͤllen kan eingerichtet werden. Mit einem
Worte: es iſt nicht moͤglich, daß alle vorkom-
mende Geſchaͤffte mit denen ſchon bekannten
Arten und Eintheilungen genau uͤbereinkommen
ſollten.


§. 27.
[145]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.

§. 27.
Geſtalt der Geſchichte.


Nun werden aber gemeiniglich nur diejenigen
Geſchaͤffte und Faͤlle in beſondere Erwegung ge-
zogen, und einer beſondern und gruͤndlichen Er-
zehlung gewuͤrdiget, welche nicht nach dem gemei-
nen Leiſten der menſchlichen Handlungen einge-
richtet ſind, ſondern die was auſſerordentliches,
verwickeltes,
oder gar widerrechtliches an
ſich haben. Geſchichte von bekannter Art gehoͤ-
ren zu den alltaͤglichen Geſchaͤfften (§. 8. C. 4.):
mit deren Erzehlung ſich niemand als gelegent-
lich
beſchaͤfftiget: und dieſe ſind zu erzehlen auch
leichte, weil der allgemeine Begriff die Regel an die
Hand giebt (§. 18.), die alſo jedermann wiſſen kan.
Wenn hingegen das Geſchaͤffte keine beſtimmte
und bekannte Art hat, ſo iſt auch keine ſiche-
re Regel vorhanden, wornach der Plan der Er-
zehlung, und die Erzehlung ſelbſt eingerichtet wer-
den muͤſſe (§. 18.). Daher laͤſſet ſich eine ſolche
Geſchichte auf mancherley Weiſe erzehlen: und
die Art der Geſchichte, (ſpecies facti,) wird an-
ders, nachdem man dieſe oder jene Umſtaͤnde zu-
ſammen nimmt. Da nun die gewoͤhnlichſte Con-
cluſion, um derentwillen die Erzehlung vorgenom-
men wird, dieſe iſt; daß die Sache recht oder
unrecht ſey, ſo kan man das vor den allgemei-
nen Begriff der Geſtalt einer Geſchichte an-
nehmen: daß es die Zuſammenfuͤgung ſolcher Um-
ſtaͤnde ſey, wodurch die Gerechtigkeit, oder die
Ungerechtigkeit des Handels offenbar gemacht
wird. Die Geſtalt findet alſo nur ſtatt, wenn
Kdie
[146]Sechſtes Capitel,
die Sache zu keiner bekannten und gemeinen Art
der Geſchaͤffte und Haͤndel kan gerechnet werden.
Und derjenige verſtuͤmmelt die Erzehlung, der
Umſtaͤnde weglaͤſſet, worauf doch die Gerechtig-
keit und Ungerechtigkeit der Sache mit beruhet.


§. 28.
Wie man Geſchichte erlaͤutert.


Manche Begebenheiten veranlaſſen bey de-
nen, die ſie hoͤren, gleich gewiſſe concluſiones,
die ſich zwar nicht rechtfertigen laſſen, aber doch
faſt bey allen Menſchen entſtehen: als z. E. wenn
man die Sache nicht begreiffen kan, daß man
ſie vor erdichtet haͤlt:
wenn uns was nach-
theiliges widerfaͤhret, daß wir glauben, es ſey
uns zum Verdruß geſchehen:
wenn jemand
was thut, daß er es gerne gethan habe;
daß er es zu thun geneigt ſey,
und wohl
nicht das erſte mahl gethan habe. Der-
gleichen meiſt ungegruͤndete Urtheile oder Folge-
rungen aber fallen hinweg, und werden wider-
legt, wenn man die Sache umſtaͤndlicher erzehlet,
dergeſtalt, daß auch der Grund der Handlung
eingeſehen wird. Die Erlaͤuterung eines
Puncktes, oder einer Begebenheit, iſt nur eine
ſolche ausfuͤhrliche Erzehlung, die bloß nachtheili-
ge Urtheile abzulehnen vorgenommen wird. Wer
alſo eine Geſchichte gruͤndlich erzehlen will, der
iſt allerdings verbunden, dergleichen nachtheili-
gen Urtheilen zu begegnen und ſie zu heben: und
es iſt ein Theil der Klugheit eines politiſchen Ge-
ſchichtſchreibers, daß er dergleichen nachtheilige
Ur-
[147]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
Urtheile im voraus abſehen kan; ja die gantze Er-
zehlung kan eine Erlaͤuterung ſeyn, wenn ſolche
nur zu Ablehnung falſcher Vorbildungen bey ei-
ner im uͤbrigen notoriſchen Begebenheit dienen
ſoll.


§. 29.
Wo eine Geſchichte aufhoͤret.


Das Ende einer Geſchichte, oder vielmehr
einer Erzehlung, hanget ebenfals wie der gantze
Entwurff und Grundriß der Erzehlung von dem
allgemeinen Begriffe ab, aus welchem der Grund-
riß genommen wird (§. 18.). Denn die Ge-
ſchichte an und vor ſich hat kein Ende: ſie ziehet
allemahl Folgen nach ſich: ſie werden aber nicht
mehr zu der Geſchichte gerechnet, wenn ſie mit
dem allgemeinen Begriffe, unter welchem ſie als
ein indiuiduum enthalten iſt, keinen Zuſammen-
hang haben. Wer von einer Oſtindiſchen Reiſe
zuruͤckkommt, faͤngt zwar nunmehro erſt ſeinen Han-
del mit den mitgebrachten Waaren an: aber weder
der Verkauff noch der Profit hanget mit dem all-
gemeinen Begriff der Oſtindiſchen Reiſe zuſam-
men: die Erzehlung hoͤret daher auf, wenn der
Seefahrer wieder in den Hafen ſeines Vaterlan-
des, wo er ans Land ſteiget, angelanget iſt. So
laͤſſet ſich der Beſchluß der Erzehlung in den mei-
ſten Faͤllen gar leichte beſtimmen.


§. 30.
Geſchichte abbrechen.


Man hoͤret alſo nicht auf zu erzehlen, ſo lan-
ge etwas, nach Anleitung des allgemeinen Be-
K 2griffes,
[148]Sechſtes Capitel,
griffes, dem man in ſeiner Erzehlung folget (§. 18.),
zu erzehlen uͤbrig iſt: es geſchiehet aber dennoch,
daß man aus Mangel der Zeit, oder durch an-
dere Zufaͤlle, die Geſchichte nicht hinaus er-
zehlen kan. Dieſes aber kan in der hiſtoriſchen
Erkentniß nichts aͤndern; denn es iſt nichts zu
thun, als daß man die Geſchichte zu ſeiner Zeit
fortſetze. Eine Aenderung aber in der Vor-
ſtellung iſt, wenn man den letztern Theil der Ge-
ſchichte nur in einen ſehr kleinen Auszug bringet,
und nur das Hauptwerck in ein oder ein paar Saͤ-
tzen vortraͤget, welche ungleiche Eintheilung ab-
brechen,
oder auch abſchnappen genennet wird.


§. 31.
Geſchichte ausdehnen.


Da die Geſchichte in gantz verſchiedener Kuͤr-
tze,
oder auch in verſchiedener Weitlaͤufftigkeit
koͤnnen erzehlt werden, ſo geſchiehet ſolches nicht
allein wegen der Abſicht, die die gantze Erzeh-
lung hat, ſondern auch wegen anderer Umſtaͤnde.
Was beſonders die Erweiterung antrifft, ſo iſt
es vor das noͤthige und vernuͤnfftige Maaß aller
Arten von Abhandlungen ein ſ[e]hr gefaͤhrlicher Um-
ſtand, daß viele gerne groſſe Buͤcher haben,
dergeſtalt daß ſelbſt bey manchen Gelehrten, die
uͤber ſolche ſinnliche Blendungen weit ſollten erha-
ben ſeyn, ein Buch in Folio, und ein ſtarckes
volumen, einen beſondern Eindruck macht. Nun
erfordert die Klugheit, ſich wie in andere Schwach-
heiten der Menſchen, alſo auch in dieſe zu ſchi-
cken, und eine gerechte Sache ſo wenig durch
dieſe
[149]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
dieſe Blendung, als durch andere Sophiſtereyen
beeintraͤchtigen zu laſſen. Manche Menſchen
ſind auch an ſich zur Weitlaͤufftigkeit geneigt.
Ueberhaupt alſo, eine Geſchichte weitlaͤufftiger zu
erzehlen, als es die Abſicht der Erzehlung erfor-
dert, heiſſet dieſelbe ausdehnen.


§. 32.
Geſchichte verdrehen.


Eine Geſchichte hat ihrer innerlichen Beſchaf-
fenheit nach ihre gewiſſe Arten, oder wenigſtens
ihre gewiſſe Geſtalt, die aber freylich ſehr durch
die Art der Erzehlungen kan geaͤndert werden
(§. 27.); wer aber die Geſchichte ſo aͤndert, daß
ſie eine andere Geſtalt bekommt, oder gar von
einer andern Art wird, als aus einer Forderung
eine Schuld, derſelbe verdrehet die Geſchich-
te. Dieſes Verdrehen geſchiehet denn theils durchs
Verdunckeln (§. 22. 23. 24.), theils durchs Ver-
ſtuͤmmeln (§. 25.), theils auch durchs Vergroͤſ-
ſern. Ein recht groſſes Exempel ſolcher Verdre-
hungskunſt findet man in Arnolds Kirchen- und
Ketzergeſchichte; worinnen das Verfahren der
rechtſchaffenſten Leute auf das gehaͤßigſte vorge-
ſtellet, ihre Fehler vergroͤſſert, hingegen die Bos-
heiten der Ketzer verkleinert, und dadurch der
gantzen Kirchengeſchichte eine ſcheußliche Geſtalt
gegeben worden. Dergleichen Verdrehungen
muß denn durch eine wahre Erzehlung begeg-
net werden, die das Verdrehete wieder in ſeinen
rechten Stand ſetzet. Denn zu einer wahren
Erzehlung
iſt nicht alleine noͤthig, daß alle
K 3Stuͤck-
[150]Sechſtes Capitel,
Stuͤckgen derſelben eintzeln und vor ſich wahr ſind,
ſondern ſie muͤſſen auch ſo geordnet und verbun-
den ſeyn, daß nicht durch die Zuſammenfuͤgung
irrige Vorſtellungen veranlaſſet werden. Denn
auch lauter wahre Stuͤcken eintzeln genommen,
koͤnnen durch die Art der Verbindung die Sache
verfaͤlſchen und verdrehen. Solche ſchaͤdliche
Kunſtſtuͤcke haben bisher mit deſto mehrerm Er-
folg von boͤſen Leuten koͤnnen getrieben werden,
da man in der gelehrten Welt keine deutlichen
Begriffe gehabt, wie eine Erzehlung entſtehe;
auch die Sophiſtereyen, die zumahl in der al-
ten Logick ſorgfaͤltig bemerckt worden, von den
hiſtoriſchen Sophiſtereyen und Verdrehun-
gen gar ſehr unterſchieden ſind. Verdunckeln,
Vergroͤſſern, Verkleinern, darum hat man ſich
in der Vernunfftlehre nicht bekuͤmmert.


§. 33.
Ungegruͤndeter Begriff von einer unpar-
theyiſchen Erzehlung.


Jeder wuͤnſchet ſich, wenn er von einer Sa-
che unterrichtet ſeyn will, eine unpartheyiſche
Erzehlung,
oder Nachricht. Dieſe Art von
Erzehlungen iſt alſo von groſſer Wichtigkeit; aber
der Begriff derſelben iſt ſo wenig, als der Be-
griff einer partheyiſchen Erzehlung genau be-
ſtimmt. Es iſt nehmlich bey einer Erzehlung
nicht zu vermeiden, daß jeder die Geſchichte nach
ſeinem Sehepunckte anſehe; und ſie alſo auch
nach demſelben erzehle. Denn ſie ſetzet einen Zu-
ſchauer voraus (§. 1. C. 4.), und der kan ohne
Sehe-
[151]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
Sehepunckt nicht ſeyn (§. 12. C. 5.); und davon
hanget ab, daß er die Sache auf einer gewiſſen
Seite anſehe (§. 14. C. 5.). Es iſt auch nicht
zu verlangen, daß er bey ſeiner Erzehlung die
Beſchaffenheit eines Jntereſſenten oder Fremdens
(§. 16. C. 5.): oder des Freundes und Feindes
der Sache (§. 18. C. 5.), eines Gelehrten oder
Ungelehrten (§. 20. C. 5.), eines Betruͤbten oder
Froͤlichen (§. 22. C. 5.), gaͤntzlich ablegen ſolle.
Die Natur der Seele laͤſſet eine ſolche Abſtracktion
nicht zu, und hebt den Begriff des Zuſchauers
auf, von welchem doch alle hiſtoriſche Erkenntniß
abhanget. Nur das vorſetzliche Verdrehen mit
ſeinen Theilen kan unterlaſſen werden. Darge-
gen aber irren die ſehr, die verlangt haben, daß
ein Geſchichtſchreiber ſich wie ein Menſch ohne
Religion, ohne Vaterland, ohne Familie anſtel-
len ſoll; und haben nicht bedacht, daß ſie unmoͤg-
liche Dinge fordern. Dieſes aber iſt daher kom-
men, weil man den Unterſchied zwiſchen Geſchich-
te und Erzehlungen (§. 17. C. 1.) nicht bemerckt,
und alſo geglaubt haben, wie bey der Geſchichte
nichts auf den Zuſtand des Zuſchauers ankomme,
alſo komme auch nichts bey der Erzehlung darauf
an. Eine Erzehlung alſo mit voͤlliger Abſtrack-
tion von ſeinem eigenen Sehepunckte, iſt nach dem
4. und 5. Capitel nicht moͤglich. Eine unpar-
theyiſche
Erzehlung kan alſo auch nicht ſo viel
heiſſen, als eine Sache ohne alle Sehepunckte er-
zehlen, denn das iſt einmahl nicht moͤglich: und
partheyiſch erzehlen, kan alſo auch nicht ſo viel
heiſſen, als eine Sache und Geſchichte nach ſei-
K 4nem
[152]Sechſtes Capitel,
nem Sehepunckte erzehlen, denn ſonſt wuͤrden al-
le Erzehlungen partheyiſch ſeyn.


§. 34.
Wahrer Begriff einer unpartheyiſchen
Erzehlung.


Will man nun etwa eine unpartheyiſche Er-
zehlung diejenige nennen, die von einem bloſſen
Zuſchauer
herruͤhret, das iſt, von einem Frem-
den (§. 16. C. 5.): ſo iſt dennoch der Fremde
nicht von aller Verbindlichkeit loß, weil ihm die
Sache doch gefaͤllt, oder mißfaͤllt, wodurch er zu
einem Freunde oder Feinde wird (§. 18. C. 5.):
und daher eines eher als das andere bemerckt
(§. cit.). Das ſchlimſte aber iſt, daß denen
Fremden allzu vieles geheim iſt (§. 16. C. 5.), daß
alſo gemeiniglich nur ſehr weniges von ihm zu er-
fahren iſt, und alſo meiſt vergebens iſt, von ſol-
chen Zuſchauern Erzehlungen zu verlangen. Un-
partheyiſch
erzehlen kan daher nichts anders
heiſſen, als die Sache erzehlen, ohne daß man
das geringſte darin vorſetzlich verdrehet oder ver-
dunckelt: oder ſie nach ſeinem beſten Wiſſen und
Gewiſſen erzehlen: ſo wie hingegen eine par-
theyiſche
Erzehlung nichts anders als eine Ver-
drehung der Geſchichte iſt. Ob aber in der Er-
zehlung eine ſolche Verdunckelung oder Verdre-
hung etwa vorgefallen, das kan man am beſten
aus Zuſammenhaltung zweyer Erzehlungen aus
entgegen geſetzten Sehepunckten, abneh-
men. Denn was der eine entweder vorſetzlich,
oder nach Beſchaffenheit ſeines Sehepunckts kuͤrtz-
lich
[153]v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
lich erzehlet, welches einige Verdunckelung nach
ſich ziehet, das wird in der entgegen geſetzten Er-
zehlung umſtaͤndlich angefuͤhret werden, was der
eine groß vorſtellet, wird der andere klein vor-
ſtellen: und durch Einſicht in die Regeln der hi-
ſtoriſchen Erkentniß wird man urtheilen koͤnnen,
wie die Sache innerlich beſchaffen geweſen, welche
von dem einen groß, von dem andern klein vorge-
ſtellet worden. Dergleichen abſtrackte Einſicht
aber niemand als einem Richter noͤthig iſt, oder
dem der eine gelehrte Erzehlung machen will, die
vor die gantze Welt iſt. Jm geſellſchafftlichen
und buͤrgerlichen Wandel und Weſen muͤſſen die-
jenigen, welche Freunde ſeyn wollen, auch die Sache
aus einerley Sehepunckt anſehen, und ſie wenig-
ſtens gemeinſchafftlich approbiren. Leute, die neu-
tral
ſeyn wollen, auch nur im Dencken, werden ge-
meiniglich auf beyden Seiten vor Feinde gehal-
ten. Was aber aus dieſen Eigenſchafften der
Erzehlungen vor Bedencklichkeiten in Anſehung
der Gewißheit entſtehen koͤnnen, ſoll an ſeinem
Orte ausgefuͤhret werden.


§. 35.
Angenehme und rauhe Erzehlungen.


Die taͤgliche Erfahrung lehret, daß Geſchich-
te roh und unluſtig, oder im Gegentheil ange-
nehm
und ergoͤtzend koͤnnen vorgetragen wer-
den. Dies Angenehme und Unangenehme iſt al-
ſo nicht eine Eigenſchafft oder Werck der Ge-
ſchichte,
ſondern der Erzehlung. Wie aber
das eine zur Beredſamkeit, das andere aber zu
K 5denen,
[154]Sechſtes Cap. v. d. Verwandelung ꝛc.
denen, der Beredſamkeit entgegen geſetzten Feh-
lern
gehoͤret, alſo koͤnnen wir uns in dieſer Ab-
handlung, wo alles auf die Wahrheit der Ge-
ſchichte und Erzehlungen abzielet, damit nicht be-
ſchaͤfftigen. Vor die Redekunſt aber iſt dieſes ei-
ne Hauptunterſuchung, weil jede Rede, die zum
Vergnuͤgen dienen ſoll, und mithin auch politiſche
Reden, wenn ſie die Sache nicht verderben, ſon-
dern dieſe Eigenſchafft des Wohlgefallens an ſich
haben ſollen, nichts anders als eine Reyhe von
abwechſelnden Erzehlungen
ſind.


§. 36.
Fabeln und Erdichtungen gehoͤren nicht
hieher.


Wir haben bisher die Verwandelung der Ge-
ſchichte in Erzehlungen, in ſo ferne betrachtet, als
ſolches entweder unvermeidlich iſt, oder doch ent-
weder unbeſchadet der Wahrheit, oder noch mit
einigem Scheine der Wahrheit geſchehen kan.
Nun aber wiſſen wir, daß boßhaffte Luͤgenmaͤu-
ler denen Geſchichten viele Umſtaͤnde und Stuͤ-
cke anhaͤngen, die ſich mit gar nichts, als mit
dem Vorſatz, die Unwahrheit zu reden, oder al-
lenfals eine ſchlimme Sache gut zu machen legi-
timiren koͤnnen. Dieſe erdichteten Umſtaͤn-
de
gehoͤren aber ſo wenig, als gantze Fabeln,
zur hiſtoriſchen Erkenntniß, auſſer daß ſie uns
Muͤhe machen, das Wahre vom Falſchen zu un-
terſcheiden. Das Luͤgenhaffte aber, es mag
im groſſen, oder im kleinen vorgebracht werden,
iſt
[155]Siebentes Cap. v. d. Ausbreitung ꝛc.
iſt unmoͤglich in Regeln zu bringen. Unterdeſſen
haben ſich doch ernſthaffte Geſchichtſchreiber mehr-
mahlen eines ſolchen Vorwurffs ſchuldig gemacht:
wie ſolches z. E. der P. Daniel dem Varillas und
d’ Avila aufruͤckt. Preface de l’ hiſtoire de Fran-
ce p. VII.



Siebentes Capitel,
von der
Ausbreitung und Fortpflantzung
einer Geſchichte.


§. 1.
Heimliche und oͤffentliche Begebenheiten.


Die Handlungen der Menſchen, und die
daraus entſtehenden Geſchichte ſind auf
verſchiedene Weiſe eingerichtet. Was
einer oder etliche thun, ohne das Urſachen vor-
handen waͤren, daß Zuſchauer dabey ſeyn ſollten,
das thut man fuͤr ſich. Man ſchreibt fuͤr
ſich,
man iſſet fuͤr ſich: man ſchluͤſſet einen
Handel fuͤr ſich. Eine Sache, die in Gegen-
wart mehrerer Menſchen zu geſchehen gewoͤhnlich
iſt, aber jetzo nur im Beyſeyn der noͤthigen Per-
ſonen geſchiehet, die geſchiehet in der Stille.
Wo man aber noch Vorſicht braucht, daß nie-
mand, als wer zum Geſchaͤffte noͤthig iſt, dabey
ſey, das geſchiehet heimlich. Was aber ent-
weder
[156]Siebentes Capitel,
weder ſeiner Natur nach, als ein Aufzug, eine
Feuersbrunſt, oder auch zufaͤlliger Weiſe in Bey-
ſeyn vieler fremden Perſonen geſchiehet, das ge-
ſchiehet oͤffentlich; doch iſt zu mercken, daß was
von einer groſſen Menge geſchiehet, vor oͤffent-
lich zu halten iſt, wenn auch ſonſt faſt niemand,
als Hauptperſonen dabey zugegen waͤren: Z. E.
was ein [Kriegsheer] thut, das geſchiehet oͤffent-
lich,
indem bey ſo groſſen Mengen, in Anſehung
der Partialhandlungen ſchon immer einer in An-
ſehung eines andern, als ein Fremder kan be-
trachtet werden.


§. 2.
Die Ausbreitung geſchiehet von den Gegen-
waͤrtigen zu den Abweſenden.


Die Perſonen, die mit einem Vorgange und
Geſchichte ſelbſt zu thun haben, ſind in Anſe-
hung der Ausbreitung der Geſchichte mit denen
Fremden, oder bloſſen Zuſchauern vor einer-
ley zu achten. Denn es kommt auf ſinnliche
Dinge an, die der Zuſchauer ſo gut wiſſen kan,
als der es ſelbſt thut. Beyden iſt natuͤrlich, daß
ſie, was ſie geſehen haben, andern erzehlen
koͤnnen:
obgleich etwa der eine mehr Urſach zu
ſchweigen hat, als der andere. Und es kommt
nur darauf an, ob dieſer oder jener das Vorgegan-
gene wuͤrcklich erzehlet, oder nicht? Wollte
man nun, wie es in unſerer Abhandlung noͤthig
iſt, allgemein reden, und ſowohl den Thaͤter, als
den bloſſen Zuſchauer unter ein Geſchlecht brin-
gen, ſo muͤſſen wir ſie gegenwaͤrtig Geweſene,
oder
[157]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
oder Gegenwaͤrtige nennen; denen alſo die Ab-
weſenden
entgegen zu ſetzen ſind; das iſt ſolche,
die die Geſchichte nicht geſehen haben, oder nicht
dabey gegenwaͤrtig geweſen ſind.


§. 3.
Der Urheber iſt die Hauptperſon bey der
Ausbreitung.


Jn ſo ferne ein gegenwaͤrtig Geweſener das
Vorgegangene erzehlet oder ausſaget, ſo heiſſet er
Autor,Urheber, nehmlich der Erzehlung und
der Nachricht. Das Wort Augenzeuge ge-
faͤllt uns ſo wenig, als das lateiniſche teſtis ocu-
latus,
weil wir gerne den wahren Begriff des
Zeugens bekannter machen wollten, der mit die-
ſen jetzo gegebenen beſtaͤndig vermenget wird.
Denn ſo lange dieſes nicht geſchiehet, ſind und
bleiben alle unſere Gedancken von der hiſtoriſchen
Erkentniß in der g[roͤ]ſten Verwirrung. Autor,
welches Wort bey nahe das deutſche Buͤrger-
recht ſchon erhalten hat, gefaͤllet uns beſſer, und
alſo auch das deutſche Wort: Urheber. Wir
treten der Liebe zwar nicht gerne zu nahe, die
manche, ja recht viele, vor die eingefuͤhrten For-
meln teſtis oculatus und auritus haben: allein
die Befoͤrderung der richtigen Erkentniß muß vor-
gehen: und die Verwirrung muß bey Anrich-
tung einer Kunſt zufoͤrderſt entdeckt, und aus den
Wege geraͤumet werden. Nun braucht jede Er-
zehlung einen Urheber, aber nicht einen Zeugen,
folglich auch keinen Augenzeugen: ſondern Zeu-
gen ſind nur denn noͤthig, wenn der Geſchichte
wider-
[158]Siebentes Capitel,
widerſprochen wird. Zur Noth koͤnten wir uns
auch mit dem Worte Zuſchauer behelffen. Denn
obgleich derſelbe das Geſehene bey ſich behalten
kan, und oͤffters ſolches auch wuͤrcklich thut, ſo iſt
er doch in dieſem Falle, in Anſehung der Aus-
breitung der Geſchichte, vor ein non ens und vor
einen todten Mann zu halten. Wir werden uns
alſo zwar auch dieſes Wortes bedienen, wo es ohne
Zweydeutigkeit geſchehen kan: aber es iſt doch zu-
foͤrderſt noͤthig geweſen, die Hauptperſon bey ei-
ner Erzehlung mit ihrem eigenen und beſondern
Nahmen zu bezeichnen.


§. 4.
Dem Urheber folgen die Nachſager.


Derjenige, der ſich eine Sache vom Zu-
ſchauer erzehlen laͤſſet, muß nunmehro auch ſeinen
Nahmen bekommen. Wenn er es nicht bey ſich
behaͤlt, ſondern weiter erzehlt, ſo heiſſet es von
ihm, er ſage es nach, davon man das Sub-
ſtantiuum,
der Nachſager, ſuͤglich bilden kan;
deſſen wir uns forthin bedienen wollen. Jm la-
teiniſchen hat uns das Wort ſuffragator zur Zeit
am beſten gefallen; aber keines weges die Be-
nennung, teſtis auritus. Denn eine Geſchichte,
wenn ſie durch tauſend Leute ihren Mund gehet,
und alſo bey nahe eben ſo offte nachgeſagt wird,
ſo braucht ſie noch immer keinen Zeugen, und
mithin auch keinen Ohrenzeugen, ſo lange ihr
nicht widerſprochen wird. Aber allemahl muß
jemand vorhanden ſeyn, der die Geſchichte, die
jemand erſt erkennen ſoll, ausſaget; und dieſer
iſt
[159]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
iſt denn entweder der Autor, oder der Nach-
ſager.
Nun iſt dieſe Benennung zwar daher
genommen, daß man die Geſchichte, die man
ſelbſt gehoͤrt, und nicht geſehen, bey andern nach-
ſaget, und ſcheinet alſo nicht bequem zu ſeyn, die-
jenige Perſon auszudruͤcken, welche eine Erzeh-
lung anhoͤret,
weil man dieſelbe ja auch bey
ſich behalten kan, und eben nicht nachſagen muß:
dennoch da ein ſolcher Hoͤrer der Geſchichte, der ſolche
bey ſich behaͤlt, in Anſehung der Ausbreitung der
Geſchichte vor niemand, vor einen todten Mann
zu rechnen iſt; ſo kommt bey uns, unter den Anhoͤrern
einer Geſchichte, nur derjenige in Anſchlag, der ſol-
che weiter erzehlt. Anhoͤrer der Geſchichte, und
Nachſager ſind alſo zwar nicht in abſtracto, aber
doch in concreto betrachtet, und zwar in Abſicht
auf die Ausbreitung einer Geſchichte, einerley
Perſonen. Wer eine Geſchichte vielen erzehlet,
der breitet eine Geſchichte aus: denn es iſt nicht
zu vermeiden, daß dieſe viele es nicht noch meh-
reren
Zuhoͤrern und Nachſagern verkuͤndigen
ſollten.


§. 5.
Man erfaͤhrt die Begebenheiten durch ei-
nen Canal.


Wie nun der Zuhoͤrer einer Geſchichte dieſel-
be nachſagen kan, wovon er Nachſager genen-
net wird; ſo iſt natuͤrlich, daß es auch von die-
ſem wiederum geſchehen koͤnne. Und ſo entſtehet
eine gantze Reyhe von Perſonen, deren eine es
immer von der andern hat. Dieſe ſollten nun
ebenfals mit geſchickten Worten von einander un-
terſchie-
[160]Siebentes Capitel,
terſchieden werden, wenn man anders von der
Ausbreitung einer Geſchichte deutlich reden will.
Wir wollen dergleichen in Vorſchlag bringen.
Den, der die Geſchichte vom Zuſchauer oder Au-
tor hat, koͤnte man den erſten Nachſager nen-
nen; den aber, der es von dem erſten Nachſager
erfaͤhrt, den andern Nachſager; den der es von
dieſem erfaͤhrt, den dritten Nachſager u. ſ. w.
Eine ſolche Reyhe von Perſonen, deren eine der
Autor iſt, die andern aber als Nachſager es von
einander haben, heiſſet ein Canal. Was alſo
oͤffentlich geſchiehet, das hat ſehr viele, ja un-
zehlige Canaͤle, durch welche es ſich aller Orten,
und auf allen Seiten ausbreiten kan: was aber
heimlich geſchiehet, oder in der Stille, hat viel
weniger Canaͤle: weil die gegenwaͤrtigen Men-
ſchen, oder Zuſchauer, in dieſen Faͤllen viel weni-
ger vorhanden ſind.


§. 6.
Wie viele Leute um eine Sache wiſſen.


Wenn man etwas von einem Zuſchauer er-
faͤhret, ſo iſt das beſonders merckwuͤrdig, daß
man weiß, man habe die Geſchichte vom Zu-
ſchauer, nicht aber vom Nachſager gehoͤret: und
alſo hat es auch mehr zu bedeuten, wenn ich weiß,
daß ich die Sache von dem erſten Nachſager er-
fahre: welches geſchiehet, wenn ich entweder uͤber-
haupt weiß, daß mein Wehrmann es von einem
Zuſchauer habe, oder gar dieſen nahmentlich
und individuell kenne. Gleiche Bewandniß hat
es mit dem, der es von dem andern, dritten
Nach-
[161]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
Nachſager u. ſ. w. hat, und der den Canal weiß,
durch welchen es an ihm gekommen. Denn
nicht allein der Zuſchauer, ſondern auch alle,
die wiſſen, durch welchen Canal es an ſie gekom-
men, werden unter dem allgemeinen Begriff und
Benennung derer zuſammen gefaſſet, welche
um die Sache wiſſen. Denn wenn z. E. ei-
ne Conſpiration angeſtifftet wuͤrde, und einer der
Raͤdelsfuͤhrer ſagt es Cajo, dieſer Sempronio,
dieſer Titio, ſo weiß Titius noch um die Sache,
wenn ihm anders bekannt iſt, wie die Nachricht
von den Theilhabern zu ihm kommen iſt: und er
iſt verbunden, ſolches anzuzeigen.


§. 7.
Geheim und bekannt ſeyn, iſt zweydeutig.


Sowohl der Begriff des geheimen, als des
Bekanntwerdens iſt ſehr unſtat; ſo daß von
einerley Sache in verſchiedenem Verſtande kan ge-
ſagt werden, ſie ſey bekannt, und auch, ſie ſey
noch geheim. Man muß nehmlich in beyden ge-
wiſſe Grade ſetzen. Jn beyden Faͤllen aber wird
vorausgeſetzt, daß die Geſchichte nach dem Wil-
len derer, die ſie angehet, nicht ausgebreitet wer-
den ſolle; denn ſo iſt eigentlich geheim, was nie-
mand weiß, als diejenigen, deren Vorwiſſen un-
vermeidlich iſt. Dieſes ſind nun theils die An-
weſenden
bey einer Geſchichte, als ſolche abwe-
ſende Theilhaber, ohne deren Vorwiſſen die Sa-
che nicht fortgehen oder beſtehen kan, denen es
alſo muß geſagt, erzehlt und geſchrieben werden.
So viel auch immer ſolcher Perſonen ſeyn moͤ-
Lgen,
[162]Siebentes Capitel,
gen, ſo iſt die Sache noch immer geheim, ſo lan-
ge ſie bloß unter ihnen bleibt. Bekannt aber
wird etwas, wenn es demjenigen zu Ohren kommt,
vor welchem es haͤtte unbekannt bleiben koͤnnen,
ja auch unbekannt bleiben ſollen, wenn die Sa-
che nicht einen andern Lauff hat bekommen ſollen.
Hingegen im weitlaͤufftigern Verſtande wird das
noch geheim genennet, wo man noch etwa abſe-
hen kan, daß es noch unter lauter Perſonen be-
kannt iſt, da eine weitere Ausbreitung zu verhuͤ-
ten moͤglich ſeyn moͤchte. Dieſes gehet nehmlich
ſo zu. So lange die Geſchichte lauter Perſonen
bekannt iſt, die den Canal wiſſen, durch welchen
es zu ihnen gekommen (§. 4.), von denen man
alſo ſagt: ſie wiſſen um die Sache, ſo lange iſt
auch noch eine Urſache vorhanden es verſchwei-
gen zu koͤnnen. Denn gleichwie der Zuſchauer
einer geheimen Geſchichte es von Rechts wegen
bey ſich behalten ſoll, was er davon weiß; alſo
koͤnnen es auch ſeine Zuhoͤrer, gegen die er nicht
verſchwiegen genug geweſen iſt, thun: und jeder
Nachſager kan es dem Vorgaͤnger zu Gefallen
thun. Wenn aber Leute von einer Geſchichte
Nachricht erhalten, die nicht mehr wiſſen, von
was vor einem Zuſchauer, und mithin durch was
vor einen Canal, die Nachricht an ſie gekommen,
ſo iſt auch keine Urſach vorhanden, warum ſie das,
was ihnen ohne Bedencken und Vorſicht geſagt
worden, nicht auch ihres Orts weiter ſagen
ſollten. Daraus denn endlich erfolget, daß
es jedermann ſagt. Eine Sache, die ein-
mahl ruchtbar worden, pflegt denn gemei-
niglich
[163]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
niglich in kurtzen zu einer gemeinen Sage
zu werden.


§. 8.
Geſchwindigkeit der Ausbreitung.


Wie aber ſich eine Begebenheit in kurtzen un-
gemein ausbreiten koͤnne, laͤſſet ſich leichte berech-
nen, wenn nehmlich jeder, der davon Nachricht
erhaͤlt, ſich ein Geſchaͤffte daraus macht, ſeine er-
langte Erkentniß und die erhaltene Nachricht an-
dern mitzutheilen. Denn wenn der Zuſchauer
ſolches 10 Perſonen ſagt, und jeder davon es eben
ſoviel andern nachſagt, ſo wiſſen es bald 111 Per-
ſonen, welche bey Neuigkeiten, durch fleißiges
Nachſagen, gar bald in 1111 Perſonen verwan-
deln; die noch alle um die Sache wiſſen, wenn
ihnen anders der Canal bekannt gemacht wird,
durch welchen es an ſie gekommen (§. 5.). Es
geſchiehet auch, daß Cajus von jemanden eine
Begebenheit erzehlen hoͤrt, die er ſelber ausge-
bracht, oder wenigſtens nachgeſagt hat, daß ſie
an denjenigen gekommen, den er die Geſchichte
erzehlen hoͤret. Wenn man eine Begebenheit, die
man ſelbſt erzehlet, von ſeinen Nachſagern wie-
der hoͤret, ſo iſt das eine Art eines Circkels, der
zur Ausbreitung einer Nachricht nichts beytraͤget.
Dieſes aber pflegt ſehr oͤffters zu geſchehen, wenn
eine Sache einmahl zu einer gemeinen Sage ge-
worden iſt (§. 7.).


§. 9.
Nachricht geben und bekommen.


Bey allen dieſen Faͤllen iſt in der Wiſſen-
ſchafft, die wir abhandeln, noͤthig, daß wir uns
L 2einer-
[164]Siebentes Capitel,
einerley Begebenheit unter zweyerley Verhaͤltniß
vorſtellen; wie ſie nehmlich aus der Erkentniß,
die einer gewiſſen Perſon davon beywohnet, auch
nun zur Erkentniß in einer andern Perſon wird.
Und in dieſer Betrachtung nun wird jede Bege-
benheit oder Geſchaͤffte, eine Nachricht genen-
net; zu welcher unumgaͤnglich zwey Perſonen er-
fordert werden: die eine, welche die Nachricht
giebt; die andere welche die Nachricht bekommt.
Solches ſtimmt mit der Erklaͤrung dieſes Worts,
die wir ſchon (§. 14. C. 1.) gegeben haben, ge-
nau uͤberein. Denn wenn jemand ſeine Erkent-
niß von einer gewiſſen Begebenheit oder Geſchich-
te mit Worten ausdruͤckt, ſo geſchiehet es jeman-
den anders zu Gefallen, der davon belehret wer-
den ſoll. Jede Geſchichte wird alſo durch Nach-
richten ausgebreitet
und fortgepflantzet.
Bey der erſten Ausbreitung einer Geſchichte iſt
derjenige, der die Nachricht giebt, niemand an-
ders, als der Zuſchauer, oder wenn wir allgemei-
ner reden wollen, der gegenwaͤrtig Geweſene
(§. 2.); der aber die Nachricht bekommt, iſt
eben der, den wir den erſten Nachſager genen-
net (§. 5.). Bey der ferneren Ausbreitung ei-
ner Geſchichte aber ſind ſowohl der die Nachricht
giebt, als der ſie bekommt, beyde Nachſager,
nur im entfernten Grade (§. cit.). Die erſte
Ausbreitung einer Geſchichte geſchiehet durchs
Ausſagen (§. 3.), die fernere Ausbreitung aber
geſchiehet durchs Nachſagen (§. 4.).


§. 10.
[165]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.

§. 10.
Muͤndliche und ſchrifftliche Nachrichten
gelten gleich viel.


Wir machen unſere Gedancken theils durch
Reden, theils durch Schreiben einander be-
kannt. Dieſes findet alſo auch ſowohl beym Auſ-
ſagen,
als auch beym Nachſagen, und mit-
hin uͤberhaupt beym Nachrichten ſtatt, daß ſie
entweder muͤndlich oder ſchrifftlich gegeben
werden. Wenn nun in beyden Arten von Nach-
richten die Erzehlung in einerley Worten abgefaſſet
iſt, ſo gilt es faſt gleich viel, ob man eine Nach-
richt muͤndlich oder aber ſchrifftlich erhaͤlt.
Jch ſage, faſt gleich viel: denn voͤllig lieſſe ſich
ein ſolches nicht behaupten. Denn die Stimme
des Redenden, und ſeine Gebehrden, ſein Jnne-
halten, ja der Ort wo er redet, kan etwas zu
mehreren Verſtande der Worte beytragen (§. 5.
6. 7. 8. Einleitung zur Auslegekunſt.): welches
alles bey einer ſchrifftlichen Nachricht hinwegfaͤllt.
Jm uͤbrigen kommen ſchrifftliche und muͤndliche
Nachrichten darinne uͤberein, daß wie eine muͤnd-
liche
Nachricht nicht allein auf einmahl ſehr vie-
len Zuhoͤrern ertheilet, ſondern auch gar leichte
mehrmahls wiederhohlt werden kan, alſo koͤnnen
ſich auch ſehr viele, ja unzehlige Menſchen, aus
einer einigen ſchrifftlichen Nachricht belehren.


§. 11.
Schrifftliche Geſchaͤffte werden leicht bekannt.


Jn Geſchafften iſt ein groſſer Unterſchied
ob ſolche muͤndlich, oder aber ſchrifftlich tra
L 3ctire
[166]Siebentes Capitel,
ctiret werden. Bey jenen iſt leichter zu verhuͤ-
ten, daß ſie nicht ausgebreitet werden; indem da-
zu nichts weiter noͤthig iſt, als daß die Perſonen,
welche dabey gegenwaͤrtig ſind, zu ſchweigen wiſ-
ſen. Dieſes hat zwar ſchon ſeine Schwierigkeit,
allein auſſer dem, daß dieſe auch bey ſchrifftlichen
Unterhandlungen ſtatt findet, ſo kommt bey
Schrifften noch dieſe neue Schwierigkeit hin-
zu, daß dieſe jemanden durch Nachlaͤßigkeit
oder unvermeidliche Zufaͤlle zu Geſichte kom-
men, der alſo dadurch benachrichtiget wird. Da-
her haben Geſchaͤffte, die entweder gantz oder
zum Theil ſchrifftlich tractiret werden, gedoppelte
Schwierigkeit, daß ſie geheim bleiben. Hinge-
gen erkennet man, wie geſchickt das Aufſchrei-
ben
und die gedruckten und geſchriebenen Nach-
richten ſind, eine Geſchichte in kurtzen allgemein
bekannt zu machen, und uͤberall auszubreiten.


§. 12.
Die Geſchichte wird bey der Ausbreitung
veraͤndert.


Nun aber iſt noͤthig, daß wir genau darauf
mercken, ob die Erkentniß einer Begebenheit, oder
Geſchichte, bey ihrer Ausbreitung unveraͤndert
bleibe; oder ob ſie, und warum ſie bey der Aus-
breitung und Fortpflantzung veraͤndert werde?
Der erſte Schritt, den eine Nachricht, ſo zu re-
den, thut, iſt dieſer, wenn der Zuſchauer, oder
gegenwaͤrtig Geweſene einem Abweſenden
Nachricht giebt (§. 10.). Unſere Leſer werden
ſich erinnern, daß ſchon gezeigt worden, ein Zu-
ſchauer
[167]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
ſchauer koͤnne ſchwerlich ſeine gantze Erkentniß,
die er von der Geſchichte hat, in ſeiner Erzeh-
lung vortragen (§. 3. C. 6.): ingleichen, daß un-
vermeidlich mancherley Veraͤnderung der Vor-
ſtellungen vorgehen, ehe das Anſchauen ei-
ner Geſchichte zu einer Erzehlung wird (§. 12.
C. 1.). Hieraus nun laͤſſet ſich zuverlaͤßig ſchluͤſ-
ſen, daß die Erkentniß einer Begebenheit,
die bey dem Zuſchauer anzutreffen iſt, gar
ſehr unterſchieden ſey von derjenigen, die
man aus ſeiner Erzehlung erlangt:
zumahl
bey coͤrperlichen Dingen, wobey es auf Figur,
Farben, Geſtalt, Annehmlichkeit und Heßlichkeit
ankommt, als welches groſſen Theils von dem
Geſchmacke des Zuſchauers abhanget. Unterdeſ-
ſen iſt die erſte Erzehlung, oder die von dem
Zuſchauer ſelbſt herkommt, der Grund aller uͤbri-
gen Erkentniß, die ſich von der Geſchichte in der
Welt ausbreiten kan. Dies iſt die Urkunde,
auf welche ſich nicht allein die voͤlligen und unver-
aͤnderten Nachſagen und Abſchrifften derſel-
ben, ſondern auch alle daraus entſtehende ver-
aͤnderte
Erzehlungen, als auf ihre gemeinſchafft-
liche Quelle beziehen muͤſſen.


§. 13.
Warum ſchrifftliche Urkunden beſonders
geſchaͤtzt werden.


Da wir durch die Urkunde nichts anders,
als die erſte Erzehlung oder die erſte Nachricht
verſtehen (§. 12.); ſo begreiffen wir ſowohl die
muͤndlichen als ſchrifftlichen Nachrichten darun-
L 4ter
[168]Siebentes Capitel,
ter (§. 10.). Es ſind zwar nur die letzteren,
welche man gemeiniglich Urkunden nennet: weil
ſie nehmlich diejenige Art der Urkunden iſt, de-
ren man ſich bey alten und wichtigen Geſchichten
faſt lediglich zu bedienen pfleget; da man ſich hin-
gegen auf muͤndlich fortgepflantzte Nachrichten faſt
gantz und gar nicht mehr beziehet. Die Uꝛſach iſt, weil
die ſehr alten Nachrichten entweder ſchon laͤngſt
gaͤntzlich verlohren gegangen, oder was davon auf
unſere Zeiten kommen iſt, daſſelbe ſchon laͤngſt
in Schrifften iſt gebracht worden, aus welchen
wir nunmehro unſere Nachrichten nehmen. Dar-
nebſt iſt das Schreiben bey allen Geſchaͤfften und
Begebenheiten ſo gemein worden, daß man ſich
uͤberall auf das Aufgeſchriebene verlaͤſſet, und vor
die muͤndliche Fortpflantzung nicht die geringſte
Sorge mehr hat. Wir koͤnnen aber dennoch je-
nen allgemeinen Begriff nicht wegwerffen, oder
unbekannt werden laſſen, da man in der Welt
mehr als ein tauſend Jahr keine ſchrifftliche Ur-
kunden gehabt; dasjenige aber, was wir durch
unſere ſchrifftlichen Urkunden ausrichten wollen,
ihnen nicht unbekannt geweſen ſeyn kan; ja da
noch jetzo alte Geſchichte muͤndlich fortgepflantzet
werden; wie ſolches der hochbelobte Herr von
Haller
von ſeinem Vaterlande und Landsleuten,
den Schweitzern, zu ruͤhmen weiß, in dem Ver-
ſuch Schweitzeriſcher Gedichte: die Al-
pen.
Und ohne Zweifel hat ein Lied, das die
Vaͤter auf ihre Urenckel fortgepflantzet haben,
nicht viel weniger Krafft zu beweiſen, als ein
Brief, der eben ſo alt iſt.


§. 14.
[169]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.

§. 14.
Jede Nachricht muß auf zwey Seiten
betrachtet werden.


Die erſte Nachricht muß, wie eine jegliche
Rede und Schrifft, von dem, der ſie bekommt,
nach dem Gebrauch der Woͤrter angenommen und
verſtanden werden, welchen man aus der Gram-
matick und aus dem Woͤrterbuche jeder Sprache
erlernet (§. 3. 42. Auslegekunſt). Derjenige al-
ſo, der die Nachricht bekommt, gedencket dabey
einerley mit dem, der ſie ihm ertheilet hat; nehm-
lich in Anſehung des unmittelbaren Verſtan-
des, d. i. in Anſehung des Bildes, welches ſich
der Zuſchauer aus dem, was ihm von der Sa-
che bekannt iſt, gemacht hat, um es durch die er-
theilte Nachricht bekannt zu machen. Denn auſ-
ſerdem wiſſen wir, daß der Zuſchauer nicht alles
das, was er weiß oder gedencket, erzehlet (§. 3.
C. 6.); da er ſeines Orts ſolches, vermoͤge des
Gedaͤchtniſſes, ſo offte gedencken muß, als er die
Sache erzehlet, oder ſeine aufgeſchriebene Erzeh-
lung ſelber wieder anſiehet: Folglich iſt ſeine Vor-
ſtellung bey der Erzehlung von derjenigen Vor-
ſtellung unterſchieden, welche der Zuhoͤrer, Leſer,
und Nachſager aus der Erzehlung erhaͤlt. Da
nun die Fruchtbarkeit einer Stelle darinnen be-
ſtehet, daß man weniger oder mehr dabey ge-
denckt (§. 164. Auslegekunſt); ſo iſt die Erzeh-
lung eines Zuſchauers freylich fruchtbarer bey
ihm, als bey dem, der ſie aus ſeiner Erzehlung
erlernet. Es kan aber auch im Gegentheil ſeyn,
daß die Nachricht aus einer andern Urſache, die
L 5hieher
[170]Siebentes Capitel,
hieher nicht gehoͤret, fruchtbarer wird, bey dem,
der ſie anhoͤret und bekommt, als bey dem, der
ſie giebet: wenn nehmlich der erſtere mehr dabey
intereßiret iſt, als der letztere.


§. 15.
Der Urheber gedenckt mehr bey der Erzeh-
lung, als der Nachſager.


Dieſer Umſtand der Nachrichten und Erzeh-
lungen iſt beſonders in folgendem Falle zu mer-
cken. Zuſchauer werden gemeiniglich, denen
die die Geſchichte angehet, zumahl die die Haupt-
perſonen dabey ſind entgegen geſetzt. Doch koͤn-
nen auch dieſe als Zuſchauer angeſehen werden,
weil ſie ſich doch deſſen, was mit ihnen vorgehet,
bewuſt ſind; oder ſie koͤnnen wenigſtens mit jenen,
unter den Begriff der gegenwaͤrtigen, zu einer
Art gebracht werden (§. 4.). Jn Anſehung
aber der Erzehlung iſt ein groſſer Unterſchied,
ob ſolcher, wenn ſie auch gleich mit einerley Wor-
ten abgefaſſet waͤre, von einer Hauptperſon, oder
von einem Theilnehmer, oder von einem bloſſen
Zuſchauer vorgebracht werde. Denn die Haupt-
perſonen werden, bey Begebenheiten, die groſſe
Veraͤnderungen ihres Zuſtandes geweſen, und
nach ſich gezogen haben, nicht ohne Affeckt daran
gedencken, und alſo auch nicht ohne Affeckt erzeh-
[le]n: ſie werden ſich beſonders erinnern, wie ihnen
damahls zu Muthe geweſen, als die Sache
vorgieng. So iſt es mit den Hauptperſonen bey
einer Geſchichte ihrer Erzehlung beſchaffen. Der
Zuhoͤrer hingegen, oder Nachſager, wie er ſich
in
[171]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
in gantz andern Umſtaͤnden befindet, und an der
Geſchichte, welche erzehlt wird, keinen ſonderli-
chen, oder wohl gar, gar keinen Antheil daran
hat, kan vermoͤge der Erzehlung (wenn ſie nicht
ausdruͤcklich dazu eingerichtet wird,) nicht in den
Affeckt gebracht werden, worinne ſich der Erzeh-
ler befindet. Z. E. wer abgebrannt iſt, wird vie-
le Jahre nachher nicht ohne Regung an das ihm
begegnete Ungluͤck dencken, und eben ſo wenig
ohne Regung erzehlen, wenn er ſolches gleich mit den
duͤrreſten Worten thut. Der Zuhoͤrer aber wird,
wegen Verſchiedenheit ſeines Zuſtandes, dadurch
keines weges geruͤhret werden. Wie ſehr hat ſich
Cicero nicht gefreuet, ſo offt er an ſeine Zuruͤck-
kunfft und Einhohlung nach Rom dachte. Man
kan aus ſeinen Reden ſehen, wie ihm zu Muthe
geweſen iſt, wenn er davon geredet oder erzehlt
hat. Weil er nehmlich ein Redner war, ſo hat
er ſelten trocken davon geredet, daher haben
auch viele ſeiner Zuhoͤrer dadurch koͤnnen bewegt
werden: doch wird vielen, ja ihnen allen gantz
anders zu Muthe geweſen ſeyn, als dem Cicero:
wie wir auch noch jetzo, wenn wir ſeine Oratio-
nes poſt reditum
leſen, gewiß die Groͤſſe der
Freude nicht ſpuͤhren, die er dabey gehabt, ge-
ſchweige, daß wir ſeine Freude ſpuͤhren wuͤr-
den, woferne er nur gelegentlich davon redet, und
wenn er trocken davon geredet haͤtte.


§. 16.
Von dem Verſtande einer Nachricht.


Was ſich nun in Anſehung derer zutragen
kan, welche eine muͤndliche oder ſchrifftliche Nach-
richt
[172]Siebentes Capitel,
richt bekommen; oder was eine ertheilte Nach-
richt bey dem Hoͤrer oder Leſer vor eine Wuͤrckung
thun koͤnne, das iſt aus dem Begriffe des Hoͤ-
rers
und des Leſers herzuleiten. Und dieſes
hat zum Theil keine Schwierigkeit. Denn es
iſt ausgemacht, daß die, welche in einer bekann-
ten Sprache mit einander reden, einander noth-
wendig, wenigſtens zum Theil verſtehen muͤſſen.
Eines Theils aber koͤnnen, wie bey allen Reden
und Schrifften, alſo auch bey muͤndlichen und
ſchrifftlichen Nachrichten, Zweydeutigkeiten,
Dunckelheiten, Mißverſtand und Mißdeutung
entſtehen. Es wird aber alles was zum Verſte-
hen der Reden und Schrifften gehoͤhret, zur Aus-
legekunſt
gerechnet. Dahero muß das gantze
Capitel von der Auslegung hiſtoriſcher Stel-
len und Buͤcher,
hieher gezogen werden, wel-
ches wir in der Einleitung zur richtigen
Auslegung vernuͤnfftiger Reden und
Schrifften umſtaͤndlich abgehandelt ha-
ben;
und worauf wir uns, beliebter Kuͤrtze hal-
ben, anietzo lediglich beziehen. Nur dies eintzige
wollen wir um des nachfolgenden Willen bemer-
cken, daß ein Hauptunterſcheid in denen Erzeh-
lungen und Nachrichten vor den Zuhoͤrer und Le-
ſer ſey, ob dieſelben trocken oder ſinnreich ab-
gefaſſet ſind (§. 340. Auslegekunſt) unter wel-
chen letzteren, die Poetiſchen, wie leicht zu erach-
ten, die angeſehenſten ſind. Dieſe nehmlich
ſind es, die gemeiniglich am erſten einer Ausle-
gung beduͤrffen.


§. 17.
[173]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.

§. 17.
Eine Nachricht hat zu allen Zeiten einerley
Verſtand.


Wenn die Geſchichte einmahl in eine Erzeh-
lung
iſt gebracht, und zu einer Nachricht ge-
macht worden; ſo wird der Verſtand der Erzeh-
lung nach dem Woͤrterbuch und der Grammatick
derſelben Sprache beſtimmt, darinnen die Erzeh-
lung abgefaſſet iſt (§. 13. Auslegek.): Folglich
iſt der Verſtand einer Erzehlung bey allen, die
uͤber dieſelbe Nachricht kommen, einerley. Denn
wer die Sprache, worinnen die Begebenheit er-
zehlt wird, entweder faſt gar nicht, oder wenig-
ſtens nicht recht verſtehet, muß dieſelbe freylich
vorher verſtehen lernen, ehe er die darinnen auf-
behaltene, oder gegebene Nachrichten leſen will.
Folglich eben den Eindruck, den die Erzehlung
des Zuſchauers bey dem erſten Hoͤhrer und Nach-
ſager machete, den muß dieſelbe, auch bey den
zweyten Leſer, dritten Leſer u. ſ. w. machen:
nach der Regel: Poſita eadem ratione ſufficien-
te, ponitur ſemper id, cujus ratio ſufficiens da-
tur.
Es iſt wohl an dem, daß eine Nachricht
bey dem einen Leſer fruchtbarer iſt, als bey dem
andern, und bey denen die nahe mit der Sache
zu thun haben, mehr als bey entfernten: aber die
Fruchtbarkeit iſt was anders als der unmittel-
bare
Verſtand: Welcher eigentlich den Verſtand
ieder Stelle ausmacht. Daher muß nun eine
aufgeſchriebene Nachricht zu allen Zeiten
eben die Belehrung geben, die ſie den er-
ſten Tag gegeben,
und eben die Belehrung
den
[174]Siebentes Capitel,
den tauſendeſten Leſern geben, die ſie dem erſten
Lefer und Nachſager gegeben. Z. E. der hiſtori-
ſche Satz: Salomo iſt Koͤnig zu Jeruſalem ge-
weſen; wird jetzo und muß eben den Verſtand
haben, und uns eben die Belehrung geben, die
man ſich den Tag nach ſeinem Tode aus dieſen
Worten hat nehmen koͤnnen.


§. 18.
Einerley Urkunde.


Eben die Urkunde, oder einerley Urkun-
de, iſt die Nachricht, in ſo ferne ſie mit unveraͤn-
derten Worten oͤffters geredet und ausgeſprochen,
ingleichen auch abgeſchrieben und nachgeſchrieben
wird; mithin aber auch geleſen und gehoͤret wird.
Daraus iſt nun klar, daß, ſo lange eben dieſelbe
Urkunde, oder einerley Urkunde vorhanden iſt,
und gebraucht wird, diejenigen, die die Geſchich-
te daraus erlernen, zu allen Zeiten und an allen
Orten einerley Erkentniß der Geſchichte daraus
erlangen muͤſſen, und daß mithin, in dieſem Fal-
le bey Fortpflantzung der Erzehlung nichts
veraͤnderliches vorgehe.
Eben die Wuͤr-
ckung, die die Erzehlung aus dem Munde des
Zuſchauers thut, muß ſie auch aus dem Munde
des erſten, andern, dritten Nachſagers, u. ſ. w.
thun. Wenn aber vollends bey aufgeſchriebener
Nachricht, die die es von einander hoͤren, auch
uͤberdieſes in der Urkunde leſen koͤnnen, ſo iſt es
eben ſo gut, als wenn ſie die Urkunde gleich nach
ihrer Ausfertigung in die Haͤnde bekommen
haͤtten.


§. 19.
[175]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.

§. 19.
Einerley Urkunde lehret auch immer einerley.


Da es nun eine gantze Reyhe von Menſchen
geben kan, die es einander nachſagen (§. 4. 5.);
und zwar mit unveraͤnderten Worten (wie haupt-
ſaͤchlich bey Liedern geſchiehet,); ſo iſt klar, daß
in dieſem Falle, derjenige, der die Nachricht von
dem hunderſten Nachſager hat, die Geſchichte
eben ſo gut daraus erlernen kan, als ſie der erſte
Nachſager daraus erlernet hat. Es iſt zwar an
dem, daß gleich der erſte Nachſager ſeine eigene
Gedancken und reflexiones bey der erhaltenen
Nachricht hat, die vielleicht auch zum Theil nicht
mit der Wahrheit uͤbereinkommen; allein weil er
nicht dieſe ſeine beygefuͤgten Gedancken, ſondern
die Sache mit eben den Worten erzehlet, mit
welchen ſie ihm iſt erzehlt worden, ſo haben we-
der die wahren noch die falſchen Gedancken des
erſten Nachſagers in die Erkentniß des andern
Nachſagers einen Einfluß. Und aus dieſer Ur-
ſach, obgleich alle nachfolgende Nachſager auch
ihre beſondere Gedancken haben, und vielleicht
manche falſche Gedancke bey der Geſchichte haben,
ſo kan doch nach ſpaͤten Zeiten die Geſchichte rich-
tig erkannt werden, wenn nur die Worte und
Formeln der Urkunde noch unverletzt beybehal-
ten worden.


§. 20.
Urkunden koͤnnen muͤndlich fortgepflantzt
werden.


Nun iſt an dem, daß die Urkunde, wenn ſie
nicht ſchrifftlich abgefaſſet iſt, ſondern nur muͤnd-
lich
[176]Siebentes Capitel,
lich fortgepflantzet werden ſoll, ſelten unveraͤn-
dert
bleibt. Denn hierzu waͤre noͤthig, 1. daß
der Zuhoͤrer mit einem ſtarcken Gedaͤchtniß be-
gabt waͤre, um die Worte genau zu mercken,
worinnen die Erzehlung vorgetragen wird.
2. Muß ein ſtarcker Grund vorhanden ſeyn, war-
um man beym Nachſagen eben die Worte ge-
brauchen ſoll, in welchen man die Nachricht er-
halten hat. Denn da jeder ſeine eigene Gedan-
cken bey einer Erzehlung, und der daraus erlern-
ten Geſchichte zu haben pflegt, ſo hat man gemei-
niglich einen ſtarcken Trieb, die Geſchichte mit
andern Worten zu erzehlen, als man ſie hat er-
zehlen hoͤren. Hier aber hat doch die goͤttliche
Vorſehung ein Mittel gefunden, wie die Men-
ſchen fruͤhzeitig Geſchichte mit unveraͤnderten
Worten fortzupflantzen gelernet haben, nehmlich
durch Lieder; welche auswendig zu lernen ſich
die Kinder, und auch Erwachſene, gerne ein Geſchaͤff-
te machen, und es hernach vor einen Fehler hal-
ten, dieſes oder jenes Wort des Liedes nicht recht
zu wiſſen. Auf dieſe Art haben ehedem die Deut-
ſchen ihre Geſchichte fortgepflantzet. Cæſar de B.
G. Lib. VI.
Und von den Spaniern erzehlt eben
dergleichen Strabo. Durch gemeinen Fleiß koͤn-
ten freylich nur wenige Nachrichten auf dieſe Art
fortgepflantzet werden: wenn man aber, wie bey
den Deutſchen, eine rechte Profeßion daraus
macht, die Gedichte auswendig zu lernen, wie
nach Caͤſars Bericht, die alten Deutſchen zum
Theil zwantzig Jahr daran ſtudirt haben: ſo
lieſſe ſich die Geſchichte, auch ſehr umſtaͤndlich und
aus-
[177]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
ausfuͤhrlich in Verſen fortpflantzen. Ja es ſchei-
net, daß wir den Mangel der alten Nachrichten
nicht ſowohl der Unvollkommenheit und Beſchwer-
lichkeit der muͤndlichen Fortpflantzung, als dem
Unfleiſſe, ſolche beybehaltene Nachrichten aufzu-
ſchreiben, und in den etwa aufgeſchriebenen zu
leſen und zu lernen, zuzuſchreiben haben.


§. 21.
Veraͤnderungen der Urkunde veraͤndern
die Geſchichte.


Wenn aber die Nachſager ſich nicht an die
Formel der Urkunde halten, ſo iſt unvermeidlich,
daß nicht die Nachricht nach und nach, ja ſelbſt
in kurtzen, gar ſehr geaͤndert, und mithin die
Geſchichte ſelbſt verunſtaltet, und mit Fabeln
vermenget werde. Eine neue Geſchichte, die meiſt
muͤndlich fortgepflantzet oder ausgebreitet wird,
heiſſet der Ruf: und davon weiß man, was vor
Unwahrheiten ſich daran zu haͤngen pflegen, nach
Virgils Beſchreibung: Aeneid. IV. 174.


Fama, malum, quo non velocius ullum:
Mobilitate viget, viresque acquirit eundo:
Parua metu primo, mox ſeſe attollit in auras,
Ingrediturque ſolo, \& caput inter nubila
condit.


Dieſe Veraͤnderungen einer Erzehlung durchs
Nachſagen, muͤſſen allerdings hier in Betrachtung
gezogen werden. Allein bey muͤndlicher Aus-
breitung, wo ſogar das Hoͤren, oder vielmehr
das nicht recht Hoͤren, und das Anſehen und
Minen des Erzehlenden einen groſſen Einfluß in
Mdie
[178]Siebentes Capitel,
die Zerruͤttung einer Geſchichte hat, iſt es ſehr
ſchwer, etwas deutliches zu ſagen, und deswe-
gen auch ſo ſehr nicht noͤthig, weil unſere gelehrte
Geſchichtskunde ſich nicht mehr auf muͤndliche
Nachrichten, ſondern auf ſchrifftliche Urkunden zu
beziehen pflegen: und ſind gleich einige Stuͤcke
derſelben aus dem Ruffe genommen, wie ſich z. E.
Livius in der Roͤmiſchen Hiſtorie, Euſebius
in der Kirchenhiſtorie jezuweilen darauf beziehen,
ſo koͤnnen wir doch nunmehro nicht bis auf die er-
ſte
muͤndliche Nachricht, aus welcher der Ruff
entſtanden, zuruͤckgehen, ſondern muͤſſen es bey
dem, was geſchrieben ſtehet, bewenden laſſen.
Wenn es aber einer aus dem andern ſchreibt,
und dem andern nachſchreibt, und doch nicht
einerley Worte braucht, ſo gehet ebenfals in der
Nachricht von der Geſchichte eine Veraͤnderung
vor, wie bey der muͤndlichen Ausbreitung: da
aber eine ſolche Veraͤnderung der Worte eher
mit Vorbedacht und Vernunfft geſchiehet, ſo laͤſ-
ſet ſich auch eher etwas deutlich davon ſagen: wie
nehmlich ein Nachſager von ſeinem Vorgaͤnger,
wenn er nicht genau bey ſeinen Worten bleibt, un-
vermerckt die Geſchichte aͤndern kan, ohne daß er
Willens iſt, Unwahrheiten zu ſagen. Hat aber
ein Nachſager gar den Vorſatz, die Geſchichte zu
verſtuͤmmeln, und Unwahrheiten zu ſchreiben, ſo
ſiehet jeder, daß ſolches auf unzehlige Weiſe ge-
ſchehen koͤnne, und daß ſich davon keine Regeln
geben laſſen.


§. 22.
[179]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.

§. 22.
Wuͤrckung der Urkunde bey dem Hoͤrer und
Leſer.


Um nun zu ſehen, was bey Ausbreitung einer
Geſchichte unter den Nachſagern vor Veraͤnde-
rungen in der Erzehlung vorgehen koͤnnen, ohn-
geachtet ſie nichts anders als die Wahrheit ſagen
wollen, ſo duͤrffen wir nur auf den erſten Hoͤrer, Le-
ſer, und Nachſager, genau achtung geben, wie er
die erhaltene Nachricht und Urkunde anſiehet und
annimmt; und was ihn bewegen koͤnne, eine Aen-
derung in der Formel der Erzehlung vorzuneh-
men. Wenn wir einmahl dieſes wiſſen, ſo laͤſſet
ſich die Anwendung leicht auf die nachfolgenden
Nachſager machen; als bey welchen ſich eben die-
ſe Urſachen einiger Veraͤnderungen, obgleich nicht
allemahl auf eben dieſe Art, wie bey dem erſten
aͤuſern koͤnnen, demnach, wenn wir eine Nach-
richt
erlangen, ſo gehet, ehe es noch zum Nachſa-
gen kommt, zweyerley in unſerer Seele vor, wel-
ches wohl von einander zu unterſcheiden iſt:
1. Das Verſtehen der Urkunde. 2. Die Ue-
berlegung
und Betrachtung, welche wir uͤber
die erhaltene Nachricht haben und anſtellen.


§. 23.
Mißverſtand bey der Urkunde veraͤndert
die Geſchichte.


Jn Anſehung des Verſtehens, finden ſich
Schwierigkeiten, ſowohl durch Dunckelheiten, als
durch Mißverſtand, die bey der Urkunde vorkom-
men koͤnnen. Beydes wird durch die Regeln
M 2der
[180]Siebentes Capitel,
der Auslegekunſt entdeckt und vermieden, auf
die wir uns ſchon uͤberhaupt bezogen haben (§. 16).
Nur bemercken wir hier, daß, wenn wir eine
Nachricht, daran wir etwas dunckeles finden, oder
die wir nicht recht verſtanden, auf andre fort-
pflantzen, und zwar mit veraͤnderten Worten,
iedoch in der Meynung, daß die unſrigen, den
Worten unſerer Urkunde gleichguͤltig waͤren,
die wahre Beſchaffenheit der Geſchichte, die wir
nachſagen, nothwendig veraͤndert werden, und
die daraus entſtehende zweyte Nachricht, oder
unſere Nachſage nothwendig etwas Falſches
und Verfuͤhreriſches an ſich haben muͤſſe. Wenn
iemand z. E. von einer Schiffsladung von
1000. Pfunden reden hoͤrte, und verſtuͤnde ſol-
ches, da es Schiffspfunde bedeuten, von ge-
meinen Pfunden, ſolche auch daher auf 10. Cent-
ner in ſeinen Gedancken reducirte, der wuͤrde noth-
wendig auch eine falſche Erzehlung von dieſen
10. Centnern zum Vorſchein bringen. Wenn
der Ruff entſtehet, die Landesfuͤrſtin habe Zwil-
linge
gebohren, ſo kan iemand von der Hoffnung
eines Printzens ſo eingenommen ſeyn, daß er dieſe
Nachricht unuͤberlegt davor annimmt, ſie habe zwey
Printzen gebohren, welches er denn als eine Wahr-
heit, die ihm berichtet worden, weiter ſagen wird.
So viel als es daher Moͤglichkeiten giebt, wie ein
Hoͤrer und Leſer, beſonders aber ein Hoͤrer, in
dem Verſtande der Worte irren, und ſich truͤgen
kan; ſo viel Quellen giebt es auch der Verfaͤl-
ſchungen einer Geſchichte, indem ſie durch Nach-
richten, iedoch mit veraͤnderten Worten, ausgebrei-
tet, und fortgepflantzt wird.


§. 24.
[181]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.

§. 24.
Betrachtungen uͤber eine erhaltene
Nachricht.


Die Uberlegung, welche ein Zuhoͤrer, oder Le-
ſer, bey einer Nachricht braucht, koͤmmt gar ſehr
mit dem uͤberein was im 5. Capitel vom
Zuſchauer und Sehepunckte iſt gelehret wor-
den. Denn wie jeder eine Geſchichte, wovon er
einen Zuſchauer abgiebt, nach ſeinem Stande,
nach ſeiner Stelle, und nach ſeiner Gemuͤths-
verfaſſung
anſiehet (§. 8. 9. 10. 11. C. 5.);
und ſie auf einer gewiſſen Seite betrachtet (§. 13.
C. 5.), alſo geſchiehet dieſes eben auch bey Ge-
ſchichten, die wir hoͤren, oder leſen. Nur iſt
das Bild oder Vorſtellung einer Geſchichte aus
einer Erzehlung und Nachricht, gar ſehr von
der Erkenntniß unterſchieden, die der Zuſchauer
ſelbſt vor ſeine Perſon davon hat, wie aus dem
Capitel von der Verwandelung einer Ge-
ſchichte
in die Erzehlung auf das klaͤrlichſte
zu erſehen iſt. Daraus muͤſſen alſo auch andere
Gedancken und Ueberlegungen entſtehen. Das
beſondere aber welches das Bild einer Geſchich-
te aus einer Erzehlung von dem Bilde, das der
Zuſchauer davon hat, an ſich zu haben pflegt, iſt
1. dieſes, daß es kuͤrtzer, oder kurtzgefaſter und
kleiner iſt; oder daß es weniger in ſich enthaͤlt.
2. Daß es manches unbeſtimmtes in ſich haͤlt, wel-
ches in der Erkenntniß des Zuſchauers beſtimmt
iſt. 3. Daß der Geſchichte ſchon eine gewiſſe Ge-
ſtalt gegeben worden (§. 27. C. 6.), da man ihr
M 3auch
[182]Siebentes Capitel,
auch wohl eine andere Geſtalt haͤtte geben koͤn-
nen; als worinnen der Zuſchauer freyere Haͤnde
hat. Aus dieſen Umſtaͤnden einer Erzehlung
und Nachricht iſt es nun herzuleiten, daß der
Hoͤrer oder Nachſager andere Uberlegungen bey
der Geſchichte macht, als der Zuſchauer, wenn
auch gleich der Zuſchauer die Geſchichte unver-
faͤlſcht erzehlet, und der Hoͤrer die Erzehlung rich-
tig verſtanden hat.


§. 25.
Nachrichten ſucht man umſtaͤndlicher zu
wiſſen.


