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EURIPIDES HERAKLES
BAND I

EINLEITUNG IN DIE ATTISCHE TRAGOEDIE


BERLIN:
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1889.

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EURIPIDES
HERAKLES


BAND I

BERLIN:
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1889

[[III]]
EINLEITUNG
IN DIE
ATTISCHE TRAGÖDIE


BERLIN:
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1889

[[IV]]

τὰ ἱρὰ ἐόντα πρήγματα ἱροῖσιν ἀνϑρώποισι δείκνυται,
βεβήλοισι δ̕ οὐ ϑέμις, πρὶν ἢ τελεσϑέωσιν ὀργίοισιν
ἐπιστήμης.


(Demokritos.)

[[V]]

ALMAE-MATRI
PORTAE
V- S- L- M-

ΟϒΠΑϒΣΟΜΑΙΤΑΣΧΑΡΙΤΑΣ
ΜΟϒΣΑΙΣΣϒΓΚΑΤΑΜΕΙΓΝϒΣΑΔΙΣΤΑΝΣϒΖϒΤΙΑΝ
9 ix 1867 21 v 1889


[[VI]][[VII]]

VORWORT


Als ich vor 22 jahren das kleine katheder des betsaales bestieg, um
abschied von der Pforte zu nehmen, überreichte ich ihr nach alter guter
sitte eine valedictionsarbeit, die das motto trug, das ich heute wiederhole.
es war und ist ein gelübde für’s leben: den Musen und auch der alten
schule werde ich die treue halten. die abhandlung selbst gieng die
griechische tragödie an und war natürlich ein geschreibsel, ganz so grün
wie ihr verfasser. der würde tief unglücklich geworden sein, hätte er
geahnt, wie bald er so urteilen würde; aber im stillen herzen gelobte
er sich doch, wenn er ein mann würde, der Pforte ein buch zu widmen,
das denselben gegenstand wissenschaftlich behandelte. dies gelöbnis würde
er nie ausgesprochen haben, wenn er es nicht zugleich erfüllte. er tut
es heut, indem er das drama, aus dem er damals das motto nahm, er-
läutert, und ein buch veröffentlicht, das vor allem so grünen aber von
den Musen begeisterten jünglingen, wie er damals einer war, das ver-
ständnis der tragödie erschlieſsen soll.


Denn geplant und begonnen habe ich dieses buch zunächst nicht
um neue forschungen vorzutragen, sondern um das verständnis der tra-
gödie, das doch gemeinbesitz der wissenschaft ist, zu vermitteln. nun
ist freilich etwas ganz anderes herausgekommen, das jenen zweck viel-
leicht nicht mehr so gut erfüllt, jedenfalls ein anorganisches gebilde,
dem ich zur entschuldigung seine entstehungsgeschichte mit auf den weg
geben muſs.


Meine wissenschaftliche arbeit ist von der tragödie ausgegangen, und
mich interessirte zu anfang das meiste nur entsprechend dem, wie ich
[VIII]Vorwort.
es für dieses gebiet nutzbar machen konnte. das war freilich nicht wenig,
denn mein lehrmeister war Welcker, in dessen werke ich mich mit
leidenschaft vertiefte. damit ist gesagt, daſs mich die herrschende tragiker-
kritik nur mit widerwillen erfüllen konnte. und doch gehört ein jeg-
licher seiner zeit an, und mein erstes buch war stark in den irrtümern
der nämlichen methode befangen, gegen die es laut protestirte. ich hatte
es zum äuſseren zwecke der habilitation in unverzeihlicher eilfertigkeit
hingeworfen, und wollte es schleunigst durch etwas reiferes ergänzen.
aber ich war noch unreif. zwar widerstand ich der versuchung, die an
mich herantrat, meine collationen zu einer Euripidesausgabe zu ver-
wenden, auch der, ein buch über das drama zu schreiben. aber ich
wähnte doch in kurzer frist eine erklärende ausgabe des Herakles und
dann anderer dramen fertig stellen zu können, weil ich den text fleiſsig
durchgearbeitet hatte, und bot deshalb der Weidmann’schen buchhand-
lung 1877 diese ausgabe für die Haupt-Sauppe’sche sammlung an. darin
war der gedanke ganz richtig, daſs es nützlicher ist, das was man ver-
steht vorzulegen als was man nicht versteht und deshalb ändert, daſs es
zunächst gilt zu erklären; aber ich würde meine sache noch nicht ordent-
lich gemacht haben, weil ich zu wenig wuſste. zum glücke zwang mich
das lehramt zum lernen, und als ich 1879 den Herakles ernsthaft wieder
angriff, wuſste ich wenigstens das drama eingerückt an seinen richtigen
platz sowol in der entwickelung der sage wie in der gesammtentwickelung
der hellenischen geschichte und cultur zu betrachten. und auch sprache
und verskunst hatte ich begonnen geschichtlich zu erfassen. mir selbst
war nicht klar, wie gewaltig die veränderung war; aber ich sehe es jetzt,
wenn ich die excurse zu Euripides Medea mit den Analecta Euripidea
vergleiche. wie ich damals zum Herakles stand, zeigt der text und die
übersetzung, welche 1879 als manuscript gedruckt in vieler händen ist.
der gröſste teil des commentars und der einleitung war auch ausgearbeitet
oder skizzirt, als äuſsere verhältnisse mich 1882 zwangen abzubrechen.
damals hielt ich mich noch im rahmen der schulausgabe, und vielleicht
hätte ich ihn damals inne halten können. weihnachten 1886 habe ich
mich denn wieder daran gesetzt, entschlossen um keinen preis abzulassen,
bis ich die arbeit von der seele hätte. das habe ich denn freilich er-
[IX]Vorwort.
zwungen. aber das buch ist gänzlich ungefüge geworden. zwar den
vorteil wollte ich nicht aufgeben, den strom der erklärung von der
wasserpest der kritischen debatten und der polemik rein zu halten: ver-
geblich wird der leser moderne eigennamen suchen, die jetzt mode ist
womöglich durch gesperrten druck kenntlich gemacht wie fettaugen auf
der wissenschaftlichen suppe schwimmen zu lassen. aber die berechtigte
forderung, gleichmäſsig zu erklären und streng bei dem gegebenen zu
bleiben, ist doch verletzt, und es ist wieder ein commentar, der einen
index nötig hat. vollends aber die einleitung ist zu einem bande aus-
gewachsen, und ich habe mich schlieſslich dazu verstehen müssen, sie
durch einen sondertitel als einleitung in das attische drama zu verselb-
ständigen. unmittelbar diesem zwecke dient nur die hälfte, cap. 2—4;
auch 5 und 6 fallen nicht ganz heraus, denn wer auf das verhältnis
der tragödie zur sage so viel wert legt, daſs er es sogar in ihre definition
einbezieht, wird ein beispiel unter allen umständen vorführen wollen,
und das kann Heraklessage und Heraklestragödie so gut wie eine andere
sein. aber ein γένος Εὐριπίδου ist ganz unberechtigt, wenn die beiden
anderen tragiker fehlen, und die wieder können in die einleitung zum
Herakles nimmermehr hinein. es ist nicht anders, das buch wie es ist
ist keine einheit und hat objectiv keine berechtigung. dies urteil ver-
diene ich, fälle ich selbst zuerst, aber ich konnte nicht anders: was ich
gemalt hab’ hab’ ich gemalt, und die subjective berechtigung lasse ich
mir nicht nehmen. ist denn die wissenschaftliche production eine andere
als die dichterische, wo wir doch wissen, daſs der dichter unter dem
zwange des geistes schafft, der über ihn kommt? auch unser tun ist
πο [...]εῖν, und auch wir können die poesie nicht commandiren. nur was
wir verfehlen, ist unser, und etwa die handwerksarbeit, die jeder kann,
wenn er den schweiſs daran setzt: was uns gelingt, das danken wir der
Muse, und soll ihr, nicht uns, danken, wer sich dadurch gefördert fühlt.
mir hat sie versagt zu schaffen, was einen reinen eindruck macht; ich
bin philologe genug, den mangel einzusehen, aber ich bin nicht poet
gemug, ihn zu überwinden.


Ich hatte jahre lang meinen zorn damit beschwichtigt, in dieser
vorrede einmal gegen die behandlung aufzustehen, die sich die wortführer
[X]Vorwort.
der s. g. öffentlichen meinung in den recensiranstalten und jahresbe-
richten meinen arbeiten gegenüber herausnehmen, immer dreister, weil
sie ungestraft bleiben. nun bin ich auch darüber hinaus, und lasse sie
ruhig gewähren, sich selbst zum gerichte. jeden ehrlichen jungen, der
der wissenschaft noch so verworren zu dienen beginnt, betrachte ich
mit freuden als meines gleichen: aber die sphäre, in der das licht von
Nicolaus Wecklein leuchtet, liegt hinter mir, in wesenlosem scheine.


Ein buch, an dem so lange geschrieben und gedruckt ist, wird einzelne
wiederholungen und selbst widersprüche enthalten müssen, weil der ver-
fasser zu lernen fortfährt. so würde des berichtigens und nachtragens kein
ende sein. schon die bücher, die mir nach abschluſs des manuscripts be-
kannt geworden sind, z. b. Naucks neubearbeitung der tragikerbruchstücke,
Ramsay on Phrygian art, Dümmlers Akademika, erfordern eigentlich eine
nachträgliche berücksichtigung; noch viel mehr müſste ich neu machen,
wollte ich den mahnungen und anregungen meiner freunde G. Kaibel
und F. Leo gerecht werden, die mir zu liebe die druckbogen gelesen
haben. das würde also endlos sein, und so habe ich mich auf einen
nachtrag beschränkt, der die überraschende rechtfertigung klar stellt,
welche einem verse der tragödie in seiner überlieferten gestalt durch
die neusten funde auf der athenischen burg zu teil geworden ist. schlieſs-
lich muſs ich mich, wie gewöhnlich, anklagen, die druckfehler schlecht
verbessert zu haben. verlagsbuchhandlung und druckerei bedürfen zwar
keines lobes; aber ich schulde ihnen um so mehr die öffentliche an-
erkennung, daſs sie für dieses buch alles getan haben was ich wünschte,
und daſs die mangelhafte correctheit des druckes in allem wesentlichen
meine schuld ist.



U. v. W.-M.

[[XI]]

INHALT.


  • Seite
  • 1. Das leben des Euripides.
    Beschränkung der aufgabe; vorarbeit des Philochoros 1
  • Todes- und geburtsjahr; herkunft; ehe; vermögen; proxenie von Magnesia;
    stellung zur politik und gesellschaft; auswanderung nach Makedonien 2
  • Geistige entwickelung; angebliche jugendneigungen; musikalische ausbil-
    dung; sophistische studien, verhältnis zu Sokrates Archelaos Anaxagoras
    Protagoras u. a.; sonstige studien; mangel an geographisch-geschicht-
    lichem interesse; verhältnis zu epikern lyrikern mythographen, zur volks-
    sage 18
  • Nachgelassene werke 39
  • 2. Was ist eine attische tragödie?
    Stellung der frage als einer geschichtlich bedingten; unzulänglichkeit eines
    jeden absoluten standpunktes, auch des aristotelischen 43
  • Die zuverlässige geschichtliche überlieferung ist zunächst unzureichend; die
    analogie der komödie hilft nichts; entstehung aus dem dionysischen
    cultus ist undenkbar; die gewöhnlichen fabeln sind autoschediasmen des
    Eratosthenes 49
  • Die tragödie ist zunächst eine art der chorischen lyrik, ist dithyrambos.
    entstehung der litteratur in Asien; epos, elegie, iambos, lied. durch den
    übergang nach Hellas entsteht die chorische lyrik; Alkman, Stesichoros,
    Pindaros. der attische bürgerchor und der attische dithyrambos 63
  • Τραγῳδία und τράγοι, silene und satyrn. die bockdämonen sind pelo-
    ponnesisch; bockschöre des Arion; übergang nach Athen; zutritt des
    recitators aus dem iambus; τραγῳδία dasselbe wie satyrspiel; Phrynichos 81
  • Aischylos schafft das tragische drama durch einführung des dialogs formell,
    durch den anschluſs an Homer inhaltlich. wesen und geschichte der
    heldensage 92
  • Beantwortung der gestellten frage; die mängel der aristotelischen definition;
    unberechtigte moderne urteile und forderungen 107
  • 3. Geschichte des tragikertextes.
    Die tragödie das erste buch 120
  • Erste periode der textgeschichte bis auf Aristophanes von Byzanz. schau-
    spieler; philosophen; die hellenistische zeit; Aristophanes; ausgabe des
    Pindar, der tragiker, ὑποϑέσεις, textgestaltung, verteilung in bände, er-
    klärung 127
  • Seite
  • Zweite periode, bis auf die zeit Hadrians. die alexandrinische philologie;
    die erhaltenen ὑπομνήματα zum Rhesos und Oidipus auf Kolonos; Didy-
    mos; lexica, scholien, mythographie, florilegien 153
  • Dritte periode, bis auf die erhaltenen handschriften. verfall der cultur;
    schulmäſsige erklärung; scholien zu Aristophanes, Pindar, Apollonios,
    Theokritos, Nikandros, Aratos, Lykophron, Hesiodos. byzantinische cor-
    rectoren der letzten zeit 173
  • Schulauswahl von tragödien; Sallustius zu Sophokles, Dionysios zu Euri-
    pides. der erhaltene text des Sophokles, Aischylos, Euripides. reste der
    gesammtausgabe des Euripides: folgerungen für recensio und emendatio
    in den tragödien der auswahl und der gesammtausgabe 195
  • 4. Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
    Bekanntwerden der tragiker; Musurus, Laskaris, Victorius. die französische
    philologie im 16. und 17. jahrhundert. die englische von Bentley bis
    Dobree. Brunck, Valckenaer, Cobet, Reiske, Lessing, Herder, Goethe 220
  • Gottfried Hermann und Welcker. der streit um die Eumeniden und seine
    folgen; verfall der tragikerkritik. die wahren aufgaben 235
  • 5. Der Herakles der sage.
    Hellas vor der völkerwanderung; Hellenen und Karer. die einwanderer, in
    Makedonien, Epirus, Aetolien, Messapien, Elis; Boeoter und Thessaler;
    Dorer. besetzung des Peloponneses 256
  • Herakles ein Dorer; fehlt den Eleern, Aetolern, Makedonen; seine verehrung
    bei Italioten, Italikern, Barbaren; Heraklessagen geschichtlichen inhalts 269
  • Herakles ein gott; grundbedeutung der gestalt, inhalt der ältesten sage 263
  • Umformung der sage in Argos; der name, verhältnis zu Hera und Eury-
    stheus; die thebanische geburtsgeschichte; das argolische gedicht von
    den zwölf kämpfen; dorische volkspoesie 292
  • Umformung der sage durch das ionische epos; die oetäisch-aetolischen
    sagen; Kreophylos; die selbstverbrennung; der kindermord 312
  • Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit; Hesiodos, Pindaros; Herakles
    μελαγχολῶν, φιλήδονος; bei tragikern, sophisten, kynikern; deutungs-
    versuche in alter und neuer zeit; Buttmann, O. Müller 327
  • 6. Der Herakles des Euripides.
    Aufführungszeit bestimmt aus kriterien des inhalts und der form. stoff;
    überlieferte form der geschichte und neuerungen des dichters 341
  • Aufbau des dramas; gehalt desselben 361
  • Verteilung der schauspieler 380
  • Nachwirkung, in Sophokles Trachinierinnen, in der mythographie; das
    drama würde sich inhaltlich reconstruiren lassen, auch wenn es ver-
    loren wäre 382
[[1]]

1.
DAS LEBEN DES EURIPIDES.


Wenn diese ausgabe eines euripideischen dramas als erstes capitel
der prolegomena eine biographische skizze bringt, so geschieht das im an-
schluſs an die weise der antiken philologie. wir lesen in den erhaltenen
handlschriften der dichter, wenigstens so weit sie auf gelehrte ausgaben
des altertums zurückgehen, einen lebensabriſs, der meistens γένος heiſst,
weil er mit der herkunft anhebt, auch wol weil den verfassern βίος
zu anspruchsvoll klang. denn es lag ihnen fern, von dem wesen und
wirken des dichters eine schilderung zu geben, geschweige daſs sie etwas
hätten leisten wollen, was wir biographie nennen: dazu hat sich niemand
im altertum erhoben. sie wollten dem leser nur kurz die nachrichten
über die äuſsern lebensumstände des mannes angeben, dessen werke folgten.
durch deren lecture mochte dann jeder sich den rahmen selbst füllen;
zur richtigen beurteilung erhielt er in dem γένος einige orientirende
beobachtungen und kunsturteile. diese weise, schon in alexandrinischer
zeit geübt, ist praktisch und wird deshalb von den modernen häufig und
so auch hier befolgt. eine wirkliche biographie, eine entwickelungs-
geschichte des individuums innerhalb der kreise, in die es gestellt war,
eine biographie wie Justi’s Winckelmann, können wir von keinem Hellenen
schreiben, weil dazu das material für uns fehlt: im altertum würde es z. b.
von Aristoteles und Epikuros möglich gewesen sein, weil deren correspon-
denz veröffentlicht war; von einem manne des fünften jahrhunderts würde
es auch damals niemand haben leisten können. M. Cicero ist überhaupt der
älteste sterbliche, von dem eine solche biographie geschrieben werden kann:
das beste zeugnis für die eminente persönliche bedeutung des mannes.
aber eine biographie in groſsen zügen, eine mehr erörternde als er-
zählende darlegung von eines einzelnen menschen wirken, zunächst in
seinem kreise, dann aber weiter für sein volk, für die folgezeit, für uns
und die ewigkeit, eine biographie wie Goethe’s Winckelmann, die lieſse
v. Wilamowitz I. 1
[2]Das leben des Euripides.
sich sehr wol auch von Euripides schreiben, und zwar ist er der zweite
Hellene, von dem das möglich ist. der erste ist Pindaros. doch liegt das
nur an der zufälligen erhaltung zahlreicher und datirbarer werke. von
Aischylos und Sophokles ist es lediglich deshalb nicht möglich. so hohe
ziele werden hier nicht verfolgt: auch dies ist nur ein γένος Εὐριπίδου.


Ein solches wird zunächst deshalb nötig, weil der moderne forscher
die ehrenpflicht hat, das gedächtnis der groſsen personen des altertums
von dem schmutze törichter und böswilliger erfindungen zu reinigen,
welche die antike philologie zusammenlas und weitergab, weil es ihr
zumeist an jeder historischen einsicht gebrach. für Euripides sind wir
jedoch, obwohl des schmutzes mehr als genug ist, wesentlich günstiger
gestellt. denn kein geringerer als der letzte Athener, Philochoros, hat
mit hilfe des damals noch zugänglichen urkundenmaterials und der noch
lebendigen mündlichen tradition ein leben des Euripides geschrieben,
worin eine anzahl der schon damals verbreiteten erfindungen abgetan
wurden. es genügt also oft auf Philochoros zurückzugreifen, während
andererseits angaben, die einen schlicht urkundlichen charakter tragen,
als philochoreisch und als wahr gelten dürfen. denn die historische
kritik hat wie die diplomatische weder conservativ noch destructiv zu
sein: sie hat vielmehr zu ermitteln, was wirklich überliefert ist, und dem
ist sie verpflichtet zu glauben, bis es widerlegt ist, andererseits aber un-
beglaubigter überlieferung den glauben zu versagen, so lange sie nicht
bewiesen ist.1)


Todes- und
geburtsjahr.

Aristophanes hat seine Frösche unter dem archon Kallias im gamelion
aufgeführt (januar 405). damals waren Euripides und Sophokles eben
gestorben; Sophokles später, wie ausdrücklich gesagt wird. man braucht
sich aber nur die ganze fabel des stückes, das auf ein duell zwischen
Aischylos und Euripides angelegt ist, zu überlegen und vollends die dürf-
tige und gezwungene weise, wie Sophokles in den Hades eingeführt,
für den gang der komödie aber bei seite gestellt wird, zu erwägen, um
[3]Todes- und geburtsjahr.
zu erkennen, daſs dies ein vom dichter aus not wider seinen ersten
plan eingeführtes motiv ist, mit anderen worten, daſs er den plan zu
seinem drama entworfen hat, als Sophokles noch lebte. dieser ist also,
wie auch die beste chronographische überlieferung angibt, in der ersten
hälfte des jahres des Kallias (zweite hälfte von 406) gestorben, Euripides
nicht viel früher, unter Antigenes. es scheint, daſs wir noch genaueres
wissen können. eine zwar nicht ganz verbürgte, aber in sich glaub-
würdige2) nachricht besagt, daſs Sophokles an einem proagon zu ehren
des eben verstorbenen Euripides den chor ohne kränze auftreten lieſs:
das war also am 8 elaphebolion des Antigenes, ende märz 406, und kurz
vorher war die nachricht vom tode des Euripides nach Athen gelangt,
aus Makedonien, wo er notorisch gestorben ist. an dem winter 407/6
dürfen wir somit festhalten. andererseits steht urkundlich fest, daſs
Euripides unter Diokles (408) den Orestes in Athen aufgeführt hat: sein
aufenthalt in Makedonien hat also nicht mehr als etwa 1½ jahre ge-
dauert.


Unter Kallias, 455, hat Euripides den ersten chor erhalten: das
konnte jeder aus der urkundlichen theaterchronik constatiren. damals
konnte er nicht wol jünger als 20 jahre sein, war also bei seinem tode
mindestens ein siebziger. so hat Philochoros gerechnet und müssen wir
rechnen, ohne zu vergessen, daſs er sehr wol ein par jahre älter gewesen
sein mag.3) das wirkliche geburtsjahr eines Atheners des 5. jahrhunderts
war für die späteren nicht zu ermitteln4); noch die des Sokrates Iso-
krates Platon sind lediglich durch rechnung gefunden.


1*
[4]Das leben des Euripides.

Also nahe an das epochenjahr 480, die schlacht bei Salamis, reichte
das geburtsjahr des Euripides sicher; auf Salamis lag das gut seines
vaters: da lag es nahe genug, die geburt nach der schlacht zu datiren.
das hat die treffliche alexandrinische chronographie getan, selbst Era-
tosthenes, und wir dürfen ihr zutrauen, daſs sie sich bewuſst war, mit
einem approximativen datum zu operiren. ihre absicht war, mit der
richtigkeit die bequemlichkeit zu verbinden, und in der antiken jahres-
rechnung, die jedem jahre einen individualnamen gab, war das auch
dringend nötig. so erzielte man aber auch, daſs Euripides unter einem
Kallias geboren ward, unter einem zweiten den ersten chor erhielt, unter
einem dritten starb — denn um des synchronismus mit Sophokles willen
rückte man auch seinen tod ein jahr hinab. auch die pointe hat ja
selbst auf Lessing ihre wirkung nicht verfehlt, daſs die tragische Muse
ihre drei lieblinge in einer vorbildlichen gradation auf Salamis versammelt
hätte, Aischylos zu kämpfen, Sophokles den siegesreigen zu tanzen, Euri-
pides geboren zu werden. wenn man sich hütet, das für wirklichkeit
zu halten, hat es in der tat eine symbolische wahrheit. für Aischylos
ist der freiheitskrieg die lebenserfahrung, die sein ganzes herz erfüllt.
Sophokles hat zwar nicht mitgestritten, aber er hat die siegesfreude
und begeisterung mit in das leben genommen, und der helle stral, welcher
in die jugendliche seele fiel, hat sie für alle zukunft durchleuchtet und
erwärmt. Euripides hat die güter, welche 480/79 errungen wurden, von
kindesbeinen an als etwas selbstverständlich gegebenes hingenommen.
in solcher zeit geht das leben rasch und machen ein par jahre einen
gewaltigen unterschied. das alte Athen, das bei Marathon gesiegt hatte,
gieng in dem attischen Reiche auf. die nächste generation schon, der
Euripides angehörte, hatte kein verständnis und keine pietät dafür. und
der nationale gegensatz gegen die Barbaren, der das Reich gegründet
hatte, war für diese so wenig jüngeren Athener nicht mehr vorhanden.
Euripides hat gewiſs, wenn wir auch nichts davon wissen, seiner wehr-
pflicht genügt5): aber dann hat er wider Aegineten, Boeoter, Peloponnesier
4)
[5]Todes- und geburtsjahr. herkunft.
im felde gestanden, und diesen politischen gegensatz hat er denn auch
sein leben lang bewahrt. Athen, die hauptstadt von Hellas, das attische
Reich berufen zur vormacht aller Hellenen, das ist die voraussetzung
seines politischen denkens, wie sie es sein muſste.


Es gibt noch ein anderes geburtsjahr, 484, das sogar in der zeit
des Philochoros selbst aufgestellt ist.6) aber es hat auch nur symbolische
bedeutung. 455, in dem jahre, wo Euripides zuerst auftrat, soll nach
allgemeiner vielleicht urkundlich begründeter tradition Aischylos gestorben
sein, 484 hat er den ersten sieg errungen: damit schien als viertes glied
der gleichung die geburt des Euripides gegeben. symbolisch ist auch
das wahr. Euripides folgt auf Aischylos wie der sohn auf den vater;
es steht kein dritter zwischen ihnen, aber der eine muſste vom schau-
platz abtreten, damit für den anderen raum wurde.


Euripides war der sohn des Mnesarchides oder Mnesarchos vonHerkunft.
Phlya; patronyme ableitungen wechseln häufig mit dem vollnamen und
seinen abkürzungen, so daſs keine differenz vorliegt. die mutter, Kleito,
war eine adliche.7) Mnesarchides war aus keinem adlichen aber doch aus
einem ansehnlichen hause, welches an dem dienste des Apollon in Phlya
anteil hatte. Phlya war ein dorf östlich vom Hymettos, schon in der adels-
zeit namhaft. aber der Apollon war nicht der des ionischen adels, dem die
Apaturien gelten, sondern der delische, dessen fest die Thargelien sind.
wie an diesen eine procession vom Phaleron nach Athen zog, und knaben
zweige mit allerhand guten dingen daran trugen, so ist Euripides als
knabe im festzuge von cap Zoster nach Phlya gezogen. er hat auch das
schenkenamt für eine cultgenossenschaft der ‘tänzer’ inne gehabt.8) das
[6]Das leben des Euripides.
alles zeugt dafür, daſs des vaters geschlecht ein ansehnliches war, um
so mehr als dieser für gewöhnlich nicht in der gemeinde wohnte, der
ihn die kleisthenische gemeindeordnung zugeteilt hatte, sondern auf dem
landgut, das er auf Salamis erhalten oder erworben, und das der familie
erhalten blieb, während von verbindungen des erwachsenen Euripides
mit Phlya nichts verlautet. man möchte annehmen, daſs der vater und
der sohn doch nur der dritten steuerclasse angehörten, die für kleruchien
eher in betracht kommt9); wie dem auch sei, so viel ist sicher, daſs
Euripides dem alteingesessenen guten bürgerstande angehörte, und zwar
dem von landbau nicht von industrie lebenden. diese kreise traten an
wolstand zurück, als Athen eine industriestadt ward, obwol sie immer
für etwas vornehmer galten. der fabricantensohn aus der vorstadt Sopho-
kles war pentakosiomedimne, aber altererbte culte hatte er nicht zu ver-
sehen. auf dem salaminischen hofe ist Euripides geboren und hat dort viel
gelebt. Philochoros bezeugt es, und auf seine angabe hin dürfen wir uns
den dichter in einsamer grotte mit dem blicke auf das meer arbeitend den-
ken.10) allein nicht die erhabene natur spiegelt sich in seiner poesie wieder,
8)
[7]Hausstand.
für die er vielmehr nicht viel mehr sympathie hat als Sokrates, dem nur
im menschengewühle wol war11), wol aber die einsamkeit und das suchen
der antworten auf die ewigen fragen in der tiefe der eigenen brust.


In den jahren, wo der Athener sich seinen hausstand zu gründenHausstand.
pflegte, hat auch Euripides ein weib genommen und drei söhne mit ihr
gezeugt. sie hieſs wahrscheinlich Melito12) und war die tochter des Mne-
silochos. da dessen name an Mnesarchos anklingt, ist anzunehmen, daſs
Euripides der volkssitte gemäſs ein mädchen aus seinem väterlichen ge-
schlecht, etwa eine nichte, geheiratet hat. wenn der thukydideische
spruch wahr ist, war Melito eine brave frau: denn wir wissen nicht das
mindeste von ihr; ihr vater aber stand dem dichter nahe. von den
söhnen wurde der älteste, der nach dem vater des vaters hieſs, kaufmann,
der zweite, nach dem mütterlichen groſsvater genannt, schauspieler; von
dem jüngsten, Euripides, wissen wir nur eine einzelne tat, aber diese macht
ihn uns interessanter als seine brüder. er hat bald nach des vaters tode
eine himterlassene tetralogie desselben auf die bühne gebracht, zu welcher
auſser den Bakchen auch die aulische Iphigenie gehört. nun enthält
[8]Das leben des Euripides.
diese, abgesehen von ganz späten interpolationen, z. b. dem schlusse,
nicht weniges, was der dichter Euripides unmöglich geschrieben haben
kann, z. b. die anapästische scene des prologs, was aber doch zu allen
zeiten, schon im 4. jahrhundert, darin gestanden hat. der schluſs ist
unabweisbar, daſs Euripides das drama unvollendet hinterlassen hatte,
und für die ergänzungen muſs der sohn Euripides die verantwortung
vor der nachwelt tragen, wie er sie vor dem archon getragen hat. die
verse zeugen von einigem geschick; aber es war doch verständig, daſs
der sohn das handwerk des vaters nicht fortgesetzt hat. unsere kunde
von der familie des dichters erlischt hier; sie mag aber fortbestanden
haben wenigstens bis auf Philochoros zeit und diesem das salaminische
gut gezeigt und die weitere auskunft gegeben haben. wenigstens machen
die angaben den eindruck der familientradition.


Dagegen halte man nun das zerrbild, das die conventionelle Euri-
pideslegende gibt. der vater war ein bankerottirer aus Boeotien und in
Athen höker; die mutter handelte mit grünkram und betrog ihre kunden.
die frau heiſst Choirile und beträgt sich ihrem namen gemäſs, buhlt
unter anderm mit Kephisophon, dem haussclaven des dichters, der diesem
übrigens auch beim dichten hilft wie schwiegervater Mnesilochos auch.
Choirile wird ertappt, verstoſsen, durch Melito ersetzt, die es aber nicht
besser treibt u. dgl. m.


Es ist nicht nötig den ganzen schmutz zu durchwühlen. das meiste
wird jeder halbwegs einsichtige einfach wegwerfen, und den litteratoren
ist doch nicht zu helfen, die den historischen kern tauber nüsse suchen,
zwar gewissensbedenken tragen, eine angabe zu verwerfen, weil sie
bestimmt auftritt, aber den ehrlichen namen eines mannes und die ehre
einer frau ohne weiterungen preisgeben; und dann ist die neugier nach dem
quark nun einmal unersättlich und unbelehrbar. der herkunft nach zerfallen
die schwindeleien in zwei gruppen: einmal sind es gänzlich inhaltsleere
autoschediasmen, als z. b.: weshalb heiſst Euripides Euripides und nicht
z. b. Kephisiades? beides sind gute attische namen, nur daſs natürlich
viel mehr Athener nach dem oder den flüssen Kephisos heiſsen, die das
land durchströmen, als nach dem Euripos, an den Attika kaum mit einer
ecke stöſst. vater Mnesarchos wird auch einen grund gehabt haben, seinen
jungen Euripides zu nennen, und am letzten ende wird das auch auf den
Euripos zurückführen. nur würde man die familiengeschichte kennen
müssen, um diese frage zu beantworten. und kennt man sie nicht, so
erfindet man: z. b. vater Mnesarchos nannte seinen sohn Euripides, war
aber aus dem innern Attika: also hatte er früher am Euripos gewohnt, also
[9]Hausstand.
in Boeotien. wie war er nach Phlya gekommen? etwa als bankerotter
kaufmann. daſs so erfunden ist, ist keineswegs sicher, im gegenteil, dies
ist eine construction im stile jener litteratoren. aber verwerfen müssen
wir all dieses gerede, das abenteuerlich, inhaltsleer und weder durch
einen verläſslichen autornamen, noch durch irgendwie urkundlichen cha-
rakter beachtung fordert. in diesen regionen der litteraturgeschichte
hat die regel zu gelten: was nicht in einer der angegebenen weisen ge-
stützt wird, gilt bis auf weiteres für erfunden.


Von relativem werte dagegen ist die gleichzeitige erfindung, mag sie
num vom haſs oder von der bewunderung eingegeben sein. durch sie
wird immer das licht reflectirt, das von einer bedeutenden persönlichkeit
ausgeht, wenn auch von so oder so geschliffenem spiegel. spiegel ist
für die Euripideslegende einzig die komödie, die ihn, soviel wir sehen,
seit dem anfange der peloponnesischen kriege, d. h. seit der zeit, aus
der den Alexandrinern zahlreiche dramen vorlagen, mit einstimmigkeit
verfolgt hat, während sie Sophokles ziemlich schonte. pietätvolle sage,
wie sie diesen verherrlicht, gibt es für Euripides nicht. schon das ist
bezeichnend: der eine liebenswürdig, volkstümlich, respectsperson und
doch einer, in dem jeder Athener den landsmann grüſste, der dachte
wie er. der andere ein schuhu unter den lustigen käuzlein Athenas,
allen um so unsympathischer, weil sie seine macht selbst an sich em-
pfinden, und immer stärker, je häufiger sie ihn verfolgen; als sie ihn
glücklich verscheucht haben, hat er sie alle in die kreise seiner kunst
verstrickt.


Komische erfindung ist vor allem der ganze roman von der hahnrei-
schaft des Euripides, und es läſst sich die zeit dieser komödie noch
ziemlich fixiren. es liegt auf der hand, daſs Aristophanes ganz anders
reden würde, wenn er in den Thesmophoriazusen (411) etwas von den
ehellichen erfahrungen des dichters gewuſst hätte. in den Fröschen aber
spielt er darauf an (1048). der komiker, welcher jene fabel aufbrachte
(sicher nicht Aristophanes selbst), hat auf reellen glauben natürlich keinen
anspruch gemacht: die angegriffene frau hatte, wenn sie noch lebte,
die silberne hochzeit lange hinter sich. sehr witzig war die erfindung
nicht und namentlich sticht sie übel ab von den Thesmophoriazusen,
die doch vorbildlich gewesen sind. denn herausgesponnen ist die fabel
aus der tatsache, daſs Euripides gern probleme des weiblichen liebes-
lebems behandelt und von der weiblichen treue recht häufig geringschätzig
redet. immerhin ist mehr witz darin, als wenn später feine nasen zu
erzählen wissen, der weiberhaſs wäre nur theoretisch gewesen, oder auch
[10]Das leben des Euripides.
das gegenteil, oder auch der weiberhaſs wäre durch knabenliebe motiviert
gewesen13) u. s. w.


Wie der mensch Euripides zu den frauen stand, wäre man freilich
verlangend zu erfahren. daſs er sie gehaſst hätte, ist eine kurzsichtige
abstraction daraus, daſs er geneigt ist, allgemeine urteile über das ge-
schlecht abzugeben, und daſs diese allerdings von dem cultus und von
der galanterie sehr weit abliegen, die wir aus perioden überkommen
haben, deren gesittung uns doch viel ferner liegt als die attische cultur.
Euripides mag die frauen nicht günstig beurteilt haben: aber er hat sie
studiert. für Pindar Sokrates und die meisten Sokratiker existiren sie
kaum. nicht bloſs daſs die euripideischen dramen eine fülle weiblicher
charaktere bieten, mit so feinen unterschieden der charakteristik, daſs
die männer dagegen stark abfallen: es muſs geradezu gesagt werden,
daſs Euripides das weib und die durch das verhältnis der geschlechter ent-
stehenden sittlichen conflicte für die poesie entdeckt hat, und daſs die
hellenische poesie nicht viel mehr hat tun können, als von diesem seinem
schatze zu zehren. es gibt wenig dichter, denen das weibliche geschlecht
so dankbar zu sein grund hat. aber die frauen, die ihm das verständnis
des weiblichen herzens eröffnet haben, sind für alle ewigkeit verschollen.
wer spielen will, mag annehmen, daſs die mutter, die das nächste anrecht
hat, ihm viel gewesen ist. sie hat ja auch für den sohn zu leiden gehabt,
wenn auch wol erst im grabe. wir können freilich nicht einmal die
frage beantworten, wie sie in ein renommee gekommen ist, das sich auf
unsere verhältnisse übertragen etwa so wiedergeben läſst, Kleito hätte
als beruf das pilzesammeln gehabt und ihren kunden haferpilze statt
champignons aufgeschwatzt. den wilden kerbel (σκάνδιξ, ne legitima quidem
holera
Plin. n. h. 22, 18) der mutter gibt Aristophanes dem Euripides
schon 425 zu hören (Acharn. 478), und zwar als etwas offenbar dem
publicum bekanntes. Kleito war damals lange tot. es wäre leicht sich
einen anlaſs auszudenken, wenn man den breiten weg der litteratur-
[11]Lebensführung.
geschichtler wandeln wollte. so muſs man sich bescheiden. schlieſslich
würde unsere minder aristokratische anschauung die gemüsehändlerin
weder selbst als bescholten noch als einen schimpf für den sohn ansehen.
die liebevolle weise, mit der der sohn sehr häufig die gefühle der mutter
zu den kindern und die pietät gerade des erwachsenen sohnes zur mutter
geschildert und besprochen hat, legt es nahe, von Kleito nicht gering
zu denken.


Seine vermögensverhältnisse haben dem Euripides von jugend aufLebens-
führung.

gesttattet ganz den Musen zu leben. im 4. jahrh. war die dramatische
poesie dazu angetan, ihren dichter reich zu machen 14); damals wurden
die dramen aber auch aller orten gegeben. der attische staat zahlte
sehr ansehnliche preise 15); aber sie waren sehr stark abgestuft, und
Euripides hat im leben nur viermal den ersten erhalten. somit hat er
von den gaben der Musen nicht leben können, und jedenfalls haben
sich seine söhne eine lebensstellung selbst erwerben müssen. er hat als
ein echter gelehrter nur einen schatz hinterlassen, den die motten fressen,
seime bibliothek. freilich ist in anschlag zu bringen, daſs sein greisen-
alter mit dem unheil zusammenfällt, das nicht nur den staat Athen,
sondern jeden einzelnen bürger arm machte. liturgien hatte jeder
bürger zu leisten, der nur einigen besitz hatte, mochte er auch so fern
dem staatsleben sich halten, wie Platon Isokrates Euripides, von denen
allem es feststeht. und zwar hat Euripides als bejahrter mann sogar vor
gericht gestanden und seine sache geführt, als ihm ein gewisser Hygiainon
eine liturgie zuschob (ἀντέδωκεν 16)). auch muſs man sich die weltflucht
bei einem sohne der sophistenzeit nicht zu arg denken: wer so das
menschliche getriebe zu schildern weiſs, hat es selbst gesehen, wer das
menschenherz so kennt, menschen beobachtet. offenbar durch die zufällige
beachtung eines beschriebenen steines hat irgend ein gelehrter des alter-
tums entdeckt, daſs Euripides von Magnesia mit atelie und proxenie
bedacht worden ist. welche der beiden Magnesia, die beide nicht zum
attischen, sondern zum persischen reiche gehörten, gemeint ist, läſst
[12]Das leben des Euripides.
sich nicht sagen, und der schluſs des γένος, daſs die ehre einen per-
sönlichen besuch Magnesias voraussetzte, zeigt nur, daſs wir epigraphische
documente richtiger zu verwerten gelernt haben 17). allein eine inhalt-
lose ehre ist die proxenie damals noch nicht, sondern sie schlieſst, wenn
man auch zugeben mag, daſs die Magneten nur den dichter ehren
wollten, verpflichtungen ein, die praktisch wenigstens werden konnten.
daſs die späteren sich Euripides durchaus nur als einen menschenscheuen
und menschenfeindlichen griesgram denken konnten, liegt im wesent-
lichen daran, daſs sie die charakteristik des tragikers Alexandros von
Pleuron als maſsgebend ansahen
ὁ δ̕ Ἀναξαγόρου τρόφιμος χαιοῦ στρυφνὸς μὲν ἔμοιγε προσειπεῖν
καὶ μισόγελως καὶ τωϑάζειν οὐδὲ παρ̕ οἴνῳ μεμαϑηκώς.
ἀλλ̕ ὅ τι γράψαι τοῡτ̕ ἂν μέλιτος καὶ Σειρήνων ἐτετεύχει
18)
[13]Lebensführung.
darüber haben sie ganz vergessen, daſs der dichter sowol für sein vater-
land in officiellem auftrag tätig gewesen ist, wie auch in verbindung
zu dem staatsmanne gestanden hat, der für sein vaterland verhängnis-
voll geworden ist. uns ist das durch die geschichtsschreiber überliefert
worden.


In der perikleischen zeit, wo Sophokles in den höchsten staatsämtern
tätig ist, verlautet von Euripides nichts, und seine ältesten dramen zeigen
keine starken einwirkungen der zeitgeschichte; was vorkommt, sind nur
äuſserungen der allgemeinen stimmung 19). aber längst hat man bemerkt,
daſs er gegen ende des archidamischen krieges geradezu tendenzstücke
dichtet. davon sind die Hiketiden erhalten, in welchen der rat, frieden mit
Sparta, aber anschluſs an Argos zu suchen, kaum minder hervorsticht als die
forderung, daſs Athen einen νεανίας στρατηγὸς ἐσϑλός erhalte, wie The-
seus es ist (192). damals bewarb sich Alkibiades um diese stellung und nahm
bald die führung des staates mit der entschiedenen tendenz in die hand,
durch den bund mit Argos Sparta im Peloponnes selbst matt zu setzen. den
höhepunkt persönlichen glanzes erreichte derselbe, als er an der feier der
neunzigsten olympiade, von der Sparta ausgeschlossen war, mit einer
ganzen reihe viergespanne auftrat und preise davontrug. und zu dieser
siegesfeier hat Euripides ihm das siegeslied gedichtet, das letzte nach-
weisbare beispiel dieser pindarischen weise. damit hatte er partei ge-
nommen im angesichte aller Hellenen. der groſsartige Athenerstolz, der
in den dichtungen jener jahre lebt, und der auch ein stolz auf die
demokratische verfassung ist, zeigt, wie zukunftsfreudig seine stimmung
war. ohne zweifel hat er in Alkibiades einen gröſseren Perikles gehofft.
aber was er gleichzeitig ersehnte, war der friede, und ausdrücklich ist
uns überliefert, daſs ein friedenslied aus dem Erechtheus in aller munde
[14]Das leben des Euripides.
war, wie er schon im Kresphontes eins gedichtet hatte, das selbst des
Aristophanes beifall fand. der friede aber lag nicht in Alkibiades sinne:
nacht muſs es sein, wo die sterne des tyrannen stralen. und so sehen
wir den staatsmann die sicilische expedition vorbereiten, während der
dichter seine troische tetralogie damit schlieſst, daſs die stolzeste flotte
hineinfährt in das sichere verderben. diesmal war er ein prophet gewesen.
geglaubt hatte man ihm so wenig wie dem groſsen mathematiker Meton;
aber man erinnerte sich seiner nach der entsetzlichen erfüllung. es ist
bezeichnend, daſs 412 die Athener den greisen Sophokles in das neu-
gestiftete zehnmännercolleg von probulen wählten: der sollte den peri-
kleischen geist zurückrufen; aber er war schwach geworden und gab
den oligarchen, obwol er aufrichtiger demokrat war, das heft in die hände.
Euripides aber erhielt den auftrag, das epigramm für das riesengrab zu
machen, das auf dem staatsfriedhof für das gedächtnis der tausende er-
richtet ward, die im fernen westen für das vaterland gestorben waren 20).
zu handeln traute man ihm nicht zu, wol aber aus der seele seines
volkes zu reden. aber es waren nur einzelne momente noch, wo alles,
was Athen noch besaſs, im gemeinsamen vaterlandsgefühle sich zusam-
menfand. das entsetzliche, das über allen häuptern schwebte, und die
widerstreitenden gefühle, die es erregte, scham und stolz, heroismus und
verzweiflung gewannen allzurasch wieder die oberhand in den seelen
des nur allzu vollblütigen Athenervolkes. es ist als überkäme sie alle
ein bakchischer taumel, daſs sie wider einander, wider alles was groſs
im vaterlande ist, wider sich selbst wüten, und schlieſslich daran zu
grunde gehen. auch die euripideischen dramen dieser zeit sind wie im
fieber geschrieben. zwar die zeitereignisse selbst berührt er höchstens
im vorübergehen, wenn ihn schmerz oder zorn einmal übermannt. und
das erkennt man wol, daſs ihn ein tiefer abscheu gegen die radicale
demokratie erfüllt 21), was ihm dann den vorwurf oligarchischer gesinnung
eingetragen hat, den Aristophanes, obwol er ihn mehr verdiente, weiter-
[15]Lebensführung.
zugeben nicht unterläſst 22). aber das gebiet, auf welchem der dichter
die von auſsen an ihn dringenden erschütterungen mit sich und vor dem
publicum durchkämpft, ist das poetische. auch er läſst, wie sein volk,
nichts unversucht und rüttelt an den gesetzen seiner kunst wie an ketten.
jetzt erst wird er der Euripides, den wir im bilde schauen und der als
typus im gedächtnis der Hellenen fortlebte, bitter und menschenverachtend,
jede leidenschaft aufwühlend, ohne je zur befriedigung zu kommen, und
daneben in kalter dialektik den schönen schein zersetzend, unter dem sich
die nichtigkeit alles irdischen verbirgt. die zeitgenossen empfanden es,
daſs er sie verachtete und doch als geborner lehrer des volkes beherrschte
und beherrschen wollte. die meute der komiker stürzte sich wider ihn,
und diesen, nicht ihm fielen die siegerkränze zu. er gab auch ihnen mit
bittrem worte die antwort 23), er trug in der Antiope mit seiner ganzen
kraft, der dialektischen wie der pathetischen, das eigenlob des ϑεωρη-
τικὸς βίος vor: aber dann gab er das spiel selbst verloren, gab auch
das vaterland verloren und wanderte aus.


Die götter waren immer freundlich gewesen gegen Sophokles. schön-
heit und heiterkeit, genuſsfähigkeit und liebenswürdigkeit hatten sie ihm
verliehen. ein langes leben hindurch hatte ihn die volle βίου εὔροια
getragen. auch das war eine gnade, daſs er nun steinalt war, wenn
auch jugendkräftig bei der arbeit, aber lebend mehr in dem reiche seiner
ideale als in der traurigen gegenwart, mit sich selbst und seinem volke
in harmonie. nun schenkten die götter dem schönen leben gnädig den
schönen schluſs: er durfte noch im freien Athen sterben und die feind-
lichen vorposten öffneten sich ehrfurchtsvoll dem leichenzuge, der den
letzten tänzer des salaminischen siegesfestes an die seite seiner väter
trug. fern in Gela ruhte Aischylos, fern an der makedonischen Arethusa
war Euripides jüngst gebettet. die beiden waren kurz vor ihrem tode
[16]Das leben des Euripides.
in die ferne gezogen, aber Aischylos in der höchsten schaffenskraft,
nachdem er noch eben sein gröſstes werk unter dem vollen beifalle seines
volkes gekrönt gesehen hatte, und dieses volk strebte dem höchsten
hoffnungsvoll und kraftvoll zu 24). Euripides hatte die schwelle der sieb-
ziger überschritten, er war ein leben im engsten kreise und in der unab-
hängigkeit aber auch der beschränkung des gelehrten gewohnt: jetzt
siedelte er an einen halbbarbarischen hof voll soldatischen getöses, in
ein fremdes land über, und er schied auf nimmerwiedersehn von der
vaterstadt, deren politischer sturz sicher zu erwarten stand, deren ver-
tilgung gar nicht unwahrscheinlich war. es war ein schritt der ver-
zweiflung.


Am hofe des königs Archelaos fand er freilich eine stattliche reihe
geistiger celebritäten; selbst dem Thukydides wird er hier begegnet sein 25),
und vor allem mochte ihm der verkehr mit Agathon wol tun, der auch
tragiker war und rückhaltlos die consequenzen der euripideischen tragödie
und der neuen gorgianischen stilistik zu ziehen versuchte 26). rasch entledigte
[17]Lebensführung.
er sich auch des auftrags, für den könig ein makedonisches drama zu
schreiben und ihm einen ahn zu schaffen, der dem bankert des Perdikkas
ein heroisches relief gäbe; er fühlte sich zu neuen geistvollen und sicht-
lich mit frischer liebe durchgeführten schöpfungen angeregt, er glaubte
endlich den hafen gefunden zu haben. aber er erhielt doch auch proben
von der rohheit der gesellschaft, in die er versetzt war 27). wir wollen nicht
vergessen, daſs der vers βαρβάρων Ἕλληνας ἄρχειν εἰκός (I. A. 1400)
in Makedonien gedichtet ist, und es ist pikant, daſs Thrasymachos
dieselbe spitze gegen Archelaos wendet 28). dieser edle attische baum war
zu alt zum verpflanzen in noch so fettes barbarisches erdreich. nach
1 ½ jahren starb er, gefeiert von dem könige, und sein grab ist bis in
späteste zeit eine merkwürdigkeit der gegend geblieben.


Von seiner todesart hat Aristophanes ein jahr später nichts merk-
würdiges gewuſst, und dabei haben wir uns selbstverständlich zu beruhigen.
aber sehr früh schon ist die fabel entstanden, daſs hunde ihn zerrissen
hätten, und sie hat im altertum die oberhand behalten: denn selbst ein
kategorischer widerspruch 29) ist geschichtlich um nichts begründeter als
die behauptung. an sich könnte dem dichter ein unfall so gut wie
jedem sterblichen sonst zugestoſsen sein, und einem nächtlichen wan-
derer kann ähnliches in Makedonien auch heute noch passiren. es ist
auch eine tendenz, welche zu der fabel geführt hätte, nicht ersichtlich,
vielmehr zeigen die mannigfaltigen widersprechenden und sich also auf-
hebenden motivirungen, wie Euripides unter die hunde oder die hunde
über Euripides gekommen wären, daſs man die pointe derselben schon
im altertum vermiſste, und bei solchen geschichten ist es eine empfehlung,
v. Wilamowitz I. 2
[18]Das leben des Euripides.
wenn sie keine pointe haben. aber das schweigen des Aristophanes gibt
den ausschlag: wir müssen urteilen, der tod durch die hunde hätte zwar
passiren können, aber er ist nicht passirt.


Geistige ent-
wickelung

Dies der äuſsere lebensgang; aber bei dem geistig wirkenden sind
die inneren erlebnisse unendlich wichtiger, und vielleicht ist überhaupt
an dem einzelnen menschen das merkwürdigste nicht, wie er als vollen-
deter erscheint, sondern wie er ward; wie denn selbstbiographien, selbst
wenn sie schlecht sind, soweit interessiren, als sie entwickelungsgeschichte
darstellen. die entwickelung ist für den animalischen menschen fertig,
wenn der körper vollausgereift ist, und bei dem durchschnitt ist dann
auch die geistige entwickelung auf ihrem höhepunkt. die bedeutung des
menschen aber bemiſst sich danach, wie spät er klug wird, und es ist
ein zeichen der geistigen kraft unseres deutschesten stammes, daſs er
wie die Hellenen dazu 40 jahre brauchen soll. in wahrheit bringen wol
nur die allerhöchststehenden sterblichen die entwickelungsperiode zu
solcher dauer. bei Goethe und bei Platon macht allerdings das vierzigste
jahr epoche: da erst sind sie fertig. aber es ist schon viel, wenn wie
bei Dante nel mezzo del cammin di nostra vita der tag kommt, wo alles
was uns zu schaffen auferlegt ist, δυνάμει getan ist, so daſs das weitere
leben nur noch mit dem umsetzen in die energie zu tun hat. es lieſse
sich darüber viel sagen 30); das γηράσκω αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος hat
seine wahrheit, aber der andere spruch auch, daſs der mensch nur lernt
was er lernen kann: und der fertige mensch kann nun einmal nur äuſser-
liches umlernen, er hat vielmehr auszugeben was er in sich trägt, viel-
leicht nur als keim, sich selbst kaum bewuſst, aber wenn er es nachher
von sich gibt und es anderen neu erscheint, so ist es ihm doch ein lang-
bekanntes, und wenn die nachwelt ein leben so genau übersehen kann
wie wir es mit dem Goethes tun, so kann sie auch beweisen, daſs dem
so ist, und daſs die Wanderjahre schon concipirt waren, ehe die Lehrjahre
erschienen. wie jämmerlich steht es da nun mit dem was wir von den
antiken menschen wissen können! Platons entwickelung zu übersehen
würde einen ähnlichen reichtum von psychologischer belehrung bieten
wie die Goethes. jetzt sehen wir die widersprüche, die in einer solchen
[19]Geistige entwickelung.
natur während der gährenden jugendzeit vorhanden sein müssen, in den
systemen seiner chronologen widergespiegelt. man weiſs es wol, daſs nur
seine persönlichste entwickelung die reihenfolge der jugendwerke be-
stimmt hat: jetzt fehlen die äuſseren daten und in das innere kann niemand
dringen. die meisten groſsen denker der älteren zeit treten uns nur als
die hinter ihrem einen werke verschwindenden verfasser entgegen, als
ausgereift, auch wenn sie, wie Anaxagoras, die herausgabe des buches
lange überleben. von Sophokles erscheint uns die Antigone fast als
jugendwerk, weil er alle andern erhaltenen dramen als greis verfaſst
hat, und doch war er in den funfzigern als er jene schrieb. und auch
von Euripides haben wir nur werke aus reifer zeit: der Phaethon wird
wol das älteste kenntliche sein, aber auch das ist nur erschlossen, weil
es so stark von den erhaltenen absticht 31). wir können uns ein eigenes
urteil über die entwickelungsjahre dieses dichters auch nicht bilden.


Aber einige nachrichten treten ein. da ist vorab eine fabel zu ent-
fernen. er soll in gymnastischen kampfspielen gesiegt haben, weil ihn
sein vater zum athleten ausbilden wollte, auf grund eines orakels, das
ihm siege in agonen verhieſs. die geschichte, gebaut auf den doppelsinn
der ἀγῶνες, ist eine wandergeschichte, bestimmt, göttliche vorsehung
und menschliche kurzsichtigkeit zu illustriren. Herodot (9, 33) hat sie
sich von einem seher als selbsterlebt erzählen lassen, der auch kampf-
spiele verstand, wo der gott kämpfe gemeint hatte. als sie auf den
unterschied der musischen und gymnischen wettspiele übertragen ward,
griff man einfach den berühmtesten scenischen dichter auf und knüpfte
sie an seinen namen. denn damit würde man dem erfinder zu viel ehre
antun, wenn man meinen wollte, er habe die notorische verachtung der
gymnastik, welche Euripides zeigt, aber, wie auch im altertum bemerkt ist,
im anschluſs an Xenophanes ausspricht, aus bösen jugenderfahrungen ab-
leiten wollen. übrigens ist die geschichte nicht vor dem zweiten jahrhundert
erfunden, da sie die der alten zeit fremden Theseen erwähnt 32). mindestens
nicht aus den fingern gesogen, sondern durch ein document belegt und
also von einem achtungswerten forscher, wahrscheinlich Philochoros 33)
2*
[20]Das leben des Euripides.
aufgebracht ist dagegen die merkwürdige angabe, daſs Euripides in der
jugend maler gewesen wäre und in Megara eine von ihm bemalte ton-
tafel gezeigt würde. solche πίνακες haben wir jetzt selbst genug, um
uns eine vorstellung machen zu können; auch künstlerinschriften tragen
sie zuweilen. aber so sicher man annehmen wird, daſs in irgend einem
heiligtum Megaras ein solches werk euripideischer zeit vorhanden war
mit der künstlerinschrift Εἰριπίδης Ἀϑηναῖος ἔγραψε, so unwahr-
scheinlich ist es, daſs der vatersname dabei stand, und dann ist die autor-
schaft des späteren tragikers sehr unsicher. im allgemeinen jedoch muſs
zugestanden werden, daſs der gewaltige aufschwung, den die malerei in
Athen während der jugendjahre des Euripides nahm, einen künstlerisch
begabten knaben sehr wol reizen konnte. wenn er ihn denn beschritten
hat, so hat dieser irrweg, von dem er bald zurückkam, kenntliche spuren
in der poesie des Euripides nicht hinterlassen.


Gelernt muſste auch die poesie werden. noch war sie zu ihrem
glücke so schwer, daſs ein dilettant, der nichts als die allgemeine schul-
bildung hatte, die finger davon lassen muſste, und ein zweites glück war
es, daſs es noch keine handbücher gab 34). der jugendunterricht gipfelte
allerdings darin, daſs er den schatz der classischen poesie den knaben
fest und unverlierbar für das leben einprägte; dabei lernten sie die ihnen
ausnahmslos fremden mundarten der poesie und lernten die weisen der
groſsen dichter singen und sagen. das befähigte sie dann als erwachsene
die tragödien und die dithyramben zu verstehen, und das war nicht
wenig. sie mochten wol auch einmal vor liebchens tür oder beim rund-
gesang einen vers eigner fabrik auf die alte weise versuchen, auch für
[21]Geistige entwickelung.
ein weihgeschenk oder einen grabstein ein distichon zu stande bringen: das
war noch kein dichten. wir sehen sogar einzelne Athener, die eine volle
bildung haben wollen, noch weiteren musikalischen unterricht als beim
kitharisten nehmen. den lehrer des Perikles hat Aristoteles verzeichnet;
dieser hat sein mündel Alkibiades auch von einem virtuosen im flöten-
spiel unterrichten lassen, und Sokrates hat in der muſse des gefängnisses
ein προσόδιον an Apollon verfassen können, weil er bei Konnos noch
als alter mann die mängel seiner jugendbildung zu ersetzen versucht hatte.
daſs die sophistik auch musik und metrik in ihre kreise zog, ist selbst-
verständlich und wird durch die erfahrungen des Strepsiades illustrirt 35).
wie viel mehr bedurfte der angehende dichter eines meisters, der ihm
die kunstgriffe und fertigkeiten des handwerks übermittelte. Pindars
lehrer kennen wir. Sophokles soll die musik bei Lampros, die tragödie
bei Aischylos gelernt haben. über Euripides hören wir nichts. daſs Aischy-
los, der sogar die tänze den choreuten selbst beibrachte und das dichter-
handwerk seinem sohne und mehreren anderen verwandten hinterlieſs,
auch andere unterwiesen hat, ist glaublich. aber Sophokles hat jedenfalls
nichts bei ihm gelernt. weit eher könnte man es von Euripides glauben,
wo die zeit es verbietet. denn Sophokles vertritt im gegensatze zu seinen
beiden rivalen eine andere kunstrichtung, und gerade im technischen liegt
der gegensatz. offenbar ist Sophokles dem ionischen einfluſs hingegeben;
seine rede strotzt von ionismen und versteigt sich nicht selten zu einer
künstlichkeit der metaphern, die an Ion von Chios erinnert, und das
greift selbst auf das prosodische über: nur Sophokles hat (wenigstens im
dialog 36) das ionische ἡμίν. sein versbau folgt andern prinzipien 37), sodaſs
er sich nicht scheut am versende zu elidiren, was nur Achaios von
Eretria sonst tut, und sehr lax in der verkürzung eines schlieſsenden
langen vocals vor vocalischem anlaut ist, eine freiheit, die aus dem epos
[22]Das leben des Euripides.
stammt 38). gewiſs würden wir noch mehr bemerken, wenn nicht Sophokles
als greis sehr stark unter dem einflusse des Euripides stünde; auf das
umgekehrte verhältnis deutet nichts 39).


Daſs Euripides für das musikalisch metrische sehr viel gröſsere
neigung und erfindsamkeit besaſs als Sophokles, zeigen die werke. aber
auch die alten haben schon hervorgehoben, daſs er mannigfache neue an-
regungen in sich aufnahm und nichts unversucht lieſs. insbesondere hat er
sich seit 420 etwa der neuen musik rückhaltlos angeschlossen, welche die
dithyrambiker unter heftiger opposition der komödie aufbrachten. uns ist
eine vergleichung versagt, und die klagen über Phrynis lehren, daſs die
bewegung selbst schon mehrere jahrzehnte früher begonnen hat, als
wir ihre spuren sicher nachweisen können. der niederschlag dieser
verhältnisse in der legende ist die persönliche verbindung des Euripides
mit Timotheos. von selbst werden wir glauben, daſs der greise tragiker
anregungen auch nach musikalischer seite gegeben hat, wie sein stili-
stischer einfluſs nicht bloſs bei tragikern der rhetorischen richtung zu tage
liegt, sondern selbst bei dem Sophokles copirenden verfasser des Rhesos.


φιλοσοφία.

Aber die lehre, welche er bei seinen zunftgenossen fand, war für
die bildung des Euripides keineswegs die wichtigste. er hat die neue
weisheitslehre, welche in Athen von den zusammenströmenden gelehrten
Ioniens teils verkündet teils fortgebildet ward, mit vollen zügen in sich
aufgenommen, und schon den zeitgenossen war das für ihn am meisten
bezeichnend, daſs er auch auf der bühne sophist war: σοφός heiſst er
in spott und in bewunderung. unsere berichterstatter wissen so ziemlich
alle namhaften sophisten, die es der zeit nach gewesen sein könnten,
als lehrer des Euripides zu nennen. daſs sie über eine wirkliche über-
lieferung verfügten, ist kaum glaublich, denn zeitgenössische berichte,
wie sie die memoiren des Chiers Ion für die beiden andern tragiker
boten, hat es unseres wissens für Euripides nicht gegeben. wol aber
haben sie nachweislich mit recht aus den werken des Euripides die ein-
wirkung bestimmter personen erschlossen, und nur das ist zweifelhaft
[23]φιλοσοφία.
und muſs es bleiben, in wie weit diese einwirkung auch wirklich eine
persönliche gewesen ist. denn der leibliche verkehr ist für die einwirkung,
die ein denkender mensch durch fremde gedanken erfährt, häufig selbst
da unwesentlich, wo er statt hat, und erschlieſsen läſst er sich aus
den werken des beeinfluſsten nur da, wo entweder persönliches berührt
wird, oder aber wo es sich um einen menschen handelt, der vornehm-
lich durch die dämonische gewalt seiner person gewirkt hat. dies letztere
trifft so stark wie auf kaum einen zweiten sterblichen auf Sokrates zu.
aber eben darum würden wir deutliche spuren seines geistes bei Euri-
pides antreffen, wenn der immer noch von der gedankenlosigkeit be-
hauptete verkehr der beiden grundverschiedenen groſsen Athener statt-
gefunden hätte. allerdings hat der gleiche haſs, den sie gegen die beiden
verführer der jugend empfanden, einzelne komiker (doch nicht Aristo-
phanes 40) dazu veranlaſst, Sokrates an den unsittlichen dramen mithelfen
zu lassen, und wie hätte sich die spätere klatschsucht es entgehen lassen
sollen, diesen faden weiter zu spinnen 41). indessen hat einer der wenigen
kritischen köpfe der griechischen gelehrsamkeit, Panaitios von Rhodos,
bereits dieser fabel mit der nötigen entschiedenheit widersprochen, wenn
auch nicht ohne selbst bedenkliche hypothesen zuzulassen 42).


Sokrates war etwa 10 jahre jünger als Euripides und begann eine
rolle nicht vor 430 zu spielen, als Euripides längst ein innerlich fertiger
mann war. und wenn sie sich dann etwa bei Alkibiades begegnet sein
sollten, so haben sie sich abstoſsen müssen. der menschenjäger liegt
[24]Das leben des Euripides.
den lieben langen tag im gymnasium, Euripides grübelt in stiller grote;
jenes stolz ist das nichtwissen, dieser steht wie alle sophisten auf seiten
der bildung und verachtet die ἀμαϑία; der philosoph traut auf die kraft
des menschlichen willens, der das rechte tun wird, wenn er es nur
erkennt: der tragiker sieht das grundübel in der schwäche des fleisches,
welche die verwirklichung der guten vorsätze verhindert. flach und
modern zu reden, jener ist optimist, dieser pessimist. zwischen ihren
ist keine vermittelung. daſs aber beide groſse Athener das menschenherz
kennen und kündigen, und daſs sie ihren blick mit vorliebe auf sitt-
liche probleme richten, besagt nichts anderes, als daſs sie beide auf der
höhe derselben geistigen entwickelung stehn und deshalb beide die folge-
zeit beherrscht haben. höchstens mag man annehmen, daſs der Milesier
Archelaos auf beide ähnlich gewirkt hat, denn er wird beider lehrer ge-
nannt und gilt als erster philosoph über ethik; aber wir wissen nichts
von ihm, und nach Theophrast ist sein werk verschollen gewesen 43).
wenn wir endlich bei den Sokratikern, oder vielmehr bei Platon, über
den Eros gedanken finden, welche an Euripides seltsam anklingen, so
ist es einleuchtend, daſs Platon eben von diesem anregungen erhalten
hat 44), die sich mit den sokratischen nur in dem gegensatz gegen die
grobe sinnlichkeit decken.


[25]φιλοσοφία.

Dagegen läſst sich die für uns zufällig zuerst durch Alexandros von
Pleuron ausgesprochene tradition nicht wol abweisen, daſs Euripides zu
Anaxagoras in persönlichem verkehr gestanden hat, und dieser hat in
der tat sehr stark auf ihn gewirkt. der verkehr kann schon in Euri-
pides jünglingszeit begonnen und fast ein menschenalter gedauert haben,
denn Anaxagoras lebte in Athen friedlich und still seinen studien. daſs
Euripides lehrsätze desselben berührt oder auch geradezu citirt, zeugt
nur von seinem studium des in weiten kreisen gelesenen buches, auch
war Anaxagoras lange tot, als Euripides die berufensten stellen in der
Melanippe (488) und im Chrysippos (836) schrieb. aber 438 läſst er den
chor der Alkestis (903) von einem manne seiner verwandtschaft erzählen,
der als greis den tod seines einzigen sohnes gefaſst ertragen hätte.
damals war Anaxagoras ein greis, von ihm erzählt die legende das
ᾔδειν ὅτι ϑνητὸν ἐγέννησα, wie freilich von manchem andern: wir
dürfen also, wie neuerdings vielfach geschehen ist, die legende als ge-
schichte und Euripides als ihren zeugen betrachten. auch das hat man
mit recht bemerkt, daſs Euripides dem wegen gotteslästerung nicht sowol
als wegen μηδισμός vertriebenen lehrer ein ehrendenkmal gestiftet hat
in den versen (902) ὄλβιος ὅστις τῆς ἱστορίας ἔσχε μάϑησιν, μήτε
πολιτῶν ἐπὶ πημοσύνας μήτ̕ εἰς ἀδίκους πράξεις ὁρμῶν, ἀλλ̕
ἀϑανάτου καϑορῶν φύσεως κόσμον ἀγήρω πῇ τε συνέστη χὤϑεν
44)
[26]Das leben des Euripides.
χὥπως· 45) τοῖς δὲ τοιούτοις οὐδέποτ̕ αἰσχρῶν ἔργων μελέδημα
προσίζει, verse, in denen die apologetische absicht zu tage liegt. daſs
sie auf Anaxagoras gehen, bestätigt sich dadurch, daſs dieser der typus
des ϑεωρητικὸς βίος in älterer zeit ist. Eudemos (ethik I 5) läſst
ihn auf die frage τίνος ἕνεκ̕ ἄν τις ἕλοιτο γενέσϑαι μᾶλλον ἢ
μὴ γενέσϑαι antworten τοῦ ϑεωρῆσαι τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν περὶ
τὸν ὅλον κόσμον τάξ03B9;ν, was eine seichte paraphrase für τοῦ ϑεωρῆ-
σαι τὸν κόσμον τοῦ παντός ist, weil der peripatetiker in κόσμος
nicht mehr die τάξις hört. derselbe erklärt kurz vorher ein auch von
Aristoteles (Eth. Nik. X 9) angeführtes wort des Anaxagoras, ἴσως ᾤετο
τὸν ζῶντα ἀλύπως καὶ καϑαρῶς πρὸς τὸ δίκαιον ἤ τινος ϑεωρίας
κοινωνοῦντα ϑείας, τοῦτον, ὡς ἄνϑρωπον εἰπεῖν, μακάριον εἶναι. das
entspricht ganz den euripideischen versen, und die persönliche sympathie
wird man in ihnen um so mehr anerkennen, als der dichter selbst nicht
die ruhe hatte, auf den himmel statt auf die menschen zu sehen, freilich
auch die friedlosigkeit im eignen busen durch den gegensatz doppelt
fühlte, und als Athener nicht vergessen konnte, daſs er auf erden eine
heilige heimat hatte. als philosoph ist Euripides keineswegs ein anhänger
des Anaxagoras, sondern gibt mit derselben zustimmung auch wider-
sprechende lehren anderer wieder. das princip der homoeomerie kommt
nicht vor, und der νοῦς steht nach ihm neben dem σῶμα in durchaus
dualistischem sinne.


Ähnlich wie zu Anaxagoras steht Euripides zu Protagoras. auch
ihn hat er nach seinem tode persönlich berücksichtigt, doch wissen wir
nicht, ob verteidigt. auch seine tätigkeit fällt zum teil (bevor er nach
Thurioi gieng) in Euripides bildsame jahre. auch hier erzählen die alten
von persönlicher berührung 46), und sie scheint unabweisbar, weil die
beeinflussung eine sehr starke ist und nicht die lehre angeht sondern
[27]φιλοσοφία.
die methode. den subjectivismus des Protagoras hat Euripides zwar ge-
legemtlich berücksichtigt (Aiolos 19), aber nicht geteilt, und πάντων
χρημάτων μέτρον ἄνϑρωπος nicht in verse gebracht. wol aber hat er
die kunst des ἀντιλέγειν so sehr ausgebildet wie nicht einmal ein
rhetor, und seine ganze technik ist davon durchdrungen. der leser hat
immer damit zu rechnen, daſs in jedem einzelnen spruche nur einer der
beiden λόγοι zu worte kommt, die es von jeder sache gibt; was der
dichter wirklich meint, kann aus einer äuſserung nicht abstrahirt werden.


Zu Prodikos sind berührungen nicht nachweisbar: denn die ety-
mologischen spiele, an denen Euripides seine freude hat 47), und die er
wenigstens in seinen letzten 20 jahren mit gröſserem ernste vorträgt als
die andern dichter, weisen vielmehr auf die ὀρϑοέπεια des Protagoras
und auf Heraklit zurück. die synonymik des Prodikos, die Platon im
Protagoras persifflirt und Thukydides ernsthaft anwendet, kommt wol
nirgends vor. Gorgias trat erst 427 in Athen auf; seine schüler sind
Thukydides und Antiphon geworden, Euripides war dazu zu alt. seine
speciell rhetorische technik weist vielmehr auf Thrasymachos 48). indessen
ist am der sophistik ja nicht der einzelne name von bedeutung. was
sie im ganzen leistet, die verarbeitung und vermittelung der philoso-
phischen und überhaupt wissenschaftlichen gedanken, welche die einzelnen
groſsen denker in der einsamkeit gefunden hatten, und die dialektisch
rhetorische schulung, welche dem redner wie dem schriftsteller erst die
zunge löste, ist nicht an einen einzelnen gebunden. die hippokratische
sammlung und die dorischen διαλέξεις lehren das am besten. und so
ist Euripides einfach als sophist zu fassen, und nicht nach den etwaigen
vermittlern sondern nach den urhebern der gedanken zu fragen, welche
er vorträgt. so mag ihm die kenntnis des Herakleitos durch bekenner
von dessen lehre zuerst vermittelt sein, die in Athen nicht fehlten: daſs
er sein buch selbst gelesen hat, ist ganz unzweifelhaft 49). ebenso hat
er Xenophanes gekannt 50), allein bezeichnender weise bezieht er sich
nur auf dessen polemik gegen die vorstellungen und wertschätzungen
der menge: die lehre vom ewigen sein und der monotheismus wird nicht
berührt, und von einer benutzung des Parmenides oder der sophistischen
[28]Das leben des Euripides.
verbreiter der eleatischen lehre, Zenon und Melissos, ist keine spur. die
zeitgenössischen philosophen kennt er wenig. auf Empedokles deutet
nichts. Diogenes von Apollonia wird nur einmal so berücksichtigt, daſs
das schlagwort seines systemes in einer aufzählung von δόξαι erscheint 51).
Leukippos ist, wie zu erwarten, unbekannt: denn die bei Demokritos
allerdings stark hervortretende ansicht von der gewalt des νόμος als
des nicht im wesen ruhenden conventionellen hat nichts mit der atomen-
lehre zu tun: das kann ebensogut von protagoreischem und auch von elea-
tischem standpunkte vertreten werden; wahrscheinlich stammt es von
Archelaos. Euripides hat es, wie natürlich, sehr fruchtbar gefunden und
bis in die letzten consequenzen verfolgt (Hek. 799). die orphischen
poesien waren ein attisches erzeugnis; sie hatten stark auf Pindaros ge-
wirkt, einigermaſsen auf Aischylos: daſs Euripides sie kannte, ist natür-
lich. und er hat zwar an sühnungen und ihren einfluſs auf das leben
im jenseits nicht geglaubt 52), auch dem widerwillen der menge wider
ihr pharisäertum mit wohlgefallen worte geliehen (Hipp. 953), aber in
den Kretern ihre doctrinen im feierlichsten ernste behandelt. schon dieses
führt auf die Pythagoreer. Euripides redet zwar nicht von der zahl noch
von der harmonie, auch nicht vom sündenfall der geister und der seelen-
wanderung. aber er hat nicht nur auf einen ethischen ausspruch des
Pythagoras so bestimmt verwiesen, daſs er die existenz einer schrift
unter Pythagoras namen zu bezeugen scheint 53), sondern er hat mehr-
[29]φιλοσοφία.
fach eines der gedichte berücksichtigt, welche auf den namen des Epi-
charmos giengen 54). seine eigene ansicht von den ἀρχαί, ein dualismus
53)
[30]Das leben des Euripides.
von geist gott aether und stoff körper erde, ist ein compromiſs zwischen
der philosophie des ostens und der theologie der heimat und des westens.
das hauptprincip seiner ethik, die macht der φύσις, der intellectuellen
und moralischen veranlagung des einzelnen, ist wol durch die verschie-
denen philosopheme beeinfluſst: aber gewonnen hat gerade dieses der
menschen beobachtende, leidenschaften nachempfindende dichter. er ist
natürlich kein schöpferischer philosoph; aber kein anderer kann uns von
dem, was der forschungsdurstige Athener kannte und las, eine vorstellung
geben: und φιλ[ί]σοφος im echten sinne ist er auch, obwol er auch
σοφιστής ist, im echten, wie im üblen sinne.



[31]ἱστορία.

Es ist jedoch eine bedeutende einschränkung nötig. denn eineἱστορία.
seite der zeitgenössischen geistesarbeit hat Euripides so gut wie ganz
vernachlässigt, die ἱστορίη ins weite. fremder völker sitten, fremder
länder wunder kennen zu lernen ist er nicht beflissen; mit geographischen
namen zu prunken verschmäht er 55); kaum eine spur deutet darauf,
daſs er die geographische und die mit ihr meist zusammenfallende histo-
rische litteratur der Ionier gelesen hätte 56). er hält es auch hierin wie
Sokrates, nicht wie Sophokles, der freund des Herodotos 57). Aischylos
[32]Das leben des Euripides.
hatte sein volk durch ganze geographische excurse, wie die fahrten der
Io und des Herakles, unterhalten; besonders lebhaft aber gab er die eignen
eindrücke wieder, die der weitgereiste empfangen hatte, so vom feuer-
speienden berge und den thrakischen pfahlbauten (Pers. 870). auch das
fehlt bei Euripides, der wol nicht weit herum gekommen ist 58). die nach-
bargegenden, zumal die cultstätten Delos Delphoi, Trozen Argos Theben,
schildert er mit besonderen localen beziehungen und bezeichnungen,
sicher verstanden zu werden. von Korinth mochte man 431 wol nichts
hören: die Medeia könnte ebensogut vor jedem schlosse spielen. aber
auch Pherai 59) und Pharsalos 60), die Chersones, die doch kleruchenland
war, und gar der Aetna 61) sind eigentlich gar nicht gezeichnet. die
Helene spielt in Aegypten, aber nicht das mindeste localcolorit ist aufge-
tragen 62), während Sophokles die gelegenheit bei den haren herbeizieht,
57)
[33]ἱστορία.
ein aegyptisches νόμιμον aus seinem Herodot anzubringen (OK 337).
nur die neue makedonische umgebung hat dem greisen dichter nicht
nur besondere localschilderungen eingegeben, sondern hat ihn auch
empfänglich gemacht für den zauber der freien natur mit wald und
wasser und wild, den ja am meisten der von der friedlosen civilisation
und dem getriebe der groſsstadt abgehetzte empfindet 63). in dieser hatte
Euripides sich sein langes leben bewegt, hier hatte er beobachtet, ohne
sich in ihren strudel selbst zu stürzen, dennoch ganz in ihren kreis
gebannt, und gewohnt mit seinen gedanken in die tiefe zu dringen,
nicht in die weite zu schweifen. am gastlichen tische des Ion in Chios,
gar als feldherrn mit diplomatischem auftrage, könnte man sich ihn so
wenig denken wie den Sophokles mit Protagoras im Herakleitos lesend.
aber auch mit Perikles und Anaxagoras ein physisches problem erörternd
ist er nicht zu denken: alle die physikalischen einzelfragen interessiren
ihn nicht im mindesten, selbst die μετέωρα nicht, wenn er auch einmal
die sonne eine χρυσέα βῶλος nach Anaxagoras nennt (Phaeth. 777
Or. 983). und wenn er im Phaethon einen lieblichen sternmythos dramati-
sirt, so vermenschlicht er ihn ganz: selbst für die wunder des gestirnten
himmels, die den Hellenen so besonders religiös stimmen, hat er nicht
entfernt die innige liebe wie seine landsleute Sophokles und Platon,
geschweige wie die sternliebenden Aioler 64).



v. Wilamowitz I. 3
[34]Das leben des Euripides.

Historische studien in gewissem sinne forderte von dem tragiker
sein beruf. denn er behandelte ja einen ὢν λόγος; nur schöpfte er die
nötige kenntnis in erster linie bei seines gleichen. es versteht sich von
selbst, daſs Euripides das epos, Homer und Hesiod, in der weise studirt,
wirklich studirt hat, wie man es damals konnte, an der hand der da-
maligen Homerphilologen, der rhapsoden. die spuren dieser studien sind
schon bei Aischylos in seinem eignen wortgebrauche nachweisbar, und
so bei allen spätern dichtern. der anschluſs an bestimmte einzelne Homer-
verse ist aber bei Euripides seltener als bei den andern tragikern. auch
hat er nur im satyrspiel Kyklops eine einfache dramatisirung einer
homerischen geschichte geliefert, was Aischylos mit dem kernstück der
Ilias Π—Ω, Sophokles wahrscheinlich mit teilen der Kyprien, der kleinen
Ilias und Odyssee getan hatte. die Troerinnen vereinen zwar eine anzahl
scenen der Πέρσις in der art der Vivenziovase, allein der reiz liegt hier
in der vollkommen verschiedenen beleuchtung, die bei Euripides eine
troische ist. übrigens ist für uns die vergleichung des dramatischen stoffes
mit dem epischen nur in den seltensten fällen möglich, da wir die sage
nur in der fassung zu kennen pflegen, die herrschend ward, und das
ist die dramatische oder gar eine jüngere, so daſs wir das epos erst
durch das drama einigermaſsen kennen lernen. nakte facta, wie sie
z. b. die hypothesen bei Proklos liefern, sind für solche vergleichungen
unergiebig. daſs aber bei Euripides die epischen stoffe, selbst wenn man
die kühn umgestalteten mitzählt 65), zurücktreten, lehrt ein blick auf
Welckers tragödien.


Die nächsten vorgänger der tragiker waren eigentlich gar nicht die
epiker, sondern die chorischen lyriker, und von deren compositionen
waren viele, wie die nachbildungen der komödie zeigen, allbekannt,
64)
[35]ἱστορία.
hatten auch in der schule eingang gefunden. natürlich kannten sie die
tragiker um so besser. allein weder im stofflichen noch (was aber wol
an unserer kenntnis oder erkenntnis liegen wird) im formellen findet
sich auſser ganz vereinzeltem und gelegentlichem eine beziehung zu Pin-
dar 66) Simonides Bakchylides. wir kennen ja nur Pindar, können daraus
aber den grund wol abnehmen. Pindar neuerte nicht viel, wo er es tat,
selten glücklich, auſserdem ist er durch seine engen zwecke bestimmt. daſs
aber mit der ganzen sagenwelt, in der er lebte, die Athener sich nicht
stark berühren, liegt in dem politischen, landschaftlichen, noch mehr dem
gesellschaftlichen gegensatze. für Simonides trifft dies nur beschränkt
zu; aber von ihm wissen wir gar zu wenig.


Ganz anders stehen die Chalkidier, Ibykos 67) und zumal Stesichoros.
3*
[36]Das leben des Euripides.
der dichter, welchem die tragiker die Atreidengreuel, Euripides eine so
gewalttätig neuernde sagenform wie die seiner Helene verdankt, hat
ohne zweifel noch viel häufiger bestimmend eingewirkt. aber die ver-
suche genauerer nachweisungen sind nicht nur bisher wenig glücklich
gewesen, sondern auch kaum von der zukunft zu erwarten, da keine
vermehrung des materiales in aussicht steht.


Elegie und iambos wurden in den schulen gelesen, waren äuſserst
populär, es finden sich auch einzelne bezüge auf sie bei den tragikern 68),
aber eine tiefere anregung war hier nicht möglich. die lieder der Lesbier
und Anakreons standen ähnlich, wenn auch von jenen wie von Alkman
wol nur einzelne lieder populär waren 69). mythisches konnten sie wenig
geben, und die künstliche metrik wird nur noch hie und da eine an-
regung aus ihren einfachen weisen geschöpft haben, während allerdings
Aischylos bei Anakreon nachweislich gelernt hat. vielleicht wird sich aus
geschichtlicher betrachtung der metrik noch mehr ergeben.


Stoffliche ausbeute würde den tragikern die mythographische litte-
ratur in reicher fülle geboten haben. denn ohne zweifel hat es davon
viel mehr gegeben, als auf die nachwelt kam. ist doch die schriftstellerei
des Akusilaos und des in Athen lebenden Leriers Pherekydes 70), von
geringern wie Anaximandros abgesehen, nur so verständlich wie die der
nordischen prosaischen sagenbücher, als auflösung des epos. deshalb
67)
[37]ἱστορία.
wird aber die vermittelung zwischen epos und tragödie durch diese bücher
schwer nachweisbar, glücklicherweise aber auch wenig bedeutend. so
viel sich bisher die immer noch nicht recht erfaſste schriftstellerei des
Pherekydes übersehen läſst, ist mit zuversicht zu verneinen, daſs er die
tragödie benutzt hat, nirgend zu erweisen, daſs die tragiker ihn gelesen
haben und nicht seine quellen. Hekataios ward durch seinen rationalis-
mus unverwendbar in dem was er eigenes gab, und so wird man sich
auch auf etwa hervortretende übereinstimmungen nicht verlassen 71).
Euripides speciell hat die historiker sonst so sehr verschmäht, daſs man
nicht geneigt sein kann ihm die lecture der bücher zuzutrauen, die
erst wir als mythographische von den historischen scheiden. und doch
gibt es ein gebiet, wo er irgend eine solche quelle aufgesucht haben
muſs, die altpeloponnesischen traditionen von den Herakleiden, die in
Kresphontes Temenos Temeniden, vielleicht nach Likymnios behandelt
sind. für uns ist Euripides der älteste zeuge selbst für die namen. die
nächste tradition, bei Isokrates und Ephoros, berührt sich einzeln mit
ihm, ohne sich doch zu decken; manches ist auch ganz verschollen.


Es wäre eben so töricht wie geschmacklos, wenn man für jeden
tragischen stoff eine schriftliche quelle suchen wollte. natürlich haben die
dichter sehr viel aus der mündlichen sage, und natürlich steht die heimische
in erster reihe. die dürftigen attischen vorher kaum irgend wo berück-
sichtigten localüberlieferungen haben ja erst die tragiker geadelt und
selbst sie doch nur zum teil allgemein beliebt gemacht. die maratho-
nische Herakleidensage, die eleusinische von der bestattung der Sieben
hat Euripides von Aischylos geformt überkommen, die Alopesage war
es auch schon. aber die eigentliche königssage, Aigeus Theseus Hippo-
lytos Ion, und vor allen Erechtheus hat er erst bearbeitet und festge-
stellt. Sophokles folgte ihm hierin zum teil, wie er ihm ja selbst die
anregung dazu verdankt seinen eignen demos zu verherrlichen. aber
Prokris und Prokne hat Sophokles populär gemacht. auch die kleruchien
haben die heimatssage etwas bereichert. die geschichte des Polymestor
stammt von der Chersones, und auch der altepische Protesilaos ist unter
einwirkung des cultes von Elaius umgestaltet. Lemnos hat auf Philoktet
und Hypsipyle gewirkt, Skyros den ganz neuen stoff der Skyrier geliefert,
Achilleus und Deidameia, Syleus ist ohne die besetzung von Amphipolis
[38]Das leben des Euripides.
nicht denkbar 72). auch von Sophokles sind mindestens Phineus und Tereus
durch die nordischen kleruchien in der färbung bestimmt. die sagen der
übrigen Reichsstädte treten dagegen ganz auffallend zurück 73): man be-
denke, Chios Samos Miletos Kolophon Kos Rhodos Naxos Keos Euboia,
jeder ort hatte mindestens so viel zum teil altberühmte sagen zu bieten
wie Athen. aber die Athener hören lieber von Theben Argos Korinth
Sparta; Ionien sollte in Athen aufgehen, das Reich nur die empfindungen
seines hauptes mit und nachfühlen. von den ruhmvolleren gegnern
nahm man vorab ihren alten stolzen sagenschatz: der politische anschluſs
sollte folgen.


Mit dem stoffe ist dem dichter oft recht wenig gegeben, und oft be-
währt er sich an ihm als dichter schon ehe die ausgestaltung beginnt.
manches mal wird vorgekommen sein, was wir dank dem sonst wenig
erfreulichen peripatetiker Hieronymos von dem euripideischen Phoinix
wissen, daſs ein fruchtbares motiv irgendwo in unscheinbarer localsage auf-
gegriffen aber auf einen altberühmten heroischen namen übertragen ward 74).
dem steht nahe, daſs der dichter um einer dürftigen fabel fülle zu geben,
[39]ἱστορία. nachlaſs.
motive aus einer anderen herübernimmt 75), und das berührt sich wieder
mit dem ausmalen von situationen oder charakteren nach dem vorbilde
einer älteren eigenen schöpfung, wofür die schwesternpare in Sophokles
Antigone und Elektra das bekannteste beispiel sind. allein das greift schon
über in die künstlerische analyse der werke, die hier nicht berührt werden
soll. das stoffliche läſst sich für menschen die überhaupt geschichtliche
fragen begreifen nicht selten überzeugend dartun: aber vielfach gilt schon
von ihm und noch weit mehr von der beurteilung des poetischen, daſs
erst eine reife kenntnis des dichters die dinge überhaupt sieht, und daſs
sie auch für ähnlich gereifte allein einen beweis führen kann.


Was hier in betreff des stoffes gegeben ist, ist eine dürftige skizze.
erst wenn nicht bloſs die einzelnen tragödien alle genau durchgearbeitet
sind, sondern überhaupt die heldensage eine erneuerung erfahren haben
wird, kann es gelingen dem einigermaſsen gerecht zu werden, was eigent-
lich die vorbedingung des aesthetischen urteils sein muſs, was schon die
peripatetiker angestrebt haben: das verhältnis des dichters zu seinem
stoffe klar zu stellen. was die alten so viel behandelt haben, zumeist
freilich von einseitig rhetorischem standpunkte aus, die charakteristik
von stil und sprache, erfordert, ehe sie wirklich geliefert werden kann,
auch noch eine fülle von beobachtungen untersuchungen und namentlich
vergleichungen, die heut zu tage nur für die geschmacklosigkeit und den
stumpfsinn der gesunkenen latinität angestellt werden, denen es aller-
dings leichter ist congenial zu sein. die erklärung des einzelnen dramas
gibt aber auf schritt und tritt gelegenheit zu einschlagenden bemerkungen;
bei denen mag es sein bewenden haben. —


Über den poetischen nachlaſs des Euripides sind wir auffallend gutNachlaſs.
unterrichtet. verfaſst soll er 92 dramen haben: das sind 23 × 4 (γένος);
oder 22 mal aufgeführt (Suid.). also war eine tetralogie bestritten; und
wirklich werden in der summe der erhaltenen 3 unächte tragödien, ein
unächtes satyrspiel aufgeführt. da für die tragödie Peirithoos und das
[40]Das leben des Euripides.
satyrspiel Sisyphos 76) auch Kritias als verfasser angegeben wird, ist der
schluſs geboten, daſs diese ganze tetralogie zwischen den beiden dichtern
schwankte, in wahrheit dem minder berühmten gehörte. die gesammt-
summe 92 oder vielmehr 88 ist nun allerdings vorschnell fixirt. erstens
ist fraglich, ob nicht lenäische agone darunter waren, an welchen viel-
leicht weniger stücke gegeben wurden; zweitens hat der Archelaos sicher-
lich nicht in den 22 didaskalien gestanden, und von der Andromache ist
dasselbe ausdrücklich überliefert. somit ist der schluſs auf die gesammt-
zahl der verfaſsten stücke unzulässig, und der verlust von dramen noch
höher anzusetzen, als die Alexandriner getan haben.


Praktisch kommt nun auf die sofort vergessenen stücke nichts an,
die zum teil wol gar nicht veröffentlicht waren 77). um so erfreulicher ist,
daſs wir über das was nach Alexandreia kam sicherheit erzielen können.
es waren 67 tragödien, 7 satyrspiele 78). die letzte zahl ist auffallend
gering. daſs Euripides einzeln statt eines satyrspiels eine tragödie gab,
wie die Alkestis, erklärt das misverhältnis nicht genügend. wir kennen
auch noch 3 satyrspiele, die verloren waren 79). offenbar hatte Euripides
für das komische weder neigung noch begabung. selbst von den 7 ist
eines so wenig gelesen worden, daſs wir nicht einmal den namen ken-
nen 80). und in den 6 kenntlichen war dasselbe motiv, die überwindung
der barbarischen vis consili expers durch die hellenische rite nutrita
indoles
, viermal angewandt (Buseiris, Kyklops, Skiron, Syleus); zweimal
war der held ein listiger betrüger, Autolykos Sisyphos, denen Odysseus
nahe steht; dreimal trat Herakles auf (Eurystheus Syleus Buseiris), einmal
sein pendant Theseus (Skiron). die erfindsamkeit war also sehr gering.


[41]Nachlaſs.

Von verlornen tragödien kennen wir nur den Rhesos. denn daſs
das erhaltene den Sophokles nachahmende drama unter die werke des
Euripides geraten ist, liegt lediglich daran, daſs aus den didaskalien die
existenz eines jugenddramas Rhesos von Euripides fest stand 81). die den
Alexandrinern bekannten 67 kennen wir aber alle, doch eines, Epeios,
nur durch eine erwähnung in einem kataloge, nicht durch ein citat,
und von dem unächten Tennes ist nur ein unsicheres citat erhalten. die
irrtümer, welche diese zahl zu vermehren schienen, sind alle mit sicher-
heit erledigt 82). doppeltitel hat es nicht gegeben; doppelbearbeitungen
[42]Das leben des Euripides.
auch nicht 83), auſser daſs die Aristophaneserklärer von solchen fabeln,
wenn sie ein citat nicht verificiren können.


Ein viertel der werke des Euripides ist erhalten; die summe der
einzeln sonst überlieferten verse füllt nahezu weitere anderthalb tragödien
und von einem zweiten viertel sind wir so weit unterrichtet, daſs wir
selbst die behandlung einigermaſsen übersehen können; den stoff im
allgemeinen kennen wir nur von ganz wenigen nicht. notorisch steht
die spätere litteratur sehr stark unter euripideischem einflusse: daſs die
forschung also unsere kenntnis des verlornen noch sehr stark bereichern
kann, ist klar. neue citate von einzelnen versen tröpfeln sacht aus der
grammatischen litteratur nach, die erst allmählich erschlossen wird; die
aegyptischen funde haben einen fetzen auch aus einem verlornen drama,
freilich einem recht schwachen, der zweiten Melanippe, ergeben. also
auch von dieser seite ist bereicherung zu hoffen. aber nicht nur expansiv,
vor allem intensiv muſs unsere kenntnis wachsen. denn Euripides ist
zwar keiner von den dichtern, die die menschheit nicht entbehren kann
ohne in die bestialität hinabzusinken: aber er ist doch einer, der noch
so frisch ist, daſs man liebe und haſs zu ihm empfindet, und die poesie
jeder zeit, wenn sie eine ist, sich mindestens mit ihm auseinandersetzen
muſs: er fordert und verdient ein individuelles verständnis. die über-
lieferung gibt die möglichkeit dazu zu gelangen: möge man über ein
menschenalter die dürftigkeit dieser skizze belächeln können.



[[43]]

2.
WAS IST EINE ATTISCHE TRAGÖDIE?


Wenn man ein attisches drama in die hand nimmt, so pflegt manStellung der
frage.

daran zu gehen in der voraussetzung, es sei ein gedicht derselben gattung
wie Sakuntala, Leben ein Traum, Polyeucte, Macbeth, Wallenstein. dem-
gemäſs bringt man bestimmte anforderungen mit, die in dem wesen dieser
gattung liegen sollen; man erwartet eine aesthetische wirkung, welche
zu erzielen der zweck der tragödie sein soll, und das urteil über das
gelesene gedicht wird sich danach bemessen, in wie weit es seine aufgabe
erfüllt und die erwartungen befriedigt hat. nun wird zwar ein jeder in
jedem drama mancherlei gewahr, was ihm störend ist, was der dichter
aber mit absicht so gemacht hat, also entweder als vorzug oder doch
als etwas unerläſsliches angesehen hat. im attischen drama ist ein chor
gegenwärtig, der oft dem interesse der handlung widerstrebt; bei Calderon
ermüdet das endlose a parte reden der personen und die eben so end-
losen schilderungen; im Cinna wird die einheit des ortes abgeschmackt,
bei Shakespeare die clowns, bei Schiller die liebespare. der leser ist zwar
in den meisten fällen schon zuvor davon unterrichtet, was er finden wird;
er ist also nicht mehr so stark befremdet, drückt ein auge zu, über-
schlägt auch wohl eine überflüssige partie, und findet sich schlieſslich
mit dem störenden als einer berechtigten eigentümlichkeit ab. es ist
aber bekanntlich eine berechtigte eigentümlichkeit etwas, das allenfalls
entschuldigt werden mag, zumal sich’s leider nicht ändern läſst, das aber
eigentlich durchaus unberechtigt ist. und die ehrlichkeit fordert das
eingeständnis, daſs zwar die dichter durch diese dinge ihre aufgabe haben
erfüllen wollen, sie aber in wahrheit höchstens trotz denselben erfüllen.
sie haben also ihre aufgabe schlechter verstanden als wir; was denn
schlieſslich eine schmeichelhafte bestätigung für das hochgefühl ist, wie
herrlich weit wir es gebracht haben.


[44]Was ist eine attische tragödie?

Für das attische drama stellt sich die sache noch besonders ungünstig,
weil es die geltung als classisch, d. b. unbedingt mustergiltig, viele
jahrhunderte hindurch behauptet hat, und durch den jugendunterricht
der glaube immer neue nahrung erhält, als würde dieser vorrang auch
heute noch ernsthaft behauptet. der leser glaubt sich deshalb zur anlegung
eines absoluten maſsstabes doppelt berechtigt, und jeden einwand, den
er bei eigenem lesen wider die classicität mit fug und recht erhebt,
richtet er gegen die alten dichter, gleich als ob sie die ungehörigen an-
sprüche selbst erhöben. so haben diese für die traditionelle schätzung
zu büſsen und scheinen mit dieser zugleich auch ihren eigentümlichen
wert zu verlieren.


Es soll eine solche betrachtungsweise nicht ganz verdammt werden.
es muſs einen maſsstab geben, der sich an jede poesie jeder zeit anlegen
läſst ohne irgend jemand unrecht zu tun, wenn anders wir den glauben
an die realität und ewigkeit des schönen nicht verlieren wollen. vor
allem aber wird und soll sich keine zeit ihr recht verkümmern lassen,
an ihrer eigenen empfindung die werke der vergangenheit zu messen.
allein diese beiden maſsstäbe wird zwar ein jeder zunächst für identisch
halten: in wahrheit ist jener ideale maſsstab dort wo die idee des schönen
ist; was aber wir menschen uns an seiner statt machen, das ist selbst dem
wechsel unterworfen, war etwas anderes als es ist und wird etwas anderes
sein. wir mögen getrost mit dem messen was uns absolut erscheint,
denn der lebende hat recht. aber der lebende hat auch recht gehabt zu
seiner zeit, und ihm zu seinem rechte zu verhelfen ist die bescheidenere
aber ungleich schwerere aufgabe der geschichtlichen wissenschaft. diese
darf gar keine andern voraussetzungen machen als das individuum und
die zeit, welcher das betrachtete werk angehört. aus sich und den
bedingungen seines wesens und werdens hat sie es zu erklären. sie ver-
zichtet mit nichten auf ein urteil, aber sie rechnet mit dem wollen und
können des volkes, der zeit, des einzelnen menschen. sie sucht zu ver-
stehen, nicht um zu verzeihen, sondern um gerecht zu richten.


Diese aufgabe, das verständnis als grundlage der κρίσις zu er-
schlieſsen, hat die philologie gegenüber dem drama in arger weise ver-
absäumt. es ist dahin gekommen, daſs auſserhalb der zünftigen kreise
die abschreckendste trivialität und die nakteste ignoranz sich unbehelligt
an den edelsten werken der hellenischen poesie versündigen kann, und
in den zünftigen kreisen die sehenden bei seite treten, die einäugigen
oder gar blinden die führung sich anmaſsen. allein auch diese versäumnis
will geschichtlich begriffen werden; sie darf nicht nur gescholten, son-
[45]Stellung der frage. moderne aesthetik.
dern muſs erklärt werden. die entwickelung der philologie, wie sie im
vierten capitel dargestellt ist, gibt die erklärung.


Daſs die hellenische poesie aus dem staube der folianten an dasModerne
aesthetik.

tageslicht trat, ist wenig über ein jahrhundert her. es geschah zu einer
zeit, deren richtung durchaus philosophisch war. wenn Lessing auf das
antike drama hinwies, so geschah das so, daſs er diesem die geltung als
classisch lieſs, um das französische von der gleich hohen stellung zu
stürzen. zu dem zwecke hat auch Diderot die antike tragödie herange-
zogen 1). vollends die aristotelische poetik ward als kanonisch anerkannt,
um so lieber, als sie einen absoluten maſsstab gab, der für alle zeiten
anwendbar schien. Herder erhob sich zwar zu geschichtlicher betrach-
tung, aber nicht durch ein voraussetzungsloses studium der vergangen-
heit, sondern durch die philosophie der geschichte. auch lenkte er das
nachdenken und die arbeit der forscher vornehmlich auf die anfänge
und die ersten stadien der culturentwickelung, so daſs das drama, die
letzte und vollkommenste blüte der hellenischen poesie, eine geringere
beachtung fand, zumal seine kunstvoll durchgebildete form dem volks-
tümlichen ferner liegt als in den meisten andern litteraturen. dieser
umstand hat noch lange fortgewirkt. als aus den kreisen der Roman-
tiker oder doch unter dem impulse, der von ihrer schule ausgieng, wieder-
holt der versuch gemacht ward, eine geschichte der griechischen litteratur
zu schreiben, gelangten die wenigsten auch nur bis an das drama heran,
und dann giengen sie darauf aus, es irgendwie mit der volkspoesie zu
verknüpfen.


Als dem deutschen volke eine anzahl dramen von seinen groſsen
dichtern beschert wurden, die den antiken ebenbürtig waren, da waren
diese unabhängig von der antiken praxis und theorie entstanden; wo
der anschluſs ein bewuſster gewesen war, da ward die wirkung zum
mindesten dadurch beeinträchtigt. der erfolg konnte nicht ausbleiben,
daſs man die antiken werke unwillkürlich mit den modernen verglich,
von ihnen forderte, was die modernen leisteten, und die form, die man
[46]Was ist eine attische tragödie?
in der braut von Messina mit recht anstöſsig fand, auch im Oedipus
beanstandete. über die theorie des dramas hatten Goethe und Schiller
tief nachgedacht, auch sie im unmittelbaren anschluſs an Aristoteles,
weshalb sie auch das drama im gegensatz zum epos auffaſsten; hätten
sie aber auch die antiken gedichte im originale wirklich verstehen können,
als dichter würden sie dennoch nicht die bedingungen und ziele fremden
schaffens, sondern anregung und förderung für eigenes schaffen in ihnen
gesucht haben. ganz besonders aber ward für die theorie des antiken
dramas gerade so wie für die bald verlachte praxis der nachahmer ver-
hängnisvoll, daſs Schiller, der bekenner der Kantischen freiheitslehre, den
begriff des groſsen gigantischen schicksals, welches den menschen erhebt,
wenn es den menschen zermalmt, als leitstern der tragischen sittlich-
keit auſstellte.


Die grundlinien der anschauung, welche bis auf den heutigen tag
die verbreitete ist, gab A. W. Schlegel in den vorlesungen über drama-
tische kunst und litteratur. es war in der tat ein versuch, die dichtungen
der verschiedenen völker, welche Schlegel aus wirklicher eigener kenntnis
beurteilte, geschichtlich zu würdigen. aber dieser versuch ward mit einer
bestimmten praktischen tendenz gemacht. er predigte das evangelium
einer einigen reinen hohen kunst, und er glaubte mit recht, daſs er für
dieses ideal am besten dadurch propaganda machen könnte, wenn er zu
gunsten des allertrefflichsten all das auf das schärſste verurteilte und
herabsetzte, auf das sich der herrschende ungeschmack zu berufen pflegte,
welchen er eben brechen wollte 2). im innersten grunde der seele endlich
betrachtete sich Schlegel als propheten des groſsen romantischen tragikers,
der nach der geschichtsphilosophie kommen sollte, um den bau der
deutschen poesie zu krönen. ob er die täuschung der genossen mitge-
macht und den heiland in L. Tieck gesehen hat, mag zweifelhaft sein;
ausgeblieben ist der heiland jedenfalls. die romantiker waren eine viel
zu reflectirte, geistreiche, ironische, angekränkelte gesellschaft, als daſs
sie die unmittelbare kraft einer groſsen tragischen wirkung hätten erzeugen
können; die meisten waren für eine solche überhaupt gar nicht empfäng-
lich, und selbst wenn sie die gröſsten tragiker bewundern und erläutern
wollen, so tun sie die auffälligsten irrgänge. es soll Tieck unvergessen
[47]Moderne aesthetik.
sein, daſs er die hetze gegen Euripides nicht mitgemacht hat, aber wenn
er seine gedichte ‘von dem morgenrot einer ahndungsvollen romantik
übergossen’ nennt, wobei er ‘vornehmlich an die wundersame Helene
denkt’, wenn er die taurische Iphigenie und die Elektra ‘seltsam von wald-
gefühl und einsamkeit erfrischt’ findet (bei F. v. Raumer Vorlesungen
über alte Geschichte II 544), so gibt er selbst die seltsamsten proben
ahndungsvoller romantik. er hat sich bekanntlich in der beurteilung
Ophelias eben so vergriffen, wo es minder verzeihlich war, da Wilhelm
Meister vorlag. bei andern romantikern, die wol eher die fähigkeit des
geschichtlichen nachempfindens besessen hätten, fehlte es am besten.
F. Schlegel würde wol die euripideischen frauen in den irrgängen ihrer
seelenkrankheit haben verfolgen können, und er hatte für den groſsen
zug der entwickelung, der die griechische poesie von stufe zu stufe bis
auf den gipfel aischyleischer erhabenheit trägt, einen helleren blick als
sein bruder. aber er war ein zu verkommener selbstling ohne religion
und ohne ehrgefühl 3): wie sollte er nicht schaudern vor der unerbitt-
lichen sittlichkeit dieser poesie, die sein ganzes treiben verurteilte; hat
er doch Schiller aus demselben grunde so glühend gehaſst. auch die
weltumfassende philosophie gieng aus der romantik hervor, die es sich
zutraute, wissenschaft leben und kunst (ϑεωρεῖν πράττειν ποιεῖν) mit
ihren gedanken zu umspannen und alle scheinbaren widersprüche zu
lösen. sie fand auch für das drama eine formel, und man soll nicht
bestreiten, daſs viele und tiefe wahrheit in ihr lag. aber selbst die Antigone
muſs arg misdeutet werden, um als musterstück den Oedipus zu ersetzen
und darzutun, wie sich aus dem conflicte zweier einseitig berechtigter
bestrebungen die höhere harmonie, wenn auch um den preis des unter-
ganges der individuen, ergibt.


Es könnte scheinen, als hätte es geringe bedeutung, auf diese be-
strebungen hinzuweisen, da doch die herrschaft der romantik und der hegel-
schen philosophie nicht mehr besteht. allein das philosophische denken der
folgezeit hat an die erkenntnis des antiken dramas wenig arbeit gewandt 4),
[48]Was ist eine attische tragödie?
was durchaus berechtigt ist, und jedenfalls wenig auf das studium des-
selben eingewirkt. die philologie aber wandte sich unter dem drucke
der stimmung, welche der streit zwischen Hermann und Welcker Otfried
Müller erzeugte, von diesem felde ab. die bedeutenden gelehrten ver-
achteten was ihnen unfruchtbares spiel schien. in der breiten masse
aber wirken zu allen zeiten gedanken noch lange nach, wenn sie auch
in wahrheit überwunden sind. was so im allgemeinen über die attische
tragödie geglaubt, den knaben gepredigt und von diesen ins leben mit-
genommen wird, sind im wesentlichen reflexe dessen was Lessing und
Schiller, die romantiker und ihre philosophischen nachfolger ausgesprochen
haben. das letzte halbe jahrhundert hat wenig davon noch dazu getan.
wir hören ja freilich alle tage, daſs die geisteswissenschaften abgewirt-
schaftet haben, wenn sie nicht die exacte methode der königin natur-
wissenschaft einigermaſsen nachmachen. und es ist auch von einer
zukunftspoetik die rede, welche empirisch psychologisch, empirisch an-
thropologisch die rechte grundlage sucht. es scheint aber für sie wich-
tiger zu sein, die Botokuden und Kamtschadalen zu verhören als die Hel-
lenen. wenn dem Mephistopheles schon in der classischen Walpurgisnacht
ungemütlich wird, was sollen die proktophantasmisten machen, die sich
längst von geistern und von geist curirt haben? wem die Orestie und
die poetik des Aristoteles — griechisch sind, wie dem Casca Ciceros rede,
der muſs es sich schon gefallen lassen, daſs seine rede dem Hellenisten
böhmisch ist. welchen wert hätte es auch, ein system durch ein anderes
zu ersetzen, das doch auch nur beurteilen, nicht verstehen lehrt?


Aristoteles.

Verstehen gelernt hat freilich erst die letzte generation vor uns
ein hauptbuch, die aristotelische poetik, und der groſse meister hat über-
haupt erst jetzt die dominirende stellung in der griechischen wissenschaft
erhalten, die ihm gebürt, ja, seine macht wird noch steigen. allein darum
ist unser verhältnis zu ihm nur ein freieres geworden. es ist nicht mehr
erlaubt, mögen auch die naiven nicht aussterben, das was man für wahr
hält, in den Aristoteles hineinzulesen; deshalb ist aber auch das eigene
urteil des Aristoteles und seine aesthetische theorie nicht mehr für uns
maſsgebend. was er uns als geschichtliche tatsache übermittelt, das sind
wir verpflichtet als solche gelten zu lassen, so lange sich nicht der irrtum
beweisen läſst: die beurteilung der tatsachen und die daraus abgezogenen
allgemeinen gesetze haben nicht die geringste verbindlichkeit. Aristoteles
ist unser vorzüglichster zeuge für die tatsachen der attischen verfassungs-
geschichte; aber nicht leicht wird jemand seine beurteilung ihres ganges
und des wertes der leitenden personen sich zu eigen machen: auf alle fälle
[49]Aristoteles.
ist die politische theorie des Aristoteles und seine construction des besten
staates für die geschichtliche und rechtliche auffassung der concreten
erscheinungen der griechischen geschichte von geringer bedeutung. es
ist zeit, daſs wir in der poesie nicht mehr anders vorgehen. nicht mehr
Aristoteles der aesthetiker, sondern Aristoteles der historiker ist der
ausgangspunkt unserer betrachtung. wenn wir uns zu dem geschicht-
lichen verständnis der attischen dramen durchgearbeitet haben, dann
können wir fragen, ob die aesthetische theorie des Aristoteles für sie
das richtige getroffen hat, und in wie weit seine ansicht von dem wesen
der kunst absolut richtig ist. um die wirkung der tragödie auf Aristo-
teles oder gar auf uns haben wir uns zunächst nicht im mindesten zu
kümmern, sondern um die absicht ihrer dichter. es kann uns also
auch die vergleichung mit irgend welcher anderen dramatischen poesie
nichts helfen, ganz abgesehen davon, daſs doch alle und jede dramatische
poesie von den Athenern abstammt 5). wir wollen ja weder eine tragödie
schreiben noch schreiben lehren, sondern die welche wir besitzen ver-
stehen. dazu ist denn freilich nötig zu wissen, welche aufgabe die dichter
lösen wollten, was ihr volk von ihnen erwartete, und weit genug wird
uns der weg führen, ehe wir dieses ziel erreichen: aber aus seiner ver-
gangenheit, nicht aus seiner zukunft erklären wir das attische drama.


Wenn es uns verstattet wäre, überall bis zu den quellen vorzudringen,Fundamen-
tale tat-
sachen.

so würden wir auch bei dieser historischen forschung von Aristoteles ab-
sehen. aber uns sind nur trümmer überliefert, so daſs wir längst nicht
alles mehr mit eignen augen übersehen und prüfen können, sondern
auf die zeugnisse anderer angewiesen sind. und hier ist es, wo Aristo-
teles mit voller autorität eintritt; nur wenige zeugnisse, die wir anders-
woher auflesen, die aber auch zumeist auf seine schule zurückgehen,
treten hinzu; erst nach peinlichster prüfung reihen wir sie ein, und für
die hauptsache würden wir sie auch entbehren können. unser fundament
v. Wilamowitz I. 4
[50]Was ist eine attische tragödie?
ist und bleibt was in der poetik steht. die tragödie stammt ab von
den sängern des dithyrambos; sie ist zuerst satyrspiel gewesen in leb-
haften tanzrhythmen und lustiger sprache; den zweiten schauspieler hat
erst Aischylos eingeführt und den chor von der protagonistenstelle zurück-
gedrängt; der dritte schauspieler stammt erst von Sophokles. mit diesen
allbekannten notizen hat zu allen zeiten jeder gerechnet; der fortschritt
aber liegt darin, daſs wir erstens jede spätere überlieferung zunächst fern
halten, zweitens eine vorstellung davon haben, woher Aristoteles seine
kenntnis hat, was er überhaupt wissen konnte. ob er ein drama aus
dem sechsten jahrhundert gelesen hat, ist fraglich; die spätere zeit besaſs
keins mehr 6), und Thespis z. b. war schon für Aristoteles nur ein
name. immerhin konnte er incunabeln genug lesen, um sich über den
charakter des ältesten spieles zu unterrichten. das wichtigste aber war,
daſs in den archiven des mit der ausrichtung der spiele betrauten beamten
sich das reiche und zuverlässige material befand, um die aufführungszeit
jeder einzelnen tragödie und die äuſsere einrichtung der schauspiele
kennen zu lernen, und die über die heiligtümer der stadt verstreuten
weihgeschenke, die freilich nur ausnahmsweise über die persische invasion
hinaufreichen konnten, brachten erwünschte controlle und erweiterung;
sie sind nachweislich von Aristoteles benutzt 7). das so gesammelte mate-
[51]Fundamentale tatsachen.
rial hat er selbst oder seine schule dem publicum in mehreren bänden
vorgelegt, und die tüchtigsten gelehrten der nächsten generationen haben
es viel benutzt; dann ist es wie die meisten ähnlichen stoffsammlungen
verschollen. übrigens hat der attische staat, wahrscheinlich gelegentlich
der erbauung des steinernen theaters (vollendet 330), auch eine solche
festchronik und ähnliche verzeichnisse in stein gehauen im heiligen be-
zirke aufstellen lassen, vielleicht beeinfluſst von dem aristotelischen geiste.
reste davon sind uns erhalten sowol im original wie in copien römischer
zeit 8); auch vereinzelte inschriften von siegesdenkmälern besitzen wir.
dieser ganze strom der überlieferung ist also ein einheitlicher. was dazu
gehört, ist auch leicht kenntlich, wenn es bei späten compilatoren er-
halten ist, und wir dürfen uns mit besonderer zuversicht auf diese angaben
verlassen. danach also reihen wir ein, daſs die erste tragödie von Thespis
an den groſsen Dionysien 534 aufgeführt ist, 508 der erste dithyrambos
durch Hypodikos von Chalkis, daſs eine neuorganisation der schauspiele
um 465 stattgefunden hat, bei welcher sicher die erste komödie gespielt
ward, wahrscheinlich auch die tragödie durch die einführung des dritten
schauspielers ihre definitive gestalt erhielt 9). das ist unser fundament.
mit eiserner strenge muſs alles verworfen werden, was sich mit diesen
grundtatsachen nicht verträgt; an ihnen darf nichts verrückt noch ver-
schoben werden. es liegt aber auf der hand, daſs sie nicht ausreichen,
um wirklich einen aufriſs von dem alten gebäude zu errichten, wir müssen
mehr material suchen.


Das wird manchen weg und umweg kosten; es scheint sogar geraten,
zunächst einen holzweg einzuschlagen, weil in der litteraturgeschichte
die holzwege die betretensten zu sein pflegen. die komödie ist viel
verständlicher als die tragödie: fangen wir mit ihr an. das muſs dem
modernen doch sehr aussichtsvoll erscheinen. denn wir sehen mit recht
7)
4*
[52]Was ist eine attische tragödie?
trauerspiel und lustspiel nur als zwei arten derselben gattung, der dra-
matischen poesie, an. darin sind uns die peripatetiker vorangegangen,
und logisch ist es gewiſs. nur hat es für Athen keinen sinn. dort konnte
zwar der gröſste philosoph, zugleich der gröſste dichter, auf den gedanken
dieser einheit kommen, aber selbst er lieſs es nur in der vorgerücktesten
weinlaune aussprechen. in der praxis waren komödie und tragödie zwei
so grundverschiedene dichtungsgattungen, daſs es gleich ungeheuerlich
erschien, Aristophanes eine tragödie, Agathon eine komödie dichtend zu
denken; woran nichts geändert wird, auch wenn in den zeiten des verfalls
geringere leute diesen versuch gemacht haben, wie z. b. von Timokles
feststeht. für Athen ist das dramatische etwas accessorisches sowol in
der komödie wie in der tragödie. die übergeordnete gattung könnte nur
dionysisches festspiel heiſsen, wo dann aber sofort der dithyrambos als
dritte gleichberechtigte art hinzutreten und diesen versuch einer definition
unbrauchbar machen würde. für uns ist das dramatische entscheidend,
ist aber auch die sonderung in tragödie und komödie eine inhaltsleere
concession an die antike, welche nur zu der annahme von bastard-
gattungen wie des s. g. schauspieles oder dramas führt. wir wissen also
im voraus, daſs wir zum ziele über die komödie nicht kommen können;
aber bei wege dürfte doch manche wichtige belehrung abfallen.


Komödie.

Die komödie hat sich an zwei orten Griechenlands aus verschiedenen
aber allerdings gleichermaſsen dem breiten volksleben angehörigen wurzeln
zu einer litterarischen blüte entwickelt. in Sicilien zu der zeit, wo diese
insel unter dem regimente hochstrebender und hochstehender gewaltherren
ihre schönste aber allzu kurze blütezeit erlebte, und in Athen zwanzig
jahre später, als dort die demokratie ihr reich vollendete. in Sicilien waren
die vorstufen die burlesken spiele der spaſsmacher, die wie die ganze
zunft der fahrenden leute in den üppigen städten Neugriechenlands fort-
dauernd am besten gediehen, und auf märkten oder in den hallen der
reichen teils pantomimisch, teils mit einfachem gesange, teils in meist
wol improvisirter prosaischer rede ein zerrbild des lebens darstellten,
das treiben des festtags und des werkeltags, der alter und geschlechter,
der stände und berufe in derber charakteristik wiedergebend. in Syrakus
gestaltete der Megarer Epicharmos dieses spiel zu einer dramatischen
poesie aus 10), für welche er jedoch die formen von der attischen tragödie
[53]Komödie.
nahm, deren begründer Phrynichos und Aischylos der könig Hieron an
seinen hof gezogen hatte. doch fehlte der chor, mochte auch hie und
da getanzt und gesungen werden 11). es hätte sich hieraus das moderne
lustspiel entwickeln können; allein die künstliche blüte verfiel, die posse
ward aus einem dramatischen gedichte wieder ein prosaischer mimus,
und nur dem interesse, welches Platon, der über vorurteile erhaben war,
an der realistischen kraft dieser volksspäſse nahm, als er um 390 in Syrakus
war, danken wir es, daſs die mimen des Sophron nach Athen und damit
auf die nachwelt kamen, wie ja auch das athenische litteraturgeschicht-
liche mehr als litterarische interesse den Epicharmos einzig erhalten hat.
die spätern Griechen fanden den Sophron nicht selbst genieſsbar, sondern
nur so wie ihn das theokritische raffinement salonfähig aufgestutzt hatte.
wir bewundern in den kümmerlichen resten eine unmittelbare lebens-
wahrheit oder besser wirklichkeit, wie man sie bei Hellenen sonst ver-
geblich sucht (denn sie stilisiren alle), aber wol bei den besten Italikern
findet. an Petron erinnert Sophron. es hat das seinen geschichtlichen
grund. denn späſse wie sie in Groſsgriechenland gäng und gebe waren,
haben zwar auch bei einigen stämmen dorischer abkunft oder doch cultur
im mutterlande analogien, aber nirgend ist auch nur ein ansatz zu künst-
lerischer ausbildung gemacht. dagegen war und ist die italische nation
geboren dazu das charakterische und namentlich das lächerliche scharf
und wahr aufzufassen und wiederzugeben. auf italischem untergrund ist
der mimus und seine künstlerische blüte, die epicharmische posse, er-
wachsen; ebenso später die rhinthonische. man kann nur dazwischen
schwanken, ob die mischung mit italischem blute die Groſsgriechen so
veranlagt hat, oder ob nicht vielmehr, was ungleich wahrscheinlicher ist,
die Italiker schon damals die commedia dell’ arte besaſsen und also auf
10)
[54]Was ist eine attische tragödie?
diesem gebiete die lehrmeister derer geworden sind, denen sie wie wir
alle andere cultur verdanken.


Wir wissen nicht, wie Epicharmos seine gedichte genannt hat; κω-
μῳδίαι sicher nicht, da sie das nicht waren. erst in Athen hat man dieses
wort sehr bald nach τραγῳδία gebildet, als bezeichnung für die lieder,
welche bei den κῶμοι gesungen wurden, die man um 465 dem Dionysos
von staatswegen darzubringen beschloſs. denn so bezeichnet die offizielle
chronik die einführung der komödie. Aristoteles läſst uns noch etwas
mehr erkennen, und die reste der späteren komödie (denn erhalten hatte
sich wol nichts aus den ersten zwanzig jahren ihres bestehens 12) gestatten
sichere rückschlüsse. das volk ordnete und legitimirte nur einen tat-
sächlich bestehenden brauch. es war nämlich aufgekommen, daſs an
dem feste des Dionysos eine oder auch mehrere scharen von männern
sich zusammentaten, sich vermummten, zunächst nur um unerkannt zu
bleiben, und im festzuge mit flötenmusik in den heiligen bezirk zogen, dem
gotte ein phalloslied sangen und das volk, das zu der religiösen feier
und zur tragödie versammelt war, mit einer auf die interessen der bürger-
schaft und des tages bezüglichen scheltrede haranguirten. dann zog der
lustige κῶμος wieder ab. ähnliche züge, nur ohne den festlichen charakter,
tobten an manchem abend durch die gassen, aber der phalloszug war ein
notwendiger bestandteil der religiösen feier, weshalb denn auch das lied
(ᾠδή) welches der ‘nachrede’ (ἐπίρρημα) vorausgeht, noch bei Aristo-
phanes meist einen religiösen charakter trägt. es ist sehr wol möglich, daſs
schon in der zeit der freiwilligen aufführungen ein oder zwei einzelredner
aufgetreten sind und die gesänge durch eine lustige scene unterbrochen
haben. geschah es aber, so war dafür das vorbild der tragödie maſs-
gebend, nach welchem dann, als die komödie staatlich geordnet ward, die
ganze anlage des spieles sich richtete. es dauerte noch eine weile, bis
man statt einzelner zusammenhangsloser scenen eine einzige handlung
durchzuführen versuchte. erst am anfange des archidamischen krieges
gestalteten zwei blutjunge talentvolle dichter, Eupolis und Aristophanes,
die komödie die wir kennen; zuerst sehen wir sie wenigstens den komos
und die ansprache sammt religiösem liede festhalten. dann schwindet das;
[55]Komödie.
immer mehr wird die komödie zum lustspiel. nach dem abblühen der
tragödie fällt ihr ein teil des erbes zu, ein ersatz für den verlust dessen,
was eigentlich die komödie erzeugt und belebt hatte. hundert jahre später
vollendet sich, nicht ohne beihilfe der peripatetischen kunstlehre, die
echte erbin der euripideischen tragödie, aber nicht der aristophanischen
komödie, das menandrische lustspiel. das erst ist wirklich mit dem
modernen drama vergleichbar, weil es lediglich künstlerische zwecke
hat, weder für einen bestimmten tag noch auf ein bestimmtes publicum
berechnet ist, und weil seine stoffe rein menschlich und wirklich dem
tagesleben entnommen sind: sie ist μίμησις βίου, κάτοπρον ὁμιλίας,
ὁμοίωμα ἀληϑείας 13).


Für die tragödie ergeben sich aus der vergleichung des jüngeren
spieles zwei schlüsse. erstens daſs es für sie, deren entstehung viel
älter ist und die der komödie Siciliens und Athens gerade für die dra-
matischen teile die formen geliefert hat, noch viel weniger als für die
dichtung des Kratinos erlaubt sein kann, die aesthetischen abstractionen,
zu welchen allenfalls ihre letzte ausgebildete gestalt veranlassung geben
mag, als voraussetzungen ihres werdens oder auch nur als maſsstab ihres
wertes zu verwenden. zweitens daſs sie unmöglich aus volkstümlichen
tänzen, die am Dionysosfeste stattgefunden hätten, entstanden sein kann,
weder sie noch ihre vorstufe, der dithyrambos, der neben ihr und neben
der komödie bleibt. denn aus den volkstümlichen tänzen geht die komödie
hervor, und sobald sie da ist, verschwindet diese vorstufe 14). eben die-
[56]Was ist eine attische tragödie?
selbe konnte also nicht zwei menschenalter vorher die tragödie oder
noch viel früher den dithyrambos erzeugt und doch neben diesen ausge-
bildeten formen fortbestanden haben. wir können sogar noch weiter
gehen: auch der dithyrambos, aus dem die tragödie hervorgegangen ist,
kann nicht eben der dithyrambos gewesen sein, der neben ihr fortbe-
stand; da muſs etwas anderes stecken. die modernen haben sich nun
aber so sehr daran gewöhnt, die tragödie aus volkstümlichen improvi-
satorischen spielen des faschings hervorgehen zu lassen, daſs es notwendig
ist, einen zweiten umweg durch diese regionen zu machen, um nicht bloſs
diese vermutung abzulehnen, sondern ihre unmöglichkeit positiv darzutun.


Dionysos-
dienst.

Der Dionysosdienst und neben ihm der Demeterdienst unterscheidet
sich, wenn auch schwerlich von anfang an, so doch in der gestalt,
welche allein genauer bekannt und für die tragödie bedingend ist, von
den diensten der olympischen götter dadurch, daſs die gemeinde eine
active bedeutung erhält. Dionysos hat selbst auf erden gewandelt, hat
nicht nur seine gaben verteilt, sondern auch seine feiern, die zwei-
jährigen auszüge in berg und wald, oder was an stelle derselben tritt,
eingesetzt, er hat mit den ungläubigen harte kämpfe bestanden, er fordert
also von jedem einzelnen die anerkennung seiner göttlichkeit und eine
persönliche betätigung des glaubens. das ist mehr als was in den
alten culten geschieht. da vollzieht die heiligen handlungen der durch
geburt und erbrecht oder durch staatlichen auftrag dazu berufene, im
eigenen hause der herr oder die frau, in den staatstempeln der könig
oder sein rechtsnachfolger, in sehr vielen culten, die sich aus geschlechts-
culten zu allgemeiner anerkennung erhoben haben, der durch ererbtes
recht dazu berufene. die menge steht dabei, schweigend, oder an festen
punkten der heiligen handlung festbestimmte rufe erhebend (εὐφημεῖν 15),
ganz selten eine symbolische handlung in festen grenzen mit vollziehend,
die ἱερουργίαι verstehen die οἷς πάτριόν ἐστιν: die ὄργια gehen jeder-
14)
[57]Dionysosdienst.
mann an, der an den gott glaubt 16). damit ist der entfaltung der indi-
vidualität das tor geöffnet. spöttereien und unflätige reden, namentlich
der weiber, sind an den Demeterfesten ein notwendiger teil der feier.
ihn zu motiviren sind die heiligen geschichten von Baubo und Iambe
ersonnen. diese reden haben sich in volkstümliche verse gekleidet; be-
deutende dichter haben die gelegenheit ergriffen, ihren haſs gegen einzelne
und auch allgemeinere gedanken vor die öffentlichkeit zu bringen. so
ist der iambos des Archilochos und Semonides entstanden: bei ersterem
noch deutlich in verbindung mit dem Demeterdienste 17), wenn auch schon
weit über die anfänge und anlässe hinaus gehoben. auch die entstehung
der elegie auf ähnliche weiberspäſse zu beziehen, ist verlockend, aber
die combination hält nicht stich 18). sie gehört vielmehr zum epos, aus
[58]Was ist eine attische tragödie?
welchem ihr versmaſs entwickelt ist, und ist wie dieses ein kunstmäſsiges,
kein volkstümliches gedicht geblieben. im Dionysosdienste ist der aufzug
des phallos ein notwendiger teil der feier. daſs die männer, welche ihn
tragen, die gelegenheit nicht vorüberlassen, von diesem gewaltigen ein
kräftiges wort zu sagen, versteht man leicht. man könnte aus mittel-
alterlicher und auch späterer litteratur und aus recht hohen gesellschafts-
schichten analogien beibringen. so tat es Dikaiopolis zu hause, so taten
es die phallophoren vieler orten, und aus späterer zeit fehlt es nicht
an belegen 19). in Athen giengen sie einen schritt weiter, παρέβησαν
18)
[59]Dionysosdienst.
πρὸς πὸν δῆμον, und das ward der kern der komödie. aber damit
ist es auch zu ende. es ist sehr bemerkenswert, daſs der Dionysosdienst
ein gamz vorwiegend weiblicher ist. aus frauen besteht in Elis, in Del-
phoi, in Athen das collegium seiner priester. die königin von Athen
ist als priesterliche würdenträgerin um dieses dienstes willen erhalten
wordem. das gefolge des gottes selbst ist bei Euripides durchaus weiblich;
die männer dienen ihm auch, aber sie handeln nicht und sind eigentlich
nur in der theorie vorhanden. so ist es auch in der bildenden kunst. Dio-
nysos unter weibern ist seit alter zeit eine gewöhnliche darstellung; wir
nennem sie mänaden und bezeichnen sie damit als sterbliche, wie sie
denn in der tat die scharen der weiber darstellen, die zu den trieterides
hinausgezogen sind. männliche begleiter der art gibt es nicht. sie würden
sogar in dem festzuge fehlen, wenn nicht die phallagogie diesen einen
dienst von ihnen forderte. wenn Heraklit das ληναΐζειν schilt, gilt das
eben diesem anstöſsigen acte, dem ὑμνεῖν ᾄματα αἰδοίοισιν ἀναιδέσ-
τατα. es fehlt also für den tragischen chor im cultus jede anknüpfung.
wenn wir in später zerfahrener zeit von einem carneval hören, wo sich
die männer als satyrn, die weiber als nymphen u. dgl. costumiren, die
ganze bürgerschaft einer stadt sich in den späteren thiasos des gottes
umsetzt 20), so ist es anachronismus, etwas ähnliches für das 6. jahrhundert
zu glauben.


Noch viel weniger ist mit der modernen anschauung anzufangen,
daſs die taten und leiden des gottes gegenstände mimischer tänze und
spiele gewesen wären 21). leiden zunächst gibt es nicht; es sei denn
allenfalls der von Hera gesandte wahnsinn, von dem wir sehr wenig
19)
[60]Was ist eine attische tragödie?
wissen. der überfall der Titanen, die zerfleischung des Zagreus ist eine
orphische dichtung, die man sich hüten muſs über das pisistratische
zeitalter hinauf zu datiren, und in den cultus hat sie nicht einmal zu
Eleusis zu irgend wie berücksichtigenswerter zeit eingang gefunden. ver-
wendbare überlieferungen von mimischer darstellung der Dionysostaten
gibt es nicht. das genügt eigentlich. aber es konnte auch nicht anders
sein. der gegensatz des Dionysosdienstes zu dem der olympischen götter,
der die beteiligung der gemeinde herbeiführte, schlieſst solche vorstellungen
aus. gewiſs haben in manchen culten bestimmte personen durch bestimmte
handlungen ein abbild einer heiligen geschichte geliefert. allein diese
mimischen darstellungen haben nicht an sich wert, sondern nur als sym-
bole, als ein augenfälliger ausdruck desselben gedankens oder derselben
empfindung, welche auch in der heiligen geschichte niedergelegt sind.
das δρώμενον und der λόγος bedingen sich nicht gegenseitig, sondern
sie stammen aus derselben wurzel, der religiösen empfindung. der mensch,
der sich zu der hohen culturstufe des ackersmanns erhoben hat, empfindet
eine innere scheu, den stier, seinen arbeitsgenossen, zu schlachten und zu
essen, den er doch als jäger und hirte ohne anstand getötet hatte, und
er kann und will doch den genuſs des rindfleisches nicht entbehren.
wir mögen nur daran denken, daſs wir unsere näherstehenden gefährten,
roſs und hund, auch nicht essen mögen, und auch ein rind, das uns als
individuum wert geworden ist, schwerlich für unsern tisch schlachten
lassen möchten. aus diesem widerstreit der empfindungen entsteht der
ritus der Buphonien, die symbolische ceremonie, entsteht die geschichte
vom ersten rinderschlächter Thaulon, auf den die befleckung des mordes
abgewälzt wird. das erste ergibt allerdings ein dramatisches, wenn auch
stummes spiel, das andere eine legende. die legende kann sich nun
freilich von dem αἴτιον loslösen; sie kann als geschichte einen stoff-
lichen wert erhalten, die phantasie des volkes und der dichter kann sich
ihrer bemächtigen, sie weiterbilden, schlieſslich so umgestalten, daſs die
erinnerung an ehemalige symbolische bedeutung völlig verloren geht.
aber die symbolische handlung ist nicht entwickelungsfähig; wenn sie
nicht heilig ist, wird sie absurd. sie kann sich wol gemäſs den wand-
lungen des religiösen empfindens umformen, wie es das opferritual getan
hat; allein der spielraum für diese entwickelung ist ein sehr beschränkter.
sie wird sich als eine leere form durch die macht des herkommens lange
zeiten behaupten. das ende aber ist in beiden fällen, daſs einmal der
augenblick kommt, wo man sich eingesteht, daſs eine leere schale nur
noch zum wegwerfen taugt. die geschichten von Heras eifersucht und
[61]Dionysosdienst. Eratosthenes.
versöhmung leben in mannigfachen umgestaltungen fort: die spiele mit
den puppen (δαίδαλα) auf dem Kithairon haben bestanden, als sie längst
läppisch geworden waren: aber zu machen war aus ihnen nichts. sollte
sich etwa aus solchen fratzen die tragödie entwickeln; d. h. sollte man
einmal statt Zeus und Hera Iason und Medeia spielen? nirgends ist
das mimische im cultus weiter getrieben als in dem drachenkampf des
pythischen Apollon. die musik hat das dankbare motiv aufgegriffen und
in immer neuen variationen mit immer reicherer instrumentirung durch-
geführt. aber ein ausgangspunkt für dramatisches spiel ist es nicht ge-
wordem und konnte es nicht werden. da nun im attischen Dionysos-
dienste auch nicht einmal eine ähnliche ceremonie existirt hat (oder
wollte man mit dem beilager des gottes und der βασίλιννα rechnen?),
und nicht mehr existiren konnte, seit die gemeinde der gläubigen statt
der wenigen berufenen den gottesdienst betrieb, so ist diese herleitung
des dramas eine unmöglichkeit; wie sie denn auch den alten ganz fern
gelegem hat; wenigstens im ernste.


Allerdings hat Eratosthenes in der Erigone gedichtet, daſs DionysosEratosthe-
nes.

die tragödie gewissermaſsen selbst gestiftet hätte. als er nämlich den Ika-
rios dem weinbau lehrte, fraſs ein bock die junge rebe an; zur strafe ward
er geschlachtet, und die Ikarier zogen ihm das fell ab, bliesen es auf und
machten sich den spaſs, zu versuchen wer auf dem aufgeblasenen schlauche
tanzen könnte; die meisten fielen ab und der sieger erhielt den schlauch
voll wein. daraus ist das attische kannenfest geworden, das der schluſs der
Acharmer so deutlich darstellt. den braten aber erhielten die tänzer, welche
um ihm einen reigen zu ehren des gottes aufführten: diesen reigen nannte
man ‘bocksgesang’, und daraus ist die tragödie entstanden, welche ein Ika-
rier Thespis viele hundert jahre später in Attika verbreitet hat, auf dem
lande herumziehend, wie sein ahn Ikarios, der den weinbau verbreitete, das
gesicht mit hefe beschmiert, woraus das ‘hefespiel’ geworden ist, die τρυ-
γῳδία, wie man in alter zeit die komödie genannt hat 22). da Eratosthenes
nur in zweiter linie dichter war, in seinem bedeutenden werke περὶ
[62]Was ist eine attische tragödie?
κωμῳδίας aber die ursprünge des dramas behandeln muſste, so ist aller-
dings zu glauben, daſs er seine dichterischen bilder nicht ohne rücksicht
auf seine wissenschaftlichen vermutungen gestaltet haben wird. manches
darin macht auch den eindruck, als wäre es von ihm schon übernommen,
wie denn die Erigonefabel in ihren grundzügen so wenig seine erfindung
sein kann wie die Hekale erfindung des Kallimachos. aber als tatsachen
hat der sehr besonnene forscher die fremden oder eigenen autoschediasmen
gewiſs nicht gegeben; auf alle fälle sind sie nichts weiter. denn die ein-
kehr bei Ikarios ist zwar eine echte attische dorfsage; nur ist Dionysos auf
seinem erdenwallen vielfach eingekehrt, bei Pegasos in Eleutherai, bei
Semachos in dem dorfe, das nach ihm heiſst, bei könig Amphiktion in der
stadt. und die tragödie geht die einkehr nichts an. das andere sind
spielend erson̄ene αἴτια für die ἀλῆτις, für den ἀσκωλιασμός und das
wetttrinken an den Choen, für die rätselhaften namen τρυγῳδία und
τραγῳδία; das herumfahren könnte nur die πομπή angehen, ist für den
Dionysoscult nicht charakteristisch, würde auch nur zur komödie führen:
das lehren die dem Demetercult angehörigen spottreden ἀφ̕ ἁμάξης 23);
der frevel des bockes endlich soll das tieropfer überhaupt motiviren und
hat viele analogien in den δρώμενα, z. b. der Buphonien, und in peripate-
tischen und pythagoreischen speculationen 24). nicht an sich haben also
diese dinge wert. aber Eratosthenes hatte sowol als forscher wie als
dichter einen ganz ungemessenen einfluſs; so bestimmte er die folgezeit,
und was uns von kind auf aus Horaz und Vergil geläufig ist, geht schlieſs-
lich eben so gut auf ihn zurück wie die gelehrte doctrin Varros, deren
niederschläge neben den dichtern Roms auch die antiquare, vor allem
Sueton, uns übermitteln. von diesen vorstellungen müssen wir uns
losmachen. und das gelingt am sichersten, wenn wir einsehen, wo sie
eigentlich herstammen und wie sie sich gebildet haben. es sind con-
[63]Eratosthenes. dithyrambos.
structionen, keine überlieferung. sie müſsten schon deshalb fallen, weil
das aristotelische zeugnis mit ihnen unvereinbar ist, nach welchem die
tragödie aus dem dithyrambos stammt. um so wichtiger wird dieser,
nachdem wir aus inneren gründen das ganze gebäude des Eratosthenes
umgestürzt haben.


Die tragödie stammt von den sängern des dithyrambos. das scheintdithyram-
bos.

zunächst wenig zu helfen, da ein wenig bekanntes ding durch ein ganz
unbekanntes erklärt werde. wir wissen ja wol so viel mit sicherheit,
daſs der dithyrambos dem wortsinne nach nur einen göttlichen d. h.
besonders schönen oder erfreulichen ϑύραμβος bedeutet; ϑύραμβος oder
auch ϑρίαμβος ist der appellativname eines gesanges oder tanzes, den
wir so wenig zu deuten vermögen wie ἴϑυμβος oder ἴαμβος 25). in
ältester zeit ist der dithyrambos ein lied, das der zecher anstimmt, wenn
er des gottes voll ist 26). mit ziemlicher sicherheit läſst sich als heimat
des dithyrambos die insel Naxos ansehen, das centrum des Dionysos-
dienstes auf den inseln 27). wir wissen ferner, daſs Arion von Methymna,
einer stadt mit lebendigem Dionysoscult und keinesweges ausschlieſslich
aeolischer bevölkerung 28), am hofe des Periandros dieses weinlied des
einzelnen weinseligen zechers zu einem chorgesange umgestaltet hat,
[64]Was ist eine attische tragödie?
und daſs die Korinther auf diese bei ihnen, wenn auch nicht durch sie,
entstandene gattung besonders stolz waren 29), wie denn auch in der tat
der dithyrambos zunächst nur in benachbarten gegenden in aufnahme
kam. aber das hilft uns wenig; denn nicht nur wir besitzen keine proben
mehr von jenen poesieen, sondern schon unsere antiken berichterstatter
kannten die dithyramben des 6. jahrhunderts nur von hörensagen: er-
halten hatte sich nichts 30). somit sind wir und waren jene im wesent-
lichen auch auf die dithyramben des Pindaros und seiner zeitgenossen
angewiesen, und diese unterscheiden sich in nichts auſser einer gewissen
metrischen freiheit von den übrigen chorliedern. damals bestand nun
die tragödie bereits selbständig neben dem dithyrambos, und so viel liegt
[65]dithyrambos. bildung der hellenischen nation in Asien.
auf der hand, daſs sie gerade jene bezeichnende metrische freiheit nicht
besitzt, vielmehr mit den andern chorliedern gegen den dithyrambos
steht. das aber ist allerdings eben so offenkundig, daſs die tragödie in
metrik und sprache, soweit sie chorlied ist, mit den andern chorliedern
zusammengeht. hier also bietet sich ein angriffspunkt. wenn wir die
art nicht mehr kennen, an die uns Aristoteles weist, so wenden wir uns
an die gattung. weit muſs ausgeholt werden; es ist wol auch ein umweg:
aber ein holzweg ist es nicht.


Die völkerwanderung hatte die in der cultur vorgeschrittenen stämmeBildung der
helleni-
schen nation
in Asien.

teils unterjocht, teils aus dem lande getrieben. die zurückgebliebenen
waren hörige häusler untertanen geworden; eine selbständige entwickelung
war für sie unmöglich. ihre noch fast ganz barbarischen herren hatten
gleichwol viel bei ihnen zu lernen, so viel, daſs es zu einer reinen ent-
faltung ihres eigenen wesens auch nicht kam. jahrhunderte waren nötig,
damit überhaupt die widerstrebenden elemente zu einem neuen volkstum
verschmolzen; und damit war doch nicht viel mehr erreicht, als daſs der
boden für die aus dem osten zurückflutende cultur empfänglich gemacht
war, und auch das war nur in einem kleinen teile von Hellas der fall:
die ganze westküste ist der cultur so gut wie verloren geblieben. die
wenigen gegenden aber in welchen sich die alte bevölkerung behauptet
hatte, Euboia, Attika, die dryopische und saronische küste der Argolis,
waren einstmals die etappen für die auswanderung gewesen und jetzt
wieder die berufenen träger der vermittelung. hier nur konnte sich
eine stätte finden, wo sich alle lebensfähigen culturelemente zusammen-
finden und zu einer höheren wahrhaft nationalen cultur vereinigen und
steigern mochten.


In den durch harte kämpfe erworbenen neuen sitzen an der herr-
lichen asiatischen küste verwuchsen zunächst die hinübergeworfenen splitter
von stämmen und völkern zu neuen gröſseren stammesgenossenschaften,
hier auch empfand man durch den gegensatz der barbaren zuerst die
verwandtschaft auch der ferneren glieder des gemeinsamen volkes, erhob
man sich ganz allmählich zu der erfassung des begriffes eines einigen
Hellenentums in race und cultur. zu der zeit, von welcher es zuerst
möglich ist, sich einigermaſsen ein bild zu machen, etwa vom achten
jahrhundert ab, ist der vorwaltende stamm der ionische, von seinen sitzen
an der mysischen lydischen karischen küste nicht nur nach norden und
süden übergreifend, sondern bereits die Propontis und fernere gestade
mit pflanzstädten besetzend. die süddorischen inseln haben die inner-
liche ionisirung bereits begonnen, vorbildlich für das mutterland; aber
v. Wilamowitz I. 5
[66]Was ist eine attische tragödie?
auch die Aeoler sind schon im niedergange, verlieren manche küsten-
plätze 31) und sind in der cultur nunmehr die empfangenden. dennoch
erkennen wir daſs es einst umgekehrt gewesen war. eben das epos,
welches doch der lebendige ausdruck der ionischen suprematie ist, trägt
die deutlichen spuren in form und inhalt davon, daſs es aus aeolischer
wurzel stammt. aber freilich, die Ionier haben es aus ihrem geiste neu
geboren; nur dem bewaffneten auge des forschers erscheinen die ein-
zelnen fremden züge. und erst als ein ionisches, als Homers werk, hat
das epos die culturmission übernommen, das mutterland wieder für das
Hellenentum zu gewinnen. ist doch selbst Aeolien in den zauberbann
des ionischen epos getreten. Hesiodos (wol um 700), der aus einer aeoli-
schen familie stammte, und als hintersasse in dem boeotischen Askra zum
dichter ward, hängt vollkommen von dem homerischen epos ab, seine
stolzeste erinnerung ist, daſs er bei den leichenspielen eines fürsten in
dem ionischen Chalkis den preis erhalten hat: und um 600 ist seine
dichtung in Mytilene populär.


Das ioni-
sche epos
wandert in
Hellas ein.

Das ionische epos befand sich in den händen von beruſsmäſsigen
sängern oder besser sprechern. wie alle griechische kunst, war auch
der homerische stil das ergebnis langer handwerksmäſsiger übung, und
nur wer ihn gelernt hatte, vermochte ihn zu üben. dichten und vortragen
waren keine geschiedenen berufe. der stoff aber war volksmäſsig. denn
auch die von den Aeolern entlehnten elemente waren es längst geworden.
allein nach dem mutterlande trugen die sänger den Homer als etwas
inhaltlich und formell neues, höchstens durch die von mund zu mund
gehende sage ein wenig vorbereitetes. das epos kam übers meer wie
[67]Das ionische epos wandert in Hellas ein.
andlere ionische ware auch; die rhapsoden, die zuwanderten, verdienten
sich mit seinem vertriebe ihr brot. sehr früh muſs dieser verkehr be-
gomnen haben, lange ehe ein bauernsohn in Askra aus eignem drange
sich dem dichterberufe in den fremden formen hingeben konnte. und
die empfänglichkeit der hörer muſs eine groſse gewesen sein, da sie
sich diese fremde dichtung nicht nur angeeignet haben, sondern ihre
ganze eigne dichtung auf ihr aufgebaut. die neuen völkerschaften, die
sich im mutterlande aus der mischung von eingewanderten herrn und
alteingesessenen untertanen und knechten gebildet hatten, besaſsen zwar
einen reichen schatz von nationaler überlieferung, aber sie hatten noch
keime lebenskräftige poesie. der gehalt war da: das gefäſs fehlte. nun
kam ein solches völlig fertig aus Ionien, und es kostete verhältnismäſsig
wenig mühe, den neuen wein der festländischen sage hineinzugieſsen.
die sagen, welche den inhalt des importirten epos ausgemacht hatten,
wurden freilich auch übernommen, wirkten als kräftigstes ferment auch
für die ausgestaltung der neuen epik mit, muſsten sich aber dafür mannig-
fache umformungen gefallen lassen. die kunstform, versmaſs, sprache,
stil, blieb; was sich darin änderte, geschah unwillkürlich und den ändern-
den unbewuſst. so erlebt denn das homerische epos im mutterlande
während der jahrhunderte 750—550 eine neue blüte, mochte es in seiner
heimat gleichzeitig auch immer mehr zurücktreten. auch die sage der
Peloponnesier und der amphiktionischen völkergruppe schlug sich noch
in epischer form nieder; nur in die westlichen colonien ist das epos
nicht mehr gelangt. es sind wesentlich die culturkreise von Chalkis Del-
phoi Korinth Argos, welche sich seiner pflege widmen. übrigens bleibt
die dichtkunst durchaus in den händen der handwerksmäſsigen sänger.
noch viel stärker als der Ionier muſste der Peloponnesier empfinden,
daſs er sich eine fremde mundart und ausdrucksweise aneignen sollte,
um die taten seiner vorfahren und die idealbilder seiner eignen phantasie
den landsleuten vorzuführen. und für uns büſst, wer immer es versucht,
so ziemlich seine heimische nationalität zu gunsten der internationalen
homerischen oder hesiodischen weise ein: erscheint doch Hesiodos selbst
beinahe als ein Homeride. dieser umstand hat vielleicht ein wenig dazu
mitgewirkt, daſs die herrschende gesellschaft, die dorischen oder chalkidi-
schem ritter, selbst an der pflege des epos nicht hand anlegen. aber das
ward noch durch etwas viel eingreifenderes gehindert, durch das standes-
gefühl. zwischen dem adlichen burgherrn und dem fahrenden spielmann,
den er sich dang, daſs er in der halle eine schöne mär sagte, von Ilios
oder Theben, lieber noch eine von Herakles und Kyknos, oder von Medeias
5*
[68]Was ist eine attische tragödie?
heimholung, oder des Aigimios ritterspiegel, war die kluft allzugroſs: weder
konnte der spielmann ritterbürtig werden, noch der herr mehr für die
dichtung tun, als daſs er etwa dem dichter die geschichten von seinen und
seines volkes ahnen erzählte und gute bezahlung gab, damit jener sie in
homerische verse setzte und etwa eine Mekionike in die reihe der er-
habenen götterfrauen aufnähme, die aus himmlischem samen die ahnherrn
der erlauchten häuser geboren hatten. das epos hat im mutterlande un-
endlich viel für die erhaltung des stoffes gewirkt. aber es hat nur den
boden für eine wirklich nationale poesie vorbereitet: selbst ist es immer
etwas halbfremdes und ich möchte sagen halbfreies geblieben.


Iambos und
elegie.

In Ionien vollzog sich nun aber in eben den jahrhunderten 7 und 6
eine gewaltige verschiebung aller schichten der gesellschaft und der cultur.
hier gieng das rittertum zu grunde durch das bürgertum der groſsen
handelsstädte. zwar behauptete sich, auch wenn der name demokratie
war, durchweg ein bevorrechteter stand, welcher den gröſsten besitz mit
der höchsten bildung verband; allein es stieg fortwährend frisches blut
von unten empor in die bevorrechteten kreise. jedes geistige schaffen
aber nahmen diese selbst in die hand; die handwerksmäſsige pflege der
homerischen poesie blieb, aber immer weniger productiv und immer
weniger geachtet. es wehte ein scharfer wind. weithin übers meer
zogen die schiffe, weiterhin ins ungemessene die gedanken. aus der
tiefe des arbeitenden volkes stiegen rücksichtslose wagemutige männer
auf, die durch die kraft der eignen faust und des eignen kopfes sich
eine stellung schufen, die herrschenden gewalten bezwangen und ihr
volk befreiten bevormundeten bedrückten. aus den tiefen des menschen-
herzens stiegen die ewigen gefühle, des menschenherzens unendlichkeiten
in wonne und weh, des menschengeistes qualen in antwortlosem fragen
nach den ewigen rätseln der welt auf die lippen empor. der mann, der
im rat und auf dem markte der erste war, trat vor das volk oder den
vertrauten kreis in der halle des marktes, auf den stufen des gotteshauses,
im saale des festgelages, und sprach sie an aus eigner seele in eignem
namen. er erzählte nicht von Giganten und längst vermoderten ahn-
herrn, sondern von der gegenwart, schalt der bürger lässigkeit, warnte
vor der gefahr, schleuderte dem gegner den schimpf entgegen, oder auch
er sagte, was ihn das eigne denken gelehrt, wie die welt geworden, was
des lebens wert sei, und tausend weise sprüche. die form war bald die
aus dem ältesten urbesitze des volkes emporgeholte und durchaus volks-
tümliche des iambos, oder die kunstmäſsig aus dem epos abgeleitete ele-
gische strophe. aber auch in dieser bemeisterte die gegenwärtige sprache
[69]Iambos und elegie.
das fremdartig altertümliche. um 550 tat man dann den letzten not-
wendigen schritt, und streifte als letzte aller bande die gebundene rede ab.


Was der elegiker oder iambograph in seinem kreise vorgetragen
hatte, trug der rhapsode bald ebenso wie das epos weiter, und so gelangte
auch diese poesie in das mutterland. aber hier war der boden noch
nicht reif für die entfaltung dieser subjectivität, und nur in dem stamm-
verwandten Athen bemächtigte sich der gründer der verfassung der poesie
als einer waffe um die stimmung seines volkes zu beeinflussen. was der
handelsmann Solon konnte, der in vielen ländern mit vielerlei volk ver-
kehrt hatte, dazu war der ritter auf seiner burg oder am gemeinsamen
tische unter seinen zeltgenossen nicht fähig. wol nahm die politische
hauptstadt des Peloponnes, nunmehr Sparta, die elegie auf, weil der adel
mit der bunten homerischen bildlichkeit nie viel hatte anfangen mögen,
dagegen gefallen daran fand, sich einen spiegel der tugenden, zu denen
ihn der zwang seiner standesehre erzog, in den gefälligen formen der
verständigen und verständlichen ionischen elegie vorhalten zu lassen. aber
dabei gieng eben das verloren, was den fortschritt der elegie über das
epos gebildet hatte, das individuelle. der herrschenden überlieferung nach
war der einzige dichter ein zugewanderter Ionier. mag diese tradition
wahr oder falsch sein 32), sie beweist, daſs man den Lakonen einen solchen
dichter nicht zutraute. und wirklich spricht aus den meisten gedichten,
die auf Tyrtaios namen giengen, nicht ein einzelner mensch, sondern ein
[70]Was ist eine attische tragödie?
stand. der culturkreis von Korinth und Argos, Theben und Chalkis ver-
schlieſst sich dieser poesie. auch nach dem westen kommt sie so wenig
wie das epos. denn als Theognis in den beiden Megara dichtet, ist bereits
Athen mehr maſsgebend als Korinth. der iambos vollends, der volkstüm-
lichere kräftigere bruder der elegie, ist auf Athen beschränkt geblieben:
daſs Solon ihn dort eingebürgert hat, sollte allerdings die ungeahntesten
früchte tragen.


Das lied.

Das lied, das nicht der dumpfen menge ertönt, das der dichter
nicht singt die menschen zu bessern und zu bekehren, noch sie zu er-
götzen und zu unterhalten, das er nur der Muse oder etwa der geliebten
singt, das echte lied ertönt von Lesbos und nur von Lesbos; es ertönt
als der schwanensang der sterbenden aeolischen cultur. Sappho steht
einzig da in der ganzen stolzen geschichte des griechischen geistes: und
wenn sie nicht so ganz natur wäre, würde man sie für unbegreiflich
halten. für die eigentliche lyrik gilt in noch höherem maſse als für die
poesie überhaupt, daſs nur das allerbeste lebensfähig ist. wol täuscht sich
die gegenwart über den wert des sanges, der von allen lippen tönt,
besonders stark; aber die nachwelt ist dafür um so grausamer. deshalb
erkennt man die übergänge schwer. man wird ja nicht bezweifeln, daſs
trotz dem schweigen der überlieferung neben der lesbischen nachtigall
auch in Ionien mancherlei vöglein gezwitschert und gepfiffen haben, ein
jegliches bewundert in seinem haine. und gesungen hat das lokrische und
peloponnesische mädchen bei der spindel und beim wassertragen ohne
zweifel auch: aber das alles ist spurlos in die winde verhallt. weder hier
noch dort war für das lied im 7. und 6. jahrhundert eine stätte. das gebun-
dene wesen der ritterschaftlichen cultur lieſs die knospen des herzens noch
nicht springen. in den sich immer mehr demokratisirenden städten Asiens
wehten die frühlingsstürme, die den boden befruchten, schoſs die heiſse
sonne einer arbeitsfrohen geschäftigkeit ihre raschreifenden stralen: da
begehrte man keine frühlingsblumen und träumte nicht am bachesrand.
die tieferen geister grübelten über gott und welt, die menge jagte nach
macht und gold; sie verschmähte wie alle guten dinge auch das lied nicht,
aber ihre lyrik war nur die der begierde und des genusses. Anakreon
mochte im kreise der zechbrüder am üppigen hofe des Polykrates von
wein und liebchen singen, mit vollendeter grazie, aber ohne daſs selbst
in den knabenliedern das herz stärker mitspräche. einem ernsten manne
würde diese poesie zuwider werden müssen, wenn nicht der dichter sich
als ein wirklicher bewiese, νήφων κἀν βακχεύμασιν, immer seinem
stoffe überlegen, das ganze treiben und sich selbst leise ironisirend. aber
[71]Das lied. Alkman.
selbst für Athen war dies lied eine exotische pflanze und hat nur durch
die form nachhaltig gewirkt. noch viel weniger hätten Dorer, z. b. die
uns aus Pindar so wolbekannte aeginetische gesellschaft damit anfangen
können. unter den festlandsgriechen üben nur einige weiblein das lied,
die so oder so, als vaterlandsverteidigerin wie Telesilla, oder als hetäre 33)
wie Praxilla, aus den schranken ihres geschlechtes treten. Korinna ist
ein braves mühmchen, und erzählt in ihren sehr kunstlosen aeolischen
rhythmen den Tanagraerinnen ihre mährlein (γέροια); sie ist allerdings
eine art Sappho, nur eine boeotische. das alles stieg nicht in die leitenden
kreise der gesellschaft.


Und doch war schon im 7. jahrhundert ein kräftiger bach aeolischer
liederpoesie nach dem mutterlande herübergekommen, der immer stärker
anschwellend schlieſslich das stolze schiff der aischyleischen tragödie flott
gemacht hat.


Schon früh im siebenten jahrhundert sind fahrende sänger aus LesbosAlkman.
im Peloponnes aufgetreten und der name des Terpandros zumal steht
an der spitze der musikgeschichte. in wie weit die theoriker der aristo-
telischen zeit, welche uns davon erzählen, eine zuverlässige kunde von
seinen musikalischen leistungen besaſsen, sind wir auſser stande zu con-
trolliren, worin nicht liegt, daſs wir darauf fest bauen dürften. dichtungen
aus dem siebenten jahrhundert waren nicht erhalten 34). dennoch reichen
die reste Alkmans hin, um von dem litterargeschichtlichen zusammen-
hange eine deutliche vorstellung zu gewinnen. er wendet die formen
der lesbischen poesie an, zwar nicht die ausgebildeten des Alkaios oder
gar der Sappho, aber ersichtlich ihre vorstufen, die Terpandros einge-
führt hatte. er beherrscht auſserdem eine ganze reihe der ionischen
versmaſse (iamben, trochaeen, paeone, ioniker), und hat begonnen nach
dieser analogie einzelnes epichorische auszubilden (anapaeste). seine sprache
ist das getreue abbild dieser mischung der formen, denn das lesbische,
[72]Was ist eine attische tragödie?
epische, lakonische steht auch in ihr nebeneinander. aber eins ist neu
bei Alkman: er ist chordichter. zwar hat auch Sappho für ihre mädchen
und in den hochzeitsliedern auch für jünglinge lieder gedichtet zu ge-
meinsamem gesange. und in vielen culten wurden processionslieder,
wiederum vorwiegend für mädchen, gebraucht. daſs bei den volkstüm-
lichen reigen allerorten auch gesungen worden ist, ist selbstverständlich.
und doch ist bei Alkman etwas völlig neues da. wenn er auch bei
manchen feierlichen gelegenheiten das eigne ich zurückgehalten haben
wird, so ist doch zumeist der chor für ihn nur ein instrument, dem er
so gut seine eignen empfindungen leiht wie der laute. von sich, seinem
namen, seiner herkunft, seinem hunger und seinen versen redet er oder
läſst er vielmehr die mädchen singen. ja, sie müssen uns von seinen
liebeleien unterhalten. die kärglichen und schwer zu deutenden reste
gewähren kein volles bild von dem dörflichen dichter, den man vielleicht
am ehesten mit Neidhard von Reuental vergleichen kann. aber gerade
das formelle, auf das es für die entwickelung ankommt, ist sonnenklar:
der chorgesang und daneben doch die äuſserung der individualität des
dichters ist erreicht.


Stesichoros.

Alkman und sein bäschen Agido gehören nicht zur ritterbürtigen
gesellschaft, die sich gleichzeitig etwa an der Eunomie des Tyrtaios erbaute.
die chorpoesie ist die der perioeken. so dringt denn auch die vornehme
heldensage nicht stärker ein, als der allgemeine lakonische patriotismus
und die auch hier gewaltige macht Homers mit sich bringt. die helden-
sage als inhalt und die höchste gesellschaft als publicum erobert für
die chorische lyrik erst Stesichoros. Sparta und Himera liegen weit von
einander, und niemand wird sich vermessen, etwa weil Stesichoros in der
tat specifisch lakonische sagen kennt, einen directen zusammenhang anzu-
nehmen. die etappen der allgemeinen entwickelung beobachten wir nur
an vereinzelten punkten, und daſs sich ein scheinbarer zusammenhang
ergibt, ist der erfolg der gleichartigkeit, welche über weite räume hin
die kunst beherrscht. in der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts sind
dichter aus Chalkis und seiner nachbarschaft die bedeutendsten; ein chal-
kidisches volkslied zeigt die charakteristischen formen der Stesichoreischen
daktyloepitriten 35): was wunders daſs in einer chalkidischen enkelstadt
[73]Stesichoros. die chorische lyrik.
um 580 der ordner dieser gattung auftritt? und daſs gerade in Sicilien,
wo das epos fehlte, die chorische lyrik das gefäſs der sage ward, ist
vollends begreiflich. wir wissen nun leider nicht, zu welchen heiligen
oder profanen zwecken Stesichoros seine chorlieder verfaſst hat, wenn
auch die novelle darin ein richtiges bild zweifellos von ihm bewahrt
hat, daſs er in den höchsten kreisen der nation eine stellung wie Simo-
nides hat. wir sehen aber, daſs er bald so objectiv erzählt wie Homer,
bald so subjectiv wie Alkman (denn nur so ist die palinodie verständ-
lich): und wir werden nicht fehl gehen, wenn wir die späteren verhält-
nisse so ziemlich auch auf ihn übertragen. daſs er es vor allen gewesen
ist, der den späteren dichtern ihr instrument, den chor, hergerichtet hat,
und daſs er als die aufgabe der lyrik erkannt hat das epos zu ersetzen,
ist deutlich und ist die hauptsache.


