der neueſten Zeit.
Vierter Theil.
Verlag von S. Hirzel.
1889.
[[III]]
im
Neunzehnten Jahrhundert
Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III.
Verlag von S. Hirzel.
1889.
[[IV]]
Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
Vorwort.
Um die Geſchichte der dreißiger Jahre hat ſich ein vierfacher Sagen-
kreis gelagert. Die franzöſiſch-polniſchen und die nahe verwandten parti-
culariſtiſch-liberalen Märchen gerathen zwar allmählich in Vergeſſenheit;
die engliſch-coburgiſche Legende aber und die Legende des Literatenthums
behaupten noch einen Theil ihrer alten Macht. Leicht iſt es nicht, durch
dieſe Fabelwelt zu einer unbefangenen, ſchlicht deutſchen Auffaſſung der
Ereigniſſe hindurchzudringen; noch ſchwieriger, die unendliche Bedingtheit
alles hiſtoriſchen Lebens auch in den verworrenen Parteikämpfen dieſes
Jahrzehntes zu erkennen und getreu zu ſchildern, wie Deutſchlands Ein-
heit gewiß nicht durch den Liberalismus, doch ebenſo gewiß nicht ohne ihn
möglich wurde, wie bald die Kronen bald die Oppoſition das nationale
Leben gehemmt oder gefördert haben. So weit mein Scharfſinn reichte
habe ich mich bemüht Licht und Schatten gerecht zu vertheilen.
Eine unerwartete Fülle dankenswerther vertraulicher Mittheilungen
von Landsleuten aus Nord und Süd erleichterte mir die Arbeit. Außer
den ſchon früher benutzten Archiven hat mir diesmal auch das Staats-
archiv in Hannover mannichfache Belehrung geboten.
Die Vorwürfe, die mir in zahlreichen Briefen zukamen, habe ich
ernſtlich erwogen, ohne ſie immer beherzigen zu können. Die meiſten
dieſer Zuſchriften liefen darauf hinaus, daß wohl alles Uebrige zu billigen,
aber die Heimath des Tadelnden ſchlecht behandelt ſei. Jakob Grimm
ſagte über ſein Kurheſſen, keine deutſche Landſchaft würde von ihren
Söhnen ſo leidenſchaftlich geliebt. Das Gleiche behauptet auch der Oſt-
preuße und der Schleſier, der Baier und der Schwabe, der Weſtphale
und der Kurſachſe von ſeinem Heimathlande. Den hohen Anſprüchen
dieſer Heimathliebe kann eine Darſtellung, welche das Leben der geſammten
Nation zu würdigen ſucht, wohl niemals völlig genügen.
[VI]Vorwort.
Bei ausländiſchen Kritikern, freundlichen und feindſeligen, hat der
ganze Ton meines Buchs Befremden erregt, und ich konnte nichts anders
erwarten. Ich ſchreibe für Deutſche. Es mag noch viel Waſſer unſeren
Rhein hinabfließen, bis die Fremden uns erlauben, von unſerem Vater-
lande mit demſelben Stolze zu reden, der die nationalen Geſchichtswerke
der Engländer und Franzoſen von jeher ausgezeichnet hat. Einmal doch
wird man ſich im Auslande an die Geſinnungen des neuen Deutſchlands
gewöhnen müſſen.
Dieſer Band ſchildert im Eingang mehrere rühmliche Erfolge, am
Schluſſe zwei verhängnißvolle Fehler der preußiſchen Politik. Gleichwohl
wird der Leſer, wie ich hoffe, die Erkenntniß gewinnen, daß zu Ende des
Jahrzehnts die Wirrniß der deutſchen Dinge ſich zu lichten beginnt:
Preußen tritt fortan ganz in den Vordergrund der vaterländiſchen Ge-
ſchichte, ſein Thun und Laſſen beſtimmt die Schickſale der Nation.
Berlin, 30. November 1889.
Heinrich von Treitſchke.
[[VII]]
Inhalt.
Viertes Buch.
Das Eindringen des franzöſiſchen Liberalismus
1830—1840.
- Seite
- 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede 3
- Der Umſchwung in Frankreich, England, Belgien 7
- Anerkennung des Julikönigthums. Die Londoner Conferenzen 35
- Revolution in Polen und Italien 56
- Beſchwichtigung der Gegenſätze. Warſchaus Fall 70
- Antwerpen und Ancona 91
- 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland 98
- Der Aufruhr in Braunſchweig 99
- Verfaſſung und Mitregentſchaft in Kurheſſen 126
- Die ſächſiſche Verfaſſung 142
- Das hannoverſche Staatsgrundgeſetz 153
- Lornſen und die Provinzialſtände Schleswigholſteins 169
- 3. Preußens Mittelſtellung 179
- Innerer Friede. Die polniſchen Grenzwirren 179
- Die Verhandlungen über das Bundeskriegsweſen 211
- 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland 221
- Oberheſſiſche Unruhen. Der badiſche Landtag von 1831 221
- Gährung in Naſſau, Württemberg, Baiern 238
- Das Hambacher Feſt 247
- 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten 267
- Die Sechs Artikel 267
- Der Frankfurter Wachenſturm 293
- Theilung Luxemburgs 311
- Zuſammenkunft von Münchengrätz 322
- Neue Wiener Miniſter-Conferenzen 1834 336
- 6. Der deutſche Zollverein 350
- Kurheſſens Beitritt. Die Sponheimer Händel 351
- Beitritt des ſüddeutſchen Zollvereins 364
- Anſchluß von Sachſen und Thüringen. Die Neujahrsnacht 1834 371
- Kampf mit Oeſterreich und Hannover. Der hannöverſche Steuerverein 379
- Die Nachzügler: Baden, Naſſau, Frankfurt 393
- Seite
- 7. Das Junge Deutſchland 407
- Goethe’s Tod 408
- Das ſouveräne Feuilleton 419
- Redende und bildende Künſte 443
- Hiſtoriker und Naturforſcher 464
- Die Junghegelianer. Strauß 481
- 8. Stille Jahre 498
- Die Quadrupel-Allianz und die Oſtmächte 498
- Preußiſche Zuſtände. Rheinland. Poſen 541
- Der Zollverein und die Eiſenbahnen 569
- Demagogen und Flüchtlinge 598
- Landtagsnöthe der Mittelſtaaten 616
- 9. Der welfiſche Staatsſtreich 643
- Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes. Die Göttinger Sieben 643
- Die Selbſtvernichtung des Bundestages 668
- 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit 683
- Erzbiſchof Droſte-Viſchering 684
- Die ultramontane Partei 704
- Tod Friedrich Wilhelm’s des Dritten 727
- Beilagen.
XVI. Baierns Politik in den Jahren 1819 f. 731 - XVII. Canning und Deutſchland 732
- XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz 733
- XIX. Prinz Wilhelm von Preußen und Prinzeſſin Eliſe Radziwill 738
- XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831 740
- XXI. König Wilhelm von Württemberg an Miniſter Wangenheim 745
- XXII. Das Frankfurter Attentat 745
- XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838 749
- XXIV. Handſchreiben König Ernſt Auguſt’s 752
- XXV. Aus den Aufzeichnungen König Friedrich Wilhelm’s 753
Berichtigungen.
- S. 34, Z. 7 v. u. lies: Gent ſtatt Brügge.
‒ 68, ‒ 17 v. o. lies: eingehen ſtatt übernehmen. - ‒ 81, ‒ 23 v. o. lies: der Silleria ſtatt des Retablo.
- ‒ 87, ‒ 3 v. u. lies: Russkaja Starina.
- ‒ 103, ‒ 20 v. o. lies: Garde-Dragonern.
- ‒ 215, ‒ 12 v. u. hinter überraſchte iſt einzuſchalten: im Jannar.
- ‒ 245, ‒ 5 v. u. lies: bewundern.
- ‒ 287, ‒ 6 v. o. lies: Cartwright.
- ‒ 327. ‒ 4 v. u. iſt endlich zu ſtreichen.
- ‒ 345, ‒ 19 v. u. lies: fehlte.
- ‒ 393, ‒ 15 v. o. lies: ein Drittel ſtatt ein Fünftel.
- ‒ 395, ‒ 10 v. o. lies: Baden ſtatt Baiern.
- ‒ 557, ‒ 5 v. o. lies: Statthalters.
- ‒ 633, ‒ 8 v. u. lies: Uebungslager.
[[1]]
Viertes Buch.
Das Eindringen des franzöſiſchen Liberalismus.
1830—1840.
[[2]][[3]]
Erſter Abſchnitt.
Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart bewährt ſich
unerbittlich auch in den Geſchicken ſolcher Völker, welche an dies hiſtoriſche
Geſetz nicht glauben wollen. Durch die erſte Revolution hatten die Fran-
zoſen mit ihrer Geſchichte gebrochen; ſie wähnten ihrer Vorzeit ledig zu
ſein und ſahen nicht, daß Napoleon nur in vereinfachten, demokratiſchen
Formen den alten centraliſirten Beamtenſtaat Richelieu’s wieder herſtellte
als er dem neuen Frankreich ſeine dauernde Verfaſſung gab. Noch weniger
wollten ſie im Jahre 1830 erkennen, daß die Juli-Revolution ihre welt-
erſchütternden Folgen großentheils der Nachwirkung der Vergangenheit
verdankte. Seit den Wiener Verträgen beſaß Frankreich weder die kriege-
riſche Macht noch die geiſtigen Kräfte mehr um die Führerſtellung unter
den Völkern zu beanſpruchen; der Tag von Belle Alliance hatte die Ueber-
legenheit der deutſchen Waffen erwieſen, in Kunſt und Wiſſenſchaft war
Deutſchland längſt zu neuen, eigenen Idealen gelangt, auch die prunkenden
Redekämpfe der franzöſiſchen Volkstribunen und Tagesſchriften bewegten
ſich immer noch in den ausgefahrenen Geleiſen der Ideen von 89, ſie
warfen keinen ſchöpferiſchen politiſchen Gedanken in die Zeit. Aber die
Erinnerungen an die hundertjährige Weltherrſchaft der franzöſiſchen
Bildung, an die Propaganda der Jacobiner, an das napoleoniſche Reich
blieben noch überall lebendig; auf das Heimathland der Revolution richtete
ſich unverwandt die Beſorgniß der Höfe, die Hoffnung aller Unzufriedenen.
Als dort das wiederhergeſtellte legitime Königthum zuſammenſtürzte,
urplötzlich, wie durch eine unabwendbare Naturgewalt, da ſchien die ge-
ſammte neue Ordnung der Staatengeſellſchaft zu wanken. Ermuthigt durch
Frankreichs Vorbild erhoben ſich faſt in allen Nachbarlanden die Mächte
der Revolution, die Schlagworte der Menſchenrechte waren in Aller
Munde. Selbſt die ſonſt fremdem Einfluß ſo unzugänglichen Briten ver-
ſpürten den Zauber der demokratiſchen Ideen Frankreichs und begannen
durch die Reformbill den ehrwürdigen Bau ihrer parlamentariſchen
Ariſtokratie zu zerſtören. Die Franzoſen nannten ſich wieder die große
Nation und wähnten, ihre Tricolore halte von Neuem den Rundgang
1*
[4]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
um den Erdkreis. Achtzehn Jahre darauf ſollten ſie dann nochmals
durch einen Straßenkampf den Anſtoß geben zu einer europäiſchen Be-
wegung, aber auch nur den Anſtoß von außen her: Frankreichs Gedanken
beherrſchten die Welt nicht mehr, die nationale Bewegung in Deutſchland
und Italien verfolgte Ziele, welche mit den weltbürgerlichen Lehren der
Revolution wenig gemein hatten. Nach vierzig Jahren war endlich die
nachwirkende Kraft der alten Größe gänzlich gebrochen; die ernüchterte
Welt ſah in dieſem Volke nicht mehr den Lichtbringer, ſondern den
Friedensſtörer der Staatengeſellſchaft, die republikaniſche Schilderhebung
der Pariſer im September 1870 weckte in Europa kaum noch ein Echo.
Ebenſo langſam und unaufhaltſam war zwei Jahrhunderte zuvor die
ſpaniſche Weltmacht von ihrer Höhe herabgeſunken. Hier wie dort wirkten
die großen Erinnerungen noch gewaltig fort als die Pfeiler der Macht
ſchon längſt vermorſcht waren, hier wie dort hielt ſich die Nation noch
für die erſte der Welt, als mit einem Schlage, hier durch die Schlacht
von Sedan, dort durch den Pyrenäiſchen Frieden die Verſchiebung der
Machtverhältniſſe offenbar wurde.
Im Sommer 1830 konnten freilich nur vereinzelte ſcharfblickende
Staatsmänner den beginnenden Verfall Frankreichs erkennen. Die „große
Woche“ der Pariſer veränderte die ganze Lage der Welt; ſie erſchütterte
das politiſche Syſtem der legitimen Großmächte weit ſtärker als zehn
Jahre früher die Revolutionen Südeuropas; ſie beſchleunigte überall die
längſt ſchon begonnene Zerſtörung der alten Ständeherrſchaft. Der Unter-
gang des Adels und die Herrſchaft der Bourgeoiſie in Frankreich entflammten
das erſtarkte Selbſtgefühl der bürgerlichen Klaſſen zu neuen Hoffnungen
und Anſprüchen. Unterdeſſen begann das zweite große Zeitalter der
Entdeckungen und Erfindungen zu tagen, Wohlſtand und Verkehr nahmen
einen unerhörten Aufſchwung. Die neuen Weltmächte der Großinduſtrie,
der Börſe, des Judenthums traten ihre Herrſchaft an, und zugleich regte
ſich ſchon der Klaſſengegenſatz von Capital und Arbeit. Die Zeit der
Reſtauration ſtand mit ihrer feinen Sitte, ihren romantiſchen Träumen
und ihrer andächtigen geiſtigen Arbeit, mit ihren Diplomatencongreſſen
und höfiſchen Feſten dem ariſtokratiſchen alten Jahrhundert noch ſehr
nahe. Erſt ſeit der Juli-Revolution, vollſtändig erſt ſeit dem Jahre 1848
zeigt die Geſittung des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes Gepräge.
Ein neues Geſchlecht kommt herauf, demokratiſch in Sitten und Gedanken,
formlos und kurz angebunden, unerſättlich in ſeinen Anſprüchen, tief
überzeugt von ſeiner eigenen Güte und noch tiefer von der Verworfenheit
ſeiner Gegner, unternehmend und arbeitſam, kühn und erfinderiſch im
Kampfe mit den Elementen, durch die Weite ſeines Geſichtskreiſes und
die Vielſeitigkeit ſeiner Intereſſen allen früheren Zeiten überlegen, aber
auch haſtig, unſtät, ohne Sammlung des Geiſtes, ohne Sicherheit der
Weltanſchauung. Alles Leben der Völker drängt ſich auf den Markt
[5]Charakter des neuen Zeitalters.
hinaus. Die Wahlen und die Redeſchlachten der Parlamente, die Bera-
thungen der Vereine, die großen neuen wirthſchaftlichen Unternehmungen
nehmen die Kraft des Mannes in Anſpruch, im Kaffehaus und bei der
Cigarre ſucht er ſeine Erholung. Der häusliche Verkehr verödet, die Frauen
behaupten nicht mehr die unbeſtrittene Herrſchaft im geſelligen Leben und
verſuchen dafür ſchon zuweilen mit der Männerarbeit den ungleichen Wett-
kampf aufzunehmen. Die Zeitungen und die raſch ins Kraut ſchießende
populäre Literatur wecken in weiten Kreiſen den Sinn für das öffentliche
Leben, aber auch eine begehrliche, glaubenloſe, dünkelhafte Halbbildung;
manches ſchöne Talent verflüchtigt ſich in Eintagswerken, nur wenige
ſtarke Geiſter vermögen noch ſich hinauszuretten aus der unmuthigen
Haſt der Zeit, in Kunſt und Forſchung Dauerndes zu ſchaffen. Der
demokratiſche Charakter der Epoche ſpiegelt ſich treulich wieder in ihrer
Männerkleidung, der häßlichſten, aber auch der zweckmäßigſten und be-
quemſten, welche je in Europa getragen wurde. Haar- und Barttracht
bleiben dem perſönlichen Belieben überlaſſen, im Uebrigen herrſcht unver-
brüchlich das demokratiſche Anſtandsgeſetz, das Keinem erlaubt ſich von
den Anderen zu unterſcheiden; Jedermann trägt den nämlichen ſchmutz-
und miſchfarbigen, taſchenreichen Sackrock, der dem beſchäftigten Manne ſo
viel Zeit erſpart; das lange Beinkleid und die Stiefeln dringen jetzt bis
in den Salon, der demokratiſche Frack läßt auch hier Alle, Gäſte und
Diener, vollkommen gleich erſcheinen.
Das verarmte Deutſchland vermochte dem Umſchwunge des Verkehres
und der Lebensgewohnheiten nur langſam zu folgen. Um ſo mächtiger
ſtrömten die politiſchen Gedanken der Franzoſen in unſer Leben ein, war
ihnen doch längſt der Boden bereitet durch die radicale Literatur der
zwanziger Jahre. Unabhängig von den Franzoſen, zumeiſt im Kampfe mit
ihnen, hatte der deutſche Genius in den Jahren der claſſiſchen Dichtung, in
den Befreiungskriegen, in den ſchönen Jugendtagen der hiſtoriſchen Wiſſen-
ſchaft ſich in Wort und That ſeine Wege gefunden. Nun erfolgte ein
ungeheuerer Rückſchritt; die alte Aufklärung, die ſeit Herder’s Zeiten über-
wunden ſchien, kam wieder empor, und ſie trug franzöſiſche Gewänder.
Jene tiefſinnige hiſtoriſche Anſchauung vom Staate, die ſich in der deutſchen
Wiſſenſchaft ſtill vorbereitet, aber noch nicht durchgebildet hatte, trat in den
Hintergrund. Die alte Naturrechtslehre von dem vernunftgemäßen Staate
der Gleichheit, von der Unfehlbarkeit der öffentlichen Meinung, von der
Staatsgewalt, die nicht regieren ſondern der Mehrheit dienen ſollte, führte
das große Wort und verfiel bald in leere Phraſen, da ſie nichts Neues
mehr zu ſagen wußte. Die vaterländiſche Begeiſterung der Befreiungs-
kriege ward verdrängt durch einen liberalen Weltbürgerſinn, der im Namen
der Freiheit die Feinde Deutſchlands im Oſten wie im Weſten verherr-
lichte und das eigene Volk mit Schimpf überhäufte. Auf das geiſtvolle
Kunſtverſtändniß der Romantiker folgte wieder ein flacher, mit Freiheits-
[6]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
worten prunkender Rationalismus, der, ganz in Nicolai’s Weiſe, an alle
Werke des Genius den Zollſtock der Nützlichkeit, diesmal des politiſchen
Nutzens, legte und die Lehrer der Nation nur nach ihrer zeitgemäßen Ge-
ſinnung beurtheilte. Wüſter Radicalismus, zuchtloſe Leidenſchaft, hohler
Wortſchwall und dann wieder harte Verfolgung ſchändeten das deutſche Leben.
Gleichwohl hat ſelbſt in dieſem Jahrzehnte widerwärtiger Verirrungen
die ſtill wirkende Macht des nationalen Gedankens, die unſer Volk zur
Einheit drängte, unwiderſtehlich gewaltet. Nach dem tiefen Schlummer
der letzten Jahre war eine Aufrüttelung doch nothwendig, wenn die zähe
Maſſe der deutſchen Politik wieder in Fluß kommen ſollte; und wer durfte
die unerfahrenen Deutſchen ſchelten, wenn ſie, gleich allen anderen Völkern,
das Land überſchätzten, das ihnen das Signal gegeben hatte? Die kleinen
Volksaufläufe und Straßenkämpfe in den Reſidenzen unſeres Nordens
mochten den Fremden nur wie ein kindiſches Nachſpiel der großen Woche
erſcheinen; doch ihr Ergebniß war dauerhafter als das Julikönigthum
der Franzoſen. Sie führten die wichtigſten der norddeutſchen Kleinſtaaten
in das conſtitutionelle Lager hinüber; ſo ward der Gegenſatz von Nord
und Süd gemildert, ein gemeinſamer Boden gewonnen für die politiſche
Arbeit der Nation. Alle dieſe winzigen Umwälzungen waren durch ört-
liche Beſchwerden veranlaßt, ſie verfolgten nur den Zweck, die altſtändiſche
oder höfiſche Willkürherrſchaft in dem heimiſchen Kleinſtaate durch ein
liberaleres Regiment zu verdrängen; aber die reife Frucht der partikula-
riſtiſchen Revolutionen fiel der Einheitspolitik der Krone Preußen zu. Als
Sachſen und Kurheſſen die in Preußen und Süddeutſchland längſt ver-
wirklichten modernen Grundſätze der Staatseinheit und des gemeinen
Rechtes anerkennen mußten, da wurden ſie erſt fähig mit den deutſchen
Nachbarn in Zollgemeinſchaft zu treten, und nun erſt ſchloß ſich der Ring,
welchen Preußens Handelsverträge um Deutſchland geſchlungen hatten.
Die Siege der liberalen Parteien ermöglichten erſt die Gründung des
großen Deutſchen Zollvereins, den die Mehrzahl der Liberalen leidenſchaft-
lich bekämpfte; und ſeitdem blieb es ein Menſchenalter hindurch das ſelt-
ſame Schickſal des deutſchen Liberalismus, daß alle großen Erfolge unſerer
nationalen Politik nicht durch ihn, aber auch nicht ohne ihn errungen
wurden. Der Zollverein war die größte politiſche That des Jahrzehnts,
folgenreicher für Europas Zukunft als alle die vielbewunderten Partei-
kämpfe in den Nachbarlanden, das letzte köſtliche Vermächtniß des alten
unbeſchränkten preußiſchen Königthums an die deutſche Nation.
Auch das zerfahrene deutſche Parteileben ward durch den ſcharfen
Luftzug dieſer Jahre etwas gekräftigt. Klarer, bewußter denn zuvor traten
die Gegenſätze auseinander ſeit in Frankreich das Banner der Volks-
ſouveränität erhoben wurde. Die Conſervativen hatten bisher, vertrauend
auf ihre Machtſtellung in den Landtagen und auf die Gunſt der Höfe,
den Federkrieg gegen die liberale Preſſe ſorglos den Regierungsblättern
[7]Der Umſchwung in Deutſchland.
überlaſſen; jetzt ſchaarten ſie ſich feſter zuſammen und bekämpften die
Lehren der Revolution in unabhängigen Zeitſchriften. Bald darauf
trat die ultramontane Partei, eine geſchloſſene, weithin über Deutſchland
verzweigte Macht, mit einem Schlage auf den Kampfplatz. In der
liberalen Welt wogten die Wünſche und Gedanken noch wirr durch ein-
ander, aber einzelne Sätze der Parteidoctrin wurden allmählich zum
Gemeingut Aller, und ſelbſt dem noch völlig unklaren Einheitsdrange
der Nation zeigte ſich in weiter Ferne endlich ein erkennbares Ziel ſeit
ſüddeutſche Liberale zuerſt von einem deutſchen Parlamente und von der
preußiſchen Hegemonie zu reden wagten.
In ſo krankhaft erregter Zeit mußte die Dichtung verwildern. Der
geſpreizte, grelle und dennoch kraftloſe Feuilletonſtil verdrängte den Adel der
Form, die rohe Tendenz den künſtleriſchen Gedanken, Alles was deutſchen
Herzen heilig, wurde von den literariſchen Helden des Tages beſchmutzt
und verhöhnt. Doch bis zu den Höhen der deutſchen Bildung ſchlugen
die ſchlammigen Wellen dieſes Radicalismus nicht empor. Eben jetzt
erſchien Goethe’s letzte und tiefſinnigſte Dichtung; unbeirrt durch das Ge-
ſchrei des Marktes ſchritten Böckh und Ritter, die Brüderpaare Grimm
und Humboldt ihre Bahn; in Ranke’s Werken bewährte die Kunſt der
Geſchichtſchreibung ihre Meiſterſchaft; Dahlmann vertiefte die liberale
Parteidoctrin und befruchtete ſie mit den Ideen der hiſtoriſchen Rechts-
ſchule; die Theologie wurde durch einen leidenſchaftlichen Parteikampf
aufgerüttelt und gezwungen, den hiſtoriſchen Unterbau ihrer Lehren einer
ſchonungsloſen Kritik zu unterwerfen; auch in den exacten Wiſſenſchaften
traten junge Talente auf, den Wettlauf mit dem Auslande zu wagen.