Denn daraus, daß die Erzehlung weniger in
ſich enthaͤlt, als der Zuſchauer und Urheber da-
von weiß, und folglich auch weniger, als man da-
von wiſſen koͤnte, und wuͤrde, wenn man ſelbſt da-
bey geweſen waͤre, entſtehet natuͤrlicher Weiſe ein
Trieb noch mehr davon zu wiſſen. So
kan z. E. keine Relation von einer Schlacht, ſie
mag ſo ausfuͤhrlich ſeyn, als ſie will, die Begier-
de der Leſer gnugſam ſaͤttigen, ſondern ſie erkun-
digen ſich, ſo offte es mit Zuſchauern derſelben zu
reden Gelegenheit giebt, gar zu gerne nach meh-
reren Umſtaͤnden und Particularitaͤten: manche
reiſen auch wohl gar an Ort und Stelle, um ſich
die Gelegenheit der Orte beſſer vorzuſtellen, und
alles genauer zu erkundigen. Jn Ermangelung
nun der Gelegenheit weiter nachzufragen, und die
Geſchichte genauer zu erkundigen, denckt man der
Erzehlung ſelber nach, und ſucht durch Zuſam-
menhaltung der Umſtaͤnde unter ſich, und mit
dem
[183]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
dem was uns ſonſten ſchon bekannt iſt, nach den
Regeln der Natur und der menſchlichen Weiſe zu
dencken und zu handeln, ſolche Umſtaͤnde heraus
zu bringen, welche in der Erzehlung, oder Nach-
richt, die wir davon erhalten haben, uͤbergangen
ſind.


§. 26.
Man ſtudirt uͤber die Worte der Urkunde.


Daraus folgt denn, daß man beſonders den
allgemeinen Worten, die darinnen vorkommen,
und wodurch die Individua nur unbeſtimmt an-
gezeigt werden, ſcharf nachdenckt, um nehm-
lich naͤhere Beſtimmungen heraus zu bringen.
Derjenige der hoͤrt, es ſey ihm ein Praͤſent zu-
gedacht, oder vor ihn eingekaufft worden, denckt
begierig nach, worinnen es wohl beſtehen koͤnne?
Der Ausdruck ein Praͤſent an Silberwerck, be-
ſtimmt die Sache ſchon genauer, laͤſſet aber doch
noch viel Materie zum Nachdencken uͤbrig. Ein
Vater, dem ſein ungerathener Sohn entlauffen,
hoͤrt, daß derſelbe ſich bey den Freunden auf-
halten ſollte: Entſtehet da nicht gleich die Bemuͤ-
hung zu ergruͤnden, welcher unter den Freunden
dadurch gemeynt ſey. Hier wird nun zwar, wenn
man auf die Gewißheit gehet, nicht allemahl, ſon-
dern gar ſelten, viel herausgebracht werden, es
waͤre denn, daß man mehrere Nachricht beyſam-
men haͤtte, deren eine die andere erlaͤutert: Un-
terdeſſen entſtehen doch aus dieſer Bemuͤhung
mehr zu wiſſen, bey dem Leſer und Hoͤrer einer
Nachricht mancherley Fragen, die er bey ſich
M 4ſelbſt
[184]Siebentes Capitel,
ſelbſt, offters ohne gnugſamen Grund beant-
wortet und ſeine Vermuthung mit der erhaltenen
Nachricht vermenget. Erzehlt nun ein ſolcher
die Geſchichte nachher, oder ſagt ſie nach, ſo iſt
nichts leichters, als daß er ſeine gemachte Entde-
ckung, die er ſich als ſeine eigene Erfindung leicht
eben ſo klar vorſtellet, als was wuͤrcklich in der
Nachricht geſtanden hat, von der Urkunde nicht
unterſcheidet, ſondern eines mit dem andern, als
wenn er davon waͤre benachrichtiget worden, er-
zehlet.


§. 27.
Man kan durch eine Erzehlung leichte
praͤoccupirt werden.


Jndem der Zuſchauer der Geſchichte, derſel-
ben in ſeiner Erzehlung ſchon eine gewiſſe Geſtalt
gegeben (n. 3. §. 24.), ſo entſtehet daraus zwiſchen
der Vorſtellung die der Zuſchauer hat, und derje-
nigen, die der Hoͤrer oder Leſer aus der Erzeh-
lung bekommt, ein mercklicher Unterſcheid. Denn
er, der Zuſchauer, weiß die beſondern Umſtaͤnde,
die ſich auch wohl auf eine andere Art erzehlen
lieſſen; er weiß alſo auch und kan wenigſtens
wiſſen, daß ſich der Geſchichte auch eine andere
Geſtalt geben lieſſe: Der Hoͤrer aber der Er-
zehlung weiß nichts von der Geſchichte, (wenig-
ſtens nehmen wir dergleichen Hoͤrer hier an) als
aus der Erzehlung, die aber gemeiniglich nichts in
ſich enthaͤlt, daraus man ſehen koͤnnte, daß auch
die Sache eine andere Geſtalt bekommen koͤnne:
Alſo: Ein Advocat, der die Sache ſeines Clien-
ten
[185]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
ten in eine Klage gebracht, und mithin dem Han-
del eine gewiſſe Geſtalt gegeben hat, welches,
wenn der Handel verwirrt iſt, allerdings noͤthig
iſt (§. 27. C. 6.); merckt etwa wohl was der
Gegner und Beklagte vor Umſtaͤnde des Han-
dels zu ſeinem Behuf anfuͤhren, und der Sache
eine andere Geſtalt geben koͤnne und werde: Der
Richter aber, der die Klage annimmt, und davon
weiter nichts weiß, als was in der Klage erzehlt
wird, kan nicht wiſſen, noch vermuthen, was der
Beklagte der Sache vor eine Geſtalt geben wird;
und muß daher, wenn der Klaͤger auch alle moͤg-
liche Verſicherung gaͤbe und geben koͤnnte, daß er
nichts anders, als die Wahrheit vorgebracht habe,
vor dem Urtheilfaͤllen den Beklagten hoͤren, nach
der Regel: Audiatur eſt altera pars. Denn
das iſt nicht zu laͤugnen, und ein Richter muß das
uͤberhaupt wiſſen, daß die Menſchen ihre Geſchaͤff-
te ſo verwickeln, verwirren, und ſonderbar einrich-
ten koͤnnen, daß die Sache gantz auf verſchiedene Art
angeſehen werden kan, und beyde Partheyen vie-
les vor ſich haben.
Die Staͤmme Jſrael,
welche nach vollendeten Kriegen in Canaan uͤber
den Jordan in ihr Erbtheil zuruͤck giengen, baue-
ten ſich einen Altar, und nahmen dadurch eine
Handlung vor, die noch keine bekannte Geſtalt
hatte: Denn ein Altar iſt zum opfern: Und ein
Altar darauf nicht ſollte geopfert werden, war
eine annoch unbekannte Subtilitaͤt. Man haͤtte
ſagen koͤnnen: Sie haͤtten einen Altar gebauet,
und auch: Sie haͤtten keinen gebauet. Unter-
deſſen kam die Nachricht vor die uͤbrigen Staͤm-
M 5me:
[186]Siebentes Capitel,
me: Siehe! Die Kinder Ruben, Gad und der
halbe Stamm Manaſſe haben einen Altar ge-
bauet, gegen das Land Canaan. Joh. 22, 11.
Dieſe Nachricht ſchrieb ſich ſonder Zweifel nicht
von Hauptperſonen her, ſondern von bloſſen
Zuſchauern, die als Fremde in Anſehung die-
ſer Geſchichte, nur das davon ſahen und wuſten,
was davon in die Augen fiel, nicht aber das Ge-
heime, oder das eigentliche Deſſein (§. 16. C. 5.):
Sie aber, die Urheber dieſer Erzehlung, ſahen die
Sache nach den gemeinen Begriffen an, und an
ſtatt zu erwarten, ob er auch wuͤrde eingeweihet,
und wuͤrcklich darauf geopfert werden, erzehlten ſie
die Sache, wie man es von einem wuͤrcklichen
Opferaltar wuͤrde erzehlet haben: Siehe! Die
drittehalb Staͤmme haben einen Altar gebauet.
Und in dieſem Sinne wurde auch die Erzehlung
von Joſua und den Aelteſten angenommen, und
gleich vorlaͤuffig beſchloſſen, ſie mit Heereskrafft zu
uͤberziehen. Welcher Krieg auch wuͤrde ausge-
brochen ſeyn, woferne die abgeſchickten Geſandten
nicht eine andere Nachricht und Urkunde mitge-
bracht haͤtten, worinnen die Sache, oder Geſchich-
te, in einer andern Geſtalt erzehlt und vorgeſtellt
wurde: Und welche den Anſchlag alſo vorſtellig
machte: Laſſet uns einen Altar bauen, der ein Zeu-
ge ſey zwiſchen uus und euch! Joh. 22, 26.
Wenn das Mißverſtaͤndniß entdeckt iſt, ſo wun-
dert man ſich oͤffters, wie es habe entſtehen, und
ſolche Unruhe veranlaſſen koͤnnen, da es doch ſo
leicht zu entdecken geweſen waͤre. Allein, dies iſt
die Art der meiſten Geſchichte, die neu, die von
Wichtig-
[187]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
Wichtigkeit ſeyn, daß ſie indem man ſie nach dem
gemeinen Leiſten foͤrmeln will, ein Anſehen bekom-
men, welches ihre wahre Beſchaffenheit und Ge-
ſtalt nicht wenig verſtellet.


§. 28.
Das Nachdencken uͤber einer Geſchichte veran-
laſſet eine andere Erzehlung.


Wenn die Vorſtellung des Nachſagers mit
der Vorſtellung des Urhebers nicht genau uͤberein
kommt; ſo wird Erſterer ſich in ſeiner Erzehlung
auch anderer Worte bedienen, als er in der Urkun-
de gefunden: Es waͤre denn, daß er aus Vorſicht,
und weil ihm bekannt iſt, der Zuſchauer muͤſſe am
beſten gewuſt haben, wie die Geſchichte am rich-
tigſten zu erzehlen waͤre, ſolche Veraͤnderung un-
terlaͤſſet, und daher bey den Worten der Urkunde
lediglich bleibet. Welches auch das eintzige Mit-
tel iſt, die Wahrheit und Richtigkeit der Ge-
ſchichte unverſehrt zu erhalten. Aendert aber der
Nachſager die Urkunde, ſo muß dieſe nothwendig
auch andere Vorſtellungen bey den Hoͤrern und
Leſern, als kuͤnfftigen zweyten Nachſagern her-
vorbringen. Da nun bey dieſen eben diejenigen
Urſachen vorkommen, von welchen wir gewieſen,
daß ſie eine Aenderung in der Erzehlung bey dem
erſten Nachſager veranlaſſen koͤnnen (§. 24.);
nehmlich die Begierde mehr zu wiſſen, und das un-
beſtimmte naͤher zu beſtimmen, ſo wird die Erzeh-
lung des zweyten Nachſagers von der Erzeh-
lung des erſten Nachſagers abermahls unterſchie-
den ſeyn; ſo daß durch die Menge der Nachſager
und
[188]Siebentes Capitel,
und der ſich immer aufs neue aͤuſernden Urſachen
der Aenderung in Erzehlen und Nachſagen, die
Geſchichte gantz und gar verunſtaltet, und in eine
Fabel verwandelt werden kan.


§. 29.
Warum der Ruf die Sachen ſehr verdrehe.


Hier zu kommt, daß eine Geſchichte allemahl
in einer gewiſſen Abſicht erzehlet wird (§. 9. C. 5.):
Wobey in gemeinen Erzehlungen faſt allemahl
ein Haupt requiſitum iſt, daß es etwas merckwuͤr-
diges und ſonderbares ſeyn muß (§. cit.).
Wenn nun jeder derer Nachſager, nach dieſer Er-
zehlungsart handelt, und durch ſeine Einbildungs-
krafft etwas daran aͤndert, ſo muß die daraus fol-
gende Erzehlung bey jedem Nachſager immer um
etwas veraͤndert werden, und die Erzehlung einer
Fabel naͤher kommen. Wie die lateiniſchen Scri-
benten ſich dieſes Kunſtſtuͤckes bedienet, ihre Buͤ-
cher und Erzehlungen angenehmer zu machen,
habe ich in einem Exempel aus dem Plinio, und
ſeiner Hiſtoria Naturali gezeigt in einem Pro-
grammate de Macrobiis ſemel in vita parienti-
bus. Opuſc. Acad. Vol. II. p.
177.


§. 30.
Was bey dem Nachſagen einer Geſchichte
noch mehr vorgehe.


Obgleich der Zuſchauer ſeine Erkenntniß von
der Geſchichte ſchon verkuͤrtzt, und in einen Aus-
zug bringt (§. 3. C. 6.); ſo kan doch ſeine Er-
zehlung vor dem Nachſager, wegen beſondrer Um-
ſtaͤnde
[189]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
ſtaͤnde noch zu lang ſeyn, wenn er ſie nachſagen
ſoll. Dieſer wird daher aufs neue einen Auszug
daraus machen. Dabey findet nun erſtlich
ſtatt, was wir von der gefliſſenen Auslaſſung ge-
wiſſer Stuͤcke gewieſen haben (§. 8. C. 6.), die
ſich offt ſchon ſelbſt in der Erzehlung des Zu-
ſchauers findet. Zweytens kommt viel darauf
an, ob der Nachſager einen trockenen, oder ſinn-
reichen Auszug machen will; welche Wuͤrckung
des Verſtandes, §. 40. ſeq.der richtigen Aus-
legung ꝛc.
erklaͤrt worden.


§. 31.
Wenn Geſchichte laufen.


Wir wollen nunmehro von den Veraͤnderun-
gen, die ſich mit einer Geſchichte, waͤhrender ihrer
Ausbreitung zuzutragen pflegen, wieder abſtrahi-
ren, und unſre Aufmerckſamkeit aufs neue auf
die Ausbreitung ſelbſt richten. Hierbey finden
wir unter andern die Geſchwindigkeit der Aus-
breitung betrachtungswuͤrdig. Geſchichte die
uns angehen, verurſachen in unſerer Seele, wir
moͤgen dabey gegenwaͤrtig ſeyn, oder auch nur da-
von hoͤren, eine ſtarcke Beſchaͤfftigung; und das
heiſſet, ſich einer Begebenheit oder Geſchichte an-
nehmen.
Wenn nun die Geſchichte ſo beſchaf-
fen iſt, daß ſie entweder nicht heimlich gehalten
werden kan, oder keine dringende Urſache vorhan-
den iſt, ſie heimlich zu halten, ſo iſt ein natuͤrlicher
Trieb vorhanden, mit andern Menſchen, von dem
was vorgehet, zu reden, und ihnen unſere Erkennt-
niß davon, auch wohl unſer eigen Anliegen bekannt
zu
[190]Siebentes Capitel,
zu machen. Die Erzehlung erfordert wenig Zeit,
und es giebt im kurtzen gar viele Gelegenheit mit
Leuten zu reden. Und ſo geſchiehet es, daß neue
Geſchichte taͤglich und ſtuͤndlich weiter erzehlet
werden; welchen Fortgang man das Lauffen
einer Geſchichte oder Erzehlung nennen moͤchte.
Dieſes erfolgt nun ſo lange als die Nachricht an
Perſonen kommt, welche ſich der Sache anneh-
men,
oder die dieſelbe etwas angehet.


§. 32.
Wenn Geſchichte ſtehen bleiben.


Hingegen bleibt eine Erzehlung ſtehen, wenn
ſie an ſolche Perſonen kommt, welche ſich derſelben
nicht annehmen, oder welche ſolche nichts ange-
het. Es kommt hierbey nicht auf die Wahrheit
an, ob die Geſchichte die Hoͤrer wuͤrcklich was
angehet oder nicht? ſondern darauf, wie ſie ſich
die Sache vorſtellen, und ob ſie dabey intereßirt
zu ſeyn glauben. Wie eine Geſchichte ſtehen
bleiben koͤnne, kan man daraus abſehen, daß ſich
eine Nachricht manchmahl durch weite Laͤnder aus-
breitet, davon viele Leute in der Stadt und denen
benachbarten Doͤrſfern nichts wiſſen: z. E. ein
Gelehrter hat einen neuen und der recipirten Lehre
zuwider laufenden Satz ſeinen gelehrten Zuhoͤrern
vorgetragen, dieſes kan ſich in kurtzen durch mehr
als ein Land unter den Gelehrten ausbreiten. Un-
terdeſſen kan ſolches vielen Handwercksleuten, die
in eben der Stadt wohnen, unbekannt bleiben, und
noch mehr denen Leuten drum herum auf dem
Lande. Ein anders iſt es ſchon, wenn eine irrige
Lehre
[191]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
Lehre auf der Cantzel vorgebracht wird: Denn
wie jeder die Lehren, die von dieſer heiligen Stelle
vorgetragen werden, als ſolche anſiehet, die nicht
bloß die Gelehrten, ſondern einen ſo gut als den
andern angingen, alſo pflegt auch jeder eine ſolche
Nachricht ſeines Orts ausbreiten zu helffen. Un-
ter Leuten, die eine Sache nichts angehet, ſind
diejenigen beſonders bekannt, welche von der Sa-
che nichts verſtehen. Sollte man auch etwa
bedencklich finden, daß eine Geſchichte in der
Welt vorgehen ſollte, die mich und dich nichts
anginge, da doch alles in der Welt verknuͤpft
ſey, ſo dienet zur Antwort, 1. daß es, wie ſchon
gedacht, nicht auf die Wahrheit, ſondern darauf
ankommt, ob wir glauben, daß uns die Sache et-
was angehe. 2. Sodann koͤnnte man zwar da-
von ſagen, daß uns die Sache aͤuſerſt wenig,
oder unmercklich wenig anginge; aber eben
dieſes wenige wird nach der gemeinen Gedenck-
und Mundart, nichts genennet.


§. 33.
Wenn Geſchichte einen Anſtoß finden.


Die Geſchichte, oder vielmehr die Erzehlung,
findet einen Anſtoß, wenn iemand derſelben
widerſpricht. Und dieſes kan ſo wohl deswegen
geſchehen, weil man ſie nicht glaubt, oder weil man
ſie nicht will ausgebreitet wiſſen. Die Geſchich-
te wird deswegen durch ſolchen Anſtoß in ihrem
Lauffe gehindert, weil 1. der Widerſprecher das-
jenige nicht thut, was er als ein Nachſager thun
wuͤrde, daß alſo ein Canal abgehet, durch wel-
chen
[192]Siebentes Capitel,
chen die Geſchichte auch koͤnte ausgebreitet werden
(§. 5.). Sodann 2. weil die Geſchichte durch
den Widerſpruch, zumahl wenn ſolcher ſich haͤuf-
fet, bey manchen zweifelhafft. Der Zweifel
aber mindert den Trieb die Geſchichte nachzuſa-
gen, weil man ſelbſt noch nicht mit ſich daruͤber
eins iſt. Es iſt wohl an dem, daß wenn es uͤber
den Widerſpruch zu einem Streit kommt, als
wenn uͤber ein Delictum, davon die Sage entſte-
hen wollte ein Jnjurienproceß entſtehet, die Ge-
ſchichte wohl noch mehr ausgebreitet wird, als
wenn derſelben gar nicht waͤre widerſprochen wor-
den. Es darf eben kein groſſer Streit ſeyn, der
die Ausbreitung einer Geſchichte mehr befoͤrdern,
als hindern kan: Weil die Menſchen gar zu ge-
neigt ſind von Unruhen und Streitigkeiten zu hoͤ-
ren, woruͤber Leibnitz noch dieſe gegruͤndete An-
merckung macht: la malignite naturelle du coeur
humain rend ordinairement les attaques plus
agreables au lecteur, que les defenſes. Prefa-
ce de la Theod.
Das Widerſprechen bey einer
Geſchichte, wenn es ihren Lauf hindern ſolle, muß
ſo eingerichtet werden, daß nicht dadurch eine neue
Geſchichte entſtehet, die eben ſo merckwuͤrdig, und
allgemein intereßirend iſt, als die, deren Lauf man
hindern wollte.


§. 34.
Arten eine Geſchichte aufzuhalten.


Hieraus wird ſich weiter verſtehen laſſen, wie
uͤberhaupt der Lauf und Fortgang einer Ge-
ſchichte aufgehalten werde? Denn die erſte Art
davon
[193]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
davon iſt eben dieſe, daß derſelben widerſprochen
wird. Darzu aber kommt die zweyte, wenn die-
jenigen, welche die Nachricht weiter bringen und
nachſagen ſollten, ſolche aus beſondern Bewe-
gungsgruͤnden, oder aus groſſer Fahrlaͤßigkeit ver-
ſchweigen. Alſo wird eine lobenswuͤrdige Bege-
benheit durch die Feinde meiſt aufgehalten: Waͤ-
ren ſie Freunde oder nur unpartheyiſch, ſo wuͤr-
den ſie wie andere von der ruͤhmlichen That reden,
und ſie mithin etwa auch ihres Orts ausbreiten:
Aber als Feinde ſchweigen ſie gefliſſentlich davon,
und laſſen ſie ſich nur von andern vorſagen. Die
dritte Art des Aufhaltens entſtehet daraus, wenn
ehe die Geſchichte ſich noch ausgebreitet, eine groͤſ-
ſere
oder wichtigere Begebenheit ſich zutraͤgt.
Denn dieſe ziehet die Aufmerckſamkeit der Men-
ſchen mehr an ſich, ſie beſchaͤfftigen ſich daher mit
der groͤſſern mehr, als mit der kleinern: Sie re-
den bey vieler Gelegenheit von der groͤſſern Ge-
ſchichte, da ſie in deren Ermangelung von der klei-
nern und geringern reden wuͤrden. Und hier hat
Wahrheit und Luͤgen gleiches Recht. Durch eine
wichtige Unwahrheit kan ebenfalls der Lauf einer
Erzehlung aufgehalten werden, und ohngeachtet
ſich die Unwahrheit zu rechter Zeit zu Tage legt,
ſo hat dennoch unterdeſſen, die wahre Begeben-
heit ihre Neuigkeit etwas verlohren; welches den
Trieb ſie nachzuſagen gar ſehr vermindert. Eine
Geſchichte aber, die vollends ſchon ausgebrochen,
gar zu unterdruͤcken, daß nicht mehr davon gere-
det wird, iſt eine ſehr mißliche Sache, weil die des-
wegen gemachte Anſtalten meiſtens Streit und
NUnruhe
[194]Siebentes Capitel,
Unruhe veranlaſſen, dieſe aber mehr zur Ausbrei-
tung, als zur Verheimlichung der Geſchichte
dienen (§. 33.).


§. 35.
Fortpflantzung der Geſchichte auf die
Nachkommen.


Ohngeachtet jede Ausbreitung einer Erzeh-
lung, durch eine Metapher eine Fortpflantzung
kan genennet werden, ſo ſcheinet doch ſolches Wort
beſonders bequem zu ſeyn, die Ausbreitung einer
Geſchichte auf die Nachkommen anzuzeigen.
Dieſe Art der Ausbreitung aber hat ihre groſſe
Schwierigkeit; weil die Menſchen immer mit
gegenwaͤrtigen Geſchaͤfften und Geſchichten ſo viel
zu thun haben, daß ſie ſich um das Vergangene
nicht groß bekuͤmmern. Es muß alſo eine Ver-
anlaſſung da ſeyn, die Erzehlung auf die Kinder
zu bringen; welche Veranlaſſung ſich auch wuͤrck-
lich bey denen befindet, die bey der Geſchichte ge-
genwaͤrtig geweſen ſind, oder auf eine andere Art
daran Theil genommen haben: Aber die Kinder,
Enckel und Urenckel haben nicht gleichen Trieb,
und oͤffters auch nicht gleiche Urſach auf die Fort-
pflantzung der Geſchichte bedacht zu ſeyn. Der
eintzige Weg, (auſſer wo Gelehrte beſonders zu
Fortpflantzung der Geſchichte beſtellt ſind, derglei-
chen ſchon ehedem die Deutſchen gehabt §. 20.);
iſt wohl dieſer, wenn etwas vorhanden iſt, welches
die Kinder veranlaſſet ihre Eltern nach der Ur-
ſach und Bedeutung zu fragen. Dergleichen
Ding pfleget man ein Denckmahl zu nennen.
Die-
[195]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
Dieſes kan ein Coͤrper, der wegen ſeiner beſon-
dern Beſchaffenheit, die Aufmerckſamkeit an ſich
ziehet, und wenn man ſeine Bedeutung nicht
weiß, uns gleichſam im Wege iſt. Es kan aber
auch eine Ceremonie, oder Feſt ſeyn, welches we-
gen des damit verknuͤpften Vergnuͤgens, von de-
nen die das Andencken davon haben, gerne wie-
der gefeyert wird: Bey welcher Gelegenheit, die
zarteſte Jugend von der alten Geſchichte unterrich-
tet, und dadurch zugleich zu abermahliger Feyer
zu ſeiner Zeit praͤparirt, und ermuntert wird.
Selbſt ſchrifftliche Urkunden, und Brieffe koͤn-
nen eine Geſchichte nicht lange fortpflantzen, wo
nicht Gelehrte ſind, die dafuͤr beſondere Sorge
tragen. Sie beſtehen nicht lange, weil ſie bey
den vielen Veraͤnderungen der Menſchen, und ih-
ren Wanderungen, nebſt Kriegen, Feuerflam-
men, und Waſſerfluthen gar leicht verlohren und
verzehrt werden. Drey bis vier hundert Jahr,
iſt eine gar zu lange Zeit, darinnen ſich die Perſo-
nen, und ihre Umſtaͤnde gar zu offte veraͤndern,
als daß ſich auch Brieffe erhalten ſollten, wofer-
ne nicht Gelehrte, als Behuͤter und Beſchuͤtzer
derſelben, ſie vor ſolchen Unfaͤllen mit beſon-
derm Fleiſſe und Eyfer bewahren. Auch hier-
bey aber hat die goͤttliche Vorſorge ihre beſondere
Wege und Obhuth, daß gewiſſe Nachrichten nicht
untergegangen ſind.


§. 36.
Erneuerung der Geſchichte.


Wenn die Nachkommen nun aufhoͤren ſich
einer altwerdenden Geſchichte anzunehmen, ſo ge-
N 2hen
[196]Siebentes Capitel,
hen immer mehr und mehr Menſchen ab, die da-
von Nachricht haben; bis zuletzt auch nicht einer
mehr uͤbrig bleibt. Wie Z. E. die Egyptiſche
oder Coptiſche Sprache noch bis ins vorige
Jahrhundert gedauert hat; da der letzte geſtor-
ben iſt, der ſie verſtanden hat. Maillet Deſcri-
ption de l’ Egypte T. I. p.
22. Zur ſicherern
Verhinderung ſolches Untergangs iſt dienlich, daß
die Geſchichte, wenn ſie fortgepflantzt werden ſol-
len, von Zeit zu Zeit erneuert werden: So daß
mit dieſer neuen Geſchichte, als durch ein Ve-
hiculum,
jene alte aufs neue mit ausgebreitet wird.
Dergleichen Neuigkeiten, die den verleſchen wol-
lenden Geſchichten wieder aufhelffen, ſind die hun-
dertjaͤhrigen Feyern,
welche nach Art aller,
beſonders aber ſeltener Feſte, jedermann aufmerck-
ſam machen, und anreitzen, nach der alten Ge-
ſchichte, als nach der Urſachen des gegenwaͤrtigen
Otii und Freude ſich zu erkundigen.


§. 37.
Eine Geſchichte entdecken.


Wenn man zur Erkenntniß einer Geſchichte we-
der durchs Dabeyſeyn, noch durch Nachrichten, ſon-
dern auf eine andere Art gelanget: So heiſſet das
eine Geſchichte entdecken. Den Unterſcheid dieſes
Begriffes von andern, die damit eine groſſe Ver-
wandſchafft haben, beſſer zu beſtimmen, wollen wir
auch dieſe anzeigen. Wenn man von einer Sache,
die vor uns ſollte verborgen gehalten werden, den-
noch Nachricht bekommt, ſo ſagt man: Jch bin dar-
hinter gekommen:
Wenn wir eine muͤndliche
Nach-
[197]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
Nachricht von einer Geſchichte bekommen, und
nicht auf den Canal ſehen, oder ſehen wollen, durch
welchen wir ſie bekommen, ſo ſagt man: Jch
habs gehoͤrt: Wenn wir eine uns angehende
Geſchichte erſt durch Nachſager, oder von dem
Zuſchauer, der es uns eben nicht hat berichten wol-
len, vernehmen; ſo ſagt man: ich habe erfahren,
daß ꝛc. Eine Nachricht, die wir aus oͤffentlichen
Buͤchern genommen haben, davon ſagt man: ich
habe es geleſen: wenn wir dergleichen von Ju-
gend auf gethan haben, ſo ſagt man: ich habe es
gelernet; als wie die bibliſchen Geſchichte. Von
Nachrichten aus Buͤchern und Stellen, die nur
wenige wiſſen, ſagt man: ich habe es gefunden.
Dieſes kommt beſonders bey archiviſchen Urkun-
den vor. Wenn man auch eine Sache, die man
ſchon laͤngſt haͤtte bemercken koͤnnen, erſt ſpaͤte ge-
wahr wird; ſo ſagt man: ich bins gewahr wor-
den, ich bins inne worden.


§. 38.
Wie man Geſchichte aus Folgen erkennet.


Mit dem Entdecken aber hat es die Be-
wandniß,
daß eine Geſchichte nicht allein dieſe
Wuͤrckung und Folge hat, daß ſie bey den Ge-
genwaͤrtigen und Zuſchauern einen Eindruck in die
Seele macht, welcher zu einer Erzehlung und
Nachricht wird, die hernach durch Nachſagen wei-
ter ausgebreitet wird; ſondern 1. ziehet ſie auch ſehr
oͤffters ſichtbare Folgen in den Coͤrpern nach ſich:
2. ſie ziehet auch andere Begebenheiten nach
ſich, die mit der vorhergegangenen Begehenheit
N 3eine
[198]Siebentes Capitel,
eine natuͤrliche, obgleich nicht nothwendige Ver-
bindung haben. Die erſte Art der Folgen iſt
zum Theil ſo beſchaffen, daß jedermann gleich auf
die vorhergegangene Geſchichte beynahe untruͤg-
lich verfaͤllt. Man ſiehet z. E. eine Menge
Brandſtaͤten in einer Stadt, das iſt, eingefalle-
ne. Steine und Leimhauffen, mit vermengten
Braͤndern; jedermann erkennt darbey, daß es
muͤſſe gebrannt haben. Man findet einen todten
Coͤrper mit vielen Wunden, woraus eine Menge
Blut gefloſſen: da glaubt jeder, daß der Menſch
ſey ermordet worden. So iſt es auch mit den
Geſchichten beſchaffen, worauf andere Begeben-
heiten
nach der Natur der Seelen, oder nach den
Geſetzen und den Gewohnheiten erfolgen, daß je-
dermann bey Erblickung der letzteren auf die er-
ſteren ſchluͤſſet. Man ſiehet in einer Stadt, durch
die man reiſet, die Leute aus der Kirche gehen;
kan man daraus nicht zuverlaͤßig ſchluͤſſen, daß
ſie zuvor in die Kirche muͤſſen gegangen ſeyn? kan
man nicht aus jedem Hauſe, das man ſiehet,
ſchluͤſſen, daß es muͤſſe erbauet worden ſeyn?
Ohngeachtet nun dieſe Begebenheiten, die man
durch ſolche handgreifliche Schluͤſſe herausbringt,
ſchon als Entdeckungen anſehen, und ſie ſo
nennen koͤnte, weil ſie nehmlich nicht durch den
natuͤrlichen Weg Geſchichte zu erkennen, nehmlich
durch Zuſchauen und Nachrichten ſind erkannt
worden, ſo pflegt man doch dergleichen Geſchich-
te, welche aus ſo klaren Folgen erkannt werden,
nicht Entdeckungen zu nennen, ſondern man
rechnet ſie zur Erkentniß der Geſchichte und
Sache
[199]v d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
Sache ſelbſt, woraus ſie ſind erkannt worden.
Man heiſſet es wiſſen: denn alſo weiß man,
daß jemand ermordet worden, wenn man den
todten Leichnam geſehen: man weiß, daß es in
einer Stadt gebrannt hat, wenn man die Brand-
ſtaͤte geſehen hat. Das Wiſſen aber gehoͤrt im
eigentlichen und untruͤglichen Verſtande, die Er-
kentniß, welche man vor einer Sache durch ſich
ſelbſt, und durch das Anſchauen derſelben erlan-
get hat.


§. 39.
Entdecken iſt einerley mit Ausſpuͤren.


Entdecken braucht man daher meiſtens nur
bey ſolchen Faͤllen, wo man aus einer Folge die
Geſchichte heraus bringt, da ein anderer nicht ſo
leicht darauf wuͤrde verfallen ſeyn. Solche Fol-
gen und Anzeichen einer Geſchichte, die gar leichte
koͤnnen uͤberſehen werden, und unbemerckt blei-
ben, heiſſen Spuren. Und daher kommt es,
daß das Entdecken mit dem Ausſpuͤren uͤber-
einkommt, wovon unſere Abhandlung de veſti-
giis
nachzuleſen iſt. Beym Entdecken thut al-
ſo der Verſtand des Erfinders das meiſte. Es
ſind aber dabey zwey Faͤlle zu unterſcheiden. Bey
mancher Entdeckung wird man durch eine gefaſte
Muthmaſſung nur veranlaſſet, nachzufra-
gen,
und die Ausſagen davon zu erlangen.
Wenn wir nun wuͤrcklich dieſer Ausſagen theilhaff-
tig werden, ſo gruͤnden wir unſere Erkentniß ſol-
cher Geſchichte nicht mehr auf unſere erſte Ver-
muthung,
als die uns nur Gelegenheit gegeben,
N 4nach-
[200]Siebentes Capitel,
nachzuforſchen, ſondern auf die erlangten Ausſa-
gen. Eine auf dieſe Art erlangte hiſtoriſche Erkent-
niß iſt hernach derjenigen gleich zu ſchaͤtzen, die
wir unmittelbar aus Ausſagen erhalten haben.
Alſo bey einer Jnquiſition, die ſich von einem ge-
ringen Verdachte anfaͤnget, oder angefangen h[a]t,
braucht es zwar meiſtens viele Muͤhe, ehe man
den Jnquiſiten zum Geſtaͤndniß bringet: wenn
aber das Geſtaͤndniß einmahl herausgebracht iſt,
ſo iſt es in Anſehung des facti hernach eben ſo gut,
als wenn man gleich anfangs durch eine nicht ſo
ſchwer gemachte Ausſage, die Beſchaffenheit der
That erkannt haͤtte. Allein es geſchiehet, daß
jemand eine Geſchichte durch ſein Nachdencken
uͤber einige Anzeichen entdeckt, ſolche auch, ohn-
geachtet ſeine Anzeichen gar nicht untruͤglich ſind,
vor bekannt und gewiß annimmt, und ausſagt,
als ob er dabey geweſen waͤre, oder Nachricht
davon durch einen gewiſſen Canal erhalten haͤtte.
Dieſer Fall iſt beſonders zu mercken, weil ein
ſolcher, der Urheber der Erzehlung wird, und
dennoch von dem Urheber in eigentlichem Verſtan-
de, gar ſehr unterſchieden iſt, als welcher bey der
Sache gegenwaͤrtig geweſen ſeyn ſoll (§. 3.). Ei-
ne ſolche Erzehlung, ob ſie gleich wahr iſt, hat
dennoch keinen gewiſſen Grund, ſo lange nicht
Ausſagen hinzukommen, welche ſich von einem
Zuſchauer herſchreiben. Dieſes aber folget ge-
meiniglich gar bald darauf, weil, wenn einmahl
von einer Geſchichte haͤuffig geredet wird, die Jn-
tereſſenten theils nicht mehr ſo ſtarck uͤber ihr Ge-
heimniß halten, weil ſie es vor verrathen anſe-
hen,
[201]v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
hen, theils aber auch durch gerichtliche Unterſu-
chung zum Ausſagen und Geſtaͤndniß gezwungen
werden.


§. 40.
Erforſchung einer Geſchichte.


Man ſiehet auch hieraus, worinnen das Er-
forſchen,
oder Erkundigen einer Geſchichte
beſtehe. Sie muß nothwendig ſchon etwas be-
kannt ſeyn, wenn darnach ſoll geforſchet werden,
weil man nach einer Sache, davon man gar nichts
weiß, auch nicht fragen kann. Sie muß aber
nicht aus Nachrichten, ſondern auf eine ande-
re Art ſeyn erkannt worden; denn ſonſt weiß
man ſie ſchon, und die Erforſchung ging nur
auf beſondere Umſtaͤnde der Geſchichte. Wenn
aber von der gantzen Geſchichte das Erforſchen
gebraucht wird, ſo bleibt nichts uͤbrig, als daß
man eine Geſchichte, die uns durch Anzeichen be-
kannt worden, nunmehro auch durch Ausſagen,
als durch den rechten natuͤrlichen Weg vergange-
ne Geſchichte zu erkennen, einzuſehen; und des-
wegen Perſonen aufzuſuchen, welche uns Nach-
richt davon geben koͤnnen. Nachforſchen wird
auch in dem Falle gebraucht, wenn wir eine Nach-
richt, die wir erhalten haben, nicht glauben; und
ſie daher vor eine Unwahrheit annehmen. Die-
ſes giebt uns Gelegenheit, durch Ausſagen derer,
die davon wiſſen koͤnnen, zu erfahren, daß die
Sache nicht geſchehen ſey, und ſich nicht ſo befin-
de. Das nicht geſchehen ſeyn muß in dieſem
Falle vor die Begebenheit angenommen werden,
N 5wel-
[202]Achtes Capitel,
welche die gegenwaͤrtigen Perſonen, ſo gut als ei-
ne Veraͤnderung, die wuͤrcklich vorgegangen, durch
ſich ſelbſt wiſſen koͤnnen; der Uebelberichtete
aber, der die Nachricht nicht glaubt, anfangs
durch ſeine Vermuthung erkennet (als welches
das eintzige iſt, was er der falſchen Nachricht
ſtracks entgegen ſetzen kan,); hernach aber, weil
er in ſeiner Vermuthung irre gemacht wird, durch
Ausſagen zu beſtaͤtigen ſucht. Welches denn mit
unſerer Erklaͤrung vom Erforſchen der Geſchich-
te uͤbereinkommt. Wenn man durch ſein Erfor-
ſchen endlich die Ausſagen der Zuſchauer heraus
gebracht hat, ſo ſagt man: man habe die Sache
ans Licht gebracht. Sie kan aber auch oh-
ne unſere Bemuͤhung, durch beſondere Umſtaͤnde,
ans Licht kommen.



Achtes Capitel,
von dem
Zuſammenhange der Begeben-
heiten und der Geſchichte.


§. 1.
Vom Zuſammenhange bloß coͤrperlicher
Begebenheiten.


Niemand zweifelt, daß die meiſten Veraͤn-
derungen und Begebenheiten in der coͤr-
perlichen Welt in dem vorhergehenden
Zuſtan-
[203]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
Zuſtande, und in den vorhergegangenen Bege-
benheiten ihren Grund haben; ſo daß dieſe nach
dem von GOtt geordneten Lauffe der Natur, die
Urſach der nachfolgenden ſind. Unterdeſſen iſt
es bisher gar nicht ausgemacht geweſen, wie der
Begriff, und die Erkentniß der Urſachen, mit
andern Stuͤcken der Vernunfftlehre zuſammen-
hange: allwo man von lauter Begriffen, Saͤ-
tzen
und Schluͤſſen handelt. Jn meiner Lo-
gica Practica Problem. XXX. p.
35. habe aber
gewieſen, daß die Erkentniß der Urſach eines
Dinges in nichts anders als darinnen beſtehe, daß
man aus einem iudicio intuitiuo, d. i. ſolchen,
welches man durch die Empfindung oder Erfah-
rung erlanget, ein iudicium diſcurſiuum und
Schlußſatz machen will. Jn ſo ferne nun die
Phyſick, welches eigentlich ihr Amt iſt, allgemei-
ne Wahrheiten, die man vors erſte aus der Er-
fahrung erkannt hat, in ſich enthaͤlt; ſo hat die
Erklaͤrung der Urſachen, wenn von ſolchen
allgemeinen Saͤtzen die Rede iſt, von den De-
monſtrationen,
die bey allen uͤbrigen allgemei-
nen Wahrheiten gebraucht werden, nichts vor-
aus. Nur mit der Erfindung ſolcher Schluͤſ-
ſe gehet es anders zu. Denn da man bey Er-
findung anderer allgemeinen Wahrheiten, die
nehmlich nur a priori koͤnnen erkannt werden, die
Foͤrderſaͤtze (wenigſtens bey dem erſten Erfinder)
eher bekannt ſind, als der Schlußſatz; ſo iſt hin-
gegen in einem Schluſſe, da man die Urſach ei-
nes Dinges, oder einer Erfahrung entdeckt, der
Schlußſatz eher bekannt als die Forderſaͤtze. Und
die
[204]Achtes Capitel,
die Erfindung der phyſicaliſchen Urſachen noͤthiget
uns nach einem noch unaufloͤßlichen Logikaliſchen
Problemate zu handeln, welches ſo heiſſet: aus
einem gegebenen Schlußſatze die beyden
Foͤrderſaͤtze zu finden,
welches niemahls in ei-
ne Regel wird gebracht werden, wegen der ſchon
anderwerts bemerckten Schwierigkeiten. Ver-
nuͤnfftige Gedancken vom Wahrſcheinli-
chen.
IV. Betracht. §. 6. p. 74. Doch jene
gantze Betrachtung der Urſachen bey coͤrperli-
chen
Begebenheiten, womit ſich Phyſici beſchaͤff-
tigen, gehet uns hier nicht an. Denn allgemei-
ne
Wahrheiten, wohin auch die Erfahrungen ge-
hoͤren, werden aus allgemeinen Begriffen herge-
leitet. Phyſici ſehen nicht auf die Urſache der
eintzeln Begebenheiten, auſſer wenn ſolche in der Er-
fahrung noch keine Regel haben. Die Regel, oder
was allgemeines, iſt das erſte, was ſie ſuchen.
Wenn dieſe da iſt, ſo fragt man nicht weiter, war-
um eben an dem Tage, Stunde, Orte, dieſe oder
jene Veraͤnderung vorgegangen ſey? Hingegen
in der Erkentniß der Geſchichte, wenn man
ſich anders in Urſachen einlaſſen will, iſt die Fra-
ge nicht von der Regel und allgemeinen Begriffe
der Begebenheit, ſondern warum an dieſem Or-
te,
zu der Zeit, ſich etwas zugetragen: daß es
z. E. gehagelt, geſchneyet, Kranckheiten gegeben.
Hier wird man bald ſehen, daß allemahl, um die
Urſach zu finden, auf den vorhergehenden Zu-
ſtand der Dinge, und auf die aͤlteren Begeben-
heiten muͤſſe zuruͤckgeſehen werden. Wie aber
aus einer coͤrperlichen Begebenheit eine andere in
ein-
[205]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
eintzeln Faͤllen entſtehe, das iſt eigentlich eine
coſmologiſche Betrachtung, wo von der Veraͤnde-
rungen der Coͤrper uͤberhaupt gehandelt wird, in
die wir uns jetzo nicht einlaſſen wollen.


§. 2.
Einſchraͤnckung und wichtiges Vorhaben
dieſes Capitels.


Uns iſt jetzo bey gemeinen phyſicaliſchen Be-
gebenheiten genug, daß ſie als natuͤrlich ange-
ſehen werden, die, wie wir auch im gemeinen Le-
ben thun, ohne weitere Erklaͤrung angenom-
men werden. Z. E. bey der Geburt und vorgaͤn-
giger Empfaͤngniß eines Knaͤbleins, wird niemand
in der Erzehlung der Familiengeſchichte fragen,
oder forſchen, warum ein Knaͤblein und nicht ei-
ne Tochter ſey empfangen und gebohren worden.
Auſſerordentliche Begebenheiten aber, die ſich
nicht auf Regeln wollen reduciren laſſen, muͤſſen
aus der Metaphyſick erklaͤret werden; und ſind
alſo auch hier nicht in Betrachtung zu ziehen.
Es iſt auch ſchon laͤngſt gewoͤhnlich, daß wenn
man von Geſchichten handelt, man dadurch ledi-
glich die Begebenheiten der Menſchen verſtehet,
wie ihr Verſtand, Willen, aͤuſſerlicher Zuſtand
iſt geaͤndert worden. Der Geſchichtskenner
nimmt ſich der phyſicaliſchen Dinge nicht weiter
an, als in ſo ferne ſie Veraͤnderungen in der See-
len, oder im gantzen Zuſtande des Menſchens
verurſachen. Dazu aber iſt bloß noͤthig, daß
man wiſſe, dieſes oder jenes habe ſich da und dort
zugetragen: als z. E. ein Erdbeben, ein Wol-
cken-
[206]Achtes Capitel,
ckenbruch; es iſt aber nicht noͤthig, daß ich den
Urſprung und Urſach derſelben phyſicaliſchen Be-
gebenheit weiß. Zuſammenhang, Verbin-
dung
und Urſachen der Geſchichte, wovon wir
hier handeln wollen, gehen auf ſolche Begeben-
heiten der Menſchen, die von ihren Willen und
Entſchluͤſſungen, und ihren vorlaͤuffigen Vorſtel-
lungen abhangen. Das aber iſt nun ein ſchwe-
rer und ſehr verwickelter Theil der hiſtoriſchen Er-
kentniß; denn man ſiehet, daß Menſchen uͤber
Sachen, wobey ſie gegenwaͤrtig geweſen, die ih-
nen von innen und auſſen bekannt ſeyn muͤſſen,
dennoch ſo ſchwer unter einen Huth zu bringen
ſeyn, worin ſie anzeigen ſollen: woran es gefehlt?
wer und was Schuld daran ſey? Geſchweige,
wenn wir von Urſachen der Begebenheiten reden
wollen, wobey wir nicht zugegen geweſen, und
wovon wir mithin wenig Erkentniß haben. Hier-
bey gedencket noch zur Zeit jeder nach ſeiner Art,
ohne der geringſten Regel und Anleitung. Mit-
hin iſt auch bey Uneinigkeiten uͤber ſolche Dinge
kein Mittel noch Anleitung vorhanden, wie man
ſich etwa einander bedeuten, oder die verſchiede-
nen Meynungen gar entſcheiden koͤnne. Wir
wollen aber einen Verſuch machen, deutlich zu er-
klaͤren, wie und was der Menſchen Dencken,
wenn ſie uͤber die Urſachen der menſchlichen Be-
gebenheiten und der Zeitlaͤuffte Rath pflegen;
um zu zeigen, warum hierinne die Menſchen ſo
gar wenig mit einander uͤbereinkommen.


§. 3.
[207]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.

§. 3.
Nuͤtzliche Eintheilung der Handlungen, wenn
man von den Urſachen derſelben han-
deln will.


Die Menſchen handeln zu verſchiedener Zeit,
und bey verſchiedener Gelegenheit, auch auf man-
cherley Art. So giebt es 1. Handlungen, die
an ſich und in ſich mit einem Vergnuͤgen ver-
knuͤpfft ſind, welches entweder erlaubt oder uner-
laubt ſeyn kan. Der gebohrne Poet macht Ver-
ſe, und iſt zufrieden, daß er ſie gemacht und ge-
macht hat. Der Liebhaber vom Trunck truͤncket
ſo offte, weil er Vergnuͤgen darinnen findet. Es
giebt ſo gar Leute, die zum Vergnuͤgen Zanck an-
fangen. 2. Die meiſten Handlungen aber wer-
den nicht um ſich ſelbſt willen unternommen, ſon-
dern wegen der daraus entſtehenden Folgen, die
entweder wuͤrcklich nuͤtzlich ſind, oder doch wenig-
ſtens vor nuͤtzlich gehalten werden. Man nimmt
bittere Artzneyen ein, um geſund zu werden: man
arbeitet im Schweiß ſeines Angeſichts, um ſein
Brod zu erwerben: man begiebt ſich in Gefahr,
um einen Freund daraus zu retten. Dieſe Art
der Handlungen iſt in der hiſtoriſchen Erkentniß
die wichtigſte. Hier iſt der Bewegungsgrund
auſſer der Handlung, oder von der Hand-
lung
ſelbſt unterſchieden; und heiſſet die Ab-
ſicht.
Es iſt uns zwar nicht unbekannt, daß
man oͤffters den Begriff der Abſicht ſo ausdehnet,
daß alle Handlungen Abſichten haben ſollen.
Allein uns gefaͤllet dieſe Zerruͤttung der Abſich-
ten
nicht: denn eine Abſicht muß auſſer der Sa-
che
[208]Achtes Capitel,
che und von ihr unterſchieden ſeyn, die die Abſicht
hat. 3. Ohngeachtet alle dieſe Handlungen des
Nutzens halber unternommen werden, ſo kommt
doch wieder vieles darauf an, ob wir hierinnen
unſerm eigenen Urtheile folgen? oder ob wir nur
eines andern Willen und Urtheil befolgen: das
letzte geſchiehet, wenn wir den Befehlen, Ge-
ſetzen, denen Amtspflichten,
dem Herkom-
men
gemaͤß, unſere Handlungen einrichten; und
dieſe machen den groͤſten Theil der menſchlichen
Handlungen aus: da wir nehmlich keine lange
Deliberation noͤthig haben, ſondern nur unſern
Stand und Amt anſehen duͤrffen, um zu der ſi-
cherſten Entſchluͤſſung von der Welt zu gelangen.


§. 4.
Zwey Arten der Handlungen, wo die Ur-
ſachen leicht einzuſehen ſind.


Bey der erſten Art Handlungen hat es keine
Schwierigkeit, die Urſache einer Begeben-
heit
einzuſehen. Jeder weiß, daß die Menſchen
dasjenige ſuchen und begehren, was ihnen Ver-
gnuͤgen macht. Daher wenn ich im beſondern
Falle weiß, daß jemand ſich eine Luſt hat belieben
laſſen: ſo bleibt nichts bedenckliches uͤbrig, es
muͤſte denn mit ſeinen Pflichten und ſonſtiger Ge-
denckart ſtreiten: in welchem Falle die Hefftig-
keit
des Affeckts dennoch zu einer begreifflichen
Urſach der verabſaͤumten Pflichten und uͤbertrete-
nen Gebotes wird. Wir wiſſen einmahl, was
die ſinnlichen Begierden bey dem Menſchen ver-
moͤgen. So iſt auch in Anſehung der Urſachen
bey
[209]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
bey der andern Art der Handlungen keine
Schwierigkeit; nehmlich in Anſehung derjenigen,
wo man dem Willen des andern mehr, als ſei-
nem eigenen folget. Denn die verbindende
Krafft der Befehle, Geſetze, Amtspflich-
ten,
und Gewohnheiten iſt ſo bekannt, daß, wenn
ich weiß, daß iemand nach denſelben gehandelt
hat, ich ſolches recht wohl begreiffe, warum er es
gethan? und hingegen vielmehr betroffen ſeyn
wuͤrde, wenn er es nicht gethan haͤtte. Da alſo
bey Handlungen noch eine kundbare Verbindlich-
keit vorhanden iſt, daſelbſt iſt die Erkenntniß der
Urſachen keinen weiteren Schwierigkeiten unter-
worffen. Dieſen aber werden nun ſolche Hand-
lungen entgegen geſetzet, die bloß wegen des dar-
aus zu hoffenden Nutzens, entweder vor ſich, oder
vor andere vorgenommen werden, ohne daß ſie aus
einer allgemeinen Verbindlichkeit koͤnten hergelei-
tet werden. Solche Handlungen, ſo lange man
ſie nur im Sinn hat, heiſſen Anſchlaͤge, woraus
die Thaten entſtehen (§. 9. C. 4.) ſo bald ſie
ausgefuͤhret werden. Sie koͤnnen aber, wie die
Handlungen von verſchiedenem Werthe ſeyn, in-
dem es auch ſchlechte Thaten giebt, wovon wir ei-
nige Stuffen beſtimmt haben, in der Philoſ. De-
fin. nova. P. II. c.
8.


§. 5.
Dritte Art der Begebenheiten, wie die Urſachen
leicht einzuſehen ſind.


Unter dieſen Anſchlaͤgen der Menſchen ſind
nun wieder viele, da der Menſch ſich ſo etwas zu
Oerhal-
[210]Achtes Capitel,
erhalten fuͤrſetzt, welches zwar beſondere und nicht
taͤglich in der Welt vorkommende Umſtaͤnde
voraus ſetzt, aber doch, wenn dieſe einmahl
vorhanden ſind, ſchon nach der gemeinen Ge-
denckart der Menſchen und dem gemeinen
Maſſe menſchlicher Faͤhigkeit, kan abgeſehen
werden, daß es ihm habe einfallen, und Beyfall
bey nahe finden muͤſſen. Auch hier hat die Er-
kentniß der Urſach, wenn uns nur die Umſtaͤnde
ſelbſt bekannt ſind, noch keine groſſe Schwierig-
keit. Man wundert ſich nicht, daß die Livia ih-
ren Sohn vor den Anverwandten des Auguſtus
zum Erben des Reichs zu machen geſucht hat.
Jeder andern Gemahlin wuͤrde es, zumahl unter
den Umſtaͤnden, darinnen ſich des Auguſtus maͤnn-
licher Stamm befunden, eingefallen ſeyn: Und
die Groͤſſe der muͤtterlichen Liebe, nebſt dem da-
bey habenden eigenen Jntereſſe, macht leicht be-
greiflich, wie man die etwa dabey zu begehenden
Unbilligkeiten und Ungerechtigkeiten hat uͤbers
Hertz bringen koͤnnen. Auf geringere Sachen
zu kommen, ſo iſt der Anſchlag, in Vorrath einzu-
kauffen, wenn die Waaren wohlfeil ſeyn, und ſie bis
zu Erhoͤhung des Preiſſes aufzuheben, gantz be-
greifflich, obgleich beſondere Umſtaͤnde darzu ge-
hoͤren, daß man einen Vortheil ziemlich zuver-
laͤßig dabey abſehen kan. Es kommt iemand an
einen Ort, gar nicht in der Abſicht, eine Heyrath
zu thun, oder einen Dienſt zu bekommen: Er fin-
det aber darzu einigen Anſchein, entweder zu ei-
nem von beyden, oder auch zu beydes; er macht
den Anſchlag, davon zu profitiren. So beſon-
ders
[211]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
ders als auch die Umſtaͤnde ſind, ſo wundert ſich
doch niemand, wenn er nur die Umſtaͤnde weiß, wie
der Anſchlag ſey gefaßt worden, weil eine Befoͤr-
derung zu erlangen, und eine anſtaͤndige Heyrath
zuthun, ein ſo gemeiner Trieb der Menſchen iſt,
daß man ihn bey nahe fuͤr allgemein annehmen
kan. Jeder ſagt bey ſolchen Anſchlaͤgen, wenn
ſie zumahl von ſtatten gehen: Jch wuͤrde es
auch ſo gemacht haben.
Jn ſolchen Faͤllen
iſt daher die Urſach bekannt, wenn man nur die
beſondern Umſtaͤnde der Sache weiß: Die Er-
fuͤllung
der Urſach kan jeder aus der gemeinen
Gedenckart der Menſchen vor ſich ſelbſt machen.


§. 6.
Sonderbare und neue Anſchlaͤge.


Denn aber kommen Faͤlle vor, wo iemand
unter den beſondern Umſtaͤnden, die ſich aͤuſern,
und worinnen er ſich dermahlen befindet, nach
ſeiner auch beſondern Gedenckart, etwas vor gut
und ihm nuͤtzlich befindet, welches ein anderer, ja
die meiſten und folglich jeder nach der gemeinen
Gedenckart ſich entweder gar nicht wuͤrde einfal-
len laſſen, oder ſolches wenigſtens nach Ueberle-
gung der Schwierigkeiten, wieder verwerffen wuͤr-
de. Alexander funde die Friedensvorſchlaͤge des
Darius nicht vor gut anzunehmen, die dem Par-
menio uͤberaus wohlgefielen, und vermuthlich auch
mehreren wohlgefallen haben: Weil ſie ſich auf die
gemeine Gedenckart, die die Billigkeit ſelbſt unter-
ſtuͤtzt, gruͤndete, daß ein uͤber aus vortheilhaffter Frie-
de einem Kriege allemahl, wegen des ſogar ungewiſ-
O 2ſen
[212]Achtes Capitel,
ſen Erfolgs vorzuziehen ſey. Wie denn Alexan-
der ſelbſt eingeſtehen muſte, daß er eben ſo wie
Parmenio urtheilen wuͤrde, wenn er Parmenio
waͤre, das iſt, wenn er die Sache mit ſolchen Au-
gen, wie dieſer, und nach der gemeinen Denckart,
anſaͤhe. Alles was nachher Curtius Buch 4, 11.
als Urſachen einer andern Entſchluͤſſung anfuͤhret,
iſt kein hinreichender Grund, dieſelbe zu faſſen, ge-
weſen, wo man nicht das Genie des Alexanders, der
einmahl einen Conqueranten abgeben wollte, zu Huͤl-
fe nimmt. Solche Menſchen werden, zu groſſen
Gluͤck vor die Menſchen, nur ſelten gebohren.
Hieher gehoͤren aber alle Anſchlaͤge, die man neue
nennet; nicht bloß in Anſehung einer und der an-
dern Perſon, ſondern faſt aller zu derſelben Zeit
lebenden Menſchen, denen dergleichen Anſchlag
noch nicht vorkommen iſt. So war es ein neuer
Anſchlag, da die Portugieſen im funfzehenden
Jahrhundert darauf fielen, die Handlung nach
Africa anzurichten. Denn es haben ſowohl be-
ſondere Umſtaͤnde darzu gehoͤret, daß man weni-
ger als ſonſten Hinderniſſe vor ſich geſehen, und
die Regenten muͤſſen einen beſondern Trieb ge-
habt haben, daß ſie ſich an die mit ſolchem An-
ſchlage unvermeidlich verknuͤpften Schwierigkei-
ten nicht gekehret haben. Des Columbus An-
ſchlag eine neue Welt zu entdecken, war noch
wunderbarer. Wiewohl dieſer Ruhm mit meh-
reren Rechte, dem groſſen Seefahrer Martin
Behaim von Schwartzenbach,
einem Nuͤrn-
bergiſchen Patritio zuzuſchreiben iſt, als deſſen
Seecharten Columbus gebraucht hat, Schwar-
zius
[213]v d. Zuſammenhange d. Begebenh ꝛc.
zius de columnis Herculis §. 13. Daß die Creutz-
zuͤge nicht allein moͤglich geweſen, ſondern auch
wuͤrcklich ausgefuͤhret worden, darzu haben beſon-
dere Umſtaͤnde der Zeiten, und darnebſt noch die
beſondere Gedenckart der damahligen Menſchen,
und der Aberglauben, das ihre gemeinſchafftlich
beygetragen.


§. 7.
Auch boͤſe Anſchlaͤge find groͤſtentheils
begreifflich.


Wie ſich die vernuͤnfftigen Anſchlaͤge zum
Theil aus der gemeinen und natuͤrlichen Gedenck-
art begreiffen laſſen, wenn man nur die Umſtaͤn-
de weiß, unter welchen der Anſchlag gemacht wor-
den (§. 5.); ſo laſſen ſich auch die boͤſen, wider-
rechtlichen, ja unſinnigen Anſchlaͤge zum Theil be-
greiffen, aus den Laſtern und verwirrten Seelen
Zuſtande derjenigen, die ſolche Anſchlaͤge faſſen.
Man wundert ſich uͤber keine Handlung, ſo unge-
ſchickt ſie auch immer ſeyn mag, ſobald man weiß,
daß ſie von einem Trunckenen begangen worden.
Von einem abgeſagten Feinde darf man ſich
keinen Schaden, den er uns oͤffentlich oder heim-
lich zufuͤget, ſo groß als er auch iſt, befremden laſ-
ſen: Die Urſache davon iſt aus der Natur eines
ungemaͤßigten Haſſes gantz begreifflich. Wenn
uns der Geitzige mit Wucher beſchwert, im Preiße
uͤberſetzt, boͤſe bezahlet, unhoͤfflich mahnet, ja eine
Schuld, daruͤber wir nicht quittiret worden, zwey-
mahl fordert, ſo ſind das alles Begebenheiten, de-
ren Urſach wir nicht weit ſuchen duͤrffen.


O 3§. 8.
[214]Achtes Capitel,

§. 8.
Ungeheure Anſchlaͤge.


Allein es koͤnnen laſterhaffte Menſchen ie zu-
weilen ſolche Anſchlaͤge faſſen, die dennoch ihrer
kundbaren Laſter ungeachtet, und nach den gemei-
nen Begriffen von Laſtern, nimmermehr vermu-
thet haͤtte, wenn uns nicht die Wahrheit der Sa-
che in die Augen leuchtete; ſolche Anſchlaͤge die
tauſend andere, auch Laſterhafte, wenn ſie ſich gleich
in eben ſolchen aͤuſerlichen Umſtaͤnden befunden
haͤtten, dennoch nicht wuͤrden gefaſſet haben.
Herodes laͤſſet aus Beſorgniß eines neugebohr-
nen kuͤnfftigen Koͤniges, der nicht aus ſeinem
Hauſe waͤre, alle zweyjaͤhrigen Knaben, und drun-
ter toͤdten. Vielen andern Tyrannen wuͤrde doch
eine ſolche Grauſamkeit nicht einmahl eingefallen
ſeyn, geſchweige daß ſie ſolche wuͤrcklich haͤtten
ausuͤben ſollen. Heroſtratus zuͤndet den Dia-
nentempel zu Epheſus an, um einen unſterblichen
Nahmen zu erlangen: Sollten wohl viele ſolche
ausſchweiffende Anſchlaͤge und Ruhmbegierde ge-
faſſet haben? Nero laͤſſet Rom in Brand ſte-
cken, um ſich Troja im Feuer lebhafft vorſtellen
zu koͤnnen: Oder auch die Stadt nach ſeiner Phan-
taſey bauen zu koͤnnen. Mahomet erſinnet
eine neue Religion, um das Haupt eines Kriegs-
heers zu werden. Dergleichen Anſchlaͤge wuͤrden
uns noch unbeſonnener und widerſinniger vor-
kommen, wenn uns nicht die wuͤrckliche erfolgte
Ausfuͤhrung, die Unternehmung weit leichter vor-
ſtellte, als ſie vernuͤnfftige Menſchen zu der Zeit
anſe-
[215]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
anſehen konten, ehe und bevor die Ausfuͤhrung er-
folgt iſt.


§. 9.
Anſchlaͤge die man von einer Perſon nicht
haͤtte vermuthen ſollen.


Die Menſchen handeln weder allemahl nach
deutlichen Vorſtellungen, noch auch nach ihren ihnen
anklebenden dauerhafften guten und boͤſen Trieben;
Sondern ſie ſind zu gewiſſen Stunden gantz an-
dere Menſchen, als ſie kurtz vorher geweſen. Der
gute, oder in ſoferne er gut iſt, verfaͤllt manch-
mahl in eine Verſuchung und Verfuͤhrung, die er
zu einer andern Zeit, als einen widerſinnigen Ein-
fall wuͤrde angeſehen und verlacht haben: Jetzo
aber liegt er unter. David wird wider ſein und
aller andern Menſchen Vermuthen ein Ehebre-
cher, und bald darauf ein Meuchelmoͤrder. Nach-
her faͤllt ihm ein, das Volck zehlen zu laſſen, ohne
Zweifel weil er Luſt bekommen hatte, ein Conque-
rant
zu werden, und vergaß, daß er, und das
Volck Jſrael nicht durch ſeinen Arm und Krafft
groß und maͤchtig geworden war. So hat auch
der Boͤſe zuweilen beſſere Stunden, daß er der
Mann gar nicht iſt, der er ſonſten zu ſeyn pflegt.
Solche Anſchlaͤge nun, die Menſchen zu gewiſſen
Zeiten faſſen, ob ſie ſich gleich mit denen ih-
nen beywohnenden Tugenden oder Laſtern nicht zu-
ſammen raͤumen, ſetzen uns allerdings in Ver-
wunderung, dergeſtalt daß auch die, welche die
Umſtaͤnde am genaueſten wiſſen, nicht begreiffen
koͤnnen, wie die Entſchluͤſſung habe koͤnnen gefaſ-
O 4ſet
[216]Achtes Capitel,
ſet werden. Solche ſchleinige Verſchlimmerun-
gen, und im Gegentheil die ſchleinigen und kurtz-
daurenden Ausbruͤche der Vernunfft und des Ge-
wiſſens, gehoͤren noch unter die Geheimniſſe des
menſchlichen Hertzens. Wir erkennen ſie, wenn
ſie da ſind, wiſſen aber nicht, warum ſie da ſind.


§. 10.
Wie man ſich Anſchlaͤge gefallen laͤſſet.


Es entſtehen auch Anſchlaͤge und Entſchluͤſ-
ſungen durch Rathgeber, oder allgemeiner zu
reden, durch ſolche Perſonen, die uns etwas an-
muthen
und anſinnen: Es ſey mit guten oder
boͤſen Worten. Der, dem was angeſonnen, und
zugemuthet wird, wuͤrde ſolches oͤffters aus eige-
nem Triebe nimmermehr gethan haben, und der
der es anſinnt, wuͤrde es ſelbſt nicht thun, wenn
ihm es angeſonnen wuͤrde, aber indem dieſer letz-
tere durch den andern eine Sache auszufuͤhren ge-
denckt, ſo bekommt ſie ein ander Anſehen, die Ge-
fahr und der Schaden kommt auf den, der es be-
williget. Ueberhaupt macht eine Vorſtellung,
wenn ſie uns von jemanden beygebracht wird, zu-
mahl muͤndlich, gantz einen andern Eindruck, als
wenn wir von uns ſelbſt auf eine Sache verfallen.
Der Credit und Anſehen, worinnen eine Perſon,
die uns etwas anſinnet, bey uns ſtehet, ſeine Wor-
te, ſeine Ausſprache, ſeine Minen, das Tempo,
welches er in acht genommen hat, ſein ungeſtuͤ-
mes Heiſchen, koͤnnen uns bewegen eine Sache zu
billigen, oder zu bewilligen, die weder nach unſe-
rer eigenen Einſicht, noch nach den Gruͤnden, die
uns
[217]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
uns vorgehalten werden, ſollten gebilliget, oder be-
williget werden. Man laͤſſet ſich aber doch bere-
den,
man laͤſſet ſich uͤbereilen; zumahl wer von
keinem harten Gemuͤthe iſt. Daraus entſtehen
denn abermahl Entſchluͤſſungen, die mit der Ge-
muͤthsbeſchaffenheit und Charackter einer Perſon
gar nicht uͤberein kommen; ſie ſind daher unbe-
greifflich, und bey nahe unnatuͤrlich, wenn man den
Umſtand nicht weiß, daß ſie nicht aus eigenem
Antriebe,
ſondern durch uͤberreden, ſind gefaſ-
ſet worden. Jn dieſen Umſtaͤnden befinden ſich
hauptſaͤchlich groſſe Herrn, welche offt durch Vor-
bildungen ihrer hohen und niedrigen Bedienten,
die Zutritt zu ihrer Perſon haben, ja durch ihr
bloſſes Bitten, zu Entſchluͤſſungen bewogen wer-
den, die nach ihren Neigungen unbegreifflich ſind.
Ahasverus z. E. will alle Juden in ſeinen Lan-
den umbringen laſſen, die doch keiner Miſſethat
ſchuldig waren. Wer nun die Rachbegierde des
Hamans, die auch von einem auſſerordentlichen
Grade war, nicht gekannt hat, und wie er dem
Ahasverus eine ſolche Grauſamkeit, zu einer be-
quemen Zeit plauſibel zu machen gewuſt habe, wel-
ches allerdings niemand, als er ſelbſt, hat wiſſen
koͤnnen, der wird uͤber den grauſamen Befehl
gantz erſtaunt geweſen ſeyn, ohne irgend eine Ur-
ſach einer ſo barbariſchen Begebenheit ergruͤnden
zu koͤnnen. Durch zweyer Perſonen ihre Ein-
ſtimmung, dazu doch nur eine den Nahmen her-
giebt, werden oͤffters Sachen moͤglich, die nie-
mand, wenn ſie nicht von ſelbſten kund wird, er-
rathen kan, wie ſie zugegangen iſt.


O 5§. 11.
[218]Achtes Capitel,

§. 11.
Die Urſachen eines Anſchlags haben ihre
beſondere Einrichtung.


Wenn wir nun die Urſachen eines Anſchlags
unterſuchen, der von der vornehmſten Gattung
iſt, nehmlich ein ſonderbarer und neuer Anſchlag
(§. 6.); ſo wollen wir zweyerley ausfuͤndig ma-
chen, oder muͤſſen es ausfuͤndig machen: 1. Die
beſonderen Umſtande, die die Gedancken und
wuͤrckliche Entſchluͤſſung hervorgebracht haben:
2. Die beſondere Gedenckart, nach welcher man
die beſondern Umſtaͤnde angeſehen hat, daß die
Entſchluͤſſung daraus entſtanden iſt. Die Um-
ſtaͤnde
von welchen wir reden, ſind in dem ge-
meinen Begriffe und Benennung der Gelegen-
heit
enthalten. So bekannt aber dieſes Wort
im gemeinen Leben iſt, und ſo oͤffters es auch bey
der Erkentniß der Geſchichte gebraucht wird, ſo
ſchwer iſt es zu erklaͤren: Jndem es hauptſaͤchlich
darauf ankommt, daß wir die Gelegenheit, von
andern Arten der Urſachen genau unterſcheiden.
Unterdeſſen weil es ein Hauptbegriff in der hiſto-
riſchen Erkentniß iſt, ſo muͤſſen wir uns dieſer
Arbeit unterziehen. Die Sache verhaͤlt ſich alſo:
Wo wir die Urſach eines Dinges erkennen, da
machen wir einen Schluß: Die Begebenheit, die
wir aus ihren Urſachen herleiten, wird ein Schluß-
ſatz (§. 1.) dieſes geſchiehet mit Zuziehung eines
allgemeinen Satzes. Z. E. Cajus macht ein Te-
ſtament: Jch frage warum? und hoͤre: Er will
ſterben. Daraus entſtehet der Schluß: Wer
ſterben
[219]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
ſterben will, und Urſach hat wegen ſeines Ver-
moͤgens eine Verordnung zu machen, der macht
ein Teſtament: Cajus will ſterben, und hat Urſach,
oder duͤnckt ſich Urſach zu haben, wegen ſeines Ver-
moͤgens eine Verordnung zu machen, der macht
ein Teſtament. Wir werden unten ſehen, was
es mit dieſen Schluͤſſen, auch wenn wir an der Ur-
ſache einer Begebenheit gar nicht zweifeln, vor
Bedencklichkeit habe. Wir wollen ietzo anneh-
men: Die Urſach einer Begebenheit erken-
nen,
ſey nichts anders, als dieſelbe aus andern
bekannten Begebenheiten in beſter Forme ſchluͤſ-
ſen: So werden wir doch in Anſehung der An-
ſchlaͤge von der vornehmſten Gattung, ausnehmen-
de Schwierigkeiten finden, die Urſachen derſel-
ben zu entdecken. Denn es werden dabey 1. be-
ſondere Umſtaͤnde
voraus geſetzt (§. 6.): Die
alſo von den gemeinen und uns ſchon laͤngſt be-
kannten Arten der Handlungen, und der Zu-
ſtaͤnde
der Dinge, abgehen; und ſie ſind alſo auch
nicht ſo leichte in einen foͤrmlichen Satz zu brin-
gen, als wie die gemeinen Begebenheiten und Um-
ſtaͤnde der Dinge. Es wird aber auch 2. eine be-
ſondere Gedenckart
erfordert (§. cit.): Da-
von alſo auch keine allgemeine Regeln vorhan-
den ſind. Mithin wenn uns auch alles, was zur
Exiſtentz eines neuen Anſchlages etwas beygetra-
gen hat, an und vor ſich bekannt waͤre; ſo iſt den-
noch daraus einen Schluß der foͤrmlich waͤre,
zu machen, nicht wohl moͤglich: Und mithin kan
man auch den Begriff der Urſach, ja ſelbſt das
Wort, Urſach, bey ſolchen Anſchlaͤgen nicht wohl
brau-
[220]Achtes Capitel,
brauchen, ſo wie es etwa bey gemeinen Begeben-
heiten, davon man informirt iſt, ohne alles Be-
dencken gebraucht wird.


