oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Lehre vom Schönen in einſeitiger Exiſtenz
oder
vom Naturſchönen und der Phantaſie.
Carl Mäcken’s Verlag.
1847.
[[III]]
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Lehre vom Naturſchönen.
Carl Mäcken’s Verlag.
1847.
[[IV]][[V]]
Inhaltsverzeichniß.
- §§. Seite.
Zweiter Theil.
Das Schöne in einſeitiger Exiſtenz.
- Grundbegriff 232 1— 2
Erſter Abſchnitt.
Die objective Exiſtenz des Schönen
oder
das Naturſchöne.
- Grundbegriff 233—239 3— 24
- A.Die Schönheit der unorganiſchen Natur.
- Grundbegriff 240 25— 27
- a.Das Licht 241—245 28— 37
- b.Die Farbe 246—253 37— 55
- c.Die Luft 254—256 55— 59
- d.Das Waſſer 257—259 59— 64
- e.Die Erde 260—269 65— 78
- B.Die Schönheit der organiſchen Natur.
- a. Die Schönheit des Pflanzenreichs.
- Die Pflanze überhaupt 270—277 79— 92
- Erſter Typus 278 92— 94
- Zweiter Typus 279 95— 96
- Dritter Typus 280 96— 99
- Gruppen 281 99—100
- b. Die thieriſche Schönheit.
- Das Thier überhaupt 282—291 101—117
- Die wirbelloſen Thiere 292—294 117—124
- Die Wirbelthiere
- Ueberhaupt 295—298 124—129
- Die Fiſche 299—301 129—133
- Die Amphibien 302 133—134
- Die Vögel 303—305 134—141
- Die Landthiere 306—315 141—156
- [VI]
- C.Die menſchliche Schönheit.
- Grundbegriff 316 157—158
- a. Die menſchliche Schönheit überhaupt.
- α. Die allgemeinen Formen.
- Die Geſtalt 317—319 159—166
- Zuſtände und Altersſtufen 320 166—169
- Die Geſchlechter, die Liebe 321—322 169—173
- Die Ehe, die Familie 323 173—175
- β. Die beſondern Formen.
- Die Racen und Völker 324—326 175—181
- Die Culturformen 327 182—187
- Das Staatsleben 328—330 187—192
- γ. Die individuellen Formen.
- Die natürliche Beſtimmtheit des Individuums 331 193—195
- Die ſittliche Beſtimmtheit des Individuums 332 195—196
- Der Charakter 333—337 196—206
- Phyſiognomik, Pathognomik 338—340 206—219
- b. Die geſchichtliche Schönheit.
- Grundbegriff 341 220—221
- α. Das Alterthum:
- Ueberhaupt 342 222
- Vorſtufe: der Orient 343—347 223—233
- Mitte: die Griechen 348—351 233—241
- Ausgang: die Römer 352—353 241—245
- β. Das Mittelalter:
- Der germaniſche Charakter 354 246—249
- Vorſtufe 355—357 249—254
- Mitte 358—361 254—261
- Ausgang 362—364 261—267
- γ. Die neue Zeit:
- Ueberhaupt 365 268—269
- Vorſtufe 366—369 269—279
- Mitte 370—378 279—298
Das Schöne in einſeitiger Exiſtenz.
§. 232.
Indem das Schöne aus der reinen Allgemeinheit des Begriffs in die1
Beſtimmtheit der Exiſtenz übertritt, ſo ſtellt es ſich nach dem Geſetze aller ſich
verwirklichenden Idee zuerſt in zwei aufeinander folgenden Formen dar, deren
erſte als unmittelbare, deren zweite als vermittelte zu bezeichnen iſt. Beide2
Formen ſind einſeitig, denn es liegt im Weſen des Unmittelbaren, in das
Vermittelte aufgehoben zu werden, und im Weſen des Vermittelten, das
Unmittelbare als ein von ihm Durchdrungenes wiederherzuſtellen. Obwohl
nun jene Aufhebung ſchon im vorliegenden Theile ſich vollzieht, ſo tritt doch,
weil dieſe Wiederherſtellung noch ausbleibt, das Vermittelte als eine einſeitig
ſelbſtändige Exiſtenz dem Unmittelbaren, das ebendaher trotz ſeiner auf-
gewieſenen Unhaltbarkeit dasſelbe Recht einſeitiger Selbſtändigkeit gegen jenes
behält, gegenüber.
1. Der §. iſt nur einführenden Inhalts und hat daher keine
Beweiſe zu geben, ſondern vorerſt nur auf ein allgemeines Geſetz des
Denkens und Seins ſich zu berufen. Der Schein einer Platoniſchen
Fixirung der Ideenwelt, welcher entſtehen könnte, wenn von einem
„Uebertreten“ aus der reinen Allgemeinheit des Begriffs in die Beſtimmt-
heit der Exiſtenz die Rede iſt, wird ſich im Folgenden alsbald aufheben.
Aufgabe aller Philoſophie iſt Deſtruction der Metaphyſik durch Metaphyſik.
Die beſondere Wiſſenſchaft der Aeſthetik hat dieſe Aufgabe nicht zu löſen,
ſondern nur ihre Stellung zu den Löſungsverſuchen der Philoſophie in
der gegenwärtigen Zeit einzunehmen; ſie kann aber von ihrer Seite
zeigen, daß ſich eine Art, die Aufgabe zu löſen, an ihrem Stoffe bewährt,
eine andere nicht. Der Uebergang von der Metaphyſik in die Natur-
philoſophie iſt ein anderer, als der von der Metaphyſik des Schönen in
die Naturlehre des Schönen, aber beide müßen nach demſelben Geſetze
erfolgen und ein unphiloſophiſcher Verſuch, jenen Uebergang zu begründen,
muß ſich auch in dieſem als unphiloſophiſch erweiſen.
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 1
[2]
2. Die unmittelbare Exiſtenz des Schönen iſt, wie ſich fogleich
zeigen wird, das Naturſchöne, die vermittelte iſt die Phantaſie. Jenes
wird ſich aufheben in dieſe, dieſe aber ſoll ſelbſt wieder das Unmittelbare,
das ſie in ſich aufgelöst hat, zur Freiheit entlaſſen und ſo die wahre
und ganze Wirklichkeit des Schönen, die Kunſt, entſtehen, welche den
Inhalt des dritten Theils bilden wird. Solange nun dieſer dritte Schritt
noch nicht gethan iſt, ſo zeigt ſich die Phantaſie ſelbſt noch als mangelhaft
und was ihr mangelt, iſt eben die Objectivität des Unmittelbaren;
darum behauptet ſich das Naturſchöne, obwohl es nicht die wahre Form
der Unmittelbarkeit hat, neben ihr als ſelbſtändige Welt und ſie neben ihm.
Man könnte die Lehre vom Naturſchönen die äſthetiſche Phyſik, die Lehre
von der Phantaſie die äſthetiſche Pſychologie nennen. Dieſe Namen
bieten einen bequemen Gegenſatz gegen den Namen des erſten Theils:
Metaphyſik des Schönen, wobei freilich die Ungleichheit bleibt, daß, während
dieſer Name dem ganzen erſten Theile galt, mit jenen Bezeichnungen nur
jedem der zwei Abſchnitte des zweiten Theils ſein beſonderer Name gegeben
iſt. Dieß liegt in der Natur der Sache; der in ſich zwar unterſchiedene,
als Ganzes aber einfache Begriff geht in der Bewegung ſeiner Verwirk-
lichung zunächſt in zwei Zweige auseinander, welche ſich, ſo nothwendig
auch der Uebergang vom einen zum andern iſt, aus dem genannten
Grunde als ſelbſtändige und getrennte Welten gegenüberſtehen; im dritten
Theile erſt vereinigen ſich dieſe Welten wieder zu Einer und der einfache
Name Kunſtlehre umfaßt dieſen ganzen Theil. Der Name Pſychologie
für den zweiten Abſchnitt des zweiten Theils könnte angefochten werden,
ſofern er nicht nur die Lehre von der Phantaſie als Thätigkeit des Subjects,
ſondern auch die Lehre von der Phantaſie der Völker, die Hauptformen
des Ideals zu bezeichnen hat. Allein das Ideal kommt hier doch in
Betracht weſentlich nur als ein erſt inneres, wobei von ſeiner Darſtellung
in Kunſtwerken noch nicht die Rede iſt; concrete Bedingungen, die
beſtimmten Zuſtände und insbeſondere die Religion der Völker ſind dabei
zwar vorausgeſetzt und dadurch ſcheint das Gebiet der Pſychologie weit
überſchritten zu ſein; allein wir befinden uns nicht in der Philoſophie
überhaupt, ſondern in der Aeſthetik: für dieſe bleibt das Daſein des
Schönen als inneres Bild, ſo lange es ſich nicht in der Kunſt verwirklicht,
wie reiche geſchichtliche Bedingungen auch zu demſelben zuſammenwirken
mögen, immer eine blos pſychologiſche Form.
[[3]]
Erſter Abſchnitt.
Die objective Exiſtenz des Schönen
oder
das Naturſchöne.
§. 233.
Nachdem die Totalität der im allgemeinen Begriffe liegenden Momente
entwickelt iſt, hebt ſich, indem dieſe durch gegenſeitige Negation ihre Trennung
ausgelöſcht haben, die abſtract logiſche Vermittlung auf und tritt der Begriff in
die erſte Form ſeiner realen Exiſtenz, in die Unmittelbarkeit des einfachen
Seins über. Dieſes Geſetz begründet den Uebergang von der Metaphyſik zur
Naturphiloſophie und ebenſo den Uebergang von der Metaphyſik des Schönen
zu der Lehre vom Naturſchönen. Sucht man dagegen den Grund dieſes Ueber-
gangs in einem Willen, ſo wird die ganze Ordnung der Begriffe hier wie dort
verkehrt und dasjenige, welches vorausſetzt, daß erſt ein Anderes vor ihm ſei,
gegen ſein eigenes Weſen zuerſt geſetzt. Die erſte Form der Exiſtenz des
Begriffs muß vielmehr das ſein, was ohne Zuthun da iſt und was vorausgehen
muß, damit ein Anderes, das durch Zuthun da iſt, an ihm ſeine Grundlage
und ſein Object habe. Dieſe erſte Form aber iſt das Unmittelbare, welches
ſich zu dem Erkennenden als ein ſchlechthin Vorgefundenes verhält. So iſt nun
die erſte Weiſe der Exiſtenz auch des Schönen dasjenige Daſein, welches ohne
Zuthun eines Willens, alſo eines Subjects, als ſchön einfach vorgefunden wird,
und dieſes Daſein iſt weſentlich ein objectives ſowohl weil es ein vor-
gefundenes, als auch weil es, wie der Fortgang des Begriffs zeigen wird,
beſtimmt iſt, der vermittelten Exiſtenz des Schönen, welche aus einem Willen
kommt, Ausgangspunkt und Stoff zu werden.
Der Uebergang vom reinen Gedanken zu dem realen Sein, wie
ihn die Philoſophie auf dem Punkte des Fortgangs von der Metaphyſik
zur Naturphiloſophie zu vollziehen hat, kann nur auf den in §. 231, 3.
ausgeſprochenen Begriff gegründet werden, daß der ganz erfüllte Begriff
1*
[4]nothwendig zur Unmittelbarkeit des Seins ſich erſchließt. Wenn ich alle
Momente durchwandelt habe, welche der Begriff in ſeiner Allgemeinheit
enthält, wenn ich jedes in das andere dialektiſch aufgelöst habe, ſo habe
ich das Ganze als dieſes Einfache, worin Gegenſatz und Vermittlung
erloſchen iſt, als das unmittelbare, aber erfüllt unmittelbare Sein. Es
liegt hierin zweierlei. Das Eine iſt, daß die Wiſſenſchaft von dem
abſtracten Begriffe zu ſeiner Realität eher nicht übergehen kann, als
bis ſie alle Momente durchlaufen hat, welche den Begriff conſtituiren.
Soll auch nur ein Stein exiſtiren können, ſo iſt die ganze Natur und
mit ihr die Welt des Geiſtes, denn ſie iſt ſeine Grund- und Widerlage,
vorausgeſetzt. Es müßen alſo alle Gegenſätze und Mächte, welche in
ihrer unendlichen Bewegung und Thätigkeit die Welt bilden, erſt in ihrer
Allgemeinheit gedacht ſein, ehe ich auch nur die unterſte Exiſtenz in ihrer
Realität denken kann, denn auch ſie iſt eine Concretion von Beſtimmungen,
welche mit dem Inbegriffe der Weltbeſtimmungen ein untheilbares Ganzes
bilden. Auf die beſondere Sphäre, welche hier vorliegt, das Schöne,
angewandt, lautet dieß ſo: wo irgend Schönes wirklich iſt, da iſt auch
Erhabenes und Komiſches in allen Begriffs-Unterſchieden, welche dieſe
Gegenſätze, ſo wie das einfach Schöne in ſich ſchließen; auch die geringſte
Exiſtenz des Schönen iſt eine geſchloſſene Einheit von Beſtimmungen,
welche alle übrigen Beſtimmungen des Schönen in ſich begreifen, fordern,
ſetzen; ich kann alſo früher von keiner Wirklichkeit des Schönen reden,
als bis ich die Totalität der im Begriffe des Schönen liegenden Momente
entwickelt habe. Das Andere, was in dieſem Uebergange liegt, iſt dieß:
wenn ſo der allgemeine Begriff durch ſeine Momente verfolgt, wenn er
mit ihrer Totalität erfüllt und geſättigt iſt, ſo kann nicht nur zu ſeiner
Realität übergegangen werden, ſondern es iſt ſchon dazu übergegangen,
man iſt bei ihr ſchon angekommen, ſie iſt ſchon da. Dieß iſt die Deſtruction
der Metaphyſik durch Metaphyſik, von welcher zu §. 232 die Rede war.
Sobald man fordert, daß zwiſchen die reale Welt und die Begriffswelt
ein Drittes eingeſchoben werde, um den Uebergang begreiflich zu machen,
wie der Begriff eines Abfalls, einer Emanation, einer Schöpfung, ſo
ſetzt man voraus, daß Denken und Sein ein abſoluter Gegenſatz ſei:
ein Standpunkt, welcher zuerſt ſelbſt ſein angemaßtes Recht zu beweiſen
hätte und deſſen Schein die wahrhaft philoſophiſche Metaphyſik ſich viel-
mehr frei erzeugt, um ihn aufzuheben. Die Philoſophie als Metaphyſik
beſchäftigt ſich nicht mit Anderem, als was in der Welt real iſt, ſie faßt
es nur in ſeiner reinen Allgemeinheit; ſie unterſucht, was den Dingen
gemeinſam iſt und wenn ſie das Gemeinſame begriffen hat, ſo ſteht ſie
ſchon mitten in ihnen ſelbſt. Durch die beſtimmten Gattungen und Arten
der Dinge ſcheint auf den erſten Blick etwas Neues und Anderes zu
[5] dem Allgemeinen hinzuzukommen, das Inhalt der Metaphyſik war, und
dieſer Schein des Hinzukommens iſt das berühmte Kreuz der Philoſophie.
Ich habe, ſagt man, wenn in der Sphäre des reinen Begriffs auch die
Begriffe Art und Gattung metaphyſiſch oder logiſch unterſucht ſind, noch
kein Thier, keinen Fuchs, Haſen u. ſ. w. demonſtrirt; ebenſo iſt freilich
z. B. noch kein Unterſchied der Künſte und Zweige der einzelnen Künſte
abgeleitet, wenn die allgemeinen Begriffsmomente des Schönen entwickelt
ſind. Allein in der Metaphyſik muß auch dieß bewieſen ſein, daß der
Begriff in jeder ſeiner allgemeinen Formen ein thätig ſich Bewegendes iſt,
das, um ſich bewegen zu können, ein Anderes vorausſetzt, ſich voraus-
ſchickt und gegenüberſtellt, an welchem, mit welchem, gegen welches er
thätig iſt; dadurch und durch nichts Anderes ſind die wirklichen Reiche
des Seins bedingt, welche nur durch die Namen, die wir ihnen über-
lieferter Weiſe beilegen, ſo als etwas ganz Beſonderes, in der Vernunft
nicht Begründetes erſcheinen. Sie ſind aus keinem Stoffe gemacht, der
zu dem Denken als ein Fremdes hinzukäme; ſo weit du die ſinnlichen
Dinge durchſchneideſt, du findeſt nichts, als das Eine, was tauſend
Formen annimmt, was Erde, Pflanze, Thier, Geiſt iſt, und dieß Eine
nimmt dieſe Formen an, eben um durch Gegenſatz zu leben. So iſt
auch in allen wirklichen Formen des Schönen nichts Anderes zu finden,
als das Schöne, das, um ſich zu realiſiren, Formen einander gegenüber-
ſtellt, deren eine gegen die andere ſpannt, über die andere erhebt; nur
daß hier, weil eine beſondere Sphäre des Einen und Allgemeinen vorliegt,
Neues und anfänglich Fremdes aus anderen Sphären hinzutritt, was
aber ganz in das Schöne verarbeitet wird (vergl. §. 9, 2.).
Die erſte Form der Exiſtenz nun, in welche der Begriff aus ſeiner
reinen Allgemeinheit eintritt, muß das Unmittelbare ſein: die Natur, in
der Aeſthetik das Naturſchöne. Das Vermittelte, was auf der Seite der
Metaphyſik dem Unmittelbaren entgegenſteht, wurde im §. abſtract
logiſche Vermittlung genannt, denn vermittelte Form nimmt auch die
wirkliche Exiſtenz des Begriffs an, dieſe aber iſt real vermitteltes Sein,
wogegen die Vermittlung, welche zum Ende und zur Ruhe gelangt ſein
muß, wenn zu dem realen Sein überhaupt ſoll übergegangen werden
können, die rein dialektiſche iſt, die im allgemeinen Elemente des Gedankens
geſchieht. Während nun die beſondere Wiſſenſchaft der Aeſthetik nicht die
Pflicht hat, den Uebergang aus der Metaphyſik überhaupt in die Natur-
philoſophie zu demonſtriren, ſo kann ſie der wahren Führung dieſer
Demonſtration doch von ihrer Sphäre aus dadurch negativ zu Hilfe
kommen, daß ſie zeigt, welche Verkehrung der richtigen Ordnung es zur
Folge hat, wenn man einen fremden hypoſtatiſchen Begriff zwiſchen das
Allgemeine der Metaphyſik und die reale Welt einſchiebt. Dieſer Begriff
[6] iſt in der neueſten Philoſophie, welche über den Pantheismus Hegels
hinausſtrebt, der des Willens, des abſoluten Willens nämlich, durch den
ein perſönlicher Gott die Welt ſetzt. So iſt ein Wille da vor dem
Willen und ein Subject vor dem Subject. Denn erſt über der Natur,
auf ihrer Grundlage und in der Spannung der Thätigkeit gegen ſie iſt
Wille und Subject möglich; erhebt ſich die Natur über ſich ſelbſt in
Subject und Wille, ſo muß ſie freilich ſchon vorher die Möglichkeit von
Subject und Wille ſein, jene Behauptung aber ſetzt wirkliches Subject
und Willen vor dieſe Möglichkeit, ſie ſetzt die reichſte Exiſtenz voraus,
um die einfachſte und ärmſte zu erklären, ſie ſchickt den Geiſt des Ganzen
als einzelne Exiſtenz ſeinem Ganzen voran. Nach demſelben Begriffe
müßte in der Aeſthetik ein das Schöne ſchaffender Wille ſein vor dieſem
Willen, d. h. ein Künſtler müßte da ſein, ehe wir das Naturſchöne haben,
das dem Künſtler vorliegt, in deſſen Angeſichte und in deſſen überwindender
Umbildung der Künſtler erſt wird. Man ſage nicht: jener Künſtler vor
dem Künſtler ſei der abſolute Künſtler oder Gott, und der andere,
menſchliche Künſtler bilde die Schönheit, die jener in der Natur aus-
gebreitet, nach. Denn die Naturſchönheit müßte dann höher ſein als die
Kunſtſchönheit, da doch jede Prüfung derſelben zeigt, daß ſie auf allen
Punkten darum mangelhaft iſt, weil ſie nicht als ſolche gewollt iſt, weil
ſie von keinem Bewußtſein des Schönen herrührt. Gehen wir auf den
allgemeinen dialektiſchen Satz zurück, der hier in Anwendung kommt:
daß in einem Stufenſyſtem die höhere Stufe die Wahrheit der niedrigeren
ſei. Die innere Zweckmäßigkeit in der Natur weist hinauf zu dem Willen,
wie er im geiſtigen Leben in angemeſſener Form ſich offenbart, er iſt ihre
Wahrheit; ſo erſcheint das Ganze als Wille, als Gewolltes. Allein
daraus ſchließen, daß vor jenem implicirten Willen ein explicirter zu
ſetzen ſei in der Perſon Gottes, dieß heißt den Sinn jenes dialektiſchen
Satzes geradezu wieder aufheben und das Räthſel unlösbar machen.
Wenn das Geheimniß der Natur dieß iſt, daß ſie das, wozu nach unſerer
Vorſtellung Wille gehört, ohne Willen, alſo, da Bewußtſein und Denken
im Willen miteinbegriffen ſind, ohne Bewußtſein und Denken thut, ſo
habe ich zur Löſung desſelben rein nichts beigetragen, wenn ich ſage, es
ſei ihr, was ſie vollbringe, von einem perſönlichen Willen vorgedacht,
vorgewollt; ſie muß es ja doch Alles ſelbſt thun, was ſie thut, und es
hilft dem Baume nichts, daß ein entferntes Weſen, da er nicht denken
kann, für ihn denkt, er iſt dennoch genöthigt, ohne Denken zu thun, wozu
Denken zu gehören ſcheint. Dieß iſt das vergebliche Doppeltſetzen des
Theismus (§. 10, Anm. 1.). Ebenſo wenn das Geheimniß der Natur-
ſchönheit dieß iſt, daß ſie ſchön iſt, ohne daß doch die Naturkräfte mit
Wiſſen und Willen auf Schönheit arbeiten, ſo iſt nichts zur Erklärung
[7] geſagt, wenn man dieſe Erſcheinung auf einen Schöpfer als ſein Werk
hinüberſchiebt, es iſt dasſelbe, wie dort, es hilft der Natur gar nichts,
wenn ſie einen vorbildenden Spiegel hat, ſie iſt und bleibt auf ſich ſelbſt
angewieſen. Kurz, es iſt verkehrt, das Explicirte hinter das Implicirte
als Explicirtes zurückzuwerfen und die Verkehrtheit leiſtet den erwarteten
Dienſt nicht, ſie erklärt nichts.
Daß nun die Naturſchönheit als eine ſchlechthin (ſo ſcheint es
wenigſtens vorerſt) vorgefundene, unmittelbare und in dem doppelten
Sinn des §. objective Form der realen Exiſtenz des Schönen zuerſt zu
ſetzen ſei, ſollte ſelbſt von denjenigen zugegeben ſein, welche die Welt aus
dem Theismus conſtruiren; denn die Wendung ſteht ihnen immer noch
frei, daß der göttliche Verſtand und Wille beſchloßen habe, der geiſtigen
Schöpfung die natürliche zur Vorausſetzung zu geben, und ebenſo, in der
Sphäre der Schönheit, dem menſchlichen Künſtlergeiſte die Naturſchönheit
als ſeine Vorlage voranzuſchicken. Freilich liegt es dieſer Anſicht jeden-
falls nahe, die Vorlage für das Vollkommene, alſo für das nicht nur der
Folge, ſondern auch dem Werthe nach Erſte zu erklären. Die wahre und
ganze Schönheit iſt dann jenſeits hinter der Welt in Gott, ihr erſter,
friſcher Abglanz iſt in der Natur, der ſchwächere zweite in der Kunſt.
In Wahrheit wäre dadurch die Aeſthetik aufgehoben: ein geheimes Buch,
das nicht in dieſer Welt geſchrieben werden kann. Doch nicht alle
Schlußfolgen werden gezogen und die Nothwendigkeit, dem Kunſtſchönen
das Naturſchöne als Stoffwelt vorauszuſchicken, kann als allgemein
zugeſtanden angeſehen werden. Nur Chr. H. Weiße macht Ernſt aus
der Logik der Tranſcendenz und ſtellt demgemäß das ganze Syſtem der
Aeſthetik auf den Kopf, indem er die Naturſchönheit unter dem Namen
„der Genius in objectiver Geſtalt“ an den Schluß des Ganzen ſetzt.
Ihr voran ſtellt er den ſubjectiven Genius, den Künſtlergeiſt, und vor
dieſen die Kunſt. Während alſo nach jedem Begriffe einer richtigen
Ordnung, nachdem der abſtracte Begriff des Schönen dargeſtellt iſt, zuerſt
die Naturſchönheit, dann der Genius, zuletzt deſſen Werk, die Kunſt,
ſtehen müßte, ſteht zuerſt das Werk, dann der Meiſter des Werks, dann
die Vorlage und Stoffwelt, von welcher der Meiſter ausgeht. So
unbegreiflich dieſe Anordnung ſcheint, ſo folgt ſie doch ganz richtig aus
der ſtrengen Conſequenz des tranſcendenten Standpunkts. Der abſolute
Geiſt, welcher, der Welt jenſeitig, nur den Abglanz einer höheren, über-
ſinnlichen Ordnung der Dinge auf ſie wirft, offenbart ſich als der einzig
wahre Grund der Schönheit in dem Grade vollkommener, in welchem die
feſt beſchloſſene Geſtalt gegenwärtiger Schönheit ſchwindet und dem
Unbeſtimmten weicht, das auf ein Fernes und Jenſeitiges hinüberzuweiſen
ſcheint. Er zieht ſich aus dem Kunſtwerk als inneres Selbſt, als
[8] geheimnißvolle Macht in den Genius zurück. Die bloße Innerlichkeit iſt
noch ein Mangel, und während man meinen ſollte, dieſer Mangel werde
eben durch die höhere Objectivität der Kunſt getilgt, ſo iſt vielmehr die
letzte und höchſte Station des in die Welt ſchimmernden abſoluten Geiſtes
die Naturſchönheit. Die Zufälligkeit, die Unzuverläßigkeit des ſtets ſeine
Stelle wechſelnden Naturſchönen wird zugegeben; wenn aber aus dieſem
Mangel eben dieß zu folgen ſcheint, daß der Genius im Künſtler das
Flüchtige feßle, das Wechſelnde befeſtige, das Zerſtreute in den Brenn-
punkt des innern Phantaſiebildes und dann des Kunſtwerks ſammle, ſo
ſagt Weiße (Aeſth. §. 77) umgekehrt, gerade daraus folge, daß, weil
es nicht die Naturkräfte ſelbſt ſeien, die das Schöne als ſolches wollen,
weil die Bedingungen des Schönen nur beiläufig eintreten, ein höherer,
abſoluter Grund der Schönheit es ſein müße, welcher die Naturkräfte in
ſeinen Dienſt zwingend, auf der Oberfläche der Natur hin- und wieder-
ſchimmernd und umherziehend ſich wechſelnde Bezirke auserleſe, worin er
ſich Erſcheinung gebe. Die Naturſchönheit iſt daher keineswegs Vorlage
der Kunſt im Sinne des bloßen Ausgangspunkts und Stoffs, wie wir
dieß Wort verſtehen, ſondern ſie iſt wirkliches „Vorbild, Muſter oder
Endziel“ derſelben und der künſtleriſche Genius ſtrebt ihr nach, weil er
ſich „weſentlich zugleich einer noch höher ſtehenden, aber andern Sphären
angehörenden und deßhalb auf die Kunſt nicht unmittelbar zu über-
tragenden Schönheit bewußt iſt“ (S. 427). Näher wird der Vorzug der
Naturſchönheit vor der Kunſtſchönheit in ihre Lebendigkeit geſetzt. Wie
es mit dieſem Vorzuge beſtellt ſei, wird ſich an ſeinem Orte zeigen.
Wir gehen einen andern Weg und dieſer bringt es mit ſich, daß
der §. bereits auf das weitere Syſtem hinausweist, darauf nämlich,
daß die Naturſchönheit beſtimmt iſt, ſich in die Phantaſie und Kunſt
aufzuheben. Dieſe Hinausweiſung iſt durch die zweite der Bedeutungen
ausgeſprochen, welche der §. in dem Begriffe der Objectivität, unter
welchem er das geſammte Naturſchöne begreift, unterſchieden hat. Das
Naturſchöne, heißt es, ſei beſtimmt, Ausgangspunkt und Stoff zu werden.
Stoff hat hier den Sinn, der in §. 55 Anm. 2. dieſem Worte folgender-
maßen zugeſchrieben iſt: „zweitens bedeutet Stoff die Idee, wie ſie irgend
einmal, abgeſehen von der Kunſt, Form angenommen hat; der Künſtler
findet dieſen ſo weit ſchon geformten Stoff in der Erfahrung vor und
wählt ihn zur Umbildung in die reine Form“ u. ſ. w. Das Naturſchöne
liegt uns nun zunächſt als das Subject der Schönheit vor; es wird ſich aber
zeigen, daß es im Fortgang zum bloßen Süjet wird, d. h. daß es den
Künſtler erregt, es nachzubilden, daß es aber in dieſer Nachbildung eine
Umbildung erfährt, wodurch es Object der Schönheit (denn dieß bedeutet
Süjet) Gegenſtand, Stoff wird. Hiemit eröffnet ſich eine ganz andere
[9] Streitfrage, als jene über die Idee in der Bedeutung des Inhalts, was
man ebenfalls in ungenauer Weiſe Stoff zu nennen pflegt. Wer ſich in
der Frage über das Gewicht des Inhalts im Schönen ſo oder ſo entſchieden
hat, der hat ſich in der andern über das Verhältniß der Naturſchönheit
zur Kunſt noch keineswegs entſchieden. Dort handelt es ſich um das
Gewicht der Idee im Schönen, um die Frage, ob ihre reine Einheit mit
dem Bilde nicht aufgehoben werde, wenn man den Werth des ganzen
Schönen nach dieſem Gewichte beſtimmt und zu dieſem Zwecke Idee und
Bild zuerſt ſtreng ſcheidet. Hier fragt es ſich, wo das Schöne in der
ungeſchiedenen Einheit ſeiner Momente in Wahrheit wirklich ſei, ob in
der Natur, ſo daß die Kunſt nur eine arme Nachahmung wäre, oder in
der Kunſt. Die erſte Streitfrage geht auf den Unterſchied von Gehalt und
Form, die zweite auf den zwiſchen Gegenſtand und ſubjectiver Thätigkeit
in Darſtellung des Gegenſtands, es handelt ſich hier darum, ob er gegeben
iſt oder geſchaffen wird, ob die Schönheit im Objecte oder im Subjecte
liegt. Beide Streitfragen ſind nicht zu verwechſeln. Wenn ich z. B. etwa
mit Hegel behaupte, nur eine Erſcheinung des gewichtigſten ſittlichen
Gehalts ſei ſchön, ſo bleibt mir, da die Geſchichte ſowohl als die Kunſt
ſolche Erſcheinungen darbietet, unbenommen, entweder hinzuzuſetzen: kein
Dichter kann ſo ſchön dichten, kein Maler ſo ſchön malen, als die Geſchichte
ſelbſt, oder aber: auch die gehaltvollſte Begebenheit iſt verglichen mit der
Umbildung im Gedicht noch roher Stoff. Wenn ich umgekehrt behaupte,
es komme auf den Inhalt als ſolchen nicht an, ſondern auf die Form
und jeder Gehalt könne durch ſeine Form ſchön werden, ſo habe ich damit
noch nicht entſchieden, ob ich unter Form die Naturbildung verſtehe, wie
ſie der Gehalt ſchon außer der Phantaſie und Kunſt an ſich hat, oder die
Geſtaltung, die er durch den Künſtler erhält. Wirklich haben wir im
erſten Theile die erſte Streitfrage ſo entſchieden, daß wir den Gegenſatz
der Anſichten in eine höhere lösten, und dieſe Löſung beſtand darin, daß
wir zwar jedem Lebensgehalte, der Idee auf jeder Stufe ihrer Wirklichkeit
mit wenigen einſchränkenden Bedingungen ihre Berechtigung in der Schönheit
einräumten, allerdings aber ſo, daß je die höhere Stufe der Idee
auch höhere Schönheit begründe. Nicht der Gehalt als ſolcher begründet
die Schönheit in der Stufenfolge des Werth-Unterſchieds, ſondern der Gehalt
wie er in die Form aufgeht; dieß hebt aber den Satz nicht auf, denn
der Gehalt beſtimmt nach ſich und bringt mit ſich auch ſeine Form und
zwar der höhere die höhere; die Idee baut ſich z. B. einen anderen Leib
als vegetabiliſches Leben, einen anderen als thieriſches, als geiſtiges Weſen.
Vergl. hiezu §. 17, 3. §. 19 u. §. 55. Nun forderten wir allerdings nicht
Form überhaupt, ſondern reine Form, und ſo ſcheint es, wir haben auch
die zweite Streitfrage und zwar zu Gunſten der ſubjectiven Thätigkeit,
[10] der Phantaſie und Kunſt, ſchon entſchieden. Allein in Wahrheit wiſſen
wir noch nicht, ob die reine Form nicht durch den Zufall eines glücklichen
Ausbleibens des ſtörenden Zufalls eintreten könne, wovon im nächſten §.
die Rede ſein wird. Nur der ganze vorliegende zweite Theil wird alſo
vielmehr die zweite der genannten Streitfragen löſen und zwar ebenſo wie
die erſte, nämlich durch eine Aufhebung des Gegenſatzes der Anſichten in
eine höhere. Wäre die reine Form geradezu als Phantaſie ausgeſprochen
worden, ſo hätten wir die ganze Stoffwelt verloren, worin der Künſtler
ſeine Studien macht, wie dieß in der Vorrede zum erſten Theile und zu
§. 43 S. 128 geſagt iſt und weiterhin ſich noch ſchlagender darthun wird.
Allerdings iſt im vorliegenden §. ſchon der Grund zur Löſung der zweiten
Streitfrage gelegt, indem ausgeſprochen iſt, daß dieſe Welt der vorgefundenen
Schönheit im Verlaufe zur bloßen Stoffwelt herabgeſetzt erſcheinen wird.
Ehe ſie aber dieſem Verluſte des Scheins ihrer Selbſtändigkeit unter-
liegt, ſoll ſie ſich erſt in der Fülle dieſes Scheins ausbreiten.
Vor uns alſo liegt die Welt als Fundgrube der Schönheit für den
Künſtler; was er mit dem Gefundenen vornimmt, wird ſich zeigen.
§. 234.
Dieſem einfachen Schritte von der Metaphyſik des Schönen zu der
Naturlehre des Schönen ſcheint die im §. 53 aufgeſtellte Forderung einer
Zuſammenziehung des unendlichen Flußes, worin der ſtörende Zufall ſich aufhebt,
zu widerſprechen, denn dieſe ſcheint einen Willen, alſo ein Subject voraus-
zuſetzen. Allein da das Weſen des Zufalls iſt, daß etwas ſo oder anders ſein
kann, ſo iſt vorerſt ſchlechthin die Möglichkeit feſtzuhalten, daß zufällig der
ſtörende Zufall ein- und das andremal ausbleibe, oder, wenn er nicht ausbleibt,
ſich eine Aufhebung des Häßlichen in das Erhabene oder Komiſche durch eine
alsbald hinzutretende Gunſt des Zufalls einſtelle, und es hat ſich die Wiſſen-
ſchaft für den vorhandenen Schein der Selbſtändigkeit des Naturſchönen nur auf
das durchgängige Geſetz, daß die erſte Form jeder Wirklichkeit einer Idee die
Unmittelbarkeit ſei, zu berufen. Es ſcheint einmal ſo, daß es neben häßlichen
Individuen auch wahrhaft ſchöne, erhabene und komiſche gebe und dieſer Schein
muß vorerſt ſein Beſtehen haben.
Ein Thiermaler ſieht unzähliche Pferde, die er nicht brauchen kann,
aber die gute Gelegenheit führt ihm da und dort ein Pferd vor die Augen,
bei deſſen Anblick er ausruft: das iſt einmal ein Pferd, das kann ich
brauchen! Ebenſo findet der Bildhauer einmal ein ausgezeichnetes Modell,
der Seemaler belauſcht die See in einem entzückenden Momente u. ſ. w.
Dieſelbe Gunſt des Zufalls, unter welcher ein Individuum ſich ungehemmt
[11] zu mangelloſem Sein entwickelt zu haben ſcheint, kann aber auch auf
andere Weiſe eintreten. Es iſt etwas durch Uebermaß, durch Zuſtand
der Zerſtörung, durch verzerrte Bildung häßlich; aber es ſtellt ſich in
demſelben Zuſammenhang (vergl. §. 152) der glückliche Zufall ein, daß
es eine furchtbare Wendung nimmt, wenn wir z. B. ein häßliches Thier
im Kampfe die Kraft entwickeln ſehen, die ihm gerade durch ſeine Miß-
bildung gegeben iſt, oder eine komiſche, wie dieß tauſendmal ſo erleichternd
geſchieht in Momenten, welche zuerſt durch Verletzung aller Sinne und
jedes Anſtandsgefühls eckelhaft zu werden drohten. Das Glück dieſer
guten Stunden iſt rein zu genießen, der Künſtler iſt in der Meinung,
daß ihm hier das Schöne ſelbſt in reiner Geſtalt begegne, zu beſtärken;
nicht jetzt iſt es am Orte, ihm zu ſagen: ſieh den Gegenſtand näher an,
da iſt immer noch unendlich Vieles an demſelben, was du ſo nicht
brauchen kannſt, überall mußt du nachhelfen und dabei entdecken, daß das
Urbild in deiner Phantaſie das wahre Correctiv des in der Außenwelt
Gefundenen iſt; nicht ſogleich iſt ihm dieſer Schein, dieſe erſte Freude zu
nehmen. Thatſache iſt: er hat es gefunden, es iſt ihm ein Gegebenes
und was immer weiter mag folgen müſſen, es iſt der Ausgangspunkt.
Der idealiſtiſche Aeſthetiker, der von dem Satze ausgeht, die Kunſt ſei
Ausdruck des Innern und nichts Anderes, begeht die Verkehrtheit, am falſchen
Ort ſtatt einer Analyſe eine Syntheſe zu ſetzen. — Soll alſo die Wiſſenſchaft
nicht die Wahrheit und die Ordnung des Hergangs in der Entſtehung
des Schönen verkehren, ſo darf ſie ſich nicht daran ſtoßen, daß ſie auf
dieſem Punkte ganz in die Empirie, in die Nacktheit eines unbewieſenen
thatſächlichen Scheins ſich ergeben muß. Sie thut es mit Wiſſen in
Gemäßheit des im §. wiederholten, jede erſte Form in unſerem Syſtem,
ja die ganze Begründung des Schönen von Anfang an bedingenden Geſetzes,
daß das Unmittelbare, d. h. dasjenige, was ſelbſt nicht Anderes vorausſetzt,
aber vorausgeſetzt iſt, wenn Anderes ſoll ſein können, überall den Aus-
gang bildet. So iſt das Naturſchöne dasjenige, was von Kräften hervor-
gebracht wird, welche die Schönheit als ſolche nicht wollen und bezwecken,
es iſt die zufällige Schönheit, welcher kein ſie hervorbringender Wille,
welche vielmehr ſelbſt einem ſolchen vorausgeſetzt iſt, und der Fortgang
wird zeigen, wie ſich dieſes Unmittelbare aufhebt; dieſer Wille wird das
Unmittelbare, durch das er vermittelt iſt, in ſeine Macht nehmen, er wird,
indem er das Letzte ſcheint, zum Erſten, zum Anfang werden. Jenes
Wiſſen, womit die Wiſſenſchaft dieſen ſcheinbar nackt empiriſchen Ausgang
nimmt, iſt zugleich das Vorauswiſſen dieſes analytiſchen, das Letzte im
Verlauf zum Erſten ſetzenden Ergebniſſes.
[12]
§. 235.
Es ergibt ſich nun für die Lehre von dem Naturſchönen die Aufgabe,
zunächſt die Reiche der gewöhnlich ſogenannten Natur oder der Idee, wie ſie
erſt als bewußtloſe Lebenskraft wirklich iſt (vergl. §. 17), zu durchgehen und
unter der Vorausſetzung des glücklichen Zufalls (§. 234) das Eigenthümliche
der Schönheit jeder Hauptſtufe in ihren Gattungen und Arten zu betrachten.
Die Aeſthetik geht auf dieſem Wege Hand in Hand mit der Naturwiſſenſchaft
und wird zu einer Phyſiognomik der Natur.
Der Schritt von der Metaphyſik des Schönen zu der Phyſik des
Schönen iſt, wie ſchon bemerkt, keineswegs mit dem Uebergang von der
Metaphyſik überhaupt in die Naturphiloſophie zu verwechſeln. Der
weſentliche Unterſchied der äſthetiſchen und der allgemein philoſophiſchen
Naturlehre wird im folgenden §. aufgezeigt und dargethan werden, daß
das Naturſchöne auch das ganze ſittliche Leben in der Unmittelbarkeit
ſeiner äſthetiſchen Erſcheinung befaßt. Man könnte nun einwenden: wenn
die Lehre vom Naturſchönen etwas ganz Anderes iſt, als die Natur-
philoſophie, wenn daher die letztere als gegeben in der Aeſthetik voraus-
geſetzt iſt, warum ſoll erſt jetzt, im zweiten Theile, das Naturgebiet (wie
nachher das ſittlich geſchichtliche) vom Standpunkte der Aeſthetik durch-
wandert werden? Warum geſchah dieß nicht ſchon im erſten Theile in
der Lehre von der Idee, §. 15 bis 29? Warum dort nur eine Skizze
der Hauptſtufen der wirklichen Idee, der Reiche des Lebens, und jetzt
erſt ein genaueres Eingehen? Der Grund iſt einfach der: die Metaphyſik
des Schönen hatte die Grundbegriffe zu entwickeln, das weitere Syſtem
im idealen Grundriſſe vorzubilden; hier wurde die Frage noch nicht auf-
geworfen, ob die wirkliche Welt unmittelbar, wie ſie erſcheint, oder nur
durch das umbildende Zuthun des Subjects ſchön ſei. Nun aber iſt dieſe
Frage aufgeworfen und zunächſt mit Abſicht der Schein hingeſtellt, als ſei
das Erſtere zu bejahen. Jetzt erſt gilt es alſo, ſtatt der ganz gedrängten
Skizze der wirklichen Idee, welche im erſten Theile §. 15—29 gegeben iſt,
die Reiche des Lebens, zuerſt die der bewußtloſen Natur in der Nähe
darauf anzuſchauen, wie viel oder wenig Schönheit das Leben ſelbſt in
ſeinen Organiſationen, wenn ihnen nur der Zufall unverkümmerter
Entwicklung gegönnt iſt, der Anſchauung darbiete. Die Natur ſcheint
jetzt die Werkmeiſterinn des Schönen, ſie iſt uns jetzt Subject und unſere
Aufgabe die, ihre Werke der Reihe nach anzuſchauen. Im zweiten
Abſchnitte wird es anders lauten, jetzt iſt die Natur in ihrem Rechte und
ſoll ſich daher in ihrer Breite entfalten.
[13]
Es tritt nun das Syſtem einer großen, bisher noch ungelösten, ja
in ihrem ganzen Umfang noch nicht einmal geſtellten und unendlich ſchwierigen
Aufgabe entgegen. Die Phyſiognomik der Natur, welche dieſe Aufgabe
iſt, fordert eine Verbindung des Naturforſchers und des Aeſthetikers, welche
in der unvermeidlichen Theilung ſubjectiver Kräfte vielleicht überhaupt nicht
möglich iſt. Der Aeſthetiker müßte mit umfaſſender naturwiſſenſchaftlicher
Bildung ausgerüſtet ſein und der Naturforſcher nicht nur mit philoſophiſcher
Einſicht in das Weſen des Schönen, ſondern mit dem feinen Gefühle,
dem ſpeziellen erfahrungsreichen Formſinn des Künſtlers. Die Natur-
kenntniß müßte gerade deßwegen um ſo gründlicher und vollſtändiger ſein,
weil es gälte, über die ganze Maſſe des Stoffs mit der vollkommenen
Freiheit des geläufigen Ueberblicks verfügen zu können, mit raſchem Blicke
zu unterſcheiden, was für die Aeſthetik brauchbar, was der Naturwiſſenſchaft
als ſolcher zu überlaſſen ſei, und ebendarum müßte mit dieſer umfaſſenden
Naturkenntniß das Auge des Künſtlers für die Form vereinigt ſein. Die
höchſte bis jetzt gekannte Einheit des Naturforſchers und des formfühlenden
Auges iſt in Ritter u. A. v. Humboldt aufgetreten, allein liest man
z. B. die Ideen zu einer Phyſiognomik der Gewächſe, worin der Letztere
ausdrücklich der Aeſthetik in die Hand arbeiten wollte, ſo erkennt man
ſogleich, daß der Verf. doch viel zu beſtimmt auf der Seite der Natur-
forſchung ſteht, um der Aeſthetik zu genügen, denn dieſe hätte an den
Botaniker noch eine Menge weſentlicher Fragen über die richtigſte Anordnung
der Pflanzen in Rückſicht auf die äußere Phyſiognomie ihres Baus, welche
Humboldts geiſtvolle Skizze unbeantwortet läßt. Iſt es äußerſt ſchwer,
auch nur in einem einzelnen Zweige der Naturwiſſenſchaft, wie Geognoſie
und Botanik, den Blick auf die Form, welcher der Aeſthetik, und den
Blick in die innere Bildung, welcher der Naturwiſſenſchaft eigen iſt, ſo zu
vereinigen, daß jener von dieſem nur überall das entlehnt, was für ihn
abfällt und dieſer jenem das in die Hände arbeitet, was er braucht, ſo
wird die Schwierigkeit unendlich, wenn man erwägt, daß die Aeſthetik
von einer umfaſſenden Kenntniß aller Naturreiche unterſtützt ſein müßte
und daß auch der erbetene Rath wenig abwirft, weil er vor Allem die
abſolute Verſchiedenheit der Standpunkte aufdeckt und die Stelle, wo die
Aeſthetik ſoviel vorgearbeitet finden ſollte, um von der Naturkenntniß das
Feinſte für ihren Zweck abſchöpfen zu können, als eine noch unbebaute
aufzeigt. Im Angeſichte einer ſolchen Aufgabe wird der folgende ſchwache
und dürftige Verſuch Nachſicht verdienen.
§. 236.
Der weſentliche Unterſchied beider Gebiete iſt darum nicht zu verkennen,1
denn die Naturgeſchichte behandelt, vom Standpunkte der Aeſthetik betrachtet,
[14] ihren Gegenſtand ſtoffartig, indem ſie auf die innere Zuſammenſetzung der
Dinge ſieht und die Geſtaltung der Oberfläche nur als letztes Ergebniß dieſer
darſtellt, wogegen die Aeſthetik den reinen Schein der Oberfläche in’s Auge
2faßt (vergl. §. 54); ebendarum iſt das mißbildete oder kranke Individuum für
die Naturwiſſenſchaft nicht ein häßliches, wie für die Aeſthetik, und auf ganz
andere Weiſe zieht jene das Reich ſolcher Störungen in ihr Gebiet, als dieſe;
3endlich unterliegt die Verbindung der Aeſthetik mit der Naturwiſſenſchaft den
4in §. 18 ausgeſprochenen Einſchränkungen. Dieſer Unterſchied hebt jedoch die
Anſchließung der Aeſthetik an die Naturwiſſenſchaft keineswegs auf, denn die
innere Zuſammenſetzung der Körper behält für jene die wichtige Bedeutung,
daß ſie der Grund der äußeren Geſtalt iſt; das Stoffartige geht auf in der
Form, aber zu kennen, was in ihr aufgeht, fördert weſentlich ihr Verſtändniß
und ihre Auffindung.
1. Der Hauptgrund des Unterſchieds iſt in §. 54 gehörig auseinander-
geſetzt. Wenn ich die Formen eines Gebirgs äſthetiſch betrachte, frage ich
nicht, ob es aus Granit, Baſalt, Sandſtein, Kalk oder anderer Maſſe
beſteht, bei einem Baume nicht, in welche Klaſſe ihn Linné mit Rückſicht
auf ſeine Befruchtungsorgane geſetzt, bei einem ſchönen menſchlichen Körper
nicht, wie dieſer und jener Muskel vom Anatomen benannt wird. Dieſe
Fragen ſind vom Standpunkte der Aeſthetik ſtoffartig; nicht an ſich ſind ſie es,
denn die Naturwiſſenſchaft kennt auch von ihrem Standpunkt nur geformten
Stoff, aber für die Aeſthetik, denn für ſie iſt Alles, was durch Zerlegung
und Auflöſung der Oberfläche in ihrer Geſammtwirkung gefunden wird, roher
Stoff. Der Geognoſt ſieht nach dem Umriſſe der Gebirge, um aus ihnen
vorläufig auf die Formation zu ſchließen; der Aeſthetiker fragt nach der
Formation, um aus ihr, ſo weit es möglich, zu ſchließen, was für Umriſſe
zu finden ſein werden. Hat dieſer die Umriſſe vor ſich, ſo vergißt er
den Namen der Formation, nur ein allgemeiner Eindruck der Gewalt
ſchwebt ihm vor, deren Wirken dieſe Umriſſe bedingte. Er braucht auch
als Künſtler oder einfach Beſchauender jenen Namen nie gewußt zu haben;
nur die Wiſſenſchaft der Aeſthetik, da ſie in geordnetem Zuſammenhang
die Naturreiche darauf anzuſehen hat, wie viel Stoff ſie dem Schönen
abgeben, muß ſich bis auf einen Punkt auf die Namen und Eintheilungen
der Naturwiſſenſchaft einlaſſen.
2. Die ſchlechten Individuen exiſtiren für die Aeſthetik, ſofern ſie
ſchlechtweg häßlich ſind, gar nicht oder nur als Solches, was nicht ſein
ſoll und daher nur das Gefühl des Abſtoßenden erregt. Für die Natur-
wiſſenſchaft dagegen exiſtiren ſie zwar freilich nicht als normale Erſcheinung
der Gattung, allein die Krankheit und jede Entartung hat auch ihre Geſetz-
mäßigkeit und dieſe iſt für die wiſſenſchaftliche Betrachtung, welche zwar
[15] Gefühl und Einſicht des Zweckwidrigen, aber keinen Eckel und Abſcheu
kennt, weil ſie nicht bei der Oberfläche verweilt, ſondern wiſſen will, was
hinter ihr ſei, der Gegenſtand einer beſonderen Unterſuchung, wodurch für
die Wiſſenſchaft des höheren organiſchen Lebens ein ſelbſtändiger Zweig,
die Pathologie, bedingt iſt. Dieſe führt nun zur praktiſchen Medizin und
hier wird der Gegenſatz gegen die Aeſthetik vollkommen. Wenn nämlich
ſchon die blos theoretiſche Betrachtung der Naturwiſſenſchaft gegenüber
dem Standpunkte der Aeſthetik darum ſtoffartig iſt, weil die getrennten
und zerlegten Organe in den Geſichtspunkt der Zweckmäßigkeit fallen
(§. 54), ſo wird nun aus dieſem wirklich Ernſt gemacht in der Heilkunde,
der Arzt aber und der äſthetiſch Betrachtende ſtehen ſich ſo gegenüber,
daß ſie einander reichlichen Stoff zum Lachen geben. Wenn nun ſo die
Naturwiſſenſchaft das Entartete, was für die äſthetiſche Anſchauung häßlich
iſt, einem theoretiſchen oder praktiſchen Intereſſe unterwirft, das mit dem
Gefühle des Häßlichen gar nichts zu ſchaffen hat, vielmehr durch eine
Verwechslung der Ausdrücke das Häßliche ſogar ſchön (ſtatt: belehrend)
nennen kann, ſo vermag allerdings auch die Aeſthetik dem Häßlichen einen
Werth abzugewinnen, wenn es nämlich einen Uebergang in das Erhabene
oder Komiſche darbietet; es leuchtet aber ein, daß dieß ein ganz anderer
Weg iſt, als der, den die Naturwiſſenſchaft einſchlägt. Dort erhält ſich
Eckel und Abſcheu, nur aber als bloßes Moment, als Hebel eines
anderweitigen, verſöhnenden Gefühls, das Häßliche bleibt häßlich und
wird nur zugleich etwas Anderes, hier aber, für die Naturwiſſenſchaft,
iſt das Häßliche gar nicht vorhanden. Dieß iſt nun auf gleiche Weiſe
der Fall bei normalen, aber an ſich verworrenen, wie bei ſolchen Bildungen,
die durch abnormen Zuſtand entſtellt ſind; von den erſteren reden wir in
der folg. Anmerkung und dieß wird zu näherer Beleuchtung dieſes ganzen
Unterſchieds im Standpunkte des naturwiſſenſchaftlichen und äſthetiſchen
Gebietes führen.
3. Die Einſchränkungen, welche hier mit Verweiſung auf §. 18
wieder genannt werden, treten namentlich in der Thierwelt hervor und
werden beſtimmter angegeben werden, wenn von dieſer die Rede iſt. Für
die Naturwiſſenſchaft iſt ein von Hauſe aus verworren gebildetes Thier
ebenſowenig häßlich, als ein durch Lebensſtörungen entſtelltes; ſie begreift
die Bildung einer Fledermaus, eines Krokodils als etwas, was auf dieſer
Stufe nicht anders ſein kann. Allerdings muß zwar auch ſie die Bildung
dieſer und anderer Uebergangsſtufen als ſolche erkennen, welche zu einer
auffallend widerſprechenden Einheit Organe in ſich vereinigen, die in
reinerer, ebnerer, flüſſigerer Verbindung anderen Ordnungen angehören;
nur nennt ſie dieſe widerſtrebenden Verbindungen nicht häßlich. Das Ver-
hältniß wäre alſo hier daſſelbe, wie bei abnormen Entſtellungen: wie
[16] dieſe auch für die Naturwiſſenſchaft Störungen ſind, ſo iſt queere Bildung
auch für ſie, obwohl nothwendig und geſetzmäßig zuſammenhängend, wenn
ſie die Gattung nur mit ſich vergleicht, doch, wenn ſie das Thierreich über-
blickt und das Zuſammengehören der Glieder in anderen Stufen an die vor-
liegende hält, auffallend und gewaltſam. Die Aeſthetik aber nennt auch
dieß häßlich und ſtößt es von ſich. Die Naturwiſſenſchaft hebt nun das
Gefühl der Zweckwidrigkeit, das auch ihre Einſicht in die verworrene
Bildung als ſolche (wie oben in die Entſtellung als Entſtellung) begleitet,
durch die weitere Einſicht auf, daß unter ſolchen Bedingungen und auf
ſolcher Stufe nichts Anderes entſtehen konnte, daß, wie die Krankheit ihre
Geſetze hat, auch das ſeltſam gebildete Thier gerade die Organe beſitzt,
die es auf ſeiner Stufe haben kann und braucht. Dieß beruht aber auf
einer weitſchichtigen Unterſuchung, wogegen im Schönen das Häßliche in
Einem und demſelben Zuſammenhang raſch in das Licht des Erhabenen
oder Komiſchen gerückt wird. Dieß Letztere erſt begründet den ganzen
Unterſchied. Raſch, in Einem Acte, muß für die äſthetiſche Anſchauung
das Häßliche umſchlagen; langſam auf dem Wege der Forſchung wird
für die Wiſſenſchaft das Zweckwidrige zu einem Nothwendigen.
Wenn wir nun behaupten, daß auf ſolche Weiſe die Aeſthetik und
die Naturwiſſenſchaft auseinander gehen, ſo iſt dieß etwas ganz Anderes,
als wenn wir behaupteten, es gebe nichts (Schönes und nichts) Häßliches
in der Natur (ſondern nur in der Phantaſie und Kunſt). Auch noch
ehe wir die Kunſt kennen, behaupten wir ein Schönes und Häßliches,
ſowie ein in das Erhabene oder Komiſche übergehendes Häßliches, das
in der Natur vor uns tritt; nur ſagen wir aus, daß dieß vermöge einer
andern Betrachtungsweiſe geſchehe, als vermöge der naturwiſſenſchaftlichen,
durch diejenige nämlich, welche nur die Geſammtwirkung der Oberfläche
im Auge hat. Liegt es im Unterſchiede der Betrachtungsweiſen, ſo iſt ja
aber, wird man uns einwenden, der ſubjective Sitz des Schönen eben-
hiemit ſchon ausgeſprochen. Wir antworten darauf: dieß heißt zu viel,
alſo nichts beweiſen. Das Subject iſt in jedem Prädikate, das ich einem
Objecte gebe, mitgeſetzt, allein es kommt darauf an, welche ſeiner Seiten
das Object dem Subjecte entgegenhält. Freilich kann das Subject mit
Willkühr den Gegenſtand wenden und drehen und dann tritt ein Verhältniß
ein, wo dieſer durch jenes beſtimmt erſcheint; dieß gehört dann ſchon in
die Lehre von der Phantaſie, wo unſere ganze Betrachtung ſubjectiv
werden wird; allein auch ohne dieſen willkührlich beſtimmenden Act des
Subjects und außer ihm wechſelt das Object ſo ſeine Seiten, daß der
beſtimmende Eindruck von ihm ausgeht, und davon iſt jetzt die Rede.
Die Häßlichkeit des Crokodils geht auch ohne beſonderen Act der Phantaſie
auf Seiten des Zuſchauers in den äſthetiſchen Eindruck des Furchtbaren
[17] über, wenn wir es kämpfen ſehen, und ein Froſch erſcheint nach Umſtänden
auch ohne jenen Act komiſch, wenn er hüpft und ſpringt, wenn ſein Quacken
an Menſchenſtimmen erinnert. Als Ausdruck der idealiſtiſchen Anſicht,
welcher wir hiemit entgegentreten, ſtehe eine Aeußerung Hettners. Für
ſeinen Satz, daß es im Schönen überall nicht auf den Gegenſtand, ſon-
dern nur auf die Darſtellung ankomme, führt er u. A. (Wigands Vier-
teljahrsſchr. 1845. B. 4. S. 16.) an, ein Crokodil, eine Kröte könne in
der Natur häßlich erſcheinen, in der Kunſt aber vortheilhaft. Hettner hätte
ſeine eigene Anſicht richtiger ausgedrückt, wenn er geſagt hätte, in der
Natur ſei nichts weder ſchön noch häßlich, ſondern nur in der Darſtellung
der Kunſt, und dieſe könne das, was ſie ſonſt häßlich darſtelle, ebenſogut
auch vortheilhaft anbringen. Von dieſem conſequenten Idealismus iſt er
aber ſchon dadurch weit ab, daß er wenigſtens von einem häßlich Erſcheinen
des Naturgegenſtandes ſpricht und er hütet ſich wohl, zu ſagen, ſchön
könne die Kunſt ein ſolches Thier darſtellen, denn nicht unmittelbar kann
ſie dieß ja, ſondern nur durch die Wendung zum Erhabenen oder Komiſchen,
worin dem Häßlichen zwar ſein Stachel genommen wird, doch nicht
ſo, daß es ſchlechtweg aufhörte, häßlich zu ſein, ſondern nur ſo, daß wir
aus anderweitigen Gründen das Häßliche nicht mehr als Häßliches wahr-
nehmen. Wir können dieß dann vermittelte (kämpfende) Schönheit nennen,
aber ebendaraus, daß ein ſolches Thier niemals in der Weiſe der unmittel-
baren, d. h. hier der einfachen und kampfloſen Schönheit als ſchön dar-
geſtellt werden kann, folgt die Unrichtigkeit des ganzen Hettnerſchen Satzes.
Die Wendung zum Erhabenen und Komiſchen kann das häßliche Thier,
wie ſchon geſagt, auch ohne einen beſtimmenden Act der Phantaſie von
Seiten des Zuſchauers nehmen; und wenn die Kunſt, weil ſie aus einem
Willen hervorgeht, aus freier Beſtimmung dem Gegenſtande dieſe Wendung
gibt, auch wo er ſie in der Natur nicht nimmt, ſo fingirt ſie doch eben
einen Fall, der ſonſt allerdings in der Natur vorkommt und hundertmal
geſehen worden iſt, wie ſie ja überhaupt fingirt, als ſei das ganze Thier
ſelbſt gegenwärtig, wo es nicht iſt. Sie fingirt es aber mit der Bildung,
die es in der Natur hat; ſie fingirt es nicht nur, ſondern erhöht, (um
vorläufig bei dieſem unbeſtimmten Ausdruck zu bleiben) dieſe Bildung,
und dieß iſt ein Unterſchied des Naturſchönen und des Kunſtſchönen, der
ſeines Orts gehörig in Geltung treten wird, aber ſie kann das in der
Natur Häßliche nicht ſo erhöhen, daß die Häßlichkeit, außer durch dieſelbe
Wendung, durch welche ſie auch in der bloßen Natur eine andere Wir-
kung erhält, verſchwände. Verfährt ſie anders, ſo lügt ſie, und dieß kann
ſie freilich eben ſo gut, wie ich im ſittlichen Gebiete das Schlechte als
gut und umgekehrt darſtellen kann, aber ſie vernichtet ſich dadurch ebenſo
wie die ſittliche Lüge. Hat der Maler z. B. einen Kopf abzubilden, der
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 2
[18]durch ſehr markirte Züge von der reinen Linie der Gattung bis zum Häß-
lichen abweicht, ſo lügt er, wenn er dieſe Züge durch Abrundung verflacht;
er bleibt aber der Aufgabe der Kunſt treu, wenn er gerade das Mar-
kirte in ſolcher Kraft darſtellt, daß es den erhabenen Charakter, der im
Original ſelbſt mit der Häßlichkeit verſöhnt, in erhöhter Reinheit kund gibt.
Es kommt alſo allerdings auf den Gegenſtand an und wer dieß leugnet,
ſpricht (was Hettner gewiß nicht wollte) einer bodenloſen Scheinkunſt
das Wort; es kommt auf den Gegenſtand an, denn das Schöne und
das Häßliche, ſowie das Erhabene und Komiſche iſt in der Natur
ſchon vor der beſtimmten Thätigkeit der Phantaſie, woraus die Kunſt ent-
ſteht. Wir haben auf zwei verſchiedenen Linien daſſelbe Verhältniß: in
der Natur iſt ein Gegenſtand ſchön oder häßlich oder er geht vom Häß-
lichen in das Erhabene, Komiſche über, und ebenſo in der ſchöpferiſchen
Phantaſie und Kunſt. Auf der erſten Linie iſt ein Zuſchauer freilich
vorausgeſetzt, aber noch keineswegs ein ſolcher, der von der unbeſtimmt
allgemeinen Phantaſie zum ſchöpferiſchen Acte derſelben fortgegangen iſt,
ſondern nur ſo iſt er vorausgeſetzt, wie ein Schmeckender vorausgeſetzt
iſt, wenn wir etwas ſauer oder ſüß nennen. Auf der zweiten Linie aber
ſind dieſelben Unterſchiede und Verhältniſſe da, aber alle in einer neuen
Potenz, in der des geiſtig Gewollten und Geſetzten, wovon an ſeinem
Orte zu reden iſt, wo denn auch der hier berührte Unterſchied der unbe-
ſtimmt allgemeinen und der ſchöpferiſchen Phantaſie dargeſtellt werden wird.
4. Wenn ich die Oberfläche betrachte, ſo iſt es mir freilich gleich-
giltig, welcher Stoff es ſei, der das Gebilde von innen heraus ſo ausfüllt,
daß er nach ſeinen Bildungsgeſetzen gerade dieſes und kein anderes Profil
bildet; allein es iſt doch immer gerade dieſer und kein anderer Stoff, aus
deſſen Natur dieſes und kein anderes Profil hervorgeht, und das Profil gibt
mir allerdings weſentlich die innere Qualität, nur nicht als zerlegte, ſondern
in Einer augenblicklichen Geſammtwirkung kund. Jene Gebirgsformation
wirkt ſo auf mich, dieſe anders; jene iſt wild zerklüftet, dieſe weich geſchwungen
und rund in ihren Umriſſen. Nun brauche ich nicht zu wiſſen, wie die Gebirgs-
arten heißen, welche dieſe Geſtalten bilden; aber die Bildung gibt mir, ohne
daß ich Geognoſt wäre und die Namen wüßte, einen dunkeln Eindruck der Erd-
Revolution, der ſie angehört und durch welche ihr Charakter bedingt iſt. Ich
bekomme das im Eindrucke weſentlich mit. Weiß ich nun überdieß, welche
Formation hier zu Grunde liegt, ſo hat dieß als ein ausdrückliches Wiſſen
äſthetiſch zunächſt keinen Werth und iſt zufällig, allein dieſe Kenntniß kann
der äſthetiſchen Stimmung eine Frucht von der größten Bedeutung abgeben,
wenn ſie mir hilft, den beſondern Charakter der ungeheuren Naturkämpfe
mir vergegenwärtigen, wodurch auf vulkaniſchem oder neptuniſchem Wege
durch Urbildung oder Zertrümmerung früherer Gebirgsarten u. ſ. w. einſt
[19] dieſe Formen entſtanden. Dieſe Umſetzung des geognoſtiſchen Wiſſens in
die äſthetiſche Stimmung iſt nicht leicht, aber wie wichtig ſie iſt, kann
z. B. die einfache Vorſtellung zeigen, wenn man ſich einen Maler denkt,
der auf einer Studienreiſe begriffen von einem nahen Gebirge hört und
von der Gebirgsart Kunde erhält. Weiß er nun, welche Formen bei
dieſer oder jener Gebirgsart vorkommen, ſo kann ihn dieß entweder
beſtimmen, dieſelben aufzuſuchen und ihm reichen Gewinn an Studien
zuführen, oder es kann ihm, wenn er weiß, daß ſie unintereſſant ſind,
vergebliches Suchen erſparen. Ebenſo verhält es ſich mit Pflanzen,
Thieren u. ſ. w., und nicht umſonſt liest man Künſtlern Anatomie, denn
an ſich zwar brauchen ſie das Einzelne, was hinter der Oberfläche des
menſchlichen Organismus liegt, nicht zu kennen, aber ſie kennen die
Oberfläche erſt, wenn ſie wiſſen, nach welchen Geſetzen welche Theile in
Ruhe oder Bewegung auf der Oberfläche hervortreten oder zurücktreten
müßen. Mit aller gelehrten Naturkenntniß verhält es ſich demnach in
der Aeſthetik ſo: man muß jene in ſich aufnehmen, um ſie aufgenommen
zu haben, um ſie als eine gleichſam verdaute in die äſthetiſche Anſchauung
aufgehen zu laſſen; man muß wiſſen, um wieder zu vergeſſen, aber im
Vergeſſen bleibt eine Frucht von dem Gewußten.
§. 237.
Das Reich des Naturſchönen iſt aber ungleich weiter als das Gebiet der
Naturwiſſenſchaft. Dieſe ſchließt das menſchliche Leben von dem Punkte an,
wo es durch Freiheit die Natur überwindet, von ſich aus; nicht ſo die Lehre
vom Naturſchönen. Hier liegt nicht der Gegenſatz von Natur und Geiſt über-
haupt, ſondern der Gegenſatz zwiſchen vorgefundener oder zufälliger und zwiſchen
einer ſolchen Schönheit vor, welche durch einen Willen, das Thun eines Subjects
entſteht. Zum Naturſchönen gehört alſo auch das perſönliche menſchliche Leben,
ſofern es, obwohl im Uebrigen ſelbſtbewußt und frei, diejenige Seite, nach
welcher es ſich als ſchön darſtellt, nicht als ſolche weiß und will, ſofern alſo
zwar der Inhalt deſſen, was es thut, nicht zufällig iſt, wohl aber die Form,
in welcher dieß Thun erſcheint.
Nichts iſt klarer, als daß die ganze Welt der Freiheit zum Natur-
ſchönen gehört, ſofern die handelnden Perſonen nicht darnach fragen und
nicht darauf arbeiten, wie ſie in ihrem Thun ausſehen, ſofern alſo das, was
Zuſtände und Thaten ſchön macht, nicht als ſolches gewollt, ebendaher
zufällig und ein Werk unbewußter Kräfte iſt, wie die Schönheit der auch
außer der Aeſthetik ſo genannten, der ungeiſtigen Natur. Eine Schlacht, eine
Heldenthat in dieſer Schlacht mag den edelſten Gütern der Menſchheit gelten
2*
[20]ſie mag die herrlichſten Momente für den Maler, für den Dichter darbieten;
allein den Kämpfenden iſt es gewiß nicht darum zu thun, ein maleriſches
Schauſpiel darzuſtellen, nur der Zufall führt ſie in manchen Momenten des
Kampfes zu maleriſchen Gruppen zuſammen. So verhält es ſich mit allen
Erſcheinungen der moraliſchen Welt. Es mag theilweiſe wohl auch eine
Abſicht auf die Erſcheinung als ſolche gerichtet ſein, Kleidungen, Waffen,
Schmuck aller Art, Ceremonien, Bräuche, Haltung, Gebärde, Bewe-
gung mögen auf einen würdigen oder gefälligen Anblick berechnet ſein; aber
theils fällt die Berechnung nicht in den Moment, wo es ein ernſtliches Han-
deln gilt, ſondern hat ihre beſondere Zeit als Ankleiden, körperliche Uebung
u. ſ. w., theils iſt der anhängende Schmuck, obwohl durch eine Abſicht, doch
nur durch eine ſolche beſtimmt, welche unvermerkt ſelbſt von einem Inſtinkte
geleitet wird, wie dieß z. B. aus der Entſtehung der Trachten deutlich zu
erſehen iſt.
Eine eigenthümliche Verworrenheit herrſcht in der Lehre vom Natur-
ſchönen bei Hegel. Er verwechſelt nämlich die Idee überhaupt mit der Idee
des Schönen. Die Idee überhaupt gibt ſich Wirklichkeit in der natürlichen
und in der geiſtigen Welt, und die zweite dieſer Formen iſt die allein
wahre und adäquate; da nun Schönheit die Idee in adäquater Erſchei-
nung iſt, ſo meint er dieſelbe erſt in der geiſtigen Welt beginnen laſſen
zu dürfen. Dieß iſt jedoch nicht die eigentliche Confuſion, es iſt nur erſt
eine Unterſchätzung des äſthetiſchen Werths der nicht begeiſteten Natur;
jene liegt erſt darin, daß Hegel nun ſagt, die Mängel der unbegeiſteten
Natur leiten zur Nothwendigkeit des Ideals als des Kunſtſchönen hin.
Dahin leiten ja aber die Mängel alles Schönen, ſofern es in der vorge-
fundenen Wirklichkeit, von der Phantaſie noch nicht umgebildet, uns begegnet,
und von ſolchen iſt ja auch die geiſtige Welt, die Menſchenwelt getrübt, wie
Hegel ſelbſt, um die Verwirrung durch Widerſpruch mit ſich ſelbſt zu
vollenden, (Aeſth. Th. 1. S. 189 ff.) ausführt. Die Verwirrung löst
ſich einfach, wenn wir die Idee überhaupt und die Idee des Schönen richtig
unterſcheiden: reden wir von der Idee überhaupt, ſo iſt freilich die menſch-
liche Welt als adäquate Erſcheinung des Geiſtes erſt ihre wahre Wirk-
lichkeit. Sie iſt ebendaher das Gebiet, wo erſt volle Schönheit auftritt.
Allein das hat mit dem Gegenſatz, der die Idee der Schönheit als ſolche
in zwei Hauptgebiete, Naturſchönheit und Ideal theilt, noch gar nichts
zu ſchaffen. Vielmehr die geiſtig menſchliche Welt wie die unbegeiſtete
hat ihre äſthetiſchen Mängel, ſofern ſie uns ohne Zuthun der Kunſt vor-
liegt, wie ſie iſt, und an beiden Welten tilgt die Kunſt dieſe Mängel.
Beide Welten treten zweimal auf, als Naturſchönheit, dann als ideal
umgebildete Schönheit. Iſt auch die ſittliche Welt, wie ſie zufällig vorge-
funden wird, mangelhaft, ſo iſt umgekehrt die unbegeiſtete der idealen
[21] Behandlung darum nicht unwerth, weil ſie noch nicht adäquate Erſchei-
nung iſt. Die Naturſchönheit erſtreckt ſich über die ganze Welt und das
Ideal ebenfalls.
§. 238.
Die Gebilde der verſchiedenen Gattungen im Reiche des Naturſchönen
ziehen ſich in unbeſtimmter Menge durch Raum und Zeit und finden ſich auf
einzelnen Räumen häufig in verworrenem Gedränge des Verſchiedenartigen gleich-
zeitig zuſammen. Durch jenes iſt die Begrenzung, durch dieſes die Einheit der
Idee aufgehoben, welche zum Schönen erfordert wird (§. 36.). Allein für die Begren-
zung ſorgen die Sinne des Betrachtenden, welche je nur einen Ausſchnitt des
unendlich Ausgedehnten faſſen können, und daſſelbe Glück des Zufalls, wodurch
einzelne Individuen aus allen dieſen Sphären als reine Bilder ihrer Gattung
erſcheinen, kann ebenſogut auch auf einem einzelnen Raum in einer über-
ſehbaren Zeitdauer ſolche Erſcheinungen zuſammenführen, welche durch den Mittel-
punkt einer beſtimmten Idee ſich zur Einheit verbinden.
Es geht aus dieſem §. hervor, daß auch die Nothwendigkeit der Begren-
zung und der Gruppirung um einen geiſtigen Mittelpunkt keineswegs unmittel-
bar zum Ideale führt. Das Planetenſyſtem iſt kein Gegenſtand der Schön-
heit, weil es unüberſehlich iſt, die unendliche Zeit auch nicht. Ueberſehlichkeit
nämlich forderte nach §. 87. auch das Erhabene. Aber dafür ſorgt, den
glücklichen Zufall der Stellung, des Standpunkts natürlich vorausgeſetzt, ſchon
der Namen, den unſere Sinne ziehen, daß wir eben nur ein Begrenztes, einen
Ausſchnitt des unendlich Ergoſſenen ſehen, der uns dasſelbe vergegenwärtigt:
Sternenhimmel u. dgl. Für die Einheit aber ſcheint, und auch dieſer Schein
iſt vorerſt noch ſtreng feſtzuhalten, mehr der Zufall ſorgen zu müſſen. Jetzt
zwar ſehe ich auf Einem Raume ganz Ungleichartiges beieinander, was in
keine Einheit zuſammengeht, aber ein andermal treffe ich es beſſer: die unpaſſende
Staffage hat ſich aus der Landſchaft entfernt, die Berge, Bäume, Luft,
Waſſer, Licht ſind günſtig, paſſend und vereinigen ſich zu einem Ganzen,
durch welches Eine Stimmung hindurchgeht. Intereſſante Schickſale eines
Volks, eines Individuums ziehen ſich, unterbrochen von langen, bedeutungs-
loſen Zwiſchenräumen, in läſtige Länge hinaus; aber ein andermal bricht
ein Silberblick der Geſchichte hervor und drängt das Schickſal eines Volks,
eines Einzelnen zu einem Drama von wenigen Tagen, ja Stunden
zuſammen, in denen ich mit der Gegenwart die ganze Vergangenheit
durchſchaue. Der Zufall ſcheint der erſte componirende Künſtler; er ſcheint
es zu ſein, der mir ein Ganzes ſo hinſtellt, daß ein Hauptſubject darin
wirkt, das mir in ſeiner Vollkommenheit die ganze Gattung vertritt, wie
dieß zum Schönen erfordert wird. Uebrigens wirkt natürlich auch hier
[22] die Begrenzung meiner Sinne, dem Schauſpiel einen Namen zu geben,
der es von Anderem, nicht zur Sache Gehörigem abſchneidet.
§. 239.
Was im allgemeinen Begriffe in flüßiger Einheit ineinander iſt, geht in
der Verwirklichung auseinander und zerfällt an einzelne Exiſtenzen, ſo daß
Einiges einfach ſchön, Anderes erhaben, Anderes komiſch erſcheint, und ebenſo
verhält es ſich mit den untergeordneten Momenten dieſer Hauptgegenſätze. Es
findet aber, zum deutlichen Beweiſe, daß dieſelben ihren urſprünglichen Ort in
2der Einheit des Begriffs haben, zugleich ein Stellenwechſel ſtatt. Einige
Gattungen ſind einfach ſchön, treten aber nach Umſtänden in das Erhabene und
Komiſche über; doch iſt dieſer Uebertritt ſelten, weil das Schöne, wenn das
Erhabene als ſein Gegenſatz aus ihm hervorgetaucht iſt, in harmloſe Anmuth
3zurücktritt (vergl. §. 73, 1.). Andere Gattungen ſind erhaben, treten aber in’s
Komiſche über; andere komiſch, nach Umſtänden auch erhaben. Je bedeutender
die Gattung, deſto voller ihre Bewegung durch die Gegenſätze. Abgeſehen von
4dem urſprünglichen Gepräge der Gattung wirſt ſich über alle der ſtörende Zufall
und zieht ſie, wenn die in §. 234 genannte Gunſt des Zufalls hinzutritt, durch
5das Häßliche in das Erhabene oder Komiſche. Dieſe Vertheilung und dieſer
Stellenwechſel der Grundformen des Schönen wird in der folgenden Ausführung
nur an den Hauptpunkten berührt werden.
1. Es iſt ſchon in §. 82 S. 215 für die Nothwendigkeit, das Er-
habene und Komiſche in der allgemeinen Begriffslehre zu entwickeln, auf
die Krit. Gänge Th. 2, S. 348. 349 verwieſen worden. Der weſentliche
Grund iſt, daß, wo irgend Schönes auftritt, auch Erhabenes und Komiſches
ſich geltend macht, daß alſo, da alle wirklichen Exiſtenzformen des Schönen an
dieſen allgemeinen Grundformen theilnehmen, dieſe letzteren nicht erſt aufge-
führt werden dürfen, wo von jenen beſonderen Exiſtenzen die Rede iſt. Nun
ſcheint dagegen die Natur der ſinnlichen Wirklichkeit zu ſein, gemäß welcher
im Naturſchönen die Grundformen auseinanderfallen und ſich die eine an
dieſe, die andere an jene Exiſtenz feſſelt, wie denn z. B. der Elephant
weſentlich als ein erhabenes Thier erſcheint. Allein dieſe Verfeſtigung iſt
keine abſolute, ein Umſpringen zeigt ſich auf allen Punkten, und dieß
beweist nun thatſächlich die Richtigkeit jenes Satzes und hiemit die Richtigkeit
der Anordnung, welche dem Syſtem eine Metaphyſik des Schönen zum
erſten Theile gibt; denn wenn das einfach Schöne, Erhabene u. ſ. w.
ſeine Stelle in der Welt der Gegenſtände wechſelt, ſo folgt, daß dieſe
Momente des Schönen allgemeiner Natur und in ihrer inneren Ordnung
vor allem wirklichen Daſein des Schönen zu entwickeln ſind. Dieſer
[23] Stellenwechſel leuchtet namentlich dann in ſeiner Beſtimmtheit ein, wenn
wir die Lebensalter und die Verhältniſſe zu andern Individuen hinzuziehen.
Die zarte Gerte wird ein erhabener Baum, das männliche Kind Jüngling,
Mann, Greis u. ſ. w. Faſt alle höheren Thiere, ſelbſt die häßlichen, ſind
im Spiele ihrer erſten Jugend anmuthig. Die Verhältnißſtellung durch-
ſchneidet die Linie, welche durch das Grundgepräge der Gattungen gegeben
iſt, mit unzählichen Zwiſchenlinien. Für eine Fliege iſt ein Kolibri, die lieb-
liche Mutter iſt für ihr Kind erhaben, ein hoher Verſtand einem höheren
komiſch u. ſ. w. Wir haben aber vor Allem die Gattungen im Ganzen
zu betrachten.
2. Eine Blume, ein lieblich geſtaltetes Thier, ein Weib wird ſchwer
erhaben; das Weib wohl als Mutter, als Herrin, als Matrone, und wenn
es ausartet, durch Verwilderung im Sinne des Böſen (Häßlichen), alſo
Furchtbaren. Allein die Erhabenheit der erſteren Art iſt doch ſchwach gegen
die energiſcheren Formen des männlich Erhabenen, die Verwilderung eine
dem Geſchlechtscharakter grell widerſprechende, ſeltene Erſcheinung und dann
freilich durch dieſen Widerſpruch geſpenſtiſch ſchauderhaft. Komiſch wird
das Thier im Spiel u. dergl., das Kind, das Weib durch die Naivetät, die
ihm immer bleibt. Allein auch dieß ſind ſchwache Uebergriffe, da das Kind,
das Weib zu den tieferen Kämpfen nicht fortgeht, wodurch die Komik in
ihrer Tiefe erſt möglich wird. Es wird nun zur Thatſache, was in §. 73
geſagt iſt: das einfach Schöne tritt in die Grenze der harmloſen Anmuth zurück,
da ſein eines Moment, die Idee, in beſonderen Exiſtenzen ſich in negativer
Uebermacht hervorthut. Dieß zeigt ſich eben nirgends deutlicher als in der
Trennung der Geſchlechter: das Weib ſteht auf der Seite des einfach
Schönen, der Mann des Erhabenen, und ebendaher iſt dieſer auch allein
der Komik in ihrer Tiefe, ihrem Umfang fähig. Im Ganzen kann man
ſagen: Gattungen, deren Grundzug das einfach Schöne iſt, werden weniger
durch ihre Entwicklungsformen, Lebensalter u. ſ. w. als durch Verhältniß-
ſtellungen in die gegenſätzlichen Grundformen des Schönen übertreten.
3. Der Bär iſt furchtbar durch Kraft und Wildheit, drollig durch
Schwerfälligkeit bei einigem Nachahmungs- und Spieltrieb, der Elephant
erhaben durch Maſſe und Kraft, drollig aus demſelben Grunde, ähnlich
der Bullenbeißer und andere Thiere. Thiere, die nur komiſch aufgefaßt
werden zu können ſcheinen, wenn ſie nicht häßlich ſein ſollen, werden doch
auch furchtbar, wenn ſie in Wuth kommen oder ſchauderhaft durch verzerrte
Nachahmung des Menſchlichen wie der Affe. Wie die bedeutendere Gattung
ſich auch durch die verſchiedenen Grundformen des Schönen vollkommener
bewegt, zeigt freilich am reinſten der Menſch. Ein Berg, ein Baum kann
nur räumlich erhaben ſein, ein Thier zugleich im Sinne der Kraft, und
[24] ebenſo geht es in die einfachſten Formen der Komik über; der Menſch
durchläuft alle Formen des Erhabenen und Komiſchen.
4. Dieſe Bemerkungen galten dem Gattungstypus; derſelbe wird aber
vom Zufall, und zwar jetzt abgeſehen von Lebensaltern und Verhältniß-
Stellungen, welche keine Störung enthalten, ſo durchkreuzt, daß z. B. durch
frühen Untergang das harmlos Schöne tragiſch, das Erhabene ohne Ver-
ſchulden durch äußeren Anſtoß komiſch, das Komiſche durch ernſtes Uebel,
das ſich einſtellt, tragiſch wird. Daß dabei die Gunſt des guten Zufalls
zur Ungunſt des ſtörenden hinzutreten müſſe, folgt aus §. 234. Es iſt
unter den hier gegebenen Beiſpielen nicht beſonders auf die höheren Er-
ſcheinungen der ſittlichen Mächte hingewieſen worden; wie dieſe ſämmtlich
theils durch Schuld in’s Tragiſche, theils durch Mängel, Verſehen und
ſtörenden Zufall in’s Komiſche übergehen können, iſt durch die vielen
Beiſpiele, die der erſte Theil des Syſtems beibrachte, ſattſam in’s Licht
geſtellt.
5. Die Voranſtellung der Grundformen des Schönen in einem erſten,
metaphyſiſchen Theile wird uns nun namentlich die Frucht tragen, daß ſie
uns im Ueberblick der Naturreiche unterſtützt, Eintheilungen an die Hand
gibt und den Erſcheinungen, die auf den erſten Anblick häßlich ſind, ihren
Ort ſichert. Doch kann ſich die Aeſthetik natürlich nicht auf einen Verſuch
einlaſſen, überall das Naturſchöne in die Gegenſätze des Erhabenen und
Komiſchen und wieder in deren einzelne Momente zu verfolgen. Es
genügt, jene da hervortreten zu laſſen, wo eine bedeutendere Gattung,
Lebensform ihrem weſentlichen Gepräge nach dem einen oder andern
Gegenſatze zufällt, im Uebrigen wird das Schöne immer als Ganzes ohne
weitere Unterſcheidung ſeiner ſtreitenden Formen gefaßt werden.
[[25]]
A.
Die Schönheit der unorganiſchen Natur.
§. 240.
Nach §. 19, 2. haben die der Perſönlichkeit vorangehenden Stufen der
wirklichen Idee die Bedeutung, jene als werdende anzukündigen. Dieſe
Bedeutung ſcheint aber erſt mit denjenigen Stufen eintreten zu können, auf
welchen die Natur Individuen hervorbringt, in welchen ſie ſich zu der geſchloſſenen
Einheit des aus eigenem Mittelpunkte thätigen Lebens zuſammenfaßt, denn erſt
dieſe ſcheinen den nöthigen Anhalt darzubieten, um ihnen die höchſte Form des
Lebens, in welcher die Idee ſich ihre wahre Wirklichkeit als Geiſt gibt, unter-
zulegen. Die unorganiſche Natur iſt nun zwar der urſprüngliche Schooß alles
individuellen Lebens, tritt aber gegen die Wirklichkeit deſſelben als allgemeine
Bedingung, umgebendes Element und Unterlage zurück; ſo daß ſie niemals für
ſich allein, ſondern nur zuſammengefaßt mit lebendigen Individuen ein ſchönes
Ganzes darſtellen zu können ſcheint. Dennoch genügt dem ahnenden Rückblicke
des perſönlichen Weſens jene Bedeutung derſelben als eines urſprünglichen
Schooßes, um auch in dem Wechſelſpiel blos elementariſcher Kräfte ein Vorbild
höherer Lebensformen, eigener Zuſtände und Bewegungen anzuſchauen.
Nach der Scheidung der Reiche, welche mit der jetzt beſtehenden
Naturordnung eingetreten iſt, trat dasjenige, was wir jetzt unorganiſche
Natur nennen, als nährende Umgebung und Unterlage gegen die lebendigen
Individuen zurück. Wir werden zwar ſofort im Minerale bereits eine
individualiſirte Materie erkennen, allein das kryſtalliſche Individuum iſt
todt; es hat zwar die Begrenzung, welche in §. 30 zum Schönen gefordert
wurde, während Licht, Luft, Waſſer, Erde in unbegrenzter, gleichgültiger
Fortſetzung ſich ergießen und erſtrecken; allein wir werden ſehen, daß ſeine
individuelle Begrenzung, weil ſie doch nur einen todten Körper einſchließt,
[26] ihm ſeinen äſthetiſchen Werth gerade noch niedriger anweist, als der iſt,
der jenen frei ergoſſenen Materien zukommt. Zunächſt jedoch ſcheint die
ganze unorganiſche Welt von dem Leben der Perſönlichkeit zu weit abzu-
liegen, als daß dieſe ſich in ihr ahnen könnte; der Kreislauf ſelbſtändiger
innerer Bewegung wenigſtens, wie er in der Pflanze auftritt, ſcheint ſich
mit dem Anblick der übrigen Landſchaft verbinden zu müſſen, um die Per-
ſönlichkeit in ihr wie vorbereitet anſchauen zu können, und ſo ſcheint die unor-
ganiſche Natur überhaupt bloße Vorbedingungen zu enthalten, aus denen ſich
ein ſchönes Ganzes erſt zuſammenbauen kann, wenn wir ſie mit dem organiſchen
Leben zuſammenfaſſen, ſo daß wir dem Lichte, der Luft, dem Waſſer, der Erde
erſt Baum, Thier, Menſch hinzugeben müſſen, die darin erſcheinen, athmen, ſich
davon nähren, darin wurzeln, darauf wandeln. Können aber nicht dennoch dieſe
Erſcheinungen auch ohne lebendige Staffage ſchön ſein? In ihrer Ver-
einzelung jedenfalls nicht; Licht allein, Luft allein u. ſ. f. iſt als genügend
zu einer ſchönen Erſcheinung gar nicht denkbar und ſoweit allerdings iſt
der Satz begründet, daß das Schöne noch nicht eintreten kann, wo lebendige
Individualität fehlt. Selbſt die bereits lebendig individualiſirte Pflanze
fordert, wie wir ſehen werden, noch eine Zugabe, wenn ſie äſthetiſch ſein
ſoll; ein Thier dagegen, ein Menſch kann für ſich allein als ſchönes Ganzes
auftreten. Dagegen wenn mehrere der unorganiſchen Potenzen zu einem
Wechſelſpiele zuſammentreten, ſtellt ſich die Sache anders. Ein Stück See
mit oder ohne begrenzende Ufer kann durch reine Licht-Reflexe und Farben-
töne bei ruhiger Luft, durch Aufwühlung ſeiner Waſſer und bewegte Luft
allerdings zu einem äſthetiſchen Eindrucke genügen; Gebirgsformen ſelbſt
ohne Vegetation können in guter Beleuchtung, etwa mit Waſſer zuſammen-
geſtellt, das Auge befriedigen: mit einem Wort, es können ſchöne Land-
ſchaften vorkommen auch bei völligem Mangel vegetabiliſcher, thieriſcher,
menſchlicher Staffage. Allerdings wird dieß nur in ſeltenen Momenten
möglich ſein, und welcher Art ſind dieſe Momente? Es ſind ſolche, worin
ein Wechſelſpiel der elementariſchen Potenzen uns das erſetzt, was in ſtrenger
Wahrheit nur das organiſche Individuum darbietet; d. h. Momente, worin
die unorganiſche Natur einen Effect hervorbringt, der unwillkührlich an
das organiſche Leben als ein aus einem ſelbſtändigen Mittelpunkt in ſich
thätiges, in ſich prozeſſirendes, von ſich aus- und in ſich zurückgehendes
Weſen erinnert. Die unorganiſche Natur ſieht in ſolchen Momenten, wo
etwa Sonne und Berg im blauen Waſſer ſich ſpiegelt, aus, als beſchaute
ſie ſich ſelbſt, als weidete ſie ſich an ihrem eigenen Bilde, als dämmerte
ein Selbſtbewußtſein in ihr auf, oder ein andermal ſcheint es, als ränge
ſie wie in jenen uralten großen Kämpfen, in denen ſie einſt die höheren
Geſtalten der Lebendigen aus ihrem noch lebensſchwangeren Schooß hervor-
brachte: Stürme, Fluthen, wilde Bergformen, Vulkane führen dieſes Urleben,
[27] dieſe furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert ſich das an-
ſchauende perſönliche Weſen, daß das, was wir jetzt unorganiſche Natur
nennen, einſt mehr war, es ſchaut ſie als den Schooß, die Wiege alles
Lebens an, verlegt ſich ſelbſt in dieſe Wiege zurück, wirft das Explicirte
hinter ſich ſelbſt, die Zwiſchenglieder überſpringend, in das Implicirte
zurück, ſieht in den Bewegungen der Natur Stimmungen, Leidenſchaften
des menſchlichen Gemüths, läßt den künftigen Menſchen aus dem Urgrunde,
worin er mit allen Lebendigen ſchlummerte, hervor und ſich entgegenblicken.
Die Empfindung kann allerdings auch eine andere Wendung nehmen; die
Elemente werden vorgeſtellt als wüßten ſie um das außer ihnen bereits
vorhandene organiſche und menſchliche Leben und erfreuten ſich daran, es
zu nähren, ſich ihm zum Genuſſe zu geben oder es neidiſch zu zerſtören.
Allein die Zurückverlegung des empfindenden und ſelbſtbewußten Lebens
hinter ſich in die blinde Natur iſt hier dieſelbe, nur daß der Act unver-
merkt den beſtimmten Widerſpruch in ſich aufnimmt, das höhere Leben da
zu ſuchen, wo es noch nicht iſt, und doch zugleich es da zu wiſſen, wo es
iſt. — Die vorchriſtlichen Religionen vollzogen dieſe ganze Unterſchiebung
förmlich und machten die Erſcheinungen der unorganiſchen Natur zu Göttern,
die neuere Bildung vollzieht dieſelbe unbeſtimmt in ahnender, blos äſthetiſcher
Weiſe; denn wo ſie beſtimmt denkt, hat natürlich für ſie die Unterſchiebung
ein Ende. Dieß leihende Anſchauen kann nun gerade bei dem höchſten
Producte der unorganiſchen Natur, dem Minerale, am wenigſten eintreten;
denn für die Täuſchung iſt dieſes zu beſtimmt, um aber ohne Täuſchung
ihm ein Bild der Perſönlichkeit unterzulegen, zu arm und todt.
Hinzuzuſetzen iſt nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir
ſetzen hier unberufener Weiſe die ſchöpferiſche Phantaſie ſchon voraus, die
ſich uns doch erſt erzeugen ſoll. Das empfindungsvolle, ahnende Schauen
iſt, wie ſchon zu §. 236 Anm. 3. berührt wurde, noch lange nicht das der
Phantaſie im engeren Sinne. Einen Zuſchauer haben wir in den Begriff
des Schönen ſelbſt mit eingeſchloſſen (§. 70 ff.); Auge und empfindenden
Sinn braucht es auch zum äſthetiſchen Anſchauen der organiſchen Schönheit.
Es wird ſich ſeines Orts allerdings zeigen, daß wir überall in das Natur-
ſchöne die reine Schönheit erſt hineinſchauen; ein ausdrücklicher und ſelb-
ſtändiger Gegenſtand der Unterſuchung wird dieß aber erſt da, wo die
Mängel aller Naturſchönheit zur Sprache kommen. Hier handelt es ſich
noch vom Unterſchied ihrer Stufen, wie derſelbe freilich bei der einen ein
beſtimmteres Leihen nöthig macht, bei der andern es erſpart. Jetzt zeigt
ſich, daß der Zuſchauer der unorganiſchen Natur etwas leihen muß, was
ſie nicht hat; dann wird ſich zeigen, daß außer dieſem Leihen noch
etwas ganz Anderes geſchehen muß, um ihre Mängel ſo wie die Mängel
aller Naturſchönheit zu tilgen und ſie wahrhaft in das Schöne zu erheben.
[28]
a.
Das Licht.
§. 241.
Das Licht kommt zuerſt nicht als ſchöner Gegenſtand, ſondern als
Bedingung der Möglichkeit des ſichtbaren Schönen in Betracht. Es zeigt durch
Beleuchtung und Schatten die Geſtalt der Körper in ihrem allgemeinen Umriß,
in ihrer vom allgemeinen Raum abgelösten Selbſtändigkeit, ebenſo in der
2Beſchaffenheit ihrer beſtimmteren Formen auf, es faßt eine Anzahl von Körpern
3wie in Eine durch die Abſtufungen des Schattens auseinandertretende, durch
die höchſten Lichter vereinigte Geſtalt zuſammen.
1. Das Licht in der hier zunächſt ausgeſprochenen Bedeutung iſt alſo
nicht Subject der Schönheit, es iſt rein das Aufzeigende, das Modellirende.
Die Körper ſind dabei vorausgeſetzt und man kann natürlich ohne dieß
ſtetige Vorausſetzen nicht vorwärts gehen. Finge man mit den Körpern
an, ſo müßte umgekehrt das Licht als Bedingung ihres Erſcheinens vor-
ausgeſetzt werden, und wenn man nach einem Entſcheidungsgrunde fragt,
welche von beiden Vorausſetzungen vorgezogen werden ſoll, ſo liegt ein
ſolcher in dem, was der folg. §. enthalten wird.
Es ſind nun hier allerdings Körper vorausgeſetzt und zwar ſchöne,
wer aber zu ſehen verſteht, der weiß, wie man die Erſcheinung erſt genießt,
wenn man mit dem Auge prüfend verfolgt, wie das Licht ſie von einander
abhebt und die Geſtalt in ihrer Beſtimmtheit zeichnet und modellirt. Ein
Gegenſtand tritt in ſeiner Selbſtändigkeit zunächſt dadurch hervor, daß
ſein Umriß ſich ſcharf vom Hintergrunde abzeichnet. Das Licht ſtrömt
entweder von der Seite her, wo der Zuſchauer ſteht, und je der ihm
nähere Körper hebt ſich durch hellere Beleuchtung von dem dunkleren
Grunde des entfernteren in ſeiner Beſtimmtheit ab; oder das Licht ſtrömt
dem Zuſchauer entgegen, die ihm zugekehrte Seite der Körper liegt, je
näher, deſto mehr im Schatten und ſchneidet ſich dadurch von dem beleuchteten
Grunde ab. Verſchiedene Modificationen nehmen dieſe Verhältniſſe bei
ſeitwärts einfallendem Licht an, je nachdem es näher vornen oder entfernter,
höher oder niedriger ſteht ꝛc. Es iſt zunächſt der Reiz der Silhouette, dieß
reine Abgrenzen und Ausſchneiden, was hier vorliegt. Dieſe Abhebung
des Körpers vom Allgemeinen in ſeiner begrenzten Selbſtändigkeit vollendet
ſich durch den Schlagſchatten, den er auf einen helleren Grund wirſt,
und der in verſchiedenen Verſchiebungen ſein Bild wiederholt.
[29]
2. Nach dem Ausſchnitte des Ganzen iſt die Bildung des Körpers
ſelbſt zu betrachten, wie das Licht ſie zeichnet: was dieſem zugewandt iſt,
ſteht in Beleuchtung, das Abgewandte iſt dunkel und zwar in ſcharfem
Abſchnitt, wenn es eckigt, in anſteigender Tiefe des Dunkels, wenn es rund
iſt. So erkennt das Auge die beſondere Bildung der Oberfläche des Gegen-
ſtands als eines runden, eckigten u. ſ. w. Iſt er nun aber von reicherer
Beſtimmtheit der Form, ſo treten auf der beleuchteten Seite wieder einzelne
Bildungen hervor in ein höheres Licht und ſtellen dadurch die umgebenden
Theile in Schatten und umgekehrt in den beſchatteten Punkten heben ſich
Theile dem Licht entgegen und ſind daher im Dunkel heller als ihre Um-
gebung; es bilden ſich die Halb- und Mittelſchatten mit ihren Abſtufungen.
Z. B. die Krone gewiſſer Bäume iſt ein ziemlich compactes Rund von wenig
Unterbrechung, bei andern dagegen ſtellen ſich Gruppen von Aeſten mit
ihrem Laube zuſammen, heben ſich in ein helleres Licht und trennen ſich
ſo durch einen umgebenden Schatten von den andern: da hat das Auge
die Befriedigung, den Körper in beſtimmte Formen auseinandertreten zu
ſehen, es theilt ſich der Baum in beſondere Maſſen und bildet ſo ein
gegliedertes Ganzes. Dieß läßt ſich nun natürlich fortſetzen, denn inner-
halb der größeren Maſſen treten nun wieder kleinere hervor und das Auge
geht vom Allgemeinen (dem Umriß) zum Beſonderen (dieſen theilenden Maſſen)
und im Beſonderen ſo lange fort, bis es zu dem Einzelnen (in dem gegebenen
Beiſpiele dem Baumſchlage) heraustritt. Ebenſo wie auf der beleuchteten
Seite verhält es ſich nun auf der dunkeln; das Hervortretende und von
der Maſſe des Ganzen ſich Abhebende iſt weniger dunkel als das Zurück-
tretende und ſo ſetzt ſich die Modellirung auch im Beſchatteten fort.
Es erhellt, daß dieſe zeichnende und modellirende Wirkung des Lichtes
nicht blos den Geſichtsſinn, ſondern den in dieſem mitgeſetzten Taſtſinn
(vergl. §. 71 Anm.) befriedigt. Das Auge umſpannt wie mit taſtenden
Fingerſpitzen den Gegenſtand in der Beſtimmtheit ſeiner Raumerfüllung.
3. Licht und Schatten treibt alſo überhaupt auseinander, aber faßt
auch zuſammen. Wie nun dadurch zunächſt der einzelne Körper in den
mannigfachen Formen ſeiner Bildung ebenſoſehr wie in ſeiner Einheit
erſcheint, ebenſoſehr auch eine Zuſammenſtellung von Gegenſtänden, die das
Auge zugleich überſchaut: die Vielheit faßt ſich in eine Einheit zuſammen,
während ſie zugleich auseinandertritt. Dabei iſt freilich Einheit der Beleuch-
tung oder, wenn doppeltes Licht, doch Unterordnung des einen Lichts unter
das andere, es ſind ferner günſtige Verhältniſſe der Beleuchtung, ſo daß
kein Körper den andern auf ſtörende Weiſe das Licht wegnimmt, endlich
ſind natürlich abermals ſchöne Körper oder wenigſtens Schönheit des Luft-
lebens u. ſ. w. vorausgeſetzt, wenn eine Einheit äſthetiſcher Art ſoll entſtehen
können, es iſt vom Lichte noch als einer bloßen Bedingung die Rede;
[30] aber doch nähern wir uns bereits der ſelbſtändigen Reizwelt des Lichtes.
Die höchſten Lichter, welche überall ſpielen, zeigen alle auf den Einen Punkt
hin, von welchem das Licht ausgeht, und dieſer Eine Beleuchtungspunkt
wird nun die Einheit, die Individualität, zu welcher die Vielheit der
beleuchteten Körper ſich zuſammenfaßt; oder es tritt die Gunſt des Zufalls
ein, daß der bedeutendſte unter dieſen Körpern, der die andern alle beherrſcht,
im vollſten Lichte ſteht, dann übernimmt dieſer als Sammelpunkt des Lichtes
die Bedeutung des letzteren. Die Mannigfaltigkeit der Gegenſtände gruppirt
ſich nun um die Licht-Einheit wie die Formen Eines Körpers: das Licht
modellirt das Viele in Eines. Eine Landſchaft z. B. enthält noch Anderes
als dieſe Lichtverhältniſſe und eine Gruppe zuſammenwirkender Menſchen
hat noch gewiſſer einen Einheitspunkt anderer und höherer Art, allein beide
wollen weſentlich auch aus dieſem Standpunkte geſehen ſein.
§. 242.
Das Licht erſcheint aber auch ſelbſt als ſchöner Gegenſtand, zwar niemals
für ſich allein, doch ſo daß es in Verbindung mit Anderem zum Mittelpunkte
1der Schönheit wird. Das Geſtirn, von welchem es unſerem Planeten zuſtrömt,
iſt als Lichtkörper ein erhabenes Schauſpiel und der Sternenhimmel führt ins-
beſondere durch den Glanz ſeiner unzähligen Körper die Idee der Unendlichkeit
2des Weltgebäudes als einer Lichtwelt in den Geiſt des Anſchauenden. Das
Licht zeigt nicht nur auf, ſondern es belebt auch wirklich, ſein Aufzeigen wird
daher als ein Hervorrufen des Seins aus dem Nichts, das Licht als poſitiv,
das Dunkel als negativ erhaben empfunden. Belebend wirkt es insbeſondere
durch die Wärmeſtrahlen, welche mit den Lichtſtrahlen der Erde zuſtrömen; im
3äſthetiſchen Charakter der Tags- und Jahreszeiten iſt das Gefühl des Schick-
ſals des Planeten in ſeinem Verhältniß zur Licht und Wärme bringenden
Sonne das Beſtimmende.
1. Die Sonne erſcheint allerdings nicht als abſtracter Lichtträger
erhaben, ſie wird als Individuum angeſchaut, ja ein Geiſt wird ihr bei-
gelegt, ſie iſt „wie ein Held — anbetungswürdig;“ es iſt aber doch ihre
unendliche Lichtwirkung, was der Bewunderung zu Grunde liegt. Anders
wirkt der blaſſere Schein des Mondes, ſein Leuchten iſt es vorzüglich, was
Helldunkel hervorbringt, und von dieſem wird mit Nächſtem die Rede ſein. —
Das Planetenſyſtem als ſolches iſt kein äſthetiſcher Gegenſtand, ſondern
nur ein der Anſchauung dargebotener Ausſchnitt des Sternenhimmels; dieſer
erweckt die Ahnung des Weltſyſtems in ſeiner Unendlichkeit, aber weſentlich
iſt es der Eindruck einer Lichtwelt, der zu Grunde liegt. Man ſieht an
dieſem Beiſpiele deutlich, wie ſich die Aeſthetik zur Naturwiſſenſchaft verhält;
[31] der ſchlichte Menſch ahnt ohne Aſtronomie die ewige Ordnung in dieſer
Welt, ſonſt würde die unbegriffene Erſcheinung des Kometen nicht im vollen
Sinne des Schauerlichen auf ihn wirken; der Aſtronom aber muß die
Rechnungen und Meſſungen bei Seite legen, wenn die Bewunderung, die
wohl auch eine Frucht des wiſſenſchaftlichen Verſtändniſſes, aber ſo noch
keine äſthetiſche iſt, mit dem unmittelbaren Anblicke ſo zuſammenfallen ſoll,
wie dieß das äſthetiſche Geſetz fordert.
2. Oerſted (Naturlehre des Schönen, aus dem Dän. von Zeiſer
§. 34 ff.) zeigt, wie von der Sonne nicht blos die ſichtbar machenden
Lichtſtrahlen, die an ſich ſchon erfreuend beleben, ſondern auch die Wärme-
ſtrahlen und die Aetherſchwingungen ausgehen, welche chemiſch, elektriſch,
magnetiſch auf die Körper wirken, wie daher das Licht, wenn man es in
dieſer Verbindung auffaßt, den Keim zu einer unausſprechlich mannigfaltigen
Wirkſamkeit enthält, durch welche die ganze Körperwelt verhindert wird,
zuſammenzuſinken, wie dagegen der Zuſtand der Finſterniß nicht ſtattfinden
kann, ohne daß darin eine innere Bewegung gegen Licht und Tod vorgeht.
„In dieſem ganzen Verhalten des Lichtes und der Finſterniß liegt der tiefſte
Grund zu unſerer Lichtfreude und zu unſerem Schreck vor der Finſterniß.“
Deutinger (Grundlinien einer poſitiven Philoſophie u. ſ. w. Theil 4. Die
Kunſtlehre oder das Gebiet der Kunſt im Allgemeinen §. 244 ff.) begründet
auf dieſe Bedeutung des Lichtes mit philoſophiſcher Tiefe das Weſen der
Malerei; er begreift die Nacht, aus welcher ſich im Gemälde die Geſtalt
„als ein für ſich beſtehender, lebensvoller Lichtſtrahl hervorhebt,“ als das
negativ Unendliche, die Geſtalt ſelbſt, wie ſie vom Lichte in ihrer Beſtimmtheit
umſchrieben ſich vom Dunkel des unendlichen Raumes abhebt, als das
beſtimmte Endliche, Seiende, das ſich vom dunkeln Grunde löst, als
Sammelpunkt des Lichtes zugleich die unendlichen Weltkräfte zu relativer
Beſtimmtheit in ſich geſammelt darſtellt, aber durch den Grund, von dem
ſie ſich losreißt und der ſie umgibt, ebenſoſehr auf die geſtaltloſe Unend-
lichkeit hinausweist. Man kann und muß aber dieß ſagen noch ohne von
der Malerei zu reden. Es iſt an ſich ſo, daß das Licht die Geſtalt als
begrenztes Individuum von dem unbegrenzten Grunde nicht nur beleuchtend
abhebt, ſondern als bildende und nährende Kraft weſentlich auch möglich
macht. Sein und im Lichte ſein iſt untrennbar. Die Geſtalt wird vom
Lichte nicht nur beſchienen, ſondern nimmt es in ſich auf, ſtrahlt es von
ſich, was im Weiteren beſtimmter hervorzuheben iſt. Sie ſtrahlt ihr Licht
in das Dunkel hinein und hebt ſich ſo aus dem allgemeinen Weſen als
beſtimmtes Weſen, als Individuum aus dem Unbegrenzten, deſſen zerſtreute
geſtaltloſe Kräfte ſie in ſich vereinigt, an das ſie aber gebunden bleibt,
hervor; ſie trägt das Unbegrenzte als Begrenztes in ſich, ſie iſt concentrirte
Unendlichkeit, unendlich mit endlicher Grenze, daher vortretend aus dem
[32] Hintergrunde des Unendlichen, aber dieſem Hintergrunde verſchrieben, und
wie ſie in ihn wieder vergehen muß, ſo fließen die in ihr geſammelten
Lichtſtrahlen weiter auf andere Geſtalten und verlieren ſich im Dunkel.
Dieſe Wahrheit tritt bei dem Anblicke des Beleuchteten in ſeinem Verhält-
niſſe zum Dunkeln unmittelbar in’s Gefühl. Lichtfreude iſt Freude am
Sein und Freude des Seins; die ganze Stimmung lebt auf im Lichte und
ſinkt nieder im Dunkel. Im Aeſthetiſchen nun wäre zunächſt dieſes Lebens-
gefühl allerdings noch ſtoffartig zu nennen. Wir anticipiren hier die Geſtalt
und unſer Gegenſtand iſt noch Licht und Dunkel, in Wahrheit kommt es
erſt darauf an, was beleuchtet und ob dieſes Was ein Schönes ſei,
allein, wie geſagt, in der Verbindung des Lichts mit der Geſtalt kann der
Hauptnachdruck auf das erſtere fallen; es wäre ohne Geſtalt, die es
beſcheint, nicht ſchön, aber hat es nur ſeinen Gegenſtand in der Geſtalt,
ſo kann der höhere Reiz in den reinen Verhältniſſen ſeines Wirkens liegen.
Noch ehe dieß im nächſten §. weiter aufgefaßt wird, liefert das Folgende
einen Beweis.
3. Das Bild einer beſtimmten Jahres- und Tageszeit kann ſich uns
unter Umſtänden darſtellen, wo das Hauptgewicht auf die Zuſtände der
vegetabiliſchen, thieriſchen, menſchlichen Welt unſeres Planeten fällt, wie
ſie in der Kälte ſtarrt, im Frühling erwacht, im Sommer glüht und lechzt,
im Herbſt von ihrer Kraft und Luſt Abſchied nimmt, am Morgen kräftig
erwacht, im Mittag erſchlafft, am Abend noch einmal auflebt, aber dann
der Ruhe entgegengeht. Aber dieß Schauſpiel kann ſich auch anders wenden,
durch die geringe Menge und Bedeutung der organiſchen Geſtalten kann
das Auge beſtimmt werden, ſich weſentlich nach den Erſcheinungen des
Lichtes, nach den Graden ſeiner Intenſität zu wenden, ſich an den Beleuch-
tungsverhältniſſen zu weiden. Der Maler, von dem wir noch nicht reden,
kann das Eine oder Andere zum Stoffe nehmen, die Natur zeigt ſich ohne
ihn bald ſo, daß die Geſtalten, bald ſo, daß die Lichtverhältniſſe, Licht-
ſpiele das Auge vorzüglich auf ſich ziehen.
§. 243.
Die Körper verhalten ſich aber nicht blos als Gegenſtände zum Licht,
ſie ſtrahlen es nach der Art ihrer Oberfläche mehr oder minder zurück und
ſetzen es in die Schatten fort, glänzen, ſind Spiegel. Hier beginnt bereits
ein in beſtimmterem Sinne ſelbſtändiger Zauber der Lichtſpiele, denn das Hinüber-
und Herüberwirken der Reflexe, die Wiederholung des eigenen Bildes im Andern
gleicht der inneren Kreisbewegung und der Anderes in ſich aufnehmenden und
ſich in Anderes fortſetzenden Thätigkeit des individuellen Lebens und erſetzt
gewiſſermaßen die Erſcheinung des letzteren, die eigentlich zum Schönen erfordert
[33] wird. Die Durchſichtigkeit gewiſſer Körper in Verbindung mit Glanz und2
Spiegelung erinnert ſelbſt unmittelbar an das ſelbſtbewußte Leben, an die
Durchdringung des Stoffs durch den Geiſt.
1. Nichtglänzende Körper werfen das Licht nur in dem Grade zurück,
in welchem ſie von heller Farbe ſind; obwohl wir nun noch nicht von
der Farbe reden, ſo läßt ſich doch das Zurückſtrahlen des Lichts auch für ſich
betrachten als eine Wirkung, welche zwar von der Art der Farbe abhängt,
aber in dieſer Verbindung ſich als Hauptgegenſtand der Schönheit darbieten
kann. Was ferner den beſondern Reiz glänzender Körper in den ver-
ſchiedenen Arten des Glanzes als metalliſcher Glanz, Glasglanz, Seiden-
glanz u. ſ. w. und das Wiedergeben der Bilder durch Spiegelung betrifft,
ſo darf nur an die niederländiſchen Maler erinnert werden, welche gerade
an Gegenſtänden, welche als ſolche unbedeutend ſind und daher nicht als
die Subjecte der Schönheit in ſolchen Gemälden erſcheinen können, die
Reize dieſer Erſcheinungen darzuſtellen ſuchten. Sie hätten als Künſtler
dieſen Reizen nicht nachgehen können, wenn ſie nicht in der Natur ſelbſt
als Schönheitsſtoff ſich darböten. Hier gilt nun, was ſchon in der Anm.
zu §. 240 erwähnt iſt: die unorganiſche Natur erinnere in gewiſſen
Momenten an das lebendige Prozeſſiren des organiſchen Lebens, ſehe aus,
als beſchaute ſie ſich ſelbſt, weidete ſich an ihrem eigenen Bilde u. ſ. w.
2. Der durchſichtige Körper läßt die Lichtſtrahlen durch und macht
dabei kaum durch eine merkliche Trübung ſeine materielle Textur geltend.
Tritt dabei Glanz und Spiegelung in ſo vollkommenem Grade hinzu, wie
im Waſſer und im menſchlichen Auge, ſo wird man ſich nicht wundern,
wenn ein ſinnvoller Zuſchauer durchdrungen von der Schönheit der Licht-
wirkungen im Waſſer ausruft, es ſehe aus wie Geiſt, und wenn das Auge,
dieſer durchſichtige, glänzende, ſpiegelnde Lichtkörper als der reinſte Aus-
druck der geiſtigen Tiefe im Menſchen erſcheint.
§. 244.
Eine beſondere Art der Beleuchtung erzeugt das Fcuer und der1
elektriſche Strahl. Das Feuer kann auch, abgeſehen von der Beleuchtung,
die von ihm ausgeht, ſchon durch die bewegten Formen ſeiner Flamme ein
ſchönes Schauſpiel darbieten; die Beleuchtung dieſes verzehrenden Elements
wirkt unruhiger als das allgemeine Licht und verbreitet über ein gegebenes
äſthetiſches Ganzes eine affectvolle Stimmung. Der Blitz wirkt noch ſtärker in
dieſem Sinne durch die dem feierlich ruhigen Kommen und Gehen des all-
gemeinen Lichtes entgegengeſetzte Grellheit ſeines augenblicklichen Leuchtens.
Die Körper können nun gleichzeitig in doppeltes Licht geſtellt ſein; Sonnen2
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 3
[34]licht, Mondlicht, Blitz kann ſie von der einen, Feuer von der andern Seite
beleuchten und dieß iſt eine beſondere Form der Magie des Lichtes, welche
ſo eigenthümlichen Zauber ausübt, daß die Formen der beleuchteten Geſtalt
dagegen an Bedeutung verlieren.
1. Bei dem Feuer begegnet uns zum erſtenmale, ſchwach angedeutet,
der Reiz der Linie. Das Sonnenlicht bewegt ſich in Wellen, die ſich in
Strahlenkegel theilen, allein dieß ſtellt ſich dem unmittelbaren Anblick nur
ſelten bei gewiſſen Brechungen des Lichts der untergehenden Sonne dar.
Dagegen das Feuer ſpielt in wahrnehmbaren und zwar ſehr ſchönen Wellen-
linien, die nur zu verſchwindend ſind, um uns hier ſchon ausdrücklich bei
der Schönheit der Linien aufzuhalten. So iſt z. B. das Linienſpiel der
flackernden Flammenzungen einer Pechfackel vom größten Zauber, keine
Linie hält dem Auge feſt, es iſt ein beſtändiges Uebergehen, eine Unruhe
des Verzehrens, die immer affectvoll wirkt und ſelbſt bei feſtlich ſchöner
Stimmung die lebhafte Bewegung des erregten Gemüthes wiedergibt;
ähnlich die Flamme des Holzes. Oel und Wachs brennen ruhiger; bekannt
iſt der Zauber des Schauſpiels, wenn man die Statuen des Vaticans bei
Wachsfackeln ſieht. Aber auch die ruhigere Flamme iſt immer noch unruhig
in Vergleichung mit dem ſtetigen Sonnen- und Mondlicht, hat durchaus
mehr den Ton einer ſpezifiſch bewegten Stimmung. Nun wirkt hier aller-
dings weſentlich überall die Farbe der Flamme mit, aber darf die Kunſt
ohne Farbe mit bloßem Licht und Schatten die Wirkungen des Feuers ſo
gut wie die des ruhigen Lichtes darſtellen, ſo muß auch die Betrachtung
die Seite der Beleuchtungs-Verhältniſſe und Linienſpiele für ſich allein
feſſeln dürfen. Der Blitz gehört allerdings zum Schauſpiele des Gewitters,
das wir erſt weiter unten, wo von der Luft die Rede ſein wird, zu betrachten
haben, allein die Art ſeines Lichtes iſt als ſolche zu wichtig, um ſie nicht
hier, wo von der Beleuchtung für ſich die Rede iſt, aufzunehmen. Beſonders
im Gegenſatze gegen die wilde Schnelligkeit dieſes Leuchtens zeigt ſich das
feierlich ruhige Kommen und Gehen des Sonnenlichts in ſeiner ganzen
Schönheit. Dieß Anwachſen, wodurch zuerſt die Spitzen der Körper, dann
Schritt um Schritt nach und nach ihre ganze Geſtalt ins Licht tritt, iſt ein
Schauſpiel von der wohlthätig befriedigendſten Wirkung; ſehnſuchtsvoller
bewegend wirkt das Gehen des Lichtes, wenn Geſtalt um Geſtalt in’s
Dunkel ſinkt und zuletzt nur noch die höchſten Gipfel im Lichte ſtrahlen:
ein Abſchiednehmen und darin ein Sehnen des Menſchen, mit dem ent-
ſchwindenden Lichte fortzuwandern, aber mild und ſanft. Wie anders
dagegen der blendende und augenblicklich im Dunkel zurücklaſſende Blitz,
auch abgeſehen von dem Anblicke ſeiner verheerenden Wirkungen, ſtimmt,
braucht keiner weiteren Darſtellung.
[35]
2. Das doppelte Licht, das jetzt in der Malerei ebenſo beliebt iſt,
als das Bombardieren des Ohrs mit Toneffecten in der Muſik, iſt aller-
dings eine magiſche Schönheit, welche die Natur ſelbſt aufzuweiſen hat;
aber ſie nimmt auch ſo ſehr das Auge für ſich in Anſpruch, daß die ſo
beleuchteten Geſtalten dagegen an Formenwerth verlieren, und weil wir durch
dieſe Bemerkung gelegentlich in die Kunſt vorgreifen, ſo ſei bemerkt, daß
die Natur freilich dieſen Effect über eine Scene verbreiten kann, wo wir
ſagen müßen, es ſei ſchade, daß die Bedeutung derſelben in dieſem brillanten
Schimmer verſchwinde, daß aber die Kunſt billig wiſſen ſollte, wo ſie der
Natur folgen ſoll, wo nicht. Die Holländer wußten das beſſer und brachten
ſolche Effecte nur da an, wo kein Werth des beleuchteten Gegenſtands
darunter leidet.
§. 245.
Alles Licht verliert ſich durch Hinderniſſe in’s Ungewiſſe; ſo entſteht ein
Scheinen in das Dunkel, deſſen Grenzen nicht zu beſtimmen ſind, und ebendaher
ein Dunkel im Lichte; je mehr dieß der Fall iſt, deſto mehr verſchwindet die
Beſtimmtheit der beleuchteten individuellen Geſtalten und wird das ungewiſſe
Verzittern und Verſchweben des Lichts entſchieden zum Mittelpunkte des äſt-
hetiſchen Schauſpiels: das Geheimniß des Helldunkels. Es gemahnt an
die unerforſchten Tiefen der in Gefühl verhüllten Erkenntniß, der Ahnung;
es iſt weſentlich ahnungsvoll.
Man pflegt in den Begriff des Helldunkels gewöhnlich die Wirkung
der Farbe mitaufzunehmen. Allerdings vollendet ſich das Helldunkel durch
Farbe, allein man ſpricht mit Recht von einem Helldunkel auch im bloßen
Kupferſtich, der Lithographie u. ſ. w., und ſo darf auch in der wiſſenſchaft-
lichen Behandlung allerdings die Beſtimmung des Helldunkels zunächſt von
der Farbe abſtrahiren. Wenn nun in der Art, wie hier das Helldunkel
beſtimmt wird, weſentlich geſetzt iſt, daß in dem wechſelſeitigen Verſchweben
von Licht und Dunkel die Beſtimmtheit der in Helldunkel geſtellten Geſtalten
gegen den Zauber ſeiner Wirkung in den Hintergrund tritt, indem ihre
Umriſſe verſchweben, ſo könnte dagegen geſagt werden, daß das Helldunkel
auch bei beſtimmter Beleuchtung beſtimmter Geſtalten in den Zwiſchen-
partien ſeine Rolle ſpiele; dagegen iſt zu erinnern, daß wir hier das
Helldunkel in ſeiner vollen und über ein Ganzes ausgebreiteten Wirkung
als Subject eines äſthetiſchen Ganzen vor uns haben. Im weiteren Sinne
aber verbindet es ſich allerdings auch mit der Beſtimmtheit der Beleuchtung;
die Grenzen, in welchen es ſich dann zwiſchen den Wirkungen des deutlichen
Lichtes ausbreitet, ſind in abſtracto nicht zu beſtimmen. Eine Landſchaft
z. B. iſt ſonnig beleuchtet, aber in einer Waldpartie, welche darin vorkommt,
3*
[36]verliert ſich das Licht in Dämmerung; oder es fällt durch enge Oeffnung
ein Lichtſtrahl in ein Zimmer, eine menſchliche Figur, die im Zimmer iſt,
ſteht im vollen Lichte, Geräthe, Wände aber u. ſ. w. ſchwimmen im
Helldunkel, denn der Strahl hat nicht genug Umfang, um Alles zu
beleuchten. Ein ſolches Nebeneinander von ſcharfer Beleuchtung und
Helldunkel kann ſich mit der Bedeutung der Gegenſtände höchſt ſtimmungs-
voll vereinigen: Auge und Sinn ſucht in der Dämmerung des Waldes
ſich von der Helle und Gluth der übrigen Landſchaft zu erholen; zu
den ſcharf beleuchteten Zügen des ſtudirenden Aſtrologen gibt das Hell-
dunkel ſeines mit räthſelhaftem Geräthe gefüllten Zimmers die geheimniß-
volle Stimmung.
Wir müſſen hier noch einmal auf die in §. 242 erwähnte Lichtfreude
zurückkommen, um ſie mit der Wirkung des Helldunkels in Contraſt zu-
ſammenzuſtellen. Die Kräfte des Seins, welche in Bildung individueller
Geſtalten zuſammenwirken, ſind weſentlich ein Denken, nur noch nicht in
wirklicher Geſtalt des zu ſich gekommenen, geiſtigen Denkens. Indem die
Natur dieſes ihr Denken, welches ein Bilden iſt, durch die Wirkung des
Lichtes nicht nur theilweiſe vollzieht, ſondern auch aufzeigt, ſo iſt es als
gebe ſie ein Vorſpiel des eigentlichen, wirklichen Denkens; ſie denkt in
Formen und ſie ſcheint dieſes verhüllte Denken in der Manifeſtation des
Lichtes ſelbſt zu denken; es iſt wie ein Bewußtſein der Natur von ſich
und der Zuſchauer genießt in dieſem Vorbilde ſinnlich, was er in dem
Vollziehen deutlicher Gedanken auf andere Weiſe geiſtig und innerlich
genießt. Es ruht aber im perſönlichen Geiſte eine unentwickelte Welt
unendlicher Gedanken, deren unausgeſprochene Tiefe im ahnenden Gefühle
bang und freudig zugleich ſich als Ahnung ankündigt: dem entſpricht das
Helldunkel. So ſpricht der Dichter die Wirkung des Helldunkels durch
Mondſchein auf das Gemüth mit den Worten aus, daß es die Bruſt
löſend aufſchließe, mit dem Freunde zu genießen,
Das Helldunkel kann auch anders wirken, als in dieſer Weiſe des
Rührenden: drohend, ſchauerlich, aber auch hier eben durch das Ungewiſſe
der noch nicht deutlichen Gefahr. Immer iſt etwas vom negativ Erhabenen
in der Wirkung des Helldunkels, weil die Nacht an das Vergehen erinnert.
Volles Licht wirkt dagegen im Sinne des Schönen, durch blendende Fülle
wird es aber erhaben. Wie ſich das Schöne und Erhabene an die bisher
aufgeführten Erſcheinungen vertheile, kann jedoch hier nicht weiter verfolgt
werden; es mag Jeder leicht die Anwendung ziehen.
[37]
Göthe (Farbenlehre §. 849) nimmt den Begriff des Helldunkels ganz
allgemein von der Wirkung des Lichts und Schattens; dieß geſchieht auch
ſonſt. Es iſt aber gewiß zweckmäßiger, mit dem Worte ſogleich die
Bedeutung jenes Verſchwebens zu verbinden, da es mit abſichtlichem Scheine
des Widerſpruchs ein Ineinander von Licht und Schatten bezeichnet. Göthe
hebt dann allerdings dieſen Sinn als den engeren hervor: „eine Schatten-
partie, welche durch Reflexe beleuchtet wird.“
b.
Die Farbe.
§. 246.
Das einfache Licht wird durch das ſpezifiſche Dunkel der Körper zur
Farbe gebrochen. Dieſe entſteht zunächſt durch die Verhältniſſe ſolcher all-
gemeiner Medien zum Lichte, welche ſelbſt keine Farbe haben. Die Farben-
erſcheinungen, welche durch ſie hervorgerufen werden, können zwar im ſtrengen
Sinn äſthetiſch nur dann heißen, wenn ſie im Zuſammentreffen mit den gebundenen
Farben beſtimmter Körper ſich über ein Ganzes ſo herziehen oder doch ſo
in es eingreifen, daß ſie eine eigenthümliche Stimmung über alles Einzelne
verbreiten, als wäre es Ein Gegenſtand und die augenblicklich geliehene Farbe
ſeine eigene. Allein eben, weil demnach ein Ganzes durch Farben, welche
nicht an Individuen gebunden ſind, einen eigenthümlichen und entſcheidenden
äſthetiſchen Ton bekommen kann, ſo folgt, daß die Farben an ſich ſchon eine
gewiſſe Stimmung ausdrücken und daher für ſich zu erörtern ſind.