Alſo blieben auch in dieſem Jahrzehnt, das ſelber friedlos ſo viel Un-
frieden ſäte, die ſchöpferiſchen Kräfte unſerer Geſchichte noch immer
wirkſam. —
Das Nahen einer großen Umwälzung war von einſichtigen Be-
obachtern der franzöſiſchen Zuſtände längſt vorausgeſehen. Sobald König
Karl X. das gemäßigte Miniſterium Martignac hatte berufen müſſen,
erlangte der Liberalismus wieder die Herrſchaft über die öffentliche
Meinung, und er griff um ſich mit unwiderſtehlicher Gewalt; denn eine
gänzlich demokratiſirte Geſellſchaft gleicht einer Heerde, die beiden lebendigſten
Kräfte des modernen franzöſiſchen Charakters, der Nationalſtolz und die
ſittliche Feigheit, führen jeder augenblicklich obenauf kommenden Partei
täglich neue Anhänger zu. Damals ſchon ſchrieb der preußiſche Geſandte
v. Werther: „Jetzt die ultramontane Partei zur Macht berufen, das
heißt Frankreich einen unverzeihlichen und ungeheueren Schritt zur Re-
volution hin machen laſſen; denn dieſe Partei würde, verabſcheut von der
Nation und unfähig ſich am Ruder zu halten, bald gezwungen ſein, ent-
weder einem ultraliberalen Miniſterium zu weichen oder dem Könige den
Umſturz der gegenwärtigen Verfaſſung anzurathen. Eine ſolche That
[8]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
muß aber unfehlbar die Regierung des Königs, die Bourbonen und
Frankreich ſelbſt in den Abgrund reißen.“*) Jener unverzeihliche Schritt
zur Revolution geſchah, und die Verblendung der liberalen Parteien trug
die Schuld daran.
Großes hatte Frankreich der Herrſchaft ſeines wiederhergeſtellten
Königthums zu verdanken. Wunderbar leicht wurden die Leiden der
Kriegsjahre überwunden, der Volkswohlſtand und das geiſtige Leben
blühten fröhlich auf, Heer und Haushalt ſtanden wieder in guter Ord-
nung; die Charte blieb unangetaſtet, die conſtitutionellen Ideen ſchienen
ſchon ſo feſt mit dem Volke verwachſen, daß Niebuhr noch im Sommer
1829 ſagen konnte, bei dem gegenwärtigen Zuſtande der Dinge ſei an
keine Revolution mehr zu denken. Vor Kurzem noch hatte das Land
drei Jahre lang die polizeiliche Aufſicht der europäiſchen Occupationstruppen
ertragen müſſen, noch auf dem Aachener Congreſſe wurde ſein Miniſter
von den vier Mächten wie ein Schulknabe zum Wohlverhalten ermahnt.
Jetzt behauptete der Tuilerienhof wieder eine würdige, ſeiner Macht ent-
ſprechende Stellung in der Staatengeſellſchaft, um ſeine Freundſchaft be-
mühten ſich alle Großmächte, unter ſeiner Mitwirkung wurde die Schlacht
von Navarin geſchlagen und ſchließlich, durch den Zug nach Morea, die
Unabhängigkeit Griechenlands geſichert. Der Verfaſſung treu und dem
königlichen Hauſe ritterlich ergeben, durfte Graf Martignac wohl auf
den Beiſtand aller gemäßigten Parteien zählen, als er der Charte durch
eine freiere Gemeindeverfaſſung einen feſten Unterbau zu ſchaffen unter-
nahm; denn Jedermann wußte, daß König Karl ſchon dies Miniſterium
nur ungern ertrug und nimmermehr den Liberalen noch weiter entgegen-
kommen würde.
Trotzdem wurde das Cabinet bei den Verhandlungen über die Ge-
meinderathswahlen von ſeinen natürlichen Freunden verlaſſen und zum
Rücktritt genöthigt. Der letzte ehrliche Verſuch, das conſtitutionelle Frank-
reich mit dem alten Herrſcherhauſe zu verſöhnen, war geſcheitert. Der
Eigenſinn der Parteien trug den Sieg davon über die Gebote der Pflicht
und der Klugheit. Auch die Ränkeſucht ſpielte mit, jene alte franzöſiſche
Sünde, die in den höfiſchen Cabalen des alten Jahrhunderts zur Meiſter-
ſchaft ausgebildet, längſt ſchon in die parlamentariſchen Sitten der neuen
Zeit eingedrungen war: Graf Molé und der Vertraute des Herzogs von
Orleans, General Sebaſtiani ſchürten den Widerſtand gegen Martignac,
weil ſie ſelber ſeine Erbſchaft anzutreten hofften.**) König Karl meinte
befriedigt: „ich ſagte es ja, mit dieſen Leuten iſt nichts anzufangen,“ und
betraute ſeinen Günſtling, den Fürſten Polignac, mit der Bildung des
neuen Cabinets.
[9]Letzte Zeiten der Reſtauration.
Von Stund’ an änderte ſich die Lage. Der König war in den
erſten Jahren ſeiner Regierung nicht unbeliebt geweſen; jetzt ſah er ſich
von allen Seiten her mit Schmähungen und Verwünſchungen überhäuft.
Der Schatten der Emigration ſtellte ſich trennend zwiſchen Thron und
Volk. Man entſann ſich wieder, daß dieſer König und die Polignacs
einſt, gleich nach dem Baſtilleſturme, zuerſt das böſe Beiſpiel der Aus-
wanderung gegeben, daß ſie jahrelang gegen ihr Vaterland gekämpft,
daß die Sendboten des Pavillons Marſan noch lange nach der Reſtau-
ration die fremden Mächte beſtändig zur Einmiſchung in Frankreichs
innere Händel aufgeſtachelt hatten. Eine furchtbare Vergeltung ſollte die
beiden erſten Emigranten noch einmal für den alten Frevel des Landes-
verraths züchtigen. Vergeblich verwahrte ſich Polignac in der Kammer
dawider, daß man zwei feindliche Völker in der einen Nation ſchaffen,
das neue Frankreich von dem alten trennen wolle. Dieſe Trennung be-
ſtand ſchon längſt. Die Kluft zwiſchen der alten und der neuen Zeit
that ſich ſofort wieder gähnend auf, als dieſer Mann an’s Ruder trat,
der beſchränkte, ehrliche, bigotte Ultra, der einſt ſeine Verſchwörungen
gegen Bonaparte mit langer Haft gebüßt und in der Einſamkeit des
Kerkers ſeine hart reactionäre Geſinnung bis zum religiöſen Fanatismus
geſteigert hatte. Die Blätter der Oppoſition übertrieben ſtark, als ſie
nach der Juli-Revolution höhniſch bekannten, Frankreich habe fünfzehn
Jahre lang Komödie geſpielt; wahr blieb doch, daß die belebende Kraft
der Monarchie, die Geſinnung angeſtammter Treue, trotz aller Huldigungen
für „die unbeſtrittene Familie“, der ungeheueren Mehrzahl der Franzoſen
verloren gegangen war. Ueber den Wohlthaten der Reſtauration ver-
gaß dies Volk doch nicht, daß ſein Königshaus die entſcheidenden Tage
der nationalen Geſchichte im Auslande, im Lager der Feinde verlebt
hatte. Den Bourbonen fehlte Alles was das Weſen der wirklichen
Legitimität ausmacht: ſie konnten ſich weder auf eine große, dem ganzen
Volke heilige Vergangenheit ſtützen noch mit Gelaſſenheit in die Zukunft
blicken. Zudem war jetzt, da das Land ſich neu gekräftigt fühlte und
die Wirren im Orient die Ausſicht auf eine europäiſche Verwicklung zu
eröffnen ſchienen, die übermüthige keltiſche Kriegsluſt wieder erwacht.
Vernichtung der Verträge von 1815 — ſo lautete der Ruf des Tages,
und die Schuld dieſer Verträge ſchrieb die von allen Parteien umſchmei-
chelte und verwöhnte Nation nicht ſich ſelber und ihrer eigenen Ver-
blendung zu, ſondern den Bourbonen, den Schützlingen des Auslands.
Angeſichts der allgemeinen Erbitterung war das Miniſterium Po-
lignac von Haus aus unhaltbar. In dieſem Lande der Volksſouveränität
konnte ſich keine Regierung mehr gegen den beſtimmten Willen der Nation
auf die Dauer behaupten; ſelbſt Napoleon blieb nur ſo lange am Ruder
als er glücklich war, als ſeine Siege die Eitelkeit des Volks befriedigten.
Der berechtigte Haß gegen das Cabinet ward aber noch verſchärft durch
[10]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
die Macht der Doctrin. Die Selbſtgefälligkeit des neuen Jahrhunderts
rühmte ſich gern, in dieſen hellen Tagen ſei die Parteibildung grund-
ſätzlich geworden und darum klarer, bewußter denn je zuvor; und doch
blieb der Parteikampf jetzt wie zu allen Zeiten ein Kampf um die Macht,
die moderne Sitte der Aufſtellung theoretiſcher Programme erhöhte nur
den Dünkel, die Unverſöhnlichkeit der Fractionen. Und ſelten hat eine
hohle Doctrin ſo verderblich gewirkt wie jetzt in Frankreich die neue Lehre
von dem allein wahren conſtitutionellen Staate.
In den Anfängen der Reſtauration hatten nur vereinzelte Stimmen,
zumeiſt aus dem Lager der Ultras, dem Könige die verfaſſungsmäßige
freie Ernennung der Miniſter zu beſtreiten gewagt.*) Damals erklärte
Royer-Collard, der verehrte Führer der Doctrinäre: das Königthum
hört auf an dem Tage wo die Kammer ihm die Miniſter aufdrängt.
Aber bald wendeten die Liberalen ihre Blicke nach England und bildeten
ſich die Meinung, die Parlamentsherrſchaft der engliſchen Ariſtokratie
müſſe in das demokratiſirte Frankreich übertragen werden. Thiers, der
klügſte Kopf unter den Urhebern der Juli-Revolution faßte die neue Lehre
zuſammen in dem Schlagworte: der König herrſcht nur, aber er regiert
nicht. Nach dem Siege geſtand er unumwunden: in dem Augenblicke,
da das Miniſterium Polignac gebildet wurde, erhob ſich „die große Frage
des Repräſentativſyſtems, die Frage, worin ſein ganzes Weſen enthalten
iſt, die Frage, die über ſein Daſein oder Nichtſein entſcheidet; es war
die Frage: iſt der König von der Mehrheit der Kammern unabhängig
oder nicht? kann er die Miniſter außerhalb dieſer Mehrheit wählen?“
Und noch deutlicher fuhr er fort: „Was wollten wir vor dem Juli?
Die conſtitutionelle Monarchie mit einem Herrſcherhauſe, das ihre Be-
dingungen anerkennen und deshalb uns den Thron verdanken ſoll.“
Damit war der zweite doctrinäre Glaubensſatz der Zeit ausge-
ſprochen. Die Verehrung für das todte Datum liegt in dem ſchablonen-
haften Charakter der neufranzöſiſchen Bildung tief begründet. Wie die
Liberalen längſt glaubten, in dem wunderbaren Jahre 1789 ſei ihre neue
Freiheit urplötzlich geboren worden, und mitleidig auf jede andere Nation
herabſahen, wenn ſie nicht auch ein 89 in ihren Annalen aufweiſen konnte,
ſo berauſchten ſie ſich nunmehr an der neuen Heilswahrheit: Englands
Freiheit ſei erſt durch die zweite Revolution von 1688 geſichert worden,
folglich müſſe auch Frankreich das Zeitalter ſeiner Revolution durch ein
anderes 88 abſchließen. Die Vergleichung hinkte auf beiden Füßen, denn
wo war in Frankreich ein Schreckensregiment, das den Unthaten des
Blutrichters Jeffreys glich? wo ein mächtiger parlamentariſcher Adel, der
das Erbe des vertriebenen Königshauſes antreten konnte? Dem ober-
flächlichen Doctrinarismus der Zeit genügten indeß einige äußerliche Aehn-
[11]Der Kampf um die Parlamentsherrſchaft.
lichkeiten, die allerdings in die Sinne fielen: in England wie in Frank-
reich war auf die Zeit der Bürgerkriege die Herrſchaft eines genialen
Tyrannen und dann, gegen den Willen des ruhmreichen Heeres, die
Herſtellung des rechtmäßigen Königshauſes gefolgt; hier wie dort ward
der alten, dem Erlöſchen nahen Dynaſtie unerwartet noch ein Erbe ge-
boren, hier wie dort ſtand ein unzufriedener Prinz lauernd neben dem
Throne. Warum ſollte nicht auch Frankreich ſich die Freuden einer
zweiten Revolution gönnen? ſie hatte ja, wie Thiers gemüthlich bemerkte,
„nichts zu zerſtören außer der Dynaſtie!“
Die Erbitterten wollten nicht ſehen, daß allein in dem unbeſtreit-
baren Erbrechte des königlichen Hauſes der Ehrgeiz der Parteien ſeine
letzte Schranke, die geſetzliche Freiheit ihre letzte Bürgſchaft finden konnte.
Für das leichtſinnige junge Geſchlecht, das in den Schulen der neuen
Univerſität herangewachſen war, hatte das Zeitalter der Revolution keine
Schrecken mehr. Wie verführeriſch erſchienen die Gräuel jener Tage
in Thiers’ gefeiertem Geſchichtswerke; ſelbſt in Mignet’s ruhiger ge-
haltenem Buche über die Geſchichte der Revolution, einem Meiſterwerke
gedrängter, klarer, lebendiger Erzählung, ſchwieg die Stimme des Ge-
wiſſens gänzlich; Beide redeten, als ob eine räthſelhafte Schickſalsmacht die
ewigen ſittlichen Geſetze des Völkerlebens fünfundzwanzig Jahre hindurch
für die Franzoſen außer Kraft geſetzt hätte. So verloren ſich die liberalen
Parteien in die Traumwelt einer Doctrin, die für unwiderleglich galt, ob-
gleich ſie von Widerſprüchen ſtrotzte, die ſich monarchiſch nannte, obgleich
ſie auf dem republikaniſchen Gedanken der Volksſouveränität ruhte. Man
wähnte die Charte zu vertheidigen und beſtritt der Krone ein Recht, das
ihr die Charte unzweifelhaft gewährte; man ſprach von der Unverantwort-
lichkeit des Monarchen, von der Regierung ſeiner allein verantwortlichen
Räthe und behielt dem Volke doch die Befugniß vor, den König zu ent-
thronen falls er dem Willen der Kammern ſich nicht beugte.
Dieſer Doctrin der rechtmäßigen Revolution trat aber, ebenſo leicht-
fertig und ebenſo dünkelhaft, die Doctrin der rechtmäßigen Staatsſtreiche
gegenüber. Auch König Karl ſteifte ſich auf ſein natürliches Recht: er wolle,
ſo vermaß er ſich, lieber Holz ſchlagen als ſeine Krone eben ſo tief wie
die engliſche erniedrigen laſſen. Für den ärgſten Fall hielt ſein Polignac
eine Rechtslehre bereit, die erſichtlich der jakobitiſchen Königskunſt des
Hauſes Stuart nachgebildet war: da die Charte ein freies Geſchenk der
königlichen Gnade ſei, ſo dürfe der Monarch jederzeit ſeine urſprüngliche
Vollgewalt wieder an ſich nehmen und einzelne Sätze der Verfaſſung
beſeitigen, um nachher wieder in den Weg des Geſetzes einzulenken; die
Charte beſtimmte ja ſelbſt im Art. 14, daß der König die zur Sicher-
heit des Staates erforderlichen Verordnungen erlaſſen ſolle; und ſchon
einmal, im Jahre 1816, war das Wahlgeſetz, zur Befriedigung des Lan-
des, durch eine königliche Ordonnanz einſeitig abgeändert worden. Sicher
[12]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
wie ein Nachtwandler ſchritt Polignac ſeines Weges. Bernſtorff und
ſelbſt Metternich bezweifelten längſt, ob er die Ueberlegenheit des Charak-
ters und des Talentes beſitze, um den ungleichen Kampf zu beſtehen; er
aber meinte wirklich, nur eine Hand voll Schreier gegen ſich zu haben und
betheuerte den fremden Geſandten: einer Mehrheit in der Kammer bedarf
ich nicht, der Wille des Königs vermag in Frankreich Alles.*) So ſtand
Princip gegen Princip. Der verſöhnliche Sinn, der die ſchwerfälligen
conſtitutionellen Formen allein zu beleben vermag, fehlte hüben wie drüben;
beide Theile verfuhren nach franzöſiſchem Herkommen ohne Offenheit und
verbargen ihre letzten Abſichten.
Monatelang konnten die Miniſter unter Polignac’s unfähiger Leitung
zu keinem Entſchluſſe gelangen, ſie beſorgten gemächlich ihre Verwaltungs-
geſchäfte und wagten ſchlechterdings keinen tadelnswerthen Schritt. Trotz-
dem verſchworen ſich die Blätter der Oppoſition, dieſem Cabinet das Re-
gieren unmöglich zu machen, und ſchwelgten in wüthenden Beſchimpfungen,
die von der amtlichen Zeitung ebenſo heftig erwidert wurden. Der Streit
ward täglich giftiger, eben weil die Regierung noch nichts verſchuldet hatte.
Bereits ſpürte man überall den Einfluß der Geſellſchaft Aide-toi, die
aus Republikanern und Doctrinären gemiſcht, ſeit drei Jahren ſchon den
Sturz der Bourbonen vorbereitete. In den Provinzen bildeten ſich Ver-
eine, um zur Steuerverweigerung aufzufordern für den möglichen Fall,
daß der König die Charte verletzen ſollte. Seit Neujahr 1830 gab dann
Thiers mit einigen anderen jungen Talenten die Zeitung Le National
heraus und entfaltete hier ungeſcheut das Banner der Tricolore. Eine
Zeit lang hoffte Fürſt Polignac, durch Erfolge der auswärtigen Politik
die Aufmerkſamkeit von den inneren Händeln abzulenken. Kaum ins Amt
eingetreten legte er dem Könige einen großen Entwurf für die Neugeſtal-
tung Europas vor: darnach ſollte die Türkei getheilt, der König der Nie-
derlande in Konſtantinopel, der König von Sachſen in Aachen unterge-
bracht, Preußen durch Sachſen und Holland vergrößert werden, Frankreich
endlich ohne Schwertſtreich in den Beſitz von Belgien gelangen. Aber der
Friede von Adrianopel zerſtörte die phantaſtiſchen Pläne noch bevor ſie
den großen Mächten mitgetheilt waren. Nachher erhob ſich ein Streit
mit dem Dey von Algier; ein freundliches Geſchick beſchied den Bourbonen,
noch wenige Tage vor ihrem Sturze durch einen kühnen und geſchickten
Angriff dem neuen Frankreich ſeine wichtigſte Kolonie zu erobern. Doch
ſelbſt dieſer ſchöne Erfolg brachte die Nation nicht ab von dem einen Ge-
danken, der ſich ihres Geiſtes bemächtigt hatte.
Als der König am 2. März die Tagung der Kammern eröffnete, er-
klärte er in der Thronrede feierlich: er werde die geheiligten Rechte ſeiner
[13]Die Juli-Ordonnanzen.
Krone ungeſchmälert ſeinen Nachfolgern vermachen und ſtrafbare Umtriebe
zu unterdrücken wiſſen. Er ſagte nichts was ihm nicht zuſtand, jedoch den
erregten Hörern klangen ſeine Worte wie eine Drohung. Die Kammer
antwortete durch eine unehrerbietige Adreſſe; ſie beſchwerte ſich über das
Mißtrauen der Monarchen und ſtellte den Grundſatz auf: die fortwäh-
rende Uebereinſtimmung der Anſichten der Regierung mit den Wünſchen
des Volks iſt die unerläßliche Bedingung des regelmäßigen Ganges der
öffentlichen Angelegenheiten. Derſelbe Royer-Collard, der vormals das
parlamentariſche Regierungsſyſtem als den Tod der Monarchie bezeichnet
hatte, verlas jetzt vor König Karl die Adreſſe, welche dies Syſtem für
allein zuläſſig erklärte. Sofort befahl der König die Vertagung der Kam-
mern. Welch ein wüſter, unaufrichtiger, gegenſtandsloſer Zank brodelte
wieder einmal aus dem Hexenkeſſel der keltiſchen Leidenſchaften empor! Die
Kammer verlangte von der Krone die Entlaſſung eines Cabinets, das noch
nichts gethan, und der König trieb die Volksvertreter auseinander bevor
ſie noch irgend einen Vorſchlag der Regierung verworfen hatten! Eben
in dieſen Tagen banger Spannung ſchritt Victor Hugo’s Hernani zum
erſten male über die Bretter, die formloſe Ausgeburt einer überhitzten
Phantaſie; der jubelnde Beifall der Zuſchauer bekundete, daß die Nation
ihrer claſſiſchen Ideale müde und auch eine literariſche Revolution im
Anzug war. Im Mai erfolgte die Auflöſung der Kammer. Aus einem
heftigen Wahlkampfe ging die bisherige Mehrheit, erheblich verſtärkt, als
Siegerin hervor, was außer dem Könige und ſeinen Vertrauten Jeder-
mann vorausgeſehen hatte. Der Miniſter aber ließ ſich nicht beirren,
feſter denn je war er von ſeinem Rechte überzeugt. Er ſagte: der König
würde wie ſein Bruder das Schaffot beſteigen, wenn er uns entließe! —
und betrieb nun erſt ernſtlich den Plan eines Staatsſtreichs.*)
Von den fremden Geſandten hielt nur noch der Nuntius Lambruschini
bei dem Freunde aus. Selbſt Graf Apponyi, der bisher der apoſtoliſchen
Partei ſehr nahe geſtanden, zog ſich als die Entſcheidung nahte behutſam
zurück, wie vorher ſchon Lord Stewart; Werther dagegen und Pozzo di Borgo
hatten ſich von vornherein zu dieſem Cabinet kein Herz faſſen wollen. Die
großen Mächte verdammten alle die Haltung der Kammern, aber alle
warnten auch vor der vermeſſenen Thorheit eines Verfaſſungsbruchs.**)
Es war vergeblich. Am 25. Juli unterzeichnete der König die verhäng-
nißvollen Ordonnanzen, die auf Grund des vieldeutigen Art. 14 der
Charte das Wahlgeſetz abänderten, die Preßfreiheit ſuspendirten, die neu-
gewählte Kammer auflöſten. Die Krone ſetzte ſich ſelber ins Unrecht,
gab ihren Feinden den erwünſchten Vorwand als unſchuldige Vertheidiger
der Verfaſſung aufzutreten. Am übernächſten Tage brach der Aufruhr
[14]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
in der Hauptſtadt los. Während die Beſitzenden, nach der unverbrüch-
lichen Gewohnheit der Pariſer Bourgeoiſie, ſich in ihren Häuſern ver-
ſteckten, eilten die napoleoniſchen Veteranen und die republikaniſche Jugend
aus den Schulen, den Fabriken, den Werkſtätten — alleſammt geſchwo-
rene Feinde der Dynaſtie — freudig auf die Barrikaden. Dies alte
Kampfmittel aus den Straßenſchlachten der Hugenotten und der Fronde
war vor drei Jahren wieder in Gebrauch gelangt und wurde wie alle die
anderen Wunder neufranzöſiſcher Freiheit von den Nachbarvölkern gelehrig
aufgenommen, ſo daß in den nächſten zwei Jahrzehnten faſt jede Hauptſtadt
des Feſtlandes ſich einmal mindeſtens den Genuß eines Barrikadenkampfes
vergönnte.
Am erſten Tage des Aufſtandes erklang noch der Ruf: es lebe die
Charte; am zweiten hieß es ſchon: nieder mit den Bourbonen, es lebe
die Freiheit, die Republik — oder auch Napoleon II.; dreifarbige Fahnen
wehten überall, und zugleich begann der dem franzöſiſchen Gemüthe ſo
wohlthuende Kampf gegen Stein und Erz, die königlichen Lilien wurden
wo ſie ſich nur zeigten herausgehauen, abgeriſſen, beſudelt, verbrannt.
Nach drei Tagen gaben die ſchlecht geführten und nicht ganz zuverläſſigen
Truppen das Spiel verloren. Ein maßloſes Selbſtgefühl ſchwellte den
Siegern die Herzen. Wie überſchwänglich war, alle dieſe Jahre hindurch,
die Heldenthat der Baſtilleſtürmer geprieſen worden, die feige Nieder-
metzelung einer Handvoll Invaliden durch eine Pöbelmaſſe. Diesmal hatte
das Pariſer Volk wirklich einen ſchweren Kampf ſiegreich durchgefochten,
mit Muth und Ausdauer, und nicht ohne ritterliche Hochherzigkeit; denn
die Ausbrüche grauſamer Wuth, an denen ſich beſonders die Verwilderung
der Gaſſenjugend offenbarte, blieben doch vereinzelt. Nun war dies Frank-
reich wieder das gelobte Land der Freiheit, berechtigt, durch die Propaganda
ſeiner Revolution die dankbaren Völker zu beherrſchen und zu beglücken.
Irgend einen beſtimmten Plan für die Zukunft hegten die Sieger der
Juliſchlacht freilich eben ſo wenig wie der greiſe Lafayette, der zum Be-
fehlshaber der wiederhergeſtellten Nationalgarde erhoben, ſich wieder ſelbſt-
gefällig auf den Wellen der Volksgunſt wiegte und wieder lediglich die hohlen
Kraftworte ſeiner alten Menſchenrechte zu wiederholen wußte. Nur der
Haß gegen die Bourbonen, nur eine unklare revolutionäre Leidenſchaft
hatte dieſe jungen Radicalen auf die Barrikaden geführt.