Simonides und Pindaros lassen uns die verhältnisse, wie sie seitDie chori-
sche lyrik.

der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts lagen, mit vollkommener deutlich-
keit übersehen. bei allen möglichen gelegenheiten, zu ehren der götter
oder der menschen, an den tagen, deren feier von der allgemeinen sitte
geboten ist, ebenso wie ohne solchen äuſsern anlaſs, wenn nur stimmung
und möglichkeit vorhanden sind, treten chöre auf, von männern oder
jünglingen, was nicht gesondert wird, im götterdienste einzeln auch von
jungfrauen. sie singen zum tanze oder auch zum marsche ein lied eigens
zu diesem behufe gedichtet. dies lied ist immer das wort des dichters; er
redet durch den chor in eigener person. er erfindet jedesmal ein neues
maſs; aber fast ausschlieſslich aus ganz wenigen bestimmten rhythmen-
geschlechtern. auch den inhalt gestaltet er frei; aber trotz aller mannig-
faltigkeit der anlässe und also auch der aufgaben ist die behandlungsart
und der ton durch ein festes herkommen gebunden. die sprache ist
ein künstliches gebilde; noch immer zeigt sie, wenn auch in anderem
mischungsverhältnis 36), die drei ingredientien wie bei Alkman; aber die
[74]Was ist eine attische tragödie?
willkürlich einmal gegebenen gesetze werden jetzt streng befolgt. sie ist
international wie die des epos, weil sie nirgend national ist. wie im
epos ist auch der stil ein conventioneller, fest gefügter. all das ist nur
erklärlich durch die arbeit von generationen und die kunstmäſsige, wenn
man will handwerksmäſsige, schulung der dichter. diese stehen also nicht
wesentlich anders da als die epiker. der rhapsode war freilich zugleich
dichter und ausübender künstler; auch Alkman war es noch bis zu einem
gewissen grade gewesen. das war jetzt anders. aber die handwerks-
mäſsige ausbildung war nun für die sänger nicht minder nötig, als für die
dichter. denn diese ziehen nicht nur durch alle gauen und setzen voraus,
ihr instrument überall vorzufinden, sie senden auch ein werk in ferne
lande hinüber, und können sicher sein, daſs es zur aufführung kommen
kann. das ist ohne einen stand von berufsmäſsigen sängern und musikern
nicht möglich, wenn auch vieler orten die dilettanten so weit geschult
sein mochten, um selbst ausübend aufzutreten. dieses und noch viel-
mehr daſs solche gedichte auf leidenschaftlichen beifall und auf verständnis
rechnen konnten, zeugt auf das nachdrücklichste von einer durchgehenden
gleichartigen bildung, einem keinesweges verächtlichen niveau der cultur
durch die ganze gesellschaft hin, für welche diese poesie gilt. allerdings
ist es nur eine oberste schicht, ein geschlossener kreis des adels, mit
dem dieselbe überhaupt rechnet. so weit dieser adel reicht, reicht sie,
über viele lande hin, aber nirgends tief in das volk hinunter, d. h. genau
soweit wie die ideale des dorischen adels gelten, die sie ja zum ausdruck
bringt. es ist das ganze Griechentum, mit ausschluſs des eigentlichen
Ioniens; doch auch die Inseln und das nicht ionische Asien nimmt nur
vereinzelt daran teil. allerdings lag in der gemeinsamkeit des standes-
gefühles, der cultur und der ideale alles das was diese zeit an nationaler
einheit besaſs. es war nicht wenig: es hat der einheit des volkes mächtig
vorgearbeitet. allein wir sehen am besten daraus, daſs in den nicht do-
rischen landschaften Euboia und Attika eben die bevorrechteten classen,
welche als ständisch gleichberechtigt an dieser cultur teilnahmen, gestürzt
werden muſsten, damit der nationale staat entstünde und die cultur das
hellenische volk als ganzes durchdränge, wie unmöglich es war, auf
diesem boden die einigung durchzuführen. Athen hat auf allen gebieten
den kampf mit dieser gesellschaft aufgenommen; die cultur hat es über-
36)
[75]Die chorische lyrik.
wunden, und zuerst ist diese poesie untergegangen. daſs es die mate-
rielle kraft nicht gewann, auch die politische herrschaft durchzuführen,
daran ist nicht bloſs Athen sondern ist Hellas zu grunde gegangen. weil
für jene ganze cultur das Dorertum führend und maſsgebend ist (obwol
das schon versteinernde Sparta an der poesie gar keinen anteil mehr
hat), nennt man nicht ohne grund auch die poesie dorisch, und hat es
schon damals getan: festzuhalten aber ist, daſs die Dorer kaum einen
dichter gestellt haben, und daſs es schon eine bewunderte und bewun-
dernswerte ausnahme war, als ein boeotischer adlicher, aus einem ge-
schlechte das noch über die einwanderung zurückreichen wollte, das hand-
werk ergriff, das sonst ein Dryoper, Lasos, ein Lesbier, Arion, ein Keer,
Simonides, ein Chalkidier aus Rhegion, Ibykos, übten. 37) erst Pindaros,
und auch er nur mit einsetzung seiner ganzen persönlichkeit, hat die
dichtung aus den händen der bezahlten fahrenden genommen. der adel
hörte zu, sang wol auch mit; aber er hielt das dichten doch nicht für
ganz standesgemäſs. Archilochos, “zugleich ein sänger und ein held”,
war ihm widerwärtig.


Die antiken philologen haben sich abgemüht die chorischen gedichte
in classen zu sondern. der zweck war zunächst ein rein äuſserlicher,
nämlich für die erst von ihnen in gesammtausgaben vereinigten gedichte
eine ordnung zu finden, die man nach einigem schwanken in solchen
classen fand, wie hymnen paeane dithyramben u. s. w. da die über-
lieferung über diese äuſserlichkeiten zufällig eine ziemlich reiche ist (weil
die uns erhaltenen grammatiker ein buch des Didymos eifrig ausge-
schrieben haben), so haben sich die modernen zu dem irrtum ver-
leiten lassen, als käme auf die gattungen etwas besonderes an. das
wichtige ist vielmehr, daſs die gedichte selbst, alle wie sie da sind,
die individuellen äuſserungen des dichters sind. der anlaſs wird ihn ver-
schieden stimmen; er wird einen andern ton anschlagen beim festmal
als an der bahre, vor dem delischen Apollon als vor dem libyschen Am-
mon, aber das verhältnis zwischen ihm und dem gegenstande seines ge-
dichtes, dem chore der es singt, dem publicum das es hört, ist in allen
fällen dasselbe. einmal und überall sind der dichter und das publicum
höchst concrete personen, und ist der chor gar keine person. selbst
was die form angeht, ist der unterschied nur für eine gattung hervor-
stechend, allerdings die welche uns hier vorzüglich angeht, den dithyrambos.
[76]Was ist eine attische tragödie?
allein auch dieser unterschied ist ganz äuſserlich: die gliederung in strophe
und antistrophe fällt weg, und daraus folgt eine viel bewegtere, für uns
oft nicht mehr ganz verständliche metrik, und ohne zweifel eine ganz
andere art des tanzes, von dem wir wie überhaupt so auch hier weder
etwas wissen noch wissen können. und nicht einmal das ist dem dithy-
rambos ausschlieſslich eigen, sondern fand sich auch in andern liedern
als denen, welche für den Dionysosdienst verfaſst waren; die grammatiker
haben sie, weil sie keinen bezeichnenden namen hatten, als tanzlieder
(ὑπορχήματα) bezeichnet und in besondere bücher geordnet. 38) es ist
ein schlechter name; denn tanzlieder sind sie ja alle. und vollends der
dichter äuſsert sich in den nichtstrophischen gedichten just so subjectiv
wie in allen andern. Pindar erzählt den Athenern in einem dithyrambos,
das wäre das zweite mal, das er für sie dichte (fgm. 75, 8), und seinen
Thebanern führt er gar ohne jeden äuſseren anlaſs ein tanzlied vor, um
nach einem fürchterlichen vorzeichen (107) oder in einer politischen
krisis seine meinung zu äuſsern (109 110). im gleichen falle dichtete
Solon eine elegie, Archilochos einen iambos: Isokrates und Demosthenes
schrieben eine rede.


Der attische
bürgerchor.

Eine änderung hatte freilich die demokratie für den chor gebracht:
Pindaros wird in Theben geschulte berufsmäſsige sänger verwandt haben;
in Athen sang ein bürgerchor seinen dithyrambos. diesen wichtigen
umschwung hatten die neuen ordnungen sofort herbeigeführt, als das volk
sich mit hilfe der Lakedaemonier und des delphischen gottes erst von den
tyrannen und dann mit der eignen kraft um den preis des eintritts in
den peloponnesischen bund von den Lakedaemoniern frei gemacht hatte,
seine wehrhaftigkeit aber durch die überwältigung seiner nördlichen
nachbarn bewiesen hatte. wie die gesammtleitung seiner angelegenheiten,
nahm es auch den gottesdienst und die öffentlichen spiele in die eigne
hand. es wollte durchaus nicht auf die pflege der höhern cultur ver-
zichten, welche es den ionischen verbindungen seiner fürsten verdankte,
aber es wollte auch darin die eigene kraft beweisen; die kunst sollte
nicht mehr das vergnügen einer bevorzugten classe sein, sondern das des
volkes, das selbst turnen und tanzen wollte. während also vorher die
athleten und sänger in gilden sich zusammengetan hatten, und eine inter-
[77]Der attische bürgerchor.
nationale stellung einnahmen, so daſs wir die pindarischen sänger von
ort zu ort wandern sehen und sehr oft das lob des ringlehrers vernehmen,
wurden diese gilden in Athen aufgehoben, die ringschulen verstaatlicht
und der zutritt jedem bürger kostenlos gewährt 39). die herkömmlichen
wettkämpfe blieben zwar bestehen und der zutritt stand ausländern frei,
aber die wertschätzung sank und keinerlei gunst ist diesen aristokra-
tischen vergnügungen zu teil geworden. die bauern und ruderer hatten
nicht die geschmeidigen glieder und weder zeit noch lust sich dem training
zu unterwerfen. dafür bildete man die volksbelustigung des fackellaufes
zu einer staatlichen einrichtung aus, für welche die gymnasiarchie ge-
stiftet ward, und lieſs die militärische parade das wettturnen ersetzen.
auch die gilden der sänger und tänzer wurden geschlossen. für die musik
brauchte man freilich fremde, zumal die argivischen und boeotischen
pfeifer, weil auch dafür eine ausbildung nötig war, zu der die bürger
nicht zeit hatten; aber die chöre stellten sie selbst. die reichen wirkten
mit als choregen, die unbemittelten als choreuten: es war beides eine
frohnde, ein munus, ganz wie die verpflichtung als offizier oder gemeiner
zu dienen. und auch die regellosigkeit der musikalischen aufführung ward
beseitigt. wol verwehrte man dem einzelnen nicht, sich zu seinem ver-
[78]Was ist eine attische tragödie?
gnügen lustbarkeiten bei sich anzustellen wann und wie er mochte, und
so gab es noch lieder für die feste der vornehmen. Pindaros hat für
die Alkmeoniden, Euripides für Alkibiades gedichtet. aber das tritt gänz-
lich in den hintergrund vor den vom staate übernommenen und dem
festen jährlichen gottesdienste eingeordneten gelegenheiten, bei welchen
musische wettkämpfe angeordnet wurden, nur zum teil im anschlusse an
die bisherige übung. der staat brauchte alljährlich eine bestimmte recht
hohe zahl neuer gedichte, dramen und dithyramben: das volk, das noch
keinen bedeutenden eigenen dichter besaſs, traute sich zu, sie zu er-
zeugen. und es hat auch darin die höchsten erwartungen von der eignen
leistungsfähigkeit übertroffen.


Ein instrument des dichters war auch dieser chor, aber es ist doch
etwas anderes, ob man gedungene musikanten unter sich hat, oder die
vertreter des souveränen volkes. und der dichter wird ja auch selbst
anders dastehen, wenn er für irgend einen anlaſs auf bestellung oder
wunsch eines anderen oder auch aus eignem triebe schafft, als wenn er
zu bestimmten höchsten festen seines eigenen volkes für bestimmte ver-
treter desselben in einer halbamtlichen eigenschaft seine kunst übt. er
wird mehr mit der seele dabei sein als Simonides es wol je war, aber
minder aus eigner person zu reden wagen als es Pindar immer tat. der
staat und sein souverän, oder besser sein lebendiger leib, das volk, ist in
Athen die oberste macht. der dichter ist ein glied desselben, der chor
auch, beide ordnen sich ihm unter, der chor auch dem dichter, aber
dieser muſs sich wie Perikles stets gegenwärtig halten, Ἀϑηναίων ἄρχεις.
selbst die tragödie zeigt von diesem verhältnisse die deutlichsten spuren.
der chor ist auch in ihr vertreter des volkes am religiösen feste: er geht
nicht ganz in seiner maske auf. der dichter ist dagegen der erbe der pin-
darischen persönlichen lehrer- und predigerstellung: auch er verschwindet
nicht ganz hinter seinen personen. dies verhältnis war in dem ursprunge
der ganzen gattung begründet; es hat sich wol verloren, aber nicht im
laufe des 5. jahrhunderts. die abstracte betrachtung mag sich dazu stellen
wie sie will: die geschichtliche hat mit dieser besonderheit durchgehends
zu rechnen 40).


Attische di-
thyramben.

Die chöre, die man stellte, unterschied man in chöre von τραγῳδοί
und einfach von männern und knaben. diese nannte man auch wol die
‘rundtänze’ (κύκλιοι χοροί), nicht weil die tänzer hier in einem rund
geordnet waren, in der tragödie aber in einem viereck, wie wol gramma-
[79]Attische dithyramben.
tiker gemeint haben, sondern weil die tänze auf dem runden tanzplatz in
die runde giengen, während im drama eine bude (σκηνή) daneben stand,
die dem schauplatz eine front und einen hintergrund gab. die gedichte
hatten zunächst nicht mehr einen eigenen gattungsnamen, als ihn vorher
die der pindarischen lyrik gehabt hatten. und man wird für die an den
Thargelien wol oft παιάν, für die der Panathenaeen ὕμνος gesagt haben:
für die dionysischen festlieder vielleicht von vornherein διϑύραμβος; Pin-
dars zweites attisches gedicht (75) war tatsächlich auch in der form dithy-
rambisch. der Dionysosfeste, die der staat begieng, waren mehr als sonst
einem gotte gefeiert worden; so mochte der name dithyrambos durch
verallgemeinerung die ganze gattung allmählich begreifen. immerhin ist
das officiell nie durchgedrungen und in der gewöhnlichen rede erst seit-
dem bedeutende männer diese lyrische poesie, die um 500—430 zurück-
tritt, gewaltig erhoben, so daſs sie zuerst die noch berühmtere tragische
schwester beeinfluſst, dann, als deren meister tot sind, die erste stelle
im interesse der nation erorbert und auf lange hinaus behauptet. dieser
neue dithyrambos, wesentlich durch Philoxenos und Timotheos geschaffen,
zwar nicht durch Athener, aber doch ein ganz attisches gewächs, wirkt
wesentlich durch die musik; und wenn wir auch selbst kein urteil, weder
über die musik noch über die poesie der neuen dichter haben können,
so zeugt die leidenschaftliche polemik der komödie und der reactionären
musiktheoretiker von ihrer bedeutung. daſs sie metrisch die ganze frei-
heit des alten dithyrambos aufgriffen und bis in das ungemessene stei-
gerten, können auch wir noch sehen. und ebenso zeigen einzelne proben,
daſs ein sehr starkes mimisches element aus dem drama hinübergezogen
ist, während in andern, wie im Diner des Philoxenos, die person des
dichters so frei sich äuſsert, wie in der alten zeit. und in der tat hat
diese neue chorpoesie völlig die stelle wieder inne, welche zu Simo-
nides zeiten die alte eingenommen hatte; eben deshalb gerät diese im
4. jahrhundert fast ganz in vergessenheit, wird aber gerade in dorischen
gegenden der neue dithyrambos volkstümlich, wie nur je eine ältere
gattung: selbst in den tälern von Kreta, wohin nicht einmal das epos
gedrungen war, und in Arkadien. mit Dionysos haben die einzelnen
lieder vielleicht zumeist gar nichts zu tun, aber durch das 5. jahrhundert
ist dieser gott der schirmherr jeder chorischen poesie geworden, und so
befremdet es nicht im mindesten, daſs der name dithyrambos für das
ganze gilt 41). dieser dithyrambos ist gemeint, wenn Aristoteles den namen
[80]Was ist eine attische tragödie?
im gegensatz zu epos und drama braucht; sein eigner hymnus auf die
tugend ist solch ein dithyrambos. und wie er in seiner geltung der chor-
poesie pindarischer zeit gleich geworden ist, so auch in der art der auf-
führung durch geschulte musiker und tänzer, die, überall und nirgends
zu hause, sich in gilden zusammenschlossen, oft vermischt mit den schau-
spielern, die das gleiche nun auch anstrebten und bald erreichten 42).


So ist der bürgerchor ein intermezzo: er gehört nur in die erhabene
zeit des groſsen Athens, mit dessen Reiche er verschwindet. tragödie aber
und dithyrambos stehen, was die aufführungsart anlangt, stets parallel.
vor Kleisthenes kann man sich’s nicht anders denken, als daſs dieselben
leute in beiden auftraten, und am hofe Hierons werden dieselben leute
die pindarischen gedichte und die tragischen lieder des Phrynichos und
Aischylos aufgeführt haben. überhaupt ist die wechselwirkung der beiden
dionysischen schwesterarten handgreiflich. es sind geschwister, kinder der-
selben mutter, des alten chorgesanges, aber unmöglich kann die tragödie
von diesem dithyrambos stammen. als attisches festlied ist er notorisch
jünger; was aber der pindarische dithyrambos mit der tragödie gemein-
sam hat, das liegt alles im gattungsbegriff; das was ihn zu einer beson-
deren art macht, die absonderlichen rhythmen und der mangel der respon-
sion, fehlt gerade der ältesten tragödie. endlich muſs, wie eben bei der
komödie, der schluſs auch hier gelten, daſs die tragödie aus dem dithy-
rambos Athens nicht stammen kann, weil er neben ihr kräftig weiter
besteht. so kann es scheinen, daſs Aristoteles uns doch auf einen holzweg
geführt habe. die herleitung aus dem dithyrambos heiſst entweder gar
41)
[81]Attische dithyramben. die böcke.
nichts, als daſs die tragödie aus dem lyrischen chorgesang des 6. jahr-
hunderts stammt: dazu brauchen wir nicht erst das zeugnis des Aristo-
teles; oder es muſs eine charakteristische form des dithyrambos gemeint
sein, welche sowol der pindarische dithyrambos als auch der attische
tragische chor gemeinsam voraussetzen. ja, wir können noch einen
schritt weiter gehen. an der chorlyrik, aller und jeder im 6. jahrhundert,
ist das charakteristische, daſs der chor als solcher verschwindet, der dichter
hervortritt. im drama verschwindet der dichter, redet nicht nur durch
fremden mund, sondern auch aus fremder person heraus. das ist ein
gegensatz, und alle gleichheit der form hilft nicht darüber hinweg, daſs
ein drama ohne μίμησις δρώντων, ohne die vornahme einer maske
vor das antlitz des dichters eben kein δρᾱμα ist. also wenn Aristoteles
eine vorstufe der tragödie suchte, muſste er sie bei irgendwie mimetischer
poesie suchen. wir postuliren also, daſs der dithyrambos, von welchem
er als der vorstufe der tragödie redet, ein mimischer gewesen ist. aber
wo den finden?


Aristoteles selbst hilft weiter: er sagt ja daſs die tragödie aus demdie böcke.
satyrspiele stammt, und wenn er es nicht sagte, so müſsten wir doch
dieses sonst rätselhafte und in den zeiten der blühenden tragödie ver-
kümmerte spiel herbeiziehen, zumal die τραγῳδοί in ihrem namen die-
selbe auskunft geben, wie Aristoteles. sie sind bockssänger. und daſs
unter den böcken satyrn verstanden sind, lehrt sicherer als die verdäch-
tige nachricht, daſs die Dorer den bock σάτυρος und τίτυρος genannt
haben sollen 43), der eine aischyleische vers (Prometh. πυρκαεύς 202),
in welchem der satyr des satyrspieles wirklich bock, τράγος, angeredet
wird. darin also hat der fortschritt von dem chorgesange zur tragödie
bestanden, daſs an die stelle gänzlich indifferenter sänger dämonische
wesen, böcke, getreten sind. aber wo und wie ist das geschehen?


v. Wilamowitz I. 6
[82]Was ist eine attische tragödie?

Hier greift ein bedeutendes ergebnis der monumentalen forschung
ein 44), das auf den ersten anblick freilich nur einen vollkommenen wider-
spruch zu constatiren scheint. der satyr, den Aischylos einen bock ge-
nannt hat, ist in seiner äuſseren erscheinung keiner gewesen. die aus
der spätgriechischen und römischen kunst uns so sehr geläufigen satyrn,
die in der bildung der ohren, des halses, oft auch der nase, und durch
das schwänzchen ihre bocksnatur offenbaren, hat das alte Athen nicht
gekannt. und doch hat jeder, der die attischen gemälde des 6. und 5.
jahrhunderts auch nur flüchtig kennt, die phantasie voll von dem köstlich
frechen treiben der attischen satyrn, die das gefolge des Dionysos bilden.
wir besitzen ja jetzt sogar die reste des giebelfeldes von einem attischen
Dionysostempel, auf welchen diese gesellen dargestellt sind. 45) das stammt
zwar nicht von dem uralten heiligtume am kelterplatz, in welchem das
beilager der Basilinna mit dem gotte vollzogen ward, sondern von dem
des Dionysos Eleuthereus am südostfuſse der burg: es ist aber immerhin
etwa aus solonischer zeit und älter als das satyrspiel. alle diese attischen
satyrn haben mit den böcken nicht das mindeste zu schaffen; sie sind
zwar auch halbtiere, aber das tierische in ihnen stammt vom pferde. es
ist auch ganz klar, daſs diese conception der volksphantasie ionisch ist,
und auf den inseln und in Asien (wo die vermehrung des materials zu
wünschen und sicher zu erwarten ist) ebenso gegolten hat. und der name
dieser wesen ist ebenfalls unzweifelhaft, es sind Σιληνοί: ein unterschied
zwischen σιληνοἰ und σάτυροι ist für die alte kunst derselben gegend
nicht vorhanden. also die ionischen waldteufel stammen vom gaule; es
sind die ϑῆρες, vettern der φῆρες, der aeolischen, thessalischen wald-
teufel, die auch in alle poesie gedrungen sind, wie die aeolische metrik
und sprache. auch diese stammen vom gaule, die Κένταυροι, und sind
kinder desselben geistes. so haben wir also ein spiel, das bocksspiel
heiſst, aber von halbgäulen aufgeführt wird. mit andern worten, hier
hat eine übertragung stattgefunden. nur der name und das bocksfell,
welches der pferdedämon trägt 46), erinnert an die alte bocksnatur; es ist
[83]die böcke. bockschöre.
begreiflich, daſs man da des ursprungs rasch vergaſs. wir aber müssen
die heimat des satyrspiels da suchen, wo die böcke zu hause sind.


Auch diese antwort ist aus den monumenten bereits gegeben. im
Peloponnes, dessen künstlerischer vorort Korinth ist, gibt es keine satyrn
in pferdegestalt. freilich bisher auch keine böcke: aber es steht doch
die tatsache fest, daſs dieser typus um 500 auf einen peloponnesischen
gott übertragen worden ist, der in seiner heimat und seiner echten be-
deutung nach ein weit vornehmerer herr war, aber als er aus dem un-
civilisirten hirtenlande in die städte der hochentwickelten cultur hinabstieg,
die gestalt und bald auch die geltung eines vertreters der ungesitteten
und unverkünstelten elementargewaltigen bergeswildnis annahm: Pan, der
ein bock geblieben ist. 47) es bleibt der archaeologie die schöne aufgabe,
zu zeigen, wie eine spätere zeit die künstlerische bildung der satyrn
vom bocke aus doch noch versucht und wunderbar geleistet hat, so daſs
die ältere pferdegestalt in den hintergrund trat: es liegt auf der hand,
daſs den anstoſs Peloponnesier gegeben haben müssen. geschehen ist
das erst, als das satyrdrama zu gunsten der tragödie verkümmert war,
und diese eine spur ihrer herkunft von den böcken nur noch in dem
namen trug, den man nicht mehr verstand.


Das führt zu dem postulate, daſs es im Peloponnes einen bockschorbocks-
chöre.

gegeben habe. und wirklich, einen bockschor nennt uns Herodot (V 64) in
Sikyon zur zeit des Kleisthenes; wir lernen dabei daſs derselbe keines-
weges bloſs zu ehren des Dionysos auftreten konnte, daſs aber dem be-
richterstatter des Herodotos dies als eine anomalie erschien, die er sich
nur als willkür eines tyrannen zu denken vermochte. wir werden anders
urteilen, denn daſs die böcke des Peloponnes ihrer natur nach lediglich
ein gefolge des Dionysos bildeten, ist weder erweislich noch glaublich.
wir haben eben alles was die ionischen wesen, die pferdewesen, angeht
von ihnen fern zu halten; Pan ist später auch ein genosse des thiasos
geworden, aber von ihm wissen wir sehr genau, daſs er das weder seiner
natur nach war, noch in den jahrhunderten 6—3, wo sein cultus sich
46)
6*
[84]Was ist eine attische tragödie?
ausbreitete, dafür galt. wir wissen freilich von den satyrn äuſserst wenig,
aber das einzige alte zeugnis, verse eines der hesiodeischen gedichte,
rechnet sie mit den bergnymphen und Kureten zu der descendenz einer
Phoroneustochter 48): sie sind also jünger als der anfang des menschen-
geschlechtes und haben mit Dionysos von haus aus nichts zu tun. äuſserst
belehrend ist ihre zusammenstellung mit den Kureten, welche zwar in
der folge zu einem thiasos des Zeuskindes und seiner mutter geworden
sind, durch Rhea auch in bezug zu Dionysos treten, aber einen ganz
anderen ursprung haben. die ‘geschorenen’ (κουρής ὡς γυμνής) sind
ein priestercollegium in Ephesos geblieben bis in späte zeit 49), etwa wie
die luperci und salii in Rom. es ist durchaus nicht unwahrscheinlich,
daſs dies das ursprüngliche ist, und mit dem stamme, welchen das Meleager-
gedicht der Ilias neben den Aetolern nennt, entweder nur namensgleich-
heit obwaltet, oder ein verhältnis wie zwischen luperci Fabiani und der
gens Fabia. der mythische thiasos aber ist ein abbild des im festen cultus
gegebenen, wie ja auch die Korybantentänze nicht die pyrrhiche her-
vorrufen, sondern mythische pyrrhichisten sind. 50) es geht nicht an
über die satyrn etwas bestimmtes zu vermuten: aber die möglichkeiten
muſs man eröffnen, damit man aufhöre die erst auf grund der über-
tragung der bockstänze nach Athen eingetretene dionysische natur als
voraussetzung zu behandeln. vor allem aber lehren die Kureten am besten,
wie man aus solchen böcken einen chor bilden konnte, und daſs es ver-
wegen wäre, darin bereits ein dramatisches spiel zu sehen, wenn einmal
statt des gewöhnlichen menschenchores satyrn auftreten. daraus war wol
das drama leicht zu schaffen: aber zu schaffen war es immer noch, und
es war mehr als ein schritt nötig.


[85]Arion. Satyrspiel und tragödie.

In Korinth hat Arion den ersten dithyrambischen chor eingeübt.Arion.
diese tatsache wird jetzt in ihrer bedeutung verständlich. Arion wählte
sich statt der gewöhnlichen choreuten die peloponnesischen böcke und
lieſs sie das besonders orgiastische dionysische festlied singen. eine späte
notiz, die wir nun wol einreihen dürfen, drückt das ganz scharf so aus,
daſs er die dithyramben im τρόπος τραγικός verfaſst hätte 51), nur muſs
man dabei nicht an etwas tragisches denken. 52) damit haben wir wirklich
das grundelement, aus welchem der pindarische und in seinem gefolge
der spätere attische dithyrambos stammen: Pindaros lieſs die böcke fort zu
gunsten der herkömmlichen choreuten, behielt aber die metrische freiheit
bei. andererseits ist aus dem bockschore die τραγῳδία geworden, die
zuerst satyrspiel war. sie ward in Athen dramatisch, und das empfand
man so sehr als das charakteristische, daſs der name blieb, als die böcke
auch hier weichen muſsten. wie lange sich in seiner heimat der dithy-
rambos des Arion gehalten hat, ist uns leider ganz unbekannt; kennt-
lichen einfluſs hat er nicht weiter geübt.


Schon dem Aristoteles war offenbar durch litterarische behandlung
bekannt, daſs die Peloponnesier auf die erfindung der tragödie anspruch
machten. das tritt auch später noch oft auf; speciell Phleius, die dio-
nysische stadt, und Sikyon, wo wir die ältesten τραγικοὶ χοροί kennen,
werden genannt. es ist das in übler weise durch erfindungen und über-
treibungen entstellt worden. es ist eine lächerlichkeit, ebenso wie bei
der komödie, wenn es sich um das wesentliche, die welt beherrschende
handelt: aber wir erkennen nunmehr, daſs es doch in gewissem sinne
wahr ist. allerdings, der bocksgesang ist peloponnesische erfindung: aber
die tragödie gehört Athen.


Nach Athen kamen die bockstänze wie die übrigen kunstmäſsigenSatyrspiel
und
tragödie.

reigen und so viele erzeugnisse der korinthischen cultur, als Peisi-
stratos seine herrschaft befestigt hatte und dank der solonischen ver-
fassung und der tüchtigkeit des fürsten Athen aufblühte, während rings
[86]Was ist eine attische tragödie?
die adelsstaaten und demokratieen herunterkamen. durch die aufnahme
in die gewerbsmäſsige tanzlyrik hatte Arion den bockstanz den kreisen
des volkes entrückt; für Athen war das ganze fremd, denn die böcke
kannte man nicht, und die form des dorischen liedes war sprachlich und
metrisch dem ionischen überhaupt entfremdet. aber hier ward das spiel
volkstümlich, indem die peloponnesischen satyrn den attischen silenen
ihren namen gaben, aber ihr wesen an sie verloren. der wandel vollzog
sich leicht: lustig und unanständig waren sie beide, springen mag das
füllen wie der bock. und hier ward, wenn es nicht schon in Sikyon
und Phleius erreicht war, das satyrspiel fest an den dionysischen cult
geknüpft und erhielt so eine gesteigerte weihe. der Dionysosdienst war
bei den Ioniern seit alter zeit als ein ganz besonders heiliger empfunden.
er ward in feierlichen formen von der königin und ihrer adlichen um-
gebung begangen. er hatte mit seiner ekstase die ganze masse des weib-
lichen geschlechtes ergriffen. die zeit war jetzt einer neuen religiösen
stimmung hingegeben, welche vom himmel neue wunder, vom sterb-
lichen individuelle seelische regungen und stimmungen verlangte. und
ganz äuſserlich verlangte man neue prächtige feste. Peisistratos wuſste
seiner zeit genug zu tun und stiftete ein neues fest mitten im vollsten
frühling, um den vollmond des Elaphebolion, die groſsen Dionysien: für
sie wurden auch die satyrtänze eingeführt. wie sie sich auch entwickelt
haben, den charakter des dionysischen frühlingsspieles haben sie nimmer
eingebüſst; auch damit hat trotz allen aesthetischen theorien die erklärung
immer zu rechnen.


Und nun tat Thespis im jahre 534 den nächsten schritt: denn name
und jahr darf geglaubt werden. er fügte den ersten schauspieler hinzu,
oder richtiger, er trat als sprecher zu seinem chore. dieser schritt konnte
nur in einer ionischen stadt geschehen, da aber lag es nahe genug, denn
der sprecher war als solcher vorhanden: der recitator des ionischen iambos.
man darf auch hier in dem schritte auf das mimische zu nicht zu groſses
sehen. denn wenn ein rhapsode eine archilochische fabel wie ἐρέω τιν̕
ὑμὶν αἶνον, ὠ Κηρυκίδη, ἀχνυμένη σκυτάλη, recitirte, so mochte er
allenfalls noch ziemlich so hinter seinem stoffe verschwinden, wie wenn
er ein homerisches gedicht vortrug. aber wenn er πάτερ Αυκάμβα
ποῖον ἐφράσω τόδε vortrug, so sprach er als Archilochos, und vollends
οὔ μοι τὰ Γὑγεω τοῦ πολυχρύσου μέλει waren worte des zimmer-
manns Charon, die eine vollkommene ethopoeie forderten: der schluſs
muſste ebenso drastisch wie in der horazischen nachbildung wirken, oder
vielmehr um so viel drastischer, als Archilochos an frischer keckheit
[87]Satyrspiel und tragödie.
den Horaz übertrifft. es war also zunächst vielleicht ein ganz leichter
übergang, daſs der sprecher das bockskleid nahm; jedenfalls verhielt er
sich zu dem rhapsoden der iamben genau wie der bockschor zum ge-
wöhnlichen dithyrambischen chore. daſs der sprecher auch bock war,
folgt aus der tatsache, daſs das satyrspiel noch bei Euripides einen satyr
neben dem chore als schauspieler hat, und dieser vater der satyrn über-
haupt eine ebenso feste person desselben blieb wie der satyrchor.


So hatte sich die vereinigung der ionischen und dorischen poesie
vollzogen, vollzogen an einem dritten orte, wo für beides empfänglichkeit
vorhanden war, wo aber beides nicht zu hause war. und beides trat als
etwas fertiges neben einander; ganz verschmolzen hat es sich nie. so
lange es eine tragödie gegeben hat, hat der dichter für die gesprochenen
verse im der einen, für die gesungenen in der andern mundart dichten
müssen; und beide waren nicht die seiner heimat noch seiner sänger
noch seiner hörer. das ihnen allen gemeinsame attisch hat wol allmählich
immer stärkeren einfluſs auf alle teile der tragödie gewonnen, hat also den
gegensatz verringert; wie denn die von den Athenern übernommenen mund-
arten selbst schon nicht mehr rein waren; aber ganz verschwunden sind die
unterschiede nie, oder vielmehr erst in der neuen komödie, welche dafür
auch den chor und damit den religiös festlichen charakter eingebüſst hat.


Erst in der neuen komödie hat auch das dramatische gesiegt. im
sechstem jahrhundert wird davon kaum eine spur gewesen sein, und
Thespis hat sich von der tragweite seiner erfindung nichts träumen lassen.
aber dem stein war im rollen; schrittweise gieng es vorwärts, bald sprung-
weise; wierzig jahre etwa hat es gedauert, für das was zu leisten war,
eine kurze frist. man hatte also den satyrchor, und ‘wenn noch einer
dazu kam’, so hatte man ein ἐπεισόδιον. daſs dem chore eine ‘vor-
rede’, [π]ρόλογος, in iamben vorhergieng, ist erst etwas späteres; in den
siebziger jahren des 5. jahrhunderts kommt es neben der andern weise
vor, aber es stand vollkommen fest, als die komödie ihre formen bildete.
der sprecher brachte zunächst nichts dramatisches mit; er brauchte ja
nur zu erzählen oder an den chor eine rede zu richten, die diesem zu
neuen tänzen und gesängen anlaſs gab. aber es fand sich bald die
nötigung, den chor auch in gesprochener rede erwidern zu lassen, und
da er das in voller menge nicht konnte, so sonderte sich von ihm der
chorführer ab. nun sprach einer für alle; zu einer persönlichkeit unter-
schiedem vom chor hat es dieser sprecher aber nie gebracht. seine stellung
hat nie gewechselt, besteht aber überall, so weit wir denkmäler haben.
nun war es wahrlich keine sehr kühne tat, entweder den sprecher einmal
[88]Was ist eine attische tragödie?
auch als etwas anderes kommen zu lassen denn als satyr, oder auch den
chor in ein anderes kleid zu stecken. es ist nicht zu entscheiden, welchen
schritt man zuerst tat, ja man mag vermuten, daſs noch ein zwischen-
stadium eintrat, in welchem die herkömmlichen figuren nur der abwech-
selung halber in einer ihrem eigentlichen wesen widerstrebenden oder
doch fremden beschäftigung auftraten, etwa wie in der Atellane Maccus
als kneipwirt, jungfrau, soldat. darauf deuten titel wie κήρυκες, ἰχνευ-
ταί, παλαισταί σάτυροι, wol auch ϑεωροί und manches andere. aber
wenn wir uns an die peloponnesischen verhältnisse erinnern, so müſsten
z. b. Kureten sich von selbst als ersatz für ihre brüder dargeboten haben,
und wenn der Phleiasier Pratinas dymanische tänzerinnen am feste der
Artemis in Karyai eingeführt hat, so braucht man nur dessen eingedenk
zu sein, daſs die bukolische poesie, die eigentlich mehr eine aipolische ist,
an die Karyatiden angeknüpft wird, um der leichtigkeit eines solchen
tausches inne zu werden. und auch in späterer zeit ist es eben kein
groſser abstand von der ältesten weise, wenn die geschichte vom Thraker
Lykurgos so von Aischylos zur darstellung gebracht wird, daſs der chor
erst als Edonen, dann als thrakische maenaden, dann bloſs als jünglinge
und endlich als satyrn auftritt. daran hat man freilich noch lange und
im princip immer festgehalten, daſs die satyrn als solche auch erscheinen
müſsten, wol minder weil das dionysische fest die diener des gottes er-
heischte, als weil das volk seinen spaſs haben wollte; wenigstens ward
der lustige charakter des schluſsstückes nicht zugleich mit dem satyrchor
aufgegeben; dafür ist Euripides Alkestis (438) der älteste, aber nicht der
einzige beleg 53). noch viel näher als für den satyrchor lag es, für den
[89]Satyrspiel und tragödie.
sprecher eine andere person zu wählen, da er ja seiner herkunft nach
indifferent war, und so gut wie eins konnte man mehrere epeisodia zu-
lassen; den sprecher hinausgehen und sich umkleiden zu lassen war ja
ungleich leichter. die aischyleische poesie hält in älterer zeit noch völlig
daran fest, daſs sich das einzelne stück durch die einführung einer neuen
person in ἐπεισόδια gliedert, wie dieser name fordert; die zahl ist nicht
festgestellt. dagegen muſs sich schon früh die vierzahl für den costum-
wechsel des chores festgesetzt haben, eine weit wichtigere aber quali-
tativ ganz analoge erscheinung. dadurch gliederte sich also die aufführung
in vier stücke. ob diese für sich ein jedes oder alle zusammen erst
eine einheit im dichterischen sinne bilden, hängt lediglich von dem können
und wollen des dichters ab. nachweislich ist von Aischylos beides neben
einander geübt worden, doch so, daſs schon bei ihm die tendenz mächtig
war, die einzelnen chöre oder ‘stücke’ immer selbständiger zu gestalten,
was später feststehende regel ist, auch wenn zwischen ihnen ein bezug
waltet. auſserdem gilt es bereits, daſs der satyrchor an letzter stelle
stehen muſs, und seine verbindung mit den andern dramen ist eine losere,
auch wenn sie inhaltlich vorhanden ist 54). wie es zu diesen regeln
gekommen ist und durch wen, ist gar nicht möglich zu vermuten. die
jüngeren dichter überkommen die institution als eine durchaus feste,
53)
[90]Was ist eine attische tragödie?
aber auch als eine jeder inneren berechtigung entbehrende. wir vermögen
die versuche, diese fessel zu brechen 55) oder zu lockern eben so wenig
zu verfolgen, wie wir das einzelne über die art kennen, wie sie sich ge-
knüpft hat. ganz im allgemeinen aber ist ihre entstehung durchaus nicht
befremdend, und was im νόμος Διονυσιακός stand war gesetz und her-
kommen zugleich, hielt also fest und war nicht durch individuelle willkür
oder bessere einsicht zu beseitigen.


Die vorführung des chores ward durch die einführung des sprechers
nicht geändert. auch jetzt noch konnten diese tänze so gut wie alle
übrigen auf der runden orchestra vor sich gehen, die das volk im kreise
umstand. auch die zahl der tänzer wird einfach dieselbe gewesen sein,
mochten sie als satyrn oder ohne verkleidung auftreten. daſs freilich zur
zeit der sängergilden dafür eine feste norm bestanden hätte, kann man
nicht behaupten. notwendig aber trat dieses ein, als die bürgerschaft die
chöre stellte, und es ist einleuchtend, daſs damals wirklich für tragödie
und dithyrambos dieselbe zahl, 50, bewilligt ward 56). diese konnte der
dichter verwenden wie er mochte. als sehr bald die verteilung in vier
chöre eintrat, ergaben sich 12 für jeden, wobei dann die beiden über-
schüssigen untergebracht sein werden, wie es eben gieng. eine erhöhung
auf 60, also 4 × 15, ist bei der definitiven ordnung des dionysischen ge-
setzes um 465 eingetreten. es ist übrigens durchaus nicht ohne weiteres
anzunehmen, daſs die sänger nur in einem der chöre auftraten. in den
Hiketiden des Aischylos besteht der chor aus den Danaostöchtern und
ihrem gefolge, also, wie wir zu rechnen durch das stück selbst veranlaſst
werden, aus 50 + x. es ist eine zu starke zumutung sich diese zahl
durch 12 tänzer vorstellen zu lassen, zumal es ja in des dichters freiheit
lag, die dienerinnen wenigstens fort zu lassen. nichts hindert uns, den
dichter verständig verfahrend zu denken, und also einen weit zahlreicheren
chor anzunehmen.


[91]Phrynichos.

Es war freilich ein weiter weg der entwickelung gewesen, von denPhrynichos.
ersten satyrtänzen bis zu diesem stücke zu gelangen, ein weiterer als
der zwischen diesem für uns ältesten denkmale der attischen tragödie bis
zu ihrer überreifen letzten gestalt, etwa der aulischen Iphigenie, liegt.
und es ist nicht möglich mehr als einen oder den andern schatten von
den ältesten erzeugnissen zu haschen, die sich auf die nachwelt erhalten
hatten. erst von dem älteren zeitgenossen des Aischylos, dem Athener
Phrynichos gelingt das; vermutlich weil er länger der alten weise treu
blieb. wenn er noch 476 die Phoenissen so anlegen konnte, daſs der
prolog, eine neuerung, die er also mitmachte, schon die niederlage von
Salamis in Susa verkündete, wenn dann der chor, Phoenikerinnen, also
wittwen der bei Salamis gefallenen schiffstruppen, in Susa auftrat, so ist
ersichtlich, daſs zwar für erzählung und für den reflex derselben, klage-
lieder und tänze, der breiteste raum da war, jedoch gar keiner für irgend
welche handlung. über zwanzig jahre früher, noch zur zeit des einen
schauspielers, hatte Phrynichos den fall Milets aufgeführt. das stück
war von dem volke durch besonderen beschluſs geächtet worden, also
können nicht nur wir, sondern konnte schon Herodotos, der diese tat-
sache erzählt, nichts genaueres davon wissen 57). aber das ist unzweifel-
[92]Was ist eine attische tragödie?
haft, daſs wieder nur erzählung und gesänge, durchaus keine handlung
darin sein konnte. das waren also zwar tragödien, denn der chor, seiner
art nach von dem dithyrambischen kaum verschieden, und der sprecher
der iamben waren vorhanden, beide neben einander, durch das costum
verbunden: aber ein drama würden wir unmöglich ein solches gedicht
nennen, es würde höchstens ein oratorium sein, mit 50 stimmen und
tanz, aber ohne soli. an dem Falle Milets ist die von dem satyrspiel grell
abstechende stimmung uns auffällig, doch ist zu beherzigen, daſs die
Athener an dem in unserem sinne tragischen selbst anstoſs genommen
haben. und Phrynichos selbst gibt auch für die satyrhafte behandlung
eines an sich ernsten stoffes einen beleg. von dem inhalt seiner Alkestis
wissen wir nämlich dreierlei, erstens daſs Apollon bei der hochzeit seines
schützlings Admetos, dem er zur frau verholfen hatte, die Moiren betrunken
machte, damit sie ihm das leben des Admetos gegen ein anderes schenkten.
zweitens kam der Tod vor, der tölpelhafte bediente des Hades, den die
märchen aufgebracht hatten, und schnitt der Alkestis eine locke ab, sie
dem tode zu weihen 58). drittens erschien der freſsgierige Dorerheld
Herakles, rang mit dem Tode und jagte ihm die Alkestis ab. wie stark
die burlesken züge waren, ist jetzt nur aus der verfeinernden und mil-
dernden euripideischen nachbildung zu entnehmen, aber für ein aufmerk-
sames auge sehr deutlich. es ist gar nichts dagegen zu sagen, wenn man die
satyrn selber noch als chor zulassen will. handlung ist genug, und recht
lebhafte, allein sie liegt in der geschichte, die der dichter schwerlich selbst
gestaltet hat, und ob der zuschauer handelnde personen sah, ist fraglich,
da sich ziemlich alles gut erzählen lieſs; von der schilderung des ring-
kampfes ist ein bruchstück erhalten.


Aischylos.

Es war also nun so ziemlich alles zusammen, was zu einem attischen
drama gehört; und doch könnte jemand vom modernen standpunkte sagen,
daſs noch das specifisch dramatische fehle. es gab längst die τραγῳδία:
und doch muſs man sagen, daſs noch das specifisch tragische fehle.
und in der kunst, in welcher nur das vollendete wirklich lebensfähig ist,
gilt es c’est le dernier pas qui coûte. bislang konnten wir auch noch
jeden schritt als etwas nahe liegendes ansehen, das man sich allenfalls
selbst zutrauen mag: hier war ein genius von nöten, der zwar nicht nach
verstandesmäſsiger überlegung eines tages beschlieſst ‘nun wollen wir das
drama schaffen’, aber über den der göttliche geist kommt, der ihn schaffen
[93]Aischylos.
heiſst, was er muſs, und sich dann selbst über die schönheit des geschaf-
fenen verwundern. Aischylos des Euphorion sohn von Eleusis führte den
dialog ein: damit war das dramatische gefunden. und er gab dem bocks-
gesang die heldensage zum inhalt: damit war das tragische gefunden.


Auch das ist nicht mit einem kühnen streiche gelungen; das schöne
ist schwer. Aischylos hatte schon mehr als ein jahrzehnt chöre erhalten,
ehe er einen sieg errang, vier jahre vor der schlacht bei Salamis. erst
seitdem kann man glauben, daſs er die volksstimmung hinter sich hatte.
aber noch nicht 20 jahre später ward die tragödie in den festen formen
constituirt, die wir kennen. der dichter selbst hatte unablässig an sich und
seinem werke gearbeitet: seine letzte schöpfung ist nicht nur die voll-
kommenste seiner, sondern überhaupt der attischen tragödie, mit seinen
eignen anfängen kaum zu vergleichen. es ist ein abstand wie zwischen
dem Athen, das bei Marathon schlug und dem, welches am Eurymedon
sein Reich vollendete. der aber dieses im reiche der dichtung vollbrachte,
war kein geringerer organisator als Themistokles und Aristeides. als er
sich zuerst einmal entschloſs, statt nur allein als sprecher neben dem
chore aufzutreten, noch einen gefährten mitzubringen, mochte das ein
geringes scheinen: er hat es noch erreicht, nicht nur das echt attische
wortgefecht, schlag auf schlag, einzuführen, sondern selbst drei redner
neben einander zu verwenden. er hat nicht nur den chor von der stelle
des protagonisten zurückgeschoben, sondern auch den sprecher zum sänger
gemacht, so daſs das aeolische lied neben die ionische recitation und den
dorischen chorgesang trat; die benutzung volkstümlicher weisen durch
Aischylos ist ausdrücklich überliefert und auch unschwer zu beweisen.
die vierzahl der chöre, die absonderung des satyrspiels, ein gewisses her-
kommen für den umfang der einzelnen stücke und ihre gliederung hat
sich festgestellt. eine hinterwand ist an den runden tanzplatz heran-
getreten, und so hat sich erst das gebildet, was wir bühne nennen. eine
feste sprache, ein tragischer stil ist geschaffen, unendlich reich an mitteln
des ausdrucks, ermöglicht nur durch das zusammenarbeiten der mannig-
fachsten zum teil widerstrebenden elemente, unter denen die noch völlig
unausgebildete heimische sprache das sprödeste war. ganz wie den grün-
dern des Reiches hat auch dem fürsten der attischen dichtung der dank
seiner nachfolger gefehlt. Euripides setzt sich selbst herab durch die
armselige sophistik, mit der er ihn schulmeistert, und Sophokles hat das
häſsliche wort gesprochen, daſs Aischylos höchstens unbewuſst das rechte
tue. für den schöpfer waren die regeln, welche die späteren erfindsam
genug waren, mit leichtigkeit zu erfüllen, freilich minder verbindlich,
[94]Was ist eine attische tragödie?
und er fand sie erst im suchen allmählich. wem so vorgearbeitet war,
der mochte leicht wenigstens im dialog die einheitlichkeit der diction und
des stiles erreichen, die dem gründer allerdings fehlt. aber in der fertig-
keit der formen liegt nicht bloſs ein vorzug; die manier stellt sich nur
zu leicht ein, und hat es auch bei Sophokles und Euripides schon getan.
und in dem was das wesentliche war und ist, durch Aischylos zum wesent-
lichen in der tragödie geworden ist, konnten sie ihn nicht übertreffen,
und haben sie auch nicht bewuſster das rechte getan, vielleicht das unrechte.


Was ist das wesentliche? das liegt in dem stoffe, den Aischylos der
tragödie gab, und in dem sinne, in welchem er seinen beruf faſste. es
geht nicht sowol den tragiker als den dichter überhaupt an. Aischylos
ward der erbe Homers. er selbst oder doch jemand, der ihn völlig ver-
stand, hat das ausgesprochen. seine dramen sind stücke von dem groſsen
male Homers, d. h. Homer hat dem volke ein gewaltiges mal zubereitet,
und Aischylos setzt ihm davon einzelne gänge vor 59). die heldensage
wird der inhalt der poesie und der dichter führt ihre einzelnen stücke
seinem volke in demselben sinne vor, in dem es Homer getan hatte, zur
erbauung und erhebung. diese erkenntnis, ohne welche man dem attischen
drama nimmer gerecht werden kann, hat Platon völlig gehabt, nicht bloſs,
weil er Homer den ἄκρος τραγῳδίας nennt (Theaet. 152e), sondern
weil deshalb seine polemik im Staate ganz unterschiedslos Homer und
Aischylos trifft. ja auch Isokrates (2, 48) behandelt die epiker, welche
die sagen von den kämpfen der helden erzählt haben, und die tragiker,
welche diese sagen den zuschauern vor augen geführt haben, als leute
gleichen schlages. Aristoteles hat hier nicht mehr attisch empfunden;
[95]Aischylos. die heldensage; ihr wesen.
Agathon und Theodektes waren ja auch keine solchen tragiker mehr.
für die stellung des dichters zu seinem volke zeugt am besten der ernst-
hafte spötter Aristophanes. belehren und bessern soll der dichter: tut
er das nicht, so ist er des todes schuldig (Frö. 1012), und selbst das
entschuldigt ihn nicht, wenn er für eine verderbliche geschichte sich auf
die sage beruft (Frö. 1052). das ist derselbe maſsstab, den Platon an-
legt, und so zur ausschlieſsung Homers und der tragödie kommt. ob wir
die aufgabe der dichtkunst ebenso fassen mögen, stehe dahin. die Athener
haben sie so gefaſst, und Dante ist eines solchen berufes sich bewuſst
gewesen, und Goethe hat zeitlebens mit leidenschaft dagegen protestirt:
wir wissen aber, daſs er selbst diese erhabenste aufgabe so vollkommen
erfüllt hat wie Aischylos, Platon, Dante, und daſs er noch für jahrhunderte
der lehrer und erzieher nicht nur seines eignen volkes sein wird.


Weil wir selbst noch unter dem banne solcher allmächtigen dichterdie helden-
sage;
ihr wesen.

stehen, ist uns die ungeheure macht des attischen dramas noch ver-
ständlich, und die tatsache liegt ja auch vor augen, daſs es für die er-
ziehung und erbauung des volkes ein complement des epos wird, während
die lyrik dazu nur geringes, die elegie nur hübsche aber triviale sprüche
beigesteuert hat. Homer und die tragiker sind Moses und die propheten
für Hellas. aber das wird schwerer begriffen, daſs der grund dieser er-
habenen stellung darin zu finden ist, daſs Aischylos die sage zum inhalte
seiner dichtungen macht, und dadurch für immer der tragödie ihren stoff
zuweist. ist es uns, die wir so sehr geneigt sind die persönlichkeit zu
überschätzen, schon befremdlich, daſs gerade die dichtung so mächtig
wird, in welcher der dichter hinter seinem werke verschwindet, ganz wie
im epos (doch da haben wir ja Shakespeare, der dasselbe lehren kann),
so sträubt sich vollends der moderne gegen eine macht, die freilich einem
papiernen saeculo ganz fremdartig ist, die macht der sage. der ratio-
nalismus kann sich’s nun mal nicht anders vorstellen, als daſs alles, was
doch gar nicht passirt ist und gar nicht passirt sein kann, sich einer
bloſs mal so ausgedacht haben muſs, und dann kann doch nur auf
diese person etwas ankommen und nicht auf ihre hirngespinnste. zum
mindesten erscheint ihm als eine des verständigen mannes unwürdige
schwachheit, wie der teufel sagt, abzuhängen von creaturen die wir
machten. die romantik aber, die freilich die tiefe empfindung von dem
besitzt, was der rationalismus am liebsten negirt und immer zerstört,
bleibt in der trauer und der sehnsucht befangen, daſs das paradies,
dessen schönheit sie fühlt, ein verlornes, und nur im traum noch für
uns zu betretendes sei. das ist nicht der rechte weg. die poesie und die
[96]Was ist eine attische tragödie?
sage, die mutter der poesie, lebt ja: und statt im traume hinüberzu-
schweben, haut sich die phantasie mit dem guten schwerte der geschicht-
lichen erkenntnis durch die dornenhecke zu dem schlummernden Dorn-
röschen durch. der weg ist frei: Welcker hat ihn gewiesen. so gewiſs
die poesie die muttersprache des menschengeschlechtes ist 60), und deshalb
für jeden von natur verständlich, so gewiſs ist die sage die naturform
für des menschengeschlechtes ἱστορίη und φιλοσοφία, verständich dem
kinde, wie wir noch täglich sehen, und für jeden, der noch nicht zu
vornehm für den spruch ist, werdet wie die kinder.


Die sage — ich rede allgemein, aber ich denke natürlich an die
griechische, von der ich allein etwas verstehe — umfaſst vor alem die
summe der lebendigen geschichtlichen erinnerung des volkes. das was
der einzelne selbst erlebt hat, was also unmittelbar im gedächtnis lebt,
wird sich stets von ihr absondern, aber diese scheidelinie ist keine feste
und sie verschiebt sich für das volk im ganzen von stunde zu stunde.
nur das lebt wirklich fort, was noch als für die gegenwart beleutsam
empfunden wird. deshalb erhält sich wol an einzelne ungeheure taten
oder verbrechen, an katastrophen von völkern stämmen staaten eine
erinnerung, aber wenn sie nicht eine exemplificatorische bedeutung em-
pfangen und so in die nächste kategorie übertreten, so werden sie in
beziehung gesetzt zu den zuständen der gegenwart; an dieser hingt das
interesse, und das vergangene hat nur wert, in soweit es das gegenwärtige
erklärt, das kommende ahnen läſst. aber weil man sich abmiht, das
gegenwärtige zu verstehen, so setzt sich jede darstellung des zuständ-
lichen in eine geschichte um. denn die homerische zeit beschreibt nicht
bloſs den schild des Achilleus durch die erzählung seiner anfertigung:
auch die stammesverhältnisse in einer landschaft, die standesunterschiede
in einer staatlichen gemeinschaft, den einzelnen satz des geltenden rechtes,
die einzelne ceremonie eines gottesdienstes wird nur im werden darge-
stellt. sehr oft ist unentwirrbar, wo die geschichtliche erinnerung auf-
tritt, die paradigmatische construction beginnt. denn auch an der summe
der geschichtlichen erinnerungen übt der mensch sein causalitätsbedürfnis,
wie sie jetzt sagen, besser und antiker gesagt, seinen philosophischen sinn;
man kann auch sagen, er sucht den gott in der geschichte. so tritt in
[97]Die heldensage; ihr wesen.
die verworrene masse der ordnende gedanke von schuld und strafe, vom
endlichen siege der besseren sache oder auch der gröſseren tüchtigkeit.
das mag oft die apologie des erfolges oder doch der begehrlichkeit sein,
und befriedigend ist diese wie jede teleologie nur für die von vorn herein
zustimmenden. es muſs der ordnende proceſs deshalb immer von neuem
begonnen werden, sobald die sittlichkeitsbegriffe, die erkenntnis des tat-
sächlichen und das τέλος selbst sich verschoben haben. aber das geht
in alle zeiten weiter. jede geschichtschreibung, die lebendig wirken will,
muſs den gott in der geschichte aufzeigen, mag sie nun Ahriman oder
Ormuz, πρόνοια oder τύχη in ihr finden.


Die sage wird aber mit nichten durch die geschichtlichen erinnerungen
ausgefüllt. wie der rechtssatz ‘die rache ist mein, spricht der staat, ich
werde richten’ in einem paradigmatischen falle ausgesprochen wird, so
geschieht es mit den sittlichen erfahrungen und grundsätzen des volkes.
die sprüchwörter sind nach Aristoteles reste alter weisheit: sie sind in
der tat häufig nur der rest einer exemplificatorischen geschichte, eines
epiloges, den sie ja auch noch oftmals an sich tragen 61). es verkehrt das
tatsächliche verhältnis, wenn man meint, die fabel wäre später als das
fabula docet. die moral ist der gehalt der fabel, aber dieser wird ursprüng-
lich nur in der form einer geschichte ausgesprochen, und die kahle sentenz
ist erst aus dieser abstrahirt. und gewonnen werden die moralischen sätze
zunächst auch aus der welt, den capiteln des buches, zu denen sie nur
die überschriften sind. ob die bäume oder die tiere, die götter oder die
v. Wilamowitz I. 7
[98]Was ist eine attische tragödie?
menschen träger der handlung sind, macht keinen wesensunterschied.
fabel und novelle und märchen, wie wir die verkümmerten überreste
nennen, sind reiser an demselben stamme. und es ist nur ein quanti-
tativer unterschied, wenn sich eine solche conception der volksmoral bis
in die hohen himmel hebt, der satz ‘seid dankbar’ von Ixion auf seinem
feurigen rade verkündet wird, wenn Vorbedacht und Nachbedacht zwei
Titanen werden, und der hehre glaube, daſs menschenwürde nicht der
götterhöhe weicht, sich in der gestalt des Herakles verkörpert. in so weit
die schöpferische tätigkeit der volksphantasie sich also mit der production
des einzelnen dichters deckt, darf sie wol bei denen auf ein verständnis
rechnen, welche dieser nachzudenken vermögen. an der Heraklessage
wollen wir unten selbst den versuch machen.


Schwierig dagegen ist es, das verhältnis der sage zu den göttern
und zu der religion zu erfassen, zumal das unerträgliche wort mythologie
den ganzen luxe de croyance umfaſst, den sich ein volk mit göttern helden
ungeheuern und ihrem geboren werden kämpfen und sterben erlaubt,
ein wort, anwendbar eigentlich nur für solche, die froh sind, sich nicht
mehr in die unkosten eines solchen luxus zu stürzen. wenn die paradig-
matische sage götter oder dämonen einführt, so tut sie das nicht anders,
als wenn sie nach menschen oder tieren greift. sie verwendet alles was sie
hat, aber es muſs eben schon vorhanden sein. dabei kann sie ja ohne be-
schränkung nach der analogie selbst schöpferisch auftreten, und nament-
lich personificationen hat vornehmlich sie erst zu göttern gemacht, auf
diesem umwege greift sie stark in die ausbildung der götterlehre ein, denn
die geschöpfe der phantasie sind sehr wol dazu fähig, religiöse potenzen zu
werden. so ist Eros ganz und gar ein geschöpf der dichtung. aber es
muſste eben doch schon vorher die existenz von göttern und dämonen fest-
stehen, und die götter, welche wirklich im glauben und im cultus leben,
werden auf diesem wege nimmermehr erklärt. ja, wenn der rationalismus
recht hätte, und auch die religion nur etwas wäre, das sich zuerst einmal
einer ausgedacht hat, oder wenn der euhemerismus recht hätte, und die
götter einmal fleisch und bein gehabt hätten, oder wenn die natursymbolik
recht hätte, und die religion nichts wäre als in metaphern umgesetzte
meteoroleschie, dann möchten die götter in der sage aufgehen und dem-
nach die taten derselben so alt oder älter sein als die personen. aber
das ist ja alles nichts oder doch nur etwas äuſserliches. die gottheit hat
keine andere wohnung als das menschliche herz, und selbst wenn sie
sich im elemente offenbart, das sie noch am reinsten reflectirt, so ist
das so wenig ihre wahre gestalt, wie wenn der Erdgeist im feuer erscheint
[99]Die heldensage; ihr wesen.
‘in widerlicher gestaltt’. lediglich das gefühl, das überwältigend aus dem
eignen busen aufquilltt, offenbart dem menschen die gottheit — wie er dies
gefühl verkörpert und benennt, ist im grunde etwas unwesentliches und
immer etwas accessoriisches. die wirkung empfindet er in wonnen und in
tränen: die ursache sucht er, ahnt er, glaubt er, betet er an. so die einzelne
menschenseele, so die seele des volkes. die götter wirken freilich, natür-
lich; denn täten sie es nicht, so wären sie so nichtig wie die götter
Epikurs. sie wirken auch unmittelbar und sinnfällig; denn täten sie es
nicht, so wären sie so gleichgiltig wie der aristotelische gott: aber sie
sind stetige gewalten. sie haben die dauer: der menschen leben gehört
dem wechsel. auch am elementaren ist mit nichten die vereinzelte kata-
strophe, etwa das gewitter, was die gottheit dem natürlichen sinne offen-
bart, sondern die ewigen gesetze. das wunder, die ausnahme, ist dumm;
wunder tun kann der teufel auch: nur die regel gehört der ewigen weis-
heit. Goethe hat erklärt, daſs er sich ohne weiteres geneigt fühle, die
sonne anzubeten: warum? wenn sie auch sinkt: von osten, hoffe nur,
kommt sie zurück. am abend der seine qualen endet findet Manfred
frieden im anschauen der ewigen sonne. Platon und Aristoteles haben
ebenso empfunden wie Goethe und Byron und aus der gesetzmäſsigkeit
des kosmischen lebens den stärksten religiösen impuls hergeleitet. 62) das
menschenherz ist ruhelos: es sucht den frieden; an ihm zerren die wider-
sprüche: es sucht die harmonie. das irdische kennt nur ein ewiges
werden: es sucht das ewige sein: und wo immer es dieses findet, da hat
es die gottheit gefundlen.


Werden ist geschichte: vom sein kann es keine geschichte geben.
darum haben die götter mit der sage ihrer natur nach nichts zu tun,
und darum ist aus der göttergeschichte, die es gleichwol gibt, für die
religion so viel und so wenig zu lernen wie aus irgend einer theologie.
sage und religion stehen neben einander. die religion wird wie alles so
auch die sage durchdringen: aber wenn die sage in die religion dringt,
so ist das etwas fremdes. die vermischung ist gefährlich, wird schlieſslich
verderblich, aber unvermeidlich ist sie allerdings. denn wie von seiner
geschichte und seinem staate und rechte versucht das volk auch von seinen
göttern sich ein bild zu machen, und auch das tut es auf dem wege, daſs
es eine geschichte vom dem werden und handeln der götter ersinnt. in
7*
[100]Was ist eine attische tragödie?
dem sinne ist es wahr, daſs Homer und Hesiod den Hellenen ihre ϑεογονίη
schaffen. wie alle andern sagen, werden auch diese in einem beständiger
flusse bleiben entsprechend der umformung des sittlichkeitsideales und
der erweiterung des empirischen wissens. und wie die φιλοσοφία des
volkes sich allmählich ein weltbild macht, so wird sie auch versuchen
einen zusammenhang in die vereinzelten göttersagen und personen zu
bringen. aber die schwierigkeit des abstracten gegenstandes bedingt schon
allein, daſs dies verhältnismäſsig spät geschieht, und weit gefehlt, daſs
die göttersage vor der heldensage vorhergienge, diese also ausgeartete
‘mythologie’ wäre und Ilios eigentlich eine wolkenburg bedeutete, borgt
vielmehr Hesiod von Homer, trägt die göttersage oft farben der heroen-
sage und hat heroisch zugestutzte göttersage wie die ϑεομαχία oder die
Titanomachie für die religion nicht höheren wert als für die poesie. 63)


So fassen wir also die sage als die ἱστορία καὶ φιλοσοφία des
volkes zu einer zeit, wo das volk nur concret, in der form einer ge-
schichte, eines μῦϑος, zu denken vermag, so daſs sich auch die vor-
stellungen von zuständen nur in den bildern handelnder personen fassen
lassen, wo endlich die unterschiede in der empfindung und der geistes-
kraft der einzelnen individuen noch nicht so stark sind, um den eindruck
eines gemeinsamen empfindens und denkens zu stören, so daſs wir ledig-
lich das volk als das alleinige subject erkennen und anerkennen. das
weltbild, welches die sage auffaſst, ist dem, welches ein dichter gibt, völlig
analog; das volk schafft es sich auch in wahrheit nicht wie ein dichter,
sondern als dichter. es redet eben noch seine muttersprache, die poesie:
die ungeschriebene litteratur dieser muttersprache ist die sage.


Wenn wir nun wissen, was sie ist, so verstehen wir auch leicht ihre
geschichte. aufhören wird die sage niemals, so lange dichter aufstehen,
die den erzeugnissen ihrer phantasie die lebenskraft zu verleihen ver-
stehen, daſs sie die herzen des volkes erobern und dauernd behaupten.
aber es macht doch einen entscheidenden abschnitt, wenn das volk als
collective einheit nicht mehr der producent der sage ist, und der dichter
[101]Die heldensage; ihr wesen; ihre geschichte.
der sie erzeugt seine individualität wol gar im gegensatze zu dem volke
empfindet und hervorkehrt. das wird eintreten, wenn eine weile in leerer
trägheit nur noch das vorhandene sagenmaterial weitergegeben ist, ohne
wesentlich vertieft und bereichert zu werden. und es kann dieses ge-
dankenlose weitergeben des einmal formirten stoffes noch lange zeit
neben neuen revolutionären bestrebungen einzelner dichter fortbestehen:
aber das kommt kaum noch in betracht. auch für die sage ist die ruhe
der tod.


Sie ist ein strom geschmolzenen metalls. es rinnt dahin, verzehrend
und einschmelzend was in seinen weg kommt, schlacken abstoſsend,
blasen werfend, bis die hitze verflogen ist: dann liegt es starr und kalt
und tot: aber es bewahrt nur in dieser starrheit seine form. so können
wir die sage nur in dem erstarrten zustande erfassen, der ihr ermöglichte
zu dauern, während sie, so lange sie lebte, dem wechsel unterworfen
war. ersichtlich handelt es sich also für ihre beurteilung und ihr ver-
ständnis wesentlich um den zustand, in welchem sie erstarrte, d. h.
dauernde form gewann. da wollen wir denn aber kurzer hand die all-
gemeine art zu reden aufgeben und ganz einfach die tatsachen der hel-
lenischen sagengeschichte überschauen.


In Ionien hat sich für die sage das rechte gefäſs gebildet, das home-Die helden-
sage; ihre
geschichte.

rische epos, und hat sich ein stand gebildet, der sich dem singen und
sagen, dem vertriebe des epos, berufsmäſsig widmete. das ward für alle
folgezeit entscheidend. gewiſs wollen wir nicht unterschätzen, daſs sich
in diesem stande eine anzahl bedeutender dichter befunden haben, welche
den stil des epos feststellten und musterstücke schufen, die sich die jahr-
hunderte hindurch in der gunst des volkes behaupteten. es war aber
auch das für die ganze entwickelung des epos von segensreichstem ein-
flusse, daſs die Ionier das epos selbst oder vielmehr seinen keim von den
Aeolern entlehnten, und daſs sich diese entlehnung auch auf den stoff
erstreckte, die kämpfe um Ilios und eine reihe heroengestalten. denn
sofort erwuchs nun für die dichter des epos die aufgabe, da sie doch
vornehmlich die heroen des eigenen volkes verherrlichen sollten und
wollten, diese in das epos einzuführen, d. h. auf den gegebenen schau-
platz und in die gegebene umgebung zu bringen. so entstand von selbst
ein sagenkreis, der sich räumlich und zeitlich zwar bequem ausdehnen
lieſs, aber doch die nötigung den dichtern auferlegte, mit ihren neu-
schöpfungen anschluſs zu suchen. so rückten die helden vieler städte,
die ahnen vieler geschlechter, die in wahrheit zeitlos sein mochten, oder
auch ganz verschiedenen zeiten angehörten, in ein par generationen zu-
[102]Was ist eine attische tragödie?
sammen, und selbst zwei von hause aus ganz gesonderte sagenkreise,
wie Ilias und Thebais, traten wenigstens in ein festes verhältnis. das
ionische epos, gepflegt mindestens von 900—700 ohne erkennbar sin-
kende kraft der phantasie, war etwas so überwältigendes aller anderen
sage und dichtung gegenüber, daſs sie sich entweder an dasselbe an-
gliedern muſste oder in kümmerlicher vereinzelung verdorrte. das galt
namentlich für die reiche und schöne, aber noch ganz formlose sagen-
welt des mutterlandes, das durch die herübernahme des ionischen epos,
wie sie vorhin erzählt ist, zwar das bequemste gefäſs erhielt, um seine
eignen gedanken und empfindungen aufzufassen, aber nicht bloſs diese
ionisch-episch stilisiren muſste, sondern auch seine helden und götter
in die kreise derer einführen, die im ionischen epos herrschten. die
ausdehnung der epischen dichtung im mutterlande kann nicht leicht zu
hoch angeschlagen werden; bis tief in das sechste jahrhundert, ja in
wahrheit noch weiter herab reicht die production, und es werden sowol
neue stoffe in groſser zahl dem epos zugeführt, als auch das vorhandene
überarbeitet. aber so gut wie immer bestrebt man sich nicht nur den
epischen stil inne zu halten, sondern man projicirt alle und jede stim-
mung und strebung der gegenwart in die heroenzeit. wie dem Herakles
neue abenteuer zuwachsen, welche den dorischen colonisationen ent-
sprechen, wie die blüte Korinths die Argonautenfahrt umgestaltet, die aegi-
netischen adlichen ihren ruhm in den zügen der Aeakiden an Herakles
seite finden, die erwerbung Kyrenes sowol an die Argonautensage wie an
die Odyssee angefügt wird, drittens auch ein altthessalisches märchen zu
neuem selbständigen leben bringt, wie die colonien an der Acheloos-
mündung und am golfe von Ambrakia der Thebais einen neuen ausgang
schaffen: so stellt es sich allerorten dar. die gegenwart wird in ihren
eigenen ereignissen und personen vergessen, ihr spiegelbild in die sage
aufgenommen und erst dieses scheint würdig einer fortexistenz. es wäre
eine torheit, wollte man meinen, daſs die gegenwärtigen kämpfe und siege
den leuten wertlos gewesen wären, oder daſs ihre phantasie nicht auch
daran sich betätigt hätte: die so spät erst aufgezeichneten und doch so
urwüchsig palikarenhaften messenischen freiheitskämpfe, die tragödie des
Kypselidenhauses, Krisas untergang, die geschichten von Rhadina, Othrya-
des, Kleobis und Biton dürften sogar manch einem wertvoller erscheinen
als die bearbeitung der Odyssee oder der Schild des Herakles. es soll wahr-
haftig nicht als eitel segen hingestellt werden, daſs die Hellenen jahrhun-
derte lang sich selbst und ihre eigenen taten und leiden der hohen poesie
für unwert gehalten haben. es harmonirt das damit, daſs die Peloponnesier
[103]Die heldensage; ihre geschichte.
und Boeoter auch ihre eigene sprache nicht zu schreiben wagten. aber
die tatsache ist vorhanden, und weil sie uns modernen so fremdartig ist,
kann man sie nicht stark und oft genug hervorheben. vixere fortes ante
Agamemnona multi, sed omnes illacrimabiles urguentur ignotique longa nocte,
carent quia vate sacro
, das gilt auch, wenn man post für ante setzt, und
die gewalt Homers zeigt sich darin vielleicht am stärksten, wo er der
rieseneiche gleich kein wachstum aufkommen läſst, so weit sein schatten
reicht; aber den epheu am stamme und die mistel in den ästen nährt
er mit dem eigenen safte.


Nun trat ja freilich seit 600 etwa in der chorischen lyrik eine poesie
auf, welche bedeutende dichter erzog, ein allgemeines interesse bei dem
herrschenden adel fand, und dem dorischen wesen weit näher stand als
das ionische epos. aber wo hat sie ihre vollendung erfahren? in Sicilien,
im Neuland, das kein epos besaſs. und wodurch hat sie Stesichoros aus
den dörflichen kreisen, die Alkman befriedigte, in die auch noch Korinna
gehört, emporgehoben? dadurch daſs er epici carminis onera lyra sustinuit,
durch die reception der sage. daſs der aufschwung der chorischen lyrik
den niedergang des epos im 6. jahrhundert beschleunigt hat, ist nicht
zweifelhaft, allein das traf nur die form. den inhalt übernahm sie; denn
wenn auch ihr kleid verschlissen war, war die sage selbst doch noch
frisch, und das volk konnte sich ohne sie eine erhabene poesie nicht
denken. wenn der dichter so wirken wollte, wie er es beanspruchte,
das volk es verlangte, muſste er die homerische sage behandeln. da be-
sitzen wir ja nun glücklicherweise die pindarischen gedichte, und können
mit eignen augen sehen. es sind lauter gelegenheitsgedichte, die erhal-
tenen rein menschlich persönlichen anlässen gewidmet. der dichter selbst,
erfüllt von einem selbstgefühl, das zuweilen an Platen erinnert, setzt
seine ganze individualität ein. aber der sage kann er kaum ein par
mal entraten. wenn ein obskurer herr aus einem obskuren kleinstaat,
etwa ein Opuntier, zu Olympia im ringkampfe gesiegt hat, so bemüht
Pindar nicht nur die olympischen heroen, er feiert nicht bloſs den home-
rischen helden, den die Opuntier sich vindicirt haben, sondern er formt
selbst die dortige localsage um, damit eine heroische verbindung zwischen
Opus und Elis die jüngste olympische groſstat eines Opuntiers verherr-
liche. er hat es sich zum gesetze gemacht, wie er selbst sagt, keinen
seiner lieben Aegineten zu besingen, ohne daſs die unvermeidlichen Aea-
kiden mit ihren heroischen bei der neuesten, freilich nur turnerischen,
groſstat gevatter stehn. und für den tyrannen von Kyrene liefert er
geradezu eine neue darstellung der Argonautensage. der dichter ist eine
[104]Was ist eine attische tragödie?
imponirende gestalt: aber diese sorte von poesie, wo die mythische er-
zählung in conventioneller stilisirung und unerträgliche aufzählungen vo[n]
früher gewonnenen turnprämien, complimente an turnlehrer und reit-
knechte neben einander stehen und das was wahre individuelle poesie ist
auf einen kärglichen raum zurückdrängen, ist ein fragwürdiges product
einer mischcultur, erwachsen in einer gesellschaft, deren sämmtliche
lebensformen sich überlebt haben und den stempel des verfalles tragen.
die sage ist äuſserlich zu einer decoration herabgedrückt und innerlich hat
sie dennoch die übermacht und erstickt die reine flamme der subjectivität
selbst ein Pindar vermag sich weder ganz in die sage zu versenken noch
auch sie ganz auszuscheiden.


In der heimat des epos war man weiter; die culturentwickelung
war eben dort immer um ein par jahrhunderte voraus. während im mutter-
lande das epos noch neue stoffliche aufgaben in überfülle zu bewältigen
hatte, war hier in Ionien der moment der erstarrung für die epische sage
schon um 700 eingetreten. energische dichterpersönlichkeiten waren er-
standen, hatten für ihre liebe und ihren haſs, ihre gefühle und ihre ge-
danken sich die waffen der elegie und des iambos geschmiedet, und damit
auch der sprache des lebens die litterarische weihe gegeben. die revo-
lutionen in den städten und die seit 600 immer weiter greifende, durch
Harpagos auf die ganze küste ausgedehnte fremdherrschaft hatte auch die
heroischen ideale gestürzt. die menschen waren über die zeit hinaus,
welche durch die sage befriedigt wird. in rücksichtslosester weise drängte
sich die subjectivität hervor; der einzelne, der selbsterworbenen weisheit
voll, begnügte sich nicht nur nicht mehr mit den errungenschaften des
volkes, sondern er trat ihm voll verachtung entgegen, der weise den blinden
toren. und die sage trifft vollends haſs und verachtung. da sagt einer ἐδιζη-
σάμην ἐμωυτόν, verkündet den ewigen λόγος, den er besitzt, die anderen
menschen aber weder kennen noch, wenn er ihn verkündet, verstehen, und
schilt auf Homer und Hesiod. und der zweite sagt Ἑκαταῖος ὧδε μυϑεῖ-
ται· τάδε γράφω ὥς μοι ἀληϑέα δοκεῖ εἶναι· οἱ γὰρ Ἑλλήνων λόγοι
πολλοί τε καὶ γελοῖοι, ὡς ἐμοὶ φαίνονται, εἰσίν. und der dritte ver-
wirft die alten götter und ihre propheten, die epiker, und erklärt die ge-
stalten der sage für πλάσματα τῶν προτέρων. der tag ist da, wo die
ἱστορίη und φιλοσοφία des einzelnen die des volkes ersetzt, wo die
wissenschaft die sage ablöst. so weit war Ionien zur zeit des Aischylos.


Athen steht zwischen Ionien und den Dorern. Solon und die tyrannen
haben die front des staates, die früher ganz nach westen gerichtet war, nach
osten gewandt. Solon und Kleisthenes haben das joch der vermorschten
[105]Die heldensage; ihre geschichte.
gesellschaftsformen gebrochen. die lebendige kraft einer in gesetzmäſsiger
freiheit zum selbstbewuſstsein und zur selbstregierung berufenen bürger-
schaft ist entfesselt. die schönsten aufgaben werden dem volke zur rechten
zeit gestellt, werden gelöst und neue höhere ziele eröffnen sich dem blicke.
in dieser atmosphäre schuf Aischylos die tragödie, ward er ein neuer
Homer. das volk in seiner breiten masse lebte und webte noch in der
sage, und die demokratie verwarf die tyrannische subjectivität der Ionier
und die oligarchische des Pindaros. aber das volk verlangte seine eignen
wahren und innigen empfindungen aus der sage hervortönen zu hören,
und wollte mittun auch an seinem gottesdienste. und das volk war fromm
und ernst; die höchsten und tiefsten gefühle regten sich in seiner seele:
es verlangte nach dem dichter, der den gefühlen gestalt farbe klang ver-
liehe: es verlangte nach dem dichter der ihm lehrer und erzieher werde,
der es zu gott führe.


Also konnte für das Athen, das bei Marathon und Salamis geschlagen
hat, nur eine poesie genügen, welche objectiv und volkstümlich blieb wie
die des epos, in welcher der dichter mit seiner person zurücktrat. und
es muſste eine ernste und erhabene poesie sein (σπουδαία, wie Aristo-
teles sagt), die ein weltbild gab und gott in der geschichte zeigte, wie
die homerische. damit war zugleich als stoff der einzig vorhandene ge-
geben, die heldensage. aber die poesie muſste gleichwol eine neue natio-
nale von dem geiste der groſsen gegenwart durchtränkte sein: die home-
rische sage muſste aus dem attischen geiste wiedergeboren werden, das
waren die forderungen für den inhalt. was die form angieng, so ist
oben gezeigt, daſs die chorische lyrik, aber von einem bürgerchore aus-
geübt, und der ionische sprecher und für beide das costüm, also die
μίμησις gegeben war. man kann sagen, Aischylos brauchte nur zuzu-
greifen, der tragödie durch zufügung des zweiten schauspielers zur wirk-
lichen handlung zu verhelfen und sie ἐκ μικρῶν μύϑων καὶ λέξεως
γελοίας ἀποσεμνύνειν: dann war alles geschehen. gewiſs, wir vermögen
die geschichtlichen kräfte zu wägen, einzusehen, daſs und warum sie auf
das eine ziel hinwirken, welches dann durch den glücklichen griff des
einzelnen erreicht wird. und es ist dann die probe gemacht, daſs das
geschichtliche exempel aufgegangen ist. nur wird darum die gröſse des
genies nicht geringer: seine tat bleibt immer das ei des Columbus, mögen
wir ihm den platz noch so genau nachrechnen können, den ihm die
geschichte vorsorglich bereitet hatte.


Es ist offenbar geworden, daſs der anschluſs an die heldensage das
ist, wodurch Aischylos die tragödie geschaffen hat. damit ist die tatsache
[106]Was ist eine attische tragödie?
erklärt, welche sonst unbegreiflich aber nichts desto weniger tatsache
bleiben würde, daſs nicht nur die tragödie des 5. jahrhunderts, sondern
auch jede nachbildung derselben in der folgezeit die heldensage zum
inhalte hat. auf diesem verhältnis beruht die einzige gröſse der griechi-
schen tragödie; aber nicht minder liegt darin auch ihre vergänglichkeit
beschlossen. ihr untergang war unvermeidlich, sobald auch das attische
volk der sage entwuchs. denn dann muſste die attische nachfolgerin
Homers das schicksal ereilen, welchem Homer in Ionien verfallen war.
und nun eröffnete dieselbe groſsartige politische bewegung, welche dem
drama des Aischylos die weihe gab, Athen völlig dem ionischen einfluſs,
oder verlegte vielmehr den schwerpunkt des geistigen lebens von Ionien
nach Athen. dadurch ward der an sich notwendige entwickelungsproceſs
beschleunigt, der durch befreiung des subjectiven denkens und der indi-
vidualität die sage und ihr gefäſs, die tragödie, überwinden muſste. wo
Anaxagoras Protagoras Sokrates lehren, ist in der tat kein raum mehr
für sie. wenn nicht ihre beiden dichter noch gelebt hätten, würde sich
die tragödie kaum bis 406 gehalten haben. als sie aber starben, empfand
das publicum selbst den tod der tragödie. Aristophanes lieſs Dionysos in
den Hades hinabsteigen. Platon verbrannte seine tetralogie; nicht weil
er darauf verzichtete, ein dichter zu werden im sinne des Aischylos, son-
dern weil er erkannte, daſs der tragiker jetzt nicht mehr der lehrer und
meister des volkes sein konnte. er versuchte freilich — so stark war die
gewalt der tragödie — sich eine neue kunstform von dramatischem cha-
rakter zu schaffen, und er schuf sich statt der überwundenen heroen-
sage auch einen sagenkreis, den von Sokrates; aber er erlebte doch oder
bewirkte vielmehr selbst daſs die wissenschaft das poetische gewand ganz
abwarf; wenigstens die wahre, denn in niederen aber deshalb volkstüm-
licheren kreisen trat dem sokratischen sogar noch der sagenkreis von
Diogenes zur seite. die poetische form des dramas dauerte freilich, ja
das dramatische ward erst jetzt recht als artbildend erfaſst; man tat auch
hier den notwendigen schritt, da die heroischen abbilder nicht mehr ver-
fiengen, frisch in das volle menschenleben der gegenwart hineinzugreifen
und von da die stoffe zu holen. Menander steht zum βίος wie Aischylos
zu Homer: er bewirtet seine zuschauer mit τεμάχη von den μεγάλα
δεῖπνα τοῦ βίου. aber das drama ist, seit es die sage verloren hat,
nur noch komödie; das σπουδαῑον ist dahin, unwiederbringlich. die
Hellenen haben nach Platon keinen dichter und keine poesie im hohen
stile mehr besessen: um so ungeheurer war und blieb die gewalt, welche
die fast schon bei lebzeiten an die seite Homers erhobenen drei attischen
[107]Beantwortung der frage. die aristotelische definition.
tragiker ausübten. allein diese geschichtliche wirkung, die in gewissem
sinne ewig dauern wird, ist in jeglicher hinsicht eine andere als die
welche die dichter selbst beabsichtigten und ihre werke zu ihrer zeit
ausübten. und die philologie hat zwar auch die aufgabe jene geschicht-
liche wirkung zu verfolgen und zu erklären: aber das nächste und not-
wendigste ist, den dichter und sein werk selbst zu begreifen.


Wir stehen am schlusse: es ist nur noch nötig, den ertrag unsererBeantwor-
tung der
frage.

betrachtungen zusammenzuziehen, damit die frage beantwortet werde,
was ist eine attische tragödie? eine attische tragödie ist ein in sich ab-
geschlossenes stück der heldensage, poetisch bearbeitet in erhabenem
stile für die darstellung durch einen attischen bürgerchor und zwei bis
drei schauspieler, und bestimmt als teil des öffentlichen gottesdienstes
im heiligtume des Dionysos aufgeführt zu werden.


Das ist ohne zweifel eine definition, mit welcher die aesthetische
theorie so nichts anfangen kann, vielmehr wird diese sofort und mit
leichtigkeit sich aus ihr nur das aussuchen, was für sie wesentlich ist.
denn die aesthetische theorie will die tragödie definiren; die philologie
hat es aber mit der attischen tragödie zu tun, und für diese ist alles
wesentlich, was für die dichter als gesetz gegeben war, und sich demnach
in ihren werken wirksam zeigt, also z. b. die qualität der tänzer, die be-
schränkte zahl der schauspieler, zeit und ort der aufführung. die theorie
hat die aufgabe, die notwendigkeit für jede der forderungen begrifflich
zu erweisen, welche sie in der definition zusammenfaſst; die philologie
hat ihre aufgabe eigentlich schon erfüllt, wenn sie die existenz jedes
einzelnen kennzeichens, das sie in die definition aufnimmt, an den con-
creten erscheinungen, den tragödien, dartut: im vorstehenden soll aber
auch für alles einzelne die entstehung erläutert und somit zwar nicht ihre
begriffliche, aber wol ihre geschichtliche notwendigkeit erwiesen sein.


Aristoteles hat nicht die attische tragödie geschichtlich, sondern dieDie aristote-
lische defl-
nition.

tragödie begrifflich definiren wollen, und nur weil sein einziges beobach-
tungsmaterial in attischen tragödien und ihren nachahmungen bestand,
kann der moderne sich leicht über seine absicht täuschen. gleichwol
wird jeder erwarten, daſs hier die aristotelische definition zur vergleichung
herbeigezogen werde. ἔστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπου-
δαίας καὶ τελείας μέγεϑος ἐχούσης ἡδυσμένῳ λόγῳ χωρὶς ἑκάστου
τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις — so weit stimmt das, wenn man den ver-
schiedenen standpunkt berücksichtigt, im wesentlichen, und die einheit
und abgeschlossenheit, die freilich für jedes kunstwerk gilt, ist ein sehr
wichtiges moment, das gewürdigt zu haben vielleicht das wertvollste an der
[108]Was ist eine attische tragödie?
ganzen definition ist 64). Aristoteles fährt fort, δρώντων καὶ μὴ δι̕
ἀπαγγελίας. insofern hierdurch nur der unterschied vom epos bezeichnet
werden soll, ist es ohne weiteres zutreffend; ich habe dem durch das
wort ‘darstellung’ genüge zu leisten gesucht. aber Aristoteles selbst hat
ohne zweifel mehr darin gesucht und von der tragödie gefordert, daſs sie
ihre handlung im wesentlichen vor augen führen, darstellen und nicht
erzählen soll. eben so wenig werden wir zögern, die forderung als be-
rechtigt anzuerkennen; unser gefühl werden auch die attischen dramen
besonders ansprechen, welche ihr genügen, also z. b. Philoktet und Oedi-
pus, Medeia und Ion. aber für die attische tragödie ist, wie wir gesehen
haben, das dramatische accessorisch, und vollends die μίμησις πράξεως
— δρώντων καὶ μὴ δι̕ ἀπαγγελίας sehen wir zwar von Richard III
Othello Götz erfüllt: allein, wer auf das dramatische das höchste gewicht
legt, dem haben erfahrungsgemäſs die nachahmungen der antike und
diese selbst nicht genüge geleistet. nicht bloſs die Perser, auch die Sieben
geben nicht die handlung, oder doch nur im reflexe, halb episch, halb
lyrisch. Aischylos Εὐρώπη ἢ Κᾶρες 65) können wir uns nach dem pro-
loge und der zu grunde liegenden homerischen episode ganz wol vor-
stellen, die sorge der mutter um den fernen sohn, den barbarenchor,
dem die fremdartige wilde klage geziemt, einen botenbericht, der das Π
nacherzählt, Schlaf und Tod mit der leiche Sarpedons, die errichtung des
schon von Homer erwähnten grabmals: ein herzzerreiſsendes bild des
mutterschmerzes und der früh gebrochenen menschenblüte, versöhnt
durch den ewigen ruhm der mannesehre, die im grabe des Aresgefällten
das leben hat, ein abbild der empfindungen, welche die Erechtheiden haben
mochten, als sie den leichenstein CIA I 433 errichteten: das gibt eine echte
attische tragödie, aber ob es ein wirkliches drama gibt, ist mir selbst
zweifelhaft. der unterschied zwischen dem abstract von uns geforderten
und dem concret in Athen erkannten und erstrebten ist in diesem punkte
besonders augenfällig. wir erleben ja aber auch, daſs das dramatische
[109]Die aristotelische definition.
übertrieben wird, das sinnfällige allein als handlung erscheint, und ein
flachkopf dem Tasso mangel an handlung vorwerfen darf, während anderer-
seits für die sitte der botenreden im attischen drama, die doch lediglich
aus seiner herkunft erklärt werden darf, eine aesthetische rechtfertigung
erkünstelt wird.


Immerhin liegt hier nicht der hauptunterschied, der das attische
drama von dem aristotelischen scheidet. aber er fährt fort δι̕ ἐλέου καὶ
φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παϑημάτων κάϑαρσιν. und
dieses kleinod der aristotelischen lehre können wir nicht brauchen, mag
es auch das unschätzbarste sein. man kann doch darüber keine worte
verlieren, daſs eine kathartische wirkung weder Aischylos erstrebt noch
die Athener erwartet haben. mag der philosoph auch noch so scharf
und fein die wirkung beobachtet haben, welche eine tragödie auf das
publicum oder auch auf ihn bei einsamem lesen ausübte: diese wirkung
war den dichtern und ihrem volke unbewuſst. der dichter, der für den
festtag ein spiel lieferte, für das ihm bestimmte bedingungen gestellt
waren, wollte gewiſs höheres als beklatscht und bekränzt werden; ge-
wiſs wollte er sein volk lehren und erbauen: aber das lag in seinem
berufe als dichter, nicht als tragiker. und das volk erwartete und erfuhr
die wirkung der poesie als solcher: was es von der tragödie als solcher
forderte, das lag in deren äuſserem anlaſs, den Aristoteles (mit recht für
seinen absoluten standpunkt) nicht berücksichtigt, wol aber wir aufzu-
nehmen haben. die tragödie ist ein teil des dionysischen gottesdienstes.
nun liegt am tage, daſs die besten tragödien im tiefsten sinne erbaulich
wirken: aber dem dionysischen dienste darf man das nicht zurechnen,
denn dieser verlangt ja nicht nur auch das satyrspiel, sondern er hatte
sich mit diesem lange begnügt, ohne etwas im ernsten sinne erbauliches
zu fordern. um so weniger darf diese wirkung in die definition der
tragödie eingang finden.


An sich betrachtet ist in der kunstlehre des Aristoteles ohne zweifel
die volle gröſse des unerbittlichen menschenkenners zu bewundern, und
wer mag sich nicht gern daran erquicken, wenn er die hochmodernen
sich mit dem probleme des wolgefallens an tragischen gegenständen ver-
gebens quälen sieht. wie sollte nicht bedeutende wahrheit in dem liegen,
worin Aristoteles und Goethe sich zusammenfinden? aber das sollte
man sich eingestehen, daſs die κάϑαρσις für das drama nicht artbe-
stimmend sein kann, und selbst wenn man die affecte, durch welche das
drama wirkt, als artbildend anerkennen wollte, so würde das unselige par
furcht und mitleid recht unzureichend bleiben. für uns gewiſs; denn
[110]Was ist eine attische tragödie?
wirkt etwa z. b. Calderons Andacht zum kreuze nicht kathartisch, tragisch
selbst auf den, dem eine solche religion widerwärtig und entsetzlich ist?
der affect aber, durch den sie wirkt, ist doch wol weder ἔλεος noch
φόβος sondern devocion. der Prinz von Homburg schlieſst mit einer
scene überwältigenden jubels, und selbst der leser in stiller kammer
stimmt laut in den schluſsruf ein “in staub mit allen feinden Branden-
burgs”: der affect, der sich da entlädt, ist doch wol von furcht und
mitleid sehr weit entfernt, ist patriotismus. nun mag Aristoteles ent-
schuldigt sein, denn er hatte für religiöse hingabe nicht viel mitgefühl, und
patriotismus kannte der heimatlose nicht. aber die alten Athener hatten
beides, und in den Eumeniden weht der echte fromme glaube an die
gerechtigkeit und das erbarmen der gottheit und der echte stolz auf das
herrlichste vaterland. also ist die beschränkung auf jene zwei affecte
zu eng. und doch ist noch schlimmer, was durch die einseitige hervor-
hebung derselben bewirkt wird. natürlich findet Aristoteles den dichter
und das gedicht am besten, welche diese affecte am stärksten spielen
lassen. unvermeidlich ist, daſs ihm ein ‘tragischer’ ausgang mindestens
vorzüglicher erscheint, wobei denn Eumeniden und Philoktet und Iphi-
genie und Prinz von Homburg übel fahren müssen. und wenn die dichter
und das publicum erst dahinter kommen, daſs die wirkung eine patho-
logische sein soll, so wird eine verrohung der empfindung unvermeidlich
sein, weil die reizungen immer stärker werden müssen. diese definition
führt zu Seneca; und wenn nur Shakespeare nicht so oft in diesem sinne
‘tragisch’ wäre. aber auch in der nötigen verallgemeinerung von der
tragödie auf die kunst überhaupt streift die aristotelische kunstlehre an das
philistergefühl, daſs man in’s theater gehe, um sich aus der misere des
tageslebens auf ein par stunden dadurch zu entrücken, daſs man sich
recht ausweint oder auslacht; das bekommt gut; man geht am andern
morgen frischer in die tretmühle. es ist auch hier etwas von der frömmig-
keit am sonntagvormittag für die ganze woche. wenn Goethe vor der
meduse Rondanini die menschheit höher fühlt, Schiller meint, nie ganz
unglücklich werden zu können, seit er die Leichenspiele des Patroklos
gelesen hat, so ist das doch wol mehr: was wir für das leben dem ver-
danken, daſs wir den Faust besitzen, täglich und stündlich bewuſst und
unbewuſst unter seiner wirkung stehen; die lebenserfahrung, die darin
liegt, daſs einmal das groſse auge des einen stoischen gottes aus der kuppel
des Pantheons oder das bunte göttergewimmel der Christen in S. Maria
della Arena auf uns niedergeschaut hat, das ist etwas höheres als eine ein-
malige pathologische wirkung, die etwa nur im gedächtnis lebte: was man
[111]Die aristotelische definition.
empfindet ist nicht pathologisch sondern moralisch, ist keine κάϑαρσις
sondern eine reinigung. aber das gehört nicht hierher; oder doch nur so
weit, als die Athener im gegensatze zu Aristoteles von ihren dichtern, weil
sie dichter waren, et delectare et prodesse verlangt haben. und wenn es
ein ruhm sein sollte, daſs Aristoteles die moralische wirkung nicht an-
erkennt, so hat er das erreicht, weil er nicht mehr hellenisch empfand.


Wie wenig er das tat, zeigt sich am stärksten darin, was seine defi-
nition vermissen läſst, obwol es das wichtigste ist: er ignorirt die sage.
das beispiel, das er an der Iphigeneiafabel gibt (17), zeigt, daſs er sich
die tätigkeit des dichters wirklich etwa so vorstellt, wie Raffaels handzeich-
nungen es für den maler beweisen. erst wird das allgemein menschliche
motiv in seiner natürlichen naktheit durchgeführt, dann erst findet die
bekleidung mit den sagenhaften namen statt. die tatsache, daſs gleichwol
die tragiker keine erfundenen stoffe behandeln, ist Aristoteles unbequem;
mit wolgefallen notirt er eine ausnahme, obwol Agathon weder nach-
haltigen beifall noch nachahmung gefunden hatte. endlich hilft er sich
damit, daſs das publicum auf wahrscheinlichkeit halte und diese doch
vorhanden sein müsse, wenn die geschichten wirklich passirt sind. also
die sage hat nur als geschichtliche wirklichkeit bedeutung. nun lehrt
aber Aristoteles selbst, daſs die wirklichkeit unpoetisch ist, muſs sich
also damit helfen, daſs doch unter dem was passirt auch einzelnes ist,
das der anforderung des poetischen (οἷον ἂν γένοιτο) entspricht, wofür
ihm eine bestätigung ist, daſs zu seiner zeit nur noch eine beschränkte
zahl von sagenstoffen wieder und wieder bearbeitet wurden. wer wollte
leugnen, daſs Aristoteles auch hier nur sagt was er empfindet und zu
empfinden ein recht hat. denn für ihn war die sage tot, so daſs er
sie weder als lebendige macht anerkennen noch, wie Platon, bekämpfen
mochte. wenn ein bedeutender tragiker noch erstanden wäre, so hätte er
jedenfalls die heldensage aufgegeben und in das menschenleben der gegen-
wart hineingegriffen; dabei würde dann freilich die scheidelinie zwischen
tragödie und komödie durchbrochen worden sein und ein ganz neues
‘drama’ entstanden. aber das hat Aristoteles nicht geahnt: nicht er hat
Shakespeare prophezeit, sondern Platon. er hat der folgezeit die richtige
directive nicht gegeben, sondern ist in den formen einer innerlich über-
wundenen poesie stecken geblieben. und geschichtlich verstanden hat
der die alte groſse attische tragödie wahrhaftig auch nicht, der ihren inhalt
ignorirt. es ist in der poetik wie in der politik, wo er weder der groſsen
vergangenheit, dem attischen Reiche, noch der groſsen zukunft, dem
reiche Alexanders gerecht zu werden versteht, vielmehr in der misere
[112]Was ist eine attische tragödie?
der kleinstadt und der dafür geeigneten gesellschaftsordnung verharrt,
welche von der speculation und von der geschichte in wahrheit längst
überwunden war.


Moderne
vorurteile.

Endlos und nutzlos würde es sein die modernen definitionen des
dramas mit der des attischen zu vergleichen, welche die geschichte gibt;
das οἷον ἂν γένοιτο ist philosophischer, aber es ist mit dem οἷον ἦν
incommensurabel. nur einige consequenzen zu ziehen wird praktisch
sein, weil gewisse vorurteile sich fest eingewurzelt haben, so daſs es nicht
genügt gezeigt zu haben, daſs sie unkraut sind; sie müssen ausgerissen
werden.


‘Tragisch’ braucht eine tragödie weder zu schlieſsen noch zu sein.
nur die ernsthafte behandlung ist nötig. die peripatetiker, welche an
dem ausgange des euripideischen Orestes und gar der sophokleischen
Elektra anstoſs nehmen 66), sind durch Aristoteles auf einen holzweg ge-
lockt. die Alkestis enthält gerade sehr rührende partien, sie soll und
kann als tragödie gelten: aber sie schlägt in den zankscenen einen scherz-
haften humoristischen ton an und führt Herakles als komische figur ein:
dadurch wird sie dem satyrspiel angeähnelt, das ja aber die tragödie aus
sich entwickelt hat, so daſs die grenze (wenn man von dem satyrchor
absieht) keine feste ist.


Es ist die meinung verbreitet, daſs die attische tragödie erst allmäh-
lich dazu fortgeschritten wäre, individuelle menschen zu schildern, nach-
dem sie typen gebildet hätte, also z. b. Sophokles ‘den könig’ ‘die schwester’
‘den greis’. das würde sehr seltsam sein, denn erst die abstraction findet
solche typen, während die beobachtung nur individualitäten liefert. und
daſs die bildende kunst lange zeit nur ‘mann’ und ‘weib’ gebildet hat,
ehe sie Perikles und Lysimache bilden kann, zeigt nur den gegensatz
der künste, der in ihrem wesen liegt. es würde aber auch schwer begreif-
lich sein, daſs Sophokles nicht können sollte, was Homer schon zur voll-
kommenheit geführt hat: Achilleus und Nausikaa sind wahrlich keine
bloſsen typen. der gang der entwickelung ist umgekehrt. der jüngling
schreibt Götz und Werther, die jedermann verständlich sind; Epimenides
[113]Moderne vorurteile.
und Natürliche tochter versteht nur, wer dem Goethe der aus Italien
heimkehrt in das reich des typisch symbolischen zu folgen vermag. nun
ist aber tatsächlich jener ansicht der boden entzogen: die tragiker em-
pfamgen ihre gestalten von der sage, und die liefert ihnen nicht greis und
schwester, sondern Oedipus und Antigone. und zugleich ist erklärt, wie
jener irrtum entstehen konnte: figuren, welche die sage prägt, tragen
allerdings nicht die zufälligkeiten eines modells an sich. vor allem aber
wirkt verwirrend, daſs die tragischen gestalten für uns typisch geworden
sind. wir mögen ja in Antigone die schwesterlichste der seelen be-
wumdern, wobei wir das ὠμὸν γέννημα ἐξ ὠμοῦ πατρός vergessen.
aber dazu hat sie die gewalt der sophokleischen poesie und der von jahr-
humderten dieser zugestandene classische vorrang gemacht, und es ist nicht
damit gleichzusetzen, was sie für Sophokles und seine zeit war. bei
Seneca ruft die amme Medeas entsetzt ihre herrin an ‘Medea’, und diese
antwortet fiam: für sich selbst ist sie das typische bild der kindesmörderin,
die euripideische Medeia. wie sollte es erlaubt sein, Euripides selbst
schon ähnlich empfinden zu lassen, als er diese Medeia erst schafft.


Es könnte nun freilich scheinen, als lieferte die sage zugleich mit
dem stoffe die charaktere, und wenn die epischen dichter alle so viel
vermocht hätten, wie die welche Nausikaa und den Achill der Litai ge-
staltet haben, würde das auch zutreffen — in dem falle würde aber freilich
auch die sage einer erneuerung durch die tragödie nicht bedurft haben.
in der überwiegenden menge von epen war von so ausgeführter charakte-
ristik nicht die rede; man denke nur an Hesiodos. schon der stoffreichtum
der meisten gedichte schloſs das aus. ferner erhielt der tragiker auch durch
die wielgestaltigkeit der sage die freiheit. Odysseus, der göttliche dulder
des ionischen epos, war für die Dorer der verlogene Sisyphide; die Atreiden
des epos waren heldenkönige, die Pleistheniden des Stesichoros waren
frevler. mit ausnahme von ganz wenigen älteren schöpfungen hat tat-
sächlich erst das drama die charaktertypen aus den heroen gemacht, als
welche sie dann gegolten haben. wenn der peripatetiker lehrt sit Medea
ferox invictaque, flebilis Ino, perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes
, so steht
er zu den charakteren wie Aristoteles zu den mythen, aus deren reichster
fülle er nur noch wenige praktisch verwertbar findet. die groſsen tragiker
aber fühlten sich noch als freie herren, durften dies und jenes versuchen,
gebunden weder an fremde noch an eigene charakteristik: gebunden nur
an den μῦϑος, nicht an die ἤϑη. und wenn diese durch den μῦϑος bis
zu einem gewissen grade vorgezeichnet erscheinen sollten, so genügt
ein hinweis auf die Elektra des Sophokles und Euripides um zu lehren,
v. Wilamowitz I. 8
[114]Was ist eine attische tragödie?
wie weit der freie spielraum war. die tragiker und ihre frische und kühne
schaffenskraft stehen mitten inne zwischen dem conventionellen heroentum
des epos und dem conventionellen heroentum, das die spätere zeit aus
der tragödie selbst abstrahirt. und darum ist eine befreiung von diesen
beiden fesseln für jeden nötig, der sie verstehen will. eben dieselben
leute, welche über die typische stilisirung der tragödie klagen, reden dem
Aristophanes die klagen über die bettelhaftigkeit euripideischer helden
nach, die doch nur dadurch eingegeben sind, daſs das athenische durch-
schnittspublicum, an die conventionelle epische stilisirung gewöhnt, es
unschicklich fand, daſs könig Telephos sich trug und betrug wie ein armer
reisender von dazumal. die wahre kunst ist immer anachronistisch und
läſst ihre geschöpfe fühlen reden und sich tragen, wie sie es im leben
kennt, und sie lebt darum im widerstreite sowol mit dem conventionellen
stile, den sie überkommt, wie mit der trägkeit der denkfaulen zeitgenossen.
wer dem dichter gerecht werden will, wird ihn auf kosten des conven-
tionellen erheben. für unsere anschauung ist es ein greulicher zopf, daſs
die classische tragödie Frankreichs nur könige oder doch standespersonen
als helden duldet und kein schnupftuch auf der bühne nennen kann: aber
ihre dichter sind dichter, weil Andromache eine vollblutfranzösin ist und
Mahomet der verbrecherische betrüger, den sich die aufklärung allein als
religionsstifter denken kann. eine ähnliche abstraction von dem conven-
tionellen costüm fordert auch die attische tragödie. ohne zweifel sind in
Euripides Orestes die personen ziemlich alle lumpen, wie die peripatetiker
klagen, aber deshalb ist das drama mit nichten schlecht. hier zeichnet Euri-
pides Helene als coquette weltdame und Menelaos als einen schwachmütigen
aber nicht bösartigen egoisten. ein par jahre zuvor war in der Helene der-
selbe als ein sentimentaler, wenig gescheiter aber im entscheidenden augen-
blicke entschluſsfähiger mann, Helene als eine etwas verblühte tugendrose
neben dem polternden barbarischen dummkopf Theoklymenos eingeführt.
daſs dies verfahren dem wesen der sage gewalt antat, und so der greise
dichter selbst den beweis lieferte, daſs die tragödie ihre existenzberechtigung
verloren hatte, ist unbestreitbar: aber die bewuſst geübte fähigkeit der in-
dividuellsten charakterzeichnung liegt zu tage. und ist etwa die aulische
Iphigeneia und ihr Achilleus, ist die verliebte Andromeda, ist Pentheus im
gröſsenwahnsinn nicht für alle zeiten damals charakterisirt, und ist die
flebilis Ino, die Medea ferox und auch die schwesterlichste Antigone,
der redliche Neoptolemos auf anderm wege als durch die dichterwillkür
der tragiker geschaffen?


Weil die dichter noch aus eigner machtvollkommenheit die ἤϑη
[115]Moderne vorurteile.
schufen, hatten sie auch allein die möglichkeit, einen charakter sich ent-
wickeln zu lassen. nicht bloſs die Klytaimnestra des Aischylos tut es, da
sie in drei dramen hinter einander auftritt: Medeia sehen wir zur ver-
brecherin werden, Phaidra, Hekabe, Kreusa sind vollkommene gemälde
psychischer krankheiten. daſs Bellerophontes die tragödie der menschen-
feindschaft war, können wir nur noch ahnen: Herakles aber zeigt uns
die krankheit und die heilung zugleich. das war nicht mehr möglich,
als die tragischen personen wirklich zu typen geworden waren: Seneca
lehrt es genugsam, und hat doch auch eine Medea und Phaedra gedichtet.
das ward aber schon viel früher weder verstanden noch geschätzt. der
fluch des menandrischen lustspiels ist es, daſs es χαρακτῆρες gibt wie
Theophrastos sie gezeichnet hatte — ob sie anonym blieben oder Philon
und Chremes hieſsen, macht wahrlich keinen unterschied. und schon bei
Aristoteles sehen wir, daſs er so gröblich sich versehen kann, die aulische
Iphigeneia zu tadeln, weil sie nicht entweder lediglich als schlachtopfer
weint, oder als heldenjungfrau mutvolle reden hält. es war nur eine con-
sequenz davon, daſs seine schüler der Medeia die regungen der liebe zu
ihren kindern verübelten 67).


In diesen dingen sehen wir die freiheit der dichter gegenüber der
sage, die unvergessen bleiben muſs, zumal wenn man der sage endlich
das ihre gibt. aus den charakteren wird die handlung motivirt: die hand-
lung aber war gegeben, also auch der ausgang. da wird die moral for-
dern, daſs der dichter so motivire, daſs die poetische gerechtigkeit be-
friedigt wird. und wirklich hört man oft, daſs die antike tragödie, wenn
sie auch sonst ein überwundener standpunkt wäre, in groſsartiger naivetät
schuld und strafe in ihrer unerbittlichen verkettung darstellte. Schiller
hielt seine Braut von Messina doch wol für eine tragödie in antikem
sinne, und in ihr soll ja die schuld, der übel gröſstes, böses fortzeugend bis
zum allgemeinen untergange dargestellt sein. derselbe Schiller hat auch
mindestens mit verschuldet, daſs die Athener in den geruch des fatalismus
geraten sind. in der ersten classe der mädchenschule, in den aesthe-
tisch-kritischen ergüssen der monatsschriften, also dort wo man im
vollbesitze der allgemeinen bildung ist, auch in poetiken, die sich an
diese kreise wenden, ist es eine ziemlich ausgemachte sache, daſs Sophokles
und Müllner schicksalstragödien verfaſst haben. und ganz besonders weiden
sich die christlichen von heute, schwarze wie graue, daran, daſs die blinden
heiden ein recht blindes schicksal geglaubt hätten, das den menschen sünde
8*
[116]Was ist eine attische tragödie?
tun lieſs, die er nicht verschuldete, und ihn dann strafte für taten, die er
nicht auf dem gewissen hatte. die sprünge mittelst deren man das blinde
schicksal neben der verkettung von schuld und strafe halten zu können
vermeint, brauchen nicht vorgeführt zu werden. es liegt ja auf der hand,
daſs beides sich ausschlieſst und eines so falsch wie das andere ist, in
wahrheit nichts als eine gedankenlose verallgemeinerung des eindrucks,
den einerseits die Orestie, andererseits der Oedipus macht. auch das
liegt am tage, daſs hier ein maſsstab angelegt ist, den die Hellenen gar
nicht gekannt haben. die antike theorie des dramas hat niemals an
solche dinge gedacht noch denken können, zumal mit Aristoteles ist
es alles ganz unvereinbar, und gar den Athenern des 5. jahrhunderts
den glauben an ein blindes schicksal, den kalten faulen determinismus,
zuzutrauen ist schlimmer als lächerlich. die Athener erzeugten ja damals
die Sokratik. und was würde Sokrates dem prediger des unfreien willens
anders sagen, als ‘das ist weibergerede’. Shakespeare nicht anders. ‘ist’s
mein schicksal, gut, ist’s nicht, auch gut’ so redet sein frauenschneider
Schwächlich. das problem der willensfreiheit liegt dem 5. jahrhundert
ganz fern, dessen philosophisches interesse vielmehr dem erkenntnis-
theoretischen probleme zugewandt ist. und auch die ethik fragt zunächst
nach der berechtigung der wertschätzung moralischer handlungen. es
wäre schlimm, wenn man an die absurdität dieses modernen geschwätzes
noch mehr worte verlieren sollte: philosophie geschichte poesie sträuben
sich gleichermaſsen dagegen.


Gewiſs, die tragödie ist ein weltbild, und sie schildert die menschen
in ihrem handeln und leiden. also muſs sie bewuſst oder unbewuſst die
ewigen probleme der menschlichen verantwortlichkeit und der göttlichen
gerechtigkeit behandeln. aber da das leben fortwährend sowol für wie
gegen den determinismus, für wie gegen die theodicee zu zeugen scheint,
wird auch sein abbild diese widersprüche zeigen. und da auch die einzelnen
dichter bewuſst oder unbewuſst zu diesen problemen stellung nehmen
müssen, werden ihre werke so oder so eine antwort geben. anders wird
aus Aischylos der glaube an einen allgütigen weltenherrscher reden als die
protagoreische sophistik aus Euripides. aber das ist die individuelle sache
der dichter. sie lehren ihr volk was sie ihr herz heiſst. mit ihrem dichter-
berufe oder gar mit der dichtgattung, deren sie sich bedienen, hat der in-
halt ihrer lehre nicht das mindeste zu tun. wir mögen immerhin urteilen,
daſs die höchste und herrlichste tat des dichters erst die sein wird, welche
im menschengeschicke den triumph der idee des guten so zu offenbaren
weiſs, wie es Aischylos vermocht hat. wir mögen recht haben, wenn
[117]Moderne vorurteile.
ums die hehre weihe, die das ende des Oedipus verklärt, teurer ist als das
herzzerreiſsende bild des geblendeten, der vergeblich um den tod bittet.
allein der dichter der mit gleicher glaubenswahrheit die grellsten disharmo-
nieen ertönen läſst, die der menschen wollen und sollen und können,
der menschen streben und gelingen durchziehen, hat das gleiche recht, und
auch er erfüllt seinen erhabenen dichterberuf. vollends die s. g. poetische
gerechtigkeit ist ja überhaupt nur für den pöbel da, der den schluſs des
Lear nicht verträgt, Hamlet auf den thron führt, und die Wahlverwandt-
schaften unmoralisch, Kain gotteslästerlich findet. dieser pöbel existirt
für die attischen tragiker so wenig wie für Shakespeare und Byron. was
Euripides hinter mehrere dramen als schluſswort gesetzt hat, könnte
hinter jedem attischen, hinter jedem drama von Shakespeare stehen:


πολλαὶ μορφαὶ τῶν δαιμονίων,
πολλὰ δ̕ ἀέλπτως κραίνουσι ϑεοί.
καὶ τὰ δοκηϑέντ̕ οὐκ ἐτελέσϑη,
τῶν δ̕ ἀδοκήτων πόρον ηὗρε ϑεός·
τοιόνδ̕ ἀπέβη τόδε πρᾶγμα.


man hat das trivial genannt. sei dem so. sei es etwas höheres, wenn das
drama lehrt, daſs das schicksal mit dem menschen spielt wie die katze mit
der maus, oder daſs der gott dem menschen neidisch sein glück nicht gönnt,
oder daſs er wenigstens in jedem funften acte die zeche macht und jeden so
viel zahlen läſst wie er auf dem kerbholz hat — das attische drama gehen
alle diese schönen sachen darum doch nichts an. der dichter beabsichtigt
auch nicht zu zeigen, wie sich zwei widerstreitende gewalten zerreiben wie
zwei mühlsteine, noch will er sein publicum zu einer woltätigen entladung
vom furcht und mitleid sollicitiren: er beansprucht nur, eine merkwürdige
geschichte dargestellt zu haben. Theophrastos war nicht geistreich, die
rechte famulusnatur war er neben Aristoteles, aber wenn er es ist (wie
er es wol sein wird), der die tragödie ἡρωικῆς τύχης περίστασις genannt
hat, im gegensatze zu der ἰδιωτικῶν πραγμάτων ἀκίνδυνος περιοχ [...],
der komödie (Diomedes p. 488 K.), so ist das trotz einiger trivialität gar
nicht so übel, und namentlich würde es die modernen von den irrgängen
tieff- und scharfsinniger construction auf das geschichtliche object haben
zurückleiten können.


Indessen auch alle diese irrtümer wollen wir nicht bloſs abweisen, son-
dern auch erklären. auch sie kommen daher, daſs man der sage vergaſs,
welche in die gedichte zumal der greise Euripides und Sophokles aller-
dings befremdliche disharmonien hineingetragen hat. weil die sage die
tatsachen gibt (und so sieht sie ja selbst Aristoteles an), hat der dichter
[118]Was ist eine attische tragödie?
ausgangspunkt und ziel, wenigstens in den meisten fällen, und aus sich
findet er nur den weg. auch dem publicum ist der ausgang bekannt: über-
raschungen im fünften acte kann die attische tragödie nicht wol geben; die
‘spannung’ der zuschauer in der rohen weise, wie sie ein dutzendroman
zu erregen sucht, kann sie gar nicht ermöglichen. nun treiben es die
dichter aber nicht selten so, daſs sie die handlung einen weg führen, der
der wahrscheinlichkeit nach nicht zu dem unvermeidlichen ziele führen
kann. das muſs dann also gewaltsam erreicht werden, denn der ausgang
ist ja eine notorische tatsache, und so rufen sie das schicksal an, das in
wahrheit nur ein ausdruck für den zwang der sage ist, der auf dem
dichter liegt. er hilft sich mit diesem deus ex machina aus der verlegen-
heit, und die einführung des wirklichen maschinengottes ist im grunde
nur das eingeständnis dieser verlegenheit. sein aufkommen ist freilich
ein beweis dafür daſs die dichter die harmonie mit der sage verloren
haben, und also ein symptom des baldigen endes für die nicht mehr inner-
lich berechtigte tragödie. aber mit den metaphysischen überzeugungen
oder gar der religion der dichter hat er nichts zu tun, geschweige mit
der ihres volkes 68).


Häufig fragen die leute auch, wie es denn zugehe, daſs die Griechen
keine historische tragödie gehabt hätten; denn die tastenden versuche
der ältesten zeit, zu welchen die analogie der chorischen lyrik verführte,
hat man ja rasch und entschieden aufgegeben. die frage selbst zeigt,
wie wenig die grundbegriffe erkannt sind. die Griechen haben ja in
wahrheit nur historische tragödien gehabt: selbst Aristoteles hält ja die
sage für geschichte. was man mit jenem verkehrten worte wirklich
fragt, ist nur das, warum haben die Athener nicht die gegenwart oder
die nur novellistisch verarbeitete jüngste periode, die freilich damals
schon nach jahrhunderten zählte, für die tragödie verarbeitet, also z. b.
warum hat Sophokles nicht einen Periandros oder Kroisos nach Herodot
gedichtet. und auch hier ist die antwort gegeben: die tragödie bearbeitet
eben die heldensage, weil sie die erbin des epos ist. weshalb die helden-
[119]Moderne vorurteile.
sage sich auf jenen engen kreis beschränkte, ist oben ausgeführt; der
grund hat für die tragödie keine bedeutung mehr, aber sie stand vor der ge-
gebenen tatsache. sie vermochte wol hie und da jenen kreis zu erweitern,
und das hat sie redlich getan, allein sie hätte sich selbst aufgeben müssen,
wenn sie mit der heldensage gebrochen hätte. noch in seinem letzten
lebensjahre hat Euripides dafür den schlagendsten beleg geliefert. er
wollte Archelaos von Makedonien verherrlichen: aber er tat dies, indem
er ihm einen heroischen ahn gab, der sich wenigstens an die Herakliden-
geschichte angliedern konnte.


So führt eine jede betrachtung zuletzt auf das verhältnis der tragödie
zur sage zurück. darin liegt die wurzel ihres wesens, daher stammen
ihre besondern vorzüge und schwächen, darin liegt der unterschied der
attischen tragödie von jeder andern dramatischen poesie, die seitdem
gekommen ist, wahrscheinlich auch, die kommen wird. es ist eine tor-
heit den vorzug der classicität für die dramen Athens zu fordern, eine
torheit aus ihnen den begriff des dramatischen abzuleiten, eine torheit be-
streiten zu wollen, daſs die letzten drei jahrhunderte gedichte erzeugt
haben, welche den attischen gedichten gleichwertig sind. allein die attische
tragödie im ganzen ist allerdings mehr als die dramatische poesie irgend
einer anderen zeit, denn sie ist nicht nur die letzte erhabene poesie,
die die Hellenen hervorbringen, und es dauert anderthalb jahrtausende,
bis in Dante etwas vergleichbares auf erden entsteht: es redet durch sie
das fühlen und denken eines ganzen volkes, und die zeit, wo sie blüht,
ist ihres volkes blüte. die ganze geschichtliche entwickelung der Hellenen
strebt auf diese zeit zu, die ganze entwickelung der hellenischen poesie
strebt auf die tragödie zu. somit ist sie nicht nur ein geschichtliches
object von ganz einziger bedeutung, sondern es wird auch jede theore-
tische untersuchung nicht bloſs der dramatischen sondern überhaupt aller
poesie jämmerliches stückwerk sein, wenn sie nicht die attische tragödie
verstanden hat. das kann sie nicht aus sich, würde sie selbst beim besten
willen nicht können. die philologie aber verwirkt das recht, kenntnis-
lose hoffart und flache geistreichigkeit zurückzuweisen, wenn sie nicht
ihre pflicht erfüllt und das rechte, das geschichtliche verständnis der
philosophischen betrachtung übermittelt, auf daſs diese dann in voller
freiheit damit schalte. weil er (wie zu unterschiedlichen anderen schätzen)
zur attischen tragödie allein die schlüssel führt, werden poesie und philo-
sophie in alle ewigkeit des philologen nicht entraten können.


[[120]]

3.
GESCHICHTE DES TRAGIKERTEXTES.


Die tragödie
ein buch.

Das fünfte jahrhundert macht in allen stücken der archaischen cultur
ein ende und legt den grund zu der modernen. auch das buch ist seine
schöpfung: und die attische tragödie, ihrem wesen nach von einem buch-
drama so entfernt wie keine andere, hat den anstoſs zu der erschaffung
des buches gegeben. die ersten wirklichen bücher sind die attischen
tragödien gewesen.


Die pflege des epos und im anschlusse daran die der elegie und
des iambos hatte in den händen eines standes gelegen, der von ihrem
vertriebe lebte. die rhapsoden besaſsen natürlich textbücher, aber sie
trugen aus dem gedächtnis vor, und das publicum genoſs die poesie aus-
schlieſslich mit dem ohre. als diese poesie der hauptgegenstand des
schulunterrichts ward, brauchte der lehrer (γραμματιστής und κιϑα-
ριστής) ein hilfsbuch für sein gedächtnis; der schüler schrieb sich seine
bücher selbst. es lag die möglichkeit vor, daſs ein liebhaber sich eine
büchersammlung zusammen schrieb oder schreiben lieſs; die im einzelnen
unbeglaubigten bibliotheksgründungen von Peisistratos und Polykrates
sind an sich ganz glaublich. ein gelehrter dichter wie Pindaros muſs
eine stattliche sammlung von schriftwerken gehabt haben, da er sie für
sein handwerk brauchte: es sind das aber auch für ihn nur ‘hilfsmittel
für das gedächtnis’, ὑπομνήματα. bücher sind sie nicht, so wenig wie
die acten in den staatlichen oder privaten archiven, die abschriften von
gesetzen, orakelsprüchen, chroniken. es fehlt der act der publication,
das lesepublicum, der buchhändlerische vertrieb. lesepublicum und act
der publication sind vorhanden für die gesetze und die sonstigen öffent-
lichen verordnungen und bekanntmachungen, die auf den märkten, an
den straſsen, in den heiligtümern, wenn sie dauernde geltung haben, auf
erz oder stein, wenn sie vergängliche bedeutung haben, auf holz geschrieben
[121]Die tragödie ein buch.
stehn: in gewissem sinne sind das ‘bücher’ oder können dazu werden,
und wol mag man die gesetze Solons in dem sinne das älteste attische
buch nennen wie die XII tafeln das älteste römische. aber diese bücher
bestehen nur in einem exemplare oder doch in wenigen, wie der be-
sondere zweck sie erheischt; vertragsurkunden werden z. b. bei jedem
paciscirenden teile und zuweilen noch an stätten, die allen gleich heilig
sind, aufgestellt; die hypothekensteine stehen auf jedem acker, den die
hypothek belastet, u. dgl. aber diese ausfertigungen sind alle originale.
abschriften können sich in den händen von privaten befinden, werden es
häufig tun, tragen aber alle nur den charakter von ὑπομνήματα.


Die gedichte der lyriker waren noch viel mehr als das epos an das
lebendige wort gebunden, und gerade die wichtigsten und umfangreichsten,
die chorischen, waren zumeist gelegenheitsgedichte. ob sie sich länger
erhielten, hieng von dem beifall ab, den sie fanden. nun schrieb sie
freilich der dichter nieder, schon weil er sie oft in die ferne verschickte,
und der chormeister, der sie einstudirte, brauchte wie der rhapsode ein
ὑπόμνημα. wenn ein heiligtum sich für bestimmte feste ein solches
gedicht hatte machen lassen, so gehörte eine abschrift zu den acten.
es gab ferner auch gilden von sängern und tänzern, welche nicht ohne
einen schatz von gesängen, die sie zur verfügung hatten, denkbar sind.
auch in den schulunterricht traten die lieder sehr früh ein — es wieder-
holen sich also dieselben erscheinungen wie bei dem epos. hinzu tritt
nur, daſs auch die sangweise zu überliefern war. für diese muſs es somit
irgend eine gedächtnishilfe auch gegeben haben. allein noch viel mehr
als die worte muſste sich die musik in den fachmännischen kreisen
halten, und in wie weit ihre überlieferung eine vollständige war oder
nur andeutungen gab, läſst sich nicht sagen. die modernen, welche so
reden als ob nicht nur sie partituren von Klonas und Sakadas gelesen
hätten, sondern als ob es deren je gegeben hätte, lassen ihre durch keine
geschichtliche kritik gezügelte phantasie spielen. im übrigen ist selbst-
verständlich, daſs man später, als man die gedichte von Pindaros Simonides
Sappho buchmäſsig vertrieb, lediglich das interesse des lesepublicums
im auge hatte, das diese gedichte nicht mehr sang: also damals muſste
die bezeichnung der melodie, so weit sie bestanden hatte, notwendig als
ein unnützer ballast fortgeworfen werden.


Ein philosoph oder sonst ein weiser mann des 6. jahrhunderts war
auf die poesie und ihren rhapsodischen vertrieb angewiesen gewesen,
wenn er auf das publicum wirken wollte. so haben es nachweislich
Xenophanes und noch Empedokles gehalten, in keiner weise anders als
[122]Geschichte des tragikertextes.
die theologen, nur daſs diese die mythischen namen Orpheus Epimenides
Musaios vorschoben. die Ionier, welche diesen weg verschmähten, schrieben
in prosa; aber bücher schrieben sie nicht. sie zeichneten ihren λόγος
auf, legten ihre ἱστορίη dar: das waren ὑπομνήματα, mochten sie auch
eine so feste form gewonnen haben wie die gesetze des staates. denn
zunächst berechnet waren diese aufzeichnungen, abgesehen von der be-
friedigung des eignen triebes zu schaffen und zu gestalten, auf den kreis
der γνώριμοι und ἑταῖροι. diesen trugen die schriftsteller teile oder
auch das ganze vor, gaben sie es zu lesen und abzuschreiben. aber was
sie ihnen mitteilten war der λόγος und die ἱστορίη, nicht das buch als
solches. die schrift blieb auch hier nur unterstützung des gedächtnisses:
die verwendung welche solche bücher in Platons Theaetet finden, illus-
trirt das am besten. wenn die schüler dann in die ferne zogen oder den
meister beerbten, so konnten sie die originale schrift im ganzen oder in
teilen erhalten wie sie war, sie konnten sie ebensogut umarbeiten, so daſs
es ihr λόγος ward, und so weiter geben. so wenig wie der begriff des
geistigen eigentums, den die bettelarmut der modernen schriftsteller so
hoch hält, existirte der moderne begriff des buches. die schriftmasse,
die nach Hippokrates, und sogar noch die welche nach Aristoteles heiſst,
versteht niemand, ehe er von diesen uns selbstverständlichen begriffen ab-
strahirt hat. die sophistik erzeugt sich dann ihr organ, den epideik-
tischen vortrag, eine neue rhapsodik, und auch dafür gibt es ὑπομνήματα
der vortragenden wie der hörer. ein Euthydemos brauchte einen schatz
von sophistischen kunststückchen so gut wie der seher einen schatz von
sprüchen, der parasit einen von anekdoten 1), und der hörer besaſs gern
schwarz auf weiſs, wofür er schweres geld erlegt hatte. auch für diese
sorte von schriftwesen liefert die hippokratische sammlung die besten be-
lege: consistenz und dauerhaftigkeit gewinnt aber selbst die geschriebene
rede erst durch die entstehung des buches, also erst in Athen im gefolge
der tragödie.


In der tragödie entstand mit wunderbarer schnelligkeit eine neue
überaus reiche poesie, die das epos in jeder hinsicht ersetzen konnte. aber
jedes einzelne werk war wie alle chorische poesie nur auf eine vorführung
[123]Die tragödie ein buch.
berechnet, und die gelegenheiten zu einer wiederholung waren zuerst
gar nicht vorhanden, später kümmerlich. der umfang der gedichte schloſs
die bewältigung durch das gedächtnis aus, zumal jedes jahr neues gleich-
wertiges brachte. auch ward Athen zwar von tag zu tag mehr die geistige
hauptstadt, aber längst nicht jeder, der an der tragischen poesie anteil
nehmen wollte, konnte die attischen aufführungen besuchen. den Homer
kannte ein um 500 geborner aus der schule, den Theognis und einiges
von Stesichoros auch: von Simonides dies oder jenes kennen zu lernen,
fand sich wol die gelegenheit. es war nicht so viel was die litteratur
der letzten zeiten erzeugt hatte: aber nun, die fülle von tragödien — es
gab kein anderes mittel sie kennen zu lernen als die lectüre: das buch
war für das publicum ein bedürfnis. die dichter aber erhoben den an-
spruch die lehrer des ganzen volkes zu sein, sehr viel bewuſster als Homer,
sehr viel mehr ins weite als Pindar. durch die einmalige aufführung
konnten sie die gewollte wirkung nicht ausüben; es lag also auch für
sie das bedürfnis vor dauernd mit dem publicum zu verkehren, durch
das buch zu wirken. und die centralisirung des geistigen lebens fiel
mit dem wirtschaftlichen aufschwunge Athens zusammen, so daſs die mög-
lichkeit für einen buchhandel gegeben war. all das führte mit notwendig-
keit zur veröffentlichung des dramas durch den dichter für die lectüre.


Von einem buchhandel, dem exporte von büchern, dem vertriebe auf
dem attischen bazar hören wir durch allbekannte schriftstellen seit dem
ende des 5. jahrhunderts. daſs die werke der tragiker in den händen
des publicums vorauszusetzen sind, sagt ausdrücklich Aristophanes auch
erst in den Fröschen (1113), aber seine polemik lehrt seit den Acharnern,
daſs das publicum so vollkommen mit den werken der zeitgenössischen
dichter 2) vertraut ist, wie es nur die lectüre ermöglicht.


Es tritt aber auch das drama wirklich als buch auf. vorab hat es
einen titel, den ihm sein verfasser gegeben hat. dazu ist es freilich ge-
kommen, weil die anmeldung bei dem archon, der den chor zu vergeben
hatte, auch wol die ankündigung des chores beim proagon oder auch agon
einen namen forderte. aber erst jetzt gibt es wirklich einen titel. die
epischen gedichte haben ihn erst lange nachdem sie bestanden erhalten,
zum teil so zufällig wie Κύπρια, Ναυπάκτια (ἔπη), so wenig bezeichnend
wie Ἰλιὰς (ποίησις), so ungeschickt wie Ἔργα καὶ Ἡμέραι. die lyrischen
gedichte haben keinen individualnamen: denn wo ein solcher bei den
[124]Geschichte des tragikertextes.
grammatikern erscheint, tritt ein bescheidenes buchzählen daneben auf.
so geschieht es mit den gedichten des Stesichoros, wo zudem homo-
nymien stören, und Korinna; sonst ganz vereinzelt 3). auch in der tragödie
ist zuerst ein schwanken; Λυκουργεία (ποίησις) folgt der epischen
weise; Προμηϑεύς muſs als name für einen complex von drei chören
gelten, und daneben sicher noch für ein satyrspiel desselben verfassers.
Αἶτναι oder in der komödie Ἀρχίλοχοι zeigt die bald verschwindende
verwendung des plurals statt einer ableitung. aber Euripides ist mit der
namengebung ersichtlich ganz überlegt verfahren. und so dann die
komiker, und die prosa, als sie sich zum buche erhebt. daſs Herodot
und Thukydides so wenig wie alle die alten philosophen einen andern
titel für ihre bücher gehabt haben als die eingangsworte, der und der
sagt das folgende, oder ähnlich, ist wol von den verständigen jetzt ein-
gesehen 4): die titel, die wirklich als die ältesten gelten können, Γοργίου
Ἑλένη Ἀλέξανδρος, Προδίκου Ὧραι, Πλάτωνος Φαῑδρος, Πολυ-
κράτους Βούσειρις und noch Ἰσοκράτους Φίλιππος, Ἀριστοτέλους
Εὔδημος zeigen die abhängigkeit von Εὐριπίδου Ἑλένη Ἀλέξανδρος.


Sodann zeigt die äuſsere ausstattung die bewuſste fürsorge für den
leser. vereinzelt in der tragödie, häufig in der komödie haben die gramma-
tiker bühnenanweisungen, παρεπιγραφαὶ vorgefunden, und auch auf
uns sind einzelne gekommen 5). dem regisseur, der das stück künftig
[125]Die tragödie ein buch.
einmal einzustudiren hat, kann so etwas wenig helfen wie ‘heftiges
stöhnen’ ‘er lacht’ ‘gesang von innen’, ‘sie nicken’, ‘er gibt ihm eine
ohrfeige’. und unmöglich würde sich eine regievorschrift in der nur
ausnahmsweise wiederholten komödie häufiger finden können als in der
tragödie. aber für den leser hat es allerdings seine annehmlichkeit, und
wir sind deshalb in unseren dramen daran gewöhnt. wer es gesetzt hat,
hat es aus dieser rücksicht gesetzt: und das ist in der komödie unmöglich
ein anderer gewesen als der welcher das buch machte. nirgend aber liegt
ein hinderungsgrund vor, in diesem den dichter zu sehen.


Aber auch der text selbst legt trotz aller entstellung beredtes zeugnis
dafür ab, daſs er auf eine niederschrift aus der zeit des dichters, d. h.
auf die handschrift oder das dictat des dichters am letzten ende zurück-
geht. in gewissem sinne ist das freilich auch von Pindar, Epicharm und
schon von den compilatoren der uns erhaltenen epen wahr. allein
zwischen dem original, auf welches unsere überlieferung in jenen dichtern
führt, und der wirklichen urschrift liegen viele oder wenige mittel-
glieder, die den überkommenen text in stark umgeformter gestalt weiter
gaben. es ist kein willküract aus bestimmter absicht vorgenommen,
sondern es hat sich der text allmählich modernisirt, unter dem drucke
bestimmter geschichtlich zu erfassender momente. und gerade wer diese
zu beurteilen vermag, sich also über die glaubwürdigkeit der überlieferung
keinen illusionen hingibt, wird sich am meisten vor der schlimmeren
illusion hüten, selbst das original herstellen zu können, so oft er auch
im einzelnen etwas groſses oder kleines berichtigen kann. aber für die
tragiker, und die tragiker zuerst, ist das original, auf welches unsere über-
lieferung zurückführt, auch wirklich das original. seitdem das gespenst
einer umschrift aus dem attischen in das ionische alphabet völlig ver-
5)
[126]Geschichte des tragikertextes.
trieben ist 6), kann man daran nicht aus allgemeinen gründen mehr zwei-
feln. und der commentar zu dem einzigen Herakles lehrt (zu groſser
überraschung seines verfassers), daſs die scheinbare regeilosigkeit der
feinen dialektischen unterschiede, welche die überlieferung bietet 7), bei
der nötigen individualisirenden betrachtung sich sehr wol verstehen läſst:
man vergleiche damit die vollkommene confusion in der überlieferung
Pindars, der doch seit Aristophanes von Byzanz wenig gelitten hat, oder
die plumpe gleichmacherei und die solöcismen, welche antiker aberwitz
in den Herodot, W. Dindorf in die tragiker, Fick in alles dessen er habhaft
wird hineinträgt, um sich zu überzeugen, daſs wirklich die handschrift
der dichter selbst zu grunde liegt, und die entstellung, so groſs sie sein mag,
nur dem einzelnen irrtum und der nachlässigkeit schuld gegeben werden
kann. die orthographischen sünden sind zudem in überwiegender menge
jünger als die Alexandriner, und daneben zeigen sich erscheinungen, die
schlechterdings nur aus den originalen stammen können. in der 2. person
sing. pass. gilt den atticisten -ει für attisch, und die Engländer haben
es also den tragikern aufgezwungen gegen die überlieferung, die ηι er-
halten hat. ηι fordert die sprache als das organische. wir wissen, daſs
erst seit 360 etwa in der aussprache ηι und ει zusammenfiel, und zwar
ει gesprochen ward, daſs dann dies ει monophthongisch teils e teils i
ward, die grammatiker aber, wo sie das organische erkannten, die histo-
rische schreibung ηι herstellten. aber in der betreffenden form erkannten
sie das organische entweder nicht oder beugten sich doch der angeblich
attischen sitte. wie konnten sie da in der tragödie ηι schreiben, wenn
es nicht überliefert war, und wie konnte es überliefert sein, wenn es
nicht auf der schreibung der bücher in ionischer schrift beruhte, die
[127]Die tragödie ein buch. erste periode der textgeschichte.
älter als 360 waren? ein anderer beleg ist, daſs sich im dialoge der
altattische dativ plur. der ersten declination auf ησι, wenn auch ver-
einzelt nur, erhalten hat. und doch kann wenigstens Aischylos in dem
ursprünglich ionischen iambos unmöglich den dativ auf αισι gebraucht
haben; die grammatiker aber kannten kein wirklich altes attisch und
wir haben es auch erst von den steinen gelernt 8).


Das also läſst sich nicht bezweifeln, daſs buchausgaben der dramenErste
periode der
text-
geschichte.

von den dichtern besorgt sind, und daſs auf sie vornehmlich die über-
lieferung, die den Alexandrinern vorlag, zurückgieng. es würde überaus
wichtig sein, wenn wir von dem aussehen dieser ältesten wirklichen
bücher eine vorstellung gewinnen könnten. aber dazu ist kaum eine aus-
sicht. die geringen orthographischen schwankungen, welche die schrift
noch lieſs, kann freilich jedermann durch die steinschriften bequem über-
sehen; die mangelnde oder schwankende bezeichnung der hybriden e und
o, die assimilation der einander berührenden consonanten, die willkür im
setzen des paragogischen n und in der bezeichnung von elision und krasis
sind kleinigkeiten. wichtiger wird es, daſs die interpunction unsicher bleibt.
Aristoteles kennt nicht nur den querstrich am rande, der den schluſs eines
satzes oder besser einer periode bezeichnet 9), sondern auch die στιγμή,
welche das zusammengehörige im satze abgrenzt, aber er setzt sie nicht in
dem texte voraus 10). es darf somit wol als wahrscheinlich gelten, daſs die
bücher wesentlich wie die gleichzeitigen steine und die späteren bücher
geschrieben waren. in ihnen ist dem leser fast nichts gegeben als die
‘elemente’, die buchstaben. wörter und sätze muſs er sich selbst bilden.
die alte gute interpunction des 6. jahrhunderts ist wesentlich durch die
entfaltung der litteratur und des buchhandels verdrängt worden. als das
schreiben auf stein wie auf papier ein gewerbe ward, besorgten es leute,
[128]Geschichte des tragikertextes.
die ganz mechanisch buchstabe für buchstabe setzten; nach der zahl der-
selben wurden sie bezahlt. fehler, die dadurch entstehen, daſs der schrei-
bende wortbilder im geiste hat, gibt es auf den steinen nicht, dagegen wol
auslassungen, verschreibungen und versetzungen von buchstaben. inter-
pungiren kann man aber nur was man zu verstehen meint. absetzen der
verse ist für den dialog nach analogie des hexameters mit sicherheit zu
glauben. man mag denken, daſs die später ganz feststehende praxis schon
damals galt, die endlosen reihen von trochäischen iambischen anapästischen
metra nach dimetern abzuteilen, soweit nicht eine ungerade summe eine
abweichung forderte. denn die praktischen rücksichten empfehlen diese
schreibart allein, die in anapästen ziemlich die länge des trimeters gibt: daſs
unsere metriker von dimetern reden, zeigt nur, wie sehr sie mit den augen
messen. die dichter rechnen nicht mit dimetern: erst als die buchpraxis
eine buchmetrik erzeugt hat, in der kaiserzeit, gibt es welche. übrigens
mögen auch die trochäischen iambischen anapästischen tetrameter ge-
brochen sein, da sie überlange zeilen bilden und durch die beliebte
diaerese in der mitte leicht teilbar erscheinen. die chorlieder aber sind
ganz als prosa geschrieben zu denken, da ihre abgliederung erst den
grammatikern zugeschrieben wird, die die maſsgebenden ausgaben ge-
macht haben. dazu stimmt das einzige aus vorgrammatischer zeit in-
schriftlich erhaltene lyrische gedicht, der paean des Isyllos, während
die praxis der kaiserzeit in sorgfältigeren aufzeichnungen 11), zwar nicht
glieder, aber perioden absetzt, nachlässigere schrift 12) aber auch dann
noch jede gliederung vermissen läſst. selbst die personenverteilung kann
man nicht als voralexandrinisch mit sicherheit ansprechen, angesichts
dessen, daſs sie in den prosaischen dialogen so unvollkommen durchgeführt
ist 13). an die einzeichnung von noten oder neumen ist von vorn herein
[129]Erste periode der textgeschichte.
nicht zu denken, sintemal die bücher zum lesen bestimmt waren. alles zu-
sammen genommen ist das aussehen von steinschriften gleicher zeit, die
buchstabenformen abgerechnet 14), gar nicht sehr verschieden zu denken,
und es gehörte eine sehr ansehnliche vorbildung dazu diese bücher vom
blatt zu lesen.


Zwei volle jahrhunderte hat der tragikertext sich in dieser weise
ohne grammatische controlle durch den buchhandel fortgepflanzt. welchen
fährlichkeiten er dabei ausgesetzt war, dem ist es müſsig nachzudenken, da
das nicht gewuſst werden kann, was man vorab wissen müſste, die praxis
in der herstellung und dem vertriebe der bücher. daſs man nicht eine
fürchterliche verwüstung mit notwendigkeit aus der handschriftlichen ver-
vielfältigung ableiten darf, lehrt die vorzügliche erhaltung, in welcher
notorisch die hauptschriftsteller des 4. und 3. jahrhunderts vorliegen,
Platon Isokrates Demosthenes, Lykophron Aratos Kallimachos. die klagen
über fahrlässige schreiber, welche in der kaiserzeit und einzeln schon
früher ertönen, sind eben so wenig beweiskräftig wie etwa moderne ana-
logien, die ältesten drucke Shakespeares und die verwüstung des Goethe-
schen textes in den späteren Cottaschen drucken. aber auch für die zu-
verlässigkeit der überlieferung in dieser ersten periode der textgeschichte
sind allgemeine erwägungen nur in so weit triftig, als die tragödie durch
die feste buchform wenigstens gegen die zerstörung geschützt war, welche
die hypomnematische litteratur nachweislich betroffen hat und betreffen
muſste. der traurige zustand, in welchem schriften wie die hippokra-
tischen περὶ εὐσχημοσύνης, περὶ φύσιος ἀνϑρώπου, die διαλέξεις
σκεπτικαί, die schrift vom staate der Athener, die schrift des Aineas
von Stymphalos über belagerungen, vorliegen, muſs im wesentlichen
schon in diesen jahrhunderten eingetreten sein. die einen unter diesen
sind nur durch einen glücklichen zufall überhaupt in die zeiten ge-
rettet worden, welche sich die conservirung der alten litteratur bewuſst
zur aufgabe machten. irgend ein litterator des vierten jahrhunderts hatte
sich an die Xenophontische schrift vom staate der Lakedaimonier von
dem altattischen pamphlete so viel hinzugeschrieben, wie er vorfand
oder wie ihm beliebte. die ärztlichen und die kriegswissenschaftlichen
schriften aber waren nach bedürfnis ohne rücksicht auf die form von
13)
v. Wilamowitz I. 9
[130]Geschichte des tragikertextes.
dem oder den benutzern umgestaltet, verkürzt, erweitert worden. wenn
die poesie auch nur dem bedürfnis diente und in händen war, die sie
als material brauchten, gieng es ihr nicht besser. die homerischen
hymnen stellen sich jedem urteilsfähigen als sammlungen von rhapsoden
des 5. oder 4. jahrhunderts dar (mit welchem das rhapsodentum im
wesentlichen aufhört), und das conglomerat, das sich Apollonhymnos
nennt, ist eine eben so wüste masse wie die schrift περὶ φύσιος ἀν-
ϑρώπου. am letzten ende sind überhaupt die erhaltenen epen nicht
anders zu beurteilen; nur hatten sie viel früher eine leidlich feste form
erhalten, weil sie buchhändlerisch vertrieben wurden, sobald es einmal
einen buchhandel gab.


Schau-
spieler.

Aber waren die tragödien nicht auch fortwährend in praktischem
gebrauche, und sollen die schauspieler schonender verfahren sein als die
rhapsoden? gewiſs nicht. der zustand würde nur noch viel trostloser
sein, wenn wir die dramen durch die vermittelung der schauspieler er-
halten hätten: das gilt für die überlieferung des Plautus bis auf Varro,
während Terenz seine komödien selbst herausgegeben hat. an diesem
analogon kann man gut ermessen, daſs die überlieferung der attischen
dramen nicht auf bühnenexemplare, sondern auf lesebücher zurückgeht.


Schauspielertruppen sind schon am ende des 5. jahrhunderts in
Griechenland herumgezogen 15) und das interesse warf sich im 4. nur um
so lebhafter auf die alten dramen, je stärker in der schauspielkunst das
virtuosentum ward, je geringer die lebenskraft der neuen dichtungen
war. um die mitte des jahrhunderts lieſs selbst der attische staat die
classische tragödie in einem besonderen agon zu, und die ausbreitung
der attischen cultur durch Alexander hat die Euripideischen tragödien
am Indus und am oberen Nil auf die bühne gebracht. natürlich ver-
fuhren die regisseure, wie sie es immer tun und wie ihr recht ist, denn
stilgetreue inscenirungen classischer dramen sind wie all solch gelehrter
historischer kram erst möglich, wenn kein wirkliches sondern ein an-
gelerntes kunstgefühl die leitung hat. wer auf der bühne zu hause ist,
nimmt keinen anstoſs an der verstümmelung, die Schiller an Goethes
Egmont, dieser selbst an seinem Götz verübt hat. schonender sind die
im 4. jahrhundert ton angebenden schauspieler auch nicht verfahren.
zu dem Rhesos, der erst um 370—60 entstanden ist, gab es um 300
schon einen unechten prolog, um 200 noch einen anderen. vollends
[131]Schauspieler.
unbequem waren die chöre. die zahl der tänzer war längst beschränkt,
die komödie hatte sich der chöre fast ganz entschlagen, die rhetorische
tragödie sie wenigstens mit nichtachtung behandelt und entbehrlich ge-
macht. die schauspieler konnten wol mit monodieen etwas anfangen,
obwol auch die zuweilen fortblieben 16), aber die eigentlichen chorge-
sänge waren ihnen nur hinderlich. dazu kam, daſs die musik sich ganz
anders entwickelt und mit den künstlichen versmaſsen längst zu wirt-
schaften verlernt hatte, daſs die tanzkunst noch viel mehr die alte be-
deutung eingebüſst hatte, so daſs sie noch im 3. jahrhundert unter-
gieng 17), wie die chöre um 100 n. Chr. ganz verschwunden sind 18). als
in Athen um 330 die groſse theaterreform des Lykurgos durchgeführt
ward, forderte der dem alten durchaus huldigende staatslenker freilich,
daſs die schauspieler nach einem officiellen textbuche zu spielen hätten,
was für die darstellung einer παλαιὰ τραγῳδία auch in der ordnung
war. allein was verschlug diese vereinzelte maſsregel, und wie wenig
kümmerte man sich in dem demosthenischen Athen um gesetze. vollends
in diesem staatsexemplar ein werk diplomatischer kritik zu sehen und es
gar zu einer art archetypus für unsere handschriften zu machen, ist ein
recht unhistorischer einfall der modernen. Lykurgos brauchte dazu nur
die dramen aus dem buchladen zu kaufen: es ist nichts andres, als wenn
ein hoftheater heut zu tage die unverkürzte aufführung der opern eines
bestimmten componisten oder auch die und die bearbeitung Shakespeares
befiehlt. die allgemeine verwahrlosung gieng deshalb ihren gang ruhig
weiter, und wenn die fortpflanzung der dramen durch die schauspieler statt-
gefunden hat, unsere texte also auf bühnenexemplare zurückgehen, so ist
ihre zuverlässigkeit eine ganz geringe. das freilich war ganz natürlich, daſs
auch schauspielerexemplare in die bibliotheken kamen und die antiken
philologen auch solche einsahen, ja es ist sehr glaublich, daſs sie sie für
9*
[132]Geschichte des tragikertextes.
einzelne dramen nicht entbehren konnten, weil die buchmäſsige über-
lieferung nicht genügte, oder auch ein oder das andere stück nur in
bühnenexemplaren erhalten war. auch das ist sicher, daſs sie sich über
die verwilderung des textes durch die schauspieler keinerlei illusionen
gemacht und mit der möglichkeit gerechnet haben, daſs der text unter
deren einwirkung gelitten hätte. wir aber sind auſser diesen allgemeinen
erwägungen lediglich auf die schlüsse angewiesen, die wir aus dem zu-
stande der erhaltenen dramen ziehen, und diese sind glücklicherweise
im ganzen beruhigend.


Aesthetische
kritik.

Es ist überaus peinlich, daſs wir über diese periode so wenig con-
cretes wissen oder ermitteln können, denn ohne frage ist sie für den
text die wichtigste und ist auch das interesse und verständnis für das
drama ein lebendiges gewesen. die tragödie war ja schon zu lebzeiten
ihrer schöpfer oder doch vollender classisch geworden. die fülle von
feinen gedanken und treffenden urteilen über tragische kunst und des
dichters aufgabe und macht, die in den Fröschen des Aristophanes bei
jedem neuen lesen neu entzückt, lehrt, daſs die groſsen dichter wirklich
ein minder verächtliches publicum hatten, als das mit den Xenien oder
der Verhängnisvollen gabel gezüchtigte war. in den gebildeten kreisen
der athenischen gesellschaft würde sich eine der poesie ebenbürtige kritik
entwickelt haben, wenn die gesellschaft nicht durch das nationale elend
niedergezogen worden wäre, und mit dem notwendigen welken der groſsen
kunst nicht die wucherblume der rhetorik ins kraut geschossen wäre. feder-
helden wie Isokrates Polykrates Anaximenes hatten ja das erhebende bewuſst-
sein, den groſsen dichtern weit überlegen zu sein, wie das so leute haben.
und im schatten dieser rhetorik erwuchs was sich damals tragödie nannte,
Aphareus und Karkinos, Astydamas und Theodektes. die echte erbin der
poesie, die wissenschaft, vergaſs ihrer mutter nicht. Platon hat an der
tragödie gelernt; jene im leben zerstörte attische gesellschaft lebt in
seinen dramatischen schöpfungen fort, und die tragischen reminiscenzen
sind im munde seiner personen lebendig: die Antiope war wenig über
10 jahre alt, als der Gorgias die debatte zwischen politiker und dichter
aufnahm. aber da Platon die alten volkstümlichen ideale bekämpfen muſste,
um den neuen und höheren raum zu schaffen, diese alten ideale in der
sage und diese selbst nunmehr vornehmlich in der tragödie verkörpert
war, so ergab sich für ihn die polemik auch gegen das drama, ergaben
sich dieselben sittlichen probleme, wie sie schon in früher sophistenzeit
Glaukon Stesimbrotos Anaximenes Metrodoros im Homer gefunden und
zu lösen versucht hatten. aus diesen meist moralischen anstöſsen war ja
[133]Aesthetische kritik.
die aesthetische kritik und die exegese Homers erwachsen. auch sie über-
trug sich auf die tragiker. wir können nur mutmaſsen und vereinzelt
an der sagenkritik erweisen, daſs die Kyniker neben dem epos auch das
drama berücksichtigt haben. um ihrer selbst willen haben erst Platons
schüler Herakleides und Aristoteles die aesthetische kritik getrieben; die
poetik, zu welcher letzterer emporzusteigen wagte, zeigt besser als alles
andere die centrale stellung des dramas. aber Aristoteles machte wie
überhaupt der rhetorik, so auch der rhetorischen tragödie starke zuge-
ständnisse, trübte dadurch die theorie und hat trotzdem weder einen
dichter noch einen redner erzogen. daſs er auch ἀπορήματα Εὐριπίδου
geschrieben hat, wissen wir durch die schriftentafel des Hesychios (no. 144
= Hermippos 119), und mögen sie uns als historische probleme denken,
wie eines in einem dialoge behandelt war (Eur. Meleag. 534). viel-
leicht ist ein oder das andere ζήτημα, an dem sich in den scholien
die Alexandriner versuchen, schon am zechtische des peripatos aufge-
worfen worden. denn hier bewahrte man die neigung für φιλόλογα,
wenn man auch nur den namen der philologie erzeugt hat. Theo-
phrastos popularisirte die aristotelische rhetorik und poetik. neben ihm
setzten viele die litterargeschichtlichen arbeiten fort, und Dikaiarchos,
weitaus der bedeutendste dieser generation, knüpfte zugleich auch an
Herakleides an. indem er den aesthetischen maſsstab der poetik an die
einzelnen tragödien anlegte, untersuchte er die ὑπόϑεσις, d. h. den dem
gedichte zu grunde liegenden stoff, den μῦϑος, sowol im sinne der
‘handlung’, in welcher Aristoteles mit recht den lebensnerv des dramas
gesehen hatte, als im sinne der geschichte. damit war die frage aufge-
worfen, woher denn der dichter seinen stoff genommen hätte, also die
quellenfrage, die uns moderne so viel beschäftigen muſs 19), und wie merk-
würdige dinge dabei ermittelt werden, zeigt die zurückführung des euri-
pideischen Phoinix auf eine attische dorfsage durch den Rhodier Hierony-
mos 20). der ansatz zu einer lösung der groſsen geschichtlichen aufgabe war
da. aber als erst ein naturwissenschaftler und dann ein schönredner die
schulleitung des peripatos übernahm, verdorrte die blüte. den rechten
[134]Geschichte des tragikertextes.
weg auf philologisch-grammatische behandlung der litteraturwerke oder
der sprache und verskunst hat niemand in dieser schule eingeschlagen. die
anregung zur poetischen production, welche sie gab, kam der komödie
zu gute, die zu den biologischen tendenzen der aristotelischen ethik und
politik besser paſst. und auffallender weise beteiligte sich an den specula-
tionen über diese zeitgenössische dichtungsart auch die sonst litterarischen
fragen ganz entfremdete akademie 21). nebenher war natürlich die clas-
sische poesie in einer ausdehnung bekannt wie niemals später, und die
gescheidten leute redeten auch über sie sehr gescheidt. die philosophen-
biographieen des Antigonos verzeichnen von ihren helden auch die lieb-
lingsdichter und manches litterarische urteil. aber das verdichtet sich
nirgend zur wissenschaftlichen arbeit.


Das dritte
jahrhundert.

Den weg zur philologie und grammatik hat nicht Athen gefunden,
sondern Ionien. schon einmal, zu Demokritos zeiten, war es auf dem
wege gewesen, ward aber durch die athenische begriffsphilosophie ge-
hemmt. jetzt ward das ziel erreicht, aber man strebte ihm nicht un-
mittelbar zu. es führte nur dahin der umweg über die poesie, weil man
aus opposition gegen Athen und seine cultur auf die vorattischen gat-
tungen und formen zurückgriff, die sich nur noch durch studium erreichen
lieſsen. diese opposition, die sehr verschiedene elemente in sich schloſs,
galt der attischen weltsprache: daher das aufkommen der dialektdichtung;
der attischen bis zum extrem wählerisch und feinhörig gewordenen rhetorik:
[135]Das dritte jahrhundert.
daher der asianische vulgarismus; der weltmännisch und hauptstädtisch
verfeinerten form der geselligkeit: daher das bukolische element, die
weiberpoesie, das aufgreifen des barbarischen; der strengen stilisirung
auch des lebens durch die attische σωφροσύνη: daher die freude am ab-
sonderlichen verwachsenen wildnatürlichen in den stoffen wie in der be-
handlung; den kühlen abstractionen der begriffsphilosophie: daher die
vorliebe für die naturwissenschaft und die weite schöne welt ebenso wie
die für dionysischen taumel und aphrodisisches schmachten; der attischen
bürgerlichen politie: daher das höfische eben so gut wie das ländliche;
es galt endlich auch den attischen dichtungsformen, drama und dithy-
rambos. jetzt gieng man auf die alten lyriker zurück, ahmte Alkaios und
Anakreon nach, suchte sich in Stesichoros und Pindar stoffe, griff auf
die erotische elegie des Mimnermos zurück, auf den iambos des Archi-
lochos und Hipponax und endlich versuchte man wie Homer zu dichten
oder Homer durch eine immer frische, niemals kyklische behandlung mit
seinen eignen mitteln zu schlagen. das führte mit notwendigkeit zum
studium der alten dichter, die zum teil recht eigentlich wieder entdeckt
wurden, oder doch wenigstens für die attische gesellschaft des 4. jahr-
hunderts nicht mehr existirt hatten und von den peripatetikern Dikai-
archos und Chamaileon aus historischem interesse hervorgezogen wurden.
so kam man von den versuchen im dialekte zu dichten bald zur unter-
suchung des dialekts und zu der exegese der archaischen dichter. Theokrit
dichtet aeolisch so gut er kann: Kallias von Mytilene schreibt über die
lesbischen dichter 22), Dionysios Iambos, auch ein dichter, über die dialekte,
und der wird der lehrer des Aristophanes von Byzanz. der dichter Zenodotos
von Ephesos bringt es zu der ersten textrecension, die sich wirklich die
wiederherstellung des echten zum ziele setzt, natürlich des Homer; er
behandelt aber auch in einzeluntersuchungen die lyriker und macht zu
Pindar und Anakreon einzelne conjecturen. Kallimachos, gleich gewandt
in dorischer wie in ionischer mundart zu dichten, treibt die sammlung
des sprachlichen materials ins groſse und beginnt schon selbst für die
ionische prosa die philologische tätigkeit, indem er an den gröſsten
ionischen schriftsteller, Demokritos, ansetzt, freilich zunächst auch hier
nur als sammler; bald folgen für Hippokrates ähnliche arbeiten. mit der
tragödie haben diese männer alle nichts zu schaffen 23).


[136]Geschichte des tragikertextes.