§. 12.
Unterſchied der Urſach und Gelegenheit.


Unterdeſſen zweifeln wir nicht, daß, wie ge-
meine Begebenheiten nnd Entſchluͤſſungen mit ih-
ren vorhergegangenen zuſammenhangen; daß
nehmlich der Zuſtand der Dinge, den Menſchen,
durch die Erkentniß und Einſicht, die er davon
gehabt, zur Entſchluͤſſung bewogen; alſo auch die
ſonderbaren und neuen Anſchlaͤge auf eben dieſe
Weiſe entſtehen; nehmlich, daß die vorhergehen-
de oder vorhandene Umſtaͤnde, den Menſchen,
nach ſeiner Art zu dencken, und nach ſeinen be-
ſondern Maximen zur Entſchluͤſſung bewogen ha-
ben. Nur in Anſehung unſerer Erkenntniß iſt
ein groſſer Unterſcheid. Wir wollen nehmlich
auch bey ſonderbaren und neuen Entſchluͤſſungen,
zumahl wo uns die Umſtaͤnde ziemlich bekannt
ſind, die Urſach einſehen, und mithin einen Schluß
machen, den wir aber nicht zu Stande bringen
koͤnnen. Da man nun ſelbſt in gemeinen Leben,
da man auf die Vernunfftlehre nicht acht zu ge-
ben pflegt, dennoch bemerckt hat, daß etwas an-
ders in der Seele vorgehe, wenn man den Grund
beſonderer und neuer Anſchlaͤge erforſchen will, als
wenn man von gemeinen Begebenheiten urthei-
let; ſo hat man auch beſondere Worte ausfuͤn-
dig gemacht, dieſe beyden Handlungen des menſch-
lichen Verſtandes von einander zu unterſcheiden:
Gemei-
[221]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
Gemeinen Begebenheiten leget man nehmlich eine
Urſach, denen beſondern und neuen Entſchluͤſſun-
gen aber eine Gelegenheit bey. Dieſe letztere
iſt alſo nichts anders als die beſondern Umſtaͤnde
in den Sachen, welche durch eine beſondere Ge-
denckart einen Anſchlag und Entſchluͤſſung in der
Seele hervor bringt. Geſetzt nun wir wiſſen
die Gelegenheit zu einem Anſchlage in einem
eintzeln Falle, ſo wird man leicht ermeſſen koͤn-
nen, daß man ſich, um auch andere davon zu be-
lehren, bemuͤhen werde, ſowohl die beſondern Um-
ſtaͤnde ins kurtze zu ziehen, und beſtmoͤglichſt in
einen Satz zu bringen; als auch die beſondere
Gedenckart auf eben ſolche Art zu foͤrmeln, da-
mit man nehmlich eine Art eines Schluſſes her-
aus bringe: und alſo die Gelegenheit bey nahe
das Anſehen einer Urſache, als wornach man bey
Geſchichten zu trachten pflegt, bekommen moͤge.
Dabey ſucht man ſich auf allerley Weiſe zu
helffen.


§. 13.
Was man bey Erzehlung der beſondern Umſtaͤn-
de vor Vortheile braucht.


Zum offtern ſucht man aus den beſondern
Umſtaͤnden, einen und den andern heraus, der am
meiſten bekannt iſt, oder am meiſten in die Augen
faͤllet, und tribuirt demſelben die gantze Wuͤrckung
und Hervorbringung des Anſchlags, und der da-
mit verknuͤpften, oder erfolgten Entſchluͤſſung.
Z. E. was hat man nicht vor verſchiedene Dinge
angege-
[222]Achtes Capitel,
angegeben, die die Verlaſſung der Oeſterreichiſchen
Parthey im Spaniſchen Succeßionskriege, bey
dem Engliſchen Hofe ſollen veranlaſſet haben:
Der beziehet ſich auf die Madame Masham, jener
auf die kuͤnſtlichen Jnſinuationes des Tallards;
andere auf einen Unwillen der Koͤnigin uͤber die
Gemahlin des Marlboroughs: Da vielleicht alle
dieſe Umſtaͤnde zuſammen, nebſt noch andern gaͤntz-
lich unbekannten, dieſe ſo wichtige Entſchluͤſſung
moͤgen hervorgebracht haben. Ein Anſchlag,
wenn er mit einem Satze ſoll verglichen werden,
der ſich demonſtriren laͤſſet; muͤſte nicht mit einem
Corollario, ſondern mit einem Theoremate in
Parallel geſtellet werden, von welchen wir anders-
wo gewieſen haben, daß es nicht durch eine ein-
fache Reyhe Schluͤſſe koͤnne erwieſen werden, ſon-
dern mehr als eine Reyhe erfordere. Logica pra-
ctica (§. 32. p. 25.)
Und zwar koͤnnen bey ei-
ner
Entſchluͤſſung zehen und mehrere Gruͤnde zu-
ſammen kommen.


§. 14.
Zweyte Art.


Jngleichen ſucht man viele beſondere Um-
ſtaͤnde unter eine Claſſe und unter einen allgemei-
nen Begriff zu bringen, welcher ſich hernach beſ-
ſer mit andern allgemeinen Begriffen verbinden,
und in die Geſtalt eines Schluſſes bringen laͤſſet.
Z. E. daß Carl V. die Regierung niedergelegt,
darzu haben ihn verſchiedene nicht gluͤckliche Ex-
peditiones Anlaß gegeben. Wenn nehmlich das
Gluͤck ſich aͤndert, ſo wird man einer Sache ſatt
und
[223]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
und uͤberdruͤßig. Auf dieſe Art kommt man
einem ſo genannten Cauſalſchluß gar nahe. Aber
die Wahrheit zu ſagen: So werden dieſe Un-
gluͤcksfaͤlle dieſen groſſen Kayſer wohl nicht
allein zu einer ſo wichtigen und ungewoͤhnlichen
Entſchluͤſſung bewogen haben. Man nimmt
daher auch ſeine abnehmende Leibeskraͤffte zu
Huͤlffe, die ihn die Ruhe zu wuͤnſchen veranlaſſet.
Aber da ſo viele Menſchen die mit Ungluͤcksfaͤllen
und Leibesſchwachheit beladen ſind, dennoch ſich zu
Ablegung ihrer Wuͤrden nicht entſchlieſſen, ſo
moͤchten wohl dieſe beyden Umſtaͤnde, die Gele-
genheit gedachter Entſchluͤſſung noch nicht exhau-
riren. Es muß vielmehr das Uebrige aus der
beſondern Gedenckart dieſes Monarchens gefloſ-
ſen ſeyn.


§. 15.
Wie man eine beſondere Gedenckart be-
greifflich macht.


Wenn man aber die beſondere Gedenckart, die
man bey einer Entſchluͤſſung braucht, erklaͤren ſoll, ſo
nimmt man gemeiniglich die naͤchſte Art,genus
proximum, ſiue ſpeciem,
unter welcher die beſon-
dere Gedenckart, die ſich nicht wohl beſchreiben
laͤſſet, enthalten iſt. Conſtantin der Groſſe, hat
nach ſeiner Klugheit, das Roͤmiſche Reich vor all-
zugroß angeſehen, als daß es von einem Haupte
koͤnnte defendirt werden. Haben aber nicht an-
dere Kayſer vor ihn auch dieſe Schwierigkeit ge-
ſehen? ohne doch das Reich zu theilen? Chri-
ſtiern iſt grauſam geweſen, darum hat er den
Schwe-
[224]Achtes Capitel,
Schwediſchen Senat hinrichten laſſen: Ohne
Zweifel aber muß ſeine Grauſamkeit dazumahl
einen beſondern Paroxyſmum gehabt haben, die
eine ſo auſſerordentliche blutduͤrſtige Entſchluͤſ-
ſung hervor gebracht hat. Alexanders Unter-
nehmungen leitet man daraus, daß er durchaus
Laͤnder und die gantze Erde bezwingen wollen:
Und dieſes zwar nicht ohne Urſach: Jedoch muß
man dabey unvergeſſen ſeyn, daß dergleichen Ap-
petit gar vielen Monarchen in der Welt vorge-
kommen; nur daß es mit den Anſchlaͤgen nicht
ſolchen Fortgang gehabt hat, wie beym Alexan-
der: Und doch auch die ſehr gluͤcklich geweſenen, wie
Seſoſtris, haben wiederum auf Friede, und den
geruhigen Genuß ihrer Siege gedacht. Die
Gedenckart des Alexanders iſt ohne Zweiffel von
einer gantz beſondern Art geweſen, die die gemei-
ne Art der Landbezwinger oder Conqueranten noch
weit uͤbertrifft. Unterdeſſen muͤſſen wir uns
meiſt an den bekannten Begriff eines Conqueran-
tens halten.


§. 16.
Es iſt genung, daß wir Anſchlaͤge nur einiger
maſſen begreiffen.


Und ſolche unvollkommene Erkentniß der
Gelegenheit zu Entſchluͤſſungen, muͤſſen wir uns
deswegen nicht befremden laſſen, weil es bey Ent-
ſchluͤſſungen meiſtens auf den innerlichen Zuſtand
der Seele, und auf den Willen ankommt; die-
ſer aber ſeine heimlichen und unerforſchlichen
Triebfedern hat, die nicht einmahl derjenige ſelbſt,
der
[225]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
der ſich zu etwas entſchluͤſſet, genau und voͤllig
bemercken kan, geſchweige denn andere, welche un-
moͤglich wiſſen koͤnnen, was in einer fremden Seele
vorgehet. Und eben ſo iſt in dem Fall, wo Rath-
geber und fremde Vorſtellungen concurriren, in-
gleichen Bitten, Flehen, Drohen (§. 10), ſchwer
zu beſtimmen, wie viel bey einer Entſchluͤſſung die-
ſe aͤuſſerlichen Umſtaͤnde beygetragen haben:
Denn ſie koͤnnen in einem Falle, und bey einem
Subjecto, ja zu einer Zeit mehr vermoͤgen, als in
andern Faͤllen. Die Einſchraͤnckung unſerer Ein-
ſicht, ſowohl in die Gemuͤther der Menſchen, als
in die aͤuſſerlichen Umſtaͤnde bringt es ſo mit ſich,
daß wir zwar etwas von den Urſachen der Bege-
benheiten, aber ſie bey weiten nicht voͤllig einſe-
hen koͤnnen.


§. 17.
Boͤſe Thaten entſtehen aus einer Gelegenheit.


Bey dem Begriffe der Gelegenheit, iſt auch
zu bemercken, daß man bey allen ungerechten und
boͤſen Entſchluͤſſungen nicht nach der Urſach, ſon-
dern nur nach der Gelegenheit, die ſie veran-
laſſet, zu fragen pflegt: Oder die Umſtaͤnde durch
welche man ſich zu einer boͤſen That und Anſchla-
ge bewegen laͤſſet, ſind nicht die Urſach, ſondern
nur die Gelegenheit derſelben. Dieſes kommet
daher: Weil, wenn man von Urſachen redet,
man allemahl vernuͤnfftige Urſachen, das iſt,
ſolche Urſachen ſucht, die ſich aus der Natur
der Dinge begreiffen laſſen. Nun gehoͤren aber
falſche untereinander gemengte, zerruͤttete Vor-
Pſtellun-
[226]Achtes Capitel,
ſtellungen, ingleichen Vorwitz, Uebereilung, und
Unbedacht gar nicht zur Natur der Seele, ſon-
dern ſind vielmehr widernatuͤrlich. Die Sa-
chen alſo, welche durch den widernatuͤrlichen Zu-
ſtand der Seele, und durch irrige Vorſtellungen
zu einer Entſchluͤſſung Anlaß geben, koͤnnen nicht
die Urſach genennet werden; weil in dem Schluſ-
ſe, der gemacht wird, eine falſche Præmiſſa ent-
halten iſt. z. E. Der Heyde betet die Sonne an,
weil er ſchluͤſſet, wer mir helffen kan, den muß ich
anruffen: Die Sonne kan mir helffen, alſo: muß
ich ſie anruffen. Und wir, wenn wir die Urſache
der heydniſchen Abgoͤtterey in Anſehung der
Sonne erklaͤren ſollen, fuͤhren kuͤrtzlich an, weil
ſie von derſelben Huͤlffe und Erhoͤrung erwarten.
Wie nun ein Schluß, der aus falſchen Præmiſſis
beſtehet, nicht ein wahrer Schluß, ſondern ein So-
phisma
,
eine Teuſcherey iſt; ſo kan auch der Zu-
ſammenhang zweyer Begebenheiten, die nicht
durch richtige Vorſtellungen zuſammenhangen,
nicht die Urſach genennet werden. Denn dieſe
erfordert einen Schluß (§. 1.) d. i. wie ſich von
ſelbſt verſtehet, einen wahren Schluß. Wenn ich
aber auf die Unrichtigkeit der Saͤtze bey einem
Schluſſe nicht mercken will, welches bey vielen
Gelegenheiten geſchiehet; ſo haben auch die aller-
alberſten widerrechtlichſten Entſchluͤſſungen ihre
Urſach, daher man ſolches Wort auch oͤffters
bey boͤſen Thaten zu brauchen pflegt. Eigentlich
aber hat man zu einer boͤſen That keine Urſach:
David hat keine Urſach zum Ehebruch gehabt:
Die Generals des Alexanders haben keine Urſach,
aber
[227]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
aber wohl Gelegenheit gehabt, ſein Reich unter
ſich zu theilen: Eben ſo wenig hat auch Phocas
Urſach gehabt, den Kayſer Mauritius vom Thron
zu ſtoſſen. Die Ausbreitung der chriſtlichen Re-
ligion iſt nicht die Urſach, ſondern nur die Gele-
genheit geweſen, die den Heyden, ja allen unbekehr-
ten Menſchen beywohnende natuͤrliche Grauſam-
keit, unter einem Vorwande, den ſie zu finden
vermeynten, auszulaſſen.


§. 18.
Wenn Entſchluͤſſung und Ausfuͤhrung vor einer-
ley angeſehen wird.


Wenn unſer Anſchlag nur auf eine kurtze Be-
gebenheit, oder auf ſo etwas gerichtet iſt, was in
kurtzen
kan ausgefuͤhret werden, und es findet
ſich kein Hinderniß, ſo wird auch die Geſchichte
davon ſehr kurtz ſeyn: Anſchlag und Ausfuͤhrung
werden faſt vor einerley Sache angenommen,
haben auch einerley Urſach: Und die Erzehlung
hat mehr das Anſehen einer Begebenheit, als
einer Geſchichte (§. 13. C. 1.). Z. E. Da-
vid trieb mit der Bathſeba Ehebruch, da er ſie
vom Dache ſeines Pallaſts, ſich waſchen ſahe-
Achan entwandte etwas von dem Raube zu Je-
richo. Der Anſchlag wird von der Ausfuͤh-
rung
ſelbſt nicht einmahl unterſchieden. Bey
boͤſen Thaten und Anſchlaͤgen kan man a priori
uͤberſehen, daß ſich an den Anſchlag uͤber kurtz oder
lang noch eine andere Geſchichte anhaͤngen werde,
welche in dem Anſchlage gar nicht enthalten iſt,
nehmlich die Beſtraffung und andere uͤble Fol-
P 2gen,
[228]Achtes Capitel,
gen, die oͤffters betraͤchtlicher ſind, als der Anſchlag
ſelbſt. Man kan dieſes deswegen a priori erwar-
ten: Weil eine boͤſe That, durch ein Blend-
werck
der Seele und durch die falſche Vorſtel-
lung eines Scheingutes unternommen wird. Mit
dieſem Zuſtande der Seele und Jrrthume, kan es
nun keinen Beſtand haben: Daher kan gar na-
tuͤrlicher Weiſe die Erwartung entſtehen, wie das
Blendwerck durch die nachfolgenden Umſtaͤnde,
werde entdeckt werden: Welches gemeiniglich und
vornehmlich durch die Straffe, aber nur zu ſpaͤte
geſchiehet. So lange die Entdeckung des Blend-
wercks noch nicht da iſt, ſo iſt die Geſchichte noch
nicht aus (§. 29. 30. C. 6. 9.)


§. 19.
Verhinderte Anſchlaͤge kommen nicht in die Ge-
ſchichts-Buͤcher.


Wenn man einen Anſchlag faſſet, der aber,
ehe noch die Ausfuͤhrung angefangen wird, Hin-
derniſſe findet, ſo daß man ihn entweder gar fah-
ren laͤſſet, oder wenigſtens gantz aufſchiebt, ſo
bleibt die Entſchluͤſſung ein Geheimniß, welches,
weil man niemanden ins Hertz ſehen kan, auch
niemand wiſſen kan. Der Anfang der Ausfuͤh-
rung, muß uns erſt von einem Anſchlage, der
nehmlich ein ernſter und feſter Vorſatz iſt, beleh-
ren. Sonſten wenn ſich auch gleich eine Nach-
richt von dem Vorhaben ausbreiten ſollte, wie denn
Anſchlaͤge oͤffters eben dadurch, daß ſie noch vor
der Ausfuͤhrung bekannt werden, vereitelt wer-
den: So kan man hernach doch nicht wiſſen, ob
es
[229]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
es nicht ein bloſſer Vorſchlag, Einfall, und
fliegender Gedancken geweſen, dergleichen der
Menſch in ſeinem Leben viel hat, ohne daß ſie zu
Entſchluͤſſungen und eigentlichen Anſchlaͤgen wer-
den. Solche Vorſchlaͤge aber, die uns ſelbſt ein-
fallen, oder auch von andern uns vorgetragen,
und gar nicht zur Ausfuͤhrung gebracht wer-
den, kommen bey der Erkentniß der Geſchichte
nicht in Anſchlag. Sie haben in die nachfolgen-
den Geſchichte keinen ſolchen Einfluß, den menſch-
licher Verſtand bemercken koͤnte. Deswegen iſt
aber nicht zu laͤugnen, daß ſie nicht wuͤrcklich ihre
Folgen in der Seele haben, daß ſie unter die Hand-
lungen gehoͤren, davon wir dem Hoͤchſten Rechen-
ſchafft geben muͤſſen. Wir moͤgen aber die Sache
anſehen, wie wir wollen, ſo iſt ſeine Gedancken
aufzeichnen,
wie einige gethan haben, wenn wir
ſie nicht weiter ausfuͤhren wollen, eine unnuͤtze
Arbeit.


§. 20.
Anſchlag und Ausfuͤhrung hangen an
einander.


Es iſt unſerer Seele und ihrer Gedenckart
nicht gemaͤß, daß man einen Anſchlag machen,
und beſchlieſſen ſollte, deſſen gantze Ausfuͤhrung
erſt uͤber eine, zumahl lange Zeit, hinaus geſetzt
wuͤrde. Nur Hinderniſſe halten die Ausfuͤh-
rung bey uns auf. Denn was wir mehr aus
Luſt und Liebe zur Handlung, oder aus einem
Triebe beſchluͤſſen, daſſelbe wird offenbar nur we-
gen der Umſtaͤnde aufgehoben, die die Ausfuͤhrung
P 3nicht
[230]Achtes Capitel,
nicht eher zulaſſen. Der Unverſoͤhnliche wuͤrde
ſich gleich raͤchen, wenn es bloß auf ſeinen Wil-
len ankaͤme: Aber ſo, muß er erſt eine Gelegen-
heit abwarten. Ein Gelehrter ſchiebt zwar die
Ausgabe eines Buches auf, aber aus keiner an-
dern Urſach, als aus Erwartung der Umſtaͤnde,
daß ſolches mit mehrerem Nutzen und Wohlge-
fallen des Publici geſchehen moͤge. Aller Auf-
ſchub die Entſchluͤſſungen, und deren Ausfuͤhrung
auch nur anzufangen, kommt von Hinderniſſen
her; ſonſten iſt Beſchluͤſſen und die Ausfuͤhrung
anfangen gleich mit einander verknuͤpft. Ein an-
ders aber iſt es mit der voͤlligen Ausfuͤhrung, oder
Vollbringung einer Sache: Als welche aus
andern Urſachen, und der innerlichen Beſchaffen-
heit des Anſchlages nach, ſich offt gar lange, wenn
auch gar keine Hinderniſſe ſich aͤuſſern, verziehen
kan. Es giebt aber auch weit ausſehende,
oder groſſe Anſchlaͤge, welche wegen der ver-
ſchiedenen Theile, oder der auf einander folgenden
vielen Mittel, auch ohne Hinderniß, dennoch in
weniger Zeit nicht ausgefuͤhret werden koͤnnen.
Rom ſagt man, iſt nicht auf einen Tag gebauet:
Wobey man nicht ſowohl auf die Schwierigkeit,
die aus Hinderniſſen entſtehet, als auf die Groͤſſe
und Weitlaͤuftigkeit ſiehet, die viel Zeit erfordert
hat. Eine barbariſche Nation cultiviren, iſt eine
Sache, welche, wenn ſie ſich auch noch ſo willig
darzu bewieſe, dennoch in wenigen Jahren nicht
zu Stande zu bringen iſt.


§. 21.
[231]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.

§. 21.
Anſchlaͤge ſind eine Art der Geſchichte.


Ein groſſer und weitlaͤufftiger Anſchlag
iſt nichts anders als eine lange Geſchichte, die man
erſt noch zur Wuͤrcklichkeit bringen will. Man muß
dabey voraus ſetzen, daß man nur Anſchlaͤge ma-
chen muß uͤber Sachen, die man in ſeiner Gewalt
hat, die man uͤberſehen, und alſo nach Belie-
ben, einrichten kan. Dergleichen Anſchlag iſt,
wenn ein reicher, oder maͤchtiger Fuͤrſt ein Schloß
und Pallaſt auffuͤhren will. Was man nachher
ſiehet, daß es von Tage zu Tage gebauet und zu
Stande gebracht werde, das hat der Bauherr
vorher in ſeinem Verſtande, daß es geſchehen ſolle,
uͤberſehen. Jn ſeinem Verſtande iſt es ſchon
damahls, als er den Anſchlag machte, nicht anders
geweſen, als ob es ſchon wuͤrcklich aufgefuͤhret wuͤr-
de. Von Anſchlaͤgen kan man alſo Erzehlungen
machen, wie von geſchehenen Dingen. Wenn
der Anſchlag weitlaͤufftig iſt, muß man einen
Grundriß haben (§. 18. C. 6.): Er kan auch aus ver-
ſchiedenen Sehepunckten angeſehen werden (§. 12.
C. 5.); wie z. E. ein aufzufuͤhrendes Gebaͤude
gantz anders angeſehen wird vom Architecto, der
nur auf die Bequemlichkeit und Pracht des Ge-
baͤudes ſiehet, anders vom Schatzmeiſter, der
den Bau nach den Revenuen ſeines Herrn ab-
miſſet, und daher etwa an dem ſchoͤnſten und koſt-
barſten Theile, das groͤſte Mißfallen haben kan:
Anders von dem Directeur des Baues ſelbſt, der
vor die Materialien ſorgen muß, und daher
P 4man-
[232]Achtes Capitel,
manches inpracticable finden kan, welches nach
beyden vorigen Betrachtungen keinen Anſtoß ha-
ben wuͤrde. Jn unſern Gebaͤuden muß viel von
Sandſteinen gemacht werden, welches, von Mar-
mor gebauet weit praͤchtiger und dauerhaffter
ſeyn wuͤrde.


§. 22.
Wenn der Anſchlag und die Ausfuͤhrung in der
Erzehlung einerley lauten.


Woferne der Anſchlag in der Ausfuͤhrung
keine Hinderniſſe findet, ſo wird die Geſchichte der
Ausfuͤhrung mit dem Anſchlage voͤllig uͤberein
kommen, bis etwa auf einige Umſtaͤnde, die ſich
bis zur Ausfuͤhrung geaͤndert haben, und alſo an-
ders haben eingerichtet werden muͤſſen. Aber
das was ſich waͤhrender Zeit in den Sachen und
Perſonen aͤndert, auf die man anfangs Rechnung
gemacht, iſt vor ein Hinderniß zu rechnen. Wir
reden aber ietzo von ſolchen Ausfuͤhrungen, wo-
bey ſich keine Hinderniß findet. Auch hierbey
iſt nun zwar an dem, daß der menſchliche Ver-
ſtand die kleinſten Umſtaͤnde nicht uͤberſehen kan,
welche daher erſt bey der Ausfuͤhrung von Zeit
zu Zeit muͤſſen ſupplirt werden woraus
eine vollſtaͤndigere Erzehlung der Sache zu fol-
gen ſcheinet, als man in dem Anſchlage findet.
Alle dergleichen Umſtaͤnde, die man vorher nicht
uͤberſehen kan, werden auch bey der Erzehlung der
geſchehenen Dinge wiederum ausgelaſſen (§. 3.
C. 6.). Und alſo bleibt die Regel an ſich rich-
tig:
[233]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
tig: Die Erzehlung der Ausfuͤhrung eines
Anſchlages, wenn keine Hinderniſſe dar-
zwiſchen kommen, iſt mit dem Anſchlage ei-
nerley.
Jn der Application auf unſere Anſchlaͤge
leydet ſie allemahl ihren Abfall, weilen, wenn auch
gleich keine eigentlichen Hinderniſſen vorfielen, ſon-
dern alles bis zur Ausfuͤhrung in ſtatu quo blie-
be, wie es beym Anſchlage geweſen. Denn ſo
1. finden wir doch bey der Ausfuͤhrung immer et-
was anders, als wir uns vorher eingebildet: Wie
man bey ſeinem Ruͤſtzeuge immer ſupponirt, daß
es im guten Stande ſeyn ſollen, welches ſich bey
dem Gebrauche deſſelben oͤffters anders findet;
auch ſeine Leute ſich oͤffters abgerichteter einbildet
als ſie ſind. 2. Darzu kommt, daß wir manches
auch nicht uͤberſehen, was doch zu uͤberſehen waͤre
moͤglich geweſen. Setzen wir dieſe Umſtaͤnde bey
Seite, ſo werden wir in Exempeln, als bey Feſtins
am Hofe, und alſo in der Erfahrung ſelbſt finden,
daß die Erzehlung der Geſchichte, wie ſie vorge-
gangen, mit dem Anſchlage einerley laute. Es
gehoͤret aber eine beſondere Faͤhigkeit und Luſt der
Seele darzu, bey einem Anſchlage in alle kleine
Umſtaͤnde ſich einzulaſſen, und den Anſchlag, der
Erzehlung von der Ausfuͤhrung ſelbſt, in voraus
ſo aͤhnlich zu machen, als moͤglich iſt. Man
muß dieſe Fertigkeit an Sachen erlernen, die
ſchon wuͤrcklich vorhanden ſind, daß man dabey
alles aufs genaueſte beobachtet, was beobachtet
werden kan. So wird man ſich angewoͤhnen,
auch Sachen, die man angiebt, und ordiniret, mit
eben ſolcher Umſtaͤndlichkeit ſich vorzuſtellen, und
P 5die
[234]Achtes Capitel,
die Fertigkeit erlangen, welche man Frantzoͤſiſch,
l’eſprit de detail nennet.


§. 23.
Alle Anſchlaͤge finden Hinderniſſe.


Hingegen iſt nun die Welt ſo eingerichtet, und
der Hoͤchſte hat es ſo geordnet, daß die Anſchlaͤge
der Menſchen beſtaͤndig ihre Hinderniſſe finden.
Denn theils aͤuſſert ſich 1. Unvermoͤgen, die Sa-
che auszufuͤhren; wie es oͤffters an Gelde, an Leu-
ten, an geſchickten Helffern und Werckzeugen feh-
let. 2. Theils machen andere Menſchen, nach
ihrer Einſicht, und nach ihrem Vortheil bald ge-
rechte, bald ungerechte Gegenanſchlaͤge, die den
unſrigen zuwider ſind, und mit ihnen nicht beſte-
hen koͤnnen, woraus der Widerſtand erfolget.
3. Theils kommen auch Faͤlle darzwiſchen, und
aͤuſſern ſich waͤhrender Ausfuͤhrung, die, ſo natuͤr-
lich ſie auch ſind, dennoch unmoͤglich haben koͤnnen
voraus geſehen werden: als das Abſterben ſol-
cher Perſonen, auf die wir Rechnung gemacht ha-
ben: Veraͤnderungen des Zuſtandes ſolcher Perſo-
nen, die ebenfalls in unſern Anſchlag mit gekom-
men ſind. Die Himmelsbegebenheiten, wel-
che den Zuſtand der Menſchen, durch Fluthen,
Winde, Stuͤrme, Hagel, Mißwachs, und auf
andere Arten aͤndern, haben in die Ausfuͤhrung un-
ſerer Anſchlaͤge den groͤſten Einfluß. Denn alle
dieſe Begebenheiten koͤnnen zu Hinderniſſen wer-
den, welche die Ausfuͤhrung unſeres Anſchlages in
feinen Theilen, aufhalten, beſchwehrlich, ja
oͤffters unmoͤglich machen. Boͤſe Anſchlaͤge koͤn-
nen
[235]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
nen ihrer Natur nach faſt nicht anders als Hinder-
niſſe
finden; weilen dadurch iemand beleidiget
wird, der alſo natuͤrlicher Weiſe Gegenanſtalten
darwider machen wird. Weil nun ſolchem Wider-
ſtande in Zeiten vorzukommen, widerrechtliche An-
ſchlaͤge, heimlich und mit vieler Verſtellung tra-
ctirt werden muͤſſen: ſo entſtehet daraus eine beſon-
dere Gattung von Anſchlaͤgen und Thaten, wel-
che man Jntriguen nennet, deren groͤſte Kunſt,
oder beſonders Weſen, in der Verſtellung und
in dem Geheimniſſe beſtehet: da bey andern An-
ſchlaͤgen die Kunſt in Erwehlung der Mittel be-
ſtehet, die zu unſerer Abſicht, und deren Erhaltung
dienlich ſind.


§. 24.
Hinderniſſe machen, daß die Ausfuͤhrung vom
Anſchlage abgehet.


Jedes Hinderniß fuͤhret uns von der Ausfuͤh-
rung unſeres Anfchlages, wenigſtens etwas, ab.
Wir muͤſſen die Zeit und einen Theil unſerer Kraͤffte,
zu Hebung der Hinderniſſe anwenden, da unter-
deſſen ein Stuͤck unſeres Anſchlages haͤtte koͤnnen
ausgefuͤhret werden. Man vergleicht ſie daher
widrigen Winden, wodurch ein Schiff offen-
bar in ſeinem Lauffe aufgehalten wird. Ja das
Hinderniß kan ſo gewiß werden, daß die gantze
Ausfuͤhrung unmoͤglich gemacht wird. Der Ade-
ptus
faͤnget ſeinen Proceß, den er ſich erſonnen hat,
den lapidem hervorzubringen, an; er bewerckſtel-
liget ein Stuͤck nach dem andern mit der groͤſten ac-
curateſſe:
aber zum Ungluͤck zerſpringt ihm ſein
Gefaͤſſe
[236]Achtes Capitel,
Gefaͤſſe uͤber dem Feuer; der Dampf faͤllet ihm auf
der Bruſt, und verurſacht eine verzehrende Kranck-
heit, die ihm das Aufſtehen vom Bette verbietet:
an ſtatt den lapidem hervorzubringen, iſt ihm nichts
mehr uͤbrig, als ſein Kranckenbette zu huͤten, und
auf demſelben entweder ſeinen eitlen Anſchlag zu be-
reuen, oder das Mißrathen eines ſo vortheilhaffti-
gen Unternehmens zu bejammern. Der Anſchlag
jeder Schiffarth wird auf groſſen Gewinſt und
Reichthum gemacht: ein Sturm aber, ein Stoß an
eine Klippe, ein Ritz im Schiffe, den man nicht
in Zeiten bemercket hat, verwandelt die Hoffnung
in Armuth und Elend. So werden die Anſchlaͤge
der Menſchen oͤffters zu nichte, und wenn ſie un-
gerecht, oder zu trotzig unternommen werden,
zur Schande und Thorheit: da unterdeſſen ſelbſt
diejenigen Anſchlaͤge, welche wuͤrcklich ausgefuͤhret
werden, wenigſtens durch viele Hinderniſſe durch-
dringen muͤſſen. Wir koͤnnen in der Theorie der
Anſchlaͤge thun, als wenn Ausfuͤhrung und Hin-
derniſſe
zuſammen gehoͤrten.


§. 25.
Die Theile der Ausfuͤhrung hangen nicht ſo, wie
die Theile des Anſchlages, zuſammen.


Die Ausfuͤhrung einer weitlaͤufftigen That oder
Anſchlags wird daher nicht anders begreifflich, als
durch dieſe zwey Stuͤcke, 1) Daß man den Theil
des Anſchlags wiſſe, der ausgefuͤhret werden ſoll,
2) und das Hinderniß, welches ſich geaͤuſert,
und daher, uͤberwunden, aus dem Wege geraͤu-
met; oder wo es moͤglich, gar vermieden werden
muß.
[237]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
muß. Die Stuͤcke der Ausfuͤhrung eines Anſchlags
koͤnnen daher nicht unmittelbar aus einander herge-
leitet werden, wie etwa die Theile des Anſchlags,
ſondern es muͤſſen die Hinderniſſe, die Stuͤckweiſe
und bey jedem Schritte ſich aͤuſſern, immer dar-
zwiſchen geſetzet werden. Der Krieg iſt das klaͤr-
ſte, und groͤſte Exempel, wobey die Beſchaffenheit
der menſchlichen Anſchlaͤge, wie ſolche bey der Aus-
fuͤhrung, durch die Hinderniſſe, eine gantz andere
Geſtalt bekommen, am beſten in die Augen leuchtet:
Hier iſt das beſtaͤndige Hinderniß gleich anfangs
gewiß, wenn man ſich nicht von ſeinem Gluͤcke
blenden laͤſſet, daß man ſeinen Feind vor nichts ach-
tet: denn man weiß ja, daß man einen Feind vor
ſich hat, deſſen Anſchlag dem unſrigen gerade ent-
gegen ſtehet, und davon die Ausfuͤhrung jedes
Theils, eine Hinderniß von unſerm Anſchlag wird.
Ueberdieſes widerſtehet man einander mit moͤglich-
ſten Kraͤfften, da man andern Anſchlaͤgen, die uns
etwa auch nicht anſtehen, nur in einer gewiſſen
Maße widerſtehet: bey dem Kriege aber, weil al-
ler moͤglicher Schade gedrohet wird, muß auch al-
ler moͤglicher Widerſtand gethan werden.


§. 26.
Schwierigkeit in den Geſchichten, daß man immer
auf viel Sachen zugleich ſehen muß.


Aus dieſer Beſchaffenheit nun der groſſen An-
ſchlaͤge und Thaten, daß nehmlich die Hinder-
niſſe
ſo betraͤchtlich werden, als die Ausfuͤhrung
des Anſchlags ſelbſt, (§. 25.) entſtehet eine Haupt-
ſchwierigkeit in der Erzehlung. Bey eintzeln und
kleinen
[238]Achtes Capitel,
kleinen Geſchichten muß man ſchon in der Erzeh-
lung von der innerlichen Beſchaffenheit der Ge-
ſchichte etwas abgehen, daß man Begebenheiten
nach einander erzehlet, die doch zugleich vor-
gegangen (§. 2. C. 6.). Beyn Anſchlaͤgen aber,
und deren Ausfuͤhrung, kommen ſolche Hinderniſ-
ſe vor, die von gantz andern Perſonen, Orten,
und aus der Frembde herruͤhren, und alſo noch ei-
ne gantz andere Erkentniß erfordern: ſie ſind auch
von ſehr weitem Umfange, weil der Gegenanſchlag,
woraus das Hinderniß entſtehet, eben ſo wichtig
iſt, als der Anſchlag ſelbſt. Dahero muß in der
Erzehlung, bald ein Stuͤck des Anſchlags und deſ-
ſen angefangene Ausfuͤhrung vorgetragen, bald
ein Stuͤck des Gegenanſchlages eingeſchaltet wer-
den: wie bey jeder Erzehlung einer Campagne zu
erſehen iſt. Daraus entſtehet denn eine Sorge we-
gen der Ordnung der Erzehlung, welches von ſo
vielen Dingen, die zugleich geſchehen, zuerſt er-
zehlt werden ſolle? Jedoch, weil davon die Wahr-
heit
der Geſchichte nicht abhanget, auf welche wir
in dieſer Abhandlung lediglich ſehen, ſondern nur
die angenehmere Vorſtellung und das Ver-
gnuͤgen der Hoͤrer und Leſer, wovor zu ſorgen der
Redekunſt ihr Werck iſt, ſo ſehen wir dieſes als
ein Stuͤck der Oratorie an: Zumahl da ein
Ha uptſtuͤck der Beredſamkeit darinne beſtehet, daß
man eine Geſchichte natuͤrlich und lebhafft zu er-
zehlen weiß: Die Wahrheit der Geſchichte aber
bleibt unbeſchaͤdigt, und unverletzt, wenn ſie auch
gleich rauh, und mit einer Einfalt vorgetragen
wird, wodurch zaͤrtliche Ohren bey nahe beleidigt
wer-
[239]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
werden. Die Geſta Dei per Francos ſind in
Anſehung der hiſtoriſchen Wahrheit eben ſo hoch
zu ſchaͤtzen, als der Liuius, Cæſar und Tacitus.


§. 27.
Aus Anſchlaͤgen entſtehen offt gantz unver-
muthete Umſtaͤnde.


Wenn man einen Anſchlag auszufuͤhren an-
gefangen hat, ſo hat man bey ſich aͤuſſernden
Schwierigkeiten und Hinderniſſen nicht allemahl
freye Hand das Geſchaͤffte abzubrechen, und den
Anſchlag ſogleich fahren zu laſſen; ſondern man
iſt darein verwickelt. Denn theils wuͤrde man
Schaden davon haben, an ſtatt des gehofften Nu-
tzens, wie bey allen Sachen, deren Ausfuͤhrung
gleich im Anfange Unkoſten erfordert; als bey dem
Bergbau, bey der Handlung, bey Anlegung ei-
nes Gartens: Theils erfordert die Ehre, den An-
ſchlag, obgleich deſſen reuſſite nicht abzuſehen
iſt, wenigſtens noch eine Zeitlang fortzuſetzen, bis
ſich etwa Umſtaͤnde aͤuſſern, welche eine ſcheinbare
Urſache an die Hand geben, davon abzuſtehen:
Theils laſſen uns andere, die ſich mit uns verbun-
den, oder auch, die uns widerſtehen, nicht zur
Ruhe kommen. Welches letztere bey ungerechten
Unternehmungen natuͤrlicher Weiſe erfolgen muß,
weil auch eine nur angefangene Beleidigung eine
Beleidigung iſt, und zu Verlangung einer Satis-
faction, und Sicherheit aufs kuͤnfftige Urſach an
die Hand giebt; woferne nicht etwa ein ſolch
Vornehmen mit Großmuth, und Gelaſſenheit
uͤberſehen wird. Jngleichen iſt man oͤffters,
durch
[240]Achtes Capitel,
durch die nur angefangene Unternehmung in
gantz andere aͤuſſerliche Umſtaͤnde geſetzet, aus wel-
chen man in die vorigen nicht ſo leichte zuruͤck kom-
men kan. Caͤſar, ſo lange er nicht uͤber den Rubi-
con gegangen, konnte Friede und Krieg erwehlen,
ſobald er aber mit ſeinen Truppen uͤber dieſen klei-
nen Fluß geſetzt hatte, ſo war der Krieg gegen ſein
Vaterland declarirt. Wer einmahl zu Schiffe
gegangen, und nicht Herr des Schiffes iſt, kan
nicht wieder von der Schiffarth abkommen: Nie-
mand fuͤhret ihn zuruͤck, und an eine barbariſche
Kuͤſte, will man nicht ans Land geſetzt ſeyn. So
entſtehet aus einem einmahl angefangenen Unter-
nehmen
nicht allein die Nothwendigkeit dabey
auszuhalten, ſondern auch die Nothwendigkeit ſich
in andere Geſchaͤffte einzulaſſen, an die man
bey der Entſchluͤſſung nicht gedacht hat, ja nicht
einmahl hat dencken koͤnnen. Denn wer will alle
moͤgliche Hinderniſſe und Faͤlle uͤberſehen?


§. 28.
Wie ein Anſchlag und Geſchaͤffte zu einem
andern Geſchaͤffte wird.


Wenn wir durch Ausfuͤhrung eines Anſchlags
in ein Geſchaͤffte verwickelt werden, welches wir
dennoch treiben muͤſten, wenn wir auch gleich den
Anſchlag wollten fahren laſſen, oder die Ausfuͤh-
rung deſſelben, nicht einmahl mehr moͤglich iſt: So
aͤndert ſich die Geſtalt des Anſchlages und des
Geſchaͤffts: Weil wir nunmehro gantz andere An-
ſchlaͤge machen muͤſſen: Oder es wird eigentlich
gar, ein anderes Geſchaͤffte daraus. Wie
offte
[241]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
offte iſt es geſchehen, daß da man ein Haus hat
repariren wollen, und weil dadurch gantze Waͤnde
eingefallen ſind, des man ſich nicht verſehen, ge-
noͤthiget worden iſt, das gantze Haus von Grund
auf
zu bauen? Meiſtens wenn man ein Mit-
glied
einer Geſellſchafft angreifft, geraͤth man
daruͤber mit der gantzen Geſellſchafft, oder dem
gantzen Corpore in Streit, welches der Sache
nothwendig ein gantz anderes Anſehen giebt. Die-
jenigen, welche man zu Huͤlffe geruffen, werden
oͤffters die Hauptfeinde, und das Mittel, welches
man wider das Uebel brauchen wollen, wird
ſchlimmer und gefaͤhrlicher als das Uebel ſelbſt
war. Der General Uſanke ruffte die Tartarn,
wider den Rebellen Ly zu Huͤlffe, den Todt ſeines
Kayſers zu raͤchen: Aber nachdem dieſe einmahl,
als Huͤlffsvoͤlcker, auf Chineſiſchen Boden getre-
ten, richteten ſie mehr Ungluͤck an, als alles, was
bisher vorgegangen war: Und der Anſchlag den
Todt des rechtmaͤßigen Kayſers zu raͤchen, ver-
wandelte ſich bald in den Anſchlag der Erobe-
rung
dieſes Reichs, die auch wuͤrcklich erfolgt iſt.


§. 29.
Was verwirrte Haͤndel ſind?


Wenn die Geſtalt der Geſchaͤffte ſich oͤffters
veraͤndert, ſo daß uͤber der Ausfuͤhrung eines An-
ſchlags immer andere Geſchaͤffte entſtehen, ſo ſagt
man: Die Sachen gehen unter einander:
Man nennt es verwirrte Haͤndel: Derglei-
chen z. E. nach Caͤſars Ermordung entſtunden.
Antonius wollte Caͤſars Todt raͤchen: Daraus
Qentſtun-
[242]Achtes Capitel,
entſtunde nothwendigerweiſe Widerſtand. Die
Vereinigung des Auguſtus mit dem Antonio, wel-
ches auf ſeiner Seite, ohne Zweifel eine gantz an-
dere Abſicht hatte, gabe der Sache ein gantz an-
deres Anſehen, indem daraus das Triumvirat ent-
ſtand, wobey kein Menſch mehr an die Rache des
Caͤſarianiſchen Mords dachte, ſondern jeder da-
von nur auf ſeine Erhaltung, oder gar Unterdruͤ-
ckung ſeiner zwey Mitregenten ſein Abſehen richte-
te. Das ſchlimmſte iſt, daß bey verwirrten Haͤn-
deln, keiner von denen, die hinein geflochten wer-
den, wiſſen kan, wie er ſeine Meſures nehmen ſoll:
Da man, ſo lange nur ein Anſchlag vorhanden
iſt, leichte abſehen kan, ob man ſich damit einlaſ-
ſen koͤnne oder nicht? Auch, wo ein Gegenan-
ſchlag
iſt, kan man auch wohl leichter ſich reſolviren,
welchem von beyden Anſchlaͤgen man favoriſiren
will? Wenn aber die Geſtalt der Affairen ſich
oͤffters aͤndert, ſo wird man in Dinge geflochten,
wobey man nicht ſeyn will, und hat doch ſelten die
Freyheit abzugehen (§. 27.), daraus entſtehet
denn, daß man ſich ſucht loß zu reiſſen: Welches
aus Freunden Feinde machte, ſo daß endlich kei-
ner dem andern mehr trauet: Und niemand wei-
ter weiß, an wen er ſich halten ſoll.


§. 30.
Sind die vornehmſte Art von Geſchichten.


Solche verwirrte Haͤndel aber, ſind eben
diejenigen Geſchichte, welche vor allen andern die
meiſte Aufmerckſamkeit der Geſchichtsliebhaber an
ſich ziehen, und daher vorzuͤglich Geſchichte ge-
nennet
[243]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
nennet werden, dergeſtalt, daß wenn iemand eine
Geſchichte will erzehlt haben; er in der That kei-
ne andere als eine von dieſer Art verſtehet.
Denn 1. ſind ſolche verwirrte Haͤndel meiſtens der
Weg und Mittel, wodurch groſſe, und dauerhaff-
te Dinge in der Welt zur Wuͤrcklichkeit gebracht
werden. Die Verwirrungen nach Caͤſars Tode
brachten die Monarchiſche Regierung zu Rom zu
Stande, die nachher beſtaͤndig fortgedauret hat.
Der dreyſigjaͤhrige Krieg hat den Weſtphaͤliſchen
Frieden nach ſich gezogen, deſſen ſich unſer Vater-
land noch ietzo zu erfreuen hat. Selbſt eintzel-
ner Menſchen ihre Wege hat Gott ſo eingerich-
tet, daß ehe ſie, wie man zu reden pfleget, zur Ru-
he kommen, und ihr Gluͤck machen, in mancher
Verwirrung ihrer Umſtaͤnde eine Zeitlang ſchwe-
ben muͤſſen. 2. Ruhige Zeiten ſind vor Geſchich-
te ein mager Land, verwirrte Haͤndel geben zu Er-
zehlungen hingegen den beſten Stoff: Denn ſie
geben der Einbildungskrafft der Menſchen eine an-
genehme Beſchaͤfftigung, daß jeder ſich bloß durch
Leſen und Anhoͤren dabey intereßirt. Weil aber
verwirrte Haͤndel die beſte Waare vor Liebhaber
der Geſchichte ſind; ſo ſind ſie es auch vor einen
Geſchichtsſchreiber, der ſein Talent zeigen will.
Denn da haͤuffen ſich die (§. 26.) angefuͤhrten
Schwierigkeiten, wie nehmlich die Stuͤcke zu ord-
nen ſind, da viele Dinge, die zu gleicher Zeit, bey
denen verſchiedenen Jntereſſenten zu einer Zeit
vorgegangen, doch nach einander muͤſſen erzehlt
werden.


Q 2§. 31.
[244]Achtes Capitel,

§. 31.
Anfang einer verwirrten Geſchichte.


Um nun den Zuſammenhang der verworre-
nen Begebenheiten, und groſſen Begebenheiten,
uͤberhaupt deutlich zu erklaͤren, ſo haben wir zu-
foͤrderſt die Gelegenheit, als den allererſten Theil
bemerckt. Jhr Anfang iſt das Zweyte, was
wir zu beſtimmen haben. Denn daruͤber kan ernſt-
lich
geſtritten werden, wo ſich die Unruhen an-
fangen; weil nehmlich davon die Entſcheidung
abhanget, wer am meiſten an den erfolgten Trou-
blen Schuld ſey. Wir haben ein klares Exem-
pel von ſolcher Streitigkeit an den Weſtphaͤliſchen
Friedenstractaten, da man kayſerlicher Seits, den
Anfang ins Jahr 1624, oder gar erſt 1629. ſetzen
wollte, Schwediſcher Seits eifrigſt auf dem Jah-
re 1618. beſtanden wurde: Welche Diſputation
manchen Auffenthalt in den Tractaten gemacht
hat. Um hiervon nun deutlich zu reden, muͤſſen
wir uns auf das beziehen, was wir Cap. 3. von dem
moraliſchen Weſen gelehret haben; als wo-
hin ein Anſchlag, der zur Ausfuͤhrung mit gluͤck-
lichen oder ungluͤcklichen Erfolg gebracht wird, al-
lerdings gehoͤret (§. 4. C. 3.) den Anfang dieſer
Dinge aber haben wir darinnen geſetzt, daß ſie,
durch ſichtbare und handgreiffliche Aeuſſerungen
ſichtbar werden (§. 5. C. 3.): Wir muͤſſen alſo
den Anfang eines Anſchlags, oder vielmehr ſei-
ner Ausfuͤhrung, in ſolchen Handlungen ſetzen,
woraus man den gefaßten Anſchlag, ohne Zwey-
deutigkeit erkennen oder ſchlieſſen kan. Dieſe Hand-
lungen
[245]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
lungen koͤnnen in Worten, oder auch in Wer-
cken
beſtehen. Die Worte ſind das deutlichſtr
Merckmal: Die Vorſtellung, welche in gewiſſen
Faͤllen freylich vorkommen kan, bey Seite geſetzet.
Jn Anſehung aber der Wercke dencken wir ſo:
Wenn iemand etwas vornimmt, welches nicht ſein
Amt, nicht die Geſetze, noch eine andere gegen-
waͤrtige Nothwendigkeit erfordert; aber wohl den
Anfang zu Ausfuͤhrung eines gewiſſen Deſſeins ab-
geben kan, ſo nehmen wir die That vor ein Zeichen
des gefaßten Deſſeins, und zwar mit gutem Grunde
an. Es giebt uns wenigſtens Gelegenheit, nach der
eigentlichen Urſache des Unternehmens genauer zu
forſchen, und zu fragen: Da denn die Deutlich-
keit
der Antwort, oder im Gegentheil, die Difficul-
tirung derſelben, oder daß ſie auf Schrauben geſetzt
worden, oder gar eine ungeſchickte Urſach angiebt,
uns noch zu mehreren Nachforſchen bewegen, und
darzu Anleitung geben wird.


§. 32.
Vom Anfange der Gewaltthaͤtigkeiten.


Bey Gewaltthaͤtigkeiten, und Kriegen, wird
der Anfang mit Recht in der erſten Gewalt-
thaͤtigkeit
geſetzet. Denn obgleich gemeiniglich
vor dem Ausſchlagen, Wortwechſel, und vor
dieſem, Uneinigkeit vorher gehet, ſo ſind doch
ſolche mehr vor die Gelegenheit, als vor den wuͤrck-
lichen Anfang der Gewaltthaͤtigkeiten anzuſehen,
die hernach die Urſach von allen nachfolgenden
Thaͤtlichkeiten ſind. Nehmlich von dem Streite
mit Worten, bis zum Streite mit Thaten iſt
ein groſſer Sprung, den man, wenn der Ver-
Q 3nunfft
[246]Achtes Capitel,
nunfft Gehoͤr gegeben wird, zu thun ſich lange be-
ſinnet; der aber bey der Hitze der Menſchen, die
Zorn und Gewinnſucht blendet, gar zu bald ge-
than wird. Dieſer Sprung iſt faſt allemahl
mehr vor einen Ungluͤcksfall anzuſehen, als vor
eine Begebenheit, die ſich aus vernuͤnfftigen Ur-
ſachen herleiten lieſſe. Zum Anfange der Ge-
waltthaͤtigkeiten koͤnnen daher nicht wohl Worte
angenommen werden, ſondern es muß ſelbſt eine
Gewaltthaͤtigkeit ſeyn. Wenigſtens iſt das eine
haupt- und weſentliche Veraͤnderung des Geſchaͤffts,
wenn es von Worten zur Thaͤtlichkeit kommt, und
iſt mehr ein neues Geſchaͤffte (§. 28.). So lan-
ge als man nur mit Worten gegen einander ſtrei-
tet, kan ein eintziger froͤlicher Gedancke, der den
Eigennutz mindert; ein gluͤcklicher Gedancke,
der die ſtreitige Sache in ein klares Licht ſetzet;
jeder Zufall, der eine von beyden Partheyen auf
was anders mehr ziehet, die Uneinigkeit aufhe-
ben: So daß ſie ſo wenig Schaden nach ſich zie-
het, als wenn man nie mit einander geſtritten
haͤtte; aber die Thaͤtlichkeit, hebt gleich alles
freundſchafftliche Commercium auf, und der Re-
greſſus
zum Streite bloß mit Worten, iſt uͤberaus
ſchwer zu finden: Sondern eine Verwirrung folgt
aus der andern, an ſtatt der bloſſen Prætenſion,
wird nun auch Satisfaction gefordert: Wel-
ches viel ſchwerer als das erſte, aus vernuͤnfftigen
Gruͤnden auszumachen iſt. Nach dieſem Princi-
pio,
daß der Anfang der Unruhen und Kriege in
einer Thaͤtlichkeit zu ſuchen und zu ſetzen ſey,
hat man beſtaͤndig den Anfang des dreyßigjaͤhri-
gen
[247]v. d. Zuſamwenhange d. Begebenh. ꝛc.
gen Krieges, ins Jahr 1618. geſetzt, weil da im
Schloſſe zu Prag, die erſte Gewaltthaͤtigkeit vor-
gegangen, die nothwendig Beſtraffung nach ſich
ziehen muͤſſen; aber auch durch Veraͤnderung der
Umſtaͤnde bey Abſterben des damahls regieren-
den Kayſers und Boͤhmiſchen Koͤniges Matthias,
eine weit laͤngere Reyhe von Unruhen und Ver-
ſtoͤrungen nach ſich gezogen hat.


§. 33.
Theile einer Erzehlung, die auf die Gelegenheit
und den Anfang derſelben folgen.


So wie unvermuthete Hinderniſſe die Aus-
fuͤhrung eines Anſchlags, aufzuhalten, ſchwer zu
machen, oder gar zu vereiteln pflegen: Alſo geſchie-
het es auch im Gegentheil, daß iezuweilen, Zufaͤlle
die Ausfuͤhrung des Anſchlags befoͤrdern und
beſchleinigen. Die Roͤmer wuͤrden in ihrer Er-
oberung Aſiens und Africa nicht ſo gar geſchwind
fertig geworden ſeyn, wenn nicht in allen dieſen
Laͤndern innerliche Unruhen geweſen waͤren, die
ihnen theils Befugniß gaben, ſich in fremde Sa-
chen zu miſchen, theils auch die Griechen, die Egy-
ptier und andere Voͤlcker auſſer Stand ſetzten, ſich
dem gemeinen Feinde zu widerſetzen. Solche Zu-
faͤlle, die die Ausfuͤhrung des Anſchlags befoͤrdern,
nennet nun der, der den Anſchlag gemacht,
Gluͤcksfaͤlle, der Gegentheil aber kan ſie nicht
anders als vor Ungluͤcksfaͤlle anſehen. Wenn
daher die Ausfuͤhrung eines Anſchlags einmahl
angefangen iſt, ſo beſtehet der Fortgang der Ge-
ſchichte nicht allein aus Erfuͤllung der Theile
Q 4des
[248]Achtes Capitel,
des Anſchlages, und des Gegenanſchlages; ſon-
dern auch aus abwechſelnden Zufaͤllen, die die
Ausfuͤhrung bald aufhalten, bald aber befoͤr-
dern. Worbey jedes Stuͤck des Anſchlags, das
zu Stande gebracht worden, einen Abſchnitt der
Erzehlung oder Geſchichte ausmacht, bis die Er-
fuͤllung des Anſchlags, oder des letzten Theil
des Anſchlags
erfolgt, welches das Ende der
Geſchichte, oder der Erzehlung von einer groſſen
Ausfuͤhrung ausmacht.


§. 34.
Der Ausgang der Geſchichte wird oͤffters
das Hauptwerck.


Wenn ein Anſchlag aber bey der Ausfuͤhrung,
durch Hinderniſſe und Widerſtand vereitelt wird,
oder auch waͤhrender Ausfuͤhrung durch die Zu-
faͤlle,
ein wichtigeres Geſchaͤffte daraus entſtehet,
ſo wird in der Erzehlung mehr auf das letztere
als auf das erſtere, geſehen: Dergeſtalt daß die
gantze Geſchichte, nicht ſowohl von dem Anſchla-
ge,
als von dem Ausgange, den Nahmen be-
kommt. Alſo wird man die Schwediſchen Troubeln
im 16 Seculo nicht ſowohl von dem Einfalle des
Chriſtierns, als von des Guſtavs Gelangung
zur Crone, und der unter ihm veraͤnderten Regie-
rungsforme benennen. Die Unruhen nach des Caͤſars
Tode werden einigermaſſen durch ihren Ausgang
verdunckelt, nehmlich daß durch den Auguſtus die
monarchiſche Regierung feſte geſtellet worden, daran
nach Caͤſars Tode, bey der erſten Unruhen nicht mehr
gedacht worden, ſondern jeder bildete ſich vielmehr
ein, die Freyheit voͤllig wieder hergeſtellet zu ſe-
hen.
[249]v d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
hen. Carl des erſten, Koͤnigs in Engelland Hin-
richtung, und die Vſurpation des Cronwells ver-
dunckeln die Anſchlaͤge, die zu ſo groſſen Revolu-
tionen Gelegenheit gegeben. Alle dieſe Unruhen
werden einen gantz andern Nahmen haben, wenn
ſie nach den Anfangs gemachten Anſchlaͤgen ihren
Fortgang gehabt, und nicht durch unvermutheten
Widerſtand, und andere Zufaͤlle, in gantz andere
Geſchichte waͤren verwandelt worden. Man wuͤrde
von der wiederhergeſtellten Freyheit in Rom;
von der Vereinigung der Schwediſchen Krone mit
der Daͤniſchen; von der eingefuͤhrten Souverainite
in Engelland, und wieder eingefuͤhrten Roͤmiſchca-
tholiſchen Religion, in den Geſchichten leſen, da ſol-
ches alles nunmehr unbekannte Tittel ſind.


§. 35.
Warum uns die Urſachen der Begebenheiten
unbekannt ſind.


Wir wiſſen nunmehro, wie die Stuͤcke einer
Geſchichte an einander hangen, und aus ein-
ander
zu erfolgen pflegen: Und die natuͤrliche
Vorſtellung
der Geſchichten erfordert, daß der
Zuſchauer die Begebenheiten, welche die Geſchich-
te ausmachen, in eben der Ordnung auf einander
erfolgen ſehe, als wie ſie in dem Verlauffe der
Dinge wuͤrcklich auf einander, und aus einander,
erfolgen: Woraus hernach die natuͤrliche Ord-
nung in der Erzehlung, und in denen davon zu
ertheilenden Nachrichten von ſelbſt gar leichte er-
folgen wird, bis etwa auf die (§. 26. 30.) ange-
fuͤhrte Schwierigkeit. Wenn man die Geſchich-
te auf ſolche Art erkennet, ſo wird uns auch die
Q 5Erkent-
[250]Achtes Capitel,
Erkentniß der Urſachen, meiſtens keine groſſe
Schwierigkeit machen, als wovon wir ſogar die
Regeln wiſſen (§. 4. 5. 13. 14. 15. 16.). Allein
es kommen bey Erkentniß der Geſchichte, ſelbſt bey
denen, dabey wir gegenwaͤrtig ſind, folgende zwey
Faͤlle und Umſtaͤnde gar oͤffters vor: 1. Daß man
zu einer Sache und Begebenheit kommt, davon
man das Vorhergegangene nicht geſehen hat;
auch niemand vorhanden iſt, der uns von dem
Verlauffe der Sachen, wobey wir nicht zugegen
geweſen, oder wie man ſagt, die vor unſerer
Zeit geſchehen,
umſtaͤndlich belehrete. Denn
wenn ein ſolcher Belehrer vorhanden iſt, welcher
uns von allem, was zun Urſachen des gegen-
waͤrtigen Geſchaͤfftes gehoͤret, ſchicklich unterrich-
tet, ſo iſt es, wenigſtens vor einen faͤhigen Kopf,
eben ſo gut, als wenn er ſelbſt dabey geweſen waͤre.
2. Daß wir zwar bey den Vorhergegangenen
gegenwaͤrtig geweſen ſind, aber die Anſtalten zur
ietzigen Begebenheit, und die die Urſach, oder Ge-
legenheit darzu ſind, nicht bemerckt haben: Weil ſie
entweder ihrer Verborgenheit wegen, nicht haben
bemerckt werden koͤnnen; oder weil wir eben nicht
auf dieſelben Umſtaͤnde achtung gegeben haben.
Alſo empfindet ein Menſch offt ploͤtzlich eine Kranck-
heit, oder Schmertzen: Die Anſtalten darzu ſind
ohne Zweifel vorher im Leibe nach und nach ent-
ſtanden: Aber ſie waren allzu verborgen, als daß
man ſie haͤtte wahrnehmen koͤnnen: Jn manchen
Faͤllen aber haͤtte man ſie wohl bemercken koͤnnen,
wenn man nur mit Mediciniſchen Principiis ver-
ſehen geweſen waͤre. Gemeiniglich aber kennet
man
[251]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
man ſeinen Coͤrper nicht, als in ſoferne man ihn
ſiehet, und durch Schmertzen und Eckel fuͤhlet.
So finden Menſchen Abgang an ihren Vermoͤ-
gen, und wiſſen die Urſachen nicht, ob ſie gleich
hauptſaͤchtlich bey ihrem Haußweſen, als gegen-
waͤrtig anzuſehen ſind. So bricht auch in Rei-
chen offt eine Conſpiration und Rebellion aus,
oder iſt wenigſtens dem Ausbruche nahe kommen,
ohne daß iemand der an der Regierung Theil hat,
etwas davon inne geworden iſt:


§. 36.
Die Unterſuchung der Urſachen einer Begebenheit
iſt ſchwer in Regeln zu bringen.


Jn dieſen beyden Faͤllen, da man zu einer
Begebenheit kommt, ohne das Vorhergegangene,
welches in das Gegenwaͤrtige einſchlaͤgt, geſe-
hen, oder bemerckt zu haben, entſtehet nun eine Un-
terſuchung der Urſachen der Begebenheit:
Welches eine der ſchwerſten, und verwickelſten
Handlungen unſeres Verſtandes, und unſerer
Seele iſt. Was nur bey bloß coͤrperlichen
Begebenheiten, vor Schwierigkeiten vorkommen,
wenn man die Urſachen ausfuͤndig machen will,
das haben wir in den vernuͤnfftigen Gedan-
cken, vom Wahrſcheinlichen,
und deſſen ge-
faͤhrlichen Mißbrauche.
V.Betracht. all-
bereits erklaͤret, worauf wir uns, beliebter Kuͤrtze
halber, nun beziehen. Jetzo ſehen wir hauptſaͤch-
lich auf die Begebenheiten, die von menſchlichen
Willen und Anſtalten abhangen; bey welchen
zwar bloß coͤrperliche Begebenheiten auch gar ſehr
einſchla-
[252]Achtes Capitel,
einſchlagen koͤnnen, wie ſchon Claudianus ſich
ausdruͤckt?


O nimium dilecte Deo, cui militat aether:
Wobey aber doch der Menſchen Anſchlag das
Hauptwerck bleibt. Hierbey dencken die Menſchen
nun ſo verſchieden, daß es kaum moͤglich zu ſeyn ſchei-
net, etwas ordentliches und regelmaͤßiges davon
ſagen zu koͤnnen: Doch wollen wir uns bemuͤhen,
Regeln ausfuͤndig zu machen, nach welchen die
Menſchen, wo nicht allemahl die Urſachen ſelbſt
finden, doch wenigſtens ſich in ihren widerſprechen-
den Urtheilen, einander bedeuten und leichter
vereinigen koͤnnen. Wir muͤſſen aber zufoͤrderſt
zwey Faͤlle unterſcheiden. Der erſte iſt, wo wir
die vorhergegangenen zur Sache gehoͤrenden Um-
ſtaͤnde erfragen, oder gar wiſſen koͤnnen; denn
da kommt es hernach nur darauf an, wornach
wir fragen, oder worauf wir ſehen ſollen? Der
zweyte Fall iſt: Wo wir die vorhergegangenen
Umſtaͤnde nicht wiſſen, und auch nicht erfragen
koͤnnen, ſo daß wir ſie lediglich aus den gegen-
waͤrtigen muthmaſſen, errathen,
und ſchluͤſ-
ſen
muͤſſen. Der letzte Fall iſt der ſchwehrſte; und
man wird davon faſt gar nichts tuͤchtiges lehren koͤn-
nen, wenn wir nicht vorher den erſtern in mehrers
Licht geſetzet haben.


§. 37.
Von der Erfindung der Urſachen, wenn uns das
Vorhergegangene bekannt iſt.


Wenn wir das Vorhergegangene wiſſen, (oh-
ne doch zur Zeit ſeinen Einfluß in das gegenwaͤrtige
Geſchaͤffte
[253]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
Geſchaͤffte bemerckt zu haben) oder es wenigſtens
erkundigen koͤnnen, und daraus die Urſach finden
wollen, ſo muß die allgemeine Theorie der Urſa-
chen einer Begebenheit, das Licht ſeyn, welches
uns die Urſach der vorhabenden Begebenheit entde-
cken muß: nehmlich ſie muß uns zeigen, auf was
vor Umſtaͤnde und vorhergegangene Begebenheiten
wir zu ſehen haben, um ſie aus ihren Gruͤnden ein-
zuſehen. Wir muͤſſen Eintheilungen der menſch-
lichen Begebenheiten haben, die aus dem verſchie-
denen Urſprunge derſelben hergeleitet ſind, da-
mit wir abnehmen koͤnnen, zu welcher Art die ge-
genwaͤrtige Begebenheit gehoͤre, und was wir da-
bey weiter zu dencken haben, um hinter die Urſa-
chen zu kommen. Denn bey eintzeln Dingen iſt
kein ander Mittel, hinter die Eigenſchafften, die
nicht von ſelbſt in die Augen fallen, zu kommen,
als daß man durch den allgemeinen Begriff,
darunter die Sache, als unter ihrer Art, oder ih-
rem Geſchlecht enthalten iſt, eine Einſicht in die
Sache bekomme. Wir wollen alſo nach Anleitung
der vorher ſchon fuͤrgegebenen Lehren folgende Re-
geln ſetzen.


§. 38.
Handlungen, die mit einem Vergnuͤgen verknuͤpfft
ſind, koͤnnen verſchiedene Urſachen haben.


Wenn uns eine Handlung vorkommt, ent-
weder eines einigen oder mehrerer vereinigten Men-
ſchen, die ihrer Natur nach mit einer Luſt verknuͤpft
iſt; und wir erfahren oder wiſſen, daß dieſelben
Perſonen, da ſie auf weiter nichts geſehen, ſo iſt
in
[254]Achtes Capitel,
in Anſehung der Urſache weiter kein Zweifel uͤbrig.
(§. 4.) Allein es koͤnnen dergleichen Handlungen
auch aus Abſichten vorgenommen werden. Denn
da Handlungen, die mit keiner Luſt verknuͤpft ſind,
ja die ſo gar beſchwehrlich ſind, um der nuͤtzlichen,
oder ſcheinbaren Folgen dennoch vorgenommen
werden, (n. 2. §. 3): warum ſollte man nicht
auch angenehme Handlungen, wenn ſie nuͤtzliche
Folgen noch darneben haben, um dieſer Folgen
willen, oder aus Abſichten unternehmen koͤnnen.
Der Unterſcheid iſt nur, daß alsdenn die Sache der
Seele auf zweyerley Art angenehm iſt, und alſo de-
ſto mehr erleichtert wird. Und ſo wird aus einer
natuͤrlichen Handlung zugleich eine politiſche
Handlung. Manchmahl ſiehet man bey angeneh-
men Handlungen gar nicht auf das damit verknuͤpf-
te Vergnuͤgen, ſondern bloß auf die Abſicht, die
dadurch ſoll erhalten werden. Staatsmaͤnner
thun vieles aus Abſichten, was andere bloß zur
Luſt thun: Sie geben Gaſtmahle, oͤffters gar nicht
zum Vergnuͤgen, ſondern es nur an keinen aͤuſerli-
chen Zeichen der Freundſchafft fehlen zu laſſen: oder
nur, weil es die Gewohnheit und Beſchaffenheit
ihres Standes erfordert: Sie nehmen Promena-
den fuͤr, oͤffters nur, um nicht zu Hauſe zu ſeyn,
gewiſſen Zuſpruch, oder Concurrenz zu vermeiden;
oder gewiſſe Entreuven, die nicht abgeredet ſchei-
nen ſollen, zu haben. Die gantze Sache kan alſo
entweder nur Verſtellung ſeyn, wenn man nach
dem Vergnuͤgen gar nichts fragt: oder das Ver-
gnuͤgen kan nur eine Nebenurſach ſeyn. Folg-
lich fuͤhret uns der allgemeine Begriff ſolcher Hand-
lung
[255]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
lung nicht unmittelbar auf die Urſach, ſondern auf
ein Dilemma: daß ſie entweder die Luſt, oder ei-
ne Abſicht zum Grunde habe. Denn muß nun
unterſucht werden, welches von beyden in dem vor-
handenen Geſchaͤffte ſtatt finde. Hier iſt nun frey-
lich beſchwehrlich, daß die Handlungen, wel-
che man aus einem bloſſen Triebe und Luſt zur Sa-
che vornimmt, faſt eben ſo ausſehen, als wenn
eben dieſelben Handlungen aus einer Abſicht vor-
genommen werden: iedoch wenn man auf die klein-
ſten Umſtaͤnde Achtung giebt, oder ſolche genau er-
kundiget, ſo wird ſich meiſt einiger Unterſchied fin-
den. Denn einerley Art der Handlung, wenn ſie
aus verſchiedenen Triebfedern erfolgen, werden
nicht auf einerley Art ausgefuͤhrt. Doch macht
die Verſtellung die Sache ſchwehr, den Unter-
ſcheid zu bemercken. Daher iſt ſchon bey dieſer
Art der Handlungen ſchwehr, die Urſachen untruͤg-
lich zu erforſchen, wenn man nicht intimæ admiſ-
ſionis
iſt.


§. 39.
Handlungen ohne Vergnuͤgen folgen groſſen Theils
aus unſerm Amte und Stande.