Sofort nach der Entſcheidung traten aber die Führer der parlamen-
tariſchen Oppoſition aus ihren Schlupfwinkeln hervor; die aufgelöſte Kam-
mer verſammelte ſich eigenmächtig, um den Straßenkämpfern die Frucht
ihres Sieges zu entwinden. Der König verweilte unterdeſſen auf den
Schlöſſern in der Umgegend der Hauptſtadt; völlig entmuthigt nahm er
nunmehr (30. Juli) die Ordonnanzen zurück und verſuchte ein gemäßigtes
Cabinet zu bilden. Wenn unter den monarchiſchen Parteien noch einige
Treue und Entſchloſſenheit lebte, ſo konnte nach dieſem Eingeſtändniß des
[15]Die große Woche der Pariſer.
begangenen Unrechts die legitime und conſtitutionelle Ordnung auf lange
hinaus geſichert werden. Aber Treue fand ſich nirgends, klarer Entſchluß
nur bei den Männern, welche die Revolution von 1688 zu wiederholen
gedachten. Das vergoſſene Blut ſchrie um Sühne, der wilden Rachgier
ſchien die Regierung dieſes Königs fortan unmöglich. Da wagten Thiers,
Mignet und ihre Freunde zuerſt, in Flugblättern die Krone für den Herzog
Ludwig Philipp von Orleans zu verlangen. Hinter ihnen ſtand ein Un-
heil verkündender Name, der alte, von den Bourbonen undankbar zurück-
geſetzte Talleyrand; mit ſeiner untrüglichen Spürkraft ahnte er ſchon den
Umſchlag des Wetters und ſtand unbedenklich bereit, ſeine Segel wieder
von günſtigem Fahrwinde ſchwellen zu laſſen.
Herzog Ludwig Philipp hatte ſich ſo lange die Wage noch ſchwankte
im Parke von Neuilly verborgen gehalten und nur durch ſeine Schweſter
Madame Adelaide, den einzigen Mann der Familie Orleans, mit den
Sendboten ſeiner Anhänger unterhandeln laſſen. Schwankend zwiſchen
Angſt und Begehrlichkeit ließ er ſich endlich bereden in die Stadt zu kom-
men. Dort übernahm er das Reichsverweſeramt, das ihm die Kammern
antrugen und erſchien mit der dreifarbigen Fahne in der Hand auf der
alten Heimſtätte der Pariſer Aufſtände, auf dem Altane des Rathhauſes,
wo er den General Lafayette vor allem Volk umarmte. Nachher gab der
Held zweier Welten dem neuen Gewalthaber ſeinen Segen mit dem großen
Worte: nunmehr iſt der Thron von republikaniſchen Einrichtungen um-
geben. Dem Könige gingen nun endlich die Augen auf; er ernannte den
Herzog von Orleans auch ſeinerſeits zum Generalſtatthalter des König-
reichs. Schon Tags darauf, am 2. Auguſt, verzichtete er für ſich und
den Dauphin auf die Krone; zugleich befahl er dem Generalſtatthalter,
die Thronbeſteigung ſeines Enkels Heinrich V. zu verkündigen und die
erforderlichen Anordnungen für die Zeit der Minderjährigkeit des jungen
Königs zu treffen. Ludwig Philipp aber unterſchlug dieſen Befehl; er
theilte der Kammer nur die Abdankung des Königs und des Dauphins
mit. Von Heinrich V. ſagte er kein Wort; die harmloſen Leute ſollten
glauben, daß die Bourbonen ihr Thronrecht aufgegeben hätten.
So erſchlich er ſich die Krone durch ſchlechte Künſte und verrieth ſeine
Vettern, minder ruchlos vielleicht aber ganz ebenſo unritterlich wie einſt
ſein Vater den ſechzehnten Ludwig verrathen hatte. Furcht und Ehrgeiz,
die beiden beherrſchenden Kräfte ſeines Charakters, wirkten diesmal zu-
ſammen; denn übernahm er nach ſeiner Fürſtenpflicht die Statthalter-
ſchaft für den jungen König Heinrich V., ſo konnte der Haß, der auf dem
Namen der Bourbonen laſtete, leicht auch ihn ſelber und das Haus Orleans
vernichten.
Mit reißender Schnelligkeit eilte nun das Ränkeſpiel dem Schluſſe
zu; ſchon am 7. Auguſt wurde das Bürgerkönigthum Ludwig Philipp’s
förmlich eingeſetzt. Währenddem führte der entthronte König ſelber den
[16]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Leichenzug der alten Monarchie feierlich zum Lande hinaus; langſam, in
kurzen Tagereiſen zog er, umgeben von dem königlichen Hauſe und einer
Schaar getreuer Truppen, nach Cherbourg, um dann in England eine
Zuflucht zu ſuchen. Unbekümmert um ihre Eide traten Heer und Be-
amtenthum ſofort in das Lager der Sieger über. Nur in der Vendee
flammte die alte legitimiſtiſche Kampfluſt noch einmal auf. Die anderen
Provinzen fügten ſich ohne Widerſtand; ſie waren längſt an die Dictatur
der Hauptſtadt gewöhnt, und ſie fühlten, daß die Revolution in Wahr-
heit lediglich die Spitze des Staates umgeſtaltet hatte. Sein Weſen, das
napoleoniſche Präfecturſyſtem blieb unverändert; nur die Kurbel der un-
geheuren Verwaltungsmaſchine wurde jetzt von anderen Händen bewegt:
von den Händen der wohlhabenden Mittelklaſſe, die ihr Uebergewicht in
der Kammer gewandt ausbeutete um eine bürgerliche Klaſſenherrſchaft zu
begründen, wie ſie ſo unbeſchränkt noch in keinem Großſtaate der Geſchichte
beſtanden hatte. Die goldenen Tage der Bourgeoiſie brachen an. Die
Demokratiſirung der Geſellſchaft brachte den Franzoſen nicht, wie ihre Doc-
trinäre ſo oft geweiſſagt, die Herrſchaft des Talents, ſondern die Herrſchaft
des Geldbeutels. Die Charte wurde ſofort zum Vortheil der neuen herr-
ſchenden Klaſſe umgeſtaltet, obgleich die Liberalen doch behaupteten für die
Aufrechterhaltung der Charte gefochten zu haben. Mit der legitimen Krone
fiel auch die adliche Pairskammer hinweg; jedes politiſche Recht ward an
einen hohen Cenſus geknüpft und damit jeder Unzufriedene gezwungen
ſeinen Widerſpruch zuletzt gegen das Eigenthum ſelber zu richten. Dank
dem Wahlgeſetze, Dank der Dreiſtigkeit amtlicher Wahlbeſtechung und Wahl-
beherrſchung gelangten fortan faſt nur noch die Mitglieder der herrſchen-
den Klaſſe in die Kammer; das parlamentariſche Leben verflachte ſich, die
Beredſamkeit ward matter; der Parteikampf verlor Sinn und Inhalt, er
bewegte ſich nur noch um die Frage, welchen der ehrgeizigen Fractions-
führer die Miniſterſeſſel zufallen ſollten. Ebenſo hart und hochmüthig wie
einſt der alte Ritteradel ſchaute dies pays légal des neuen Geldadels auf
die breiten Maſſen des Volks hernieder und ſchmähte ſie als die gefähr-
lichen Klaſſen.
Der vierte Stand aber hatte ſchon einmal, in den Tagen des Con-
vents, Frankreich beherrſcht und jetzt wieder durch ſeinen Barrikadenkampf
das alte Königthum geſtürzt; er hegte ein frühreifes Selbſtgefühl und
unauslöſchlichen Groll gegen die escamoteurs de juillet, gegen die Reichen,
die ihm das Heft aus der Hand gewunden hatten. Bedrückt und ver-
wahrloſt konnte er nichts hoffen von einer Klaſſenherrſchaft, die das Elend
der kleinen Leute nicht einmal bemerken wollte, und erwartete ſein Heil
von den hochtönenden Verheißungen der neuen ſocialiſtiſchen und com-
muniſtiſchen Lehren. Blutige Arbeiteraufſtände in Paris und Lyon bekun-
deten bald, welche Fülle des Jammers und des Haſſes in dieſen Niede-
rungen der Geſellſchaft angeſammelt lag.
[17]Das Bürgerkönigthum.
Die Regierung der Bourgeoiſie war wie jede Geldherrſchaft friedfertig,
und ſie entſtammte doch einer Revolution, deren treibende Kraft in dem
ſtreitbaren Radicalismus lag. Erſt unter dieſem friedlichen Bürgerkönig-
thum hat der kriegeriſche Uebermuth der Franzoſen ſeine höchſte Ausbildung
und auch, nach einem glücklichen Luſtſpiel Scribe’s, den neuen Namen des
Chauvinismus empfangen. Alle Völker der Welt brachten dem Helden-
volke der großen Woche wetteifernd ihre Huldigungen dar; ſo einſtimmig
war ſelbſt der Baſtilleſturm nie geprieſen worden. Wie hätten dieſe
Weihrauchswolken den Franzoſen nicht das Hirn bethören ſollen? Die
große Mehrheit der Nation glaubte im Ernſt, daß ihr als dem aus-
erwählten Volke nicht blos das Recht des Aufſtands, ſondern auch das
Recht des Krieges ohne jede Beſchränkung zuſtehe; denn rings an ihren
Grenzen wohnten Sklaven, die von ihr die Befreiung erhofften; Frank-
reichs Eroberungszüge galten immer nur dem Siege der Idee, ſie ließen,
wie der Nil den befruchtenden Schlamm, überall den Segen der Geſittung
und der Freiheit zurück; der junge Stamm des revolutionären Königs-
hauſes mußte mit Blut gedüngt werden damit er feſtwurzele, und jedes
Volk ſollte es als eine Wohlthat dankbar hinnehmen, wenn die Franzoſen
ihm ſein Herzblut für einen ſo erhabenen Zweck abzapften. So klang es
tauſendſtimmig durch die Preſſe, in ehrlicher Begeiſterung.
Das neue künſtliche Königthum aber, das alle dieſe gefährlichen Lei-
denſchaften und ſocialen Gegenſätze bändigen ſollte, war von Haus aus
mit dem Fluche der Halbheit, der Unwahrheit geſchlagen. Der Bürger-
könig verdankte ſeinen Thron weder dem hiſtoriſchen Rechte, noch wie
Napoleon der gewaltigen demokratiſchen Macht der allgemeinen Volksab-
ſtimmung, ſondern dem Beſchluſſe einer Kammer von zweifelhafter Geſetz-
lichkeit. Als rechtmäßiger Statthalter König Heinrich’s V. konnte Ludwig
Philipp gegen die fremden Mächte eine ſtolze, Frankreichs würdige Sprache
führen; als König mußte er den Makel des Kronenraubes beſtändig ent-
ſchuldigen und verſtecken, ohne doch den revolutionären Urſprung ſeiner
Gewalt geradeswegs zu verleugnen. Er nannte ſich nicht Philipp VII.,
denn er war nicht ein rechtmäßiger Nachfolger König Philipp’s VI.; aber
auch nicht Philipp I., denn er wollte nicht ſchlechthin als Uſurpator er-
ſcheinen; alſo Ludwig Philipp, und nicht König von Frankreich, ſondern
König der Franzoſen. Dieſer Titel wurde von der geſammten liberalen
Welt als ein abſonderliches Kennzeichen conſtitutioneller Glückſeligkeit be-
wundert, obwohl ſich auch Friedrich der Große auf ſeinen Münzen ſtets
Borussorum rex genannt hatte; ſelbſt den Ausdruck „Unterthan“, der doch
genau das Nämliche bedeutete wie der allein erlaubte Name des Staats-
bürgers, wollte der revolutionäre Hochmuth nicht mehr hören.
Die Orleans mußten ſich den Schein der Legitimität zu wahren
ſuchen; ihre Hofblätter verſicherten nicht ohne Grund, Ludwig Philipp
habe den Thron beſtiegen weil er ein Bourbone ſei. Aber ebenſo hart-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 2
[18]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
näckig betheuerten die Radicalen, die Vertreter des ſouveränen Volks hätten
den König frei gewählt obgleich er ein Bourbone ſei; und in der That hatte
er die Volksſouveränität anerkannt und feierlich ausgeſprochen, daß er einen
Vertrag, un pacte d’alliance mit der Nation geſchloſſen habe. Die neu-
geſtaltete Verfaſſung redete nach altem Brauche noch von der Erblichkeit
der Krone; doch nachdem von den vier letzten Monarchen Frankreichs nur
einer friedlich auf ſeinem Throne geſtorben war, hatte dieſe Vorſchrift blos
noch den Werth einer Redensart, und zum Ueberfluß wurde die Charte
ausdrücklich „dem Muthe und der Vaterlandsliebe der Nationalgarde und
aller franzöſiſchen Bürger anvertraut“ — das will ſagen: dieſer König war
verantwortlich und konnte von Rechtswegen entthront werden falls das
ſouveräne Volk die Charte für verletzt hielt. Er beſaß die höchſte Gewalt
nur auf Wohlverhalten, trotz des monarchiſchen Prunkes der ihn umgab;
darum nannte Odilon Barrot den Bürgerkönig die beſte der Republiken.
In ſo ſchiefer Stellung konnte ſelbſt ein Fürſt von ſchlichtem Grad-
ſinn und reinem Namen dem Rufe der Zweizüngigkeit kaum entgehen;
wie viel weniger dieſer vielgewandte Orleans, an deſſen Hauſe noch der
ſchlimme Leumund des nichtswürdigen Regenten und des Bürgers Philipp
Egalité haftete. Ludwig Philipp war in den Grundſätzen der wiſſens-
ſtolzen Aufklärung erzogen und hatte nachher als General der Republik an
der Schlacht von Jemappes theilgenommen. Als er dann auswanderte,
da fügte es ſein gutes Glück, daß er trotz wiederholter Bemühungen doch
keinen Einlaß in die Heere der Verbündeten erhielt; ſo konnte er ſich mit
einigem Scheine ſpäterhin rühmen niemals im Lager der Feinde Frank-
reichs gefochten zu haben. In den Jahren der Verbannung ſammelte er
auf weiten Wanderfahrten eine mannichfaltige Welt- und Menſchenkennt-
niß, aber er entwuchs auch gänzlich den Ueberlieferungen des königlichen
Hauſes. Der Stolz des franzöſiſchen Prinzen blieb ihm ebenſo fremd
wie das dynaſtiſche Pflichtgefühl; die Macht der Geſchichte, das tauſend-
jährige Recht der Capetinger erweckte in dieſer trockenen Seele gar keine
Ehrfurcht. Sobald die Stunde der Rückkehr ſchlug, war er als ſorgſamer
Hausvater zunächſt darauf bedacht, das ungeheuere Hausvermögen der
Orleans, das gutentheils aus den Miethen der Spielhöllen im Palais
Royal entſtanden war, zurückzugewinnen und ſeiner Familie auf alle Fälle
ein ruhiges Hausweſen zu ſichern. Darum wendete er ſich im Jahre 1821
insgeheim an Eugen Beauharnais und ließ ihm einen gegenſeitigen Ver-
trag vorſchlagen, kraft deſſen Jeder von Beiden, falls ihn bei einer neuen
Revolution das Glück begünſtigte, dem Anderen ungeſtörten Aufenthalt
in Frankreich verſprechen ſollte; der Napoleonide zeigte ſich jedoch ritter-
licher als der Bourbone, er lehnte ab, weil er gegebenen Falls nur die
Herrſchaft Napoleon’s II. ausrufen, alſo keine bindende Zuſage geben könne.*)
[19]Ludwig Philipp.
Da der Herzog mit ſeiner ganzen Weltanſchauung dem neuen Frank-
reich angehörte, ſo täuſchte er ſich nicht über die gefährdete Lage der alten
Dynaſtie, und ſchon nach den hundert Tagen erwog man in diplomati-
ſchen Kreiſen die Möglichkeit ſeiner Thronbeſteigung. Die jüngere Linie
des königlichen Hauſes bildete wieder den Mittelpunkt der Oppoſition, wie
es im Geſchlechte der Capetinger ſeit Jahrhunderten üblich war; liberale
Börſenmänner, Abgeordnete, Schriftſteller verkehrten im Palais Royal,
und P. L. Courier feierte den Herzog als den einzigen nationalen und
liberalen Prinzen von Geblüt. In weitere Kreiſe drang ſein Ruhm erſt,
als er ſeine Söhne gut bürgerlich in einem Pariſer Lyceum unterrichten
ließ. So lange es Monarchien gab war die Welt bisher der Meinung
geweſen, daß Fürſten einer anderen Erziehung bedürfen als Unterthanen,
weil ſie im Leben Anderes leiſten ſollen. Der Gleichheitseifer des libe-
ralen Bürgerthums ſetzte ſich indeß über die Lehren der Erfahrung leicht-
füßig hinweg und pries den volksfreundlichen Sinn des Herzogs, obgleich
ſeine Prinzen den beſten Segen der öffentlichen Erziehung, den vollkom-
men freien Wetteifer der jugendlichen Köpfe und Fäuſte, ſelbſtverſtändlich
niemals kennen lernten und an Hochmuth ihren Standesgenoſſen nichts
nachgaben. Als Ludwig Philipp zagend die Krone an ſich nahm, da be-
drückte ihn die frevelhafte Rechtsverletzung nur wenig; dem aufgeklärten,
durchaus ungläubigen Sohne Philipp Egalité’s fiel es nicht allzu ſchwer,
„die Linie der königlichen Vorurtheile zu durchbrechen“, wie ſein getreuer
Thiers ſagte. Um ſo ernſtlicher beunruhigte ihn die Sorge um die Zu-
kunft ſeiner Familie. Sein Eigenthum mußte, nach dem alten, ſtets un-
verbrüchlich eingehaltenen Hausgeſetze der Capetinger, im Augenblicke der
Thronbeſteigung von Rechtswegen an die Krone fallen. Der Bürgerkönig
aber bekundete ſogleich den kaufmänniſchen Charakter ſeines Regiments,
indem er dieſen ſtolzen königlichen Rechtsſatz mit der Gewandtheit eines
Börſenſpielers umging: unmittelbar bevor er die Königswürde annahm,
trat er ſein Vermögen ſeinen Kindern ab und behielt ſich nur die Nutz-
nießung vor, die er denn auch mit Hilfe der befreundeten Bankfirmen
ſehr wirkſam handhabte. Gleichwohl empfand er täglich den Fluch der
Uſurpation; ich ſage Ihnen, wiederholte er beſtändig, meine Kinder wer-
den kein Brot zum Eſſen haben.
Um ſich zu halten durfte er anfangs perſönliche Demüthigungen und
demagogiſche Schliche nicht verſchmähen. Er verſtand ſich dazu, die Lilien
ſelbſt aus ſeinem Familienwappen zu entfernen, er ließ den Wortſchwall
ſeiner ſüßen Reden unaufhaltſam ſpielen und verbeugte ſich auf den Pa-
raden verbindlich vor dem ſouveränen Volke. Bei zweifelhaftem Wetter
*)
2*
[20]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ging er zu Fuß durch die Straßen, in ſauberer Bürgerkleidung, den Cylin-
der über dem feiſten birnenförmigen Bankiersgeſichte und der wohlgebürſteten
Lockenperrücke, und ſpannte, wenn der Regen eintrat, höflich ſeinen Schirm
auf um einen überraſchten Bourgeois am Arme nach Hauſe zu geleiten.
Nachher, da er ſich auf dem Throne ſicherer fühlte, mußte er die ehr-
geizigen Parteiführer der Kammer gegen einander ausſpielen, damit unter
dem Scheine der Parlamentsherrſchaft ſein perſönliches Regiment gewahrt
blieb. Er bemühte ſich eifrig, ſeinem Hauſe die Gleichberechtigung mit
den legitimen Höfen zu verſchaffen, und zügelte den kriegeriſchen Ueber-
muth der Nation weil jeder Krieg die Revolution von Neuem zu entfeſſeln
drohte; doch zugleich benutzte er die Gefahr der Revolution als ein Schreck-
mittel um auf die großen Mächte zu drücken und allerhand kleine anmaß-
liche Anſprüche Frankreichs durchzuſetzen. So hielt er ſich lange obenauf,
ſeiner Mäßigung verdankten die Franzoſen viele Jahre blühenden Wohl-
ſtandes; aber ſeine Regierung blieb immer nur ein unfruchtbarer Kampf
ums Daſein, ſie brachte dem Lande niemals einen neuen politiſchen Ge-
danken, ſie bereitete durch die ſündliche Vernachläſſigung der arbeitenden
Maſſen die ſchweren ſocialen Kämpfe der Zukunft vor.
An dieſer Revolution war nichts zu bewundern außer dem perſönlichen
Muthe der Barrikadenkämpfer. Mindeſtens ebenſo ſchwer wie die Ver-
meſſenheit König Karl’s wog die Schuld der liberalen Parteien. Sie hatten
das gemäßigte Miniſterium Martignac geſtürzt und durch eine gehäſſige
Oppoſition den König in eine ſolche Lage gebracht, daß er nur noch wählen
konnte zwiſchen dem Staatsſtreiche und der förmlichen Anerkennung der
Parlamentsherrſchaft. Als dann der Verfaſſungsbruch durch die Abdan-
kung des Königs geſühnt war, da wagten ſie nicht einmal den Verſuch
das Thronrecht der Dynaſtie zu retten. Die Briten beriefen ſich, als
ſie die Stuarts vertrieben, auf den unanfechtbaren Rechtsſatz, daß ein
Papiſt nicht König von England, nicht Oberhaupt der anglikaniſchen
Staatskirche ſein durfte. Gegen die Regierung Heinrich’s V. ſprach ſchlech-
terdings kein Rechtsgrund, ſondern nur der blinde Haß der Nation und
die modiſche leichtfertige Doctrin, welche Mignet zuſammenfaßte in dem
Satze: nach einer Revolution muß auch der Thron ebenſo neu werden
wie alle übrigen Inſtitutionen. Alſo ward das letzte ſchwache Band, das
noch das neue mit dem alten Frankreich verkettete, unbedachtſam zerriſſen.
Die Juli-Revolution ſchloß nicht das Zeitalter der Revolutionen, wie
ihre Urheber frohlockten, ſie eröffnete vielmehr die Bahn für eine unab-
ſehbare Reihe neuer bürgerlicher Kämpfe; darum war ſie, menſchlich in
Vielem entſchuldbar, durch ihre politiſche Wirkung die verderblichſte der
franzöſiſchen Revolutionen unſeres Jahrhunderts. Doch wie hätten die
Zeitgenoſſen alle dieſe Folgen ahnen können? Am richtigſten urtheilten
vielleicht die preußiſchen Generale und eine kleine Anzahl von beſonnenen
Conſervativen in Deutſchland. Die Liberalen aller Länder hielten ſich
[21]Katholiken-Emancipation in England.
an den Augenſchein, ſie ſahen in dem Pariſer Straßenkampfe nur die
hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfaſſungsbruch, und da
der Name: Verfaſſung zur Zeit überall einen unwiderſtehlichen Zauber
auf die Gemüther ausübte, das hiſtoriſche Recht der Dynaſtien aber von
der herrſchenden Doctrin ſehr geringſchätzig behandelt wurde, ſo bemerkte
man die ſchwere Rechtsverletzung kaum und freute ſich unbefangen des
Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrſchaft der franzöſiſchen
Bourgeoiſie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel-
klaſſen ſchon längſt gegen die Ueberreſte der feudalen Geſellſchaftsordnung
führten, eine mächtige Unterſtützung; und ſo geſchah es, daß eine Be-
wegung, die in Frankreich ſelbſt faſt nur Unheil zeitigte, mittelbar in
anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutſchland, einen nothwendigen,
heilſamen Umſchwung des politiſchen Lebens förderte. —
Einen überraſchend ſtarken Widerhall fanden die Pariſer Ereigniſſe
in dem Lande, das vordem der erſten franzöſiſchen Revolution am
zäheſten widerſtanden hatte. Seit Canning ſich von dem Bunde der Oſt-
mächte losgeſagt, war auch Englands parlamentariſches Leben wieder in
friſcheren Zug gekommen: durch Huskiſſon wurden die harten Zollgeſetze
etwas gemildert, Canning ſelbſt näherte ſich kurz vor ſeinem Tode der
erſtarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete ſich
wieder jenen Reformplänen zu, welche einſt Pitt in ſeinen hoffnungsvollen
erſten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten
vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Feſtlands
durch den aufgeklärten Abſolutismus oder durch die Revolution neu ge-
ſtaltet wurden, hatte England ſeine beſte Kraft verbraucht für die Begrün-
dung ſeines Kolonialreichs und ſeine innere Geſetzgebung faſt ganz ins
Stocken gerathen laſſen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver-
ſäumt war, und ſo übermächtig drängte ſich das Bedürfniß der Neuerung
auf, daß mehrere der kühnſten Reformen der nächſten Jahrzehnte durch
ſtreng conſervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erſte,
die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington’s und Peel’s (1829).