Aber es blühte doch gerade in Alexandreia die tragische Pleias, und
die Alexandra des Lykophron gilt doch für eine nachahmung der tragödie,
so gut wie Theokrits Spindel die Sappho nachahmt. diese letzte verbreitete
ansicht ist falsch. die Alexandra ist keine tragödie, sondern ein iambos.
Lykophron, selbst verfasser von tragödien, hat die stilgesetze denn doch
zu gut gekannt, um diese poesie für tragisch auszugeben. es geschieht
nur durch einen für den modernen nahe liegenden irrtum, daſs man
den unterschied in sprache und versmaſs verkennt, die menge von
ionismen in der form, der messung, der wortwahl ist ganz nicht zu ver-
treiben, und ihre vertreibung deshalb unglaubhaft 24). wahrlich auch für
die Byzantiner lag es näher die ihnen bekannten attischen formen einzu-
führen als die dialektischen. eine consequenz ist freilich bei Lykophron so
wenig wie bei Theokrit zu erzielen, und sehr viel fremdartiges hat der dich-
ter nur weil es fremdartig war herbeigezogen. der tragödie konnte sich
der tragische dichter natürlich am wenigsten entziehen, obwol schon der
sagenstoff zeigt, daſs er es beabsichtigt hat. und dann gilt für die Alexandra
was für die wirklich tragische poesie der Alexandriner gilt und die be-
denken verscheucht, welche die Pleias erregen kann: sie suchen die älteste
tragödie auf, die den Attikern, gegen welche die Asianer front machen, so
fremd geworden war wie die andere chorische poesie auch. dieser neuen
romantik war schon Euripides viel zu modern, zu glatt, zu städtisch, zu
ähnlich den Isokrateern, die man überwinden wollte, die man überwunden
hat, wenn auch die eignen productionen kein längeres leben gehabt haben.
nichts ist bezeichnender, als daſs man sich mit vorliebe auf das satyrspiel
warf, und was wir von der Pleias kennen so gut wie ausschlieſslich satyr-
spielen angehört. die archaistische tendenz brauchen wir auch nicht einmal
selbst zu erschlieſsen: diese zeit redet, wie unsere romantik, beständig
23)
[137]Das dritte jahrhundert. Aristophanes von Byranz.
von ihren tendenzen, und das kunsturteil steht auch bei ihr höher als
die leistungsfähigkeit. Dioskorides legt in einem cyclus von epigrammen
auf Thespis Aischylos Sophokles und Sositheos davon zeugnis ab; Euri-
pides hat mit recht keinen platz in dieser reihe, und von Sophokles wird
bezeichnender weise die herbste frucht am meisten geschätzt: diese zeit
sah, wie unsere romantik, in Antigone und Elektra das höchste 25).


Entsprechend ist die stellung dieser kreise zur komödie. die der gegen-
wart gilt ihr nichts, dagegen holt sie die von Aristoteles und seiner schule
zurückgesetzte alte komödie vor, die zudem den sprachlichen glossogra-
phischen studien eine überreiche ausbeute bot. für die alte komödie ist
das dritte jahrhundert das fruchtbarste gewesen, während es für die
tragödie fast ausfällt. schon Lykophron 26), dann Euphronios, dann Era-
tosthenes haben ihr grammatische arbeit zugewandt: und hier steht der
allerdings vereinzelte versuch der reproduction am ende, aber auch er
findet an Dioskorides den herold seines lobes. Machon von Alexandria,
sonst verfasser sehr salopp und modern gehaltener anekdoten in versen,
hat ‘den bitteren thymian’ vom Hymettos an den Nil zu verpflanzen ver-
sucht. derselbe Machon war neben Kallimachos und Dionysios Iambos
der lehrer des gröſsten antiken grammatikers, der, als die blume der
alexandrinischen poesie im verdorren war, den richtigen schritt tat, die
alexandrinische und die peripatetische philologie zu vereinen, die philo-
logie in dem uns geläufigen sinne zu schaffen, und die texte der classiker
festzustellen. seine aesthetische überzeugung gieng nicht mit seinem
lehrer; er hat Menander in versen verherrlicht, und die classiker, die
wir so nennen und deren besitz wir ihm, wenn einem menschen, danken,
alle mit der rechten philologenliebe gehegt und gepflegt. auch für die
textgeschichte der tragiker ist die ausgabe des Aristophanes epoche-
machend.


Von dieser ausgabe sich ein möglichst klares bild zu machen, istAristo-
phanes von
Byzanz.

eine hauptbedingung für einsichtige beurteilung unseres erhaltenen textes.
es ist wahr, daſs die directen zeugnisse nichts als ein par einzelnheiten
geben, allein die allgemeinen erwägungen helfen sehr viel weiter. und
sie sind verwendbar, denn wenn wir auch davon absehen wollten, daſs
Aristophanes unseren text fundirt hat, so müſste das doch irgend jemand
getan haben, und dieses unbekannten mannes tun müſsten wir uns ver-
[138]Geschichte des tragikertextes.
gegenwärtigen, und würden es einigermaſsen erschlieſsen aus den voraus-
setzungen und den folgen seines wirkens. so tun wir notgedrungen sehr
häufig: hier sind wir aber in der glücklichen lage mit einer benannten
gröſse zu operiren.


Die Homerkritik der Alexandriner kennen wir am besten; natürlich
holt man sich aus ihr belehrung, aber es wird verhängnisvoll, wenn man
die unterschiede vergiſst, welche zwischen ihr und der herausgebertätig-
keit vorhanden sein muſsten, die den lyrikern tragikern komikern galt.
das hauptinteresse an den Homerausgaben des Aristophanes oder Aristarch
liegt für die späteren, welche uns über sie unterrichten, und für uns in
dem, was sie neues und eigenes enthielten, dem woran der name der
gelehrten haftete, besonderen lesarten, athetesen, grammatischen einzel-
beobachtungen, z. b. in betreff der prosodie wortabteilung orthographie.
die ausgabe erscheint als ein von dem gelehrten geschriebenes oder cor-
rigirtes exemplar mit kritischen und diakritischen zeichen, welche die
meinung des herausgebers andeuten, übrigens aber eine mündliche oder
schriftliche erläuterung fordern. es ist ein gelehrtes werk, wendet sich
an gelehrte kreise, wenn es überhaupt mehr als hypomnematisches leben
beansprucht. es ist aber keinesweges ausgemacht, daſs die ausgabe wirk-
lich ausgegeben ward, ja es ist nicht einmal wahrscheinlich, da selbst
Aristarchs ausgaben so bald verschollen waren; ἔκδοσις bedeutet bei den
grammatikern durchaus nur ein exemplar. wie sich die Homertexte, die im
buchhandel waren und blieben, dazu stellten, ist eine ganz andere frage.
notorisch ist der einfluſs Aristarchs sehr groſs gewesen, da wir nicht
nur viele seiner lesarten in unsern handschriften lesen, sondern auch
verse, die er ausgeworfen hat, verschwunden sind, verse die er erst ein-
gesetzt hat, sich vorfinden. man mag auch von vorn herein als wahr-
scheinlich betrachten, daſs der kritiker selbst eine ‘kleine textausgabe’
hat ausgehen lassen mögen. aber damit rechnen seine schüler nicht,
und ein buchhändlerisches bedürfnis, neue Homertexte zu schaffen, lag
auch nicht vor. gegen die correctheit seiner classikertexte ist das groſse
publicum ganz gleichgiltig; nur billig sollen sie sein.


Ganz anders steht es mit den anderen dichtern, z. b. Pindar, mit
welchem am besten exemplificirt wird, da hier die verhältnisse am durch-
sichtigsten sind und auch die tätigkeit des Aristophanes ganz ausdrück-
lich bezeugt ist. von Pindars werken hatte es noch gar keine ausgabe
gegeben. die gedichte hatten von vorn herein vereinzelt existirt; viele
oder wenige werden ja wol zusammengeschrieben sein, aber davon ver-
lautet nichts: man kennt vor der aristophanischen ausgabe nur die ver-
[139]Aristophanes von Byzanz. ausgabe des Pindar.
einzelung, und deren erfolg muſste auf die dauer für sehr viele gedichte
der untergang werden. da trat nun die tätigkeit der alexandrinischen biblio-
thekare ein, die ihnen von den zeiten des Demetrios her vorgezeichnet
war. zwei menschenalter waren damit zugebracht, daſs die hellenische
litteratur gesammelt und geordnet war: die consequenz lag vor, daſs es
nun zu gesammtausgaben der classiker kommen muſste, durch welche
die schätze der bibliothek erst recht nutzbar wurden. auch darin wirkt
das akademische beispiel nach, auf deren mitglied der spottvers λόγοισιν
Ἑρμόδωρος ἐμπορεύεται gemacht ist. es war in erster linie ein buch-
händlerisches unternehmen. es muſste aus den handschriften der biblio-
thek eine sammlung der werke Pindars veranstaltet werden, die in feste
ordnung gebracht, deren text für die vervielfältigung festgestellt werden
muſste, damit dann abschriften genommen und vertrieben würden. man
mag sich das immerhin nur als eine leistung vorstellen wie Lachmanns
Lessing, so ist doch einleuchtend, daſs die Alexandriner sich durch diese
ausgaben, welche allmählich von allen classikern erschienen, unendlich
viel höhere verdienste erworben haben als durch alle ihre conjecturen
und commentare.


Als Aristophanes die erhaltenen gedichte Pindars zusammen hatte,Ausgabe des
Pindar.

ordnete er sie nach einem einfachen schema, das jeder begreifen sollte.
er vereinigte die gedichte in bücher, 8 εἰς ϑεούς, 8 εἰς ἀνϑρώπους,
von denen ein jedes noch einen besonderen gattungsnamen erhalten
konnte ὕμνοι παιᾶνες, ἐγκώμια ϑρῆνοι u. s. w. dabei blieb ein rest
von gedichten, der sich in diesen gattungen nicht wol unterbringen lieſs.
die cultlieder der art waren zahlreich genug um ein ganzes buch zu
füllen, das als neuntes nach dem vorhergehenden ‘Jungfrauenlieder III’
oder ‘Von den Jungfrauenliedern gesonderte’ hieſs. die lieder an men-
schen lieferten aber, nachdem anderes anderswo untergesteckt war 27),
nur noch 3 heimatlose stücke, die dem letzten, zudem sehr dünnen
buche als κεχωρισμένα τῶν Νεμεονίκων angefügt wurden, wo sie
[140]Geschichte des tragikertextes.
noch stehen 28). mit den gedichten an die götter begannen sicher auch
die werke des Alkaios 29) und Anakreon, aber die stoffliche ordnung
schien sich nicht durchgehends zu empfehlen; passender erschien die
vereinigung der gleichen versmaſse, nach denen auch die werke Sapphos
geordnet waren. wie viel bücher gemacht wurden, darüber wird bis zu
einem gewissen grade die rücksicht auf die übersichtlichkeit und die be-
quemlichkeit des lesens bestimmt haben, auch bald ein gewisses her-
kommen. einiges wird man also für den umfang des nachlasses daraus
entnehmen, daſs Pindars werke 17 bücher umfaſsten, die des Hipponax
und Mimnermos je 2. aber das buch Olympien ist anderthalb mal so
groſs als das buch Nemeen einschlieſslich des nachtrags, und jede stoff-
liche ordnung bedingt eine starke verschiedenheit des buchumfanges; auch
haben ja die ganz willkürlich gesetzten einschnitte im Homer und Herodot
noch viel stärkere differenzen erzeugt. um so weniger wird man die
bücher der Sappho eben so lang ansetzen wie die Pindars, ja wenn, wie
es scheint, bei Stesichoros buch und gedicht zusammenfiel, so hat man
den beleg für sehr viel kürzere bücher: denn daſs ein chorisches gedicht
auch nur so lang wie eine tragödie gewesen wäre, wird so leicht niemand
glauben, und dies maſs überschreiten die pindarischen bücher bei weitem.
Homer und Pindar lassen sich schlecht vergleichen, weil die zeilenlänge,
d. h. die columnenbreite mindestens sehr verschieden gewesen sein kann.
denn die prosa lieſs sich freilich bequem auf die gröſse des ἔπος ein-
richten, weil sie sich beliebig abteilen läſst: für die lyrische poesie muſste
mit dieser älteren praxis gebrochen werden, wenn die ausgabe auf die
versmaſse rücksicht nehmen wollte. die bekannte zählung nach στίχοι,
[141]Aristophanes von Byzanz. ausgabe des Pindar.
d. h. ἔπη, kann demnach auf diese classikerausgaben gar nicht angewandt
sein. sie hatte aber auch keinen zweck, denn der umfang ward ja fest-
gestellt um schreiberlohn und buchpreis zu bestimmen. für gewöhnliche
schrift reichte dazu die feststellung der buchstabenzahl (wie auch für die
steinschrift), später die der sylbenzahl aus 30): in den dichterausgaben waren
bestimmte zeilen inne zu halten, lesezeichen zu setzen u. dgl. m., so daſs
die bloſse zählung der elemente ihre bedeutung verlor.


Es war also eine tiefgreifende neuerung, daſs die dichtertexte nach
metrischen regeln abgeteilt wurden. es war das für die leser eine notwendig-
keit geworden, aber ein sachverständiger gelehrter war allerdings dazu nötig.
in wie weit die leser in älterer zeit die lyrischen als prosa geschriebenen
verse richtig gelesen haben, stehe dahin; da sie rhythmus und versglieder
auch in der prosa hörten, und zwar dieselben wie in der poesie, so werden
sie jedenfalls einen rhythmischen genuſs gefunden haben. aber um 200
war die sprache des lebens schon stark verändert, die kenntnis der metrik
sehr zusammengeschrumpft, da fast ausschlieſslich nur noch die stichisch
gebrauchten maſse in der praxis fortbestanden. der leser bedurfte also
einer hülfe. da stand nun der herausgeber vor einer entscheidung. Aristo-
phanes hat die abteilung nach den gliedern gewählt, nach dem, was man
für die elemente der rhythmischen kunstwerke hielt, befangen in der
rhetorischen lehre, die an der prosa namentlich durch die peripatetiker
ausgebildet war, die metrik war durch diese nicht zu einer eignen wissen-
schaft ausgebildet, und so ist sie immer zwischen musik und rhetorik
ohne halt herumgeworfen. bald nach Aristophanes zeit ist die grund-
lage der uns überlieferten metrik festgestellt worden, doch kennt man
die maſsgebenden personen nicht. daſs Aristophanes das κωλίζειν an
den lyrikertexten durchgeführt hat, ist bezeugt 31). er hat damit die praxis
[142]Geschichte des tragikertextes.
aller folgenden generationen bestimmt, bis auf die uns erhaltenen hand-
schriften, ja bis auf Boeckh: wir dürfen ihm freilich nicht mehr folgen,
da wir die metrik der classischen zeit richtiger aufzufassen im stande sind.
daſs übrigens die gliederung der lieder immer durch das absetzen neuer
zeilen bezeichnet worden sein müſste, ist keinesweges nötig; ein kurzer
zwischenraum in der zeile oder eine interpunction, wie es z. b. in der
florentiner Euripideshandschrift vorkommt, tut dieselben dienste. nicht
die art der bezeichnung, sondern daſs überhaupt die gliederung bezeichnet
wird, ist das wesentliche. es war aber damit nicht genug. in sehr ver-
ständiger fürsorge haben die grammatiker dem leser durch ein bestimmtes
system der bezeichnung auch zu erkennen gegeben, wo strophe und
antistrophe oder in nicht strophischen liedern die perioden zu ende waren,
auch den schluſs der lieder, einzeln den umschlag der rhythmen, endlich
die personenverteilung. nur wenig davon ist in unsere handschriften
übergegangen, aber wir kennen das system durch Hephaestion περὶ
ποιήματος, der nur zusammenstellt, was er (oder seine quelle) in den
ausgaben der classiker fand.


Diese bisher geschilderte tätigkeit, die man immerhin mit unsern an-
weisungen an den setzer vergleichen mag, führte nun schon mittelbar zu
sehr bedeutenden kritischen schlüssen, vergleichbar denen, welche unsern
gelehrten zufielen, als sie die responsion der chorlieder erkannten. es war
damit in vielen fällen ein kriterion gegeben um zwischen verschiedenen
lesarten zu wählen, überschüssige glieder oder lücken zu erkennen. ein
äuſserst merkwürdiger beleg für die persönliche tätigkeit des Aristophanes
in dieser richtung ist auch erhalten 32).


In wie weit die für das publicum bestimmten exemplare inter-
pungirt und mit den lesezeichen versehen waren, die wieder Aristophanes
für die prosodie erfand, ist nicht auszumachen. ganz dürfte beides in
diesen schwierigen texten nicht gefehlt haben; ganz durchgeführt war es
keinesfalls, und es gehört schon mehr zu dem eigentlich gelehrten be-
triebe, ebenso wie die kritischen zeichen, von welchen doch der obelos
wenigstens selbst im Pindar nicht zu entbehren war 33).


[143]Aristophanes von Byzanz. ausgabe des Pindar.

Unmittelbar in die textkritik spielte ein geschäft hinüber, das der
herausgeber gar nicht versäumen konnte, die herstellung einer ortho-
graphie. unser Pindartext zeigt zwar schwankungen, die nicht alle auf
schreiberversehen späterer zeit zu schieben sind, aber sie verschwinden
gegenüber der einheitlichkeit. diese aber kann nur durch eine durch-
greifende recension herbeigeführt sein. denn es ist weder die schreibung
des dichters noch die einer bestimmten späteren zeit; auch konnten die
aus aller herren länder in Alexandreia zusammengekommenen handschriften
überhaupt nicht so ähnlich aussehen. nicht anders steht es in den anderen
schriftstellern. einmal muſs doch befohlen sein, bei Sappho setzt man kein
stummes iota, bei Pindar schreibt man φιλέοισι, bei Aischylos αἰσϑάνῃ
πράσσω ἐς, bei Aristophanes αἰσϑάνει πράττω εἰς. also zeigt sich das
eingreifen eines organisators in den folgen. er hatte keine leichte aufgabe.
das sehen wir selbst am Homer, dessen sprache doch längst zu festen formen
erstarrt war und durch die nie unterbrochene nachbildung immer gelehr-
terer dichter selbst dem publicum geläufig blieb. am Homer sehen wir
auch am besten, daſs die gelehrten selbst diese aufgabe nicht leicht nahmen.
es sind auch wirklich keine kleinigkeiten, fällt doch das dialektische zum
gröſsten teil unter diese rubrik. wir dürfen sicher sein, daſs die absicht
nicht war, den hirngespinnsten eigner theorie raum zu schaffen, sondern
die echte überlieferung zu geben. aber zum mindesten muſste eine aus-
wahl getroffen werden, und schon das führte zum systematisiren; auſserdem
war nicht weniges an sich von der überlieferung ungenügend oder doch
inconsequent bezeichnet, wo denn auch eine entscheidung nötig ward.


Die hauptaufgabe war endlich die feststellung des textes selbst. wenn
nur eine quelle für ihn zu gebote stand, oder wenn die tradition eine
ganz feste war, so konnte die recensio freilich nichts tun als diese weiter
geben. indeſs das muſsten ausnahmen bleiben; in gedichten, die seit jahr-
hunderten in den verschiedensten gegenden gelesen worden waren, muſsten
sich vielmehr ähnliche und zum teil noch ärgere zustände gebildet haben,
wie wir sie dank den Alexandrinern im Homer vor augen haben, obgleich
wir auch da gewiſs nicht den hundertsten teil von dem kennen, was jene
durcharbeiten muſsten. sehen wir nun den Pindartext an, so bietet uns
die reiche überlieferung sehr wenig wirkliche varianten; denn die schreib-
fehler, die wir durch die vergleichung unserer handschriften erledigen,
sind spätere wertlose entstellungen. vor allem aber, die gelehrten, deren
äuſserungen in den scholien zahlreich erhalten sind, rechnen, ganz anders
als im Homer, gar nicht mit varianten, sondern betrachten die überlieferung
als eine sicher gegebene gröſse. mit anderen worten, im Pindar hat die
[144]Geschichte des tragikertextes.
grundlegende ausgabe, die aristophanische, alles ältere definitiv beseitigt:
sie ist ganz und gar identisch mit der ‘überlieferung’ geworden, und nur
die erinnerung erhielt sich dunkel, daſs es ältere texte gegeben hätte.
die geschichtliche bedeutung der aristophanischen tätigkeit ist also eine
ganz ungeheure. man denke sich, daſs die wirkliche überlieferung des
Lucrez ganz zu grunde gienge und an ihre stelle der Lachmannsche text
träte, so daſs gewissermaſsen Lachmann gleich Lucrez würde. in diesem
falle würden wir gar nicht weniges durch die conjectur oder auswahl
des herausgebers verderbt lesen, und dennoch würde es gegenüber der
verwüstung, die vor Lachmann im Lucreztexte herrschte, ein unschätz-
barer segen gewesen sein, daſs ein zielbewuſster wille durchgegriffen hätte.
müſsten wir freilich Tibull und Properz mit Scaligers ausgabe indentificiren,
so würde die kritik nur zu dem negativen ergebnis gelangen können, daſs
irgend ein willküract die gedichte aus den fugen gerissen hätte. von den
alexandrinischen gelehrten sind wir sicher, daſs sie an methode und scharf-
sinn mit Lachmann nicht zu vergleichen waren, aber wir dürfen uns wol
auch darauf verlassen, daſs sie diesen mangel durch gröſsere zurückhaltung
und selbstbescheidung zum teil ersetzt haben: Scaligersche willkür imputirt
ihnen nur, wer für die eigene die bahn frei haben will. Aristophanes
zumal ist schon durch die ungeheure ausdehnung seiner herausgebertätig-
keit von der conjecturalkritik zurückgehalten: ihm ist es gegangen wie
Immanuel Bekker, mit dem man ihn immer wieder vergleichen muſs, den
er aber doch wol überragt. denn was ihm gelungen ist, ist etwas so
groſsartiges, daſs man kaum nach den tausend einzelheiten fragt, die man
nicht wissen kann, da die hauptsache sonnenklar ist, die für alle zukunft
maſsgebende codification der nationalen poesie, zu der mit recht auch
Platon gerechnet war. so etwas zu erreichen erfordert mehr als philo-
logie. es fordert die einsicht, daſs auf die lösung der aufgabe mehr an-
kommt als auf die tausend bedenklichkeiten, ob es so oder so besser
wäre; den mut, dem besserwissen der faulen und undankbaren nachwelt
zu trotzen, die das gute gedankenlos nutzt und zugleich schilt, weil es
nicht das bessere ist; den sicheren nie zu lernenden blick für das
wesentliche; endlich die energie des willens, die durch die riesenhaftig-
keit der arbeit immer neu gestärkt wird. auch wenn Aristophanes ein
gewalttätiger kritiker gewesen wäre (solch einer löst freilich erfahrungs-
gemäſs keine groſsen aufgaben), so würde sein andenken gesegnet werden
müssen: und wir dürfen doch glauben, daſs er ein kritiker wie Bekker war.


Ausgabe der
tragiker.

Daſs Aristophanes für die tragiker dieselbe bedeutung hat wie für
die lyriker ist nicht überliefert. dennoch ist es ganz unzweifelhaft. vor
[145]Aristophanes von Byzanz. ὑποϑέσεις.
ihm gibt es keine philologische beschäftigung mit ihnen; er eröffnet die
reihe der grammatiker, welche sich ihrer erklärung widmen, und steht
unter diesen selbst für unsere kenntnis in der vordersten reihe. die
tragikerkritik setzt eben so gut wie die Pindars einen festen text voraus,
über welchen hinaus die forschung kaum je geht, dann aber in völliger
finsternis tappt 34). die einteilung nach κῶλα ist auch im drama durch-
geführt. also irgend jemand hat für dieses dasselbe geleistet wie Aristo-
phanes für die lyrik: man kann an keinen andern als ihn denken. und
eine deutliche spur ist auch erhalten geblieben, welche allein schon auf
eine grundlegende ausgabe des Aristophanes führen würde, die ὑπο-ὑποϑέ-
σεις.

ϑέσεις. daſs Aristophanes den dramen eine kurze vorbemerkung vor-
gesetzt hätte, vergaſs man bis in die späteste zeit nicht. sein name
blieb diesen vorsatzstücken, die zu dem drama so notwendig gehörten,
daſs der verfertiger des Okypus seiner parodie auch eine hypothesis, zum
teil in aristophanischen formeln, vorausgeschickt hat. selbst als man,
wahrscheinlich im 2. jahrhundert n. Chr., wo die lateinische grammatik
solche spielereien treibt 35), den inhalt der tragödien und komödien in
schlechte verse faſste, hastete an diesen der alte berühmte name 36). mit
einem commentar hängen die ὑποϑέσεις nicht zusammen; das zeigt
auſser Terenz und Plautus die reihe der scholienlos überlieferten euri-
pideischen dramen, vor denen sich nicht nur ὑποϑέσεις, sondern selbst
reste aristophanischer gelehrsamkeit, allerdings ohne den namen, erhalten
haben 37). hieraus und übrigens aus dem ganzen inhalte der gelehrten
notizen ergibt sich, daſs Aristophanes die ausgabe, welcher er sie beigab,
für das publicum bestimmt hatte, nicht für die philologen.


v. Wilamowitz I. 10
[146]Geschichte des tragikertextes.

Die anregung und sehr vielfach auch den stoff hat er von den peri-
patetikern entlehnt. so wenig wie ihnen war es ihm darum zu tun,
den inhalt des folgenden stückes zu erzählen; was wir der art lesen,
sind erzeugnisse späterer zeit, die mit den mythographischen hand-
büchern zusammengehören. es werden vielmehr nur ganz kurz und nur
dem im allgemeinen unterrichteten verständlich die hauptereignisse der
folgenden handlung bezeichnet 38). auſserdem folgt der litterarische nach-
weis, ob und wo derselbe stoff von den beiden anderen tragikern oder
auch überhaupt behandelt war 38a). damit verband sich nötigenfalls eine
erörterung über echtheit und integrität des vorliegenden dramas. sodann
ward aus den schriften des Aristoteles und seiner schule der auszug aus
den amtlichen aufzeichnungen hingesetzt, welcher jahr fest erfolg con-
currenten der ersten aufführung angab. zum teil nach denselben büchern
ward eine aesthetische würdigung gegeben, teils ganz kurz, wie z. b. von
Euripides stücke erster und zweiter classe unterschieden werden, teils
in ausführlicherer begründung, auch mit hinweis auf die älteren kritiker.
endlich ersetzte die angabe des ortes der handlung, der zusammensetzung
des chores und der person, die den prolog sprach, vollkommen ein per-
sonenverzeichnis, das nicht üblich und in der tat ganz entbehrlich war.
nützliche gelehrsamkeit ward gelegentlich hier oder dort zugefügt 39). die
reihenfolge der teile ist in unserer überlieferung nicht fest; auch kann
man nicht alles mit gleicher sicherheit auf Aristophanes zurückführen, da
die grammatiker, welche nach ihm einzelne stücke herausgaben, auch an den
vorbemerkungen änderten 40), und auch solche zusätze ihren weg in die
[147]Aristophanes von Byzanz. textkritik.
publicirten texte fanden: schon Ovid hat unsere erhaltene hypothesis
der Medeia, welche den Rhodier Timachidas 41) citirt, in seinem Euripides-
exemplar gelesen 42). um so deutlicher wird die macht des aristophanischen
vorbildes und die weite geltung dieser grammatischen sitte.


Von den hilfsmitteln und der methode, welche Aristophanes für dieTextkritik.
recensio der tragiker zu gebote standen, wissen wir so gut wie nichts.
texte der meisten dramen muſsten in groſser zahl in der bibliothek liegen,
und die könige setzten ihr geld und ihre diplomatie dafür ein, daſs wert-
volle handschriften, z. b. das lykurgische exemplar aus Athen, für Alexan-
dreia gewonnen wurden 43). wenn wir bedenken, daſs Aristophanes in
seinen Homertext sehr viele verse aufgenommen hat, die Zenodotos gar
nicht geschrieben hatte und er selbst für unecht hielt, so dürfen wir uns
nicht wundern, daſs so viel unechte verse in den dramen stehen, dürfen
aber zugleich keinesweges glauben, daſs Aristophanes sich über dieselben
immer getäuscht hätte 44). auch doppelte recensionen, die nicht selten sind,
hat er erweislich zuweilen trotz richtiger einsicht aufgenommen 45). wir
40)
10*
[148]Geschichte des tragikertextes.
werden ihm auch dafür dankbar sein. denn sein bestreben war offenbar,
möglichst wenig von dem überlieferten umkommen zu lassen. und doch
liegt es in der natur der sache, daſs sehr vieles unterdrückt werden muſste,
nicht bloſs einzelne lesarten, da ja die ausgaben keinen kritischen apparat
enthielten, sondern verse und versreihen. wie hätte das gegenüber schau-
spielerredactionen anders sein sollen? wirklich hat Aristophanes die beiden
unechten prologe des Rhesos ganz unterdrückt. so sehr wir also auch
wünschen würden, mit dem apparate, der ihm zur verfügung stand, selbst
zu arbeiten, so dürfen wir uns doch dazu glück wünschen, daſs der
text, der für uns genau so wie im Homer auch im drama zunächst anzu-
streben ist, der der Alexandriner, ein so vorsichtig festgestellter ist. auf
die torheit, bei ihm stehen zu bleiben, ist glücklicherweise niemand ver-
fallen, obgleich der schade geringer wäre als im Homer.


Verteilung
in bände.

Eine gesammtausgabe würde ihren zweck verfehlen, wenn sie nicht
durch eine feste ordnung die erhaltung des gesammtbestandes der werke
sicherte, wenn also z. b. die tragödien, weil eine jede für ein buch
besser zureicht als ein gedicht von Stesichoros, vereinzelt publicirt wurden
und vereinzelt blieben. tatsächlich haben denn auch die herausgeber aus
diesen lediglich praktischen rücksichten etwas unseren ‘bänden’ ent-
sprechendes eingeführt, eine mittelstufe zwischen der summe der werke
und dem einzelnen stücke oder buche. wir sehen in der zeit des ent-
falteten litterarischen lebens einzelne vielschreibende schriftsteller schon
selbst dafür sorgen und ihre bücher in gruppen von 5 oder 10 oder wie
viel ihnen beliebt zusammenfassen. die historiker Dinon von Kolophon
und Deinias von Argos nannten das eine σύνταξις 46). die werke des
Chrysippos wurden ebenfalls in συντάξεις gesammelt, doch wol schon
bei seinen lebzeiten oder bald danach; denn lange konnten sich diese
massen schlechtester prosa nicht halten, und der buchhandel blühte
damals in Athen 47). die ebenso ungeheure und unlesbare masse des Epi-
45)
[149]Aristophanes von Byzanz. verteilung in bände.
kurischen nachlasses war auf κύλινδροι verteilt 48). den des Antisthenes
gliederte man nach τόμοι, den platonischen verteilte Aristophanes in
τριλογίαι 49). das bei den Byzantinern gewöhnliche wort τεῦχος findet
sich wenigstens in der augusteischen zeit für die vereinigung von fünf
büchern lyrischer gedichte 50). auch wenigstens für einen dramatiker
ist die einteilung kenntlich. Apollodoros von Athen hat die gedichte des
bisher vernachlässigten Epicharm auf 10 τόμοι verteilt. da nicht fest-
steht, ob Apollodor die umfängliche pseudepicharmische, epische und
prosaische, litteratur aufnahm, ist nicht sicher zu sagen, wie viel stücke
auf einen τόμος kamen; indessen führt die beste angabe, 40 komödien,
darunter 4 bestrittene 51), auf die tetralogie, und man darf sie als wahr-
scheinlich betrachten 52). Porphyrios, der die angabe über Apollodor
macht um seine enneaden zu begründen (vit. Plotin. 24), wuſste nichts
mehr von τόμοι der tragiker. aber wir werden nicht bezweifeln, daſs
47)
[150]Geschichte des tragikertextes.
Apollodor der weise seiner lehrer folgte. dazu tritt nun ein wichtiges
zeugnis. ein bücherkatalog aus Athen (CIA II 992) zählt unter anderem
euripideische tragödien auf; sie sind nach den anfangsbuchstaben der
namen geordnet, doch so, daſs erst alle mit Σ, dann alle mit Θ, Δ, Π,
dann vier mit Α, einige mit Ε anfangende auf einander folgen. wir
sehen also die ordnung κατὰ στοιχεῖον, wie sie auch die zahlreich er-
haltenen verzeichnisse von dramen zeigen, aber in der eigentümlichen
weise modificirt, daſs die mit demselben buchstaben im titel beginnenden
dramen eine einheit bilden, diese einheiten aber nicht mehr die buch-
stabenfolge des alphabetes inne halten. den grund der anomalie vermag
man nicht wol zu erraten; so viel aber ist klar, daſs die buchstaben nicht
die τόμοι bilden konnten, sonst hätten mehrere τόμοι nur eine tragödie
umfaſst. und da von Α, welches die meisten enthält, zwischen Π und Ε
vier tragödien eingezwängt sind, so liegt auch hier die tetralogie zum
mindesten sehr nahe. und das muſste sie von vorn herein für den heraus-
geber tun, der unter den aischyleischen dramen eine anzahl wirklich
inhaltlich zusammengehöriger und zugleich gegebener tetralogien vorfand,
von welchen z. b. der Prometheus 53) selbst nur den einen titel für die
drei tragödien bot. man mag vermuten, daſs diese tetralogien zuerst
als ein τόμος vereint blieben, wie sie wol zum teil auch überliefert
waren, und dann bei Euripides und auch Sophokles 54), wo der inner-
liche zusammenhang fortfiel oder zurücktrat, ein compromiſs zwischen
dieser einteilung und der ordnung nach dem anfangsbuchstaben getroffen
ward. indessen bleibt das einzelne zunächst noch ganz unsicher; wichtig
aber ist die erkenntnis des einteilungsprincipes im ganzen, und sie wird
sich später noch in wichtigen folgen bewähren 55).


Erklärung.

Auch die reihe der commentatoren beginnt Aristophanes. daraus folgt,
daſs er im Museion tragiker erklärt hat, ebenso wie auch epiker lyriker und
komiker. denn für die älteste grammatik gilt noch ebenso wie für die
[151]Aristophanes von Byzanz. erklärung.
peripatetiker die wechselwirkung von mündlicher lehre und schriftstel-
lerei 55a): sie schreiben ὑπομνήματα, und man schreibt sich nach ihren
vorträgen ὑπομνήματα. proben von der conjecturalkritik des Byzantiers
sind freilich zu den tragikern nicht mehr beizubringen, weil ihre scholien
sehr viel dürftiger sind als die zu dem Athener Aristophanes. indessen ist
doch an einer stelle so viel erhalten, daſs etwas wichtiges sich erschlieſsen
läſst. in den scholien zum Orestes ist ein ὑπόμνημα des Aristophaneers
Kallistratos benutzt, und da dieser einmal als gewährsmann für eine lesart
seines lehrers angeführt wird 56), so darf man auch die andern, eben auch
in diesem drama allein häufigeren, Aristophanescitate 57) auf die rechnung
seiner vermittelung setzen. darunter ist nun eine sehr merkwürdige notiz.
Aristophanes rechtfertigt eine lesart durch berufung auf Stesichoros, der
die von Euripides gewollte situation erkläre 58). unzweifelhaft gehört ihm
dann auch eine weitere stelle, wo ebenso Stesichoros die absicht des Euri-
pides erläutert 59). hier aber richtet sich die spitze der bemerkung gegen
[152]Geschichte des tragikertextes.
die praxis der schauspieler, wie sie zu zeiten des verfassers auf der bühne
in geltung war. und von dieser in keinen anderen scholien vorhandenen
kategorie gibt es zum Orestes eine reihe bemerkungen, welche die gesti-
culation 60), die sangweise 61), die neigung für entfaltung von pomp 62), die
selbst vor einem einschube nicht zurückschreckende sorge für die eigene
bequemlichkeit 63) an den schauspielern tadeln. das bestätigt sich weiter
59)
[153]Die zweite periode der textkritik.
dadurch, daſs bei einer zu zwei stellen anderer dramen angemerkten diffe-
renz zwischen dem texte und der inscenirung einmal Aristophanes namhaft
gemacht wird 64). es wird also kein vorschneller schluſs sein, wenn wir
annehmen, daſs Aristophanes in das schauspielhaus gegangen ist, um die
tradition der bühne für die exegese des textes nutzbar zu machen 65). es
ist begreiflich, daſs der erste erklärer das tat: die folgezeit hat eine be-
lebung der anschauung durch die bühne so wenig gekannt wie eine fort-
gesetzte textverderbnis durch dieselbe 65a). auch hieran sieht man so recht,
daſs Aristophanes eine neue periode eröffnet.


Diese zweite periode der textgeschichte umfaſst etwa drei jahrhunderte,Die zweite
periode der
textkritik.

63)
[154]Geschichte des tragikertextes.
vom fünften Ptolemaeer bis auf Hadrian, und läſst sich bezeichnen als
die zeit des wirklich grammatischen studiums. sie ist in ihrer studen-
richtung uns modernen vergleichbar. die beschäftigung mit den tragikern
ist sehr rege und productiv an büchern, von denen aber sehr wenig auf die
nachwelt kommt, denn ein commentar verdrängt den andern, eine special-
ausgabe die andere. das verdienst dieser zeit liegt auf dem gebiete der
kritik lediglich in der conservirung des aristophanischen textes und der
sicherung des verständnisses, so weit es die einzelnen worte und sätze
des dichters angeht. tieferes eindringen in die kunstwerke ist fast nirgend
vorhanden, und selbst der versuch wird nicht häufig gemacht. die con-
jecturalkritik hat so gut wie gar nichts gutes geleistet, würde aber viel
verdorben haben, wenn ihre einfälle bestand gehabt hätten.


Aristarch.

Neben Kallistratos, den die verehrung für seinen meister in die hef-
tigste fehde mit Aristarch verwickelte, wird man diesen vor allem als
erklärer tätig zu sehen erwarten. sein schüler Dionysios Thrax sagt, er
hätte die ganze tragödie auswendig gekonnt 66), und daſs er ὑπομνήματα
verfaſst hat, steht fest. aber es ist nicht nur so gut wie gar nichts er-
halten, man spürt auch nichts von seinem einfluſs, oder doch nichts was
den tragikern nützte. denn daſs wir seine homerischen doctrinen nicht
selten in den scholien der tragiker vorgetragen finden, nützt für das
verständnis der vorliegenden stellen nicht das mindeste. oder was läge
daran, daſs wir lernen, Homer unterscheide im gegensatze zu den attikern
οὐτάσαι und βαλεῖν 67); und gar die mythographische erudition würde
ganz zu grunde gegangen sein, wenn die aristarchische mode durchge-
drungen wäre, bloſs den unterschied der νεώτεροι vom ποιητής einzu-
schärfen 68). gewiſs wird Aristarchs besonnene exegese auch hier sehr
[155]Aristarch. ὑπόμνημα zum Rhesos.
viel gutes haben stiften können, und die einzige stelle, wo sein name
erscheint 69), zeigt ihn auch als den verteidiger des wahren. entsprechend
steht es im Pindar; aber ebenda ermiſst man leicht die schranken seines
könnens. die vollkommene anistoresie, die für seine philologie charakte-
ristisch ist, rächt sich empfindlich. so hat er im Aristophanes, wo seine
eigentümlichen vorzüge sich noch weniger entfalten konnten, nur wenig
geleistet. und auch die tragiker haben von ihm und seinen nächsten an-
hängern wenigstens keine kenntliche förderung erhalten.


Unsere überlieferung über die leistungen der einzelnen grammatiker
des zweiten und ersten jahrhunderts ist aber überhaupt so dürftig, daſs
wir von keinem einzigen benannten manne eine vorstellung gewinnen
können. es hilft wenig, daſs Krates ein par mal genannt wird 70), Tima-
chidas zur Medeia einige scharfe zurechtweisungen erhält 71), Parmeniskos,
dieser ein Aristarcheer, in irgendwelchen büchern textkritische und exe-
getische fragen zu Rhesos, Troerinnern, Medeia behandelt, und ein und
der andere name, vorzüglich in aporieen, genannt wird 72). sehr viel deut-
licher als aus diesen zerstümmelten einzelheiten lernt man, was die antike
philologie leisten konnte, durch zwei ὑπομνήματα, die zwar anonym
bleiben, aber dafür in ihrer ganzen art kenntlich sind. das eine ist ein
commentar zum Rhesos, den citaten nach aus dem ersten jahrh. v. Chr.,ὑπόμνημα
zum Rhesos.

wol dem angehenden, welcher den nachweis liefern wollte, daſs dieses
drama unecht wäre. das verschob sich, wie es zu gehen pflegt, zu dem
versuche, das stück als an sich schlecht zu erweisen, wodurch der rich-
tigen tendenz nur abbruch getan ward. jetzt erscheinen die kritischen
bemerkungen verzettelt als erklärungen zu kritischen zeichen; aber es ist
nicht zu sagen, ob sie als solche niedergeschrieben sind, denn das ganze
[156]Geschichte des tragikertextes.
ist nicht im originale erhalten, sondern nur durch einen commentar,
welcher sich die widerlegung der behauptungen des älteren, doch wol
höchstens 100 jahre älteren, gelehrten zur aufgabe gestellt hatte, die er
mit minderem scharfsinn, aber auch nicht ohne wertvolle, wenn auch meist
aus handbüchern geborgte, gelehrsamkeit zu lösen versucht. diesen com-
mentar wieder hat der redactor unserer scholien, die noch dazu sehr
stark verstümmelt in einer einzigen wenig zuverlässigen handschrift
(Vat. 909) erhalten sind, ausgezogen und mit seinen ungelehrten er-
klärungen vermischt. trotz alledem ist dieses bild eines antiken philo-
logenkampfes sehr wol kenntlich und in seiner art ziemlich so interessant
wie das object selbst 73).


ὑπόμνημα
zum Oldipus
Kol.

Noch wertvoller ist durch die fülle seltener gelehrsamkeit ein ὑπό-
μνημα zu dem Oidipus auf Kolonos, auf welches die hauptstücke der scho-
lien dieses dramas sich zurückführen lassen, die von den übrigen scholien,
nicht bloſs den sophokleischen, sondern allen tragikerscholien abstechen.
es ist das allerdings schon eine compilatorische arbeit, denn sie setzt eine
gröſsere zahl von ὑπομνηματισάμενοι voraus, die sie ursprünglich
gewiſs genauer citirt hat, als es in dem jetzigen verstümmelten auszuge ge-
schieht 74). der verfasser lebte nicht vor dem anfange der kaiserzeit 75), aber
auch schwerlich später; denn die richtung seines interesses stimmt zu
den damaligen auf das attische altertum gerichteten von dem atticismus
angeregten studien, und die art der wesentlich material häufenden gelehr-
samkeit hat an den arbeiten des Theon eine vollkommene parallele. wie
dieser den Apollonios ausschlieſslich nach der mythographischen seite er-
läutert hat, so daſs das object unter der fülle des herbeigeholten stoffes fast
verschwindet, und nur die frage nach den quellen des Apollonios die
erklärung des dichters wirklich angeht, so werden hier die attischen alter-
[157]ὑπόμνημα zum Oidipus Kol. Didymos.
tümer und localitäten und culte an dem drama erläutert, welches dazu
besonders reiche gelegenheit bot, und daneben wird allerdings auch
wenigstens die frage gestreift, in wie weit Sophokles frei erfunden habe.
dabei fehlt dem verfasser allerdings das beste, die eigene anschauung von
Attika, so daſs er stark in die irre geht 76). als zusammengehörig lassen sich
nun freilich nur die inhaltlich verwandten stücke erkennen, und nicht mit
völliger sicherheit lassen sich sacherklärungen auf denselben verfasser be-
ziehen, die nur in der erudition verwandt sind. dagegen ist ganz klar, daſs
textkritik und worterklärung, das eigentlichste grammatikergeschäft, für
diesen gelehrten ganz so wie für Theon nebensache sind. für solche dinge
erscheint in den scholien ein par mal der name des Didymos 77), der denn
auch seiner studienrichtung nach nicht der verfasser dieser arbeit sein
kann, der zeit nach aber auch nicht ihr benutzer. vielmehr hat ein spä-
terer, der welcher unsere Sophoklesscholien redigirt hat, neben Didymos
für dieses drama ein anderes ὑπόμνημα in die hände bekommen und
excerpirt.


Da ist denn der name des Didymos gefallen, der für die, welcheDidymos.
scholien nur von ferne kennen, so ziemlich mit dem identisch zu sein
pflegt, was sie in ihnen gut finden; das schlecht befundene wird dem ano-
nymen scholiasten aufgebürdet, der sich alles gefallen lassen muſs. Didy-
mos ist eine zeit lang stark überschätzt worden; jetzt hat sich eine laute
und beachtenswerte stimme erhoben, welche ihn kurzweg für einen dumm-
kopf erklärt. das lehrt in wahrheit, daſs man im banne der Aristarcho-
latrie zu keinem gerechten urteil kommen kann.


Es ist ausgemacht, daſs wir von Didymos die schrift über Aristarchs
Homerausgabe besitzen, aber so gut wie nichts von seinem Homercom-
mentar; wenigstens ist bisher nichts mit sicherheit auf ihn zurückge-
führt, und es wird auch nur in der überarbeitung durch jüngere, wie
Herakleon und Epaphroditos, vorliegen. es ist weiter ausgemacht, daſs die
hauptmasse des gelehrten materiales in den Pindarscholien, sowol was die
excerpte aus älteren erklären wie was das historische angeht, ihm gehört.
Symmachos, der verfasser unserer Aristophanesscholien, hat ihn ausgiebig
[158]Geschichte des tragikertextes.
benutzt, und z. b. an den Vögeln kann man seine komikererklärung gut
studiren. von seinen arbeiten für die redner steht nicht wenig bei Harpo-
kration. einzelne minder zusammengestrichene proben seiner eignen dar-
stellung finden sich hie und da, z. b. bei Athenaeus. das buch περὶ λυρι-
κῶν ποιητῶν wird sich vielleicht inhaltlich einigermaſsen herstellen lassen,
wenn auch wol nur in überarbeitung durch Dionysios. an material ge-
bricht es also nicht um die wissenschaftliche persönlichkeit zu erfassen.
für die tragiker steht es minder günstig. indessen hat man doch längst
bemerkt (zuerst wol Lehrs), daſs unsern Sophoklesscholien als letzte grund-
lage der commentar des Didymos gedient hat, wenn man auch feste um-
risse für seinen anteil an dem erhaltenen nicht ziehen kann, und so viel be-
stimmte einzelheiten, wie durch Symmachos erhalten sind, hier nicht mehr
zu constatiren sind. das allgemeine was man erfaſst ist erstens, daſs Didy-
mos wesentlich das kritische material der früheren generationen sammelt
und verwertet: das entspricht der tätigkeit die er an Homer oder vielmehr
Aristarch wendet. zweitens besorgt er das eigentlich grammatische ge-
schäft der exegese, und hier bedauert man am meisten, daſs sich so wenig
anhaltspunkte für die ausdehnung seiner arbeit finden. daſs dabei die
glossographische erklärung besorgt ward, steht anderweitig fest. ob ihm
aber die mythographische gelehrsamkeit gehört, scheint sich bisher weder
bejahen noch verneinen zu lassen. denn damit daſs er sie zuweilen heran-
zieht, wo es eine besondere schwierigkeit zu lösen gilt 78), ist für die haupt-
masse dieser scholien noch nichts bewiesen. ganz besonders aber tritt in dem
commentar zu allen Sophoklesstücken eine starke vorliebe für diesen dichter
und seine kunst zu tage in scharfem gegensatze zu Euripides. und da
nun in dessen scholien die feindliche kritik zuweilen sicher didymeisch
ist, so wird mit vollem rechte in dieser tendenz etwas für Didymos be-
zeichnendes gesehen. am deutlichsten ist es in den scholien zur Andro-
mache, wo man auch bemerken kann, daſs Didymos an das aesthetische
urteil des Aristophanes ansetzte 79). eine gleiche tendenz läſst sich auch in
[159]Didymos.
den Troerinnen 80) erkennen, und obwol die anhaltspunkte schwach sind,
darf man wol dem allgemeinen eindruck folgen und den grundstock der
scholien zu diesem drama, wie auch den der noch dürftigeren zur Hekabe
für Didymos in anspruch nehmen 81). daran ist bei der Medeia nicht zu
79)
[160]Geschichte des tragikertextes.
denken, wo sich dagegen eine reihe einzelner angaben finden, die ganz be-
sonders geeignet sind, die textkritik des Didymos kennen zu lehren: hier
nennt ihn auch die subscriptio. die Phoenissen setzen auch einen com-
mentar voraus, der die kunst des Euripides scharf angriff, und beschäftigt
hat sich Didymos auch mit diesem stücke 82), allein selbst wenn er jener
tadler gewesen sein sollte, so würden wir doch nicht mehr viel von ihm
haben: denn der umfängliche erhaltene commentar gehört in seinem
hauptteile ersichtlich einem verteidiger. die scholien zu Orestes 83) und
Rhesos, von denen schon gehandelt ist, und die zum Hippolytos tragen
vorwiegend einen abweichenden charakter.


Mag tieferer forschung auch noch viel zu ermitteln übrig sein, so ist
dies doch genug, um über die art des Didymos und sein verdienst um
die tragikerkritik ein urteil zu gewinnen. allerdings hat er selbst keinen
81)
[161]Didymos.
anspruch auf einen hohen rang als erklärer oder kritiker. wie natürlich,
macht er hier denselben eindruck wie zum Pindar und Aristophanes. be-
sonderer scharfsinn ist nirgend zu loben, arge verkehrtheiten sind nicht
selten. verglichen mit den proben, die er von älteren erklärern gibt, mag
man ihm aber einen gewissen gesunden sinn zugestehen. was methodische
textkritik ist, ist ihm wol überhaupt nicht aufgegangen; seine minutiöse
reconstruction der aristarchischen textausgabe könnte das vermuten lassen,
aber abgesehen von der schulsuperstition, die nicht wenig mitwirkte, muſs
man ohne zaudern zugestehen, daſs Aristonikos ganz anders die aristar-
chische consequenz begriffen hat und ein besserer zeuge (nur nicht e silentio)
ist als Didymos. nicht besser bewährt er sich, wo er selbst textkritisch
vorgeht. bezeichnend ist in der tragödie vor allem das was er von den
schauspielern erzählt. daſs sie die textverderber sind, weiſs er offenbar
von den älteren erklärern, aber er hat von ihrer tätigkeit weder eine klare
vorstellung, noch gibt er sich die mühe, die vorwürfe, die er gegen sie
richtet, zu beweisen. er braucht die schauspieler vielmehr, wie man hübsch
gesagt hat 84), so wie moderne kritiker den sciolus magistellus, den proter-
vus interpolator
, als deus ex machina um kritische knoten zu durchhauen,
wenn er sie nicht lösen kann.


Trotzdem hat Didymos zwar keine epochemachende, aber doch eine
eminente geschichtliche bedeutung. er hat die ergebnisse der älteren
kritisch exegetischen arbeit zusammengefaſst und auf die nachwelt ge-
bracht. die zeit für wirklich schöpferische gelehrte war längst vorbei:
die griechische nation producirte keine talente mehr, die weiter zu denken
fähig waren; das höchste was geleistet ward, war die erhaltung des schatzes
der älteren leistungen. aber dem was die zeit verlangte hat Didymos und
hat überhaupt die grammatik der augusteischen zeit, neben ihm vornehm-
lich Theon 85) und Seleukos 86), genug getan. und die anforderungen der
v. Wilamowitz I. 11
[162]Geschichte des tragikertextes.
zeit waren in der tat neue. die alexandrinische bibliothek, die grundlage
der dortigen philologie, war vernichtet. Alexandreia hörte auf residenz zu
sein und verlor die leitende stellung in den geisteswissenschaften. auch
die grammatik muſste sich in Rom eingewöhnen. hier lagen die ver-
hältnisse anders. ein wissenschaftliches institut wie das Museion fehlte;
die esoterische lehre des meisters, der schülern, die wieder gelehrte
werden wollten, seine weisheit vortrug, hatte keine stätte mehr; wissen-
schaftlicher betrieb, wie ihn Aristarch geübt hatte, war unmöglich, denn
wenn das auditorium fehlte, das sich die kritischen zeichen erläutern lieſs,
so fehlte auch für die detailbehandlung der aristarchischen hypomnemata
das publicum: es sei denn daſs man sich auf den engsten kreis der zunst
beschränken wollte, wie es Probus seiner zeit getan hat 86a), vielleicht der
einzige wirkliche philologe, den die Römer hervorgebracht haben. so mögen
es auch von den Griechen die besten, wie Aristonikos, gehalten haben. die
sprachwissenschaft ist ihrer natur nach auf engere fachkreise angewiesen.
doch empfand jetzt jeder stärker das bedürfnis, die sprache theoretisch zu
erfassen, der als grammatiker sein brot verdienen wollte; denn viel mehr
als früher muſste er die sprache selbst lehren. so erhielten diese studien in
Tryphon einen bedeutenden 87), daneben in anderen leuten wie dem Aska-
loniten Ptolemaios immerhin unverächtliche vertreter, im publicum aber
waren die, welche für die classische poesie interesse hatten und kenntnis
von ihr nehmen wollten, nicht weniger, sondern viel zahlreicher geworden,
und entsprechend bedurften sie stärkerer beihilfe. die aristophanischen
texte genügten dafür längst nicht mehr. auch um 200 v. Chr. werden
die s. g. gebildeten vieles im Sophokles nicht verstanden haben, aber
sie bildeten sich’s doch ein und würden eine erklärende ausgabe weg-
geworfen haben, wie jetzt die s. g. gebildeten den anspruch erheben
Schillers gedichte zu verstehen und sich entrüsten, wenn sie ihnen
einer erklären will. in der augusteischen zeit, wo die rhetoren einge-
standen, daſs sie zum Thukydides ein lexikon und einen commentar
brauchten, hatte sich das geändert, zum teil wirklich deshalb, weil die
welt aus dem zeichen des barocco in das des classicismus getreten war,
[163]Didymos. τραγικὴ λέξις.
und also nach den classikern verlangte. die bestrebungen der römischen
litteratur, die am reinsten und reiſsten in Horaz sich verkörpern, wirkten
auf die ganze cultur des weltreichs ein, und die umkehr auf dem rhe-
torischen gebiete war schon älter, von der theorie Pergamons schon um
100 gefordert, seit 60 mit entschiedenem erfolge.


Auf diesem gebiete, der pflege der attischen kunstprosa, schien etwas
neues nötig zu sein, denn exegese des Demosthenes oder Thukydides hatte
man in Alexandreia nicht getrieben. was Didymos aber leistete, commen-
tare und lexika, war gleichwol keine neue production, sondern nur samm-
lung, wesentlich auszüge aus historikern, antiquaren, peripatetikern, und
für das sprachliche aus den schätzen der älteren lexikographie, wie sie
Aristophanes selbst begründet hatte 88), und aus den so überaus reichen
arbeiten, die der komödie gewidmet waren: diese einwirkung zeigen die
rhetorischen lexika auf jeder seite. wie viel mehr konnte man für die
erklärung der classischen dichter sich mit dem vorhandenen begnügen.
die schätze waren da, nur ausgemünzt muſsten sie werden. es bedurfte
keines productiven geistes, höchstens geschickter auswahl, und dann eines
eisernen sitzfleisches, und das besaſs ja Didymos. wir wollen ihm aber
auch gerne den ruhm zugestehen, daſs er die veränderungen in der form
der litterarischen production vorgenommen hat, die wir nun bemerken,
obwol wir richtiger nicht den einzelnen mann, sondern die zeit dafür
verantwortlich machen.


Didymos hat ein groſses lexikon geschrieben, in welchem er denτραγικὴ
λέξις.

sprachschatz der tragödie zusammenfaſste, so weit dieser für die gebil-
deten seiner zeit der erklärung bedurfte. es liegt in der natur dieser
aufgabe, daſs das lexikon wesentlich aus den erklärungen der gedichte
genommen war, und andererseits, daſs es fortan für die erklärer das
11*
[164]Geschichte des tragikertextes.
nächstliegende hilfsbuch ward: das gelehrte material der scholien, soweit
es lexikalisch ist, deckt sich mit dem der lexika. es liegt eben in der
natur der sache, daſs ein lexikon umgeformt und ausgezogen und er-
weitert wird, so lange der betrieb der studien lebendig bleibt. es mag
in einem solchen noch so viel individuelle arbeit stecken (was hier schwer-
lich der fall war): sie verflüchtigt sich bald, und die nachwelt nutzt nur
den gebotenen stoff. es ist also nicht zu verwundern, daſs des Didymos
τραγικὴ λέξις selbst sehr bald durch spätere arbeiten aus den händen
der leser verdrängt ward, mochten sie auch meist nichts tun als sie epi-
tomiren. mit recht nimmt man an, daſs die lexikalische gelehrsamkeit,
die auf uns gekommen ist, soweit sie die tragödie angeht, wesentlich
Didymos verdankt wird. das nächste jahrhundert nach ihm trieb die
lexikographie noch lebhaft und häufte den stoff bis zur völligen unüber-
sichtlichkeit. als die unten eingehender dargestellte wandelung in der
griechischen cultur eintrat, in der zeit Hadrians, kam das epitomiren auf,
und ein wahrscheinlich an sich recht geringwertiges machwerk, das lexikon
des Diogenian, behauptete sich schlieſslich als hilfsbuch für die classische
und auch die nachclassische poesie so gut wie allein. es kam auf die
Byzantiner, ward immer weiter verdünnt, und erhielt zum entgelt gering-
haltige oder ganz wertlose zusätze in masse. bis gegen 1000 hat das lexikon
Diogenians noch bestanden. dann wendet sich das interesse der Byzantiner
von den lexikalischen werken ab, den etymologika zu. die wertvolleren hand-
schriften, die wir von lexicis haben, sind meistens älter als das 12. jahr-
hundert, auch meist unica 88a): ein Diogenian ist zufällig nicht darunter.
auch ein unicum ist die handschrift, welcher wir das lexikon des Hesychius
verdanken, und in diesem steckt, allerdings vermischt mit sehr viel wert-
losem oder doch fremdartigem, durchgehends in der späteren weise, die
auch wir befolgen, die aber dem altertum fremd war, umgeordnet nach
der buchstabenfolge durch das ganze wort, endlich entsetzlich verkürzt,
verstümmelt, verschrieben, also im jämmerlichsten zustande, aber es
steckt wirklich der Diogenian darin. und so ist dieses buch trotz aller
[165]τραγικὴ λέξις. scholien.
unbill, trotzdem daſs der schreiber der handschrift lüderlich, Hesychius
ein gänzlich stupider geselle, und Diogenian ein bloſser compilator ge-
wesen ist, unschätzbar. auch die τραγικὴ λέξις des Didymos kann man
sich in ihrer ungeheuren glossenfülle nur nach den tragischen glossen
des Hesych vorstellen; die einzelnen aber muſs man sich statt in hesy-
chischer magerkeit so stattlich denken, wie etwa Athenaeus eine glosse
abhandelt, oder wie eine probe des Didymos es tut, die sich zufällig bei
Macrobius (V 18) erhalten hat. nicht bloſs den drei tragikern, und zwar allen
ihren dramen, galt das lexikon, es umfaſste auch die andern namhafteren
des fünften jahrhunderts; jüngere allerdings nicht mehr. es erläuterte
ihren vocabelschatz so, daſs keinesweges bloſs die glossematischen worte
vorkamen, sondern auch leichtverständliche compositionen und ableitungen,
die nur eben der gewöhnlichen sprache fremd waren. es gab für sehr viele
einzelne verse die erklärung, so daſs also der individuell gefärbten be-
deutung eines sonst geläufigen wortes gedacht ward. es zog gelehrsam-
keit aller art heran: natürlich aber all dies ohne consequenz, wie denn
eine erschöpfung des materiales über die kräfte nicht nur eines menschen
gegangen wäre. es ist nicht zu bezweifeln, daſs auch hier, wie wir es
für die komödie beweisen können, im wesentlichen auszüge aus den vor-
handenen commentaren die bausteine waren, mit denen Didymos ein in
seiner art groſsartiges und abschlieſsendes werk errichtet hatte. wir
aber besitzen nur den schatten, der uns lehrt was wir verloren haben.
die wörter, die noch den namen der tragödie oder wenigstens des dichters
tragen, reihen wir in die fragmentsammlung ein, ohne daſs sie selbst
uns sehr viel hülfen, denn sätze sind nicht mehr viel erhalten. noch viel
mehr können wir als adespota tragica führen; aber dieser gewinn ist
dürftig. auf die erhaltenen dramen kann in einem werke, das mehrere
hundert berücksichtigte, ohne daſs man eine bevorzugung einzelner wahr-
nähme, nicht sehr viel kommen; die torheiten derer, die die Hesych-
glossen mit gewalt in unsere texte interpoliren, überführt schon allein
die wahrscheinlichkeitsrechnung. fast überall bestätigt sich nur die über-
lieferung unserer handschriften, ein par mal wird sie berichtigt. was aber
der wiederholte epitomirungsproceſs von der erklärung übrig gelassen
hat, ist selten noch geeignet uns etwas zu übermitteln, das wir nicht selbst
finden könnten. so sind die tragischen glossen des Hesych an praktischem
werte nicht entfernt mit den dialektischen zu vergleichen; aber von dem
werte der τραγικὴ λέξις dürfen wir deshalb nicht gering denken: die
gröſse kann man auch am schatten messen.


Hand in hand mit der lexikographie gieng die abfassung von com-Schollen.
[166]Geschichte des tragikertextes.
mentaren oder vielmehr von commentirten ausgaben, und dies war das
neue und wichtige. in der tat, wenn die schule und die mündliche
unterweisung für die gelehrte schriftstellerei nicht mehr maſsgebend sein
konnte, das publicum aber mit den textausgaben nicht mehr auskam, so
war diese lösung von selbst geboten. daſs Didymos nicht bloſs ὑπομνή-
ματα über die tragödien (und sonstigen dichtungen) schrieb, sondern
auch texte gab, lehren die scholien ganz deutlich, die sich auf seine les-
arten und ausgaben berufen 89). das fortleben und die umgestaltung seiner
commentare und texte führt ebenfalls darauf, daſs beides mit einander
überliefert ward. sein buch über die aristarchische ausgabe ist ohne
Homertext kaum zu denken; dies war denn freilich eine streng gelehrte
arbeit. aber die ausgaben sind für das weitere publicum mit berechnet
gewesen: es sind mit einem worte texte mit scholien gewesen. die aus-
stattung der dichtertexte, wie wir sie in unsern handschriften finden, ist
auf diese zeit zurückzuführen: in der mitte der metrisch abgeteilte text,
mit zeichen, metrischen und kritischen, wol nur obelos und kreuz, χῖ
oder σημεῖον genannt, und den erklärungen dazu am rande, der auſser-
dem noch bemerkungen zu einzelnen stellen aufnahm.


Daſs diese ausstattung der bücher wirklich in guter zeit üblich gewesen
ist, hat man lange nicht glauben wollen; allem reden ist aber ein ende ge-
macht, seit wir ein stück eines solchen buches besitzen, den Alkmanpapyrus,
den die palaeographen möglichst hoch hinaufrücken. da er in seinen scho-
lien den grammatiker Pamphilos citirt, so kann er, wenn man sich nicht
durch die annahme einer homonymie retten will, nicht älter als aus der
zeit der flavischen kaiser sein. aber das beweist auch genug. und eine
reihe anderer erwägungen tritt hinzu. der poet Valerius Flaccus hat,
als er die Argonautica des Apollonios bearbeitete, die mythographische
gelehrsamkeit benutzt, die noch heute in unserer handschrift steht, der-
selben, welche Aischylos und Sophokles mit ihren scholien enthält. sie
nennt als quelle unter andern selbst den Theon. also vor Valerius Flaccus
war jene erlesene gelehrsamkeit für den Apollonios zusammengetragen:
in der tat, man kann den schluſs nicht abweisen, daſs Theons scholien
an dem rande der Apollonioshandschriften schon zur zeit der Flavier
standen 90). Germanicus, wahrscheinlich auch Ovid, haben die scholien
des Arat, die wir besitzen, auch schon neben dem gedichte benutzt 91).
[167]Scholien.
belehrender noch als die römischen dichter sind die grammatiker. von
Horaz ist sehr früh eine ausgabe gemacht worden, in welcher die ge-
dichte überschriften erhielten, in denen sicherlich die namen der adres-
saten aus vorzüglichster kenntnis und bezeichnungen der dichtgattung
(propempticon, paraeneticon u. dgl.) aus vorzüglichster griechischer theorie
standen, wahrscheinlich aber auch bemerkungen über die quellen, wo
solches angezeigt schien 92). dies mag man noch für ein analogon der
aristophanischen hypothesen erklären. aber wenn wir zu einer mytho-
graphischen bemerkung, die in wahrheit auf Apolloniosscholien zurück-
geht, lesen traditur haec historia de Aristaeo in corpore Argonautarum
a Varrone Atacino
(Prob. zu Verg. georg. I, 14), so ist eine ausgabe des
Varro mit scholien deutlich bezeichnet, von der in jenen scholien noch
mehrere spuren sind 93). später als im ersten jahrhundert ist Varro gewiſs
nicht commentirt. aber auch die praxis der vornehmsten römischen gram-
matiker deutet darauf, daſs sie scholien schrieben. wenn der Berytier
Probus die kritischen zeichen der Aristarcheer übernahm, und daneben
erklärungen von ihm reichlich angeführt werden, so hat er die bemer-
kungen zu den zeichen aufgeschrieben; ein schulbetrieb wie der zu Ari-
starchs zeit bestand eben nicht mehr, am wenigsten für den einsamen
Berytier. auch zeigen unsere Vergilscholien, zumal die Veroneser im
vergleich zu dem commentare des Servius, dem bei Macrobius ausgezognen
und den s. g. zusätzen zum Servius, genau dasselbe verhältnis wie die
griechischen scholien, nur daſs das material reicher ist: es ist ein strom
der erudition, der bald dünner wird, bald neue zuflüsse erhält, wie es
bei der fortpflanzung von scholien geht, und nichts spricht dafür, daſs
in den ersten jahrhunderten der betrieb der studien andere formen hatte,
als mindestens vom dritten ab. und die Vergilscholien (von denen die
zu Lucan und Statius nur späte ableger sind) führen unmittelbar auf
die Griechen. denn sie hängen ja ganz ersichtlich von den scholien zu
Homer Arat Theokrit 94) Lykophron und anderen ab: niemand versteht
91)
[168]Geschichte des tragikertextes.
mit diesen reichen schätzen zu wirtschaften, der sie nicht fortwährend
mit einander vergleicht und als einheitliche masse betrachtet. ganz deut-
lich aber ist, daſs diese befruchtung der römischen studien im ersten
jahrhundert schon stattgefunden hat: sie verfügt über einen reichtum,
von welchem die nächste periode schon weit entfernt ist.


Nun würde es freilich verkehrt sein, wollte man bestreiten, daſs
randnotizen, auch gelehrten inhaltes, den älteren handschriften fremd
gewesen wären. die scholien, welche Simplicius in der Parmenideshand-
schrift vorfand, die er benutzte, sind in sehr früher zeit, wol nicht nach
dem 3. jahrhundert v. Chr., beigefügt. die scholien zu den briefen Epi-
kurs, welche Diogenes mit dem texte aufgenommen hat, sind verfaſst,
als die fülle der epikurischen werke noch gelesen ward: das ist in der
kaiserzeit nicht glaublich. die parallelstellen, welche wir in den dichtern
vorfinden, die zusätze, welche unzweifelhaft einzeln in Xenophons Kyro-
paedie Anabasis Hellenika stecken, stammen vom rande; auch die hypo-
thesen des Aristophanes sind ja etwas ähnliches. aber es ist doch noch
ein unterschied. in der kaiserzeit ist der text mit scholien eine legitime
form des buches, ist er die legitime form der gelehrten erklärung.


Mythogra-
phie.

In diesen scholien, und zwar zu allen classikern, und bei Griechen
und Römern gleichermaſsen, findet sich eine überaus reiche und ge-
lehrte mythographische schicht. Alkman und Lucan, Homer und Statius,
Aischylos und Lykophron, alle zeigen reste derselben ungeheuren sammel-
gelehrsamkeit. und ebendieselbe finden wir in den compendien vor, die
wir freilich erst in sehr jungen fassungen unter den gleichgiltigen, um der
berühmtheit ihrer längst vergessenen träger willen gewählten namen Era-
tosthenes Apollodoros Hyginus besitzen. und dieselbe gelehrsamkeit sehen
wir mit verschweigung ihrer herkunft von den litteraten auf den markt
gebracht, von Pausanias und Aclian und Athenaeus, wo man sich nicht
wundert, aber auch schon von Diodor. ja, es ist die einleuchtende ver-
mutung ausgesprochen, daſs Ovid die stoffe seiner Metamorphosen zum
teil aus dieser selben quelle hat 95). daſs Theon für die scholien zu den
Alexandrinischen dichtern und dadurch für die römischen scholien der
hauptvermittler gewesen ist, erkennt man wol. auch Pamphilos kommt
94)
[169]Mythographie.
stark in betracht 96). man kennt auch ein par namen von sammlern,
wie Lysimachos, der für die Euripidesscholien stark benutzt ist, und den
bisher sehr dunklen Kyklographen Dionysios. aber die forschung, welche
erst vor kurzem begonnen hat, durch die bearbeitung dieses gebietes für
die mythographie ein fundament zu schaffen, kann sich bisher nicht mit
namen oder festen zeitbestimmungen hervorwagen. nur das allgemeine
ist auſser allem zweifel, daſs schon im zweiten jahrhundert v. Chr. die
sammelarbeit begonnen, im folgenden fortgesetzt ist, und daſs die zeit
der Didymos und Theon mit der überführung der gelehrsamkeit in die
commentare und handbücher beginnt, auch wol noch zusätze macht,
aber seit 100 n. Chr. fast nur noch epitomirt wird. entsprechend der
bildung der zeit, welche den grund legte, ist die classische tragödie, die
damals noch den leuten geläufig war, wenig berücksichtigt; dagegen wird
die ganz entlegene litteratur, nicht oder nachclassische tragiker, sogar
dithyrambiker, herangezogen (was dann zuerst beseitigt wird), aber Ale-
xandriner sehr spärlich 97), vor allem aber die masse der epen, welche
nicht mehr als echt homerisch und echt hesiodisch galten, und die eigent-
lichen mythographen. somit lernen wir nicht so viel für die verlornen
dramen wie wir möchten, wol aber das beste was uns zugänglich ist für
die archaische litteratur, mittelbar also für die quellen der tragiker. sehr
viel weniger wert hat die darstellung der sagengeschichte, zu welcher
als wie zu einem texte die varianten hinzugestellt wurden, wie wir sie
bei Diodor, dann in den compendien und jüngeren scholien lesen:
hier wird gegeben, was wirklich die vulgäre fassung war. dies sind
ὑποϑέσεις vergleichbar den tales from Shakespeare oder Schwabs Sagen
des classischen altertums. uns kann eine erzählung der Argonauten
nach Apollonios, der Oedipussage nach Sophokles König Oedipus und
Euripides Phoenissen wenig helfen: aber wo uns die originale fehlen,
nehmen wir doch auch hiervon mit dank kenntnis, und als gradmesser
für die popularität der gedichte wird es sogar sehr bedeutend: nur wenige
dramen haben so wie die eben genannten und z. b. Antiope Bakchen
Hippolytos Iphigeneia Andromeda durchgeschlagen. z. b. sind die Ante-
und Posthomerica immer auf grund von auszügen der homerischen epen,
[170]Geschichte des tragikertextes.
die Heraklessage auf grund der mythographen erzählt worden, mochte
auch für einzelne episoden ein drama, wie der Herakles des Euripides,
die Trachinierinnen des Sophokles, sich einschieben. existirt haben auch
nacherzählungen einzelner dramen, vielleicht in sammlungen, wie wir sie
von dem dichter Parthenios und Antoninus Liberalis besitzen, und sie
haben in der späteren zeit, als man die dramen nicht mehr las, ihre
bedeutung gehabt, sind uns natürlich sehr erwünscht 98). aber in der
grammatischen litteratur stehen sie auf der niedrigsten stufe.


Die lebhaftigkeit und die ausdehnung des interesses, welches die
sagen um die augusteische zeit fanden, zeigt sich durch nichts greifbarer,
als durch ihren einfluſs auf die bildende kunst. denn lediglich dieses
interesse hat die industrie der tabulae Iliacae und was damit zusammen-
hängt erzeugt. diese, die besser tabulae Homericae heiſsen, wie sie ihr
verfertiger Theodoros genannt hat, und die farnesische apotheose des
Herakles gehören ganz und gar mit den mythographischen arbeiten zu-
sammen. daſs die tragödie auch einen solchen plastischen niederschlag
gefunden hat, haben erst die letzten jahre gelehrt. in Tanagra sind
mehrere tönerne becher mit relief gefunden, auf denen scenen aus Ilias
und Iliupersis, der raub der Helena durch Theseus in ganz neuer form
und endlich eine reihe scenen der aulischen Iphigenia des Euripides dar-
gestellt sind, diese mit der inschrift Εὐριπίδου Ἰφιγενείας 99). lehrt uns
dieses auch nichts, so nährt es doch die hoffnung.


Die mythographischen arbeiten, so wertvoll sie sonst sind, haben
für die textkritik keine bedeutung. die reste der τραγικὴ λέξις würden
sie haben, wenn sie nicht so jämmerlich verstümmelt wären; doch be-
zeugen sie immer noch die ausdehnung der grammatischen tätigkeit über
das ganze gebiet der tragödie. dieses selbe lehrt ein anderes feld der
überlieferung und ermöglicht zugleich eine controlle unserer handschriften
in sehr ausgedehntem maſse: die anthologien. die sitte, aus den dichtern
[171]Mythographie.
auszüge zu machen, von moralischem gesichtspunkte und zunächst für den
jugendunterricht, stammt aus dem vierten jahrhundert: die elegiensamm-
lung, die nach Theognis heiſst, ist der älteste beleg. die tragiker und
zumal den sentenzenreichen Euripides für die moralische paraenese aus-
zunutzen ist auch schon im vierten jahrhundert begonnen und hat nie
aufgehört. aber wir hören nichts von florilegien in der zeit des alter-
tums, noch weniger von leuten, die sie verfertigen. es ist das ja auch
ein sehr untergeordnetes geschäft und keine litteraturgattung, die in
ehren steht; um so mehr wird sie gebraucht. wir besitzen erst die
kleine sammlung des Orion und dann die groſse des Stobaeus aus der
allerletzten zeit des altertums: aber es hieſse die ganze textgeschichte
auf den kopf stellen, wollte man annehmen, daſs diese leute ihren poe-
tischen stoff selbst gesammelt hätten. sie haben dafür lediglich vorhandene
florilegien ausgeschrieben. und daſs solche, und zwar dieselben, welche
Stobaeus vorlagen, schon im 2. jahrhundert n. Chr. vorhanden waren,
lehrt ihre benutzung durch Clemens von Alexandreia und Theophilos von
Antiocheia. Clemens ist ein schriftsteller, der die gepflogenheiten seiner
zeit, das erheucheln einer profunden gelehrsamkeit und verstecken der
sehr trivialen handbücher, aus denen sie stammt, aus dem grunde versteht:
aber wer da weiſs, wie viele und seltene dichterstellen bei Clemens und
Stobaeus übereinstimmend stehen, wird keinen augenblick über die ur-
sache dieser übereinstimmung in zweifel sein. Theophilos ist ein plumper
plebejer: bei ihm liegen die ganzen reihen vor 100). in diese gesellschaft
waren also unter kaiser Marcus die florilegien geraten, wo man doch weder
die verse verstand noch sich um die verfasser kümmerte. wie viele jahr-
hunderte früher sie angelegt waren, stehe dahin: aber an nachchristliche
zeit zu denken verbietet die geschichte der antiken bildung. wir haben
also die citate bei Stobaeus und seinen ausschreibern 101) oder mitaus-
schreibern als eine spätestens in der zeit des Didymos von den dichter-
handschriften abgezweigte überlieferung anzusehen, für die so eine äuſserst
wertvolle controlle erwächst. dies wird zwar beeinträchtigt durch die un-
[172]Geschichte des tragikertextes.
gemeine verderbnis, welche den text des Stobaeus heimgesucht hat, dessen
überlieferung zudem bisher nur ungenügend bekannt ist. längst ist auch
bemerkt, daſs die veranstalter und benutzer des urflorilegiums teils um volle
verse zu erhalten, teils um die sentenzen für ihre zwecke abzurunden, mit
dem texte, den sie vorfanden, willkürlich umgesprungen sind. das beein-
trächtigt aber nur den wert der varianten, welche Stobaeus liefert: wo er
mit unsern handschriften stimmt, liegt ein zeugnis dafür vor, daſs die verse
zu Didymos zeit ebenso gelesen worden sind. und da nicht bestritten wird,
daſs dies in der überwiegenden masse der fälle, auch der fehler, statt-
findet, so hat man wenigstens für die überlieferung der texte von Didymos
zeit bis auf uns das allergünstigste ergebnis anzuerkennen. für Euripides
speciell kann man noch mehr wissen, denn trotz der verwahrlosung durch
die ausschreiber und anordner läſst sich nicht verkennen, daſs zu den
quellen, sei es des urflorilegiums oder der mittelsmänner oder des Stobaeus
gar (dies schwerlich), ein florilegium aus Euripides gehörte, das neben dem
aus allerhand dichtern, unter denen natürlich der beliebteste tragiker nicht
fehlte, ausgezogen worden ist. dieses nun hat die gesammtausgabe excerpirt,
die stücke sind also nach den anfangsbuchstaben ihrer titel geordnet. das
florilegium war sehr umfangreich, und die excerptoren lieſsen also sehr
vieles fort: so ist es zu erklären, daſs aus den dramen mit Α besonders
viele bruchstücke bei Stobaeus stehen, viele auch aus denen mit Φ: aber
die mitte des alphabetes ist schwächer, einzelne buchstaben kaum ver-
treten 102). ähnlich geordnete excerptenreihen begegnen sonst nur ver-
einzelt, aber eine solche reihe aus Euripides ist doch noch erhalten 103).
natürlich möchte man sehr gern die oben ermittelte abweichung von der
alphabetischen ordnung in folge der bandeinteilung bei Stobaeus wieder-
[173]Mythographie. dritte periode der textgeschichte.
finden; aber die anhaltspunkte sind bisher zu schwache, so daſs es ge-
raten scheint von ihnen abzusehen 104).


Die lexikographie, wie sie bei Hesychius, die anthologie, wie sie beiDritte
periode der
text-
geschichte.

Stobaeus vorliegt, beweist für die zeit dieser compilatoren weder die
kenntnis noch den besitz der citirten tragödien. aber für das erste jahr-
hundert nach Christo sind allerdings beide beweisend. doch dafür würde
schon ein hinweis auf die beiden trefflichen männer genügen, in denen
die cultur dieses jahrhunderts culminirt, Plutarchos und Dion. wer bei
ihnen nach den spuren einer auswahl von tragödien suchen wollte, oder
ihre kenntnis auf etliche meisterwerke beschränkt glauben, würde sich
lächerlich machen. die schätze des dramas, wie überhaupt der classischen
litteratur, sind nicht nur vorhanden, sondern werden auch genutzt 105).
das bezweifelt auch niemand. aber den seltsamen gegensatz, den schon das
zweite jahrhundert hierzu zeigt, pflegt man zu vergessen. in wahrheit
beginnt mit der hadrianischen zeit die letzte und längste periode der
antiken grammatik, und so auch der tragikerkritik, welche bis auf die
uns erhaltenen handschriften reicht. es ist ein jahrtausend, das sich mit
dem excerpiren und noch viel mehr mit dem verlieren beschäftigt; wenn
[174]Geschichte des tragikertextes.
es lob verdient, so kann das nur darin bestehn, daſs man ihm zu gute
rechnet, doch nicht alles verwahrlost und verloren zu haben.


Wenn sich mit schlagenden belegstellen und directen zeugnissen die
tatsache kurz feststellen lieſse, daſs etwa im anfange des 2. jahrhunderts
ein mann von den drei tragikern eine anzahl stücke ausgewählt und in
neuer fester reihenfolge mit erklärungen edirt hat, zum zwecke zunächst
der schule, daſs aber der erfolg fast unmittelbar der gewesen ist, daſs
die übrigen werke zu gunsten dieser wenigen vergessen wurden, und
zumeist auch in folge dessen verloren gegangen sind, so würde es keines
weiteren ausholens bedürfen. allein als eine augenfällige tatsache tritt
dies erst dem entgegen, der die geschichtlichen bedingungen der cultur
zu verstehen gelernt hat, der die textgeschichte der einzelnen bücher
lediglich als ein einzelleben innerhalb des ganzen einheitlichen lebens der
grammatik und diese wieder als eine seite des ganzen groſsen volkslebens
und seiner stätigen entwickelung aufzufassen im stande ist. darum ist
es notwendig, ins weite zu gehen.


Verfall der
cultur im
2. jahrh.
n. Chr.

In der geistigen kraft des hellenischen volkes bemerkt man seit dem
epochenjahre 222, daſs des lebens flutstrom nach und nach ebbet. aber es
gibt doch noch bedeutende, neues schaffende geister bis tief in die zeit der
revolution hinab. der arzt Asklepiades, der philosoph Ainesidemos, vor allem
die letzte wahrhaft groſse forschergestalt des Poseidonios sind zeugen dafür.
aber die materielle und sittliche verwüstung, welche durch die fluchwürdige
wirtschaft der römischen oligarchie erzeugt wird, und dann die schrecken
des gerichtes, welches über diese hereinbricht, zerreiſsen alle fäden der
natürlichen entwickelung. kaiser Augustus erscheint dann freilich als ein
heiland: wie er es selbst erwartet 106) und verdient hat, haben ihm seine
woltaten die apotheose verschafft. die höchsten irdischen güter, frieden
und wolstand, hat er der welt gebracht. es schien, als wollte wirklich
neues leben aus den ruinen erblühen. man besann sich auch auf das
herrliche vermächtnis der ahnen, in welchem man das palladium der
gesittung nicht verkannte. die cultur des zwiesprachigen weltreiches, die
doch die hellenische war, gewann expansiv eine starke kraft und viele
treffliche männer in allen kreisen des lebens bemühten sich dem volke
glauben und sitte und philosophie und die in der herrlichsten poesie be-
schlossenen ideale zu erhalten. aber dem seelenleben seines volkes hatte
[175]Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr.
der kaiser frieden und gesundheit nicht wiedergeben können, und er
selbst täuschte sich am wenigsten darüber, daſs die sittlichen kräfte einer
regeneration bedurft hätten, damit die blüte nicht eine taube bliebe. der
staatliche notbau den er errichtete, die gesellschaftsordnung die er be-
gründete, haben freilich vorgehalten, doch nur in der weise, daſs sie wider
seinen willen auf etwas gänzlich dem Hellenen wie Italiker fremdes hin sich
entwickelten, auf den beamtenstaat eines absoluten fürsten. das war der
staat der Ptolemaeer und Seleukiden nur für die barbaren gewesen: nun
wird die welt durch diese staatsform allmählich barbarisirt. für barbaren-
herzen sind die ideale Ioniens und Athens zu hoch. keinesweges erst Dio-
cletian, sondern schon Septimius Severus vollendet die barbarisirung der
welt. und besiegelt ist ihr geschick schon durch Hadrian. das zweite jahr-
hundert, das sich selber und noch einem manne wie Gibbon das goldene
zeitalter war, ist die zeit des todes für die antike welt. wol prangt diese
zeit noch in gleiſsenden farben: aber was ist sie anders als ein getünchtes
grab? wie spreizen sie sich, die stimmführer dieser selbstvergötterten
civilisation, die Aristides und Lukian, Favorin und Apuleius, Herodes
und Fronto — auſsen schminke, drinnen moder. was hilft’s daſs diese
zeit von allgemeiner bildung trieft, vor der kein lykisches bergtal und
keine africanische landstadt sicher ist, daſs die reichspost von Lissabon
bis Palmyra geht, kunststraſsen und wasserleitungen gebaut werden, stil-
volle kirchen und villen, statuen im geschmacke Thutmosis III oder Nebu-
kadnezar oder Peisistratos, und Euriposse und Kanoposse und Mauso-
leen? der geist ist es allein der lebt und leben schafft: der geist aber
läſst sein nicht spotten. und viel schlimmer und barbarischer als die
zeiten, in denen er noch nicht erwacht ist, sind die, wo er verflogen ist
und erheuchelt werden soll.


Vielleicht das fürchterlichste in solchen zeiten ist, daſs das gute selbst
nur eine kraft wird, die das böse schafft. der classicismus der augus-
teischen zeit hatte in edelstem streben die echten ideale hoch aufgerichtet
und den menschen geboten, im glauben an sie sich selbst zu erheben.
nun war er mode geworden, die journalisten hatten sich seiner bemächtigt,
die schulmeister handelten mit ihm: was die halbgebildeten anfassen, das
schneiden sie sich nach der dürftigkeit ihrer eigenen leistungsfähigkeit
zu. statt den idealen innerlich sich zu nahen, wollte man sie kurzerhand
haschen und betasten. statt andächtig sich der pracht der sterne zu freuen,
begehrte man sie zu fassen, herunter zu holen und ihr gold zu eignem
gebrauche auszumünzen. der atticismus trieb die studien der alten litte-
ratur lediglich um selbst so schön zu schreiben und zu reden wie die
[176]Geschichte des tragikertextes.
Attiker: Aristides sagte es, daſs ers besser könnte, und Lukian war zum
sagen zu klug, aber er glaubte es auch. an den verächtlichen siegespreis,
ein erlognes attisch zu reden, sich seinem eignen volkstum zu entfremden,
in den wolken zu leben, setzte man sauren schweiſs, jahrelange arbeit,
beständigen training. und diesem niedern zwecke zu dienen, spannte
sich auch die grammatik ins joch: mag es auch mancher nicht eingestehen,
die grammatische arbeit des 2. jahrhunderts ist im grunde nichts als
σοφιστικὴ προπαρασκευή.


Was diesen praktischen zwecken dienen kann, das wird eifrig fort-
studirt. nicht bloſs die redner in der ausdehnung, welche der per-
gamenische kanon festgestellt hatte, sondern auch andere brauchbar
erscheinende schriftsteller, wie Xenophon und die anderen nicht gar zu
philosophischen Sokratiker: selbst Phaidon ist bis in das 4. jahrhundert
erhalten geblieben 107). Kritias hat sich eben so lange gehalten, nachdem
ihn die laune der archaisten entdeckt hatte. und da diese ihre experi-
mente bis zum ionisch schreiben steigerten, so erhielt selbst Hekataios
eine stilistische würdigung durch Hermogenes und sein geographisches
werk ist noch in frühbyzantinischer zeit gelesen 108); auch die ionischen
mythographen, Akusilaos und Pherekydes, haben keinesweges bloſs in
excerpten gelebt 109). vollends die komödie war die ergiebigste fundgrube
des archaisten, und keinesweges bloſs Menander, der bis über Iustinian
hinaus bekannt blieb, sondern selbst andere alte komiker als Aristophanes
haben noch leuten wie Libanius und Synesius vorgelegen. Galen schreibt
seine tragikercitate aus glossaren und philosophischen tractaten ab: über
die komödie hat er specialarbeiten verfaſst. es war so ziemlich der ganze
nachlaſs der μέση und νέα, den Athenaeus selbst excerpirt hat: derselbe,
der keine einzige tragödie, kein lyrisches gedicht aus eignen mitteln citirt.
wozu sollte man auch diese gedichte lesen, die man nicht copiren wollte?
den sagenstoff, so weit man ihn für die allgemeine bildung brauchte,
lieferten die handbücher, und die vocabeln konnte man nicht brauchen.


Poesie ward freilich auch noch producirt, massenhaft sogar, während
[177]Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr.
im ersten jahrhundert wenig davon zu spüren war, und das wuchs sich
um 400, als die sprache schon so gut wie tot war, zu einer wirklich eigen-
artigen, wenn auch barbarischen kunst aus. dafür brauchte man aber
auſser Homer, dessen naivetät die geringsten ingenia kindisch copirten,
die alexandrinische dichtung ausschlieſslich, deren formen, deren wort-
schatz, deren poetische technik unerschüttert regierten: freilich Antimachos
Aratos Apollonios Nikandros mehr als die dichter ersten ranges. aber
darum, daſs am kaiserhofe ein Mesomedes lahme rhythmen unmelodisch
componirte, war ein studium der lyriker nicht von wichtigkeit. und die
tragödie vollends war stumm geworden. es wird im zweiten jahrhundert
gewiſs noch vielfach etwas tragisches gespielt sein, obwol die zeugnisse
der atticisten nicht schwer wiegen, denn sie erheucheln auch alte sitten.
dann aber ist es vorbei, und für die gebildeten war längst statt der
tragödie als darstellerin der alten sage eine modernere Muse aufgetreten,
das ballet: die gute gesellschaft Roms lernte den Aiolos des Euripides
durch dasselbe mittel kennen, wie die heutige den Sardanapal Byrons,
durch die beine eines Pylades.


Und doch stand es ja fest, daſs die classiker classisch waren, und
es gehörte zu den voraussetzungen der allgemeinen bildung, daſs das
classische bekannt war. das war es auch, in der weise, wie zeiten mit
sinkender cultur ihre verblassenden ideale kennen lernen. die classiker
waren in die schule herabgesunken. da muſsten sie gelesen werden, das
verstand sich und verlangte jeder. und wenn der junge mensch aus der
schule in’s leben trat, da warf er den plunder weg, der für’s leben, das
heiſst für gelderwerb und ehrengier und sinnesgenuſs, doch nichts hilft.
so sagte niemand (das würde ja ehrlich gewesen sein), aber so tat jeder.
die schule aber ist genötigt, sich mit einer auswahl zu behelfen, ihre
aufgaben fordern einen ganz besonderen maſsstab der auslese und
eine besondere art der behandlung. sie tut nur ihre schuldigkeit, wenn
sie mit den strengen forderungen der wissenschaftlichkeit in conflict
kommt.


Schulmäſsige behandlung oder wenigstens eine beträchtliche ver-
flachung ihres niveaus muſste die grammatik aber überhaupt vornehmen,
wenn sie weiteren kreisen irgendwelche alte poesie erschlieſsen wollte.
denn trotz allem attisch parliren, trotz den totenerweckungen des duales,
der dative οἱ und σφίσι, des doppelten t statt doppeltem s, so schöner
vor 300 verstorbner formen wie γεγράφαται und νᾶπυ und von tausend
vocabeln konnten die herren Titianus und Lucianus, die sich Τιτάνιος,
v. Wilamowitz I. 12
[178]Geschichte des tragikertextes.
oder zeitgemäſs mit einem schreibfehler Τειτάνιος 110), und Λυκῖνος
nannten, herzlich wenig griechisch. die meisten stammten auch aus
der barbarei und verwunderten sich baſs, wenn sie auf einer ferienreise
ins griechische gebirge (denn auch die nervenschwäche natur suchender
groſsstädter grassirte) köhler und sennen besser griechisch reden hörten
als die gefeiertsten professoren. die voraussetzungen, welche die ältere
grammatik gemacht hatte, trafen nicht mehr zu. es half nichts, man
muſste dieser gesellschaft den Pindar ganz und den Euripides auch auf weite
strecken hin in ihre sprache übersetzen. die zeit der paraphrase bricht
herein 110 a). übersetzt hatte Aristarch homerische vocabeln auch, sowol
um den bedeutungswandel zu erklären wie um die irrtümer der glosso-
graphen fern zu halten. rätselgedichte, wie die Alexandra des Lykophron,
waren überhaupt nicht ohne paraphrase verständlich. aber diese wenigen
ausnahmen beweisen nichts, und die pindarische paraphrase war von jener
homerischen worterklärung Aristarchs himmelweit verschieden. nicht nur
war jetzt das drama so alt geworden, wie Homer zu Aristarchs zeit ge-
wesen war: die menschen waren nicht nur der sprache sondern dem
ganzen wesen der tragödie so entfremdet, daſs sie eine übersetzung
brauchten.


So erzeugte also wiederum das bedürfnis der zeit einen veränderten
betrieb der auf die dichtererklärung gerichteten studien. schulmäſsig
muſste er in seinem wesen werden, und in der schule wurden wenigstens
die classiker gelesen, zu denen jedoch immer allgemeiner auch eine reihe
von dichtern des dritten jahrhunderts gerechnet wurden. doch kamen an
diese offenbar erst vorgerücktere: so stark trivialisirt ward ihre erklärung
[179]Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr. Aristophanesscholien.
selten. und die schule selbst führte zur auswahl und festen ordnung
der lesestücke. diese einrichtung hat natürlich nicht im entferntesten
bezweckt, die ausgeschlossenen werke in vergessenheit zu stürzen, was
auch wenigstens für die komödie lange noch nicht eintrat, und nirgend
ist das unheil so schnell gekommen wie für die tragödie und Pindar. daſs
es überhaupt kommen konnte, bleibt [unbegreiflich] und findet deshalb
keinen glauben, wenn man nicht die ganze geistige temperatur des zweiten
jahrhunderts ermiſst. der unbekannte mann, der für Pindar, der eben
so unbekannte, der für die tragödie den entscheidenden schritt tat, war
auch kein an sich bedeutender mann, so daſs wir an seinem namen nicht
viel verloren haben. er würde selbst staunen über den erfolg seiner schul-
ausgabe. aber das ist eben das charakteristische für die zeit des verfalles,
daſs die letzte leistung, wie sie auch ist, kanonisch wird, weil keine
weitere kommt, und so die folgezeit beherrscht. Ptolemaios als astronom
und geograph, Galen als mediciner, Apollonios und Herodian als sprach-
gelehrte sind zwar in vieler hinsicht achtunggebietend, aber ihre geistige
bedeutung ist wahrlich nicht danach angetan, ihre herrschaft über die
jahrhunderte als berechtigt erscheinen zu lassen. nicht ihrer kraft, der
schwäche der andern danken sie ihre machtstellung. die wissenschaft muſs
diese machtstellung zertrümmern um über sie zu der wirklich wissen-
schaftlichen ebenbürtigen arbeit des Hellenentums aufzusteigen. und sehr
viel geringere leute haben in ihrem kreise eben so abschlieſsend gewirkt,
Diogenian für die nichtatticistische lexicographie, Zenobius für die sprich-
wörter, Herennius Philo für die synonymik, Heliodor und Hephaestion
für die metrik, Dionysios und Pausanias für die atticistischen handbücher,
der erstere auch für die dichter- und musikgeschichte. in denselben rang
und dieselbe zeit gehören die begründer unserer schulauswahlen, mögen
wir sie benennen können oder nicht.


Dies ist möglich für Aristophanes, dessen überlieferung überhauptAristopha-
nesscholien.

die reichste ist. da hat Symmachos 111) die maſsgebende ausgabe gemacht,
12*
[180]Geschichte des tragikertextes.
wol um 100 n. Chr., denn wenn ihn auch erst Herodian citirt, so ist
doch der erfolg seiner auswahl schon in den rhetorischen lexicis des
2. jahrhunderts zu spüren, die demgemäſs die betreffenden stücke be-
vorzugen 112). Symmachos bezieht sich in seinem commentar häufig auf
früher von ihm behandelte stellen, so daſs die reihenfolge der erklärten
dramen ganz feststeht, übrigens auch in der Byzantinerzeit nicht ver-
gessen worden ist. Es folgen auf einander Plutos Wolken Frösche Ritter
Acharner Wespen Frieden Vögel Thesmophoriazusen Ekklesiazusen Ly-
sistrate 113). die reihe war damit ohne zweifel nicht abgeschlossen 114);
Symmachos hat auch Kratinos erklärt und wird da wol ebenso verfahren
sein 115). die rücksichten der schule sind einleuchtend. der Plutos ist
weitaus am einfachsten, Wolken Frösche Ritter zu kennen forderte die
allgemeine bildung mit rücksicht auf die angegriffenen berühmtheiten
Sokrates Euripides Kleon. für die folgenden stücke ist es besser nichts
zu vermuten. Symmachos ist nun ein schriftsteller noch von der alten
111)
[181]Aristophanesscholien.
grammatikerart; er hat eigene ausgedehnte kenntnisse und wagt eigene
meinungen. das ältere verdankt er sammlungen und scholien, des Didy-
mos, aber auch anderer, z. b. des Artemidor (συναγωγή Wesp. 1169) 116),
und die dramen waren vor ihm ersichtlich gar nicht gleichmäſsig be-
handelt, was natürlich auch auf seinen commentar einwirkt. Frösche
und Vögel stehen deshalb an gelehrsamkeit weit über dem Plutos. das
gelehrte material älterer zeit, das geschichtliche (auſser billigen Thukydides-
excerpten), textkritische, glossographische gehört ihm wol alles. für die
paraphrastische erklärung läſst die grenze sich schwer ziehen; das ist aber
auch das mindest wichtige.


Das metrische lieſs Symmachos, wie die meisten erklärer bei seite.
allein ein anderer einfluſsreicher mann, ziemlich sein zeitgenosse, Helio-
doros, verfertigte eine aristophanische kolometrie, d. h. eine analyse sämmt-
licher verse der komödie, woran sich zuweilen etwas kritisches schloſs. es
war keine ausgabe, aber wol eine anweisung, wie eine ausgabe zu schreiben
wäre: wobei fraglich ist, ob er nicht die schreibung (einschlieſslich des
aus- und einrückens der zeilen) vorfand und lediglich die analyse sein war.
wie weit er seine arbeit ausdehnte, welche reihenfolge er inne hielt, ist
nicht zu sagen.


Wol erst in frühbyzantinischer zeit hat nun jemand den commentar
des Symmachos, die kolometrie des Heliodor, zugleich sie befolgend und
ausschreibend, und einiges andere erklärungsmaterial zusammengearbeitet:
erst dies werk, oder vielmehr auszüge davon, geben unsere handschriften,
text und scholien gleichermaſsen. wir hören das zwar nur durch die
subscriptio zu ein par stücken, aber der commentar hängt, wenigstens
so weit er die beiden wichtigen grammatiker angeht, zusammen. die
subscriptio nennt nun noch als benutzt einen gewiſsen Phaeinos und
ἄλλα τινά. dieser Phaeinos ist nach den proben, die nur zum schlusse
der Ritter erhalten sind, ein jämmerlicher ignorant, der sich nur in der
gewöhnlichsten exegese versucht. da er ein ganz byzantinisches wort
braucht 117), so möchte man ihn nicht mehr in das altertum rechnen.
doch wird im Et. M. (βλιμάζειν) eine zu der betreffenden stelle (Vög. 530)
nicht mehr erhaltene etymologie mit den namen Φαεινὸς καὶ Σύμμαχος
citirt. die anderen zusätze sind zum teil an sich wertvoll, z. b. die aus-
[182]Geschichte des tragikertextes.
züge aus Herodian, ergeben aber kein bild einer persönlichkeit. nach-
weislich sind einzeleintragungen aus büchern, die in byzantinischer zeit
geläufig waren, zu allen zeiten und in allen scholien zugetreten; man
kann also Phaeinos nach ihnen, z. b. den anm. 116 citirten, nicht wol
datiren. aber im allgemeinen darf Phaeinos wol für den redactor unserer
scholien gelten.


Wir haben das glück, daſs die handschriften, mit denen wir operiren,
noch dem 10. jahrhundert angehören. der Ravennas ist selbst so alt,
der Venetus zwar hundert jahre jünger, aber so sorgfältig copirt 118),
daſs er seine vorlage ersetzt, und eine dritte handschrift hat Suidas in
demselben jahrhundert fleiſsig ausgezogen. für die Acharner Ekklesia-
zusen und Lysistrate müssen uns freilich jüngere handschriften (Paris.
2712 und eine halb in Florenz als Laurentianus 31, 15, halb in Leyden
aufbewahrte) den Venetus, mit dessen recension sie sich ganz nahe be-
rühren, ersetzen, und die Thesmophoriazusen enthält nur der Ravennas.
daneben steht für die sieben stücke eine anzahl jüngerer handschriften,
die zum kleinsten teile aus den genannten stammen, für die scholien
auch keinesweges nur wertlose zusätze liefern, für den text aber unbe-
rücksichtigt bleiben dürfen. Ravennas gibt die scholien überaus dürftig,
so daſs wir mit ihm allein etwa so stehen würden, wie mit dem Lau-
rentianus in den beiden ältern tragikern; doch schöpft er, wie man an
ihm selbst sieht, aus reicherer fülle.


Vom 10. jahrhundert gelangen wir also durch die recensio nur bis
ans ende des altertums, wo sich die ströme der überlieferung vereinen.
es ist ganz sonnenklar, daſs die kritik eklektisch verfahren muſs; Venetus
bietet aber mehr schreibfehler, Ravennas willkürlichkeiten. wir haben nun
eine groſse masse citate bei den atticisten und sonstigen späten schrift-
stellern, die uns die controlle ermöglichen: sie ergeben im wesentlichen
die bestätigung unseres textes, und da sie auf die Symmachosausgabe
oder gar ältere zurückgehen, so gelangen wir eben bis in die zeit, für
welche die scholien ja auch zeugen. endlich ist kürzlich ein bruchstück
einer handschrift aus den letzten zeiten des altertums entdeckt, welches
einen text liefert, der ein klein wenig neues geben würde, wenn nicht
die kritik die geringen fehler bereits beseitigt hätte, aber im ganzen mit
dem unsern identisch ist 119). so dürfen wir sagen, daſs allerdings in
[183]Aristophanesscholien.
der zeit zwischen Heliodor und Symmachos einerseits und dem 10. jahr-
hundert andererseits eine anzahl kleiner schreibfehler begangen sind, die
sich zum teil durch die vergleichung der handschriften erledigen, zum
anderen von der modernen kritik, wesentlich den groſsen Engländern,
gehoben sind. damit gelangen wir zu demselben texte, welchen Sym-
machos gab: alle schwereren schäden, insbesondere lücken und falsche
verse müssen für älter gelten, und da nun die grammatik so früh, ein-
dringend und unausgesetzt den Aristophanes studirt hat, so muſs man
im allgemeinen die entstehung der schweren schädigung zwischen dem
dichter und dem grammatiker ansetzen.


Aristophanes ist vorzüglich erhalten, aber man spürt doch unter-
schiede. die fünf letzten stücke sind ärger zugerichtet, und jedes schlimmer
als das vorhergehende. in den Thesmophoriazusen können wir zudem
sicher sein, da sie nur in R stehen, eine groſse anzahl fehler teils selbst
beseitigen zu müssen, teils gar nicht zu bemerken. dann sind in den
drei letzten dramen die scholien so dürftig 120), auch die citate aus ihnen
viel seltener, so daſs diese controlle oft versagt, aber auch die Vögel,
die auch in V stehen, haben schwer gelitten. das ist also auf die zeit
seit Symmachos zum teil wenigstens zu schieben, zumal die ersten vier
stücke lediglich durch sorgfältige recensio fast rein herzustellen sind, d. h.
119)
[184]Geschichte des tragikertextes.
so wie sie die guten grammatiker lasen. darum ist Aristophanes der
schriftsteller, an dem man sich am leichtesten einen gradmesser für die
wahrscheinlichkeit der textverderbnis und für die berechtigung der kritik
in analogen fällen holen kann.


Pindar-
scholien.

Nicht viel geringere belehrung gewährt die überlieferung Pindars.
im zweiten jahrhundert hat jemand die vier letzten bücher der aristo-
phanischen ausgabe für die schule bearbeitet. offenbar schienen die epi-
nikien wegen der vielen persönlichen beziehungen zumal zu den sici-
lischen fürsten interessanter als die gedichte an götter. warum aber die
Nemeen vor die Isthmien gerückt sind, ist nicht zu erkennen 121). der
herausgeber war nicht im stande etwas gelehrtes zu leisten, hat auch
schwerlich den anspruch erhoben. er hat sich begnügt das gelehrte
material von Didymos zu übernehmen, mythographische auszüge und viel-
leicht vereinzelt anderes hinzuzufügen, wahrscheinlich auch irgendwoher die
metrische erklärung der kola zu nehmen 122) und endlich eine vollständige
paraphrase zu verfertigen. seine zeit ergibt sich daraus, daſs Plutarch und
Aristides, die Pindar besonders viel citiren, von der bevorzugung der epi-
nikien nichts wissen, ebenso wenig Heliodor 123). auch für Lukian ist noch
[185]Pindarscholien.
die erste ode die erste der hymnen 124). später gilt die neue ausgabe überall.
benutzt sind zwei schriftsteller des zweiten jahrhunderts 125), die man nicht
leicht für zusätze halten kann. die folgezeit, z. b. die scholien zu Homer
(ΒΤ) und den tragikern, setzt diese ordnung voraus, und im fünften
jahrhundert ist die alte so ganz vergessen, daſs man alberne neue namen
für die 17 bücher erfindet, deren zahl man kannte 126). da unsere scholien
aller jungen citate entbehren, so hat die tätigkeit der Byzantinerzeit sich
auf die verkürzte weitergabe der alten ausgabe beschränkt. sehr früh hat
sich eine doppelte recension ganz ähnlich wie im Aristophanes gespalten.
die eine, von der auch das Etymologicum Magnum spuren bewahrt, besitzen
wir leider nur für die ersten 12 Olympien. sie hat im texte neben vielen
eignen fehlern mehreres gute bewahrt, vergleichbar dem Ravennas des Ari-
stophanes; die scholien sind entsetzlich verdorben, aber sehr wertvoll. der
einzige vertreter dieser recension ist der Ambrosianus A (C 122 inf.). die
andere liegt in zwei trefflichen handschriften vor (Vat. 1312, B, und Laur.
32, 52, D), und auf ihr ruht unser text und ruhen die scholien fest und
sicher. es gibt freilich noch eine menge handschriften, die keinesweges
aus jenen stammen, und sie selbst werden sich erst in einem manches
jahrhundert zurückliegenden originale vereinigen lassen. aber der text,
den wir nach beseitigung der durch die vergleichung dieser handschriften
oder sonst ohne weiteres erledigten schreibfehler gewinnen, und der also
an sich sehr viel älter ist als die dem 12. und 13. jahrhundert ange-
hörenden erhaltenen vertreter, zeigt überhaupt ganz geringe schwan-
kungen; auch die erst in der späteren byzantinerzeit häufigeren citate be-
reichern weder ihn noch die scholien wesentlich 127). die paraphrase aber
[186]Geschichte des tragikertextes.
gibt die gewähr, daſs wir den Pindar im ganzen so lesen, wie er um
180 gelesen ward. und von da steigen wir dank den älteren gramma-
tikern wieder bis zu Aristophanes empor: die schlimmen schäden sind
älter, älter ist die umformung des dialektes und der orthographie. wir
haben aber für so schwere und den späteren fremdartige poesie die be-
ruhigung, daſs man an ihr viel weniger als an dem komiker, den die Atti-
cisten so viel traktirten, und jeder zu verstehen meinte, mit dem ver-
stande gelesen und abgeschrieben hat. mechanisch ist Pindar copirt
worden: wir wollen das für die tragiker nicht vergessen.


Scholien zu
den Alexan-
drinern.

Aber ehe wir zu ihnen selbst gehen, mögen noch die alexandrinischen
dichter, so weit sie mit gelehrtem materiale erhalten sind, gemustert
werden. für sie hat Theon eine ebenso centrale stellung wie Didymos für
die classiker, aber so wenig wie dieser kann er als der betrachtet werden,
welcher unseren scholien die bleibende gestalt gegeben hat; das ist viel-
mehr im zweiten jahrhundert geschehen. Theon fand noch einfluſsreiche
nachfolger, unter welchen Epaphroditos 128) und Lucill von Tarrha 129) her-
vorstechen. seine starke einwirkung auf die Römer ward oben erwähnt.
dann kommen die compilatoren. den Apollonios hatte nach Theon und
Lucill der Römer Q. Minucius Pacatus erklärt, welcher sich, wenn er
für die griechische, d. h. die gelehrte, welt schrieb, Εἰρηναῖος nannte 130).
gegen ihn wandte sich scharf ein gewisser Sophokles; die polemik zeigt
den zeitlich nahe stehenden, und starke benutzung des bekämpften wird
durch sie für diese kreise durchaus nicht unwahrscheinlich. das concur-
127)
[187]Scholien zu den Alexandrinern.
renzwerk des Sophokles hat das feld behauptet: er wird aber zu Theon
und Lucill sich verhalten haben wie Zenobius zu Didymos und Lucill.
unsere scholien, welche diese drei in der subscriptio nennen, verbinden
damit also einen wesentlich anderen sinn, als die des Aristarcheischen
viermännerbuches: sie geben zunächst wesentlich Sophokles. diese aus-
gabe ist im vierten jahrhundert gemacht 131), und kann durch die excerpte
in den Etymologiken, für ihre vorlage Sophokles durch Stephanus (in
den er durch Orus gelangt ist) erweitert werden. obwohl wir nur eine
handschrift haben 132), denselben Laurentianus, der die beiden älteren
tragiker enthält, so ist doch der text ein zuverlässiger, die scholien von
seltener fülle.


Auch zum Theokrit, und zwar den für echt geltenden gedichten (d. h.
den in Ahrens ausgabe stehenden mit ausschluſs der Ληναί 132 a), hatte
Theon einen commentar geschrieben, welcher sich lange gehalten hat 133).
[188]Geschichte des tragikertextes.
allein unsere scholien sind viel später geschrieben und haben nur Theon
als urquelle für ihr bestes gut; man findet ihn mit hülfe der Römer.
sie selbst polemisiren mit einer, allerdings oft verdienten, grobheit, wie
sie den zeitgenossen und concurrenten trifft, gegen einen gewissen Muna-
tius 134). es war das ein mann aus der umgebung des Herodes Atticus,
gebürtig aus Tralles, der sich nicht γραμματικός sondern κριτικός
nannte, wie damals in Asien zuweilen wieder als feiner galt. da wir
nun einen jüngeren zeitgenossen von ihm, Amarantus, als Theokritscho-
liasten kennen und dieser nachweislich in unsern scholien steckt, so ist
der schluſs gestattet, daſs er der feind des Munatius, der gesuchte redactor
ist 135). die frühbyzantinische zeit mit ihren verselnden scholastikern, wie
Eratosthenes, repräsentirt selbstverständlich nur eine etappe der über-
lieferung des alten, wie es der scholiast im Apollonios und Phaeinos im
Aristophanes tat; auch ist sie wenig zu spüren. die überlieferung der
gedichte ist den modernen dadurch verwirrt, daſs die von Nonnus bereits
benutzte sammlung von bukolika, ‘alle in derselben hürde’, also ohne gewähr
für die echtheit, welche keine scholien hatte, in den späten handschriften
mit Theokrit vermischt ist, an den sie sich zuerst angesetzt hatte. diese von
den guten grammatikern verworfenen und eigentlich gar nicht als theokri-
tisch überlieferten gedichte sind schwer entstellt, ganz natürlich, weil ihnen
der schutz der grammatik fehlte. die gedichte Theokrits dagegen waren
ebenso gut erhalten wie die der andern Alexandriner, und es schadet nicht
einmal sehr viel, daſs wir nur für die mehrzahl eine treffliche, wenn auch
nicht sehr alte handschrift (Ambros. 222, Κ) haben, vor der die übrigen
verschwinden. denn auch in dem reste der gedichte birgt sich das echte
unter gemeinen schreibfehlern, die man heben kann. man muſs nur ein
urteil über das treiben der redactoren in den jahrhunderten 14 15 16
mitbringen, damit man diese völlig abweist. sie haben sich allerdings
nicht gescheut selbst ganze verse zu fälschen. übrigens versagen für die
erweiterung der scholien die grammatiker nicht völlig, und zur controlle
des textes der theokritischen gedichte sind auch die citate nicht spärlich:
sie bestätigen unseren text.


Wenn hier die verwahrlosung scholienloser texte neben der sicherung
des textes durch die grammatische behandlung zu lernen und zu beherzigen
ist, so bietet Nikandros den beleg für die beiden erscheinungen am selben
[189]Scholien zu den Alexandrinern.
texte, ja auch für die fährnisse, welche die grammatik selbst brachte, als sie
sich noch etwas zutraute. wir lesen die Theriaka in besserem zustande als
Athenaeus, der sie ohne scholien benutzte 136). unsere handschriften aber
zeigen starke abweichungen, controlliren sich aber selbst, einmal weil neben
dem durchweg jungen und unzuverlässig geschriebenen volke eine vorzüg-
liche handschrift steht, die von einem hervorragenden kenner, H. Keil, für
ganz ähnlich den Laur. 32, 9 des Apollonios erklärt ist (Paris. suppl. 247, Π),
dann aber weil die jüngeren die scholien erhalten haben, von denen Π
nur schwache spuren hat 137). und diese wieder lehren durch reichliche
proben, welche fülle schlechter einfälle von den kritikern auf den markt
gebracht war, glücklicherweise ohne viel zu schaden. die grammatik hatte
sich bald nach Nikanders tod der exegese angenommen, und zuerst Deme-
trios Chloros, dann Antigonos 138) hatten dem Theon vorgearbeitet, so daſs
er nicht so bedeutend wie sonst erscheint. auf diese ältesten erklärer muſs
die ganz singuläre belesenheit in seltenen dichtern der Alexandrinerzeit
zurückgehen, wol auch die stattliche reihe von bruchstücken technischer
schriftsteller 139). dann hat auch Plutarch sich am Nikander seltsamer-
weise versucht, und höchstens 100 jahre nach ihm muſs unser corpus
gemacht sein. denn die zusätze sind gering und beschränken sich auf
schriftsteller dieser zeit 140). die atticisten, Herodian, die auswahlen der
[190]Geschichte des tragikertextes.
Sceniker sind noch nicht in geltung. auch werden unsere scholien mit
der bezeichnung οἱ ὑπομνηματίσαντες Θέων Πλούταρχος Δημήτριος
bei Stephanus citirt 141). sie sind in ihrer art der Apolloniosscholien nicht
unwürdig, für textkritik sogar noch viel belehrender.


Aratos und Lykophron 142) bieten ein anderes bild. unseren text und
unsere scholien verdanken wir dem sammelfleiſse des bischofs Niketes von
Serrha, der den cod. Marcian. 476 geschrieben hat. daſs dieser der arche-
typus für den text sei, ist für Lykophron gar nicht zu behaupten, und
auch für Arat ist es nicht glaublich: aber die bedeutung der handschrift
ist eine so überwiegende, daſs das ergebnis praktisch dasselbe ist. auch
für die scholien kommt im Lykophron neben der handschrift des Niketes
die des Tzetzes in betracht, für die paraphrase noch anderes. die hand-
schrift des Tzetzes beweist aber, daſs Niketes so ziemlich alles gab, was
er finden konnte, d. h. seine vorlage copirte, und daſs eine nahe ver-
wandte zu Tzetzes kam. im Arat ist das verhältnis etwas complicirter,
und hier wird das interesse vielmehr durch die bruchstücke älterer arbeiten
gefesselt, die zahlreich vorliegen. die scholien excerpiren selbst commen-
140)
[191]Scholien zu den Alexandrinern.
tare des ausgehenden altertums, von Theon dem vater Hypatias und Sporus
dem verfasser der von Simplicius zur Physik benutzten Κηρία, auch den
Byzantiner Leontius (aus dem 7. jahrhundert). aber das alles ist nichts
eigentlich grammatisch kritisches, und das mythographische ist vollends
viel älter. auch hat sich eine vita Arats gerettet, welche in die beste zeit
der nachtheonischen grammatik gehört: Apollonides ist der jüngste name
darin 143). man darf wol vermuten, daſs dazu ein ähnlicher commentar ge-
hörte wie die zu Apollonios und Nikander 144). für Lykophron ist zwischen
[192]Geschichte des tragikertextes.
Theon und Niketes gar kein bearbeiter zu nennen, und die geschichte
seiner erklärung erscheint uns als eine fortgesetzte verdünnung von der
groſsen gelehrsamkeit, welche die älteren excerpte ahnen lassen 145), bis
auf die jetzige bettelhafte [dürftigkeit]. aber aus dieser allein ist es auch
erklärlich, daſs wir von keinen späteren grammatikern hören, und allein
die paraphrasen beweisen schon das eingreifen von mehreren: unmög-
lich darf Theon mit den erhaltenen behelligt werden 145 a).


Was ist nun das resultat dieser ungünstigeren erhaltung für den text?
kein ungünstiges. niemand kann bestreiten, daſs beide dichter im ganzen
sehr gut erhalten sind, und auch hier treten die citate viel öfter be-
stätigend als berichtigend ein. und so ist es ja überhaupt: der blick muſs
nur nicht auf ein einzelnes object sich verbohren, sondern muſs die
fülle der erscheinungen übersehen, man muſs nur die texte vieler schrift-
steller wirklich geprüft haben, dann wird man fest und sicher in der kritik
und läſst sich von dem unwissenschaftlichen meinen und besserwissen
nicht beirren. dichter und scholien haben dieselbe überlieferung seit
dem altertum, und die jahrhunderte der Byzantinerzeit, 6—12, haben
viel verloren, aber wenig verdorben. dichter, welche aus der gelehrten
tradition des altertumes den schutz der grammatik überkommen hatten,
und welche zum teil weiter mit einer gewissen gelehrsamkeit behandelt
wurden, sind in dieser zeit nicht wesentlich entstellt. da ist keine
erscheinung, wie sie die überlieferung der epigramme in den anthologien
bietet und mehrere pseudotheokritische gedichte: die lasen und variirten
die versifexe, die es immer gab. da ist keine so schauerliche verderbnis,
wie sie gelegentlich abgeschriebene stücke, z. b. das carmen de herbis
betroffen hat, oder innerhalb technischer schriften erhaltene, wie die
von Galen geretteten medicinischen poeme, oder selbst ganz technische wie
die Manethoniana. der zustand der älteren, classischen litteraturwerke,
den wir vorfinden, hängt wesentlich davon ab, wie sie in die Byzantiner-
zeit herüber gerettet sind. ein glänzender beleg ist die erhaltene hymnen-
sammlung, welche die Kallimacheischen mit einem ganz jämmerlichen
[193]Scholien zu den Alexandrinern. Byzantinische correctoren.
reste von scholien 145 b), aber so gut wie ganz rein enthält, und daneben die
homerischen zum teil, wie den Aphroditehymnus, fast rein, zum teil, wie
den Apollonhymnus, bis zum chaos entstellt: niemand kann das anders
auffassen, als daſs der unterschied der erhaltung vorhanden war, als die
sammlung angelegt ward, von welcher wir uns aus renaissanceabschriften
eine handschrift des 12. jahrhunderts etwa reconstruiren. wenn also der
Apollonios in derselben handschrift vorzüglich erhalten ist, welche den
Aischylos so arg verstümmelt enthält, so ist sicher, daſs der schreiber
an dieser entstellung unschuldig ist.


Das schelten auf die byzantinischen textverderber ist also in derByzanti-
nische cor-
rectoren.

hauptsache unberechtigt. sobald wir nur handschriften des 10. 11. auch
noch 12. jahrhunderts besitzen, wie den Laurentianus der beiden älteren
tragiker und des Apollonios, den Ravennas und Venetus des Aristophanes,
den Venetus des Aratos und Lykophron und eine ganze anzahl maſs-
gebender handschriften der classischen prosaiker, so müssen auch die
widerwilligsten zugestehen, daſs die schreiber dieser handschriften ihre auf-
gabe gewissenhaft erfüllt haben und gegeben was sie hatten. und wenn
wir die tätigkeit des 9. und 10. jahrhunderts hinzunehmen, die wir sonst
kennen, den sammelfleiſs des Photius und selbst des Suidas, die encyclo-
paedie des Constantinus Porphyrogennetus, die fürsorge des Arethas für
die herstellung kostbarster und sauberster abschriften, so gibt das eben-
falls ein günstiges bild. ganz anders sieht es freilich aus, wenn wir die
Byzantiner der jahrhunderte 13—16 beobachten. wer von ihnen die er-
haltung der texte durch bescheidene weitergabe des überkommenen er-
wartet, wer überlieferung bei ihnen sucht, der findet sich freilich schwer
getäuscht. in unzähligen fällen hat die philologie den gröſsten fortschritt
dadurch gemacht, daſs sie texte, welche in diesen letzten zeiten festge-
stellt waren und zunächst das feld behaupteten, zu gunsten älterer hand-
schriften gänzlich beseitigte, und immer mehr verschwinden die kecken
änderungen jener Byzantiner letzter zeit selbst aus dem kritischen apparate.
es ist begreiflich, daſs man auf die frechen interpolatoren gescholten hat,
die ihre sache doch so geschickt gemacht hatten, daſs sie die sprach-
kundigsten und geistreichsten modernen kritiker nasführten. indessen
v. Wilamowitz I. 13
[194]Geschichte des tragikertextes.
muſs das urteil auch hier ein gerechteres werden, indem es die richtige
geschichtliche betrachtung findet. diese Byzantiner sind eigentlich gar
nicht als schreiber, sondern als emendatoren aufzufassen, sie sind nicht
die collegen der braven stupiden mönche, die treufleiſsig nachmalten, was
sie nicht nur nicht verstanden, sondern auch nicht zu verstehen meinten,
sondern sie sind unsere collegen. an ihren zeit- und sinnesgenossen in
Italien müssen sie gemessen werden. es war doch eine art fortschritt,
ein regen modern philologischen sinnes, wenn die Planudes Moschopulos
Triklinios lesbare texte herstellten, so gut sie konnten; sie stehn nur in
einer übergangszeit, die Musurus Kallierges Arsenius Marullus Portus sind
ihre unmittelbaren nachfolger: die Griechen hatten auch teil an dem
rinascimento, der zusammenbruch ihres reiches durch die Türken hat
die entsprechende entwickelung nur gestört. nun wird man ja auch
geneigt sein, den benannten persönlichkeiten diese schätzung zuzugestehn;
aber ein schreiber, wie der des Florentiner Lysias, des Modeneser Xeno-
phon, des Münchener Polyaean, steht doch deswegen nicht anders da, weil
er anonym ist. und die correctoren mancher handschriften, auch von
den tragikern, verdienen eine gleiche schätzung. ihr scharfsinn ist gar
nicht gering, sie haben so manchen vers für immer geheilt, und noch
viel öfter das auge von jahrhunderten geblendet. namentlich Demetrios
Triklinios ist in wahrheit eher als der erste moderne tragikerkritiker zu
führen denn als ein unzuverlässiger vertreter der überlieferung. es war
schon nichts geringes, daſs er sich die sämmtlichen gedichte Pindars, die
sämmtlichen tragödien des Aischylos und Sophokles, deren er habhaft
werden konnte, vornahm und durchemendirte. er besaſs aber auch gar
nicht geringe metrische kenntnisse, die er nicht den lehrbüchern sondern
der beobachtung entnahm und so gut er konnte an den texten durch-
führte, und vor allem, er hat erfolg gehabt. auſser den drei genannten
dichtern hat auch seine recension der ersten drei euripideischen tragö-
dien 146) sehr stark bis in die jüngste zeit gewirkt, und eine gar nicht
geringe anzahl von emendationen sind ihm wirklich gelungen. vor sehr
vielen modernen, die viel genannt worden sind, sich noch sehr viel anmaſs-
licher geberdet haben und nicht die entschuldigungen für ihre misgriffe
[195]Byzantinische correctoren. auswahl der tragödien.
haben wie er, vor Hartung z. b., also einem hervorragend gescheidten
und kenntnisreichen manne, dürfte er dreist den vorrang beanspruchen.
aber allerdings, es wäre schrecklich und nicht viel anderes als ein ver-
zicht auf die endliche erreichung eines zuverlässigen textes, wenn wir die
dichter auf Triklinios als grundlage aufbauen müſsten, und es wäre nicht
minder schrecklich, wenn man fürchten müſste, daſs der Sophoklestext,
wie ihn der Laurentianus bietet, durch die hände von leuten wie Triklinios
gegangen wäre. dann müſste, wer nicht spielen will, die tragikerkritik
lieber ganz aufgeben. zum glück wird eine solche annahme durch die
vergleichende betrachtung der textgeschichte ähnlich überlieferter werke
widerlegt: um die richtige schätzung unserer überlieferung, so weit allge-
meine erwägungen es vermögen, zu gewinnen, ist diese abschweifung
gemacht. mit besserer einsicht dürfen wir nun zu dem punkte zurück-
kehren, wo wir die tragiker verlassen haben, zum zweiten jahrhundert.


Ein mann ist es gewesen, der damals für den unterricht eine aus-Auswahl der
tragödien.

wahl von tragödien der drei tragiker veranstaltet hat, welche sich nicht
nur allgemein eingebürgert hat, sondern den verlust erst der übrigen
tragiker, dann der nicht gewählten dramen, endlich der letztgestellten
unter diesen bewirkt hat. daſs ein und derselbe die auswahl für alle drei
tragiker besorgt hat, zeigt sich darin, daſs Sieben, Oidipus und Phoenissen,
Orestie, Elektra und Orestes offenbar bestimmt waren neben einander
gelesen zu werden. die rücksicht für die schule hat bewirkt, daſs die
aischyleische reihe mit dem Prometheus anhebt, einer tragödie, die so viel
leichter ist als ihre schwestern, wie der Plutos im verhältnis zu den andern
komödien. auch die Perser eignen sich zur einführung, und Aias und
Hekabe setzen die Homerlecture stofflich fort; sie sind auch besonders
leicht verständlich. die reihenfolge ist urkundlich nur für die Euripi-
deischen dramen bekannt 147), Hekabe Orestes Phoenissen Hippolytos Medeia
Alkestis Andromache Rhesos Troerinnen Bakchen. für Aischylos ist die
folge so gut wie sicher Prometheus Sieben Perser Orestie Hiketiden 148):
13*
[196]Geschichte des tragikertextes.
es ist also glaublich, daſs die andern dramen der Danais folgten, so daſs die
aufnahme des ersten stückes nicht mehr befremden kann. für Sophokles
kann man sicher nur die drei ersten tragödien nennen, Aias Elektra Oidipus
Tyrannos; die weitere folge Antigone Oidipus auf Kolonos Trachinierinnen
Philoktet kann aber für wahrscheinlich gelten 149). die erhaltenen hand-
schriften haben aber für die ordnung keine gewähr. es gelingt auch
durchaus nicht, irgend eins der folgenden dramen aufzufinden, obwol
Euripides und Aristophanes beweisen, daſs die reihe einst weitergieng;
auch bei jenen ist die beschränkung auf sieben dramen, entweder noch in
den handschriften nachweisbar, oder zeigt sich doch stark in dem zustande
von text und scholien. die beschränkung auf je drei gehört erst der letzten
Byzantinerzeit an, welche für die überlieferung nicht mehr in betracht
kommt.


Daſs die schulausgabe scholien hatte, liegt in ihrer natur. aber die
erhaltenen sind nicht wie die aristophanischen für einen einheitlichen
commentar beweisend, denn rückweisungen wie dort gibt es eigentlich
gar nicht 150). auch ist der zustand der erhaltung zu verschieden, und man
kann nur die euripideischen etwa für den herausgeber in anspruch nehmen,
weil sie einerseits reich genug sind, um überhaupt solche schlüsse zu ge-
statten, andererseits alle späteren schriftsteller so ganz vereinzelt in ihnen
citirt werden, daſs sie ohne zweifel über das dritte jahrhundert zurück-
reichen 151). doch gilt das ja nur für den gelehrten kern, nicht für die
[197]Auswahl der tragödien. Sallustius.
paraphrasen, und aus den obigen genaueren ausführungen über die
scholien zu einzelnen dramen ist ersichtlich, daſs die gleichartig erhaltenen
scholien ganz verschieden aussehen, je nach dem materiale, das dem
compilator zur verfügung stand, dem wir sie verdanken. ob das aber
einer für alle dramen war, oder so und so viele, läſst sich nicht aus-
machen: compilatoren haben keine individualität.


Metrische scholien sind nur zum Aischylos ein par erhalten, wert-
voll, obwol sicherlich nicht älter als heliodorisch 152). kolometrie ist vor-
handen, aber man setzte ja die verse seit Aristophanes allgemein ab.
offenbar hat der grammatiker, der die auswahl machte, die metrik ganz wie
Symmachos unberücksichtigt gelassen.


Den namen dieses mannes kennen wir nicht. es kann aber scheinen,
als gäbe es bewerber um die ehre. die scholien selbst nennen noch
ὑπομνήματα von Irenaeus 153) Pius 154) und einem Alexander 155) den man
nicht genauer bestimmen kann. später entstehen überhaupt keine ὑπο-
μνήματα zu den tragikern mehr. nun besitzen wir aber zu Sophokles
Oid. Kol. und Antigone hypothesen von einem gewissen Sallustius, undSallustius.
die gleichartigkeit des tons weist ihm die des Aias und die διὰ τί
151)
[198]Geschichte des tragikertextes.
τύραννος ἐπιγράφεται überschriebene zum Oid. Tyr. zu 156). wer so
schreibt τὰ πραχϑέντα περὶ τὸν Οἰδίποδα ἴσμεν ἅπαντα τὰ ἐν τῷ
ἑτέρῳ Οἰδίποδι hat auch das stück vorher erklärt. der mann ist
redselig und umschreibt die ältere mythographische und didaskalische
gelehrsamkeit, die er auch fast ganz verdrängt hat. es fragt sich, wer
er war. der Laurentianus gibt scheinbar eine sichere antwort, er nennt
ihn Πυϑαγόρειος 157), meint also den verfasser der schrift περὶ ϑεῶν
ϰαὶ ϰόσμου, der ein anhänger des Iamblichos ist und wol sicher dem
ausgehenden 4. jahrhundert angehört. ob er freilich der Sallustius ist,
der dem Iulian als gouverneur von Constantius gesetzt war, aber sein
freund ward und nach dem thronwechsel hohe ehrenstellen erstieg,
ist mehr als fraglich 158). diesem würde man anstehn eine gramma-
tische arbeit zuzuschreiben: ein philosoph, zumal ein wesentlich fremde
lehre popularisirender, wie der verfasser jenes traktates, kann immerhin
auch so etwas gemacht haben, wie die hypothesen vermuten lassen. es
hat aber allerdings auch einen sophisten Sallustius gegeben, der gram-
matisches geschrieben hat 159), und ein par mal wird ein Sallustius für
grammatisches angeführt, das man nicht leicht einem sophisten zutraut,
von den hypothesen zu Sophokles aber nicht wird trennen wollen 160).
so bleiben unklarheiten. indeſs ist dem zeugnis des Laurentianus der
[199]Sallustius. Dionysios.
glaube nicht wol zu versagen: denn das buch περὶ ϑεῶν war keines-
weges sehr bekannt und ergibt eine bezeichnung Πυϑαγόρειος auch nicht
unmittelbar, so daſs eine falsche vermutung über die person des genannten
autors wenig wahrscheinlich ist. dann ist aber die tätigkeit des Sallust
nur die eines überarbeiters, der die auswahl der dramen schon vorfand
und den besten teil der scholien auch.


Auch für die Euripidesscholien findet sich ein bewerber. zum OrestesDionysios.
findet sich in den wesentlichen handschriften übereinstimmend die sub-
scription πρὸς διάφορα ἀντίγραφα παραγέγραπται ἐϰ τοῦ Διονυσίου
ὑπομνήματος ὁλοσχερῶς ϰαὶ τῶν μιϰτῶν, und die einzige derselben,
welche auch die Medeia enthält, notirt zu dieser πρὸς διάφορα ἀντί-
γραφα, Διονυσίου ὁλοσχερὲς ϰαί τινα τῶν Διδύμου 161). die belehrung
ist sehr wertvoll. zunächst erklärt sie, wie es zugeht, daſs zu so vielen
stellen dieselbe handschrift dasselbe scholion in verschiedenen brechungen
enthält. der verfasser der subscription hat eine anzahl handschriften der-
selben scholien neben einander benutzt, die von einander abweichen, wie
etwa B und D im Pindar. übrigens zeigen unsere handschriften selbst,
wie solche dittographeme in derselben handschrift entstehen, indem ein
resumé des längeren scholions an oder über das wort gesetzt wird, zu
dem es gehört. fast alle scholien, auch die sophokleischen und so ver-
kümmerte wie die zu den Thesmophoriazusen, zeigen dieselbe erscheinung.
randscholien und textscholien des Ven. A im Homer decken sich auch nicht
selten inhaltlich. aber unsere Euripideshandschriften weichen so wenig von
einander ab, daſs es nicht geraten ist, den verfasser der subscription sehr
hoch über sie hinauf zu rücken. so nahe verwandte wie B, T und Laur.
32, 3 im Homer gehen viel weiter aus einander. also ist der verfasser der
subscriptio ein mann vom schlage und ziemlich auch der zeit des Niketes
von Serrha: aber wol kann er verschiedene handschriften benutzt haben,
welche die subscription trugen παράϰειται ἐϰ τῶν Διονυσίου ὁλοσχερὲς
ϰαί τινα τῶν Διδύμου. und fraglich bleibt es, ob die subscriptio auch
für andere stücke gelten soll. was die mischung angeht, so ist Dionysios
beidemal genannt und vollständig aufgenommen: der zusatz heiſst zum
Orestes μιϰτά, zur Medeia Didymos, und wirklich findet sich dieser zur
Medeia öfter genannt, und anderes haben wir ihm oben zuschreiben können
(anm. 71), zum Orestes kommt jetzt sein name nicht mehr vor, tat es zwar
früher (oben anm. 83), aber der charakter der scholien weicht dort ab.
[200]Geschichte des tragikertextes.
sollen wir nun also vielleicht sagen, daſs wir z. b. zur Hekabe nur Didymos
oder die μιϰτά, zum Hippolytos etwa nur Dionysios besitzen? mit andern
worten, sollen wir glauben, daſs es etwa im 10. jahrhundert handschriften
gab mit einem commentar eines Dionysios, andere mit scholien ver-
schiedener verfasser, andere mit denen des Didymos? das ist verführerisch,
und es ist allerdings peinlich, daſs man nicht ganz scharf ja oder nein
sagen kann. warum hieſs der mann auch gerade Dionysios, so daſs man
nicht wissen kann, ob er christ oder heide, ein würdiger forscher oder
ein indifferenter abschreiber war. indessen irgend wie muſs man zu ihm
stellung nehmen. und man darf wol folgender erwägung trauen. Diony-
sios war ὁλοσχερῶς benutzt, also galt seine arbeit auch wol dem ganzen
stücke. das tut aber nur die von vers zu vers fortschreitende trivial-
erklärung, die nahe an die paraphrase heranstreift. die subscriptio unter-
scheidet zwei bestandteile: zwei bestandteile zeigen die scholien, einzelne
gelehrte notizen und trivialerklärung. also mag das combinirt werden,
und das triviale dem Dionysios zufallen. darum kann er immer noch
der urheber der auswahl sein; kann aber auch viel später sein wesen
getrieben haben, denn gerade diese trivialitäten wechseln am meisten ihre
form. aber bestanden hat eine solche triviale und zwar mit unseren
scholien sich vielfach deckende paraphrase zu den 10 Euripidesstücken
schon im 5. jahrhundert, als das Cyrillglossar entstand, aus welchem diese
an sich wertlosen, nur für die existenz des gleichlautenden textes zeugnis
ablegenden notizen in den Hesych gekommen sind, wo sie jetzt je nach
dem belieben des herausgebers teils in teils unter dem texte stehen 162).


Benutzung
der
auswahl.

Peinlich genug ist es, daſs sich das fortleben und selbst die ursprüng-
liche gestalt der ausgabe, welche die auswahl begründete, so wenig klar
beschreiben läſst. noch peinlicher, daſs über die zeit, wo sie hervortrat,
mit starker reserve geredet werden muſs, und am peinlichsten empfindet
es der, der jahre lang in der hoffnung herumgesucht hat, durchschlagende
zeugnisse zu finden. indessen das wesentliche bleibt ungeschmälert, wenn
auch der zeit ein weiter spielraum bleiben muſs. im zweiten jahrhundert
[201]Benutzung der auswahl.
gibt es noch leute, wie Aristides und Lukian, denen, auch wenn sie kein
herz mehr dafür haben, eine weitere eigene kenntnis von tragödien zuge-
traut werden kann; unter Severus hat Philostrat der ältere 163) für seine
bilder wenigstens von Sophokles und Euripides eine reihe dramen benutzt,
aber von keinem späteren ist es nachweisbar, daſs er eines gelesen hätte,
das nicht unter den oben aufgezählten enthalten wäre. nun würde eine
einzelne gegeninstanz ja noch wenig besagen, denn natürlich blieben
die handschriften in den bibliotheken liegen, bis äuſsere unbill oder die
bloſse vernachlässigung sie zerstörte, und wenn Simplicius tragödien ge-
braucht hätte, so würde er mancherlei so gewiſs gefunden haben, wie er
zu unserer überraschung alte philosophen fand. auf diesem wege haben
sich ja wirklich auch noch dramen und dramenbruchstücke des Euripides
auf uns gerettet. an dem allgemeinen verschollensein der alten philo-
sophen ändert jedoch Simplicius nichts, und so würde ein weiſser rabe
die allgemeine gleichgiltigkeit der letzten jahrhunderte, die man zur antike
rechnet, gegen die tragödie nicht in frage stellen. aber mir ist keiner
begegnet. ja ich vermisse vielmehr die fülle der belege, die ich wünschte,
um die bekanntschaft wenigstens der auswahl zu beweisen. und erschwert
wird der nachweis noch dadurch daſs unter den ersten euripideischen
stücken sich Orestes und Phoenissen befinden, die seit ihrer ersten auf-
führung unausgesetzt besonderen beifall gefunden haben, also auch ohne
den einfluſs ihrer stellung in der auswahl immer besonders häufig citirt
worden sind. so dürfen einzelne beobachtungen nicht dazu verlocken, die
anlage der auswahl sehr früh anzusetzen 164). für unmöglich kann man
[202]Geschichte des tragikertextes.
gleichwol auch das nicht erklären, daſs sie etwa zu Plutarchs zeiten
gemacht, aber erst ein jahrhundert später allgemein durchgedrungen wäre.


Sei dem wie ihm wolle, und bleibe auch das fortleben der samm-
lung in seinen einzelnen phasen unklar: so viel ist dem spiele der pro-
babilitäten entrückt: in den abschlieſsenden zeiten der antiken grammatik
ist eine auswahl gemacht, und diese auswahl besitzen wir. es ist also
kein zufall, der uns eine handschrift oder die andere erhalten hat, in
der gerade die oder die dramen standen; noch ist etwa zu irgend einer
zeit zufällig eine handschrift erhalten gewesen, die dann copirt wurde
und die dramen auf uns brachte; sondern eine feste tradition und ein
nie ganz unterbrochener gelehrter betrieb hat uns diese dramen erhalten:
es ist zwar ein besonderes glück, daſs wir die sieben aischyleischen noch
alle haben, denn diese waren zum teil auſser gebrauch gekommen, es
164)
[203]Benutzung der auswahl. der Sophoklestext.
ist ein glück, daſs wir die über die siebenzahl hinaus erhaltenen von
Euripides besitzen: aber wenigstens die drei ersten von Aischylos, die
je sieben der beiden anderen hätten für uns gar nicht verloren gehen
können, denn sie sind aus den händen des gelehrten publicums nie
geschwunden. und die überlieferung hat immer in den händen der ge-
lehrten gelegen, mochte die gelehrsamkeit absolut genommen groſs oder
klein sein. der text, der zu grunde liegt, war auf grund der grammatischen
arbeiten festgestellt und von scholien begleitet; beide sind zusammen fort-
gepflanzt und trotz aller verkümmerung war die erklärung ein mächtiger
schutz des textes: so finden wir sie vereinigt vor. es könnte sein, daſs wir
über diese lange periode vom 2. bis 11. jahrhundert gar nichts wüſsten:
immerhin würden wir über die beschaffenheit des textes ein praejudiz
fällen, wie über den des Lykophron, und die schlimmsten verderbnisse
jenseits der zeit, wo unser text constituirt ward, verlegen. so ärmlich steht
es nun zwar nicht, aber es steht für die beiden älteren tragiker immerhin
ärmlich genug.


Zwar den Sophokles besitzen wir wenigstens in einer durch eineDer
Sophokles-
text.

reihe handschriften, darunter neben dem Laurentianus 32, 9 den sehr
achtbaren Paris. 2712, gesicherten recension, und wie im Aristophanes
treten auch hier die umfangreichen excerpte des Suidas ergänzend und
bestätigend namentlich für die scholien hinzu: also wir nehmen wenigstens
das 10. jahrhundert zum ausgangspunkt. aber der text ist von einer
verblüffenden einheitlichkeit. diese ist es gewesen, welche den wahn
erzeugt hat, daſs der Laurentianus die quelle aller anderen handschriften
wäre, eine unglaubliche verkehrtheit, da ja niemand bestreiten konnte,
daſs die scholien nicht aus ihm stammten. steht doch das γένος Σοφο-
ϰλέους und die hypothesis zum Aias gar nicht in ihm, und die hypothesis
der Elektra z. b. in gänzlich verwaschener form 165), und einzelne er-
[204]Geschichte des tragikertextes.
gänzungen und verbesserungen sind aller orten aus andern handschriften
zu holen. doch dieser irrtum darf wol als überwunden angesehen werden,
und er hat nicht so sehr viel geschadet, da der text wirklich ein so sehr
einheitlicher, und der Laurentianus die unvergleichlich beste handschrift
ist. nur ist diese einheitlichkeit nicht minder unheimlich, wenn eine
recension an die stelle einer handschrift tritt, und wie viel würde man
darum geben, wenn die recensio so mühsam wäre, wie in den ersten
dramen des Euripides oder auch nur im Aristophanes.


Der
Aischylos-
text.

Aischylos ist es noch schlimmer gegangen, denn Hiketiden und
Choephoren sind wirklich einzig im Mediceus (denn die philologen haben
sich wirklich das vergnügen gemacht, dieselbe handschrift in den beiden
tragikern verschieden zu bezeichnen) erhalten. Agamemnon ist in M, die
Eumeniden sind in den anderen handschriften stark verstümmelt, so daſs
für diese beiden schwer festzustellen und nicht sehr belangreich ist, ob
sie nur durch M ursprünglich erhalten sind 166). aber die drei ersten
dramen ebenso zu beurteilen ist nur durch voreingenommenheit erklär-
lich, es sind sogar die abweichungen stärker als im Sophokles, und die
nächste aufgabe der kritik besteht darin, diese secundäre überlieferung
zu fassen, sei es daſs man einen zuverlässigen vertreter findet, sei es
daſs man ihn durch die zusammenstimmende lesart einer gruppe recon-
struirt 167). damit wird aber immer noch nicht viel gewonnen, denn es
bleibt ein sehr fester in schwersten fehlern einstimmiger text und neben
ihm ein ganz jämmerlicher rest von fast nur paraphrastischen und zwar
jungen scholien. wir sind im Euripides und Aristophanes so gut gestellt,
daſs wir handschriften des 14., 15. jahrhunderts kaum brauchen, obwol
[205]Der Aischylostext. der Euripidestext; handschriften der auswahl.
sie nicht abschriften aus erhaltenen sind. im Aischylos müssen wir
nehmen was wir haben, und auch in den beiden letzten aristophanischen
komödien wird uns eime handschrift wertvoll (Γ + Leid.), die wir im Euri-
pides fortwerfen. hilfsmittel aus byzantinischen citaten liegen nur spär-
lich vor, und selten ergeben sie wirkliche varianten 168).


Einsicht in den wert der überlieferung auch der andern tragikerDer
Euripides-
text; hand-
schriften der
auswahl.

kann man nur am Euripides gewinnen, mit welchem deshalb diese studien
zu beginnen haben. wenigstens von sechs dramen (den ersten der reihe,
nur Andromache statt Alkestis) sind eine ganze anzahl handschriften er-
halten, die nicht nur selbst einander unabhängig gegenüber stehen, son-
dern auch durch keim stemma zu vereinigen sind. aus dieser zahl hat
Kirchhoff, dessen urteil maſsgebend geworden ist, eine anzahl heraus-
gegriffen, welche in der tat ausreichend ist, um den text festzustellen,
ohne daſs man doch alles was in den anderen steht, als junge erfindung
bezeichnen dürfte: aber man darf hier ohne schaden fortlassen, was in
Sophokles und Aischyllos die lesart des einzigen Laurentianus controllirt
und also unentbehrlich ist 169). keine einzelne Euripideshandschrift kommt
ihm an alter und zuverlässigkeit gleich; aber die gröſsere zahl ersetzt
das reichlich, und der kritische apparat ist noch wesentlicher verein-
fachung fähig: man muſs nur immer wissen, ob eine lesart einzig in
einer handschrift steht, oder ob wir nur eine als die zuverlässigste ver-
treterin namhaft machen. im ersten range stehn Marcian. 471, die älteste,
und doch erst 12. jahrhunderts, und Paris. 2712, gleich wertvoll wie
für Sophokles und Aristophanes; wie sie dort neben Laur. und Ven.
fast verschwindet, so tut sie es hier neben Marc., ihr gewicht fällt am
schwersten in die wagschale, wo sie zustimmt, nicht wo sie abweicht.
[206]Geschichte des tragikertextes.
fehlt aber der würdigere genosse, wie in den Acharnern des Aristophanes,
der Medeia und dem schlusse des Hippolytos, so muſs ihn der jüngere
ersetzen und übernimmt die führung. man ist zwar gewöhnt den Vatic. 909
nach Kirchhoffs vorgang höher zu schätzen, allein er dankt das vielmehr
seinem reichtum als seiner güte. er enthält auſser den sechs Alkestis
Rhesos und Troerinnen, und für alle drei die scholien am besten (auch
für Medeia), für die beiden letzten allein, ist also in ihnen unschätzbar.
aber es ist eine unsäglich flüchtig geschriebene handschrift auf baum-
wollpapier, die schon in der äuſseren erscheinung plebejisch neben jenen
würdigen pergamenen aussieht. und daſs neben der flüchtigkeit auch
die willkür der beginnenden renaissance nicht fehlt, zeigen die scholien,
namentlich zur Hekabe. es ist eben nicht ein gewöhnlicher schreiber,
sondern ein gelehrter ihr urheber. doch würde die handschrift immer
noch sehr stark ins gewicht fallen, sowol wegen ihrer lesungen erster
hand wie wegen der zahlreichen correcturen, wenn wir die andere
überlieferung, die des Laurentianus, nicht besäſsen, von der sogleich,
denn von ihr ist ein strom später hineingeleitet, und auch das wert-
vollste ältere material ist das, was im Vat. abweichend von Marc. und
Par. mit dem Laurentianus stimmt. diese mittlerrolle ist es, welche
in den fünf ersten stücken den Vat. dem kritiker wertvoll macht; eignes
und zugleich gutes, das als überliefert gelten könnte, hat er kaum
etwas. in der Medeia teilt er die führung mit Par.; in der Alkestis, die
leider im Marcianus ausgerissen ist, der sie ehedem enthielt 170), muſs ein
anderer Parisinus zur hilfe eintreten, 2713, der keinesweges verächtlich
ist und seinen alten namen Par. B neben Par. A wieder erhalten muſs,
den er in den scholien noch führt 171), für welche er schlechthin unent-
behrlich ist. die willkür der renaissance ist kaum stärker in ihm als im
Vat. für Rhesos und Troerinnen versagt freilich auch er: da muſs Vat.
allein diese ganze sippe vertreten. man ermiſst leicht, daſs uns also
[207]Der Euripidestext; handschriften der auswahl. reste der gesammtausgabe.
sehr viel nutzbares entgeht, was die conjectur doch nur zum teil er-
setzen kann.


Aber dieser text, obwol für die meisten dramen reicher als derReste der
gesammt-
ausgabe.

sophokleische, und gerade weil er minder einheitlich ist, mehr chancen
für die gewinnung des echten bietend, würde doch noch recht mangel-
haft sein und namentlich dem Euripidestexte nicht die exemplificatorische
bedeutung geben, die ihm tatsächlich zukommt. das leistet erst der hin-
zutritt einer zwar jung scheinenden, in wahrheit schon im altertum ab-
gezweigten anderen überlieferung, welche wahrhaft überraschende be-
lehrung gewährt. der Laurentianus 32, 2 (C) 172), geschrieben in den ersten
decennien des 14. jahrhunderts, enthält auſser Sophokles, den drei ersten
dramen des Aischylos und den Erga des Hesiodos (diesen mit scholien),
18 dramen des Euripides, geschrieben in anderer abfolge, aber durch
vorgesetzte ziffern als ursprünglich folgende ordnung bezeichnend, Hekabe
Orestes Phoenissen Hippolytos Medeia Alkestis Andromache Rhesos Bakchen
Helene Elektra Herakles Herakleiden Kyklops Ion Hiketiden Iphigeneia in
Taurien und in Aulis. die ziffer ϑ' der Bakchen ist aber auf einer groſsen
rasur geschrieben, und hier sitzt ein fehler: offenbar stieſs der schreiber
an, als er ι' setzen sollte, weil die zahl nicht stimmte, er änderte also
hier und zog nachher immer eine stelle ab. in wahrheit müssen zwischen
Rhesos und Bakchen die Troerinnen eintreten. da haben wir zwei reihen
von dramen; die eine, geordnet nach dem alphabet mit einer ausnahme, ent-
hält die bisher nicht erwähnten stücke, die andere gibt die alte reihenfolge
der commentirten. zwischen beiden reihen stehen die Bakchen; zufällig
könnten sie nach vorn wie nach hinten gerechnet werden, doch gehören
sie unzweifelhaft an den schluſs der commentirten, sind also in jener reihe
zufällig nur sonst nicht mehr erhalten, wie sie denn hier auch nur ver-
stümmelt stehen 173). vollständig, so weit sie überhaupt sind, enthält sie
[208]Geschichte des tragikertextes.
eine andere handschrift, aus dem ende des 14. jahrhunderts, die neben
C etwa so wie Par. B neben A zur verwendung kommt. sie ist jetzt
zerrissen und war das schon bald nach 1400. der gröſsere teil ist jetzt
Palatinus 287, der kleinere, die drei ersten Euripideischen stücke und
Helene Elektra Herakles, auſserdem die drei ersten aischyleischen ent-
haltend, ist aus der Badia von Florenz in die Laurentiana gebracht und
heiſst 172. in dieser handschrift sind die neun scholienlosen dramen
aus derselben handschrift genommen wie C, doch viel nachlässiger ge-
schrieben, so daſs sie nur ganz selten etwas neues liefert und unmöglich
alle ihre fehler in dem kritischen apparat verewigt bleiben dürfen 174); ihr
wert beruht vielmehr darin, daſs sie die hände in C, der von correctoren
173)
[209]Reste der gesammtausgabe.
maſslos verwüstet ist, unterscheiden 175) und das ursprüngliche erkennen
lehren. die andern stücke hat P nicht aus der gemeinsamen vorlage ab-
geschrieben, sondern sich einen text zurecht gemacht, teils aus dieser vor-
lage, teils aus einer nicht bedeutenden handschrift von der sippe VB etwa.
das mischungsverhältnis ist verschieden; in den drei ersten stücken und
Andromache folgt er mehr dem vulgären, in Rhesos und Alkestis stimmt er
mehr zu C: es leuchtet ein, daſs P für diese dramen ganz wertlos ist; es sei
denn, er hilft einmal eine überschmierte lesart von C erkennen 176). nun
hat er aber auch Troerinnen, die in C fehlen, und zwar stark abweichend
von V., also nicht aus jener überlieferung, und die Bakchen vollständig,
v. Wilamowitz I. 14
[210]Geschichte des tragikertextes.
auch nicht mit C stimmend: folglich stand ihm eine andere zur sippe C
gehörige handschrift dieser dramen zur verfügung 177).


Recensio
und emen-
datio in den
tragödien
der aus-
wahl.

Sämmtliche 19 dramen dürfen also hier als gemeinsam überliefert
angesehen werden; aber sie zerfallen in zwei reihen. die eine wird durch
die ehedem commentirte sylloge gebildet, auf deren archetypus sie mithin
zurückgeht, so daſs von zwei ganz gesonderten familien zu reden wider-
sinnig ist; auch zeigt C einen text, der keinesweges überwiegend MVA
gegenüber etwas besonderes hat, vielmehr stehen neben solchen, aller-
dings nicht seltenen, fällen, eben so zahlreiche, wo das verhältnis MC: VA,
VC : MA, auch AC : MV (dies am seltensten) ist, und auch M hat ja
viel eigentümliches 178). folglich ist die zu grunde liegende recension
zwar dieselbe, was auch die scholien oft bestätigen; aber sehr früh hat
sich die tradition C von den anderen abgezweigt, so daſs er allerdings als
ein verwandter von anderer linie als die übrigen erscheint. wann aber
die abzweigung erfolgt ist, darüber belehrt die reihe dramen von Helene
bis Iphigeneia. nach den anfangsbuchstaben ist sie geordnet, die mit H
beginnenden dramen stehen alle darin, vorhergeht noch eines mit E, es
folgen vier mit I; eins mit K ist, wie die ordnung selbst zeigt, hinein
verschlagen. es liegt auf der hand, daſs wir den rest einer gesammt-
ausgabe besitzen, und daſs Θ fehlt, erklärt sich aus der oben er-
läuterten einteilung in bände: wirklich stehen die dramen mit Θ auf
dem oben s. 150 citirten steine zwischen Σ und Δ. verführerisch ist
es, die vier dramen von I, die drei von H sammt dem Kyklops für
je einen band zu halten. also die ausgabe, auf welche diese neun
stücke zurückgehn, ist ohne den grammatischen schutz geblieben, dafür
ist es aber auch eine über die christliche aera zurückreichende. diese
stücke sind uns allerdings durch einen zufall erhalten, oder vielmehr
deshalb, weil die euripideischen dramen noch häufiger im publicum ver-
breitet waren, gelesen, kann man nicht mehr sagen, aber doch in den
bücherschränken bewahrt und zuweilen auch noch abgeschrieben. daſs
dem so war, beweisen uns ja auch die unmittelbar erhaltenen bruch-
stücke antiker bücher, der Melanippe und des Phaethon. da ist denn
[211]Recensio und emendatio in den tragödien der auswahl.
einmal solch ein band in die hände eines mannes gefallen, der ihn zu
schätzen wuſste und den inhalt zu der noch zehn dramen umfassenden
auswahl hinzuschrieb. der band war hinten verstümmelt, der schluſs des
letzten stückes, Iphigeneia in Aulis, fehlte. da hat sich aber ein ergänzer
gefunden, der eine ganze scene hinzudichtete 179). und der appetit kam
beim essen. er versuchte sich an einer neuen tragödie, Danae, von welcher
P die hypothesis, das personenverzeichnis und den prolog sammt einem
chorlied erhalten hat. der versuch ist schauerlich ausgefallen. aber der
verfasser hat doch die absicht gehabt, trimeter nach antiken regeln und
gar lyrische verse zu bauen. daſs das machwerk sehr viel älter ist als
die handschrift, in der es steht, folgt aus der starken verderbnis. da es
also keine renaissancefälschung ist, so dürfte man nicht umhin können,
bis an den ausgang des altertums damit hinauf zu gehen.


Dazu stimmt endlich die beobachtung, daſs die abzweigung des textes
im Rhesos älter ist als die paraphrase, da diese fehler vorraussetzt, die C
vermieden hat 180). es sind das ausnahmen, denen eine viel gröſsere zahl
von verderbnissen gegenübersteht, welche paraphrase und alle recensionen
teilen; einzeln hat sie auch das richtige gegen alle, oder gegen den text
ihrer handschrift mit C. aber die warnung empfangen wir doch, daſs
wir uns hüten sollen, die bloſs paraphrastischen scholien für gleich alt
mit den gelehrten zu halten; denn je verderbter der text ist, um so mehr
14*
[212]Geschichte des tragikertextes.
sind die scholien lediglich paraphrastisch, und um so mehr schlieſsen sie
sich ihm an. so steht es in Euripides Rhesos Troerinnen Alkestis, also
wo die handschriften am unzuverlässigsten sind, die scholien am dünnsten.
so steht es im Aischylos. es kann keine ärgere verkehrtheit geben, als
diese paraphrasen für uralt, für didymeisch, für träger einer verschollenen
überlieferung zu halten, sie, die gerade zu den tollsten corruptelen eine
erklärung haben. und weil die verfasser stumpfe gesellen sind, so lesen
sie einen halben sinn in die worte hinein, weil doch einer darin sein
muſs, und es ist petitio principii, daſs sie einen text gehabt hätten, der
zu ihrer erklärung genau stimmte. an den reichlichen scholien, zum
Hippolytos und den Phoenissen etwa, daneben am Pindar (wo freilich
die moderne torheit auch unfug macht), hat man zu lernen, wie die
ältere grammatik paraphrasirt: dann wird man das variantensuchen in
den verkümmerten resten unterlassen. eine neue lesart ist immer eine
seltene ausnahme, und dann ist es noch lange nicht eine bessere.


Eine überlieferung, wie sie für die dramen vorhanden ist, die in C
und den andern handschriften stehen, zumal in den fünfen, welche auch
M enthält, ist wahrlich etwas besonderes. ursprünglich einheitlich, aller-
dings nur durch gemeinsame fehler späteren ursprungs als solche sich
ausweisend, hat sie sich doch schon im ausgange des altertums nachweis-
lich gespalten, und dann der eine ast noch weiter verzweigt. es fehlt für
die dunkelen jahrhunderte auch nicht an zeugnissen, aber sie spielen
kaum eine rolle, weder der Χριστὸς πάσχων 181), wol ein recht spätes
product, noch byzantinische florilegien 182), noch die zahlreichen citate der
[213]Recensio und emendatio in den tragödien der auswahl.
Byzantiner 183): die handschriften selbst reichen aus. was wir sonst ent-
weder gar nicht erkennen oder doch nur vermuten, hier können wir es
mit den händen greifen. wir sehen die randnotizen in den handschriften,
die varianten zu geben scheinen, sehr oft nur schreibfehler berichtigen,
einzelne varianten von gleichzeitigen handschriften häufen, auch wol con-
jiciren: aber aus dem altertum überlieferte gelehrte varianten, wie die
im Ven. A, sind sie nirgend. sie stehen ganz so da, wie die correcturen
der handschriften, die auch diesen drei kategorien angehören. das sind
also fast alles mittelalterliche entstellungen. und so sind es auch die ab-
weichungen der handschriften von einander. zum überwiegenden teile sind
es versehen, die durch die tätigkeit des wörter und satzglieder auffassenden
und wiedergebenden schreibers entstanden sind, zum teil natürlich schon
im späteren altertum, meistens aber später 184): denn in den chorliedern,
die schwerer verstanden wurden und mehr mechanisch nachgemalt,
finden sich viel weniger abweichungen. verderbnisse die durch das nach-
malen von elementen entstehen, sind in dieser dramenreihe kaum vor-
handen; es sei denn daſs sie über die zeit, wo die auswahl gemacht ward,
zurückreichen. alles dieses zu erledigen ist die aufgabe der recensio, der
richtigen auswahl der lesarten. sie ist kein leichtes geschäft, vielmehr wird
sich in ihr die meisterschaft des herausgebers am meisten zu beweisen
haben: deshalb ist die uneinigkeit auch der berufenen kritiker in den dramen
am gröſsten, wo C nur wenige und stark abweichende handschriften zur
seite hat. aber es läſst sich im princip die forderung stellen, daſs wir
durch die recensio bis in das altertum hinaufgelangen, mit ganz ge-
ringen ausnahmen in den ersten sieben stücken; im Rhesos und den
Troerinnen schon sehr viel seltener; die Bakchen stehen von allen am
traurigsten da.


Daſs wir aber mit dem princip nicht zu viel verlangen, dafür haben
182)
[214]Geschichte des tragikertextes.
wir nunmehr den beweis: vom Hippolytos 185) liegen mehrere hundert
verse, vom Rhesos 186) ein kleines, aber sehr belehrendes, bruchstück in
antiken handschriften vor. der text des Hippolytos wird selbst an keiner
stelle wider die überlieferung berichtigt, aber an einer der der scholien gegen
alle handschriften bestätigt. im Rhesos werden zwei kleinigkeiten evident
verbessert. der text ist hier ein ausgezeichneter, und er widerlegt, wenn
das noch nötig ist, die Kirchhoffsche längst unhaltbare ansicht von den
zwei classen auf das bündigste: er hat von beiden im wesentlichen das
richtige. dasselbe tut der Hippolytostext, nur daſs da, weil so viel hand-
schriften vorhanden waren, die classentrennung schon vorher in wahr-
heit nicht vorhanden war und nur um des princips willen behauptet ward.
aber die handschrift an sich ist nicht besser als unsere guten auch: wir
stehn so gut, als wenn wir statt zeugen des 13. und 14. solche des 3. und
4. jahrhunderts verhörten. ihre einstimmigkeit aber führt uns noch weiter
hinauf: so hoch, daſs dann die grammatik den text in ihre schützende
hand nimmt und ihn bis zu Aristophanes von Byzanz hinaufgeleitet.