Es iſt hier zuerſt von den phyſiſchen Farben (colores apparentes,
fluxi, fugitivi, phantastici, falsi, variantesGöthe a. a. O. §. 137.)
die Rede. Sie gehören natürlich nur ſo weit in die Aeſthetik, als ſie
durch die Natur ſelbſt und zwar in der Landſchaft hervorgerufen
werden, denn das Schöne ſetzt überall Individuen voraus und hier iſt
denn eine Gegend, welche durch den Farbenton der Beleuchtung einen
beſtimmten Charakter erhält, das geforderte Individuum. Das Schwierige
iſt aber dieß: die Farbe zeigt ihrem ganzen Begriffe nach, wie dieß der
folg. §. weiter berückſichtigen wird, ungleich inniger das Eigenthümliche
des Weſens der Individuen, als das einfache Licht, und dennoch gibt es
Farben, welche nicht an Individuen gebunden ſind, ſondern durch Medien,
welche an ſich keine beſtimmte Farbe haben, je nach ihrer Stellung zum
Lichte frei erzeugt werden. Dieſe, die nicht gebundenen Farben, ſollte
[38] man meinen, ſeien äſthetiſch gleichgiltig, in Wahrheit aber ſind ſie höchſt
ſprechend, verbreiten über ganze Gegenden und Scenen eine durchaus
ſpezifiſche Stimmung. Obwohl ſie nun die Aeſthetik nur in der ſteten
Vorausſetzung einer ſolchen Wirkung im Zuſammentreffen mit gewiſſen
Objecten in Betracht ziehen kann, ſo geben ſie doch eben darum, weil ſie
dieſe ſo entſcheidende Wirkung haben können, den Beweis, daß wir von
der Farbe an ſich als einem äſthetiſchen Objecte zu reden haben. Es
widerſpricht dieß keineswegs dem in §. 35 und 36 aufgeſtellten Satze, daß
jede Difinition des Schönen durch eine abſtracte Eigenſchaft verwerflich ſei,
denn etwas Anderes iſt eine ſolche Definition, etwas Anderes die geſonderte
Betrachtung eines der Momente des wirklichen Schönen. — Um nun die
Thatſache der ſpezifiſchen äſthetiſchen Wirkung der Farben zu erklären,
dazu ſollte die Farbenlehre der Aeſthetik die Mittel an die Hand geben;
allein hier befindet ſich die letztere in der Schwierigkeit, daß die Theorie
Göthes und Hegels als widerlegt durch die neuere Lehre von den Aether-
ſchwingungen behauptet wird, während ſie doch die Erklärung der geheimen
und unbewußten Symbolik, welche bei der Farbenwahrnehmung das Gemüth
beſchäftigt, ungleich mehr zu erleichtern ſcheint, als dieſe, ſoweit ſie
bis jetzt ausgebildet iſt. Wenn das Gelbe dadurch entſteht, daß ich durch
ein erhelltes Trübes auf das Licht hindurchblicke, das Blaue dadurch, daß
ich durch ein ebenſolches Medium in das Dunkel ſehe, ſo wird begreiflich,
warum dort mein Gemüth durch die freudige Gewißheit des Hereinwirkens
des Lichts in das ſpezifiſch Trübe erwärmt, hier durch die Vorſtellung,
als verliere ich mich, indem mich ein reizender Schein hinauszieht, in ein
fernes Nichts, zugleich angelockt und erkältet wird. Wenn das Rothe als
die geſteigerte Einheit dieſer Gegenſätze betrachtet wird, ſo wird erklärlich,
warum es als voll eindringende Lichtwirkung höchſt ermunternd, als Er-
haltung des Dunkels aber zugleich niederhaltend, daher in ſeiner Pracht
würdig erſcheint; wenn dagegen im Grünen die Gegenſätze zur Indifferenz
erlöſchen, ſo leuchtet der beruhigende Charakter deſſelben ein. So kann
die innige Beziehung des ganzen Spiels menſchlicher Gemüthsſtimmungen
zur Farbe dem Verſtändniß nahe gelegt werden, wenn der Satz richtig iſt,
daß die Farbe auf einer Einheit des Hellen und des Finſteren beruht,
welche aber in der Einheit noch auseinandergehalten ſind, ſo daß in der
Trennung zugleich Eins ins Andere ſcheint und die verſchiedenen Stellungen
des Hellen vor das Finſtere und umgekehrt die verſchiedenen Farben geben.
Dagegen legt die Undulationstheorie die verſchiedenen Farben als Wellen
verſchiedener Breite und Schnelligkeit in das Licht hinüber und es ſoll nun
in den verſchiedenen Oberflächen der Körper der Grund liegen, warum die-
jenige Aetherſchwingung, welche die Empfindung von Roth oder Gelb u. ſ. w.
hervorbringt, durch zerlegendes Zurückwerfen von einem Körper aus dem
[39] Lichte herausgeſtellt, die anderen Schwingungen aber, wie man bildlich ſagt,
eingeſogen werden. Dabei kommt Alles auf Grade hinaus und bleibt der
qualitative Unterſchied und Gegenſatz, der in den Farbenſtimmungen liegt,
unerklärt. Es kommt darauf an, ob dieſe Theorie die Mittel noch finden
wird, das Räthſel glücklicher zu löſen, als die erſtere. Die Aeſthetik kann
ſich nicht in den Streit der Phyſiker einlaſſen, und der §., welcher beſtimmter
von dem Ausdruck der einzelnen Farben reden wird, kann ſich daher nur
empiriſch auf anerkannte Thatſachen des Gefühls berufen.
§. 247.
Allerdings nun iſt die ungleich bedeutendere Erſcheinung der Farbe die-1
jenige, wo ſie als gebunden an beſtimmte Körper auftritt. Sie erſcheint als
der Ausdruck der innerſten Miſchung, der eigentlichen Qualität der Dinge.
Die innere Beſtimmtheit eines Körpers erſcheint zwar auch in der Geſtalt an
ſich abgeſehen von der Farbe, aber nur ſo, wie ſie ganz in die quantitative
Bildung der Oberfläche aufgegangen iſt; allein dieſelbe innere Beſtimmtheit
durcharbeitet die Oberfläche des Körpers noch auf andere Weiſe: ſie tritt auf
allen Punkten derſelben als ihre feinſte und letzte Qualification ſo hervor, daß
das einfache Licht zu einer dieſem Körper eigenen Farbe gebrochen wird. Die
Geſtalt zeigt das Innere, wie es ganz zum Aeußern geworden, die Farbe zeigt
das Aeußere als Widerſchein des Innern, ſie ſpricht die Seele aus. Der2
Eindruck, den die nicht an Körper gebundene Farbe mit ſich führt, wird nun
durch den, welcher die gebundene begleitet, vielfach näher beſtimmt.
1. Hier, bei den chemiſchen Farben (colores proprii, corporei, materiales,
veri, fixi Göthe a. a. O. §. 487), läßt uns freilich die Farbenlehre überall
im Stiche. Wie hängt es zuſammen, daß blondes Haar und weiße Haut
auf eine andere Säftemiſchung, ein anderes Temperament hinweist, als
dunkles Haar, braune Haut? Wie geht das Pigment aus der innerſten
Natur des Gegenſtands hervor? Was iſt überhaupt Pigment? Beſteht es
in einer verſchiedenen Stellung unendlich feiner, theils dunkler, theils
durchſichtig heller Theile, worauf die Göthiſche, beſteht es in einem ver-
ſchiedenen Relief der Anordnung der feinſten Stofftheile auf der Oberfläche
des farbigen Körpers, worauf als den mechaniſchen Grund der Zurück-
werfung der Aetherſchwingungen die Undulationstheorie hinauskommen muß?
Die Aeſthetik kann ſich hier, wie ſchon geſagt, noch auf keine von der Natur-
wiſſenſchaft an die Hand gegebene Erklärung berufen. Die Farbe zeigt
die innerſte Werkſtätte des Lebens auf der Oberfläche; das Wie? Wo-
durch? iſt unerforſcht. Die Farbe iſt ein über das Ganze, wenn auch in
verſchiedener Färbung der Theile, doch gleichmäßig verbreiteter Schein,
[40] der für ſich nicht zu faſſen und zu halten iſt, wie die Form, ſondern nur
die im Innern geheimnißvoll arbeitende, auf die Oberfläche hinausſtrahlende
Miſchung, Gährung, Stimmung des ganzen Weſens verräth. Die Form
zeigt mir wohl auch die innere Beſtimmtheit, aber nicht in dieſer Tiefe,
denn in ihr iſt das innerlich Wirkende beruhigt und fertig mit ſeiner Raum-
erfüllung, durch die Farbe zeigt es ſich in ſeiner thätig mit ſich fortbeſchäf-
tigten ſubjectiven Einheit, es läßt nicht eine vollendete Geſtalt von außen
beleuchten oder durchleuchten, ſondern macht ſich ſelbſt ſein eigenes, ſpezifiſches,
ſprechendes Licht, ein ſeelenhaft ergoſſener Schein, der ſich nicht greifen läßt.
2. Die Bedeutung, die wir den phyſiſchen Farben beilegen, ſcheint
zum Theil unvermerkt von chemiſchen Farben übergetragen zu ſein; das
Roth würde vielleicht nicht an energiſche Leidenſchaft erinnern, wenn nicht
das Blut roth wäre, das indifferente, beruhigende Grün würde nicht Farbe
der Hoffnung genannt werden, wenn wir uns nicht des vollen Grüns der
Vegetation im Frühling erinnern würden. Doch bei näherer Beobachtung
wird man finden, daß nicht leicht eine Bedeutung von der concreten Farbe
auf die blos phyſiſche übergetragen wird, welche mit der allgemeinen
Bedeutung dieſer in Widerſpruch ſtände; das Leidenſchaftliche z. B. iſt nur
eine weitere Modification des mächtig Vollen, was an ſich ſchon im Eindruck
des Rothen liegt, das Hoffnungsvolle lehnt ſich leicht an das Beruhigende
des Grünen. Dem ſcheint die Thatſache zu widerſprechen, daß die Stimmung,
welche die abſtracten Farben mit ſich führen, an den concreten nicht immer
zutrifft. Grün z. B. iſt an ſich beruhigend, erſcheint aber an mancher
thieriſchen und an der menſchlichen Haut immer giftig. Doch dabei
iſt nicht zu überſehen, welche unendlichen Abwandlungen die Ueber-
gänge, Verbindungen, Miſchungen der Farbe in die der Grundfarbe zu-
geſchriebene Stimmung bringen, und daß ja überhaupt alle allgemeinen
Beſtimmungen im Concreten ſich unendlich modificiren, ohne daß daraus
geſchloſſen werden dürfte, man ſolle ſie gar nicht aufſtellen. Eine weitere
Abweichung wird der folg. §. noch einführen; doch kann wohl ausgeſprochen
werden, daß eine gewiſſe Gleichmäßigkeit der Farbenbedeutung ſich beobachten
laſſe, gleichgiltig, ob man von der abſtracten zur concreten Farbe fortgeht
oder umgekehrt. Dagegen kann aus der Verſchiedenheit der ſubjectiven Liebe
und Abneigung kein Einwand gezogen werden; denn Völker und Einzelne
ſuchen und lieben die Farbe nach ihrem eigenen Temperamente, nach
ihrem Ergänzungsgefühl und man muß daher ihren Geſchmack mit ihrem
eigenen Weſen, der Färbung ihrer Haut, ihrem Himmel, ihrem Tempe-
rament u. ſ. w. zuſammennehmen. Jetzt freilich iſt bei den gebildeten
Völkern der Farbenſinn ganz erſtorben; jede volle Farbe wird verachtet,
nur die ſchmutzige, der aufgelöste Koth gefällt. Danach darf man natürlich
nicht urtheilen.
[41]
§. 248.
Theils wirken jedoch anderweitige Urſachen ein, daß Körper eine andere
Farbe entwickeln, als diejenige, welche ſonſt mit einer Beſchaffenheit wie die
ihrige vereinigt zu ſein pflegt, theils laſſen ſich Farben äußerlich übertragen und
an Körper binden, welche urſprünglich farblos oder anders gefärbt ſind. Dann
kommt es darauf an, ob jene Abweichung einer inneren Veränderung entſpricht
und ob dieſe Verbindung eine glückliche iſt; iſt beides nicht der Fall, ſo kann
unter Umſtänden das Schöne durch Eintritt ſeiner gegenſätzlichen Formen den
Widerſpruch ausgleichen.
Es wirkt in der Erſcheinung der Gattungen und Individuen ſo Vieles
mit, daß man an keine Durchführung der Farbe in abſtracter Gemäßheit
mit dem Ausdrucke, den wir ihr zuſchreiben, denken darf. Phlegmatiſche
Thiere zeigen brennende, ſehr lebhafte Thiere lichtarme Farben u. ſ. w.
Wir ſind gewohnt, rothe Geſichtsfarbe als Ausdruck von Jähzorn anzu-
ſehen, allein aprioriſche Schlüße ſind hier ſo verkehrt als in der Phyſiognomik.
Ferner laßen ſich Farben auf Stoffe äußerlich übertragen und können nun
mit dem Charakter der Individuen, die von ſolchen Stoffen umgeben,
darein gekleidet ſind, ſtimmen oder nicht. Verkehrter Geſchmack kommt hier,
wo vom Naturſchönen die Rede iſt, nur im Sinne eines Zufalls in Betracht,
und zudem iſt hier der eigentliche Zufall überall im Spiele: meine Lage,
Laune wechſelt, während die Wände meines Zimmers bleiben und in
ihrer Farbe bald zu ihr ſtimmen bald nicht. Ein ehrwürdiger Mann
kann ſich zufällig in gelbem, ein unwürdiger in purpurrothem, ein Trauriger
in orangegelbem, ein Luſtiger in ſchwarzem Gewande zeigen u. ſ. w. In
dieſen Fällen nun kann, wenn die Farben zum Gegenſtande nicht zu
ſtimmen ſcheinen, das Schöne leicht und von ſelbſt die Wendung zum
Erhabenen und Komiſchen nehmen und in dieſem Sinne auch das Verkehrte
ſich aneignen. Es bethätigt ſich dann der Satz §. 18, 2., daß das Schöne
durch die verſchiedenen Wendungen ſeiner eigenen Momente auch das auf
den erſten Anblick widerſprechend Gebildete in ſein Bereich ziehen kann.
Der grimmige Eisbär iſt nur um ſo furchtbarer, weil das reine Weiß
ſeines Fells die wilde Natur nicht anzeigt, das im Zorn erbleichende
Angeſicht drohender als das, welches durch Röthe den Zorn verräth;
brennende Farben an bedeutungsloſen Individuen wirken komiſch, an
gefährlichen wie eine höhniſche, täuſchende Maske u. ſ. w. Ein andermal
kann anſpruchloſe Farbe den Eindruck machen, daß hier die Natur, um
Edleres auszubilden, nicht viel auf dieſe Seite verwenden wollte; doch
muß man ſich hüten, die feinen Miſchungen der organiſch verkochten
[42] Farben zu niedrig zu ſchätzen, weil ihnen die Pracht der elementariſchen
abgeht; das Grau der Nachtigall in ſeinen Schattirungen iſt eine äußerſt
edle und feine Farbe. Immer aber beweist gerade der Umſtand, daß
das Gefühl in den genannten Fällen auf die geſchilderte Weiſe einen
Widerſpruch ausgleichen muß, die Richtigkeit einer geſonderten Betrachtung
der Farben.
§. 249.
Zunächſt ſind es nun neben dem Weißen, Schwarzen, Grauen, die
2einfachen Hauptfarben Gelb, Roth, Blau, Grün, welche, abgeſehen von
dieſen Einſchränkungen, ihre eigenthümliche Stimmung mit ſich führen, die durch
einen unwillkührlichen Art der Uebertragung ihnen als Prädicat beigelegt wird.
1. „Il prétendait, que son ton de conversation avec Madame était
changé depuis qu’ elle avait changé en cramoisi le menble de son cabinet
qui était bleu“ (Göthe a. a. O. §. 762). Die unbewußte Symbolik
in der ſinnlich-ſittlichen Wirkung der Farben bleibt in ihrem letzten
Grunde dieſelbe, man mag ſich für die eine oder andere Farbentheorie
entſcheiden; es iſt immer die verſchiedene Miſchung eines doppelten
Gefühls: des Gefühls der individuellen Sprödigkeit der Exiſtenz auf der
einen und der Aufnahme des Alles übergreifenden, löſenden, einenden
Lichtes auf der andern Seite. Die verſchiedenen Stellungen, welche dieſe
Pole gegen einander annehmen, bedingen die verſchiedenen Modificationen.
Dieß ſcheint in Widerſpruch zu ſtehen mit §. 242, 2. Denn dort wurde
das Licht gefaßt als Grund des individuellen Seins, das Dunkel als das
unbeſtimmte Unendliche; hier aber wird das Dunkle auf die Seite der
ſpröden und ſchweren Zuſammenſchließung mit ſich ſelbſt bezogen, wodurch
die Dinge Individuen ſind, das Licht dagegen erſcheint als das Unendliche,
worin ſie von der Härte der Individualität ablaßen, ſich erweichen, befreien,
in das Allgemeine aufgehen. Die Individualität iſt aber immer eine
Einheit von Seyn und Nichts; ſie iſt durch die Grenze, was ſie iſt, und
ſie iſt durch die Grenze vergänglich. Licht iſt poſitiv, Finſterniß negativ;
ich habe eben keine Kraft der Poſition, wenn ich nicht Kraft der Negation
habe. Wir denken zwar bei dem guten Charakter an das Licht und an
das Weiße oder bei dieſen an jenen; aber wir ſagen auch von einem
Charakter, er habe keinen Schatten, wenn er nicht zu kräftiger Beſonderung,
zur Kraft der Leidenſchaft, der Selbſtbehauptung und ebendaher auch der
Zerſtörung des Widerſtrebenden fortgeht. Hierin dreht ſich alſo die Sache
um: das Negative, das ſein Bild im Finſtern hat, gibt ihm die poſitive
Individualität, ungetrübtes Poſitives hingegen, das ſein Bild im Lichten
[43] und Weißen hat, verflüchtigt ihn. Es findet demnach ein Stellenwechſel
der Bedeutungen ſtatt und eben dieſen Stellenwechſel in ſeinen verſchiedenen
Wendungen fühlen wir in der Farbe.
Wir erwähnen nun zuerſt das Weiße, Schwarze, Graue: eigentlich
nicht Farben, ſondern nur gebundenes Licht und Dunkel. Es bedarf keiner
näheren Erklärung, warum das Weiße als Bild der Unſchuld und
Neinheit ſich darbietet, aber auch als Bild des Langweiligen und Unge-
ſalzenen. Die vorhergehende Bemerkung hat dieß ſchon berührt und
ebenſo die Bedeutung des Schwarzen, wonach es an Tod und Zerſtörung
erinnert, alſo traurig oder furchtbar wirkt, ebendaher feierlich im Gegenſatz
gegen das Bunte, das einen Ueberfluß an Lebensluſt, aber auch an Energie
der Begrenzung darſtellt. Das Böſe im härteſten Zerſtörungsprozeß iſt
mehr als die verdienſtloſe Unſchuld der Kindheit. Warum das Graue
düſter iſt, leuchtet ein, aber nach ſeinem Lichtantheil vermittelt es auf ſehr
wohlthuende Weiſe das Weiße und Schwarze und ſo alle eigentlichen
Farben, daher wirkt es ſanft beruhigend. Nach aufgeregten Stunden iſt
ein grauer Himmel wohlthuend, das Schwermüthige ſelbſt wirkt löſend
und verſöhnend.
2. Die Göthiſche Farbenlehre hat zwei oder vier Hauptfarben; zwei,
wenn das Rothe als höchſte Einheit des zugleich ſich behauptenden Gegen-
ſatzes von Blau und Gelb, das Grüne als Indifferenz beider gefaßt wird;
vier dagegen, wenn die letzteren zwei trotzdem als ſelbſtändig gezählt
werden. Die Luftwellentheorie dagegen zählt zwar ſieben ſelbſtändige
Farben, da ſie aber Orange und Violett doch auch als Uebergänge, jenes
zwiſchen Roth und Gelb, dieſes zwiſchen Roth und Blau faßen muß, da
ferner Hellblau und Dunkel- (Indigo-) Blau als zwei Farben zu unter-
ſcheiden müßig iſt (weßhalb die Meiſten lieber nur ſechs zählen), ſo
bleiben als Hauptfarben Roth, Gelb, Blau, Grün; da aber das Grüne
auch hier als die Mitte von Gelb und Blau gefaßt wird, ſo kann ſie drei
Hauptfarben zählen: Roth, Gelb, Blau, und das Grüne als vierte
rechnen oder nicht. — Was nun die Bedeutung dieſer Farben betrifft, ſo
ſagen wir in Kürze: die lichtvolleren Farben ſtimmen lebhaft, ſtrebend,
munter, offen: in ſanfterer und behaglicherer Weiſe das klare, warme
Gelb, in aufregender, aber auch mächtig erhebender das feurige, volle,
prächtige Roth. Dagegen erſcheint das lichtarme Blau anziehend und
kalt, leicht reizend und in ein Nichts verſenkend zugleich; das Grüne
befriedigt als Auslöſchung des Farbengegenſatzes und gibt ein Gefühl,
daß das Leben, in wie viele Richtungen es ſich auch trennt, doch in ruhig
fortwirkender Mitte ſich gleich bleibe. Uebrigens verweiſen wir, um eine
zu weite Auseinanderſetzung zu erſparen, auf die feinen Bemerkungen
von Göthe, (a. a. O. §. 758 ff.), womit auch zu vergleichen Oerſted
[44] a. a. O. §. 43 ff. Der Letztere nimmt mehr Rückſicht auf die Bedeutung,
welche durch Uebertragung von individuellen Gegenſtänden, an denen wir
gewiße Farben als Ausdruck ihres Weſens zu ſehen gewohnt ſind, den
Elementarfarben geliehen wird. Roth, ſagt er, als Symbol der Liebe,
habe ſeine Bedeutung wahrſcheinlich von der Farbe des Bluts erhalten,
mit welcher der Gedanke an das Herz, an die Wärme, an Lebensfülle
ſich verknüpfe. Zunächſt pflegt aber die Bedeutung der Liebe gerade nur
dem verdünnten Roth beigelegt zu werden, das volle erſcheint wohl leiden-
ſchaftlich, was immerhin auf jene Uebertragung deuten mag, aber ernſt
leidenſchaftlich, drückt eine Würde aus, die auch furchtbar werden kann.
Das Gelbe laße man, ſagt Oerſted, Falſchheit bedeuten, wahrſcheinlich
weil das Glänzende auch als betrüglich erſcheine und weil dieſe Farbe,
wenn ſie von der Reinheit abweiche, ſo leicht widerlich werde. Göthe:
„durch eine geringe und unmerkliche Bewegung wird der ſchöne Eindruck
des Feuers und Goldes in die Empfindung des Kothigen verwandelt und
die Farbe der Ehre und Wonne zur Farbe der Schande, des Abſcheus
und Mißbehagens umgekehrt.“ Wenn Göthe das Blaue ein reizendes
Nichts nennt, wenn er ſagt, es liege etwas Widerſprechendes von Reiz
und Ruhe im Anblick, es ziehe uns nach ſich und weiche vor uns zurück,
ſo erklärt ſich dieß, wie ſchon geſagt, ſehr gut aus ſeiner Theorie; denn
als Farbe iſt es „eine Energie“, aber wohin es weist, iſt die Finſterniß
hinter ihm. Wie bei ſolcher Beſchaffenheit das Blaue als Farbe der
Treue gelten könne, ſcheint freilich ſchwer zu erklären und hier die Luft-
wellenlehre ſich beſſer zu erproben; denn nach dieſer iſt es nur überhaupt
lichtarme Farbe, daher als Farbe zwar immer noch energiſch, aber doch
ruhig und verhältnißmäßig kalt: jenes würde den Affect in der Treue und
dieſes die Verſchließung gegen jede Anreizung zum Wechſel des Gegen-
ſtandes des Affects bezeichnen. Doch iſt es wohl die lichtdurchdrungene,
Alles umſchließende, nach jedem Sturm ſich herſtellende Himmelsbläue,
welche der Farbe dieſe Bedeutung geliehen hat. Wenn ſich die ruhige
Befriedigung, welche das Grüne als einfache Aufhebung des Gegenſatzes
der Grundfarben Blau und Gelb gewährt, jenes Gefühl „daß man nicht
weiter will und nicht weiter kann“, gern zum Gefühle der Hoffnung
erweitert, ſo wird wohl hier Niemand an der ſchon erwähnten Uebertragung
des Eindrucks der Vegetation im Frühling zweifeln; dieſe gibt der Befrie-
digung die beſondere Wendung zur Zukunft, worin die Hoffnung begründet
iſt, dieſe Hoffnung ſelbſt aber iſt ruhig, iſt eine Zuverſicht, daß der Kern
und Saft des Lebens in allem Wechſel ausharren werde. Eben das
Gegenſatzloſe iſt das bleibend Wiederkehrende, was nicht einſeitig iſt, das
immer Friſche. — Es mag hier auch des Braunen gedacht werden;
daſſelbe gehört weder zu den Hauptfarben, noch zu den prismatiſchen
[45] Brechungen; es iſt zu ungleichen Theilen aus Gelb, Blau und Roth
gemiſcht, das Roth iſt aber überwiegend und gibt dem Indifferenten, was
ohne ſeine Dazwiſchenkunft aus dem Zuſammentritt von Gelb und Blau
entſtehen würde, die Bedeutung der Kraft und Tüchtigkeit, die aber in
dieſer Verbindung in den Eindruck des Trockenen und Hausbackenen über-
geht. Braun iſt das ergiebige, Pflanzen und Thiere tragende Erdreich,
es erſcheint als Farbe der Nützlichkeit; braune Pferde gelten für die aus-
dauerndſten, wie ſie zugleich durch Farbe am wenigſten auffallen, braune
Haarfarbe gibt den rechten Nachdruck des Schattens zur Hautfarbe und
iſt doch weniger finſter als ſchwarz. Natürlich entſtehen durch verſchiedene
Grade der Beimiſchung des Rothen ſehr verſchiedene Nüancen.
§. 250.
Näher beſtimmt ſich dieſe ſinnlich-ſittliche Bedeutung in den zwiſchen1
jenen liegenden Uebergangsfarben, ſodann in der großen Reihe von Schattirungen
und Tönen und den Verbindungen zwiſchen dieſen beiden, deren alle Farben
fähig ſind. Ueberdieß verbindet ſich nun die Farbe mit Licht und Feuer, ebenſo2
mit Glanz und Durchſichtigkeit und erreicht in der letzteren beſonders eine
außerordentliche Gluth und Tiefe. Scheint aber die Farbe, obwohl in’s Unend-3
liche beſtimmbar, doch für jede Gattung von Individuen eine beſtimmte zu ſein,
ſo bricht ſie ſich doch in jedem einzelnen wieder anders und gibt ihm die unend-
liche Eigenheit ſeiner Färbung.
1. Das feurig warme Rothgelb und das beunruhigende Rothblau
werden in der Undulationstheorie noch zu den Grundfarben gezählt; Göthe,
der freilich dieſe Uebergänge nicht zu den Grundfarben rechnen kann, führt
ſie doch als weſentliche Beſtimmtheiten auf, unterſcheidet aber zugleich in
jeder von beiden zwei Farben, je nach der größeren Theilnahme der
einen oder andern Grenzfarbe: zwiſchen Roth und Gelb Rothgelb (Orange)
und Gelbroth (Mennig, Zinnober), jenes mächtig und herrlich, dieſes bis
zum Unerträglichen gewaltſam; zwiſchen Roth und Blau Rothblau (in ſehr
verdünntem Tone Lila) und Blauroth (Violett), jenes unruhig erregend,
lebhaft ohne Fröhlichkeit, dieſes höchſt beunruhigend. Es iſt aber wohl
beſſer, dieſe Unterſchiede unter die bloßen Schattirungen zu zählen und
nur Orange und Violett, beide mit gleichem Antheile der in ihnen ver-
einigten Farben, als weſentliche Uebergangsfarben zu zählen. Nun aber
beginnt die weite Reihe zunächſt der Schattirungen. Unter Schattirungen
verſtehen wir mit Chevreul (Lehrbuch der Farbenharmonie) die Ueber-
gänge, welche eine Farbe durch größere oder geringere Beimiſchung einer
benachbarten erhält. Das reine Gelb kann nicht nur in’s Röthliche,
[46] ſondern auch in’s Grünliche übergehen, das Grüne blaugrün oder gelb-
grün, wie das Violette rothblau oder blauroth ſein; das Braune, das
ſeiner breiten Herrſchaft wegen neben den Hauptfarben angeführt wurde,
ſchattirt ſich in das Gelbe, Blaue, Rothe; das Graue kann gelbliche, grün-
liche, bläuliche, bräunliche Beimiſchung haben u. ſ. w. Jede Schattirung
dieſer Art hat wieder eine unendlich lange Leiter von Stufen. Es
gibt übrigens natürlich kein bläuliches Orange, kein röthliches Grün, kein
gelbliches Violett. Neben dieſe Reihe von Schattirungen tritt aber nun
noch die Stufenleiter der Intenſität, der Verdünnungen in’s Weiße oder
Vertiefungen in’s Schwarze: der unendliche Unterſchied der Töne. Wie
ſehr durch dieſen die ſittlich-ſinnliche Wirkung der Farbe verändert wird,
mache man ſich nur z. B. an der ſanften Stimmung des Blaßrothen gegen
das Hochrothe deutlich: jenes iſt ſüß und anmuthig, während dieß pracht-
voll erhaben iſt. Die Stimmung wird offener, heller, milder, je mehr
eine Farbe gegen das Weiße, ſie wird gedrängter, energiſcher, je mehr
ſie gegen das Schwarze zunimmt, doch über einer gewißen Grenze wird
die Verdünnung charakterlos matt, die Vertiefung trüb und traurig. Nun
beginnt aber eine neue Reihe von Beſtimmtheiten, wenn man die Ton-
leiter der Verdünnung oder Vertiefung mit der Leiter der Schattirungen
verbindet: die gemiſchte Empfindung, welche die Schattirung hervorbringt,
verbindet ſich mit der beſondern Weiſe der Stimmung, welche die Erhellung
oder Verdunklung mit ſich führt.
2. Ueber die Farben gießt ſich wieder das reine Licht und beſtimmt
ihren Eindruck durch die Intenſität oder Trübung ſeines Tons. Es färbt
ſich aber auch ſelbſt und ſo entſteht eine neue Welt von Reizen. Das
Sonnenlicht durch ein vor ihm ſtehendes erhelltes Medium geröthet über-
gießt eine ganze Landſchaft und ihre Lokalfarben mit glühendem Roth, es
erleuchtet, aus dem Meerwaſſer der blauen Grotte auf Capri widerſtrahlend,
die Räume derſelben mit wunderbarem Blau u. ſ. w. Das Feuer ver-
breitet ſeinen unruhigeren röthlichen, bläulichen Schein. Trifft die Farbe
mit Glanz zuſammen, ſo werden nun erſt die verſchiedenen Arten deſſelben:
metalliſcher Glanz, Perlmutterglanz, Seidenglanz, Schmelz u. ſ. w. wichtig.
Von beſonderem Reize iſt auch farbige ſammtartige Oberfläche, welche ein
mattes Licht an ihren Rändern und Falten hinzieht und durch ihren zart
wolligen Charakter der Farbe eine beſondere edle Dämpfung verleiht.
In der durchſichtigen Farbe verbindet ſich die geiſtig tiefe Bedeutung des
Durchſichtigen (§. 243, 2.) mit der ſpezifiſchen Wirkung der Farbe. Durch
dieſe behauptet ſich ein Körper in ſeiner Individualität gegen das allgemeine
Licht, indem er aber das Licht zugleich durchläßt und ſich daher hinzugeben,
ſeine ſpröde Materialität zu opfern ſcheint, ſo gewinnt er ſeine ſpezifiſche
Beſtimmtheit in verſtärkter Kraft und Gluth, die in unendliche Tiefen ſich
[47] tiefer und tiefer entzündet, ihre Schönheit ſelbſt beleuchtet und beleuchtend
verdoppelt, wie das Gemüth, wenn es in der Liebe ſich verliert, ſich
doppelt gewinnt.
3. Keine Farbe kommt an irgend einem Körper in ihrer ungebrochenen
Einfachheit vor. Die Individualität iſt, wie in allen andern Momenten,
wodurch ſie in die Schönheit eintritt, auch in der Farbe unberechenbar.
Aber auch dieß hebt die Nothwendigkeit, die Farben in ihrer allgemeinſten
äſthetiſchen Wirkung zu faſſen, nicht auf, denn ihre unendlichen Brechungen
ſind zwar nicht vorauszubeſtimmen; hat man aber ein Individuum, ſo iſt
der äſthetiſche Eindruck der nur ihm eigenen Farbenmiſchung eben aus dem
Grundcharakter der vereinigten Farben zu erklären.
§. 251.
Da nun aber die Farben das differenzirte Licht ſind, ſo fordert das Auge1
zu jeder beſtimmten Farbe diejenige, welche mit ihr zuſammengeſtellt die Totalität
des Farbenkreiſes bildet, und wie von dem Auge, ſo gilt dieß von der Stimmung,
welche ihren einſeitigen geiſtigen Ton zu ergänzen ſucht. Allen andern Zuſammen-2
ſtellungen von Farbenpaaren fehlt zum reinen äſthetiſchen Eindruck entweder bei
übrigens wirkſamem Unterſchied die ungetheilte Kraft der die Totalität bedingen-
den Farbe oder es fehlt ihnen zudem die Wirkung des Unterſchieds, ſie ſtehen
ſich zu nahe. Die Mängel und Mißklänge, welche hieraus entſtehen, können3
aber theils durch die Vermittlung von Weiß, Schwarz, Grau, ſo wie durch das
Verhältniß der Töne und Schattirungen, theils durch die Formen eines Körpers
und durch Abſtand der Körper von einander gemildert werden oder die mangelnde
abſtracte Farbenſchönheit durch die Beſtimmtheit der charakteriſtiſchen Bezeichnung
erſetzen.
1. Der ganze Inhalt dieſes §. wird klar, wenn man ſich den Farben-
kreis zuſammenſtellt mit folgenden Diametern:
Je diejenigen zwei Farben, welche durch einen Diameter verbunden
ſind, verhalten ſich zu einander als Ergänzungsfarben, d. h. jede bringt
der andern dasjenige hinzu, was ihr zur Totalität der Farbe, oder nach
der Auffaſſung der Luftwellentheorie dazu fehlt, um wieder weißes Licht
hervorzubringen:
[48] Grün enthält Blau und Gelb, es fordert alſo noch Roth und umgekehrt.
Gelb entbehrt Blau und Roth, es fordert alſo Violett und umgekehrt.
Orange enthält Roth und Gelb, es fordert alſo noch Blau und umgekehrt.
Das Auge ſelbſt macht dieſe Forderung: neben Roth ſieht es die
Umgebung in grünlicher Farbe, neben Grün in röthlicher, Orange wirft
blaue Strahlen, Blau orangegelbe, Gelb violette, Violett gelbe. Da
uns die Farben durchaus einen geiſtigen Stimmungston darſtellen, ſo
iſt damit zugleich ausgeſprochen, daß die geſteigerte und leidenſchaftlich
gehobene Stimmung des Rothen die Beruhigung des Grünen fordert und
umgekehrt, das ſchattenlos warme Gelb die unruhige und in’s Düſtere
führende Bewegung des Violetten und umgekehrt, das reizende und doch
leere Blau die feurige Wärme des Orangegelben und umgekehrt. Göthe
ſetzt die Genugthuung in dem Zuſammentritt der Ergänzungsfarben wohl
zu allgemein blos in die Befreiung aus der gezwungenen Lage, worin
ſich das Auge genöthigt ſieht, ſich auf Eine Farbe zu beſchränken (a. a.
O. §. 803 ff.). Muß nun Auge und Sinn die Ergänzungsfarbe nicht erſt
ſuchen, ſondern iſt ſie da, ſo erhöhen beide Farben einander. Da Grün
rothe Strahlen wirft u. ſ. f., ſo erſcheint Roth neben Grün röther, Grün
neben Roth grüner u. ſ. w.
2. Um die mangelhaften Farbenzuſammenſtellungen und zugleich die
zwei Arten des Mangels, welche unterſchieden werden, zu verſtehen, ver-
folge man im obigen Kreiſe, ſtatt Diameter zu ziehen, die Kreislinie,
zuerſt ſo, daß je die Mittelfarbe überſprungen wird, hierauf ſo, daß je
die zwei benachbarten Farben zuſammengefaßt werden.
Bei dem erſten Verfahren erhält man folgende Farbenpaare, zuerſt
vom Gelben angefangen:
- Gelb und Blau.
- Blau und Roth.
- Roth und Gelb.
Hierauf vom Grünen angefangen:
- Grün und Violett.
- Violett und Orange.
- Orange und Grün.
Von den ſechs Farbenpaaren, welche ſo entſtehen, iſt im §. geſagt,
es fehle ihnen bei übrigens wirkſamem Unterſchied die ungetheilte Kraft
der die Totalität bedingenden Farbe. Ausführlicher muß dieß ſo lauten:
die Ergänzungsfarbe fehlt zum Theil ganz, zum Theil in ihrer unge-
brochenen Reinheit. Ganz fehlt ſie den drei erſten Farbenpaaren: zu
Gelb und Blau fehlt Roth, zu Blau und Roth fehlt Gelb, zu Roth und
Gelb fehlt Blau. Dieſen Mangel muß das Auge zu erſetzen ſuchen:
bei Gelb und Blau ſieht es daher im Gelben Orange, im Blauen Violett;
[49] bei Blau und Roth im Rothen Orange, im Blauen Grün; bei Roth un
Gelb im Rothen Violett, im Gelben Grün. Das Auge erhält ſo ſeine
Befriedigung, aber es muß ſie erſt ſuchen, wird herüber und hinüber-
geſchickt; doch iſt die Arbeit dadurch erleichtert, daß in jeder geſuchten Farbe
etwas von der vorhandenen beibehalten wird. Freilich kommt es darauf
an, welcher Art die fehlende Farbe ſei. Gelb und Blau erſcheint nach
Göthe arm, ja gemein, weil Roth fehlt, Blau und Roth beſitzt im Rothen
eine ſo volle Farbe, daß das Gelbe nicht allzuſchwer vermißt wird, Roth
und Gelb erſcheint in der Einſeitigkeit noch heiter und kraftvoll, weil nur
das lichtarme Blau fehlt. Den drei andern Farbenpaaren dagegen fehlt
zwar die Ergänzungsfarbe nicht, es ſind in jedem Paare alle Farben
gegeben, aber es ſtehen ſich auch in jedem nur Mittelfarben gegenüber,
Auge und Sinn hat daher zwar Alles beiſammen, aber nirgends eine
Hauptfarbe in ungetheilter Kraft und Reinheit; daher wird zwar kein
einſeitiger Mangel, wohl aber ein beiderſeitiger gefühlt und es fehlt durchaus
Genüge und Entſchiedenheit. Der Name „charakteriſtiſche Zuſammen-
ſtellungen,“ womit Göthe dieſe ſechs Farbenpaare bezeichnet, ohne ſie
völlig aufzuführen, eignet ſich daher offenbar nur für die erſten drei.
Eine andere Bewandtniß hat es mit den Paaren, worin Farben zu-
ſammentreten, die ſich zu nahe ſtehen. Man findet dieſe Farbenpaare,
wenn man die Kreislinie verfolgend je zwei Nachbarfarben zuſammenfaßt.
So entſteht
- Gelb und Grün
- Grün und Blau
- Blau und Violett
- Violett und Roth
- Roth und Orange
- Orange und Gelb.
Hier hat das Auge überall ein viel mühſameres Geſchäft, als bei
jenen obigen ſechs Paaren: es muß ganz neue Farben ſuchen, worin es
von der vorhandenen nichts behalten kann: zu Gelb und Grün Roth und
Violett und umgekehrt, zu Grün und Blau Orange und Roth und um-
gekehrt, zu Blau und Violett Orange und Gelb und umgekehrt. Doch
behalten auch unter dieſen Zuſammenſtellungen, um Göthes Ausdruck zu
brauchen, diejenigen immer noch ein gewiſſes Recht, die ſich gegen Roth
ſteigern, denn ſie deuten ein Fortſchreiten an; Gelb und Grün aber und
Blau und Grün ſteigern ſich eigentlich nicht, ſondern in beiden Paaren
ſteht die indifferente Farbe auf der einen Seite und auf der andern die
eine derjenigen Farben, deren Indifferenz ſie iſt, und dieß iſt ein wirklicher
Mißklang. Doch iſt noch ein Unterſchied zwiſchen beiden Paaren; Gelb
und Grün nämlich hat noch eine lichtvolle Hauptfarbe, Göthe nennt es
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 4
[50]gemein heiter; Blau und Grün aber hat eine ſolche nicht, Göthe nennt
es gemein widerlich. Ueberhaupt ſind unter dieſen letzten ſechs Paaren,
welche Göthe charakterloſe Zuſammenſtellungen nennt, je die helleren die
minder unglücklichen. Gelb und Orange iſt beſſer als Roth und Orange,
Roth und Violett beſſer als Blau und Violett.
3. Weiß, Schwarz und Grau dienen allen Farben zur Hebung und
Vermittlung. Es verſteht ſich, daß die lichtvolleren Farben beſſer durch
die Nachbarſchaft des Schwarzen, die lichtärmeren durch die des Weißen
gehoben werden. Sollen Ergänzungsfarben durch Weiß oder Schwarz
gehoben werden, ſo iſt es natürlich ſchöner, wenn ſie nebeneinander ſtehen
und Weiß oder Schwarz auf beiden Seiten zum Rahmen haben; die Farben
dagegen, die ſich nicht ergänzend zu einander verhalten, nehmen Weiß oder
Schwarz beſſer zwiſchen ſich als Trennungsmittel. Grau iſt beſonders
günſtig zum Zweck der Vermittlung; zu lichtvollen Farben paßt es beſſer
als Weiß, weil es ſie nicht wie dieſes durch Lichtſtärke ſchwächt und
fühlbarer ihre Ergänzungsfarbe erſcheinen läßt. Roth und Grau z. B.
iſt ein äußerſt anziehendes Verhältniß, das Rothe erſcheint reiner, das
Graue zeigt einen grünlichen Schein als Ergänzungsfarbe. Es paßt aber
auch zu lichtärmeren Farben, wenn es in verhältnißmäßig hellem Tone
auftritt, beſſer als Schwarz; neben Grün erſcheint es röthlich und das
Grüne glänzender, neben Blau orangefarbig und das Blaue glänzender,
neben Violett gelblich und das Violette lebendiger. So kann es nun auch,
namentlich wenn man es je nach der zunächſt ſtehenden Farbe in den
rechten Tönen und Schattirungen wählt, disharmoniſche Farben trennen
und dadurch verbinden.
Ferner kommt es nun bei allen zuſammengeſtellten Farben weſentlich
auf Ton und Schattirung an. Tritt z. B. mit einem tiefen Blau ein
dünnes Grün zuſammen, ſo iſt der Mißklang empfindlich; dagegen wo
ſich dunkles, öligtes, ſchwärzliches Grün von tiefem Blau abſetzt, ſtellt ſich
der nöthige Gegenſatz her. So verhält ſich im Allgemeinen die Vegetation
der wärmeren Länder zu ihrem Himmel; das weißlichte Graublau unſeres
nördlichen Himmels dagegen mag das ungleich dünnere und wäßrigere
Grün unſerer Pflanzenwelt leiden. Die Welt von Combinationen nun,
welche ſich hier aufthut, auch nur einigermaßen zu ordnen iſt äußerſt
verwickelt und weitſchichtig. Das Scharfſinnigſte und Reichhaltigſte, was die
Literatur hierüber beſitzt, iſt das ſchon angeführte Werk von E. Chevreul:
die Farbenharmonie in ihrer Anwendung bei der Malerei, bei der Fabri-
cation von farbigen Waaren jeder Art, von Tapeten, Zeugen, Teppichen,
Möbeln u. ſ. w. Aus dem Franz. von einem deutſchen Techniker, Stuttg. 1840.
Man kann daraus namentlich auch gute Lehren für paſſende Kleidung
entnehmen.
[51]
Außerdem kommt nun die Form der Körper in Betracht, worüber
Oerſted (a. a. O. §. 65) treffende Winke gibt. In einer Blume z. B.
mag Blau und Grün verbunden ſein, aber durch beſtimmte Grenzen ſo
getrennt, daß das Auge beide Farben auseinander hält; im Vergißmein-
nicht z. B. fällt das Grün an Stengel und Blätter, das Blau an die
Blätter der Blume und außer der Farbe wirkt noch die Gruppirung an
ſich als reine Form. Ebenſo Gelb und Grün am gelben Stern u. dergl.
Endlich thut auch der größere Abſtand von Körpern und Räumen ſeine
Wirkung. Blau und Grün in der Verbindung von Himmel und Pflanzen-
welt z. B. wird nicht nur, wie früher bemerkt, durch die Lichtfülle des
Blau und durch die Verſchiedenheiten des Grün, nicht nur durch das
Intereſſe, welches die Zeichnung der Pflanzenkörper für ſich in Anſpruch
nimmt, ſondern ſchon dadurch zu einer Farbenverbindung, worin das
Widerliche dieſes Farbenpaars verſchwindet, daß Himmel und Pflanzen
ſich beſtimmt und weit von einander abſetzen, das Auge alſo beide Farben
unmöglich als Farben Eines Körpers anſehen kann.
§. 252.
Treten nun mehr als zwei Farben zuſammen, ſo wird zwar der Mangel1
oder Mißklang in ihrer Verbindung auch durch die Fortbewegung des Augs zu
weiteren Farben gemildert, die obigen Beſtimmungen behaupten aber doch in
dem Grade Geltung, in welchem jene ſich als zuſammengehörig darſtellen. In2
einer Verbindung vieler Farben zu einem Ganzen ſind beſtimmte Körper als
Träger derſelben vorausgeſetzt (§. 247) und ihre Farbe ſoll ſowohl ihrem Charakter
an ſich entſprechen, als auch ihrer Stellung im Ganzen, ſo daß die bedeutender
hervortretenden Individuen auch durch die wärmere Farbe ſich auszeichnen. Ferner
wird gefordert, daß der Zufall glücklicher Beleuchtung durch trübe Medien über
das Ganze den allgemeinen Farbenton ziehe, welcher ſeiner Grundſtimmung entſpricht
und im Gegenſatz gegen welchen die den einzelnen Körpern eigene, durch jenen
allgemeinen Ton und alle Beleuchtungsverhältniſſe hindurch ſich behauptende Farbe
Localton oder Localfarbe heißt.
1. Ueber die Verbindung von mehr als zwei Farben kann in abstracto
mehr nicht geſagt werden als das Obige. Wer Elementarfarben zuſammen-
ſtellt, wie der Tapetenfabrikant, der Teppichwirker, kann hier immer noch
Berechnungen anſtellen, aber in den unendlichen Brechungen, Zwiſchentönen,
Abſtufungen, trennenden oder vermittelnden Lichtern und Schatten, welche
die Farbenwelt in der Natur annimmt, iſt keine weitere Syſtematiſirung
möglich. Was aber immer dazwiſchen und dazu treten mag, ſo viel bleibt
dennoch richtig, daß wir z. B. nie eine Blondine in Gelb gekleidet zu ſehen
4*
[52]wünſchen können; die Farbe, die ihr paßt, iſt, da ihre Geſichtsfarbe und
Haare zuſammen ſich dem Orange nähern, Blau. Tritt aber nicht als
Farbe ihres Kleids, ſondern anderswie ein Gelb in ihre Nähe, ſo kann
durch die verſchiedenſten anderweitigen Farbentöne, Schatten die ſich da-
zwiſchen ziehen, der Mißklang ſich aufheben.
2. Es iſt aber Zeit, die abſtracte Betrachtung zu verlaſſen und ſich
zu erinnern, daß in der Aeſthetik die Farbe nur als Eigenſchaft von Körpern
in Betracht kommen kann, und zu dieſen können wir hier immer auch die
blos phyſikaliſchen Potenzen als Urſachen von Farben ziehen, denn wiewohl
ſie gegen die Farben, die wechſelnd aus ihrer Stellung zum Lichte entſtehen,
gleichgiltig ſind (§. 246), ſo ſehen wir ſie im äſthetiſchen Gebiete doch ſo an,
als nähmen ſie ſelbſt an der Stimmung Theil, welche ſie durch Farbe über
beſtimmte Gegenſtände verbreiten; die blutroth beleuchtende Sonne ſcheint vor
einer Mordthat zu erröthen u. ſ. w. Dieſe Medien nun ſind es allerdings
weſentlich, von welchen der allgemeine Farbenton eines Ganzen erzeugt wird;
zuerſt aber behauptet die charakteriſtiſche Farbe der in dieſem Ganzen ver-
einigten individuellen Körper ihr Recht. Die tiefe Bedeutung der Farbe in
ihrer bezeichnenden Kraft als Eigenſchaft beſtimmter Körper iſt in §. 247
ausgeſprochen und wie ſich eine Disharmonie der Farbe mit dem Weſen des
Individuums, das ſie trägt, äſthetiſch ausgleichen kann, in §. 248 angegeben.
Der Sinn der Farbe verlangt aber, daß abgeſehen davon die Geſtalten,
welche in einem Ganzen die wichtigeren ſind, auch durch volle Farbenkraft
ſich hervorheben; die unbedeutenderen mögen bunter ſein, allein etwas ganz
Anderes, als Menge der Farben, iſt die ungebrochene Reinheit weniger
und die Kraft lichtvoller Farben. Alle den individuellen Körpern und den
einzelnen Theilen nicht individualiſirter Körper (Theile des Luftraums,
Wolken, Waſſer) eigenen Farben nun erhalten in jedem ſichtbaren Ganzen
noch ein allgemeines Farben-Element, worin ſie ſchwimmen. Dieſe all-
gemeine Farbe („ein Schleier, von einer einzigen Farbe über das ganze
Bild gezogen“ Göthe) iſt es, welche vorzüglich vom Licht oder Feuer in
ſeiner Brechung durch das allgemeine Medium der Luft hervorgebracht wird.
Es wird Ton genannt. Der Ton ſoll mit der Bedeutung ſeiner Farbe
der Stimmung des Ganzen entſprechen. Es entſteht Disharmonie, wenn
eine arme und öde Landſchaft in glänzendem, eine reiche und freudige in
trübem Tone erſcheint; doch kann auch hier eine gegenſätzliche Form des
Schönen ausgleichend eintreten, ſo daß dort die glänzende Beleuchtung
wie eine tragiſche Ironie, hier die trübe in elegiſchem Sinne gefühlt wird.
Ueberhaupt wird in der landſchaftlichen Natur, weil die Gegenſtände in
ihr kein eigenes Leben führen, ſondern Sinn und Wirkung durch den Ton
des Ganzen erſt erhalten, ein unlösbarer Widerſpruch nicht leicht auftreten.
Menſchliche Scenen aber bringen eine ſo ſelbſtändige Stimmung mit ſich,
[53] daß ein Zufall, der einen Ton von anderer Stimmung über das Ganze
zieht, ſich nur in ſeltenen Fällen löst. Wir wünſchen zu freudigen und
lebhaften Scenen warm gelben, zu leidenſchaftlichen und fürchterlichen rothen,
zu ſanften, traurigen, bangen, bläulichen, violetten, grünlichen, grauen Ton.
Doch kann auch hier allerdings theils Ausgleichung durch gegenſätzlichen
Standpunkt wirken, wie wenn die Wärme in der Färbung der übrigen
Welt menſchliches Elend zu verſpotten ſcheint, theils kommt es auf die
nähere Schattirung, Lichtkraft, Reinheit ein; Gelb z. B. iſt warm und mild,
wird aber als ſtrohgelber, fahler Scirocco-Ton ſchwül, drohend, ängſtlich
und paßt daher auch zu einer Scene dieſer Art.
Der allgemeine Ton zieht ſich zwar über Alles, aber unter ihm erhält
ſich die Farbe der einzelnen Körper, d. h. die Localfarbe. Dieſes Wort
mag auch in weiterem Sinne gebraucht werden, nämlich nicht nur von der
Farbe einzelner Körper, ſondern auch von einem über mehrere Körper von
verſchiedener Farbe verbreiteten Farbenton, der jedoch nur in einem Theile
des Ganzen herrſcht und ſich daher immer noch dem Tone des Ganzen
unterordnet. Ein Ganzes mag alſo z. B. gelben Ton haben, aber ein
dunkler Raum in dieſem Ganzen gibt den übrigens verſchieden gefärbten
Gegenſtänden, die ſich in ihm befinden, einen bläulichen, bräunlich grauen
Localton. Man nennt wohl am beſten die Farbe der einzelnen Körper
Localfarbe, den gemeinſamen Ton mehrerer, Localton, den Ton des Ganzen
ſchlechtweg Ton oder Hauptton.
§. 253.
Wenn nun in dieſen Verbindungen allerdings die Farbe nicht für ſich,1
ſondern weſentlich als bezeichnende Eigenſchaft von Individuen und der Stimmung,
in welcher ſie vereinigt ſind, ihre Wirkung ausübt, ſo erwartet dennoch das Auge
ſelbſt noch ohne beſtimmtere Rückſicht auf die Gegenſtände eine wohlgeordnete
Vereinigung der Grundfarben in ihrer vollen Kraft. Bilden nun zugleich ihre2
verſchiedenen Abſtufungen und Schattirungen harmoniſch vermittelnde Uebergänge
und tritt dieß fließende Reich von Farben in Verbindung mit den verſchwebenden
Wirkungen des Helldunkels, ſo entſteht jene Zauberwelt von Licht und Farbe,
worin die Träger der Farbe an die Geſammtwirkung dieſer als gegen ein
höheres und allgemeineres Element, von dem ſie ſelbſt getragen erſcheinen, das
vorherrſchende Intereſſe abgeben.
1. Das Auge verlangt in einem Ganzen, das in Farbe ſchön ſein
ſoll, daß ſämmtliche Hauptfarben in ihrer Kraft auftreten. Man fürchte
davon nicht Buntheit und ſuche daher nicht Abſchwächung oder Auslaſſung;
volle Farben, wenn ſie nach den obigen Geſetzen die rechte Stellung zu
[54] einander einnehmen, machen nicht bunt, ſondern indem ſie einander erhöhend
ergänzen, ſtellen ſie das geſuchte Gleichgewicht her. Oft hält man die
Bemalung eines Hauſes, eine Tapete, einen Zeug für zu bunt, wo er
vielmehr nicht bunt genug, richtiger nicht energiſch genug in Farbe iſt.
Schreit die blaue Farbe eines Hauſes, ſo meine man nicht, ſie wäre ab-
zuwaſchen, vielmehr fehlt die zweite Farbe, die an Geſimſen, Läden u. ſ. w.
anzubringen wäre, nämlich Orange. Dieſes Beiſpiel und der ganze §.
ſcheint Abſicht und Kunſt vorauszuſetzen, wir ſcheinen den Satz ſo wenden
zu ſollen, daß der rechte Maler die Grundfarben in ihrer Pracht ausbreiten
müſſe; allein abermals iſt zu ſagen, daß der glückliche Zufall unzähligemal
die rechten und vollen Farbenverbindungen dem Maler hinſtellt, ſo daß
er ausrufen muß, beſſer als dießmal ſei es nicht zu treffen. Uebrigens
verſteht ſich, daß in einem ſolchen gegebenen Ganzen allerdings Producte
der Technik, Kleider, Pferdezeug, Fahnen, Mauerverkleidungen mit dem
Licht der Sonne, des Feuers, den Farben der Erde, der Pflanzen-, der
Thierwelt und dem Colorit des menſchlichen Leibes zuſammenwirken können,
ohne daß wir darum das Gebiet der Naturſchönheit verlaſſen, denn jene
Producte des Kunſtfleißes ſind in dieſem Zuſammenhang, wiewohl an ſich
beabſichtigt, zufällige Schönheit. — Die Meinung in dem vorliegenden
Satze iſt jedoch nicht, daß alle Grundfarben in gleicher Breite herrſchen
ſollen; es kommt auf den Grundton an, welche vortreten, welche zurück-
treten müſſen: iſt er lebhaft, ſo fordert das Auge, daß die lichtarmen, iſt
er ſanft, traurig, daß die lichtreichen Farben wenig Raum einnehmen. Das
Weſentliche iſt nur immer, daß das Auge die Forderung eines Vor-
kommens der Hauptfarben macht, in welchen Proportionen es auch geſchehen
mag, daß alſo die Farbe eine gewiſſe äſthetiſche Selbſtändigkeit behauptet.
2. Die Uebergangsfarben, die verſchiedenen Abſtufungen in Ver-
dünnung und Vertiefung (Töne), die verſchiedenen Schattirungen treten
nun als vermittelnde, hinüberführende Leiter zwiſchen die Hauptfarben.
Dieſe Mittelfarben erſcheinen namentlich an den Stellen, wo die Körper
ſich nicht mehr dem vollen Lichte zukehren, daher ihre Farben ſich durch
Reflexe vermiſchen, wie denn z. B. in den Falten eines Gewands gewiſſe
ſchillernde Widerſcheine auftreten, ebenſo in den Vertiefungen des menſch-
lichen Incarnats. An eben dieſen mehr oder minder zurücktretenden, ab-
gewendeten Stellen verſchwindet aber mit der Beſtimmtheit der Beleuchtung
auch die Beſtimmtheit der Geſtalt. Nun wirkt das Helldunkel (§. 248)
zuſammen mit der Farbe und dieſes allein reicht hin, den beſtimmten
Charakter einer Farbe in’s Unbeſtimmte abzudämpfen. Hier nun iſt es,
wo erſt der ganze Reiz der Farbenwelt eintritt: die beſtimmten Farben
treten hervor, verſchweben aber miteinander durch dieſe geheimnißvollen
Zwiſchentöne in ein Meer, eine Muſik von Tönen. Zugleich tritt Farbe
[55] und Beleuchtung in Gegenſatz: wenn durch farbloſe Lichtreflexe relatives
Dunkel zu relativem Lichte und durch einwirkende Schatten relatives Licht
zu relativem Dunkel wird, ſo iſt nun zu erwägen, daß auch die Farbe
leuchtend oder verdunkelnd wirkt. Eine beleuchtete Stelle kann eine licht-
arme Farbe, eine dunkle dagegen eine lichtvollere Farbe haben, dadurch
wird jene relativ dunkel und dieſe relativ hell. Es kann dieß ganz wohl
eintreten, ohne daß die Geſammtwirkung leidet, denn vorausgeſetzt iſt
allerdings, daß an den Hauptſtellen, welche durch ihre Bedeutung im
Ganzen Licht und warme Farbe, Schatten und kältere Farbe fordern,
die Wirkung nicht geſtört ſei, jene Durchkreuzung aber an der rechten
Stelle eintrete. Nun wirft alſo z. B. in die dunkle Einziehung einer
Welle die benachbarte einen grünen, blauen Lichtreflex, in das geſenkte
und dadurch beſchattete Angeſicht eines Menſchen die leuchtende Haut der
Bruſt einen warmen Widerſchein: ſo leuchtet Eines farbig in’s Andere,
die dunkelſte Stelle iſt noch durch Localfarben erwärmt, Alles ſpielt inein-
ander, ſchießende goldene, bunt befiederte Pfeile bilden ein zauberhaftes
Gewebe: das „objectloſe Spiel“ der Farbenmagie (Hegel Aeſth. B. 3.
S. 74). Objectlos will ſagen, daß die einzelne Geſtalt und ihre Charakter-
farbe in dem Ganzen wie ein flüchtiger Klang aufgeht. Man meine nicht,
nur in der Kunſt gebe es ſolches „Farbenconcert“, worin, wie im Hell-
dunkel (§. 245) Licht- und Schattenſpiele, ſo die Zauber der Farbe zuſammen-
fließend mit dieſen eine relative Selbſtändigkeit annehmen. Was die großen
Coloriſten mit dem beſten Stoffe noch vorzunehmen haben, geht uns hier
noch nicht an, ſie haben jedenfalls den Zauber des Farbenlebens in der
Natur belauſcht. Welcher ganz ſchlimme Widerſpruch allerdings entſteht,
wenn in einem Kunſtwerke der Gehalt der Idee verlangt, daß die Indi-
viduen im Vordergrunde der Bedeutung ſtehen, und ſtatt deſſen ein
zudringlicher Farbenreiz die ganze Aufmerkſamkeit auf ſich abzieht, dieß
leuchtet ebenſo ein, wie das, was §. 244 Anm. 2 über das doppelte Licht
geſagt iſt. Davon iſt in der Kunſtlehre mehr zu ſagen; von der Natur
hoffen wir vorläufig, daß der gute Zufall es an Erſcheinungen nicht fehlen
laſſen werde, wo der Farbenzauber zum Gegenſtande paßt.
c.
Die Luft.
§. 254.
Die eingreifendſte und umfaſſendſte Wirkung der Farbe, insbeſondere der1
über ein Ganzes verbreitete Ton, entſteht durch die Brechungen des Lichts in
[56] der Luft. Dieſelbe erfreut nicht nur durch das reine Lebensgefühl, das die
lebendigen Weſen in ihrem allverbreiteten erhaltenden und labenden Elemente
genießen, ſondern ſie vollendet dieſen Eindruck auch für das Auge durch das
ſchöne Blau, welches durch die Tiefe ihrer Schichte zur Erſcheinung kommt.
2Dieſe Farbe, welche die Luft als trübes Medium annimmt, ſteigt nach dem
Maaße der Entfernungen, nach Art der in einem Raume ſchwebenden Dünſte
ſpielt ſie in’s Graue, Gelbliche, Bräunliche; der verdunkelnde Schleier, welcher
ſo ſich bildet, verhüllt in dem Grade, in welchem die Gegenſtände vom Zuſchauer
zurücktreten, ihre Form und Localfarben. Dieſe Wirkung der Luft heißt
Luftperſpective.
1. Es iſt zunächſt das allgemeine Lebensgefühl hervorgehoben, das
die Luft erregt. Dieſes ſcheint nicht äſthetiſch, da es ſich unmittelbar
keinem der äſthetiſchen Sinne, nicht dem Auge, nicht dem Ohre darſtellt.
Allein es fehlt dennoch die erforderte Objectivität nicht; durch das eigene
Gefühl der Labung, das wir in der Luft genießen, wird uns der allgemeine
tonus, den alles Lebendige hat, was wir ſehen, in ſeiner Urſache, den
lebenbringenden Einflüſſen der Luft klar; wir ſehen die Geſchöpfe athmen,
wir ſehen ſelbſt der Pflanze an, daß ſie Luft einſaugt. Hölderlin’s Gedicht
an den Aether. Wir ſehen die Schlaffheit und Gedrücktheit aller Weſen
in dumpfer, die Friſche in gereinigter Luft und zwar noch abgeſehen von
dem Farbentone, der durch dieſe verſchiedene Beſchaffenheit der Luft bedingt
iſt. Von dem Blau als der Farbe, welche die erleuchtete Luftſchichte über
uns annimmt, war beiſpielsweiſe ſchon die Rede. Trotz ihrer verhältniß-
mäßigen Armuth wirkt dieſe Farbe hier darum ſo poſitiv, weil ſie vom
Lichte durchdrungen und durchſichtig iſt, ferner weil Auge und Gefühl als
Gegenſatz gegen die dichten Körper und ihre energiſche Farbe gerade die
dünnere und paſſivere Farbe ſucht; Auge und Sinn bedarf es, von der
beſchränkenden Strenge der individuellen Körper ſich ſanft angezogen in
das „reizende Nichts“ dieſes Blau zu verlieren, ſich in dieſem widerſtands-
loſen Elemente zu baden.
2. Die Luftperſpective pflegt, wie das Colorit, von den Aeſthetikern
erſt in der Lehre von der Malerei aufgeführt zu werden. Die Sache iſt
aber vorhanden vor dem Maler und ohne ihn und der wiſſenſchaftliche
Ausdruck für ſie iſt zwar erſt von der Kunſt gefunden worden, allein das
verſteht ſich bei aller Naturſchönheit, daß nicht ſie ſelbſt ihren Begriff und
ihre Geſetze ausſprechen kann. Erſt die Luftperſpective nun iſt es, durch
welche das Auge die Entfernungen der Dinge nach der Tiefe, ihren
Abſtand hintereinander zu meſſen vermag. Das Licht kann auch in den
Mittel- oder Hintergrund einfallen, allein mag das Entferntere auch das
vollere Licht haben, der Flor, den die dickere Luftſchichte darüber zieht,
[57] zeigt dem Auge die wahre Entfernung. Der Vordergrund iſt der hellſte,
mag er auch viel weniger beleuchtet ſein, als die andern Gründe (oder
Pläne), denn das Licht, das er hat, iſt am reinſten, ſeine Farben am
vollſten, ſeine Formen am deutlichſten; aber er iſt ebenſoſehr der dunkelſte,
denn ſeine Schatten ſind am ſtärkſten, und in dieſem Sinne ſtufen ſich
weiter die Gründe ab. Je entfernter, deſto mehr verſchwinden Umriſſe,
Modellirung, Localfarben in dem verdunkelnden Schleier, deſto ſichtbarer
trübt dieſer Duft ſelbſt das an ſich vollere Licht und den ebendadurch an
ſich tieferen Schatten. Die Farbe dieſes trübenden Mediums hängt von
der Atmoſphäre ab. Am reizendſten blau erſcheint es in ſüdlichen Ländern,
in der unreineren Atmoſphäre wird es graulich, gelblich, bräunlich,
namentlich auch in geſchloſſenen Räumen. — Die ſchwerere Decke des
Nebels hat auch ihren Reiz; im Trüben und Drückenden wirkt er
zugleich geheimnißvoll.
§. 255.
Durch ihre ſchwächeren und ſtärkeren Bewegungen vom ſanften Winde bis1
zum gewaltigen Sturme iſt die Luft Haupturſache der Erſcheinung allgemeiner
Lebendigkeit in dem ganzen Reiche der Natur, das eigener Bewegung entbehrt,
und dieſes bewegte Leben wird, indem es ſich ebenſo dem Gehöre wie dem
Auge ankündigt, von dem ahnenden Gefühle wie ein ernſtes Geſpräch der Natur
mit ſich ſelbſt aufgefaßt, worin ſie ihr unbewußtes Daſein zu löſen ſuche.
Erhaben im furchtbaren Sinne wirkt der Sturm, der mit dem Widerſtande der
ſchwerſten Maſſen auch die freie Bewegung organiſcher Körper überwältigt.
Als erſte Geſtalt in der unorganiſchen Natur treten die Wolken auf; dieſe2
iſt jedoch ſo unbeſtimmter und verſchwindender Art, daß ſie ungleich mehr
durch Beleuchtung und Farbe, bald anmuthig beſchäftigend, bald erhebend, bald
furchtbar wirkt.
1. Es ſind nicht blos die Dichter, welche davon ſingen, wie die
ſäuſelnden Bäume ſich ein uraltes Geheimniß zuflüſtern, welche im Sturm
ein Brüllen der Wuth, ein Geheul der Verzweiflung hören; dieß Leihen
nimmt jede wohlorganiſirte Empfindung vor. Der Wind zeigt ſeine Wir-
kungen aber allerdings dem Auge und hier ſogleich kann, unter Voraus-
ſetzung der Körper, die er trifft, die große Schönheit der Linien hervor-
gehoben werden, die er hervorruft. Man beobachte die reizende Biegung
von Zweigen und Blättern, den wallenden Schwung der thieriſchen Mähne,
die ſanften Ringe menſchlicher Haare, wenn der Wind darin ſpielt. Die
Bewegungen, die er hervorruft, werden im §. zunächſt die erſte Leben-
digkeit in demjenigen Reiche der Natur genannt, dem noch die eigene
Bewegung fehlt; allerdings ſind aber, um das Aeſthetiſche ſeiner Wirkungen
[58] im vollen Umfange zu faſſen, auch Körper von freier Bewegung nicht
auszuſchließen, ſofern der Sturm durch ſeinen ſtärkeren Stoß dieſe aufhebt,
und ſo erſt erſcheinen die ungeheuren Wirkungen desſelben in ihrer ganzen
Macht. Der Sturm überwältigt zwar leichter menſchlichen Widerſtand als
maſſenhafte Laſten; aber die menſchliche Intelligenz nimmt die letzteren in
ihren Dienſt und daß ſie ſammt dieſen der Sturmgewalt weichen muß,
welcher doch zugleich ſelbſt etwas wie menſchlicher Zorn geliehen wird, iſt
doppelt furchtbar.
2. Es iſt bekanntlich ſchwer, Wolken zu zeichnen. Es kommen hier
ſchon alle Linien vor, aber jede unbeſtimmt und zerfließend. Doch ſieht
man die ſpezifiſche Wirkung des Eintritts von Linien und Formen ſogleich
daraus, daß es nahe liegt, in den Wolken Geſtalten von Bergen, Thieren,
Menſchen zu ſehen und daß dieſes Spiel ſogar bereits Anknüpfungspunkte
des Komiſchen gibt. Verſchieden iſt der Eindruck ruhig ſchwebender und
bewegt hinziehender Wolken. Die äſthetiſche Wirkung beruht jedoch ungleich
weniger auf Form und Bewegung, als auf der damit zuſammenwirkenden
Beleuchtung und Farbe. Erſt durch ihren ſilbernen oder roſigen, gelben,
hochrothen Glanz, durch ihre tiefe Schwärze, bläulich gelbliche, ſchweflichte,
undurchſichtige Farbe wird die Wolke äſthetiſch bedeutend. Der Cumulus
von Wetterwolken iſt wohl ſchon als Maſſe furchtbar und drohend, aber
doch nicht ohne die ſchweren Farben und Schatten. Phantaſtiſch erſcheinen
zerriſſene Wolken, durch welche farbiges Sonnen- oder Mondlicht bricht,
beſonders reizend iſt der Silberſaum an der dunkeln Wolke.
§. 256.
Die furchtbarſte Lufterſcheinung iſt durch Finſterniß und grelle Beleuchtung
des Blitzes, Gewalt des Sturmes und Tones, Ergüſſe des Regens und Hagels
das Gewitter. Der mildere Regen wirkt erfriſchend, der anhaltend verbreitete
niederſchlagend. Glänzender Schmuck iſt der Thau. Der Schnee erregt in
dem Ausdruck von Kälte und Erſtorbenheit, den er der Landſchaft gibt, unter
gewiſſen Umſtänden und Gegenſätzen doch ein Gefühl kräftiger Anſpannung,
ſelbſt Heiterkeit.
Es darf nicht überflüſſig ſcheinen, daß neben dem Gewitter auch der
Regen erwähnt iſt; nicht umſonſt haben ihn Landſchaftmaler, Genre- und
Geſchichts-Maler in allen Formen nachgeahmt, um einer Gegend einen
beſtimmten Ausdruck, menſchlichen Zuſtänden und Thaten einen Hintergrund
von beſtimmter Stimmung zu geben. Ebenſo wirkſam iſt der ſchwüle Ton der
Luft vor dem Regen, der wäßrig dünne während des Regens an offenen
Stellen, der erfriſchte nach demſelben. Auch der trübſelige Landregen kann zu
[59] einer beſtimmten Situation die rechte Stimmung geben. Das Diamanten-
geſchmeide des morgentlich erfriſchenden Thaues durfte nicht unerwähnt
bleiben. Die kalte, einförmig weiße Schneedecke ſollte man für ganz
unäſthetiſch halten; allein man muß mehrere gegenſätzliche Bedingungen
erwägen: einmal, daß die ohnedieß erſtorbene Natur ſtatt des ſchmutzigen
und fahlen Braun der Regenzeit nun doch das lichtvolle Weiß zeigt,
ferner, daß nach den trüben Regen des Frühwinters der Schnee mit der
Kälte, die er bringt, anſpannend auf alle Geſchöpfe wirkt. Erſcheint hier
der Schnee mit ſeiner Kälte als eine Energie, ſo mag er ein andermal
ſelbſt als Uebel äſthetiſch wirken, ſofern der unbequeme Puder, der auf
Alles fällt, etwas Komiſches hat, oder ſofern der warme Raum, das
behagliche Feuer, an das ſich der Menſch zurückzieht, mit der beſchneiten
Landſchaft in eine contraſtirende Anſchauung zuſammengefaßt wird und ſo
mit der ſtarren, aber abſtoßenden Erhabenheit der äußern Natur zugleich
das Gemüthliche des Zuſammenwohnens und Zuſammenrückens der Menſchen
in Wirkung tritt.
d.
Das Waſſer.
§. 257.
Die zu Waſſer verdichtete Luft kommt nach ihren Anſammlungen zu
größeren Maſſen in beſonderen Betracht. Beſtimmter tritt nun in dieſem dich-
teren Stoffe die Schönheit der Linie hervor; Sinn und Gemüth führt fort und
erweitert die gerade in wagrechter Richtung als die Form des ruhig ſeinen
Behälter füllenden Waſſers, unruhiger wirkt ſie in der ſenkrechten des freien
Abſturzes und Aufſprungs (vergl. §. 91, 3.). Vollkommener iſt die runde
Linie, weil ſie als die in ſich zurückkehrende die concrete Einheit des organiſchen
Lebens anzukündigen ſcheint; wie ſie als Kreis und in den verſchiedenſten
Kreis-Ausſchnitten, fortgeleitet zum reinſten Schwunge der Wellenlinie in
Wogen und Stürzen erſcheint, erinnert ſie daher auf das Anziehendſte an das
höhere Reich der Formen.
Schritt für Schritt ergänzt ſich nun poſitiv das, was über abſtracte
Beſtimmungen des Schönen durch gewiſſe Eigenſchaften der Körper §. 35
und 36 negativ geſagt iſt. Vom Lichte, von den Farben iſt ſchon gezeigt,
wie ſie immer Gegenſtände vorausſetzen, an denen ſie erſcheinen, aber in
dieſer Verbindung allerdings im Vordergrunde der äſthetiſchen Wirkung
[60] ſtehen können. Mit der Linie nun verhält es ſich anders; ſie iſt keine
ſelbſtändige elementariſche Potenz, wie Licht und Luft, ſie iſt nur die
Grenze eines Körpers und zeigt das Bildungsgeſetz auf, nach welchem er
ſeinen Stoff auf allen Punkten bis dahin und nicht weiter vom Mittel-
punkte nach außen treibt. Ein Körper kann nun allerdings mehr durch
Linien, als durch Farben, Ausdruck u. ſ. w. wirken, allein es wird, wenn
man vom Reize der Linie ſpricht, nicht nur natürlich vorausgeſetzt, daß
ſie ein Object habe, an dem ſie erſcheine, wie Licht und Farbe, ſondern
ſie iſt ſchlechtweg identiſch mit ihrem Körper, iſt gar nichts für ſich.
Noch viel weniger, als bei den bisher betrachteten elementariſchen
Erſcheinungen, kann alſo von einer Schönheit der Linie an ſich die
Rede ſeyn. Aber auch als mathematiſch regelmäßige Grenze eines wirk-
lichen Körpers kann ſie äſthetiſch niemals in Betracht kommen, denn da
fehlt ihr die Zufälligkeit, d. h. relative Unregelmäßigkeit, welche die
nothwendige Folge der unendlichen Eigenheit jedes ſelbſtändigen, lebendigen
Individuums iſt. Daher beruht eine bekannte Stelle Plato’s auf einem
Mißverſtändniſſe. Er läßt im Philebus den Sokrates ſagen: „Schönheit
der Geſtalten (σχημάτων) will ich jetzt nicht, wie die Meiſten wohl
glauben möchten, die der lebenden Körper oder gewiſſer Gemälde nennen;
ſondern ich nenne etwas gerade, ſagt meine Rede, und etwas rund und
ſomit denn die Flächen und Körper, die gehobelt und gedreht und mit
Winkel und Wage beſtimmt werden, wenn du mich verſtehſt. Denn dieſe,
ſage ich, ſind nicht in Beziehung auf etwas ſchön, wie Anderes, ſondern
immer an und für ſich ihrer Natur nach und führen eigene Arten von
Luſt mit ſich, die nichts mit denen des Kitzels gemein haben; (und auch
Farben ſind in derſelben Weiſe ſchön und von Luſt begleitet).“ Zunächſt
muß man den klaren Formenſinn in dieſer Stelle hochhalten; wer nicht
weiß, wie das Auge in den reinen Formen einer Woge, eines Berges
und in höherem Sinne freilich einer organiſchen Geſtalt ſchwelgen kann,
verſteht ſie nicht. Das Mißverſtändniß aber iſt dieß, daß Plato meint,
ſobald er die Linie als Begrenzung wirklicher Naturkörper herbeiziehe, ſo
werde von etwas Stoffartigem die Rede, weil zu jedem wirklichen Körper
eine Beziehung der Neigung oder Abneigung, alſo äſthetiſch unreines
Verhalten möglich iſt. Daher faßt er die Linie in ihrer Abſtractheit auf,
denn der Körper, den er allerdings vorausſetzt, wenn er von Drehen,
Hobeln u. ſ. w. ſpricht, iſt hier blos gleichgiltiges Mittel; er erwägt nicht,
daß ſo mechaniſch, mathematiſch ſtreng ausgeführt die Linie zwar eines
Theils allerdings einen Anſatz reiner Luſt gewährt, aber nur, um dieſe
in die lange Weile der Einförmigkeit wieder aufzuheben, ſofern nicht die,
hieher gar nicht gehörige, Luſt des wiſſenſchaftlichen Erkennens an ihre
Stelle tritt. Die Linie ſetzt einen beſtimmten Körper, deſſen Grenze ſie
[61] iſt, voraus, und zwar einen nicht von der Abſicht meſſenden Thuns,
ſondern von der unbewußt bauenden Naturkraft geſchaffenen, und durch
deſſen Individualität tritt auch die geſonderte Abweichung von der Regel,
die Zufälligkeit ein. Daß aber ein ſolcher Körper nicht ſtoffartige Luft
errege, dazu iſt freilich ein beſtimmter Standpunkt der Betrachtung voraus-
geſetzt; für jetzt genügt es zu ſagen, es ſcheine wenigſtens, daß das
Naturgebilde ſelbſt es mit ſich bringe, daß der Zuſchauer dieſen freien
Standpunkt einnehmen müſſe; es wird ſich aber freilich Anderes im Schluſſe
der Lehre vom Naturſchönen ergeben.
Wir faſſen nun hier die Linie zuerſt nur in ihrem flüchtigſten Gebiete
auf, um ſie auf höhere Stufen zu verfolgen. Sie iſt im Waſſer durch
das mechaniſche Geſetz der unendlichen Glätte ſeiner Theile bedingt und
kann daher nicht zu einer feſten Harmonie des Geraden und Gerundeten
ſich bilden. Die wagrecht gerade Linie der ruhigen Waſſerfläche nun
erreicht die Wirkung des Erhabenen des Raums (§. 91) bei einer
Ausdehnung, deren Grenze nicht abzuſehen iſt. Es iſt dieß der eine
Grund der unendlichen äſthetiſchen Bedeutung des Meers. Dabei iſt
jedoch auf irgend einer Seite eine Linie vorausgeſetzt, welche die wagrechte
durchſchneidet; die Meeresfläche muß ſich von Uferformen u. drgl. abſetzen,
damit das Auge einen Anhalt, Gegenſatz habe, ſonſt wird das Gefühl
des Unendlichen zum Gefühl des unwirthlich Oeden, ja des Einförmigen.
Daß die Linie des Waſſerſpiegels hinter der durchbrechenden anderer Körper
in’s Unendliche fortgeſetzt werde, dafür ſorgt der Sinn des Zuſchauers.
Die ſenkrechte Linie zeigt ſich in aufſteigenden Waſſerſtrahlen, — daß
ſolche ſeltener durch Natur als durch Kunſt entſtehen, davon kann hier
abgeſehen werden —, und in freien Abſtürzen, d. h. in Waſſerfällen,
welche, nachdem ſie ſich in geſchwungener Linie über den Rand des Bettes
geworfen, nun in freier Luft gerade in die Tiefe fallen. Auch noch
ohne Rückſicht auf die wirkliche Bewegung wirkt dieſe Linie unruhiger; ſie
erweitert das Gemüth nicht ſtill und ſachte, ſondern reißt zur Bewunderung
und zum Schwindel fort. — Eigentlich nun ſtrebt das Waſſer durch die
Glätte ſeiner Theile zur Kugelbildung und die Kugel iſt, wenn man von
Form abſtract mathematiſch redet, die vollkommenſte, denn ſie iſt allſeitiges
Rund und das Runde, als in ſich ſelbſt zurückkehrend, die concreteſte
Linie. Allein die Form in dieſer Bedeutung überhaupt iſt abſtract, die
Schönheit fordert Form als Bildungsgeſetz des lebendigen Individuums;
der lebendige Körper ſtrebt, je vollkommener, allerdings deſto mehr zum
Runden, aber nur zu Anklängen desſelben, die er in ſeiner Freiheit
ebenſo wieder verläßt. Der Waſſertropfen nun hat Kugelform, aber nicht
nur iſt er zu klein, um äſthetiſch zu intereſſiren, ſondern wo er durch
ſeinen friſchen Schimmer dennoch das Auge anzieht, wird nichts weniger
[62] als Regelmäßigkeit jener Form gefordert. Gerade das freie und unregel-
mäßige Spiel des Runden an größeren Waſſermaſſen iſt es, wovon hier
eigentlich allein die Rede ſein kann. Solche frei geſchwungene Linien laſſen
ſich nirgends in höherer Schönheit beobachten, als an den Meereswellen,
wenn man bei mäßig bewegter See ſie am Ufer branden ſieht. Ueber
eine ſchlanke Einziehung wölbt ſich ein Rücken mit dem Profil des reizendſten
Schwanenhalſes. Iſt die Welle ſatt, ſo gießt zuerſt an einem oder mehreren
Punkten des Kammes das Waſſer über jene Einziehung in einem freien
Bogen herab, dann wird dieß allgemein und die Welle löst ſich auf, um
einer zweiten Platz zu machen. Es kommen noch die verſchiedenſten
anderen Wellenformen vor und die Seeleute haben beſtimmte Namen
dafür. Eine reiche Mannigfaltigkeit zeigt ſich bei ſtürmiſcher Brandung,
die Woge zerblättert ſich zu Fächern, fährt in Säulen auf, die ſich in
Büſche ausbreiten, ein krauſes Geringel ſcheint an Schlangen und die
mannigfachſten Thiergeſtalten zu erinnern.
§. 258.
Mit den Schönheiten der Linienbildung vereinigen ſich nun im Waſſer
alle Wirkungen des Lichts und der Farbe. Es hat eigene Farbe, es glänzt
und ſpiegelt fremde Formen und Farben, es iſt zugleich durchſichtig, ſeine
Tiefe ſcheint von dem durchdringenden Lichte erwärmt und lädt zugleich zu
labender Kühlung ein. In Schaum aufgelöst verliert es die Durchſichtigkeit,
ſpielt aber in neuen reizenden Formen mit ſeinem leichten Staube und das
Licht zeigt in ihm die Farben des Regenbogens. Gefroren bleibt es noch bis
auf einen gewiſſen Grad durchſichtig, eine Eisfläche hat ſchon daher ihren
beſondern Reiz; von erhabener Lichtwirkung durch Weiße und Glanz ſind die
Gletſcher, von furchtbarer die wild gethürmten Eisberge.
Die Licht- und Farbenreize des Waſſers wurden beiſpielsweiſe ſchon
angeführt. Nicht umſonſt nennt Novalis das Waſſer das Auge einer
Landſchaft. In der Durchſichtigkeit wirkt nebſt dem Glanze die Localfarbe
mit den geſpiegelten Farben, beſonders mit der Bläue, dem Gelb und
Roth der Luft, mit der ganzen Welt der gegenſeitigen Reflexe und Schatten
der Wellen zuſammen. Sieht man in die durchſichtige Tiefe eines ruhigen
Waſſers hinab, ſo begreift man das Gefühl, das Göthe in ſeiner Ballade:
der Fiſcher ausgeſprochen hat. Es iſt heimlich hier unten, denn das Licht
ſcheint in das farbige Dunkel und erwärmt es, das Element iſt zugleich
kühlend und gibt durch ſeine Glätte nach, indem es ſanft widerſteht; das
ladet zum Baden ein, ein Genuß, den der poetiſche Sinn nicht nur als
Erfriſchung überhaupt, ſondern als erſehnte Vereinigung, ein Verſenken in
[63] das fremdartige und doch lockende Element fühlt, dem wir nicht angehören.
Die Reize des Schaumes muß man an Meer-Wellen, an Waſſerfällen,
an Springbrunnen beobachten. — Eine Eisfläche wirkt gegenſätzlich aus
ähnlichen Gründen, wie der Schnee; niederländiſche Maler haben ihr
oft die Reize ihres halbdurchſichtigen, knarrenden, krachenden, duftbelegten
Spiegels abzulauſchen gewußt.
§. 259.
Jene Linien ſind in ſtetem Uebergange begriffen und können ſich nie zu1
einer feſten Geſtalt zuſammenſchließen; dagegen iſt das Spiel ihrer Bewegung
um ſo reizender und erregt, indem ihre mechaniſche Urſache vergeſſen wird,
verbunden mit ſeinem Rauſchen das Gefühl einer immer friſchen Lebendigkeit.
Zugleich iſt es ebendieß Spiel, welches die Schönheiten des Lichts und der
Farbe erhöht. Als Quelle hervorſprudelnd ruft das Waſſer die ganze geheim-
nißvolle und dankbare Empfindung eines aus der Tiefe geſpendeten, erfriſchenden
Segens hervor, als Bach, Fluß, Strom ſich fortbewegend mahnt es bald durch
die Eintönigkeit ſeines Laufs an das Unendliche der Zeit, bald zieht es das
ſtrebende Gemüth in die Ferne, bald wirkt es als majeſtätiſche und doch
freundlich den Völkerverkehr vermittelnde oder, überſchwellend und verheerend,
als furchtbar zerſtörende Kraft. Unter den in Becken geſammelten Waſſern2
vereinigt am vollſten alle Wirkungen dieſes Elements das Meer.
1. Es erklärt ſich von ſelbſt, wie die Licht- und Farben-Reize des
Waſſers namentlich durch ſeine Bewegung entſtehen, denn indem ſich Wellen
bilden, treten Lichter auf ihren Kämmen, Schatten in ihren Furchen, gegen-
ſeitige Reflexe, unendliche Modificationen der Farbe ein. Zwar ſcheint ſich
der Himmel, das Ufer vollſtändiger auf der ruhigen Fläche zu ſpiegeln,
allein ganz ruhig iſt dieſe nie, das Spiegelbild flimmert, blitzt, ſchwankt
immer und ebendieß iſt der Reiz; doch auch bei ſtärkeren Wellen kann noch
die ſchönſte Spiegelung Statt finden, das glühende Abendroth z. B. ſpiegelt
ſich in der aufgefurchten Wellen-Straße, die das Dampfſchiff hinter ſich auf-
wühlt, ſtärker als auf der übrigen ſchon dunkleren Fläche, ſo daß dieſes einen
breiten Feuerſtrom nach ſich zu ziehen ſcheint. Was nun die Poeſie der
Quelle, des Bachs, Flußes, Stroms betrifft, ſo wäre es leicht, ſie dadurch
in’s volle Licht zu ſetzen, daß der vergötternde Glaube der Naturreligion
ſchon hier herbeigezogen würde. Das Schöne fordert — und es iſt kein
Geheimniß, daß wir dahin ſtreben — ein beſeeltes Individuum. In der
unorganiſchen Natur übernimmt der leihende Menſch dieſe Beſeelung,
auch ohne Mythologie wird uns noch heute Quelle, Fluß und Meer zu
etwas Perſönlichem und die Vergötterung hat auch hier dieſen einfachen
[64] Grund im menſchlichen Gemüthe. Was eine Quelle heißen will, weiß
man freilich nicht, wenn man es nie anders erlebt hat, als daß das Waſſer
vom Brunnen in ärmlichem Gefäß in’s Haus getragen wird. Zwar auch
gefaßt als Brunnen iſt ſie noch poetiſch, wenn die Faſſung die ganze
Bedeutung dieſes aus dunklem Erdſchooße hervorſprudelnden, reinen,
labenden Urſprünglichen edel anzeigt, beſonders, wenn ſie der aus einer
Felſengrotte hervorſprudelnden Quelle zu Hilfe kommt. Und weil hier doch
überall ſchon an menſchliche Zuſtände, an die Sphären des Bedürfniſſes
und Genuſſes, an die Formen der Befriedigung erinnert werden darf —
wiewohl dieß Alles ſeinen eigentlichen Ort anderswo hat — ſo ſei auch
auf die Poeſie des Waſſerholens, wenn die Formen (z. B. die der Gefäße
und der Art, ſie zu tragen) nicht proſaiſch ſind, und namentlich auf die
herrliche Stelle in Werthers Leiden hingewieſen. Durch eine ſolche Vor-
ausnahme hätte auch beim Schnee an das Schlittenfahren, beim Eis an
das Schlittſchuhlaufen erinnert werden dürfen und kann der vorliegende §.,
wo von den Flüßen die Rede iſt, ihre Bedeutung für den Völkerverkehr
hervorheben. — Daß das einförmige Murmeln, Plätſchern, Rauſchen der
Waſſer mit dem Gefühle des Friſchen, Lebendigen zugleich den Eindruck
des Erhabenen der Zeit hervorrufe, bedarf nur einer Berufung auf die
allgemeine Erfahrung, der übrige Inhalt des §. aber keiner Erläuterung.
2. Ein Teich iſt etwas Unbedeutendes, aber wo er in einer gewiſſen
Umſchattung von Pflanzen getroffen wird, da begegnet das dunkle, dämmernde,
kühlende, durchſichtige Element als etwas Heimliches und Befreundetes, denn
der Menſch fühlt ſich immer zu Hauſe, wo er Waſſer findet, und zwar
nicht nur wegen des Bedürfniſſes, ſondern weil es vermöge ſeiner Durch-
ſichtigkeit ihn immer wie etwas Geiſtverwandtes anſpricht. Soll auch von
Sümpfen die Rede ſein, ſo weiß man wie düſter erhaben verſumpfte
Gegenden mit Spuren früherer Cultur wirken, z. B. die Gegend von Päſtum.
Bei Seen kommt es nun ebenfalls namentlich auf die Umgebung und Local-
farbe ihres Waſſers an, wie ſie wirken. Anders erſcheint ein See in tiefem
Keſſel, wie der Albaner-See, anders in breiter Fläche mit fernen Bergen,
wie der Bodenſee, in der weiten Ebene, zwiſchen Bergen, auf hohem Gebirge,
wie der finſtere, vom Volke mit Elfen bevölkerte Mummelſee auf dem
Schwarzwalde. — Dem Meere ſcheint von den vereinigten Schönheiten
und Erhabenheiten des Waſſers nur das Fortziehen zu fehlen, doch auch
davon hat es etwas in Ebbe und Fluth.
[65]
e.
Die Erde.
§. 260.
Das erſte Feſte, das ſich in der unorganiſchen Natur darſtellt, iſt das
Erdreich. Die Formen, die es im Großen zeigt, ſind zwar durch äußere
Gewalt entſtanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von
innen heraus ein durch ſich ſelbſt begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein
ſie ſind durch eine Bewegung entſtanden, dieſe Bewegung und die Art ihrer
Urſache ſieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und ſo rufen ſie die gewaltigen
Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet ſeine jetzige
Geſtalt ſich gegeben hat. Dieſe Bewegung ſcheint ſich im Anſchauen zu wieder-
holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet iſt daher das In-
dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in dieſem Schauſpiele
ſich darſtellt; die einzelnen Formen erſcheinen als ſeine maſſenhafte Gliederung.
Alles geht in’s Große, Erhabene.
Das rechte Sehen iſt ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu
nicht Künſtler zu ſein, aber man muß ſehen gelernt haben. Indem ich ſo
die Erdbildungen ſehend nachzeichne, hebe ich ſie eigentlich auf und ſchaffe
ſie neu; ich verſtehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die ſie einſt
aus einem Chaos wirklich ſchuf und mitgeriſſen lege ich mich ſelbſt in
dieſe Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich
wieder dumpf ziſchen, donnern und die großen Maſſen thürmen, die Urwaſſer
höre ich rauſchen und ſehe, wie ſie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge
aufſchichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, ſpülen
das ſanftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, ſich ſeine Geſtalt zu geben,
er iſt als werdendes Individuum der äſthetiſche Gegenſtand in dieſem Schau-
ſpiele. Er ſchafft ſich ſeine Rippen, ſein Knochengerüſte, er breitet ſeine
gigantiſchen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber.
Wie wir in Alles den Menſchen legen, ſo hat im Kleineren auch die
Sprache für die Erdbildungen organiſche Namen feſtgeſetzt: Kopf,
Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der
Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in maſſenhaften, großen
Verhältniſſen beſteht, ſo wird durchaus der Charakter des Erhabenen
herrſchen, doch tritt innerhalb deſſelben ein Gegenſatz von Schönem und
Erhabenem auf.
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 5
[66]
§. 261.
Zuerſt bietet ſich der einfache Gegenſatz von aufſteigender und wagrecht
ausgedehnter Form, von Berg und Ebene dar, beide wirken noch abgeſehen von
ihrer näheren Beſchaffenheit in dem, §. 91, 3. ausgeſprochenen, Sinne. Die
Berge treten zu Berggruppen, dieſe zu Gebirgen zuſammen, welche in ihren
Gipfeln die Häupter, in ihren Ketten, Aeſten und Zweigen ihren Körper
zeigen; hier erſt wird der nähere Unterſchied der äſthetiſchen Formen wichtig
und tritt als Hauptgepräge ein Gegenſatz des formlos und des formeinhaltend
Erhabenen (§. 87, 2.) oder des Erhabenen gegen das relativ Schöne hervor.
Der einzelne Berg kann natürlich die verſchiedenſten Formen haben,
allein die Aeſthetik muß den bedeutenderen und umfaſſenderen Erſcheinungen
zueilen. Daher wird zunächſt nur im Allgemeinen die das Gemüth aus-
dehnende Wirkung der Ebene, die erhebende oder ängſtlich drohende der
Erhebung hervorgehoben. Den Flachländer können Berge energiſch erfreuen,
aber ſie können ihn auch drücken, mit Schwindel beängſtigen; der Berg-
bewohner ſehnt ſich nach der Ebene, es wird ihm leicht und weit zu Muthe,
aber die Einförmigkeit des Flachen verkehrt dieß Gefühl in Oede. Von
der localen Phyſiognomie, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit iſt hier noch
nicht die Rede, es kommen nur die allgemeinen Verhältniſſe in Betracht. —
Der große Unterſchied des äſthetiſchen Charakters der Gebirge wird nun
im Folgenden beleuchtet werden.
§. 262.
Das formlos Erhabene erſcheint theils als Charakter einer plumpen und
rauhen Maſſenhaftigkeit, theils durch kühne, vorherrſchend eckige und zackige
Umriſſe als Charakter der Wildheit und Zerriſſenheit in den körnigen Geſteinen
2des durch Feuer gebildeten Urgebirgs. Dagegen bildet ſchiefriges Urgebirge
und das ſchichtenförmig durch Waſſer aufgelagerte Flötzgebirge im Allgemeinen
ruhigere Formen. Durch den lebendig befriedigenden Charakter der gebogenen
Linie erfreuen hier theils rundliche Kuppen und Kegel, umgeſtürzte Glocken,
Mulden und Sättel, ſanftere, geſchwungene Abſenkungen, theils zieht die gerade
Linie in der breiten Fläche der Rücken und dem regelmäßigen Abfalle das
3Gemüth in’s Weite. Die letztere Form wird durch ihren Mangel an Wechſel
immer, die erſtere, wenn ſie bei geringerer Höhe lange in gleichen Wellen hin-
zieht, leicht einförmig oder Schwermuth erregend.
1. Wenn hier eine allgemeine Charakterzeichnung der Profile der
Hauptgebirgsarten verſucht wird, ſo werden darum die vielerlei Urſachen,
[67] welche die gewöhnliche Phyſiognomie derſelben verändern, keineswegs über-
ſehen; ſie werden im Folgenden hervorgehoben werden. Sogleich iſt zu
bemerken, daß die Formationen bei geringerer Höhe ihren Charakter nicht
ſo beſtimmt entwickeln, wie bei bedeutender. So wird denn zuerſt das
Gepräge der kryſtalliniſch-körnigen Urgebirge als das rauhe, kühne, maſſige,
wilde, ſchroffe bezeichnet; hier herrſchen die ſpitzen Zacken, die hohen Nadeln,
die ſcharfen Gräte, die ſteilen Abſtürze und Mauern, allerdings aber zeigt
z. B. der Granit dieſen Charakter zwar in hohen Gebirgen, in minder
erhabenen dagegen ſanfte Umriſſe, flache Rücken, runde Kuppen. Der
Grund dieſes Unterſchieds iſt unter den weiteren Bedingungen, welche den
allgemeinen Charakter local beſtimmen, nachher zu nennen. Der Syenit
erſcheint ſelten in den hoch anſpringenden Spitzen und Zacken, wie der
Granit, häufiger der Serpentin, der Gabbro, entſchieden der Porphyr,
der Urkalk. Die kühne und wilde Wirkung der jähen und zackigen Formen
dieſer Geſteine erinnert ganz an das unruhige Element des Feuers (oder
des Feuers in Verbindung mit dem Waſſer), aus dem ſie hervorgegangen
ſind, und man meint, das dumpfe Toſen und Brüllen zu hören, unter
welchem die furchtbaren Maſſen glühend emporgetrieben wurden, um dann
zum harten und rauhen Fels zu erſtarren. Je mehr das Steile und Starre
in das Zerriſſene übergeht, um ſo leichter klingt in dem Beſchauer auch
abentheuerlich komiſche Auffaſſung an: „die langen Felſennaſen, wie ſie
ſchnarchen, wie ſie blaſen.“
2. Es iſt offenbar der Niederſchlag durch Waſſer, welcher die ruhigeren
Formen gebildet hat. In der zweiten Gruppe des Urgebirgs, welche hier
zuerſt genannt iſt, dem ſchiefrigen Geſteine, hat nach der Annahme der
Geognoſten Hitze und Waſſer, aber bei den meiſten Arten mit vorherrſchen-
dem Antheil des Waſſers gewirkt. Schon der Anblick der blättrichen Ober-
fläche erregt einen andern Eindruck, als die ſtarre Subſtanz des körnigen
Urgebirgs. Gneiß iſt weniger ſchroff und zackig, als Granit, zeigt Neigung
zur Teraſſen- und Plateaubildung, und eben dieſe Form vereinigt mit der
ſanftgerundeten Linie wellenförmiger Erhöhungen zeigen die verſchiedenen
Arten der Schiefergebirge. Dieſe ſind daher im §. mit den Formationen
des Flötzgebirgs zuſammengeſtellt, unter welchem hier nach neuerer geog-
noſtiſcher Eintheilung das ſogenannte Uebergangsgebirge, das ſecundäre
und tertiäre Gebirge befaßt iſt. Das Gemeinſame dieſer Bildungen iſt der
Niederſchlag durch Waſſer, welcher die horizontal hingeſtreckten, die runden
und wellenförmigen Formen an die Stelle der ſteilen und jähen der Feuer-
bildung ſetzt. Es ſind lauter geſchichtete Gebirgsarten; die Auflagerung
der Schichten auf ungleich erhöhten Unterlagen, Hebungen und Senkungen
durch vulcaniſche Kräfte, deren gewaltſamerer Einbruch hier aber noch nicht
hereinzuziehen iſt, weil er den allgemeinen Charakter verändert, Aus-
5*
[68]ſpülungen durch Waſſer verwandeln die horizontale Linie in die gebogene
und bedingen die Wellenzüge der gewölbten Sättel und der vertieft ein-
gebogenen Mulden, die ſanftgerundeten Kuppen der Berge. Das Schwemm-
land (diluvium und alluvium) wird im weiteren Zuſammenhang erwähnt
werden, ebenſo die jüngeren Bildungen des Feuers.
3. Wo das Flache vorherrſcht, entſtehen die eintönigen und traurigen
Sargformen, welche z. B. die ſchwäbiſche Alb zeigt; wo das Gerundete vor-
herrſcht, die hinſchleichenden Wellenzüge, die ſanften Hügelreihen, welche
zwar mild, aber zugleich elegiſch, in die Länge niederſchlagend ſtimmen
und an Ketten von Maulwurfshügeln erinnern. Beide Charactere treten
zwar gewöhnlich in Verbindung auf, doch mehr nebeneinander, als ſo,
daß an einem und demſelben, dem Auge ſich darbietenden Gebirgstheile
diejenige Wechſelergänzung gerade laufender mit geſchwungenen Linien
aufträte, welche wir als die ſchönſte Form ſuchen und von welcher nun
die Rede ſein wird.
§. 263.
Die höchſte Form wird immer entſtehen, wenn Wildes, Schroffes, Eckiges,
Flaches und ſanfter oder kühner Gebogenes in unmittelbaren Zuſammen-
hang tritt, durch ſeine Wechſelverhältniſſe Auge und Sinn zugleich erregt,
beruhigt und ſättigt. Solche Bildungen entſtehen aber vornämlich erſt durch
den Zutritt weiterer Bedingungen zu dem urſprünglichen Gepräge der Forma-
2tionen. Das Urgebirge erſcheint verſchieden, je nachdem das Feuer die Maſſen
gewaltſamer oder langſamer emporgetrieben hat, und ſo verbindet ſich auch hier
die ſanftere Form mit der härteren und wilderen; daher zeigen auch die jüngeren
3vulcaniſchen Gebilde zartere Formen. Umgekehrt zerreißt der ſtärkere Durch-
bruch der Waſſer, der vulcaniſchen Kräfte und Maſſen gewaltſam die Schichten
der an ſich ſanfter gebildeten Gebirgsarten, zerklüftet ſie in Riſſe, verſchiebt
ſie, bildet das Profil aus den Schichtenköpfen verſchiedener Gebirgsarten und
führt ſo die jäheren und zerriſſenen Formen zwiſchen die weicheren ein. Alle
Maſſen verwittern mehr oder minder durch Luft und Regen, werden von Wellen
angenagt, ſtürzen zuſammen und verändern ſo ihre Umriſſe. Das Schwemmland
endlich vermittelt als letzte und weichſte Ueberkleidung die ſchrofferen Formen
durch ſanfte Verbindungslinien.
1. Die verſchiedenen Bedingungen, welche als ebenſoviele Urſachen
der Veränderung des allgemeinen Charakters der Gebirgsphyſiognomie
hier aufgeführt ſind, werden bei dem Anblick der Formen deutlicher oder
dunkler erſchloſſen und beſtimmen ſo allerdings den äſthetiſchen Eindruck
mit. Natürlich bewirken ſie nicht immer und nothwendig die Form, welche
nunmehr als die ſchönſte zu bezeichnen iſt, nämlich jenes Gleichgewicht,
[69] jene Wechſelergänzung des Schroffen, Wilden, Flachen, Geraden mit dem
Runden und Geſchwungenen; aber ſie werden bei der Entſtehung desſelben
immer im Spiele ſein. Einer der herrlichſten Berge der Welt iſt der
Pelegrino bei Palermo; nachdem das Auge von ſanfter oder kühner ge-
ſchwungenen Profilen reizend fortgezogen iſt, geben ſteile Felsabſtürze die
Kraft und Erſchütterung, ohne welche das Runde weichlich wird, dann
aber leiten zarte Bogenlinien das Rauhe und Jähe wieder beruhigend
weiter.
2. Zuerſt mußte die gewaltſamere oder gemäßigtere Kraft der Er-
hebung durch Feuer als Urſache eines weicheren Charakters im Urgebirge
hervorgehoben werden. Bei geringerer Höhe erſcheinen darum die ſanftrund-
lichen Kuppen des Grauits und ähnliche Formen, weil das Feuer weniger
gewaltſam gewirkt hat. Die im engeren Sinne ſo genannten vulcaniſchen
Geſteine, welche als ſpätere Bildungen des Feuers denen des Urgebirgs
als den plutoniſchen entgegengeſetzt werden, finden am paſſendſten hier
ihre Stellen, denn ſie zeigen meiſt die runderen Formen. Der Baſalt
bildet abgeſtumpfte Kegel, die priſmatiſchen Säulen dagegen, in welchen
er theilweiſe, z. B. in der berühmten Fingalshöhle auf Staffa auftritt,
erinnern ſchon an die regelmäßigen kryſtalliſchen Formen; der Trachyt
ſetzt kuppelförmige Bergmaſſen zuſammen, der Dolerit erſcheint kegelförmig
u. ſ. w. Die jetzt noch thätigen Vulkane ſind Kegelberge, abgeſtumpft,
wo ſich keine Spitze aus dem Krater hervorgearbeitet hat. Die wilden
Trümmerhaufen von Felsblöcken, der oft in die wildeſten Formen zerriſſene
Lava-Wall, die Riſſe, die vom Krater aus durch die Bergwände laufen,
geben zu den runden Linien, die vielleicht nirgends reizender als am
Veſuv ſich in die Ebene ſchwingen, die Energie des Furchtbaren, welche
freilich in ihrer höchſten Gewalt im Ausbruche erſcheint.
3. Die an ſich ruhigere geſchichtete Gebirgsform verändert ihre Geſtalt
bei ſtarker Aufrichtung der Schichten durch gewaltſame Hebungen, ſie
berſten und ragen in zerriſſenen Profilen empor, welche noch durch die
verwitternden Einflüſſe von Luft und Waſſer zu ſägenartigen Zacken,
Nadeln u. ſ. w. ſich ausbilden. Die Einflüſſe der Verwitterung ſteigen
und fallen, je nachdem ein Geſtein mehr oder weniger verwitterbare
Mineralſubſtanzen enthält, je nach Beſchaffenheit der Luft, der Stärke,
Schwäche, Seltenheit oder Häufigkeit der Regengüſſe. Ebenſo kommt es
bei Felſen am Meere auf den Anprall der Waſſer an, wie ſie ihre Form
verändern: am ſteilen Fels aufſchäumend wird die Welle das Geſtein anders
umwandeln, als wenn es flach auffallend allmählig abſchwemmt und
abrundet; ein Gang an klippiger Meeresküſte zeigt, welcher Reichthum
äſthetiſcher Reize in dieſen Erſcheinungen liegt. Die Verwitterung ſetzt
an tieferen Stellen der Gebirge als Schutt an, was ſie den Gipfeln
[70] genommen; während ſie daher an dieſen eckige und harte Formen hervor-
bringt, kann ſie dort den ſchönen Schwung des Umriſſes erhöhen. Das
Schwemmland endlich, wo es nicht ſelbſt noch von ſpäteren Revolutionen
mit emporgeriſſen iſt, wird durch ſeine weichen, thonigen, ſandigen Maſſen,
welche durch Verwitterung ſich nur immer mehr abrunden, durchaus die
Stelle einnehmen, die ihm der §. anweist.
§. 264.
Dieſelben äſthetiſchen Gegenſätze treten im Charakter der Thäler auf.
Sind ſie durch ſanftere Senkung, allmählige Ausſpülung entſtanden, ſo werden
ſie heimlich und vertraulich, zeigen die ſchroffen und zerklüfteten Thalwände
auf Riſſe und Einſtürze, auf gewaltſamen Durchbruch von Waſſern hin, ſo
werden ſie, beſonders wenn ſie ſich zum wilden Paß, zur Schlucht verengen,
finſter und drohend ſtimmen. Wilde Bergwaſſer pflegen noch dieſen Charakter
zu erhöhen, wogegen im ſanfteren, breiteren Thale die ruhigeren Flüſſe ziehen.
Die Windungen ſchöner Thäler erregen Sehnſucht, hinein und weiter zu wan-
dern, wogegen die Halbkreiſe reizend geſchwungener Becken und Golfe zum
Genuß der Ruhe einzuladen ſcheinen. In Thalſohlen und Ebenen ſind wieder
die Formen der kleineren Vertiefungen, Senkungen, Hohlwege u. drgl. von
2nicht geringer äſthetiſcher Bedeutung. Uebrigens wirkt in allen dieſen Formen
der Gebirge und Thäler die nähere Beſtimmtheit der Oberfläche nach der Art
und Farbe des Gefüges, ſowie Kahlheit oder Fruchtbarkeit weſentlich mit.
1. Mit dem Charakter der Gebirgsabfälle iſt natürlich der Charakter
der Thäler auch ſchon gegeben, allein obwohl nur der Standpunkt des
Auges ein anderer iſt, ſo beſtimmt ſich doch bei übrigens gleichem Charakter
eben durch dieſen der äſthetiſche Eindruck ganz verſchieden. Mit dem
Berge ſteigt Auge und Sinn empor; das Thal dagegen ſcheint uns in
ſeiner Tiefe empfangen, aufnehmen zu wollen, es lädt zur Anſiedlung,
zum Hineinwandern ein. Dieſer Eindruck des Vertraulichen, Wohnlichen,
Hereinziehenden ſetzt natürlich ſanfte Bildung voraus; iſt ein Thal wild,
wie insbeſondere im Gegenſatz der Längenthäler die Queerthäler, welche
die Streichungslinie der Schichten durchbrechen, ſteile Felſen, zerbrochene
Schichtenköpfe zu Tage legen, ſo ſcheint es den Menſchen erdrücken und
begraben zu wollen und ihn erhebt nur das Bewußtſein der Kraft, wenn
er ſich dieſen Schauern in die Arme wirft und dieſe Gewalten wie ſeine
eigenen fühlt. Hier ſtürzen in Reihen von Waſſerfällen, zwiſchen über-
einandergeſchleuderten Felsblöcken ſchäumend, ganze Felsmaſſen durch-
brechend und wie Kinderſpiel umherwerfend die wilden Bergwaſſer. Bei
Golling hat die Salzach ganze Felſenmaſſen durchbrochen und ſtürzt durch
[71] ſie wie in einer Kellerwölbung fort. Dagegen ziehen in den ruhiger
gebildeten Thälern in mäßigerem Falle wie menſchenfreundliche Geiſter
die befruchtenden Flüſſe. Reizend, idylliſch und elegiſch lockend ſind die
Windungen ſolcher Thäler. Die Beckenform, der Golf wurde ebenfalls
genannt; ſie erregen das Gefühl von Ruhe, Behaglichkeit, laden den
Menſchen zur feſten Anſiedlung, das Schiff zur Sicherheit ein. Die
Linien mancher Golfe, wie deren von Salerno, von Neapel ſind an ſich
ſchon von außerordentlicher Schönheit, rein gezeichnete Theaterkreiſe, in
deren „erwärmter Bucht“ der Segen der Natur kocht, das tiefblaue Meer
dem Diamante gleicht, der in den Reif der herrlichen Berge gefaßt iſt.
Die kleineren Erdformen endlich durften auch nicht übergangen werden.
Wer Formen ſieht, kann in der Modellirung eines Hohlwegs, eines Rains
eine Welt von Reizen finden. Nur wer dieſe Schönheiten nicht ſehen
gelernt hat, kann zweifeln, ob die Campagna von Rom ſchön ſei.
2. Körnig und ſchiefrig, rauh und glatt u. ſ. w. bedingen natürlich
den Eindruck mit; ebenſo die Farbe, die jedoch durch Luft und Regen
verändert wird. Der weiße Kreidefels wird anders wirken als der
graugelbliche Kalkfels, der ſchwarze Baſalt u. ſ. w.; wo das Drohende
der Form mit dem Finſteren der Farbe, die weichere Form mit hellerer
Färbung zuſammentrifft, wird der Eindruck die wirkſamere Einheit zeigen.
Dann kommt es auf die umgebende Vegetation an; zu den ſteilen und
ſchroffen Umriſſen des Granits ſtimmt das düſtere Nadelholz, zu den
ſanfteren Formen jüngerer Gebirge das weiche Laubholz. Hier käme nun
freilich die Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit überhaupt zur Sprache; es
darf jedoch der vegetabiliſchen Schönheit nicht zu ſehr vorgegriffen, viel-
mehr muß überall ſoviel möglich das Selbſtändige der Schönheit einer
Sphäre aufgezeigt werden. Griechenland z. B. iſt bekanntlich jetzt in hohem
Grade kahl; ſieht man aber auch von dem Farbenreize ſeiner reinen Luft
ab, ſo genügt der reine Schwung, die geſättigte, Schroffes und Gerun-
detes zu erfüllter Einheit zuſammenſtellende, ſich ebenſo energiſch als
reizvoll modellirende Form ſeiner Gebirge zu einem hohen äſthetiſchen
Genuſſe.
§. 265.
Wenn nun der maſſenhaften Zuſammenſetzung der Mineralien ihre Form
von außen gegeben iſt, ſo tritt dagegen im einzelnen Mineral das erſte
Individuum auf, indem es ſich durch ein ihm inwohnendes Geſetz zur kry-
ſtalliſchen Form bildet. Dieſe Form iſt eine mathematiſch regelmäßige1
Verbindung von Flächen, die ſich unter beſtimmten Winkeln ſchneiden, und heißt
ſymmetriſch, wenn in reicherer Ausbildung um einen trennenden Mittelpunkt
zwei oder mehrere Theile ſich gegenüberſtehen, die entweder einfach einander
[72]2gleich ſind oder das umgedrehte Gegenbild voneinander darſtellen. Die mannig-
faltigen Formen des Kryſtalls zeigen gerade bei vollkommener Bildung nur
gerade Linien und erſcheinen ſchon deßwegen ſtarr und unlebendig. Dagegen
treten bei unvollkommener Kryſtallbildung freiere Gruppirungen runder Formen
auf und gerade dieſe ſind, weil ſie an organiſche Geſtaltung anziehend erinnern,
äſthetiſch bedeutender.
1. Regelmäßig und ſymmetriſch wird hier nach genauerem Sprach-
gebrauche unterſchieden und das Symmetriſche darein geſetzt, daß gleiche
Theile oder ſolche, von denen der eine das umgedrehte Gegenbild des
andern darſtellt, durch einen anſchaulichen Mittelpunkt getrennt einander
gegenüberſtehen. Der Würfel z. B. iſt nur regelmäßig, denn er hat nur
einen idealen Mittelpunkt, es tritt kein ſolcher, zwei oder mehrere Seiten
trennend, wirklich hervor. Ein ſolcher Mittelpunkt iſt dagegen für das
Auge bereits gegeben z. B. im regulären Oktaeder oder Achtflach. In
dieſer Doppelpyramide ſtoßen acht Dreiecke zuſammen, deren eine Hälfte
das umgedrehte Gegenbild von der andern darſtellt, und der Punkt ihres
Zuſammenſtoßens iſt eben der trennende Mittelpunkt. Dieſer Mittelpunkt
kann aber auch für ſich einen Theil, eine Seite bilden, alſo ſelbſtändig
hervortreten und dieß iſt der gewöhnliche Begriff der Symmetrie. Sym-
metriſch nennt man z. B. zwei Flügel eines Gebäudes, welche in gleicher
Entfernung vom Mittelpunkte des Hauptkörpers, der durch ein Portal u. ſ. w.
bezeichnet iſt, hervortreten. Die um einen ſolchen Mittelpunkt gruppirten
Seiten ſind nun entweder einfach einander gleich, wie die genannten
Flügel oder wie Fenſter, welche, getrennt durch anders geformte Fenſter,
ſich in gleicher Geſtalt gegenüberſtehen, oder ſie ſtellen wie im obigen
Beiſpiel das umgekehrte Gegenbild von einander dar. Das Erſtere findet
allerdings ſtreng genommen bei den Kryſtallen eigentlich nicht Statt, denn
da hier die Achſenbildung herrſcht, ſo werden bei jeder vielſeitigeren
Geſtalt die Flächen, welche ſich, von einer mittleren getrennt, gegenüber-
ſtehen, geneigt, alſo das umgewendete Gegenbild von einander ſein.
So wird der Würfel ſymmetriſch durch das Gegenüberſtehen abgeſtumpfter
oder zugeſchärfter Kanten und Ecken und dieß Alles wiederholt ſich in
mannigfaltigen zuſammengeſetzten Formen. Man kann inzwiſchen auch die
erſtere Art der Symmetrie im Kryſtalle finden, wenn man z. B. im
geraden quadratiſchen Prisma je eine der Seitenflächen als Mittelpunkt
und die zwei viereckigen Endflächen als die in gleicher Form ſich gegen-
überſtehenden Seiten annimmt.
2. Der äſthetiſche Mangel der kryſtalliſchen Bildung wird hier
zunächſt in die Abweſenheit der runden Linie geſetzt; denn dieſe, weil
ſie in ſich zurückkehrt, iſt ſchon oben (§. 257) als die lebendigere auf-
[73] geſtellt. Das Runde kommt aber in vielfachen Combinationen gerade bei
unregelmäßiger Kryſtallbildung vor, als Eisblume, als dendritiſche oder
ſtrauch- und krautartige, baumförmige, ſternförmige, trauben- und nieren-
förmige, knoſpenförmige, fächerartige, garbenförmige, kammförmige, roſen-
förmige Geſtalt, dann bei den zapfenförmigen, glockenförmigen und vielfach
phantaſtiſch wechſelnden Tropfſteinbildungen u. ſ. w. Die Kryſtallographie
ſelbſt nennt dieſe Formen wegen ihrer Aehnlichkeit mit organiſchen zum
Theil nachahmende und ebendeßwegen weicht hier die Aeſthetik von der
Naturwiſſenſchaft ab: das in ſeiner Sphäre an ſich Unvollkommenere iſt
das äſthetiſch Vollkommenere. Unvollkommen und Vollkommen bedeutet
hier Abnorm und Normal, und dieß ſcheint noch etwas Anderes zu ſein,
als was in dem Satze §. 18, 1. aufgeſtellt iſt, denn dort war von ganzen
Gattungen und Arten die Rede, welche ihr Gebiet dürftiger darſtellen,
als ein untergeordnetes von ſeinen relativ höheren Gattungen oder Arten
dargeſtellt wird. Dieſem Satz werden wir im Folgenden ſeine Anwendung
auf unſer ganzes Gebiet geben, was aber den beſonderen Punkt, der hier
vorliegt, die höhere Geltung des abnorm Gebildeten betrifft, ſo verhält
ſich die Sache ſo: ſtreng genommen iſt die ganze unorganiſche Natur
äſthetiſch blos, ſofern in ihrem Wechſelſpiele ein Vorbild, eine Ahnung
höherer, lebendiger Formen ſich darſtellt (§. 240); in allen bisherigen
Erſcheinungen der unorganiſchen Natur fand dieß ſtatt bei geſetzmäßiger
Wirkung der Kräfte, im mineraliſchen Reiche aber iſt, während es durch
Individuenbildung höher ſteht als die bisher betrachteten Sphären, gerade
das Geſetzmäßige zu ſtarr und todt, um ihm Lebendigkeit zu leihen;
gerade bei dem Normalen wird daher hier der Satz §. 18, 1. in Geltung
treten, das Gehemmte und Unregelmäßige dagegen erleichtert das Leihen
der Lebendigkeit, iſt nun aber deßwegen doch zu dürftig und arm, um
mehr darin zu finden, als einen ſpielenden und zierlichen Anklang des
Schönen, daher dieſe Beobachtung über das Abnorme doch keineswegs als
allgemeiner Satz ausgeſprochen werden kann.
§. 266.
Der Widerſpruch zwiſchen der Schönheit und natürlichen Geſetzmäßigkeit,1
der hier eintritt, beweist, daß die blos mathematiſche Regelmäßigkeit und
Symmetrie noch keine wahrhaft äſthetiſche Erſcheinung begründet. Es fehlt zwar
auch den ſtarren Formen der vollkommenen Kryſtalle nicht die Zufälligkeit, welche
zum Schönen gefordert wird; allein dieſe Zufälligkeit iſt bloßer Mangel, weil
ſie nicht durch inneres Leben zur unendlichen Eigenheit erhoben wird, und in
der Abweſenheit des letzteren liegt der eigentliche Grund des äſthetiſch Unge-
nügenden. Es tritt im Kryſtalle ein Bildungsgeſetz hervor, welches von nun an
[74] in immer höheren und reicheren Formen durch alle Reiche der Natur geht; aber
in ihm ſelbſt erliſcht es, ſobald es gebildet hat, er iſt todt und wenn ſeine
Form durch Zertrümmerung zu Grunde geht, ſo bleibt die Subſtanz der Bruch-
2ſtücke unverändert. Ueberdieß iſt er zu klein, um ſchön zu ſein (vergl. §. 36, 1.).
1. Der eigentliche äſthetiſche Mangel des Kryſtalls, die Lebloſigkeit,
wurde im vorh. §. dadurch eingeleitet, daß ihm die runden Linien fehlen,
denn dieſe ſind nicht nur ein Bild des Lebendigen, ſondern ſie kommen,
wo Leben iſt, auch überall wirklich vor. Der Uebergang nun, um dieſen
Mangel förmlich auszuſprechen, wird im gegenwärtigen §. durch Herein-
ziehung des Begriffs der Zufälligkeit genommen. Dieſe iſt gefordert in
§. 31 ff. und nachgewieſen, daß ſie ſich zur unendlichen Eigenheit des
Individuums ſteigert. Nun iſt freilich kein Kryſtall derſelben Art dem
andern völlig gleich; die Flächen ſind gekrümmt, rauh, druſig, unvoll-
zählich, die Umriſſe unvollſtändig u. ſ. w., allein wo kein Leben iſt, da faßt
ſich das Individuum in dem, wodurch es von der Gattung oder Art ab-
weicht, nicht zur unendlichen Eigenheit zuſammen, die Zufälligkeit hat daher
nur die Bedeutung der Abweichung oder Abnormität; der Mangel wird
nicht zum Reize, ſich zu ergänzen, ſoweit es möglich iſt, und, ſoweit es
nicht möglich iſt, ſich in der ganzen Einſeitigkeit energiſch zu behaupten.
Schon bei der Pflanze iſt dieß anders. Hiemit iſt alſo der eigentliche
Grundmangel, die Lebloſigkeit, bereits ausgeſprochen.
2. Der wichtige Satz des Ariſtoteles, der hier nach ſeiner einen Seite
in Geltung tritt, iſt §. 36, 1. und näher in der Anm. zu 1 gegeben. Dieſer
Satz, daß das Schöne eine gewiſſe Größe haben müſſe, daß es nicht zu
klein, nicht zu groß ſein dürfe, gehört, wie dort im Verlaufe gezeigt iſt,
unter diejenigen Beſtimmungen, wodurch nicht das Weſen des Schönen,
ſondern nur eine negative Bedingung deſſelben ausgeſprochen iſt; in dieſer
Beſchränkung aber iſt er von vollem Gewichte. Die Anſchauung, ſagt
Ariſtoteles, fließt unterſchiedslos zuſammen, wenn ſie in beinahe unbe-
merkbarer Zeit geſchieht. Die Formen des Kryſtalls ſind nun zwar ſcharf
und beſtimmt genug, um deutliche Unterſcheidung zuzulaſſen, allein auch
Ariſtoteles ſpricht von einem ganz deutlich gebildeten Kleinen, wenn er
dazwiſchen bemerkt, daß ein ganz kleines Thier nicht ſchön ſein könne.
Die Theilanſchauungen ſind bei einem Inſekt wie bei einem Kryſtall deutlich,
aber die Anſchauung umſpannt jeden Theil in ſo kurzer Zeit, daß in der
Ueberſicht dennoch alle ineinanderfließen. Groß und klein ſind allerdings
nur relative Begriffe, allein das menſchliche Auge hat einmal ſein Maaß
und Alles, was eine beſondere Anſtrengung fordert, um die Theile in der
Anſchauung auseinanderzuhalten, kann, wenn es außerdem gewiſſe Momente
des Schönen enthält, nur zierlich oder niedlich heißen. Was dagegen groß
[75] genug iſt, um ſeine Theile in deutlicher Unterſcheidung dem ungezwungen
verweilenden Auge darzuſtellen, mag mit einem Anderen verglichen wohl
ſelbſt wieder als klein erſcheinen, hat aber doch im abſoluten Verhältniß
zu unſerem Auge die zum Schönen geforderte Größe. — Hier kann nach-
träglich bemerkt werden, wie die andere Hälfte vom Satze des Ariſtoteles,
daß nämlich der ſchöne Gegenſtand ebenſowenig allzugroß ſein dürfe, auf
die Erdbildungen ſeine Anwendung findet. Ariſtoteles begründet dieſe
Hälfte des Satzes ſehr richtig damit, daß, während dort in der Zuſammen-
faſſung die Einzeltheile verſchwinden, hier über den Einzeltheilen die Zu-
ſammenfaſſung entſchwindet: die Sinne halten ſich zu lange bei den Theilen
auf, es entflieht dem Anſchauenden das Eine und Ganze bei der Anſchauung.
Bei den Erſcheinungen des Lichts, der Farbe, der Luft, des Waſſers verſteht
ſich, weil ſie an ſich ſelbſt keine Begrenzung haben, zum Voraus, daß eine
Begrenzung durch den Standpunkt des Anſchauenden angenommen wird;
ein Gebirge aber hat ſeine Grenze, wiewohl ſie ihm durch äußere Gewalt
gegeben iſt, an ſich und kann daher mit dem Thiere des Ariſtoteles ver-
glichen werden, das 10,000 Stadien lang wäre. Hier iſt denn zu ſagen,
daß ein überſchaulicher Theil des Gebirges (oder der Ebene) vorliegen muß,
der eine Vorſtellung von der übrigen Form, Höhe, Breite, Länge des
Gebirges gibt. Sehe ich z. B. an einem überſchaulichen Theile des Urgebirgs,
wie furchtbar hier die Feuergewalt Maſſen gethürmt hat, ſo habe ich die
Vorſtellung von einem Ganzen, das ſo emporgeworfen wurde, von ſeinen
rieſigen Verhältniſſen, ſeinen wilden Formen; dieſe Vorſtellung mag unbe-
ſtimmt bleiben, wenn nur das, was ich wirklich ſehe, beſtimmt iſt.
§. 267.
Daher tritt hier ein Widerſpruch zwiſchen der Naturwiſſenſchaft und der
Aeſthetik ein. Der Kryſtall iſt, vom Standpunkte der erſteren betrachtet, das
höchſte Werk der unorganiſchen Natur, erſte Spur und Vorbild organiſcher Form;
allein die nicht individuellen Erſcheinungen der unorganiſchen Natur ſind äſthetiſch
vollkommener, weil ſie bewegt ſind. Dieſe Bewegung iſt zwar nur äußerlich
und mechaniſch, aber ſie reizt, ihr organiſche Bewegung, ja Seelenſtimmung
unterzulegen, während das ſtarre Mineral zwar zu einem ahnenden Vorgriff in
das organiſche Leben, wo dieß kryſtalliſche Bildungsgeſetz in belebter Form
wiederkehrt, anzuregen vermag, jene wirkliche Unterlegung aber ausſchließt.