Selbſt dieſe Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg,
vielleicht der Abfall des ſchändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der
uralte, ſoeben durch O’Connell’s flammende Reden wieder mächtig ange-
fachte Haß der katholiſchen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be-
ſchwichtigt werden mußte.
Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutſchland ſchon längſt,
die übrigen Staaten des Feſtlands ſeit den napoleoniſchen Tagen er-
reicht hatten. Die Herrſchaft der Ariſtokratie war aber mit den Vor-
rechten der Staatskirche feſt verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert
der Streit mit der römiſchen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige
zuerſt geſchwächt und der reichsſtändiſchen Bewegung des folgenden Jahr-
hunderts die Bahn gebrochen hatte, ſo erſchütterte jetzt der erſte Stoß
[22]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gegen die anglikaniſche Kirche zugleich die Machtſtellung des parlamenta-
riſchen Adels und öffnete die Breſche für den Einzug eines demokratiſchen
Zeitalters. Laut und lauter erklang ſofort der Ruf nach Reform des
Parlaments. Noch einmal, aber in völlig veränderter Geſtalt zeigte ſich
der für Englands Geſchichte ſo folgenreiche landſchaftliche Gegenſatz des
Südoſtens und des Nordweſtens. Wie oft hatten in früheren Jahrhun-
derten die Mächte der Bewegung in den Ebenen des Südoſtens ihr Lager
aufgeſchlagen; ſeitdem war das Bergland des Nordweſtens längſt aus ſeiner
Abgeſchiedenheit herausgetreten, hier lagen die Bergwerke und die Fabrik-
ſtädte des neuen Englands, hier begannen ſich die alten ſocialen Macht-
verhältniſſe gänzlich zu verſchieben, da das Landvolk unaufhaltſam in die
Städte ſtrömte, und gebieteriſch forderten die mächtig aufblühenden großen
Gewerbsplätze ihren Antheil am Parlamente, während die verfaulten Wahl-
flecken des Südoſtens mehr und mehr verödeten. Als im Sommer 1830
die Neuwahlen begannen, hatte ſoeben Wilhelm IV. den Thron beſtiegen,
der Matroſenkönig, wie das Volk ihn nannte, ein wohlwollender, derb
gemüthlicher Herr, beſchränkten Geiſtes, aber ehrlich und der Zeit nicht
ſo ganz entfremdet wie vordem ſein Bruder Georg IV.
Mitten hinein in die Stürme des Wahlkampfs fielen nun zündend
die Nachrichten aus Paris. Der alte Nationalhaß war mit einem male
verſchwunden, Zeitungen und Volksredner wetteiferten im Lobe der großen
Nation, mancher Heißſporn ſchwenkte ſeinen Hut mit den drei Farben,
in Schaaren eilten die Beſitzenden nach Paris, um ſich dort mit den
Nationalgardiſten zu verbrüdern und den wahrheitsgetreuen Berichten
dieſer Bürgerhelden über die Wunder der großen Woche andächtig zu
lauſchen. Die weltbürgerlichen Lehren des feſtländiſchen Radicalismus,
die zur Zeit der erſten Revolution nur in den vereinzelten demokratiſchen
Clubs der Hauptſtadt Anklang gefunden hatten, drangen nun zuerſt bis
in die Maſſen des Volks; in den Arbeiterverſammlungen ward der Bruder-
bund der befreiten Völker beſungen: „Seht, frei iſt Frankreich ſchon!
Italiens Helden droh’n. Deutſchland wird mit uns gehn, Polen ſoll
auferſtehn!“ Radicale und Liberale fanden ſich zuſammen im Kampfe
gegen die Ariſtokratie. Während Cobbet durch die fanatiſchen Aufſätze
ſeines „Regiſters“ die Maſſen aufwiegelte und ſelbſt in den Vereinen
wohlhabender Londoner ſchon radicale Wünſche, ſogar die Forderung des
Zwangsmandats für die Abgeordneten, laut wurden, vertraten Brougham
und Jeffrey in der whiggiſtiſchen Edinburgh Review behutſamer die An-
ſprüche der erſtarkten Mittelklaſſen.
Unterdeſſen erfanden die gelehrten Radicalen der Weſtminſter Review
die wiſſenſchaftlichen Formeln für die Weltanſchauung des herannahenden
demokratiſchen Zeitalters. Es waren die Schüler Jeremias Bentham’s,
der jetzt noch am ſpäten Abend eines arbeitsreichen Lebens ſeine Saaten
aufgehen ſah. Der alte Einſiedler ſtand noch immer feſt auf dem Boden
[23]Engliſcher Radicalismus.
jener alten engliſchen Aufklärungsphiloſophie, welche dann von den Fran-
zoſen weitergebildet, in den Menſchenrechten des Jahres 89 ihre Vollen-
dung gefunden hatte. Während die Radicalen des Feſtlandes ſelbſtgefällig
wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu ſtehen, erklärte Bentham’s be-
gabteſter Schüler, der frühreife, ehrlich begeiſterte John Stuart Mill mit
der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert
ſei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die hiſtoriſchen
Rechtslehren der Deutſchen ſei der freiheitsmörderiſche Wahn verbreitet
worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß
die Verfaſſung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menſchen
und dem gegebenen Machtverhältniß der ſocialen Kräfte. Darum zurück
zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen Niemand ſo un-
erſchrocken ausgeſprochen hat wie Bentham: der Staat beſteht aus Einzel-
weſen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, ſondern
dient nur als Mittel um der größten Zahl von Menſchen das größte
Wohlſein zu verſchaffen; wird er gänzlich demokratiſirt, ſo muß ſchließlich
die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künſtlichen, nur
durch äußere Umſtände bedingten Unterſchied zwiſchen den Perſonen, den
Raſſen, den Geſchlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der
Allmacht einer demokratiſchen Geſetzgebung liefen freilich den politiſchen
Ueberlieferungen der geſammten germaniſchen Welt ſchnurſtracks zuwider;
die materialiſtiſche Weltanſchauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war
in England noch niemals wiſſenſchaftlich überwunden worden, da dieſem
Volke der Baconianer der ſpeculative Tiefſinn fehlte. Ganz unvermittelt
ſtand hier noch neben dem ſtrengen Kirchenglauben die Moral des platten
Verſtandes, der alle ſittlichen Güter nach dem Maßſtabe der Nützlichkeit
abſchätzte; und wie verlockend, wie großartig erſchien die Ausſicht auf den
unendlichen Fortſchritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige
improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirth-
ſchaft begann. Eben in dieſen Tagen wurde die erſte größere Eiſenbahn,
zwiſchen Mancheſter und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher
der neuen Zeit, Huskiſſon, ſeinen tragiſchen Tod fand. Die Leiſtungen
der Dampfmaſchinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Maſſen-
elend der Großinduſtrie bekundete ſich ſchon in ſtürmiſchen Arbeitsein-
ſtellungen.
Das ganze Land gerieth in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe
ging die Oppoſition ſiegreich hervor. Schon im November trat Wellington,
der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und
noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Cabinet
aus Whigs und einigen Freunden Canning’s. Nunmehr brachte der
junge Lord John Ruſſell ſeine Reformbill ein.
Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Preſſe und den
Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenſchaftlicher Kampf, bis
[24]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
endlich das Unterhaus, nochmals aufgelöſt und neu gewählt, ſeine Zu-
ſtimmung gab; den Widerſtand der Lords brach der König ſelbſt, indem
er die Gegner perſönlich auffordern ließ, der entſcheidenden Sitzung fern
zu bleiben, denn durch einen Pairſchub fürchtete er das tief herabge-
würdigte Anſehen des Oberhauſes ganz zu zerſtören. Alſo ward durch
eine unwiderſtehliche Volksbewegung die Neugeſtaltung des Unterhauſes
durchgeſetzt (1832). Die Reformbill gewährte blos das Unerläßliche:
ſie verdoppelte die Zahl der Wähler, was nach den Unterlaſſungsſünden
ſo vieler Jahre nicht unbeſcheiden ſchien, ſie beſeitigte nur die gänzlich
verrotteten Wahlflecken und gab den neuen Gewerbs- und Handelsplätzen
eine den wirklichen Machtverhältniſſen noch keineswegs entſprechende Ver-
tretung.
Was Wunder, daß dieſe friedliche Neuerung gerade von den ge-
mäßigten Liberalen des Feſtlandes als ein neuer Beweis engliſcher
Erbweisheit geprieſen wurde; ſelbſt Dahlmann ſah in der Reform ledig-
lich eine heilſame Reinigung der beſtehenden Verfaſſungsorgane, da er
mit ſeinem Montesquieu das Unterhaus für das demokratiſche Gegen-
gewicht des Oberhauſes hielt. Nur einzelne ſcharfblickende Conſervative
unterſchätzten nicht die Bedeutung des großen Umſchwungs. In einem
geiſtvollen Aufſatze der Preußiſchen Staatszeitung ſagte Hegel voraus,
dieſe Reform werde die Macht der alten parlamentariſchen Ariſtokratie
in ihren Grundfeſten erſchüttern, und der Erfolg gab ihm Recht. Bis-
her wurde nur ein Viertel der Commoners frei gewählt, die andern ver-
dankten ihre Sitze alleſammt der Gunſt der Grundherren und des Cabi-
nets. Von nun an gaben in der Hälfte der Wahlbezirke die Mittelklaſſen
den Ausſchlag, und obwohl der Adel die gewohnten Künſte der Wahl-
beherrſchung auch jetzt noch in zeitgemäßen Formen und mit großem
Erfolge ſpielen ließ, ſo wurde doch das Haus der Gemeinen allmählich,
was es unter den Welfen nie geweſen war, eine Volksvertretung. Un-
aufhaltſam aber ſank die Macht des Oberhauſes, denn die Lords hatten
bisher einen großen Theil ihres Einfluſſes unmerklich, durch die Be-
herrſchung der Volkswahlen und der Abſtimmungen des Unterhauſes
ausgeübt. Den verrotteten Wahlflecken verdankte das alte Haus der
Gemeinen den friſchen Nachwuchs ſeiner jugendlichen Staatsmänner;
fortan war der Eintritt erſchwert; an der Seltenheit der Talente, an
dem Sinken der Beredſamkeit ließ ſich bald erkennen, daß die großen
Tage des engliſchen Parlamentarismus zu Ende gingen.
Neben den altgeſchichtlichen Namen der Whigs und Torys kamen
bereits die unbeſtimmten feſtländiſchen Bezeichnungen: Liberale und Con-
ſervative in Gebrauch; denn die beiden alten erblichen Adelsparteien zer-
ſplitterten ſich bald nach franzöſiſcher Weiſe in ſechs Fractionen, kleine
Meinungs- und Intereſſengruppen, die nur mühſam unter einen Hut
gebracht wurden. Der Führer dieſes neuen Unterhauſes gebot nicht mehr
[25]Die Reformbill.
wie einſt die beiden Pitt mit dem Anſehen des Feldherrn über eine ge-
ſchloſſene Phalanx befreundeter und verſchwägerter Standesgenoſſen; er
mußte die neue Gentry der Kaufherren und Fabrikanten, der Bank- und
Eiſenbahndirektoren, die ſich jetzt neben den alten Grundadel drängte,
durch Schmeichelei gewinnen, jedem wirthſchaftlichen, kirchlichen, örtlichen
Anſpruch eine Befriedigung, jedem Wunſche eine Erfüllung verheißen, er
mußte bald ſich leiten laſſen, bald unter dem Scheine der Nachgiebigkeit
ſelber leiten. Hatte das Unterhaus früherhin in ſeinem Standesſtolze ſich
der Nation oft entfremdet, ſo war nunmehr jedem Einfall, jeder Laune
der öffentlichen Meinung Thür und Thor geöffnet; die namenloſen frei-
willigen Staatsmänner der Zeitungen, zumal der Times, erlangten eine
ungeheure Macht, und nicht ſelten geſchah es ſchon, daß die Commoners,
eingeſchüchtert durch den Lärm der Preſſe, für Maßregeln, die ſie miß-
billigten, ſtimmten. Die vordem ſo träge Geſetzgebung arbeitete ſchnell,
oft leichtfertig. Raſch nach einander wurde die Civilliſte der Krone von
den Staatsausgaben abgeſondert, das Handelsmonopol der oſtindiſchen
Compagnie aufgehoben, die Sklaverei in den Kolonien beſeitigt, die neue
Londoner Univerſität neben den beiden alten ariſtokratiſchen Hochſchulen
als Corporation anerkannt, die verfallene ſtädtiſche Verwaltung durch eine
liberale, aber gedankenloſe Städteordnung umgeſtaltet. Und ſo ſtark war
der demokratiſche Zug der Zeit, daß ſelbſt dies Haus, das noch immer
faſt ausſchließlich aus Reichen und Hochgeborenen beſtand, den miß-
handelten Maſſen des Volkes ſeine Sorgfalt zuwenden mußte: im Jahre
1833 erſchien das erſte, noch ſehr zahme Geſetz zur Regelung des Fabrik-
weſens, auch für den ſündlich verwahrloſten Volksunterricht ward ein
kleiner Staatsbeitrag ausgeworfen.
Der Lärm der Gaſſen verſtummte, ſeit die Reformbill geſiegt hatte,
doch die Arbeiter ſammelten ſich in der Stille um das neue Banner der
Socialreform; zugleich erhob ſich der Ruf nach Befreiung des Handels.
Die politiſchen Radicalen hingegen forderten Erweiterung des Stimmrechts,
weil die Reformbill die Grenzen des Wahlrechts willkürlich gezogen hatte,
und die geheime Abſtimmung, das Ballot. Die altengliſche Rechtsanſicht,
die in dem Wahlrechte ſtets eine ernſte Bürgerpflicht, nicht eine Befugniß
des ſouveränen Einzelmenſchen geſehen hatte, gerieth in Vergeſſenheit; die
Todſünde demokratiſcher Zeiten, die Furcht vor perſönlicher Verantwortung,
ſchmückte ſich mit dem Namen des Freiſinns. Mit den demokratiſchen
Ideen drangen aber auch die bureaukratiſchen Verwaltungsformen des
Feſtlands in den Inſelſtaat hinüber. Da die ſchwerfälligen Formen der
alten Selbſtverwaltung der Friedensrichter und Lordlieutenants für den
verwickelten Verkehr der modernen Geſellſchaft nicht mehr ausreichten und
der Geldadel der neuen Gentry die ſchweren Pflichten des perſönlichen
Dienſtes für Staat und Gemeinde verabſcheute, ſo wurde das vernach-
läſſigte Armenweſen des Landes einem großen, ſtreng bureaukratiſch ein-
[26]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gerichteten Armenamte untergeordnet; die neue Armenverwaltung übertraf
die alte durch techniſche Geſchicklichkeit, jedoch ſie lag ausſchließlich in der
Hand beſoldeter Beamten, den Ortsausſchüſſen blieb nur das bequeme
Recht des Wählens. Zum Jubel der Radicalen ward alſo der erſte,
entſcheidende Stoß geführt wider den alten feſten Unterbau der parlamen-
tariſchen Ariſtokratie, das Selfgovernment der Grafſchaften, und bald be-
mächtigte ſich die neue Bureaukratie auch anderer Zweige der Verwaltung.
An beiden Ufern des Canals rühmte man ſich ſeines Bürgerkönigs
und der gemeinſamen Freiheit. In der That begannen die Briten
aus ihrem ſtolzen ariſtokratiſchen Sonderleben herauszutreten, ihr neues
Unterhaus wurde von allen Kinderkrankheiten des jungen feſtländiſchen
Parlamentarismus heimgeſucht. In dem unberechenbaren Spiele der Frac-
tionen gaben die geſchworenen Feinde der Reichseinheit, die Iren ſchon
zuweilen den Ausſchlag; die Miniſterwechſel, dreizehn in fünfunddreißig
Jahren, folgten ſich faſt ſo ſchnell wie in Frankreich. Freilich beſtand
in England, da das Erbrecht und die Unverantwortlichkeit ſeiner macht-
loſen Krone unbeſtritten blieb, noch immer eine ehrliche parlamentariſche
Regierung, während der illegitime König der Franzoſen mit ſeinem Kopfe
einſtehen mußte und folglich auch trotz der conſtitutionellen Formen ein
perſönliches Regiment führte.
Das innerſte Weſen dieſer Uebergangszeit verkörperte ſich in dem
Talleyrand des Parlamentarismus, dem vielgewandten Staatsmanne, der,
Ariſtokrat durch Geburt und Neigung, fortan mit demagogiſcher Meiſter-
ſchaft die auswärtige Politik Englands leitete. Lord Palmerſton ſtammte
aus einem uralten angelſächſiſchen Geſchlechte, das ſchon lange vor der
normanniſchen Eroberung geglänzt hatte; in neuerer Zeit war das Haus
der Temple immer eine Zierde der Whigpartei geweſen. Der junge
Viscount Henry aber trat unbedenklich zu den Torys über, weil die Whigs
in jenen napoleoniſchen Tagen nicht auf die Macht hoffen konnten. Mit
zweiundzwanzig Jahren war er Lord der Admiralität, zwei Jahre darauf
ſchon Sekretär für den Krieg, und lebte ſich mit ſeiner eifrigen, wenn
auch unpünktlichen Arbeitſamkeit bald ſo ganz in die Geſchäfte ein, daß
er die Amtsthätigkeit nicht mehr miſſen konnte. Er wurde der dauer-
hafteſte aller engliſchen Miniſter; von den achtundfünfzig Lebensjahren,
die ihm nach ſeinem Eintritt ins Amt noch beſchieden waren, hat er achtund-
vierzig auf den Miniſterbänken zugebracht. In den Jahren, da er die
Heere gegen Napoleon ausrüſten half, ſammelte er früh eine reiche diplo-
matiſche Erfahrung, und ſchon in ſeiner erſten größeren Parlamentsrede
verkündete er dreiſt den leitenden Gedanken ſeines politiſchen Lebens: er
rechtfertigte den Zug der Flotte gegen Kopenhagen mit den einfachen
Worten, in dieſem Falle ſei „das Naturrecht ſtärker als das Völkerrecht“,
folglich dürfe England um ſeiner Selbſterhaltung willen mitten im Frieden
einen kleinen Nachbarſtaat räuberiſch überfallen. Der augenblickliche
[27]Palmerſton.
Vortheil, das expedient, wie er es gern nannte, entſchuldigte jeden Bruch
der Treue und des Rechts. Durch und durch Politiker, ohne Sinn für
die Kunſt und die idealen Mächte des Menſchenlebens, aber auch frei
von Selbſtüberſchätzung und Gefühlsſeligkeit, folgte er ſtets ſeinem an-
geborenen praktiſchen Inſtinkte; Grundſätze und Doctrinen beirrten ihn
ſo wenig wie Gewiſſensbedenken. Er wußte, daß er ſeinen Weg machen
würde, wenn er nur immer im Sattel bliebe; ruhig ſchlug er ein hohes
Amt aus, dem er ſich noch nicht gewachſen fühlte, und ohne Murren
nahm er nachher lange vorlieb mit einer Stellung zweiten Ranges, ob-
gleich er ſchon Größeres erwartet hatte.
Auf die Dauer konnte ihm der Erfolg doch nicht fehlen; denn von
frühauf war er der Liebling der Salons, die Geſchäfte hinderten ihn
nicht fröhlich zu leben und leben zu laſſen, an jedem Sport der vornehmen
Geſellſchaft eifrig theilzunehmen. Er verlachte das ſcheinheilige Weſen
ſeiner Standesgenoſſen und geſtand mit wohlthuender Aufrichtigkeit zu,
wie ſehr ihm die Weiber und alle Freuden dieſer Welt wohlgefielen; noch
im Alter hörte er ſich gern bei ſeinem Schmeichelnamen Lord Cupid
rufen. Wenn er in tiefer Nacht elaſtiſchen Schrittes aus einer langen
Sitzung des Unterhauſes heim wanderte, immer mit einer Blume im
Munde oder im Knopfloch, den Regenſchirm geſchultert, den hohen Hut
weit auf den Hinterkopf hinaufgeſchoben, dann freuten ſich ſeine Lands-
leute dieſes Bildes altengliſcher Lebensfriſche. Sein ganzes Weſen athmete
fröhliches Behagen; der ſtarke viereckige angelſächſiſche Kopf mit den ver-
ſchmitzten, weit vom Naſenbein abſtehenden Augen erinnerte zugleich an
die Kraft der Dogge und an die Liſt des Fuchſes. Seinen Hinterſaſſen
war er ein gütiger Grundherr, die Vettern und Freunde verſorgte er nach
engliſchem Adelsbrauche mit fetten Pfründen, doch niemals hat er einem
Unfähigen abſichtlich ein wichtiges Amt anvertraut. Wenn ihm ein Gegner
den Weg kreuzte, ſo nahm Palmerſton unfehlbar früher oder ſpäter ſeine
Vergeltung; dann aber vergaß er ſchnell, nachtragender Haß blieb dem
Leichtlebigen fremd. Ihm fehlte die Größe und die Tiefe einer urſprüng-
lichen, gedankenmächtigen Natur. Seine Stärke lag in dem feinen
Spürſinn, der jeden Wechſel der Volksſtimmung vorauswitterte, und
je länger er am Ruder ſtand um ſo genauer lernten er und ſeine
Briten einander verſtehen, bis er ihnen ſchließlich als der vollkommene
Vertreter des nationalen Geiſtes erſchien.
Fremde Völker kannte er nicht und er wollte ſie nicht kennen; nur
für Italien, wo er einige Jugendjahre verlebt hatte, und für den leichten
Ton der Pariſer Salons hegte er einige Vorliebe. Ueber die Deutſchen
urtheilte er ſo, wie es die Torys alle aus Canning’s giftigen Schmäh-
gedichten in der Antijacobiniſchen Review gelernt hatten,*) er ſah in ihnen
[28]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ein Sklavenvolk von politiſchen Kindern, von zuchtloſen Freigeiſtern und
gelehrten Narren. Um ſo unbefangener konnte er alſo in ſeinen Parla-
mentsreden die lockenden Töne der nationalen Selbſtverherrlichung an-
ſchlagen, und er lernte bald, daß britiſche Hörer dieſe Kunſt demago-
giſcher Schmeichelei ſelten zu plump finden. Im Sommer 1813, während
in Preußen das Volk in Waffen aufſtand, pries Palmerſton die unver-
gleichlichen Vorzüge des engliſchen Söldnerweſens und verſicherte den befrie-
digten Gemeinen: auf ein ſolches Heer von geworbenen Freiwilligen könne
der Feldherr ſicherer zählen, als auf „eine Bande von Sklaven, die mit
Gewalt aus ihren Häuſern geriſſen werden.“ Späterhin verherrlichte
er ſogar die neunſchwänzige Katze als ein Kleinod britiſcher Freiheit: der
ganze Unterſchied zwiſchen dem engliſchen und den feſtländiſchen Heeren
laufe doch lediglich darauf hinaus, daß hier ohne Unterſuchung, in Alt-
England aber nach einem Spruche des Kriegsgerichts geprügelt werde!
Die reactionären Doctrinen des Wiener Hofes konnten dem Realiſten
nicht zuſagen, obwohl er ſich hütete deßhalb mit Lord Caſtlereagh zu
brechen. Mit aufrichtiger Freude ſchloß er ſich dann an Canning an, als
dieſer die alte engliſche Intereſſenpolitik wieder zu Ehren brachte. Aus
dem Miniſterium Wellington trat er mit den anderen Canningiten bald
wieder aus; er fühlte, dies Cabinet müſſe „an dem Felſen der öffentlichen
Meinung ſcheitern“, und täuſchte ſich auch nicht über den nahenden Zu-
ſammenbruch des bourboniſchen Thrones. Zwei Jahre lang blieb er
nunmehr in den Reihen der Oppoſition und bereitete durch freiſinnige
Gemeinplätze die kühne Schwenkung vor, die ihn zu den Whigs hinüber-
führen ſollte. „In der Natur — ſo ließ er ſich vernehmen — giebt es
nur eine bewegende Kraft, den Geiſt; in menſchlichen Dingen iſt dieſe
Kraft die Meinung, in politiſchen Dingen iſt es die öffentliche Meinung
und jene Staatsmänner, welche es verſtehen, ſich der Leidenſchaften, der
Intereſſen, der Meinungen der Menſchen zu bemächtigen, erlangen eine
unverhältnißmäßige Macht.“ Ob der Staatsmann nicht auch verpflichtet
ſei, die irrende öffentliche Meinung zu belehren, den Vorurtheilen der
Volksvertretung mit zornigen Brauen zu trotzen? — ſolche Fragen hat
er ſich niemals vorgelegt. Als er nun nach der Juli-Revolution in das
Reformcabinet der Whigs eintrat und das auswärtige Amt aus Lord
Aberdeen’s zaghaften Händen übernahm, lenkte er ſofort wieder in die
Bahnen der Handelspolitik Canning’s ein. Er konnte nicht wie die beiden
Pitt durch den Schwung einer großen Seele, nicht wie Canning durch das
getragene Pathos kunſtvoller Rede das Haus begeiſtern; der neue Par-
lamentarismus verlangte nach einem Virtuoſen der Mittelmäßigkeit.