Es ist das etwas groſses. gewiſs ist es nicht anders in den meisten
oben besprochenen dichtern, zumal im Aristophanes, aber hier ist es greif-
barer, und hier sind schlimmere zweifel abzuwehren. das licht läſst aber
[215]Recensio und emendatio in den tragödien der auswahl.
auch den schatten dunkler fallen, obwol es schon ein groſser fortschritt
ist, die gröſse des verlustes schätzen zu können. im Rhesos, Troerinnen
und gar Bakchen müssen eine ganze anzahl fehler stecken, da muſs con-
jicirt werden, und gut genug, wenn man es noch kann, wenn der fehler
noch als solcher bemerkbar ist: denn viele varianten sind der art, daſs das
richtige gar nicht geahnt werden kann, und wer es erträumen sollte, nicht
gehört werden darf, weil das falsche an sich nicht unmöglich ist. noch
stärkere schatten fallen auf Sophokles und gar Aischylos: sie können nach
diesem maſsstabe gemessen, gar nicht besser überliefert sein, als Euripides,
wenn wir nur M und ein par handschriften wie B hätten. doch fehlt es
nicht an einem troste, der bessere hoffnung gibt. beide tragiker sind viel
schwerer verständlich, auch lange nicht so oft abgeschrieben, so daſs man
nicht den euripideischen dialog, dem die varianten vorwiegend angehören,
sondern die chöre vergleichen muſs. in ihnen ist die alte corruptel viel-
leicht stärker, wemigstens hie und da, aber der text um so fester. Aischylos
vollends ist in den vier letzten stücken wesentlich dadurch verdorben,
daſs ein äuſserlich schlimm zugerichteter codex, den man sich ähnlich dem
antiken des Rhesos vorstellen mag, nur mit etwas mehr lesezeichen, allein
einem copisten vorlag: somit wird das verhältnis vielmehr den nur in CP
erhaltenen Euripidesdramen ähnlich 187). und wie den Euripidestext, so
sichern doch auch den der beiden andern die antiken citate selbst in
seinen fehlern.


Das ist der langen rede kurzer sinn: wir lesen in den commentirten
stücken den text des Aristophanes. auf den strebt unsere recensio im
weitesten sinne des wortes zu. wenn wir ihn aber haben, was dann?
dann gehn wir weiter, lediglich mit den hilfsmitteln der emendatio be-
wehrt. still zu stehn wäre entweder verzweifelnde resignation oder aber-
gläubische knechtschaft gegenüber der tradition: die recensio führt eben
zwar in den dichtern des dritten jahrhunderts bis auf den dichter, aber
in denen des fünften nur auf den herausgeber. so schlagen wir uns denn
mit den schauspiellern herum, die allerdings die verantwortung für die
meisten der schlechten verse zu tragen haben, die Aristophanes zugelassen
hat. dann suchen wir, meist vergeblich, solche fehler zu heben wie
ἄτης ἄτερ (Soph. Ant. 4), γάμους παρεμπολοῦντος ἀλλοίους πόσει
[216]Geschichte des tragikertextes.
(E. Med. 910), wie Trach. 781. 82 188), Hipp. 953, Med. 748. aber vor allen
dingen freuen wir uns daran, daſs die fehler so wenig sind. und das
weiſs man dann auch, daſs die menschen sich lächerlich machen, die in
diesen dramen mit ihren palaeographischen witzchen kommen, den ähn-
lichkeiten der minuskelschrift, den compendien, wo möglich gar dem vetus
codex
in dem ein par buchstaben unlesbar waren, die der protervus
magistellus
dumm ausfüllt: der vetus codex müſste ja dem Aristophanes
vorgelegen haben, und dieser der protervus magistellus gewesen sein. wir
lachen auch über die häscher der glosseme, die einem ihnen nicht er-
haben genug klingenden worte ansehen, daſs es ein schulmeister oder
leser aus der zeit des Kallimachos oder Apollodor übergeschrieben hat
(aus dem Hesych, scheint’s, denn so reden sie), dessen handexemplar
darauf der archetypus aller folgenden handschriften ward. die textge-
schichte lehrt freilich die vielen gefahren kennen, die unsern text bedroht
haben, sie lehrt uns die unvermeidliche verderbnis schätzen und gibt uns
hilfsmittel sie zu heben: aber die hauptsache, die sie lehrt, ist, daſs sie
die grenzen der möglichen verderbnis und unserer meinungsfreiheit be-
zeichnet.


Sie umfriedigt ein weites gebiet, auf dem es nicht verstattet ist, das
conjecturale röſslein zu tummeln; was darauf steht, das muſs stehen bleiben
und verlangt verständnis zwar, auch vielleicht tadel: aber es gehört dem
dichter an, und jeder einbruch ist ein raub. auf diesem gebiete hat sich
der philologe heimisch zu machen, und dann mag er zusehen, daſs er
die grenzen immer weiter für den dichter ausdehne, teils wider moderne
ansprüche verteidigend, teils wider die täuschende überlieferung, die in
wahrheit keine ist, erobernd.


Recensio
und emen-
datio in den
tragödien
der
gesammt-
ausgabe.

Und es ist dafür gesorgt, daſs auch der conjectur ein weiter spiel-
raum bleibe. denn dieselbe textgeschichte, welche in Hekabe und Hippo-
lytos fast jede conjectur verbietet, fordert sie in den dramen, welche auf
die gesammtausgabe zurückgehn, auf schritt und tritt, und gibt schlieſs-
lich doch nur eine geringe gewähr für die erreichung des echten. da
ist sprachgefühl, geschmack, nachschaffende phantasie nötig, jene impon-
derabilien, die den wirklichen philologen machen, die nicht gelehrt und
nicht bewiesen, auch nur zum teil gelernt werden können.


Mit der recensio ist man gleich zu ende. drei vier kleinigkeiten hilft
P beseitigen, dann darf C mit seiner vorlage identificirt werden; das ist
ein minuskelcodex, wenn’s hoch kommt des 11. jahrhunderts. und auf
[217]Recensio und emendatio in den tragödien der gesammtausgabe.
dem wege von dem zu jener antiken handschrift, der die erhaltung dieser
dramenreihe verdankt wird, fehlt jede hilfe. das war aber selbst ein buch
ohne gelehrte einrichtung, ohne wortabteilung 189), mit ganz zerstörten
sonstigen lesezeichen 190), aber deutlich abgeteilten versgliedern. und von
dem wieder aufwärts geht die überlieferung entsprechend der, welche über-
haupt die lesebücher dieser zeiten durchgemacht haben, empor zu irgend
einer ausgabe, die ein buchhändler gemacht hat. es könnte ja auch die
aristophanische ausgabe gewesen sein: aber das ist nicht der fall: die
Herakleiden hat das bessere altertum in einer ganz abweichenden recension
gelesen, welche ohne zweifel die echte war, während wir die überarbeitung
eines regisseurs lesen 191).


Dabei ist denn freilich ein zustand unvermeidlich gewesen, der im
Herakles jeden siebenten vers etwa eine änderung fordert. wann aber
die verderbnis eingetreten ist, hat kaum einen zweck zu überlegen, da
es sich doch nicht ausmachen läſst. nur das scheint sicher, daſs der
eigentliche archetypus, das antike buch, an sehr vielen stellen zerstört
war, denn oft sind die lücken noch jetzt vorhanden 192), öfter aber sind
sie verkehrt ausgefüllt, fast ausnahmslos am versende 193), wo aber auch
die folgenden schreiber durch vertauschung gesündigt haben 194). massen-
haft sind auſserdem einzelne buchstaben und wörter verlesen. man hat
einen anhalt daran, daſs die nicht sehr zahlreichen antiken citate siebenmal
unseren text berichtigen 195), sehr selten schlechter sind. daſs eine anzahl
verse von uns als euripideisch betrachtet werden, wo schärfere kritik
einen schaden erkennen und beseitigen wird, ist demnach mit vollster
wahrscheinlichkeit anzunehmen, und ebenso sicher ist, daſs manches sich
überhaupt niemals herstellen oder gar auch nur erkennen läſst, es sei
denn, daſs neues material hervorträte. aber zur verzweifelung ist keine
veranlassung. das was von ihr verlangt wird, kann die philologie leisten,
denn eines ist diesem dramen nicht zugestoſsen: die willkürliche raffinirte
interpolation — oder doch erst im 15. und 19. jahrhundert. auch das
liegt in der geschichte des textes. wenn er verwahrlost ist, so ist doch
auch kein Triclinius oder Hartung darüber gekommen.


[218]Geschichte des tragikertextes.

Da die dramen viele jahrhunderte lang das gleiche geschick gehabt
haben, so teilen sie auch die entstellung. doch auch da sind gradunter-
schiede. Helene Herakleiden Kyklops Elektra sind besser erhalten als die
folgenden, deren corruptel nach dem ende zu immer noch steigt, bis in der
aulischen Iphigeneia auch dafür ein exempel ist, wie ein stück aussieht,
das nicht einmal sondern mehrfach von interpolatoren verwüstet und
demzufolge unheilbar ist. unverkennbar ist ferner, daſs der zustand, in
welchem die einzelnen tragödien in jene ausgabe kamen, ein ganz ver-
schiedener war; offenbar hat kein sorgsamer gelehrter darüber gewacht.
neben dem schauspielerexemplar der Herakleiden steht der Kyklop, der
kaum übeler zugerichtet ist als die dramen der auswahl, namentlich auch
von jeder schauspielerinterpolation frei 196): natürlich, denn das alte satyr-
spiel war nach dem 5. jahrhundert nicht mehr mode. die Elektra war
aus einem buche genommen, das mehrfach parallelstellen am rande
trug 197); die Hiketiden enthalten eine partie durch erweiternde inter-
polation entstellt, welche noch um 250 v. Chr. in Athen unverdorben
geläufig war 198). und so ergibt sich auch hier bei individueller behand-
lung des merkwürdigen und fördernden genug.


Die philologie des altertums ist fast unmittelbar zu derselben zeit,
wo sie wissenschaft ward, herabgesunken zur textkritik und zur schrift-
erklärung, und diese letztere ist sehr rasch auf die abschüssige bahn
gelangt, nur das nächste wortverständnis der einzelnen stelle zu suchen.
die philosophische poetik, die geschichtliche erfassung des werkes und
des dichters, ja auch nur die erklärung des einzelnen werkes als eines
ganzen hat sie teils niemals, teils nach Aristophanes wenigstens nicht
mehr angestrebt. es gibt keinen versuch eine geschichte der tragödie oder
eine technik des dramas oder eine theorie des tragischen zu schreiben.
[219]Recensio und emendatio in den tragödien der gesammtausgabe.
deshalb hat dieses capitel von der zeit nach Aristophanes nichts zu be-
richten gehabt, als was für die textkritik von bedeutung ist. wir werden
sogleich sehen, wie schwer es den modernen geworden ist, der höheren
pflicht sich auch nur bewuſst zu werden. da wollen wir lernen, daſs
die textkritik zwar die erste aber auch die unterste stelle unter den
künsten einnimmt, die der philologe an den tragikern zu beweisen hat.
aber auch wenn man das begriffen hat und danach zu leben sucht, so
wird man gestehen dürfen, daſs die verschiedenheit der bedingungen,
unter denen sie zu üben ist, die fülle des materiales, die schwierigkeit
und auch die möglichkeit eines schönen erfolges der Euripideskritik einen
reiz verleiht, wie er nicht so leicht sonst zu finden ist, und daſs zwar
ein anfänger positives nur sehr schwer hervorbringen wird, aber kaum
an einem andern classiker so viel für die methode der recensio wie der
emendatio lernen kann.


[[220]]

4.
WEGE UND ZIELE DER MODERNEN TRAGIKERKRITIK.


Bekannt-
werden der
tragiker in
Italien.

Handschriften der tragiker sind schon früh in den occident gelangt.
Laurent. 32, 2 war 1348 in Avignon und im 15. jahrhundert in der
privatbibliothek der Medici 1). Laurent. 32, 9 kam durch Aurispa 1423
nach Venedig; also die beste Quelle für Aischylos und Sophokles, die
reichste und zur hälfte auch reinste für Euripides war gefunden. aber
die gedichte waren zu schwer, teilweis auch zu entstellt, als daſs selbst
von den des griechischen kundigen humanisten viele sie hätten lesen
können, und eine übersetzung, wie sie historiker philosophen ärzte er-
schloſs, half für die dichter nichts. so sind denn abschriften in Italien
nur wenig gemacht 2), und die drucker haben sich erst dann auf diese
wie die meisten anderen griechischen dichter geworfen, als sie tüchtige
griechische gelehrte zu herausgebern gewinnen konnten. Griechen, aber
eben nur Griechen, haben auch in den handschriften selbst die spuren
ihrer lecture zahlreich hinterlassen. ihrer ganzen art nach waren sie
den italienischen humanisten ähnlich, und das meiste was sie gemacht
haben beseitigen wir als interpolation. aber ein mann befand sich unter
ihnen, dessen lange verkannte bedeutung immer mehr ans licht tritt, ja
den man wol als das bedeutendste emendatorische talent bezeichnen muſs,
welches das griechische volk bisher hervorgebracht hat, der Kreter Marcus
[221]Bekanntwerden der tragiker in Italien. die französische philologie.
Musurus, der nicht nur Euripides und Theokrit, sondern auch Hesych
Athenaeus die Aristophanesscholien mit groſser kühnheit aber auch mit
groſsem geschick zu bearbeiten verstanden hat 3). er besaſs selbst das
jetzt als Palatin. 287 im Vatican befindliche bruchstück der oben s. 208
behandelten handschrift, hat die euripideischen dramen darin durchcor-
rigirt und nicht ausschlieſslich aber wesentlich danach bei Aldus 1503
herausgegeben. diese grundlage des textes ist bis in die zweite hälfte
des 18. jahrhunderts unerschüttert geblieben. ein viel mehr genannter
aber weit geringerer gelehrter, Johannes Laskaris, hatte zugang zum
Laur. 32, 9, als er in Rom 1518 die Sophoklesscholien herausgab, die somit
von anfang an auf der besten grundlage ruhten. der text des Sophokles
war schon 1502 in Venedig gedruckt, zwar nicht aus dem Laurentianus,
aber doch aus einer leidlichen handschrift. dagegen standen Arsenios,
dem herausgeber der Euripidesscholien (Rom 1534) nur sehr schlechte
byzantinische handschriften zu gebote, und da hat erst das 19. jahrhundert
besserung gebracht. den text des Aischylos, der vorher aus minder-
wertigen handschriften genommen war, stellten Robortelli (1552) und
P. Vettori (1557) auf grund des Laur. 32, 9 fest, nicht ohne eine anzahl
bleibender eigener verbesserungen. Victorius, dem nicht nur die schätze
der Florentiner bibliotheken offen standen 4), sondern der mit einer be-
deutenden sprachkenntnis die einsicht in das geschäft der kritischen
recensio verband, war leider auf lange zeit der letzte Hellenist Italiens.
von nun an schlummerten die besten tragikerhandschriften in Italiens
bücherschränken, bis fremde gelehrte sie im 19. jahrhundert hervorzogen.
die gegenreformation hatte ihre schuldigkeit getan.


Diesseits der Alpen konnte man sich zunächst nur receptiv ver-Die franzö-
sische phi-
lologie.

halten, denn erst mit den gedruckten büchern überschritt der Helle-
nismus die grenzen Italiens. aber die empfänglichkeit war eine erstaun-
liche. sehr bald begann man die griechischen bücher nachzudrucken,
und immer neue auflagen wurden nötig. dabei verbesserten die gelehrten,
welche in den druckereien die correctur überwachten, hie und da eine
kleinigkeit; eine eingreifendere tätigkeit beabsichtigten sie nicht, und die
grundlage des textes zu ändern fehlten ihnen die mittel, oder sie sahen
[222]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
verständigermaſsen ein, daſs die handschriften, die etwa in ihre hände
kamen, einen schlechteren text enthielten als die vulgata. selbst H. Ste-
phanus hat für die dichter keine hervorragende bedeutung, nur in einem
falle ward ein für 200 jahre erfolgreicher aber sehr unheilvoller versuch
gewagt, die grundlage umzustürzen. Adrianus Turnebus (1553) baute
einen Sophoklestext auf die gründlich verwüstete recension des Triclinius
und schuf so die vulgata, deren zerstörung das hauptverdienst Ph. Bruncks
ist. die ansätze zu einer erklärung, welche man machte, waren und
blieben dürftig. nur der Holländer Wilhelm Canter, auch sonst ein scharf-
sinniger verbesserer, half in den chören wesentlich weiter, indem er in
zahlreichen liedern die responsion erkannte und danach abteilte. indessen
stand man den lyrischen partien fortdauernd hilflos gegenüber; die ver-
suche der byzantinischen gelehrten letzter zeit waren fast das einzige,
woran man sich halten konnte. nach ihrem vorgange pflegte man die
strophen in sehr kleine verschen zu zerstücken, die man dann ängstlich
einzeln numerirte oder doch zählte, und das höchste war, daſs man den
einzelnen einen aus den metrischen traktaten geborgten namen gab. das
ist erst durch Gottfried Hermann ganz beseitigt; nur unsere verszählung,
an welcher zu rütteln immer wieder, glücklicher weise vergeblich, ver-
sucht wird, trägt davon die dauernden spuren. auch die sitte brach sich
bahn, die griechischen dramen (wie auch die lateinischen) in 5 acte zu
teilen, weil Horaz das zu fordern schien, und auch das hat bis zum ende
des 18. jahrhunderts gegolten. übersetzungen wurden vielfach versucht,
zum teil von namhaften männern wie Florens Christianus; ja sogar Joseph
Scaliger lieferte den ‘Aiax lorarius’. den groſsen sprachkünstler ver-
leugnete er auch hier nicht; daſs es nicht ohne stillosigkeit abgieng, zeigt
schon der titel. und mochte den zeitgenossen der dialog einigermaſsen
den eindruck wiedergeben, den sie von einem sophokleischen drama
erwarteten, der dann freilich von dem was das echt attische und sopho-
kleische ist, ernste maſsvolle farbensatte schönheit, weit entfernt ist, so
fallen die chöre gänzlich ab 5); sie hat man damals überhaupt weder ver-
[223]Die französische philologie.
standen noch geliebt. aufführungen der dramen sind auch, vornehmlich
in schulkreisen, vorgekommen; es ist das aber, wie die gegenwart zeigt,
ein experiment, welches weder für liebe noch für verständnis der antiken
tragödie zeugnis ablegt.


Die groſsen philologen Frankreichs, Scaliger an der spitze, haben,
wie es nicht anders sein konnte, bei gelegentlicher berührung mancherlei
auch in den tragikern erläutert und verbessert, Casaubonus auch in seiner
abhandlung de satyrica Graecorum poesi für ein capitel der litteratur-
geschichte die unverrückbaren grundlinien mit weitem und scharfem blicke
gezogen. es ist nicht fraglich, daſs diese generation, wenn sie auf die tragödie
anhaltendere studien verwendet hätte, mit leichter mühe etwa das erledigt
haben würde, was 200 jahre später der generation gelang, die vor Porson
und Hermann vorhergieng. allein es ist doch kein zufall, daſs sie eben für
diese wie überhaupt für die classische griechische poesie (und eigentlich
auch die classische prosa) ein geringes interesse zeigte. die groſsen philo-
logen waren eben Franzosen, sie hatten teil an jener groſsartigen cultur-
entwickelung, welche wir die französische renaissance nennen, mit einem
namen der übel gewählt ist. denn es erstand nichts was jemals so oder
ähnlich gewesen war, sondern das seiner selbst bewuſst gewordene fran-
zösische volkstum, culminirend in einem stolzen prächtigen aber auch
für die bildung empfänglichen adel, aus dem sich immer höher der könig-
liche hof erhob, nahm die gesammten culturelemente der italienischen
hochrenaissance, darunter auch das wiedererweckte altertum, in sich auf,
nur um im folgenden jahrhundert in staat und kirche, dichtung und
denken seine echtbürtige und eigene groſsartige cultur zu entfalten. es
ist natürlich, daſs in den zeiten der vorbereitung der anschluſs an fremde
vorbilder stärker ist als in denen der vollendung. es ist auch unleugbar,
daſs das griechische auf die französische renaissance stärker eingewirkt
hat als auf die italienische, von deren classikern zwar Macchiavelli im
grunde griechische gedanken nachdenkt und der modernen cultur zuführt,
aber wer würde bei Ariosto an etwas griechisches erinnert? bei Ronsard
und vollends bei Montaigne ist das anders 6). allein das altertum, an
5)
[224]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
welches man ansetzte, war doch nur das römische, das für alle Romanen
gewissermaſsen die cultur der vorfahren war, und wenn griechisches
hineinspielte, so war es das griechisch des zwiesprachigen weltreichs der
Caesaren. die specifisch griechische cultur, die des Homer und Pindar,
des Euripides Platon und Demosthenes, kam nicht stärker in betracht,
als sie es für das kaiserliche Rom getan hatte. die alten muster lieſs
man als solche gelten; aber wenn es zur anwendung kam, so transponirte
man unwillkürlich die griechische poesie in die römische eloquentia.
Julius Caesar Scaliger war nur consequenter und vor allem ehrlicher als
die menge; seine poetik gibt nicht nur von der geringschätzung sondern
von dem widerwillen ein treffendes bild, den die echte hellenische kunst
dem Romanen des 16. jahrhunderts einflöſsen muſste. so lästerlich mochte
man nicht reden, aber man handelte ganz in seinem sinne, und es wäre
ein unglück gewesen, wenn man es anders getan hätte: denn nur so
konnte sich die eigenart der französischen poesie entwickeln. mag man
im 17. jahrhundert dann noch so viel von den Griechen reden, mag man
sich am hofe Ludwigs XIV. gerade dessen berühmen, die griechische
tragödie erneut zu haben, mag Racine sich stoffe und wendungen im
Euripides und gar im Aristophanes suchen, mag die aesthetische theorie
in der tat so viel an Aristoteles und Horaz herumklauben, daſs sie weder
diese noch die eigene poesie mehr versteht: der moderne und speciell
der Deutsche muſs sich nachgerade nicht mehr beirren lassen. es war
recht und gut, daſs seiner zeit dargetan ward, wie unvergleichbar Racine
und Euripides sind, und daſs Aristoteles mit der theorie und praxis des
französischen theaters nichts zu tun hat 7). es ist gut und recht, daſs
man in Boileau den poesielosen pedanten trotz allem wolklang der verse
und noch mehr der perioden nicht verkennt: aber nachgerade sollte man
6)
[225]Die französische philologie.
die knabenstimmung fahren lassen und in den groſsen dramatikern der
Franzosen groſse dichter anerkennen. sollen wir denn nicht so viel
abstractionskraft besitzen, um an französischen heldinnen die namen Iphi-
génie und Oreste und in ihren schicksalen die alten sagenmotive hinzu-
nehmen, ohne von ihnen zu fordern, daſs sie Hellenen wären? 8) Goethe
war darüber schom beim beginn dieses jahrhunderts hinweg, noch ehe
August Schlegel den Franzosen auf der höhe ihrer weltbeherrschenden
macht die comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide
entgegenhielt. nun wäre es wol an der zeit, daſs die geschichtliche wür-
digung beiden dichtern gleich zu teil würde. aber freilich, es ist vielleicht
gerecht, daſs nun die französische tragödie durch ungerechte schätzung
dafür büſst, der würdigung und dem verständnis der attischen mehrere
generationen lang eintrag getan zu haben. denn an ihr liegt es, daſs
Frankreich für die griechischen tragiker bis auf den heutigen tag äuſserst
wenig geleistet hat, und daſs die suprematie der französischen litteratur
gebrochen werden muſste, damit die attische verstanden würde. was von
Franzosen im 17. und 18. jahrhundert über die griechischen tragiker
geschrieben ist, kann man, was diese betrifft, ungelesen lassen. die Fran-
zosen beginnen ja überhaupt erst seit einem menschenalter etwa durch
die teilnahme an der deutschen culturentwickelung für den echten Helle-
nismus empfänglich zu werden.


Ehe man dazu sich verstieg, erst es den Athenern gleich tun zu
wollen, und dann sich in dem naiven hochgefühle zu wiegen, ihnen weit
über zu sein (wie das bei Voltaire in scherz und ernst hervortritt), muſste
freilich der geschichtliche sinn erst ausgetrieben, muſsten die griechischen
studien von der beherrschenden höhe, die sie zu Scaligers zeit einnahmen,
auf den kümmerlichen stand gesunken sein, den sie, wenn man von der
patristik absieht, in dem classischen Frankreich einnahmen. das besorgte
der bund des absolutismus mit der gegenreformation. man wollte nur
die Huguenotten beseitigen und beseitigte den Hellenismus mit, denn
seine träger waren die vorkämpfer der reformation. Scaliger und sein
kreis ist freilich nicht abgetan mit der bezeichnung als träger der roma-
nischen cultur. sie hatten mit der reformation die freiheit des christen-
v. Wilamowitz I. 15
[226]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
menschen erworben, und sie entnahmen der antike die freiheit des
menschen; so erhoben sie sich zu einer so groſsartigen und allumfassen-
den idee von der wissenschaft, wie sie nur Aristoteles gelehrt hat, und
zu einer idee von der gröſse der philologie, wie sie den Hellenen nie
ganz zum bewuſstsein gekommen ist. Scaligers auge hat die geschichts-
wissenschaft schon voll begriffen, weder vor der morgendämmerung des
orients noch vor den nebeln der kirchengeschichte zurückschreckend.
es ist nur wahr und gerecht, wie Niebuhr ihn gepriesen hat, und es ist
bezeichnend, daſs Niebuhr, aber erst Niebuhr an ihn ansetzt. groſsartige
unternehmungen, wie die sammlung der inschriften, nicht als curiositäten,
sondern als urkunden, die sammlung der grammatiker, nicht um von
ihnen latein schreiben zu lernen, sondern um aus ihnen das zertrümmerte
material alter gelehrsamkeit zu gewinnen, die wiederherstellung verlorner
litteraturwerke aus den bruchstücken, wie des Ennius und Lucilius, sind
von jener generation in angriff genommen. es lag in der natur des
materiales sowol als der zeitrichtung, daſs solche unternehmungen dem
römischen altertum zunächst galten; aber wenn die entwickelung dauer
gehabt hätte, so würde auch für das griechische die zeit gekommen sein.
zur zeit war noch das auge für die ‘Griechenschönheit’ blind — das fehlte
allen, und die ganze stolze philologie verkümmerte durch den sieg des
katholicismus in Frankreich. Scaliger flüchtete sie freilich nach Holland;
aber für den Hellenismus schlug in dem niederländischen volke keine
verwandte ader, weder in Holland, das ruhmvoll freiheit glauben und
sinnesart behauptete, noch in Brabant, das sich dem Romanismus ergab.
die ‘lieblichste von allen scenen’ ist weder für van Dyk noch für Rembrandt
zu malen. das protestantische südwestdeutschland würde am ehesten be-
rufen gewesen sein, der wissenschaft eine stätte zu bieten. Heidelberg
war für sie ein ganz anders vorbereiteter boden als Leyden. allein die
Deutschen und zumal ihre höchsten stände waren noch zu arge barbaren,
und allen hoffnungen machte der greuel der religionskriege ein ende. die
griechischen handschriften der Pfälzer bibliothek giengen zu ehren der
christenheit in den Vatican, zu schlafen neben ihren schwestern. Casau-
bonus flüchtete nach England; aber es war nicht ein same, den er aus-
gestreut hatte, als durch Richard Bentley um 1700 die englische philologie
mit einem male zu beherrschender höhe emporwuchs. England hatte es
vermocht, die bildungselemente des Romanismus ganz aufzunehmen, ohne
seine eigenart zu verlieren. es hatte während des 17. jahrhunderts, wenig
verflochten in die geschicke des continents, die gewaltigsten stürme sowol
im staatlichen wie im religiösen leben überstanden; mit der definitiven
[227]Die französische philologie. die Engländer.
feststellung des nationalen staatswesen durch die revolution von 1688
ἔσχε τὴν ἑαυτοῦ φύσιν. nach einem menschenalter gestehn ihm freier
denkende Franzosen eine der ihren ebenbürtige oder doch eine eigen-
artige cultur zu. England hat durch sie wie überhaupt die moderne welt-
gesittung so auch den Hellenismus vor dem barocken Romanismus gerettet,
mit dem er schlechthin unvereinbar ist.


Die entwickelung der englischen philologie von Bentleys brief anDie
Engländer.

Mill bis zu dem unseligen jahre 1825, wo Peter Dobree in das grab
sank, das sich kaum über Peter Elmsley geschlossen hatte, ist eine streng
einheitliche, und die attische poesie steht dauernd im mittelpunkte des
interesses. wir modernen lassen uns leicht verleiten, auch wenn wir nicht
die kindereien des tages mitmachen, diese groſsen Engländer geringer zu
schätzen, weil wir mit den ergebnissen ihrer forschung wie mit einem ohne
dank hingenommenen gemeingut wirtschaften. in der tat, vielerlei was sie
mühsam gefunden haben, hat man jetzt nicht mehr nötig bei ihnen zu
lernen; wer überhaupt ein bischen attisch lernt, lernt es gleich mit den
elementen von formenlehre und syntax. in den scenischen gedichten ist
keine seite, die nicht die spuren ihrer arbeit trägt, auch wenn keine
ihrer conjecturen darauf steht. am besten lernt man es wol am Aristo-
phanes, zumal in den stücken, welche im altertum fast rein erhalten nur
von dem schmutze zu befreien waren, den die byzantinischen jahrhunderte
angesetzt hatten: da ist für uns moderne zu verbessern kaum noch etwas
übrig, und es ist eigentlich auch nur ein zufall, ob Bentley oder Porson oder
Dobree die stelle verbessert hat. sie würden das wahre alle gleichermaſsen
in gleicher weise gefunden haben; wer es getan hat, hängt nur von dem
zufall des ersten gewahrwerdens der verderbnis ab. es ist eben eine ganz
bestimmte methode, die sie alle anwenden; die unterschiede des könnens
sind graduell, die schranken desselben fallen aber fast immer mit den
schranken des wollens zusammen. die recensio in ihrer wichtigkeit hat
zwar Bentley erkannt und zu üben gewagt, aber doch nicht durchgehends,
und für das griechische tritt es auch bei ihm, der keine ausgabe gemacht
hat, zurück. dabei bleibt es. mit den schätzen der Pariser bibliothek,
die zum teil erschlossen werden, wird nicht viel operirt; erst Elmsley
bringt von einer italienischen reise wertvolles material für Sophokles und
Euripides heim, das er gleichwol selbst bei längerem leben schwerlich
voll ausgenützt haben würde. man legt zunächst überhaupt wenig wert
auf das fertigstellen der texte. Porson hat seine arbeit für den Glasgower
druck des Aischylos sogar anonym gehalten. mehr als ein par stücke
geben die wenigsten und gerade die vornehmsten kritiker nicht heraus;
15*
[228]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
manche kommen über einzelbemerkungen kaum hinaus, wie Tyrwhitt.
nur Musgrave, der aber in naher beziehung zu Holland steht und über-
haupt nicht zur zunft gehört, macht gesammtausgaben, mit allerdings
geringem handschriftlichem materiale und geringem ansatze zur erklärung,
ein hastiges ungleiches in vielem dürftiges werk, aber doch auch ab-
gesehen von der reichen ernte von gelungenem (bis heute nicht genug
anerkanntem) höchst achtungswert durch das was er in seiner zeit allein
anstrebte. für die koryphaeen ist ein gereinigter text zwar das ziel, aber der
einzelne verzichtet darauf es zu erreichen. was man dafür als notwendig
erkannt hat, ist das eine und groſse, die gesetze der sprache und des vers-
baus aus den überlieferten texten selbst durch empirische beobachtung zu
gewinnen und danach die überlieferung zu reinigen. mit der dichterkritik
geht die der classischen prosa hand in hand; doch hat in ihr erst Dobree
umfassendes geleistet. immerhin war also attische formenlehre und attische
syntax und attische metrik das was man angestrebt und wofür man den
grund gelegt hat. die scharfe zeitliche umgrenzung des beobachtungs-
gebietes war von vorn herein ein vorzug, nur um so gröſser, als die
deutschen gegner ihn nicht zu würdigen verstanden. es gehört nicht viel
logik dazu einzusehen, daſs es ein cirkelweg ist die überlieferung nach
den gesetzen die man ihr entnimmt zu verbessern, und es ist eben so
nahe liegend für die ‘gesetze’, welche man aufstellte und gemäſs dem
englischen nationalcharakter gern als unverbrüchliche nicht ohne pedan-
tismus aufrecht zu haltende canones ausgab, eine innere begründung zu
fordern und die rechte der individuellen dichterfreiheit wider das starre
gesetz zu verteidigen. tatsache ist, daſs zwar G. Hermann eine sehr viel
tiefere auffassung von der grammatik als wissenschaft zum siege geführt
hat, daſs aber seine eigene verteidigung der anomalie nicht besser stand
gehalten hat, als es die anomalie immer zu tun pflegt. jetzt, wo die ge-
schichtliche grammatik und die urkundlichen zeugnisse des gebrauches in
den inschriften als schiedsrichter zwischen Hermanns und Elmsleys regeln
stehen, ist im wesentlichen der sieg zu gunsten der Engländer ent-
schieden. ohne zweifel muſs es nicht nur für den arbeiter selbst ver-
dummend wirken, wenn das kritische geschäft zum zählen des statistikers
wird, und dann mechanisch nach dem majoritätsprincip entschieden wird;
aber so geht es doch nur, wenn unreife oder geistlose hände treiben was
sie lassen sollten. wie hoch ist nicht der berg von makulatur, der durch
solche dissertationen ‘über den sprachgebrauch so und so bei dem und
dem’ in Deutschland gehäuft ist. nicht minder zweifellos ist, daſs die ver-
teidigung der anomalien durch grammatische düfteleien, wie sie in vielen
[229]Die Engländer.
dicken ausgaben namentlich griechischer prosaiker unter dem einflusse
von Hermanns lehre geübt worden ist, auch nicht viel mehr als makulatur
hervorgebracht hat. es bestätigt sich auch hier, daſs die methode nicht
selig macht, sondern daſs es begabung und arbeit, das selbsterworbene
wissen und die geistige potenz ist, was darüber entscheidet, ob das lebens-
fähig ist, was ein mann in der wissenschaft leistet. was er für die wissen-
schaft ist und bleibt, das liegt freilich zuletzt im charakter: denn auch
hier zahlen nur gemeine naturen mit dem was sie tun. um so erhebender
ist der anblick, wie der zuerst so heftige kampf zwischen den groſsen
Engländern und Hermann sammt seinen schülern sich endlich auflöst in
die anerkennung gegenseitiger ebenbürtigkeit und ergänzung. aber zum
schwersten schaden für die tragikerkritik riſs ein früher tod die be-
deutendsten englischen meister fort, und die schule zeigte sofort den ver-
fall, indem sie mit famulusgeschäftigkeit jedes gedankenspänchen Porsons
conservirte und consecrirte. England tritt von dem schauplatz gänzlich
zurück, und erst in der allerneuesten zeit, wo die landschaftlichen unter-
schiede sich in eine internationale philologie fast ganz aufgelöst haben,
regt sich neues leben, bezeichnender weise in denselben diametral ent-
gegengesetzten richtungen wie auf dem continent, sowol radical alles
umstürzend, wie reactionär die errungenschaften der meister preisgebend.


Daſs das gebiet welches die englische philologie allein bearbeitete ein
sehr enges war, wenn auch zum groſsen teile durch selbstbeschränkung,
wird niemand mehr verkennen. die chorlieder fallen so gut wie ganz fort,
denn ihre sprache geht in die atthis nicht auf. für die grammatik der
Porsonschen schule waren sie also incommensurabel; man hielt sich in
ihr ja auch von Pindar und, hierin hinter Bentley zurückweichend, von
Homer fern. die metrik der lieder entzog sich dem empirischen con-
statiren des gebrauches, das im dialoge ausreichend war. freilich ist
selbst im Homer mit denselben mitteln sehr viel zu erreichen; es ist
dieselbe methode, mit welcher Im. Bekker und nach ihm viele bedeutende
gelehrte den bann des schlendrians gebrochen haben. für die metrik der
chöre findet man ansätze zu solcher observation bei Elmsley und Gaisford
(zum Hephaestion); Seidlers buch de versibus dochmiacis beherrscht deshalb
die texte heute noch, weil er weit mehr mit den Engländern beobachtet
als mit Hermann systematisirt hat. auf diesem gebiete muſs die rechte
nachfolge für Porsons vorrede zur Hekabe erst kommen. man wird aber
nicht bezweifeln, daſs nach dieser seite die Porsonsche schule entwicke-
lungsfähig war. aber nach einer anderen wichtigeren war sie es nicht.
daſs mehr als zu sätzen geordnete attische wörter in den behandelten texten
[230]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
stünden, scheint den groſsen grammatikern gar nicht zum bewuſstsein zu
kommen. auch nur den gedankenzusammenhang zu erläutern versäumen
sie in ihren ausgaben so gut wie durchweg, und es ist bezeichnend daſs
athetese und umstellung von versen sich in ihrer kritischen rüstkammer
nicht vorfinden. daſs es vollends gedichte sind, die sie behandeln, und
daſs die dichter menschen sind, für deren offenbarung sie die dolmetscher
sein sollten, davon trifft man das bewuſstsein noch seltener. das histo-
rische gefühl ist äuſserst fein, wenn es sich um ein wort oder eine con-
struction handelt; weiter reicht es nicht. wer die rede liest, die Porson
bei der übernahme seiner professur in Cambridge gehalten hat, wird mit
grauen den scharfen kritiker jede hirnlose fabel weitergeben sehen, und
wird sich angesichts des trivialsten geredes über die poesie des Euripides
und den wert der Hekabe freuen, daſs der groſse sprachmeister über das
sprachliche sonst nie hinausgegangen ist. wertvoll ist an der rede nur
das geständnis, daſs ihm Euripides der liebste tragiker war, weil in seiner
sprache (d. h. im dialog; von den chören ist auch hier keine rede) nativa
venustas et inaffectata simplicitas
enthalten sei. Porson war ein leidenschaft-
licher verehrer Shakespeares: wer den groſsen philologen lieb hat, wird
sich gern damit trösten, daſs er also doch für poesie als solche empfäng-
lich war: die attischen dichter hat er nur als meister der λέξις angesehen
und geschätzt.


Brunck.

Darin waren männer anderer nationen Porson überlegen, so wenig
sie den vergleich mit seinem scharfsinn und wissen aushalten mögen. der
liebenswürdige Elsässer Philipp Brunck hatte schon das voraus, daſs er
nicht von der zunft war, sondern als französischer kriegscommissar in
Gieſsen von der liebe zur griechischen poesie für den dienst derselben
gewonnen wurde. was verschlägt es, daſs er niemals die sprachliche
sicherheit gewann, und deshalb sich gern an zweifelhafte aber für den
gebrauch bequem formulirte canones als autoritäten anschloſs? was ver-
schlägt es auch, daſs sein name als vater von conjecturen nicht sehr
häufig unter unseren texten steht? ins weite hat er durch seine zahl-
reichen ausgaben, unter denen die tragiker allerdings nicht in erster reihe
stehn, mehr gewirkt als die esoterische lehre der Engländer. er lieferte
dem erstarkenden gefallen an der alten poesie die mittel, schon weil seine
sauberen geschmackvoll ausgestatteten bücher von einem eleganten sohne
des 18. jahrhunderts auch für elegante hände bestimmt waren. und ihm
war es immer gegenwärtig, daſs er poesie behandelte. er lieſs sich aber
auch angelegen sein, das handschriftliche material zu beschaffen, und was
Paris davon bot, hat er erschlossen. so kam der codex 2712 für Sophokles,
[231]Brunck. die Holländer.
die mehrzahl der aristophanischen stücke und einige euripideische zu
seinem rechte. das war überall ein groſser fortschritt: im Sophokles war
es die befreiung von dem triclinischen firniſs.


Das schulhaupt der zünftigen in gelehrtenstolz und gelehrtenbe-Die
Holländer.

schränktheit sich wiegenden holländischen philologie, die seit Tiberius
Hemsterhuys nicht ohne Bentleys einwirkung den Hellenismus wieder auf-
genommen hatte, Ludwig Caspar Valckenaer, war ein ganz anderer mann.
von poesie war ihm wenig mehr als ein schimmer des französischen classi-
cismus aufgegangen, aber er übertraf an wucht der gelehrsamkeit alle
zeitgenossen, und wenn er auch in den commentaren den gelehrten klein-
kram auslegte und deshalb dem spotte Porsons verfiel, so war das übel
placirte doch meist wirklich wissenswertes und stets selbsterworbenes gut.
die beiden berühmten ausgaben von Euripides Phoenissen und Hippolytos
haben das verständnis dieser dramen nicht eben stark gefördert, und die
conjecturale begabung und auch das stilgefühl Valckenaers war für die
poesie nicht stark. aber indem er die scholien der Phoenissen mit heran-
zog, wies er auf ein wichtiges lange vernachlässigtes gebiet hin, und für
die tragiker selbst hat er dadurch ein dauerndes, vergeblich von G. Hermann
bestrittenes, verdienst, daſs er auf die interpolationen des euripideischen
textes aufmerksam ward. der misbrauch, den das 19. jahrhundert mit
diesem kritischen heilmittel getrieben hat und den es als besonderen
schandfleck in der zukunft tragen wird, hebt das verdienst Valckenaers
nicht auf, die tatsache, daſs der text der attischen dichter von stücken
unberufener hand durchsetzt ist, zur anerkennung gebracht zu haben.
doch die vornehmste bedeutung, weit über das greifend was er selbst
ahnte, hat sein bestreben gewonnen, aus den resten der verlornen dramen
und den berichten über ihren inhalt wenigstens ein bild von dem ver-
lornen wieder zu gewinnen. hier gieng es der gelehrsamkeit, welche die
ganze weite der späteren litteratur durchmaſs, endlich auf, daſs in dieser
mehr zu finden wäre als ein sentenzchen oder die gegenseitige emendation
von original und copie: sie fand den prüfstein der kritik, der das katzen-
gold der tragikersprüche überführte, mit denen Juden und Christen für
ihre dogmen propaganda gemacht hatten; sie überzeugte sich, daſs die
splitter der zertrümmerten kunstwerke im schutte der nachwelt so zahl-
reich waren, daſs sie gesammelt und gesäubert für einzelnes wenigstens
die restauration ermöglichten. es hat allerdings lange gedauert, bis
Valckenaer auf diesem gebiete nachfolge erhielt, und sie kam nicht von
streng philologischer seite. in Holland fand seine arbeit für die dichter
überhaupt wenig nachfolge. als der groſse gelehrte, der ein jahrhundert
[232]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
nach ihm schulhaupt ward und als ein neuer Phrynichus die bürste eines
unerbittlichen atticismus ergriff und so die texte der echten und der nach-
ahmenden attischen prosaiker von den flecken der überlieferung und den
spinneweben der beschönigenden commentare befreite, da hatten die
attischen komiker einen starken nutzen davon; für die tragiker konnte der
natur der sache nach nicht eben viel erreicht werden. ihre sprache läſst
sich, auch abgesehen von den chorliedern, die überhaupt unberührt blieben,
nicht über einen kamm scheren, und wo das am ehesten zu gehen schien
und am meisten versucht ward, im euripideischen dialog, war der erfolg
ein sehr mäſsiger, weil Euripides nicht in prosa geschrieben hat, am
wenigsten in trivialer. neben oder vielmehr unter dem meister haben andere
Holländer die conjecturenmache en gros um so schwungvoller betrieben,
als sie die palaeographische routine und das bequeme glauben an dogmen
zur beflügelung hatten, und weder die last sachlichen wissens noch die
bedenklichkeiten geschichtlicher oder philosophischer betrachtung ihre
schritte hemmten.


Reiske.

Auf Deutschland sah Porson mit verachtung herab; er parodirte die
alten verse des Demodokos sehr artig also The Germans in Greek are
sadly to seek, all, save only Hermann, and Hermann is a German
. man
konnte es ihm kaum verdenken; nur einen können wir vor Hermann
aufweisen, der an sprachkenntnis im ganzen keinem nachstand, an erfind-
samkeit Porson und seine schüler alle (auſser Dobree vielleicht) übertraf,
und auch in den tragikern, bei denen der rastlose wanderer auf seinem
zuge durch die ungemessene weite mehrerer litteraturen doch nur kurz
verweilt hatte, überraschend viel bleibendes geschaffen hat, obwol ihm
nie aufgegangen ist, was ein trimeter ist, und er der sprache manche
unmöglichkeiten, vieles unerträgliche zugemutet hat: ein mann, dem die
Chariten so wenig wie die Moiren je gelächelt haben, und der doch des
geschickes durch eigene sittliche kraft herr ward, und für die edelsten
kunstwerke durch seines geistes kraft mehr geleistet hat als die meisten
verwöhnten lieblinge der Charis. Johann Jacob Reiske, den die perrücken
von Leyden und Leipzig, die geheimderäte von Halle und die hofräte
von Göttingen nicht aufkommen lieſsen, der aber Lessing zum freunde
hatte, steht allein als vertreter des Hellenismus in Deutschland, in das er
so wenig hinein gehörte wie Winckelmann. man hat ihm erst nach dem
tode sein recht gegeben. quis hodie non contemnit Dorvillium, Reiskium
non admiratur,
hat Cobet gesagt.


Die
goethische
zeit.

Reiske hatte selbst so gut wie keine nachfolge; es war ein menschen-
alter später, daſs Porson seinen widerwillen gegen die deutschen Helle-
[233]Reiske. die goethische zeit.
nisten aussprechen konnte. und doch wurzelt die philologie, die heute
und in zukunft allein eine existenzberechtigung hat, in dem was Deutsche
männer zu Reiskes zeit und in der folgenden generation geschaffen oder
begründet haben. Lessing verstand zwar, die wahrheit zu gestehen, recht
unvollkommen griechisch (die Lessingphilologen überschätzen es), hatte
auch speciell von den tragikern nachweislich nicht viel gelesen, und für
ihre besondere gröſse fehlte ihm auſser dem geschichtlichen verständnis,
das niemand erwarten wird, sogar die innere empfindung 9); aber selbst von
seinem poetischen standpunkte aus, wo die poesie weit mehr als ein werk
des witzes erschien denn als werk der phantasie, erfaſste er mit wunderbar
sicherem trefferblick eine reihe der grundwahrheiten, und vor allem riſs
er die hindernisse hinweg, die die barocke poetik vor die tragiker und
den Aristoteles gestellt hatte. er lehrte die musterbilder der poesie und
die regeln der poetik bei den Griechen selbst suchen. Winckelmann
ergänzte sein werk; er eröffnete endlich die schwesterkunst der attischen
dichtung dem verständnis, und bis auf den heutigen tag gilt es, daſs den
Aischylos keiner recht begreift, der nicht für die sculpturwerke der
attischen frühzeit ein herz hat, und daſs über diese nur stilistisches ge-
fasel redet, wem die verse nicht im eigenen wollaut zu herzen gegangen
sind. und Winckelmann gab mehr: er wies zuerst auf die sage als den
gemeinsamen born hin, aus dem dichter und künstler getrunken haben;
durch sein verdienst erscheinen die kunstwerke nicht mehr als etwas für
sich bestehendes und gemachtes, sondern als die gewachsenen blüten am
stamme der allgemeinen cultur des volkes. an Winckelmann und Lessing
setzte Herder an. er schärfte den blick sowol für das nationale wie
auch, und dies mit vorliebe, für das, was allen völkern unter ähnlichen
culturbedingungen gemeinsam ist; die poesie erschien nun als eine trotz
aller spaltung in mundarten dem menschengeschlecht gemeinsam ver-
liehene sprache. seine herzbewegende predigt machte die seelen der
[234]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
modernen, in der dünnen luft des vernünftigen jahrhunderts blasirt ge-
wordenen, menschen wieder naiv und kräftig um die frühlingsstürme, den
wüstenbrand, den urwaldhauch vertragen zu können, in denen die jugend-
liche menschheit die offenbarungen der naturreligion empfangen haben,
aus denen alle und jede poesie erwachsen ist. nun drängten sich scharen
begeisterter jünglinge wieder zu dem borne der hellenischen poesie. und
einer war unter ihnen, der als jüngling bei dem meister gelernt hatte
die irdische brust im morgenrot zu baden, und es als mann vermochte
die poesie aus dem geiste und der wahrheit des Hellenentumes wieder-
zugebären. jetzt erst wurden die philologen inne, welche schätze sie zu
hüten, welches evangelium sie zu verkünden berufen sind. und für alle
zeiten steht es fest, daſs die philologie ihre pflicht gegen die hellenischen
dichter nur dann erfüllen kann, wenn sie dieselbe in goethischem sinne
auffaſst.


Es geschah aber die befreiung des poetischen empfindens und ver-
stehens wesentlich durch die wiedererweckung der homerischen poesie, und
im drama durch die Shakespeares. die attischen dichter übten daneben
eine verhältnismäſsig geringe macht direct aus, die wahrheit zu sagen,
weil sie zu schwer zu verstehen waren. die genialische art, mit der man
sich allenfalls des Homer bemächtigen konnte, versagte gegenüber einem
attischen chorliede, und die übersetzungen halfen wenig weiter. Goethe
hatte doch in Wetzlar ernsthafter griechisch getrieben als die meisten
seines kreises, und hatte an Theokrit und Pindar mehr als genippt (die
Goethephilologen unterschätzen das), aber um Götter Helden und Wieland
zu schreiben hat er die Alkestis beim pater Brumoy und nicht beim Euri-
pides nachgelesen 10). der Iphigenie sieht man es in ihrer italienischen
gestalt dann freilich an, daſs die wucht der trimeter der sophokleischen
Elektra unmittelbar auf sie gewirkt hat. seine Helena hat den Troerinnen
des Euripides nicht nur das eingangsmotiv und manches in den chor-
liedern entlehnt, sondern die kunstform der antiken tragödie war ihm
damals so sehr in der tiefsten bedeutsamkeit und in den äuſserlichsten
stilkennzeichen lebendig geworden, wie es nur durch die originale möglich
[235]Die goethische zeit. Gottfried Hermann.
ist. dachte er doch sogar daran, nicht nur den Prometheus, sondern
selbst das sprödeste aller antiken dramen, die Hiketiden des Aischylos,
durch nachdichtung des anschlieſsenden stückes zu ergänzen. aber er
vermochte all das wesentlich durch die intuitive kraft der congenialität.
dies vorrecht war keinem zweiten gegeben; selbst Schiller ist es nicht
gelungen mit irgend einer andern hellenischen poesie auſser Homer ein
innerliches verhältnis zu gewinnen. es ist eben nicht anders: man konnte
in Deutschland kein griechisch.


Griechisch zu können und lehren zu können, die schande von demGottfried
Hermann.

deutschen namen zu entfernen, die er noch in Porsons augen mit recht
trug, das war die nächste und wichtigste aufgabe der philologie; an ein
mehr als an der oberfläche tastendes oder zu allgemeinheiten in un-
sicherem fluge sich erhebendes verständnis der tragiker war vorher gar
nicht zu denken. dies nächste und notwendigste geleistet zu haben ist
Gottfried Hermanns verdienst. er konnte griechisch wie kein deutscher
vor ihm, jeder spätere aber durch ihn, er durch eigene kraft aus dem
lebendigen verkehre mit den schriftwerken. er lehrte viele generationen
hinter einander griechisch, indem er sie wieder in den lebendigen ver-
kehr mit den schriftstellern einführte, er übertrug auf sie das charisma
seines geistes. das können war’s, was ihn zum groſsen manne machte.
gleich unempfänglich für den kribskrabs der imagination wie für den
krimskrams der erudition gieng er geraden weges auf das zu, was er
wiederholt als das ziel seiner philologie hinstellte, das verständnis des
geschriebenen. rücksichtslos schüttelte er alles ab, was ihm diese einfache
aufgabe zu stören schien. mit dem frischen wagemute des reiters, der
dem Deutschen das ideal des mannes ist, hielt er sich an die husaren-
parole ‘vorwärts’; ἁπλοῦς ὁ μῦϑος τῆς ἀληϑείας ἔφυ. darin lag das
geheimnis seiner macht; darum kam er wider seine absicht von kampf
zu kampf, und blieb zwar nicht immer sieger, aber immer unbesiegt. er
strebte nicht nach herrschaft, bescheiden wie er war, wenn auch nicht
wie die lumpe bescheiden, aber er herrschte tatsächlich mehr als ein
menschenalter, lieſs die philologie welche er vertrat bei seinem tode
hauptlos zurück, und bestimmte speciell in den tragikern ihre geschicke
weit über seinen tod hinaus.


Hermanns leben verlief fast ganz an dem ufer der Pleiſse, und ver-
leugnen kann er nicht, daſs er das wasser getrunken hat, von dem Schillers
Flüsse unehrerbietiges erzählen. er steht dem sächsischen rationalismus
so nahe, daſs er für alle offenbarungen Herders und dann der romantik,
selbst als diese sich zur geschichtswissenschaft ausbildet, unempfänglich
[236]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ist. daſs er nicht in ihm versunken ist, dankt er der Kantischen philo-
sophie. aber dem geschichtlichen betriebe der wissenschaft ward er auch
durch diese nur noch mehr entfremdet. daſs ihm die grammatik nicht
genügte, welche er vorfand, war natürlich, da er die sprache wirklich
beherrschte. nun versuchte er ein neues system zu bauen. wir wohnen
noch in den trümmern desselben, aber wir wissen längst, daſs die sprache
als ein geschichtlich gewordenes der logischen distinctionen spottet, wissen,
daſs Madvigs verdammungsurteil über die bücher de particula ἄν ein ge-
rechtes ist, und daſs die wirklich wissenschaftliche behandlung der gram-
matik vielmehr mit Ph. Buttmann beginnt. der jammervolle zustand der
metrik, bei dem sich noch Valckenaer beruhigte, konnte Hermann ebenso
wenig genügen; sein eignes ohr lehrte ihn die rhythmen Pindars und
der tragischen lieder. so danken wir ihm, daſs diese als kunstwerke
wirklich erst wieder lebendig wurden. aber aus abstracten theoremen
über rhythmus und maſs kann niemals die verskunst einer concreten
sprache erläutert werden 11). so weit wir nicht unsere seele an ebenso
abstracte und ungeschichtliche modernere theoreme verkauft haben, leben
wir auch in der metrik unter den trümmern des Hermannschen systems:
genügen konnte es schon den zeitgenossen nicht. aber wol muſs wieder
und wieder hervorgehoben werden, daſs Hermann einmal in seinem leben,
in der untersuchung über den Orpheus, zu der geschichtlichen verfolgung
einer erscheinung in ihrem werden und ihrem wandel aufgestiegen ist,
und daſs er mit dieser jugendarbeit in wahrheit sein höchstes geleistet
hat. es ist von Hermanns büchern das einzige das kaum gealtert ist.
ganz anders ist der eindruck, den man von den ältesten und zugleich
bedeutendsten abhandlungen empfängt, die in den opuscula stehen. wer
etwa sich in den strudel der meinungen gewagt hat, der zur zeit über
den dialekt der griechischen dichtungen auch einzelne verständige männer
fortreiſst, der wird mit sehr hohem interesse die abhandlungen lesen,
[237]Gottfried Hermann.
welche in wahrheit diese probleme aufgeworfen haben, de Graecae linguae
dialectis
und de dialecto Pindari; er wird es vielleicht pikant finden, daſs
die erstere Heynes funfzigjähriges doctorjubiläum feiert und beginnt
Graecae linguae cognitio his temporibus paucorum quidem sed eximiorum
hominum studiis eos progressus fecit ut doctrinae loco haberi posse incipiat,

und uns doch als eine schrift aus einer epoche der wissenschaft erscheint,
auf deren standpunkt wir uns nur durch die stärkste historische abstrac-
tion zurückversetzen. der zu selbstständigem denken gereifte mag in
diesen schriften noch heute lebenskräftige keime entdecken; im ganzen
sind sie wirklich veraltet. von Hermanns mythologie redet man aus pietät
nicht. aber keinesweges veraltet, wenn auch leider am wenigsten gelesen,
sind Hermanns ausgaben der tragiker, zumal die ältesten, durch welche
er rasch den primat auf diesem gebiete errang, so daſs es scheinen könnte,
er wäre zu dieser stellung nur deshalb gekommen, weil in der tat kein
concurrent da war 12). entstanden sind die ausgaben Euripideischer tra-
gödien und auch die des Sophokles, welche neuauflagen der Erfurdtischen
sind, aus dem praktischen bedürfnis, für Hermanns vorlesungen texte zu
schaffen. es sind also ausgaben wie die Aristarchs: das substrat für das
lebendige wort, welches der verfasser sicher war hinzufügen zu können.
das gibt für die beschränkung der aufgabe eine zureichende erklärung;
aber der leser hat nun wirklich nur einen teil von dem was Hermann
gab, und da der kritische apparat für uns wertlos ist, auch nie wertvoll
war, einen recht kleinen. es ist in der tat nicht sehr belangreich, ob
er seine epikrise einer Elmsleyschen ausgabe in einer recension nieder-
legte, wie bei der Medeia, oder in einer ausgabe, wie bei den Bakchen 13).
[238]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
als er dann sich an eine ausgabe des Euripides in groſsem stile machte,
erschien freilich die erklärung reicher, und die einleitungen giengen aus-
führlich auf die poetische würdigung des kunstwerks ein, allein er gestand
halb und halb zu, daſs er doch nur erklärte, entweder warum er nicht
änderte, oder warum er änderte, mit anderen worten, der zweck der
ausgabe blieb die textkritik. wenn die gedichte nicht verdorben wären
oder wenigstens dafür gehalten würden, so würde Hermann sie nicht
herausgeben. und wie er es mit der κρίσις im antiken sinne hielt,
haben die einleitungen besonders deutlich offenbart. was der tragiker tut,
ist, daſs er sich einen stoff sucht, geeignet furcht und mitleid zu erregen,
und den nach den gesetzen oder dem herkommen seiner kunst behandelt 14).
das wird verschieden sein, wenn es Euripides und wenn es Goethe ist,
aber sie sind doch ohne weiteres concurrenten. es sind zuweilen sehr
lesens- und beherzigenswerte auslassungen, nicht bloſs um des mannes
willen, der Goethe zu erbauen verstand; aber wer wollte leugnen, daſs
schon die damalige geschichtswissenschaft mehr fragen muſste und mehr
beantworten konnte?


Die hermannische philologie ist noch durchaus die antike, oder viel-
mehr wieder die antike, denn er schlieſst sich weder bewuſst noch durch
tradition an die definition des Dionysios Thrax an. aber er hätte sein
eigenes ziel nicht besser bezeichnen können. und wenn diese philologie
schon zu den zeiten des Dionysios Thrax oder besser des Aristarch eine
beschränkte war, und in ihrem abfalle von der aristotelischen wissenschaft
sich der beginnende verfall offenbart, wie viel minder muſs dieselbe jetzt
genügen, wo sich die philologie vielmehr aus aristarchischer beschränkung
zu aristotelischer universalität gehoben hat. aber wie trotz alledem
Aristarch in seiner bedeutung unverkleinert dasteht, so wird es mit
Hermann bleiben. sie sind keine maestri di color che sanno, aber sie sind
meister: man kann sehr leicht sagen was sie nicht sind, aber man genügt
sich nicht, will man so oder so versuchen zu sagen, was sie sind, und
könnte man’s, dem leser würde es nicht viel helfen. das will selbst erlebt
[239]Gottfried Hermann. Welcker.
sein. wenn man sich den kopf wirr gemacht hat, indem man alles ge-
lehrte und verkehrte zeug über eine controverse stelle gelesen hat, und
dann den echten sprachkenner ohne viel federlesens den nagel auf den
kopf treffen sieht; wenn man sich durch irgend einen geistreichen blender
hat fangen lassen, und dann mit einem worte, etwa lediglich durch eine
übersetzung der textworte oder der conjectur, die hohlheit als solche
bloſsgestellt wird; wenn man etwa im Pindar von der schaumschlägerei
und geheimniskrämerei der exegeten übelkeit empfindet, und sich durch
einen gesunden nüchternen trunk wiederherstellt: dann spürt man den
hauch des hermannischen geistes. und so soll denn jeder an ihm lernen
wie an Aristarch, lernen trotzdem er weiſs, daſs er nicht auf ihrem stand-
punkt beharren darf, und daſs wer das tut, ganz gewiſs keinen hauch
von ihrem geiste verspürt, geschweige denn empfangen hat.


Wenn man sich vorstellt, daſs jemand in einer kommenden zeitWelcker.
ohne jede kenntnis von den tatsächlichen beziehungen bloſs nach dem
eindruck, der von der gesammtleistung der groſsen männer bleiben wird,
eine vermutung wagen sollte, ob Hermann oder Welcker eine nahe be-
ziehung zu Goethe gehabt hätte, der würde wol ohne zaudern Welcker
nennen. denn wenn wir Goethe an der hellenischen sage fortdichten
sehen, mit der freiheit aber auch mit dem innerlichen verständnis und
der congenialität der attischen tragiker, so ist es Welcker gewesen, der
das verhältnis bewuſster freiheit und unbewuſster gebundenheit, in welchem
der künstler zu dem volkstümlichen lebendigen stoffe steht (der also mehr
als stoff ist), erkennen gelehrt hat. wir sehen denn auch, daſs wol Welcker,
aber nicht daſs Hermann für Goethes Pandora das rechte verständnis hat.
Goethes Winckelmann stellte den ἥρως κτίστης der geschichtlichen alter-
tumswissenschaft in seiner überwältigenden gröſse einem geschlechte vor,
das seiner zumeist vergaſs. Welcker ist es, der mehr als irgend ein
anderer die gesammtleistung Winckelmanns fortgesetzt und weitergebildet
hat. Goethes Winckelmann ist die erste biographie in hohem stile, welche
das wirken des individuums sowol als individuelles wie auch als eines
gliedes in der allgemeinen culturentwickelung zur anschauung bringt.
Welcker hat es geleistet, manche persönlichkeit, die als individuum schatten-
haft bleibt, wiederherzustellen, indem er ihren platz in der gesammt-
entwickelung aufzeigte und danach ihre bedeutung schätzen lehrte. die
weltanschauung, welche Goethe um die wende des jahrhunderts in sich
vollkommen ausgebildet hatte, hat schwerlich jemand so rein aufgefaſst
wie Wilhelm von Humboldt, und dieser wieder hat durch sie Welckers
wissenschaftlichem streben die weihe gegeben. man sollte meinen, daſs
[240]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
schon allein durch die persönlichen beziehungen das in der natur ihres
wesens begründete verhältnis zwischen Goethe und Welcker hätte herbei-
geführt werden müssen. und doch ist dem nicht so. nur als einen ver-
mittler dunkeler speculationen Zoegas hat Goethe Welckern aufgefaſst;
er ist ihm als ein genosse Creuzers erschienen, und gegen dieses licht,
das heute längst erloschen unbegreiflicher weise damals seinen qualm
für stralen ausgeben durfte, würde Goethe unwillig die augen geschlossen
haben, auch wenn er nicht mit Hermann in erfrischende persönliche
berührung getreten wäre.


Das verhältnis Welckers zu Goethe ist aber nicht ein zufälliges, sondern
es bat typische bedeutung. Welcker ist bis in die vierziger jahre hinein
eine stimme in der wüste geblieben; selbst die ihm näher zu stehen
schienen, Boeckh Dissen O. Müller, zeigen in wahrheit durchaus nicht
eine gerechte würdigung. I. G. Droysen ist vielleicht der einzige bedeu-
tende mann, der die rechte jünglingsbegeisterung für die aischyleischen
offenbarungen gehabt hat. und es ist erst sehr allmählich anders geworden;
denn äuſserliche huldigungen haben geringen wert. als Nauck seine samm-
lung der tragikerbruchstücke machte, konnte er die Welckerschen tragö-
dien und ebenso die arbeiten seiner nachfolger, z. b. O. Jahns, so gut wie
unbeachtet lassen: für die exacte wissenschaft durften träume nicht in
betracht kommen. wenn dies buch also, das unerreichte muster von
gelehrsamkeit und sorgfalt, verfaſst von einem manne, der über die schul-
gegensätze und die schulbeschränktheit erhaben ist, über das wirken
Welckers zur tagesordnung übergeht, so liegt es am tage, daſs die philo-
logen im engeren sinne Welcker bei seinen lebzeiten überhaupt nicht
gewürdigt haben. eine macht ward er vielmehr erst durch die steigende
bedeutung der archaeologie, obwol er in der erklärung des einzelnen und
auch in der errichtung groſsartiger gebäude von vermutungen schwerlich
mehr finderglück hier wie dort gehabt hat. namentlich die neidlose
bewunderung, mit welcher Otto Jahn seinen spuren folgte, hat vielen
jüngeren die augen geöffnet, und es kam bald dahin, daſs die phantasie-
bauten des epischen cyclus und der griechischen tragödien von sorg-
loseren erklärern unbesehen an stelle der verlorenen gedichte verwandt
wurden. aber es war etwas besseres als diese trägheit und auch als das
mahnwort eines verständnisvollen lehrers, was die archaeologie empfäng-
licher machte: der gute geist Winckelmanns lebte in ihr, der ihr den
blick für die wechselbeziehung von poesie und bildender kunst mitgegeben
und sie von vorn herein zu einer geschichtlichen wissenschaft gebildet
hatte, was die betrachtung der poesie erst werden sollte, oder vielmehr
[241]Welcker. der streit um die Eumeniden und seine folgen.
noch immer erst werden soll: denn es fehlt noch immer viel, daſs die
litteraturgeschichte von Welckers geiste durchleuchtet sei, mag es auch
niemand mehr zu bestreiten wagen, daſs er einer der heroen der deutschen
philologie ist.


Aber Welcker war ein schlechter grammatiker, und begab sich doch
gern auf das gefährliche gebiet. seine sprachkenntnis hat der sicherheit
stets entbehrt, und das kann auch die groſsartige belesenheit nicht ändern,
in welcher er Hermann unendlich überlegen war und wol nur Lobeck
nachstand. und Welcker war und blieb auch in der historischen methode
unsicher und gab auch nach dieser seite blöſsen, welche selbst das blöde
auge leicht entdeckte, das dem adlerblick nicht zu folgen vermochte, der
nun einmal nur aus wolkiger höhe herab richtig sah. so konnte er
nirgend mit Hermann zusammengeraten, ohne daſs dieser triumphierte,
weil er sich nur an die greifbaren gegenstände hielt. die Prometheus-
trilogie hat er dem gegner freilich noch in letzter stunde zugegeben:
bezeichnend für die sinnesart der edlen gegner, von denen mit recht
gesagt ist, daſs sie nur durch äuſsere zufälligkeiten in so erbitterte fehde
geführt sind, bezeichnend auch deshalb, weil heute als ausgemacht gelten
darf, daſs der erhaltene Prometheus doch ein erstes stück gewesen ist,
aber allerdings der fackelträger (denn das ist πυρφόρος), wenn auch als
letztes, zu derselben trilogie gehört hat. Welcker hatte zuerst zu wenig,
zuletzt zu viel glauben gefunden. was aber mehr wert hat als die äuſsere
tatsache, das verhältnis der aischyleischen dichtung zur religion und zu der
überlieferung welche sie voraussetzt, darin harrt Welcker noch des rechten
nachfolgers; Hermann konnte seinen gedanken überhaupt nicht folgen.


Die bedauerliche schärfe erhielt der gegensatz zwischen HermannDer streit
um die
Eumeniden
und seine
folgen.

und Welcker durch den gleichzeitigen streit Hermanns mit Boeckh und
O. Müller, welcher zwar unvermeidlich und für das wol der wissenschaft
notwendig war, aber von allen seiten mit unberechtigter φιλονικία, von
Hermann und Müller nicht ohne φιλονείκεια, von den trabanten mit
stumpfen und gar mit vergifteten waffen geführt ward. notwendig war
die auseinandersetzung zwischen Hermanns aristarchischer grammatik und
der philologie, welche Boeckh im sinne von Aristoteles und Scaliger als
der rechte mann betrieb, den rahmen zu füllen, den F. A. Wolf auf-
gespannt, aber selbst leer gelassen hatte. und notwendigerweise muſste
die wissenschaft über die τέχνη siegen. die inschriften sind hier das
wichtigste streitobject. daſs Hermann in vielen einzelnheiten begründete
ausstellungen machte, wissen wir und soll unvergessen sein; den wesent-
lichen fehler, die vernachlässigung der recensio, hat er nicht gerügt. jetzt
v. Wilamowitz I. 16
[242]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ist das alles erledigt und längst gras darüber gewachsen. notwendig war
es aber auch, daſs auf Hermanns eigenstem gebiete, der dichtererklärung,
mehr erstrebt und geleistet würde, als er es tat. es war bezeichnend,
daſs selbst von seinen namhaften schülern nur Seidler in seinen trefflichen
Euripidesausgaben genau in die spuren Hermanns trat. Lobeck machte den
commentar zum Aias zu einem stapelplatz für die reichste und erlesenste
grammatische gelehrsamkeit, doch wieder etwas in die holländische weise
einlenkend, so daſs der gegenstand der erklärung ihm und dem leser
gänzlich aus den augen kommt, das gedicht als solches überhaupt ver-
gessen ist. ein anderer schüler, der sich freilich früh emancipirte, Reisig,
empfand das bedürfnis einer wirklich in den gegenstand eindringenden
erklärung, kündigte nicht ohne ruhmredigkeit eine neue art commentar
zum Oedipus auf Kolonos an, und gab eine enarratio, die sich zuweilen
in lateinische und deutsche nachdichtung verlor. aber diese verse waren
schlecht, und die leistung im ganzen gering; wie denn auch die metrischen
und sprachlichen finessen, welche Reisig in den attischen dichtern aufzu-
zeigen versucht hat, ziemlich unfruchtbar geblieben sind. in helle flammen
schlug der kampf um die rechte tragikererklärung erst auf, als O. Müller die
Eumeniden griechisch und deutsch erscheinen lieſs (Göttingen 1833) und
in der vorrede unverblümt zu verstehen gab, daſs dies etwas höheres sein
sollte, und daſs ihm Hermann das verständnis von gedankenzusammen-
hang und plan irgend eines werkes der alten poesie nicht zu besitzen
scheine. das hieſs den handschuh hinwerfen, und daſs Hermann keinen
liegen lieſs, wuſste Müller sehr gut. Hermanns verurteilung des Dissenschen
Pindar hatte ihn besonders gereizt, weil Dissen sein wolwollender kränk-
licher furchtsamer lobesbedürftiger und verwöhnter college war, aber den
drang zu einer solchen auseinandersetzung trug er längst im herzen. er
wollte den krieg, er erhielt ihn, aber er ist nicht sieger geblieben. ein
halbes jahrhundert ist seitdem vergangen; es ist an der zeit, nicht zu
gericht zu sitzen, aber wol das verdict zu formuliren, welches ἄκων ὁ
παγκρατὴς χρόνος gefällt hat. O. Müller verfocht eine gute sache, denn
die wissenschaft kann sich nicht genügen lassen an dem was Hermanns
dichtererklärung leistete. er hat auch in den Eumeniden viel schönes
vorgetragen, was Hermann offenbar nicht zu verstehen wuſste; was
hier über blutrache blutsühne blutrecht vorgetragen ist, ist ein grund-
pfeiler geworden für das gebäude hellenischen rechtes und hellenischer
religion, an dem nur wenige fortgebaut haben, niemand glücklicher,
aber dazu brauchte er die Eumeniden nicht herauszugeben, und das hätte
er lassen sollen, einfach weil er es nicht konnte. sein text, seine über-
[243]Der streit um die Eumeniden und seine folgen.
setzung, seine kritischen bemerkungen lieferten Hermann den deutlichen
beweis, daſs die gegnerische schule das nicht besaſs, was er mit recht
als die vorbedingung jedes verständnisses ansah, die herrschaft über die
sprache und das versmaſs. und der stimmstein der Athena lieferte den
beweis, daſs denn doch wichtige fälle eintraten, wo das verständnis des
gedankenzusammenhanges und planes bei dem war, der angeblich über
notengelehrsamkeit nicht hinauskam. das schlimmste aber war, daſs
O. Müller das buch nicht bloſs deshalb geschrieben hatte, weil es die
Muse ihm eingab, sondern mit einer persönlichen polemischen tendenz;
es konnte nicht ausbleiben, daſs so die böse Eris auch über den gegner
macht erhielt: wer die reihe der streitschriften mustert, wird mit be-
dauern erkennen, wie viel ungerechtes und unverantwortliches von beiden
teilen vorgebracht ist.


Der fluch dieses streites lastet bis auf den heutigen tag auf der
tragikererklärung; nicht wegen jener persönlichen bitterkeiten, denn die
haften kaum noch an den personen, sondern weil der ausgang die not-
wendige entwickelung der wissenschaft störte. der versuch, die tragiker-
erklärung über einen wissenschaftlich nicht mehr berechtigten standpunkt
zu erheben, war gescheitert. sie blieb also zunächst in dem alten geleise.
das bedürfnis der erklärung machte sich zwar für die schule und die
anfänger immer wieder fühlbar, aber die versuche die gemacht wurden
galten doch nur als etwas untergeordnetes, und zumeist waren sie es
auch. so insbesondere die erklärende ausgabe des Sophokles, welche
Schneidewin in den funfziger jahren versuchte, ein überaus viel gelesenes
buch, das in den händen von A. Nauck freilich einen hervorragenden
kritischen wert erhielt, ohne daſs doch die grundlage verrückt wäre, und
Schneidewin verdient zwar hohes lob für das was er gewollt hat, aber
auch nur für den willen. für die erklärung des Aischylos ward nur
untergeordnetes geleistet; von Euripides gab H. Weil zwar zu 7 tragödien
einen geschmackvollen commentar, aber er beschränkte sich selbst durch
die rücksichten der schule, so anmutig sein buch auch ist. und ungestraft
dürfen sich leute auf den plan wagen, deren erklärung zeigt, daſs sie
auch nicht 30 verse hinter einander zu verstehen im stande sind: so
die meisten ausgaben, die jetzt auf den markt kommen 15).


16*
[244]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.

Hermann selbst hat wider seinen willen stark zu dem einreiſsen
völliger zuchtlossigkeit beigetragen. wie so viele groſse kritiker, Bentley
an der spitze, ward er im alter immer gewaltsamer. auch ihm erschienen
immer mehr metrische gesetze, die er in wahrheit selbst gab, für die
dichter verbindlich; immer stärkere anomalieen mutete er der sprache zu.
es ist nur menschlich, daſs die form, welche sich der einzelne nach jahre-
langem sinnen subjectiv als befriedigend festgestellt hat, ihm allmählich als
objectiv wahr erscheint. die wissenschaft hat zeit, aber der mensch nicht,
und wem die probleme ein langes leben am herzen liegen, der mag nicht
von den ungelösten scheiden. im gefühle seiner eigenen bedeutung wirft er
dann das persönliche meinen in die wagschale, und die liebenswürdige pietät
für das lebenswerk eines groſsen mannes läſst die rein sachliche schätzung
zurücktreten. als nach Hermanns tode sein Aischylos ans licht trat, hatte
er freilich für jeden rechten philologen einen unschätzbaren wert; hat
ihn doch Welcker nicht ohne tränen in die hand genommen; aber das
ist ein pretium affectionis. in wahrheit besteht Hermanns gröſse trotz
diesem, nicht durch dieses buch. es ist nicht wahr, daſs er etwa eine
kühne restitution οἷον ἂν γένοιτο gegeben hätte, denn sehr vieles was
da steht, hat weder Aischylos noch überhaupt ein Athener sagen können.
kommt es doch in folge der ungenügenden diplomatischen kritik sogar vor,
daſs Triclinius statt der überlieferung als ausgangspunkt genommen wird.
die metrische gestaltung wird fast nie begründet, oder es stehen doch
machtsprüche statt der gründe; häufig ist die responsion sylbe für sylbe
willkürlich erzwungen; nichts als spielerische willkür ist die verteilung
der chorpartieen unter die personen, und der procentsatz der gelungenen
conjecturen ist keinesweges ein günstiger. kaum minder verderblich ist
die groſse zahl ganz unglaublicher härten, welche die erklärung dem
dichter und leser zumutet. so steht es. und der erfolg ist nicht aus-
geblieben, daſs die masse sich auf die unglücklichen texte stürzte und
sie zerriſs und zerfleischte, weil man allerdings nicht Hermann zu sein
braucht um so mit einem gedichte umzugehen.


Irrwege und
irrwische.

Von dem menschenalter, welches auf G. Hermanns tod folgte, ist
es schwer anders als mit dem zorne zu reden, der M. Haupt sein köst-
liches Elektraprogramm (op. II 286) eingab. in der sintflut von conjec-
turen drohten in der tat die tragikertexte völlig zu ertrinken. wenn
man sich das treiben ansieht, seine vielgeschäftigkeit, seine selbstgefällig-
15)
[245]Irrwege und irrwische.
keit und seine erfolglosigkeit, so kann man ein grauen nicht verwinden,
und man begreift, daſs diese manier die philologie in allgemeinen
miscredit gebracht hat. wenn diese conjecturerei ihr ziel wäre, so
müſste man keinen tag säumen, zu einem ehrlichen handwerke über-
zugehen. die tragikertexte sind maſslos verdorben, das war die praemisse,
die man als axiom hinnahm; beweisen konnte man sie freilich damit, daſs
man die tragiker tatsächlich nicht zu verstehen vermochte. vor diesem
greuel der verderbnis schwand der wert der recensio: das war ja die
tücke der überlieferung, daſs sie so einheitlich war, das hieſs, in dem
notorisch falschen übereinstimmte. also giengs frisch mit kühnem sprunge
zur emendatio: zu der aber war jeder knabe berufen, und bald war es
guter ton, mindestens in den thesen der doctordissertation eine oder die
andere tragikerstelle zu heilen. und war es mit dem heilen auch meist
nichts, so blieb doch das bewuſstsein, eine verderbnis entdeckt zu haben.
denn wo nur erst einer anstoſs genommen hatte, da kam der zweite,
sah daſs des vordermannes einfall windig war, muſste also einen eignen
an seine stelle setzen, und dann kam der dritte, und so fort ohne grazie
in infinitum. und da errichteten die zeitschriften für die kurzdärmige
vielgeschäftigkeit ihre bedürfnisanstalten, und da kamen die recensionen,
die den wert der ausgaben nach der zahl der conjecturen bemaſsen, und
das verkehrte wenigstens anregend, das meinen ins blaue geistreich fanden,
und die jahresberichte, welche die conjecturen auszogen, so daſs man
die bücher nicht mehr zu lesen brauchte. denn die conjectur war selbst-
zweck geworden. und wie fein war es bestellt, daſs nun jeder sich selbst
wahren konnte, oder doch durch die cumpane gewahrt wuſste, was an
der conjectur das köstlichste ist, die priorität. denn es bildete sich zwar
in Holland der comment, du brauchst überhaupt nichts zu kennen noch
zu wissen, was deiner conjectur oder ihrer veröffentlichung hinderlich
ist, in Deutschland aber der, du brauchst zwar den schriftsteller, in dem
du conjicirst, nicht gelesen zu haben, geschweige denn andere, kannst
dir auch die belegstellen, die grammatischen und metrischen regeln und
beobachtungen, überhaupt jedes wissen, dessen du bedarfst (viel wird es
ja nicht sein) ohne wort und ohne dank hernehmen, wo du es findest:
aber darum hast du dich zu kümmern, ob nicht compare so und so dir
in der conjectur zuvorgekommen ist, sonst befährst du den vorwurf des
diebstahls. in seiner ganzen strenge wandten das freilich nur einzelne aus-
erlesene an, die in bibliotheken die staubigsten scharteken durchsuchten,
von stolz geschwellt, wenn sie einem Porson eine priorität rauben konnten.
im ganzen galt der comment wesentlich für die lebenden. denn die
[246]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
befriedigung der eignen eitelkeit, die betätigung des eignen scharfsinns,
wenns hoch kommt, der triumph der methode, das ist doch der zweck
des kritischen bestrebens. der dichter ist längst ein stiller mann und
hat seinen ruhm: aber das moderne menschlein will den seinen erst haben,
und wahrhaftig, gönnen kann man ihm das licht, das räumlich und zeit-
lich eine conjectur ausstrahlt. freilich sollte sie dazu eigentlich richtig
sein. aber ob sie das ist, wer weiſs es? die wahrheit überhaupt —
was ist wahrheit? wenn die echte doch nicht erreichbar ist, nimmt man
die provisorische. ja wol, zu der entsetzlichsten unsittlichkeit führt dieses
getriebe in seiner letzten consequenz. unzweifelhaft waren davon die
meisten weit entfernt, die sich am Sophokles vergiengen, harmlose knaben,
μειρακύλλια ἃ φροῦδα ϑᾶττον ἢν μόνον χορὸν λάβη, ἅπαξ προ-
σουρήσαντα τῇ τραγῳδίᾳ. und im grunde war es auch noch harmlos,
wenn ab und an ein grauer knabe die regenwürmer, die er in einem
langen leben gefunden, in tönnlein sammelte und als schätze auf den
markt brachte. den meisten kam im ernste des lebens die ernüchterung;
freilich übertrugen sie dann den ekel an dem eitelen spiele zumeist auf die
wissenschaft, der so ihre arbeit verloren gieng. aber es fehlt nicht an
beispielen dafür, daſs solche, die wol die fähigkeit gehabt hätten, nütz-
liches zu wirken, erst den charakter und dann das talent eingebüſst haben.
und ein solcher kann unendlichen unsegen stiften.


Daſs die gegenwart fruchtbarer wäre, ist kaum zu behaupten; aber
wol darf man das hitzige fieber der änderungswut als überwunden an-
sehen. die mode hat gewechselt; die überfülle selbst hat ekel erzeugt.
als die ausgabe von Sophokles Elektra, welche Haupt zu seinem zorn-
ausbruche veranlassung gegeben hatte, in dritter auflage erschien, war
es praktisch undurchführbar, alle conjecturen unter dem texte unter-
zubringen; sie wurden in einen anhang gesperrt, und man vermiſst nur
die motivirung des herausgebers ab ipso libelli possessore, si offendant, ut
rescindantur
, wie Schmeller sagte, als er die anstöſsigen stellen der Car-
mina Burana auf dem letzten blatte abgesondert druckte. so harmlos
sind die Sophoklesconjecturen nicht, aber sie sind nun im Orcus, und
in den steigt nicht so leicht einer hinab. wer einen text fertig stellt,
der wird noch eine weile sich umtun, ob er für die abweichungen von
der überlieferung, die er nötig findet, einen fremden namen nennen soll,
und er wird das gern tun, auch wenn er die verderbnis aus eigener
kraft erkannt und gehoben hat 16); er wird aber auch nicht vergessen,
[247]Irrwege und irrwische.
daſs er die verantwortung für den ganzen text trägt, mag er von der
überlieferung abweichen oder nicht, und daſs es nur eine mode ist, daſs
wir in einer textausgabe die urheber der einzelnen gedanken nennen,
wenn sie eine abweichung vom überlieferten einschlieſsen, während wir
die verteidiger und retter der überlieferung verschweigen und z. b. eine dar-
stellung staatsrechtlicher oder geschichtlicher oder grammatischer art rein
sachlich halten. über kurz oder lang wird sich auch manches ändern;
mancher name wird bald ein leerer schall sein, und vielleicht ist der tag
nicht so fern, wo wir alle, groſse und geringe kritiker, unter einem
collectivnamen zusammengefaſst werden, wie die Itali in der kritik latei-
nischer dichter. denn wir sind dazu da, das gedächtnis der groſsen dichter
lebendig zu erhalten, nicht das unserer collegen noch das eigene.


Das conjecturenmachen ist also aus der mode gekommen, und so
viel feines und wahres die führenden männer auch gesagt haben, die
diesen umschwung inaugurirt haben, so darf man doch mehr als ihrer
lehre dem zuge der zeit diesen erfolg zuschreiben, um so mehr als sich
sofort die entgegengesetzte gefahr gezeigt hat, das kalte fieber der reac-
tionären verteidigung des überlieferten, weil es nun einmal überliefert ist
oder scheint. diese gefahr ist jetzt die dringendere und wird es noch
mehr werden; schon kann ein aufmerksamer beobachter merken wie
die führer, d. h. in wahrheit die sclaven der “öffentlichen meinung”
sich anschicken, farbe und gesinnung zu wechseln, und die moderne
rhythmik verwendet ihre kautschukparagraphen schon zur rettung metri-
scher ungeheuer. auf dem spiele steht nicht weniger als der ganze
gewinn der Porson-Hermannschen periode, sowol auf metrischem wie
auf sprachlichem gebiete: wenn καίτοιγε dem fünften jahrhundert zu-
getraut wird, wenn dem Euripides unterstellt wird optativ und con-
junctiv in demselben finalsatz gebraucht zu haben, und dem Sophokles
vollends δρόμων διαύλων πεντάεϑλ̕ ἃ νομίζεται als iambischen tri-
meter ausgegeben zu haben, so muſs man darauf gefaſst sein, für die
berechtigung der analogie und der conjectur fechten zu müssen. das
liegt vollends im wesen jeder reaction, daſs sie als solche nur in der
negative heilsam wirken kann: neues leben schafft sie nicht, neue ge-
danken liefert sie nicht, und deren bedarf die tragikerkritik. schon vor
16)
[248]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
25 jahren vermochte Haupt wol den bannstrahl wider die verkehrtheiten
zu schleudern, aber neue ziele wuſste er nicht zu zeigen. und worin
zeigte sich die unfruchtbarkeit einer periode deutlicher, als wenn die,
welche die fahne vorantragen sollten, nur abkehr und umkehr predigen.
dann sind die andern persönlich entschuldigt, welche einem rufe auch auf
abwege folgen, der sie zu neuen herrlichen zielen zu weisen verspricht.
und solche rufe wurden und werden freilich zahlreich erhoben, mag auch
der glaube den sie finden minder vertrauensselig geworden sein.


Jene zeit des schrankenlosen subjectivismus und der zertrümmerung,
ja zerfaserung der überlieferten kunstwerke zeigt gleichzeitig einen fast
mystischen zug zum abstracten construiren und eine überraschende leicht-
gläubigkeit gegen die hirngespinnste der mitlebenden. nichts altes respec-
tirte diese im vollgefühle moderner überlegenheit stolzirende kühnheit:
und doch war sie geschäftig, gesetze zu entdecken und der überlieferung
aufzuzwingen. eine tausendjährige tradition wog ihr federleicht vor dem
gesetze von ehegestern. es galt das weit über die kreise der tragikerkritik,
ja der kritik überhaupt hinaus. man erinnere sich, daſs ein tektonisches
system fast in allen für griechische baukunst empfänglichen kreisen
die herrschaft errang, welches jedes geschichtliche begreifen vor der
construction a priori zurücktreten lieſs und die kühnheit so wenig wie
unsere interpolationssucher entbehrte, die tatsachen der überlieferung,
z. b. die entasis des Parthenonstylobates, lediglich durch den modernen
willen zu beseitigen. wir haben die auguraldisciplin wieder aufleben
sehen und den himmel in quartiere teilen, auch den griechischen, und
die tempel nach den geburtstagen der götter orientiren sehen — die
ohne oder auch wider die überlieferung gefunden wurden. auf dem
gebiete der grammatik steht der kampf zwischen geschichtlicher betrach-
tung, dumpfem traditionsglauben und neuen täglich wechselnden aus-
nahmslosen gesetzen noch in voller hitze. eine neue metrik oder, was
vornehmer klingt, rhythmik ist ersonnen, aufgebaut auf angeblich ewige
d. h. moderne musicalische principien, angehängt an einen geduldigen
namen von altberühmtem klange, ausgestattet mit einer volltönenden fremd-
artigen terminologie und dem anspruche auf ein tieferes kunstverständnis;
die concrete aufgabe der textgestaltung war so hohen strebungen zu
untergeordnet, und die neue weisheit allerdings vage genug, sich mit den
auf ganz andern principien aufgebauten texten Hermannischer zeit leidlich
zu vertragen. wieder ein anderer berühmter name, aus altersgrauer ver-
gangenheit, ist aufgegriffen, zum träger eines systems gemacht, welches
in überraschender weise den schlüssel zu der composition elegischer
[249]Irrwege und irrwische.
lyrischer tragischer gedichte geben soll. es ist in wahrheit ein ärmliches
schema (a b c b a mit geringen variationen), und dichter, die sich diesem
joche gefügt hätten, würden kaum den namen verdienen, aber es liefert
ein so treffliches surrogat des individuellen verständnisses, daſs immer
neue bekenner der poetischen chrie aufstehen. die symmetrie, welche
in den erzeugnissen namentlich der archaischen kunst vor aller augen
lag, ist nicht nur mit feinem sinne verfolgt, sondern hat anstoſs gegeben
zu einer reihe von entdeckungen auf verschiedenen gebieten, welche sie
auf eine concrete formel bringen wollen; dazu schickt sich am bequemsten
die rohe sinnfällige arithmetische, und so entsteht die lehre von der
herrschaft der zahl. da geht es an ein dividiren von epen und dramen,
an ein auflösen der einzelnen scene oder auch der einzelnen elegie in
ein rechenexempel, es entpuppen die 5 und die 7, die 13 und die 28
sich als die verborgenen tyrannen, deren ketten Hesiod und Aischylos,
Xenophanes und Theokritos getragen haben, und die prosaiker erweisen
wenigstens in den buchzahlen der tetraktys oder pentas ihre hochachtung.
auch aesthetische maſsstäbe sind ausgeklügelt und a priori ist festgestellt,
was von einem dichter zu fordern wäre. da fand der eine gesetze für
die prologe, der andere für die stichomythie, der dritte für die schlüsse
der dramen, und alle schnitten unbarmherzig das widerstrebende fort.
einer sprach es ganz unbefangen aus, daſs einem groſsen dichter nur
das beste zugetraut werden dürfe, wenn man also etwas besseres fände
als das überlieferte, dieses bessere für echt zu gelten hätte — so lange,
natürlich, bis ein noch besseres sich findet. und da zankten sich denn
die verbesserungen um den unschuldigen vers, wie die alten vetteln in
den Ekklesiazusen um den jüngling. vor allem aber führte die logik
ihre mörderische schere. alles entbehrliche ist überflüssig, alles über-
flüssige störend, alles störende unecht. und so viel man im einzelnen
abwich: die harmonie war ungestört, daſs eine greuliche bande von
interpolatoren gewütet hätte, und die aussonderung der unechten verse,
mochten nun schauspieler oder grammatiker oder leser für sie verantwort-
lich gemacht werden, war nicht nur des conjectors bequemstes mittelchen,
sondern ward ordentlich in ein system gebracht.


Es würde nun eine groſse unbilligkeit sein, wollte man bestreiten,
daſs auf diese weitumfassenden theoreme eine bedeutende kraft von scharf-
sinn und arbeitsenergie verwandt ist, und die summe von begeisterung
in liebe und glauben, die an sie vergeudet ist, nötigt auch dem wider-
strebenden nicht bloſs achtung sondern wirkliche teilnahme ab. gewiſs,
auch das verkehrteste streben nach einem tieferen verständnisse des kunst-
[250]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
werks ist mehr wert als das ideenlose herumklauben an tausend einzel-
heiten und die kleinmeisterei kaltsinniger logik an den erzeugnissen der
phantasie.


Aber es sind und bleiben doch verirrungen, und weil sie es sind,
können sie nicht dauern. der principielle widerspruch, der nicht aus-
geblieben ist, konnte ihnen wenig anhaben, denn alle diese erhabenen
dinge existiren ja durch petitio principii. aber deshalb leiden sie schiff-
bruch, sobald sie praktisch angewandt werden. die gedanken die im
kopfe leicht bei einander wohnen, stoſsen hart an, so bald sie einen
körper gewinnen wollen. der gläubige wird freilich nicht irre, wenn
die tatsachen mit den postulaten seiner lehre sich nicht vertragen, seiner
erfindsamkeit wird eine ausrede nimmer fehlen 17); aber der glaube ver-
breitet sich doch nicht weiter und erlischt allmählich. die vereinigung
von schrankenlosem zweifel an dem überlieferten und schrankenlosem
glauben an die moderne theorie, wurzelnd in einer abkehr von dem con-
creten und einem sehnen nach dem absoluten, ist eben ein charakteris-
tischer zug für die geistige stimmung der generation die hinter uns liegt.
die nächstlebende ist anders disponirt, sie ist für diese krankheiten nicht
empfänglich, darum aber auch am wenigsten im stande, gerecht und
abschlieſsend über jene zu urteilen. wes geistige entwickelungsperiode
1866 einschlieſst, der kann sich ja auch nicht vorstellen, daſs die männer,
zu denen er dankbar auſschaut, Gutzkow überhaupt haben lesen können,
Freiligrath ohne lachen, Börne ohne ekel auf die dauer lesen, Buckle für
einen groſsen geschichtsphilosophen, Kaulbach für einen groſsen maler
haben halten können. wir täuschen uns hoffentlich nicht darüber, daſs
wir der kommenden generation ähnliche rätsel aufgeben werden. aber
überwunden ist jene fülle von theoremen so gut wie die conjecturale
änderungswut. mag noch das eine oder andere nachgeboren werden,
mögen gewisse kreise sich darin gefallen, die gedichte des Pindaros
Aristophanes Kallimachos zu schematisiren statt zu verstehen: es sind
anachronismen.


A. Nauck.

Ziehen wir nun das facit, so fällt das freilich traurig aus. der positive
ertrag der tragikerstudien ist ein geringer nicht bloſs im verhältnis zu
der aufgewandten arbeit. ganz fehlt es nicht daran. was vereinzelt dem
oder jenem gelungen ist, fällt freilich nicht ins gewicht: aber allerdings
[251]A. Nauck. recensio.
hat diese decennien hindurch der kritiker wie die meisten griechischen
texte so ganz besonders die der tragiker behandelt, welchem heute
kein billig denkender den ersten platz als kenner des griechischen ver-
sagen sollte: August Nauck. im gegensatze zu Hermann durchaus ana-
logetiker hat er die lehren der Engländer in Deutschland erst recht
zur anerkennung gebracht und selbst in ihrem sinne weitergearbeitet.
seine sammlung der tragischen bruchstücke ist das unerreichte muster
einer fragmentsammlung: der keim, den Valckenaer gelegt, ist zu einem
stattlichen baume ausgewachsen. durch seine emendatorische tätig-
keit endlich hat Nauck unter den Euripideskritikern einen platz in der
ersten reihe, unter denen des Sophokles überhaupt den ersten errungen,
wenn man nur das gelungene zählt. daſs er daneben seiner zeit den
tribut gezahlt hat, eine unübersehbare masse nicht bloſs des überflüssigen,
sondern des wildwillkürlichen, leider auch recht oft des trivialen und
selbst des inepten hervorzubringen oder doch zu billigen, das darf die
schätzung des wertvollen nicht herabstimmen, wenn es auch nur gerecht
war, daſs der kampf wider die ausschreitungen der kritik sich ihn zum
ziele nahm, und wenn es auch mindestens verzeihlich ist, daſs mancher
der besten gerade gegen Nauck selbst ungerecht geworden ist, zumal
sein vorbild nach der schlimmen seite auch deshalb besonders ver-
wirrend wirken muſste, weil auf ihn die ganze richtung der philologie,
die von Welcker und O. Müller ausgeht, wenig gewirkt hat.


Naucks den zeitgenossen überlegene stellung kann man schon daranRecensio.
ermessen, daſs er fast allein sich von den modeirrtümern so gut wie frei
gehalten hat, welche in betreff der textquellen der tragiker um sich griffen.
Hermann gegenüber war es ein fortschritt, daſs man überhaupt die
recensio ernst nahm, allein eigentlich ohne beweis, lediglich durch macht-
sprüche bedeutender oder doch tonangebender männer, brach sich nun
der glaube bahn, daſs Aischylos und Sophokles einzig im Laurentianus 32,9
überliefert wären. im Aristophanes hielt sich selbst Meineke nicht von
einseitiger bevorzugung des Ravennas frei. für Euripides war seit Elmsley
nichts geschehen. da war es denn eine rechte leistung in Lachmanns
sinne und seiner auch in jeder beziehung würdig, als Adolf Kirchhoff
zuerst 1852 in den specialausgaben der Medea und der Troades aus dem
chaos ungeordneter varianten die wirklichen träger der überlieferung
herausfand; seine groſse ausgabe führte dann mit reicherem aber leider
doch noch sehr unvollständigem materiale dieselben grundsätze durch
und verwarf mit entschiedenster consequenz die seit der Aldina vor-
herrschende s. g. zweite classe. das war wirkliche methode, die schon
[252]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
durch ihre unerbittliche energie imponirte; ganz abgesehen davon, daſs
auch der emendatorische gewinn wol gröſser ist, als Kirchhoff ihn in
seiner kleinen ausgabe (1868) selbst geschätzt hat. unzweifelhaft war es
aber sehr wenig in Kirchhoffs sinne, wenn man sich nicht nur bei seinem
urteil über den wert der handschriften beruhigte (nur daſs eben Nauck
sich einen freieren blick bewahrte), sondern auch fast 20 jahre vergiengen,
bis dazu hand angelegt ward, die von ihm selbst bezeichneten lücken der
handschriftenvergleichung auszufüllen, wobei dann freilich seine sonderung
der classen und die schätzung ihres wertes stark berichtigt werden muſste.
nun ist es zwar begreiflich, daſs die zeit, welche vor des eigenen geistes
kraft der überlieferung überhaupt so wenig wert beimaſs, mit solchen
untergeordneten dingen wie sie zur recensio gehören sich nicht viel be-
mengen mochte. aber das erklärt nicht ganz die hingabe an jede doctrin,
welche die überlieferungsgeschichte vereinfachte. auch das wird nur im
zusammenhange mit dem ganzen streben der zeit verständlich.


Wir sehen in der beurteilung der recensio griechischer texte erst
jahrhunderte lang die herausgeber lediglich dem zufalle gehorchen, der
ihnen diese oder jene quellen der überlieferung zuführt. es folgt durch
1. Bekker und seine mitstrebenden die fundamentirung auf grund der
möglichst erschöpften summe aller erhaltenen handschriften; die auswahl
bestimmte der kritische takt des bearbeiters. notwendig muſste man dafür
nach strengen beweisbaren normen suchen. dabei zeigte sich das über-
gewicht einzelner besonders ausgezeichneter handschriften, und zuweilen
gelang der nachweis, daſs die scheinbare fülle trug war, in wahrheit nur
eine handschrift existirte. Sauppes epistula critica, in welcher das für
Lysias erwiesen ward, muſste den wetteifer reizen, ob nicht ein ähnlicher
fund hie oder da gelingen könnte. später stellte Cobet in seinen frischesten
und beutereichsten feldzügen die ganze nichtsnutzigkeit des schreibfehler
und sprachfehler häufenden byzantinischen schreibertums der letzten jahr-
hunderte an den pranger, so daſs die gefährliche, weil so gar bequeme,
neigung nur um so stärker wurde, z. b. im Platon lediglich Regius und
Clarkianus, im Isokrates lediglich Γ, im Demosthenes Σ zu berücksichtigen.
fast überall kam es dazu, daſs man nur eine quelle der überlieferung
gelten lieſs, wenn auch mehrfach erbitterter streit um die auswahl ge-
führt ward. es würde sehr erfreulich sein, wenn das geschäft der recensio
wirklich so einfach wäre. aber von tag zu tag zeigt sich mehr, daſs es
in den meisten fällen unerlaubt ist, sich in solcher sicherheit zu wiegen.
die resignation ist geboten, daſs wir auf eine eklektische kritik angewiesen
sind, wie in den scenikern, so im Herodot und Thukydides, Demosthenes
[253]Recensio. die wahren aufgaben.
und Aischines, Xenophon und Aristoteles (physik, leider selbst rhetorik),
eigentlich auch im Homer, und daſs es nicht höhere sicherheit sondern
nur gröſsere armut ist, wenn ein text einheitlicher aussieht, weil uns
zufällig nur eine handschrift selbst oder in abschriften erhalten ist.


Um so höhere wichtigkeit gewinnt die textgeschichte, welche den
grad der zuverlässigkeit unserer überlieferung, so gut es geht, geschicht-
lich erkennen lehrt. auch dafür ist zwar gearbeitet, aber überwiegend
mit der tendenz, anhaltspunkte für änderungen zu gewinnen. die scholien
las man nicht um der 999 fälle willen, wo sie den überlieferten text
bestätigen, sondern um des tausendsten, wo sie eine abweichung geben.
oder aber man las, unbefriedigt mit diesem ergebnis, die varianten in
sie hinein, wozu sich die schlechtesten paraphrasen dann allerdings am
besten eigneten. die lexica las man nicht, um die richtigen oder falschen
erklärungen der alten für die überlieferten wörter zu finden, sondern um
die vermeintlichen glossen aus den texten zu vertreiben. die citate
sammelte man halb unwillig, weil sie zustimmend oder abweichend für
die güte unserer handschriften zu zeugen pflegen. und selbst die not-
wendigste vorarbeit, eine brauchbare ausgabe der scholien wie des Hesych
und der Etymologika zu machen, ist unserer generation geblieben.


Was ist demnach die aufgabe, welche uns von der wissenschaft ge-Die wahren
aufgaben.

stellt ist? ihre entwickelung gibt uns eine einfache formulirung. wir
haben da anzusetzen, wo der streit zwischen Hermann und O. Müller
den natürlichen fortgang gehemmt hat, beider werk fortzusetzen, doch
so, daſs wir nicht nur die fehler vermeiden, welche damals verhängnisvoll
wurden, sondern das beherzigen, was die philologie im ganzen in dem
halben jahrhundert zugelernt hat. das erste und vornehmste ist also,
daſs wir wieder so viel griechisch lernen, wie Hermann und Elmsley
konnten. aber wenn wir uns das können anzueignen versuchen, dürfen
wir uns nicht damit begnügen, es als kunst zu üben, sondern müssen
uns dessen was wir wissen und können selbst bewuſst werden und es
für andere zur darstellung bringen. wir müssen selber verstehen und
anderen erklären. das erste erfordert, daſs wir vorab das besser wissen
wollen ablegen, unser urteil der überlieferung willig ergeben, und,
wenn wir anstoſsen, zunächst nicht ihr sondern uns mistrauen. wir
sollen das verständnis herausheben, nicht hineintragen. das gilt von dem
einzelnen worte, das gilt in tausendfältiger variation von dem individuellen
dichterischen gedanken und seinem ausdrucke im einzelnen verse, im
einzelnen chorlied, im ganzen drama. ganz allmählich werden wir uns
dann zu der freiheit erheben, über dem objecte zu stehen und die kritik
[254]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
im modernen wie die χρίσις im antiken sinne gerecht zu üben. und
auch wer die freude als eine köstliche schätzt, eine stelle verbessert zu
haben, wird sich wol nicht scheuen zu sagen, daſs er ein freudiges gefühl
empfindet, wenn er eine conjectur ausstreicht, weil er die stelle verstanden
hat. nur bleibe man nicht bei dem genusse des eigenen gewinnes stehen,
sondern über die nächstenpflicht, andern den gleichen irrgang zu ersparen.
die nakten texte sind auch in den zeiten des conjecturalen diluviums ziem-
lich heil abgedruckt worden: aber damit ist höchstens für den heraus-
geber das verständnis garantirt. welche prophylaktische wirkung würde
Haupt ausgeübt haben, wenn er den Catull erklärt hätte, so wie er ihn
verstand?


Die wesentliche wandlung, welche die philologie erfahren hat, ist
daſs sie eine geschichtliche wissenschaft geworden ist. davon hat die
tragikerkritik noch herzlich wenig befruchtung erhalten, und das ist ein
hauptgrund ihrer krankheit, denn deshalb kann der widergeschichtliche
subjectivismus und die aprioristische construction sich behaupten. das
gilt gleich von der sprache. zwar das formelle ist auch hier durch die
geschichtliche grammatik, die rechte erbin der Elmsleyschen analogie, im
wesentlichen erledigt. aber die form ist nur der körper: das seelische
element, die synonymik, die wortwahl überhaupt gemäſs den nuancen
von bedeutung und ton, sowol des innerlichen klanges wie des äuſseren,
der für das griechische ohr so bedeutsam ist — wie wenig ist dafür getan?
die syntax vollends liegt noch in den banden der alten abstracten theorie,
welche die einzelne stelle als einen beleg einer regel ansieht, die regel aus
der logik begründet, statt von der empfindung und dem sprachgefühl des
redenden auszugehen. schon das durchgehends giltige zu finden ist schwer.
denn wenn das drama die letzte blüte am baume einer uralten poesie ist,
wenn Aeoler Ionier Dorer dafür vorgearbeitet haben, so ist diese sprache
und des weiteren dieser poetische stil das ergebnis eines langen geschicht-
lichen processes, und kann recht nur aus ihm verstanden werden, wie
andererseits ein einzelnes wort oftmals ein überraschendes licht über jahr-
hunderte rückwärts wirft. schwieriger aber ist es noch abzuschätzen, was
die sprachgewalt und auch die willkür des einzelnen dichters geschaffen
und gewagt hat: und doch heiſst das sprachliche und stilistische können
des dichters abschätzen doch nichts anderes, als eben das facit aus der
abrechnung zwischen seinem gute und dem ererbten und angeborenen
besitze ziehen. wie armselig stehen da in ihrem nichts die jämmerlichen
versuche unhistorischer unwissenheit da, welche die geschichtlich ge-
wordene litteratursprache in eine anzahl roher mundarten auflösen, und
[255]Die wahren aufgaben.
wie fadenscheidig wird das bettelgewand, das die flickschneider der con-
jecturalen mache den gedichten anziehen, hier eine glosse, dort ein
germanismus, mit all ihrem flitterkram nur für den fasching gut.


Ein gleiches gilt von der verskunst. was haben wir denn da anders
als lehrgebäude? auch hier heiſst es in wahrheit zunächst die erschei-
nungen sammeln und von dem concreten ausgehen, das es zu verstehen
gilt. auch hier das ohr an die allgemein griechische weise gewöhnen,
damit man die besondere des dichters würdigen lerne. auch die metrik
des dramas ist die vollendung einer uralten technik, auch in ihr ist
ererbtes gut, das aus dem besitze der verschiedenen stämme nach Athen
gelangt ist, und dem geschichtlichen entwickelungsgang allein ist das ver-
ständnis seines ergebnisses zu entnehmen. auch hier bedingen einsicht
in das allgemeingiltige und in das individuelle einander gegenseitig.


Und nun weiter zum stoffe und gehalte des gedichtes. der stoff ist
die sage: wiederum dieselbe wechselwirkung wie in sprache und vers-
kunst, nur daſs hier das individuelle, dort das allgemeine leichter erfaſst
und deshalb meist überwiegend betont wird. hier heiſst es Welckers
spuren suchen; sie sind fast unkenntlich geworden: aber sie führen in
ein reich voll unergründlicher herrlichkeit.


Und das einzelne chorlied oder die einzelne scene ist ein glied des
dramas, ein teil des ganzen: das soll verstanden werden, die weise der
composition will am vorliegenden objecte erfaſst sein, und dann ab-
geschätzt im vergleiche zu den anderen werken desselben dichters und
seiner zeit- und volksgenossen. hier offenbart sich in der mannigfaltigkeit
die stilfreudige selbstzucht der hellenischen poesie, eröffnen sich fragen,
deren beantwortung rückwärts zu der technik epischer erzählung, vor-
wärts zur stilisirten prosarede weisen.


Und das einzelne drama ist nur ein act eines reichen dichterlebens,
der einzelne dichter nur eine person in dem groſsen drama der geschichte
seines volkes. da will jedes an seine stelle gerückt werden, um das rechte
licht zu empfangen und auszustralen. Götz 1772, Natürliche Tochter
1803: wir wissen, was wir mit den jahreszahlen sagen, welche fülle von
kenntnissen sowol aus der geschichte des dichters wie aus der seiner zeit
notwendig sind, um ein wirkliches verständnis der beiden gleich groſs-
artigen dramen zu gewinnen. nun, soll das anders sein, wenn wir
Medeia 431, Orestes 408 sagen? und, wenn es gleich ist, müssen wir
nicht versuchen, so unvollkommen es auch bleiben wird, das notwendige
zu leisten?


Weil die philologie so lange jahre hindurch dem drama gegenüber
[256]Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ihre pflicht ungenügend erfüllt hat, ist dieses in seiner bedeutung für die
gesammtentwickelung des volkes allgemein verkannt. es ist nur recht, daſs
die verschiedenen zeiten sich in dem unermeſslichen gebiete der altertums-
wissenschaft verschiedene felder zu bebauen wählen. und so würde es
kein schade gewesen sein, daſs die anregungen, welche Lachmann Ritschl
Mommsen gaben, dem vorher vernachlässigten Römertum gebührende be-
arbeitung zuführten, daſs die monumentale philologie die talente mehr
anzuziehen begann als die schriftstellerkritik — wenn nicht das studium der
attischen tragödie so gut wie das Homers und der beiden fürsten der philo-
sophie für alle seiten hellenischer studien unentbehrlich wäre. aber man
bedenke: das ganze griechische leben wird in den generationen umgestaltet,
mit welchen Sophokles und Euripides leben, während das Athen, das den
Meder schlug, nur durch Aischylos für uns vertreten ist. das Athen,
welches die alte physik und ἱστορία loniens aufnahm und durch die
sophistik sowol die beredsamkeit wie die philosophie vorbereitete, spricht
nur im drama selbst zu uns. jede ernste mythographische forschung
lehrt, daſs der ausgangspunkt im drama liegt, mag man aufwärts zu Homer
oder abwärts zu Nonnus gehen. jede sprachliche forschung bedarf dieses
mittelgliedes zwischen der archaischen rede und der gemeinen Atthis.
wie jede archaeologische forschung auf die architektur, skulptur und
malerei des 5. jahrhunderts als auf das centrum zurückführt, so steht es
fast mit jeder forschung auf jedem gebiete des geistigen lebens. die ganze
griechische poesie culminirt im drama, dessen vorstufen epos und lyrik
sind, das selbst den sokratischen dialog und das menandrische lustspiel
gezeugt hat. die ganze griechische geschichte culminirt im fünften jahr-
hundert. die tragödie ist die poesie des attischen Reiches: das sagt
genugsam, daſs kein geschichtliches erfassen des Hellenentums an dem
drama vorbeigehen darf, und daſs der zustand die schwersten folgen haben
muſste, in dem wir leben, wo Euripides keinen andersartigen wert für
den historiker zu haben scheint als etwa Anakreon oder Aratos.


So hohe forderungen erhebt die philologie als geschichtliche wissen-
schaft. und sie ist doch selbst auch noch etwas anderes. sonst würde es
genügen ein buch über das drama zu schreiben, nicht einen commentar zu
einem einzelnen stücke, zumal dies viel mühsamer ist. es kommt vielmehr
darauf an, daſs der alte dichter zu worte komme, nicht ein moderner pro-
fessor. wie wir unser geschäft nur dann recht besorgen, wenn wir in jedes
alte buch, das wir unter den händen haben, nicht unsern geist hineintragen,
sondern das herauslesen, was darin steht, so liegt überhaupt die specifisch
philologische aufgabe in dem erfassen einer fremden individualität. es
[257]Die wahren aufgaben.
gilt sich in eine fremde seele zu versenken, sei es die eines einzelnen,
sei es die eines volkes. in der [aufopferung] unserer eigenen individualität
liegt unsere stärke. wir philologen als solche haben nichts vom dichter
noch vom propheten, was beides bis zu einem gewissen grade der histo-
riker sein muſs. dagegen müssen wir etwas vom schauspieler in uns
tragen, nicht vom virtuosen, der seiner rolle eigene lichter aufsetzt,
sondern vom echten künstler, der dem toten worte durch das eigene
herzblut leben gibt. auch bei uns geht das am besten durch das lebendige
wort: wenn G. Hermann ein chorlied vorlas, dann rauschten die alten
rhythmen in voller stärke — denen die ihn gehört haben, klingen sie noch
in den ohren. aber das wort verhallt, und so muſs man sein unvoll-
kommenes surrogat, die schrift, zu hilfe nehmen. und doch hat auch der
dickste commentar nur darin berechtigung, daſs er das verständnis des
dramas erschlieſst, daſs er dem nacharbeitenden leser zum vollen genusse
der dichtung verhilft, einem genusse, der freilich nur um den preis
ernster arbeit feil ist. wir haben erst in zweiter linie die schätze ge-
schichtlicher belehrung zu heben, die für uns in dem werke liegen, in
erster linie kommt es darauf an, das frei und wirksam zu machen, was
der dichter hineingelegt hat. es ist freilich gar vieles vielen verschiedenen
disciplinen angehörige zusammen zu suchen und zu erläutern, damit der
leser die kenntnisse voraussetzungen stimmungen erhalte, die der Athener
in das Dionysostheater mitbrachte, als er das drama zu schauen gieng:
das ideal bleibt es doch, dem die philologische erklärung zustrebt, dem
modernen leser den genuſs des antiken hörers zu ermöglichen. also
müssen zwar commentare geschrieben werden, wozu die vorige generation
sich zu vornehm dünkte, aber nicht, wie es Valckenaer und Lobeck getan
haben, um den qualm der eigenen erudition loszulassen, sondern um das
licht der alten verse mit alter wärme und in altem glanze in empfängliche
seelen fallen zu lassen: non fumum e fulgore, sed e fumo dare lucem.



[[258]]

5.
DER HERAKLES DER SAGE.


Hellas vor
der völker-
wanderung.

Die geschichte unseres weltteils beginnt in Hellas. sie beginnt viele
jahrhunderte früher, als den Hellenen auch nur eine ahnung davon auf-
steigt, daſs sie als volk in herkunft sprache glaube recht eine einheit
bildeten oder je gebildet hätten; ist doch vielmehr die entwickelung aus
der zersplitterung zur einheit der inhalt ihrer geschichte. aber sie beginnt
doch erst in einer zeit, wo das land das jetzt wieder Hellas heiſst von
menschen arischen stammes besetzt war, die gespalten in eine unzahl
von stämmen und ihrer verwandtschaft unbewuſst gleichwol alle unter
dem namen der Hellenen, welcher eigentlich nur einem jener kleinen
stämme zukam 1), von uns begriffen werden können und müssen 2). was
[259]Hellas vor der völkerwanderung.
immer auf grund von erwägungen anderer art über vorgeschichtliche urzeit
vermutet werden mag: für die geschichte sind die Hellenen autochthonen,
wie sie es selbst auch nicht anders gewuſst haben.


An der asiatischen küste, vielleicht tief in das land hinein, saſs ein
anderer complex ebemfalls arischer stämme, die es nicht dazu gebracht
haben sich zu einem volke zu concentriren, sondern sich teils selbst ver-
zehrt haben, teils vom den übergreifenden Asiaten, zuletzt mit vollster
macht von den Hellemen erdrückt sind. sie mögen nach dem vorgange
der Hellenen auch vom uns Karer genannt werden, weil so der bis tief
in die geschichtliche zeit bedeutendste ihrer stämme hieſs 3). die Karer
hatten auch die inselm des aegeischen meeres besetzt; möglich daſs sie
auch hie und da auf das hellenische land übergriffen: man darf nicht
2)
17*
[260]Der Herakles der sage.
vergessen, daſs so alte zeit keine scharfen völkerscheidungen kennt. sie
vermittelten den Hellenen die cultur Asiens und Aegyptens, die selbst
schon nach jahrtausenden zählte. es mag auch einige directe berührung
der Hellenen mit dem semitischen oder dem aegyptischen volke statt-
gefunden haben, wenn deren handelsschiffe sich bis an die griechischen
küsten wagten: der gedanke an irgend welche seſshafte semitische bevöl-
kerung ist mit vollster entschiedenheit abzulehnen. die zeugnisse Homers
von sidonischen händlern gelten doch nur für seine zeit und gehören
gerade sehr jungen partieen des epos an. semitische lehnwörter fehlen in
der alten sprache so gut wie ganz4); die fremdwörter, die es gibt, führen
auf eine andere vermittelung und die übereinstimmungen in den erzeug-
nissen des handwerks geben über die träger der vermittelung so wenig
ein zeugnis ab wie die importware, ganz abgesehen davon daſs die zeit-
bestimmung der ‘mykenaeischen’ funde zur zeit noch ungewiſs ist; prae-
historisches pflegt zunächst zu alt angesetzt zu werden.


Die völker-
wanderung.

Also der zustand, in welchem sich Hellas befand, als die geschichte
beginnt, liegt noch in einem dunkel, das sich aber dereinst lichten wird.
die geschichte selbst beginnt mit einer völkerwanderung, deren erfolg
ist, daſs das Hellenenland mit ausnahme weniger striche die bewohner
oder wenigstens die herren wechselt, und dafür die inseln, die asiatische
küste, Kreta und Kypros von hellenischen auswanderern besetzt werden.
nicht überall können sie sich halten; in der vereinzelung verlieren sie
auch wol so viel von ihrer natur, daſs sie später nicht mehr als Hellenen
erscheinen, im ganzen aber gelingt es ihnen nicht nur die Karer (im
collectiven sinne) zu bemeistern, sondern sie sich zu assimiliren. auch
verlieren sich durch diese auswanderung die alten kleinen stämme und
an ihrer statt ersteht die aeolische und namentlich die ionische nation:
die Ἰάϝονες 5) sind für den orient identisch mit den Griechen geblieben.


[261]Die völkerwanderung. die einwanderer, in Makedonien.

Die einwanderer, welche die späteren Aeoler und Ionier, die altenDie ein-
wanderer.

Hellenen, vertrieben, können wir nicht mit einem namen nennen, weil
sie weder selbst vorher oder nachher sich als eine einheit empfunden
haben, noch von späterer geschichtsbetrachtung zu einer solchen zu-
sammengefaſst worden sind. nicht alle, aber doch in der mehrzahl waren
sie den Hellenen naheverwandte stämme; sie sind ja auch später fast alle
in das Hellenentum aufgegangen. allein als sie einwanderten, erschienen
sie sich und ihren feinden als stammfremd, und mag ihre körperbildung
und selbst ihre sprache sie auch als brüder der Hellenen ausweisen:
fremden geistes sind sie nicht nur gewesen, sondern geblieben. deshalb
ist die völkerwanderung für die geschichte Griechenlands verhängnisvoll
geworden. der peloponnesische krieg ist der letzte act des jahrhunderte
langen kampfes, der, fast immer den kämpfenden unbewuſst aber deshalb
nur um so erbitterter, darum gefochten ward, die Hellenen und die
einwanderer zu einer einheit zu verschmelzen. als auch dieser versuch
scheitert, ist der politische untergang der nation unvermeidlich.


Die völkerwanderung auf der Balkanhalbinsel stellt sich naturgemäſsin Make-
donlen.

als eine schiebung von nord nach süd dar, wobei hie und da wider-
strebende teile nach ost oder west über das meer hin abgesprengt werden.
oft erkennen wir den vorgang im innern nur aus seiner wirkung über
5)
[262]Der Herakles der sage.
das meer hin. so scheint der erste stoſs der einwandernden die arischen,
aber von den Hellenen fernab stehenden stämme im norden der halb-
insel getroffen zu haben, die wir unter dem collectivnamen Thraker be-
greifen. starke züge von ihnen wichen über den Hellespont nach Asien
aus, und so finden wir in geschichtlicher zeit teile desselben volkes im
innern Makedoniens und in asiatischen gegenden; so die Βρύγες im süd-
lichen Thrakien, die Βέβρυκες bei Kyzikos, die Φρύγες am Sangarios
und Kaikos. die einwanderer, welche sich durch die Thraker durch-
schoben, besetzten die fluſstäler des Axios Ludias Haliakmon, aber auch
das innere bergland. es ist unmöglich über jeden einzelnen der stämme,
die hier nicht minder zersplittert waren, als wir es in der umgegend von
Pindos Parnass und Oeta sehen, auch nur so viel auszusagen, ob sie
von ursprung griechisch, thrakisch oder, die westlichen, selbst illyrisch
gewesen sind. aufgegangen sind sie alle in das volk der Makedonen6),
welche am tiefsten im tale ansässig die cultur zuerst annahmen, und
zwar fällt die einigung der nation mit ihrer hellenisirung zusammen.


in Epirus
Aetolien
Messapien.

Ihnen verwandt waren, wie es scheint, die einwanderer, welche sich
auf der westseite nach süden schoben und Epirus, Akarnanien (die Ἀκαρ-
νᾶνες sind ein stamm von ihnen), Aetolien besetzten, überall eine helle-
nische bevölkerung verjagend. der strom muſs sehr stark gewesen sein,
denn er flutete selbst nach Italien hinüber, wo er sehr breite striche in
besitz nahm: Χάονες wohnen in Epirus, Χῶνες bei Kroton; die Mes-
sapier Oinotrer Iapygier haben so die heimat gefunden, welche sich nach
ihnen nennt. wie die makedonischen stämme schwer von den Thrakern,
so sind diese von den Illyriern schwer zu sondern. denn die Illyrier
blieben in Epirus ihre nördlichen nachbarn, und daſs sich illyrische stämme
bei der schiebung nach süden und übers meer stark beteiligt haben, ist
nicht zu verwundern. als dann später colonisten aus Hellas an die epi-
rotische und italiotische küste kamen, giengen diesen selbst die züge der
urverwandtschaft und der barbarei durcheinander, und in Italien muſsten
[263]Die einwanderer in Epirus Aetolien Messapien Elis.
letztere vorwiegen, obwol griechische cultur mit viel gröſserer leichtigkeit
eingang fand als bei barbarischen stämmen festen volkstums, z. b. den
Italikern. die hellenische urbevölkerung ist in Epirus fast spurlos ver-
nichtet; nur das heiligtum von Dodona wuſste sich zu behaupten. südlich
davon, am flusse Oropos, hatte der stamm der Graer gesessen, der seinen
und seines flusses namen mit an den Euripos nahm, wo er zwischen Boeotern
Euboeern und Athenern sich verlor. aber die einwanderer nannten in
Epirus nach dem kleinen stamme das ganze Hellenenvolk, und da sie nach
Italien übersiedelten, trugen sie diese bezeichnung mit hinüber, über-
mittelten sie den Italikern und durch sie auch uns. weit mächtiger als
bei Graern und Sellern war in Aetolien die hellenische cultur erblüht.
die trümmerstätten von Kalydon und Pleuron, umrankt von den ge-
feiertsten sagen, legten zeugnis davon ab, daſs dort, wo bis zum vierten
jahrhundert ein ungeschlacht wildes, in einzelne stämme gespaltenes, feste
wohnstätten und selbst das braten des fleisches verschmähendes volk
hauste, einst stolze burgen und blühende weingärten gestanden hatten.
nach harten kämpfen, deren gedächtnis in dem heldenbilde des Meleagros
dauerte, wichen die Hellenen, teils nach dem Peloponnes, teils weiter
übers meer bis nach Chios. der flüchtige Diomedes, der flüchtige Oineus
bewahren davon das gedächtnis: ihr feind, Agrios, ist der eponym des
stammes der Agrianer. dem lande war der alte name Aetolien geblieben,
und als im vierten jahrhundert die einwanderer sich zu einem volke und
staate zusammenschlossen, nahmen sie selbst den Aetolernamen auf und
erbten auch den alten sagenruhm: sie prägten mit dem bilde Atalantes7).


Auch nach dem Peloponnes hat eine welle dieser flut hinübergeschlagen.in Elis.
ein nicht eben zahlreicher stamm, der das gedächtnis seiner herkunft nie
verloren hat, besetzte zunächst das obere Peneiostal und nannte sich nach
dieser ϝᾶλις (vallis) ϝαλεῖοι. auch er erbte alten sagenruhm, und zwar
schon früh, den der selbst verschwindenden Epeer. es ist den eindring-
[264]Der Herakles der sage.
lingen allmählich gelungen, bis an den Alpheios, ja bis an die Neda
überzugreifen, aber stammfremd im Peloponnes sind sie immer geblieben
und erst im 5. jahrhundert zu städtischer siedelung übergegangen, auch
da noch unvollkommen.


Denn alle bisher aufgezählten völker haben niemals vermocht, die
hellenische cultur voll in sich aufzunehmen, wie ihnen denn die helle-
nische politie innerlich fremd geblieben ist. sie haben die hellenische
entwickelung lediglich gehemmt, und sind doch selbst eben durch diese an
der entfaltung ihrer eigenen art verhindert worden. nur die Makedonen,
die eben nicht auf hellenischem untergrunde saſsen, sind im 4. jahrhundert
zu positivem schaffen auch für das Hellenentum berufen worden, doch
selbst sie um den preis, auf ihr volkstum zu verzichten.


Boeoter
und
Thessaler.

Diesen stämmen, die man zu einer einheit zusammenfassen darf,
doch nicht ohne sich einzugestehen, daſs vielleicht nur im gegensatze zu
den andern diese einheit liegt, stehen die gegenüber, welche sich aus
der mitte der halbinsel nach süden und osten wandten, und sie gehören,
trotz allen unterschieden, auch positiv zusammen. der vortrab waren die
Boeoter, die wir zuerst im südlichen Thessalien antreffen, offenbar schon
gedrängt von ihren brüdern, den Thessalern, welche dann dieser alt-
hellenischen, hochgesegneten und hochcivilisirten landschaft den namen
gaben, die civilisation aber so gut wie ganz vernichteten. sie behaupteten
selbst nur die herrschaft sowol in den ebenen wie über das perrhaebische
und magnetische bergland, als ein üppiger herrenstand, während die
alten bewohner in den bergen unvermischt und über das ganze land hin
als knechte und hörige weiter arbeiteten, die reste ihrer verkümmerten
cultur und zuletzt sogar ihre aeolische sprache den bedrückern mitteilend.
reiner in der sprache hielten sich die Boeoter in dem lande, welches
sie benennen, nachdem sie es in harten kämpfen von Koroneia und Theben
um sich greifend sehr allmählich erworben haben, eine bewegung, welche
bis in das 6. jahrhundert herabreicht und eigentlich erst in den kämpfen
um Oropos und Plataiai ein ende findet. aber die Boeoter sind inner-
lich viel tiefer hellenisirt als die Thessaler, und auch viel rascher zu der
hellenischen städtischen politie übergegangen. diese war auch diesen
einwanderern von haus aus fremd, aber über die zersplitterung, in welcher
die westlichen völker so lange beharrten, waren sie doch schon bei der
einwanderung hinaus. die Thessaler waren sicher, die Boeoter wahr-
scheinlich8), wie die Kelten in tetrarchien gegliedert, die sich im notfalle
[265]Boeoter und Thessaler. Dorer.
unter einem herzog zusammenfanden. aber die hellenische civilisation
saſs auf der ostküste, trotzdem die kräftigsten elemente auswanderten, zu
tief, als daſs sie die herren nicht sehr bald zu sich hinübergezogen
hätte. die verhältnisse gemahnen oft an die besetzungen altromanischer
landstriche durch die Germanen, die auch ihr volkstum unweigerlich ein-
büſsen müssen. in geistiger beziehung sind Thessaler und Boeoter niemals
als volle Hellenen angesehen worden, und haben es eigentlich selbst kaum
je ernstlich angestrebt. Pindaros ist dem herzen und dem glauben nach
ein Boeoter gewesen; aber der abkunft nach hat er es wenigstens nicht
sein wollen, und da sein name auſser auf Thera auch in Ephesos wider-
kehrt, so war sein blut wol wirklich kadmeisches.


Geschichtlich bedeutend und schaffend sind vielmehr nur die einwan-Dorer.
derer geworden, nach denen wir gewohnt sind die ganze völkerwanderung
zu nennen, die Dorer. wir treffen sie erst spät, auf schon vorgeschobenen
sitzen, im berglande nördlich vom Parnassos. an diesem sind ein par
dorische dörfer erhalten geblieben, weil sie als urheimat von den mächtigen
brüdern im Peloponnes geschützt wurden. und auch das heiligtum von
Delphi ist der dorischen usurpation nur vorübergehend wieder entrissen
worden, während die landschaft, in welcher es liegt, den älteren anwohnern,
Phokern und Lokrern, wieder zufiel. dadurch ist das orakel zu seiner
macht gekommen, und ist andererseits Apollon, dem es schon früher gehört
hatte, zu einem Dorergotte gemacht, obwol die Dorer vorher schwerlich
auch nur den namen des althellenischen gottes gekannt hatten9). sie
8)
[266]Der Herakles der sage.
haben von hier aus den Apollon Karneios, das fest der Κάρνεια und den
monat Καρνειών mitgenommen, allein das gedächtnis hat sich nicht ver-
loren, daſs sie sich so eine ursprünglich feindliche gottheit gewinnen
wollten10), und in das wesen des Apollon hat das Dorertum keine neuen züge
hineingetragen. die geschichtliche bedeutung Delphis ist allerdings ohne
sie nicht denkbar, aber auch nicht ohne die Athener und Chalkidier. es
erlangt sie gerade dadurch, daſs Apollon ein gott ist, den Hellenen und
Dorer gleich hoch schätzen, und wirkt demgemäſs sehr stark für die
erweckung des neuen panhellenischen nationalitätsgefühles.


Einwan-
derung in
den Pelo-
ponnes.

Es war nicht ihr freier wille, wenn die Dorer sich am Parnassos
längere zeit aufhielten; es war die folge davon, daſs die Peloponnesier
ihnen den einmarsch über den isthmus mit erfolg wehrten. es hatte
nämlich ganz naturgemäſs eine starke zuwanderung der aus dem norden,
namentlich aus Thessalien und dem nördlichen Boeotien, vertriebenen
Hellenen nach dem Peloponnes stattgefunden. auch hier war die cultur
ganz vorwiegend auf der ostseite entwickelt; jetzt dehnte sie sich nach
dem westen, namentlich südwesten, mit gröſserer stärke aus: dort treffen
wir selbst eine groſse zahl thessalischer ortsnamen wieder, und religion
und sage sind voll von den spuren dieser, um einen späteren volksnamen
vorwegzunehmen, aeolischen zuwanderung: Pylier, Minyer, Lapithen
9)
[267]Dorer. Einwanderung in den Peloponnes.
nennt man sie im süden und westen; im norden und osten vertreten
sie einzelne heroen, wie die oben genannten Aetoler, oder geschlechter,
wie vor allem die Amythaoniden. die geschichtliche bedeutung dieser
vordorischen zuwanderung tritt aller orten stark zu tage, und man
kann sie nicht leicht zu hoch schätzen. dadurch war nun aber die
widerstandskraft der an sich schwer zugänglichen insel der Peloper be-
deutend gekräftigt, und die Dorer saſsen am meere, sahen drüben die
ersehnte küste, aber konnten nicht hinüber. sie waren kein seevolk,
die Hellenen selbst waren erst durch die not auf die see gedrängt. aber
die not zwang nun auch die Dorer. es hat sich damals ein ereignis
abgespielt, das sein analogon in den zügen hat, welche die Skythen des
Dexippos, d. h. die Germanen. im 3. jahrhundert n. Chr. unternommen
haben. das gedächtnis daran ist in späterer zeit verkümmert, weil man die
tatsachen zu Ephoros zeit wirklich nicht mehr begreifen konnte, aber die
spuren sind unverloren, daſs man bis dahin die geschichtliche überlieferung
noch bewahrte. in Naupaktos haben die Dorer schiffe, kielschiffe, νᾶες,
gebaut: zum überschreiten der meerenge zwischen den Rhia brauchten
sie keine. die ältesten dorischen ansiedelungen liegen nicht auf dem
Peloponnes, sondern um ihn, auf den inseln Thera Melos und namentlich
Kreta. es konnte nicht fehlen, daſs zu der zeit, wo der Peloponnes eine
dorische insel geworden war, diese besiedelung angesehen ward als von
ihm aus vollzogen, und ein anschluſs der meisten dorischen inseln an
Sparta war damals eine politische notwendigkeit. aber es ist ganz un-
denkbar, daſs z. b. Kreta nicht früher von Dorern besetzt wäre, als Spartas
dorische macht sich bis an die südküste des Peloponnes erstreckte:
und wie wären die Pamphylier, die den namen einer dorischen tribus
führen, von Sparta aus an die südküste Kleinasiens gesandt, sie, die
wirklich jeden zusammenhang mit Griechenland verloren haben? aber
nicht für solche fahrten in nebelhafte ferne bauten die Dorer ihre schiffe,
sondern um die einnahme des Peloponnes durch irgend welche hinter-
pforte zu erzwingen, weil der frontangriff aussichtslos war. von der see
kam ein könig, dessen wirklicher name sich durch einen ortsnamen und
durch den cult erhalten hat, Temenos11), an die argolische küste. es
gelang ihm sich zunächst am strande festzusetzen, unter harten kämpfen
wurden erst einzelne burgen erobert, die in der Argolis so dicht lagen
[268]Der Herakles der sage.
und liegen wie nirgend; am längsten hielt sich Larisa-Argos, welches
schlieſslich der hauptsitz des peloponnesischen Dorertums geworden ist.
ein anderer seekönig, dessen name verschollen ist, den aber die sage um
so bezeichnender den ‘ellenden ritter’ nennt (Ἀλήτης Ἱππότου), landete im
innersten winkel des saronischen busens und bezwang von der küste aus
den schlüssel zum Peloponnes, wo er eine neue stadt, Korinthos, gründete,
die berufen ward, der zweite hauptort des Dorertums zu werden. doch
ist diese eroberung erst gemacht, als das Dorertum in der Argolis schon
festen fuſs gefaſst hatte, also wol viel später als wenigstens einem starken
schwarme der direkte übergang an der schmalsten stelle des Korinthischen
busens geglückt war, wie die überlieferung berichtet, weil von den west-
lichen auswanderern zuzug gekommen war, die späteren Eleer unter ihrem
könig ‘Führer’ (Ὄξυλος12). aber so glücklich wie diese hatten die Dorer
es nicht. sie muſsten lange irren, ehe sie im oberen Eurotastale eine
dauernde stätte fanden, und immer hat ihr gemeinwesen die spuren davon
bewahrt, daſs ein kriegerischer, unstäter haufe sich für sein lagerleben
diese formen geschaffen hatte. in den kämpfen, welche viele ihrer ge-
schlechter mit den hellenischen einwohnern zu bestehen hatten, sind
die Spartiaten erstarkt; zu einer wirklich groſsen macht wurden sie jedoch
erst, als der letzte act dieses kampfes ihnen die ungleich gesegnetere
landschaft Messenien überantwortete. denn es läſst sich bis zur vollen
evidenz bringen, daſs der s. g. erste messenische krieg nicht, wie die
sowol von Sparta wie von Argos aus getrübte überlieferung will, ein
dorischer bruderkrieg war, sondern den Spartiaten die arkadische und
pylische Hellenenbevölkerung erlag, welche gleichzeitig von den südwärts
vorstoſsenden Eleern bedrängt ward13). gegen ende des achten jahr-
hunderts ist das Hellenentum des Peloponneses, an welches die Ἑλλα-
νοδίκαι in Olympia die zulassung zu den Zeusspielen binden, ein anderes,
dorisches; die alten angestammten träger des namens sind teils geknechtet,
teils in die berge gejagt, wo sie fast allerorten in bedeutungslosigkeit
sinken, teils ausgewandert, wie die Pylier nach Athen und von dort nach
Ionien14). jetzt beginnt der antagonismus zwischen Argos, dem schon
[269]Einwanderung in den Peloponnes. Herakles ein Dorer.
früher weithin mächtigen, und Sparta. die Πελόπων νᾶσος aber ist eine
Δωρὶς νᾶσος, wie Sophokles sie nennt.


Der hellenische untergrund hat die Dorer nicht weniger beeinfluſst
als Thessaler und Boeoter, und es war das ihrer cultur selbst zum segen.
weil die Spartiaten sich gegen das Hellenentum immer mehr ablehnend
verhielten, sind sie zu einer kriegerkaste, schlieſslich zur szlachta hinab-
gesunken, während das lebenspendende meer die korinthischen nach-
kommen des ‘Ritters’ zu rhedern und ruderern machte, und in der Argolis
das hellenische und dorische sich fast bis zur unscheidbarkeit amalgamirte.
aber die Dorer hatten eine wirkliche eigenart, die sich mit nichten ganz
verlor, vielmehr dadurch, daſs sie die bedeutendste politische und militä-
rische macht in Griechenland wurden, selbst für die allgemein hellenischen
sitten und anschauungen maſsgebenden einfluſs gewann. die weise, wie
man in ernst und spiel das waffenhandwerk übt, die begriffe von mannes-
ehre und eingebornem adel, die zurückdrängung des weibes und ihr
notwendiges correlat, die knabenliebe, die verachtung des handwerks und
die adlichen passionen für jagd und pferde: das alles ist dorisches ge-
wächs. die lebensformen, die in Griechenland allgemein herrschen, als
vornehm gelten und demgemäſs verherrlicht werden, bis Athens demo-
kratie sie bricht, sind das erzeugnis dieser dorischen cultur. der gegen-
satz, welchen Vergil in den schönen versen schildert, die auf tu regere
imperio populos Romane memento
ausgehn, gilt vielleicht in höherem grade
zwischen Dorern und Hellenen als zwischen Römern und Griechen. es
gemahnt freilich sehr vieles im dorischen wesen an Latium, ganz besonders
die gliederung der bürgerschaft in drei tribus und das vorwalten der
magistratur und des rates der alten gegenüber der gemeinde, und wenn es
jemals irgend etwas gegeben hat, was den namen graecoitalische periode
verdient, so kann dieses schlechterdings nur eine dorisch-italische ge-
wesen sein.


Die wurzel des ganzen dorischen wesens ist der glaube an die gött-Herakles
ein Dorer.

lichkeit des rechten dorischen mannes. ϑεῖος ἀνήρ nennen die Spartiaten
einen der ihren, wenn er das leistet, was sie von dem manne fordern.
dieser glaube durchdringt das ganze leben. frauen und kinder, hörige
und knechte haben gar keine andere existenzberechtigung als in be-
ziehung zu dem manne, für den sie da sind. die ganze sittlichkeit ist
darauf begründet, daſs er seine existenz erfüllt und genieſst. der ganze
zuschnitt des lebens ist darauf berechnet. als dies ideal einmal auf-
14)
[270]Der Herakles der sage.
gestellt ist, opfert man ihm ohne bedenken alles andere, mag es auch so
teuer sein wie die familie, und man opfert ihm selbst das eigene streben
über die gegenwart hinaus. selbstgenügsamkeit und selbstgerechtigkeit
wohnen nah bei einander. über dem einzelnen manne steht nur die summe
der männer, der stand. der stand muſs den staat ersetzen, und der indi-
vidualismus, welcher nichts über sich erkennt, führt schlieſslich zur ver-
leugnung der individualität. es ist eine äuſserst beschränkte, aber wahrhaft
groſse erscheinung, einzig in ihrer art, dieses dorische wesen. um so
viel mehr muſs dasselbe von dem religiösen ausdrucke dieser alles durch-
dringenden empfindung gelten. daſs die Dorer eine göttliche person ge-
glaubt hätten, in welcher sich ihr mannesideal verkörperte, müſste man
a priori fordern, wenn anders sie nur ein wenig hellenisch zu empfinden
wuſsten. nun steht diese überwältigend groſse religiöse schöpfung vor
unser aller augen: Herakles, der ἀνὴρ ϑεός, wie ihn Pindar und Sophokles
nennen. er ist die einzige groſse gestalt, welche die einwanderer der
hellenischen religion zugeführt haben, wie das ihrem wesen entspricht.
aber sie ist dafür auch eine der groſsartigsten schöpfungen, zu der je
die phantasie eines volkes emporgestiegen ist.


Dafür legt schon das zeugnis ab, daſs es unmöglich erschien, das
wesen des Herakles zu erfassen und darzustellen, ohne die geschichte
der völkerwanderung in ihren hauptzügen darzustellen und die völker-
gruppen zu sondern. nur so ist aussicht vorhanden, ordnung in das
chaos der sagenmasse zu bringen und das gemeinsam dorische zu erfassen.
andererseits würde die Heraklesreligion selbst unweigerlich haben dar-
gelegt werden müssen, wenn die aufgabe gewesen wäre, die geschichte
der dorischen wanderung zu erzählen. die griechische geschichte und die
griechische religion und sage gehören zusammen, weil der inhalt teils
identisch ist, teils eines das andere bedingt. die heillose begriffsverwirrung,
die in diesen dingen meist herrscht, ist dadurch hervorgebracht, daſs die
historiker vom handwerk mit der sage nicht arbeiten mögen oder können,
die dann den mythologen vom handwerk anheimfällt, welche an die ge-
schichte gar nicht denken.


H. fehlt den
Hellenen.

Die Hellenen, d. h. also die autochthone bevölkerung, hat Herakles
nicht gekannt. Aeolern und Ioniern ist er fremd gewesen und immer
ein fremder geblieben. die auswanderer haben ihn nicht an die asiatische
küste mitgenommen, und die ältere asiatische schicht des epos kennt
ihn nicht. erst als die von der westseite des Peloponnes colonisirte
dorische hexapolis auf das epos einwirkt, und dann vollends, als das epos
nach dem mutterland übergreift, dringt Herakles, immer jedoch als fremder,
[271]Herakles ein Dorer. H. fehlt den Hellenen; Eleern.
ein. diese tatsache ist notorisch. sie wird nicht im mindesten dadurch
beeinträchtigt, daſs der cult des Herakles sich auch bei Ioniern verbreitet
hat, als die politische vormacht und die gesellschaftliche führung bei den
Dorern stand. so haben naturgemäſs die Hellenen, die sich auf dem
festlande hielten, von ihren nachbarn gelernt den Herakles zu verehren,
also die bewohner von Attika und Euboia in erster linie. es ist aber auch
nicht zu verwundern, daſs unsere trümmerhafte kenntnis an einzelnen
orten zwar einen alten Heraklescult nachweisen kann, aber keine alt-
dorische bevölkerung. besondere aufmerksamkeit verdienen diese aus-
nahmen, allein mit ihnen wird so leicht niemand wagen die regel zu
bestreiten 15).


Auch der westlichen gruppe der einwanderer ist der ursprünglicheH. fehlt den
Eleern.

besitz des Herakles abzusprechen, und leicht lösen sich die scheinbar
widerstrebenden instanzen auf. die sage von Herakles bei Augeias mit
allem was daran hängt, geht höchstens die hellenischen vorgänger der
Eleer, die Epeer, an, und sieht die heimat des Herakles in Argos 16). die
[272]Der Herakles der sage.
olympischen spiele sind den Pisaten erst von den Eleern abgejagt und
für eine stiftung des Herakles erklärt, als der dorische adel bei diesen
spielen die erste rolle hatte, und Sparta mit Argos zu rivalisiren begann.
eine bevölkerung, welche selbst den Herakles als fremden ansah, gegen
die er nicht nur von Argos, sondern auch von Dyme her 17) zu felde ge-
zogen ist, kann noch weniger auf diesen heros anspruch machen als die
autochthonen Arkader, bei denen er in Tegea, Pheneos, Stymphalos einzeln
auftritt, nämlich wenn er von Argos aus auf abenteuer zieht.


H. fehlt den
Aetolern.

Noch deutlicher ist, daſs die Aetoler, d. h. die fälschlich den alten
namen usurpirenden einwanderer, mit Herakles nichts zu tun haben.
Deianeira, könig Oineus tochter, welche Herakles vom werben des Acheloos
befreit, ehelicht, am Euenos vor der zudringlichkeit des Kentauren Nessos
schützt, die mutter des Hyllos, nach dem die vornehmste tribus der Pelo-
ponnesier heiſst, schlieſslich die schuldlose mörderin ihres gatten, ist gewiſs
die bedeutendste weibliche gestalt, welche in seiner umgebung auftritt.
schon deshalb ist sie nicht national aetolisch. ist doch auch in dieser sage
der vertreter Aetoliens der hellenische Oineus. es wird später noch nötig
werden, auf den sagenkreis einzugehen, und dabei wird die benutzung
der altaetolischen personen noch verständlicher werden. aber auch hier
muſs schon betont werden, daſs der Acheloos, welchen Herakles bezwingt,
durch fehlgreifende willkür mit dem aetolischen flusse gleich gesetzt ist.
seine bezwingung ist in wahrheit eine dublette zu dem Tritonkampfe:
nicht ein fluſsgott, sondern der herr des meeres kann das füllhorn, das
symbol der ewigen seligkeit, bieten 18).



[273]H. fehlt den Eleern; Aetolern; Makedonen. H. in Groſsgriechenland.

Bei den Epiroten 19) und Makedonen ist von Herakles keine spur.H. fehlt den
Makedonen.

seit Alexandros I wollte das makedonische königshaus freilich von Herakles
stammen, und noch der groſse Alexander hat einen sohn Ἡρακλῆς ge-
nannt (wovor sich sonst die menschen doch scheuen), aber das ist erst
eine folge davon, daſs sie gern Hellenen sein wollten, und der name
ihres geschlechtes Ἀργεάδαι an Argos anklang.


Stutzig machen kann nur die fülle von Heraklesculten und Herakles-H. in Groſs-
griechen-
land.

sagen bei den unteritalischen auswanderern. es gibt dort eine einzige
Dorerstadt Tarent (das Herakleia erst spät gründet), auf welche dieser
reichtum um so weniger zurückgeführt werden kann, als die Parthenier
des Phalanthos aus ihrer heimat Sparta weder reiche sagen noch die
neigung weiter zu dichten mitbringen konnten. die versuchung liegt also
nahe, Messapiern und Chonern (Chon gilt selbst als sohn des Herakles)
den cult zuzutrauen, und leicht möchte man dann selbst die Italiker
heranziehen. allein die Achaeer Groſsgriechenlands, welche zunächst in
betracht kommen müssen, können nicht für so rein hellenisch gelten
wie die Ionier. beide stammen der tradition nach von der nordküste des
Peloponnes, und die Achaeer notorisch. aber sie sind ganz und gar ver-
schieden. Kroton Sybaris Metapont sind allerdings eines stammes mit
den bewohnern der küste von Pallene bis Dyme. darf man aber diese
für eine reine vordorische bevölkerung halten? ihre sprache, so wenig
sie auch bekannt ist, zeigt am ehesten mit den nordgriechischen mund-
arten, keinesweges mit dem arkadischen oder ionischen verwandtschaft.
die geistige bedeutung der Achaeer ist um kein gran höher als die der
anderen einwanderer. sie stehen charakterlos zwischen Peloponnesiern
und Ioniern. also werden wir zu schlieſsen haben, daſs der alte Achaeer-
name der landschaft nur blieb, weil kein neuer stammname wert und
klang hatte; zu politischer bedeutung kamen sie so wie so nicht. ein-
wanderer der westlichen und der östlichen gruppe und alle möglichen
hellenischen völkersplitter sind hier an der wenig begehrenswerten nord-
küste teils sitzen geblieben, teils von hier nach Groſsgriechenland aus-
gezogen, und wie in Dyme und in Bura 20) notorisch bedeutender Herakles-
v. Wilamowitz I. 18
[274]Der Herakles der sage.
cult war, so hat man in dem kampfe mit den barbaren den heros
angerufen und von seinen vorbildlichen fahrten auch am Siris und neuen
Krathis erzählt, da er der vertreter der vornehmsten auswanderer war 21).
der Achaeername täuscht ganz besonders leicht 22). aber auch die Lokrer
vom Zephyrion und selbst die Chalkidier von Rhegion und Kyme haben
dem Herakles gehuldigt. ganz natürlich, da auch auf ihren schiffen genug
auswanderer thessalischer und boeotischer abkunft waren, und der cult
des gottes Herakles sich längst den nachbarn mitgeteilt hatte. hier zuerst
[275]H. in Groſsgriechenland; in Rom. H. bei den barbaren.
ist deshalb Herakles zum allgemein griechischen vorkämpfer geworden,
und es ist bezeichnend, daſs in Himera, einer ionischen stadt mit stark
dorischer mischung, um 600 der dichter aufstand, der seinen abenteuern
zuerst die ungemessene weite der welt zum schauplatz gegeben hat.


Von diesen auswanderern in Groſsgriechenland ist Herakles zu denH. in Rom.
Italikern gelangt, bei denen er, wenn auch in starker umbildung und
so, daſs der ursprüngliche inhalt der religion ganz vergessen ward, einen
überaus starken cultus fand, verflochten in die ältesten sagen Roms,
verehrt bis in die innersten Abruzzentäler. es haben sich natürlich ver-
einzelt italische sagen an den fremden heros geheftet, und die Italiker
haben dem körper, den sie übernahmen, den odem ihrer eigenen seele
eingeblasen: aber wie der name ist die gestalt des Hercules hellenischer
import. die versuche, eine urverwandte oder auch durch zufällige namens-
ähnlichkeit identificirte italische gottheit in ihm zu sehen, sind zum glücke
fast allgemein aufgegeben 23).


Verhältnismäſsig unbedeutend, meist jung und ganz durchsichtigH. bei den
barbaren.

sind die trotz aller vielgestaltigkeit eintönigen erscheinungen, in welchen
fremde gottheiten von den Griechen mit ihrem Herakles identificirt worden
sind. es ist das ja mit allen möglichen gottheiten geschehen. was Caesar
und Tacitus mit den germanischen göttern tun, hat schon Homer mit den
teukrischen getan. die Artemis von Perge, von Ephesos, von der taurischen
Chersones, die Athena vom libyschen Triton, vom mons Garganus, von
Sais, Dionysos Civa, Dionysos Jahwe, Dionysos Osiris weiſs man auch
ohne weiteres richtig zu beurteilen; auch wenn die gewährsmänner
Herodots die abstammung der Skythen auf Herakles und Echidna zurück-
führen, macht man aus Herakles keinen Skythen. aber weil die Hellenen
den stadtgott von Tyros oder besser den in den verschiedensten formen
18*
[276]Der Herakles der sage.
auftretenden semitischen himmelsherrn und sonnengott (wenn er das
wirklich war) in einzelnen bestimmten formen mit ihrem Herakles iden-
tificirt haben, weil ferner im altertume schon die neigung bestanden hat,
das entlehnte und zumal das orientalische für ehrwürdiger und vornehmer
zu halten, und deshalb vereinzelt auch Heraklesheiligtümer für orienta-
lische stiftungen erklärt sind — aus diesen nichtigen und in unzähligen
anderen fällen als nichtig anerkannten gründen hat sich die meinung
bilden können, daſs Herakles ein von den Phoenikiern importirter sonnen-
gott wäre. nun bricht sich freilich die erkenntnis bahn, daſs die phoe-
nikische cultur selbst etwas ganz unselbständiges und als zwitterwesen
zeugungsunfähiges gewesen ist. aber dafür geht man nur noch bis in
das bodenlose weiter und findet in altbabylonischen sagen Herakles und
seine taten wieder. die kluft der zeit, die nach vielen jahrhunderten zählt,
die kluft des raumes, welche jeder vermittelung spottet, achtet man für
nichts; die leute die so reden kennen freilich Herakles und die griechische
geschichte meistens nur als reminiscenz von der schulbank. sie wissen
nicht, was sie tun. es sind leute darunter, die schaudern würden, wenn
ihnen solche blöde unwissenheit und unwissenschaftlichkeit auf ihrem
eigenen arbeitsfelde begegnete. so weit sie nicht wissen, was sie tun,
wollen wir ihnen gern verzeihen: aber weil sie alle unwissenschaftliches
tun, sind sie keiner sachlichen berücksichtigung wert. von interesse
würde es dagegen sein, zu wissen, ob Dorer die identification des Herakles
mit dem Melkart (den namen einmal zu brauchen) vollzogen und auch
die skythische archaeologie ersonnen haben. möglich ist es in beiden
fällen, da sich hier die megarischen colonisten in Herakleia und seinen
pflanzstädten, dort die Rhodier 24) bequem darbieten. allein nötig ist es
durchaus nicht. als diese gleichungen aufkamen, war Herakles längst eine
zwar nicht allerorten verehrte, aber allerorten wolbekannte heroenge-
stalt, die in folge der wanderungen des heros, wie sie die poesie aus-
gebildet hatte, für solche identificirung besonders passend erscheinen
muſste 25).


[277]H. bei den barbaren. Herakles der Dorer.

Von besonderem interesse ist nur eine solche verknüpfung des bar-
barischen mit Herakles: das lydische herrschergeschlecht, welches Gyges
stürzte, hat für heraklidischen blutes gegolten, und die Omphalefabel
ist in Lydien localisirt worden und hat anderes nach sich gezogen. es
wird sich unten zeigen, daſs hier nur eine oetäische sage in äuſserlicher
weise nach Asien übertragen ist. aber gesetzt auch, es hätte sich wirk-
lich an diesem einen punkte asiatisches und hellenisches verquickt, so
dürfte man eben nicht hier das verständnis der Heraklessage suchen:
ihr wesen wird sie allein in ihrer heimat offenbaren können.


So bleibt also Herakles ein angestammter besitz lediglich der völker-Herakles
der Dorer.

gruppe, welche sich vom Pindos östlich wandte. Thessaler 26) Boeoter
Dorer sind wesentlich durch diese gemeinsame religion als zusammen-
gehörig zu erkennen. sie alle haben Herakles als den vertreter ihres
wesens verehrt, haben von seinen taten erzählt, seine ehre als die ihre
betrachtet, und sie sind irgend wie im spiele, wo immer uns Herakles
begegnet.


Ist Herakles vielleicht nichts anderes als der vertreter dieses volks-
tumes, das a potiore dorisch heiſsen mag? und ist die entwickelung
seiner sage so zu betrachten, daſs er allmählich vertreter des Hellenen-
tumes geworden wäre, zuerst in Groſsgriechenland, schlieſslich aber ver-
treter der menschheit? eponyme heroen der art gibt es in Hellas und
bei anderen Ariern genug; semitische völker zeigen deutlicher als die
Arier auch götter in solcher function. selbst Jahwe, der zuerst ein gott
gewesen sein mag, der an einen bestimmten ort, den Sinai, gebunden
war, hat seine bedeutung dadurch erhalten, daſs er der träger des
israelitischen volkstums ward, und hat nur um den preis der zertrüm-
merung dieses volkstumes ein gott der welt werden können. es kann
aussichtsvoll erscheinen, Herakles in dieser nationalen weise erklären zu
wollen. denn gewesen ist er allerdings vertreter der Dorer, und die
jahrhunderte 8 bis 6 haben seine sage ganz vorwiegend nach dieser
seite ausgestaltet. unübersehbar ist die masse dieser sagen, reichste fülle
geschichtlicher überlieferung birgt sich in ihnen. der zusammenhang, in
25)
[278]Der Herakles der sage.
welchen die abenteuer schon durch die sagenschreiber des 5. jahrhunderts
gebracht sind, ist vorwiegend durch solche nationalen momente bedingt:
aber selbst sie haben nie vergessen, daſs dies alles für die eigentliche
Heraklessage nebensächlich ist, und haben alle diese taten als πάρεργα
bezeichnet. das ist eine strenge aber allerdings treffende beurteilung
ihres wertes. um das wesen des Herakles im kerne zu erfassen, könnte
man von dem vertreter der Dorer ganz absehen. allein dieses spätere
gezweige, die wirren schöſslinge und wasserreiser decken jetzt den stamm:
auch wenn man sie nur beseitigen wollte, müſste man sie näher be-
trachten; nun haben sie aber nicht nur eine hervorragende geschicht-
liche bedeutsamkeit, sie sind auch äuſserst belehrend für die methode,
welche in der analyse der heroenmythen erfordert wird, weil sie vielfach
sehr jung und relativ, zum teil sogar absolut datirbar sind.


Sagen
geschicht-
lichen
inhalts.

Die besitzergreifung des Peloponneses selbst ist nicht zu einer tat
des Herakles geworden, sondern hat sich in wie auch immer getrübter
geschichtlicher erinnerung selbst erhalten. die Dorer haben vielmehr die
legitimation ihrer einwanderung darin gesehen, daſs ihr ahn, Herakles,
selbst ein sproſs der argolischen herrscherfamilie gewesen wäre und
widerrechtlich seines erbes beraubt. somit ist in der ganzen sage, soweit
sie die geburt in Tiryns, die dienstbarkeit bei Eurystheus, die vertreibung
aus dem Peloponnes voraussetzt, ein zug als voraussetzung in das bild
gebracht, der lediglich dorische geschichte zum ausdruck bringt. es gibt
ferner eine anzahl sagen, welche Herakles Elis Lepreon Messenien (Pylos,
Oichalia) Lakedaimon erobern lassen; allein sie sind weder sehr volks-
tümlich, noch reich ausgebildet, der poesie fast, der bildenden kunst ganz
fremd, führen auch nicht zur besitzergreifung, lassen zudem den heros
als heerkönig wenigstens meistens auftreten, was immer etwas secundäres
ist, so daſs sie durchaus nicht als ein niederschlag der erinnerung an
die einwanderung gelten können 27). daſs Herakles hier stets als Argeier
auftritt, zeigt deutlich, daſs wir es mit dem niederschlage der kämpfe
zu tun haben, in denen Argos die suprematie über den Peloponnes an-
[279]Herakles der Dorer. sagen geschichtlichen inhalts.
strebte. und es ist ein beredtes zeugnis für die phantasielosigkeit der
Spartiaten, daſs wir Herakles nicht aus dem Eurotastal vorbrechend Bel-
mina und Stenyklaros, Tegea und Thyrea bezwingen sehen.


In Boeotien hat die überwindung von Orchomenos, die spät und
nach hartem kampfe gelang 28), und die friedliche besitzergreifung von
Thespiai 29), neue, wenn auch farblose Heraklessagen erzeugt. die be-
kämpfung und verpflanzung der Dryoper um Delphoi ist vielleicht ein
nachhall sehr alter zustände; vielleicht ist sie aber auch nur ein versuch,
zu erklären, weshalb die Dorer von Argolis und Sparta ihre gegner in
Hermion beiden Asine und Korone eben so benannten, wie ehedem ihre
phokischen gegner; vielleicht ist auch Herakles als Dryoperfeind an stelle
des Phlegyerfeindes Apollon getreten 30). denn wo die einwanderer sich
des übergewichtes der älteren sagen nicht erwehren konnten, die im kreise
ihrer untertanen fortlebten, da begnügten sie sich damit, ihren heros
nur an die stelle eines älteren zu setzen, wie er im kampfe mit Kyknos
Achilleus verdrängt 31), oder ihn wenigstens mit helfen zu lassen, wie er
neben Peirithoos und den Lapithen gegen die Kentauren zieht 32). das
sind thessalische umbildungen. vollends durchsichtig sind die Herakles-
sagen, welche die dorische besetzung von Kos Rhodos Kyrene erzeugt
hat, und die thrakischen und groſsgriechischen, deren oben gedacht
ward, führen den heros eben auch nur als vertreter seiner auswandernden
verehrer ein.


Es ist nicht dieses ortes, das material zu erschöpfen; aber noch ein
par charakteristische und datirbare sagen derselben art mögen kurz be-
sprochen werden, weil der commentar des euripideischen dramas keine
veranlassung geboten hat, sie zu erläutern.


Die Argonautensage ist im kerne uralt und schon in Thessalien
ausgebildet, wo sie immer haften geblieben ist. aber diese älteste form
wird sich niemals mit einiger sicherheit wieder gewinnen lassen. zur
zeit kennen wir noch nicht einmal die jüngeren formen genügend, welche
[280]Der Herakles der sage.
sie in Miletos und Korinthos erhalten hat: das kann und muſs die
forschung leisten. Milesische seefahrer haben schon im achten jahr-
hundert den Pontos befahren und seine südseite besetzt. damals ist
Kolchis als das ziel der fahrt festgestellt, die eigentlich die geraubte frau
aus dem lande der aufgehenden sonne heimholen wollte. gleichzeitig
sind viele ionische heroen auf die Argo gekommen: Herakles natürlich
nicht. die form der sage, welche uns geläufig ist, ward von den Korinthern
festgestellt, als diese ihre seemacht im westmeere begründeten. damals
ist Hera, die ἀκραία von Korinth, die beschützerin des Iason geworden,
ist die rückfahrt durch das adriatische meer gelenkt, und ist wieder eine
anzahl heroen zugetreten. aber den Herakles mochten seine korinthischen
nachkommen nicht zuziehen, weil er keine seiner würdige stelle erhalten
konnte. sie begnügten sich also, sein fernbleiben angemessen zu moti-
viren, daſs das schiff ihn nicht getragen, kein ruder stark genug für ihn
gewesen wäre oder ähnlich. aber um 550 gründeten Megarer und Boeoter
eine zukunft verheiſsende pflanzstadt an der pontischen küste, die sie
nach Herakles nannten. nun war er natürlich mit auf der Argo gewesen,
aber nur bis Herakleia mitgefahren. man verband eine artige heimische
fabel, vom Dryoperknaben Hylas, des Theiodamas sohn, dem ἐρώμενος
des helden, und einen cultgebrauch der mariandynischen perioeken Hera-
kleias, welche um einen heros Priolas oder Bormos 33) zu klagen in den
wald zogen: und eine neue sehr hübsche Heraklesfabel war fertig. den
Herakleoten ward es auch bald glaubenssache, daſs Herakles bei ihnen
den höllenhund ans licht gebracht hätte, weil sie in ihrer neuen heimat
einen erdspalt hatten, der natürlich bis in die hölle reichen sollte. aber
mit diesem anspruche sind sie gegenüber den älteren localisirungen nicht
mehr durchgedrungen 34).