Wenn wir von einer Handlung, die nichts unge-
buͤhrliches an ſich hat, aber auch zum bloſſen Ver-
gnuͤgen nicht pflegt vorgenommen zu werden, die
Urſach finden wollen; ſo haben wir darauf zu den-
cken: ob ſie nicht ihrer Natur nach, zu einem ge-
wiſſen Amte, Stande, Art von Menſchen, oder
bekannten Zuſtande der Menſchen gehoͤre? und
wenn uns dergleichen einfaͤllt, hernach zu erkundi-
gen: ob ſich nicht der Menſch, deſſen Handlung
wir
[256]Achtes Capitel,
wir unterſuchen, ſich nicht in ſolchem Stande, oder
Zuſtande, oder Amte wuͤrcklich befinde, oder
befunden habe? Trifft es zu, daß eines von dieſen
ihm wuͤrcklich zukommt, ſo werden wir mit Endte-
ckung der Urſache fertig ſeyn. Wir werden manch-
mahl auf der Reiſe angehalten, oder von Perſo-
nen befragt. Wer ſich nicht gleich bedeuten kan,
fragt: wer es ſey? der darnach fragt. Die An-
fuͤhrung und Benennung des Amtes, das er hat,
ſetzt die Sache gleich auſſer Streit. Und derglei-
chen Befrembdung und Ungewißheit zu vermei-
den, werden ſolche Orte, wo Geleite, Zoͤlle zu
entrichten ſind, oder wo ein Paß iſt, und Nach-
frage gehalten werden ſoll, fuͤrſtliche Wappen auf-
gehangen, durch deren Anblick dergleichen Diſpu-
ten gleich vermieden werden.


§. 40.
Boͤſe und harte Handlungen werden verſchieden
angeſehen.


Bey widerrechtlichen, harten und boͤſen
Handlungen, iſt hauptſachlich zu erkundigen, ob
es das erſte mahl iſt, daß die Perſon dergleichen un-
ternommen, oder aber, ob dergleichen ſchon meh-
rere vorher gegangen ſind. Jn dem letztern Fall
werden wir leicht das Laſter wahrnehmen, wor-
aus dergleichen Thaten, als die vorhabende iſt, zu
fluͤſſen pflegen: und wenn wir dieſes einmahl wiſ-
ſen, daß es z. E. aus Rachgier, oder aus Geitz ꝛc.
geſchehen, ſo werden wir uns um die eintzeln Um-
ſtaͤnde der That nicht groß mehr bekuͤmmern, weil
man ſo weiß, daß Laſter leichte Gelegenheit finden,
ſich
[257]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
ſich wuͤrckſam zu erzeigen; und daß alſo da nur ge-
meine Umſtaͤnde zu ſupponiren ſind. (§. 7.)
Wenn aber iemand eine boͤſe That zum erſten
mahle
unternimmt: ſo wird die Gelegenheit, und
beſonders wie er durch ſeine beſondere Gedenckart
dazu verleitet worden, (§. 17.) zu unterſuchen
ſeyn. Wenn ein Dieb ſchon mehrmahl in Ver-
dacht einer ſolchen That, oder gar in Inquiſition
geweſen; ſo verlangt man, wenn er wieder ertappt
wird, nicht die Urſache zu wiſſen; man begreifft ſie
von ſelbſt. Wenn aber ein Achan ſich, des ſtren-
gen Verbots ungeachtet, zu einer Entwendung
verleiten laͤſſet, oder ein Gelippus, der, als ein La-
cedemonier, keinen Gedancken nach Golde haben
ſollte, Betrug mit der Beute vornimmt, und ei-
nen Theil davon vor ſich behaͤlt, ſo iſt ein jeder be-
gierig zu wiſſen, wie ein ſolcher Menſch in ein ſolch
Labyrinth gerathen ſey. Wenn ein Tyrann, der
durch vieles vergoſſenes Blut ſchon deswegen be-
ruͤchtiget iſt, abermahls einen Unſchuldigen hin-
richten laͤſſet; ſo wird, wenn man dergleichen nur
lieſet, wie vom Nero, Claudius, Caligula,
ſich nicht mehr wundern, und alſo auch um die Ent-
deckung der Urſachen unbekuͤmmert ſeyn. Wenn
aber ein Conſtantin, ſeinen aͤlteſten und tugend-
hafften Printzen Criſpus hinrichten laͤſſet; ſo forſcht
jeder nach, wie eine ſolche That eigentlich zugegan-
gen. Die Hinrichtung der Schottlaͤndiſchen Koͤ-
nigin Maria wird noch immer von den Geſchichts-
ſchreibern mit bewundernden Augen angeſehen, und
einer will es immer mehr als der andere, ſich und
ſeinen Leſern begreifflich machen; weil dieſe Haͤr-
Rtigkeit
[258]Achtes Capitel,
tigkeit mit der vorhergehenden Geſchichte der Koͤni-
gin Eliſabeth nicht uͤbereinkommt. Ja man iſt in
ſolchen Faͤllen, wie die vorigen Thaten, mit de-
nen, deren Urſachen man unterſucht, gar nicht
uͤbereinkommen, offt zweifelhafft, ob nicht zu ei-
nem, auch ſehr harten Verfahren, dennoch drin-
gende Urſachen vorhanden geweſen ſind?


§. 41.
Von den Urſachen bey Handlungen, die mit Ambt
und Stande keine allgemeine Verbindung
haben.


Wenn iemand etwas unternimmt, welches aus
dem allgemeinen Begriffe ſeines Ambtes,
Standes,
und kundbaren Umſtaͤnde nicht kan
verſtanden werden, wo auch das etwa damit ver-
knuͤpfte Vergnuͤgen (wegen der auf der andern
Seite damit verknuͤpften Beſchwehrlichkeiten) die
Urſache allein nicht ſeyn kan: ſo muͤſſen beſondere
Umſtaͤnde, die nicht jedem in die Augen fallen, da-
von die Urſache ſeyn: und die Handlung muß ent-
weder der Anfang, Mittel oder Ende eines An-
ſchlags ſeyn. (§. 21.) Man nimmt z. E. will-
kuͤhrlich eine Reiſe fuͤr, ohne durch ſein Ambt oder
Stand darzu gedrungen zu ſeyn, ſondern nur um
die Welt zu ſehen, dieſen oder jenen zu ſprechen,
und den guten Wuͤrckungen einer haͤuffigen und
ſtarcken Motion theilhafftig zu werden. Wie be-
ſchaͤfftigen ſich nicht offt Leute damit, die Urſachen
davon zu ergruͤnden, die doch die gantze Sache we-
nig angehet, und denen es gleichguͤltig ſeyn kan,
aus was vor Urſache ſolches auch geſchehen mag.
Groſſer
[259]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
Groſſer Herrren auch an ſich nicht wichtigen Unter-
nehmungen, wird dennoch ſehr nachgedacht, was
ſie vor Urſachen haben moͤgen, weil man bey ihnen
zuforderſt ſupponirt, daß ſie hauptſaͤchlich ſelbſt das-
jenige, was Privat-Perſonen etwa zum bloſſen Ver-
gnuͤgen thaͤten, dennoch mehr aus Abſichten, als
zum eigentlichen Vergnuͤgen thun. Hier wuͤrde
nun zufoͤrderſt zu unterſuchen ſeyn: was die Hand-
lung, deren Urſache wir unterſuchen, ihrer Na-
tur nach vor Folgen nach ſich ziehen koͤnne? denn
die Abſicht iſt nichts anders, als eine Folge,
oder eine Menge von Folgen, welche man voraus
ſiehet, und darnebſt auch zu erhalten begehrt. Es
ſind aber die Folgen einer Handlung oder Bege-
benheit von verſchiedener Art. 1. Manchmahl iſt
die naͤchſte Folge mit der vorigen ſo genau ver-
knuͤpft, daß ſie natuͤrlicher Weiſe nicht anders, als
daraus erfolgen kan. Denn wenn z. E. ein Trupp
mit Pferden und Wagen ſich in eine Defilee einge-
laſſen, ſo muß ihre Jntention ſeyn, an den Ort
hinzukommen, wo die Defilee ſich endiget: denn
das Lencken und Umkehren iſt daſelbſt nicht practi-
cable. 2. Zum Theil haben die Handlungen meh-
rere moͤgliche Folgen, die ſich aber dennoch noch in
eine Zahl faſſen und uͤberſehen laſſen. Als wenn
ſich ein Weg in 2. oder 3. andere zertheilet, ſo kan
ich zwar noch nicht wiſſen, wo die Menſchen, wel-
che auf der Hauptſtraſſe gehen, fahren oder reuten,
ſich hinſchlagen werden; aber die Anzahl der
Faͤlle iſt doch noch zu uͤberſehen. Wer ſo groſſe
Reiſen, wie nach Oſtindien unternimmt, thut
ſolches wohl aus Abſichten, entweder zu handeln,
R 2oder
[260]Achtes Capitel,
oder an der Kentniß des Erdbodens zuzunehmen,
oder aus einer Art der Deſperation, weil er ſonſten
nicht fortkommen kan. Manchmahl aber 3. koͤn-
nen ſelbſt der naͤchſten Folgen ſo viel ſeyn, daß ſie in
keine Zahl zu bringen ſind; oder wenigſtens nicht
zu uͤberſehen ſind. Jch ſehe, z. E. daß iemand in
eine oͤffentliche Bibliotheck gehet: ich vermuthe,
daß er ein Buch oder etliche nachſchlagen wolle: ich
frage ihn ſelbſt, ob er was ſuchen wolle? ich ver-
nehme ſein Ja! Nunmehro aber waͤre die Frage:
Welches Buch er wohl zu ſehen verlangt? Wer ſiehet
nicht, daß da ſo viel Faͤlle moͤglich ſind, als Buͤcher in
der Bibliotheck vorhanden ſind. Wiederum, geſetzt,
er erhaͤlt das verlangte Buch, er ſchlaͤgt es auf, er
ſucht: man wollte bey ſich ſelbſt fragen: was ſucht
er? wie viel tauſend Faͤlle ſind moͤglich von Sa-
chen, die er ſuchen kan? Vielleicht etwas, wovon
er gar noch nicht weiß, ob es drinne ſtehet? wenn
es drinne ſtehet, und er weiß es: ſo kan es ein gantz
Capitel, ein Spruch, ein Wort, eine Con-
ſtruction,
ein Exempel ſeyn, davon er einige
Notitz hat, daß es darinne ſtehet, und es alſo finden
will. Bey den letztern Faͤllen und deren Unterſu-
chung iſt faſt kein ander Mittel, als daß man die
Perſon ſelbſt um die Urſache oder Abſicht frage; wie
es ietzo unter den Europaͤiſchen Potentaten uͤblich
iſt, daß ſie bey allen Unternehmungen, deren Ur-
ſache und Abſicht ſich nicht a priori einſehen laͤſſet,
einander um die Abſicht befragen laſſen: darauf
denn freylich nicht allemahl eine categoriſche Ant-
wort zu erwarten iſt. Wenn durch dieſen Canal
des Befragens aber, hinter die eigentliche Be-
ſchaffen-
[261]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
ſchaffenheit und Abſicht nicht zu kommen iſt; ſo wer-
den wir mit unſerm bloſſen Nachdencken, meiſtens
nicht weiter, als ins wahrſcheinliche kommen.
Eigentlich aber gehoͤrt dieſe Materie zu der Ein-
ſicht ins Zukuͤnfftige.


§. 42.
Vergleichung des hiſtoriſchen Zuſammenhangs
mit der Verbindung allgemeiner Wahr-
heiten.


Wenn man nun den Zuſammenhang der Ge-
ſchichte und der Erzehlungen uͤberhaupt betrachtet,
und nach den Regeln der Vernunfftlehre beleuchtet;
ſo haben wir noch mehrere Anmerckungen zu ma-
chen. Erſtlich iſt man in der Vernunfftlehre ge-
wohnt, die Verbindung der Saͤtze und Wahrhei-
ten lediglich in Schluͤſſen zu ſetzen; und dieſes ge-
ſchiehet, weil man da faſt bloß auf die allgemei-
nen
Wahrheiten ſiehet, mit Recht: auſſer daß
doch auch in denen Theorematibus eine andere Ver-
bindung vorgehet, daß man nehmlich aus zwey und
mehr Saͤtzen einen einigen macht, wie wir in der
Logica Practica §. 32. p. 25. gewieſen haben. Dar-
aus kan nun gar leicht der Gedancken entſtehen, daß
es auch von hiſtoriſchen Wahrheiten gelten muͤſ-
ſe, daß ihre Verbindung in Schluͤſſen und De-
monſtriren
zu ſetzen ſey; zumahl wenn man die
Urſachen der Begebenheiten einſehen wolle. Denn
ſo iſt bey phyſicaliſchen Dingen die Erklaͤrung
der Urſache nichts anders, als eine Demonſtra-
tion: welches daher koͤmmt, weil man in der Phy-
ſick nicht nach eintzeln Begebenheiten fraget, ſon-
R 3dern
[262]Achtes Capitel,
dern zufoͤrderſt aus denſelben eine Regel und allge-
meinen Satz macht, und dieſem hernach eine Ur-
ſache,
welches vielmehr Demonſtration heiſſen
ſollte, beylegt. ſ. Vernuͤnfftige Gedancken
vom Wahrſcheinlichen.
V.Betracht.
Wenn man nun bey Geſchichten auch von Urſachen
hoͤret, ſo kan uns leicht dabey einfallen, daß die
Begebenheiten der Welt aus den vorhergehenden
auf eben die Weiſe folgeten, als wie Schlußſaͤtze
aus den Foͤrderſaͤtzen fluͤſſen, und alſo alles mit
Schluͤſſen und Syllogiſmis auszurichten ſey. Hier
aber aͤuſſert ſich nun der groͤſte Unterſcheid. Bey
allgemeinen Wahrheiten ſolget eine aus der andern,
oder eine iſt ſchon in der andern enthalten: Bey
hiſtoriſchen Wahrheiten aber iſt keinesweges zu be-
haupten, daß das nachfolgende in dem vorher-
gehenden
enthalten ſey. Ohne uns hierbey in die
metaphyſiſche Unterſuchung einzulaſſen, wie in ein-
tzeln Subſtantzien die Veraͤnderungen aus ein-
ander entſtehen, und die daruͤber entſtandene Un-
einigkeiten unter den Gelehrten zu vermeiden, ſo
duͤrffen wir nur das vorhergehende und nach-
folgende,
wie es hier genommen werden muß,
genauer beſtimmen. Wir handeln nehmlich von
der hiſtoriſchen Erkentniß: was uns alſo von denen
Dingen, die ſind und geſchehen, nicht bekannt iſt,
das gehoͤret zwar zur Geſchichte, aber nicht zur
Geſchichtskunde, noch zur hiſtoriſchen Erkent-
niß. Das vorhergehende heiſſet alſo dasjeni-
ge, was wir von dem vergangenen wiſſen: und
das nachfolgende, was wir von dem nachfolgen-
den wiſſen, oder wiſſen koͤnnen. Es iſt alſo hier
nicht
[263]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
nicht die Frage: wie das nachfolgende an ſich
aus dem vorhergehenden folget, welches eine meta-
phyſiſche Unterſuchung iſt; ſondern wie das nach-
folgende,
das wir wiſſen, aus dem vorherge-
henden
folge, das wir auch wiſſen?


§. 43.
Ein anders iſt die Verbindung der Geſchichte, und
die Verbindung unſerer Erzehlungen.


Wir haben deswegen gleich anfangs die Ge-
ſchichte
von der Erkentniß derſelben ſorgfaͤltig
unterſchieden: (§. 14. C. 1.) und daraus entſte-
het der allergroͤſte Unterſcheid der allgemeinen
Erkentniß und der hiſtoriſchen Erkentniß. Jene
iſt lauter menſchliche Erkentniß, und ein Werck
des menſchlichen Verſtandes: die Geſchichte aber
iſt nicht menſchliche Erkentniß, ſondern ſie iſt vor-
handen, wenn auch niemand vorhanden waͤre, der
ſie erkennete. Jn Wuͤſteneyen, wo kein Menſch
zugegen iſt, tragen ſich eben ſo wohl Waſſerflu-
then, Regenbogen, Gewitter, Bergfaͤlle, Erd-
beben zu, als wo Menſchen wohnen. Die Ge-
ſchichte muß alſo erſt zur menſchlichen Erkentniß
werden: aber ſie wird, wegen unſerer ſo ſehr einge-
ſchraͤnckten Erkentniß, niemahls zu einer ſolchen Er-
kentniß, darinnen alles ausgedruͤckt, und wie
abgedruckt waͤre, was in der Geſchichte an und
vor ſich ſelbſt enthalten iſt. Jn der Geſchichte iſt da-
her auch, eigentlich zu reden, nichts verborgenes,
ſondern in Anſehung unſerer Erkentniß, iſt vieles,
ja das allermeiſte verborgen. Welchen Begriff
wir etwas mehr auswickeln muͤſſen.


R 4§. 44.
[264]Achtes Capitel,

§. 44.
Wir erkennen die phyſicaliſchen Begebenheiten
nur Stuͤckweiſe.


So ſind in phyſicaliſchen Dingen 1. verdeck-
te
Umſtaͤnde und Eigenſchafften, die zwar koͤnten
gefuͤhlet werden, oder uͤberhaupt empfunden
werden; da aber zufaͤlliger Weiſe niemand dabey
geweſen iſt, oder auch niemand dabey ſeyn kan.
Was nicht gar zu tieff in der Erden vorgehet, das
lieſſe ſich noch durch die Sinne erkennen; wir erken-
nen es aber doch nicht, weil wir eben nicht nachge-
graben haben; daher wir uns oͤffters wundern, daß
ein Gebaͤude ſincket, davon man die Urſache bey
tieffern Nachgraben finden koͤnnte. Wir wiſſen
den Urſprung mancher Quelle nicht, die man durch
nachgraben ebenfalls ausfuͤndig machen koͤnte.
Was in unſerm eigenen Leibe vorgehet, iſt uns ver-
borgen und verdeckt, weil man den Leib, ohne
toͤdtliche Wunden zu verurſachen, nicht oͤffnen kan.
2. Sind die coͤrperlichen Dinge zum Theil zu weit
von uns enfernet; wie die Himmelscoͤrper. 3.
Sind die meiſten Dinge mit den Sinnen nicht zu er-
forſchen, wegen ihrer Kleinigkeit. Wir koͤn-
nen nicht bemercken, was mit denen kleinen Thei-
len vorgehet in der Jaͤhrung, in der Faͤulniß,
in dem Wachsthum: und wir muͤſſen uns an der
Betrachtung der Dinge, die auf ſolche Weiſe zu
Stande gebracht worden, gnuͤgen laſſen.


§. 45.
[265]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.

§. 45.
Wie viel wir von den Begebenheiten der Seele
nicht wiſſen.


Jn der menſchlichen Seele, wovon der groͤſte
Theil unſerer hiſtoriſchen Erkentniß abhanget, iſt
noch mehr verborgenes. 1. Selbſt klare Gedan-
cken, dauerhaffte Gedancken, die der allzu wohl
weiß, der ſie hat, koͤnnen andere nicht wiſſen,
wenn ſolche nicht in Worte und Wercke ausbrechen.
2. Haben wir ſehr viele Vorſtellungen, die dun-
ckel
und fluͤchtig ſind, daß wir ſie ſelbſt nicht ein-
mahl genau bemercken, ohngeachtet ſie in uns ent-
ſtehen: und dennoch iſt dieſen dunckeln Vorſtellun-
gen, der Urſprung unſerer Gedancken, die wir
wiſſen, meiſtentheils zuzuſchreiben. 3. Aendert
ſich der Zuſtand der Seele ſtuͤndlich: daß man
nehmlich mehr aufgeraͤumt, oder verdruͤßlicher
wird, daß man zu einer Sache bald Luſt hat, bald
nicht Luſt hat, welches macht, daß man die Sa-
chen gantz mit andern Augen anſiehet. (§. 22. C. 5.)
Und dieſe Abwechſelungen unſerer Gemuͤthsverfaſ-
ſung bemercken wir das hunderſte mahl kaum ſel-
ber: und wiſſen offt ſelbſt nicht, wie uns zu mu-
the
iſt? geſchweige daß es andere ſollten wiſſen koͤn-
nen? 4. Wer will alſo auch die Grade beſtim-
men, wenn auch allenfalls offenbar wird, daß wir
froͤlich, daß wir traurig, daß wir zornig ſind, da
doch auf den Grad der Qualitaͤten alles ankoͤmmt,
wenn daraus die Effectus ſollen erklaͤrt werden. Ja
was wir einerley Grad der Freude, oder des
Unmuths, nennen, wird doch noch ein groſſer
Unterſcheid ſeyn, ob eben derſelbe Grad ietzo in der
R 5Folge
[266]Achtes Capitel,
Folge des zunehmenden, oder abnehmenden Ver-
gnuͤgens, oder Mißvergnuͤgens enthalten iſt. 5.
Am allerwenigſten aber koͤnnen wir ſelbſt, oder an-
dere wiſſen, was wir vor Verwirrungen der
Begriffe, vor Vorurtheile, vor Diſpoſitiones
zu ſolchen Sachen haben, mit denen wir noch nicht
umgegangen ſind. Daher die Handlungen eines
Menſchen, mithin ſeine Begebenheiten und Ge-
ſchichte, und das, was wir von ſeinen Handlun-
gen
und Begebenheiten wiſſen, himmelweit
unterſchieden iſt. 6. Was nun Menſchen mit
einander reden, und geredet haben, gehoͤret zwar
in Anſehung derer, die zugehoͤret haben, unter die
offenbaren Begebenheiten: allein wie man oͤff-
ters
mit eintzeln Perſonen im Vertrauen redet: al-
ſo ſind ſolche Unterredungen doch noch immer vor
andere, wenn ſie nicht ausgeſchwatzet werden, ein
unerforſchlich Geheimniß, wovon ſich auch nicht
einmahl eine Spur wahrnehmen laͤſſet.


§. 46.
Bey Geſchichten wird viel verſchwiegen.


Und was von dieſen verborgenen Umſtaͤnden
noch koͤnte bekannt gemacht werden, das muß doch
aus moraliſchen und politiſchen Urſachen groͤſten-
theils wieder verſchwiegen werden, ſo daß ſich zwar
die Geſchichte, ſo weit ſie aͤuſſerliche Veraͤnderun-
gen betreffen, ausbreiten, aber auch bey der ge-
treulichſten Erzehlung vieles von dem vorhergehen-
den zuruͤck gehalten wird, das die oͤffentliche Be-
gebenheit begreifflicher wuͤrde gemacht haben. Wer
ſein eigen Leben beſchreibt, koͤnte noch am erſten
von
[267]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
von ſeinen Entſchlieſſungen oder Begebenheiten die
Welt belehren: aber wer | entdecket ſeine Fehler,
Schwachheiten und Fehltritte gerne? es wuͤrde ſol-
ches oͤffters dem Geſchichtſchreiber nachtheilig, und
ſelten dem Publico erſprießlich ſeyn. Man erzeh-
let gemeiniglich nichts, als was ſo ſchon vielen be-
kannt geweſen. Zwey neuere Schrifftſteller haben
die gemeinen Schrancken der Particularitaͤten uͤber-
ſchritten: der eine iſt der Freyherr von Hollberg,
der andere aber der Leipziger Catechet Bernd. Jh-
re Lebensſchreibungen ſind gantz von einem neuen
und beſondern Gehalt. Da aber bey einer Erzeh-
lung immer viele Perſonen concurriren, die nicht
mit gleicher Offenhertzigkeit zu Wercke gegangen, ſo
bleibt noch immer dabey viel verborgenes uͤbrig.


§. 47.
Jede Erzehlung iſt nur ein Stuͤckwerck.


Jn der Geſchichte ſelbſt iſt an ſich nichts verbor-
genes: aber in Anſehung unſerer Erkentniß iſt viel
verhorgenes. Die Erzehlung aber beſtehet alle-
mahl nur aus bekannten Umſtaͤnden; und iſt daher
nur ein Theil der Geſchichte. Da wir aber durch
Geſchichte, die in Betrachtung gezogen werden,
nur ſolche verſtehen, wobey wir nicht zugegen ge-
weſen ſind, ſondern die wir nur aus Nachrichten
erlernen; ſo iſt, um die Weitlaͤufftigkeit des ver-
borgenen
bey einer Erzehlung, zu uͤberſehen, noch
hinzuzufuͤgen, was von der Verwandelung der
Geſchichte im erzehlen, beſonders von der Aus-
laſſung
gewiſſer Umſtaͤnde im 6. Capitel gelehret
worden. Denn daraus werden wir abnehmen, daß
die
[268]Achtes Capitel,
die Geſchichte, wie wir ſie aus einer Erzehlung er-
kennen, eine ſchon zweymahl verkuͤrtzte Geſchich-
te ſey; ſo daß man ſie nicht unrecht ein Stuͤckwerck
nennen kan. Vollends wenn die Nachricht nur
ſchrifftlich abgefaſſet iſt, ſo gehet meiſtens eine
neue Verkuͤrtzung vor, weil ſo wohl das viele
Schreiben, als viele Leſen beſchwehrlich iſt, da
man in muͤndlichen Berichten in kurtzer Zeit un-
gleich mehrers vortragen, und auf der andern
Seite mit viel weniger Unluſt anhoͤren kan. Da-
her kommt es denn, daß heut zu Tage die Geſand-
ten,
wenn ſie gleich noch ſo offte und ſo umſtaͤndlich
Bericht an ihre Hoͤfe erſtatten, dennoch gar iezu-
weilen eine Reiſe nach Hauſe thun, um ſo wohl
noch umſtaͤndlichern Bericht, als in Depechen ge-
ſchehen kan, abzuſtatten, als auch ihres Orts von
den Anſchlaͤgen ihres Herrn beſſer und ausfuͤhrli-
cher belehrt zu werden, als bloß durch ſchrifftliche
Inſtructiones geſchehen kan.


§. 48.
Begebenheiten laſſen ſich nicht durch Schluͤſſe
verbinden.


Jn der Erzehlung alſo einen Zuſammenhang
der Theile heraus zu bringen, der in Schluͤſſen ab-
gefaſſet waͤre, wenn auch gleich die Sache an ſich
der Natur des Zuſammenhanges der Dinge
nicht widerſprechen ſollte, iſt wegen der fehlenden,
ſo wohl verborgenen, als verſchwiegenen Umſtaͤn-
de
nicht moͤglich: ſo wenig als man eine Demon-
ſtration machen kan, wenn uns nur einige Princi-
pia,
geſchweige denn die meiſten fehlen. Es iſt
eben
[269]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
eben der Fall, als wenn man aus hier und da ab-
gebrochenen Stuͤcken
das gantze herſtellen
wollte. Wir nehmen hier den kuͤrtzeſten und naͤch-
ſten Beweiß, daß die Stuͤcke unſerer hiſtoriſchen
Erkentniß nicht durch Schluͤſſe verknuͤpft werden
koͤnnen; wenn die Begebenheiten gleich ſelbſt nach
ſyllogiſtiſcher Art zuſammen hiengen. Sonſten lieſſe
ſich die Sache auch tieffer herhohlen, nehmlich zu-
foͤrderſt aus der Zufaͤlligkeit der Dinge; inglei-
chen daß die Menſchen nicht allein wuͤrcken, ſon-
dern auch leyden: welches letztere nicht aus der
Sache, die leydet, ſondern aus andern wuͤrckenden
Urſachen muß hergeleitet werden. Man koͤnte auch
zeigen, daß der Einfluß derer Individuorum in der
Welt in einander, und ihr Zuſammenhang von den
individuellen Umſtaͤnden eines jeden abhange; wel-
che Sachen ſich durchaus nicht in allgemeine Wahr-
heiten, und folglich auch nicht in Schluͤſſe verwan-
deln laſſen. Aber wir vermeiden dergleichen meta-
phyſiſche Betrachtungen mit Fleiß, um erſt dasje-
nige, was nach den bekanteſten Begriffen der Men-
ſchen unwiderſprechlich iſt, in ſeiner natuͤrlichen
Ordnung und Gewißheit unſern Leſern vorzu-
ſtellen.


§. 49.
Welches weiter bewieſen wird.


Wenn wir alſo die Urſachen einer Begebenheit
uns duͤncken einzuſehen; und alſo einen Schluß ge-
macht haben, deſſen Schlußſatz die Begebenheit
iſt, deren Urſache wir unterſuchen, (§. 1.) ſo
wird doch der Schluß niemahls ſeine voͤllige Geſtalt
haben.
[270]Achtes Capitel,
haben. Die begreifflichſten Arten von Begeben-
heiten, wobey niemand zweiffelt, daß er die Urſa-
che erkenne, ſind, wo man eine Sache aus Luſt,
oder vermoͤge ſeines Ambtes und Standes thut,
oder wie man zu ſagen pfleget, thun muß: wo
man nach den Geſetzen handelt, hat es eben dieſe
Bewandniß. Allein dieſe ſo klare Erkentniß wird
doch nie in einen foͤrmlichen Schluß zu bringen ſeyn.
Denn wenn wir etwa ſchluͤſſen wollen: Hirten war-
ten ihrer Heerde: Cajus iſt ein Hirte: Alſo wartet
und weydet er ſeine Heerde: ſo wuͤrde, wenn der
Oberſatz allgemein waͤre, kein nachlaͤßiger Hirte,
kein Miedling gefunden werden: indem ſich von
jedem eben ſo, wie vom Cajus ſubſumiren laͤſſet.
Will man aber den Oberſatz ſo machen: Hirten ſol-
len ihrer Heerde warten: ſo wird in dem Schlußſa-
tze nichts mehr folgen: als daß Cajus ſeiner Heerde
warten ſollte: nicht aber, daß er derſelben wuͤrck-
lich
wartet. Es kommt nehmlich bey den Ge-
ſchaͤfften der Menſchen hauptſaͤchlich auf ihren Wil-
len
und Freyheit an. Doch wiſſen wir auch, daß
derſelbe von dem Verſtande regieret wird. Daher,
wenn wir nur einiger maſſen einſehen, daß die Men-
ſchen theils der Natur der aͤuſſerlichen Dinge, wo-
mit ſie umgehen, theils ihren erlangten guten, oder
auch boͤſen Faͤhigkeiten gemaͤß gehandelt haben, ſo
duͤncken wir uns die Urſachen der Begebenheiten
vollkommen zu verſtehen: denn obgleich die Hand-
lung daraus noch nicht folget, ſo wird doch das
uͤbrige auf die Freyheit des menſchlichen Willens
gerechnet.


§. 50.
[271]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.

§. 50.
Geſchichte erklaͤren.


Darinnen beſtehet nun das Erklaͤren der
Geſchichte, welches von dem Erlaͤutern derſel-
ben, wodurch man ungegruͤndeten und nachtheili-
gen Urtheilen vorbauet (§. 28. C. 6.), nicht zu
vermengen iſt: Daß man jedes von den vorher-
gegangenen Begebenheiten, ſo weit in ſeiner Er-
zehlung aus und anfuͤhret, daß das nachfolgende
entweder mit der geſunden Vernunfft, oder nach
den bemerckten Fehlern, Untugenden und Laſtern
der Menſchen, mit zu Huͤlffenehmung der menſch-
lichen Freyheit, zu einer natuͤrlichen, und be-
greifflichen
Entſchluͤſſung wird; ſo daß weder
die Sache als ohne allen Grund geſchehen, vor-
getragen wird; welchen Fall der menſchliche Ver-
ſtand abhorrirt, und nicht glauben kan, noch auch
etwas widerſprechendes darinnen hervorleuchtet.
Denn ſo, wenn man von zwey guten Freunden
erzehlt hat, nachher aber lauter Feindſeligkeiten
anfuͤhrete, die ſie einander angethan; ſo iſt die
Geſchichte, der Erzehlung nach, widerſprechend:
Sie wird aber begreifflich, wenn man die Bege-
benheit an rechten Orte anfuͤhret, wie ſie mit ein-
ander zerfaller, und Feinde geworden ſind. Der-
gleichen Erklaͤrung giebt Cicero, warum Pom-
pejus in ſo kurtzer Zeit den Krieg wider die
Seeraͤuber ſo bald zu Ende gebracht, und ſonſt
in kurtzer Zeit ſo groſſe Thaten gethan habe:
Orat. pro L. Manilia c. XIV. Vnde illam tan-
tam celeritatem, et tam incredibilem curſum in-

uentum
[272]Achtes Capitel,
uentum putatis? Non enim illum eximia vis
remigum, aut ars inaudita quædam gubernan-
di, aut venti aliquot noui, tam celeriter in ulti-
mas terras pertulerunt. Sed hæ res, quæ cæte-
ros remorari ſolent, non retardarunt: Non aua-
ritia ab inſtituto curſu ad prædam aliquam de-
uorauit, non libido ad voluptatem, non amoe-
nitas ad delectationem, non nobilitas urbis ad
cognitionem, non denique labor ipſe ad quie-
tem. Poſtremo ſigna \& tabulas, ceteraque or-
namenta græcorum oppidorum, quæ ceteri tol-
lenda eſſe arbitrantur, ea ſibi ille ne viſenda qui-
dem exiſtimauit.
Man ſiehet, daß ſich Cicero,
nach unſerer Regel, wie es mit ausnehmen-
den Anſchlaͤgen und Ausfuͤhrungen zugehet (n. 2.
§. 11.), ſich auf die beſondere und auſſerordentli-
che Gedenckart des Pompejus beziehet; die er
auch dergeſtalt ins Lichte ſtellet, daß die meiſten
Leſer ſich werden duͤncken laſſen, ſie ſaͤhen vollkom-
men ein, warum es mit Ausrottung der Seeraͤu-
ber ſo ſchleunig zugegangen. Aber daß hier noch
entweder beſondere Umſtaͤnde in den Sachen ge-
weſen, oder noch beſondere Gedancken und Triebe
in der Seele des Pompejus geweſen, die die Sa-
che befoͤrdert haben, laͤſſet ſich unwiderſprechlich
daraus wahrnehmen, daß Pompejus, da er in
ſeiner eigenen Sache, wider den Caͤſar Krieg fuͤhr-
te, dennoch durchgaͤngig des Zauderns und Lang-
ſamkeit beſchuldigt wurde, ob es ihm gleich an kei-
ner von den Urſachen der Geſchwindigkeit, die Cicero
hier anfuͤhret, dazumahl gefehlet haben kan. Das,
was man Muth nennet, denn man ſich nicht
geben
[273]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
geben kan, und den der Hoͤchſte oͤffters den groͤſten
Helden, nach ſeinem Wohlgefallen entziehet, war
dazumahl, als Pompejus mit den Seeraͤubern ſtrit-
te, bey ihm in der groͤſten Uebermaß, und war ihm
hingegen entfallen, ſobald, als er wegen Caͤſars
Anruͤckung, Rom zu verlaſſen genoͤthigt wurde.


§. 51.
Zuſammenfuͤgung derer Begebenheiten.


Nehmen wir alſo zwey Begebenheiten zuſam-
men, die nicht allein auf einander gefolgt, ſondern
ſogar aus einander gefloſſen ſind, ſo wird ſich den-
noch niemahls die eine voͤllig zu der andern, wie
der Forderſatz zum Schlußſatze verhalten; weilen
nehmlich die nachfolgende allemahl nur zum Theil
ihren Grund in der vorhergehenden hat. So iſt
zwar nichts natuͤrlicher, als daß ein Moͤrder zu ge-
faͤnglicher Hafft gebracht wird: Dieſes kan nicht
allein geſchehen, ſondern es ſoll auch geſchehen.
Unterdeſſen, wenn wir weiter nichts wiſſen, als daß
iemand einen Mord begangen, ſo koͤnnen wir
durch keinen menſchlichen Witz ausmachen, oder
ſchluͤſſen, daß er muͤſſe arretirt ſeyn, denn er kan
entflohen ſeyn, und dieſes kan ſich ſowohl durch
Nachſicht, oder Nachlaͤßigkeit des Richters, und
der Perſonen, die dazu noͤthig ſind, als auch ohne
ihre Schuld geſchehen. Wird er alſo wuͤrcklich
gefangen geſetzet, ſo iſt nebſt der That, die Sorg-
falt des Richters die Urſach darvon, zu welcher
noch die Gefliſſenheit der Diener hinzukommen
muß. Das Fluͤſſen einer Begebenheit aus
der andern, und das Fluͤſſen der allgemeinen
SWahr-
[274]Achtes Capitel,
Wahrheiten aus einander, ſind deswegen Him-
melweit von einander unterſchieden, und es iſt ſehr
noͤthig, daß man dieſe beyden Arten des Zuſam-
menhanges wohl unterſcheiden lernet, weil aus der
Verwirrung ſchon boͤſe Folgerungen ſind gezogen
worden, wie in der Diſſ. de cardine Legis \& Pro-
phetarum
iſt gewieſen worden. Wir ſollten da-
her faſt unumgaͤnglich ein beſonder Wort haben,
den Zuſammenhang der Begebenheiten anzu-
zeigen, um ihn nicht mit der Verbindung der
Saͤtze in denen Schluͤſſen, zu vermengen. Der
teutſche Ausdruck: Es fuͤgte ſich: Giebt uns
Anleitung, das Wort Fuͤgung, als das allerbe-
quemſte hierzu, zu erwehlen. Nehmlich bey zwey
Sachen, die ſich zuſammen fuͤgen, wie zwey Kerb-
hoͤltzer, oder die Glieder an einem Gelencke, ſind
dieſelben zwar wuͤrcklich auſſer einander, und von
einander unterſchieden, unterdeſſen wird doch je-
der urtheilen, wie dieſe Sachen eine Verbindung
mit einander haben. Zwey Begebenheiten fuͤgen
ſich alſo zuſammen (congruunt). Was nun
boͤſe Thaten ſind, die ſchicken ſich freylich ſchlecht,
nehmlich zum Geſetzen, zum Willen des Obern:
Unterdeſſen wie ſich auch ein Geſchwuͤhr, an ſtatt
des geſunden Fleiſches anfuͤgt, alſo kan auch an
das gute ſich was Boͤſes anfuͤgen; und auf eben
dieſe Art iſt nichts haͤuffiger in der Welt anzutref-
fen, als daß bey unſern Anſchlaͤgen und Ausfuͤh-
rung derſelben, ſich Ungluͤcks-Faͤlle, Hinderniſſe,
und Widerſtand aͤuſſert, der zwar nicht zur Aus-
fuͤhrung unſers Vorhabens, aber wohl zu Hinter-
treibung deſſelben vollkommen paſſet.


§. 52.
[275]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.

§. 52.
Was der Grund einer Geſchichte heiſſet?


Eine Geſchichte iſt daher eine Reyhe Be-
gebenheiten, die an einander paſſen, und an ein-
ander gefuͤgt ſind. Nun trifft man zwar in de-
nen allgemeinen Wahrheiten einen innerlichen Un-
terſcheid an, daß einige Grundſaͤtze ſind, andere
aber Folgen,Corollaria und Theoremata: Und
zwar verhalten ſich dieſe ſo gegen einander, daß
wenn man nur die erſtern weiß, ſo kan man die
andern, aus ſeinem eigenen Nachdencken, erfinden.
Dergleichen Eintheilung aber iſt bey denen Be-
gebenheiten nicht zu gedencken: Sondern da iſt
eines wie das andere zufaͤllig: Jede folgende Be-
gebenheit muß ſowohl als die vorhergegangenen,
durch ein Anſchauungsurtheil erkannt werden
(§. 3. Cap. 1.): Daher iſt die hiſtoriſche Erkent-
niß eine Reyhe von lauter Anſchauungsurthei-
len
: Welche ſich durch Nachrichten, Erzehlungen,
Urkunden, Ausſagen, und Nachſagen aus einer
Seele in die andere ausbreiten. Will man aber
dennoch in denen hiſtoriſchen Saͤtzen, die eine Er-
zehlung ausmachen, einen Unterſcheid ſuchen, und
etwas denen Principiis einer Demonſtration aͤhn-
liches ſetzen, ſo muß es auf eine andere und fol-
gende Art geſchehen. Wir haben geſehen, wie es
mit dem Urſprunge einer Geſchichte beſchaffen iſt.
Es wird nehmlich eine Gelegenheit voraus ge-
ſetzt, daraus ein Anſchlag, oder That erfolgt, die
denn viele Folgen nach ſich ziehet (§. 12.). Die
Gelegenheit iſt noch als etwas anzuſehen, daß
S 2auſſer
[276]Achtes Capitel,
auſſer der Geſchichte iſt, und von derſelben unter-
ſchieden iſt, ob ſie gleich zur Erkentniß der Bege-
benheit um deren Urſache einigermaſſen zu verſte-
hen noͤthig iſt. Die erſte Begebenheit aber der
Zeit nach, welche zu der vorhabenden Geſchichte
gehoͤret, iſt, als der Anfang derſelben vor allen
nachfolgenden merckwuͤrdig: Und man kan ſie den
Grund der Geſchichte nennen. Lateiniſch aber
waͤre das Wort cardo beſſer zu gebrauchen, als
das Wort principium, welches man bey allge-
meinen
Wahrheiten zu brauchen, allzuſehr ge-
wohnt iſt, die uns alſo bey dieſem Worte immer
einfallen, und dennoch mit dem Anfange einer
Geſchichte keine Gemeinſchafft haben. Was ſich
nach der erſten Begebenheit zutraͤgt, oder fuͤgt,
heiſſen Folgen, die man eher von den ſyllogiſti-
ſchen Folgen zu unterſcheiden ſchon gewohnt iſt;
daher wir dieſes Wort, ohne Verwirrung beſorgen
zu duͤrffen, gar wohl beybehalten koͤnnen.


§. 53.
Wie man auf die Erfindung der Fabeln
gekommen.


Wir haben ſchon bemerckt (§. 16. ſeq. C. 4)
daß wir oͤffters bey Geſchichten nicht ſowohl auf
die Perſonen achtung geben, die die Geſchichte be-
trifft, als bloß auf die Art, wie die Begebenhei-
ten in der Geſchichte auf einander erfolgen: Wie
denn alle verwirrte Haͤndel meiſtens auf dieſer
Seite angeſehen werden (§. 30.). Je weniger
man die Folgen aus dem vorhergegangenen ſchlieſ-
ſen oder vermuthen kan, deſto merckwuͤrdiger
kom-
[277]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
kommen uns ſolche Geſchichte vor; und unſere
Vorfahren haben ſie Maͤhren genennet, welches
Wort aber nach und nach zu einem gleichlauten-
den Worte von der Fabel, ja endlich zu einem
gleichlautenden Worte von einer abgeſchmack-
ten
Fabel geworden iſt. Bey ſolchen Erzehlun-
gen pflegt man nicht ſonderlich auf Zeit und Ort
achtung zu geben, weil dieſe in dem angefuͤhrten
Falle, zur Geſchichte nicht viel beytragen. Die
Geſchichte, deren Verbindung wunderbar iſt, bleibt
es allemahl, ſie mag ſich zugetragen haben, wenn
ſie will. Daran aber iſt wohl nicht zu zweiffeln,
daß von ſolchen auſſerordentlichen Geſchichten, die
kuͤnſtlichen Fabeln ihren Urſprung haben.
Denn es ſind freylich noch mehr Zuſammenfuͤ-
gungen der Begebenheiten moͤglich, als wuͤrcklich
exiſtiren: Man hat alſo zur Beluſtigung ſolche
Verbindungen der Begebenheiten erdacht, die die
wahren Geſchichte an ihrem gantz unvermutheten
Zuſammenhange, der ſich mauchmahl zutraͤgt,
wohl noch uͤbertreffen.


§. 54.
Vornehmſte Arten der Fabeln.


Man hat ins beſondere, dieſen oder jenen An-
ſchlag, von dem wir aus den alten Geſchichten
Nachricht haben, oder auch deſſen Ausfuͤhrung,
der aber nur mit wenigen aufgezeichnet worden,
genommen, und eine weitlaͤufftige Ausfuͤhrung deſ-
ſelben erſonnen. Da nun die Anſchlaͤge durch
Hinderniſſe und Widerſtand wunderbar veraͤn-
dert und aufgehalten werden (§. 23.); ſo erſin-
S 3nen
[278]Achtes Capitel,
nen ſich die Poeten bey ihren Ausfuͤhrungen auch
ein ſolch Haupthinderniß, welches die Vollbrin-
gung des Anſchlages nicht ſo bald verſtattet: Die-
ſes pflegen ſie den Knoten zu nennen: Und ſie
leiten daraus, als aus einer Quelle immer neue
beſondere Hinderniſſe her. Daraus nun, daß der
Anſchlag entweder erfuͤllet, und mit einem gluͤck-
lichen Erfolg bekroͤnet, oder durch ein ungluͤcklich
Ende der Hauptperſonen vereitelt wird, iſt die
Eintheilung der Comoͤdien und Tragoͤdien
entſtanden: Welche Erfindung der Poeten in die
wahre Erzehlung in ſoferne einen Einfluß hat,
daß ſich ein Geſchichtsſchreiber zu huͤten hat, daß
ſeine Erzehlung nicht etwa das Anſehen einer Co-
moͤdie oder Tragoͤdie bekomme: Weilen ſie ſon-
ſten den Verdacht einer Fabel, bey ſehr vie-
len Leſern nimmermehr vermeyden wird.


§. 55.
Verhaͤltniß der Parallelgeſchichte.


Parallelgeſchichte, ſind nichts anders als
aͤhnliche Geſchichte; und zwar in Anſehung des
Zuſammenhanges der Theile: Alſo ſind die Ex-
empel derer, die von ihrer Hoͤhe und Reichthum
ploͤtzlich herunter geſtuͤrtzt werden, Parallelhiſto-
rien. Valerius Maximus hat lauter ſolche Pa-
rallelgeſchichte, in ſeinem Buche, unter ſo vielen
Titeln, als Capitel ſind, vorgetragen. Es pflegt
nun in ſolchen Parallelgeſchichten wohl immer ei-
niger Unterſcheid zu ſeyn, wenn man gleich ſagt,
man habe den Caſum in Terminis ſchon gehabt:
Und es koͤnten daher dieſelben um ſo viel eher un-
terſchie-
[279]v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
terſchieden werden, da ſie uͤberdiß zu verſchiedener
Zeit, oder am verſchiedenen Ort geſchehen, und
verſchiedene Perſonen betreffen. Aber nach den
Regeln der Einbildungskrafft, wenn man nicht
auf alle Umſtaͤnde genau acht giebt, nehmlich der
Perſonen, der Zeit und des Ortes, koͤnnen ſie
auch deſto leichter mit einander verwechſelt
werden; oder auch gar mit einander vermiſcht
werden.


§. 56.
Hiſtorie der Menſchen die einerley Nahmen
gehabt haben.


Und aus eben dieſer Urſach ſind die Geſchich-
te derjenigen Perſonen, die einerley Nahmen
fuͤhren, einander gefaͤhrlich: Judem nichts leich-
ter iſt, als daß die Begebenheiten des einen, dem
andern beygelegt, und alſo die Perſonen verwech-
ſelt
werden. Ja es gehet auch an, daß man
gar ihren Unterſcheid vergiſſet, und aus zweyen,
dreyen und mehreren eine Perſon macht: Wor-
aus nichts anders als Verwirrung und Jrrthum
in der hiſtoriſchen Erkenntniß entſtehen kan. Die
Bemuͤhung der neuern iſt daher gantz loͤblich, die
Maͤnner einerley Nahmens in beſondere Samm-
lungen
zu bringen, um ſowohl deren Verwir-
rung, wo ſich ſolche ſchon geaͤuſſert, wieder auf-
zuheben; als durch genaue Bemerckung ihrer
noch bekannten Umſtaͤnde, die Verwirrung aufs
kuͤnfftige, voͤllig zu vermeiden. Man leſe, aus
unzehligen Exempeln nur eines anzufuͤhren, wie
S 4der
[280]Neuntes Capitel,
der Abt Banier, aus einem Minos, deren zweye
gefunden, in der Hiſtoire de l’ Acad. Roy. des bel-
les lettres T. II. p. 68.



Neuntes Capitel,
von der
Gewißheit der Geſchichte; oder
der hiſtoriſchen Erkentniß.


§. 1.
Die Gewißheit gehoͤret unter die gemeinen
Begriffe.


Da die innerliche Beſchaffenheit der Gewiß-
heit
noch wenig unterſucht worden, welche
doch in gegenwaͤrtiges Capitel, darinnen von
einer beſondern Art derſelben gehandelt wird, ei-
nen groſſen Einfluß hat, ſo ſehen wir uns genoͤ-
thiget, in die allgemeine Unterſuchung der Ge-
wißheit
etwas einzulaſſen, und den Begriff der-
ſelben genauer zu beſtimmen. Wir bemercken
alſo zufoͤrderſt, daß die Bedeutung des Wortes:
Gewiß, und mithin der Begriff der Gewißheit,
nicht eine Erfindung der Philoſophen; ſondern
vielmehr ein gemeiner Begriff ſey, den wir bey
allen Voͤlckern auf dem Erdboden antreffen wer-
den: Von welchen ſich alſo auch alles dasjenige
urſpruͤnglich her ſchreibt, was nachher die Gelehr-
ten und beſonders die Weltweiſen, zur Erlaͤute-
rung der Gewißheit unſerer Erkentniß beygebracht
haben.
[281]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
haben. Woraus denn folget, daß wir nicht freye
Hand der Gewißheit eine Bedeutung beyzulegen,
welche wir wollen, noch auch den gemeinen Be-
griff, durch Definitionen, die damit nicht genau
uͤbereinkommen, zu zerruͤtten; ſondern daß wir
in der Theorie der Gewißheit uns beſtaͤndig an
den gemeinen Begriff halten muͤſſen. Wir ge-
hen aber im gemeinen Leben mit nachfolgenden
Wahrheiten um: 1. Mit demjenigen, was jeder
vor ſich ſelbſt empfunden, d. i. geſehen, geſchmeckt,
gefuͤhlt ꝛc. hat. 2. Mit demjenigen allgemeinen
Wahrheiten, welche man Erfahrungen nennet:
Als daß das Waſſer bey groſſer Kaͤlte erſtarre,
daß die Metalle bey ſtarcken Feuer ſchmeltzen ꝛc.
3. Mit eintzeln Wahrheiten und ſolchen Erfah-
rungen die man aus anderer Leute ihren Ausſagen
erkannt hat. 4. Man gehet aber ſehr wenig mit
allgemeinen Wahrheiten, in eigentlichem Ver-
ſtande um; auſſer was die Verhaͤltniſſe der
Zahlen und der Maaſſe anlanget. Jn Anſe-
hung der Folgerungen, welche ſich aus andern,
auch ſchon im gemeinen Leben bekannten allgemei-
nen Begriffen herleiten laſſen, kommen wir nicht
weiter als auf die Conſequentias immediatas,
oder hoͤchſtens auf einige Corollaria, die aus ein
paar Conſequentiis immediatis flieſſen: Als
daß: Wo Berge ſind, auch Thaͤler ſeyn muͤſſen:
Daß zu einem Geſpraͤche zwey Perſonen gehoͤ-
ren: Daß man das Geborgte wiedergeben muͤſſe.
Mit tieffſinnigen allgemeinen Wahrheiten, die
man in der Logick Theoremata nennet, pflegen
wir uns im gemeinen Leben nicht einzulaſſen.


S 5§. 2.
[282]Neuntes Capitel,

§. 2.
Gemeine Gedenckart von der Gewißheit.


Wenn man nun darauf mercket, wie? und
wo? man im gemeinen Leben, das Wort: Ge-
wißheit
brauche, ſo werden wir wahrnehmen,
1. daß wir aller Erkentniß, die wir durch die Sin-
ne erhalten haben, oder unſern Empfindungen eine
Gewißheit beylegen: 2. Daß wir auch ſehr vielen
Erfahrungen eine Gewißheit beylegen. Daß es
nicht bey allen geſchiehet, kommt daher, weil ſich
manche Arten der ſogenannten Erfahrungen, aus
wenigen, ja auch nur aus einem einigen Exempel
unwiderſprechlich herleiten laſſen: Dergleichen die-
jenigen ſind, wo man nur die Moͤglichkeit ei-
ner Sache a poſteriori behauptet: Als daß ein
Menſch hundert Jahr alt werden koͤnne: Daß
Eiſen durch gefroren Waſſer kan zerſprenget wer-
den, nach der bekannten metaphyſiſchen Regel:
Ab eſſe ad poſſe valet conſequentia. Wenn man
aber aus eintzeln Faͤllen und Exempeln ſolche all-
gemeine Regeln machen will, die ſich auch auf
neue Faͤlle untruͤglich wieder ſollen appliciren laſ-
ſen, als daß gewiſſe Artzneyen, gewiſſe Kranckhei-
ten allemahl vertreiben ſollen, da weiß jeder, daß
es mit ſolchen Erfahrungen und ihrer Gewißheit
groſſe Schwierigkeit habe. 3. Legen wir auch
ſolchen Dingen eine Gewißheit bey, iedoch nicht
allein, welche wir bloß aus Nachrichten und Aus-
ſagen oder Berichten erkannt haben. Denn ſo
zweifelt man gemeiniglich an dem Abſterben ſei-
ner Eltern, oder Geſchwiſter nicht: Ob man gleich
nicht
[283]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
nicht bey ihrem Ende zugegen geweſen, ſondern
bloß davon durch andere iſt benachrichtiget wor-
den. 4. Fremde Erfahrungen nehmen wir auch
vor gewiß an, wenn uns nur die eintzeln Faͤlle,
worauf der Fremde ſeine Erfahrung gruͤndet, nicht
ungewiß ſind. Wir zweifeln nicht, daß Neu-
hof,
der Abt Choiſy, und andere oſtindiſche See-
fahrer fliegende Fiſche geſehen haben: Und ma-
chen alſo mit ihnen den ungezweifelten locum com-
munem
: Daß es fliegende Fiſche in der Welt
gebe.


§. 3.
Man urtheilt ietzo von der Gewißheit gantz an-
ders als vor Zeiten.


Aus dieſen beyden Anmerckungen nun, daß
man im gemeinen Leben ſich um allgemeine Wahr-
heiten wenig bekuͤmmert (§. 1.), denen Empfin-
dungen aber durchgaͤngig, und denen Ausſagen nebſt
den Erfahrungen groſſen theils Gewißheit bey-
legt (§. 2.), erhellet ſo viel, daß man nach der ge-
meinen Gedenckart die Gewißheit, hauptſaͤchlich
als eine Eigenſchafft der hiſtoriſchen Wahrhei-
ten anſiehet. Und ſo haben ſonſten auch ſelbſt
die Philoſophen gedacht. Die Zweiffler, unter
denen die Platonicker den groͤſten Hauffen ausge-
macht haben, haben ſich lediglich mit den Schwie-
rigkeiten beſchaͤfftiget, womit die Erkentniß der
allgemeinen Wahrheiten umgeben iſt: Selbſt
der Pyrrhoniſmus hat ſich nur auf die phyſicali-
ſche Erkentniß, in wie weit ſie mit den
Sachen auſſer uns, an und vor ſich ſelbſt betrach-
tet
[284]Neuntes Capitel,
tet, uͤbereinkomme, oder nicht? erſtreckt? Die
Hiſtorie hat man in Anſehung der Gewißheit un-
angefochten gelaſſen. Dieſe Gedenckart der Phi-
loſophen aber hat ſich ſeit einiger Zeit gar ſehr ge-
aͤndert: Dergeſtalt daß man ietzo faſt durchgaͤn-
gig, zwar denen Wiſſenſchafften die Gewißheit
einraͤumet, welche denen Alten immer nicht ein-
leuchten wollen; aber der hiſtoriſchen Erkentniß,
wenigſtens in ſoferne ſolche auf Ausſagen und Zeug-
niſſe beruhet, alle Gewißheit abſprechen, und eine
bloſſe Wahrſcheinlichkeit einraͤumen will.


§. 4.
Wie man darauf gekommen, der Hiſtorie die Ge-
wißheit abzuſprechen.


Die Veranlaſſung zu ſo unſtatthaften Leh-
ren iſt folgende. Man hat 1. geſehen, daß allge-
meine Wahrheiten,
(wo von doch die Conſequen-
tiæ immediatæ
auszunehmen ſind) wenn ſie ge-
wiß ſeyn ſollen, demonſtrirt werden muͤſſen.

Weil man nun auf die hiſtoriſche Erkentniß, in
der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die
Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der
Erkentniß uͤberhaupt, haͤuffig vermenget hat:
So iſt 2. unvermerckt der Satz entſtanden:
Wahrheiten, die gewiß ſeyn ſollen, muͤſſen
demonſtrirt werden
: Welches doch nur von
einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt:
nehmlich von Theorematibus. Ja man hat
3. die Demonſtration vor die Gewißheit ſelbſt
genommen: Da ſie doch nur aus der Demonſtra-
tion entſtehet. Daraus hat man 4. die Folge ge-
zogen
[285]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
zogen; wo keine Demonſtration iſt, da iſt
auch keine Gewißheit.
Welcher Satz alſo
nicht den geringſten tuͤchtigen Grund hat, ſondern
durch eine unerlaubte Converſion des erſten Sa-
tzes entſtehet, entſtanden iſt. Nun haͤtte man
5. aus der einmahl unrichtigen Concluſion wei-
ter ſchlieſſen ſollen: Wo keine Demonſtra-
tion
iſt, da iſt alſo nur Ungewißheit und
Zweifel
: Denn zwiſchen Gewißheit und Unge-
wißheit oder Zweifel, giebt es kein Tertium. Die-
ſes aber ſo platt heraus zu ſagen, und alle Erkent-
niß der Geſchichte auf einmahl ungewiß zu ma-
chen, hat man noch zur Zeit Bedencken getragen;
fondern man hat 6. ſich hinter dem Titel der
Wahrſcheinlichkeit, welches doch nichts an-
ders als eine Gattung des Zweifels iſt, verſteckt,
und alſo den gantz unrichtigen Satz angenommen:
Wo keine Demonſtration ſtatt findet, da
iſt nur Wahrſcheinlichkeit.
Woraus denn
von ſelbſt hat folgen muͤſſen: Daß die hiſtoriſche
Erkentniß lauter Wahrſcheinlichkeit ſey: Wobey
ſich aber noch dieſe Unſchicklichkeit aͤuſſert, daß
man entweder auch ſeinen Sinnen, die der erſte
Quell der hiſtoriſchen Erkentniß ſind, wider aller
Menſchen Urtheil die Gewißheit abſprechen, oder
die ſinnliche Erkentniß nicht zur hiſtoriſchen Er-
kentniß rechnen muͤſſe.


§. 5.
Lehrſaͤtze wider die allgemeine Wahrſcheinlich-
keit der Hiſtorie.


Dieſe groſſe Verwirrung und Verdrehung
der Begriffe zu vermeiden, iſt hoͤchſtnoͤthig, daß
folgen-
[286]Neuntes Capitel,
folgende Saͤtze deutlich bemerckt und gelehrt wer-
den. 1. Die Demonſtration iſt nicht die Gewiß-
heit ſelbſt, ſondern ſie fuͤhret uns nur bey allgemei-
nen Wahrheiten, ja nur bey manchen Arten der-
ſelben, nehmlich bey Corollariis und Theorema-
tibus
zur Gewißheit. 2. Mithin kan auch auſ-
ſer den Demonſtrationen Gewißheit ſeyn; als
welche man denen Axiomatibus und denen Em-
pfindungen nimmermehr kan abſprechen laſſen.
Und dennoch ſind auch 3. die Sinne nicht die Ge-
wißheit, ſondern dieſe iſt nur eine Eigenſchafft der
ſinnlichen Vorſtellungen. 4. Ohngeachtet bey
demonſtrirten Wahrheiten das Oppoſitum alle-
mahl contradictoriſch iſt, und die gewiſſen allge-
meinen Wahrheiten mithin dieſe Eigenſchafft auch
haben: So folgt doch gar nicht, daß die Gewiß-
heit
eines Satzes darinnen beſtehe, daß das Oppoſi-
tum
contradictoriſch ſey: Noch auch, daß dasje-
nige nicht gewiß ſeyn koͤnne, deſſen Gegentheil kei-
nen Widerſpruch in ſich haͤlt. Vielweniger kan
man 5. das vor die Definition der Gewißheit
annehmen: Wie das Gegentheil einen Wi-
derſpruch in ſich haͤlt.
Es iſt auch 6. die
Gewißheit nicht eine Eigenſchafft der Sachen,
ſondern unſerer Erkentniß: Und die Eintheilung
in certitudinem objectiuam \& ſubjectiuam, da-
von jene die Wahrheit, dieſe aber die Gewiß-
heit
iſt, iſt nichts anders als eine Verwirrung
zweyer verſchiedener Dinge; die nur Zerruͤttung
anrichtet: Wie wir ſchon gezeigt haben in den
vernuͤnfftigen Gedancken vom Wahr-
ſcheinlichen.
VIII.Betracht. §. 6.


§. 6.
[287]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.

§. 6.
Wie man ſich uͤber den Begriff der Gewißheit
zu vereinigen hat.


Um uns nun uͤber die Erklaͤrung der Gewiß-
heit zu vereinigen, muͤſſen wir folgendes voraus
ſetzen. 1. Weil der Begriff der Gewißheit aus
dem gemeinen Leben hergenommen iſt; (§. 1.) ſo
muͤſſen wir zufoͤrderſt uns an denſelben halten, und
ihn aufzuklaͤren ſuchen. 2. Sodann wird man
bald mercken, daß keine Urſach, oder Anleitung in
der Philoſophie vorhanden ſey; warum man da-
ſelbſt von dem urſpruͤnglichen und gemeinen Be-
griff abgehen ſollte. Wohl aber iſt dieſes einem
Philoſophen anſtaͤndig, daß er die allgemeine Be-
ſchaffenheit der Gewißheit unterſuche: Beſonders
aber, wie ſolche bey denen allgemeinen oder philo-
ſophiſchen Wahrheiten ins beſondere koͤnne erhal-
ten werden. 3. Wenn man aber den allgemeinen
Wahrheiten zu Gefallen, von dem gemeinen Be-
griffe nicht abgehen darf, ſo werden wir uns in der
Abhandlung von der hiſtoriſchen Eekentniß um
ſo viel mehr an denſelben zu halten haben (§. 2.).
Endlich muͤſſen wir noch hinzufuͤgen, daß man
4. auch nicht von allen gewiſſen Wahrheiten ver-
langen muß, daß ſie zu jedermans Gewißheit
koͤnnen gebracht werden; ob gleich ſolches mit
mathematiſchen und philoſophiſchen Wahrheiten
angehet. Denn obgleich dieſes eine ſehr gute Ei-
genſchafft vieler Wahrheiten iſt, ſo gehoͤret ſie
doch
[288]Neuntes Capitel,
doch nicht zur Natur, noch zum innerlichen
der Gewißheit.


§. 7.
Was die Gewißheit iſt.


Der gemeine Begriff der Gewißheit beſte-
het aber darinne: Daß das Urtheil, welches wir
einmahl von einer Sache gefaͤllet haben, bey uns
unveraͤnderlich iſt. Dem iſt die Ungewißheit
oder Zweifel entgegen geſetzet, das iſt: Die Ab-
wechſelung unſerer Vorſtellung, da wir die Sache
bald bejahen, bald verneinen. Jm gemeinen Le-
ben ſind die Menſchen mit der Einbildung ihrer
Gewißheit meiſtens gar zu voreilig, ſo daß wir faſt
von allem, was wir dencken, die Gewißheit ruͤh-
men, und uns einbilden, was wir einmahl den-
cken, das wuͤrden wir uns auch in Ewigkeit ſo
vorſtellen; ja es wiſſe die Sache niemand beſſer,
als wir. Wer aber viel mit Menſchen umgehet,
lernet nach und nach aus der Erfahrung, daß man
durch Nachdencken, durch Nachrichten, und
mit der Zeit, gar vieles anders einſiehet, als man
Anfangs gedencket. Vollends die Gelehrten,
welche auf die Menge der Streitigkeiten achtung
geben, und auf die Fehle, die ſo klugen und mit
Einſicht begabten Maͤnnern angewandelt haben,
ſind viel ſchuͤchterner, ſich ſo bald einer gewiſſen Er-
kentniß von Dingen zu ruͤhmen. Aber alle, die
nach der Gewißheit ſtreben, trachten nach nichts
anders, als daß nebſt der Wahrheit, auch die
Vorſtellung und Erkentniß derſelben unveraͤndert
bleiben
[289]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
bleiben moͤge, ſo daß ſie niemahls auf das Gegen-
theil durch Ungewißheit verfallen.


§. 8.
Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit.


Es iſt alſo zu unterſuchen, woher es komme, daß
ein Urtheil, welches wir einmahl gefaͤllet, unver-
aͤndert
verbleibe? und woher wir wiſſen koͤnnen,
daß ſolches geſchehen werde? So viel ſiehet man
leichte, daß ein falſches Urtheil nicht voͤllig gewiß
ſeyn koͤnne, und daß alſo die Wahrheit bey der
Gewißheit zu Grunde gelegt werden muͤſſe; ob-
gleich auch die Unwahrheiten ſich unglaublich tieff
einzupraͤgen pflegen, und denen Leuten oͤffters eine
lange Zeit gewiß ſind. Ja! die Menſchen hafften
offt ſtaͤrcker an der Luͤgen, als an der Wahrheit.
Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen
Vorzug vor der Unwahrheit und Luͤgen hat; ſo iſt
es allemahl moͤglich, daß man endlich ſeinen Jrr-
thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß:
daß alſo bey Jrrthuͤmern und Luͤgen keine Ge-
wißheit
im eigentlichen Verſtande, ſondern nur
auf eine gewiſſe Zeit abzuſehen iſt; welches aber
freylich eher Trotz, Blindheit, Tummheit,
als Gewißheit zu nennen iſt. Es iſt aber zur Ge-
wißheit nicht genug, daß die Sache wahr iſt.
Denn vermoͤge der Erfahrung koͤnnen auch Jrr-
thuͤmer und Luͤgen den Schein der Wahrheit bekom-
men, und hingegen die Wahrheit kan auſſer
dem Zuſammenhange ohne ihren Gruͤnden, worauf
ſie beruhet, ja auch wohl verſtimmlet vorgetragen
Tund
[290]Neuntes Capitel,
und eingeſehen werden: von welchen Arten der Er-
kentniß nicht zu verlangen iſt, daß ein unveraͤnder-
liches Urtheil in der Seele daraus entſtehen ſollte.
Soll alſo ein Urtheil gewiß ſeyn, ſo muß zur
Wahrheit noch etwas hinzukommen, welches
uns wider das Blendwerck in Sicherheit ſetzet: und
dieſes ausſuͤndig zu machen, iſt res altioris inda-
ginis
.


§. 9.
Eine Sache auf die rechte Art einſehen, macht ſie
gewiß.


Bey allen meinen Wahrheiten wiſſen wir ietzo,
daß das Demonſtriren eine ſolche Gewißheit her-
vorbringt. Was man durch Demonſtration weiß,
davon laͤſſet man ſich durch kein Blendwerck abwen-
dig machen. Aber eben dieſes erhaͤlt man auch bey
conſequentiis immediatis, iedoch auf eine andere
Art. Ja! da Rechnungen keine eigentlichen Schluͤſſe
ſind, und dennoch eben die Gewißheit, wie Schluͤſſe
und Demonſtrationen, gewehren: ſo ſiehet man,
daß die Gewißheit nicht in den Schluͤſſen beſtehe,
ſondern darinne: wenn man jeden Satz auf die
rechte Art
einſiehet, und auf dem rechten Wege
zu ihn gelanget. Denn ſo muß eine allgemeine
Wahrheit, wenn ſie uns gewiß ſeyn ſoll, nicht et-
wa als ein bloſſer Einfall, auſſer ihrer Verbin-
dung, noch durch bloſſes Hoͤren erkannt werden:
ſondern, wenn ſie eine conſequentia immediata iſt,
ſo muß man ſie auch als eine conſequentiam imme-
diatam
einſehen: hingegen als ein corollarium,
wenn ſie wuͤrcklich an ſich ein corollarium iſt, und
als
[291]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
als ein theorema, wenn ſie ſich als ein theorema zur
Definition verhaͤlt.


§. 10.
Logikaliſche Regeln wehren dem Zweiffel.


Alſo uͤberhaupt, wenn man jede Wahrheit nach
ihrer rechten Art und auf die rechte Weiſe einſie-
het, wie ſie der Natur der Sache und unſerer
Seelen nach erkannt werden kan, ſo werden wir
von unſern einmahl gefaͤlleten Urtheilen von uns
ſelbſt abzugehen ſo wenig Urſache finden, als je-
mand bey einem Axiomate oder Corollario zweif-
felt. Nur dieſes waͤre etwa zu beſorgen, daß nicht
andere ihre irrige und betruͤgeriſche Vorſtellungen
uns mittheilten, und uns dadurch in der Seele irre
machen, und unſere bisherige Gewißheit ſtoͤh-
ren moͤchten. Aber dabey iſt zu mercken: 1. Daß
man wenigſtens bey allgemeinen Wahrheiten, wenn
man jeden Satz auf die rechte Art erkennet, auch
meiſtens im Stande iſt, die Sophiſtereyen zu wi-
derlegen: iedoch daß 2. die Widerlegung meiſtens
einige Zeit und Nachdencken erfordert: damit man
aber 3. unterdeſſen nicht durch das Blendwerck des
Jrrthums irre gemacht werde, ſo iſt noͤthig, daß
man auch die Regeln wiſſe, wie mit jeder Art der
Wahrheiten umzugehen iſt; als wodurch erhal-
ten wird, daß wir nicht allein auf dem rechte Wege
ſind, ſondern auch wiſſen, daß wir auf dem rech-
ten Wege ſind. Und dieſe Regeln gehoͤren ohn-
ſtreitig zur Vernunfftlehre. Jn derſelben iſt man
nun zwar mit denen allgemeinen Wahrheiten
T 2zur
[292]Neuntes Capitel,
zur Richtigkeit gekommen, daß, wenn man ein-
mahl mit der Definition einer Sache fertig iſt, bey
den Concluſionen beynahe keine Schwierigkeiten
und Zweiffel nur entſtehen, geſchweige denn ferner
herrſchen kan: mit der hiſtoriſchen Erkentniß aber
haben ſich die Philoſophen bisher noch gar nicht be-
ſchaͤfftiget, das wahre und falſche, noch weniger
aber das gewiſſe und ungewiſſe aus einander zu
ſetzen.


§. 11.
Die Gewißheit der Sinne.


Coͤrperliche, oder welches einerley iſt, ſinnli-
che Dinge muͤſſen auch durch die Sinne erkannt
werden. Dies iſt daher die rechte und beſte Art,
coͤrperliche Dinge zu erkennen, wenn man ſelbſt
mit ſeinen Sinnen dabey iſt: doch koͤnnen ſie auch
auf andere Art, nehmlich aus Ausſagen erkannt
werden. Darinnen kommen nun alle Menſchen
uͤberein, daß ſie die Urtheile, welche ſie durch die
Sinne gemacht haben, unveraͤnderlich beybehal-
ten; und daher denen Sinnen die alleruntruͤglich-
ſte Gewißheit beylegen. Auch hindert nicht, daß
wir iezuweilen, aus Mangel der Aufmerckſamkeit,
oder durch ein vitium ſubreptionis uns Dinge em-
pfunden zu haben einbilden, die wir doch wuͤrcklich
nicht empfunden haben, und die nicht vorhanden
geweſen ſind. Denn wie der Gewißheit der De-
monſtrationen
dadurch nichts abgehet, daß oͤff-
ters was im Demonſtriren verſehen wird; und der
Gewißheit der Rechnungen, daß man iezuwei-
len ſich verrechnet; alſo ſchadet auch der Gewißheit
der
[293]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
der ſinnlichen Erkentniß nicht, daß wir iezuweilen
nicht recht ſehen. Bey der demonſtrativen
Gewißheit wird die Richtigkeit der Demonſtratio-
nen, und bey ſinnlichen Begebenheiten das
recht ſehen, recht hoͤren ꝛc. voraus geſetzt.