Palmerſton wirkte durch das unfehlbare Mittel des nationalen Selbſt-
lobes, durch kleine dialektiſche Taſchenſpielerkünſte, durch Zeitungsredens-
arten, die einem Jeden einleuchteten und Jedem das Nachdenken erſparten;
die Gegner fertigte er mit ſchnöden Witzen ab, nach Umſtänden auch durch
[29]Die liberalen Weſtmächte.
eine wohl angebrachte Grobheit, die den unſchuldigen Leuten wie der
unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermannes klang, und immer
blieb den Hörern der Eindruck, als ob ſie tief in die Falten ſeines treuen
Herzens hineingeblickt hätten.
Schon auf den Bänken der Oppoſition hatte er mit dem Lächeln
des Augurs die ſchmeichelhafte Behauptung ausgeſprochen, jedes Mitglied
des Unterhauſes könne ſich ein ſachverſtändiges Urtheil über die aus-
wärtige Politik bilden, wenn dieſe nur ganz ehrlich und offen verfahre.
Demgemäß betrieb er als Miniſter eifrig die Anfertigung kunſtvoller
Blaubücher, die von Allem etwas, von dem Weſentlichen nichts erzählten,
ſo daß jeder Leſer der Times ſich fortan rühmen durfte die europäiſche
Politik des volksthümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen.
Gleich Canning wollte Palmerſton den Weltfrieden erhalten, um den
britiſchen Handel nicht zu verderben; doch gleich ſeinem Meiſter wünſchte
er ebenſo aufrichtig, daß immer eine ſanfte Kriegsgefahr über dem Feſt-
lande ſchwebte, damit England freie Hand behielt ſein Kolonialreich zu
erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu beſetzen. Vor Allem galt
es, die beiden gefährlichſten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus-
einander zu halten, und der Geſchäftsverſtand des bekehrten Torys ent-
deckte ſogleich, wie leicht ſich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die
politiſchen Leidenſchaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet
konnte die liberale Phraſe für Alt-England ein ebenſo nützlicher und zu-
dem weniger koſtſpieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eiſen und
Kattun. Wenn England ſich an den neuen franzöſiſchen Gewalthaber
anſchloß, um ihn zu ſtützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn
dieſe entente cordiale der Weſtmächte der aufgeregten Zeit beſtändig als
ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die
Finſterniß angeprieſen wurde, ſo war eine ehrliche Verſtändigung zwiſchen
Frankreich und den conſervativen Oſtmächten unmöglich.
Dank der Tendenzpolitik Metternich’s beſtand in der Welt ſchon
ſeit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengeſellſchaft nicht
durch die Weltſtellung und die auswärtigen Intereſſen der Mächte be-
ſtimmt würde, ſondern, wie einſt im Zeitalter der Religionskriege, allein
durch ihre inneren Zuſtände. Palmerſton’s Nüchternheit hat an dies
Märchen der Parteileidenſchaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die
Verfaſſungskämpfe der Gegenwart bei Weitem nicht ſo tief in die Macht-
verhältniſſe Europas eingriffen wie einſt die kirchlichen Gegenſätze. Jedoch
er bemächtigte ſich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete
ungeſcheut: dies ſelbſtgenügſame Inſelreich, das ſich in Jahrhunderten
niemals um die Verfaſſung der Nachbarlande gekümmert hatte, ſei der
natürliche Bundesgenoſſe aller conſtitutionellen Staaten. Mit dem Rede-
ſchwall eines Marktſchreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver-
gängliche Dauer dieſes „auf die beſten Grundſätze der menſchlichen Natur,
[30]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
auf die aufgeklärteſten Grundſätze der Staatskunſt begründeten“ Bundes
der Weſtmächte, und die alleinſeligmachende Kraft „jener constitutional
rights, die ein Segen ſind für die Völker und ein Aergerniß für ihre
Nachbarn: wenn nur erſt die Formen da ſind, findet ſich allmählich
der Geiſt hinein!“ Die hohlſten Schlagworte des feſtländiſchen Libera-
lismus waren ihm willkommen, wenn ſie ihm zur Verleumdung der
abſoluten Kronen dienen konnten. Er war einſt im Miniſterrathe ſelber
bei den diplomatiſchen Verhandlungen des Jahres 1813 thätig geweſen und
ſchämte ſich doch nicht dem Parlamente das Zeitungsmärchen zu wiederholen:
damals ſeien die Völker, „aufgeweckt durch den Zauberklang conſtitutio-
neller Rechte,“ freiwillig unter die Waffen getreten und dann von ihren
Despoten betrogen worden. Palmerſton hatte ſich das Loos der Schau-
ſpieler Samuel Johnſon’s erwählt: er lebte, um zu gefallen und mußte
gefallen, um zu leben; und ſchwer war es nicht, die tiefe Unkenntniß
feſtländiſcher Dinge, welche die Briten jederzeit auszeichnete, nach Be-
lieben zu mißbrauchen. Das Unterhaus lauſchte entzückt, wenn der
liebenswürdige Schalk ihm erzählte, wie weit Preußen und das geknechtete
Oſteuropa hinter den freien Spaniern und Portugieſen zurückſtänden;
denn „die große ſpaniſche Nation verſucht, wenn auch nur von fern
(though at a distance), dem ſtolzen Beiſpiel dieſes Landes nachzu-
eifern!“
So trat denn dem legitimiſtiſchen Doctrinarismus der Hofburg
eine demagogiſche Tendenzpolitik entgegen, die ebenſo gemeinſchädlich und
noch um Vieles unredlicher war; denn Metternich fürchtete ſich wirklich
vor der Revolution, während Palmerſton mit ſeinen conſtitutionellen Kraft-
worten nur argliſtig ſpielte. Die erſten Erfolge dieſer ſeltſamen Staats-
kunſt waren glänzend. Es gelang ihr in der That, den Continent der-
maßen in Unruhe zu halten, daß England unterdeſſen ſein Weltreich
ungeſtört ausbauen konnte. Es gelang ihr auch, die Parteien des Feſt-
landes durch das beharrlich wiederholte dünkelhafte Selbſtlob der libe-
ralen Weſtmächte völlig zu bethören; Europa zerfiel, zu ſeinem Unheil
aber zu Englands Vortheil, zehn Jahre hindurch in die zwei Heerlager
der conſtitutionellen und der abſoluten Kronen, die Liberalen begrüßten
ihren old Pam und das wiedergeborene Frankreich als die Schirmherren
der Freiheit, während die Staatsmänner der Oſtmächte das diplomatiſche
Allerweltsſchwefelholz, den Lord Feuerbrand, verwünſchten.
Den Staaten wie den Männern wird die Mitwelt ſelten gerecht;
immer ſind einzelne Staaten beſſer, andere ſchlechter als ihr Ruf. Zu
jenen zählen die jungen Mächte, welche die öffentliche Meinung Europas
noch nicht beherrſchen und das Recht ihres Daſeins erſt zu erweiſen
haben; zu dieſen die alten Mächte, vornehmlich England, das bei der
Enthüllung ſeiner diplomatiſchen Geſchichte nur verlieren kann und darum
auch die Schätze ſeiner Archive ängſtlicher als irgend ein anderer Staat
[31]Die Vereinigten Niederlande.
behütet. Ein wunderbares Glück geſtattete dieſer Inſel, ihren großartigen
Kampf um die Beherrſchung der Meere unter ſo günſtigen Umſtänden
zu führen, daß ſie erſt das europäiſche Gleichgewicht, dann die allgemeine
Völkerfreiheit zu vertheidigen ſchien. Der von Palmerſton angekündigte
Bund Englands und aller freien Völker blieb viele Jahre lang ein unum-
ſtößlicher Glaubensſatz des Liberalismus. Nach und nach begann die Welt
doch zu bemerken, daß dieſe Politik, die ſo gern mit ihren unüberwindlichen
Flotten prahlte, nur gegen die Schwachen und Willenloſen Muth zeigte,
vor den Starken behutſam die Segel ſtrich. Dann fühlte man auch,
wie wenig Ernſt hinter den Freiheitsreden des Briten lag, wie unfähig
er war gerade die friſcheſte Kraft des neuen Völkerlebens, das erſtarkende
Deutſchland zu verſtehen, wie kleinſinnig er das natürliche Wachsthum der
Mitte Europas zu hemmen ſuchte. Endlich ward der maßloſe engliſche
Hochmuth dem Stolze aller Nachbarn unerträglich, ſeit Palmerſton den
Briten ſein civis Romanus sum zurief und damit alle anderen Nationen
als Barbaren neben dem einzigen Culturvolke bezeichnete; ein ungeheurer
Haß ſammelte ſich allmählich auf dem Feſtlande an, Englands einſt
hochgefeierte Staatskunſt verfiel dem allgemeinen Mißtrauen, zuletzt der
Verachtung. Als Palmerſton ſtarb — kurz bevor die Sieger von König-
grätz die ganze Rechnung ſeines Lebens mit einem bluthrothen Zuge
durchſtrichen — da war ſein England kaum mehr eine europäiſche Groß-
macht; der Staat war hinausgewachſen aus dem alten Welttheil, er
wahrte nur noch ſeine orientaliſchen und transatlantiſchen Intereſſen, in
den Händeln des Feſtlands zählte ſeine Stimme nicht mit.
So langſam nahte die Vergeltung. In jenen Tagen, da Lord
Palmerſton in das auswärtige Amt eintrat, voll Thatkraft und Lebens-
luſt, unermüdlich und unergründlich, treu ſeinem Wappenſpruche flecti
non frangi, gehoben von der Gunſt der liberalen Tagesmeinung, da er-
ſchien er dem Wiener Hofe mit Recht als ein gewaltiger Feind. Mit
den diplomatiſchen Schreckbildern der liberalen Peſt, des jacobiniſchen
Krebſes und der revolutionären Feuersbrunſt war dieſem Meiſter der
parlamentariſchen Redensart nicht beizukommen. —
Unter allen den Erſchütterungen, welche der Juli-Revolution folgten,
bedrohte keine den Weltfrieden ſo unmittelbar wie die Erhebung der Bel-
gier gegen die holländiſche Herrſchaft. Bisher war trotz ſo mancher
Wirren doch mindeſtens der Länderbeſtand der neuen Staatengeſellſchaft
unverändert geblieben — denn für Griechenland und die Türkei galten
die Wiener Verträge nicht: — jetzt ward er plötzlich an ſeiner verwund-
barſten Stelle zerſtört. Das vielgerühmte, von den Diplomaten der
großen Allianz im Wetteifer gehegte und verſtärkte Bollwerk des euro-
päiſchen Gleichgewichts, das neue Königreich der Vereinigten Niederlande
brach bei der erſten Prüfung morſch zuſammen, nicht ohne die Mitſchuld
ſeiner Regierung, doch vornehmlich durch die unheilbare Schwäche einer
[32]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. Ihrer ſtolzen Geſchichte froh, konnten
die Holländer in dem belgiſchen Lande, das ſeit den Tagen Philipp’s II.
immer fremden Herrſchern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres
wiederhergeſtellten nationalen Staates ſehen, wie es die europäiſchen Ver-
träge auch ausdrücklich ausſprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauſes
Oranien und ſeiner engliſchen Gönner war aber der Zuwachs ſtärker ge-
worden als das Hauptland ſelber: drei und eine Viertel Million Belgier
ſtanden zwei Millionen Holländern gegenüber, und ſie wußten wohl, daß
einſt Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiſer Karl’s V. den
Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war
ihnen nachher, ſeit die ſieben Provinzen des Nordens ſich aus der Ge-
meinſchaft des alten Geſammtſtaates losriſſen, von dieſen feindlichen Brü-
dern Alles geboten worden: erſt maßen ſie ſich mit den nordiſchen Nachbarn
in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol-
länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwiſchen den beiden Hälften
Niederlands; endlich beſiegt, mußten ſie dann ertragen, wie ihnen die
Schelde geſperrt, der indiſche Handel verboten, die Feſtungen durch hol-
ländiſche Garniſonen beſetzt wurden.
Ungleich ſtärker als dieſe bitteren politiſchen Erinnerungen wirkte
der Glaubenshaß. Nicht umſonſt führten die belgiſchen Landſchaften im
Volksmunde den Namen der katholiſchen Niederlande, nicht umſonſt waren
ihre Geiſtlichen zwei Jahrhunderte hindurch mit Spaniens fanatiſcher
Cleriſei eng verbündet geweſen. Hier auf dem claſſiſchen Boden der Reli-
gionskriege walteten die kirchlichen Gegenſätze ſtets ſo mächtig, daß die
Stammesunterſchiede daneben faſt verſchwanden. Wie ſcharf ſich auch
die ſchweren Flamen von den heißblütigen Wallonen unterſchieden, den
holländiſchen Ketzern gegenüber hielten ſie doch zuſammen als eine gläubige
Heerde. In Frankreich wie in England waren Liberale und Radicale
die Urheber der Umgeſtaltung; in den Niederlanden ging die Revolution
von den Ultramontanen aus, denen der Liberalismus nur das Hilfs-
heer ſtellte. Kaum hatte Frankreich, unter Verwünſchungen wider die
Jeſuiten, ſein ſtreng kirchliches altes Königshaus entthront, ſo erhob
ſich in Belgien ein Aufruhr, der, den Pariſer Julikämpfen zugleich ver-
wandt und feindlich, die Straßenſchlachten wie die liberalen Schlagworte
der Franzoſen ſich zum Muſter nahm um am letzten Ende der römiſchen
Kirche einen glänzenden Triumph zu bereiten. Ganz ebenſo ſeltſam hatte
einſt die Empörung der brabantiſchen Patrioten gegen Kaiſer Joſeph II.
ſich mit der erſten franzöſiſchen Revolution verflochten.
Ein Gefühl der Gemeinſchaft konnte ſich zwiſchen den beiden feind-
lichen Landeshälften von vornherein nicht bilden. Schon die Verfaſſung
des neuen Königreichs wurde, weil ſie die Gleichberechtigung der Be-
kenntniſſe vorſchrieb, von der großen Mehrheit der belgiſchen Notabeln
verworfen und nur durch einen häßlichen Betrug von der holländiſchen
[33]Holländer und Belgier.
Krone eigenmächtig eingeführt. Da beide Landestheile durch die gleiche
Stimmenzahl in den Generalſtaaten vertreten waren, die Holländer mit
dem Stolze des Herrenvolkes einmüthig zuſammenhielten, unter den bel-
giſchen Stimmen aber immer einzelne den Winken der Regierung folgten,
ſo wurde die belgiſche Mehrheit von der holländiſchen Minderheit regel-
mäßig überſtimmt. Holländer bekleideten weitaus die meiſten wichtigen
Stellen im Staatsdienſt; alle Oberbehörden, ſogar die Verwaltung der den
Holländern ganz unbekannten Bergwerke erhielten ihren Sitz in Holland.
Durch rückſichtsloſe Einführung der holländiſchen Staatsſprache verdarb
man ſich ſogar unbedachtſam die köſtliche Gelegenheit, dies Land der ewigen
Sprachenkämpfe friedlich zu germaniſiren, den flamiſchen Dialekt, der dem
holländiſchen ſo nahe ſtand, zur Würde einer Schriftſprache zu erheben.
Den alten ſtürmiſchen Freiheitstrotz der Genter und der Brüggelinge
hatten die Jahrhunderte der Fremdherrſchaft längſt gezähmt; aber ge-
blieben war den Belgiern ein ſtörriſches Mißtrauen gegen jede Regierung.
Wie ſollten ſie ſich auch ein Herz faſſen zu dieſem Könige Wilhelm I.,
der, vom Wirbel bis zur Zehe ein proteſtantiſcher Holländer, mit dem
Dünkel ſeines harten Verſtandes auf den Aberglauben ſeiner katholiſchen
Unterthanen herabſchaute und zudem, unbekümmert um die moderne Lehre
von der Verantwortlichkeit der Miniſter, nach der Weiſe ſeiner oraniſchen
Vorfahren perſönlich regierte?
Das wohlhabende Bürgerthum hielt ſich lange ſtill, da der Wohl-
ſtand wuchs und der belgiſche Gewerbfleiß in den holländiſchen Kolonien
lohnenden Abſatz fand. Zuerſt regte ſich der Widerſtand unter dem Adel
und den Geiſtlichen; dann folgten die von ihren Pfarrherren geleiteten
Maſſen. Die Führer der Clericalen blickten hoffend nach Frankreich
hinüber, nach der Congregation des Pavillons Marſan. Der König aber
führte, wenig wähleriſch in den Mitteln, einen geheimen Krieg gegen die
Bourbonen, er begünſtigte unter der Hand die Anſchläge der franzöſiſchen
Unzufriedenen, er gewährte ihren Flüchtlingen jahrelang in Brüſſel eine
Freiſtatt und bewirkte alſo, daß der belgiſche Liberalismus durch dieſe
Gäſte ganz mit franzöſiſchen Gedanken durchtränkt wurde. Der Haß
gegen die Holländer beförderte zugleich die franzöſiſche Bildung und die
Macht der Kirche. Der ſcharf bureaukratiſchen Kirchenpolitik des Königs
trat der Clerus mit offenbarer Unbotmäßigkeit entgegen; wieder wie in
Kaiſer Joſeph’s Tagen klagte er über Glaubensdruck weil die Staatsge-
walt ein geiſtliches Seminar in Löwen errichtet hatte. Den maßloſen
Anklagen der Ultramontanen antworteten in der amtlichen Preſſe der
berüchtigte Libry-Bagnano und ſeine Genoſſen mit einer Roheit, die ein
katholiſches Volk empören mußte.
Endlich, in denſelben verhängnißſchweren Tagen, da das Miniſterium
Martignac zuſammenſtürzte, ſprach der O’Connell Belgiens, Louis de
Potter das entſcheidende Wort: Union der Liberalen und der Katholiken.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 3
[34]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Der hatte bisher joſephiniſchen Grundſätzen gehuldigt und die Regierung
nur mit politiſchen Flugſchriften bekämpft, aber bald einſehen müſſen,
daß ſein letzter Zweck, die Unabhängigkeit Belgiens, nur mit Hilfe der
Kirche erreicht werden konnte. Preßfreiheit, Schwurgerichte, Verantwort-
lichkeit der Miniſter, freier Gebrauch der franzöſiſchen Sprache, aber auch
Freiheit des Unterrichts — das will ſagen: Unterwerfung der Volksſchule
unter die Kirche — ſo lautete das Programm der Neuverbündeten. Ein
Sturm von Petitionen rüttelte an den Thoren der Generalſtaaten. Als der
König über den monſtröſen Bund der beiden Parteien und ihr infames
Betragen ſchalt, verſchworen ſich die Heißſporne nach altem Geuſenbrauche,
treu bis zur Infamie bei ihrem Banner auszuharren.
In ſolcher Gährung ward das Land von der Juli-Revolution über-
raſcht. Am 25. Auguſt erklangen die feurigen Aufruhrlieder der Stummen
von Portici im Brüſſeler Theater, in der nämlichen Nacht brach die Em-
pörung aus, eine rohe, noch zielloſe Pöbelbewegung; aber nicht lange, ſo
flatterte auf dem gothiſchen Thurme des Rathhauſes ſchon die dreifarbige
Fahne von Brabant. Ueberall im Lande züngelte der Aufruhr empor;
franzöſiſche Agenten, Offiziere, Soldaten ſchloſſen ſich den Aufſtändiſchen
an. Dem holländiſchen Heere fehlte die feſte Leitung; der König ſelber
begann zu fühlen, daß die Verwaltung der beiden Landeshälften getrennt
werden mußte, und verhandelte darüber mit den Generalſtaaten. Da
wurden ſeine Truppen, vier Wochen nach dem erſten Aufruhr, durch
einen dreitägigen wilden Straßenkampf von den Brüſſelern gezwungen,
die Hauptſtadt zu räumen. Seitdem riß im Heere die Fahnenflucht ein,
die Belgier verließen ihre Regimenter, hüben und drüben flammte der alte
Stammeshaß furchtbar auf. Die Vermittlungsverſuche des ehrgeizigen
Prinzen von Oranien verfingen nicht mehr, und als am 27. Oktober
die Holländer in der Antwerpener Citadelle die Scheldeſtadt, zur Strafe
für einen verrätheriſchen Angriff, mit ihren Bomben einäſcherten, da
war die Trennung entſchieden. Unter den Trümmern von Antwerpen
ward das Vereinigte Königreich begraben. In den Regierungsausſchüſſen
der Aufſtändiſchen ſaßen die Führer der beiden verbündeten Parteien, der
ultramontane Fanatiker Felix von Merode ſo gut wie der geiſtreiche junge
liberale Staatsmann van de Weyer. Doch wie wirr auch die Meinungen
noch durcheinander flutheten, ein ſtarkes Selbſtgefühl war in beiden Par-
teien lebendig. Im Rauſche des Sieges entſann man ſich wieder jener
ſtolzen Tage, da die Rolandsglocke von Brügge „Victorie in Vlaander-
land“ geläutet hatte; der einſt von Mirabeau ausgeſprochene Gedanke eines
ſelbſtändigen belgiſchen Staates gewann von Tag zu Tag neue Anhänger.
Die zur Hilfe herbeigeeilten Franzoſen und ihr Anhang erwarteten
zuverſichtlich den Anſchluß Belgiens an das freie Frankreich. Die geſammte
radicale Preſſe von Paris blies in daſſelbe Horn, und der gefeierte Redner
des Chauvinismus, General Lamarque erklärte kurzab: das Geſetz des
[35]Revolution in Brüſſel.
Convents vom Jahre IV der Republik, das die belgiſchen Departements
mit Frankreich vereinigt hat, beſteht noch immer zu Recht. Die Mehr-
heit der Belgier wies dieſe Anſchläge weit von ſich. Darum wurden
auch die republikaniſchen Pläne, mit denen de Potter ſich trug, kurzerhand
abgelehnt; denn nur mit Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg
konnte ſich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer
monarchiſchen Verfaſſung durften die Belgier auf die Zuſtimmung der
großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube-
rufene nationale Congreß die verſtändigen, durch die Lage der Dinge ge-
botenen Beſchlüſſe: Unabhängigkeit, Monarchie, Losſagung vom Hauſe
Oranien.
So errang ſich dies mehr durch die kirchliche Geſinnung als durch
das Bewußtſein politiſcher Gemeinſchaft zuſammengehaltene kleine Volk
das Recht der Selbſtbeſtimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem
Aufſtande mißtrauiſch zugeſehen, da ſein Urſprung unklar war und
der belgiſche Pöbel ſich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen
Brüſſeler Straßenkampfe ſchlug das Urtheil gänzlich um. Auch Brüſſel
hat ſeine drei Tage und ſeine drei Farben! — ſchrieb frohlockend
Ed. Gans, und ſeine Geſinnungsgenoſſen in der liberalen deutſchen
Preſſe entdeckten mit wachſender Bewunderung Zug für Zug immer neue
Aehnlichkeiten zwiſchen Belgien und dem Muſterlande der Freiheit: ſie
nannten de Potter den belgiſchen Lafayette, Jouvenel’s Brabançonne die
belgiſche Marſeillaiſe. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marſeillaiſe
— was brauchte ein Volk mehr um glücklich zu ſein? und wer außer
den entmenſchten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch beſtreiten, daß
die Sonne über Europa im Weſten aufging? —
Die ſo lange niedergehaltenen Parteien der deutſchen Oppoſition
athmeten fröhlich auf, als die erſte Kunde von der großen Woche über
den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radicalen Jugend das Wort
von den Lippen, da er in übermüthigem Jubel die Pariſer Zeitungen als
in Papier gewickelte Sonnenſtrahlen begrüßte: „Lafayette, die dreifarbige
Fahne, die Marſeillaiſe — fort iſt meine Sehnſucht nach Ruhe. Ich
weiß jetzt wieder was ich will, was ich ſoll, was ich muß. Ich bin der
Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber
meine Mutter ihren Zauberſegen ausgeſprochen. Blumen, Blumen! Ich
will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und
Geſang, ganz Schwert und Flamme!“ Mächtig wie die Freude im libe-
ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachſender Be-
ſorgniß waren ſie ſämmtlich den vermeſſenen Unternehmungen Polignac’s
gefolgt; eine ſo furchtbare Erſchütterung, die das ganze mühſame Friedens-
werk der Wiener Verträge wieder in Frage ſtellte, kam ihnen doch allen
3*
[36]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
unerwartet. König Friedrich Wilhelm hatte nach ſeiner Gewohnheit den
Juli im Bade zu Teplitz verbracht und dort Metternich’s Beſuch empfangen.