Der kampf um Ilios war durch das aeolische epos geschaffen. schon
als die Ionier dieses übernahmen, lieſs der vorrang der aeolischen helden
es unstatthaft erscheinen, ihnen die vornehmsten Ioniens an die seite
zu stellen. man führte also ihre ‘epigonen’ ein: nicht Tydeus sondern
Diomedes. dadurch ward für die relative chronologie der heroensage der
grund gelegt. das epos wanderte an der asiatischen küste südwärts und
[281]Sagen geschichtlichen inhalts.
kam zu den Dorern von Kos und Rhodos. für sie war die ausschlieſsung
des Herakles auch selbstverständlich. aber es genügte ihnen nicht, seine
nachkommen einzuführen, zumal diese ihre gegner auf die troische
seite nachzogen: dafür ist der kampf zwischen Tlepolemos und Sarpedon
das leuchtende beispiel. und doch durfte Asien nicht ohne Herakles
erobert sein. so entstand der zug des Herakles gegen den vater des
Priamos. asiatische Dorer haben ihn erdacht, denn sie, die aus der
Argolis stammten, haben die argolische geschichte von Perseus und Andro-
meda auf Herakles und Hesione übertragen und den zug wider Troia
mit den älteren fahrten verbunden, in denen sie Herakles ihren eigenen
kämpfen um Kos und Lindos hatten vorarbeiten lassen. später, als das
epos nach dem mutterlande kam, steigerte man den zug zu einer groſsen
heerfahrt, und eine regelrechte belagerung trat zu dem einfachen kampfe
mit einem ungeheuer. die beteiligung der Aeakiden, für deren ruhm
besondere sorge getragen ward, lehrt, daſs diese letzte bearbeitung unter
dem drucke der aeginetischen macht, im 6. jahrhundert, vorgenommen ist 35).


Ebenfalls im 6. jahrhundert drang die hellenische besiedelung in
Sicilien mächtig nach westen vor. im süden hatten Dorer megarischer
herkunft in Selinus einen sicheren stützpunkt gefunden; an den nord-
küsten Chalkidier Himera weit vorgeschoben. die eingebornen gegner waren
Elymer, wahrscheinlich iberischer abkunft 36), in Entella, Halikyai, nament-
lich aber in Egesta und auf dem Eryx. die ionischen Himeraeer, deren
phantasie von homerischen bildern erfüllt war, sahen in ihnen nach-
kommen der Troer, mit denen ihre ahnen gefochten hatten, um so mehr
als sie die göttin des Eryx Aphrodite nannten, die ja dem volke des
Paris beigestanden hatte. so ward der eponym dieser feinde, Eryx, ein
sohn Aphrodites und eines ‘hirten’, des Βούτης 37), ein anderer Aineias;
[282]Der Herakles der sage.
Aineias war ja längst der vertreter erst der geretteten Troer, dann der
feindlichen völkerschaften geworden, in denen die Hellenen ihre troischen
gegner wiederfanden 38). die Dorer rechneten zuversichtlicher darauf, die
Elymer zu bezwingen. sie beanspruchten den berg Eryx, weil ihr Herakles
seinen eponymos (einen Poseidonsohn, wie so viele frevler) im ringkampfe
überwunden hätte, als ihr erbe. das motiv des ringkampfes ist ein geborgtes,
von den dorischen Kyrenaeern ebenso in der Antaiossage verwandtes.
mit den in dieser sage ausgesprochenen rechtsansprüchen verlockten um
505 die seher einen spartiatischen königssohn Dorieus zu einem zuge
wider die Elymer. der zug mislang, Dorieus fiel, und niemals hat die
geschichte diese erfindung der begehrlichkeit zur wahrheit gemacht. nichts
desto weniger dauerte die sage, die nun einmal verbreitung gefunden
hatte, und Timaios, der die schlieſslich maſsgebende darstellung der west-
griechischen Heraklesabenteuer gegeben hat, reihte sie mit besonderen
hilfsmotiven in den rückzug von Erytheia ein.


Die weit überwiegende mehrzahl der Heraklessagen hat einen solchen
geschichtlichen sinn. sie sind leicht verständlich, sobald man die con-
creten verhältnisse erfassen kann, welche sie wiederspiegeln; aber auch
wo das nicht mehr möglich ist, sieht man es einer Heraklestat bald an,
ob sie einen geschichtlichen inhalt hat oder nicht. nicht zu allen öffnet
dieser schlüssel das verständnis. im gegenteil, die sagen, in denen Herakles
nur der vertreter des Dorertums ist, fordern selbst als eine vorbedingung
ihrer entstehung eine Heraklesgeschichte, in welcher er mehr war. zunächst
ist er in jeder einzelnen mit nichten ein vertreter des ganzen Dorertums,
sondern nur eines ganz bestimmten stammes, der Selinuntier, Rhodier,
Korinther. erst wir wenden uns an die übergeordnete gemeinschaft, von
welcher diese stämme alle nur teile sind, weil sie sich alle denselben helden
als mythischen vertreter gewählt haben. das könnten sie nicht, wenn sie
nicht an ihn geglaubt hätten, als sie noch eine einheit waren: wir haben
also den ursprünglichen Herakles in der zeit zu suchen, wo das volk, von
dem Thessaler Boeoter Dorer teile sind, noch vereinigt war und tief in den
bergen Makedoniens saſs, und wir dürfen sein ursprüngliches wesen nur
aus dem erklären, was sich auf diese urzeit zurückführen läſst und in allen
diesen später erwachsenen sagen vorausgesetzt wird. sie setzen eine er-
37)
[283]Sagen geschichtlichen inhalts. Herakles der gott.
zählung von einem heldenleben voraus, die bereits eine gewisse feste form
hat: denn sie alle sind innerhalb dieses lebens zeitlos und suchen erst später
einen platz irgendwo innerhalb einer älteren reihe von erlebnissen des
helden. diese sagen haben endlich alle das gemeinsam, daſs sie nur einen
heros kennen, zwar einen übergewaltigen und des höchsten gottes sohn,
aber doch nur einen menschen, der menschlich leidet und genieſst. das
ist aber nur eine seite seines wesens, denn Herakles ist ja auch ein gott.


Als gott sehen wir ihn nun in der unserer geschichtlichen kenntnisHerakles
der gott.

zunächst zugänglichen zeit nicht nur nicht auf die dorischen volksstämme
beschränkt, sondern wir sehen, daſs gerade nichtdorer ihn vorwiegend
als solchen empfinden, und die ionischen orte Marathon und Leontinoi 39)
erheben sogar besonderen anspruch darauf, ihn zuerst göttlich verehrt
zu haben. es hat das seinen guten grund. der dorische heros gieng die
nichts an, die nicht seines blutes waren. die woltaten, welche er seinen
Dorern oder Boeotern erwiesen hatte, waren ihnen gleichgiltig, wenn sie
nicht gar selbst darunter gelitten hatten. aber der gott, der den Boeotern
eine so kräftige hilfe gewährte, muſste dem Attiker jenseits des Kithairon
und dem Chalkidier jenseits des Euripos als ein mächtiger daemon er-
scheinen, dessen gunst und beistand er selbst sich gern verschaffte: an
diesen gott lernte er glauben und zu ihm beten. dies ist doch der weg, auf
dem überhaupt der cult einer gottheit sich unwillkürlich verbreitet, und der
Heraklescult ist von Boeotien und Megara aus z. b. ziemlich in jedes attische
dorf gekommen. das setzt voraus, daſs im wesen des gottes Herakles
etwas allgemein göttliches war, das sich jedem menschen mitteilen konnte,
auch wenn er kein blutsverwandter oder knecht des dorischen heros war.
wenn es gelingt dieses zu erfassen, so haben wir das complement zu
dem streitenden Dorerhelden, den uns die vorhin besprochenen sagen
zeigen. und wir erfassen den gott, wenn wir sein wirken, oder vielmehr
die stimmungen derer erkennen, welche sich ihm gläubig nahten. Ἡράκλεις
ruft der Athener, wenn ihm bei irgend etwas nicht geheuer ist; der ausruf
ist sehr abgeschwächt, es ist ein milder ‘fluch’, wie unsere blasphemische
weise zu reden ist. aber zu grunde liegt doch eine angstempfindung. das
[284]Der Herakles der sage.
schutzbedürfnis dessen der sich fürchtet und hilfe braucht ruft den furcht-
losen rettenden geist. ἀλεξίκακος ist das beiwort, welches das wirken
bezeichnet, das der Athener von Herakles erwartet, καλλίνικος ist das
beiwort, in welchem er seine göttliche verklärung ausspricht. ὁ τοῦ Διὸς
παῖς καλλίνικος Ἡρακλῆς ἐνϑάδε κατοικεῖ· μηδὲν εἰσίτω κακόν
schreibt der Athener auf seine schwelle: damit ist eigentlich alles gesagt.
wenigstens alles wesentliche. denn daſs dieser wie jeder gott auch eine
universale potenz einschlieſst, die im gottesbegriff an sich liegt, also sub-
jectiver glaube seine gegenwart bei einer beliebigen gelegenheit empfinden
kann, die nicht in den gewöhnlichen machtbereich des ἀλεξίκακος fällt, ist
eigentlich selbstverständlich. dem Sophokles erscheint er im traume und
sagt ihm, wo eine verlorene silberne schale Athenas verborgen ist: zum
danke wird eine capelle des Ἡρακλῆς μηνυτής errichtet. das ist nicht für
Herakles bezeichnend, sondern höchstens für den der also träumte. daſs
die institutionen dorischer herkunft, die badestuben und turnplätze, sich
in den schutz des gottes stellten, dessen dorische herkunft jedermann
kannte, ist ebenso natürlich, und dann breitet er seinen schutz auch auf
die anderen dinge aus, welche den besuchern der turnplätze am herzen
liegen; er ergreift wie sie die laute und gesellt sich den Musen, er ergreift
wie sie den becher und gesellt sich dem Dionysos. die weitere entwickelung
des göttlichen wesens mag hierhin oder dahin gehen, das accessorische mag
schlieſslich überwiegende wichtigkeit erlangen: für die erfassung der
alten echten religion kommt es alles nicht in betracht.


Grund-
bedeutung
der gestalt.

Καλλίνικος, ἀλεξίκακος 39 a): das ist etwas groſses, aber es ist doch
nicht viel. kein Olympier läſst sich auf eine so kurze formel bringen.
und es ist auch dies nicht ohne den heros möglich. der allsieger muſs
gestritten haben: gestritten freilich in anderer art als der vorkämpfer
der dorischen stämme, aber ein irdisches leben muſs seiner jetzigen ver-
klärung vorausliegen. er würde jetzt vom hohen himmel herab nicht
in jeder gefährde unerschrocken und unüberwindlich eingreifen, wenn
er nicht einst selbst in jeder gefährde unerschrockenheit und unüber-
windlichkeit bewährt hätte. jetzt ist er gott, denn also wirkt er: aber
er muſs mensch gewesen sein.


Mensch gewesen, gott geworden; mühen erduldet, himmel erworben:
[285]Herakles der gott. grundbedeutung der gestalt.
das ist der kern: weder die eine noch die andere seite des wesens kann
auch für den ersten keim der Heraklessage entbehrt werden. wer das
begriffen hat, der ist jede physikalische deutung los. denn das element
mag sich in einer göttlichen person verkörpern; schwerer schon wird
es durch einen menschen vertreten werden können: die erhöhung des
wahrhaften menschen zu einem wahrhaften gotte schlieſst es völlig aus.
man braucht also kein wort mehr an die stoischen deutungen auf die
sonne oder das feuer zu verschwenden, die auch jetzt viele bekenner
haben, entsprechend der heutigen mode unter den ‘mythologen von fach’
wol die meisten, die nur ihrer antiken vorgänger zu vergessen pflegen,
weil die stoische mythendeutung seltsamer weise zu gleicher zeit herrscht
und in miscredit ist. aber schwerer ist es, den antipoden der physika-
lischen mythologie, den rationalismus, los zu werden. zwar die grobe
manier, die sich um 500 v. Chr. das Kerberosabenteuer so zurecht legte,
daſs die hölle eine tiefe höhle und das ungetüm eine schlange gewesen
wäre, gilt nicht mehr. das umbiegen einer guten geschichte, bis sie
dumm und rationell wird, kommt wol nur noch bei theologen vor. und
der argivische prinz und heerführer, den der rationellere rationalismus um
400 v. Chr. aufbrachte, tritt einem heut zu tage auch erst dann wieder
entgegen, wenn man schulpflichtige kinder hat, denen mit all dem andern
abgestandenen lügenkram der allgemeinen bildung auch die jahreszahlen
von Nimrod und Abraham, Herakles und Iason eingepaukt werden. aber
ernsthaft geredet: ich wüſste den nicht zu widerlegen, der also argumentirte.
es habe zu der zeit, wo die späteren Heraklesverehrer noch ein volk bildeten,
ein mensch unter ihnen gelebt, der sich durch die abwehr von wilden
tieren und menschen vor seinen stammesgenossen so sehr hervortat, daſs
sie ihn für überirdischer herkunft hielten, nach seinem tode als gott ver-
ehrten und demgemäſs durch gebet und opfer sich geneigt zu machen
suchten. zu dem zugeständnis könnte man den vertreter dieser ansicht
schon bringen, daſs weder der name Herakles noch irgend eine der über-
lieferten Heraklestaten geschichtlich wäre (obwol das mit der bezwingung
des löwen schwierig sein würde): aber das würde ihn aus seiner entschei-
denden position nicht herausschlagen. immer könnte er sagen, ja, warum
sollte es solchen menschen nicht gegeben haben, an den sich die sagen
und die verehrung geknüpft hätten? da gibt es nur die gegenfrage, warum
soll es solchen menschen gegeben haben? wenn ihm weder der name noch
die taten gehören, ist er nicht ein messer ohne schaft und klinge? aber
mit solcher frage überwindet man den rationalismus nicht. das tut man
erst, wenn man ihm seine letzte position läſst. gut; gesetzt, solch ein
[286]Der Herakles der sage.
mensch hat gelebt, was erklärt man damit? doch höchstens das, was dem
dorischen volke in den klüften des Pindos den anstoſs gegeben hat, die
Heraklessage zu dichten. diese selbst bleibt ein gebilde der volksphantasie
so oder so. jenes individuum ist wie sein name dahin, verweht, vergessen:
der Herakles der sage hat sein eignes ewiges leben, und nur ihn gilt es
zu erfassen. eine moderne analogie wird das verhältnis aufklären. es
hat ein Dr. Johannes Faust wirklich gelebt, er ist eine geschichtlich sehr
wol controllirbare person: aber für die Faustsage, welche die welt be-
herrscht, ist er ganz gleichgiltig, und er hat ihrem träger weder den
namen noch den inhalt gegeben, beide sind vielmehr über 1000 jahre
älter. der Faust, der den conflict zwischen den zielen, den τέλη, des
menschlichen strebens verkörpert, glücklich sein, weise sein, gut sein, hat
mit dem dunklen ehrenmann, oder vielmehr dem obscuren lumpen Dr. Faust
nichts zu tun, dessen geburt und tod in den acten aufgestöbert wird.
der Faust von fleisch und bein ist gar nicht der wirkliche Faust: der
ist vielmehr eine conception der volksphantasie, ein sohn derselben mutter,
die in den schluchten des Pindos vom göttlichen geiste den Herakles em-
pfangen hat. wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.
diese antwort hat in harmonie mit der empfindung seines volkes unser
dichter auf die frage gegeben, welche die Faustsage stellt. das glück
das im genusse liegt, ist des teufels; das glück das in irdischer weisheit
liegt, führt zum teufel: nur die ergebung in die gesetze gottes, der glaube,
kann den menschen in die ewige seligkeit führen: so hatte die alte
antwort gelautet, nicht nur zu Luthers zeiten, sondern schon zu denen
des Clemens Romanus. dieser glaube hat sich in der geschichte vom
Faustus verkörpert, der glaube an die eingeborene schlechtigkeit der
menschennatur, welcher als rückschlag gegen das Hellenentum eben aus
diesem hervorgehen muſste, als es dem tode verfallen war. wir haben
jetzt diesen pessimismus überwunden: unsere heiligste überzeugung duldet
nicht mehr, daſs Faust der hölle verfällt. doch was wir selbst empfinden,
gehört nicht her: die übermenschliche gröſse der Faustsage, ihre sittliche
bedeutung als verkörperung einer ganzen erhabenen weltanschauung
leuchtet ein, ganz abgesehen davon, ob wir diese weltanschauung teilen.
so gewaltig ist diese sage, daſs der gröſste dichter vergeblich ein langes
leben danach gerungen hat, ihr aus eigner kraft einen neuen abschluſs
zu geben, der der veränderten sittlichen überzeugung genug täte: jeder
ehrliche mensch muſs zugestehn, daſs Goethes Faust inhaltlich in ebenso
kümmerlicher weise durch einen deus ex machina abgeschlossen wird
wie nur irgend ein euripideisches drama. aber die Faustsage ist der
[287]Grundbedeutung der gestalt. inhalt der ältesten sage.
beste commentar zur Heraklessage. sie lehrt nicht nur, daſs es solche
conceptionen der volksphantasie wirklich gibt, in denen sich die tiefste
sittliche überzeugung eines volkes niederlegt: Faust ist das widerspiel
des Herakles, denn dieser verkörpert die weltanschauung, welche das
christentum ablöst mehr als überwindet, denn auch in seinem gegensatze
zeigt es seine zugehörigkeit zu der hellenischen cultur; Faustus oder sein
lehrer Simon ist in der altchristlichen sage der vertreter der hellenischen
cultur, die nur irdisches ‘glück’, aber ewigen tod bringt. darum hat er
Helene zur gattin, die Helene des Stesichoros.


Versuchen wir uns nun jener dorischen weltanschauung zu be-Inhalt der
ältesten
sage.

meistern, welche sich in der Heraklessage verkörpert hat, und zwar
zunächst in der abstracten form, die dem modernen verständlicher ist
als die bildlichkeit, obwol man trotz allem umformen und bessern an
den eigenen worten sicher sein kann, hier zu viel, dort zu wenig zu sagen.
denn es gibt dinge, für welche die abstracte sprache zu arm ist, wo nur
das bild genügt, wo nicht die wissenschaft reden kann, sondern nur
die poesie.


Die Heraklessage spricht zu dem dorischen manne: nur für ihn ist
sie das evangelium; sie kennt keinen menschen auſser ihm, sondern nur
knechte und bösewichter. also spricht sie. du bist gut geboren und
kannst das gute, so du nur willst. auf deiner eignen kraft stehst du,
kein gott und kein mensch nimmt dir ab, was du zu tun hast. aber
deine kraft genügt zum siege, wenn du sie gebrauchst. du willst leben:
so wirke. leben ist arbeit, unausgesetzte arbeit, nicht arbeit für dich, wie
der egoismus sie tut, noch arbeit für andere, wie der negative egoismus,
die asketische selbstaufopferung, sie tut, sondern schlechtweg zu leisten
jeden tag, was immer man kann, weil man es kann und weil es zu leisten
ist. du sollst eben tun wozu du da bist. und du bist aus göttlichem
samen entsprossen und sollst mitarbeiten das reich deines gottes auf-
zurichten und zu verteidigen. wo immer ein böser feind dieses reiches
sich zeigt, straks geh auf ihn los und schlag ihn nieder ohne zagen;
mit welchen schreckbildern er dich grauen machen, mit welchem zauber
er dich verführen will, packe kräftig zu und halte fest: wenn du dich
nicht fürchtest, wird der sieg dein sein. eitel mühe und arbeit wird
dein leben sein: aber der köstlichste lohn ist dir gewiſs. du muſst nur
nicht die breite heerstraſse wandeln, wie die feige masse die von der
erde stammt, an der erde klebt: den schmalen pfad muſst du gehen, so
wahr du göttlichen samens bist, und dann vorwärts, aufwärts. droben
winkt dir die himmelspforte, und wenn du anpochest, dann bereiten dir
[288]Der Herakles der sage.
die seligen himmelsherrn einen platz auf ihren bänken und bieten dir
zum willkomm die schale, in der der himmelstrank des ewigen lebens
schäumt. für die ἀρετή, manneskraft und ehre, bist du geboren: sie
sollst du erwerben. feil ist sie nur um das leben: aber wer diesen preis
einsetzt, hat sich das ewige leben gewonnen.


Ein volk das diesen glauben im herzen hat, ist jugendfrisch und
jugendstark. wenn Michel Angelos Adam aufgesprungen sein wird und
eignes blut in seinen adern spüren wird, dann wird er also empfinden. der
mann, der dieses selbstvertrauen im busen hat, wird unwiderstehlich sein
— vor seinem anblick würde Faust auch in den staub sinken, und doch
würde er in ihm seinen bruder erkennen, dem das evangelium der tat noch
nicht verkümmert ist. nicht mit dem kümmerlichen stecken der pflicht,
der in jede hand gleich gut paſst, wird er die flache heerstraſse des lebens
hinab ziehen, einer unter vielen, null unter nullen, niemand zu schaden,
niemand zu frommen, sondern die keule wird er sich brechen, die kein
anderer heben kann, und in den wilden wald sich stürzen, zu bezwingen
die drachen und löwen, zu überwinden tod und teufel: der ehre gehorchend,
die ihm im busen wohnt, und deren gebote ihm allein gelten, weil er allein
sie erfüllen kann. ein freier mann wird er sein, das haupt vor niemandem
beugend und die sclavenseelen verachtend: aber seine kraft wird er ein-
stellen in den dienst des allgemeinen, in den dienst der gesittung und
des rechtes, in den dienst gottes, auch dies nicht als knecht, sondern
als der sohn, an dem der vater ein wolgefallen hat. und so sind sie
hervorgetreten aus ihren wäldern, die jugendfrohen Heraklesverehrer, und
haben sich mit kräftigen schlägen die besten plätze am tische des hel-
lenischen lebens gesucht. als wir sie kennen lernen, ist die schöne
jugendfrische zeit vorüber; die ehre, der sie als höchster sittlichkeits-
norm nachleben, beginnt schon die conventionelle standesehre zu werden,
der eingeborne adel zu dem gemeinen adel, in welchem ἀρετὴ πατέρων
die eigene ἀρετή ersetzt, und der selbstherrliche mann geht selten mehr
den schmalen pfad, fordert vielmehr den vortritt auf dem breiten wege
zu gütern und genüssen. die schatten sind tief geworden; es verletzt
den beschauenden, daſs dieser glaube für das weib keine stätte hat, daſs
die seelenkräfte nur nach der seite des willens, nicht nach der des ver-
standes ausgebildet werden: aber die alten züge trägt auch jetzt noch
das volk, und der alte adel verleugnet sich nicht in ihnen. das reine
Hellenentum, das Homer und Sappho, Archilochos und Solon, Herakleitos
und Xenophanes hervorgebracht hat, ist ein anderes, reicheres, weiterhin
wirkendes, menschlicheres: aber die kraft und erhabenheit des Herakles-
[289]Inhalt der ältesten sage.
glaubens wird von keiner einzelnen manifestation seines geistes erreicht.
man ermiſst den unversöhnlichen gegensatz der stämme am besten, wenn
man den Dorer Herakles zwischen den helden der Ilias oder den göttern
des Olympos erblickt. das Ionertum, elastisch aber nervös, feurig aber
scheu, klug und seelenvoll, aber eitel und trotzig: ein edles roſs neben
dem dorischen stier, dessen wuchtiger nacken jedes joch zerbrach, dessen
auge nur dem verzärtelten stadtmenschen blöde oder rasend blickt, weil
er treuherzigkeit und stolz nicht versteht. auch der stier ist ein edles
tier, dauerbar und unwiderstehlich und besonders gern zeigen sich groſse
götter, Iahwe und Dionysos z. b., in seiner gestalt. aber stier und roſs
soll man nicht zusammenspannen. das war das verhängnis des Griechen-
volks. Ioner und Dorer konnten keinen staat bilden. und doch, zu
einem haben sie mitgewirkt, zu der höchsten, der attischen cultur. und
deren edelste blüte, die sokratische philosophie hat eine ihrer wurzeln
auch in dem Heraklesglauben: auch sie bekennt in stolzer zuversicht,
daſs der mensch gut ist, daſs er kann was er will, und daſs er wirken
soll im dienste des allgemeinen sein leben lang, ein leben, das in seinen
mühen und seiner arbeit zugleich seinen lohn hat. und an dem dufte
dieser blüte stärkt auch heute noch der culturmüde mensch seinen mut,
in der entgotteten welt zu leben und zu wirken.


Diese sätze mögen den vorwurf verdienen, das versprechen abstracter
behandlung schlecht gehalten zu haben, und sie werden dem schicksale
nicht entgehen, verspottet und verlacht zu werden. diesem schicksal
muſs der den mut haben die stirn zu bieten, der den inhalt einer reli-
giösen idee darlegen will. denn das ist schlechterdings nicht möglich,
wenn man nicht empfindung hat und empfindung wecken will. vom
heiligen soll man nur aus dem herzen zum herzen reden. wer nicht
empfindet, dem muſs solches reden torheit scheinen, und dem gemäſs
wird er urteilen und verurteilen. weit schmerzlicher als fremder hohn ist
das eigene gefühl der unzulänglichkeit gegenüber dem schlichten aber
lebendigen bilde, das der alte glaube sich geschaffen hat, ohne irgend
etwas von den moralischen und metaphysischen abstractionen zu ver-
stehen. und gienge es nur an, dieses älteste bild in einigermaſsen festen
strichen zu umreiſsen und wenigstens die grundfarben herzustellen, gern
würde man sich darauf beschränken, es allein wirken zu lassen; es be-
dürfte dann keiner langen reden für die, welche poesie zu empfinden
im stande sind, andere aber überzeugt man doch niemals. allein nur
einzelne züge gelingt es der ursage zuzuweisen, weil sie zugleich mit der
religiösen conception gegeben sind, oder aber als stamm aus den vielen
v. Wilamowitz I. 19
[290]Der Herakles der sage.
ähnlichen sprossen zu erkennen sind, die sich in späterer zeit bei den
verschiedenen Heraklesverehrern finden; und selbst von diesen geschichten
läſst sich nur das farblose motiv in die urzeit zurückführen, keine der
einzelnen lebensvollen darstellungen. endlich fehlt überhaupt eine an-
schauung jener primitiven dorischen cultur, so daſs selbst der versuch
einer nachdichtung ausgeschlossen ist.


Für uralt muſs gelten die abstammung von dem höchsten gotte.
das ist nicht viel; διογενεῖς sind die adlichen alle im gegensatz zu den
γηγενεῖς, die nur knecht sein oder als feind erschlagen werden können.
der unterschied ist nur, daſs die nachkommen des Herakles, d. h. seine
ursprünglichen verehrer, an dem göttlichen blute durch ihn teil haben,
er aber unmittelbar. eine adliche mutter muſs er auch gehabt haben
und in einem geschlechtsverbande natürlich durch sie gestanden haben.
das gibt einen anhalt für verschiedene bedeutende geschichten, ist aber
nichts wesentliches, denn nur im geschlechtsverband kann sich die älteste
zeit den vollwichtigen mann denken 40). im wesen des helden liegt, daſs
er alles was er tut, durch eigene kraft leistet. von seinen taten hat
sich natürlich sein volk in den schluchten des Pindos auch schon vielerlei
erzählt, was den späteren geschichtlichen sagen analog gewesen ist; das
konnte sich unter veränderten geschichtlichen umgebungen nicht erhalten,
war aber auch für die Heraklesreligion nicht von wesenhafter bedeutung.
in diesen sagen ist der held bogenschütze gewesen, weil sein volk damals
noch diese waffe bevorzugte. die alte sitte hat sich in geschichtlicher
zeit nur bei den kretischen Dorern gehalten; aber Herakles blieb ein
schütze, trotzdem der dorische adel die hellenische verachtung der waffe
nicht nur annahm, sondern besonders stark ausbildete. von den kämpfen
gehört zum allerältesten bestande der löwenkampf, der mit einem un-
geheuren riesen und mit dem herrn des meeres; weiteres läſst sich nicht
mit zuversicht so hoch hinauf rücken. der löwenkampf ist immer der
erste geblieben, erscheint an verschiedenen orten, und muſs anerkannt
gewesen sein, ehe die einwanderer die althellenischen landstriche betraten,
in welchen es keine löwen mehr gab, wenn sie je da gewesen waren 41).
[291]Inhalt der ältesten sage.
die überwindung der γηγενεῖς durch den διογενής gehört zum wesen
der sage; aber sie ist in so zahllosen formen historisirt, und hat selbst
in universaler bedeutung sich so früh in zwei wieder vielfach verästelte
zweige gespalten, daſs der alte stamm nicht sicher kenntlich ist. einmal
ist der gegner ein einzelner riese, Geryones, Halkyoneus, Kakos, oder
wie der gegner hieſs, den die besiedler Kymes aus Boeotien Thessalien
mitnahmen: gemeinsam ist dieser form, daſs der riese unzählige herden
besitzt, d. h. ihm werden die schätze der welt abgejagt. in der andern
form ist es eine mehrzahl, Giganten, Kentauren, Dryoper; hier ist eine
umbildung teils unter dem einflusse hellenischer vorstellungen, teils durch
concrete geschichtliche verhältnisse unverkennbar. aber zu grunde liegt
die allgemeine idee, welche vom wesen des Herakles nicht getrennt
werden kann. endlich muſs als hauptstück schon der ältesten erzählung
berichtet sein, wie Herakles in die hölle steigt und den tod überwindet;
mag nun der höllenhund selbst der tod gewesen sein oder nur sein
diener. und ebenso gehört die fahrt nach dem göttergarten und die
erwerbung der goldenen äpfel, d. h. der unsterblichkeit zum urbestande;
mit ihr ist auch meist der kampf mit dem meergotte verbunden 42), seit
alters ebenso berühmt wie der löwenkampf. damit ist die göttlichkeit
erworben; wahrscheinlich hat also die sagenform das echte bewahrt, welche
den helden unmittelbar in den himmelssaal führt, und ist jede vorstellung
von seinem tode eine, wenn auch alte, so doch secundäre bildung; ein
41)
19*
[292]Der Herakles der sage.
grab des Herakles hat es nie und nirgend gegeben 43). so wenig das ist,
für die religion ist es ganz genug. auch daſs es so farblos ist, verschmerzt
man vielleicht. aber selbst so viel begreift ja erst der, welcher sich in
dem labyrinthe der späteren sagen zurecht gefunden hat. denn die ge-
schichtliche entwickelung und die ihr folgende darstellung geht einen
andern, und zwar den entgegengesetzten, weg als die forschung und das
lernen. dieses sieht sich zunächst der ausgebildeten sage gegenüber und
arbeitet sich von ihr schritt für schritt zu den einfacheren urformen
empor, welche für uns der ausgangspunkt waren.


Die sage auf
helle-
nischem
boden.

Auch die nächsten schritte gehen noch auf unsicherem boden durch
dunkele jahrhunderte. aber die geschichtliche darstellung hat gezeigt,
wo die echte Heraklessage zu suchen ist, und mit der beseitigung der
lediglich geschichte reflectirenden sagenmasse ist das dickicht gelichtet.
in Argos, in Boeotien, in den landschaften um den Oeta hat sich nach-
weislich die Heraklessage zu einer bedeutenderen besonderen gestalt ver-
dichtet, hat sie so zu sagen eine greifbare körperlichkeit erhalten. für
gewisse strecken des irdischen lebens, wie es die spätere zeit seit dem
5. jahrhundert erzählt hat, sind diese verschiedenen sagenkreise oder
kreisabschnitte maſsgebend geblieben. der oetäische für den letzten teil
des lebens, der boeotische für die kindheit und jugendgeschichte, der
argolische für die haupttaten, den dodekathlos. die oetäischen sagen mögen
zunächst bei seite gestellt werden; sie sind zum teil in der bearbeitung von
nicht dorischen Homeriden, die also die erhabenheit des gegenstandes
nicht voll empfanden, aufgezeichnet worden. auch die boeotischen sagen
sind in der importirten epischen weise zur darstellung gebracht worden,
zum teil mit groſsem erfolge, in den hesiodischen gedichten, allein niemals
in einem gröſseren zusammenhange, und niemals ohne die argolische sage
bereits vorauszusetzen. die nahe beziehung Boeotiens zu Chalkis und
seinem culturkreis, der den westen beherrscht, und die fruchtbarkeit
dieses kreises an dichtern der chorischen lyrik im sechsten jahrhundert
hat sehr vielen der altargolischen erzählungen eine neue farbe gegeben,
welche dann die herrschende geblieben ist: aber auch so weist alles auf
den argolischen ursprung zurück. die argolische sage allein ist in sich
ein organisches ganzes, sie bildet das fundament der späteren Herakles-
sage, aus ihr wesentlich ist das genommen, was sich als ursage dar-
stellen lieſs. hier gelingt es ein groſsartiges altdorisches Heraklesgedicht
[293]Die sage auf hellenischem boden. der name.
zu erfassen, wenn auch die trennung dieses gedichtes von dem stoffe,
der sich in ihm niederschlug, also von der argolischen Heraklessage,
undurchführbar ist. auf Argos muſs das auge des forschers und betrachters
vornehmlich gerichtet sein: der Herakles, der nicht bloſs die welt sondern
auch die herzen erobert hat, ist ein Argeier.


Eine argolische neubildung ist vor allem der name Ἡρακλῆς, ‘derDer name.
Heraberühmte’, Frobert, wie Benseler gut übersetzt hat. der name, der
in Athen allerdings Ἡροκλῆς vocalisiert sein würde, ist ganz durchsichtig
und es gibt keine nebenformen 44). Ἡράκλειτος Βουλακράτης Τιμα-
γένης zeigen denselben vocal, und selbst in Athen wechselt Θουγένης
und Θεαγένης. Hera ist die himmlische herrin der Argolis schon in
hellenischer zeit, und sie ist es auch nach der einwanderung der Dorer
geblieben. ruhm der Hera ist also ruhm von Argos, und der name
Ἡρακλῆς ist vollkommen verständlich und berechtigt: aber nur für den
argolischen heros. wenn ihn seit dem 8. jahrhundert der erst allen
einwanderern, dann allen Hellenen gemeinsame held und gott allerorten
führt, so ist damit die übermacht der argolischen sage unmittelbar be-
wiesen. nicht minder zwingend ist der schluſs, daſs allerorten und zuerst
in Argos ein namenswechsel statt gefunden hat.


Das gedächtnis an einen solchen ist unverloren geblieben. die mytho-
graphen verfehlen nicht zu berichten und durch einen delphischen spruch
zu belegen 45), daſs Herakles eigentlich Ἀλκαῖος geheiſsen habe. dieser
name stimmt nicht nur zu der mutter Ἀλκμήνη, sondern auch zu dem
geschlechtsnamen Ἀλκεΐδης, welcher dem Herakles geblieben ist; und
zwar ist die gentilicische bedeutung besonders durchsichtig, weil kein
vater oder ahn existirt, auf den das wort in patronymischer bedeutung
sich zurückführen lieſse 46). in einer landschaft hat statt der identification
[294]Der Herakles der sage.
der nun unter verschiedenen namen neben einander tretenden ursprüng-
lich identischen gestalten eine differenziirung statt gefunden. Alkathoos
ist den taten nach der ‘Herakles’ von Megara 47). sein name aber ist
einer der vollnamen, zu denen Ἀλκαῖος abkürzung sein kann. man wird
also nicht anstehen, dem boeotischen zweige der einwanderer diesen oder
einen ähnlichen namen als ursprünglichen zuzutrauen. in derselben
boeotischen sage steht nun neben Herakles ein zwillingsbruder Ϝιφικλῆς,
der mit seltsamer ungunst als ein unwürdiges gegenbild zu ihm ge-
zeichnet wird 48). es ist, zumal um des sinnes willen, verführerisch zu
46)
[295]Der name.
vermuten, daſs Ϝιφικλῆς der argolische name ist, welcher durch Ἡρακλῆς
ersetzt ist, so daſs die Boeoter, so lange sie sich gegen die argolische
sage sträubten, den vertreter derselben ihrem Ἀλκαῖος unterordneten.
wie dem auch sei: selbst für die urzeit des ungeteilten volkes dürfen
wir glauben, daſs der träger der sage statt Frobert ein Ellenbert oder
Starko aus dem geschlechte der Starkunger gewesen ist.


Von natur gehen sich Hera und Herakles nichts an, ja sie muſsten
sich zunächst feindlich sein, da die Heraklesverehrer sich mit gewalt
zwischen die Heraverehrer eindrängten. deshalb gibt die argolische sage
den Herakles dem hasse Heras während seines erdenlebens preis und
stellt seine aufnahme in den himmel als eine aussöhnung mit der argo-
lischen göttin dar, die ihm ihre tochter zum weibe gibt. aber nur so
lange als hellenisch und dorisch als scharfe gegensätze von den dorischen
herren der Argolis empfunden wurden, konnten sie sich darin gefallen,
den haſs ihrer vornehmsten göttin gegen ihren vornehmsten helden aus-
zumalen. so kommt es, daſs wir zwar in der Ilias manches der art
lesen, in welche es ersichtlich durch die südasiatischen Dorer gelangt
ist, die ja aus der Argolis stammten. aber die sagen, in welchen sonst
Heras einwirkung besonders hervortritt, der kindermord, die schlangen-
würgung, die sendung des krebses im hydraabenteuer 49), sind erweislich
nicht argolisch, und gerade die haupttaten, löwe, Triton, Giganto- und
Kentauromachie, Geryones und Hesperidenfahrt wissen nichts von Heras
groll. es ist das begreiflich. die neidische stiefmutter war ein sehr frucht-
bares motiv für dichterisches spiel und ist in dieser weise fortdauernd
ausgenutzt worden. aber in Argos war der feind Heras längst ‘Heras
ruhm’ geworden. es ist durchaus wahrscheinlich, daſs die ausgebildete
48)
[296]Der Herakles der sage.
argolische Heraklee (der dodekathlos) ihren zorn nur zur motivirung der
dienstbarkeit des Herakles benutzt hat.


Die dienst-
barkeit.

Diese konnte nicht aufgegeben werden, obwol sie eine neubildung
von lediglich geschichtlicher bedeutung war. denn sie legitimirte die
dorische herrschaft. es war unvermeidlich, daſs Herakles auf alle länder
alte rechtsansprüche haben muſste, die seine nachkommen besetzten. so
ward er denn hier an die alten eingebornen heroengeschlechter ange-
gliedert, wie nicht anders möglich, durch seine mutter, so daſs er ein
nachkomme des Perseus, und Tiryns seine heimat ward. da er gleichwol
nicht zu einem alten landesherrn werden konnte, seine nachkommen auch
Argos den Persiden erst mühsam abgenommen hatten, so ergab sich, daſs
ihm sein erbe wider das recht vorweggenommen war, und das eben
hatte Hera verschuldet, so daſs er während des lebens dem schlechteren
manne dienen muſste. die rhodische überlieferung, die wir in der Ilias
lesen, hat das schon mit lebhaften farben durchgeführt 50). und der
jämmerliche feigling Eurystheus, Sthenelos sohn 51), sammt seinem herolde
‘Dreckle’ (Κοπρεύς), sind zu ausdrucksvollen burlesken figuren geworden,
an denen sich der Dorerhochmut gütlich tat, der auf seine periöken
schnöde herabsah. trotzdem blieb Admata, Eurystheus tochter, als Hera-
priesterin immer eine würdige figur 52).


[297]Die dienstbarkeit. Her. in Theben.

Auſserhalb von Argos hat weder die abstammung aus dem blute desHer. in
Theben.

Perseus noch die dienstbarkeit irgend welche bedeutung. aber obwol
gerade in Boeotien der cultus der Alkmene so lebhaft war wie nirgend
sonst 53), Theben die geburtsstätte des Herakles ohne widerspruch geworden
ist, seine erzeugung und seine jugend durch boeotische dichtung ver-
herrlicht ward, hat doch schon ehe unsere tradition beginnt der über-
mächtige einfluſs der argolischen sage gesiegt, oder vielmehr einen com-
promiſs erzwungen. Alkmene war und blieb eine Tirynthierin, und eben
daher sollte auch der irdische vater des Herakles stammen, den er in
Amphitryon erhielt. dieser hatte in wahrheit gar nichts in Argos zu
suchen, sondern war ein thebanischer held. der zug Amphitryons gegen
die Teleboer oder Taphier, der ganz ungewöhnliche und unverständliche
völker- und machtverhältnisse voraussetzt, die verbindung mit Kephalos
von Thorikos, die jagd des teumesischen fuchses, das sind sagen die schon
im 5. jahrhundert halb verklungen sind, um so mehr aber beweisen, daſs
Amphitryon eine selbständige bedeutung neben Herakles gehabt hat, und
für ihn die stellung als nährvater des Zeuskindes ein degradation be-
deutete. aus dieser empfindung heraus ist der conflict zwischen Alkmene
und Amphitryon entstanden, ein conflict, der für antikes und modernes
empfinden ein guter prüſstein ist. wer einfach antik empfindet, wird den
gatten, dem ein gott aus seinem weibe einen übermenschlich herrlichen
sohn schenkt, demütig und stolz zugleich die gnade hinnehmen lassen, wie
Tyndareos, Ariston der vater Platons, Joseph der zimmermann tun. wer
modern empfindet, wird einen hahnrei sehen: den komisch oder tragisch
zu nehmen gleichermaſsen eine errungenschaft der christlich germanischen
weltanschauung ist. man muſs diesen gegensatz zu verstehen und auch
zu empfinden gelernt haben, um das ganz singuläre zu schätzen, das in
der Amphitryonfabel liegt. und man muſs die glänzende und völlig ge-
lungene leistung Molières bewundern, aber auch den mislungenen ver-
such Heinrichs von Kleist, die ehrwürdige und heilige sage nach ihrem
werte verständlich zu machen, bewundern können, damit man die freiheit
52)
[298]Der Herakles der sage.
des sinnes habe, weder blasphemische frivolität in der Amphitryonsage
zu finden, noch die romantisch krankhafte gefühlsverwirrung hineinzu-
tragen. dann erkennt man zweierlei. erstens, daſs es zu unerträglichen
consequenzen führt, wenn ein solcher irdischer vater mehr ist als eine
füllfigur. Amphitryon ist mehr, und deshalb kann er nicht ursprünglich
vater des Herakles sein, hat vielmehr die verquickung zweier ursprünglich
selbständiger sagen den keim zu diesen unzuträglichkeiten gelegt. zweitens
aber muſs ein groſser, aber die consequenzen auch um den preis der
zerstörung des mythos ziehender dichter das Amphitryonmotiv ernst be-
handelt haben, ehe die travestie, wie sie bei Plautus vorliegt, sich daran
machen konnte. dieser dichter ist nachweislich Euripides gewesen, dessen
Alkmene den gatten so weit gehen lieſs, die ehebrecherin auf den scheiter-
haufen zu werfen, dessen feuer die erscheinung des gottes in sturm und
hagel löschte. von der sittlichen behandlung des problems können wir
aber nichts mehr erkennen 54). aber Euripides zog auch hier nur hervor,
was in der sage lag, und zwar muſs schon vor der knappen darstellung
in den hesiodischen Eoeen eine lebhafte dichterische behandlung sowol
des Taphierzuges wie der erzeugung des Herakles und auch der ersten
tat, in welcher sich das göttliche blut bewährte, der schlangenwürgung,
bestanden haben: eine boeotische dichtung 55). und da diese in ihrem
inhalte zwiespältige motive enthält, so ist eine benutzung argolischer noch
älterer dichtung unabweisbar. daſs Zeus zu Alkmene in ihres gatten
[299]H. in Argos. der dodekathlos.
gestalt herabgestiegen ist und ihr als gewähr für seine gnade einen goldnen
becher geschenkt hat, ist allerdings auch noch als peloponnesische tradition
nachweisbar 56).


Auf Argos weist also selbst diese alte verschollene HeraklesdichtungH. in Argos.
Boeotiens zurück. die argolischen Ἡρακλέους γοναί können wir nicht
mehr erkennen, dürfen aber vielleicht annehmen, daſs sie in dem gedichte
nicht behandelt waren, das es zu erwecken gilt. denn es ist unmög-
lich, hier die sage von dem werke eines dichters zu sondern, welcher
sie planvoll und tiefsinnig in festen rahmen gespannt hat. in 10 kämpfen
hat er die dienstbarkeit des Herakles zur anschauung gebracht, deren
inhalt ist ἐξημερῶσαι γαῖαν. und mit den beiden aus der ursage stam-
menden, höllenfahrt und himmelfahrt, hat er den kreis vollgemacht, der
dann für alle jahrhunderte gegolten hat, nach dem wir sein werk die
altargolische dichtung des dodekathlos nennen wollen. ihr inhalt läſst
sich ganz wol angeben, wenn der erzähler die entsagung übt das detail
abzustreifen, und der hörer den guten willen mitbringt sich nicht an das
detail zu klammern.


Nakt und bloſs 57), wie der mensch aus dem mutterleibe in dieseDer dode-
kathlos.

welt tritt, zieht der Zeussohn Herakles, geknechtet von dem schlechteren
manne, von Mykene zu dem ersten strauſs, den er bestehen soll. einen
ast bricht er sich im walde, das ist seine wehr. und auch sie versagt
gegenüber dem ungeheuer, das es zu bezwingen gilt, dem löwen von
[300]Der Herakles der sage.
Nemea 58), dem bewohner des Apesas, des bergzuges, der des Zeus wiese
(νέμεα) von dem mykenischen hochlande trennt. aber die faust versagt
nicht: sie erwürgt die bestie, deren vlieſs das kleid des helden wird. der
nächste zug geht in die Inachosniederung: die wasserschlange von Lerna
erliegt der keule. in die benachbarten berge, welche Arkadiens hoch-
ebene von Argos scheiden, führt die bezwingung der hirschkuh. sie wird
erschlagen, weil sie die argolischen fluren zerwühlte 59). wie die hindin dem
löwen, entsprechen die gewaltigen vögel, die auf dem see von Stymphalos
schwimmen 60), dem lernäischen wassertier. und weiter geht es in der
befriedung des Argos, des Peloponneses. der eber, der Arkadiens felder
zerstörte, wird bis in den schnee des Erymanthosgebirges verfolgt, wo
Herakles den verklamten auf die schulter nimmt; als er ihn heim bringt,
kriecht der feige Eurystheus in ein faſs 61). vom Erymanthos geht es nach
dem westlichen Arkadien, wo die Kentauren der Pholoe zu bezwingen
sind 62). in diesen sechs kämpfen ist die befriedung des Ἄργος vollendet.
die folgenden vier führen sie weiter, so weit der horizont der Argolis
reicht. aus süden holt Herakles den kretischen stier, aus dem thrakischen
norden die rosse des Diomedes, aus dem osten den gürtel der Hippolyte, aus
dem westen die rinder des Geryones. das ἐξημερῶσαι γαῖαν ist vollbracht.
der knechtschaft ist Herakles nun quitt, aber die knechtschaft ist gleich
seinem erdenleben. auch das muſs nun zu ende gehen. er hat keinen platz
mehr auf der erde, wenn er nichts mehr auf ihr zu wirken hat. und doch
hat das gemeine menschenschicksal keine macht über ihn. das Alter 63)
[301]Der dodekathlos.
schlägt er nieder, als es ihn heimtückisch in die grube locken will: er
ist kein blinder Faust, den die Lemuren äffen. und den tod sucht er
sich selber auf in seiner höhle: die götter, auf die der Peloponnesier
bei schwerem werke vertraut, Hermes der geleiter auf gefahrvoller bahn
und vermittler des himmlischen willens, Athana 64), die gewappnete jung-
frau des himmels, zu der der Dorer vom Hellenen beten gelernt hat,
stehn dem Herakles bei. er steigt bei Tainaron hinab in die hölle, bei
Hermion empor mit dem höllenhunde, der vom lichte geblendet heulend
entflieht durch die Kynadra von Argos: er wird dem sieger über den tod
nimmer nahen. und nun geht der weg westwärts nach dem götter-
garten, Triton und Helios werden bezwungen, der Ladondrache erschlagen,
die schicksalsjungfrau bricht selbst den apfel der unsterblichkeit, Athana
führt den verklärten in den göttersaal, und Hera verlobt ihm ihre tochter,
die ewige jugend 65).


Die bedeutung der einzelnen sagen ist eine verschiedene. hydra und
vögel haben niemals eine andere gehabt als die urbarmachung der ver-
sumpften niederung, in welcher die bestien hausen. dem lernäischen
sumpfe gilt daneben auch eine fassung der Danaidensage, und noch wer
die nachwachsenden köpfe und das ausbrennen zugefügt hat, hat die
Heraklessage verstanden. neben der vertreibung der stymphalischen vögel
steht die einfache angabe, daſs Herakles das βάραϑρον des stymphalischen
sees angelegt habe, schon bei Hellanikos: also auch dies abenteuer ist ver-
standen worden. dagegen ist die hirschkuh frühzeitig in ungemessene ferne
gejagt, weil der held sie im laufe einzuholen hatte, und wenn Artemis als
beschützerin des wildes genommen ward, verschob sich ihr verhältnis zu
dem jäger. der eber ist schwerlich ursprünglich von Herakles gejagt
[302]Der Herakles der sage.
worden. denn wenn in Tegea ein eberzahn als reliquie gezeigt ward,
und Atalantes heldentat die bezwingung eines ebers ist, gerade eines
solchen, den Artemis zur strafe gesandt hat, um die fluren zu verwüsten,
so ist kaum glaublich, daſs dieser eber ursprünglich im fernen Kalydon
erjagt war. wir kennen ja doch nicht die originale arkadische geschichte,
und als Skopas den tempel der Athena Alea baute, muſste man dort sich
den feststehenden epischen vorstellungen beugen. Herakles hat sich also
hier in eine hellenische geschichte eingedrängt; aber es ist allerdings so
viel von neuem und echtem zugefügt, daſs die entlehnung kaum noch be-
deutung hat. ebenso steht es mit der eleischen Kentauromachie. dagegen
sind stier und amazonen zwar keineswegs jüngere erfindungen, da sie
in der bildenden kunst der archaischen zeit genugsam vertreten sind,
aber die attische zeit hat sie mit recht entweder fallen gelassen oder
umgebildet, weil sie einem helden huldigte, der bessere ansprüche als
der Dorer hatte, Theseus von Trozen. das weiſs jetzt jeder, daſs Theseus
fast alle die taten, durch welche er zum ἄλλος Ἡρακλῆς wird, von
diesem geborgt hat. aber der zug nach Kreta und die Amazonomachie
gehören ihm an, der erste, weil er allein mit Minos und Ariadne und
Phaidra und Amphitrite verknüpft ist, und weil in seiner sage der stier
noch die altertümlichere mischgestalt bewahrt hat, die aber auch in einer
gegend, allerdings einer altionischen und für die Theseussage neben Trozen
allein stark einfluſsreichen, der bloſsen tiergestalt gewichen ist. denn der
marathonische stier ist nicht eine nachahmung des von Herakles gejagten
Kretischen, sondern beide sind auf den Minotauros zurückzuführen. die
Amazonen dagegen sind in der Theseussage zunächst gegner, die nicht
aufgesucht werden, sondern selbst kommen, weshalb der ort des kampfes
auch Trozen selbst und Athen ist. auch die asiatischen Amazonen über-
fallen die Griechenstädte oder ziehen wider sie vor Ilios. man ist also
verpflichtet, wirklich in diesen traditionen den reflex von angriffen fremder
völker, über deren nation nichts feststeht, auf die küsten des saronischen
meeres zu sehen, weshalb denn auch Amazonengräber bei Megara liegen,
demselben Megara, das Minos so gut wie Athen bezwungen hat. also hat
Theseus in diesen beiden sagen das bessere recht, und es ist wahrlich
nicht wunderbar, daſs die Dorer von den ihnen so nahe wohnenden
trozenischen Ioniern solche sagen auf ihren helden übertragen haben.
wohin die altargolische sage die Amazonen verlegte, von denen Herakles
den gürtel für Eurystheus tochter oder für Hera holte 66), ist bisher nicht
ermittelt.


[303]Der dodekathlos.

Auch wo die Thraker wohnen, von denen Herakles die rosse holt,
ist zunächst nicht zu sagen. denn der ansatz bei den Bistonern ist eine
umbildung unter ganz bestimmtem geschichtlichem einflusse 67), und die
ältere erzählung fehlt. nur so viel ist klar, daſs der besitzer ein Thraker
gewesen sein muſs, denn dieser anhalt ermöglichte die verschiebung des
abenteuers in den hohen norden. und da liegt es sehr nahe, die Thraker,
welche die argolische sage meinte, in der nähe zu suchen: am Kithairon
und Helikon. dort ist für die Athener wenigstens auch Thrakien ge-
wesen 68). die rosse sind nicht ungeheuer, welche vertilgt werden sollen,
sondern sie werden geholt als ein köstlicher besitz, und man leitet die
pferderace des ἵππιον Ἄργος von ihnen ab 69). daſs sie menschenfleisch
fressen erhöht nur die vorstellung von ihrer ungezähmten wildheit und von
der kraft dessen, der sie vor den wagen gespannt hat. ihr besitzer ist
ein böser könig aus nordischem geblüte, führt aber einen hellenischen
namen, und zwar den des altargolischen helden aus nordischem geblüte,
von welchem Homer den erwerb und besitz der edelsten rosse ausführ-
lich berichtet. es hat gar nichts auffallendes, wenn die Dorer, welche
Sthenelos zum vater des Eurystheus machten, Diomedes als feind des
Herakles einführen und seine rosse ihrem heros zum preise geben. daſs
die personen unterschieden wurden, sobald Homer sich auch die dorische
phantasie unterwarf, ist ebenso natürlich. nun kommt aber hinzu, daſs
menschenfressende rosse wirklich auf dem boeotisch-thrakischen gebiete
erscheinen, in Potniai, wo sie Glaukos von Korinth zerrissen haben, also
einen gefreundeten des Diomedes, und daſs der zusammenhang der rosse
des Glaukos mit denen des Diomedes auch in der mythographischen
tradition spuren hinterlassen hat 70). können wir also auch die argolische
[304]Der Herakles der sage.
sage selbst unmöglich herstellen, so ist doch die gegend, sowol räum-
lich, wie metaphorisch im reiche der sage, nachgewiesen, wo die sage
hingehört.


Daſs Herakles einem im fernen westen hausenden riesen unzählige
rinderherden fortgetrieben hat, konnte oben schon in den urbestand der
Heraklessage eingereiht werden, weil es in verschiedenen varianten vor-
liegt. in der argolischen sage war das land, Erytheia, und die furchtbare
gefolgschaft des riesen, auch sein name ΓαρυϜόνας bereits gestaltet:
das kennt wenigstens schon Hesiodos (theog. 287). aber wo dieses
mythische westland gedacht war, bleibt für jetzt besser dahingestellt. noch
Hekataios legte es nach Epirus; es gibt spuren, welche sogar auf den
westrand des Peloponnes zu deuten scheinen. gerade dieses abenteuer
ist den späteren durch das gedicht des Stesichoros, welcher manche züge
der Hesperidenfahrt hinein zog, in einer ganz neuen anziehenden form
geläufig geworden.


Das bewuſstsein, daſs nur die 10 abenteuer das leben und die dienst-
barkeit des Herakles angehen, ist noch der späten mythographischen über-
lieferung nicht verloren. sie schwankt aber in der anordnung der äpfel
und des Kerberos. selbstverständlich muſste die höllenfahrt an die letzte
stelle rücken, sobald die äpfel nicht mehr die himmelfahrt bedeuteten.
daſs sich die ältere ordnung trotzdem vielfach behauptet hat, zeugt für
die zähigkeit der tradition in diesem hauptstücke 71).


Die öffentliche meinung verwirft jetzt die annahme eines alten cyclus,
wie er hier mit zuversicht auf Argos und auf das 8. jahrhundert zurück-
geführt wird 72). man hält sich zunächst daran, daſs ein für die Herakles-
70)
[305]Der dodekathlos.
sage kanonisches epos nicht existirt hat, am wenigsten im Peloponnes.
auch die bildende kunst, die von einzelnen scenen ausgeht, kann keinen
cyclus beweisen, denn für sie überwiegen künstlerische rücksichten, selbst
wenn sie mehrere taten zusammenstellt. sie kann ihn aber eben deshalb
auch nicht widerlegen; das alter der einzelnen taten bezeugt sie dagegen
vollauf. aber diese taten sind teils wirklich als einzelne ursprünglich ge-
dacht, teils ist man jetzt geneigt sie zu vereinzeln. wenn die stymphalischen
vögel sturmdaemonen, der erymanthische eber ein bergstrom, die hindin
eine jagdbeute des sonnengottes, Geryones der winter ist, so hat in der
tat die verbindung solcher abenteuer keinen inneren wert, und wenn
Herakles ein gott ist wie Apollon oder ein heros wie Theseus, so löst sich
die Heraklee in ἐπιφάνειαι Ἡρακλέους entsprechend den ἐπιφάνειαι
Ἀπόλλωνος 73) auf, oder sie erscheint so compilatorisch wie die Theseus-
taten. dagegen fordert die hier vorgetragene ansicht von der Herakles-
religion eine zusammenhängende lebensgeschichte, führt also von selbst
zu der neigung, dem in der späteren zeit geltenden cyclus ein möglichst
hohes alter zuzuschreiben. aber die neigung ist kein ersatz für den
beweis. er läſst sich mit aller wünschenswerten sicherheit führen.


Die zwölfzahl der kämpfe kennt Euripides im Herakles. die zwölf
kämpfe selbst bezeugen 50 jahre früher die metopen des olympischen
Zeustempels. sie haben eine durchschlagende bedeutung erlangt, denn
um ihretwillen hat der mythograph, der für die nachwelt bestimmend
blieb, die aller älteren poesie und bildenden kunst fremde speciell eleische
sage von den ställen des Augeias an stelle der Kentauromachie aufge-
nommen, welche die Eleer in den metopen fallen lassen muſsten, weil
sie für den westgiebel eine Kentauromachie gewählt hatten 74). aber daſs
72)
v. Wilamowitz I. 20
[306]Der Herakles der sage.
lediglich die metopen, also die willkür jener peloponnesischen künstler
oder ihrer auftraggeber der gesammten mythographie den ganzen cyclus
aufgezwungen hätte, ist an sich eine ungeheuerliche annahme, und selbst
an dem einen stücke läſst sie sich widerlegen: denn die mythographie
hat zwar die ställe aufgenommen, aber die Kentauromachie nicht auf-
gegeben, sondern nur in anorganischer weise als beiwerk bei dem eber
untergebracht. somit hat der cyclus der 12 taten um 480 im Peloponnes
kanonische geltung gehabt. auch Euripides stimmt zu Olympia nicht
bloſs in der zahl, sondern in neun kämpfen. neun hat auch das Theseion,
an welchem die Kentauren aus demselben grunde wie in Olympia fehlen
muſsten. an ihrer stelle erscheint der von Euripides fortgelassene eber,
der also schon damals mit diesem abenteuer wechseln konnte, wie in
der mythographie. in wahrheit bezeugt also Athen 10 von 12, und die
fehlenden, vögel und stier, fehlen aus bestimmtem besonderem grunde.
nun tritt aber die mythographie, und zwar auschlaggebend hinzu. wer
mit diesem factor wirklich zu rechnen gelernt hat, kann darüber in
zweifel sein, ob nicht alle erzähler der Heraklestaten den cyclus fest-
gehalten haben: daſs er bei Pherekydes gestanden hat, kann er nicht
bezweifeln, und er weiſs dann, daſs wol das beste zeugnis, das aus dem
5. jahrhundert für die geltende sage beizubringen ist, diesen cyclus voraus-
setzt. aber noch mehr: er hat für die ganze folgezeit gegolten. so steht
es: selbst gigantomachie, eroberung Oichalias, bezwingung des Acheloos
sind πάρεργα geblieben. man hat sich mit dem widersinn abfinden
müssen, daſs ein wildschwein und ein bulle mehr bedeuten als die be-
friedung des westens und die eroberung von Troia.


Zunächst ist damit nur bewiesen, daſs der cyclus aus der archaischen
zeit stammt. nun ist er aber auch eine wirkliche einheit und ein wirk-
liches ganze, kein ungefüges conglomerat einzelner taten. ein gedanke
beherrscht ihn, Herakles ist der wehrhafte mann, der den frieden und
wolstand seines landes sichert: μοχϑήσας ἀκύμον̕ ἔϑηκεν βίοτον βρο-
τοῖς, πέρσας δείματα ϑηρῶν. er selbst baut den acker nicht, aber er
gibt den ackerbauern die sicherheit, ihrem geschäfte nachzugehen: das
liegt den ersten sechs kämpfen allen zu grunde. so ist Herakles das rechte
idealbild eines streitbaren adels, der über perioeken herrscht, des wehr-
standes, der die schlachten schlägt, während die bauern ihn nähren. seiner
hand stehen die schätze aller himmelsrichtungen zu gebote; ihm gehört
74)
[307]Der dodekathlos.
die welt, wenn er nur will: das liegt in den vier letzten aufträgen allen.
und auch die auffassung von der person des helden geht durch alle
gemeinsam durch. er ist nicht mehr bogenschütze, er ist auch nicht
hoplit: er greift jede aufgabe an, wie es am besten geht, er würgt den
löwen, läuft hinter der hindin, jagt den eber in den schnee, wirft mit der
schleuder hinter den vögeln, schieſst den flüchtigen Kentauren, schlägt
Geryones mit der keule nieder. die mannigfaltigkeit der kämpfe trotz
ihrer inneren gleichheit bezeugt nachdrücklich eine einheitliche über-
legende dichtung. wichtiger noch ist, daſs der cyclus das ganze leben
füllt. er reicht ja von der ersten tat bis zum eingang in den himmel.
wie kann man darin planvolle dichtung verkennen? es ist wahr, die mytho-
graphische überlieferung setzt vor den dodekathlos die boeotische kind-
heitsgeschichte und hinter ihn den tod auf dem Oeta und was dazu gehört.
aber das sondert sich nicht schwerer ab als jedes einzelne πάρεργον. es ist
doch wol ein widersinn, daſs der Herakles, der wider den nemeischen löwen
auszieht, schon Orchomenos bezwungen, den dreifuſs geraubt, kinder ge-
zeugt und erschlagen hat, ja sogar schon das fell des kithaironischen löwen
trägt. noch viel übler ist der anschluſs der oetaischen sagen am schlusse.
durch sie ist ja der sinn der beiden letzten taten, höllen- und himmel-
fahrt, überhaupt zerstört worden, so daſs sie auf den rang der tierkämpfe
hinabgedrückt werden. hat man deren echte bedeutung ernsthaft erfaſst,
so ist damit entschieden, daſs der dodekathlos als ein selbständiges ganzes
neben den andern Heraklessagen steht, folglich längst bestand, ehe die
mythographen ihre compilatorische tätigkeit begannen, und da ihnen
schon die wirkliche bedeutung dunkel war, so muſs die dichtung selbst
weit älter sein. sie haben ja aber auch eine anzahl der taten, hydra
Amazonen rosse Geryones, in einer schon stark umgearbeiteten form nach-
erzählt, so daſs uns zum teil das original ganz unkenntlich ist; die hydra
z. b. war vor 600 schon in einer solchen umarbeitung ganz geläufig, und
die höllenfahrt schon damals als auftrag des Eurystheus bekannt: das
schiebt das originalgedicht ganz beträchtlich in der zeit hinauf.


Doch für die zeit der entstehung zeugt am sichersten der geogra-
phische horizont, der für den dodekathlos gilt. Mykene und seine nachbar-
schaft bis an die Pholoe hin, das ist dem dichter wirklich bekannt: jenseits
dieser engsten grenze beginnt mythisches oder halbmythisches land. Kreta
und der problematische begriff Thrakien sind die einzigen namen, die sonst
vorkommen: und Kreta wenigstens ist aus fremder sage herübergenommen.
daſs die originale fassung der letzten vier aufträge nicht recht deutlich
ist, verschlägt für dieses allgemeine verhältnis gar nichts. spielen doch
20*
[308]Der Herakles der sage.
selbst Sparta Messenien Olympia Theben Delphi Athen nicht hinein. und
doch haben sich die argolischen ansprüche auf die hegemonie der halb-
insel in Heraklessagen niedergeschlagen, hat der argolische Herakles Hip-
pokoon Eurytos Neleus die Molioniden bezwungen: davon ist in diesem
cyclus keine spur. da mag man manches auf den willen des dichters
setzen, der in der tat die religiöse figur des so zu sagen universalen
heros darstellen wollte, nicht den vertreter des Dorertums (um so sichrer
muſs, wer so schlieſst, an einem bewuſst gestaltenden dichterwillen fest
halten): auf die zeit und den ort, wo man so dichten konnte, bleibt der
schluſs unbeeinträchtigt. ja man muſs sagen, daſs die stadt Argos, die
doch, so weit wir die geschichte kennen, das centrum des Dorertums ist,
neben Mykene so gut wie gar nicht in betracht kommt, so daſs man
in versuchung ist, geradezu einen Dorer aus Mykene als dichter anzu-
nehmen. wer diese verhältnisse abzuwägen urteilskraft kenntnis und guten
willen hat, kann gar nicht anders urteilen, als das 8. jahrhundert als
untere grenze für die entstehungszeit dieser groſsartig einfachen dichtung
anzusehen.


Das versteht sich von selbst, daſs diesem dichter auch schon geformtes
material vorlag. die alte sage seiner ahnen und eltern lieferte ihm das
beste. einzelne taten sind ohne frage schon vorher erzählt, denn sie
erwuchsen aus den concreten örtlichen verhältnissen. andere übernahm
er aus anderen sagen. es kann ja jemand sagen, daſs ihm zehn kämpfe
(ohne stier und Amazonen) oder neun (auch ohne die rosse) einen älteren
stamm zu bilden schienen. das mag er zu beweisen versuchen, der beweis
mag auch gelingen: daran ändert er nichts, daſs eine dichtung von Herakles
leben in so alter zeit, in der Argolis, mit der bestimmten tendenz und mit
dem durchschlagenden erfolge anzunehmen ist. und diesen erfolg hat erst
der dodekathlos gehabt.


Die
Herakleen.

Unabweisbar tritt da die frage hervor: welcher art war die form der
dichtung, und wie ist der dichter zu denken? die antwort wird unbefriedigend
lauten, aber der versuch muſs gemacht werden. zunächst fragt man nach
den Heraklesepen, von denen uns eine kunde geblieben ist. wir wissen
sehr wenig, aber genug, um sie alle auszuschlieſsen. in den romantischen
bestrebungen des 3. jahrhunderts, die bei den kleinasiatischen Dorern
besonders lebhaft waren, hat man auf Rhodos ein nicht eben umfang-
reiches altes gedicht hervorgezogen, von dem in älterer zeit nicht die
leiseste spur ist. die Rhodier schrieben es jetzt einem gewissen Peisandros
von Kamiros zu und setzten dem plötzlich auftauchenden dorischen Homer
eine statue. die grammatiker wuſsten wol, daſs dieser verfassername nicht
[309]Der dodekathlos. die Herakleen.
mehr beglaubigung hatte als die allmählich für viele stücke des home-
rischen nachlasses hervorgesuchten; indessen haben sie das gedicht ge-
schätzt und für mythographische dinge, vereinzelt auch für anderes ein-
gesehen. über die zünftigen kreise ist es jedoch nicht hinausgelangt.
den poetischen wert können wir nicht schätzen. immerhin gestatten die
reste den schluſs, daſs es nicht älter als das 6. jahrhundert gewesen sein
kann 75). also zeit und ort der entstehung würde die von Welcker ver-
mutete herleitung des dodekathlos aus diesem epos ausschlieſsen, gesetzt
auch, es hätte für die verbreitung und gestaltung der sage überhaupt
nachweisbaren einfluſs gehabt — wovon doch nicht das mindeste bekannt
oder wahrscheinlich ist. aber enthalten hat es allerdings den dodekathlos 76),
wie von dem hier vertretenen standpunkte aus auch ohne zeugnis an-
genommen werden würde. das ist die einzige Heraklee der archaischen
zeit, von der wir wissen. ein par gar nicht näher zu bestimmende notizen
von anderen Herakleen helfen nicht weiter 77). die nach den spärlichen
proben äuſserst anmutige umfangreiche dichtung des Halikarnassiers
Panyassis gehört in das 5. jahrhundert und hat weder auf den attischen
culturkreis noch gar auf die durch ihre nationalität mit Herakles ver-
bundenen völker gewirkt. der verfasser trägt einen karischen namen und
ist aus einer ganz ionisirten stadt; was er von stoff neu zugeführt hat,
sind karische und lykische sagen: für das echtdorische ist also von ihm
nicht viel zu erwarten. im übrigen liegt der beste beweis für das fehlen
eines maſsgebenden Heraklesgedichtes darin, daſs sich ein ionisirter Karer
im fünften jahrhundert diesen stoff wählt, der also keine Ilias post Home-
[310]Der Herakles der sage.
rum war. litterargeschichtlich ist nicht so wol das gedicht bedeutsam
als die tatsache, daſs sich schon zu Sophokles zeit jemand an dieselbe
aufgabe macht, an der sich, als das epos neubelebt wird, Diotimos von
Adramyttion 78), Phaidimos von Bisanthe 79) und Rhianos von Bena ver-
suchen, auch sie ohne erfolg; obwol Rhianos, der in anziehender weise
die vorliebe für das rauhste altertum mit der pflege des raffinirtesten
modelebens zu verbinden wuſste, die bedeutung der zwölfkämpfe ver-
standen hat 80), so daſs man bei ihm vielleicht alte traditionen finden
[311]Die Herakleen.
könnte; aber er ist so gut wie ganz verschollen. für die archaische zeit
wendet man seine augen natürlich auch auf die hesiodischen gedichte,
und gewiſs hat in ihnen vielerlei gestanden, was Herakles angieng, nur
gewiſs nicht der dodekathlos, ja überhaupt nirgend eine volle lebens-
geschichte des helden. das stück der Eoee, das seine erzeugung schildert,
und schon die stellen der Theogonie des echten Hesiodos zeigen auf das
deutlichste, daſs bevor sie so gedichtet werden konnten, eine überaus
reiche und allgemein bekannte Heraklessage in fest durchgebildeter er-
zählung bestand. aber selber liefern sie diese erzählung nicht: die hesio-
dische dichtung gehört ja auch nicht nach dem Peloponnes. ihrem
einfluſs werden in der Heraklessage vielmehr die erweiterungen des dode-
kathlos, meistens sagen von geschichtlichem inhalte, und dann eine anzahl
boeotischer und nordgriechischer zusätze verdankt: und die dichter waren
sich wol bewuſst, parerga zu liefern.


Hesiodos kennt die Heraklessagen als allbeliebte und allbekannte.
das ionische epos, von welchem er doch wesentlich abhängt, konnte sie
ihm nicht liefern: wo hat er sie denn her? er weist auf eine dorische
dichtung zurück, der er zwar nichts von seiner form, aber viel von
seinem inhalte schuldet. wie war diese dorische dichtung beschaffen?
niemand kann das sagen, jede spur ist verweht, ist schon zu Aristoteles
zeit verweht gewesen; Pindaros Pherekydes Euripides hätten wol noch
antwort geben können. mag es eine dorische volkspoesie gegeben haben
in unvorstellbarer form, mag es prosaische erzählung, dann aber gewiſs
auch sie in gewisser fester stilisirung, gewesen sein, mögen die edel-
knaben beim male die taten der ahnen erzählt haben, wie die greise sie
ihnen eingeprägt hatten, mag ein stand von fahrenden verachteten und
doch gern gehörten spielleuten neben possenhaften tänzen auch ernste
volkslieder vorgetragen haben: das ist verschollen wie das germanische
epos der völkerwanderung. aber wie dieses wird das dorische erschlossen,
weil seine stoffe auch in veränderter form sich erhalten haben. nicht
bloſs die taten des Herakles, auch die stamm- und familiensagen, ja selbst
geschichtliche überlieferungen, wie die messenischen, zwingen zu der
annahme einer solchen poesie. was sie zerstört hat, ist leicht zu sehen.
seit 700 und schon früher ist das homerische epos herüber gekommen,
80)
[312]Der Herakles der sage.
reich an anziehendsten neuen geschichten, die sich um so eher die herzen
eroberten, weil sie vielfach in denselben gegenden spielten, zu denen
sie zurückkehrten, vor allem aber in der ausgebildeten bequemen bild-
samen form. Chalkis Theben Korinth Delphi hat Homer sehr bald ganz
erobert; auch Argos hat homerische dichter gestellt 81), auch Sparta viel-
leicht 82). allein recht heimisch ist das fremde im Peloponnes nicht ge-
worden, und namentlich den schritt hat man hier nicht in voller freiheit
getan, der in Korinth und nördlich vom Isthmos gelang, die bearbeitung der
nationalen stoffe in homerischer form. wie die hellenische cultur Ioniens
sich allmählich das mutterland zurückerobert hat, wie die peloponnesische
sprache sitte und religion, so weit sie sich nicht dem ionischen, später
dem attischen anbequemen mochte, verkümmert und vergessen ist, so ist
es zuerst von allen lebensäuſserungen dem peloponnesischen heldenge-
sange ergangen. vergessen sind die dichter, nicht nur ihre namen, nein,
daſs es sie je gab; vergessen ihre werke, ja, daſs es deren je gab: aber
der geist ist nicht sterblich. die seele der dichtung überdauert nicht
nur das sterbliche gemächte, den dichter, auch ihr kleid überdauert sie,
wenn es nicht durch den göttlichen geist der Muse gefeit ist: all das mag
vernichtet werden, wie das irdische des Herakles in dem oetäischen feuer.
die Heraklee hat dennoch, wie der ἀνὴρ ϑεός, das ewige leben und die
ewige jugend. und wer seinen gedanken nachdenken mag, der wird
heroische ehren auch ihm gerne weihen, dem altdorischen dichter des
dodekathlos, von dem er nichts weiſs, dessen stimme vor dritthalbtausend
jahren schon verklungen war, weil ihn der hauch seines stolzen und
frommen geistes umwittert. und doch ist es nicht eigentlich der dichter,
dem wir huldigen, sondern die sage, die durch ihn gesprochen, deren
geist auf ihm geruht hat. aber es ist etwas groſses, der prophet der sage
zu sein. das volk selbst würde sein köstlichstes kleinod zerstoſsen und
zerstümmelt haben, wenn es nicht die sorgliche künstlerhand rechtzeitig
gefaſst hätte: nun dauert es, mag auch die fassung geborsten sein. ohne
den dichter des dodekathlos würden wir schwerlich die Heraklesreligion
in ihrem wesen erfassen können.


Kreophylos.

Das empfindet man am deutlichsten, wenn man einen anderen be-
deutenden sagenkreis vergleicht, dessen örtlicher mittelpunkt Trachis ist,
[313]Die Herakleen. Kreophylos.
und dessen wichtigstes stück, die selbstverbrennung des siechen Herakles,
die oberhand gewonnen hat, so daſs der ausgang des dodekathlos, so viel
höher er an innerem gehalte auch steht, ganz und gar in vergessenheit
geraten ist.


Es kann und soll hier der untersuchung nicht vorgegriffen werden,
ob es schon der Homeride gewesen ist, den man meist Kreophylos von
Samos nennt, der dichter der Ἡρακλεία oder Οἰχαλίας ἅλωσις, oder
ob erst Sophokles in den Trachinierinnen die geschichten von Deianeira
Omphale Iole in einen engen und sinnreichen zusammenhang gebracht
hat. wol aber muſs hervorgehoben werden, daſs allen diesen sagen eine
behandlung gemeinsam ist, welche sie von der herben folgerichtigkeit des
dodekathlos eben so weit entfernt, wie sie der menschlich heldenhaften
aber liebenswürdig läſslichen weise Homers angenähert werden. erst
nach beseitigung dieser anmutigen und poetisch höchst wirksamen neu-
bildungen tritt das alte Heraklesbild hervor, das dann freilich die züge
gemeinsamer abstammung mit dem des Dodekathlos nicht verleugnet. und
in einem ist der oetäische Herakles sogar altertümlicher: seine waffe
ist durchgehends der bogen. es hat eben die cultur der peloponnesischen
adelsstaaten auf das bergland des Oeta nicht gewirkt, und die homerische
poesie hat dem helden, den sie übernahm, seine charakteristische aus-
stattung gelassen.


Um diesen sagenkreis überhaupt verstehen zu können, muſs vorab
eines beseitigt werden, was von auſsen zugetan ist und alles verwirrt,
das lydische local der Omphalesage. daſs das sich noch allgemein be-
hauptet, liegt nicht etwa an irgendwie guter begründung, sondern lediglich
daran, daſs seltsamer weise O. Müller in diesem punkte den orientali-
sirenden tendenzen entgegengekommen ist. gewiſs ist die üppige frau
in der löwenhaut mit der keule neben dem helden im weiberrock mit
der kunkel in der hand ein hübsches bild, und Priap als dritter im bunde
gibt ihm einen besonders pikanten zug. Simson und Delila, Antonius
und Kleopatra, Rinaldo und Armida, August der starke und die Königs-
marck zeigen, wie fabel und geschichte an diesem motive gefallen haben.
aber so hübsch es sein mag: daſs es ernsthaft genommen werden könnte
als ein zug der Heraklessage irgendwie ernster zeit, davon ist keine rede.
es existirt einfach nicht vor der hellenistischen zeit, derselben die auch
Priapos unter ihre götter einreiht, und wer es ernsthaft nimmt, kann
mit demselben rechte den Eurystheus zum ἐρώμενος des Herakles machen.
zwei ionische dichter des 5. jahrhunderts, Ion und Achaios, haben sich
allerdings schon des dankbaren motives bedient, den plumpen Dorer
[314]Der Herakles der sage.
Herakles als diener der üppigen Asiatin in einem satyrspiele Omphale
einzuführen, und sie bezeugen, daſs damals diese bereits eine Lyderin war,
was wegen ihrer descendenz, der lydischen könige aus Herakles stamme,
schon für viel frühere zeit unbestritten bleibt; aber der Herakles des Ion
war weit entfernt sich im schoſse der wollust zu vergessen. während
das übrige gesinde noch in feierlicher stille den sinn auf das opfer ge-
richtet hatte, verspeiste er nicht bloſs den braten, sondern auch das holz
und die asche, auf denen er gebraten war, mit: seine zähne erlaubten ihm
diese leistung, denn er hatte drei reihen hinter einander 83). also gerade
darin lag der reiz dieser spielenden erfindung, daſs Herakles auch als
knecht Herakles blieb und seine natur nicht verleugnete. hätte sich seine
begierde zu der schönen königin erhoben (was unbeweisbar, aber mög-
lich ist), so würde er höchstens wie Sir John von frau Page behandelt
sein 84). das war schon eine umbildung, allein es war noch weit entfernt
von der hellenistischen Omphaiesage, welche die erfahrung voraussetzt,
daſs die gewaltigen männer der tat ebenso gewaltig in dem sinnengenusse
sind: Demetrios Poliorketes konnte ein solches bild eingeben 85). dagegen
[315]Die Herakleen. Kreophylos.
hatte die einfachere tradition Herakles eben nur als sclaven der Omphale
gedacht, der auch in dieser stellung, wie in Argos für Eurystheus, herumzog
und heldentaten verrichtete. wo diese uns erzählt werden, da offenbaren
sie das local der sage. Diodor (IV 31) läſst Omphale freilich über die
Maioner-Lyder herrschen, aber Herakles züchtigt in ihrem dienste die
Kerkopen, den Syleus und die Itoner; und als Omphale diese taten ihres
sclaven sieht, den sie gar nicht gekannt hat, läſst sie ihn frei und gewährt
ihm ihre liebe, aus welcher Lamos hervorgeht. nun, die Itoner Lydiens
kennt keine karte 86), aber am malischen golfe liegt Ἴτων oder Ἴτωνος,
und da hat Herakles allerdings mit Kyknos einen schweren strauſs gehabt.
die Κερκώπων ἕδραι neben der πέτρη Μελαμπύγου kennt Herodot
an den Thermopylen (VII 216) 87). Syleus gehört an das Pelion 88), Lamos
ist als eponymos von Lamia sogar ausdrücklich bezeugt 89), und was ist
85)
[316]Der Herakles der sage.
endlich Ὀμφάλη anders als die eponymos von Ὀμφάλιον 90)? so un-
verschleiert ist die heimat Omphales in dem parallelbericht der apollo-
dorischen bibliothek (II 6, 2) nicht. die Itoner fehlen, die Kerkopen werden
nach Ephesos versetzt, aber lydisches ist auch nur in dem gatten der
Omphale Tmolos vorhanden, denn Syleus wohnt am Strymon: daſs das
dem erzähler bewuſst war, folgt daraus, daſs Herakles auf der heimfahrt
über das meer kommt und Ikaros berührt. offenbar liegt diesen berichten
eine erzählung zu grunde, welche nur ganz äuſserlich die Lyderin ein-
gesetzt hat. allmählich hat man dann in diesem sinne weiter gedichtet.
aber auch wo mehr asiatische localfarbe ist, fehlen hindeutungen auf
das echte local nicht 91).


[317]Die Herakleen. Kreophylos.

Das ist also unzweifelhaft, daſs die Omphalesage in einem kreise
oetäischer sagen bereits fest war, als die willkür eines sehr erfolgreichen
dichters sie nach Lydien übertrug. dieser und sein publicum war dem
eigentlichen locale so fern, daſs er die anderen sagen ruhig herüber
nehmen konnte, aber herausheben konnte er die einzelne sage nicht.
was sie so fest hielt, war die motivirung der dienstbarkeit durch den frevel
wider Iphitos Eurytos sohn, und damit hängt wieder die zerstörung
Oichalias zusammen. das ist nicht immer so gewesen. denn der kampf
des dorischen und des hellenischen bogenschützen ist keinesweges bloſs
in diesem zusammenhang erzählt; die messenisch-arkadische localisirung
Oichalias schloſs diese ganze verbindung aus, hat sogar die ermordung
des Iphitos schwerlich anerkannt, der in Elis ein mächtiger könig blieb 92).
es gibt ja auch mehrere begründungen für den zorn des Herakles gegen
Eurytos 93), auch für die dienstbarkeit bei Omphale 94), und gerade die ab-
weisung des Herakles als freier kehrt in einer anderen thessalischen sage
wieder 95). aber um so deutlicher wird nur, daſs es ein ganz bestimmter
und planvoller zusammenhang ist, in welchem der frevel an Iphitos, die
knechtschaft bei dem weibe, und die liebe zu Iole, die ihrem ganzen hause
verhängnisvoll wird, vereinigt sind. auch daſs Oichalia nach Euboia gerückt
ist, obwol es dort nie wirklich gelegen hat, in Thessalien nie ganz ver-
schwunden ist 96), erklärt sich am besten, wenn der dichter dem locale
[318]Der Herakles der sage.
seines stoffes ganz fern lebte. Ioles liebe und das euböische Oichalia
sind nun wenigstens nachweislich in dem epos des Kreophylos-Homeros
vorgekommen. damit sind wir in einer region, in welche die umgestaltung
der thessalischen sagen und die einführung Lydiens ganz vortrefflich paſst.
wahrlich, kaum könnte man sich etwas anderes als ein homerisches ge-
dicht denken, um zugleich den durchschlagenden erfolg der lydischen
localisation und die anknüpfung der lydischen dynastie an Herakles begreif-
lich zu machen 97).


Die sagen selbst können nunmehr erst verstanden werden, wo sie
auf ihren heimischen boden zurückgeführt sind. die einzelheiten der
kriegszüge sind freilich kaum aufzuhellen, da die politische geschichte
und selbst die gruppirung der stämme um den Oeta zu wenig bekannt
sind. aber daſs der gegensatz der einwanderer zu den eingebornen zu
grunde liegt, ist im allgemeinen deutlich genug. Herakles bezwingt zum teil
die althellenischen heroen, oder aber er erbt ihre taten; dafür ist nament-
lich der berühmte kampf mit Kyknos ein beleg 98). in diesem handelt er
im dienste des Apollon, und Apollon ist vertreter der delphisch-pyläischen
Amphiktionie, welche in der tat in diesen gegenden, wo sich nie ein
mächtiger einzelstaat erhoben hat, die einzige macht war, die die sonder-
interessen einigermaſsen zu bändigen und landfrieden einigermaſsen ein-
zuführen vermochte. da lag es nahe, daſs Herakles der vollstrecker des
apollinischen willens ward, und so wird es zu fassen sein, wenn wir ihn
die feinde des gottes, Lapithen und Dryoper bezwingen sehn. aber er
[319]Die Herakleen. Kreophylos.
erbte auch mehr von ihm. in der Alkestissage hat die faust des Herakles
die gnade der todesgöttin ersetzt, welche Apollon beschwor 99). und so
ist die dienstbarkeit des Herakles auch eine parallelsage zu der dienst-
barkeit des Apollon 100), die ursprünglich auf denselben fluren gespielt hat,
und die bei beiden durch eine blutige tat begründet ist. es ist das wichtig.
denn erst diese einsicht sichert davor, in der dienstbarkeit bei Omphale
und etwa auch bei Syleus eine parallelsage zu dem dienste bei Eurystheus
zu finden und somit dieses motiv als einen bestandteil der ursage an-
zusehen. freilich wird sich jeder vor diesem misgriff schon dann hüten,
wenn er den rechtlichen unterschied zwischen der dienstbarkeit des
vasallen von der des sclaven zu würdigen weiſs.


In unserer überlieferung verknüpft, aber dennoch vielleicht von haus
aus gesondert ist die sage von der werbung um Deianeira, die tötung
des Nessos, das vergiftete gewand und der tod des Herakles. diese vier
stücke bedingen einander. es fehlt in der erzählung, wie wir sie kennen,
ein unerläſsliches motiv, wenn die liebe zu Iole ausgesondert wird. aber
es ist zuzugeben, daſs die nötige eifersucht sehr gut auch durch irgend
ein anderes erbeutetes mädchen, z. b. Astydameia von Ormenion, erweckt
werden konnte. nicht Herakles sondern Deianeira hält diese sagen zu-
sammen; ihre bedrängung durch den ungeheuren freier, ihre eifersucht
und verzweiflung ist die seele der dichtung. sie ist Aetolerin, und die
frauen dieses stammes sind von der sage mit lebhaftesten zügen aus-
gestattet, da ist Althaia, Deianeiras mutter, die Meleagros durch eine
[320]Der Herakles der sage.
ähnliche tücke tötet, wie die tochter den Herakles, und sich wie sie in
der reue den tod gibt; da ist Marpessa, die aus liebe den Idas dem
Apollon vorzieht, Kleopatra, die leidenschaftliche gattin des Meleagros,
Periboia die vielumfreite; auch die unselige gattin des Protesilaos ist in
dieses geschlecht eingereiht worden 101): unverkennbar haben wir hier alt-
hellenische gestalten vor uns, reste einer herrlichen poesie, von welcher
nur das Meleagerlied der Litai eine unmittelbar wirkende probe gibt.
vereinigt also sind diese Heraklessagen durch hellenischen dichtergeist 102).
damit ist zugleich gesagt, daſs wir diese vereinigung lösen müssen. und
in der tat, zwei der drei Heraklestaten sondern sich selbst ab. der kampf
mit Acheloos ist in wahrheit der mit dem herrn des meeres, der mit
Nessos die Kentauromachie. beide abenteuer sind ihrer typischen be-
deutung zu gunsten einer individuellen entkleidet, und in beiden ficht
Herakles ritterlich für ein weib: ihr besitz ist sein lohn. das ist mensch-
lich und schön; nur erwirbt man mit solchen taten nicht den himmel.
was poetisch vielleicht eine steigerung scheinen kann ist für das religiöse
eine degradation. für den tod liegt keine parallele fassung vor, denn
der Herakles des dodekathlos ist nicht gestorben. um so deutlicher ist
die entstellung. dieses ende, der selbstmord als rettung vor unheilbarem
siechtum, der allsieger das opfer eines eifersüchtigen weibes und der
tücke eines geilen ungeheuers, muſs dem wie eine blasphemie erscheinen,
der die erhabenheit des argolischen gottmenschen dagegen hält. so war
es wahrlich nicht gemeint; wenn Herakles ein held wie alle andern
ist, mag er ja auch elend zu grunde gehen wie Meleagros oder Odysseus.
nur für die echte Heraklessage muſs auch aus dieser geschichte die
hellenisch-epische motivirung, muſs das weib heraus. dann bleibt die
selbstverbrennung. in ihr ist aber auch eine groſsartige conception der
echten Heraklesreligion anzuerkennen. auch dies ist ein würdiger ab-
schluſs des irdischen lebens und ein übergang zu dem himmlischen, eine
parallele zu dem eintritt in den himmelssaal, obwol dieser nicht nur
erhabener, sondern auch ursprünglicher ist. wie soll Herakles sterben?
kein feind kann ihn fällen; soll er den strohtod sterben, wie ein weib
[321]Die Herakleen. Kreophylos.
oder ein sclave? nein, als er fertig ist mit seinem lebenswerke, als er
das füllhorn von dem meergreise erhalten hat, da steigt er empor auf
den berg seines vaters, der ehedem auch der götterberg gewesen ist 103),
und auf dem wie im garten der Hera in ewigem blumenflor eine wiese
prangt 104). hier schichtet er sich einen scheiterhaufen. seine kinder, seine
getreuen umgeben ihn; dem liebsten waffengefährten 105) schenkt er seinen
treuen bogen zum danke dafür, daſs er den feuerbrand anlegt und die
lichte flamme entzündet, welche die sterblichkeit von der göttlichen seele
wegläutert 106), die sich in den hohen himmel an des vaters seite empor-
schwingt, während drunten die älteste, die einzige tochter die letzte schwere
ehrenpflicht vollzieht und die irdischen reste des vaters sammelt 107). das
ist wol auch etwas erhabenes, und wem die götter das herz jung erhalten
haben, daſs er die alten einfachen klänge aus dem gewirr der lärmenden
und rauschenden compositionen gesteigerter kunst und cultur heraus-
zuhören und ihrer melodie zu folgen vermag, der wird nicht zweifeln,
daſs dieses wirklich die altoetäische sage war. das feierliche siegesopfer
v. Wilamowitz I. 21
[322]Der Herakles der sage.
auf dem Kenaion, mit welchem Herakles dem Zeus für die vollendung
seiner irdischen mühen dankt, ist in wahrheit kein anderes, als das, wozu
er auf dem Oeta den scheiterhaufen erbaut. und auch Sophokles, der
doch kurz vorher die Deianeirasage mit allen ihren consequenzen dar-
gestellt hatte, empfand das groſse würdig, als er den chor des Philoktetes
die heimkehr wünschen lieſs nach dem vaterlande, ἵν̕ ὁ χάλκασπις ἀνὴρ
ϑεοῖς πλάϑη ϑεὸς ϑείῳ πυρὶ παμφαὴς Οἴτας ὑπὲρ ὄχϑας (736).


Wie aus den flammen des oetäischen feuers der ἀνὴρ ϑεός sich
emporhob, so tritt er in ursprünglicher erhabenheit aus den oetäischen
sagen hervor, wenn das feuer der kritischen analyse sie läutert und das
irdisch-epische wegschmelzt. erst die epik, welche ihn zu einem ganzen
menschen, aber auch zu einem bloſsen menschen machte, hat ihm irdische
schwäche, den mord des Iphitos, irdische strafe, die knechtschaft, irdische
liebe und irdisches siechtum verliehen. ursprünglich ist dem oetäischen
Herakles all das nicht minder fremd gewesen als dem argolischen.


Der kinder-
mord.

Aber eine sage scheint ihn doch in tiefster schuld verstrickt zu
zeigen: der kindermord. prüfen wir, was wir von ihm als ursprünglich
ansehen dürfen, und halten wir dabei vor allen dingen das euripideische
drama ganz fern. vor dem elektrischen tore in Theben lag das Herakles-
heiligtum. da zeigte man sein geburtshaus, manches andere denkzeichen
und auch ein grabmal, welches die kinder bergen sollte, die Megara,
Kreons tochter, ihm geboren, und er im wahnsinne, den Hera gesandt
hatte, in das feuer geworfen und verbrannt hatte. so viel dürfen wir
mit einiger wahrscheinlichkeit als alte sage betrachten. das grab der acht
erzbewehrten Megarasöhne, an welchem bei sonnenuntergang totenopfer
gebracht wurden, erwähnt der zuverlässigste zeuge, Pindaros 108). er gibt
[323]Der kindermord.
als zahl der opfer acht an; die mythographen mühen sich mit der zahl
ab, ohne erfolg; es kommt auf sie so wenig an wie auf die verschieden
ersonnenen namen der kinder 109). den mord der Megara schlieſsen Pindars
worte aus, und die besseren berichte, z. b. die welche die kinder im feuer
sterben lassen, tun desgleichen: er ist überhaupt in keiner von Euripides
unbeeinfluſsten überlieferung vorhanden 110). den feuertod bezeugt Phere-
108)
21*
[324]Der Herakles der sage.
kydes, durch welchen er sich in der besseren mythographischen über-
lieferung gehalten hat, und man darf ihn als ursprünglich ansehen, weil
es so nahe lag, ihn durch anderes zu ersetzen, mag auch die kunde, die
wir von den älteren dichterischen bearbeitungen besitzen, für diesen punkt
versagen. besonders bedeutsam ist, daſs die verbrennung noch zu Alexanders
zeit in Groſsgriechenland galt, wie ein gemälde des tarentinischen oder
paestaner malers Assteas lehrt, der sehr anschaulich darstellt, wie Herakles
allerhand hausrat zusammengeworfen und angezündet hat, und eben einen
knaben in dieses feuer zu werfen im begriff ist 111). die poesie hat sich
früh dieser geschichte bemächtigt. Nestor erzählte sie mit anderen sagen,
die gleichfalls nur dem griechischen festlande angehören, dem Menelaos in
den Kyprien. hier wird der wahnsinn des Herakles zuerst ausdrücklich
erwähnt, den aber jedermann mit zum notwendigen rechnen wird. da er
an die Kyprien anknüpfte, hat der dichter der homerischen Nekyia Megara
dem Odysseus vorgeführt. deshalb wieder hat sie Polygnotos auf seinem
bilde der Nekyia in Delphi gemalt und erscheint Megara mit den kindern
auf den apulischen unterweltsvasen 112). es ist das eine stark wirkende
gruppe, da ja der gegenstand dieser gemälde die heraufholung des Kerberos
aus der unterwelt ist, und der maler hat ohne zweifel beabsichtigt, dem
helden die opfer seines eignen wahnsinns vorzuführen. neben ihren
kindern kann Megara auch nur als mit ihnen getötet erscheinen: darin
offenbar sich aber nur der einfluſs des Euripides. denn Polygnot hat
Megara allein gemalt, und der bericht der Nekyia verbietet an ihren tod
durch den gatten zu denken 113). auch Stesichoros und Panyassis hatten
110)
[325]Der kindermord.
die geschichte erzählt; doch läſst sich über sie nichts genaueres ermitteln,
als daſs sie den mord der kinder, nicht der mutter, durch den wahn-
sinn motivirten 114).


In der mythographischen überlieferung hat der kindermord seine feste
stelle und seinen ganz bestimmten zweck: er löst Herakles von Theben
und fällt vor die dienstbarkeit bei Eurystheus. so ist es schon bei Phere-
kydes gewesen 115). da die verbindung der thebanischen und der argolischen
sagen eine künstliche ist, so wird man zunächst geneigt sein, auf diesen
zeitlichen ansatz nichts zu geben. allein das bedürfnis, welches die mytho-
graphen befriedigen, muſs schon viel früher empfunden sein. was ant-
wortete ein Thebaner des 6. jahrhunderts auf. die frage ‘was hat denn
euren Herakles gezwungen, seine heimat zu verlassen; warum hat er bei
euch und für euch so wenig geleistet?’ wozu die andere kam ‘ihr sagt,
Herakles habe Megara, eures königs tochter, zum weibe gehabt; wo sind
denn ihre kinder, wo leben ihre nachkommen?’ wir beantworten heute
die frage so, daſs die peloponnesische dichtung die parallelen boeotischen
traditionen verdrängt hat, daſs der name Herakles selbst eine fremde be-
zeichnung war, die lange nicht alle taten des eingebornen parallelen heros
erbte, und daſs aus diesem grunde in der tat in Theben der adel nicht
auf herakleisches blut anspruch gemacht hat. Amphitryon und Iolaos haben
auch von dem echten Ἀλκαῖος vieles geerbt; Iolaos sogar die Megara.
aber der Thebaner des sechsten jahrhunderts konnte nur durch eine
sage antworten: ‘Herakles hat wegen einer unfreiwilligen bluttat fliehen
müssen’, das war die bis zum überdruſs in solchen fällen angewandte
motivirung. ‘söhne hat er wol gehabt, aber er hat sie selbst getötet’ so
[326]Der Herakles der sage.
ward die zweite dazumal vielleicht noch peinlichere frage beantwortet.
die tat zu begründen lag dem Thebaner nahe genug. der haſs der Hera
war gerade ihm in Heraklessagen geläufig, und daſs sie wahnsinn sendet,
gerade solchen der zum kindermorde führte, wuſste er auch. so war es
ja dem Athamas und der Ino, so war es Agaue ergangen. die tat ent-
ehrte den Herakles nicht, weil ihm das bewuſstsein fehlte, und der wahn-
sinn tat es auch nicht; dem war ja selbst Dionysos durch Heras groll ver-
fallen. es ist also ganz verständlich, daſs die Thebaner so sich das problem
gelöst haben, welches durch die allmählich eintretende verbindung der
örtlich gesonderten sagenkreise mit notwendigkeit entstand. wenn in
Theben neben dem tempel des gottes Herakles sein geburtshaus und
daneben das mal gezeigt ward, welches seine kinder, gleichviel wie viele,
gleichviel wie, aber von ihm selbst getötete, deckte, so ward dem beschauer
recht sinnfällig, daſs Herakles als mensch seiner heimat nur für eine kurze
zeit hatte angehören können, daſs ihm Heras eifersucht die heimat und
ihn der heimat entzogen hatte: dem himmel aber hatte sie ihn nicht
entziehen können.


So betrachtet hört der kindermord auf, an Herakles unbegreiflich
zu sein, weil er in wirklichkeit ihn gar nichts angeht. es ist eine ge-
schichte, welche ihrem wesen nach nichts ist als ein erzeugnis der com-
binirenden reflexion 115 b), ein bindeglied für zwei sagenkreise. in jedem
von diesen steckt der echte Herakles: dessen heldenbild wird von keinem
schatten einer schaudervollen freveltat getrübt, wie denn das wesen des
himmlischen helfers eigentlich den gedanken an solche untat nicht erträgt.
so ist denn auch der kindermord keinesweges in echt dorischen landen
volkstümlich. auch die bildende kunst stellt ihn nicht dar: Assteas ist
eine singularität. der thebanische cultus symbolisirt nichts weiter als die
[327]Der kindermord. die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
trauer darum, daſs Herakles kein boeotischer localheld ist, sondern eher
ein argivischer. bedenken könnte nur erregen, daſs eine solche secundäre
bildung so früh und nachhaltig in der poesie gewirkt hat. allein das
homerische epos ist es, was sich ihrer bemächtigt hat, und dann der
chalkidische chordichter: dem verfasser der Kyprien ist es so wenig wie
oben dem Kreophylos zu verdenken, daſs er Herakles menschlich fassen
mochte. der mensch konnte sündigen und büſsen: je rührender die
geschichte ward, und je weiter sie sich von dem wesen der Herakles-
religion entfernte, um so brauchbarer ward sie dem dichter, dem diese
religion fremd war. eben weil es ein dem gotte fremder zug war, hat
die vermenschlichende poesie, erst die epische, dann die dramatische
an ihn lieber angeknüpft als an Geryones oder Kerberos.


Die gewalt der echten Heraklesreligion hat in ihrem nationalen kreiseDie
Herakles-
religion seit
der archai-
schen zeit.

ungebrochen bestanden, so lange die archaische cultur nicht gebrochen
war; nicht bloſs aus den sagen, an denen sich das volk in lied und bild
erbaute, sehen wir das, sondern es finden sich auch dichter, welche
den groſsen einfachen gedanken klar aussprechen. mit knappen worten
tut das Hesiodos: denn er selbst, der dichter der Theogonie, ist es, und
zwar sind es die letzten worte, die sich mit sicherheit auf ihn zurück-
führen lassen, welche Herakles unter den göttern einführen 116). er hat
[328]Der Herakles der sage.
nach vollendung der arbeiten auf dem wolkigen Olympos die Hebe gefreit


ὄλβιος ὅς μέγα ἔργον ἐν ἀϑανάτοισιν ἀνύσσας
ναίει ἀπήμαντος καὶ ἀγήραος ἤματα πάντα
117).
()

ihm ist das groſse werk gelungen: so lebt er nun in ewiger seligkeit. und
mit reichstem schmucke seines anspruchsvollen stiles, aber in demselben
tone wiederholt dasselbe Pindar. “in den Olymp ist er eingetreten,
nachdem er das ende von erde und meer gefunden und der schiffahrt
die bahn befriedet. so wohnet er jetzt in der höchsten seligkeit bei
Zeus, aufgenommen in die göttliche familie, vermählt der Heba, ein herr
des güldenen hauses und eidam Heras” 118). und das erste nemeische gedicht
hat Pindar eigentlich dem Herakles mehr als dem Chromios gewidmet,
für den es bestimmt war. denn die aufgabe, das lob des siegers und
seiner heimat, macht er würdig aber kurz ab und bahnt sich gewaltsam,
wie er pflegt, den übergang “wir menschen leben allzumal in mühsal
und furcht und hoffnung: ich aber halte mich gern an Herakles und
will von ihm bei gelegenheit dieser trefflichen tat eines trefflichen mannes
eine alte geschichte erzählen”. und nun folgt, offenbar im anschluſs an
ein altes gedicht, die schlangenwürgung des kindes, und wie Teiresias
den eltern alles vorherverkündet hat,



[329]Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
alle die tiere des landes und meeres,

scheusale, reiſsende, recht und friedlose,

die ihm zu bändigen, alle die menschen,

wildeigennützige, frevelnden fuſses

auſser den bahnen des rechtes hinwandelnde,

die ihm mordend zum rechte zu führen

vom geschick beschieden war.

ja, wenn die götter zum krieg der giganten

schreiten, dann werden des Herakles pfeile

niederstrecken die himmelstürmenden riesen;

und die blonden häupter der Erdensöhne

schleifen im staube der mutter.

er aber wird den köstlichen lohn für die mühen

finden, im seligen hause den ewigen frieden:

Hera führt ihm die Jugend als braut entgegen,

an dem tische des Zeus begeht er die hochzeit:

und in ewigkeit preist er des hehren

weltenvaters regiment.

eine rhythmische paraphrase schien nicht unpassend; bedürfen doch die
meisten einer vermittelung, um im Pindar nicht nur die poesie, sondern
auch nur die gedanken zu finden. und es hilft hier eben so wenig auf
die alten wie auf die neuen erklärer zu verweisen. sie stehn ratlos vor
der willkür des dichters, der ganz ohne ‘inneren bezug’ 119) von Herakles
redet. nun, vielleicht leuchtet unbefangenen gemütern ein, daſs es groſs-
artig ist, wie der stolze Aegide sein lied emporhebt von der kleinlichen
aufgabe, das rennpferd eines sicilischen marschalls zu besingen, zu dem
preise des heros, in dem sich das mannesideal seines standes verkörpert,
an dem sich die κοιναὶ ἐλπίδες πολυπόνων ἀνδρῶν aufrichten. daſs
er aus dem himmel herabstiege und sein fabula docet zufüge, kann nur
ein pedant von ihm verlangen.


Pindar ist der letzte prophet des Dorertums und seiner ideale. er
ist auch der letzte, der den glauben an Herakles ungebrochen bewahrt
hat. er selbst sah um sich eine neue welt, in welcher weder er noch
seine ideale mehr raum hatten: die attische cultur. sie überflügelte nicht
nur das dorische wesen, sie überwand es. und wenn sie auch aus sich
ein absolut höheres neues hinzubrachte, so war doch darin ihr vor-
gearbeitet, daſs die archaische cultur erstarrt war, und als unzulänglich
selbst in den kreisen empfunden ward, in denen ihre wurzeln ruhten.
auch die Heraklessage genügte um 500 nicht mehr dem herzen, weil das
herz nicht mehr empfand wie um 800.


[330]Der Herakles der sage.

In unübersehbarer fülle war die masse der Heraklestaten gewachsen;
immer neue gefahren und immer neue wanderungen hatte das volk ihm
auferlegt. die schale der irdischen mühen ward also immer voller, mochte
er auch in jedem neuen kampfe siegreich gewesen sein. die ewige selig-
keit aber ist ein ewiges einerlei; von ihr läſst sich unter keinen voraus-
setzungen viel erzählen. so hielt sie also in vieler augen den leiden und
arbeiten nicht die wage. Herakles erhielt den charakter des dulders;
sein geschick ward mehr beklagt als beneidet. so hat schon ein dichter
in den Eoeen seine mutter ihn wiederholt πονηρότατον καὶ ἄριστον
(fgm. 159. 160) nennen lassen. und der dichter des Schildes legt ihm schon
die unwillige klage in den mund, daſs sein vater Amphitryon sich schwer
an den göttern vergangen haben müsse, da sich der eine sohn Iphikles
in schande gestürzt hätte, αὐτὰρ ἐμοὶ δαίμων χαλεπούς ἐπέτελλεν
ἀέϑλους (94). das ist die stimmung, aus welcher er auch bei Euripides
und Sophokles klagt. wahrhaft erschütternd wirkt vollends seine anrede
an Odysseus in der unterwelt “du ärmster, hast du denn auch ein elendes
geschick zu schleppen, wie ich es auf erden ertrug? der sohn des Zeus
war ich, aber unermeſsliches unheil war mein teil (λ 613)”. so spricht
freilich nur sein schatten, und der dichter verfehlt nicht hervorzuheben,
daſs der heros selbst im himmel als Hebes gatte weilt 119 a). aber es ist
um die frohe zuversicht des glaubens geschehen, wenn auch nur der
schatten des Herakles dem tode verfallen ist. aus dieser trüben auf-
fassung ist der gedrückte und ermüdete held hervorgegangen, den uns
spätere kunstwerke, und doch nicht nur späte, darstellen: ein schönes
bild, gewiſs; aber daſs das menschenleben eitel mühe und arbeit ist, ist
darin auf die bedeutung herabgesunken, welche der verfasser des 90. psalmes
mit diesem spruche verband, während der echte Herakles so dachte, wie
wir den spruch umdeuten. so ist Herakles dazu gekommen, den jammer
des menschenlooses darzustellen, und für diese betrachtungsweise waren
die geschichten besonders erwünscht, welche ihn schwach und sündig
zeigten, der kindermord, der frevel an Iphitos, die vergiftung und selbst-
verbrennung. und indem man sich von diesem standpunkte aus ein voll-
bild des charakters von dem heros zu entwerfen versuchte, ist die merk-
würdige ansicht von dem Ἡρακλῆς μελαγχολικός entstanden, die kein
geringerer als Aristoteles in geistvoller weise durchführt, indem er Herakles
mit in die reihe der gröſsten staatsmänner, denker und künstler stellt,
die alle μελαγχολικοί gewesen waren 120). das ist in dem verbreiteten
[331]Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
worte von der melancholie der genialen naturen zur sinnlosigkeit ver-
dreht, weil μελαγχολᾶν und melancholie kaum etwas mit einander zu
tun haben; selbst Dürers Melancholie kann man zur erklärung der aristo-
telischen gedanken nicht herbeiziehn. besser geschieht das durch die
vergleichung, welche Aristoteles selbst gibt, daſs die schwarze galle auf
die gemütsart etwa so wirkt wie ein köstlicher starker wein. wir dürfen
etwa sagen, daſs in der seele dieser höchstbegnadigten unter den sterb-
lichen ein vulkanisches feuer brennt; so lange es nur in der tiefe treibt
und wärmt, bringen sie hervor, was reicher und köstlicher ist, als sonst
ein mensch vermag, aber wehe, wenn es durchbricht: dann verzehrt es
alles und vernichtet sie selbst zuerst. schweres blut, schwerer mut: “der
blick der schwermut ist ein fürchterlicher vorzug”. sie sind mehr als
die ἄνδρες καλοὶ κἀγαϑοί, die eingepfercht zwischen die schranken der
σωφροσύνη den sichern weg ziehen, den die meilenzeiger des νόμος
weisen. aber sie sind was sie sind und leisten was sie leisten nur im
gewaltsamen bruche dieser schranken; und das büſsen sie, am schwersten
im eignen innern. sie sind eben doch auch keine götter, denen allein
das leben leicht ist. Aristoteles hatte ja einen solchen heros gesehen,
und er nennt Platon auch in dieser reihe: seit wir die enttäuschung erlebt
haben, die uns sein bild bereitet hat, verstehn wir, daſs er μελαγχολᾷ.
wenn Herakles in die reihe der heroen des geistes und der sittlichen kraft
eingeführt ist, so ist das in unserm sinne keine degradation, die gewalt
der alten sagengestalt macht sich auch darin noch fühlbar. aber das ideal
des höchsten menschentumes war doch ein anderes geworden; die Hellenen
hatten gelernt, wo die grenzen der menschheit stehen, und daſs der ruhm,
ein woltäter der menschheit121) zu werden, nur mit dem eignen herzblut
erkauft werden kann.



[332]Der Herakles der sage.

Aus derselben wurzel, welche den μελαγχολικὸς Ἡρακλῆς getrieben
hat, ist schlieſslich das gerade gegenteil auch erwachsen, der Herakles, der
als vertreter der φιληδονία eingeführt werden konnte 121a). die breite
masse mochte es nicht wort haben, daſs Herakles es auf erden so schlecht
gehabt hatte; aber die himmlische belohnung am tische der götter war
ihnen auch zu unsicher. für sie ist die εὐδαιμονία ein irdisches gut,
ist sie irdischer genuſs. den konnten sie ihm auch bereiten. Athena und
Hermes hatten ihn ja geliebt; Aphrodite und Dionysos waren ihm auch
nicht feindlich. schenkten ihm jene die köstlichsten waffen und hielten
sie ihm treue kameradschaft in allen fährlichkeiten, so vergaſsen sie sein
auch nicht, wenn er müde war und ruhe und trost bedurfte. so kühlte
ihm Athena die heiſse stirn, und lieſs ihm die warmen quellen allerorten
entspringen, den schweiſs abzuspülen: das schwesterlichste verhältnis mit
der erhabensten himmlischen jungfrau ward schon in archaischer zeit auf
das anmutigste ausgestaltet. aber neben diesem reinen bilde sehen wir auch
Dionysos den vollen becher reichen und all seine muntern gefährten stellen
sich ein. und gefällige nymphen und schöne königstöchter fehlten nirgend;
selbst die frevler, die Herakles erschlagen muſste, pflegten hübsche töchter
zu haben. er aber kommt ungeladen zu feste, weilt nicht lange und zahlt
nicht gold: im sturm erringt er den minnesold. so ward er zuerst ein
idealbild des dorischen ritters, ‘sein halbes leben stürmt’ er fort, ver-
dehnt’ die hälft’ in ruh’. und im verlaufe der zeiten ward er ein geselle
des dionysischen thiasos, ein schutzherr der epheben und der athleten, der
fahrenden leute und der landsknechte: und das ideal, das diese leute
haben, die ungemessene körperliche leistungsfähigkeit des ‘starken mannes’,
der doch geistig zugleich in ihre sphäre gehört, ist im wesentlichen, wenn
auch einige züge aus dem andern bilde sich einmischen und die ein-
geborne erhabenheit nie ganz verloren geht, der Herakles, den die helle-
nistische und zumal die römische zeit als lebendige potenz des volks-
glaubens besessen hat. es genügt dafür die tatsache, daſs kaiser Commodus
der νέος Ἡρακλῆς sein wollte. diese gestalt ist, wie natürlich, der
modernen welt zunächst überliefert worden: so pflegt sich der gebildete
von heute den Hercules vorzustellen; er ahnt ja nicht, daſs die sage
mehr ist als ein gefälliges und lascives spiel. oder aber er entsetzt sich
über die heiden und die verworfenheit ihrer heiligen. das schwatzt er
dann unbewuſst den christlichen apologeten nach, die mit recht den
121)
[333]Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
Herakles bekämpften, der zu ihrer zeit in der phantasie der völker lebte.
aber so jemand in diesem verzerrten bilde die hellenische religion selbst
zu treffen meint, so versündigt er sich an dem heiligen.


Ein gott oder ein halbgott war Herakles immer noch geblieben,
auch in solcher verkümmerung; aber heilig zu sein hatte er eigentlich
aufgehört, als die träger seiner religion ihren geschichtlich schaffenden
beruf erfüllt hatten und einer neueren und höheren, der attischen cultur,
erlagen. denn das Athen der groſsen zeit empfand sehr deutlich, daſs
ihm Herakles ein fremder, daſs er ein Dorer war, und nicht nur die
sagen geschichtlichen inhalts, in denen er wirklich nichts mehr war,
sondern auch die von universaler bedeutung wurden in den hintergrund
geschoben: trugen sie doch auch längst einen entschieden dorischen
charakter. gewiſs ward die prächtige sagenfülle auch jetzt noch gern
gehört; es werden wol noch mehr versuche gemacht sein als von dem
einzig bekannten Panyassis, die fehlende Heraklee zu dichten, und die
prosaische darstellung der heldensage, die jetzt das epos ablöste, hat
gerade in diesem sagenkreise besondern erfolg gehabt. so wucherte die
bildende kunst auch mit dem reichen schatz von Heraklesgeschichten,
den ihr die archaische zeit bereits geformt überliefert hatte: allein das
geschah nur durch das beharrungsvermögen und durch die lebenskraft
der alten motive. die groſse kunst des 5. jahrhunderts hat für Herakles
kaum etwas groſses getan. entscheidend aber ist, daſs die tragödie ihn
verschmäht hat. das ist eine eben so merkwürdige wie augenfällige tat-
sache. es kommt ja vor, daſs Herakles einmal in einer episode auftritt,
wie im Prometheus des Aischylos. es kann auch nicht ausbleiben, daſs auf
seine taten hier oder da hingewiesen wird. aber um seiner selbst willen
war der heros, dem Pindaros wieder und wieder huldigt, gleichzeitig in
Athen offenbar nicht darzustellen, wenigstens nicht ernsthaft. Aischylos
hat, so viel bekannt 122), auch nicht einmal ein satyrspiel aus seinem kreise
verfaſst. um so eifriger und erfolgreicher haben Ion und Achaios, Sophokles
und Euripides den dorischen helden als burleske figur verwertet, und die
Alkestis zeigt, daſs selbst in ernstester handlung diese charakteristik bei-
behalten ward 123). auch die komödie hielt sich an den unerschöpflichen
stoff; ihr war schon die epicharmische posse vorhergegangen, die selbst
[334]Der Herakles der sage.
die hochzeit mit Hehe travestirt hatte 124). man muſs diese tatsachen in
ihrem gewichte schätzen, damit man die kühnheit würdige, welche darin
lag, daſs Euripides als greis Herakles selbst zum gegenstande einer tragödie
machte, welche die tiefe seines wesens mit unter die voraussetzungen
aufnahm, aber jeden schatten des burlesken dorischen wesens ausschloſs.
ihm ist schleunigst Sophokles mit den Trachinierinnen gefolgt und hat
ein anderes hauptstück der sage dramatisirt: beide freilich schon episch
umgebildete geschichten übernehmend. andere versuche sind gemacht
worden; aber ohne dauernden erfolg.


Sophokles lieſs den Herakles selbst in seiner conventionellen archaischen
stilisirung und rückte deshalb eine andere person in den mittelpunkt seines
dramas. Euripides versuchte an der sage selbst fortzudichten, aber in
einem sinne, welcher sie eigentlich aufhob. das folgende capitel wird
zeigen, in welchem sinne er die gebrechlichkeit und die kraft der menschen-
natur in Herakles zugleich verkörpert hat, wie er zugleich die sage ver-
klärt und zerstört hat. es war das nur dadurch möglich, daſs er zu der
Heraklesreligion kein verhältnis hatte, nicht bloſs als Athener, sondern auch
als sophist, daſs er aber als dichter die poesie zu würdigen wuſste, wie es
nur je ein Dorer getan hatte. so machte er ein experiment damit, ein
schöneres als andere zeitgenossen, aber doch gleicher art. nicht viel später
hat Herodoros, ein Herakleote, also aus einer stadt, die wie wenige den
heros hoch hielt, den ersten pragmatischen roman von Herakles geschrieben:
hier erhielt er eine bildungsgeschichte, ward ein portrait von ihm ge-
zeichnet, ward er ein heerkönig und politiker. wenn so die Dorer sich
ihre heldengeschichte retten wollten, so zeigt das nur, daſs der geist ver-
flogen war. da verfuhren die sophisten würdiger und weit mehr im sinne
der alten dichtung, welche Herakles als einen typus für ihre moralischen
sätze ausnutzten. dazu gibt es selbst bei Pindar schon ansätze 125). wenn
[335]Die Heraklesreligion seit der archaischen zeit.
Prodikos von Keos den Herakles am scheidewege zwischen Ἀρετή und
Ἡδονή selbst erfunden hat, d. h. selbst das alte motiv, das in Sophokles
Κρίσις reiner als in den Kyprien dargestellt war, von Paris auf Herakles
übertragen, so hat er sich als einen würdigen sohn der insel des Simo-
nides erwiesen: er oder genauer der verkünder seiner lehre, Xenophon,
hat es jedenfalls bewirkt, daſs dieses eine stück den hellenischen wie
unsern knaben den echten sinn des Herakles, wenn auch etwas farblos
und derb moralisirend, vor augen führte 126). viel wirksamer und in
ihrer art ein prachtstück ward die umprägung des Herakles zum heros
des kynismus durch Antisthenes. es kommt dafür weniger auf den inhalt
seines Herakles an als auf das bild, welches seitdem die Kyniker immer
weiter ausbilden und auf allen gassen zur schau stellen. zwei der kyni-
schen cardinaltugenden, αὐτάρκεια und φιλανϑρωπία, besaſs Herakles
von der ältesten zeit her; streifte man ihm den epischen und dorischen
schmuck ab, so kam er nur um so reiner selbst zum vorschein. aber daſs
er πονηρότατος war, daſs es ihm menschlich zu reden schlecht gieng,
er von πόνος zu πόνος schritt, Eurystheus und Hera ihn verfolgten, das
nahm der Kyniker gern mit auf, und wenn die Athener über dorische
ἀμουσία gescholten und gelacht hatten, so war dem Kyniker der nur
lieber, den so viel τῡφος nicht berührte. gelernt muſste er freilich haben,
125)
[336]Der Herakles der sage.
denn so weit war Antisthenes Sokratiker, daſs er die ἀρετή in der
φρόνησις sah und für lehrbar erklärte: aber sie war nicht schwer, und
wol dem, der nicht erst die ganze last der torheit und der vorurteile zu
verlernen hatte. so war Herakles auch hier wieder der rechte mann, der
vollkommene mensch. aber er hatte seinen lohn in diesem leben; ge-
nauer genommen, eine belohnung gab es nicht und brauchte er auch
nicht. er war mensch, πονηρός und εὐδαίμων zugleich, er mochte
menschlich fehlen, auch schlieſslich krank werden und aussätzig: dann
baute er sich einen scheiterhaufen und warf das wertlose leben weg 127). so
vermochte der Kyniker die ganze Heraklesgeschichte seiner lehre dienstbar
zu machen. diese lehre stand mit ihrer schätzung von diesseits und jenseits,
menschenwürde und menschenpflicht zu der Heraklesreligion in fast polarem
gegensatze: aber die typische bedeutung für das sittliche verhalten des
mannes hat die gestalt des Herakles in ihr bewahrt, und so ist sie, wenn
man alles recht erwägt, am letzten ende auch eine manifestation der volks-
tümlichen religion: deren stärke und schwäche darin liegt, daſs sie in die
alten schläuche immer neuen wein aufnehmen kann.


Als heros der Kyniker, als streiter für die civilisation, als allsieger
in den kämpfen der faust und der keule, aber nur zu leicht dem weine
und der liebe erliegend hat Herakles durch die jahrhunderte fortgelebt,
[337]Deutungen der sage seit dem altertum.
während zu dem gotte die menschen in leid und freud sich hielten, denen
er als solcher von den vätern her vertraut war, unbekümmert um das
was die philosophen in ihm suchten oder die dichter von ihm fabelten:
da war er eben gott; das genügte der frömmigkeit, die glücklicherweise
trotz jeder theologie bestehen bleibt.


Die theologen oder, wenn man das lieber hört, die mythologenDeutungen
der sage
seit dem
altertum.

versuchten sich auch seit den Stoikern, den erben der Kyniker, an dieser
wie an jeder gestalt des volksglaubens und bemühten sich die fülle der
erscheinungen mit einer formel zu erklären. da ward Herakles der ϑεῖος
λόγος oder das feuer oder die sonne. man sieht, das ganz moderne ist
in wahrheit alles schon da gewesen. interessanter ist vielleicht der versuch
des gnostikers Iustin den kynischen Herakles als einen gewaltigen diener
des Ἐλωείμ (des gnostischen ‘vaters’), den gröſsten vor Jesus, in die
neue religion aufzunehmen 128). darin liegt viel mehr wahrheit als in den
physischen oder metaphysischen formeln: da ist doch wenigstens das
göttliche als sittliche potenz gedacht. Kleanthes Chrysippos und ihre
modernen adepten gehen von der voraussetzung aus, daſs die sagen eine
hülle sind, unter welcher alte weisheit sehr einfache dinge verborgen hat.
und der ungläubige gelehrte findet einen schlüssel, ein zauberkräftiges
wort, da öffnet sich das verschlossene dem verständnis, der schleier vom
bilde von Sais fällt ab, und man sieht zu seiner befriedigung, daſs eigent-
lich nichts rechtes dahinter war. aber sehr scharfsinnig ist, wer dahinter
kommt. mit dieser betrachtungsweise und ihrer selbstgefälligen erhaben-
heit kann nicht concurriren, wer sich dabei bescheidet, daſs er die em-
pfindung, welche vergangene geschlechter in dichterischem bilde nieder-
gelegt haben, in sich selbst zu erzeugen versucht, indem er sich möglichst
aller concreten factoren des lebens und glaubens bemächtigt, welche einst
v. Wilamowitz I. 22
[338]Der Herakles der sage.
jene empfindung erzeugten, auf daſs er sie nachempfinden könne, wer
also nicht klüger als die sage und der glaube sein will. das gilt ihrem
gehalte. ihrer form aber sucht er sich zu bemächtigen, indem er sie als
gedicht auffaſst, was sie ja ist. deshalb eröffnen nicht die antiken oder
modernen theo- oder mythologen das verständnis der naturreligion, sondern
die groſsen dichter alter und auch neuer zeit. ihre gedanken und die
gestalten und geschichten die sie schaffen sind den gedanken der natur-
religion und den gestalten und geschichten der sage brüderlich verwandt.
der Faust hilft zum verständnis des Herakles mehr als Kleanthes und
Iamblichos, Creuzer und Max Müller.


Erst spät ist das verständnis des Herakles wiedergefunden. die
moderne entwickelung muſste den weg von der antike, welche man zuerst
wiederfand, der kaiserzeit, erst allmählich zu dem echten altertum empor-
steigen. noch die groſsen männer, die das wirkliche Hellenentum er-
weckten, haben Herakles nicht begriffen.


Winckelmann in dem hymnus auf den Torso feiert Herakles etwa
so wie es ein hymnologe, also z. b. Matris von Theben, zu der zeit getan
haben mag, in welcher Apollonios jenes von Winckelmann in einer jetzt
unbegreiflichen weise überschätzte und misverstandene werk für das Pom-
peiustheater verfertigte 129). Zoega arbeitete wie ein trefflicher mythograph,
besser noch als der echte Apollodor, aber man mag ihn doch vergleichen.
Wieland schlug die bahnen des Prodikos wieder ein und wirkte mit
seinem flach moralischen, aber dennoch auch jetzt noch genieſsbaren
werke stärker auf den jungen Faustdichter, als dieser eingestand. Goethen
war Herakles der genialische kraftmensch und natursohn 130): da waren
[339]Deutungen der sage seit dem altertum.
züge vereinigt, die dem Kynismus angehörten, mit solchen, die etwa die
bukolische poesie an dem naiven helden hervorgehoben hatte. Schillers
Ideal und Leben gipfelt in dem gegensatze des auf erden gedrückten und
im himmel verklärten Herakles. er beabsichtigte auch als gegenstück zu
seiner ‘elegie’ eine ‘idylle’ zu dichten, deren inhalt die hochzeit des
Herakles mit der Hebe bilden sollte. die forderungen, welche er in der
abhandlung über naive und sentimentalische dichtung für die idylle auf-
stellt, sind in wahrheit gar nicht allgemein gemeint, sondern geben den
gedanken, welchen er in seinem gedichte in die mythologische form kleiden
wollte. “der begriff dieser idylle ist der begriff eines völlig aufgelösten
kampfes sowol in dem einzelnen menschen als in der gesellschaft ....
einer zur höchsten sittlichen würde hinaufgeläuterten natur, kurz er ist
kein anderer als das ideal der schönheit auf das wirkliche leben an-
gewendet”. diesen gehalt also legte der philosophische dichter in das
was ihm nur eine bequeme form war. sein gutes recht übte er damit;
aber mit grund ist das gedicht unausgeführt geblieben: der gegensatz
zwischen form und gehalt war zu groſs. und dem ernsten echten Hellenen-
tum kann dies ideal der schönheit nur ein sentimentalisches phantasma
sein. das hieſs mit dem mythos spielen wie Diotimos oder, wenn man
lieber will, ihn philosophisch verflüchtigen wie Kleanthes.


In feierlichen, von tief religiösem und tief wissenschaftlichem sinne
getragenen worten hat erst Philipp Buttmann 1810 zur feier des ge-
burtstages Friedrichs des groſsen ausgeführt, daſs “das leben des Herakles
ein schöner und uralter mythos ist, darstellend das ideal menschlicher
vollkommenheit geweihet dem heile der menschheit”. damit war das
wesentliche gegeben: der keim war bloſsgelegt, aus welchem der alte
stamm der sage erwachsen ist, der in dem dodekathlos wenigstens, auf
den auch Buttmann mit entschiedenheit hinwies, die eingeborne art rein
erhalten hat. was nicht zu seinem rechte kam, war das nationale, das
dorische, obwol Buttmann selbst sehr gut wuſste, daſs jeder alte mythos,
auch wenn er universell gedacht ist, zunächst eine nationale bedeutung
130)
22*
[340]Der Herakles der sage.
empfängt. diese notwendige ergänzung hat 1824 O. Müller in den Doriern
geliefert. sein verdienst ist es, für die geschichtlichen sagen das auge
geöffnet zu haben. es entgieng ihm auch nicht, daſs der grundgedanke
der Heraklessage “ein stolzes bewuſstsein der dem menschen inne-
wohnenden eigenen kraft ist, durch die er sich, nicht durch vergunst
eines milden huldreichen geschickes, sondern gerade durch mühen drang-
sale und kämpfe selbst den göttern gleich zu stellen mag”. aber er hat
das nicht als etwas für die Heraklessage specifisches betrachtet; wie er
denn überhaupt bei Buttmann nicht genug gelernt hat.


Die moderne mythologie wähnt über diese halbvergessenen vorgänger
weit hinaus zu sein, und zumal Buttmann hat keine starke wirkung aus-
geübt. in wahrheit kann neben ihm und Müller kein dritter genannt
werden, wenn man fragt, wer das wesen des Herakles erschlossen hat.
was hier dargelegt ist, ist im grunde nicht mehr als der versuch, den
beiden bedeutenden männern gleichmäſsig gerecht zu werden. diese er-
kenntnis ist aber erst gewonnen als ergebnis der selbstkritik: denn
erfassen muſs jeder das, was er wirklich versteht, aus dem objecte selbst,
und das verständnis eines religiösen gedankens wird ihm keiner wirklich
vermitteln, für den diese religion im grunde doch nur ein object der
forschung ist. das kann nur einer, der selbst den lebendigen glauben
hat und ausspricht: und so mag hier der subjective dank dem groſsen
Pindaros gezollt werden. am ersten nemeischen gedichte habe ich den
Herakles verstanden. und wer meine worte liest, der möge selbst von
dem propheten sich sein herz erschlieſsen lassen; der moderne gelehrte
kann ihm nur den weg weisen. so hoher und tiefer dinge verständnis
will nicht erlernt sondern erlebt werden.


[[341]]

6.
DER HERAKLES DES EURIPIDES.


Wann Euripides seinen Herakles auf die bühne gebracht hat, in ver-Auffüh-
rungszeit.

bindung mit welchen anderen stücken, gegen welche concurrenten, mit
welchem erfolge, das alles und noch einige tatsächliche angaben über
die erste aufführung, die geringere bedeutung für die würdigung des
vorliegenden dramas haben, war seiner zeit urkundlich aufgezeichnet
worden, und der antike leser fand es seit Aristophanes von Byzanz in
seiner Euripidesausgabe vor dem texte des dramas angegeben. auch
wir würden diese unschätzbaren notizen überliefert erhalten haben, wenn
nicht die stumpfheit von zeiten, die mit solchen tatsachen nichts anzu-
fangen wuſsten, und in diesem falle noch besondere schreiberfaulheit die
vorbemerkungen dieser art ihrer wertvollsten bestandteile beraubt hätten 1).
der verlust ist unersetzlich; immerhin läſst sich die entstehungszeit der
tragödie zwar nicht auf’s jahr feststellen, aber doch innerhalb ziemlich
enger schranken der möglichkeit.


Zeit der entstehung und zeit der aufführung, das ist zweierlei; aber
praktisch wird es nicht nur von den modernen philologen gleichgesetzt,
sondern hat niemals unterschieden werden können. auch für Aristo-
phanes von Byzanz und schon für Dikaiarchos gab es kein mittel, sich
über das werden und wachsen des kunstwerks in der werkstatt des
dichters zu unterrichten. sie datirten deshalb nach dem tage der geburt:
wir würden am liebsten nach dem tage der conception datiren, aber
wir müssen nun einmal darauf verzichten, von den werken der groſsen
griechischen dichter eine entstehungsgeschichte zu schreiben. ohne zweifel
entgeht uns so überaus viel des feinsten und persönlichsten; allein die
bedeutung, welche die entstehungsgeschichte für eine anzahl unserer clas-
sischen dramen hat, darf auf die attischen tragödien nicht übertragen
[342]Der Herakles des Euripides.
werden. denn wenn diese so mühsam in wiederholten ansätzen zu stande
gekommen wären wie Carlos und Egmont, so würden sie auch ähnliche
incongruenzen der handlung oder der stiles zeigen. es fehlt auch im
altertum nicht an solchen problemen; sie sind sogar recht zahlreich: nur
finden sie sich nicht in der poesie. die werke des Herodotos und Thu-
kydides, die beiden umfänglichsten des Platon, die meisten des Xenophon,
mehrere des Demosthenes liegen uns und lagen dem altertum immer in
einem zustande vor, welcher trotz dem mangel jeder verläſslichen sonstigen
überlieferung probleme der entstehungsgeschichte aufzuwerfen zwingt,
die nicht minder wichtig und nicht minder endlos sind als im Homer
und im Faust. und in den Wolken des Aristophanes würden wir auch
den versuch eines dramatikers, ein mislungenes werk umzuarbeiten, selbst
dann erkennen, wenn wir keine überlieferung hätten; den alten kritikern
war die aufgabe leicht gemacht, da sie beide fassungen besaſsen. im
übrigen pflegen wir widersprüche und stilistische fehler, wo wir sie zu
bemerken glauben, nicht den dichtern zuzuschreiben, sondern späterer
entstellung; im allgemeinen gewiſs mit recht. daſs Sophokles und Euri-
pides hie und da eine flüchtigkeit begehen muſsten, aber kaum je durch
absetzen und wiederaufnehmen einer dichtung disharmonieen hinein-
tragen konnten, ist durch ihre ungemeine fruchtbarkeit bedingt. dürfen
wir doch rechnen, daſs sie auf der höhe ihrer kraft vier stücke im jahre
fertig stellten. das schlieſst nicht aus, daſs der zeugungskräftige gedanke,
der aus einem sagenstoffe eine tragödie macht, längst im bewuſstsein des
dichters vorhanden war, ehe dieser an die ausarbeitung schritt. aber dies
verschlägt wenig, wenn nur das werk selbst aus einem gusse ist 2). und
wenn das werk fertig war, so fand sich, wenigstens als die dichter zu
ansehn gelangt waren, sofort die vorher dem dichter wolbekannte gelegen-
heit zur aufführung, auf die er demnach in ruhe jede rücksicht nehmen
konnte, die ihm beliebte. wie die veröffentlichung des buches von statten
gieng, wissen wir nicht; aber lange kann sie nicht hinausgeschoben sein,
eben auch wegen der schnelligkeit und des reichtums der production.
daſs der dichter für das buch änderungen gegenüber dem aufgeführten
texte vorgenommen hätte, ist eine möglichkeit, die man zugeben mag,
aber auſser rechnung lassen muſs 3). handeln wir somit nicht unbedacht,
[343]Aufführungszeit.
wenn wir abfassung und aufführung praktisch gleichsetzen, so wächst
dadurch nur der wert der didaskalischen angaben, und wo sie fehlen,
kann der versuch gemacht werden, sie einigermaſsen zu ersetzen: was
wir von indicien den verschiedenen partieen des dramas entnehmen, darf
auf eine und dieselbe zeit bezogen werden.


Für den Herakles ist weitaus das wichtigste eine subjective äuſserung
des dichters, eine der wenigen ganz persönlichen stimmungsäuſserungen,
und schon als solche unschätzbar. der dichter läſst seinen chor, un-
mittelbar nachdem er das alter verflucht und den wunsch nach einem
doppelten leben als lohn für die tugend ausgesprochen hat, geloben,
den Musen treu zu bleiben, welche auch dem alter treu bleiben 4). kein
fühlender leser kann verkennen, daſs das aus eigenster seele gesprochen
ist. also alt war oder besser alt fühlte sich Euripides, aber in seiner
poesie nicht gealtert. nun kann man das freilich nicht auf’s jahr aus-
rechnen, wann ein mann sich alt fühlt, noch wann er es äuſsern mag,
aber nach antiker anschauung kann man das γῆρας vor dem sechzigsten
jahre unmöglich beginnen lassen. wir mögen also zunächst uns bescheiden,
zumal die geburt des Euripides kaum auf ein jahrzehnt sicher festgestellt
werden kann, daſs er den Herakles nicht vor 424 gedichtet haben kann.
das nächste würde dann wol sein, zu fragen, ob die resignirte und doch
schaffenskräftige stimmung, durch die vergleichung mit anderen werken
genauere datirung ermöglicht. allein das wird erst kenntlich, wenn der
gehalt des dramas erfaſst ist. und die moderne meinung hat vor solchen
schlüssen aus dem geiste des werkes auf seine entstchungszeit eine starke
scheu: versuchen wir also zunächst die anderen betreteneren pfade.


Die nächste hoffnung, durch zeitgenössische anspielungen einen ter-
minus ante quem zu gewinnen, versagt: denn der spott der komödie hat
diese tragödie verschont. Euripides selbst hat in der parodos seines
Orestes eine scene des Herakles nachgebildet 5); aber damit, daſs dieser
vor 408 gedichtet ist, lernen wir nichts von belang. wichtig an sich
ist, daſs die Trachinierinnen des Sophokles nicht nur deutliche anklänge
an den Herakles enthalten 6), sondern geradezu durch ihn angeregt sind.
3)
[344]Der Herakles des Euripides.
aber urkundlich ist auch dieses drama nicht datirt, und wenn auch for-
male kriterien und ein par andere anklänge an sich wahrscheinlich machen,
daſs es etwa im vorletzten jahrzehnt des 5. jahrhunderts verfaſst ist, so
ist das doch nicht mehr als eine bestätigung dessen, was sich auch sonst
für das euripideische drama ausmachen läſst, während für das sophokleische
gerade das verhältnis zu Euripides die wichtigste zeitliche relation ergibt.


Nicht viel festeren boden gewinnen wir durch die anspielungen auf
geschichtliche ereignisse, welche man im Herakles gefunden hat. in der
annahme solcher beziehungen ist häufig jedes maſs überschritten worden;
jetzt ist man ihnen gegenüber nicht selten zu zaghaft. es sollte doch
über den methodischen grundsatz kein zweifel sein, daſs es zwar unerlaubt
ist, irgendwelche anspielung auf auſsen liegendes anzunehmen, wo der
poetische zweck allein ausreicht, daſs dagegen das verständnis auſserhalb
des dramas gesucht werden muſs, wenn es in ihm nicht gefunden werden
kann. sodann aber ist eine notwendige distinction zu machen. es ist
zweierlei, ob der dichter mit bewuſster absicht und um vom publicum
verstanden zu werden, auf etwas hindeutet, das mit seinem stoffe nichts
zu tun hat, wie Shakespeare im Sommernachtstraum auf die jungfräuliche
Königin, oder Euripides am schlusse seiner Elektra auf die flotte in den
sicilischen gewässern, oder aber, ob der dichter unbewuſst unter dem
druck der ihn umgebenden gegenwärtigen verhältnisse dinge erwähnt
oder gedanken ausspricht, zu denen der gegenstand selbst ihn nicht hin-
leitete. dies sind eigentlich nur besonders starke beispiele des die ganze
lebendige poesie beherrschenden anachronismus; z. b. die litterarischen
beziehungen gehören dahin, die zwischen Sophokles Antigone und Herodot,
Fausts erstem monologe und Herder bestehen. es leuchtet ein, daſs die
beiden kategorien für die würdigung des dichters stark verschieden sind;
für die chronologische ausbeutung aber kann man sie zusammen behandeln.


Ein beleg für die erste classe, also eine bewuſste und für das ver-
ständnis des publicums berechnete abschweifung vom stoffe ist im Herakles
der streit zwischen Lykos und Amphitryon über den wert des bogen-
schützen, ψόγος und ἔπαινος τοξότου, wie die handschrift am rande
bemerkt. der stoff führte allerdings auf diese streitfrage hin. denn die
überlieferte figur des bogenschützen Herakles stritt nicht nur mit den
ehrbegriffen der dorischen adlichen und der gesellschaft, für welche sie
den ton angaben 7): die freiheitskriege waren dem volke als der sieg des
6)
[345]Aufführungszeit.
hellenischen speeres über die asiatischen pfeile erschienen 8), und in Athen
war durch den zufälligen umstand, daſs die mit der fernwaffe ausge-
rüsteten polizeimannschaften meistens staatssclaven nordischer herkunft
waren, die verächtliche gleichsetzung des τοξότης mit dem Σκύϑης ent-
standen 9). somit konnte Euripides allerdings durch seinen stoff darauf
geführt werden, Herakles wider die herabsetzung des schützen verteidigen
zu lassen, und leicht mochte ihn seine neigung für sophistischen rede-
kampf dazu verlocken, dieses thema breiter zu behandeln als für die
poesie zuträglich war. aber er hat viel mehr getan. er läſst den ver-
treter der guten sache geradezu aussprechen daſs der schütze den zweck
des krieges, vernichtung des gegners mit möglichst geringem eigenem ver-
luste, besser erreicht als der hoplit, zumal dieser lediglich durch die schuld
seines nebenmannes im gliede zu grunde geht, wenn sich nämlich die
schlachtreihe löst. das fällt gänzlich aus dem rahmen der tragödie heraus;
es findet aber in der geschichte des archidamischen krieges sein lebens-
vollstes gegenbild. Athen hat seine schwerste niederlage, bei Delion,
eben dadurch erlitten, daſs die hoplitenphalanx geworfen ward, und ihr
rückzug durch keine leichte infanterie gedeckt war. den schönsten er-
folg aber hatte leichte infanterie bei Sphakteria über die stolzen spar-
tiatischen hopliten erfochten. man hat auch mit recht aus der kriegs-
geschichte geschlossen, daſs der tüchtigste feldherr der zeit, Demosthenes
von Aphidna, sich die ausbildung und verwendung leichter infanterie be-
sonders hat angelegen sein lassen, ein vorläufer des Iphikrates, dessen
peltasten später die lakedaimonische mora überwunden haben. diese ver-
änderte wertschätzung der schützen spricht auch aus der euripideischen
debatte, welche nur durch sie verständlich wird. dies wesentlichste ist
damit erreicht: für die verletzung unseres künstlerischen empfindens
werden wir dadurch entschädigt, daſs wir sehen, wie der dichter aus dem
7)
[346]Der Herakles des Euripides.
vollen leben schöpft, und die stimmungen und strebungen seines volkes
aufnimmt und dem volke gestaltet zurückgibt. was vor zeitlos absoluter
kritik nicht besteht, gewinnt für die geschichtliche betrachtung einen be-
sonderen wert, und wir hören auf, den dichter zu schelten, wenn wir
uns vorstellen, wie laut der beifall der anhänger des Demosthenes ge-
klungen haben wird; hätten sie nur auch die majorität in der volksver-
sammlung gehabt. aber ein festes chronologisches indicium gewinnen
wir damit noch nicht; nur so viel mögen wir sagen, daſs seit der alles
interesse auf sich ziehenden sicilischen expedition, und gar während des
folgenden seekrieges kein raum mehr für diese debatten war, während
die nächsten jahre nach Sphakteria und Delion die angemessensten scheinen.
aber selbst so bleibt der spielraum 423—416. und selbst dieses nur, weil
das lied vom alter verbietet, höher hinaufzugehen. an sich dürfte man
wol für minder wahrscheinlich, aber nicht für unmöglich erklären, daſs
Euripides die theoretischen gegensätze auf der bühne früher behandelt
hätte, als die kriegerischen ereignisse sie praktisch hervortreten lieſsen.


Eine andere zeitbestimmung hat man darin finden wollen, daſs der
chor v. 687 den paean erwähnt, welchen die Δηλιάδες dem Apollon
singen. derselben tut auch der chor der Hekabe erwähnung, 453; die
troischen gefangenen erwarten σὶν Δηλιάσιν κούραις die heiligen er-
innerungen der insel verherrlichen zu sollen: es waren also zu diesem
dienste auſser den delischen mädchen auch hierodulen herbeigezogen,
welche im Herakles in der bezeichnung Δηλιάδες ἀμφίπολοι mit ein-
begriffen sind 10). nun hat man hierin einen hinweis auf die stiftung des
prächtigen vierjährigen festes der Delien gesehen, welche die Athener
im frühjahr 425 vornahmen (Thuk. III 104). aber eine directe beziehung
würde nur vorliegen, wenn Euripides attische chöre in Delos oder auch
[347]Aufführungszeit.
nur das fest überhaupt nennte. er redet aber nur von den liedern und
tänzen der Deliaden. diese sind natürlich zu allen zeiten vorhanden ge-
dacht, eben deshalb auch zu Herakles zeit. die beziehungen Athens zur
delischen religion 11) sind uralt und waren dem Euripides sogar durch den
cult seiner familie vertraut 12). das heilige schiff segelte nach Delos zur
zeit, als die Françoisvase entstand, zur zeit, wo Sokrates starb und Delos
den Athenern gerade entfremdet war, zur zeit des Philochoros, wo es
gleichfalls frei war: die Deliaden haben gerade im zweiten jahrhundert
v. Chr., zur blütezeit des freien Delos, ehrengeschenke von vornehmen
besuchern für ihren tanz erhalten; sie hatten offenbar diesen mehr als
Apollon zu ehren getanzt 13). man muſs die frage also so fassen: Euri-
pides erwähnt die Deliaden, die es immer gegeben hatte und gab, in
zwei dramen, die wir aus anderen gründen ziemlich in dieselbe zeit
rücken, in welcher Athen die Delien stiftete: somit mag als wahrschein-
lich gelten, daſs er den delischen cult deshalb herbeizog, weil Athen gerade
auf ihn besonderen wert legte; aber eine zeitbestimmung für die dramen
ergibt das nicht 14). die Delien sind mit pracht gefeiert, so lange Euri-
[348]Der Herakles des Euripides.
pides lebte, und sollte nicht die bedeutung der delischen religion, welche
von 476—54 in der form des delischen bundes zum ausdruck kommt,
lebhaft empfunden sein, noch ehe sie die stiftung der Delien hervorrief?
die politische bedeutung dieser stiftung war freilich gröſser, als die meisten
jetzt erkennen 15), aber nur wenn auf sie eine hindeutung vorhanden
wäre, würden wir danach den Herakles datiren dürfen.


Äuſsere
form.

Kann so aus den zeitgeschichtlichen anspielungen nicht eben viel
entnommen werden, so lehren vielleicht die formalen kriterien mehr,
verskunst und sprache. es ist für die vernachlässigung der tragiker be-
zeichnend, daſs eben die zeit, welche sich sonst damit brüstet, litterar-
geschichtliche fragen durch die mechanischen operationen der statistik
zu lösen, für das drama keine gesichtspunkte aufgefunden hat, die ihr
nicht G. Hermann gezeigt hätte. das wichtigste ist in der tat das alt-
bekannte. eine anzahl von dramen des Euripides weisen sich durch
einen gemeinsamen altertümlicheren und strengeren stil als verwandt
aus; es sind Alkestis Medeia Hippolytos Andromache Herakleiden. sie
fallen alle teils nach urkundlichen angaben, teils nach sicheren geschicht-
lichen anspielungen vor 425 16). von ihnen sondert sich eine zweite
[349]Aufführungszeit. äuſsere form.
gruppe, welche das entgegengesetzte extrem vertreten, Helene, beide
Iphigeneien, Phoenissen, Orestes, Bakchen, zu welchen von verlornen,
aber genügend kenntlichen Andromeda Antiope Hypsipyle Bakchen treten:
für sie alle mit ausnahme der taurischen Iphigeneia ist die entstehung
im letzten jahrzehnt des dichters urkundlich bezeugt. dazwischen liegen
zeitlich und stilistisch Hiketiden und Erechtheus 421 17), Alexandros und
Troerinnen 415, Elektra 413, urkundlich oder durch geschichtliche an-
spielungen datirt. in diese mittelgruppe gehört der Herakles und gehören
auſserdem Hekabe und lon, doch so daſs Hekabe ihrer form nach in den
meisten dingen sich den älteren dramen anschlieſst, wie sie denn auch
Aristophanes vielleicht schon 423 parodirt 18), während Ion, für den nur
die untere zeitgrenze 412 gesetzt werden kann 19), formal zu den späten
dramen steht. zwischen beide gehört der Herakles.


Nur in einer so starken spielraum lassenden gruppirung wird ein
vorsichtiger stilistische kriterien verwenden mögen; wer freilich den blick
nur auf eine einzige erscheinung heftet, wird es leicht haben, bestimmter
zu schlieſsen. gemeiniglich legt man ausschlieſslich wert auf den unter-
schied, der jedem zuerst in die augen fällt, die häufigkeit der auflösungen
im iambischen trimeter. das ist in der tat ein sehr wichtiges moment,
wenn man nur die nötige umsicht übt 20), und es weist den Herakles
etwa zwischen Hekabe und Hiketiden. nicht minder wichtig wird eine
bisher kaum beachtete erscheinung 21), die nur in chorliedern hervortreten
kann, die verkürzung des langvocalischen oder diphthongischen auslautes
vor folgendem vocale, welche eigentlich nur in daktylischen oder doch
daktylisch scheinenden füſsen zulässig ist. während Sophokles sich darin
[350]Der Herakles des Euripides.
sehr starke freiheiten erlaubt, arbeitet Euripides mit zunehmendem alter
immer strenger, so daſs die dramen seines letzten jahrzehntes fast gar
keine solche hiate mehr zeigen. der Herakles steht zu diesen; er ver-
kürzt nur ein schlieſsendes αι, den diphthong, welcher sich dazu am
leichtesten herbeiläſst, in κλίνεται 1030, und auſserdem καί 1017, zwar
in einem anapäst, der für dochmius eintritt; aber καί hat in allen jahr-
hunderten freiere behandlung gestattet. wollte man hiernach allein gehen,
so würde der Herakles unter Troerinnen und Elektra herabgerückt werden
müssen. aber es sind der verse, welche für solche hiate überhaupt die
möglichkeit gewährten, sehr viel weniger als in jenen dramen, so daſs
sich von dieser seite nichts gegen einen etwas höheren ansatz sagen läſst,
zumal dieselben ursachen auch bei den Hiketiden den entsprechenden
erfolg gehabt haben.


Sehr stark ins gewicht fällt die anwendung des trochäischen tetra-
meters in einer ganzen scene, allerdings einer solchen von höchster
leidenschaft mit entsprechender steigerung auch des sprachlichen aus-
drucks. die trochäen waren ein lebhaftes tanzmaſs und beherrschten des-
halb, wie Aristoteles bezeugt, die älteste tragödie, wie wir sie auch in
der epicharmischen posse und der aristophanischen komödie viel verwandt
finden. wir lesen noch in den Persern des Aischylos eine trochäische
scene; aber der ruhige dialog drängte das tanzmaſs zurück, und so ver-
wendet es Aischylos später nur am schlusse des Agamemnon in einer
weise, wie sonst die anapäste, und ebenso verfährt Sophokles im schlusse
des königs Oedipus. sonst fehlen die trochäen bis auf die scene des
Herakles und eine ganz entsprechend lebhafte in den Troerinnen (444—61).
dann aber greift die tragödie nach immer stärkeren mitteln. Euripides, der
den ton angibt, nimmt neben den künsten des neuen dithyrambus auch
die der ältesten mehr musikalischen tragödie wieder auf. so lesen wir
trochäische scenen oder scenenteile in Ion Helene beiden Iphigenien Phoe-
nissen Orestes Bakchen Andromeda Archelaos, wozu noch Meleagros und
Oidipus kommen, welche aus anderen gründen für etwa gleichzeitig mit
dem Herakles gelten dürfen 22). Sophokles hat sich etwas mehr zurück-
[351]Äuſsere form.
gehalten; aber seine beiden letzten dramen, Philoktet und Oidipus Kol.
haben doch auch ein par trochäen. an Euripides setzt dann wie in
allem so auch in der rein dialogischen verwendung der trochäen die spätere
komödie an.


Von den lyrischen maſsen ist das dochmische in der tragödie zwar
nicht entstanden, aber so viel und gern angewandt, daſs seine entwickelung
wertvolle chronologische anhaltspunkte bietet. während nämlich die ältere
tragödie auſser den legitimen ersatzformen des dochmius neben diesem
bakcheen und iamben verwendet, gehen Euripides und Sophokles schon in
den zwanziger jahren dazu fort, eine reihe anderer glieder hineinzumischen,
welche sich zum teil auf daktyloepitriten zurückführen lassen, aber daneben
äuſserst charakteristische dem volksliede entstammende formen zeigen, unter
denen neben dem Reizianum 23) der enoplios 24) hervorragt. es läſst sich
sehr wahrscheinlich machen, daſs wirklich alle diese zusätze volkstüm-
lichen ursprung haben, und die dichter auf die quelle zurückgegangen
sind, aus welcher sowol die vervollkommner der daktyloepitriten (die Chal-
kidier) wie die erfinder der keinesweges volkstümlichen dochmien ge-
schöpft hatten. da diese spielart der dochmien einen besonderen namen
erhalten muſs, so mögen sie hiermit enoplische dochmien getauft sein.
die beimischung enoplischer glieder fällt gemeiniglich zusammen mit dem
aufgeben der responsion, doch nicht immer; sie war schon vorher in
dochmischen liedern keineswegs notwendig. ferner aber tritt eine sehr
starke, oft vorwiegende beteiligung der schauspieler an dem musikalischen
vortrage ein, und zwar geht die lebhaftigkeit der action so weit, daſs
nicht nur die rhythmischen perioden, sondern sogar die einzelne rhyth-
mische reihe sehr oft durch personenwechsel zerrissen wird, was Euri-
pides wenigstens im trimeter noch lange (und so im Herakles) vermeidet.
das sind zwei an sich verschiedene dinge, die aber deshalb beide in
denselben liedern zuerst auftreten, weil die dochmien zu der lebhaften
action, welcher sowol die polymetrie wie die zerreiſsung der verse dient,
am geeignetsten schienen. beides geht dann weiter; auch andere maſse
werden so zerrissen, wovon namentlich die späten sophokleischen stücke
Elektra Philoktet Oidipus auf Kolonos belege bieten, und es bildet
sich eine wahrhaft potpourriartige vermischung aller möglicher versarten,
22)
[352]Der Herakles des Euripides.
der gegenüber die enoplischen dochmien noch streng scheinen können.
so überschaut man eine entwickelung, welche man natürlich mit der-
selben weiteren spielraum lassenden vorsicht beurteilen muſs, welche aber
wenigstens über die zugehörigkeit eines dramas zu der oder jener gruppe
keinen zweifel läſst. daſs die neue musik, der dithyrambus, den tragikern
vorbild gewesen sei, ist eine unabweisbare schluſsfolgerung. der Herakles
hat nun die enoplischen dochmien in sehr breiter ausdehnung angewandt:
die drei letzten gesangnummern gehören ihnen ganz an. auſserdem finden
sie sich in Andromache (825—65), Troerinnen (241—91) Ion (762—99.
1445—1509) Helene (625—97), Iphig. Taur. (827—99) Phoenissen
(103—92) Orestes (173—203. 1246—1309. 1353—65) Bakchen (1017—23.
1153—99) 25). in den beiden letzten und jüngsten stücken respondieren die
dochmien meistens; dasselbe geschieht bei Sophokles in Aias (373—76 =
387—91, 879—914 = 925—60) und Elektra (848—70. 1411—13 = 1433
bis 35); Trach. 879—95 folgt der weise des euripideischen Herakles. seine
beiden letzten dramen, wie zum teil schon die Elektra und von Euripides
die jüngsten, Phoenissen Orestes Iphig. Aul. Bakchen, zeigen dann die aus
allen möglichen gemischten lieder. man würde hiernach geneigt sein,
den Herakles zu den Troades etwa herabzuziehen, und vor 424 könnte man
ihn gar nicht anzusetzen wagen.


Die entwickelung der sprache des Euripides ist noch viel zu wenig
genau untersucht, um aus ihr für die vorliegende frage ein moment zu
gewinnen. ganz bestimmt sondern sich auch sprachlich nur die dramen
des letzten jahrzehntes ab, in welchen Euripides einerseits einer menge
wörter der umgangssprache zutritt gewährt, so zu der komödie über-
leitend, andererseits altertümliche wörter und formen von den alten
dichtern aufnimmt, und wie die dithyrambiker in den chorliedern durch
seltsame kühnheiten, wortschwall und selbst bloſse wiederholungen musi-
[353]Äuſsere form.
kalische stimmung erzeugen will, während wirklich originelle wendungen
spärlich werden. davon sondert sich der Herakles scharf ab. der sprache
nach möchte man ihn, trotz einer anzahl barocker wendungen, den älteren
dramen anreihen.


Das scheint sich zu widersprechen; aber alle einzelnen erscheinungen
erklären sich, sobald man nur anerkennt, daſs der dichter sich mit diesem
drama besonders viel mühe gegeben hat, und sobald man sich über die
gründe der sprachlichen und metrischen veränderungen klar wird. es
ist doch nicht lüderlichkeit oder greisenhaftigkeit, was die kunst der
beiden groſsen tragiker so stark verändert hat. im gegenteil, ihr rast-
loser fleiſs und ihre bewundernswerte empfänglichkeit hat sie nicht
bei der alten manier beharren lassen. die belebung des trimeters durch
die zulassung dreisylbiger füſse, die entfesselung der rhythmischen kunst,
die ausgedehnte verwendung der schauspieler als sänger waren oder
schienen doch verbesserungen. deshalb treten sie im Herakles auf, viel-
leicht etwas früher als sonst. dagegen die mangelhafte originalität und
die buntscheckigkeit der sprache und auch der versmaſse stellt sich nicht
mit absicht des dichters ein, sondern ist lediglich eine folge der über-
hasteten production und des strebens nach effecten auf anderen gebieten,
welche der dichter, dem sie schwerlich entgehen konnte, nicht gesucht,
aber sich erlauben zu dürfen geglaubt hat. deshalb wird ein mit beson-
derer liebe gepflegtes werk in diesen dingen einen altertümlicheren ein-
druck machen, während es vielleicht durch die starke verwendung der
neuen kunstmittel moderner scheint als es ist. wir müssen doch so wie
so uns immer vorhalten, daſs die tragiker sich notgedrungen verschiedene
farben auf der palette halten muſsten, da sie mit vier dramen zugleich
hervortraten, die unmöglich alle übereins aussehen durften. so hat denn
Euripides z. b. den Ion und die Elektra ziemlich in denselben jahren
gedichtet, und spuren davon enthalten sie beide, aber der gesammteindruck
ist doch ein sehr verschiedener; Ion zeigt die modernsten, Elektra archaische,
besser archaistische züge. wer sich aber die stoffe und die tendenzen des
dichters überlegt, wird in der verschiedenen stilisierung berechtigte ab-
sicht nicht verkennen.


Die besondere liebe des dichters und zugleich die besonderheit des
stoffes hat auch das bewirkt, daſs die prüfung und vergleichung der drama-
tischen technik zwar die vortrefflichkeit des Herakles vor anderen dramen
ins licht stellt, aber nichts neues über ihre zeitfolge lehrt. daſs Iris und
Lyssa auf einem ‘die luft’ bedeutenden balkon in der höhe erscheinen,
setzt freilich eine einrichtung der bühne voraus, die den älteren dramen
v. Wilamowitz I. 23
[354]Der Herakles des Euripides.
unbekannt ist, gibt also denselben terminus post quem wie alle andern
indicien 26). sonst mag noch angeführt werden, daſs der bote zum chore
oder besser zum publicum kommt und nach seiner rede geht, ohne daſs
etwas getan ist, diese einführung der conventionellen bühnenfigur zu
motiviren. darin liegt eine gewisse erstarrung der kunst, das ist manier,
wie Euripides sie im alter in sehr vielen stücken zeigt. aber genaueres
ergibt sich weder hieraus noch aus dem allerdings bemerkenswerten um-
stande, daſs vor und nach dem botenberichte gesangstücke stehen, was
sonst nur in Phoenissen und Bakchen der fall ist. es ist hier durch die
ganz besondere erregung des chores motivirt, der zur rede keine fassung
hat; wie ja auch die einführung der göttererscheinung mitten im stücke
singulär ist. ist so das musikalische element um der besonderen wirkung
willen hier in einer ausdehnung angewandt, die sonst erst später vor-
kommt, so ist andererseits in den chorliedern der inhaltliche zusammen-
hang mit dem drama der allernächste, und stehen sie überhaupt an gehalt
in der euripideischen chorlyrik so hoch, daſs sie mit den erzeugnissen
des letzten jahrzehnts stark contrastiren, wo z. b. Helene Elektra Phoe-
nissen die Iphigeneien lieder enthalten, die ebenso gut in einem andern
drama stehen könnten. aber die Andromache steht darin wenig besser.
oberflächlichem blicke scheint der Herakles in der mitte zu zerreiſsen
und eine doppelte handlung zu enthalten: das scheint ihn dann mit Hip-
polytos Hekabe Herakleiden Andromache zusammenzurücken. aber Ale-
[355]Äuſsere form. gestaltung des stoffes.
xandros und Antiope waren ähnlich gebaut 27). die gestaltung der cha-
raktere läſst sich mit anderen dramen nicht vergleichen 28); Herakles
war überhaupt in der tragödie noch nicht ernsthaft genommen worden,
und die anderen figuren sind nur in relation zu ihm gestaltet. und auch
die darstellung einer wol öfter ähnlich eingeführten situation, wie die
bedrohung der auf einen altar geflüchteten familie des Herakles, oder die
behandlung des sittlichen problems der freundestreue läſst sich wenigstens
fruchtbar nicht mit anderen dramen vergleichen 29). was Euripides im
Herakles gibt, ist aus sich verständlich, ist eben so eigenartig wie treff-
lich: es ist der ganze Euripides darin, aber nicht der jüngling oder
der greis.


Aber diese eigene art des dramas müssen wir zu erfassen suchen,
ganz abgesehen von den chronologischen schlüssen, die sich etwa daraus
ergeben könnten. denn wir möchten ja die zeit wissen lediglich um das
drama und den dichter besser zu verstehen: das datum eines werkes zu
ermitteln ist für die forschung wahrlich nicht selbstzweck. vielleicht
aber wird sich am schlusse dieser betrachtung doch noch eine folgerung
auch für die abfassungszeit ziehen lassen.