Daher findet hier die Einſchränkung §. 18, 1. eine Stelle ihrer Anwendung.
Die genannte Umkehrung trifft aber auch die Erdbildungen im Großen.
Der Gang unſerer Darſtellung der unorganiſchen Natur dreht ſich
um; der Seelenblitz des Lichtes, der Farbe, der Luft, des Waſſers erſcheint
[76] äſthetiſch bedeutungsvoller als der naturwiſſenſchaftlich ungleich bedeutendere,
weil individuelle Kryſtall. Den Grund dieſer Umkehrung, dieſes Widerſpruchs
zwiſchen der Naturwiſſenſchaft und Aeſthetik ſpricht der §. aus und ſtellt
nun ausdrücklich feſt, was §. 265 Anm. 2 ſchon erwähnt wurde, daß
nämlich hier die Einſchränkung §. 18, 1. ihre Stelle findet, wornach das
an ſich in der Natur Höhere äſthetiſch niedrigerer ſein kann, als das in
der Natur Niedrigere. Die Kryſtallbildung enthält zu viel, um ihr in
unbefangener Täuſchung einen Schein des Lebens, ſelbſt des Seelenlebens
beizulegen, ſie enthält zu wenig, um als wirklich belebt erkannt zu werden;
ſie bindet den Beſchauenden, weil ſie ſelbſt gebunden iſt; dieß Gebunden-
ſein iſt an ſich etwas Höheres, als das ungebundene Irren, Schweben
und Fließen der Lichter, Lufttöne, Farbenreflexe, Waſſer, es iſt aber nicht
hoch genug, um in der Bindung zugleich frei zu entlaſſen, wie das organiſche
Leben, das ſeine feſten Formen hat, aber dieſe in ſteter Selbſterzeugung,
ſie immer zerſtörend und wieder ſchaffend, bewegt und ſo in der Begrenzung
Unendlichkeit darſtellt. Der Kryſtall iſt zu viel und zu wenig. Gerade
deßwegen ſchließt er aber das Reich der unorganiſchen Schönheit ab und
weist hinaus in eine höhere, denn er fordert beſtimmt auf, weiter zu gehen,
das geheimnißvoll Bauende, was in ihm, ſeine Züge in die unorganiſche
Maſſe zeichnend und ſie um einen Mittelpunkt ordnend, zu Tage tritt, zu
verfolgen in die bedeutenderen Reiche des Lebens, wo es als Symmetrie im
Baue des Thiers, des Menſchen unter ganz andern Bedingungen wieder-
kehrt; ſeine Geſtalt treibt uns, die Bildungsgeſetze des dunkeln Natur-
grunds da zu ſuchen, wo jene Unterſchiebung, die wir bei ihm nicht mehr
anbringen können, wirklich auch nicht mehr nöthig, wenigſtens in dem Sinne,
wie bei den früher betrachteten Erſcheinungen der unorganiſchen Natur,
nicht mehr nöthig iſt. Darum durfte uns die genannte Umkehrung nicht
beſtimmen, wirklich den umgekehrten Gang zu nehmen. Aber auch das
Mineral im Großen, die Erdbildungen unterliegen der genannten Umkehrung.
Sie erſcheinen zunächſt äſthetiſch belebter als der Kryſtall, dieſer tritt daher
hinter ſie zurück; aber ſie ſammt dem kryſtalliſchen Gebilde treten hinter
das bewegte Spiel des Lichts, der Farbe, Luft, des Waſſers zurück, denn
erſt im Scheine derſelben vergeiſtigen und verklären ſich dem Auge dieſe
feſten Hauptmaſſen einer Landſchaft. — Uebrigens können wir den Kryſtall
nicht ſogleich verlaſſen, es ſind allerdings noch weitere Schönheitsmomente
an ihm hervorzuheben.
§. 268.
Das einzelne Mineral gewinnt daher, während übrigens freilich der
Mangel zureichender Größe immer bleibt, gerade dadurch höhere äſthetiſche
Bedeutung, daß jene an ſich niedrigen Erſcheinungen der unorganiſchen Natur
[77] ihre Wirkung mit der ſeiner Formen vereinigen. Glanz, Durchſichtigkeit,
Schönheit der einfachen Farbe und des Farbenſpiels, farbige Durchſichtigkeit
vom höchſten Feuer ſchmückt ihn und beſtimmt das Gemüth, ihm tieferen Sinn
unterzulegen.
Man ſchrieb einſt den Edelſteinen magiſche Wirkung zu, noch jetzt
faßt man ſie gerne ſinnbildlich auf; dieß iſt immer ein Beweis, daß etwas
da iſt, was an menſchliches Seelenleben gemahnt, was „ſinnlich ſittlich“
wirkt. Es kehrt die Bedeutung des Lichts, der Farbe hier zurück und
zwar in ſehr nachdrücklichem Sinne, da ſie das Mineral zum Theil ſo
prachtvoll darſtellt. Farbe und Glanz vereinigt ſich in dem ſo eigenthümlich
und kräftig wirkenden Metallglanz, Glanz und Durchſichtigkeit oder beide
auch mit der Farbe, die ſie zur intenſivſten Gluth vertiefen, in den Edel-
ſteinen, und die Farbe ſpielt auf’s Reizendſte bald durch Ineinanderlaufen
zweier oder mehrerer Farben (pfauenſchweif- oder taubenhalsartig), bald durch
Farbenwechſel, je nachdem das Mineral von verſchiedenen Seiten betrachtet
wird, durch Iriſiren bei ganzer oder halber Durchſichtigkeit. Allein es
bleibt bei dem Satze, daß es zu einer großen und ganzen äſthetiſchen
Wirkung an hinreichender Größe fehlt. Wir haben jetzt zur Farbe ein
Object, woran ſie erſcheint, aber es iſt zu klein, daher wirkt die Farbe
(und das Licht) äſthetiſch vollkommener, wo ſie nicht an ein individuelles
Object gebunden iſt, ſondern in freiem Wechſel durch die allgemeinen
Elemente ſich darſtellt. Die Farben, die das Licht in der Atmoſphäre
hervorruft, haben die nöthige Ausdehnung, um auf ein Ganzes eine
beſtimmte Stimmung zu werfen. Der Maler kann in einer Landſchaft
unter farbigem Helldunkel faſt alle Umriſſe der feſten Körper verſchwimmend
darſtellen, aber auch den leuchtendſten Edelſtein allein und anders denn
als Schmuck an einem Gewande u. ſ. w. zu malen kann ihm nicht ein-
fallen: dieß liegt aber im Stoffe, dem er nicht zuwider handeln darf.
§. 269.
Das Mineral erzittert durch äußeren Stoß, offenbart dem Gehöre durch1
die Luftwellen die Maſſe ſeines Umfangs, die Art ſeines Gefüges und befreit
ſich ſo von dem Außereinander des räumlichen Daſeins zu der unkörperlichen,
in Zeitform ſich bewegenden, in’s Innere dringenden Kundgebung des Klangs.
Dieſes Innere als das Innere des hörenden Menſchen legt dem Klange gemäß
jenen in ihm ſich offenbarenden Eigenſchaften unwillkührlich eine geiſtige Stimmung
unter. In ihm wie in dem Schalle der bewegten Luft, dem Rauſchen des
Waſſers gewinnt die unorganiſche Schönheit neuen Ausdruck der Lebendigkeit.
Allein die ganze akuſtiſche Seite iſt unſelbſtändig und verhält ſich zur ſichtbaren2
[78] Schönheit nur als begleitende; denn nur durch äußeren Anſtoß einer mechaniſchen
Gewalt entſtanden bleiben die Klängen vereinzelt und verbinden ſich nicht zu
einer aus inneren Geſetzen ſelbſtthätig ſich beſtimmenden Ordnung.
1. Es ſind namentlich die Metalle, deren Klang ſo zum Nerven des
menſchlichen Ohrs und durch dieſen zur Seele ſpricht, daß eine beſtimmte
Art von Stimmung entſteht, welche ein unbewußtes Symboliſiren dem
Gegenſtande unterlegt; die Härte ihrer Textur bedingt einen Klang, welcher
weſentlich Gefühle der Energie und Tapferkeit erregt. Dumpfer und
bedeutungsloſer klingt das Geſtein. Die unorganiſche Welt gibt ſich nun,
wenn wir das Rauſchen des Waſſers, das Sauſen der Luft, den Donner
des Gewitters mit den Klängen der feſteren Körper zuſammenfaſſen, eine
allgemeine Sprache als vernähmen wir das aus der Werkſtätte des
Demiurgen ertönende Toſen und Klingen ſeiner Arbeit. In der Landſchaft
iſt immer ein Weben von Tönen, das nicht nur von thieriſchen und
menſchlichen Stimmen rührt; man fragt eben nicht, woher es kommt, man
hat ein Gefühl, die geſchäftige Natur erzähle ſich ſelbſt von ihren Werken.
2. Wie der Klang erſt durch ſelbſtthätige Hervorbringung und durch
Einordnung in ein Ganzes von Klängen und ſeine Verhältniſſe zum Tone
wird, dieß auseinanderzuſetzen bleibt der Lehre von der Muſik aufgeſpart.
Mechaniſcher Klang an ſich, auch eine Reihe ſolcher Klänge kann niemals
ein ſelbſtändig Schönes begründen, während die ſichtbare unorganiſche
Natur, auch klanglos, ſehr wohl ein ſchönes Ganzes darſtellen kann und
ihre Schönheit durch begleitende Klänge nur erhöht wird. Das Sichtbare
gruppirt ſich, hat im Licht ſeinen Seelenblick; niemals treten Klänge von
ſelbſt zu einem ſolchen Einheitspunkte zuſammen.
[[79]]
B.
Die Schönheit der organiſchen Natur.
a.
Die Schönheit des Pflanzenreichs.
§. 270.
Das erſte lebendige Individuum und ebenhiemit der erſte wahrhaft ver-
einigende Mittelpunkt aller bisher dargeſtellten Schönheit iſt die Pflanze.
Licht, Luft, Waſſer, Erde verwandelt ſie in einem ſtetigen Kreislaufe in ihre
eigenen Säfte, aus denen ſie ihre Geſtalt als ein Ganzes von Organen, worin
Alles zugleich Mittel und Zweck iſt, baut, beſtändig erneuert, bis zu dem ihr
geſetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr geſammter Ausdruck
zeigt das ſaugende, athmende, Säfte führende Weſen, welches an der unorganiſchen
Natur vollzieht, was ihre Beſtimmung iſt, nämlich Object und Stoff für ſolche
Weſen zu ſein, in welchen die zerſtreute Vielheit der Natur in ſelbſtthätige
Einheit zuſammengefaßt iſt. Ein ſolches Leihen wie bei den früheren Erſchei-
nungen iſt daher bei dieſem Gebilde nicht mehr nothwendig.
Es iſt noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieſes Acts
iſt dem Zuſchauer jetzt durch das Object ſelbſt erſpart; worin die andere
beſtehe, wird ſich zeigen. Die unorganiſche Natur iſt jetzt für ein Leben-
diges da, das zu dem äſthetiſchen Gegenſtande gehört; vorher war ſie nur
für den Zuſchauer da, ſollte ſie daher ein Ich, ein belebtes, beſeeltes
Centrum haben, ſo mußte dieſer ſich ſelbſt theilen, das eine der zwei Ich,
in die er ſich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße
ſie ſich vermittelſt desſelben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu-
ſchauen. Ein Centrum iſt nun im Objecte ſelbſt, das nicht nur wie im
[80] Kryſtall die Stoffe um einen Mittelpunkt bindet, um das ſo entſtandene
Gebilde todt liegen zu laſſen, ſondern in einem fortdauernden, durch ein
Ganzes von Organen vermittelten Prozeſſe das vorher frei Irrende, die
Potenzen der unorganiſchen Natur, in ſich hereinnimmt, zu einem Innern
macht, umwandelt und daraus eben ſich ſelbſt und dieſelben Organe,
welche fortdauernd den Prozeß erneuern, bildet, in ſteter Verzehrung ſtets
neu bildet und aus der reifen Fülle ſeines Ganzen neue Individuen
ſelbſtändig erzeugt: denn mit dem organiſchen Leben iſt auch die innere
Entgegenſetzung in Individuen verſchiedenen Geſchlechts oder in die Organe
der Geſchlechtsdifferenz an Einem Individuum da, womit die Erhaltung der
Art durch Zeugung neuer Individuen ihr ſelbſt übergeben iſt. Dieß Alles
wäre jedoch noch nicht derſelbe unendliche Fortſchritt für das äſthetiſche
Gebiet, wie er es für das naturwiſſenſchaftliche iſt, wenn es nicht auch
in die Augen träte. Nun iſt zwar die ſaugende Wurzel dem Auge ver-
borgen (denn von den ſogenannten Luftwurzeln kann als einer Seltſamkeit
hier nicht die Rede werden), aber ſchon dem Stamme ſieht man an, daß
er die Krone des ganzen Gebildes dem Lichte und der Luft entgegenzu-
heben beſtimmt iſt. Seine vermittelnde Bedeutung als Saftleiter verbirgt
zwar bei den baumartigen Pflanzen die Rinde und ſtellt dieſen holzigen
Theil als denjenigen dar, der am meiſten noch an Unorganiſches erinnert,
aber die ſtrebenden Bildungen der Zweige und Aeſte und die ſaftig durch-
ſichtige Färbung der Blätter ſagen dem Auge, daß auch dort geheimes
Leben ſein muß, dasſelbe Saftleben, das dem Ganzen jenen feuchten,
treibenden, friſchen, thauigen, dünſtenden Charakter der Pflanze gibt.
Zweige und Blätter insbeſondere laſſen in ihrem zarteren, durchſcheinenden
Gewebe ſchon unmittelbarer das Weſen der Pflanze als eines Zellen- und
Röhrengebildes für circulirende Säfte erkennen. Daß die Blätter weſentlich
athmende Organe ſind, erkennt freilich im ſtrengeren Sinne nur der
Botaniker, der ihre Spaltenöffnungen unterſucht hat, aber ihr ewig
bewegter Verkehr mit Licht und Luft läßt doch auch bei der unmittelbaren
Anſchauung eine ſolche Bedeutung ahnen. So haben alſo die bisher
dargeſtellten Elemente der Landſchaft ihren zuſammenfaſſenden Mittelpunkt,
in den ſie eingehen, ſo zu ſagen ihr Punktum, ihren letzten Druck gefunden
und daher iſt es auch, — wovon weiter die Rede ſein muß —, die
Pflanzenwelt, welche der Landſchaft erſt ihre ganze Phyſiognomie gibt.
§. 271.
Dieſe Bedeutung des Organiſchen als einer ſelbſtthätigen, die unorganiſche
Natur in ihr Eigenthum verwandelnden und daraus ihr gegliedertes Gebilde
bauenden Einheit iſt jedoch in der Pflanze nur auf die erſte und dürftigſte
[81] Weiſe verwirklicht. Die Pflanze iſt an den Boden gefeſſelt, nur ihre flüſſigen
Theile bewegen ſich, nicht ſie als Ganzes. In dem ununterbrochenen Ge-
ſchäfte des Ernährungs- und Zeugungsprozeſſes, welches ſie mit ſtrenger
Nothwendigkeit an die unorganiſche Natur bindet, erübrigt ſie nichts, um ſich
dieſe und eine weitere Umgebung noch auf andere Weiſe zum Objecte zu machen,
und kann in dieſer Beſchränkung ebenſowenig ſich ſelbſt Object ſeyn. Um ſo2
mehr erſcheint ſie zwar als ein Bild ſaftiger und urſprünglicher Geſundheit
und Leben braucht ihr nicht erſt geliehen zu werden, aber ihr fehlt die Seele.
Indem ihr nun dieſe untergelegt wird und doch Gebundenheit an die unorganiſche
Subſtanz ohne Gefühl und Bewußtſein ihr Weſen iſt, ſo erſcheint ſie geheim-
nißvoll und erinnert an dunkle Zuſtände der menſchlichen Seele, an Schlaf
und Traum.
1. „Die Pflanze hat nicht einen Mund, ſie iſt ganz Mund“, ſagt
Herder (Ideen z. Philoſ. d. Geſch. d. Menſchheit Th. 1, Buch 3, I.),
„ſie ſaugt mit Wurzeln, Blättern und Röhren; ſie liegt noch, wie ein
unentwickeltes Kind, in ihrer Mutter Schooß und an ihren Brüſten.“ Es
iſt richtiger, ſie mit dem im Mutterleibe noch zurückgehaltenen Fötus,
als mit dem Säugling zu vergleichen; denn dieſer nährt ſich durch ein
einzelnes beſtimmtes Organ und nicht immer, jener aber ununterbrochen
und ohne Aufnahme der Nahrung durch ſelbſtthätigen Act eines beſondern
Organs. Die Pflanze iſt daher der unorganiſchen Natur ebenſoſehr ganz
verſchrieben, als ſie dieſelbe in ihr Eigenthum umwandelt. Nur auf die
Eine Weiſe wird ihr jene zum Objecte und nur jene. Der §. ſpricht
von einer „weiteren Umgebung“: dem Thiere wird nicht nur die unor-
ganiſche Natur, ſondern auch die Pflanze, ferner wird ihm ſeines Gleichen
und in gewiſſem Sinne der Menſch zum Objecte, und zwar auf mehrfache
Weiſe. Ein weiterer Hauptprozeß außer der Ernährung und der höchſte, zu
dem ſie ſich erhebt, iſt die Fortpflanzung. Die dazu beſtimmten Organe
ſind die oberſten und äußerſten, prangen als ihr Höchſtes, ſie ſchmückt
ihnen den Blumenkelch „zu einem Salomoniſchen Brautbett, zu einem
Kelch der Anmuth auch für andere Geſchöpfe“ (Herder a. a. O. B. 2, II.);
ſchon bei dem Thiere ſind dieſe Organe, „als ſchämte ſich die Natur ihrer“,
durch ihre verborgene Stellung als Werkzeuge eines untergeordneten Prozeſſes
bezeichnet. Dieſer iſt nun allerdings höher, als der Ernährungsprozeß,
es iſt die bedeutendſte Umwandlung und Verwendung des aufgenommenen
Stoffs, die höchſte Form eines Anfangs von Emancipation, dieſe Fähigkeit,
ſeines Gleichen ſelbſtändig zu zeugen, aber bei der Pflanze doch ebenfalls
im engſten Sinne ein Geſchäft dunkler Nothwendigkeit. Wie nun die
Pflanze auch hiedurch von der unorganiſchen Natur nicht zurücktritt, ſo
vermag ſie ebenſowenig ſich ſelbſt, als Anderes zu vernehmen, ſie iſt
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 6
[82]ſelbſtlos, in der allgemeinen ſubſtantiellen Lebensſtrömung mitbefaßt, nimmt
ſich nicht in ſich zurück, wird nicht ſich ſelbſt Object. Dem Blicke ſtellt
ſich dieß vor Allem dadurch dar, daß ſie in das Unorganiſche feſtgewurzelt
zwar ihre flüſſigen Theile in ſtetem Kreislaufe erhält, aber nicht ihre
feſten, nicht ſich als Ganzes zu bewegen vermag.
2. Den alten Völkern wurde die der Pflanze geliehene Seele zu
einem mythiſchen Weſen, man denke an ihre Dryaden, an ihre heiligen
Bäume. Das gebildete moderne Bewußtſein mag es, wo auf die Freiheit
als ein Gut der Nachdruck gelegt wird, wohl als das Verächtlichſte aus-
ſprechen, blos zu vegetiren, aber müde von den Kämpfen des gegen die
Welt und ſich ſelbſt geſpannten Ich ſehnt es ſich wohl auch nach dem
Dunkel kampfloſer Gebundenheit und Naturnothwendigkeit. Es muß aber
auch für dieſe Sehnſucht eine Anknüpfung im Objecte haben. Dieſe gibt
die Pflanze, denn ſie lebt; aber auch dieß genügt nicht, wünſchenswerth
kann dem Gemüthe niemals der Zuſtand eines ſeelenlos Lebendigen ſein,
ſondern nur der eines beſeelten, aber kampfloſen Lebens. Es leiht daher
der Pflanze eine Seele, trägt aber auf dieſe wieder den Zuſtand bewußt-
loſer Nothwendigkeit über: es leiht ihr eine ſtille Kinderſeele, ein reines,
ſchönes Gemüth, dem das Gute Inſtinct iſt, oder es vergleicht ſie dem
Schlaf, dem Traume. Kräftiger, weniger ſentimental iſt der Eindruck,
wo der Menſch im Anblick und im Geruch vorherrſchend die friſche Trieb-
kraft und Lebensluft der Pflanzenwelt genießt; da athmet ihm die Pflanze
Geſundheit und Energie.
§. 272.
Die Vergleichung mit dem Menſchen liegt um ſo näher durch die Ver-
wandlungen, welche die Pflanze theils überhaupt in den Stadien ihres Keimens,
Wachſens, Blühens, ihrer höchſten Kraft, ihres Abſterbens, theils vorüber-
gehend in dem durch die Jahreszeiten bedingten Wechſel ihres Zuſtands durch-
läuft, wogegen in letzterer Hinſicht die immergrünen Pflanzen als Bürgen der
unter der allgemeinen winterlichen Erſtarrung fortwirkenden Lebenskraft erſcheinen.
Sowohl durch dieſe Veränderungen, als auch durch die verſchiedenen Schickſale,
denen ſie durch die beſondern Einwirkungen der Elemente, von denen ſie abhängt,
ausgeſetzt iſt, kann dieſelbe Pflanze abwechſelnd unter den Standpunkt ver-
ſchiedener Grundformen des Schönen treten.
Die unorganiſche Natur hat keine Lebensſchickſale; ſie keimt nicht,
wächst nicht, verwest nicht. Nur die Formen der Erde laſſen ſich durch
ahnenden Rückſchluß auf die Revolutionen, durch welche ſie entſtanden,
wie Zeugen einer Lebensgeſchichte des Planeten faſſen. Auch dieſer Rück-
ſchluß fällt bei der Pflanze weg, man zöge denn hieher den ergreifenden
[83] Eindruck foſſiler Pflanzen wie jener Palmenlager in nördlichen Ländern;
ſie lebt wirklich ihr, nur muß noch der Schein geliehen werden, als erlebe
ſie auch, was ſie lebt. Wie ganz natürlich dieß Leihen vor ſich geht,
zeigt die tägliche Erfahrung. Man hofft mit den Pflanzen, man ſieht ſie
an, als hätten ſie Gefühl ihrer Kraft, man fühlt etwas wie Achtung vor
jenem Greiſe des Waldes, an dem ſo manche Geſchlechter der Lebenden
vorübergegangen, man bedauert den vom Froſte vernichteten Fruchtbaum,
die vom Blitz entwurzelte Eiche, als wäre ihr Schickſal tragiſch, und man
wird durch ſeltſame, verworrene Formen nicht nur geiſterhaft aufgeregt,
ſondern wohl auch durch zufällige Mißgeſtaltung oder normale Sonderbarkeit
der Geſtalt, wie z. B. bei Cactus und Orchideen, zum komiſchen Leihen
aufgefordert. Daher geht auch die Vorliebe für gewiſſe Formen Hand in
Hand mit der Stimmungsweiſe einer Zeit. Die ſentimentale Periode
z. B. liebte durchaus abſterbende oder abgeſtorbene Bäume; dieß hing
freilich auch mit ihrer Kunſt-Manier zuſammen, welche das Beſtimmte und
Tüchtige verachtete, das Unbeſtimmte, Zerfahrene ſuchte und durch die
Darſtellung desſelben mit der Zufälligkeit der Natur in einer geiſtreichen
Nachläßigkeit zu wetteifern meinte; ein Hauptgrund lag aber doch im
Nebelhaften der Empfindſamkeit, dem zerfallene Formen willkommen waren.
Wie ganz anders zeigt ſich Göthe, wenn er in Hermann und Dorothea
den Segen des Anbaus und den noch immer kräftigen und wohlthätigen
Schatten ſpendenden Birnbaum bei Hermanns väterlichem Hauſe ſchildert.
§. 273.
Die Geſtalt der Pflanze gliedert ſich im Allgemeinen als ein Gegenſatz
der ſenkrecht aufſteigenden und der von dieſer wagrecht abſtehenden, je nach der
Verſchiedenheit der Neigung verſchiedene Winkel mit ihr bildenden Linie. Jene
ſtellt ſich im Stengel oder Stamm dar, welcher die Vermittlung zwiſchen den
beiden die Nahrung aufnehmenden Extremen, der im Schooß der Erde verbor-
genen, ſaugenden Wurzel und den athmenden Blättern übernimmt und als der
unlebendigſte Theil erſcheint, dieſe in den vom Stamm abſtehenden Aeſten mit
ihren Zweigen und Blättern. Zugleich aber tritt das Runde auf in der Walze
des Stammes und der Anordnung der Aeſte um den Stamm, welche bei den
bedeutenderen Pflanzengebilden in Verbindung mit der Umhüllung der Blätter
bald mehr die Form der Kugel, bald mehr des Kegels darſtellt. Die An-
ordnung der Blätter am Zweige iſt von einem feſten Geſetze der Symmetrie
bedingt und ſo ſcheint ſich eine Geſtalt von kryſtalliſcher Regelmäßigkeit
herzuſtellen.
Bei dieſer Darſtellung der Grundgeſtalt der Pflanze iſt weſentlich
die Baumform im Auge gehalten. Der Verlauf wird zeigen, warum die
6*
[84]Aeſthetik dieſe Form vor allen zu berückſichtigen hat. Hier erſcheint denn
das Organ der Saftleitung, der Stamm, in langgeſtreckter, walzenförmiger
Geſtalt und zeigt ſeine Beſtimmung, blos zu vermitteln, durch den dichten
Holzcharakter und die Rinde an, eine Verhärtung, die an Unorganiſches
erinnert, während jedoch die runde Linie ſeiner Cylinderform bereits über
dieß ganze Reich, worin das Runde nur zufällig und verſchwindend auf-
tritt, weſentlich hinausweist. Dem unmittelbaren, äſthetiſchen Anblick
ſtellt ſich ſo der Stamm weſentlich als der feſte Träger dar, der die
lebendigere Krone in die Höhe ſchickt. Die Aeſte mit ihren Zweigen und
Blättern nun ſtehen im Allgemeinen horizontal vom Stamme ab, die
Linie iſt jedoch ſelten die gerade, wodurch ein rechter Winkel mit dem
Stamme entſteht, wie z. B. bei einigen Nadelhölzern, ſondern durch die
Richtung der Aeſte nach oben oder ihr Ueberhängen bildet ſich bald ein
ſpitzer, bald ein ſtumpfer Winkel, was für den äſthetiſchen Charakter des
Baums von großer Wichtigkeit iſt. Auf die Monokotyledonen, deren ſcheiden-
artige Blätter ohne Veräſtung und Verſtielung unmittelbar vom Stamme
ausgehen, konnte hier keine beſondere Rückſicht genommen werden; die
vollkommneren unter ihnen bilden durch den Blätterbüſchel eine Krone,
welche in ihrem Umriß eine Kugelform darſtellt, und theils dieſelbe Form,
theils die Pyramidenform iſt es, welche die Krone der dikotyledoniſchen
Bäume entwickelt. Die kugelähnliche Form der Krone iſt allerdings theils
nach oben durch den höher ragenden Gipfel dem Kegel, theils nach unten,
wo die Aeſte beginnen, mehr oder minder einer geradlinigen Baſis genähert;
an einigen Bäumen erſcheint breite Kuppelform u. ſ. w.; es kommt aber
hier auf eine kurze Bezeichnung des allgemeinen Hauptumriſſes an. Die
Organe der Pflanzen ſtellen ſich kreisförmig um Stamm und Stengel her,
wogegen im thieriſchen Reiche weſentlich die Anordnung von je zwei
Organen zu zwei Seiten auftreten wird. Dieſe Form nun einer breiten
maſſigen Krone auf einem geradlinig aufſteigenden, im Verhältniß zu ihr
dünnen Träger würde unſer Auge verletzen, wenn nicht die Krone in
ihrer Laubumhüllung zart, beweglich, durchſichtig, der Stamm feſt und
holzig wäre. Was aber die im §. ausgeſprochene Symmetrie der Pflanze
im Ganzen betrifft, welche ſich vorzüglich auch in der Anordnung der
Blätter am Stengel und den Aeſten, der gegenſtändigen, wechſelſtändigen,
wirtelförmigen, ſpiralartigen u. ſ. w., und ebenſo auch im geſetzmäßigen
Bau des einzelnen Blatts darſtellt, ſo erwäge man zunächſt nur, daß das
Thier und der Menſch zwar auch ſymmetriſch, ja ſtrenger ſymmetriſch
gebaut iſt, daß aber dieſe Weſen außer der Symmetrie durch andere,
reichere Eigenſchaften höhere äſthetiſche Momente in ſich vereinigen, wodurch
die Symmetrie aufhört, bezeichnendes Prädicat zu ſein. Die Pflanze ſelbſt
erreicht vielmehr gerade durch das erſt ihre äſthetiſche Bedeutung, wodurch ſie
[85] von der Symmetrie wieder abweicht, aber freilich, um in die entgegen-
geſetzte Eigenſchaft, die der Unbeſtimmtheit zu verfallen, wogegen die
thieriſche und menſchliche Geſtalt in aller Bewegung und Thätigkeit ihre
Symmetrie bewahrt. Hievon muß nun die Rede werden.
§. 274.
Allein dieſe Strenge der Geſtalt hebt ſich wieder auf nicht nur durch die
Zufälligkeit individueller Bildung überhaupt, ſondern durch das Weſen der
Pflanze ſelbſt. Ihre wenigen Verrichtungen verſieht ſie durch unbeſtimmt viele
Organe derſelben Art, welche zum Theil ohne Verluſt für das Ganze verloren
gehen und ſelbſt neue Individuen gründen können und in unendlichen Ab-
weichungen die Linie ihrer Richtung und ihre Form wechſeln. Bei den größeren
und daher für die Aeſthetik wichtigeren Gebilden iſt die Zahl der Zweige und
Blätter ſo bedeutend, daß die einzelnen in der Maſſe verſchwinden und die
Zeichnung ihrer Formen nur in einem unbeſtimmten Geſammt-Eindruck auf das
Auge wirkt. An die Stelle der meßbaren Beſtimmtheit tritt daher für das
äſthetiſche Intereſſe ein anderes in die unbeſtimmte Maſſe eine gewiſſe Ordnung
einführendes Theilungsgeſetz: das Auseinandertreten beſonderer, durch Aeſte
mit ihrem Baumſchlag gebildeter Gruppen innerhalb des allgemeinen Körpers
der Krone. Je kräftiger bei großem Umfange dieſe Sonderung hervortritt,
deſto mehr ſelbſtändige Bedeutung hat die Pflanze, je unbeſtimmter bei geringer
Größe ſie ausgeſprochen iſt, deſto mehr erſcheint ſie nur als allgemeine Beklei-
dung, Schmuck, Schattengebung zu der unorganiſchen Natur.
Das Schönſte in der Pflanzenwelt iſt energiſche Modellirung einer
Baumkrone in einzelne Maſſen, welche von den größeren Aeſten mit ihrem
Laube gebildet ſich durch beſtimmte Schatten-Einſchnitte von einander trennen
und ſo die Krone als ein gegliedertes Ganzes darſtellen. Dieß iſt eine
Beſtimmtheit ganz anderer Art, als die im vorherigen §. genannte und
zunächſt ſich in Unbeſtimmtheit wieder zerſtreuende Strenge der Geſtaltung.
Es iſt eine Form, mit welcher der Naturforſcher ſich nicht ausdrücklich
beſchäftigen kann, ſie hängt jedoch allerdings mit der Gattung zuſammen;
ſie tritt vorzüglich bei dem Laubholze, bei dem Nadelholze weniger auf.
Bei monokotyledoniſchen Pflanzen, wie Palmen und Bananen, ſind die
Blätter ſo groß, daß gewiſſermaßen eine wohlgefällige Zuſammenſtellung
von mehreren derſelben das vertreten kann, was bei den dikotyledoniſchen
die Gruppirung von Aeſten bewirkt; bei pyramidaliſchen Nadelholzbäumen,
Tannen, Zedern, zeigen ſich die Aeſte zwar dem Auge meiſt getrennt, doch
kommen ſie durch verſchiedene Winkel ihrer Stellung auch ſo zuſammen-
zuſtehen, daß ſie ſich gruppiren, ja es kann ſich am einzelnen reich
[86] benadelten Aſte das Nadelwerk ſchön zuſammenhäufen und wieder theilen,
mehr jedoch findet ſich ſchöne Modellirung bei den gewölbten Kronen von
Föhren, Pinien.
§. 275.
Durch ihre Mitwirkung zum Geſammt-Eindruck wird nun allerdings die
Stellung, Größe, Textur, Zeichnung, Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit des
Blattes wichtig, während die verſchienenen Typen der Zeichnung, wenn ſie ver-
einzelt dem näheren Anblicke ſich darbietet, zwar einen Reichthum zierlicher,
kräftig geſchwungener, durch einfachere oder zuſammengeſetztere Symmetrie anzie-
hender Umriſſe zeigen, jedoch ohne in dieſer Vereinzelung ein ſelbſtändig Schönes
2begründen zu können. Die Haltung nun, der beſtimmte Hauch und Wurf, welchen
die Blättermaſſe einem bedeutenderen vegetabiliſchen Gebilde gibt, iſt weiter
bedingt durch die Zuſammenwirkung der genannten Eigenſchaften mit der Form
und Oberfläche, alſo der Schlankheit oder Dicke, der geraden, ſtarren oder
geſchwungenen, gekrümmten Bildung, der Härte oder Biegſamkeit, der glatten
oder rauhen Rinde des Stamms und der Aeſte. Bei vielen Bäumen zertheilen
ſich die Aeſte ſo zierlich in ihre Zweige, daß das bloße Gerippe einen höchſt
wohlgefälligen Anblick darbietet.
1. Die Blattform für ſich bietet bekanntlich die zierlichſten Formen,
für welche die Botanik eine ausführliche Terminologie aufgeſtellt hat.
Ein zierliches Skelett von Rippen oder ſogenannten Nerven hält die Fläche
des Blatts zuſammen und bedingt die Zeichnung ſeines Umriſſes mit.
Dieſer umfaßt in den einfacheren Bildungen zunächſt alle Verſchieden-
heiten, welche zwiſchen der kreisrunden und der linienförmigen Geſtalt
liegen: die lanzettförmige, ſpießförmige, pfeilförmige, eiförmige, eiförmig
zugeſpitzte, herzförmige, nierenförmige u. ſ. w. Größere Mannigfaltigkeit
tritt ſofort durch die verſchiedene Bildung des Randes ein; ſchärfer und
eckiger erſcheint ſie, wenn er gekerbt, gezähnt, geſägt oder auch doppelt
gezähnt, doppelt geſägt iſt, weicher, wenn er die ſog. buchtige Form hat,
d. h. mit zugerundeten Hervorragungen und ebenſolchen Einſchnitten ver-
ſehen iſt (wie das Eichenblatt). Greifen die Hervorragungen und Ein-
ſchnitte tiefer, ſo entſteht die bereits reichere Form des gelappten, geſpaltenen,
getheilten, zerſchnittenen Blatts; das letztere nähert ſich bereits der Geſtalt
eines aus einer Blättchengruppe gebildeten, zuſammengeſetzten Blatts,
eigentlich aber tritt dieſe erſt ein, wo mehrere vollkommen geſonderte
Blättchen mit eigenen Blattſtielchen in den gemeinſamen Blattſtiel ein-
gelenkt ein Geſammtblatt bilden. Hier tritt erſt eine entwickeltere, einfachere
oder ſelbſt wieder zuſammengeſetztere Symmetrie ein. So entſteht die
gefiederte, gefingerte, ſchildförmige Bildung. Einfach gefiedert iſt z. B.
[87] das Blatt der Eſche, der Acazie, doppelt gefiedert ſind ſolche Blätter, wo
vom gemeinſamen Blattſtiele wieder ſecundäre Blattſtiele mit ſich gegen-
überſtehenden Blättchen auslaufen, wie z. B. bei manchen Mimoſen;
gefingert iſt das Blatt der Kaſtanie u. ſ. w. Eine neue Form entſteht
durch die Stachelbildung am Rande, wie ſie namentlich die Diſteln in ſo
mannigfaltigem und anziehendem Spiele darſtellen. So zierlich nun alle
dieſe Formen ſind, ſo kann doch das vereinzelte Blatt niemals ſelbſtändig
ſchön heißen, denn dieſe Formen führen zwar Vorſtellungen verwandter
Bildungen, die eine Bedeutung haben (Organe des thieriſchen Leibes,
Waffen u. ſ. w.) vor das Gemüth, aber ſo ungefähr und dunkel, das
Verwandte ſelbſt iſt auch etwas für ſich ſo Unſelbſtändiges, daß dieſes
anklingende Spiel unmöglich im eigentlichen Sinne ſchön heißen kann.
Es wird hier Jedem ſogleich beifallen, daß die Kunſt einzelne Blattformen
benutzt, aber auch nur zu Verzierungen eines Körpers, deſſen ganze
Schönheit anderswo, in ſeinen Verhältniſſen überhaupt liegt, und zudem
doch nicht ſowohl das einzelne Blatt, als vielmehr eine Reihe, Gruppe
von Blättern und zwar meiſt nicht nur von verſchiedenartigen, ſondern über-
dieß in Verbindung mit rankenden Stielen, Stengeln, mit Thier- und
Menſchengeſtalten u. dergl.
Daß nun aber ein Baum mit gebuchteten Blättern einen andern
Charakter haben wird, als mit gefiederten, gelappten u. ſ. w. leuchtet ein,
und hier erſt erhalten auch Stellung, Größe u. ſ. w. ihre ganze äſthetiſche
Bedeutung: Blätter, welche rund um ihre Axe zerſtreut ſtehen, werden
dem Baume ein volleres Anſehen geben, als ſolche, die ſich zu zwei
gerade gegenüberſtehen u. ſ. w. Von beſonderer Wichtigkeit iſt die Textur:
der ſilhouettenartige Charakter der ſüdlichen Pflanzenwelt rührt namentlich von
der lederartigen Qualität ſo vieler Baumſchläge, des Lorbeers, der immer-
grünen Eiche u. ſ. w.; ferner die von der Länge des Stiels abhängige
Beweglichkeit: die Zitterpappel oder Eſpe mit dem ſtets bewegten Laube
wird anders zum Gemüthe ſprechen, als die ſtarre Buche mit den kurzen
und feſten Blattſtielen.
2. Der dicke Stamm der Eiche hat vorzüglich rauhe Rinde, knorrige,
vielgekrümmte Aeſte und ſie müßte in hohem Grade hart erſcheinen, wenn
nicht die ſaftigen und ſchön gebuchteten Blätter ſie überkleideten, ſo aber
entſteht ein ſchöner Gegenſatz; die lanzettförmigen Blätter der Weide müßten
dem Baume ein ſcharfes, ſpitzes Anſehen geben, wären nicht Aeſte und
Zweige ſo biegſam, daß jeder Wind ſie umlegt und reizende Wellen erzeugt;
noch weicher erſcheint die Trauerweide mit den überhängenden Zweigen.
Mit dem zarten Laube der Eſpe und Birke ſtimmt ſchlanker, großentheils
glatter Stamm, in halbem rechtem Winkel abſtehende, überhängende
Zweige u. ſ. w. Es iſt im Bau ſelbſt des entblätterten Gerippes der
[88] Bäume, deren kräftige Aeſte ſich in ein Netz zierlicher Zweige vergittern,
ſo viel Reiz der Zeichnung, daß ſie auch im winterlichen Zuſtande ſchön
heißen könnten, wenn nicht das Laub unentbehrlich wäre, um dem Baum
eine eigentliche Stimmung zu geben.
§. 276.
Ueberall nun trägt zum beſonderen Ausdruck des Pflanzengebildes weſentlich
die Farbe bei. Die allgemeine Farbe des Pflanzenreiches iſt das beruhigende,
die nie verſiegende ſaftige Triebkraft des Lebens anzeigende Grün, das am
Baum ſeine ganze Wirkung namentlich im Gegenſatze zu der braunen, grauen,
gelblichen, weißlichen Färbung des Stammes und der Aeſte erreicht. Das
Grün ſelbſt aber unterſcheidet ſich wieder durch mannigfaltige Miſchungs-
verhältniſſe des Blauen und Gelben, ſo wie durch Abſtufungen ſeiner Tiefe und
2Helle, wodurch der Charakter der Stimmung ſich vollendet. Eine neue und
prachtvolle Farbenwirkung erzeugt die Pflanze in der Blüthe, in welcher ſie
zugleich die reichſte ſymmetriſche Bildung hervorbringt und den überall ſie
begleitenden wohlthätigen Geruch zum feinſten Dufte ſteigert. Trotz dieſer
Eigenſchaften iſt die Blume von geringerer äſthetiſcher Bedeutung, als die
Gliederung eines umfangreichen Pflanzengebildes im Ganzen. Geſättigter erſcheint
bei denſelben Eigenſchaften, an die volle Zeugungskraft der Natur, aber auch
bereits zu ſehr an beſtimmte Zweckbeziehungen erinnert die Frucht.
1. „In optiſcher Hinſicht bildet das Grün den polariſchen Gegenſatz
des Rothen; an dem Pflanzenreiche deutet mithin ſchon die herrſchende
Farbe auf den Geſchlechtsgegenſatz hin, welcher zwiſchen ihm und dem
Thierreiche beſtehet, an deſſen vollkommenen Formen überall das Roth
des Blutes verherrſchen würde, wenn bei ihnen das innere Getriebe der
Säfte nicht durch die bergenden Decken des Felles überkleidet, ſondern
ebenſo offen dargelegt wäre als bei den Kräutern.“ (Die Geſch. der Natur
v. Schubert, B. 2. §. 36). Die menſchliche Haut läßt überall das Roth
des Blutes durchſchimmern. Dieſer affectvollen Farbe gegenüber ſcheint
nun das Grün überall auszuſprechen, daß hier, wie in der Farbe die
Differenz aufgehoben, ſo im ganzen Weſen noch kein ſubjectiver Bruch,
keine Empfindung und Leidenſchaft, nur ſtill und ſtumm fortgährendes Säfte-
Leben iſt: da iſt Erholung, Gefühl der Geſundheit, die Farbe ſelbſt haucht
ſtille, labende Kühle. Dieſe allgemeine Stimmung wendet ſich aber in
vielfacher Weiſe je nach der Art des Grüns. Einen Hauptgegenſatz bildet
das ſchwärzlich gelbliche dunkle Grün des häufig lederartigen Baumſchlags
wärmerer und heißer Zonen mit dem helleren, dünneren der nörd-
licheren Länder. Mehr Blau und Grau ſieht trauriger aus, als mehr
[89] Gelb; man wird ſchon deßwegen mit ganz anderer Stimmung unter
Tannen und Föhren, als unter Linden wandeln. Die meiſten Bäume
entfärben ſich im Herbſte und werden gelblich, röthlich; dieß iſt ein Haupt-
grund der wärmeren Stimmung, welche die Landſchaft im Herbſte annimmt,
und welche im Widerſpruche mit der Trauer, welche zugleich das Fallen
der Blätter, die neblichte, kältere Luft hervorruft, ein ſo wehmüthig ſchönes
Gefühl hervorbringt.
2. Die Blume zeichnet ſich außer der Farbenpracht namentlich durch
ihren feinen ſymmetriſchen Bau aus: die Blätter ſtellen ſich meiſt im
Kreiſe um ihren Mittelpunkt und bilden in ihrer beſtimmteren Form und
Lage Kronen der verſchiedenſten Art, becherförmige, glockenförmige, trichter-
rad- krug- teller- ſternförmige; einfache und gefüllte u. ſ. w. Aus dieſem
reizenden Kinde der Pflanze ſteigt der Duft auf, den wir in berechtigter
Bilderſprache die Seele der Pflanze nennen. Die Pflanzenwelt ſpricht
überhaupt entſchieden auch durch den Geruch zum Gemüthe, wie denn der
theilweiſe Anſpruch des Geruchſinns in §. 71 zugegeben iſt. Nicht nur durch
den feineren Duft der Waldblumen, ſondern auch durch den Geſundheit-
athmenden Geruch der Mooſe, der Bäume nimmt der ſtrotzende Wald mit
den andern Sinnen auch dieſen gefangen und vollendet das Gefühl der
Geneſung, nicht etwa eben von Krankheit, wohl aber immer von den
ſpannenden Steigerungen der Geſellſchaft und Bildung, womit wir unter
ſeinem Laubdach wandeln; der wohlriechende Duft der eigentlichen Blumen
aber iſt ſo fein, ſo geiſtig, daß die Phantaſie beſtimmter angeregt und der
ganze Menſch zart und edel geſtimmt wird. Trotz dieſen ausgezeichneten
Eigenſchaften nun hat die Aeſthetik an der Blume einen ungleich geringeren
Stoff, als am Baum. Es iſt ſchon geſagt, daß das Schöne eine gewiſſe
Größe fordert. Die tropiſche Pflanzenwelt bringt zwar ſehr große Blumen
hervor; an den ſchattigen Ufern des Madalenenflußes in Südamerika
wächst nach Alex. v. Humboldt eine rankende Ariſtolochia, deren Blume,
von vier Fuß Umfang, ſich die indiſchen Knaben in ihren Spielen über
die Scheitel ziehen. Allein gerade dieſer Wucher iſt für die Aeſthetik im
wahren und ſtrengen Sinne kein wahrhaft ſchöner Stoff; die inneren
Mängel des Vegetabiliſchen treiben ſie, die Schönheit höher in andern
Reichen zu ſuchen, im vorliegenden Reiche aber fordert ſie dieſelbe in der
Größe und Gliederung eines ganzen Gebildes, wogegen die Ueppigkeit
des Theils bei ſolchen wuchernden Gewächſen ſich auszudehnen ſcheint, um
die inneren äſthetiſchen Mängel zu überwachſen, und ſie ebendadurch nur
um ſo mehr aufzeigt. Die Blume höher ſtellen, als den Baum, wäre
daſſelbe, wie das Kind höher ſtellen, als den Mann, und dieſelben, welche
jenes thun, thun dieſes. Alle Pflanzen erſcheinen uns als ſchlafende Weſen,
aber die Blume iſt ein ſchlafendes Kind, der Baum ein ſchlafender Held.
[90] Wir legen beſtimmteren Sinn in die Blumen, aber nur für die Spiele
des engeren Empfindungskreiſes und nur in allegoriſcher Weiſe. Blumen
ſind, doch auch mehr, als man glaubt, ſinnlich reizend und ebendaher iſt
Vorliebe für ſie individuell zufällig, Geſchmackſache. Sieht man von dieſer
Beziehung auf den Zuſchauer ab, ſo bleibt mehr die Bewunderung des
ſinnreichen, aber durch ſeine Regelmäßigkeit auch wieder an das blos
Kryſtalliſche erinnernden Baus, des Schöpfers, wie bei Brockes, als eigentlich
äſthetiſche Betrachtung übrig. Daß der Zweig der Malerei, der die ſo-
genannten eigentlichen Blumen zum Gegenſtande hat, untergeordnet iſt,
liegt im Stoffe; will die Kunſt mehr damit anfangen, ſo muß ſie dieſelben
als nur mitwirkende Motive in einen höheren Zuſammenhang ſtellen und
das liegt (um nur gelegentlich auch hier den Idealiſten zu zeigen, daß es
zuerſt auf dieſen ankommt) auch im Stoffe; daß der Maler einen Baum
nicht wohl in Blüthen malen kann, hat ebenſo ſeinen einfachen Grund
darin, daß dieſe kleinen Kinder gegen den Vater nichts heißen wollen,
daß dieſe Ueberkleidung gegen das große, ernſt und gewaltig gegliederte
Ganze ein Momentanes iſt, das man mit Vergnügen ſieht, das aber nicht
als Bleibendes gefeſſelt werden ſoll: es ſieht im Gemälde kindiſch aus.
Zu Ornamenten, Arabesken werden Blumen reichlich verwandt, aber da
ſind ſie nur anhängender Schmuck und ebendarum nach dem Geſetze der
Architectur umgebildet.
Aehnlich verhält es ſich mit der Frucht; durch ihren gefüllten Charakter
iſt ſie Vollendung der Blüthe; die Mannigfaltigkeit ſymmetriſcher Zeich-
nungen verſchwindet, um der Kugel der Beere, dem Oval der Pflaume,
der Form des Zapfens u. ſ. w. Platz zu machen; der Reichthum der Farben-
pracht zieht ſich zuſammen theils in farbloſes Braun, theils aber in ſeine
Farben-Uebergänge, reizvolle Durchſichtigkeit, wie ſie die Blume nicht auf-
zuweiſen hat; im Einzelnen erſcheinen freilich auch herrliche einfache, undurch-
ſichtige Farben, wie das Rothgelb der Orange. Dazu kommt der feine
Geruch ſo vieler Früchte. An Geſtalt ſind beſonders Sammelfrüchte ſchön,
Zuſammenſtellungen von Gruppen einzelner Früchtchen zu Einer Frucht,
wie der Beeren in der Traube, bei welcher zugleich die durchſichtige Farbe
ſo reizvoll iſt. Früchte ſind nun aber vereinzelte Schönheit, wie Blumen.
Sie erſcheinen reicher voller, ſatter, wirken aber auch beſtimmter ſtoffartig,
laden zum Genuſſe ein. Man bewundert die ſtrotzende Natur, man möchte
aber auch hineinbeißen. Dieß wird in der Kunſt weiter zu berückſichtigen
ſein; hier aber iſt noch von einem Widerſpruche zwiſchen der äſthetiſchen
und botaniſchen Rangordnung zu reden. Die Frucht iſt nicht nur an ſich
das Höchſte an der Pflanze, ſondern die Gewächſe, welche vorzugsweiſe
nützliche und wohlſchmeckende Früchte tragen, die Obſtpflanzen, nehmen
auch die höchſte Stufe im Syſteme der Botanik ein. Da nun die Aeſthetik
[91] dieß ganz anders anſieht, ſo iſt hier einer der Punkte, wo der Satz §. 18, 2.
eintritt. Die Frucht iſt etwas Edleres, als der ganze Baum, und doch iſt
nur die Geſtalt des letzteren ſelbſtändig ſchön, jene nicht. Dieß jedoch
wäre noch nicht der eigentliche Widerſpruch, denn Aeſthetik und Botanik
würden ſich nur in denſelben Gegenſtand verſchieden theilen; aber gerade
an den Obſtbäumen iſt die Geſtalt des Ganzen das Unſcheinbarſte, der
Werth ſammelt ſich alſo auf Koſten der Geſtalt in der Tiefe, er tritt
dann heraus, aber in einem Gebilde, das zu klein iſt für die äſthetiſche
Bedeutung. Wenn nun in andern Fällen das Schöne ſich verſchieden
wenden und dieſes umgekehrte Verhältniß in ſein Intereſſe ziehen kann,
ſo iſt dieß hier deßwegen nicht der Fall, weil die Frucht nicht ein Bewegtes,
Thätiges iſt, wie z. B. die Handlungen eines drolligen jungen Thieres,
welche die Unſcheinbarkeit der Geſtalt durch ein komiſches Intereſſe vergüten.
Trotz dieſen und noch andern Abweichungen geht aber im Ganzen und
Großen der Stufenwerth der Schönheit dennoch mit dem der Organiſation
an ſich Hand in Hand.
§. 277.
Gemäß den bisher entwickelten Bedingungen muß der äſthetiſche Ueberblick
des Pflanzenreichs von denjenigen Pflanzen, welche in gemäßigten Zonen eine
ſo unbedeutende Höhe erreichen, daß ſie nur in geſelliger Menge als Ueberzug
des Bodens dem Auge den geforderten Umfang darbieten, zu den größeren
Formen forteilen. Mooſe, Kräuter, Gräſer, zum Theil Schling-
pflanzen haben dieſe Bedeutung (vergl. Schluß von §. 274). Sie erſcheinen wie
ein wucherndes Streben der erſten Form des organiſchen Lebens, das Erdreich
in ihren Beſitz zu ziehen und Alles, ſelbſt die eigenen feſteren Formen zu
überkleiden. Das Geſträuche gibt der Landſchaft bereits einen energiſcheren
Schmuck.
Manche Kräuter erreichen in heißen Zonen Baumhöhe, die Farren,
die Heidekräuter; die Grasform, die wir, trotz ihrer höheren botaniſchen
Bedeutung, nebſt den Schilfen noch zu der wuchernden geſelligen Ueber-
kleidung des Bodens zählen müßen, von welcher hier die Rede iſt, ſteigt
zu der Höhe unſerer Bäume auf. Dieſer Zonen-Unterſchied kann aber in
ſolcher Ausdehnung nicht berückſichtigt, ſondern nur diejenigen bedeutenderen
Pflanzen der heißen Himmelsgegenden können im weiteren Zuſammenhang
ausdrücklich hervorgehoben werden, welche nicht nur durch Unterſchied der
Größe, ſondern zugleich durch eigenthümlichen Charakter ſich auszeichnen.
Was nun die Formen, Farben der hier genannten Pflanzen betrifft, ſo
ſind ſie allerdings auch in ihrer Einzelheit nicht ohne alle äſthetiſche
Bedeutung. Die Mooſe freilich, welche akotyledoniſch ſind und ſelbſt in
[92] dieſer Gattung niedrig ſtehen, haben ſo wenig Gliederung, daß ſie nur
wie der erſte, weiche Teppich erſcheinen, den die gegliederten Pflanzen
ſelbſt ſich unterbreiten. Kräuter ſind ungleich formreicher im Einzelnen,
ſelbſt akotyledoniſche, wie Farrenkräuter, welche namentlich zierliche
gefiederte Formen darbieten; den Gräſern ſieht man auch im Ueberblick
die gegliederte Form wohl an; Schlingpflanzen zeigen reiche Geſtaltung,
herrliche Blumen. Doch alle dieſe beſonderen Schönheiten fallen unter den
Standpunkt des äſthetiſch Unſelbſtändigen (vrgl. §. 275 ff.) und es kommt
hier nur die Geſammtwirkung, die durch geſellige Menge entſteht, in
Rechnung. Der allgemeine Eindruck iſt im §. bezeichnet; das Auge trennt
dieſe grünen Ueberkleidungen nicht von der Erde, von der ſie ſich durch
keinen klaren Gegenſatz von Stamm und Krone erheben, die Vegetation
ſucht nur Alles zu überziehen und behandelt ſelbſt Werke der Menſchen-
hand, altes Gemäuer, als ſein Eigenthum, das es verbrämt und mit
ſeinen ſpielenden Franzen umhängt, zur Natur zurückführt, maleriſch macht.
Die Schlingpflanze ſteigt wie ein ſpielender Schmuck, oft als prachtvoll
colorirte Randzeichnung an höheren Körpern, namentlich an Bäumen hinauf.
In dieſem allgemeinen Charakter treten nun freilich beſtimmte Charaktere
hervor; anders wirkt der ſammtene Moosteppich, anders die Weberei des
Krautes, und dieſe wieder verſchieden, wie ſie vielgeſtaltig, würzig von
der heißeren Sonne hervorgelockt wird oder wie ſie einförmig weite neblige
Ebenen und Berghöhen mit mattem Grüne begleitet. Wärmer, weicher
erſcheint die Grasflur, die im Winde ein wogendes Meer (mar de yerbas
nennen die Südamerikaner ihre Llanos) darſtellt.
Im Geſträuche, d. h. den Gewächſen, deren Zweige ſchon tief am
Fuße des Stamms hervortreten, wird nun die Richtung der letzteren, auch
der Blattform und Farbe ſchon ungleich wichtiger, allein es kann nur in
Kürze der allgemeine Charakter der kräftigeren Betonung ausgeſprochen
werden, den es der Landſchaft mittheilt. Der Baum verhält ſich zu allen
dieſen Formen wie das eigentliche Subject, das wir ſuchen.
§. 278.
Unter den großen Gebilden von ſelbſtändiger Bedeutung nun, den Bäumen,
1läßt ſich ein dreifacher Typus unterſcheiden. Der erſte trägt durch vorherrſchende
Ausdehnung zu rieſenhafter Breite und Höhe den Charakter des Erhabenen, jedoch
in der näheren Beſtimmung kryſtalliſcher Gebundenheit, die das Gemüth des Be-
ſchauers nicht in den Irrgängen ahnungsvoller Stimmung ſich frei ergehen läßt,
ſondern ſtreng beherrſcht: eine Eigenſchaft, die in dem ſcharfen Umriß, der feſten
und dichten Textur, der gemeſſenen Zeichnung, regelmäßigen, ſymmetriſchen Stellung
2dor Theile begründet iſt. Ueben der Gebundenheit bricht aber üppiger Wucher,
[93] glühende Pracht, betäubender Duft hervor und ſtellt dem ſtrengen Maaße die
Maaßloſigkeit an die Seite.
1. Hätten wir ſchon die geſchichtlichen Hauptformen der Phantaſie und die
verſchiedenen Künſte dargeſtellt, ſo könnte der hier zuerſt aufgeführte
Pflanzentypus mit der orientaliſchen Phantaſie verglichen und durch das
Prädicat des Architektoniſchen bezeichnet werden. Man erkennt hier ſogleich
die Pflanzenwelt der heißen Länder und der Charakter überhaupt, dann
die Kunſtrichtung des Menſchen, der von ihr umgeben iſt, wird weſentlich
als durch ſie mitbeſtimmt erſcheinen. Die Formen dieſer Vegetation zeichnen
ſich mit geometriſcher Schärfe von dem tiefen Himmel ab, gemeſſener Ernſt,
kryſtalliſche, Auge und Sinn bindende Beſtimmtheit läßt die Subjectivität
des Beſchauers, die Wogen der vertieften Empfindungen nicht aufkommen:
es fehlt nicht nur die Romantik, ſondern ſelbſt der weichere Ernſt der
Sinnesweiſe, die wir plaſtiſch nennen. Dadurch beſtimmt ſich der allgemeine
Charakter des Erhabenen, der in der ungemeinen Größe dieſer Pflanzen
liegt. Das Erhabene überwältigt und erhebt zugleich das befreite Gemüth;
dieſe doppelte Wirkung üben auch die Rieſen der tropiſchen Vegetation
aus, aber das Moment der Befreiung in derſelben beſchränkt ſich durch
die Strenge der Form, in der Erhebung ſelbſt liegt etwas Deſpotiſches,
Bannendes. Zuerſt ſind hier als monokotyledoniſche Formen, deren
Phyſiognomie meiſt den Charakter des Erhabenen in der Form aufſtrebender
Linie trägt, die Lilien und Palmen aufzuführen. Unter jenen mag, obwohl
gewöhnlich nicht baumartig gebildet, die Aloe genannt werden, wie ſie
aus der vollen, doch ſtrengen Roſe ihrer bläulichgrünen, dicken, fleiſchigen,
in einen langen Dorn endigenden Blätter ihren hohen Stengel hinauf-
ſchießen läßt. Anders erſcheint die Banane mit dem ausgebreiteten Buſche
ihrer ungeheuren, dünnen, ſeidenartig glänzenden Blätter, wobei jedoch
der aufſteigende Stengel fehlt. In der größten Pracht tritt dagegen
der Monokotyledonencharakter als der eines geradlinigten Aufſchießens bei
verhältnißmäßig dünnem Stamme vorzüglich in den Palmen auf, welche den
ſchlanken Stamm bis zu 180 Fuß Höhe hinauftreiben, um ihn dann —
ohne Veräſtung, deren Mangel bei den Monokotyledonen weſentlich das
Gebundene, die Abweſenheit des freieren Formſpiels ausdrückt — in den
königlichen Blätterſtrauß auszubreiten. Die Blätter ſind theils gefiedert,
theils fächerförmig und hierin erſcheint nun namentlich jene kryſtalliſche
Symmetrie, welche von dieſem ganzen Typus ausgeſagt wird. So geſtaltete
Blätter bewirken immer eine große Durchſichtigkeit der Baumkrone und
wenn dieſe bei aller Hoheit dem Baume etwas Leichtes gibt, ſo dient ſie
doch zugleich beſonders, auf dem Grunde des durchſcheinenden Himmels
die Umriſſe in ihrer gemeſſenen Schärfe, in ihrer gezählteren Symmetrie zu
[94] zeigen. Unter die Palmen ſtellt Oken den Pandanus; ſein Stamm wird
nicht hoch, dagegen iſt in der Spiral-Stellung der ſchwertförmigen Blätter
auf eigenthümlich ſtrenge Weiſe jener geometriſche Charakter ausgeprägt.
Nicht durch Höhe, aber durch ungeheure Dicke und Breite zeichnet ſich
der rieſenförmige Drachenbaum aus, der ebenfalls palmenartig, aber mit
überhängenden Schwertblättern ſeine Krone über einem Stamm ausbreitet,
welcher in dem berühmten Exemplare auf Teneriffa über der Wurzel 45 Fuß
im Umfange hat. Unter den dikotyledoniſchen Formen iſt die durch Blätter-
zeichnung am meiſten ſymmetriſche die gefiederte und beſonders zartgeficdert
ſind die von ſchirmartig verbreiteten Zweigen getragenen Blätter der
Mimoſen. Seltſame phantaſtiſche Formen ſind namentlich die Cactus-
Arten, bald kugelförmig, bald ſchlangenartig am Boden kriechend, bald
in ovalen flachen Gliedern im Zickzack geſpenſtiſche Arme ausſtreckend, bald
in vieleckigen Säulen hoch aufſteigend. Wie ſeltſam aber dieſe Bildungen
ſind, ſie tragen doch in ihrer fleiſchigen Maſſe, ihren feſten Umriſſen jenen
ſcharfen, allem Zerfloſſenen ſtreng entgegengeſetzten Charakter, von dem
hier die Rede iſt. Andere Formen erſcheinen äußerſt trocken und kahl, wie
die Caſuarinen mit ihren blätterloſen, mausſchwanzähnlichen Zweigen.
Die hier verfolgte Eintheilung bindet ſich nicht an den geographiſchen
Standpunkt. Es kommt nicht darauf an, die Pflanzenformen der heißen
Zonen durchzugehen, die ungeheuren Feigenbäume, Wollbäume, Affen-
brodbäume u. ſ. w. aufzuführen, ſondern den allgemeinen Typus zu ſchildern
und die ihn am eigenthümlichſten bezeichnenden Formen hervorzuheben.
Es war allerdings ſogleich zu bemerken, welche Sonne dieſe Formen
hervorbringt, allein dieſelbe Sonne ruft auch unzählige andere Gebilde
hervor, welche, nur nicht ſo üppig, nicht ſo groß, auch anderswo wachſen
und ebenda gewöhnlicher ſind. Umgekehrt wachſen die Pflanzen, welche
die heißen Länder vorzüglich charakteriſiren, auch in dem wärmeren Theile
der gemäßigten Zone, freilich ebenfalls nicht in derſelben Größe, Anzahl
der Arten u. ſ. w.
2. Neben dieſen ſtrengen Formen ſchießt nun aber in den heißen Zonen
eine duftberauſchende, farbenglühende, in unendlichen Formen wuchernde
Welt von Kräutern, Schlingpflanzen, Gräſern, Blüthen, Blumen (unter
denen wir nur die bunten Orchideen nennen) u. ſ. w. auf. Hier verſchwindet
die bindende Regel in ungemeſſener Ueppigkeit und führt das durch jene
Strenge gebundene Gemüth in heiße und ſchwelgeriſche Trunkenheit hinaus,
nicht in die gedankenreicheren Spiele der Empfindung, ſondern in Träume
der Wolluſt. Unfrei iſt der Geiſt hier wie dort. Wir werden dieſelben
Extreme im Naturell der Völker finden, welche in dieſer Pflanzenwelt
leben.
[95]
§. 279.
Ein zweiter Typus bewahrt ebenfalls Gemeſſenheit, Schärfe, ernſte Haltung,
die aber in bewegteren, weicheren, zufälligeren Formen als freier Schwung
herrſcht; er entläßt und bindet das Gemüth in Einem, verſchmilzt Anmuth und
Würde in edlem, geſättigtem Gleichgewichte.
Man erkennt ſogleich den Pflanzentypus des wärmeren Theils der
gemäßigten Zone. Dürfen wir uns den ſchon genannten Vorgriff erlauben,
ſo nennen wir ihn den plaſtiſchen. Es iſt der compacte, ſilhouettenartige,
in ſich geſättigte Charakter der Pflanzenwelt unſerer ſüdlichen europäiſchen
Länder, Italiens und Griechenlands vorzüglich, der durch den Schwung
ſeiner Formen das Gemüth zur Freiheit entläßt, aber nur bis zu der
Grenze, wo das Sentimentale beginnt; dieß weist er durch ſeine ruhige
Würde, ſeine gemeſſene Haltung, ſeinen ernſten Anſtand, ſeine ſcharfe
Deutlichkeit zurück. Seine Pflanzenwelt iſt im Allgemeinen von mäßigerer
Größe, doch erreichen viele Bäume ſehr bedeutende Höhe und Breite.
Wir erwähnen als erſtes Beiſpiel des vorliegenden Typus die reich ver-
äſteten größeren Laubholz-Arten, welche ein ſtark in Saft ſchießendes,
wäſſerigtes, in ſeinem Gewebe wenig compactes, üppig wucherndes
Gepräge zeigen. Eine wohlgegliederte Gruppirung der Krone in einzelne
Baumſchlag-Maſſen iſt dadurch keineswegs ausgeſchloſſen, am wenigſten
entwickelt ſich dieſe in der Kaſtanie, welche, wo ſie nicht zu bedeutender
Größe fortgewachſen iſt, ſich in faſt regelmäßiger, wenig getheilter Kugel-
form ziemlich ſteif darſtellt. Was aber die üppige Fülle aller dieſer Formen
zu einer gemeſſeneren, dem Kryſtallartigen wieder näher ſtehenden Strenge
zurückführt, iſt die Zeichnung der Blätter: gelappt bei der (gemeinen)
Feige (und zwar bei dieſer in einer äußerſt wohlgefälligen Form), der
Platane, dem Ahorn, gefingert bei der Kaſtanie, gefiedert mit langen
ovalen Blättchen bei dem Nußbaume, mit lanzettförmigen bei der Eſche,
mit feineren ovalen bei der Acazie, die ſich durch ihre mimoſen-artige
Zartheit unter den gefiederten Laub-Arten beſonders reizend darſtellt. Der
dünnere, weniger ſolide, wäſſerigte Charakter iſt bei mehreren der hieher-
gehörigen Bäume auch in der graulichen, grünlichen, überhaupt hellen
Farbe der Rinde ausgedrückt, wie z. B. der Platane. Die näheren
Unterſchiede der im Allgemeinen warmen Farbe des Grüns dieſer Bäume,
der Richtung, Form der Aeſte u. ſ. w. können nicht verfolgt werden. —
Eine andere Gruppe dagegen zeigt bei mäßigerer Größe ſchlanke oder
bequem rundlich ausgebreitete Form, meiſt compactes Zuſammenhalten der
Kronen-Maſſe, lederartige, glänzende, ſchwärzlich oder graulichgrüne Farbe
der Blätter und dadurch ſcharfe Abzeichnung vom tiefblauen Himmel,
[96] wodurch erſetzt wird, was an reicherer ſymmetriſcher Bildung des nur
beim Johannisbrodbaum gefiederten Blatts verloren geht. Alle hier
genannten Bäume ſind immergrün und erſetzen dem Süden den ſchnell
verſengten Reiz der Grasfluren. Durch reizende Schlankheit ſeiner Bildung
macht der Lorbeerbaum den Mythus von Daphne begreiflich, breit und
bequem legt der Johannisbrodbaum ſein Dach nahe über den Boden,
durch das grauliche Hellgrün ſeiner lanzettförmigen Blätter gleicht der
Oelbaum viel unſerer Weide, auch ſind Stamm und Aeſte knorrig wie
bei dieſer, allein das Lederartige der Blätter unterſcheidet ihn zugleich
ſtreng von ihr, bedingt geringere Beweglichkeit im Winde, verhindert
das Ueberhängen der äußeren Zweige und hält ſo von dem elegiſchen
Charakter das Sentimentale ab, was die Weide hat. Auch die Myrten
mit ihren dunkeln, glänzenden Blättern, die immergrünen Eichen und
andere Bäume reihen ſich an dieſe Gruppe an. Endlich iſt noch die
ſüdliche Form des Nadelholzes zu erwähnen. Das Nadelholz ſcheint ſchon
durch die höchſte Zuſammenziehung der Blattgefäße, die in ihm auftritt,
den vollſten Gegenſatz gegen die Naturfülle, das Oeligte, Geſättigte
darzuſtellen, was den hier geſchilderten Typus bezeichnet, derſelbe bildet
aber auch in dieſer Gattung Formen aus, welche ihm entſprechen. Die
Cypreſſe iſt, wenn gehörig entwickelt, keineswegs ſteif, ſie ſondert ſich in
ſchöne Aeſte-Gruppen und ihre Umriſſe ſind zwar compact, aber in der
Linie wohlgezeichnet. Sie hat ganz die edlen Formen, gibt der Trauer
ſelbſt den vornehmen Anſtand der ſüdlichen Vegetation. Die Pinie ſteigt
hoch hinan und wölbt dann ihre herrliche Kuppel über, von welcher nur
da und dort ein Aſt, Zweig ſich verirrt und mit ſeinen Nadelbüſcheln geiſt-
reiche Seitenparthien anſetzt: ganz eine jener befriedigend abgeſchloſſenen
Formen dieſes Typus. Zum erſten Typus hätte als das ihr vorzüglich
eigene Nadelholz die Zeder angeführt werden müſſen, wenn ſich von der
Form dieſes rieſigen Baums ohne die nöthigen Anſchauungsmittel Rechen-
ſchaft geben ließe. Die noch ſtehenden Zedern des Libanon ſcheinen keine
Vorſtellung von den einſt berühmten Rieſenbäumen zu geben. Die Zeder
iſt nicht pinienartig, der Stamm geht durch, aber ſie ſcheint ihre Pyramide
in rund ausgebreiteten Aeſten mit hängenden Zweigen ſtockwerkartig auf-
zubauen und dem einzelnen Stockwerk die weichere kuppelartige Form der
Pinie zu geben.
§. 280.
Ein dritter Typus iſt vorzüglich als ſolcher zu bezeichnen, der eine tief
bewegte ſubjective Stimmung bewirkt. Er bindet und beruhigt nicht das Auge
durch jene in der Beweglichkeit der Linien zugleich ſcharf beſtimmte Zeichnung,
ſondern er iſt entweder ſchneidend ſtarr und ſteif, erregt aber zugleich ein Gefühl
[97] aufſtrebender oder in ſich zuſammengefaßter Kraft, oder er iſt weich, von
ſpielenden Umriſſen und ſtimmt zu wehmüthig zerfließenden Empfindungen, oder
er verbindet dieſe Gegenſätze, doch ſo, daß er ſie in den Theilen des Ganzen
getrennt erhält. Auch durch auffallenden Wechſel der Entlaubung im Winter
und des heiteren Aufblühens im Frühling ſtimmt er bald winterlich, bald
heiter, immer aber ahnungsvoll und das Gemüth in ſich zurückweiſend.
Um die einmal gewagte Vorausnahme zu benützen, nennen wir
dieſen Typus der kälteren gemäßigten Zone den romantiſchen. Die kalte
Zone, die ſich in Nadelholz und Birken verläuft, liegt jenſeits der Grenze,
über welche ſich die Aeſthetik zu verbreiten hat. Gegenſätzlich ſubjectiv
bewegt iſt die Stimmung der erſteren ſchon durch den auffallenden Wechſel
des Winters und Frühlings. Dieſes Klima hat weniger Immergrün, als
das ſüdliche; nach dem Pflanzentödtenden Winter überkleidet ſich die Erde
mit reichem, hellem, luſtigem Grün, die Sehnſucht nach dem Frühling,
den ſüdlichen Völkern fremd, iſt dadurch bedingt und wird als ein wichtiges
Moment zur Erklärung der Geiſtesweiſe der nördlicheren Völker wieder
aufzufaſſen ſein. Als Beiſpiel des Starren und Steifen nennen wir hier
zuerſt das Nadelholz. Unter dieſem iſt es allein die Föhre, welche ſich
dem ſchönen Kuppelbau der Pinie nähert, es herrſchen die Tannen, welche
überhaupt am ſtrengſten den Charakter dieſes Holzes ausſprechen, denn
er iſt ſtarr und winterlich düſter. Die untern Aeſte der Tanne hängen
gewöhnlich wie trauernd abwärts, übrigens führt ſie die gerade abſtehenden,
ſtarren, ſpitzbewaffneten Aeſte in kerzengerader Pyramide zu mächtiger Höhe
hinauf und hebt in der Trauer ſelbſt das Gemüth kräftig hinan. Die
Tanne ſtimmt unbehaglich, unwirthlich und befreiend, erhebend zugleich,
jenes durch ihre peripheriſchen Organe, dieſes durch ihre Richtung,
jedoch nicht im Sinne heiteren Schwunges, ſondern trotziger Kühnheit.
Ein Tannenwald wirkt wie ein friſcher, ſtählender, kalter Morgen. Unter
dem Laubholze iſt der ſtarrſte Baum die Buche. Die ſteifen, nur in der
Mitte nach unten etwas ausgebogenen Aeſte ſtehen in ſchneidender, kratzender
Linie ab, das gezähnte, breit elliptiſche Blatt ſitzt auf kurzem Stiele
abwechſelnd gegenſtändig und ſpielt wenig im Winde, der Körper der
Krone ſchließt ſich wenig modellirt feſt zuſammen. Dem Stamme ſieht
man die Härte des Holzes an, ſtrenge Kraft iſt der Ausdruck, der eben-
daher eine in ſich zuſammengefaßte, geſunde und tüchtige, aber herbe
Stimmung bewirkt. Ungleich weicher, doch ähnlich ſind Ulme und Erle.
Unter den weichen Formen mögen zuerſt die Pappeln genannt werden,
denn ihre rundlichen, dreieckigen, herzförmigen Blätter geben zarten Umriß
und an langen, dünnen Stielen ſitzend ſpielen ſie ſtets im Winde, namentlich
bei der Zitterpappel oder Eſpe. Dem biegſamen Holze ſieht man ſeine
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 7
[98]Weichheit an. Anders wirkt nun natürlich die aufſtrebende Pyramide der
italieniſchen, anders die rundliche Krone der Silber- und Zitter-Pappel.
Die erſtere ſcheint ſchon dem Namen nach zum ſüdlichen Typus zu gehören,
allein der Baum iſt in Deutſchland wirklich häufiger als in Italien und
es iſt vorzüglich ſein ſpielendes Laub, was uns beſtimmt, ihn zum dritten
Typus zu ziehen. Dieſe ſehr hochgeſtreckte Art ſieht nun freilich ſtolz und
vornehm aus, wird aber auch, in Reihen gepflanzt, leicht langweilig,
weil die Individuen weniger Verſchiedenheit haben, als bei runden Bäumen,
und, da ſie kein ſchattiges Dach bilden, getrennt wahrgenommen werden.
Beſonders ſchön ſpielt die Silberpappel im Winde, welcher die untere
weiße Seite der Blätter umlegt. Durch das bewegte Spiel des Baum-
ſchlags nun hat die ganze Gattung das Schwebende, was das innere
Erzittern ſubjectiver Empfindung hervorruft; dieß Flüſtern des Objects
wird zu einem innern. Wehmüthig weich ſtimmt die weißrindige, hohe,
dünnkronige, mit den überhängenden Zweigen und dünngeſtielten dreieckigen
Blättern ebenfalls ſtets im Winde ſpielende Birke, noch entſchiedener die
völlig überhängende Thränen-Weide, deren graulichgrüne, lanzettförmige
Blätter an den fließenden, weichen, biegſamen Zweigen herabwallendem
Waſſer gleichen. Man denke an ſo manches Volkslied, auch an das,
welches Desdemona ſingt. Unſere gewöhnliche Weide wird leider faſt
immer durch Beſchneiden um ihre Form gebracht; ſie bildet ganz mächtige,
herrlich modellirte Bäume, aber ihr wäſſerigter Ton, die weichen, bei
großen Bäumen immer etwas überhängenden Zweige, die lanzettförmigen
Blätter, das grauliche Grün, das Hingeſtrichene im ganzen Wurfe des
Baumſchlags, das ſie mit der Thränenweide gemein hat, geben immer
einen weichen, mehr zerfließenden Stimmungston. Unſere ſchönſten Bäume
ſind Eichen und Linden. Die erſteren vorzüglich verbinden auf die im §.
genannte Weiſe das Starke und Weiche. Stamm und Aeſte der Eiche
ſind hart, knorrig, dieſe meiſt rechtwinklicht abſtehend, aber in rohen
Linien verkrümmt; ſie wächst zu mächtiger Größe auf, heißt mit Recht
der Baum der Stärke. Bei allem Eindruck urſprünglicher Kraft aber iſt
ſie nicht ſteif und herb wie die Buche, denn ihre Blätter, obwohl an
kurzen Stielen ſitzend und daher wenig bewegt, ſind von der weichen,
gebuchteten Zeichnung und ſaftig hellgrün; ſie ſammelt ferner ihre Maſſen
an den mächtigen, reichbelaubten Aeſten zu wohlgegliederten, ſtattlichen
Gruppen. In viel weniger harter Form iſt derſelbe Gegenſatz in der
Linde ausgeſprochen. Sie iſt gewaltig an Größe, wie die Eiche, aber
ihre ſpitzwinklicht vom Stamm aufſteigenden Aeſte ſind weniger rauh
gekrümmt, ihre herzförmigen Blätter ſpielen vielbewegt am dünnen Stiele
und geben dem mächtigen Ganzen zarte, weichere Empfindung erregende,
in den äußerſten Umriſſen ungewiſſer verſchwebende Ueberkleidung, während
[99] doch ihre äußerſt reiche Fülle ſich zu ſo ſchönen, kräftig geſonderten, von
energiſchen Schatten durchſchnittenen Maſſen ſammelt, daß dieſem Baume die
herrlichſte Krone unter allen Laubhölzern zuzuerkennen iſt; keiner der Bäume,
die zu dem vorliegenden Typus gehörten, vereinigt Würde ſo ſchön mit ſüßer,
gemüthvoller Anmuth.
§. 281.
Wo Bäume zu Gruppen zuſammentreten, erwartet das Auge eine1
Einheit von Gegenſätzen in Zuſammenwirkung der Pflanzenſchönheit nach
ihren verſchiedenen Momenten, wobei natürlich der Boden und Hintergrund
von weſentlicher Bedeutung iſt. Das Starke ſoll ſich mit dem Weichen, das
Zerfließende mit dem Beſtimmten, das Finſtere mit dem Hellen zu einem
Ganzen zuſammenbauen, deſſen äußerer Umriß eine beruhigende Wechſelergänzung
von Linien mit einem abſchließenden Gipfel darbietet. In großem Maßſtabe2
wiederholt die Ueberkleidung des Erdreichs durch geſelliges Gras und Kraut
der Wald. Sein Ueberblick iſt einförmig, wenn er nicht mit Gebirgsformen
als ihr krauſes Gewand zuſammengefaßt wird. Im Innern erſcheint er als eine
ſelbſtändige, in ungeſtörter Urſprünglichkeit webende Pflanzenwelt und erzeugt in
heimlichen Schauern am vollſtändigſten die in §. 271, 2. bezeichnete Stimmung.
1. Stellen ſich Gruppen aus Bäumen Einer Art zuſammen, ſo wird
der Zufall nur dann günſtig genannt werden können, wenn ſie von ver-
ſchiedenem Alter, Größe, Bau, Farbe, Stellung ſind, daher ſich durch
Gegenſätze ergänzen. Handelt es ſich von Gruppen aus Bäumen ver-
ſchiedener Art, ſo wird ſich der vom Auge geforderte Gegenſatz und ſeine
Vermittlung leichter einſtellen. Hier iſt nun namentlich zu erwähnen, daß
die aufgeführten Typen nicht mit ſtrenger Grenze an Eine Zone vertheilt
ſind. So hat nicht nur die heiße Zone in höheren Gegenden auch Nadelholz,
neben ſtreng gebildeten Monokotyledonen veräſtetes, weicheres Laubholz,
ſondern namentlich iſt der wärmeren und der kälteren gemäßigten Zone
Laubholz mit gefiedertem Baumſchlage, der immer an die tropiſche Mimoſen-
form erinnert, gemeinſam. Neben den harten Tannen, den vollen Linden
fehlen uns die durchſichtigen, zart gefiederten Acazien nicht und die eben-
falls gefiederte, doch reichere, derbere Eſche, der gelappte Ahorn iſt ein
in den deutſchen Gebirgswäldern ſogar ſehr häufiger Baum. Zu dem
maſſigen, aber unbeſtimmter umriſſenen Baumſchlag unſerer Linden, zu der
herben balligen Buche geben ſie die geſondertere, durchſichtige, ſymmetriſcher
gezeichnete Form. Zart hebt ſich die helle, dünne Birke auf dem Grunde
harter Buchen; im Vordergrunde ſteht ſie nicht ſchön, denn dieſer braucht
einen ſtarken, energiſchen, in der Farbe ſatten Baum, um zurückzutreiben.
Die unendliche Möglichkeit von Wechſel-Erhöhung der Farben und Formen
7*
[100]kann nicht weiter verfolgt werden. Die Gruppe kann ſich wieder in Gruppen
ſondern, das allgemeine Geſetz ein reicher gegliedertes Ganzes beherrſchen.
Der äußerſte Umriß des Ganzen muß ſich in einem Gipfel abſchließen,
wenn wir den Zufall günſtig nennen ſollen. Das einſt mit Vorliebe auf-
geſtellte Prinzip der pyramidaliſchen Gruppirung, das ſchon hier erwähnt
werden kann, gehört, ängſtlich feſtgehalten, in die Zeit des Kunſt-Mechanis-
mus, und nur ſo viel läßt ſich ſagen, daß der höchſte Gipfel nicht zu weit
auf die Seite geſchoben ſein darf. Allein wie ſehr man ſich vor Abſtraction
zu hüten hat, erhellt ſogleich auch hier daraus, daß neben dem Boden,
worauf die Bäume ſich erheben, und der ihnen natürlich verſchiedene
Stellung und Höhe gibt, der Hintergrund weſentlich mitwirkend eintritt.
Ein Gebäude, ein Berggipfel kann gegen die Mitte aufſteigen und ſo
dürfen die höchſten Baumwipfel unbeſchadet des guten Verhältniſſes ganz
auf die Seite treten. Ueberhaupt käme es nun darauf an, die Pflanzen-
welt mit allen Momenten der unorganiſchen Schönheit zuſammenzuſtellen;
allein die Wiſſenſchaft muß ſich ihre Grenzen ziehen. So erſcheint z. B.
das Ueberhängende heiterer, wenn es ſich im Waſſer beſpiegelt, das hellere
Grün dunkler, wenn es ſich nur vom Himmel abhebt, Wieſengrund gibt
zu finſteren Tannen eine muntere Stimmung u. ſ. w. Alles läßt ſich nicht
verfolgen und wird ſich ſelbſt dann nicht laſſen, wenn wir in der Phan-
taſie des Künſtlers die wahre, Geſammtwirkung bildende Einheit werden
gefunden haben.
2. Mächtige, kräftige Wirkung waldiger Bergrücken, wild und finſter
im Schwarzwalde mit den dunkel ſtahlblauen Schatten, freundlich und
mild im Platanenwalde, urgewaltig im Eichenwalde u. ſ. w. Schauer im
Innern des Waldes, Waldeinſamkeit in der grün überſchatteten, harzig
duftenden Halle, wo die Vegetation mit ſich allein iſt und in ihrer Friſche
nichts von dem Schweiße des kämpfenden Menſchenlebens weiß. Im
Urwalde der heißen Zone wird die Ueppigkeit erdrückend, die überfüllte
Anſchauung wird müde, die Pflanzenwelt nimmt zu viel Raum für ſich
in Anſpruch und der Menſch erinnert ſich, daß andere, höhere Weſen
auch ihren Raum fordern.
Wie jede folgende Stufe die vorhergehenden in äſthetiſcher Zuſammen-
wirkung ergänzt, zeigt ſich z. B., wenn wir mit Nadelholz bewachſenes
Hochgebirge durchwandern, wenn mit den mächtigen Gipfeln und Rücken,
den wilden Schluchten, den toſenden Waſſern, den umhergeſchleuderten
Felsblöcken das ernſt erfriſchende feuchte Dunkel unter den gewaltig auf-
geſchoſſenen Stämmen, das Wurzelgeſchlinge, der ſaftige Geruch der
grünenden, der modernde der gefallenen Bäume, der Anblick des allgemeinen
Ueberwucherns, das jede Stelle benützt, all das Rauſchen und Sauſen in
den Wipfeln das Gemüth umfängt.
[101]
b.
Die thieriſche Schönheit.
§. 282.
Gegenüber der unbeſeelten Pflanze ſteht der äſthetiſche Zuſchauer noch
außerhalb des angeſchauten Gegenſtandes und findet ſich ſelbſt darin nur
ſoweit er ſich ihm leihend unterſchiebt. Er ſoll aber wirklich ſich ſelbſt im
Gegenſtande begegnen, der Zuſchauer ſoll auch im Gegenſtande, dieſer ſoll
wirklich perſönlich ſein. Der Verwirklichung dieſes Geſetzes tritt die Natur
um einen Schritt näher, indem ſie das beſeelte, lebendige Weſen, das Thier
hervorbringt. Es tritt hiemit ein Weſen auf, dem ſeine Außenwelt nicht nur
thatſächlich Object iſt, ſondern ſo, daß es ſie nach vielerlei Seiten mit Gefühl
ſeiner ſelbſt, des Gegenſtandes und ſeines Verhältniſſes zu ihm durcharbeitend,
in ſich aufnehmend genießt; die Natur gibt ſich ein Centrum, worin ſie ſich
ſelbſt vernimmt.
„Die ganze Schöpfung ſollte durchgenoſſen, durchgefühlt, durchgearbeitet
werden“, ſagt Herder (a. a. O.). Dieß iſt zunächſt Gang und Geſetz
der Idee in ihrer Verwirklichung überhaupt; der §. drückt das Geſetz im
äſthetiſchen Sinne aus. Dürften wir bereits Kunſtausdrücke brauchen, ſo
würden wir ſagen: die Landſchaft will ihre Staffage; die Luft will ſich
im ſchwebenden Vogel, das Waſſer im ſchwimmenden Fiſch zum lebendigen
Centrum ſammeln, das Land ſeinen Bewohner haben; naſchende Ziegen
ſollen Fels und Geſträuche, flüchtiges Wild ſoll den Wald beleben, der
Stier ſich bequem am Boden lagern u. ſ. w. Unſer Stoff wird immer
concreter, die unorganiſche Natur belebte ſich durch die Pflanzenwelt, jetzt
bewegt ſich in Licht, Luft, Farbenglanz, Waſſer, Erde, Gras, Buſch
und Wald das warme Thierleben. Es gibt allerdings Landſchaften, die
wir lieber ohne Staffage ſehen; es ſind ſolche, deren Stimmung die höchſte
Stille der Einſamkeit iſt, wo der Naturgeiſt nur durch Licht, Luft, Waſſer,
Erde und Pflanze mit ſich ſelbſt ſprechen zu wollen ſcheint. Doch etwas
Lebendiges wird das Auge immer ſuchen, wäre es auch nur ein Rabe
oder ein lauſchender Fuchs; es fragt ſich aber, warum das Auge dieß
bedarf, und darauf antwortet der §. Es könnte indeß einſeitig ſcheinen,
daß hier das Thier mit der umgebenden Natur durchaus zuſammengenommen
wird; es muß ja auch für ſich äſthetiſcher Gegenſtand ſein können, ſo daß
[102] das Umgebende nicht beachtet wird, denn das Thier iſt bereits ſich ſelbſt
vernehmendes Naturcentrum, alſo eine Welt für ſich. Vor der Hand iſt
dieß zuzugeben; die Gründe, aus denen ſich dieſe ſelbſtändige äſthetiſche
Geltung des Thierreichs ſehr beſchränkt, ſind erſt da zu entwickeln, wo
die Mängel deſſelben in volles Licht treten und wo ſich daher zeigen wird,
daß entweder dem Thiere landſchaftliche Natur oder das Thier dem
Menſchen beigeordnet erſcheinen muß, wozu dann wieder landſchaftliche
Umgebung treten kann. Hier zunächſt wird aber jener Geltung des
Thiers dadurch nichts verſchlagen, daß es mit der niedrigeren umgebenden
Natur zuſammengefaßt wird, denn es iſt in dieſer Verbindung ihr Herr,
und erſt nachher ſoll ſich zeigen, daß über dem Herrn ein höherer iſt,
deſſen Würde die des erſten ſo zurückdrängt, daß dieſer nur in ſeltenen
Fällen für ſich allein Subject der Schönheit ſein kann. Davon kann
vorläufig ſo viel hervorgehoben werden, daß das Thier ungleich anders
als der Menſch an ſein Natur-Element gebunden iſt. Der gefangene
Menſch kann, erhaben über ſeine Leiden, heiter erſcheinen, das Thier,
aus ſeiner Sphäre geriſſen und eingezwängt, iſt ein peinlicher Anblick,
aller äſthetiſche Genuß geht im Mitleiden zu Grunde. Die Lerche gehört
in die Lüfte, die Wachtel in’s Gras, die Nachtigall in’s Gebüſch, nur
hier findet auch ihr Geſang das Echo, das er fordert.
§. 283.
Das Thier iſt von der Erde gelöst und hat Selbſtbewegung. Außer der
elementariſchen Nahrung, die es unfreiwillig und ununterbrochen wie die Pflanze
in ſich aufnimmt, ſucht es Trank und organiſchen Stoff als Speiſe, bewegt ſich
zu ihm, nimmt ihn durch einen Act in ſich auf und hat ſodann freie Zeit für
andere Thätigkeiten. Die Fortpflanzung iſt nicht bloßer, unvermittelt noth-
wendiger Gipfel des Wachsthums, ſondern bei getrennten Geſchlechtern muß das
Thier des einen Geſchlechts das des andern erſt aufſuchen, um ebenfalls durch
einen beſtimmten Act die Zeugung zu vollziehen. Außer dieſen beiden Pro-
zeſſen iſt aber das Thier dazu gebildet, die unorganiſche und vegetabiliſche
Natur, zugleich aber auch ſeines Gleichen das ihm ohnedieß theilweiſe zur
Nahrung angewieſen iſt, und den Menſchen noch in anderer Form und eben-
darum in abſolut neuer Bedeutung ſich zum Objecte zu machen: nämlich durch
die Sinne. Für alle dieſe Zwecke iſt es mit beſonderen Werkzeugen aus-
gerüſtet.
Es kommt hier zuerſt nur darauf an, die Grundzüge des thieriſchen
Weſens ganz allgemein auszuſprechen. Aeſthetiſch wird die Betrachtung
alsbald wieder werden, wenn ſich zeigt, wie dieſelben in Erſcheinung
[103] treten. Der Grundbegriff iſt ein Gegenübertreten von Subject (in gewiſſem
Sinne, nämlich ohne Bewußtſein, was im ſtrengſten Begriffe der Subjec-
tivität allerdings liegt) und Object. Mit der Loslöſung vom Boden iſt dieſer
Bruch da, die Nabelſchnur iſt zerriſſen, dem ſelbſtändig Lebendigen ſteht
die Welt gegenüber, denn mit ihr zugleich ſind die Mittel dieſer Gegen-
überſtellung, die Sinne: Gefühl, Geſchmack, Geruch, Geſicht, Gehör da.
Es iſt im Thiere dieſelbe Welt, die ihm gegenüberſteht; die Grundſtoffe
der unorganiſchen Natur und der Pflanze ſind in ihm zu einem ſich um
ſich ſelbſt bewegenden Kreiſe concentrirt und dieſelben Grundſtoffe ſtehen
ihm in elementariſcher und in organiſch individualiſirter Geſtalt gegenüber.
Die Natur macht in ihm und durch es ſich ſelbſt ſich zum Gegenſtande,
genießt ſich, ſchaut ſich an. Sie ſind geſchieden und in der Scheidung
weſentlich auf einander geſpannt und bezogen, denn ſie ſind Eines. Mit
dieſer Scheidung iſt ein doppeltes Neues eingetreten: dem Thiere wird dem
Umfang nach ein ungleich weiterer Kreis von Gegenſtänden zum Object,
als der Pflanze, zugleich aber auch auf ganz andere Weiſe, zunächſt
wieder quantitativ durch die verſchiedenen Sinne, aber ebendarum auch
qualitativ, weil dieſe ein Innewerden des Gegenſtands in ſeinem Gegenſatz
und ſeiner Beziehung zu dem Subject als einem ſelbſtändigen, ſich ſelbſt
vernehmenden Mittelpunkte ſind. Von den unteren (vegetativen) Prozeſſen
bleibt nur das Geſchäft der Athmung, Verdauung und dadurch des Wachs-
thums ein unfrei fortdauerndes; aber auch hier tritt die Entzweiung ein, die
ſich vor Allem durch willkührliche Bewegungen ausſpricht: die Nahrung
wird zum ſelbſtändigen Ergreifen, die Zeugung zu einem Begatten durch
einen beſondern Act, und nachdem dieß geſchehen, iſt das Thier wieder
frei für Anderes. Im Schlafe kehrt es zu dem blos vegetativen Prozeſſe
zurück, doch auch dieß nicht ſchlechthin, denn es träumt, wenigſtens das
höher organiſirte Thier.
§. 284.
Dieſe Werkzeuge, ſo wie die für den geſammten übrigen Lebensprozeß
beſtimmten Glieder ſind nun erſt wahrhaft Organe zu nennen; ſie können nicht
verſtümmelt oder abgelöst werden, ohne daß das Ganze leidet, erſetzen ſich nur
bei den niedrigſten Gattungen und können abgetrennt niemals ein neues Indi-
viduum begründen. Jedes Organ oder Glied iſt aus der ſelbſtthätigen Einheit
entlaſſen und wird ebenſo von ihr als überall gegenwärtiger Lebendigkeit ſtets
in das Ganze zurückgenommen. Die Selbſtändigkeit dieſes Ganzen zeigt ſich
weſentlich auch darin, daß die zum Ergreifen und erſten Verarbeiten der
Nahrung, ſo wie die zur Bewegung beſtimmten und gewiſſe andere Organe
zugleich Waffen ſind.
[104]
Tödtlich ſind zwar in den meiſten Fällen nur die Verletzungen der
Organe des vegetativen Prozeſſes, aber eine Verkümmerung, ein Schmerz,
eine Entſtellung zum Häßlichen iſt jede Verwundung, Verſtümmlung. Nur
der Thierleib iſt ein ſchlechtweg zuſammengehöriges Ganzes, über deſſen
ausgebreitete Glieder die ſtreng zuſammenhaltende Seele der Lebendigkeit
ergoſſen iſt. Der Zahn, der Rüßel, das Horn, die Klaue, der Huf
zeigen ſchon dem erſten Anblick, daß dieſes Lebendige ſich auch im Kampfe
zu behaupten beſtimmt iſt.
§. 285.
Die Geſtalt des Thiers, welche weit unter der Größe der Pflanze bleibt,
verläßt die aufſteigende, dann zu einer Krone ſich ausbreitende Form der
letzteren und erſcheint im Allgemeinen als ein der Länge nach auf die Bewegungs-
organe geſtellter ovaler Cylinder, der ſich in drei Hauptſyſteme, den, zwar wie
die Baumkrone, aber in ganz verändertem Maßſtabe der Größe, der Kugelform
zuſtrebenden Kopf, die Bruſt und den Unterleib theilt. Die Organe des
Ernährungs-Prozeſſes, welche an der Pflanze auswendig ſind oder aus denen
vielmehr die ganze Pflanze beſteht, ſind als Eingeweide zu einem Inwendigen
geworden, von dem das Gebäude wie ein Zimmerwerk tragenden Knochengerüſte
umſchloſſen und das Ganze vom Fleiſche und der Haut, deren weiche und
elaſtiſche Subſtanz überall gerundete Wendungen der Oberfläche bedingt, über-
zogen. Die Zeugungs-Organe ſind zu unterſt geſtellt und verborgen.
Durch ihre Größe, welche wieder durch die lange Dauer bedingt iſt,
fallen alle bedeutenden Pflanzengebilde, des übrigen Unterſchieds innerhalb
dieſer Form unbeſchadet, unter den Standpunkt des Erhabenen und zwar
des quantitativ Erhabenen (§. 90). Das Thier wird nicht ſo groß und
nicht ſo alt: die höhere Werthſtufe zieht die Größen-Verhältniſſe auf einen
kleineren, aber intenſiveren Kreis des Raums und der Zeit zuſammen,
und im Allgemeinen können wir ſagen, es trete hier, wenn das Erhabene
der vorſtechende Charakter iſt, das der Kraft ein, richtiger jedoch, ein
Uebergang von dieſem in das Erhabene des Subjects.
Die Grundform des Thierleibs iſt von den höheren Thieren, den
Rückenwirbelthieren, näher den vierfüßigen Säugethieren, und gewiß mit
Fug, entlehnt. Man könnte ſagen, ſie ſtelle einen umgelegten Baum vor.
Die Pflanze genießt für den Nachtheil der Gebundenheit an den Boden
den Vortheil des ſchönen Aufſtrebens; das Thier hat ſich vom Boden
befreit und zur Strafe muß es ſich bücken und an ihm hinſuchend dem
Planeten ſeinen Zoll abtragen. Wie niedrig dieſe Bildung, der wie eine
mechaniſche Laſt auf die Füße gelegte Rumpf iſt, wird ſich erſt im Gegen-
ſatze gegen die menſchliche zeigen. Der Rumpf wiederholt alſo nach unſerer
[105] Vergleichung in veränderter Linie den Stamm, die Bewegungsorgane
wären, was in der Pflanze die Seiten-Arme, die Aeſte ſind, der Kopf
die reduzirte Krone, und die Athmungs-Organe der Pflanze, die Blätter,
wären zu den Sinnen des Kopfs umgebildet. Genauer betrachtet iſt zwar
vielmehr das Blatt zur Lunge, Stamm und Aeſte zum Blutgefäß, die
Wurzel zum Mund, Magen und Darm geworden; da aber die Pflanze
nicht ſowohl ihr Eingeweide auswendig hat (Oken Allg. Naturgeſch. B. 4
S. 19), als vielmehr lauter ſolches iſt, was erſt im Thier Eingeweide
wird, ſo mag ebenſo richtig ſein, daß auch im ganzen Thiere die Pflanzen-
geſtalt in der zuerſt bezeichneten Weiſe umgebildet ſich wiederholt. Der §.
gibt nun weiter nur den allgemeinſten Umriß des Thier-Typus und erwähnt
zunächſt die drei Hauptſyſteme des Kopfs, der Bruſt, des Unterleibs, ohne
noch ihre Bedeutung zu verfolgen, da nur erſt die einfachſten Unterſchiede
von der Pflanzengeſtalt hervorzuheben ſind. Der Kopf hat freilich ein
ganz anderes Größen-Verhältniß, als die Krone des Baums, womit er
verglichen wird; dieſelbe iſt zwar auch das Edelſte am Baume, aber das
Edelſte am Thiere iſt ein ſolches im Sinne des Beſeelten und ſchon das
Größenverhältniß ſoll anzeigen, daß der übrige Leib in Vergleichung mit
Jenem nur das Maſſenhafte, Schwere iſt. Je mehr er der Kugelgeſtalt
zuſtrebt, deſto höher das Thier. Nur als Umſchließung der zu Athmung,
Blutumlauf, Verdauung beſtimmten Eingeweide iſt ſofort das Knochen-
gerüſte hervorgehoben, um die Vergleichung mit der Pflanze fortzuſetzen;
denn das Nähere iſt erſt bei den Wirbelthieren darzuſtellen, daher auch
die zweite Höhle, die das Hirn- und Rückenmark einſchließt, noch nicht
erwähnt wurde. Der ganze Bau zeigt aber auch auf ſeiner Oberfläche
jene feſte Baſis als die Grundlage des Weichen, das die ganze Bildung
bedeckend abſchließt und die gerundeten Hügel und Senkungen ihres Um-
riſſes bedingt. Das eigenthümliche Anhängſel des Schwanzes iſt hier
noch zu erwähnen; es dient nicht nur, den After zu decken, in Luft und
Waſſer zu ſteuern, den Fliegen zu wehren, ſich feſtzuhalten und durch die
letzteren Verrichtungen den Mangel der Hand erſetzen zu helfen, ſondern
auch, einen Theil des Ausdrucks der inneren Stimmung, der dem Geſichte
verſagt iſt, nachträglich zu ergänzen; der Hund z. B. lacht, trauert, ſpricht
Muth aus mit dem Schwanze. Von den Zeugungstheilen war ſchon bei
der Pflanze §. 271 Anm. 1 die Rede.
§. 286.
Der Kopf folgt der Länge-Richtung des Leibes und das Ganze ſpitzt ſich
ſo in den vorragenden, am Boden hinſuchenden Mund zu, wodurch, obwohl das
Thier zu vielfachen ungleich höheren Thätigkeiten ſich befreit, dennoch ein
[106] Ausdruck gebundener Freßgier ſeiner Geſtalt aufgedrückt bleibt. Der Gefühlsſinn
iſt theils über das Ganze verbreitet, theils concentrirt er ſich in einem Organe
des Kopfs oder denen der Bewegung. Die übrigen Sinnes-Organe ſind paar-
weiſe ſymmetriſch am Kopfe und ebenſo die Bewegungs-Organe am Leibe vertheilt.
Die Geſtalt iſt daher ungleich beſtimmter, als die der Pflanze, die Organe ſind
gezählt, das Ganze eine in ſich beſchloſſene und geſättigte, in Gemeſſenheit
abgerundete Geſtalt.
Alle Thiere ſehen aus wie ein lebendig gewordener Schnapp- und
Freß-Zweck. Dieß hat zwar ſeine Grade; das Thier ſteht um ſo höher,
je weniger der Kopf mit dem Rumpfe in horizontaler Linie fortgeht und
je mehr der Kiefer zurücktritt, die Stirne ſich hervorwölbt, aber ganz
werden wir dieſe pronitas erſt in der menſchlichen Geſtalt überwunden ſehen.
Der Gefühlsſinn iſt über die ganze Haut verbreitet und ſammelt ſich
in beſonderen Organen zum Taſtſinne. Nur der Affe iſt es eigentlich,
der dieſen im Finger hat, bei den meiſten übernehmen Lippe und Naſe
ſeine Rolle, bei einigen tritt als beſonderes, für ihn hauptſächlich beſtimmtes
Organ, der Rüßel hervor, bei niedrigeren Thieren Fühlfäden, Fühlhörner.
Das Entzweiungsgeſetz tritt entſchiedener in den übrigen Sinnen als
paarweiſe gegenüberſtellende ſymmetriſche Seiten-Anordnung hervor. Der
Geſchmack zwar hat nur Ein, die Mitte der Mundhöhle einnehmendes
Organ, die Zunge; die Zähne jedoch, die ihm in die Hand arbeiten, ſind
ſymmetriſch geordnet, die Naſe hat zwei Löcher oder Flügel, die Ohren,
die Augen ſtehen ſich paarweiſe gegenüber, ebenſo Floßen, Flügel, Füße.
Der Gegenſatz gegen die zerſtreute Pflanze vollendet ſich darin und nehmen
wir die durchblickende Baſis des Knochengerüſtes, die plaſtiſchen Muskel-
lagen, welche die Wölbungen der Haut bedingen, dazu, ſo haben wir ein
gediegenes Ganzes vor uns, ein feſt begrenztes und ſeine Grenze ſatt
ausfüllendes, gegoſſenes Weſen.
Auch von der Farbe ſollte hier vielleicht die Rede ſein, allein was
hierüber in Kurzem zu ſagen iſt, wird beſſer bei den verſchiedenen Haupt-
ſtufen angegeben, wo ſich zeigen wird, in welchem Sinne die Farbe ſich
mit ihnen ſteigert. Einiges iſt ſchon im Abſchnitte von der Farbe berührt.
§. 287.
Es könnte jedoch ſcheinen, als ob hiedurch die Thiergeſtalt in kryſtalliſche
Regelmäßigkeit verfalle. Allein das Starre, was dadurch entſtünde, wird durch
den theils über das Ganze ſtetig ergoſſenen, theils im Spiele der wirklichen
Bewegung ſich darſtellenden Ausdruck der inneren, beſeelten Lebendigkeit in
ungleich anderem Sinne, als durch die unbeſtimmte Vielheit der Pflanzen-
[107] Organe (§. 274) aufgehoben. Dieſer Ausdruck und Alles, was ein Thier in2
der Bewegung thut, kann auch in Widerſpruch mit der Geſtalt treten, indem er
eine höhere Organiſation verräth, als dieſe erwarten ließe. Da nun die äſt-
hetiſche Betrachtung das Thier auch in ſeine Thätigkeit begleitet und doch die
Organiſation nicht in das Innere verfolgt, ſo kann ſich für ſie dieſer Wider-
ſpruch nur durch eine der gegenſätzlichen Formen des Schönen ausgleichen
(vergl. §. 18, 2.). Der mechaniſche Charakter der Regelmäßigkeit wird aber auch
durch die Zufälligkeit der Individualität gebrochen. Dieſe geht äußerlich nie
ſo weit wie bei der Pflanze, aber ſie wird zur innern Eigenheit der einzelnen
Thierſeele, die ſich in der ganzen Thätigkeit und feineren Unterſchieden der
Form kund gibt (vergl. §. 38 Anm. 2).
1. Der Ausdruck zeigt die unendliche Beſtimmbarkeit des inneren
Lebens, das die Außenwelt in ſich aufnimmt, zum Reize erhebt und danach
jeden Augenblick den Ort des ganzen Leibs, die Lage der Glieder verändern
kann. Dadurch wird das kryſtalliſch, geometriſch, mechaniſch Gewiſſe
ungewiß und ebendieß iſt das Höhere, deſſen die Pflanze nicht fähig iſt.
2. Naturwiſſenſchaftlich betrachtet kann ein Thier höher ſtehen, als
äſthetiſch betrachtet, ſo lange man blos die Geſtalt anſieht. Nun zergliedert
der Aeſthetiker freilich nicht die innere Bildung und ſo ſcheint denn ein
Widerſpruch zwiſchen der Sache an ſich und der Schönheit zu entſtehen,
der die ganze Behauptung des erſten Theils unſerer Aeſthetik, daß mit
den Stufen des Daſeins auch die Schönheit ſteige, aufheben müſſe.
Allein die höhere Organiſation bleibt nicht im Innern verborgen, ſie
offenbart ſich auch im Aeußern, nur nicht auf den erſten Anblick in der
ruhenden Geſtalt, ſondern in dem, was das Thier thut, und dieſem Thun
kann ja und muß auch das Schöne folgen. Zeigt nun ein ſolches Thun
den vorher blos dem Zoologen bekannten Werth auch dem äſthetiſchen
Zuſchauer, ſo wird dieſer auf die Geſtalt noch einmal zurückſehen und
Vieles an ihr entdecken, was dem genaueren Blicke allerdings auch an
ihr die edlere innere Bildung, die höhere Organiſation des Gehirns u. ſ. w.
verräth. Man denke namentlich an den Elephanten. Doch wenn man
die Merkmale der edleren inneren Organiſation in der Geſtalt erſt ſuchen
muß, ſo bleibt allerdings immer ein Widerſpruch; dieſer hebt ſich aber
in’s Erhabene oder Komiſche auf durch das wirkliche Thun. So erſcheint
der Elephant trotz dem klugen Auge immer plump, die Geſcheutheit ſeiner
Verrichtungen aber, wenn er ſeine unbehülfliche Maſſe in Bewegung ſetzt,
macht ihn komiſch, ſeine Wuth furchtbar. — Nicht berückſichtigt iſt im §.
der andere Fall, daß nämlich ein Thier innerlich dürftiger organiſirt ſein
kann, als es nach der Oberfläche ſcheint; warum nicht? ſagt der Schluß
der Anm. 2 zu §. 18.
[108]
3. Ein Pferd, Hund derſelben Race iſt boshaft, gutmüthig,
gelehrig, ungelehrig u. ſ. w. Dieß iſt ſchon innere Individualität und
ſie drückt ſich nicht nur in allem Thun und Laſſen aus, ſondern auch in
feinen phyſiognomiſchen Unterſchieden, die nur der oberflächliche Zuſchauer
nicht bemerkt. Der Hirte kennt ſehr wohl ſeine einzelnen Schafe, Schweine
auseinander. Die Grenze dieſer Eigenheit der Individuen kann man ſich
freilich ſogleich deutlich machen, wenn man ſich, in die Kunſt vorblickend,
fragt, ob es eigentlich Porträt-Darſtellung von Thieren geben oder ſolche
ſich je als ein Kunſtzweig feſtſetzen könne.
§. 288.
Das Seelenleben des Thiers erhebt, was es durch die Sinne aufgenommen,
zu einem Innern, das ſich ſelbſt und die Beſchaffenheit des Gegenſtands, wie
2es durch ſie afficirt wird, fühlt. In dieſes ungetheilte Gefühl des Gegenſtands
und ſeiner ſelbſt tritt aber auch innere Trennung in Subject und Object ein,
indem jener als Bild im Innern wiederholt und von der Thierſeele beſchaut
wird. Die Bilder bleiben aufgehoben, ſpielen innerlich fort, treten als Erinnerung
aus dem Dunkel wieder hervor. Der Zuſammenhang dieſer Bilder, getragen
durch ſeine Beziehung auf das Thier ſelbſt, vertritt die Stelle des ihm ver-
ſchloſſenen Denkens. Das Thier verſteht ohne Begriff, Urtheil und Schluß,
das Verſtehen hat aber eben darum durchaus da ſeine Grenze, wo ein Inhalt
nicht unmittelbar ſinnlich erſcheinen kann, ſondern ſich hinter einem willkührlichen,
auf die eigene Natur des Thiers beziehungsloſen Bilde ſo verſteckt, daß nur die
wirkliche, durch Denken trennende Reflexion ihn zu ſetzen und zu finden vermag.
1. Das Thier hat Selbſtgefühl und Gefühl des Gegenſtandes in
Einem. Beide ſind ſo verſchlungen, daß es keinen Gegenſtand anders
fühlend aufnehmen kann, als in ſeiner ſinnlichen Beziehung zu ihm. Im
Menſchen ſetzen ſich auch die höheren Thätigkeiten, welche weſentlich auf
freier Betrachtung ruhen, wieder in Gefühl um, er hat Gefühl des
Guten, des Schönen, des Wahren. Solche freie Gefühle hat das Thier
nicht, weil es ſich nicht zur freien Betrachtung erhebt. Die Blume iſt nur
dem Thiere wahrhaft Gegenſtand, das ſie frißt; das Fleiſchfreſſende ſieht,
riecht ſie zwar, aber da es mit ſeinem Triebe nicht auf ſie bezogen iſt, ſo iſt
ſie ihm nichts, die Weisheit ihres Baues, ihre Schönheit geht es nichts an.
2. Die Einbildungskraft, die das Thier allerdings hat — der deutlichſte
Beweis davon iſt, daß es träumt — ſcheidet die dunkle Einheit, worin
Selbſtgefühl und Gefühl des Gegenſtands verſchlungen iſt. Der Gegen-
ſtand ſteht dem Selbſt des Thiers als inneres Bild gegenüber. Was iſt
nun in dieſer Entgegenſtellung das Selbſt geworden? Weiß das Thier
[109] ſich als Ich dem Bilde des Gegenſtands gegenüber? Gewiß nicht; als
Ich weiß ſich und Ich iſt ebendaher nur der Menſch. Das Thier kann
dem Bilde gegenüber auch ſich ſelbſt nur als Bild ſetzen und hat ſo ſich
als Inneres ſelbſt wieder in ſinnlicher Form. Dieſes plaſtiſche Denken iſt
es offenbar, was ihm die Stelle des wirklichen Denkens vertritt, und zwar
weſentlich auch dadurch, daß hiemit die Erinnerung und ebendamit auch
Vorſtellung der Zukunft gegeben iſt. Das Thier iſt „träumende Monade.“
So erinnert es ſich der Schläge, die es bei einer Gelegenheit erhalten,
und vermeidet ſie bei der nächſten. Da meint man, es mache einen Schluß;
ihm ſchwebt vielmehr die frühere Scene vor, es ſieht ſich, wie es geſchlagen
wurde, und ſtellt ſich dieß vor als wiederkehrend im jetzigen Moment, falls
es daſſelbe thäte, wofür es geſchlagen worden iſt. Es iſt hier ein Punkt
der trübſten Begriffe-Verwirrung, eine Quelle der peinlichſten Erörterungen,
wenn man mit Solchen zu thun hat, welche keinen lebendigen Widerſpruch
zu faſſen vermögen. Man ſagt: das Thier hat mehr, als Inſtinct, es hat
Verſtand, nur keine Vernunft, und man ſagt es, weil man es Dinge
verrichten ſieht, welche der Menſch durch Vermittlung des Denkens verrichtet.
Den Begriff des Inſtincts werden wir im folg. §. in ſeiner eigentlichen
Sphäre, der praktiſchen, aufführen; er kann aber auch auf die theoretiſche
Sphäre wohl angewandt werden, da das Thier nur für ſeine Zwecke
fühlt und träumt und das Räthſelhafte ſeines ſcheinbar berechneten Thuns
gerade eben in dem theoretiſchen Vorgang ſitzt, der dieſes Thun begleitet.
Dann aber iſt ſchlechterdings alle Thätigkeit der Thierſeele unter dem
Begriffe des Inſtincts zu befaſſen. Hegel definirt dieſen als die auf
bewußtloſe Weiſe wirkende Zweckthätigkeit (Encyclop. §. 360). In dieſer
Beſtimmung fehlt ein Moment der Unterſcheidung des thieriſchen Thuns
von der Zweckthätigkeit in der unorganiſchen und der unbeſeelten organiſchen
Natur. Dieſe bildet und baut ebenfalls auf eine Weiſe, welche nur durch
Denken möglich zu ſein ſcheint, ohne zu denken, und doch ſchreibt ihr
Niemand Verſtand zu, aber dem Thiere meint man ihn zuſchreiben zu
müßen, weil es ein innerlich fühlendes und vorſtellendes Weſen iſt: wo
dieſe Innerlichkeit eingetreten iſt, da meint man ſei das dunkle Zweck-
Wirken nicht mehr möglich, wie in der unbeſeelten Natur. Zunächſt aber
kommt es allerdings darauf an, erſt die Wirklichkeit des Widerſpruchs in
dieſer letzteren zu faſſen. Wer ſich wundert, wie das Thier Zweckmäßiges
ohne urtheilendes und ſchließendes Denken thun könne, muß ſich zuerſt
und noch mehr wundern, wie der Baum und der Thierleib ſoweit er mit
einfacher Nothwendigkeit wächst, nicht nur ohne Bewußtſein, ſondern ſogar
ohne Fühlen und innere Bilder-Erzeugung ſeinen kunſtvollen Bau vollendet.
Vermögen dieſe ihr Werk ſo zu vollbringen, ſo vermag die Thierſeele ihre
weiteren Zwecke um ſo gewiſſer mit dem Mittel des Fühlens und inneren
[110] Bilderzeugens zu vollführen. Im Unterſchiede jedoch von dem zweckmäßigen
Thun ohne Selbſtgefühl und Vorſtellung ſind in die Beſtimmung des
thieriſchen Inſtincts weſentlich dieſe Momente aufzunehmen. Hätte aber
das Thier Verſtand, ſo hätte es auch Sprache. Verſtand iſt Denken des
Allgemeinen und des Beſonderen in ihrer Trennung und Beziehung, und
dieſes iſt nicht möglich ohne Nennen des Einen und des Andern, ohne
den ganzen Namen-Vorrath der Sprache. Der Verſtand weiß das ſo
Getrennte blos zu beziehen und nicht als Unterſchied in der inneren und
höchſten Einheit zu faſſen. Dieß thut die Vernunft. Vernunft iſt aber
nicht ohne Verſtand möglich, denn nur im Unterſchiedenen iſt die Einheit
herzuſtellen, und wo Verſtand iſt, da iſt auch Vernunft, denn der unendliche
Progreß, in den der Verſtand durch bloßes Beziehen des Unterſchiedenen
geführt wird, muß in den Begriff der wahren Unendlichkeit umſchlagen.
Der Menſch hat Verſtand und Vernunft und doch thut auch er Vieles,
wozu ſie nöthig ſcheinen, ohne ſie doch zu verwenden; auch er thut
Gedankenmäßiges, wozu Bewußtſein zu gehören ſcheint, auf bewußtloſe
Weiſe. Dieß Alles erklärt die Philoſophie aus der Einheit des Denkens
und Seins, aus der inneren Zweckmäßigkeit der Welt, welche die Stufen
ihres Baus höher und höher führt, bis das Sein im wirklichen Denken
ſich ſelbſt ganz in ſeine Macht bekommt in der Vernunft des Menſchen;
keine Form des Helldunkels, worin ein verhülltes Denken in ein Sein
eingewickelt iſt, kann auf irgend einer Stufe ſie überraſchen und zu unbe-
rechtigten Uebertragungen verleiten. Wie auffallende Anekdoten man von
thieriſcher Liſt erzählen mag, ſie kann Alles im Begriffe des Inſtinctes
befaſſen. Das Thier verſteht die Welt, ſo weit es ſie verſteht, ſo, wie
der Menſch eine Pantomime verſteht. Jede Bedeutung erſcheint ihm ſo,
wie ſie unmittelbar Eins iſt mit dem Bilde, das ſie bedeutet. Der Hund
hört aus dem Tone, womit ſein Herr ſeinen Namen ruft, deſſen Zorn
oder freundliche Stimmung heraus; ſpricht aber der Herr ein ſtrafendes
Wort mit freundlichem Tone, ſo verſteht er den Widerſpruch zwiſchen dem
Wort und dem Tone nicht, denn er verſteht nicht die Sprache als ſolche,
d. h. als blos conventionelle Bezeichnung; ſonſt könnte er eben auch
ſprechen, leſen u. ſ. w. Die Thiere haben unter ſich eine viel aus-
gedehntere Zeichenſprache, als man gewöhnlich weiß, aber keines ihrer
Zeichen iſt ſymboliſch, conventionell, ſondern jedes verräth unmittelbar
ſinnlich die Abſicht: der Ton der zur Wache ausgeſtellten Krähe, Gemſe
klingt warnend, die Bewegung des Hunds, der den andern einlädt, mit
ihm zu jagen, zu ſpielen, ſieht unmittelbar einladend aus u. ſ. w. So
durchläuft denn das Thier auch innerlich die Reihe von Momenten, die
der Menſch begreifend und ſchließend durchläuft, um die Mittel zu einem
Zwecke zu finden, durch eine innere Folge von Bildern, deren jedes das
[111] betreffende Moment unmittelbar ausdrucksvoll darſtellt. Da das Zeitwort
unbeſtimmter iſt, als das Hauptwort, das der Gebrauch zur Beſtimmtheit
eines Terminus fixirt, ſo kann man vom Thiere ausſagen, es verſtehe, aber
nicht, es habe Verſtand. Verſtehen kann entweder ein bloßes Merken
bedeuten oder ein Durchdringen mit Reflexion; jenes iſt dem Thiere gegeben,
dieſes nicht. So kann man denn freilich auch, wenn man ſich nur genauere
Unterſcheidung vorbehält, vom Thiere ausſagen, es ſei dumm oder geſcheut.
Ein Hund z. B. verſteht das Deuten mit dem Finger, er vermag eine
Linie mit dem Auge in der Richtung zu ziehen, wohin der Finger deutet,
ein anderer meint, man wolle ſpielen und beißt in den Finger, er iſt nie
dahin zu bringen, daß er merkt, was man will.
§. 289.
Wie vielſeitig das Thier gegen ſeine Außenwelt geſpannt iſt, ſo viele1
Triebe hat es, und da kein Denken die durch vielfache Reize ſtets erregten
Triebe mäßigt, ſo iſt der Grundcharakter ein leidenſchaftlicher. Die Ruhe
und Stille der Pflanzenwelt verſchwindet in Unruhe und Lärm. Außer den
Thätigkeiten, welche unmittelbar der Erregung folgen, verrichtet jedoch das
Thier Vieles, was ein Anſichhalten, einen Bruch des bloßen Triebs durch
ein Denken, darauf begründete Negation des unmittelbaren Anſtoßes und eine
auf einen weiterhinaus liegenden Zweck gerichtete Vermittlung ausdrückt. Dieſe
Eigenſchaft, vermöge deren es Solches, was nur durch Denken möglich zu ſein
ſcheint, ohne Denken durch bloßes Fühlen und Vorſtellen thut, heißt im engeren
Sinn Inſtinct. Die niedrigere Sphäre des Inſtincts umfaßt eine Reihe von2
Thätigkeiten, welche durch techniſches Bilden, geſellige Unterordnung der
Individuen zu einem gemeinſchaftlichen Zwecke der Selbſterhaltung dient; eine
zweite, höhere die zufälligen Handlungen der Liſt zu demſelben Zwecke; die
dritte, höchſte begreift Aeußerungen von Liebe und entſagender Thätigkeit,
indem das Thier theils aus Anhänglichkeit an ſeines Gleichen für ſie entbehrt
und arbeitet, theils aber im Gefühle, daß ihm die Perſönlichkeit mangelt, ſich
an den Menſchen anſchließt, ihm gehorcht, von ihm lernt, dem Herrn treu
bleibt: die Form, worin das Thier Sittlichkeit hat.
1. Man nennt wohl auch das unmittelbare, dem erſten Reize fol-
gende Thun des leidenſchaftlichen, heißen Thiers ein Thun aus Inſtinct.
Nimmt man es aber genauer, ſo wird man finden, daß der Sprach-
gebrauch durch dieſen Begriff weſentlich ein vermitteltes Thun bezeichnet,
das ein Denken, wie davon im vorherigen §. die Rede war, vorauszu-
ſetzen ſcheint. Der Unterſchied der jetzigen und der dortigen Betrachtung
iſt nur der, daß dieſes ſcheinbare Denken jetzt in ſeiner praktiſchen Bedeutung
[112] zur Sprache kommt, wie es nämlich den erſten Impuls des Triebes bricht
und dieſen zum Zweckeſetzenden, den Zweck durch Mittel vollführenden
Willen zu erheben ſcheint. Es iſt immer ein vorläufiges Verzichten
darin. Nur dieſes räthſelhafte Thun nennt man, wenn man genauer
redet, Inſtinct: nicht z. B. wenn das Thier Speiſe ſucht, ſondern wenn
es, ohne völlig ſatt zu ſein, einen Theil der Speiſe aufbewahrt für
künftigen Hunger. Das Vorſtellen dieſes künftigen Hungers iſt der
theoretiſche Inſtinct, die augenblickliche Enthaltung und das Thun im
Zwecke dieſer Vorſtellung iſt der praktiſche Inſtinct, und im letzteren Sinne
brauchen wir jetzt das Wort. Die Definition faßt die Vermittlung durch
Fühlen und Vorſtellen aus dem vorherigen §. auf.
2. Der ſogenannte Kunſttrieb: das Bauen von Zellen, Gängen,
Neſtern, das Spinnen von Netzen u. ſ. w., ferner die politiſchen Triebe,
womit viele Thiere ihre Arbeit vertheilen, ihre Ordnungen und Geſetze
halten, ihre Kriege führen, ſich zum Wanderzuge verſammeln, im Fluge,
in der Gegenwehr die zweckmäßige Form des Keiles bilden u. dergl.,
ihrem Weiſel, Hahn, Lockhammel folgen u. ſ. w. Dieſe Triebe pflegt
man ſehr hoch zu ſtellen und doch ſind ſie noch ſo mechaniſcher und blinder
Art, daß ſie dem Bauen und Bilden der unbeſeelten Naturkraft am
nächſten ſtehen. Vergl. darüber Herder Ideen z. Philoſ. d. Geſch. Th. 1
B. 3, IV.Schubert Allg. Naturgeſch. B. 3 §. 20. Ungleich höher
ſteht die zufällige Liſt der feiner, vielſeitiger organiſirten Thiere, die der
§. als zweite Stufe aufführt. Sie haben mehr zu thun, ſie ſind für
verſchiedenartige Reize empfänglich, ſtehen der Freiheit näher, ſind daher
nicht an ein gleichmäßig wiederkehrendes, blindes Thun gebunden, laſſen
ſich vielmehr durch den Zufall die Gelegenheit zu einzelnen Aeußerungen
geben, in deren ſpielender Reihe die willkührlichere Liſt nicht in der ſtets
gleichen Form des Sorgens, Arbeitens, Bauens, ſondern in immer neuen
Formen ſich ausſpricht. Da iſt erſt ein Thiercharakter möglich, wie Reineke.
Ganz fehlt dieſe zufällige Liſt allerdings auch niedrigeren Thieren nicht.
Der Käfer ſtellt ſich todt, um dem Feinde zu entgehen u. dergl. Auf
dieſer wie auf der erſten Stufe des Inſtincts dient jedoch das Thier nur
der Selbſterhaltung. Das ſcheinbar Berechnete im Thun iſt daher hier
auch überall von ſolchen unmittelbaren Trieben begleitet, welche
ſelbſtſüchtiger Art ſind: Brunſt, Zorn, Eiferſucht, Neid u. ſ. w. Einer
dritten Stufe weiſen wir die Verrichtungen und Unterlaſſungen zu, die
vom Triebe des Wohlwollens eingegeben ſind. Die Liebe zu den Jungen
iſt unter dieſen am reinſten animaliſch, die wechſelſeitige Vertheidigung
von Thieren, die nicht unmittelbare Liebe des gleichen Fleiſchs und Bluts,
ſondern nur Anhänglichkeit verbindet, die vielleicht ſogar verſchiedenen
Klaſſen angehören, das Ueberlaſſen von Speiſe u. dergl. ſteht ſchon dem
[113] Sittlichen näher, iſt ſchon ein Analogie der Freundſchaft. Am höchſten
müſſen wir aber die Anhänglichkeit, Ergebenheit an den Menſchen ſetzen,
die in Treue oft ſo feſt wird, daß das Thier ſogar den Tod des Herrn
nicht überlebt. Hier iſt auch am meiſten Bildungsfähigkeit, das Thier
lernt, was irgend gelernt werden kann durch ſinnliche Zeichen unmittel-
barer Art, und darunter ſind nicht die Prügel verſtanden: dieſe ſind nur
die negative Hälfte der Erziehungsmittel, die andere, poſitive ſind die
Erweiſungen der Liebe, die das Thier wohl verſteht. Das Thier lernt
ſogar Eigenthum anerkennen, aber freilich nur das ſeines Herrn, denn
nicht den Begriff des Eigenthums kann es faſſen, ſondern nur die Beziehung
ſeines Herrn zu ſeinem Beſitze, weil dieſe ſich ihm ſinnlich im Schalten
des Herrn damit darſtellt. Dieſe Unterordnung unter und Hingebung an
den Menſchen erhebt ſich von der Furcht zu einer bleibenden Ahnung,
keine eigene Perſönlichkeit, ſondern eine ſolche nur im Herrn zu beſitzen.