Trotz der Reibungen am Bundestage und trotz des geheimen Krieges der
Hofburg wider die preußiſchen Zollvereinspläne hegte er keinen Groll
gegen Oeſterreich; nach wie vor ſah er in der großen Allianz die Bürg-
ſchaft des Völkerfriedens, er hoffte dies ſeit dem orientaliſchen Kriege ganz
aus den Fugen gegangene Bündniß von Neuem zu befeſtigen und nament-
lich das gute Einvernehmen zwiſchen den beiden verfeindeten Kaiſermächten
wieder herzuſtellen. Da auch Metternich ſehnlich wünſchte aus ſeiner
ſelbſtverſchuldeten Vereinſamung herauszugelangen, ſo ergab ſich eine
vollkommene Uebereinſtimmung der Anſichten, und der Oeſterreicher geſtand
nachher: bei dieſer Unterredung hätte er zuweilen glauben können, daß
er ſich im Cabinet des Kaiſers Franz befände.*)
Als der König, von Teplitz heimkehrend, an ſeinem Geburtstage
(3. Auguſt) den ſächſiſchen Hof in Pillnitz beſuchen wollte, ereilte ihn
der Feldjäger mit den erſten Nachrichten aus Paris. Am ſelben Abend
noch hielt er in dem nahen Landhauſe ſeines Geſandten Jordan eine
erſte Berathung mit Wittgenſtein und Witzleben, und erklärte hier ſchon
nachdrücklich, daß er zwar jeden Angriff der Franzoſen kräftig zurückweiſen,
aber in Frankreichs innere Händel ſich nicht einmiſchen werde. So auf-
richtig er auch den Sturz des legitimen Bourbonenhauſes beklagte, ſeine
Friedensliebe, ſein nüchterner Verſtand, ſein landesväterliches Pflichtgefühl
ſträubten ſich wider den Gedanken eines Weltkrieges, deſſen Gefahren
unzweifelhaft zunächſt auf Preußen fallen mußten. Schon in Troppau
und Laibach hatte er behutſam Alles was ſeinen Staat belaſten konnte
von der Hand gewieſen;**) wie ſollte er ſich jetzt in die Abenteuer eines
neuen Champagnefeldzugs ſtürzen? Ich habe, ſo ſagte er oft, in meiner
Jugend die Gräuel der Revolution geſehen und will mein Alter in ehren-
vollem Frieden verleben. Die unberechenbare Macht der neuen Revolution
hoffte er dann am ſicherſten in Schranken zu halten, wenn der große
Vierbund ihr mit einmüthigen Beſchlüſſen gegenüberträte.
Damit die vier Mächte freie Hand und genügende Zeit für ihre Ver-
abredungen behielten, wollte er alſo den diplomatiſchen Verkehr mit Frank-
reich vorläufig einſtellen und beauftragte ſeinen Geſandten Werther (7. Aug.),
nach Verſtändigung mit den Bevollmächtigten der drei anderen Großmächte
Paris zu verlaſſen. Als aber Werther ſeine Amtsgenoſſen zur Berathung
verſammelte, da zeigte ſich ſofort, daß der Vierbund nicht mehr beſtand.
England ging ſeines eigenen Weges; ſein Geſandter erklärte, er habe Be-
fehl unter allen Umſtänden zu bleiben. Alle drei riethen dem Preußen,
zunächſt weitere Weiſungen abzuwarten, da die letzte durch die Ereigniſſe
[37]Preußens friedliche Haltung.
überholt worden ſei.*) Mittlerweile hatte die Revolution ihr Ziel erreicht,
der neue Thron war aufgerichtet, und die Geſandten ſchilderten in ihren
Berichten das Geſchehene übereinſtimmend als eine unabwendbare Noth-
wendigkeit. Sie waren zumeiſt auch perſönlich erbittert gegen Polignac,
der über ſeinen Staatsſtreichsplänen die Geſchäfte des Auswärtigen Amts
ganz vernachläſſigt, nur mit Apponyi und dem Nuntius Lambruschini
Umgang gepflogen hatte. Alle aber beugten ſich vor der vollendeten That-
ſache; der anſteckenden Kraft jenes allgemeinen, urplötzlichen Geſinnungs-
wechſels, welcher die Revolutionen in Frankreich ſo furchtbar macht, konnte
ſich Niemand ganz entziehen. Alle Monarchiſten, ſchrieb Werther ſchon
am 5. Auguſt, wünſchen dringend, daß die vier Mächte ſich zu der neuen
Krone freundlich ſtellen; ſonſt bricht die Republik, die Anarchie herein.**)
Ueber den großen Rechtsbruch tröſtete man ſich mit der Erwägung,
daß die Orleans doch dem alten Capetingerhauſe angehörten und mithin
— ſo lautete der neue Verlegenheitsausdruck — ſich mindeſtens einer
Quaſi-Legitimität rühmen dürften; die Unterſchlagung, welche dem neuen
Herrſcher zum Throne verhalf, ward in der ſtürmiſchen Unruhe dieſer
erſten Tage kaum bemerkt. Ludwig Philipp aber erging ſich in brünſti-
gen, unzweifelhaft aufrichtigen Betheuerungen ſeiner Liebe zum Frieden,
zur bürgerlichen Ordnung: der Krieg, wiederholte er beſtändig, wäre die
Republik, die Propaganda, der allgemeine Umſturz. Sein Miniſter des
Auswärtigen, Graf Molé ſchrieb an Werther: „Wir mußten Frankreich
retten und, ich darf es hinzufügen, Europa vor einer großen Erſchütterung
bewahren. Inmitten des Kampfes wurde die dreifarbige Fahne aufge-
zogen. Aber ſeit ſie wieder das Banner Frankreichs geworden, entfaltet
ſich dieſe glorreiche Fahne nur noch als ein Sinnbild der Mäßigung
und Vertheidigung, der Erhaltung und des Friedens. Ihre Regierung
wird anerkennen, welche Ueberwindung es S. Majeſtät gekoſtet hat Sich
zur Beſteigung eines Thrones zu entſchließen, der doch um des allge-
meinen Wohles willen nur von Ihm eingenommen werden durfte.“***) Nach
Alledem ließ König Friedrich Wilhelm in Wien erklären, er ſei „ſeinen
Unterthanen ſchuldig das peinliche Opfer ſeiner Grundſätze und Gefühle
zu bringen“; indeß hoffte er noch immer auf ein gemeinſames Vorgehen
des Vierbundes und ſchlug daher den drei befreundeten Mächten vor,
daß ſie durch gleichlautende Erklärungen die neue franzöſiſche Regierung
anerkennen, aber zugleich von ihr die Aufrechterhaltung der Verträge, des
Beſitzſtandes, des Friedens förmlich verlangen ſollten.†)
[38]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Die Hofburg zeigte ſich kaum weniger friedfertig als das preußiſche
Cabinet; ihre Nachgiebigkeit entſprang dem Bewußtſein der Schwäche.
Welche ſchweren Enttäuſchungen brachte dies wilde Jahr dem alternden
Staatskanzler! Am 4. Februar hatten die drei Schutzmächte auf der
Londoner Conferenz beſchloſſen, das meuteriſche Griechenland ſolle ein
unabhängiges, tributfreies Königreich werden. Und nun die Nachricht
von dem Sturze der bourboniſchen Regierung, deren „guten und äußerſt
kräftig erwieſenen Willen“ Metternich noch zwei Tage zuvor warm belobt
hatte! Der in dem Pariſer Bundesvertrage und dem geheimen Aachener
Protokoll*) vorhergeſehene Kriegsfall war nunmehr unzweifelhaft gegeben,
wenn anders man die Verträge ſtreng auslegte. Wollte Metternich nicht
Alles verleugnen, was er ſeit fünfzehn Jahren unabläſſig der Welt gepre-
digt hatte, ſo mußte er jetzt die legitimen Mächte auffordern zum Kampfe
gegen die Revolution, die ſich in Frankreich drohender, gefährlicher erhob
als weiland in Neapel, in Piemont, in Spanien. Und doch wagte er
nicht einmal ſich auf jene Verträge zu berufen. Die Geſchichte war dar-
über hinweggeſchritten; der Hochmuth, der ſich erdreiſtet hatte dem ewigen
Werden der Menſchheit ein Halt zuzurufen, zeigte ſich in ſeiner ganzen
Blöße. Unter allen großen Mächten war Oeſterreich am wenigſten auf
einen Krieg vorbereitet. Selbſt die beſchämenden Erfahrungen des orien-
taliſchen Krieges hatten dieſen Hof nicht aus ſeiner Trägheit aufgerüttelt.
Das Heer befand ſich noch immer in ebenſo elendem Zuſtande wie der
Staatshaushalt. Die Zahl der Mannſchaften unter der Fahne blieb
weit hinter dem Friedensfuße zurück; die Artillerie brauchte zwei Monate
um auszurücken, denn von den Geſchützen waren kaum fünfzig beſpannt;
nur die Reiterei, etwa 40000 Pferde ſtark, behauptete noch ihren alten
Ruf. Dazu viele überalte Generale und Stabsoffiziere; ſogar ſiebzigjährige
Hauptleute waren nicht ſelten, da der ſparſame Kaiſer Franz Abſchieds-
geſuche faſt ebenſo ungern bewilligte wie ſein bairiſcher Schwager. Die
Offiziere fühlten ſich gedrückt durch den geiſtlos pedantiſchen Dienſt und
auch in der Geſellſchaft zurückgeſetzt, denn bei Hofe wie in den Kreiſen
des hohen Adels galten ſie nichts; der einzige Feldherr, dem ſie vertrauten,
Erzherzog Karl blieb Dank der Eiferſucht ſeines kaiſerlichen Bruders allen
Geſchäften fern.**)
Mit einer ſolchen Kriegsmacht ließ ſich ein europäiſcher Kreuzzug für
das legitime Recht nicht führen; genug ſchon, wenn ſie nur in Oeſterreichs
nächſtem Machtgebiete, in Italien, die täglich wachſende revolutionäre Er-
regung niederzuhalten vermochte. Rückhaltlos äußerte ſich Gentz zu dem
badiſchen Geſandten, dem kriegsluſtigen alten Koſakenführer General Tetten-
[39]Oeſterreichs Schwäche. Gentz.
born über die Ohnmacht des alten Syſtems. „Wir ſind gezwungen,“ ſchrieb
er ſchon am 24. Auguſt, „wir ſind nothgedrungen, Ludwig Philipp’s Er-
haltung zu wünſchen, car après lui le déluge. Nehmen Sie hinzu, daß
der Stand der Dinge ein ganz anderer als im Jahre 1815, daß keine
der großen Mächte zum Kriege gehörig vorbereitet iſt, und Sie werden
Sich nicht wundern, wenn le maintien de la paix von allen Seiten als
das große Loſungswort erſchallt. Heute müſſen Sie Ihr tapferes Schwert
noch in der Scheide halten; gebe Gott, daß Sie es nicht allzu früh in
das Blut der Weltverderber tauchen müſſen.“*) Was war doch aus jener
ſtreitbaren Feder geworden, die einſt die gebieteriſchen Rundſchreiben der
großen Congreſſe verfaßte! Gentz ſtand in ſeinem ſiebenundſechzigſten
Jahre. Die Mattigkeit des Alters kam über ihn, die Friſche des Willens
und die Luſt am Kampfe ſchwanden ſichtlich, doch zugleich erwachten auch
wieder die zarten künſtleriſchen Triebe dieſes reichen Geiſtes. Er verlebte
Augenblicke dithyrambiſcher Verzückung wie vor Zeiten, da er mit ſeinem
Friedrich Schlegel für die Lucinde geſchwärmt hatte: „Wie, wenn Alles
vernünftig wäre! Gott bewahre uns. Alle Blüthen des Genuſſes fielen
plötzlich vom Baume des Lebens herab. Wer bei einem Buche nicht wahn-
ſinnig, bei der Geliebten nicht ein Narr, im Kampfe nicht toll und unter
Pedanten und Philiſtern nicht blödſinnig zu ſein verſteht, der kennt die
Kunſt des Lebens nicht.“ Die romantiſche Liebe zu der ſchönen Tänzerin
Fanny Elsler und der kaum minder phantaſtiſche Freundſchaftsbund mit
dem jungen Prokeſch v. Oſten nahmen ſeine Seele ganz dahin, und zu-
gleich träumte er über Heine’s Gedichten, bald tief gerührt, bald wollüſtig
ſchaudernd, bald hoch entrüſtet. Dieſe beſtändige, halb greiſenhafte halb
jugendliche Erregung der Gefühle rieb ſeine Lebenskräfte auf, wie der nüch-
terne Metternich bald bemerkte.
Noch immer beobachtete er den Wandel der politiſchen Dinge mit
dem alten wunderbaren Scharfblick. Schon im letzten Jahre hatte er
vorausgeſagt, die wilde Leidenſchaft des ſataniſchen Geſchlechts der jakobi-
niſchen „Mütz-Cujons“, der doctrinäre Eigenſinn der Liberalen und der
geheime Ehrgeiz des Bonapartismus müßten unfehlbar ſehr bald einen
neuen Umſturz in Frankreich herbeiführen. Er wußte wohl, „dieſe neueſte
Revolution war die entſcheidendſte und vollſtändigſte, die Frankreich erlebt,“
weil ſie das hiſtoriſche Recht endgiltig zerſtörte. Allein unter den Zeit-
genoſſen erkannte er auch ſchon, daß die abermalige Erhebung der Fran-
zoſen bei Weitem nicht ſo viel bedeutete wie der Einbruch der Demokratie
in das altariſtokratiſche Staatsleben Englands; in dieſem Umſchwung
der engliſchen Verhältniſſe ſah er das eigentlich Neue, das Verhängniß
des Jahres 1830; immer wieder beſchäftigte ihn die Sorge „was aus
dieſer Nation geworden iſt und nächſtens werden wird.“ Aber den Kampf
[40]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gegen die ſiegreichen Mächte der Revolution wollte er nicht mehr aufnehmen;
er ſtand nicht an, die Niederlage der alten Gewalten ehrlich einzugeſtehen:
„das lebhafte Gefühl, daß wir geſchlagen ſind, raubt uns die letzten Kräfte
zur Rettung.“ Frieden! — hieß jetzt die Loſung aller ſeiner Briefe.
Unermüdlich, und nicht immer ganz der Wahrheit getreu, verſicherte er
dem Vertrauten Samuel Rothſchild, zur Mittheilung an die Pariſer
Freunde, daß keine der drei Oſtmächte an einen Krieg denke; mit warmem,
faſt überſchwänglichem Lobe pries er die Friedfertigkeit der franzöſiſchen
Regierung. Nicht lange, ſo entdeckte er ſogar, daß die Volksſouveränität,
Dank der Mäßigung des Bürgerkönigs, unvermerkt in eine neue Legiti-
mität übergehe: warum könnten dieſe beiden großen Staatsgrundſätze
nicht friedlich, wie Proteſtantismus und Katholicismus in der Staaten-
geſellſchaft neben einander beſtehen? warum ſollte Europa wieder wie im
ſechzehnten Jahrhundert einen Meinungskampf durch die Waffen zu ent-
ſcheiden ſuchen? Das Syſtem der Erhaltung und das Syſtem des ruhigen
Fortſchritts widerſprechen ſich ja nicht unbedingt. — Alſo ward er, nicht
durch freie Ueberzeugung, ſondern durch die Uebermacht der Ereigniſſe
und durch die entſagende Verſöhnlichkeit des Alters am Abend ſeines Lebens
wieder zurückgeführt zu den gemäßigten Grundſätzen, mit denen er einſt
ſeine politiſche Laufbahn begonnen hatte.
Gentz’s Meinung fiel kaum mehr ins Gewicht, da er an den Geſchäften
nur noch geringen Antheil nahm und, wie Metternich ſagte, nur noch
Phantaſie-Dienſte leiſtete. Aber auch der Staatskanzler ſelbſt war tief
durchdrungen von dem Gefühle ſeiner Hilfloſigkeit, obgleich er dem preußi-
ſchen Geſandten gegenüber prahlte, Oeſterreichs Heer laſſe ſich ſchnell und
leicht auf einen Beſtand von 400000 Mann bringen.*) Wie hart es
ihm auch ankam, ſo erklärte er ſich doch mit den preußiſchen Anträgen
einverſtanden; indeß dachte er die Möglichkeit einer gemeinſamen Inter-
vention noch nicht ganz aus der Hand zu geben und ſchlug daher vor,
die vier Mächte ſollten zu einem Congreſſe zuſammentreten oder mindeſtens
in Berlin zur Beobachtung Frankreichs ein centre d’entente bilden. Auf
eine ſolche unnütze Herausforderung der Franzoſen wollte ſich jedoch der
preußiſche Hof nicht einlaſſen; die böſe Erinnerung an den verhängniß-
vollen Pillnitzer Congreß lag gar zu nahe. Für den ſchlimmſten Fall
hielt Metternich noch eine furchtbare Waffe bereit: den Herzog von
Reichſtadt. Er kannte die Furcht der Orleans vor dem großen Namen
der Bonapartes; mehrmals gab er den befreundeten Geſandten, ſchließlich
auch dem Tuilerienhofe ſelbſt zu verſtehen: wenn Frankreich die Verträge
nicht achte, dann würde der Vierbund den Erben des Imperators zurück-
führen.**) Und wahrlich, der junge Napoleon hätte es an ſich nicht fehlen
laſſen. Der Abgott aller Weiber, bildſchön, frühreif, hochbegabt fühlte er
[41]Ruſſiſche Kriegspläne.
ſich ganz als den Sohn des Bändigers der Revolution. Nicht als ein
Verſchwörer dachte er ſich die Krone ſeines Vaters zu erſchleichen; als
ein Fürſt der Ordnung wollte er in Frankreich einziehen, gerufen von
dem altkaiſerlichen Heere, um den Sohn des Bürgers Egalité zu zer-
malmen, den verächtlichen Thronräuber, der weder das legitime Recht
noch den Volkswillen hinter ſich hatte. In vollem Ernſt hat Metternich
ſo verwegene Gedanken nie gehegt; er ſpielte damit, wie ein Verzweifeln-
der halb ſehnſüchtig halb entſetzt die Giftflaſche betrachtet, denn unmöglich
konnte er glauben, daß ein Napoleon je ein zuverläſſiger Wächter der
Wiener Verträge werden würde. Vorderhand war er ehrlich für den
Frieden und bat den König von Preußen, er möge den Czaren für eine
gemeinſame Erklärung der Mächte gewinnen, da Kaiſer Franz leider das
Vertrauen des ruſſiſchen Selbſtherrſchers nicht beſitze.*)
Dort in Petersburg ſtieß die Friedenspolitik der beiden deutſchen
Mächte auf harten Widerſtand. Czar Nikolaus war noch wie berauſcht
von den Erfolgen des Türkenkrieges, unüberwindlich erſchien ihm ſein
Heer. Er wähnte ſich ſtark genug ſogleich gegen die Revolution einzu-
ſchreiten, ſtand doch ſeine polniſche Armee wohlgerüſtet dicht an der Grenze.
Die peinliche Frage, ob dieſe Polen ſich auch gegen das revolutionäre
Frankreich ſchlagen würden, kam ihm gar nicht in den Sinn. Obwohl
er den Verfaſſungsbruch Karl’s X. ſcharf verurtheilte, ſo wollte er doch
mit „dem fluchwürdigen Uſurpator“ nichts gemein haben.**) Im erſten
Zorne rief er alle Ruſſen aus Frankreich zurück, verbot den Franzoſen
den Eintritt in ſein Reich, verſchloß der dreifarbigen Flagge die ruſſiſchen
Häfen. Neſſelrode, der ſich ſoeben in Karlsbad mit Metternich, dann in
Berlin mit Bernſtorff beſprochen und die friedlichen Abſichten der deutſchen
Höfe gebilligt hatte, fand daheim ungnädige Aufnahme; auch Pozzo di
Borgo verlor das Vertrauen ſeines Monarchen weil er ſich freundlich zu
den Orleans ſtellte. Jene unbedachten feindſeligen Maßregeln gegen
Frankreich nahm der Czar freilich ſchon nach einigen Tagen zurück.***)
Aber die preußiſchen Vorſchläge genügten ihm nicht: die Volksſouveränität
anerkennen, das heiße das ganze Syſtem der Mächte untergraben; und
was nütze es, von Ludwig Philipp die Anerkennung der Verträge zu
fordern, wenn man ſich auf ſein Wort nicht verlaſſen könne? Endlich
entſchloß er ſich ſeinem königlichen Schwiegervater „einen glänzenden Be-
weis ſeines guten Willens zu geben“ und ſendete den Feldmarſchall Die-
bitſch zu weiteren Verhandlungen nach Berlin.†)
[42]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Während die Oſtmächte alſo noch ohne Ergebniß unter ſich verhan-
delten, hatte England bereits ſeinen Entſchluß gefaßt und abermals
unzweideutig bewieſen, daß der alte Vierbund zerſprengt war. Wellington
ſtand noch am Ruder. Derſelbe Staatsmann, der vor fünfzehn Jahren
die Wiederherſtellung der Bourbonen am eifrigſten gefördert hatte, zog
jetzt zuerſt ſeine Hand von ihnen ab. Ganz ebenſo unbedenklich hatte
er vor Kurzem zwei andere Freunde, den Sultan und den Dey von
Algier preisgegeben. Es war die alte Treue Albions. Selbſt die Torys
durften eine Regierung, welche ſich auf die Grundſätze der engliſchen
Revolution von 1688 berief, nicht als unrechtmäßig bekämpfen; ihr
Cabinet, das längſt ſchon im Sattel wankte, war ſofort verloren, wenn
es ſich dem einmüthigen Verlangen der öffentlichen Meinung widerſetzte.
Schon am 27. Auguſt wurde die Regierung der Orleans von dem eng-
liſchen Hofe ohne jede Bedingung anerkannt, und Wellington erklärte
den Oſtmächten in einem Rundſchreiben, die Lage ſeines Landes habe
ihm nicht erlaubt die Beſchlüſſe der Alliirten abzuwarten.
So ſcheiterte Preußens Plan, durch eine gemeinſame Antwort der
Großmächte dem Juli-Königthum zugleich die Anerkennung zu gewähren
und ihm feſte Schranken vorzuzeichnen. Nunmehr ſchien es dem Berliner
Hofe rathſam, daß auch die anderen Mächte jede für ſich ihr Anerkennungs-
ſchreiben nach Paris ſendeten, damit der Zwieſpalt zwiſchen England und
den Oſtmächten nicht zu auffällig hervorträte; denn nach wie vor blieben
der König und Graf Bernſtorff der Meinung, dieſe große Kriſis müſſe
benutzt werden um die große Allianz neu zu beleben.*) Ludwig Philipp
hatte allen mächtigeren Fürſten durch außerordentliche Bevollmächtigte
eigenhändige Briefe geſendet, deren demüthige Haltung einem Beherrſcher
Frankreichs übel anſtand. Im bittenden Tone des Schuldbewußten ent-
ſchuldigte er ſeinen Thronraub. „Ich ſeufze über das Unglück des älteren
Zweiges meiner Familie,“ ſchrieb er an König Ludwig von Baiern. „Mein
einziger Ehrgeiz wäre geweſen, ihm vorzubeugen und auf dem Platze,
wohin mich die Vorſehung geſtellt, zu bleiben. Aber die Umſtände waren
gebieteriſch, ich habe mich opfern müſſen. Die geringſte Zögerung meiner-
ſeits konnte das Königreich in Wirren ſtürzen, deren Ende ſich nicht ab-
ſehen ließ und die vielleicht die Fortdauer des für das Glück aller Staaten
ſo unentbehrlichen Friedens gefährdet hätten.“**) Mit einem ähnlichen
Briefe erſchien General Lobau in Berlin. Am 9. Septbr. antwortete
Friedrich Wilhelm durch ein freundliches Schreiben, worin ſich freilich
die unverblümte Bemerkung befand: es iſt nicht meines Amtes (il ne
m’appartient pas) über das Geſchehene zu urtheilen. Nachdem er den
[43]Anerkennung Ludwig Philipp’s.
ſchweren Schritt gethan, wollte er auch ohne Groll mit dem neuen Nach-
barfürſten verkehren, der ihm ſofort mit überſchwänglichen Worten ſeine
ewige Dankbarkeit verſicherte. Alexander v. Humboldt, der alte Freund des
Hauſes Orleans, erhielt daher vertrauliche Aufträge, als er in dieſen
Tagen ſeine gewohnte Herbſtreiſe nach Paris antrat, und er that das
Seine um ein leidliches Verhältniß zwiſchen den beiden Höfen herzuſtellen.