Das vorige capitel hat gezeigt, wie gering die bedeutung des kinder-Gestaltung
des stoffes.

mordes in der Heraklessage ist, und daſs er sogar in offenen widerspruch
zu dem sinne dieser sage tritt, sobald er in den vordergrund gerückt
wird. gerade dieser widerspruch hat Euripides gereizt; ihn wollte er
offenkundig machen und in seiner weise lösen. dafür war vorbedingung,
daſs die tatsache dem volke ganz allgemein als eine unbestrittene fest-
stand: Herakles hat im wahnsinne seine kinder getötet. und da das
volk eine solche geschichte sich nicht als naktes factum erzählt, sondern
26)
23*
[356]Der Herakles des Euripides.
mit mehr oder weniger lebensvollem detail, so müssen wir als allgemein
bekannt mindestens auch noch mitrechnen, daſs die kinder von Megara,
der tochter des Kreon, stammten, daſs die tat in Theben geschah, und
daſs Herakles um ihretwillen seine vaterstadt verlassen hat. es hat sich
oben aber auch schon gezeigt, daſs die geschichte sowol in den Kyprien
stand wie in einem gedichte des Stesichoros, und das homerische gedicht
war allgemein, Stesichoros auch sehr weiten kreisen bekannt, insbesondere
aber hat Euripides nachweislich aus beiden vielfach anregungen empfangen.
wenn er also diesen gegenstand behandeln wollte, so fand er hier den
λόγος in der geltenden form, an die er ansetzen muſste. in den Kyprien
konnte nun schwerlich dieses beispiel der geschichte viel ausführlicher
erzählt sein als etwa in der Ilias die geschichte vom Thrakter Lykurgos
oder der gefangenschaft des Ares bei Otos. ob es bei Stesichoros breiter
behandelt war, entzieht sich jeder vermutung, kann aber deshalb auch
nicht vorausgesetzt werden. daſs die thebanische localsage von Euripides
nicht berücksichtigt ist, zeigt die vergleichung mit Pindar. es ist natür-
lich nicht nur von vornherein ein methodischer fehler, vor dem es
übrigens schwer ist sich zu hüten, wollte man dem Euripides nur die
kenntnis von den behandlungen der sage zutrauen, deren existenz uns
bekannt ist: es ist nicht nur möglich, daſs ihm sehr viel ausgiebigere
andere zu gebote gestanden haben können, ja es läſst sich noch zeigen, daſs
er einzelne züge übernommen hat, deren herkunft wir nicht kennen,
und die doch, wenn unsere gewährsmänner zuverlässig sind, in den nam-
haft gemachten dichtungen gefehlt haben. bei Euripides bewirkt Athena
durch einen steinwurf, daſs Herakles, schon im begriffe Amphitryon zu
töten, inne hält und in schlaf sinkt. es ist das zwar sehr wirkungsvoll,
zumal für das seinen wahnsinn begleitende chorlied; allein die einwirkung
Athenas hat nicht nur für die ganze sonstige ökonomie des dramas keine
bedeutung, wird dem Herakles sogar nicht einmal bekannt, sondern sie
wird durch einen das wunder bezweifelnden ausdruck des boten herab-
gesetzt (v. 1002): das alles ist unbegreiflich, wenn der dichter diesen zug
erfunden haben sollte. der erfinder wird die rettende einwirkung der
göttin in einen wirksamen gegensatz zu der verderblichen der Hera ge-
stellt haben. ja noch mehr: die rettende reinigende tat ist bei Euripides
das werk des Atheners Theseus, nicht mehr der Athena. in seiner art
liegt es die menschliche motivirung an die stelle des göttlichen wunders
zu setzen: dann hat er aber wahrlich dieses wunder nicht selbst erfunden,
sondern nur als ein überliefertes nebenstück äuſserlich festgehalten. nun
würde ein solcher abschluſs für das epos zumal ganz vortrefflich passen,
[357]Gestaltung des stoffes.
man meint zunächst, daſs in seinem stile eine ähnliche erfindung sich
eigentlich von selbst aufdrängen müſste 30). aber Pausanias behauptet,
der von Athena geschleuderte stein wäre bei den litterarischen zeugen,
die er anführt, nicht vorgekommen, hätte aber zu seiner zeit in Theben
neben den gräbern der Herakleskinder gelegen. diese angabe mögen
wir subjectiv bezweifeln, so viel wir wollen (und Pausanias 31) kann sich
nicht beschweren, denn er trägt als thebanische localsage vor, was seit
Euripides die vulgata war, und hat selbst Kypria oder Stesichoros mit
keinem auge gesehen): wir haben nun einmal keine mittel sie zu wider-
legen, und sind somit gezwungen zu sagen: wir wissen nicht, wer dem
Euripides den stoff überliefert hat, überliefert war ihm aber mehr, als
wir bei einem vorgänger noch nachweisen können. auch die dreizahl
der knaben 32), die wiederum der epischen weise so sehr nahe liegt, viel-
leicht auch daſs er sie mit seinen lieben eigenen waffen erschlägt, darf
unter das für ihn gegebene gesetzt werden.


Um so deutlicher ist das was Euripides aus eigener machtvollkommen-
heit verändert hat. das sind im wesentlichen drei hauptstücke. er hat
erstens den kindermord an das lebensende des Herakles gerückt. der
Herakles, von dem wir hier scheiden, wird keinen kampf mit riesen und
drachen mehr bestehen, er fühlt sich dem überwundenen Kerberos nicht
mehr gewachsen. so ist denn auch alles was von heldentaten irgendwie
bedeutsam erschien, gelegentlich erwähnt, selbst die eroberung Oichalias:
[358]Der Herakles des Euripides.
nur die oetäisch aetolischen sagen muſsten fortbleiben, denn die gattin
Megara schlieſst Deianeira aus. nichts desto weniger ist im einklange mit
dem dodekathlos, den Euripides in seiner bedeutung wol verstand, das
leben mit der dienstbarkeit bei Eurystheus gleich gesetzt. die reinigung
der erde war die lebensaufgabe des Herakles (21), so lange er dabei
beschäftigt war, durfte ihm Hera nichts zu leide tun (828). aber mit der
vollendung seiner aufgabe erhielt Herakles im dodekathlos die ewige selig-
keit: hier verfällt er dem elend. das zu ermöglichen ist künstlich das
hilfsmotiv eingeführt, daſs die vollendung zwar sachlich aber noch nicht
formell erfolgt ist, weil der Kerberos noch nicht abgeliefert ist. zum
andern aber war eine selbstverständliche folge, daſs nicht die Hesperiden-
fahrt, sondern die heraufholung des Kerberos das zwölfte abenteuer ist.
der Herakles des Euripides kommt nicht mehr als gott in den himmel;
daſs er aus dem schlund der hölle emporsteigt um die seinen zu retten
und zu vernichten ist zu dem wirkungsvollsten gegensatze ausgenutzt.
Euripides copirte aber gerade hierin eine eigene ältere erfindung; in
seinem ersten Hippolytos war, wie Senecas nachbildung lehrt, Theseus
in der mitte des stückes unerwartet aus dem Hades heimgekehrt. und
so lag es ihm denn auch hier besonders nahe, Theseus so einzuführen,
daſs er eben von Herakles aus der unterirdischen haft erlöst war.


In dieser einführung des Theseus, welcher Herakles nach Athen
zieht und ihm so eine neue heimat schafft, besteht die zweite hauptneuerung.
das fällt als motiv der handlung nicht stark auf die sinne, und es hat
auch die spätere sage unmöglich beherrschen können: es hätte ja die
annexion des Herakles durch Athen bedeutet 33). aber die kühnheit des
dichters ist deshalb nicht niedriger zu schätzen. übrigens fehlte es ihm
nicht an anknüpfungen, und er hat sie ausdrücklich hervorgehoben, wie
gerade diejenigen pflegen, welche eine unwahrscheinliche neuerung ein-
führen wollen. daſs die attischen Herakleen eigentlich Theseen wären,
nur von ihrem eigentümer an seinen freund verschenkt, hat genau so,
wie Euripides es hier erzählt, die attische chronik berichtet 34): es ist die
[359]Gestaltung des stoffes.
officielle erklärung dafür, daſs der dorische heros allerorten, der stifter
der attischen demokratie nirgend einen alten cult besaſs. wenn aber
Herakles bei lebzeiten einen so groſsen besitz in Attika gehabt hatte,
so war der schluſs einfach genug, ihn dort auch eine weile wohnhaft zu
denken. daſs Herakles sich in Eleusis hat weihen lassen, ehe er in
die unterwelt hinabstieg, und zu dem behufe nicht nur von seinen blut-
taten in Athen entsühnt, sondern durch adoption zu einem Athener ge-
macht ist, hat ebenfalls in Attika officielle geltung gehabt 35). Euripides
erwähnt die weihung, und er durfte wahrscheinlich zu erfinden glauben,
da auch sein Herakles in Athen entsühnt wird und in Athen sich nieder-
läſst. übrigens fällt das etwa anstöſsige jenseits des rahmens der tragödie.
wirksam für sie ist nicht das eingreifen des Atheners, sondern das des
freundes. in dieser eigenschaft ist Theseus an die stelle des Iolaos ge-
treten, der in der thebanischen vorstellung nicht nur überhaupt diese
rolle spielt, sondern gerade die Megara übernimmt, als Herakles aus dem
vaterlande scheiden muſs, nach antiker vorstellung ein freundschaftsdienst,
der beide teile ehrt 36). den konnte Euripides seinen Theseus nicht auch
34)
[360]Der Herakles des Euripides.
leisten lassen, als er ihn an Iolaos stelle setzte, und schon dieses legte
ihm nahe, Megara mit ihren kindern fallen zu lassen. die gattin würde
aber auch die einwirkung von vater und freund gestört, die mutter das
mitleid von dem vater, der zugleich mörder ist, abgezogen haben: so
hat Euripides sie das schicksal ihrer kinder teilen lassen, zum gröſsten
vorteil für seine dichtung, übrigens auch für die späteren fassungen der
geschichte vielfach maſsgebend.


Die dritte neuerung ist die einführung des Lykos, welcher die familie
des Herakles mit dem tode bedroht und von diesem dafür erschlagen
wird. Euripides hat diese tat, in welcher sich die familienliebe und die
rettende gröſse des Herakles kurz vor dem gräſslichen, das die familie
zugleich mit der gröſse des helden zerstört, für dessen charakteristik
nötig gehabt und erfunden; Lykos ist selbst nur ein mittel zum zweck.
daſs er ihn auch erfunden hat, sagt er so gut wie selbst (26. 31), indem
er ihn als einen enkel des tyrannen Lykos einführt, der nach alter sage
von den söhnen Antiopes, den boeotischen Dioskuren, vertrieben worden
ist. jener Lykos war in der tat eine alte sagenfigur 37), wahrscheinlich
auch in der Antiopesage vertreter Euboias, wie er, zu einem sohne des
Pandion umgeformt, es auch in der attischen ist, oder besser gewesen
ist, denn für uns ist der attische Lykos ganz verblaſst. dieselben züge
trägt bei Euripides sein enkel, gegen den als eindringling sich Thebens
greise leidenschaftlich wehren. daſs er Megaras vater, könig Kreon, sammt
seinen söhnen erschlagen hat, ist in diesem zusammenhange unerläſslich:
nur so ist die bedrohung und hilflosigkeit der enkel des Kreon und söhne
des Herakles hinreichend begründet. daran daſs derselbe Kreon Haimon
und Megareus zu söhnen gehabt hat und den zug der Sieben überlebt,
dürfen wir, trotzdem beide Kreon Menoikeus zum vater haben, nicht
denken: die Herakles- und Oidipussage sind schlechthin incommensurabel,
und Kreon erscheint in beiden nicht als dieselbe individuelle person,
sondern als dieselbe füllfigur, die auch in anderen sagen, z. b. der korin-
thischen, auftritt, wo bloſs ein ‘könig’ nötig ist 38). da der dichter seinen
36)
[361]Gestaltung des stoffes. aufbau des dramas.
Lykos sofort wieder beseitigt, so hatte die erfindung gar keine bedenk-
lichen folgen; nur in der euripideischen fabel, die ihn erzeugt hatte, hat
dieser Lykos sein bischen leben gehabt 39).


Diese drei neuerungen, welche Euripides mit dem überlieferten stoffe
vornahm, sind in wahrheit nur consequenzen der inneren umgestaltung,
welcher er die sage selbst unterzog. sie sind aber als gegebene gröſsen
zu betrachten, wenn wir den aufbau des dramas prüfen wollen, dessen
grundlage eine bestimmte form einer bestimmten geschichte ist. ob die
überlieferung oder der dichter, ob dieser in einer bestimmt zu erfassenden
absicht oder aus willkür und laune den grund gelegt hat, ist für die
eigentlich dramatische ausgestaltung unwesentlich.


Euripides beabsichtigte Herakles die seinen erst retten, dann tötenAufbau des
dramas.

zu lassen. die ganze geschichte ihrer gefahr und rettung war freie neue
erfindung; über sie muſste er den zuschauer genau unterrichten; das
erforderte also verhältnismäſsig viel raum. da die beiden parteien, welche
sich in diesem teile des dramas gegenüberstehen, durch Herakles gleicher-
maſsen vernichtet werden, bedurfte der dichter einer vermittelnden person,
welche mit ihrer teilnahme sowol jenen wie dem Herakles zur seite stünde
und die continuität des dramas wahrte. es muſste das eine verhältnis-
mäſsig wenig selbst betroffene, dem helden innerlich ergebene sein, die
also die teilnahme des zuschauers nicht auf sich ablenkte, sondern nur
auf die eigentlichen träger der handlung stätig und gesammelt hinführte.
man könnte meinen, dazu wäre ja der chor da. aber das würde wol
den vorschriften des Aristoteles, aber keinesweges der weise der groſsen
dichter entsprechen. einer ästhetischen betrachtung, welche, wie die des
Aristoteles, zwar absolute regeln geben will, aber mit der lediglich ge-
schichtlich nicht begrifflich mit dem drama verbundenen institution des
chores als einer notwendigen rechnet, kann eine solche rolle mit recht
als die angemessenste für den chor gelten. tatsächlich haben die dichter
dem chor eine so conventionelle stellung niemals gegeben, sondern die
38)
[362]Der Herakles des Euripides.
verschiedensten versuche mit ihm gemacht. die stärke der individuellen
persönlichkeit, welche in diesem falle nötig gewesen wäre, hatte er aber
für Sophokles und Euripides, so weit wir sie kennen, überhaupt nicht
mehr. Euripides bedurfte also einer besondern person, die an wichtig-
keit darum nichts einbüſst, daſs ihre bedeutung nur relativ ist. er hat
dazu Amphitryon gewählt, und alles getan, ihn zwar in seiner sphäre zu
halten, aber so voll und rund herauszuarbeiten, daſs sich der zuschauer
diesen träger der umfänglichsten rolle wol gefallen lassen kann. Amphi-
tryon ist zwar ehedem etwas gewesen; der ruhm seines Taphierzuges,
der mit der geschichte von der erzeugung des Herakles zusammenhängt
und deshalb allbekannt ist, wird mehrfach hervorgehoben; aber das dient
nur dazu, daſs uns der hilflose nicht verächtlich wird. jetzt ist er greis;
er kennt das leben und macht sich keine illusionen mehr. er hat nichts
mehr zu fordern noch zu erwarten, darum aber auch nichts für sich zu
fürchten. er übersieht nicht bloſs die schwiegertochter und den tyrannen,
sondern auch die stürmische unbedachtsamkeit des sohnes. dieser sohn
ist sein alles; schwiegertochter und enkel schätzt er nur um des sohnes
willen, dem bleibt er auch auf die gefahr nahe, ein opfer seiner raserei
zu werden. und seine schwerste prüfung ist der endliche abschied von
ihm. daſs er doch hoffen darf, daſs die einzig geliebte hand ihm die müden
augen zudrücken wird, wenn sie endlich brechen werden, ist der letzte
trost, den der zuschauer aus dem drama mitnimmt. Amphitryon ist der
vater des Herakles. das empfinden wir und sollen wir empfinden, trotzdem
das drama auf die vaterschaft des Zeus häufig und schon in dem ersten
verse hinweist. dieser mythos wird conventionell beibehalten, wird inner-
lich zugleich gedeutet und beseitigt: und schlieſslich spricht Herakles
geradezu aus, daſs Amphitryon sein vater ist, zu dem ja viel mehr die
liebe macht als das blut. aber freilich, die gröſse des sohnes ist gerade
für den vater zu überwältigend, als daſs er ihm innerlich einen halt
geben oder gar ihn aufrichten könnte. gewohnt, dem willen des über-
mächtigen sich zu fügen, hat er bei dem furchtbaren seelenkampfe des
sohnes, den es zum selbstmorde zieht, nur ohnmächtige tränen. da ist
eines ebenbürtigen eingreifen von nöten, eines solchen, den der mythos
sich auch als göttersohn denkt.


Den chor hat die spätere tragödie sich immer mehr erlaubt dem
alten pindarischen anzuähneln. er pflegt im laufe des dramas seine maske
fast ganz zu vergessen und lediglich das instrument zu sein, mit welchem
der dichter stimmungen betrachtungen erzählungen vorträgt, welche er
an den ruhepunkten seiner handlung für angemessen oder doch für zu-
[363]Aufbau des dramas.
lässig erachtet. dazu hat die entfaltung der wirklich dramatischen etho-
poeie eben so mitgewirkt, wie die neigung der dichter, so frei wie Pin-
daros mit ihrem instrumente zu schalten. es gilt das keinesweges bloſs
für die tragödie. Aristophanes läſst die mit so viel witz und effect ein-
geführte, meist in einem epirrhema eigens noch erläuterte maske des
chors nach der parabase häufig fast ganz fallen. Wolken Wespen Vögel
Mysten reden in dem zweiten teile ihrer stücke minder als solche, denn
als choreuten des Aristophanes. schlieſslich sehen wir in Ekklesiazusen
und Plutos überhaupt nur noch die parodos erhalten, welche allerdings
immer das mimische element stark ausgenutzt hatte. so denn auch die
tragiker. wie die bewohner von Kolonos zusammenlaufen, weil ihr
Eumenidenhain entweiht ist, das ist von Sophokles mit vollem drama-
tischem leben veranschaulicht, und auch das lob Athens, sein schwanen-
gesang, geht vom lobe seines Kolonos aus. aber das lied, welches die
zeit ausfüllt, während dem die geraubten mädchen befreit werden, ist
schon ohne jede persönliche charakteristik, und das lied ὅστις τοῦ
πλέονος μέρους ist vollends die individuelle klage des lebensmüden
dichters. ob man die dichter schelten will, stehe dahin: jedenfalls sind
nur so ihre dichtungen verständlich, und vielleicht freut sich mancher
der nur so ermöglichten einblicke in ihre eigene seele. Euripides hat
sich mit der maske seiner chöre selten groſse mühe gemacht, und wo
er es getan hat, wie mit den Phoenissen, ist der erfolg selten erfreulich 40).
[364]Der Herakles des Euripides.
von den bekannten chören seiner tragödien sind mehr als zwei drittel
weiblich, und zwar macht es wenig aus, ob es jungfrauen oder frauen
sind, freie oder sclavinnen (ausnahmen wie die Hiketiden nicht gerechnet):
greisinnen sind es nie. die minderzahl der chöre sind männlich, so gut
wie immer ohne besondere charakteristik auſser dem lebensalter, diesem
nach sind es fast immer greise, oder es macht doch wenig aus, wenn
sie nicht als besonders hochbetagt geschildert werden; jünglinge sind sie
nie 41). mit anderen worten, Euripides hat im wesentlichen zwei typen,
von denen er in der weise gebrauch zu machen pflegt, daſs er in einer
trilogie zwei chöre weiblich, einen männlich hält; da der satyrchor dazu-
kommt, ist das ganz begreiflich 42). wenn wir ihn also im Herakles den
chor aus greisen bilden sehen, so kann dazu in den andern stücken der
tetralogie der anlaſs gelegen haben; doch ist es nicht nötig, solche ver-
legenheitsausrede zu brauchen. der chor des Herakles führt sich als
γέρων ἀοιδός wiederholt ein; Euripides hat ihm das geständnis in den
40)
[365]Aufbau des dramas.
mund gelegt, das er selbst als γέρων ἀοιδός abgibt. für sich und seine
der tragödie fern liegenden persönlichen äuſserungen war ihm diese maske
genehmer als die weibliche, die sonst allerdings näher gelegen hätte; denn
die teilnahme des chores contrastirt mit der verlassenheit der Herakles-
kinder und contrastirt auch mit der festen herrschaft des Lykos über
Theben. deshalb hat der dichter besonderer hilfsmotive bedurft. er
unterscheidet die parteien in Theben, die braven alten und die bösen
jungen, welche nur leider die macht haben, da die alten ganz kampf-
untüchtig geworden sind. man könnte versucht sein, hierin eine poli-
tische spitze zu sehen, da Aristophanes so gern die verschiedenen stim-
mungen der attischen bürgerschaft als die ewig gleichen gegensätze von
alt und jung faſst, und Euripides auch in den Hiketiden auf die ehr-
geizige jugend schilt (232). aber darauf ist hier kein wert gelegt, denn
die zwistigkeiten innerhalb der bürgerschaft sind nur so lange vorhanden,
als es gilt, sowol die sympathie wie die machtlosigkeit des chores fest
zu stellen. hätte Euripides den jugendtollen staatsverderbern eine lection
erteilen wollen, so würde sein Lykos ihre politik entwickeln. vielmehr
hat er den chor nur durch ein charakteristicum ausgezeichnet, den adels-
stolz. daſs sie Sparten sind, Lykos ein hergelaufner Euboeer, schärfen
sie wieder und wieder ein, und auch an Herakles rühmen sie, wenn
auch unter verschiedener schätzung, vor allem den adel. es weist das
in dieselbe richtung wie die debatten über die vaterschaft des Zeus. und
wie jener mythos im letzten teile zerstört oder vielmehr im höheren sinne
wahr gemacht wird, so hören wir auch über den adel, daſs freilich das
blut ihn nicht macht, aber adel ist auch in der sittlichen welt: er zeigt
sich im leiden viel mehr als im handeln, denn das ist schwerer. diesen
adel fordert Theseus (1228), beweist Herakles durch die tat.


Amphitryon und der chor sind die personen, über die der dichter
mit sich vorab im reinen sein muſste, ehe er an die ausarbeitung des
dramas gieng. sind sie einmal erfaſst, so ergibt sich der aufbau des
ersten teiles fast von selbst, sobald man nur die manier, die Euripides
nun einmal sich gebildet hatte, walten läſst. er verwendet regelmäſsig
den prolog und das erste chorlied ausschlieſslich zur exposition: die
situation, welche er voraussetzt, wird noch im zustande der ruhe gezeigt;
die handlung beginnt erst nach dem ersten liede. in diesem falle war
sehr viel zu erzählen, die neugeschaffenen voraussetzungen des dichters.
beginnen muſste er so, daſs die gefahr der familie des Herakles zwar
dringend und unabwendbar, aber noch nicht unmittelbar todbringend war.
dann muſste dieser zustand eintreten, die spannung der zuschauer auſs
[366]Der Herakles des Euripides.
äuſserste getrieben werden, Herakles erscheinen und retten. es war er-
forderlich, daſs Lykos oder doch seine partei zum worte und zur erschei-
nung kam; in dem momente, wo Herakles wiederkehrte, konnte er jedoch
nicht gegenwärtig sein, sonst hätte er sofort den tod finden müssen, was
die schicklichkeitsbegriffe verboten; zudem würden zu viel personen zu-
gleich auf der bühne gewesen sein. so ergaben sich die vier scenen, die
wir vorfinden 1) prolog und parodos, welche die exposition geben, 2) con-
flict zwischen Lykos und der Heraklespartei, der sich in diesem falle nur
in worten abspielen kann, und dessen ausgang von vorn herein sicher
ist. 3) die höchste not und das erscheinen des retters. 4) der tod des
Lykos. hinter 2 3 4 sind pausen in der handlung, also standlieder des
chores angezeigt. die motive, welche diesen aufbau der scenen ermög-
lichen, sind angemessen aber billig. die von Lykos bedrohten personen
sind an einen altar geflüchtet, er bestimmt sie dieses asyl zu verlassen
durch die drohung, sie auf dem altar verbrennen zu lassen, bewilligt
ihnen aber einen kurzen aufschub, damit die kinder sich mit leichen-
gewändern schmücken, und läſst sie während dieser zeit unbewacht (eine
unwahrscheinlichkeit, die der zuschauer kaum bemerken wird). in dieser
frist kommt Herakles und braucht nun bloſs im hause die ankunft des
Lykos abzuwarten, um ihn ohne mühe zu überwinden. der ganze vor-
gang entspricht den sitten der zeit, welche viele beispiele für die flucht
von hilflosen an altäre darbietet, aber auch von umgehungen und ver-
letzungen des asylrechtes. die handlung kann in diesem teile keinen
groſsen eindruck machen. die charaktere liefern nur teilweis ersatz.
Lykos ist nicht mehr als ein gewöhnlicher bühnenbösewicht; religion
und sitte sind ihm vorurteile, gott und tugend ein wahn, und er renom-
mirt mit seiner schlechtigkeit; die verbrechen, zu denen ihn seine ἀναί-
δεια, der mangel an jedem sittlichen gefühle, treibt, proclamirt er als
gerechtfertigt durch die politische klugheit (ἀσφάλεια), ist aber schlieſs-
lich, wie jeder verbrecher, dumm und geht mit frechem schritte in das
garn. solch einen bösewicht denkt sich der Athener am liebsten als
tyrannen, und dazu gehört auch, daſs er ein parvenu ist, ohne erziehung
und manieren (σκαιός 299). ein naives publicum wird an dieser figur
und ihrer bestrafung seine freude haben; damit hat Euripides aber nur
für das parterre, zum teil nur für die gallerie gearbeitet. wenn die
gegenpartei bloſs mit den entsprechenden farben gezeichnet wäre, edelmut
und hilflosigkeit, todesfurcht und ergebenheit, unschuld und seelenadel,
so würde das auch nur für ein ganz gewöhnliches theaterstück gut sein.
und die sophistische rhetorik, die in Amphitryons reden wider Lykos sich
[367]Aufbau des dramas.
breit macht, ist für den modernen leser wahrlich kein ersatz, war es in
Athen nur für die anhänger des specifisch modernen stils, der in die
poesie eigentlich nicht gehört. wol aber hat Euripides sich hier als
echten dichter wenigstens an einer figur bewährt, die dem fühlenden
leser noch heute das herz bewegt, wenn ihn auch die rhetorik kalt läſst,
und die allerdings den erfahrenen kenner der bühnenwirkung überall,
auch so weit sie in stummem spiele besteht 43), verratende führung der
handlung, nur zu einem kühlen beifall veranlaſst. die gattin des Herakles
ist kein typus wie Lykos und hat nicht bloſs eine relative bedeutung
wie Amphitryon, sie ist ein individuum. der kündiger des weiblichen
herzens hat sich in den wenigen reden, die er Megara geliehen hat, nicht
verleugnet. da ist zwar die äuſserung der empfindung durch die engen
bande der sitte zurückgehalten, welche nun einmal für die attische frau
galt: aber es bedarf für den leser nur der achtsamkeit (für den schau-
spieler also nur des verständigen benutzens der handweisungen des
dichters), um zu bemerken, welches feuer der leidenschaft in ihr kocht.
sie kommt mit ihren reden immer an einem anderen ende an, als sie
beabsichtigt hat, oder muſs gewaltsam zu ihrem thema zurückspringen.
die empfindung und der affect ist stärker als sie. und empfindung und
affect der frau hat recht gegenüber der besonnenen kälte des greises und
dem cynischen verstandesmenschen Lykos, ja selbst gegenüber dem was
Megara ihrem verstande gemäſs wider ihre empfindung sagen will. in
all ihrer schwäche ist die vornehme frau dem gekrönten plebejer über-
legen, und vor ihr, die in ihrem gatten ihren einzigen adel sieht, ver-
bleicht die an sich gerechtfertigte ruhmredigkeit der spartischen echt-
bürtigkeit des chores. in ihrer muttersorge und mutterhoffnung liegt
endlich auch das beschlossen, was der zuschauer und noch mehr der leser
von interesse für die Herakleskinder hat, die der dichter nur als stumme
personen eingeführt hat 44). die mutter durfte der tragiker sich ganz
[368]Der Herakles des Euripides.
geben lassen: der gattin verwehrte die attische schicklichkeit die empfin-
dungen frei zu äuſsern, die Megara wie gewiſs unzählige frauen Athens
wol im herzen hegten, aber von eigensinniger sitte darin zu verschlieſsen
gezwungen waren. Euripides ist für attische verhältnisse an die äuſserste
grenze des erlaubten in der scene des wiedersehens gegangen: unsere
freiere und gesundere auffassung des ehelichen verhältnisses wird dadurch
nur stärker daran erinnert, daſs hier ein gebiet ist, auf welchem das
fünfte jahrhundert die freiheit der menschlichen empfindung noch nicht
erreicht hat.


Das unheil soll ganz unerwartet über Herakles hereinbrechen; so
ist denn nicht die leiseste hindeutung darauf in dem ganzen ersten teile.
die zuschauer, die noch ganz unvorbereitet waren, müssen eine erschüt-
terung erfahren haben, die durch mark und bein gieng 45), und dem
theaterdichter sollte man den erreichten effect zu gute halten, auch wenn
er wirklich sein drama nicht zur wahren einheit herausgearbeitet hätte.
man vergleiche doch bei Seneca die wirkung des prologes, welcher die
zukunft enthüllt 46): da ist das interesse des lesers an der rettung der
kinder in wahrheit vorab vernichtet, denn, wenn sie doch fallen müssen,
möchte er ihnen höchstens den tod von vatershand ersparen. für Euri-
pides erwuchs aber allerdings die notwendigkeit, gewissermaſsen von
neuem anzuheben, einen zweiten prolog zu schreiben. er exponirt das
folgende durch die einführung von Iris und Lyssa. scharf gliedert er
durch den wechsel des versmaſses diese scene. denn Lyssa, der wahn-
sinn, ist, so lange ruhig geredet wird, eine göttin wie andere: ihre
trochäen aber zeigen sie am werke, sie dienen bereits der aufgabe, den
44)
[369]Aufbau des dramas.
wahnsinn des Herakles zur anschauung zu bringen. die sendung des wahn-
sinns konnte Euripides nur als ein verbrechen Heras ansehen, einen
hohn auf die göttlichkeit der göttin. ihm war sie nicht heilig, er scheute
sich nicht sein urteil auszusprechen, aber sie war doch im cultus die
himmelskönigin, und so mied er sie selbst einzuführen, zumal sie das
interesse zu stark abgezogen haben würde. Iris, die dienerin, hat er
dagegen mit wenigen strichen meisterlich aber rücksichtslos mit der ge-
hässigkeit gezeichnet, welche er gegen jeden λάτρις hat, der sich zum
werkzeuge der tyrannenlaune erniedrigt und im gefühle seiner verkauften
freiheit gern wichtig macht. als κῆρυξ 47), oder noch besser als kammer-
zofe Heras erscheint Iris, die nicht nur zu dem verbrechen ihrer frau
willig hand anlegt und die hohe göttin Lyssa hofmeistert, sondern bei
v. Wilamowitz I. 24
[370]Der Herakles des Euripides.
jeder gelegenheit einschärft, daſs ‘wir’, die herrschaft und sie selbst,
also belieben.


Lyssa unterscheidet sich nur im namen von den andern verderben und
tod bringenden dämonen, welche in der archaischen kunst besonders zahl-
reich sind, auch auf der bühne der groſsen zeit eingebürgert, wenn auch
vielleicht nicht so häufig, wie in der späteren effecthaschenden zeit 48).
wie die mythischen genealogien dieser wesen wechseln, so auch ihr name,
zumal da den späteren die alte erhabene bedeutung der Erinys schwand,
so daſs diese sich auch mit anderen höllenwesen vermischte und als der
bekannteste der allgemeine name ward. so heiſst denn der dämon des
euripideischen Herakles selbst bei einem berichterstatter Erinys; Euri-
pides redet neben ihr von Ποιναί, ein name der auch sonst vorkommt,
Assteas (oben s. 324) läſst dem kindermorde Μανία zuschauen, u. s. w.
es kommt auf den namen also wenig an. aber Lyssa selbst war unter
diesem namen von Aischylos in der dramatisirung der Pentheussage ein-
geführt 49), und da sie auf einem vasenbilde der edelsten malerei in
ionischer, nicht attischer form Λύσ(σ)α heiſst 50), so war sie dem maler
aus der litteratur bekannt. auch Euripides selbst hatte zwar nicht Lyssa,
aber eine wahnsinn sendende Erinys in dem drama eingeführt, welches
man am liebsten mit diesen scenen des Herakles vergleichen möchte, das
aber bisher ganz unklar ist, dem Alkmeon 51), den er 438 mit Telephos
[371]Aufbau des dramas.
und Alkestis aufgeführt hatte. aber man würde keiner zeugnisse bedürfen
um zu erkennen, daſs Lyssa bereits eine wolbekannte bühnenfigur war,
ehe sie Euripides hier einführte. denn er hat sie ihrem eigenen wesen
entfremdet. sie warnt vor dem frevel, beurteilt also ihre natur selbst als
etwas gleichsam auſser ihr. damit ist die personification des wahnsinns
innerlich aufgehoben. und das war nur möglich, wenn die phantasie
sich so stark daran gewöhnt hatte den wahnsinn, weil er dämonisch
wirkt, in der gestalt eines dämons zu sehen, daſs dieser dämon eine
persönlichkeit auch abgesehen von der sphäre seines wirkens scheinen
konnte. auf diesem wege sind freilich sehr viele göttliche gestalten zu
umfassender, wol gar zu universaler potenz gekommen; ist doch der gottes-
begriff selbst zunächst nur ein prädicatsbegriff und hat sich allmählich
nicht nur zu einem subject erhoben, sondern das, wovon er die göttlich-
keit prädicirte, zu seinen prädicaten gemacht. aber so lange eine personi-
fication ganz durchsichtig ist, verstöſst eine solche erhebung in das uni-
verselle wider den natürlichen sinn, wider die logik und die religion.
ein Λύσσα σωφρονοῦσα ist eine contradictio in adjecto und eine blas-
phemie so gut wie die frivolität Heras und die verworfenheit der Iris.
für Euripides ist beides gleich bezeichnend: ihm sind alle göttlichen
figuren ja doch nur conventionelle fictionen einer religion, die seinen
vorstellungen vom wesen der gottheit widerspricht. wenn er den volks-
glauben, indem er ihm folgt, ad absurdum führt, so ist es ihm ganz
genehm.


Erst mit dem momente, wo Lyssa sie selbst wird, der dichter also
in die bahnen der echt mythischen vorstellungen zurücklenkt, hebt sich
auch sein gedicht wieder zu der höhe einer reinen wirkung. er hat
hier eine seiner höchsten leistungen erreicht; aber es liegt nur zum teil
an äuſserlichkeiten, wenn diese partie so wenig anerkennung bei den
modernen gefunden hat. allerdings war die überlieferung bis vor kurzem
unvollkommen bekannt, so daſs die scenische anlage des groſsen chor-
liedes ganz verkannt war; auch muſste eine sprache, welche sowol den
wahnsinn als dämon wie die dämonische erschütterung der betroffenen,
eine sprache, welche also das wunder sinnfällig zum ausdruck bringen
51)
24*
[372]Der Herakles des Euripides.
wollte, an die grenze des erlaubten gehen und alle mittel ihrer macht
aufbieten. es kommt aber mehr hinzu. der dichter operirt hier mit
all dem reichtum mythischer bilder, welche seiner zeit zur verfügung
standen: das ist dem modernen fremdartig, doch ist das mit fleiſs und
folgsamkeit der phantasie wol zu ergänzen. etwas ganz eigenartiges
dagegen ist die darstellung des wahnsinns nicht nur, sondern auch des
grausenhaften verbrechens, ohne daſs doch das geschehende geschaut
wird: die wirkung auf die seele ohne wirkung auf das auge. den wahn-
sinnigen selbst einzuführen würde Euripides nicht gescheut haben: daſs
er es konnte, zeigt sein Pentheus. aber die blutigen verbrechen vertrug
das feingefühl des volkes nicht, das nun einmal rohheiten, wie sie Shake-
speares tragödien entstellen und ohne das attische vorbild auch die heutige
bühne beherrschen würden, schlechthin ablehnte; vielleicht nur weil es
das spiel zu ernsthaft nahm. vielleicht aber waren vielmehr seine dichter
so weise, einzusehen, daſs sie so die seele viel tiefer erschüttern könnten.
daſs dem so ist, beweist wieder am besten Seneca, der wieder den fehler
des vorbildes hat verbessern wollen, übrigens einige entschuldigung hat,
da er ja nur für die recitation dichtet. das stand also für Euripides von
vorn herein fest, daſs er die kinder nicht auf der bühne umbringen lassen
konnte. die herkömmliche poetische technik bot ihm als ersatz sowol
den botenbericht wie das ekkyklema, welches die unmittelbar auf die
katastrophe folgende situation zu zeigen ermöglichte. er konnte also in
einem doppelten reflexe die tat veranschaulichen, durch die epische er-
zählung, welche wesentlich ohne trübung durch das medium eines be-
richterstatters wirkt, und durch die lyrische beleuchtung seitens der
beteiligten nach der tat, also die mitteilung der frischen teilnehmenden
empfindung an den zuschauer. von beidem hat Euripides gebrauch ge-
macht, beide teile mit groſser liebe ausgearbeitet, im botenbericht mit
dem epos ausdrücklich fast rivalisirend, die folgende gesangnummer mit
allen mitteln der neuen ausdrucksfähigen musik ausstattend. aber das
hat ihm nicht genügt. er hat in der person Lyssas die mythische ver-
sinnlichung des psychischen affectes zur einleitung verwandt, und er hat
die sonst häufig und auch von ihm für den tod des Lykos schon ver-
wandte sitte, einzelne rufe hinter der bühne ertönen und von dem chore
gedeutet werden zu lassen, in einziger art erweitert und gesteigert, einmal
dadurch, daſs sie die einzelnen acte der drinnen vorgehenden handlung
hervorheben, zum anderen dadurch, daſs die rufe selbst nichts tatsäch-
liches melden, sondern der chor in visionärer erleuchtung die erläuterung
gibt, so daſs der zuschauer, ohne sich davon rechenschaft geben zu können,
[373]Aufbau des dramas.
in das reich des wunders mit entrückt wird. es gibt nur eine vergleich-
bare scene, die visionen Kassandras vor der ermordung des Agamemnon
und diese selbst. die vergleichung mag der leser anstellen und sich im
einzelnen überzeugen, daſs die beiden dichter jeder in seiner art ein
höchstes erreicht haben.


Die wahnsinnsscenen haben im altertum wenigstens den verdienten
erfolg gehabt; die in ihrer art ebenso vollkommene schluſsscene dagegen
viel weniger. es ist das begreiflich, denn sie gehört in form und
gehalt weit eher auf eine moderne bühne, selbst hier aber würde
sie von den breiten philistermassen nicht gewürdigt werden, denen die
Natürliche tochter und der schluſs des Tasso zu wenig handlung haben.
in der tat, wie Goethe auf der höhe seiner kraft und künstlerischen reife
in den tiefen des einfachsten strengst stilisirten dialoges die leidenschaften,
begierden und schmerzen der menschenseele begräbt, weil er gelernt
hat, daſs nicht was wir äuſserlich erdulden, sondern was im herzen be-
schlossen bleibt, das wahrhaft tragische ist, so daſs das äuſsere auge
meint, es geschähe gar nichts: ebenso hier. sobald Herakles erwacht,
ist handlung scheinbar nicht mehr vorhanden. er erfährt was er getan
hat, will sterben, Theseus kommt, sie reden hin und her, aber nicht der
zuspruch des Theseus, sondern ein freiwilliger, scheinbar ganz unver-
mittelter entschluſs bestimmt den Herakles nach Athen zu ziehen. ist
das nicht etwa bloſs eine zu weit ausgesponnene schluſsscene ohne inneren
wert? dann hätte Euripides schwer gefehlt, denn er führt eine neue
person ein, auf deren erscheinen er kurz aber verständlich schon früh
vorbereitet hat (619), und die er bei ihrem auftreten nicht nur selbst sich
sehr passend einführen läſst, sondern durch ein kleines lyrisches stück
hervorhebt: nach der bühnenpraxis ist also Theseus als eine wesentlich in
die handlung eingreifende figur gekennzeichnet. aber allerdings, Theseus
tut nicht viel, und er ist nicht einmal mit bestimmten farben als ein
individueller charakter gekennzeichnet, und die immerhin nicht verächt-
liche erwägung schlägt nicht durch, daſs in Athen für Athener Theseus
einer besonderen charakteristik nicht bedarf, da er ja immer vertreter
Athens und seiner φιλοξενία und εὐσέβεια ist. denn Euripides hat
gerade hier am wenigsten mit den populären instincten der zeitgenossen
gerechnet: wenn er Theseus nur als menschen und freund einführt, so
muſs er eben diese beschränkung gewollt haben.


Auch das kann nicht unabsichtlich sein, daſs die äuſsere form der
letzten scene so grell von der vorigen absticht. der chor wird geradezu
als nicht vorhanden behandelt; selbst bei dem auftreten des Theseus, wo
[374]Der Herakles des Euripides.
doch eine gesangpartie eingelegt ist, schweigt er. und statt der bewegten
bilder und des lebhaften spiels, nicht bloſs in der wahnsinnsscene, sondern
auch im ersten teile, verharrt nun Herakles, an dem unser interesse hängt,
unbeweglich vor der säule sitzend, und treten erst Amphitryon, dann The-
seus nur ein par mal an ihn heran: im wesentlichen bewegt sich nur das
gespräch hin und her, nicht die redner, und wenn der schluſs ein pla-
stisches bild voll rührendsten affectes bietet, Herakles seinen arm um des
freundes schulter schlingend und schwankenden schrittes von der bühne
fortziehend52), so hebt der dichter hervor, daſs dieses bild als widerspiel
des ungleich reicheren gedacht ist, welches die scene des rettenden
Herakles abschloſs. in allem dem ist der wille unverkennbar, etwas
anderes, neues, schlicht menschliches im gegensatze zu dem herkömm-
lichen, bunt mythischen zu liefern. es darf nicht verschwiegen noch
verschleiert werden, daſs der contrast dieser scene zu der vorigen, ja zu
dem ganzen drama, beiden teilen eintrag tut, daſs das ganze werk wesent-
lich hierdurch einen disharmonischen eindruck macht: werfe den stein
auf den dichter, wer von dem sohne einer anderen zeit und einer neuen
bildung fordert zu dichten wie Aischylos, oder von dem, der an Aischylos
unmittelbar angesetzt hat, zu dichten, wie dann erst wieder Goethe ge-
dichtet hat, ohne nachfolge zu finden. wer nur verstehen will, der soll
lernen, daſs diese disharmonie im vollkommenen einklange steht zu der
disharmonie in der seele des dichters, und daſs er aus der vollsten em-
pfindung einer groſsen dichterseele bewuſst disharmonisch geschaffen hat.


Gehalt des
dramas.

Euripides hat den Herakles der sage verstanden in seiner gröſse und
hat ihn ganz als voraussetzung seines dramas übernommen. des ist zeuge
der erste teil, der den ἀλεξίκακος und καλλίνικος in dieser eigenschaft
handelnd einführt, der in den drei groſsen chorliedern die Heraklessage in
ihrer erhabenheit verherrlicht, einschlieſslich der überwindung des Alters,
der erwerbung der ewigen jugend, ja der gotteskindschaft selbst, und zwar
hat Euripides die sage keinesweges nur im mythischen gewande erfaſst, er
streift es vielmehr gerade von besonders bedeutsamen zügen ab und enthüllt
die reine religiöse empfindung. von diesem augenpunkte betrachtet erheben
sich jene herrlichen lieder erst zu organischen bestandteilen des dramas,
und erscheint die blödsichtigkeit moderner beurteiler in ihrer ganzen
erbärmlichkeit, welche sie für locker mit dem drama verbunden halten
können. aber Euripides hat das ideal der dorischen ἀρετά nicht mehr
[375]Aufbau des dramas. gehalt des dramas.
als genügend, ja nicht mehr als sittlich gelten lassen können. der glaube
an den eingebornen menschenadel, der aus eigener kraft das gute kann,
sich mit eigener faust den himmel erstreitet, der glaube an die menschliche
αὐτάρκεια ist überwunden. der mensch ist schwach, glaubt Euripides,
er weiſs nicht das gute, und wenn er’s weiſs, wird des fleisches schwäche
ihn das gute nicht vollbringen lassen. und die Heraklessage zeigt den
menschen vollends nur als den mann der tat, der gewaltsamen blutigen:
Euripides kennt eine höhere sittlichkeit, und er weiſs, daſs die dorische
mannestugend, die ἀρετά und εὐγένεια des ϑρασυμήχανος an sie nicht
heranreicht. Euripides weiſs, μισεῖ ὁ ϑεὸς τὴν βίαν: gewalt wird frieden
nicht schaffen, am wenigsten im eigenen herzen. er nimmt deshalb die
ganze gröſse des Herakles der sage nur auf, um ihre unzulänglichkeit
zu zeigen, den allsieger selbst zu einem bilde der menschlichen sünd-
haftigkeit und schwäche zu machen. dazu schien ihm die an sich so
unwesentliche geschichte vom kindermorde eine handhabe zu bieten.
aber er hat sie nicht nur äuſserlich zu einem exempel benutzt, er hat
vielmehr selbst die schickung Heras, die eine begründung des wahn-
sinns gewesen war, um Herakles die verantwortung für die bluttat zu
nehmen, zu einem äuſserlichen mittel der veranschaulichung gemacht: die
tat aber ist eine folge der herakleischen eignen natur geworden. das
dorische mannesideal beruht auf einer ungeheuren überschätzung der
menschengröſse: die führt nicht in den himmel, die führt zum gröſsen-
wahnsinn.


Von diesem augenpunkte aus versteht man erst die neuerung des
Euripides, daſs Herakles seine kinder erschlägt, gerade als seine lebens-
aufgabe erfüllt ist, oder wie Herakles selbst es bitter bezeichnet, daſs
diese tat sein dreizehnter ἆϑλος ist. die tiefste erniedrigung ist an die
stelle der verklärung getreten, mit welcher der dodekathlos schloſs. trotz
der verzerrenden ausführung muſs man Seneca zugestehen, daſs er für
die tendenz der euripideischen dichtung die richtige empfindung gehabt
hat, wenn er seine Iuno fürchten läſst, daſs Herakles seiner dienstbarkeit
ledig gott wird werden wollen. auch Euripides stellt uns sinnfällig die
frage, was wird der καλλίνικος tun, wenn er nichts mehr zu bezwingen
hat. so lange ihn die aufgabe seines lebens von arbeit zu arbeit rief, blieb
er sittlich, hielten ihn die schranken der menschheit. jetzt gibt es nichts
mehr zu bezwingen, jetzt ist er frei. wie wird er die freiheit benutzen?
wir sehen es. die welt hat er überwunden: nur einer ist noch übrig,
er selbst: dem erliegt er. da er sich von dem letzten gerecht vergossenen
blute reinigen will, schrickt er zurück. der blutdunst, in dem er sein
[376]Der Herakles des Euripides.
leben lang gewandelt ist, hat seinen sinn umnachtet, er kann auſser ihm
nicht leben. hervorbricht ein wilder haſs, zunächst gegen den auftrag-
geber, dessen joch er nun doch los ist, hervorbricht eine grenzenlose
eitelkeit, die sich selbst zum sieger ausruft, eine sinnlose zerstörungslust,
die Mykenes mauern aus den fugen reiſsen will: er ruht nicht, bis er
wieder blut vergieſst, sein eigenes blut. so rast er bis zur physischen
erschöpfung. und keinesweges ist der ausbruch der raserei in seinem
charakter unvorbereitet. als er die gefahr der seinen erfahren hat, flammt
er ebenso in jähem sinnlosem zorne auf, will ganz Theben zusammen-
schlagen und würde ohne die besonnenheit seines vaters durch diese hitze
seinen ganzen anschlag gefährdet haben. nicht minder verstockt er sich
in eitlem trotze, als er seiner untat inne geworden ist; nicht mitleid,
trauer, tränen hat er, er lästert die götter, er weidet sich an seinen
heldentaten, er will sterben trotz den göttern, αὐϑαδίᾳ. sein verbrechen
kommt aus derselben wurzel seines wesens wie seine heldengröſse: die
welt zu bezwingen, die welt in trümmer zu schlagen reicht die dorische
ἀρετά vielleicht aus. aber sie ist nicht göttlich, weil sie nicht mensch-
lich ist. erst der mensch, der sich seiner schwäche bewuſst ist, wird
den wahren menschenadel zu üben stark genug sein, sich zu bezwingen
und sich zu bescheiden.


Das ist es, wozu Theseus, nicht der held, sondern der mensch und
seine liebe eingeführt wird. des freundes bedarf Herakles, auf den er
sich stütze, der ihm die last des lebens tragen helfe. die liebe scheut
sich nicht vor der befleckung menschlicher sünde, sie weiſs daſs der fluch
nicht ansteckt, und vor der reinen menschenliebe weichen die Erinyen,
die das verstockte herz bewohnen: diese entsühnung ist es, welche Theseus
dem Herakles bietet, darum preist dieser in seinem letzten worte den wert
dieser freundesliebe, an der Amphitryon (55) und Megara (559) ver-
zweifelt hatten. und diese liebe hat sich Herakles verschafft durch eine
tat, die ihm kein schicksal und kein Eurystheus auftrug, durch eine tat
freiwilliger hingabe, darum die einzige, an die er auch in tiefster ver-
bitterung gerne gedenkt (1235)53). die menschheit hat ihre eigene un-
zulänglichkeit einsehen gelernt in bittersten erfahrungen, darum genügt
ihr die Heraklesreligion nicht mehr: aber sie hat auch die himmlische
kraft erkennen gelernt, mit welcher sie die wunden lindern kann, die
sie sich selbst in ihrer überhebung schlägt: die kraft der liebe.


[377]Gehalt des dramas.

Aber diese hoffnungsfreudigen töne sind nicht die einzigen, in welche
das drama ausklingt, ja es sind nicht die welche am meisten ins ohr
fallen; der dichter schlägt sie an, ahnungsvoll mehr und in ein anderes
reich des empfindungslebens weisend, als dem sein held und die helden
seines volkes angehören. es ist ja nicht der appell der freundschaft,
welchem Herakles sich ergibt: er nimmt die kraft des letzten entschlusses
wenigstens scheinbar aus eigner seele. Euripides wollte Herakles als ideal
der selbstgenügenden menschenkraft trotz alledem darstellen, nur nicht
das der archaischen, sondern das der sophistenzeit. darin liegt eine ge-
wisse incongruenz, eine schädigung des wunderbaren freundschaftsmotivs,
gewiſs: aber darin liegt zugleich die tiefste offenbarung seines eigenen
glaubens. Herakles der sohn des Zeus, den Hera verfolgt, Hera und ihre
eifersucht, die ganze bunte götterwelt und die heldensage, das ist ja
alles nicht wahr, das ist ja nichts als eine gotteslästerliche erfindung der
dichter. wenn es eine gottheit gibt, so darf ihr nichts von menschen-
ähnlichkeit und beschränktheit anhaften. so schlägt Herakles mit den
waffen des Xenophanes die ganze schöne welt in trümmer. seine eigenen
gotteslästerungen fallen damit freilich hin: aber um so entsetzlicher lastet
auf ihm der fluch seiner eigenen menschlichen sünde. und ob es einen
solchen sittlichen gott gibt, darauf erfolgt keine antwort. das ist ant-
wort genug: der helle jubelruf über die göttliche gerechtigkeit, den der
chor vorher erhoben hat (772), gehört nicht nur dem teile des dramas
an, der die voraussetzungen der mythen fest hielt, er ist sofort durch
Iris und Lyssa lügen gestraft. nein, Herakles lehrt uns etwas anderes:
‘elend’ ist das stichwort seiner letzten rede. das leben ist auf seinen
wert hin geprüft und hat die probe schlecht bestanden: so urteilte im
angesicht des todes auch Amphitryon (502). aber der schloſs daraus was
die menge schlieſst, genieſse das heut: Herakles sieht tiefer. aber er
lebt weiter, er trägt dies sclaventum selbst und bittet die seinen, ihm
tragen zu helfen. ach, zu leben ist unendlich schwerer als das leben
fortzuwerfen: aber das ist menschenadel und menschenmut, den schritt
der feigheit nicht zu tun. so überwindet der weltenüberwinder sich selbst;
aber ach, wozu? dem elend und der schwachheit des daseins fest und
ohne illusion ins auge zu schauen, und zu sprechen: ich trag’ es dennoch53 a).


[378]Der Herakles des Euripides.

Schopenhauer hat ja wol in der tragödie die predigt des pessimismus
gehört, unfähig, wie die philosophen meistens sind, zu würdigen, daſs
die poesie und zumal ihre älteste und machtvollste erscheinungsform, die
sage, ein vollbild der in einer bestimmten zeit und cultur vorhandenen
stimmungen und weltanschauungen gibt, also jederzeit optimistisch und
pessimistisch zugleich ist. aber der Herakles des Euripides in dieser seiner
letzten und bedeutsamsten rede ist allerdings eine erschütternde predigt
von menschenschwäche und weltelend. sehr verbreitet und eben wieder
aus der wurzel philosophischer abstraction erwachsen ist das bestreben,
eine jede tragödie auf die formel einer ‘grundidee’ zurückzuführen. das
ist nun wol nichts als eine der formen des verderblichen irrtums das
fabula docet für älter als die fabel zu halten, des irrtums, die sage zu
vergessen, im drama speciell irgend einer toten formel nachzujagen, statt
in der handlung, dem μῦϑος, die hauptsache zu sehen, und in der drama-
tisirung eines μῦϑος die tätigkeit des dichters zu begreifen. und vor
diesem irrtum sollte doch wahrlich Aristoteles jeden bewahren. aber es
könnte allerdings verführerisch sein, in dieser pessimistischen rede die
tendenz des Euripides offenbart zu sehen; ein anderer möchte geneigt
sein, die sprüche von der freundschaft gewissermaſsen als leitmotiv zu
verfolgen. vor allen solchen misgriffen bewahrt, abgesehen davon, daſs
keine einzelne solche formel die tiefe des ganzen dramas erschöpft, die
erkenntnis, daſs die sage und der dichter als individuum in seinem ver-
hältnis zu ihr, wie er ihr folgt und von ihr abweicht, das verständnis
erst aller einzelnheiten, dann des ganzen liefert. das ist freilich schwerer
zu erlangen, als wenn man sich eine formel aus dem vorliegenden drama
destillirt. und es wird sich in einem kurzen schlagwort nicht zusammen-
fassen lassen. die Heraklessage hat Euripides in sich aufgenommen, sie
hat er aus seinem geiste neugeboren, nicht die vereinzelte geschichte vom
kindermorde, sondern den innersten gehalt der ganzen sage. mit gewalt-
tätiger, man mag sagen, pietätloser hand hat er zerschlagen, was seiner
weltanschauung nicht genügte, in anderem wieder ist die sage stärker
53 a)
[379]Gehalt des dramas.
gewesen als er. ganz individuelles hat er eingemischt, ganz conventio-
nelles hat er beibehalten. ohne zweifel ist der eindruck nicht rein und
nicht einheitlich, den das kunstwerk macht. das merkt man nur um so
besser, wenn man das einzelne versteht; aber hat er einen reinen ein-
druck erzielen wollen? in der seelenstimmung, welche aus der letzten
rede spricht, wird ein dichter eher die disharmonie suchen. vielleicht
hat Euripides das getan.


Da stehen wir schlieſslich doch an einem punkte, wo nur eine kenntnis
der intimsten lebensschicksale aufklärung geben könnte, wo also vielleicht
selbst dann kein wissenschaftliches ergebnis möglich wäre, wenn uns das
datum der aufführung des Herakles bekannt, und die schätze der alexan-
drinischen bibliothek erhalten wären. um so mehr wird man sich vor
einem raschen und nur zu billigen gesammturteil hüten. wol aber läſst
sich eines erkennen. die letzte rede des Theseus verträgt sich eigentlich
nicht mit dem motive der freundschaft, und nicht gern wird man sich
damit helfen, daſs Euripides die polemik des Xenophanes aufgenommen
hätte, ohne ihr eine andere als dialektische bedeutsamkeit geben zu
wollen. so hat sich in den versöhnenden schluſs ein bitteres neues
moment eingedrängt, unwillkürlich, aus der scelenstimmung des dichters
heraus. das gelöbnis ἐγκαρτερήσω βίοτον stimmt wunderbar zu dem
gelöbnis οὐ παύσομαι τὰς Χάριτας. man glaubt zu empfinden, wie
dem dichter eine bittere erfahrung leben und poesie verleiden will, er aber
sich gewaltsam aufrafft, auch in sich den menschenadel findet, duldend
auszuharren, obwol ihn das leben eine sclaverei der τύχη dünkt, nur daſs
ihm der dichterberuf kraft verleiht, weil ihm der gott gab zu sagen was
er leidet. und in der tat, wer seine tätigkeit in seinem greisenalter über-
blickt, ihre fieberhafte hast, ihre friedlosigkeit, die verbitterte, welt und
menschen verachtende stimmung, und daneben die einzige freude eben
an der poetischen und, was für ihn dasselbe ist, der philosophischen tätig-
keit, der kann sichs gar wol so vorstellen, daſs er das gelöbnis erfüllt,
das er im Herakles gegeben hat, erfüllt bis zum letzten atemzuge, in
den Bakchen alle die wilden geister vorführend, die ihn in dem rasenden
taumel hielten, und von denen er sich in der neuen umgebung dadurch
los zu machen suchte, daſs er sie verkörperte54), und doch von den Musen
[380]Der Herakles des Euripides.
selbst immer an neue aufgaben gewiesen, deren keine ihn oder uns voll
befriedigen kann. diese düstere weltanschauung, diese verbitterung ist
noch nicht vorhanden in Hiketiden und Erechtheus 421, sie beherrscht
in wahrhaft furchtbarer weise die troische tetralogie 415: wir werden
geneigt sein den Herakles zwischen diese jahre zu rücken. 421 ist Euri-
pides ein glühender verehrer seines heimischen staates und dient der
politik desselben: 415 spricht er ihr hohn und prophezeit dem vater-
lande den untergang. in die zwischenzeit fällt seine verbindung mit
Alkibiades. wir werden es niemals beweisen können, aber wir haben das
recht darüber zu sinnen, und wer den dichter lieb gewonnen und an
seiner sphäre lang gesogen hat, der hat auch das recht als seinen glauben
auszusprechen, daſs das schicksal, welches Euripides leben verdüstert hat,
in desselben unheilvollen mannes dämonischer gröſse liegt, welche auch
seinem vaterlande verhängnisvoll geworden ist, daſs er es nicht verwunden
hat, sich in Alkibiades getäuscht zu haben. στείχομεν οἰκτροὶ καὶ πολύ-
κλαυτοι τὰ μέγιστα φίλων ὀλέσαντες. so schlieſst der Herakles: das
hat einen tiefen sinn, auch wenn wir es wider Euripides absicht in das
persönliche umdeuten.


Schau-
spielerver-
teilung.

Es mag dem eigenen nachdenken überlassen bleiben, all das licht
sich selbst zu suchen, das nun auf das einzelne zurückfällt, nachdem das
ganze verstanden ist. denn es ist ein eitles bemühen, die schönheiten
eines wahren kunstwerkes erschöpfen zu wollen. so wird man auch die
absicht des dichters jetzt leicht darin würdigen, daſs er den ganz neuen
gedanken seines letzten teiles eine so stark von den scenen des wahn-
sinns abweichende gestalt gegeben hat: die exodos ist nicht ohne grund
im stile des modernen dramas gehalten. aber eines muſs an der drama-
turgie noch hervorgehoben werden, das zunächst überraschend wirkt:
der titelheld wird von dem tritagonisten gegeben. stellen wir zunächst
die tatsache fest. zuverlässige überlieferung über die rollenverteilung gibt
es nicht und kann es nicht geben. wir sind also auf rückschlüsse aus
den dramen selbst angewiesen, und diese werden dadurch erschwert, daſs
der dichter ja nicht ein sondern vier dramen zugleich auf die bühne
brachte und somit mehr momente in rechnung ziehen muſste, als uns
kenntlich sind. daſs der dichter aber seine schauspieler vorher kannte,
ist für die zeit der groſsen dichter unzweifelhaft. eine trilogie ist uns
nun wenigstens erhalten, und ein einigermaſsen denkender leser der
Orestie kann nicht darüber schwanken, daſs in ihr der erste schauspieler
Kassandra und Orestes gibt, der zweite Klytaimnestra Elektra Kilissa Pythias
Athena, der dritte den rest der rollen. der zweite schauspieler hat an
[381]Gehalt des dramas. Schauspielerverteilung.
versen ziemlich so viel zu sprechen wie die beiden andern zusammen,
er hat mehrere melodramatische partieen (anapäste) zu recitiren und ein
par kleine strophen zu singen: aber er hat nur frauenrollen. der dritte
schauspieler hat nur zu recitiren, schöne lange reden hat er zu halten,
aber nur als Apollon etwas lebhafter zu spielen. dagegen die groſse
musikalische und schauspielerische leistung fällt den zwei rollen des pro-
tagonisten allein zu, von denen eine sich durch zwei dramen zieht. sein
erstes auftreten hat der erfahrene bühnenmeister bis hinter die mitte des
ersten dramas aufgespart. wir bemerken an diesem deutlichen beispiel,
was auch allgemeine erwägung lehrt, daſs namentlich die forderungen an
gesang und spiel den ersten schauspieler zeigen, während die bloſse reci-
tation auf den dritten weist55). ein streben nach gleichmäſsiger belastung
ist oft selbst im einzelnen drama kenntlich, und man wird darauf acht
geben, es wird jedoch auch stark verletzt56) und, wie die Orestie zeigt,
nicht einmal in der trilogie immer ausgeglichen. im Herakles nun singt
nur einer, Amphitryon, und er ist fast das ganze stück hindurch auf der
bühne, seinem vertreter kann keine zweite rolle gegeben werden, und er
ist unbedingt protagonist. rechnet man weiter, welche personen mit ihm
auftreten, so ist sofort kenntlich, daſs ein schauspieler Herakles Lykos, der
andere Megara Theseus gibt, und auf diese in zunächst ungewisser weise
[382]Der Herakles des Euripides.
sich die beiden göttinnen verteilen. da nun Megara und Lyssa weitaus die
stärksten anforderungen an das spiel machen, so wird man sie einem
darsteller und zwar dem deuteragonisten geben. so erzielt man eine gleich-
mäſsige belastung der schauspieler57), aber Herakles ist allerdings trita-
gonist. das stimmt vorzüglich zu dem, was oben über die geringen an-
forderungen gesagt ist, welche diese rolle an das spiel stellt, und daſs es
den modernen zunächst befremdet, macht für die sache nichts aus. wol
aber wird man beherzigen, daſs der dichter für die haltung seiner personen
keinesweges bloſs sachliche rücksichten nehmen muſste, sondern mit dem
materiale an darstellern rechnete, das ihm zur verfügung stand. indessen
für den wahren künstler liegt ja in der gesetzten schranke kein hemmnis;
er wird den ihm zugemessenen raum so ausfüllen, daſs die schranke nur
als ein rahmen um das fertige bild erscheint, wie Pheidias seine giebel-
gruppen componirt hat. aber für die beurteilung der einzelnen dramen
und noch mehr der trilogie ist diese beobachtung in ähnlicher weise
fruchtbar wie die oben besprochene bildung der einzelnen chöre58).


Nachwir-
kung des
dramas.

Welchen erfolg der Herakles bei der ersten aufführung gehabt hat,
wissen wir nicht. aber die wirkung, die er auf den würdigsten richter
ausgeübt hat, zu erkennen ist uns vergönnt: er hat Sophokles zur dich-
tung der Trachinierinnen angeregt. die einzelnen verse, in welchen sich
ein unbewuſster aber deutlicher anschluſs an Euripideische verse zeigt59),
beweisen freilich nur, daſs Sophokles das euripideische stück gekannt
und sorgfältig gelesen hat, und das ist nicht wunderbar, da sein stil im
alter in jeder beziehung so sehr stark von Euripides beeinfluſst ist. aber
auch sein Herakles wird bei einem opfer rasend, begeht eine wilde tat
(um die sich freilich keiner viel kümmert) und wird uns, während dies
nur erzählt ist, danach zunächst schlafend gezeigt, indem die umstehenden
die laute äuſserung ihrer teilnahme vergeblich zu bemeistern suchen. auch
sein Herakles hadert mit seinem unseligen geschicke und weidet sich an
der aufzählung seiner taten. schlieſslich geht er zur selbstverbrennung,
[383]Schauspielerverteilung. nachwirkung des dramas.
der euripideische geht in den tod zwar nicht, aber für die welt ist er
dennoch auch tot. beide dramatisiren das ende des heros, beide eine
geschichte, welche ihn in sünde verstrickt zeigt: das vorige capitel hat
in ganz anderem zusammenhange beide sagen neben einander stellen
müssen. es ist also wirklich die beziehung beider dramen zu einander
viel näher, als es zunächst scheinen mag: aber das ist natürlich, sind es
doch die beiden einzigen der eigentlichen Heraklessage entnommenen
tragödien60). daſs er das schicksal des Herakles überhaupt zu dramati-
siren wagte, darin liegt die entscheidende anregung, die Sophokles von
seinem rivalen empfangen hat. gearbeitet hat er, wie sich von selbst
versteht, in seinem eignen sinne, und dem lag die pietätlosigkeit des
Euripides wider die sage ebenso fern wie die tiefe ethisch religiöser specu-
lation. deshalb machen auch die Trachinierinnen auf den ersten blick leicht
einen altertümlicheren eindruck als der Herakles. Sophokles hat sich be-
rechtigt gehalten, schlecht und recht der sage zu folgen, wie sie eben war,
ganz wie in der Elektra. aber keinesweges weil er die in ihr liegenden
anstöſse nicht empfand, sondern weil sie für ihn etwas tatsächlich gegebenes
war. er hilft sich denn auch mit der verlegenheitsausrede, die jeden
stein gleich gut oder schlecht aus dem wege räumt, ‘es ist nun einmal
gottes wille, da wird’s schon recht sein’. τοῦ λόγου οὐ χρὴ φϑόνον
προσεῖναι, Ζεὺς ὅτου πράκτωρ φανῇ (251), das gilt dem verkauf in
die sclaverei, und das schluſswort ist οὐδὲν τούτων ὅτι μὴ Ζεύς61).
hätte er, der doch selbst eine Heraklescapelle gestiftet hatte, den leben-
digen Dorerglauben gehabt, so würde mindestens eine glänzende hin-
deutung auf die apotheose nicht gefehlt haben, aber das ‘ende der mühen’
bedeutet innerhalb des dramas lediglich den tod, und nur in der letzten
rede des Hyllos steht eine schüchterne hindeutung, daſs man noch nicht
wisse, was da kommen werde, neben einer scharfen anklage des Zeus, die
stark nach Euripides klingt62). so ist denn der Herakles des Sophokles
[384]Der Herakles des Euripides.
an tiefe und innerer bedeutsamkeit weder dem des Euripides noch dem
der sage auch nur von ferne vergleichbar. das soll er aber auch gar nicht.
Sophokles handelt wie der ionische epiker, dessen werk ihm mindestens sehr
viel von seinem stoffe gab. er gibt weder den universellen noch den natio-
nalen heros, sondern einen heros, wie es viele gibt. mit bedacht ist des-
halb, wo nicht der anschluſs an die sage oder auch an Euripides irre führte,
die beziehung des Herakles zu Hellas und zur ganzen welt zurückgedrängt,
und die tragödie in das einzelne haus und die familie verlegt. dabei hat
Herakles verloren. der sophokleische wird nur dem imponiren, der a
priori vor allem sophokleischen in bewunderung erstirbt. dagegen ist es
auch hier dem Sophokles gelungen, unser lebhaftestes interesse zu fesseln,
indem er eine figur aus dem zweiten in den ersten rang zog, der er
dann in der individuellen beschränkung ein wahrhaft menschliches leben
verlieh. Deianeira macht die Trachinierinnen zu einem des Sophokles
würdigen gedichte, da schafft er mit liebe aus dem vollen, und dieser
partieen soll man sich freuen, ohne zu schelten, daſs das drama nur
kümmerlich durch orakelsprüche zu einer äuſserlichen einheit zusammen-
gehalten wird, daſs der zweite teil an sich keinen hohen wert hat, und
daſs von Herakles und seinen taten wirklich nur noch die namen übrig
geblieben sind. nur würde man Sophokles schweres unrecht tun, wenn
man seine dichterkraft nach solchen werken schätzen wollte, wo er nicht
am mythos selber neuschaffende hand anlegt, sondern in dem vorsuchen
und in der ausarbeitung zurückgestellter nebenmotive ein vorläufer der
alexandrinischen epik ist.


Für die gestaltung der geschichte von Herakles, die als die allgemein
giltige die ganze folgezeit beherrscht, haben die Trachinierinnen erfolg
gehabt, nicht bloſs in ihren trefflichen teilen, sondern auch für Herakles.
das war nicht zu verwundern. die folgezeit empfieng die meisten sagen
in der tragisch umgeformten gestalt, weil die tragiker die letzten groſsen
sagendichter gewesen waren. in der Heraklessage hatten sie nicht viel
geleistet, um so fester hielt man das wenige. das gleiche gilt von dem
Herakles des Euripides, doch mit wesentlicher einschränkung. seine groſsen
neuerungen, die ansetzung des kindermordes am ende des lebens und die
einführung des Theseus, sind mit der fülle der Heraklessagen, mit dem
dodekathlos und dem oetäischen kreise unvereinbar. sie muſsten also beide
aufgegeben werden, wenigstens wenn man das ganze leben erzählte; in
62)
[385]Nachwirkung des dramas.
einzelgeschichten hat sich aber selbst die erste gehalten. den Lykos hat
man dagegen allgemein festhalten können und hat es getan. die bildende
kunst hat weder das sophokleische noch das euripideische drama berück-
sichtigt: sie hat die entscheidenden anregungen für die bearbeitung der
Heraklessage schon von der archaischen zeit erhalten, und die Heraklesver-
ehrer hatten auch in späterer keine veranlassung gerade diese gegenstände
dargestellt zu wünschen. dagegen hat die poesie in dem euripideischen
werke stark gewirkt; es gehörte zu den zwar nicht in der schule behan-
delten, aber doch zu den viel gelesenen, und wenn es uns also auch nur ein
glücklicher zufall erhalten hat, so würden wir es doch in seinen wesent-
lichen zügen wieder herstellen können.


Dies zu zeigen hat mehr wert als die stellen zu häufen, welche eine
beeinflussung durch Euripides verraten63). für ihn selbst lernt man frei-
lich auch dadurch nichts, aber es dürfte etwas für uns beherzigenswertes
herauskommen.


Denken wir also einmal, der Herakles wäre selbst verloren, und wir
wollten ihn aus den bruchstücken herstellen. was würden wir erreichen?
der titel Ἡρακλῆς zunächst sagt gar nichts. daſs Herakles in der raserei
sich einbildet zu wagen zu fahren, berichtet Dion (32, 94) und führt
v. 947—49, allerdings entstellt, an, aus denen sicher zu entnehmen ist,
daſs die raserei erzählt ward. eben diesen zug hebt Philostratos (Imag. 2, 23)
hervor, und da dieser rhetor auch noch für andere einzelheiten, die ein-
führung einer Erinys (wie er für Lyssa sagt) und die fesselung des
Herakles, sich auf die bühne und die dichter beruft, so haben wir das
recht sein ganzes angebliches gemälde in die poesie zurückzuübersetzen,
aus der er es zusammengestümpert hat. so gewinnen wir den inhalt des
botenberichtes: Herakles gerät beim opfern in wahnsinn, glaubt nach
Mykene zu fahren und die Eurystheuskinder zu töten, tötet aber Megara
und seine söhne. erst erschieſst er zwei (dabei würden wir also die feinere
abwechselung des Euripides verlieren, der einen sohn erschlagen läſst),
dann die mutter mit dem jüngsten, die sich in ein gemach geflüchtet
hat. sein gesinde versucht ihn vergeblich zurück zu halten; schlieſslich
haben sie ihn aber doch gebunden. auſserdem ist die personification des
v. Wilamowitz I. 25
[386]Der Herakles des Euripides.
wahnsinns von Euripides selbst auf die bühne gebracht, also in einer
scene vor dem botenbericht. leicht würden wir dann noch eine stelle,
die sich auf das reinigungsopfer bezieht, dem botenberichte einreihen
(Didymos in schol. Fried. 959 und bei Athen. IX 409. Eur. v. 928. 29).
daſs Herakles, also gebunden, selbst vorgeführt ward, ergibt weiter der
öfter citirte vers 1245, und die angabe, daſs in diesem drama der glaube
an die ansteckende kraft des blutbefleckten berührt worden sei (schol.
Eur. Or. 73): denn diese combination zu machen dürfen wir uns schon
zutrauen. wenn Herakles im botenberichte gebunden ward, nachher auf
der bühne blutbesudelt anwesend war, so ist die einführung des ekky-
klemas mit sicherheit zu erschlieſsen. wie wir uns freilich weiter helfen
sollten, würden die fragmente nicht lehren, denn daſs 1349, 50 in schwer
interpolirter gestalt bei Stobaeus (108, 12) stehen, wir also den spruch ver-
nehmen, ‘wer nicht das geschick zu tragen weiſs, wird auch nicht im stande
sein, dem geschosse des feindes entgegen zu treten’, würde die lösung
schwerlich ergeben. und daſs die rettung der 14 kinder aus Kreta, also
eine Theseustat, erwähnt ward (Servius zu Aen. 6, 21), müſste zunächst nur
verwirren. allein mit diesen kenntnissen bewaffnet könnten wir zuver-
sichtlich an die tragödie des Seneca gehen, und ohne schwanken aus
ihrem zweiten teile den zusammenhang nehmen, in den die namentlich
erhaltenen citate sich einordnen. Herakles kommt mit Theseus aus dem
Hades, also nach der bezwingung des Kerberos, also am ende seines
lebens, unerwartet nach Theben. in raserei erschlägt er frau und kinder;
als es ihm zum bewuſstsein kommt, will er sich töten, entschlieſst sich
aber auf die bitten seines vaters und des Theseus mit diesem nach Athen
zu ziehen um sich dort entsühnen zu lassen: ja selbst einen schimmer
von der stimmung des euripideischen Herakles hat Seneca bewahrt. wenn
er die mahnung hört nunc Hercule opus est, perfer hanc molem mali (1239),
sie abweist veniam dabit sibi ipse qui nulli dedit? laudanda feci iussus:
hoc unum meumst
(1261), und schlieſslich entscheidet succumbe virtus,
perfer imperium patris, eat ad labores hic quoque Herculeos labor, vivamus,

so ist das zwar für uns jetzt, die wir den echten hören, ein unge-
nügender nachklang, aber er gibt doch von der stimmung des echten
eine gar nicht verächtliche vorstellung. und ganz abgesehen davon, wie
gut es einem kenner des Euripides gelingen möchte, die zusätze der copie
zu entfernen: das ist augenfällig, daſs wir den schluſs des dramas inhalt-
lich, so weit es die handlung angeht, in der hauptsache richtig recon-
struiren müſsten. aber Seneca würde uns noch weiter helfen. daſs
Euripides den Herakles aus der hölle nur emporgeholt hätte, um ihn
[387]Nachwirkung des dramas.
seine kinder erst retten zu lassen, daſs das opfer, bei dem er rasend
wird, das siegesopfer für den tod des Lykos auch bei ihm gewesen wäre,
und der erste teil des dramas also die bedrohung Megaras und der kinder
durch Lykos enthalten hätte, das würde Seneca sicher lehren, und dann
würde die mythographische vulgata bestätigend eintreten, neben einer
anzahl anderer stellen, die zu häufen keinen zweck hat, das die τραγῳ-
δούμενα des Asklepiades citirende scholion λ 269 Μεγάρα Κρέοντος
τοῦ Θηβῶν βασιλέως γημαμένη Ἡρακλεῖ παῖδας ἴσχει Θηρίμαχον
καὶ Κρεοντιάδην καὶ Δηικόωντα64), βαδίζοντος δὲ αὐτοῦ εἰς ᾅδου
ἐπὶ τὸν τοῦ κυνὸς ἆϑλον Λύκος ὁ τῶν Θηβῶν βασιλεὺς πεισϑεὶς
Ἥρᾳ καταστέφει τοὺς Ἡρακλέους παῖδας ἵνα ϑύσῃ. οὐ γὰρ αὐτὸν
ἐπανήξειν ᾤετο. παραγενόμενος δὲ Ἡρακλῆς ἀναιρεῖ αὐτὸν καὶ τοὺς
ἐκείνου παῖδας· μανεὶς δὲ διὰ τὴν Ἥραν κτείνει τοὺς ἰδίους. ἔμελλε
δὲ καὶ τὸν ἀδελφὸν Ἰφικλέα, εἰ μὴ ἔφϑασεν ἡ Ἀϑηνᾶ κωλύσασα.
wir wollen das spiel nicht zu weit treiben und dahingestellt sein lassen,
in wie weit sorgfältige erwägung aller varianten die möglichkeit einer
wiederherstellung der einzelnen züge bieten könnte; über sie würden auch
die sachverständigen sich schwer geeinigt, und irrtümer würden sehr leicht
geltung gewonnen haben65). daſs der inhalt des euripideischen Herakles
sehr wol bekannt sein würde, daſs er gar nicht hätte verloren werden
können, weil das drama die mythographische vulgata beherrschte, ist die
hauptsache. sie ist unzweifelhaft, sie zeugt für den erfolg des dramas
am besten, und sie gibt uns die lehre für die methode. aus den bruch-
stücken selbst destillirt freilich nur selten jemand eine tragödie; deshalb
können wir von den komödien ja wirklich so wenig wissen. aber aus
der sagenüberlieferung muſs sich ein drama mehr oder minder herstellen
lassen, welches in ihr epoche gemacht hat. Nauck hat in der vorrede
[388]Der Herakles des Euripides.
seiner kleinen ausgabe der Euripidesfragmente die namentlichen bruch-
stücke von Herakleiden Herakles Elektra zusammengestellt, zum beweise,
daſs es ein eitles bemühen wäre, aus ihnen den inhalt zu gewinnen. das
ist wahr und falsch. denn aus den par zeilen geht es freilich nicht,
aber das ist auch der falsche weg. vom stoffe hat man auszugehen, die
litteratur muſs man beherrschen und soll wissen, daſs nur wer die ganze
entwickelung einer sage verfolgt, wer auch zugleich auf ihre bedeutung
und herkunft eingeht, damit er die trümmer der sagenüberlieferung richtig
einordnen könne, eine einzelne fassung, epos oder drama, herstellen kann
— wenn dies epos oder drama durchgedrungen ist. das aber ist die
wesentliche vorfrage, die man praktisch natürlich nicht früher oder später
beantwortet, als man dies gedicht herstellt oder ein anderes. so würden
wir von Euripides Elektra gar nichts wissen, weil sie erfolglos geblieben
ist; daſs sie das ist, könnten wir ermitteln. so sehen wir, daſs wir den
inhalt des Herakles an vielen orten überliefert haben, so weit er die sage
beherrscht; wo er ihr widerspricht, im schlusse, verdanken wir die
kenntnis lediglich Seneca, also einem besonderen glücksfall. diese metho-
dische lehre, was man finden kann, und wie man suchen soll, sei hier
zum schlusse an einem praktisch überflüssigen aber keinen widerspruch
zulassenden exempel eingeschärft. schlieſslich beweist sie doch auch nur,
was dies ganze buch beweist, daſs die tragödie nur in der verbindung
mit der sage verstanden und gewürdigt werden kann, ganz wie das epos.

Appendix A

Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.


[][]

Appendix C

Druck von J. B. Hirschfeld, Leipzig.


[][][]
Notes
1).
Das in den handschriften des dichters erhaltene γένος Εὐριπίδου findet man
vor den ausgaben von Kirchhoff und Nauck; die überlieferung der handschriften
vollständiger in der ausgabe der scholien von E. Schwartz, wo auch der auszug ab-
gedruckt ist, welchen Gellius (XV 20) entweder selbst aus dem γένος, wie es damals
in den handschriften stand, genommen hat, oder von Varro überkommen, der es
dann ebenso gemacht haben muſs. wenigstens eine notiz ist auf diesem umwege
zu Gellius gelangt (XVII 4, 3). Nauck hat in seiner praefatio die sonstigen zerstreut
überlieferten notizen so gut wie vollständig gesammelt; worauf hiermit verwiesen
sei. im folgenden werden nur belege angeführt, wo es aus besonderen gründen an-
gezeigt erscheint.
2).
Glaubwürdig ist die notiz, weil die institution des proagon früh verfallen
und aus dem gedächtnisse der gelehrten geraten ist, sie muſs also verhältnismäſsig
alt sein und wird auf einen der alten peripatetiker zurückgehen. inhaltlich ist sie
wahrscheinlich, weil die ehrenbezeugung eine so schlichte und im geiste des diony-
sischen festspieles gehaltene ist (vgl. zu vers 677). die nachrichten über den tod des
Sophokles sind alle geschichtlich unverwendbar.
3).
Vielleicht hat sich Philochoros so ausgedrückt, daſs Euripides bei seinem
ersten auftreten mindestens ephebe gewesen sein müsse. indem man das als tatsache
nahm, konnte man zu der torheit gelangen, daſs Euripides mit 18 jahren die erste
tragoedie gegeben hätte: so Gellius. die consequenz, entweder das überlieferte datum
455 oder das allgemein geglaubte 480 aufzugeben, hat man aber nicht gezogen.
4).
In anderen gegenden stand es anders. Soran hat in den archiven von Kos
gefunden, daſs Hippokrates am 17. Agrianios unter dem monarchen (dem auch ur-
kundlich bezeugten eponymen beamten von Kos) Habriades geboren war: eine
solche angabe blieb jedoch ungenügend, so lange die gleichsetzung der koischen
beamten und das verhältnis des koischen jahres zu einem festen chronologischen
system unbestimmt war, und so ist es hier. die aufzeichnung war eine folge der
5).
Ob zu fuſs, in seiner τάξις, der Kekropis, oder auf der galeere, welche die
kleruchen von Salamis zu stellen hatten, ist nicht zu sagen. militärische neigungen
hat er nicht, seine schlachtengemälde in Hiketiden und Herakliden streben, wie alle an-
deren, nach anschaulichkeit, aber sie erreichen sie nicht. für den sport des reiters,
den Sophokles verherrlicht, hat er vollends nichts übrig. der reiche Sophokles
hat natürlich bei der cavallerie gedient.
4).
geburtsaristokratie, die in jenen dorischen gegenden herrschte. wir besitzen von
dem Kos benachbarten Kalymnos listen, die genau in derselben weise jahr und
monat (den tag aber nicht) angeben, selbst für weiber. Bull. de Corr. Hell. VIII 30.
6).
In der parischen chronik z. 65. 75.
7).
Suid. Κλειτὼ — τῶν σφόδρα εὐγενῶν ἐτύγχανεν, ὡς Φιλόχορος. da es
nötig war, die persönlichkeit festzustellen, um über die herkunft etwas zu ermitteln,
darf man dem namen glauben schenken.
8).
Das γένος gibt an γενέσϑαι δ̕ αὐτὸν καὶ πυρφόρον τοῦ Ζωστηρίου Ἀπόλ-
λωνος. Theophrastos περὶ μέϑης (Athen. X 424b) beruft sich auf ein schriftstück
im δαφνηφορεῖον von Phlya, aus dem er sich über die culthandlung, die tracht,
die herkunft der tänzergilde (τῶν πρώτων Ἀϑηναίων) unterrichtet hat: das waren
also die statuten der ὀρχησταί. daſs Euripides das schenkenamt geübt, gibt er an;
das ist aber nicht auf jene urkunde zurückzuführen. wenn Theophrast den de-
lischen Apollon nennt, die vita den von Zoster, jener Euripides schenken, dieser
feuerträger sein läſst, so sind das differenzen, welche verschiedene herkunft der notizen
beweisen, aber die glaubwürdigkeit nicht berühren; die urquelle sind fasten der ὀρ-
χησταί. für das γένος ist man berechtigt an Philochoros zu denken. wer zuerst
das tempelarchiv benutzt hat, steht dahin, wie es scheint beide. in betreff der
9).
Sicher ist das nicht, da man die praxis der perikleischen zeit nicht ohne
weiteres auf die peisistratische übertragen darf. der adliche Timodemos von Acharnai,
den Pindar als Salaminier besingt (Nem. 2), beweist nach keiner seite; einmal braucht
er kein ritter gewesen zu sein, zum andern konnte er als vermögender mann ge-
meindeland gepachtet haben: daſs er auch in dem falle auf Salamis zu wohnen ver-
pflichtet war, lehrt der volksbeschluſs CIA IV 1a. Mnesarchos war kein pächter,
da das gut im besitze des sohnes erscheint.
10).
Gellius berichtet: Philochorus refert in insula Salamine speluncam esse
taetram et horridam, quam nos vidimus, in qua Euripides tragoedias scriptitavit.

ob den neugierigen zu Gellius’ zeit die echte grotte gezeigt ward, ist um so zweifel-
hafter, als er sie graulich findet. das γένος aber lehrt uns φασὶ δὲ αὐτὸν ἐν Σα-
λαμῖνι σπήλαιον κατασκευάσαντα ἀναπνοὴν ἔχον εἰς τὴν ϑάλασσαν ἐκεῖσε διη-
μερεύειν φεύγοντα τὸν ὄχλον· ὅϑεν καὶ ἐκ ϑαλάσσης λαμβάνει τὰς πλείστας τῶν
ὁμοιώσεων. hier liegt Philochoros reiner vor: der ort ist durchaus behaglich. die
tatsächliche angabe über die metaphern ist wahr und fein beobachtet; aber der
causalnexus ist falsch. nicht aus der natur der see, wie sie dem naturfreunde sich
gibt, wählt Euripides seine bilder vorwiegend, sondern aus dem schiffer- und see-
fahrerleben. das ist nur in so weit individuell bezeichnend, als Euripides der dichter
der attischen seeherrschaft ist.
8).
tänzer vergesse man nicht, daſs die älteste attische inschrift, die lange vor Drakon
fällt, also lautet: ὃς νῦν ὀρχηστῶν πάντων ἀταλώτατα παίζει τοῦ … (CIA IV
492a). der bericht des Theophrast lautet allerdings so, als wäre der sitz der tänzer
in Athen gewesen, wo dann der tempel des delischen Apollon das Delphinion wäre.
allein da das archiv im δαφνηφορεῖον, also Apollonheiligtum, zu Phlya war, werden
die tänzer, wenigstens ursprünglich, auch dorthin gehört haben.
11).
Plat. Phaidr. 230c τὰ χωρία καὶ τὰ δένδρα οὐδέν μ̕ ἐϑέλει διδάσκειν, οἱ
δ̕ ἐν τῷ ἄστει ἄνϑρωποι. Philine (Wilh. Meist. II 4) “wenn ich nur nichts mehr
von natur und naturscenen hören sollte — — wenn schön wetter ist, geht man
spazierem, wie man tanzt, wenn aufgespielt wird — der tänzer interessirt uns, nicht
die violime, und in ein par schöne schwarze augen zu sehen tut einem par blauen
augen gar zu wol. was sollen dagegen quellen und brunnen und alte morsche linden.”
die liebenswürdige verdient ihren griechischen namen.
12).
Zwei namen sind überliefert; der bericht von zwei ehen ist erst ein con-
ciliatorisches autoschediasma, zumal die erfahrungen, die Euripides macht, in beiden
ehen dieselben sind. auch sind unsere excerpte selbst im widerspruch darüber,
welche frau die erste, welche die tochter des Mnesilochos ist, der als verwandter
und freund des dichters durch ältere komiker bezeugt ist. (der κηδεστής der Thes-
mophoriazusen kann ihn schon deshalb nicht meinen, weil er 411 kaum noch leben
konnte, sicher keine kleinen kinder hatte.) folglich ist ein name falsch, der andere aber
muſs als überliefert gelten, da er ja die verdoppelung verschuldet. da die fabel das
wesen einer Χοιρίλη angeht, kann kein verständiger zweifeln, daſs dieser, nicht der
harmlose name Μελιτώ, erfunden ist. nun hat aber Philochoros über metaphorische
bedeutung des namens Χοιρίλη in dem buche περὶ τραγῳδιῶν gehandelt (schol. Hek. 1):
es liegt also sehr nahe, schon ihm die kritik zuzutrauen, welche wir auch ohne ihn
sicher vollziehen können. daſs der name Χοιρίλη wirklich als eigenname vorkommt, ist
eine triviale wahrheit, mit der nur ein geck etwas kann ausrichten wollen. Κινησίας
hieſsen auch wirkliche menschen: ist deshalb der name in der Lysistrate minder
redend? und der hofmarschall von Kalb in Kabale und Liebe heiſst doch wol so
wegen seiner dummheit; kritiker, wie sie sich in sachen Choiriles hervorgewagt
haben, werden ihn für einen verwandten der Charlotte von Kalb ausgeben.
13).
Sophokles als den vertreter der knabenliebe, Euripides als den der weiber-
liebe einander entgegenzustellen hat dem peripatetiker Hieronymos von Rhodos be-
liebt, der mehreres über den dichter vorgebracht hat. er hat auch ein ganz albernes
epigramm verfertigt, auf des Sophokles namen (Athen. XIII 604d), aber gleich im
ersten verse mit einem groben metrischen schnitzer und im zweiten wieder mit
einem: denn in χλιαίνω ist die erste sylbe bei allen älteren dichtern, wie ihre natur
ist, lang, und das iota des dativus singularis zu elidiren ist weder dem Sophokles
noch irgend einem sorgsamen dichter des vierten oder angehenden dritten jahrhun-
derts zuzutrauen. daſs sich bewunderer dieser sophokleischen elegie gefunden haben,
ist minder zu verwundern, als daſs die schnitzer auch sonst nicht gerügt sind.
14).
Platon Laches 183d Staat VIII 568c.
15).
Wir kennen die preise der tragiker und die der komiker (Ar. Frö. 367 mit
scholl.) nicht, wol aber einige der bei den Panathenaeen gezahlten (CIA II 965). für
die kitharoden war der erste ein goldener olivenkranz von 1000 dr. und 500 dr.
silber, für den zweiten 1200 dr., den dritten 600, den vierten 400, den fünften 300.
aber auch das verhältnis dieser preise zu den tragischen läſst sich nicht abschätzen.
16).
Aristoteles Rhet. III 15, wol aus mündlicher überlieferung. es ist die
ältestte erwähnung eines falles von ἀντίδοσις, da der zweite Hippolytos vorausgesetzt
wird, nach 428. der name ϓγιαίνων ist genugsam belegt.
17).
Mit dieser proxenie den zufall zu combiniren, daſs Euripides (Oineus 571) für
uns zuerst die Μαγνῆτις λίϑος erwähnt, wird man sich um so mehr hüten, als keines-
wegs fest steht, daſs das bezeichnete metall in Magnesia wirklich vorkam, mag es
nun das magneteisen sein, wie der durch die ganze citatengelehrsamkeit sich compromit-
tirende verfasser des Ion meint, oder das katzensilber, das der gewährsmann Diogenians
(schol. Pl. Ion. Phot. Hesych) und Buttmann verstehen, dessen aufsatz (Mus. f. Alt. wiss. II)
die modernen teils nicht kennen, teils nicht würdigen: er hat Soph. fgm. 728 erkannt.
die verdorbenen Euripidesverse lauten τὰς βροτῶν γνώμας σκοπῶν ὥστε Μαγνῆτις
λίϑος τὴν δόξαν ἕλκει καὶ μεϑίστησιν πάλιν. damit kann erstens nicht der magnet
gemeint sein, denn derselbe magnet stöſst dasselbe stück eisen, das er angezogen
hat, nicht wieder ab. auch würde dann notwendig statt δόξαν σίδηρον stehen
müssen. wie vollends ἐπισπῶν ἕλκει καὶ μεϑίστησιν πάλιν (so conjiciren sie) ge-
sagt und, wenn gesagt, mit γνώμας und δόξαν verbunden werden sollte, ist gar
nicht auszudenken. irgend etwas zieht wie das katzensilber die meinung an und
‘bringt sie wieder in andere lage’ (wie μεϑίστασϑαι φρενῶν), wenn der trug durch-
schaut ist. wir fragen, was ist das, und worauf bezieht sich die meinung. das letztere
steckt in den verdorbenen worten. sie bezieht sich auf die γνῶμαι βροτῶν, den cha-
rakter des menschen, und man verbessert leicht σκοποῦντος. also die dem Euripides so
geläufige klage, daſs die kriterien für den charakter so unsicher sind. nehmen wir z. b.
die εὐγένεια: zunächst beurteilen wir den εὐγενής darauf hin als ἀγαϑός, aber rasch
erkennen wir, daſs der adel katzensilber ist. am nächsten aber liegt wirkliches
silber, der reichtum: denn dann ist die vergleichung am schlagendsten.
18).
Den verfassernamen hat Gellius und der Aristophanesscholiast zu Frö. 839
erhalten, wonach auch die krauthökerin Kleito bei ihm vorkam. im γένος ist durch
leichtes versehen Aristophanes für den verschollenen dichternamen gesetzt, und es
ist dort auch s. 5, 21 Schw. ein apophthegma aus den versen gemacht. es ist selt-
sam, daſs man die verse dem komiker hat geben wollen, obwol man dann das nicht
attische τέτευχα und das dorische χαιός ändern muſs. übrigens zeigt das citat
aus einem bald vergessenen alexandrinischen dichter, daſs der grundstock des γένος,
wie ja a priori anzunehmen war, von einem der alexandrinischen compilatoren der
zeit 230—130 herrührt.
19).
Ins besondere liegt keine spur davon vor, daſs Eur. zu Perikles und seinem
kreise beziehungen gehabt oder die perikleische politik in entschiedener weise ver-
treten hätte. Böckh hat zwar auf den unlängst vorher erfolgten tod des Perikles das
wort bezogen, das Theseus an der leiche des Hippolytos spricht, 1459, ὦ κλείν̕ Ἀϑη-
νῶν Παλλάδος ϑ̕ὁρίσματα οἵου στερήσεσϑ̕ ἀνδρός. aber einen auſserhalb des dramas
liegenden bezug dürfte man nur hineintragen, wenn die unmittelbare deutung nicht
genügte. und die würdigung des Hippolytos ist nur die gerechte (955. 1100). übrigens
ist der vers verdorben, da ὁρίσματα nicht mit den namen des landes und der göttin
verbunden werden kann. gefordert wird, da Theseus in Trozen spricht, eine be-
zeichnung dieser stadt, wie 973, 1095, 1159. zu schreiben ist ὦ κλείν̕ Ἀϑηνῶν
Πελοπίας ϑ̕ ὁρίσματα, vgl. 373. damit ist die beziehung auf Perikles unmöglich,
denn dessen tod als ein unglück für die Peloponnesier hinzustellen, würde eine be-
leidigung des toten gewesen sein.
20).
Plut. Nik. 17. auch Helen. 398 enthält einen zug, den nur dieser katalog
der gefallenen verständlich macht, zumal im jahre 412. Menelaos sagt ‘wir können
jetzt die toten zählen und die überlebenden, die die namen der toten nach hause
bringen’. also die einen sind verzeichnet, die andern sind ἀριϑμητοὶ ἀπὸ πολλῶν.
21).
Daſs die heftige schilderung eines demagogen, Or. 772, dem Kleophon gilt,
hat Philochoros wol selbst angemerkt (schol. 371, 772, 903). derselbe hatte im Ixion
eine beziehung auf den tod des Protagoras gefunden, was wir nicht mehr controlliren
können, aber natürlich nicht bezweifeln dürfen. (Diog. Laert. IX 55.) Phoin. 783
schildert das Dionysosfest im belagerten Athen.
22).
Frö. 952. wir haben kein mittel, festzustellen, wieso man in früher zeit
dazu gekommen ist, eine tetralogie des Kritias, die also wahrscheinlich in den letzten
lebensjahren des Euripides gegeben ist, diesem zuzuschreiben. wenn die didaskalien
ihn mannten, so hatte er dem Kritias einen freundschaftsdienst getan, und das er-
weckt dann weitere perspectiven auf die Kreise zu denen er sich hielt. aber ebenso-
gut können die didaskalien Kritias genannt haben, und nur stil und gedanken und
der fluch, der auf dem gedächtnis des tyrannen lag, den irrtum der nächsten gene-
ration bewirkt haben. Kritias ist ein so bedeutender mensch, daſs man an sich
einen verkehr ganz gern glauben würde.
23).
In der zweiten Melanippe 495 μισῶ γελοίους οἵτινες τήτει (lies τήτῃ: das
fordert τητᾶν) σοφῶν ἀχάλιν̕ ἔχουσι στόματα κἀς ἀνδρῶν μὲν οὐ τελοῦσιν ἀρι-
ϑμόν, ἐν γέλωτι δ̕ εὐπρεπεῖς οἰκοῦσιν οἴκους.
24).
Daſs Aischylos im grolle über die politischen veränderungen aus Athen
gewichen sei, ist nicht zu beweisen. die Eumeniden schlieſsen mit der vollsten har-
monie und nichts verrät, daſs der dichter die macht und den stolz der heimat, wozu
auch der Areopag, ἀσυνδέκαστον τοῦτο βουλευτήριον, gehört, für beeinträchtigt
oder bedroht gehalten hätte. es ist ganz unmöglich zu sagen, was er mit seiner
reise bezweckte. übrigens braucht er nicht älter als 60 jahre gewesen zu sein, und
er kann somit mit dem gedanken heimzukehren und von neuem zu siegen fort-
gezogen sein.
25).
Daſs Thukydides in Makedonien gestorben wäre, durfte freilich nicht für
historisch ausgegeben werden, da es nur auf einem dialoge des Praxiphanes beruht.
aber seine anwesenheit daselbst, wahrscheinlich an sich, ist schwerlich von Praxi-
phanes erfunden, denn auch die zuerteilung des bekannten grabepigramms auf Euri-
pides (Athen. V 187d, auch im γένος) setzt sie voraus, und eben deshalb wird es
auch dem Timotheos zugeschrieben, der ja auch in Makedonien gewesen ist. das
epigramm dem 4. jahrhundert abzusprechen, ist man nicht veranlaſst.
26).
Agathon zum ἐρώμενος des Euripides zu machen, lag nahe, und ist an sich
nichts als eine ausgestaltung ihres zusammenlebens in Pella. aber bei Aelian steht
nicht nur dies (V. H. XIII 4), sondern auch, daſs Euripides ihm zu ehren den Chry-
sippos dichtete (V. H. II 21). das kann ja bloſs deshalb gesagt sein, weil der Chry-
sippos das problem der knabenliebe behandelt. aber es gibt zu denken, daſs der
Chrysippos mit den Phoinissen wirklich in den letzten attischen jahren des Euri-
pides verfaſst ist (etwa 410), und Platons Symposion führt Agathon und Pausanias,
auf den auch Xenophon verweist, als typen der knabenliebe ein. es ist sehr zu
bedauern, auch für die symposien, daſs wir von der behandlung des Euripides nicht
mehr wissen, als daſs er die knabenliebe verwarf, obwohl sich Laios auf die φύσις
für sie berief. geurteilt hat Euripides immer so, denn nur sein Kyklop gibt sich
solcher neigung hin, während Aischylos und Sophokles arglos der volkssitte folgen.
27).
Ein höfling höhnt Euripides, weil er einen übelriechenden atem hatte:
Archelaos liefert ihn dem dichter aus, daſs er ihn durchpeitsche. Aristoteles polit.
E 10, wol aus den traditionen, die Aristoteles selbst oder sein vater am hofe ge-
sammelt hatte. der üble atem ist dann weiter zu albernen apophthegmen benutzt,
die nichts lehren. es liegt eine bittre kritik darin, daſs wir von ganz persönlichem,
äuſserlichem über Euripides nichts wissen, als daſs er als greis schlecht aus dem
munde roch. aber mancher unserer gebildeten hat von Schillers wesen auch nichts
behalten, als daſs er eine neigung für faule äpfel hatte.
28).
Clemens strom. 746, der Thrasymachos citirt, verweist auf Telephos 717,
wo der nämliche gedanke steht. die rede war vermutlich älter als die aufführung
der Iphigenie; an eine entlehnung ist nicht zu denken.
29).
Adaios Anth. Pal. VII 51, es ist eine rettung im stile der von Dioskorides
für Lykambes töchter (A. P. VII 351) und der von Aischrion für Philainis (A. P. VII 345).
erst der aberwitz eines litterators hat dann aus den hunden weiber gemacht: das
ist nicht komikererfindung, sondern auch nur eine λύσις für die aporie: was waren
das für hunde, die Euripides zerrissen.
30).
Glücklich, wen die götter wegrufen, wenn er fertig ist, wie Eupolis, wäh-
rend Aristophanes bis zu den Ekklesiazusen sinken muſste, wie Catull, wie A. de
Musset und Byron; weise, wer sich selbst bescheidet, wenn er nichts mehr zu geben
hat, wie Kallimachos (wahrscheinlich), Horaz, Uhland: aber sich selbst zum gericht
lebt, wer den alten jugendton immer weiter pfeift, überhört oder durch die schrille
ausgesungene stimme nur verletzend, wie Ovid, wie Klopstock, dessen geistige ent-
wickelung über die eines grünen jünglings nicht hinauskam, und H. Heine.
31).
Sehr auffällig ist, daſs die nicht ganz wenigen trimeter der Peliaden, des
ersten dramas, weder im versbau, noch in der diction, noch in den schon sehr sen-
tentiös und allgemein gehaltenen gedanken eine abweichung von der späteren
weise des dichters zeigen.
32).
In dem berichte des Gellius, der nur vollständiger und reiner, kein anderer
ist als der im γένος und gelegentlichen anführungen.
33).
Megara ist 306 und um 264 zerstört worden; es ist unwahrscheinlich, daſs
ein archaischer πίναξ sich länger erhalten hätte. Pausanias weiſs nichts davon.
34).
Am ende des 5. jahrh. hat es technische schriften über landwirtschaft
u. dgl., auch kochbücher gegeben. die medicinische litteratur, die am besten be-
kannte, geht, so weit sie nicht ein erzeugnis der sophistik ist, auf kurze regeln
zurück, προγνώσεις, προρρητικά u. dgl., die nur ein hilfsmittel mündlicher unter-
weisung sind. und natürlich besaſs jeder der ein handwerk übte seine papiere, die
er als einen wertvollen schatz seinem nachfolger vermachte, der koch oder arzt
recepte, der seher formulare für sprüche und spruchdeutung (Isokrates 19, 5 τὰς
βίβλους τὰς περὶ μαντικῆς). aber buchmäſsiger vertrieb bestand für diese dinge nicht
und die schriftstellerei der sophistik behandelt eben das technische nicht. das ändert
sich erst um und nach 400, wo Simon und Xenophon über pferdezucht, Chares und
Apollodoros über landbau, Hippokrates und Polybos über medicin technisch schreiben.
und trotzdem redet man noch immer so, als hätte Sophokles eine aesthetische ab-
handlung über den chor wider Phrynichos schreiben können (Suid. s. v.), etwa wie
Schiller vor der braut von Messina oder wie Seneca und Pomponius ihren tragödien
praefationes gaben. es ist eine fiction wie die technischen schriften uralter bau-
meister, von denen Vitruv redet.
35).
So hat Damon Damonides’ sohn über musik und metrik geschrieben. die
scene der Wolken, in der Sokrates den Damon vertritt wie sonst den Apollo-
niaten Diogenes, ist der älteste reflex seines buches. die sophistische fiction war
eine rede vor dem Areopag, freilich eine fiction (Philodem de mus. 104 K.), aber
nicht ärger als wenn Gorgias alle Hellenen in Olympia, oder die trauerversammlung
im Kerameikos anredet. und daſs der Areopag wirklich die εὐκοσμία zu überwachen
hatte (Isokr. 7, 37), zu bezweifeln ist kein grund. das buch Damons ist nach der
zeit der alten Peripatetiker verschollen. vgl. Bücheler Rh. M. 40, 309.
36).
Im liede scheint es Aisch. Eum. 347 zu haben: doch ist dort ὔμμιν wahr-
scheinlicher, da er auch ὔμμε hat. Ar. Ach. 556 ist nicht von Eur., darf also ὑμῖν be-
halten. bei Eupolis inc. 2, 3 ist ἡμῖν ἐπίστασ̕ εὑρών statt ἐ. ἡμἰν zu setzen.
37).
Vgl. zu v. 280.
38).
Die 7 sophokleischen tragödien zeigen diese erscheinung etwa so oft wie
die 18 euripideischen, und in oft sehr harten fällen. der verfasser des Rhesos folgt
hierin wie in der melopoeie ganz dem Sophokles.
39).
Auch im altertum hat man bemerkt, daſs Aischylos und Euripides auf der
einen, Sophokles auf der andern seite steht. Porphyrio zu Horaz ep. II 1, 55 Pa-
cuvius famam docti aufert et consequitur Sophoclis, Accius Aeschyli Euripidisque
qui dicendi sunt alti
. da die horazische doctrin, welche hier erklärt wird, varro-
nisch ist, wird es auch diese erklärung im kerne sein. und wenn wir es nur sti-
listisch fassen, ist es wahr. Sophokles künstelt an der sprache.
40).
Immerhin hat auch bei diesem der unterricht des Sokrates den erfolg, daſs
der schüler die groſsen dichter der vergangenheit für stümper erklärt und für die
wagnisse der euripideischen frauenbilder schwärmt. von da aus zu der erfindung
der beihilfe des Sokrates ist nur ein schritt.
41).
Aelian V H. II 13, erzählt daſs Sokrates sonst selten ins theater gieng, aber
wenn Euripides καινοῖς τραγῳδοῖς ἠγωνίζετο oder im Peiraieus aufführte, kam er.
diese fabel ist auf die verhältnisse seit der demosthenischen zeit zugeschnitten, wo der
unterschied der καινοὶ τραγῳδοί und der παλαιά gilt und die Πείραια staatsfest
sind; von beidem war zu Euripides zeit keine rede.
42).
Panaitios half sich bei stellen wie Frö. 1491, die in wahrheit ganz irre-
levant sind, mit der fiction eines doppelgängers, ἕτερος Σωκράτης τῶν περὶ σκηνὰς
φλυάρων. das ist auch in das γένος gekommen. denn s. 1, 10 Schw. steht in der
zuverlässigsten handschrift (Vat. 1345) Σωκράτης δὲ ἕτερος αὐτῷ δοκεῖ ὁ φιλό-
σοφος καὶ Μνησίλοχος ⟨συμ⟩πεποιηκέναι τινά. da ist der zusatz ἕτερος ὁ φιλόσοφος
an verschiedene stellen des textes, dem es übergeschrieben war, hineingeraten. die
andern fassungen sind darauf zurückzuführen; in den meisten ist aus ἕτερος ἑταῖρος
geworden und dann Σωκράτης in den genetiv gesetzt. ein zusatz ist auch 2, 5 γεν-
νηϑῆναι δὲ τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ [καὶ Ἑλλάνικον] ἐν ᾗ ἐνίκων — οἱ Ἕλληνες.
43).
Nach Diogenes II 16 soll er das δίκαιον καὶ ἄδικον νόμῳ gelehrt haben.
auf die formulirung ist nicht viel zu geben, aber daſs sich der satz mit seiner ent-
wickelungslehre (Hippolyt. I 9 p. 564 Diels) gut verträgt, ist nicht geeignet, ihn zu
discreditiren. die wiederkehr des satzes bei Euripides aber spricht für ihn. ebenso
ist man geneigt, dem Aetius starke verwirrung zuzutrauen, wenn er sagt Ἀρχέλαος
ἀέρα καὶ νοῦν τὸν ϑεόν, οὐ μέντοι κοσμοποιὸν τὸν νοῦν (I 7 p. 302 Diels): aber
auch da gehen Euripides und der falsche Epicharm mit, vgl. über beide unten. viel-
leicht hätte ich richtiger getan, alle diese lehren auf Archelaos bestimmt zu be-
ziehen, und dann würde noch manches folgen. allein ich zog vor, das bild minder
einheitlich zu geben, damit die einzelnen züge schärfer blieben.
44).
Die prophezeiung (Med. 830), daſs am Kephisos die Eroten als πάρεδροι
der Weisheit walten, ist dadurch in erfüllung gegangen, daſs Platon neben dem
gymnasium der Akademie seine schule gegründet hat, und in jener schon zu Euri-
pides zeit die jünglinge den sophisten lauschten und der Erosaltar stand. der doppelte
Eros ist wol wirklich schon in jenem zeitalter von der speculation viel behandelt.
übrigens ist die anregung auf Platon von Euripides stärker als man annimmt, nicht
bloſs in einzelnen wendungen der conversation wie οὐκ ἐμὸς ὁ μῦϑος, oder die ἰσό-
ϑεος τυραννίς (Tro. 1169 Staat 568b). wenn die seele des Odysseus φιλοτιμίας λε-
λωφηκυῖα sich den βίος ἀνδρὸς ἰδιώτου ἀπράγμονος aufsucht (Staat 620c), so tut
sie das im anschluſs an die worte, welche der euripideische Odysseus im prolog des
Philoktet sprach (785) πῶς δ̕ ἂν φρονοίην, ᾧ παρῆν ἀπραγμόνως ἐν τοῖσι πολ-
λοῖς ἠριϑμημένῳ στρατοῦ ἴσον μετασχεῖν τῷ σοφοτάτῳ τύχης, wovon ihn die φι-
44).
λοτιμία abhält (786). ἐμὲ [νῦν] “ἤδη καλεῖ”, φαίη ἂν ἀνὴρ τραγικός, ἡ εἱμαρ-
μένη sagt Sokrates Phaid. 115a. εἱμαρμένη sagt der tragiker nicht: aber Alkestis
ruft 254 Χάρων μ̕ ἤδη καλεῖ· τί μέλλεις; ἐπείγου, σὺ κατείργεις. so citirt die con-
versation das erste wort eines allbekannten verses. am meisten aber hat Platon
den Hippolytos gelesen. das motiv des Symposions, Ἔρωτα δὲ τὸν τύραννον ἀν-
δρῶν οὐ σεβίζομεν stammt aus ihm, 538. in der wunderbaren schilderung des tyrannen
(Staat 573) entzückt das bild, wie die umgebung die den werdenden mit nachgiebig-
keit (Hipp. 462) und müſsiggang (Danae 324) verdirbt, ihm einen Ἔρως schafft, ὑπό-
πτερον καὶ μέγαν κηφῆνά τινα. sie treiben es aber schlieſslich so weit, daſs diese
drohne einen stachel bekommt und nun verderblich wird: deshalb heiſst Eros τύραν-
νος. das ist eine schilderung, die freilich einer entwirft, der selbst ein dichter ist,
aber jenes chorlied des Hippolytos, das den Eros schildert πέρϑοντα καὶ διὰ πάσας
ἰόντα συμφορᾶς ϑνατῶν, ὅταν ἔλϑῃ, schlieſst mit dem nicht ausgeführten bilde
daſs Aphrodite δεινὰ μὲν τὰ πάντ̕ ἐπιπνεῖ· μέλισσα δ̕ οἵα τις πεπόταται, das
man wol versteht, wenn man die definition der liebe ἥδιστον ταὐτὸν ἀλγεινὸν ϑ̕
ἅμα hinzunimmt und andere andeutungen, das aber doch unverstanden geblieben
ist: Platon liefert die erklärung, weil der same in seiner seele aufgegangen ist.
der Hippolytos, 374 ff., enthält auch die euripideische lehre von des fleisches schwäche,
die den willen überwindet; auch diese schärfste formulirung des gegensatzes zur
Sokratik hat Platon aufgenommen, natürlich mit schärfster verurteilung als ansicht
der πολλοί Protag. 352b. die stellen sind zu lang zum ausschreiben.
45).
Überliefert ist καὶ ὅπη καὶ ὅπως und die krasis, welche die euripideische
metrik herzustellen fordert, ist nur eine orthographische änderung. allein ὅπῃ neben
πῇ ist, wie wol zugestanden ist, unmöglich. die leichte und elegante änderung von
πῆ in τίς kann kaum richtig sein. man verlangt ποῖος, und die frage nach der
qualität wird neben dem aorist συνέστη unbequem. vor allem aber fragt die physik
nach der ἀρχή, und diese frage muſs irgendwo gestanden haben. somit muſs ὅπη
weichen, obwol ὅπη καὶ ὅπως passend verbunden wird, noch von den archaisten
wieder aufgenommen (Philostrat der jüngere εἰκόνες 16).
46).
In das haus des Euripides wird die erste vorlesung von Protagoras gottes-
leugnerischer schrift verlegt (Diog. Laert. 9, 54): aber da ist die tendenz klar, den
dichter des Bellerophontes mit Protagoras zu verbinden, wie er mit Kritias ver-
bunden worden ist.
47).
Vgl. zu v. 155.
48).
Vgl. zu v. 336.
49).
Vgl. zu v. 101. die fabel hat das schlieſslich so weit ausgesponnen, daſs
Euripides nach Ephesos reist, die bei der Artemis deponirte schrift des Herakleitos
auswendig lernt und einem erwählten kreise mitteilt und erläutert; Tatian 3.
50).
Vgl. zu v. 1346.
51).
Tr. 884 γῆς ὄχημα κἀπὶ γῆς ἔχων ἕδραν Ζεύς Hippokrat. π. φυσῶν 3
(ἀἡρ) γῆς ὄχημα; dies ist eine schöne entdeckung von Diels.
52).
Überhaupt an kein leben nach dem tode. τίς οἶδεν εἰ τὸ ζῆν μὲν ἔστι
κατϑανεῖν gehört in die heraklitische lehre; der so ganz modern anmutende spruch
Hipp. 194 constatirt nur das ewige rätsel, auf das er nicht mehr antwort gibt als
Hamlet.
53).
Fgm. 392 (Theseus spricht; drama unbekannt, d. h. Aigeus Theseus Hippo-
lytos I möglich; da der spruch für einen knaben nicht paſst, wol der letzte) ἐγὼ
δὲ τοῦτο παρὰ σοφοῦ τινὸς μαϑὼν ἐς φροντίδας νοῦν συμφοράς τ̕ ἐβαλλόμην
φυγάς τ̕ ἐμαυτῷ προστιϑεὶς πάτρας ἐμῆς ϑανάτους τ̕ ἀώρους καὶ κακῶν ἄλλας
ὁδούς, ἵν̕, εἴ τι πάσχοιμ̕ ὧν ἐδόξαζον φρενί, μή μοι νεῶρες προσπεσὸν μᾶλλον
δάκνοι. Poseidonios (auf den das citat bei Cicero, Galen, Ps.-Plutarch an Apollon.
zurückgeht) hat in Anaxagoras jenen weisen gesehen, doch ohne anhalt. das richtige
hat Cobet entdeckt: Jamblich vit. Pyth. 196 ἦν αὐτοῖς παράγγελμα, ὡς οὐδὲν δεῖ τῶν
ἀνϑρωπίνων συμπτωμάτων ἀπροσδόκητον ε[ΐ]ναι παρὰ τοῖς νοῦν ἔχουσι. das steht
hier in einer partie, deren herkunft unbekannt ist; wahrscheinlich stammt es von Ari-
stoxenos. die benutzung einer Pythagorasschrift durch beide ist nicht abzuweisen. aber
es ist auch durchaus verkehrt, diese alle als junge fälschungen zu betrachten. die
reste bei Diogenes zeigen ja ionischen dialekt, der zwar dem Samier und dem phi-
54).
Die wichtige sache wird verkannt; es soll kurz der beweis gegeben werden.
Epicharm: νᾶφε καἰ μέμνασ̕ ἀπιστεῖν· ἄρϑρα ταῦτα τᾶν φρενῶν (zuerst von Poly-
bios citirt, damals schon fliegendes wort): Eur. Hel. 1650 σώφρονος δ̕ ἀπιστίας οὐκ
ἔστιν οὐδὲν χρησιμώτερον βροτοῖς. Epich. emori nolo: sed me esse mortuum nil
aestimo
(Cic. Tusc. I 15, griechisch nicht herzustellen): Eur. Herakl. 1016 ϑανεῖν
μὲν οὐ χρῄζω· λιπὼν δ̕ ἂν οὐδὲν ἀχϑοίμην βίον, wie das vorige als schluſseffect
längerer rede. Ep. συνεκρίϑη καὶ διεκρίϑη κἀπῆλϑεν ὅϑεν ἦλϑεν πάλιν, γᾶ μὲν
εἰς γᾶν, πνεῦμα δ̕ ἄνω· τί τῶνδε χαλεπόν; οὐδὲ ἕν. (Consol. ad Apoll. 110a)
dasselbe Eur. öfter, z. B. Hik. 533. wo haben diese epicharmischen sprüche gestanden?
komödien hat Eur. nicht citirt und wahrlich auch Xenophon nicht, der Mem. II 1, 20
(vgl. Hell. VI 1 15, damit man das athetiren lasse) epicharmische sprüche anführt.
es gab ja aber γνῶμαι, welche nach dem durch Apollodor (bei Athen. 648d) er-
haltenen urteil des Philochoros von einem gewiſsen Axiopistos herrührten. allein
ob das sittensprüche waren ist fraglich. Philochoros besprach sie in dem buche
über mantik zugleich mit einem κανών, und als traumdeuter nennt Tertullian de
anim.
46 Epicharm neben Philochoros, so daſs man diese schriften eher unter die
technischen pseudepigrapha rechnen möchte, die es auch über tierarzneikunst u. dgl.
unter Epicharms namen gegeben hat. nun hat aber schon Aristoxenos (wie Apol-
lodor am gleichen orte bezeugt) eine Πολιτεία unter Epicharms namen gekannt, so
daſs der sonst nahe liegende verdacht schweigen muſs, daſs die aus dieser citirten
sprüche aus alexandrinischer zeit stammten und ihre verherrlichung des ϑεῖος λόγος,
von dem ein teil der menschliche ist (Clem. strom. V 719), stoisch wäre; auch zeigt
ein von Clemens zugleich angeführter vers, daſs dieser λόγος oder vielmehr seine
betätigung, λογισμός, mit der zahl gleichgesetzt wird, wir also in pythagoreischer
gegend sind, wenn auch der einfluſs des Anaxagoras kenntlich ist: denn νόος ὁρῇ
καὶ νόος ἀκούει, τἄλλα κωφὰ καὶ τυφλά (zuerst citirt von Aristoteles probl. XI 33:
nicht von Platon Phaid. 65b, der auf einen wol euripideischen tragikervers geht)
gehört offenbar eben dahin. nun tritt wieder Euripides ein. Hel. 122 αὐτὸς γὰρ
ὄσσοις εἰδόμην, καὶ νοῦς ὁρᾷ. das tilgt man, weil man die beziehung verkennt. die
echte Helene fragt den Teukros, ob er ihre doppelgängerin gesehen habe. der sagt
‘so wie ich dich jetzt mit augen sehe’. sie wirft ein ‘es kann ein trugbild gewesen
sein’. er weist das rund ab. sie ‘ihr traut also ganz auf die zuverlässigkeit der
erscheinung?’ (spiel mit δόκησις, vgl. zu v. 287). er ‘ja ich habe sie mit eignen
augen gesehen, und der νοῦς sieht’, d. h. weil der νοῦς sieht, ist keine δόκησις, ψευδὴς
δόξα möglich. Helene verstummt: sie kann nichts ausrichten, wenn die sinneswahr-
nehmungen gelten sollen, weil die sinne nicht sehen, sondern die infallible vernunft.
aber der dichter widerlegt die misdeutung des epicharmischen wortes durch die
tat: Teukros täuscht sich doppelt, sein νοῦς hat die falsche Helene anerkannt, die
echte verworfen. allerdings ist die Helenestelle nur durch eine beziehung auf etwas
53).
losophen des 5. jahrhunderts zukommt, aber zu der zeit des Archytas schon un-
denkbar wäre: damals war diese ionische pflanze längst für das Dorertum reclamirt.
die herstellung des pythagoreischen evangeliums ist eine schöne aufgabe: denn er-
sichtlich gehört die älteste schicht der wunder, z. b. die daunische wölfin, auch in
so gute zeit hinauf.
54).
auſser ihr verständlich, aber wer hat das recht so etwas zu zerstören? Euripides
führt noch weiter. er kennt die lehre, welche den νοῦς βροτῶν als gott betrachtet
(Tro. 887, fgm. 1007), allerdings subjectiv gewendet, aber der übergang ist leicht,
und auch Epicharm sagt (Stob. 37, 16) ὁ τρόπος ἀνϑρώποισι δαίμων ἀγαϑός, οἷς
δὲ καὶ κακός. und es geht noch weiter. den Epicharmus des Ennius als etwas anderes
zu denken als eine übersetzung eines griechischen buches ist ganz wunderlich. So-
tades Archestratos Euemeros erhalten einfach ihren genossen. und terra corpus est,
at mentis ignis est
(5) stimmt vollkommen. hier war Ceres als die erde gedeutet (4):
Δημήτηρ ϑεά, γῆ δ̕ ἔστιν, ὄνομα δ̕ ὁπότερον βούλῃ κάλει sagt Eur. Bakch. 276.
und Iuppiter war zwar aer genannt, aber als wind und wolken gedeutet. Eur. fgm. 935
ὁρᾶς τὸν ὑψοῦ τόνδ̕ ἀπείρον̕ αίϑέρα καὶ γῆν πέριξ ἔχονϑ̕ ὑγραῖς ἐν ἀγκάλαις.
τοῦτον νόμιζε Ζῆνα, τόνδ̕ ἡγοῦ ϑεόν. feucht sind seine umarmungen, also ist nicht
die feurige luft gedacht, und die differenz zwischen ἀήρ und αἰϑήρ ohne belang,
wie so häufig und schon von alter zeit her. Ennius nennt die principia mundi
aqua terra anima sol
(3): Epicharm bei Menander die götter ἀνέμους ὕδωρ γῆν
ἥλιον πῦρ ἀστέρας. wahrlich es geht doch alles zusammen, und wir erkennen ein
lehrgedicht Epicharms, wie die vita bei Diogenes es auch verlangt. ein äuſserliches
kriterium tritt hinzu. nach Diogenes hatte sich Epicharm sein autorrecht durch ein
akrostichon gesichert. daſs Ennius sich desselben spiels bedient habe, bezeugt Cicero
de div. II 111: wir sehen, woher er die kunst hatte. die form war nach Ennius
der traum ins jenseits entrückt zu sein (1). Alkimos, der freund Stilpons führt die
schluſsverse an, wie man glauben möchte, worin Epicharm prophezeit ‘einst wird
jemand meinen versen das maſs, das sie nun tragen, ausziehen, ihnen ein purpur-
gewand anlegen, es mit schmucken worten ausstaffiren und so, selbst schwer bezwing-
lich, zeigen, wie leicht die andern zu bezwingen sind’. da haben wir in wahrheit die
entschuldigung des fälschers. denn er vindicirt dem alten Epicharm die neuen lehren,
er wendet fälscherkunststücke an, ihm den ruhm zu sichern, und die priorität wahrt er
ausdrücklich. er zielt hier wol auf einen bestimmten sophisten, den ich nicht zu
benennen wage. der verfasser (Chrysogonos ὁ αὐλητής nach Aristoxenos, was der
zeit nach sehr gut möglich ist, da dieser 408 auf der höhe des ruhmes stand, Athen.
XII 535d) hat von Pythagoras, Anaxagoras, Prodikos gelernt. Euripides kennt sein
gedicht seit 430 etwa: nicht viel früher kann es entstanden sein. es ist ein sehr
merkwürdiges product; noch manches ist davon zu sagen, doch genüge hier der
nachweis seiner benutzung durch Euripides, worin der nachweis des alters liegt.
55).
Bei Eur. wundert man sich schon, wenn er einmal in der weise die Pindar
geläufig ist statt der grenzen der welt Atlas und Pontos (zu v. 234) oder Phasis
und Nil (Andr. 650) nennt. wo es eine besondere wirkung macht, erscheint natür-
lich auch solches wissen. die vorzügliche schilderung Messeniens im Kresphontes
(1068) hat eine politische spitze; Sparta besitzt die schönste landschaft widerrecht-
lich, und die Messenier fordern ihre zurückführung. daſs Iphigeneia am baumlosen
gestade, in der südrussischen steppe, sich nach den hellenischen gärten und
hainen sehnt (134, 229), ist durch die localfarbe sogar dem suchen Griechenlands
im schatten des dichtbelaubten haines überlegen. die sicilische expedition macht
die dortigen maulesel (Tr. 222 ὀρῆς, auch Soph. OK. 313 Αἰτναία πῶλος) und das
ϑαυμάσιον des thurischen Krathis (Tr. 227) interessant. der hain von Knosos in den
Kretern mit dem uralten blockhaustempel hat gewiſs auch localen bezug, aber auch
besondere bedeutung. einen starken irrtum über die lage von Kelainai rügt Strabon
(XIII 616. fgm. 1070), beziehung unbekannt. zwar schwerlich den magneten, aber
doch einen stein von Magnesia hat Eur. in einem gleichnis erwähnt: sicher den
magneten Sophokles (oben s. 12). auffällig ist in den Troerinnen 1075 der phry-
gische Zeuscult auf dem Ida; doch hängt dies mit dem vorhergehenden zusammen, wo
der Ida der ort heiſst, den die sonne zuerst bescheint: in der tat haben astronomen den
sonnenaufgang dort beobachtet (Diodor XVII 7, Lucrez V 663), offenbar gelegent-
lich des phrygischen höhendienstes. auffällig ist auch in den Bakchen die sehnsucht
nach Kypros, wobei die rieselfelder von Paphos geschildert werden (406). man
möchte denken, daſs der dichter sich hier als Athener aus dem versinkenden Reiche
fortwünscht in irgend einen winkel, den das kriegsgetöse nicht erreicht, wo dann
Kypros und Makedonien nahe lagen. er ist nach dem letzteren gegangen, Ando-
kides z. b. nach beiden.
56).
Strabon (XI 520) sagt, er wolle noch ein par berufene νόμιμα βαρβαρικά
erwähnen, z. b. daſs ein volk bei sich als sitte übe τὸ Εὐριπίδειον ῾τὸν φύντα
ϑρηνεῖν u. s. w. (Kresphont. 452). moderne haben das umgedreht und lassen Euri-
pides aus Herodot V 4 schöpfen. das würde berechtigt sein, wenn er sich auf
irgendwo existirende sitte beriefe: so stellt er sich nur in schroffsten gegensatz zur
heimischen. für den gedanken aber bedurfte er keiner anregung von auſsen: μὴ
φῦναι κράτιστον, τὸ ζῆν κατϑανεῖν legte den schluſs nahe genug.
57).
Abgesehen von den bekannten beziehungen auf Herodotos, unter denen die
Intaphernesgeschichte nur eine ist (geschrieben nicht um Herodot zu huldigen, an
den niemand denken sollte, sondern weil Sophokles die geschichte hübsch fand),
wirft Sophokles mit geographischen namen fast wie ein Römer um sich. Phasis und
58).
Ein gewiſser Eparchides hatte in einer specialschrift über Ikaros (Athen.
II 61) ein epigramm mitgeteilt, das Euripides bei einem gelegentlichen besuche auf
der insel gemacht haben sollte. es ist ein recht schlechtes gedicht, denn es nennt
die namen der toten nicht und auch nicht die todesart. Eparchides wuſste aber zu
sagen, daſs es einer frau galt, die mit drei kindern an dem genusse von giftigen
pilzen gestorben war. auf einem grabe kann es neben den namen allenfalls ge-
standen haben. in diesem falle hätte Eparchides eine ciceronefabel aufgezeichnet,
für die sowol das sujet wie der berühmte dichtername trefflich passen. wir wissen
aber gar nicht, ob nicht Eparchides selbst schwindelte. Euripides steht als ver-
fertiger von epigrammen so gut wie sonst Homer, Sappho, Archilochos: ernsthaft ist
all das nicht zu nehmen.
59).
Die localfarbe der Alkestis, soweit sie da ist, gehört der quelle, Hesiods Eoee
von Asklepios, an. daſs v. 835 eine straſse von Pherai nach Larisa erwähnt wird,
heiſst gar nichts. eine bestimmte angabe muſste gemacht werden; ob Larisa oder
Pharsalos oder Krannon genannt ward, war einerlei.
60).
Das Θετίδειον ist zwar eine wirkliche örtlichkeit und wird genau bezeichnet,
weil es dem publicum fremd war. aber das war von der sage, wenn auch nicht
der Andromachesage gegeben, denn es stand bei Pherekydes, schol. 18.
61).
Vgl. zu v. 639.
62).
Die Περσέως σκοπιαί 769 sind zwar an der aegyptischen küste localisirt,
57).
Istros treten auf als typen für einen groſsen strom (OT 1227), indisches gold und
sardisches elektron als typen orientalischen reichtums (Ant. 1037), der wein von
Italien (Ant. 1119, dies vielleicht wegen Thurioi), das gold vom Paktolos (Phil. 391),
das menschenopfer an Bal (Andromeda 622), der byzantische tunfisch mit seinem
localen namen (fgm. 460). ein ϑαυμάσιον aus Euboia wird in vielen versen be-
schrieben (Thyest. 235). die κλητικοὶ ὕμνοι putzen sich vollends mit diesem billigen
zierrat, Ai. 693 soll Pan von Kyllene kommen, nysische knosische tänze zu lehren,
Apollon über Ikaros von Delos. Ant. 1115 der Thebaner Dionysos nach Theben, er
der herrscher in Eleusis und Italien, in der korykischen grotte über der Kastalia und
in Nysa. der Triptolemos gab eine ganze periegese der οἰκουμένη im stile der aischy-
leischen, aber noch viel umfassender.
63).
Diese stimmung weht zwar durch die ganzen Bakchen, deren chor eben
deshalb gewählt ist, besonders aber in dem ausgeführten bilde 866: das reh, das
dem jäger entronnen ist, springt fröhlich in der waldeinsamkeit über die wiese.
Pieriens natur schildert er 409, 565, die ströme von Pella 571, in leider heillos ver-
dorbenen versen. er scheint gegen B 850 zu polemisiren. denn dort heiſst der
Axios der strom mit dem schönsten wasser, hier wird der Ἀξιὸς ὠκυρόας genannt,
aber unmittelbar darauf dem Ludias das schönste wasser zugeschrieben — wenn nicht
noch ein dritter fluſs genannt war, denn nach der ganz ähnlichen stelle Hekab. 454
erwartet man den Apidanos.
64).
Er bringt es selten über ein bild, das schön aber herkömmlich ist, wie
Ἕω λευκὸν ὄμμα, oder Hik. 990, Andromeda 114, Ion 82. etwas selteneres ist der
vergleich mit einer sternschnuppe fgm. 961. sternbilder auf schildern oder tapeten,
eine geschichte, wie die umkehr des sonnenwagens bei den thyesteischen greueln
(Or. 1000) beweisen nichts für das naturgefühl des dichters. und wenn er einen
geblendeten sich sehnen läſst hinaufzufahren zu den hellen lichtern von Orion und
Seirios (Hekab. 1100), so ist das wundervoll aus der seele dessen, der ewige nacht
schaut, empfunden, aber keine περἰ τὰ μετέωρα πολυπραγμοσύνη. sehr verkehrt
haben also die antiken verteidiger des Rhesos sich darauf berufen, daſs hier aller-
dings 531 eine seltsame constellation geschildert wird, und Iph. Aul. 5 ist eben
62).
(Herod. II 95), werden hier aber wegen der unmittelbar vorher gegebenen tragödie
Andromeda erwähnt.
65).
Vgl. was unten über Phoinix beigebracht wird. am klarsten ist die geniale
freiheit des dichters im Aiolos. die Odyssee erzählt daſs der könig der winde, der
auf einsamer insel lebt, seinen söhnen seine töchter zu frauen gegeben hat, ganz
unschuldig, wie Adam das auch getan hat. das greift Euripides auf und hängt das
ganz moderne problem daran, die geschwisterliebe, die blutschande, das problem das
Byron und seine zeit so tief beschäftigt hat, ein problem von ewiger bedeutung.
64).
auch nicht von dem dichter Euripides. daſs wir an unserm himmel die personen der
Euripideischen Andromeda sehen, hat er allerdings bewirkt, aber nur dadurch, daſs er
eine vorhandene geschichte dramatisirte, deren herkunft unbekannt ist und die über-
haupt singulär ist und wenig hellenisch aussieht. gegenüber Euripides sehe man
wie Sophokles das überkühne wagnis begeht, die aufzuckenden stralen der morgenröte
‘die wimper des tages’ zu nennen (Ant. 102) und vom wechselnden monde (fgm. 786),
der ewig kreisenden bärin (Tr. 130) ein gleichnis nimmt.
66).
Die λιπαραί Ἀϑᾶναι des pindarischen dithyrambus waren fliegendes wort.
wie Aristophanes (Ritt. 1329) hat sie auch Eur. öfter, schon Alk. 452 und noch J. T.
1130. das wort λιπαρός war aus dem hohen stile geschwunden, Soph. hat es
nie, Eur. nur im satyrspiel. eine mythische beziehung hat ein gescheidter gram-
matiker zu Androm. 796 aufgedeckt. Eur. läſst dort seinen chor zu Peleus sagen
‘jetzt glaube ich, daſs du in Troia mit Herakles und auf der Argo gewesen bist’.
das letztere ist eine gewöhnliche sage, das erstere war eigentlich notwendige folge
von der durch die Aegineten aufgebrachten beteiligung Telamons an dem troischen
zuge des Herakles. aber es findet sich sonst nicht ausdrücklich erwähnt. da bringt
nun der scholiast eine Pindarstelle bei, welche auch beide züge vereinigt, und da
Eur. den chor ausdrücklich seine zustimmung zu der ihm also vorher bedenklichen
geschichte aussprechen läſst, ist die vermutung wol richtig. — die Rhesosfabel hat
Pindar so behandelt, daſs eine gewisse verwandtschaft mit dem stoffe der tragödie
nicht zu verkennen ist (schol. K 435), aber das sind gemeinsame sagenzüge: der ver-
fasser des Rhesos hat Pindar nicht benutzt; wie viel verständiger würde sein stück
geworden sein, wenn Rhesos wirklich, wie bei Pindar, einen tag lang die Achaeer
besiegt hätte, statt bloſs zu renommiren. dagegen hat der schauspieler, der den
zweiten falschen prolog verfertigt hat, seine personen, Hera und Athena, von Pindar
entlehnt, was recht interessant zu wissen ist.
67).
Die scholien irren zwar, wenn sie in dem geschicke der Helene und der
Polyxene bei Euripides einfluſs des Ibykos (fgm. 35. 36) sehen, denn das ist schon
epische sage; aber eine sehr merkwürdige anregung ist kenntlich. Apollonios III 158
schildert den abstieg vom Olymp auf die erde. es ist ein platz vor dem tore, neben
dem garten der götter: von da schwingt sich Eros wider Medeia herab. der scho-
liast bemerkt dazu, es wäre eine nachbildung eines liedes von Ibykos an Gorgias,
worin zuerst der raub des Ganymedes und dann der des Tithonos vorkomme. also
Ibykos verglich die schönheit des von ihm oder seinem auftraggeber geliebten Gorgias
mit den beiden Troerknaben, welche himmlische liebe in den Olymp entführt hat.
Eur. Tr. 820 klagen die Troerinnen ihr leid dem Ganymedes, der in heiterer schön-
heit neben Zeus blüht, während sein vaterland verwüstet wird. dann wendet sich
das lied an Eros, der die himmlischen zu den Dardaniden herabgeführt hat, τὸ μὲν
οὖν Διὸς οὐκέτ̕ ὄνειδος ἐρῶ, aber auch Tithonos ist von Eos in einem sternenwagen
68).
Mimnermos vgl. zu v. 637. bemerkenswert ist, daſs Or. 1546 ein spruch
des Semonides wiedergegeben wird (fgm. 1, 1).
69).
Auf Alkaios nimmt Aischylos Sieb. 387 nach den scholien bezug. er war
sonst nicht populär in Athen. das einzige von einem Attiker berücksichtigte alk-
manische lied (Ar. Vög. 250) ist in der form nicht lakonisch. als Aristophanes aber
Lakoner einführte, im schlusse der Lysistrate, griff er nach dem lakonischen poeten.
an seine rhythmen gemahnt nur Sophokles öfter, und das wird zufall sein.
70).
Die lebenszeit des mannes und alles was seine person angeht ist freilich
nur aus dem urteil über sein werk abzuleiten, da jede verläſsliche angabe fehlt.
der versuch ihn zu einem Athener zu machen wird hoffentlich keine verwirrung an-
richten. wenn die grammatiker einzeln die benutzung der mythographen durch Euri-
pides annehmen (schol. Or. 1654 Phoen. 71), so hat das keine beweiskraft.
67).
entführt, und nun ist doch die liebe der götter zu Troia verflogen. da sind die beiden
mythen auch in erotischer wendung vereinigt: das mag man zufall nennen, mag auch
dem Euripides die hübschen züge selbst zuschreiben, des Ganymedes γυμνάσια καὶ
λουτρά (Phoen. 371, Phaeth. 782), und den sternenwagen, obwol letzterer sehr von
der attischen weise abweicht, die wir von den vasenbildern her kennen, und ersteres
dem dichter der knabenliebe wol ansteht. entscheidend ist die figur der praeteritio,
die auf die vorige strophe nicht gehen kann, in der der raub nicht erzählt und Zeus
nicht gescholten ist. ein quaerere distuli weist immer auf eine art polemik.
71).
Die Augesage haben Euripides und Hekataios ähnlich erzählt, aber wir
kennen die epischen bearbeitungen derselben nicht. daſs Euripides in der Helene
Hekataios und Herodotos nicht berücksichtigt hat, ist eine tatsache, die schwerer
wiegtt als alle solche möglichkeiten.
72).
Es ist die erwerbung der landschaft Phyllis am untern Strymon durch
Herakles. die sage selbst ist aber schwerlich dort gewachsen, da Συλεύς ein redender
name ist, der neben dem bruder Δίκαιος in einer thessalischen sage (Konon 17)
wiederkehrt; der inhalt aber ist derselbe in dem volksliede der schnitter vom Lyder
Lityerses. Herakles zeigt, daſs Athener die Syleussage nicht gebildet haben; vor
ihnen waren ja auch Nesioten in jener gegend, und die bewohner der Chalki-
dike und der insel Thasos verehren Herakles als gründer ihrer cultur; in Amphi-
polis wohnten sehr viele Akanthier. die attische sage, die nachher die Syleussage
verdrängt hat, ist die von der eponymen heroine Phyllis und einem Theseus-
sohn. sie ist aber erst im 4. jahrhundert nachweisbar, gehört also der zweiten
besetzung von Amphipolis an. die Syleussage tritt gleichzeitig mit dem euripidei-
schen drama in der vasenmalerei auf (Annali 1878 C): sollte sie im 6. jahrhundert
schon dargestellt sein, so erhöhte das bedeutend die bedeutung der damaligen ver-
bindung von Athen mit Thrakien (Jahrbuch des Arch. Inst. II 229). es leuchtet ein,
daſs Euripides nach dem verlust von Amphipolis 424 den Syleus nicht mehr schreiben
konnte, und lange vor der gründung (438) ist es mindestens recht unwahrscheinlich.
so haben wir für ein satyrspiel ein annäherndes datum.
73).
Aischylos mag die Europa aus Milet, Sophokles den Kedalion aus Chios
haben. die Perseussage, die auf Seriphos spielt, ist alles andere eher als seriphisch.
denn für sie ist die insel das gottverlassene elende felseneiland, das sie, wie die
tributlisten lehren, zur zeit des Reiches nicht war. in dem rufe stand sie freilich
auch damals (Kratinos Seriphier, Aristoph. Ach. 542. Plat. Staat 330a), aber das
war aus der alten sage geerbt; schon 479 ist Seriphos trotz seines gerechten an-
spruches (Herod. VIII 46) nicht in den Hellenenbund aufgenommen.
74).
Die stellen bei Hiller in der satura Sauppiana 73. ganz sicher ist es nicht,
daſs Hieronymos die sache richtig aufgefaſst hat, aber wahrscheinlich.
75).
So war es offenbar etwas ganz dürftiges, was Euripides als Kresphontes-
sage überkam. er fügte hinzu, daſs der tyrann den rechtmäſsigen erben für vogelfrei
erklärt hat und dieser der bote seines eignen todes ist; dies aus der Orestessage; daſs
der tyrann ein ohnmächtiges weib zur ehe zwingen will, aber durch die zwischen-
kunft des sohnes daran gehindert wird; dies aus der Danaesage, wenigstens wie er sie
wenige jahre zuvor im Diktys gestaltet hatte. seinen Archelaos soll er nach der
Temenossage gemacht haben, Agatharchides bei Phot. bibl. 444b 29. die gefangene
Melanippe hat motive aus den sagen von Ino, Antiope, Meleagros verbunden: eigen-
tümlich scheinen nur die namen; doch sind wir über die heimat der sage nicht
unterrichtet.
76).
Ein satyrspiel Sisyphos hat Euripides nach ausweis der didaskalie der
Troerinnen 415 gegeben. das war verloren, ward mit dem Sisyphos des Kritias
verwechselt und gab mit veranlassung zu der irrtümlichen zuteilung der ganzen tetra-
logie, in welcher auch ein Sisyphos stand.
77).
Anaxandrides verkaufte das manuscript einer durchgefallenen komödie
sofort als maculatur. Chamaileon bei Ath. IX 374.
78).
Die angaben sind trotz aller verwirrung durchsichtig. wenn man die un-
ächtheit des Sisyphos bestritt, wozu dieselbe veranlassung vorlag wie beim Rhesos,
so war die gesammtsumme 75: diese gibt Varro (Gellius XVII 4 3) und Suidas. rech-
nete man die ganze bestrittene tetralogie zu, so waren es 78: so das γένος, und
das wird in den σωζόμενα οζ΄ bei Suidas auch stecken.
79).
Θερισταί· οὐ σῴζονται in der didaskalie der Medeia, καὶ … σῴζεται in
der der Phoenissen, deren ergänzung in diesem teile sicher ist. endlich der Sisyphos.
80).
Unsichere vermutungen Anal. Eur. 161. die beziehung auf die Marsyas-
sage läſst sich nicht mehr aufrecht erhalten.
81).
Das erhaltene stück fordert vier schauspieler wie der Oidipus auf Kolonos
und hebt mit einer anapästischen scene an, wie der jüngere Euripides eine vor die
aulische Iphigenie gesetzt hat. man möchte es also zeitlich diesen nahe rücken.
andererseits ist überall das bestreben deutlich in verston sprache und metrik die
weise zu vermeiden, welche in ihren letzten jahren von Euripides und Sophokles
beliebt war, und von der rhetorischen tragödie, z. b. Agathon Karkinos fortgebildet
ward. so möchte man etwas weiter herabgehen. unsere kenntnis des dramas im
4. jahrhundert ist aber zu gering, als daſs man auf diese formalen kriterien viel
bauen könnte. der inhalt setzt indessen ein lebhaftes interesse für die thrakischen
gegenden voraus, in denen Athen erst im zweiten seebund wieder festen fuſs faſste
auf etwa zwanzig jahre. in diese wird man den Rhesos am ehesten rücken dürfen.
Dikaiarchos hat ihn schon von den schauspielern erweitert gelesen. die nachahmung
des Sophokles ist in den motiven und der stilisirung der personen nicht minder
greifbar als in der diction und namentlich der metrik.
82).
Ein auch der form nach unmöglich euripideisches fragment wird in den
in trostloser verwahrlosung erhaltenen sog. Probusscholien zu Vergil dem Kadmos
des Euripides zugeschrieben (fgm. 451). wie der irrtum entstanden ist oder ob gar
fälschung vorliegt, ist fraglich. ein aegyptischer schulknabe hat in der zeit Aristarchs
unter andern stücken auch 44 trimeter abschreiben müssen, die die überschrift Εὐρι-
πίδου tragen und die noch ungedeutete unterschrift Εἰριπίδης σμοδρεγατης. die
verse imitiren die weise des Euripides, aber ganz erbärmlich. sie begehen den me-
trischen fehler ἐγδίδως νῦν πλουσίῳ (20) als versausgang, elidiren αι (44), setzen
wider die weise des Euripides έαυτῆς (11), wider die des 5. jahrhunderts καίτοιγε (10).
οὐσία bedeutet das vermögen (30), τυχὸν ἴσως heiſst vielleicht, wie in spätattischer
prosa (9), ἴδιος ἐμαυτῆς vertritt, wie in dieser, das possessiv (28), es steht, wie im peri-
patetischen traktat λοιπόν ἐστιν ἴσως ἐμἐ λέγειν (4), ἀπορεῖν bedeutet ‘arm sein’,
daneben wird aber auch ἀπορεῖσϑαι gebraucht (26), ἁρμόττει (man ändert ἀρμόζει) in-
transitiv (2) ist nicht euripideisch, φιλάνϑρωπος steht in dem gemeinen sinne der späten
decrete: im 5. jahrhundert können nur götter oder tiere φιλάνϑρωποι sein. das perfect
ist in der weise der κοινή gesetzt, wo es nicht hin gehört 6, 19; ein gebrauch des
artikels wie πρὸς τῆς Ἑστίας, ἐμαυτῆς τὸν ἴδιον βίον, gehört nicht in die tragödie.
es kommt aber noch hübscher μέχρι πόσου τὴν τῆς τύχης πάτηρ δὲ λήψει πεῖραν (31):
darin ist falsch μέχρι, denn das sagt die tragödie nicht, μέχρι πόσου, denn das ist
höchstens ganz plebejisch für ‘wie lange’, ganz unzulässig der artikel bei τίχην,
ganz unmöglich in jeder rede die stellung des δέ. da hat man denn auch wenigstens
83).
Et. Florentinum citirt fgm. 824 aus dem zweiten Phrixos und aus demselben
eine verwirrte notiz der Aristophanesscholien fgm. 816. mitgezählt ist das drama
sicher nicht; aber es ist nicht undenkbar, daſs neben der echten fassung eine von
schauspielern zugestutzte bestand. tatsächlich haben zwei solche fassungen der
Herakleiden wirklich bestanden, aber davon erzählen uns die grammatiker nichts.
daſs der erhaltene Hippolytos eine umarbeitung des ersten gewesen wäre, wie wir
sie von Götz und Carlos haben, ist eine eitele erfindung der modernen um ihre fal-
schen athetesen zu stützen. es ist überliefert und ganz sicher zu erkennen, daſs
es vielmehr eine völlig neue bearbeitung desselben stoffes war. wie es mit den
gleichnamigen dramen des Sophokles stand, welche durch ziffern unterschieden werden
ist unbekannt; wahrscheinlich aber gerade so.
82).
corrigirt. aber welcher stil ist hier überhaupt? in 44 versen 19 formen des pro-
nomens erster person, und der anfang ὦ πάτερ ἐχρῆν μἐν οὓς ἐγὠ λέγω λόγους,
τούτους λέγειν σέ, καὶ γἀρ ἁρμόττει φρονεῑν σὲ μᾶλλον ἴ ᾽ ̕μὲ καὶ λέγειν ὅπου τι
δεῖ, viermal λέγειν: das ist so der stil bei den correspondenten des magister Ortvinus
Gratius. es ist ein zeichen der zeit, daſs dieses zeug dem Euripides zugeschrieben
wird: offenbar paſst es nur für Σμοδρεγατης. der es verfertigt hat, hat übrigens
keine tragödie geschrieben, denn es fehlt jede individuelle beziehung. doch genug
davon; hoffentlich für immer.
1).
Es ist sehr bezeichnend, daſs er schon in den bijoux indiscrets, welche zuerst
Lessing diese schwerlich von ihm dort gesuchte anregung gegeben haben (Hamb.
Dramat. 84 stück), den Philoktet des Sophokles als musterstück wählt: ein auf das
einfachst moralische reducirter, des mythischen fast ganz entkleideter stoff, daneben
die feinste charakteristik und die stärkste abweichung von der Versailler decenz.
so erscheint denn der Philoktet auch im Laokoon. für die verehrer der comédie
larmoyante war Philoktet das rechte: aber die Iphigenie mit ihm zu verbinden war
ein herzlich abgeschmackter einfall. da wirkt das mythische, echt tragische, und
hat die Elektra gevatter gestanden.
2).
Schlegel gesteht (I 133) halb und halb ein, daſs er Euripides nur schlug,
weil er Iffland und Kotzebue meinte. das mochte ein geschickter streich sein, wenn
Schiller ganz dasselbe in Shakespeares schatten auch unvergleichlich wahrer schöner
und edler erreicht hatte; es durfte dann aber nicht als eine objective beurteilung auf-
genommen und weitergegeben werden.
3).
homo longe omnium pessimus nennt ihn G. Hermann an Volkmann 1. August
1796. da war Schlegel an den rechten gekommen.
4).
Fr. Vischer hat daran ganz recht getan, daſs er Shakespeare in den mittel-
punkt gestellt hat. seine individualität zog ihn von Athen fort: wer Pandora nicht
zu würdigen weiſs, wird auch Prometheus nicht würdigen. es ist doch eine arge
verirrung, die ὑποϑέσεις von tragödien in epische erzählungen umzusetzen, wie es
Vischer gar mit dem Oidipus auf Kolonos getan hat: und doch zeigt sich hier, daſs
auf den kernmenschen, den σαρκασμοπιτυοκάμπτης, der kern des dramas am mäch-
tigsten gewirkt hat, die sage.
5).
In betreff der indischen ist die entscheidung dadurch erschwert, daſs sie
erst jahrhunderte nach dem erlöschen der griechischen spiele zur blüte kommt; deshalb
ist die unmittelbare vergleichung (Windisch Abhdlg. des 5. orientalistencongresses)
wenig überzeugend, und ein stricter historischer beweis wird erst möglich sein, wenn
auf indischem gebiete die forschung jahrhunderte vordringen kann. aber daſs in den
zeiten der griechischen vormacht im osten auch die techniten ihre höchste blüte gehabt
haben, steht fest, und man kann gar nicht bezweifeln, daſs an den höfen der helle-
nischen fürsten Indiens im 2. jahrhundert scenische spiele gewesen sind, wenn
sich gar die Parther im 1. jahrhundert die Bakchen vorspielen lassen. und daſs
die hellenische civilisation auf die Arier ganz intensiv gewirkt hat, zeigt am besten
die sculptur (Curtius Arch. Zeit. 1876, 90).
6).
Von Choirilos ist eine mythographische angabe und ein als tropus ange-
führter vers auf uns gekommen. die grammatiker kennen ihn nicht mehr. jene er-
wähnungen können sehr wol auf schriftsteller aristotelischer zeit zurückgehen. die
lyrischen fragmente des Pratinas stammen alle aus einem musikgeschichtlichen werke,
da sie sich auf musik beziehen; von einer tragödie ist ein wort aus zoologischem
interesse gerettet, wol aus einem schriftsteller wie Speusippos oder Phainias. mehr
gibt es von Phrynichos, nicht bloſs bei mythographen, sondern auch bei gramma-
tikern. allein daſs die von ihm erhaltenen tragödien nicht aus der zeit des Aischylos
gewesen wären, ist weder erweislich noch wahrscheinlich. im gröſseren publicum
ist in den vorchristlichen jahrhunderten noch hier und da etwas von einem andern
dichter als den dreien gelesen und gespielt worden: nach Christus ist nur die kenntnis
des Ion bei Plutarch nachweislich und auch sonst glaublich, da noch commentare
geschrieben werden. die jüngeren tragiker las man längst nicht mehr; daſs sich ein-
zelne verse in die florilegien gerettet haben, beweist nur, wie alt deren grund-
stock ist.
7).
Er führt ein gemälde, weihgeschenk wegen komischen sieges, an, Polit. Θ 6.
die früher meist vorgetragene ansicht, daſs die didaskalien auf diese weihgeschenke
allein zurückgiengen, ist ganz verkehrt. sie enthalten viel mehr; denn die namen
der stücke, der unterlegenen concurrenten und deren stücke waren nimmermehr auf
steinen zu lesen. also sind archivalische studien unzweifelhaft. dort stand aber ver-
mutlich noch sehr viel mehr, und z. b. was wir über costumveränderungen er-
fahren, wird daher stammen. man könnte noch mehr vermuten, wenn nicht ganz
8).
Zu den altbekannten stücken dieser classe CIG. 229, 230 ist jüngst ein neues
bruchstück getreten (Notizie degli scavi 1888, 190), auf dem aber nur so viel kenntlich
ist daſs es hierher gehört.
9).
Näheres Hermes 21 ‘die bühne des Aischylos’.
7).
unklar bliebe, wo die grenze zwischen den pflichten der beamten und der choregen
war. da einzelne angaben auch aus der zeit vor 480 erhalten sind, muſs man an-
nehmen, daſs die archive vor den Persern gerettet waren, was ja auch nur natür-
lich ist. aber sie werden für die alte zeit längst nicht so reich gewesen sein.
dramentitel von Thespis z. b. hatten sich sicherlich nicht erhalten, da man deren
früh erfunden hat. und es dürfte ähnlich mit Choirilos u. a. stehen. auch dichter-
namen für die tragödie sind auffällig wenig erhalten und nur solche, von denen
sich auch vereinzelte werke bis auf die Peripatetiker gerettet hatten.
10).
Die tendenz, den Megarern von Nisaia eine komödie zu vindiciren, hat
daran keinen anhalt, daſs Epicharmos aus dem hybläischen war. und was die alten
von einem ‘dorf’ gesange fabeln könnte die attischen κῶμοι nicht erzeugt haben, auch
wenn es mehr wäre als ein aus dem namen schlecht gefertigtes autoschediasma.
11).
Pollux IX 41 bezeugt daſs χοραγός im sinne von διδάσκαλος vorkam.
Hephaestion 8, 3 nennt eine komödie Χορεύοντες, welche ganz in anapaesten ge-
dichtet war. das gibt sich selbst als ausnahme. lyrische maſse fehlen in den
bruchstücken ganz, wenn man von gänzlich ungewissen absieht. die Musen in dem
gleichnamigen stücke sind als chor in attischem sinne undenkbar.
10).
aber eine tradition von alten volksspäſsen und einem possenreiſser Susarion haben die
Megarer wirklich besessen, und das verdient um so mehr glauben, als ähnliche späſse
sich ja auch in andern dorischen orten, z. b. Sparta, finden. nur hat das selbst nach
der angabe der Megarerfreundlichen tradition nichts mit Dionysos, also nichts mit
den attischen κῶμοι zu tun. die attischen komiker des 5. jahrhunderts wenden
Μεγαρικὸν ᾆσμα, Μεγαρικὴ κωμῳδία, σκῶμμα Μεγαρόϑεν κεκλεμμένον durchaus
nur metaphorisch an: so wie wir noch heute ‘boeotisch’ und ‘attisch’ als gegensätze
brauchen (auch sie einzeln boeotisch, Kratin. inc. 152).
12).
Wenigstens bietet weder ein titel noch ein bruchstück einen anhalt, der
über die dreiſsiger jahre hinaufzugehen veranlaſste. es kommen auſser ein par
resten des Ekphantides, wenn auf sie verlaſs ist, und einer komödie des Lysippos
nur die des Krates und Kratinos in betracht. und daſs bei diesem nichts verläſs-
liches auf die so vielbewegten vierziger jahre deutet, während so sehr viele komö-
dien erst in den archidamischen krieg passen, ist schwerlich zufall.
13).
Dies die originale, die in Ciceros übersetzung (de re p. IV 11) durchschim-
mern. er sagt imitationem vitae, speculum consueiudinis, imaginem veritatis. die
doctrin ist, auch wenn sie Cicero durch stoische vermittelung empfangen haben
sollte, peripatetisch. das τέλος aller poesie ist ψυχαγωγία, was er mit voluptas
wiedergegeben zu haben scheint (τέρψις bei Aristides Quintilian ist schlechte rück-
übersetzung). die Alexandriner folgen in der kunstlehre den peripatetikern. die ψυχα-
γωγία bekennt Eratosthenes, und Aristophanes dichtet von Menander ὦ Μένανδρε
καὶ βίε, πότερος ἄρ̕ ὑμῶν πότερον ἀπεμιμήσατο. Theophrasts kunstlehre erlaubt
und erfordert eine zusammenhängende behandlung; die Römer, Sueton zumal, sind
am ergiebigsten.
14).
Am bezeichnendsten ist, daſs die spiele der freiwilligen sofort wieder auf-
kamen, als der staat den vergeblichen versuch machte, die komödie zu unterdrücken,
weil ihre zügellosen angriffe politisch bedenklich geworden waren (440—38 schol.
Ar. Ach. 67). Kratinos erhielt keinen chor: da führte er seine Rinderhirten mit
freiwilligen als einen dithyrambos auf. dasselbe scheint er mit seiner ‘Odysseus-
komödie’ getan zu haben. denn dies bedeutet Ὀδυσσῆς, wie Ἀϑῆναι und Φίλιπποι
die stadt der Athena und des Philipp, Αἶτναι und Καμικοί (wie die titel überliefert
sind, wenn man genauer zusieht) die tragödien von Aitna und Kamikos. wahr-
scheinlich ist der plural früher noch öfter verwandt worden; namentlich in komödien-
15).
So stand auch der daduche bei den Lenaeen, rief καλεῖτε ϑεόν, und die ge-
meinde respondirte Σεμελήιε Ἴακχε πλουτοδότα, schol. Ar. Fr. 479. die einmischung
des Iakchos und des eleusinischen priesters in den altattischen cult zeigt, daſs dies
nichts ursprüngliches war. verse in diesen und ähnlichen hier und zu Fried. 968
angeführten worten zu sehen, ist willkür. sie stehen bei Bergk unter den volks-
liedern.
14).
titeln schwankt die überlieferung sehr oft zwischen ihm und dem singular, und nur
bei Kratinos ist noch Ὀδυσσῆς Κλεοβουλῖναι Ἀρχίλοχοι ganz fest. noch Wolken-
kukukshein heiſst auch Νεφελοκοκκυγίαι. Πλάταια und Μυκήνη und Θήβη sind
die älteren ortsnamen; als man aber die eponymen nymphen lebhafter persönlich
empfand, drangen die pluralbildungen durch.
16).
ὀργεῶνες sind darum die genossen eines religiösen vereines, an dem sie
aus freiem willen teil haben; so schon in dem solonischen genossenschaftsgesetze,
auf welches sich die richtige erklärung des Seleukos bezieht (Harp. Phot. s. v.), und
dieser gebrauch des wortes dauert. verwirrung ist nur dadurch gestiftet, daſs die
von der kleisthenischen gesetzgebung erzwungene cultgemeinschaft der alten und
neuen bürger, weil sie nicht auf blutsbruderschaft, sondern nur auf milchbruder-
schaft beruhte (daher ὁμογάλακτες), wie sie zwischen hoch und niedrig gewöhnlich
ist, an sich nicht den charakter eines geschlechtscultes von ἀπάτορες oder γεννῆται
trug, sondern eine durch freien willen geschaffene, als ὄργια, erschien, im fortgang
der demokratie ersetzten nun diese ὄργια die geschlechtsculte, und so haben Aristo-
teles und Philochoros die ὁμογάλακτες im widerspruche zu dem wortsinne als bluts-
verwandte angesehen, weil sie sich von dem kleisthenischen staate nicht losmachen
konnten.
17).
Auch das weibergedicht des Semonides, eine predigt über ein hesiodisches
thema, welche an sich ohne rechten zweck erscheint, erhält als replik auf die spöt-
tereien der weiber am Demeterfeste sinn und salz. dazu braucht sie gar nicht einmal
wirklich dabei vorgetragen zu sein, sondern nur als ἴαμβος zu den späſsen der Iambe
in beziehung zu stehen und so empfunden zu werden.
18).
Usener Altgr. Versb. 113 hat dafür angeführt, daſs Ἐλέγη eine der manns-
tollen töchter des Proitos heiſst (Aelian V. H. III 42; die bessere mythographische über-
lieferung hat andere namen), und eine mannstolle tochter des Neleus Ἐλεγηίς. diese
namen sind ohne zweifel gegeben, weil man ἐλεγαίνειν als ἀκολασταίνειν verstand, wie
denn auch überliefert ist. und nun soll Theokles von Naxos im wahnsinn ἐλεγαίνων,
die elegie erfunden haben, die davon benannt sei. auch mir hatte diese combination
eingeleuchtet, als ich in Et. M. ἀσελγαίνω, ἐλεγαίνω (dies auch Suid), Ἐλεγηίς las.
aber die combination hält die kritik nicht aus. erstens ist die grammatische verbindung
von ἐλέγη und ἀσελγής, an welcher Usener festhält, unmöglich. das anlautende s, das
vor ἐλέγη fortgefallen sein müſste, konnte sich nicht im anlaute von σαλαγεῖν (das
Usener trotz σαλάσσω σάλος ζάλη heranzieht) und im inlaute ἀσελγής halten: also gehen
diese worte sich nichts an. das e von ἐλέγη u. s. w. ist vielmehr ein bedeutungs-
loser vorschlag, nicht anders als in ἐλεύϑερος ἐλαφρός. wirklich belegt Epaphroditos,
19).
Die lieder, welche Semos der Delier (bei Athen. 622) erhalten hat, sind
wirkliche cultlieder, die zu seiner zeit (um 180 v. Chr.) in gebrauch waren. aber
18).
auf den die ganze etymologie zurückgeht, λέγαι δἐ γυναῖκες aus Archilochos (174)
im sinne von ἀκόλαστος. davon kommt ἐλεγαίνειν und kommen die weibernamen;
aber davon führt keine brücke zur elegie. auf obscöne gesten und lieder führt nur die
sicherlich alte (Lykophr. 1385) geschichte der Neleustochter: aber gerade hier ist
der redende name Ἐλεγηίς schwerlich der ursprüngliche, denn er hat an dem echten
Nelidennamen Πηρώ (im Et. M. fälschlich Πειρώ) einen concurrenten und vor allem
hat der, welcher die Pero zu einer Ἐλεγηίς machte, nur an ihre unanständigkeit,
nicht an die elegie gedacht, denn sie redet in hexametern. (sie spricht in Athen
ἐπικροτοῦσα τὸ ἐπείσιον “δίζεο δίζεό σοι μάλα δὴ μέγαν ἄνδρ̕ ἀπ̕ Ἀϑηνῶν·
ἢ ἐς Μίλητόν σε κατάξω πήματα Καρσίν. so etwa mag es gelautet haben. im
Et. M. ist überliefert δ. δ. δὴ μέγαν ἄνδρα Ἀϑηναῖον, ὅς σ̕ ἐπὶ Μ. κατάξει π. Κ.
in den Lyk. schol. δ. σ̕ εὖ μάλα ἐς (oder εὖ Tzetz.) ϑαλερὸν πόσιν ἢ ἐς Ἀϑήνας ἢ
ἐς Μίλητον κατάξω π. Κ. es kommt der Pero auf den ἀνήρ, nicht auf den πόσις
an). daſs Theokles, der führer der chalkidischen besiedler Siciliens, die elegie er-
funden haben soll, ist eine merkwürdige für mich nicht deutbare notiz: aber sein
wahnsinn ist denn doch nur ein hebel für die etymologie. nun kann man allenfalls
ἔλεγος, den wilden klagegesang, von λεγός ableiten: aber dann sitzen wir wieder vor
dem alten rätsel: wie vermittelt sich die bedeutung der elegie mit dem klage-
gesang. Didymos freilich (Et. M. ἐλεγεῖα und vollständiger schol. Dionys. Thr. 750 Bek.)
oder vielmehr seine vorgänger, wol sicherlich alte peripatetiker, griffen das auf und
giengen von den elegischen ἐπικήδεια aus. deshalb war Archilochos der erfinder:
denn man bedenke, daſs dessen elegie auf Perikles tod diese ganze lehre bestimmt
hat, als die berühmteste elegie des berühmtesten dichters. nur ist das für uns nicht
beweiskräftig mehr. besser ist freilich die ableitung ἔλεγος von λεγός als die nur
kindlicher grammatik genügende von ἔλεγε, die gar zu dem urkolon geführt hat ἒ ἒ
λέγ̕ ἒ ἒ λέγε. eine hypostase ἔλεγος von ἒ λέγε ist an sich möglich: ist doch οὖλος
als liedname aus dem imperativ οὖλε salve geworden. aber wie hätte man in λέγε
den imperativ je vergessen sollen? wer von ἔ ausgeht, der mag den zweiten teil
für so irrelevant halten wie den von ἰήλεμος, αἴ-λινος vgl. zu v. 378. ἔλεγος aus
dem armenischen zu holen ist so viel wert wie αἴλινος aus dem phoenikischen. das
kolon ἐλεγεῖον kann im ἔλεγος vorgekommen und daher benannt sein: nur weiſs
niemand, ob dem so ist. also verzichten wir auf die etymologie und die praehisto-
rische elegie: sein wir froh, die historische verstehen zu können.
20).
Dionysios arch. VII 72 p. 1491. Philostrat. vit. Apoll. IV 2, 21. die νέοι
Δώνυσοοι, Antonius (Plut. Ant. 24), von den Ptolemäern nicht bloſs der, der den
beinamen annahm, sondern schon Φιλοπάτωρ, am letzten ende Alexander selbst haben
diese orgien erzeugt: aber dadurch, daſs ein Dionysos leibhaft wieder auf erden
weilend gedacht ward.
21).
Was die modernen unbewuſst oder bewuſst beherrscht, ist schlieſslich doch
nichts als die analogie der christlichen weihnachts- und passionsspiele. sie können
sich nicht daran gewöhnen, daſs es eine religion ohne heilige geschichte und ein
heiliges buch geben kann. die consequenz, daſs Dionysos dann wirklich auf erden
gewandelt sein müſste, sehen sie nicht ein: oder wird sie vielleicht jemand ziehen?
19).
sie tragen keine spur des archaischen an sich und können somit für den gebrauch
der alten zeit nicht zeugen. überhaupt sind die s. g. griechischen volkslieder nicht
altertümlicher als die zeit, welche sie aufzeichnet, was meist durch die peripatetiker
geschehen ist. nur die attischen skolien und einzelnes was früh durch einen be-
rühmtem dichternamen geschützt ward, reicht in das 5. und 6. jahrhundert. wenn
rituelle lieder der kaiserzeit auftreten, sind sie in sprache und versmaſs auch jung.
22).
Ob Eratosthenes diese etymologie von τρύξ befolgt hat, die in den ein-
leitungem und scholien zu Aristophanes häufig ist, oder die von τρύγη, weinlese
(Athen. II 40), kann zweifelhaft scheinen. allein τρύγη für τρυγητός ist kein alt-
bezeugtes wort und daſs die tradition in der komikererklärung auf den meister zu-
rückgeht, vorwiegend wahrscheinlich. übrigens ist das wort zwar von τρύξ wirk-
lich abzuleiten, aber es ist nicht verständlich. wer es erklären will, muſs auch die
‘hefeteuffel’ τρυγοδαίμονες Ar. Wolk. 296 erklären. die reconstruction der Erigone
hat Maaſs Philol. Unters. VI Herm. 18 geliefert; so weit sie hier in betracht kommt,
ist sie sicher. eine bearbeitung von Eratosthenes περὶ κωμῳδίας ist dringend nötig.
23).
Ich kann berichtigend hier noch das attische vasenbild nachtragen, welches
Dümmler Rh. M. 45, 355 veröffentlicht: Dionysos zwischen zwei satyrn auf einem
schiffe auf rädern. es ist eine wichtige überraschung: der Thespiskarren oder eigent-
lich der des Ikarios, ist eine fiction, entnommen dem currus navalis des faschings, der
somit ein ableger der Dionysien ist. für die Dionysosreligion ist das überaus wichtig;
ich habe keinen raum mehr, das in verbindung mit dem Διόνυσος πελάγιος (Maaſs
Herm. 22) und dem homerischen hymnus zu erläutern. aber für das drama lehrt
es nichts. doch verfehle ich nicht hervorzuheben, daſs Dümmler die probleme richtig
erfaſst hat, welche unten gelöst sind.
24).
Vgl. Robert Eratosth. 7. Graf de aureae aetatis fabulis Leipzig 1883.
Schmekel de Ovid. Pythag. Greiſswald 1883. an Papirius Fabianus als quelle Ovids
kann ich freilich nicht glauben.
25).
δῖϑύραμβος formell wie διπόλια Δισωτήριον Δικέτας (d. h. Διιικέτας); der
metaplastische accusativ διϑύραμβα Pind. fgm. 86 lehrt nichts; der bedeutung nach
wie Διὸς ἐγκέφαλος, Διὸς βάλανος. iuglans. triumpe im Arvallied kann man nicht
leicht als entlehnt ansehen. eher dürfte es interjection sein, wie τήνελλα, und das
ursprüngliche enthalten. aus ihr mag sich der name entwickelt haben, wie eine
Οὖπις aus den οὔπιγγες auf Delos, Οἰτόλινος u. a. vgl. zu der zweiten gesang-
nummer die einleitung.
26).
Philochoros bei Athen. XIV 628 οἱ παλαιοὶ οὐκ ἀεὶ διϑυραμβοῦσιν ἀλλ̕
ὅταν σπένδωσιν (beim symposion), τὸν Διόνυσον ἐν οἴνῳ καὶ μέϑῃ, τὸν δ̕ Ἀπόλ-
λωνα μεϑ̕ ἡσυχίας καὶ τάξεως μέλποντες. Ἀρχίλοχος γοῦν φησί (77) ‘ὡς Διω-
νύσου ἄνακτος καλὸν ἐξάρξαι μέλος οἶδα διϑύραμβον, οἴνῳ συγκεραυνωϑεὶς φρένας.’
καὶ Ἐπίχαρμος δ̕ ἐν Φιλοκτήτῃ ἔφη ‘οὐκ ἔστι διϑύραμβος ὅκχ’ ὕδωρ πίῃς. also
auch in Syrakus ist es noch ein einzellied. es wird dahin aus dem sicilischen Naxos
importirt sein, welches den satyr auf den münzen führt. der zusammenhang, in
dem Philochoros auf diese dinge zu sprechen kam, ergibt sich durch die vergleichung
mit Phanodemos Ath. XI 465: es sind die alten cerimonien der attischen Lenäen.
27).
Das sagt Pindar (fgm. 71) einmal geradezu, und die concurrenten, Theben
und Korinth, fallen von selbst weg. Paros, die heimat des Archilochos, das sicilische
Naxos, Methymna, weisen alle in dieselbe richtung: der gott des dithyrambos, der
nesiotische Dionysos, ist der πελάγιος. dies wird durch Dümmlers vase bestätigt.
28).
Dies letztere haben die steine gelehrt. die tausendschaften, in welche die
bürgerschaft Methymnas zerfiel, hieſsen, so weit wir bisher wissen, Πρωτεῖς, Φωκεῖς,
Ἐρυϑραῖοι, Σκύριοι.
29).
Herodot I 23 Ἀρίονα — διϑύραμβον πρῶτον ἀνϑρώπων τῶν ἡμεῖς ἴδμεν
ποιήσαντα καὶ οὐνομάσαντα καὶ διδάξαντα ἐν Κορίνϑῳ. Pindar Ol. 13, 18 ταὶ
Διωνύσου πόϑεν ἐξέφανεν σὺν βοηλάτᾳ Χάριτες διϑυράμβῳ· d. h. die reize der
dionysischen poesie traten zu Korinth in verbindung mit dem dithyrambos auf; der
ausdruck ist aber in pindarischer weise persönlich gewandt. Dithyrambos als person
ist in attischer weise leicht zu denken, vgl. die vase Welcker A. D. III 125: er ist
silen, so gut wie öfter τραγῳδία eine mänade. aber was Pindar sich gedacht hat,
kann niemand sagen, weil der ‘stiertreiber’ unbekannt ist. die scholien fabeln von
einem stier als siegerpreis: aber der Dorer kennt keine solchen agone. Simonides
scheint in demselben sinne βουφόνος gesagt zu haben (Chamaileon bei Athen. X 456c);
aber auch das bleibt dunkel. der irrtum, Lasos zum erfinder des dithyrambos zu
machen, ist schon im altertum zurückgewiesen, schol. Ar. Vög. 1403. vermutlich
glaubte Euphronios, der ihn begieng, gedichte von Lasos zu besitzen, die dann frei-
lich die ältesten erhaltenen gewesen wären.
30).
Von gedichten des Arion weiſs kein grammatiker. das bei Aelian erhal-
tene gedicht ist in den ausgearteten daktyloepitriten verfaſst, welche für den dithy-
rambos des 4. jahrhunderts charakteristisch sind, und diesem steht die ethopoeie
auch ohne fälscherabsicht wol an. von Lasos glaubten Klearch und Herakleides noch
etwas zu haben (Athen. X 455 XIV 624), aber Aristophanes von Byzanz (bei Ael.
H. A. VII 47) citirt ihn mit dem ausdruck des zweifels; dann ist er verschollen.
Xenokritos von Lokroi blieb im gedächtnis der musikgeschichte, aber nicht einmal
seine zeit stand fest, und wenn man ihm dithyramben zuschrieb, weil seine gedichte
heroischen inhalt gehabt hätten (s. Plutarch de musica 10, unsicherer herkunft), so
hat da der späte dithyramb verwirrung gestiftet. Kleomenes von Rhegion (Ath. IX
402b) sieht vollends nach fälschung aus, dürfte zudem derselbe sein mit einem rhap-
soden Kleomenes aus dem 5. jahrhundert (Diog. Laert. VIII 63). selbst von Simonides,
der doch wenigstens in Keos und Athen dithyramben aufgeführt hat, ist kein sicher
auf sie bezüglicher rest erhalten. was bei Strabon 728 steht ταφῆναι δὲ λέγεται
Μέμνων περὶ Πάλτον τᾶς Συρίας παρὰ Βαδᾶν ποταμόν, ώς εἴρηκε Σιμωνίδης
ἐν Μέμνονι διϑυράμβῳ τῶν Δηλιακῶν ist nicht nur unverständlich, sondern un-
heilbar verdorben. weder konnte Simonides das berichten, noch ist in dem schluſs-
worte überhaupt ein sinn: also auch auf den heroischen titel des dithyrambos kein
verlaſs.
31).
Man hat auf grund der mundart vermutet, daſs auch Chios ursprünglich
aeolisch gewesen wäre. aber dafür liegt weder in der geschichte noch in der sage ein
anhalt vor. und der schluſs aus der sprache beruht auf einer verkennung des ge-
schichtlichen vorganges. die neuen stämme waren ja niemals vorher da gewesen,
sowol Aeoler wie Ionier bilden sich erst allmählich unter dem drucke besonderer
geschichtlicher factoren. zunächst war das mischungsverhältnis der bevölkerung aller-
orten verschieden, die geschichtlichen factoren waren verschieden und so ergaben sich
zunächst ganz verschiedene volks- und sprachtypen. eine sprachgrenze von aeolisch
und ionisch gab es also auch noch nicht; diese ward erst gezogen, als der zusammen-
schluſs der staatenbünde bestimmte kreise zog. gewiſs haben in Lesbos und Chios
mehr verwandte familien sich angesiedelt als in Lesbos und Milet, und hat auch in
Lesbos nicht nur eine unter sich verwandte bevölkerung gesessen: das spürt man
dann in den mundarten. die Chier würden unter der herrschaft der Mytilenaeer
oder in staatlicher gemeinschaft mit ihnen Aeoler haben werden können: in der
panionischen gemeinschaft sind sie Ionier geworden. aber hier liegt kein gewaltact
vor, sondern ein stilles organisches wachstum.
32).
Wir kommen über das dilemma nicht hinweg, das Apollodor (Strab. 362)
richtig formulirt. wenn Tyrtaios ein Athener war, so kann er die Ennomia nicht ge-
dichtet haben, und wenn er die gedichtet hat, so war er ein Lakone. denn der
ausweg, ihm das bürgerrecht erteilen zu lassen, zu dem schon Platon greift (Ges. 629a),
reicht gegenüber dem stolze auf die herkunft aus der dorischen tetrapolis nicht hin.
und der dichter der Eunomia ist heerführer wider die Messenier gewesen: das stand
in den elegien. nicht leicht wird man das einem fremden zutrauen. hier haben
wir also sicher eine bedeutende persönlichkeit: aber dieser alle die ganz allgemein
gehaltenen mahnungen zur tapferkeit zuzuschreiben, ist eine vertrauensseligkeit, vor
der die namen Homer Hesiod Orpheus Theognis und selbst Sappho und Anakreon
warnen sollten. auf den berühmten namen gieng die lakonische elegie wie sie war.
die tradition, daſs Tyrtaios ein Athener war, ist älter als die bekannte ausgeschmückte
fabel von dem lahmen schulmeister, eine parodie des kimonischen hilfszuges, wie
man jetzt ja wol zugesteht. daneben erscheint Milet als heimat (Suid. s. v.),
was sich gar nicht discutiren läſst, da der gewährsmann unbekannt ist. der name
klingt nicht attisch, gehört doch wol zu Τύρταμος; allein in vereinzelten wörtern
hat sich auch in Athen t vor u gehalten: Τυρμεῖδαι ist ein demos, war zweifellos
ein geschlecht, und neben συρβηνέων χορός steht τύρβη und τυρβάζειν. so bleiben
die probabilitäten in der schwebe.
33).
Ein weib, das trinklieder dichtet, ist man berechtigt als eine solche zu
betrachten.
34).
Die gute grammatikertradition hat die gedichte verworfen, welche auf Ter-
pandros namen giengen, Strab. XIII 618. und wenn wir τετράγηρυν mit kurzer erster
sylbe und ἔργων mit vocalischem anlaute finden, so sieht das wenig nach dem siebenten
jahrhundert aus, bei einem Aeoler in Sparta zumal. daſs in der musikalischen praxis
sich lieder fanden, die man ihm zuschrieb, ist sehr begreiflich: sehen wir doch daſs
die neuern geschäftig sind ihm adespota zuzuweisen, und nicht einmal daran an-
stoſsen, wenn Zeus als die ἀρχή des alls bezeichnet wird, und der dichter ihm seiner-
seits deshalb die ἀρχὴ ὕμνων sendet. als ob dies weltprincip und dieser wortwitz
überhaupt in der archaischen zeit zu denken wäre.
35).
Aristoteles bei Plut. amator. 7
— — ⏖ — ⏖ — ⏑ ⏐ — ⏖ — ⏖ — —