Dieß iſt die höchſte mögliche Analogie des Sittlichen im Thiere. Das
Thier iſt unſchuldig, weil es nicht Gutes und Böſes unterſcheidet, hier
aber iſt ein Anklang an Tugend und Schuld. Der Hund, der ein Cal-
facter wird, iſt wirklich demoraliſirt zu nennen. Dem Thiere iſt der
Menſch ſein Gott. Es kann das Allgemeine als ſolches nicht denken,
noch vorſtellen, ſondern nur Einzelnes ſchauend verſtehen. Der einzelne
Menſch ſtellt ihm durch Geſtalt, Blick u. ſ. w. die Vernunft, dieß All-
gemeine dar, es ahnt, daß ſein Helldunkel in ihm Licht iſt, das iſt ſeine
Religion. Die Naturreligion kehrte im Thiercultus die Sache um und
ſuchte im Helldunkel der Thierſeele das Göttliche; wo die Vernunft noch
nicht explizirt iſt, ſcheint das Implizirte das Abſolute, ſein Abgrund ver-
birgt ungetrennt, was im Menſchengeiſte getrennt iſt und ſich doch noch
nicht wieder im Gedanken zuſammenfaſſen kann.
§. 290.
Was ſich bewegt, iſt ein Zeitleben. Die Pflanze führt ein ſolches, aber
weil ſie als Ganzes noch räumlich gebunden iſt, ein unvollkommenes, das nicht
ſeiner ſelbſt als im Zeitwechſel mit ſich identiſch bleibender Einheit inne wird.
Der durch äußere Gewalt ihren verhärteten Theilen entlockte Klang iſt zwar
geeigneter, den Ausdruck des Seelenlebens in ſich aufzunehmen, als der des
unorganiſchen Stoffs (§. 269), aber ſie kann ſich zum Kundgeben ihres Zeit-
lebens nicht ſelbſt befreien, ſie kann ſich nicht vernehmen laſſen, weil ſie ſich
ſelbſt nicht vernimmt. Das Thier dagegen lebt nicht nur in der Zeit, ſondern
fühlt ſich auch als die im Wechſel des Zeitverlaufs in ſich zuſammengefaßte
Einheit. Dieſes innere Leben verräth es durch die zum Stimm-Organe gebil-
deten Athmungs- und Geſchmacks-Organe im Tone. Der Ausdruck deſſelben
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 8
[114]iſt jedoch theils nur der des dumpfen Triebes, theils erhebt er ſich zwar
zu einer Kundgebung reinen Wohlſeins in einer Folge von Tönen, welche
Anklang einer ſchönen Ordnung enthält, aber dieſer ungefähre Anklang iſt
weit entfernt von der klaren Form der thieriſchen Geſtalt und dem ganz anders
geordneten Ausdrucke geiſtiger Stimmung in Tönen nur ebenſo analog, wie die
übrigen Thätigkeiten des Thiers dem Sittlichen und Vernünftigen.
Was zuerſt die Pflanze betrifft, deren Klangfähigkeit wir abſichtlich
erſt hier, in Vergleichung mit der thieriſchen Stimme, erwähnen, ſo haben
die Theile derſelben zwar erſt, wenn ſie durch Abſterben gleichſam zum
Unorganiſchen zurückgekehrt ſind, durch ihre zartere, urſprünglich elaſtiſche
Textur einen ſeelenvolleren Klang, als Metalle, was Jedem von den
Inſtrumenten bekannt iſt, deren Hauptkörper aus Holz verfertigt wird.
Noch ungleich ausdrucksvoller iſt freilich die aus der thieriſch elaſtiſchen
Sehne gebildete Saite, wo aber ebenſo das Thieriſche nur als ein zum
Unorganiſchen Verhärtetes gebraucht wird. Dieſer Stoff bleibt ganz paſſiv,
alle Form geht vom Künſtler aus; Stoff bedeutet hier blos Material,
das für äſthetiſche Form erſt verwandt werden ſoll, wie der Stein vom
Baumeiſter, wogegen uns die übrige Naturſchönheit, die uns in dieſem
Abſchnitte vorliegt, nach allen übrigen Seiten einen ſchon geformten Stoff
vor das Auge ſtellt, von welchem ſich nur erſt fragen ſoll, ob er ſo
bleiben kann oder ob er einer Umſchaffung bedarf, wenn wahrhaft Schönes
ſoll entſtehen können, einen Stoff, den wir als eine nur noch unreife,
zur Umbildung beſtimmte Form erkennen werden, als einen Stoff im
Sinne der Vorlage, des Vorbilds. Anders nun ſcheint es ſich mit dem
frei hervorgebrachten Tone des lebendigen Thiers zu verhalten: das beſeelte
Thier führt aus ſich ſelbſt ein Zeitleben, in welchem es ſich als dieſe
lebendige Einheit ſelbſt vernimmt; es beſtimmt ſich ſelbſt zum Ortwechſel,
bewegt ſich aus ſich und ſo verräth es die Bewegung auch im Sinne der
Stimmung durch die Stimme, deren Ton jener ihren Ausdruck gibt. Es
bringt alſo dem Zuhörer ſelbſtgeſchaffenen, geformten, ausdrucksvollen
Klang, und dieß heißt Ton, entgegen. Nun müſſen wir aber einen
doppelten thieriſchen Ton unterſcheiden: zuerſt den dumpfen Schrei des
Triebs, der Begierde; dieſer mag nun zuſammenwirkend mit der An-
ſchauung der Geſtalt wohl ſehr wirkſam ſein in einem thieriſch belebten
äſthetiſchen Ganzen, aber wir werden finden, daß die Kunſt, welche
ſelbſtändige akuſtiſche Schönheit ſchafft, nichts mit ihm anfangen kann;
Material kann er ihr nicht ſein, denn er läßt nicht über ſich verfügen,
und Stoff im Sinne einer nur noch unreifen Form auch nicht, weil ihm
jede freie und ſelbſtändige Bedeutung abgeht, wie ſolche dem Thiere ſelbſt,
das ihn hervorbringt, als einem Gegenſtande des Auges in gewiſſem
[115] Sinn allerdings zukommt. Dieſe Widerſpenſtigkeit eines zwar lebendig
ſeeliſchen, aber dumpfen und eigenſinnigen Lautes ſcheint in einer zweiten
ungleich freieren Form des thieriſchen Tons, im Vogelgeſange zu ver-
ſchwinden. Er iſt nicht Material, paſſiver, formloſer Stoff wie der
Klang, er iſt aber auch nicht eine rohe und dumpfe, widerſpenſtige,
ſondern bereits eine freiere, ſeelenvollere, in Rhythmus anklingende,
und ſo ſcheint er denn in dem Sinne Stoff zu ſein, wie es die übrige
Naturſchönheit für die Kunſt iſt, nämlich Vorlage, Vorbild. Vergleichen
wir auch hier dieß Gebiet mit dem der Baukunſt, ſo können wir ſagen:
wie das Mineral für dieſe, ſo iſt der Klang für die Muſik bloßes
Material, aber die Baukunſt hat, wie ſich an ſeinem Orte zeigen wird,
mehr als bloßes Material, ſie hat ein geheimnißvolles Vorbild an der
Kryſtallbildung und den bauenden Urgeſetzen der Natur, die ſich in ihr
ausſprechen, und ebenſo hat die Muſik mehr als bloßes Material, ſie
hat Vorbild im thieriſchen Geſange. Allein gewiß nur ganz ebenſo
unbeſtimmt, wie der Kryſtall für die Baukunſt, iſt ihr der Geſang des
Vogels ein ſolches Vorbild und auch dieß noch mit dem Unterſchiede, daß
der Kryſtall beſtimmte Form in einem zu enggeſchloſſenen Kreiſe der
Geſetzmäßigkeit hat, der Vogelgeſang aber von der Beſtimmtheit regellos
abirrt und auf kein Geſetz zu bringen iſt. Die enge Gebundenheit des
Kryſtalls legt ſich in der Baukunſt auseinander, die irrende Entbundenheit
des Vogelgeſangs bindet ſich in der Muſik. Muſik iſt aber ſo wenig
durch Nachahmung des Vogelgeſangs entſtanden, als die Baukunſt durch
Nachahmung des Kryſtalls; jener wie dieſer iſt nur als eine Art von Vorbote
anzuſehen von dem, was die Menſchenſeele ſchafft. Was dem thieriſchen
Geſang zur Schönheit eigentlich fehlt, kann ohne einen zu ſtarken Vorgriff
nicht näher auseinandergeſetzt werden; inzwiſchen vergl. man Hand Aeſth.
d. Tonkunſt B. 1 §. 17 ff. So viel iſt an ſich klar, daß dieſer ſogenannte
Geſang zwar Ausdruck reinen Wohlſeins ſcheint, daß aber dieß Wohlſein
genau geſprochen doch keineswegs den Namen eines reinen, freien ver-
dient; beſtimmtere, dem Bedürfniß angehörige Triebe liegen ihm zu Grunde,
insbeſondere Geſchlechtsbetrieb; es iſt meiſtens ein Locken. Manche Vögel
lernen nun allerdings auch Melodieen, aber ſo mechaniſch und ohne Gefühl
für ihre Bedeutung, daß damit gar nichts für die Aeſthetik an dieſem Orte
anzufangen iſt, ſondern für einen ganz andern äſthetiſchen Zweck, nämlich
die Komik. Der Vogelgeſang iſt nur wie eine Stimme der allgemeinen
Natur, worin ſich dieſe ein Gefühl ihrer Fülle zuzujubeln ſcheint; ſo wird
im Grund auch er nur zu einem begleitenden, in der landſchaftlichen
Schönheit mitwirkenden Momente.
8*
[116]
§. 291.
Der allgemeine äſthetiſche Eindruck des Thierlebens beſtimmt ſich ver-
ſchieden, je nachdem in der Menſchenähnlichkeit die Unähnlichkeit oder jene in
1dieſer ſich aufdrängt. Im erſteren Falle erſcheint das Thierreich wie ein aus-
einandergezogenes Zerrbild des Menſchen, eine häßliche, grauenhafte Larven-
2welt. Legen wir dieſer Entſtellung einen wirklichen Menſchen unter, ſo löst
3ſich die Häßlichkeit in das Komiſche auf (vergl. §. 158 Anm. 4). Die Leihung
hat aber berechtigten Anhalt, die wirkliche Menſchenähnlichkeit tritt, vornämlich
dem Hausthiere gegenüber durch Gewohnheit des Umgangs, in den Vorder-
grund und das Thier wird als mittleres Weſen zwiſchen Freiheit und Noth-
wendigkeit wie ein freundlicher und unſchuldiger Grenznachbar geliebt. Erſteigt
jedoch die Menſchenähnlichkeit den höchſten möglichen Grad, ſo wird die
Heimlichkeit wieder zur Unheimlichkeit.
1. „Die Thiere ſind gebrochene und durch katoptriſche Spiegel aus-
einandergeworfene Strahlen des menſchlichen Bildes, disjecti membra
poetae“ Herder (a. a. O. B. 2, IV). Oken hat auf dieſe Idee, daß
der Menſch der Typus oder das Schema des geſammten Thierreichs,
dieſes der auseinandergelegte Menſch ſei, ſeine ganze Zoologie gegründet,
und dieß iſt gewiß auch die einzig richtige Begründung. Es liegt darin
nun allerdings ein, jedoch nothwendiger, wiſſenſchaftlicher Vorgriff. Eigentlich
iſt nicht das Thierreich der auseinandergelegte Menſch, ſondern der Menſch
das zuſammengefaßte Thierreich. Das Ringen der Natur, den Menſchen
zu erzeugen und in ihm Geiſt zu werden, arbeitet die Stufen des Thier-
reichs heraus. Der Menſch iſt darum allerdings implicite im Thierreich
da, bevor er noch explicite als er ſelbſt da iſt. Die Wiſſenſchaft hat
das Recht, die Hauptmomente ſeines Typus von der explizirten Geſtalt
aufzunehmen und ſie der implizirten, dem Thierreiche, als Modell zu
Grunde zu legen. Daſſelbe thut in anderer Weiſe der äſthetiſche Zuſchauer
und zunächſt muß ihm ſo die Thierwelt, da dieſe andere Weiſe der
Betrachtung auf die Oberfläche geht, als eine Entſtellung des Menſchen,
eine unheimliche Larve erſcheinen. Beſonders iſt dieß natürlich der Fall
bei Thieren, die noch dazu dem Menſchen gefährlich ſind, und doppelt,
wenn ſie überdieß, ſelbſt nur mit benachbarten Thierſtufen verglichen, ſehr
häßlich ſind, wie das Krokodil. Wie die Formen der Thiere als eine
Verzerrung des Menſchenbildes, ſo erſcheint ihr Ausdruck, ihr Thun wie
der geiſtige Abgrund eines Wahnſinnigen, der jeden Augenblick Ungeheures,
Entſetzliches hervorbringen kann.
2. Nachdem der Akt des Komiſchen im erſten Theile entwickelt iſt,
braucht es keiner Ausführung der Bedingungen mehr, unter welchen dieſe
[117] Häßlichkeit komiſch wird. Das Gefährliche muß wegfallen oder mißlingen,
es muß ein Zufall die Aufforderung herbeiführen, die menſchliche Folie
ernſtlicher unterzulegen und die Thierform in widerſprechender Einheit mit
ihr zuſammenzufaſſen, und natürlich muß der Zuſchauer den Sinn und die
Stimmung mitbringen. Es gibt Leute, die auf dieſen Punkt gar kein
Organ haben und nie begreifen, welcher Schatz des Komiſchen zu heben
iſt, wenn man das Thier darauf anſieht, es ſolle eigentlich einen Menſchen
vorſtellen. Die Caricaturmalerei hat dieß bekanntlich vielfach ausgebeutet,
aber auch die reine Thiermalerei (Landsheer dignity and impudence).
Uebrigens bietet auch die Thierwelt eine Scala objectiver und ſubjectiver
Komik dar (vergl. §. 181 — 183), deren Spitze immer der Menſch iſt:
das liſtigere Thier überliſtet das dummere, aber für den Menſchen iſt
auch die überliſtende Liſt eine komiſche Naivetät.
3. Die Leihung, die Unterſchiebung des Menſchen iſt ebenſo berechtigt
als unberechtigt. Thiere ſind, ſagt Hippel, unſere Grenznachbarn. Die
ſtumme Nothwendigkeit der Pflanze iſt gebrochen, die menſchliche Freiheit
noch nicht da. Der Menſch erfreut ſich des belebten, affectvollen Thuns,
das ihn überall an ſeine Welt erinnert und doch ſchuldlos iſt (bis zu der
Grenze, wo das Thier untreu wird §. 289 Anm. 2). Von menſchlicher
Falſchheit ermüdet kann ich mich an dem ehrlichen Weſen des treuen
Hundes ernſtlich erholen, der mich nicht verläßt, wenn mich auch Alles
betrügt. Im alten Epos ſprechen ſelbſt die Pferde mit ihrem Herrn,
betrauren ſeinen Tod, das Thier wird ganz zum Freunde des Menſchen,
der ſelbſt noch naiv, edles Thier iſt. Die Verwendung zum Nutzen darf
nicht zur Niederdrückung der Lebendigkeit und Friſche des Thieres gehen;
das dreſſirte Reitpferd jetziger Zeit hat nicht mehr das Feuer und den
Muthwillen, den man ſonſt auch dem Reitpferde ließ. Aber auch dem
geſchonten Hausthiere gegenüber hat wieder das Wild den Reiz des
Ungebeugten und Friſchen, den Waldesduft; es erinnert an den Menſchen,
deſſen Bildung noch nicht mit der Natur gebrochen. Trotzdem bleibt richtig,
daß die Heimlichkeit mit der Menſchenähnlichkeit, mit der Bildungsfähigkeit,
der Anhänglichkeit des Hausthiers ſteigt, aber im Affen ſchlägt dieß in
ſein Gegentheil um. Er iſt zu menſchenähnlich, das Grauſen vor dem
Thier als einer verzerrten Maske des Menſchen ſtellt ſich wieder ein und
zwar im höchſten Grade und ſo ſtark, daß kaum die Auflöſung in’s
Komiſche ganz zu vollziehen iſt, worüber nachher.
§. 292.
Die ganze Klaſſe der wirbelloſen Thiere bietet als eine unreife1
Vorſtufe des Thierreichs dem Schönen ſehr geringen Stoff. Selbſt für die
[118] äſthetiſche Wirkung des Häßlichen iſt ſie großentheils verloren, weil ſie einen
Eckel und Widerwillen erregt, der weder durch theilweiſe Furchtbarkeit, noch
2durch den dürftigen Anklang des Komiſchen ſich überwinden läßt. Die unterſte
Ordnung dieſer Klaſſe, die der Pflanzenthiere, ſchreitet von der einfachen
Kugelform zu vielfach verſchlungenen Gliederungen fort, welche theils durch die
hier noch herrſchende peripheriſche Bildung, theils durch die Veräſtung ihrer
Gehäuſe, womit ſie, ſelbſt der vollſtändigen Bewegung noch entbehrend, am
Grunde feſtſitzen, der Pflanzen- und Kryſtall-Form ſich nähern und neben dem
Niedlichen, was dieſe Bildung hat, theilweiſe auch durch Farbe gefallen.
1. Dieſe ganze Klaſſe ſtellt die unreife, unausgebackene Vorſtufe
des Thierreichs dar und iſt im Allgemeinen häßlich, weil ſie, abſolut
höher als Pflanze und Stein, doch wieder zu dieſen herabſinkt, wodurch
wieder der Satz §. 18, 1. ſich beſtätigt. Ein Baum iſt äſthetiſch etwas
ungleich Bedeutenderes, als eine Polype, eine Qualle u. ſ. w. (Am
wenigſten gilt dieſe niedrige Schätzung den Inſekten, worüber nachher.)
Das ganze Geſchmeiß iſt eckelhaft. Wohl iſt es zwar zum Theil auch
furchtbar, wie namentlich jene ſcheußliche Sepie, welche mit ihren Fang-
Armen ſelbſt Menſchen umklammert und zum Fraße in die Tiefe reißt,
wie unter den Kruſtenthieren der Scorpion, die Tarantel, und die eigent-
lichen Inſecten, um ſie ſoweit zum voraus anzuführen, durch ihren Stachel.
Allein nur in ſeltenen Verbindungen und Gegenſätzen wird das Furchtbare
der Waffen dieſer Thiere die Energie haben, das widerwärtig Läſtige,
was vielmehr darin liegt, zu überwiegen. Ein Kampf mit einem Wolfe,
Bären kann für ſich ein äſthetiſcher Stoff ſein, ein Skorpionſtich dagegen
nur, wenn er der Bedeutung einer menſchlichen Situation poſitiv oder
negativ bezeichnend entſpricht. Das ganze wimmelnde, krabbelnde, tappende
Reich, von dem hier die Rede iſt, gehört größtentheils dem Schooße alles
Lebens, dem Waſſer an; zuſammengefaßt mit dieſem, mit dem Meeres-
grunde, und vorgeſtellt in ſeiner unendlichen Menge verſtärkt es freilich
das Unheimliche und Wilde des Abgrunds (Schillers Taucher). Auch
das Komiſche klingt an; denkt man, daß dieſe ſchwimmenden Säcke, Därme,
u. ſ. w. Thiere vorſtellen ſollen, legt man ihnen den wahren Thiertypus
oder gar den Menſchentypus als Folie unter, ſo lacht man wohl über
die allerlei Koſtgänger, die der liebe Gott hat. Beſtimmtere Komik bieten
die wenig gefährlichen großen Waffen, die nach der Seite oder gar rück-
wärts gehende Bewegung mancher Cruſtaceen (Krabben, Krebſe), das
Hüpfen, Kitzeln und der unſchädlich unbequeme Biß des Flohs. Allein
auch der komiſche Stoff iſt kärglich; es bleibt in der Wendung zum
Komiſchen wie zum Furchtbaren überall eine Apprehenſion, ein Eckel
unüberwunden zurück, den theils das Schleimige, Breiige, theils die
[119] Vielheit dünner Organe bei dem unwillkührlichen Gedanken erregt, ſo ein
Ding auf der Haut fühlen zu müſſen. Unter die häßlichſten Thiere gehört
z. B. unter den Inſecten (Heuſchrecken) die Maulwurfsgrille (Werre),
die dem Krebs ähnlich iſt und deren widrigen ſackartigen Leib doch nicht
deſſen harte Kruſte überkleidet.
2. Der unterſte Typus oder Plan nach Cüvier, die Zoophyten
oder Strahlthiere, nach Oken die Darmthiere. Die Würmer ſtellen wir
in eine andere Gruppe und rechnen zu der gegenwärtigen die Infuſorien,
Polypen oder Corallen, Sternthiere und Quallen oder Meduſen. Oken
ſtellt die Sternthiere höher, zu den Würmern und in die Nähe der
Cruſtaceen, überhaupt unter die Ringelthiere; die Gründe ſ. Allg. Naturg.
B. 4 S. 576. Wir laſſen die Richtigkeit derſelben dahingeſtellt und
betrachten ſie vielmehr als diejenige Form, in deren von einem Mittel-
punkt zu einer ſtachelichten, buckligten Kugel oder einem Stern ausſtrah-
lender Bildung am meiſten der peripheriſche Typus dieſer ganzen Gruppe,
der übrigens viele Ausnahmen erleidet, zum Vorſchein kommt, ein Typus,
der gerade bei dieſen hartſchaaligen Thieren an die Kryſtallbildung, im
Allgemeinen aber ebenſoſehr an die Kranzſtellung der Blumenblätter
erinnert. Die vorliegende Ordnung beginnt mit der Kugelform der einfachſten
Infuſorien, die ſofort in Faſern, Ecken, Spitzen u. ſ. w. auseinanderläuft,
auch ſchon zur Längsrichtung übergeht und dann bereits Pflanzenblättchen
ſehr ähnlich wird. In den Polypen nun erſcheint die Pflanzenbildung
nicht nur durch die kreisförmig um den Mund geſtellten Fangarme, ſondern
auch durch den baumartig verzweigten Korallenſtock, mit dem ſie unbeweglich
anſitzen und aus deſſen Enden ihr bewegliches Vordertheil hervortritt wie
die Blüthe am Zweig. Zugleich aber erinnert die kalkige Ausſcheidung,
woraus der Korallenſtock beſteht, an das Mineraliſche; die unvoll-
kommenen Kryſtallbildungen zeigen ja ähnliche zierlich veräſtelte Formen.
Ganz pflanzenartig ſieht namentlich die Seefeder aus. Die Polypen ſind
es daher, die gewöhnlich im engeren Sinne Zoophyten heißen. Der von
einem Mittelpunkt ſtrahlenförmig auslaufende Bau tritt nach den Stern-
thieren beſonders deutlich wieder in den runden Scheiben-Hut-Glocken-
Formen der Quallen oder Meduſen auf. Unter allen dieſen Bildungen nun
trifft man auf mancherlei zierliche Formen, die erfreuen könnten, wenn
es nicht immer unheimlich wäre, daß es Thiere ſind, die ſo der Pflanze
und dem Kryſtalle gleichen. Ihre Niedlichkeit ergötzt eigentlich erſt, wenn
ſie todt ſind, wenn das gallertartige Thier aus ſeiner Kalkbehauſung
weggenommen, getrocknet iſt, oder wenn man es nur in der Zeichnung
ſieht u. ſ. w. Manche Korallen, Seeſterne, Quallen zeigen auch ſchöne
Farben.
[120]
§. 293.
Dieſe vielgegliederte Bildung zieht ſich zum trägen ſchleimigen Klumpen,
zur einſchnittloſen Walze zuſammen in den Weichthieren und Würmern,
von denen nur die erſteren das Auge durch Form und Farbe ihrer in’s Mineral-
2reich zurückweiſenden Gehäuſe, der Muſcheln, erfreuen. Die Zuſammenziehung
tritt wieder auseinander in getheilte Gliederung und ſymmetriſche Längsrichtung
durch die meiſt bepanzerten, vielfüßigen, unheimlich bewaffneten Kruſtenthiere,
welche den Uebergang zu den eigentlichen Inſecten bilden.
1. Wir weichen hier von der gewöhnlichen, durch Cüvier begründeten
Eintheilung ab. Jener ſetzt die Mollusken über die Inſecten oder Ringel-
thiere, zu denen man gewohnt iſt mit ihm auch die Würmer zu ſtellen,
wogegen wir die Mollusken tiefer als die Inſecten und mit den Würmern
zuſammenſtellen, wodurch wir drei Gruppen der wirbelloſen Thiere erhalten:
Pflanzenthiere, Mollusken (nebſt den Würmern), Ringelthiere oder Kruſten-
thiere und eigentliche Inſecten. Hiefür haben wir eine naturwiſſenſchaft-
liche Autorität wenigſtens in Oken, der aufſteigend nach den Pflanzen-
thieren (Darmthieren) die Mollusken (als Aderthiere) und nach dieſen die
Inſecten aufführt und dieſe Stellung dadurch begründet, daß bei dieſen
zuerſt Luftröhren hervortreten, weßwegen er ſie Athemthiere nennt. Uns
ſcheint ſchon der Eine Umſtand hinreichend, die Stellung der Inſecten
über den Mollusken zu begründen, daß ſie ungleich höher beſeelt ſind, als
dieſe, daß ſie an mannigfaltiger Erregtheit des Lebens den Vögeln (wie
die Mollusken an Stumpfheit den Fiſchen) analog ſind. Wie in der
Gruppe der Wirbelthiere das Luftthier höher ſteht, als das Waſſerthier,
ſo auch in der Gruppe der wirbelloſen. Zudem ſind die meiſten Mollusken
Zwitter, das Geſchlecht der Gliederthiere iſt getrennt. Nur darin weichen
wir auch von Oken ab, daß wir die Würmer nicht unter die letzteren,
die Gliederthiere oder die Inſecten, aufnehmen, ſondern auf tieferer Stufe
mit den Weichthieren zuſammenſtellen, was ſich nach unſerer Meinung
auch naturwiſſenſchaftlich rechtfertigen ließe, der äußeren Anſchauung aber
jedenfalls gewiß näher liegt. Beide erſcheinen als einſchnittloſe, ſchleimige
Maſſe, nur daß im Wurme die Längsrichtung wieder eintritt und in ſeinen
weichen Ringeln das Gliederthier ſich vorbereitet, während der Mollusk
„einen Klumpen, eine auf ſich zurückgeſchlagene Maſſe“ (Lehrb. der Zool.
von Voigt §. 167) darſtellt. Dieſe formloſe Maſſe theilt ſich nun aller-
dings zunächſt noch einmal in der höchſten Klaſſe der Mollusken, den
Cephalopoden oder Sepien (Ruderſchnecken oder Kracken nach Oken),
deren ausgebildeterer Kopf von acht bis zehn Armen umſtellt iſt und welche
[121] auch bereits leidenſchaftlich grauſam, ſelbſt liſtig ſind. Dennoch iſt es der
Wurm, der nicht nur durch die Längsrichtung, ſondern (in der Klaſſe der
Rothwürmer) durch die zur Seite angeſetzten fußartigen Fäden und durch
die, zwar noch nicht hornigen, Ringel ſeines Leibs höher ſteht, als dieſe
und alle andern Weichthiere, in zwei ſymmetriſche Hälften der Länge nach
zerfällt und den Uebergang zum Kruſtenthiere, durch dieſes zum Inſecte
darſtellt. Letzteres zeigt in ſeiner erſten Metamorphoſe als Raupe Wurm-
geſtalt und ſein ſackiger, geringelter Leib iſt nichts Anderes als der
frühere Wurm.
Mit den Weichthieren und Würmern iſt nun äſthetiſch natürlich blut-
wenig anzufangen. Zur Komik geben jene Stoff, weil ſie ihr Haus mit
ſich ſchleppen und durch ihre Langſamkeit unwillkührlich an Trägheit
erinnern. Gefällig ſind ſie theilweiſe durch das abſtracte Moment der Farbe,
die namentlich an den Muſcheln vorkommt, auch als Glanz verſchiedener
Art, namentlich Perlmutterglanz (Schönheit der Perle). Die Subſtanz der
Muſcheln weist wieder entſchieden in’s Mineralreich zurück, ihr Bau iſt
ein äſthetiſch zweifelhafter Gegenſtand: er zeigt keine völlige Regel-
mäßigkeit und Symmetrie, ſondern weicht ſpielend in allerhand Wendungen,
Zacken u. ſ. w. aus und durch dieſe Schnörkel hat er etwas Rokoko-
Artiges. Wenn nun geometriſche Regelmäßigkeit, wie bei dem Kryſtall,
uns an die Architectur erinnert, wenn ebendarum die Muſchel einen archi-
tectoniſchen Charakter hat und zu Ornamenten ſehr paſſend erſcheint, ſo
ſtört ſie vielmehr durch die Schnörkel die ſtatiſche Ruhe und Klarheit
wieder, und ſo kommt es, daß wir allerdings von einer ganzen Periode
der Architectur die Muſchel vielfach, und zwar ſogar als Thurmpyramide
in ſpiralförmig gewundener Form verwendet ſehen, aber eben von einer
willkührlichen und manirirten Periode, dem ſogenannten Zopfſtyle. —
Der Molluske ſelbſt iſt aber immer eckelhaft durch ſeine breiige Schmierigkeit,
zum Theil auch furchtbar, wie oben erwähnt iſt. Auch der Wurm iſt
eckelhaft, nur in einigen Gattungen zeichnet er ſich durch ſchöne Farbe aus
(vierkantiger Spritzwurm u. and.).
2. Hornartige Feſtigung der Haut und eingeſchnittene Theilung tritt
mit den Kruſtenthieren ein, der Vorſtufe des eigentlichen Inſects. Dieſe
Claſſe beſteht noch größtentheils aus Waſſerthieren. Sie ſind ein wahres
Reich der Häßlichkeit, alle durch die ſtachlichte, zackigte Vielheit ihrer
Organe, dieſer Borſten, Fühlhörner, Taſter, Saugrüßel, zwickenden Kinn-
laden, wuſelnden Füße u. ſ. w., ein Theil durch die noch halbweiche,
wäſſerigte und durchſichtige Hornhaut, welche die eckelhafte Vorſtellung
eines bei der Berührung berſtenden Schleimſacks gibt, andere durch ihre
widerlichen Waffen, Zangen, Scheeren u. dergl. Noch wurmartig ſind die
vielfüßigen Aſſeln, in welchen nur erſt der Kopf vom Rumpfe unter-
[122] ſchieden iſt. Die Haut verhärtet ſich ſchaalthierartig, der Kopf iſt mit
dem ausgebildeten Bruſtſtück Eines und ſcheidet ſich nur von dem dünnen
ſchwanzförmigen Bauche in der zweiten Klaſſe, der der Krebſe. Auf jedem
Fiſchmarkte kann man ſehen, wie eckelhaft die krebsartigen Thiere mit
noch weniger verhärteter Haut, die Meerläuſe und ſolches Geziefer ſind.
Dagegen erſcheint nun der Krebs (und die Krabbe) mit ſeinem Panzer
und ſeinen Scheeren, ſeinen zum Theil ſchönen Farben, ſeinen wunderlichen
Bewegungen als ein leidlich komiſches kleines Raubthier. Die Haut
erweicht ſich wieder, die ganze Geſtalt verkleinert ſich, das Thier tritt
auf’s Land über, um ſich bald als geflügeltes Inſect in die Luft zu erheben,
in der widerlichen Spinne. Hieher gehört die läſtige Milbe und Zecke.
Was die eigentlichen Spinnen betrifft, ſo iſt es nur das kunſtreiche Netz,
das zu anziehender Betrachtung einlädt; die Geſtalt iſt durch den Sack
des Bauches mit den dünnen Füßen, zum Theil durch die haarigen Aus-
wüchſe durchaus unſchön, und weil man einmal den Giftbiß der Tarantel,
den Stich des Skorpions kennt, ſo trägt man, durch dieſe allgemeine Häß-
lichkeit veranlaßt, unwillkührlich auf alle die Vorſtellung des Giftigen über.
§. 294.
Die Inſecten ſind es zuerſt, welche d n thieriſchen Grundtypus (§. 285)
durchgängig darſtellen, aber durch Trennung der Hauptſyſteme des innern Baues
in drei dürftig zuſammenhängende Theile mit abſtehenden dünnen Fühl- und
Bewegungsorganen erſcheint in ihnen die Vielheit ſo ſehr auf Koſten der Einheit
ausgebildet, daß ſie das Gefühl entſchieden abſtoßen würden, wenn nicht Farben-
pracht bei vielen die Häßlichkeit der Form überglänzen würde. Mit ihnen
erhebt ſich die Gruppe der wirbelloſen Thiere aus dem Waſſer in die Luft; ſo
ſehr aber der Flug einen Charakter der Leichtigkeit und die bei dieſen Thieren
auffallend hervortretende Metamorphoſe zu höheren Vergleichungen Anlaß gibt,
ſo erinnert doch immer die überwiegende Dicke des Leibs an die vorherrſchend
vegetabiliſche Beſtimmung. Uebrigens tritt nun bereits der techniſche und geſellige
Inſtinct, die leidenſchaftliche Erregbarkeit und theilweiſe ſchon die Liſt in merk-
würdiger Weiſe hervor und würde den Mangel der Geſtalt durch das An-
ziehende der Thätigkeit ergänzen, wenn nicht jene zu den übrigen Mängeln
überhaupt zu klein wäre; daher ſie nur durch Maſſe theils als allgemeine
Belebung der Luft erfreulich, theils als Plage furchtbar werden.
Mit der ausgebildetſten Klaſſe der Glieder- oder Ringelthiere, den
eigentlichen Inſecten entläßt der Naturgeiſt das niedere Waſſerthier zuerſt
entſchieden an die Luft, die verworrene Geſtalt reift im Reize des Lichts
zu einer einfacheren, klar und ſchneidend getheilten Form mit reduzirter
[123] Menge der Organe. Das unterſcheidend Eigene iſt die Theilung des
Körpers in Kopf, Bruſt und Bauch, welche ſo über die Einheit herrſcht,
daß dieſe drei Theile nur durch einen Faden wie beiläufig verbunden
erſcheinen. Zwei Fühlhörner ſitzen am Kopf, drei Fußpaare und bei den
meiſten zwei bis vier Flügel an der Bruſt. Zum erſtenmale tritt nun
durchgängig der Grundtypus des Thiers auf: eine länglichte gerundete
Laſt auf die Bewegungsorgane der Füße als ihre Unterlage horizontal
geſtellt. Dieſe Geſtalt iſt nun aber trotz der Einfachheit, auf welche das
verworrene Kruſtenthier jetzt zurückgeführt erſcheint, weſentlich häßlich, weil
das Auge durchaus die abrundende Vermittlung ſowohl zwiſchen den
Hauptſyſtemen, als auch zwiſchen ihnen und den dünnen, wie von außen
eingelenkten Bewegungs-Organen vermißt. Dagegen iſt die Metamor-
phoſe von der Raupe bis zum eigentlichen Inſect von jeher Stoff ahnungs-
voller Vergleichungen für den menſchlichen Geiſt geweſen, freilich auch bis
zur ermüdenden Trivialität. Ferner verdeckt die ungemeine Farbenpracht,
welche über Schmetterlinge und Käfer verbreitet iſt und alle Arten des
Glanzes, Schmelzes, des Sammtenen, des Gefleckten, Bunten durchläuft,
jene Häßlichkeit der allzuſcharf eingeſchnittenen Geſtalt. Dazu kommt
theilweiſe die Bewegung. Der Flug des Schmetterlings iſt verſchiedenartig
wie bei den Vögeln, ſchießend, rudernd, kreiſend u. ſ. w., reizend beſonders
das wählige Auf- und Zuſchlagen der Flügel, wenn er am Boden ſitzt,
wobei er ſeine Schönheit zeigen zu wollen ſcheint. Schmetterlinge gleichen
frei gewordenen Blumen, und wenn überhaupt die wirbelloſen Thiere im
Allgemeinen, nicht blos die Zoophyten, pflanzenhaft erſcheinen, ſo wird
man auch bei dieſer beweglichſten Klaſſe derſelben durchaus und gerade
am meiſten an die Pflanze erinnert. Freilich erſcheint die Pflanze friſch,
feucht, thauig; das Inſect aber ſieht trocken aus, man ſieht ſeiner Ober-
fläche nichts von der Säftethätigkeit an, es hat etwas Papierenes, Gläſernes,
Staubiges. Doch erſcheint es in Form und Farbe immer Blatt- Stengel-
und Blüthenartig. Die Thätigkeit der Pflanze vertheilt ſich übrigens durch
die Metamorphoſe ſo, daß der Raupe mehr die Ernährung, dem entwickelten
Inſecte mehr die Fortpflanzung zukommt; auch dieſe gehört aber noch
zum Vegetabiliſchen und außer den übrigen Formen zeigt noch immer der
ſackartige Leib auch durch ſeine Maſſe die Pflanzenbeſtimmung an. Doch
iſt dieſer verdeckt oder wenigſtens das widerlich Weiche deſſelben durch
Flügel und Flügeldecken verborgen. Solider, gedrungener als die übrigen
Inſecten erſcheint der Käfer; er ſieht durch ſeine harten Schaalen wie ein
bepanzerter Krieger aus, die Hörner, zu denen ſich ſeine Zangen verfeſtigen,
erreichen ſolche Größe, daß dieſe Bewaffnung um ſo mehr komiſch wirkt,
je kleiner das Thier ſelbſt im Verhältniß zu dieſen furchtbaren Werk-
zeugen iſt.
[124]
Wie ſchon geſagt, ſtehen nun die Inſecten wie durch die ſtrenge
Beſtimmtheit ihrer Geſtalt, ſo auch durch ihre ſeeliſchen Eigenſchaften
am höchſten unter den niederen Thieren. Sie ſind höchſt rührig, immer
bewegt, die allgemeinen Durchwühler, Umkrabbler, Umflatterer, die
individualiſirte Luft, die Alles umwebt, in Alles eindringt; leidenſchaftlich,
luſtig, wollüſtig, zornig, höchſt blutdürſtig, wie denn unter den Raubkäfern
z. B. die Laufkäfer wahre Tiger der Inſektenwelt ſind; zudringlich, eigen-
ſinnig, impertinent, nickelhaft. Es gibt noch zu lachen, wenn die Fliege
hundertmal weggejagt hundertmal auf dieſelbe Stelle ſitzt, wenn der Floh
mit ſeinem verhältnißmäßig ungeheuren Sprunge des Jägers ſpottet, es
wird aber die Frechheit ſchon läſtig bei den ſchmerzlich ſtechenden Inſecten,
den Schnaken, Bienen u. ſ. w. und eckelhaft bei der ſtinkenden Wanze, der
trägen Laus. Von dem Inſtincte der Inſecten haben wir oben (§. 289, 2.)
ſchon geſprochen und gezeigt, warum ihr architectoniſcher und politiſcher
Trieb ſo hoch nicht zu ſtellen iſt, als es ſcheint, während er übrigens
immer in einem ländlich anmuthigen Ganzen eine anziehende Stelle ein-
nimmt. Viel höher ſteht ihre Liſt im Einzelnen: das ſich todt Stellen
des Käfers u. ſ. w. Aber auch dieß will nicht viel ſagen; ſie ſind und
bleiben dumme Thiere, dem Lichtreize willenlos Preis gegeben zappeln ſie
ſich an der Glasſcheibe todt, verbrennen im Lichte, ſtechen ohne Grund und
Noth u. ſ. w.
Wie ſie faſt nur als individualiſirte Luft erſcheinen, ſo klingen nun
auch die Töne, die ſie im Wohlgefühle des Lebens durch Reiben der
Flügeldeckel auf den Flügeln, durch die Bewegung dieſer im Fluge u. ſ. w.
hervorbringen, dieß unendliche Summen an ſchönen Frühlings- und Sommer-
tagen, wie eine allgemeine Stimme aus unſichtbarem Munde, womit die
Schöpfung ſich ſelbſt den Segen der Wärme erzählt. Wie ſchöne Motive
ſich da finden laſſen, zeigt Anakreons Lied an die Cicade. Doch iſt es
mehr die Vielheit der Inſectenwelt, welche bekanntlich an Menge der
Individuen und Gattungen faſt unüberſehlich iſt, was in die äſthetiſche
Betrachtung fällt. Das einzelne Inſect kann um ſeiner Kleinheit willen
nur eben den Stoff zu einem ſolchen kleinen Liedchen oder zu irgend einem
Nebenmotiv geben. In Maſſe aber ſind die Inſecten theils auf die
genannte Weiſe ein allgemeiner Schmuck der Landſchaft, theils können ſie
als Landplagen wahrhaft furchtbar werden. Prophet Joel.
§. 295.
Es gilt aber im Grunde von allen Thieren dieſer Vorſtufe, daß ſie
weniger als Individuen, denn in Maſſen als allgemeine Belebung eines Elements
äſthetiſche Bedeutung haben. Selbſtändige Geltung des Individuums tritt erſt
[125] mit den Wirbelthieren ein und ſie iſt vor Allem in dem feſten Knochen-
gerüſte derſelben ausgeſprochen. Durch dieſes erſt erſcheint das Thier als eine2
auf ſich ruhende, auf ſeine Säulen feſt gegründete Einheit, denn allerdings
beſtimmt dieſer innere Bau auch die äußere Form und gibt ihr Halt. Das
Knochengerüſte bildet zwei Höhlen, deren eine die Organe des blos vegetativen
Lebens im Rumpfe umſchließt, die andere dagegen das Centrum des höher
organiſirten Nervenſyſtemes theils als Rückenmark in einer wagrecht geſtreckten
Säule, theils zur länglich runden Schädelhöhle ausgewölbt, als Gehirn.
Dieſes, nun zum Centrum ſelbſtändigen Seelenlebens erhoben, verſteht namentlich
die Sinne mit ihren Nerven, welche nun erſt als deutlich ausgebildete und
ebendarum nebſt den Organen der Ergreifung und erſten Verarbeitung der Speiſe
vereinfachte Organe am Kopfe hervortreten. Nur die Wirbelthiere haben einen
eigentlichen Kopf und ein Angeſicht.
1. Lavater ſpricht in der Phyſiognomik von Pferde-Phyſiognomieen
und betrachtet zwar nur gewiſſe Race-Typen; gewiß aber wird es
Niemand einfallen, von der Phyſiognomie einer einzelnen Schnecke, eines
Käfers, Schmetterlings, einer Biene reden zu wollen: der Maler ſetzt
ſie auf Kraut und Blumen und dieſe ſind dann das eigentliche Object
ſeiner Darſtellung, oder er wirft eßbare Kruſtenthiere todt in eine Küche,
auf einen Fiſchmarkt und dann iſt die Beſtimmung zum Eſſen das Beab-
ſichtigte, der Dichter läßt ſie in ihren Elementen ſpielen; niemals aber
wird man verſuchen können, Individuen für ſich als intereſſant darzuſtellen
und die Kunſt kann dieß nicht, weil es der Stoff nicht zuläßt.
2. Daß nun die Wirbelthiere dem Gebiete der Perſönlichkeit näher
rücken, davon iſt der erſte Grund im Knochengerüſte zu ſuchen. Das
hierüber Geſagte bedarf keiner weiteren Erklärung und ebenſowenig das
Folgende. Es iſt zwar hier und weiterhin immer auch auf den innern
Bau hingewieſen, doch immer nur in dem Zuſammenhang, wie er ſich im
Aeußern ausſpricht; ebendeßwegen darf man aber auch nicht meinen, es
könne hier irgend in der Abſicht liegen, eine Anatomie des Thiers zu
geben. — Was den Kopf betrifft, ſo iſt klar, wie er nicht nur als Hirn-
kopf nun zur reiferen Kugelform hinſtrebt, ſondern auch als Sinnen-Organ
erſt den Ausdruck des hellen Umſichſchauens, des beſtimmteren theoretiſchen
und praktiſchen Objectivirens annimmt. Die Sinnen-Organe ſind durch ihre
höhere Ausbildung weſentlich vereinfacht, die Fühlhörner, Taſter, Faſern,
Borſten u. ſ. w., all dieß zackige Büſchelweſen verſchwindet; nur die Bart-
haare der Katzen, Mäuſe u. ſ. w., die Bartfäden der Fiſche erinnern noch
daran. Ebenſo fallen die Fangarme, die Scheeren, Kieferzangen weg und
an ihre Stelle tritt das Gebiß mit Ober- und Unterkiefer und eigentlichen
Zähnen. Schnabel und Rüßel erinnern allerdings an jene niedrigeren Formen.
[126]
§. 296.
Im Rumpfe iſt mit dem Syſteme der Ernährung durch Verdauung und
der Zeugung, welches dem Unterleib angehört, das in der Bruſt eingeſchloßene
Syſtem der Athmung vereinigt. Hier ſchlägt das vollkommenere Herz, deſſen rothes
Blut, ein Strom höherer und affectvollerer Belebung, weſentlich auch das Muskel-
fleiſch ernährt, das faſt alle Ecken des Knochengerüſtes mit rundlichen Schwellungen
umhüllt, ſo die geſchwungene und gewundene Schönheit des höheren Thierleibs
bedingt und zugleich die höhere Kraft vermittelt. Die Haut iſt weder nackt
noch hornig, ſondern eine wohl abſchließende weiche und ſchmiegſame, das
mineralähnlich Harte an die Extreme verweiſende Bedeckung. Die Bewegungs-
Organe ſind auf zwei Paare zurückgeführt und durch ihre Stellung, ſo wie durch
die übrigen genannten Momente tritt nun überhaupt die Bildung auf, welche
in §. 285 ff. dargeſtellt iſt, und mit ihr das reichere, auch in vielſeitigerer
Beweglichkeit der Glieder ſich kund gebende Seelenleben (§. 288. 289). Dieſe
Geſtalt erreicht eine Größe, die bei keinem wirbelloſen Thiere vorkommt und
auch dadurch iſt dem Schönen nun erſt die nöthige Greiflichkeit gegeben.
Der §. hält ſich ſo allgemein als möglich, kann es aber ſo wenig,
als die früheren, vermeiden, theilweiſe ſchon Beſtimmungen auszuſprechen,
welche keineswegs von allen Thieren dieſer Sphäre gelten; es wird aber
mit Nächſtem darauf eingegangen werden, daß der abſolute Thiertypus
nicht mit Einem Sprunge da iſt. Doch hinderte die nöthige Allgemeinheit,
die Blutwärme bei doppelter Herzkammer als weſentlichen Quell und
Ausdruck des erhöhten Lebens ausdrücklich aufzunehmen, ſonſt wären die
Amphibien und Fiſche mit einfachem Herzen und kaltem Blut ausgeſchloßen
worden. Was die Muskel betrifft, ſo mußte noch einmal und beſtimmter
ausgeſprochen werden, was ſchon §. 285 geſagt iſt, daß es die Ecken durch
rundliche Linien vermittelt. Nur wo die Füße vom Leib abſtehen, zeigt die
Geſtalt eigentliche Ecken; auch der Ferſenknochen ſpringt, ausgenommen die
Sohlenläufer, allerdings ziemlich ſpitz in der Mitte des Beins hinaus, wie
bei dem Menſchen der Ellenbogen, wenn er ihn biegt. Die Haut erſcheint
freilich bei Amphibien theils nackt, theils mineral-artig hornig; auf dieſe
Zwiſchenthiere brauchte aber wenigſtens in dieſem Punct keine Rückſicht genom-
men zu werden. Die beſtimmteren thieriſchen Bedeckungen, die nun hier als
Vorzug gegen das Nackte erſcheinen, müßen an ihrem Orte erwähnt werden;
ſoviel aber kann man ſich hier ſogleich vergegenwärtigen, daß, während
Niemand Luſt hat, die Schnecke, den Polypen anzurühren, die Hand gerne
das glatte Fell des Säugthiers ſtreichelt. Der Elephant und wenige
andere Thiere höherer Ordnung machen, nicht zu ihrem äſthetiſchen Vor-
theil, eine Ausnahme. Die Haut des Menſchen iſt nun zwar auch nackt,
[127] da tritt aber dafür eine ganz andere, neue Schönheit auf. Hörner,
Zähne, Schnäbel, Klauen, Hufe ſind der Reſt des Mineral-ähnlichen, der
auf der Oberfläche erſcheint, aber an die Extremitäten gedrängt iſt. Dieſer
ganze Organismus, deſſen Geſtalt theils früher ſchon im Allgemeinen dar-
geſtellt, theils im Folgenden weiter darzuſtellen iſt, unterſcheidet ſich nun
auch durch den Unterſchied der Größe von den niederen Thieren. In dieſen
iſt je kleiner das Individuum, deſto größer die Menge der Gattungen
und die Fruchtbarkeit, wenigſtens bei den Inſecten. Nur die Fiſche und
Vögel ſind ſo unendlich an Zahl wie jene; die Säugthiere ſind an Zahl
die kleinſte Stufe. Dafür iſt das Individuum größer; denn es iſt ungleich
mehr eine Welt für ſich und ſo bietet es nun auch dem äſthetiſchen Anblick
den nöthigen Umfang. Doch iſt trotz der Vielheit dieß auch bei einem
Theile der Fiſche und Vögel der Fall. Neben dem Umfang, der das rechte
Maaß hat, tritt aber auch der Gegenſatz der Kleinheit und der maſſen-
haften Größe ſo hervor, daß wo jene ſtattfindet, wieder nur allgemeine
Belebung des Elements die äſthetiſche Bedeutung abgibt, wo dieſe, das
formlos Erhabene eintritt, wenn es nicht durch das Thun des Thiers
in anderer Richtung aufgehoben wird.
§. 297.
Dieſen Typus bildet die Natur nicht mit Einem Male aus, ſondern ſie
verſucht ſich erſt in Formen, worin die Stufen der wirbelloſen Thiere in höherer
Weiſe ſich wiederholen, und dieſer neue Stufengang iſt weſentlich durch das
Element bedingt, in welches ſie das Thier wirft. Sie beginnt wieder mit der
Belebung des Waſſers. In dieſen Schooß des Lebens, in dieſe ſchwerere
Subſtanz ſetzt ſie den Fiſch, dem Pflanzenthier entſprechend; in die leichte Luft
den Vogel, das höhere Abbild des Inſects. Ueber dieſen Gegenſatz aber ſtellt
ſie eine neue Welt von Thieren, welche, den Fuß am feſten Lande und dieſen
Stützpunkt mit ſelbſtthätigerer Bewegung überwindend, durch klare und entſchiedene
Gegenüberſtellung gegen das tragende Element in höherem Sinne ſich ſelbſt
gehören, als alle andern Thiere, und nur momentan ſich in die Luft erheben,
nur freiwillig in’s Waſſer übertreten: die Landthiere, die ihr ſelbſtändigere
Bedeutung namentlich auch dadurch kund geben, daß ſie Säugethiere ſind.
Dieß wäre alſo zunächſt eine Eintheilung der Hauptklaſſen nach dem
Elemente, ſo jedoch, daß die Landthiere eine relative Befreiung von dem-
ſelben genießen. Die Waſſerthiere und Luftthiere nämlich ſind von ihrem
Elemente getragen wie kein Säugthier des Landes von dem ſeinigen.
So anſtrengungslos wie der Fiſch ſchwimmt und der Vogel fliegt, geht
kein Säugthier; jene ſchweben in ihrem Elemente als gehörten ſie zu ihm
[128] und wie wir die Inſecten individualiſirte Luft nennen, ſo erſcheint bei zwar
ungleich höherer Selbſtändigkeit des Lebens das Reich der Fiſche und Vögel
nur wie eine allgemeine Belebung des Waſſers und der Luft. Dieß gilt
allerdings ungleich mehr von jenen als von dieſen. Iſt doch das Element,
außer welchem die Fiſche gar nicht leben können, zwar durchſichtig, doch
eine ſchwerere Maſſe, ſo daß man ſie nur ſterbend oder todt deutlich zu
Geſichte bekommt und ſich die äſthetiſche Anſchauung beinahe mit dem
unbeſtimmten Bilde des von ſeltſamen Geſtalten durchwimmelten Elements
begnügen muß. Der Vogel dagegen tritt in dem feinen Medium der Luft
deutlich vor uns; die größeren und bedeutenderen Arten, die Raubvögel
namentlich, ſind auch von ſo charaktervoller Geſtalt, daß Ein Thier allein für
ſich ſchon ein nicht zu verachtender äſthetiſcher Stoff iſt. Doch ſind der kleinen
Arten mehr und das Element wiegt ſie alle. Das Landthier dagegen gehört
nicht ſo dem Boden, an den es gewieſen iſt. Es liegt, ſteht, geht auf
ihm; liegt es, ſo iſt er nur ſeine Stütze, zum Stehen und noch mehr zum
Gehen braucht es ſchon Muskelthätigkeit bis zur Anſtrengung und ver-
hältnißmäßig früher Ermüdung. In der Luft athmet es, aber wird nicht
von ihr getragen. Dieſe Thiere ſind alſo ungleich gelöster vom elemen-
tariſchen Leben, ſind geſpannt als feſte Einheiten gegen die feſte Grundlage
der Erde, müßen ſich durch thätigere Ueberwindung des Raums in der
Bewegung, alſo durch ſtärkeren Kampf als ſelbſtändige Monaden behaupten.
Sie können zum Theil auch ſchwimmen, aber nicht im Waſſer, ſondern auf
dem Waſſer. Das Gebären lebendiger Jungen iſt eines der weſentlichſten
Momente, worin ſich ihr freieres Daſein ausſpricht; nicht das verbreitete
Element, auch nicht die thieriſche Wärme überhaupt, ſondern der innere
Organismus reift den Keim im Mutterleibe und übergibt ihn ſchon als
ſelbſtändiges Leben der elementariſchen Außenwelt. Die niederen Thiere
verhalten ſich überhaupt zu den Elementen noch wie ein Fötus zum
Mutterleib. Dennoch ſtellen wir das Moment der Fortpflanzung nicht als
grundweſentliches, nicht als Eintheilungsprinzip auf. Die Cetaceen ſind
Säugthiere, aber ihr ganzer Habitus iſt der des Fiſchs; er iſt es, weil
das Waſſer ſchlechtweg ihr einziges Element iſt und umgekehrt. Die
Zoologie trennt ſie als Säugethiere von den Fiſchen; äſthetiſch wäre dieß
jedenfalls unthunlich, aber auch die Naturwiſſenſchaft geräth durch dieſe
Trennung in einen Widerſpruch zwiſchen der Motivirung der Einreihung
durch ein vereinzeltes Moment und zwiſchen jenem Geſammt-Habitus und
würde ſie vielleicht zweckmäßiger bei den Fiſchen behalten als einen Verſuch
der Natur, in dieſem urſprünglichſten Wirbelthier auch ſchon die höchſte
Klaſſe vorzubilden.
Daß ſich nun in den unteren Klaſſen der Wirbelthiere die Stufen
der wirbelloſen wiederholen, hat in neuerer Zeit namentlich Oken aus-
[129] geſprochen. „Die Aehnlichkeit der Fiſche mit den Polypen oder Quallen,
überhaupt mit der Geſtalt und Conſiſtenz des Darmkanals, iſt nicht zu
verkennen in ihrer ſchleimigen Haut, in ihrem meiſt ovalen Leibe, an
welchem Kopf, Rumpf und Schwanz gleichförmig ineinander verfloßen ſind
und in welchem der Bauch auffallend vorherrſcht; ebenſowenig in ihren
Floßen und in den vielen Bartfaſern, die oft um den Mund ſtehen.“
(Allg. Naturg. B. 4, S. 581). Hier iſt nur die Hauptſache nicht aus-
geſprochen, daß nämlich beide ſchlechtweg Waſſerthiere ſind. Von den
Amphibien ſogleich. „Die Aehnlichkeit der Vögel mit den Inſecten iſt
ſchon ſeit den älteſten Zeiten aufgefallen und bedarf kaum bemerkt zu werden.“
§. 298.
Zwiſchen dieſe Hauptgegenſätze ſind Uebergänge geſtellt. Die Natur thut
einen Schritt, das Waſſerthier an das Land zu ſetzen, und erzeugt das Weichthier
und Wurmähnliche Amphibium; ſie gibt ihn wie einen unglücklichen wieder
auf und ſchickt den Vogel in die Luft, um hierauf erſt im Säugthiere des
Landes jene Abſicht wahrhaft zu verwirklichen. Dieſes weist aber ſelbſt wieder
Geſtalten auf, welche theils dem Fiſch und Amphibium, theils dem Vogel
ähnlich ſind. Alle dieſe Uebergänge offenbaren auf höchſt merkwürdige Weiſe
die innere Einheit der ganzen Thierwelt, für den Standpunkt des Schönen aber
ſind ſie, weil ſie Momente niedrigerer Stufen mit dem Typus der eigenen zu
einem Widerſpruche verwickeln, durchgängig häßlich.
„Zwiſchen den Amphibien und den Schnecken beſteht eine gleiche
Aehnlichkeit ſowohl in den mannigfaltigen Geſtalten des Leibes als in
den harten ſchaalen- und ſchildartigen Bedeckungen, in ihrer kriechenden
Bewegung und in ihrem ganzen Betragen“ (Oken a. a. O.). Faßt man
mit den Schnecken (Mollusken) die Würmer zuſammen, ſo fällt die Aehn-
lichkeit noch mehr an den Schlangen auf. Die Säugthiere des Landes
ſtehen nach dem vorh. §. allein und ſich ſelbſt gleich; dadurch ſind
Analogieen mit wirbelloſen Thieren ausgeſchloſſen, aber nicht ebenſo mit
niedrigeren Klaſſen der Wirbelthiere, wie ſolche ebenfalls Oken aufſucht.
Wir werden die weſentlichſten dieſer zurückgreifenden Analogieen nur
nennen dürfen, um ihre Häßlichkeit vor die Erinnerung zu führen.
§. 299.
Auf der niedrigſten Stufe der Wirbelthiere, in dem Fiſche, beginnt die
Natur ihre Bildung wieder mit der einfachſten Form, indem ſie den geſpaltenen
Leib des Inſects zu der einſchnittloſen Einheit eines Ovals zuſammenzieht, in
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 9
[130]welchem nicht nur Kopf, Bruſt und Rumpf ununterbrochen ineinanderfließen,
ſondern ſelbſt die Glieder, als Floßen nur zum Rudern, nicht zum Greifen oder
Anderem beſtimmt, ohne ſelbſtändigere Abhebung an das Ganze gelegt ſind.
Der Kopf, horizontal vorgeſtreckt, ſpricht durch das ſchnappende Maul Gefräßigkeit
als Haupteigenſchaft aus, im klotzenden Auge wohnt Dummheit, der Mangel
an Concentration der Empfindung überhaupt verräth ſich in der Stummheit.
Durch dieſe Eigenſchaften wäre der Fiſch wildfremd und unſchön, wenn nicht
ſein auſtrengungsloſes Schweben im behaglich tragenden Elemente Wohligkeit
ausdrückte, ſeine Bewegungen, ſeine raſchen Windungen ſchöne Linien dar-
ſtellten, ſeine Schuppen durch Glanz und Farbe prangten.
Zu dieſer allgemeinen Charakteriſtik des Fiſches iſt wenig zu fügen.
Das Auge wäre durch ſeinen Silber- und Goldglanz ſchön, aber es hat
keine Lider und „muß daher wider Willen ſehen“ (Oken); dieß gibt dem
Fiſch ſeinen klotzenden Ausdruck und iſt ein Hauptgrund, warum kein
höheres Thier bei ſo großer Unähnlichkeit mit dem Menſchen ihm ſo
verzerrt ähnlich vorkommt: es erinnert nämlich durchaus im erſten Anblick
an einen Menſchen, der in ſtumpfer, ſtierer Verwunderung die Augen
aufreißt. Dieß Auge iſt es namentlich, das die Dummheit des Fiſches
ausſpricht. Es fehlt ihm nicht an einiger Liſt, allein ſeine Seele iſt doch
ſo ungetheilt und gedrückt, wie ſein Leib. Alle jungen Thiere ſpielen,
kein Fiſch; nur hin und wieder meint man an den raſchen Schüſſen der
Forelle und anderer kleiner Fiſche etwas Scherz und Muthwillen zu bemerken.
Die weiteren Urſachen der Unſchönheit ſpricht der §. aus. Unter die
Momente, welche mit dieſer verſöhnen, könnte unter gewiſſen Bedingungen
auch die Geſtalt abgeſehen von der Bewegung aufgenommen werden.
Sobald man ſie an die der anderen höheren Thiere oder gar die menſch-
liche hält, ſo hat man ein Gefühl, als ſollte man ſich mit abgehauenen
Armen und Füßen bewegen; ſobald man ſie aber mit dem Inſect ver-
gleicht, ſo erſcheint ſie wohlthuend ſatt, ganz, voll, zeigt hübſch geſchwungene
Linien und verläuft ſich nach hinten in die angenehm gezeichnete Gabel der
Schwanzfloßen. Der §. konnte ſich dabei nur nicht aufhalten, weil er zu dem
wichtigeren fortzueilen hatte, wo er dann an eine bekannte Stelle in Göthes
Fiſcher erinnert, dann die ſchönen Wellenformen der Bewegung, endlich die
Farbe hervorhebt. Die Schuppen, dachziegelartig ineinander geſchoben, ſind
an ſich eine zwar noch mineral- oder vegetabilienartige, doch ſolide, wohl-
gefügte allgemeine Bekleidung. Sie haben Perlmutterglanz, was an die
Verwandtſchaft mit den Schaalthieren erinnert (Göthe Farbenl. §. 644).
Neben Grau und Weiß kommen alle Farben in Streifen, Flecken, Tupfen in
voller Pracht, feurigem Metallglanz, den feinſten Tönen und Schattirungen
vor und werden durch die Reflexe des durchſichtigen Elements noch erhöht.
[131]
§. 300.
Die unentwickeltſte Bildung zeigt der Wurm- Scheiben- Kugelförmige1
Knorpelſiſch, deſſen Häßlichkeit bald komiſch, bald höchſt furchtbar wird. Von2
der klumpigten Form geht dieſer Thiertypus wieder zu Formen von großen-
theils Schlangen- und Spindelförmiger Länge über in den Fiſchen, die den regel-
mäßigen oder Grätenfiſchen näher ſtehen. Wenn dieſe im Allgemeinen das3
ſchönere Oval einhalten, durch Schuppen und ſeitlich geſtellte Augen klarere
Geſtalt zeigen, ſo treten doch auch hier wieder die Extreme einer der Scheiben-
form genäherten Dicke und wa [...]zenartiger Länge hervor.
1. Einige Eintheilung durfte nicht umgangen werden, ſonſt käme
z. B. jenes ſeltſame Larvenreich, das Schillers Taucher mit Grauſen
ſchildert, nicht zur Sprache. Es ſind hauptſächlich die Knorpelfiſche, welche
wie Zerrbilder der verſchiedenſten thieriſchen und menſchlichen Figuren und
Profile dieſe Welt der Häßlichkeit darſtellen. Zu den wurmförmigen
gehört der langgeſtreckte, entſetzliche Hai, der in einigen Gattungen durch
eine naſenförmige Emporragung ein ſtulpnaſiges Menſchenprofil phantaſtiſch
nachzuahmen ſcheint, in einer andern die furchtbare Säge vorſtreckt, in
einer dritten durch die Hammerform des Kopfes aller organiſchen Geſtalt
zu ſpotten ſcheint. Als breite Scheibe dehnt ſich der ſcheußliche Roche aus,
bald ſchleimig und glatt als Zitter-Rochen, der elektriſche Schläge aus-
theilt, bald mit Nägeln beſetzt, mit einem Stachel bewaffnet, mit Hörnern
verſehen, wie der ungeheure Rieſen- oder Hornroche. Die Scheibe wird
zum dicken, Keulen- und Kugelförmigen Klumpen in den Weitmäulern
oder Dickköpfen (nach Okens Eintheilung), wie dem Froſchfiſch, Kröten-
fiſch, Sternſeher. Dieß ſind die eigentlichen Klotzer und erſcheinen mit
der vorgeſchobenen Unterkinnlade, den auf den Scheitel geſtellten Augen
wie die ſcheußlichſte Menſchen-Caricatur. Die ſeltſame Bildung iſt
wieder mit Schienen, Tafeln, Stacheln beſetzt im Hornfiſch, Klumpfiſch,
Igelfiſch u. ſ. w.
2. Die Fiſche, welche Oken unter dem Namen Stummelfloßer als
zweite, der regelmäßigen Form nähere Ordnung der unregelmäßig
geſtalteten Fiſche aufführt, meiſt nackt, theilweiſe gepanzert: hieher gehören
nun vorzüglich die Aale, durch ihre Form unheimlich wie die Schlange,
der Zitter-Aal auch durch ſeine elektriſchen Schläge. Um ihres ſchleimigen,
nackten oder nur mit dünnen Schuppen bedeckten Leibs willen ſtellt Oken
mit ihnen die bald walzenförmigen, bald kegel- und tafelförmigen Quappen
(Schleimfiſche, Schildfiſche, Schollen mit der ſeltſamen Stellung beider
Augen auf Einer Seite, und and.) zuſammen, und läßt dann die meiſt
keulenförmigen Grundeln, theils ebenfalls nackt, theils gepanzert, lang-
9*
[132]ſtrahlich befloßt, beſtachelt, folgen, zu denen er die immer noch höchſt
ſeltſamen Geſtalten der zum Theil flugfähigen Knurrhähne, des Gabel-
fiſchs, Meerweihs, Drachenkopfs, Wannenfiſchs u. ſ. w. ſtellt.
3. Die regelmäßigen Fiſche, nach dem inneren Bau durchgängig
Grätenfiſche, mit trockenen Schuppen bedeckt, die Augen ſeitlich geſtellt,
halten zwar im Allgemeinen die Ovalform ein, gehen aber doch wieder
in die Extreme der ſcheibenförmigen Verkürzung und der walzenförmigen
Streckung auseinander. Man darf nur den breiten Karpfen und den
langhinſchießenden, räuberiſchen Hecht aneinanderhalten, um den großen
Unterſchied des Bildes ſich zu vergegenwärtigen. Jene breite Form erſcheint
aber bis zur komiſchen Scheibe mit plumpem Philiſtergeſicht ausgedehnt
im Spiegelfiſch, Sonnenfiſch u. dgl., die lange und ſpitze drohend im
Schwertfiſch, im Knochenhecht und in dem noch ſpitzer und furchtbarer
geſchnabelten Horn-hecht (esox belone).
§. 301.
Wie um zu zeigen, daß das Waſſer das Ur-Element aller Formen der
organiſchen Welt iſt, belebt die Natur dieſes Reich noch mit einem Thiere,
das bei völliger Fiſchgeſtalt und in den meiſten ſeiner Gattungen formlos
ungeheurer Größe dennoch warmblütig iſt, aus beweglichen Augen mit
Lidern blickt, ſeine Jungen ſäugt und zärtlich liebt: dem Geſchlecht der Wale,
in welchem ſich beſonders der Delphin auszeichnet.
Es iſt ſchon geſagt, daß wir die Cetaceen um ihres allgemeinen
Habitus willen bei den Fiſchen laſſen müſſen. Niemand würde dieſen
nackten, auf den erſten Anblick nur furchtbaren Ungeheuern, dem keulen-
förmigen Walfiſche, dem ſpießbewaffneten Narwal die humanen Eigen-
ſchaften zutrauen, welche die genauere Kenntniß ihrer bedeutenden Organi-
ſation zu erklären weiß; ein Widerſpruch für die Anſchauung, der ſich bei
weiterer Beobachtung ihres Thuns in eine wohlthätige Komik auflöst.
Dieſer Widerſpruch verſchwindet aber in dem liebenswürdigen Delphin,
dem ſogar bereits einige Stimme gegeben iſt. Sein ſchlanker Bau endet
noch vornen in den Kopf, deſſen kugelförmig gewölbte Stirn und ſchnabel-
artig hervorgeſchwungenen Mund die alten Bildhauer nur wenig zu
ſtyliſiren brauchten, um ihn zu ſchöner Form zu erhöhen. Er iſt nicht nur
das ſchnellſte Thier und folgt dem beflügelten Dampfſchiffe, ſchwimmt
unter ihm durch, ſpringt in die Höhe, ſondern ſeine Bewegung iſt auch
der ſchönſte und kräftigſte Bogenſchuß, den man ſehen kann. Er macht den
Hanswurſt um die Schiffe, zeigt eitel ſeine Künſte vor den Zuſchauern;
die Griechen erzählen noch heute der Delphin komme heraus, wenn man
[133] ihm pfeife, und Liebe zur Muſik wird ihm ſelbſt von Naturforſchern noch
nachgerühmt. Auch die Arionſage lebt noch; man glaubt, daß er Schiff-
brüchige rette, nur ſolche nicht, die Delphinfleiſch gegeſſen. Anhänglichkeit
an den Menſchen, die er außer der bekannten Anhänglichkeit und Sympathie
im Unglück für ſeines Gleichen zeigt, iſt die höchſte thieriſche Eigenſchaft;
es iſt der beruhigendſte, erheiterndſte Eindruck, nach einem Sturme bei
noch empörtem Meere dieſe edlen Thiere um das Schiff ſcherzen zu ſehen,
im wilden Elemente ſelbſt das wunderbar befreundete Thier zu erblicken. —
Die Natur geht aber noch ganz andere Wege, um den Werth der inneren
Organiſation und des Thuns mit der äußeren Form in Einklang zu bringen.
§. 302.
Unter den Amphibien tritt auf der unterſten Stufe die unheimliche1
Schlange auf. Ausgebildeter erſcheinen durch kurze Bewegungsorgane der2
widerliche Molch, die theils zierliche, theils furchtbar häßliche Eidechſe. In3
dem verkürzten, ſchwanzloſen Leibe der Kröte und noch mehr des weniger miß-
farbigen Froſches, deſſen längere Hinterfüße zugleich zum Sprunge dienen, deſſen
Stimme ein beſeelteres Weſen verräth, wird die Häßlichkeit des Amphibiums komiſch.
1. Alle Völker haben in der Schlange etwas Unheimliches geſehen,
jedes Gefühl ſträubt ſich vor ihr und der Gedanke an eine trügeriſche
dunkle Macht liegt durchaus nahe. Zunächſt muß der Grund davon in
dem Widerſpruch liegen, der zwiſchen der unläugbaren Schönheit der
Bewegungen, Farben und zwiſchen der zerſtörenden Kraft der Muskel,
Zähne, insbeſondere der Giftzähne beſteht. Allein dieß iſt nicht Alles;
man würde die Schlangen vielleicht ſelbſt dann für giftig halten, wenn
man es auch nicht aus Erfahrung wüßte. Die Linien der Bewegung ſind
zwar ſchön, aber nur in ganz abſtractem Sinne; als Bewegungsweiſe
eines verhältnißmäßig ſchon bedeutend organiſirten Landthiers iſt dieſes
ſich Schieben durch Spiralbewegungen der Muskel an ſich ſchon äußerſt
unheimlich: ein Mißverhältniß, ein Gehen ohne Gang, ein Nahen ohne
Füße, geiſterhaft. Erſt durch die Geräuſchloſigkeit und ſcheinbare Mittel-
loſigkeit der Annäherung wird der gefährliche Anfall doppelt fürchterlich.
Die Farbenpracht erhöht den Eindruck der Falſchheit. Neben dem Biß iſt
das Zuſammenſchnüren des Opfers qualvoll beängſtigend; man denke an
den Laokoon.
2. Ein langer, geſchwänzter Körper wird auf kurzen Füßen wie ein
Block fortgeſchoben; zu dieſer häßlichen Form und Bewegung kommt bei
dem Molche die Trägheit, die nackte, klebrige, mißfarbige Haut. Dagegen
mag die raſche Lazerte manchem individuellen Gefühle zwar ebenfalls
[134] widerlich ſein; aber dieß verhält ſich wohl wie mit den Mäuſen, welche
doch ſehr niedliche Thiere ſind. Ihr Körper iſt zwar aus dem im §.
genannten Grunde allerdings eine Mißgeſtalt, aber die Haut iſt trocken,
theilweiſe geſchuppt, ſchön grün, das Umherlauſchen des Köpfchens niedlich,
die Bewegung ſchlank, neckiſch gewandt. Im Krokodil dagegen fällt die-
ſelbe Geſtalt in ihrer Häßlichkeit ſchon deßwegen mehr auf, weil ſie groß
iſt, dann, weil die Schönheit der Bewegung durch die ſchwerfällige, zu
Wendungen unfähige Härte aufgehoben iſt, ferner durch den furchtbaren
und mißfarbigen Panzer und endlich durch den ſchrecklich bewaffneten,
überwiegend großen Rachen. Ein Krokodil kann nur durch ſeine Furcht-
barkeit, in welche ſich ſeine Häßlichkeit aufhebt, ein äſthetiſcher Stoff ſein.
3. Die Kröten ſind freilich faſt zu häßlich, um komiſch zu werden.
Ihre warzige Haut iſt mißfarbig; in der Schildkröte iſt die Verwandtſchaft
der meiſt bepanzerten Amphibien mit den Schalthieren am beſtimmteſten
ausgeſprochen. Scheußlich iſt die Pipa oder Wabenkröte durch den Anblick
ihrer Haut, worin ſich aus den Eiern die Jungen entwickeln und ihre
Glieder herausſtrecken. Die Hinterbeine ſind nicht zum komiſchen Sprunge
verlängert, wie bei dem Froſche; ſie können am Lande nur ungeſchickt
ſchleichen und fortkrabbeln. Sie haben zwar Stimme, ſelbſt die Schildkröte
läßt bei der Begattung einen Ton hören, aber kräftiger und luſtiger quackt
der Froſch. Nur das ſchöne Auge hat die Kröte mit dieſem gemein. Daß
nun aber insbeſondere der ſchön grüne Laubfroſch ein komiſch charakter-
volles Thierchen ſei, iſt nicht zu läugnen. Das Häßliche, was durchaus
allen Amphibien eigen und auch hier keineswegs überwunden iſt, ſondern
in der nackten Haut, in der platſchigen Geſtalt mit ihren Bewegungs-
organen, welche gerade deßwegen zum Gehen ungeſchickt ſind, weil ſie
auch zum Schwimmen dienen, ſich aufdrängt, wird durch die auffallende
Aehnlichkeit des Geſichts mit manchen Menſchengeſichtern, durch die Energie
der Stimme, die ſich in ihrer gequetſchten Häßlichkeit ſo wohl zu gefallen
ſcheint, und durch den luſtigen Sprung vollkommener, als irgendwo in
dieſer Klaſſe von Thieren, in das Komiſche aufgehoben.
§. 303.
Der wahre Fortſchritt vom Fiſch zum höheren Wirbelthier iſt das Luſt-
thier, der Vogel. Der Rumpf behält, jedoch mit vorgewölbter Bruſt, die
ovale Form, der Kopf aber trennt ſich von ihm durch einen langen und ſehr
beweglichen Hals, an welchem er jedoch fiſchartig mit ſeitlich geſtellten Augen
und dem zum Schnabel verlängerten Maule ſich vorwärts ſtreckt. Die Floßen
ſind zu zwei Flügeln und zwei Füßen geworden; jene legen ſich, wenn ſie nicht
zum Fluge gebraucht werden, floßenartig an den Leib, dieſe ſtehen tragend ab
[135] und ſchließen in greifende Zehen. Die Schuppen haben ſich zu Federn auf-
gefaſert und glänzen in herrlichen Farben. Der Gang iſt unvollkommen, frei
und ſchön der Flug. Das kalte Blut iſt heiß geworden und die träge und
zähe Natur der Fiſche und Amphibien hat einer zwar inſectenartig noch in
Bautrieb thätigen und koſmiſch ſehr abhängigen, aber auch äußerſt lebhaften,
leidenſchaftlichen, die Jungen zärtlich liebenden, des Anſchluſſes an den Menſchen
fähigen und ſelbſt vielfach menſchenähnlichen, zu Charaktertypen und einiger
Individualität ausgeprägten Thierſeele Platz gemacht, die ſich geſchwätzig und
melodiſch in der klangreichen Stimme verräth.
Der Vogel hat noch ſo Manches vom Fiſche, daß man ihn einen
Fiſch der Luft nennen könnte. Unter dieſe Aehnlichkeit gehört neben der
anſtrengungsloſen Bewegung im Elemente, dieſem Getragenſein, der
ovalen Form des vorherrſchenden Rumpfes bei kleinem Kopfe, namentlich
das ſeitlich geſtellte Auge. Es geht aber daraus bei der beweglichen
Natur dieſes Thiers gerade ein beſonders naiver, dummlich anmuthiger
Zug hervor: das Hindrehen des Kopfes, das neugierige Hinlauſchen nach
der Seite. Nur bei der Eule iſt dieß anders, die namentlich durch die
vorwärtsſtehenden Augen ſo menſchenähnlich iſt. Das Maul hat ſich in
den hornenen Schnabel verlängert und die horizontale Streckung nach
Fraß erſcheint allerdings noch als Hauptcharakter; auf Picken geht die
ganze Geſtalt hinaus. Was die Füße betrifft, ſo kommt es ſehr darauf
an, wie ſie geſtellt ſind: ob der Leib mehr aufrecht auf ihnen ruht, wie
bei den Raubvögeln, oder mehr vorhängt, wie bei den Schwimmvögeln;
doch mag ein Vogel ſtolz ſchreiten oder watſcheln, ſein Gang iſt immer
ungeſchickt, der Leib wird dabei immer wie ein unbequemer, zu großer Frack
herüber und hinübergeſchwenkt: zwei Füße ſind ihm zu wenig. Beſonders
komiſch iſt das Hüpfen, z. B. bei Elſtern. Doch iſt es gerade der Fuß,
der weſentlich den Fortſchritt des Vogels über den Fiſch, ſeinen ganzen
höheren Bau bedingt. Der Vogel iſt zwar hauptſächlich auf den Flug
organiſirt und dadurch Element-Thier, aber er kann doch auch gehen,
ſtehen, ſitzen und trägt daher den feſten Gegenſatz gegen die Erde, der
überall die Bedingung freierer Exiſtenz iſt (vergl. §. 297), in ſich.
Schöner iſt aber allerdings nur ſeine eigentliche Bewegungsweiſe, der
Flug, in ſehr verſchiedenen Abſtufungen und Arten freilich, bald ein
Flattern wie bei den meiſten kleinen Vögeln, bald ein gleichförmiges
Rudern wie bei Raben, Reihern, bald ein geradlinigter energiſcher Kern-
Schuß voll Lebensluſt wie bei den Schwalben, bald eine Reihe abwech-
ſelnder Bogenſchüſſe wie bei den Spechten, am herrlichſten aber das ruhig
ausgeſpannte Schweben, das majeſtätiſche Kreiſen des Adlers in hohen
Lüften, dieſe bewegungslos ſtolze Bewegung, als hätte der Luftgeiſt ſelbſt
[136] ſich verkörpert und wiegte ſich in ſeinem freien Elemente. Eigenthümlich iſt,
daß die Vögel jederzeit dämoniſch erſchienen, wie die Schlangen, zukunftver-
kündend oder überhaupt geiſterhaft. Dieß ſcheint tief begründet; jedenfalls
wirkt der Flug theils als geheimnißvolle Bewegung überhaupt, wie beſon-
ders der ſehr geräuſchloſe nächtliche der Eulen, theils als überraſchendes
Auffliegen, Herfliegen u. ſ. w. zu dieſer Auffaſſung mit, dann der Aus-
druck der Stimme in Verbindung mit ihm. Die ſtets unruhige Seele
des heißblütigen Vogels ſpricht ſich aber in allen ſeinen übrigen Bewegungen
aus; er iſt immer unruhig, das iſt ein ewiges Nicken, Schwanz auf-
und nieder-Strecken, Herumlauſchen, Bücken, Aufrichten, Federn Auf-
pruſten und glatt Niederlegen, Plaudern, Zanken und Lieben. In dieſer
Leidenſchaftlichkeit beſonders zeigt ſich die Verwandtſchaft mit den Inſecten,
den niederen Luftthieren; nur daß ſie bei dem Vogel natürlich eine tiefere
Reſonanz hat und ſogar mit einer Selbſtgefälligkeit, Koketterie verbunden
erſcheint, deren das Inſect natürlich nicht fähig iſt. Auch durch den
techniſchen Trieb iſt der Vogel dem Inſect analog, durch den Bau des
Neſtes, eine Fertigkeit, die aber, wie ſchon geſagt, nicht zu hoch anzu-
ſchlagen iſt, denn nur das dem Elemente ſtrenger verſchriebene Thier baut
Häuſer; dahin gehört auch die ſtarke koſmiſche Abhängigkeit, Vorgefühl
der Tageszeit, des Wetters, der Jahreszeit, Zug und Strich; die Geſelligkeit
äußert ſich namentlich in den gemeinſchaftlichen Zügen nach Nahrung und
andern Himmelsſtrichen und dabei ſind die politiſchen Triebe merkwürdig.
Der Vogel iſt wie das Inſect mehr in Schaaren als einzeln ein äſthetiſcher
Gegenſtand. — Neben der Liebe zu den Jungen, welche ſchon ungleich höher
ſteht, muß noch die bei den meiſten Vogelgattungen herrſchende zeitweilige
Ehe als höherer Zug erwähnt werden. Die Anhänglichkeit an den
Menſchen als höchſter Zug hat freilich enge Grenzen, aber es iſt von
weſentlicher Bedeutung, daß in dieſer Thierwelt die erſten Hausthiere
vorkommen. Was die Charaktere betrifft, ſo darf nur an die Thierſage
und Fabel erinnert werden, um zu zeigen, wie gut der Stoff iſt; Rabe,
Hahn, Pfau, Storch, Sperling und ſo manche andere Vögel ſind ent-
ſchiedene Charakter-Maſken. Vom Gattungstypus iſt aber die Individualität
zu unterſcheiden, die hier noch ausgeprägter, als bei vielen Säugethieren,
hervortritt; ein Vogel derſelben Gattung iſt in Temperament und Anlage
vom andern höchſt verſchieden. Gerade nun, weil die Vögel im höchſten
Grade Temperamentsthiere ſind, ſo iſt von ihnen wenig Intelligenz zu
erwarten: wie ſie nur bis auf einen Grad Hausthiere werden, ſo lernen
ſie auch nur mechaniſch Einiges ein; Liſt fehlt nicht, aber Verſtehen freier
menſchlicher Winke, vermittelterer außer ihrer Sphäre liegender Dinge
faſt ganz; die Vögel ſind dumm. Von der Stimme des Vogels war
bereits in §. 290 die Rede.
[137]
§. 304.
Die erſte große Gruppe der Vögel umfaßt diejenigen, welche weſentlich1
zum Fluge gebaut ſind und in welchen daher das eigentlich Vogelartige ſich
darſtellt. In ihr tritt der Gegenſatz des zahmen und des Raubthiers in ſeiner2
ganzen Beſtimmtheit auf. Sie begreift zunächſt die große Maſſe der kleineren
Vögel, durch Geſang oder Farbe ausgezeichnet, die meiſten zierlich von Geſtalt,
höchſt rührig und lebhaft von Bewegung. Dagegen ſind die Raubvögel eintönig3
an Stimme, ſchmuckloſer an Farbe, mächtig und aufrecht von Geſtalt, hell von
Augen, drohend durch Waffen, majeſtätiſch im Flug, charaktervoll im Ausdruck,
ernſt, ſtill und grauſam von Temperament.
1. Die Eintheilung der Vögel, die hier in Kürze verſucht wird,
führt auf einen intereſſanten Punkt, der vielleicht auf die ſchwierige Frage
über die Durchführung einer Stufenfolge in der Natur einiges Licht ver-
breiten könnte. Wir werden nämlich auf die eigentlichen Luftvögel die
Schwimm- und Sumpf-Vögel, dann die Landvögel, d. h. die faſt allein
zum Gehen beſtimmten folgen laſſen. Betrachtet man nun den Vogel an
ſich, ſo iſt ſein Typus natürlich in den weſentlich zum Fluge beſtimmten
oder Luftvögeln am reinſten ausgebildet, daher dieſe am höchſten ſtehen
müßten, wie ſie denn gewiß die ſchönſten Vögel ſind. Allein es bilden
ſich in den weniger ſchönen, meiſt unbehülflichen Waſſer- und Land-Vögeln
Eigenſchaften aus, wodurch dieſelben dem Säugethiere näher treten, theils
pſychiſche, theils organiſche; ſo daß, wenn man den Zuſammenhang des
Thierreichs im Großen in’s Auge faßt, dieſe höher ſtehen, obwohl ſie an
Geſtalt weniger edel ſind. Je mehr der Vogel aus der Luft herabkommt
und ſich an das Feſte hält, deſto bedeutender iſt ſeine Organiſation.
Daraus erhellt, daß die Natur, indem ſie ein Stufenſyſtem baut, keines-
wegs nach allen Seiten die höhere Stufe über die niedrigere ſtellt.
Während ſie auf einer Seite fortſchreitet, läßt ſie auf der andern wieder
fallen und erſt in weiteren Knotenpunkten vereinigt ſie das im Fortſchritt
Gewonnene wieder mit dem früher Verlorenen. Der Strauß iſt ein
ungeſchickter Vogel, weil er ſich in Vielem vom Vogel entfernt und doch
noch kein Säugthier iſt; iſt aber einmal das Säugthier da, ſo tritt
wieder die Ganzheit und Zuſammengehörigkeit der Geſtalt ein, welche
in ſeiner Art der Luftvogel hat. Die Natur geht alſo zwar an den
Hauptpunkten ihres Syſtems aufwärts, zwiſchen dem Aufwärts aber
beziehungsweiſe auch wieder abwärts. Dieſer Satz ſagt noch etwas
Anderes aus, als der oft angeführte in §. 18, 1. Der letztere ſpricht von
niedrigeren Stufen des höheren Gebiets, nun aber iſt von Zwiſchenſtufen
die Rede, welche nach den ſchon erſtiegenen höheren eines Gebiets wieder
[138] abwärts zu führen ſcheinen. Allein das Verhältniß bleibt natürlich daſſelbe,
die Aeſthetik kann auch hier ſo gut als die Naturwiſſenſchaft ihre Gründe
haben, das ſcheinbar wieder Niedrige dennoch höher zu ſetzen. So könnte es
zunächſt ſcheinen, als müßten wir vom äſthetiſchen Standpunkte die Luft-
vögel als die ſchönſten zu oberſt, alſo zuletzt ſtellen; allein die Eigenſchaften,
wodurch die Waſſer und Landvögel bei beziehungsweiſem Verluſte an Schön-
heit dennoch höher ſtehen, ſind ebenfalls äſthetiſche, wie? wird ſich zeigen.
2. Die ganze erſte Gruppe ſtellt auch Oken niedriger, hauptſächlich
weil ſie nackt und blind aus dem Ei kommen und lange Zeit geätzt werden
müſſen, daher er ſie Neſthocker nennt. So anziehend es nun wäre, hier
die kleinere Vogelwelt näher zu betrachten, ſo muß doch der Kürze wegen
bei ihren allgemeinſten Eigenſchaften verweilt, ja es kann im Grunde nur
ihre allgemeine Bedeutung als Zierde der Luft in’s Auge gefaßt werden.
Was den Geſang betrifft, ſo hätten wir uns nun auf ſeine verſchiedenen
Arten einzulaſſen, müſſen aber aus demſelben Grunde auf die niedlichen
Unterſuchungen in Bechſteins Schrift über die Stubenvögel verweiſen. Die
Farbenpracht iſt am höchſten bei den Vögeln der heißen Zone, entſprechend
der Pflanzenwelt derſelben (vergl. §. 278); die Federn ſind überhaupt
pflanzenartig. Keine Schönheit der Farbe und des Glanzes iſt bei den
Vögeln geſpart; jede Farbe erſcheint ſowohl in ihrer einfachen Kraft, in
jeder ihrer Abſtufungen und Uebergänge, als auch jede in den verſchie-
denſten Uebergängen zu den andern, in jeder Art der Zeichnung: Punkten,
Augen, Ringen, Flecken, Bändern, Streifen u. ſ. w., der Glanz als
Perlmutterglanz, Seidenglanz, Metallglanz, Schillerglanz u. ſ. w. Die
zierliche Geſtalt iſt in beſtändiger Bewegung und die Naivetät derſelben
wird bei manchen durch ein Häubchen, einen Schopf, einen ſtets compli-
mentirenden Schweif erhöht. Am meiſten tritt der unruhige, leidenſchaft-
liche Vogelcharakter, der ſich überhaupt in dieſer Klaſſe am beſtimmteſten
ausſpricht, bei dem kleinſten Vogel, dem Kolibri, hervor. Beſtimmtere
Charaktere prägen ſich aber erſt bei den etwas größeren Gattungen aus,
bald in unheimlicher, bald in heimlicher, in beiden Fällen auch wieder in
komiſcher Weiſe: unter den Klettervögeln der ewig hämmernde, fleißige
Holzhauer Specht, im Krähengeſchlechte neben dem Hanswurſt von Staar
die geſchwätzige, diebiſche Elſter, der ebenfalls diebiſche, durch ſeine Schwärze
und als Aasfreſſer als unheimlich vorgeſtellte Rabe, unter den dickſchnäb-
lichen Pflanzenfreſſern der Sperling, dieſer Bauer und Freibeuter unter
den Vögeln, die ſchönſingenden Finken und Lerchen, die Taube, die in
Anſchlußfähigkeit an den Menſchen ſchon den Hühnern ſich nähert und als
der fromme Vogel berühmt iſt, unter den Kolbenſchnäblern der Papagei,
dieſer koketteſte, affenartigſte unter allen Vögeln, mit ſeiner fleiſchigen, zur
ſinnloſen Nachahmung der Sprache, ſelbſt zur Ausſprache des R geſchickten
[139] Zunge und großen, doch immer eigenſinnigen Anſchlußfähigkeit an den
Menſchen. Den Raubvögeln am nächſten ſteht die Schwalbe, die doch
durch ihr zutrauliches Niſten an unſern Häuſern, das rührende nächtelange
Plaudern im Neſte, das Jauchzen im ſchießenden Fluge und als Frühlings-
bote uns ein ganz anderes, liebliches Bild gewährt.
3. Die Raubvögel ſind, wenn man den Vogel als ſolchen im Auge
behält (vergl. Anm. 1), nach Geſtalt und Flug gewiß die ſchönſten Vögel,
in der näheren Beſtimmtheit des Erhabenen, Furchtbaren. Dieſe gegen-
ſätzliche Form tritt in den Wirbelthieren mehr und mehr durch einen aus-
geſprochenen Contraſt des Raubthiers und des zahmen Thiers hervor;
es gibt Raubfiſche, Raub-Amphibien (die großen Schlangen, die auf
blutigen Kampf mit ſtarken Thieren angewieſen ſind, die Krokodile), aber
in der Klaſſe der Vögel zuerſt tritt das Raubthier in beſonders gebildeter
Form, eigenen Gattungen auf. Das Eigenthümliche beſteht in der Größe, dem
ganzen ſtahlharten Ausdrucke des ſchlanken Leibs auf den ſtarken, mit Hoſen
(Waff) beſetzten Füßen und Krallen, dem kühn vorſtrebenden in die drohende
Krümme des packenden, hauenden Schnabels endigenden Kopfe. Das
Auge des Raubvogels hat nicht nur den Ausdruck ungemein ſcharfen
Geſichts, ſondern zeichnet ſich auch durch die meiſt hellgraue, durchſichtige
Farbe, durch dieſe reine, kalte Friſche aus. Die Farbenpracht verſchmäht
er, ſein ſchattirtes Grau und Braun erſcheint aber gerade als organiſch
höhere Farbe; davon mehr bei den vierfüßigen Thieren. Vom Flug
war ſchon die Rede; der Charakter bedarf keiner Auseinanderſetzung. Ein
beſonders charaktervoller Vogel iſt die Eule mit dem runden Kopfe, den
großen, herrlichen, golden durchſichtigen Augen; ein Stoff, den kein
Künſtler verachten darf. Sie iſt durch dieſe Kopfform und die ſchon
erwähnte Stellung der Augen nach vornen ſehr menſchenähnlich, hat einen
Ausdruck mürriſcher Gravität, macht aber beſtändig ſeltſame Gebärden,
nickt, bückt ſich, ſcheint tanzen zu wollen und ſo geht das Unheimliche,
das ſie als Nachtraubvogel und durch ihren klagenden Ruf für das Gefühl
des Volkes hat, ſtark in das Komiſche über.
§. 305.
Eine zweite Gruppe beſteht aus Vögeln, welche weniger zum Flug, als1
zum Schwimmen gebildet ſind. Vom dicken Leibe trennt ſich der kleine Kopf
bei manchen Gattungen durch einen ſehr langen Hals, der jedoch eine ſchöne
Linie bildet. Im Waſſer ein erfreulicher Anblick werden dieſe Vögel durch
den watſchelnden Gang komiſch. Ihre ſeeliſchen Anlagen ſind bedeutender, als
es ſcheint, und die meiſten ſchließen ſich vertraulich dem Menſchen an. Zu der2
dritten Gruppe, den Landvögeln, bilden die großentheils hochbeinigen, lang-
[140] halſigen und langgeſchnäbelten, zum Fluge geſchickten, gewöhnlich aber am
3Waſſer gravitätiſch ſchreitenden Sumpfvögel den Uebergang. Dieſe ſelbſt
theilen ſich in Hühner und Laufvögel: die erſteren ganz in’s Hausthier über-
grhend, zum Theil herrlich von Farben, der Hahn von beſonders ausgeprägtem
Charakter; die letzteren nur des Ganges und ſehr ſchnellen Laufes fähig, ſehr
groß, langhalſig, komiſch durch großes Mißverhältniß des Kopfes zum Leibe,
ſehr ſtark von Füßen und namentlich dadurch den Säugthieren verwandt, dumm,
gutmüthig, zähmbar.
1. Die zweite und dritte Gruppe ſteht ſchon dadurch höher, daß
alle dieſe Vögel „Neſtflüchter“ ſind, d. h. daß ihre Jungen ſehend
und gefiedert aus dem Ei kriechen und nicht geäzt werden. Je mehr auf
das Waſſer, ſchwimmend oder darüber hinfliegend, je weniger noch zum
Sitzen, Gehen organiſirt, deſto mehr wildfremd iſt die zweite Gruppe:
ſo die Meervögel, die unſteten, vielgeſchäftigen, wimmernden Möven.
Der im §. bezeichnete Charakter tritt eigentlich erſt in den Schwimmvögeln
des ſüßen Waſſers, namentlich den Enten, Gänſen, Schwänen auf. Die
Gans gilt ſprichwörtlich für dumm, wogegen die alten Römer und Ger-
manen ſie für einen ahnenden, prophetiſchen Vogel hielten; ſie hat viel
Komiſches, namentlich durch ihr ewiges Geſchwätz, wodurch ſie ſich ſo ſehr
von ihrem ſtillen, ſtolzen Bruder, dem Schwan, unterſcheidet. Alle dieſe
Vögel gewöhnen ſich zutraulich an menſchliches Hausweſen. Dumm
ſcheinen ſie namentlich wegen ihres watſchelnden Ganges, da die Füße
weit hinten ſitzen; aber wie zierlich iſt die buntſchillernde Ente im kühlen
Teich, der ſchneeweiße Schwan mit dem Wellenhals, den herrlich auf-
getriebenen Schwingen, wenn er majeſtätiſch hinrudert! Seltſame und
komiſche Geſtalten ſind der Pelikan mit dem weiten Kehlſack, von dem die
Sage das bekannte Wunder der Mutterliebe erzählt, die fiſchartigen,
auf den kurzen Füßen aufrecht ſtehenden, die unnützen Stummel der
Flügel ohne Schwungfedern am Leib herabhängenden Pinguine und
Fettgänſe.
2. Die kurzhalſigen und kurzfüßigen Sumpfvögel (Water), Schnepfen
u. dergl. ſind uns hier zu unbedeutend, von ſehr ausgeſprochenem Cha-
rakter dagegen die ſogenannten Stelzfüßler, Ibis, Reiher, Kranich, Storch,
Marabu. Sie fliegen hoch mit zurückgeſtreckten Füßen, der Reiher legt
dabei den Hals in einer ſehr ſchönen Biegung zurück auf den Rücken;
beſonders aber charakteriſiren ſie ſich durch ihr gravitätiſches Stehen und
Schreiten am Rande der Waſſer, wobei mit jedem Schritte der Kopf
vorwärts nickt. Pietät genießt der Storch wie die Schwalbe, der zutraulich
auf menſchlichen Wohnungen niſtet. Faſt giraffenartig erſcheint durch
Höhe und Länge des Halſes der purpurrothe Flamingo, dem übrigens
[141] ſein kurzer und dicker Schnabel, ſeine Schwimmfüße den Ort zwiſchen
Schwimmvogel und Sumpfvogel anweiſen.
3. Die dem Menſchen eigentlich heimlichen Vögel ſind die Hühner, die
Hofhühner nämlich, woneben allerdings das Waſſerhuhn, das auf die vorher-
gehende Gruppe zurückweist und die nicht zähmbaren Feldhühner, das zierlich
trippelnde Rebhuhn, das ſchöne Waldhuhn (Auerhahn, Birkhahn) nicht
zu überſehen ſind. Die äußere Geſtalt erfreut bei einigen Gattungen
durch große Farbenpracht (Faſan, Pfau); übrigens kann man dieſe kurz-
füßigen, dickleibigen, klein- und nacktköpfigen, kurzſchnäbligen Vögel nicht
eben ſchön nennen. Der Hahn zeichnet ſich durch Kamm, Klunker, Trottel,
Federbuſch, Sporn, durch die reichen Schwanzfedern aus, mit denen
Truthahn und Pfauhahn auch ein Rad ſchlagen können, und während
die ewige Gefräßigkeit der Henne überhaupt widerwärtig und nur ihre
Mutterliebe rührend iſt, ſo gewährt nun der ganze, an menſchliches Haus-
weſen angeſchloſſene Harem dieſer polygamiſchen Vögel mit dem ſtolzirenden,
krähenden Sultan in der Mitte ein heiteres Bild.
Schon bei den Hühnern iſt die Flugkraft ſehr gering, die eigentlichen
Landvögel aber ſind die des Flugs unfähigen Rennvögel (zu denen den
noch näheren Uebergang die Trappen bilden): Caſuar und Strauß. Die
derben, fleiſchigen Füße, an denen die Hinterzehe verſchwunden iſt, dienen
als Waffe zum Ausſchlagen und als Bewegungsorgane zu äußerſt raſchem
Rennen, wobei die kurzen Flügel nur als Ruder dienen. Im innern
Bau wird zugleich mit dieſer Beſchränkung Vieles ſäugthierartig und
insbeſondere erinnern ſie wie auch die Hühner vielfach an die maſſigen,
reproductiven Wiederkäuer. Auch die Federn werden ſchlaff und haarartig,
ſchön ſind nur die Schwanzfedern. Die Mißgeſtalt liegt beſonders in der
Kleinheit des Kopfes, der bei dem Caſuar ein Horn trägt. Im Zorn
können ſie furchtbar werden, ſonſt ſind ſie dumm, ſanft, zähmbar, ſelt-
ſame Thiere, die durch ihre Situation am Ende einer Thierklaſſe, der
ſie kaum mehr angehören, wie verſchüchtert ſcheinen.
§. 306.
Im Landthiere werden die Flügel des Vogels zu Vorderfüßen und
legt ſich nun, nicht ohne theilweiſen Verluſt an Schönheit und zunächſt ſich
aufdringende mechaniſchere Anordnung, aber ebenſoſehr zum größten Vortheile
allgemeiner Beweglichkeit und reicherer Modellirung, der Rumpf auf zwei Paare
von Bewegungs-Organen. Der Hauptfortſchritt liegt in der vollſtändigen Ent-
wicklung der Sinne. Die Federn ſind Haare geworden und dieſe nicht mit
brennenden Elementarfarben, ſondern vielmehr mit „gemiſchten, durch organiſche
Kochung bezwungenen“ Farben geſchmückt. Der Geſang verſchwindet, die
[142] Stimme drückt nur in einzelneu Lauten das innere Leben der Thierſeele aus,
welche nun die höchſten Stufen der ihr möglichen Vollkommenheit erreicht.
Es darf nicht überſehen werden, daß im Bau des Säugethiers, der
ſchon in §. 205 als der eigentliche Thiertypus aufgeſtellt iſt, Vieles ver-
loren geht, was der Vogel an Schönheit beſitzt. Der ächte Vogel ſteht
aufrecht, die Bruſt tritt hervor. Bei dem Säugethiere ſinkt der Leib
horizontal auf die Vorderfüße herab, die Bruſt wird zwiſchen die Schulter-
blätter eingedrückt, der Kopf ſtrebt horizontal ab oder bildet in edlerer und
höherer Form mit dem Halſe einen Winkel, wo er freier vor ſich und
um ſich ſieht; immer aber iſt der Ausdruck, daß das Thier zur Erde ſehe,
gerade den höchſten Thieren, den Säugethieren, weil ſie dem Menſchen
am nächſten ſtehen und der Gegenſatz daher um ſo ſtärker auffällt, ent-
nommen. Der ganze Bau ſoll erſt wieder aufgerichtet werden. Allerdings
aber entſtehen mit dieſem theilweiſen Verluſte neue Schönheiten. Der
Körper iſt beweglicher und kann eine Menge von Stellungen annehmen,
die dem Vogel unmöglich ſind: auf die Hinterfüße ſitzen, wo denn die
Bruſt mehr hervortritt, auf den Bauch liegen, wo die Hinterbacken ſchön
heraustreten, die Vorderfüße dabei ausſtrecken oder einziehen, auf die
Seite liegen u. ſ. w. Das reichere Skelett, die vielfachen Muskeln und
Sehnen bilden die verſchiedenſten Hebungen und Senkungen, plaſtiſche
Entwicklungen, wo der Vogel nur abwechslungslos runde Oberflächen
zeigt. Auch die Rückenwirbel ſind beweglich, der kürzere Hals aber ungleich
weniger, als bei dem Vogel. Die geäſtete Feder iſt zu dem fadenartigen,
der Haut mehr angehörigen Haare geworden; „die Elementarfarben fangen
an uns ganz zu verlaſſen, Weiß und Schwarz, Gelb, Gelbroth und
Braun wechſeln auf mannigfaltige Weiſe, doch erſcheinen ſie niemals auf
eine ſolche Art, daß ſie uns an die Elementarfarben erinnerten. Sie ſind
alle vielmehr gemiſchte, durch organiſche Kochung bezwungene Farben.
Wenn bei Affen gewiſſe nackte Theile bunt, mit Elementarfarben erſcheinen,
ſo zeigt dieß die weite Entfernung eines ſolchen Geſchöpfs von der Voll-
kommenheit an: denn man kann ſagen, je edler ein Geſchöpf iſt, deſto
mehr iſt alles Stoffartige in ihm verarbeitet, je weſentlicher ſeine Ober-
fläche mit dem Innern zuſammenhängt, deſto weniger können auf derſelben
Elementarfarben erſcheinen. Denn da, wo Alles ein vollkommenes Ganzes
ausmachen ſo, kann ſich nicht hier und da etwas Spezifiſches abſondern“
(Göthe Farbenl. §. 662. 664. 666.). Ueber dieſe weichere Oberfläche
iſt eine höhere Empfindung verbreitet, die ſich in den Pfoten und im Munde,
vorzüglich wo er zum Rüßel verlängert iſt, als Taſtſinn concentrirt. Der
Hauptfortſchritt aber liegt im Kopfe. Er iſt überhaupt größer als bei
den Vögeln. Das Gehör erſcheint zuerſt jetzt als äußeres Ohr, das theils
[143] Schallfang, theils Organ des Ausdrucks der Affecte iſt. Das Auge iſt
vollſtändiger entwickelt, der Geruch zur ſelbſtändigen Naſe ausgebildet,
höherer Geſchmack wohnt in der breiteren, fleiſchigen Zunge und eigentliche
Zähne ergreifen, verarbeiten die Speiſe und drohen als Waffe. Das
freie Spiel der Stimme als Geſang verſchwindet; es iſt nur dem ſorgen-
loſen Luftthiere gegönnt, der Luft ſeine Luſt im geſetzlos modulirten Schalle
zurückzugeben, das Landthier ſpielt, wie es überhaupt körperlicher iſt und
beſtimmteres Seelenleben hat, mehr mit Bewegungen. Wie nun in dieſen
Sinnenthieren die Seele reicher und höher iſt, ſo iſt natürlich hier auch
am meiſten Individualität. Man denke nur an Hunde und Pferde, wie
verſchieden die einzelnen Thiere derſelben Race ſind.
§. 307.
Die erſte große Gruppe umfaßt die mausartigen Thiere. Hier ſcheiden1
ſich zunächſt einige Gattungen ab, welche durch Bildung und Thun entſchieden2
an niedrigere Klaſſen erinnern und daher häßlich ſind, indem mit dem Bau
des Säugethiers Beſtimmungen des Fiſch-Amphibien-Vogel-Typus wider-
ſprechender Weiſe vereinigt erſcheinen. Die ganze Gruppe aber beſteht aus3
meiſt ſehr kleinen Pfotenthieren, welche durch die ſpitzig verlängerte Schnautze,
durch Hurtigkeit, Zierlichkeit der Geſtalt und Bewegung, Vielheit der Gattungen
und Individuen der Gruppe der kleineren Vögel analog iſt und, wie dieſe ganz
Luftthiere ſind, ſo durch Wühlen und Bauen unter der Erde ihrem Elemente
im engeren Sinne verſchrieben erſcheint als alle übrigen Landthiere.
1. Wir faſſen in dieſer Gruppe zuſammen, was Cüvier in der
Ordnung der Nager und zahnloſen Thiere begriffen hat, aber wir greifen
zugleich höher hinauf und ziehen viele Thiere herein, die dieſer in die
dritte Ordnung ſetzt. Er legt die Zähne und Klauen als Eintheilungs-
merkmal in ihrer Strenge zu Grunde; allein ſo berechtigt dieſes Verfahren
iſt, da „das Aeußerſte eines Organiſchen deſſen Inneres anzeigt“ (Voigt
Zoologie §. 201), ſo darf es doch wohl nicht dahinführen, um einiger
Abweichungen willen zu trennen, was durch ſeinen Habitus und namentlich
durch ſeine Größe zuſammengehört, und einige Thiere von offenbar maus-
artigem Charakter deßwegen, weil ſie vollſtändigeres Gebiß haben, in
eine höhere Ordnung, oder z. B. den Igel, die Spitzmaus, den Maul-
wurf, weil ſie Sohlenläufer ſind, zu dem Bären zu ſtellen, wie Voigt.
Wir folgen vielmehr Oken, der ſich darauf beruft, daß die Eckzähne
und Backenzähne der Beutelthiere, Maulwürfe, Spitzmäuſe, Fledermäuſe
verkümmert und gleichförmig ſind, und ſtellen in dieſer großen Gruppe
Alles zuſammen, was er in ſeiner erſten Stufe von Säugethieren mit der
[144] Bezeichnung: untere Haarthiere oder Mäuſe, kleine Thiere mit Zahnlücken
und handartigen Vorderfüßen oder Pfoten, zuſammenfaßt.
2. Die Aeſthetik fordert, daß zuerſt die Thiere von widerſprechender
Bildung ausgeſchieden werden. Oken zählt nicht nur die Fledermäuſe
und übrigen Flatterfüßer, ſondern auch das Schnabelthier, die Ameiſen-
bären (worunter Gürtelthier, Schuppenthier), das Faulthier und die
Beutelthiere unter die Mäuſe. Die zuletzt genannten Thiere gehören
jedenfalls als zahnarme (edentata) der unterſten Ordnung an. An
Trägheit ſind die meiſten von ihnen amphibienartig. Die Zuſammenſetzung
von Fiſch, Vogel, Säugethier im Schnabelthier, die Ameiſenfreſſer mit
der langen, wurmförmigen Zunge, dann die amphibienartig gepanzerten
unter ihnen: Gürtel- und Schuppenthier, das Faulthier, deſſen Bewegung
ſchlechter iſt als gar keine, Igel und Stachelſchwein, deren Stacheln an
Federkiele erinnern, die Beutelthiere auf hohen Hinterfüßen wie Stelzvögel
gehend und die unreifen Jungen im Sack wie in einem natürlichen Neſte
fortſchleppend, die Fledermäuſe, Flatterkatzen, fliegenden Eichhörner, welche
ſo abſtoßend die Bewegung des Vogels und des vierfüßigen Thiers ver-
einigen: alle dieſe Geſchöpfe wird gewiß Jedermann häßlich finden, und
ein Künſtler niemals anders als um eines Kontraſts willen anbringen
können.
3. Die zahlreiche Welt dieſer huſchenden, wühlenden, nagenden,
kletternden Thiere erinnert durchaus an die kleinen Vögel und ſofort an die
Inſecten, und wie dieſe nur in Maſſen als Belebung des Elements
Geltung haben, ſo gehören jene in einem unfreieren Sinne ihrem Elemente
an, als die übrigen Landthiere; ſie ſind die Troglodyten der Thierwelt.
Sie ſind an bauenden Kunſttrieb gewieſen, wie jene. Berühmt als
Zimmermann und Baumeiſter iſt namentlich der Biber. Einige bauen
ſogar, in directer Aehnlichkeit mit dem Vogel, Neſter auf Bäume. An
ſich größtentheils zu klein, um als einzelne äſthetiſche Geltung zu haben, ſind
ſie im Großen, freilich wieder in weſentlichem Unterſchied vom beluſtigenden
Vogel, aber deſto mehr wieder in Analogie mit den Inſecten, Ungeziefer;
ihre Geſtalt und ihre durch die längeren Hinterfüße bedingte hüpfende
Bewegung iſt jedoch größtentheils niedlich, namentlich gerade die der
gewöhnlichen Maus. Alle dieſe Thiere haben das Eigene eines ununter-
brochenen Spielens oder Schnupperns der beweglichen Naſe. Sehr zierlich
iſt unter den etwas größeren Formen das Eichhorn, beſonders wenn es
aufrecht ſitzend frißt; drollig der Haſe mit den zum eiligen Lauf ſtark
verlängerten Springfüßen, den langen, bald aufgerichteten, bald zurück-
gelegten Löffeln, den Tanzbeluſtigungen zur Rammelzeit, der berühmten
Furchtſamkeit. Wir haben hier bereits in der unterſten Gruppe viel-
benützte Thiercharaktere.
[145]
§. 308.
Als zweite Stufe legt ſich in die Mitte dieſer Thierwelt eine Gruppe1
von Thieren, welche durch die Verfeſtigung der Pfote zum Hufe, durch meiſtens
gewaltige Größe und Genährigkeit, durch eigenthümliche mineral- und pflanzen-
artige Auswüchſe, den Charakter der Compactheit und Maſſenhaftigkeit tragen.
In der erſten Ordnung, dem Geſchlechte der mehrhuſigen, unförmlichen, klein-2
augigen, ſchweinartigen Thiere, tritt neben dem unbändigen, unorganiſchen
Maſſen gleichenden Flußpferd und Nashorn der nackte, mit Rüßel und Hau-
zahn bewaffnete, aber trotz ſeiner plumpen Größe zähmbare, ſanfte und kluge
Elephant und das kleinere, niedrige, wühlende, borſtige, gedrungene, mit unbieg-
ſamem Halſe durchfahrende Schwein auf.
1. Unter den Hufthieren finden ſich die eigentlichen Urgebirge der
Thierwelt. Es könnte beſſer ſcheinen, die Säugethiere mit ihnen zu
eröffnen, wo ſich denn zeigen ließe, wie ſie auf die Wale zurückweiſen.
Allein die höhlenbewohnende Inſectenwelt der Nagethiere muß als die
weſentlich elementariſche gewiß zuerſt ſtehen. Durch ihre Zähne und die
fühlloſen Schuhe, welche die Zehen zum Taſten und Greifen unfähig
machen, ſind die Hufthiere auf Pflanzenkoſt gewieſen und nähren ſich von
ihr reichlich, um den maſſenhaften Leib zu mäſten. Die Auswüchſe,
Hörner, Hauer, Höcker erinnern an Mineral und Pflanze.
2. Nilpferd und Nashorn ſind ſchrundig nackt mit wenig Borſten
wie der Elephant und erinnern dadurch allerdings beſonders an die Wal-
thiere; die Haut des Nashorns iſt widrig lappig und faltig. Seltſam
hebt ſich unter dieſen bergähnlichen Thteren der Elephant hervor. Daß
ſeine Geſtalt trotz der Plumpheit einzelne ſchön entwickelte Theile hat, daß
der Kopf mit der Muſchel des Ohrs und den zwar kleinen, doch ſinnigen
Augen ſehr ausdrucksvoll iſt, konnte in der Kürze des §. nicht geſagt
werden. Seine Sanftmuth, ſo lang er nicht gereizt wird, ſeine Dienſt-
willigkeit, Klugheit, die das wunderbare Organ des Rüßels zu den ver-
ſchiedenſten Zwecken gebraucht, iſt bekannt. Das eigentliche Schwein hat
etwas Fiſchähnliches durch die ſeitlich platte Form des Leibs und den ſpitzen
Rückgrat. Von äſthetiſchem Werthe iſt beſonders das Wildſchwein; man
kennt den herrlichen antiken Eber zu Florenz. Bei dem zahmen meint
man ſogleich nur an Unreinlichkeit denken zu müſſen; es hat aber weit
mehr freundliche, dem Menſchen zugewandte Eigenſchaften, weit mehr
Individualität, als man gewöhnlich weiß. Kein Thier ſcheint ſo gemein
an die Erde gedrückt, ſo ſtörrig, und doch hat das Schwein ſehr tiefe
Empfindungsfähigkeit, die es beſonders durch ſein erbärmliches Jammern
ausdrückt, wenn es unbequem behandelt oder zum Tode geführt wird.
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 10
[146]
§. 309.
Die zweite Ordnung umfaßt die faſt durchaus gehörnten, auf geſpaltene
Hufe geſtellten, im Durchſchnitt mit ſehr beſchränktem Inſtincte begabten
2Wiederkäuer. Sie theilt ſich in das Geſchlecht der maſſigen, ſtarken, am
Hinterleib häßlich gebauten und die Hinterfüße nachſchleppenden, nach vornen
zu Druck und Stoß, an Wamme, Nacken, Bruſt, Schulter mächtig und ſchön
entwickelten, breitſtirnigen, großaugigen, horngeſchmückten, dumpfen, doch im
Zorn furchtbaren Rinder, deren glatthaariger zähmbarer Theil geduldig, doch
3auch ſtörriſch und ſtößig iſt, und in das durchaus weniger maſſige, ſchlankere,
ziegenartige Geſchlecht: die wolligen, gähnenden, ſtets weidenden, dummen,
ſtrenggeſelligen Schaafe, die geilen, naſchhaften, bärtigen, zottigen, aufgeweckteren
und ſtoßluſtigen eigentlichen Ziegen, nebſt dem größeren, höckerigten, langhalſig
vorgeſtreckten, hornlos und widerſtandslos dienenden Kameele mit der gebogenen
Geſichtslinie und dem hängenden Maule, die ſchwungvoll und zierlich gebauten,
leichtfüßigen, ſchlankhalſigen, ſchönaugigen, furchtſamen, waldliebenden, mit
ſtolzem Geweih gezierten Hirſche mit Nehen, Gemſen, woneben die ſeltſame
Geſtalt der Giraffe auftritt.
1. Die Wiederkäuer ſind das vorzugsweiſe genährige Thiergeſchlecht,
das in ſeiner Weideluſt das maſtige, ſich ſelbſt genießende, gedeihliche
Naturleben darſtellt, am meiſten im Geſchlechte der Rinder. Dieſer
Charakter iſt bei allen ſchon durch die großen Kinnbacken angezeigt. Außer
dem Kameele ſind alle Wiederkäuer gehörnt und die Form der Hörner iſt
ſehr entſcheidend für die Phyſiognomie dieſer Thiere.
2. Es war nicht Raum, die wilden Stiere — denn durchgängig
begleitet uns der Gegenſatz des Wilden und Zahmen —, den Auerochſen
(Urochſen, Wiſant), die amerikaniſche Art deſſelben, den zähmbareren
Büffel, ihre dunklere Farbe, zottiges Fell, dumpfen, wilden Blick u. ſ. w.
beſonders hervorzuheben, ebenſowenig den Gegenſatz zwiſchen dem ſüdlichen
Hausochſen mit den ungleich freieren, losgewickelteren Formen, größeren
Hörnern und dem nördlichen: ein Gegenſatz, der auch dem der Pflanzen-
welt (§. 279) entſpricht. — Bei den Rindern drängt die ganze Geſtalt
nach vornen, nicht in der Maſſe, denn der Bauch iſt ſehr dick und macht
die Geſtalt ſchwerfällig, ſondern in der Kraft, daher iſt die hinterſte
Parthie mit der eingeſunkenen Schüſſel des Afters, den Hinterfüßen, die
ſich im Halbkreiſe drehen müſſen, um nachzukommen, die ſchlechteſte. In
einem Fragmente zu Lavaters Phyſiognomik ſagt Göthe ſehr treffend
vom Rinde, es diene dem Menſchen „in geruhiger Würde.“ Die großen
klotzenden Augen werden im Zorn, indem ſie ihr blutrothes Weiß hervor-
drehen, furchtbar. Wie beſchränkt die Seele dieſer Thiere iſt, geht ſchon
[147] daraus hervor, daß ſie nicht auszuweichen wiſſen, wenn man hinter ihnen
fährt oder reitet.
3. Schaafe: Schönheit des Widderkopfs mit den gewundenen Hörnern;
ein tüchtiger Lockhammel ſchreitet ſeiner Heerde recht gravitätiſch voraus.
(Homer: Odyſſeus.) Dieſen Thieren gibt beſonders die langgezogene
Naſenlinie den langweiligen, gähnenden Ausdruck, der bei dem Kameele
noch ſtärker iſt. Auch die Schaafe ſind ſo dumm, daß ſie nicht einmal
auszuweichen wiſſen. Die eigentlichen Ziegen haben frei ausgebogene
Hörner; ihr Faunen-Charakter und ihre Geſtalt bedarf ebenfalls keiner
Erläuterung. Sie machen ſich äußerſt maleriſch an Büſchen, Ruinen
gelagert, naſchend. Sehr behaglich läßt es ſich an, wenn ſie ſich mit
dem Horne kratzen. Der Bock iſt ein gemachter Komiker. Uebrigens
beginnt bei ihnen der nach unten herausgebogene (umgekehrte) Hals, der
aber noch dürr und ihr häßlichſter Theil iſt und erſt bei dem Hirſch-
geſchlechte voll und ſchön wird. Zu dieſem gehören die Rehe und Gemſen,
wozu die zierlichen, gefleckten Antilopen gerechnet werden und neben welche
die kurzgehörnte Giraffe ſich ſtellen mag. Weitere Beſchreibung iſt über-
flüſſig, nur auf das Auge mag noch beſonders aufmerkſam gemacht werden:
dieſe freiheitliebenden, nicht leicht an die Behauſung des Menſchen gewöhn-
baren und zum Dienſte verwendbaren, flüchtigen Thiere haben das helle,
klare Auge des Wilds, das bei dem Raubvogel erwähnt wurde, auch bei
dem Haſen hätte erwähnt werden können und ſchon allein durch ſeine
offene Friſche den in Stuben und Qualm verſeſſenen Menſchen erquickt;
es hat aber bei ihnen den ſanften Ausdruck, der das Gazellenauge dem
vergleichenden Dichter ſo beliebt macht.
§. 310.
Zu Einem Hufe ziehen ſich die beſchuhten Zehen zuſammen in der dritten
Ordnung, dem Pferde-Geſchlechte, in welchem die dünneren Formen des
Hirſches ausgerundeter und zu ſtählerner Feſtigkeit geſammelt erſcheinen, wodurch
die Schlankheit noch ſchwungvoller ſich darſtellt. An dem edlen und
freier geſtellten Kopfe ſind die Hörner verſchwunden, Mähne und Schweif
erhöhen wallend die herrliche Bewegung des wiehernden, feurigen, nervöſen,
muthigen, empfindlich ſtolzen und doch zur Arbeit wie zum Kriege dienſtwilligen,
freundlichen, gelehrigen Thieres, dem als ſein wahres Zerrbild der kleinere,
ſchwerfällige, eigenſinnige Eſel gegenüberſteht.
In der Verwachſung der beſchuhten Zehen, deren die vorhergehende
Gruppe zwei, die erſte fünf, vier oder drei hat, zu Einem Hufe ſpricht
ſich aus, daß das Pferd der feſter zuſammengefaßte Hirſch iſt. Die
10*
[148]edlere Organiſation dieſes Thiers zeigt ſich nun ſogleich in der Stellung
des Kopfs: er ſteht in ſpitzem Winkel zum Halſe, eine Linie, die immer
bedeutender iſt, denn ſie bedingt freieres Umſchauen und nähert dem Menſchen
(daher auch die Eulen höher ſtehen, als die übrigen Raubvögel). Bei
den Mäuſen ſteht der Kopf faſt in gleicher Linie mit dem Halſe; bei den
Schweinen, den Elephanten ausgenommen, ebenfalls, bei den Rindern
zwar faſt ſenkrecht, aber von oben bildet der kurze Hals mit ihm einen
ſtumpfen Winkel, ebenſo bei den Schaafen; bei Ziegen und Hirſchen ſtrebt
der Hals auf, aber der Kopf ſteht faſt wagrecht hinaus und ſo entſteht
ebenfalls ein ſtumpfer Winkel. Die Pferde edleren Schlags dagegen
tragen den Kopf faſt ſenkrecht, indem der Mund gegen den Hals ſich
hereingibt. Was den Ausdruck betrifft, ſo ſieht derſelbe nicht ſowohl,
was man ſo nennt, geſcheut aus, als vielmehr empfindungsreich, oder
wenn das Wort erlaubt iſt, geiſtreich, phantaſiereich. Der Hals iſt
voller, als bei dem Hirſche, und geht in die ſchönere Linie des Schwanen-
halſes über, die Bruſt iſt breiter, an dem kräftiger ausgerundeten, glatt-
haarigen Leibe ſind beſonders die Oberſchenkel von kräftig geſchwungener
Form, die gelenkigen Füße ſind ſtärker, doch immer noch zierlich. Die
Bewegung iſt ſchwebend, das Thier wiegt ſich tanzend wie in Schwungfedern;
ſie iſt mannigfach und verändert das Tempo im Trab, Paß, Galopp,
Carriere. Jedes Auge muß ſich am rhythmiſchen Takte des ſtolzen Galopps
erfreuen. Beſonders ſchön iſt bei dem Pferde der Satz oder Sprung, wo
es zuerſt gemſenartig die Hinterfüße eingezogen unter den Leib ſtellt,
dann ſich emporſchnellt und mit zurück an den Leib gezogenen Vorderfüßen,
flach ausgeſtreckten Hinterfüßen hinfliegt. Kein vierfüßiges Thier bäumt
ſich ſo ſtolz, als das Pferd. Viele erklären das Pferd für das ſchönſte
Thier. Die Geſtalt der höheren Thiere verliert allerdings Manches im
Schwunge der Formen, ſie werden weicher, unbeſtimmter, weniger feſt
ausgefüllt, gediegen und ſtählern; aber es kommt auch bei der Schönheit
auf den Ausdruck an und zwar wie er ſich auf alle Organe als viel-
ſeitigere Fähigkeit erſtreckt; wir müſſen nicht nur der Plaſtik, ſondern auch
der Malerei, nicht nur dieſer, ſondern auch der Dichtkunſt den Stoff vor-
bereiten. Das Pferd iſt übrigens auch in ſeinen Racen-Unterſchieden um
ſo wichtiger, weil ſie Zeugniß geben, daß es ein Culturthier iſt, das in
ſteter Begleitung des Menſchen ſeine Formen nicht nur durch Einfluß des
Klima’s, ſondern noch mehr der Zucht, der Pflege, der Dienſtverwendung
je nach den verſchiedenen Zwecken, geſchichtlichen, politiſchen Bedingungen
(Jagd, Krieg, Frieden, Bewaffnungsart, Taktik u. ſ. w.) vermannigfacht,
verändert hat. Manche Formen verſchwinden durch Wechſel des Geſchmacks
faſt ganz, wie z. B. die ſpaniſche Race, die noch im vorigen Jahrhundert
ſo beliebt war und die wohldreſſirteſten Schulpferde abgab; ſo iſt es auch
[149] mit Farben: faſt ſieht man z. B. keine Schecken mehr, die im ſiebzehnten
Jahrhundert Mode waren und die Helden ſeiner blutigen Kriege trugen.
In den Pferderacen tritt zunächſt ein Gegenſatz des Schweren, Groben
und des Leichten, Schlanken auf. Jene können wir im Allgemeinen als
die nordiſche bezeichnen (flandriſche, frieſiſche, burgundiſche u. ſ. w.).
Großer Kopf, ſtarker, kurzer Hals (Annäherung an den Sauhals),
fleiſchige Schultern, ſehr ſtarke Bruſt, breite Kruppe, ſtämmige Füße
zeigen die Beſtimmung zum Laſtzuge, in beweglicherer Ausbildung zum
ſchweren Reiterdienſte. Ein Fuhrmannswagen mit einem Zug ſolcher
Hengſte, Dachsfelle über das Kummet, Meſſingkamm am rothen Tuche
iſt eine ſtattliche Erſcheinung. Die ſchlanke Race ſtellt ſich am ſchönſten
in den arabiſchen und den verwandten Racen dar. Dieſes mittelgroße
Pferd mit dem geraden Profil, den feurigen Augen und weit offenen
Rüſtern, dem ſchlanken, zwiſchen Hirſchhals und Schwanenhals die Mitte
ziehenden Halſe, dem erhabenen Widerriſt, den kräftigen Lenden und Schultern,
der breiten Bruſt, den ſtarken Schenkeln und leichten Unterfüßen, der
glänzenden Haut iſt das ächte edle Reitpferd. Hier iſt jede Bewegung
Leben und Feuer, wozu der Schweif bogenförmig hoch getragen wird.