Unterdeſſen hatte auch Kaiſer Franz ſein Anerkennungsſchreiben nach
Paris geſendet. Die kleinen Fürſten und der Bundestag folgten dem
Beiſpiele. Nur Czar Nikolaus zögerte noch einige Wochen, und als er
endlich das Unvermeidliche that, konnte er ſeine Verſtimmung doch nicht
bemeiſtern; jahrelang gefiel er ſich darin, durch allerhand diplomatiſche
Ungezogenheiten den Orleans ſeine Verachtung zu zeigen. —
Die Frage der Anerkennung Ludwig Philipp’s gefährdete, wie die
Dinge ſtanden, den Weltfrieden nicht unmittelbar; bedrohlich ward die
Lage erſt, als der belgiſche Aufſtand ſich mit der Juli-Revolution ver-
kettete. Der Bürgerkönig ſelber ſah in dem Aufruhr der Belgier nur eine
unwillkommene Verlegenheit. Anders dachte ſein Volk. Zu Tauſenden
ſtrömten die franzöſiſchen Freiwilligen und Aufwiegler nach Brabant;
wie ein Mann forderte die radicale Preſſe die Einverleibung Belgiens
zur Sühne für Leipzig und Belle-Alliance; ſelbſt gemäßigte Blätter be-
haupteten, mit jener naiven Geringſchätzung fremden Rechtes, welche die
Franzoſen von jeher ausgezeichnet hat, nur durch Eroberungen könne
das neue Herrſcherhaus die Herzen ſeines Volks gewinnen. Allem An-
ſchein nach mußte Belgien der Herrſchaft oder doch dem übermächtigen
Einfluſſe Frankreichs anheimfallen, wenn der niederländiſche Geſammt-
ſtaat zerfiel. Und dies Vereinigte Königreich war das eigenſte Werk des
Vierbundes, vor Allem doch das Geſchöpf der engliſchen Staatskunſt;
denn nur damit England die Hälfte der holländiſchen Kolonien behalten
könne, hatten die Verbündeten einſt den feſtländiſchen Beſitz der Oranier
ſo übermäßig vergrößert; vor Kurzem erſt waren unter Wellington’s
Oberleitung jene Feſtungen an der belgiſchen Südgrenze vollendet worden,
welche der Vierbund von den franzöſiſchen Contributionsgeldern hatte er-
bauen laſſen. Wo nicht der Buchſtabe, ſo doch ſicherlich der Geiſt der
Verträge und mehr noch der politiſche Anſtand verpflichteten den engliſchen
Staat, dies ſein Schooßkind nicht kurzerhand preiszugeben. Und welch
ein gefährliches Beiſpiel gab dieſer Aufſtand der Prieſter den grollenden
Iren; ſchon verkündete O’Connell frohlockend: wenn das katholiſche Belgien
ſich befreie, dann müſſe auch Irland das Joch ſeiner proteſtantiſchen
Herren abſchütteln. Darum empfing Wellington die Nachrichten aus
Brüſſel mit aufrichtigem Bedauern; er wünſchte zum mindeſten, Belgien
als ein ſelbſtändiges Land dem Hauſe Oranien zu erhalten, und trug
ſich einige Tage lang ſogar mit dem Plane, engliſche Truppen in jene
belgiſchen Feſtungen zu werfen. Aber die britiſche Handelspolitik hatte
[44]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
bei dem niederländiſchen Geſammtſtaate ihre Rechnung nicht gefunden;
er war keineswegs, wie Caſtlereagh einſt gehofft, ihr demüthiger Client
geworden, ſondern ihr mit ſeinen Zöllen und Rheinſchifffahrtsgeſetzen
ſehr rückſichtslos entgegengetreten. Die alte Freundſchaft beſtand längſt
nicht mehr, und niemals hätte die aufgeregte öffentliche Meinung dem
Cabinet geſtattet, um dieſes ungeliebten Nachbarn willen einen Krieg
gegen das hochgeprieſene Volk der Juli-Revolution heraufzubeſchwören.
Der eiſerne Herzog mußte ſich fügen. Schon um Mitte Septembers
wußte man in Berlin genau, daß England auf keinen Fall zur Ver-
theidigung ſeines alten „Bollwerks“ die Waffen ziehen werde.*)
Ebenſo vorſichtig verfuhr der Wiener Hof. Bei der erſten ernſt-
lichen Gefährdung unſeres Rheinlands ward ſogleich offenbar, wie gänz-
lich dies neue Oeſterreich ſeit dem Verluſte ſeiner weſtlichen Provinzen
aus Deutſchland hinausgewachſen war. Metternich klagte zwar nach ſeiner
Gewohnheit über den neuen Krater des raſtlos arbeitenden Vulkans der
Revolution; ſogar eine ſelbſtändige Verwaltung für Belgien, die er früher-
hin ſelber dem Könige der Niederlande angerathen, fand er jetzt hochbe-
denklich, da ſie durch einen Aufruhr ertrotzt würde.**) Doch er erklärte
auch von vornherein ſehr nachdrücklich, Kaiſer Franz ſtehe in dieſem
Streite nur in zweiter Reihe; für einen rheiniſchen Feldzug hatte Oeſter-
reich nur ein Hilfsheer übrig, ſeine beſte Kraft mußte ſich gegen den
Süden, gegen die drohende Erhebung der Italiener wenden. Verſtimmt
und entmuthigt, wie er jetzt war, ſah Metternich die belgiſchen Dinge im
trübſten Lichte und geſtand ſeinem Kaiſer ſchon am 11. October: „der
Proceß in den Niederlanden iſt rein verloren.“
Um ſo ſchwieriger war die Lage Preußens, das den belgiſchen Wirren
faſt ebenſo nahe ſtand wie England. Perſönliche Theilnahme konnte der
König der Niederlande von Deutſchland nicht verlangen; denn unter den
vielen unleidlichen Nachbarn Preußens war er ſicherlich der böſeſte, und
unter allen deutſchen Fürſten hatte keiner ſeine Bundespflichten ſo ſcham-
los mit Füßen getreten. Welche lange Reihe häßlicher Händel, von den
erſten Grenzſtreitigkeiten an bis zu der Sperrung der Rheinſchifffahrt
und dem dreiſten Verſuche, die Bundesfeſtung Luxemburg den deutſchen
Truppen zu verſchließen! Und wie hochmüthig hatte er nach dem Aachener
Congreſſe den preußiſchen Nachbarn abgewieſen, als dieſer ſich erbot zum
Schutze Belgiens ein ſtehendes Beobachtungsheer am Niederrhein aufzu-
ſtellen!***) Trotz alledem war Friedrich Wilhelm’s Gutherzigkeit an den
Oraniern nicht irr geworden, man behandelte ſie in Berlin noch immer
faſt wie Glieder des königlichen Hauſes. König Wilhelm war der Schwager
[45]Preußen und die Niederlande.
und Vetter des Königs von Preußen; zärtliche Freundſchaft verband die
beiden Kronprinzen, obgleich ſie in ihren politiſchen Grundſätzen gar
nichts mit einander gemein hatten; und eben in dieſen Tagen wurde die
alte Blutsverwandtſchaft durch die Vermählung des Prinzen Albrecht von
Preußen mit einer niederländiſchen Prinzeſſin abermals befeſtigt. Die
Niederlage, welche Prinz Friedrich der Niederlande im Straßenkampfe
zu Brüſſel erlitten hatte, wirkte am Berliner Hofe wie ein Donnerſchlag.
Der Kronprinz konnte dieſe Erinnerungen nie ganz verwinden; nach
langen Jahren noch, in den Fieberträumen ſeiner letzten Krankheit ſprach
er wehmüthig von dem guten Freunde, der die Hälfte ſeiner Kinder ver-
loren habe.
Ueber die Unhaltbarkeit des künſtlichen niederländiſchen Geſammt-
ſtaates waren die preußiſchen Staatsmänner noch keineswegs einig. Wohl
hatte Hardenberg, als es zu ſpät war, ein Jahr nach dem Wiener Con-
greſſe, ärgerlich geäußert: Bataver und Belgier würden ſich doch nie
vertragen; wie viel klüger, wenn man Belgien an die Welfen und dafür
Hannover an Preußen gegeben hätte. Aber ſolche Anſichten ſtanden ver-
einzelt; die Mehrzahl am Hofe betrachtete es als eine Ehrenpflicht, die
wichtige Poſition an der Maas und Schelde dem befreundeten Fürſten-
hauſe zu erhalten. Die alten Helden des Befreiungskrieges ſahen den
längſt erwarteten dritten puniſchen Krieg jetzt unaufhaltſam herannahen;
und mußte er kommen, war es dann nicht würdiger, das Schwert ſo-
gleich zu ziehen zur Wahrung der Rechte eines alten Bundesgenoſſen?
So dachte Clauſewitz; ſo Gneiſenau, obwohl er zuweilen friedlicheren
Stimmungen nachgab. Auch Stein ahnte tief erſchüttert, die ganze
Arbeit ſeines Lebens müſſe von Neuem beginnen; er wußte, die Eitelkeit
der Franzoſen werde nicht ruhen, bis ſie dereinſt Rache genommen hätten
an den Siegern des Befreiungskrieges.
In dieſem Gewoge kriegeriſcher Leidenſchaften ſtand der König, minder
weitſichtig und ebendeßhalb nüchtern die Lage des Augenblicks erwägend.
Auch er hielt den Krieg für nahezu ſicher; aber die Schuld daran wollte
er nicht auf ſein Gewiſſen nehmen. Durfte er ſeinem Volke, das die
Nöthe des letzten Krieges noch kaum verwunden hatte, jetzt zumuthen, im
Auslande einen Aufſtand niederzuſchlagen, der diesmal beſiegt, nach einigen
Jahren unfehlbar abermals ausbrechen mußte? Schon begann das Nach-
ſpiel der Juli-Revolution auf deutſchem Boden; in Braunſchweig, in Kaſſel,
in Dresden erhob ſich der Aufruhr; wer konnte vorherſehen, ob Preußen
nicht bald gezwungen ſein würde, hier in ſeinem nächſten Machtgebiete
mit den Waffen die Ruhe herzuſtellen? Auf die Treue ſeines Heeres
verließ er ſich unbedingt, doch die freudige Begeiſterung der Befreiungs-
kriege — das ward in den Denkſchriften des Auswärtigen Amts beſtändig
wiederholt — konnte nur dann wiederkehren, wenn er ſein Volk in einen
gerechten, Allen verſtändlichen Vertheidigungskampf führte; und den Ein-
[46]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
marſch in Belgien hätten mindeſtens die geſinnungstüchtigen Liberalen der
Kleinſtaaten kurzerhand als einen Rückfall in die alte Troppauer Inter-
ventionspolitik verdammt. Die Feſtungen, auf deren Schutz der Vierbund
einſt gerechnet, waren mit wenigen Ausnahmen ſchon in den Händen der
belgiſchen Aufſtändiſchen. Von England ſtand keine, von Oeſterreich nur
ſpäte und geringe Hilfe zu erwarten. Frankreich hingegen war entſchloſſen,
falls Preußen in das öſtliche Belgien einrückte, ſogleich den weſtlichen
Theil des Landes zu beſetzen. Dieſe Abſicht kündigte Graf Molé ſchon
am 31. Auguſt dem preußiſchen Geſandten Werther vertraulich an. Er
ſprach durchaus verſöhnlich, entſchuldigte ſich wie gewöhnlich mit der
kritiſchen Lage ſeiner Regierung, verſicherte heilig, Frankreich beabſichtige
keine Feindſeligkeiten; nur müßten die beiden Nachbarmächte Belgiens in
vollkommen gleicher Stellung bleiben bis ein europäiſcher Congreß die
Frage friedlich löſe.*) An der Aufrichtigkeit ſeiner Betheuerungen war
nicht zu zweifeln. Aber wie nun, wenn das zuchtloſe, durch die Re-
volution mächtig aufgeregte franzöſiſche Heer ſo nahe dem Schlachtfelde
von Belle-Alliance den verhaßten preußiſchen Siegern dicht gegenübertrat?
Ein Zufall konnte dann leicht das Signal geben zu jenem Weltkriege,
welchen die Anerkennung des Julikönigthums ſoeben erſt glücklich abge-
wendet hatte.
Die Entſcheidung dieſer ernſten Fragen behielt ſich Friedrich Wilhelm
ſelber vor; nur Witzleben und Bernſtorff, der trotz der Schmerzen einer
ſchweren Krankheit immer klar und ruhig blieb, genoſſen ſein Vertrauen.
Und es war dringend nöthig, daß der Monarch die Leitung der aus-
wärtigen Politik in ſeine Hand nahm; denn die Kriegspartei am Hofe
gewann an Feldmarſchall Diebitſch einen kräftigen Bundesgenoſſen. Der
König hatte ſoeben nach Petersburg die Weiſung geſchickt: „Dieſer Sen-
dung iſt nach Möglichkeit entgegenzuarbeiten,“**) und war peinlich über-
raſcht, als der Ruſſe am 9. September nun doch eintraf; er wußte, daß
der Feldmarſchall und ſein Stellvertreter Czernitſchew die beiden einzigen
namhaften Männer des ruſſiſchen Hofes waren, welche die Kriegsluſt des
Czaren theilten. Glänzende Feſte und Paraden wurden zu Ehren des
Türkenbeſiegers veranſtaltet. Zur Zeit des orientaliſchen Krieges hatten
Bernſtorff und die freieren Köpfe unter den preußiſchen Staatsmännern
auf Rußlands Seite geſtanden; jetzt verſchob ſich die Parteiſtellung, alle
ſtrengen Legitimiſten prieſen den Czaren als den Hort des göttlichen
Königsrechts und erwieſen ſeinem Abgeſandten ihre befliſſene Verehrung.
Der dicke kleine rothhaarige Herr, der übrigens von ſeinen Kriegsthaten
[47]Diebitſch in Berlin.
mit Beſcheidenheit ſprach, machte nicht den Eindruck eines ungewöhnlichen
Geiſtes; doch an Eifer ließ er es nicht fehlen. Er war gekommen um
die Anerkennung des Bürgerkönigs zu verhindern; nun er ſich in dieſer
Hoffnung getäuſcht ſah, ſuchte er die belgiſche Frage für ſeine kriegeriſchen
Pläne auszubeuten.
Zwei Monate blieb er in Berlin, um immer wieder in Vorträgen
und Denkſchriften zu erweiſen, wie leicht der Krieg gegen die Revolution
ſei, ſelbſt ohne Englands Mitwirkung. Dem Könige begann die leiden-
ſchaftliche Haltung ſeines Schwiegerſohnes ſehr läſtig zu werden. In
den Formen zeigte ſich der Czar ſtets überaus verbindlich. Seine Briefe
an den Schwiegervater waren mit Verſicherungen dankbarer Ergebenheit
dermaßen überladen, daß Witzleben einſt bei Bernſtorff ganz verlegen
anfragte: wie denn der König antworten ſolle ohne die gebotene Gegen-
ſeitigkeit zu verletzen oder ſeine Würde bloßzuſtellen;*) bei ſeinem letzten
Beſuche in Schleſien führte er ſein Küraſſierregiment zweimal mit ge-
ſenktem Degen vor General Zieten vorüber, ſo daß ſelbſt die preußiſchen
Offiziere meinten: das ſei zu viel. Dieſe gottorpiſchen Schauſpielerkünſte
verhinderten ihn aber keineswegs, in ſeinen politiſchen Zumuthungen an
Preußen die plumpe Anmaßung des Moskowiters zu zeigen. Wohlgeborgen
in ſeinem fernen Oſten, verſuchte er, wie vormals ſeine Großmutter im
Jahre 1792, den preußiſchen Nachbarn in einen zielloſen Krieg gegen den
Weſten hineinzudrängen. Wenngleich er in ſeinem wilden Haſſe gegen
die Revolution durchaus ehrlich war und nicht wie Katharina argliſtige
Hintergedanken hegte, ſo forderte er doch ganz ſo dreiſt wie jene, daß
Preußen ſich für den Petersburger Hof opfern müſſe. In einer ſeiner
Denkſchriften berechnete Diebitſch die Streitkräfte für den rheiniſchen
Feldzug alſo: 210000 Mann Preußen, 120000 Mann deutſcher Bundes-
truppen, 30000 Holländer, dazu 60000 Oeſterreicher, endlich an letzter
Stelle 180000 Ruſſen.**) So ward in aller Freundſchaft faſt die ganze
Laſt des Krieges auf Preußen abgewälzt; über die ſtolze Zahl der kleinen
deutſchen Contingente konnte man in Berlin nur lächeln, und ſeit den
Erfahrungen des Jahres 1813 wußte man auch, wie kühn die Phantaſie
der Ruſſen bei der Abſchätzung ihrer eigenen Heeresmacht zu verfahren
pflegte. Selbſt General Schöler, der Geſandte in Petersburg, der
früherhin die ruſſiſche Macht ſtark überſchätzt hatte, war jetzt durch lang-
jährige Beobachtung eines Beſſeren belehrt; er warnte, der Czar täuſche
ſich über das Maß ſeiner Kräfte, mehr als 150000 Mann könne Ruß-
land nicht gegen Frankreich aufbieten, und dieſe brauchten drei Monate
um, vielleicht erſt nach gefallener Entſcheidung, die Maas zu erreichen.***)
[48]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Während der Czar alſo den preußiſchen Hof mit ſeinen Kriegsplänen
beſtürmte, ließ Kaiſer Franz ſeinen armen Kronprinzen Ferdinand in
Preßburg zum Rex junior Hungariae krönen, damit die nur zu wohl
begründeten Gerüchte über deſſen Regierungs-Unfähigkeit durch die That
widerlegt würden. Dieſen Anlaß benutzte Nikolaus, um den Grafen Orlow
nach Preßburg zu ſenden. Metternich empfing den Vertrauten des Czaren
mit offenen Armen, betheuerte lebhaft ſeine reine Geſinnung: „was die
revolutionäre Regierung fürchtet, das müſſen wir lieben; was ſie ablehnt,
das müſſen wir annehmen.“ Um ſich bei dem Selbſtherrſcher einzu-
ſchmeicheln verleumdete er freundnachbarlich den preußiſchen Hof: nur
Bernſtorff’s Feigheit und der revolutionäre Geiſt des preußiſchen Beamten-
thums trügen die Schuld, wenn der Krieg für das legitime Recht nicht
zu Stande komme. Indeß hütete er ſich wohl, irgend eine feſte Zuſage
zu geben. Die Oſtmächte ſollten die Geſammtbürgſchaft für die Verträge
von 1815 aufrechthalten und für den Nothfall in der Stille rüſten —
ſolche unbeſtimmte Rathſchläge waren Alles was der Ruſſe aus Preßburg
heimbrachte.
Schon am 28. Auguſt, gleich nach dem erſten Brüſſeler Aufſtande,
ſendete der König der Niederlande durch den Adjutanten „de notre
Albert“ einen Hilferuf an den König von Preußen: die Folgen des
Aufruhrs ſeien nicht zu berechnen; er bitte daher, daß der Gouverneur
der Rheinlande, Prinz Wilhelm der Aeltere, und ſeine Generale ange-
wieſen würden, „gemäß den beſtehenden Verträgen“ ihm Beiſtand zu
leiſten, ſobald er es verlange. Das Alles, als verſtünde ſich’s von ſelber.
Friedrich Wilhelm las den Brief mit Befremden; von ſolchen Vertrags-
pflichten war ihm nichts bekannt. Er ließ ſogleich im Auswärtigen Amte
Nachforſchungen anſtellen, und da ſich ergab, daß Preußen keine beſon-
deren Verpflichtungen gegen die Niederlande übernommen hatte, ſondern
nur ebenſo wie die anderen Mächte des Vierbundes an die Verträge von
1815 gebunden war, ſo erwiderte er am 9. September ſeinem königlichen
Schwager: er betrachte die Intereſſen der beiden Kronen als „unzertrennlich“
und wolle ſich mit ſeinen Verbündeten verſtändigen; er werde auch Truppen
an den Rhein ſenden und Alles thun, um Frankreich an der Unterſtützung
des Aufſtands zu verhindern; aber große Vorſicht ſei nöthig, da der fran-
zöſiſche Hof erklärt habe, daß auch ſeine Truppen einrücken würden, falls
ein fremdes Heer Belgien beſetze.*) In der That wurde das vierte Armee-
corps ſofort aus Sachſen an den Rhein geſendet und das rheiniſche ver-
ſtärkt. Schon dieſe erſten ſchwachen Rüſtungen Preußens genügten, um
die Staatsmänner des Palais Royal mit Beſorgniß zu erfüllen. Guizot,
[49]Belgien und die Großmächte.
der Miniſter des Innern, hielt für ſicher, daß der Anblick des preußiſchen
Beobachtungsheeres die Kriegsluſt der Franzoſen ſteigern müſſe: „Dieſe
unglückliche belgiſche Sache verwickelt unſere Geſchäfte ſchrecklich und ſtellt
uns auf einen Vulkan. Mit der kommenden jungen Kammer und bei
der Aufregung, welche die Möglichkeit eines Krieges hervorrufen kann,
werden wir ein neues 1793 erleben. Ich kann Ihnen verſichern, daß
der König in dieſer Hinſicht die Meinungen und Beſorgniſſe ſeines
Miniſterrathes theilt.“*)
Mittlerweile hatten ſich die Brüſſeler zum zweiten male ſiegreich
erhoben, ganz Belgien war im Aufruhr, die Verſöhnung zwiſchen den
beiden verfeindeten Nachbarſtämmen erſchien ausſichtslos. Es ward hohe
Zeit, daß die Großmächte ſich ins Mittel legten. Nachdem das niederlän-
diſche Cabinet ſchon am 7. September die vier Mächte gebeten hatte, eine
Geſandten-Conferenz nach dem Haag zu berufen, richtete Bernſtorff jetzt
(3. Oktober) die dringende Anfrage nach London: ob England nun endlich
den rechten Augenblick zum gemeinſamen Einſchreiten gekommen glaube?
Er fragte ferner: ob es nicht vortheilhaft ſei, wenn auch der Hof des Palais
Royal mittelbar oder unmittelbar bei den Unterhandlungen mitwirkte?**)
Obgleich Frankreich an der Begründung der Vereinigten Niederlande nicht
theilgenommen, ſo war es doch auf dem Aachener Congreß förmlich in
die große Allianz eingetreten; ohne ſeine Zuſtimmung, das lag auf der
Hand, ließ ſich die belgiſche Frage nicht im Frieden beilegen. Zur
Rechtfertigung ſeiner Anſicht berief ſich Bernſtorff auf die kriegeriſchen
Leidenſchaften der Franzoſen, welche der Regierung ſelber über den Kopf
zu wachſen drohten: „man muß ihr die Mittel gewähren, um ſich ohne
Demüthigung und ohne Gefahr für ſich ſelber aus einer ſehr ernſten
Verlegenheit zu ziehen.“***)
Unterdeſſen war das engliſche Cabinet bereits auf denſelben Ge-
danken verfallen. Seit einigen Tagen weilte Talleyrand als franzöſiſcher
Botſchafter in London, und der alte Meiſter der Diplomatie, dem die
Orleans ihre Krone verdankten, ſollte ihnen jetzt auch noch eine leidliche
Stellung in der Staatengeſellſchaft verſchaffen, ſein wechſelvolles Leben mit
einem erfolgreichen Spiele abſchließen. Seiner nie verſiegenden Bered-
ſamkeit konnte weder Wellington noch der Miniſter des Auswärtigen, der
beſchränkte ängſtliche Lord Aberdeen, widerſtehen; er ward nicht müde zu
betheuern, daß ſein König weder Belgien einverleiben noch dort einen
Heerd des Aufruhrs unterhalten wolle. Der eiſerne Herzog war ent-
zückt und lobte Talleyrand’s Redlichkeit ebenſo warm wie er vor’m Jahre
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 4
[50]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Polignac’s Geiſt geprieſen hatte. Schon am 2. October, noch bevor jene
Anfrage Bernſtorff’s eingetroffen war, beſchloß das Cabinet, alle Groß-
mächte, auch Frankreich, zu einer europäiſchen Conferenz einzuladen.
Preußen und Oeſterreich ſtimmten zu. Der franzöſiſche Hof erhob noch
allerhand Schwierigkeiten; er verlangte die Sicherheit, daß auf keinen Fall
eine bewaffnete Einmiſchung erfolgen dürfe, er ſchlug Paris zum Sitze
der Conferenz vor; doch er fügte ſich, als ſeine Zumuthungen einmüthig
abgewieſen wurden, und man ward einig die Verſammlung nach London
zu berufen.
In ſolcher Lage kam das neue Hilfegeſuch, das der König der Nieder-
lande, diesmal an alle vier Mächte, abgehen ließ, offenbar zu ſpät. Der
König verlangte ſofortiges Einſchreiten mit den Waffen und verſicherte
dem Czaren, dies ſei mit dem europäiſchen Frieden vielleicht nicht unver-
einbar. Preußen und England aber verwieſen ihn auf die Verhandlungen
der Conferenzen; und in gleichem Sinne ward geantwortet, als der Oranier
ſich bald nachher zum dritten male an Preußen wendete, um mindeſtens
die Beſetzung einiger Feſtungen zu erreichen.*) Sein Geſandter Graf
Perponcher hatte einen harten Stand; der war in Berlin ganz heimiſch
geworden, wurde vom Könige und den Prinzen als alter Freund behan-
delt und mußte nun doch beſtändig Abweiſungen erfahren; würdig und
taktvoll behauptete er ſich zwiſchen Bernſtorff und Diebitſch, zwiſchen den
liberalen Beamten und den kriegsluſtigen Offizieren.