— ⏑ — — ⏐ — ⏖ — ⏖ — —

— ⏑ — — ⏐ — ⏖ — ⏖ — ⏑ ⏐ — ⏖ — ⏖ — — ⏐ — ⏖ —

Bergk (carm. pop. 44) hat das richtige gesehen, wenn auch nicht festgehalten.
36).
Das aeolische grundelement ist zurückgetreten, der einfluſs der epischen
sprache wiegt stark vor. das dorische element hat mit groſser feinhörigkeit alles
abzustreifen gewuſst, was nicht aller orten galt; specifisch Lakonisches, Korinthisches,
Boeotisches ist gänzlich ausgetilgt. es ist verkehrt dies grundelement landschaftlich
benennen zu wollen. daſs sich der geborne Boeoter etwas anders benimmt als der
geborne Chalkidier ist natürlich: das geschieht unwillkürlich. diese differenzen
innerhalb der gleichen sprache finden sich nicht bloſs im epos ähnlich: sie gibt es
auch in der prosa, gibt es zu allen zeiten. Lessing Goethe Schiller schreiben die-
selbe sprache, schreiben deutsch; aber den Lausitzer Franken Schwaben verleugnen
sie nicht. nicht stärker ist die differenz zwischen Hesiod und asiatischen epikern,
Mimnermos Solon Tyrtaios Theognis, Stesichoros Pindaros Simonides. und genau
36).
wie diese haben die ältesten attischen tragiker ihre chöre gedichtet: erst die weitere
rein attische entwickelung hat die sprache der chöre immer mehr attisch gemacht,
aber niemals die fremde herkunft derselben ganz verwischt. genau wie in den tragi-
schen ist es in den lyrischen liedern der Athener, den dithyramben, gegangen.
37).
Pratinas von Phleius im hyporchem τὰν ἐμὰν Δώριον χορείαν: er ist
der einzige Dorer, aber er ist in Athen zugewandert, wo auch sein sohn bleibt.
die musiker sind oft Argeier.
38).
Von dem was die modernen hyporchema nennen und z. b. in den tragikern
so bezeichnen, ist nichts weder überliefert noch an sich berechtigt. die moderne
metrische kabbala ist ganz unerträglich, aber auch das altertum hat unleidlich viel
mit worten gekramt, die freilich sehr bequem sind das mangelnde verständnis zu
verhüllen.
39).
Wer aus den institutionen, wie sie bestanden und uns in der praxis be-
merklich sind, den schluſs auf das recht, den leitenden gedanken, machen kann,
der braucht hierfür kein zeugnis. es fehlt aber nicht. der aristokrat, der die πο-
λιτεία Ἀϑηναίων geschrieben hat, empfand das charakteristische der festordnung
sehr wol, wenn er sie auch gehässig darstellte. er sagt 1, 13 τοὺς δὲ γυμναζομέ-
νους αὐτόϑι καὶ τοὺς μουσικὴν ἐπιτηδεύοντας καταλέλυκεν ὁ δῆμος, νομίζων τοῦτο
οὐ καλὸν εἶναι γνοὺς ὅτι [οὐ] δυνατὰ ταῦτ̕ ἐστὶν ἐπιτηδεύειν ἐν ταῖς χορηγίαις·
αὐ⟨τοὶ γὰρ σφίσιν αὐτοῖς ἀγαϑὸν ἐνεῖναι ἐν ταῖς χορηγίαις⟩ καὶ γυμνασιαρχίαις
καὶ τριηραρχίαις γιγνὠσκουσιν, ὃτι χορηγοῦσι μἐν οἱ πλούσιοι, χορηγεῖται δὲ ό
δῆμος, ⟨καὶ τριηραρχοῦσι μὲν⟩ καὶ γυμνασιαρχοῦσιν οἱ πλούσιοι, ὁ δὲ δῆμος τριη-
ραρχεῖται καὶ γυμνασιαρχεῖται· ἀξιοῖ γοῦν ἀργύριον λαμβάνειν ὁ δῆμος καὶ ᾄδων
καὶ τρέχων καὶ ὀρχούμενος καὶ πλέων ἐν ταῖς ναυσίν, ἵνα αὐτός τε ἔχῃ καὶ οἱ
πλούσιοι πενέστεροι γίγνωνται. die erste lücke habe ich angesetzt und ausgefüllt,
auch οὐ gestrichen. die sehr gewaltsame gewöhnliche behandlung verfehlt den sinn:
sie läſst den demos, der die dramen spielt, sich eingestehn, daſs er nichts von
musik verstünde, und macht γιγνώσκουσι völlig unverständlich. der demos hält die
gilde für verwerflich, weil er erkennt, daſs sich dasselbe in der form der choregie
erreichen läſst, die ihm doch um des profites willen so sehr am herzen liegt. vgl.
Hermes 20, 67; dem gleichzeitig geäuſserten bedenken Büchelers Rh. M. 40, 312 wird
so genüge geleistet. die opposition der gilden, von welcher das erhaltene hypor-
chem des Pratinas ein so beredtes zeugnis ablegt, war damals schon gänzlich ver-
stummt. die choregie hatte die probe längst glänzend bestanden; in der ersten zeit
wird freilich das selbstgefühl der geschulten sänger berechtigt gewesen sein.
40).
Der Herakles selbst gibt für die wichtigkeit der sache hinreichende belege,
die ihres ortes genauer erläutert sind.
41).
Aristoteles braucht διϑύραμβος mit seinen ableitungen in der erweiterten
bedeutung, welcher alle lyrische chorpoesie umfaſst, häufig. im eingange der poetik
42).
Im dritten jahrhundert fällt in der tat, wie die inschriften namentlich der
ionischen techniten lehren, dithyrambos komödie tragödie derselben gilde zu, und
auch dieselben leute treten in verschiedenen gattungen auf. doch war dies schon
im 4. jahrhundert wenigstens für komödie und tragödie regel, Aristot. polit. Γ 3. es
ist bedauerlich, daſs wir nicht angeben können, wann statt aushebung aus der phyle
anwerbung durch den choregen getreten ist, mit andern worten, wann statt der
analogie des landdienstes die der flotte für die tragischen chöre begonnen hat. die
grammatiker wuſsten nur das allgemeine wie wir: schol. Hom. N 637 ἕως τινὸς
ὠρχοῦντο οἱ εὐγενεῖς νέοι ἐν ταῖς τραγῳδίαις.
41).
gesellt er ihm die νόμοι zu, nennt aber als dichter für beides Timotheos und Phi-
loxenos. in den problemen (XIX 15) sagt er, die νόμοι allein wären nicht antistro-
phisch: wodurch sie die alten dithyramben und z. b. auch das Δεῖπνον des Philoxenos
umfassen. nun ist νόμος ‘weise’ ein ganz indifferentes wort, und man mag sich
denken, daſs man den weisen, die unter keine bestimmte art fielen, den namen der
gattung gelassen hat. indessen ist das ersichtlich nicht consequent geschehen und
für uns überhaupt keine unterscheidung möglich. da der charakter der poesie auf
jeden fall identisch ist, kommt auch nichts darauf an.
43).
σάτυρος und τίτυρος sind gleiche hypokoristische bildungen, aber der
stamm muſs verschieden sein, da beide wörter dorisch sind. auch werden sie in
der besten behandlung der frage, durch Apollodor am schluſs von Strab. X, ge-
sondert. σάτυρος kann natürlich weder mit σαίνω noch mit σαίρω noch mit satur
etwas zu tun haben; es wäre zu wünschen, daſs es bock bedeutet hätte. von τίτυρος
wird das behauptet, und hat es wol Theokrit geglaubt, als er einen ziegenhirten
so nannte. doch wird auch das nur metaphorisch sein. denn die τίτυροι dürften
sich nur in der ableitungssylbe von den τιτᾶνες unterscheiden, und auch diese gelten
wie die Ἄγριοι für obscoene daemonen, sind auch vorwiegend peloponnesisch. da
man nun Τιτυός, den erdensohn der der Leto gewalt antut, und den riesen Τίτακος
von ihnen nicht wird sondern wollen, so dürfte die urbedeutung die sein, welche
Bücheler (Wölfflins Archiv II 119. 508) in Titus aufgezeigt hat: es sind alles ὀρϑάνναι.
44).
Furtwängler in den Annali dell’ Instituto 1877 und im Berliner Winkel-
mannsprogramm 1880 ‘satyr aus Pergamon’.
45).
Mitteilungen des arch. Inst. Athen. XI 78.
46).
Im Kyklops 80 klagt der chor, daſs er bei dem scheusal ausharren muſs
σὺν τᾷδε τράγου χλαίνᾳ μελέᾳ: so wenig war dem dichter die bedeutung der con-
ventionellen tracht gegenwärtig, daſs er sie als etwas besonderes motivirte. auf
der bühne ist der alte satyr der vater der andern, und er kann nicht aus dem chor-
führer hervorgegangen sein, denn ein chorführer ist ja neben ihm vorhanden. er
heiſst Σατύρων ὁ γεραίτατος 100, wird meist nur γέρων genannt, Σιληνέ aber auch
47).
In der im kerne hochaltertümlichen argolischen sage, die ursprünglich dem
eponymen Argos, nicht dem πανὀπτης gehörte, Apollod. 2, 1, 2, erschlägt Argos den
arkadischen stier, die Echidna und den Satyros, der die herden der Arkader raubte:
das ist erfunden, ehe Argos dorisch war, wenn auch in nachbildung des dorischen
Herakles. stier und hydra, tochter Echidnas, sind deutlich: Σάτυρος entspricht den
Kentauren.
46).
einmal angeredet 539, gleich als ob das sein eigenname wäre. sein aussehen lehrt
die Neapler vase mit dem siegesfest eines satyrchors. er hat noch nichts von der
späteren schweinenatur des papposilens.
48).
Strab. X 471 Ἡσίοδος μὲν γὰρ Ἑκατέρῳ καὶ τῇ Φορωνέως ϑυγατρὶ πέντε
γενἐσϑαι ϑυγατέρας φησὶν ἐξ ὧν ὄρειαι νὐμφαι ϑεαὶ ἐγἐνοντο καὶ γένος οὐτι-
δανῶν Σατύρων καὶ ἀμηχανοεργῶν Κουρῆτές τε ϑεοὶ φιλοπαίγμονες ὀρχηστῆρες.
so überliefert (über B vgl. Roellig de codd. Strab. Halle 1886 p. 333). nur ist
bei dem trostlosen zustande dieser Strabonbücher weder der name des vaters noch
die namenlosigkeit der mutter zu glauben oder zu beseitigen. die stelle der verse
in Hesiods werken ist ganz unsicher, auch der erste vers nicht ohne weiteres als
(ἐξ ὧν) οὔρειαι ν. ϑ. ἐξεγ. zu acceptiren. leider führt Strabon danach nur für die
Kureten das zeugnis der Phoronis an. die hesiodeische tradition steht ganz vereinzelt,
gehört aber in die sehr wichtige, leider sehr früh verblaſste argolische theo- und an-
thropogonie, die mit Phoroneus und Zeus-Niobe anfängt. sie ist mit Deukalion
Hellen (also den Katalogen) kaum vereinbar. jene ist asiatischer herkunft, diese
echt peloponnesisch.
49).
Z. b. auf dem steine Dittenberger syll. 134 und auf anderen.
50).
In Erythrai gab es mehrere collegien von Korybantiasten, Dittenberger syll. 120.
51).
Suid. s. v. Ἀρίων. was die modernen von tragischen dithyramben, lyri-
scher tragödie und komödie zusammengefabelt haben, die späten grammatiker von
tragödien Pindars und anderer lyriker erzählen, ist ein gebräu von unkritik und con-
fusion. die sache ist längst abgetan und jedes wort darum verloren. wer so etwas
glaubt, den soll man nicht stören.
52).
Hephaestion citirt 22 einen hexameter aus einem dithyrambos Ἀχιλλεύς von
der Sikyonierin Praxilla. und die dortigen τραγικοὶ χοροί galten dem Adrastos.
leider bleibt das ganz unklar, zumal der älteste attische dithyrambos auch unkennt-
lich ist. aber hier ist das mittelglied zwischen dem pindarischen und philoxenischen
dithyrambos verborgen.
53).
Von Euripides ist keine andere tragödie erweislich an stelle des satyrspiels
gegeben; wahrscheinlich ist es von der Auge. aber von Sophokles ist ein beispiel
ganz sicher, der Inachos, wol aus dem ende des archidamischen krieges, denn seitdem
ist es eines seiner populärsten stücke. es gilt für ein satyrdrama, aber es ist un-
erlaubt, in fast 30 anführungen, wo diese bezeichnung fehlt, zufall anzunehmen.
und es ist arg, die anapäste 249. 50 einem satyrchor zu geben. andererseits ist die
anmutige fabel wahrlich keine tragödie. die hypothesis war folgende. in Argos
herrschte könig Inachos, der gott des flusses, dessen gewässer vom fernen Pindos
stammen, und so weit reichte denn auch des königs herrschaft (auch die des Pelasgos
in den Hiketiden). er hatte eine schöne tochter Io, in die sich Zeus verliebte. sein
diener Hermes erschien in Argos, und unterhielt könig und volk, während der herr
mit Io koste; Plutos selbst sollte eingezogen sein. das wasser des Inachos schwoll,
befruchtete die ebene, sie trug hundertfältige frucht, alle scheuern füllten sich, jedes
haus bot jedem gedeckten tisch. es war eitel herrlichkeit wie im schlaraffenland.
aber die eigentliche landesherrin Hera ward mit zorn der bösen dinge inne, die ihr
gatte trieb; sie sandte ihre dienerin Iris, die die eindringlinge vertrieb, und es kam
54).
Die Amymone der Danais und der Lykurgos der Lykurgie mögen die ge-
schichte fortgeführt haben. die Sphinx der Thebais aber hätte zeitlich zwischen
Laios und Oidipus gehört, der Proteus der Orestie zwischen Choephoren und Eume-
niden. auf ihn deutet im eingangsstück nicht bloſs die lediglich dadurch motivirte
frage nach Menelaos (Ag. 617), sondern auch die erwähnung des Odysseus (841):
denn der inhalt des Proteus war ja dem δ entnommen. die verbindung mit der
Orestie ist also eine äuſserliche. in der Persertetralogie steht Prometheus so selb-
ständig wie die drei tragödien.
53).
eine schlimme zeit. die belebenden gewässer blieben aus; die felder verdorrten, Inachos
selbst ward fast zu einer trocknen mumie, spinneweben füllten die leeren scheuern.
lo ward zur kuh und ein schauerlicher wächter saſs neben ihr und blies die schalmei,
während die menschen mit wehmütigen gesängen die gute alte zeit feierten. — so
weit die reste, die man nachlese. daſs ein glückliches ende kam, indem Argos durch
Hermes erschlagen ward und Hera sich versöhnte, ist selbstverständlich. τὰ τοῦ δρά-
ματος πρόσωπα: χορὸς Ἀργείων, Ἴναχος Ἰώ Ἄργος Ἑρμῆς Ἶρις. die beiden himm-
lischen diener ersetzen die herren, die zu vornehm für solch ein spiel sind. die
diener waren beide auf der bühne, schol. Ar. Vög. 1203 = fgm. 251 ὁ Ἑρμῆς ἄγγελος
ὢν (d. h. τῆς Διὸς ὡς Πλούτου ἐπεισόδου) παρὰ Σ. ἐν Ἰ. ἐπὶ τῆς Ἴριδος (so Rav.
nach Martin) “γυνὴ τίς ἥδε· κυκλὰς Ἀρκάδος κυνῆς;”. denn so hat Toup richtig
verbessert ἥ δε συληνᾶς Α. κυνῆ B. V.), wie für κυνῆς andere citate, für den sinn
die aristophanische copie zeigt. merkwürdig ist, wie unter den liebenswürdigen
scherzen sich die symbolik der das δίψιονἌργος angehenden fabel nicht verloren hat.
55).
Dahin gehört die notiz bei Suidas s. v. Σοφοκλῆς, καὶ αὐτὸς ἦρξε τοῦ δρᾶμα
πρὸς δρᾶμα ἀγωνίζεσϑαι ἀλλὰ μὴ τετραλογίαν. ob es richtig ist, daſs Sophokles
so die sitte des vierten jahrhunderts (für die παλαιὰ τραγῳδία) anticipirt hat, können
wir nicht wissen. was die notiz will ist klar, so oft sie auch misdeutet ist. der jüngste
versuch (Comment. Ribb. 205) würde unterblieben sein, wenn bedacht wäre, daſs
Euripides, Philokles, Meletos inhaltlich zusammenhängende tetralogieen gedichtet
haben. es hat viel geschadet, daſs man eine solche vereinzelte angabe und die der
dichterwillkür nicht dem gesetze angehörige tetralogische einheit als grundsteine für
die geschichte der ältesten tragödie benutzt hat.
56).
Man wird das auch im altertum gewuſst haben; es ist aber nur eine ganz
verwirrte reminiscenz davon bei Pollux IV 110 geblieben.
57).
Der bericht des Herodot (VI 21) erhält erst sinn, wenn man dessen psy-
chologische motivirung der strafe ἀναμνήσας οἰκῇα κακά fallen läſst und die sache
rechtlich faſst. nach dem feste, am 21. elaphebolion (wenigstens später ist der tag
fest), wird in dem heiligen bezirk sitzung des volkes gehalten, zunächst über die
sachen des gottes, dann über die laufenden geschäfte. die verstöſse gegen die fest-
ordnung kann das volk an den rat zur aburteilung weiter geben, wie es mit Aristo-
phanes wegen der Babylonier geschah, es kann aber selbst darüber erkennen, ob
ein verstoſs vorliegt, worauf die im gesetze vorgesehene εὔϑυνα fällig wird. so
war es hier; die 1000 dr. die Phrynichos bezahlte, waren in einem paragraphen
des νόμος vorgesehen, ὃς δ̕ ἂν δοκῇ ἀδικῆσαι τὸν ϑεόν oder auch τὸν δῆμον, εὐϑυ-
νόσϑω χιλίασι δραχμῇσι. es ist kein richterlicher act, wie denn der beschluſs μηδένα
χρῆσϑαι τῷ δράματι eine verwaltungsbestimmung ist, es ist eine art ἐπιβολή, welche
nur so hoch sein kann, weil sie der souverän selbst auferlegt. es ist auch kein be-
schluſs, denn es ist kein probuleuma da. es ist ein act des souveränen willens,
der aber dem volke durch specialgesetz für diesen fall zugesichert und umgrenzt
ist. daſs man in späterer zeit die sache an den rat überwies, ist begreiflich, da
die formen dann die gewöhnlichen waren. aber formell ist an dem ältesten todes-
urteil über ein litterarisches werk nichts auszusetzen, und der fall hat seine hohe
staatsrechtliche bedeutung. das praecedens war schlimm; aber im grunde haben die
überzeugungsstarken demokraten recht getan: die sentimentale beeinflussung der
volksstimmung durch die selbstgesetzten vorsprecher der öffentlichen meinung war
wirklich eine gefahr. nur läſst sie sich mit der censur nicht beschwören, wie Athen
bald zu lernen gelegenheit gehabt hat.
58).
Schol. Verg. Aen. VI 694. offenbar stammt das citat des verschollenen
dichters aus der hypothesis der euripideischen Alkestis; jetzt steht zu v. 1 nur noch
die δημώδης ἱστορία, d. h. die hesiodische.
59).
Athen. VIII 347 [...]. das apophthegma ist von Athenaeus in seine proso-
popoeie eingeflickt; diese ist albern, entscheidet aber gar nichts. die herkunft und
darum auch die echtheit ist nicht zu bestimmen: nur daſs es gut ist, kann man
sagen. daſs die Perser oder die Αῖτναι kein τέμαχος vom homerischen male sind,
ist so trivial, daſs man sich scheut zu erinnern, daſs die ausnahme eine regel nicht
entkräftet. es soll doch der versuch nicht mislungen sein, die tragödien nach dem
epischen cyclus zu ordnen, eben weil die überwiegende mehrzahl aus ihm stammt.
wenn jemand aber einwendet, daſs dann ja jeder tragiker wol oder übel aus Homer
schöpfen muſste, so ist das verzweifelt naiv: darin liegt ja gerade das charakte-
ristische, daſs durch Aischylos die tragödie homerischen inhalt empfängt. und die-
selben leute erklären dann selbst, daſs Aischylos nur aussage, seine wie jede andere
poesie wäre eigentlich nur ein teil der bewirtung, deren ‘urheber’ Homer ist, d. h.
der verfasser von Ilias und Odyssee, weil ohne diesen die griechische poesie nicht
entstanden wäre. ‘urheber einer bewirtung’, was ist das? Homer hat gekocht,
was Aischylos vorsetzt: wenn das nicht auf das stoffliche geht, d. h. auf das was
wirklich Homer und Aischylos gemein haben, worauf denn?
60).
Die moderne poetik bringt es freilich dazu die poesie für ‘somtagsstaat
neben der alltagskleidung’ zu erklären; für die sphäre, in der sie evangelum (oder
thora) ist, paſst vielleicht besser, sonntagsbeilage zum wochenblättchen. aber Homer
und Platon, Herder und Goethe waren keine bildungsphilister und haben nicht für
bildungsphilister gearbeitet. und der liebe gott hat auch nicht bloſs sonntags von
9 bis 11 sprechstunde.
61).
Die sprüchwörter mit epilog (Haupt op. II 395 Crusius Anal. in paroemiogr. 73)
sind bereits verkrüppelte erzählungen, und sie sind doch noch vollständiger als die
nakte sentenz. es kann freilich das sprüchwort auch nur ein bild sein, ‘κακοῦ κόρακος
κακὸν ᾠόν’. ‘der apfel fällt nicht weit vom stamm’: dann liegt darin das was das
homerische gleichnis gibt (ὡς οὐκ ἔστι λέουσι καὶ ἀνδράσιν ὅρκια πιστά): und das
faſst doch auch ein sinnliches einzelbild. was man töricht den gnomischen aorist nennt,
ist in wahrheit das tempus der sage, welche das regelmäſsige als einzelnen fall auffaſst
und ausspricht. auch die gnome ist nur das residuum der erzählung des falles, in
dem sie gesprochen ist. ‘geld ist der mann’ sagte der arme Aristodemos in Sparta
(Alkaios 50. Pind. Isthm. 2). ‘denk’ an Admetos’ wort und liebe die braven leute’
(Praxilla 3). καὶ τόδε Φωκυλίδεω. auch an den sprüchen der sieben weisen ist der
urheber mit nichten irrelevant. was wäre τέλος ὅρα μακροῦ βίου ohne die novelle
von Kroisos? wenn der kanon der pflichten des ritters in den Χείρωνος ὑποϑῆκαι
so gegeben wird, daſs der gröſste held von seinem und vieler anderer meister unter-
wiesen wird, so nennen wir das eine einkleidung, und eine einkleidung nennen wir
es, daſs Platon Σωκρατικοὶ λόγοι dichtet. das trifft für uns zu: wir werden auf
der dürren heide der abstraction von dem bösen geiste herumgeführt. in wahrheit
ist das sagenhafte nicht kleid, sondern ist lebendiger leib; und die unverdorbene seele
hat denn auch die grüne weide nicht aufgehört zu suchen.
62).
Auch Nathan sagt ‘der wunder höchstes ist, daſs uns die wahren echten
wunder so alltäglich werden können, werden sollen’. Lessing erfaſst das nur durch
raisonnement, aber er erfaſst es doch. die wirklichen dichter geben die offenbarung
unmittelbar.
63).
Ein schlagendes beispiel sind die Διὸς γοναί, wie sie schon Hesiod erzählt.
das zum höchsten berufene kind, von einem tyrannen verfolgt, ausgesetzt, von den
tieren des waldes gepflegt, schlieſslich herrlich erwachsen und wunderbar zum siege
geführt: ein allbekanntes motiv der heroensage. das ist widersinnig für den himmels-
herrn, den die religion sich nur ewig denken kann, und für die religion hat es auch
nirgend etwas bedeutet, als in dem Kretischen winkel etwa, wo der Zeus der ge-
boren ward auch begraben lag. die besonderen verhältnisse dort fordern für sich
eine aufklärung, und die funde der Idäischen grotte zeigen wol, daſs die religion,
welche hinter dieser hellenischen sage sich verbirgt, keine hellenische war.
64).
Wenn man die einheit der handlung so misverstanden hat, daſs nur eine
verwickelung erlaubt sein sollte, und demgemäſs die Hekabe und den Herakles des
Euripides, Lear und Kaufmann von Venedig getadelt hat, so ist das geschehen, weil
man den Aristoteles nicht im urtext zu grunde legte. selbst der Götz genügt der
wirklich aristotelischen forderung, mag auch ein gewisses ἐπεισοδιῶδες als vor-
wurf mit recht haften bleiben. aber Heinrich IV. oder Faust genügen nicht.
65).
Karer bilden den chor, weil sie für die totenklagen geeignet sind. daſs
Sarpedon ihr fürst und nur nebenher der der Lykier ist, zeigt, daſs die ausbildung
der sage milesisch ist, wohin die verbindung des Sarpedon mit Kreta auch weist:
denn das hinterland von Milet ist karisch.
66).
Orestes hypoth. und aus dieser schol. 1691, Alkest. hypoth. diese führt in
einer handschrift (Laur. C) den autornamen Δικαιάρχου: das ist ganz unverständlich,
wenn man es nicht auf diese aesthetische kritik bezieht. ebendaher der wertvolle
litterar-historische traktat, der meist περὶ κωμῳδίας genannt wird, obwol er weiter
greift und vermutlich auf die chrestomathie des Proklos zurückgeht; jetzt zu lesen
in dem neudruck von Studemund Philol. 46, 13. die auszüge des Tzetzes hieraus
haben nun kein anrecht auf beachtung mehr.
67).
Hypothes. und schol. 922.
68).
Mitgewirkt hat zu dem modernen glauben an die schicksalstragödie die
vorliebe, welche Sophokles für orakel hat, eine manier, die noch viel tiefer in die
ökonomie des dramas eingreift als der maschinengott. der moderne kann in den
orakeln natürlich keine hinreichende motivirung der ereignisse und höchstens rohe
willkür des gottes sehen. Sophokles, auch hierin mit Herodot einer meinung, hat
aber ohne zweifel an orakel geglaubt und, auch wenn er sie erfand, durchaus wahr-
scheinlich zu erfinden gemeint. für den gläubigen sind das tatsachen, die er so gut
wie alle andern mit seiner weltanschaung in einklang bringen muſs und wird, wie
auch immer diese sonst beschaffen ist.
1).
Isokrates aegin. 5. ein seher hinterläſst einem freunde auſser einem legate
τὰς βίβλους τὰς περὶ μαντικῆς. das wiederholt sich dann bei den wanderpredigern
des christentums, 2 Timoth. 4, 13, Usener Weihnachtsfest 94. der Gelasimus des
plautinischen (menandrischen) Stichus will die bücher seiner kunst verkaufen und
präparirt sich dann daraus. der Saturio des Persa (392) hat einen kasten voll bücher
und will einem mädchen 600 echt attische witze daraus zur aussteuer geben.
2).
Aischylos war damals doch schon etwas mehr verblaſst. er wird von Aristo-
phanes Vög. 807, Thesm. 134, Lys. 188 mit nennung des namens citirt. auch be-
nutzen die Frösche einen verhältnismäſsig beschränkten kreis von dramen.
3).
Σιμωνίδου Ναυμαχία; das kann ein aus dem inhalte geschöpfter name
sein, kann aber auch für ein dankfest an die Artemis προσηῴα bestimmt gewesen
sein, und dann ist es nicht anders als Ἴβυκος ἐν τῇ εἰς Γοργίαν ᾠδῇ u. dgl. das
lob des Leonidas (4) ist ohne jeden grund und sehr verkehrt in dieses gedicht ge-
setzt. über dithyrambennamen oben s. 64, anm. 30 und 85 anm. 52.
4).
Vgl. z. b. Diels Herm. 22, 436. der anfang von Hekataios Herodot Thukydides
liegt ja vor. auch der des Herakleitos fordert vor τοῦ λόγου τοῦδε ein Ἡράκλειτος
Ἐφέσιος ὧδε λέγει. auch ein auffälliger anfang mit einer adversativpartikel wird
verständlich, z. b. Ions τριαγμοί. ⟨Ἴων Χῖος τάδε λέγει·⟩ ἀρχὴ δέ μοι τοῦ λόγου·
πάντα τρία. debatten über den namen des heraklitischen werkes, verwunderung
darüber, daſs die alten philosophen ihre bücher περὶ φύσεως genannt hätten, zweifel
daran, daſs dasselbe buch unter verschiedenen namen bei späteren citirt wird, fallen
so in nichts zusammen.
5).
Uns sind nur zwei παρεπιγραφαί erhalten (A. Eum. 117—29, E. Kykl. 485),
und schon den grammatikern fiel dieser unterschied der tragödie von der komödie
auf. die wichtige stelle steht in einem ζήτημα zu Eur. Or. 1384 Ἴλιον — ὥς σ̕
ὀλόμενον στένω ἁρμάτειον ἁρμάτειον μέλος βαρβάρῳ βοᾷ. da zerbrach man sich
über ἁρμάτειον unnütz den kopf. Ἀπολλόδωρος ὁ Κυρηναῖος παρεπιγραφὴν λέγει
(Kirchhoff: ἐπιγράφει λέγων codd.) τὸ ἁρμάτειον (Schwartz: ἁρμόδιον) [ὦ Ἴλιον].
εἰ δ̕ ἦν παρεπιγραφή, ἅπαξ ἂν [ἐπ]ἐγράφετο [τὸ Ἴλιον ἀπώλετο]. Apollodor
meint, die worte ἁρμάτειον ἁρμάτειον μέλος gehörten nicht dem sänger, sondern
5).
wären bühnenanweisung für das orchester. er wird aber schlagend damit widerlegt,
daſs dann ἁρμάτειον nicht verdoppelt sein könnte. die schreiber, die das nicht ver-
standen, haben die glossen eingeschwärzt. ὦ Ἴλιον erklärt σε, τὸ Ἴλιον ἀπώλετο
steht zu σ̕ ὀλόμενον. ein auszug des scholions lautet τινἐς τοῦτο παρεπιγραφὴν
εἶναι ὡς εἰς τἀ κωμικὰ δράματα, in der form byzantinisch, wie εἰς für ἐν zeigt,
dem inhalt nach gut, da auch so die erklärung jenes Apollodor unwahrscheinlich
gemacht wird. als unmöglich erschien eine tragische παρεπιγραφή offenbar auch
damals nicht. für die komischen hat Holzinger (Parep. bei Aristoph. Wien 1883) das
material nützlich vermehrt und namentlich gezeigt, daſs einzelne wirklich auf die
zeit des dichters zurückweisen. seine eigne erklärungsart ist freilich fast lächerlich,
und abgesehen von anderen misgriffen hat er die byzantinische verkehrtheit, die er
bei Tzetzes anerkennt, bei womöglich noch jüngeren scholien zu Arist. und Eurip.
in alte echte gelehrsamkeit umgedeutet.
6).
Vgl. zu allem Hom. Unt. II 3. die möglichkeit daſs Aischylos attisch ge-
schrieben hätte, ist nach den durch Köhler (Mitteil. X 359) erschlossenen tatsachen
nicht mehr vorhanden. ich war also nur zu zaghaft noch gewesen; um so mehr
können mir die leid tun, welche sich damit brüsten, daſs sie mir die leugnung
einer umschrift nicht glauben. nur das ist zuzugeben, daſs sehr alte ionische poesie
(z. b. Homer) aus altionischem in neuionisches alphabet umgeschrieben sein kann,
und allenfalls inselgriechische poesie aus ihrem alphabet in ionisches. aber was
dabei versehen werden konnte, erklärt in wahrheit gar nichts: nur wer erklärt, wie
ἀντιάουσι zu ἀντιόωσι wird, erklärt wirklich etwas.
7).
Aischylos ist allerdings so stark entstellt, daſs zeugnisse seines textes wesent-
lich nur, wenn sie etwas weder attisches noch s. g. dorisches bieten, glauben ver-
dienen. sehr belehrend ist für diese feinen abtönungen des vocalismus die ver-
gleichung der theokritischen gedichte; was dort herrscht ist willkür, aber willkür
des dichters, und die gleichzeitigen steinschriften liefern den urkundlichen beweis,
daſs eine solche willkür geübt ward.
8).
Bei Aischylos ist also sicherlich der dativ auf ησι ασι herzustellen, im
dialog und in anapaesten. so bin ich im Agamemnon verfahren. es scheint aber
nicht auszureichen, daſs man etwas tut, man soll dazu sagen, daſs man es tut. bei
den beiden andern tragikern ist kein urteil möglich, weil die sprache zu ihren leb-
zeiten sich änderte. alle späteren setzen längere dative nur als archaismen. für
die alexandrinischen epiker ergibt die prüfung der vortrefflichen überlieferung das
was ich schweigend in meiner ausgabe des Kallimachos durchgeführt habe. die
untersuchung über die ionismen des dialogs verspricht unter dem richtigen gesichts-
punkte noch manchen ertrag: nur muſs man dazu von den steinen attisch gelernt
haben. wer πύλησι für einen ionismus hält, hat allerdings nicht das recht mitzu-
sprechen.
9).
Rhet. III 3. er sagt παραγραφή; später παράγραφος.
10).
Rhet. III. 5. das στίζειν ist ersichtlich aufgabe des lesers, oder höchstens
des erklärers; der text selbst ist ursprünglich nicht interpungirt gedacht.
11).
Z. b. wird der paean des Makedonios, CIA III 171b, durch seine perioden-
teilung für die metrische theorie der hadrianischen zeit recht wertvoll.
12).
Z. b. die auf dem Casseler stein CIA III 171 vereinigten gedichte.
13).
Der gegenstand erfordert eine besondere untersuchung, da die herausgeber
ungenügend über die handschriften berichten. die beischrift der abgekürzten personen-
namen kommt im altertum vor; am merkwürdigsten ist, daſs der Bankesianus des Ω
die redenden personen und den Ποι(ητής) unterscheidet. Homer gehörte eben zu
dem μικτὸν γένος wie Theokrit, halb διηγηματικόν, halb δραματικόν. in den
dramen tritt diese bezeichnung subsidiär neben der παράγραφος auf, die noch häufiger
ist als in dem folgenden textabdrucke des Herakles und von Hephaestion bezeugt
wird. in den prosaischen dialogen stand sie am rande, z. b. im T des Platon (Schanz
Platocodex 5). natürlich ward so etwas sehr leicht übersehen, und z. b. der Clar-
kianus des Platon und die Leidenses der Ciceronischen dialoge bezeichnen den per-
14).
Die formen stellt man sich am besten etwa so vor wie auf dem ältesten
erhaltenen papyrus, wahrscheinlich noch aus dem 4. jahrhundert. Blass Philol. 41, 746.
13).
sonenwechsel gar nicht. daneben wandte man den doppelpunkt in der zeile an,
der aber auch oft fehlt (Porphyr. zu Horaz sat. I 9, 52. Rothstein qu. Lucian. 18) und
z. b. im Laur. C des Euripides zur bezeichnung der rhythmischen κᾶλα verwandt wird.
15).
Ps.-Demosthenes gg. Eubulides 18. ein schauspieler kauft in Leukas einen
Athener los, der im dekeleischen kriege gefangen ist.
16).
So ist zu erklären, daſs einzelne gelehrte die monodie Antigones OK 236—43
verwarfen: denn in ihr selbst ist kein anlaſs zu dem grundlosen verdachte. aber
ein regisseur, der das überlange stück zurichten sollte, würde allerdings hier den
rötel brauchen.
17).
Der Babylonier Diogenes setzt das voraus: er hatte offenbar behauptet,
der reiz des dramas ruhe in der musik neben dem worte, denn er wäre seit dem
schwinden des tanzes (den Aristoteles noch mitgerechnet hatte) nicht gesunken.
Philodem (de mus. IV 7 s. 70 Kemke) erweitert das dahin daſs auch die musik neben
dem texte bedeutungslos wäre.
18).
Dion von Prusa 19, 5; so viel scheint die verdorbene stelle zu ergeben;
die ganze rede ist fragment. Dionys v. Halikarnaſs kennt die chorlieder noch von
der bühne.
19).
Daſs dies die tätigkeit des Dikaiarchos war und ὑπόϑεσις also eigentlich
den stoff bezeichnet, aus dem das drama gemacht ist, hat H. Schrader gezeigt (quae-
stiones peripateticae
Hamburg 1884). früher hatte man einen durch die gewöhn-
lichen confusionen im Suidaslexicon erzeugten Lakedaemonier Dikaiarchos, den es
nie gegeben hat, fälschlich eingemischt und ὑπόϑεσις als excerpt aus dem drama
im stile von Lambs tales from Skakespeare gefaſst.
20).
Vgl. oben s. 38.
21).
Das schulhaupt Krates schrieb über die komödie nach Apollodors chronik
(Diog. IV 23); nach Philodem (bei Gomperz festgabe für Zeller 149) ward die schrift
einem seiner schüler Εὐμένης zugeschrieben. durch vermittelung der μουσικὴ ἱστορία
des Aelius Dionysius ist ein schwacher rest dieser lehre zu den Byzantinern gelangt,
in dem traktat über den oben s. 112, Philol. 46, 13. das citat ist κατὰ Διονύσιον
καὶ Κράτητα καὶ Εὐκλείδην, wozu eine handschrift ἴσως Εὐβουλίδην notirt. es
liegt nahe Εὐκλείδης und Εὐμένης zu identificiren. ob eine weitere ausscheidung
des alten gutes in jenen confusen excerpten möglich ist, steht dahin. ein schluſs
ist aber unabhängig davon möglich. Aristoteles kennt, wie er es nur konnte, zwei
komödien, ἀρχαία und νέα. seine schüler hatten keine neigung zu dissentiren, und
so hat sich diese lehre sehr lange gehalten und liegt noch vielfach vor. daneben
gibt es die jetzt törichter weise vielfach verlassene doctrin von drei komödien, von
denen die μέση ursprünglich begrifflich gemeint ist, nicht zeitlich, denn ihr haupt-
vertreter ist Platon, und Alexis gehört ihr auch an: sie wird also 420 und 270, neben
Aristophanes und nach Menander, geübt. diese lehre begegnet für uns zuerst
bei Horaz sat. II 3, 11, dann herrscht sie vor, meist jedoch in der verkehrten chro-
nologischen umdeutung. so auch in den byzantinischen excerpten περὶ κωμῳδίας.
es liegt sehr nahe dem Aristoteles den Krates entgegenzustellen, und wer konnte
eher als ein zeitgenosse der wirklich neuen menandrischen komödie auf diese ver-
besserung der aristotelischen lehre verfallen?
22).
Athen. III 85 f. polemisirt Aristophanes gegen eine lesart des Kallias; die
stelle ist allerdings verwirrt.
23).
Es gehört zu den unbegreiflichkeiten, an denen Schneiders Kallimachos
reich ist, daſs er auf grund von ein par übereinstimmenden vocabeln aischyleische
24).
Der neueste herausgeber hat es versucht, und ich habe ihm zuerst zugestimmt,
aber die verlängerung eines anlautenden vocals durch tenuis cum liquida (z. b. 1056.
1250), die elision von αι (850, 1220), τοκῆος 1394 (so auch 451 Κυχρῆος) κατ Τρ. (374)
ἐπάλξιες (292) καρηβαρεῦντας (384) σαώσει (679) ῥάμφεσσι (598) u. dgl. viel zeigt,
daſs es auch unerlaubt ist den ionischen vocalismus in stämmen wie Τιτῆνες ἠώς,
und namentlich den dativen wie πολλῆσιν zu ändern. zuzugeben ist nur, daſs erstens
die überlieferung in diesen dingen unzweifelhaft unzuverlässig ist, und daſs Lyko-
phron keine consequenz hat: einen dorischen genetiv ἀίτα 461, παραιολίξει 1094
βλώξας 1327 und die schon von Aristophanes von Byzanz gerügten vulgarismen
ἐσχάζοσαν, auch πέφρικαν, müssen wir ja doch auch ertragen.
23).
studien dem Kallimachos zuschreibt. nur von einem grammatiker aus der ersten
hälfte des 3. jahrhunderts ist ein euripideisches ζήτημα vorhanden, Lysanias schol.
Andr. 10, und da ist der name keineswegs sicher.
25).
Dioskorides Anth. Pal. 7, 37. ähnlich urteilte der philosoph Polemon (Antig.
Kar. s. 65).
26).
Noch ein anderer tragiker der pleias hat über die komödie geschrieben,
Dionysiades, Suid. s. v.
27).
So z. b. Pyth. 3, ein undatirter und an keinen sieg geknüpfter brief an Hieron,
steht hinter den beiden siegesliedern für denselben. überhaupt können die gattungs-
namen ὕμνοι διϑύραμβοι, ἐγκώμια ἐπίνικοι nur mit einiger gewalt auf die menge
gelegenheitsgedichte angewandt sein. die ordnung innerhalb der bücher ist nicht con-
sequent. in Ol. (1—6) Pyth. (1—3) Nem. 1, nachtrag N. 9 stehen die Sikelioten voran,
doch muſs einer (Pyth. 6) einem könige anderer herkunft (P. 4. 5) den vortritt lassen,
und O. 12, Isthm. 2 stehen abseits. in Nem. sind die Aegineten vereinigt (3—8),
in Isthm. nicht u. dgl. m. übrigens haben die alten zu allen zeiten gefallen daran
gefunden, in gedichtsammlungen ein princip nur mit willkürlichen änderungen durch-
zuführen.
28).
Aber in der trefflichen florentiner handschrift D steht τέλος hinter dem
letzten wirklich nemeischen gedichte 8, am schlusse des buches πινδάρου ἐπίνικοι
νεμεονίκοις. die debatten der grammatiker, welche besonders belehrend sind, stehn
zu N. 11, weil dies gedicht nicht einmal ein siegeslied ist, wie 9 und 10. übrigens
haben die grammatiker den gesichtspunkt des Aristophanes nicht gewürdigt; Bergk
noch viel weniger. das richtige hat im wesentlichen Hiller Herm. 21 gesehen.
29).
Die anordnung Bergks ist ganz willkürlich. als ob ein dichter, der lieder
an götter und liebeslieder verfaſst, deshalb ein buch ὕμνοι und gar eins ἐρωτικά
genannt haben müſste. als ob σκόλια dadurch bezeugt würden, daſs ein attischer
vater seinem sohne zuruft ᾆσον σκόλιον Ἀλκαίου κἈνακρέοντος; dies derselbe
fehler, der die pindarischen skolien erzeugt hat. endlich als ob Strabon ein buch
der ausgabe bezeichnete, wenn er sagt, daſs sich auf die mytilenäischen parteikämpfe
τὰ στασιωτικὰ καλούμενα τοῦ Ἀλκαίου ποιήματα bezögen (617). στασιωτικὰ ist
gar kein grammatischer gattungsname; Strabon kennt es auch aus aesthetischen
kritiken des dichters. es wird eine hauptaufgabe der dringend nötigen neuausgabe
der lyriker sein, statt der Bergkischen ordnung die des Aristophanes herzustellen.
30).
Die subscriptionen der zeilensummen erfüllen also ihren zweck sehr wol
auch in büchern welche die normalzeile selbst aufgegeben haben. da auſserdem die
hunderte am rande bezeichnet wurden, so blieben selbst die citate nach zeilen
brauchbar. daſs unsere handschriften von Pindar und den scenikern keine sticho-
metrischen angaben führen, ist somit begreiflich: die hinter dem Sophokles im Lauren-
tianus sind nicht antik, wie die form zeigt, und sind sinnlos.
31).
Dionysios de comp. verb. 22. 26 (p. 156. 221 R.). natürlich ward nicht bis
auf die kleinsten einheiten zurückgegangen, die man jetzt πόδες oder gar ἡμίποδες
nannte; auch mehrere kleine kola, deren vereinigung fest stand, lieſs man zusammen.
für die lyriker helfen uns auſser dem unschätzbaren blatte Alkman die nachbildungen
der Römer und deren praxis, die häufig durch die ganz äuſserliche abteilung der
texte bedingt ist, wie sie z. b. die sapphische und aeolische strophe als vier perioden
behandeln, während es drei sind, weil sie so abgesetzt waren, und auf solche ver-
kehrtheiten kamen wie Horaz I 8, II 18.
32).
Schol. Pind. Ol. 2, 48 zu dem überschüssigen kolon φιλέοντι δὲ Μοῖσαι,
ἀϑετεῖ Ἀριστοφάνης, περιττεύειν γὰρ αὐτό φησι πρὸς ⟨τὰς⟩ ἀντιστρόφους. in
einer andern fassung fehlt der name des Aristophanes und steht dafür ὀβελὸς πα-
ράκειται. daſs eine solche interpolation nicht beseitigt ward, beweist sowol die
vorsicht des herausgebers wie die abhängigkeit der ganzen folgezeit.
33).
Für die gelehrten bestand natürlich in der prosodie auch hier, wie im
Homer, eine feste παράδοσις. ein gutes exempel liefert Eur. Hek. 1030, wo niemand
vor Hemsterhuys auf den gedanken gekommen ist ου als οὗ statt οὐ zu nehmem.
34).
Nur der tüchtige forscher Asklepiades (um 150) hat in Athen nach über-
schenen handschriften gesucht, schol. Ar. Frö. 1344. wenn einer von der attischen
schrift redet, so zeigt er nur, daſs er von ihr überhaupt nichts weiſs (schol. Phoen. 682).
nicht besser ist meistens, was von den schauspielern ausgesagt wird. wo παλαιά,
ἀναγκαιότερα ἀντίγραφα u. dgl. citirt werden, sind fast immer viel spätere zeiten
gemeint, nirgend ist man veranlaſst über Aristophanes zurückzugehen.
35).
Die didaskalien, welche den römischen schauspielen im 1. jahrhundert
v. Chr. vorgesetzt sind, sind natürlich nach dem vorbilde der aristophanischen vor-
bemerkungen verfertigt, die damals in den griechischen texten standen.
36).
Die letzte spur ist wol, daſs in den Statiusscholien XII 510 der inhalt des
Oid. Kol. dem Aristophanes zugeschrieben wird. denn in dieser gegend der litteratur
ist eine vertauschung der dichternamen nicht wahrscheinlich.
37).
Auſser formelhaften, also nicht für den aristophanischen ursprung beweisen-
den, wendungen steht zu den Hiketiden die aesthetische kritik τὸ δρᾶμα ἐγκώμιον
Ἀϑηνῶν. die Bakchen zeigen auch durch die erhaltung des aristophanischen namens,
daſs sie nicht in diese classe von tragödien gehören.
38).
Wenn ein stück Φοίνισσαι hieſs, so war eine solche bemerkung in der
tat angezeigt, wie er sie macht: ἐπιστρατεία Πολυνείκους μετὰ τῶν Ἀργείων ἐπὶ
Θήβας καὶ ἀπώλεια τῶν ἀδελφῶν Πολυνείκους καὶ Ἐτεοκλέους καὶ ϑάνατος Ἰοκά-
στης, und doch ist der ausdruck hier von einer redseligkeit, die den überarbeiter zeigt.
auch die vergleichenden bemerkungen forderten diese angaben, wie denn die Phoe-
nissen fortfahren ἡ μυϑοποιία παρ̕ Αἰσχύλῳ ἐν Ἕπτ̕ ἐπὶ Θήβας πλὴν τῆς Ἰοκάστης.
38a).
Diese notiz, παρ̕ οὐδενὶ κεῖται ἡ μυϑοποιία, steht vor dem Orestes, dessen
absonderliche erfindung diese besondere hervorhebung wol verdient.
39).
So steht über den sprecher des prologs eine gelehrte notiz zum Aga-
memnon; öfter sind auch reste der hypothesis in die scholien verschlagen, so am
schlusse der Antigone und am anfange des Philoktet über die euripideischen con-
currenzstücke, zu Hek. 1 τὰ περὶ Πολυξένην ἔστιν εὑρεῖν παρἰ Σοφοκλεῖ ἐν Πολυ-
ξένῃ (so zu lesen). das aesthetische urteil über den Orestes steht zum teil auch
am schlusse. auch die kritik des aischyleischen concurrenzstückes Ai. 134 dürfte
aus der hypothesis stammen.
40).
So ist unsere hypothesis zum Rhesos geschrieben von dem welcher die
echtheit des dramas behauptete, und der nahm dabei die auf, welche der von ihm
41).
Timachidas war noch dichter, verfasser eines vielbändigen epischen δεῖπνον,
glossograph und verfasser von commentaren zur Medeia, den Fröschen und dem Κόλαξ
des Menandros (Et. M. [Sorb.] καραδοκῶ). seine zeit steht nicht fest; man möchte
ihn in das 2. jahrhundert setzen.
42).
Das hat Robert (Bild und Lied 231) sehr schön aus Metam. VII 159—296
ermittelt.
43).
Galen XVII 607.
44).
Z. b. Vög. 1343, ein vers, den andere mit recht gar nicht schrieben. in ganz
interpolirter gestalt ist die letzte scene der Frösche überliefert, wo Aristophanes den
trug, wie es scheint, gar nicht, Aristarch zum teil durchschaut hat. man wundert sich
in der tat, daſs so üble dittographien und zusätze sich haben halten können; leider
finden sie jetzt sogar verteidiger. zu streichen sind 1429, 1432, 1437—41, 1446—48,
1452. 53 (1455. 6 ist abzuteilen ΔΙΟ. πόϑεν; μισεῖ κάκιστα. ΑΙΣ. τοῖς πονηροῖς
δ̕ ἥδεται; ΔΙΟ. οὐ δῆτ̕ ἐκείνη γ̕, ἀλλὰ χρῆται πρὸς βίαν. ΑΙΣ.) 1462—66, 1478.
45).
Frö. 153; anders wird er es mit den sinnlos wiederholten versen in Eur.
Medeia und Phoenissen auch nicht gehalten haben. gerade die existenz von ditto-
graphien beweist in der griechischen wie in der römischen dramatischen poesie, daſs
unsere überlieferung auf die ausgabe von gelehrten zurückgeht, welche die ver-
schiedenen fassungen, die sie in den handschriften einzeln vorfanden, neben einander
gerückt haben. denn nur das zusammenarbeiten der vorher gesonderten fassungen
kann sie vereinigt haben. sehr oft wird ein kritisches zeichen zuerst gesetzt ge-
wesen sein. hätten diese herausgeber die anmerkung als eine berechtigte eigentüm-
lichkeit wissenschaftlicher schriftstellerei gekannt, so würde der gang der textge-
schichte ein ganz anderer geworden sein, würden übrigens z. b. auch Aristoteles ethik,
40).
bekämpfte grammatiker geschrieben hatte, der den Rhesos verwarf. dieser erst hat
den Aristophanes benutzt.
46).
Δίνων ἐν α΄ τρίτης συντάξεως schol. Nik. Th. 613. Δεινίας ἐν ϑ΄ πρώτης
συντάξεως, ἐκδόσεως δὲ δευτέρας schol. Eur. Or. 872. später kommt das wort ab.
Erotian in der vorrede braucht es abwechselnd und gleichbedeutend mit βιβλίον.
Anaximenes schlieſst seine rhetorik mit der aufforderung, in der rede ἐκ τῆς προτέρας
συντάξεως γυμνάζεσϑαι, bezeichnet also sein werk damit. da ist es noch ganz
gleich einem ἐξ ὧν πρότερον συντετάχαμεν.
47).
Lykon, gestorben 224, übergibt seinen nachlaſs einem Kallinos zur publi-
cation in seinem testamente (Diog. V 73). wir ersehen aus demselben, daſs dieser
mit dem peripatetischen schulhaupte befreundet und in Hermione heimatberechtigt
45).
politik, psychologie ganz anders aussehen. und der Homer würde den hexaplarischen
bibelhandschriften noch viel ähnlicher sein, als er es jetzt ist.
48).
Diogenes X 26. die einzelnen bücher können nicht gemeint sein, denn
für sie wäre die zahl 300 viel zu niedrig: von Aristoteles zählt das hesychische
verzeichnis mehr als das doppelte. auch waren die bände Epikurs wie die des Livius
besonders schwer (Seneca ep. 46, 1 Usener Epicurea 87). das trifft auf die livia-
nischen bücher nicht zu, erklärt sich vielmehr daraus, daſs er nach dekaden oder
doch pentaden publicirt hatte, eine einteilung, die unsere überlieferung noch fest
hält. entsprechendes hat man für Epikur anzunehmen.
49).
Hier war die rücksicht maſsgebend gewesen, daſs Platon zwei trilogien
innerlich und formell verbundener dialoge verfaſst hatte. da sich darunter der
Staat als ein buch neben dem Kritias befand, war an gleiches gewicht der bände
nicht zu denken. und Aristophanes hat denn auch kein bedenken getragen, die
Epinomis neben die Gesetze, jedes als eine nummer, zu setzen.
50).
Krinagoras Anth. Pal. IX 239. das gedicht ist so zerstört, daſs man nicht
sicher erkennen kann, was eigentlich die fünf bücher lyrische gedichte waren. einen
sammelband mehrerer gedichtbücher erwähnt Catull 14.
51).
Anon. de com. 3, der ausdrücklich die σῳζόμεναι angibt. 35 zählte vor
Apollodor der Pythagoreer Lykon. das harmonirt mit Apollodor ganz gut. 52 bei
Suidas ist dem gegenüber zu verwerfen.
52).
Daran ist nicht zu denken, daſs etwa 4 epicharmische komödien die länge
einer attischen ausgemacht hätten. denn die dicke des bandes entscheidet über-
haupt nicht, und wenn auch die sicilischen possen zweifellos kürzer als die komödien
waren, so ist ihre gröſse doch ganz unschätzbar, konnte sich übrigens, da das vor-
waltende versmaſs trochäische tetrameter waren, ja zwei ganze komödien aus ana-
paestischen tetrametern bestanden, in der schrift möglicherweise ganz anders stellen
als die summen der in unserer weise gezählten verse es ergeben würden.
47).
war. Lukian (advers. indoct. 1. 24.) erwähnt die βιβλιογράφοι Atticus und Kallinos
als die verfertiger der schönsten alten bücher. der athenische verlag des Atticus
ist aus Ciceros correspondenz, die Ἀττικιανά sind aus den grammatikern bekannt:
Kallinos werden wir auch nicht zögern zu identificiren.
53).
Der erhaltene Prometheus stand in der ausgabe, für welche schol. 511
geschrieben ist, noch im verbande der trilogie, denn der λυόμενος heiſst τὀ ἑξῆς
δρᾶμα. angeführt wird auch das dritte stück, 94. auch die erhaltene Orestie dürfte
der veranstalter unserer auswahl nicht erst selbst zusammengestellt, sondern im
selben bande vereint gelesen haben.
54).
Auch von diesem stehen einige mit gleichem buchstaben beginnende tragödien-
namen auf dem steine CIA II 992.
55).
Zwei notizen scheinen darauf zu führen, daſs die tragödien auch eine
laufende nummer führten, in der hypothesis der Alkestis τὸ δρᾶμα ἐποιήϑη ιζ΄,
und in der der Antigone λέλεκται δὲ τὸ δρᾶμα τοῦτο τριακοστὸν δεύτερον: aber
sie haben sich bisher jeder deutung entzogen.
55a).
Für den betrieb der philologischen studien in Alexandreia sind wir auf
rückschlüsse angewiesen, da directe zeugnisse fehlen. nun hat man ja das richtige
aus der anwendung der kritischen zeichen, welche mündliche belehrung zur ergänzung
fordern, aus den ὑπομνήματα und namentlich aus der παράδοσις, wie sie z. b. in
betreff der aristarchischen vocabelerklärung fest steht, geschlossen. es ist aber doch
sehr belehrend, auf dem gebiete der mathematik im rhestachoterischen und exote-
rischen schulbetrieb hineinzusehen. die vorreden, welche Apollonios von Perge
seinen einzelnen büchern über die kegelschnitte vorausschickt, gewähren diesen ein-
blick, und die tiefe und klare würdigung, welche Zeuten jüngst diesem werke hat
zu teil werden lassen, wird dem philologen auch dann wichtig, wenn er dem mathe-
matiker auf sein gebiet nicht zu folgen vermag. für diesen ist es kein geringes lob,
daſs er, ohne kenntnis von den geschichtlichen bedingungen zu haben, die verhält-
nisse genau so gezeichnet hat, wie sie umfassende geschichtsbetrachtung kennen lehrt,
von der leider die meisten philologen noch weit entfernt sind.
56).
1038; auſserdem von Kallistratos 314 zeugnis für eine lesart, 434 eine
aporie. schlüsse auf seine eigene leistung und tendenz sind daraus nicht zu ziehen.
57).
713 eine lesart; 489 ist nur noch der name da. er galt einer erklärung.
58).
1287 (p. 214, 15 Schw.) Ἀρ. γράφει ῾ἐκκεκώφωνται ξίφη᾽· σημαίνει γὰρ
ὅτι εἰς τὸ κάλλος Ἑλένης ἀποβλέψαντες ἀνεπαίσϑητοι ἕμειναν καὶ εἴασαν τὰ ξίφη.
das erhält erst eine pointe durch die andere fassung (z. 6) ἆρα εἰς τὸ Ἑλένης κάλλος
βλέψαντες οὐκ ἐχρήσαντο τοῖς ξίφεσιν; οἷον καὶ Στησίχορος ὑπογράφει κτέ.
59).
269 Στησιχόρῳ έπόμενος τόξα φησὶν αὐτὸν εἰληφέναι παρὰ Ἀπόλλωνος.
ἔδει οὖν τὸν ὑποκριτὴν λαβόντα τοξεύειν· οἱ δὲ νῦν ὑποκρινόμενοι τὸν ἥρωα
αἰτοῦσι μὲν τὰ τόξα, μὴ δεχόμενοι δὲ σχηματίζονται τοξεύειν. Stesichoros wird
auch 249 zur erläuterung der fabel citirt und 46 bei besprechung des ortes, wo
Euripides die fabel spielen läſst. es liegt nahe auch diese stellen auf Aristophanes
zu beziehen. indessen hat über die quellen des Euripides auch der kyklograph
60).
643 τούτου ῥηϑέντος αἴρουσιν οἱ ὑποκριταὶ τὴν χεῖρα, ὡς τοῦ Μενελάου
ἀγωνιῶντος κτέ. εὐήϑης δέ ἐστιν [ὁ] τοιαύτης ὑποψίας ἀντιλαμβανόμενος ⟨ὁ⟩ Με-
νέλαος. das scholion ist auſser im Et. Gud. 79, 19 auch in den proleg. zu Hermogenes
IV 7 Walz ausgeschrieben.
61).
176 τοῦτο τὸ μέλος ἐπὶ ταῖς λεγομέναις νήταις ᾄδεται καί ἐστιν ὀξύτατον.
ἀπίϑανον οὖν τὴν Ἠλέκτραν ὀξείᾳ φωνῇ κεχρῆσϑαι, καὶ ταῦτα ἐπιπλήσσουσαν
τῷ χορῷ. ἀλλὰ κέχρηται μὲν τῷ ὀξεῖ ἀναγκαίως, οἰκεῖον γὰρ τῶν ϑρηνούντων,
λεπτότατα δὲ ὡς ἔνι μάλιστα. davon daſs des dichters absicht die oder die ge-
wesen wäre, weiſs der verfasser nichts: nur die praxis, wie sie auf der bühne ist,
kennt er. ganz so Dionysios, der de comp. verb. 11 den anfang desselben liedes
zum beispiele wählt. ἡ ᾠδικὴ Μοῦσα … τὰς λέξεις ταῖς μέλεσιν ὑποτάττειν
ἀξιοῖ, … ὡς … δῆλον ἐκ τῶν Εὐριπίδου μελῶν ἃ πεποίηκε τὴν Ἠλέκτραν λέγουσαν.
Euripides hat Elektra die μέλη ‘sagen’ lassen. den gesang schuf die ᾠδικὴ Μοῦσα,
oder, wie Aristophanes sagt, sie werden so und so gesungen. — übrigens ist die
stelle noch in anderer weise für die schauspieler sehr merkwürdig. unsere hand-
schriften und scholien geben 140. 1 dem chore, wie wegen der responsion nötig ist.
aber nicht nur Dionysios, sondern auch eine sehr gute anekdote von Kleanthes (Diog.
IV 172), gibt sie Elektra; so war also die bühnenpraxis. dann können diese gewährs-
männer aber v. 136—39 nicht gehört haben, denn das ist offenbar eine dittographie zu
140. 1; ja wir vermögen nun erst die verderbnis von 141 mit Elmsley sicher zu heilen
(μὴ ῎στω κτύπος für μηδ̕ ἔστω κτύπος aus 137). die schauspieler verhelfen uns hier
also zur entfernung einer in den gelehrten texten befindlichen dittographie. was
sie änderten, lief darauf hinaus, daſs der sänger erhielt was eigentlich dem chore
gehörte. das begreift man leicht. aber auch die verse 135—39 sind auf der bühne
entstanden, nur einer anderen: sie fordern entweder die beseitigung des chorliedes,
oder doch seines anfanges, oder aber sie sind gedichtet um den sinn der chorverse
deutlich zu machen, als die musik in gewohnter weise die worte unverständlich
gemacht hatte.
62).
οὐκ ὀρϑῶς νῦν ποιοῦσί τινες τῶν ὑποκριτᾶν πρῲ εἰσπορευομένην τὴν
Ἑλένην καὶ τὰ λάφυρα. ῥητῶς γὰρ αὐτὴν νυκτὸς ἀπεστάλϑαι φησίν, τὰ δὲ κατὰ
τὸ δρᾶμα ἡμέρᾳ συντελεῖται. man lieſs also Helene während des prologes mit
einem triumphzuge, beutestücken, sclavinnen etc. auf die bühne kommen, während
der dichter sie bereits bei nacht, vor beginn seines stückes, hatte kommen lassen.
63).
Der eunuch sagt 1369, er wäre der ermordung entflohen κεδρωτὰ παστάδων
ὑπὲρ τέραμνα Δωρικάς τε τριγλύφους, also durch einen sprung vom dache. vorher
gehen drei verse des chores, worin in üblicher weise das knarren der türe und
heraustreten des Phrygers notificirt wird. das vorzügliche scholion hebt den wider-
59).
Dionysios gehandelt 995, vgl. 872. diese mythographische gelehrsamkeit wird man
nicht trennen dürfen. auch das verhältnis zu Homer gehört dahin, 39, 256.
64).
Hipp. 172 τοῦτο σεσημείωται τῷ Ἀριστοφάνει, ὅτι καίτοι τῷ ἐκκυκλήματι
χρώμενος τὸ ἐκκομίζουσα προσέϑηκε περισσῶς. Alk. 234 οὐκ εὖ· κατὰ γὰρ τὴν
ὑπόϑεσιν ὡς ἔσω πραττόμενα δεῖ ταῦτα ϑεωρεῖσϑαι. die form dieser notiz ist
entstellt, ähnlich wie die geringeren fassungen des Hippolytosscholions. die sache
verhält sich so. man stellte die scenen so dar, daſs das ekkyklema zur anwendung
kam, also die kranke Phaidra und die sterbende Alkestis im zimmer blieben. das
ist der sache eigentlich allein angemessen, und deshalb glaubte Aristophanes den
dichter tadeln zu müssen, der trotzdem beide male ausdrücklich angibt, daſs die
kranken ins freie gebracht würden. wir werden natürlich umgekehrt urteilen, daſs
Euripides ein ekkyklema nicht beabsichtigt hat und sich wol oder übel mit den
verhältnissen seiner bühne beholfen hat. aber ein heutiger regisseur würde gut tun
lieber dem antiken collegen zu folgen als dem dichter. es liegt nahe die anweisungen
für das spiel, die vereinzelt gegeben werden (Hipp. 215 tout d’ accord avec madame
Rachel
, fügt Weil hinzu) auch auf Aristophanes zurückzuführen. natürlich nicht solche,
wo der grammatiker durch ein ἴσως selbst eingesteht, daſs für ihn das drama nicht
mehr auf der bühne existirt, schol. Soph. OT. 41. 80. 1297. auch wenn über das
umcostümiren geredet wird, ist die verkehrtheit der bemerkung beweis genug, daſs
das am schreibtisch ausgedacht ist, schol. Soph. OT. 147, E. Phoen. 93.
65).
Über die bühnenwirksamkeit urteilt er in den hypothesen zu Orestes und
Phoenissen ganz unbefangen, ohne seine gesunde kritik der dichtung dem gegenüber
zu verleugnen.
65a).
Leo verweist mit recht auf den Donatcommentar zu Terenz, wo die rück-
sicht auf die bühne noch viel deutlicher hervortritt. natürlich geht das auf sehr
viel ältere erklärer zurück; Leo vermutet, auf Probus.
63).
spruch hervor und stellt die sichere vermutung auf, die drei verse wären von den
schauspielern eingelegt οἴτινες ἵνα μὴ κακοπαϑῶσιν ἀπὀ τῶν βασιλείων δόμων
καϑαλλόμενοι, παρανοίξαντες ἐκπορεύονται τὸ τοῦ Φρυγὸς ἔχοντες σχῆμα καὶ πρό-
σωπον. eine ähnliche interessante schauspielerinterpolation ist Aisch. Eum. 405.
Aischylos in seiner einfachheit lieſs Athene von der Troas nach Athen durch die
luft fliegen, ohne fittiche, aber so daſs sich fittichgleich die Aegis blähte, πτερῶν
ἄτερ ῥοιβδοῦσα κόλπον αἰγίδος. das genügte dem bedürfnis nach sinnenreiz nicht
mehr, das die spätere zeit zu befriedigen wuſste, und schien wol auch der göttin
nicht würdig. so fuhr Athene auf ihrem streitwagen durch die luft auf die bühne,
und dafür ward der vers eingefügt πώλοις ἀκμαίοις τόνδ̕ ἐπιζεύξασ̕ ὄχον.
66).
Et. M. Διονύσιος Θρᾷξ. das ὑπόμνημα Λυκούργου Αἰσχύλου citirt schol.
Theokr. 10, 18.
67).
Schol. Androm. 616, Hipp. 683, Ar. Ach. 345.
68).
Z. b. schol. Hek. 3. 4. 1279. eine anzahl solcher stellen ist gesammelt in
der sonst unbrauchbaren arbeit von Barthold de scholiorum in Eur. fontibus Bonn
1864 p. 12. ganz ähnliches findet sich auch in den Pindarscholien, Horn de Ar.
stud. Pindar
. Greiſswald 1883, p. 76. vereinzelt findet sich auch eine solche be-
ziehung auf Aristophanische lehren; Phoen. 886 und Tr. 44 (zu lesen σεσημείωται
ὡς [καὶ cod.] μηκέτι αὐτῆς οἰκουμένης) beziehen sich auf seine homerischen arbeiten,
auf seine παροιμίαι schol. Soph. Ai. 746, auf seine λέξεις Phoen. 684, häufig wird
sein συγγενικόν stillschweigend berücksichtigt, z. b. Hipp. 634 Alk. 988 Pind. Ol.
9, 96: aber dies buch ist bis in byzantinische zeit in gebrauch gewesen und von den
lexikographen reichlichst ausgenutzt, also konnten solche bemerkungen jederzeit
aufgenommen werden und für die tragikercommentare des Aristophanes beweisen
sie gar nichts.
69).
Zu Rhes. 540. denn Alk. 1154 ist der name aus Ἀριστοτέλης verdorben,
wie Harpokration s. v. τετραρχία lehrt.
70).
Zum Rhesos muſs er ein ὑπόμνημα verfaſst haben. sonst in einem ζήτημα
Phoen. 208. über Parmeniskos Robert Eratosth. 229.
71).
Zu Med. 1 Τιμαχίδας ἀγνοήσας, 167 T. ἐπὶ τὰ πρόχειρα πᾶσιν ἐνεχϑείς,
hier wird er mit mythographischer gelehrsamkeit bekämpft, und da Didymos den
Parmeniskos in ähnlicher weise 273 zurückweist, auch den Apollodoros von Tarsos
148, 169 citirt, so werden wir ihm alle diese citate verdanken.
72).
Darunter sind einige, über die man gar nichts vermuten darf oder mag.
Aischines, E. Or. 12, 1371, welch letztere stelle wenigstens den anschein hat, als
suchte er den von Aristophanes gerügten widerspruch zu beseitigen. Praxiphanes,
S. OK. 900, der unmöglich der bekannte schüler des Aristoteles sein kann, Hellanikos,
S. Phil. 201, der allerdings höchstens ein Herodoterklärer sein könnte und von Schrader
(de not. crit. 27) für den Zenodoteer gehalten wird. aber es ist wol eher irgend ein
misverständnis oder autoschediasma, und der historiker gemeint.
73).
Der nähere nachweis ist in meinem programm de Rhesi scholiis (Greiſswald
1877) geliefert.
74).
388, wo der verfasser ihnen gegenüber einen kritischen zweifel äuſsert.
er hat richtig erkannt, daſs Sophokles die orakelsprüche erfunden hat, welche seine
handlung ermöglichen. dazu gehören 457, 1156, 1181. ferner werden die ὑπομνημα-
τισάμενοι 681 genannt, wo der verfasser im gegensatz zu ihnen eine andere, übrigens
falsche, mythologische erklärung versucht, die eine textänderung im gefolge hat.
1375, wo er stolz ist etwas bisher ganz vernachlässigtes zu erklären; es ist mytho-
graphisch; 900, wo es sich um eine antiquarische glosse handelt, und 390, wo ein
altes wort (εὔσοια) erklärt wird. die bemerkung über die lesart der handschriften
gehört nicht zu dem hypomnema, sondern hat für didymeisch zu gelten.
75).
56 wird Lysimachides citirt, der gegen Caecilius von Kalakte schrieb
(Ammon. s. v. ϑεωρός).
76).
Wer Athen kennt, kann ein Pythion, das am wege zwischen dem Kolonos
und Theben liegt, nicht bei Marathon suchen, zumal wenn der Aigaleos erwähnt
wird, an dem das Pythion von Daphni liegt. so tut aber unser mann 1047.
77).
156, 237, 763: ihn geht ganz offenbar das textkritische an, in dem sinne,
daſs der redactor dieses wesentlich bei ihm fand. und die aesthetischen und exege-
tischen scholien, welche denselben charakter tragen wie die zu den andern dramen
des Sophokles, wird man ihm auch ohne zögern zuweisen. mit dem ὑπόμνημα ver-
mischt sich das fast nie.
78).
Vgl. anm. 71. auch die homerischen scholien liefern vereinzelte belege dafür.
79).
Von dem urteil des Aristophanes ist nur der anfang erhalten, in welchem gelobt
wird der prolog, die elegie der Andromache (zu lesen εὖ δὲ καὶ τὰ ἐλεγεῖα für ἔστι δ. κ.),
die reden der Hermione an diese, die intervention des Peleus. da das drama τῶν δευ-
τέρων ist, muſste starker tadel folgen, zu welchem der zweite teil herausfordert; über
ihn ist nichts mehr erhalten, auſserdem ist im ersten die haltung der Andromache und
des Menelaos übergangen. in den scholien polemisirt 32 gegen die φαύλως ὑπομνημα-
τισάμενοι, die dem Euripides vorwerfen, er hätte komische motive, eifersucht und
weibergezänk, eingeführt, was herzlich albern abgewehrt wird. 229 wird die haltung
der Andromache als παρὰ τὰ πρόσωπα καὶ τοὺς καιρούς getadelt. 329 ebenso, und
80).
Genannt ist Didymos nur für die richtige erklärung eines katachrestisch
gebrauchten wortes (1079, auch bei Hesych erhalten). man ist gewöhnt auch noch
eine zweite (1175) auf ihn zurückzuführen, weil viele lexikographen sich mit ihr
berühren (Ael. Dionys bei Eust. 907, 40 Phot. Hes. κῆπος, schol. Thuk. II 62 u. a. m.):
jedenfalls spricht die alte gelehrsamkeit dafür, da selbst Eratosthenes citirt wird, der
den Euripidesvers in seinem buche über die komödie besprochen hatte. auch 1176 ist
in wahrheit sehr gelehrt und geht auf Apollodor zurück (Athen. II 66). die tadelnde
kritik ist aber genau dieselbe wie in der Andromache, und es sind noch viel mehr
bemerkungen erhalten, 1, 14, 31, 36, 209, 448, 630, 906, 943, 975, 1010, 1049, 1057, 1129,
und da hierin die sitte des Euripides öfter notirt wird, so darf man auch stellen
wie 628, 989 dahin ziehen, wo sprachliche lieblingswendungen von ihm angemerkt
werden. überhaupt sind diese scholien besonders einheitlich: was nicht paraphrase
ist, scheint einem zu gehören. auch die mythographischen dinge, so weit sie nicht
in den schon berührten scholien stehen, berühren sich mit Andromache und Hekabe;
doch das liegt vielleicht lediglich am stoffe.
81).
Genannt wird Didymos viermal für kritisch exegetisches 13, 736, 847, wo
79).
dabei steht Δίδυμος μέμφεται τούτοις. 362 ebenso und wieder wird Didymos ge-
nannt. 885 führt sich Orestes mit motiven ein, die Euripides allerdings erfunden
hat: Δίδυμος δέ φησι ψευδῆ ταῦτα εἶναι καὶ ἄπιστα. 1077 tadelt Didymos, recht
kleinlich, einen ausdruck, den er für eine schlechte nachahmung Homers hält. danach
wird man ihm auch 616 den tadel zutrauen, wo in dem vorwurf οὐδὲ τρωϑεὶς ἦλϑες
ἐκ Τροίας ein παρὰ τὴν ἱστορίαν gefunden wird, weil Menelaos von Pandaros ge-
schossen ist; es folgen zwei λύσεις, die eine auf dem misverstandenen aristarcheischen
unterschiede von τιτρώσκειν (οὐτάζειν) und βάλλειν beruhend. 1241 wird genau notirt,
in wie weit die von Euripides gegebene sagenform bei Pherekydes bestätigung findet,
der rest wird gescholten διέψευσται. man wird soweit mit sicherheit gehen dürfen,
den tadler überall in Didymos zu finden, den also sein gegner φαύλως ὑπομνη-
ματισάμενος nennt, zumal der tadel mit der hypothesis in harmonie ist. aber man
möchte weiter gehen. 733 wird als κατασυκοφαντεῖν τὸν Εὐριπίδην abgewiesen,
daſs einige hier (wie auch 445, wo wieder die hypothesis in ihren verlornen didas-
kalischen teilen benutzt ist) an tendenziöse beziehungen auf die zeitgeschichte dachten.
die ἔνιαι scheinen doch dieselben mit den φαύλως ὑπομνηματισάμενοι, d. h. Didymos.
und ferner wird das παρὰ τὴν ἱστορίαν, wie 885 und 1077 von Didymos, auch 24,
224 aufgeworfen, und die befolgte sagenform öfter belegt, darunter 18 mit tadel der
νεώτεροι, und die verwandtschaft mit schol. Pind. Nem. 3, 81 ist hier deutlich, und
796 wird andererseits benutzung des Pindar angenommen (vgl. oben s. 25). das
alles möchte man einem zuschreiben, und das wäre dann Didymos: aber die conse-
quenzen dieses schlusses scheinen zur zeit noch zu groſs, als daſs das fundament
sie trüge: denn dann würde er der sein, welcher das mythographische in diese
scholien gebracht hat. obwol ich das glaube, habe ich im text die frage ganz offen
gelassen.
82).
Phoen. 1747 eine exegetische bemerkung; 751 eine aesthetische. Euripides
lehnt die nennung der einzelnen kämpferpare ab, Didymos meint mit recht, daſs das
geschehe, weil er die concurrenz mit Aischylos vermeiden wolle. aber daſs in den
worten διατριβὴ πολλὴ λέγειν ἐχϑρῶν ὑπ̕ αὐτοῖς τείχεσιν καϑημένων eine hämische
kritik des alten meisters liegt, hat er übersehen: so ist ihm eine gute gelegenheit
zum tadel entgangen.
83).
Behandelt hat er aus diesem mindestens eine frage, das άρμάτειον μέλος 1384,
erhalten im Et. M. aber hier ist die fülle von erklärungen auf uns wenigstens nicht
durch ihn gekommen, sondern er ist einer der vielen, die ein späterer zusammenstellt.
81).
er zugleich den dichter verkehrt tadelt, 1029. ein tadel des dichters in der bekannten
weise steht 241, 254, 280, 825, 898, 1068, 1219, und auch das lob 342 gibt sich selbst
als ausnahme; 825 ist der tadel jetzt durch eine verteidigung ersetzt. auſserdem
wird Didymos 887 für ein sprüchwort genannt. das könnte aus seiner sammlung
genommen sein, was dann immerhin beweisen würde, daſs das scholion älter wäre
als die auszüge, welche dieses werk seit hadrianischer zeit verdrängten. aber es
ist natürlicher, daſs Didymos sich in dem commentar ebenso vernehmen lieſs wie
in dem buche. zudem ist die erklärung aus Herodot gezogen und dasselbe geschieht
auch 1199, wo kein sprüchwort vorliegt. auſserdem ist für diese scholien charak-
teristisch eine neigung antiquarisches detail zu erläutern, die ἔργα Δαιδάλεια 838,
mit reichen komikercitaten, die sehr selten in diesen scholien sind, der attische
peplos 467, mit demselben materiale, die φυλλοβολία, mit benutzung von Eratos-
thenes περὶ κωμῳδίας, die dorische tracht 934, wo auſser einem langen Durisfrag-
mente Anakreon citirt wird, was ebenso für ein wort 361 (vgl. 943) geschieht: auch
das ist sonst selten. alles fällt in die studiensphäre des Didymos. einen durch-
schlagenden beweis liefert es allerdings nicht: aber im grunde sind der anhaltspunkte
doch mehr, als die, auf welchen Lehrs und seine nachfolger die abhängigkeit der
Sophoklesscholien von Didymos aufgebaut haben. Hek. 1267 und Alk. 966 hat der-
selbe commentirt: aber das hilft nicht weiter, denn ein selbstcitat liegt nicht vor,
und die Alkestisscholien sind so traurig zugerichtet, daſs sie keine schlüsse mehr
gestatten.
84).
Bruhn lucubr. Eurip. 250, dessen verdienst es ist, die vorstellungen über
schauspieler und schauspielertexte von antiken und modernen fabeln gereinigt zu
haben.
85).
Die persönlichkeit des mannes ist schwer zu fassen, da der name so sehr
gewöhnlich ist. aber die verbreitete ansicht scheint richtig, daſs der sohn des Ari-
stophaneers Artemidoros, der zeitgenosse des Didymos, und der herausgeber der
Odyssee, und der der vornehmsten alexandrinischen dichter identisch sind; von anderem
minder wichtigem, z. b. der berufenen λέξις κωμική, zu schweigen.
86).
Dieser hofgelehrte des Tiberius, tätig noch unter Claudius, beginnt, seit
Maaſs die persönlichkeit identificirt hat (Phil. Unt. III 33), in seiner groſsen bedeutung
mehr und mehr anerkannt zu werden. aber für die tragödie kommt es gar nicht in
betracht.
86a).
Sueton de gram. 24: hic non tam discipulos quam sectatores aliquot
habuit, numquam enim ita docuit ut magistri personam sustineret
u. s. w.
87).
Tryphon wird auch in der lexikographie noch eine groſse rolle spielen,
genauer geredet, er ist ein hauptautor für die späteren onomastica. da er zugleich
mit vorliebe von Herodian ausgeschrieben und compilirt wird, bietet ein aufsuchen
seiner reste gute chancen: denn die sorgfältige arbeit von Velsen gibt nur die nament-
lichen citate.
88).
Neben den ἀττικαὶ λέξεις (welche sich als eine art vorstufe der atticis-
tischen lexica betrachten lassen, obwol sie in ganz anderem sinne angelegt waren,
nämlich nur als eines der dialektischen wörterbücher, nicht als fundgrube schöner
floskeln für den praktischen gebrauch) war die specialarbeit περὶ τῶν δοκούντων
μὴ εἰρῆσϑαι τοῖς ἀρχαίοις sowol in der zeit des Caecilius wie in der des Phrynichus
ein sehr erwünschtes buch; deshalb sind auch von ihr excerpte erhalten. natürlich
hatte sie nicht antiatticistische tendenz, sondern war eingegeben von der kritik, mit
welcher schon Eratosthenes (schol. Frö. 1263, vgl. Phot. εὐϑὺ Λυκείου) den ψευδότ-
τικα zu leibe gieng. die trefflichen männer wuſsten, daſs die litterarische falsch-
münzerei im schwunge gieng: die falschen dialoge Platons, die falschen reden des
Demosthenes, Lysias u. s. w., selbst falsche komödien wurden verfertigt und ver-
kauft: das dritte jahrhundert hat die fälschungen erzeugt, die jetzt wieder zu origi-
nalen zu machen mode ist.
88a).
Auch wo wir scheinbar eine fülle von handschriften besitzen, wie von
den lexicis des Harpokration und des Erotian, liegt es in wahrheit so, daſs ein einziger
text bis auf das 14. jahrhundert erhalten war, der uns nur verloren ist, und den
herzustellen die nächste aufgabe der recensio ist. allerdings repräsentirt in älterer
zeit beinahe jede neue abschrift eine neue redaction, und selbst in späterer zeit geht
das fort. man denke sich, daſs von dem Harpokration von Cambridge eine abschrift
genommen wäre: dann würden wir die jetzt am rande befindlichen glossen (den jetzt
fälschlich so genannten Cl. Casilo) aufgenommen und ein ganz neues werk lesen,
das gewiſs viele für einen ‘plenior Harpocratio’ erklären würden.
89).
O. K. 237 Ant. 45 Ai. 1225 Hek. 13 Med. 379, u. a.
90).
E. Schwartz de Dionysio Scytobrachione 34.
91).
Robert Eratosth. catast. 29. so schlagend wie die dort von mir angegebene
benutzung derselben scholien durch Avien ist es nicht. allein die ganze benennung
92).
Die kurzen bemerkungen über Alkaios Pindaros Bakchylides zu Carm. I
10, 12, 15, die quelle des Ars poet. u. s. w. hat Porphyrio natürlich vorgefunden, und
da sie ganz ohne citate geblieben sind, so machen sie den eindruck eines kurzen
vermerks im stile der hypothesen. auch sie möchte man nur der allerbesten zeit
der römischen grammatik zutrauen.
93).
Georg. II, 136, III 6.
94).
Selbst die prolegomena, die wir in den Theokritscholien lesen, werden in
91).
der sternbilder aus der sage geht auf diese doctrin zurück, die am natürlichsten in
Aratscholien niedergelegt gedacht wird. Manilius im letzten buche und das gedicht
des Columella geben weitere ausbente.
95).
Bethe de Diodori lib. IV (Göttingen 1887), p. 97.
94).
naivster weise zu prolegomena der vergilischen Eklogen umgeformt, erhalten in
den Probusscholien, Bernerscholien und bei Diomedes III. die wissenschaft fordert
dringend, daſs die anlehen, welche die römische grammatik bei der griechischen ge-
macht hat, zurückgezahlt werden: die scholien nicht nur der Alexandriner, sondern
selbst die Homerischen, werden dann ein anderes ansehen gewinnen.
96).
Oder de Antonino Liberali (Bonn 1886) p. 26.
97).
Diese bestandteile werden diakritische bedeutung erhalten, denn es gibt
partien, welche von ihnen so gut wie ganz frei sind, während andere voll davon
sind. ein haupt- und grundwerk, Apollodoros περὶ ϑεῶν, hat die jungen dichter,
selbst Nikandros, nachweislich benutzt; von Lysimachos ist es unwahrscheinlich.
ähnlich wird man in den glossenerklärungen operiren können.
98).
Es scheint, daſs die rhetorenschulen sich ihrer bedient haben, wenigstens
haben wir durch späte rhetorische bücher die hypothesen von Auge Peirithoos Sthe-
neboia erhalten. die späten scholien zu Aristides verfügten über die des Protesilaos.
die des Syleus stand in dem oben s. 112 erwähnten litteraturgeschichtlichen buche.
die annahme aber, daſs in späterer byzantinischer zeit eine solche sammlung noch
bestanden hätte, hat keinen boden unter den füſsen.
99).
Ἐφήμ. ἀρχ. 1884, 59. 1887, 67, 197. die arbeit ist roh, die inschriften
teils unleserlich, teils auch falsch. in der Iphigeneia sind die scenen unvollständig.
von derselben art scheint ein bruchstück eines gefäſses in London, das sich auf die
Phoenissen bezieht, Classical Review II 327. alles zeigt einen zustand vergleichbar
den ilischen tafeln: das einzelne exemplar ist immer nur ein excerpt.
100).
Der wichtige nachweis ist durch Diels, Rh. M. 30, geliefert. Diels setzt
das urflorilegium in das 1. jahrhundert v. Chr., zwar auf einen ungenügenden anhalt
hin, aber in der sache hat er sicherlich recht. die analyse wird, sobald die über-
lieferung des florilegiums festgestellt sein wird, sehr vieles mit sicherheit ermitteln
können. bisher ist für die classische litteratur nichts brauchbares geschehen.
101).
Alle Byzantiner hängen von Stobaeus ab, abgerechnet solche die ledig-
lich aus erhaltenem schöpfen und eine gesonderte überlieferung haben. diese sind
aber wertlos. so z. b. ein euripidisches gnomologium in einer Venediger handschrift,
Ritschls Acta VI 333.
102).
Z. b. Θ, Θησεύς bei Stobaeus nur in einem unsicheren falle, Θυέστης
dreimal, wozu gleich drei bei Orion kommen, der anders excerpirt hat. Κ, Κρε-
σφόντης dreimal (und einmal ohne titel), Κρῆσσαι fünfmal, Κρῆτες gar nicht, Λικύ-
μνιος gar nicht. dagegen hatte man Φοῖνιξ elf (in wahrheit noch mehr), Φρίξος
zehn, und gar Αἴολος 21, Ἀλέξανδρος 18, Ἀλκμήνη 13 u. s. w. die rechnung ist
nur ganz obenhin angestellt, weil sie auch so genügt.
103).
Ps. Iustin de monarch. 107d ff. (III 146 Otto). Ὀρέστης Ἱππόλυτος Ἴων
Ἀρχέλαος Βελλεροφόντης — Φρίξος Φιλοκτήτης, dann zwei verwirrte citate (Τρῳάδες).
von diesen sind die stellen aus Orest, Ion und die beiden letzten von dem verfasser
aus älterer apologetischer litteratur genommen, die erste vielleicht vielmehr aus dem
drama selbst. aber ΑΒΦΦ ist rasch aus anfang und schluſs eines capitels aufgerafft.
ebenda Menander Ἡνίοχος Ἱέρεια Μισούμενος Παρακαταϑήκη vor Euripides, nachher
Ἁλιεῖς Ἀδελφοί Αἰλητρίδες: ganz evident. in der grammatischen litteratur habe
ich nur einen beleg gefunden (und ich bin seit 15 jahren auf der suche), Athen.
X 417c, komödien des Eubulos Ἀντιόπη Εὐρώπη Ἴων Κέρκωψ Μυσοί.
104).
Ich gebe nur proben, da sich die sache ohne einsicht in die überlieferung
nicht erledigen läſst und im vorbeigehen überhaupt nicht. flor. 7 ΒΑ, ΑΔ, ΗΟ. 22, 1
Εὐρ. Γλαύκῳ falsch; es ist ein komikervers, fgm. 644 zu tilgen, wol der name
des Euripides mit Eubulos zu vertauschen; dann drei bruchstücke ohne tragödien-
name (eins aus Ixion), dann ΑΑ, ΑΑΑΒΗ, später noch Α und Τ. 34:?Α, ΑΑ. 35 : Α.
39 Τ? Φ? ΑΑΔΦΤ, Φ, Φ, Φ. 40 ΦΦ. 43 ΦΦ? Φ, ΙΑ?, Φ, ΕΑΑΑ. das lemma von 3
(adesp. 450) ist also in Εὐρ. Φ — zu ergänzen. 47 ΦΦΑΑ. 49 ΙΙΑ? ΑΑΠ. das
lemma von 4 ist in Ἠλέκτρα verdorben, fgm. 846: es ist in ἀλκμέων zu ändern:
für den korinthischen paſst der sinn; doch ist auch ἀλκμήνη möglich. 54 : ΑΑΒ
ΠΡΑΑΕΕΒΤΤΤΦΒΕ, Ι. 62: ΕΜΑ; ΑΑΑΑΑ, ΑΑΑΒΑΕΑΕΑΕΙ, ΜΜΦ, Α. 63: ΑΑΙΑΙ;
Α, ΑΙ. 64: ΑΔΑΑΔ, Μ. 67 : ΟΟ,ΟΟ,ΑΑ,Φ. 73:?, ΙΟ,?, ΜΕΜΔΑΑΑΑΑΑΑΑΒΔΔΙΙΙΙΜΟΜΙ
ΜΜΜΟΦΦ; Α; Ι, Φ. 88:? ΤΑΑΑΕΗ? (Ἱππόλ. nach Monk fgm. 1052) ΙΙ. 91 : ΦΔΗΚΠ, Φ,
Α, ΑΑΑΕΠ. 92: ΑΕ☉ΠΚΗΔΕ. 93: ΦΙΙΜΔ? ΑΠΑΑΑΑΠΦΦΤ. 98, 31 ff. ΑΑΑΑΑΒΕΙΟΠ.
111 : ΑΑ, ΠΟΑΑΑΒ. 114 : Α, Α, ΑΑ. 115 : ΦΒΕΜΠ. Orion I: ΑΟΑΕΙΠΡΦ, Σ.
105).
Seneca verachtete die grammatik und hatte als Römer minister und
stoiker für die classische poesie der Griechen nicht viel übrig. seine sonstigen
schriften zeigen keine spur von solchen studien. aber als er tragödien dichten wollte,
griff er nach Elektra Oidipus Trachinierinnen Polyxena Thyestes von Sophokles, Medeia
beiden Hippolytos Hekabe Troerinnen Phoenissen Phaethon Kresphontes Herakles von
Euripides, Agamemnon von Aischylos. wahrscheinlich hat er noch viel mehr gelesen.
von römischen tragödien natürlich nur die beiden der augusteischen zeit, nicht die
barbarischen übersetzungen des 2. jahrhunderts. daſs damals keine auswahl von
musterstücken in den händen des publicums war, liegt auf der hand. nicht einmal
die berühmheit hat mehr als eine erste anregung zur lecture gegeben.
106).
Er selbst schreibt an seinen sohn benignitas enim mea me ad caelestem
gloriam efferet
(Sueton Aug. 71): man entfernt sich also doch wol nicht von dem
sinne des kaisers, wenn man den bericht, den er gleichzeitig über sein leben auf-
zeichnet, unter diesem augenpunkte betrachtet.
107).
Synesius (Dion. 17, p. 297 Krab.) nennt unter einer langen reihe von situa-
tionen die er platonischen dialogen entnimmt auch οὐδὲ Σίμων ὁ σκυτεὺς πάνυ τι
συγχωρεῖν ἠξίου Σωκράτει, ἀλλ̕ ἐπράττετο λόγον έκάστου λόγου, notwendigerweise
mit beziehung auf einen dialog, der dann Phaidons Simon war, den Iulian noch
gelesen hat. vgl. Herm. XIV 476.
108).
Stephanus von Byzanz hat ihn selbst ausgezogen, Niese de Steph. Byz.
auct
. 13.
109).
Das beweisen lange wörtliche den ionismus bewahrende stücke in den
scholien zur Odyssee (z. b. λ 287, 321) Pindar (P. 4, 133) Apollonios (4, 1396, 1515).
110).
Τειτάνιε δεῖε in einem spartanischen epigramm, Kaibel 473, zu dem Kirch-
hoff auf Lukian de hist. conscr. 21 verweist μεταγράψαι εἰς τὸ Ἑλληνικόν, ὡς —
Τιτάνιον τὸν Τιτιανόν. das pikante ist, daſs der tadler sich selbst als Λυκῖνος
einzuführen pflegt.
110 a).
Einen ganz anderen zweck hatte die rhetorische paraphrase gehabt, welche
Quintilian mit recht als eine der vorzüglichsten stilübungen preist. I 9, 3 versus
primo solvere, mox mutatis verbis interpretari: tum paraphrasi audacius vertere,
qua et breviare quaedam et exornare salvo modo poetae sensu permittitur. quod
opus, etiam consummatis professoribus difficile, qui commode tractaverit, cuicum-
que discendo sufficiat
. wenn unsere schulen dieses progymmnasma übten, würden
die s. g. gebildeten vielleicht ein bischen stilgefühl besitzen, das ihnen jetzt der
deutsche und vollends der lateinische auſsatz gründlich auszutreiben pflegt. natür-
lich haben die antiken rhetoren auch solche musterstücke veröffentlicht, wie Dion
die paraphrase des euripideischen Philoktetprologes. aber rhetoren und grammatiker
berühren sich kaum, und auf unsere scholien hat die rhetorische paraphrase nur
spät und wenig gewirkt.
111).
Symmachos citirt nicht nur specialschriften des Seleukos (Th. 840, 1175),
sondern auch Epaphroditos (Ritt. 1150, Wesp. 332, durch die rückbeziehung gesichert.
das Herodiancitat in den Rittern ist zusatz, wie die mangelnde verbindung πλέγμα
τι κτέ. zeigt). aber nicht bloſs Herodian ist ihm selbstverständlich fremd, sondern
auch dessen vater Apollonios (Plut. 103, Frö. 826, Ritt. 22: alle andern Apollonios-
citate gehören dem sohne des Chairis, über den Kydathen 134), und Irenaeus (Pl. 75.
Wesp. 900): denn diese geben nur τονικά, und solche dinge sind dem Symmachos
fremd. auch Sallustius und Telephus (2. jahrhundert) stehen in einem der antiquarischen
scholien des Plutos (725), die sich von selbst absondern. Phrynichos ist durch Hero-
dian, mit dem er Fried. 618 verbunden ist, ausgeschlossen, und selbst Palamedes
112).
Man kann das leicht sehen, wenn man die indices zu Nabers Photius
mustert. auf welchen umwegen auch immer hineingelangt, die quellen dieses lexi-
cons gehören dem 2. jahrhundert an. damit man nicht irre, bemerke ich, daſs die
atticistischen glossen im Hesych nicht Diogenian sind. selbst bei Lukian sind die
erhaltenen komödien stark bevorzugt, P. Schultze quae ratio inter Lucianum et
comicos intercedat
. Berlin 1883.
113).
Die sehr zahlreichen belege führe ich nicht an. die nummern 1—4, 10, 11
wird niemand bezweifeln. für die reihenfolge Ach. Wesp. vgl. Wesp. 1195, 1206.
1407. Wesp. Fried. vgl. Wesp. 1446 Fr. 1048 (zielt auf Wesp. 718). Fried. Vög. vgl.
Vög. 822 (zielt auf Fried. 928). Thesm. 162 ἐν τῷ πρὸ τούτου δράματι τοῖς Ὄρνισι·
Lysistr. 801 auf Ekkl. 303, jetzt fast verschwunden. damit erledigt sich die an-
sicht, daſs die auswahl von 7 stücken im Venetus erhalten wäre; sie ist auch an
sich verkehrt, denn diese gelehrteste handschrift repräsentirt keine verkürzung der
auswahl.
114).
Nach der häufigkeit der citate wären Daitales Babylonier Tagenisten etwa
gefolgt.
115).
Herodian II 945 Lentz (π. μον. λέξ. 39). es wird sich für Kratinos schwer-
lich ermitteln lassen, welche dramen noch länger behandelt wurden. wol aber ist
der versuch für Menander nicht aussichtslos.
111).
zeigt sich als zusatz (Fried. 916; sonst noch ein par mal zu Wesp.). dieser ist deipno-
sophist bei Athenaeus, was nur zeigt, daſs er eine berühmtheit wie Galen Rufus
Plutarch Ulpian war. und als vaterland hat ihm Athenaeus nach Plat. Phaidr. 261d
Elea gegeben: woraus nach jenen analogien folgt, daſs er nicht daher war. inter-
polirt hat Suidas oder ein vorgänger dies in den kargen biographischen artikel, aus
dem abzuleiten ist, daſs er bei Dionys und Philon nicht vorkam, d. h. nach 140
blühte. auch Symmachos fehlt bei Suidas, aber ein schluſs e silentio ist mislich
und die gänzliche vermeidung von schriftstellern des 2. jahrhunderts spricht für
etwas höheres alter.
116).
Schol. Fried. 1242 wird in betreff des Kottabos auf ἐκλογαί verwiesen,
1244 auf Athenaeus: es waren wol die ἐκλογαί des Sopater, in dessen erstem buche
Athenaeus excerpirt war (Phot. bibl. cod. 161): diese auszüge gehören also zu den
ἄλλα τινά der subscriptio.
117).
χάβος für zaum, schol. Ritt. 1150.
118).
Dies zeigt Zacher Philol. 1882. Zachers neue arbeit (Handschriften und
classen der Ar. scholien Leipzig 88) habe ich noch nicht prüfen können. um so
weniger konnte ich ihre zum teil sehr befremdenden ergebnisse berücksichtigen.
119).
Weil Rev. de phil. VI 179. es umfaſst Vögel 1057—1085, 1101—27, die
120).
Die vernachlässigung der späteren hat aber nicht nur üble folgen. wenn sie
selbst nichts neues mehr zusetzen, so erhält sich die alte gelehrsamkeit wenigstens
in den geretteten bruchstücken rein. so ist der commentar der Vögel ganz be-
sonders reich an anführungen der älteren grammatiker. und der der Thesmophoria-
zusen, im ganzen dünn, hat besonders viele prachtstücke: darunter 1059 über ein
drama des Philopator und den commentar seines ministers und lieblings Agathokles
dazu; das kann nur ein zeitlich ganz nahe stehender berichtet haben, also wol Aristo-
phanes oder Eratosthenes. der scholiast redet sehr persönlich, 31, 162, 840, 917.
weil 393 in gleicher weise in atticistischem übermut gegen Symmachos geredet
wird, dessen scholion dabei steht, könnte man meinen, in all diesem einen späteren
zu hören. aber das geht nicht wol, da gerade die bezeichneten scholien den älteren
gelehrten gelten und dieselbe weite der gelehrsamkeit zeigen wie der ganze com-
mentar. auſserdem ist 162 wegen der verweisung auf die Vögel und Wespen sicher
von Symmachos. die scholien der Lysistrate enthalten nur noch ein par umfäng-
lichere stücke und zwar nicht in R; die der Ekklesiazusen sind ganz dünn und
zeigen so recht, daſs dies das letzte stück ist.
119).
chorischen verse sind mit ἔκϑεσις und εἴσϑεσις geschrieben, reste von scholien vor-
handen. 1078 wird ζῶντ̕ ἀπαγάγῃ, was Bergk aufgenommen hat, bestätigt, 1080
fehlt πᾶσι, das schon Byzantiner getilgt haben. 1069 stand wenigstens etwas hinter
δάκετα, wo Dissen πάνϑ̕ eingesetzt hat. sonst stimmen selbst fehler, und eine
so verkehrte orthographie wie ἀετόν 1110 steht hier wie in R. auch Πεισϑέταιρος
ist da.
121).
Der schluſs der Isthmien ist durch verstümmelung der handschriften erst spät
verloren. denn die handschrift D bricht mitten im achten gedichte ab. die collation
sagt nicht, ob die handschrift selbst verstümmelt ist; indeſs ist das unwahrscheinlich,
da zu den erhaltenen versen keine überschrift noch scholien da sind. ein citat aus
mittlerer byzantinischer zeit (fgm. 2) bezeugt für ein weiteres gedicht der Isthmien
die existenz. aber ein völlig haltloser einfall ist es, die belege für Pindars sprache,
welche Eustathius in der vorrede zu seiner geplanten Pindarausgabe beibringt, so
weit sie in unseren handschriften fehlen, auf die Isthmien zu beziehen. erstens fehlt
jeder beleg sonst bei Eustathius, daſs er mehr als wir besessen hätte, zweitens hat
er überhaupt diese sprachliche sammlung nicht angelegt, so wenig wie er die apoph-
thegmen Pindars gesammelt hat, und drittens steht ein wort in dieser reihe, welches
nachweislich nicht aus den Isthmien ist, sondern aus dem gedicht an Theoxenos
(123, 5 ἑλικοβλέφαρος Ἀφροδίτα = Eust. 56, 20 Taf.), das in die ἐγκώμια gehört;
ganz zu geschweigen, daſs es eine torheit ist, sich die zahl der Isthmien ins un-
gemessene zu vermehren. die erste ὑπόϑεσις Ἰσϑμίων beginnt damit zu sagen,
daſs alle spiele leichenspiele wären, Olympien Pythien Isthmien. da sie für die alte
ausgabe geschrieben ist, fehlen die Nemeen. aber Kallierges hat sie eingeschoben,
weil er von der echten reihenfolge keine ahnung hatte. erst der neuste herausgeber
hat die interpolation beseitigt, aber seinerseits eine lücke bezeichnet. ebenso gut
hätte er die interpolation behalten können.
122).
Wenn dies nicht ein zusatz ist, wie Heliodor neben Symmachos im Aristo-
phanes steht.
123).
Vgl. fgm. 177; auf ihn gehen wol auch die belege des Hephaestion zurück
fgm. 116. 117, und die besonders bezeichnenden, weil aus dem ersten hymnus stam-
menden 34. 35.
124).
Ikarom. 27: wo die scholien sich wundern, da für sie die erste ode Ol. 1 ist.
die erste strophe war natürlich in alter zeit so bekannt, wie der anfang von Alk-
mans, Sapphos, Alkaios werken. daher hat sie der späte verfasser des pseudo-
lukianischen Δημοσϑένους ἐγκάμιον irgendwo auflesen und ein scholiast das richtige
ἀρχαὶ τῶν Πινδάρου ὕμνων hinzusetzen können — wenn er überhaupt das richtige
gemeint hat.
125).
Amyntianos Ol. 3, 52. ὁ Ἁλικαρνασσεύς, d. h. Dionysios μουσικὴ ἱστορία,
da es sich um die stiftung der für die musikgeschichte so wichtigen sikyonischen
Pythien handelt. Hephaestion (Isthm. 3) ist nicht der metriker. auf zwei Herodian-
citate ist kein verlaſs. bezeichnend ist, daſs Palamedes ein ὑπόμνημα εἰς Πὶνδαρον,
das letzte von dem wir wissen, geschrieben hat, und nicht vorkommt. das war
eine concurrenzarbeit — wenn er nicht selbst unser scholiast ist.
126).
So der metrische βίος Πινδάρου und die schriftentafel des Suidas, d. h.
Hesychius: Aelius Dionysius konnte diese noch nicht geben, zumal der herausgeber
die alte ordnung in der vita angegeben hatte, da er sie ja nicht beseitigen wollte.
127).
Sehr stark ist die benutzung im Lykophroncommentar des Tzetzes, dessen
128).
Zu den Aitia des Kallimachos war sowol der commentar des Theon wie
der des Epaphroditos bis in die letzte zeit des altertums vorhanden, d. h. so lange
wie die gedichte selbst: text und scholien lebten ja zusammen. Et. M. ἄρδις (Kall.
fgm. 130) Steph. Byz. Δωδώνη (24a). Et. M. Βουκεραίς, ἄστυρον. Epaphrodit ist
stark in den schol. zu Sophokles und Aischylos benutzt. z. b. stammt nicht bloſs die
eine notiz zu Eum. 2, sondern auch 21, 27 die Kallimachoscitate von ihm.
129).
Lucill lebte nach dem Kyrenaeer Nikanor (Steph. Byz. Μίεζα) und Apol-
lonides von Nikaia (Priscian de fig. num. p. 406 H.), also frühstens um die mitte
des 1. jahrhunderts n. Chr.
130).
So ist der name zu erklären. das eingreifen von Römern in griechische
grammatik ist auf diese zeit, die Trajans, beschränkt; neben Pacatus steht Iulius
Vestinus, und vor allem Sueton, Τράγκυλλος für die Griechen; auch Favorin gehört
gewissermaſsen dahin. die anderen träger griechischer namen wie Diogenian, Muna-
tius waren geborne Griechen. Irenaeus, der schüler Heliodors, ist schon von Soran
benutzt, auf welchen die glossen πυδαρίζειν und ψύη bei Orion zurückgehen (Haupt
op. II 436).
127).
analyse vielleicht etwas ertrag geben wird. Eustathius handschrift war reicher als
B an prolegomena.
131).
Citirt werden nicht nur Dionysios Βασσαρικά und Palamedes λέξεις, son-
dern der epigrammendichter Erycius (II 127) und ein anderes epigramm (Anth. Pal.
IX 688), frühstens aus dem 3. jahrhundert (III 1241), auſserdem häufig Herodian. auch
möchte dem scholiasten die menge worterklärungen gehören, die aus einem guten
Homerlexikon, vielleicht direct Apollonios Archibios sohn, sonst einem ganz ähnlichen,
stammen. das verhältnis von Sophokles Orus Stephanus ist im wesentlichen richtig
von Lentz erkannt (Herodian I CCXXIII), der sonst seinen autor auch hier überschätzt.
die person des Sophokles richtig erfaſst zu haben, der springende punkt des ganzen,
ist das verdienst von Warnkroſs (de paroemiograph. Greiſswald 1882 these). da
Lucills commentar noch Et. M. ἄρειων (zu II 77) angeführt wird, und nach freund-
licher mitteilung von Reitzenstein die bessere überlieferung des Et. M. noch mehr
citate gibt, so wird man freilich annehmen müssen, daſs Lucill nicht bloſs durch
Sophokles erhalten ist. und so dürfen eine nicht ganz kleine zahl von parallelen
scholien zu demselben verse auf die beiden autoren bezogen werden, deren son-
derung die nächste hauptaufgabe ist. sehr vielfach ist das verhältnis der doppel-
fassungen freilich nur das unten s. 199 bezeichnete.
132).
Tzetzes zu Lykophron benutzt auch diese scholien häufig; so weit ich
gesehen habe, ohne uns etwas zu helfen. die these Keils, daſs Laur. A einzige quelle
sei, ist aus allgemeinen gründen nicht wahrscheinlich, aber er ist so gut wie einzige
quelle, denn für scholien und text hilft alles bisher bekannte nicht weiter; die immer
noch verbreitete benutzung der pariser scholien entspringt nur der unkenntnis ihrer
benutzer. Merkels schätzung des Guelferbytanus ist eine unfaſsbare verirrung.
132 a).
Διόσκουροι und Ἡρακλίσκος sind jetzt allerdings nur in dem troſs der
unechten überliefert und haben von scholien keine spur bewahrt. aber wie ihre
echtheit von allen inneren gründen abgesehen durch antike citate gesichert ist, so
zeigt ihr text eine andere herkunft darin, daſs er sich durch seine reinheit von der
umgebung vorteilhaft abhebt.
133).
Orion (Et. M.) γρῖπος; durch dies citat gewinnt man bei Orion noch
mehreres. Ahrens ausgabe der scholien ist eine wertvolle vorarbeit, genügt aber
auch nach dieser seite nicht.
134).
Philostratus vit. Soph. p. 231. 244.
135).
Et. M. ἀσπάλαϑος = schol. 4, 57. διεκρανώσατε = schol. 7, 154. hier ist
im schol. die erklärung, gegen die Amarantos polemisirt, mit erhalten. Amarantos
war dem Galen persönlich bekannt, aber vor ihm verstorben. XIV 208 K.
136).
Schneider Nicandrea 159. man darf also den zustand, in dem die reste
der Georgika bei Athenaeus vorliegen, zum teil auf rechnung seines exemplares
schieben. die interpolationen sind übrigens zum teil sachlicher art, gemacht von
so zu sagen ärzten, also ähnlich wie die astronomischen im Arat zu beurteilen. auch
die zusätze am schlusse der Alexipharmaka, welche Π nicht kennt (offenbar auf
grund von kritischen scholien, denn die verse sind nicht byzantinisch), sind dieser
art, und der verfasser hat noch dazu selbst gesagt, daſs er einen nachtrag liefert.
137).
Die scholien der Alexipharmaka warten noch auf einen bearbeiter, der sie
wenigstens auf einen älteren zustand zurückführe als der jetzige ist, in welchem
Tzetzes erscheint und die orange νεράντζιον 533. O. Schneider hat die scholien
und die antike erklärung in unverantwortlicher weise vernachlässigt.
138).
Er gehört noch ins erste jahrhundert v. Chr. (Erotian. praef. p. 32 Kl.), und
polemisirt gegen Chloros, Ther. 748. 585, wodurch man weiteres gewinnen kann.
139).
Archelaos Ἰδιοφυῆ, Numenios, Petrichos, Herondas und Parmenon die
iambographen, Menekrates (Ther. 172, doch wol der dichter der Erga aus Ephesos)
sind seltenheiten. viele von ihnen und daneben die glossographen, wie Epainetos
und Hermonax, kehren allerdings bei Pamphilos wieder: aber die dichter sind keines-
weges nur für glossen benutzt. die techniker sind in verbindung mit der medici-
nischen litteratur und besonders mit Plinius Nat. hist. zu setzen: dann dürfte sich
vieles ergeben.
140).
Oppian für zwei glossen, Th. 98, 586, von denen die erste verdorben ist.
Dionysios der perieget zur stütze einer conjectur Th. 175, für eine sage Th. 607,
141).
Steph. Κορόπη, schwer entstellt, von Lentz Herod. II 188 ganz verkehrt
behandelt und ohne grund Herodian zugewiesen; die herkunft ist ganz ungewiſs.
trotz aller verderbnis ist klar, sowol daſs schol. Th. 614 benutzt ist, in einem zustande,
von dem jetzt die handschriften nur noch einen schatten enthalten, als auch daſs
der scholiast eine eigene meinung im gegensatze zu den ὑπομνηματίσαντες Θέων
Πλούταρχος Δημήτριος versucht. der schluſs des Stephanusartikels muſs etwa so
lauten, nach abweisung der erklärung Ὀροπαῖος für Ὠρώπιος und Κοροπαῖος, dies
weil man Κορόπη nicht kannte, βέλτιον δ̕ ὑπονοεῖν ὅτι ἡμάρτηται καὶ γραπτέον
(γράφεται codd.) Ὀροπαῖος ‖ κατ̕ ἔλλειψιν τοῦ ῑ ⟨ἀντὶ τοῦ⟩ Ὀροπιαῖος (Κοροπαῖος
codd.) ‖ Ὀροπία (Ὀρόπη codd.) γὰρ πόλις Εὐβοίας, ὅπου Ἀπόλλωνος διασημότατον
ἱερόν. die zwischen doppelstrichen stehenden worte sind in den codd. zwei zeilen
nach oben verschlagen, wo sie sinnlos sind. schol. Ther. 614 γράφεται καὶ Ὀρο-
παῖος (Ὀρόπειος codd.) Ὀροπία (Ὀρόπεια codd.) γὰρ πόλις Εὐβοίας (Βοιωτίας codd.
verbessert von Meineke), ὅπου διασημότατον ἱερὸν Ἀπόλλωνος. der ort Orobiai
schreibt sich allerdings nicht mit p, soviel wir wissen; bei Steph. fehlt aber der
artikel.
142).
Vgl. über diese Scheer Rh. M. 34 und Maaſs Phil. Unt. 6. beiden kann
ich mich nicht in allem anschlieſsen. übrigens haben beide ihre ausgaben ja noch
nicht veröffentlicht.
140).
Diogenian für eine glosse (bei Hesych weicht die erklärung ab), im gegensatze zu
Θέων ἐν ὑπομνήματι Th. 237. dies sind schwerlich spätere zusätze. eher kann
das von den seltenen aber reichen mythographischen scholien gelten, von denen
zwar Th. 11 zu einem ζήτημα gehört, aber Th. 15 gehört mit der Araterklärung,
wie sie bei Ps. Eratosthenes steht, zusammen, Alex. 11, 13, 15 mit den Apollonios-
scholien.
143).
Allerdings ist es unwahrscheinlich, daſs dies Apollonides von Nikaia, der
zeitgenosse des Tiberius ist. er heiſst in der Aratvita Κηφεύς, und Bentleys änderung
Νιϰαεύς ist gewaltsam. Κηφεύς ist ein eben so guter diakritischer name wie ᾽Ιξίων
Θρᾷξ Πινδαρίων: deutet dann aber auf zwei grammatiker mit namen ᾽Απολλωνίδης.
auſserdem erklärt dieser Apollonides die briefe des Arat und Euripides für gefälscht von
Sabidius Pollio: weder ist wahrscheinlich, daſs ein Römer in so früher zeit griechische
werke gefälscht hat, noch sehen die dummen Euripidesbriefe nach der zeit des
Augustus aus.
144).
Ähnlich wie den Aratscholien ist es denen zu Hesiodos gegangen, was
sehr zu bedauern ist, da die kritik in diesem dichter mit wertvollem materiale operirt
und andauernd und energisch gearbeitet zu haben scheint. leider fehlt noch jede
irgendwie brauchbare ausgabe des erhaltenen, und ist dies so dürftig, daſs nicht
einmal Tzetzes fortgeworfen werden kann. die epochen der Hesiodkritik sind zuerst
dieselben wie die der Homerkritik. sie beginnt mit dem 3. jahrhundert; Zenodotos
Apollonios Praxiphanes befassen sich mit ihr. dann folgen die maſsgebenden aus-
gaben des Aristophanes (der auch in der abgrenzung des echten nachlasses sehr
energisch vorgeht, obwol eine allgemeine beschränkung des alten namens auf ein
par werke hier nicht möglich war, wie 200 jahre früher für Homer) und Aristarchos.
dessen kritische zeichen erläutert auch hier Aristonikos. Didymos tritt minder hervor
als Seleukos, und dann Epaphroditos, dessen commentar zur Aspis noch im Et. Gud.
benutzt ist. er hat es wol bewirkt, daſs dieses gedicht mit unter die πραττόμενα
(schol. Nikand. Th. 11) [aufgenommen] ward. dann ist eine ausgabe der drei gemacht,
deren commentar man sich ähnlich den scholien BT zu Homer denken mag, in
welchen ja auch auszüge aus Aristonikos wie hier enthalten sind. existirt hat die
auswahl schon im 3. und 4. jahrhundert, wie das titelblatt eines solchen buches
lehrt (Sitz. Ber. Berl. 1887, 808), welches natürlich die reihenfolge Θεογονία Ἔργα
Ἀσπίς zeigt, die unbegreiflicherweise von den modernen öfters verlassen wird. ob
schon in dieser ausgabe der commentar Plutarchs zu den Erga benutzt war, oder
später [hinzutrat], ist fraglich, doch wol nach analogie der Nikanderscholien wahr-
scheinlicher. später ist dann der des Proklus zur Theogonie hinzugetreten, wie die
neuplatonischen auszüge zu den Platonscholien, z. b. des Gorgias, und sind die para-
phrasen gemacht. wir haben nur jämmerliche reste. entsprechend ist der text traurig
verwüstet, und nicht nur alte citate, wie selbst im Homer, sondern die zum glück
umfänglicheren reste antiker handschriften helfen hier wirklich etwas. aber man
schaudert, wenn z. b. hinter Ἔργα 174 vier verse spurlos in unseren handschriften
verschwunden sind (Naville, Rev. de Phil. 1888, 113).
145).
Auſser den Römern, die aus Theon schöpfen, steht manches bei Stephanus,
im Et. M. und in den scholien zu Dionysios periegetes, die eine ausgabe und analyse
verdienen, zumal jetzt der schluſs (von 900 etwa) verdünnt und durch zusätze (Plu-
tarch de fluviis z. b., wovor sich zu hüten) verdorben ist. Lykophronscholien stecken
z. b. 259, 270, 306, 358, 483. auch Apollonios- und Kallimachosscholien sind viel
benutzt. die scholien scheinen aus dem 4. oder 5. jahrhundert zu sein.
145 a).
Wirklich erscheint in der älteren überlieferung des Et. M. ᾽Αμαντίς ein
Σεξτίων ἐν ὑπομνήματι Λυϰόφρονος. gefällige mitteilung von Reitzenstein.
145 b).
Die übereinstimmung dieser scholien mit Et. M. und Hesych kann ein
urteilsfähiger natürlich nur so auffassen, daſs Et. M. aus den ehemals vollständigeren
scholien schöpft, Diogenian dieselben worterklärungen noch älterer glossographie
oder exegese entnimmt. benutzt sind diese scholien auch von dem Dionysiosscho-
liasten. was freilich in dem archetypos der hymnen erhalten war, ist an sich für
uns fast ganz wertlos.
146).
Es ist die von King vorgeholte und nach ihm benannte recension. hinzu
kommen die scholien zur Hekabe. Triklinios hatte keine guten handschriften; sein
Aischylos war ein bruder des Venetus 616, sein Pindar ein nachkomme des Flor. D.
Hillers ‘beiträge zur textgeschichte der Bukoliker’ haben auch seine Bukolikerhand-
schrift kennen gelehrt. auch hier hat er sich bemüht, so viel wie möglich zu sammeln.
gutes und böses hat er selbst wenig getan.
147).
In den randnotizen des Laur. 32, 2 (C), über welche unten. wir würden
dieselbe reihenfolge erschlieſsen, nur Andromache und Alkestis umstellen: das liegt
aber nur daran, daſs Alkestis zufällig im Marcianus nicht mehr erhalten ist.
148).
Daſs die Hiketiden hinter die Orestie gehören folgt erstens daraus, daſs
sie nur im Laur. erhalten sind, zweitens scheint Tzetzes sie allein von den 7 stücken
nicht besessen zu haben, drittens sind ihre scholien am dürftigsten, viertens war der
archetypus auf einzelnen blättern (825—900) ganz besonders zerstört. Eustathius
scheint sie gehabt zu haben, wenn er v. 885 zu α 347 anführt. es ist aber unsicher,
da es eine andere lesart und erklärung gibt als der Mediceus und seine scholien.
ein anderes citat aus den Hiketiden ist mir bei Eust. nicht begegnet.
149).
Dies die ordnung im Paris. 2712: die reihenfolge der thebanischen fabeln
scheint ursprünglich und wird durch die hypothesen des Sallustius bestätigt. auch
sind die scholien zum Philoktetes in der tat die spärlichsten.
150).
Es ist eigentlich nur Phoen. 1707 zu nennen, περὶ τοῦ ἐν τῷ ἱππείῳ
(l. ἱππίῳ) Κολωνᾷ τεϑάφϑαι τὸν Οἰδίπουν ἐν ἄλλοις ἐξειργάσμεϑα ἀϰριβῶς; was
man kaum auf etwas anderes als scholien zu dem sophokleischen drama beziehen
kann. in den aus der rhetorenschule stammenden scholien zu den rednern, Thuky-
dides, Aristides ist eine solche verweisung auf die im cursus vorhergehende lecture
gewöhnlich. die form des ausdrucks ἐν Ἰφιγενείᾳ τῇ ἐν Ταύροις εἴρηται (Androm.
1262), ἐν ῾Ηραϰλεῖ ϰαὶ Ἰξίονι δέδειϰται (Or. 73) darf nicht irren: tatsächlich findet sich
das angeführte IT. 436, Her. 1160, 1233.
151).
Solche citate finden sich gerade zu den späteren stücken der sieben,
Med. 613 Helladios chrestomathie, Med. 1027 Phrynichos, Andr. 229 Lykophron (in
dieser sphaere der gelehrsamkeit ein zeichen später herkunft der bemerkung), Andr. 687
Ps. Apollodor, Alk. 1128 Plutarch μελέται ῾Ομηριϰαί, Hipp. 409 Herodian, aber in
einer specialschrift; auſserdem nur eine accentregel des Theodosios Or. 1525. für spät
muſs auch das citat aus Apollonios Rhodios Or. 225 gelten, da dieser in alter glosso-
graphie nicht benutzt wird: in dem mythographischen scholion Med. 334 ist das
etwas anderes. die Sophoklesscholien haben auch nur ein Herodiancitat, auch das
mit buchtitel, OK 195. mit einem excerpt aus Ps. Apollodor und den bekannten versen
152).
Ein im übrigen verschollener grammatiker Eugenios (um 500) hat nach
Suidas eine Kolometrie ἀπὸ δραμάτων ιέ zu den drei tragikern verfaſst. ob er von
jedem 5 nahm oder wie er sonst verteilte, läſst sich nicht sagen: je 15 konnte er
nicht mehr kennen und einfluſs hat er nicht gewonnen.
153).
Med. 218.
154).
Aias 408. die zeit des Pius, eines ziemlich törichten lytikers, scheint sich
nicht sicher bestimmen zu lassen. vgl. Schrader Porphyr. 434.
155).
Et. M. ἁρμάτειον aus dem vollständigeren scholion zu Or. 1384. citirt
wird neben Palamedes auch Δίδυμος ϰαὶ Ἀλέξανδρος. auf den von Kotyaion hat
Lehrs qu. ep. 13 geraten. es ist aber ganz unsicher; eben so gut kann es ein obscurer
älterer sein, den Didymos citirte.
151).
πρῶτα μὲν ἐν Νεμέῃ, in Byzanz geläufigen dingen, hat wol der schreiber des Laur.
erst den mangel einer hypothesis der Trachinierinnen ersetzt. von den zwei stellen
aus Apollonios (El. 445, 745) ist wenigstens die erste späterer zusatz, ebenso wie
die töricht citirte aus der Demonicea Tr. 118. aber wie wenig citate bleiben in diesen
scholien übrig, wenn man das alte hypomnema zum OK und die mythographischen
excerpte abzieht? das gilt noch dreimal so stark von den Aischylosscholien, wo
zufälligerweise Herodian auch nur einmal vorkommt (Eum. 189). die für späte zeit
beweisenden namen Strabon Dionysios periegetes Apollonios Rhodios sind alle von
einem spätling für geographisches zum Prometheus beigeschrieben. das excerpt aus
der μουσιϰὴ ἱστορία vor dem Prometheus ist ersichtlich von demselben beigefügt;
wenigstens die epitome des Rufus hat sich lange erhalten. die benutzung der Sym-
machosausgabe des Aristophanes liegt nirgend erweislich vor: die der Epinikien des
Pindar überall.
156).
Über die berechtigung des titels wird zu Ant. OT. Ai. gehandelt, über die
mythographie zu Ant. Ai. die geschwätzigkeit ist die gleiche: der stoff natürlich
älteren ὑποϑέσεις entlehnt.
157).
Σαλλουστίου ὑπόϑεσις Πυϑαγόρου steht vor dem OK.; aber abgekürzt,
und ist so zu verstehen. wer weiſs, daſs es einen Pythagoreer Sallust gegeben hat,
wird es nicht wegconjiciren.
158).
So Zeller V 734, der andere gleichsetzungen mit recht abweist. aber Iulian
weiſs selbst in der überschwänglichen achten rede, die er als junger mann dem ab-
berufenen genossen widmet (p. 252b) ihn nur zu rühmen als ῥητορείαν ἄϰρον ϰαὶ
φιλοσοφίας οὐϰ ἄπειρον. und als er ihm die vierte rede, wie er selbst sagt (150 d),
ein excerpt aus Iamblichos περὶ ϑεῶν, zuschickt, nimmt er an, daſs Sallustius jenes
werk nicht kennt (157 b) und, sollte man meinen, nicht lesen wird: wozu widmet
er ihm sonst die epitome? Sallustius war wol überhaupt kein Grieche; verwaltet
hat er Gallien: der praef. praetorio unter Iulian ist ein anderer.
159).
Suid. Σ. σοφιστής, ἔγραψεν εἰς Δημοσϑένην ϰαὶ ῾Ηρόδοτον ὑπόμνημα
ϰαὶ ἄλλα. auf ihn möchte man nur das gleich zu nennende Aristophanesscholion
beziehen.
160).
Schol. Ar. Plut. 725 in jenem antiquarischen scholion, das auch Telephos
enthält, oben anm. 111. Et. M. ἁρπίς mit einem Kallimachosvers aus der Hekale. ver-
gessen wollen wir nicht, daſs Kallimachos in den Sophoklesscholien durchgehends
und oft angeführt wird. Steph. Byz. ῎Αζιλις über die schreibung dieses namens ist
zweifelhaft.
161).
Späte-handschriften haben die subscription des Orestes auch, und so eine
abschrift des Laurentianus 32, 2 (Kirchhoff Eur. I p. 417. 472): aber keinesweges
dieser selbst.
162).
Vgl. Reitzenstein Rh. M. 1888. es kann jetzt niemand über diese dinge
mit entschiedenheit reden, ehe nicht die neuen funde veröffentlicht und gründlich
geprüft sind. doch glaube ich, bis ich überführt werde, nicht daran, daſs scholien
zu anderen als den 10 stücken benutzt sind. in den alten lexicis, z. b. Diogenian,
kamen natürlich glossen aus allen vor. da die Homerglossen aus den s. g. Didymos-
scholien genommen sind, welche selbständig damals schon bestanden und einer
ganzen paraphrase des textes entstammen, so kann man sich sehr wol einen analogen
Euripidestext denken.
163).
Der jüngere dagegen behilft sich mit Pindar Nem. 1 (εἰϰ. 5), Apollonios
Rhodios (7. 8. 11), Philoktet und Trachinierinnen des Sophokles (6. 16. 17 vgl. auch
das citat 1), citirt Oid. Kol. (3). für das übrige bedarf man nirgends einer dramatischen
vorlage: man darf ja nicht vergessen, daſs die mythographische litteratur sehr stark
für den bedarf der sophisten zugerichtet und erweislich viel benutzt ist. die μυϑιϰαὶ
διηγίσεις der sophisten verlangen dringend eine ausgabe und bearbeitung. Neoptolemos
unter den schäfern verborgen, damit Phoinix ihn nicht nach Troia abhole, zufällig
mit diesem zusammentreffend und an der ähnlichkeit mit seinem vater erkannt
(Philostr. I b), ist ein hübsches motiv, deutlich nach Achilleus in Skyros erfunden. die
abholung des Neoptolemos durch Phoinix war inhalt der sophokleischen Skyrier
(Robert, Bild und Lied 34), aber dieses raffinirte motiv wird man auf Sophokles
kaum zurückführen, da ja die sage von Achilleus auf Skyros selbst erst durch Polygnot
und des Euripides Skyrier aufgekommen war. und für die directe benutzung der
sophokleischen tragödie durch den sophisten spricht vollends gar nichts.
164).
Wenn z. b. der sophist Cassius Maximus von Tyros von Aristophanes nur
Frösche und Wolken, von Euripides Phoenissen, von Aischylos zwar den Philoktet,
aber aus einem älteren philosophen, den auch Plutarch benutzt (vgl. fgm. 250) citirt,
164).
so beweist das nichts. auch von Pindar und Stesichoros citirt er nur was im Platon
steht, Sappho hat er allerdings gelesen. — darauf daſs in den resten des rhetors
Alexander Numenius nur Soph. El., Eur. Hek. Or. Med. vorkommen, möchte ich nichts
geben. — Tatian, sophist von fach, hat von Orestes eine unklare erinnerung, wie
sie aus eigner lecture bleibt (10); wenn er aber die im Alkmeon auftretende Erinys
nennt (worte von ihr sind fgm. 1011 lateinisch erhalten), so entlehnt er das mit
der folgenden gelehrsamkeit seinen kynischen quellen. — die atticisten scheinen
zwar die commentirten dramen zu bevorzugen, aber es ist längst nicht so sicher
wie für Aristophanes: die citate sind überall zu selten. — daſs der kaiser Iulian
von Aristophanes Plutos Ritter Acharner, von Euripides Orestes Phoenissen Bakchen
selbst gelesen hat, weiter nichts von tragödie und alter komödie aus eigner lecture
zu stammen braucht oder nachweislich stammt, ist freilich deutlich: aber ein sicherer
beleg des 4. jahrhunderts hilft wenig. er kennt Anakreon Sappho Simonides, das
zeigen seine werke, und daſs er Bakchylides las, bezeugt Ammian 25, 4, 3: auch
Pindar kennt er, aber nur die epinikien (denn ep. 19 geht auf Isthm. 2). von den
andern wird es natürlich analoge auswahlen gegeben haben, d. h. einzelne bücher
der alten ausgaben. so etwas hat gleichzeitig Himerius besessen; und einzelnes hat
sich noch viel länger erhalten. wie die citate von commentaren bei Orion und die
erhaltenen fetzen von büchern der Sappho und einem der keischen dichter beweisen
(fgm. adesp. 85: von Pindar ist es nicht, denn dessen pythische epinikien haben
wir). für Choricius bestätigt J. Malchin (de Chor. Gaz. vet. scr. studiis Kiel 84) die
erwartung. er hat Hek. Or. Phoen. Hipp. Med. Andr. Tro. die in der rede ὑπὲρ
παντομίμων erhaltenen verse (Malchin s. 46 und 50) sind stark verdächtig, übrigens
stammt das eine sicher aus einem florilegium. — für Gregor von Nazianz trägt Stoppel
(qu. de Gr. Naz. poet. scaen. imit. Rostock 81) viel zusammen, was teils ganz nichtig
ist, teils auf die benutzung der lexica weist, die bei Gregor sehr deutlich ist. sicher
kennt er nur Eur. Hek. Or. Phoen. Med. Andr. Alk., wenn auch nur so viel. wenn
der iambische brief an Seleukos vielmehr von Amphilochius ist, fällt z. b. Alk. fort.
— solche untersuchungen müssen auch für die prosa noch in groſser zahl angestellt
werden.
165).
Jeder, der etwas von diesen dingen versteht, wird durch die vergleichung
der beiden fassungen, wie sie Michaelis vor seiner Elektra gegeben hat, überzeugt
werden. übrigens reicht auch als schiboleth der vers OT. 800 aus, der in L von
später hand nachgetragen ist, in den anderen zum teil älteren handschriften steht:
aus denen er also, nachdem er in allen gleichermaſsen interpolirt war, wieder in
das original eingetragen worden sein müſste. noch unbegreiflicher ist es freilich,
daſs jemand den vers für unecht erklärt, ohne an die abhängigkeit der übrigen von
L zu glauben. aber eine schmach ist es, daſs, wie wir es jetzt sehen müssen, die
scholien des Laur. als selbständiges buch auf den markt geworfen werden, gleich
als ob die andern handschriften nur eine wertlose masse wären. der herausgeber,
der seine ignoranz allerorten zeigt, hat dabei gar die ὑποϑέσεις vergessen. einigen
nutzen gewährt dagegen für die Sophoklesscholien die dissertation von P. Jahr
(de cod. schol. Soph. Berlin 85).
166).
Erneute prüfung der Eumeniden hat mich zu der ansicht von G. Hermann
und Ahrens zurückgebracht; doch gilt die selbständigkeit nur für den archetypus
von Laur. 31, 8 und Ven. 616, von dem auch Triclinius abhängt, und wol auch
Ven. 468, der nur den anfang des Agamemnon enthält. zuzugeben ist, daſs unbedingt
durchschlagende stellen fehlen.
167).
Daſs das ermöglicht werde, erfordert umsichtige handschriftliche studien.
die behauptung zu erweisen reichen die von Weil in der vorrede seiner ausgabe
vorgeführten stellen aus, die sich leicht vermehren lassen. für die scholien scheint
mir die dissertation von Sorof (de rat. inter cod. rec. et Laur. Berl. 1882) das
gegenteil von dem was sie will hinreichend zu lehren, aber der positive ertrag
ist kaum die mühe wert. vgl. auch A. Reuter de A. Prom. Sept. Pers. cod. rec.
Rostock 1883. ein schiboleth sei hier die didaskalie der Perser, wo nur die jüngeren
handschriften den Glaukos als Ποτνιεύς bezeichnen. das hat man erst nicht leiden
mögen, weil der wahn der trilogie diesen Glaukos ausschloſs, aber da conjicirte man
wenigstens. jetzt sollen die Byzantiner die neigung gehabt haben die homonymie
zu beseitigen, und den Ποτνιεύς aus den scholien der Frösche aufgestöbert haben.
168).
So ein byzantimischer metrischer traktat, der sonst nur Hephaestion und
scholien nebst modernem gibt, für den schluſskommos der Sieben Mangelsdorff Anec-
dota Chisiana
(Karlsruhe 1876) 25.
169).
Übrigens sind die handschriften längst nicht alle genau bekannt. z. b. Ven.
Marc. 470 (Kirchhoff praef. VII), aus dem ich zu Hipp. 153 ποιμαίνει notirt habe; aber
das würde wertvoll nur sein, wenn Marc. 471 nicht erhalten wäre. die selbständigkeit
zeigt sich oft an einer kleinigkeit, so hat Marc. 468 den rest der aristophanischen
hypothesis zu den Phoenissen gerettet, Vat. 1345 einen teil der vita (die nur in
solchen handschriften steht) und eine bemerkung des Didymos (schol. Hek. 13), Laur.
31, 15 (Γ im Aristophanes) ist für den Euripidestext selbst in der Alkestis ganz zu
entbehren, rettet aber zu Hipp. 138 allein ein Menanderfragment. Harleian. 5743 hat
an einer stelle (Alk. 1037) eine richtige lesart erhalten, aber das kann zufall, kann
willkür sein. Alk. 1079 schien eine lesart des Havniensis durch Galen (de plac.
Hipp. et Plat.
p. 388 Müll.) bestätigt: und doch ist es an beiden orten nur ein
itacismus: der Hamiltonianus des Galen stimmt zu den anderen Euripideshandschriften.
170).
Auf dem vorsatzblatte ist ihr name noch genannt: aber als die handschrift.
nach Italien kam, fehlte sie schon, und der name ward deshalb ausradirt.
171).
Kirchhoffs zeichen für die handschriften waren eine so wenig glückliche
neuerung wie die von ihm selbst wieder beseitigte eigene verszählung. seine classen-
einteilung ist weggefallen, und die von ihm durch kleine buchstaben bezeichneten
handschriften auch alle bis auf Paris. B, den man jedoch eigentlich auch nur in
der Alkestis nötig hat. ausgefallen ist auch der Havniensis, den er C nannte. also
empfiehlt sich in der tat mit Dindorf M(arcian), V(atic), und mit den älteren (Paris.)
A, (Paris.) B, (Flor.) C und, wo er nötig ist, P(alat. 287) zu sagen: M und B gilt
noch in den scholien, wo aber ein übles A für Vat. eingedrungen ist. einen ver-
lorenen archetypus herzustellen ist man nirgend veranlaſst.
172).
G. Vitelli hat in den Pubblicazioni del R. istituto di studi superiori 1877
eine photographie der seiten dieser handschrift veröffentlicht, welche die Iphig. Aul.
enthalten: reicht sie auch nicht für die constatirung der ersten hand aus, so ist sie
doch äuſserst belehrend.
173).
Die Bakchen hat Clemens von Alexandrien selbst gelesen, das zeigt eine
rhetorisch prächtige partie am schlusse des protreptikos (92 P); auch Nonnos hat
aus ihnen das Pentheusabenteuer genommen (45. 46). scholien zu ihnen scheinen
von Cyrill benutzt zu sein. die hypothesis mit dem namen des Aristophanes ist
erhalten. Apsines besaſs sie offenbar mit den Troerinnen in einem bande, wie die
ordnung sie stellt, denn er schreibt jene I 394 Sp., die Bakchen p. 399, wie man
glauben möchte, aus eigener lecture aus: allerdings citirt er auch Iph. Aul., p. 403.
neben Troerinnen und Rhesos benutzt sie in Byzantinerzeit der verfertiger des Χριστὸς
πάσχων. sie haben in C und P gesonderte überlieferung, und gehen in P auf ein
174).
Die zusammengehörigkeit der beiden stücke ist erkannt von Robert Herm.
XIII 133. ich hatte mich verleiten lassen, das florentiner stück für eine abschrift von
C zu halten, was ich freilich für die drei ersten dramen schon selbst hatte aufgeben
müssen. abgerissen ist das stück früh: es hat dem Musurus nicht mehr gehört und
zeigt deshalb keine oder wenigstens keine guten correcturen. natürlich wird man
jetzt nicht zwei bezeichnungen für zwei hälften einer handschrift einführen. meine
Analecta Euripidea zeigen, wie geringfügig die besseren lesarten von P sind, und
einzelne fallen noch weg (z. b. hat R. Prinz bei Stahl ind. lect. v. Münster, sommer
1887, angegeben, daſs Kykl. 494 μαϰάριος ὅστις εὐιάζει in C von erster hand ge-
standen hat). um so weniger empfiehlt sich der weg, den ich in der ausgabe der
Hiketiden beschritten hatte und auf dem mir R. Prinz in Alkestis und Medeia (wo
er noch dazu falsch ist) gefolgt ist. es ist ein billiges, aber nichts eintragendes
vergnügen, wie es sich ein anfänger mit genugtuung macht, einen archetypus zu
reconstruiren, von dem eine gute abschrift da ist, deren lesarten, wo die zweite
schlechte bevorzugt wird, doch immer angegeben werden müssen, weil der leser
urteilen will, ob man der schlechten folgen darf. von dieser freilich sind alle
schreibfehler wegzuwerfen, und sie ist nur zu nennen, wo eine möglichkeit vorliegt,
aus ihr etwas zu entnehmen. nun ist aber C zweimal durchcorrigirt, einmal von
einem der schreiber (die sich in ihr abgelöst haben), einmal oder mehrmals von
einem gelehrten in Italien. offenbar muſs man die änderungen der ersten art immer,
die der zweiten nie anführen, es sei denn daſs es eine richtige conjectur ist. und
ebenso muſs man mit den änderungen in P verfahren. es ist das gar nicht so leicht;
aber die mühe lohnt sich, weil dann der apparat lichtvoll wird. vgl. bd. II vor-
bemerkungen und textabdruck. die sehr guten collationen, über welche Prinz in
seinen ausgaben verfügt hat, haben einen groſsen teil ihrer brauchbarkeit eingebüſst,
weil sie die späteren hände nicht scheiden, und der herausgeber einen archetypus
herstellen will; ganz abgesehen von der anlage des apparates, die von kaum er-
reichter unübersichtlichkeit ist.
173).
exemplar mit gleich vielen zeilen zurück wie die Troerinnen (Robert Herm. XIII 136).
auch schol. Dionys perieg. 391 ist direct aus den Bakchen mit commentar genommen.
die citate sind auch bei späten grammatikern zahlreich, indessen weiſs man bei ihnen
ja kaum je, ob sie nicht abschreiben.
175).
Der corrector war kein gescheidter mann, und metrisch namentlich hat
er nur gesündigt. dennoch hat er im Herakles an 8 stellen kleinigkeiten wirklich
berichtigt.
176).
E. Bruhn (lucubr. Eurip. 255) hat versucht die contamination von P, nach-
dem Prinz sie für die drei ersten stücke schon zugegeben hatte, auf die Andromache
zu beschränken, weil er eimen jungen Turiner codex aufgefunden hat, der ganz zu P
stimmt: aber der codex ist zu jung, als daſs P aus ihm geschöpft haben könnte und in
seiner vorlage können gern mehr stücke gestanden haben. ganz übrigens kann Bruhn
das eindringen von fremden Ilesarten auch sonst nicht leugnen, meint aber C starker inter-
polation überführen zu können. indessen spricht da die reihe der neun stücke zu ver-
nehmlich, die wirklich C und P aus derselben vorlage haben. auſserdem kann ein über-
einstimmen mit Par. B in der Alkestis wahrlich nichts für interpolation beweisen, wie
die obige übersicht der überlieferung lehrt. das sind fälle wie sie z. b. im Hippolytos
häufig sind, wo C zu M stehen würde. minutien wie accente und dgl. kommen über-
haupt nicht in betracht, und correcturen in C für den schreiber auch nicht. somit
fällt die zudem äuſserst verwickelte verhältnisse für P voraussetzende ansicht. den
berühmten vers der Medeia 1078 ϰαὶ μανϑάνω μὲν οἷα δρᾶν μέλλω ϰαϰά acceptire ich
als schiboleth. hie C und alle zeugnisse seit Chrysippos zeit, da P und alle anderen
handschriften. da meint Bruhn lieber, C habe aus dem gedächtnis geändert (war
im 13. jahrhundert der vers noch fliegendes wort?), nicht P, wie doch sonst auch
nach seinem urteil, aus der vulgärüberlieferung. schlimmer ist freilich, daſs Euripides
τολμήσω für δρᾶν μέλλω zugetraut wird. “ich erkenne wol die verbrechen, zu
denen ich mich entschlieſsen werde”, statt “die ich begehen werde, aber die leiden-
schaft ist stärker als meine überlegung”. die leidenschaft ist etwas, das sie als
eine andere person empfindet, deren werkzeug sie nur ist. daher sagt sie nicht
δράσω, was an sich gienge, sondern setzt die periphrase, die uns so recht zeigt,
daſs sie über kurz oder lang beim δρᾶν ankommen wird (man muſs doch μέλλω in
seiner ganzen bedeutungsfülle wie ein Grieche empfinden): τολμήσω, was den eignen
entschluſs einschlieſst, kann sie nicht sagen, ohne die selbstverteidigung aufzugeben.
ἐτόλμησα φονεῦσαι sagt der ἑϰὼν φονεύς, έμέλλησα φονεῦσαι der ἄϰων. daſs der
Χριστὸς πάσχων die lesarten von CP rein wiedergäbe, hätte Bruhn nicht auf Kirch-
hoffs autorität weiter sagen sollen: das war durch die arbeiten von A. Doering
berichtigt.
177).
Da die Bakchen in C und P abweichen, ist der ausweg verschlossen,
C seine vorlage unvollständig abschreiben zu lassen. daſs es auch sonst noch hand-
schriften der Troerinnen dieser classe gab, zeigt Harl. 5743, der wenigstens ein stück
der Troerinnen aus dieser recension enthält, übrigens neben V und P entbehrlich ist.
178).
Deutlich kann das nur eine ausgabe mit übersichtlichem apparat machen:
ich werde, so bald ich irgend kann, den Hippolytos vorlegen, der dazu am ge-
eignetsten ist.
179).
Der anfang der nachdichtung wird mit recht 1510 angesetzt. ob der ver-
fasser an den anderen interpolationen des stückes schuldig ist, mag dahin stehen;
zutrauen könnte man ihm die einführung des boten 629—37. wer den schluſs ver-
teidigen will, hat die verpflichtung sich auch der Danae anzunehmen. deren ver-
fasser hat nicht nur die dramen dieser reihe benutzt, was natürlich ist (61 nach
Her. 138), sondern einen vers von Sophokles aufgenommen, den wir nur aus Stobaeus
kennen (19 = Soph. 847, 4): das spricht nicht für einen Byzantiner. Nauck hat
auch den schluſs der Bakchen 1371—92 verworfen, und es hat etwas verführerisches,
weil sie auch den schluſs einer handschrift bildeten. allein ich muſs meine zustim-
mung zurückziehen. denn die clausel πολλαὶ μορφαί, 1388—92, ist freilich nicht von
Euripides, aber auch sonst falsch zugesetzt. die scenenführung aber ist ähnlich im
schlusse der Elektra, dessen athetese Nauck wol selbst nicht mehr aufrecht hält,
und die letzten worte Agaues tragen echt euripideisches colorit ἔλϑοιμι δ̕ ὅπου
μήτε Κιϑαιρὼν μιαρός ⟨μ̕ ἐσίδοι⟩ μήτε Κιϑαιρῶν̕ ὄσσοισιν ἐγώ, μηδ̕ (μήϑ̕ Ρ)
ὅϑι ϑύρσου μνῆμ̕ ἀνάκειται· βάκχαις δ̕ ἄλλαισι μέλοιεν. daſs ein thyrsos eine land-
schaft, einen bergaltar heiligt, sieht man sehr oft auf pompejanischen landschaften
und alexandrinischen reliefs. vor allem aber ist die nachdichtung unwahrscheinlich,
da sie doch wol den unvollständigen satz 1371 ausgefüllt haben würde, und die
corruptel ist sehr groſs, wie es dem letzten blatte der verstümmelten handschrift
zukommt.
180).
Nachgewiesen in meinem programm de Rhesi scholiis.
181).
Über die zeit des centos Hilberg Wien. stud. VIII. die wenigen citate
aus dem Agamemnon lehren nichts. die aus Troerinnen und Rhesos sind nicht ganz
wertlos und können eine gute lesart gerettet haben, wie gleich eine probe lehren
wird (vgl. anm. 186). aber der versifex ändert so gewaltsam, daſs zu wenig verlaſs
auf ihn ist und praktisch nichts herauskommt. nur für die Bakchen muſs; man
allerdings die zeugnisse in den kritischen apparat aufnehmen, und für die beiden
groſsen lücken in P steht hier wenigstens einiger ersatz.
182).
Ein florilegium oben anm. 104. massenhafte nachahmungen z. b. in dem
roman des Eustathius. der bischof Eustathius, der für Sophokles, den er sehr
gut kannte, nicht ganz wertlos ist, von Aischylos auch wol alles gehabt hat,
aber kaum etwas lehrt, hat von Euripides nur die fünf ersten stücke ausgezogen.
Tzetzes zum Lykophron hat die Troerinnen noch gehabt; das ist etwas merkwürdiges,
und mindestens für ein wichtiges scholion (Andr. 14) gibt er sehr wertvolle be-
richtigungen; da kann sich also mehr finden: aber der mann selbst ist äuſserst un-
zuverlässig, hat schlechtes übernommen und durch seine eigenen scholien unfug
gestiftet. daſs in den Chiliaden die Bakchen benutzt wären, weil VI 580 der name
steht, ist nicht sicher: daſs Harder (de Ioh. Tzetzae histor. font. 52) auf grund von
183).
Besonders deutlich wird dies in M: man braucht nur die Phoenissen
durchzusehen. sonst bietet B die besten belege. der art sind auch die randnotizen
in L (M) der beiden älteren tragiker: keine spur von kritischem apparate ist darin.
184).
Über die entstehung und demgemäſs die schätzung dieser varianten hat
E. Bruhn lucubr. Eur. cap. I gehandelt, und wirklich methodisch fördernde bemer-
kungen gemacht, denen gegenüber ich meine früheren ansichten einfach aufgegeben
habe. übrigens war die psychologische veranlassung der schreibfehler treffend schon
erkannt und formulirt worden, zumal von G. Hermann (Belger Haupt als akademischer
lehrer 127), ohne psychophysik: aber das schmälert das verdienst Bruhns nicht im
mindesten.
182).
Chil. I 330 die lecture der Helene annimmt, ist ein irrtum: nur die erwähnung der
Sirenen bezeugt die stelle für Euripides und kann also auf Andr. 936 bezogen werden.
185).
Veröffentlicht von Kirchhoff. Mon. Ber. Berl. Ak. 1881, 982. die hand-
schrift enthält mit lücken 242—515. die einzige berichtigung steht 302 ἴσον δ̕
ἄπεσμεν τᾷ πρίν, wo alle handschriften τῶν haben, aber die paraphrase ὁμοίως
ἄπεσμεν τοῖς πρὶν ῥήμασιν. den wert für die recensio kann nur die vollständige
adnotatio critica zeigen.
186).
Veröffentlicht von Wilcken Sitz. Ber. Berl. Ak. 1887, 814. da der heraus-
geber seinen fund gar nicht zu würdigen verstanden hat, soll hier das nötige bemerkt
werden. erhalten sind 48—96, doch fehlen mehrfach zeilenschlüsse und anfänge, so
daſs die lesung des schlusses von 54 und 84 nicht zu bestimmen ist. die vier chorverse
haben dieselbe kolometrie wie VC, fangen also mit ναυ — σοὶ — ἤλυϑον — μέμψιν
an. neu und richtig ist 60 οὔ τἂν für οὐκ ἄν VC, 63 ἦ für ἦν; neu und falsch 54
αἱρεῖσϑαι für αἴρεσϑαι, 72 ἐστι für ἔπι, 84 μύϑοις und ein par zum teil gleich
berichtigte orthographika, ernsthaft nur der grobe fehler πάν[τε]ς νυκτός 95 für
πᾰσαν νύκτα. die lesart von V gegen C wird befolgt 66 μεῖναι, C εἶναι, 75 γαπονεῖν,
C γηπονεῖν, 90 σέϑεν, C τὸ σόν: immer mit recht, die von C gegen V 66 ἔπεισαν,
V ἔφησαν, 72 νεώς, V νεῶν, mit recht; 90 πύκαζε, V πυκάζου, mit unrecht. 65 steht
richtig με, V hat μοι, C beides. 74 steht λελημένοι, VC haben λελησμένοι; das
richtige λελημμένοι hat der corrector der wertlosen handschrift Flor. Marc. 226
über λελειμμένοι geschrieben: in wahrheit ist es überall gemeint. 78 steht richtig
πύρ̕ αἴϑειν, wie C über dem texte hat, und πῦρ αἴϑειν V, πυραίϑειν C im texte,
ist ja dasselbe. endlich 52 ἥκεις mit Χρ. πάσχ. (öfter) für ἦλϑες VC. über die
übrigen handschriften berichte ich aus eigener vergleichung, in den lesarten der
neuen habe ich natürlich die lesezeichen zugefügt.
187).
Jede kritik die etwas leisten will, muſs zwar die allgemeinen voraus-
setzungen, welche der weite umblick kennen lehrt, inne haben, und in so weit
mögen diese capitel auch für die anderen tragiker vorbereiten, aber dann muſs sie
individualisiren; der einzelne schriftsteller, das einzelne buch, hat bis zum gewissen
grade seine eigene geschichte. das kann und soll hier nicht erschöpft werden.
188).
Der überlieferte gallimathias ist ebenso von dem Athener Apollodor gelesen,
Athen. II 66a.
189).
Vgl. Her. 583, 810, 1115, 1191.
190).
Das zeigt die maſslos entstellte personenbezeichnung in fast allen diesen
stücken.
191).
Das habe ich Herm. 17 gezeigt; ich könnte die indicien noch vermehren.
192).
95, 149, 328, 398, 422, 474, 619, 696, 1151, 1159, 1178, 1192, 1340.
193).
184, 226, 413, 482, 484, 530, 664, 845, 925, 1003, 1102, 1241, 1304.
194).
164, 282, 548.
195).
62, 101, 269, 674, 1271, 1293, 1345.
196).
Es ist überhaupt nur ein vers, 202, unecht, und der ist erst byzantinischen
ursprungs. alle anderen athetesen sind verkehrt. das einzige antike drama welches
gar keinen falschen vers zu enthalten scheint, ist der Rhesos, und von dem wissen
wir, daſs er ehedem eine falsche scene hatte.
197).
El. 373—79, von welchen der letzte aus der Auge citirt wird, 386—90,
941—44 (von Bruhn erkannt) 1097—99. auſserdem sind mehrere dittographien darin.
198).
Euripides hatte von Tydeus gesagt (902) οὐκ ἐν λόγοις ἦν λαμπρὸς ἀλλ̕ ἐν
ἀσπίδι δεινὸς σοφιστὴς τῶν τ̕ ἀγυμνάστων φονεύς (Antig. Karyst. s. 73): daran
ist nach abwerfung des letzten halbverses in unseren handschriften eine widersinnige
tirade von 6 versen getreten, von denen übrigens die letzten zwei eine dittographie
sind, die in einer anderen redaction gleich auf 901 folgte: diese ebenfalls, aber anders,
interpolirte fassung stand in der ausgabe, welche das florilegium benutzt hat: Stob.
ecl. II 185 Wachsm.
1).
Es führte die nummer 58 tragedia Euripidis et Sophoclis et Eschili in
papyro
, Piccolomini intorno alle condizioni e vicende della libreria Medicea privata p. 83.
2).
Von dem Laurentianus C sind mehrere vorhanden und eher als er selbst
für den text benutzt. da sie aber aus C genommen sind, nachdem die gelehrten ihn
verwüstet hatten, haben sie nur geschadet. da der kritische apparat diese correc-
turen alle fortwirft, so erscheinen die apographa nur ein par mal für kleine ver-
besserungen aus conjectur. eine vergleichung der gröſseren Kirchhoff’schen ausgabe
kann lehren, ein wie falsches bild aus ihnen und einer vergleichung, die wie sie
nicht auf die erste hand zurückgieng, von C gewonnen ward.
3).
Über ihn vornehmlich zu vergleichen F. Didot Alde Manuce und was im
anhang zu M. Schmidts gröſserem Hesych beigebracht ist. Musurus verdient eine
monographie.
4).
Er hat auch die bisher übersehene Elektra des Euripides 1545 aus dem
Laurentianus veröffentlicht, den er besser gelesen hatte als die abschreiber, nach
denen man ihn seit Musgrave zu berichtigen pflegte.
5).
Man sehe als probe die wiedergabe der schönen strophe Ai. 624 sed cum
vetustatis obsita tempore canis et annis audibit anus parens hunc rabere mente
captum, lusciniae ilicet lamentabile carmen volitantis non illa occinet: ast lucti-
ficum integrabit lessum. pectora palmis atris tonsa sonabunt, incanamque manus
comam lacerabunt
. Scaligers griechische verse stehen, auch wenn man von den
zahlreichen verstöſsen gegen sprache und versmaſs absieht, höchstens auf der höhe
byzantinischer poeten wie Palladas oder Paulus des silentiars. es sind wesentlich
reminiscenzen, die eine gigantische gelehrsamkeit in einem selten trügenden gedächtnis
bereit hält, und auch wo ein bestimmter stil wiedergegeben werden soll, fehlt es
6).
So wenig auch Montaigne nach seinen eigenen erzählungen selbst vom
griechischen verstanden hat, so stark ist doch die verwandtschaft nicht nur seiner
denkart sondern auch seiner schriftstellerei mit den aufsätzen der griechischen
popularphilosophie. auch wenn er Seneca wiedergibt, läſst er das pretiöse renom-
5).
nicht an groben misgriffen. solche verse kann nicht machen, wer sein ohr an die wirk-
lichen klänge der griechischen dichter gewöhnt hat. man vergleiche Hermanns boten-
bericht aus Wallensteins tod mit Scaligers Catullübersetzungen um den abstand zu
fühlen.
7).
Wir laufen sonst wirklich gefahr nach der anderen seite ebenso lächerlich
zu werden wie diejenigen Franzosen, die ein seltsamer weise auch von verständigen
gelobtes buch repräsentirt. Patin études sur les tragiques Grecs2 IV 327 läſst sich
also vernehmen: ce n’était pas réellement ta tragédie Grecque que décrivait Aristote,
c’était une autre tragédie, qui devait se montrer bien longtemps après lui sur la
scène française
.
6).
mistische, den haut gout verschwinden, und was dann von Seneca bleibt, ist eben
griechische popularphilosophie. heut zu tage ist es mode Montaigne zu loben, und
das ist recht, wenn nur über dem loben das lesen nicht vergessen wird, aber Plutarchs
ethische schriften zu verachten: wie kann das recht sein, da doch Montaigne ihnen
so viel verdankt? es wäre wol in der ordnung, daſs über keinen von beiden urteilte,
wer nicht beide kennt, wol bemerkt aber den griechischen Plutarch, nicht den des
Amyot.
8).
In wahrheit bedarf man einer nicht viel geringeren abstraction, wenn man
Ovids Metamorphosen mit genuſs lesen will: an die götter und heroen darf man
nicht denken. durch die unverantwortliche verwendung des frivolen komischen epos
neben und vor Homer im der knabenschule ist freilich zumeist das gefühl für ernst
und heiligkeit der sage ertötet und die phantasie vergiftet, so daſs das echte epos
nicht mehr wirken kann.
9).
Wer das hart geurteilt findet, der sehe im philologischen nachlaſs an, was
Lessing gelesen und was er dabei notirt hat; von den vergleichungen mit Seneca
als einer jugendarbeit zu schweigen. Lessing hat freilich ein leben des Sophokles
geschrieben, und zwar so wie es kein deutscher philologe damals konnte. aber er
gesteht so ziemlich selbst ein, daſs er dazu kam, weil der artikel Sophokles bei Bayle
fehlte, und er hat in Bayles art zwar sehr viel über Sophokles zusammengetragen;
der dichter als dichter ist indes in keiner weise zu seiner rechnung gekommen. es
war ein ganz unwesentlicher umstand, daſs das object der kritischen polymathie
zufällig ein attischer tragiker war. daſs der verfasser des Laokoon genau so zu der
bildenden kunst stand wie der verfasser der Dramaturgie zu Aischylos, kann wol
als zugestanden gelten.
10).
Es macht sich doch etwas possierlich, daſs Goethe von ‘der königin der
toten, der geleiterin zum Orkus’ redet, und diese gar ‘das unerbittliche schicksal’
nennt, weil dem Deutschen das männliche geschlecht des Todes die wiedergabe von
la mort, cette orgueilleuse reine des ombres erschwert: an ἄνακτα τὸν μελάμπεπλον
νεκρῶν Θάνατον denkt er nicht. Brumoy hat sich selbst darüber ausgesprochen,
daſs er la mort gewagt hätte, wo die lateinischen übersetzer oreus gesetzt hatten
(II 84 der ausgabe von 1730).
11).
Wes man sich zu versehen hat, dafür eine probe Elem. doctr. metr. 516
quis credat non ausos esse Graecos hosce praeclaros numeros admittere
⏑⏑⏑ —́ — ⏑⏑ —́ — ⏑ —́ —