§. 12.
Die Gewißheit handgreifflicher Dinge.


Unter denen Begebenheiten, die coͤrperlich und
mithin ſinnlich ſind, muͤſſen wir in Abſicht auf die
Gewißheit diejenigen beſonders bemercken, von
welchen man zu ſagen pfleget: daß ſie jedermann
in die Sinne fallen.
Man nennet es auch hand-
greiffliche
Dinge: (res maxime palpabiles) der-
gleichen ſind, daß da ein Hauß, dort ein Thurm
ſtehe, daß die Glocken gelaͤutet werden, u. ſ. w.
Die beſondere Beſchaffenheit dieſer Dinge nehm-
lich iſt, daß ſie eines Theils nur den allergering-
ſten Grad der Aufmerckſamkeit brauchen, ja den-
jenigen, der dabey iſt, gleichſam noͤthigen und
zwingen, darauf Achtung zu geben: andern
Theils,
daß bey ihnen ſo leichte kein vitium ſub-
reptionis
vorgehen kan: da hingegen bey vielen
Dingen eine beſondere Aufmerckſamkeit darzu ge-
hoͤret, und noch uͤberdieſes Vorſicht, daß man
nicht falſch urtheile. Man ſiehet z. E. einem Bie-
nenſchwarme zu, ſo iſt nicht leichte zu urtheilen, ob
ſie alle einerley Geſtalt haben: man wird auch nicht
ſo bald die eigentliche Geſtalt des ſo genannten Koͤ-
nigs
darunter wahrnehmen: weil er, oder viel-
mehr ſie, die Koͤnigin ſelten alleine ſehen laͤſſet;
T 3und
[294]Neuntes Capitel,
und es allemahl mit dem erſten Anblick eine mißliche
Sache iſt. (§. 17. C. 5.) Hingegen daß der Bie-
nen bey einem Schwarme viel ſind, und das Flie-
gen,
ſind Eigenſchafften, die jederman in die Au-
gen fallen. Ohngeachtet alſo die Vorſtellungen
der Dinge an ſich gewiß ſind, (§. 11.) ſo faͤllet
doch bey handgreifflichen Dingen auch ſo gar alle
Vermuthung der Ueberredung im Urtheile hin-
weg, und die Gewißheit kommt alſo der Erkentniß
ſolcher Dinge auf eine vorzuͤgliche Art zu.


§. 13.
Wird allgemeiner gemacht.


Wer immer mit einer gewiſſen Art Dinge ins-
beſondere umgehet, wird endlich mit denen Theilen
und beſondern Eigenſchafften derſelben ſo bekannt,
als andern nur die Art derſelben bekannt iſt. Z. E.
Ein Sattler muß die Theile eines Sattels, eines
Wagens, u. ſ. w. eben ſo genau kennen, als jeder
Menſch einen Sattel von einem Stuhle, Tiſche,
u. ſ. w. unterſcheiden kan. Ein Bootsknecht weiß
die Arten der Taue ſo wohl zu unterſcheiden, als
jedermann einen Strick von einem Bande, Kette,
Ringe, u. ſ. w. unterſcheiden kan. Dergleichen
Leute heiſſet man nun Kunſtverſtaͤndige. Man
ſiehet aber daraus, daß einem Kunſtverſtaͤndigen
eine Sache handgreifflich ſeyn kan, da es einem
der Sache nicht kundigen, oder einem Anfaͤnger
nicht ſo klar iſt. Jener iſt alſo von einer Sache
durch die Empfindung gewiß; woran andere, die
doch auch ihre Sinne dabey brauchen, noch
zweiffeln.


§. 14.
[295]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.

§. 14.
Und zu einen groͤſſern Grad erhoͤhet.


Man wird geſtehen muͤſſen, daß, da Sachen,
die jedermann in die Augen fallen, ſchon gewiß
ſind, wenn wir gleich dieſelben nur einmahl em-
pfunden haben, ſolche noch gewiſſer ſeyn muͤſſen,
wenn wir ſie zu vielen mahlen, ja, wie man
ſagt, taͤglich empfunden haben. Es iſt ohnſtrei-
tig, daß niemand bey Sachen dieſer Art einen
Zweiffel bey ſich verſpuͤret, und daß aller Verdacht,
als ob man etwa nicht recht geſehen oder gehoͤret, da-
bey hinweg falle. Sollte es wohl moͤglich ſeyn,
daß iemand ſich einbildete, daß ſein Hauß am
Marckte, dem Rathhauſe gegen uͤber ſtuͤnde, da
es doch an der Seite deſſelben ſtehet: oder daß zwey
Thuͤrme da ſtuͤnden, wo nur einer vorhanden iſt?
oder daß er ein kleines Hauß vor ein Schloß anſe-
hen ſollte? Man hat Urſache, auf alle Stuͤcke Ach-
tung zu geben, wo kein Betrug vorgehen kan, weil
die Ernde der hiſtoriſchen Gewißheit uͤberall lau-
ter Moͤglichkeit des Betrugs abzuſehen ſich ein-
bilden.


§. 15.
Gewißheit hiſtoriſcher Schlußſaͤtze.


Was man aus einer gehabten Empfindung
ſchluͤſſen kan, deſſen Wuͤrcklichkeit iſt eben ſo ge-
wiß, als die Empfindung ſelbſten. Z. E. Aus
dem Jnhalte des Gefaͤſſes laͤſſet ſich das Gewichte
des Waſſers beſtimmen, welches das Gefaͤſſe er-
fuͤllet. Wie nun uͤberhaupt durch Schluͤſſe eigent-
lich nur notiones partiales und Eigenſchafften her-
T 4aus
[296]Neuntes Capitel,
aus gebracht werden, die in dem bekannten prædi-
cato
ſchon wuͤrcklich ſtecken, alſo wird ſolches auch
hier von den hiſtoriſchen Schluͤſſen gelten. Aber
aus den Begebenheiten ihre Urſachen, und zumahl
ihre Spuren finden; welches auch durch ſchluͤſſen
zu geſchehen pfleget, kan man nicht recht unter die
gewiſſen Erkentniſſe rechnen, wie in der Diſputa-
tion de Veſtigiis gewieſen worden.


§. 16.
Natuͤrliche Regel vom Reden.


Nun kommen wir auf die Gewißheit der Nach-
richten,
welches den ſchwehrſten Artickel bey der
Gewißheit ausmacht. Um die Sache aber aus
ihren Gruͤnden herzuleiten, muͤſſen wir als eine
Wahrheit, die die Natur der Seele und eines ver-
nuͤnfftigen Weſens an die Hand giebt, voraus ſe-
tzen: daß eine Rede und jede an Taglegung
ſeiner Gedancken nur aus einem Triebe und
Eyfer vor die Sache, die man vortraͤgt,
entſtehe:
folglich daß die Regel bey vernuͤnfftigen
und wahrhafften Creaturen ſey: daß jeder, wenn
er redet, die Wahrheit ſage. Der Heyland ſa-
get: Weß das Hertz voll iſt, gehet der
Mund uͤber.
Matth. XII. 34. Wir wollen
hier gar nicht laͤugnen, daß die Menſchen zur Un-
wahrheit uͤberaus geneigt ſind, ſondern wir ſtellen
uns dieſes Uebel in ſeiner wahren Groͤſſe und be-
ſchwehrlichen Einfluſſe in die hiſtoriſche Erkentniß
klaͤrlichſt vor. Wir muͤſſen aber nothwendig auf
den erſten Zuſtand und innerliche Beſchaffenheit
der
[297]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
der Rede zuruͤck gehen, obgleich die Erfahrung ei-
ne andere Regel an die Hand giebt: gleichwie man
in der Moral des Satzes nicht entbehren kan, daß
der Wille das Gute erwehle, ohngeachtet er nach
der Erfahrung und nach einer unaufhoͤrlichen
Anomalie
das Boͤſe erwehlet.


§. 17.
Natuͤrliche Regel vom Anhoͤren.


Jene Eigenſchafft nun der Seele, daß ſie die
Wahrheit redet, (§. 16.) ziehet auf der andern
Seite bey den Zuhoͤrern die Regel nach ſich: daß
wir jedem, der uns etwas erzehlet, glau-
ben, ſo lange ſich keine Urſache findet, das
erzehlte zu laͤugnen:
oder daß der erſte Ein-
druck, die jede Nachricht bey uns macht, dieſer
iſt, daß wir dieſelbe vor wahr annehmen. Wel-
chem nicht entgegen ſtehet, daß wir nach und nach
bey mehrerm Nachdencken etwa daran zu zweiffeln
anfangen. Die Erfahrung beſtaͤtiget unſern Satz
auf mancherley Weiſe, daß nehmlich jede Men-
ſchenſtimme etwas uͤberzeugendes an ſich habe: in-
dem z. E. ein einiger Menſch, der Feuer rufft, im
Stande iſt, viele hundert Menſchen toͤdtlich zu er-
ſchrecken, die ihn wohl nicht einmahl ſehen, ſon-
dern nur hoͤren: der Eindruck und Ueberzeugung
iſt bey vielen ſo ſtarck, daß ſie ſich kaum in einiger
Zeit wieder zufrieden geben, wenn die boͤſe Nach-
richt gleich widerruffen wird.


T 5§. 18.
[298]Neuntes Capitel,

§. 18.
Gewißheit der menſchlichen Ausſagen.


Nach dieſen beyden Regeln wuͤrde nun zur Ge-
wißheit weiter nichts noͤthig ſeyn, als daß der, der
uns von einer Sache Nachricht giebt, ein Menſch
ſey: denn daraus wuͤrden wir erkennen, daß er
die Sache, die er erzehlet, auf den Hertzen liegen,
nicht aber erdichtet habe: daß er ſie alſo entweder
ſelbſt geſehen, oder von andern gleichfalls ſo glaub-
wuͤrdigen Menſchen erkundigt habe: daß alſo die
Sache, weil ſie Zuſchauer gehabt, wuͤrcklich ge-
ſchehen ſeyn muͤſſe: oder da dieſes alles Saͤtze ſind,
die ſich von ſelbſt verſtehen, ſo wuͤrden wir, ohne
Umſtaͤnde uns an die Sache halten, ſo gut, als
wenn wir dabey geweſen waͤren. Wovon wir ietzo
noch die Exempel an guten Freunden, an Ehe-
gatten,
die einander hertzlich lieben, und an Zu-
hoͤrern
ſehen, die vor ihre Lehrer Liebe und Hoch-
achtung hegen: hoͤren, glauben und gewiß
ſeyn,
ſind bey ihnen unzertrennte Dinge, und man
wird ausgelacht, wenn man ihnen etwas anders
bereden zu wollen ſich erkuͤhnet. Und dies iſt der
natuͤrliche Weg, wie die hiſtoriſche Erkentniß fort-
geflantzt, und von dem Zuſchauer auf die entfernſten
Perſonen kan gebracht werden, ohne daß die Wahr-
heit dabey Schaden leidet; nehmlich daß ſie durch
den Mund lauter ſolcher Perſonen gehet, die der
Luͤgen nicht verdaͤchtig ſind.


§. 19.
1. Wie dieſelbe auf Seiten des Ausſagers zer-
ruͤttet wird.


Dieſes iſt aber freylich der Zuſtand nicht, wor-
innen
[299]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
innen ſich dermahlen die Menſchen unter einander
befinden: ſondern 1. aͤuſſert ſich haͤuffig Uebereilung
und Verwirrung verſchiedener Dinge im Verſrande,
ſo daß, wenn auch ein geweſener Zuſchauer etwas
nach ſeinem beſten Wiſſen und Gewiſſen erzehlet, ich
doch ſolches nicht allemahl als ein durchgaͤngig wah-
res Bild der Sache annehmen kan. 2. Hierzu kommt
Leichtſinnigkeit, eine Sache zu reden, wo von man doch
das Gegentheil im Hertzen glaubt; welches theils
durch Eitelkeit veranlaſſet wird, als bey Prahlern;
theils durch ſchaͤdlichen Gewinſt, wie bey falſchen
Zeugen. 3. Eine ausſchweiffende Einbildungs-
krafft macht auch, daß man Sachen erzehlet, als
ob man dabey geweſen, die man doch weder geſe-
hen, noch genau unterſuchet hat: und eben dieſe
Ausſchweiffungen machen, daß Leute oͤffters, wenn
ſie gleich in der Hauptſache die Wahrheit erzehlen,
dennoch auch allerhand Umſtaͤnde darzu dichten.
Welches alles ſo viel ausrichtet, daß jeder Menſch
zwar mit ſeiner Ausſage vors erſte den Eindruck der
Wahrheit macht; (§. 17.) aber daß bey weitern
Nachdencken, wenn wir weiter keine Bekanntſchaft
mit ihm haben, allerhand Verdacht der Unwahr-
heit entſtehen kan; ja beynahe entſtehen muß: ſo,
daß aus der Nachricht eines Autors, den ich wei-
ter nicht kenne, als daß er ein Menſch iſt, keine
Gewißheit zu erhalten iſt.


§. 20.
2. Wie ſie auf Seiten des Zuhoͤrers zerruͤttet
wird.


Da die Gewißheit aber nicht allein auf der Sa-
che
[300]Neuntes Capitel,
che beruhet, ſondern auch auf dem, der die Sache
erkennen ſoll; (n. 6. §. 5.) ſo verurſachen die Un-
ordnungen der menſchlichen Seele auch auf dieſer
Seite Hinderniſſe der Gewißheit. Nehmlich der
Hoͤrer einer Nachricht kan 1. die guten Eigen-
ſchafften des Ausſagers, die etwa auch andern Per-
ſonen ſchon laͤngſt bekannt ſind, noch nicht wiſſen.
2. Er kan aus Haß und Neid ſie, wenn er ſie er-
kennet, nicht nur vor andern verlaͤugnen, ſondern
ſich auch ſelbſten blenden, daß er ſie nicht ſehen will.
3. Er kan, wenn ihm die Nachricht nicht erleuch-
tet, die Schuld auf den Autor ſchieben, als wenn
er Unwahrheit geredet haͤtte. 4. Er kan ſich den
unrichtigen Satz in Kopf geſetzet haben: weil der
Betrug in der Welt ſo haͤuffig iſt, ſo kan man nir-
gends Gewißheit haben; und daraus wider einen
unverwerfflichen Autor fechten.


§. 21.
Wie die Gewißheit der Nachrichten, der ange-
fuͤhrten Zerruͤttungen ungeachtet, hergeſtellet
wird.


Ohngeachtet bey dieſen Umſtaͤnden die Gewiß-
heit der Ausſagen ſo wohl auf Seiten der
Ausſager (§. 19.) als der Anhoͤrer (§. 20.) An-
ſtoß leidet;
ſo pfleget man doch den Mangel der
Gewißheit gemeiniglich bloß auf die Ausſager zu
ſchieben, als auf welche man ſich nicht genug ver-
laſſen koͤnne. Und in der That iſt dieſes auch die
haͤuffigſte Quelle der Ungewißheit bey Nachrichten
die Menſchen andern Menſchen ertheilen. Wir
wollen daher auch unſre Sorge hauptſaͤchlich auf
dieſes
[301]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
dieſes Stuͤck gerichtet ſeyn laſſen, und zeigen, wie,
der angefuͤhrten bedencklichen Eigenſchafften der
menſchlichen Ausſagen ohngeachtet, (§. 19.) dennoch
hier und da gewiſſe Nachrichten heraus zu bringen
ſind.


§. 22.
Die Gewißheit beruhet auf dem Anſehen des
Autors.


Nehmlich nunmehro iſt es zur Gewißheit einer
menſchlichen Ausſage nicht genug, daß ich weiß,
daß ich mit einem vernuͤnfftigen Menſchen zu thun
habe, (§. 19.) ſondern es wird auch noch ein An-
ſehen
deſſelben erfordert, oder eine Autoritaͤt.
Dieſer Begriff, ſo bekannt er iſt, iſt dennoch zur
Zeit nicht bis auf den Grund erklaͤret worden. Es
waͤre nehmlich das Anſehen gar nicht noͤthig, wo-
ferne die Menſchen nicht uͤberhaupt in einem Ver-
dachte der Unwahrheit ſteckten. Nachdem aber dieſer
Verdacht einmahl vorhanden iſt, ſo muͤſſen beſon-
dere Eigenſchafften eines Menſchen, dem wir glau-
ben ſollen, den Verdacht in uns wieder unterdruͤ-
cken; und dieſe machen das Anſehen aus; denn
alſo weiß ich von jemanden, daß er z. E. die Haupt-
perſon, oder wenigſtens ein Hauptintereſſente bey
einer Sache ſey: durch dieſen ſeinen Zuſtand werde
ich auch ſchon wider den Verdacht, daß er etwa die
Sache, wovon er redet, nicht recht wiſſen moͤchte,
voͤllig verſichert, oder ich habe mit meinem eigenen
Vater, der uͤber dieſes ein ernſtlicher Mann iſt,
zu thun; wie ſollte mir nun einfallen, daß derſelbe
mit mir ſchertzen werde. Oder ich habe mit einem
Freunde zu thun, deſſen Abneigung von Betruͤge-
gerey
[302]Neuntes Capitel,
gerey mir zur Gnuͤge bekannt iſt; ſollte mir dabey
nun einfallen, daß derſelbe wiſſentlich eine Waare
vor was anders ausgeben ſollte, als ſie wuͤrcklich iſt.
Solche beſondere Umſtaͤnde machen alſo das Anſe-
hen
eines Autors aus. Woraus folget, daß zwey
Perſonen erfordert werden, wenn iemanden ein An-
ſehen beygelegt werden ſoll: nehmlich iemand, der
Eigenſchafften beſitzet, die mit Unwahrheiten in-
compatibel ſind; und ſo dann ein anderer, dem die-
ſe Eigenſchafften zur Gnuͤge bekannt ſind.


§. 23.
Jnnerliche Beſchaffenheit des Anſehens.


Weil die Unwahrheit, welche Menſchen reden,
theils aus Mangel der Erkentniß, theils aus Maͤn-
geln des Willens entſtehen, (§. 19.) ſo werden
ſich die Eigenſchafften, welche das Anſehen eines
Autors ausmachen, auf 2. Stuͤck zuſammen zie-
hen laſſen: 1. auf den guten Verſtand, den er beym
Anſchauen der Sache und bey der Erzehlung ge-
braucht. 2. Auf die Wahrhafftigkeit. Ja da
unſere Hiſtorie groͤſtentheils aus ſolchen Begeben-
heiten beſtehet, die handgreifflich ſind: Geburt
und Sterben der groſſen Herren, Kriegsruͤſtungen
und Thaten im Felde, bey denen gelehrten Wercken,
die ſie geſchrieben; in der Kirchengeſchichte Conci-
cilia, ritus,
die in die Augen fallen: wobey alſo
keine groſſe Schwierigkeit in Anſehung der Einſicht
entſtehen kan; (§. 12.) ſo wird die Liebe zur Wahr-
heit und Aufrichtigkeit faſt uͤberall als diejenige Ei-
genſchafft angeſehen, welche das Anſehen eines
Autors
[303]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
Autors faſt allein ausmacht. Man hat ſolche Ei-
genſchafft das Anſehen genennet, weil natuͤrlicher
Weiſe, die Unwahrheit zu reden, eine Verſtellung
der Gebehrden und Unordnung in der Ausſage bey
ſich hat; ſo daß man es vielen angeſehen hat, daß
ſie Unwahrheiten redeten. Nachdem es aber
Leute ſo weit gebracht haben, daß ihnen Unwahr-
heiten zu reden was natuͤrliches geworden iſt, ſo
darff man ſich auf dieſes aͤuſſerliche Anſehen nicht
mehr verlaſſen.


§. 24.
Eintheilung des Anſehens.


Man ſiehet, daß die Qualitaͤten, welche das
Anſehen ausmachen, auch wohl nur zum Theil bey
einem Ausſager, ja ſo gar bey einem Autor koͤnnen
angetroffen werden. Daher iſt das Anſehen eines
Ausſagers manchmahl voͤllig, manchmahl un-
vollkommen.
Das voͤllige Anſehen eines
Autors
ziehet die Gewißheit nach ſich: denn weil
er vermoͤge dieſes Begriffs 1. bey der Sache ge-
genwaͤrtig geweſen, 2. auch die noͤthige Aufmerck-
ſamkeit und Einſicht gehabt, daß er im Stande
iſt, die Sache zu erzehlen, und daß er 3. ſie wuͤrck-
lich erzehlen will; (§. 19. 23.) ſo kan dieſes Anſe-
hen nicht ohne der Wahrheit der Sache ſelbſt ſtatt
finden: und es kan kein anderer Autor aufkommen,
der ebenfalls ein voͤlliges Anſehen haben, und doch
das Gegentheil ausſagen ſollte. Es iſt eben wie
bey Demonſtrationen, man kan zwar mit ver-
geblichen Demonſtrationen hintergangen werden:
aber
[304]Neuntes Capitel,
aber das voͤllige Anſehen einer Demonſtration kan
dennoch keine andere, als die wahre Demonſtra-
tion haben: und ein ſolches voͤlliges Anſehen kan
alſo nur der Wahrheit zukommen.


§. 25.
Ergaͤntzung des Anſehens.


Da aber das Anſehen des Ausſagers auch wohl
unvollkommen ſeyn kan, (§. 24.) ſo iſt in dieſem
Falle noͤthig, daß das Anſehen ergaͤntzet werde.
Dieſes geſchiehet auf verſchiedene Art; nachdem
man von dieſem oder jenem Stuͤcke, das zum voͤlli-
gen Anſehen gehoͤrt, nicht gnugſam verſichert iſt.
Denn auch eine Perſon, der man uͤberhaupt Auf-
richtigkeit zutraut, laͤſſet doch wohl eine unwahre
Rede aus ihrem Munde gehen, 1. entweder aus
Schertz und Muthwill, 2. oder aus einem Vor-
theil, da man ſich ſelbſt, oder etwa andern dadurch
Nutzen zu verſchaffen gedencket.


§. 26.
Erſte Art, das Anſehen zu ergaͤntzen.


Dem Verdachte des Schertzes wird durch Be-
theurungen
und Eyde begegnet, und dadurch das
voͤllige Anſehen eines Autors in dieſem Falle ergaͤn-
tzet. Denn auf ſolche Art wird die Rede, welche
man nach der gemeinen, wiewohl falſchen Gedenck-
art, vor was gleichguͤltiges angeſehen hatte, zu
einer Gewiſſensſache. Man weiß wohl, daß Ju-
ramenta
auch wohl faͤlſchlich abgelegt werden; und
daß dieſelben alſo einer Perſon, die man ſonſten
nicht
[305]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
nicht kennet, noch kein voͤlliges Anſehen geben koͤn-
nen. Dieſes iſt alſo auch nicht, was wir hier ver-
langen: ſondern wir reden ietzo nur von dem Falle,
wo man mit einem ſeiner Ehrlichkeit ſonſten nicht
verdaͤchtigen Manne zu thun hat, da man aber doch,
ob er nicht etwa einmahl aus Schertz etwas geredet,
ſich ein Bedencken macht. Da wird, ſage ich,
durch einen Schwur die Sache in eine unfehlbare
Gewißheit geſetzt werden.


§. 27.
Zweyte Art, das Anſehen zu ergaͤntzen.


Denen Vortheilen, und Neigungen, andern
zu gefallen, die Unwahrheit zu reden, wird durch
Uebeln begegnet. Dieſe koͤnnen entweder nur
gedrohet, oder wuͤrcklich angethan werden.
Der Schwur wird billig auch hier als das beſte
Mittel angeſehen, das Anſehen des Ausſagers zu
ergaͤntzen. Denn die Beſchwehrung des Ge-
wiſſens durch einen falſchen Eyd, wird kein ehrlicher
Mann iemanden zu Gefallen, oder auch um Vor-
theils willen, uͤber ſich nehmen. Man muß aber
wohl mercken, daß wir nur von Ergaͤntzung des
Anſehens reden, welches alſo ſchon ein Anſehen
voraus ſetzet. Denn wenn ein Anfaͤnger ſonſten
noch kein Anſehen hat, (als ein fremder) oder gar
das Anſehen eines boͤſen Bubens vor ſich hat, (wie
die meiſten Jnquiſiten) ſo kan weder Schwur,
noch Tortur eine ſolche Gewißheit, als wir hier ver-
langen, hervorbringen.


U§. 28.
[306]Neuntes Capitel,

§. 28.
Wahrer Grund der Theorie von Zeugen.


Hauptſaͤchlich aber wird das Anſehen eines
Ausſagers durch Zeugen ergaͤntzet. Ein Zeuge
aber iſt eine Perſon, die eben das ſagt, oder ausſagt,
was ſchon ein anderer ausgeſagt hat. Dieſe Er-
klaͤrung moͤchte wohl einem oder dem andern be-
fremdlich vorkommen, weil ſie von der gemeinen
Erklaͤrung des Wortes abgehet. Man darff
aber dieſe gemachte Veraͤnderung nicht fuͤr einen
Fehler anſehen: Denn unſere Definition gehet
nicht, von der gemeinen Bedeutung des Wor-
tes, ſondern von der in den Logicken gewoͤhnlichen
Erklaͤrung ab; und zwar darum, weil ſelbige
falſch iſt. Man ſagt nehmlich: Ein Zeuge ſey,
der etwas ausſagt. Das iſt gantz wider den ge-
meinen Begriff eines Zeugens. Wer eine Klage
vor Gericht anbringt, oder etwas denuncirt, der
ſagt ohne Zweifel etwas aus: Wer wird aber
eine Klage oder Denunciation vor ein Zeug-
niß anſehen? Ein anders iſt Ausſagen, ein an-
dres Zeugen. Wenn bey einer Ausſage kein Zwei-
fel und Mißtrauen vorwaltet; ſo hat es dabey
ſein Bewenden; und es braucht gar keines Zeugniſ-
ſes. Darinnen kommt alle Welt uͤberein. Wenn
man aber der Ausſage nicht glauben will, alsdenn
muͤſſen erſt Zeugen und Zeugniſſe zu Huͤlffe genom-
men werden, und dieſe ſind alsdenn vorhanden,
wenn ſich mehrere Perſonen finden, die eben das
ſagen, was der erſte ſchon ausgeſagt hat. Jn
Proceſſen werden zwar auch offters Zeugen ge-
nennet,
[307]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
nennet, die nicht eben das ſagen, welches zu be-
zeugen ſie beruffen ſind, ſondern entweder die Sa-
che nicht wiſſen oder gar anders ausſagen. Man
ſiehet aber wohl, daß ſie dieſen Nahmen nur da-
von bekommen, weil man ſich von ihnen verſpro-
chen hat, ſie wuͤrden eben das ausſagen. Jn
der That aber hat diejenige Parthey, deren Zeu-
gen entweder nichts, oder das Gegentheil ausſa-
gen, gar keine Zeugen vor ſich.


§. 29.
Gemeinſchafftliches Anſehen des Autors und
des Zeugens.


Da jede Ausſage unmittelbar einen Wahr-
heitsmaͤßigen Eindruck bey dem Zuhoͤrer macht;
(§. 17.) ſo muß des Zeugens Ausſage, (welche
eigentlich ein Zeugniß heiſſet, und von der Aus-
ſage wie Species a genere unterſchieden iſt) eben
einen ſolchen Eindruck machen: Ja da aus jeder
gehaͤufften Handlung ein ſtarcker Eindruck entſte-
hen muß: So wird ein Zeugniß die Wahrheit
der Sache noch mehr bekraͤfftigen. Da aber die
Ausſagen der Menſchen keine Gewißheit ge-
ben, woferne nicht der Ausſager ein Anſehen hat
(§. 22.); ſo wird auch auf Seiten des Zeugens
ebenfalls ein Anſehen erfordert, welches er an
und vor ſich haben muß. Nehmlich er ſoll wie
der Autor, ein Zuſchauer der Sache geweſen
ſeyn: Er muß Verſtand genug beſitzen: Und
aufrichtig ſeyn (§. 23.). Schon dadurch nun,
wird der Verdacht vermindert, der die eine Aus-
ſage uns noch ungewiß machte, daß noch einer
U 2eben
[308]Neuntes Capitel,
eben das ſaget. Denn die die Urſachen der falſchen
Ausſage hervorbringen, und deswegen die Ausſage
der Menſchen truͤglich machen (§. 19.), wider
die natuͤrliche Regel ſind (§. 16.); ſo iſt nicht zu
vermuthen, daß die Urſach, wenn der eine unwahr
reden moͤchte, auch bey dem andern ſtatt finden
ſollte: Und das hinzukommende Zeugniß macht alſo,
daß wir weiter bey der Ausſage des erſtern kei-
nen Trug vermuthen. Daher hat jeder Zeuge eine
beweiſende Krafft, die wir aber deswegen nicht
fuͤr untruͤglich ausgeben.


§. 30.
Beſonderes Anſehen eines Zeugens.


Wenn man aber dem Zeugen, als Zeugen
ein Anſehen beylegt, ſo muß ſolches etwas anders
erklaͤrt werden, als das Anſehen eines Autors,
oder auch eines Ausſagers uͤberhaupt. Nehm-
lich Zeugen nimmt man zu Huͤlffe, wenn das An-
ſehn des Autors nicht vollkommen iſt (§. 24.).
Es muß alſo bey dem Autor ein Umſtand, der
zu ſeiner Glaubwuͤrdigkeit gehoͤrt, bey uns nicht
auſſer Zweifel geſetzet ſeyn. Ob nun gleich ein
Zeuge, wenn er irgend das Anſehen hat, daß er
vor ſich mit ſeiner Ausſage etwas gilt, ſchon zur
Beſtaͤtigung dienet (§. 29.) ſo wird er doch in
dieſem Falle erſt die rechten Dienſte thun, wenn
er eben in dem Stuͤcke, woran es dem erſten Aus-
ſager fehlet, gar keinem Zweifel ausgeſetzt iſt: Und
dieſes wird das beſondere Anſehen eines Zeugens,
qua talis, ausmachen. Z. E. auch der ehrlichſte
Mann, wenn er in ſeinen eigenen Geſchaͤfften, zu-
mahl
[309]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
mahl zum Nachtheil eines andern etwas ausſagt,
nicht voͤlligen Glauben finden. Daß er die Sache
wiſſen koͤnne, iſt, weil es ſeine Sache betrifft, kein
Zweifel: Aber eben daß es ſeine Sache iſt, hin-
dert die Gewißheit; weil man etwa einen Vortheil
darunter vermuthen koͤnte: Ja man weiß, daß
das Vergroͤſſern und Verringern, das bey Erzeh-
lungen ohnedem leicht moͤglich iſt (§. 6. C. 6.),
bey eigenen Sachen noch leichter moͤglich ſey.
Ohngeachtet nun hier jeder Zeuge nuͤtzlich iſt, ſo
beſtehet doch das Anſehen eines Zeugens darinnen,
daß er in Anſehung der Sache fremde iſt; und
ſolche unpartheyiſch hat betrachten und anſehen
koͤnnen. Wenn der erſten Ausſage nicht voͤllig
Glauben beygemeſſen wird, weil es dem Ausſa-
ger an Jahren fehlet, ſo daß man Leichtſinnig-
keit vermuthet, ſo wird das Anſehen eines Zeu-
gens darinne beſtehen, daß derſelbe ſeine voͤlligen
Jahre hat, die zum reiffen Gebrauche des Ver-
ſtandes gehoͤren. Jſt man nicht recht gewiß, ob
der Ausſager wuͤrcklich ein Zuſchauer geweſen iſt,
welches er doch, wenn er die Sache auf ſich
nimmt, geweſen ſeyn ſollte, ſo wird des Zeugens
ſein Anſehen darinnen beſtehen, daß bey ihm in
Anſehung der Eigenſchafft, daß er ein Zuſchauer
geweſen, nicht der geringſte Zweifel vorwaltet.


§. 31.
Dritte Art das Anſehen eines Ausſagers zu
ergaͤntzen.


Daraus ſiehet man nun wie das Anſehen ei-
nes Autors durch Zeugen und Zeugniſſe ergaͤntzt
U 3wird.
[310]Neuntes Capitel,
wird. Denn da bey dem Autor, per hypotheſin
nicht das Anſehen gantz vermiſſet wird, ſondern
nur ein Umſtand oder Zuverlaͤßigkeit fehlet
(§. 24. 25.), dieſer verdaͤchtige Umſtand aber
bey dem Zeugen hinweg faͤllet; ſo ſiehet man, daß
der Verdacht den man gehabt, nicht gegruͤndet
ſey; und in die Ausſage keinen Einfluß gehabt
habe. Und darzu dienet nun beſonders ein Hauf-
fen
Zeugen: Daß nicht allein die Menge der
Ausſager an ſich zur Gewißheit etwas beytraͤgt
(§. 29.) ſondern vornehmlich, daß darunter Zeu-
gen von allerhand Gattung ſind, ſo daß was bey
dem einen uns noch verdaͤchtig vorkommen konte,
durch das Anſehen des andern, der ſich in gantz
andern Umſtaͤnden befindet, beſtaͤtiget wird.


§. 32.
Vermehrung der Zeugen durchs Still-
ſchweigen.


Das Stillſchweigen einer Perſon kan ohn-
fehlbar die Krafft einer Ausſage haben; denn
1. iſt es uns natuͤrlich einer Sache, die wir an-
hoͤren, und die wir beſſer wiſſen zu widerſprechen:
So daß ſolches, wo nicht kraͤfftige Urſachen ſich
zu verſtellen vorhanden ſind, gewiß erfolgen wird.
2. Wir wiſſen auch, daß unſer Stillſchweigen, vor
eine Einſtimmung, und Bejahung der Sache an-
genommeu wird, daher wir denn dasjenige nicht
gerne unbeantwortet anhoͤren, was wir nicht allen-
falls ſelber ausſagen wollten. Wenn iemand von
uns in unſrer Gegenwart etwas nachtheiliges re-
dete, weil er uns nicht kennet, ſo wird eine groſſe
Ueber-
[311]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
Ueberwindung darzu gehoͤren, ſolches ſtillſchwei-
gend anzuhoͤren: Eben ſo unruhig werden wir
ſeyn, wenn von den unſrigen, oder von unſern
Freunden etwas nachtheiliges geſprochen wird.
Wie nun das Stillſchweigen zu einer Ausſage
werden kan, ſo kan es auch zu einem Zeugniſſe
werden: Eines ſolchen ſtillſchweigenden Zeu-
gens
ſein beſonderes Anſehen beſtehet darinne,
daß er eines Theils Urſache zu widerſprechen,
andern Theils keine dringende Urſache zum Schwei-
gen habe.


§. 33.
Vorzuͤge der oͤffentlichen Begebenheiten.


Oeffentliche Begebenheiten ſind die Zu-
ſchauer von allerley Gattung Menſchen haben.
Dergleichen ſind Erbauungen der Staͤdte, Auf-
zuͤge, Schlachten, Brandſchaͤden u. ſ. w. Sachen
die fortdauren, als welche mit denen Dingen,
die geſchehen, eine groſſe Verwandtſchafft haben
(§. 23. C. 1.), haben wegen Laͤnge der Zeit, die
meiſten Zuſchauer. Bey oͤffentlichen Begeben-
heiten iſt daher am erſten zur Gewißheit zu gelan-
gen, weil es da an Zeugen, deren einer das Anſe-
hen des andern ergaͤntzet, nicht fehlen kan (§. 31.).
Man muß aber damit nicht ſolche Dinge vermen-
gen, welche zwar wenn ſie vorhanden waͤren, oͤf-
fentliche Dinge ſeyn wuͤrden, aber vorietzo noch
keinen andern Grund, als entweder die Erdich-
tung
oder hoͤchſtens eine Vermuthung haben.
So iſt z. E. nicht gewiß, daß in China Goldberg-
wercke ſind, ob es gleich in vielen Reiſebeſchrei-
U 4bungen
[312]Neuntes Capitel,
bungen ſtehet: Denn ſie ſagen zugleich, daß ſie
dieſelben aus der ſeltſamen Staatsraiſon, damit
des Goldes nicht zu viel werden moͤchte, nicht er-
oͤffneten. Uneroͤffnete Goldminen aber haben gar
keine Zuſchauer, und iſt alſo nicht eine tuͤchtige
Ausſage davon vorhanden. Der Juͤden ihr
Fluß, Sabbation, iſt auf nichts gegruͤndet,
weil ſie keinen Autor anfuͤhren, der ihn geſehen
haͤtte. Hingegen, daß in Amſterdam eine Boͤrſe,
in Egypten hohe Pyramiden, in Rom eine Pe-
terskirche iſt, und daß in Jtalien der Po flieſſet,
ſind Dinge, die oͤffentlich bekannt ſind, und wo-
von man gar leichte geweſene Zuſchauer, als Aus-
ſager und Zeugen erlangen kan: Darzu das Still-
ſchweigen derer kommt, die Gelegenheit und Ur-
ſach genug gehabt haͤtten, denen Nachrichten da-
von, wenn ſie falſch waͤren, zu widerſprechen.


§. 34.
Schrifftliche Haͤndel.


Geſchaͤffte die ſchrifftlich tractirt werden,
koͤnnen auch leichte zur Gewißheit gebracht wer-
den. Denn wer die Schrifften in die Haͤnde
bekommt, iſt eben ſo gut davon verſichert, als
von Geſchichten, dabey man ſelbſt gegenwaͤrtig
geweſen iſt. Oeffentliche Schrifften haben
noch einen Vorzug; weil da die Urſachen zu wider-
ſprechen in groͤſſerer Menge vorhanden ſind; und
daher das Stillſchweigen ſich in viele Ausſagen
verwandelt (§. 32.). So kan man von den Ge-
ſchichten des Reichstages zu Regensburg ſehr zu-
verlaͤßige Nachrichten, ja untruͤgliche Nachricht
haben,
[313]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
haben, weil die Geſchaͤffte meiſtens ſchrifftlich tra-
ctirt werden. Eine untergeſchobene Schrifft,
muß da entweder gleich Widerſpruch finden, oder
ſie muͤſte adoptirt, und durch die Billigung, zu ei-
ner wahrhafften Schrifft gemacht werden.


§. 35.
Documente und Jnſtrumente.


Weil die Schrifften bey Geſchaͤfften am er-
ſten zur Gewißheit gebracht werden koͤnnen, ſo ſind
daraus folgende Gewohnheiten entſtanden. 1. Daß
man bey einem hiſtoriſchen Beweiſe (davon her-
nach gehandelt werden ſoll), zufoͤrderſt das auf-
ſucht, was bey der Sache ſchrifftlich iſt tractirt
worden, und ſolches als die Hauptſtuͤtzen, der
Wahrheit anſiehet. Solche Schrifften, die Stuͤ-
cke einer Geſchichte geweſen ſind, werden Docu-
mente
genennet: Dergleichen man bey allen Acten
in Menge anzutreffen pflegt. 2. Hat man ſchon
laͤngſt angefangen, bey wichtigen Geſchaͤfften es
als ein Stuͤck der Vollziehung anzuſehen, daß
ſogleich eine Hiſtorie der Geſchichte aufgeſetzt,
und von denen Partheyen und Jntereſſenten vor
die wahre Erzehlung agnoſcirt wird. Und ſolche
Schrifften werden Jnſtrumenta genennet: Der-
gleichen bey Staatsgeſchaͤfften, als der Kayſerwahl,
Friedensſchluͤſſen, Vermaͤhlungen, auch nicht min-
der, bey Privatgeſchaͤfften, Kauffen, Jnven-
tarien, Schenckungen, Teſtamenten u. ſ. w. in
Menge gefertiget werden. Wie es nun hierunter
viele, ja die meiſten giebt, daran gar nicht der ge-
ringſte Zweifel vorhanden, daß ſie untergeſchoben
U 5ſeyn
[314]Neuntes Capitel,
ſeyn ſollten: Alſo iſt auch klar, daß aus unzwei-
felhafften Documenten und Jnſtrumenten eine
gantz gewiſſe Erkentniß der Geſchichte erhalten
werde.


§. 36.
Unterſuchung Notoriſcher Wahrheiten.


Die ſogenannten Notoriſchen Begebenhei-
ten, nehmen unter denen hiſtoriſchen Wahrheiten
eine der erſten Stellen ein, welchen man am wenig-
ſten die Gewißheit abſprechen wird. Nun iſt
die Frage, was ſind Notoriſche Sachen? Hal-
ten wir die verſchiedenen Exempel zuſammen, wo-
von man die Notorietaͤt ruͤhmet, ſo ſcheinen fol-
gende Eigenſchafften noͤthig zu ſeyn. 1. Daß es
entweder an ſich eine oͤffentliche Begebenheit,
als inuaſiones, Schlachten, Waſſerfluthen ſind,
oder wenigſtens oͤffentlich bekannt gemachte
Begebenheiten. Dergleichen die Geburt fuͤrſtli-
cher Kinder iſt. Nun weiß man, was oͤffentliche
Begebenheiten ſchon vor einen Anſpruch an die Ge-
wißheit haben (§. 33.). Es iſt aber 2. noͤthig,
daß dergleichen Begebenheiten auch noch ſo neu
ſeynd, daß erforderlichen Falls, die Zuſchauer,
auf denen doch allemahl der Grund der hiſtori-
ſchen Wahrheit beruhet, zu Zeugen koͤnten aufgefor-
dert werden. Von alten Begebenheiten pflegt man
eher zu ſagen, daß ſie gewiß, unſtreitig u. ſ. w. als
daß ſie Notoriſch genennet wuͤrden. Aber 3. ſchei-
net auch dieſes erfordert zu werden, daß man in
Anſehung der Entfernung, denen Zuſchauern
leicht ſich naͤhern und ihr Zeugniß imploviren koͤn-
ne:
[315]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
ne: Daß dieſelben alſo nicht gar zu weit weg
ſeyn muͤſſen. Weil die Correſpondenz durch gantz
Europa ſehr erleichtert iſt, daß man in wenigen
Wochen aus jedem Theile deſſelben, Nachrichten,
Antworten, und mithin auch Zeugniſſe von Sa-
chen, daran man etwa Zweifel haben kan; ſo kan
faſt von allen publiquen Begebenheiten in Europa
geſagt werden: Sie waͤren Notoriſch, oder be-
ruheten in der Notorietaͤt. Je naͤher uns aber
eine Begebenheit iſt, die auch die andern requiſita
hat, deſto notoriſcher iſt ſie. Wenn aber in China,
den Philippiſchen Jnſeln, in Peru, was groſſes vor-
gehet, ſo wird ſolches nicht leichte bey uns zu einer
notoriſchen Wahrheit. Wiewohl bey immer mehr
und mehr ſich ausbreitenden Seehandel endlich
alles was auf dem Erdboden vorgehet, vor die Eu-
ropaͤer zu notoriſchen Wahrheiten werden kan;
weil ſie nehmlich aus allen Theilen der Welt in
nicht gar langer Zeit Nachricht haben koͤnnen.


§. 37.
Gewiſſe Erkentniß des Vergangenen aus
dem Gegenwaͤrtigen.


Es iſt ohnſtreitig, daß iezuweilen aus dem
was vorhanden iſt,
etwas Vorhergegange-
nes
auf eine ſehr beſtimmte Art, und zwar un-
truͤglich kann erkannt werden. Geſetzt man zer-
breche eine Muͤntze, oder Stuͤck Eiſen, wie die Al-
ten die Teſſeras hoſpitalitatis machten: So wird
man lange nachher, ſo lange die Stuͤcke ihre Ge-
ſtalt nicht durch Quetſchen, oder Stoſſen, oder
Verroſten aͤndern, erkennen koͤnnen, welches das-
jenige
[316]Neuntes Capitel,
jenige Stuͤck ſey, was davon abgebrochen wor-
den, denn es wird niemahls ein Bruch wieder
auf ſolche Art gerathen, daß das abgebrochene
Stuͤck, an ſtatt des wahren Stuͤckes koͤnte ge-
braucht werden. Keines in der Welt wird ſo
gut paſſen. Solche Faͤlle der gewiſſen Erkent-
niß von Dingen, wo man doch keine Ausſagen,
oder nicht hinlaͤngliche Ausſagen hat, ſind um ſo
viel merckwuͤrdiger, ie ſeltener ſie ſind.


§. 38.
Gemeinere Art aus den Gegenwaͤrtigen das
Vergangene zu erkennen.


Hingegen laͤſſet ſich, nach dem Lauf der Na-
tur,
und aus allgemeinen Begriffen, die man aus
Erfahrungen gemacht hat, bey ieder vorhandenen,
oder gegenwaͤrtigen Sachen eine Menge vor-
hergegangener Begebenheiten, heraus bringen.
Welche Erkentniß der Geſchichte mit der ſoge-
nannten cognitione a priori eine groſſe Verbin-
dung hat. So weiß man nunmehro durch die
Reaumuriſchen und Roͤßleriſchen Bemuͤhungen
von einer Menge Jnſecten, wie ſie generirt und
nach und nach verwandelt werden. Wer nun
dieſer Dinge kundig iſt, und etwa einen Schmet-
terling vor ſich hat: Derſelbe wird erzehlen koͤn-
nen, was ſich von Zeit zu Zeit, mit dieſem Thiere
zugetragen hat, daß ſich ein der Sache unkundi-
ger daruͤber verwundern wird. Wie nun an der
Wahrheit und Gewißheit der Erfahrungen
(wobey man voraus ſetzet, daß ſie richtig gefaſſet
ſeyn muͤſſen), niemand zweifelt; alſo ſagen wir
von
[317]von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
von ſolchen Begebenheiten, die wir aus dem ge-
genwaͤrtigen, durch allgemeine Begriffe und
Regeln heraus gebracht haben: Daß wir ſolche
wiſſen: Wie wir ſolches bey der Entdeckung
der Begebenheiten bemerckt haben (§. 38. C. 7.).
Wenigſtens gehet die Gewißheit der auf dieſe
Art entdeckten Begebenheiten, mit der Ge-
wißheit der Erfahrungen ſelbſt, in einem
Paare. Hat die aus der Erfahrung gemachte
Regel keine Ausnahme: So koͤnnen wir auch in
der Application derſelben auf eintzelne Faͤlle ge-
wiß ſeyn: Hat ſie aber ihre Ausnahmen und iſt
nicht beſtimmt genug, ſo iſt auch die Anwendung
derſelben, und folglich die daraus geſchloſſene Be-
gebenheit nicht untruͤglich.



Zehendes Capitel,
von der
hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.


§. 1.
Das Gegentheil der hiſtoriſchen Gewißheit.


Ungewiß iſt alles dasjenige, was wir nicht
durch den rechten Weg erkennen, durch
welchen wir zur Sache gelangen ſollten.
Dieſes erhellet, vi oppoſitorum, aus der innerli-
chen Beſchaffenheit der Gewißheit (§. 10. C. 9.).
Denn bey ſolcher Erkentniß, wo man nicht durch
den rechten Weg hinter die Sache gekommen iſt,
kan
[318]Zehendes Capitel,
kan man nicht verſichert ſeyn, daß man nicht ſein
Urtheil aͤndern, und entweder verleitet, oder auch
noch eines beſſern belehrt werden duͤrffte. Und die-
ſes geſchiehet, in Anſehung der hiſtoriſchen Erkent-
niß, ſo offte das Anſehen desjenigen nicht voͤllig
bey uns iſt, von dem wir die Nachricht erhalten
haben. Unterdeſſen pflegen wir nicht allemahl
an den Nachrichten, die nicht alle Glaubwuͤr-
digkeit haben, wircklich zu zweifeln, ſondern oͤffters
laſſen wir uns an der allgemeinen uͤberredenden
Krafft, die jede Ausſage bey ſich hat (§. 17. C. 9.),
eine Zeitlang gnuͤgen. Hingegen auſſern ſich
auch mehrmahlen Umſtaͤnde, welche das Gegen-
theil von demjenigen, was wir bisher geglaubt,
nicht allein zu gedencken, ſondern auch zu glauben
veranlaſſen. Daraus erfolgt dann, daß wir eine
Sache bald bejahen, bald verlaͤugnen, nachdem
wir entweder auf dieſe, oder auf die gegenſeitige
Gruͤnde unſere Aufmerckſamkeit richten. Und
dieſer Zuſtand unſerer Seele heiſſet der Zweifel.
Ein ſehr ausfuͤhrliches Exempel eines hiſtoriſchen
Zweifels kan man, auſſer unzehligen andern le-
ſen beym Abbe de Vertot, Hiſtoire de Chevaliers
de Malthe. T. V. p.
437. wo er mit ſich ſelbſt
in einer beſondern Diſſertation uneins iſt, ob die
damahligen Rhodiſer Ritter dem verjagten Tuͤr-
ckiſchen Printzen Zizim einen Saluum conductum
gegeben hatten, oder nicht? indem der Vicecantz-
ler des Ordens, Caourſin, als ein Scriptor coœuus,
und allem Anſehen nach gar ein Jntereſſente bey
dieſer Sache, bezeuget, daß ein Saluus conductus
dein Zizim ſey gegeben worden, Jaligni aber, als
ein
[319]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
ein Autor gleiches Alters, und der ebenfalls um
die Sache gar wohl hat wiſſen koͤnnen, dieſe Ge-
ſchichte ſo vortraͤgt, als wenn dieſer Printz ſich auf
Diſcretion in die Jnſel der Ritter begeben, und
zu ihnen ſeine Zuflucht genommen habe. Es fin-
det aber dieſer Geſchichtſchreiber nicht allein dar-
an einen Anſtoß dem Caourſin Glauben beyzu-
meſſen, weil ihn der Jaligni, als ein nicht zu ver-
achtender Autor widerſpricht, ſondern auch haupt-
ſaͤchlich daran, daß das nachherige Bezeigen der
Ritter, da ſie nachher den Printzen als ihren Ge-
fangenen gehalten, dem Saluo conductui wider-
ſpricht, und im Fall ſolcher wuͤrcklich gegeben wor-
den, zur Schande des damahligen Ordensmei-
ſters und den uͤbrigen vornehmſten Gliedern die-
ſes Ordens gereichen wuͤrde, an deren Ehre, er
doch als ein Geſchichtſchreiber ihrer Thaten, groſ-
ſen Antheil nimmt. Die Exempel ſolcher Zwei-
fel ſind zwar unzehlige; aber die Exempel ſind
nicht ſo haͤuffig, wo man ſeinen Zweifel recht deut-
lich und vollſtaͤndig zu Papier bringt.


§. 2.
Unſer Amt bey Zweifeln.


Der gewoͤhnliche Urſprung des hiſtoriſchen
Zweifels iſt, daß die Ausſagen und Nachrich-
ten,
die wir von einer Sache haben, nicht mit
einander uͤbereinſtimmen: ſondern einander gerade
widerſprechen. Eine jede Ausſage, vor ſich be-
trachtet, macht bey uns den Eindruck der Wahr-
heit (§. 17. C. 9.): Vollends wenn gar der Aus-
ſager ein Anſehen vor ſich hat. Bey widerſpre-
chenden
[320]Zehendes Capitel,
chenden Ausſagen werden wir daher bald auf die-
ſe, bald auf jene Seite gelencket. Und dieſer Fall
kommt bey nahe in allen Klagſachen vor Gerich-
te fuͤr: Jndem wenige Klagen angebracht wer-
den, wo nicht der Beklagte, wenigſtens ein und
anderes Stuͤck der Klage laͤugnen ſollte. Bey
Kriegsunruhen entſtehen immer neue, und einan-
der widerſprechende Spargements, daß man nicht
weiß, was man davon glauben ſoll. Was wir
nun bey dieſen Umſtaͤnden, die unſerer Seele alle-
mahl zur Laſt fallen, und in Ausfuͤhrung der Ge-
ſchaͤffte uͤberaus hinderlich ſind, zu thun haben, iſt,
daß wir uns von der Ungewißheit loß reiſſen, und
zur Gewißheit gelangen. Dieſes iſt nun oͤffters
nicht in unſerer Gewalt; wenn wir nehmlich de-
nen Perſonen, durch die wir weiter belehret wer-
den muͤſſen, nicht beykommen koͤnnen: Und in
dieſem Falle muͤſſen wir mehrere Entdeckung
mit Gedult erwarten, oder abwarten, daß ſich
die Sache mehr und mehr auswickelt, und auf-
klaͤrt.
Es iſt wahr, daß unſere Seele nicht ru-
hig werden kan; daher ſucht ſie bey vorhandenen
Zweifel, wenn derſelbe nicht kan gehoben werden,
das Wahrſcheinliche heraus; oder wie man
zu reden pflegt, das was am wahrſcheinlichſten
iſt; wovon wir hernach handeln wollen. Aber
dieſes muß doch nun das letzte Refugium bleiben,
und die eigentliche Bemuͤhung eines Zweiflers
muß dahin gehen, durch neue Entdeckungen den
Zweifel zu heben; welches zu thun der Weg gar
ſelten gantz und gar abgeſchnitten iſt. Wir be-
trachten alſo zufoͤrderſt den Fall eines vorhande-
nen
[321]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
nen Zweifels, da man im Stande iſt, Unterſu-
chungen anzuſtellen; und alle darzu dienliche Mit-
tel wuͤrcklich anzuwenden; als in welchen Umſtaͤn-
den ſich alle Richter, die gnugſam authorißrt ſind,
befinden muͤſſen. Wir muͤſſen hier nicht gleich
an alte Geſchichte dencken; bey welchen frey-
lich Zweifel in Menge vorkommen; und wo man
nicht fragen kan, wen man will; ſondern alte und
neue Geſchichte muͤſſen hier promiſcue ſupponirt
werden. Ein Mittel hinter die Wahrheit zu kom-
men iſt hauptſaͤchlich bey den alten Geſchichten,
ein anders aber hauptſaͤchlich bey neuen Geſchich-
ten dienlich.


§. 3.
Erſte Pflicht bey vorhandenen und wider-
ſprechenden Ausſagen.


Wenn die Ungewißheit, aus widerſprechenden
Ausſagen entſtehet (denn es iſt noch ein anderer
Fall moͤglich, von welchem hernach) ſo ſiehet man
daß eine von beyden unrichtig ſeyn muß. Da-
her muß unterſuchet werden, wo der Fehler ſtecke?
und wie dieſe widrigen Ausſagen entſprungen ſeyn
moͤgen? Hierbey muͤſſen wir nun 1. in Betrach-
tung ziehen, daß wir uns in Anſehung einer erhal-
tenen Nachricht, entweder als Zuhoͤrer oder als
Leſer verhalten: Die die Beſchaffenheit der zwei-
felhafften Geſchichte, nicht durchs Anſchauen,
ſondern aus Worten erkennen: Wobey alſo
Zweydeutigkeit, Dunckelheit, Mißver-
ſtand,
und Mißdeutung vorkommen kan (§. 16.
C. 7.). Dergleichen nun hat man bey widerſpre-
Xchenden
[322]Zehendes Capitel,
chenden Ausſagen zu vermuthen, deswegen Ur-
ſach, weil einmahl auf einer von beyden Seiten
eine Unrichtigkeit in der Sache vorgegangen ſeyn
muß. Mithin iſt bey widerſprechenden Aus-
ſagen
zuforderſt zu unterſuchen: Ob nicht et-
wa in einer von beyden Ausſagen, oder in
allen beyden auf unſerer Seite ein Miß-
verſtand
ſey. Denn wir haben bey Gelegen-
heit der locorum communium gewieſen, wie zwey
einander zuwiderlauffende loci communes, den-
noch ihren guten Grund haben koͤnnen (§. 40.
C. 2.): Desgleichen wie man von einerley Ge-
ſchaͤffte ſagen koͤnne, daß eine Sache geſchehen,
und daß ſie nicht geſchehen ſey (§. 35. C. 2.).
Auch weiſet die Erfahrung, daß vor Gerichte
Zeugen, die anfangs Contraria ausgeſagt haben,
wenn ſie genauer befragt werden, wuͤrcklich mit
einander eins ſind. Was nun vor Mißver-
ſtand
bey Ausſagen, oder bey hiſtoriſchen Saͤ-
tzen vorkommen koͤnne, daſſelbe gehoͤret in die
Auslegekunſt, beſonders in das Capitel von
Auslegung der hiſtoriſchen Buͤcher und
Stellen,
wie wir ſolches in unſerer Hermenev-
tick
eingerichtet haben. Das Aus- und Nach-
fragen,
und ſich die Sache mehrmahlen erzehlen
laſſen, thut bey neuen Geſchichten die beſten Dien-
ſte, widerſprechende Nachrichten und Ausſagen zu
vereinigen. Bey alten Geſchichten aber, da man
nicht mehr fragen kan, muͤſſen wir zufoͤrderſt, deſto
genauer die Formel anſehen, wie ſich jeder Autor
ausgedruckt hat: Und wie man jeden von beyden,
ohne auf den andern zu ſehen, vor ſich recht ver-
ſtehen moͤge.


§. 4.
[323]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.

§. 4.
Zweyter Verſuch bey widerſprechenden
Ausſagen.


Wenn aber bey widerſprechenden Ausſagen und
Nachrichten in Anſehung ihres Verſtandes keine
Vereinigung zu finden iſt, ſondern der eine klar be-
jahet, was der andere verneinet, ſo muß einer da-
von nothwendig falſch ſeyn. Und alsdenn iſt 2. noͤ-
thig, daß man erforſchet, ob beyde wuͤrcklich Zu-
ſchauer
geweſen, und alſo Urheber der Erzeh-
lung ſind, oder nur einer: ingleichen ob nicht beyde
nur Nachſager ſind. (§. 3. 4. C. 7.) Denn iſt
der eine ein Zuſchauer, der andere aber ein Nach-
ſager; ſo muß bey jedem eine beſondere Unterſu-
chung angeſtellt werden. Denn bey dem letztern
muß man nothwendig weiter zuruͤck gehen, und den
Canal unterſuchen, wo er ſelbſt zu der Nachricht
gekommen iſt; (§. 5. C. 7.) bis wir auf den Au-
tor
oder Zuſchauer kommen, von dem er es in Er-
fahrung gebracht hat. Man kan nicht ſo ſchlecht
weg dem Zuſchauer recht geben, und den Nach-
ſager
verwerffen: weil jener vorſetzlich die Wahr-
heit verheelen kan, da dieſer vielleicht von einem
wahrhafftigen Zuſchauer die Nachricht bekom-
men hat. Mit zwey Nachſagern, die einander
widerſprechen, iſt nichts anzufangen, als daß man
von beyden Erkundigung einziehet, von welchem
autor ein jeder unter ihnen die Nachricht erhalten
habe.


X 2§. 5.
[324]Zehendes Capitel,

§. 5.
Dritter Verſuch bey widerſprechenden
Ausſagen.


Hat man nun zwey Autoren und geweſene Zu-
ſchauer herausgebracht, oder gleich anfangs vor
ſich, (wie Klaͤger und Beklagten) die einander
widerſprechen: ſo wird 3. zu unterſuchen ſeyn, ob
ſie nicht mehr in der Erzehlungsart, als in der
Sache ſelbſt einander widerſprechen: indem wir ge-
wieſen, daß in den Erzehlungen einerley Geſchichte
groſſe Abwechſelungen vorkommen: ſo daß Leute
einander widerſprechen koͤnnen, obgleich keiner den
muthwilligen Vorſatz gehabt hat, die Unwahrheit
zu ſagen. (Cap. 6.) Denn z. E. Titius ſagte:
Cajus habe ihm verſprochen, ſo und ſo viel Getrey-
de zu einer gewiſſen Zeit zu liefern: Sempronius
laͤugnet es, ſo kan eine ſtarcke æquivocation und
Mißverſtand darunter vorwalten: ob nehmlich auch
das Verſprechen voͤllig zu Stande gekommen, und
zu einem gewiſſen Verſprechen geworden iſt. Und
da iſt es nicht allemahl klar, ob nicht die Sache
bey bloſſen Tractaten geblieben. Jeder aber von
den Partheyen ſiehet die Sache nach ſeinem Sinne
an, und denckt, wenn er bey ſich feſte entſchloſſen
geweſen iſt, ſo werde es der andere auch geweſen
ſeyn. Um nun zu erforſchen, ob in der Art der Er-
zehlung der Betrug ſtecke, ſo iſt das eintzige Mit-
tel, daß man die Begebenheit, welche gemeiniglich
mit allgemeinen Worten vorgetragen wird; (§. 4.
C. 6.) als man habe einer Perſon die Ehe ver-
ſprochen;
man habe wo eingemiethet, u. ſ. w.
aus dieſer Decke, darein ſie der Erzehler eingeklei-
det,
[325]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
det, (§. cit.) wieder ausgewickelt werde; und daß
man ſich die Sache nach ihren individuellen Um-
ſtaͤnden, und ſo viel moͤglich en detail erzehlen
laſſe.


§. 6.
Vierter Verſuch bey widerſprechenden
Ausſagen.


Ohngeachtet durch die angefuͤhrten Mittel ſchon
recht ſehr viele widerſprechende Ausſagen koͤnnen
gehoben werden, ſo daß man auf ſolche Art durch
den Zweiffel zur Gewißheit durchdringet; ſo werden
doch Faͤlle uͤbrig bleiben, wo dadurch der vorhan-
dene Widerſpruch noch nicht gehoben wird; ja wo
man nicht einmahl vermuthen kan, daß er auf ſol-
che Art koͤnne gehoben werden: wenn nehmlich die
Worte der Ausſagen ſo beſtimmt, ſo genau ge-
faſt ſind, daß es iſt, als wenn man bey der Sache
ſelbſt gegenwaͤrtig geweſen waͤre. Hier ſcheinet es
nunmehro unvermeidlich zu ſeyn, daß nicht einer
von beyden vorſetzlich die Unwahrheit ſagen ſollte:
allein es iſt noch vorher ein anderer Caſus moͤglich:
nehmlich daß die Ausſager die Sache aus ver-
ſchiedenen Sehepuncten
angeſehen haben, und
darum einander widerſprechen. Z. E. Man be-
findet ſich an einem angelauffenen Waſſer, und
fragt deswegen die Leute in der Naͤhe, ob man durch-
fahren koͤnne: die meiſten ſagen: nein! einer et-
wa, oder der andere: ja! der es bejahet, kan
noch darzu Exempel anfuͤhren, daß welche bey eben
ſo hohem Waſſer durchgefahren waͤren. Warum
widerſprechen dieſe einander? nehmlich der letztere
hat etwa einmahl einen hochgebauten Wagen
X 3durch-
[326]Zehendes Capitel,
durchfahren ſehen, und macht daraus nicht ohne
Grund den locum communem: man koͤnne bey ſo
hohem Waſſer durchfahren. Die andern aber,
welche gedencken, daß dem vorhandenen Reiſenden
der locus communis nichts hilfft; ſondern die
Nachricht, ob er mit ſeinem Wagen und Geſpann
durchkommen kan, antworten ihm aus dieſem Se-
hepuncte mit Nein! weil ſie wahrnehmen, daß
mit einem ſo kleinen und niedrigen Wagen nicht
durchzufahren iſt: Tauſenderley Widerſpruͤche im
Erzehlen und Ausſagen entſtehen in der Welt dar-
aus, daß einer die Sache anders anſiehet,
als der andere.
Darauf iſt alſo 4. zu ſehen, wenn
man durch widerſprechende Ausſagen und Nach-
richten in ſeinem Sinne irre gemacht wird: daß
man nehmlich erforſchet, ob auch beyde Ausſager
die Sache auf einerley Seite und auf einerley
Weiſe
anſehen?


§. 7.
Fuͤnffter Verſuch bey widerſprechenden
Ausſagen.


Wenn aber alle dieſe Mittel die wider einander
lauffenden Ausſagen mit einander zu vereinigen
wegfallen, und ſie alſo wuͤrcklich einander wider-
ſprechen, ſo muß des einen ſeine Ausſage die Un-
wahrheit ſeyn. Die Frage iſt nun, wie weiter zu
erforſchen, auf welcher Seite die Unwahrheit ge-
ſagt worden ſey. Weil wir nun annehmen, daß
beyde Ausſager Zuſchauer geweſen, (§. 4.) und
daß ſie die Sache nicht bloß auf verſchiedene und nur
dem Scheine nach widerſprechende Art erzehlet,
(§. 5.) noch aus einem verſchiedenen Sehepun-
cte
[327]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
cte angeſehen haben, (§. 6.) ſo muß einer darun-
ter vorſetzlich die Unwahrheit ſagen. Da wuͤr-
de nun freylich aus der Sache gar nicht zu kommen
ſeyn, wenn beyde Ausſager einerley, und zwar
voͤlliges Anſehen haͤtten. Allein ein ſolcher Fall
iſt in der Schaͤrffe genommen nicht einmahl moͤg-
lich, (§. 24. C. 9.) iſt auch dem Scheine nach in
der Welt ſelten vorhanden; ſondern es aͤuſſert ſich
auf einer Seite irgend ein Mangel des Anſe-
hens: So, wenn in der Geſchichte beym Vertot,
(§. 1.) die beyden Scriptores von einerley Anſehen
waͤren, wuͤrde man nicht leichte nur zu einer Ver-
muthung kommen koͤnnen, woran es fehlete: als
wenn der eine etwa Cantzler, der andere Vice-
Cantzler des Ordens geweſen waͤre. So aber iſt
der eine nehmlich Caourſin, Vice-Cantzler, und
hat alle Eigenſchafften eines Autors: der andere
aber, nehmlich Jaligni, iſt zwar ein Scriptor
coæuus,
aber ein fremder, ein Frantzoͤſiſcher
Staats-Seeretarius, der von der eigentlichen Be-
ſchaffenheit der Aufnahme des Tuͤrckiſchen Prin-
tzens auf der Jnſul Rhodus nur aus Nachrichten,
und etwa aus den Berichten des Ordens an den
Koͤnig in Franckreich ſelbſt, kan Kundſchafft ge-
habt haben. Wenn dieſe ſehr kurtz geweſen ſind,
wie zu vermuthen ſtehet, kan leicht vom ſaluo con-
ducto
gar nichts drinne geſtanden haben, ſo daß
daraus gar wohl die Vorſtellung hat entſtehen koͤn-
nen, die ſich Jaligni von der gantzen Affaire ge-
macht hat. So viel iſt gewiß, daß ſein Anſehen
in dieſer Erzehlung dem Anſehen des Vice-Cantz-
lers nicht gleich iſt. Wiewohl auch der Wider-
X 4ſpruch
[328]Zehendes Capitel,
ſpruch beyder Ausſagen nicht ſo groß iſt, daß ſie nicht
ſollten aus der verſchiedenen Erzehlungsart und aus
dem verſchiedenen Sehepuncte, mithin nach den
(§. 5. 6.) beſchriebenen Mitteln koͤnten vereiniget
werden. Jn den meiſten Faͤllen iſt die eine Aus-
ſage
ſo gar wegen des Vortheils, den der Ausſa-
ger von derſelben hat, verdaͤchtig. Es mag aber
damit beſchaffen ſeyn, wie es will, ſo muß bey vor-
handenen widerſprechenden Ausſagen 5) die Be-
muͤhung dahin gehen, eine von beyden aus dem
Wege zu raͤumen.


§. 8.
Wie Ausſagen weggeſchafft werden.


Wir haben gewieſen, daß im Fall das Anſehen
eines Ausſagers nicht voͤllig waͤre, ſolches ergaͤntzet
werden muͤſſe. (§. 25. C. 9.) Nun iſt bey wi-
derſprechenden Ausſagen des einen ſeine Ausſage,
oder auch beyder nicht voͤllig: (§. 7.) Daher waͤ-
re denn ſolches zu ergaͤntzen. Jndem aber dieſes
geſchiehet, ſo wird ſich finden, daß in den meiſten
Faͤllen zugleich die intendirte Wegſchaffung der ei-
nen Ausſage erhalten werde. Denn ſo geſchiehet
es 1. daß, wenn man zu Beſtaͤrckung des Anſehens
wider den Verdacht der Leichtſinnigkeit den Eyd
fordert, (§. 26. C. 9.) mancher ſeine Ausſage zu-
ruͤck nimmt. 2. Wenn man den Vortheil, den
iemand aus einer falſchen Ausſage haben moͤchte,
durch gegenwaͤrtige Uebel, ja wohl nur durch Dro-
hungen begegnet, daß viele die Wahrheit zu ſa-
gen ſich bequemen. 3. Durch Herbeybringung
der Zeugen kan zwar unmittelbar dem Zweiffel dar-
um
[329]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
um nicht abgeholffen werden, weil durch noch ſo
ſehr gehaͤuffte Ausſagen die einmahl vorhandene wi-
derſprechende Ausſage doch nicht weggeſchafft wird:
aber die Menge der entgegen ſtehenden Ausſagen
kan doch endlich den Luͤgner irre und ſchamroth ma-
chen, daß er mit der Wahrheit heraus ruͤckt. So
lange aber noch eine Ausſage uͤbrig iſt, die man
nicht heben kan, ſo lange iſt auch der Zweiffel nicht
gaͤntzlich gehoben. Unſere Rechtslehrer gehen
ſchwehr daran, einen Jnquiſiten zu verdammen,
ſo lange er laͤugnet; ohngeachtet ſeine Ausſage we-
gen des darunter habenden groſſen Vortheils ſehr
verdaͤchtig iſt; worinnen ſie ſich genau nach dem
Grundſatz der Ausſagen und Nachrichten (§. 16.
17. C. 9.) achten.


§. 9.
Zweyter Hauptgrund der Zweiffel.


Geſchichte werden auch aus Folgen erkannt,
(§. 38. C. 7.) und dieſe geben ſtarcke Gelegenheit
zum Nachforſchen und Ausſpuͤhren. (§. 39. 40.
C. 7.) Nun ſind zwar die meiſten Folgen ſo be-
ſchaffen, daß ſich die Geſchichte bloß aus ihnen
nicht gewiß erkennen laͤſſet, wie wir in der Abhand-
lung de Veſtigiis gezeigt haben; doch findet ſich
auch in dieſen ein Unterſcheid. Manche Folgen ſind
ſo beſchaffen, daß jeden nach der genaueſten Ge-
denckart ein vorhergegangenes factum dabey ein-
faͤllt; ob ſich gleich die Wuͤrcklichkeit deſſelben nicht
zuverlaͤßig daraus beweiſen laͤſſet. Dieſe Folgen
wollen wir handgreiffliche Anzeichen nennen.
Andere Folgen aber geben nur dieſen oder jenen
X 5Gele-
[330]Zehendes Capitel,
Gelegenheit, an das vorhergegangene zu geden-
cken, und koͤnnen leicht gar unbemerckt bleiben:
dieſes ſind denn die ſo genannten Spuren. Z. E.
wenn in einem Hauſe ein Diebſtahl begangen wird,
und einer von den Haußgenoſſen wird kurtz darauf,
ohne daß man eine Urſache weiß, fluͤchtig; ſo wird
jeder auf ihn den Verdacht des begangenen Dieb-
ſtahls werffen. Hoͤret man vollends, daß er auf
der Flucht einen Vorrath an Gelde blicken laſſen,
ſo wird jeder noch mehr auf ihn verfallen. Unter-
deſſen giebt doch beydes noch keinen Beweiß der
That ab, ſondern nur ein Befugniß, genau zu in-
quiriren. Hingegen ſind oͤffters Minen und ande-
re geringe Handlungen Spuren geweſen, durch
welche man auf iemanden Verdacht zu werffen iſt
angeleitet worden, der auch hernach ſchuldig be-
funden worden.