Die Pferde am Parthenon ſind orientaliſch (vergl. Ruhl über die Auf-
faſſung der Natur in der Pferdebildung antiker Plaſtik). Die Römer
hatten Pferde vom ſchweren Schlage. Zweierlei Zweigformen gehen von
der ſchlanken Race ab: das Pferd der aſiatiſchen Steppenvölker und der
Slaven, der ausdauernde Hetzer mit dem Hirſchhalſe, dem langgeſtreckten
Leib, der geſenkten Kruppe, den ſehnigen Füßen, langer Mähne und
Schweif, etwas gebogenem Kopf (halber Ramsnaſe): ganz das Pferd
der eigentlichen Reitervölker. Dagegen ſtammen von der arabiſchen Race
gewiſſe Pferdeſchläge ab, welche die meiſten ihrer Schönheiten, doch in
das Lange und gleichſam Weitläuftige gezogen, theilen: die eigentlichen
Zucht-Kunſt-Dreſſur-Pferde. So das engliſche Vollblutpferd mit etwas
eingetieftem (dem Hechtkopf genähertem), doch edlem Kopfe, langem, vor-
geſtrecktem Schwanenhals, überhaupt ſchlank, ſehnig und langgeſtreckt.
Mit dieſen Eigenſchaften verbindet ſich ſtarke Ramsnaſe und ſtärkerer Bau
bei den holſteiniſchen Pferden, ähnlich bei den hochauswerfenden (fuch-
telnden) ſpaniſchen und normänniſchen Pferden. Alle dieſe Schläge haben
etwas Vornehmes, Nobles, aber auch Langweiliges, ſie erinnern an den
engliſchen Lord, den hannöveriſchen Junker, den ſpaniſchen Grande. — Es
iſt nicht Raum, uns über das Seelenleben dieſes edlen Thiers und ſeine
Affekte zu verbreiten. Die bedeutende Stufe, die es einnimmt, zeigt
beſonders ſein Gefühl für Feierlichkeit, ſein Stolz, ſein feuriger Muth,
den das Buch Hiob ſo gewaltig ſchildert, ſeine Liebe zu dem Herrn, ſeine
Trauer um ihn. — Der Eſel iſt nicht ſowohl dumm, als träg und ſtörriſch,
[150] er verräth die widerwärtige Gemüthsart ſchon im Geſchrei, welches den
Ausdruck des widerlichſten, nachdrückenden Eigenſinns hat. Freilich iſt dieſes
Thier verkommen, der wilde Eſel iſt eine gewaltigere Erſcheinung.
§. 311.
Der geſchloſſene und ſcharf gezeichnete Typus der Hufthiere löst ſich
wieder in eine weichere, feinere und weniger große Geſtalt auf; dieß iſt durch
die taſtfähige Pfote ausgeſprochen, in deren fünf mit Klauen gewaffnete Zehen
der Huf ſich wieder aufblättert, während das vollkommene Gebiß anzeigt, daß
der Maustypus in höherer Ausbildung zurückkehrt. Dieſe dritte Stufe, die
1oberſten Landthiere umfaſſend, beginnt aber wieder von unten und taucht in
erſter Ordnung ihr fiſchartiges Gebilde in’s Waſſer: die mißgeſtalteten, aber
2ſinnigen Robben. Auf dieſe letzte und höchſte Analogie des Amphibiums
folgt in zweiter Ordnung, eingeleitet durch die noch ſchwimmfüßige Fiſch-Otter,
dann das ſchleichende, diebiſche und blutdürftige Geſchlecht der Marder, den
höhlenbewohnenden Dachs, der Bär, der plumpe, zottige, melancholiſche,
brummende, aber gelehrige und drollige Sohlengänger mit der verlängerten,
beweglichen Schnauze, welcher, in’s Große und Furchtbare gezogen, aber ent-
3ſchieden wieder die Mausform darſtellt; in dritter Ordnung aber das merk-
würdige Geſchlecht der Katzen und Hunde.
1. Die Robben (Seehunde, Seelöwen, Wallroſſe) knüpfen an die
Wale an, gehören aber ſchlechtweg in eine entfernte, höhere Ordnung,
denn ſie ſind behaart, mit vollkommenen Zähnen verſehen, treten aus dem
Waſſer, ſtellen ſich und gehen aufrecht auf den vorderen Schwimmfüßen oder
Finnen, während ſie mit den hinteren, mehr floßenartigen, den walzigen
Leib nachſchleppen. Dieſe ſeltſamen Thiere haben durch ihre Menſchen-
ähnlichkeit zu vielen Fabeln Veranlaſſung gegeben; ſo niedrig ſie in der
höchſten Thierwelt ſtehen, ſo erſetzen ſie doch die offenbare Häßlichkeit der
Geſtalt durch ziemlich bedeutende Eigenſchaften der Thierſeele: ſie ſind
munter zum Spiele, neugierig, lieben die Jungen ſehr zärtlich und ver-
theidigen ſie furchtbar, übrigens ſind ſie ſanft und ſchließen ſich ſogar auf
rührende Weiſe an den Menſchen an.
2. Die Fiſchottern und das Marder- oder Wieſelgeſchlecht mit dem
Dachſe ſtellt Oken wegen ihres ſchlanken, wurmförmigen Leibs mit ſehr
kurzen und liegenden Füßen und meiſt verbundenen Zehen, wodurch das
Kriechende des Gangs bedingt iſt, noch mit den Robben zuſammen. Die
Fiſchotter mit ihren Schwimmhäuten erinnert an den Biber, alſo an das
Mäuſegeſchlecht, ſo alle dieſe Thiere, die den Uebergang zum Bären
machen, ſammt dieſem; ſie ſind aber ſämmtlich länger geſtreckt, als die
[151] ähnlichen Mäuſearten, und blutdürſtige Raubthiere, die mehr Thiere tödten,
als ſie freſſen oder ausſaugen können. Am wenigſten Raubthier iſt der
Dachs, der wieder Höhlenbewohner iſt wie die Nagethiere. Er iſt, nebſt
dem Vielfraß, zugleich Sohlenläufer und dieſe Eigenſchaft, die ſchon bei
den Spitzmäuſen, Maulwürfen, Igeln auftritt, wird nun erſt bei dem
Bären, dieſem größten mausähnlichen Thiere, wichtig und in die Augen
fallend. Bekanntlich gehen alle übrigen Thiere eigentlich auf den Zehen,
das höher und frei ſtehende Gelenk, das uns ein hinten ausſtehendes
Knie ſcheint, iſt eigentlich Ferſengelenk, das Knie ſteckt oben im vorderen
Ende des Hinterbackens. Der Bär tritt nun wie jene kleineren Thiere
mit ganzer Sohle bis zum Ferſengelenke auf und dieß giebt den ſchlei-
chenden Gang, der menſchenähnlich wäre, wenn nicht ſo weſentliche andere
Momente fehlten. Zugleich erleichtert es ihm die aufrechte Stellung, die
er vorübergehend annehmen kann und die nun auch die Menſchennähe
andeutet. Was ihn aber am meiſten mausähnlich macht, iſt der verlän-
gerte, bewegliche Naſenknorpel, wodurch unter ſpitzvorlaufender Schnauze
das Maul tiefer zurücktritt; auch den Schweinen, die wir als die erſten
unter den Hufthieren zunächſt auf die mausartigen folgen ließen, wird
er dadurch ähnlich. Der finſtere Petz, der in die Urwälder des Nordens
wie der Auerochs weist, iſt bekanntlich ſo übel nicht, als er ausſieht;
ſeine Eigenſchaften, zu denen ſelbſt einiger muſikaliſche Sinn gehört, ſind
geläufig und bekannt. Steht er an Geſtalt auf den Anſchein niedriger,
als Thiere tieferer Stufe, ſo iſt er dafür auf den erſten Anblick ſeiner
Erſcheinung und durch einen Theil ſeines Thuns furchtbar; täuſcht aber
zum Theil die Erwartung des Furchtbaren, begnügt ſich das ſchreckliche
Raubthier mit Honig und läuft es oft furchtſam vor dem Fürchtenden
davon, lernt es tanzen und thut es manche drollige Dinge, ſo wird es
komiſch.
3. Von Katzen und Hunden muß nun etwas ausführlicher die Rede
ſein, da ſie auch für die Aeſthetik von beſonderer Bedeutung ſind.
§. 312.
Die Geſchlechter der dritten Ordnung ſind wieder hochbeiniger, indem ſie
auf den Zehen auftreten, kurzhaariger, aber langgeſchwänzt, von durchgearbeiteterer
Geſtalt, behender, ſpringender, vielfacher Bewegung und die höchſtbegabten unter
allen Landthieren. Sehr reizbar, durchgängig Fleiſchfreſſer, ſind ſie zwar die
eigentlichen Raubthiere, die mörderiſchen Jäger, allein ein Theil ſondert ſich
ab, wird zahm und dem Menſchen mehr noch zu gemüthlichem Umgange, als
zum Dienſte treu befreundet. Dieſe Theilung tritt noch nicht ein in dem
Geſchlechte der unzähmbaren, mit beiden verwandten, zugleich aber ſchweins-
ähnlichen Hyänen mit dem niedergedrückten Kreuze, dem giftigen Blicke.
[152] Das Katzengeſchlecht nun erinnert durch die hängende Haltung des ſeitlich
flachen Leibs an ſie und den Bären, iſt jedoch rundköpfig und von fein gezeich-
neter Naſe. Den größeren, wilden Katzenarten, dem bemähnten Löwen, dem
gefleckten Tiger u. ſ. w. ſteht als ſchmeichleriſcher Genoſſe des Menſchen die
Hauskatze gegenüber, ohne jedoch den verſchloſſenen, falſchen, lauernden Charakter,
der jenen eigen iſt und worüber ſich nur der ſtolze, aber großmüthige, königliche
Löwe theilweiſe erhebt, völlig aufzugeben.
Je geläufiger und dem Menſchen näher die Thierwelt wird, deſto
weniger iſt zu erläutern. Die Hyäne iſt ſchweinsartig durch den fiſchähnlich
an den Seiten flachgedrückten, auf dem Rückgrate borſtigen Leib. Sie
knickt die Hinterfüße ein, iſt daher hinten niedrig und ſcheint kreuzlahm;
dieß iſt katzenartig, die Mopsſchnauze aber hundeartig. Der Charakter
dieſes ſcheußlichen Thiers, im ſchmutzigen, klebrigen Glanze des giftig
blickenden Auges, ſowie im Geheule vorzüglich ausgeſprochen, iſt bekannt.
Daß die Katzen ebenfalls einen ſeitlich flachen Leib haben und im Gange
das Kreuz und den Kopf hängen laſſen, zeigt der erſte Blick auf die
Hauskatze; im Sitzen ſind ſie ſchöner, die Bruſt namentlich tritt gewölbt
hervor. Der Löwe freilich unterſcheidet ſich auch im Gange zu ſeinem
Vortheil. Der feine Schnitt der Naſe mußte beſonders hervorgehoben
werden. Die Katzen nun ſind vorzüglich die eigentlichen Springer, die
ſich heranſchleichen, mit dem Schwanze ringelnd lauern und ſich mit einem
Satze „wie ein geſpanntes Holz, das dem Wagner ausgleitet und ſauſend
hinausſpringt“ (ſagt Theokrit trefflich vom Nemeiſchen Löwen) auf die
Beute werfen. Löwe, Tiger, Panther, Leoparde, Jaguar, wilde Katze
brauchen keine weitere Darſtellung. Die Hauskatze iſt beſonders durch
ihr behagliches ſogenanntes Spinnen, die niedlichen Bewegungen, wenn
ſie ſich putzt, ihr ſchmeichelndes Anſchmiegen ein gemüthlicher Hausgenoſſe,
läßt aber nicht von der Falſchheit. Mehr von ihr im folgenden §. Den
Luchs erwähnen wir nicht beſonders; er macht etwa den Uebergang von
der Katze zum Hund, iſt durch ſein ſcharfes Auge ſprichwörtlich und
in dieſem Sinne auch äſthetiſch verwendbar.
§. 313.
Der Hund iſt hirſchähnlicher, hat längeren, mehr horizontalen Kopf,
runderen Leib, trägt ſich geſammelter, elaſtiſcher, höher, iſt vielfacherer Bewe-
1gungen fähig, läßt die blutige Wildheit dem hyänenartigen Wolfe, die Liſt,
2dieſe geringere Form der Intelligenz, dem ſpitzſchnauzigen Fuchſe und iſt nicht
nur das gelehrigſte und geſcheuteſte, ſondern auch das durch Analogie ſittlicher
Tugenden ausgezeichnetſte Landthier. Dieſer treue Begleiter, Luſtigmacher,
[153] Wächter, Jagdgeſelle des Menſchen iſt zutappend, aber gehorſam, ehrlich,
uneingedenk der Beleidigung und dankbar für die Wohlthat, Feind des Unfugs
und polizeilich, tapfer und mehr ſtolz als eitel, freilich auch ſchmutzig und
ſchamlos, aber deſto mehr fügt er zum Rührenden das Komiſche. Seine hohe3
Bedeutung im Thierreiche zeigt dieſes Geſchlecht auch dadurch, daß es in merk-
würdigem Spiele nicht nur einige ſeiner vielfältigen Racen in verſchiedenem
Größenmaßſtabe, ſondern zugleich verſchiedene andere Thierformen und Thier-
Charaktere nachahmend in ſeiner Bildung wiederholt.
1. Der Wolf iſt auf den erſten Anblick hyänenartig, namentlich
durch das gedrückte Kreuz. Von Freund Reineke wiſſen wir Alle genug;
was Haltung betrifft, ſo iſt er gebückt, hängend, ſchleichend wie die Katze,
ſo ſehr er durch ſeine Schnauze übrigens der Spitzmaus ähnelt. Seine
Farbe jedoch, ſein dickes Fell, ſein dichtbehaarter Schwanz putzen ihn
heraus. Die Hunde kehren in Bildung des Kopfes überhaupt mehr zum
Maustypus zurück, ſo ſehr ſie ihr ſatterer, ſtraffer modellirter Leib, ihre
ſchwungreichere Haltung über dieſen und die Katze hebt. Der rundere Kopf
der Katze ſteht zwar dem menſchlichen näher, ſieht aber hier mehr eulen-
artig aus. Die reichere Mannigfaltigkeit an Bewegungen, deren der Hund
fähig iſt, braucht keine Aufzählung; auch Ohren und Schwanz ſpielen
ausdrucksvoller. Die Liſt iſt wohl komiſch am Fuchſe, aber dieſe Eigen-
ſchaft gehört gewiß unter die geringeren Fähigkeiten der Intelligenz; auch
iſt es keine Kunſt, liſtig ſein, wenn man kein Gewiſſen hat.
2. Der Charakter des Hunds zeigt ſich in ſeiner ganzen Beſtimmt-
heit im Gegenſatz gegen die Katze; dieſe Geſchlechter ſtehen ſich ſo feind-
ſelig wie Diplomat und Biedermann gegenüber. Er läßt ſich weniger auf
Liſt ein nicht nur, weil er beſſer, ſondern auch, weil er geſcheuter iſt; wie
denn ja auch das vernunftloſere Weib liſtiger iſt, als der Mann. Der Hund
merkt und verſteht unendlich mehr, als die Katze, ſowohl Deut und Wink,
als Worte. Mädchenhaft iſt die Katze durch ihre Koketterie, Reinlichkeit,
womit ſie ihr Fratzengeſicht ewig putzt, die ſauberen Stellen ausſucht und
die Pfote ſchüttelt, wenn ſie in Koth getreten. Sie iſt Nachtſchleicherin,
diebiſch und liebt nicht ſowohl den Herrn, als das Haus. Der Hund wird
perſönlich Freund des Herrn und iſt daher ſelbſt das perſönlichſte Thier,
weil er ſeine Perſönlichkeit in Disciplin und Gehorſam gegen die menſch-
liche aufgibt; dieſer Bruch des erſten Inſtincts durch einen zweiten höheren,
der ihn fremder Vernunft gehorchen lehrt, fehlt der Katze ganz, ſie gleicht
auch in ihrem Eigenſinn dem Weibe. Gerade dieſe ſeine beſte Eigenſchaft
wird in gewiſſen Redensarten: hündiſche Kriecherei u. ſ. w. am meiſten
verkannt. Er läßt ſich nicht von Jedem, ſondern nur von ſeinem Herrn
ſchlagen, weil er anerkennt, daß er Erziehung bedarf. Er trauert, wenn
[154] er mißhandelt wird, aber er trägt es nicht nach, während er für Wohl-
thaten das treuſte Gedächtniß hat. Der Hund hat ſolchen Ordnungsſinn,
daß er nicht nur den Dieb und Räuber, ſondern auch den lumpig Geklei-
deten, ſelbſt den Anſtändigen, der ſchlechten Gang und ſchlotternde Stiefel
hat, den Rauſchigen angreift. Um ſeiner ſchmutzigen Sitten willen hat
er den Namen Cyniſmus hergeben müſſen. Nicht leicht iſt ein Thier in
der Verrichtung der Bedürfniſſe, Anknüpfung der gegenſeitigen Bekannt-
ſchaften daran und der Begattung ſo ſchamlos. Er hat freilich dadurch
etwas Gemeines, Hausknechtsmäßiges, weil er aber gut iſt, gibt es zu
lachen; dazu trägt er mit eigenem Humor, denn er ſpielt gern und treibt
Poſſen, ſo viel als möglich bei. Er iſt nicht kokett, aber etwas Renommiſt:
wo ausgegangen, geritten, gefahren wird, zeigt er mit prahleriſchem
Lärm an, daß er auch dabei iſt; wenn er dem Herrn etwas tragen darf,
ſtarrt ihm der Schweif hoch, richtet ſich der Hals vor Stolz auf. Wenn
er aber Dienſt hat, tritt die gemeſſenſte Amtswürde ein. Auf die Liebe
ſeines Herrn iſt er mit Recht höchſt eiferſüchtig. — Plato ſagt vom Hunde:
κομψόνγε φαίνεται τὸ πάϑος αὐτοῦ τῆς φύσεως καὶ ὡς ἀληϑῶς
φιλόσοφον. (de repub. L. II).
3. Keine Thierart zeigt ſo viele Racen mit beſonderen Formen und
Charakteren, die anderen Thierarten und menſchlichen Charaktertypen ent-
ſprechen. Im Allgemeinen laſſen ſich drei Hauptformen unterſcheiden:
die hohe, ſchlanke Race der Windhunde, Schäferhunde u. ſ. w. mit langem,
ſpitzem Kopf, hechtähnlich und raubvogelähnlich; als anderes Extrem die
breitköpfigen, kurzſchnautzigen, muſculöſen Doggen, Bullen u. ſ. w., ſtier-
ähnlich; in der Mitte ſtehen die vielerlei Arten mit breiter Stirn, aber
etwas vorgezogener Schnauze, eingebogenem Profil: Spitz- und Jagdhunde,
Neufoundländer, Bracken u. ſ. w. Eigenthümlich iſt aber dann die Er-
ſcheinung, daß mehrfach eine und dieſelbe Form in verſchiedener Größe ſich
wiederholt: ſo der kleine Mops, mittelgroß die gelbe Bulldogge, noch größer
der (faſt verſchwundene) gelbe deutſche Bullenbeißer, alle von derſelben
Form; der Pincher, ihm ähnlich der mittelgroße Schweißhund und der
größere, ſchwarze, über den Augen gelb getupfte und an den Extremitäten
gelbe Metzgerhund. Theils die Racen im Großen, theils einzelne ihrer
Unterarten erſcheinen als ſpielende Wiederholung anderer Thiergeſchlechter. In
Beziehung auf jene ſind dieſe Analogieen ſo eben angedeutet, in Beziehung
auf die zweiten ſetzen wir hinzu: löwenartig ſind Bologneſer, Spitz, Pudel,
rehartig iſt der Pincher, wolfartig der Schäferhund, der langhaarige Ratten-
fänger, bärenartig der Neufoundländer, ſchlangenköpfig die Dogge, eidechſen-
ähnlich der Dachshund, adlerähnlich, in den ſchönen Wellen ſeines Laufs
aber delphinartig der Windhund u. ſ. w. Charaktertypen in der größten
Mannigfaltigkeit: Naſeweisheit des Rattenfängers, Leidenſchaftlichkeit des
[155] Pinchers, mürriſcher Ernſt des Mopſes, der Bulldogge, des Bullenbeißers,
Feuer und Gelehrigkeit des Pudels, Zuchtmeiſtercharakter des Schäferhunds,
Eigenſinn des Dachshunds, Kläfferei und doch zähe Charakterfeſtigkeit des
Spitzhunds, Jägernatur des Hühnerhunds u. ſ. w.
§. 314.
Keiner dieſer Stufen gehört der Affe an. Was ihn von allen Thieren
unterſcheidet, nähert ihn dem Menſchen; was ihm aber zu dieſem fehlt, wirft
ihn über eine unendliche Kluft zu dem Thiere zurück. Dieſe ſucht er durch
beſtändige Nachahmung zu überwinden, bleibt aber mitten im Verſuche ſtecken
und ſcheint von einem verbiſſenen Grimme über dieß immerwährende Wollen und
nicht Können durchdrungen und die höhere Begabung dient nur, das rein Thie-
riſche in ſeinem Seelenleben um ſo zäher und geſpannter auszubilden. Daher
iſt dieſer unreife Menſch, dieß greiſenhafte Thier ein widerliches, geſpenſtiſches,
kaum in’s Komiſche auflösbares Zerrbild des Menſchen.
Die Urform des Thiers, der Maus-Typus, näher die Bildung der
hochbeinigen Springmaus, erfährt im Affen ihre letzte thieriſch mögliche
Fortbildung. Viele Affen ſind ſehr mausähnlich; alle Mäuſe haben ſchon
die Neigung, die Vorderpfote als Hand zu gebrauchen. Die nähere
Beſtimmtheit der Affengeſtalt, ihr Unterſchied von der thieriſchen auf der
einen, der menſchlichen auf der andern Seite muß in der Darſtellung des
Menſchen kurz zur Sprache kommen. Ueber das Weſen des Affen mögen
hier die Worte Herders ſtehen (Ideen z. Philoſ. d. Geſch. der Menſchh.
B. 4, I.): „Der Affe hat keinen determinirten Inſtinct mehr, ſeine Denkungs-
art ſteht dicht am Rande der Vernunft. Er ahmt Alles nach, er will ſich
vervollkommnen. Aber er kann nicht: die Thür iſt zugeſchloſſen; die Ver-
knüpfung fremder Ideen zu den ſeinen und gleichſam die Beſitznehmung
des Nachgeahmten iſt ſeinem Gehirn unmöglich. — Sie greifen die Neger
an und ſetzen ſich um ihr Feuer, haben aber nicht den Verſtand, es zu
unterhalten“ u. ſ. w. Der Inſtinct iſt nur nicht im Sinn einer beſondern
Gattung determinirt, die allgemein thieriſchen Triebe ſind um ſo ſtärker
und der Affe iſt daher dem Menſchen ähnlich in allen Unſitten und garſtigen
Manieren, ja vom Mandrill ſcheint es eigentlich, die Natur habe in ihm
ein Bild des Laſters aufſtellen wollen mit aller ſeiner Häßlichkeit (Oken
a. a. O. B. 7, 3. S. 1704. 1791). Beobachtet man den Affen, ſo meint
man jeden Augenblick: jetzt, jetzt wird Vernunft und Sprache kommen; ſie
kommt aber nicht, er bleibt auf der Schwelle ſtecken, die Thüre iſt ihm,
ſo muß man Herders Wort erweitern, ganz eigentlich vor der Naſe
zugeſchlagen. So bleibt er denn auch in dem, was er nachzuahmen wirklich
[156] beginnen kann, ſtecken: er fängt klug an, aber eine Dummheit, eine Unart,
und die Ordnung iſt zu Ende. Er lernt daher weniger, als Elephant,
Pferd und Hund, denn er hält nicht aus, bleibt nicht dabei. Er iſt ein
blaſirtes Thier und ein ungezogener Junge von Menſch. Wie ſeine
Häßlichkeit nicht ganz in das Komiſche aufgehen kann, vergl. §. 291
Anm. 3.
§. 315.
Die großen und bedeutend organiſirten Thiere haben zwar mehr Indivi-
dualität, als die kleinen und ärmer geſtalteten, aber dennoch liegt auch bei
ihnen, wo nicht das Verhältniß zwiſchen dem Menſchen und einem einzelnen,
ſehr anhänglichen Thiere das Weſentliche iſt, der äſthetiſche Werth mehr in
geſelliger Zuſammenſtellung mit Thieren der eigenen oder einer andern Gattung.
2Entwickeln ſie in friedlicher Geſellung den Umfang ihrer freundlichen Eigen-
ſchaften, ſo kommt dagegen im Kampfe, ſei es einzelner mit einzelnen oder
vieler mit vielen, ihre ganze Kraft zur Entladung und entſteht je nach dem
Grade derſelben ein furchtbares oder ein komiſches Schauſpiel.
1. Pferde, Hunde, Katzen ſind es am meiſten, die als Hausthiere
getrennt von ihres Gleichen, aber dafür in Zuſammenhang mit dem
Menſchen geſtellt, äſthetiſchen Werth haben können. Doch abgeſehen von
dieſem Heraustreten aus ihres Gleichen ſtehen auch die höheren Thiere
der Perſönlichkeit zu fern, um anders als in einer gewiſſen Anzahl zu
wirken. Große Rudel, Züge von Thieren wirken im Sinne des Erhabenen
der Vielheit (vergl. §. 92). Rinder des Augias, amerikaniſche Büffel-
heerden u. dergl. In kleineren Gruppen zeigt ſich Freundſchaft, Mutter-
liebe, Scherz u. ſ. w. oft in den anziehendſten Scenen, ſo daß man in
ganze kleine Thierwellen hineinſieht. In der Gruppirung mit Thieren
anderer Gattung hebt ſich der Charakter und das Eigene der Geſtalt durch
Gegenſatz.
2. Kämpfe kleiner Thiere komiſch: Wachteln, Hähne, Hahn und
Ente, kleiner Hund und Katze, bockende Widder, Ziegenbock mit Hunden
u. dergl. Dabei iſt der Gebrauch der Waffen, die Kampfſitte oft inter-
eſſant und beluſtigend. Große und wilde Thiere: Schlangen mit Rindern,
Hirſchen u. ſ. w., Elephant mit Nashorn, Wolf mit Pferd, Bär, Wild-
ſchwein mit Hunden, Löwe mit Stier, Pferd u. ſ. w. (Freiligraths
Löwenritt). Dann die großen Kämpfe ganzer Heerden, z. B. von Wölfen
gegen Pferde, von wilden Elephanten untereinander, von Raubvögeln mit
vierfüßigen Raubthieren.
[[157]]
C.
Die menſchliche Schönheit.
§. 316.
Das organiſche Leben erhebt ſich zu der abſoluten Geſtalt, welche In-
begriff und Maß aller Schönheit der unorganiſchen, der vegetabiliſchen und
thieriſchen Schönheit iſt. Es geht aber mit ihr eine neue Welt auf, welche
unendlich mehr, als organiſches Naturleben iſt, denn dieſe Geſtalt iſt das reine
Aeußere eines Innern, welches nicht nur mit allen Mitteln der nun über-
wundenen Naturſtufen ſich die übrige Welt zum Objecte macht, ſondern, indem
es durch die That des Selbſtbewußtſeins ſich ſelbſt und die in ihm geſammelte
Natur ſich als Subject gegenüberſtellt, nun erſt auf wahrhafte Weiſe auch die
ganze umgebende Welt ſich zum Objecte macht und ebenſo die Weſen der
eigenen Gattung erkennt, mit ihnen in bewußte Gemeinſchaft tritt und neue
Werke, eine zweite Natur aufbaut. In dieſem perſönlichen Weſen, dem Ich
der Welt hat erſt die Idee ihre wahre Wirklichkeit und durch die ſchlechtweg
entſprechende Einheit des Aeußern und Innern das Schöne ſein wahres Daſein
gefunden. Ebendieß iſt auch ſo auszudrücken, daß jetzt der Zuſchauer ſich ſelbſt
nicht mehr erſt durch Leihung in den Gegenſtand zu legen hat, ſondern ſich
wirklich darin findet.
Die Schönheit des Menſchen iſt noch eine organiſche und wäre daher
unter B als dritte Unterabtheilung c zu ſetzen. Der Menſch iſt das
ſchönſte Säugthier des Landes. Dieſer Superlativ iſt aber falſch; ſtatt
des Schönſten tritt ein wahrhaft Schönes ein, welches nicht mehr thieriſch
iſt. Der Menſch iſt Natur und ebenſo abſolut nicht mehr Natur, die
höchſte Stufe ein unendlicher Sprung. Daher muß ſtatt einer letzten
Unterabtheilung c eine neue Abtheilung C ſtehen; denn auch die Geſtalt
[158] nur als unmittelbare Erſcheinung der Seele, wie wir ſie zuerſt zu
betrachten haben, hat ihre ganze Bedeutung ſogleich als eine geiſtig durch-
leuchtete. Schlechtweg entſprechende Einheit eines Innern und Aeußern
iſt auch das Thier; man kann aber und muß vielmehr ebenſowahr und
wahrer ſagen, daß das Thier ſein Inneres im allgemeinſten formalen
Sinne zwar hat, aber das wahre Innere, das die Natur ſucht, außer
ihm, jenſeits ſeiner, über es hinaus im Menſchen liegt, daß ſein Aeußeres
dieſes nur erſt geſuchte Innere als ein ſolches, als ein noch nicht gefundenes
anzeigt, daher ein wildfremdes Aeußeres iſt, das ankündigt und nicht
leiſtet, wogegen das Innere des Menſchen das erreichte Innere iſt, das
in ſeinem Aeußeren anzeigt, daß es von ſich ausgeht und bei ſich an-
kommt, die bei ſich, bei ihrem Ich angekommene daher über ſich ſelbſt
erhabene Natur iſt. Die bisherige Welt hatte ihr Centrum, ihren Schwer-
punkt außer ſich, die menſchliche hat ihn in ſich, in der Schöpfung wandelt
jetzt ihr König, eine ſatte und erfüllte Schönheit, die Gegenſtand und
Zuſchauer zugleich iſt, die daher dem äußeren Zuſchauer ſein Selbſt
entgegenbringt. Die Natur hat darum nicht aufgehört, weil ſie ſich ſelbſt
übertroffen hat, ſie beſteht als Königreich des Herren fort; die Pflanze
ſchmückt den unorganiſchen Boden, das Thier belebt beide, der Menſch
„der herrliche Fremdling mit den ſinnvollen Augen, dem ſchwebenden
Gange, den zartgeſchloſſenen, tonreichen Lippen“ überſchaut, genießt,
beherrſcht, krönt durch ſeine Schönheit alle, iſt die wahre Staffage der
Natur oder richtiger ſie nur die ſeinige, erkennt aber nicht nur ſeine
Brüder in Buſch und Wald, ſondern auch, was wirklich ſeines Gleichen
iſt, kennt er anders, als das Thier ſeines Gleichen kennt, und umfaßt
er in einem Bunde, welcher die Vielen zu einer Idealperſon vereinigt
und darin dem Einzelnen die wahre Perſönlichkeit gibt, wodurch das
menſchliche Individuum abſoluten äſthetiſchen Werth erhält.
Wir haben nun die Formen, in die ſich die menſchliche Schönheit
entfaltet, zu verfolgen.
[159]
a.
Die menſchliche Schönheit überhaupt.
α.
Die allgemeinen Formen.
Die geiſtige Schönheit der Geſtalt drückt ſich vor Allem durch die auf-1
rechte Stellung aus, zu welcher der Stamm des organiſchen Gebildes wieder
aufgerichtet iſt. Der Ausdruck der Schwere verſchwindet, durch Wechſeldienſt
der Organe bewegt ſich frei das Ganze. Leicht getragen und vielmehr Alles
tragend ſchaut der ausgerundete Kopf von der Höhe des Körpers herrſchend um
ſich. Die drei Hauptſyſteme treten ebenſo klar geſondert, als vereinigt hervor.2
Hals, Bruſt, Schultern, Arme, Hände, Rücken, Unterleib, Hüften, Sitzmuskel,
Füße drücken jedes für ſich und alle zuſammen abſolute Zweckmäßigkeit aus
und ſind durch die Lagerungen der Muskeln um die feſten Theile zum edelſten
Wechſel von Schwellungen und Einziehungen gebildet. Ein Reichthum von neuen
Bewegungen iſt dadurch dem Menſchen möglich, wogegen er auf manche thieriſche
verzichten muß. In der allgemeinen Bedeckung iſt von Allem, was Unorganiſchem3
oder Vegetabiliſchem gleicht, nur ſo viel geblieben, um die helle, halbdurch-
ſichtige, eine allgemeiner verbreitete, in den Fingerſpitzen geſammelte Empfindung
vermittelnde, in fein verſchmolzenen, warmen Farbentönen athmende Haut mit
kräftig begrenzenden Schattenſtellen zu ſchmücken.
1. Die Eintheilung, welche hier mit a und α eröffnet iſt, wird ſich
rechtfertigen. Zur Erläuterung vorläufig ſo viel: „die menſchliche Schönheit
überhaupt“ drückt den Gegenſatz des Abſtracten gegen die concrete Schönheit
der Geſchichte aus. Es werden hier durchgängig die Gebiete, Kreiſe des
Lebens, deren Ineinander erſt die Geſchichte bedingt, auseinandergehalten,
für ſich betrachtet. Innerhalb der erſten Abtheilung tritt nun zunächſt
wieder eine Allgemeinheit auf, im Gegenſatz nämlich gegen die beſonderen
Gattungstypen: Race, Volk u. ſ. w. werden hier zuerſt die Formen
betrachtet, die den Menſchen ſchlechtweg als Gattung charakteriſiren.
Es iſt gleichgültig, ob man die Organiſation zur aufrechten Stellung
von unten oder von oben verfolgt, denn Alles bedingt ſich gegenſeitig.
Der Affe kann aufrecht gehen, aber nur vorübergehend und mühſam;
[160] er iſt nicht darauf gebildet. Er hat vier Hände ſtatt zwei Hände und
zwei Füße. Damit iſt ſchon Alles geſagt. Am Fuße nämlich hat er ſtatt
der großen Zehe einen Daumen, daher keinen Widerhalt zum Anſtemmen
gegen die Erde; darum bekommt er die Hände, die ihm an überlangen
Armen vorhängend die Bruſt verſchmälern, nicht frei und ſie dienen zwar
zum Halten, aber ſammt den Füßen weſentlich auch zum Klettern. Er
hat keine Waden, ſchwache Knjemuskeln, hängt, wenn er aufrecht geht,
in den Knien, die ſchmale Hüfte iſt zurückgezogen, der Rücken gekrümmt,
der Rückgrat verläuft ſich bei den meiſten Gattungen in einen Schwanz,
am kurzen Halſe hängt der Kopf vorwärts, die Unterkiefer ſind vor-
geſchoben, die Naſe ſteht nicht ab, die ſchmale Stirne iſt zurückgedrückt
und hat nicht Raum zur freien Ausbildung des Gehirns, und eben durch
die ſchlechte Bildung dieſes höchſten Nervencentrums iſt umgekehrt wieder
die ganze hinſinkende Haltung, der höhniſche Aufenthalt an der Schwelle
der aufgerichteten Menſchengeſtalt bedingt. Indem dagegen dem Menſchen
die aufrechte Stellung weſentlich iſt, ſehen wir den umgelegten Baumſtamm
(vergl. §. 285) wieder aufgerichtet, die Krone als Haupt wieder gerundet,
aber freilich in abſolut anderen Formen; das erſte Aufſtreben vom Planeten,
das im Beginne der organiſchen Welt, der Pflanze, auftrat, im gebückten
Thiere wieder hinſank, iſt wieder da, aber es iſt ein Anderes geworden.
Die Wurzel iſt längſt weg, die Geſtalt ſtemmt ſich aus freier Kraft an
die tragende Erde und trägt ſich wie ſchwebend im geſchwungenen Wechſel-
druck ihrer Glieder. Zu oberſt trägt ſie den zur vollkommenen Kugel-
geſtalt ausgewölbten Kopf; allein man ſieht ſeine Schwere nicht, man
fühlt im Anblick, daß in ihm der Mittelpunkt des Lebens wohnt, der den
tragenden Gliedern ſelbſt erſt die Kraft gibt, zu tragen; ſo iſt es vielmehr
ſelbſt tragend, ſo verſchwindet aber überhaupt im ganzen Leibe der Gegenſatz
des Tragenden und Getragenen, das Mechaniſche, Tiſchartige des Thiers
2. Der Kopf hebt ſich vom Rumpfe durch den ſchwungvoll ein-
gezogenen Hals frei ſchwebend ab. Breit wölbt ſich die Bruſt, Wohnſitz
des Muthes, hervor. Bei uns ſieht man ſelten eine ſchöne Bruſt; ſie
erſcheint eingeſunken, bei Griechen und Italienern dagegen tritt ſie frei
und entſchloſſen mit ihren zwei breiten vom Bruſtbein getheilten Blättern
hervor. Ein feiner, aber deutlicher Umriß trennt von der Bruſt den
Unterleib. Dieſe beiden Syſteme werfen Front, weil ſie Raum gefunden
haben, zwiſchen den Seiten-Organen herauszutreten. Die Schulterblätter
treten zurück, die Schulter ſteht wie ein Seitenbau ab und zeigt an, daß
hier ſeitlich der Ort zum Tragen angebracht ſei, um dieſes niedrige
Geſchäft dem Kopfe und Rücken zu erſparen. Doch zeigt auch dieſe vor-
ſpringende Ecke wieder die ſchönſte Abſenkung vom Halſe und Abrundung
am äußerſten, härteſten Theile. Der Vorderfuß iſt jetzt erſt eigentlicher
[161] Arm geworden; verkürzt gegen den Affen-Arm trägt er, in ſchwungreicher
und feiner Wellenlinie ſeine kräftigen Muskeln anſetzend, das Wunderwerk
der Hand, das Werkzeug der Werkzeuge, denn alle ſind in ihr vorgebildet.
Der Rücken iſt nicht ſteil und nicht gekrümmt, ſondern zart gebogen, die
breiteſte Fläche am Körper, aber durch die Rinne des Rückgrats, durch
die mächtigen Schulterknochen, durch die Muskeln herrlich modellirt; der
Bauch bedeckt mit zarter Wölbung die zu niedrigem Dienſte beſtimmten
Eingeweide, die Hüften treten durch das breite Becken und die vollen
Muskeln mächtig heraus und bilden ſo mit der Einziehung der Weiche die
energiſche Linie der Taille. Wir ſahen §. 295, 2., wie die Natur im
Fortſchritt die allerhand Anhängſel je der niedrigeren Stufen mit ſcharfem
Meſſer abſchneidet; der Ueberfluß des Schwanzes iſt weg. Das Geſäß
iſt eine weſentliche menſchliche Schönheit und es iſt kindiſch, zu lachen,
wenn der reine Formſinn den ſchwellenden Pfirſich dieſer großen Muskeln,
die zugleich ein ſo bequem hingegoſſenes, plaſtiſches Sitzen möglich machen,
bewundert. Die männlichen Geſchlechtstheile werden wieder ſichtbarer, als
bei den Thieren; die Griechen haben ihre Kraft mit gutem Grunde wichtig
behandelt und ſich deſſen ebenſowenig geſchämt, als wenn das Buch Hiob
vom Nilpferd ſo gewaltig ſagt: „die Adern ſeiner Scham ſtarren wie ein
Aſt.“ Mächtig ſchwellen als die Hauptſtützen des Oberleibs und Beweger
der Beine die Schenkel an, ziehen ſich gegen das Knie ein, das in ſeiner
niedlichen Schüſſel etwas ſpitzer heraustritt, dann ſchwillt am Schienbein
wieder die rundlich gedrehte Wade ſanft an, geht verloren gegen die
Knötchen hinab, die Ferſe iſt zur Fußſohle gezogen, dieſe ſteht hohl auf
dem elaſtiſch geſchwungenen Reien, und dann breitet ſich das Blatt der
zierlichen Zehen aus, um nach unten als derber Ballen die Laſt tragen zu
helfen und ſchwungreich vom Boden abzuſchnellen. Die Zehen greifen
gleichſam den Boden, eine Feinheit, die freilich in unſern harten Schuhen
ganz abgeſtumpft iſt, in denen wir das Terrain nicht fühlen und von
dem Gehen, deſſen ſandalenbekleidete Naturvölker auf dem ſchwierigſten
Boden fähig ſind, keine Ahnung haben. Manche thieriſche Bewegungen
muß dieſes Ganze opfern: der Menſch kann nicht fliegen, nicht lang
ſchwimmen, nicht leicht wie Affen klettern, nicht den Kopf drehen wie ein
Vogel am langen Halſe, nicht den Rückgrat biegen wie ein Hund, der
ſich in den Schwanz beißt, er hat am Arm eine mangelhafte Naturwaffe; er
iſt auch nicht ſo groß, wie die Mehrzahl der Thiere: ein wichtiger Punkt,
der aber ſo auf flacher Hand liegt, daß wir uns nicht bei ihm aufhalten, —
noch iſt er ſo ſtark, allein er kann unendlich viel Anderes, abſolut Bedeu-
tungsvolleres, am meiſten mit Arm und Hand, dann insbeſondere mit den
Füßen; nämlich zunächſt noch abgeſehen von allen Werkzeugen, Waffen,
die er durch ſeinen Geiſt erfindet, gebietet er über eine Summe von
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 11
[162]Bewegungen, deren kein Thier fähig iſt. Seine ganze Haltung hat einen
tonus der ſtraffſten Lebendigkeit, ſchwebend, wie in Stahlfedern ſich
ſchwingend. Auch das Pferd wiegt ſich elaſtiſch, aber mit willenloſerem
Ausdruck, im beweglichen Fußgelenk, das menſchliche iſt feſter, der Fuß
tritt breiter auf, das ganze Muskelleben aber hebt den Leib mit jenem
Ausdrucke des Gehenwollens, der erſt den wahren Druck und Schwung
gibt. Und doch iſt in dieſer emphatiſchen Straffheit Alles weich, warm,
leicht, mühelos. Insbeſondere zeigt ſich die Schwungfähigkeit im Tanze;
dieſer aber gehört ſchon in ein höheres Gebiet.
3. Außer den Zähnen Haare und Nägel. Die letzteren, ein Reſt
der Hufe, Klauen, ſind durchſichtig geworden, laſſen die Blutfarbe durch-
ſchimmern, die erſteren, ein Reſt des Pelzes, beſchränken ſich auf Haupt-
haar, Barthaar, Bruſthaar, Schamhaar, ein beſchattender Anſatz und
Umgrenzung, der den dunkleren Nachdruck zur hellen Haut gibt, wie die
Vegetation zur Landſchaft. Ueber das „ideelle Ineinander der Farben, —
den glanzloſen Seelenduft“ der Haut ſpricht trefflich Hegel Aeſth. B. 3.
S. 71. 72. und erinnert an die feinen Aeußerungen Diderots bei Göthe
in den „Verſuchen über Malerei mit Noten des Ueberſetzers“ (Göthes
Werke B. 36). Es erſcheint hier „durchaus keine Elementarfarbe mehr,
ſondern eine durch organiſche Kochung höchſt bearbeitete Erſcheinung“
(Göthes Farbenl. §. 670). Es handelt ſich aber nicht blos von Farbe;
die haarloſe Haut des Menſchen läßt überall die Form ſehen, während
bei dem Thiere der Pelz ſie bedeckt, was ſie hier, wo weniger ſchön
vertheilte Muskel-Umkleidung ſtatt findet, wo mehr Knochen eckig heraus-
ſtehen, zur letzten Abrundung der Linien freilich auch bedarf. Zugleich
fühlt ſich die Haut warm, ſammten an und dieß ſieht fühlend auch das
Auge. Ueber dieſe Haut iſt nun natürlich eine zartere Empfindung ver-
breitet, als über das Fell; ſie ſammelt ſich als Taſtſinn in den Finger-
ſpitzen zu einer Feinheit, welche dieſer Sinn in keiner Thierpfote haben
kann, denn da dieſe, auch die Hand des Affen, zum Gehen dient, ſo iſt
die Haut rauh und ſchwielig.
Wie nun an dieſer Geſtalt Alles ſpricht, ſo iſt insbeſondere das Haupt
nicht nur die Vereinigung der zu geiſtigem Ausdruck umgebildeten Sinne,
ſondern überhaupt durch Stellung, Geſtalt, namentlich durch die gedankenvoll
hervortretende und dadurch die Grundlinie bedingende Stirn der abſolute Sitz
des unendlichen Ausdrucks, der ſich weſentlich auch durch das Sprachorgan in
2der ſeelenvollen Stimme und in dem articulirten Worte kund gibt. Zugleich
ſteigert ſich hier die Schönheit der menſchlichen Farbe zum höchſten Zauber.
[163]
1. Niemand hat ſchöner, als Herder, nachgewieſen, wie durch die
innere und äußere Organiſation des Kopfs zum perpendiculären Schwer-
punkte der ganzen Geſtalt, durch ſeine gewölbte Form das letzte Thieriſche,
das im Affen auftrat, verſchwindet und der ἄνϑρωπος, das über ſich,
weit um ſich ſchauende Geſchöpf gebildet wird. (Ideen z. Philoſ. d. Geſch.
d. Menſchh. B. 4, I.). Der kleinere Hinterkopf genügt für das kleine
Gehirn, den Sitz des thieriſchen Seelenlebens, die Wölbung nach vornen
mit der herrlich, hoch und breit herabſinkenden Stirne gibt dem geiſtigen
Central-Organe, dem großen Gehirne „den weiten und freien Sammel-
platz, einen Tempel jugendlich-ſchöner und reiner Menſchengedanken.“
Geheimnißvoll, ein Sitz weiſer Geiſter, die über dieſe ſanften, glatten
Rundungen unfaßbar hinſchweben, iſt die Stirne; zur Seite wendet ſie
ſich in die flacheren Schläfe, die aber nicht „den tödtlichen Druck“ des
Affen erlitten und den Ausdruck heimlicher Gedankenarbeit bei einem
gewiſſen durch die zarten hervorſchimmernden Schlagadern und die
einſinkende Fläche gegebenen Hauche des Rührenden fortſetzen. Durch
dieſe Vorwölbung der Stirne iſt nun die ganze Linie bedingt: die Naſe
fällt abwärts, auch iſt ſie mit dem Munde nicht in unmittelbarer Fort-
ſetzung verbunden, wie in der Schnauze der Thiere, deren „geruchartige
Seele“ (Herder) nichts Nöthigeres zu thun hat, als ihren ganzen Bau
ſo in die Naſe zuzuſpitzen, daß Auswittern der Speiſe im Dienſte des
Mundes als Hauptgeſchäft ſich aufdrängt. Die zarten, rothgezeichneten
Lippen mit den feinen Winkeln umſchließen die ſenkrecht aufeinander
ſchließende Perlenreihe der Zähne, die nicht mehr zu Waffen beſtimmt
erſcheinen, und man ſieht dem Organe der erſten Ergreifung und Ver-
arbeitung der Speiſe augenblicklich an, daß es zu höherem, zum melodiſchen,
nicht mehr die Qual des Bedürfniſſes, noch auch die gedankenloſe Luſt,
ſondern eine unendliche innere Welt aushauchenden Tone und zur Sprache
beſtimmt iſt. Nach einem kurzen Abſtande wölbt ſich markig das Kinn hervor.
Kein Thier hat ein Kinn; dieſe runde, durch eine zarte Rinne getheilte
Baſis ſichert erſt dem Haupte ſeinen Ausdruck geiſtigen Gleichgewichts,
bedingt von unten das Zurücktreten des Munds und trägt ſo weſentlich
zur Aufhebung der ſchnappenden Schnauze bei. Eine ſanft gerundete,
durch die Backenknochen mäßig hügeliche Breite dehnt ſich nach Schläfen
und Augen aus. Sicher geſchützt unter den kräftigen Augenknochen, dem
feinen Bogen des Augbrauns, das zugleich markirende Interpunction für
die helle Farbe des Ganzen iſt, von dem Geſimſe der Lider, die nicht
bei allen Völkern ſo kleinlich verſchrumpft ſind, wie bei den germaniſchen,
durch den anmuthigen Schleier der Wimper, leuchtet aus der durch die
Vertiefung in Schatten geſtellten, etwas dunkel incarnirten Umgebung auf
weißem, bläulich angeflogenem Grunde die durchſichtig gefärbte Iris mit
11*
[164]dem ſchwarzen Apfel, dem wechſelnden Lichtpunkte hervor. Dieß Auge
hat nicht die Waldfriſche des Rehs, nicht die ſchneidende Schärfe des
Raubvogels, aber es iſt beweglicher nach allen Seiten, auch nach vornen
und rückwärts, als das thieriſche, denn es dringt im Zorne hervor, ſinkt
im Schmerze und jedem niederſchlagenden Affecte zurück in ſeine Höhle;
es faßt den Gegenſtand anders mit ſeinem Blicke, es ergreift ihn mit
dem Ausdrucke des Wiſſens um ihn und darum kann es durchbohren, wie
kein Thierblick; und ſo iſt es nun überhaupt der aus der verarbeitetſten
Materie geformte Seelenſpiegel, durch deſſen Waſſer man hinunterſieht in
unergründliche Geiſtestiefen. Beſcheiden ſchmiegt ſich die zierliche Muſchel
des Ohrs mit jenem ſchmuckartigen Fleiſchtropfen, den kein Thier hat,
dem Läppchen, an die Schläfe; es hat nicht ſo weit zu hören wie der
thieriſche Löffel, es hat Anderes zu hören und zeigt ſelbſt durch die ſinnigen
Schlingungen ſeines äußeren Baues die Beſtimmung, den abſolut bedeu-
tungsvollen Ton, die Menſchenſtimme und Sprache zum innern Ver-
nehmen zu führen.
2. Die Farbe vereinigt auf dieſem kleinen Runde ihren feinſten
Zauber. Auf dem matt durchſichtigen röthlichen Weiß, dem die durch-
ſchimmernden ſtärkern Adern mit den Schatten der Modellirung die
bläulichen, grünlichen, bräunlichen Töne geben, die nur auf der
geſpannteren Haut der Stirne das ungetheiltere Helle walten laſſen,
breitet ſich das ſanft verſchwindende glanzloſe Roth, die Geſundheitsblüthe
der Wangen, hebt ſich die Zeichnung der Lippen durch ihren rothen Kirſchen-
glanz ab. Neben dem ſchon erwähnten Augbraun und den Wimpern hebt
das magiſch hervorleuchtende Ganze des Angeſichts die dunklere Umbuſchung
der Haupthaare und des männlichen Bartes.
Was dieſe Geſtalt in Ruhe und Bewegung ausſpricht, iſt die reiche Welt
des Geiſtes zunächſt als Seele, d. h. in der Form der Unmittelbarkeit, alſo
die geſammte theoretiſche Thätigkeit, ſoweit ihre abſtracten Verrichtungen erſt
als Möglichkeit in der lebendigen Friſche des Anſchauens ſich kund geben, der
praktiſche Geiſt als natürlicher Wille im Umfang ſeiner Triebe, Neigungen,
Leidenſchaften, das Gefühl als der Schooß, von dem ſie alle ausgehen, als der
innere Wiederklang, der alle begleitet, als der Grund, in den ſie alle zurück-
ſinken. Jede dieſer Formen iſt, mit Vorbehalt ihres verſchiedenen, durch den
jeweiligen Zuſammenhang beſtimmten Werthes, äſthetiſch.
Es kommt zunächſt nur darauf an, den ganzen Menſchen als Leib-
und Seelenweſen aufzuſtellen und ſo denn auch das innere Gebiet, zunächſt
[165] als Naturleben des Geiſtes, mit wenigen Strichen zu verzeichnen. Wie
ſich die Seele zum Geiſte beſtimmt, iſt im Fortgange zu verfolgen, aber
daß das geſammte Geiſtesleben zuerſt in ſeiner Unmittelbarkeit betont
werde, gerade für die Aeſthetik von beſonderer Wichtigkeit; denn ſie will
den Menſchen in ſeiner Lebendigkeit und Friſche, die ihm auch der Fort-
ſchritt zur Reflexion und zum Charakter nicht nehmen ſoll, alſo den
Menſchen, wie ſich im offenen Blicke, mit dem er um ſich ſchaut und die
ſichtbaren Gegenſtände erfaßt, in der Lebendigkeit jedes Sinnes die Anlage
ſelbſt zum tiefſten und in ſeiner wirklichen Ausbildung freilich dem äſt-
hetiſchen Gebiete ſich entziehenden Denken, in jeder Bewegung das Feuer
der Triebe, Neigungen, Leidenſchaften, und im Ganzen die zuſammen-
gefaßte Innerlichkeit des Gefühls ausſpricht. Es kann jedoch nicht die
Aufgabe der Aeſthetik ſein, dieſe ganze Welt ſo zu durchwandern, daß ſie
jeder beſondern Form des geiſtigen Thuns ihre Bedeutung für das Schöne
anweist. Nehmen wir z. B. den natürlichen Willen vor uns, ſo iſt die
ſinnliche Lüſternheit freilich etwas, was wir in einem äſthetiſchen Ganzen
nur momentan und auch dann nur in komiſcher Wendung ertragen können,
dagegen jeder wohlwollende Trieb ſchon die zu durchgreifender Entwicklung
berechtigte Grundlage ſittlicher Geſinnung; doch unter Umſtänden, z. B.
als zu große Weichheit und mit zu ſchwachem Selbſtbewußtſein verbunden,
wird auch der edlere Trieb komiſch. Haß iſt erhaben, wenn er energiſch
dem Böſen, komiſch, wenn er einem ganz unbedeutenden Gegenſtande gilt,
welcher der Leidenſchaft nicht werth iſt u. ſ. w. Rötſcher z. B. hat
in dem beſonderen Intereſſe einer beſtimmten Kunſt den relativeren oder
ſelbſtändigeren Werth einzelner Hauptformen des natürlichen Willens dar-
geſtellt in ſeiner Kunſt der dramatiſchen Darſtellung. Erſt in ſolcher Aus-
führung beſtimmter Sphären kann mehr auf das Einzelne eingegangen
werden. Soweit aber die Aeſthetik die einzelnen Hauptformen des Seelen-
lebens aufzuführen hat, geſchieht dieß im Folgenden, ſofern wir die
realen Sphären des menſchlichen Lebens überblicken, welche ebenſoviele
Beſtimmtheiten der denkenden, wollenden, fühlenden Seele zuerſt in
Naturform, dann in ſittlicher Form zum Inhalt haben.
Es müßte nun die Bewegungsfähigkeit der ganzen Geſtalt, die wir
eigentlich erſt als ruhende dargeſtellt, in dieſem Zuſammenhange erörtert,
der Ausdruck, den ſich die weſentlichen Seelenthätigkeiten durch die
Bewegung der ihnen vorzüglich zugewieſenen Organe geben, verfolgt
werden. Insbeſondere das Haupt würde hier von einer neuen Seite
betrachtet. Allein wir müſſen uns begnügen, im Bisherigen dieſe Seite
nur ganz allgemein berührt zu haben, und das Weitere dem Abſchnitt über
das Mimiſche vorbehalten. So haben wir auch die Beweglichkeit der
Geſtalt an ſich, als ſinnliche zunächſt, in §. 317 nur angedeutet, wir
[166] haben nicht von der Schönheit der einzelnen Bewegungen, des Hiebs,
Wurfs, Sprungs u. ſ. w. geſprochen. Dieß gehört dahin, wo das
Gebiet der Bewegungen im Dienſte der wirklichen Zwecke (z. B. Jagd,
Krieg u. ſ. w.) ſeine wahre Bedeutung findet, wird aber auch hier nur
berührt werden können, denn Ordnung und ſchönes Maß tritt erſt hinein,
wo die Bewegungen Gegenſtand künſtleriſchen Thuns werden (Gymnaſtik
in der Kunſtlehre). Ebenſo kann die Mimik noch nicht ſowohl als Theil
der Lehre vom Naturſchönen, vielmehr erſt als Theil der Kunſtlehre das
Syſtem der ſprechenden Bewegungen durchgehen; doch wird auch hier
die Aeſthetik das ſtrengere Eindringen in das Einzelne der beſonderen
und ſelbſtändigen Behandlung dieſer Gebiete zu überlaſſen haben.
Wie die Geſtalt an ſich, ſo iſt jede Naturbeſtimmtheit, welche in das
menſchliche Weſen durch ſein Zeitleben eintritt, zugleich eine geiſtige. Auf-
blühend und verblühend bewegt ſich das menſchliche Leben in einem Wechſel
von Schlaf und Wachen zunächſt durch den Unterſchied der Altersſtufen
1und erliegt dem Tode. Als vorübergehende Erſcheinung iſt auch der Schlaf
2äſthetiſch und kann rührende Contraſte erzeugen. Unter den Altersſtufen iſt
die unbeſtimmte Weichheit und Unſchuld des Kindes, die leibliche Vertrocknung
und das geiſtige Ausruhen des Greiſes weniger ſchön, als die erwartungsvolle
Blüthe der Jugend und die zur Reiſe der Form gediehene, auf Erfahrung und
3That geſtellte Mitte des Lebens. Krankheit gehört in das Häßliche und kann
nur unter denſelben Bedingungen, wie dieſes, äſthetiſch ſein; der Tod, wenn
er tragiſch iſt.
1. Der Zuſtand des Schlafs ſcheint ein ſchlechter Stoff zu ſein als
der eines Rückfalls in das ernährende Naturleben. Allein die Losſtrickung,
das Hingegoſſene der Glieder, das ſtille Athmen, das Zurückſinken des
Geiſtes in den Schooß des urſprünglichen Dunkels hat ſeine beſondere
Schönheit, ſein eigenthümlich Rührendes. Die Kunſt hat daher den Stoff
als einen günſtigen vielmehr reichlich benützt. (Wir führen hier, wie
bisher, Kunſtwerke als Beiſpiel an, natürlich nicht, um zu zeigen, was
der Künſtler aus dem Stoffe gemacht, ſondern, was ihm dieſer geboten hat).
Lears, Attinghauſens Schlaf; Makbeth mordet, wie der König im Hamlet,
den heiligen Schlaf: „Schlaf, der entrollt der Sorge wirren Knoten, den
Tod von jedem Lebenstag, den Balſam kranker Seelen, den zweiten Gang
im Gaſtmahl der Natur, das nährendſte Gericht beim Feſt des Lebens,“
drum ſoll auch Cawdor nicht ſchlafen mehr, Makbeth nicht ſchlafen mehr.
[167]
Die beſondern Stimmungen der Tageszeiten zu durchgehen würde
uns zu lang aufhalten, die der Jahreszeiten kommen noch anderswo zur
Betrachtung. Von wichtigem Einfluß auf den Menſchen iſt auch das
Wetter im Einzelnen; Reizbarkeit bei Scirocco (Romeo und Jul. Act. 3,
Sc. 1. Anfangsworte Benvolios) u. dergl.
2. Kinder ſind noch zu geiſtesarm und in Formen unbeſtimmt,
zerfloßen, doch unter Umſtänden rührende Motive. Die verſchiedenen
Darſtellungsweiſen des Chriſtuskinds, Hektors Abſchied von Aſtyanax,
das etwas reifere Knabenalter in Shakespeares Prinz Arthur, Söhnen
Eduards, Makduffs Knaben zeigen, was im Stoffe liegt. Shakespeare hat
nicht vergeſſen, das Abſurde im Knabenwitz in ſeine lieblichen Bilder ein-
zutragen. Tieck hat Kinder mitunter zu genial, frühreif, blaſirt hingeſtellt.
Die ſentimentale Kunſt macht großen Lebtag mit der zwar rührenden,
aber werthloſen Unſchuld und eingehüllt ſchlummernden Unendlichkeit des
Kinds; das Komiſche iſt auch nicht zu vergeſſen, Unart, Spiel, Trägheit
zum Lernen, Unflätherei, Nothwendigkeit draſtiſcher Erziehungsmittel. Für
dieſe Seite, wie überhaupt für die Schwächen aller Lebensalter iſt eine
claſſiſche Stelle die grämlichkomiſche Schilderung durch Jacques in So
wie es euch gefällt von Shakespeare (Act. 2, S. 7). — Eigenthümlich
anziehend iſt die Stufe unmittelbar vor der Pubertäts-Entwicklung; die
Knospe iſt halb aufgebrochen, halb noch geſchloſſen, rundliches Anſchwellen
vermiſcht ſich zart mit Magerkeit und ſchüchterner Herbe in den Formen
(dornausziehender Knabe); das Betragen iſt verlegen, ungeſchickt, ungewiß,
wohin man ſich zu zählen habe, zu den Kindern oder zu den Erwachſenen.
Die Knospe ſpringt auf mit der Pubertät: die Formen haben ihre
Bedeutung erhalten, ſie ſind noch nicht in ihrer Fülle ausgewirkt, aber
noch durchaus elaſtiſch; dem Geiſte iſt die Welt aufgegangen, aber nur
innerlich als Ideal, erfahrungslos ſchwärmeriſch, träumeriſch, ſtolz und
ſchamhaft. Ganz Zukunft: darin liegt der große Reiz, aber auch der
Mangel der Schönheit dieſes Alters. Mit dem Momente der höchſten
Reife nun iſt die volle Roſe offen, aber es iſt auch nur ein Moment.
Die Schönheit iſt in dieſem Augenblicke, ſo ſcheint es, die höchſte, allein
wenn durch Kinderzeugung, Arbeit, Kampf der Erfahrung die Formen
ſchon etwas ſpröder, trockener werden, die Friſche der Haut zu erſchlaffen
beginnt, ſich die erſten Furchen zeigen und zugleich auch andrerſeits ein
Anſatz von Ueberfülle ſich einſtellt, ſo entſteht doch eine neue und eine
offenbar höhere Schönheit, wogegen jene Blüthe geiſtloſer erſcheint. Dieſe
Schönheit, die Schönheit des reifen Alters, iſt die höchſte der menſchlichen
Erſcheinung; die Formen ſind ſatt, das Gefäß iſt ganz ausgefüllt, ſie haben
jetzt erſt den Ausdruck des Gewollten, des Eigenthums und dienſtwilligen
Organs, worin ſich der Geiſt eingewohnt; dieſer iſt ebenfalls erfüllt, in’s
[168] Leben hineingewachſen, die erwartete Unendlichkeit hat ſich beſchränken
müſſen, allein nur in der Beſchränkung wird das Höchſte erreicht; die
Idee als Perſönlichkeit iſt nun erſt wirklich, real, ganz Gegenwart. Auf
die Hochebene dieſer dauerhaften Lebensſtufe folgt allmählich das Greiſen-
alter. Der Körper erlahmt, vertrocknet, die Haut zieht ſich in Falten,
die Sinne ſchwinden, der Geiſt wird in der Richtung, welche das Wirkliche
anfaßt, ſtumpfer, zieht ſich aus den Kämpfen des Lebens in Ruhe, Beſchau-
lichkeit, Weisheit, Rath zurück, ſchwebt milde über dem Leben, blickt mit
Sehnſucht in die Vergangenheit und kehrt zur Kindheit zurück wie der
Körper durch die wachſende Hilfloſigkeit. Der Greis wird dadurch eine
rührende Erſcheinung, doch wenn gerade die Schwäche hervortritt, wirkt
ſie nur im rechten Zuſammenhange gut (Lear); wir wollen auch den
Greis noch gewaltig wie Neſtor, Priamus, heiter wie Anakreon,
Göthe ſehen; der durchfurchte Körper mit dem weißen Haupte muß
mehr als ehrwürdige, denn als hilfsbedürftige Erſcheinung wirken. Am
rechten Orte mögen aber auch die Schwächen des Greiſes komiſch wirken
(Polonius, Capulet).
3. Krankheit: gehört freilich im Grunde unter die Uebel, die wir
als ein Häßliches, das ſich in’s Furchtbare oder Komiſche bewegen muß,
um äſthetiſch zu werden, überall nicht beſonders erwähnen. Aus ihr
gehen z. B. viele bleibende Entſtellungen hervor, durch welche der menſch-
liche Leib ins Thierähnliche ſinkt und komiſch oder unheimlich wird. Es
wäre intereſſant, zu verfolgen, wie durch dieſe und aus andern Urſachen
entſtandene Entſtellungen das Thier aus dem Menſchen ſchnappt, pickt,
gähnt, blöckt, rudert, wackelt u. ſ. w. Die Krankheit ſelbſt wird als
unmittelbar phyſiſches Leiden nur ſelten zur Anſchauung kommen können
ohne Verletzung der Schönheit, ſelten ſo ergreifend wie König Johanns
Fieberhitze durch Shakespeares Künſtlerhand, immer aber nur als vor-
übergehender Moment und als Wirkung oder Folge ſittlicher Erſcheinungen,
denn wir ſind jetzt im Gebiete der Schönheit, die immer auch wirklich
geiſtige Bedeutung haben muß. Tod: ein Auslöſchen aus Schwäche
(Götz von Berlichingen, Attinghauſen) oder durch Gewalt: das Hin-
geſchmettertwerden, die Wunden, wo Schuß und Hieb ſicher ſitzt und der
Röchelnde dumpf hinraſſelt in den lang hinſtreckenden Tod, hat beſonders
Homer mit unnachahmlicher Naturwahrheit dargeſtellt. Wie weit dürfen
die Einzelnheiten, die letzten Zuckungen u. ſ. w. vor die Anſchauung treten?
beantwortet ſich aus dem, was wir überhaupt vom Häßlichen geſagt
haben. Sterbender Held von Selinunt, berühmt durch die treffliche Wieder-
gebung des Hippokratiſchen Geſichts. Leichnam: ſchön, wenn man ihm
die Charakterfurchen des Lebens neben dem entſeelten Ausdrucke der
Schwere anſieht. Verſchiedene Behandlung des Leichnams Chriſti. Die
[169] Erſcheinung hat aber ihre Bedeutung durchaus nur in dem Zuſammen-
hang einer der Formen des Tragiſchen.
Die menſchliche Schönheit theilt ſich als Gattung in die männliche1
und weibliche. Jene drückt durch die Strenge, womit die Maſſe des
Körpers bezwungen und zu ſcharfer Beſtimmtheit gebunden iſt, die als Einſicht
und Wille thätige, dieſe durch den ununterbrochenen Fluß der weicheren und
rundlichen Umriſſe, in welchen die freiere Fülle des Stoffes ſpielt, die in
Naturdunkel verſenkte, in ungeſchiedener Einheit der Empfindung webende
Perſönlichkeit, die Beſtimmung des Empfangens aus: dort Erhabenheit oder
Würde, hier Anmuth. Dieſe Gegenſätze ergänzen ſich durch Bildung und durch2
den Tauſch der Liebe.
1. Der Geſchlechtsgegenſatz hätte, wie die meiſten hier aufgeführten
und aufzuführenden Naturelemente des Geiſtes, auch bei den Thieren
berückſichtigt werden können; es ſind dieß aber lauter Beſtimmtheiten, die
erſt da ihre ganze Bedeutung erhalten, wo ſie ſinnlich geiſtige ſind. In
den meiſten Thierarten iſt das Männchen ſchöner, als das Weibchen, in
einigen das Weibchen; immer aber jenes ſtärker, ſtolzer, muthiger. In
der menſchlichen Gattung aber macht ſich auf dieſem Punkte mit beſonderer
Deutlichkeit der Satz §. 73, 1. geltend, daß das Schöne, indem es
wirklich wird und den Momenten ſeiner Einheit verſchiedene Stellungen
gibt, neben das Erhabene jene harmloſere Anmuth ſetzt, welcher die
Großheit des einfach Schönen, die nun an das Erhabene übertragen iſt,
abgeht. Die menſchliche Schönheit — um hier einige Sätze der trefflichen
Abhandlung über die männliche und weibliche Form von W. v. Humboldt
(geſamm. Werke B. 1) aufzunehmen — ſpezifizirt ſich und ſtellt zwei
getrennte Hälften eines unſichtbaren Ganzen auf, die einander fordern,
ſo daß der Betrachtende unbefriedigt von der einen zur andern übergeht
und nur in der Wechſelergänzung die höhere Einheit, die Menſchheit findet.
In der männlichen Geſtalt iſt die Maſſe mehr durch Form bezwungen,
ſie ſtellt die Regel dar. Die ſtärkeren Knochen, die hervorragenden Sehnen
begründen ſcharfe Umriſſe, wenig von Fleiſch gemildert. Alle Ecken
ſpringen ſchneller und minder vorbereitet hervor, der ganze Körper iſt in
beſtimmtere Abſchnitte getheilt und gleicht einer Zeichnung, die eine kühne
Hand mit ſtrenger Richtigkeit, aber wenig bekümmert um Grazie, bis an
die Grenze der Härte, entwirft. Die geſpannten Muskeln verkündigen
heftige Entladung der geſammelten Kraft nach außen und athmen den
Charakter der Thätigkeit, ſo wie die ſtrenge Beſtimmtheit des Ganzen das
[170] Gepräge des Verſtandes trägt. In der weiblichen Geſtalt dagegen herrſcht
freiere Fülle des Stoffs. In ununterbrochener Thätigkeit der Umriſſe
ſcheint ein Theil aus dem andern gleichſam auszufließen. Das Ganze
verkündigt die Geſchlechtsbeſtimmtheit des Empfangens und die liberalere
Herrſchaft des Geiſtes in der Form des Gefühls. Die trefflichen Bemer-
kungen gehen nur zu wenig auf die einzelnen Formen ein. Die ganze
weibliche Geſtalt iſt vor Allem weſentlich durch das Becken und die
dadurch gegebene Breite der Hüfte beſtimmt. Daher müßen ſich die aus-
gebogenen Schenkel gegen das Knie hin wieder einbiegen und von da
biegt ſich das Schienbein ſanft wieder aus. Ueber der breiten Hüfte
erſcheint die Taille doppelt ſchlank; die Bruſt durfte ſich, da ſo viel Stoff
an die Hüfte abgegeben war, nicht mächtig ausbilden und die Brüſte
ſprechen die Beſtimmung zum Säugen wie die Hüfte die zum Empfangen,
Schwangergehen und Gebären aus. Die Schulter hat daher einen
ſchnelleren Fall; auf dem ſchlankeren und längeren Halſe ruht der ſanfter,
mit niedrigerer Stirn gebildete Kopf. Die ernährende Thätigkeit, beſtimmt,
in leichtem Säftelauf den empfangenen Keim zu ſpeiſen, ſetzt überall das
reichere Fett ab und vermittelt ſo jeden Uebergang durch ſanft ſchwellende
Hügel, Rundungen, Einſenkungen. Durch dieſen herrſchenden Ausdruck
der Geſchlechtsbeſtimmung iſt das Weib ungleich mehr Naturweſen, als
der Mann mit der höheren Stirn, den ſchärferen Zügen, den ſtärkeren,
eckiger abſtehenden Schultern, der breiten Bruſt, der ſchmäleren Hüfte,
den geraden Beinen; er erſcheint durch ſeine Geſchlechtstheile zum Zeugen,
durch das Gepräge ſeiner ganzen Geſtalt aber zum freien Handeln, zur
Allgemeinheit des geiſtigen Zwecks beſtimmt. Das Weib gleicht den
Element-Thieren, der Mann den freieren Landthieren. In dieſer Natur-
beſtimmtheit des Weibs gibt ſich die Form ihres geiſtigen Lebens ihren
Ausdruck; dieſe iſt Geiſt in ahnenden Inſtinct eingehüllt, geiſtiges Taſten;
die Entgegenſetzung von Subject und Object wird nicht mit vollem
Bewußtſein vollzogen, daher iſt das Weib ſubjectiver, weil ſie im wogen-
den Gefühlsleben ſich und die Dinge nicht ſtreng zu ſcheiden vermag, ſie
iſt objectiver, weil ſie ebendadurch noch zu der Natur gehört, der ſie ſich
nicht mit dem inneren Bruche der freien und kämpfenden Perſönlichkeit
gegenüberſtellt. Fragt man, welches von beiden Geſchlechtern ſchöner ſei,
ſo muß man ſich wohl hüten, den ſtoffartigen Reiz in Rechnung zu
nehmen, der jedes Geſchlecht dem andern als das ſchönere erſcheinen läßt.
W. von Humboldt ſagt, die männliche Bildung befriedige ſichtbarer
durch Richtigkeit der Verhältniſſe die Anforderungen der Kunſt, der
Künſtler müße damit anfangen; erſt ſpäter könne er auch die Noth-
wendigkeit im weiblichen Körper fühlen, dieſer ſei ſchwerer, denn er ſei
geſetzmäßig und doch ſei der Schein der Geſetzmäßigkeit zu vermeiden;
[171] da aber Freiheit von allem Zwang die Seele der Schönheit ſei, ſo ſei
er, da kein Theil in ſtraffer Beſtimmtheit ſich vordränge, ſchöner. Allein
dieſe Zwangloſigkeit iſt auch zu unbeſtimmt, zu zerfloßen, verſchwommen,
wie im Manne umgekehrt zu beſtimmt und ſcharf die Regel herrſcht.
Man muß den Bau und die Geiſtesform, die er ausdrückt, zuſammen-
nehmen und ſo ſtellt ſich auf beide Seiten ein ganzes Schönes, eine
Einheit von Idee und Bild, Geiſt und Natur. Dieſe Einheit iſt im
Weibe unmittelbarer, liberaler, ſie iſt durch keinen Kampf gegangen; im
Manne ſtrenger, denn ſie iſt Einheit aus und durch Scheidung. Allein
die Idee, die noch nicht in Scheidung getreten, iſt wirklich auch in ihrer
Tiefe und Kraft noch nicht da, der Ausdruck des Denkens und der Frei-
heit iſt mit jener harmloſen Anmuth nicht vereinbar. Es fehlt dem
Körperbau, dem Ausdruck, dem Thun der letzte Druck, die rechte Schneide;
das Weib iſt undeutlich wie halbverwiſchte Schrift an Leib und Seele.
Im Manne iſt Beſtimmtheit und geht freilich auf Koſten der Zufälligkeit,
aber es iſt doch die ganze Idee da, die in dieſer walten und herrſchen ſoll.
Ein bedeutendes Kunſtwerk, deſſen Gehalt immer eine große ſittliche Idee
ſein muß, kann ſeinen Gehalt nur durch eine Vereinigung von Männern,
nie von Weibern darſtellen, dieſe können nur einzeln darin auftreten.
Alſo: wie weder der Mann noch das Weib der Menſch iſt, ſondern nur
der Mann und das Weib, ſo ſind auch nur beide zuſammen die ganze
menſchliche Schönheit; wie aber der Mann eher allein ſtehen kann und
Männer zuſammen etwas ausführen können, was groß iſt, nicht aber
Weiber zuſammen ohne Männer, ſo hat der Mann bei der Vertheilung
der Schönheit an beide Geſchlechter zwar nicht das Ganze, aber einen
größeren Theil des Ganzen erhalten. Die verſchiedenen Stadien männ-
licher und weiblicher Schönheit hat die antike Plaſtik reichlich angebaut.
W. v. Humboldt nennt die bedeutendſten Werke. Ein Verſuch, die
ganze Schönheit, die unſichtbar zwiſchen beiden Geſchlechtern ſchwebt, in
einem Dritten zu vereinigen, war der Hermaphrodit: trotz allem Reize
der Ausführung widerlich.
2. Es muß uns hier frei ſtehen, in das anthropologiſche Gebiet
mehr aufzunehmen, als ſonſt geſtattet wäre, die fertige, ſittliche Welt
vorauszuſetzen und ſo das Verhältniß der Geſchlechter in ſeiner ganzen
Bedeutung aufzufaſſen. Jedes Geſchlecht muß ſich durch das andere
wirklich ergänzen; das Weib mehr, als der Mann. Wie jenes leiblich
zum Empfangen beſtimmt iſt, ſo geiſtig; Erziehung und Bildung durch
Männer gibt ihr zur Anmuth die Würde, denn ſie gibt ihr Charakter.
Das Weib hat ihren Schwerpunkt, ihr Ich außer ſich, ſie wird erſt durch
den Mann perſönlich und frei. Fehlt ihr die Zucht, ſo ſtürzt ſie haltlos
in das Böſe und wird häßlicher, als der rohe Mann. Der Mann aber
[172] ſoll ſich durch das Weib ergänzen und Würde in Anmuth kleiden lernen.
Seine Perſönlichkeit, auf Herrſchaft des Denkens und Willens, auf Kampf
gewieſen, ſetzt wildere Sinnlichkeit, entfeſſeltere Begierde voraus; der
Ausdruck der Kraft macht auch die Verwilderung erträglich, aber an der
Hand der ſanften Naturnothwendigkeit des edlen Weibs ſoll das Band
der Harmonie die kämpfenden Extreme ſeiner Perſönlichkeit verſöhnen. Die
Wechſel-Erziehung beider Geſchlechter iſt theils die allgemeine durch die
Geſellſchaft, theils die beſondere durch das Verhältniß des Kinds zur
Familie, theils die einzelne und innigere durch die Liebe. Der Mann
ſucht und liebt im Weibe die Natur, ihre ſtille Nothwendigkeit, ihr unbe-
wußtes Dunkel, er liebt ſie aus demſelben Grunde, aus welchem wir uns
nach der Pflanzen- und Thierwelt, nach dem Zuſtande der Naturvölker
und Griechen ſehnen; das Weib liebt den Mann, wie die Natur ſich ſehnt,
ſich zum Geiſte zu befreien und Ich zu werden, wie das Kind groß und
ein Mann werden möchte, wie Alcibiades den Sokrates ahnend bewundert
im Sympoſion. Das Pathos der Liebe muß nun näher betrachtet werden.
Die Leidenſchaft der Liebe b[e]ruht auf einer durch individuelle Wahlver-
wandtſchaft berechtigten Verwechslung einer einzelnen Perſon mit dem Inbegriff
aller Vorzüge ihres Geſchlechts. Der äſthetiſche Stoff erweitert ſich durch ſie
zu der höheren Erſcheinung einer Perſönlichkeit, in welche zwei Perſonen auf-
gehen, deren jede ihr Selbſt hingibt, um es in derſelben Hingebung der andern
verdoppelt zurückzuerhalten: eine unerſchöpfliche Quelle von Schönheit und, durch
zahlloſe Arten des Zuſammenſtoßes mit der umgebenden Welt, von tragiſchen
und komiſchen Entwicklungen. In der abſoluten Hingabe der ganzen Perſon iſt
die leibliche von ſelbſt miteingeſchloſſen, aber nur als Schluß und Zeugniß der
geiſtigen.
Ein ſo geläufiger Stoff bedarf keiner Erläuterung noch einer Hin-
weiſung auf die Kunſtwelt, die ihn in unendlichen Formen benützt hat.
Romeo und Julie, dieß Trauerſpiel, das „die Liebe ſelbſt dictirt hat“,
werde allein genannt, um die Tiefe und Fülle dieſer Quelle der Schönheit
mit einem Blicke zu vergegenwärtigen. Wie vielſeitig der Stoff ſei, zeigt
ſelbſt eine flüchtige Andeutung ſeiner weſentlichſten Momente. Das erſte iſt
die Entſtehung der Liebe aus geheimem Anklang. Die Wahlverwandten
haben das Recht, ſich gegenſeitig für den abſoluten Mann und das abſolute
Weib zu halten, denn es iſt ein geheimes Naturgeſetz in der Perſönlichkeit,
das ihnen ſagt, daß ſie zuſammengehören, und der ſchöne Irrthum iſt
nur, daß ſie ſich, während jedes nur für das andere der Inbegriff der
[173] Geſchlechtsvorzüge iſt, gegenſeitig für ſchlechthin abſolut halten, ſo daß
die andern Perſonen des Geſchlechts als Nullen erſcheinen. Freilich kann
das Gemüth ſich auch über die Zuſammengehörigkeit täuſchen und dieß iſt
ſchon eine Quelle tragiſcher (Göthe’s Wahlverwandtſchaften) oder komiſcher
Schickſale. Die Liebe wächst, wird reif, ſtößt auf die Hinderniſſe, welche
ihr die umgebende Welt entweder ungerecht durch Laune und ſinnloſen
Zufall oder im Rechte eines wichtigeren, größeren Zuſammenhangs, für
den ſie die Perſonen in Anſpruch nimmt, bereitet: die Beſiegung jener
führt zum Komiſchen, das Unterliegen unter dieſe und die Erhebung im
Untergang iſt tragiſch. Die Unſchuld und Heiligkeit der ſinnlichen Beſieglung
des Bundes iſt nirgends ſchöner ausgeſprochen, als in Juliens Monolog.
Daß aber auch ein Reichthum komiſcher Motive im ſinnlichen Momente
der Liebe liege, wurde ſchon in der Lehre vom Komiſchen vielfach berührt.
Das Komiſche fließt aus der Trennbarkeit des Sinnlichen von dem Gei-
ſtigen, deſſen Zeuge und Schluß es ſein ſoll. Die Trennung braucht,
damit komiſche Beleuchtung entſtehe, keine wirkliche zu ſein; freier Humor
kann im Bewußtſein, das Getrennte leicht wieder zuſammenzufaſſen, die
Momente der Liebe ſpielend in ſeiner Darſtellung trennen und in wider-
ſprechendes Durcheinanderſchimmern ſtellen. Das Komiſche verlangt, daß
aus dem Idealismus der Liebe ſinnliche Regung hervorſchimmere, aber
jener darf nicht als Täuſchung in platten Genuß auslaufen nach der
Philoſophie des Mephiſtopheles; umgekehrt muß die rohe Begierde ſelbſt
wenigſtens den Schein der Vergeiſtigung des Weibes bedürfen und ſuchen,
um irgend komiſcher Stoff werden zu können. Ebenſo verhält es ſich mit
Eigennutz, Ehrgeiz und andern Triebfedern, die ſich in die Liebe ein-
ſchleichen oder ihre bloße Maske anlegen. Ueberhaupt aber geht die Liebe
am Rande des Komiſchen hin aus demſelben Grunde, aus dem ſie ſich
am Abgrunde des Tragiſchen bewegt: es ſteht der ſubjectiven Unendlichkeit
eine objective Welt gegenüber, welche dem erfahrungsloſen Idealismus
dieſes jugendlichen Pathos als unberechtigte Proſa erſcheint, deren ſtrengere
Berechtigung es aber in tauſend Anſtößen zu erfahren bekommt.
Zucht und Vollendung der Liebe iſt die Ehe, welche erſt die einſeitige1
Schönheit der Geſchlechter thätig ergänzt. Als unbewegter Zuſtand iſt ſie ein
äſthetiſch weniger günſtiger Stoff, die Störung aber, ſei ſie innere oder äußere,
bringt die ungleich mächtigere Tiefe und Stärke dieſes beruhigteren Pathos in
furchtbaren Erſchütterungen und herrlichen Thaten der Tugend zu Tage; zugleich
geht durch vielfache innere Störungen unſchädlicher Art und durch zahlloſe
Reibungen mit dem Kleinen, welche dieſe Einwohnung der Liebe in die Wirk-
[174]2lichkeit mit ſich bringt, eine neue Quelle des Komiſchen auf. Die Ehe erweitert
ſich zur Familie, worin die verſchiedenartige Liebe zwiſchen mehreren Gliedern
aus vielen Perſonen Eine reich belebte Perſönlichkeit ſchafft: die Wurzel des
Völkerlebens, ehrwürdige Grundſäule und Vorbild des Staats, worin ein Schooß
unendlicher äſthetiſcher Stoffe gegeben iſt.
1. Der gährende Wein der Liebe wird ruhig und ſtill in der Ehe.
Dieſe wurde eine Zucht genannt nicht nur überhaupt als Schule der
Liebe und gegenſeitige, wiewohl vom Manne thätiger ausgehende Erziehung
der Perſönlichkeit, wodurch die Anmuth des Weibes, das nun ſeine
Beſtimmung erreicht, erſt der wahren Würde theilhaftig wird, ſondern
auch näher als Reinigung der Sinnlichkeit durch den weihenden Act,
welchen die Sitte der Völker zwiſchen den Bund der Gemüther und ſeine
ſinnliche Vollziehung geſetzt hat. Das Schöne kennt und entfaltet zwar
wohl eine Welt, worin die Sinnlichkeit unſchuldig iſt, wie ſie es ſein ſoll,
und in ungetrenntem Verlaufe ihren reinen Genuß an die innere Hingabe
knüpfen darf (vergl. §. 60, 1.); allein auch im Schönen hat dieſer Kreis
ſeine Grenze und iſt nur wie eine glückliche Inſel, denn die unreine Welt
mit der Gefahr der Ausartung, welche im unmittelbaren Uebergang zur
ſinnlichen Vollziehung liegt, dieſe ganze Wirklichkeit, welche ohne die
Schranken des Geſetzes und der Sitte in jede Zerrüttung fiele, dieß iſt
ja eben auch die Welt, worin das Schöne ſeine weiteſten und größten
Stoffe findet und deren ſcheinbare Proſa es daher nicht ſcheuen darf. So
iſt es ja auch nichts weniger als proſaiſch, wenn Julie, ehe ſie ſich dem
Romeo hingibt, auf Ehe dringt und getraut wird, und wird das ſinnliche
Feuer in dieſer Tragödie dadurch im Geringſten nicht geſchwächt. Die
Ehe als dauernder Zuſtand nun wird allerdings nur durch Störungen
äſthetiſch, denn ihr Charakter iſt, daß die Liebe als ein Beſonderes für
ſich nicht mehr wahrgenommen wird, ſondern beide Perſönlichkeiten ſo
durchdrungen hat, daß ſie ihren weiteren Thätigkeiten ruhig nachgehen.
Die Erſchütterung aber bringt zu Tage, daß das Pathos, je ſtiller, um
ſo tiefer und mächtiger geworden iſt. Innere Störung ernſter Art: Untreue
oder zerſtörende Eiferſucht auf einen Schein der Untreue begründet (Othello:
„lieb’ ich dich nicht mehr, ſo kehrt das Chaos wieder“). Aeußere Störung:
Probe der Treue (Göz zu Eliſabeth: „Du bleibſt bei mir.“ Eliſ.: „Bis
in den Tod“). Die komiſchen Störungen müſſen unſchädlich ſein, zunächſt
objectiv und an ſich. Hier dringen alle die kleinen Uebel herein, die in
der täglichen Reibung der Charaktere, theils der gegenſeitigen an den
Launen, Eigenheiten, Gewohnheiten u. ſ. w., theils der gemeinſchaftlichen
an der kleinen Noth, den Mühen, Widerwärtigkeiten in Erwerb, Ver-
waltung des Beſitzes, Ernährung u. ſ. w. begründet ſind. Man darf
[175] unter zahlloſen Benützungen dieſes Stoffes durch die Kunſt nur an
Siebenkäs und Lenette denken. Dieſes Beiſpiel zeigt aber auch bereits,
daß das zunächſt Unſchädliche ſehr ſchädlich ſein, ja die Ehe zerſtören
kann, und umgekehrt kann auch das Schädlichſte im Sinne des Komiſchen
als ein Unſchädliches erſcheinen, je nach dem Lichte, das auf das Ganze
fällt. Die Eiferſucht kann ebenſo komiſch als tragiſch ſein; die Untreue
kann freilich nie komiſch erſcheinen, wo ſie eine vorher gute Ehe zerſtört,
aber an einer gemeinen Ehe, die vorher ſchon ein Zerrbild der guten iſt,
iſt auch durch ſie nichts zu verderben und dieſe Dauerhaftigkeit des
Schlechten kann allerdings komiſch erſcheinen.
2. In der Familie fließt die Liebe des Vaters zur Mutter, der
Mutter zum Vater, beider zu den Kindern, des Kindes zu den Eltern,
der Kinder unter ſich in Eine Liebe, Eine geiſtige Perſon zuſammen und
iſt dieß ein um ſo reicheres Schauſpiel, da jedes unter dieſen die andern
wieder mit einer andern Liebe liebt. Daß Zerſtörung der Familienliebe
Zerſtörung der Menſchheit, Weltuntergang iſt, ſpricht in gewaltigen Lauten
Shakespeare im König Lear aus. Laokoon. Niobe. Fruchtbares Motiv
des Kindermords in Bethlehem. Colliſionen: Vaterliebe mit Mutterliebe:
Oreſtie, Bruderliebe mit Geſetz: Antigone, Bruderliebe und Leidenſchaft
der Liebe zum Weib: Braut von Meſſina. Der Liebesbund der Familie
bietet aber auch des Komiſchen genug dar und wohl ihm, wenn er ſelbſt
dieſen Stoff frei auffaßt und die Glieder nicht in Sentimentalität ſich
verhätſcheln, was zur ſchlimmſten Heuchelei führt. Sie behalten im
Wechſeltauſch der Liebe einen guten Reſt des Eigenſinns zurück, bemerken
gegenſeitig ſehr wohl ihre Schwächen und im guten und geiſtigen Hauſe
erzeugt ſich daraus das behagliche Element des Familienhumors.
β.
Die beſonderen Formen.
Durch die unendliche Verzweigung der Familien hat ſich das menſchliche1
Geſchlecht über die Erde verbreitet. Es theilt ſich, weil die abſolute Form
gefunden iſt, nicht in Arten, ſondern nur in Racen, welche durch Körperbau
überhaupt, Form des Schädels, Geſichtsbildung, Haut, Temperament und Anlage
ſich unterſcheiden. Unter dieſen iſt nur die kaukaſiſche als wahrhaft äſthetiſche2
Erſcheinung anzuerkennen, denn nachdem die Aeſthetik aus dem Thierreich in
die menſchliche Welt eingetreten iſt, genügt ihr nur der in §. 317 ff dargeſtellte
[176] rein menſchliche Typus, welcher zugleich mit dem ſchönen Gleichgewichte des
Temperaments und der Anlagen nur in dieſer Race ausgebildet iſt. Die andern,
mehr oder weniger thierähnlichen Racen können daher nur in unterordnender
Zuſammenſtellung und Contraſt mit ihr als äſthetiſcher Stoff auftreten.
1. Bisher war von ſolchen anthropologiſchen Formen die Rede,
welche das Menſchengeſchlecht überall begleiten und daher, wiewohl ſie
Differenzen enthalten, allgemeiner Art ſind; jetzt wird zu feſtſtehenden
Unterſchieden, welche jene allgemeinen Formen ſelbſt in ihre Kreiſe ziehen,
übergegangen und zwar natürlich zunächſt von der Verzweigung der
Familien zu den Racen. Die Aeſthetik hat ſich nicht in die ſchwierige
Frage nach der Entſtehung derſelben einzulaſſen; wenn man aber dagegen,
daß die klimatiſchen und anderweitig phyſikaliſchen Beſtimmtheiten der
Wohnſitze die Urſache dieſer Abartungen ſei, die bekannte Beobachtung
geltend machen will, daß in einerlei Erdſtrich jetzt verſchiedene Racen
auftreten und daß eine Race, in einen anderen Erdſtrich verſetzt, keines-
wegs von ihrem Typus laſſe, ſo iſt dieß keine Widerlegung. Die Racen
müſſen entweder auf verſchiedenen Punkten nach Maßgabe der telluriſchen
und klimatiſchen Bedingungen entſtanden und ſo das Menſchengeſchlecht
von mehrerlei Individuen ausgegangen ſein oder ein urſprünglich gleicher,
an Einem Ort entſtandener Menſchentypus muß zur Zeit, da er noch
weicher und bildſamer war, unter den Einflüßen veränderter Sitze in dieſe
Typen auseinandergegangen ſein, und in beiden Fällen verſteht ſich, daß,
was am urſprünglich bildſamen Stoffe geſchah, ſich ſofort verfeſtigt und
die gleichen Bedingungen an der eingewurzelten und verhärteten Form
nicht mehr daſſelbe bewirken. Für die Aeſthetik nun iſt dieſe älteſte
Bildungsgeſchichte zwar gleichgiltig, aber das fortdauernde Zuſammenſein
der Race mit der Natur, zu welcher ihr Typus gehört, eine weſentliche
Forderung; ſie will den Kaukaſier in ſeinen breiten und milden Strom-
thälern zwiſchen Mittelgebirgen, an ſeinen auffordernden Meerküſten, ſie
will den Mongolen in ſeinen Steppen, über ſeine Schneegefilde mit den
ſchiefgeſtellten, ſchmalgeſchlitzten Augen hinblinzend, ſie will den Neger in
ſeinen glühenden Sandwüſten, in ſeiner erſchlaffenden Tropen-Natur ſehen.
Allein freilich dieſe entſprechende Umgebung iſt vielfach verſchoben; der
Mongole iſt in die fruchtbaren Stromflächen Chinas gedrungen und zeigt
ſich hier in anderen Umgebungen, als in den Hochſteppen und Schnee-
feldern des nördlichen Aſiens, wo urſprünglich ſeine Geſtalt zu der breiten
und ärmlichen Form einfror, die wir an ihm kennen; der Neger findet
ſich ebenfalls in verſchiedenen Zonen u. ſ. w. Dieſe Verſchiebungen des
Zuſammengehörigen bereiten jedoch hier keine Verlegenheit, denn aus dem
Grunde, der unter N. 2 im §. ausgeſprochen iſt, haben wir den Racen-
[177] Unterſchied nur flüchtig zu berühren, wovon ſogleich mehr. Bei den Völkern
der kaukaſiſchen Race aber ſind dieſe Verſchiebungen theils ſo bedeutend
nicht und bleibt der äſthetiſche Einklang mit der Naturumgebung in Kraft,
theils wo ſie ſtattfinden, iſt die Ueberwindung der Einflüſſe der Natur-
umgebung durch Bildung ſelbſt wieder eine in anderweitigem Zuſammen-
hang wichtige äſthetiſche Erſcheinung. — Unter den Merkmalen, wodurch
ſich die Racen unterſcheiden, iſt das Temperament genannt. Bekanntlich
hat man es im weiteſten Sinne auf die Racen angewandt und dem Neger
das ſanguiniſche, dem Mongolen das melancholiſche, dem Amerikaner das
phlegmatiſche, dem Malayen das choleriſche zugetheilt, von den kaukaſiſchen
Völkern aber geſagt, daß ein Gleichgewicht der Temperamente, zwar aller-
dings unter Vorherrſchen des Choleriſchen, ihren Grundzug bilde. Wir
können uns dieß ohne weitere Unterſuchung gefallen laſſen, verweilen aber
hier noch nicht weiter bei dem Temperamente, wiewohl es im äſthetiſchen
Gebiete, wo wir den Geiſt durchaus in ſeinem Natur-Elemente webend
erblicken wollen, von Wichtigkeit iſt; es tritt uns erſt näher in den Völkern
kaukaſiſcher Race, dann in den Individuen.
2. Die Zählung und Beſchreibung der Racen überlaſſen wir der
Anthropologie. Es mag rathſam ſein, mit Cüvier nur drei Racen, die
kaukaſiſche, mongoliſche und äthiopiſche zu zählen, die amerikaniſche als
Uebergang zwiſchen der kaukaſiſchen und mongoliſchen, die malayiſche
zwiſchen jener und der äthiopiſchen anzuſehen. Alle nicht kaukaſiſchen
ſtreifen mehr oder weniger an’s Thieriſche, am meiſten die äthiopiſche; ſie
iſt affenähnlich, die mongoliſche, wenn man die ſchmalen Augen ausnimmt,
eulen- oder katzenähnlich, die amerikaniſche hat neben den mongoliſchen
Backenknochen viel von dem ramsnaſigen Mecklenburgerpferde. Der
malayiſche Typus ſchwankt, nähert ſich am meiſten dem kaukaſiſchen. Um
dieſer Thierähnlichkeit willen werden wir keine Scene, worin die wilden,
halbwilden oder nur phantaſtiſch gebildeten Menſchen dieſer Racen allein
auftreten, ſchön nennen. Das Thier kann, allein auftretend, ſchön ſein,
denn es iſt in der anſpruchsloſen Armuth der Stufe des Lebens, auf die es
geſtellt iſt, reich; wo aber Menſchen wirken, da wollen wir auch den reifen
Menſchen ſehen, nicht den halbgebackenen, verhärteten oder überkochten
„bis in den Sitz der Seele geröſteten“ (Lichtenberg). In einem Kampfe,
Heerzuge mögen Mongolen zwiſchen Kaukaſiern ihre Roſſe tummeln, Neger
mögen als Sklaven Mitleid erregen, im Piratenſchiffe, im perſiſchen Heere
unter weißen Menſchen mitfechten, bei dem Tode des General Wolfe mag
eine Rothhaut trauernd zur Seite kauern: da wirkt Zuſammenſtellung und
Contraſt. In Shakespeares Othello iſt die Hauptperſon (eigentlich ein
Araber) als Mohr dargeſtellt, aber auch gerade dem Seltſamen dieſer Er-
ſcheinung eines der tragiſchen Motive entnommen. Muley Haſſan im Fiesko.
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 12
[178]
Die ſchöne Race theilt ſich, wie die andern, in Völkergruppen, Völker,
Stämme. Der leiblich geiſtige Unterſchied derſelben iſt ein durch die geſammte
Natur-Umgebung beſtimmter und ſo wirkt dieſe, wie ſie urſprünglich bildend
eingriff, neben der menſchlichen Erſcheinung fortbeſtehend äſthetiſch mit: das
ganze unperſönliche Reich des Schönen hat nunmehr im concreteren Sinne ſeinen
2Mittelpunkt gefunden. Die Schönheit ſteigt nun in dem Grade, in welchem
ein glücklicher Landſtrich dem Menſchen ein vertrautes, im Gleichgewichte
zwiſchen Anſtrengung und Genuß ſchwebendes Zuſammenleben mit der Natur
geſtattet. Die Grenze des Schönen tritt mit der Erſtarrung auf der einen, der
wuchernden Ueppigkeit auf der andern Seite ein.
1. Es kommt hier nur erſt darauf an, die allgemeinen Geſetze auf-
zuſtellen; nachher wird, ſo weit eingegangen werden kann, von den
beſtimmteren Formen der Völkerſchönheit die Rede ſein. Hier alſo leuchtet
zunächſt im Allgemeinen ein, wie nun erſt die ganze Welt des Natur-
ſchönen bis zum Menſchen in ihm ihren Genius erhält, mit ihm zu
beſtimmten Charakteren zuſammentritt; was in §. 316 vom Menſchen
überhaupt geſagt iſt, theilt ſich in concrete Bilder. Jetzt tritt im heißen
Sonnenlichte, in der reinen Luft und unter den brennenden Farben, am
Fuße mächtiger Hochgebirge in paradieſiſchen Stromthälern, an der Wüſte
und am Meere, unter Palmen, Cedern, Aloen, Mimoſen, Rieſenblumen,
von Kameelen, Gazellen, Elephanten, Pfauen umwimmelt, von Löwen,
Tigern, Schlangen bedroht der Orientale, im gemäßigteren Klima, in
den von Mittelgebirgen getheilten lieblichen Thälern, an ſeinem Mittel-
meere, dieſem uralten Cultur-Centrum, unter Pinien, Lorbeer, Oelbaum,
Platanen, den plaſtiſch gebildeten ſilbergrauen Stier mit den breiten
Hörnern an den Pflug ſpannend, das ſchlanke Roß tummelnd der Grieche
und Römer, unter dem grauen, neblichen Himmel, am rauh zerklüfteten
Gebirge, in der breiteren Ebene, am wilderen Nordmeere, unter düſteren
Tannen, in dunkeln Laubwäldern, den Ur und Bären bezwingend der
Germane auf; Geſtalt, Profil, Farbe u. ſ. w. ſtimmt mit der Umgebung
und es baut ſich ein Genrebild zuſammen.
2. Die allzufreigebige Natur erſchlafft und verzieht, die allzu karge
drückt zuſammen, reibt auf. Dieſe Extreme bezeichnen eben die Grenzlinie
der ſchönen Race. Wir können hier ganz einfach an das Bekannte ver-
weiſen, was Geographie und Geſchichte ſagen, daß und warum nämlich
die gemäßigte Zone der Schauplatz der Weltgeſchichte iſt, denn die geſchicht-
lichen Völker ſind eben auch die ſchönen Völker; wo das Menſchliche ſich
entwickelt, iſt Schönheit. Intenſität des Lichts ohne übermäßige Hitze,
[179] nicht allzuſtarker Wechſel von Kalt und Heiß wie in den breiten conti-
nentalen Steppen-Ebenen, dieß iſt die atmoſphäriſche Grundbedingung;
eiſige Kälte, überſteigernde Hitze, zu ſtarke klimatiſche Kontraſte erzeugen
„die ſtabilen Völker der Erde, die Wanderſtämme der Jäger, Fiſcher,
Hirten und die vermeintlich paradieſiſchen, ſcheinbar bevorzugten Natur-
kinder“ (Roon, Grundzüge der Erd- Völker- und Staatenkunde B. 1,
S. 156). Unter den telluriſchen Formen begünſtigt thal- und waſſerreiches
Hochgebirge die ſchöne Entwicklung. Dagegen iſt kahle Hochſteppe ungünſtig,
ſie erzieht nur unſtete Nomaden. Die eigentlichen Culturſitze aber ſind
die Uebergangs- oder Mittelgebirgs-Länder, die mittleren Stufenländer,
von Flüßen belebte, von mäßigen Gebirgen durchzogene Thäler, eine
Mannigfaltigkeit der Bodengeſtaltung, welche ſowohl die Einförmigkeit
allzubreiter Ebenen, als die beengende Laſt öder Hochgebirge ausſchließt;
„in dieſen lieblichen Thälern, dieſen reizenden Landſchaften war gut Hütten
bauen, weil ſie in der Regel ſo anmuthig als fruchtbar ſind“ (Roon a. a. O.).
Hier blüht der Ackerbau, die Grundlage aller Bildung; von da aus wird
denn auch die Tief-Ebene von der Cultur überzogen; mag ſie ſelbſt Steppe
oder Wüſte ſein, ſie bietet keine Schranke und als Küſtenland führt ſie
an’s Meer: eine der weſentlichſten Bedingungen ſchöner menſchlicher
Entwicklung; denn ſelbſt noch abgeſehen von Handel und Schifffahrt
athmet es ſich anders, hebt ſich Auge, Bruſt und Gedanke anders, wo ſie
hinausdringen in das ſchrankenlos ergoſſene, ewig bewegte, kühle und
reine Naß. Das Meer duldet keine Philiſter, nur eingeſchloſſene Binnen-
wohner können verknöchern wie die Deutſchen. Man könnte dagegen die
Holländer und Engländer anführen, allein ſie haben Thatkraft und ihr
unternehmender Geiſt hat zur Zeit, da die eigentlichen Deutſchen ſchon
politiſch abſtarben, der Kunſt die gewaltigſten Stoffe geboten.
Dieſe Naturverhältniſſe laſſen nun natürlich einen Reichthum von
Abſtufungen zu. Die nördlicheren Völker Europa’s haben einen viel härteren
Kampf mit der Natur, als die ſüdlichen; die öſtlichen ſtehen an der Grenze der
Verweichlichung durch die Ueppigkeit ihrer Lüſte, ihres Bodens. Gerade
dieſe Abſtufungen aber erzeugen Mannigfaltigkeit der Formen, Reichthum
verſchiedener Stellungen der Momente des Schönen, je nachdem das
geiſtige Leben von einer härteren Natur in ſich zurückgeworfen und zugleich
zum herben Kampfe aufgefordert oder von einer weicheren in ſinnlichen
Taumel herausgelockt oder in ſchönes Gleichgewicht mit der Sinnlichkeit
verſetzt wird. Das Glück dieſes Gleichgewichts genießen am meiſten die
ſüdlichen Völker, doch können wir die morgenländiſchen, wo der Genuß,
die nördlichen, wo die Anſtrengung überwiegt, wo z. B. der Niederländer
mühſam die einförmigen Dünen gegen das Meer befeſtigt, immer wohl
noch unter den Satz unſeres §. befaſſen. Die Grenze, wo die Extreme
12*
[180]beginnen, kann man freilich nicht mit dem Zollſtabe geographiſch auf-
ſuchen. Der Skandinavier iſt noch äſthetiſch, der gequetſchte Lappe nicht
mehr; der dunkelbraune Beduine iſt es noch, der affenähnliche Neger
nicht mehr.
Zum vorh. §. (1.) wurde bemerkt, daß die Völker ihre Wohnſitze
frei verändern, aber auch ſogleich hinzugeſetzt, daß dieſe Verſchiebungen
in der kaukaſiſchen Race nicht bedeutend ſeien. Wären ſie nämlich ſo
ſtark, daß wir ein Volk in einer Natur-Umgebung fänden, die ſeinem
Habitus offenbar widerſpricht, ſo wäre dieß freilich eine Ohrfeige für die
äſthetiſche Betrachtung. Der Menſch bezwingt die Erde, allein dieſe
abſtracte Freiheit der Bildung iſt nicht äſthetiſch. Im Gebiete des Schönen
wollen wir den Bezwinger ſelbſt von dem Bezwungenen eine gewiſſe
Naturfärbung annehmen ſehen. So bezwingt der Seemann den Ozean,
aber ebendaher bekommt ſeine ganze Erſcheinung einen Meerton. Wirklich
iſt nun aber auch das Verhältniß völliger Inconvenienz entweder
ein vorübergehendes und vereinzeltes, wie bei Reiſenden, die wir in
einer fremden Naturumgebung finden, und da liegt eben in der
Fremdheit wieder ein anderweitiger äſthetiſcher Reiz, oder es ſind
Niederlaſſungen wie von Pflanzern, und Niemand nöthigt uns, dieß
äſthetiſch zu finden; es ſind Eroberungen wie die der Römer in Gallien,
in Deutſchland, der rothhaarigen Engländer in Indien und China, der
ſtämmigen blonden Holländer auf dem Kap, und da können tapfere
Kämpfe dem Widerſpruche des erſten Anblicks eine beſondere äſthetiſche
Wendung geben u. ſ. w. Viele Verſetzungen aber führten die Völker
in eine ihrer heimiſchen verwandte Natur, ſo daß ſie ſich ihr anbequemen
konnten, ihren Typus nach ihren Bedingungen nur mäßig zu modificiren
brauchten; ſo ſiedelten Griechen in dem um ein Mäßiges heißeren Jonien,
in der verwandten Natur Siciliens und Italiens an, Spanier in Süd-
Amerika, Engländer aber in Nord-Amerika, Sachſen und Normannen in
dem nebligen England, Bretonen auf der Nordweſtküſte Frankreichs, und
da iſt nirgends ein weſentlicher Widerſpruch zwiſchen der Natur und den
Anſiedlern. Endlich beſiegt aber auch die Natur neuer Wohnſitze einen
anfänglich ſtärkeren Widerſpruch; die Gothen und Longobarden haben ſich
mit den Lateinern verſchmelzt und ſind Italiener geworden, ebenſo Gothen,
Sueven, auch Araber mit den Spaniern, Franken mit den Galliern u. ſ. w.
Der Unterſchied der Völker iſt zunächſt ein Unterſchied der körperlichen
Bildung: dieſe aber gibt einen inneren Unterſchied der geiſtigen Organiſation
kund, welche ſich in dem dunkeln Grunde des nun erſt concreter in ſeine Gegen-
[181] ſätze ſich theilenden und miſchenden Temperaments zuſammenfaßt. Dieſe in
der Complexion des Nerven- und Blutlebens beruhende Art der Grundſtimmung
der Perſönlichkeit iſt der Schooß des beſonderen Naturells, d. h. der Form,
in welcher die ſämmtlichen theoretiſchen und praktiſchen Anlagen (§. 319) zu
eigenthümlicher Einheit verbunden als beſondere Diſpoſition hervortreten, und
gibt jedem Volke ſeinen, für die Aeſthetik höchſt wichtigen, Naturton. Alle
Bewegungen der Geſtalt, wie der Klang der Stimme, die Sprache und
ſämmtliche Formen des ſittlichen Lebens ſind ein Ausdruck dieſer urſprünglichen
Naturbeſtimmtheit der Nationalität.
Das Temperament wurde als einer der Punkte, worin ſich die
Racen unterſcheiden, bereits erwähnt; von der kaukaſiſchen durfte ein
ſchönes Gleichgewicht der Temperamentsgegenſätze ausgeſagt werden; in
den Völkergruppen dieſer Race treten die Gegenſätze auf dem Grunde
einer Allſeitigkeit und Miſchung, welche die Ausartung in Einem derſelben
nicht zuläßt, wieder hervor. Der ganze Unterſchied der geiſtigen Organi-
ſation der Völker nach allen Richtungen des Seelenlebens wird im §.
gewiß nicht mit Unrecht weſentlich im Temperamente zuſammengefaßt.
Es kann jedoch an dieſer Stelle die Sache nicht weiter verfolgt, es
können die Temperamente nicht aufgezählt, noch weniger kann dargeſtellt
werden, wie ſie ſich an die wichtigſten Völker vertheilen. Wollten wir
dieß thun, ſo müßten wir hier, da der Ausdruck der eigenthümlichen
Organiſation im Aeußern für die Aeſthetik von größter Wichtigkeit iſt, auch
eine Phyſiognomik, eine Mimik, eine Phonognomik der Völker geben,
wie denn der Schluß des §. dieſe Aeußerungsformen erwähnt. Im
Weiteren geben wir dann zu der wirklichen Geſchichte der äſthetiſch
bedeutendſten Völker über und da iſt mit dem Uebrigen allerdings auch
ihr Temperament zu bezeichnen. Seine eigentliche Wichtigkeit erhält
jedoch das Temperament erſt im Individuum, wo es ſich zum Charakter
umbildet. Hier gilt es zuerſt nur, die äſthetiſchen Hauptbedingungen auf-
zuſtellen und zu ſagen, daß die Nationalität äſthetiſch nur wirkt, ſofern
ſich mit dem höheren Gehalte ihres ſittlichen Charakters, von dem wir
noch nicht reden, dieſe ganze Nerven- und Blut-Atmoſphäre, von welcher
er umwebt iſt, mitausſpricht. Greifen wir in die Kunſt vor, ſo heißt
dieß, kein Künſtler, kein dramatiſcher Dichter z. B., wiſſe Charaktere
aufzuführen, der nicht als Element ihres individuellen Gepräges die
Nationalität und als Element der Nationalität dieſe ihre Naturwurzel,
dieſen Ton ihrer Heimathluft und ihrer Erde, der ſich geheimnißvoll in
ihr Blut und ihre Nerven übergetragen hat, in ſeiner Friſche mitgibt.
Man denke z. B. an die Niederländer und Spanier in Göthes
Egmont.
[182]
Nacht und wehrlos von Geburt muß ſich der Menſch ſeine Nothdurft,
ſeine Genüſſe erarbeiten und durch dieſe Reibung mit der Natur wickelt ſich
aus der Rohheit der Geiſt heraus, deſſen Erſcheinung jedoch nur ſo lange äſt-
hetiſch bleibt, als er nicht auf Koſten der ſinnlichen Lebendigkeit und Ein-
fachheit ſeiner Culturformen ſich ausbildet. Den Körper verhüllt, ſchützt,
2ſchmückt die Kleidung und bildet ſich nach der Beſchaffenheit des Wohnſitzes
und der dadurch bedingten Sinnesweiſe und Lebensart einer Volksnatur über-
haupt, aber auch unter der Leitung eines höheren, geiſtigen Inſtincts zu den
Formen verſchiedener Trachten aus. Die umgebende Natur wird thätig behandelt
3zunächſt durch Fiſcherei, Jagd, Viehzucht, mit welchen erſt ein unſtetes
Wanderleben verbunden iſt, durch den Landbau, der mit der feſten Anſiedlung
auch die geſellige Ordnung begründet, und durch die wichtigere Schule des
4Völkerverkehrs und der Bildung, Schifffahrt und Handel. Der Krieg,
urſprünglich roher Ausbruch der Naturkraft, fängt an zu einem edleren Aus-
druck der Unternehmungsluſt und Selbſterhaltung der Nationen zu werden.
1. Daß der Menſch ein „Invalide ſeiner oberen Kräfte“ iſt (wie
Herder geiſtreich ſagt), geht die Aeſthetik mittelbar ebenſo an, wie alle
in die Cultur einſchlagenden Erörterungen. Zunächſt freilich im Sinne
des Häßlichen, das kaum ganz in das Komiſche aufgeht, wie die ganze
elende Hilfsbedürftigkeit und Unflätherei des Neugeborenen, dann alle die
dürftigen Lebensformen der wilden Völker. Die erſten Hauptformen,
wodurch der Menſch die äußere Natur und dadurch die innere Rohheit
überwindet, werden nun im Folgenden kurz genannt und dabei iſt freilich
die Vorausnahme nothwendig, daß ſie äſthetiſch allerdings erſt werden,
wenn ſie das herbeigeführt haben, was ſie vorbereiten, nämlich das
gebildete Geſammtleben, in welchem ſie als einzelne Zweige der Thätigkeit
fortdauern. Der Wilde, der blos Fiſcher, blos Jäger, der unſtete
Nomade, der blos Hirte iſt, gehört nicht in die Aeſthetik, auch Landbau
allein kann ihr nicht genügen und ein Volk, das faſt nur Handelsvolk iſt,
widert ſie an. Der §. ſtellt nun zuerſt das Geſetz auf, das von der
vorliegenden ſowie von allen weiteren Sphären des menſchlichen Lebens
gilt und nur eine Anwendung des allgemeinen Begriffs des Schönen iſt:
geiſtloſe, rohe Natur iſt noch nicht, naturloſer Geiſt nicht
mehr äſthetiſch. Das vorliegende Gebiet der Culturformen können
wir im Allgemeinen das der Zweckmäßigkeit nennen. Die befriedigte
Zweckmäßigkeit führt aber zum Ueberfluß des Angenehmen in unmittel-
barem Genuß und Schmuck, und auch darauf dehnt unſer Gebiet ſich aus.
Geiſtloſe Natur nun tritt in zwei Fällen ein. Der eine findet Statt, wenn die
[183] Natur zu karg iſt, ſo daß der Menſchengeiſt im Kampfe mit ihr, während
er zunächſt durch dieſen Kampf ſeine Freiheit zu bethätigen ſcheint, viel-
mehr durch die ewige Noth der Mühe ganz Knecht der Natur wird,
wobei nothwendig auch ſeine Geſtalt verkümmert; aber bis zu dieſem
Extrem hin gibt es manche, immer noch äſthetiſche Stufen. Der andere
Fall tritt ein, wo die Natur ſo freigebig iſt, daß ſie der Thätigkeit zu
wenig übrig läßt, wo ebendaher auch die Geſtalt in’s Thierähnliche
wuchert; auch hier gibt es jedoch bis an die unäſthetiſche Grenze reichliche
Uebergänge. In dem Spielraum aber, der bis an dieſe Grenze geht,
tritt auf beiden Seiten wieder eine doppelte Neigung zu einer andern
Ueberſchreitung der Grenze ein: zunächſt nämlich wird der Menſch in
beiden Fällen zu wenig thun, um den Formen die zum Aeſthetiſchen
nöthige Leichtigkeit und Fülle zu geben, ſie ſind zu hart und ſteif im
Norden, zu nackt im heißen Oſten; aber mit beiden Mängeln iſt zugleich
eine begreifliche Neigung vorhanden, zu viel zu thun, von der Kargheit
und Nacktheit in einen abentheuerlichen Ueberfluß überzugehen: da wird
alſo die geforderte Einfachheit überſchritten. Beiſpiele werden ſich ſogleich
bei der Tracht zeigen. Hier iſt zunächſt die Rede von einem localen,
durch die äußere Natur bedingten Mangel oder unſchönen Ueberfluß; es
tritt nun aber als weiterer Punkt der Unterſchied der Culturperioden ein.
Vor dem Uebergang aus der Wildheit in die erſte, jugendliche Bildung
wird jener Mangel und Ueberfluß auch bei denjenigen Völkern Statt finden,
welche eine gemäßigte Zone zur rechten Mitte, zum ſchönen Gleichgewichte
führt. Dann tritt die geforderte jugendliche und mittlere Bildung ein.
Dieſe Culturperiode erreichen natürlich die begünſtigten Völker am leichteſten,
die von der Natur zu wenig oder zu reichlich begünſtigten folgen ihnen
ſchwer und kurz. In dieſer Bildung nun, welche Natur bleibt, blühen die
im §. geforderten Formen, welche eine zugleich geiſtig gebildete und doch
ſinnlich lebendige, edel einfache Erſcheinung darbieten. Hegel gibt darüber
(Aeſth. B. 1, S. 335 ff. u. a. and. Stellen) bekanntlich vortreffliche
Bemerkungen. Es ſind Formen, welche die Bearbeitung der Natur, die
Bewegung in ihr, die Herbeiſchaffung des Nöthigen und Angenehmen ſo
weit erleichtern, daß der Anblick der gemeinen Noth verſchwindet, aber
nicht bis zu der Grenze, wo die lebendige Perſönlichkeit ſich zurückzieht,
die Maſchine arbeiten läßt, ihre Genüſſe zur Raffinerie ſteigert. Die
Geſchichte, wenn wir ſie mit den Culturformen zuſammenfaſſen, wird dieß
Alles ins Licht ſetzen. — Durch eine ſolche Mitte von Natur und
Bildung ſind die in §. 23, 2. in Ausſicht geſtellten Bedingungen, unter
welchen das Zweckmäßige ſchön wird, erfüllt. Es heißt dort zunächſt:
„wenn von den höheren Zwecken, die als Selbſtzwecke den Mittelpunkt
einer Perſönlichkeit bilden können, abgeſehen und die perſönliche Welt
[184] unter den Standpunkt des unbewußten Lebens gerückt wird.“ Eben die
Formen, die wir hier verlangen, drücken freudige Leichtigkeit der Menſchen-
würde aus, aber ſie ſind zugleich noch naiv, nicht mit Reflexion gewählt,
wie von der Mode, ſondern ein Müßen, man weiß es nicht anders, man
lebt mit der Natur, die der Meiſterhand willig gehorcht, vertraulich, wie
mit einem Freunde, man iſt ſelbſt noch Natur. Hierauf folgt aber unauf-
haltſam die trennende, verſtändige Bildung und macht die Formen
unlebendig, maſchinenmäßig, naturlos. Dieſer Bildung können ſich auch
die naturwüchſig gebildeten Völker in die Länge nicht entziehen, natürlich
aber tritt ſie am ſchnellſten bei den Völkern ein, die eine karge Natur
haben, am ſpäteſten folgen die verſchwenderiſch von der Natur begünſtigten.
Es fragt ſich nun, ob nicht auf ſolche von der Lebendigkeit ausgeſchiedene,
zum Mechanismus herabgeſetzte Formen der zweite der in §. 23, 2.
genannten Standpunkte anwendbar ſei: „oder wenn die bloß äußern
Zwecke als fördernde Momente in eine erfüllte Einheit mit den Selbſt-
zwecken unter dem Standpunkte des höchſten Gutes zuſammenbegriffen
werden“; gemeinfaßlich ausgedrückt: es fragt ſich, ob nicht auch z. B.
eine Eiſenbahn oder ein Dampfſchiff, das doch neben dem windbeſeelten
Segelſchiff ſo mechaniſch ausſieht, äſthetiſch erſcheine, wenn man bedenkt,
wie viel dadurch Zeit für Wichtigeres gewonnen wird? Man wird ſo
antworten dürfen: wenn nur die maſchinenmäßige Form nicht gar zu
dürftig iſt, wie denn das Brauſen des Dampfwagens, das Rauſchen des
Dampfſchiffs mit den ſchäumenden Schaufeln immer noch einen energiſchen
Eindruck macht, ſo kann die weite Ausſicht, welche ſich mit der Vorſtellung
unendlichen Verkehrs durch beſchleunigte Mittel verbindet, für das Verlorene
entſchädigen. So iſt ein Stapelplatz zunächſt ein äſthetiſch dürftiger Anblick,
aber er wird ſehr bedeutend, ſofern er das Bild des großen Austauſchs
ferner Zonen und all der Bildung, all des Wohlſtands erweckt, welchen
er begründet. (Stelle im W. Meiſter).
2. Die Tracht der von der Natur hart gebetteten Völker iſt ſteif,
hart, verbergend, die der Völker heißer Zone läßt den Körper faſt nackt;
beide aber ſchweifen ebenſoſehr in lebhaften, ja überladenen Putz, aben-
theuerliche Pracht aus. Das Mittelalter, ſeit ſein Geſchmack durch die
nördlichen Völker beſtimmt wurde, welche Bein und Arm in Hoſen und
Aermel hüllten, wodurch erſt für die übrigen Theile der Kleidung ein
größerer Spielraum der Willkühr entſtand, liebte die grellſte Farben-
verbindung, die bunteſte Mannigfaltigkeit der Schnitte, Verſchnürungen
u. ſ. w.; der Orient pflegte neben der Nacktheit immer verhüllende Pracht
bis zur Ueberladung. Griechen und Römer beſaßen die ſchöne Mitte
zwiſchen Nacktheit und Bedeckung, zwiſchen dem Genähten, was dem Leibe
folgt, und dem Freien, was in jedem Augenblicke getragen, drapirt ſein will;
[185] die Kleidung war perſönlich lebendig und beſeelt. Die abſtracte moderne
Bildung hat die nördlichen Trachten vorgefunden und nach der flachen
Allgemeinheit der Mode alle Phantaſie und Individualität, die darin lebte,
in Mechanismus und knappe Geſtutztheit umgewandelt. Darüber ſowie
über Tracht überhaupt iſt an anderem Orte mehr zu ſagen. — Der
höhere Inſtinct, der im §. neben dem klimatiſchen Bedürfniß, neben der
Lebensart (wir könnten in der antiken Tracht unſere moderne Lebensweiſe
gar nicht führen), der ganzen angebornen nationalen Sinnesweiſe erwähnt
wird, iſt ein unbewußter Trieb, der jeweiligen ſittlichen Stimmung einer
Zeit in der Kleidung ihren Ausdruck zu geben.
3. Durch Fiſcherei, Jagd, Viehzucht, Landbau, Schifffahrt
entſteht eine neue äſthetiſche Zuſammenſtellung des Menſchen mit der um-
gebenden Natur, eine ſolche, worin der Menſch thätig auf dieſe einwirkt.
Wir ſehen den Fiſcher die zappelnden Thiere aus ihrem Elemente ſchleudern,
den Jäger mit der Waffe das Wild verfolgen und erlegen, den Hirten
in behaglicher Muße bei den weidenden Thieren gelagert, den Bauern
mit Hilfe derſelben den Boden umackern, ſäen, die Erndte einheimſen.
Der Fiſchfang freilich wirft wenig Stoff ab, friedlichen und ſanften
gewöhnlich, furchtbaren in der gefährlichen Walfiſchjagd. Die Jagd gibt
natürlich, ſo wie auch die auf ſie beſchränkten Völker in roherem Zuſtande
verbleiben, bewegtere, mehr oder weniger im Sinne des Furchtbaren
wirkende Bilder, um ſo äſthetiſcher, je anſtrengender und gefahrvoller ſie
iſt: der kühne, freie, waldfriſche Jäger iſt ein vielbenützter äſthetiſcher
Stoff. Die Grenze des Schönen iſt auf der einen Seite der Verzweif-
lungskampf aus Noth, auf der andern die blaſirte Grauſamkeit, die zum
Zeitvertreib hetzt, ebenſo die Jagdeitelkeit ohne Object, weil Alles weg-
geſchoſſen iſt, und die Reduction des Jägers auf den Forſtbeamten. Vieh-
zucht und Landbau geben an ſich ein milderes, ruhigeres Bild, wie ſie
im Culturzuſammenhang Geſittung und Staatenbau vermitteln. Das
Wild zum vertrauten Hausthiere heranziehen war ein ſchöner menſchlicher
Act und es iſt ein freundliches Schauſpiel, wenn der Senner in die
Berge zieht, die Kühe mit den Glocken ſich fleißig nach den Kälbern um-
ſehen, der trutzige Stier voranwandelt, die Ziege um Salz bettelnd
die Hand leckt; es liegt hier ein Reichthum von Stoffen: Hinaustreiben,
Weidenlaſſen, Mittagsruhe im Schatten, Tränke, Heimtreiben. Hirten
ſind aufgeräumt, luſtig, die Arbeit macht geſund bei mäßiger Anſtrengung,
einfach und tüchtig. Ein Wink genügt, um die reiche Quelle äſthetiſcher
Motive anzuzeigen, die im Landbau liegen. Er nimmt allerdings der
Landſchaft von ihrer freien Schönheit, doch erhöht er ſie auch, wo
ſeine Pflanzungen nicht allzu ſchnurgerade in’s Auge fallen; die Grenze
iſt, wo kein unbebauter Fleck mehr bleibt, wo Zerſtücklung und Ueber-
[186] völkerung den Bauern, den Weingärtner in vergebliche Schinderei, Armuth,
Häßlichkeit herabdrückt. Schon die ägyptiſchen Darſtellungen haben dieſen
Stoff benützt; der Schild des Achilles, L. Roberts Schnitter und jede
Idylle zeigt ſeine Schönheit. Der Bauernſtand iſt der „ſubſtantielle“,
alterthümlich ſchlichte Stand. Daß feſte Anſiedlung, Häuslichkeit, Schutz
des Eigenthums, Recht und Sitte mit dem Landbau begann, iſt eine
Betrachtung, die unmittelbar mit dem ſinnlichen Bilde, das er gibt, in
Ein äſthetiſches Ganzes aufgeht. Schillers Eleuſiſches Feſt und Spazier-
gang. Wie viel Großes in der Schifffahrt liegt, ſpricht Horaz höchſt
poetiſch in der Ode an Virgil aus. Die Kühnheit iſt das eine große
äſthetiſche Moment, der Kampf mit dem Ozean; dann legt ſich in das
bewegte Bild des ſchwebenden Schiffes mit den todverachtenden Matroſen
und dem ernſten Steuermann die große Idee des Völkerbildenden Verkehrs.
Dieſer iſt namentlich durch die Beſtimmung der Schifffahrt für den Handel
vermittelt und der letztere bietet, wie ſchon angedeutet iſt, noch ſinnlichen
Erſcheinungsſtoff genug, um der Idee der Humanität, zu deren Verwirk-
lichung er ſo weſentlich beiträgt, die nöthige Unterlage zu geben. Auch
die „Völkerverbindende“ Straße, die ſich, ein weißes Band, in die Ferne
windet, die Brücke u. ſ. w. gehören hieher. Allerdings kommt nun Alles
auf die Formen an. Eine Karavane iſt äſthetiſcher, als ein Commis
voyageur, der gefahrvolle, von Raubrittern bedrohte Zug früherer Kauf-
leute zur Meſſe war ein anderes Bild, als die jetzige leichte und gefahr-
loſe Beförderung und je moderner, um ſo proſaiſcher erſcheint der
rechnende Kaufmann.