⏑⏑⏑ —́ ⏑⏑ —́ ⏑⏑ —́ ⏑⏑⏑ —́ —

quos Klopstockius usurpavit in his versibus
da zu dem angriff bei dem waldstrom das kriegslied

zu der vertilgenden schlacht und dem siege den befehl rief.

credant hoc qui ab opinionibus quas semel conceperunt avelli se non patiuntur.
ego ita sentio de illius gentis ingenio, nihil ut eos in quo venustatis aliqua aut
sublimitatis laus esset intactum reliquisse putem
. der kritische grundsatz, der vor-
wurf vorgefaſster meinung gegen die gegner solcher schlüsse, die bewunderung der
papiernen versschemata: was ist das ärgste?
12).
Als der junge Boeckh 1808 sein buch de tragicorum Graecorum princi-
pibus
ausgab, widmete er es Hermann, obwol er keine persönlichen beziehungen
zu ihm hatte, und einen gewissen gegensatz zu ihm um so mehr empfinden muſste,
als er litterargeschichtliche fragen behandelte. Hermann aber galt schon als der
oberste richter in sachen der tragiker, und hatte doch noch nicht viel über sie ge-
schrieben und darunter manches sehr voreilige. Boeckhs buch ist anmutig geschrieben
und stellt selbständig interessante probleme. in so fern ist es seiner ganz würdig.
aber positiv hat es wenig gefördert und zeigt namentlich verglichen mit den gleich-
zeitigen platonischen arbeiten, daſs die poesie kein feld für den groſsen forscher war.
13).
Hermann spricht das in der vorrede seiner Bakchen offen aus. sie enthält
im übrigen nichts als eine lange untersuchung über die weglassung des augments
im trimeter. also kann sich Goethe nicht, wie Jahn meint, auf sie beziehen, wenn
er am 19. oct. 1823 an Hermann schreibt (Goethes briefe an Leipziger freunde2 338)
“auch haben wir (er und Riemer) schon diese würdige den poetischen sinn voll-
kommen durchdringende vorrede zusammen angefangen”. vorrede wird programm
bedeuten und auf das von 1823 de Aeschyli Nioba gehen.
14).
Eur. tragoediae ed. G. H. I p. XII der vorrede zur Hekabe. dort auch die
ganze vorrede zur taurischen Iphigeneia nachzulesen. wie triviales dabei heraus-
kommen konnte, sehe man in der vorrede zur Helene, haud optima haec tragoedia
est .... quod nec gravis metus in ea nec magna miseratio est
, und in den cor-
recturen für die führung der dramatischen handlung in der vorrede der Phoenissen.
hier wird das gedicht im ganzen an das kreuz der plumpen regel geschlagen, wie das
versmaſs durch die forderung der auf sylbe und sylbenlänge congruenten responsion
in den chören.
15).
Für den Herakles speciell ist nach der Hermannschen ausgabe, die eine
gehaltvolle recension von Elmsley erfuhr, ein versuch einer freilich ausschlieſslich
grammatischen erklärung von Pflugk gemacht (1841), in welcher jedoch auch das
sprachliche viel zu wünschen übrig läſst, die neubearbeitung dieser ausgabe ist
flüchtige fabrikarbeit, billig und schlecht, hier und da ein zusatz textkritischer art,
15).
darunter vereinzeltes richtige, was offen am wege lag. zu einer wirklichen erklärung
dieses wie einer ganzen reihe von dramen ist bisher auch noch nicht einmal der
grund gelegt.
16).
Ich habe, als ich meine ausgabe des Agamemnon für den druck fertig
stellte, an 30—40 stellen eine eigene conjectur an einen andern namen abgetreten;
16).
darunter manche, die mir gehört haben würden, wenn ich es mit der veröffentlichung
eiliger gehabt hätte. das gehörte sich so. an 2 oder 3 stellen habe ich einen vor-
gänger nicht gekannt, und das ist mir zum verbrechen gerechnet. das gehörte sich
auch so.
17).
Ein beispiel: die zahlenspielerei glaubte Heimsöth ad absurdum zu führen,
indem er zeigte, daſs man am Wallenstein ebenso gut spielen könnte. der glaube
bringt es fertig, dies als beweis zu verwenden, indem die zahl auch Schiller beherrscht
habe, wenn auch ohne daſs er sich dessen bewuſst gewesen wäre.
1).
Σελλοί sind die verehrer des Zeus und der Dione im eichenhain von Dodona:
das sind die ältesten Europaeer die wir kennen; sie waschen den staub nicht von
ihren füſsen und schlafen auf dem nakten waldboden, und der älteste gott Europas
redet zu ihnen im rauschen der eiche, deren früchte sie nährt, und durch die stimme
der wilden taube. Ἕλληνες (eigentlich Ἑλλῆνες) sitzen am unteren Spercheios,
Achilleus ist ihr held: aber daſs sie dorthin gedrängt sind, ist schon eine folge der
völkerwanderung. Ἕλλοπες, eine regelmäſsig gebildete nebenform, haben auch in
Thessalien, auf Euboia, in Aetolien spuren hinterlassen. ψελλίζω σελλίζω ἐλλός ἔλλοψ
bieten eine lautlich unanfechtbare etymologie: und es liegt nichts vor, was den
namen unglaublich erscheinen lieſse, den andere stämme, z. b. die einwanderer, auf-
gebracht haben können. aber merkwürdig ist es freilich, daſs die Hellenen selbst
sich mit einem worte bezeichnet haben, das dem sinne nach sich mit βάρβαρος deckt,
und mit niemiec, wie die Slaven ihre germanischen nachbarn nennen.
2).
Seit dem 8. jahrhundert gilt der Hellenenname als allumfassender sowol
bei den asiatischen epikern wie im Peloponnes, und von göttern führt ihn nur
Zeus und vereinzelt Athena. es mag aber erlaubt sein, ihn als collectivnamen der
autochthonen Hellenen im gegensatze zu den einwanderern zu verwenden. damit
treten wir freilich in gegensatz zu Herodot. er hat sich (I 56—58) die sache so
zurecht gelegt. Deukalion, sein sohn Hellen, sein sohn Doros lebten in Phthiotis,
in Hellas (dies nimmt er aus Hesiods Katalogen): also die Dorer sind ‘Hellenen’. jetzt
3).
Dies volk zu erkenmen ist eine hauptaufgabe der urgeschichtlichen forschung,
und die monumentalen fundle werden es vielleicht ermöglichen. zur zeit brodelt es
noch, und die tastenden versuche werden nicht nur mit unvermeidlichen misgriffen
gemacht. z. b. daſs die Lelleger keine realität sind, mit der man rechnen könnte,
und wenn sie es denn sein sollten, nur ein hellenischer stamm sein könnten, sollte
doch wissen, wer mit der hesiodischen völkertafel und den ältesten sonstigen zeug-
nissen umgeht.
2).
sitzen sie im Peloponnes, dahin sind sie vom Parnass gekommen (dessen vordorische
bevölkerung er mit dem mythischen namen Δρύοπες ‘Eichenmänner’ benennt, aus
den dorischen sagen), dorthin vom Pindos, wo sie mit den Makedonen noch vereint
saſsen: so weit reicht die geschichtliche tradition. das mittelglied, vertreibung vom
Spercheios in die berge, erschlieſst er, und als die vertreibenden setzt er Kadmeier
an, wie er glauben muſste, probabel, da er diese für Phoenikier hält. für die ur-
bewohner, die also nie ausgewanderten, greift er den namen Pelasger auf, der an
einer thessalischen gegend, in dem auf autochthonie pochenden Athen und im Pelo-
ponnes, auch für die autochthonen, haftete. auſserdem nannten zu seiner zeit die
Hellenen barbarische bevölkerungen so, die in etlichen winkeln des thrakischen
küstenlandes und auf Lemnos saſsen. da diese unverständlich redeten, nimmt er
eine barbarische pelasgische sprache an, die notwendig auch vor der dorisch-
hellenischen einwanderung in Griechenland geherrscht haben muſs; z. b. die Athener
kann erst Ion, der enkel des Hellen, neffe des Doros, hellenisch gelehrt haben.
das ganze ist eine durchsichtige combination, die aber den pelasgischen unsinn
der modernen gezeugt hat, zumal der kategorische widerspruch der Athener die
Pelasger statt der Dorer-Hellenen πλάνητας αἰεἱ nannte (Strab. 221 aus Apollodor).
es liegt auf der hand, daſs zwar jedes einzelne volk, das den namen führt, eine
concrete realität ist, aber Pelasger nur im gegensatze zu den Hellenen heiſst, wobei
allerdings ursprünglich ein volk diesen namen nicht bloſs in relativer bedeutung
getragen haben wird, das moch zu suchen ist. das volk der Πέλοπες, die Pelopon-
nesier, hat Buttmann entdeckt; es dürfte, wie Δρύοπες Ἔλλοπες, eine bezeichnung
sein, die die einwanderer aufbrachten. Πέλοπες sind πελιοί: die πελασγοί sind
ihre verwandte, denn seit ἄωγλα αἴγλα feststeht, ist πελαπγοί gedeutet, ἀσγός ἀργός
d. i. ‘weiſs’. sie sind nicht störche, aber wie die störche sind sie ‘die schwarzweiſsen’.
4).
βωμός έορτή ὀϑόνη χιτών (Studnizcka beitr. zur altgr. tracht 18) φοῖνιξ
und vieles andere, was der wissenschaftliche philosemitismus beansprucht hatte, ist
ihm entrissen, ϝοῖνος ϝρόδον χρυσός σῦκον (τῦκον) ἐλαία fordert oder erträgt andere
vermittelung.
5).
Der volksname ist gebildet wie Ἄονες Χάονες, also kein lehnwort aus dem
orient, wie Müllenhoff (D. A. I 59) wollte. obgleich im mutterlande kein volk nach-
weisbar ist, das den namen getragen hat, kann man nicht umhin, auch in ihm einen
solchen stammnamen zu sehen, der, weil die eigentlichen träger untergegangen waren;
zur bezeichnung des neuen volkes gut schien. der in Athen aus Euboia zuwandernde
lon, Xuthos sohn, zeigt schon darin, daſs er niemals in der älteren namensform
begegnet und den accent so trägt, daſs die contraction nicht empfunden ist, daſs
er erst durch die hesiodische völkertafel entstanden ist, oder vielmehr durch die
5).
dieser zu grunde liegende in Asien entstandene völkerscheidung. das geschlecht
Ἰωνίδαι (später auch gemeindename) kann schon eher auf zugewanderte Ἰάονες
zurückgehn. jedenfalls ist es älter als die identification der Ἰάονες mit den Athenern,
welche in einem sich durch vieles fremdartige selbst ausscheidenden stücke der Ilias
N 685—700 auftritt: und selbst dieses hat Androtion dazu benutzt die Ἰάονες
Ἀϑηναῖοι von den Ἴωνες zu unterscheiden (schol. BT zu N 685). sucht man die
Ἰάονες, so weist Herodot, der sie aus Achaia ableitet und die Kynurier für Ionier
erklärt, auf den Peloponnes. da treffen wir in der Pisatis auf Ἰωνίδες νύμφαι
(Strab. 336, Pausan. VI 22, wol aus im grunde identischer tradition, Nikander georg.
bei Athen. 683a). diese sind mit ἰᾶσϑαι zusammengebracht, denn eine heiſst Ἴασις,
und sie sind die mädchen einer heilquelle; ebenso mit ἴον (Nikander), und man
denkt an Iamos; endlich auch mit Ion, der sohn des Gargettos heiſst: auch der fluſs,
in den das quellwassser rinnt, Κύϑηρος oder Κυϑήριος, stimmt zu einem attischen
dorfnamen, Κύϑηρρος. an die Ionier denkt niemand, obwol Nikander die namensform
Ἰαονίδες sich erlaubt. der namensanklang ist in der tat zu vielen zufälligkeiten
ausgesetzt, als daſs man auf ihn bauen könnte: die contraction sollte doch im Pelo-
ponnes Ἰανίδες ergeben. Ἰάων selbst findet sich nur einmal, als name eines arka-
dischen flusses (Kallim. an Zeus 22; Dionysios perieg. 416 schreibt ab), der sich nicht
localisiren läſst: aber diese anknüpfung darf man wol festhalten. der Ἰόνιος πόντος
kann mit Ἰάονες so wenig wie mit Ἰώ etwas zu tun haben: er führt auf Ἴονες.
diese sind vielleicht nach dem vorgange Theopomps (schol. Pind. Pyth. 3, 120) in
Illyrien zu suchen.
6).
Für die einwanderung der Makedonen sind die splitter versprengter stämme
besonders bezeichnend, welche hie und da an dem rande haften blieben, ihrem
volkstum nach schon den gelehrten des 5. und 4. jahrhunderts, bis in welche zeit
sich reste von ihnen erhielten, unrubricirbar. es sind die ‘gottlosen’ Thoer vom Athos,
die Doloper von Eion und Skyros, die Pelasger von Krestone, die Sintier von Lemnos,
welche erst von den Athenern Pelasger genannt wurden. diese letzten schreiben das
phrygische alphabet und können nur für Thraker gehalten werden, was wol auch
die andern waren. Imbros ist noch karisch. so berühren sich hier die unhellenischen
völker, und da sie zunächst nur für uns collective sind, wesentlich durch den gegen-
satz zu den ebenso collectivischen Hellenen bestimmt, ist die sonderung schwierig.
7).
In der sage von der heimkehr des Neoptolemos und des Odysseus ist viel-
leicht noch ein nachhall an das alte Hellenentum von Epirus erhalten, aber da die
epen verloren sind, ist die entscheidung schwer. der ruhm der Aeakiden kann von
Thessalien hinübergebracht sein: um 470 heiſst ein Molotterfürst Admetos nach
einem altthessalischen heros. die aufnahme heroischer namen in dem makedonischen
adel zu Philipps zeit ist keinesweges bloſs durch genealogische verbindungen, wie
bei Neoptolemos und Pyrrhos von Epeiros, eingegeben. man wählt die litterarisch
berühmten Hellenennamen seit alter zeit und jetzt nur mehr, entsprechend der
steigenden bekanntschaft mit der litteratur. Ἀλέξανδρος Κάσσανδρος Μενέλαος
Μελέαγρος Πολυδάμας Ἀρσινόη Τήλεφος Τληπόλεμος Εὐρυδίκη sind solche namen,
welche lediglich für die sucht der eltern zeugen, mit griechischer bildung zu prunken:
selbst Πτολεμαῖος kommt in der Ilias vor.
8).
Noch im peloponnesischen kriege ist die entscheidende behörde eine ver-
einigung von τέσσαρες βουλαί (Thuk. V 38); das nähere ist unbekannt. später hat
9).
Auch in Thessalien und Boeotien sind die cultstätten des Apollon vordorisch,
aber sie gehen hier immer mehr an bedeutung zurück. die amphiktionie ist eine
institution, gestiftet zunächst zur sicherung des landfriedens auf den groſsen heer-
straſsen, welche zwar die anwesenheit, aber nicht die übermacht der einwanderer zur
voraussetzung hat: erst diese übermacht bedient sich dieses mittels und als wichtigsten
hebels des delphischen gottes. die dorischen, nicht eingeborenen, delphischen priester
feiert der homerische hymnus an Apollon, der in diesen teilen dem ende des 7. jahr-
hunderts angehört: wenn er sie aus Kreta holt, so zeigt sich darin die später so
häufige vorstellung zum ersten male, daſs Kreta der sitz der reinen Dorer ist, in
naiver umkehrung des verhältnisses; in wahrheit waren die Dorer vom Parnaſs
nach Kreta gezogen. bald danach ward der krisäische krieg geführt, welcher die
macht derselben priesterschaft befestigte, die den meisten gliedern der amphiktionie
ungefährlicher schien, als wenn das orakel in den händen der Phoker oder Lokrer
war. die occupation des orakels durch die Dorer liegt in der sage sehr deutlich
vor: Herakles raubt den dreifuſs, und der conflict der götter schlieſst mit einem
8).
der bund lediglich die form einer hellenischen symmachie. es mag wol sein, daſs
namen wie Ἄονες Τέμμικες Ἐκτῆνες boeotische gaunamen sind, aber sie sind von
nachweislich vorboeotischen wie ῞ϒαντες Ἄβαντες nicht sicher zu sondern.
10).
In den sagen von Karnos und den orakeln, welche sich auf die einwanderung
beziehen (z. b. bei Oinomaos von Gadara bei Euseb. praep. ev. V 20), ist die gegner-
schaft zwischen den Dorern, die den vertreter Apollons erschlagen, und dem gotte,
der sie durch dunkele sprüche in das verderben lockt, ganz durchsichtig. wir kennen
leider den dorischen cult viel zu wenig, um sicher zu stellen, was man aus manchen
andeutungen schlieſsen möchte, daſs die Karneen wirklich ein sühnfest waren.
9).
compromiſs. aber nie und nimmer ist das verhältnis dieser brüder ein freund-
liches geworden wie das zwischen Hermes und Apollon, die einst auch mit einander
gestritten haben. es heiſst die dinge erst entstellen, damit man sie deute, wenn
man Her. ‘den dreifuſs’, den ‘feuertopf’ besitzen läſst: einen ganz bestimmten, den
delphischen dreifuſs hat er sich genommen, also nicht aus seinem wesen allgemein
oder aus dem des Apollon, sondern aus den besonderen delphischen verhältnissen
ist die sage zu deuten, und ist sie auch leicht verständlich. man kann es aber z. b.
einem künstler nicht verargen, wenn er Her. allein den dreifuſs tragend darstellt:
tatsächlich hat er sich des apollinischen heiligtums bemächtigt, und so trägt er etwas
fremdes, wenn er den dreifuſs trägt. hätte der dreifuſs für das wesen des Her.
eine bedeutung, so müſste er irgendwo in seinem culte vorkommen, oder müſste
doch Her. mit ihm etwas machen wollen. übrigens führt Apollon ihn als wahrsager,
und zwar als wahrsager aus ἔμπυρα: deshalb werden im Ismenion von Theben, wo
die weissagung aus ἔμπυρα galt (Philoch. im schol. Soph. OT. 21), dreifüſse geweiht,
für jeden jüngling, der in das mannesalter tritt, einer, und das ist bekanntlich auch
für Herakles geschehen.
11).
Der name verwuchs so sehr mit dem volksbegriffe von Argos, daſs neben
den Herakliden ein sohn des Pelasgos Temenos trat, der den cult der Hera in Stym-
phalos gründete (Pausan. 8, 22): was nichts bedeutet, als die erinnerung daran, daſs
dieser dienst aus Argos übernommen war.
12).
Das nur in der vocalisation unwesentlich abweichende Ἄξυλος erscheint
nicht nur bei Homer Z 12, sondern wird mit dem bewuſstsein seiner bedeutung
vom dichter gebraucht. ξύλον hat in Ὄξυλος der herakleotische epiker Pherenikos
gesehen, Athen. 78b: das ist spielerei.
13).
Der nachweis muſs einer besonderen untersuchung vorbehalten bleiben:
täusche ich mich nicht, so ist hier der punkt gefunden, wo man den hebel ansetzen
kann, um die chronologie des epos einzurenken.
14).
Diese ereignisse sind das geschichtliche, was der s. g. ionischen wanderung
14).
von Athen her zu grunde liegt. auch für die altattische geschichte findet sich so
vor Solon ein ποῦ στῶ.
15).
Es handelt sich einmal um die Heraklessagen an der thrakischen küste,
in Habdera (colonie von Opuntiern und leuten dieser von einwanderern durchsetzten
gegend) Sithonia, Torone, Thasos u. s. w. diese weisen auf die inseln zurück, wo
Her. jedoch kaum vorkommt; denn daſs er auf Tenos die Boreaden züchtigt, braucht
keine tenische sage zu sein. eine gute erklärung steht noch aus: die verbreitete
annahme, den Heraklescult von Thasos, der doch von der nachbarschaft nicht getrennt
werden darf, auf Phoenikier zu beziehen, ist von Furtwängler (Roschers mythol.
lex. 2142) gut zurückgewiesen, doch bleibt noch unerklärt, wieso Thasos bruder des
Phoinix sein kann. — der einzige auf altertum anspruch erhebende asiatische
Heraklescult ist in Erythrai, und auch über ihn handelt Furtwängler (s. 2137) sehr
gut. Erythrais name kehrt im südlichen Thessalien wieder und in Boeotien, von
Thessalien sind notwendig auch Boeoter mit den Aeolern ausgewandert, sonst ist die
anwesenheit von Peneleos und Leitos vor Ilios ganz unerklärlich: ein vereinzeltes
Heraklesheiligtum in der gegend, wo Aeoler und Ionier sich kreuzen, ist also nicht
mehr befremdlich als jene epische singularität: wir bilden des Thukydides schluſs,
daſs Boeoter vor der Boeotischen einwanderung in Boeotien gesessen haben müſsten
(I 12) nur ein wenig um. eine groſse bedeutung wird diesem vorgeschobenen posten
des Heraklescultes notwendigerweise beigelegt werden müssen.
16).
Der Heliossohn Augeias mit den sonnenrindern, die Molioniden, eine der
merkwürdigsten formen des vordorischen Dioskurenpares (vgl. zu vers 29), der ent-
wässerungscanal, dessen reste noch heute sichtbar sind (Curtius Peloponnes II 34)
gehen alle die Eleer nichts an. der zug des Herakles gegen Elis gehört vielmehr
in eine reihe mit denen gegen Neleus und die Pylier, Eurytos, den herrn des mes-
senischen Oichalia, Hippokoon von Sparta: es ist ersichtlich argolische sage und
spiegelt die versuche wieder, welche die argolischen Dorer machten, sich die supre-
matie im Peloponnes zu erringen. eine andere frage ist, ob sie in Elis noch die
17).
Vgl. das merkwürdige epigramm von Dyme, Kaibel 790, mit dessen com-
mentar. die sage war wahrscheinlich von Antimachos behandelt. Steph. Byz. Δύμη.
18).
Niemals ist vergessen worden, daſs Ἀχελώιος das wasser überhaupt be-
deutet. und der gegner des Herakles benimmt sich in dem kampfe ganz wie der
ἅλιος γέρων Πρωτεύς in der Odyssee oder die meerjungfrau Thetis bei Hesiodos:
er hat die gabe der verwandlung. es ist wertvoll festzustellen, daſs dasselbe der
meergreis tat, den Herakles im westen bezwang. so hat Stesichoros, natürlich in
der Geryoneis, erzählt. das bruchstück fehlt in Bergks letzter ausgabe, der weder
er noch der ergänzer seines werkes die unerläſsliche sicherheit des fundamentes
gegeben hat. es steht in dem von Rohde entdeckten paradoxographen 33 (Rer.
nat. scr.
ed. Keller s. 110) παρ̕ Ὁμήρῳ Πρωτεὺς εἰς πάντα μετεμορφοῦτο, καὶ
Θέτις (καϑάτις cod. καϑὰ Θ. Rohde) παρὰ Πινδάρῳ, καὶ Νηρεὺς παρὰ Στησιχόρῳ,
καὶ Μήστρα — leider fehlt für diese der autor. die bedeutung des füllhorns hat
Furtwängler (Roschers lexicon s. 2157) richtig geschätzt.
16).
Epeer wirklich zu bekämpfen hatten, oder ob schon die Eleer an deren stelle
saſsen. das letztere ist wahrscheinlich, ändert aber an dem nichts, was hier in
frage steht.
19).
Für die Epiroten und Illyrier sind schlieſslich die korinthischen colonisten
die wichtigsten culturträger geworden. sie erzählten natürlich von ihrem heros.
wenn also die illyrischen Hylleer auf Hyllos, sohn des Herakles und der Melite,
zurückgeführt werden, so ist das nichts als eine korinthische lediglich auf den
namensanklang gebaute combination. Herakles ist der ahnherr dieser barbaren wie
der Skythen.
20).
Hier heiſst er sogar Βουραικός Pausan. VII, 25, und sein cultbild ist ein
echt archaisches, Imhoof Gardener numism. comment. on Paus. taf. S II, III.
21).
Allerdings pflegte man dort auch die troischen helden: doch das konnte man
erst, als die Ilias im ionischen epos ausgebildet war. diese sagen verdienen eine mono-
graphie, die zuerst Timaios herstellen muſs, was mit Lykophron, den versprengten
zahlreichen resten, und den ϑαυμάσια ἀκούσματα im anschlusse an Müllenhoff
gut geht; und dann muſs man Timaios selbst analysiren, was nicht leicht sein wird,
aber sehr wichtigen ertrag verspricht. insbesondere ist merkwürdig, daſs Philoktetes
nach unteritalien gezogen wird: offenbar waren also auch leute aus oetäischem
gebiete dorthin gekommen, wie das die beteiligung der Loker an sich glaublich macht.
also auch von dieser seite aus konnte der Heraklescult dorthin gelangen.
22).
Weil er so schillernd ist, ist er heut zu tage beliebt, und habe ich ihn
vermieden. die bedeutung (χαιοί die erlauchten) empfahl ihn dem epos als collectiv-
namen, und so mag, wer will, ihn da verwenden, wo ich Hellenen gesagt habe; es
ist nur etwas hart, die Athener zu den Achaeern zu rechnen. als stammname sitzt
er ebenda fest, wo auch die Ἕλληνες Homers wohnen, in Phthia: leider ist gerade
diese achäische mundart auch noch dunkel. ferner gibt es die Δημήτηρ Ἀχαία in
Boeotien, die landschaft Ἀχαία, deren ansprüche zweifelhaft sind, und die Achaeer
als gegner der Spartiaten. ihnen traten die nachkommen des Agamemnon gegenüber,
der in der Ilias Achaeer ist, übrigens in wahrheit ein Aeoler so gut wie Achilleus. auch
hier also kann der name aus dem epos übertragen sein. wie viel durch einander geht,
sehe man daran, daſs Antimachos bei Athen. XI 468 die Peloponnesischen feinde der
Boeoter Ἀχαιοί nennen kann. die vielberufene stelle Herodots (V. 72), wo könig
Kleomenes sich keinen Dorer sondern Achaeer nennt, ist ganz einfach: er stammt
ja von Herakles dem Perseiden. die genealogie der königshäuser Spartas mit Aristo-
demos und den söhnen Eurysthenes Prokles ist übrigens erst ersonnen, als die wirk-
lichen königsgeschlechter längst feststanden: Ἀγιάδαι und Εὐρυπωντίδαι sind die
wirklichen geschlechtsnamen, geltend lange ehe ihre träger die verpflichtung em-
pfanden, die Heraklidenabstammung besonders für sich in anspruch zu nehmen. die
geringe bedeutung und üble rolle, welche Aristodemos spielt, zeigt auch, daſs diese
genealogie, Hyllos, Kleodaios u. s. f. nicht in Sparta entstanden ist: alles weist auf
Argos. was Herodot VI 52 als spartiatische tradition von Aristodemos erzählt, ist nur
umbildung der vulgärsage. nicht nur praktisch, sondern auch mit ganz bestimmten
traditionen zu belegen, ist der vorschlag, den ich früher gemacht habe, den Achaeer-
namen für die vordorische einwanderung nordhellenischer stämme im Peloponnes
zu verwenden, also die leute von Bias und Melampus, Neleus, Eurytos u. s. w. allein
das fordert eine darlegung anderer verhältnisse, und ist mit der anm. 13 bezeich-
neten untersuchung verquickt.
23).
Die lage der ara maxima in Rom würde allein den fremden gott erweisen;
doch führt die untersuchung von jedem ausgangspunkt zu demselben ergebnis. die
geschichte von Cacus ist, wie wir sie haben, so gut eine griechische dichtung wie
die Romulussage, und deshalb läſst sich das epichorische element, für das der name
und die scalae Caci zeugen, nicht aussondern. der interessante versuch von Reiffer-
scheid (Annali dell’ instituto 39) operirt mit einem materiale, das immer vieldeutig,
nicht selten sicherlich fremdartig ist. doch ist selbstverständlich, daſs die herkunft
des cultes und des namens nicht im mindesten darüber entscheidet, was die Italiker
in Herclus empfanden und glaubten. nur hat das was davon italisch ist mit Herakles
eben nichts zu tun. übrigens folgt aus der entlehnung, daſs es unerlaubt ist, die
vorstellungen, welche der Latiner mit Herclus verbindet, ohne weiteres auf den Cam-
paner Samniten Brettier zu übertragen, vielmehr wird nur die differenziirung ein
wissenschaftlich haltbares ergebnis liefern.
24).
Von diesen ist Herakles zu den Lykiern gelangt, die ihn früh als münz-
bild haben.
25).
Besonders merkwürdig ist, daſs die Phokaeer in Massalia den heros ihre
ligurischen feinde bezwingen lieſsen. dieses sehr eigentümliche abenteuer, das schon
Aischylos seinen Prometheus prophezeien läſst, kann nur in Massalia gedichtet sein,
da es das bestimmte local, die steinwüste an der Rhonemündung, voraussetzt. aber
der ganze zug des Herakles von Erytheia-Tartessos nach Italien auf dem landwege
setzt die massaliotische küstenbesiedelung voraus. unmöglich ist freilich nicht, daſs
vor den Phokaeern dorische seefahrer (von Knidos und Rhodos her) auch hier sich
26).
Entsprechend ihrer geringeren geistigen kraft und selbständigkeit kommen
die Thessaler am wenigsten in betracht, obwol gerade Thessalos selbst ein Herakles-
sohn ist, Boiotos nicht. im Peloponnes ist das verhältnis ähnlich zwischen Argos
Korinth einerseits, Sparta Kreta andererseits. für die Heraklessage haben die süd-
lichen Dorer fast nichts geleistet.
25).
festzusetzen versucht haben. gerade auf der île de la Camargue soll ein Herakleia
gelegen haben. CIL XII p. 500.
27).
Natürlich müssen auch diese sagen in irgend welcher poetischen form in
alter zeit umgegangen sein, wie hätten sie sich sonst erhalten? aber von dieser
form wissen wir nichts, weil nichts die archaische zeit überdauert hat. es erheben
sich hier die unten am dodekathlos genauer behandelten schwierigkeiten. z. b. ist
Herakles die Hippokoontiden überwindend von Alkman so breit dargestellt, daſs
schon um der fülle von namen willen eine feste, wol sicher poetische tradition zu
grunde liegen muſs, aber nichts hindert diese für argolisch anzusehen. localspar-
tanisches ist gerade in dieser geschichte, wenigstens so weit sie bekannt ist, so
gut wie gar nichts.
28).
Vgl. zu vers 50. 280.
29).
Hier führten sich die δαμοῦχοι (Diodor IV 29) auf Herakles zurück, d. h. die
adelsfamilien, welche von der alt eingesessenen bevölkerung zugelassen waren: die
verschmelzung dieser beiden nationalitäten gibt die naive sage so wieder, daſs Herakles
in einer nacht den 50 töchtern des Thespios zu söhnen verhilft.
30).
Ohne eine mühsame sammlung des materiales der sagen und eine gleich-
zeitig alle s. g. dryopischen gegenden ins auge fassende behandlung ist nur das
allgemeine und auch das mit so starken restrictionen zu sagen.
31).
Vgl. zu v. 110.
32).
Vgl. zu v. 181. 364.
33).
Schol. Apollon. Rhod. II 780. Schol. Aisch. Pers. 938. Athen. XIV 619.
34).
Herakleia, so fern es liegt, hat eine solche bedeutung für die sage erlangt,
weil es zu allen zeiten tüchtige schriftsteller gebar: schon um 400 hat Herodoros
eine pragmatische bearbeitung der Heraklessage geliefert. später haben Nymphis
Herakleides Chamaileon locale überlieferung auch unabsichtlich aufgenommen. so
entspricht dieser östlichste posten dem westlichsten, dem Himera des Stesichoros.
35).
Auch ein attisches skolion spricht die tendenz unumwunden aus, 18, τὸν
Τελάμωνα πρῶτον, Αἴαντα δὲ δεύτερον ἐς Τροΐαν λέγουσιν ἐλϑεῖν Δαναῶν καὶ
Ἀχιλλέα. des Herakles hat man hier ganz vergessen; selbst Achilleus ist nur annex.
so mögen die nachkommen des Eurysakes oder Philaios gesungen haben. Bergk,
der μετ̕ Ἀχιλλέα geschrieben hat, hat sich wol gar nichts gedacht, jedenfalls das
gedicht nicht verstanden.
36).
Der iberische graffito auf einer sicilischen vase, den Löschcke erkannt hat
(Benndorf Gr. Vasenbild. taf. XXXXIII) ist ein unverdächtiger und gewichtiger zeuge
für diese ansicht.
37).
Bei Apollonios Rhodios ist Butes sohn des Teleon (wie er statt Γελέων
gesagt haben soll, auf grund eines schreibfehlers jedenfalls) von Athen, er stürzt
ins meer, als die Argo an den Sireneninseln bei Neapel vorbeifährt, und Aphrodite
rettet ihn nach Lilybaion. daſs der Elymer Athener wird, ist wol eine nachwirkung
38).
So ist das auftreten des Aineias in Ainos, Aineia, auf Kreta und in Epirus
leicht erklärlich.
37).
des verhängnisvollen bündnisses der beiden völker, von den gemeinsamen gegnern
ersonnen. und die Argo haben doch wol auch die korinthischen Syrakusaner in
ihre gewässer geführt.
39).
Diodor IV 24. er nennt seine vaterstadt Ἀγύριον besonders und fügt ohne
zweifel eigenes ein. aber sie liegt im Λεοντῖνον πεδίον, wie er selbst hervorhebt,
und hat ihren cult doch nur von den griechischen herren desselben. auch ist eine
wendung wie νομίσας ἤδη τι λαμβάνειν τῆς ἀϑανασίας τοῦ ἄϑλου δεκάτου τελου-
μένου nur unter voraussetzungen denkbar, welche nicht Diodors erzählung gibt,
sondern z. b. die apollodorische bibliothek. also er contaminirt, wie so oft. der
text, dem er seine localpatriotischen zusätze beifügt, ist Timaios, der den Herakles-
cult von Leontinoi angegeben haben wird.
39 a).
Scharf und treffend drückt die hesiodische Eoee (Aspis 27) das wesen
aus. Zeus beschlieſst den Herakles zu zeugen ἅς ῥα ϑεοῖσιν ἀνδράσι τ̕ ἀλφη-
στῇσιν ἀρῆς ἀλκτῆρα φυτεύσαι. auch wenn Herakles der gatte der Hebe in Kos als
gott verehrt wird unter dem namen Ἄλεξις (Aristides 5 p. 60. Cornut. 31), so war die
religion jedermann klar: denn Ἄλεξις ist ja nur ein hypokoristikon zu Ἀλεξίκακος.
40).
Vgl. über diese rechtsverhältnisse Herm. XXII 236 ff. die einsicht in die-
selben ist eine unerläſsliche vorbedingung für das verständnis der sage, da sie in
ihr vorausgesetzt werden.
41).
Furtwängler (Arch. Zeit. 1883, 159) hat die löwen, deren existenz in Griechen-
land Herodot leugnet, als bewohner des Peloponnes in alter zeit angenommen, wenn
ich ihn richtig verstehe, mindestens bis in das 8. jahrhundert. sein grund ist die
darstellung von löwenjagden auf mykenäischen schwertern, auf dem protokorin-
42).
Da auch die sage, in welcher der meergott Acheloos heiſst, dem Herakles
das füllhorn gibt, so ist auch ihr inhalt der erwerb der ewigen seligkeit.
41).
thischen gefäſs, das er publicirt, und bei Homer. aber Homer beweist für Hellas
gar nichts, sondern für Asien, und es ist vielmehr für die herrschaft des epos ein
neuer beleg, daſs die tierkämpfe, welche in ihm verherrlicht sind, auch in gegenden
dargestellt werden, wo sie dem leben fremd sind. wäre dem nicht so, so müſsten
die künstler doch die ungleich häufigeren tierkämpfe schildern, welche notorisch in
Hellas den hirten drohten. wo sind die bären? die gab es doch im ‘Bärenland’
Arkadien? und gar die wölfe: noch Solon hat um sie auszurotten jagdprämien aus-
gesetzt. und ferner müſste die sage doch wol löwen in Hellas kennen. aber es
gibt nur einen, den des Herakles. auſser ihm kenne ich nur noch den löwen von
Keos: der liegt noch da, in lebenden fels gemeiſselt, es war vermutlich eine fels-
kuppe gewesen, in der die volksphantasie einen löwen sah, und der die kunst nach-
geholfen hat. vgl. de Eurip. Heraclid. 8. dieser löwe ist ein wunderwesen, er
scheucht die nymphen selbst: also zu den gewöhnlichen waldbewohnern gehört er
nicht. der nemeische ist aus dem monde gekommen: also gab es auf erden keine
andern im gesichtskreis der Argeier. der lesbische löwe (schol. Theokrit. 13, 6) ist
vielleicht dem keischen verwandt. denn dieser scheucht die Βρῖσαι (Βρεῖσαι), die
nymphen, und dieser name kehrt nur auf Lesbos wieder, wo Βρῆσα liegt und Διό-
νυσος Βρησεύς Βρεισεύς zu hause ist.
43).
Wer von den wechselwirkungen zwischen cultus und sage, d. h. von der
wirklichen religion etwas versteht, kann aus dieser einen tatsache allein schon ab-
leiten, daſs Herakles weder je ein mensch noch je ein bloſser heros war.
44).
Ἥρυλλος (Hesych u. a.) ist das correcte hypokoristikon wie Δίυλλος von
Διοκλῆς, Ἀρίστυλλος von Ἀριστοκλῆς, Ἴσυλλος von Ἰσοκλῆς. Ἡρύκαλος bei Sophron
ist spielerei, bei der italische umformungen mitgewirkt haben werden. Ἡραῖος
(Hesych., so zu betonen) ist auch ein correctes hypokoristikon, wie Διαῖος Θεαῖος
Ἀρισταῖος Ἰσαῖος.
45).
So in dem alten epigramm auf der farnesischen tafel, das eben diesen
namenswechsel bezeugen soll; in anderer form, aber auch auf Theben und ein altes
weihgeschenk zurückgeführt, bei Sextus adv. phys. I 36, in einer bestreitung der
stoischen theologie. Diodor IV 10 = I 24, aus Matris dem Thebaner. somit darf
die tradition für specifisch thebanisch gelten.
46).
Ἀλκαῖος, der vater Amphitryons, ist nicht einmal erfunden um Ἀλκείδης
zu erklären, sonst würde man doch den namen Ἀλκεύς gebildet haben, der zu der
ableitung stimmte. es ist aber überhaupt ein irrtum, den die autorität Homers ver-
schuldet, die s. g. patronymica für den vatersnamen zu verwenden: schon das
47).
Dieuchidas (schol. Apoll. I 517), auf den, d. h. die megarische chronik, am
letzten ende Pausan. I 41 zurückgeht, erzählt die überwindung des löwen, und zwar
mit dem märchenmotiv, daſs Alkathoos sich als wahren besieger des untiers durch
die ausgeschnittene zunge ausweist, während andere ihm den ruhm schon fast vorweg
genommen haben. der löwe ist ὁ Κιϑαιρώνιος. vertreter Megaras ist Alkathoos,
seit der ort besteht. er wird mit dem Peloponnes (Pelops) verbunden: der megarische
adel war eben von Korinth zugewandert. aber ganz deutlich ist auch hier, daſs
Megara vorher zu Boeotien gehörte; der löwe ist vom Kithairon, er hat den sohn
des Megareus zerrissen, der zu Megara und Megareus von Theben oder Onchestos
gehört, und als Alkathoos den mauerring um seine stadt zieht, hilft die leier des
Apollon, wie die des Hermes dem Amphion in Theben. Pausan. I 42, Anth. Planud.
4, 279. also werden auch den namen Alkathoos schon leute mitgebracht haben, die
von norden zuzogen. die zugehörigkeit des megarischen landes zu Boeotien, für
welche religion und sage viele belege liefern, ist noch im homerischen schiffskataloge
anerkannt. schwerlich wird übrigens das grab der Alkmene in Megara (Paus. I 41)
ursprünglich die mutter des Herakles angegangen haben: die motivirung ist kläglich,
aber seit der differenziirung des Alkathoos konnte sie nicht anders ausfallen.
48).
Iphikles wird in der vulgären sage sehr schlecht behandelt. als sohn des
sterblichen vaters ist er in der geburtsgeschichte die folie für den gottessohn. weiter
hat er wesentlich nur den Ϝιόλαος zu zeugen, der dann seines oheims knappe wird.
er selbst verschwindet völlig: nur dieses verschwinden zu motiviren werden ärmliche
sagen ersonnen. aber eine merkwürdige überlieferung ist in dem epos vom schilde
des Herakles (88) erhalten, einer nicht lange vor 600 verfertigten einlage in die
hesiodischen Eoeen, denen sie den stoff ihrer rahmenerzählung wol verdanken wird.
hier ist Iphikles der unwürdige bruder des Herakles, der zum Eurystheus geht, sein
diener wird und diesen schritt vergeblich bitter bereut, während Herakles nicht von
Eurystheus, sondern vom δαίμων seine arbeiten auferlegt erhält. so versucht der
dichter, die dienstbarkeit, die aus der argolischen sage stammt, von dem boeotischen
helden abzuwälzen, den sie freilich ursprünglich nichts angeht; daſs v. 94 direct
auf λ 622 hinweist, hat Leo gesehen. übrigens ist die umdichtung nicht geschickt
gemacht, denn wie Iolaos trotzdem als Ἰφικλεΐδης und παῖς ἀμύμονος Ἀλκεΐδαο
(des Amphitryon) neben Herakles auftreten kann, hat der dichter nicht erklärt. Iolaos
hatte in Theben grab und cult und fest. seine verbindung mit Herakles ist das
46).
homerische Αἰακίδης erträgt das nicht. auſserdem bilden bekanntlich die Boeoter
das patronymicum auf -ιος. die bildungen auf -δης sind durchaus gentilicisch.
49).
Dem krebse entspricht das eingreifen des Iolaos; diese fassung ist also
thebanisch. sie beherrscht die bildende kunst seit dem ende des siebenten jahr-
hunderts, wie namentlich das attische giebelrelief beweist. und die in nebendingen
selbst ganz feste bildliche tradition bezeugt ein einfluſsreiches gedicht: schon Hesiodos
selbst (theogon. 314) hat es gekannt, da er den zorn der Hera und die beteiligung
des Iolaos erwähnt. Herakles führt übrigens das schwert selbst bei diesem kampfe.
die vergiftung der pfeile ist also vielleicht etwas secundäres; dann also auch die
gewöhnliche form der peloponnesischen Kentauromachie, welche die vergifteten pfeile
voraussetzt. in diesem falle würde es nahe liegen, Stesichoros diese wendung zu-
zuschreiben.
48).
abbild der kampfgenossenschaft, die im ἱερὸς λόχος fortlebte. wo er in der sage
auftritt, ist thebanischer einfluſs sicher. man wird in ihm entweder wirklich einen
führer der einwandernden Boeoter oder den vertreter eines ihrer stämme anzuerkennen
haben. bedeutsam ist der namensanklang von Ϝιόλαος an Ϝιόλεια, die tochter des
Eurytos von Oichalia: aber eine verbindung läſst sich nicht erkennen.
50).
T 99 nennt als geburtsort Theben. aber das kann man nicht umhin für
eingeschwärzt aus der späteren sage zu halten. es ist gar nicht zu verstehen, wie
Eurystheus über das kind eine macht haben soll, welches in der fernen stadt geboren
wird, und ausdrücklich handelt es sich um die herrschaft über die Ἀργέιοι (123),
zu denen Theben nicht gehört. sonst illustrirt die sage auf das trefflichste die ver-
fassung zur zeit der geschlechterherrschaft: der ἄρχων τοῦ γένους, hier τῶν Διογενῶν,
übt eine sehr reale macht. der rhodische einfluſs hat in einem punkte sich immer
behauptet: Alkmene ist Elektryons tochter geblieben, und so ist sie doch nur genannt
worden, weil sie in Rhodos mit Ἀλεκτρώνα, der auf dieser wie auf vielen inseln
verehrten vorhellenischen göttin, ausgeglichen war. vgl. Hermes XIV.
51).
Sthenelos ist in dieser reihe ein füllname. und doch ist er der eines der
vornehmsten helden für die aus der Argolis nach Asien ausgewanderten Hellenen:
dort ist er sohn des Kapaneus und epigone.
52).
Nicht nur in Argos, wofür namentlich die farnesische tafel zeugt, sondern
auch in Samos hat man sie als trägerin des Heradienstes verehrt (Menodotos v. Samos
bei Athen. XV 672). es ist für die religionsgeschichte sehr wichtig, die an sich ein-
leuchtende tatsache also bezeugt zu erhalten, daſs Samos den Heradienst aus Argos
erhalten hat. in der tat ist Hera Ἀργεΐη und ursprünglich nur Ἀργεΐη: nur bedeutet
Ἄργος natürlich auch in der ableitung den Peloponnes. den lason beschützt sie als
Korintherin. ob auf Euboia der name alt ist, ist fraglich. übrigens sollte doch
feststehen, daſs die grundform [ἡ]ήρϜα (nicht [...]έρϜα) ist; und da liegt der stamm vor,
53).
Pausan. V 17, 8 bezeugt, daſs der samische genealoge Asios unter den
kindern des Amphiaraos eine Alkmene nannte. aber daſs diese die mutter des Herakles
gewesen wäre, sagt er nicht, und kann man leider nicht annehmen: genealogen
pflegen ihre listen mit beliebigen heroennamen zu füllen. an sich würde man sehr
gern sehen, daſs die Boeoter ihre ansprüche auf das land des gottes, der mit
wechselnden namen Ἀμφιάραος Τρεφώνιος Μελάμπους Ἀσκληπιός heiſst, dadurch
begründet hätten, daſs die mutter ihres heros seine tochter gewesen wäre.
52).
der in ἥρως steckt: also zwar nicht lautlich, aber dem sinne nach steht sie als Nerio
neben Nar Nero, oder noch besser, sie ist frouwa.
54).
Der inhalt der euripideischen Alkmene ist von R. Engelmann (zuletzt Beitr.
zu Eur. Berlin 1882) erkannt. wenn jüngst jemand behauptet hat, der vers des
Plautus (Rud. 86) non ventus fuit, verum Alcumena Euripidis bedeute, personam
aut fabulam turbulentam dissolutamque esse
, so ist Plautus an dieser windbeutelei
unschuldig: der fährt fort ita omnis de tecto deturbavit tegulas. das unwetter
ist selbst im plautinischen Amphitruo noch beibehalten.
55).
Über den Taphierzug zu v. 60, 1078, wo gezeigt ist, daſs die Eoee (Aspis
anfang) nur einen auszug der reichen sage liefert. Pherekydes (schol. λ 265) ist ihr
freilich allein gefolgt. aber von der schlangenwürgung wuſste er zu sagen, daſs
Amphitryon das ungeheuer geschickt hätte, zu erkennen, welcher der zwillinge aus
götterblut wäre (schol. Pind. N. 1, 65). die gewöhnliche fassung dieser sage reprae-
sentirt für uns am reinsten Pindar N. 1, allein von ihm weichen die andern zeugen
nicht ab, so daſs man in ihm den urheber hat sehen wollen. und thebanisch ist
die sage freilich, wie die einführung des Teiresias zeigt; prägen doch auch die
Thebaner den schlangenwürgenden Herakles im 5. jahrhundert auf ihre münzen.
aber das pindarische gedicht hat zwar dem Theokrit und Philostratos vorgelegen: daſs
es die vulgatsage beherrscht hätte, ist minder glaublich, als daſs im 5. jahrhundert
noch andere auſser ihm ein boeotisches epos benutzt hätten, dem eben auch der
Taphierzug angehört haben wird.
56).
Das erstere folgt daraus, daſs Zeus in des gatten gestalt mit Kassiopeia
den Atymnios zeugt, also eine rhodische sage, Clem. Rom. hom. 5, 13, Robert Bild
und Lied 116. das zweite daraus, daſs der besuch des Zeus bei Alkmene nicht nur
auf der altspartanischen basis dargestellt ist (Löschcke de basi Spartana Dorpat 1879,
diese darstellung war von den Spartanern aus dem allgemeinen peloponnesischen
typenschatze entlehnt, da dieselbe darstellung auch auf der korinthischen Kypsele
stand), sondern daſs der becher des Zeus in Sparta gezeigt wurde: man wird sich
nun wol hüten, die überlieferung bei Athenaeus 475c anzutasten, der dies aus Charon
von Lampsakos erhalten hat. seltsamer weise hat der Thebaner Pindar (Isthm. 7, 5)
einen zug erhalten, der geradezu für rhodisch ausgegeben werden muſs: Zeus läſst,
als er zu Alkmene in Amphitryons haus kommt, um mitternacht gold regnen. so
geschah es auf Rhodos bei Athenas geburt, und so ist Perseus, der Argeier, erzeugt.
das war also in jenes thebanische gedicht aufgenommen: der hagelschlag der euri-
pideischen Alkmene ist das widerspiel dieses goldenen regens.
57).
Dies ist vielleicht ein zug, den erst spätere, immerhin aber sehr alte, con-
sequenz eingeführt hat. denn die kunst bewehrt Her. in beiden ersten kämpfen
auch mit dem schwerte. doch kann sie ebenso gut dem heros die gewöhnliche wehr
der helden gegeben haben, obwol die alte sage bedeutsam von den künstlichen
waffen absah.
58).
Dieses hauptabenteuer haben sich die Boeoter nicht rauben lassen: darum
hat der nemeische löwe seinen kithaironischen doppelgänger, den auch des Herakles
doppelgänger Alkathoos bezwingt (oben anm. 47).
59).
Vgl. zu v. 375.
60).
Schwimmvögel sind es in der älteren tradition. und das ist in der ord-
nung, denn sie sind ja vertreter eines sees. wie sollten andere vögel ein gewässer
vertreten? dem entspricht, daſs Her. sie mit einer schleuder tötet. Gaz. archéol. II 8.
spätere kunst führt auch hier die pfeile ein. die litterarische überlieferung, Peisandros
Hellanikos Pherekydes übereinstimmend (schol. Apoll. Rh. II 1052. 1055. 1088. Pausan.
8, 22), lieſs ihn die vögel nur mit einer klapper verscheuchen: sie steht also schon
im banne der Argonautensage, welche dieselben vögel auf einer Aresinsel wieder
einführte. die Athener verachten dieses abenteuer.
61).
Der feste typus der bildenden kunst und die hier am urwüchsigsten hervor-
tretende Eurystheusverachtung beweist, daſs die alte sage hier die kraft gehabt hat,
jeder umarbeitung zu spotten. das hat aber bewirkt, daſs das abenteuer minder für
das wesen des Herakles selbst bezeichnend schien und daher allmählich zurücktrat.
62).
Vgl. zu v. 182.
63).
Vgl. zu v. 637. gerade dieser nur in der bildenden kunst rein erhaltene
zug ist als argolisch gesichert.
64).
Zu den vasenbildern stimmen die Homerstellen H 367, λ 623; allerdings
ungenügende zeugnisse für die altargolische sage, da sie der allerjüngsten schicht
angehören. indessen liegt in dem wesen und der landschaftlichen geltung der götter
nichts, was verböte, die verbindung dem altpeloponnesischen glauben zuzusprechen.
65).
Vgl. zu v. 637. Ἥβα die person ist erwachsen aus dem wesen Heras, die
jedes frühjahr wieder jungfräulich wird, und die bildende kunst lehrt am besten,
daſs sie zu Hera gehört wie Peitho zu Aphrodite und Nike zu Zeus und Athena.
wenn Hebe den göttern bei Homer die himmelsspeise kredenzt, so ist das zwar nur
ein ausdruck dafür, daſs die götter durch diese speise ewige jugend haben, aber
die jungfräuliche dienerin, die in ihrer mutter hause dienstbereit ist, ist doch die
argolische gestalt. ihre vermählung mit Herakles ist deutlich der argolische aus-
druck für die erhebung in den himmel; die äpfel haben damals also schon von ihrer
vollen bedeutung etwas verloren. kinder aus der ehe hervorgehen zu lassen, ist
widersinnige mythographenfaselei. die ehe mit Hebe aber ist im attischen und
koischen culte gesichert.
66).
Vgl. zu v. 417.
67).
Vgl. zu v. 380.
68).
Auch wer die realität dieser helikonischen Thraker durch Orpheus, Eumolpos,
Tereus, Musen und Dionysoscult nicht erwiesen glaubt, muſs aus den attischen
sagen die annahme mythischer Thraker in dieser gegend für das angehende 6. jahr-
hundert doch zugeben, und kann diese mythischen Thraker gut und gern auch in
älterer sage leben lassen. es ist die autochthone bevölkerung, gegen die ebensowol
die Boeoter wie die Korinther wie die Eleusinier sich wenden muſsten, verwandt
den Graern.
69).
So erzählt nicht nur Matris (Diodor IV 15), sondern auch die hübsche
geschichte vom equus Seianus, die Gellius III 9 nach Gavius Bassus erzählt, setzt
den lebendigen glauben für die ciceronische zeit voraus.
70).
Auch Glaukos nährte seine rosse mit menschenfleisch: so Asklepiades von
Tragilos bei Prob. zu Verg. Gerg. III 267, wo die verschiedenen scholienredactionen
reichliches beibringen, darunter auch die identificirung der pferde des Glaukos mit
denen des Diomedes. und Glaukos heiſst selbst ein Thraker, schol. Eur. Phoen. 1124.
71).
Die farnesische tafel, Diodor und auch die apollodorische bibliothek in
älterer fassung (Bethe quaest. Diod. 43), sind in der anordnung der äpfel an letzter
stelle einig. es muſs das also als die vulgata der mythographie gelten, und da die
poeten meist abweichen (weshalb denn auch nicht nur Hygin, sondern auch die vor-
liegende bearbeitung des Apollodor die beiden letzten taten vertauscht hat), so
muſs für sie ein autoritativer vorgänger, der die bedeutung der sage noch begriff,
angenommen werden. man denkt natürlich an Pherekydes; aber aus dessen bruch-
stücken läſst es sich nicht beweisen.
72).
Kein geringerer als Zoega hat den cyclus der 12 kämpfe für ganz spät
erklärt (bassoril. II 43), kein geringerer als Welcker hat ihn auf die Heraklee des
Peisandros zurückgeführt, welche er geneigt war sehr hoch zu schätzen (kl. schr.
I 83). letzterer aufsatz ist das wertvollste, was Welcker zur Heraklessage geschrieben
hat; in der Götterlehre hat er diese gestalt ganz verkannt. Zoega hat den grund
70).
geradezu versetzt Eustathius zu B 503 die rosse des Diomedes nach Potniai, aber
das ist verwirrung: in seinen quellen, Strab. 409 und den Euripidesscholien, steht
es nicht. der inhalt der aischyleischen tragödie Γλαῖκος Ποτνιεύς ist ganz unbekannt.
73).
Beide titel sind für werke oder teile eines werkes von dem Kallimacheer
Istros bezeugt; die ἐπιφ. Ἡρακλέους kürzlich durch ein bruchstück des Zenobios bei
Cohn (Zu den paroemiogr. 70) bekannt geworden. die Heraklesgeschichte (δειλότερος
τοῦ παρακύπτοντος) ist in wahrheit die erklärung eines naturspiels an irgend einer
tropfsteinhöhle, aber der ort fehlt, und damit die hauptsache. daſs Istros eine
zusammenhängende darstellung der Heraklestaten gegeben hätte, ist nicht glaublich.
74).
Was dieser giebel darstellt, ist gänzlich ungewiſs. Herakles ist nicht zu
erkennen, die überlieferte deutung auf Theseus und Peirithoos verkennt notorisch
eine hauptfigur und kommt offenbar nur daher, daſs eine Kentauromachie, auf welcher
Herakles fehlt, die thessalische sein müſste. an diese in Olympia, unterhalb der
Pholoe, zu denken, ist eine tollheit, zu der nur ein archaeologe kommen kann, der
nichts von geschichte weiſs. dargestellt ist die eleische Kentauromachie in der
form welche Herakles erst verdrängt hat. unmittelbar überliefert ist diese nicht,
72).
für die mythographische wie die monumentale forschung auch auf diesem sagen-
gebiete gelegt. seine arbeit ist auch jetzt noch reiner genuſs für den leser.
74).
sie ist aber vielleicht zu finden. übrigens haben die leute von Phigaleia auf dem
friese ihres Apollontempels dieselbe Kentauromachie verstanden, mochten auch die
athenischen künstler eine andere gemeint haben.
75).
Das gedicht, welches unter der statue stand, Anth. Pal. IX 598, und wol
wirklich von Theokrit ist, ist das beste geschichtliche zeugnis. die wertlosigkeit
des autornamens gesteht Eratosthenes, vgl. Homer. Unt. 347. für die zeit ist wesent-
lich 1) das abenteuer des Antaios in Libyen, also nach der colonisation von Kyrene
(schol. Pind. Pyth. IX 183), 2) die beteiligung von Telamon an dem zuge gegen
Troia (Athen. XI cap. 25), wo er bereits das ἀριστεῖον erhält, also aeginetische tendenz,
3) die feste einführung der tracht des Her. mit löwenhaut und keule, vgl. Furtwängler
bei Roscher Mythol. Lex. 2143. Megakleides (Athen. XII 513) hat den Peisandros
entweder für jünger als Stesichoros gehalten oder, was ungleich wahrscheinlicher
ist, gar nicht gekannt.
76).
Wenn Theokrit als inhalt angibt ὅσσους ἐξεπόνησεν εἶπ̕ ἀέϑλους, und
Suidas ἔστι δὲ τὰ Ἡρακλέους ἔργα, so kann man das nur leugnen, wenn man den
berichterstattern den glauben versagt oder die worte umdeutet.
77).
Der scholiast zu Apollonios (l 1165 und 1357) citirt für pontische dinge
eine Heraklee, deren verfasser einmal Κόνων, einmal Κιναίϑων heiſst. das bleibt
ganz unklar; der inhalt setzt die gründung von Herakleia voraus. Aristoteles (poet. 8)
kennt vielleicht mehrere Herakleen, aber nicht einmal die mehrzahl ist unzweifelhaft.
78).
Der von Arat (z. b. bei Stephanus s. v. Γάργαρα. alle citate gehen auf
Epaphroditos zurück) verhöhnte dichter, dessen zeit und vaterland so bestimmt wird,
hatte ἆϑλα Ἡρακλέους verfaſst. erhalten ist nur ein citat über die Kerkopen durch
einen paroemiographen (ob Zenobios, ist fraglich) bei Suid. Εὐρύβατος und in den
Wiener Lukianscholien zum Alexander. dann hatte ein alter mythograph die leitende
erfindung des Diotimos ausnotirt, daſs Her. aus liebe zu Eurystheus die arbeiten
vollbracht hätte. auf ihn gehen durch verschiedene canäle zurück Athen. XIII 603d,
schol. Townl. zu O 639, Clemens Rom. hom. V 15. epigramme des Diotimos hatte
Meleager aufgenommen (γλυκὺ μῆλον ἀπ̕ ἀκρεμόνων Διοτίμου in seiner vorrede 27).
davon sind erhalten A. P. VI 267, 358, VII 227, 475, 733. denn IX 391 Plan. 158
gehören dem spätling aus Milet, von dem Philippos V 106 erhalten hat. VII 261
möchte man dem Δώτιμος Διοπείϑους Ἀϑηναῖος geben, den Meleager VII 420 nennt.
79).
Die herkunft war unsicher; Herennius Philo bei Steph. Βισάνϑη. Meleager
hat ihn ausgezogen und vergleicht ihn mit φλόξ (51). erhalten sind durch ihn vier
gedichte, von denen XIII 2 in Athen verfaſst ist. die polymetrie veranlaſst, den
dichter noch in das 3. jahrhundert zu setzen. aus der Heraklee ein vers bei Athen.
XI 498 f.
80).
Der name des Rhianos ist nur unter einer ἱστορία zu T 119 erhalten, die
jetzt niemand mehr für ihn in anspruch nehmen darf, wie Meineke An. Al. 117. sie
ist aus dem inhalt der Homerstellen und ein par mythographischen scholien zusammen-
gebraut, von denen eines, über die mutter des Eurystheus, daneben rein erhalten
ist (in A und T). auf Rhianos ist nur der letzte satz bezüglich, und auch in diesem
ist ein irrtum: τοὺς ἄϑλους τελέσας κατὰ τὰς Ἀϑηνᾶς καὶ Ἀπόλλωνος ύποσχέσεις
τῆς ἀϑανασίας μετέλαβεν. denn dieses scholion kehrt im Townl. wieder zu O 639
φασὶν Ἥρας αὐτῷ παραστάσης ἐπιτάσσειν (nämlich Eurystheus), τὸν δὲ Ἑρμοῦ
καὶ Ἀϑηνᾶς εἰπόντων ὡς διὰ τοῦτο ἔσοιτο ἀϑάνατος καταδέχεσϑαι (es folgt das
motiv aus Diotimos Heraklee, das scholion ist also vorzüglich gelehrt). Hermes und
Athena sind die geleiter des Her.: Apollon hat da nichts zu suchen. dem com-
pilator im schol. zum T schien der orakelgott passender. also Rhianos hat genau
die stimmung des dodekathlos eingehalten. daſs er gleichwol die selbstverbrennung
hatte, darf man aus der erwähnung der Ἀσέληνα ὄρη bei Trachis im vierten und
letzten buche schlieſsen, E M s. v. denn daſs hier ἐν τῷ δ΄ aus τῷ ιδ΄ zu machen
ist, nicht bei Suidas βιβλία δ΄ in ιδ΄ zu ändern, liegt auf der hand. die knaben-
liebe, welcher Rhianos in seinen zierlichen epigrammen huldigt, hat er auch in der
Heraklee geschmackvoller als Diotimos einzuführen gewuſst; auf ihn geht ja die
später so geläufige erotische motivirung von Apollons dienstbarkeit bei Admetos
80).
zurück. sie findet sich auch bei Kallim. hymn. 2, 49. aber dieser setzt den zug als
bekannt voraus. das deutet darauf, daſs Rhianos ein zeitgenosse des Aratos und
Zenodotos ist, nicht des Euphorion, wie bei Suidas steht. in der tat spricht alles
gegen diesen späten ansatz, zumal die Homerkritik des Rhianos, und die Suidasdaten
sind nirgend so unzuverlässig wie in den dichtern des 3. jahrhunderts.
81).
Hagias ist als verfasser für mehrere epen genannt, aber auch von Ἀργολικά.
vgl. Homer. Unters. 180.
82).
Kinaithon wird schon von Hellanikos als verfasser der μικρὰ Ἰλιάς an-
gegeben, später für mehr homerisches, aber auch für genealogien; über das citat
einer Heraklee von ihm anm. 77.
83).
Ion fgm. 29. 30. wenn er von Herakles gesagt haben sollte (59), daſs er
ein lydisches leinenhemd angezogen hätte, das ihm nur bis auf die mitte der schenkel
reichte, so war damit nur seine gröſse geschildert, und wie schlecht ihm die sclaven-
tracht paſste. die κύπασσις der Omphale, welche Diotimos der dichter der Heraklee
(Anth. Pal. VI 358) als weihgeschenk eines Artemistempels besingt, hat mit dieser
vertauschung der kleidung nichts zu tun; denn Omphale hat sie zwar ausgezogen,
aber Herakles nicht angezogen. Diotimos sagt, das kleid war selig, bis sie es auszog,
und ist es jetzt wieder, wo es im ϑησαυρός der Artemis als schaustück liegt, χαῖρέ
μοι ἁβρὲ κύπασσι, τὸν Ὀμφαλίη ποτὲ Λυδὴ λυσαμένη φιλότητ̕ ἦλϑεν ἐς Ἡρακλέους.
ὀλβιος ἦσϑα, κύπασσι, καὶ ἐς (ὡς cod.) τότε καὶ πάλιν ὡς (ὅς cod.) νῖν χρύσεον
Ἀρτέμιδος τοῦτ̕ ἐπέβης μέλαϑρον.
84).
Die worte der pseudojustinischen oratio ad gentiles 3 ὡς νήπιος ὑπὸ
σατύρων κατακυμβαλισϑείς, καὶ ὑπὸ γυναικείου ἔρωτος ὑπὸ Λυδῆς γελώσης κατὰ
γλουτῶν τυπτόμενος ἥδετο würden den sinn gestatten, daſs Herakles wie Falstaff
geprellt wäre, und wenn man die satyrn in die Omphalefabel einbezieht, könnte man
hier sogar an Ion denken. aber die satyrn sollen für sich stehen: sie bezeichnen nur
das ἥττων μέϑης, wie Omphale das ἥττων ἔρωτος. und die prügel sind die gewöhn-
lichen des pantoffelhelden. das wird gesichert durch Lukian dial. deor. 13. Kyniker
und christen bestreiten ihre polemik mit demselben aus grammatischen sammlungen
entlehnten materiale. dieses war trefflich, und so wird Herakles der pantoffelheld
allerdings eine erfindung der besten hellenistischen zeit sein.
85).
Man täuscht sich, wenn man in der verbindung von Ares und Aphrodite
eine gleiche symbolik sieht: die ist eben auch erst in derselben hellenistischen zeit
hineingetragen. der schwank, welcher Aphrodite sich zu dem strammen krieger
lieber als zu dem biedern ehegespons Hephaistos halten läſst, heiſst nichts anderes,
als daſs der weibliche geschmack zu Demodokos und Alkaios zeiten kein anderer
86).
Nonnus Dion. 13, 465, Steph. Byz. s. v. können ihr lydisches Ἰτών oder
Ἰτώνη eben aus dieser sage haben. dagegen verlegt die apollodorische bibliothek
(II 7, 7) Kyknos nach Iton.
87).
Noch Diotimos (anm. 78) versetzt die Kerkopen nach Oichalia. nach Ephesos
kommen sie, weil Εὐρύβατος, ein ephesischer nichtsnutz, unter sie aufgenommen
wird. vgl. im allgemeinen Lobeck Agl. 1296. die alte monumentale überlieferung
zeigt, daſs die sage im korinthischen culturkreis beliebt war; bei den Westhellenen
hat sie sich länger gehalten; die Athener lassen sie fallen. ob das homerische
Kerkopengedicht sie behandelt hat, ist sehr fraglich, da die Kobolde keinesweges
eine so enge wirksamkeit gehabt haben.
88).
Vgl. oben s. 38. dort ist übersehen, daſs die vasenbilder ja gar nicht die
amphipolitanische sage darzustellen brauchen, da sich die thessalische bequem dar-
bietet. der bruder ‘Biedermann’ (Δίκαιος) neben dem ‘Frevler’ ist auch in Amphipolis
anerkannt worden (brief des Speusippos an Philipp, Epistologr. 630 Herch.). ihn hat
also Euripides eliminirt, und den verkauf des Herakles durch Hermes aus der Omphale-
sage eingeführt. das wird erst jetzt ganz deutlich, wo man sieht, daſs Syleus eine
episode der Omphaledichtung ist. dafür zeugt Euripides wieder für das alter dieses
sagenkreises.
89).
Steph. Byz. ἀπὸ Λάμου τοῦ Ἡρακλέους. nach Lydien gezogen hat ihn
der Karer Apollonios, der diese fabeln breiter behandelt hat, Geffcken de Steph.
Byz.
40.
85).
als heute war. ernsthaft ist die verbindung nur in der genealogie, welche Ἁρμονία
als tochter des ungleichen pares dem Κάδμος-Κόσμος gesellt, der die drachensaat
des Ares gesäet und gefällt hat. das hat die symbolische bedeutung, daſs die ver-
söhnung und der friede durch Aphrodite bewirkt wird. jede politische hochzeit will
Ares durch Aphrodite bändigen und dadurch harmonie erzielen. die peloponnesische
Αφροδίτη ἀρεία ist lediglich die ‘streitbare’, so genannt, weil sie gewappnet war.
das ist eine göttin, welcher der name Aphrodite vielleicht, sicherlich nicht das wesen
derselben, wie es in Ionien galt, zukommt: dem wesen nach ist Ἀφροδίτα ἀρεία
vielmehr Ἀϑάνα. aber sie widerlegt allerdings den glauben, daſs Aphrodite nichts
als eine semitin sei.
90).
Es ist natürlich derselbe ort, den Steph. Byz. s. v. nach Thessalien, Pto-
lemaeus III 14 nach Epirus verlegt und dessen bewohner Rhianos in den Θεσσαλικά
neben den makedonischen Parauaiern (Steph. Byz. s. v.) angeführt hat. Ὀμφάλη
geht kaum in den hexameter, was hinderlich scheinen kann, wenn man die sage
dem Kreophylos zutraut. aber von Ὀμφάλιον lieſs sich ebenso gut auch Ὀμφαλίη
bilden, und wirklich gebraucht eben Diotimos von Adramyttion diese form, anm. 83.
Omphales vater Ἰάρδανος wird natürlich von den modernen mit dem Iordan iden-
tificirt, und dasselbe muſs sich der gleichnamige fluſs in Triphylien gefallen lassen
(Η 133). daſs in Lydien einer gleichen namens bestanden hat, ist lediglich durch
eine verdorbene oder verwirrte stelle bei Steph. Byz. bezeugt (s. v.). da aber die geo-
graphischen namen der peloponnesischen westküste so oft in Thessalien wiederkehren,
wird man Ἰάρδανος nicht anders beurteilen als Πηνειός und Ἐνιπεύς, und wem es
gelingt, Omphalion zu finden, der mag den fluſs des ortes getrost Iardanos nennen.
91).
Hellanikos führte die lydische stadt Ἀκέλης (Steph. Byz.) auf einen sohn
des Herakles zurück, aber die nymphe, die ihn gebiert, heiſst Μαλίς, weist also nach
Trachis. zu ihr gehört Μήλας, sohn des Her. und der Omphale, schol. Townl. zu
Σ 219, der bei der heimkehr der Herakleiden hilft, die von Trachis ausgieng. er
ist einfach der eponym der Melier. aber als Μήλης steht er in der lydischen königs-
liste, nicht bloſs bei Nikolaos-Skytobrachion-Xanthos, sondern schon bei Herodot I 84.
der Ἀκέλης des Hellanikos ist sohn der Omphale im schol. Townl. zu Ω 616 und
heiſst Ἀχέλης, dort werden auch νύμφαι Ἀχελητίδες aus Panyassis angeführt, der
also, wie von vornherein bei dem Asiaten glaublich war, diese sagen behandelt hat.
hier sind also ein epichorischer name und der hellenische Ἀχελῷος einander an-
geähnelt. dasselbe ist mit dem lydischen flusse ῞ϒλλος geschehen, der in wahrheit
zu ῞ςλη, dem alten namen von Sardes, gehört, aber dem Heraklessohne angepaſst
ward. die penesten der Trachinier hieſsen Κυλικρᾶνες. daſs Herakles sie bezwungen
und dort angesiedelt hätte, darüber sind sich die vorzüglichen gewährsmänner des
Athenaeus XI 461 einig: aber die einen lassen sie aus Lydien, die andern aus Atha-
manien stammen. ein wertvoller zug ist bei Hygin (poet. astr. II 14, daraus mythogr.
Vat. II 155) aus Aratscholien erhalten. Omphale läſst Her. frei, weil er am Sangarios
einen mörderischen drachen bezwungen hat. zur erinnerung daran ist das sternbild
des Ὀφιοῦχος am himmel. das darf man in dieser region der gelehrsamkeit dreist
für Panyassis in anspruch nehmen.
92).
Als solcher ist er freund des Odysseus und des Lykurgos und könig von
Elis; Eurytos aber ist als name für einen der Molionen verwandt worden.
93).
Soph. Trach. 260. 353, der mit groſser feinheit die beiden widersprechenden
traditionen von Lichas erzählen läſst.
94).
Dazu wird der kindermord gebraucht von Hygin fab. 32, und dasselbe ist
aus der ordnung der ereignisse auf der farnesischen tafel zu schlieſsen. es lag nahe
dies motiv, welches die dienstbarkeit bei Eurystheus zu motiviren pflegt, auf die
bei Omphale zu übertragen.
95).
Apollodor II 7, 7 erzählt uns, daſs Herakles den Amyntor von Ormenion
erschlägt, weil er ihm den durchzug weigert. in der parallelstelle, IV 37, hat Diodor
aus flüchtigkeit den namen des königs mit dem der stadt zusammengeworfen und
einen Ὀρμένιος erzeugt, den man beseitigen muſs. aber die werbung um Astydameia,
Amyntors tochter, hat er erhalten. Her. erzeugt mit ihr Ktesippos, nach Apollodor
einen sohn der Deianeira. das bestreben alle andern söhne auſser Hyllos zu bastarden
zu machen, ist auch sonst öfter kenntlich: das sind adelsrancünen, wie bei den söhnen
Jakobs, die meist im einzelnen unkenntlich sind. sohn der Astydameia ist eigentlich
und war bei Hesiodos der Rhodier Tlepolemos, und zwar gab es auf Rhodos wirklich
ein geschlecht von Amyntoriden: so weist auch auf dieser insel einzelnes nach Thes-
salien neben Argos, ganz wie auf Kos und am Triopion. vgl. schol. Pindar. Ol. 7, 42.
96).
Das hat endgiltig der wichtige stein von Hypata gelehrt, Athen. Mitteil. IV 216.
97).
Man darf hier wieder daran denken, daſs das asiatische Erythrai einen
wirklich alten Heraklescult hat (oben s. 271), und daſs er den namen einer stadt
führt, die dicht neben dem thessalischen Oichalia liegt: auf demselben steine bezeugt
wie jenes. daſs das königsgeschlecht der Lyder, welches durch Gyges gestürzt ward,
selbst so hellenisch dachte, um Herakles als ahn zu beanspruchen, ist nicht glaub-
lich, auch würden sie nicht eine sclavin des Iardanos, sondern Omphale als ahnfrau
angesehen haben (so erst später: die naivetät bei Herodot I 7 unter δούλη Ἰαρδάνου
Omphale zu verstehen, verdient keine widerlegung). wol aber muſs diese verbindung
zu einer zeit aufgebracht sein, als die Hellenen für dieses alte haus sympathie em-
pfanden, und die Lyder sich schon stark hellenisirt hatten. das trifft auf die zeit
des Alyattes, vielleicht auch schon auf etwas frühere zu: in diese wird dann auch
das homerische gedicht zu setzen sein. von den fabeleien des Skytobrachion bei
dem Damascener Nikolaos ist einschlägliches von belang nicht erhalten: das ist zu
verschmerzen, denn es war ein roman, und man sollte einen alten epiker Magnes,
der die taten der Lyder gegen die Amazonen besungen haben soll (fgm. 62), nicht
ernsthaft nehmen, und so zu einer lydischen epik gelangen, die womöglich auch
in die Heraklessage übergreifen könnte.
98).
Vgl. zu v. 110.
99).
Die hesiodische form der sage ist hergestellt Isyllos s. 70. durch sie wird
das gemälde einer attischen pyxis erklärt (Wien. Vorleg. Bl. N. S. I 8, 5). Admetos
führt lebhaft die Alkestis, welche ein mädchen geleitet, auf das haus zu, vor dem
der alte Pheres steht, den ein anderes mädchen anspricht. die mädchen vertreten
das hochzeitsgeleit. aber zwischen beiden gruppen stehen Apollon und Artemis,
den blick voll ernster teilnahme auf das junge par gerichtet. man lese Eur. Alk.
915—25 nach, die stimmung zu finden; aber das gemälde wirkt durch die gegenwart
der götter weit ergreifender: Apollon hat die ehe gestiftet; Artemis wird sie lösen.
100).
Aischylos sagt καὶ παῖδα γάρ τοι φασὶν Ἀλκμήνης ποτὲ πραϑέντα τλῆναι
δουλίας μάζης βίον, Ag. 1040. bei Euripides sagt Apollon ἔτλην ἐγὼ ϑῆσσαν τρά-
πεζαν αἰνέσαι ϑεός περ ὤν (Alk. 1). man sieht, daſs beides ganz gleich empfunden
wird. O. Müller ist durch diese sagen zu seinem folgenreichen irrtume verführt, Herakles
und Apollon überhaupt als ganz nahe verwandt zu betrachten. er hat verkannt, daſs
die sagen deshalb nicht älter sind, weil sie auf einem boden spielen, welchen die
Dorer früher einnahmen, als sie in den Peloponnes zogen. die Dorer, welche fort-
zogen, haben sie ja eben nicht erzeugt noch erhalten, sondern die am Oeta bleibende
bevölkerung. und der Apollon, welcher hier verehrt ward, ist kein dorischer, sondern
der althellenische, vgl. anm. 9.
101).
So die Kyprien, welche Laodameia Polydora nannten, Pausan. IV 2. in
dieser geschichte sind sie also nicht die quelle des B.
102).
Gewiſs liegt es nahe, auch dies auf Kreophylos zurückzuführen. aber
dazu fehlt ein positiver anhalt bisher. die aetolischen sagen haben viele beziehungen
nicht zu Samos (wo aber der Homeride ja gar nicht zu hause gewesen zu sein
braucht), sondern zu Chios. dort kehrt Oineus-Oinopion und der tod des Ankaios
durch das wildschwein wieder, kommt Tydeus als eigenname in vornehmem hause
vor u. dgl. auch Νεσσᾶς und ähnliche namen finden sich da und stimmen zu Νέσσος.
103).
Dies zeigt sich namentlich darin, daſs morgenstern und abendstern auf ihm
wohnen, nicht bloſs für die beiden lokrischen stämme, sondern noch für die lesbischen
Aeoler. natürlich ist diese anschauung hellenisch, nicht dorisch, vgl. zu v. 394.
104).
ἔστιν ἐν Τρηχῖνος αἴῃ κῆπος Ἡρακλήιος, πάντ̕ ἔχων ϑάλλοντα, πᾶσι
δρεπόμενος πανημαδόν, οὐδ̕ ὀλιζοῦται, βέβριϑε δ̕ ὑδάτεσιν διηνεκές. das gibt
der klarische Apollon als ein allgemeines orakel, wie aus der polemik des Oinomaos
(Euseb. praep. ev. V 214) hervorgeht: es bedeutet, wandele wie Herakles den rauhen
pfad der tugend, so gehst du zum ewigen leben ein. der gott verstand also die
religion sehr wol. als ἄτομος λειμών des Zeus, als Οἰταῖον νάπος erwähnt dieselbe
wiese Sophokles Trach. 200, 436.
105).
Dem Malier Philoktet. die sagen, welche diese waffenbrüderschaft ver-
herrlichten, sind ganz verschollen: aber sie müssen bedeutend gewesen sein, denn
Philoktet ist ja als träger des herakleischen bogens allein in die troische sage ge-
kommen. das ist einwirkung der oetäischen Dorer parallel den oben s. 280 erläuterten
rhodischen und aeginetischen erfindungen.
106).
Das feuer tut hier dasselbe wie in der phthiotisch-magnetischen sage, wo
Thetis ihre kinder ins feuer hält, und ihren parallelen. ὑπὸ δρυὶ γυῖα ϑεωϑείς sagt
sehr fein Kallimachos, an Artem. 159.
107).
Duris in den scholien zu Plat. Hipp. I 293a. wenn dieser hinzufügt, daſs
die makedonische sitte von der ältesten tochter diesen liebesdienst forderte, so war
eben nur dort im norden diese wie manche andere einfache sitte, die ehemals die
Dorer geteilt hatten, bis 300 v. Chr. erhalten geblieben. daſs Herakles nur eine
tochter gehabt hat, ward als charakteristisch empfunden, und selbst Aristoteles notirte
es in der Tiergeschichte (VII 6, 45). hieran anknüpfend hat Euripides den heldentod
einer jungfrau, den viele sagen seiner heimat boten, auf diese jungfrau übertragen
und so seinen Herakleiden die wirksamste scene eingefügt. vgl. mein programm de
Eur. Heraclidis
.
108).
Isthm. 3, 105, welchen Pausan. IX 11, was das örtliche angeht, gut er-
läutert. den mord erwähnt Pindar nicht, verherrlicht er doch den Her. und sein
thebanisches fest. er nennt die totenopfer χαλκοαρᾶν ὀκτὼ ϑανόντων τοὺς τέκε
οἱ Μεγάρα Κρεοντὶς υἱούς. darin kann also χαλκοάρας nicht mit den scholien als
βιοϑάνατος gefaſst werden, und Μέμνονα χαλκοάραν I. 5, 51 muſs etwas wie ‘mit
erz bewehrt, mit erz kämpfend’ bedeuten, τεκτόνων χεριαρᾶν P. 5, 35 irgendwie die
handfertigkeit hervorheben. die scholien raten nur, die modernen haben auch nichts
gefunden; an die wurzel αρ darf heute niemand mehr denken; man sucht ein Ϝαρ,
das doch nicht da ist. aber auch wenn man eingesteht, daſs man das wort eigentlich
nicht versteht, bleibt es seltsam, daſs die kinder dasselbe beiwort wie Memnon
führen. doch das ist verständlich. an die knäblein des Euripides sollen wir nicht
denken: die Thebaner opfern heroen, und diese denkt man sich, zumal wenn es
Herakleskinder sind, gewappnet. daſs Pindar die altäre νεόδματα nennt, ist nicht weg
zu deuten, aber es kann auch verstanden werden. bei der belagerung 479 waren die
109).
Die wichtigsten angaben stehen in dem Pindarscholion, bei Apollodor II 4, 12;
mit euripideischem contaminirt, aber doch nicht ganz ohne älteres Asklepiades im
schol. λ 369, schol. Lykophr. 38 (daraus schol Lucian. dial. deor. 13) Diodor IV 11,
wo Skytobrachion hineinspielt; Nikolaos v. Damaskus III 369 Müll.
110).
Als vulgata darf gelten, daſs Megara frau des Iolaos wird, so auch Plutarch
Erot. 9. das war offenbar die im boeotischen culte geltende ansicht. das epyllion,
welches Megaras namen trägt, liefert gar keine für die sage brauchbaren züge, wie
zumal die behandlung des Iphikles neben Herakles lehrt. aber die absicht seines
dichters dürfte ein wort der erklärung verdienen. was er erzählt, ist wenig
und scheinbar ganz abgerissen. Megara und Alkmene sitzen in Tiryns, während
Herakles im dienste des Eurystheus irgendwohin fortgezogen ist. sie verzehren sich
in angst und sehnsucht. Megaras rede gibt wesentlich nur die exposition, aber die
sonst gefaſste mutter ist durch ein traumgesicht tief erschüttert, das sie erzählt und
am ende ihrer rede, zugleich dem ende des gedichtes, fortwünscht, ἀποπέμπεται.
der leser wird in dem traume die hauptsache sehn und natürlich den traum als einen
wirklich vorbedeutenden betrachten. sein inhalt ist, daſs Herakles ὡς ἐπὶ μισϑῷ
beschäftigt ist einen graben zu ziehn. als er fertig ist, will er sein gewand anlegen,
das er zu seinem geschäfte abgelegt hat. da schlägt ihm aus diesem eine lohe
flamme entgegen, der er vergeblich zu entrinnen sucht, während Iphikles, als er
ihm helfen will, wie tot hinfällt. das ende hat Alkmene nicht mehr geschaut, sie
ist offenbar vor angst aufgewacht. der hellenistische dichter hat auf leser gerechnet,
die sich dieses bild aus der altbekannten sage deuten würden, aber auf leser, die
das bild mit dem gedanken verwechseln würden, und nach dem graben fragen, den
Herakles gezogen hätte, hat er nicht gerechnet. das bild enthüllt so viel, daſs
Herakles, wenn er mit dem werke, das er auf sich genommen hat, fertig sein wird,
statt ruhe zu finden, einem plötzlichen unentrinnbaren unheil verfallen wird, vor
dem ihn nichts retten kann, auch nicht seine irdische verwandtschaft: die kann den
weg nicht gehen, den er gehen muſs. so ist es ihm ja gegangen; die Trachinie-
rinnen geben dieser selben stimmung lebhaften ausdruck. die flamme des traumes
bedeutet nicht die flamme des Oeta direct, sondern nur den gewaltsamen untergang.
auf Iphikles ist eine empfindung übertragen, welche träumende sehr oft haben, beim
besten willen und in höchster not nicht von der stelle zu können, schon von Homer
(Χ 199) angewandt. der dichter, in allem vermenschlichend, hat den traum so ge-
halten, daſs er keiner himmlischen offenbarung bedarf. so viel kann einer mutter
das herz, unter dem sie ihn getragen hat, von dem sohne sagen, den sie von gefahr
zu gefahr schreiten sieht: es ist keine ruhe für ihn, auch die vollendung, auf die
er jetzt hofft, wird sie ihm nicht geben. so kennt sie den πονηρότατος καὶ ἄριστος,
108).
vorstädte Thebens verwüstet, die altäre bedurften also eines neubaus; der cult selbst
ist damit nicht als jung bezeichnet.
111).
Monum. dell’ Instit. VIII 10. Alkmene und Iolaos schauen zu, Megara
entflieht in ein zimmer aus dem peristyl, wo das feuer brennt. man darf schlieſsen,
daſs der maler die mutter, weil der ort Theben ist, Iolaos, weil er später Megaras
gatte ward, dargestellt hat. auſserdem ist Μανία anwesend: sie allein kann ja dem
beschauer sagen, daſs Her. wahnsinnig ist.
112).
Z. b. auf der von Altamura, Neapel 3222.
113).
Wie könnte es sonst von ihr bloſs heiſsen τὴν ἔχεν Ἀμφιτρύωνος ὑὸς
μένος αἰὲν ἀτειρής, λ 270, zumal sie als schatten erscheint.
110).
wie sie bei einem Eoeendichter ihn nannte, der den Alexandriner angeregt haben
mag. was dieser aber bezweckte, war nur in zweiter linie, den leidenden Herakles als
solchen darzustellen, obwol dazu die breite ausführung des kindermordes dient. es
ist sein, wie überhaupt der besseren hellenistischen poeten, zweck, die allbekannten
alten stoffe dadurch zu erneuern, daſs er das licht auf andere personen fallen läſst.
für die sage sind mutter und gattin des helden nur relativ bedeutsam, so weit sie
für ihn in betracht kommen: hier wird mutter und gattin hell beleuchtet, und die
sage hat nur noch den relativen wert, diesen typen individuelle persönlichkeit zu
verleihen. das gedicht ist nicht hervorragend, aber mit den balladen unserer roman-
tiker darf es ohne zu verlieren verglichen werden.
114).
Wenigstens so viel gestattet der in seiner vertrackten weise auf zwei
stellen verzettelte und unklar gehaltene bericht des Pausanias zu erkennen (IX 11
und X 29). er sagt bei erwähnung des kindergrabes nichts, als daſs die Θηβαῖοι die
sache οὐδέν τι ἀλλοίως ἢ Στησίχορος καὶ Πανύασσις erzählen, und nur einen be-
sonderen zug zufügen. da kein grab der mutter da ist, kann sie in Theben nicht
für mitgetötet gegolten haben. in der beschreibung des polygnotischen bildes (welcher
er die dichtercitate verdankt), sagt er denn auch, daſs Herakles sich von ihr getrennt
habe. was er nun mit jenem οὐδὲν ἀλλοίως sagen will, ist daſs sein bericht über
die dichter von der vulgata (d. h. Euripides) nicht wesentlich abweicht, auſser in
dem einen hier nicht hergehörigen stücke. dann muſs aber das eine, allgemein ge-
glaubte, auch für jene dichter angenommen werden: der wahnsinn. auf die todesart
ist leider kein schluſs möglich.
115).
Der kindermord stand im zweiten buche, für welches von Heraklessagen
sonst nur die erzeugung, aber sehr viel andere sagen auch bezeugt sind, so daſs man
den dodekathlos mit recht in das dritte setzt, aus welchem freilich nur das Geryones-
abenteuer sicher bezeugt ist.
115 b).
Daſs Alkathoos einen sohn Καλλίπολις erschlägt, weil er ihm beim opfer
den tod seines älteren bruders Ἰσχέπολις meldet (Pausan. I 42, 6), hat mit der tat
des Herakles keine ähnlichkeit, geschweige daſs es eine dublette des kindermordes
wäre. Alkathoos handelt so in ausübung seiner väterlichen gewalt, weil er die hand-
lung des sohnes für οὐχ ὅσιον hält, er handelt formell gerecht, macht sich freilich
selbst durch seine strenge kinderlos. das ist eine novelle angesetzt an ein monument,
dessen wirkliche bedeutung man nicht mehr verstand. offenbar ist in der periegese
des Pausanias neben dem, was auf die chronik des Dieuchidas zurückgeht, ein element,
das die reste der stadt, die nach den katastrophen von 306 und 264 übrig waren,
ohne wirkliche kenntnis zu deuten sucht. so ist das αἰσίμνιον offenbar das alte
sitzungshaus der αἰσιμνᾶται, aber jetzt fabelt man, es wäre ein grab eines Αἴσιμνος,
und Ἰφινόη, der die mädchen ihr har vor der hochzeit weihen, ist offenbar ehedem
eine nebenform der Ἰφιγόνη gewesen, keine königstochter, u. s. w.
116).
Die vorzügliche arbeit von A. Meyer (de comp. Theogon. Berlin 87) hat
in erfreulichster weise in diesem chaos ein licht werden lassen. aber freilich ist im
einzelnen noch viel zu tun. so ist die schilderung der unterwelt, oder besser der
welt auſser himmel und erde, deshalb nicht unhesiodisch, weil sie entbehrlich ist, und
wenn auch an 735 881 gut anknüpfen könnte, so ist doch nichts triftiges dagegen
einzuwenden, daſs der dichter neben den Hundertarmen, welche die übrigen Titanen im
gefängnisse bewachen, den Atlas erwähnt, dessen strafe eine besondere ist, und die
Nacht, für ihn eine so wichtige urgewalt, nun in der sphäre zeigt, wo sie in der
jetzigen weltordnung wohnt. daſs hier aber ein altes echtes stück vorhanden ist,
folgt daraus, daſs zwei parallele erweiterungen daneben stehen, 736—45 und 807—19,
nach deren beseitigung die einzelanstöſse zu schwinden scheinen. von dem Typhoeus-
kampfe 820—80 sollte niemand mehr reden. es spricht sich und seiner kritik jeder
selbst das urteil, der bezweifelt, daſs er formell ein junges machwerk ist, und inhalt-
lich erst nach der gründung von Katane verfaſst sein kann (vgl. den interessanten
aufsatz von Partsch in den Philol. Abhdl. für M. Hertz), und sogar viel später, als
der Aetna im mutterlande bekannt geworden war, denn es gibt ja kein sicilisches
epos. daſs die descendenz des Zeus hesiodisch ist, hat A. Meyer selbst erkannt,
und auch mit recht die Metis als einen jetzt nicht mehr rein zu beseitigenden
zusatz bezeichnet. nur den grund hat er nicht angeführt, der doch hier, wie für die
obigen zusätze gilt: auch die Metis ist in doppelter gestalt erhalten, einmal in unsern
handschriften, zum andern bei Chrysippos (Galen de Hipp. et Plat. III 351). es ist
nicht hübsch, daſs unsere Hesiodausgaben ein solches stück ganz ignoriren. hat man
117).
Es ist ein arger sachlicher verstoſs, wenn man an die gigantomachie
gedacht hat, um ἐν ἀϑανάτοισι mit dem nächsten verbum zu verbinden. die gigan-
tomachie ist gar nicht die haupttat, Hesiodos hat auch die beteiligung des Herakles
schwerlich gekannt; bei Pindar Nem. 1 sind die giganten nur ein exempel für die
ἄνδρες σὺν πλαγίῳ κόρῳ στείχοντες, und jedes andere könnte ebenso gut stehen,
wie denn Isthm. 3 Antaios steht. das μέγα ἔργον ist sein lebenswerk. aber ἐν
ἀϑανάτοισι zu ändern ist auch falsch, es liegt ja das hauptgewicht auf der apotheose,
deshalb ist eine etwas verschränkte wortstellung gewählt, die aber die recitation
jeder zweideutigkeit überheben kann.
118).
Hier ist ganz deutlich noch der unmittelbare übergang von der fahrt in
den äuſsersten westen, wo die sonne zu rüste geht und Atlas den himmel hält, in
den himmelsgarten, vgl. zu v. 394.
116).
aber in der descendenz des Zeus den stoff dieser hesiodischen partie erkannt, so ist
damit gesagt, daſs 930—37, 945. 6 und alles was auf 955 folgt fremdartig ist,
und zu dem kitte gehört, welcher die Theogonie mit den Katalogen verband, aus
welchen ja 987 schon citirt wird (Herm. 18, 416). an die letzte göttin, mit welcher
Zeus göttliche kinder gezeugt hat, schlieſsen sich die sterblichen oder doch des
götternamens unwürdigen, welche ihm auch götter geboren haben, Maia den Hermes,
Semele den Dionysos, dessen gattin auch gott geworden ist, und Herakles: der war
bekanntlich der letzte Zeussohn, und seine göttlichkeit ist in seiner ehe ausgesprochen.
hier endet, was wir von Hesiods Theogonie haben; was folgte und wie viel, weiſs
niemand.
119).
Dies gedicht und N. 10 dürfte man zunächst von den herrn erklärt wünschen,
welche Pindar auf das kreuz des terpandrischen nomos schlagen.
119 a).
Vgl. Homer. Unters. 203.
120).
Problem. 30, 1. daſs die lehre aristotelisch ist, kann nicht bezweifelt
121).
Als εύεργὲτης βροτῶν hat Aristoteles wie Euripides den Herakles gefaſst,
in dem er natürlich eine geschichtliche person sah. als solchem sollen ihm die
säulen des westens geweiht sein, Aelian. V. H. V 2 (Rose fgm. 678 zieht zu wenig
aus und verdirbt den sinn). die heroen als verehrer der ἀρετή feiert Aristoteles in
seinem threnos auf Hermeias, und zwar stellt er Herakles und die Dioskuren zuerst,
120).
werden, namentlich die charakteristik von Platon, Sokrates, Lysandros ist bezeichnend.
auch wird der inhalt als aristotelisch von den grammatikern (Erotian Ἡρακλεία νόσος)
und Plutarch (Lysand. 2) citirt. die Ἡρακλῄη νόσος der späthippokratischen schrift
über die weiblichen krankheiten I 17 (II 623 Kühn) meint die epilepsie, es ist
also ein parallelname zu ἱερὴ νοῦσος und bedeutet nur die ‘ungeheuerliche’, wie
Ἡρακλεία λίϑος den wunderbaren magnetstein; so haben die grammatiker richtig
erklärt (Erotian, Galen zu Epidem. VI 7, XVIIb 341 K). Herakles selbst ist nicht epi-
leptisch wie Caesar und Muhammed gewesen, wol aber Alexander μελαγχολῶν wie
Herakles.
121a).
Z. b. Megakleides bei Athen. XII 513.
121).
den ἀλεξίκακος und die σωτῆρες, natürlich, weil sie den himmel sich erworben haben,
schon ganz wie Horaz.
122).
Wir kennen von so wenigen satyrdramen des Aischylos den inhalt, und
die namen sind zum teil so wenig bezeichnend, daſs sich darunter sehr wol eine
Heraklesgeschichte verbergen kann.
123).
Da Euripides dem Phrynichos in vielem folgt, darf man die burleske auf-
fassung des Herakles ohne schwanken schon jenem zutrauen, vgl. oben s. 92.
124).
Da Epicharm die Musen zu fischweibern gemacht hat, so kann man des
ärgsten gewärtig sein. die bruchstücke geben nur die witzlosesten kataloge von
den schätzen der Siculae dapes. sonst gehören sicher noch Ἡρακλῆς ἐπὶ τὸν ζωστῆρα
und Ἡ. πὰρ Φόλῳ, Βούσεις und wahrscheinlich Ἁλκυονεύς (so O. Jahn für Ἁλκυόνι,
das zweimal überliefert ist) in die Heraklessage.
125).
Ihm ist offenbar der zweifel aufgestiegen, wo denn Her. ein recht auf die
rinder des Geryones hergehabt haben könnte. so hat er denn einmal ausgesprochen,
daſs er Geryones für eben so löblich als Herakles hielte; er wolle nur von dem
nicht reden, was Zeus nicht wolgefällig wäre (es ist das berufene fgm. 81 welches
noch immer mit einem von Boeckh in daktyloepitriten umgeschriebenen satze be-
haftet ist, den Aristides selbst als erläuterung bezeichnet, und den für poesie zu
halten G. Hermann mit recht als einen mangel an poetischem gefühl gebrandmarkt
126).
Auf einer herme im Vatican steht Ἡλικίην παῖς εἰμίη βρέτας δ᾽ ἐστή-
αττο Φῆλιξ Ἡρακλέους εἰκῶη οἶσϑά με κἀκ Προδίκου (Kaibel 831 a). die abhängig-
keit des Prodikos von dem Parisurteil ist schon von dem philosophen erkannt, den
Athenaeus im anfange von buch XII ausschreibt. es ist ein späterer peripatetiker,
der wol besonders von Theophrast περἰ ἡδονῆς abhängt.
125).
hat). Pindar ist dann aber weiter gegangen und hat aus dem Geryonesexempel den
berühmten satz gezogen νόμος ὁ πάντων βασιλεύς, ϑνητῶν τε καὶ ἀϑανάτων, ἄγει
δικαιῶν τὸ βιαιότατον ὑπερτάτᾳ χειρί (169). er hat nur sagen wollen, daſs ὅτι νομί-
ζεται δίκαιόν ἐστιν, daſs Herakles und die götter die ihm halfen den raub der rinder
für νόμιμον hielten, und er nicht anders urteilen dürfte: aber damit sagte er im
grunde dasselbe, was Eur. Hek. 799 zu der lästerlichen consequenz treibt, daſs die
götter auch nur νόμῳ verehrt werden, und was der brave Xenophon, Mem. IV 4, 20, aus
frömmigkeit verdirbt. offenbar hatte Pindar, was ihm manchmal (auch mit den pytha-
goreischen lehren Ol. 2) begegnet, eine neue lehre übernommen, ohne sich ihre für
seine weltanschauung vernichtenden consequenzen klar zu machen. leider kann man
weder sagen, wann er die Geryonesgedichte gemacht hat, noch für wen. das erste,
bescheidnere, war ein dithyrambus. Peisandros von Rhodos soll Herakles δικαιό-
τατος φονεύς genannt haben: das klingt stark an Pindar an, beruht aber auf dem
bedenklichen zeugen Olympiodor zu Alkibiades I: also ist vorsicht geboten. es klingt
auch an das noch ungelöste rätsel der Kleobulina an, das in den dorischen διαλέξεις
erhalten ist ἄνδρ᾽ εἶδον κλέπτοντα καὶ ἐξαπατῶντα βιαίως, καὶ τὸ βίᾳ δρᾱσαι
τοῦτο δικαιότατον.
127).
Kurz und scharf findet man diesen kynischen Herakles bei Dion in der
achten rede: man muſs sich nur hüten, bei diesem schriftsteller zu groſse stücke
auf eins der alten bücher des 4. jahrhunderts zurückführen zu wollen. wie sollte
er den Antisthenes anders behandelt haben als Platon und Xenophon, wo die ver-
gleichung gestattet ist? der sophist Prometheus (33) dürfte freilich von ihm stammen.
und auch der besondere hohn, der die goldenen äpfel trifft, die auch hier am ende des
lebens stehen, paſst für einen, dem ihre besondere bedeutung noch geläufig sein
konnte: Her. nimmt sie nicht selbst, er kann ja gold so wenig wie die Hesperiden essen.
als er dann alt und schwach wird, baut er sich auf dem hofe den scheiterhaufen. hier
ist die kritik der byzantinischen und modernen herausgeber possirlich. weil sie wissen,
wo die sage den selbstmord ansetzt, machen sie aus dem hofe den Oeta (Οἴτῃ
für αὐλῇ 34), wo man kynisch weiter fragen muſs, wozu die bergbesteigung, das
konnte er doch wahrhaftig zu hause haben. von den Heraklestragödien der Kyniker
ist adespot. 305 merkwürdig, von Cassius Dio (47, 49) als τὸ Ἡράκλειον angeführt,
der vers, den Brutus wiederholte, als er sich bei Philippi den tod gab ὦ τλῆμον
ἀρετή, λόγος ἄρ᾽ ἧσϑ᾽, ἐγὼ δέ σε ὡς ἔργον ἤσκουν, σὺ δ᾽ ἄρ᾽ ἐδούλευσας τύχῃ. so
redet also eben der Herakles, der sich am scheidewege für die ἀρετή entschieden hatte:
der dichter setzt Prodikos, oder vielmehr Xenophon voraus, und das δουλεύειν τύχῃ
nimmt er aus der letzten rede des euripideischen Herakles (1357). dieser Herakles war
also nicht mehr der rechte Kyniker, sonst würde er die τύχη verachten — auch das
antisthenische ideal war gewogen und zu leicht befunden. alles führt darauf, Diogenes
oder Pseudodiogenes als verfasser anzuerkennen.
128).
Hippol. Refut. V 26. Elohim hat mit Eden (der Erde) in seltsamer weise
den menschen gezeugt, sich aber dann in den himmel an die seite des ‘Guten gottes’
erhoben; ihm folgen seine 12 söhne; ihr gehören auch 12, mit und durch welche
sie auf erden regiert. vergebens schickt Elohim den engel Baruch, u. a. zu Moses
und den Propheten. da erweckt sich Elohim aus der Vorhaut einen groſsen propheten,
Herakles, der besiegt die 12 Erdensöhne (die μητρικοὶ ἄγγελοι): das sind die 12 kämpfe.
und er würde die welt erlöst haben, wenn nicht Ὀμφάλη = Βαβέλ = Ἀφροδίτη, die
sinneslust, ihn bezwungen hätte. so bedurfte das erlösungswerk der vollendung, die
es fand, als der engel Baruch den 12 jährigen zimmermannssohn Jesus von Nazaret
aufgesucht und ihm die wahrheit verkündet hatte. der lieſs sich nicht verlocken,
deshalb schlug ihn der höchste der μητρικοὶ ἄγγελοι Naas ans kreuz. da starb er,
d. h. er lieſs den irdischen toten leib mit den worten ‘weib, da hast du deinen sohn
(Joh. 19, 26)’ zurück und schwang sich empor zum ‘guten gotte’. Justin hat in
seinem buche die meisten hellenischen sagen in ähnlicher weise umgedeutet.
129).
Es befremdet zunächst, wird dem nachdenkenden aber ganz begreiflich,
daſs die gebrüder Goncourt im torso das höchste der antiken sculptur sehen und zu-
gleich auf cet imbécile Winckelmann schelten. ihnen ist das echthellenische verhaſst,
und so sein prophet; sie haben aber ganz recht, Winckelmann zu bekämpfen, wenn
er seine vorstellungen vom echthellenischen in ein werk hineinträgt, das vielmehr
einer cultur angehört, die den Goncourt sympathisch sein muſs, weil sie längst vom
hellenischen entartet ist.
130).
Belustigend ist, daſs Goethe sich Herakles als koloſs denkt und Wieland
verhöhnt, der in ihm ‘einen stattlichen mann mittlerer gröſse’ erwartet hat. beide
anschauungen sind im altertum auch mit einander in streit gewesen. aber Pindaros,
der ihn doch zu schätzen wuſste, hat Her. ὀνοτὸς μὲν ἰδέσϑαι und μορφὰν βραχύς
im gegensatze zu den riesen Orion und Antaios genannt (Isthm. 3, 68). vier ellen
(sechs fuſs) oder vier und eine halbe (Herodor im schol. Pind., welches wirklich der
ausschreiber Tzetzes zu Lyk. 662 verbessert), etwas gröſser als ein gewöhnlicher
mensch (Plutarch bei Gell. I 1), pflegt er geschätzt zu werden. anders muſs natür-
lich die bildende kunst vorgehen. die tradition Pindars will offenbar den dorischen
130).
mann und menschen im gegensatz zu den wüsten leibern der γηγενεῖς wie zu den
eleganten Ioniern erfassen. weiter wird auch Herodoros nichts gewollt haben. aber
die peripatetiker Hieronymos und Dikaiarchos (Clemens protr. 2 p. 26 extr.) treiben phy-
siognomonische speculationen, wenn sie auch an die tradition ansetzen. aus Clemens
schöpft Arnobius IV 25, wo nur der name Hieronymus noch erhalten ist: es heiſst
das abhängigkeitsverhältnis verkennen, wenn man bei Arnobius ein besonderes Hiero-
nymosbruchstück findet. ob aber Arnobius unmittelbar darauf Plutarch (für die
kynische motivirung des todes, anm. 126) aus eigner kenntnis in die Clemensexcerpte
einfügt, oder ob Clemens unvollständig erhalten ist, verdient ernste erwägung.
1).
Vgl. oben 145 und bd. II 4.
2).
Es steht fest, daſs Lessing den stoff der Emilia schon als jüngling in angriff
genommen hat; Goethe hat die Wahlverwandtschaften mehr als ein menschenalter
früher concipirt, als sie geschrieben sind: das sind für die beurteilung der dichter
sehr wertvolle tatsachen, aber für die gedichte haben sie geringe bedeutung, denn
diese sind in sich vollkommen einheitlich.
3).
Die antiken erklärer haben öfter, z. b. zu den Fröschen des Aristophanes,
4).
Vgl. den commentar zu der dritten gesangnummer.
5).
Vgl. II 237 ff.
6).
Vgl. zu v. 181, 1309, 1353, 1373 und F. Schroeder de iteratis apud tragicos
Graecos
112. besonders bezeichnend S. Tr. 416 aus E. Hik. 569: Sophokles hat
arglos ein wort beibehalten, als er eine nebenfigur nach dem muster einer euripi-
deischen stilisirte, welche mit den neuen künsten der rhetorischen charakteristik
3).
mit der hypothese einer solchen umarbeitung gerechnet. allein es sind das ersicht-
lich nur hypothesen, und sie schweben ganz und gar in der luft. vgl. oben s. 42.
7).
Vgl. oben 290, II s. 86, 92. die ehrbegriffe der archaischen zeit sprechen
6).
sorgfältig und bedeutsam ausgearbeitet war. nur in dem sinne darf man von nach-
ahmung reden.
8).
Diese anschauungen stehen in unmittelbarem zusammenhange mit den eben
bezeichneten epischen. zeugnisse der groſsen zeit z. b. Aisch. Pers. 85, Herodot V 97,
pseudosimonideische epigramme 105, 106 Bgk. später besonders schön Aristoteles
im epigramm auf Hermeias.
9).
Die schrift vom staate der Athener (nicht lange vor 424 verfaſst) gibt die
unzulänglichkeit der attischen hoplitenmacht zu, aber die schützen berücksichtigt
sie nicht. übrigens gab es auch ein bürgerliches schützencorps; es spielt nur gar
keine irgend erhebliche rolle.
7).
am eindringlichsten die gedichte des Tyrtaios aus, die sich aber von denen des
ionischen epos nicht weit entfernen. τοξότα λωβητήρ wird Alexandros gescholten
(Λ 386). für die attische vorstellung ist besonders Soph. Aias 1120 bezeichnend, nicht
lange vor Eurip. Her. gedichtet.
10).
Das wort ἀμφίπολοι entstammt im texte des Herakles einer conjectur,
welche dem überlieferten Δηλιάδες das unentbehrliche substantiv liefert, aber ohne
kenntnis der tatsächlichen delischen verhältnisse gemacht ist. und für die spätere
zeit der delischen freiheit wird auch niemand glauben, daſs die delischen mädchen
sclavinnen mit in ihren chor aufgenommen hätten, obwol die ganze bürgerschaft
dort in wahrheit nur eine sippe schmarotzender küster war. aber für seine zeit
bezeugt Euripides in der Hekabe die beteiligung von hierodulen, und das ist auch
begreiflich; man denke an die von Pindar und Simonides verherrlichten korinthischen
dienerinnen Aphrodites. zur zeit der vertreibung der Delier vollends müssen ja die
Athener für die Δηλιάδες einen ersatz geschaffen haben. die Hekabe bezeugt auch,
daſs sclavinnen an der herstellung des peplos für die Athena Polias mitwirkten: im
2. jahrhundert v. Chr. ist das ein vorrecht nicht nur freier sondern vornehmer, viel-
leicht gar eupatridischer Athenerinnen. Köhler, Mitteil. Ath. VIII 57.
11).
Vgl. Töpffer Herm. 23, 321.
12).
Vgl. oben s. 5. ein städtisches Delion mit Töpffer anzunehmen hindert
mich die dort vorgetragene auffassung unserer berichte.
13).
So erhalten sie z. b. einen goldenen kranz als belohnung für ihren tanz
von L. Scipio (Dittenberger syll. 367, 90) und von Ptolemaios Epiphanes (ebenda 139)
u. s. w. V. v. Schöffer (De Deli rebus 139) hat mit sachlich verkehrter deutung
die κοῡραι Δηλιάδες mit den chören der knaben (παῖδες) identificirt, welche an den
Apollonien in einem öffentlichen agon auftraten, für welchen Delier die choregie
leisteten. das sind chöre wie die attischen knabenchöre an Panathenaeen Thargelien
Dionysien u. s. w. jungfrauenchöre in agonen kennt ionische sitte nicht; das be-
deutet ja auch παῖς nicht. die Δηλιάδες der zeit des Semos von Delos tanzen nicht
anders als die zur zeit des Euripides und des Homer. ihnen entsprechen die von
auswärts nach Delos gesandten mädchenchöre, für welche der sage nach Eumelos
(denn wer wird so etwas ernst nehmen), in geschichtlicher zeit Pindaros und Bakchy-
lides lieder gedichtet haben: in einem solchen chore kam auch Kydippe. Schöffers
im übrigen ganz vorzügliche arbeit verliert durch solchen vereinzelten misgriff natür-
lich nichts von ihrem werte.
14).
Wir würden vielleicht mehr sagen können, wenn wir die Δηλιάδες des
Kratinos kennten. denn diese enthielten die schilderung einer πομπή, in welcher
γέροντες ϑαλλοφόροι vorkamen und der Eteobutade Lykurgos: das führt darauf, sie
nach stiftung der Delien gedichtet zu denken, wo dann für Kratinos nur das jahr
424, und zwar die Dionysien, frei bleiben. aber nach Schöffers ausführungen (40)
wird man nicht leugnen können, daſs attische theorieen schon vor 425 nach Delos
giengen, und so ist das drama des Kratinos nicht sicherer aus diesem punkte zu
bestimmen als der Herakles.
15).
Auch Schöffer, der den Athenern sonst gerechtigkeit widerfahren läſst,
hat das nicht betont, daſs die stiftung eines panionischen festes, für den gott,
welchem Athena die schirmherrschaft des Reiches abgenommen hatte, eben zu der
zeit, wo das psephisma des Thudippos die Panathenaeen tendenziös als reichsfest
ausgestaltete, und gleichzeitig die tribute im gegensatze zur schatzung des Aristeides
durch einseitigen legislativen act des attischen volkes angesetzt wurden, ein zuge-
ständnis an die stimmung der gesandten ionischer bündner ist, und es ist auch für
die parteiverhältnisse Athens bezeichnend, daſs Nikias der erste theore der Delien ist,
während Kleon die herrschaft Athens als τυραννίς predigt, gegen Aristophanes
Babylonier vorgeht und die erhöhung der tribute durchsetzt. derselbe krieg, welcher
die erhöhung der finanziellen und militärischen leistungen erzwang, und demgemäſs
die reichseinheit stärkte, schärfte den stammesgegensatz gegen die Peloponnesier: und
auf daſs der Milesier und Hellespontier und Nesiote sich als Ionier mit dem Athener
verbunden fühle, wie einst zu Aristeides zeit, sind die Delien gestiftet. diese mehr
föderative, bündnerfreundliche politik ist nur schwächer hervorgetreten als die ziel-
bewuſste der unitarier. und ihren vertreter Nikias hat sein ungeschick oder unglück
auch hier nicht verlassen. die Delier selbst waren misvergnügt, und so kam es zu
einer der zwangsmaſsregeln, die dem Reiche mehr geschadet haben als die gerichts-
hoheit, die kleruchien und die tribute.
16).
Von der Andromache hat das richtig schon Aristophanes von Byzanz er-
schlossen, schol. 445. die entgegengesetzten ausführungen von Bergk sind nur dafür
lehrreich, wie dieser ebenso wunderbar gelehrte wie scharfsinnige mann scharfsinn
und gelehrsamkeit dazu zu gebrauchen pflegt, die zeugnisse erst zu zerstören, damit
er sie für seine eignen einfälle benutzen könne.
17).
Die wolüberlegten ausführungen von G. Lugge (Programm von Münster 1887)
kommen zu einem ergebnis, welches zu complicirt ist, um richtig sein zu können.
in dem momente, wo es sich um den abschluſs des friedens, den ersatz des Kleon
als führer des demos und um die gegenüber Argos inne zu haltende politik handelte,
sind alle äuſserungen des Euripides verständlich. daſs die Athener sogleich in allen
stücken getan haben sollten, wozu der dichter riet, ist nicht zu verlangen. für
Argos interessirte man sich schon 424, Ar. Ritt. 464.
18).
Wolk. 718 nach Hek. 162; der vers scheint den 423 aufgeführten Wolken
anzugehören.
19).
Vgl. Herm. 18, 242.
20).
Mechanisches zählen beweist gar nichts. wenn z. b. eine hauptperson
Hippolytos heiſst, so ist der dichter gezwungen dreisylbige füſse zu brauchen; manch-
mal will er auch malen wie Her. 935.
21).
Es kann hier nur angeführt werden, was für den speciellen fall von wert
ist; die wichtigkeit der sache wird erst klar werden, wenn die summe der er-
scheinungen vorgelegt und in ihrem zusammenhange erläutert ist.
22).
Nur scheinbar streiten mit der regel die bruchstücke 30 und 808, die den
älteren dramen Aiolos und Phoinix angehören: ἀλλ᾽ ὁμῶς | οἰκτρός τις αἰὼν πατρίδος
ἐκλιπεῑν ὅρους und τἀφανῆ | τεκμηρίοισιν εἰκότως ἁλίσκεται. das satyrspiel Auto-
lykos zeigt auch tetrameter: das beweist nichts, da wir den stil und die zeit der
satyrspiele nicht kennen. — die deutschen können und wollen sich nur sehr schwer
daran gewöhnen, daſs ihre s. g. nachbildungen antiker maſse einen ganz verschie-
denen charakter von den griechischen tragen; sie recitiren griechische trochaeen
nach dem muster ‘nächtlich am Busento lispeln’ oder ‘preisend mit viel schönen
23).
Vgl. II s. 235.
24).
Vgl. II s. 70.
22).
reden’. solcher torheiten muſs man sich entschlagen: die namen τροχαῖος und χορεῖος
reden vernehmlich, und Aristoteles (rhet. III 8) geht so weit zu sagen ὁ τροχαῖος
κορδακικώτερος· δηλοῖ δὲ τὰ τετράμετρα.
25).
Die Hekabe hat eine ganz ähnliche scene (683—720), aber kein enoplisches
glied, so viel die verderbnis erkennen läſst. in den Herakleiden hat der bearbeiter
die vermutlich vergleichbare stelle getilgt. die Hiketiden enthalten wirklich keine
solchen dochmien: da hat der dichter in den wechselgesängen das iambische maſs
fast ausschlieſslich durchgeführt. die Elektra hat er bewuſst im anschluſs an die
ältere tragödie streng stilisirt: auch das zeigt den concurrenten. so ist der groſse
dochmische wechselgesang nach dem muttermorde so einfach wie die dochmien des
Aischylos und in Soph. Antigone; das kleine lied 585—95 hat jedoch ein dakty-
lisches glied ἁμετέραν τις ἄγει 590, wenn man der überlieferung glauben schenkt.
vertreter der alten weise sind somit auſser Aischylos Soph. Antig. Oid. Tyr., Eur.
Alk. Med. Hipp.; denn das klagelied des totwunden Hippolytos hat nichts von
enoplischen zusätzen und geht wenig über die lieder der Io im Prometheus hinaus.
26).
Vgl. II s. 53. 201. auf demselben niveau wie die menschen bewegen sich
die götter bei Aischylos und in allen prologen, wo sie ja noch allein sind; der Tod
der Alkestis geht in das haus, welches Apollon verlassen hat. von der flugmaschine
auf die bühne getragen werden sicher Athena in den Eumeniden, Thetis in der
Andromache (λευκὴν αἰϑέρα πορϑμευόμενος Φϑίας πεδίων έπιβαίνει 1229). auf
der flugmaschine zieht Medeia ab; hat es auch Bellerophontes getan. das s. g.
ϑεολογεῖον, d. h. erscheinen in der luft, ist bezeichnet auſser dem Her. in Elektra
Ion Orestes, vorauszusetzen ist es ohne bezeichnung in Hiketiden Helene Iphig. Taur.
Bakchen. schwierigkeiten kann die Athena des Aias und die Artemis des Hippo-
lytos machen, nicht weil die modernen sie auf das ϑεολογεῖον setzen, denn dazu
ist gar kein anhalt (im Aias würde es sogar lächerlich sein, da Aias dann aus seinem
zelte herauskommen und doch mit dem gesicht auf dieses hingewandt reden müſste),
die schwierigkeit liegt darin, daſs Odysseus (15) und Hippolytos (1393) die himm-
lischen zunächst nicht sehen, ja es steht nirgend, daſs sie ihrer ansichtig werden,
ausdrücklich. aber Aias steht Athena ganz nahe und sieht sie (χαῖρ̕ Ἀϑάνα, ὡς
εὖ παρέστης 91), und niemand kann glauben, daſs Theseus nur eine stimme hört.
es ist also anzunehmen, daſs die göttinnen zwar unter den schauspielern sich be-
wegen, die dichter aber den eindruck des übersinnlichen dadurch wenigstens zur
einführung erstreben, daſs die sterblichen nicht gleich die körperliche gegenwart der
27).
In beiden trat zwar ein nebenchor auf: aber ein solcher kann die einführung
eines neuen motives nicht markiren, da er ja den anderen chor nicht ablöst.
28).
Das ist sonst sehr wol möglich. z. b. sind die Troerinnen erst recht ver-
ständlich, wenn man weiſs, daſs Andromache und Hekabe voraus liegen, letztere
wieder setzt Sophokles Polyxene voraus; die Iokaste in Euripides Oidipus und dann
in den Phoenissen ist mit hinblick auf die des Sophokles gestaltet, von den Atreiden-
fabeln zu schweigen.
29).
Man überlege z. b. wie das motiv des jungfrauenopfers in Herakleiden
Hekabe Erechtheus Iphigeneia Aul. immer mehr ausgearbeitet ist; daneben episodisch
auf den Menoikeus der Phoenissen übertragen.
26).
götter bemerken, wozu für Hippolytos besonderer anlaſs war (86). die dichter haben
eben schon die empfindung, es müsse für göttererscheinungen ein conventionelles
scenisches mittel der darstellung erfunden werden: dem bedürfnis hilft das ϑεολογεῖον
ab. die abfassungszeit von Hippolytos Aias Andromache bestätigt sich so in sehr
erfreulicher weise.
30).
Z. b. καὶ νύ κε καὶ πατέρ̕ αὐτὸν ἀπέκτανεν Ἀμφιτρύωνα,
εἰ μὴ ἄρ̕ ὀξὺ νόησεν Ἀϑηναίη πολυβούλη,
οὐρανόϑεν δὲ κατῆλϑε καὶ ἔλλαβε χειρὶ παχείῃ
ὀκριόεντα λίϑον· τῷ δεξιτερὸν βάλε μαζὸν
Ἀμφιτρυωνιάδαο· ὃ δ̕ ὕπτιος ἐξετανύσϑη
αὐλῆς ἐν κόπρῳ, στρεφεδίνηϑεν δέ οἱ ὄσσε,
καὶ μανίης δεινός μιν άτασϑάλου ὕπνος ἔπαυσε.
31).
Da die prüfung von Pausanias arbeitsweise darauf führt, daſs er die dichter-
citate aus der von ihm ausgeschriebenen beschreibung der lesche des Polygnot ent-
nahm, welche lediglich die möglichen quellen Polygnots verfolgte, also auf die be-
drohung des Amphitryon nicht einzugehen veranlaſst war, so kann man mindestens
als subjective vermutung hinstellen, daſs Pausanias den dichtern diesen zug absprechen
zu dürfen glaubte, weil er ihn in seiner quelle nicht fand. der stein von Theben,
σωφρονιστήρ genannt (sonst name des weisheitszahns), kann sehr wol erst auf grund
der erfindung des Euripides hingelegt sein. die thebanischen altertümer sind in
folge der zerstörung der stadt durch Alexandros Demetrios und die Römer besonders
fragwürdig. da aber Euripides selbst darauf führt, daſs das motiv älter ist, mag
auch der stein früher hingelegt sein: jedenfalls ist der stein in folge der poetischen
erfindung aufgekommen, nicht umgekehrt.
32).
Vgl. bd. II s. 4.
33).
Solche verbindung des boeotischen helden mit Athen würde als sage mög-
lich gewesen sein, ja es würde ein ähnliches sich festgesetzt haben, wenn Boeotien
dauernd mit Attika vereinigt worden wäre, wie es in den funfziger jahren, als Euri-
pides jung war, vorübergehend erreicht war. die entfremdung erzeugt dagegen sagen
wie die in Euripides Hiketiden behandelte, deren fassung aber auch je nach dem
politischen winde wechselte, vgl. Isokrates Panath. 168.
34).
Philochoros bei Plut. Thes. 35. der vorsichtige atthidograph nimmt
4 Theseen aus, die er also für alt hielt; und im osten des landes mag es deren
wirklich gegeben haben. die uns bekannten Theseen, in der stadt und im Peiraieus,
35).
Ἀφ̕ οὑ καϑαρμὸς πρῶτον ἐγένετο φόνου, πρώτων Ἀϑηναίων καϑηράν-
των Ἡρακλἑα ist die 17. epoche der parischen chronik. das gibt anlaſs zu den
kleinen mysterien, Diodor IV 14 in Agrai, oder in Melite (Thesmophorien, schol. Ar.
Frö. 501), oder Eumolpos reinigt ihn, also in Eleusis, Apollodor II 5, 12. zugleich
ist er der erste geweihte ausländer, und es vollzieht deshalb Pylios die adoption,
so auch Plut. Thes. 33 und schon Speusippos an Philipp (630 Herch.); andere
parallelstellen z. b. bei Dettmer de Hercule Att. 66. der name mahnt daran, daſs
der zug gegen Pylos mit der weigerung der blutsühne durch Neleus motivirt zu
werden pflegt. in der apollodorischen chronik ist die verbindung mit der Hades-
fahrt hergestellt, und daſs er nur als myste zu ihr kraft fand, steht auſser bei Eurip.
617 in dem dialog Axiochos 371d: die vorstellung wird jedem leser der aristopha-
nischen Frösche klar sein. der gläubige myste konnte sich den, welcher das jenseits
ungestraft betreten hatte, nur auch als mysten denken: und da er das bedürfnis nach
reinigung auch für gerecht vergossenes blut empfand und seine religion sie von
ihm forderte, wie viel mehr für den heros. drittens wollte man in dem so viel in
Athen verehrten heros keinen fremden sehen. der nämliche grund hat die adoption
der Dioskuren hervorgebracht.
36).
Daſs jemand auf dem totenbette seine frau oder tochter einem der erben
vermacht, ist ebenso häufig vorgekommen wie es in den anschauungen von familie
und ehe begründet ist. so hat es z. b. der vater des Demosthenes gemacht. es
ist also für die Athener ganz in der ordnung, daſs Herakles in den Trachinierinnen
des Sophokles den Hyllos zwingt seine kebse zu heiraten. der moderne sollte sich
daran nicht mehr stoſsen, als daſs z. b. Antigone zum zweiten male die leiche ihres
34).
konnte er unmöglich ausnehmen, er muſste ja ihre stiftung im verlauf der chronik
selbst erzählen.
37).
Es verdient bedacht zu werden, daſs die Antiopesage in den Kyprien dicht
neben dem wahnsinn des Herakles behandelt war. ob Lykos aber in ihnen vorkam,
ist mit unserer kenntnis schwerlich je zu entscheiden.
38).
Auch Κρέουσα ist, wo immer er auftritt, ein füllname. so ganz besonders
in der attischen sage. als Ion, der eigentlich ein euböischer zuwanderer ist, zu einem
Athener umgeformt werden sollte, muſste er eine tochter eines attischen urkönigs
zur mutter erhalten. die in der sage berühmten waren vergeben: so ward eine
36).
bruders mit staub zu bewerfen für eine religiöse pflicht hält. unserer sittlichkeit
läuft beides zuwider.
39).
Die einzige umbildung seiner rolle ist durch die unwissenheit und willkür
spätester lateinischer grammatiker vorgenommen. zu Statius Theb. IV 570 tristem
nosco Lycum
, welches auf den gatten Dirkes geht, lautet das scholion hic est ergo
Lycus, qui Megaram filiam suam Herculi dedit uxorem et ob hoc a Iunone in
furorem versus est et filios Herculis ex Megara susceptos Oxea et Leontiadem

(d. i. Κρεοντιάδην: der andere name bleibt unsicher) occidit. tristis ergo propter
mortem nepotum
.
38).
῾Κρέουσα᾿ erfunden. der geschlechtsname des thessalischen fürstenhauses ist Σκο-
πάδαι: aber es ist das fürstenhaus, deshalb heiſsen sie Κρεῶνδαι, und natürlich
findet sich später ein ahn Κρέων.
40).
Etwas besonderes war der chor des Palamedes. da das drama im Hellenen-
lager spielen muſste, Palamedes des verrats bezichtigt war, der chor aber seine
partei zu halten hatte, weil er ja die sympathie von dichter und publicum hatte,
so paſsten die bequemen chöre, Achaeer oder kriegsgefangene mädchen, nicht. das
sollte man sich selbst sagen. nun haben wir das bekannte bruchstück ἐκἁνετ̕
ἐκάνετε τὰν πάνσοφον, ὦ Δαναοί, τὰν οὐδὲν ἀλγύνουσαν ἀηδὀνα Μουσᾶν (590).
das sind daktyloepitriten —] ⏑ ⏖ ⏑ ⏐ ⏑⏑⏑ — ⏐ — ⏖ — ⏑⏑ — — ⏐ — ⏑ — — ⏐ — ⏑⏑ — ⏖ — —,
und diese beweisen ein stasimon (sie kehren in dem anschlieſsenden drama, den
Troerinnen, häufig wieder). also war der chor kein hellenischer. es scheint, wir
haben noch aus seiner parodos die selbstvorstellung, ϑυιὰς Διονύσου ἱκόμαν, ὃς ἂν
Ἴδαν τέρπεται σὺν ματρὶ φίλᾳ τυμπάνων ἰακχοῖς (589, glykoneen, — — ⏖ — — ‖
— ⏑ — ⏑⏑ — — ⏐ — ⏑ — — — ⏑⏑ — ⏐ — ⏑ — ⏑ — —): ich habe ϑυιὰς aus οὐσὰν gemacht
(Nauck ϑύσαν), und ἱκόμαν aus κόμαν. die ähnlichkeit mit andern eingangsliedern
schützt diese gestaltung. und ein schwarm von Dionysosdienerinnen, die sich in
den schutz des Achaeerlagers begeben, um auf dem Ida ihren pflichten genügen zu
können, ist sehr gut erfunden; die hierodulen der Phoenissen, die in Theben fest-
gehalten sind, aber für Delphi bestimmt, und die Chalkidierinnen der Iphigeneia Aul.
sind gute parallelen. übrigens ward durch diesen chor auch das erreicht, daſs ein
gott am schlusse die unschuld des getöteten gar nicht zu proclamiren brauchte: die
41).
Daſs die 17 erhaltenen dramen nur drei männliche chöre enthalten, ist ein
zufall, den man corrigirt, sobald man die zahlreichen sonst bekannten chöre zurechnet.
es sind 33 chöre zuverlässig bekannt, d. h. die hälfte aller den Alexandrinern
bekannten; die nebenchöre (Hipp. Hiket. Phaeth. Erechth. Alexandr. Antiop.) sind
dabei natürlich nicht gerechnet. wie verkehrt der einfall ist, den chor nach der
hauptperson bestimmt sein zu lassen, könnten zwar Phoenissen und Alkestis schon
lehren: aber wie sollten gar zu irgend einer person der Antiope Thebanische greise
oder zum Aiolos mädchen passen?
42).
Wir kennen die disposition der trilogieen 1) Alexandros (Troische greise,
vertreter des volkes, an welche die mahnung Kassandras fgm. 929 allein gerichtet
sein kann, nebenchor hirten), Palamedes (Bakchen, vgl. anm. 40), Troades. 2) Kre-
terinnen, Alkmeon (mädchen 67) Telephos (Argeier, wie die Acharnerparodie lehrt)
und statt der satyrn der männliche chor der Alkestis. 3) Bakchen, Alkmeon (mädchen
75) Iphigeneia Aul. (mädchen): also alle drei weiblich, aber da hatte der jüngere
Euripides nicht mehr die wahl. 4) Medeia (frauen) Diktys (?) Philoktet (Lemnier): man
wird die klagende Danae des Diktys lieber neben frauen als neben Seriphier stellen.
5) Erechtheus (frauen, nebenchor soldaten), Hiketiden (greisinnen, nebenchor knaben).
6) Helene und Andromeda, beide mit ähnlich gehaltenem weiblichem chor; hier
fehlen die dritten stücke: in dem letzten falle wird man an eine abwechselung glauben,
also keinen weiblichen chor, wie in der Iphigeneia etwa, wahrscheinlich finden.
weitere gesicherte beispiele von bekannten und zusammengehörigen chören sind
bisher nicht ermittelt.
40).
bakchen und die zuschauer wuſsten, woran sie waren. aber Oiax schrieb den un-
heilsbrief, den die wogen dem Nauplios bringen sollten (schol. Ar. Thesm. 771), und
so bereitete sich durch den schluſs des Palamedes genau wie durch den prolog der
Troerinnen das vor, was wir nicht schauen, was wir aber in der zukunft sicher
voraussehen, der untergang der Hellenenflotte, der einen die von Troia heimzog, und
nicht minder der anderen, die nach Sicilien fahren sollte.
43).
Dem nachzugehen ist aufgabe der einzelerklärung. der leser des dramas
muſs sich jede scene gespielt denken; das ist für den anfänger schwer. aber wer
sich in die antiken sceniker (Plautus und Terenz eingeschlossen) eingelebt hat, wird
sie in dieser kunst nicht nur meisterhaft, sondern selbst Shakespeare weit überlegen
finden. ihre poesie gibt noch jetzt, ohne bühnenanweisungen, fast immer ein ganz
geschlossenes bild, und jede person hat ihren festen platz. sie haben offenbar die
scenen in ihrer phantasie als gespielte erfunden, und dafür gesorgt, daſs sie so ge-
spielt würden, wie sie sie empfunden hatten. die modernen erklärer sind freilich
meist jedes theatralischen sinnes bar, und gar wenn ein moderner regisseur ein
antikes drama einstudirt — daſs gott erbarm’.
44).
Euripides hat ja kinder in Alkestis Andromache Hiketiden eingeführt; hier
45).
Ich habe die erfahrung gemacht an personen, welchen der stoff ganz fremd
war. das grauenvolle, plötzliche, dämonische war so überwältigend, daſs vor ihm
alles andere verschwand. die torheit, den wahnsinn in den titel zu setzen, hat
Euripides nicht begehen können, der überhaupt keine zusätze zu dramentiteln kennt,
aber auch die grammatiker haben den zusatz nicht gemacht, der in den handschriften
und allen citaten fehlt. erst in der Aldina erscheint er nach dem vorbilde der tragödie
des Seneca, welche die modernen gelehrten Hercules furens zur unterscheidung des
H. Oetaeus so zubenannt hatten.
46).
Daſs Lessing in seiner jugendarbeit, der vergleichung des Seneca und
Euripides, anders urteilt, ist nicht befremdlich; er steht dort noch im banne der
regeln, die er selbst später gesprengt hat.
44).
hat er es wol unterlassen um nicht den ersten teil noch mehr zu belasten und das
interesse zu zerstreuen. es ist kein schade, denn seine kinder singen nicht was
kindern in den betreffenden situationen zukommt, sondern was der dichter für die
kinder und die situationen empfand. namentlich das lied des knaben an der leiche
der mutter in der Alkestis gehört zu seinen gröbsten zeichenfehlern. vgl. zu v. 469.
47).
Der haſs des Euripides gegen die herolde ist schon im altertum bemerkt
(Or. 895 mit schol.). schon die Herakleiden enthalten die bissige stelle, ‘alle
herolde lügen das doppelte und berichten, sie wären nur mit genauer not mit dem
leben davongekommen’ (292). Erechtheus und Hiketiden zeichnen zwei solche ge-
sellen, just während die fremden gesandtschaften in Athen zum Nikiasfrieden ver-
sammelt sind. Talthybios in Hekabe und Troerinnen ist ein braver mann, aber er
schämt sich seines amtes (Tr. 786), und erhält doch von Kassandra, die er ohne
arg λάτρις genannt hat, dieses schimpfwort ins gesicht zurückgeschleudert, er sei
selbst λάτρις, als κῆρυξ ἓν ἀπέχϑημα πάγκοινον βροτῶν (424. 26. 25 so zu ordnen).
nun war der herold nicht ehrlos wie der praeco, es war sogar der ἡταιρηκώς dazu
nicht qualifizirt (Aischin. 1, 20), aber es war doch ein gewerbe, dessen man sich
etwas schämte (rede wider Leochares 4), noch Theophrast (char. 6) erklärt es für
das handwerk eines ἀπονενοημένος. die officielle schätzung war anders, wie natür-
lich. abgesehen von den alten zeiten, welche in Athen und Paros (Κηρυκίδη Archi-
lochos) geschlechter von herolden entstehen lieſsen, kam sich in den zeiten der
restaurirten demokratie Eukles sehr stolz vor und vererbte amt und ruhm den seinen
(Andok. I 112, CIA II 73), ja er hat sich einen ahn gezeugt; denn weil der herold
des rates im 4. jahrhundert Eukles hieſs, hat ein historiker jener zeit einen solchen
für die schlacht von Marathon erfunden (Plut. de glor. Ath. 3). die subalternbeamten
sind in der selbstverwaltung ebenso wichtige wie bedenkliche elemente. der oligarch
rechnet es zur demokratischen tendenz, die processe der bündner nach Athen gezogen
zu haben, weil es dann die herolde besser haben (Πολ. Ἀϑ. 1, 16). weshalb sie das
taten, ist nicht klar, die auctionssporteln können es nicht machen (Bekk. An. 255.
Harp. κηρυκεῖα); es sind zum teil aber sporteln gewesen (CIA I 37. 38, leider unver-
ständlich), aber wol mehr trinkgelder. das publicum hat immer mehr geurteilt wie
Euripides. der Hermes in Aischylos Prometheus hat nur einen leisen zug, der im
Frieden und vollends im Plutos des Aristophanes ist ganz ein gemeiner κῆρυξ. und
die aristophanische Iris, wol auch schon die des Achaios, hat auch etwas von den
euripideischen zügen. die kammerzofen trifft das übertreibende wort des Hippolytos
646; sie sind in der griechischen litteratur sonst wenig ausgebildet. die τροφός ist
meist nur confidente.
48).
Die Armut des aristophanischen Plutos wird für eine Ἐρινὺς ἐκ τραγῳδίας
gehalten, 422. Ποιναὶ ἐν ταῖς τραγῳδίαις Aischin. 1, 190. im costüm einer Erinys
läuft der s. g. kynische philosoph Menedemos herum, Diogen. Laert. 6, 102. eine
ganze reihe solcher personificationen führt das verzeichnis der masken für das repertoir
der hellenistischen zeit an, das bei Pollux IV 141 steht; auch Lyssa ist darunter
u. dgl. m. eine anzahl von darstellungen auf vasen verzeichnet Körte, über die dar-
stellung psychologischer affecte in der vasenmalerei.
49).
In den Xantrien 163. es sind worte, die Λύσσα ἐπιϑειάζουσα ταῖς Βάκχαις
sprach. doch bleibt die möglichkeit, daſs sie nur in einer botenrede standen. eine
sichere herstellung des inhaltes der aischyleischen Pentheusdramen ist noch nicht
gelungen.
50).
Ann. dell’ instit. 1885.
51).
Tatian 24 ὁ κατὰ τὸν Εὐριπίδην μαινόμενος καὶ τὴν Ἀλκμαίονος μητρο-
κτονίαν ἀπαγγέλλων, ᾧ μηδὲ τὸ οἰκεῖον πρόσεστι σχῆμα, κέχηνεν δὲ μέγα καὶ
ξίφος περιφέρει καὶ κεκραγὼς πίμπραται καὶ φορεῖ στολὴν ἀπάνϑρωπον. der
bericht des seine vorlage plump wiedergebenden rhetors läſst unklar, welche rolle
der schauspieler gab, der den muttermord erzählt; man denkt zunächst an Alkmeon
selbst, aber daſs er im wahnsinn eine besondere maske getragen hätte, ist unglaub-
lich, und eher dürfte das costüm der Erinys zu grunde liegen, und der verkehrte
und unverständliche ausdruck ‘er brennt schreiend’ auf die fackeln der göttin in
der quelle bezogen sein. daſs sie vorkam, hatte ich längst geschlossen, ehe ich auf
51).
diese stelle aufmerksam ward, weil Servius, oder vielmehr Asper zu Aen. 7, 337
bemerkt, bei Euripides sage die Furie se non unius esse potestatis, sed se fortunam,
se nemesin, se fatum, se esse necessitatem
(fgm. 1011). das war etwa οὐ γὰρ πέφυκα
δυνάμεως κρατεῖν μιᾶς· ἀλλ̕ εἰμὶ νέμεσις καὶ τύχη καὶ μοῖρ̕ ἐγὼ, ἐγὼ δ̕ ἀνάγκη.
eine solche Erinys hat in keiner von Euripides behandelten sage platz auſser der
von Alkmeon.
52).
Es sei daran erinnert, daſs die groſse malerei der polygnotischen zeit eine
solche gruppe dargestellt hatte, welche vielfache nachbildung und umbildung erfuhr.
Benndorf Heroon von Gjöl Baschi 114.
53).
So fällt auch starkes licht auf das wort des Herakles und des chores, daſs
die rettung der kinder eine freiwillige tat ist (583): nur das ἑκούσιον kann etwas
sittliches sein.
53 a).
In Georg Forsters briefen aus Paris findet sich dieselbe gesinnung wieder,
die Herakles und Euripides hier äuſsern: und vielleicht hilft diese äuſserung der
verzweiflung dem leser am besten dazu, den tiefen schauder nachzuempfinden, den
Euripides erwecken will, aber erst erweckt, wenn man durch die hülle der stilisirung
hindurch dringt “für mich kann weiter nichts mehr sein als arbeit und mühe —
53 a).
um was? um elende selbsterhaltung in einem genuſs- und freudeleeren dasein.
hundertmal habe ich nun schon erfahren, daſs es gröſser ist zu leben als zu sterben.
jeder elende hund kann sterben. aber wenn hernach der teufel — oder wer ist
der schadenfrohe zähnefletschende geist in uns, der so einzusprechen pflegt? — wenn
der fragt, was ist dir nun die gröſse? bist du nicht ein eitler narr, dich für besser
als andere zu halten? o mein gott, da versink’ ich in meinem staub, nehme meine
bürde auf mich und denke nichts mehr als: du muſst, bis du nicht mehr kannst.
dann hat’s von selbst ein ende.” sechs wochen darauf ist Forster gestorben. (Iulian
Schmidt gesch. d. deutschen litt. III 217.)
54).
Dies der sinn der Bakchen. es kann niemand den Euripides ärger ver-
kennen, als wenn er in ihnen eine bekehrung zum glauben der alten weiber sieht.
Teiresias ist mit nichten der träger seiner ideen, und Dionysos, der so grausam an
Pentheus sich rächt, ist mit nichten sein gott. er dramatisirt diesen mythos, führt
die in ihm liegenden conflicte durch: ihm gehört nur die stimmung an, das gefühl
des friedens nach den orgien und durch die orgien.
55).
Den Kreon in Sophokles Antigone pflegt man dem tritagonisten zu geben,
obwol er bedeutende gesangpartieen hat und bei moderner aufführung sogar in
störender weise das interesse auf sich zieht. man schenkt dabei dem Demosthenes
glauben, der behauptet, Aischines wäre tritagonist gewesen und hätte den Kreon
gespielt (19, 247, aufgenommen ohne neue pointe 18, 180), der wie alle tyrannen
dem untergeordnetsten zufiele. aber was ein redner demosthenischer zeit sagt, ist
überhaupt unglaubwürdig, und wenn es vollends der gemeine neid und haſs spricht,
wie hier, ist die lüge an sich wahrscheinlicher. Demosthenes will verse des Kreon
wider Aischines wenden, deshalb greift er diese rolle auf; vielleicht hat jener sie
gespielt, vielleicht auch nicht. aber zur tritagonistenrolle muſste sie Demosthenes
machen, um seine beleidigungen los zu werden. was kümmert ihn die wirkliche
rollenverteilung? die ökonomie des dramas lehrt, daſs Kreon deuteragonist ist.
übrigens ist Aischines schwerlich ein schlechter schauspieler gewesen: so mag er
denn den Kreon gespielt haben.
56).
So hat in der Medeia der protagonist, der die titelrolle spielte, ziemlich
so viel zu sprechen wie die beiden anderen zusammen genommen. er hat aber nur
ein par anapäste, kein einziges gesangstück. wie trefflich das zu Medeias cha-
rakter paſst, ist klar: man würde sehr gern die anderen dramen der trilogie ver-
gleichen, aber es ist nichts zu erkennen; Philoktet ohne lyrische klagen wird uns
schwer zu denken. daſs irgend ein drama ganz ohne einzelgesang gewesen wäre,
ist für die blütezeit unglaublich. die erhaltenen Herakleiden beweisen eben darin
ihre überarbeitung.
57).
Amphitryon hat etwa 300 verse, die beiden anderen 20 und 40 mehr.
58).
Helene und Andromeda zeigen einen für ein sentimentales weib geschickten
sänger und neben ihm einen ähnlich für rührende männerrollen geeigneten zweiten
sänger. die arie des castraten im Orestes ist offenbar für diese ganz bestimmte
person (παραχορήγημα?) verfaſst. auch in den komödien ist ähnliches zu bemerken;
Aristophanes muſste eines geschickten knirpses sicher sein, wenn er in den Acharnern
die tochter des Dikaiopolis und den Nikarchos als redner, daneben die kleinen Odo-
manten und die megarischen ferkelchen einführte; diese reden nicht und sind in der
mehrzahl, aber ein par jungen fand er leicht als statisten zur begleitung.
59).
Vgl. oben s. 373. hinzuzufügen noch Tr. 1112 nach Eur. Her. 135. 877.
60).
Mitrechnen mag man noch Eur. Alkmene, vgl. oben s. 298, zu der viel-
leicht Sophokles Amphitryon eine parallele bildete.
61).
Nur vereinzelt wird ein zu starker zug gemildert, so der mord des Iphitos,
277, der nur δόλῳ begangen sein soll: der bruch des gastrechts, das eigentlich ent-
scheidende, ist damit eliminirt. aber, muſs der genauer überlegende fragen, ist denn
der totschlag durch list als solcher verwerflich, muſs er mit ϑητεία bestraft werden?
ἀπόλλυμαι δόλῳ ruft doch auch Lykos bei Euripides, und δόλῳ wird Aigisthos in
den Choephoren bewältigt. so mislingt diese sorte apologetik immer.
62).
Die vielbeanstandeten verse haben den sinn ‘verzeiht mir, daſs ich meinem
vater zur selbstverbrennung behilflich bin, und bedenkt, wie sehr Zeus pflichtver-
gessen handelt, indem er seinen sohn so zu grunde gehen läſst. das kann ja noch
62).
anders werden (d. h. Zeus wird Herakles in den himmel nehmen), wie es hier aber
sich darstellt, haben wir die trauer, Zeus die schande davon, und Herakles muſs elend
sterben’. was dann der chor mit dem schluſswort berichtigt.
63).
Nur auf eins sei hingewiesen, Antikleides, ein merkwürdiger, weil nicht
leicht in die fächer unserer litteraturgeschichte einzuordnender mann, der sowol die
sagengeschichte wie die Alexanders behandelt hat, erzählt, daſs Herakles nach voll-
endung seiner arbeiten von Eurystheus zu einem opferschmaus geladen wird, und,
weil er eine zu kleine portion bekommt, drei söhne des Eurystheus erschlägt, deren
namen Antikleides natürlich anzugeben weiſs (Athen. 157f): das ist eine deutliche
entlehnung aus Euripides. ein buch, in dem das stehen konnte, war ein roman.
64).
Therimachos und Deikoon, daneben aber Aristodemos nennt ausdrücklich
als von Euripides erwähnt schol. Pind. Isthm. 4, 104, dem wir, wie die mythogra-
phischen studien jetzt stehen, doch nur die zahl glauben würden.
65).
Einen irrtum, fürchte ich, würden wir begehen. wir würden nach Seneca
annehmen, daſs Lykos die Megara mit heiratsanträgen behelligt hätte, zumal wir
in schol. Lykophr. 38 Λύκον βιαζόμενον τὴν γυναῖκα Μεγάραν eine bestätigung
finden würden. und doch ist das falsch. wir können uns aber trösten: wir würden
dann nur ein wirklich euripideisches motiv in einen zusammenhang bringen, der es
an sich wol erträgt. es ist das motiv, welches Euripides zuerst im Diktys, dann
im Kresphontes angewandt hat. Polyphontes Merope bestürmend gibt in der tat
eine ganz analoge situation: sie hat Seneca in das andere stück übertragen. der
scholiast ist zufällig mit ihm zusammengetroffen. er wie andere brechungen des
inhalts unseres Herakles kann lehren, wie wenig auf diese kleinen züge verlaſs ist,
mit denen mythographen und historiker heut zu tage so besonders gern operiren.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von. Euripides Herakles. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp6c.0