§. 10.
Andere Mittel wider den Zweiffel.


Aus denen handgreifflichen Anzeichen erfolgen
nun zweyerley Gruͤnde des Zweiffels: 1. wenn
Anzeichen pro und contra vorhanden ſind; 2. wenn
die Anzeichen mit denen Ausſagen nicht uͤbereinkom-
men: wie es meiſtens geſchiehet, daß Miſſethaͤter
durch Anzeichen in Unterſuchung gezogen werden,
aber alles laͤugnen. Weil einmahl hier nicht un-
umſtoͤßliche Anzeichen ſupponirt werden, ſo iſt zu
Erlangung der Gewißheit nichts zu thun: als daß
man 1.) entweder die Ausſage beſtaͤtigen laͤſſet,
(§. 21. 26. 28. C. 9.) und darnebſt klar machen
laͤſſet, wie die vorhandenen Anzeichen betruͤglich
gewe-
[331]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
geweſen, oder 2) die vorhandene Ausſage weg-
geſchafft worden. (§. 8.) Wenn man alle dieſe
Regeln bey alten und neuen Geſchichten beobachtet,
ſo wird man finden, daß eine ungemeine Menge
von Zweiffeln wegfallen wird. Alle Zweiffel he-
ben wollen iſt eine Unmoͤglichkeit: denn wie die
Menſchen unvermeidlicher Weiſe unendlich vieles
nicht wiſſen; alſo iſt auch nothwendig, daß ſie vie-
les nur mit zweiffeln wiſſen. Denn das Mittel
zwiſchen wiſſen und nicht wiſſen iſt zweiffeln.


§. 11.
Von der hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.


Wahrſcheinlichkeit iſt eine Art des Zweif-
fels, welche ſchwehr zu beſtimmen iſt. Sie aͤuſ-
ſert ſich aber ſo in der Seele. Bey manchem Zweif-
fel iſt uns das Bejahen ſo ſehr am Hertzen gelegen,
als das Verneinen, und wir trauen uns nicht vor
die Wahrheit eines oder des andern zu ſtehen.
Manchmahl aber ſind wir auf die Wahrheit einer
Sache ziemlich verſichert, nur iſt etwas, daß auch
die Vorſtellung des Gegentheils immer bey uns re-
ge macht, welches denn zu mancher Stunde mit
mehrerer Klarheit geſchiehet, als in der andern.
Dieſer Zuſtand der Seele iſt unlaͤugbar, daß er
bey vielen Dingen in unſerer Seele vorhanden ſey.
Da nun dieſelbe Wahrſcheinlichkeit heiſſet, ſo
iſt die Wahrſcheinlichkeit ſo gut, als das op-
poſitum,
nehmlich der voͤllige Zweiffel, und das
Genus davon, welches Zweiffel ſchlecht weg heiſ-
ſet, aus der Erfahrung bekannt. Gemeiniglich
aber erklaͤret man wahrſcheinlich durch ein Ur-
theil,
[332]Zehendes Capitel,
theil, welches mehr Grade der Wahrheit vor ſich
hat, als das gegenſeitige Urtheil. Man hat dieſe
Erklaͤrung auch auf die hiſtoriſchen Dinge applici-
ren wollen; wo ſie aber gar nicht brauchbar iſt: ob-
gleich einem guten Theile unſerer hiſtoriſchen Er-
kentniß die Wahrſcheinlichkeit ſelbſt nicht abzuſpre-
chen iſt. Man weiß nehmlich, daß Dinge, die ab-
gezehlet und zuſammen gerechnet werden ſollen, in-
nerlich einerley Qualitaͤten haben muͤſſen: daß die
Einheiten, woraus die Summe entſtehen ſoll,
von einerley Werthe ſeyn muͤſſen. Dieſes aber iſt
bey dem hiſtoriſchen Zweiffel und der hiſtoriſchen
Wahrſcheinlichkeit nicht zu erhalten. Es ſey der
Fall: eine Begebenheit ſoll ſechs Zuſchauer ge-
habt haben. Einer ſagt dies, die andern fuͤnffe
das Gegentheil aus; ſo wuͤrde jedermann die Aus-
ſage der meiſten vor ſehr wahrſcheinlich halten. Dar-
zu aber waͤre noͤthig, daß ſie auch alle 6. einerley
Anſehen haͤtten; und das wird ſich nicht leicht zu-
tragen. Schlechtweg aber kan man aus einer
groͤſſern Anzahl Ausſager keine Wahrſcheinlichkeit
machen, wo die Anzahl der Zuſchauer nicht be-
ſtimmt iſt: denn entweder wird der, dem es an Zeu-
gen fehlet, noch mehrere herbey ſchaffen: oder wo-
ferne andere Hinderniſſe darzwiſchen kommen, daß
er ſie nicht herbey bringen kan, ſo kan ja ſolches der
Wahrheit der Sache ſelbſt keinen Nachtheil verur-
ſachen.


§. 12.
[333]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.

§. 12.
Klare Exempel der hiſtoriſchen Wahr-
ſcheinlichkeit.


Es kommen aber verſchiedene Faͤlle vor, da eine
Ausſage vor den andern einen merklichen Vorzug
hat: woraus alſo eine Wahrſcheinlichkeit entſtehen
kan. Als 1. es ſey eine Ausſage vorhanden, von
einem, deſſen Anſehen beynahe voͤllig iſt: wider
dieſe kommt eine Ausſage zum Vorſchein von ie-
manden, deſſen Anſehen auch bey uns etwas gilt.
Bey dieſen Umſtaͤnden wird uns die erſte Ausſage
nur wahrſcheinlich ſeyn. 2. Es ſey eine Ausſage
vorhanden, die klar und deutlich iſt: dargegen fin-
det ſich eine gegenſeitige Ausſage, die die Klarheit
nicht hat: ſo wird jene, ſo lange dieſe nicht wegge-
raͤumt iſt, uns wahrſcheinlich ſeyn. 3. Die Aus-
ſage eines Zuſchauers wird durch die Gegenausſage
eines Nachſagers, die man doch nicht ablehnen kan,
keine Gewißheit, ſondern nur Wahrſcheinlichkeit
in uns erwecken. 4. Jſt es vollends, daß die ei-
ne Ausſage ungezweiffelt vorhanden iſt, die gegen-
ſeitige aber nicht einmahl ausgemacht iſt, (wie
man manchmahl hoͤrt, der und der ſollte das geſagt
haben: in einem gewiſſen Buche ſolle das und das
ſtehen,) ſo wird jene wegen ihres Vorzugs Wahr-
ſcheinlichkeit hervorbringen.


§. 13.
Was bey der hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit zu
thun iſt.


Bey der Wahrſcheinlichkeit nun, muß, wie bey
dem Zweiffel uͤberhaupt, unſere Bemuͤhung dahin
gehen,
[334]Zehendes Capitel,
gehen, daß man aus derſelben heraus kommt, und
zur Gewißheit gelanget. (§. 2.) Man wird auch
ſelten Urſach haben, alle Hoffnung darzu fahren zu
laſſen. Bey dieſer wichtigen Arbeit aber wird eben
ſo zu verfahren ſeyn, wie wir gewieſen haben, daß
man aus der hiſtoriſchen Ungewißheit heraus kom-
men koͤnne. Geſetzt aber, darzu ſey die Hoffnung
verlohren: ſo iſt alsdenn ein nuͤtzliches Geſchaͤffte:
daß wir die gantze Beſchaffenheit unſerer
wahrſcheinlichen Erkentniß von einer Sa-
che klar und deutlich andern vor Augen le-
gen.
Denn wie uns daran gelegen iſt, daß an-
dere mit uns in Anſehung unſerer gewiſſen Er-
kentniß einſtimmig ſind; alſo gelten eben auch dieſe
Urſachen, daß wir auch auf den Beyfall anderer in
Anſehung unſerer wahrſcheinlichen Erkentniß be-
dacht ſind. Dieſen Umſtand, oder vielmehr die-
ſes nuͤtzliche Geſchaͤffte, haben die bisherigen Lehrer
der Wahrſcheinlichkeit gantz aus den Augen geſe-
tzet, und dafuͤr ein anders, als das eintzige noth-
wendige angeprieſen; nehmlich die Grade der
Wahrſcheinlichkeit, auch in der hiſtoriſchen
Erkentniß zu beſtimmen, oder zu zeigen, um wie
viel
der eine hiſtoriſche Satz wahrſcheinlicher ſey,
als der andere. Wir wollen von beyden, aber von
dem erſtern, zufoͤrderſt handeln. Denn es iſt ei-
ne gar mißliche Sache, andern ſeine wahrſchein-
liche
Erkentniß begreifflich zu machen, daß ſie ih-
nen auch wahrſcheinlich wird.


§. 14.
[335]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.

§. 14.
Uneinigkeiten in hiſtoriſchen Wahrſchein-
lichkeiten.


Wenn eine Ausſage vor der andern einen ſolchen
Vorzug hat, wie wir (§. 12.) gewieſen haben,
ſo wird jeder, der ſolchen Vorzug einraͤumet, auch
uns recht geben, und uns einraͤumen, daß die
Ausſage, die wir vor wahrſcheinlich halten, auch
ihm wahrſcheinlich ſey. Wenn aber handgreiff-
liche Anzeichen
wider Ausſagen ſtreiten: ſo
wird man in der Erfahrung finden, daß der eine de-
nen Anzeichen, der andere den Ausſagen mehr Ge-
wichte beyleget, und eher Beyfall geben wird. An-
zeichen wider einen jungen Menſchen, die einen
Richter faſt bewegen moͤchten, ihn ohne weitlaͤuff-
tigere Unterſuchung gleich zu condemniren, wollen
immer noch den Eltern nicht einleuchten: Das
Laͤugnen des Sohnes gilt bey ihnen immer weit
mehr. Wie ſchwehr iſts nicht bey groſſen Herren,
daß ihnen durch Anzeichen die Treue ihrer Vertrau-
ten verdaͤchtig werde. Hingegen finden wir wie-
der bey ſoupconneuxen Leuten, daß ihnen ein gerin-
ges Anzeichen die Sache ſo zuverlaͤßig vorſtellen
kan, daß ſie ſich durch noch ſo viel Ausſagen nicht
wieder zur Ruhe bringen laſſen. Hier laͤſſet ſich
die Krafft der Anzeichen und die Krafft der Ausſa-
gen nicht gegen einander abwaͤgen: weil es Dinge
von gantz verſchiedener Art ſind.


§. 15.
Die wahrſcheinliche Erkentniß iſt gantz ein ander
Werck, als die gewiſſe.


Ueberhaupt, wenn man einmahl nicht auf dem
rechten
[336]Zehendes Capitel,
rechten Wege iſt, eine Sache zu erkennen, ſo
kommt es hernach nicht allein auf die innerliche
Beſchaffenheit der Sachen an, und der Gruͤnde,
worauf unſere Erkentniß beruhet, ſondern auch
vornehmlich 1. auf die Klarheit eines jeden
Grundes, wie ſtarck uns derſelbe im Sinne liegt,
und unſere Aufmerckſamkeit an ſich ziehet. 2. Auf
die Neigung, welche man aus andern Urſachen
hat, die Sache zu glauben, oder nicht zu glauben.
Eben das Anzeichen wird dem einem Ehemanne
die Treue ſeiner Ehegattin ſehr verdaͤchtig machen,
welches einem andern kaum der Rede werth zu ſeyn
duͤncket. Jeder weiß, daß die meiſten Anzeichen
der Dinge nicht untruͤglich ſind. Auch wird da-
durch kein Anzeichen zuverlaͤßiger, und beweiſt an
ſich deswegen nicht mehr, daß es mir oder dir etli-
che mahl eingetroffen: weil wir ja im Voraus wiſ-
ſen, daß es bald eintrifft, bald nicht eintrifft, wie
viele Prognoſtica des Wetters und des Todes.
Unterdeſſen, derjenige, dem ein Anzeichen einige
mahl eingetroffen, wird hernach in neu vorkom-
menden Faͤllen ſich nicht enthalten koͤnnen, demſel-
ben ein groſſes Gewichte beyzulegen, ob er gleich
durch ſeine vernuͤnfftige Ueberlegung wiſſen kan und
muß, daß dieſer Umſtand die Anzeichen an ſich
nicht ſicherer machen kan, daß ſie eben ihm eini-
ge mahl eingetroffen ſind: ſo wie im Gegentheil je-
der, wenn ein ihm angerathenes Anzeichen etliche
mahl fallirt, kuͤnfftig nichts mehr darauf halten
wird: ohngeachtet doch dieſes der anzeigenden
Krafft deſſelben an ſich nicht ſchaden kan, daß es
ihm nicht getreulich angezeiget. Nun laſſe man
zwey
[337]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
zwey ſolche Perſonen zuſammen kommen; wie iſt es
moͤglich, daß ſie einander ihre Gruͤnde der Wahr-
ſcheinlichkeit begreifflich machen? Denn wenn
gleich jeder allenfalls anzeigt, daß er es aus der ei-
genen
Erfahrung wiſſe, ſo begreifft doch der an-
dere das Vertrauen aus dieſer Erzehlung nicht,
welches der erſtere auf ſeine Erfahrung ſetzet: und
ſo auf dem andern Theile auch. Sie bleiben alſo
uneins, wo man nicht gar ſehr zu abſtrahiren, und
ſich in die Umſtaͤnde einer andern Seele zu ſetzen ge-
lernet hat; welches doch ſchon in theoretiſchen, ge-
ſchweige in pracktiſchen Dingen uͤberaus ſchwehr iſt.
Was aber die Liebe und Luſt an einer Sache, ſo
gar nur bey einem Geſchichtſchreiber, geſchweige
bey Dingen, die uns naͤher angehen, ausrichten
kan; koͤnnen wir auch aus dem angefuͤhrten Exem-
pel des Vertot ſehen. (§. 2.) Dieſer macht ſich
ein groß Bedencken, ob auch die Rhodiſerritter
dem tuͤrckiſchen Printzen einen Salvum conductum
gegeben haͤtten, darum, weil die Ritter den Sal-
vum conductum
nachher muͤſten violirt, und ſich
alſo gar ſehr an den Geſetzen der Treue verſuͤndiget
haben. Weil die Folgen des Salvi conductus un-
gerecht ſeyn wuͤrden; ſo ſchluͤſſet er daraus, wi-
der
die Exiſtentz des Salvi conductus. (§. 9.) Al-
lein wuͤrde wohl ein anderer, der bey dieſer Sache
gantz und gar fremde waͤre, ſich im geringſten dar-
an irren laſſen, eine Sache zu glauben, darum,
weil ſie zur Ungerechtigkeit nachher Gelegenheit
muͤſte gegeben haben? Man weiß ja, daß nicht
allein Dinge, die zur Ungerechtigkeit nach und
nach verleitet, ſondern unzehlige himmelſchreyende
YUnge-
[338]Zehendes Capitel,
Ungerechtigkeiten in der Welt, gerade zu ſind began-
gen worden. Aber vor einen Geſchichtſchreiber,
der an der Ehre ſeines Heldens Theil nimmt, wie
ſolches auch die Liebe des Naͤchſten erfordert; wenn
er anders irgend etwas vor ſich ſiehet, das eine
Blame abwenden kan; ſo wird ſeine gantze Auf-
merckſamkeit daruͤber rege. Wiewohl gedachter
Abt auch alſo haͤtte dencken koͤnnen; was der Vice-
Cantzler des Ordens, demſelben vor keine Schande
gehalten, das darff ein Geſchichtſchreiber demſel-
ben auch wohl zuſchreiben, ohne ihm, wegen der
Ehre ſeiner Helden bange ſeyn zu laſſen.


§. 16.
Schwehre Arbeit, mit wahrſcheinlichen Geſchich-
ten umzugehen.


Man merckt ſchon hieraus, in was fuͤr eine Weit-
laͤufftigkeit man geraͤth, wenn man ſich wegen der
Wahrſcheinlichkeit eines einigen Facti und Bege-
benheit
, wobey nur ein Ja und ein Nein moͤg-
lich iſt, mit andern Menſchen vereinſtaͤndigen will,
auch daß es noͤthig ſey, ihnen ſchon vieles von ſeinem
Hertzenszuſtand zu entdecken. Aber wie wird es
vollends werden, wenn man auf andere hiſtori-
ſche
Stuͤcke ſiehet, in welchen vornehmlich
die Wahrſcheinlichkeit herrſchet, und die, ihrer
Natur nach, nicht eine einige Begebenheit, ſon-
dern eine groſſe Menge, ja, nach Gelegenheit un-
zehlige in ſich faſſen. Da iſt es um ſo viel ſchweh-
rer, Menſchen mit einander zu vereinigen, weil
bisher wenigſtens noch gar nicht Regeln vorhanden
geweſen ſind, wie man nun im geringſten von ſol-
chen
[339]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
chen Sachen zuverlaͤßig urtheilen, und wie man
davon vernehmlich reden ſolle. Wir wollen es in
beſondern Stuͤcken der Geſchichtskunde zeigen.


§. 17.
Erſte wichtige Art der wahrſcheinlichen Stuͤcke in
der Hiſtorie.


Oeffters werden Geſchichte unter der Geſtalt der
allgemeinen Wahrheiten, und als loci com-
munes
vorgetragen. Z. E. Der eine ſagt: Die
Heyden ſind tugendhafft geweſen; der andere
verneinet es. Wird da nicht in der That alles voraus
geſetzt, was wir aus den alten Geſchichtſchreibern
gutes oder boͤſes von den Heyden wiſſen: und doch
kommt es nicht eben auf dieſe oder jene That insbe-
ſondere, ſondern auf das meiſte, auf das groͤſte
und vornehmſte an. Bey dieſer Art von hiſtori-
ſchen Wahrheiten ſind wenigſtens zweyerley Be-
trachtungen zu unterſcheiden: 1. Des facti, das
voraus geſetzt wird, daß dabey keine fallacia vor-
gehe: ſo dann 2. wie aus dem facto der locus com-
munis
gemacht werde. Nachdem wir nun eine
Theorie von dieſen Locis communibus angegeben
haben, wie (§. 40. ſqq. C. 2.) iſt gewieſen worden;
ſo wird man vermittelſt dieſer Theorie auch nun-
mehro im Stande ſeyn, von hiſtoriſchen Wahr-
ſcheinlichkeiten
dieſer Art vernehmlicher zu re-
den, und das, was man ſelbſt vor wahrſcheinlich
haͤlt, auch andern wahrſcheinlich zu machen: da
man ohne ſolche Regeln de locis communibus we-
der den rechten Anfang, noch Ende in dergleichen
Abhandlung beſtimmen kan.


Y 2§. 18.
[340]Zehendes Capitel,

§. 18.
Zweyte wichtige Art der Wahrſcheinlichkeit
in der Hiſtorie.


Die Wahrſcheinlichkeit aͤuſſert ſich ferner
hauptſaͤchlich in gantzen Geſchichten; und de-
nen daraus entſtehenden langen Beſchreibungen,
die zumahl in einer gewiſſen Abſicht gefertiget
werden (§. 12. 19. C. 6.); als um die Gerechtig-
keit, oder Ungerechtigkeit eines gewiſſen Verfah-
rens darzuthun. Warum hierbey die Menſchen
nicht leichte unter einen Huth zu bringen ſeyn;
und alſo auch, warum wir in ſolchen Stuͤcken oͤff-
ters auch nicht eine Wahrſcheinlichkeit bey den an-
dern erhalten koͤnnen, iſt ebenfalls aus den in vori-
gen Capiteln feſtgeſtellten Lehren deutlicher zu erken-
nen. Hauptſaͤchlich ſind dieſe zwey Stuͤcke zu beob-
achten. Weil man 1. eine gantze Geſchichte nicht
leichte vor ſich ſelbſt und als ein geweſener Zu-
ſchauer wiſſen kan (§. 15. C. 6.). Und alſo auch
nicht, aus der Ausſage eines eintzigen Autors,
den man auch Zeugen nennet, haben kan: So
wird man ſich bey Erzehlung einer langen Ge-
ſchichte, auf eine Menge Perſonen, und ihre
Ausſagen beziehen muͤſſen. Darunter werden
nun immer welche ſeyn, die theils noch kein Anſe-
hen bey dem, dem wir unſere Sache wahrſcheinlich
machen wollen, haben; theils ihm gar verdaͤchtig
ſind: Es koͤnnen ſich Schwierigkeiten finden, daß
ihm ihre Ausſagen zum Theil nicht klar genug vor-
kommen. Einigen darunter koͤnnen wohl gar ge-
genſeitige Ausſagen im Wege ſtehen. Was vor
eine
[341]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
eine Menge Gedancken! die man in den an-
dern erwecken, und denen man begegnen muß,
um ihm eine Geſchichte ſo wahrſcheinlich zu ma-
chen, wie ſie uns iſt? 2. Da die Einrichtung einer
gantzen Erzehlung, auch noch keine bekannte Re-
gel hat, auſſer was wir von dem Grundriſſe einer
Erzehlung gewieſen (§. 18. C. 6.), welches doch
aus einer andern angefuͤhrten Urſach (§. 26. C. 6.),
die Einrichtung einer jeden Erzehlung noch nicht
genugſam beſtimmet; ſo wird man Noth haben,
auch nach Beobachtung dieſer neuen Regeln, ſei-
nes Hertzens Sinn, fremden gantz und gar zu er-
oͤffnen, und dadurch die Wahrſcheinlichkeit bey
andern zu erpreſſen; ſo wie es bey der gewiſſen
Erkentniß moͤglich ſeyn muß, den andern von der
Gruͤndlichkeit der Sache, ſo uͤbel er ſich auch dar-
zu anſchickt, zu uͤberzeigen.


§. 19.
Dritte wichtige Art der wahrſcheinlichen
Stuͤcke in der Hiſtorie.


Ein Hauptwerck aber, worinnen ſich die hiſto-
riſche Wahrſcheinlichkeit recht ſpiegelt, iſt ferner
die Angebung der Urſachen von vergangenen
Dingen. Nun wird man aus unſerer Theorie
von dieſer Sache (§. 36. ſeq. C. 8.) erſehen ha-
ben, ſowohl wie man disher keine feſtgeſetzten Prin-
cipia
gehabt, von den Urſachen der Begeben-
heiten zu urtheilen, oder zu reden; als auch, was
es vor Bedencklichkeit habe, wenn man in die Ur-
ſachen einer Begebenheit hinein gehen will. Un-
terdeſſen da wir nunmehro Formeln haben, wie
Y 3man
[342]Zehendes Capitel,
man von den Urſachen einer jeden Begebenheit
und Geſchichte mit einander reden und dencken ſoll:
So wird man, wenn man ſich nur erſt ſelbſt uͤber
einer wahrſcheinlichen Urſache einer Begeben-
heit entſchloſſen hat, auch andern ſeine Gedancken
hievon mittheilen, und wenigſtens mercken koͤnnen,
woran es fehlet, oder fehlen koͤnne, daß der ande-
re unſere angegebene Urſach, nicht vor wahrſchein-
lich will gelten laſſen. Wir moͤgen Kuͤrtze halber
nichts von dem, was wir ſchon geſagt haben, wie-
derholen; unſere Leſer aber bitten wir, die ihnen
etwa beywohnenden Scrupel, welche ſie wider die
hie und da angegebenen Urſachen der Begeben-
heiten haben, als Exempel vorzunehmen, und ſie
gegen die Lehren (des Cap. 8. §. 36. ſeq.) zu hal-
ten; ſo werden ſie wahrnehmen, daß ſie von ihrem
Zweiffel deutlicher zu reden, und weiter zu forſchen
Gelegenheit und Anleitung finden werden.


§. 20.
Vierte wichtige Art der Wahrſcheinlichkeit
in der Hiſtorie.


Der haͤuffigſte Fall, wo die Wahrſcheinlichkeit
in der Hiſtorie gebraucht wird, iſt dieſer, wenn uͤber
einen hiſtoriſchen Satz und uͤber eine Geſchichte ge-
ſtritten
wird; dergeſtalt, daß jeder nicht allein
das ſeinige beweiſen, ſondern auch das Gegen-
theil
widerlegen muß. Dabey muͤſſen ſich nun
nothwendig alle Arten der hiſtoriſchen Schwie-
rigkeiten
aͤuſſern: Woferne man nicht, mit allem
dem, was zur hiſtoriſchen Erkentniß gehoͤrt, be-
waffnet und ausgeruͤſtet iſt: Dergeſtalt daß man
nicht
[343]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
nicht allein die Fehler der gegenſeitigen Ausſage
und Zeugniſſe, genau bemerckt, ſondern auch, was
ſeinem eigenen Beweiſe, moͤchte vorgeruͤckt wer-
den, voraus abſehen, und demſelben vorbauen kan.
So wie man bey Diſputationen uͤber allge-
meine
Wahrheiten den gantzen Apparatum der
Logicaliſchen Regeln und Begriffe im Gedaͤchtniß,
ja am Griffe haben muß: Alſo muß man bey hi-
ſtoriſchen Streitigkeiten, auch alle Begriffe und
Regeln der hiſtoriſchen Erkentniß bey der Hand,
ja am Griffe haben. Folglich iſt auch, in un-
ſerer gantzen Abhandlung Anleitung gegeben
worden: Wie man im hiſtoriſchen Diſputiren ſich
betragen ſolle, es mag damit auf Gewißheit, oder
nur auf Wahrſcheinlichkeit abgeſehen ſeyn.


§. 21.
Fuͤnffte wichtige Art der wahrſcheinlichen
Stuͤcke in der Hiſtorie.


Aber es iſt noch zu mercken, daß die Wahr-
ſcheinlichkeit im Diſputiren oͤffters eine gantz an-
dere Geſtalt bekommt. Denn man pflegt ſogar
demjenigen einzuraͤumen, daß er ſeine Sache wahr-
ſcheinlich gemacht habe; der zwar ſein Vorgeben
mit ſchlechten Gruͤnden, z. E. nur mit einer Spur
aus einem Autore beweiſet, aber doch dabey wider
die gegenſeitigen Gruͤnde, die man bisher vor ſol-
che angeſehen hat, an denen nicht das geringſte aus-
zuſetzen waͤre, etwas aufzubringen weiß. So hat
man neuerlich wider Vermuthung aller unſerer
Vorfahren wahrſcheinlich gemacht, daß die
letzteren Merovingiſchen Koͤnige, nicht wie man
Y 4ſonſt
[344]Zehendes Capitel,
ſonſt geglaubt, bloͤde Herrn geweſen waͤren. Jn
der That aber hat man mehr des Eginhards
Zeugniß verdaͤchtig, als das Gegentheil von ſei-
ner Ausſage glaublich gemacht. Morin hat ſich
vorgenommen wahrſcheinlich zu machen, daß man
bey den Heyden niemahls Menſchen geopffert
haͤtte, ohngeachtet ſo gewaltig viele Zeugniſſe da-
von vorhanden ſind, daß man kaum daran zu zwei-
feln ſich in Sinn kommen laſſen koͤnte. Dem
aber ohngeachtet ſind des Morins Betrachtungen
artig zu leſen. Hiſtoire de l’Academie des belles
lettres T. 1. p.
57. und der Abt Boiſſy hat den-
noch Verſtand brauchen muͤſſen, ſeine Einwuͤrffe
abzulehnen. So hat auch der Abt Boivin den
Einfall gehabt, daß die Jſraeliten, da ſie in Egy-
pten gewohnet, ſich einsmahls des Regiments be-
maͤchtiget, und eine gute Weile darinnen geherr-
ſchet haͤtten: Welches auch ſo leichte niemanden
in Sinn kommen wird, der bloß auf die glaub-
wuͤrdigſte Erzehlung in den Buͤchern Moſes ſie-
het. Unterdeſſen hat doch dieſer Anſchlag nicht
gleich als abgeſchmackt bey der Academie des bel-
les letres
moͤgen verworffen werden, ſondern er hat
vielmehr den Abt Banier eine gelehrte Gegenbe-
ſchaͤfftigung gemacht. Hiſt. de l’ Acad. T. II.
p.
31. Nun in dieſen und andern aͤhnlichen Faͤl-
len, wo ſo unvermuthete Begebenheiten auf die
Bahn gebracht werden, und als wahrſcheinlich
admittirt werden, iſt die Wahrſcheinlich-
keit
, mehr das Oppoſitum des Paradoxi, oder
des Widerſinnigen, als der Gewißheit. Denn
bey ſolchen, den klarſten Zeugniſſen zuwider lauf-
fenden
[345]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
fenden Vorgeben, iſt zufoͤrderſt die groͤſte Vor-
ſicht zu gebrauchen, daß man nur mit ſeinem An-
trage
nicht gar ausgelacht wird.


§. 22.
Ob widerſprechende Saͤtze Grade der Wahr-
ſcheinlichkeit haben:


Grade der Wahrſcheinlichkeit entſtehen dar-
aus, wenn der eine Satz dem Zweiffel weniger un-
terworffen iſt, als der andere. Und dieſes kan
ſich gar wohl bey zwey gantz verſchiedenen hi-
ſtoriſchen Saͤtzen zutragen, daß dem einem mehr
im Wege ſtehet als dem andern. Aber das iſt
eine Verwirrung der Begriffe, die zwar ſehr ge-
woͤhnlich, aber keinesweges zu rechtfertigen iſt;
wenn man zweyen entgegen ſtehenden Saͤ-
tzen
, (contradictorie oppoſitis) eine Wahrſchein-
lichkeit beylegt; nehmlich dem einen eine gerin-
gere
, dem andern eine groͤſſere Wahrſcheinlich-
keit. Denn unter ſolchen Saͤtzen kan nur einer
wahrſcheinlich ſeyn. Wir wollen ſolches nach der
Definition der Wahrſcheinlichkeit zeigen, der
man ſich gemeiniglich bedienet: Nehmlich, wo
mehrere Requiſita, oder auch Anzeichen der Wahr-
heit vorhanden ſind, als des falſchen. Es ſey
nehmlich ein Factum, dabey zehen Zuſchauer ge-
weſen: Wenn dieſe alle unverdaͤchtig ſind, und ein-
muͤthig die Sache erzehlen, ſo wird ſie jedermann
vor gewiß halten. Geſetzt aber, ſie gehen in
der Erzehlung von einander ab: So entſtehet
daraus Ungewißheit. Waͤren ihrer fuͤnfe dieſer
Meynung, die andern fuͤnfe der entgegen geſetzten
Y 5Mey-
[346]Zehendes Capitel,
Meynung; ſo wuͤrde uns die Nachricht, die wir
von ihnen erlangen, voͤllig ungewiß ſeyn (§. 11.).
Geſetzt aber, ihrer ſechſe oder ſieben ſagen etwas
aus, die drey oder vier uͤbrigen das Gegentheil,
ſo wird die erſtere Nachricht, nehmlich die die
meiſten geben, uns wahrſcheinlich ſeyn; und
zwar nach der Definition der Wahrſcheinlichkeit.
Jſt es aber nun auch moͤglich: Daß wir auch die
Ausſage der wenigern, nach derſelben Defini-
tion wahrſcheinlich nennen koͤnnen? keineswe-
ges. Denn es hat dieſelbe ja mehr criteriawi-
der
ſich, als vor ſich; welches der Definition der
Wahrſcheinlichkeit widerſpricht. Folglich kan
auch das eine nicht wahrſcheinlicher ſeyn, als
das andere. Und alſo giebt es hier keine Grade.
Und der Satz iſt der Wahrheit gemaͤß: Unter
zwey contradictoriſch entgegen ſtehenden
Saͤtzen iſt nur der eine wahrſcheinlich.

Dieſes iſt moͤglich: Daß ich die Gruͤnde meiner
Erkentniß bey einer einigen Sache theile: Und
bey dem einen Grunde weniger Bedencken finde,
als bey dem andern: Z. E. wenn von zehen Zu-
ſchauern, ſieben die Sache ſo, dreye aber das
Gegentheil ausſagen: So iſt die Ausſage der
erſten wahrſcheinlich, in Erwegung der An-
zahl
der Zeugen. Hingegen wenn es ſich eben
zutruͤge, daß die drey Ausſager bey mir ein voͤl-
liges Anſehen haͤtten, der ſieben ihr Anſehen aber
bey mir geringe, oder mir gar verdaͤchtig waͤren:
So wuͤrde mir die Ausſage der wenigeren
wahrſcheinlich ſeyn, in Betrachtung des Anſe-
hens
der Ausſager. Nun kommt es auf mich
an,
[347]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
an, welches von beyden meine Aufmerckſamkeit
mehr an ſich ziehet (n. 1. §. 15.): Ob die An-
zahl
oder das Anſehen der Ausſager? Und da
kan ich ſagen, daß mir der eine Satz wahrſchein-
licher
ſey, der andere aber noch wahrſcheinli-
cher
; nehmlich die Sache auf verſchiedene Wei-
ſe betrachtet. Gleichwie man aber endlich doch
von der gantzen Sache ſein Urtheil faͤllen muß,
ob man ſie vor wahr haͤlt, oder nicht? Wobey
alle Gruͤnde, die man hat, zuſammen genommen
werden muͤſſen: Alſo wird am Ende doch nur
vor einen von beyden Saͤtzen, eine Wahrſchein-
lichkeit uͤbrig bleiben.


§. 23.
Critick uͤber die gewoͤhnliche Definition der
Wahrſcheinlichkeit.


Ueberhaupt aber kan man, die Definition der
Wahrſcheinlichkeit, wo mehrereRequiſita
der Wahrheit vorhanden ſind, in der Hi-
ſtorie gar nicht brauchen. Denn die Wahrheit
der Geſchichte, welches nichts anders, als die Ge-
ſchichte
ſelbſt iſt, beruhet auf den Urſachen,
wodurch die Begebenheit ſelbſt zur Exiſtentz ge-
bracht worden. Hingegen unſere Erkentniß
der Geſchichte, die wir nicht mit eigenen Augen
ſehen, beruhet auf den Ausſagen derer Zu-
ſchauer, welche offenbar mit der innerlichen Be-
ſchaffenheit der Geſchichte keine nothwendige
Verbindung haben. Sondern eine Hiſto-
rie
beſtehet, wenn ſie auch von keinem Men-
ſchen ausgeſagt, oder nachgeſagt wird. Bey
der
[348]Zehendes Capitel,
der Erkentniß aus Folgen hat zwar der Grund
unſerer Erkentniß, nehmlich die Folgen von ei-
ner Geſchichte, mehr Verbindung, mit dem Grun-
de
der Sache ſelbſt. Doch kan ich auch die Fol-
gen einer Begebenheit, nicht eigentlich als den
Grund der Begebenheit anſehen: Und die Be-
gebenheit bliebe wahr, wenn auch die natuͤrlichen
Folgen derſelben durch ein Wunderwerck aufge-
hoben wuͤrden. Ferner, wo man das vergan-
gene
am zuverlaͤßigſten aus dem gegenwaͤrtigen
erkennen kan, ſo beruhet unſere Erkentniß auf ei-
ner Empfindung der Uebereinſtimmung (§. 37.
C. 9.), wobey ſich die Requiſita auch nicht zeh-
len laſſen. Bey regelmaͤßigen Bewegungen
aber, da man die vorhergehende aus den nachfol-
genden, und die nachfolgenden aus dem vorgehen-
den nach dem Lauffe der Natur ſchluͤſſen kan, ge-
het alles nach den Regeln der Demonſtration,
bey welcher uͤberhaupt keine Requiſita ad verita-
tem
noͤthig ſind.


§. 24.
Wahrſcheinlichkeit einer Begebenheit iſt nur
vor gewiſſe Leute.


Es iſt auch zu mercken, daß ſich niemand in die
wahrſcheinliche Erkentniß dieſer oder jener Bege-
benheit einlaͤſſet, der nicht an der Geſchichte ſelbſt
Theil naͤhme; welches auf gantz verſchiedene und
unzehlige Weiſe geſchehen kan: Nimmt man
aber Theil daran; ſo ſiehet man die Sache auch
aus einem gewiſſen Sehepuncte an; (§. 15.
C. 5.) welches macht, daß man auf gewiſſe Stuͤ-
cke genau merckt, da man hingegen andere uͤberſie-
het;
[349]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.
het; und unter denen Stuͤcken, auf welche man
ſiehet, eines mehr zu Hertzen nimmt, als das an-
dere. Daraus entſtehet denn die Wahrſchein-
lichkeit
auf dieſer oder jener Seite. (§. 15.) Die
aber aus der multitudine requiſitorum ad verita-
tem
die Wahrſcheinlichkeit beſtimmen wollen,
ſtellen ſich den Menſchen vor, als wenn ihm die
Sache gantz und gar gleichguͤltig waͤre; ſo daß er
mit einer gantz reinen Vernunfft einen Umſtand
nach dem andern beleuchtete, jedem gleichen Werth
beylegte, und hernach durch Zuſammenrechnung
der Umſtaͤnde auf beyden Seiten die Wahrſchein-
lichkeit herausbraͤchte: Allein dieſe hypotheſis iſt
der Natur der Seele zuwider. Eine Sache, die
uns nichts angehet, die unterſuchen wir auch nicht;
ſondern wenn ſie uns Fragweiſe vorgelegt wird,
ſo antworten wir, wir wuͤſten es nicht, welches
wahr waͤre, oder auch, die Sache gehe uns
nichts an
, und man ſollte andere Leute fragen.


§. 25.
Von unwahrſcheinlichen Erzehlungen.


Unwahrſcheinlich nennen wir auch oͤffters,
was nach den Umſtaͤnden und Eigenſchafften einer
Sache, die uns bekannt ſind, nicht geſchehen ſeyn
kan; und dieſes Wort bedeutet alſo, in ſolchen Faͤllen,
ſo viel, als paradox. Wie nehmlich eine Be-
gebenheit
, die uns erzehlt wird, wenn ſie mit de-
nen uns ſchon bekannten Umſtaͤnden derer Perſonen
und Dinge wohl uͤbereinkommt, wahrſchein-
lich
, plauſibilis, genennet wird, wenn auch gleich
der Ausſager nicht das geringſte Anſehen vor ſich
haben
[350]Zehendes Capitel,
haben ſollte: ſo nennet man im Gegentheil eine Er-
zehlung
unwahrſcheinlich, wenn ſich die erzehl-
ten Begebenheiten zu dem, was wir von der Sa-
che und von denen Perſonen ſchon wiſſen, nicht
ſchickt, ſondern denſelben widerſpricht. Waͤre es
nun an dem, daß die Erzehlung denen uns bekann-
ten und wahren Beſchaffenheiten der Sache wuͤrck-
lich widerſpraͤche, ſo muͤſte dieſelbe auch falſch ſeyn.
Aber faſt allemahl widerſpricht ſie nicht ſo wohl
deu wahren Umſtaͤnden, die uns ſonſt bekannt
ſind: ſondern 1. entweder ſie ſcheinet uns ſich nur
zu ſolchen Umſtaͤnden nicht zu ſchicken, weil wir den
gantzen Zuſammenhang nicht recht wiſſen; 2.
manchmahl ſchickt ſie ſich auch wuͤrcklich nicht, nach
denen moraliſchen Regeln. Aber dargegen iſt zu
mercken, daß das ungeſchickte ſo wohl in der
Welt von Menſchen geſchehen kan, als was ge-
recht
und ſchicklich iſt. Daher iſt die Unwahr-
ſcheinlichkeit
kein Beweiß, daß die Erzehlung
falſch ſey. Hingegen aber iſt ſie wohl ein Hinder-
niß des Glaubens und der Gewißheit: denn ſie
verurſacht, daß wir das Gegentheil von dem ge-
dencken, was wir doch um der glaubwuͤrdigen
Ausſagen, und um des Anſehens willen, welches
der Ausſager hat, glauben wuͤrden. Aus der Un-
wahrſcheinlichkeit
alſo in dieſem Verſtande
fluͤſſet weiter nichts, als daß der Autor einer ſolchen
Erzehlung 1. entweder den Zweiffel durch ſein An-
ſehen unterdruͤcke, oder 2. das unwahrſcheinliche
durch mehrere Aufklaͤrung der Sache voͤllig aus
dem Wege raͤume.


§. 26.
[351]v. d. hiſtoriſchen Wahrſcheinlichkeit.

§. 26.
Die Kunſt, bey Geſchichten zu uͤberzeigen.


Ueberzeigen iſt uͤberhaupt nicht einerley mit
Beweiſen und der Sache gewiß machen. Phil.
Defin. p.
25. ſondern bedeutet ſo viel, als durch
vorhandene Zweiffel und Scrupel zur Gewißheit
durchdringen. Dieſes laͤſſet ſich denn auf die hiſto-
riſche Erkentniß leicht appliciren. Zur Gewißheit
an ſich gehoͤren nur Ausſagen von Autoren, die
ein voͤlliges Anſehen haben, (§. 24. C. 9.) wenn
ſich aber, wie gar oͤffters geſchiehet, wegen entge-
gen ſtehender Zeugniſſe und Anzeichen Zweiffel fin-
det, ſo haben wir gewieſen, wie dieſer Zweiffel ge-
hoben werden muͤſſe; (§. 3. ſq.) und dadurch die
Gewißheit gleichſam erpreſſet werden koͤnne. Ja
da auch Sachen vorkommen, da es auf Wahr-
ſcheinlichkeit
ankommt, und wo wir weiter
nichts verlangen, als daß die Sache dem andern
eben ſo wahrſcheinlich werden und ſeyn moͤge, als
wie ſie uns iſt. Ohngeachtet nun ſolches nicht alle-
mahl moͤglich iſt, wegen der angefuͤhrten Urſachen:
(§. 15. 24.) dennoch, ſo weit ſolches angehet, iſt
es auch erklaͤret worden. (§. 16. ſq.) Und alſo iſt
dieſe Einleitung zur hiſtoriſchen Erkentniß zu-
gleich eine Anleitung in hiſtoriſchen Dingen, ſo-
wohl ſich als andere zu uͤberzeigen, und in hi-
ſtoriſchen Streitigkeiten der Wahrheit nichts zu
vergeben. (§. 20.) Welcher Nutzen denn unſe-
re Bemuͤhung die hiſtoriſche Erkentniß in ein groͤſ-
ſer Licht zu ſetzen gnugſam rechtfertigen wird. Des
Pyrrhoniſmi hiſtorici nicht zu gedencken, welcher
ſich in unſern Tagen hier und da geaͤuſſert, am er-
ſten
[352]Zehendes Cap. von der hiſt. Wahrſch.
ſten aber unter den Titul der hiſtoriſchen Wahr-
ſcheinlichkeit
haͤtte einſchleichen konnen. Die-
ſem aber kan nicht beſſer begegnet werden, als da-
durch, daß man deutlich zeigt, wie unſere Seele
bey hiſtoriſchen Wahrheiten zu verfahren pflegt, und
verfahren ſolle. Jn Ermangelung aber der Re-
geln verfaͤllt man auf mancherley Weiſe auf den
Pyrrhoniſmum: bald dadurch, daß man ſich in
ſo viele Zweiffel verwickelt ſiehet, da man keine
Moͤglichkeit ſiehet, zu einer ſichern Entſcheidung
zu kommen, welches Peter Baylen vornehmlich
zum zweiffeln geneigt gemacht: bald dadurch, daß
man die Beurtheilung der Erzehlungen von den
Zweiffeln nicht zu unterſcheiden weiß, welches zu
der Bierlingiſchen Abhandlung dem Pyrrhoni-
ſmo hiſtorico
Gelegenheit gegeben hat, und welche
Pruͤfungen auch vom P. Daniel vor eine Art des
Pyrrhoniſmi angeſehen worden. Hiſt. de la Fran-
ce Preface p.
2. bald endlich dadurch, daß man
aus denen vorhandenen wuͤrcklich zweiffelhafften
Begebenheiten und Nachrichten, nach Art eines
loci communis, beynahe alle Geſchichtserkentniß
vor ungewiß anzuſehen geneigt iſt: wie ſolches un-
ter andern in der Philoſophie du bon ‒ ſens par Mr.
le Marquis d’Argens
ſich aͤuſſert. Deutliche Re-
geln koͤnnen ſolcher Neigung am beſten begeanen.
Denn iſts wohl Wunder, daß man zweiffelt,
wenn ſo viele Begriffe, als wir nach der Reihe an-
gefuͤhrt und erklaͤrt haben, ohne Ordnung und
Deutlichkeit in der Seele vorhanden ſind, und un-
ſere Urtheile von hiſtoriſchen Dingen hervorbringen
helffen?



[353]

Eilfftes Capitel,
Von alten und auslaͤndiſchen
Geſchichten.


§. 1.
Erklaͤrung der alten Geſchichte.


Der Begriff des alten iſt bey den meiſten Sa-
chen ſehr unbeſtimmt. Manche Sache wird
bald alt, manche ſpaͤte. Man rechnet das
Alter zwar gemeiniglich nach Jahren: aber eigent-
lich entſtehet es aus einer Veraͤnderung der Sache
ſelbſt. Es iſt alſo die Frage: Was dasjenige ſey,
wodurch eine Geſchichte eigentlich alt wird? Wir
antworten ſo: Die Art der Erkentniß bey einer
Geſchichte wird geaͤndert, wenn alle Zuſchauer ab-
geſtorben ſind; dergeſtalt, daß man nunmehro ſie
nur von Nachſagern erlernen muß. (§. 3. 4.
C. 7.) Nun giebt es der Nachſager vielerley Ar-
ten, nachdem die Nachricht durch mehrere Haͤnde
gehet, ehe ſie zu uns kommt. (§. 5. C. 7.) Wenn
man nun die Geſchichte alsdenn alt nennet, wenn
keine Zuſchauer mehr am Leben ſind, ſo wird ſie
noch aͤlter ſeyn, wenn auch keiner von den erſten
Nachſagern am Leben iſt. Und hauptſaͤchlich wird
eine Geſchichte alt zu nennen ſeyn, wenn niemand
mehr da iſt, der durchs Hoͤren von ſeinen Vorfah-
ren von der Sache waͤre belehret worden: ſo daß
man ſich nunmehro bloß an die Denckmale halten
muß. Da man nun ſchon ſeit ſehr langer Zeit nicht
Zmehr
[354]Eilfftes Capitel,
mehr ſehr darauf haͤlt, daß einer dem andern, und
zwar Alte denen Juͤngern, dasjenige beybraͤchten,
was ſie von ihren Eltern gehoͤret haben, ſondern ſich
aufs ſchreiben verlaͤſſet, ſo werden die Geſchichte
bald ſehr alt.


§. 2.
Woraus man alte Geſchichte erlernet.


Da hier das Wort Denckmahl ein Hauptbe-
griff iſt, ſo muͤſſen wir deſſen Bedeutung feſte ſe-
tzen. Es heiſſet nehmlich jedes Werck, welches
vermoͤgend iſt, die Menſchen von vergangenen
Dingen zu belehren. Darzu ſind nun die Schriff-
ten
ohne Zweiffel am allergeſchickteſten; und folg-
lich ſind ſie vor die wichtigſte Art der Denckmahle
zu halten. Allein man pflegt doch gemeiniglich
(wenigſtens nach der Deutſchen Mundart) die
Buͤcher, woraus man eine Geſchichte erlernen kan,
von den Denckmahlen derſelben zu unterſcheiden.
Und dieſes nicht ohne Grund. Denn ein Buch hat
ja bey dem Leſer alle Wuͤrckungen einer Rede.
(§. 17. C. 7.) So lange alſo noch Buͤcher vor-
handen ſind, worinnen Sachen und Geſchichte be-
ſchrieben ſind, ſo lange iſt es eben ſo gut, als wenn
wir aus dem Munde des Verfaſſers die Nachricht
erhielten. Wie man nun eine muͤndliche Erzeh-
lung nicht vor ein Denckmahl haͤlt, alſo kan man
auch die aufgeſchriebenen Erzehlungen von denen
Monumenten und Denckmahlen abſondern. Mit-
hin beruhet die Erkentniß der alten Geſchichte theils
auf Buͤchern, theils auf Denckmahlen.


§. 3
[355]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.

§. 3.
Der Grund der Erkentniß alter Geſchichte iſt
die Chronologie.


Bey denen hiſtoriſchen Schrifften ſetzen wir nun
voraus, daß die Chronologie nicht allein eine
moͤgliche, ſondern auch eine wuͤrcklich vorhandene
Sache ſey, durch die man die vor unſerer Zeit ver-
lauffenen Jahrhunderte durch gewiſſe wichtige
Begebenheiten von einander unterſcheiden, und alſo
die Entfernung der Geſchichte bey unſern Zeiten, und
ihre Entfernung von einander beſtimmen kan. Die
Nahmen eines Scaligers, eines Calviſius,
und anderer, ſind ſo bekannt, daß wir von ihren
chronologiſchen Arbeiten vieles zu gedencken nicht
noͤthig haben. Vermoͤge dieſer Gelehrten ihrer
Arbeit aber kan man Perſonen und Geſchichte be-
ſtimmen, wie viel Zeit zwiſchen ihnen und unſern
Zeiten verlauffen iſt. Die meiſten Streitigkeiten
und Zweiffel dieſer Art, wenn man die alleraͤlteſten
Geſchichte bey Seite ſetzet, betreffen etwa einen
Unterſchied von 4. oder auch 6. Jahren, welches
bey einer Entfernung von etlichen hundert Jahren
vor eine Kleinigkeit zu rechnen iſt. Mithin kan man
auch daraus die Zeit der hiſtoriſchen Schriff-
ten,
wenn ſie gefertiget worden, beſtimmen.


§. 4.
Eintheilung hiſtoriſcher Schrifften.


Die hiſtoriſchen Schrifften aber, woraus
man alte Geſchichte erlernet, ſind nicht von einerley
Art. Manche ſind gantz und gar hiſtoriſchen Jn-
halts: und dieſe wollen wir die Quellen der alten
Z 2Hiſtorie
[356]Eilfftes Capitel,
Hiſtorie nennen. Die meiſten Buͤcher aber, die
man bey der Erkentniß alter Geſchichte braucht, ſind
ſolche, da nur hin und wieder gelegentlich etwas hi-
ſtoriſches mit eingeſtreuet iſt. Wie denn kein Buch
leichte ſeyn wird, es mag von einer Materie han-
deln, wovon es will, darinnen nicht etwas hiſto-
riſches vorkommen ſollte. Dieſe gehoͤren zu den
hiſtoriſchen Huͤlffsmitteln. (ſubſidia hiſtorica)
Ein rechter Liebhaber der Hiſtorie blaͤttert daher alle
Buͤcher durch, die ihm vorkommen: er wird ſelten
eines finden, darinnen er nicht eine und andere an-
genehme Nachricht antreffen ſollte.


§. 5.
Quellen der alten Hiſtorie.


Die Quellen der alten Hiſtorie ſind 1. die Brief-
fe der Privatperſonen,
oder auch der Staats-
maͤnner, iedoch ſolche, die ſie nicht in oͤffentlichen
Angelegenheiten geſchrieben haben. 2) Staats-
ſchrifften,
wohin alles zu rechnen iſt, was publi-
co nomine
bekannt gemacht wird, als Geſetze,
Buͤndniſſe, Friedensſchluͤſſe.
Nicht minder
gehoͤren hieher die Acta publica, wie die Roͤmer
ihre Acta diurna hatten: wie auch die Reden, wel-
che bey Staatsgeſchaͤfften ſind gehalten worden.
Doch muͤſſen ſie nicht, wie die meiſten bey den Latei-
niſchen und Griechiſchen Geſchichtsſchreibern er-
dichtet ſeyn; welches auch neuere Autores, als
Caourſin und Guichardin nachgethan haben.


§. 6.
Sicherer Grund alter Geſchichte.


Es iſt klar, daß, wo dergleichen Schrifften vor-
handen ſind, wie in Anſehung der Wahrheit der
Geſchichte,
[357]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
Geſchichte, eben ſo gut daran ſind, als wie bey
neuen Begeb[e]nheiten. Denn wenn wir in einer
ſolchen Schrifft und Buche leſen, ſo iſt es nicht an-
ders, als wenn wir in jenes altes Seculum verſetzt
wuͤrden, und die aufgezeichneten Nachrichten aus
des Verfaſſers eigenem Munde vernaͤhmen. Denn
in Anſehung des Verſtandes iſt es ja einerley, ob
ich eine Erzehlung hoͤre, oder ob ich ſie leſe: und
der Verlauff der Jahre kan den Sinn und Be-
deutung der Worte, die ſie bey dem Verſaſſer ge-
habt, nicht aͤndern, wenn wir anders nur die Spra-
che verſtehen, darinnen das Buch abgefaſſet iſt.
Der Grund unſerer Erkentniß von alten Geſchich-
ten aus Buͤchern, iſt eben ſo feſte, als der Grund
unſerer Erkentniß von neuen Geſchichten, in ſo fer-
ne wir dieſe auch aus Nachrichten erlernen muͤſſen.


§. 7.
Schwierigkeiten bey den Quellen alter
Geſchichte.


Doch in einigen Stuͤcken aͤuſſert ſich manchmahl
ein Unterſcheid, daß uns nehmlich ſchwehrer und
muͤhſamer wird, die alten Geſchichte aus ihren
Quellen zu erlernen, als die neuen. Nehmlich 1.
iſt manchmahl wegen der Avthenticitaͤt einer alten
Schrifft ein Zweiffel: weil es nehmlich auch nach-
gemachte
und untergeſchobene giebt. Die
ſo genannte Donatio Conſtantini M. iſt ein bekann-
tes Exempel hiervon, welches mit dem Privilegio
Alexanders des Groſſen den Slavacken gegeben,
be[ym]Goldaſto de Regno Bohemiæ T. II. p. 170.
Edit. Schminckii
in einem Paare gehet. 2. Wenn
Z 3auch
[358]Eilfftes Capitel,
auch gleich eine Sprache, darinnen eine hiſtoriſche
Nachricht abgefaſſet iſt, lange nachher im Gebrau-
che iſt; ſo gehen doch wehrender Zeit manche Ver-
aͤnderungen der Woͤrter vor, daß einige gantz aus
dem Gebrauch
kommen; andere aber neue
Bedeutungen
bekommen. Dieſes verurſacht
dann, daß wenn man die alten Geſchichten in ihren
Quellen leſen will, nicht allein die gemeine Erkent-
niß der Sprache, worinnen ſie abgefaſſet ſind, er-
fordert wird, ſondern auch Critick und Philolo-
gie:
welche beyde Erkentniſſe man bey neuen Ge-
ſchichten entbehren kan. 3. Diejenigen, welche
Urkunden abfaſſen, und uͤberhaupt Geſchichte
aufzeichnen, ſehen gemeiniglich am meiſten auf die
erſten Leſer, an welche die Schrifft gerichtet
wird. Dieſe nun, wie ſie ſich in mehrerer, und oͤffters
in gantz genauer Verbindung mit der Geſchichte
befinden, welche ihnen ſchrifftlich vorgelegt wird;
alſo bringen ſie, als Leſer, manche Erkentniß dar-
zu, welche ihnen die Schrifft verſtaͤndlich macht:
wie ſolches von Brieffen, ja auch von Geſpraͤchen
klar iſt. (§. 8. 45. der Auslegekunſt). Wer aber
nach ſpaͤten Zeiten uͤber eine ſolche ſchrifftliche
Nachricht
kommt, weiß meiſtens von der Sa-
che weiter nichts, die darinne vorgetragen wird,
als was er davon darinnen aufgezeichnet ſindet. Er
bringt alſo nicht diejenige Erkentniß darzu, mit wel-
cher die erſten Leſer verſehen waren. Dannenhero
iſt kein Wunder, daß er manches nicht ſo gleich ver-
ſtehet, welches die erſten Leſer ohne den geringſten
Anſtoß verſtanden haben. Und dieſes iſt die Urſa-
che, warum man auch die Hermenevtick noͤthig
hat,
[359]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
hat, wenn man die alten Geſchichte in ihren Quel-
len leſen will.


§. 8.
Beſondere Art der Quellen alter Geſchichte.


Unter denen Staatsſchrifften hat man ſeit einiger
Zeit ſein Augenmerck beſonders auf die Diplomata,
oder offene Brieffe gerichtet, durch welche groſſe
Herren und alle Obrigkeiten, ſeit 1200. Jahren, ihre
Privilegia, Stifftungen, u. ſ. w. bekannt zu ma-
chen und zu beſtaͤtigen pflegen: da groſſe Herren in
aͤltern Zeiten dasjenige, was nachher in Diploma-
tibus
gefunden wird, durch Brieffe und Reſcripta
an die vornehmſten Staatsbedienten und Collegia
bekannt machten und beſtaͤtigten. Bey ſolchen
Diplomatibus, wie ſie nur in den Jahrhunderten
und Zeiten vorkommen, die wir ſchon als neuere
anſehen, und als Schrifften, wovon noch viele
Originalia vorhanden ſind: alſo wird bey ihnen als
ein Hauptumſtand und zufoͤrderſt angeſehen: ob
man von einem Diplomate das Original ſelbſt, oder
nur eine Copey und Abſchrifft vor Augen habe?


§. 9.
Von der Diplomatick.


Um bey den Diplomatibus dem Betruge zu be-
gegnen, welcher um ſo viel eher zu beſorgen, da die
Diplomata noch in die ietzigen Rechte der groſſen
Herren, der Privatgeſellſchafften, ja eintzelnen
Privatperſonen einen groſſen Einfluß haben; hat
man ſich ſeit einiger Zeit die groͤſte Muͤhe gegeben,
1. die unterſchobenen und nachgemachtenOri-
Z 4ginalia
[360]Eilfftes Capitel,
ginalia von denen aͤchten genau zu unterſcheiden.
Wobey es auf die Zuͤge der Buchſtaben, auf die
Beſchaffenheit der Unterſchrifft, ingleichen des
Siegels, ja auch des Papiers und Pergaments an-
kommt; 2. auch die untergeſchobenen Diplomata,
welche nur vor Abſchrifften ausgegeben werden,
von denen aͤchten zu unterſcheiden: welches aus de-
nen Materialien, oder auch Formalien, uͤber-
haupt aus dem Jnhalte derſelben muß entſchieden
werden, ob ſie mit den Umſtaͤnden der Zeit, und
derer damahls am Leben geweſenen Perſonen genau
uͤbereinkommen. Die unglaublichen Bemuͤhun-
gen des vortrefflichen Mabillon, und ſein Werck de
Arte Diplomatica,
ſind allzubekannt und allzuge-
prieſen, als daß wir daſſelbe zu beſchreiben noͤthig
haͤtten. Selbſten der Auszug daraus, den der
beruͤhmte Hr. P. Eckhard geliefert, erlanget aus
der Wichtigkeit der Sache einen nicht geringen
Werth. Ueberhaupt koͤnnen wir dieſes vortreffli-
che Stuͤck der Gelahrheit und der hiſtoriſchen Er-
kentniß nur mit der groͤſten Kuͤrtze beruͤhren, weil
er nur einen Theil der Geſchichte, ſelbſt der alten
Geſchichte betrifft, nehmlich die Geſchichte des me-
dii æui,
und zwar nur in den Europaͤiſchen Reichen.
Unſere Abhandlung aber iſt auf die hiſtoriſche Er-
kentniß uͤberhaupt gerichtet.


§. 10.
Dritte Hauptquelle alter Geſchichte.


Eine andere Hauptquelle der alten Geſchichte
ſind vor uns die Geſchichtſchreiber, und die von
ihnen zum Unterricht der Welt, hauptſaͤchlich der
ſpaͤten
[361]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
ſpaͤten Nachwelt, verfertigten hiſtoriſchen Buͤ-
cher.
Dieſe ſind von den vorigen hiſtoriſchen
Schrifften gantz und gar unterſchieden, als welche
ſelbſt Stuͤcke der Geſchichte ſind, die darinnen
abgehandelt werden, und wegen ihrer vorzuͤglichen
Krafft zu lehren, Documenta genennet werden.
(§. 35. C. 9.) Der Geſchichtſchreiber ihre
Buͤcher aber ſind eigentlich Lehrbuͤcher, die nur
per accidens aus denen vorgegangenen Geſchichten
entſtehen. Der Hauptplan eines Geſchicht-
ſchreibers gehet dahin, daß er jede Geſchichte ſo
vortrage, und in ſolche Erzehlung bringe, daß ſie
jedem, der auch lange nachher daruͤber kommt, ohne
von den Umſtaͤnden ſelbiger Zeiten ſchon mehrere
Nachricht zu haben, dennoch bloß aus ſeiner Er-
zehlung dieſelbe begreiffen koͤnne. Das iſt die Ab-
ſicht,
und mithin auch die Pflicht eines Ge-
ſchichtſchreibers: er mag nun nur eintzelne wichti-
ge Geſchichte beſchreiben, wie Salluſtius den Cati-
linariſchen und Jugurthiſchen Krieg beſchrieben,
oder er mag die Geſchichte eines gantzen Zeitraumes,
in eine Erzehlung bringen, wie Curtius, Ta-
citus, Thuanus,
und viele andere gethan ha-
ben. Einen Geſchichtſchreiber muͤſſen wir daher,
als einen Lehrer anſehen, der die Welt weit und
breit, und lange nachher von groſſen Begebenhei-
ten belehren will.


§. 11.
Worinnen das Anſehen eines Geſchichtſchrei-
bers beſtehet.


Weil bey der Betruͤglichkeit der menſchlichen
Ausſagen zur wahren Erkentniß der Geſchichte
Z 5nicht
[362]Eilfftes Capitel,
nicht genug iſt, daß es ein Menſch ſaget, ſon-
dern auch noch ein Anſehen und eine Autoritaͤt
des Ausſagers darbey erfordert wird: (§. 22. C. 9.)
ſo wird auch jeder Geſchichtſchreiber, wenn er uns
Nutzen ſchaffen ſoll, ein gewiſſes Anſehen haben
muͤſſen. Da er nun einen Lehrer gewiſſer Ge-
ſchichte abgiebt, (§. 10.) ſo muͤſſen an ihm auch
die Qualitaͤten angetroffen werden, die man von
einem Lehrer zu erwarten und zu fordern befugt iſt.
Nun aber iſt derjenige geſchickt, eine Geſchichte
zu lehren, der 1. dieſelbe entweder durch ſein An-
ſchauen und Gegenwart, oder aus ſichern Nach-
richten erkannt hat. 2. Der im Stande iſt, die
Geſchichte, die er in ſeinen Sinn gefaſſet hat, ſo zu
Papier zu bringen, und zu erzehlen, daß auch
fremde Leſer, die mit der Geſchichte ſelbſt nicht in
Verbindung ſtehen, dennoch daraus die Geſchichte
verſtehen lernen. Dieſe zwey Umſtaͤnde machen
alſo das Anſehen eines Geſchichtſchreibers aus:
welches ſo wohl voͤllig, als nur in einer gewiſſen
Maſſe vorhanden ſeyn kan. (§. 24. C. 9.)


§. 12.
Und wo es am erſten voͤllig iſt.


Wenn der Geſchichtſchreiber Begebenheiten er-
zehlt, bey welchen er gegenwaͤrtig geweſen iſt, und
einen Zuſchauer abgegeben hat; (er braucht aber
eben nicht ein bloſſer Zuſchauer geweſen zu ſeyn, ſon-
dern kan gar wohl ſelbſt die Hauptperſon dabey ab-
gegeben haben, wie Cæſar in ſeinem bello Gallico
und civili) ſo iſt ſein Anſehen in dieſem Stuͤcke
vollkommen. Er iſt auch in Anſehung ſolcher Stuͤ-
cke
[363]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
cke von dem Verdachte der Erdichtung frey, wo kein
Nutzen von der Verfaͤlſchung der Geſchichte vor
ihm abzuſehen iſt. Jn ſolchen Stuͤcken aber, wo
ſein Nutzen oder auch ſeine Ehre vorwaltet, braucht
er allerdings eine Ergaͤntzung ſeines Anſehens.
(§. 25. C. 9.) Nehmlich wir muͤſſen entweder
ſehr von ſeiner Aufrichtigkeit verſichert ſeyn, oder
die Ergaͤntzung muß durch Zeugen geſchehen,
(§. 28. C. 9.) wobey auch in gewiſſen Faͤllen das
Stillſchweigen ſeiner Gegner vor ein Zeugniß zu
rechnen iſt. (§. 32. C. 9.)


§. 13.
Scriptores coæui:


Selten aber kan ein Geſchichtſchreiber, wenn
er gleich von Sachen handelt, bey denen er einen
Zuſchauer abgegeben, bloß aus ſeiner eigenen Wiſ-
ſenſchafft erzehlen, ſondern muß vielmehr die Aus-
ſagen anderer und die erhaltene Nachrichten zu Huͤlf-
fe nehmen (§. 15. C. 6.) Meiſtens aber ſchreibt ein
Geſchichtſchreiber von Sachen, wo er gar nicht
dabey geweſen iſt: Jndem er mehr durch ſeine
Gabe, Begebenheiten geſchickt zu erzehlen, als
durch ſeine Erkentniß der Begebenheiten ſelbſt,
bewogen wird, einen Geſchichtſchreiber abzugeben.
Dieſes iſt die Urſach, warum man von jedem Ge-
ſchichtſchreiber nicht ſo wohl verlangt, daß er ein
Zuſchauer geweſen ſeyn ſoll: Auf welchen es doch
allemahl hauptſaͤchlich in der hiſtoriſchen Erkent-
niß ankommt; als nur dieſes, daß er zu eben der-
ſelben Zeit gelebt haben ſoll, daß er ſich alſo der
Sachen, wie ſie noch nicht alt waren, ſondern noch
Zuſchauer
[364]Eilfftes Capitel,
Zuſchauer genug vorhanden waren (§. 1.), genau
hat erkundigen koͤnnen. Man verlangt alſo auch
von alten Geſchichten nicht ſowohl Zuſchauer, als
Scriptores coæuos. Und dieſes macht mithin
ein Stuͤck des Anſehens bey einem Geſchichtſchrei-
ber aus (§. 11.): Weil man nehmlich daraus
abnehmen kan, wie er zu der Erkentniß der Ge-
ſchichte, die er beſchreibt, gekommen iſt; und daß
er ſie entweder ſelbſt muͤſſe geſehen haben, oder
doch Perſonen gewuſt haben, die bey der Begeben-
heit gegenwaͤrtig geweſen ſind.


§. 14.
Haben ein groſſes Anſehen.


Es wird aber das Anſehen eines Scriptoris
coæui
nicht allein dadurch groß, daß wir verſichert
ſind, er habe die Geſchichte von Zuſchauern in Er-
fahrung bringen koͤnnen, woferne er nicht ſelbſt da-
bey geweſen iſt; ſondern auch dadurch, weil er
ſeine Erzehlung und Belehrung zu einer ſol-
chen Zeit ans Licht treten laͤſſet, da eine Menge
Perſonen vorhanden ſeyn muͤſſen, welche durch
ſeine unwahre Erzehlung, falls er ſich dergleichen
ſollte geluͤſten laſſen, beleidiget wuͤrden: Die alſo
nicht ermangeln wuͤrden, dem Geſchichtſchreiber zu
widerſprechen. Dieſer Zuſtand eines Geſchicht-
ſchreibers wuͤrckt nun 1. eines Theils ſoviel, daß
niemand leichte ſo unverſchaͤmt iſt, daß er ſich
getrauen ſollte, zumahl von oͤffentlichen Sachen,
daran jedermann Theil nimmt, vorſetzliche Un-
wahrheiten hinzuſchreiben. So wird ſich kein
vernuͤnftiger Menſch, und alſo auch kein Geſchicht-
ſchreiber
[365]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
ſchreiber unterſtehen, dem Landesherrn eine Ge-
mahlin beyzulegen, mit der er nicht wuͤrcklich ver-
maͤhlt iſt: Eine Stadt in der Naͤhe zu dichten,
die nicht vorhanden iſt: Ein Erdbeben zu erzeh-
len, davon niemand im Lande etwas weiß. 2. An-
dern Theils aber bringt die Beſchaffenheit eines
Scriptoris coæui mit ſich, daß das Stillſchweigen
anderer Geſchichtſchreiber, ohngefehr von gleichem
Alter, und die bald darauf folgen, und daß ſich
niemand darwider gereget, vor eine Beſtaͤtigung
zu achten iſt (§. 32. C. 9.).


§. 15.
Warum die Geſchichtſchreiber die Nahmen
der Zuſchauer weglaſſen:


Ein Geſchichtſchreiber, wenn er ſich nicht auf
ſein eigen Wiſſen, ſondern auf Nachrichten, von
geweſenen Zuſchauern gruͤndet; ſollte dieſelben lie-
ber nahmentlich anfuͤhren; weil auf den Zu-
ſchauer bey jeder Geſchichte gar zu viel ankommt
(§. 1. C. 5.). Allein da doch die meiſten Leſer,
ja alle, die Perſonen meiſtens nicht kennen wuͤr-
den, folglich auch, das Anſehen derſelben bey de-
nen Leſern geringe ſeyn wuͤrde, ob es gleich bey
dem Geſchichtſchreiber ſtarck, ja voͤllig geweſen:
So verliert man nicht viel dabey, wenn der Ge-
ſchichtſchreiber ſie nicht anfuͤhret. Denn wenn
wir ihn einmahl vor einen Lehrer der Geſchichte
gelten laſſen (§. 11.) ſo verſtehets ſich, daß wir
ihm zutrauen, er werde die Sache von ſolchen Per-
ſonen, mittelbar oder unmittelbar in Erfahrung
gebracht haben, welche wuͤrcklich Zuſchauer gewe-
ſen
[366]Eilfftes Capitel,
ſen ſind. 2. Bey oͤffentlichen Begebenheiten
braucht es der Anfuͤhrung eintzelner Zuſchauer
nicht, weil es der Begebenheit daran nicht hat feh-
len koͤnnen (§. 33. C. 9.). Es iſt alſo auch nicht
noͤthig dieſen oder jenen, der dabey gegenwaͤr-
tig geweſen, nahmentlich anzugeben, weil es bey die-
ſer Art der Begebenheit uͤberhaupt auf eintzelne
Zeugen nicht ankommt: Denn man kan ſie von al-
len Arten haben (§. cit.).


§. 16.
Spaͤterer Geſchichtſchreiber ihre Pflicht.


Spaͤtere Geſchichtſchreiber aber, das iſt ſol-
che, die ſelber ihr Erkentniß der Geſchichte, die ſie
beſchreiben, ſchon aus Buͤchern oder Schrifften ha-
ben erlernen muͤſſen, thun allemahl wohl, wenn ſie
die Quellen bemercken, woraus ſie ihre Erkenntniß
erlanget haben. Denn haben ſie aus Documen-
ten
genommen, ſo beſtaͤrcken ſie ihr Anſehen, wenn
ſie ſolches bemercken: Jndem daraus abzuſe-
hen iſt, daß wir ihnen ſo gut trauen koͤnnen, als
wenn wir mit den Perſonen ſelbſt redeten, die die
alte Geſchichte angehet (§. 6.). Haben ſie aber
ihre Nachricht aus aͤlteren hiſtoriſchen Lehrbuͤ-
chern, und aͤlteren hiſtoriſchen Geſchichtſchreibern,
erlanget: So wird durch Angebung ſolcher Au-
toren, der Nachwelt der Canal bekannt (§. 5. C. 7.),
durch welchen die alte Geſchichte auf die ſpaͤte
Nachwelt iſt fortgepflantzt worden. Beydes-
mahl alſo wird die Gewißheit, durch Anfuͤhrung
der Quellen befoͤrdert. Die Nachlaͤßigkeit ſeiner
Vor-
[367]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
Vorgaͤnger in Anſehung dieſes Stuͤckes, tadelt
daher der P. Daniel mit groͤſtem Rechte. Hiſtoire
de France Preface. p. XXX.