4. Der Krieg iſt eines der bedeutendſten äſthetiſchen Schauſpiele
im Sinne des Furchtbaren; die höchſte Entladung ſinnlicher Kräfte durch
den Geiſt des todverachtenden Muthes. Die Grenze des Schönen liegt
auch hier in der blutigen Wildheit ohne ſittlichen Zweck auf der einen,
im mechaniſchen Dienſte, der den Zweck zu wiſſen und zu fühlen den
Herrn und Diplomaten überläßt, auf der andern Seite; in demſelben
Grade, als das Letztere herrſchend wird, werden auch die Formen eintönig
mathematiſch, abſtract. Die ſchöne Mitte iſt der Krieg für das Vaterland
in lebendigen Formen, welche den ganzen Mann in Anſpruch nehmen,
den Körper in voller Bewegung zeigen und die Maſſen zwar ordnen,
aber zugleich der freieren Zufälligkeit des Zweikampfs, der aufgelöst
kämpfenden Gruppen Raum laſſen. Der Soldatenſtand trägt den Stempel
ſeines Pathos als dauerndes Gepräge, das aber im ſtehenden Heere bei
langem Frieden ganz philiſterhaft und ſpezifiſch langweilig wird. Der
kriegeriſche Ausdruck gehört eigentlich jedem Mann und jeder Mann ſoll
Krieger ſein. Der Krieg iſt ſeiner Natur nach momentan; er ſoll Frieden
ſchaffen, daß die menſchliche Bildung blühe, daher kann es eigentlich
[187] keinen beſondern Stand für ihn geben. Weil der Krieg momentan iſt,
ſo wird auch ſein fortgeſetzter Anblick wüſt, ermüdend. Wir wollen das
ſittliche Leben, das ſich in ihm Raum ſchafft, auch wieder in ſeinem
wahren, poſitiven Bilden, in der Regung des bürgerlichen Lebens und
ſeiner Sphären anſchauen.
Alle dieſe Sphären müßen noch anderwärts berührt und dieſe
flüchtigen Bemerkungen ergänzt werden.
Aus dieſen bildenden Thätigkeiten erwächst der Staat, in deſſen geſetz-
licher Ordnung die Völker aus dem Naturzuſtande zur freien ſittlichen Perſön-
lichkeit ſich erheben. Das Schöne findet daher hier erſt den wahrhaft bedeutenden
Gehalt, ein Reich und Schauſpiel der ſittlichen Idee (§. 24). Wenn aber die
Durchführung der ſittlichen Idee zur Allgemeinheit öffentlicher Geltung eine
immer abſtractere Ablöſung von der unmittelbaren Einheit mit der lebendigen
Individualität zu fordern ſcheint, ſo erheiſcht dagegen das Schöne (vergl. 327, 1.),
daß eine ſolche beſtehe, und eignet ſich daher vorzüglich diejenigen Zuſtände an, worin
das Allgemeine weſentlich in der zwar mit Zufälligkeit behafteten, aber auch
gewaltiger Regung der Kräfte im Guten und Böſen freien Raum gebenden
Form der ſtarken Individualität ſich bewirkt. Solche Zuſtände waren nach den
patriarchaliſchen insbeſondere die heroiſchen des ſagenhaften Jugendalters der
hiſtoriſchen Völker vor ihrem Eintritt in das reife Staatsleben.
Der §. ſetzt als anerkannt voraus, daß der Gehalt, der in §. 24
als der bedeutendſte aufgeführt wurde, das Gute, nicht zuerſt im engen
Kreiſe des Familienlebens und der ſubjectiven Moral, ſondern da zu
ſuchen ſei, wo freie Männer zuſammentreten, Geſetze geben und aus-
führen, Recht pflegen, Wahrheit verbreiten, Menſchen erziehen, für das
Vaterland Gut und Blut einſetzen, veraltete Geſetze mit kühnem Wagen
umſtürzen, um der Freiheit neue Wege zu brechen. Das ganze Seelen-
leben (§. 319) wird nur im Staate zum geiſtigen, aus dem Syſteme
der Triebe das Syſtem der Tugenden. Nun begegnet uns die viel-
beſprochene Thatſache, daß je vollkommener, je garantirter das Staats-
leben, deſto abſtracter, naturloſer die Formen werden, und doch gilt vom
Staate natürlich daſſelbe, was in §. 327, 1. für die Culturformen als
äſthetiſches Geſetz aufgeſtellt wurde: rohe Natur und Naturloſigkeit
bezeichnen auf zwei Seiten die Grenze des Schönen. Der vorliegende §.
wiederholt dieß Geſetz nur in der beſonderen Anwendung auf die Sphäre,
zu der wir jetzt gelangt ſind. Vorläufig läßt er jedoch durch ein „ſcheint“ der
[188] Ausſicht Raum, daß der Staat von der Höhe der Reflexionsbildung das
wieder in ſich aufnehmen werde, was am Natur-Staate ſchön iſt, die
Anſchaulichkeit, die unmittelbare Lebendigkeit. Darauf müſſen wir am
Schluſſe der kurzen Ueberſicht der geſchichtlichen Staatsformen, die wir
demnächſt zu geben haben, zurückkommen. Ein Zuſtand, der nun
aber jedenfalls unſerer äſthetiſchen Forderung noch ganz entſpricht, und
welcher als ein vorgeſchichtlicher hier, wo wir noch nicht auf die concrete
Geſchichte eingehen, aufgeführt werden muß, iſt der patriarchaliſche und
heroiſche. Der patriarchaliſche Zuſtand iſt in ſeiner kindlichen Einfalt und
Urſprünglichkeit rührend und ehrwürdig, „Patriarchenluft“ iſt erfriſchend
wie Sonnen-Aufgang. Dieſe erweiterte Familienform reicht natürlich nicht
aus, ſobald einige Verwicklung nach innen und außen eintritt; es iſt
daher eine ſtille, friedliche, dem Hirtenleben, den Anfängen des Ackerbaus
entſprechende Form. Die Geſchichte der Erzväter im A. T. iſt eine Reihe
der geſundeſten, markigſten, ſonnigſten Bilder. Der heroiſche Zuſtand iſt
zunächſt der Uebergang aus dieſer Urform zur Monarchie. Mehrere kleine
Herren, die zu ihrem Volke ſelbſt in einem mehr patriarchaliſchen Ver-
hältniß ſtehen, ordnen ſich unter einen größeren, dem bedeutendere Herr-
ſchaft und Perſönlichkeit das Anſehen gibt. Der Verband iſt aber frei,
Geſetz, Ordnung, Recht nicht in abſtracten Normen durchgeführt, ſondern
die einzelnen Herrſcher, wie der höhere, haben in jedem Augenblicke ſich
durch ihre lebendige Perſönlichkeit erſt Gehorſam zu verſchaffen und ſind
ſelbſt die einzige, die lebendige Form, worin das Allgemeine beſteht, daher
auch ihre gegenſeitige Unterordnung eine durchaus lockere iſt, woneben
ſich jeder die freieſte Willkühr vorbehält. Die gewaltige Perſönlichkeit
hilft ſich ſelbſt, iſt ſelbſt Recht, Polizei, Geſetz. Hier iſt freier Spielraum
für das Gute und für das Böſe. Die unmittelbare Sittlichkeit dieſes
Lebens übt die ſchönſten Thaten, aber keine äußere Macht hindert den
ungebrochenen Sturz der Leidenſchaft in blutige und entſetzliche Verbrechen,
die kein Gerichtshof und kein verhörender Beamter, die nur die Rache,
welche ſelbſt die Strafe in der unmittelbaren Naturform iſt, vergilt.
Die Cardinaltugend iſt Tapferkeit; es ſind die liebenswürdigen Flegeljahre
der Völker. Die Culturformen ſind eben die in §. 327 geforderten; die
erſte Nothdurft iſt befriedigt, der heitere Schmuck und Ueberfluß legt ſich,
aber noch einfach und lebendig, um das Nothwendige. Die Stände fangen
an ſich zu trennen, aber noch iſt keine Spur von verhärtender Theilung
der Geſchäfte. Alle Gunſt für das Schöne, die in dieſem Zuſtande liegt,
braucht nach der liebevollen Darſtellung Hegels (Aeſth. 1, 230 ff.)
keine weitere Ausführung.
[189]
Hat ſich aus dieſen Anfängen die ſtrengere Ordnung entwickelt, doch ſo,1
daß ſie die Naturlebendigkeit noch nicht zerſtört, ſondern die unmittelbare
Betheiligung des Einzelnen am Allgemeinen feſthält, ſo wird ſich dieß auch
dadurch zeigen, daß die allgemeinen Thätigkeiten ſelbſt ſich in öffentlichen
Handlungen eine bedeutungsvolle, nicht gemachte, ſondern in ehrwürdiger
Gewohnheit feſtgewurzelte ſinnliche Darſtellung geben. Das naturfreudige Volk2
wird ſich in Feſten, Aufzügen, Spielen ein Bild ſeiner Schönheit bereiten und
dieſe an einen Gottesdienſt knüpfen, der einen Reichthum anſchaulicher Formen
mit ſich führt.
1. Der reifere Staat iſt noch nicht der naturlos abſtracte, von dem
zu §. 328 die Rede war; die künſtliche Ordnung hebt noch nicht die
Lebendigkeit der Form auf. Das beſte Beiſpiel iſt die proſaiſche, abſtracte
Grundlage des Staats, das Recht. Dieſes iſt in ſeiner urſprünglichen,
jedoch über die heroiſchen Zuſtände bereits hinausliegenden Form noch
mündlich überliefertes, in Verſen, Reimen, Sprichwörtern ausgedrücktes,
durch Alter ehrwürdiges Gewohnheitsrecht und bezeichnet die wichtigeren
Acte durch ſinnbildliche Bräuche und Gegenſtände. Oeffentlich, auf dem
Marktplatze, unter Linden wird Recht geſprochen und der Prozeß iſt ein
belebtes Drama. Vergl. beſ. J. Grimm von der Poeſie im Rechte
(Zeitſchr. f. geſchichtl. Rechtswiſſ. v. Savigny, Eichhorn, Göſchen B. 2.).
Aber auch das geſchriebene Recht kann und ſoll ſolche Formen beibehalten
oder theilweiſe zu ihnen zurückkehren und was das Wohl der Völker fordert,
iſt zugleich auch Gewinn für das Schöne. In der Sphäre der Geſetz-
gebung und Verwaltung bezeichnet eine naturvolle Bildung ebenfalls jeden
bedeutenderen Act, Promulgation von Geſetzen, Eröffnung von Verſamm-
lungen, Einſetzung von Würden u. ſ. w. durch bedeutende öffentliche Scenen.
Selbſt Erziehung und Unterricht halten ihre Feſte, der italieniſche Dorf-
ſchulmeiſter lehrt noch heute im Freien, ſitzt mit einem langen Rohrſtabe
im Kreiſe ſeiner muthwilligen Schüler. Handwerk und Zunft haben ihre
Bräuche. Man kann die Sache überhaupt ſo beſtimmen, daß das Schöne
im öffentlichen Leben den Brauch liebe und in dem Grade an Stoff
verliere, in welchem reflectirte Willkühr in die Bräuche einreiße, flacher
Sinn ſie gar zerſtöre.
2. Olympiſche Spiele, Turniere, Schützenfeſte, Schifferſtechen u. ſ. w.
Den Mittelpunkt aller ächten Feſte haben von jeher kriegeriſche, ſelbſt
gefahrvolle Spiele gebildet; die ſcherzhafteren, Tanz, Geſang, Gelage u. ſ. w.
knüpfen ſich daran. Wir werden ſpäter ſehen, wie arm und freudlos
[190] unſere Zeit in dieſem Punkte geworden iſt. Man denke z. B. nur an das
luſtige Altengland! Es war hier auch der Gottesdienſt zu erwähnen. Das
innere Leben der Religion und ſeine Bedeutung für die Phantaſie gehört
allerdings nicht hieher, ſondern in den folgenden Abſchnitt, wohl aber,
was der Cultus dem Auge und Ohr an Schönheit darbietet, nicht die
Kunſtwerke nämlich, die ihn erhöhen, ſondern „das lebendige Kunſtwerk“,
der ſchöne Menſch, der in Aufzügen, Ceremonien, im Ausdruck der innerſten
Andacht ſelbſt zeigt, daß ſich ſein Gott nicht an ihm zu ſchämen hat.
Es wird durch die Erwähnung auch dieſer Formen, welche ſich nicht nur
der ſittliche, ſondern der abſolute Geiſt als religiöſes Bewußtſein gibt,
dem Satze §. 24 und 25, daß die Religion dem Schönen keinen neuen
Inhalt gebe, ſondern ihren Inhalt mit dem Schönen gemein habe und
ihn in einer gewiſſen, dem Schönen verwandten Weiſe geformt dieſem
entgegenbringe, nicht widerſprochen, denn nicht von den Vorſtellungen iſt
hier die Rede, ſondern nur davon, welche Erſcheinung ſie ſich im Gottes-
dienſte als einem Schauſpiel (für den Künſtler) geben. Es iſt daſſelbe
ſittliche Leben, das ſich im Staate Wirklichkeit gibt, das ſich die Völker in
der Religion als Gott vorſtellen und verehren. Die Formen dieſer Ver-
ehrung entſprechen daher in ihrem Charakter genau den Formen, wodurch
der Staat ſich äſthetiſch repräſentirt. Athene iſt das attiſche Volk und die
Griechen feiern ſie durch jenen herrlichen Aufzug der Panathenäen, worin
ſie im Grunde ſich, ihrem reinen Genius, die Herrlichkeit aller Künſte,
Thätigkeiten, Producte des Staates zur Schau ſtellen. Die chriſtliche
Religion hat nicht den Volksgenius, ſondern allgemeiner den Genius der
Menſchheit zum Inhalt, aber auch dieſer iſt nichts anders, als die nach der
Stufe der Völkerbildung vorgeſtellte, durch die beſondere Art der einzelnen
chriſtlichen Völker überdieß auch hier ſehr beſtimmt gefärbte Vorſtellung
von allen natürlichen und ſittlichen Mächten in einer perſönlichen Einheit;
es wird die neu aufgegangene Gemüthstiefe verehrt und der Cultus hat
daſſelbe Gepräge, wie das ritterliche Leben, hart und glänzend zugleich.
Wo aber der Staat proſaiſch abſtract wird, ebenda wird der Cultus
abſtract innerlich und gibt der Schönheit keinen Stoff mehr. Aller Cultus
theilt ſich in das Moment der Entſagung, der Einkehr in das Innere,
und der Heiterkeit im Bewußtſein der gewonnenen Verſöhnung. Das erſte
Moment wird im abſtracten Cultus zum Ganzen; daß in der Verſöhnung
auch die Sinnlichkeit verklärt und geweiht iſt, daher ihre Feſtesfreude
haben ſoll in Spiel und jedem freien, geſunden Genuſſe, wird verkannt.
Ungebrochnere Völker aber knüpfen eben an das zweite Moment ihre
heiterſten weltlichen oder vielmehr dem falſchen Gegenſatze des Weltlichen
und Geiſtlichen fremden Volksfeſte.
[191]
Das Allgemeine vollzieht ſich durch die beſonderen Maſſen der Stände,
und je mehr der Bau des Ganzen ſich gliedert und dadurch die Arbeit ſich
theilt, deſto beſtimmter und einſeitiger wird der Typus, den jedem Stande ſeine
Beſchäftigung aufdrückt. Wenn nun diejenigen Stände, welche ſich frei in der1
Natur bewegen, zunächſt im äſthetiſchen Vortheil zu ſein ſcheinen, aber durch
Entfremdung gegen geiſtiges Leben leicht in Nachtheil kommen, wenn diejenigen,
welche entweder in einem kleinlichen körperlichem Geſchäfte verſitzen oder
durch geiſtige Arbeit von der Natur abgezogen werden, leicht in’s Komiſche
fallen, ſo fordert das Geſetz des Schönen eine flüſſige Vielſeitigkeit, worin kein2
Stand den Geſchäften des andern ſich völlig entfremdet und ſo keiner naturlos
und keiner roh wird, ſondern jeder nach Kräften ſich im Elemente der ganzen
Menſchlichkeit bewegt. Eine der weſentlichſten Bedingungen hievon iſt all-
gemeine Wehrhaftigkeit.
1. Die Stände, die unmittelbar mit der Natur beſchäftigt ſind,
erhalten ſich auch Naturfriſche, ſie unterliegen nicht jenem Gepräge,
das man „Geſchmäckchen“ nennt. Hieher gehört zunächſt der Fiſcher, der
Jäger, der Bauer. (Die Beſchäftigungen, die in §. 327 als allgemeine
Völkerverrichtungen erwähnt ſind, treten jetzt, im Staate, an Stände
vertheilt wieder auf). Den ſanfteren Gärtner müſſen wir noch neben den
derberen Bauern ſtellen und den myſtiſchen Bergmann erwähnen. Die
Stände des Gewerbes dagegen haben das Geſchmäckchen, denn ſie
arbeiten aus zweiter Hand, meiſt in geſchloſſenen Räumen, der Körper
verhockt, verkrümmt ſich irgendwie, der Geiſt wird in der Verſtändigkeit,
welche er ſeinen Stoff verarbeitend üben muß, wohlweis. Am meiſten
ſind ausgenommen Müller, denn die Mühlen liegen häufig in lieblichen
Thälern, wo ſie das nöthige Waſſer finden, dieſes flüſſige Element belebt,
die einfache Maſchine ſelbſt ſcheint lebendig, und Feuer-Arbeiter, wenigſtens
Schmiede, vorzüglich Waffenſchmiede. Am meiſten komiſchen Stoff bieten
Schneider und Schuſter, kein Handwerk verſitzt ſo ſehr und determinirt
den Körper ſo beſtimmt, daß der habitus ſich, wie bei dieſen, ſelbſt auf
die Familie fortpflanzt. Ueber die Merkmale des Stempels, der ſich
dem Körper aufdrückt, hat bekanntlich Tieck in den Cevennen feine
Bemerkungen, die ſich leicht vermehren ließen. Den Uebergang zu den
geiſtigen Ständen macht der Handelsmann, deſſen Geſchäft zwar proſaiſch
iſt, dem aber vielfacher Verkehr, Reiſen, Unternehmungsgeiſt, weiter
Blick noch einen Ton von Leichtigkeit geben, die ihn ſehr von der
folgenden Gruppe unterſcheidet. Dieſe enthält die geiſtigen Stände:
Gelehrte, wozu Aerzte und Schulbeamte ſich ſtellen, und Staatsbeamte
[192] ſcheinen vorzüglich Würde anſprechen zu dürfen, die Erſteren um der
rein geiſtigen Beſchäftigung willen, die anderen, weil ihnen zugleich mehr
oder weniger Macht beiwohnt. Allein ihr Geſchäft zieht ſie von der
Natur ab und ſie ſind die eigentlichen Philiſter, daher äſthetiſch entweder ſehr
wenig oder beſonders im komiſchen Sinne brauchbar. Den Gelehrten fehlt
außer dem körperlichen Schwung häufig der praktiſche Blick. Aerzte ver-
kehren mit der Natur in einer Weiſe, die ſie gern zu Cynikern macht
(Katzenberger). Schulleute ſind meiſt hochweis. Der Beamte verknöchert
zum Subalternen nach der Schnur, zum Bureaukraten; Amtsſtubengeruch.
Den auf freieres Handeln geſtellten Staatsmann mag Antonio in Göthe’s
Taſſo charakteriſiren und der Held dieſes Dramas den Dichter (und Künſtler),
wie er das Vorrecht genießt, vom Athem der Freiheit umgeben zu ſein,
den die Beſchäftigung mit dem Schönen haucht, aber darüber leicht
launenhaft, eitel, empfindlich, unordentlich wird. — In dieſem flüchtigen
Ueberblick über die Stände ſind bloß diejenigen genannt, welche alle
Staatseinrichtung mit ſich bringt, nicht die rein hiſtoriſchen: Adel und
Gipfel des Adels Fürſt, Geiſtlichkeit und Soldat. Alle dieſe Stände ſind
nicht allgemeiner, rationaler Art, Adel und Fürſtenthum ruht auf Geburts-
vorrecht, Clerus auf poſitiver Offenbarung und der Kriegerſtand behauptet
ſich in ſtrengem Zuſammenhang mit dem Poſitiven ebenfalls als exceptionell.
Es iſt ſchon zu §. 327, 4. geſagt, daß ein beſonderer Stand der Krieger nicht
rationell iſt. Alle dieſe Stände gehören alſo nur in die geſchichtliche Schönheit.
2. Soll nun ein Staatsleben ſchön ſein, ſo muß Flüſſigkeit des
allgemein Menſchlichen die Beſchränktheit dieſer Standes-Gepräge er-
mäßigen. In Italien iſt der Bauer fein und ſpricht gebildet, der Schneider
und Schuſter hat den verhockten Handwerkſtempel nicht, Beamte und
Gelehrte ſind nicht Philiſter. Hier erleichtert die Nace, der Himmel,
aber auch die republicaniſche Vergangenheit. Am meiſten bei nördlichen
Völkern ſind dieſe Vortheile durch ein Thun zu erſetzen. Bildung zum
Kriege, alſo die Gymnaſtik, jedoch mit dem Reiz und Intereſſe der
militäriſchen Uebung, iſt Hauptmittel, nicht nur wegen der Veredlung der
Formen an ſich, ſondern wegen des geiſtigen Schwunges, den ſie gibt,
wenn ſie nicht Dreſſur von Söldnern iſt. Sokrates kämpfte tapfer,
Zwingli fiel in der Schlacht. Johannes Oſiander commandirte Regimenter;
ſolche Gelehrte ſind Menſchen. Es verſteht ſich, daß freies Staatsleben
noch andere wichtigere Hebel der Verbreitung ganzen menſchlichen Lebens
mit ſich führt, der genannte aber iſt erſte Bedingung, iſt überall zuerſt
vorausgeſetzt. In Hermann und Dorothea erſcheint der Geiſtliche würdig
durch hellen und edlen Sinn, aber mit poetiſchem Takte erzählt der
Dichter, daß er Pferde wohl zu lenken wußte; der Philiſter des Gedichtes,
der Apotheker, glaubt es nicht und ſitzt zum Sprunge gerüſtet.
[193]
γ
Die individuellen Formen.
Aus den verſchlungenen Wurzeln dieſes Bodens wächst das Individuum.1
Von der einen Seite faßt ſich in ihm die Naturſeite dieſes ganzen Bodens,
nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms,
der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere ſo zukommenden Eigenheit einer
angeborenen Körperbildung und Sinnesweiſe zuſammen. Die letztere webt in
dem Dunkel der natürlichen Grundſtimmung; dieſe oder das Temperament und
mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun erſt in ſeiner ganzen Bedeutung für
die Aeſthetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unterſcheidet,2
verwickeln ſich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326)
die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines
derſelben hervorſticht.
1. Wir haben nun die Momente zu ſammeln, deren Concretion
der Charakter iſt. Am meiſten ſcheint uns einer erſchöpfenden Ent-
wicklung dieſes complicirten Begriffs Rötſcher durch ſ. Abh. über das
Weſen der dramat. Charaktergeſtaltung (Cyclus dramat. Charaktere oder
die Kunſt der dramat. Darſt. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir
unterſcheiden, von ſeiner Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen
von Momenten der Allgemeinheit und Beſonderheit, die ſich zur Spitze
der Individualität zuſammenfaſſen; zuerſt im gegenwärtigen §. die Reihe
der Momente auf der Naturſeite. Unter dieſen iſt außer Volk, Stamm
namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende
Körperbildung und ſeeliſche Richtung einzelner Familien. Selbſt in der
alten Tragödie iſt der wilde Sinn, der ſich in einzelnen Häuſern vererbt,
ein Hebel; engere Diſpoſition für gewiſſe Lebensſphären, ſchärfere
Eigenheit einzelner Familien iſt natürlich moderner: ein Punkt, wovon
an ſeinem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den
Einzelnen übergeht, faßt ſich in jedem zu unendlich neuer und eigener
Miſchung zuſammen. Er iſt nur ſich ſelbſt gleich. Dieß mußte in der
metaphyſiſchen Begründung ſchon ausgeſprochen werden, vergl. §. 31 ff.
In wem die Eigenheit ſo ſchwach iſt, daß man ſie kaum wahrnimmt,
der iſt kein äſthetiſcher, oder ein nur ſehr untergeordneter Stoff.
2. Die Temperamente zu zählen, zu ſchildern, zu begründen und zu
erklären, iſt die Aeſthetik nicht ſchuldig, ſie nimmt dieß aus der Anthro-
pologie auf. Man mag mit Kant zwei Temperamente des Gefühls
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 13
[194]annehmen, Erregbarkeit: ſanguiniſch (leichtblütig), Abſpannung: melancho-
liſch (ſchwerblütig), und zwei der Thätigkeit, nämlich intenſiv: choleriſch
(warmblütig), remiſſiv: phlegmatiſch (kaltblütig); man mag allgemeiner
ein ruhendes, an ſich haltendes mit zwei Formen, einer ſtarren, harten
und einer tiefen, die Eindrücke in ſich hereinnehmenden und innerlich
verarbeitenden, von einem lebhaften und thätigen mit den zwei Formen:
der Beweglichkeit ohne Sammlung und Nachdruck und der ſtraff geſpannten,
ſtetigen Thätigkeit unterſcheiden: dort phlegmatiſch und melancholiſch, hier
ſanguiniſch und choleriſch; man mag vielleicht am paſſendſten die Tempera-
mente mit Wirth (Syſtem der ſpecul. Ethik Thl. 2. S. 22) ſo ableiten:
„das Temperament iſt die ſinguläre Beſtimmtheit des Gemüths oder die,
indeß auch dem geiſtigen Produciren ſeinen eigenthümlichen Trieb gebende,
durch die ganze Natur beſtimmte Weiſe des Gemüths, von der Objekti-
vität afficirt zu werden, ſich in ihr unmittelbar zu fühlen und auf ſie
zurückzuwirken. Dieſes Verhalten iſt das dreifache, in allſeitiger Rezep-
tivität für die Objectivität offen zu ſein, ſodann aus dieſer Objectivität
in die Tiefe der Innerlichkeit ſich zu reflectiren, endlich aus dieſer Inner-
lichkeit zurückzuwirken auf die Welt (ſanguiniſch, melancholiſch, choleriſch),
und nur noch ein viertes Temperament iſt denkbar, in welchem jene
Gegenſätze zur gleichmäßigen Indifferenz der Subjectivität und Objectivität
gebunden ſind, das phlegmatiſche.“ Wirth beweist hierauf, daß jedes
Temperament auch die andern enthält, alſo eine relative Totalität iſt;
der Phlegmatiker, der Melancholiker kann natürlich auch zürnen, aber
ſein Zorn iſt anders, als der des Cholerikers u. ſ. w. Das Weſentliche
iſt aber nun, daß dieſe Totalität in jedem eine andere, daß die Miſchung
in den Individuen von unendlicher Eigenheit iſt. Ein beſtimmtes Tem-
perament wird zwar — innerhalb des Spielraums, den das, an ſich
ſchon entſchiedene, Volkstemperament läßt — in Jedem hervorſtechen,
aber die übrigen, die gebunden im Hintergrund bleiben, werden unendliche
Proportionen unter ſich und zu dem hervorſtechenden eingehen, ebenſo
wie aus den einfachen Formen des Geſichts ſo unendliche Zuſammen-
ſtellungen werden, daß Keiner dem Andern gleich ſieht. Der Melancholiker
Hamlet zürnt choleriſch auf ſein Phlegma und bricht in ſanguiniſche
Freude über die gelungene Finte gegen den König aus; ſo wird jeder
Melancholiker auch choleriſch; phlegmatiſch, ſanguiniſch ſein, aber jeder
auf andere Weiſe. Kant läugnet jede Miſchung verſchiedener Tempera-
mente, weil er nicht begreift, daß jede Perſönlichkeit weſentlich eine Con-
cretion von Widerſprüchen iſt. Sonſt entſtänden die planen Charaktere,
welche in der falſchen Kunſt zu finden ſind und von der Natur beſchämt
werden. Treffliche Beiſpiele von Behandlung des Temperaments ſind
außer Hamlet der Choleriker Percy, der Sanguiniker Egmont, der
[195] Melancholiker Brackenburg. Ueber die äſthetiſche Bedeutung des Tempera-
ments überhaupt nun kann zunächſt nur wiederholt werden, daß es ebenſo
weſentlich iſt, als alle andern Momente, wodurch das Geiſtige den zum
Schönen erforderlichen Ton der Natur und Zufälligkeit erhält; der Fort-
gang zum Charakter wird von ſelbſt die Schranke der Geltung aufzeigen.
Natürlich wiegt es unter verſchiedenen Bedingungen, die hier noch nicht
verfolgt werden können, verſchieden: Völker und Culturperioden, daher
Kunſtperioden und verſchiedene Künſte werden ihm verſchiedene Grade
der Geltung anweiſen. So bemerkt Rötſcher ſehr richtig, daß es in der
Komödie weiteren Spielraum hat, als in der Tragödie.
Von der andern Seite faſſen ſich die allgemeinen und beſondern geiſtig
ſittlichen Mächte im Individuum zuſammen, ſo jedoch, daß dieſe Seite ſelbſt
wieder zum voraus eine vom Willen zwar geſchaffene und zu geiſtig objektiver
Kraft erhobene, aber nicht nur auf Naturgrund geſchaffene, ſondern bereits
auch wieder in Naturform zurückgekehrte, in das leibliche und ſeeliſche Leben
verſenkte und vererbte Beſtimmtheit darſtellt. Das ſittliche Volksleben im
Zuſammenhang mit dem ſittlichen Zuſtande der Menſchheit, die jeweilige
Stufe, auf der das Volk ſteht, ſodann die beſondere ſittliche Beſtimmtheit
des Standes und der Familie wird von dem Individuum nicht nur als ein
außer ihm Beſtehendes, ſondern als ein vom Hauſe aus in es ſelbſt Ueber-
gegangenes vorgefunden.
Die Verwicklung wird immer reicher und ſchwieriger. Hier tritt
die zweite Reihe allgemeiner und beſonderer Momente auf; es ſind die
geiſtigen, es iſt von dem die Rede, was Volk, Stand, Familie durch
Willen und Freiheit aus ſich gemacht hat. Allein dieſe Seite iſt ſelbſt
wieder Naturmacht, nicht nur objektive ſittliche Macht im Sinne des
Beſtehenden, was als Sitte, Geſetz, Ueberlieferung Nothwendigkeit
gewonnen hat, ſondern im Sinne deſſen, was ſelbſt auf Naturgrund
(auf den Grund der Triebe nämlich und zwar der Triebe in der
Beſtimmtheit des Volkstemperaments und Volksnaturells überhaupt)
gebaut, auf dieſem Grunde dann zwar in Freiheit umgebildet, aber
durch Dauer und Gewohnheit wieder Naturerbſchaft geworden iſt. Es
hat z. B. Einer nach §. 331 ein gewiſſes Naturell, Temperament an
ſich; da aber ſeine Eltern und Voreltern einem gewiſſen Stande ange-
hörten, der zwar vielleicht von den Ureltern frei gewählt war, ſo hat
ſich ein weiteres leibliches und geiſtiges Gepräge auf dieſes erſte gepfropft,
er hat es mitgeerbt. Nun erwacht die Freiheit in ihm; ſeine urſprüngliche
13*
[196]Natur zieht ihn zur Wahl einer Lebensrichtung, ſeine Eltern wünſchen,
daß er ihren Stand wähle, der einer andern Lebensrichtung, als der in
erſter Linie angebornen zugehört, und eben dahin lockt ihn auch wieder
eine durch die genannte Impfung ihm ſelbſt in zweiter Linie eigene
Diſpoſition. Ueberdieß aber zieht vielleicht der ſittlich politiſche Zuſtand
der Nation, die Zeitſtimmung, wieder zu einer andern Richtung, und
er hat auch dieß mit der Muttermilch eingeſogen. Dieß nur ein Wink
über den verſchlungenen Boden, auf dem das Individuum ſteht.
Durch die reine Selbſtbeſtimmung tritt nun aber das Individuum aus
den Bedingtheiten beider Reihen heraus und ſteht frei zwiſchen ihnen. Dieſe
Freiheit iſt jedoch keine abſtracte Losreißung vom Naturgrunde und ſittlichen
Grunde, ſondern das Individuum erkennt, was ihm möglich iſt, ergreift aus
den Kreiſen des ſittlichen Lebens denjenigen, den es mit ſeiner erkannten
Naturbeſtimmtheit in Einklang weiß, und arbeitet in einem organiſchen Prozeſſe
beide ſo ineinander, daß das Angeborene zum Gewollten, das geiſtig Allge-
meine zum Eigenen, zum freien Mittelpunkte ſeines Lebens wird. Dieß iſt
die bewegte und doch ſtetige Einheit des Charakters, ein Werk der Freiheit,
das ſelbſt wieder zu einer zweiten Natur wird, ein Mikrokoſmus.
Es kehrt hier derſelbe Inhalt zurück, der ſchon in der Lehre vom
Erhabenen des Subjects §. 110 ff. dargeſtellt wurde; allein der Stand-
punkt iſt ein anderer. Charakter nennen wir das Erhabene des guten
Willens erſt, ſofern es eine Concretion der bisher dargeſtellten realen
Bedingungen iſt (vergl. Anm. 1 zu §. 110). Die Metaphyſik des
Schönen gab überhaupt im idealen Grundriſſe die ganze Welt des Schönen;
die Lehre vom Naturſchönen entfaltet dieſen als vorgefundene Wirklichkeit,
die Lehre von der Kunſt wieder in anderem Sinne. Der Charakter fällt
aber auch unter das Komiſche und damit hängt eine Frage zuſammen.
Hat Charakter blos derjenige, der ein ſittliches Pathos zum Mittelpunkte
ſeines Lebens erhoben hat? Nennen wir nicht Charakter auch die ſtetige
Gleichheit der Unſtetigkeit? Die Verrennung in Affect, Leidenſchaftlichkeit,
Laſter? Die conſequente Bosheit? Die Eigenſchaft, eine Maxime, wäre
ſie auch nicht gut, ſtetig zu wollen, einer Partei treu zu ſein? Dann
wären Formen des Charakters auch was unter α und β in der Lehre
vom Erhabenen des Subjects aufgeführt wurde, und dieſe fallen dann
ebenſo wie auch der wahre, ſittliche Charakter unter den in §. 159 ff.
aufgezeigten Bedingungen in’s Komiſche. Der Sprachgebrauch iſt dafür:
wir ſprechen vom Charakter des Jähzornigen, Polterers, des Unſteten,
[197] des Geizigen, Verſchwenders, Trinkers, Lumpen, Verliebten, Eiſer-
ſüchtigen, des Böſen. Auch der Sonderling iſt hier noch aufzuführen;
es iſt derjenige, der zwar wohl auch das Gute zu ſeinem Geſetze erhoben
haben kann, aber ſo, daß er die angeborne unendliche Eigenheit nicht
darnach vernünftig umbildet, ſondern mit einer Hartnäckigkeit zur Geltung
erhebt, die den guten Zweck ſelbſt trübt, zur Grille macht und ihn der
Einſamkeit überantwortet. Neben dem erhabenen Charakter ſteht ferner
der Ehrenmann von gewöhnlicher Rechtſchaffenheit; er unterſcheidet ſich
von jenem dadurch, daß der ſittliche Zweck, der ihm Lebensgeſetz iſt,
untergeordneter Art und daß er in der Verwirklichung desſelben nicht
productiv iſt, ihm keine neue Geſtalt gibt, ſondern trivial bleibt. Die
aufgeworfene Frage aber löst ſich durch die einfache Bemerkung, daß
emphatiſch und inhaltsvoll genommen freilich nur ein großes ſittliches
Pathos den Charakter bildet und keine jener andern Formen Charakter
heißen kann, ſelbſt der conſequente Böſewicht nicht, denn da er ſein
Wollen im Innerſten nicht billigt, ſo reißt ihn ſchließlich Gewiſſen und
Schickſal in innere Entzweiung auseinander; nimmt man aber Charakter
nur formal, d. h. hebt man nur das Moment der Gleichmäßigkeit hervor,
und wäre es auch Gleichmäßigkeit des Ungleichmäßigen, ſo iſt die Befaſſung
aller jener Formen unter dem Begriff des Charakters richtig. Man darf
alſo den §. ſo verſtehen, daß er im ſtrengen Sinne zwar den ächten
Charakter bezeichnet, aber Alles, was ihm, auch nur formal, gleicht,
mitbefaßt. — Man nennt auch das Gepräge, das die objectiven ſittlichen
Kreiſe dem Individuum aufdrücken, Charakter, und zwar ohne zu fragen,
wie viel dieſes gethan habe, das ſeinem näheren oder entfernteren Kreiſe
eingewurzelt Eigenthümliche frei zu dem Seinigen zu machen: Charakter
des Republikaners, Charakter der Stände (z. B. Bedientencharakter)
u. ſ. w. Auch dieſer Sprachgebrauch und der noch weitere, jedes gemein-
ſame Gepräge überhaupt (alſo auch Volk, Geſchlecht, Lebensalter, Zeitgeiſt
u. ſ. w.) Charakter zu nennen, mag immerhin ſein Recht behalten, und
ſo könnte man alſo alles Menſchliche, was wir hier darſtellen, Charakter
nennen, wodurch beſtätigt wird, was in §. 39 über das Schwankende
der Beſtimmung des Schönen als des Charakteriſtiſchen geſagt wurde.
Daneben muß aber immer der emphatiſche Gebrauch des Worts im Sinne
des jetzigen §. in ſeinem Rechte bleiben.
An der Beſtimmung, die der §. aufſtellt, wird man nun namentlich
bemerken, daß ſie feſthält, was für die Aeſthetik das Wichtigſte iſt: daß
nämlich die ganze Naturſeite durch den Charakter nicht aufgehoben, ſondern
zu einer gewollten erhoben wird. Alle bisher dargeſtellten Naturmomente
bleiben die in den frei gewollten Mittelpunkt in lebendiger Bewegung
immer auf’s Neue ſich zuſammenfaſſenden Grundlagen. Der Charakter
[198] kann nicht mit der Natur brechen, ſondern ſie nur dadurch zum Geiſte
befreien, daß er ihre Kraft und Grenze erkennt und, nachdem er ſie erſt
nur vorgefunden, nun will und frei ſetzt. Die Gewohnheit dieſes Wollens
arbeitet ſich dann in ſie hinein und die Einheit beider Factoren, des
Angeborenen und des Freien, wird ſelbſt wieder zur Natur. Im
Charakter nun geht die Welt in Einen Punkt zuſammen; er iſt nicht
nur eine Welt, ſondern indem er alle Mächte der Welt, Naturbeſtimmtheit,
ſittliches Leben in ſeinen Brennpunkt zuſammenfaßt, die Welt. Das
Schöne iſt immer Mikrokoſmus, im tiefſten Sinne aber, wenn es den
wirklichen Mikrokoſmus, den Charakter, zum Stoffe hat.
In dieſer zweiten Natur wird, was durch Umbildung der erſten Natur
erkämpft iſt, in die Wärme der unmittelbaren Lebendigkeit zurückverwandelt.
Das Denken, das den Willen in der Bildung des Charakters leitet, hallt in
Gefühlstiefe wieder, wird Geſinnung, die Geſinnung bewegt mächtig die Welt
der Triebe und Leidenſchaften und hält ſie zugleich zur Einheit des geiſtigen
Geſetzes zuſammen. Mit dieſer geiſtigen Wärme die Welt in ſich und ſich in
der Welt vernehmend heißt der Charakter Gemüth und dieß gibt ihm zu der
Schneide die Innigkeit.
Dieſe innere Reſonanz des Charakters, wodurch er ſich in ſeiner
Geiſtigkeit den Naturton bewahrt, ausdrücklich hervorgeſtellt zu haben,
wird uns ſpäter zu Statten kommen. Die Kunſt wird ihre eigenen
Formen ſchaffen, worin ſie den Wiederhall der Charakterwelt als innere
Bewegung ausſpricht ohne den Uebergang in die Thätigkeit auf Objecte:
das ganze lyriſche und muſikaliſche Gebiet ſucht hier ſeine Stoffe. Der
wahrhaft freie, Charakterbildende Wille nun iſt ein umgeſetztes Denken,
zunächſt natürlich ſelbſt ein praktiſches, und dieſes wird als ebenſoſehr
übergegangen in ſtetige Gefühlsſtimmung Geſinnung genannt. Doch auch
das abſtracte Denken dürfen wir jetzt nicht mehr bloß als Anlage (§. 319),
ſondern auch als wirklich ausgebildetes Vermögen aufführen, ſofern es
die Perſönlichkeit als Geſinnung färbt und ſo in das Element zurücktritt,
das ihm die äſthetiſche Darſtellbarkeit ſichert, vergl. §. 103. Dieſer
ganze geiſtig vertiefte Naturton gibt nun alſo dem Charakter ſowohl in
der Schärfe des Denkens, als in der Straffheit der Richtung des Willens
auf den Zweck ſeine Wärme. Wenn wir die zuſammengehaltene, im
eigenen Centrum unendlich webende und dieſes Centrum zum Welt-
Einklang erweiternde Gefühlstiefe des Charakters Gemüth nennen, ſo
wende man nicht ein, der große Mann, der energiſch Entſchiedene ſei
[199] nicht gemüthlich. Gemüthlichkeit, was man ſo nennt, iſt es nicht, wovon
wir reden; dieſes Element einer halbſinnlichen wohligen Behaglichkeit
bezeichnet keineswegs jene im Kampf errungene Umbildung, jene geiſtige
Liebe, um die es ſich hier handelt, vielmehr ſteckt dahinter gewöhnlich nur
das ungebildete Herz, das gutmüthig iſt, ſo lange es nicht boshaft,
aufgeräumt, ſo lange es nicht launiſch iſt. Das Gemüth iſt tief, feſt
und treu, denn es gründet im Willen. Dieſe ächte Innigkeit iſt es,
durch die wir im Anblick des Charakters den Eindruck haben, zu Hauſe
zu ſein; denn er iſt ſeine eigene Welt und hat in dieſe ſeine Welt die
Welt aufgenommen und an’s Herz geſchloſſen, iſt alſo eine Angel der
Welt und der Zuſchauer ruht an ihm aus, weil er die Unendlichkeit
findet. Gemüthlichkeit geräth bei der nächſten Gelegenheit außer ſich,
Gemüth bleibt in ſich, iſt ſeiner und der Welt Bürge, ſeine Milde iſt
ſtark, ſeine Stärke mild; da iſt Sicherheit, da iſt man aufgehoben. Sein
Grundton gibt den wechſelnden Stimmungen ihren Halt und Takt. Dieſe
dürfen unter der Einheit nicht verkümmern. Wie weſentlich der ſo bewegte
Menſch für die Kunſt iſt, mag ein kurzes Wort von Göthe bezeichnen.
Er preist Shakespeare mit den Worten: da ſieht man, wie dem Menſchen
zu Muthe iſt.
Die Bildungsgeſchichte des Charakters bietet das durch Colliſionen jeder1.
Art bewegte Schauſpiel des Ineinanderwirkens der umgebenden Welt und des
Individuums dar, worin dieſes theils ſeine beſondere Beſtimmung zu verwirk-
lichen, theils ſich zum allgemein Menſchlichen zu erweitern ſtrebt. In dieſem2.
jugendlichen Werden und Wachſen tritt neben der Leidenſchaft der Liebe als
Hauptmoment der Bildung des Charakters durch und zur Innigkeit des Gemüths-
lebens der Bund der Freundſchaft auf, ein ſchöner, aber nicht zum Mittel-
punkte eines äſtheliſchen Ganzen geeigneter Stoff.
1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt,
den der Roman verwendet. Zwei Seiten des Charakters: die beſondere
Beſtimmung und die Ausrundung zu einem ganzen Menſchen ſind zu
unterſcheiden. In §. 333 wurde die Vielſeitigkeit, welche dem Charakter
über der Energie der Einſeitigkeit nicht verloren gehen darf, nicht beſonders
hervorgehoben, ihre Nothwendigkeit liegt aber von ſelbſt im Begriffe
eines Mikrokoſmus. Das als Kunſt wirkliche Schöne wird ſeine ver-
ſchiedenen Zweige haben, deren einer mehr die energiſche, obwohl nicht
geiſtlos beſchränkte, Beſtimmtheit, der andere die mildere Erweiterung
des Individuums zur reinen Humanität mehr zum Stoffe haben wird,
[200] wo denn im letzteren Sinne gleichgiltiger wird, was das Individuum
treibt und im Speciellen unternimmt. Es kommt dabei auf die Sphäre
an, in der ein Charakter auftritt oder ſich bilden ſoll: Privatleben oder
Staat. Von den Colliſionen des Bildungswegs nun dürfen wir nur
einige andeuten: Ungewißheit des Individuums über ſeine eigene Beſtim-
mung inmitten der unendlichen ihm offen liegenden Kreiſe; Täuſchungen
darüber (Wilh. Meiſter). Täuſchungen über das objectiv Wahre, Irr-
thümer; die tüchtige Natur ſucht und findet durch ſie ihren Weg. Aeußere
Hemmniſſe: Zuſtand des Volks im Widerſpruche mit dem Drang des
Einzelnen, z. B. Drang der Tapferkeit oder der Wahrheit in einem
unterdrückten Volke. Einrichtung der Geſellſchaft, die dem Strebenden
irrationelle Schranken ſetzt, ihm den Uebertritt in einen gewiſſen Stand
verſperrt, Standesvorurtheile der Eltern, Armuth, ſchlechte Erziehung,
Entführtwerden, unter Räuber, Landſtreicher Gerathen u. dergl. Der
Ausgang iſt entweder glücklich oder unglücklich; der unglückliche kann eine
zum Mitleid hinreißende Brechung einer weniger energiſchen, etwa weib-
lichen Natur ſein (Mignon); wer aber tüchtige Anlagen hat, von dem
fordern wir, daß er ſich durchreiße oder groß endige, die Hemmungen
ſelbſt erziehen ihn, der verkommene Mann iſt kein tragiſches Bild.
Komiſch iſt eine Brechung, von deren ganzem innerem Unglück abgeſehen
wird oder die zu ſolchem nicht geführt hat, wie z. B. wenn ein natürlich
Feiger Soldat werden mußte u. dergl.
2. Die Liebe iſt als Ergänzung des Geſchlechtsmenſchen zum
Gattungsmenſchen natürlich ein weſentliches Förderungs-, durch ihre beſondere
Colliſionsfähigkeit ein ebenſo großes Hemmungs-Mittel. Die Freundſchaft
hat nicht den Reiz, das Verlangen der Aufhebung des Geſchlechtsgegenſatzes
zur Grundlage und doch iſt ihr geiſtiger Kern weſentlich durch das äſthetiſch
lebendige Element der unmittelbaren Neigung und Sympathie vermittelt.
Dieſer geiſtige Kern aber iſt Gleichheit oder wenigſtens Verwandtſchaft
der Geſinnungen, der Beſtrebungen bei ungleichem Naturell, wodurch
gegenſeitige Ergänzung bedingt iſt. Die Gewißheit des gleichen Strebens
beruhigt im Gewirre der Welt, die wechſelnde Ungleichheit des Fortſchritts
iſt anregender Sporn. Nur dem männlichen Geſchlechte gehört die Freund-
ſchaft, denn das Weib hat nicht Allgemeinheit der Beſtrebungen und ſoll
erſt durch den Mann, dem ihr ganzes Weſen gehört, zum Charakter
werden; dann iſt ſie ihm auch Freundin, aber der Geſchlechtsreiz gibt
immer dem Verhältniſſe ſeinen Ton. Mädchenfreundſchaften hören auf
mit der Brautſchaft. Böſe und geiſtig todte Männer können nicht Freunde
ſein, denn ſie haben nichts auszutauſchen. Die Freundſchaft hat nun dem
Geſagten gemäß das Eigenthümliche, daß ihr Weſen, wenn man ſie
betrachtet, immer über ſie ſelbſt hinaustreibt. Was in ihr vereinigt,
[201] ſcheint das Jugendgefühl, die einfache Liebe der Individualitäten; dieß
iſt aber Tand, Schein der Freundſchaft, der ſchnell vergeht. Vielmehr
iſt geiſtiger, ſittlicher Gehalt das Band, dieſer aber hat ſeinen Werth in
ſich und erhebt ſich, wo er in ein äſthetiſches Schauſpiel eintritt, ſogleich
zum Subjecte des Ganzen, ſo daß er die Freundſchaft zu einem accidens
herabſetzt. Hamlet, Marquis Poſa tractiren im Grunde die Freundſchaft
ſehr als Anhängſel und Mittel. Wird der Jüngling Mann, ſo heben
ſich alle Schein-Freundſchaften auf und ſtreift auch die wahre die erſte
Luft, Friſche, Schwärmerei, Alles, was ſie der Geſchlechtsliebe ähnlich
macht, aber auch Laune und grillenhaftes Trutzen ab; aber deſto tiefer
und rührender wird die keuſch verſchwiegene Wärme auf dem Grunde der
Geſinnung: das ächteſte, feſteſte Band im Privatleben. Liebe täuſcht,
Welt iſt falſch, Freundſchaft bleibt. Dieſer alte Wein, durch den die
Sonne geiſtiger Gemeinſchaft ſchimmert, iſt aber auch ſo für ein bewegtes
äſthetiſches Ganzes zu ſtille. Die Verbindung Mehrerer, für einen
beſtimmten gegenwärtigen Zweck, wie z. B. die Verſchwörung, iſt freilich
äſthetiſch fruchtbarer, aber ſchon nicht mehr Freundſchaft zu nennen; es
iſt Fortſchritt der Idee aus ihrer Iſolirung zum Uebergang in eine Macht,
die ſich verwirklicht, und die Verbündeten ſind nicht ſowohl durch Unmittel-
barkeit der Sympathie unter ſich, als vielmehr mit Zurücklaſſung ihrer
ſonſtigen, engeren Perſönlichkeit alle durch den Zweck vereinigt.
Eine Geſchichte der Freundſchaft würde eine intereſſante Darſtellung.
Die alte Welt zeigt ſchöne Männerfreundſchaften auf Gleichheit der politi-
ſchen Geſinnung gegründet. Die griechiſche Knabenliebe iſt eine durch
Zurückgezogenheit des Weibes veranlaßte Verirrung des Geſchlechtsreizes
in die Freundſchaft; die pädagogiſche Liebe, zu der ſie Plato umdeutet,
iſt nicht mehr Freundſchaft. Im Mittelalter tritt vorzüglich die Waffen-
brüderſchaft auf, die freilich auch das heroiſche Alterthum kennt, ein
Herzensbund auf Theilung der Gefahr und aller Lebensbedürfniſſe bis in
den Tod, auf gegenſeitige Rache. Die vereinigende Geſinnung hat hier keinen
beſtimmten ſittlichen Gehalt, ſondern im Geiſte jugendlicher Völker Tapfer-
keit überhaupt, daher wirkt dieſe Freundſchaft nicht wohl in die Ferne,
ſondern will Beiſammenſein und ſteht der bloßen Kameradſchaft näher.
David und Jonathan, Oreſtes und Pylades, Achill und Patroklus, Niſus
und Euryalus, Richard Löwenherz und Blondel, Herzog Ernſt und Wetzel,
Hagen und Volker. Ausdrücke: Blutbruder, Stallbruder, Herzbruder,
guter Kamerad, σύνδειπνος, comes, contubernalis, neugriechiſch φιλοπαιδὶ
u. dergl. (Ueber Freundſchaftſagen vergl. die Brüder Grimm in ihrer
Ausgabe des armen Heinrich). Die moderne Zeit pflegt tiefere geiſtige
Freundſchaft vorzüglich auf wiſſenſchaftliches Zuſammenſtreben, das dann
[202] im Mannesalter zum ſittlich praktiſchen wird, zu gründen und dadurch das
Jugendleben auf Univerſitäten zu erhöhen.
Wenn in dem Werden des Charakters die ſchaltenden Mächte über die
Thätigkeit des Individuums, die nur erſt ein Streben iſt, überwiegen, ſo iſt
dagegen der reife Charakter berufen, die Welt durch ſtetiges Wirken, aber
1.auch durch die einzelne große Entſcheidung der That zu bewegen. Die nähere
umgebende Welt bietet ſich ihm in einer beſtimmten, mit noch unbewegt ruhenden
Gegenſtänden des harmloſeren Thuns, worin der Charakter allerdings noch
nicht als ſolcher ſich ausſpricht, aber auch des ernſten Wirkens, mit Zünd-
2.ſtoffen der That erfüllten Lage dar: Situation. Dieſe Stoffe erfaſſen auf
einem beſtimmten Punkte die innere Welt der Triebe, welche im Charakter zur
Einheit vertieft ſind, und werden, wenn der angeregte Trieb von ihm als ein
ſolcher anerkannt wird, dem Folge gegeben werden muß, zu Motiven des
Handelns.
1. Hegel unterſcheidet drei Formen: erſtens die Situation der
Situationsloſigkeit; er führt als Beiſpiel die ſelbſtgenügſame Ruhe des
unbewegten Götterbilds an. Dieß gehört in die Kunſt, hier iſt der Gott
die ganze Welt, eine Form, die uns noch ferne liegt; aber die ruhig
in ſich webende und gründende Erſcheinung einer vollen Perſönlichkeit,
die wohl in einer Umgebung auftritt, aber vermöge ihrer geſättigten
Selbſtändigkeit ſich zu ihr nur verhält, wie zum Schemel ihrer Füße:
dieß wäre einer der Stoffe, die wir hier anzuführen hätten. Man kann
dieß allerdings Situation (der Situationsloſigkeit) nennen, aber es liegt
keine Forderung in der Sache, den Namen hier als weſentlich gegebenen
anzuwenden. Zweitens die beſtimmte Situation in ihrer Harmloſigkeit:
eine Bewegung, ein Einlaſſen in den umgebenden Zuſtand, doch ohne
Kampf. Hieher gehört — nach unſerer Anordnung, welche den Götter-
kreis, wie geſagt, hier noch ausſchließt — jedes menſchliche Thun, wie
es ſich für das ſogenannte Genre als Stoff eignet: Reiter, die vor einer
Schenke halten, Mädchen einen Brief empfangend u. ſ. w. Die Umgebung
bietet hier eine Lage dar, welche wohl zu einem Thun, aber nicht zu
einer πρᾶξις σπȣδαία auffordert. Dieſen Sinn des Wortes Situation
haben wir in der Beſtimmung des §. neben dem ſtrengeren ausgedrückt,
aber auch hinzugeſetzt, daß ſich in einer ſolchen Situation noch nicht der
Charakter als ſolcher äußert, es bewegt ſich in ihr vielmehr nur das
Individuum als Träger der Sitte, der Volksweiſe, in ſeinen Bedürf-
niſſen u. ſ. w., kurz in Sphären, worin der Menſch entweder aus der
Natur, der er ſelbſt noch angehört, ſich erſt herausarbeitet, oder, einem
[203] ſittlichen Ganzen ſchon angehörig, nur in den untergeordneten Gebieten
desſelben, dem Nützlichen, Geſelligen u. ſ. w. ſich zu ſchaffen macht. Im
ſtricteſten Sinne aber bedeutet Situation drittens die Lage der Dinge, die
den Stoff zum ernſten Wirken, zur entſcheidenden ſittlichen That enthält
und dazu ſpannt, auffordert. Da dieſe immer eine Colliſion hervorruft,
ſo nimmt Hegel dieſe dritte Bedeutung gleich Colliſion. Situation in
dieſem Sinne fordert alſo entweder zu ſtetigem Wirken auf, z. B. der
Zuſtand einer Staatsverfaſſung, eines Standes, einer Gemeinde u. ſ. w.
der gründlicher Umgeſtaltung bedarf, aber ſich auch gewiß gegen den
Reformator kehren wird, oder zur ſtraffen That, wo die Spitze eines
Augenblicks einen Entſchluß von durchgreifender Entſcheidung verlangt.
Ein ſolcher Moment iſt für Egmont die Stunde, da die Statthalterin ſich
entfernt, Oranien ihn gewarnt hat, Alba eingezogen iſt, für Wallenſtein
die Lage, da der argwöhniſche Hof einen Theil ſeiner Unterhandlungen
mit dem Feinde ausgekundſchaftet hat, Verſöhnung nicht mehr möglich iſt,
die Freunde drängen, der Schwede Gewißheit will, für Macbeth Duncans
Eintritt in ſein Haus, für die gegen Jul. Cäſar Verſchworenen deſſen
Erſcheinen im Senat, für Wilhelm Tell der Augenblick, wo Geßler
durch die Armgart im Hohlweg aufgehalten wird u. ſ. w.
2. Das Wort Motiv wird im äſthetiſchen Gebiet auf ſehr vielfache
Weiſe gebraucht; hieher gehört es blos erſt, ſoweit es, noch außerhalb
der Kunſt ſelbſt, zur Bezeichnung eines im Stoffe liegenden Moments
angewendet wird, und ſo kann es nur einen Beſtimmungsgrund zum
Handeln bedeuten. Man braucht es zwar auch von einer Vermittlung
rein objectiver Art, von den Umſtänden nämlich, welche Urſache eines
gewiſſen Sachverhalts ſind. Göthe z. B. ſagt, Schiller habe es mit der
Motivirung immer leichter genommen, als er, daher habe er nicht für
nöthig gehalten, zu motiviren, woher der Bauer im Wallenſteins Lager
die falſchen Würfel habe, er ſelbſt habe erſt die Verſe eingefügt: „ein
Hauptmann, den ein Anderer erſtach“ u. ſ. w. Dieſer Sprachgebrauch
geht uns aber hier nichts an, denn in der Wirklichkeit iſt in dieſem
Sinne Alles motivirt und erſt in der Kunſt, die uns noch nicht beſchäftigt,
fragt es ſich, wie weit der Künſtler in der Reihe der Urſachen zurückgreifen
ſolle, um den Sachbeſtand zu erklären, wie weit er zu motiviren habe,
In unſerem Sinn iſt alſo Motiv ein Umſtand, der einen Charakter anregt.
einen ſeiner Triebe in Bewegung ſetzt. Der Charakterloſe folgt unmittel-
bar, wie Iſolani; ſeine Thaten ſind ebendaher nicht ſein Werk, ſondern
nur Ereigniß, ein Durchgang der äußeren Verkettungen durch einen
Menſchen. Dieß iſt Kants heteronomiſche Triebfeder; die Autonomie
aber, die er fordert, iſt abſtract, der Charakter darf und ſoll dem Triebe
[204] folgen, aber erſt, nachdem er ihn approbirt hat, d. h. nachdem er erkannt,
daß dieſer Trieb entweder derjenige iſt, den er mit gutem Grunde zum
Mittelpunkte ſeines Lebens gemacht hat, oder ein ſolcher, der mit ihm in
weſentlichem Zuſammenhang ſteht, und nachdem er dadurch die Berechtigung
desſelben anerkannt hat. Zwiſchen die Anregung des Triebs und zwiſchen
das Thun, das ihm Folge gibt, tritt Denken und denkendes Wollen.
Othello’s Selbſtmord iſt nicht Act der erſten Verzweiflung, ſondern iſt
eine That aus der Einſicht, ohne Ehre nicht leben zu können und zugleich
würdig zu ſein, die Strafe an ſich ſelbſt zu vollziehen. Eine That kann
auch mehrere Motive haben, aber ſie müſſen ſich organiſch zu einem
Grundmotive vereinigen. Man nennt allerdings auch Beſtimmungsgründe
zu einer Leidenſchaft, z. B. zum Haß Motive, wie Jago’s Zurückſetzung.
Aber der Haß handelt und ſo wird das Motiv der Leidenſchaft Motiv
der That. Der Böſe gibt nun zwar dem unberechtigten Trieb dieſe Folge,
aber er macht ſich doch vorher ſeine Metaphyſik, ſein Syſtem, daher iſt
er ein Charakter, freilich, wenn man tiefer blickt und das Verkehrte dieſes
Syſtems, das dem Böſen ſelbſt nicht verborgen ſein kann, betrachtet, nur
ein Schein-Charakter (vergl. §. 333 Anm.).
Das Schickſal, das ſich der Charakter durch ſein Wirken und ſeine
That bereitet (§. 117 ff.), kann in der Wirklichkeit des Lebens unendliche
Formen annehmen. Für den Charakter ſelbſt aber kann ſeine That einen
Wendepunkt bilden. Vermag er die Folgen ſeiner That nicht zu ertragen,
bricht er zuſammen, ſo war ſie keine That und er kein wahrer Charakter.
2Eine Form des Zuſammenbrechens iſt der Wahnſinn; dieſe habituelle Ver-
irrung des Traums in das Wachen ſo wie das ganze Traumleben des Geiſtes
kann in dem lichten Tage, in welchem der Charakter wandelt, nur als mit-
anklingende dunkle Tiefe oder als Wirkung des Vorgangs auf ſchwächere mit-
betheiligte Individuen von äſthetiſcher Bedeutung ſein.
1. Der Kampf, welchen die That hervorruft, und Alles, was unter
Schickſal begriffen wird, iſt in ſeinen Grundzügen in der Lehre vom
Tragiſchen gegeben. Hier, in der Verſchlingung des Realen, nimmt nun
dieß unendliche Formen an; die Wiſſenſchaft kann nur ſagen, daß ſie
unendlich ſind, nicht ſich in die unendliche Breite ſelbſt einlaſſen. Alle
bedeutenderen Sphären der menſchlichen Schönheit können, und zwar in
unendlichen Weiſen, collidiren und tragiſches (unter Umſtänden komiſches)
Schickſal bereiten. Im jetzigen Zuſammenhange, wo wir den Charakter
[205] verfolgen, bleibt das Eine noch hervorzuheben, daß ſeine That ſelbſt
theils durch einen Geiſt, den ſie in ihm aus dem Schlummer aufreißt,
theils durch die Conſequenzen, die ſie fordert, ihn in neue Bahnen reißen
kann. So Macbeth, der durch Königsmord aus einem Ehrenmann zum
Wütherich wird, dann innerlich verkohlt und äußerlich untergeht. Der
Wendepunkt muß aber vorbereitet ſein. Vergl. Rötſcher Cyklus dram.
Charaktere Thl. 1, S. 27.
2. An ſich gehört das ganze Gebiet der Ahnungen, Träume, des
Hellſehens, Wahnſinns zur Anthropologie, alſo für uns eigentlich an den
Anfang der Lehre von der menſchlichen Schönheit, wo wir den Menſchen
aus dem Naturleben erſt in das ſittliche heraufführten. Allein dieſe
Erſcheinungen können weniger, als irgend eine aus dem Naturgebiete des
Geiſtes, anders erwähnt werden, als ſo, daß die Grenze ihrer Geltung
mitaufgeſtellt wird. Daher ſchien es am paſſendſten, ſich von da zu
ihnen zu wenden, wo Brechung des Charakters durch Unfähigkeit, die
Erfahrung zu ertragen, zur Sprache kommt, als eine Form derſelben
den Wahnſinn aufzuführen und von dieſem einen Blick in das Traumleben
des Geiſtes überhaupt zu thun. Das Schöne wird nun wohl auf
Zuſammenhänge geführt werden, wo überhaupt weniger der Charakter
auftritt, als Verhältniſſe, menſchliche Naturzuſtände, Familien-Eigenheiten
u. dergl. mehr, und da mag Ahnung, Traum, Idioſynkraſie, Wahnſinn,
geiſtige Seltſamkeit jeder Art breiter ſpielen; doch iſt die Sache immer
bedenklich: wo Menſchen handeln, wird einmal Vernunft erwartet. Dieſe
dunkeln Abgründe, dieſe Nachtſeiten der Seele können zwar dem ober-
flächlichen Blick deßwegen äſthetiſcher ſcheinen, als das Tagleben des
Geiſtes, weil das Schöne Naturton, alſo auch Naturdunkel will; aber
es will vielmehr den Geiſt aus lichtem Mittelpunkte nur in dieß Dunkel
verzitternd, nur eine Perſpektive in’s Dunkel, wohl eine Dämmerung,
aber einen Tag mit einer Dämmerung. Ahnungen, Träume erfaſſen in
dunklem Bilde die Zukunft, können aber dem Charakter nicht Motive
werden; dem antiken eher, denn da iſt alles Prophetiſche durch Sitte
und Religion grundſätzlich anerkannt, doch ſträubt ſich Hektor wie Hagen
gegen Träume und Zeichen des Vogelflugs. Das Ahnungsvolle ſoll her-
vortreten, aber naturgemäß als die Vorausnahme deſſen in einem dunkeln,
bildlichen Schließen der Seele, was dann am hellen Tage ſich ausbreitet.
Hellſehen, Schlafwandeln iſt ſchon krankhafte Abſonderlichkeit, die eher
komiſchen, als ernſten Stoff gibt. Wahnſinn nun, dieſes habituell
gewordene Träumen im Wachen, dieſes zum bleibenden Zuſtande gewordene
Phantaſiren iſt als Bruch der ſchwächeren Naturen, die in ein tragiſches
Schickſal hineingeriſſen werden, wohl ein äſthetiſches Schauſpiel, wenigſtens
ſo lange Sinn im Unſinn, wie Unſinn im Sinn iſt; man erkennt daraus
[206] das Ungeheure des Vorgangs, man ſieht, welches Chaos einbricht, wenn
die ſittliche Welt zerrüttet wird. Der Charakter aber wird ſich gegen ſein
Andringen zu behaupten wiſſen; Lear iſt im ſtrengen Sinne kein Charakter;
„er war immer ohne Selbſtkenntniß.“ Zudem verſteht ſich, daß wir von
geiſtig motivirtem Wahnſinn reden und zwar in dem Sinne, daß das
Motiv eben in dem Vorgange liegt, der den äſthetiſchen Stoff bildet.
Es iſt die That und die ſie begleitende Rede, worin der Charakter
ſeinem inneren Leben den wahren Ausdruck gibt. Aeſthetiſch ſind aber dieſe
nur, ſofern auch die leibliche Geſtalt als ihr Organ der Anſchauung gegeben
iſt, und dieſe wird, weil ſie die eigene des Charakters iſt, dasſelbe ausſprechen,
was die Reden und Thaten. Der Charakter ruht auf der Natur-Anlage als
einer Vorausſetzung (§. 331. 332); vorerſt wird alſo dieſe ſich in der Geſtalt
ausſprechen und zwar zunächſt in der Ruhe durch ihre feſten Formen (und
Farben): Phyſiognomik. Die Phyſiognomik kann keine Wiſſenſchaft ſein,
welche Sätze aufſtellt, ſondern nur je in dem Momente, wo das Bild eines
Charakters der Anſchauung gegeben iſt, faßt dieſe das unberechenbare Inein-
ander ſeiner Züge zuſammen und ergreift in Einem Acte die angeborne Sinnesart
mit ihrem leiblichen Ausdruck ebenſo, wie die Natur, ohne eine feſtgeſtellte
Buchſtabenſchrift, beide Seiten in Einem Acte entwirft.
Wir müſſen die Phyſiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs-
kunde des Angebornen im Charakter aus den Zügen ſeiner Geſtalt; erſt
nachdem von der Pathognomik die Rede geweſen ſein wird, haben wir
von den Zügen zu ſprechen, welche die freie Arbeit des Willens der
Geſtalt einprägt. Wäre die Phyſiognomik als Syſtem der Wahrſagerei
auch noch nicht widerlegt, wie ſie es (vorzüglich durch Lichtenberg) iſt,
ſo dürften wir nur darauf aufmerkſam machen, daß ſchon die Verſchlingung
der angebornen und der durch Gewohnheit und Willen eingeimpften Züge
ſie aufhebt. Wir laſſen alſo die Frage nach den letzteren noch bei Seite.
Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit Einem
Schlage das ſittliche und das ſinnliche Bild eines Menſchen anlegt, war
ein weſentlicher Ausdruck jener Zeit, da Lavater auftrat, da man ſich
ſehnte, in die Mitte des Lebens, in das volle Ganze einzudringen. Aber
man überſtürzte ſich, warf ſich in Prophetenton und prahlte mit einer
verwegenen Menſchenkennerei. Nicht um einen Schluß von dem Aeußeren
auf das Innere kann es ſich hier handeln, nicht darum, den Charakter
einer übrigens unbekannten Perſon, die vor uns tritt, aus ihren Zügen
zu errathen. Die Aeſthetik ſetzt voraus, daß die erſcheinende Individualität,
[207] wo nicht durch die verſtändliche und leicht lesbare Sprache der Rede und
That, doch durch ihre ganze Umgebung, Situation ſage, was ſie iſt und
will, daß damit erſt die Züge der Geſtalt zuſammenwirken und daß wir
dieß Ganze in Einem Acte, weder vom Innern auf das Aeußere, noch
von dem Aeußern auf das Innere ſchließend, erſchauen. Sollten wir
uns aus einer Summe von Anſchauungen einige Haltpunkte, worin wir
für die Züge der Geſtalt an ſich und in ihrer Trennung von Allem dem,
was erklärend in ihrer Erſcheinung und Umgebung mitwirkt, entnehmen
und aufſtellen wollen, ſo iſt dieß unſchädlich, aber auch weiter nichts.
Auch Ariſtoteles ſtellt in ſeinen φυσιογνωμονικὰ, nachdem er aufrichtige
Zweifel vorausgeſchickt, eine Zahl ſolcher Haltpunkte ſpielend auf. Unbe-
kannte Menſchen darnach beurtheilen zu wollen, kann keinem Vernünftigen
mehr einfallen, denn wie man ſie anwenden will, ſo ſtößt man ſogleich
auf die unendliche Verſtrickung der Züge im Individuum. Von der Ver-
ſtrickung der angebornen und der durch Wille und Schuld aufgedrückten
Züge ſehen wir, wie geſagt, dabei überdieß noch ab, aber auch alles
Angeborne verſtrickt ſich untereinander: die Nationalität, der Ausdruck
ihres Temperaments, ganzen Naturells mit der Eigenthümlichkeit der
Familie; alles dieß mit den in §. 332 aufgeführten allgemeinen und
beſondern ſittlichen Mächten, welche in’s Leibliche zurückgehend mit der
Zeugung einwurzeln: mit dem Temperament der Familie, z. B. das
Gepräge des Standes u. ſ. w. Nun verſchlingt ſich aber dieß ſo Ver-
ſchlungene erſt mit dem unendlich eigenen Temperament, Naturell des
Einzelnen. Hätte man z. B. noch ſo richtig das angeboren Sittliche oder
Intelligente gefunden, das gewiſſe Formen der Naſe offenbaren, ſo iſt
jede Naſe wieder anders; ein leichter Hügel, eine ſanfte Vertiefung,
kaum merkliche Aufziehung des Naſenflügels gibt der Adlernaſe, der
Stumpfnaſe eine neue Form und ſo durchaus; ich muß näher beſtimmen
in’s Unendliche und das geht wie bei jenem Spiel, wo man an einem
Sandhäufchen ſolange wegnimmt, bis das Hölzchen in der Mitte (die
aufgeſtellte phyſiognomiſche Kategorie) fällt. Es iſt mit den allgemeinen
Haltpunkten der Phyſiognomik wie mit den Sprichwörtern. Jedes iſt
wahr, aber die andern auch und jeder concrete Fall läßt die Anwendung
der entgegengeſetzteſten Sprichwörter zu; es käme darauf an, abzuwägen,
wie viel Gewicht in der Summe der auf ihn anwendbaren Sprichwörter
auf das einzelne Sprichwort falle. Kann man aber dieß, ſo kann man
es ja erſt, wenn der Fall da iſt, und dann begreift man ihn auch ohne
Sprichwort. Daher heißt Phyſiognomik treiben, wie Lichtenberg geſagt
hat, den Sand zählen. Man ſammelt etwa möglichſt viele Bildniſſe, um
durch vergleichende Erfahrung zum Abſchluſſe zu kommen; allein der
Bildniſſe gibt es ſo viele, als der Individuen, d. h. unendliche, und ſo
[208] mußte „die Phyſiognomik in ihrem eigenen Fett erſticken.“ Behält man
ſich dagegen vor, durchaus keinen Schlüſſel zur Menſchenkennerei zu
ſuchen, ſondern nur einige leichte Linien in das Dunkel zu zeichnen, worin
die Natur (und die Kunſt) Menſchenbilder, Seele und Leib mit Einem
Schlage, webt, beſcheidet man ſich, dadurch Individuen zu definiren, räumt
man vielmehr ein, daß man höchſtens mit ungewiſſem Griffel einige
Kategorien, in die ſie mit unendlichen Abweichungen fallen, zu umreißen
ſuchen wolle, ſo mag man es verſuchen, jene Symbolik des demiurgiſchen
Naturgeiſtes in einigen ſeiner Typen zu belauſchen, und dabei mag
Ariſtoteles Recht haben, wenn er theils die Bildung von Thieren, die
einen einfach beſtimmten Charakter haben, von Völkern, vom Geſchlechte
(ein Mann von ſehr weichem Fleiſch wird einen weiblichen Charakter
haben u. dergl.), theils gewiſſe pathognomiſche Formen (z. B. wem
die Geſichtsmuskeln von Natur ſchlaff hängen wie dem Niedergeſchlagenen,
der wird von Natur zur Niedergeſchlagenheit neigen), zu Grunde
legt. Am ergiebigſten iſt unter dieſen Analogien wohl die letztere: es
drückt ſich Niemand zuſammen, wenn er etwas Erhabenes, es richtet ſich
Niemand auf, wenn er etwas Niedriges ausſpricht, und dieß geſchieht
ganz unwillkührlich, es iſt unbewußte Symbolik; ſollte nicht die Natur vor
allem Gegenſatze des Bewußten und Unbewußten eine ähnliche Symbolik
üben? Niederdrücken, was unbedeutend, erhöhen, was bedeutend ſein,
in Tiefe und Breite ſtrecken, was mächtig in die Realität wirken ſoll?
Aus dieſem Standpunkte kann man einige Anſätze anſpruchloſer Phyſiognomik
machen, immer mit einem Wenn: wenn nämlich, muß man hinzuſetzen,
die übrigen Züge ebendasſelbe ausſprechen, wenn kein anderer das
Gegentheil ausſagt: und dieſe Ironie, dieſes Sichſelbſtaufheben, dieſes
μηδὲν ὁρίζειν iſt in einem ſo geheimnißvollen Felde eben das Wahre.
Die Phyſiognomik faßt zunächſt die feſteſte der Formen in’s Auge,
den Knochen. Die Grundform des ganzen Körpers iſt zwar durch das
Knochengerüſte bedingt, aber an allen übrigen Theilen tritt die Umhüllung
mit Muskel und Haut weſentlich hinzu, nur der Schädel iſt mit einer ſo
dünnen Hautſchwarte überzogen, daß der Umriß faſt durch das Harte
allein ſich bildet: Schädelkunde. Die ſogenannte Schädel-Lehre iſt
Charlatanerie und geht die Aeſthetik ſchon deßwegen nichts an, weil die
äſthetiſche Anſchauung ſich nicht auf Betaſtungen einlaſſen kann. Nur die
großen Haupt- und Grundformen des Schädelbaus wird man immer als
bezeichnend anſehen. Tiefe Wölbung nach hinten wird immer als Aus-
druck praktiſcher Energie erſcheinen, wenn ſie nicht auf Koſten der Stirne
entwickelt iſt, wenn aber dieß, als Ausdruck von Sinnlichkeit und Dummheit.
Geiſt wird man immer in dem höheren Schädel ſuchen, wenn nicht die
Höhe ſo auf Koſten der Tiefe geht, daß ein Spitzkopf entſteht, der
[209] ungereimt, wohl auch heimtückiſch ausſieht. Breite erſcheint bei verhältniß-
mäßiger Höhe großartig, μεγαλόψυχος, Schmalheit engherzig, dürftig.
Dieſe ganz wenigen Bemerkungen, die bei jeder weiteren Ausdehnung in
Willkühr verirren könnten, ſtreifen zum Theil an das, was C. G. Carus
(Grundzüge einer neuen und wiſſenſchaftl. begründeten Cranioſkopie)
aufgeſtellt hat. Er verwirft die Organe-Aufſuchung und Betaſtung und
mißt dafür nur im Großen drei Hauptregionen: Vorderhauptwirbel, die
Hemiſphären enthaltend: Region der Intelligenz; Mittelhauptwirbel, die
Vierhügel enthaltend: Region des Gemüths; Hinterhauptwirbel, das kleine
Gehirn umſchließend: Region des Wollens und Begehrens. Je nach der
Größe dieſer Theile ſoll das Individuum in einer der genannten Regionen
ſtark organiſirt ſein. Unter den drei Dimenſionen ſoll die Ausbildung
dieſer Theile in die Länge (Tiefe) von geringerer Dignität, thierähnlich
ſein, Höhe eine ſubjectivere Intenſität der je durch den betreffenden Theil
ausgeſprochenen Geiſtesrichtung, Breite eine objectivere, derbere, gröbere
Ausbildung bezeichnen. Phyſiologie und Pſychologie werden wohl gleich
viele Zweifel gegen dieſe Hypotheſe haben, während ſie doch zugleich viel
Einladendes, der weiteren Ueberlegung Werthes enthält.
Durch die Stirne macht die Cranioſkopie den Uebergang zur Betrach-
tung des Angeſichts: eigentliche, gewöhnlich ſo genannte Phyſiognomik.
Die weichen Formen, die beweglichen Theile ſprechen zugleich mit den
feſten, kommen jedoch noch nicht nach ihrer wirklichen Bewegung, ſondern
nach ihrer urſprünglichen Form in Betracht, wie ſie in der Ruhe erſcheint.
Die Stirne wird als Theil des Angeſichts jetzt zu dieſem gezogen. Hier
kommt nun als wichtiges Moment des Ausdrucks auch die Farbe hinzu,
an Haaren, Haut, insbeſondere Lippen, Auge. Die Art des Haarwuchſes
vergaßen die Alten in ihrer Phyſiognomik nicht; harte Haare zeigen nach
Ariſtoteles Muth, weiche Furchtſamkeit an nach der Analogie von Thieren
u. ſ. w. Es iſt ein großer Unterſchied, ob ein Geſicht von gelockten oder
ſtraffen Haaren eingefaßt iſt, dieſes erſcheint proſaiſcher, jenes heiterer,
phantaſiereicher, genialer. Beginnen wir nun von der Stirne, ſo treten
als Hauptformen der Richtung die zurückfliehende, die überhängende, die
gerade, die kuglich gewölbte auf. Die erſte Form erſcheint ſchlau und
kühn, die zweite eigenſinnig, ſtößig, die dritte zeigt inneres Ebenmaß an,
die vierte geringe Vernunft. In Betreff der Ausdehnung wird die allzu-
große Höhe und Breite immer dumm ausſehen, während eine bedeutende
entſchieden die Kraft der Intelligenz auszudrücken ſcheint; denn den Aus-
druck der Intelligenz überhaupt ſuchen wir allerdings vornämlich in dieſen
oberen Theilen und die eben genannten mehr ſittlichen Eigenſchaften ſind
nach dieſer Richtung zu verſtehen, ſo z. B., daß der Eigenſinn in ſeiner
theoretiſchen Wurzel, der Zähheit des Denkens, die keine Dialektik
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 14
[210]zuläßt, verſtanden wird. Die höhere Stirn aber wird enſchiedener den
Denker, die breite viereckige die ſchaffenden Ideen des großen Mannes
ankündigen. Die niedrige und ſchmale dagegen erſcheint nicht blos dumm,
ſondern insbeſondere ſtörriſch (ἀμαϑὴς ſagt Ariſtoteles und ſetzt hinzu:
ἀναφέρεται ἐπὶ τȣ`ς ὗς.). Wichtiger als alle dieſe Unterſchiede jedoch iſt die
nähere Beſtimmtheit der Oberfläche der Stirne; es kommt darauf an, ob
ſie durchgearbeitet und modellirt, formlos glatt und flach, oder roh bucklig
iſt. Die glatte z. B. gilt für die des Schmeichlers (denn, ſagt Ariſto-
teles, die Hunde legen die Stirnhaut glatt, wenn ſie ſchmeicheln). Die
Stirne des Jupiter war nach dem Löwen gebildet, denn dieſer „hat vier-
eckige Stirn, in der Mitte (horizontal) etwas eingehöhlt, gegen die Aug-
braunen und Naſe aber ſteht etwas wie eine Wolke: οἷον νέφος ἐπανεςηκός.
Mit der Stirne zuſammen nun ſind beſonders die Höhlenränderknochen
des Auges, das Augbraun, die Naſenwurzel und das Auge wichtig.
Der Ausdruck dieſer benachbarten Theile zieht entſchiedener den ſittlichen
Charakter mit herein, denn ſchon der Lage nach ſcheint das tiefliegende
Auge einen zuſammengefaßteren, härteren, ſelbſt verborgenen, heimlichen,
lauernden Charakter anzuzeigen, das offen liegende einen hellen, aber
auch ungeſcheuteren, bis zur Frechheit. Das Auge ſelbſt aber nach Glanz,
Feuchtigkeit oder Trockenheit, Wölbung oder Fläche im Profil, Rundheit
und Größe, Schmalheit und Kleinheit von vorn, Farbe und Durch-
ſichtigkeit iſt die Seele alles Ausdrucks in der Einheit des Fühlens,
Denkens und Wollens; freilich liegt jedoch ſeine Bedeutung ungleich mehr
noch im Blicke, in der Bewegung, demnach im Mimiſchen, als in Form
und Farbe. Das Schläfenbein und die Parthie des Ohrs ſpricht in
dieſer Region weſentlich mit. — Der mittlere Theil des Geſichts, die
Naſe bis gegen die Oberlippe und die Backen, ſind am ſchwierigſten in
der Beſtimmung ihres Ausdrucks. Das Bewegliche an dieſer Parthie,
der Backenmuskel, wird von den Mundwinkeln aus beſtimmt und von
hier aus graben ſich dann auch die habituell werdenden Züge ein, von
denen hier noch nicht die Rede iſt. Mehr zu dieſen, als zu den ange-
borenen, gehört auch die ſprechende Falte vom Naſenflügel zum Mund-
winkel, die Eingefallenheit oder das Sackige der weichen Theile unter
dem Auge. Naſe und Jochbein ſind, dieſes ganz unbeweglich, jene wenig
beweglich. Sehr ſtarkes Jochbein gibt immer einen Anſchein von Rohheit.
Die Naſe wird, da ſie Organ des Geruchs iſt, unwillkührlich als Organ
geiſtigen Spürens ſymboliſch gedeutet und zu dieſem Spüren auch das
Verhalten der Perſönlichkeit in ihrem Eindringen auf das Objective über-
haupt gezogen. So erſcheint die aufgeworfene Naſe, das σιμὸν, naiv
neugierig, naſeweiß, die Adlernaſe, das γρυπὸν, durch ihr Vorſchwellen
in der Mitte kühn, durch ihr ruhiges, ſchlankes Abſinken aber gelaſſen,
[211] daher großartig und edel, welch letzterer Zug der ohne Einziehung hoch-
gekrümmten, geiſtlos anmaßenden Ramsnaſe fehlt, die kurze, runde,
ſtumpfe Kartoffelnaſe plump ſinnlich, ohne Unterſcheidung im täppiſchen
Ergreifen des Genuſſes, die ſchmale, ſpitze mikrologiſch, pedantiſch,
kleinlich ſcharfſinnig. Von der geraden griechiſchen Naſe wird anderswo
und zugleich dann von der Naſenwurzel die Rede ſein. Weitoffene
Naſenflügel erſcheinen muthig, ſtürmiſch, leidenſchaftlich, aufgezogene
drücken ennuy aus u. ſ. w. — Der dritte Theil nun, Mund, Kinn und
Kiefer, iſt (insbeſondere nach den feinen Bemerkungen in dem Essai de
physiognomonie von R. Töpffer, der ſie aber freilich ſogleich auch in
der Bewegung betrachtet) der ſprechendſte. Größe dieſes Theils über-
haupt erſcheint, da die Werkzeuge des Eſſens hier die Formen abgeben,
entſchieden ſinnlich, Kleinheit drückt Mangel an Energie der Sinnlichkeit
aus. Der Mund für ſich aber, zugleich als Organ der Sprache höher
geadelt, iſt durch die Form der Lippen (volle und offene naiv, ſinnlich,
ſchmale und eingekniffene ſcharf, eigenſinnig, verbiſſen), durch ihre Lage
(Hervortreten der obern drückt fatuitas aus, Hervortreten der untern
mürriſchen Trotz, Hängen derſelben Schlaffheit, Grobheit, Neigung zum
Maulen), endlich durch die Mundwinkel, deren lauſchendes Grübchen im
Geheimniß ſeines Ausdrucks unfaßbar iſt, von der wichtigſten, nächſt
dem Auge von der einleuchtendſten phyſiognomiſchen Bedeutung. Aber
auch die Baſis des Geſichts, das Kinn iſt viel wichtiger, als man
gewöhnlich erkennt. Von dem vollen runden Kinn, deſſen markiger Schwung
den objectiven Sinn, die vollwiegende Kraft des Sinnenlebens ausſpricht,
ſchweift das Extrem des ſpitz vorragenden mit dem Ausdruck halsſtarriger
Zudringlichkeit und das andere des allzukleinen, wie durch eine ſtarke
Maulſchelle zurückgeworfenen mit dem Ausdruck von Dummheit, Mangel
an Selbſtändigkeit und, weil es den ganzen Kopf der Thierſchnauze
nähert, Gemeinheit gleich widerwärtig ab. Es wäre noch namentlich
von der Geſichtsform im Ganzen: viereckig, eiförmig, ſehr lang gezogen
u. ſ. w. zu reden, aber wir müſſen kurz ſein. Daher können wir von
der Farbe, welche bei dem Auge ſchon erwähnt wurde, nur ſagen, daß
ſie für den Ausdruck des ganzen Geſichts höchſt wichtig iſt, wobei Haut-
und Haar-Farbe zuſammenwirken. Ariſtoteles gibt auch hierüber Winke.
Da ſie ein aus dem Blute abgeſetztes Pigment iſt, ſo drückt ſie namentlich
das Temperament, das Leben der Gefühle, Triebe, Leidenſchaften aus.
Ein ſehr rother Kopf wird immer jähzornig ſcheinen u. ſ. w.
Viel zu wenig werden die Formen des übrigen Körpers beobachtet,
der naturloſe neuere Menſch ſieht nur nach dem Geſicht und vergißt die
Bedeutung des Halſes, Nackens, der Bruſt, Hüften, Schenkel, Waden, des
Schienbeins, der Füße, vorzüglich aber der Hände. Der gedrängten, ſtier-
14*
[212]nackigen, kurzhalſigen, breitgeſchulterten und breitbruſtigen, ſchmalhüftigen,
aber mit ſtarkem Hintertheil verſehenen, langgeſchenkelten, überall muskel-
ſtarken athletiſchen Bildung ſteht als Extrem die langgezogene, hagere
und zugleich muskelſchlaffe Bildung gegenüber, die häufig bei abſtract
geiſtigen Naturen vorkommt. Die breite und kurze Geſtalt tritt aber auch
in ſchwammiger Fette auf, wobei häufig die Hüften zu weiblicher Breite
anſchwellen und die feinen Hände und Füße einen zarten, etwa dem
Schönen und Geſchmackvollen zugeneigten, aber auch weichlichen und
genußluſtigen Menſchen zu verrathen ſcheinen. Dagegen faßt ſich der
athletiſche Typus zu feiner Schlankheit, geſchmeidiger Kraft zuſammen
in dem behenden und klugen Mercur; die hohe und gezogene Geſtalt
ſammelt ſich zu ſtraffer und ſchwungvoller Erhabenheit in dem begei-
ſterten Apoll. Dieß ſind dürftige Andeutungen; nur von der Hand,
welcher gewöhnlich der Fuß in ſeiner Bildung entſpricht, noch Einiges.
Hier iſt Carus (Ueber Grund und Bedeutung der verſchiedenen Formen
der Hand in verſchiedenen Perſonen) auf etwas ſichererem Boden und
gibt fruchtbare Bemerkungen nach d’Arpentigny, den er auf geordnetere
Grundbegriffe zurückführt. Auf die doppelte Bedeutung der Hand als
Gefühls-Organ und als Ergreifungs-, Bewegungs-, Kunſt-Organ wird
zunächſt der Gegenſatz der ſenſibeln und der motoriſchen Hand gegründet.
Jene iſt klein, weich, fein, von nicht allzubreiter Fläche, die zarten Finger
neigen ſich zur koniſchen Zuſpitzung, ſchwellen aber am Ende etwas
ſpatelförmig an, der Daumen iſt klein, die Gelenkbildung ſehr wenig
vorragend; ſie verräth eine feinere, zu Phantaſie, Kunſt und Scharfſinn
geneigte, weiche, weiblichere Seele. Dieſe iſt größer, knotig durch ſtark
ausragende Gelenke, von derben Muskeln und Knochen, die Finger
endigen ſich viereckig, der Daumen iſt groß, der Ballen ſtark, die Hand-
fläche mittelmäßig, hohl und derb; es iſt die Hand des willenskräftigen,
handelnden Menſchen, der männlichen Seele. Vor dieſen Gegenſatz ſtellt
er die elementare Hand, das rohe Gebilde, wo die Handfläche noch vor-
herrſcht und eine nur unvollkommene Entwicklung kurzer und unbeholfener
Finger gegeben iſt: das Werkzeug des Naturmenſchen, der zur ſchweren
Arbeit beſtimmt iſt, das aber nicht nur im Naturzuſtande der Völker und
im dienenden Stande, ſondern immer und in allen Klaſſen vorkommt.
Ueber jenen Gegenſatz aber ſtellt er diejenige Hand, die er die ſeeliſche
nennt, die Hand, worin die motoriſche und ſenſible vereinigt iſt: mittlere
Größe, die Handfläche mäßig breit, die Finger fein, ſchlank und ziemlich
lang, die Gelenke nicht hervorragend oder nur leicht wellenförmig erhoben,
an der äußeren Phalange koniſch ausgezogen. Es iſt die Hand des
denkenden, zur Wiſſenſchaft berufenen Geiſtes, der zugleich das Zweck-
mäßige und Große thut, aber nicht im eigentlich praktiſchen Gebiete,
[213] ſondern in Kunſt, Religion. Carus bezeichnet ſie zu weich als die Hand
der ſchönen Seele. Die individuelle Hand nun ſtellt in unendlichen Ver-
bindungen Uebergänge zwiſchen dieſen Hauptformen dar; unter dieſen
macht er die „ſpatelförmige“ namhaft, mit feineren Fingern, als die
motoriſche, an der Spitze rundlich, aber ſtärker als die ſenſible, an-
ſchwellend, die Mitte zwiſchen dieſer und jener darſtellend: Verbindung
von kräftiger Bewegung und ſchärferer, taſtender Unterſcheidung, die Hand
des feineren Mechanikers u. ſ. w.
Am häufigſten an der ſenſibeln Hand wird man die eine der ſoge-
nannten ſieben Schönheiten, den rothen Anflug an den Knöcheln, finden;
mit ihr und der ſeeliſchen wird häufig der ſchöngezeichnete Fuß mit hohl
liegend geſchwungenem Reien, den Sinn der rhythmiſchen Bewegung
ankündigend, verbunden ſein.
Ungleich verſtändlicher ſpricht ſich das Innere in den Bewegungen des1
Körpers aus: mimiſcher Ausdruck. Derſelbe beſchränkt ſich als Miene
auf das Angeſicht, oder geht als Gebärde, theils die ſubjectiven Zuſtände,
theils objectiv Gegenſtände darſtellend, auf den ganzen Körper, vorzüglich die
Hände über; aber auch die Stimme und ihr Klang iſt von weſentlicher Bedeutung.
Unwillkührlich oder wenigſtens nie ganz durch Willkühr zu bewältigen iſt der2
mimiſche Ausdruck des Affects: Pathognomik. Der Charakter aber unter-3
wirft ſich den Körper, beherrſcht ihn als ſein Organ und drückt frei ſein
inneres Leben durch ihn aus, wobei jedoch das Spiel der Bewegungen theils
an gewiſſe conventionelle Zeichen, theils an eine unwillkührliche Symbolik
gebunden bleibt und mit dem Freien zugleich der verborgene Naturgrund der
Individualität an den Tag tritt. In dieſem ganzen Gebiete iſt es wohl4
möglich, über das Allgemeine und Beſondere Beſtimmungen aufzuſtellen, aber
das Individuelle iſt auch hier erſt faßbar in dem Momente, wo es zugleich
mit anderweitigen, nicht mißdeutbaren Ausdrucksmitteln vor uns tritt.
1. Die Bewegung iſt unmittelbar lebendiger Ausdruck des Innern,
der vor unſern Augen wird und vor ſich geht. Sie verhält ſich zum
Phyſiognomiſchen wie ein Gewitter, Meerſturm, Erdbeben zu den feſten
Formen der Erdbildungen. Dieſe ſcheinen auch zu erzählen von den
großen Bewegungen, wodurch ſie geworden, aber ſie ſind ſtumme Zeugen,
ein Räthſel brütet über ihnen und der Zuſchauer kann nur ahnen, was
ſie zu ſagen haben, jene Erſcheinungen dagegen geſchehen in gegenwärtiger
Bewegung vor unſern Augen, daher kann kein Zweifel ſein über die Kraft
und ihre Wirkung. Es leuchtet aber doch auch das Unzulängliche dieſer
[214] Vergleichung ein; daß die feſten Erdformen durch ähnliche Bewegungen
entſtanden, wie ſie jetzt noch vorkommen, läßt ſich nachweiſen, daß aber
dem ſtummen Seelenbau des Körpers ähnliche Symbolik zu Grund liege,
wie den mimiſchen Bewegungen, dieß iſt ein andeutendes Wort, ein
Wink, eine Perſpective, die lächerlich wird, ſobald man ſie ins Exacte zu
verfolgen ſucht. Das Lachen zieht die Mundwinkel, Naſenflügel, Augen-
winkel in die Höhe, das Weinen abwärts; ein Menſch, in deſſen Geſicht
dieſe Theile der einen oder andern Stellung von Natur und auch in der
Ruhe ſich nähern, ſcheint zu fader Lachluſt oder trüber Niedergeſchlagenheit
von Natur disponirt — ungefähr, vielleicht, man kann es nicht gewiß
ſagen. Die Analogie läßt ſich um ſo weniger ſtreng faſſen, da aller mimiſche
Ausdruck allgemeinerer Art mit den feſten Formen auch in Widerſpruch
treten kann, ſei er nun der Ausdruck vorübergehender Leidenſchaft oder des
Charakters, der mit der Naturanlage gekämpft hat. Nun beſtimmen ſich
überdieß auch die mimiſchen Bewegungen in jedem Individuum anders
und dieſe individuelle Mimik ſteht natürlich mit der Phyſiognomie des
Individuums im innigſten Zuſammenhang, aber hier hören vollends alle
allgemeinen Feſtſtellungen auf.
Der mimiſche Ausdruck bewegt als Mienenſpiel vorzüglich das
Angeſicht, wohin er ſich bei den nördlichen Völkern und in der modernen
Bildung beinahe ganz zurückgezogen hat, wogegen die ſüdlichen Völker
noch heute die lebendigſte, über den ganzen Leib verbreitete Gebärden-
Sprache üben, bei denen ebendaher auch Vieles, was uns zufällig und
gleichgiltig erſcheint, als Zeichen gilt, z. B. das Einſchenken über den
Rücken der Hand, Vergl. namentl. Andrea de Jorio. La mimica degli
antiehi investigata nel gestire Napoletano. Stirne: Runzeln wie
Wolken, Glätten wie heiterer Himmel; hier iſt die Symbolik klar. Auge:
zunächſt Ausdruck vermittelſt der Augbraunen: Zuſammenziehen, in die
Höhe ziehen; der Augenlider: Aufſchlagen, Niederſchlagen, Schließen,
halb Schließen, Blinzen; dann der Apfel: tritt heraus in Freude, Muth,
Zorn, ſinkt zurück in Schrecken, Trauer, dreht ſich nach allen Seiten, um
jede Stimmung, jeden Affect, jede Beziehung zum Objecte zu bezeichnen;
ſein Glanz erliſcht, erhöht ſich, er vergießt Thränen; — eine durchaus
deutliche Sprache. Die Naſe iſt wenig beweglich, doch zieht ſich ihre
Spitze hinauf im Rümpfen, ſie öffnet ihre Flügel im Zorn und überhaupt
wird ihre ganze untere Parthie von dem Mienenſpiel des Mundes in
Theilnahme gezogen, ebenſo die weniger feſt aufliegenden Theile der
Wangen. Von dieſen vorzüglich breitet ſich Erröthen und Erbleichen über
das ganze Geſicht aus. Die Symbolik dieſer Blutbewegungen iſt klar:
in Scham und Zorn ſpringt das Blut an die Oberfläche, denn die Perſön-
lichkeit iſt bei jener in ihren geheimen Naturgründen, die ſie verbergen
[215] möchte, blos gelegt, in dieſem will ihr innerſtes Naturleben reagiren; in
der Furcht tritt das Blut in ſeine verborgenen Gefäſſe zurück, wie der
ganze Menſch ſich in ſich zurückzieht, in ſich hineinſinkt. Mund: Lachen
und Weinen iſt eine äußerſt ſprechende Symbolik. Vom Lachen war in
§. 226 die Rede. Die Lippen haben noch ein vielfältiges feineres Spiel,
Lächeln, Schmollen, Spitzen, die Oberlippe unzufrieden, die Unterlippe
trotzig Hervordrücken u. ſ. w. Mit Zuziehung der Zähne und Kiefer
entſteht das Knirſchen, Zähneklappen u. ſ. w. Thiere weiſen die Zähne;
hätte uns nicht nothwendige Kürze abgehalten, ſo hätte allerdings die
zwar dürftige Mimik des Thiers und zwar auch die ſchwierigere des
thieriſchen Kopfs uns beſchäftigen müſſen. Ein Hund z. B. kann doch
über ſeine Geſichtsmuskeln in ſprechenderer Weiſe verfügen, als man
glaubt; das Spiel geht allerdings weſentlich von den Ohren aus. — Haar:
Sträuben. Der ganze Kopf: richtet ſich ſtolz auf, ſenkt ſich ſanft, traurig,
beſcheiden, ſchüttelt verneinend, legt ſich bedenklich, lauſchend, wehmüthig
zur Seite, wirft ſich anmaßend, bewundernd zurück, ſtreckt ſich neugierig
vor u. ſ. w. Schultern: Achſelzucken, Hinabſinken. Bruſt: Auftreiben im
Muth und Zorn, Einſinken in Furcht und Trauer. Bauchmuskeln:
Zuſammenziehen in Angſt und Anſtrengung, Schütteln im Lachen u. ſ. w.
Die Beine ſind es namentlich, welche durch Stampfen, Vorſtellen, Zurück-
ſtellen, Aufſpringen, Knieen, Zuſammenſinken, Stehen, Gehen u. ſ. w. die
Verbreitung der Gebärde über den ganzen Leib ausdrücken. Das Haupt-
Organ der Gebärde ſind die Hände mit den Armen. Ihr unendliches
Spiel kann nicht in ſeine einzelne Formen verfolgt werden. Der Satz,
daß die Handbewegungen eine klare Symbolik darſtellen, unterliegt keinem
Zweifel; Niemand kann das Fauſtballen, das Händeringen, das bittende
Händefalten u. ſ. w. mißverſtehen. Die Hände ſind es nun beſonders,
obwohl nicht allein, bei welchen der im §. hervorgehobene Unterſchied
objectiver und ſubjectiver Mimik in Betracht kommt. Engel (Ideen zu
einer Mimik Br. 8) bezeichnet ihn durch: malende und ausdrückende
Gebärden. Er führt unter jenen nur die eigentlich nachahmenden auf,
z. B. wenn ich durch Handbewegungen Größe eines Bergs, durch ſie und
Bewegung des ganzen Leibs die Geſtalt, die Bewegungen eines Dritten
darſtelle: dieß gehört freilich auch hieher und iſt nicht, wie es ſcheinen
könnte, ein Vorgriff in die mimiſche Kunſt, es gehört noch zum Stoffe,
denn der Schauſpieler hat unter Anderem auch dieß Nachahmen nach-
zuahmen. Die malende Gebärde zeichnet aber auch Solches, was erſt
geſchehen ſoll, ſie ſtreckt den Finger zum Befehle aus, ſie ſtreicht die
Gurgel, um Durſt zu bezeichnen, ſie deutet auf die Stirne, einen Andern
zum Nachdenken aufzufordern. Auch dieſe Gebärden üben eine, aus
unbewußter Wurzel mit ſicherem Geſetz aufſteigende, ſehr verſtändliche
[216] Symbolik, worüber Roſenkranz (Pſychologie S. 184. 185) einige philo-
ſophiſch begründende Sätze aufſtellt. Uebrigens treten ſie mit den aus-
drückenden zuſammen; z. B. der Zorn ſchwellt mir die Adern, treibt mir
die Bruſt auf, die Röthe ins Geſicht, umwölkt mir die Stirne, ſo drücke
ich meinen innern Zuſtand aus, aber der Blick zum Himmel, um den
rächenden Blitz herabzufordern, die geballte Fauſt malt, was geſchehen ſoll.
Durch Zuſammenwirken aller ſprechenden Organe entſteht die voll-
kommene Gebärde, worin das Entſprechen der Bewegungen ein volles,
harmoniſches Bild gibt. So zu den genannten Gebärden des Zorns
ſchreitet ein Fuß vor, ſtampft auf die Erde, und Eine Bewegung iſt über
den ganzen Seelenbau verbreitet. Auch das Hautleben nimmt an dieſer
allgemeinen Sprache mit dem geſammten Muskelleben Theil: mit dem
Zittern iſt die ſogenannte Gänſehaut, mit der Angſt der Schweiß ver-
bunden u. ſ. w.
Unter dem Bewegten iſt nun auch das ſubjective Ertönen, die
Stimme, noch aufzuführen. Ihr angeborner Klang überhaupt, wie er
das Temperament und die ganze natürliche Anlage des Individuums
bezeichnet, gehört noch zu dem Unſichern, worüber nichts zu beſtimmen iſt.
Luther und Napoleon hatten hohe und ſpitze Stimmen, was Niemand
erwarten ſollte. Ihr beſonderer Klang im Ausdruck der Stimmungen
dagegen iſt verſtändlich wie alle eigentliche Mimik: Freude hell und hoch,
Trauer belegt und tief, Leidenſchaft beſchleunigt und voll, Ruhe langſam,
frei, gemäßigt u. ſ. w. Eine Phonognomik iſt ſchon öfters als ſehr
intereſſante Aufgabe geſtellt werden.
2. Im Bisherigen iſt das Unwillkührliche und Willkührliche nicht
unterſchieden worden. Die Grenze iſt fließend. Das Innere dringt von
ſelbſt heraus, allein ich kann ſowohl das Entſtehen des Innern bis auf
einen Grad bewältigen, als auch, wenn es entſtanden iſt, dem Heraus-
treten einen Damm ſetzen. Nehmen wir aber vorerſt an, das Entſtehen
werde nicht hervorgerufen, noch verhindert, und halten eine Grenze der
Möglichkeit, einen Damm zu ſetzen, feſt, ſo iſt das Gebiet des mimiſchen
Ausdrucks, der aus innerer unmittelbarer Bewegtheit mit einem Natur-
drange folgt, das pathognomiſche zu nennen. Am meiſten ſtrenge Natur-
nothwendigkeit nun beherrſcht den Ausdruck der Affecte, die in Einem raſchen
Momente den innerſten Naturgrund aufwühlen: Scham — Erröthen,
Furcht — Erbleichen, Schrecken — Schaudern, komiſche Bewegung —
Lachen u. dergl. Es iſt faſt unmöglich, ſie zu unterdrücken, Engel nennt
ſie die phyſiologiſchen Gebärden. Das Weinen iſt ſchon freier. Sodann
aber nennen wir pathognomiſch den vielfältigen Ausdruck aller Gefühle,
Triebe, Leidenſchaften, ſofern er unmittelbar der inneren Bewegung folgt
und der Wille ihn zwar hemmen, bemeiſtern, zähmen kann, aber nur
[217] bis zu einer unbeſtimmteren Grenze, ſo daß namentlich das erſte Auf-
tauchen ſchwer zu verbergen iſt. Die Möglichkeit einer Unterdrückung,
ſoweit ſie vorhanden, wird eben, ſofern wir auf dem pathognomiſchen
Standpunkt ſind, nicht geltend gemacht. Eine Pathognomik hätte, als
Theil der Mimik, den Ausdruck der weſentlichſten Stimmungen und
Bewegungen der Seele in ſeinem natürlichen Verlaufe zu verfolgen.
3. Charakter im emphatiſchen Sinne begreift Charakter im weiten
Sinne (§. 333 Anm.) ſo in ſich, daß es als Schuld erſcheint, wenn ſich
dieſer nicht zu jenem erhebt. Stellen wir das Pathognomiſche unter den
Begriff des Charakters, ſo iſt es geſetzt als ein der Freiheit Unterworfenes.
Läßt ſich die Individualität in eine Leidenſchaft ſinken, gewöhnt ſie ſich
an ſie, ſo daß der pathognomiſche Ausdruck derſelben die Erſcheinung
beherrſcht, ſo iſt dieſe Individualität freilich nicht Charakter im ſtricten
Sinne, aber es iſt ihr Fehler, daß ſie es nicht iſt, denn dieſes ſich in die
Natur Geben wird nun als Schuld, als Gewolltes gefaßt. So werfen
wir alle Ungeſchicklichkeit der Gebärde zum Pathognomiſchen und verlangen
als Grundlage der Freiheit, daß der Menſch über ſeine Glieder verfügen
lerne. Thut er es nicht, ſo iſt es ſeine Schuld und wir rechnen ihm nun
die Ungeſchicklichkeit als Charakter im nur formalen Sinne und als
Mangel an wahrem Charakter auf. In Deutſchland lernt unter Tauſenden
kaum Einer ſich halten, gehen, ſprechen; dieſer Eine ſchwer vor dem
dreißigſten, vierzigſten Jahre. Der Charakter kann freilich ſeine Baſis
verſäumen und ſich in der Höhe aufbauend den Körper bis auf einen
Grad fallen laſſen, aber dann iſt dieß Einſeitigkeit des Charakters, wie-
wohl er ſonſt gut ſein mag; zum ganzen Guten gehört Herrſchaft über
das Organ, und dieſe will durch harte Zucht gelernt ſein. Der Böſe
beherrſcht ſeinen Affect und deſſen Ausdruck, aber zu verkehrtem Zweck,
alſo beherrſcht er ihn nur formal und auch dieß iſt Schuld. Iſt nun
aber der Geiſt in ſeinem Körper auch zu Hauſe, hat er ſich eingewohnt,
ſo kann doch die Freiheit der Beherrſchung des pathognomiſchen Ausdrucks
keine abſolute ſein, denn nicht nur hat ſie ſelbſt, ſei es redliche, ſei es
Verſtellung, ihre unfreiwilligen Zeichen, ihre unverkennbare ſymboliſche
Mimik, ſondern die Freiheit kann überhaupt auch als wahre den Natur-
grund nie ganz in ihre Gewalt bekommen, vielmehr ein Gemeinſchaftliches
aus Natur und Freiheit entſteht, ein Rhythmus der Mimik, eine Bewegt-
heit und in ihr eine Mäßigung, der nur in den erregteſten Augenblicken
das beherrſchte Roß der Leidenſchaft den Zügel verſagt. Im ächten
Charakter zeigen dieſe Ausbrüche ſelbſt das edle Feuer, im böſen Schein-
charakter die innere Hölle. Komiſch rächt ſich in ihnen die Natur an dem,
der ſeine Selbſtbeherrſchung durch den Tod aller mimiſchen Lebendigkeit
zeigen zu müſſen meint. Von dieſer Mimik des einzelnen Charakters iſt
[218] als eine, wie es zuerſt ſcheint, ganz willkührliche die conventionelle Mimik
der Völker zu unterſcheiden. Allein trotz ihrem Unterſchied von der indivi-
duellen gibt ſie ein belehrendes Beiſpiel der Miſchung aus Freiheit und
Natur, Bewußtem und Unbewußtem. Daß der Orientale das Haupt
bedeckt, wo es der Europäer entblöst, daß der Neapolitaner und Neu-
grieche zur Verneinung den Kopf hinauf und zurückbewegt und mit der
Zunge ſchnalzt, wo die andern Völker den Kopf ſchütteln, der Italiener,
wenn er in die Ferne grüßt, die Handbewegung macht, die wir machen,
wenn wir Jemand zu uns herwinken: dieß iſt als eine Convention der
Sitte ganz verſchieden von der unwillkührlichen Bewegung der Leidenſchaft,
die einen Einzelnen überraſcht, aber es hat doch auch ſeinen Grund in
einer unbewußten Symbolik, die das, was ausgedrückt werden ſoll, gerade
von dieſer und nicht von einer andern bezeichnenden Seite auffaßt. Es
verhält ſich genau wie mit dem Unterſchiede der Sprachen, welcher auch
auf geheimer Symbolik beruht, die von einer Erſcheinung dieſe oder jene
Seite zur Bezeichnung herausnimmt, z. B. am Blitze das Gewundene,
Gezackte oder das ſchnell Zuckende. Doch muß man dieſe Mimik von der
den Völkern gemeinſamen allerdings als die conventionelle unterſcheiden.
Der einzelne Charakter nun reißt ſich weder von dieſer noch von jener
Zeichenſprache völlig los, er modificirt ſie nur, und zwar durch ſeine
eigenſte Natur in ihrer Concretion mit ſeinem freien Willen, und bildet
ſo den rein individuellen Ton, worin Keiner ihm gleicht.
4. Wie geſagt, iſt die Mimik ungleich verſtändlicher, als das
phyſiognomiſche Gebiet. Man kann ein Syſtem der Zeichen aufſtellen,
ſofern ſie allgemein menſchlich, nationell, Ständen, Geſchlechtern, Lebens-
altern u. ſ. w. eigenthümlich ſind. Das Ungleiche der conventionellen
Zeichen hindert hieran nicht; es hat ſeinen Grund, es läßt ſich überſehen,
ordnen und iſt ohnedieß von äſthetiſcher Bedeutung nur, ſoweit es nicht
allzu particulär iſt. Dieſe Studien bilden den Erfahrungsſtoff für die
mimiſche Kunſt; die Naturſchönheit gibt auch hier die Vorlage, die voraus-
gehen muß, Niemand kann und darf die Kunſt der Mimik abſtract aus
der Phantaſie ſpinnen. Was ſich nun aber nicht beſtimmen läßt, iſt das
rein Individuelle, was wir zuletzt erwähnten. Dieſelbe Bewegung macht
jeder auf andere Weiſe. Dieſes Individuelle gehört aber auch in die
Schönheit und es wird ſich zeigen, wie die Schwäche der mimiſchen
Kunſt darin liegt, daß die Perſönlichkeit des Schauſpielers bereits eine
feſte Concretion angeborener und angebildeter, individueller und all-
gemeiner Bewegungsformen iſt, welche in die andere Concretion des
Individuellen und Allgemeinen, welche die Rolle fordert, niemals ohne
allen Reſt aufgehen kann.
[219]
Die ausdrucksvollen Bewegungen werden durch Gewohnheit feſte Züge.1
Dieſe Züge durchdringen ſich mit den angeborenen und ſo erſt vollendet ſich das
in §. 338 unvollſtändig entworfene phyſiognomiſche Gebiet, indem die
durchgearbeitete Erſcheinung des Charakterbilds auftritt. Dieſe Durchdringung2
kann eine entſprechende ſein oder eine widerſprechende; in beiden Fällen iſt ſie
nicht durch wiſſenſchaftliche Sätze im Voraus beſtimmbar.
1. Das durch Gewohnheit habituell gewordene ſetzt ſich vorzüglich
in den weichen und beweglichen Theilen des Angeſichts feſt; die Falte und
der entſprechende Hügel iſt der wichtigſte Niederſchlag des Charakters.
Im Auge wird ebenfalls die Gewohnheit des Charakterblicks zum ſtehenden
Ausdruck. Auch die Farbe des Angeſichts wird zum Ausdruck der Ge-
wöhnung, theils mehr unmittelbar verſchuldet, wie die Röthe des Zornigen,
theils mehr mittelbar durch Wirkungen auf die Geſundheit vom Willen
herbeigeführt, wie die friſche Geſundheitsfarbe des harmoniſchen und
mäßigen Menſchen, die Erdfarbe des neidiſchen, die Bleifarbe des lieder-
lichen, die rothe Naſe des Trinkers u. ſ. w. Der Ton der Stimme,
beſonders Klang und Tempo des Lachens, die Gebärde, der Gang, die
ganze Haltung, ſelbſt die Schlaffheit oder Strammheit und Friſche der
Haut, Alles erſcheint jetzt als feſte Schrift des Willens, ſeines Verdienſtes
oder ſeiner Schuld. Die durchgearbeiteten, gefurchten Köpfe und Geſtalten
treten vor uns. Die Schönheit der Jugendblüthe iſt weg, aber ſie will
auch nichts heißen gegen dieſe Charakterbilder.
2. Die Durchdringung der angebornen Züge mit den Charakterzügen
iſt entſprechend, wenn dieſer die Naturanlage entweder aus Schuld
gewähren und einwurzeln ließ oder, da ihm die zuſagende ſittliche Sphäre
ſich aufthat, mit Recht ausbildete und nur bis an eine Grenze bekämpfte,
wie der Kriegeriſche, wenn er Krieger wurde; widerſprechend, wenn die
Beſtimmung des Individuums einen Kampf mit der Naturanlage forderte,
wie wenn der Sanfte zum ſtrengen Richter, der Strenge, der Heftige zum
Erzieher, zum Philoſophen ſich auszubilden hatte. Die Ineinander-
arbeitung des Angebornen und Habituellen ſelbſt nimmt aber in jedem
Individuum wieder ihre anderen Wege, ſo daß auch abgeſehen vom
unbekannten Zufall ſich abermals nichts beſtimmen läßt, ſondern man
warten muß je bis ein Menſch vor uns tritt und durch eine Totalität
verſchiedener Erſcheinungsmittel, vor Allem Rede und That uns
zeigt, wer er ſei, wodurch wir zu den Anfangsſatz in §. 338 zurück-
kehren.
[220]
b.
Die geſchichtliche Schönheit.
§. 341.
Die Geſammtheit dieſer Formen entfaltet ſich im Gange der Geſchichte
zu einer Folge von Erſcheinungen, deren bewegende Seele die Entwicklung der
Freiheit iſt, deren äſthetiſcher Werth aber davon abhängt, welche Stellung der
Geiſt als Freiheit ſich zu ſeiner Natur gibt. Die Aeſthetik hat in einem
Ueberblick der Weltgeſchichte die umfaſſenden Hauptgeſtaltungen des Völker-
lebens zu betrachten, das Alterthum, das Mittelalter und die moderne Welt.
Die Formen, welche bisher betrachtet wurden, treten überall auf,
wo geſchichtliches Leben iſt, ſie geſtalten ſich aber in ihrer concreten
Wirklichkeit verſchieden; die bisherige Betrachtung war alſo abſtract
und es eröffnet ſich nun erſt die concrete Betrachtung der menſchlichen
Schönheit wie ſie als Stoff vorgefunden wird. Wir durchwandern alſo
mit raſchen Schritten die Geſchichte und ſehen ihre Hauptgeſtalten darauf
an, was für und wie viel äſthetiſchen Stoff ſie darbieten: die Geſchichte
als Fundgrube der Kunſt. Daß die Bewegung der Freiheit ihre Seele
iſt, ſetzen wir als Standpunkt der wahren Geſchichtsbetrachtung voraus.
Es ſind die Silberblicke der Freiheit, die großen Umwälzungen und Thaten,
wo ſie heller als ſonſt durchbricht, wo ihr Nerv ſich blos legt, welche
natürlich das erſte Augenmerk der Aeſthetik bilden müſſen und zwar für
unſere Zeit vorzüglich, denn ſie iſt ſelbſt eine gährende und dieß Zeit-
intereſſe iſt äſthetiſch berechtigt, ſofern es mit dem Formenſinn ununter-
ſchieden in Eines aufgeht. In jeder Haupterſcheinung des geſchichtlichen
Lebens werden die von §. 324 an aufgeführten beſonderen und individuellen
Formen menſchlicher Schönheit eine andere Geſtalt annehmen; ein anderes
Bild bietet in jeder der leibliche Typus, das Temperament, die Tracht,
die geſammte Sphäre des Zweckmäßigen und Angenehmen, der Krieg,
der Staat, die Stände, das Individuum. Die allgemeinen Formen, die
von §. 317 an betrachtet wurden, ſind dabei zunächſt als das allgemein
[221] Menſchliche vorausgeſetzt, das ſich nicht verändert; doch mußte unter dieſen
auch der Unterſchied der Geſchlechter, die Liebe, die Ehe, die Familie auf-
geführt werden und dieſe allerdings ſind in die Sphären herüberzuziehen,
welche ſich im Wechſel der geſchichtlichen Epochen mitverändern. Anders
ſtellt ſich der Mann zum Weibe, anders iſt die Liebe gefärbt, die Ehe
beſchaffen, ein anderes das Familienleben und anderen Stoff bieten ſie
daher dem Künſtler bei den verſchiedenen geſchichtlichen Völkern und in
ihren verſchiedenen Zeiten. Unter allen dieſen Formen, worin die Freiheit
erſcheint, bleiben aber für den äſthetiſchen Standpunkt immer die Cultur-
formen (§. 327) von ganz beſonderem Intereſſe. Uns muß es z. B.
höchſt wichtig ſein, in welchen Kleidern die Menſchen ſtacken, die Großes
vollbrachten. Ueberall bleibt natürlich die Grundforderung §. 327, 1.
vergl. §. 328. 330 leitend: wir wollen den Geiſt in Einheit mit der
Natur ſehen. Dieſe Einheit kann natürlich verſchiedene Formen annehmen,
ſie kann eine unmittelbare, ſie kann eine vermittelte ſein und die Vermitt-
lung ſelbſt kann den härteren Bruch mit der Natur vor ſich oder hinter
ſich haben. Vor ſich haben ihn die Bildungsformen des Mittelalters,
die wir in Vergleichung mit dem Alterthum vermittelt nennen, hinter ſich
werden ihn die hoffentlich ſchwungvolleren der Zukunft haben.
Die Kunſt hat vielfach geſchichtliche Stoffe behandelt, daß aber hier
ihr eigentlicher und wichtigſter Boden iſt, dieſe Einſicht iſt von geſtern und
noch keineswegs verbreitet. Ebenſo iſt es in der Aeſthetik neu, daß dieſe
Durchwanderung der Geſchichte zu ihren Aufgaben, daß in die Lehre von
der Naturſchönheit auch eine Phyſiognomik der Geſchichte gehört. Man
hat einen Theil dieſer Betrachtung bisher in der Form einleitender
Bemerkungen an die Lehre von den Idealen oder, wie es Hegel aus-
drückt, den beſonderen Kunſtformen angeknüpft, allein dieß iſt zu trennen
und es wird ſich zeigen, wie es dem Abſchnitt, der ſich mit dem letzteren
Gegenſtande beſchäftigt, zu gute kommt, wenn er auf das reale geſchicht-
liche Leben der Völker zurückverweiſen kann als auf den an ſeinem Orte
bereits beleuchteten Boden, in welchem das Ideal der betreffenden Völker
wurzelte. Dabei wird ſich zum Theil ein ungleiches Verhältniß heraus-
ſtellen; die Perſer z. B. ſind ungleich bedeutender als äſthetiſches Object,
d. h. durch das Schauſpiel, das ihre Geſchichte darbietet, denn als äſt-
hetiſches Subject, d. h. durch das, was ihre Phantaſie an Schönheit
produzirt hat. Im Allgemeinen jedoch kann man vorläufig feſtſtellen, daß
die Völker, welche ſich bis dahin entwickelt, haben, daß ſie eine für die
Aeſthetik ergiebige Geſchichte haben, ebenſo, wiewohl nicht eben in
entſprechendem Grade, auch ſelbſtthätig Schönes werden hervorgebracht
haben. Die näheren Beſchränkungen dieſes Satzes kommen ſpäter zur
Sprache.
[222]
α
Das Alterthum.
In der Welt des Alterthums treten die Gruppen der Völker auf, deren
Geiſt ſich in unmittelbarer Einheit mit der Natur bewegt, deren Bildung Natur
bleibt. Die Gunſt des Himmelſtrichs bedingt ungehemmte Ergießung des inneren
Lebens, die Miſchungen der Völker verſchmelzen nur Verwandtes mit Ver-
wandtem und die Sittigung hat keine völlig fremde Elemente zu überwinden.
Dieſe naturwüchſige Entwicklung, welche ſowohl den Bruch zwiſchen dem
Innern und Aeußern im Subjecte, als zwiſchen dem Individuum und dem
Ganzen des Staates ausſchließt, iſt weſentlich als objective Lebensform
zu bezeichnen.
Es ſind die Menſchen aus Einem Guſſe, welche zuerſt vor uns auf-
treten, die Menſchen des Alterthums. Von Indien gehen wir herüber
und verweilen an den Küſten des mittelländiſchen Meeres. Hier iſt
überall eine Natur, welche den Menſchen nicht in das Innere zurückwirft,
hier iſt überall, wie manche Arbeit das Bedürfniß auflegen mag, leicht
leben, das Bewußtſein tritt nicht aus der leiblichen Exiſtenz und ihrem
Geſammtgefühle zur Reflexion in ſich zurück. Auch das Ganze der
Nationen bleibt Ein Stück, die Bildung rund und national. Gegenſätze
bleiben nicht aus; in Indien wohnen die Reſte unterjochter Völker mit den
Herrſchern zuſammen, Perſien dehnt ſein ungeheures Reich über fremde
Völker aus, in Aegypten miſcht ſich äthiopiſches und ſemitiſches Blut, in
Griechenland Dorier und Jonier, in Rom die verſchiedenen Völker
Italiens mit den Etruskern; aber alle dieſe Miſchungen ſind etwas ganz
Anderes, als das Eindringen germaniſchen Bluts in lateiniſche und
latiniſirte Nationen, als die abſolut neue Aufgabe der nordiſchen Völker,
ſich die klaſſiſche Bildung anzueignen. Aus beiden Urſachen, wegen
des vertrauten und unbefangenen Lebens in der Natur ſowohl als
wegen dieſes vom Eindringen fremdartiger Bildung ungeſtörten Wachs-
thums bleiben dieſe Völker frei von dem Bruche des Bewußtſeins,
von der Negativität, die wir in den nördlichen Völkern werden auf-
treten ſehen. Dieſe Negativität bedingt zugleich jene Vereinzelung des
Individuums gegen das Allgemeine, welche den Uebergang in geordnete
Staatenbildung dieſen Völkern ſo ſehr erſchwert hat, wogegen im Alter-
thum der Einzelne flüſſig im Allgemeinen des Volks und Staats ſich
bewegt.
[223]
Die Vorſtufe dieſer Lebensform iſt die Welt des Morgenlands.
Die geſchichtlichen Völker Aſiens bringen es noch nicht zu der klaren Ruhe
jener unmittelbaren Einheit. Die umgebende Natur, die den Gegenſatz des
Geden und Harten und des Ueppigen coloſſal nebeneinanderſtellt, bedingt ein1
von Phlegma und Melancholie in ſanguiniſche Zerſtreuung und choleriſchen Zorn
überſtürzendes Temperament, wirft den Geiſt zwiſchen brütendem Inſichſein,
unbewegter Würde, feierlicher und geheimnißvoller Gemeſſenheit und trunkener
Ausgelaſſenheit, wilder Betäubung dualiſtiſch hin und her. Der leibliche
Typus erſcheint weich, beſchaulich und kühn vorſtrebend zugleich. Die Tracht2
und alle Formen des Zweckmäßigen und Angenehmen ſind theils dürftig, eng,
nackt, theils ausſchweifend in Pracht, der Krieg wild und ungeordnet. Dem3
ganzen Leben fehlt die ethiſche Einheit, alſo die Perſönlichkeit; aus der Er-
drückung erhebt ſich der Menſch, um ſich in Selbſtvergeſſenheit zu vernichten.
1. Das Oede und Harte ſind die unfruchtbaren Steingebirge, die
dürren Steppen-Ebenen, die glühende Wüſte, worüber ein unerbittlich
wolkenloſer Himmel verſengend ſich ausbreitet, dazwiſchen die üppigen,
wuchernden, weiten Strom-Ebenen, die lieblichen kleineren Alpenthäler.
Das Meer zwar fordert zu einem Kampfe heraus, der nicht ſo ermattend,
wie die Steppe und Wüſte, nicht ſo in Genuß erſchlaffend wirkt, wie
die wuchernden Thäler, doch im Verlauf bringt es durch den Handel
Reichthum und Ueppigkeit aller Art. Nirgends aber iſt das Gegenſätzliche
ſo ſcharf ausgeſprochen, ſo eng zuſammengerückt, als im Nilthale, das
hier zum Orient zu zählen iſt. Was die Erd-Formen betrifft, ſo zeigen
die Gebirgsprofile des Orients, ſo viel dem Verf. aus Zeichnungen
bekannt iſt, durchgängig eine Annäherung an die plaſtiſch ſatten und
ſchwungvollen Bildungen Italiens und Griechenlands, zerreißen aber den
Fluß der Linie wieder mit wunderlichen, ſeltſamen Kegeln, wilden Ab-
ſtürzen, ſteilen Stirnen, rauhen Zerklüftungen. Die Pflanzenwelt iſt die
in §. 278 dargeſtellte. Wie die Oaſe in der Wüſte ſich hebt, ſo empfängt
den Wanderer, wenn er von der glühenden Felſenwand herabſteigt, die
duftende Pracht und zugleich in gebundenen Formen ſtreng und hoch auf-
gerichtete, maſſig ausgebreitete Feierlichkeit einer mährchenhaft wunder-
baren Vegetation, die den betäubenden Genuß in vollen Schaalen über
ihn ausgießt. Wunderblumen von blendender Pracht und berauſchendem
Wohlgeruch ſchlingen ſich um Palmen und rieſenhafte Bananen, aus dem
[224] Stachelbuſche ſchießt die Aloe empor, durch Zuckerrohr ſäuſelt der laue
Wind, die Lotosblume ſchließt den geheimnißvollen Kelch in den Wellen
auf. Hier hat ferner die Natur die prachtvollſten und gewaltigſten
Exemplare der einzelnen Geſchlechter der Thierwelt ausgeſchüttet, die
glänzendſten Muſcheln, Inſecten, die ſchönſten und furchtbarſten Amphibien,
die brillanteſten, lebhafteſten, wunderlichſten Vögel, Papageien, Faſanen,
Leiervögel, Pfauen, den rothen Flamingo, den Strauß; unter den Säuge-
thieren treten als Wiederkauer die zierlichen Antilopen auf, das ſeltſame
Kameel, das Schiff der Wüſte, die hochgeſtreckte Giraffe, vom Schweine-
geſchlecht der majeſtätiſche Elephant, das maſſige Nilpferd und Rhinoceros,
vom Katzengeſchlechte Tiger und Löwen, und in den üppigen Wäldern
lärmt der Affe. Hier iſt Luſt und Dienſt, aber auch Gefahr und Gift
aller Art. Es iſt eine Natur, die in Extreme überſpringt; nicht in das
der dauernden Kälte (dieſe bedingt ſogleich einen total verſchiedenen
Volkscharakter), ſondern in das der trockenen, verzehrenden, und in das
der feuchten, befruchtenden Hitze. Der Typus der orientaliſchen Völker,
wie er dieſer umgebenden Natur entſpricht, iſt freilich ebenſo verſchieden,
wie dieſe ſelbſt in ihren näheren Unterſchieden, die wir hier zur Seite
laſſen müſſen; im Allgemeinen aber iſt das orientaliſche Geſicht das vogel-
artig vorſtrebende, das Adlergeſicht. Die Stirne iſt gedankenvoll hoch,
aber zurückfliegend, das Auge weit und rund, feucht ſchimmernd, von
dunkler Farbe, die Naſe ſcharf gebogen, die Lippen voll, doch fein-
geſchloſſen und wie zum Lächeln an den Mundwinkeln aufgezogen, das
Kinn etwas ſpitz vortretend, reiche dunkle Locken faſſen das ſcharfe Oval
ein. Schärfe aller Sinne, vordringende Genußſucht, Raſchheit zu zer-
ſtörender That ſpricht aus dem Profil, aber erhabenes Schweigen brütet
über dem feinen Bogen der Augbraunen, Verſenkung ins Naturleben
athmet in dem ganzen heißen Sonnenton dieſer Köpfe, aus der braunen
Farbe der Haut. Die Geſtalten ſind kräftig und doch in den Gelenken
wieder ſo weich, geſchmeidig, in den Hüften weiblich breit, daß ſie zwar
der größten Anſtrengung fähig erſcheinen, aber auch plötzliche Erſchlaffung
befürchten laſſen. Es fehlt ein ſchließlicher Halt, das Stählerne im Wuchſe
und Muskelleben der Völker gemäßigterer Zone. Haltung und Bewegung
iſt feierlich gemeſſen, voll urſprünglichen Ernſtes ſubſtantiellen, primitiven
Daſeins, aber das Tamburin, die Cymbel dröhnt, die Kaſtagnetten
klappern und der Gaukler wirft die Glieder durcheinander, als hätte er
keine Knochen noch Sehnen, und im trunkenen Tanze ſcheint der ganze
Leib auseinanderzufallen. Das Temperament iſt entſchieden dualiſtiſch und
dieß widerſpricht dem Satze nicht, daß wir hier Völker vor uns haben,
die ſich in unmittelbarer Einheit des Geiſtes und der Natur bewegen;
nur das Ebenmaß und Gleichgewicht dieſer Einheit iſt noch nicht ein-
[225] getreten. Das Extrem der abſtracten Ruhe in ſich nämlich, Phlegma und
Melancholie, das hier mit dem Extreme des Sturzes in Naturtaumel,
ſanguiniſchen Leichtſinn und choleriſchen Eroberungsdrang widerſpruchsvoll
zuſammengebunden iſt, geht nicht zur Negativität des Subject und Object
wirklich trennenden Gedankens fort. Brama, Zeruane Akerene, Ammon,
Allah ſind höchſte Einheiten des Gedankens, aber doch dunkel vor-
geſtellter, ſinnlich berauſchender Abgrund, Nacht der Subſtanz, und das
Subject verſenkt ſich hier in der Form der Ruhe ebenſo in das Natur-
ganze, wie es in der Form der Erregung ein All der Genüſſe verſchlingen,
eine Welt zertrümmern möchte. Das Subject ſucht ſich in beiden Formen
und findet ſich in keiner, es ſoll ſich erſt finden, aber ohne ſich vom Bande
der Natur loszuſagen. Selbſt Jehovah iſt noch Naturgott, lohende, das
Subject zurückſchreckende Flamme. Eigentliche Philoſophie hat kein
orientaliſches Volk gehabt; das höchſte Denken dieſer Völker war geheim-
nißvoll nicht nur als verſchloſſener Schatz der Prieſter, ſondern für dieſe
ſelbſt. Im andern Extrem aber iſt wilder Taumel, ſchamloſer Tanz, freche
Wolluſt, Päderaſtie und Sodomiterei, blutige Grauſamkeit und, wo die Wuth
nicht weiter kann, Selbſtentmannung, Selbſtmord von der Religion geheiligt.
2. Tracht: im glühenden Strahle der Sonne werden die Kleider
weggeworfen, die ägyptiſchen Statuen ſind oft nur mit einer Schürze
begleitet; daneben überladene Pracht, die reichen Kopfbedeckungen, Mitren,
Tiaren, phrygiſche Mützen, Turban, Verhüllung der Beine in weite Hoſen,
koſtbare Shawle, Purpur, bunt gedruckte und gewirkte, geſtreifte, geſtirnte
Stoffe aller Art, Seide, Perlen, Korallen, Diamanten, Gold und Silber,
Elfenbein, koſtbare Ohrgehänge, Spangen, Ringe, Gürtel, Schärpen,
Fächer, Sonnenſchirme, Fliegenwedel von Straußfedern, Pfauenfedern,
prachtvolle Arbeit der Waffenſchmiede an Helmen, Panzerhemden, gebogenen
Schwertern, Dolchen, Jatakanen u. ſ. w. Reich, bunt, prachtvoll alle
Geräthe, Reitzeug, Pferdegeſchirr, Eß- und Trinkgefäſſe, Schmuck der
Wohnungen an Teppichen, Franzen, üppigen Polſtern, duftenden Hölzern,
eingelegter Arbeit, Schnitzwerk u. ſ. w. Roſenöl, wohlriechende Waſſer
aller Art. Prachtvolle Gärten. In Speiſe und Trank große Enthalt-
ſamkeit, dann Berauſchung und Leckerbiſſen, Gewürze, Opium. Von allen
dieſen Dingen geben die Formen des Orients noch heute ein treues Bild;
namentlich lieben die jetzigen Orientalen das Geſtickte und Verſchnürte in
der Kleidung (was von ihnen zu den Neugriechen, Ungarn, Spaniern
übergegangen iſt). Der Krieg iſt ohne Disciplin, wilder Angriff unter
barbariſchem Geſchrei und ſchneller Rückzug, Umſchwärmen verworrener
Reiterhorden, Eindringen mit maſſenhaften Mitteln, Elephanten, Sichel-
wagen, ſchonungslos, höchſt grauſam gegen den Ueberwundenen: Hände-
und Köpfe-Abhauen, lebendig Braten, Kreuzigen u. ſ. w.
Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 15
[226]
3. Vergleicht man die Völker des Orients unter ſich, ſo erſcheinen
freilich die Perſer neben den Indiern, die Semiten neben beiden, die
Aegyptier neben den Babyloniern, die Juden neben allen übrigen Semiten
als mehr ethiſche Nationen, neben den Griechen und Römern aber alle
insgeſammt als Völker, denen das thätige Prinzip des Fortſchritts fehlt,
unter der Sonnengluth gleichſam niederſchmilzt, die man daher ſtreng
genommen noch nicht ethiſch nennen kann. Vieles wird für gut oder
ſchlecht erklärt, was nicht ſittliche Bedeutung hat, das Gute iſt erſt
natürlich Gutes. Sich Waſchen, Pflege der Pflanzen u. ſ. w. iſt gut,
eine Katze Tödten Verbrechen u. ſ. w. Neben den ſchönſten Zügen in
Sitte und Geſetz beengt daher durchgängig das Abgeſchmackte den Menſchen;
überall erſticken die reichſten ſittlichen Beſtimmungen unter der Laſt des
rein Aeußerlichen, das doch als ſittlich-religiöſe Pflicht gefordert wird.
Das wahrhaft Gute aber iſt die Durchführung der Freiheit. Gut ſein
iſt nicht correct ſein, ſondern Fortſchreiten. Der Türke, in Handel und
Wandel ehrlich, verachtet tief den Neugriechen wegen ſeiner Falſchheit
und Betrügerei; allein jener iſt dumpf und ſtabil, dieſer elaſtiſch und
fortſchreitend, das Verhältniß iſt ähnlich wie das der alten Griechen zu
den Perſern und kein Zweifel, wo die eigentliche Sittlichkeit ſei.
Die meiſt maſſenhaften Reiche ſind deſpotiſch und, da die Sphären des
Lebens noch ungeſchieden ſind, theokratiſch. Geſetz und Sitte herrſcht als
ungeprüfte Naturnothwendigkeit. Gebunden iſt Alles, in Satzung jede Lebens-
2regung gebannt. Die Stände ſcheiden ſich, verſteinern aber zu Kaſten. Das
Individuum und ſein Lebenskreis in Liebe, Ehe, Familie entfaltet Züge
rührender ſittlicher Schönheit, bleibt aber ein unfreier Schatten, in deſſen
Schickſal jedoch gerade durch die Laune der gebietenden Mächte Buntheit
3kommt. Große Männer ragen hervor und beſtimmen für immer die Form des
Volkslebens, da aber dieſe ſtets die ſubjective Freiheit ausſchließt, ſo iſt der
Staat eine unbewegliche, prachtvoll brütende Einheit. Aus ſeiner Ruhe geht
er zwar in Aufruhr und Eroberung über, aber dieſe Bewegung iſt unfruchtbar,
ſie ſchafft keinen Fortſchritt und führt zu paſſivem Untergang.
1. Im Orient iſt Alles una pasta, Ein Teig. Hier iſt der Deſpot
wirklich von Gottes Gnaden, aber er iſt ſelbſt weſentlich durch die Prieſter
eingeſchränkt. Theokratie und Deſpotie fallen zuſammen, wiewohl es
freilich auch nicht an Reibungen zwiſchen Prieſtern und Königen fehlt.
Prachtvolle Erhabenheit iſt der äſthetiſche Charakter dieſer maſſenhaften
Staaten; ein Feuerball glüht und leuchtet über bunten, ſtarren Kryſtallen.
[227] Die Kaſtenſcheidung iſt bekanntlich am ſtrengſten in Indien, ein abſolutes
Naturgeſetz und hierin die Bannung alles Lebens, die den Orient bezeichnet,
auf’s Schärfſte ausgeſprochen. So naturlos, wie durch die moderne
Theilung des Geſchäfts, werden dadurch die Stände zwar nicht, eben
weil die Scheidung ſelbſt Naturgeſetz iſt, aber freie Humanität und ihr
Ausdruck iſt unmöglich.
2. Der orientaliſche Staat iſt überhaupt noch nicht völlig aus dem
patriarchaliſchen herausgetreten, an ſchönen idylliſchen Zügen fehlt es
daher im engeren Kreiſe des Individuums nirgends. Liebe, Ehe, Familie
erſcheint innig und rührend. Man denke nur an die Geſchichte der jüdiſchen
Erzväter, Buch Nuth, an die Sakontala, Nal und Damajanti, die perſiſchen
Familiengeſchichten — überall eine Fundgrube lieblicher Stoffe, freundlicher
Scenen in reiner Luft des Morgenlands, im ſchattigen Haine, am Brunnen,
beim Nomadenzelte. Die Polygamie iſt freilich gegen das Weſen der
Ehe, doch ſchneidet ſie nicht alle zarteren Züge ab, die Eingeſchloſſenheit
der Weiber gibt bei allem Nachtheil manchen geheimnißvollen Reiz, Intrike
und Züge von Schalkheit. Zu geſchloſſener Perſönlichkeit aber bringt es
das Individuum nicht. Was von Naturvölkern und von Culturvölkern,
deren Bildung Natur bleibt, überhaupt gilt, das gilt beſonders von den
Orientalen: die Individuen haben wenig Unterſchied, ſehen ſich auch im
äußern Typus überraſchend gleich, unterſcheiden ſich mehr nach Tempera-
mentsſphären, als durch den auf unendliche Eigenheit begründeten Charakter.
So ſchafft ſich auch das Individuum nicht ſein Schickſal; bannende Sitte,
Geſetz, Prieſterwille und Deſpotenlaune ſchmettern nieder oder beglücken die
Menſchen ungezählt zu Tauſenden; der Einzelne wiegt nicht. Er iſt aber
nicht unzufrieden, denn er ſieht ſeine Freiheit im Herrſcher, in den bevor-
zugten Kaſten. Sein Wille kommt als fremder über ihn, völlig unfrei
zu ſein iſt die erſte und kindliche Art der Freiheit. Es tritt aber doch
dadurch wieder ein äſthetiſcher Reiz in das Leben des Einzelnen, den
das gute Glück jetzt erhöht, mit Wolluſt und Zauber der Anmuth über-
ſchüttet, jetzt das böſe mit der ſeidenen Schnur überraſcht. Da liegt das
Mährchenhafte nahe; in dieſer willenloſen Schickſalslaune hat das Buch
Tauſend und eine Nacht ſeine Region. Zu erwähnen iſt noch, daß in
dieſer orientaliſchen Form des Geiſtes nothwendig der Traum und die
Zuſtände des wachen Traumes, Ahnung, Viſion, Hellſehen (§. 337) eine
große Rolle ſpielen. Dieß iſt zwar auch bei den Griechen und Römern
noch der Fall, aber dieſes Reich des Außerſichſeins iſt hier von der freien
Menſchlichkeit überdeckt, es ſchickt ſeine Dämpfe noch aus dem Abgrund,
aber ſie ſpielen als leichtere Wolken am Tageslichte der Beſinnung.
3. Die großen Männer des Orients, die Geſetzgeber, die Propheten,
die Helden ſind Urgeſtalten von gewaltiger Erhabenheit, gehören zu den
15*
[228]ehrwürdigſten Stoffen. Jahrtauſende faſſen ſich in ihnen, die das Weſen
ihres Volks in ſich ſammeln, begreifen und in dauernder Form wie für
Ewigkeiten hinſtellen, zuſammen. Aber ihre bewegungsloſe Schöpfung ſtürzt
endlich tragiſch in Nichts zurück, nicht tragiſch in dem Sinne, wie ſich
ein freies Volk von innen auslebt, dann durch das Schwert des Siegers
fällt, ſondern es iſt ein Untergang, ehe das Volk eine wahre Geſchichte
hatte, ein mitleidswerthes Vernichtetwerden, das aber bei dem Zuſammenſtoß
mit freien Völkern unvermeidlich iſt. So noch in neuer Zeit die Eroberung
Indiens, Algiers. Es fehlt dieſen Staaten nicht an aller Bewegung; die
Freiheit, die immer keimen will, hat kein Bett, worin ſie fließe, und bricht
von Zeit zu Zeit als Aufruhr aus, beſonders als Pallaſt-Intrike, blutiger
Familienzwiſt, denn das Regentenhaus eigentlich allein, nicht das Volk
hat eine Geſchichte. Auch die Thatkraft der Völker ſtürzt hinaus wie ein
ſtürmiſches Meer, ſchwillt über wie eine Naturkraft, erobert, gründet
neue Reiche, aber Alles dauert nur, bis die Wogen am Geſtade eines
freien Volks zerſchäumen.
Der Gottesdienſt iſt prachtvoll und feierlich, ſtürzt ſich aber in die Extreme
nackter und ſtumpfer Entſagung und wilder, in ihrer höchſten Wuth ebenfalls
in Selbſtvernichtung endender Sinnlichkeit.
Die Prieſtergewänder, der Weihrauch, die Litaneien, faſt der ganze
Pomp der katholiſchen Kirche iſt orientaliſch, theils jüdiſch, theils indiſch.
Der Pomp der Repräſentation liegt überhaupt weſentlich im orientaliſchen
Charakter, wie er denn noch heute z. B. in den Ceremonienſcenen indiſcher
Fürſten ſo glänzend auftritt. Seinen Gipfel erreicht er im Gottesdienſt,
deſſen eine Seite in bewegungsloſer, murmelnder Andacht, tödtender Aſceſe
beſteht: vom Orient kommen die Klöſter, die Einſiedler, die Styliten, jede
Form wahnſinnig werthloſer Kreuzigung des Fleiſches. Der wilde Taumel,
die Orgien, die das andere Extrem bilden, wurden ſchon erwähnt. Zu
den indiſchen Tempeln gehörten die Tänzerinnen, die ſich zum Cultus der
Liebe Preis gaben, in Babylon war jener Dienſt der Aſtarte, der jedem
Weibe gebot, ſich jährlich einmal im Tempel einem Fremden Preis zu
geben. Die Selbſtvernichtung ſpielt noch im heutigen Indien die alte
Rolle und dahin gehört namentlich die Wuth, ſich unter die Räder des
Juggernaut-Wagens zu ſtürzen und zermalmen zu laſſen.
In dieſen allgemeinen Charakter theilen ſich die einzelnen Völker auf
verſchiedene Weiſe. Im Oſten Südaſiens treten als Zweige des indogermaniſchen
[229] Stamms die Indier und Perſer auf. Jene weich, träumeriſch, bieten ein1
geſchichtlich ſtoffarmes Wunderland und Zauberreich voll ſüßer, anmuthiger,
prächtiger, berauſchend üppiger Erſcheinungen dar; dieſe feſter, geſammelter,2
thatkräftiger treten als Erbauer eines mächtigen Weltreichs in die Geſchichte ein
und entfalten allerdings mehr äſthetiſchen Stoff von ſittlichem Gehalte, theils
durch ihr inneres Staatsleben, theils durch ihre bedeutungsvollen Kriege mit
den Griechen, worin aber auch dieſe Form orientaliſcher Erhabenheit an der
Freiheit des Weſtens zerſchellt.
1. Wir rücken vom Süd-Oſten gegen den Weſten herüber. Die
Chineſen fallen weg als mongoliſches Volk; alles Menſchliche iſt bei
ihnen da, aber Alles in Abgeſchmacktheit verkehrt und es kann nur eine
pikante Grille ſein, einen Roman in China ſpielen zu laſſen. Mit den
Indiern und Perſern nun verhält es ſich im vorliegenden Abſchnitt umge-
kehrt gegen den folgenden (vergl. §. 341 Anm.): im jetzigen bedeuten
die Perſer mehr, die Indier weniger, jene geben der Aeſthetik geſchichtliche
Stoffe in Fülle, dieſe, wenn wir die Schauſpiele wilder Ausſchweifung,
trüber Aſceſe als häßlich ausſtoßen, nur anmuthige in dem beſchränkten
Gebiete, worin die Erſcheinung ſeelenvoll empfindender, weicher, üppig
genießender Menſchheit eingegrenzt iſt. Werden wir aber von der eigenen
productiven Phantaſie der Völker ſprechen, ſo werden die Indier reicher
ſein, die Perſer kaum in Betracht kommen. Die Indier ſind ſelbſt ein
äſthetiſches Volk, ihr träumeriſcher Gaukelſinn hat keine Geſchichte zu
erzeugen vermocht; dieſes vorzugsweiſe ſtabile Reich war nur immer
geſucht (Hegel Philoſ. der Geſch. S. 146), mit ſeinen Wundern ein
Gegenſtand der Sehnſucht für die europäiſche Welt, leblos lebte es fort,
bis die moderne Geſchichte es erfaßte. Im indiſchen Typus iſt auch die
in §. 343 Anm. 1 gegebene Zeichnung noch am meiſten in Weichheit
zurückgehalten. Der Wuchs iſt ſchlank und gelenkig, wenig muskulös,
die Stirne ſchmal und rund, die Naſe fein gebogen, aber nicht die kräftige
Adlernaſe der übrigen Orientalen, berühmt iſt das ſanfte Gazellen-Auge,
Kinn und Unterkiefer drängt ſich nicht mit Schärfe vor, ſondern weicht
leicht und weich zurück. Der genügſame Genuß der vegetabiliſchen Koſt,
ſo lange nicht die losbrechende Sinnlichkeit ſich auf berauſchende Genüſſe
wirft, bezeichnet ſchon dieß ſanfte Pflanzenleben, dieß Land „wo ſtille,
ſchöne Menſchen vor Lothosblumen knien.“ Hinter dem Süßen und
Weichen liegt aber die ganze Härte des Kaſtenweſens, die ganze An-
maßung des Prieſters, die Verachtung, die auf den ehrwürdigen Ständen
des Ackerbaus und Gewerbs liegt.
2. Schon der kräftigere Bau, das ſchärfere Profil mit markirterer
Baſis des Kinns zeigt an, daß die Perſer ein thatkräftigeres, ein han-
[230] delndes mehr als genießendes Volk ſind. Geſtählt in Bergluft brechen
ſie hervor, unterjochen die Völker, die vorher ſich gegenſeitig unterjocht,
Meder, Babylonier, Aſſyrer, die Semiten der Weſtküſte Aſiens, Aegypten,
das kleinaſiatiſche Griechenland. Wir ſind überzeugt, daß noch heute
Maler und Dichter aus Herodot eine Fülle vortheilhafter Stoffe ſchöpfen
könnten. Ein Cyrus iſt eine edle, große Geſtalt; tragiſch rührend durch
edlen Schluß der Fall des Kröſus. Und doch begleitet ein tragiſches
Gefühl die gewaltigen Bewegungen dieſes Weltreiches: ſo edel, ſo nahe
an der ſchönen Menſchlichkeit, ohne Kaſtenzwang Königen unterthan, human
gegen Beſiegte, gut von Herz und Geſinnung, und doch Barbaren,
beſtimmt, unter innerer Zerrüttung, die eine Reihe blutiger Familien-
geſchichten darſtellt, in unaufhaltſamer Erſchlaffung den ſchmählichen Fall
der Vermeſſenheit, die Unmacht des maſſenhaften und ſtabilen Orients
gegen den hohen Beruf des Occidents zuerſt in den Kriegen des Xerxes,
dann im mitleidswerthen Untergang des Darius durch Alexander in ewigen
Zügen in die Geſchichte einzugraben. In dieſen Kriegen namentlich ruht
noch eine unbenützte Summe großer Stoffe, nur Aeſchylus und jener
Unbekannte, der die herrliche Moſaik in Pompeji, die Schlacht bei Iſſus,
geſchaffen, haben in dieſen Reichthum gegriffen, aber Herodots einfache
Geſchichtserzählung des erſten dieſer Kriege, wo der Orient überſchwillt nach
Griechenland, um erſt in ſpäterer Zukunft umgekehrt von den geiſtigeren
Fluthen Griechenlands heimgeſucht und überwunden zu werden, beſchämt
manchen Dichter. Jene Muſterung der unabſehlichen Horden am Helle-
ſpont iſt ein großes epiſches Bild. Die folgenden Schlachten ſind aller-
dings durch die Niederlage der Perſer eigentlich griechiſche Stoffe. Welch
ſchöne Aufgabe wäre es aber z. B., den Xerxes darzuſtellen, wie er
der Schlacht von Salamis zuſchaut und der Untergang ſeiner Flotte in
ſeinen Zügen, ſeinen Gebärden ſich ſpiegelt, oder den Moment bei Platää,
wo Mardonius vom weißen Roße ſinkt! — Perſiens Untergang ſelbſt iſt
Lebenszeichen; es konnte untergehen, denn es lebte. „Die Perſer ſind
das erſte weltgeſchichtliche Volk, Perſien iſt das erſte Reich, das ver-
gangen iſt“ (Hegel a. a. O. S. 176).
An der Nordküſte Afrika’s und der Weſtküſte Aſiens treten in ähnlichem
Gegenſatze die Aegyptier und die ſemitiſchen Völker, Syrer, Phönizier,
Juden ſich gegenüber. Alle dieſe Nationen erſcheinen ſchärfer, denkender,
1praktiſcher, als die ſüdlichen Aſiaten, doch bilden jene geſchichtsloſer, paſſiver,
2eine verſchloſſene Welt des Geheimniſſes, dieſe dagegen rührig, theils kühne
Seefahrer, Kaufleute, Krieger, theils in ſich verharrend, aber zäh im Wider-
[231] ſtande, insgeſammt eigennützig, hart, ſchneidend, greifen poſitiver in die Geſchichte
ein und gehen in blutigen Kriegen, wie jene in thatloſerer Unterwerfung, an
der freien Kraft der wahrhaft ethiſchen Völker zu Grunde.
1. Wir haben hier ein Verhältniß wie in §. 346. Aegypten gibt
im Abſchnitt von der Naturſchönheit geringen Stoff, die Semiten reichen;
im Abſchnitte von der Phantaſie wird es ſich umgekehrt verhalten, denn
Aegypten hat eine reichere Mythologie, auch ſeine realen Stoffe, ſo arm
ſie ſind, hat es productiv ſelbſt benützt, die Semiten dagegen haben
gehandelt, aber eine arme Mythologie und ebenſo arme künſtleriſche
Phantaſie entwickelt. Die Aegytier nehmen daher in dieſer Gruppe eine
Stellung ein, wie in jener die Indier, ſie nähern ſich dieſen auch im
Typus: ihr Geſicht zeigt kurze, nur wenig zurückweichende Stirne, die
Naſe tritt länglicht, kaum gebogen hervor, das Kinn tritt leiſe zurück.
Sie waren Aethiopier, aber nicht Neger, ſondern von kaukaſiſchem, den
Indiern verwandtem Stamme. Semitiſches muß ſich aber mit ihrem
Blute verſchmelzt haben und dieß gab ihnen die berechnende Verſtändigkeit,
was der bekannte Charakter des Nilthals durch die Nothwendigkeit der
Berechnungen, Meſſungen, Kanalbauten u. ſ. w. noch ſchärfte. Sie
waren durch dieſe ihre Natur vorzugsweiſe das gewitzigte orientaliſche
Volk. Aber ſie wurden praktiſch nur in der Sphäre des Zweckmäßigen,
nicht groß im politiſchen Leben, beſchleierten Geiſt haben ſie trotz der
ungleich größeren Beſtimmtheit ihres Weſens wieder mit den Indiern
gemein. Ihr ſchmal geſchlitztes, an den äußeren Winkeln aufgezogenes
Auge mit den entſprechenden Mundwinkeln erinnert ſogar an Mongoliſches
und deſſen Melancholie. Dieſes ſinnige Volk brütete ſtill, bauend, meſſend,
rathend in ſeinem Geheimniſſe und blieb paſſiv in der Geſchichte. Blos
ſeine landſchaftliche Natur und ſeine Sitten konnten oder können Stoff
geben, kaum ſeine Thaten. Ein Prieſterſtaat mit feſter Kryſtalliſation
der Kaſten, einen eingeengten König an der Spitze, unterſcheidet es ſich
von Indien durch den bedachteren, durchaus ceremoniöſen und feierlichen
Charakter. Faſt geräuſchlos fällt es Perſern, Griechen, Römern in die
Hände und bleibt ein wie Indien geheimnißvoll, wunderbar reizendes
Bildungsland für die alte Welt.
2. Indier und Aegyptier ſcheuten das Meer, die Syrier und Phönizier
ſind kühne Seefahrer, dieſe gründen Karthago. Neben dieſen Handels-
völkern tritt in bekannter Eigenthümlichkeit das jüdiſche Volk hervor. Die
Araber treten noch nicht in die Geſchichte ein, zeigen aber noch heute wie
Kurden und Juden das gemeinſame Gepräge des ſemitiſchen Stamms,
den ſchärfſten Ausſchnitt deſſen, was in §. 343 als orientaliſch bezeichnet
wurde, die hohe, zurückfliegende Stirne, die ſchmale, gebogene, ſpitze
[232] Naſe, das ſchmale und ſpitze Kinn, wozu hier als beſonderer Ausdruck
des ſchneidenden Charakters die dünneren, ſcharf geſchloſſenen Lippen treten.
Der Leib iſt ſehnigt und ſchlank, die Adern treten heraus, ſagt ein alt-
arabiſches Volkslied, wie Moosflechten. Aezende Schärfe des Verſtandes
und Leidenſchaft verbinden ſich in dieſen Völkern zu einem Eigenſinn der
Zweckthätigkeit, der nur mit Ausnahme der phantaſiereich liberaleren Araber
bis zu unleidlicher Verbiſſenheit geht. Sie ſind die eigentlich praktiſchen
Orientalen, aber darum nicht frei von dem allgemeinen Dualiſmus
morgenländiſcher Natur. Verſtand und Leidenſchaft vereinigen ſich zwar
im Zwecke, fallen aber auch auseinander und dieß zeigt ſich bei den
Syrern und Phönizern in der frechen und tollen Sinnlichkeit ihrer Religion
im Gegenſatz gegen ihre praktiſche Aufklärung und Verſtändigkeit, bei
den Juden, deren Zweck nur ihr geſchloſſenes Gottesreich iſt, im Kampfe
zwiſchen dem Einen Gott, den ſich ihr Verſtand abſtrahirt hat, und dem
widerſtrebenden menſchlichen Willen, in den Schwankungen des Abfalls
zum umgebenden Heidenthum, in den grauſamen Vertilgungskriegen gegen
die Nachbarn und in dem zweckwidrigen Wahnſinn, womit ſie ſich durch
Sekten ſelbſt zerſtörten, übermächtige Gegner zur Unzeit reizten. Kein
ſemitiſches Volk ging durch einen raſchen Schlag unter, hartlebig und
zäh raffen ſie nach tiefer Muthloſigkeit ſich immer wieder auf, verbluten
in langem, ſchmerzvollem Kampfe, bis ein letzter Todesſtoß ein Ende
macht. In der Geſchichte der heidniſchen Semiten gibt nach den coloſſalen
Gründungen des aſſyriſchen und phöniziſchen Reichs der Fall von Tyrus
durch Alexander ein großes Bild, das bedeutendſte aber die puniſchen
Kriege, Hannibal, der furchtbare Fall Karthagos. Die jüdiſche Geſchichte
nun wimmelt zwar bekanntlich von großen, vielfach benützten Stoffen.
Die patriarchaliſchen, idylliſchen ſind erwähnt, Moſes iſt eine herrliche
Geſtalt, die Zeit der Richter bietet ſchöne Helden-Erſcheinungen dar, die
Zeit der Könige edle und hohe Charaktere, gewaltig leuchten die Propheten,
ein Bild voll ſchöner Trauer iſt die babyloniſche Gefangenſchaft, eine
Reihe der ſchönſten heroiſchen Stoffe bietet der edle Kampf der Maccabäer,
einen der ungeheuerſten und bedeutungsvollſten in aller Geſchichte die
Zerſtörung Jeruſalems, und ſelbſt das neuere Schickſal der Juden iſt
noch eine reiche Quelle äſthetiſcher Motive. Mit der antiken jüdiſchen
Geſchichte hat es aber ſeine beſondere Schwierigkeit. Sie war immer
religiöſe Domäne und ihre Stoffe gehörten daher unter die heiligen, ſie
wurden nicht frei äſthetiſch, ſondern obligat kirchlich idealiſirt. Dieß geht
uns zwar im jetzigen Zuſammenhange nichts an, wo wir nicht von den
Formen des Ideals, ſondern vom realen Stoffe reden. Soll nun aber
dieſer als freies äſthetiſches Object ergriffen werden, ſo hindert daran
eben die überlieferte Gewohnheit, ihn im Lichte kirchlich beſtimmter Idealität
[233] zu ſehen; er erſcheint, frei behandelt, genremäßig ſtatt hiſtoriſch, weil man
darin aufgewachſen iſt, hier als Bedingung des hiſtoriſchen Gewichts die
mythiſche Erhöhung zu fordern. Die Geſchichte aller orientaliſchen Völker
iſt fabelhaft, unſer Geiſt iſt frei von dieſen Fabeln, die jüdiſchen Sagen
dagegen beherrſchen noch das Bewußtſein der Menſchen. Befreit nun
der Einzelne ſein Bewußtſein auch von dieſen, ſo beengt es ihn in der
Behandlung des Stoffs, daß hier ein Volk iſt, das durch Aufhebung des
Polytheiſmus zu der Erwartung führt, daß es reine Geſchichte habe, und
das dennoch ſeine Geſchichte ebenfalls mit Wunderſagen durchflicht. Und
dieſe Wunderſagen gehen alle auf die particuläre Theokratie dieſes Volks,
das ſo eigen unter den alten Völkern ſteht wie ein rigoroſer junger Menſch
unter luſtigen Studenten. Alles hat ein Geſchmäckchen. Die Zerſtörung
Jeruſalems dagegen gehört der freieren Geſchichte an und wäre ein rein
äſthetiſcher Stoff voll unendlich großer Motive.
Dieſer Dualiſmus beruhigt ſich zum ſchönen Ebenmaß im Volke der
Griechen. Das kleine Land bedingt durch ſeine Natur die glückliche Mitte1
zwiſchen Arbeit und Genuß, ruhigem Stillſtand und Anſpannung, Sammlung
und Zerſtreuung. In der Manuigfaltigkeit der Stämme ergänzt ſich wechſel-
ſeitig der Gegenſatz zweier Hauptſtämme. Der leibliche Typus ſpricht reines2
Gleichgewicht des Temperaments und der Anlage überhaupt aus, in allen3
äußeren Culturformen iſt das Nothwendige in Freiheit und Leichtigkeit umge-
ſchaffen, ohne in den Schwulſt des Ueberfluſſes zu verfallen; ein heiterer Cultus
und herrliche Spiele geben dem freudigen Ernſie des Daſeins feſtlichen Ausdruck.
1. Daß nur im kleinen Lande das griechiſche Leben entſtehen konnte,
iſt ſchon oft bemerkt worden. In den weiten Stromthälern, den breiten
Küſtenländern des Orients wimmeln die Menſchenmaſſen unabſehlich hin
und nur der weitgreifende Zwang des Prieſters und Deſpoten kann ſie
zuſammenhalten. Freie Menſchen müſſen ſich ſehen, ſprechen, verſammeln
können, nur im überſichtlich geſchloſſenen Raume war dieß innerlich bewegte,
compacte Staatsleben möglich. Die nähere Geſtalt Griechenlands nun
erſcheint auf den erſten Anblick viel rauher, als man erwartete, von der
Höhe überſehen gleicht es einem Meere von verſteinerten Wellen, ganz
durchäſtet von rauhen, einſt allerdings mehr bewaldeten, Felsgebirgen.
Da erinnert man ſich, daß die Griechen ſo ſüß und geſchmeidig nicht
waren, wie ſich der Schöngeiſt ſie vorſtellt, daß ihre ſchöne Bildung auf
[234] der derben Grundlage grober Kraft aufwuchs; hier jagten dieſe unerbitt-
lichen Städteverwüſter, die das weiße Fett des Feindes den Fiſchen, die
entriſſene Scham den Schakalen vorzuwerfen drohten, den Eber, den Löwen,
den wilden Stier, hier ſtarrt die doriſche Härte, an dieſen Gipfeln und
Spitzen ſtieg das Auge hinauf und wuchs der Sinn des Erhabenen.
Verfolgt man aber die Umriſſe, ſo ſind ſie ſchwungvoll fließend, wie in
§. 264 Anm. 2 geſagt iſt, und das Auge hatte ein Reich von Linien vor
ſich, die es zum plaſtiſchen Blicke bildete. Nun aber ſteigt man in die
Thäler herunter und wird von joniſcher Weichheit und Lieblichkeit empfangen,
die doch nicht allzu üppig iſt, ſondern im Sinne der §. 279 geſchilderten
Pflanzenwelt gemeſſen bleibt. Hier ſpielt eine unendliche Thierwelt;
zahlloſe Cikaden ſummen im Graſe, tauſende von Nachtigallen ſchlagen
im Myrthengebüſch, unter den Oliven, im Platanenhain, zwiſchen Wäldern
von Oleander, im Dunkel der Orangen und Limonen, das Steinhuhn
lockt, zierliche Lazerten werden von Schlangen verfolgt, mächtige Geier
ſchreiten gravitätiſch mit den gelben Hoſen, der Pelikan und Storch lauern
am See und hoch in den Lüften wiegt ſich in ſtolzen Kreiſen der Vogel
des Zeus. Die gefährliche, Cultur hemmende Thierwelt wurde in der
Heroenzeit verfolgt, ohne daß darum das Wild in dem Grade ausgerottet
worden wäre, wie bei uns. Die griechiſchen Dichter und Künſtler haben
Löwen, Schlangen, Adler, Geier geſehen. Der Pferdeſchlag war der
ſchlanke orientaliſche ſ. zu §. 310. Mit mäßiger Mühe gedeiht dreifache
Aerndte, Wein und edle Früchte erfreuen die Sinne, aber des Landes
iſt wenig, das unendliche Meer rief zum Handel und dieſer erſt brachte
Reichthum. Die vielfach verzahnten und eingeſchnittenen Küſten geben
dem Lande individuelle Geſtalt und zeigen ſinnbildlich die reiche Gliederung
griechiſchen Lebens an; umher aber ſchwimmen in reiner Bläue die ſchön
gezeichneten Inſeln. In dieſem glücklichen Lande wurde das Leben nicht
ſchwer, aber auch nicht zu leicht; die Natur ſaß dem Menſchen wie ein
ſchmiegſames Kleid, worin er ſich ungehemmt bewegen konnte. Sie drückte
nicht, ſie zerſchmelzte nicht; ſie löste freundlich und ſie ſpannte kräftig an.
Reine Gebirgsluft und friſcher Seewind kühlt die brütende Hitze der
Thäler und ſelbſt Schneegeſtöber, ſtrengere Kälte kannte der härtere Berg-
bewohner. In dieſem vielgetheilten Lande konnten ſich die mannigfaltigen
Stämme in ihrer Individualität ausbilden, aber der trennende Gebirgs-
zug, der Meerbuſen war leicht überſchritten und lebendiger Austauſch
hinderte die Iſolirung. Der Hauptgegenſatz, der des Doriſchen und Joniſchen,
ſchuf durch ſtetige Reibung bewegtes Leben und die Paarung des Strengen
und Weichen gab guten Klang. Der üppigere, geſchwätzigere, geiſtig
bewegtere, feinere, leidenſchaftlichere Jonier ſtand, durch die Kolonie in
Kleinaſien namentlich, dem Orientaliſchen näher, der härtere, unbewegtere
[235] Dorier erſcheint nordiſcher oder gleicht, wenn man will, dem herben Semiten
und dann iſt der Jonier dem Indier zu vergleichen.
2. Der Gliederbau des Griechen war kräftig breit und doch von
ſchlanker Linie, geſchmeidigen Formen, er hatte, nicht nur durch Gymnaſtik,
ſondern ſchon durch Race, den Charakter des Gelösten, Herausgearbeiteten,
Entwickelten, beſonders in der frei gewölbten Bruſt. Dem Profil war
bekanntlich der gerade Geſichtswinkel mit kaum merklicher Einziehung der
Naſenwurzel und faſt gerader, nur ganz leiſe gebogener Naſe, das rund
und ſatt hervortretende Kinn eigen, und zwar war es gewiß nicht nur in
der Kunſt, ſondern in der Natur ſelbſt, wie unter And. Blumenbachs
herrlicher Griechenſchädel und einzelne Profile, die man noch heute in
Griechenland findet, beweiſen. Die Griechen kannten aber auch wohl
das γρυπὸν und ſeinen Gegenſatz, das σιμὸν. Jenes ſcheint doriſch
geweſen zu ſein, dieſes kam vereinzelt überall vor und zeigt ſich über-
haupt in der unentwickelten Naſe der Kinder. Ueber den Ausdruck des
geraden Profils hat Hegel (Aeſth. B. 2, S. 387 ff.) Treffliches geſagt.
Die Naſe wird dadurch gleichſam der Stirn angeeignet, der Sitz des
Denkens bleibt in unmittelbarer Einheit mit dem Organ des ſinnlichen
Spürens und Suchens und umgekehrt wird dieſes und mit ihm der ganze
untere ſinnlichere Theil des Geſichtes für das Geiſtige wie eine reine
Fortſetzung desſelben gewonnen; das Obere, Geiſtige ſetzt ſich ohne
Unterbrechung in das Untere, Animaliſche fort. Tief eingeſchnittene Kluft
der Naſenwurzel trennt das Untere und Obere und dann ſpielen auch
beide Theile, freigelaſſen vom Bande der Einheit, in ungeſetzlichen,
willkührlichen Formen. Das volle Kinn aber gab dieſem ſchönen Ganzen
die ſatte Begründung, die abſchließende Baſis und zeigte den in ſich und
in Naturmitte feſten, runden Menſchen an. Die Stirne war mäßig
gewölbt, nicht allzuhoch, was Uebergewicht des getrennten Denkens anzeigt,
ſie hatte einen Theil ihrer Entwicklung dem Geſichte abgegeben; berühmt
das volle, runde, leuchtende Auge unter fein gezogenen Augbraunen, der
lockige Haarſchmuck. Dieſes Profil ſprach das Gleichgewicht des Tempera-
ments aus. Man nennt die Griechen gern ſanguiniſch, aber ſie hatten
auch die Gabe von Phlegma und Melancholie, die zur Wiſſenſchaft und
zum ganzen Gefühl des Tragiſchen gehört, und man darf nur den Achilles
ſich vergegenwärtigen, um die Stärke des choleriſchen Feuers zu erkennen.
Auf der Grundlage dieſer reinen Miſchung iſt ihre Begabung als all-
ſeitig und daher genial zu bezeichnen.
3. Alle Culturformen verkündeten die ſchöne Menſchlichkeit. Die
Tracht ließ das Haupt, wo es nicht den Schutz des Helms, der Schiffer-
mütze, des Reiſehuts bedurfte, frei, die Beine in ihrer ſchönen Zeichnung
nackt, Hoſen galten für barbariſch, auch der ganze oder halbe Arm ſah
[236] nackt aus dem χιτών. Das ἱμὰτιον nun, das über die linke Schulter
geworfen, um den Rücken geſchlagen, dann unter oder über den rechten
Arm genommen wurde, ſo daß das Ende wieder über die linke Schulter
fiel, und ähnlich die kürzere χλαμὺς, war jenes ungenähte Stück wollenen
Tuchs, deſſen reicher Faltenwurf durch die Formen des Körpers motivirt
dieſe durchblicken ließ, mit jeder Bewegung ſich veränderte, nicht fertig
genäht am Leibe hing, ſondern getragen ſein wollte, daher ein bewegtes,
lebendiges, ein perſönliches Kleid. Völlige Nacktheit wechſelte mit Beklei-
dung nicht wegen Drucks glühender Hitze, ſondern durch Vermittlung der
gymnaſtiſchen Spiele. Der Künſtler ſah den Körper in jeder Bewegung
nackt, er brauchte (bei Männern) keine Modelle, keine Acte. Hier iſt
wieder ein Punkt, wo beſonders einleuchtet, warum wir von der Natur-
ſchönheit in dieſer Breite reden; denn jeder weiß, daß dieſe Gelegenheit
ungezwungenen Anblicks dem Künſtler unerſetzlich iſt. Gunſt des Stoffs,
des Vorgefundenen iſt überall weſentlich. Wie einfach und doch ſchwung-
voll, wie edel ohne Ueberladung, wie lebendig und gefühlt alle Geräthe,
Waffen u. ſ. w. waren, weiß Jeder, der antike Vaſen, Lanzen, Kande-
laber, Küchen- und Tafelgeräthe, Helme, Schilde u. ſ. w. geſehen hat.
Selbſt die Löcher im Sieb hatten Zeichnung, das Gewicht an der Wage
war ein Götterkopf u. dgl., die Theatermarke ſtellte ein niedlich geſchnit-
tenes Thierchen vor u. ſ. w. Wir erwähnen dieß Alles hier als reale
Kulturform, es iſt unter anderem Standpunkt, als Kunſtform, wieder zu
erwähnen, aber dieß eben iſt das eigenthümlich Griechiſche, daß hier die
Kunſt in Alles drang, daß die Erſcheinung der Griechen in allen
Sphären das Schöne ebenſoſehr producirte, als ſchönes Object war.
In der Kriegsführung unterſcheiden ſich die Griechen ſchon nach Homer
von den Aſiaten: ſie ziehen ſchweigend in gemeſſener Ordnung in die
Schlacht, die Trojaner mit wildem Geſchrei. Später entwickelt ſich die
Taktik bis zur berühmten macedoniſchen Phalanx. Dabei bleibt aber die
ganze Bewaffnung ſo, daß jeder Gebrauch der Waffe den ganzen leben-
digen Mann braucht und die Schönheit und Kraft der Glieder zeigt
(Borgheſiſcher Fechter). Auch der Pfeil, vermittelſt deſſen der Feigſte und
Schwächſte den Tapferſten tödten kann, iſt noch etwas ganz Anderes, als
das Feuergewehr, das ſich durch den bloßen Druck des Fingers entlädt.
Der Feldherr befiehlt nicht abſtract; Alexander ſtürmt an der Spitze ſeiner
Reiterei. — Die Genüſſe gaben jeden Taumel der Luſt frei und das
Orgiaſtiſche der Orientalen war namentlich noch in den Dionyſien ſichtbar,
aber die höchſte Trunkenheit hielt noch das Band der Schönheit feſt und
gab ſelbſt dem Wilden, dem Frechen jenen Rhythmus, der als Takt
haltendes Maß auch die Wuth der Bacchantin beherrſcht. Den Feſten
des losgelaſſenen Genuſſes treten aber die Feſte der Thätigkeit, die gym-
[237] naſtiſchen, die berühmten Spiele zu Olympia u. ſ. w. zur Seite. Hier
zeigte der Grieche dem Gott und dem Volke ſeine Kraft und Schönheit
und dieß allein ſchon, daß dieß Volk ſolche Feſte hatte, ſtempelt es zum
ſchönen Volke. Solche Spiele waren ein Gottesdienſt und dieſer beſtand
überhaupt vorzüglich in Aufzügen, wo das Volk an ſeinem Reichthum,
dem Adel ſeiner Stände, der Schönheit ſeiner Jünglinge und Jungfrauen,
ſeiner Roſſe und Rinder ſich erfreute. Da war nicht traurige Entſagung,
Kloſterleben, Einſiedelei, dumpfes Brüten die eine, wilde Wolluſt, ſcheußliche
Selbſtvernichtung die andere Seite; das düſtere Geheimniß ſpielte an den
Rand gedrängt in den Myſterien nebenher, das blutige Menſchenopfer
wurde weggeworfen, der Cult war heiter und ſonnig wie das ganze Leben.
Freie Geiſtigkeit durchdringt in dieſem Volke das ſinnliche Leben und
bindet es zur Einheit, es bildet ſich daher hier erſt ein ethiſcher Volks-
charakter. Da aber die geiſtige Einheit nicht zum Bruche der Subjectivität mit
der Natur, des Individuellen mit dem Allgemeinen fortgeht, ſo herrſcht das
Ethiſche durchaus in der liberalen Form des Maßhaltenden Inſtincts,
behält die Friſche und Zufälligkeit des Naturtons. Das Leben iſt ungehemmt
von Satzung und doch geregelt, Sitte herrſcht bewußt und unbewußt zugleich,
frei unterſcheiden und gliedern ſich die Sphären des Lebens und breitet ſich in
der vielſeitigſten Bildung und Thätigkeit reine Menſchlichkeit aus.
Die Griechen ſind mündig ohne die Reflexion der ſubjectiven Moral
und ohne den Staatsbegriff, der den Einzelnen privatrechtlich dem Ganzen,
für das er Andere ſorgen läßt, gegenüberſtellt. Da ſcheint nun jeder Compaß
unmöglich und ebendaher das Gängelband der Prieſtergewalt nöthig zu ſein,
und doch führt ſie frei ihr ſittliches Gefühl. Die Sitte herrſcht, ohne daß
man ſich Gründe angibt, politiſche Tugend herrſcht ohne Polizei. Dieß
eben iſt das ſchöne Geheimniß. So haben ſie auch kein Dogma und ſind
doch religiös. Es iſt Einem hier, wenn man von den Orientalen kommt, zu
Muthe, als ſprängen Riemen und Knebel vom Leibe; man athmet leicht auf.
Mit der Prieſterherrſchaft hört auch die Vermengung aller Sphären, wie ſie
im Orient beſtand, auf. Kunſt, Wiſſenſchaft, Staat, jede Thätigkeit löst ſich
vom Ganzen und doch bleibt organiſche Einheit. Kein Volk hat bekanntlich
ſo vielſeitig alle Kreiſe menſchlicher Thätigkeit durchlaufen, es ſind auch in
dieſem Sinne ganze Menſchen. Die geiſtigſte Blüthe dieſer Bildung iſt die
Philoſophie. Das reine Denken ſelbſt bleibt aber objectiv; wie es ſubjectiv
wird und als kritiſches Selbſtbewußtſein ſich auch vom Sittlichen Rechenſchaft
gibt, iſt es auch ein Symptom der Auflöſung des griechiſchen Lebens.
[238]
Die Deſpotie wird abgeworfen, der Staat erſteht zur Freiheit, wird
Demokratie. Jeder lebt im Ganzen, das Ganze in Jedem, Alles iſt öffentlich,
2das Vaterland Lebensluft. Kein Stand kann verknöchern, alle bleiben elaſtiſch.
3Das Individuum athmet Geiſtigkeit in Form edlerer Thierheit; das Privatleben
und die unendliche Eigenheit kann ſich nicht in Tiefe ausbilden, Freundſchaft
blüht mehr, als Liebe. Erhabene und doch jugendlich ſchöne Geſtalten ragen
die großen Männer hervor.
1. Ein Flecken in der griechiſchen Freiheit ſind die Heloten und
Sklaven. Keineswegs hat aber darum Hegel Recht, wenn er über
Griechenland den Satz aufſtellt: „Einige ſind frei“ (im Orient nur
Einer). Freiheit kann hier nur Freiheit im Volke bedeuten, nicht philan-
thropiſche Anerkennung der allgemeinen Menſchenwürde, welche erſt in
neueſter Zeit die Aufhebung der Sklaverei angefangen hat in’s Werk zu
ſetzen. Die griechiſchen Sklaven waren überwundene oder gekaufte Menſchen
eines fremden Volks, die Griechen waren alle frei. Im Mittelalter iſt
es, wo nur Einige frei ſind, da im eigenen Volke, was nicht Fürſt, Adel,
Clerus, Bürger einer Stadt iſt, keine politiſche Perſönlichkeit hat, da der
Bauer wie ein Thier behandelt wird. Die Sklaverei war aber ein Flecken,
denn es iſt nicht wahr, daß die Republik der Sklaven bedarf. Das Schöne
des freien Volkslebens aber war der Einklang des Individuums mit dem
Ganzen; es löste ſich von der Subſtanz ab, aber dieſe ſetzte ſich in es fort;
das Individuum war „die Bethätigung des Subſtantiellen.“ Der Verfall
begann mit der willkührlichen Ablöſung, der egoiſtiſchen Selbſtändigkeit des
Einzelnen, der Demagogie. Ueber den Werth des republikaniſchen Lebens
als Stoff der Schönheit haben wir nichts hinzuzuſetzen; nur der Menſch,
welcher Luft der Oeffentlichkeit athmet, den Freiheit umweht, der im Ganzen
webt, iſt wahrer Schönheitsſtoff, nur hier ſind die ächten, großen Motive.
2. Beredtſamkeit als Kunſt, das Intereſſe und die Thätigkeit für
das Oeffentliche zu entwickeln, war neben der Bildung zum Krieger mit
allen Mitteln der Gymnaſtik die Hauptform, die in der Theilung der
Geſchäfte den Menſchen menſchlich friſch und frei erhielt. Sie ging aber
von ſelbſt aus dem lebendigen Bewußtſein der Allgemeinheit und Geltung
in derſelben hervor. Wo dagegen das Individuum bei dem beſten Intereſſe
doch nichts über ſeinen beſchränkten Kreis hinaus thun kann und darf, da
krümmt es ſich zum Philiſter ein.
3. Zum Herrlichſten im Homer gehören ſeine Vergleichungen der
Helden mit Thieren. Jene Heroen ſind, wiewohl voll reicher Lebendigkeit
und Vielſeitigkeit, einfache Typen gewiſſer Charakter-Gattungen, wie die
[239] Thiere in der Fabel und an ſich; ſie leben im Elemente des Naiven und
haben daher das Ganze, was aus Einem Guß iſt, wie Thiere, das
Racemäßige, das Schlaghafte. So zunächſt in der Heroenzeit, aber bei
allem Fortſchritt der Griechen bleibt ihnen dieſe Compactheit der Natur
und in ihren Götter- und Heroen-Idealen klingen nicht durch Künſtler-
willkühr Thiertypen an. In dieſer Welt kann nicht modernes Gewiſſen
ſein. Liſt iſt Tugend, Reineke Odyſſeus lügt Alles an, was ihm in den
Weg kommt, und dafür lobt ihn Athene ſelbſt, die er ebenfalls angelogen.
Beſtechlich iſt ſelbſt Themiſtokles. Das unendlich Eigene der Individualität
kann und darf ſich nicht in die Tiefe ausbilden, es iſt noch nicht intereſſant,
noch nicht berechtigt; es iſt da, aber als ein flüſſiges Moment, das ſich
jeden Augenblick in das Gemeinſchaftliche auflöst, die Einzelnen gleichen
ſich in Zügen und Thun noch ganz anders, als der nordiſche und moderne
Menſch. In den großen Männern faßt ſich die Größe des Volks gleichſam
mühelos zuſammen. Ein Perikles opfert allen Genuß und Zerſtreuung
dem Staate, jeder Zoll an ihm iſt σεμνότης, und doch, wie friſch und
jugendlich iſt er, gegen die Heroen Roms gehalten! Schön bemerkt Hegel,
wie bedeutungsvoll es ſei, daß die griechiſche Geſchichte mit einem Jüngling,
Achilles, beginne und mit einem Jüngling, Alexander, ſchließe. —
Dieſe Menſchen nun, die auf der Straße, nicht in Stubenluft lebten,
können freilich auch die engere ſittliche Schönheit des Privatlebens nicht
ausgebildet haben. Die Liebe iſt keine unendliche ſubjective Welt, ſondern
eine raſche und brennende Leidenſchaft, zarter Anhauch, wie in Nauſikaa,
erſcheint vereinzelt, aber auch das erlaubte Verlangen hält ſich mit ſittlichem
Maße zurück, wie Penelope ſinnend zaudert, ſelbſt nachdem ſie Odyſſeus
ſchon erkannt hat. Die Zurückziehung und Abſchließung des Weibs führt
zum Hetärenweſen und zur Knabenliebe, deren rohe Form freilich einer
der ſchlimmſten Makel im griechiſchen Leben, deren andere geiſtige Form
aber künſtleriſch erziehende Seelenliebe iſt. Aechte Freundſchaft tritt ſchön
im erſten und letzten Helden, Achilles und Alexander hervor. Im innern
Kreiſe herrſcht würdig die Hausfrau, aber Kebsweiber ſind geduldeter
Reſt der Polygamie, damit iſt vertieftere Poeſie der Ehe nicht vereinbar.
Dieß Volk nun iſt zuerſt ein wahrhaft fortſchreitendes, entwickelt ſich
durch eigene That organiſch und dieſe That iſt weſentlich Aufnahme von
Bildungsmomenten aus dem Orient zu freier Umbildung auf der einen, Zurück-
weiſung ſeiner überfluthenden Macht auf der andern Seite. Dann folgt innerer
Krieg und beginnt bei wachſender ſubjectiver Bildung das tragiſche Schauſpiel
der Auflöſung dieſer ſchönen, aber unverbürgten Welt. Doch ehe der Unter-
[240] gang eintritt, faßt ſich die höchſte Reife in dem Heldenjüngling zuſammen, der
Griechenland am Orient rächt und durch ſeine Ueberwindung ein Weltreich
gründet, worin griechiſche Bildung univerſell wird.
Griechenland lernte vom Orient als freier Schüler, der das Gegebene
umſchafft, aber mehr von dem contemplativen Aegypten, als von dem
energiſchen Perſien. Zu dieſem war das Verhältniß das des realen
Kampfes. Die berühmten Freiheitsſchlachten nun und ihre Helden ſtehen
dadurch einzig in der Geſchichte, daß ſie für alle Zukunft und Menſchheit
den jugendlichen Keim occidentaliſcher Bildung, europäiſcher Freiheit gerettet
haben; aber zugleich iſt die überſchauliche Einfachheit dieſer Schlachten,
die ſinnliche Lebendigkeit der Kriegsführung vom höchſten äſthetiſchen
Vortheil. Nicht wieder in der Welt iſt Idee und Bild ſo zuſammen-
getroffen und die Schlachten in den Thermophylen, bei Salamis, Marathon,
Platää harren, da man nun auch das Terrain wieder kennt, auf den
Maler, der dieſe Schätze heben ſoll. Man kennt durch Herodot die
Völker, die Bewaffnung, die Aufſtellung; man darf das Amphitheater
von Marathon nur anſehen, um ſich das große Bild hervorzurufen, wie
die geſchloſſenen Griechen von den Anhöhen herunterſtürzen und die
Barbarenhorden, die Negermaſſen in die Sümpfe hineinwürgen. Die
hervorragenden Heroen, Miltiades, Themiſtokles, Pauſanias, Cimon,
Ariſtides, der herrliche Perikles, dann der peloponneſiſche Krieg, mit
großen Scenen und Männern im Einzelnen, aber ein Gang der Auf-
löſung, der vernichtenden Reibung zwiſchen dem Doriſchen und Joniſchen,
eines Gegenſatzes, der durch ſeine Spannung die Einheit der griechiſchen
Größe begründete, aber auch den Wurm ihres Todes in ſich trug, zugleich
die innere Auflöſung durch das Aufkommen des ſubjectiven Elements,
der Sophiſten, Sykophanten, der Demagogen, eines Kleon u. ſ. w.: welch
ein bewegt fortſchreitendes, im Sinken noch unendlich fruchtbares Schau-
ſpiel! Ein anderes Geſchlecht, ſchlanker, beweglicher, nervöſer, feiner,
leidenſchaftlicher war nach der großen Peſt in Athen aufgeſtanden. In
dieſer aufgeregten Welt beginnen die pathetiſchen, ſentimentalen, aber auch
die komiſchen Stoffe. Der ſchöne Alcibiades, jugendlicher Held, aber auch
leichtfertig, üppig und gewiſſenlos, gehört ſchon zu ihnen. Die letzten
Kriege vor der Macedoniſchen Oberherrſchaft ſtellen jene rührenden
Geſtalten dar, welche in iſolirter Tugend noch halten wollen, was nicht
mehr zu halten iſt, und tragiſch untergehen, einen Epaminondas,
Demoſthenes, ſpät noch einen Kleomens, Philopömen und And. Inzwiſchen
hat ſich nördliche Kraft in unverwelkter Friſche aufgemacht, das müde
Griechenland in Eins zuſammenzufaſſen und den Samen, der aus der
welken Fruchtkapſel gefallen, erobernd hinauszuführen nach Aſien. Alexander
[241] der Große. Maſſe einzelner heroiſcher Momente, Poeſie ſeines ganzen
Eroberungszugs, ſeines frühen Tods. Griechenland iſt todt, nachdem es
erobernd geworden. Seine fortdauernde Scheinfreiheit, die Auflöſung der
Reiche Alexanders d. Gr. ſind ein widerwärtiges Bild. Die Kürze
griechiſcher Blüthe lag in ihrem Weſen. Naturſittlichkeit iſt zufällig,
ungarantirt, vergänglich wie Jugend.
Der berechnete, harte und gewaltſame Römer gleicht den mehr praktiſchen1
Völkern der Vorſtufe und erſcheint dualiſtiſch, doch in anderem Sinne, als die
Orientalen. In dieſem ethiſchen Volke hat das Subject Vollgewicht objec-
tiven Lebens, aber düſter und eigenwillig wie es iſt, ſchließt es ſich als
Individuum an das Ganze nur durch die ſtrenge Arbeit der Pflicht, die ernſte
Unterordnung an und iſt geneigt, ſich ſelbſt als das Ganze aufzuwerfen. Die
Schönheit jener liberalen Einheit iſt verſchwunden, der herbe Dienſt an ihre
Stelle getreten. Sämmtliche Culturformen ſind bei aller Verwandtſchaft mit den2
griechiſchen härter, gemeſſener, finſterer, die Feſte theils blutige Spiele, theils
weſentlich Erholung vom Zwange der Subordination, der Cultus düſter, an
Alles geknüpft, politiſch.
1. Vergleicht man Griechen und Römer mit den obigen orientaliſchen
Völkergruppen, ſo entſprechen die Römer in der erſten den Perſern, in
der zweiten den Semiten, wie die Griechen den Indiern, Aegyptiern.
Zwar kann bei den wahrhaft ethiſchen Völkern der vollere Gegenſatz eines
contemplativen, in Religion und Phantaſie productiven und eines praktiſchen,
geſchichtlichen Volks nicht mehr auftreten. Die Griechen waren handelnd,
politiſch, aber ſie waren doch noch weit mehr Culturvolk, als Staatsvolk,
ſie geben für den folgenden Abſchnitt, die Phantaſie, als Schönheit ſchaffende
Subjecte mehr Stoff ab, als für dieſen objectiv durch ihre Geſchichte.
Mit den Römern verhält es ſich umgekehrt, wie der folg. §. zeigen wird.
Es iſt eigenthümlich, daß dieſes ſtrenge und harte Volk ein Land bewohnte,
das als Halbinſel zwar auf die See hinausruft, wie Griechenland, deſſen
Natur aber übrigens in den Erdformen milder erſcheint, als die griechiſche:
weniger Gebirge, aber von reizenden Linien, breitere Stromthäler, aus-
gedehntere Küſtenflächen. Die römiſche Campagna hat allerdings melan-
choliſchen Charakter. Die Pflanzenwelt iſt dieſelbe, wie die griechiſche,
nur natürlich je mehr gegen Norden, deſto mehr an Reichthum zurück-
ſtehend. Die Thierwelt verhielt ſich ebenſo; der Pferdeſchlag nur war
Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 16
[242]ſchwerfälliger und erinnert an die groben nordiſchen Racen. Der menſch-
liche Typus hat, verglichen mit den Völkern, zu denen wir erſt übergehen
werden, den Charakter bruchloſer Gediegenheit, ungetheilter Ergoſſenheit
des Geiſtes in das Leibliche, namentlich die feſte Baſirung des Kopfs
durch das markig vorgewölbte Kinn, verglichen mit den Griechen aber zeigt
er nicht jenes ruhige Ebenmaß. Die Körper ſind ſtämmiger, gedrungener,
beleibter, kurzhalſiger, die Beine im Verhältniß zum Leib etwas kurz, im
Profil ſpringt die Naſe gebogen hervor, über den harten Augenknochen
erhebt ſich eine tiefgefurchte Stirne, die Köpfe erſcheinen überhaupt ſtrenger
durchgearbeitet und ihr ernſter Ausdruck ſcheint zu ſagen, welche Wucht
großer politiſcher Arbeit auf ihnen ruhe. Möglich, daß dieſe härtere
Form des pelaſgiſchen Stammes durch Einflüſſe etruriſchen Bluts entſtand,
denn die Etrusker erſcheinen als finſtere, unterſetzte Geſtalten mit dicken,
mürriſchen, knorrigen Köpfen. Der römiſche Typus deutet ein Vorherrſchen
des Choleriſchen im Temperamente an, das düſter Sinnende aber die
Verbindung deſſelben mit dem Melancholiſchen. Soll nun das Dualiſtiſche
in dieſem Naturell überhaupt näher beſtimmt werden, ſo muß man ſich
hüten, es nicht ſo zu faſſen, daß man denjenigen inneren Bruch des
Bewußtſeins, der erſt durch das Chriſtenthum und die Germanen auftrat,
ihnen unterſchiebt. Es iſt allerdings ein Anſatz zu einer Innerlichkeit da,
wie ſie den Griechen ganz fremd war; er zeigt ſich vorzüglich in dem
Geheimnißvollen der Religion. Allein der Römer war dennoch ganz
Vaterlandsmenſch wie der Grieche, er wußte nicht anders, als im Ganzen
leben, und zwar ſo ganz praktiſch, daß Philoſophie und Kunſt ihm
urſprünglich fremd war. Das Individuum fühlt ſich ſo energiſch, daß es
eine Neigung hat, ſich ſelbſt zum Ganzen aufzuwerfen, ſeine Tugend iſt,
dieſe Neigung zu opfern und dem wirklichen Ganzen zu dienen. Zwei
Stände, Patrizier und Plebejer, liegen in unaufhörlichem Kampfe, leben
aber auch ganz in demſelben. Wie nun die alte Tugend aufhört und
Selbſtſucht, Herrſchſucht um ſich greift, da iſt es nicht zerfreſſene Blaſirtheit,
was ſich vordrängt, das herrſchſüchtige Individuum iſt eine ganze Welt,
hat die Wucht des Ganzen in ſich geſogen, ſchreitet groß auf erhöhtem
Kothurn, iſt von Geiſt der Nothwendigkeit umweht, ſteht auf dem ehernen
Poſtamente der Objectivität. Auch die Römer ſind alſo Menſchen aus
Einem Guſſe, aber der Guß iſt härter. Es iſt ein Trennen in ihrer
Natur gegeben, aber ein Trennen, das auf dem Boden der Objectivität,
der unmittelbaren Einheit bleibt, daher ebenſo feſtes, wiewohl kämpfendes
Zuſammengreifen, Zuſammenzwängen des Getrennten. Der bekannte
juriſtiſche Beruf lag allerdings urſprünglich in dieſer Volksnatur, in der
guten Zeit der Republik aber geht die Ausbildung des Rechts vor ſich,
ohne irgend die naturwüchſige Einheit des Ganzen, des Lebens im Vater-
[243] lande in privatrechtliche Iſolirung des Einzelnen aufzuheben, und das
Bezeichnende dieſes Rechtsgeiſtes iſt nur erſt die Abſtraction von dem
reicheren Umfange der lebendigen Subjectivität; gerade dieß beweist aber,
daß vertiefte Innerlichkeit hier noch keine Rolle ſpielt; in der Kaiſerzeit
erſt wird das Recht zu der abſtracten Atomiſtik, die den Einzelnen nur
als Einzelnen hinſtellt, ſeine Intereſſen vom Vaterlande trennt und ihm
die Zurückziehung in ſich zum Troſte läßt.
2. Die Culturformen vor der Aufnahme des Griechiſchen und
Orientaliſchen ſind härter und einfacher, als die griechiſchen, übrigens,
namentlich die Tracht, in den Hauptzügen dieſelben. Wichtig ſind ins-
beſondere die Formen des Kriegs. Dieſes ganz militäriſche Volk hatte
gewiß früher eine ſtraffe ſoldatiſche Dreſſur, als die Griechen, und bildete
dann die Taktik zur höchſten Kunſt aus. Ein römiſches Lager war eine
geordnete Stadt, Marſch, Belagerung mit ihren Maſchinen, Schlacht-
ordnung, Alles gemeſſen, geſchloſſen, ſtreng ſyſtematiſch, aber zugleich höchſt
beweglich und anſchaulich. In den Feſten und Spielen liegt der ganze
Gegenſatz gegen die Griechen am Lichte. In den Gladiatorenſpielen ſpricht
ſich die blutige Härte und Grauſamkeit dieſes Volks auf’s Widerlichſte
aus. Der freie Grieche trat in den öffentlichen Spielen ſelbſt auf, ſie
waren zum Theil gefährlich, aber nicht blutiger Ernſt; in Rom metzelten
ſich Sklaven zur Kurzweil der Zuſchauer. Die Saturnalien waren weſentlich
Lüftung des Zwangs und Dienſts und ſprechen ganz die dualiſtiſche Natur
des Volkes aus. Die griechiſchen Feſte waren nicht Erholung vom Zwang
eines düſteren Lebens; Arbeit und Genuß, Werktag und Feſttag fiel ihnen
ſo nicht auseinander. Ein Feſt, deſſen ausdrücklicher Zweck geweſen wäre,
Geſchäft und Standes-Unterſchied zu vergeſſen, waren auch ihre aus-
gelaſſenen Dionyſien nicht. — Die düſtere Größe, der ſchweigende Ernſt
des römiſchen Cultus ſpricht ſich erhaben in den Worten des Horaz aus:
dum Capitolium scandet cum tacita virgine pontifex. Die Römer waren
abergläubiſcher, als die Griechen; Wahrſagerei, Zeichendenterei umſpinnt
Alles, das Geiſterhafte des hetruriſchen Glaubens hat ſich ihnen mit-
getheilt; Weihe und Ceremonie gehört zu jedem Geſchäfte, jeder Unter-
nehmung. Aber wieder verräth ſich neben dem Anſatze zum Innerlichen,
der auch hierin liegt, der objective Sinn, und zwar in der beſondern
Beſtimmtheit des Politiſchen und Juriſtiſchen, darin, daß ihre Religion
weſentlich Religion politiſcher Zweckmäßigkeit, nicht freie Empfindung,
ſondern ſächlich, nothwendiges Mittel war.
Dieſes Volk des Zwecks und der That, dieſes weſentlich politiſche,
militäriſche Volk bietet eine ſtoffreichere Geſchichte dar, als das griechiſche, und
16*
[244]der Stoff verhält ſich zum griechiſchen wie das Erhabene zum Schönen. Nach
innen und außen auf Kampf geſtellt wirft es ebenfalls die Monarchie ab,
gründet eine Republik, worin der Streit zweier Stände nie endet, erobert durch
Liſt und Tapferkeit in grauſamem Fortſchritte die Welt, verfault im Innern,
beginnt dadurch ſo wie durch die Miſchung der unterworfenen Völker und ihrer
Culturformen die Auflöſung der objectiven Lebensgeſtalt und endet nach blutigen
inneren Kämpfen in Deſpotie. Die Individualität des Einen Herrſchers iſt
jetzt das Ganze, das wahre Ganze aber in unendlichem Schmerz gebrochen und
der Einzelne in ihm nur als Rechtsperſon anerkannt. Die Reihe gewichtvoll
großer Männer ſchließt mit furchtbaren Erſcheinungen des Böſen, wie es
jetzt erſt möglich iſt.
Dieſe kurzen Sätze mögen genügen; ein Verſuch, die große und
reiche Welt noch viel zu wenig benützter Stoffe, die ſich in der römiſchen
Geſchichte aufthut, auch nur im Umriſſe zu überblicken, würde zu weit
führen. Daher nur wenige Winke. Die älteſte Zeit: Raub der Sabinerinnen,
Numa patriarchaliſch ehrwürdig wie Moſes, Lykurg, Solon; unter Tullus
Hoſtilius Horatier und Curatier, die früheſten Kriege mit ihren Siegen
und Niederlagen und ſchönen Heldenzügen; Tarquinius Superbus, Lucretia,
Brutus. In der Geſchichte der Republik bis zu den Kämpfen der Oligarchie
tritt nun auf der Einen Seite die herrliche Reihe großer Feldherrn, blutiger
Niederlagen, herrlicher Siege, würdiger Feinde hervor, da ſind die Cocles,
Scävola, Coriolan, Cincinnatus, Manlius Capitolinus, Camillus, Decius
Mus in den erſten Kriegen mit italiſchen Völkern und Galliern, dann
beginnen die puniſchen Kriege, die neuen galliſchen, die ſpaniſchen, mace-
doniſchen, ſyriſchen dazwiſchen, eine neue Heldenſchaar, ein Regulus,
Marcellus, Fabius, Ouinctus Flaminius, Aemilius Paulus, die
Scipionen treten auf. Es ſind dieß noch große, altrömiſche Naturen,
treuer gegen das Vaterland, als die Griechen, Rom hat in ſeiner guten
Zeit unbeſtechlichere Helden, die virtus blüht, erſt allmählich weicht die
Sitten-Einfalt, Cincinnatus wird vom Pfluge geholt. Im Innern gibt
dieſe Einfalt eine Reihe rührender und zugleich großer Stoffe. Der Römer
iſt rauh und hart, die Gewalt des Familienvaters beherrſcht Weib und
Kinder wie Sachen, und doch erſcheint das Privatleben ſchön durch Würde
der Matronen, Ehrfurcht der Kinder, Wachen über Familienehre; vom
Tode der Virginia an bis zur Mutter der Gracchen thut ſich eine Reihe
edler Bilder auf. Das politiſche innere Leben ruht auf dieſer Grundlage
und hier entfaltet ſich denn der Kampf der Patrizier und Plebejer von
der Entweichung auf den heiligen Berg und der Fabel des Menenius
Agrippa bis zu den Gracchen. Shakespeare, der übrigens beſonders
gezeigt hat, was für Stoffe auch die neuere Kunſt an der römiſchen
[245] Geſchichte, groß und draſtiſch, wie ſie überall iſt, beſitzt, hat freilich in
ſeinem Coriolan das Volk falſch behandelt. Dem Kaiſerreich gehen nun
die blutigen Bürgerkriege, die großen Dictatoren-Naturen im Kampfe mit
den letzten edlen Republikanern voran, während nach außen das furchtbare
Rad des Staates Ein Volk um’s Andere unerbittlich in ſeine Speichen
hereinzieht und zermalmt. Marius, Sulla, Pompejus, Cäſar, Brutus
und Caſſius, Antonius: Erſcheinungen von rieſenhafter Größe, tragiſchem
Adel, glänzender Pracht, ein Würfelſpiel um die Welt, ein Kampf von
Coloſſen, blutige Proſcriptionen, worin ein Menſchenleben eine Null iſt,
Weltſchlachten wie bei Pharſalus, Philippi, Actium. Im Kaiſerreich nun,
in dieſer ungeheuern Auflöſung des ſittlichen Lebens treten auf dem Throne
die Ungeheuer der Geſchichte, die ſittlichen Scheuſale auf, die entarteten
Weiber, eine Meſſalina, eine Agrippina an ihrer Seite. Dieſe Geſtalt
des Böſen iſt erſt in der Entfeſſelung des objectiven Bandes, das die
antike Welt zuſammenhält, möglich, und doch iſt ſie noch wohl zu unter-
ſcheiden von dem modernen Böſen. Sie hat noch den Charakter einer
ungeheuern Naturkraft, ſie hat kein Gewiſſen, ſie iſt ſelbſt naiv, die
Macht über eine Welt gibt ihr eine fürchterliche Realität, es fehlt ihr bei
aller Beſchönigung und Liſt noch das ſubjectiv Zerfreſſene und Zerfreſſende,
die geſpenſtiſche Romantik des innerer Schönthuns. Edel und glänzend
treten dann ſegensreiche Herrſcher, ein Veſpaſian, Titus, Trajan, Hadrian,
Antonin, Marc. Aurelius auf: iſolirte Trefflichkeiten, groß für ſich, aber
auf hohlem Grunde. Die Helden geſunder und freier Völker ſind ganz
andere äſthetiſche Stoffe, als die zufälligen Tugenden der Fürſten ohne
Volk. In der ſchmerzbelaſteten Welt ſucht der freie Geiſt ein Aſyl in
ſeiner innern Unendlichkeit, ſtoiſcher Tod und Selbſtmord zeigt an, daß
die ſubjective abſtracte Freiheit nun an der Zeit iſt. Aber auch dieſe
Erſcheinungen ſind von moderner Subjectivität noch wohl zu unterſcheiden;
ſie haben noch nicht dieſe Innerlichkeit, die Zurückziehung auf das Sub-
jective ſelbſt hat noch objectiven Charakter, claſſiſche, unreflectirte Einfach-
heit, gediegenen Guß der Nothwendigkeit. Daneben breitet ſich maßloſe
Pracht und Wolluſt aus, die Liebe wird ſubjectiver, raffinirter, ohne
ſich noch zur Gemüthstiefe auszubilden, zum griechiſchen Luxus kommt der
aſiatiſche, alle Reize der Sinnlichkeit werden durchwühlt, um zu erfahren,
daß im Genuſſe kein Letztes, kein Kern iſt, die Formen und Religionen
aller Völker vermiſchen ſich, die compacte Gewißheit des Volksglaubens
iſt daher zu Ende; Zauberei nimmt geſpenſtiſch überhand, der Geiſt iſt
heimathlos. — Die lange Verweſung des byzantiniſchen Reichs iſt zu
häßlich, um tüchtige Stoffe zu geben.
[246]
β
Das Mittelalter.
Die Germanen zertrümmern das römiſche Weltreich; der Norden
Europas tritt in die Geſchichte ein. In ihren urſprünglichen Sitzen von einer
Natur umgeben, die den Körper in rauher Weiſe ſtählt, den Geiſt nach innen
wirft, um ihn nach langem Winter wieder zum Genuſſe herauszuführen, zeigt
dieſes Volk den negativen Typus geiſtigen Ausdrucks bei roher Bildung. So iſt
ſein Temperament und ganzes Naturell auf den, dem Erhabenen und Komiſchen
neue Tiefe und Breite eröffnenden, Widerſpruch der Formloſigkeit bei tiefem
Gehalte angelegt und offenbart ſchon im heroiſchen Naturzuſtande die Beſtimmung,
2die objective Lebensform zu brechen in dem doppelten Sinne, daß das Subject
in ſeine Tiefe zuſammengefaßt ſich negativ gegen ſeine Sinnlichkeit verhält,
worauf neben der Naturtugend gewaltiger Tapferkeit große ſittliche Tugenden,
insbeſondere des engeren Lebenskreiſes, aber ebenſo große Fehler ſich gründen,
und daß der Einzelne ſich im Gefühl des unendlichen Werthes der Individualität
ſich auf ſich ſelbſt ſtellt, als Glied einem Ganzen ſich zu geben verweigert.
1. Grauer Himmel, langer, ſtarrer Winter, eine atmoſpäriſche Natur,
die nicht wie ein geſchmeidiger Rock, ſondern wie ein Stachelkleid anſitzt,
die Erdformen ſchroff und wild, gedrückt und platt, die Pflanzenformen,
wie ſie in §. 280 dargeſtellt ſind, rauhe Thierwelt, Bären, Ellenthiere,
Auerochſen, Wölfe, Eber, ſchwere Pferde, kleines Rindvieh mit dem
exiguum frontis decus, knorrige, derbe Hunde (Bullenbeißer u. dergl.).
Die nördlichen Stämme wohnen an einem ſtürmiſchen Meere, das zu
rauhen und wilden Unternehmungen auffordert. Die winterliche Natur
Deutſchlands zieht ſich gegen Norden bis dahin, wo die Aeſthetik eine
Grenze ſetzen muß, aber ſie iſt, vorzüglich gegen Süden, noch nicht ſo
hart, ſchönere Menſchheit unmöglich zu machen, nur iſt ſie weſentlich
gegenſätzlich beſtimmt: auf den langen Winter folgt der Frühling, wo
Alles auflebt, wo ein ſaftigeres und helleres Grün, als im höheren Süden,
mit luſtigen Blüthen aufſproßt und unzähliche Singvögel jauchzen. In
einem Theile des Landes, das ſpäter Deutſche bewohnten, ſaßen früher
Kelten. Dieſes Volk haben wir erſt zu erwähnen, wenn von dem
Eindringen der Deutſchen nach Gallien, von der erſten Grundlage des
franzöſiſchen Charakters zu reden iſt; wichtiger wird es in der Lehre von
der Phantaſie. Die Slaven, die der Völkerwanderung nachdrängend
[247] die Germanen an ihren öſtlichen und nordöſtlichen Grenzen umlagerten,
übergehen wir vorerſt ganz; dieſes Volk, das vom Kaukaſiſchen auf das
Mongoliſche hinüberweist, wurde vorerſt überall von der deutſchen Tapfer-
keit beſiegt und bereitet ſich erſt in der neuen Zeit theilweiſe äſthetiſch
intereſſante Schickſale. — Was nun den germaniſchen Typus betrifft, ſo
ſind die Körper ſtark, muskulös, bald ſtämmig unterſetzt, bald ſehr groß,
ausdauernd, aber linkiſch, ſchwerfällig, träg oder gewaltſam in Bewegungen,
die Köpfe auf den erſten Anblick unedel und gemein in den Formen:
das Kinn tritt zu ſehr zurück oder zu knorrig hervor, großer Mund oder
zu kleiner mit dünnen, eingekniffenen Lippen, rohe Kiefer ſind das Gewöhn-
liche, die Naſe iſt ſehr häufig aufgeſtülpt oder, namentlich bei dem höheren
und ſchlankeren Wuchſe, der mehr den nördlichen Stämmen eigen iſt,
übergroß und in der Form der Ramsnaſe gebogen, die ganze Geſichts-
form in jenem Falle viereckig, in dieſem zu lange gezogen. Einige
ungeſchickte Knorren und Ecken fehlen in keinem deutſchen Geſichte, da-
zwiſchen langweilige Flächen und Entfernungen „Brachfelder“, Unaus-
gearbeitetes, zu ſchwach Ausgeladenes, wie z. B. die Augenlider weit
entfernt ſind, das deutliche Geſimſe des Auges darzuſtellen wie in den
antiken Köpfen. Aber der Ausdruck des hellen Auges und der gedanken-
vollen, meiſt hohen und kräftig modellirten Stirne, die häufig blonden,
freilich größtentheils ſchwunglos ſchlichten Haare, die weiße Haut, das
zarte Roth und der Duft der Farbenübergänge, das Alles widerlegt wie
ein Lichtgeiſt das Gemeine, das Rohe der übrigen Züge. Die deutſchen
Phyſiognomieen haben etwas vom Hunde, die griechiſchen vom Löwen,
die orientaliſchen vom Adler; vom Hundsgeſichte ſagt man, es liege etwas
Gemeines in ihm, aber es liegt auch der ehrliche und aufrichtige Charakter
darin, wodurch ſich dieſes Thier vor Allen auszeichnet. Dieſer ganze
Typus und Habitus zeigt, wie er ſelbſt einen Charakter der Negativität
hat, das Negative des innern Naturells an. Von den Orientalen ſagten
wir ein dualiſtiſches Temperament aus, in dem Sinne aber, daß die Seite
der Ruhe und Sammlung ebenſo wie die des Ausbruchs als eine Ver-
ſenktheit in die Natur erſchien; im deutſchen Weſen aber iſt Ruhe und
Sammlung ein Verarbeiten der Dinge im Innern, Innigkeit, Anlage zur
Unſchlüſſigkeit aus Reflexion und Zweifel, Streben, die Natur zu über-
winden und nicht Können, dann folgt täppiſcher, praller, roher Ausbruch
deſſen, was heimlich im Innern gegohren. Das Leben zerfällt in ſtrenge
Arbeit und Genuß. Die Deutſchen ſind viel luſtiger, als die den Alten
immer noch verwandten Romanen, ja ausgelaſſen in Luſtigkeit; aber
gerade das luſtige Volk iſt auch das harte und melancholiſche. Hier iſt
Idealität, die nicht heraus kann oder in Uebermaß fällt, wortarmer,
ſchwerer Ernſt und Ueberſchwall des Scherzes, hier iſt Geiſt, der ſich nicht
[248] bruchlos in ſeine Welt, ſein Organ ergießen kann, hier iſt nicht blos
Dualismus, ſondern Widerſpruch, ein ſich ſelbſt nicht Gleichen, ein Hinaus-
ſein über die Natur und ein Rückfall in ſie, der dann roh, wild, aus-
ſchweifend iſt, ein Straucheln des Geiſts über ſeine eigene Schwelle: die
angeborene Weiſe eines Volks, in deſſen Natur nicht glühende Hitze und
Oede mit fruchtbarem Regen, üppiger, müheloſer Productivität, ſondern
ſtarre Kälte, die nach innen wirft, um den ſtillen Heerd verſammelt, dann
zur rauhen Arbeit ruft, mit dem milderen Frühling und Sommer wechſelt,
der aber ebenfalls immer noch viel Mühe und Fleiß erfordert, um das
Hinreichende zu gewähren. Die Italiener nennen uns eine razza inferiore
und haben doch dunkeln Reſpect vor den innerlichen Tugenden, durch die
wir unſere eckige Erſcheinung, unſere Unbeholfenheit, die ſchlechte Aus-
bildung aller inſtinctiven Eigenſchaften, die zur animaliſchen Seite des
Geiſtes gehören, widerlegen; ſie ahnen, daß hinter dieſer grenzenloſen
Proſa und Schwungloſigkeit, die wie ein ätzender Geiſt jede Fülle und
Höhe der Form niederſtreift, ein innerlicher Schwung verborgen ſein müſſe.
Es erhellt von ſelbſt, wie ein ſolcher innerer Zwieſpalt unendlich neuen
tragiſchen und komiſchen Stoff in die Welt des Schönen einführt: die
Möglichkeit des tiefſten inneren Zerwürfniſſes iſt durch ihn gegeben,
unendlich Vieles wird erſt komiſch, da der Geiſt ſeines Leibes ſich ſchämt.
2. Tapferkeit, Kriegsgeiſt, eigentliche Paſſion für den Krieg, abgeſehen
ſelbſt von allem Zweck, iſt Grundeigenſchaft der Deutſchen, dieſer erſten
Reiter und Fechtmeiſter der Welt von Anfang an. Dieß iſt aber immer
noch Naturtugend und fällt auf die Seite der hart gezogenen Sinnlichkeit,
welche ſtarker, ſtoßweiſer Entladungen bedarf. Hier liegt aber auch die
Luſt zu Schlägereien, die Grobheit, der Trunk (der zwar auch aus der
Neigung, durch künſtliche Mittel ſich in der Imagination eine ſchönere
Welt zu bauen, als die karge Natur bietet, zu erklären iſt), der furcht-
bare Jähzorn nach allzulangem Zurückhalten. Die Tugenden, worin
ſchon bei den alten Deutſchen der Beruf zur Idealität ſich ankündigte,
kennen wir aus Tacitus. Sie weiſen namentlich auf die Familie und
Freundſchaft hin: Achtung des Weibs, Treue des Freunds und was dem
verwandt iſt, ſo daß man erkennt, dieſe winterlichen Menſchen werden
einſt dahin kommen, wo ſie der Aeſthetik mehr Stoff in den Gemächern
des Hauſes, durch Schönheit des Privatlebens, als auf der Straße durch
öffentliches Leben geben werden. Dieſe Innerlichkeit iſt zugleich der Eigen-
ſinn der Individualität, die ſich nicht zu einem Ganzen herläßt. Auch
die Stämme halten nicht zuſammen und viele dienen treulos genug im
römiſchen Heere. Treue im Privatleben und Treuloſigkeit im öffentlichen
Leben, dieſer Widerſpruch iſt bei dem deutſchen Volke ſehr erklärlich.
Aber auch im Privatleben nimmt der Deutſche, gerade weil er tief und
[249] ungeſchickt, zum esprit d’escalier verdammt iſt, die Beleidigung in ſich
hinein, wo ſie gräbt und nagt, er trägt ſie nach, er iſt „lancräche“ wie
das Nibelungenlied von Chriemhilden ſagt, er wird dann boshaft und
rachſüchtig, um ſo mehr, weil Gemüth, Güte, Aufrichtigkeit als National-
tugend gelten und daher eine Scham herrſcht, den feindlichen Willen und
den Eigennutz zu zeigen, der ſo zur Falſchheit wird. Wie nun aber mit
der Anlage zum Inſichgehen der zähe Iſolirungstrieb gegeben iſt, ſo tritt
die Individualität überhaupt in ſchärferer Eigenheit hervor, zeigt mehr Züge,
wodurch der Einzelne ſich von allen Andern unterſcheidet, und behauptet ſie
mit Eigenſinn, weiß ſich berechtigt, Original zu ſein. Dieß iſt die Anlage
zum Charakter in einem engeren Sinn, wie er jetzt erſt möglich wird.
Dieſes Volk war aber auch in ſeiner zeitlichen Entwicklung nicht beſtimmt,1
ſich in gerader Linie volksmäßig zu entwickeln. Die Bildung der alten Völker
war Naturbildung und daher ganz national, die germaniſche eine Bildung durch
Bruch mit der Natur, ein Aufnehmen und Verarbeiten der ganz reifen Bildung
fremdartiger Völker, welche das germaniſche, welterobernd ſchon in ſeiner Jugend,
in den unterjochten Ländern antraf. Das erſte große Bildungsmoment iſt das2
Chriſtenthum, die Religion des Geiſtes und der Verſöhnung durch Selbſt-
überwindung, die als ſolche univerſal und nicht Volksreligion iſt, jedoch ihrem
Princip nach allerdings der germaniſchen Sinnesanlage als ein Verwandtes
entgegegen kommt und in Verbindung mit dieſer durch die Kraft ſittlicher
Negativität eine noch nicht dageweſene geſchichtliche Lebensdauer verbürgt. Das3
deutſche Heroenleben wird durch die Wanderungen und Miſchungen, vorzüglich
aber durch Aufnahme dieſer Religion unterbrochen.
1. Wir erwähnen nichts von den Culturformen der Deutſchen in
ihrer vorgeſchichtlichen Zeit, wenn man jene ſo nennen kann. Die Bären-
felle, die Hütten, die Art der Kriegsführung, das entſetzliche Kriegsgeſchrei
der Cimbern und Teutonen, als ſie auf ihren Schilden über die Schnee-
wände der Alpen herabgeſtürzt waren, die Schlachten mit den Römern,
vorzüglich die im Teutoburger-Walde, die Erſcheinung eines Arioviſt,
Marbod, Arminius u. ſ. w. — dieß Alles gibt wohl coloſſale Bilder,
aber ſie ſind äſthetiſch zu ungeſchlacht, zu unbeſtimmt. Wir können nicht
wiſſen, was aus dieſen tüchtigen, aber rohen Urformen geworden wäre,
wenn ſie ſich geradlinigt entwickelt hätten. Das germaniſche Volk war
auch im ſucceſſiven, geſchichtlichen Sinne beſtimmt, daß ſein Geiſt und
[250] Weſen über eine Wehre gehe, dieſe Negativität der Ueberwindung und
Aneignung des ganz Fremden in ſich aufnehme. Griechen und Römer
dehnten ihre Macht langſam aus und ebenſo langſam reifte ihre rein
volksmäßige Bildung. Dieſe war ſchon an ſich entſchieden müheloſer,
vergleichungsweiſe ſelbſt bei den Römern, als bei den Deutſchen. An-
ſtand, Grazie, Fluß und Maaß, Beweglichkeit und Geſchicklichkeit,
Gelenkigkeit und Biegſamkeit lag hier ſchon in der Race. Wie noch
heute der deutſche Rekrut in vier Wochen kaum die Handgriffe lernt, die
der Italiener in vier Tagen weg hat, ſo ſollte alle deutſche Bildung
einer rohen Natur erſt abgerungen werden. Griechen und Römer nahmen
fremde Formen aus Luxus auf am Schluſſe ihrer Zeit, ihrer Welter-
oberung; wohl auch in den frühen Anfängen ihrer Bildung verwandeln
ſie fremde Formen in ihr Eigenthum, aber Formen, die, an ſich unreif,
gerade auf Fortbildung warten, wie die orientaliſch unfreien in Griechen-
land. Die Deutſchen dagegen treten, wie ſie ihre Urwälder verlaſſen,
alsbald als Eroberer der Welt auf und finden hier die überreife Bildung
vor, welche, eine Frucht der objectiven Lebensform ſüdlicher Völker, ihrem
nordiſchen Naturell völlig fremdartig iſt.
2. Das Chriſtenthum wird hier noch nicht nach ſeinem inneren
Kreiſe von Vorſtellungen, ſondern nur erſt ganz allgemein nach ſeinem
Prinzip und als geſchichtliche vom Orient nach Rom, wo es die Gothen
antreffen, verpflanzte Erſcheinung aufgeführt. Es kam nun freilich dem
innerlichen Weſen, der Anlage zur Idealität in der deutſchen Natur,
als etwas Verwandtes entgegen; dieß iſt aber nur die Eine Seite, die
andere, daß es auch für ſie einen unendlichen Bruch mit den auf Heiden-
thum begründeten Naturzuſtänden mit ſich führte, iſt ebenſo weſentlich.
Da ſollte nicht mehr die Rache ihren fürchterlichen Gang gehen, nicht
mehr das Greifliche und Große, ſondern das Unſinnliche und was ſich
ſelbſt erniedrigt, gelten. Und dabei ziehen wir noch Alles ab, was dem
Prinzip Jüdiſches, Indiſches, Griechiſches, Römiſches, und ſo zwar ſinnlich
Verſtändlicheres, aber einer fremdartigen Sinnlichkeit Entſproſſenes ſich
angehängt hatte. Sogleich aber mußte erwähnt werden, daß durch die
Negativität, die im Chriſtenthum und ebenſo im deutſchen Naturell liegt,
eine Bürgſchaft des ſittlichen Lebens und daher der geſchichtlichen Dauer-
haftigkeit gegeben war, wie ſie das Alterthum nicht kannte (vergl. §. 351).
3. Wie ſich die in Anm. 1 erwähnten Urformen brachen, zeigt
nichts beſſer, als die eigene Heldenſage der Deutſchen. Sie hatten in
ihr einen gewaltigen Stoff, aber er verſchob ſich durch den Wirrwarr
der Völkerwanderung und dann durch die Eintragung der Formen des
Ritterlebens in die des Reckenlebens, verlor ſeine Compactheit, Ueber-
[251] ſichtlichkeit, organiſche Einheit. Hierüber vergl. namentlich Gervinus
Geſch. d. poet. National-Literatur d. Deutſch. Bd. 1.
Zugleich treffen aber die Germanen im römiſchen Volke und bei den von
ihm latiniſirten Nationen die eigentlichen Culturformen der römiſchen Welt an,
vermiſchen ſich mit dieſen Völkern und nehmen jene auf. Das Letztere geſchieht
auch bei den Deutſchen, die unvermiſcht in ihrer Heimath bleiben; es bereitet
ſich aber der Gegenſatz der romaniſchen und deutſchen Völker vor, der als
weiterer Bruch die nun entſtehende neue Welt von der geſchloſſenen nationalen
Einheit der antiken ſtreng unterſcheidet.
In Italien vermiſchen ſich Gothen und Longobarden mit Römern,
in Spanien und Portugall Sueven, Vandalen, dann ſiegreich Weſtgothen
mit latiniſirten Kelt-Iberern, ſpäter tritt hier als wichtiges Moment die
Eroberung der Araber ein; in Gallien miſchen ſich Burgunden und Franken
mit latiniſirten, durch ihre Beweglichkeit, ihr aufloderndes Feuer, ihre
ſchwarzen Haare und Augen, ihre ovale, ſchwungvoller geſchnittene Geſichts-
form den Römern ſchon urſprünglich weniger fremden Kelten, Hier iſt
der deutſche Einſchlag am ſtärkſten und vermehrt ſich noch durch die
Niederlaſſung der Normanen an der Nordküſte, jener kühnen Seefahrer,
deren Züge weſentlich zur Ausbildung des Ritterlichen beitrugen und
welche ſpäter ſelbſt romaniſirt einen Theil romaniſchen Feuers mit ihrer
Eroberung zu den Angelſachſen nach England tragen. So entſtehen die
Italiener, Spanier, Franzoſen; dieſe Völker ſind die romaniſchen und ihr
Gegenſatz gegen die rein deutſchen und gegen die germano-romaniſchen
(Engländer, Belgier) iſt der ganzen neueren Geſchichte weſentlich. Das
deutſche Blut bringt einen neuen Bildungstrieb in die römiſche Grundlage,
obwohl es faſt zum Unkenntlichen mit dem fremden, gegen deſſen reife
Bildung es ſich nicht halten kann, verſchmilzt. In dieſer Verſchmelzung
aber bewahren dieſe Völker immer noch etwas von der antiken, d. h.
der objectiven, bruchloſen, in Einheit der Natur und des Geiſtes frei
ergoſſenen Weiſe des Daſeins und unterſcheiden ſich dadurch ſtreng von
den unvermiſcht deutſchen. Der Gegenſatz tritt nicht ſogleich, ſondern erſt
durch den Vertrag von Verdün, durch das Steigen des Papſtthums in
Italien, durch die Iſolirung Spaniens hervor; es iſt aber höchſt wichtig,
daß auch in dieſer Beziehung die nun entſtehende neue Welt ſich über
einen Bruch bewegt. Im Alterthum iſt immer nur Ein Volk modern,
Culturvolk, von nun an ſind es zwei gegenſätzliche, rivaliſirende Völker-
gruppen. Vorläufig jedoch können auch die unvermiſcht deutſchen Völker
[252] ihre Culturformen nur im alten Römerreiche holen. Davon ſogleich
mehr.
Unter Aufnahme dieſer Bildungskeime erbauen die Deutſchen ein Welt-
reich, das, durch einen großen Helden geſchaffen, die wild gährenden Elemente
der rohen Natur auf der einen, des neuen geiſtigen Lebens auf der andern
Seite, beide in den Anfängen einer Gliederung begriffen, und ebenſo die
2romaniſchen und germaniſchen Völker mächtig zuſammenfaßt. Die Culturformen
dieſer Zeit nun ſind nach §. 356 römiſch, aber es iſt ein ſtarrer Nachklang
des Römiſchen, welcher das eigenthümlich Germaniſche noch überdeckt. Die
Formen des Cultus ſind mehr orientaliſch.
1. Das Reich Carls des Großen. Die blutigen Kämpfe, durch
die es geſchaffen wird, die wilden, greuelhaften Familiengeſchichten der
Merowinger und Carolinger ſind ein zu obſcurer und unheimlicher Stoff,
um in das Gebiet des Schönen zu gehören; ein Aufflammen der heid-
niſchen Natur, als wollte ſie, da ihr Ende gekommen, noch einmal in
ihrer ganzen Wildheit ſich zeigen. In den Anfängen einer Gliederung
nun, welche die ungezügelte Natur überwinden ſoll, iſt allerdings ſogleich
die deutſche und die romaniſche Seite zu unterſcheiden. Die Grundlagen
eines Staats legt von deutſcher Seite mit ſtarker Hand Carl der Große.
Seine Verfaſſung zeigt die Anfänge des Lehnsweſens, hält durch deſſen
lockeren Verband das Ganze zuſammen, zeichnet ſich aber beſonders durch
den Verſuch einer Gerichtsverfaſſung aus, welche auf der Grundlage der
anſchaulich ſinnlichen Formen deutſchen Gewohnheitsrechts die äſthetiſch
immer vortheilhafte Form der öffentlichen Gerichte darſtellt. In den
romaniſchen Ländern dagegen dringt mit der Sprache bald römiſches
Recht mit ſeinen gelehrteren und todteren Formen ein. Carls Kriege ſind
immer noch ein zu dunkler, zu wenig compacter Stoff, ſein Sieg über
die Araber und die Niederlage durch die Baſken auf der Rückkehr bei
Roncesvalles, ſowie die Vaſallen-Verhältniſſe zu den fränkiſchen Großen
mußten erſt von der Sage ausgeſchmückt werden, ehe ſie äſthetiſche Motive
darboten. Die Gliederung des geiſtigen Prinzips dagegen ging weſentlich
von Rom aus. Der römiſche Biſchof wird zum Papſte und durch den
Beſitz des Kirchenſtaats zum weltlichen Fürſten, Macht und Reichthum
der Biſchöfe, Klöſter ſteigt, ſie bekommen den Unterricht in die Hand,
es wächst der hierarchiſche Bau. Jene Bekehrungen der Deutſchen durch
einen Bonifazius u. And. mögen in rührenden und erhabenen Scenen
vorgeſtellt werden, es hat aber Alles ſchon pfäffiſchen Charakter. Die
ganze Bedeutung dieſer Verwandlung des Geiſtigen in’s Geiſtliche durch
[253] ſeine Ausbildung in Rom als Mittelpunkt wird im Folgenden her-
vortreten.
2. Eine römiſche Culturform (zu den Culturformen dürfen wir auch
politiſche Einrichtungen zählen, ſofern ſie nur übergetragen ſind) iſt vor
Allem das Kaiſerthum ſelbſt, es ſoll eine Fortſetzung der Imperatorenwürde
ſein. Es gibt dem König Deutſchlands als dem Schirmherrn der Kirche
eine abſtracte Beziehung nach außen, deren Uebel ſofort ſich geltend
machen. Von eigentlichen Culturformen im engern Sinn muß hier
namentlich die Tracht erwähnt werden. (Wir folgen hier und in der
weiteren Geſchichte der Tracht den trefflichen Artikeln von C. Eichfeld
„Zur Geſchichte des Koſtüms“ im Morgenbl. 1846 u. 1847; man wird
leicht bemerken, wo ſie uns verlaſſen, bei der Zeit Ludwigs XIV nämlich.
Zum Theil vergl. auch H. Hauff: Moden und Trachten). Die Deutſchen
führten in die antike Tracht die Hauptſtücke ein, die ihnen als einem
nordiſchen, der Verhüllung bedürftigen und ſchamhaften Volke eigenthümlich
waren; dieß ſind in der männlichen Kleidung die Hoſen, in der weiblichen
das Mieder. Durch die Hoſen wird nun die Tunica und die ihr ähnliche
längere Stola ſoweit eigentlich entbehrlich, daß ſtatt ihrer ein Wams
genügt, aber ganze Aermel ſind dann nothwendig. Die Toga kann eben-
falls wegfallen. Allein dieſe Conſequenzen werden noch nicht gezogen,
die antiken Formen überdecken noch die neuen, über die engen Hoſen
wird eine Tunica, jedoch mit langen Aermeln und kurz, nur bis an die
Kniee reichend, über dieſe die ſchon im alten Rom gewöhnliche Dalma-
tica, jetzt etwas über die Kniee reichend, vorzüglich von den Prieſtern
unter dem Namen Caſula oder Planeta, und als allgemeines Kleid der
Würde und Ehre die Toga getragen, nur nicht mit dem freien Wurfe
der antiken, ſondern durch einen Knopf auf der Bruſt feſtgemacht. So
herrſcht alſo wie im Alterthum das lang herab Fließende und bietet dem
Auge überall ohne mühſame Draperie-Studien am Gliedermanne einen
Reichthum ſchöner Faltenmotive, nur daß allerdings durch die theil-
weiſe mechaniſche Befeſtigung deſſen, was im Alterthum freier ſich in
Falten warf, etwas Hartes, Kryſtalliſches in die antike Kleidung
kommt, wie noch mehr in allen Formen von Geräthen, Architectur,
Ornament. Außerdem kommt die antike Pänula und Amiculum, der
Regen- oder Reiſemantel mit Aermeln und häufig mit Kapuze (cucullus,
Gugel) in häufigen Gebrauch (die capotta der Neugriechen) und bleibt
ſpäter Mönchskleid. Reiche, hohe Kopfbedeckungen als Zeichen höherer
Würde, die ſchon früher aus dem Oriente eingedrungen, Diademe
Hauben (runde Mützen), Hüte (ſpitze Mützen), nehmen überhand. Grelle
Farben ſind von Anfang des Mittelalters im Gegenſatz gegen die antike
Farben-Einfachheit beliebt, ja ſehr frühe kommen verſchiedenfarbige Streifen
[254] an Einem Kleidungsſtück auf. Der Gottesdienſt ruht ſeinen Hauptformen
nach auf der Synagoge, wie der ganze hierarchiſche Bau auf Moſaiſmus
und Levitiſmus, aber viel des Prunkes liefern auch andere orientaliſche
Gottesdienſte, die im alten Rom zuſammengefloſſen; dieß und daß das
Kloſter- und Eremitenweſen, die ganze Aſceſe ägyptiſch und indiſch iſt,
wurde ſchon erwähnt.
Dieſer erſte Bau zerfällt in allgemeine Zerſplitterung. Den deutſchen
Ländern ſtellen ſich die romaniſchen, der Kirche die Welt gegenüber und mehr
und mehr tritt ausgebildet das eigentliche Weſen des Mittelalters hervor,
daß es nämlich das in die Welt eingeführte Prinzip nicht in reiner Geiſtigkeit
zu faſſen, daher weder zur wahren Innerlichkeit zu erheben, noch zur wahren
Allgemeinheit auszubreiten vermag, ſondern, verdunkelt durch den in es fort-
geſetzten Reſt der objectiven Lebensform, das Geiſtige als ein Sinnliches, daher
Ausſchließendes ſetzt und ſo, da es doch als Geiſtiges behauptet wird, durchaus
eine doppelte und ineinanderſchimmernde Welt aufbaut, worin der Menſch ſein
eigenes Innerſtes außer ſich hat und unfrei auf daſſelbe bezogen iſt.
Die Welt hat ein geiſtiges Centrum gefunden und wirft es wieder
aus dem Innern in ein Jenſeits hinaus; die Menſchheit ſucht denſelben
Schwerpunkt, den ſie nun als einen im Innern des Geiſtes liegenden
erreicht hat, wieder außer ſich. Im Alterthum wurde Alles objectiv
geſtaltet, Alles greiflich und öffentlich gemacht. Jetzt iſt die ſubjective
Welt, die innere Unendlichkeit entdeckt, allein ſtatt daß ſie zuerſt
im geiſtigen Leben als Bildung, dann praktiſch in neuer Weiſe zu
einem Objectiven durchgeführt wird, wird ſie vor dieſer Objectivirung
im Innerſten ſelbſt objectiv verſtanden und gefaßt, zu einem Körper, der
ſich mit Körpern im Raume ſtößt und daher nicht in Kraft herrſchender
Allgemeinheit übergehen, nicht die Welt durchdringen kann. Dieß iſt die
ſchiefe Fortſetzung des Heidniſchen in das Chriſtliche, woraus das geſammte
Mittelalter zu erklären iſt. Sie hat ihren Sitz namentlich in Rom, daher
ſchickt der §. den Gegenſatz des Romaniſchen und Deutſchen voran, aber
auch der Geiſt deutſchen Heidenthums liegt mit ſeinen Nebeln noch über
dem Mittelalter. Der Inhalt des §. findet übrigens im Folgenden ſeine
Ausführung und Erklärung.
[255]
Das Mittelalter hat zwei Einheiten: die Welt und die Kirche. Welt
heißt der Staat. Dieſer beſitzt in der aufgeſchloſſenen Bedeutung der Indivi-
dualität das Prinzip, Alle als frei anzuerkennen und durch vernünftigen
Gehorſam zu Gliedern Eines Ganzen zu verbinden. Statt deſſen ſind nur
Einige frei, der Adel nämlich, das Volk iſt unperſönlich. Dieſe Einigen
aber wollen abſolut frei ſein; das Lehensweſen ſucht ſie durch das lockere Band
der Treue vergeblich zuſammenzuhalten. Das Oberhaupt, der Kaiſer, ohne
Hausmacht, ſtets auf Italien gewieſen, hat nicht die Kraft, die Formen des
Allgemeinen, Geſetz, Recht, Polizei durchzuführen. Die atomiſtiſchen Kräfte
ergehen ſich in kühnem Vaſallentrotz; gewaltige Selbſthilfe, harte und rohe,
aber tüchtige Einzelheit überall, aber keine Einheit.
Zwei Seelen, zwei Willen ſtatt Eines wohnen in der Bruſt des
Mittelalters. Jede ſchließt die andere aus und bedarf ſie. Die eine iſt
der Staat. Man kann die Staaten des Alterthums immer noch Natur-
ſtaaten nennen und vom Mittelalter ſagen, es habe im Princip der Inner-
lichkeit und Individualität zugleich das des Vernunftſtaats, der Garantie
beſeſſen. Allein das Prinzip iſt noch durchaus mit der Natürlichkeit behaftet
und ſo entſteht ein neuer Naturſtaat, richtiger ein reiner Zufallsſtaat.
Der ſchließliche Grund des Adels iſt kein realer. Adel iſt nichts als eine
Vorſtellung; ſobald wir nicht mehr glauben, daß es Adel gebe, gibt es
auch keinen mehr, er iſt ein Phänomen des Bewußtſeins, und zwar
desjenigen Bewußtſeins, das noch den eigenen Willen, Selbſtändigkeit,
Menſchenfreiheit, Menſchenwürde und Geltung mit Händen greifen, außer
ſich verwirklicht ſehen, anſtaunen muß. Das Bewußtſein fingirt ſich
daher, Einige ſeien edler geboren, von anderem Teig, als die Uebrigen;
ihnen gehören Waffen, Beſitz, Ehre, Aemter. Sie ſind Menſchen im
Namen der Andern, vicariren für ſie. Allgemeines Vicariren iſt Charakter
des Mittelalters, und es iſt Ernſt damit, die Vicare ſind Alles und die
Andern haben das Zuſehen. Noch mehr werden wir dieß im Verhältniſſe
der Prieſter und Laien finden. Im Alterthum war auch Adel, aber
weſentlich auch Kampf von Volk und Adel; im Mittelalter hört man gar
nichts vom Volke, es exiſtirt nicht. Das Aufkommen der Städte und
dann der Bauernkrieg ſind Vorboten und Anfänge einer neuen Zeit.
Wohl aber kämpft Adel mit Adel; Lehen baut ſich über Lehen, in der
allgemeinen Geſetzloſigkeit wird Heerbann und Gerichtsverfaſſung kraftlos,
es gilt, ſich ſelbſt zu ſchützen oder den Schutz des Mächtigen zu ſuchen,
das Recht ſitzt auf der Spitze des Schwertes und wie von den Felſen
Burg an Burg ragt, ſo kryſtalliſirt ſich die Welt in ſtarre Monaden.
[256] Eckig, hart, trotzig, aber immer gewaltige Erſcheinungen ſind dieſe vieleil
kleinen Herren, die Leiden des Volks vergißt man, weil man nichts
davon ſieht, und erfreut ſich des gediegenen Reſtes heidniſcher Ganzheit
in dieſen groben, ſtählernen Gewalthabern. Das Recht verkriecht ſich
als Vehme in ein äſthetiſch anziehendes Dunkel; am hellen Tag organiſirt
ſich das Fauſtrecht. Die Einheit und Allgemeinheit nun ſoll im Kaiſer
da ſein; man ſucht aber in den Geſchichten der Kaiſer vergeblich einen
wahrhaft nationalen Stoff: da iſt nichts Ueberſichtliches und Geſchloſſenes,
keine Hauptſtadt als Sitz des Monarchen, meiſt iſt er außer Lands und
hat es mit Italien zu thun. Deutſchland gibt der chriſtlichen Welt ihren
Kaiſer und hat daher ſelbſt keine Einheit, keine Heimath, keinen Schluß-
ſtein. Ungleich beſſerer Stoff im nationalen Sinne ſind die Siege der
ſächſiſchen Kaiſer über Slawen und Ungarn.
Das geiſtige Prinzip wird zu dem die Welt ausſchließenden Körper der
Kirche und gliedert ſich zu dem reichen, in ſeiner ganzen Erſcheinung pracht-
vollen Bau der Hierarchie mit dem Papſt an der Spitze. Sie macht alles
Innerliche äußerlich, unterjocht die Welt, ſtatt ſie zu durchdringen, verkehrt
die ſittlichen Grundwahrheiten, ſtellt dem in den eigenſten Intereſſen des Geiſtes
unfreien Laien den Prieſter als ſtellvertretenden und bevormundenden Zauberer
gegenüber und nirgends iſt Heimath, Vaterland. Trotz aller Selbſtſucht hat
dieſe Unterjochung ihr Recht in der Rohheit, welche eine harte Zucht fordert.
In Kraft dieſes Rechtes führen große Vertreter des kirchlichen Pathos, zugleich
aber Italiens gegen Deutſchland, mit großen Kaiſern den tragiſchen Kampf,
der die Seele des Mittelalters iſt.
Die ganze Erſcheinung der Kirche iſt prachtvoll und unheimlich zu-
gleich. Die reichen Gewänder, die Prozeſſionen, die feierlichen Acte,
der eigenthümliche Habitus des Prieſters, würdig und fein, ſtolz und
anſtändig in weichen, ſammtenen Bewegungen, das „gebenedeite“ Geſicht,
die vielen anſchaulichen Dinge, das Knieen, Händefalten, das Rezitativ
der Litaneien: das Alles gibt viel und feſt ausgeprägten Stoff, aber in
dieſer Schönheit liegt auch Grauen der Heimathloſigkeit, Irrſinn der
Unfreiheit, organiſirtes Außerſichſein des Geiſtes; im Rührenden ſelbſt
lauert Wildfremdes und die devoten Stoffe werden nur dann erſchöpft,
wenn dieß mit zur Darſtellung kommt. Dieß iſt nicht ſo im Heidenthum,
da iſt Alles heraus, da ſucht man gar keine Innerlichkeit. Die Kirche
aber verwaltet den reichen Schatz aufgeſchloſſener geiſtiger Freiheit, neuer
Herzenstiefen. Hier iſt die Einheit und Allgemeinheit, die dem Staate
[257] fehlt, hier die Idee, jene atomiſtiſche Welt zu überbauen. Aber dieſe
Idee wird ſelbſt in einen Körper verkehrt, ſchließt aus, indem ſie einzu-
ſchließen behauptet, dem Laien iſt ſein Innerſtes wieder ein Jenſeits; der
Papſt iſt der Stellvertreter Chriſti und jeder geweihte Bürger dieſes
monarchiſchen, aber durch gleichen Anſpruch jedes Clerikers demokratiſchen
Baus, durch das Cölibat mit den Wurzeln aus dem Boden der Menſch-
heit herausgeriſſen, gehört einer überſinnlichen Welt in der Welt an und
vicarirt in dieſer für den unfreien Laien. Alles, was ineinander ſein
ſollte, iſt nebeneinander. Die Verdrehung des Sittlichen liegt vor Allem
in der Vaterlandsloſigkeit. Der Prieſter hat kein Intereſſe für ſein
Vaterland, er will die Welt beherrſchen. Aber die Kirche iſt doch zugleich
weſentlich römiſches Product, Frucht eines Eindringens römiſch-jüdiſch-
orientaliſcher Sinnlichkeit und Objectivität in das neue Princip; ſie hat
ihre Hausmacht in Rom, Rom ſoll herrſchen. Der Laie ſoll eben dahin
blicken, ſoll dem Himmel, d. h. der von Rom aus regierten Kirche das
Mark ſeines Lebens ſchenken; ebendahin, freilich kämpfend, führt der
Kaiſer den Kern des Volks in Waffen. Der Italiener ſieht ſein Vater-
land herrſchen, aber nicht als Nation, die Hausmacht iſt nur Stütze der
überſinnlichen Anmaßung; der Ausländer ſieht ſich von dieſem Widerſpruch
einer außerirdiſchen und doch irdiſch localen Macht an Händen und Füßen
eingeſchnürt: ſo iſt nirgends Vaterland. Die weitere Verdrehung des
Sittlichen iſt die Aufſtellung tranſcendenter aſcetiſcher Tugend ſtatt der
realen, die für wirkliche und gegenwärtige Zwecke thätig iſt. Jene
Tugend ſelbſt aber iſt wieder äußerlich, Bußwerk, opus operatum. Daher
iſt das Mittelalter zwar finſter, aber auch viel heiterer, als man glaubt.
Heute Aſceſe, morgen Weltluſt; und zugleich: Einige weihen ſich ganz
der Aſceſe, thun opera supererogativa und inzwiſchen machen ſich die Andern
einen guten Tag; immer Eins für das Andere; ſtatt Ernſt in der Luſt
und Luſt im Ernſt: jetzt Luſt, ein andermal Ernſt, dort Ernſt, hier Luſt.
Neben der Geißelkammer des Mönchs Gelage und Feſte der Ritter, aber
auch neben der Andacht, Kaſteiung, der Zerknirſchung des Ritters die rohe
Luſt, die blutige Wildheit, Mord und jedes Verbrechen deſſelben Ritters.
Es fehlt die ethiſche Einheit, Geiſt und Sinne können ſich nicht zum
Maaß durchdringen, weil der Prozeß des Geiſtes nicht innerlich und
nicht poſitiv, ſondern äußerlich und negativ, weil an die Stelle des
Guten das Heilige geſetzt iſt. Kaleidoſkopiſch bunt iſt dieſe Welt, die
grellſten Farben brennen neben den tiefſten Schatten; ruht im Alterthum
auf einer deutlichen Welt voll reiner Formen eine ruhige Sonne, ſo iſt
es hier, als beleuchten die lodernden Flammen eines farbigen Feuers eine
Tropfſteinhöhle. Dieſe Welt iſt aber wie ſie ſein kann und nicht anders;
es wird Niemand bevormundet, der es nicht will, und ſchiebt Niemand
Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 17
[258]Sinnliches und Geiſtiges in hundert Priſmen hinter- und nebeneinander,
der beide zu vereinigen weiß. Die rohen Gemüther verſtehen es nicht
anders. Die großen Päpſte haben in ihrer Zeit ihr Recht und mächtig
ragt ein Gregor VII., ein Innozenz III., Gregor IX., Innozenz IV.,
Bonifaz VIII. Was für antike, markige, mächtig gefurchte Züge zeigt
der Kopf Innozenz IV.! Papſtthum und Kaiſerthum ſind die zwei
Schwerter am Horizonte des Mittelalters. Von Heinrichs IV. Büßerſcene
in Canoſſa bis zum Untergang der Hohenſtaufen liegt hier eine Welt
von Stoffen. Die edeln Geſtalten der Hohenſtaufen und ihr tragiſcher
Untergang ſind allerdings kein national deutſcher Stoff; es iſt erhebend,
daß deutſche Männer ſo groß waren, aber ihre Bedeutung iſt allgemein
weltgeſchichtlich; für Deutſchland als ſolches dagegen zeigt ſich das traurige
Schauſpiel einer Vergeudung von Kräften nach außen.
Dieſer Kampf wäre nicht tragiſch, wenn nicht beide Seiten Recht und
Unrecht hätten. Die Kirche, ſelbſt Welt, bedarf der Welt, und die Welt,
obwohl ſie ihre Anmaßung zurückweist, iſt innerlich an ſie gebunden. Wirklich
gehen Welt und Kirche in Eins zuſammen in den Krenzzügen, dieſer
großen phantaſtiſchen That des Mittelalters, worin zugleich der Muhame-
daniſmus als glänzendes Schauſpiel einer neuen Form orientaliſchen Lebens
dem abendländiſchen entgegentritt. Mit der Gluth des inneren Lebens, die
nun entzündet iſt, mit der innigen Weichheit, die nun mitten durch die Rohheit
geht, mit dem Geiſte der Liebe und Ehre verändern ſich zugleich die äußeren
2Formen; die gegenſeitige Miſchung bildet die abendländiſchen Völker, griechiſche
und orientaliſche Pracht mit den mancherlei Reſten der objectiven Lebensform
bei den romaniſchen Völkern ſchmücken das ritterliche Leben.
1. Die Kreuzzüge ſind das Symptom, daß der neue Geiſt der Welt
die Gemüther der Menſchen durchdrungen hat. Daß dieſe Durchdringung
ſelbſt wieder mit der ganzen Aeußerlichkeit und Verwechslung behaftet iſt,
welche das Mittelalter bezeichnet, iſt darum nicht zu überſehen, denn
auch hier tritt neben glühenden Schwung der Andacht die roheſte Metzelei
und Ausſchweifung, ja die ganze Unternehmung iſt die abentheuerlichſte
Verwechslung einer Idee mit einer Seche, eines Geiſtes mit einem
Orte, die Spitze des Reliquiendienſtes (vergl. Hegel, Philoſ. der Geſch.
S. 397. 398). Indem aber nun die Cardinal-Leidenſchaft und Tugend
des Heroenlebens der Völker und namentlich des deutſchen aus der
geraden Linie gebogen iſt, worin ſie für reale Güter als ein Inſtinct
thätig war, indem ſie auf einen transſcendenten Zweck ſich wirft, iſt das
[259] Mittelalter in ſeinem eigentlichen Weſen eingetreten. Mit dieſer That
iſt das harte Herz der nordiſchen Menſchheit erweicht, das Innige und
Myſtiſche, das urſprünglich in der germaniſchen Natur liegt, entbunden
und insbeſondere die Seite des Lebens, worin dieſe Epoche im ſtrengſten
Gegenſatze gegen das geſammte Alterthum ſteht, das Verhältniß zum
Weibe, die Ehe, die Familie entwickelt ſich zur Schönheit. Achtung des
Weibes war von jeher den Germanen eigen; nun, da die Naturrohheit
im Innerſten (wiewohl ohne wahre Durchführung des neuen Lebens durch
das Ganze der Perſönlichkeit) gebrochen iſt, da die innere Unendlichkeit
aufblüht, duftet auch die Liebe. Der ſociale Ausdruck des Bewußtſeins
der Unendlichkeit iſt die Ehre; es iſt die Wachſamkeit des Einzelnen, daß
er den unendlichen Werth der Perſon, den er in ſich fühlt, nicht beſchmutze,
daß er nur für die Kirche, die Frauen, die Unſchuld fechte, durch Milde,
Freigebigkeit, Gaſtfreundſchaft, ſeine Erhabenheit über das Aeußerliche
zeige, aber auch, daß alle Andern dieſe Geltung ſchlechtweg und ohne
weitere Rückſicht auf den näheren Werth des Einzelnen als eine ideale
formell anerkennen. Dieſe tranſcendentale Skrupuloſität, welche die
Sitte des Zweikampfs erzeugte, kannte das geſammte Alterthum nicht,
denn es dachte ſächlich. — Auch die Araber, denen der Religionskampf
gilt, mit welchem dieß neue Leben ſich entwickelt, ſind hier als Stoff zu
erwähnen. Die abſtracte geiſtige Reinheit des Muhamedaniſmus hat in
dieſem Volke ein reiches inneres Leben — das wir aber ſolches hier nicht
zu verfolgen haben — entbunden und trotz der Polygamie ebenfalls dem
Gefühl der Liebe einen hohen Schwung gegeben; die Berührung mit den
Sarazenen wirkt daher ebenſo auch poſitiv zur Ausbildung des Ritter-
lichen; der Adel eines Saladin war ein erhebendes Bild; die Kämpfe
in Sicilien und Spanien, ein Seitenbild zu den Kreuzzügen, haben der
Phantaſie farbenreiche Stoffe zugeführt, wir dürfen nur an den Cid
erinnern.
2. Die in Sitten und Sprache ſchon getrennten romaniſchen Völker
miſchen ſich auf dieſen Zügen mit den Deutſchen, die fremde, feinere,
buntere, formgewandtere Bildung reizt und wenn zuerſt die Germanen
überhaupt römiſche Bildung ſich anzueignen hatten, ſo eignen ſie ſich jetzt
als Deutſche romaniſche Formen an. Abermals alſo nimmt der Begriff
der Bildung für die Deutſchen dieſe negative Bedeutung an. Nun aber
treten neue Quellen dazu. Schon Theophano und Irene brachten griechiſche
Formen, im Großen ſah man auch dieſe auf den Kreuzzügen, dann aber
die bunte Pracht, welche die Araber mit dem Glanze orientaliſcher Phantaſie
aus den vorgefundenen des Alterthums entwickelt hatten. Wie dieß für
die höheren Künſte weſentlich war, werden wir in der Kunſtlehre ſehen,
wiewohl wir z. B. an die Baukunſt auch hier ſchon erinnern dürfen, denn
17*
[260]hier kommt ſie in Betracht als Vollendung des objectiven Bildes einer Zeit
und ſo, wie ſie ja auch für andere Künſte Gegenſtand ſein kann. Was
nun die Tracht betrifft, ſo iſt zur Zeit der Kreuzzüge zwar das durch die
Germanen eingeführte Neue noch keineswegs ſo als Motiv benützt, daß
es nicht noch immer von dem aufgenommenen Antiken überdeckt wäre: es
werden namentlich noch die Ueberwürfe getragen, die aus der alten
Tunica und Dalmatica gebildet ſind; aber als Zugabe zum Alten regt
ſich überall Glanz und Pracht. In Nachahmung des Byzantiniſchen eignet
ſich Rang und Würde die lange Tunica als Auszeichnung an. Die
Kleidung wird überhaupt als Rangzeichen fixirt, namentlich der aſiatiſche
Hut ſpielt eine Rolle als Herzogshut, Biſchofsmütze. Die Kaiſerkrone
wird über eine ſeidene Haube aufgeſetzt. Goldgewirkte Stoffe, Seide,
Sammt, Zobel, Hermelin, Stickereien, Beſätze von Borden, Tüllen, reiche
Hüte, bei den Frauen Schapel und Gebände, häufig von Gold, Schleppen,
Schminke, bei Männern und Frauen prachtvolle Gürtel, Ringe, Armſpangen.
Grelle Farben liebt man noch mehr, als früher. Die Waffen beſonders wer-
den reich; die volle Eiſenrüſtung ſieht man noch nicht, doch ſchützen neben
Schild und gepolſtertem Leder die reichen Kettenhemden, die Panzerhoſen;
dazu die ſpitzen Helme des Orients mit Naſenſchirm, die damaſcirten, einge-
legten Klingen, goldenen, mit Edelſteinen beſetzten Griffe, die brillanten
Dolche u. ſ. w. Selbſt das Pferd trägt über prachtvollen Cuvertüren eiſerne
Rüſtung. Die Kämpfe der nordiſchen Eiſenmänner mit den windſchnellen,
flüchtigen arabiſchen Reitern im fliegenden Burnus geben ein Bild voll ſchöner
Gegenſätze. Zelte, Polſter, Teppiche, Geräthe voll reicher Pracht und bunter
Arabeſken findet man mit allen jenen Formen ſchon im Nibelungenlied. Wie
nun feine Sitte Pflicht wird, verändert ſich auch Haltung, Bewegung. Eine
naive Grazie, etwas eingelernt und tänzerhaft, ein Neigen und Beugen,
Füße ſehr auswärts Setzen wird ſtehende Form. Die Umgangsmanieren
werden „hövsch“. Eigenthümlich iſt die Haltung der Frauen; ſie halten
den Oberleib zurück und drücken den Unterleib hervor, wie man es wohl
bei kleinen Mädchen ſieht. Die allgemeine Frömmigkeit beſtimmt zugleich
von ihrer Seite Gebärden und Haltung: ein demüthiges, rührendes
Senken des Kopfs nach der Seite iſt gewöhnlicher habitus. Die Männer
ſchneiden die Haare ziemlich kurz und nehmen ſich den Bart ab. Die
Barbarei des Bartabnehmens galt ebenſo im ſpäteren Griechenland und
Rom für Bildung; im Mittelalter drang namentlich die Kirche darauf. —
Der neue Glanz machte die Erde wohnlich, reiche Feſtluſt drang in bunten
Formen hervor, Turniere, Tänze, Mummenſchanz, Narrenfeſte, die
ſelbſt der Kirche galten, u. ſ. w. Die romaniſchen Völker ſetzten die
Saturnalien als Carneval fort und übergaben ſie den Deutſchen. Hier
ſieht man, wie luſtig das Mittelalter war und zugleich wie erfinderiſch
[261] in Formen feſtlicher Freude. Die Spanier hatten ihre Stiergefechte, die
Venetianer ihre Vermählung des Dogen mit dem Meer, überall die
Bürger ihre Armbruſtſchießen, Schifferſtechen. Meiſt waren die Spiele
auch des Mittelalters gefährlich; man muß jederzeit einige Leben opfern,
wenn man tüchtige Menſchen erziehen will. Außerdem hatte jede Jahrszeit
ihre beſonderen kleineren Freuden, Ballſpiel, Falkenbeize, Martinsgänſe,
Valentinstage u. ſ. w. — Die allgemeine Form des Reiſens iſt Reiten,
auch die Frauen ſitzen zu Pferde und die gewaltigen, breithufigen, lang-
mähnigen Thiere ſind noch lange nicht ſo mechaniſch und ſicher abgerichtet
wie jetzt.