§. 17.
Erſter Fall: Wo Geſchichtſchreiber
einander widerſprechen.


Wenn ein ſpaͤterer Geſchichtſchreiber das
Gegentheil von demjenigen erzehlt, was wir bey
einem aͤlteren, und hauptſaͤchlich bey einem Seri-
tore coæuo
antreffen, ſo entſtehet daraus einiger,
obgleich etwa geringer Zweifel. Denn wider-
ſprechende Ausſagen ziehen ſolches nach ſich (§. 2.
C. 10.). Hier iſt nun, wie bey allem Zweifel, un-
ſere Schuldigkeit zufoͤrderſt, nach der Gewißheit
zu ſtreben (§. cit.); welches entweder durch Weg-
raͤumung des Widerſpruchs (§. 4. 5. 6.) oder durch
Wegſchaffung des einen Zeugniſſes (§. 7. C. 10.)
geſchehen muͤſſe. Nun laͤſſet ſich bey todten Aus-
ſagern,
(die man Zeugen zu nennen pflegt), die
Mittel, ihr Zeugniß oder Ausſage wegzuſchaffen,
nicht anwenden, die wir (§. 8. 9. C. 10.) bemerckt
haben. Es ſind aber andere Wege moͤglich, wie
ein Zeugniß abkommen kan. Denn 1. weil es
dabey auf eine Stelle in einem Buche, das etwa
auch das neueſte nicht iſt, ankommt; ſo waͤre zu
unterſuchen; ob auch die neuere Ausſage, wuͤrck-
lich vorhanden, und nicht etwa durch einen Zu-
fall, der ſich bey Abſchreibung der Buͤcher ſonſten
wohl begeben, entſtanden ſey. Denn obgleich
dieſer Weg ſelten moͤchte brauchbar befunden
werden; und man gleich in allen Buͤchern,
bey
[368]Eilfftes Capitel,
bey dem was einmahl geſchrieben ſtehet, zu blei-
ben, und daruͤber zu halten hat, ſo lange als moͤg-
lich iſt; ſo iſt doch genug, daß derſelbe moͤglich
iſt. Und da einmahl beyde Stellen nicht die
Wahrheit ſagen koͤnnen, ſo muß bey der einen oder
bey der andern, im Buche, oder in dem Verſtande
des Verfaſſers ein Fehler vorgegangen ſeyn.
2. Es kan aber ſeyn, daß des neuen Geſchichtſchrei-
bers, der dem coævo widerſpricht, ſein Anſehen
geringe, und vor nichts zu rechnen iſt: Jn dem
Fall ſo bliebe zwar ſeine Ausſage, aber ſie gaͤlte
deswegen nichts.


§. 18.
Zweyter und dritter Fall, wo Geſchichtſchreiber
einander widerſprechen.


Waͤren der Scriptor coæuus und der ſpaͤtere
Geſchichtſchreiber, die einander widerſprechen, an
ſich von gleichem Anſehen: So wuͤrde des erſteren
ſein Zeugniß ohne Zweiffel doch einen Vorzug ha-
ben, und deswegen wahrſcheinlich ſeyn und blei-
ben (§. 12. C. 11.). Nur damit wird unſere
Seele wenig beruhiget. Zu allem Gluͤck, iſt der
Fall ſelten, daß zwey Geſchichtſchreiber, die von
gleichem Anſehen ſeyn ſollten, einander gerade wi-
derſpraͤchen: Sondern es findet ſich immer bey
dem Anſehen des einen, oder des andern ein Fehler.
Nun iſt auch der Fall moͤglich, daß zwey ſpaͤtere
Geſchichtſchreiber einander widerſprechen: Deren
aber einer doch aͤlter iſt als der andere. Jn die-
ſem Falle bleibt, wenn nicht andere Umſtaͤnde
dazu kommen, die Sache voͤllig ungewiß.
Denn
[369]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
Denn einmahl hat keiner von beyden die Sache,
darinnen ſie uneins ſind, durch ſich ſelbſt, noch
als gegenwaͤrtig erkannt: Keiner von beyden kan
es auch von Zuſchauern in Erfahrung gebracht
haben. Beyde muͤſſen es alſo aus ſchrifftlichen
Nachrichten
haben; oder der eine muß ſeine
Nachricht erdichtet
haben. An welchem nun
die Schuld liege, laͤſſet ſich daraus nicht ausma-
chen, ja nicht einmahl vermuthen, daß der eine
ſpaͤter nach dem Vorgange der Geſchichte gelebt
hat, als der andere.


§. 19.
Die Kunſt Geſchichte zu ſchreiben.


Hier waͤre nun auch wohl der Ort, von den
Pflichten eines Geſchichtſchreibers zu handeln,
oder von den Regeln, wie man zur Belehrung
der Nachwelt eine Geſchichte beſchreiben, und eine
Erzehlung abfaſſen ſolle? Dieſes aber iſt eine Sa-
che von weitlaͤufftigeren Umfange, und tiefferer
Unterſuchung. Die Hauptpunckte kommen auf
folgende Stuͤcke an. 1. Verſtehet ſich von ſich
ſelbſt, daß er die Wahrheit ſagen muͤſſe 2. als-
denn kommt es auf die Frage an; wie viel er von
dem was er weiß, aufzeichnen oder verſchweigen
ſolle? Da iſt nun klar, 3. daß er die Nachwelt
belehren will (§. 10.): Dieſes kan aber auf ver-
ſchiedene Weiſe geſchehen. 4. Denn will er die Welt
auf alle moͤgliche Faͤlle, darzu ſie die Begeben-
heit brauchen koͤnnen, erzehlen, ſo muͤſte er alles
aufſchreiben, was ihm davon zu ſagen nur moͤg-
lich iſt (§. 19. C. 6.): Allein, wie ihm ſolches,
A aaus
[370]Eilfftes Capitel,
aus politiſchen Urſachen, meiſtens nicht einmahl
frey ſtehet (§. cit.); ſo entſtehet auch 5. daraus
eine Weitlaͤufftigkeit, die zwar vielen nuͤtzlich, auch
manchem angenehm ſeyn kan; aber welche auch
eine Menge von Leſern abſchreckt, ſich in Geſchich-
te einzulaſſen, die ſie auszuleſen nicht Gedult ge-
nug haben. Zu geſchweigen, daß 6. indem man
die Umſtaͤnde gar zu genau bemerckt, bald die-
ſer, bald jener, viele Stuͤcke finden wird, die er
als uͤberfluͤßig anſiehet; und ohne zu bedencken,
daß ſolche doch andern nuͤtzlich und angenehm ſeyn
koͤnnen, den Geſchichtſchreiber eines Gewaͤſches
beſchuldiget. Daher iſt unumgaͤnglich noͤthig,
daß ein Geſchichtſchreiber aus einer Geſchichte, die
er auf das ausfuͤhrlichſte weiß, einen Auszug
machen
muß.


§. 20.
Erſtes Kunſtſtuͤck eines Geſchichtſchreibers:


Denn ein Geſchichtſchreiber iſt, vermoͤge
dieſes ſeines Amts, das er auf ſich genommen hat,
verbunden, allen Eckel und Abneigung der Leſer
ſorgfaͤltig zu vermeyden. Denn er ſchreibt zum
Dienſte und Gebrauch der Nachwelt; ſein Buch
ſoll alſo bis auf ſpaͤtere Zeiten aufbehalten wer-
den. Wie kan es aber vor dem Untergange ge-
rettet werden, wenn es gleich Anfangs, nicht chne
Mißfallen geleſen wird? Dieſes aber alſo muß
vermieden werden. Folglich auch die Weitlaͤuff-
tigkeit.
Jn den ſpaͤten Zeiten wuͤrde dieſelbe
vielleicht angenehm ſeyn: Als wenn wir ietzo von
der Expedition des Xerxes in Griechenland, alle
March-
[371]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
Marchrouten, Ordres, und was ſonſten von Tag zu
Tage vorgegangen iſt, irgendwo leſen koͤnten: Aber
wenn eine Geſchichte neu iſt; ſo verurſachen ſol-
che Particularitaͤten einen Eckel. Das Mittel
darwider iſt die Verkuͤrtzung, und der Auszug.
Da wir nun allbereit deutlich gewieſen haben, wie
die Geſchichte, wenn ſie erzehlt werden ſollen,
verwandelt zu werden pflegen (§. 1. C. 6.) auch
wie ſolche verkuͤrtzt werden koͤnnen (§. 3. ſeq. C. 6.),
ſo koͤnnen auch die Pflichten eines Geſchicht-
ſchreibers in Anſehung des Auszugs,
den er
machen muß, aus den gegebenen Lehren hergelei-
tet werden.


§. 21.
Und deſſen Schwierigkeiten.


Da ein Geſchichtſchreiber die Nachwelt von
einer Geſchichte belehren will: Die Nachwelt
aber von den Perſonen und Orten, die in die Ge-
ſchichte einen Einfluß haben, hauptſaͤchlich aber
von den Perſonen keine Nachricht hat, ſo muß er
1. Menſchen und Orte alſo angeben, daß man ſie
gnugſam von andern unterſcheiden kan. 2. Ohn-
geachtet er einen Auszug macht, ſo muß doch die
Geſchichte gantz bleiben. Welche Kunſt die la-
teiniſchen und griechiſchen Geſchichtſchreiber ſehr
wohl verſtanden haben; daß wenn ſie auch noch
ſo kurtze Erzehlungen gemacht haben; man doch
daran nichts vermiſſet: Sondern ſich duͤnckt, die
gantze Geſchichte bey ihnen zu leſen. Ein Ge-
ſchichtſchreiber kan daher aus ihren Exempeln un-
gemein viel lernen.


A a 2§. 22.
[372]Eilfftes Capitel,

§. 22.
Zweytes Kunſtſtuͤck eines Geſchichtſchreibers.


Wenn ein Geſchichtſchreiber wuͤrcklich
ſeine Abſicht, nehmlich die Belehrung der ſpaͤten
Nachwelt erhalten ſoll; ſo muß er von Zeiten zu
Zeiten geleſen; ja ſein Andencken ſelbſt muß von
Zeit zu Zeit erneuert werden, damit es nicht un-
tergehe (§. 17. C. 3.). Nun fragt ſichs, worauf
ein Geſchichtſchreiber wohl rechnen koͤnne, daß
man lange nach ihm, ſein Buch leſen, lieben,
und vor deſſen Erhaltung beſorgt ſeyn werde.
Hier iſt zu mercken 1. ſo lange noch Leute vorhan-
den ſind, die die Geſchichte die er beſchrieben, et-
was angehet, ſo lange iſt auch zu vermuthen, daß
man nach ſeinem hiſtoriſchen Buche fragen werde.
2. Unterdeſſen weiß man auch, daß, Gelehrte aus-
genommen, die Menſchen nicht gar zu viel nach
dem, was vor ihrer Zeit geſchehen iſt, zu fragen
pflegen: Sondern ſie beſchaͤfftigen ſich mit ge-
genwaͤrtigen
Dingen, mit vorhabenden Ge-
ſchaͤfften,
und der damit verknuͤpften Arbeit
dergeſtalt, daß die Begierde aͤltere Dinge zu er-
forſchen, davor gar nicht aufkommen kan. Ja
wenn eine Geſchichte weder rechtalt, noch recht
neu
iſt, ſo pflegen Gelehrte und Ungelehrte ſich
nicht ſehr darum zu bekuͤmmern. Darauf darf
ein Geſchichtſchreiber alſo keine groſſe Rechnung
machen, daß ſein Buch deswegen ſich erhalten
werde, weil wichtige Nachrichten darinnen ſtehen.
2. Was aber den Menſchen zu allen Zeiten ange-
nehm iſt, das iſt das Sinnreiche, wie uͤberhaupt,
alſo
[373]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
alſo auch im Erzehlen. Die Meiſterſtuͤcke des
Witzes, ſie moͤgen betreffen was ſie wollen, er-
muntern von Zeit zu Zeit diejenigen, die daruͤber
kommen, daß ſie ſich derſelben wieder annehmen,
und ſich damit auf eine angenehme Weiſe beſchaͤff-
tigen. Die beſte Mitgabe die alſo ein Geſchicht-
ſchreiber ſeinem Buche mittheilen kan, iſt, daß es
mit Witz angefuͤllt ſey, als welchen noch immer
Leute bewundern und lieben werden, die nach der
Geſchichte ſelbſt, die darinnen vorkommt, wenig
oder nichts fragen wuͤrden. Die groſſe Kunſt
eines Geſchichtſchreibers
beſtehet demnach
kuͤrtzlich darinnen, daß er einen ſinnreichen
Auszug
aus einer Geſchichte zu machen weiß:
Wie dieſes die wahre Beſchaffenheit des Taciti,
Liuii,
und anderer Hiſtoricorum iſt, die wir noch
bis auf den heutigen Tag verehren.


§. 23.
Drittes Kunſtſtuͤck eines Geſchichtſchreibers.


Es hat aber der Geſchichtſchreiber auch dar-
auf zu ſehen, daß er bey ſeinen Leſern Glauben
finde, und alſo nicht ſelbſt Gelegenheit zu unnoͤthi-
gen Zweiffeln gebe. Nun iſt die Unwahrſchein-
lichkeit
einer Begebenheit, eine ſtarcke Veran-
laſſung zu zweiffeln (§ 28. C. 10.); ſo daß viele
eine Erzehlung gantz und gar bloß wegen ihrer
Unwahrſcheinlichkeit verwerffen; ob es gleich nicht
folgt: Daß das Unwahrſcheinliche auch falſch ſeyn
muͤſſe. Unwahrſcheinlich aber iſt 1. was kei-
ne
Urſach hat. 2. Was denen bekannten Regeln
der Natur, und denen Maximen, die faſt alle
A a 3Men-
[374]Eilfftes Capitel,
Menſchen in ihren Hertzen haben widerſpricht; oder
vielmehr zu widerſprechen ſcheinet. Jede von dieſen
Eigenſchafften verbindet den Geſchichtſchreiber zu
einer beſondern Pflicht, wenn er Gewißheit bey
ſeinen Leſern erhalten will. Nehmlich 1. er muß
ſeine Erzehlung ſo einrichten, daß man auch die
Urſachen einer Begebenheit daraus abſehen kan.
Darzu haben wir im achten Capitel vollſtaͤndige
Anleitung gegeben. 2. Daß er das Paradoxe,
wo es moͤglich iſt, auf irgend eine Art begreifflich
mache. Denn was doch wuͤrcklich geſchehen, das
muß ausgemachten Wahrheiten, nicht wi-
derſprechen. Was nicht in des Geſchichtſchrei-
bers Gewalt hierbey ſtehet, das iſt auch nicht von
ihm zu fordern. Ein Exempel ſolcher Sorgfalt,
nebſt andern zum unglaublichen Erzehlungen ge-
hoͤrigen Dingen, kan man nachleſen in der Aus-
legekunſt
(§. 315. ſeqq.)


§. 24.
Zwey Hauptarten der Denckmahle.


Wir kommen nunmehro auf die Monumenta,
oder Denckmahle, in engern Verſtande: Wel-
ches denn Coͤrper ſind, die zum Andencken dienen
ſollen. Sie ſollen alſo nach langer Zeit denen
Menſchen die Erkentniß vorgegangener Begeben-
heiten beybringen: Die man eigentlich aus muͤnd-
lichen und ſchrifftlichen Nachrichten erlernen ſollte.
Dergleichen Coͤrper nun ſind entweder mit einer
Schrifft verſehen, oder nicht. Jene haben wir
die belebten, dieſe aber ſtumme Denckmahle ge-
nennet; in der Abhandlungde Monumentis,
in
[375]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
in den Opuſculis Academ. T. II. p. 265. Was
nun die ſtummen Denckmahle anlanget, ſo ſind
ſolche ſehr unbequem das Andencken der Menſchen
und geſchehenen Dinge zu erhalten. Denn die
Zeit, der Ort, als die Hauptumſtaͤnde bey Ge-
ſchichten laſſen ſich durch Bilder nicht wohl aus-
drucken: Ein Coͤrper aber ſchickt ſich weiter nicht
eine Sache auszudrucken, als in ſoferne er ein
Bild einer gewiſſen Sache wird; oder auch in
ſoferne man aus der Kunſt deſſelben ſchlieſſen
kan, daß iemand muͤſſe geweſen ſeyn, der den
kuͤnſtlichen Coͤrper verfertiget habe. So weiß
man nicht, welche Koͤnige die Wunder der Welt,
die Egyptiſchen Pyramiden, erbauet haben: Das
aber kan man ihnen wohl anſehen, daß es groſſe
und maͤchtige Koͤnige geweſen ſeyn muͤſſen, die
folche Berge von Marmor haben auffuͤhren
koͤnnen.


§. 25.
Erſte Art ſtumme Denckmahle zu nutzen.


Unterdeſſen laſſen ſich doch aus ſolchen Denck-
mahlen, auch ohne Schrifft, allerhand loci com-
munes
machen, wie man in alten Zeiten muͤſſe
gedacht, und dieſe oder jene Dinge angegriffen
haben. Z. E. aus den Pyramiden der Egyptier
laͤſſet ſich ſchlieſſen, wie ſehr dieſelbe vor die Er-
haltung ihres Leibes nach dem Tode bedacht gewe-
ſen ſeyn muͤſſen, zumahl da ſolches auch aus den
Grabmaͤhlern und den Mumien der Privatper-
ſonen erhellet. Und da ſie ihre Mumien mit
allerhand hieroglyphiſchen Bildern und Schriff-
A a 4ten
[376]Eilfftes Capitel,
ten uͤberzogen haben, (die uns, weil wir ſie nicht
verſtehen, eben ſo gut als keine Schrifft ſind,) und
ſich den Zugang zu denſelben offen behielten;
ſo folget daraus, daß Privatperſonen in den Ge-
ſchichten ihrer Vorfahren viel bewanderter gewe-
ſen ſeyn muͤſſen, als bey allen andern Nationen
gewoͤhnlich geweſen, und noch iſt. Am allermei-
ſten laͤſſet ſich aus den alten kuͤnſtlichen Denck-
malen, als Gemaͤhlden, Seulen, gehauenen, und
gegoſſenen Statuen, auf das klaͤrlichſte und ſicher-
ſte erkennen, wie weit es die Alten in allen dieſen
Kuͤnſten gebracht haben.


§. 26.
Zweyte Art ſtumme Denckmahle zu nutzen.


Und ſo laͤſſet ſich aus jedem alten Stuͤcke et-
was von dem erkennen, was in alten Zeiten ge-
ſchehen iſt, was von groſſen Gebaͤuden uͤbrig iſt,
nennet man Ruinen, oder rudera: Bewegliche
Dinge aber Reliquien und Ueberbleibſel als die
fragmenta, von allerhand Haußrathe, und andern
Dingen, die man im menſchlichen Leben braucht;
beſonders Geſchirr, und Waffen: Dergleichen in
den Cabinetten groſſer Herrn aufgehoben werden.
Auch in alten Grabmaͤhlern pflegt man dergleichen
anzutreffen: Wie des Chifletii theſaurus ſepul-
chralis Childerici,
als ein vornehmes Exempel
beſaget. Von allen ſolchen Dingen ſind dermah-
len Ausfuͤhrungen in Menge vorhanden.


§. 27.
[377]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.

§. 27.
Belebte Denckmahle.


Belebte Denckmahle aber, oder die, wel-
che Aufſchrifften haben, ſind ebenfalls von vieler-
ley Gattung. Man hat Marmorne Tafeln
voll Schrifften: Saͤulen, und Gebaͤude mit
Aufſchrifften: Gegrabene koſtbare Steine mit
Ueberſchrifften. Vor allen andern aber werden
die Muͤntzen unter den Alterthuͤmern in Betrach-
tung gezogen. Bey dieſen Dingen aber koͤnnen,
wie bey alten Urkunden (§. 6.), folgende Eigen-
ſchafften, ſchwere Unterſuchung erfordern. 1. Ob
das belebte Denckmahl, welches man in Haͤnden
hat, auch aͤcht ſey? 2. Daß man die darauf be-
findliche Aufſchrifft verſtehen lerne. Wobey oͤff-
ters das Leſen die groͤſte Schwierigkeit macht. Jn-
dem die Alten ſich ſehr kurtzer und abgebrochener
Aufſchrifften bedienet haben. Nun wuͤrde es zu
ſpaͤte ſeyn, zu fragen, ob ſie daran recht ver-
nuͤnfftig und wohl gethan haben? Welches ſchwer-
lich mit ja! kan beantwortet werden. Denn
ſolche Dinge ſollen zum Andencken dienen: Und
zwar vor ſpaͤte Zeiten. Nun werden ſelbſt die
klaͤrſten Schrifften mit der Zeit etwas dunckel:
Was ſoll nicht mit ſolchen Aufſchrifften geſchehen,
die vom Anfange wie ein Raͤtzel ausſehen. 3. Hat
ohne Zweiffel die Auslegung auch bey denen
Aufſchrifften, wie bey allen alten Schrifften, ihr
groſſes Geſchaͤffte.


A a 5§. 82.
[378]Eilfftes Capitel,

§. 28.
Bilder auf belebten Denckmahlen.


Es haben aber auch die Alten vieles auf ihren
Denckmahlen, nicht allein durch die Ueberſchrifft
und Aufſchrifft, ſondern auch durch Bilder aus-
gedruckt. Beſonders haben ſie ſich dabey der
Mythologiſchen Jdeen fleißig bedienet. Die
Auslegung dieſer Bilder, hat ſeit der Wiederher-
ſtellung der Gelehrſamkeit, unzehlig groſſe Maͤn-
ner beſchaͤfftiget: Welche die Bedeutung dieſer
Bilder, durch Zuſammenhaltung vieler Exempel,
und durch Vergleichung derſelben mit denen an-
dern Nachrichten aus Buͤchern, ſo ins Licht ge-
ſtellt haben, daß man ſich in den meiſten Stuͤcken
einer voͤlligen Gewißheit ruͤhmen kan. Beſon-
dres ſchwere Dinge dieſer Art findet man unter an-
dern in den Memoires de l’ Academie des Inſcri-
ptions \& belles Lettres
in groſſer Menge.


§. 29.
Unſchuld der Ungewißheit bey alten
Geſchichten.


Wenn alles Fleiſſes der Gelehrten ungeachtet,
dennoch in Anſehung der alten Geſchichten vieles
Ungewiſſe uͤbrig bliebe, ſo duͤrffte man ſich daruͤ-
ber gar nicht wundern, noch weniger aber daraus
eine voͤllige Ungewißheit der hiſtoriſchen Erkent-
niß, nur mit dem geringſten Schein ſchluͤſſen.
Denn die Mittel, welche zu Wegraͤumung der
Zweiffel angewendet werden muͤſſen (§. 8. ſeqq.
C. 10.) koͤnnen freylich bey alten Geſchichten
nicht
[379]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
nicht allemahl angewendet werden. Wir koͤnnen
nehmlich nicht Zeugen aufſuchen, wie wir wol-
len: Weil dieſelben oͤffters gar nicht mehr vor-
handen ſind: Wir koͤnnen auch die vorhandenen
Autores nicht fragen, wie wir wollen, ſondern
wir muͤſſen uns an ihren Ausſagen, die
wir haben, gnuͤgen laſſan. Wiewohl man bey
oͤfftern und wiederhohlten Nachſchlagen, und
durch verdoppelte Aufmerckſamkeit oͤffters dasje-
nige endlich findet, was man geſucht, und gleich-
ſam gefragt hat.


§. 30.
Beſchreibungen und Erzehlungen von ſehr
entfernten Dingen.


Die Beſchreibungen von ſehr entfernten
Laͤndern,
und einige etwa damit verknuͤpffte Er-
zehlungen, ſind mit den alten Geſchichten in Anſe-
hung der Schwierigkeiten gar wohl in Verglei-
chung zu ſtellen. Jn ſolche Laͤnder kommen nur
wenige. Und wer in ein ſehr entferntes Land
kommt, befindet ſich in ſolchen Umſtaͤnden, wor-
innen ſich derjenige befindet, der zum erſten mahl
zu einer Sache kommt: welches wir als einen be-
ſondern Sehepunckt bemerckt haben. (§. 17. C. 5.)
Jeder weiß, daß dem, wer zum erſten mahl zu ei-
ner Sache kommt, alles fremde vorkomme. Und
in dieſem Zuſtande wird alles mit Verwunde-
rung,
meiſtens auch mit Uebereilung angeſe-
hen; welches freylich ſehr unrichtige Erzehlungen
hervor bringen muß. So dann ſiehet man in ei-
nem ſehr entfernten Lande alles als ein Fremder
an. (§. 22. C. 5.) Endlich aber, ſo iſt es eine
gemeine
[380]Eilfftes Capitel,
gemeine und gantz natuͤrliche Eigenſchafft derer, die
von weiten Reiſen wiederkommen, daß ſie die Leu-
te durch ihre Erzehlung in Verwunderung ſetzen
wollen. Jeder erwartet auch dergleichen von ih-
nen. Dieſer Erwartung ein Gnuͤge zu thun, ver-
groͤſſern
dergleichen Perſonen insgemein das, was
ſie in fremden Landen geſehen haben. Ob nun gleich
ſolches auf eine Art geſchehen koͤnte, welche die
Wahrheit noch nicht ſo ſehr beleidigte; (§. 21. C. 6.)
ſo tragen doch die von Reiſen zuruͤck gekommene
kein Bedencken, offt die groͤſſeſten Unwahrhei-
ten und voͤllige Erdichtungen theils zu reden, theils
zu dencken. Jhre Frechheit gruͤndet ſich auf fol-
genden Umſtand. Von einheimiſchen, zumahl
oͤffentlichen Dingen, ſcheuet ſich jeder, Unwahr-
heiten, die gar nicht mit einer gewiſſen Erzeh-
lungsart
koͤnnen entſchuldiget werden, zu ſchrei-
ben, weil er zu beſorgen hat, daß ihm jeder wider-
ſpricht, und er zum Gelaͤchter werden moͤchte.
(§. 32. C. 9.) Aber wenn iemand, der aus ſehr
fernen Landen zuruͤck kommt, noch ſo arge Unwahr-
heiten redet, ſo darf er doch nicht beſorgen, daß ie-
mand gleich da ſeyn werde, der ihm ſeine Abferti-
gung geben duͤrffte. Hieraus entſtehet die licentia
mentiendi
bey denen, die Reiſebeſchreibungen ma-
chen. Jetzo aber, da die Reiſen in alle Welttheile
haͤuffiger bey uns ſind: ſo wird auch dieſe Licentz bey
uns mehr eingeſchraͤnckt.


§. 31.
Alte und entfernte Nachrichten klingen offt
unwahrſcheinlich.


Bey denen Beſchreibungen der Dinge, die
in fernen Landen vorgehen, kan ſich ſo wohl, als
bey
[381]von alten u. auslaͤndiſch. Geſchichten.
bey den ſehr alten Geſchichten, am erſten der Um-
ſtand aͤuſſern, daß die Nachrichten der Unwahr-
ſcheinlichkeit
unterworffen ſind. Denn in den
Sitten und Verfaſſungen gehen mit der Zeit
groſſe Veraͤnderungen vor: und Voͤlcker, die am
weiteſten von einander entfernet ſind, ſind auch in
Anſehung der Sitten und Verfaſſungen am meiſten
von einander unterſchieden. Nun laͤſſet ſich zwar
aus der Unwahrſcheinlichkeit, die Unrichtigkeit der
Sache ſelbſt nicht ſicher ſchluͤſſen; (§. 25. C. 10.)
aber es entſtehet doch daraus eine Schwierigkeit,
die Sache zu glauben. Vor den Geſchicht-
ſchreiber aber entſtehet daraus die Pflicht, daß wenn
er mit ſeiner Erzehlung und Beſchreibung Beyfall
finden will, er entweder das, was darunter am al-
lerunwahrſcheinlichſten iſt, gar auslaſſen muß;
oder er muß wiſſen, die Sache begreifflich zu
machen: woran es ſo wohl noch groſſen Theils den
alten Geſchichten der Roͤmer und Griechen, als
auch vielen Nachrichten aus ſehr entfernten Landen,
beſonders von China, fehlet.



Zwoͤlfftes Capitel,
Von zukuͤnfftigen Dingen.


§. 1.
Zukuͤnfftige Dinge gehoͤren auch zur hiſto-
riſchen Erkentniß.


Die Geſchichte und Hiſtorien werden
zwar gemeiniglich nur vor geſchehene und
vergangene Dinge gebraucht; und zwar
darum, weil dieſe den groͤſten Theil unſerer hiſtori-
ſchen
[382]Zwoͤlfftes Capitel,
ſchen Erkentniß ausmachen. Jndeſſen iſt unlaͤug-
bar, daß zukuͤnfftige Dinge mit denen vergange-
nen, oder vielmehr die Erkentniß zukuͤnfftiger Din-
ge mit der Erkentniß der vergangenen Dinge die
groͤſte Aehnlichkeit habe: und daß unſere Seele ſich
mit dem einen ſo wohl, als mit dem andern be-
ſchaͤfftige. Das Zukuͤnfftige wird mit der Zeit
ins Vergangene verwandelt, und manchmahl iſt
ſelbſt bey Menſchen, die doch ins Zukuͤnfftige nicht
weit ſehen, die Erkentniß der Sache, wenn ſie noch
zukuͤnfftig iſt, mit der Erkentniß derſelben, wenn
ſie vollbracht iſt, einerley. (§. 22. C. 8.) Da-
hero wenn wir von der menſchlichen Erkentniß derer
Dinge, welche ſind und geſchehen, ausfuͤhrlich
handeln wollen, ſo muͤſſen wir auch darauf unſere
Betrachtung gerichtet ſeyn laſſen, wie weit es die
Menſchen in Erkentniß zukuͤnfftiger Dinge bringen
koͤnnen. Die goͤttlichen Offenbahrungen und
die daraus flieſſende Prophezeyungen wuͤrden
nun hierunter zwar auf gewiſſe Weiſe den erſten
Platz verdienen. Allein nach dem einmahl feſt ge-
ſetzten Plan dieſer Abhandlung ſehen wir nur dar-
auf, was die menſchliche Seele ihre natuͤrlichen
Kraͤffte von zukuͤnfftigen Dingen wiſſen kan. Die
Betrachtung aber der Offenbahrungen und
Prophezeyungen rechnen wir zur Anwendung
dieſer Grundlehren.


§. 2.
Erſte Einſicht ins zukuͤnfftige.


Der Weg ins zukuͤnfftige mit unſern Gedancken
zu kommen, iſt dieſer: Daß wir den kuͤnfftigen
Zuſtand derer vorhandenen Dinge, und

anderer,
[383]von zukuͤnfftigen Dingen.
anderer, die an ihre Stelle kommen wer-
den, aus den allgemeinen Regeln der Ver-
aͤnderungen ſchluͤſſen.
Denn ſo finden wir in
den Coͤrpern nicht allein 1. allgemeine Regeln der
Bewegung, 2. ſondern auch naͤhere, und in der
Natur bisher beſtaͤndig beobachtete Regeln: ob ſie
ſich gleich aus den allgemeinen Regeln der Bewe-
gung nicht, als nothwendige Folgen ſchluͤſſen laſ-
ſen. Vermittelſt dieſer Principiorum koͤnnen wir
eine groſſe Menge phyſicaliſcher Begebenheiten vor-
her erkennen, welche theils nicht truͤgen werden,
ſo lange die Erde ſtehen wird: theils deſto weniger
truͤgen, ie genauer wir auf das gegenwaͤrtige
Achtung geben, und ſolches mit denen allgemeinen
Regeln, die wir aus Erfahrung und allgemeinen
Begriffen erlernet haben, genau zuſammen halten.


§. 3.
Zweyte Einſicht ins zukuͤnfftige.


Es hat auch die Seele ihre Regeln, die zwar in
der Anwendung eine unendliche Abwechſelung ha-
ben; aber dennoch ſich auf richtige Principia redu-
ciren laſſen: als die Regeln des Gedaͤchtniſſes,
der Einbildungskrafft, und noch mehr die Re-
geln mit allgemeinen Wahrheiten umzugehen.
Nach dieſen kan man oͤffters in eintzeln Faͤllen an-
derer
ihre Gedancken voraus ſagen: doch nur unter
der hypotheſi, daß die einmahl angefangene Rei-
he von Gedancken, die ein gewiſſes Objectum be-
treffen, nicht durch ein ander Object unterbrochen
werde.


§. 4.
[384]Zwoͤlfftes Capitel,

§. 4.
Dritte Einſicht ins zukuͤnfftige.


Ein jeder Menſch aber hat ſeine beſondere Ge-
dancken,
wie auch nach Gelegenheit ſeine eigene
Vorurtheile, Jrrthuͤmer, Eigenſinn, Ge-
wohnheiten,
darunter ihm immer eines tieffer
eingepraͤgt iſt, als das andere. Wenn ich dieſe
beſondere Kraͤffte, oder auch Schwachheiten
eines Menſchen weiß; ſo kan ich viele ſeiner Gedan-
cken, mit Beyhuͤlffe der allgemeinen Principio-
rum
heraus bringen. Wie aber der Sinn der
Menſchen veraͤnderlich iſt; alſo koͤnnen auch ſeine
bisherige Gedancken, Vorbildungen, Jrrthuͤmer,
eigenſinnige Neigungen ſich aͤndern: gleichwie
auch neue entſtehen koͤnnen: doch geſchehen ſolche
Aenderungen nicht in einem Augenblick, auch nicht
ohne aͤuſſerliche Veranlaſſung: daher hindert die
Veraͤnderlichkeit des menſchlichen Sinnes nicht
voͤllig, daß wir nicht ſeine Gedancken wenigſtens
auf eine kurtze Zeit voraus ſehen ſollten.


§. 5.
Vierte Einſicht ins zukuͤnfftige.


Die freyen Handlungen ſind zwar bey den
Menſchen ſo beſchaffen, daß, ſo lange ſie nicht
wuͤrcklich angefangen ſind, ſich noch immer eine
Reue finden kan; aber doch, da ein Menſch nach
ſeiner Einſicht in die Sachen, und nach den ihm
ſchon beywohnenden Neigungen und Trieben zu
handeln pflegt: ſo muß iemand, der die Einſicht
und Triebe eines andern kennt, auch vieles voraus
ſehen koͤnnen, was er beſchluͤſſen, was er thun
werde. Bey jeder eintzeln Gelegenheit kommen
zwar
[385]von zukuͤnfftigen Dingen.
zwar eine Menge Umſtaͤnde vor, die man auf die-
ſer und auf jener Seite anſehen koͤnte, woraus denn
viele moͤgliche Entſchluͤſſungen entſtehen: aber
bey der gemeinen Art zu dencken, und natuͤrli-
chen Einfalt
ſiehet man die Sache meiſtens nur
auf einer Seite an. Jſt aber iemand anders an-
gefuͤhret
worden, welches vornehmlich geſchie-
het, wenn man andern, und zwar wunderlichen
und heuchleriſchen Leuten gehorſamen muß; da man
viel uͤber Sachen zu raffiniren genoͤthiget wird, ſo
iſt hernach auch uͤbel im Voraus abzunehmen, was
eine ſolche Perſon vor Entſchluͤſſungen faſſen
werde.


§. 6.
Fuͤnffte Einſicht ins zukuͤnfftige.


Die an ſich freyen und willkuͤhrlichen Hand-
lungen werden doch zu einer Nothwendigkeit durch
die eingegangenen Verbindungen: zumahl
wenn Zwangsmittel vorhanden ſind, die Erfuͤllung
des Verſprechens, oder des Packts, im Fall der
Verabſaͤumung zu erpreſſen. Wie nun jedes Ge-
ſetz,
dem man unterworffen iſt, eben die verbin-
dende Krafft hat, wie Packten; die Gewohnhei-
ten
aber mit den Geſetzen in gleichen Paaren ge-
hen: alſo kan man auch aus den Geſetzen, Ge-
braͤuchen, Packten
vorausſehen, was dieſer
oder jener unter den und den Umſtaͤnden thun
werde.


B b§. 7.
[386]Zwoͤlfftes Capitel,

§. 7.
Sechſte Einſicht ins zukuͤnfftige.


Der Wille eines Menſchen iſt zwar ſehr veraͤn-
derlich, daß er, ſo lange die Sache noch nicht ge-
ſchehen, immer noch zuruͤck treten kan. Wenn
aber eine Sache von vieler Menſchen ihren Willen
dependiret, doch ſo, daß alles nur nach einem ge-
meinſchafftlichen Schluſſe
geſchiehet; ſo kan,
was einmahl beſchloſſen iſt, nicht ſo leichte geaͤn-
dert werden. Wovon die Urſache leicht einzuſehen;
weil nehmlich diejenigen, welchen an der Erfuͤllung
des Decreti etwas gelegen iſt, (dergleichen es im-
mer in einer Geſellſchafft geben muß) ſich darwi-
der ſetzen werden, daß die Sache nicht noch ein-
mahl, als unausgemacht, in Deliberation gezo-
gen werde. Wird aber nicht deliberiret, ſo kan
auch nichts aufs neue beſchloſſen werden. Die
Erfuͤllung ſolcher Entſchluͤſſungen iſt alſo gut vor-
aus zu ſehen, ſo, daß man auf die Schluͤſſe gantzer
Corporum ſehen muß, wenn man wiſſen und in
Erempeln zeigen will, was eigentlich ein feſter
Entſchluß
und ein Decretum ſey.


§. 8.
Siebende Einſicht ins zukuͤnfftige.


Unſer eigener Wille, dieſes oder jenes zu thun,
macht eben auch einen Grund aus, warum wir das
Zukuͤnfftige voraus ſehen koͤnnen: Nicht zwar, daß
das
[387]von zukuͤnfftigen Dingen.
das allemahl erfolgen muͤſte, was wir uns zu thun
und zu erhalten vorgeſetzt haben; ſondern die goͤtt-
liche Vorſehung hat es alſo geordnet, daß doch oͤff-
ters, und (wenn man genau zuſammen rechnen
wollte) die meiſten mahle die Sachen nach unſerm
Willen und Erwarten erfolgen: und die meiſten
Anſchlaͤge ihren Fortgang haben: nur daß man ſich
in der Ausfuͤhrung beſtaͤndig nach den Umſtaͤnden
richten muß, welche man in jedem Zeitpunckte fuͤr
ſich ſiehet.


§. 9.
Die Decken uͤbers zukuͤnfftige.


Daß aber unſer Vorherſehen und Beſchluͤſſen
in unſern eigenen Sachen, die wir doch unter allen
Dingen am beſten wiſſen, auch oͤffters ſeinen Fort-
gang und Erfuͤllung nicht hat, kommt daher 1. weil
wir uns offt von dem gegenwaͤrtigen falſche Be-
griffe machen, und alſo einen uͤblen Grund zur Erfin-
dung des zukuͤnfftigen legen. 2. Jn den Sachen
ſelbſt, die wir vor uns haben, iſt viel verborgenes,
welches ſo gut ſeine Folgen haben muß, als das, was
wir von den gegenwaͤrtigen Umſtaͤnden wiſſen. Wie
kans alſo anders ſeyn, als daß vieles wider unſer Er-
warten entſtehen muß. 3. Ereignen ſich Zufaͤlle, oder
aͤuſſerliche Begebenheiten, auf welche wir bey un-
ſern Anſchlaͤgen ohnmoͤglich haben rechnen koͤnnen,
welche gleichwohl unſer Vorhaben vereiteln.


B b 2§. 10.
[388]Zwoͤlfftes Capitel,

§. 10.
Die Gewißheit der zukuͤnfftigen Dingeiſt
hinlaͤnglich.


Es iſt an dem, daß dieſe drey Urſachen unſere
Einſicht ins zukuͤnfftige ſehr ungewiß machen; Und
dieſes iſt ohne Zweiffel ein Stuͤck der goͤttlichen Vor-
ſehung und Regierung, welches zur Abſicht hat,
daß wir bey unſern Geſchaͤfften und Anſchlaͤgen von
der Betrachtung der Creaturen uns abwenden, und
an den hoͤchſten Regenten gedencken, ja jeder Er-
folg deſſen, das wir wuͤnſchen, von ſeiner Hand
gewaͤrtig ſeyn ſollen. Zur klugen Einrichtung un-
ſerer Handlungen iſt folgende Gewißheit des zu-
kuͤnfftigen ſchon hinlaͤnglich: 1. Daß in der Coͤr-
perwelt theils beſtaͤndige Regeln der Bewegung
uͤberhaupt ſind, theils auch in jeder Art der Dinge
beſondere, und zwar beſtaͤndige Regeln angetrof-
fen werden, welche wir Erfahrungen nennen.
2. Daß, ob wir gleich in Anſehung des entfernten
Erfolgs oͤffters nichts zuverlaͤßiges ſagen koͤnnen,
dennoch das naͤchſtbevorſtehende mit mehrerer Ge-
wißheit erkannt werden kan: und ſo koͤnnen wir
Schritt vor Schritt immer das Kuͤnfftige, ſo viel
uns zu wiſſen noͤthig iſt, voraus ſehen. Eben wie
man in der Daͤmmerung, ja in finſterer Nacht zwar
nicht weit vor ſich hinſehen, aber doch das, was
naͤchſt vor den Fuͤſſen iſt, erkennen kan; wodurch
wir dennoch unſere Reiſen, und zwar ſelbſt durch
ſehr gefaͤhrliche Orte fortſetzen koͤnnen; ſo iſt es auch
mit
[389]von zukuͤnfftigen Dingen.
mit der Einrichtung unſerer Handlungen, in ſo
ferne ſie von dem Zukuͤnfftigen abhanget. Denn
daß man nicht uͤberall aufs zukuͤnfftige zu ſehen noͤ-
thig habe, haben wir gewieſen in den vernuͤnffti-
gen Gedancken vom Wahrſcheinlichen.

(VI. Betrachtung. §. 7.) 3. Daß, wenn ich
von fremden und aͤuſſerlichen Zufaͤllen abſtrahire,
ich von jeder Sache nach ihrer Art die innerlichen
Veraͤnderungen zuverlaͤßig voraus ſehen kan.


§. 11.
Von Prognoſticis.


Eine gegenwaͤrtige Sache, darauf, vermoͤge
der Erfahrung, eine andere erfolget, heiſſet ein
Zeichen,Prognoſticon. Jch ſage, daß ſich
Zeichen auf gewiſſe Erfahrungen gruͤnden, nicht
aber auf eine deutliche Erkentniß, wie das nachfol-
gende aus dem vorhergehenden entſtehet. Denn
ſo pflegt man das Wort Prognoſticon zu nehmen.
Das Deutſche Wort Zeichen iſt freylich ſehr allge-
mein, ſo daß jede Sache, in ſo ferne man eine an-
dere daraus erkennet, ein Zeichen genennet wird.
Wer nun Prognoſtica feſte ſtellen will, muß da-
bey, wie bey allen ſo genannten Erfahrungen,
verfahren, daß er nehmlich aus Zuſammen-
haltung vieler aͤhnlichen Faͤlle etwas allgemeines
heraus bringt. (§. 41. C. 2.) Und dieſes iſt ein
Hauptſtuͤck vor die Aertzte.


B b 3§. 12.
[390]Zwoͤlfftes Capitel,

§. 12.
Mangel bey Vorherſehung zukuͤnfftiger
Dinge.


Wir ſehen zwar oͤffters eine Sache voraus, nach
ihrem allgemeinen Begriffe, aber nicht determinirt
genug. Z. E. Man ſiehet ein Gewitter aufzie-
hen, man weiß aber nicht, ob es recht ſtarck wer-
den wird; weil ſie oͤffters durch ploͤtzlich entſtehende
Sturmwinde gemildert werden: noch weniger weiß
man, ob es einſchlagen wird. Wir erwarten Ant-
wort
auf eine Frage, und koͤnnen in den meiſten
Faͤllen voraus ſehen, daß ſie nicht ausbleiben kan;
aber wir wiſſen deswegen die Beſchaffenheit der
Antwort nicht: ob es ja oder nein ſeyn werde. Hier
entſtehet oͤffters ein Verlangen, das Zukuͤnfftige
genauer zu wiſſen. Oeffters iſt es auch moͤg-
lich, noch etwas mehr heraus zu bringen, wenn
man nehmlich 1. die uns bekannten Umſtaͤnde, oder
die Data, die wir ſchon haben, mit noch mehreren
Theorien und allgemeinen Wahrheiten zuſammen
haͤlt. (§. 2.) Und in Erwegung dieſer Regel
koͤnte man ſagen, daß ie laͤnger man uͤber ein gewiſ-
ſes Geſchaͤffte ſtudirt, deſto mehr werden ſich auch,
vermittelſt zu Huͤlffe genommener allgemeiner
Wahrheiten in Voraus davon beſtimmen laſſen. 2.
Das andere Mittel iſt, daß man das vorhandene
und die gegebenen Data immer mit einer neuen Auf-
merckſamkeit betrachtet, und einen Umſtand nach
dem andern in Erwegung ziehet. Jeder neu bemerck-
ter Umſtand wird auch zu neuen Folgerungen, was
etwa daraus entſtehen koͤnten, Gelegenheit geben.


§. 13.
[391]von zukuͤnfftigen Dingen.

§. 13.
Wider dieſen Mangel dienet die Kunſt zu
muthmaſſen.


Die Kunſt zu muthmaſſen gehet mit ſolchen
Sachen um, die vom menſchlichen Thun und Laſſen
abhangen: wenn man nehmlich voraus ſehen kan,
theils was dieſelben thun werden, theils was ſie mit
ihrem Thun ausrichten werden. Weil aber auch nach
den gemeinſten Begriffen der Menſchen bey jeder
Sache etwas voraus geſehen werden kan, ſo muß
die Kunſt zu muthmaſſen darinnen beſtehen, 1.
daß man durch dieſelbe gewiſſe Dinge vorher ſa-
gen kan, wovon man nach der genauen Erkentniß
der Menſchen gar nichts vorher wiſſen kan. 2. Daß
man dasjenige genauer beſtimmet, was nach der
gemeinen Erkentniß zwar in etwas, aber nicht
determinirt genug eekannt wird. (§. 2.)


§. 14.
Erſtes Stuͤck, die Kunſt zu muthmaſſen.


Der Fall, wo man im gemeinen Leben gar nichts
voraus abzuſehen vermag, (n. 1. §. 13.) iſt der,
wenn man mit einer Sache zu thun hat, welche im
gemeinen Leben entweder gantz unbekannt iſt, oder
doch ſelten, daß man davon keine Erfahrungen
hat machen koͤnnen. Z. E. Wenn ein Comet er-
ſcheint, ſo weiß man nicht, ob er groͤſſer werden,
oder kleiner werden, oder was ſonſten daraus ent-
B b 4ſtehen
[392]Zwoͤlfftes Capitel,
ſtehen werde. Jn der gemeinen Erkentniß hat
man nehmlich davon zu wenige Exempel, und keine
Theorie gar nicht, daraus man von der Sache urthei-
len koͤnte. Wenn ein Erdbeben entſtehet, ſo weiß
noch kein Menſch nicht, was er von dem Fortgange
vermuthen ſoll, woraus denn mehr Furcht und
Schrecken zu entſtehen pfleget, als aus dem groͤſten
vorhandenen Uebel. Wer alſo bey ſolchen Dingen
beſondere Gelegenheit hat, Erfahrungen zu
ſammlen, oder eine Theorie zu erſinnen, der wird
in Anſehung eines ſolchen Stuͤcks auch in Muth-
maſſungen
ſtarck, und zur Verwunderung der
Leute gluͤcklich ſeyn.


§. 15.
Anderes Stuͤck der Kunſt zu muthmaſſen.


Wenn man nach der gemeinen Einſicht zwar
etwas voraus ſiehet, aber nicht determinirt genug;
ſo beſtehet, nach den (§. 13.) vorhin angegebenen
Grundregeln, die Kunſt zu muthmaſſen wiederum
darinne, daß man 1. ſich entweder nach mehreren
allgemeinen Wahrheiten umſehe, oder 2. daß man
eine neue Betrachtung der Sache nach ihrer inner-
lichen Beſchaffenheit, nochmahls vornehme. Man
unterſuche die feinſten Proben eines ſcharfſinnigen
Verſtandes, die uns etwa von groſſen Maͤnnern
bekannt ſind, welche Dinge voraus geſehen ha-
ben, ſo wird man finden, daß ſie darum in ihren
Muthmaſſungen gluͤcklich geweſen ſind: Weil ſie
entweder gewiſſe, ſonſt nicht bekannt geweſene Ma-
rimen gewuſt haben, wornach die Menſchen in ih-
ren
[393]von zukuͤnfftigen Dingen.
ren Handlungen ſich zu richten pflegen; oder ſie
haben in den vorhandenen und gegenwaͤrtigen
Dingen gewiſſe Umſtaͤnde entdeckt, die andere nicht
wahrgenommen haben. Wie kommt es, daß man
zu einem erfahrnen Artzte mehr Vertrauen hat,
als zu einem Anfaͤnger, ſelbſt in Anſehung der
Einſicht in die Kranckheit, da doch alle bekannte
Arten der Kranckheiten aus Buͤchern koͤnnen er-
lernt werden? als daher, weil man verſichert iſt,
daß die erfahrne Art, doch mehr allgemeine
Wahrheiten aus der langen Praxi werde erlernet
haben, als ein noch unverſuchter Artzt wiſſen kan:
Und daß er vermoͤge eben dieſer ſeiner Erfahrung,
auch die geringſten Umſtaͤnde bemercken werde.
So iſt es ſchlimm vor Gelehrte zu peroriren, und
ihnen was unerwartetes vorzutragen, weil ſie,
als Gelehrte, bald Anfangs mercken, wo es mit
dem angefangenen Vortrage hinaus will: Sie
muthmaſſen zu viel. Geſchaͤffte aber, wie ſie
durch die Seclen der Menſchen getrieben werde,
haben ſo gut ihren Lauf, als die Gedenckart eines
Redners. Wer alſo lange Zeit in Geſchaͤfften
geſteckt und vielmals geſehen hat, wie Geſchaͤffte
ſind angefangen, abgewieſen, gehindert, befoͤrdert,
durchgeſetzt worden, dabey die Perſonen kennt, die
mit der Sache zu thun haben, der kan freylich von
dem Fortgange des Geſchaͤffts vieles voraus ſagen.


§. 16.
Beſondere Art der Scharfſichtigkeit beym
Muthmaſſen.


Jndem man aber im Muthmaſſen gluͤcklich
ſeyn will; und dieſerhalb auf die gegenwaͤrtige
B b 5Beſchaf-
[394]Zwoͤlfftes Capitel,
Beſchaffenheit der Sache genau merckt (n. 2.
§. 15.); ſo iſt ein Hauptſtuͤck, daß man nicht al-
lein auf die innerliche Beſchaffenheit der Sa-
chen achtung giebt; ſondern auch mit gleicher
Schaͤrffe auf die Verhaͤltniß der Sache zu an-
dern, nehmlich zu andern Geſchaͤfften und Per-
ſonen,
und mithin auf dieſe ſelbſt ſiehet. Denn
von dieſen aͤuſſerlichen Sachen, ſind nicht allein die
Befoͤrderungen der Sache, ſondern auch vor-
nehmlich die Hinderniſſe zu gewarten. Wie
z. E. der allergerechteſte, billigſte, und mit aller
Vorſicht eingerichtete Antrag dennoch iezuweilen
nicht Eingang findet, wenn er zur unrechten
Stunde geſchiehet. Und darinnen iſt der groͤſte
Unterſcheid zwiſchen der philoſophiſchen, ja
uͤberhaupt der gelehrten, Scharfſichtigkeit.
Jn der Gelahrheit, und in allen Arten der Be-
trachtungen
darf man ſich nur bloß an ſein Ob-
ject
halten: Je tieffer man in daſſelbe hinein ge-
het; und ie mehr man ſich darinnen vertieft,
deſto beſſer wird man zu ſeinen Zweck, nehmlich
zur Erfindung der Wahrheit, den man ſucht
gelangen. Aber bey Dingen die geſchehen,
und geſchehen ſollen, kommt es auf aͤuſſerli-
che Dinge groͤſtentheils an, und der geringſte Um-
ſtand kan die gantze Sache aufhalten. Alſo, um
den Erfolg, von Geſchaͤfften voraus zu ſehen,
wird ein gantz anderer habitus erfordert, nehm-
lich um ſich herum zu ſehen: Und alles ſo an-
zuſehen, als wenn es die Sache, von deren Erfolg
die Rede iſt, hindern, oder befoͤrdern koͤnte.


§. 17.

[395]von zukuͤnfftigen Dingen.

§. 17.
Warum Stifftungen mißrathen.


Ohngeachtet die Ausfuͤhrung der Anſchlaͤge
hauptſaͤchlich durch darzwiſchen kommende Zu-
faͤlle,
die man nicht abwenden kan, gehindert zu
werden pflegen; ſo findet ſich doch, daß auch als-
denn der Erfolg nicht allemahl mit der Erwar-
tung uͤberein kommt, wenn man es voͤllig in ſei-
ner Gewalt hat, das Zukuͤnfftige nach ſeinem ei-
genen Willen und Wohlgefallen, zu beſtimmen.
Denn man weiß aus der Erfahrung, daß bey
Verordnungen, Diſpoſitionen, Stifftun-
gen, Friedensſchluͤſſen,
ſich manches Hinderniß
in der Ausfuͤhrung aͤuſſert, ohne daß iemand iſt,
der Hinderniß verurſacht: Sondern die Sache
ſelbſt iſt nicht recht eingerichtet, und wie man
ſaget, nicht recht eingefaͤdelt worden. Dieſe
Schwierigkeiten, welche in dem Fortgange gantz
willkuͤhrlicher Geſchaͤffte ſich aͤuſſern, entſtehen dar-
aus: 1. Daß einige Stuͤcke der Verordnung etwa
einander widerſprechen: Als wenn man eine
Sache zwey Perſonen verſpricht; oder einer
Perſon zwey Aemter auftraͤgt, die incompatible
ſind. Dergleichen widerſprechende Artickel fallen
nicht allemahl in die Augen; und kennen alſo un-
vermerckt, in Stifftungen, Jnſtructionen,
zumahl wenn ſie weitlaͤufftig ſind, einfluͤſſen,
2. wenn man Dinge in der Verordnung unbe-
ſtimmt
laͤſſet, welche doch aus den allgemeinen
Regeln nicht koͤnnen beſtimmt werden. Die letz-
tere
[396]Zwoͤlfftes Capitel,
tere Schwierigkeit findet ſich 1. bey Packten, die
Anfangs eingerichtet werden koͤnnen, wie man wlll:
Hat man aber nicht uͤber alles paciſcirt, ſo will
nachher jeder den vorkommenden Fall zu ſeinem
Vortheil auslegen. 2. Bey letzten Willen, da
man bey der Ausfuͤhrung den Teſtatorem nicht
mehr fragen kan, wie er es mit der Sache wolle
gehalten haben, darbey er ſich zu erklaͤren verab-
ſaͤumet hat. So moͤgen die erſten Teſtatores
wohl oͤffters nur uͤber gewiſſe Stuͤcke ihrer Ver-
laſſenſchafft diſponirt haben: Und man hat nicht
gewuſt, wer das uͤbrige bekommen ſoll. Oder er
hat zwar uͤber alle Stuͤck diſponirt: Jndem aber
jeder, von denen, die bedacht worden, ſein
Stuͤck nehmen wollen, niemand aber vorhanden
niemand aber vorhanden geweſen, der ſie
ihnen ausgetheilt haͤtte, ſo hat daraus eine Art
der Pluͤnderung entſtehen muͤſſen. Beyden Ue-
beln iſt durch die Inſtitutionem hæredis vniuer-
ſalis
abgeholffen.


§. 18.
Zum Muthmaſſen iſt das Ueberſehen des
Geſchaͤffts noͤthig.


Eine Sache uͤberſehen, nehmlich die geſchie-
het,
oder geſchehen ſoll, heiſſet alles dasjenige
daran wahrnehmen, was zu unſern Geſchaͤfften
noͤthig iſt, das wir mit der Sache haben. Nehm-
lich wir beſchaͤfftigen uns mit einer Sache, indem
wir ſie entweder treiben, oder jemanden davon
belehren. Als der Concipient eines Teſtaments
muß
[397]von zukuͤnfftigen Dingen.
muß die Willensneigung des Teſtatoris uͤberſe-
hen, damit er eine deutliche und hinlaͤngliche Vor-
ſchrifft davon aufſetzen koͤnne: Und man weiß wie
vieles hierbey unzehlig offte iſt verſehen worden.
Auch muß der Erbe der Erbſchafft uͤberſehen,
damit er wiſſe ob er Schaden oder Vortheil von
Antretung der Erbſchafft haben werde: Und her-
nach die Stuͤcke des Teſtaments erfuͤlle. Das
Ueberſehen erfordert alſo, Einſicht nicht allein,
1. in die innerliche Beſchaffenheit der Sache, ſon-
dern auch 2. in die umſtehenden Sachen (§. 17.),
3. ja zufoͤrderſt auch ins nachfolgende: Als wo
ſich der Schade oder Nutzen oͤffters erſt aͤuſſert.
Die Antretung der Erbſchafften cum beneficio in-
ventarii
iſt gewiß aufgekommen, nachdem manche
Erblaſſer, zu ſpaͤte erfahren, daß ſie mehr Scha-
den als Vortheil von der Erbſchafft gehabt haben.


§. 19.
Falſche Wege das Zukuͤnftige zu erkennen:


Da nun Handlungen ſo ungluͤcklich ausfallen
koͤnnen, nicht allein durch Ungluͤcksfaͤlle (n. 3. §. 9.),
ſondern auch durch ſolche Anſtalten die ein ander
in Wege ſtehen (n. 1. §. 17.); und daß man nicht
alle noͤthige Verordnung gemacht (n. 2. §. 16.);
auch durch innerliche Beſchaffenheit der Sache
die man nicht bemerckt (n. 2. §. 9.), wie
nicht weniger durch irrige Erkentniß, der Dinge,
die man unter Haͤnden hat (n. 1. §. 9.) ja endlich
auch dadurch, daß man auf die aͤuſſerlichen Dinge
nicht achtung gegeben (§. 16.), darzu wohl, noch
Nach-
[398]Zwoͤlfftes Capitel,
Nachlaͤßigkeit, und Ungeſchicklichkeit in der Aus-
fuͤhrung hinzu kommen: Und jeder doch ein Ge-
ſchaͤffte, wegen des begluͤckten Fortgangs unter-
nimmt; ſo haben ſich die Menſchen zu allen Zei-
ten, wegen des Fortgangs ihrer Geſchaͤffte ſehr ge-
aͤngſtiget. An ſtatt nun ſich zu beſcheiden, daß
der. Ausgang eines zumahl langweiligen Geſchaͤff-
tes, nicht untruͤglich zu erkennen iſt; und an ſtatt
ſich zu bemuͤhen, die angefuͤhrten Hinderniſſe, ſo
viel moͤglich aus dem Wege zu raͤumen; haben
ſie ſich oͤffters nur mit der angenehmen Hoffnung
eines gluͤcklichen Ausgangs zu unterhalten geſucht.
Daraus ſind nun die Auguria und tauſend andere
Arten von Zeichendeutereyen entſtanden, daran
zwar noch viele Menſchen hangen, und jederzeit
hangen werden, die aber doch in der wahren Er-
kentniß zukuͤnfftiger
Dinge, vor nichts an-
ders als vor notiones deceptrices und Hirnge-
ſpinſte koͤnnen angenommen werden. Auſſer daß
die wahre Religion, ſolche Zeichendeutereyen ver-
beut, ſo wird nunmehro auch die Begierde dar-
nach, und mithin die vermeynte Nothwendigkeit
derſelben, durch die Gelehrten, und derer ſtaͤr-
ckere Anzahl vermindert. Denn bey dieſen kan
man 1. ſich Raths erholen, wenn man ſelbſt nichts
von der Sache einſiehet (§. 13.) 2. man kan bey
ihnen, wenn die Sache ſchlecht abgelauffen, mei-
ſtens die Urſach erfahren, und alſo 3. wenn es durch
ein Verſehen geſchehe, dieſelben durch ihre Leh-
ren kuͤnffrig hin vermeyden lernen. So hat man
ſonſten offt geglaubt, dieſer oder jener waͤre mit
Bienen
[399]von zukuͤnfftigen Dingen.
Bienen durchaus ungluͤcklich: Woraus denn
ohne Zweifel mehrmahlen die Sorge und Frage ent-
ſtanden: Ob man auch ietzo, mit denen angeſchaff-
ten Bienenkoͤrben gluͤcklich ſeyn werde. Das
vermeinte Ungluͤck iſt aber offt nur ein beſtaͤn-
diges
Verſehen, welches ein Gelehrter, wie Reau-
mur,
offt gar bald entdecken wuͤrde. Zu auſpi-
ciis
nimmt man nur ſeine Zuflucht, weil man ſich
ſonſten gar nicht zu helffen, ja nicht einmahl zu
rathen
weiß. Guten Rath aber muß man
wenigſtens allezeit bey Gelehrten finden.


§. 20.
Zumahl unerforſchliche Dinge.


Ohngeachtet alles in der Welt zufaͤllig iſt,
ſo hat man doch ſchon laͤngſt gewiſſe Dinge vor
anderen contingentes genennet. Das ſollen nun
wohl Sachen ſeyn, die weder von unſerer Ein-
richtung noch auch von unſerer Einſicht abhangen.
Die man alſo nicht eher wiſſen kan, bis ſie wuͤrck-
lich
da ſind, oder hoͤchſtens nur kurtz vorher.
Man ſollte ſie lieber unerforſchliche zukuͤnf-
tige
Dinge, als contingentia nennen. Derglei-
chen Dinge ſind: Das menſchliche Lebensziel:
Wind und Wetter auf einer langen Reiſe: Erb-
ſchafften und Succeſſiones, wo noch viele vor uns
ſind. Wiewohl es auch Sachen giebt, die vor
unerforſchlich gehalten werden, ob ſie es gleich nicht
ſind. Vor einem barbariſchen Feldherrn iſt ein
unerforſchlicher Zufall, daß bey der Bataille eine
Sonnenfinſterniß einfaͤllt: Da es bey cultivirten
Voͤl-
[400]Zwoͤlfftes Capitel, von zukuͤnfftigen ꝛc.
Voͤlckern eine jedermann bekannte Sache iſt.
Auch von ſolchen zufaͤlligen Dingen, haben den-
noch die Menſchen zu allen Zeiten im voraus Nach-
richt haben wollen: Daraus denn die Sortilegia,
die Aſtrologia judiciaria, und omina entſtanden
ſind: Weil aber dieſe Anzeichen in die vernuͤnfftige
Einſicht in die Wahrheit keinen Grund haben,
und auch durch den Titul der Erfahrungen ſich
nicht rechtfertigen laſſen: So werden ſie von al-
len die Schrifft und Vernunfft in Ehren hal-
ten, billigſt verworffen. Eine richtige Vorſchrifft,
wie man mit Dingen, die ſind, und geſchehen,
oder auch noch geſchehen ſollen, umzugehen hat,
unterdruͤckt die Neigung entweder Dinge werck-
ſtellig zu machen, und zu erforſchen, die doch nicht
zu erforſchen ſind; oder auch, was erforſcht wer-
den kan, auf eine unnatuͤrliche Art anzugreiffen.
Beyden Uebeln wird alſo auch gegenwaͤrtige Ab-
handlung, die das Wahre oder Falſche in allen
Theilen der hiſtoriſchen Erkentniß unterſchei-
den lehret, hoffentlich nicht wenig Einhalt thun.
Wenigſtens iſt ſie lediglich zur Befoͤrderung der
wahren und richtigen Erkentniß von dem Ver-
faſſer ſowohl unternommen als ausge-
fuͤhrt werden.


S. D. G.



[[401]]

Appendix A Regiſter
I.
nach dem Jnhalte des gantzen Werckes,
in ſeinen Haupt-Eintheilungen.


  • I. Cap. Von der hiſtoriſchen Erkaͤntnis uͤber-
    haupt pag. 1-27
  • II. Cap. Von den Begebenheiten der Coͤrper
    27-58
  • III. Cap. Von den Begebenheiten der morali-
    ſchen Weſen oder Dinge 59-76
  • IV. Cap. Von den Begebenheiten der Men-
    ſchen und denen eintzeln Weltgeſchich-
    ten 76-91
  • V. Cap. Vom Zuſchauer und Sehepuncte
    91-115
  • VI. Cap. Von der Verwandelung der Ge-
    ſchichte im Erzehlen 115-155

C cVII.
[[402]]Regiſter.
  • VII. Cap. Von der Ausbreitung und Fortpflan-
    tzung einer Geſchichte 155-202
  • VIII. Cap. Von dem Zuſammenhange der
    Begebenheiten und der Geſchichte
    202-280
  • IX. Cap. Von der Gewißheit der Geſchichte, oder
    der hiſtoriſchen Erkaͤntniß 280-317
  • X. Cap. Von der hiſtoriſchen Wahrſcheinlich-
    keit 317-352
  • XI. Cap. Von alten und auslaͤndiſchen Ge-
    ſchichten 353-381
  • XII. Cap. Von zukuͤnfftigen Dingen 381-400

II.Verzeich-
[[403]]Regiſter.

Appendix B II.
Verzeichniß
einiger angefuͤhrter Autorum und ihrer

Schrifften, da denn die beſonders recommendir-
ten mit einem* die billig carpirten mit einem †
bezeichnet ſind.


  • d’Argens (Marquis) du bon-ſens \&c.352
  • Arnolds (Gottfr.) Kirchen- und Ketzer-Hiſtorie 149. †
  • Bayle (Pierre) Dictionaire \&c.353. †
  • Bernds (Ad.) Beſchreibung ſeines Lebens 267. †
  • Bierlingii (Fridr. Wilh.) Pyrrhoniſmus hiſtoricus352*
  • Cæſar in bello Gallico \& Civili176. 362.*
  • Caourſin (Guil.) von Maltheſer-Rittern 318. 319.
    327. 356
  • Chifletii (Joh. Jac.) theſaurus ſepulchralis Childerici
    376.*
  • Chladenii (Jo. Mart.) philoſophia nova definitiva31.
    209. 351. Logica Practica53. 203. 222. 261.
    Auslegekunſt 165. 169. 172. 173. 322. 358. 374.
    Vernuͤnfftige Gedancken vom Wahrſcheinlichen 204.
    251. 262. 286. 389. Opuſcula Academ.122. 188.
    375. genaue Beſtimmung, was Erfahrungen ſind
    56. de celeritate cogitandi33. Gedancken von
    ferne 41. de cardine legis \& prophetarum274.
    de fatis Bibliothecæ Auguſtini132. de veſtigiis
    199. 296. 329
  • Ciceronis Orationes171. 271. 272.*
  • Curtius, de rebus Alexandri M.212. 361
  • Daniel, l’Hiſtoire de la France155. 352. 367
  • Eckhard (Jo. Georg) de re diplomat.360
  • Euclides, in Elementis27.*

C c 2Euſebii
[[404]]Regiſter.
  • Euſebii Hiſt. Eccleſiaſtica178
  • Geſta Dei per Francos239
  • Guichardin356
  • Goldaſt, de regno Bohemiæ357
  • von Haller Verſuch Schweizeriſcher Gedichte168
  • l’Hiſtoire de l’ Academie Roy. des belles lettres280. 344
  • l’Hiſtoire de France155
  • von Hollbergs, Beſchreibung ſeines eigenen Lebens 267
  • Faligni, vom Maltheſer Ritter-Orden 318. 319. 327
  • Leibnizens Theodicée100. 101. 192
  • Livii Hiſtoria Romana178. 373.*
  • Mabillon (Joh.) de arte Diplomatica360
  • Maillet, Deſcription de l’Ægypte196
  • von Mayers Erzehlung des Weſtphaͤliſchen Friedens 114
  • Plinii, Majoris, Hiſtor. Natur.188.*
  • Salluſtius361.*
  • Schwarzius de columnis Herculis212. ſq.
  • Siber (Urb. Gottfr.) von beruͤhmten Alemannen und
    Gottſchalcken 85
  • Spizeli (Theoph.) Gluͤckliche und ungluͤckliche Gelehrte
    ibid.
  • Strabo, in Geograph.176
  • Tacitus, in Annalibus76.* 361. 373
  • Thuani (Aug. Jac.) Hiſtor.361
  • Valer. (Maximus)278
  • de Vertot, Hiſtoire de Chevaliers de Malthe318. 327.
    337
  • Wolffs (Chriſtian.) Gedancken von Gott und der
    Welt 123

III.
[[405]]Regiſter.

Appendix C III.
Haupt-Regiſter
aller vorkommender Sachen und derer

vornehmſten illuſtrirten Exempel, auch
Schrifftſtellen.


Appendix C.1 A.