Inzwiſchen hat in dieſer Welt der zerſprengten Individualität die Kraft1
des Allgemeinen in Form eines Zuſammenſchlußes, einer Verbrüderung ſich
thätig erwieſen im Ritterweſen und den Ritter-Orden, im regen, zu Republiken
anwachſenden, gewerbfleißigen und muthigen Bürgerleben der Städte und ihren
Bündniſſen, endlich in Kämpfen der Bauern um ihre Freiheit. Umgekehrt2
entwickelt ſich von oben übergreifend die monarchiſche Einheit, indem Ein
Gewalthaber die andern, zum Theil unter blutigen Kämpfen, worin eine neue,
wilde Form des Böſen ausbricht, überwältigt, zu Ständen herabſetzt und die
Durchführung des Allgemeinen in ſeine Hand nimmt.
1. Die Bewegung des Mittelalters zum Modernen geſchieht in zwei
entgegengeſetzten Linien. Die eine Bewegung geht von unten herauf und
iſt republikaniſcher Natur: Entwicklung des vernünftig Allgemeinen, des
Staats, aus der Corporation, der Zuſammenſchließung freier Individuen
zu allgemeinen Zwecken. Dieſer Bewegung widerſpricht es eigentlich, einen
Monarchen auf ihrer Spitze anzuſetzen, denn es iſt Widerſpruch, daß das
Allgemeine ſelbſt wieder Individuum ſein ſoll; die Einzelheit ſchließt aus,
der Körper verdunkelt. Dieſe Allgemeinheit realiſirt ſich aber zunächſt
noch ächt mittelalterlich nur im kleinen Raume, die Corporationen ſtehen
in der Reihe der willkührlich trotzigen Einzelkräfte, Reichsſtädte neben
Ritterburgen, Klöſtern, und indem daher das Gemeinſchaftliche im
beſchränkten Kreiſe ſich nach innen ſchön ausbildet, iſt der Kreis ſelbſt
nur ein Punkt unter Punkten, über den ſich unvermerkt von oben die
langen Arme des Monarchen ausbreiten. — Das Ritterweſen iſt oben
als ächt mittelalterliche Erſcheinung genannt; es hat aber noch eine andere
Seite. Ritterſchaft und Adel war nicht daſſelbe, der Ritterſchlag ſetzte
gewiſſe Vorbildung, Gelöbniſſe, Verdienſte voraus und ward nach und
[262] nach ſogar Nichtadeligen zu Theil. Es war eine Verbindung allgemeiner
Art mit beſtimmten Rechten und Freiheiten, durch die Geburt noch nicht
gegeben, eine ethiſche Gemeinſchaft, ariſtokratiſch nach außen, demokratiſch
nach innen. Eine beſtimmtere Organiſation waren die Ritterorden, in
denen ſich das Mönchsgelübde mit dem der Tapferkeit zu einer Erſcheinung
verbindet, in welcher es ſich zu wahrhaft ſchönen Tugenden veredelt.
Dieſe Orden ſind in ſich ebenfalls allgemeiner Art, nicht local und ab-
geſchloſſen; ihre Geſchichte wimmelt von vortheilhaften Stoffen bis zu den
ſpäten Thaten der Johanniter auf Malta, dem blutigen Untergang der
Templer in Frankreich, dem Erlöſchen der Deutſchritter in Preußen. —
Wichtiger ſind die Städte. Hier bildet ſich auf der rein menſchlichen
Grundlage der zweckmäßigen Thätigkeit, und zwar der verſtändigen, auf-
klärenden Thätigkeit des Gewerbs und Handels zuerſt wieder ein dem
Alterthum verwandtes republikaniſches Leben, aber nach außen ganz
particular, monopoliſirt durch den Kaiſer, in beſtändiger Fehde gegen die
Ritter, wie dieſe gegeneinander; eben dieſe gewaltſame Exiſtenz aber läßt
nicht Philiſterei zu, der Bürger ſteht in Waffen. Im Innern greift
Corporation wieder durch Alles: Zünfte und Zunftſtolz, Magiſtrat,
Patrizier-Adel, Ritter-Adel. Der Handwerker lebt mit ſeinen Geſellen
wie ein Patriarch, liederreich wandert der Burſche, Alles hat ſeine Formen,
Looſungen, Sprüche, den Takt des Hammers begleitet Geſang, zum
Glockenguß wird gebetet u. ſ. w. Handel und Schiffahrt bringt Reichthum.
Dieß Städteleben wird, beſonders in Italien, von politiſchen Parteien
(Welfen und Ghibellinen) ſtürmiſch bewegt (gewaltige Stoffe in Dante).
Piſa, Florenz, Siena, Mailand, Genua blühen auf, groß und mächtig
wird beſonders Venedig, die Lagunenſtadt, nach innen eine ariſtokratiſche
Republik voll unheimlicher Inquiſition: Schooß einer Menge von großen,
glänzenden, üppigen und zugleich unheimlichen Motiven. Ueber Deutſch-
land iſt eine Anzahl der blühendſten Städte hingegoſſen, Augsburg,
Nürnberg u. ſ. w., ebenſo über die Niederlande; vertraulicher, heimlicher
iſt hier das rege Bürgerleben, da wandeln die ehrenfeſten Handwerker,
die ſittigen Frauen, die ſtattlichen, behaglichen, ehrwürdigen Rathsherrn.
Das Bedürfniß des gegenſeitigen Schutzes ruft imponirende Städte-
bündniſſe hervor: Hanſa, rheiniſcher Städtebund u. ſ. w. Endlich regt ſich
auch der Bauernſtand, und zwar macht ſich zuerſt der friſche Muth des
Gebirgsbewohners geltend: Befreiung der Schweiz, Kriege gegen Oeſtreich,
Burgund, ſpäter die Kriege der Ditmarſen. Doch ſoll erſt ein geiſtiges
Ereigniß dieſem furchtbar gedrückten Stande einen Schwung zu durch-
greifenderem Verſuche der Befreiung geben. Vorerſt iſt das Weſentliche,
daß in den Städten der ſogenannte dritte Stand, Mark und Kern jeder
Tüchtigkeit und wahren Bildung, ſich gründet.
[263]
2. Das Aufblühen der Städte geht noch tief in die Zeit der Kämpfe
zwiſchen Papſt und Kaiſer zurück, und zwar werden ſie beſonders in
Italien bedeutend. Das Mittelalter ſoll ſich aber nicht direct auf dieſem
Wege zu vernünftiger Staatsbildung fortbewegen. Die Einigen, die frei
ſind, ſollen erſt in Einen zuſammengehen, die vernünftige Einheit und
Allgemeinheit ſoll erſt in die Hand einer übergreifenden ſinnlichen Einheit
kommen. Die Hohenſtaufen ſind Vorkämpfer des Staats und der Ver-
nunft in ihrer weltlichen Freiheit, aber ganz nur im Sinne der Monarchie,
und ihr Kampf gegen die geiſtliche Tyrannei Italiens iſt zugleich weſentlich
ein Kampf gegen die Anfänge des republikaniſchen Lebens, gegen die
Städte. Doch nicht das deutſche Kaiſerthum war beſtimmt, eine große
monarchiſche Einheit durchzuführen; zwar ſind die Kaiſer ſeit Rudolf von
Habsburg beſtrebt, durch kräftigere Handhabung rechtlicher und polizeilicher
Ordnung wirklich zu herrſchen, ſchon dieſer Kaiſer ſtellt den Landfrieden
her, Maximilian I. macht wirklich dem Fauſtrecht ein Ende (Götz von
Berlichingen); wahrhafte Herrn aber ſind ſie nur in ihrer kleinen Haus-
macht. Die Kurfürſten werden Landesherrn, die kleineren Herrn zu
Ständen, Staatsbeamten herabgeſetzt, es bildet ſich die Vielheit kleiner
Souveräne, die Monarchie entſteht zerſtreut auf einzelnen Punkten.
Energiſch wird der Vaſallentrotz in Frankreich und England bekämpft;
am meiſten belehrend, aber auch am meiſten anſchaulich und äſthetiſch
fruchtbar iſt der blutige Auflöſungskampf der Feudalform in England, der
Krieg der rothen und weißen Roſe. Hier bricht, wie in den letzten Zeiten
Roms, in ungeheurer Geſtalt wieder das Böſe hervor. Dieſes Böſe hat
nicht die objective Baſis, athmet nicht die politiſche Großheit, wie in den
römiſchen Kaiſern, es iſt der eigenſinnige Trotz des iſolirten Individuums,
roh und bärenhaft in Formen und Thaten; aber dieſes Individuum iſt
chriſtlich, hat Gewiſſen, ohne es zu wollen, und eine geiſtige Selbſt-
zerſtörung, von der das Alterthum keine Ahnung hatte, iſt das Ende
abgefeimter Heuchelei. Inzwiſchen hat die, zwar zeitweiſe wieder in
feudaliſtiſche Kämpfe ſich auflöſende, monarchiſche Einheit ſolchen
Staaten, welche nicht in eine ſo zerſplitterte Vielheit von kleinen Monarchen
zerfallen, wie Deutſchland, Gefühl und Schwung des Vaterlands gegeben:
Frankreich und England, beide monarchiſch ſich centraliſirend, reiben ſich
in langen Kriegen und werden groß durch Rivalität. In Italien und in
Spanien zum Theil unter wilder Zerriſſenheit und blutigen Greueln führen
ſich ebenfalls Dynaſtieen durch. Ueberall nun ſitzt die Kraft der Monarchen
in der Ordnung, die ſie ſchaffen. Shakespeare konnte ohne Lüge den
Schluß der Bürgerkriege durch die verſtändige, polizeiliche Monarchie als
höchſte Wohlthat begrüßen. Freilich ließ ſie in England der Individualität
noch Raum genug, im Ganzen aber beginnt mit dieſer Ordnung, weil ſie
[264] von Unterdrückung der freien Regung ausgeht, der proſaiſche Zuſtand
des Lebens.
In der Kirche herrſchte ſchon vorher ſtrenge Monarchie, jetzt wird bei
wachſender Verweltlichung und Entſittlichung das Moment der geiſtigen All-
gemeinheit in Orden, Spaltungen, Kirchenverſammlungen, das der freien
2Subjectivität in Sekten und Individuen thätig. In der Form des Gedankens
erhebt ſich das Allgemeine als Wiſſenſchaft, Univerſitäten werden geiſtige
Republiken und die erneute Kenntniß des Alterthums erſchließt dem zerriſſenen
Abendlande wieder das verlorene Bild der objectiven Lebensform des Alter-
thums in ihrer Wahrheit und Totalität.
1. Das innere Sinken des Papſtthums liefert in dem verwilderten
Zuſtande des Kirchenſtaats, in den Ränken und Ausſchweifungen der
Päpſte, zuletzt namentlich in den Gräueln der Familie Borgia furchtbare
Bilder des Böſen, der ſittlichen Fäulniß. Die Mönchsorden fallen aller-
dings noch in’s ſtrenge Mittelalter, da ſie nach der einen Seite die
Kriegsheere des Papſtes ſind, aber ſie traten auch reformatoriſch auf.
Luther ſelbſt war Mönch. Sie geben reichen Stoff und haben ihre
Blüthe in Franz von Aſſiſi, in welchem die entzündete Gluth des neuen
inneren Lebens ganz zum Viſionären und Somnambülen ausſchlägt.
Freilich iſt hier immer zu unterſcheiden, für welche Zeit ſolche Stoffe
Stoffe ſind. Die neuere wird ſich bei mönchiſchen Stoffen entweder an
die komiſche Seite, wozu ihr der heilige Müſſiggang das Material gibt
(epistolae obscurorum virorum), oder an die ernſten Zeichen und Vor-
boten eines neuen geiſtigen Lebens halten und die Kirchengeſchichte wird
nur in den Momenten eine Quelle von äſthetiſchen Gegenſtänden für ſie
ſein, in welchen die Kirche mit der Welt kämpft oder in ihrem eigenen
Schooße Keime der Brechung ihrer nur für ein gewiſſes Zeitalter berech-
tigten Gewalt entwickelt. Daher täuſcht man ſich, wenn man in den
mancherlei maleriſchen, im Ausdruck andächtigen, ekſtatiſchen Formen des
Mönchslebens an ſich etwas Tüchtiges zu haben meint und das Aller-
ſchlimmſte iſt, das Erſtorbene, das man aus äſthetiſchen Gründen liebt,
wieder geſchichtlich wahr machen zu wollen. Reformatoriſche Männer wie
Arnold von Brescia, Savonarola, Wikleff, Huß — (Leſſings Gemälde) —,
namentlich wenn ihr Beſtreben auch politiſch wirkt, noch mehr, wenn ſie
tragiſch endigen, dieß ſind edle Stoffe. Einen vielköpfigeren Feind hatte
die Ketzerverfolgung an den Sekten, in welchen, obwohl eben durch
die Verfolgung zu trüber Schwärmerei erhitzt, die Freiheit des geiſtigen
Prinzips frühe zum Durchbruch kam. Ihre Schickſale liefern zum Theil
[265] bedeutende tragiſche Erſcheinungen (Leiden der Albigenſer, Waldenſer,
Kriege der Huſſiten). Das Hauptmittel, das die Kirche gegen die Ketzer
anwendet, die Inquiſition, das Ketzergericht, die blutige Verfolgung wühlt
menſchliches Leiden, aber auch Muth und Willen in allen ihren für den
Künſtler ſo fruchtbaren Tiefen doppelt wirkſam durch die Wirkungen des
Kontraſtes auf.
2. Das wiſſenſchaftliche Leben des Mittelalters und ſein Aufſchwung
durch das Wiedererwachen der klaſſiſchen Studien ſeit der türkiſchen
Eroberung Conſtantinopels gehört hieher nur, ſofern es unmittelbar und
mittelbar anſchauliche Erſcheinungen bewirkt. Unmittelbar bieten namentlich
die Univerſitäten viel Anſchauliches dar, denn ſie ſind gegliederte Corpora-
tionen mit dem ganzen trotzigen Zunftgeiſte des Mittelalters. Studenten-
leben, noch lange in die neuere Zeit herein ein buntes Stück Mittelalter:
Landsmannſchaften, Spiele, Trinkſitten, Zweikampf, Kriege gegen die
ungeiſtigen Rivalen, die Handwerksburſchen. Mittelbar: ungemeine
Wirkung der humaniſtiſchen Studien auf die ganze Erſcheinung, Sitte.
Man lernt wieder ungebrochene Menſchen, poſitive Sittlichkeit, gerade
Tugend, Leben im Mittelpunkte kennen und alle Kunſt und Grazie, die
daraus hervorgegangen; dieß muß ſich auch in der äußern Erſcheinung
des Lebens zeigen, doch nicht ſo ſchnell wird die Wirkung ſichtbar.
In dieſer allgemeinen Auflöſung und Gährung entſteht eine neue, äußerſt1
bunte Welt von Formen. Insbeſondere entbinden ſich nun erſt die germaniſchen
Beſtandtheile der Tracht und es entwickelt ſich daraus eine Mannigfaltigkeit
und Willkühr, worin man die Anfänge der Mode erkennt. Zugleich aber2
greifen in dieſe entfeſſelte Welt neue Erfindungen und Ordnungen ein und
beginnen, vorerſt ohne den Charakter individueller Lebendigkeit aufzuheben,
abſtracte Formen zu begründen. So insbeſondere im Kriege das Schießpulver
und das Söldnerweſen. Von unabſehlich zerſtörenden Folgen aber iſt die
Buchdruckerkunſt.
1. Etwa in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts beginnt mit
der Entfeſſelung des unruhigen Geiſtes der neueren Völker erſt die große
Buntheit und Ausſchweifung der Trachten. Man benützt nun insbeſondere
erſt das in den Beinkleidern gegebene Motiv: die Tunica wird immer
kürzer und endlich zum Wammſe, Bein und Hüfte werden in der knappen
Hoſe ſichtbar. Später, im fünfzehnten Jahrhundert, ſuchte man wieder das
längere Ueberkleid hervor, das nun über das Wamms geworfen wurde.
Die Dalmatica war theils in einen ärmelloſen, glockenförmigen, ſpäter
[266] auf den Seiten aufgeſchlitzten Ueberwurf (Hoike), theils in einen längeren
Ueberrock mit Aermeln übergegangen. Dieſe verſchwanden, als das Wamms
aufkam, dann griff der unruhige Formendurſt wieder darnach. Die Hoike
zwar blieb nur den Geiſtlichen als Chorhemd, den Herolden als Waffenrock,
dagegen erſcheint die Dalmatica wieder als allgemeiner Ueberwurf (in
Deutſchland unter dem Namen Schaube oder Tappert), wird vorn in
der Mitte ganz aufgeſchlitzt und ſo die Grundlage des ſpäteren Rocks.
War nun aber in Wamms und Hoſe die Grundform ſpannend, glatt an
den Leib gegoſſen, ſo kam zugleich ein bunter, ja närriſcher Aufputz aller
Art, namentlich in den Kopfbedeckungen, in Gebrauch: die Kapuzen
(Gugeln, Kappen) gingen aus der geiſtlichen Tracht in die weltliche
über und wurden allgemein, ebenſo Hauben und Hüte, vorher Aus-
zeichnung höheren Standes; ſie werden mit Pelzwerk, Perlen, Stickereien
beſetzt, der Hut verlängert ſeine Krämpe nach vornen. Die Gugeln hatten
lang herabhängende Zipfel, an deren Ende häufig Schellen wie auch an
den reichen Gürteln, Schuhen, Schilden befeſtigt wurden; Troddeln,
Neſtel, Züge, Tuch von zwei oder mehr Farben an Wamms und Hoſen,
lange Schnabelſchuhe (ſog. Kraniche), worin man kaum gehen konnte:
alles dieß vermehrte die Buntheit der Tracht. Eigenthümlich ſind die
thurmartig hohen Kopfbedeckungen der Weiber mit hinten überhängender
Leinwand; man ſieht ſie noch in Franken und in der Normandie. Wie
in der Buntheit der Kleidung nun erſt der ſcheckige Geiſt des Mittelalters
eigentlich aufgeht, ſo wird nun auch das Kriegsgewand zu der den
ganzen Körper bedeckenden Rüſtung, bezeichnend genug für die kriegeriſche,
eckige, ſchimmernde, ſtachlichte Zeit. Der Schild verſchwindet, da die
ganze Rüſtung ein ſolcher wird, gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts.
Namentlich ſind es die Franzoſen, von denen die neue Eleganz ausgieng
und welche nun anfingen, Europa als Schöpfer der Mode zu beherrſchen.
Die Mode iſt Beſtimmung der Kleidung durch Reflexion und Abſicht.
Hinter dieſer ſitzt allerdings ein Inſtinct und unbewußtes Geſetz, welches
zwingt, das den ſittlichen und geiſtigen Zuſtand der Zeit Bezeichnende zu
erfinden: ein Typus, der dann eine Epoche hindurch herrſcht. Innerhalb
dieſes länger herrſchenden Typus aber wechſelt nun die Form in kurzen
Zwiſchenräumen, denn die Abſicht und Reflexion iſt unmüßig, will ſtets
aufs Neue zeigen, daß ſie Schöpferin ihres Werks iſt, zupft und zieht
jeden Frühling und Herbſt daran, gibt das gefundene Paſſende an eine
Grille wieder auf und hat keine Ruhe. Doch fängt dieß Modeweſen
erſt an, es kann die nationalen Unterſchiede und die vom Markte der
Bildung abliegenden Volkstrachten noch nicht aufheben. Dieſe ſind ſtehend,
gelten als Nothwendigkeit, erben auf Kindskinder, man fragt nicht, ob ſie
dem Einzelnen gut laſſen. Zwar wirkt der Modewechſel von Zeit zu Zeit
[267] auch auf ſie ein, aber dann bleibt das Eingedrungene wieder Jahrhunderte
lang, ohne nach den Fortſchritten der Herrenmode zu fragen.
2. Das Schießpulver war hier hauptſächlich zu nennen. Es hebt
die Anſchaulichkeit der individuellen Tapferkeit auf; ein Druck entlädt die
Waffe, ein Schwacher kann die Stärkſten und Tapferſten tödten. Doch iſt
die Waffe noch lange ſchwerfällig, braucht ihren Mann und von äſthetiſch
großer Wirkung bleibt immer ihr Donner. Das Söldnerweſen kommt
auf, der Krieg wird Gewerbe (noch nicht eigentlich Stand); dieß iſt
freilich ſchon eine Mechaniſirung im weiteren Sinn, von ſehr verwilderndem
Einfluß zunächſt auf die Sitten, aber noch ein bewegungsvoller, bunter
Anblick. Was die Waffenübung betrifft, ſo hat man ſich die condottieri,
die Landsknechte bereits in der ſtraffen Dreſſur zu denken, wodurch das
mathematiſch Uniforme in den Krieg kommt; doch nicht allzuſtreng, die
Bewegungen ſind noch nicht ſo ſteif abgemeſſen, die Schildwache z. B.
ſteht auf Einen Fuß geſtemmt, mit geſpreitzten Beinen, ſpielt mit der Helle-
barde u. ſ. w. Ueberhaupt aber bildet ſich durch dieſe Söldner namentlich
die beweglichere Waffengattung, das Fußvolk, aus und wie ſie Leute
aus dem Volke ſind, ſo tritt dieſe geflügelte Waffe als demokratiſche neben
die ariſtokratiſche Reiterei. Dieſe Soldateska hat einen höchſt martialiſchen
Wurf und Schnitt, eiſenfreſſeriſch, fluchend, prahlend, renommiſtiſch im
weiten Ausſchreiten und jeder Gebärde, aber immer noch höchſt tüchtig
und lebendig. — Von der Buchdruckerkunſt kann hier nur Uebles aus-
geſagt werden. Es iſt die erſte Erfindung, von welcher ganz beſonders
einleuchtet, in welch umgekehrtem Verhältniß von einem gewiſſen Punkte
an Cultur und Aeſthetik miteinander ſtehen. So gewiß Hören und Reden
lebendiger iſt, als Drucken, Schreiben, Leſen, ſo gewiß eine von Mund zu
Mund gewälzte Sage lebendiger iſt, als eine Zeitung, ein Ausrufer
lebendiger, als ein Regierungsblatt, ſo gewiß hat die ſchöne Erſcheinung
durch dieſe Kunſt ebenſo unendlich viel verloren, als der Culturzweck an
ſich gewonnen. Sobald man dieſen Gewinn im Auge hat, erſcheint es
lächerlich, dieß und alle Zerſtörungen, welche der Mechaniſmus im äſt-
hetiſchen Gebiete anrichtet, zu beklagen, im äſthetiſchen Zuſammenhang aber
liegen dieſe auf flacher Hand. Unter andern erleichternden Formen kommt
z. B. am Ende dieſes Zeitraums auch das Poſtweſen auf: daß aber ein
Bote, Herold lebendiger ſei, als ein Brief zur Poſt, braucht keinen
Beweis. Das Fahren wird häufiger, was gegen Reiten und Gehen eben-
falls etwas ganz Abſtractes und Bildloſes iſt.
[268]
γ.
Die neue Zeit.
Die Aufgabe der neuen Welt iſt die Verwirklichung der wahren Freiheit
aus der Einſicht. Darin iſt enthalten, daß die Subjectivität wahrhaft in ſich
zurück und wahrhaft in die Objectivität eingeführt, und ebenſo, daß die Indivi-
dualität als lebendiges Glied eines vernünftigen und verbürgten Organiſmus
geſetzt werden ſoll. Beides iſt bis jetzt unvollkommen geleiſtet. Das Subject
iſt innerlich frei, hat aber keine wahre Objectivität, das Allgemeine herrſcht,
2aber über unlebendige Individuen. Alle Formen werden abſtract und daher
unäſthetiſch; in der ganzen Sphäre des Zweckmäßigen und Angenehmen waltet
eine Bewegung, worin jeder Fortſchritt der Cultur ein Rückſchritt der Schönheit
iſt; die Verwirklichung jener Aufgabe erſt verſpricht eine günſtige Veränderung
auch in dieſem Gebiete der Erſcheinung.
1. Es ſind hier im Weſen der Freiheit, wie die moderne Zeit aus
dem Gedanken ſie verwirklichen ſoll, die zwei Seiten unterſchieden, die wir
auch bisher auseinanderhielten; man kann die Sache kurz ſo ausdrücken:
die eine Seite iſt ein Bildungs-, die andere ein Staatsverhältniß. Aller-
dings fallen beide im Innerſten zuſammen, denn der Menſch von objectiver
Bildung iſt ein öffentliches Weſen und läßt ſich als Individuum im
Staate nicht wie Leder behandeln, und umgekehrt, das politiſch lebendige
Individuum hat den Naturton, die volle Ausladung der Objectivität.
Beide Seiten können ſich jedoch auch ungleich verhalten. Die objective
Bildung kann bis an eine Grenze, nämlich innerhalb des Kreiſes des
Privatlebens, gelungen, die Perſönlichkeit ausgerundet, Natur und Geiſt
in ihr harmoniſch, aber im weiteren Kreiſe das Individuum noch politiſch
todt ſein. Dieß werden wir eintreten ſehen. Die ganze Aufgabe iſt nun
im geſchichtlichen Rückblick ſo zu faſſen: die Principien des Alterthums
und des Mittelalters ſollen verſöhnt, das Ebenmaß des Alterthums,
das durch die Innerlichkeit und Negativität des Chriſtenthums und des
germaniſchen Charakters gebrochen iſt, ſoll wiederhergeſtellt werden, die
Tiefe der Innerlichkeit und der Individualität ſoll als Bürgſchaft eines
dauerhafteren Zuſtands erhalten bleiben, aber dieſe Tiefe ſoll, zum Gedanken
erhoben, ſich ſelbſt ihre wahre Wirklichkeit, Naturfülle der perſönlichen
Erſcheinung, politiſch freies Leben der Individualität geben. Es ſollen
folgende Reihen entſtehen: Naturbildung (Alterthum), Bruch mit der
[269] Natur und ſteter Rückfall in rohe Natur (Mittelalter), freie, mit
Bewußtſein gewollte, vermittelte Rückkehr zur Natur (neue Zeit);
Naturſtaat, Willkührſtaat, Vernunft- (wahrer Rechts-) Staat, oder:
Staat, worin das Individuum und das Allgemeine unmittelbar inein-
ander aufgehen, Staat, worin das Individuum ſeine erhöhte Bedeutung
auf Koſten des Ganzen geltend macht, Staat, worin das Ganze und
Allgemeine herrſcht, aber die Geltung und freie Thätigkeit des Individuums
— ſein privatrechtlicher Werth und ſein Beruf zur politiſchen Mitwirkung
— als flüſſiges Moment erhalten iſt.
2. Nicht ſogleich verſinken alle Formen in’s Lebloſe, aber der Anfang
iſt gemacht und unaufhaltſam tritt alsdann allgemeiner Mechaniſmus ein.
Dieſer rührt zunächſt keineswegs allein daher, daß wir noch in der Mitte
der Verwirklichung jener größeren Aufgabe ſtecken; zwar die ganze Kahl-
heit der Erſcheinung des Subjects und der lederne Philiſtercharakter iſt
eine Wirkung davon, daß die Freiheit noch nicht realiſirt iſt, aber die
Abſtractheit aller andern, äußern Culturformen geht ihren eigenen Weg
und iſt theilweiſe ſogar gerade ein ungeheures Mittel zur wahren Freiheit
(z. B. die Preſſe). Wird jedoch das Subject wieder Naturton, das
Individuum politiſches Leben haben, ſo muß ein großer Theil der Formen
ſich jedenfalls erfriſchen. Unſere erbärmliche Tracht z. B. kann dann
nicht mehr beſtehen, die Monopoliſirung der Tapferkeit in einem Stande
auch nicht, der Bürger wird Krieger und daher ſeine Erſcheinung eine
andere ſein, als jetzt. Doch von dieſem und Anderem iſt ſofort an ſeinem
Orte zu ſprechen.
Das erſte Symptom des geiſtigen Druchs mit dem Mittelalter iſt die1
Reformation. Sie iſt ein deutſches Werk, die Geſchichte rückt durch ſie
höher nach Norden und mit Ausnahme der Franzoſen treten die romaniſchen
Völker als die ganz katholiſchen nach einem letzten kurzen Aufblühen von
ihrem Schauplatz ab. Die Kirche des Mittelalters reſtaurirt ſich, entfaltet2
neue, aber ſeelenloſe Pracht und erzeugt, um ſich gegen den Fortſchritt der
Zeit zu behaupten, neue, geſpenſtiſche Formen des Böſen.
1. Es iſt ſchon bemerkt, daß die Franzoſen mehr germaniſches Blut
haben, als die übrigen romaniſchen Völker. Ein ſtählendes Element iſt
hier namentlich das Nördliche, das Normanniſche. Die ſtark eindringende
Reformation wird zwar unterdrückt, denn romaniſch und daher unfähig,
[270] das tiefſte Geiſtige als rein innere, nicht palpable Bewegung zu faſſen,
bleibt das franzöſiſche Volk, aber ſeine fortſchreitende und elaſtiſche Natur
ſchafft ſich, wie ſich zeigen wird, ein Aequivalent für die Reformation.
Spanien und Portugall blüht auf durch die Entdeckung Amerika’s und
des Seewegs nach Oſtindien, Begebenheiten, welche in den Charakteren
und Schickſalen der kühnen Entdecker, des Columbus namentlich, herrliche
Stoffe geben, dann wird Spanien auf kurze Zeit groß als erſtes Land,
worin ſich die abſolute Monarchie ausbildet, Mittelpunkt des Reichs Carls V.
Allein die Blüthe iſt kurz, die Völker arten durch die neuentdeckten Quellen
des Reichthums aus, die abſolute Monarchie iſt untrennbar vom ſtabilen
Prinzip des Katholiciſmus, daher der Fortſchritt unmöglich. In neuerer
Zeit kämpft Spanien mit unglücklichen Kriſen; es macht Verſuche, in
die moderne Welt einzutreten, aber die abſtracten Ideen des Modernen
und das feſtgewurzelte Mittelalter können zu keiner geſunden Bewegung
zuſammentreten. Neben tüchtigen Naturkräften im Volke Frivolität, Ent-
ſittlichung, Treuloſigkeit aller Art, Lumperei überall. Italien blüht noch
einmal, jedoch nur formell, auf in der Reſtauration des Katholiciſmus,
um dann als Leichnam liegen zu bleiben. In der modernen Zeit können
nur Völker geſchichtlich ſein, welche die Autorität wegzuſchleudern ver-
mochten; denn Umbau der Wirklichkeit aus dem freien Gedanken iſt ihr
Weſen. Die Reformation iſt das abſolut kritiſche Symptom, daß dieſe
Kriſis eingetreten iſt. Man kann auch ſagen, ſie ſei die Kriſis ſelbſt,
aber ſie iſt nicht die ganze Kriſis, ſie iſt Durchbruch eines Prinzips auf
einem Punkte, das noch unzählige andere Wege wählt. Die Religion
iſt überhaupt der Hauptort der geſchichtlichen Symptome, der Nilmeſſer
des Geiſtes. In ihr geben ſich neue Weltperioden zuerſt Ausdruck. Aber
die neue Religion macht nicht die neue Zeit, ſie iſt gemacht von einem
Geiſte, der ſie und viel Anderes macht und weit über dieſes Gefäß, ein
Gefäß unter Gefäßen, hinausreicht. Daher eine ſehr ſchwierige Amphibolie
der Begriffe in jetziger Zeit: Einige nennen die moderne Geiſtesfreiheit
proteſtantiſch, Andere laſſen der proteſtantiſchen Kirche den Dogmenzwang,
die Herrſchſucht, die in ihr bald genug eintrat, und ſuchen den freien Geiſt
außer aller Kirche. Davon nachher. Mit der Reformation, als einem
ächt deutſchen Werke rückt die Bildung und daher die Geſchichte mehr
und mehr vom Mittelmeer weg höher gegen Norden. Die Reformation
iſt weſentlich ein Befreiungswerk von Fremdenherrſchaft, von römiſcher
Anmaßung und zwar von der ſchlimmſten, der geiſtigen, eine Löſung des
harten, aber freien Nordens von dem ſinnlichen Süden. Hier hat ſich
namentlich gezeigt, zu was der grobe Verſtand des deutſchen Naturells,
die Schwungloſigkeit in Formen gut iſt. Der Schwung der Formen
täuſcht, wo er nicht aus reiner Abſicht der Kunſt, die nur freien Schein
[271] bezweckt, hervorgeht. Die Blüthe der Schönheit war den Italienern ein
trügeriſches, nicht nachhaltiges Surrogat der Reformation im ſechzehnten
Jahrhundert. Die geſunde Philiſterhaftigkeit der deutſchen Natur ſtieg
hinter den dogmatiſchen Schein des Schönen, zernagte ihn ſchonungslos
und befreite den Geiſt. Von Deutſchland ſelbſt bleibt jedoch ein Theil,
im Weſten, Nordweſten und Südoſten, katholiſch und dieſer wird obſcur
und ſtabil, deutſche Türkei, jenen belebt zum Theil wieder die Berührung
mit Frankreich.
2. Die mittelalterliche Kirche, die das Mittelalter überlebt, die
Reformation ausgeſtoßen hat, iſt eine andere, als vorher. Sie konnte
in ihrem Prachtbau, als er zeitgemäß war, eine Religion der Schönheit
heißen, jetzt wird ſie Religion der Beſchönigung. Sie reſtaurirt ſich im
Gegenſatze gegen den Feind namentlich durch hohle Pracht. Die ganze
äſthetiſche Schwäche dieſer neuen Pracht iſt an anderem Orte darzuſtellen.
Hier iſt wichtiger, daß ſie böſe wird. Erneute Ketzerverfolgung, Inqui-
ſition, Folter, zahlloſe Scheiterhaufen, Jeſuiten, die Stütze der Kirche,
die über ihren Tod hinaus leben will. Geſpenſtiſch iſt insbeſondere die
Erſcheinung der Jeſuiten. Dieſer Orden verkehrt alle höchſten und feinſten
Kräfte des Geiſtes in Mittel für ein Nichtſeiendes, verdreht ſie mit der
abſolut negativen Begeiſterung, welche die ganze Geſchichte läugnet, in
Sophiſtik, Lüge, Mord, ſchleicht unſichtbar wie Peſtluft, umſpinnt flüſternd
und liſpelnd den geſunden Leib der Welt, ſickert als feines Gift durch
die Röhren ihres Baus. Vornehmer Habitus in der Ordenstracht, feiner
Ueberzug des lauernden Fanatiſmus im phyſiognomiſchen Ausdruck. Reich-
thum von Stoffen, die hier liegen, zuletzt von Eugen Süe mit Talent
benützt. Tartüffe.
Als Erſcheinung für ſich auf dem Gebiete der Religion iſt die Refor-
mation unmittelbar kein äſthetiſcher Stoff; denn ſie iſt, obwohl mit den
humaniſtiſchen Studien (§. 363, 2) zuſammenwirkend, nur innere Sammlung
und Befreiung des Geiſtes. Sie zerſtört ſogar eine Welt äſthetiſcher Erſchei-
nungen theils im Gottesdienſte, theils mittelbar durch einſeitige, phyſiognomiſch1
allerdings ſehr bemerkbare Innerlichkeit und Kampf gegen die Sinnlichkeit.
Im Keime enthält ſie zwar die Bedingungen höherer Wiederherſtellung, aber2
dieſer Keim trennt ſich von ihr, indem ſie zur Kirche verknöchert, die Zweiheit
des Mittelalters (§. 359) fortſetzt, den Glauben bindet und durch Verfolgungs-
ſucht und Fanatiſmus auch von ihrer Seite eigenthümliche Formen des Böſen
erzeugt.
[272]
1. Eine proteſtantiſche Bevölkerung hat völlig andern Blick, Aus-
druck, Bewegung, als eine katholiſche. Alles hat die Naturfriſche nicht
wie hier, dafür einen tieferen, verinnerlichten Ton. Die glänzende
Feuchtigkeit und Reinheit des Auges iſt weg, aber man ſieht durch
den gefaßteren Blick in eine innere Sammlung, Concentrirung, eine
geſchloſſenere, den Schwerpunkt in ſich ſelbſt tragende Perſönlichkeit. Dieß
hängt auch mit dem innigeren Familienleben, dem Traulicheren und
Wohnlicheren der Häuslichkeit und dieſes Häusliche allerdings mit dem
localen Umſtande zuſammen, daß die Reformation in nördlicheren Ländern
aufging, wo eine härtere Natur das Leben auf der Straße verbietet und
den Menſchen auch buchſtäblich und unbildlich in’s Innere weist. Aber
auch ausdrücklich gab die Reformation durch die Anerkennung der Ehe
als eines an ſich guten und heiligen Inſtituts dem Familienleben höhere
Bedeutung; die katholiſche Kirche betrachtet die Ehe als etwas, was
erſt durch ſie geheiligt werden muß, um gut zu ſein (Voß Luiſe: Treu-
lichkeit des proteſtantiſchen Pfarrhauſes). Ferner trat aber die Refor-
mation, obwohl Luther ſelbſt noch viel liberaler war, als ſpätere Refor-
matoren, wie jede Läuterung der Religion in ihrem Anfang rigoriſtiſch gegen
bunte Tracht, Volksfeſte, Tänze u. ſ. w. auf. Das traurige Schwarz
wurde offenbar durch ſie gewaltſam in viele Volkstrachten eingeführt.
Die Ueberwindung dieſer negativen Haltung gegen das Sinnenleben liegt
aber als Zukunft in dem Geiſte, der die Reformation erzeugt hat. Er
zehrt das Naive auf und ſoll es als frei gewollte Natur wiederherſtellen.
Er geht aber über das Gefäß der proteſtantiſchen Kirche, die als Kirche
bald erſtarrte, unendlich und untaſtbar hinaus. Beklagt man den dürftigen
Cultus und preist die Schönheit des katholiſchen, ſo erwäge man, daß
man die äſthetiſchen Wirkangen des proteſtantiſchen Geiſtes ganz wo
anders zu ſuchen hat; gegen jene leere Pracht ſtelle man z. B. die Poeſie
eines Göthe und Schiller, welche nur in der Heimath proteſtantiſcher
Bildung möglich war, man denke überhaupt an die mittelbaren, weltlichen
Wirkungen des Prinzips, aus dem die proteſtantiſche Kirche hervorgegangen
iſt. Die Kirche ſelbſt nun ſtellte ſich zwar unter das weltliche Oberhaupt
und wurde ſogar ſervil; aber als Kirche ruht ſie auf dem Prinzip der
übernatürlichen Autorität und unterwühlt im Verlaufe, je weniger ſie
Macht hat, als zweiter Wille den Willen des Staats. Eine der häß-
lichſten Erſcheinungen iſt das dogmatiſche Gezänke der proteſtantiſchen
Theologen. Neue Verfolgungsſucht mordet einen Servede. Der Pietiſmus,
urſprünglich eine edle Oppoſition gegen das todte Dogma, wird ſpäter
fanatiſch und tritt als Garde des Erſtorbenen auf, wie die Jeſuiten für
die katholiſche Kirche. Dieſes Böſe hat aber eine andere Form, es iſt
ärmer in der Erſcheinung, unſinnlicher, hat den apprehenſiven Geruch
[273] der Verdammung der Natur, der verdorbenen Phantaſie, die in jeder
Freude Sünde ſucht, der Heimlichkeit der zurückgedrückten Sinnlichkeit,
verachtet Form und Grazie, hat nicht den objectiven Ton und Rückhalt
in großer Macht und iſt dafür um ſo viel verbiſſener, ſubjectiv gekniffener.
— Fanatiſche Sekten wie die Wiedertäufer ſind ein widerwärtiger Stoff.
Freund und Feind ſind in den Auftritten zu Münſter gleich elend; hier
ſollte man nicht hineingreifen, kaum zu komiſchen Zwecken. Fanatiſch,
aber doch groß und heroiſch treten dagegen die Huſſiten auf, die wir
nachher erwähnen.
Schön aber iſt der erſte Kampf der Reformation mit der beſtehenden1
Welt. Große Männer treten auf und große Thaten geſchehen. Sie erweckt2
ferner auch das Volk zum Bewußtſein der Freiheit; es tritt aus dem Dunkel
hervor, aber der Bauernkrieg endet blutig. Glücklich kämpft England, ebenſo3
nach tragiſchen Wechſeln die Niederlande, furchtbar leiden die Hugenotten.
Ein dreißigjähriger Krieg, zwar voll großer Erſcheinungen, entfeſſelt die
Leidenſchaften zu allgemeiner Wildheit, verwüſtet und zerreißt Deutſchland,
wirft den Charakter des deutſchen Volks in die Einſeitigkeit ſubjectiver Bildung
zurück. Eine blutige Umwälzung vollführt der Proteſtantiſmus in England.
1. Franz von Sickingen, Ulrich von Hutten, Luther, beſonders auf
dem Reichstage zu Worms, wackere Geſtalten der erſten proteſtantiſchen
Fürſten. Schmalkaldiſcher Krieg. Moriz von Sachſen. Höchſt ſchlagender
Gegenſatz in der Vertretung des katholiſchen Prinzips durch die vornehme,
ſpaniſche Grandezza, die durchaus politiſche, dem Gemüthsgehalte der
Reformation gänzlich fremde Natur Carls V. Deſſen Schickſal, Lebens-
müde, Abdankung, Zurückziehung in’s Kloſter. (Bièfves bekanntes Bild).
Schweiz: Zwingli, fällt auf dem Schlachtfelde. Hier ſind ſchon überall
Stoffe, die der Gegenwart ſich vertraut darbieten, Frühlingswehen des
neuen im Kampf mit Grabeshauch des alten Geiſtes; das ſechzehnte Jahr-
hundert iſt dem unſern ſo vielfach verwandt, daß ſein bewegtes Leben
unter die fruchtbarſten, der Sympathie ſicherſten Fundgruben gehört.
2. Der Bauernkrieg zeigt zunächſt überhaupt das Erwachen des Volkes
an. Dieß iſt nicht nur in politiſchem Sinne, ſondern auch in Betreff der Sitten
und Formen, namentlich für Deutſchland, äußerſt wichtig. Die adelige Fein-
heit verſchwindet, derbe, bäuriſche Luſt lärmt, trinkt, ſingt. (Fiſcharts ganzer
Ton und beſonders ſeine Trinkſtube. Stoffe der niederländiſchen Maler).
Doch gilt dieß in Deutſchland mehr vom Bürgerſtande; die Bauern ſuchen
ſich aus furchtbarem Druck erſt aufzuraffen. Die geiſtige Befreiung
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 18
[274]der Reformation wird von edlen Agitatoren zum Gedanken einer
politiſchen erweitert und jener kurze, furchtbare, von den Bauern unklug
geführte, von der adelichen Militärmacht, die hier zum erſtenmal als
innere Polizei auftritt, ſo grauſam beendigte Krieg bricht los. Da
lügen Momente für ein Drama, grob und ſtark, wie wir es bedürfen
und wie es doch die verwöhnten Nerven unſerer Zeit ſchwerlich ertragen
könnten. Mit der Dämpfung dieſer ſo berechtigten Bewegung, wobei
Luther durch ſeine ſervile Haltung ſeinem großen Charakter einen ewigen
Flecken anhängte, iſt es ausgeſprochen, daß die Reformation, ſtatt ſich
zur Idee der wahren Freiheit zu entwickeln, ſtockt und zu einer, eben-
darum nur halben, Befreiung des Innern im religiöſen Gebiete ſich ein-
mengt. Ja ſie gibt ſich her, der vereinzelten Vergrößerungsluſt der
Territorialgewalt als Vorwand zu dienen. Nimmermehr darf man ihr
darum vorwerfen, ſie trage die Schuld der Zerreiſſung Deutſchlands.
Am Kaiſerthum lag es, die neue Bewegung zu verſtehen, zu ergreifen,
in ſeine Hand zu nehmen, mit ihrer Hilfe Kraft gegen die Liga zu
gewinnen und Deutſchland die monarchiſche Einheit zu geben, durch die
es, wie die andern europäiſchen Staaten, den Uebergang in die neue
Zeit hätte machen ſollen.
3. England: die Reformation iſt unvollkommen. Heinrich VIII.,
ein geſchichtlicher Blaubart. Thomas More. Die katholiſche Maria:
Johanna Gray. Eliſabeth, Maria Stuart, ſpaniſche Armada. Abfall
der Niederlande: Egmont, Horn, Oranien, Alba, dann die großen
Schlachten, die blutigen Stürme, durchaus eine Fundgrube von großen
Stoffen. Hugenotten in Frankreich, Carl IX, Katharina von Medici,
Coligny, Greuel des Religionskrieges, Bartholomäusnacht. Heinrich IV,
Navaillac. Hier, in Frankreich namentlich, zeigt ſich ſchon, was der §.
als erſte Wirkung des dreißigjährigen Kriegs nennt: Entfeßlung der
Leidenſchaft. Eine pathetiſche Erregtheit und Wildheit iſt der Charakter
des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts. Nicht nur die Reformation
hat die ſubjective Freiheit zum Bewußtſein ihrer ſelbſt gebracht und die
Parteiung in der Welt entzündet, ſondern alle Parteien haben dieß
gemeinſam, daß nun der Menſch ſich und ſeine Zwecke als berechtigt
fühlt. Die Welt wird politiſch; der ſittliche Gehalt der Reformation iſt
zu innerlich, um in die Politik Sittlichkeit einzuführen, und die katholiſche
Kirche kann es nicht wollen, da wacht mit der ſubjectiven Entbindung
die vielſtimmige Welt der Triebe und Leidenſchaften erſt in ihrer Mannig-
faltigkeit auf, mit ihr blutige Grauſamkeit, tückiſche Liſt, aber anders als
im Mittelalter, nämlich nicht im Contraſt mit inniger Andacht, ſondern
gewiſſenlos ſelbſtſüchtig, ja gewollt und daher mit pathetiſchem Schwunge.
Beſonders die franzöſiſche Nationalität, die nach Voltaires bitterem
[275] Ausdruck den Affen und Tiger in ſich vereinigt, iſt bei Entſtehung der
blutigen Thierhetze dieſer Zeiten mit einem gewiſſen renomiſtiſchen und
theatraliſchen Tonus betheiligt. Die rechte Hetzjagd der Leidenſchaften,
das rechte Gewirre der gewiſſenloſen Politik iſt aber nun das blutige
Schauſpiel des dreißigjährigen Kriegs. Das äußere Bild vollendet ſich
in der Entfeßlung der wilden Soldateſka (Wallenſteins Lager); die
Kriegsfurie braust durch die Welt. Ueber dem Getümmel ragen die
großen Heerführer, ein Mansfeld, Guſtav Adolph, Bernh. von Weimar
auf der einen, ein Tilly, der tragiſche Wallenſtein auf der andern Seite;
die großen Gegenſätze des reactionären Prinzips in der doppelten Form
des ſpaniſch habsburgiſchen und des bigott katholiſchen Intereſſes in der
Liga, des proteſtantiſch deutſchen und ſchwediſchen Charakters faſſen die
Maſſen des Ganzen in ſtreng ausgeprägte Gruppen zuſammen. Die
Menge der furchtbaren Stoffe bedarf nur eines Winks. Auch ein ſlaviſches
Volk, die Böhmen, iſt auf den Schauplatz der Geſchichte getreten; lebhaft
entzündet von der Religions-Idee der Zeit, empört über den Ketzertod
des Huß, geführt von dem Helden Ziſka hat es wild und tapfer gekämpft,
bis die Bewegung, nachdem ſie zum dreißigjährigen Kriege das Loſungs-
wort gegeben, blutig unterdrückt wird. Von der Verwüſtung Deutſchlands
durch dieſen Krieg, von dem Wüthen der räuberiſchen Kriegshorden gibt
ein beſonders anſchauliches Bild der Simpliciſſimus und Philander von
Sittewalds (Moſcheroſchs) „Wunderliche und wahrhaftige Geſichte.“
Seit dieſer Zerſtörung alles Wohlſtands, der Schmach, von fremden
Truppen als den Freunden der eigenen Sache zertreten zu werden, der
durch Oeſtreichs und Bayerns Widerſtand und Verbrechen gegen das
Geſetz der Geſchichte vollendeten Zerreißung Deutſchlands, dem ſchimpf-
lichen Verluſte ſchöner Provinzen an Frankreich ſinkt Deutſchland in
politiſche Nichtigkeit und in das Mißverhältniß innerer Bildung bei äußerer
Niederträchtigkeit. Aus dem tapferſten Volke der Erde, das die Welt
beſiegt hatte, wird allmählich ein ſtilles Culturvolk. — Der äſthetiſche
Werth der engliſchen Revolution bedarf um ſo weniger einer Ausein-
anderſetzung, da auch dieſe Stoffe ſchon vielfach benützt ſind. Delaroche
beſonders hat durch ſeine Darſtellung Cromwells am Sarge Carls gezeigt,
wie geiſtvoll er in den Gegenſtand eingedrungen. Aber da ſind noch
Auftritte voll ſpannender und erſchütternder Kraft in großer Menge.
In der allgemeinen Gährung dieſer Zeit, wo ein altes Band der Zucht1
zerbrochen, ein neues noch nicht in Kraft iſt, ſammelt ſich ein alter Aber-
glauben zu ſchauderhaftem Ausbruch und geht eine allgemeine Klage und Angſt
18*
[276]durch das Getümmel der bäuriſchen Luſt, der bürgerlichen Rührigkeit, der
ſoldatiſchen Wildheit, der vornehmen Ueppigkeit, der allgemeinen Leidenſchaft-
lichkeit und entbundenen Sitte, in welche auch die allmählich ſtärkeren Ein-
wirkungen der erneuten Kenntniß des Alterthums noch kein Maaß einzuführen
2vermögen. Die Culturformen ſuchen das Ausgeſchwungene, Luftige, Weite,
Bunte, Bewegte und behandeln in dieſem Charakter auch das wiederaufgenommene
Antike. Mit ſteigender Willkühr ändert die Mode das Einzelne in dieſem
allgemeinen Typus.
1. Der §. faßt Mehreres zuſammen, was im Bisherigen ſchon
berührt iſt, und hebt als weiteren Zug die Verzweiflung, die Angſt vor
dem jüngſten Gerichte, die Hexenprozeſſe hervor. Ebenſo ſtieg in Rom
zur Zeit ſeiner Fäulniß ein ungeheurer Unfug der Zauberei, gemiſcht aus
dem Aberglauben aller Völker, auf; es iſt der Wahnſinn, der ſich erzeugt,
wenn eine Welt verſinkt und eine neue in den Geburtswehen liegt. Der
entſeſſelte Egoiſmus gab dem Aberglauben den Zweck der Habgier, der
Selbſtſucht; Alchymie, Magie, Aſtrologie kamen an die Tagesordnung.
Die Welt ſcheint verrückt, alte Einfalt verſchwindet, Cyniſmus, Natura-
liſmus und raffinirter Luxus arbeiten in die Wette. Die Genußſucht wird
grenzenlos, der Aufwand der Großen faſt unüberſchwenglich, fremde
Speiſen, „Schleckbißlein,“ Gewürze, Weine überſchwemmen die Tafel,
die Deutſchen werden als ſchreckliche Säufer noch berüchtigter, als vorher;
neue Krankheiten dringen ein und ſcheinen eine Strafe des Himmels, der
Weltuntergang ſcheint nahe. Die Hexenprozeſſe ſind ein Stoff voll dunkeln
Wahnſinns und teufliſcher Bosheit, die wie ein Geſpenſt den Unſchuldigen,
der im Momente des Verdachts unrettbar verloren iſt, erfaßt und ver-
nichtet. Tiecks Hexenſabbath.
2. Zu §. 364, 1. iſt ſchon bemerkt, wie das mittelalterliche Oberkleid,
das immer vorn geſchloſſen war und daher über den Kopf angezogen
werden mußte, vorn geöffnet und ſo zum bequemeren Rock wurde, in
den man ſchlüpfen kann. Er floß noch frei, war nicht in die Taille
geſchnitten und durch Farbe, Stoff, Beſätze, Länge u. ſ. w. der größten
Mannigfaltigkeit fähig, wodurch man denn auch den Unterſchied der Stände
im ſechzehnten Jahrhundert ſogar ſchärfer und beſtimmter, als in irgend
einem früheren, bezeichnete. Als Talar iſt er das allgemeine Kleid der
Amtswürde, das noch heute z. B. im proteſtantiſchen Kirchenrock fort-
dauert. Das Wamms wurde zum Unterkleide. War ſo das Knappe, den
beengten Geiſt des Mittelalters bei aller Buntheit treu Bezeichnende aus
der Bekleidung des Rumpfes geſchwunden, ſo mußte dieſelbe Bewegung
auch das Beinkleid ergreifen. Man ſchlitzte es, um die Bewegung zu
erleichtern, an den Gelenken auf, ließ Sammt und Seide, bunte Zeuge
[277] aus den Oeffnungen hervorſehen, trug dieſelbe, aus einem Bedürfniß
entſtandene Zierde auf das Wamms über, das immer noch auch als Ober-
kleid ohne Rock, namentlich vom Landsknecht, getragen wurde, und ſo
entſtand die neue zerſchlitzte und vielfarbig gepuffte „zerflammte, zer-
hauene und zerſchnittene“ Tracht. Der Theil wucherte aber nun über
das Ganze her, das Enge verſchwand neben dem Aufgebauſchten und es
bildete ſich nach der Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts zugleich mit den
weiteren Aermeln des Wammſes die weite Pluderhoſe, die bis an das
Knie reichte, wo der enganliegende Strumpf begann. Man erkennt in
dieſer ganzen Veränderung eine völlige, organiſche, nicht blos decorative
Umgeſtaltung, durch ihren bequemeren, luftigeren Charakter ganz der
freieren Regung des Geiſtes im Reformationszeitalter entſprechend. Sie
iſt beſonders an den deutſchen und ſchweizeriſchen Landsknechten zu ſehen.
Die romaniſchen Völker ergreifen die neue Tracht und benützen ſie als
Motiv eines vielfachen neuen Luxus, der mit dem Eigenſinn der Mode
wieder Deutſchland beherrſcht; der Geiſt der allgemeinen Entfeßlung der
menſchlichen Triebe wirft ſich phantaſtiſch auf ſie und treibt ſie in die
bunteſten Ausſchweifungen. Manche verwandten bis 200 Ellen Zeng zu
ihren Hoſen. Selbſt die Lätze nehmen die verſchiedenſten Formen an,
„Ochſenköpf, Hundsfidelbögen, Schneckenhäuslein“ (Fiſchart) u. dergl.
Gegen das Ende des ſechzehnten Jahrhunderts zog ſich die phantaſtiſche
Form der Beinkleider wieder zuſammen, ſo daß ſie ohne Zerſchlitzung
u. dergl. in mäßiger Weite bis zum Knie liefen. Den Kopf ſchmückte
während der Dauer dieſer Tracht ein umfangreiches, ebenfalls geſchlitztes
und gepufftes Barett, das den ſchon eingedrungenen Filzhut faſt ver-
drängte. Er tritt in doppelter Form auf, in der abgeſtutzten Kegelform
(ähnlich wie noch heute) bei Vornehmeren, als breitkrempiger Schattenhut
beim Landvolk. Das Haar, das man im Mittelalter kurz geſchoren hatte,
wallte ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert wieder freier, länger, wurde
aber in gerader Linie ringsum abgeſchnitten; den Bart ließ man wachſen.
Im ſechzehnten Jahrhundert aber kommt das ganz kurz abgeſchnittene
Haar auf, eine Tracht, die gewöhnlich von Franz I abgeleitet wird;
damit verbindet ſich langer und ſpitzer Bart. Mit dieſer Reduction nun
und dem hofmäßig diplomatiſchen Charakter, den ſie trägt, harmonirt
vollſtändig eine vorübergehende Beſchränkung des Strebens nach dem
Weiten, Ausgeſchweiften, die in den letzten Decennien des ſechzehnten
Jahrhunderts von dem autokratiſch bigotten und höfiſchen Geiſte der
romaniſchen Völker, Hand in Hand mit der Reaction gegen die neue
geiſtige Bewegung, ausgieng: die ſogenannte ſpaniſche Tracht, denn
Spanien und der Geiſt Philipps II war es vorzüglich, woher dieſe Form
ſich verbreitete. Von der Zerſchlitzung und Aufbauſchung behält dieſe Tracht
[278] nur die weiten Puffen am Oberſchenkel, von da ſteckt das Bein in
enganliegender (meiſt ſeidener) Hoſe, den Oberleib ziert ein mit Puffen
und Treſſen beſetztes Wamms, darüber ein kurzer Mantel, den Hals
umgibt ſcheibenförmig der gefältelte Kragen, der längere Haare gar nicht
zulaſſen würde. Doch dieſe Tracht kann ſich als höfiſche nur kurze Zeit
halten; das ſpaniſche Beinkleid weicht wieder dem bequemen, mäßig
weiten, unten offenen, das Mäntelchen dem Rocke, das Barett oder
der mit der ſpaniſchen Tracht ebenſo häufig vorkommende Spitzhut dem
breitkrämpigen Hute, jene leidenſchaftlich bewegten, der Freilaſſung der
Perſönlichkeit entſprechenden Formen aus der Reformationszeit dringen
wieder ein und bilden die Tracht der Zeit des dreißigjährigen Krieges.
Aus dem brüchigen, verbogenen, verkniffenen, auf einer beliebigen Seite
aufgekrämpten, federngeſchmückten Hute ſchaut mit einem kecken, pathetiſchen,
naturaliſtiſch genialen Wurfe das Angeſicht jener Männer aus einer ſo
ſtürmiſchen, ſo wilden, ſo energiſchen und zugleich perfiden Zeit. Das
Haar wächst wieder frei und fällt auf den Kragen, der ſich nun glatt
über die Schulter legt (der letzte Reſt deſſelben ſind die Prieſterbäffchen),
der Bart ſtutzt ſich zum muthwillig aufgedrehten Zwickelbärtchen und
ſchmalen Knebelbart. Die gegebenen Formen wurden nun mit wachſender
Willkühr im Einzelnen gebogen, ausgeſchweift, dreſſirt und die Klagen
über das insbeſondere von Frankreich eindringende „Alamodeweſen“ immer
häufiger, ſtärker. Philander von Sittewald (Moſcheroſch) ſagt z. B. von
den Hüten: jetzt wie ein Ankenhafen, dann wie ein Zuckerhut, wie ein
Cardinalshut; da ein Stilp ellenbreit, dort ein Stilp fingersbreit; dann
von Geißenhaar, dann von Kameelshaar, dann von Biberhaar, von
Affenhaar, von Narrenhaar; dann ein Hut als ein Schwarzwälderkäs,
dann wie ein Schweizerkäs, dann wie ein Münſterkäs. Der Bart, ſagt
er, werde alle Morgen mit Eiſen und Feuer gepeinigt, gefoltert und
gemartert, gezogen und gezerrt: jetzt wie ein Zirkelbärtel, jetzt ein Schnecken-
bärtel, bald ein Jungfrauenbärtel, ein Dellerbärtel, ein Spitzbärtel, ein
Entenwädele, ein Schmalbärtel, ein Zuckerbärtel, ein Türkenbärtel, ein
ſpaniſch Bärtel, ein italieniſch Bärtel, ein Sonntagsbärtel, ein Oſterbärtel,
ein Lillbärtel, ein Spillbärtel, ein Drillbärtel, ein Schmutzbärtel, ein
Stutzbärtel, ein Trutzbärtel u. ſ. w. Die Kleidung wird im Allgemeinen
ſo überladen, daß „Einer eine ganze Mühl, einen Meierhof, ein ganz
Dorf auf dem Leibe trägt.“ Bauſchig wird auch die Weiberkleidung; es
herrſchen ſehr weite Aermel und als Vorbote des Reifrocks kommt der
ſogenannte Speck auf, ein oft 25 Pfund ſchwerer Wulſt um die Hüfte.
An den Beinkleidern der Männer wird mit Neſteln, Strumpfbändern,
Stickereien, Metallſtiften u. ſ. w. großer Staat gemacht, die Schuhe
ſchmücken große Roſen, das Rohr des Stiefels ladet ſich im Stulpſtiefel
[279] zu einer weiten, ſchlappigen Schüſſel aus. Was die Waffen betrifft, ſo
war zwar durch das Pulver die Rüſtung nutzlos geworden, aber erſt im
Verlaufe des dreißigjährigen Krieges ſah man dieß ein und beſchränkte
die prachtvollen Rüſtungen, mit denen der Adel noch am Ende des ſech-
zehnten Jahrhunderts dem Feuerrohr als der verachteten Waffe des Fuß-
volks vergeblich getrotzt hatte, allmählich auf Sturmhaube und Harniſch.
Die ganze Bewaffnung erſcheint aber noch ſchwer und maſſig, wie denn
die Muskete ſelbſt noch ſo gewichtig iſt, daß ſie auf einem Gabelſtock
aufgelegt werden muß. Guſtav Adolph ſchaffte jedoch dieſen ab und
führte größere Leichtigkeit der Bewaffnung, Maſſenbewegung, des ganzen
Manövers ein, wogegen das kaiſerliche Kriegsweſen noch recht den alter-
thümlich ſchweren Typus hatte, von dem ſchon allein jene Batterieen, wo
20 bis 25 Pferde an einer Kanone zogen, ein Bild geben. — In der
künſtleriſchen Behandlung der Umgebungen des Menſchen, die uns hier
nicht als Kunſtthätigkeit, ſondern als Ausdruck und Sittenbild der Zeit
beſchäftigt, dringt der bekannte Styl der renaissance ein. Das Gerad-
linigte und ruhig Harmoniſche antiker Formen, entſprechend dem Rationellen
und Lichten in der neuen Weltanſchauung, verbindet ſich mit nicht auf-
gegebenen Formen des phantaſievoll Myſtiſchen und Helldunkeln, was im
Gothiſchen liegt; die bewegte, leidenſchaftliche Zeit ſchafft zugleich ſtatt der
alten Ornamente neue kecke Krümmungen, ladet aus, rollt und ruht nicht,
bis der Rokoko aus der renaissance geboren iſt.
Die Mitte dieſes Zeitraums beginnt mit der Durchführung einer großen1
Wirkung und der durch ſie hervorgerufenen Gegenwirkung. Die Wirkung, die
ſich zuerſt in ihrer Breite entwickelt, iſt der verſtändige Egoismus, der als
Monarchie in der auf’s Neue verſtörten Welt Ordnung und Einheit ſchafft,
indem er das (§. 362, 2) angefangene Werk vollbringt, aber auch durch Mißtrauen,
Zwang und Mechaniſmus die Freiheit ertödtet. Das Volksleben wird erdrückt,
die Geſchichte ſpielt an den Höfen. Doch iſt die Einzwängung noch nicht2
vollendet; die Stände ſind noch lebendig ausgeprägt, es iſt noch Luft genug für
verwegene Individuen, die im Kampfe mit der neuen Ordnung auf Aben-
theuer gehen. Dieſer neue Zuſtand iſt nach dem Vorgange Spaniens vorzüglich
franzöſiſches Werk.
1. Die Monarchie und die Revolution ſind der gegenſätzliche Aus-
gangspunkt einer noch nicht geſchloſſenen Weltperiode. Wir nennen ſie
[280] eine Wirkung, wiewohl ſie nach der einen Seite eine Reaction war, denn
ſie hat auch ihre weſentliche poſitive Bedeutung; die Revolution iſt daher
in dieſem Zuſammenhang als Gegenwirkung zu bezeichnen. Die Monarchie
iſt die Form des ſiebzehnten Jahrhunderts. In Spanien war die abſolute
Herrſchaft eines einzigen Menſchen über ein ganzes Volk ſchon durch
CarlV vollendet, PhilippII übernimmt ſein Syſtem ohne ſeinen Geiſt
und wird zum Vertreter der ſtarren, bigotten Autokratie; aber Spanien
tritt nun aus der Reihe der geſchichtlichen Völker, neue Verwirrung durch-
tobt Europa und es braucht einen neuen ſtreng und klug durchgreifenden
Act, Ordnung und Einheit zu ſchaffen. Frankreich führt jetzt, und zwar
nicht mit Pfaffen und Inquiſition, ſondern mit weltlichem Verſtande die
abſolute Monarchie durch. Richelieu, Mazarin, Ludwig XIV. Die
Hauptmittel ſind namentlich Heranziehung des Adels an den Hof,
Abgabenſyſtem, ſtehendes Heer, faſt mehr gegen innen, als gegen außen,
Polizei: in ihrer eigentlichen Bedeutung als Mißtrauenswaffe der
Monarchie durch die Beſchränkung aller individuellen Lebendigkeit ein Tod-
feind des Schönen. Die Durchführung des Allgemeinen im Staate iſt
keineswegs nothwendig eine Mechaniſirung, Ertödtung, Einſchnürung des
individuellen Lebens, aber ſie mußte zuerſt dieſe Form annehmen, weil
über die Reſte des Vaſallentrotzes, die zerriſſene Welt der Parteiungen
und Leidenſchaften eine ſtarke Fauſt von oben kommen ſollte und die
Menſchen, die nicht einig ſind im Willen der Ordnung, durch Einen
Gewalthaber in die Ordnung gezwängt werden müſſen. Dieſer Eine
mußte jedoch hinter ſeinem hiſtoriſchen Rechte Gefühl des Unrechts in ſich
tragen, Mißtrauen wurde ſein Schickſal, daher belauerte er auch die
gerechte freie Regung. Ueberhaupt aber konnte die Zeit, in welcher das
freie Selbſtbewußtſein neu war, nicht aus der rohen Zerſplitterung ſogleich
zur concreten Idee übergehen, ſondern nur erſt zur verſtändigen Zuſammen-
faſſung. Der Verſtand nun führt überhaupt einen Reſt nicht aufgelöster
Sinnlichkeit in ſich; er wirkt abſtract, leblos zuſammenfaſſend, er läßt
aber zugleich hinter dem Abſtracten ein ſinnliches Ding, ein Einzelnes
ſtehen. Einheit und Allgemeinheit des Staates führt ſich alſo in der
Breite mit aller Härte der Abſtractheit durch und auf der Spitze fällt ſie,
ſinnlich roh verſtanden, in die Perſon des Monarchen: l’état c’est moi;
ſie iſt Product Eines Individuums, ſtatt aller. Volk und Bürger treten,
ſtill und langſam reifend, wieder in Dunkel zurück, die Schönheit muß
ihre Stoffe an den Höfen ſuchen, im feierlichen Glanze der Repräſentation,
in den Genüſſen und Ränken des den Monarchen umgebenden, gezähmten
und ſchwelgeriſchen Adels. — Am wenigſten gelingt dieſe Durchführung
der verſtändigen Monarchie in England. Hier herrſchen die Privilegien,
der Reſt des Mittelalters, heilſam als Beſchränkung der Monarchie,
[281] verderblich für das Volk, aber durch frühe begründete Conſtitution iſt eine
glückliche weitere Entwicklung verbürgt.
2. Das Leben rettet ſich immer noch manches bunte Stück. Kenntliche
Formen, Sitten, Tracht, Ceremoniell unterſcheiden noch die Stände. Das
achtzehnte Jahrhundert iſt auch noch recht die Zeit vereinzelter, verwegener
Individuen, der Glücksritter (Caſanova), Abentheurer, der Reiſen, die
an bunten Zufällen reich ſind, der Räuber und Zigeuner (Cartouche,
Hannikel u. ſ. w.), der kecken Barone, die auswärtige Kriegsdienſte ſuchen,
es iſt überall noch Raum, ſich zu regen. Dieſe, für die Aeſthetik noch
ſehr ergiebigen, Erſcheinungen ſind nun aber nicht mehr, wie die verein-
zelten rohen Kräfte des Mittelalters, das eigentlich Berechtigte, ſondern
ſie ſind Kampf mit dem Beſtehenden, Ueberliſtung und Umgehung der
neuen Ordnung, ſie ſind polizeiwidrig und haben dadurch gerade ihren
eigenen Reiz. Allerdings tritt immer mehr das Biographiſche in den
Vordergrund; es ſind die Privatſchickſale, die im ertödteten Ganzen noch
Intereſſe behaupten. Je mehr der Geiſt einer neuen Zeit zündet und die
Deſpoten-Willkühr gegen ihn ſich wirft, deſto mehr bieten ſie tragiſchen
Stoff dar (Schubart u. And.).
In dieſer kahlen monarchiſchen Einheit bildet ſich der Verſtand zur1
Conſequenz der Aufklärung fort, einer Form des Bewußtſeins, welche
weſentlich in Frankreich als eine andere abſtractere Reformation erzeugt wird
und ſich von da verbreitet. Dieſe löst die Religion auf, ohne ihren Gehalt2
zu retten, und bethört ſich daher mit dem gemachten modernen Wunder. Sie
löst eine unfreie Sitte auf, ohne freie Sittlichkeit zu begründen, rechtfertigt
daher jedes Verbotene und beſpiegelt ſich eitel im verfeinerten Genuß, in
welchem die monarchiſche Willkühr und ihre bevorzugte Umgebung wühlt.
1. Die Aufklärung, die wie ein ätzender Geiſt alles Object in die
verſtändig denkende, aber auch in die willkührlich genießende Subjectivität
auflöst, iſt das franzöſiſche Surrogat für die Reformation. Ihre wahre
Schneide, ihre ganze negative Kraft wirkt jetzt noch nicht, zunächſt iſt ſie
ganz hoffähig, Geiſt des Adels, der Fürſten. Da ſie aber das Kind mit
dem Bade ausſchüttet, ſo iſt ſie geſtraft mit der Abhängigkeit von dem,
womit ſie fertig zu ſein meint. So war die Aufklärung keine wahre Kritik
der Religion und ebendaher ließ ſie dieſelbe ſtehen. LudwigXIV wollte
wohl Atheiſten, aber keine Proteſtanten im Amt, er hebt, ohne religiöſe
Begeiſterung, das Edict von Nantes auf (Dragonaden, Aufruhr in den
Cevennen). Aber nicht nur dieß; die zerſetzende Aufklärung geht nicht
[282] nur vom Hurenhaus und frivolen Geſpräch direct in die Meſſe, ſondern
ſie macht ſich auch, da die Kirche doch nur als ganz hohle Form ſtehen
bleibt, ihre eigenen Wunder: Wunder am hellen Tag, öffentliche Geheim-
niſſe, Freimaurerei und anderes geheimes Ordensweſen, ſie liebt Karten-
ſchlägerei, Wahrſagerei u. dergl. Betrüger, wie Caglioſtro, beuten dieß aus.
Hier iſt eine eigenthümliche Myſtik, mit der Ironie ihrer ſelbſt behaftet,
voll pikanter Stoffe. Allen Geiſtern des vorigen Jahrhunderts hängt etwas
davon an (Göthe, Wilhelm Meiſter. Viele Motive in J. Paul u. ſ. w.).
2. Prinzip der Willkühr und des Egoismus. Der freie Wille als
einzelnes, geſetzloſes, leidenſchaftliches Subject iſt Angel der Welt. Noch
werden die Conſequenzen nicht geahnt; mit dieſer Philoſophie werden
Mißbräuche, welche durch das entgegengeſetzte Prinzip, das Poſitive, das
Monopol geheiligt ſind, in der frevelhafteſten Ausbeutung beſchönigt und
die Höfe überſättigen ſich im Marke des Volks. Die Liederlichkeit, ſo
beſchönigt, iſt weſentlich frivol, ſie macht ſich ihre Metaphyſik und ſieht
ſich mit boshaftem Lächeln im Spiegel zu, wie ſie genießt. Es iſt nicht
Naturfriſche mehr in dieſem Genuß, er iſt reflectirt, reizt ſich galvaniſch,
iſt mercurialiſch, ſpricht boshaft jedem wohlbekannten Rechte Hohn.
Mätreſſenwirthſchaft, Verführung, Hoffeſt auf Hoffeſt, Jagden, Feuer-
werke bei rathloſen Finanzen, ſchamloſe Ballette, Quicken von Kaſtraten,
raffinirte Wolluſt. Caſanova. Die Stoffe aus dieſem Element haben
alle ihren ſpezifiſchen, ariſtokratiſchen haut gout lüſterner Grazie und
ſtechen noch heute vornehmen Liebhabern des Schönen ſehr in die Naſe.
In Wahrheit aber muß man ſie mit ihrem Ende, das ſie in der Revolution
ſtrenge genug fanden, zuſammennehmen, ſonſt hat man nur die Eine
Hälfte; die Guillotine gehört auch dazu. Außer dem franzöſiſchen Hofe
glänzt beſonders der Hof Auguſts, Königs von Polen.
Auch die äußere Politik, das diplomatiſche Verhältniß der Staaten hat
ſich ausgebildet und ein ſogenanntes Gleichgewicht ausgeſprochen, deſſen wahrer
Inhalt, die ſich gegenſeitig bewachende Länderſucht, wilde und zerſtörende Kriege
2hervorruſt. In dem auf’s Neue beraubten und erſchlafften Deutſchland hat ſich
inzwiſchen eine neue, nördlichere, proteſtantiſche Macht gebildet und nach langer
Zeit ſchaut es in Friedrich dem Großen wieder einen Helden an.
1. Schon Maximilian I, „der letzte Ritter“, der wackere Gemſen-
jäger, konnte in der veränderten Zeit, wo „Reineke Fuchs Kanzler des
Reichs geworden war“ (Roſenkranz) nicht mehr zurechte kommen, man
ſah dieſen Geiſt deutlich genug in jenen durch Frankreich erregten italieniſchen
[283] Kriegen am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Carl V ſetzt mit
Franz I dieſe Kriege vereinzelten, modern politiſchen Länderſtreits fort,
in welchen die gewerbsmäßige Betreibung des Kriegs (Söldnerweſen,
Schweizer, Deutſche, Landsknechte, Frundsberg) ſich in ihrer ganzen
Ausbildung zeigt. Iſolirt treten noch Geſtalten wie Bayard, der Ritter
ohne Furcht und Tadel, auf. Spanien bildete den formalen Verſtand
der äußeren modernen Politik ſchon zu einem Syſtem aus, allein es war
noch von einem ſubſtantiellen Pathos, dem kirchlichen Gewiſſen, gebunden.
Der ächt modern politiſche, gewiſſenloſe Verſtand trat erſt durch einen
Richelieu, Mazarin, Ludwig XIV reif in die Welt. Der diplomatiſche
Wechſelverkehr der Staaten, der ſich nun entwickelte, iſt nicht nur durch
ſeine abſtracte, geheime Form als Kabinetspolitik eine äſthetiſch ungünſtige
Erſcheinung, ſondern auch weil nun jede Staatshandlung zu einer reflec-
tirten, weil jedem Pathos der Völker ein verborgener Hintergrund gegeben
wird, der gerade die Ironie deſſelben ſein kann, ſo daß z. B. im Kriege
der begeiſterte Soldat ganz anderen Zwecken dient, als er weiß, und daher
überhaupt kein Zutrauen zu dem iſt, was erſcheint. Ganz in dieſes
Gewebe feiner Liſt, wo Alles hinter Couliſſen ſpielt, gehört das ſogenannte
Syſtem des politiſchen Gleichgewichts. Dieſer mechaniſche Begriff iſt
nichts als ein Ausdruck gegenſeitiger Belaurung des allgemeinen Egoismus
der Monarchen, welcher, ſehr verſchieden von dem kräftigen, in Eroberung
überwogenden Selbſtgefühl der alten Staaten, nach Gelegenheit ſpäht,
ſich zu vergrößern, gewiſſenlos nach Ländern zu ſchnappen. So beginnt
Ludwig XIV eine Reihe von Kriegen, in welchen die Intereſſen aller
europäiſchen Länder ſich durchkreuzen, gegen die ſpaniſchen Nieder-
lande, Holland, die Pfalz, England; es folgt der ſpaniſche, dann der
öſtreichiſche Erbfolgekrieg. In allen dieſen Kriegen geſchieht vereinzelt
Großes, ein Condé, Türenne, Catinat, Prinz Eugen, Marlborough treten
auf, aber dem Ganzen fehlt die Einfachheit, Deutlichkeit, Ueberſichtlichkeit,
welche zu einem vortheilhaften Stoffe erfordert wird. Bezeichnend für
die moderne Politik iſt namentlich die Rolle, welche ſeit dem ſechzehnten
Jahrhundert die Türken ſpielen, richtiger, welche man mit ihnen ſpielt.
Dieſes kühne, fanatiſche, rohe Volk gibt im Kampfe mit den abend-
ländiſchen Waffen ein farbenreiches Schauſpiel; einzelne Acte für ſich,
wie die Entſetzung Wiens durch Sobiesky, die Einnahme Belgrads durch
Prinz Eugen treten für ſich heraus als tüchtige Stoffe, woran ſich Vater-
landsgefühl betheiligen kann; allein überall ſteckt die Politik im Hinter-
grunde, welche längſt entwöhnt des alten Gewiſſens dieſes Volk vorſchiebt,
beſtellt gelegentlich ſchützt und gelegentlich angreift, zum allgemeinen
Vorwand, Zankapfel und endlich in der neueſten Zeit zur lebendigen
Leiche macht, welche die politiſche Eiferſuch nicht ſterben läßt.
[284]
2. Welche Raubſucht und böſe Wildheit hinter dem egoiſtiſchen
Verſtande der neuen Politik lauert, zeigen vorzüglich Ludwigs Einfälle in
Deutſchland, die Verwüſtung der Pfalz, ein tragiſches Bild, ein furcht-
barer und trauriger Stoff. Durch die Reunionskammern wird die Schmach
Deutſchlands vollendet. — Inzwiſchen hat ſich mehr und mehr der höhere
Norden an der Geſchichte betheiligt. Rußland, deſſen halbaſiatiſcher
Rohheit und Sklaverei Peter der Große deutſche Bildung aufpfropft,
deſſen verdorbene und blutige Pallaſtgeſchichten den orientaliſchen gleichen,
kämpft mit Carl XII, dieſem ächt nordiſch deutſchen und mehr eigen-
ſinnigen, als großen Charakter, den großen nordiſchen Krieg. Preußen
war durch Friedr. Wilhelm, den großen Churfürſten, bedeutend geworden.
Friedrich der Große verbreitet franzöſiſche Aufklärung in Preußen und
vollendet ſo allerdings die Entfremdung Deutſchlands von ſeinen Sitten
und ſeiner Nationalität, aber er ſchlägt die Franzoſen im Felde und gibt
der Zeit wieder das Bild eines Helden im ſiebenjährigen Kriege. Seine
Siege ſind im Volksbewußtſein weſentlich auch Werke der Energie einer
proteſtantiſchen Macht und Preußen begreift Oeſtreich gegenüber ſeine
Beſtimmung. Ein treuloſes Werk des politiſchen Gleichgewichts iſt die
Theilung Polens. Die Polen, ritterlicher und den Franzoſen geiſtes-
verwandter, als alle anderen Slaven, treten von nun an in die Sympathie
der Völker. Durch ganz verkehrte Form der Republik ſelbſt an ihrem
Untergang ſchuldig geben ſie doch durch Feuer und edle Tapferkeit dem
Schönen nunmehr eine Reihe großer und durch tragiſchen Ausgang
rührender Stoffe. Der edle Koſeiusko und der tapfere, rohe, barbariſch
burleske Suwarow ſind ein ſchlagender Gegenſatz. Ob Europa nicht
gegen Rußland die Rolle Griechenlands gegen Perſien zu ſpielen haben
wird, ruht im Schooße der Zukunft.
Der geſammte Ausdruck und die Bewegung der Perſönlichkeit nimmt
nun den Charakter der Bewußtheit, der Selbſtbeſpiegelung und der Berechnung
des Effects an, den höfiſche Zierlichkeit und Feinheit ſucht. Die Culturformen
entſprechen der ſubjectiven Willkühr des Verſtandes, der die Natur meiſtern will.
Dieſe wird eingezwängt und mißhandelt, aber man ſucht ſie auch poſitiv zu
überbieten und die von Frankreich nun geſetzgeberiſch ausgehende Mode ſetzt in
raſch wechſelnden Formen neben den ängſtlichen Zwang die zerfließende Buntheit,
den üppigen Auswuchs.
Die herben Ecken, das objectiv Markige verſchwindet; ſüß, zierlich,
roſig, mit Bewußtſein der Wirkungen ihrer tänzeriſchen Grazie ſehen die
[285] galanten Herrn unter ihren Perücken hervor. Gewiß iſt auch nicht zu
überſehen, daß die Spiegel immer allgemeiner in Gebrauch kamen. Wer
ſich oft im Spiegel ſieht, muß einen völlig anderen Ausdruck annehmen,
als der, dem dieſer Reflex des ſich ſelbſt Sehens nicht zur Gewohnheit
geworden. Die Formen gehen nun in den bekannten Charakter des Rokoko
über. So lächerlich uns dieſer jetzt erſcheint, ſo iſt doch vorauszuſchicken,
daß er keineswegs alles Naturkräftige und Objective bis zu dem Grade
abgeſtreift hat, wie die jetzige Welt. In der Tracht z. B. herrſchen noch
volle Farben, Treſſen von Gold und Silber, dadurch unterſcheiden ſich
Stände, Rangſtufen, wie es das äſthetiſche Intereſſe fordert. Alle gebildeten
Stände tragen noch die Wehre, die freilich zum zierlichen Degen ein-
geſchrumpft iſt. Die Umgangsformen ſind ſehr ceremoniös, lauter Titel,
Etikette, abgemeſſene Grazie, Compliment und Handkuß, aber das
Ceremoniöſe ſelbſt gibt noch den Unterſchieden der Geſellſchaft, der
Charaktere und Stimmungen weit beſtimmteren Ausdruck, als die jetzt all-
gemein verbreitete Kürze und Sparſamkeit aller äußeren Formen. Der Krieg
ſchleppt noch einen Ballaſt von Gepäcke, ſchweren Waffen, Gezelten, zum
Theil ſelbſt Stücken der Ritterrüſtung nach, der zwar unzweckmäßig, aber
darum eben nicht unäſthetiſch iſt. Als Prunkkleidung der Großen erſcheint
ſogar noch volle Rüſtung. So hart mechaniſch auch die preußiſche Dreſſur,
der Zopf- und Kamaſchen-Dienſt ſein mochte, es war in dieſen Soldaten
doch noch mehr von dem derben und ſchweren Kaliber der alten Lands-
knechte, das dem Künſtler ungleich günſtiger iſt, als die jetzigen Formen.
Uebrigens iſt der Kriegsdienſt bereits zum Zwangsdienſte geworden, nicht
mehr allgemeine Wehrpflicht, nicht mehr Vaſallendienſt, nicht mehr Gewerbe,
ſondern Verdammniß geworbener, dann conſcribirter Maſchinen, die für
die Qualen barbariſcher Dreſſur den Vortheil der Ehre eines ſogenannten
exceptionellen Standes genießen. — In Wald und Feld iſt noch Wild,
man ſieht noch, wie ein Hirſch, ein Eber ausſieht. — Uebrigens iſt der
allgemeine Charakter des Rokoko: Verbindung von Einzwängung und
Schnörkel, beides dem Prinzip der Wohlweisheit entſprungen, welche die
Natur verbeſſern will. Der Hut wird zum Dreimaſter, der Rock wird
in die Taille geſchnitten, mit Taſchen verſehen, mit Knöpfen, mit Treſſen
beſetzt und aus ihm geht nach den Zeiten Ludwigs XIV durch Ein-
ſchlagung der Schöße der Frack hervor. Dieſes Spottgebilde, das durch
eine ſchief über die Schenkel laufende Linie die organiſche Körperform
verwirrend zerſchneidet und deſſen Schwänze nur für die proſaiſchen
Taſchen dazuſein ſcheinen, die das Mittelalter ſo viel ſchöner als beſonderes
Anhängſel an zierlichen Riemchen oder Kettchen führte, hält ſich noch
heute dadurch, daß man außer dem Rock noch ein leichteres Kleid will,
das die männliche Taille offen zeigt, das Wamms aber, das dieſen Dienſt
[286] ohne jene falſche Linie leiſtete, zur Weſte geworden iſt. Reich geblümt
ſchneidet dieſe ſcharf in die tiefe Taille und ſchickt dann noch ihre langen
Schöße nach unten; aus ihrer Oeffnung quillt der Jabot, wie aus den
Rock- und Frack-Aermeln die Manſchetten, hervor. Selbſt die Hand
darf nicht mehr nackt erſcheinen, der Anſtand fordert Handſchuhe. Die
Beinkleider, unter Ludwig XIV noch ziemlich weit, werden knapp
anliegend und gehen nur bis zum Knie, zeichnen aber immer das
Bein richtiger und ſchöner, als die jetzigen langen. Der Stiefel, an
dem das weit abſtehende, franzenbeſetzte Rohr verſchwindet, bleibt nur
dem Soldaten und Reiſenden; zur anſtändigen Tracht gehört der mit
Schnallen beſetzte Schuh. Frauen: langer, enger Schnürleib und Reifrock,
freche Entblößung des Buſens, Schminkpfläſterchen, Stelzſchuh. Die
Ueberbietung der Natur bäumt ſich aber vorzüglich im Gebirge der
Perrücke auf, die in der Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts herrſchend
wird und die feierliche Etikette des Zeitalters Ludwigs XIV beſtimmt
genug bezeichnet. Der ſpätere Aufwurf des Puders, der anfangs ſilber-
blonde Haare nachahmen ſollte, gibt allen Köpfen jenen Ausdruck greiſen-
hafter Jugendlichkeit, den man durch „adoucir les traits“ bezeichnete. Der
Hut ſitzt als Dreimaſter auf dem Lockengebirge. Der Puder verſchwand
nicht ſo ſchnell, als Friedrich Wilhelm I von Preußen es wagte, die
Perrücke, zunächſt im Militär, abzuſchaffen und die natürlichen Haare
hinten in einen Zopf zuſammenzufaſſen, eine Mode, die gegen die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts durchdrang. Mit dem ſüßlichen Ausſehen,
das der Puder gab, verſchwand der Bart, der in zwei ſchmalen Tupfen
noch die Oberlippen der Herren in der Allonge-Perrücke zierte, völlig,
das weibiſche Milchgeſicht war fertig. Nun ruhte man nicht, bis man
die einfachere neue Mode wieder in Schnörkel ausgedreht hatte: Tauben-
flügel, Haarbeutel. Der Zwang war verdoppelt, der eigene Kopf mußte
täglich ſtundenlang „gemartelt“ und den ganzen Tag peinlich geſchont
werden. Dennoch bewegten ſich die Köpfe munter auf dem freieren Halſe,
den zur Perrückenzeit gar kein Rockkragen, zur Haarbeutelzeit nur ein
ſtehender wenig genirte. Das jetzige Pferdekummet war noch nicht
erfunden. Gezwängt und tänzeriſch zugleich waren nun alle Formen.
Der Tanz ſelbſt — Menuett, Ecoſſaiſe u. dergl. — iſt gemeſſen zierlich
und hüpfend zugleich, in Gärten wird die wirkliche Natur geometriſch
geſchulmeiſtert, die Glocken tanzen im Glockenſpiel; in allen Formen der
Architektur, der Bildnerei in Geräthen, Ornamenten, Tapeten u. ſ. w.
herrſcht der verfaſerte und verblaſene Schnörkel, der ſich auf kein geome-
triſches und ſtatiſches Geſetz reduzirt, von der Ausbiegung nicht in Symmetrie
einlenkt, in ungewiſſen Umriſſen zerflattert: die andere Seite derſelben
Willkühr, welche die Natur ſo tyranniſch einzwängt; hier will ſie durch
[287]légèreté, anderswo, indem ſelbſt Buſch und Baum im Garten zu beſtimmten
Formen beſchnitten wird, durch Zwang beweiſen, daß das Subject der
Meiſter iſt. Reich aber und brillant iſt noch Alles.
Dieſe Zuſtände ſchneidet wie ein Meſſer die Gegenwirkung der
Revolution durch. Die Aufklärung zieht negativ ihren Schluß, der Gedanke
bricht ſchlechtweg mit dem Beſtehenden und ſucht die allgemeine Gleichheit und
Freiheit durchzuführen, allein in Wahrheit entfeſſelt er die Willkühr der vielen
Individuen, weil er, durchaus abſtract, die Allgemeinheit nicht zu gliedern
vermag. Ebenſo wirft das Subject in dieſem abſtracten Werke alle Objectivität
ab, daher ſind alle Erſcheinungen der Revolution naturlos; ſowohl die großen
Thaten und Männer, als auch die moraliſchen Ungeheuer und die blutige
Zerſtörung, zu welcher entmenſchte Wildheit fortſchreitet, tragen das Aetzende
und Zerfreſſende des negativen Denkens an ſich, wodurch ſie unäſthetiſch werden.
Der Freiheitskampf und die Begründung der Republik in Amerika geht
voraus. Wenn wir behaupten, daß nur in der Republik ſchöne Menſchheit
als wirklicher Volkszuſtand möglich ſei, ſo iſt damit nicht geſagt, daß jede
Republik, auch eine ſolche, die eine kaufmänniſche Colonie in fremdem
Lande unter Mißhandlung der Ureinwohner gründet, ein ſchönes Bild
darbiete. Republikaniſche Luft iſt immer erhebend und erfriſchend, aber
Aeſthetiſches entwickelt ſie erſt, wenn ſie ſo durchgedrungen, daß ſie die
entſprechenden Formen geſchaffen hat. — So iſt nun auch die franzöſiſche
Revolution nur die Hälfte eines nicht fertigen Werks. Im Mittelalter
waren Einige frei; in der neuen Zeit vor der Revolution Einer
(freilich mit dem Anhängſel vieler fortdauernder Vorrechte der Einigen).
Dieſer Eine hatte ſich angemaßt, identiſch mit dem Allgemeinen zu ſein.
Die Revolution ſchneidet dieſe Identität mit der Guillotine durch und raſirt
jedes Vorrecht vom Boden. Sie thut dieß aus dem reinen Gedanken
heraus und iſt überhaupt der erſte Verſuch in der Geſchichte, das, was
alle Geſchichte leitet, aus einem bloßen Inſtincte zum bewußten Princip
zu machen, einen Staat auf den Begriff zu bauen. Nun ſind Alle frei,
allein damit iſt nur das Negative geſchehen und das Poſitive, die Orga-
niſation, die Gliederung der Unterſchiede der Thätigkeit und Betheiligung
an dem Allgemeinen, bleibt aus, mißlingt. Die Freiheit und Gleichheit
iſt hohl und leer, zwiſchen den wirklichen Individuen und dieſer abſtracten
Formel iſt keine Vermittlung und daher iſt es gerade die Willkühr der
Individuen, was entfeſſelt iſt, Habſucht, Tücke, Herrſchſucht, jede Leiden-
ſchaft. Die zerfreſſende Abſtraction dieſes Bruchs hat auch dem ſubjectiven
[288] Leben des Individuums allen Naturton, alle Unmittelbarkeit genommen,
alle Objectivität der Formen ſeines Lebens zerſtört, weggeätzt; man glaubte
ſich der eigentlich objectiven Lebensform, der claſſiſchen, nachzubilden, war
aber nie entfernter von ihr. Statt der Natur waltet die auf abſtracte
Begriffe gehetzte Wildheit; dieſe iſt ja nicht mit Natur zu verwechſeln.
Es iſt daher begreiflich, warum das äſthetiſche Intereſſe ſich mit Vorliebe
an die Opfer der Revolution, Adel und Thron, an die Reaction in der
Vendée, Bretagne hält. Wie gut und erhaben die Revolution in ihrer
Idee, wie ungeheuer das Böſe ſelbſt ſein mag, das ſich aus ihrer Ab-
ſtraction entfaltete: Alles hat den Scheidwaſſer-Charakter, der die Schönheit
abſtößt; dagegen iſt in den Anhängern des Alten noch gebildete, zwar
nach der Richtſchnur von Täuſchungen und Vorurtheilen gebildete Natur,
Reſt des Poſitiven, das zwar nicht mehr berechtigt iſt, aber doch geſchicht-
liche Farbe hat, übrigens natürlich unwahr dargeſtellt würde, wenn nicht
die tiefe Schuld mit zur Erſcheinung käme. Die Revolution will Geſchichte
machen; gemachte Geſchichte iſt nicht äſthetiſch. Die Revolution ſoll
daher nach dem Mißlingen ihres erſten abſtracten Durchbruchs ſich mit
der Natur und der Ueberlieferung vermitteln, ſie ſoll Charakter des
Werdenden und Gewordenen annehmen, natürlich wachſen und erſt der
künftige Baum, der ſo gewachſen, verſpricht Schönheit.
Im Innern ermattend ſchwillt die Revolution in dem Helden des neun-
zehnten Jahrhunderts über die Ufer, er gründet als Eroberer ein Weltreich.
Die Völker raffen ſich auf, die Idee des Vaterlands erwacht, das Weltreich
2wird zertrümmert. Aber während, was in der Revolution fruchtbar war, im
Schooße des Völkerlebens fortkeimt, ſinken die beſtehenden Zuſtände, ſelbſt
nach einer zweiten Revolution, in eine unkräftige Zuſammenſetzung des freien
und des monarchiſchen Elements; der Staat wird ganz zum Polizei- und
Schreiber-Staate, worin bei wachſender Theilung der Arbeit allgemeiner
Mechaniſmus den Charakter der Stände verwiſcht und die Individualität nach
außen ertödtet, ſo daß alle Lebendigkeit ſich in das Privatleben verkriecht, in
welchem zwar das längſt erweckte Alterthum eine Durchbildung und Ausrundung
der Perſönlichkeit, die nicht mehr Monopol der Vornehmen iſt, als Frucht
getragen hat, jedoch ohne Wirkung auf das Ganze des Lebens.
1. Es war in Napoleon etwas Antikes, eine objective Gewaltigkeit,
eine Naturmacht. Der Kopf dieſes Italieners zeigt ein klaſſiſches Profil.
Dadurch und als Kriegsheld iſt er eine ungleich mehr äſthetiſche Erſchei-
nung, als die ganze Revolution. Dieſe Heerzüge, dieſe Schlachten ſind
[289] ungeheure Bilder; namentlich wo große Natur mitwirkt, in Aegypten,
den Alpen, Spanien. Unbekannte Völker, Nationaltrachten treten auf
und geben Form und Farbe. Aber hinter Allem, was erſcheint, ſpinnt
perfide Politik; in dieſer iſt Napoleon als moderner Held noch ungleich
geſpenſtiſcher, unſinnlich raffinirter und dem äſthetiſch Darſtellbaren wider-
wärtiger, als die alten Römer in ihrem Eroberungsſyſtem. Deutſchland
erwacht, befreit ſich; auch hier verderbt freilich das politiſche Intrikenſpiel,
das hinter den begeiſterten Kriegern wie ihre Ironie ſich ausbreitet, ihre
blutigen Opfer durch einen verkehrten Friedensvertrag um die ſchönſten
Erfolge täuſcht, das ſchöne Bild des Vordergrunds.
2. Was die Napoleoniſche Zeit poſitiv durch Einführung moderner
Ideen, Inſtitute, Sturz veralteter Zuſtände, negativ durch Entwicklung
der Nationalkräfte und des nationalen Selbſtgefühls gewirkt, dieß Alles
geht uns im äſthetiſchen Zuſammenhange mittelbar an, ſofern Hoffnung
iſt, daß es ſich zu durchgreifend neuen Zuſtänden fortbilde, deren Weſen
ſchönere Formen mit ſich bringen muß. Auf die Befreiung folgt die
Reſtauration, eine Zeit patriarchaliſcher Täuſchungen. Das conſtitutionelle
Leben, ein vorläufig wohlthätiges Palliativ des wahren Staats macht Fort-
ſchritte in einigen Ländern. Preußen täuſcht bis zur neueſten Einlenkung
am ſchlimmſten, weil es ſo großen Beruf in Deutſchland hat und den
ſchreiendſten Widerſpruch innerer Bildung und politiſcher Würde des
Menſchen gewaltſam feſthält. Oeſtreich verharrt abſolut monarchiſch in
ſeiner chineſiſchen Geiſtesmauer. Die Revolution von 1830, mit dem
Aufſtand und tragiſchen Untergang Polens im Gefolge, verbreitet den
modernen Liberaliſmus. Der Zuſtand iſt eklektiſch. Dazu gehört beſonders
die fortdauernde, aus dem Mittelalter überlieferte Zweiheit der Seelen
im Staate, das Verhältniß von Staat und Kirche. Was aber überall
alle Schönheit des Daſeins tödtet, iſt der allgemeine Mechaniſmus des
Staatslebens. Dieſer hat zwar ſeinen Grund in der, durch die Auf-
klärung, die blos negative und halbe nämlich, verbreiteten Trockenheit und
Ledernheit aller Anſchauung überhaupt, noch mehr aber im Standpunkte
der Monarchie. Sie bedingt fortwährend den Beamtenſtaat, die Bureau-
kratie, das zu viel Regieren, die Vielſchreiberei, die Polizei als ein allge-
meines Zwangshemd, das keine freie und freudige Regung duldet, das
ſtehende Heer, das weſentlich Waffe der Polizei iſt u. ſ. w. Der Menſch,
insbeſondere der Deutſche, wird nun vollends das Weſen, das jeden
Augenblick ausſieht, als fürchte es, ein. Polizeidiener ſtehe hinter ihm.
Alles geht am Schnürchen, nach geſchriebenen und gedruckten Normen. Der
Reſpect und das Avancement iſt hier Pathos. Die Vielheit der Geſchäfte
verlangt, daß Einer ſein Leben lang Tag aus Tag ein daſſelbe treibe,
ohne Zeit zu haben für Anderes, für das allgemein Menſchliche. Der
Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 19
[290]Staatshämorrhoidarius gibt nur noch komiſchen Stoff. Ebenſo vielfach
aber hat die Induſtrie Alles getheilt und das Gewerbe verknöchert in
ſeiner Einſeitigkeit. Der weſentliche Zug der allgemeinen Theilung
iſt der, daß geiſtiges und ſinnliches Thun auseinanderfallen. Wie ſonſt
zwiſchen Adel und Volk, ſo beſteht jetzt zwiſchen den gebildeten Ständen
und dem arbeitenden Volk eine unendliche Kluft. Jene haben ſtudirt,
dieſes nicht. Jene ſchämen ſich des ſinnlichen Könnens; wenn der home-
riſche Held ſein Bettgeſtell zimmert, ſein Pferd anſchirrt, ſeinen Bogen
ſchnitzt, gelegentlich ſchlachtet, ſelber kocht, ſo iſt das jetzt Alles Schreiner-,
Kutſcher-, Metzger-, Koch-Arbeit. Wenn ferner der Held ſittlich groß
und doch zugleich in jeder Leibesübung ſtark iſt, ſo iſt dieß als Handwerk
jetzt dem Feldwebel, dem Bereiter, Kunſtreiter u. ſ. f. zugefallen. Alles,
was einen ganzen Menſchen macht, iſt zerſprengt, getheilt, jeder kann
nur Eines. Nun fordert die Aeſthetik allerdings markirtes Gepräge der
Stände und dieſe abſtracte Einſeitigkeit ſcheint ja ein ſolches zu begünſtigen.
Allein es kommt darauf an, wer es iſt, der einſeitig iſt. Gibt ſich ein
tüchtiger und feuriger Menſch in eine Einſeitigkeit, ſo bleibt er erſtens
in ihr ganz und ungebrochen, weil er in ihr productiv iſt, zweitens
behält er ſich vor, außerdem ein friſcher, vielſeitiger Menſch zu bleiben:
Beredtſamkeit, öffentliches Auftreten, Gymnaſtik und kriegeriſche Bildung,
Feſtesluſt erhalten in ihm die volle Menſchheit. Wir aber ſind verwiſcht
und einſeitig zugleich; denn die Sphäre, in welcher wir einſeitig ſind,
iſt ſelbſt abſtract, einſeitig in Verwiſchtheit, verwiſcht in Einſeitigkeit.
Nirgends iſt Luft; auch die Abentheurer verſchwinden, denn das Paßweſen
macht ſie unmöglich. Räuber ſind weg, aber Taſchendiebe gibt es um
ſo mehr. Nur im Privatleben iſt der Philiſter noch lebendig. Hier iſt
die Bildung, weſentlich eine Frucht der humaniſtiſchen Studien, ſo durch-
gedrungen, daß der Menſch in dieſem abgegrenzten Kreiſe ſeine Perſön-
lichkeit ausgerundet, ſeine nordiſche Barbarei zu geſchmeidigter Form
umgebildet hat. In der Periode vor der Revolution hatten Höfe und
Adel darauf ein Monopol. Das Schöne ſuchte ſeine Stoffe im Salon.
Göthe, der die Revolution verachtete, verweilte, zwar nicht ohne die
durch den Gegenſtand geforderte Ironie, in dieſer ausſchließlichen Sphäre
eſoteriſcher Bildung. Wie aber politiſch ſeit der Revolution der dritte
Stand hervorgetreten iſt, ſo rücken nun die mittleren, gebildeten bürger-
lichen Stände in den Mittelpunkt der Menſchheit; aber freilich, da fehlen
wieder die äußeren Bedingungen der freien Regung. Das Volk, die
mit der Hand arbeitenden Stände, ſind ebenfalls mehr und mehr in ihre
allgemeinſten politiſchen Rechte eingetreten, haben aber vor Armuth keine
Zeit, zur Menſchlichkeit und Menſchenwürde ſich zu erheben. Hier ſitzt
noch ein wichtiger Punkt, von dem nachher zu reden iſt. Der verküm-
[291] merte, durch allzuharte Arbeit und ſchlechte Koſt verkrümmte, in der
Race geſunkene Bauer, der hungrige, verlumpte, murrende Fabrikarbeiter:
wo man ſie auf Märkten, in Wirthshäuſern beiſammen ſieht, da findet
das Auge nirgends die Formen ſchönen Volkslebens.
So in ſeinem Innern eine Welt, nach außen thatlos verzehrt ſich das1
Individuum in ſich, wird zerriſſen und dann blaſirt. Völlig naturlos verſchließt
es ſich inmitten der Mittheilung. Gutes und Böſes haßt die Fülle der
Erſcheinung; alle geſellige Bewegung wird flach und unwahr, Sinnlichkeit wird
Lüſternheit, der Freude ſchämt man ſich, Abſichtlichkeit hebt allen Genuß auf.
Den Culturformen hat die Zeit der Revolution auch jene Auswüchſe (§. 373)2
abgeſtreift und völlige Kahlheit, armſelige Knappheit, ſchmutzige Farbloſigkeit,
unſtete Bettelei dageweſener Formen zum Geſetz erhoben, während zugleich
eine Menge neuer Erfindungen aus einer Sphäre um die andere die lebendige
Bethätigung der Individualität abſchneidet.
1. Zerriſſenheit iſt die vorletzte, Blaſirtheit die letzte Form. Die
erſtere folgte auf die Sentimentalität, welche uns erſt in der Lehre von
der Phantaſie beſchäftigen wird, allerdings aber bewegteres Leben auch
in die Sitte, alſo in die Stoffwelt einführte. Die Kritik des enttäuſchten
Bewußtſeins zerſtörte ſie und ſchuf die Form der Zerriſſenheit. Da klagte
das Subject noch, daß ihm in der Ueberladung der inneren Geiſteswelt
Täuſchung um Täuſchung hinabſank und wenigſtens Selbſtmord war noch
Stoff. Dem Blaſirten aber iſt auch die Zerriſſenheit noch eine Naivetät,
eine Täuſchung, ein Inhalt. Es wird nun im geſelligen Leben Schande,
die Leidenſchaft, den Charakter, das Pathos herauszulaſſen, dieß wäre
naiv. Indolenz iſt der faſhionable Ton, der kaum noch komiſche Behand-
lung zuläßt (Bulwers Pelham). Alle Geſelligkeit iſt ſtumpf und eine
Lüge geworden. Die Höflichkeit, die Ceremonioſität des vorigen Jahr-
hunderts hatte noch Charakter; jetzt iſt auch dieſe zur Naivetät und jeder
Duft, jede Phantaſie im Umgang, jede vollere Ausladung der Perſön-
lichkeit lächerlich geworden. Faſt das Sprechen iſt zu viel, man tafelt
ſtundenlang lautlos wie das Vieh. Kaum kann man einen Fremden
anreden, Jeder bleibt einſam in ſich. Nicht Auffallen iſt Prinzip, nach
etwas Beſtimmtem Ausſehen iſt gemein. Am kläglichſten ſind die Ver-
gnügungen; verſchwunden ſind die muntern Geſellſchaftſpiele, die gymna-
ſtiſchen Unterhaltungen, unter denen wir z. B. das ſchöne Ballſpiel nennen
wollen, das noch heute bei den italieniſchen Balloneſchlägern ſo herrliche
Stellungen zeigt; das mercurialiſche Kartenſpiel, das perfid ſchweigende,
19*
[292]als Leidenſchaft den innerſten Menſchen ausſaugende, wogegen Mord
Poeſie iſt, hat Dichtern den eckelhafteſten Stoff gegeben. Das beſte
Zeugniß, wie mitleidswerth unſere Geſellſchaft iſt, wenn ſie ſich anlügt,
luſtig zu ſein, iſt der Tanz, der ohne Aufſprung am Boden klebt, zu
einem Gehen geworden iſt, wobei jeder Zug des Tänzers ſagt: ich könnte
es ebenſo gut bleiben laſſen. Die Bäder ſind Hauptſitz der blaſirten
langen Weile, des ennuy. Das Volk trinkt Gift im Branntwein. Die
Volksfeſte ſind todt; der Städter lorgnettirt das Volk, das ſich bereits
ſelbſt der Luſt ſchämt und ſie dem Geſindel überläßt. Die neu gemachten
Feſte, die Zweckeſſen u. dergl. ſind eine Ironie wahrer Feſtfreude.
2. Der Ackerbau hat bald der Landſchaft jedes Stück Erde wegge-
nommen, die Oekonomie verbannt das weidende Rind von der Wieſe
in den Stall, die Volksrechte verlangen Vertilgung des Wilds, der
Künſtler hat Noth, einen Hirſch, einen Eber zu ſehen. Der Krieg iſt
durch Napoleon vom Geſchleppe der alten Schule befreit, aber dadurch
vollends abſtract geworden, ein raſcher Kampf ungeheurer uniformer
Maſſen. Die großen Schlachten der letzten Kriege haben allen heroiſchen
Styl verloren; Alles ſitzt in der Combination des Feldherrn. Napoleon bei
Wagram mit dem Perſpectiv in das Schlachtgetümmel ſich wie mit Adler-
augen einbohrend iſt wohl ein großes Bild; aber da iſt doch zu wenig
Anſchaulichkeit. Nirgends findet man den Moment, wo in Einer Gruppe
mächtig ringender ſinnlicher Kräfte das Ganze entſchiede; die Thätigkeit
des Feldherrn iſt ungreiflich, geiſtig, verborgen, und die ſinnlich Thätigen
ſind commandirt: dort die Abſtractheit, hier das Commiß- und Feldwebel-
mäßige. Der Geiſt und das ſinnliche Thun fallen nicht in heroiſche
Perſönlichkeit zuſammen. Und nun ſoll die Schießwolle ſelbſt den er-
habenen Donner der Geſchoße wegnehmen. — Die hier genannten
Erſcheinungen ſind großentheils Fortſchritt; man ſieht alſo, wie wahr
der Satz §. 365, 2 iſt.
Wichtig iſt beſonders die Tracht. Die Revolution raſirte auch auf
dieſem Gebiete, ſie ſchnitt die Schnörkel und den Zwang, aber auch jede
Phantaſie mit weg. Der runde Hut mit immer ſchmälerer Krempe
verdrängte den Dreimaſter, als lächerliche Neuerung kam der Stürmer
(preußiſche Hut) auf. Die Friſur wich dem Titus, ſelbſt bei Frauen,
die aber bald das Haar in jetziger Weiſe hinten zuſammenfaßten. Mit
der Verjagung des Puders wagte ſich der Bart wieder hervor, zuerſt
nur, und jetzt noch zum Theil, als Monopol des Soldaten. Rock,
Frack, Weſte (aber ohne Schöße) blieb, die Taille wurde kürzer. All-
mählich aber kam das Kummet, der jetzige Rockkragen auf, der mit ſo
falſcher Linie die Form des Halſes durchſchneidet und, wie die bezeich-
nende Kravatte, ſeine ſchön eingezogene Bildung, dieſe ſchwungvolle
[293] Abhebung des Kopfes vom Rumpfe, aufhebt. Das Wichtigſte war die
Einführung des langen Beinkleids (Revolutionsheere, sansculottes) und
die Sanctionirung des Stiefels. Die weibliche Revolutionstracht, antike
Tunika mit ganz kurzer Taille, ſchaamloſer Entblößung, wich bald wieder
der längeren Taille, dem Schnürleib, dem bauſchigeren Kleide. An dieſen
Formen iſt ſeither nichts Weſentliches, außer dem Rückgriff zum alten
Rock ohne Taille, geändert worden. Mit Ausnahme dieſer neueren Ueber-
würfe liegt Alles glatt am Leib, nirgends eine Phantaſie, ein freier
Ueberfluß; Alles geht in der Bewegung mit, ſelbſt der Reitermantel,
das letzte Männerkleid mit frei fallenden Falten, iſt eben dieſen Ueber-
würfen, die zwar luftiger, als der Rock, aber ohne freien Faltenfluß als
fertige Kapſel mit dem Körper gehen, gewichen. Man kann den Charakter
der Tracht beſonders gut prüfen, wenn man die Kleidungsſtücke hängen
oder liegen ſieht. Die unſrigen ſind dann eine wahre Caricatur des
Körpers, gerade weil ſie ſeinen Formen fertig genäht folgen und doch
durch die Abweichungen, welche die Nähte, die Stoffe bedingen, das
Bild entſtellen. Wir gehen in lauter zuſammengeſetzten Säcken. Inner-
halb des ſtehenden Typus iſt ſinnloſer Kitzel des Wechſels. So war
vor etlichen Jahren der rechte Punkt für die Taille gefunden, ihre Knöpfe
ſaßen in der natürlichen Taille, aber die Mode wirft auch das Gute weg,
das ſie gefunden; jetzt z. B. iſt die Taille des Rocks affenſchändlich an
das Hintertheil hinabgerückt. Die weibliche Tracht iſt in Manchem ver-
nünftiger geworden, hat aber den Geſundheit zerſtörenden, den Wellen-
ſchwung an Weiche und Hüfte in einen ſcharfen Winkel verkehrenden
Schnürleib beibehalten und den einſt breitkrempigen Hut zu einem lächer-
lichen Stück Ofenrohr gemacht. Die männliche Kopfbedeckung hat außer
den Hüten nur die Mützen, die nie erträglich ausſehen können, ſo lange
die angenähte Handhabe des Lederſchilds nicht ſchwindet. Am Schlimmſten
aber iſt es mit der Farbe beſtellt. Volle Farben ſind Kunſtreitern und
Seiltänzern geblieben, dunkle Miß- und Miſtfarben allein ſind nobel,
wer dieſem Geſchmack nicht folgt, dem laufen die Kinder nach; der
Farbenſinn iſt todt. Ebenſo ſind edle Metalle als feſter Schmuck in
Stickerei, Borden, Quaſten u. ſ. w. verbannt, ſelbſt Ringe, Goldketten
u. ſ. w. ſind gemein geworden. In dieſer Tracht ſind die Bewegungen
nachläßig oder ſtraff, gemein oder zierlich, aber immer kurz angebunden,
punctuell, ohne allen tenor, ohne all das weitere Ausholen, das der
Würde weſentlich iſt: wie die Kleidung ſelbſt elegant ſtatt ſchön iſt,
ſo auch die Bewegung, und das noch im guten Falle. Ein freies,
fließendes Gewand weiß Niemand mehr zu tragen. Ueber alle Stände
hat ſich dieſe Tracht verbreitet und ſie unterſcheidet keinen; auch dem
Einzelnen geſtattet ſie nur ſo geringe Wahl, daß ſchon die Mode ihn
[294] hindert, dem Inſtincte zu folgen, der uns treibt, den Charakter in unſerem
Aeußern auszudrücken. Wohl gibt es gewiſſe feine Merkmale, den Stand
und die Individualität an der Kleidung zu erkennen, ſowie eine geſchärfte
Phyſiognomik ſie in Geſicht und Haltung wohl noch hervorfindet unter
der Cultur, die alle Welt beleckt; allein dieſe Züge ſind zu verſteckt, zu
leiſe, als daß dem Schönen, das Beſtimmtheit will und volles Heraus-
treten in die Form, damit gedient ſein könnte. — In dieſer Tracht nun
ſpielt die ganze Geſchichte ſeit der Revolution, und da ſie ſchlechtweg
unäſthetiſch iſt, ſo ſind die größten Momente, Erſcheinungen, Männer
ein unüberwindliches Kreuz für das äſthetiſche Auge. Der Gehalt groß,
die Form ſtutzig, ſchäbig, hungrig, kahl, matt, ſo daß der elendeſte Bettler
in einem Volke, das noch Tracht hat, dem Reichſten unter uns einen
Pfennig ſchenken möchte zu beſſerem Kleide. Freilich hat auch der Gehalt
ſelbſt den raſirten Charakter, wie wir ſahen. Aehnlich verhält es ſich
nun mit Umgebungen, Geräthen u. ſ. w. Die Aufklärung in ihrem
zweiten, ſcharf ſchneidenden Stadium hat die gerade Linie, die nackte
Wand, die ſchmuckloſe Nützlichkeit Alles deſſen, was das Handwerk macht,
eingeführt, iſt mit Formen und Farben verfahren wie mit Dogmen. Es
iſt z. B. lächerlich, ſchmuckvollen Reitzeug und Pferdegeſchirr zu zeigen.
Der Schreiner kann keinen Seſſel, der Töpfer keinen Krug machen, der
auch nur eine Spur von Schwung hätte.
Ein Gefühl dieſer Armuth drängte ſich auf. Aller eigenen Erfindung
und alles Muthes dazu baar ſucht man nun in der Vergangenheit herum,
erneut orientaliſche, griechiſche, römiſche, vorgothiſche, gothiſche Formen,
Renaiſſance, Rokoko, Alles bunt durcheinander und in der Nachahmung
ſeines Zuſammenhangs, Schwungs, ſeiner Schneide entblößt. Bart und
Haar machte dieſes Herumbetteln mit; einige Oppoſition regt ſich gegen
das nackte Affengeſicht wie gegen den Frack, und nun ſieht man zu unſern
windigen Kleiderfetzen einen Francois, Henri IV, einen Abdelkader u. ſ. w.
Was man aber an Formen in Geräthen u. dergl. aufnehmen mag, faſt
Alles wird fabrikmäßig gemacht und hat Maſchinen-Charakter. Wie die
Fabriken, deren Fortſchritt wir doch nicht können hemmen wollen, ein
freſſendes Gift in die Sittlichkeit des Volkes ſind, die ſchöne Einfalt der
Sitten, das Familienverhältniß zwiſchen Meiſter und Geſelle zerſtören,
ſo haben ſie der Handarbeit den Schwung des Formſinns entzogen, liefern
Producte von ſeelenloſem, papiernem Gepräge und haben durch die Wohl-
feilheit der blöden, charakterloſen Zize, Kattune u. ſ. w. namentlich zur
Vertilgung der Volkstrachten beigetragen. Aus ihrem Maſchinenrachen
wird ferner all das dünne, geſtaltloſe, neblichte Unkraut von Spitzen,
Blonden u. ſ. w. ausgeſpieen, was an der weiblichen Modekleidung ver-
worren wie Füße, Saugrüſſel, Bartfaſern u. dergl. unklares Nebenwerk
[295] an den niedrigen Thierarten hervorhängt und herumflattert und womit
die kleinen Inſectenſtacheln, die Stecknadeln, deren Nothwendigkeit allein
ſchon ein Beweis ſtylloſer Tracht iſt, ganz in Einklang ſtehen. Nun alle
übrigen neu erfundenen Mechaniſmen; die Guillotine hat ſelbſt die Todes-
ſtrafe zur Maſchinenſache, den Kopf zum Kohlhaupte gemacht, die Eiſen-
babnen verdrängen den rüſtigen Gang, den männlichen Ritt, ſelbſt vom
Wagen das feurige Pferd, und es fehlt nur noch, daß man Menſchen
mit Dampf mache und die Liebe aus dem Leben ſchwinde.
In dieſer Armuth ſucht die Schönheit die unaufhaltſam, und zwar
meiſtens in häßlicher Faulniß, verſchwindenden Trümmer objectiver Lebens-
formen in der Gegenwart auf, oder ſie hält ſich an das Komiſche der Armuth
ſelbſt. Da dieſer Stoff ſpärlich iſt, ſo flieht ſie in die Vergangenheit; da ſie
aber in der Gegenwart zu wenig Form findet, ſo kann ihr auch jene nicht
zum lebendigen Bilde werden.
Seit den Kreuzzügen war immer Berührung mit dem Morgenlande;
in den Türkenkriegen des ſechzehnten, ſiebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts
intereſſirte man ſich freilich nicht im äſthetiſchen Sinne für orientaliſche
Formen, wohl aber ſeit Napoleons Feldzug nach Aegypten. Die Eng-
länder ſchließen Indien, die Eroberung Algiers das afrikaniſche Beduinen-
land, die ruſſiſchen Kriege die tſcherkeſſiſchen Bergvölker auf, Griechenland
wird offen und ſeine Revolution genießt den großen äſthetiſchen Vortheil
einer ſchönen Tracht, phantaſievollen Bewaffnung; Italien, Spanien, die
Schweiz werden ſozuſagen neu entdeckt. Begierig ſtürzt ſich das äſthetiſche
Bedürfniß auf die ſchönen Lebens-Formen, die man hier noch findet.
Aber im Sehen verſchwinden ſie, richtiger das Sehen ſelbſt tödtet ſie.
Die moderne Civiliſation iſt ſo corroſiv, daß, wo ſie hinkommt, da welken
die Blumen der Naturfriſche unter ihr. Der knappen Coquetterie ihrer
Formen, der Verführung des Eleganten, ihren Laſtern widerſteht kein
Volk, denn ſie ſind im Bunde mit ihren Gütern. Wo der Untergang
alter Sitte und naturfriſchen Volkslebens durch Kampf vermittelt iſt, da
gibt er noch herrliche Erſcheinungen, wie die Heldenkämpfe der Araber,
der Tſcherkeſſen, beide treffliche Stoffe, da ihre Feinde zwar gewiſſenloſe,
aber mittelbar doch berechtigte Organe der berechtigten Civiliſation ſind;
wo es aber ein ſtilles Faulen iſt, wo man Sitte und Volkstracht um’s
Geld zeigt, ehe ſie vollends verſchwinden, da iſt der Prozeß eckelhaft.
Die Cultur verwiſcht ſo nicht nur den Unterſchied der Stände, der Indi-
viduen, ſondern auch der Völker. Wohl erhält ſich ihr innerſter Charakter,
[296] aber er tritt viel zu wenig auf die Oberfläche, namentlich eben weil die
Nationaltrachten ſchwinden. Es iſt aber überhaupt ſchon ſchlimm, wenn
die Schönheit auf Reiſen gehen muß; und hier tritt noch ein beſonderes
Uebel ein: was noch von ſchönen Formen beſteht, das ſind Formen eines
überlebten Gehalts. Alſo: die ſchönen Formen ſind nicht zeitgemäß, und
die zeitgemäßen ſind nicht ſchön. In der Heimath nun gibt bei aller
Schlechtigkeit der Form, ja durch ſie der entgötterte Zuſtand einigen
komiſchen Stoff, das Intrikenſpiel der Geſellſchaft u. ſ. w.; aber dieſe
Komik iſt dann ein Sublimat, ohne Saft und Fülle. Etwas Landleben
iſt noch übrig, dem aber wieder das Intereſſe der Zeitbewegung fehlt.
In der Noth greift man, da die polizeiwidrigen Figuren der Landſtreicher,
Räuber, Seiltänzer u. ſ. w. ausgebeutet ſind, nach dem Stoffe, den das
Leben der eigenen Kunſt-Collegen gibt: den Schickſalen der Dichter,
Maler u. ſ. w. Es iſt aber eine ſehr verdächtige Erſcheinung, wenn die
Kunſt ſich mit ſich ſelbſt beſchäftigt, eine Eitelkeit, Weichlichkeit, Selbſt-
beſpieglung. Weichlichkeit, weil in dieſen Stoffen zu wenig That iſt,
wie im Leben der Denker, vergl. §. 103. Alſo geht man in die Ver-
gangenheit. Das iſt an ſich ganz gut, denn der Stoff muß eine gewiſſe
Reife haben, er muß fertig, vergangen ſein; aber nicht gut iſt es, wenn
man um der ſchlechten Formen der Gegenwart willen genöthigt iſt, um
mehrere Jahrhunderte zurückzugreifen. Die Gegenwart nämlich hat nicht
nur für ihren eigenen Gehalt ſchlechte Formen, ſondern ſie entzieht uns
eben dadurch auch das Mittel, uns die lebendigeren Formen dieſer Ver-
gangenheit vorſtellig zu machen. Aus Trachtenbüchern, Zeughäuſern,
Rumpelkammern muß man ſich die Vorſtellung zuſammenſuchen, da ſieht
man aber jene Formen nur im todten Zuſtande wie ein anatomiſches
Präparat, und darnach ſchmeckt auch das Bild, das man zu Stande
bringt. Es iſt übel beſtellt, wenn man die Schönheit nicht zu Hauſe,
auf der Straße zur lebendigen Umgebung hat, nur vermittelſt der
unmittelbaren Anſchauung kann man ſich auch von der vergangenen
Schönheit ein Bild machen, die Gegenwart ſoll der Ort der fortwähren-
den, ungeſuchten Studien für den Künſtler ſein.
Das Bewußtſein aller dieſer Uebel iſt da und wächst. Der Drang der
Zeit geht auf wahre Freiheit. Die eine Seite derſelben, die politiſche
Reform ſoll auch eine ſociale ſein; eine Haupturſache der Zerſtörung
aller Formen iſt die Armuth des Volks. Die andere Seite derſelben muß
Wiedereinführung des Subjects in objective Lebensform, Wiederherſtellung
[297] des Unmittelbaren, Begründung einer Bildung bewirken, welche zur Natur
zurückkehrt: die wahre Freiheit muß wieder ſchöne Culturformen erzeugen.
Wie die wahre Freiheit Schönheit bringt, ſieht man ſchon an den
Punkten, an denen die Kraft der öffentlichen Meinung jetzt arbeitet:
öffentliches Rechtsverfahren iſt anſchaulich, bildet die Individuen zur
Menſchheit vorzüglich durch Entwicklung der Beredtſamkeit; Volksbe-
waffnung muß mit der Kraft, Geſundheit, dem Selbſtgefühl auch die
Schönheit heben, und ſo verhält es ſich mit allen Forderungen der
Gegenwart. Die Monarchie hatte den Beruf, das Mittelalter in die
neue Zeit herüberzuführen, ſie hat Ordnung geſchafft, ihr Werk iſt gethan
und die Beſtimmung der Zukunft, die Aufgabe beſonnenen Fortſchritts iſt
flüſſige Allgemeinheit, geiſtige, nicht ſinnlich in dem zufällig geborenen
Einen verkörperte Einheit, ein Organiſmus, der Allen die Freiheit, die
Regung, das öffentliche Intereſſe zum Lebenselemente macht. Möglichſte
Ausgleichung des Beſitzes durch vernünftige Beſchränkung des Erbrechts
gehört zu den ſchwierigſten Aufgaben der Zukunft; gewiß aber iſt, daß
nur dadurch wieder Schönheit in das Volk kommen kann. Der Abgrund
der Armuth, der Schlund der Verbrechen, den das Gebiet des Proleta-
riats arbeitet, die Region der mystères de Paris kann kein Fundort für
ächte Schönheit ſein, weil dem Furchtbaren die Verſöhnung fehlt, wo
ſolche nur in Hoffnungen und Forderungen an die Zukunft liegt. Die
Hebung des politiſchen und ſocialen Lebens wird aber auf dem Grunde
allgemein europäiſcher Bildung weſentlich zugleich eine Hebung der Nationa-
litäten in ihrer Selbſtändigkeit ſein und vielleicht daß dieſe es vermag,
der Herrſchaft der abſtracten Form auch in der Tracht ein Ende zu machen.
Wenn nun auf vielen Punkten das Maſchinenmäßige, das immer einen
Theil der Formen ertödtet, mit dieſer Hebung in gleichem Verhältniſſe
ſteigen muß, ja wenn jene von dieſem Steigen als einer beſchleunigten
Macht über die Materie abhängt, ſo wird doch die innere Belebung des
Menſchen, die Erfüllung des Individuums mit Geiſt der Oeffentlichkeit,
der Berechtigung im Ganzen einen Kreis übrig behalten, worin ſie die
Formen erhöhen und erfriſchen, verjüngen kann. Dieſe Verjüngung ſoll
eine Rückkehr der Bildung gegen die Natur zu einer Naturbildung ſein.
Die Frage, vor der wir ſtehen, iſt dieſe: iſt es denkbar, daß die abſtracten
Gedanken, die innere Ideenwelt, die jetzt zur That drängt, aus der Ver-
mittlung der Reflexion in Unmittelbarkeit umſchlagen, zum Sein, zum
Naturgewächs werden kann und daß wir einſt mit der ganzen Unend-
lichkeit unſerer inneren Welt, der ganzen Geltung der Individualität
und zugleich der ganzen Begründung des Allgemeinen in Gedankenform,
[298] die wir vor den Alten voraus haben, doch wieder naiv, daß wir objective
Menſchen werden können, wie ſie?
Dieſe Frage gährt als Drang und Sehnſucht in unſerer Zeit.
Bevor ſie nun von der Geſchichte bejaht iſt, entſteht die andere: kann
nicht dieſer Drang, dieſe Sehnſucht ſelbſt auch Stoff der Schönheit
werden? Sie iſt bedingt zu bejahen. Der feurige Wunſch hat allerdings
auch als ſolcher ſeine objective Erſcheinung. Dieſe Objectivität iſt aber
ſehr beſchränkter Art. Die Kunſtlehre wird zeigen, ob das Schöne ſolche
Gattungen hat, für welche dieſe ſubjective Erregung, die ſich noch keine
Welt geſchaffen hat, als Stoff ausreicht.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp52.0