  • Abbrechen, wie es in einer Erzehlung geſchicht 147. 148
  • Abgabe, wie ſie zu beleuchten 73
  • Abneigung, was ſie iſt 106
  • Abſchreiben, was das zuwege bringt 178
  • Abſicht, was es ſey 207. 259
  • Abſtrahiren, deſſen Mangel ſchaͤdlich 72. wozu es
    hilfft 89. auch ſo gar vor zukuͤnfftige Dinge 189
  • Abweſende, wer die ſind 157. ſ. auch Fremder.
  • Academie, ein moraliſch Weſen 67. deren Geſtalt
    und Verfaſſung ibid. das aͤuſſerliche und innerli-
    che derſelben 72
  • Academiſche, Faͤhigkeit, was die ſey 108. Lehrer,
    Umſtaͤnde 67. Fehler 72. ſ. auch Sehepunct.
  • Acta diurna der Roͤmer 356. publica, dienen zur
    Hiſtorie ibid.
  • Adel, deſſen Erneuerung 71
  • Advocat, deſſen Verſtellung 184. ſeq.
  • Aegyptiſch, ſ. Egyptiſch.
  • Aehnlichkeit verleitet zum Jrrthum im Sehen 38
  • Aeuſſerlich, was das iſt 58. wie es von dem innerli-
    chen getrennet werden kan 60. und doch mit jenem
    vor eins anzuſehen ibid. ſ. auch moraliſch Weſen,
    Handlung ꝛc.
  • Ahasverus laͤſt ſich uͤberreden, und warum 217

C c 3Alexan-
[[406]]Regiſter.
  • AlexanderM. beſondere Gedenckart 224. nach der
    er Darii Friedensvorſchlaͤge refuſirt 211. ſeq. ſoll
    den Slavakern ein Privilegium gegeben haben 357.
    ſeine Generals theilen ſein Reich 226. ſeq.
  • Alltaͤglich, ſ. taͤglich.
  • Alt, was wir ſo nennen 353
  • Alte, Geſchichte, was es ſind 353. ſeq. Mehr ſiehe in
    Geſchicht. Muͤntzen, wozu ſie dienen 377. Schriff-
    ten, ſ. Diplom. Docum. Schrifften.
  • Alten hatten es weit in Kuͤnſten gebracht 376
  • Amt, bringt offt unvergnuͤgte Handlungen zuwege 255.
    256
  • Anblick, was er iſt 31. der erſte unzureichend 32. und
    doch ein einiger 33
  • Anfang der Dinge unbekannt 65. warum 133. ſ.
    auch Untergang.
  • Anhoͤrer, wer er iſt 159. Regel vor ihn 297. ſiehe
    auch Hoͤrer.
  • Anmerckung,vid. Locus comm.
  • Annehmen ſich einer Geſchichte, was es ſey 189. ſeq.
  • Anſchauen, was es iſt 31. zu klaren Begriffen noͤ-
    thig 33. hanget von dem Stande 98. und Stelle
    ab 99. it. von Freund-und Feindſchafft 106.
    ſ. auch Einſicht.
  • Anſchauungs-Urtheil, was es ſey 115
  • Anſchlaͤge, was ſie ſind 209. 252. ſind eine lange Ge-
    ſchichte 231. werden mit der Ausfuͤhrung vor eins
    angeſehen 227. indem beydes zuſammen haͤngt 229.
    ſonderlich in der Erzehlung 232. ſeqq. (plur. vid.
    Ausfuͤhrung.) Doch gehet der Ausgang der Ge-
    ſchichte von ihnen ab 248. 249. wie deren Umſtaͤnde
    zu betrachten 221. 222. deren Urſache begreifflich
    210. 211. entſtehen von Rathgebern 216. ſonder-
    bare 211. 212. haben eine beſondere Einrichtung
    ibid. und neue 212. 213. boͤſe 213. muͤſſen Hinder-
    niſſe finden 235. und ſind doch begreifflich 213. ob-
    wohl nur einiger maſſen 224. ſeq. ungeheure 214.
    unver-
    [[407]]Regiſter.
    unvermuthete 215. daraus entſtehen unvermuthe-
    te Umſtaͤnde 239. 240. und neue Geſchaͤffte 240.
    verhinderte bleiben geheim 228. 229. wovon ſie
    unterſchieden 229. weit ausſehende groſſe 230.
    was zu den weitlaͤufftigen gehoͤret 231. finden
    Hinderniſſe, ſiehe Hindern, und werden zu nichte
    236
  • Anſehen eines Coͤrpers 41. mit der Geſtalt vermen-
    get 42. was ſonſt dazu gehoͤret 42. 43
  • Anſehen,autoritas, was das heiſſet 303. kommt vom
    Autor her 301. 303. kan doch betruͤgen 303. iſt
    ſonſt noͤthig, und warum 301. deren innerliche
    Beſchaffenheit 302. Eintheilung 303. und Er-
    gaͤntzung 304. 305. eines Geſchichtſchreibers 362.
    wie es voͤllig iſt 362. 363. ſonderlich wenn er zu glei-
    cher Zeit gelebet 363-365
  • Anzeichen ſind nicht ſicher 336
  • A poſteriori moͤglich ſeyn hat keine Gewißheit 282
  • A potiori fit denominatio, wo dies applicable 79
  • A priori, etwas einſehen 80. 90. 203. 227. 228. 316.
    und nicht wiſſen 78. 80. 82. nach dem, das nicht
    alſo einzuſehen iſt, zu fragen 260
  • Ariſtoteles, Meiſter der Vernunfftlehre 26
  • Artzt, kan keine Kranckheit gewiß beſchreiben 113. ge-
    het mit prognoſticis um 389. ſ. auch Erfahrung.
  • Aſtrologia judiciaria, woher entſtanden 400
  • Aufzug, was vor eine Begebenheit 5
  • Augenzeuge, ein verwerfflich Wort 157
  • Auguria, woraus ſie entſtanden 398. wovor ſie zu hal-
    ten ibid. ſind verboten ibid. beſſere Mittel dage-
    gen 398. 399
  • Auguſtini Bibliothec, ob ſie von den Vandalen verſcho-
    net blieben 131
  • Ausbreitung, ſ. Geſchichte.
  • Ausdehnen, eine Erzehlung 148
  • Ausfuͤhrung, hanget nicht in ſeinen Theilen, wie die
    Theile des Anſchlags zuſammen 236. ſ. auch An-
    ſchlaͤge, Hinderniſſe, Zufaͤlle.

C c 4Aus-
[[408]]Regiſter.
  • Ausgang der Geſchichte, oͤffters das Hauptwerck 248.
    249
  • Auslegungskunſt, was ſie ſey 172
  • Ausſagen gehet dem Nachſagen vor 164. wozu noͤ-
    thig 200. 201. bringen eine Sache ans Licht 202.
    Gewißheit derſelben 298. kan doch zerruͤttet werden
    298. 299. auch auf Seiten des Zuhoͤrers 299. 300.
    wie dahero aus dem Wege zu raͤumen 328. 329
  • Ausſchreiben, ſ. Abſchreiben.
  • Ausſicht, was es heiſſet 31. wie ſie deutlich wird 34.
    aber durch den geaͤnderten Stand gehindert 34. 35.
    deren Theile und Zuſammenhang 36
  • Ausſpuͤren, ſ. Geſchichte, Spur.
  • Auswendig und inwendig einen kennen 96
  • Autor, wer der ſey 157. hat mit dem Zeugen ein Anſe-
    hen 307
  • Autoritaͤt, ſ. Anſehen.

Appendix C.2 B.


  • Baͤume ſtrecken ſich bis in die Wolcken 39
  • Banco, derſelben vielfaͤltige Veraͤnderungen 75
  • Banier refutirt den Boivin 344
  • Barbar in ſeinen Urtheilen betrachtet 112. 113
  • Bauen, wie es geſchiehet 231. und divers angeſehen
    wird 231. 232
  • Baum, ſ. Baͤume.
  • Befehle, eine Art der Willensmeinung 16. ſind die
    Urſache der meiſten Handlungen 208. 209. ſ. auch
    Geſetze.
  • Begebenheiten, Einſicht in dieſelbe 80. was ſie uͤber-
    haupt ſeyn 2. 3. eine einige, was ſie iſt 3. 4. wie
    viele als eine anzuſehen 4-6. iſt von der Geſchichte
    unterſchieden 8. laſſen ſich durch Schluͤſſe verbin-
    den 268. ſ. auch Fluͤſſen und Urſache. der Menſchen,
    ſ. Menſchen. in der Seele, ſ. Seele. innerliche 48.
    coͤrperliche Begebenheiten 47. 58. dabey ein Wi-
    der-
    [[409]]Regiſter.
    derſpruch, ſ. auch Phyſical. nothwendige, natuͤrli-
    che und beſondere 78. alltaͤgliche 81. zufaͤllige 275.
    ſichtbare 93. oͤffentliche 156. welche die meiſten
    Zuſchauer haben 311. daß es nicht an Zeugen feh-
    let 311. 312. heimliche 155. man ſehe auch mora-
    liſches Weſen, Zuſammenhang, Zuſammenfuͤgung.
  • Begriff, allgemeiner 89. klarer, woher er entſtehet
    33. ingleichen der deutliche 34. wodurch beyder
    gehindert wird 34. 35
  • Bekannt ſeyn, was es heiſſet 162
  • Belebte, ſ. Denckmahle.
  • Beleuchten eine Sache, was man damit ſaget 73
  • Bereden ſich laſſen,perſuaderi, quid ſit216. 217
  • Beredſamkeit, womit ſie zu thun hat 19. hat 3. Arten
    der Reden ibid. ihr wird durch die Hiſtorie aufge-
    holffen 20. 356. erzehlet eine Geſchichte natuͤrlich
    und lebhafft 238. ſ. auch Carneades.
  • Beſchreibung, was ſie ſey 43
  • Betheurungen, was ſie helffen 304. wenn und bey
    wem ſie nicht in Zweiffel zu ziehen 305
  • Betrachtung einer Sache, wovon der Unterſcheid her-
    kommt 99
  • Beyſpiele, was ſie ſeyn 52. 53
  • Bienen, Jrrwahn dieſerwegen 399
  • Bienenſchwaͤrme, Anmerckung davon 57. 293. 294
  • Bild, einer Geſchichte vom Bilde des Zuſchauers un-
    terſchieden 181. ſ. auch Denckmahle.
  • Bitten, ſ. Gebethe.
  • Blick, ſ. Anblick.
  • Brieffe, ihr Unterſcheid 90. Quellen der alten Hiſto-
    rie 356. 358
  • Boͤſe, ſ. Anſchlaͤge, Haͤndel, Handlungen, Thaten ꝛc.
  • Boiſſy widerlegt den Morin 344
  • Boivins neuere Gedancken vom Regiment der Jſraeli-
    ten ibid.
  • Buchdrucker, warum man den erſten nicht genau weiß
    66

C c 5Buͤcher
[[410]]Regiſter.
  • Buͤcher von Denckmahlen unterſchieden 354. ſonſt
    ſiehe auch Schrifften.

Appendix C.3 C.


  • Caͤſars Todt verurſacht verwirrte Haͤndel 241. 242.
    wodurch die Monarchie zu Stande kommt 243. 248
  • Calviſius, ein trefflicher Chronologus 355
  • Canal, durch welchen man die Begebenheiten erfaͤhret
    159. 160. und die alten Geſchichte fortgepflantzet
    werden 366
  • Cardo rei, was es iſt 276
  • Carneidis Meiſterſtuͤck in der Beredſamkeit 19
  • Caſus, was ſie ſeyn 88. inſonderheit conſcientiæibid.
  • Ceremonie kan ein Denckmahl ſeyn 195
  • Chriſtierns Grauſamkeit 223. 224. und verurſachte
    Troublen 248
  • Chronologie zur Hiſtorie noͤthig 355. ihre Differentz
    importiret wenig ibid. verdiente Maͤnner darinne
    ibid.
  • Cloſter, ſ. Untergang.
  • Coͤrper, erkennt man durchs Geſicht 27. und Gefuͤhle
    28. daher ihre Erkaͤntnis ſinnlich und gewiß 292. ſq.
    ſind nicht von einer Dauer 28. eintzele 36 ſqq. ma-
    chen keine Schwierigkeit 52. wie man ſie dencken ler-
    net 36. 37. 39. 40. haben ihre Dicke, Flaͤche, Seite
    37. (S. a. Ort, Lage, Stand, Geſtalt, Anſehen, Ver-
    aͤnderung, Begebenheit ꝛc.) wie ſie vermengt werden
    38. einer nie alleine 38. 39. ein Hauffen Coͤrper,
    was es ſey 52. koͤnnen Denckmahle abgeben 195.
    ſ. auch Regeln.
  • Coͤrperlich, ſ. Begebenheit.
  • Columbus, ober die neue Welt erfunden 212
  • Cometen ſind Coͤrper 28. ihr Lauff und Stand gantz
    unbekannt 391. 392
  • Comoͤdien, woher ſie entſtanden 278

Con-
[[411]]Regiſter.
  • ConſtantinM. laͤſt ſeinen Printz hinrichten 257. war-
    um er das Reich getheilet 223. Urtheil von ſeiner
    Donation357
  • Contingentia, was das vor Dinge 399
  • Controvertiren, was vor eine Begebenheit 6. und
    was dabey vorgehet 187
  • Coptiſche Sprache kuͤrtzlich exſpiriret 196
  • Corollaria, was ſie ſind 281
  • Creutzzuͤge, was dieſelben befoͤrdert 213
  • Critick, mannigfaltiger Verſtand des Wortes 21. ih-
    re Verbindung mit der Hiſtorie ibid. womit ſie um-
    gehet ibid. als ſonderlich zur alten noͤthig 358. fal-
    ſche, was ſie ſey 22
  • Curioſitaͤt, ſ. Natural. Cabinet.

Appendix C.4 D.


  • Daſeyn, woraus es erkannt und geſchloſſen wird 28.
    29. Jrrthum darinne 30. eines moraliſchen We-
    ſens 67
  • David, ſeine unvermutheten Anſchlaͤge woher 215.
    hatte keine Urſache zur boͤſen That 226. welche doch
    geſchwind vollbracht war 227
  • Demonſtrationes machen eine Sache gewiß 284. 285.
    290. oder fuͤhren vielmehr zur Gewißheit 286. was
    dazu unzulaͤnglich 268. wie ſie in hiſtoriſchen Saͤ-
    tzen zu machen 275. 276. oder nicht zu machen 284.
    was ſie in der Phyſic ſind 261
  • Denckmahle, was ſie ſeyn 194. 354. und wie vielerley
    195. ſind entweder belebt oder ſtumm 374. 375. be-
    lebte was ſie ſind 377. Bilder drauf 378. ſtumme
    wozu ſie nutzen 375. 376. ſind auch Schrifften 354
  • Deſcriptiones nach der Philoſophie betrachtet 43
  • Dichtkunſt, woher ihre Redensarten entſtehen 39.
    ein Theil derſelben die Jmagination 41. verwandelt
    die Geſchichte ins ſinnreiche 129

Dicke
[[412]]Regiſter.
  • Dicke eines Coͤrpers, was ſie ſey 37
  • Diebſtahl verſchieden zu beurtheilen 257. Spuren
    davon 330
  • Dinge, welche ſchon geſchehen und noch geſchehen wer-
    den 14 ſ. auch Zukuͤnfft. unerforſchliche, ſ. unerf.
  • Diplomata was ſie ſeyn 359. eine beſondre Qvelle der
    Hiſtorie ibid. die untergeſchobenen 359. 360. ſind
    von den aͤchten zu unterſcheiden 360
  • Documenta was man ſo nennet 313
  • Donnerſchlag was er iſt 4. Wetter, bey dem unſre
    Vorherſehung mangelhafft 390
  • Drohungen, eine Art der Willensmeynung 16

Appendix C.5 E.


  • Egyptiſche, alte Sprache kuͤrtzlich exſpiriret 196.
    Pyramiden 88. ihr Erbauer unbekannt 375. was
    aus denenſelben zu ſchlieſſen ibid.
  • Ehre, der beſte Stand des Menſchen 80
  • Einbildungs-Krafft, ſ. Jmagination.
  • Einfall vom Anſchlag unterſchieden 229
  • Einheit der Perſon macht nur eine Begebenheit 6. 7
  • Einſicht, verſchiedene, woher 102 ſq.
  • Einſiedlerſtand, ſ. Moͤnchsorden.
  • Elemente, ſiehe Euclid. im erſten Reg.
  • Eliſabeth laͤſt Mar. hinrichten zum ſteten Erſtaunen
    257. 258
  • Empfindung ſetzt die Wahrheit der Sache voraus 50.
    was dazu dienlich 51. (ſ. a. Erfahrung, Erzehlung)
    aͤuſſerliche und innerliche beym Zuſchauer 93. Um-
    fang der Empfindung 117. Vermengung mit den
    innerlichen Eigenſchafften 119
  • Ende der Geſchichte was es ſey 147. 248
  • Entdecken, ſ. Geſchichte.
  • Entfernte, ſ. Reiſen, Frembder.
  • Entſchluͤſſung anderer, ob man ſie zuvor wiſſen koͤnne
    385. 386. ſonſt ſ. Anſchlag.

Ent-
[[413]]Regiſter.
  • Entwurff, ſ. Grundriß.
  • Erbſchafft muß uͤberſehen werden 397. wenn ſie un-
    ter contingentia gehoͤret 399
  • Erdbeben, deſſen Seltenheit hebt unſre Muthmaſ-
    ſung auf 392
  • Erfahrung was ſie ſey 55. 84. anders als die Em-
    pfindung 55. 56. nicht jede hat eine Gewißheit 282.
    die aus Seltenheiten hilfft der Muthmaſſung auf
    392. iſt als eine Regel anzuſehen 388. ihre Dienſte
    in der Artzneykunſt 392. ſ. a. Kunſt. fremde, was
    von derſelben zu halten 283
  • Erfolg, den man in ſeiner Gewalt hat, kommt ins
    Stecken 393. plura v. Folgen.
  • Erforſchung, ſ. Geſchichte.
  • Ergaͤntzung der Geſchichte, wie ſie geſchiehet 130.
    wird offt wiederſprochen.
  • Erkaͤntniß, goͤttliche, die vollkommenſte 1. menſchli-
    che 1. 2. ſ. auch Gelehrte der Welt 1. der Geſchichte
    8. 12 ſqq. (ſ. auch Geſchichte) dazu auch zukuͤnfftige
    Dinge gehoͤren 381 ſqq. hiſtoriſche, ſ. in H.
  • Erlaͤuterung der Geſchichte, was es ſey 146. 147
  • Erneuen, ſ. Geſchichte.
  • Erzehlung, was ſie iſt 8. wie ſie erzeuget wird 126.
    127. kan nicht ohne Geſchichte ſeyn 9. ihre Verbin-
    dung mit denſelben 9. 10. 263. kan nicht ſo weit ge-
    hen als die Empfindung 116. 117. wie ſie kurtz zu
    faſſen 118. durch allgemeine Woͤrter ibid. Fehler
    darinne 122. 123. Schwierigkeiten dabey 237. 238.
    iſt nur ein Stuͤckwerck 267. 268. wenn ſie wieder-
    ſprechend wird 271. wie, nach gewiſſer Abſicht ein-
    gerichtet 123. 124. 136. geſchicht vom Zuſchauer
    169. (v. etiam Nachſager) und præoccupiret offt
    184 ſqq. iſt theils deutlich, theils dunckel 23. theils
    ſind ſie trocken und ſchlecht 23. 129. welchen der Red-
    ner abzuhelffen weiß 171. theils ſinnreich 23. 172.
    ſind wie Gemaͤhlde 140. Fehler derſelben 137-144.
    149. 150. geſchehen durch Vergleichungen 127 ſq.
    geſche-
    [[414]]Regiſter.
    geſchehen auch gelegentlich 132. 145. oder gruͤnd-
    lich 132. 146. ſind angenehme und rauhe 153 ſq.
    gelehrte und politiſche 135 ſq. partheyiſche und un-
    partheyiſche vid. unparth. conf. etiam Tit. Grund-
    riß, abbrechen, ausdehnen ꝛc.
  • Erzehlungskunſt angebohren 125
  • Erzeugunga) der Erzehlung was ſie ſey 127. b) und
    des Menſchen 77
  • l’Eſprit de detail, was ſey 234
  • Evangelium, kurtz beſchrieben 22
  • Exempel, was es iſt 53
  • Eyd, ſ. Betheurungen.

Appendix C.6 F.


  • Fabeln, woher ſie entſtehen 18. wie von den Geſchich-
    ten unterſchieden 18. 19. 154. und ihnen doch aͤhn-
    lich ſind 19. wie man auf ihre Erfindung kommen
    276 ſq. was kuͤnſtliche ſind 277. vornehmſte Arten
    derſelben 277 ſq.
  • Faͤhigkeit eines Menſchen, was ſie ſey 84. mit einem
    Exempel erwieſen 233. ſ. a. Academiſche.
  • Fama quid ſit?177
  • Farben gehoͤren zur Geſtalt 42. werden mit der Figur
    vermenget 45
  • Feind, was ein ſolcher thut 106. und warum 213.
    entſtehen offt aus verwirrten Haͤndeln 242. ſie un-
    terdruͤcken das gute 193. und ſind ihre Jntrigven
    unbekannt 133. ſ. auch Tit. Freund.
  • Feſt iſt ein Denckmahl 195. ſ. a. Jubil.
  • Feuergeben der Soldaten, welche Begebenheit 5
  • Figur, macht die Geſtalt aus 42. laͤſt ſich ſchwer be-
    ſchreiben 44 wie es doch geſchicht ibid. wie man da-
    von verſchieden denckt 44. 45. ſ. auch Farbe.
  • Fixſterne, ſ. Sterne.
  • Fliegende Fiſche kan es geben 283

Fluͤſſen
[[415]]Regiſter.
  • Fluͤſſen einer Begebenheit und einer Wahrheit, welcher
    Unterſchied 273 ſq.
  • Folgen was ſie ſind 259. wie vielerley 329. 330. ſind
    nicht der Grund einer Begebenheit 348. wie ſie zum
    Voraus zu ſehen 394. ſ. a. Erfolg, it. Geſchichte.
  • Fortpflantzung, ſ. Geſchichte.
  • Fragen, woher ſie entſtehen 183
  • Fragmenta von Haußrath ꝛc. worzu ſolche nutzen 376
  • Frembder, wer der ſey 74. 75. Sehepunct deſſelben
    109. abſonderlich in entfernten Lande 379. bekuͤm-
    mert ſich nicht um taͤgliche Verrichtungen 81. ſolche
    ſehen nur ein was oͤffentlich geſchiehet 104. hinge-
    gen bleibt ihnen vieles geheim 104. 152. koͤnnen da-
    hero keine richtige Erzehlung geben 152. nuͤtzen nie-
    manden als einem Gelehrten 75
  • Freund auf das Gute aufmerckſam 106. veranlaſſet
    einen beſondern Sehepunct 105. 106. Unterſchied
    zwiſchen ihm und dem Feinde 60. 74
  • Freyheit des Menſchen bey den Geſchaͤfften 270. 384.
    kan doch zur Nothwendigkeit werden 385
  • Froͤhliche,v. Sehepunct.
  • Fruchtbarkeit der Nachrichten 169. 173
  • Fuͤgung, was es heiſſet 274
  • Fuͤr ſich etwas thun, was es ſey 155
  • Fuß, auf ſichern ſtehen 68

Appendix C.7 G.


  • Gebethe, was ſie ſeyn 22
  • Geburth des Menſchen, was ſie ſey 77. und was da-
    bey nicht attendiret wird 205
  • Gedancken, Urſprung derſelben in dunckeln Vorſtel-
    lungen 365. achten andre Leute nicht 59. wiſſen ſie
    auch nicht 265. gehen geſchwinde 33. lauffen wie
    die Geſchaͤffte 393. ſind auch von ferne 40. 41. ein-
    tzele 59. ſolche aufzeichnen, wenns eine unnuͤtze Ar-
    beit 229. andrer kan man voraus ſagen 383 ſq

Gedenck-
[[416]]Regiſter.
  • Gedenckart, wie ein Anſchlag davon abhanget 218.
    219. und die Gelegenheit dazu 221. mit Exempeln
    erwieſen 222. 223. wie man ſie begreiflich macht 223.
    224. Alexandri beſondre 224
  • Gedichte, was ſie ſeyn 20. ihr Lob und Schoͤnheit 20.
    21. 172. ſ. a. Dichtkunſt, Lieder.
  • Gegenwaͤrtige, wer dieſe ſind 156
  • Gegenwaͤrtiges laͤſſet das vergangene erkennen 315.
    (vid. Vorhergegangen) und das zukuͤnfftige 381 ſqq.
    falſche Begriffe davon, wozu ſie hinderlich 387
  • Geheime, was alſo heiſſet 104. 161 ſq.
  • Geheimniſſe, ſ. Hertz.
  • Geitziger in ſeinen Handlungen betrachtet 213
  • Gelegenheit, was ſie ſey 218. von der Urſache unter-
    ſchieden 220 ſq. daraus entſtehen boͤſe Thaten 225
  • Gelehrte, wer die ſind 107. haben andre Erkaͤntniß
    als der gemeine Mann 13. 105. woher ſolche kommt
    107. 108. halten ſich bey Erfindung der Wahrheit
    an ihr Object394. haben doch ihre Schwachheiten
    148. ruͤcken einander allerhand auf 155. ſind unter-
    ſchiedener Gattung und Nahmens 85. ihnen iſt
    ſchwer predigen 393. Erzehlungen 136
  • Gemeine Sage, was die ſey 162 ſq.
  • Genus proximum macht die Gedenckart gebraͤuchlich
    223
  • Gerechtigkeit gelobt und geſtrafft 19
  • Geſandten in ihren Geſchaͤfften betrachtet 268
  • Geſetze, was ſie ſeyn 16. eine Art der Willensmey-
    nung ibid. haben mit der Hiſtorie eine Verbindung
    22. eine verbindende Krafft 385. buͤrgerliche, Ob-
    ject
    der Jurisprudentz 16. ſonſt ſiehe auch: Befehle.
  • Geſchaͤffte, was ſie ſeyn 86. derſelben Hiſtorien 87.
    88. ſie haben ihren Lauff 393. dabey es vornehm-
    lich auf den menſchlichen Willen und Freyheit an-
    kommt 268. ſie koͤnnen zu andern Geſchaͤfften wer-
    den 240. 241. koͤnnen voraus geſehen 393. und
    uͤberſehen werden 396. 397. Angſt wegen deren
    Fortgang 398

Ge-
[[417]]Regiſter.
  • Geſchehen,v. Seyn.
  • Geſchichte, was ſie ſey 7. von der Begebenheit unter-
    ſchieden 8. inſonderheit der Phyſicaliſchen 205. 206.
    auch von Erkaͤntniß, Erzehlung und Nachricht 8.
    kan ohne Erzehlung ſeyn 9. 262. 347. und gehoͤret
    doch mit der Erzehlung zuſammen 9. 10. von den
    Fabeln unterſchieden 18. 19. muß ein Subject haben
    11. hat auch wohl mehrere 11. 12. Erkaͤntniß der-
    ſelben 12 ſq. aus Folgen 197. 198. 199. ihr Haupt-
    werck 126. Urbild und Erzeugung 126. 127. Grund
    275 ſq. und Unterſchied. eintzele Menſchen, oder
    eintzele Weltgeſchichte 88. 89. Verbindung vieler
    Menſchengeſchichte 85. eintzele, wodurch ſie ſich
    vor andern unterſcheiden 90. groſſe, eine Begeben-
    heit 125. alte, was ſie ſind 353. 354. woraus ſie zu
    erlernen 354 ſqq. (ſiehe auch Qvellen) ihr ſichrer
    Grund und Nutzen 356. 357. was zu deren Erkaͤnt-
    niß noͤthig 358. ſind nicht ungewiß 378. ob ſie
    wohl offt viel Unwahrſcheinlichkeit haben 380. 381.
    Erzehlung v. ſuo loco. Verbindung der Geſchichte
    und der Erzehlung 263. bey derſelben wird viel ver-
    ſchwiegen 266. 267. v. m. Ergaͤntzung. Ausbrei-
    tung, wie geſchiehet 156 ſq. deren Geſchwindigkeit
    163. 189. 190. veraͤndert die Geſchichte 166. ſo auch
    durch Veraͤnderung der Urkunde geſchiehet 177 ſq.
    und deren Mißverſtand 179. 180. wie ſie laͤufft 189.
    190. oder der Lauff gehemmet wird 192-194. und
    gar ſtehen bleiben 190. 191. auch Anſtoß finden 191.
    192. wie ſie fortgepflantzet wird 194. 195. und er-
    neuert 195. 196. auch entdecket 196. 197. ausge-
    ſpuͤret 199. 200. und erforſchet 201. 202. ſ. auch:
    Haͤndel, Ausgang. Verwandelung, wie ſie ge-
    ſchiehet 116. 127. ſonderlich ins ſinnreiche 129. 372.
    373. dabey vorlauffende Umſtaͤnde 137. 138. ſ. a. Ge-
    ſtalt, Ende. Erklaͤrung, wie ſie geſchiehet 271. v. m.
    Erlaͤuterung; præprimis Tit. Hiſtorie \& Hiſtoriſch.

D dGe-
[[418]]Regiſter.
  • Geſchichtſchreiber, ſ. Bemuͤhung, Pflicht und Abſicht
    361. andere Pflichten 374. (ſ. a. Kunſt) Anſehen
    361 ſq. noͤthig requiſitum, daß er coævus ſey 363.
    364. ſ. beſonders Anſehen alsdenn 364. was ſpaͤ-
    tere zu beobachten 366. was ihm die Arbeit ſchwer
    macht 70. wovor er ſich demnach zu huͤten 278.
    Qvellen, die er zu ſuchen, ſ. Qvellen. Faͤlle, wo ſie
    ſich widerſprechen koͤnnen 367-369
  • Geſchlechtsnachrichten, was ſie in ſich faſſen 85
  • Geſchwindigkeit im Gedencken, was es ſey 33. und
    im Sehen 35
  • Geſichtspunct, ſ. Sehepunct.
  • Geſtalt der Coͤrper, was ſie ſey 41. 42. woraus ſie
    beſtehet 42. was dazu gehoͤret 42. 43. iſt mit An-
    ſehen vermenget 42. der Geſchichte, worinnen be-
    ſtehet 145
  • Gewahr werden, was es heiſſe 197
  • Gewaltthaͤtigkeiten, deren Anfang 245
  • Gewißheit, was ſie ſey 280. 288. wovon wir die-
    ſelbe prædiciren 282. 287. iſt eine Eigenſchafft der
    hiſtoriſchen Wahrheit 283. iſt aber nicht jeder Er-
    fahrung beyzulegen 282. eine Eigenſchafft ſinnli-
    cher Vorſtellungen 286. und unſerer Erkaͤntniß
    ibid. gehoͤret mit unter die gemeinen Begriffe 280.
    ſeqq. Vergleichung mit der Wahrheit 289. 290.
    Unterſchied. Gewißheit der Sinne 292. handgreif-
    licher Dinge 293. in Demonſtrationibus284-286.
    hiſtoriſcher Schluß-Saͤtze 295. 296. der menſchl.
    Ausſagen 298. derer Nachrichten wie herzuſtellen
    300. 301. welche auf dem Anſehen des Autoris
    beruhet 301. 302. der zukuͤnftigen Dinge, ſo da
    hinlaͤnglich 388. falſche 289
  • Gewohnheiten ſind dem Geſetze gleich 385
  • Gleichnuͤſſe, derſelben Nutzen in Erzehlungen 128
  • Glaube ſ. Hinderniß.
  • Glieder eines Weſens was ſie ſeyn 73. 74. wenn ſie
    gute Zeit haben 70. Begebenheiten die ſie betreffen
    75.
    [[419]]Regiſter.
    75. haben in einem Regimente ihre Stellen 98. ei-
    nes Angriff irritiret die gantze Geſellſchafft 241
  • Gluͤcksfaͤlle der Menſchen, was ſie ſind 83. 247. und
    Ungluͤcksfaͤlle 247
  • GOtt ſ. Erkaͤntniß.
  • Gottesgelahrheit, ihr Grund 22. ſ. a. Hiſtorie.
  • Grabmahle, was darinne anzutreffen 376
  • Grade der Qualitaͤten der Seele uns unbekannt 265.
    der Wahrſcheinlichkeit, was ſie ſind 345
  • Groſſe Herren laſſen ſich bereden 217
  • Groͤſſe gehoͤret zur Geſtalt 42. 43. wird durch Maaß-
    ſtaͤbe bekannt gemacht 44
  • Grundriß einer langen Erzehlung 134. 135
  • Guſtavs Regierung verurſachet Troublen 248

Appendix C.8 H.


  • Haͤndel, was ſie ſind 87. ihre verſchiedene Arten ib. ver-
    wirrte inſonderheit 241. 242. machen aus Freunden
    Feinde 242. ſind der beſte Stoff der Geſchichte 242.
    243. deren Anfang und Zuſammenhang 244. ſqq.
  • Handgreifliche Dinge, was es ſind 293 brauchen we-
    nig Aufmerckſamkeit ibid. machen den groͤſten Theil
    der Hiſtorie aus 302
  • Handlung,mercat. das aͤuſſerliche, geheime und in-
    nerliche dabey 71. 72. ihre Veraͤnderung 66. der
    Portugieſen in Africa 212
  • Handlungen, allgemeine Eintheilung derſelben 207.
    ſq. worinne ihr groͤſter Theil beſtehe 208. wie ſie
    merckwuͤrdig werden 88. ihre mancherley Art 144.
    ſind heimliche 155. oͤffentliche 156. natuͤrliche wer-
    den zu politiſchen 254. haben entweder ein Vergnuͤ-
    gen oder Abſicht zum Grunde 253. ſq. die ohne Ver-
    gnuͤgen, folgen groſſen Theils aus dem Amte und
    Stande 255. 256. boͤſe und harte verſchiedentlich
    anzuſehen 256-258. die mit Amt und Stand keine
    Verbindung haben 258. Folgen derſelben 259. und
    D d 2Ur-
    [[420]]Regiſter.
    Urſachen 260. woher ihr Unterſchied komme 266.
    ſ. a. Begebenheit.
  • Handwercksmann, wie er ein Weſen ausmachet 61.
    und zwar ein moraliſches 61. 62
  • Hauffen, was es ſey 52. bemerckt nicht die Philoſophie
    ibid. Theorie deſſelben 53. und Eintheilung 55
  • Hauffen Zeugen wozu er dienet 310
  • Hauptperſon, was ſie ſey 74. wie es mit ihnen bey
    Erzehlung einer Geſchichte beſchaffen 170. wie ſie
    von den Zuſchauern unterſchieden 186
  • Hauptwerck einer Geſchichte 126
  • Heimlich etwas thun 155. hat wenig Canale 160
  • Hermenevti[c] zur alten Hiſtorie noͤthig 358. und de-
    nen alten Monumenten 377
    • Herodis
    • Heroſtrati
    Anſchlaͤge ungeheuer 214
  • Herren ſ Groſſe.
  • Hertz deſſen Geheimniſſe 216
  • Heyden bethen die Sonne an, und warum 226. ob ſie
    tugendhafft geweſen, pro und contra zu diſputiren
    339. ſollen nicht Menſchen geopfert haben 344
  • Himmels Begebenheiten haben den groͤſten Ein-
    fluß 234
  • Himmels gegenden ſ. Plagæ.
  • Hinderniſſe, kommen von aͤuſſerlichen Sachen her
    394. halten die Ausfuͤhrung auf 228. 229. 230.
    fuͤhren von derſelben ab 235. ſq. machen ſie gar
    unmuͤglich 235. ſind bey allen Anſchlaͤgen 234.
    235. auch bey Stifftungen und Pacten und woher
    394. ſind wiedrige Winde 235. des Begriffes 34.
    35. des Glaubens die Unwahrſcheinlichkeit 350
  • Hiſtorie, was ſie ſey 10. und in ſich faſſet 14. er-
    fordert einen Zuſchauer ibid. deren Einfluß in die
    Beredſamkeit 19. in die Critic 21. in die Gottesge-
    lahrheit 22. dient zur Erklaͤrung der Schrift 23. be-
    ſteht aus aͤuſſerlichen Veraͤnderungen 76. ihre un-
    terſchiedene Art 86. von Kriegen und Haͤndeln 87.
    von
    [[421]]Regiſter.
    von Thaten 87. wichtigen Geſchaͤfften 87. 88. kommt
    in allen Schrifften vor 356. handgreifliche Dinge ma-
    chen ihren groͤſten Theil aus 302. ſ. a. Geſchichte.
  • Hiſtoriſche Erkaͤntniß was ſie iſt 1. ſqq.89. wor-
    inne ſie nicht beſtehet 89. deren beruhet auf Ur-
    kunden 23. was dazu noͤthig und ſie erfordere 23. ſq.
    iſt von der Phyſic unterſchieden 55. deren Grund-
    Begriffe noͤthig 8. ob ſie wohl unvollkommen bleibet
    14. 15. ihr Zuſammenhang mit dem Willen 15. hilft
    der Rechtsgelahrheit auf 16. woher derſelben Fehler
    17. deren Nothwendigkeit aus Fabeln erwieſen 19.
    hilft der Beredſamkeit 20. ihr weitlaͤuffiger Um-
    fang 24. ihre Nutzbarkeit 24. 25. hierzu noͤthige
    Regeln 25-27. Schwierigkeiten, woher ſie entſte-
    hen 10. Wahrheiten haben Verbindung mit
    Schluͤſſen 261. ſind gewiß 283. ſq. ſ. a. Wahrheit
    Wahrſcheinlichkeit, Schrifften ꝛc. Schrifften ſ. in-
    fra in
    S. Zuſammenhang v. Zuſammenh.
  • Hoͤrer, wer er iſt 159. was ſein Begriff zur Sache
    thut 172. welcher von der Urkunde herruͤhret 179.
    und unterſchieden iſt von dem Begriffe des Zu-
    ſchauers 182. 197. kan die Gewißheit der Ausſage
    zerruͤtten 299. 300. v. m. Anhoͤrer, Zuhoͤrer.

Appendix C.9 J.


  • Jahrmaͤrckte wie die entſtanden 65
  • Jlluminationes werden betrachtet 101. 102
  • Imagination, hat ihre Regeln 383. machet einen Theil
    der Dichtkunſt aus 41. falſche kan Empfindung
    wuͤrcken 50. 56
  • Jnnerlich, was es iſt 58. ſ. a. aͤuſſerlich.
  • Inſtrumenta, was dieſe ſeyn 313
  • Jntereſſenten ſ. Theilnehmer.
  • Jntrigven was es ſind 235. ſolche brauchen die Fein-
    de 133

D d 3Jo-
[[422]]Regiſter.
  • JoſuaͤXXII. 11. \& 26. 186
  • Jubilæa was ſie vor Nutzen ſchaffen 196
  • Judicium intuitivum \& diſcurſivum, was es ſeye 203
  • Julius ſ. Caͤſar.
  • Jurisprudentz womit ſie umgehet 16. worinne ſie
    beſtehet 17. was ihr aufhilft ibid.

Appendix C.10 K.


  • Kauff, was der voraus ſetzet 90
  • Ketzer, von Arnolden defendiret 149. ſ. auch Ver-
    brennung.
  • Ketzerey, wie ſie ſichtbar wird 67
  • Kind, warum ihm rechte Begriffe mangeln 35
  • Kirchengeſchichte, wer ihre Geſtalt ſcheußlich ge-
    macht 149
  • Klarheit eines Grundes, was darauf ankommt 336
  • Klumpen was er ſey 45. 46
  • Kranckheit eine Leidenſchafft des Leibes 77. woher
    deren Unleidlichkeit 94. ob ihre Hiſtorie ein Artzt
    am beſten beſchreiben koͤnne 113. ihre Arten aus
    Buͤchern 393. beſſer aber aus der Erfahrung zu
    lernen ibid.
  • Krieg, Anfang in Thaͤtlichkeit zu ſuchen 246. dar-
    inne hanget Ausfuͤhrung und Anſchlag nicht zu-
    ſammen 237. dreyſigjaͤhriger, wenn deſſen Anfang
    zu beſtimmen 245-247. bringt den Weſtphaͤliſchen
    Frieden zuwege 244
  • Kriegsthat ſ. That.
  • Kunſt, wie weit es die Alten darinne gebracht 376.
    wodurch ſie verfaͤllet 69. zu muthmaſſen was ſie
    iſt 391. was dazu gehoͤret 391-394. 396. zu er-
    fahren, was ſie ſey 51. zu erzehlen ſ. Erzehlung.
    zu uͤberzeugen 351. ſq. Geſchichte zu ſchreiben
    369-374. Schwierigkeiten dabey 371
  • Kunſtverſtaͤndige, wer die ſind 294

L.
[[423]]Regiſter.

Appendix C.11 L.


  • Lachsfang, wie derſelbe entſtehe 66. und erhalten
    wird 67
  • Laͤnder, entfernte, ſ. Reiſen.
  • Lage eines Coͤrpers 41
  • Laſter erzeigen ſich bald wuͤrckſam 256. 257
  • Lauffen einer Geſchichte, was es heiſſe 189. 190
  • Leben beſtehet aus taͤgl. Verrichtungen 81
  • Lebensbeſchreibungen, was dazu gehoͤret 86. ſein
    ſelbſt, waͤre beſonders einzurichten 266. mit Exem-
    peln bewieſen 267
  • Lehrer ſ. Academiſche.
  • Leib, deſſen Eigenſchafften 77. ſonſt ſ. a. Seele.
  • Leibnitz entwickelt die Lehre vom Sehepunct 100.
    101. ſ. a. Vernunftlehre.
    • Lernen
    • Leſen
    welcher Unterſcheid 197
  • Leſer ſ. Hoͤrer, Nachſager ꝛc.
  • Lieder von Geſchichten haben ihr Anſehen 168. pflan-
    tzen eine Sache richtig fort 176
  • Locus communis, was er iſt 54. 84. kan auch truͤ-
    gen 121. 122. der dem andern zuwieder lauft, hat
    auch ſeinen Grund 322
  • Logick ſ. Vernunftlehre.
  • Luͤgen hat eigentlich keine Gewißheit 289. hemmet
    den Lauf der Geſchichte 193. nicht in Regeln zu
    bringen 154. wie man darauf verfaͤllt 380. breiten
    viele aus die von Reiſen kommen ibid.

Appendix C.12 M.


  • Maaßſtaͤbe wozu ſie dienen 44
  • Macht groſſer Herren, Urſachen des gluͤckl. Fort-
    gangs 69
  • Maͤhren was dies vor ein Wort 277
  • Mahomet fuͤhrt ungeheure Anſchlaͤge aus 214

D d 4Man-
[[424]]Regiſter.
  • Mangel ſ Kind, Vorherſehung ꝛc.
  • Materie, der Alten Meynung davon 46
  • MatthaͤiXII, 34. 296
  • Menſch, nach ſeinem Weſen und Theilen 76. 77. deſſen er-
    ſte Begebenheit die Geburt 77. die letzte der Tod
    84. Eintheilung andrer Begebenheiten 78. deſſen
    vielfaͤltiger Stand und Zuſtand 78. 79. verurſacht
    verſchiedene Betrachtungen der Sachen 98. der vor-
    nehmſte Stand 79. 80. iſt geneigt Unruh und
    Streitigkeit anzuhoͤren 192. faͤllt auf unvermu-
    thete Veraͤnderungen 214. ſonſt ſ. Sitten.
  • Meſſen ſ. Jahrmaͤrckte.
  • Mißverſtand macht verwirrte Sachen 186. iſt leich-
    te zu entdecken ibid. wie zu unterſuchen 322. ſ. a.
    Urkunde.
  • Mitglieder ſ. Glieder.
  • Moͤglichkeita poſteriori iſt ohne Gewißheit 282
  • Moͤnchorden deren Stiffter 65. und Veraͤnde-
    rung 68
  • Mond, deſſen Wuͤrcklichkeit 29. Abwechslung 92.
    93. Blitzen darinne 128
  • Monumenta ſ. Denckmahl.
  • Moraliſch Weſen, was es ſey 61. Exempel davon
    61. 62. 67. 79. deſſelben Dauer 62. wie ſolche be-
    kannt wird 63. wie ſie ſichtbar werden 62. 66. ihre
    Begebenheiten 63. nach ihrer Eintheilung 64. 74.
    75. Veraͤnderung 63. 68. und deren Urſache 66.
    Urſprung 64. 65. Geſtalt und Verfaſſung 67.
    Wachsthum und Verbeſſerung 68. 69. Abnahme
    und Verſchlimmerung ibid. letzten Begebenheiten
    70. 71. und Untergang 70. ihr aͤuſſerliches, ge-
    heimes und innerliches 71. 72. Seiten 72. 73. da-
    her entſtehende Begriffe 73. kommen vom Zuſchauer
    her 101. Verhalten dagegen 73. 74.
  • Morin vertheidigt die Heyden 344
  • Mumien was aus denſelben zu ſchlieſſen 375. ſq.

Mu-
[[425]]Regiſter.
  • Muſter, was es ſey 53
  • Muthmaſſen ſ. Kunſt.
  • Mythologie, eine ehrwuͤrdige Dunckelheit 130. be-
    ſonders auf belebten Denckmahlen 378

Appendix C.13 N.


  • Nachdencken veranlaſſet eine andere Erzehlung 187.
    188
  • Nachfolger im Geſchlechte, wer die ſind 85. und
    im Amte 99
  • Nachforſchen, wie geſchiehet 201
  • Nachricht, was ſie iſt 164. wie vielerley ſ. Erzehlung.
    Erfordert zwey Perſonen 164. iſt entweder muͤndl.
    oder ſchriftlich 165. 166. Betrachtung einer erhal-
    tenen 181. ſucht man umſtaͤndlicher zu wiſſen 182
  • Nachſager, wer der ſey 158. der erſte, andre, dritte
    160. Unterſchied derſelben 160. 161. wie ſie eine
    Geſchichte veraͤndern koͤnnen 187-189
  • Naturalien und Curioſitaͤten Cabinette, wozu ſie
    dienen 45. 376
  • Naturrecht, wie anzuwenden 27
  • Neigung, was darauf ankomt 336
  • Nero hat ungeheure Anſchlaͤge 214
  • Neu ſ. Anſchlag, Columbus.
  • Neuigkeit der Sache, was ſie zuwege bringt 105
  • Neutralitaͤt, wovor zu halten 153
  • Nichts, was es ſey 28. 191
  • Non-ens, was wir ſo nennen 74. z. E. in gewiſſem
    Fall ein Zuſchauer 158
  • Notoriſche Wahrheiten was die ſeyn 314. 315

Appendix C.14 O.


  • Oberflaͤche was ſie ſey 37
  • Oeſterreichiſche Parthey, warum ſie oft verlaſſen
    worden 222

D d 5Offen-
[[426]]Regiſter.
  • Offenbahr, was alſo heiſſet 58. ſonderl. bey morali-
    ſchen Weſen 71. hat viele Canale 160
  • Offenbahrung ſ. Weiſſagung H. Schrift.
  • Optic was ſie vermeiden lernet 50. gehet mit Pro-
    ſpecten um 34. und ſichtbaren Begebenheiten 93.
    ſonſt ſiehe: Sehepunct, Strahlen ꝛc.
  • Oratorie ſ. Beredſamkeit.
  • Ort eines Coͤrpers 41. und einer Geſchichte, dar-
    auf vieles ankomt 279

Appendix C.15 P.


  • Pacte, eine Art der Willensmeynung 16. warum ſie
    mißrathen 396
  • Paradox, was es iſt 349
  • Parallel Geſchichte, was die ſeyn 278. ſq.
  • Partheyiſche Erzehlung, was ſie nicht ſey 151. 152
  • Perſonen, derſelben Einheit nur eine Begebenheit 6.
    7. ihre Geſchichte 88. 89. wie ſie zu unterſcheiden
    90. 91. ihre Verbindungen unter einander 96. wie
    ſie einander kennen ibid. welche bey Haͤndeln con-
    curri
    ren 97. koͤnnen leicht verwechſelt werden 279.
    ſ. a. Hauptperſon.
  • Philologie zur alten Hiſtorie noͤthig 358
  • Philoſophie, alte, ihre Fehler 26. gehet ſonſt nicht
    mit Hauffen um 52. ſondern mit Arten 93
  • Phocas, deſſen boͤſe That geſchicht ohne Urſach 227
  • Phœnomena in der Luft, Urtheile davon 30. wo deren
    Grundbegriffe geleget worden 31
  • Phyſicaliſche Begebenheiten, deren Urſache 230. 284.
    Die Erklaͤrung ihrer Urſache macht eine Demon-
    ſtration
    aus 261. wie das zugehe 261. 262. ſolche
    erkennen wir nur Stuͤckweiſe 264. ſind natuͤrlich
    205. theils auſſerordentl. ibid. wie ferne ſie einem
    hiſtorico angehen ib. ſind zuvor zu erkennen 383
  • Plagæ mundi ſind Seiten 47

Pla-
[[427]]Regiſter.
  • Platonici Zweifler 283
  • Poeſie ſ. Gedichte.
  • Politiſche Erzehlungen 136. duͤrffen nichts uͤberfluͤßi-
    ges haben 137. ſq.
  • Pompeji Thaten und Gedenckart wird beleuchtet
    271. ſq.
  • Portugieſen ſ. Handlung.
  • Principium, was falſch alſo genennet wird 276
  • Proben, was ſie ſeyn 53
  • Proceſſe ſind Haͤndel 87. was dabey vorgehet ib.
    erfordern Zeugen 306. 307
  • Proceßion ſ. Aufzug.
  • Profeßion ſ. Handwerck.
  • Prognoſticon, was es iſt 389. wie es zuſtellen ibid.
  • Prophezeyungen ſ. Weiſſagungen.
  • Proſpect ſ. Ausſicht.
  • Pyramiden ſ. Egyptiſch.
  • Pyrrboniſmus worauf er ſich erſtrecket 283. hiſtoricus,
    wie dem abzuhelfen 351. 352. wer davon geſchrie-
    ben 352

Appendix C.16 Q.


  • Quelle der Hiſtorie 355. werden erzehlet 358. beſon-
    dre Art 359-361. Schwierigkeiten dabey 357.
    358

Appendix C.17 R.


  • Raben
    • nicht alle ſchwartz
    • weiſe giebt es auch
    45. 54. 55.
  • Rathgeber, was die thun 216
  • Reaumur, was er entdecket. 51. 316. beſonders von
    Bienen 57. 399
  • Recht ſ. Natur.
  • Recurſus ad Comitia, Urtheil davon 88
  • Rede, woher ſie entſtehet 296. Regel davon ibid.

Re-
[[428]]Regiſter.
  • Redekunſt, Dienſt in der Hiſtorie 129. ſonderl. bey
    Erzehlungen 153. 154
  • Reden, (Staats) Quelle der Hiſtorie 356
  • Regel was ſie ſey 204. in der Seele 383. in den Coͤr-
    pern 383. 388. vom Reden 296. von Anhoͤren 297.
    Logicaliſche wehren dem Zweiffel 291. 292. ſind
    ſchwer von Urſachen zu geben 251. 252
  • Reiſebeſchreibungen maſſen ſich licentiam mentien-
    di an
    380
  • Reiſende, wie ihnen in entfernten Landen zu muthe
    379. was ſie nach der Heimkunft thun 380
  • Reliquien, wozu die nuͤtzen 376
  • Reyhe, was es ſey 7
  • Reſt, was wir ſo nennen 54
  • Richter, was derſelbe zu beobachten 185
  • Roͤmer, woher ihr Gluͤck im Kriege 247
  • Roͤßler, was er entdecket 51. 316
  • Ruinen ſ. Reliquien.
  • Ruff, was er ſey 177. woher deſſen Unrichtigkeit
    177. 188

Appendix C.18 S.


  • Scaliger, ein treflicher Chronologus 355
  • Schandthaten, warum ſie bemerckt werden 88
  • Scharfſinnigkeit beym muthmaſſen 393. ſq.
  • Schein, was er ſey 29. wie von dem Seyn unter-
    ſchieden 30
  • Schlangenweiſe gehen wie die Baͤche 128
  • Schluͤſſe, damit geht die Logic um 261. bringen
    nur notiones partiales heraus 295. wie ſie vom
    Sehen entſtehen 40. ſind nicht von einer Zeit auf die
    andre zu machen 57. und auf alle Begebenheiten
    268. ſqq.(v. judicium) Exempel der Schwierig-
    keit einiger Schluͤſſe, 203. 204. 218. 219. und
    der falſchen 226

Schrifft,
[[429]]Regiſter.
  • Schrift, heilige deren Jnhalt 22. ſ. a. Gottesge-
    lahrh. Weiſſagungen.
  • Schriften, dienen zu Ausbreitung einer Sache 166.
    ſind die wichtigſten Denckmahle 354. Hiſtoriſche,
    die entweder gantz und gar hiſtoriſch 355. und als
    Quellen anzuſehen ibid. oder ſtreuen nur hiſtorica
    gelegentlich ein 356. Exempel davon ibid. oͤffent-
    liche, ihr Vorzug 312. 313
  • Schriftliche Haͤndel beſtaͤttigen die Gewißheit 312.
    313. Exempel davon 313. ſq.
  • von Schwartzenbach, Erfinder der neuen Welt
    212
  • Schwediſche Troublen im 16. Seculo 248
  • Schwierigkeiten ſ. hiſtoriſche Quellen ꝛc.
  • Schwurvid. Betheurung.
  • Scriptores coævi wer die ſeyn 363. 364. ihr Anſehen
    ibidem.
  • Seele, deren Vereinigung 76. und Handlungen
    mit dem Leibe 77. Einfluß in die Sinne 95. und
    daher entſtehende Anſchauungsurtheile 110. 111.
    ihr Zuſtand nicht immer einerley 99. daher immer
    andere Vorſtellungen ibid. unwiſſende Begeben-
    heiten derſelben 265. (pl. v. Gedancken) ihr ver-
    aͤnderter Zuſtand 265. wird ſelten bemerckt ibid.
    Verwirrungen derſelben 266. was der Seele wie-
    dernatuͤrlich iſt 226. ſie hat ihre Regeln 383
  • Sehen der deutlichſte Sinn 93. wozu es dienet 27.
    29. kan doch betruͤgen 30. auf eine Sache was
    es ſey 31
  • Sehepunct, was er ſey 37. 93. 94. 95. 100, deſ-
    ſen Einfluß 37. 38. bringt Seiten herfuͤr 101. und
    eine gewiſſe Einſicht 102. ihre Hauptarten 103. einer
    giebt keine gantze Erzehlung 130. Sehepunct der
    Jntereſſenten und der Fremden 104. des, der zum
    erſtenmahl zur Sache kommt 104. 105. eines hoͤhern
    und niedern 106. 107. der Gelehrten und Unge-
    lehrten 107. 108. eines Academiſchen Lehrers 108.
    der
    [[430]]Regiſter.
    der Traurigen und Froͤlichen 109. eines gantz Frem-
    den 109. 110. eines Barbaren 112
  • Seite, was ſie iſt 37. verſchiedene Arten 46. un-
    zehlige eines Coͤrpers 46. 47. ſ. a. Moral. We-
    ſen.
  • Seſoſtris Liebe zum Frieden 224
  • Seyn und geſchehen, welcher Unterſchied 12. 13. und
    Verbindung 13. vid. m. Schein, Daſeyn ꝛc. Seyn
    bey dem Menſchen, woher 83
  • Sinne haben wir nicht in unſrer Gewalt 123
  • Sinnreich,vid. Geſchichte.
  • Sitten der Menſchen, woher ſie entſtehen 83. 84.
    werden bemerckt 83. und erkannt wie 83. 84
  • Sonne, ſ. Heyde.
  • Sophiſtereyen, was ſie ſeyn 226. und woher ent-
    ſtehet 150
  • Sortilegia, woher ſie entſtanden 400
  • Species macht die Gedenckart begreiflich 223
  • Species facti, was es iſt 143. 144. wie ſie veraͤndert
    werden kan 145
  • Spotten, was es heiſſet 60
  • Sprache, ſ. Coptiſch.
  • Spuren, was man ſonſt ſo nennt 199. 330
  • Staatsſchrifften, Qvellen der alten Hiſtorie 356
  • Stammvater, was er ſey 85
  • Stand, ſ. Amt.
  • Stand, deſſen oͤfftere Veraͤnderung hindert den Be-
    griff 34. 35. eines Coͤrpers 41. eines Menſchen,
    ſ. Menſch.
  • Status cauſæ, was das heiſſe 142. 143
  • Sterne ſind Weltcoͤrper 28. 29. von ungemeiner
    Groͤſſe 92
  • Stelle, was es ſey 98
  • Stifftungen, warum ſie offt mißrathen 395 ſq.
  • Stille, in der, etwas thun, was es heiſſe 155

Still-
[[431]]Regiſter.
  • Stillſchweigen kan zur Ausſage und zum Zeugniſſe
    werden 310. 311. macht einem Hiſtorico ein Anſe-
    hen 365
  • Strahlen, woher und wie ſie auffallen 37
  • Streit mit Worten und mit Thaten, welcher Unter-
    ſchied 245. 246
  • Strom, der wie ein Pfeil ſchieſſet, welche Redensart
    128
  • Stuͤckwerck in der Phyſic 264. in jeder Erzehlung
    267
  • Subjectum, was es ſey 11. deſſen Art 12. inſonderheit
    Subjectum quo menſchlicher Begebenheiten 77
  • Suffragator, was das ſey 158

Appendix C.19 T.


  • Taͤgliche Verrichtungen, was wir ſo heiſſen 81. Exem-
    pel davon ibid. werden nicht attendiret ibid.
  • Teſſeræ hoſpitalitatis der Alten 315
  • Teſtamente werden angefochten 396. woher? ibid.
    wie deme abzuhelffen ibid. was Concipient dabey
    zu thun 396. 397.
  • Teſtis oculatus und auritus, was davon zu halten
    157 ſq.
  • Thaͤtlichkeit, Anfang der Kriege 246
  • Tharen, was ſie ſeyn 81. 82. ſind ſchlecht 82. 209.
    oder groß 82. machen aufmerckſam ibid. was Hi-
    ſtorien derſelben ſeyn 87. dabey concurrirende
    Perſonen 97. boͤſe (vid. m. Handlungen) entſtehen
    aus einer Gelegenheit 225 ſq. nicht durch Urſa-
    chen 226. ſondern aus falſchen Vorſtellungen 228.
    ſchicken ſich ſchlecht und fuͤgen ſich doch 274
  • Theilnehmer, wer die ſeyn 74. wiſſen nur das Ge-
    heime 102
  • Theologie, ſ. Gottesgelahrheit.
  • Theoremata, was ſie ſind 281

Todt,
[[432]]Regiſter.
  • Todt, letzte und merckwuͤrdigſte Begebenheit des Men-
    ſchen 84. nach demſelben ſuchen die Aegypter den
    Leib zu erhalten 375
  • Tragoͤdien, woher ſie entſtanden 278
  • Traurige, ſ. Sehepunct.
  • Trunckene, ihre Handlungen nicht zu verwundern
    213
  • Turba ſine nomine quid ſit?54
  • Tyrann verſchiedentlich zu beurtheilen 257. ſ. a. Chri-
    ſtiern, Nero.

Appendix C.20 U.


  • Uberbleibſel, ſ. Reliqvien.
  • Ubereilen laſſen, was es ſey 216. 217
  • Uberſehen eines Coͤrpers, wie geſchiehet 37. des Ge-
    ſchaͤfftes zum muthmaſſen noͤthig 396. 397
  • Uberzeugen, was es ſey 351
  • Ubrige, was wir ſo nennen 54
  • Umſtand, was es iſt 3. entweder unnuͤtze, oder noͤ-
    thig, oder ſchaͤdlich 137. 138. auch wohl erdichtet
    154. (v. m. Anſchlag) wie und worzu zu betrach-
    ten 390
  • Unerforſchliche Dinge, ob zu ergruͤnden 399. 400
  • Ungelehrte, wer die ſind 107
  • Ungewißheit, was ſie ſey 288. wovon ſie prædiciret
    wird 317. woraus ſie entſtehen kan 321. was bey
    derſelben vorkommt 321. von alten Geſchichten re-
    movi
    ret 378. 379
  • Ungluͤcksfaͤlle, ſ. Gluͤck.
  • Unpartheyiſche Erzehlung, was die nicht ſey 150.
    152. was ſie ſey 152. 153
  • Untergang, was er ſey 70. dem Anfange gleich 70.
    71. Exempel eines Cloſters 71
  • Unwahrheit iſt auch offt gewiß 289. plura v. Luͤgen.
  • Unwahrſcheinlichkeit, was ſie iſt 349. 350. 373.
    374. bey alten Geſchichten 381. Hinderniß des
    Glau-
    [[433]]Regiſter.
    Glaubens und der Gewißheit 380. 381. daher im
    Geſchichtſchreiben zu vermeiden 373 ſq.
  • Urbild der Erzehlung, was es ſey 126
  • Urheber bey jeder Erzehlung noͤthig 157. (ſ. a. Autor)
    dieſem folgen die Nachſager 158 ſq. welche weniger
    dencken als jener 170
  • Urkunde, was ſie ſey 167. ſchrifftliche ſpaͤt aufkom-
    men 168. deren Vorzug 168. 178. beſtehen nicht
    lange 195. GOttes Vorſorge davor ibid. was
    deren Veraͤnderung thut 177. 178. und Mißver-
    ſtand 179. 180. muͤndliche, Unfleiß darinne 177.
    bleibt ſelten unveraͤndert 176. wie man derſelben
    nachdenckt 183. 184. einerley, was ſie ſey 174.
    lehret auch immer einerley 175
  • Urſache, Lehre, Unterſuchung und gewiſſe Anzeige
    davon iſt ſchwer 203. 204. warum wir ſie nur in
    etwas einſehen moͤgen 225. warum uns die Urſa-
    chen der Begebenheiten unbekannt ſind 249-251.
    und die Unterſuchung derſelben ſchwer in Regeln
    zu bringen 251. 252. wie ſolche Schwierigkeit ge-
    hoben wird. 250. werden aus Betrachtung des
    vorhergegangenen erfunden 252. 253. hierzu dien-
    liche Regeln 233-256. verſchiedene Urſachen der
    Handlungen 208-211. (ſ. a. Anſchlag, Gelegenheit)
    vernuͤnfftige, was es ſeyn 225 ſq. hat man nicht
    zu boͤſen Thaten 226

Appendix C.21 V.


  • Vater, warum vornehmlich zu wiſſen noͤthig 77
  • Veraͤnderung, was ſie iſt 2. 3. woher ſie entſtehet 1.
    der Coͤrper, woher 47. deren Weſen, ſ. Moraliſch.
  • Verborgene bey coͤrperlichen Dingen, was es ſey
    50. 51
  • Verbrennung der Ketzer, wie zu beſchreiben 91
  • Verdeckt, was alſo heiſſet 58

E eVer-
[[434]]Regiſter.
  • Verdrehung, wie geſchiehet 142. ſonderlich in einer
    Geſchichte 149. 150. 152
  • Verdunckelung, wie die geſchiehet 139-142
  • Vergangene Dinge, wie ſie betrachtet werden 14. 15.
    aus dem gegenwaͤrtigen erkannt 315. 316. ihre
    Verbindung mit dem Zukuͤnfftigen 382. ſ. a. Vor-
    hergegangene.
  • Vergleichung, ſ. Gleichniſſe.
  • Vergnuͤgen, ſ Handlung.
  • Vergroͤſſerung der Dinge, wie anzunehmen 120.
    was davon unterſchieden 138. 139. iſt denen ei-
    gen die von Reiſen kommen 380
  • Verheiſſung, ſ. Verſprechung.
  • Verkleinerung der Dinge, wie ſie anzunehmen
    120 ſq. was davon unterſchieden 138. 139
  • Vernunfftlehre ſiehet auf allgemeine Wahrheiten
    26. wie das geſchehe ibid. ſetzet ſie nehmlich in
    Schluͤſſe 261. giebt die Regeln zur hiſtoriſchen Er-
    kaͤntniß 25. welche allen Zweiffel heben 291. 292.
    Fehler der Alten 150. und Maͤngel 203. Leibni-
    tzens Gedancken davon 27
  • Verſprechungen, eine Art der Willensmeynung
    16
  • Verſtand, deſſen Handlungen 77
  • Verſtellung, Urſache mancher Handlungen 254.
    macht eine Sache ſchwer 255
  • Verſtuͤmmeln, was das heiſſe 142. 150. geſchicht
    aus Unwiſſenheit oder Vorſatz 142 ſq. durch Weg-
    laſſung noͤthiger Umſtaͤnde 146
  • Verwickelt ſeyn, was es heiſſe 239. 240
  • Verwundung, Rechenſchafft davon 60
  • Vitium ſubreptionis, was es ſey 50. wo ſich ſolches
    einſchleicht 292. wo es nicht zu befahren 293
  • Vorhergegangene laͤſſet die Urſache des gegenwaͤrti-
    gen erfinden 252. ſq. ſ. auch Weiſſagungen.
  • Vorherſehung zukuͤnfftiger Dinge Mangel dabey 390.
    Huͤlffsmittel dagegen 391

Vor-
[[435]]Regiſter.
  • Vorſchlag vom Anſchlag unterſchieden 219. hat doch
    ſeine Folgen ibid.
  • Vorſtellung, wenn wir Meiſter davon ſeyn 123. ſiehe
    auch Seele.

Appendix C.22 W.


  • Wachsthum, ſ. moraliſches Weſen.
  • Wahrheit, was ſie iſt 289. Verhaltung gegen die
    Gewißheit 289. 290
  • Wahrheiten, mit wie vielerley wir umgehen 281.
    phyſicaliſche und hiſtoriſche, welcher Unterſchied un-
    ter denſelben 261. 262. allgemeine 262. mit
    welchen wir ſelten umgehen 281. 283. notoriſche,
    ſ. notoriſch.
  • Wahrnehmen, was es heiſſe 197
  • Wahrſcheinlichkeit, hiſtoriſche, was ſie ſey 331. 332.
    Exempel davon 333. 339-344. Uneinigkeit darin-
    ne 335. und Schwierigkeiten 338. ſqq. gewoͤhn-
    liche Definition wird examinirt 347. Lehren davon
    beſſer excoliret 27. iſt anders als die Gewißheit
    335. ſqq. welche ſie aufhebet 285. iſt das oppo-
    ſitum
    des paradoxi344. gehet nur gewiſſe Leute
    an 348. ſq. was dabey zu thun 333. 334. in Er-
    zehlungen 349. ſq. im Diſputiren 343
  • Weg, wenn Sachen ihren Weg gehen 70
  • Weiſſagungen, was ſie ſeyn 17. 22. woher ſie ent-
    ſtehen 17. 18. wie unterſchieden 18. wie damit
    umzugehen ibid. aus dem Vorhergegangenen zu er-
    kennen 382
  • Welt, ſ. Erkaͤntnis.
  • Weltcoͤrper, was ſie ſind 28
  • Weltgeſchichte, was ſie ſeyn 89. eintzele 88. 89.
    ihre Verbindung 91
  • Weſen, ſ. Moraliſch.
  • Widerſpruch, woher er entſtehet 326. wie deſſen
    Urſprung zu erkennen 54. giebt einer Geſchichte
    E e 2Anſtoß
    [[436]]Regiſter.
    Anſtoß 191. 192. wie es zu heben 321-328. ob
    er Grade der Wahrſcheinlichkeit haben kan 345. ſqq.
    deſſen Mangel macht einem Hiſtorico ein Anſehen
    364. derer Geſchichtſchreiber 367-369
  • Widerſtand, woraus er erfolget 234
  • Wille, was er erwehlet 297. was daraus entſtehet
    59. der fortdauert 60. verborgener, was er ſey
    61. taugt zu nichts ibid. deſſen Handlungen
    und Begebenheiten 77. ſ. auch Wollen, Freyheit.
    der andern, dient zur Einſicht ins kuͤnfftige 386.
    und unſer eigner 386. 387
  • Wille, letzter, ſ. Teſtament.
  • Willensmeynung, was ſie ſey 15. deren Arten 16.
    worauf ſie ſich gruͤndet 16. wird nicht geachtet
    59
  • Wiſſen um eine Sache, was es heiſſet 160. 161
  • Woͤchnerinnen, wie viel ihrer ſterben 56. 57
  • Wollen, betrifft das zukuͤnfftige 15. Erkaͤntnis,
    woraus daſſelbe entſtehet 15. 16

Appendix C.23 Z.


  • Zeichen, ein allgemeines Wort 389. v. m. Prognoſti-
    con
  • Zeichendeuterey, ſ. Auguria.
  • Zeuge iſt von dem Urheber unterſchieden 157. und
    vom Ausſager 306. was er iſt ſeq. wenn er noͤ-
    thig 157. 158. 306. 308. und unnoͤthig 158. hat
    mit dem Autor ein Anſehen 307. 308. und noch ein
    beſonderes 308. 309. ein Hauffen, wozu er dienet
    310. die contraria ausſagen, ſind doch eins 322
  • Zeughauß, unterſchiedene Betrachtung deſſelben 102
  • Zeugnis kan das Stillſchweigen abgeben 310. 311
  • Zufaͤlle, was ſie ſind 3. ihre Concurrentz bey der Aus-
    fuͤhrung 247. 248. verwandeln die Geſchichte in
    gantz andere 249

Zuhoͤrer,
[[437]]Regiſter.
  • Zuhoͤrer, wie er von dem Erzehler unterſchieden 171.
    ſ. auch Hoͤrer.
  • Zukuͤnfftige Dinge, Betrachtung derſelben 14. 15.
    ins vergangene verwandelt 302. Einſicht dahin-
    ein 382-387. (ſ. auch Gewißheit, Vorherſehung.)
    falſche Wege, ſolche zu erkennen 397
  • Zuſammenhang coͤrperlicher Begebenheiten 202-205.
    hiſtoriſcher mit allgemeinen Wahrheiten 261
  • Zuſammenfuͤgung derer Begebenheiten 273. 274
  • Zuſchauer eines moraliſchen Weſens 96. 97. der
    Haͤndel, Geſchaͤffte und Thaten 97. 98. was er iſt
    93. (ſ. auch Hiſtorie, it. fremde.) bey jeder Bege-
    benheit eine Hauptſache 91. 92. non dat eſſe rei
    92. ſonderlich bey Coͤrpern ibid. kan auch ein
    non ens ſeyn 158. Unterſchied 96. ſieht auf
    unterſchiedene Art 97. erlangt keine vollſtaͤndige
    Geſchichte 113. ſq. was in ſeiner Erzehlung vor
    ein Unterſchied iſt 169. bey welchen Dingen die
    meiſten ſeyn 311. 312. werden von Hiſtoricis nicht
    nahmentlich angefuͤhret 365. 366
  • Zuſtand des Menſchen mannigfaltig 79. pl. v.
    Menſch.
  • Zweiffel, Urſprung deſſelben 319. Hauptgruͤnde
    328-330. was er ſey 318. das Mittel zwiſchen
    wiſſen und nicht wiſſen 331. was er bey einer Ge-
    ſchichte thut 192. 283. 284. Exempel hiſtoriſcher
    Zweiffel 318. 319. wegen Avthentic einer Schrifft
    357. unſer Amt dabey 320. 321. wird durch logi-
    caliſche Regeln gehoben 291. 292. und andere We-
    ge 330. 331
  • Zweig eines Geſchlechtes, was es ſey 85
  • Zweydeutig, was das heiſſet 140


Errata.
[[438]]

Appendix D Errata.


  • Pag. 17. lin. 10. deleatur ſo.
  • 19. §. 32. lin.5. vor juridicale l. judiciale.
  • 29. lin. 8. leg. derſelben.
  • 108. lin.6. ſtatt vorlegeVor.
  • 177. §. 21. lin.13. nach non, inſeratur aliud.
  • 185. lin.16. vor eſt ließ et.
  • 186. lin. 3. it. lin.27. vor Joh. ließ Joſuaͤ.
  • 214. lin.3. nach die,inſeratur man.
  • 277. §. 53. lin. penult. ließ manchmahl.
  • 285. lin. 5. deleaturentſtanden iſt.
  • 371. §. 21. lin.7. ließ Orte alſo angeben.
  • 372. lin.22. ließ erforſchen.
  • 390. lin. antepenult. muß heiſſen nach dem an-
    dern in Erwegung ziehet.
  • 393. lin. 10. legedieſer erfahrne Artzt.
    • 25. ließ worden.
  • 396. lin.3. ließ paciſciret.
    • 15. 16. deleatur niemand aber vor-
      handen wollen.
  • 397. lin.16. ließ Erblaſſer.
  • ‒ ‒ lin.14. ließ Abtretung.
  • ‒ ‒ lin.21. vor allen ließ allein.
  • ‒ ‒ lin.23. ließ der Sache im Wege.
  • 399. lin.12. ließ ausgangs
  • 400. lin. ult. vor werden ließ worden.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Allgemeine Geschichtswissenschaft. Allgemeine Geschichtswissenschaft. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp6h.0