Und nun zeigte ſich, was Friedrich Wilhelm’s feſte und offene Hal-
tung für den Weltfrieden bedeutete. Mit gutem Grunde ſagte Lord
Heytesbury in Petersburg zu General Schöler: „Ihre Regierung iſt die
vernünftigſte von allen,“ und desgleichen Neſſelrode: „die beſonnene Politik
Ihres Königs iſt das Einzige, worauf Europa noch ſeine Hoffnung bauen
kann.“ Durch Preußen allein wurden die kriegeriſchen Pläne des Czaren
in Schach gehalten. Nikolaus fand es entſetzlich, daß der König der Barri-
kaden in den hohen Rath Europas eintreten ſolle; ſein Diebitſch machte
in Berlin den naiven Vorſchlag, Frankreich dürfe nur zugelaſſen werden,
wenn es ſich verpflichte, die Verhältniſſe Belgiens, wie ſie vor der Revo-
lution beſtanden, aufrechtzuerhalten — worauf Friedrich Wilhelm kurzab
erwiderte: „dies wird niemals erreicht werden können.“ Aber ohne
Preußen vermochte Rußland in dieſem Handel nichts. Wie hart es ihm
auch ankam, am 25. October erwiderte Nikolaus dem Oranier: er ſelbſt ſei
bereit die verlangte Waffenhilfe zu leiſten, doch ſein vereinzeltes Auftreten
würde nur ſchaden, die Verſtändigung mit den Großmächten könne allein
noch retten. Sichtlich erleichtert ſchrieb Neſſelrode, den die leidenſchaft-
lichen Vorſätze des Czaren ſchwer beängſtigt hatten, nach Berlin: wenn alle
[51]Die Londoner Conferenzen.
Mächte dem Vorſchlage Wellington’s zuſtimmten, dann ſtehe zu hoffen,
daß England bei dem Vierbunde verbleibe und nicht mit Frankreich ge-
meinſame Sache mache.*)
So konnte denn am 4. November die Londoner Conferenz zuſammen-
treten. Die Trennung der Niederlande erwies ſich inzwiſchen mit jedem
Tage deutlicher als eine vollendete Thatſache. Auch die Widerſtrebenden
begannen einzuſehen, daß der Beſtand zweier ſelbſtändiger, in ſich einiger
Mittelſtaaten hier auf der wichtigſten militäriſchen Poſition Mitteleuropas
immerhin mehr Dauer verſprach und den Weltfrieden weniger bedrohte,
als die künſtliche Wiederherſtellung des von inneren Gegenſätzen zerriſſenen
Vereinigten Königreichs. Schon am Tage der Eröffnung der Berathungen
ſchrieb Bernſtorff: auf keinen Fall dürfe Belgien unter Frankreichs Ein-
fluß gerathen; dies ſei das Weſentliche; daneben erſcheine es als eine
untergeordnete Frage, ob ein Statthalter, ein Vicekönig oder ein ſelb-
ſtändiger Herzog in Brüſſel gebiete.**) Der Geſandte in London, Wilhelm
Humboldt’s Schwiegerſohn Heinrich von Bülow befolgte dieſe verſöhn-
lichen Weiſungen mit Freuden. Auf den Conferenzen zeigte er ſich als
feiner Kopf und gewandter Unterhändler; die liberalen Vorurtheile des
Tages beirrten ihn nicht, nur jener Verſuchung, welcher die lange im
Auslande lebenden Diplomaten ſo leicht unterliegen, entging er nicht
immer: er ſah zuweilen unwillkürlich durch fremde Brillen und folgte
den Anſichten der engliſchen Staatsmänner allzu weit. Auch Metternich
war bereits zu der Einſicht gelangt, daß es nur noch gelte die Herrſchaft
Frankreichs über Belgien zu verhindern. Zum Bevollmächtigten für die
Conferenz ernannte er neben dem Geſandten Eſterhazy den Freiherrn
v. Weſſenberg, den Verfaſſer der deutſchen Bundesakte, der im alten
Oeſterreich als liberal verrufen und deßhalb lange den Geſchäften fern
geblieben war; die Wiederberufung „dieſes unbequemen Talents“ galt in
der diplomatiſchen Welt als ein Beweis für die Verlegenheit des Wiener
Hofes.***) Selbſt die ruſſiſchen Bevollmächtigten, Lieven und Matuszewic,
traten ſo verſöhnlich auf, als es die Furcht vor dem grollenden Czaren
nur irgend erlaubte.
Die Hoffnung der Oſtmächte, der alte Vierbund werde ſich nun-
mehr von Neuem befeſtigen, ging gleichwohl nicht in Erfüllung. Noch
im November kam das Tory-Cabinet zu Falle, und ſobald Lord Palmerſton
in die Conferenz eintrat, ward die längſt vorbereitete Verſchiebung der
Allianzen ſogleich offenbar: die beiden Seemächte — ſo lautete der diplo-
matiſche Ausdruck der Zeit — ſtellten ſich in herzlichem Einverſtändniß
4*
[52]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
den drei Feſtlandsmächten gegenüber. Palmerſton hatte einſt als Mit-
glied des Tory-Cabinets Liverpool ſelber mit theilgenommen an der
Schöpfung des Vereinigten Königreichs; aber noch gleichmüthiger als
Wellington ließ er den alten Schützling fallen um deſſen Feinde zu er-
muthigen. Sofort trat er in vertraulichen Verkehr mit dem jungen van
de Weyer, den die Belgier nach London geſendet hatten, einem klugen und
beſonnenen Staatsmanne. Belgien ſollte für England werden, was man
von den Vereinigten Niederlanden vergeblich erwartet hatte, ein abhängiger,
ergebener Bundesgenoſſe. Darum wetteiferte Palmerſton mit Talleyrand
in Gunſtbeweiſen gegen die aufſtändiſchen Belgier. Obgleich der Franzoſe
anfangs die Rolle der uneigennützigen Tugend mit gewohnter Kunſtfertig-
keit ſpielte, ſo mußte doch die Stunde kommen, da er ſeine Karten auf-
deckte; und dann konnte dieſer freundſchaftliche Wettkampf der beiden
wahlverwandten Geiſter nur mit dem Siege des Britten endigen, da
England nicht in der Lage war belgiſches Gebiet für ſich zu fordern und
mithin den Oſtmächten minder gefährlich erſchien.
Gleich der erſte Beſchluß der Conferenz gereichte den Belgiern zum
Vortheil. Ein Waffenſtillſtand ward verkündigt und von beiden kämpfen-
den Theilen willig angenommen. Darin lag, obwohl man den Namen
noch vermied, ſchon die Anerkennung der Aufſtändiſchen als einer krieg-
führenden Macht. Ganz auf die gleiche Weiſe, durch das Gebot der
Waffenruhe, hatten England, Frankreich und Rußland vor drei Jahren
die Errichtung des griechiſchen Staates diplomatiſch eingeleitet.*) Am
20. December ward ſodann die Selbſtändigkeit der ſüdlichen Niederlande
bis zu der alten Nordgrenze vom Jahre 1790 als Grundſatz ange-
nommen, allerdings mit Vorbehalt der Rechte des Königs; denn alle
Mächte, auch Frankreich, mißbilligten die in Brüſſel verkündigte Ent-
thronung des königlichen Hauſes und wünſchten noch, den Oraniern den
Beſitz Belgiens, mindeſtens als eine Secundogenitur zu erhalten. Auf
Preußens Verlangen wurden auch die Rechte des Deutſchen Bundes auf
Luxemburg ausdrücklich vorbehalten und dem Bundestage die Erledigung
dieſer Streitfrage zugewieſen. Immerhin waren die Grundſteine für den
künftigen belgiſchen Staat bereits gelegt, und in Berlin erwog man
ſchon die Frage: was nunmehr aus den Feſtungen an der Südgrenze
werden ſolle, da man den Belgiern weder die Macht noch den guten
Willen zutraute, ſie gegen Frankreich zu vertheidigen. Feldmarſchall
Diebitſch meinte, dann bleibe nur übrig, einen Theil der neuen Feſtungen
wieder zu ſchleifen, und der preußiſche wie der ruſſiſche Hof ſchloß ſich
dieſer Anſicht an.**) Um den Niederlanden doch einen Schutz gegen einen
[53]Die Politik der Nicht-Einmiſchung.
neuen Friedensbruch der Franzoſen zu gewähren, gerieth nachher Bülow
zuerſt auf den Gedanken, Belgien ſolle wie die Schweiz für neutral erklärt
und ſeine Neutralität unter die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte ge-
ſtellt werden. Es war ein Nothbehelf, aber ein unvermeidlicher. Für eine
große Entſcheidung, welche den tauſendjährigen Erbfolgeſtreit der Gallier
und Germanen um die Trümmer des alten lotharingiſchen Zwiſchen-
reiches endgiltig erledigt hätte, fehlten zur Zeit noch alle Vorbedingungen.
Nach den jüngſten Proben britiſcher Vertragstreue blieb es freilich ſehr
zweifelhaft, ob England ſeinen neuen Schützling nicht dereinſt ebenſo ge-
müthsruhig preisgeben würde, wie jetzt den alten; aber für zwei oder
drei Jahrzehnte vielleicht bot die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte
immerhin einige Sicherheit. —
Wie friedlich auch die Londoner Conferenzen ſich anließen, die Gefahr
eines allgemeinen Krieges war noch mit nichten verſchwunden. Ueber
Talleyrand’s Redlichkeit wußten die Oſtmächte beſſer Beſcheid als Wel-
lington; die glatten Worte des Botſchafters widerſprachen doch gar zu
auffällig den Thaten ſeiner Regierung. Frankreich rüſtete unaufhörlich;
im September wurden 128000 Mann, im December nochmals 80000
Mann einberufen, und dies zu einer Zeit, da Preußen zwar einige
Truppen an den Rhein vorgeſchoben, aber noch kein Regiment auf Kriegs-
fuß geſtellt hatte. Das Kriegsgeſchrei der Pariſer Preſſe ward täglich
frecher; in Belgien, in Deutſchland, in Italien, überall trieben fran-
zöſiſche Aufwiegler ihr Weſen, an den kleinen deutſchen Höfen ſprachen
die Geſandten des Bürgerkönigs gern von den glücklichen Zeiten des
Rheinbundes; und als im November, faſt gleichzeitig mit dem Sturze
der Torys, das „Miniſterium der Bewegung“ ins Amt trat, ſchlug
auch die Regierung ſelber einen höheren Ton an. Der neue Miniſterpräſi-
dent Laffitte, einer jener liberalen Börſenmänner, welche den Bürger-
thron aufrichten halfen, glaubte an die welterobernde Macht der Ideen
von 1789 mit der ganzen Unſchuld, deren die Seele eines lebensluſtigen
Millionärs fähig iſt, und der Miniſter des Auswärtigen, der Corſe
Sebaſtiani, hatte auch als Vertrauter der friedfertigen Orleans die an-
maßliche Ruhmredigkeit des napoleoniſchen Generals noch nicht verlernt.
Unter den Schlagwörtern, mit denen dieſe Regierung die kriegsluſtigen
Radicalen halb zu gewinnen, halb zu beſchwichtigen ſuchte, war keines
wirkſamer als der prahleriſch verkündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung.
Erſt in halbamtlichen Zeitungsaufſätzen, dann in Talleyrand’s Begrüßungs-
worten an den König von England, nachher in verſchiedenen Depeſchen an
die Großmächte, endlich in einer feierlichen Kammerrede Laffitte’s wurde
die Behauptung aufgeſtellt, jedes Volk ſei befugt ſeine Regierung nach
Gutdünken zu verändern, und keine fremde Macht dürfe ſich anmaßen
in ſolche Händel einzugreifen. Die harte legitimiſtiſche Doctrin der Inter-
ventionspolitik hatte die Selbſtändigkeit aller Staaten gefährdet; nun trat
[54]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ihr, durch einen nothwendigen Rückſchlag, eine ganz ebenſo doctrinäre
radicale Lehre entgegen, welche die Gemeinſchaft des Staatenſyſtems zu
zerſprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker-
freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt ſei, jede Einmiſchung der
Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen
abzuweiſen. Hatten die Oſtmächte einſt in Troppau ſich angemaßt, jede
Revolution in der Welt zu unterdrücken, ſo erhob jetzt das Juli-König-
thum den noch weit gefährlicheren Anſpruch, jeden Aufruhr zu unter-
ſtützen. Es war der alte Grundſatz der revolutionären Propaganda:
Krieg den Paläſten, Friede den Hütten; nur erſchien er jetzt nicht mehr
in ſeiner nackten Roheit, ſondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit ſchönen
Worten vom Selbſtbeſtimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerſton
ſäumte nicht, ſich die Lehre der Nicht-Einmiſchung zu nutze zu machen;
kaum am Ruder, verkündigte er ſie ſofort als ſein Glaubensbekenntniß
dem ruſſiſchen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtſam,
um ſich im Ernſt durch eine doctrinäre Formel beſtimmen zu laſſen; jedoch
die Politik der Orleans bedurfte, da ſie nur aus der Hand in den Mund
lebte, des Aushängeſchildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit
befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich Alles willkommen, was den
Unfrieden auf dem Feſtlande nährte. In Wahrheit ſagte der neue Grund-
ſatz nur, daß die Weſtmächte ſich vorbehielten, nach den Umſtänden zu han-
deln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenſchaften für ihr
Intereſſe zu verwerthen. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf, als er
einer wißbegierigen engliſchen Dame mit ſeinem fauniſchen Lächeln er-
widerte: „Nicht-Intervention iſt ein geheimnißvolles diplomatiſches Wort,
es bedeutet ungefähr daſſelbe wie Intervention.“
Den Oſtmächten mußte dieſe neue Völkerrechtslehre als ein unge-
heuerlicher Frevel erſcheinen; denn ſie ſchlug allen Anſchauungen des
vergangenen Jahrzehnts ins Geſicht und drohte die ſo lange behauptete
vormundſchaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte Syſtem
der europäiſchen Pentarchie zu vernichten. Metternich ſagte entrüſtet:
„Die Räuber weiſen die Polizei zurück, die Brandſtifter verwahren ſich
gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anſpruch anerkennen, der
ſo jede Ordnung der Geſellſchaft zerſtört.“ Nüchterner blieb Bernſtorff;
er ertheilte an Bülow die Weiſung, den doctrinären Streit auf der Lon-
doner Conferenz nicht ohne Noth anzuregen. Aber auch er fand, „in
dem neu erfundenen Syſteme der Nicht-Einmiſchung ſei der Grundſatz
der anmaßlichſten, übermüthigſten und unzuläſſigſten Einmiſchung aus-
geſprochen“; und in ſeinem Auftrage ſchrieb Ancillon nach Wien: „Gewiß,
durch den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung und durch den Anſpruch, den
Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer
Grenzen zu unterſagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit jeder
Regierung verloren.“ Czar Nikolaus dagegen brauſte in wildem Zorne
[55]Ruſſiſche Rüſtungen.
auf, ſeine Kriegsluſt war kaum mehr zu bändigen. „Ich habe“, ſagte er
heftig, „von vornherein für die Legitimität kämpfen wollen und mich nur,
weil ich der Jüngere bin, der reiferen Erfahrung des Königs gefügt.“
Jetzt aber glaubte er zu wiſſen, daß nicht bloß die königlichen Prinzen,
ſondern auch ſein Schwiegervater ſelber ſeine Anſicht theile und allein
Bernſtorff mit den anderen Miniſtern die lauen Maßregeln Preußens
veranlaßt habe.*) Nur ſchwer gab er dieſen Verdacht auf, den wahr-
ſcheinlich Metternich’s Mittheilungen an Orlow hervorgerufen hatten.
Schon längſt hatte er zu rüſten begonnen; nun befahl er neue Aus-
hebungen und ließ ſie, „um die Revolution zu ſchrecken“, ganz gegen den
ruſſiſchen Brauch in den Zeitungen veröffentlichen. Erſt auf Schöler’s
dringende Vorſtellungen geſtattete er endlich, daß Neſſelrode in einem
beſchwichtigenden Rundſchreiben an die Geſandtſchaften den Ernſt dieſer
Drohungen etwas abſchwächte: die angeordneten Vorbereitungen, hieß es
da, verfolgten nur die Abſicht, den Frieden und die vertragsmäßige Ord-
nung Europas aufrechtzuerhalten; hoffentlich werde ſchon die Ankündigung
genügen, um „dieſen Zweck der Erhaltung“ zu erreichen.**) Unterdeſſen
erſchöpfte Diebitſch in Berlin ſeine ganze Beredſamkeit, um immer wieder
zu beweiſen, wie nothwendig der große Krieg und wie leicht er zu führen ſei.
Doch ſeine diplomatiſchen Künſte, die ſich vor’m Jahre in Adrianopel ſo
glänzend bewährt hatten, verſagten diesmal. Friedrich Wilhelm blieb feſt,
und als der Feldmarſchall endlich in den erſten Decembertagen heim-
kehrte, gab man ihm eine große, ſorgfältig vorbereitete Denkſchrift mit
auf den Weg, welche dem Czaren noch einmal die leitenden Gedanken
der preußiſchen Friedenspolitik vor die Augen führen ſollte.***)
Nichts lag dem Könige ferner als der Gedanke einer Annäherung an
den liberalen Weſten. Auf dem Bunde der Oſtmächte fußten alle ſeine
Pläne, und auch der alten übermäßigen Vorliebe für die Ruſſen hatte er
keineswegs entſagt. „Rußland“, ſo ſagte er, „iſt und bleibt die kräftigſte
Stütze der Allianz, ſowohl wegen des hochherzigen Charakters ſeines Souve-
räns, als wegen der Trefflichkeit ſeiner Heere.“ Er wollte nicht den Frieden
um jeden Preis, ſondern verlangte, die großen Mächte ſollten dem Hofe
des Palais Royal gemeinſam erklären, daß ſie die Politik der revolutio-
nären Propaganda nicht dulden würden. Bei offenbarer Feindſeligkeit
Frankreichs war er bereit, den Krieg ſogar ohne Englands Mitwirkung
zu beginnen, während man in Petersburg ſelbſt noch immer an die Fort-
[56]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
dauer des Vierbundes glaubte. Aber er ließ zugleich dem Czaren vor-
halten, daß dieſer ſchwere Krieg die öffentliche Meinung der Deutſchen
entſchieden gegen ſich habe, vielleicht ſogar Aufſtände in Deutſchland und
Polen hervorrufen würde. Auf die alte Freudigkeit der Preußen ſei nur
zu rechnen, wenn das Volk wiſſe, daß man alle friedlichen Mittel erſchöpft
habe. Darum verlangte er eine genaue, unzweideutige Verabredung:
wann der Kriegsfall gegeben ſei?
Es war die Sprache des ruhigen Verſtandes; aber wie konnte ſie
den blinden Haß überzeugen? Hier der prahleriſche Hochmuth des Selbſt-
herrſchers, dort die freche Begehrlichkeit der Revolution, hüben und drüben
die wachſende Wucht der Rüſtungen — wer konnte dieſen Mächten des
Verderbens noch Einhalt gebieten auf ihrer abſchüſſigen Bahn? Gegen
Ende Novembers war die Luft mit Zündſtoff überladen; mit der einzigen
Ausnahme des allezeit hoffnungsvollen Gentz glaubten gerade die ein-
ſichtigſten und beſtunterrichteten Staatsmänner alleſammt, daß der Welt-
friede nur noch an einem Faden hänge. —
Da trat ein Ereigniß ein, das die Leidenſchaften der Parteien über-
all in Europa von Neuem aufſtachelte und doch zugleich der Erhaltung
des Friedens zu ſtatten kam. Die in aller Welt verbreiteten überſpannten
Vorſtellungen von Rußlands kriegeriſcher Macht hatten ſchon durch die
Erfahrungen des Türkenkrieges einen erſten Stoß erlitten; ſie ſchwächten
ſich noch mehr ab, ſeit in Europa etwas ruchbar ward von den Ver-
heerungen der aſiatiſchen Cholera. Die furchtbare Seuche, die erſt im
Jahre 1817 in ihrem uralten Heimathslande Oſtindien von engliſchen
Aerzten beobachtet worden war, drang ſeit dem Sommer 1829, zumeiſt
den Waſſerläufen folgend, im Innern Rußlands unaufhaltſam vor. Da
die Heilkunde noch rathlos vor der geheimnißvollen Krankheit ſtand, ſo
griff der Staat zu den härteſten Vorſichtsmaßregeln: ganze Provinzen
wurden abgeſperrt, alle Briefe durchſtochen, die Reiſenden durchräuchert
und in Quarantäne gehalten; aber die Roheit des Volks und die Un-
zuverläſſigkeit der Beamten brach allen Vorſchriften die Spitze ab. Im
September 1830 kam die Cholera nach Moskau; der Pöbel wüthete gegen
die Polen und die anderen Fremden, die den Giftſtoff eingeſchleppt haben
ſollten; nur das perſönliche Eingreifen des furchtloſen Czaren ſtellte die
Ruhe wieder her. In manchen Theilen des ungeheueren Reiches war
alle bürgerliche Ordnung ſo aufgelöſt wie einſt in Weſteuropa, als der
ſchwarze Tod durch die Lande raſte. Freund und Feind begannen ſchon
zu ahnen, ein alſo heimgeſuchter Staat werde ſchwerlich ein großes Heer
über ſeine Grenzen hinausſenden können. Und dieſe Vermuthung ward
zur Gewißheit, als am 29. November plötzlich der Aufruhr in Warſchau
ausbrach.
[57]Rußland und Polen.
Auch Polen erlebte ſeine große Woche. Nach wenigen Tagen war
der letzte Ruſſe aus den Landen des weißen Adlers vertrieben, und der
Czar durch einen furchtbaren Feind vom Weſten abgetrennt. Wieder
wie in den Niederlanden brach eine der willkürlichen Staatsbildungen
der Wiener Verträge plötzlich zuſammen; hier lag die Schuld jedoch mehr
an den Menſchen als an den künſtlichen Inſtitutionen. Der wohlge-
meinte Verſuch Kaiſer Alexander’s, die Unabhängigkeit Polens unter
ruſſiſchem Schutze theilweiſe wiederherzuſtellen, ſcheiterte an der unheil-
baren Zuchtloſigkeit des polniſchen Adels. Seit fünfzehn Jahren beſaß
das Königreich ſein eigenes, durch die napoleoniſchen Veteranen wohl ge-
ſchultes Heer und eine nationale Verwaltung, die faſt ebenſo wohlthätig
wirkte wie einſt die preußiſche: ſie brachte den Staatshaushalt in treff-
liche Ordnung, gründete eine Univerſität, eine Bank, eine Pfandbriefs-
Anſtalt, ein gutes Poſtweſen, einige Kunſtſtraßen und Kanäle. Das
ſchwerſte Leiden des Landes, die Rechtloſigkeit der mißhandelten Bauern,
erſchien dem Adel, der hier allein das Wort führte, keineswegs als ein
Uebel. Wohl unterlag die Preſſe einer harten Cenſur, doch erſt ſeit ſie
ihre Freiheit maßlos mißbraucht hatte; auch die Oeffentlichkeit der Reichs-
tagsverhandlungen wurde beſeitigt, doch erſt ſeit das Geſchrei der radicalen
Jugend auf den Gallerien die Berathungen faſt unmöglich machte. Im
Uebrigen beſtand die Verfaſſung unangetaſtet; unter den rohen Wuth-
ausbrüchen des Statthalters Großfürſten Conſtantin litten nur Einzelne,
meiſt Offiziere, da der Statthalter lediglich militäriſche Befugniſſe beſaß.
Wie ungern immerhin der herriſche Nikolaus die Erbſchaft ſeines
völkerbeglückenden Bruders antreten mochte: er beſchwor die Verfaſſung,
und den Buchſtaben des Rechts zu verletzen war ſeine Weiſe nicht. Zwar
verſchob er anfangs die Berufung des Reichstags über die geſetzliche Friſt
hinaus — was ſich durch die Kriege und die inneren Wirren ſeiner erſten
Regierungsjahre zur Noth entſchuldigen ließ — aber im Frühjahr 1830
kam er ſelbſt nach Warſchau, um den Reichstag zu eröffnen. „Es
hängt von Euch ſelber ab,“ rief er der Verſammlung zu, „das Werk
des Wiederherſtellers Eures Vaterlandes zu befeſtigen, indem Ihr die
Befugniſſe und Vorrechte, welche er Euch auferlegt hat, mit Weisheit
und Mäßigung gebraucht.“ Mit ſchauſpieleriſchem Geſchick zeigte er ſich
in Warſchau nur als König von Polen und verſäumte keine Gelegenheit
den nationalen Erinnerungen ſeine Huldigung zu erweiſen; er errichtete
ein Denkmal für den Volkshelden Sobiesky, als ſeinen Vorgänger auf
dem Throne, vertheilte reiche Geſchenke, gab glänzende Feſte, denen auch
einige der jungen preußiſchen Prinzen beiwohnten, und mit der Geduld
eines conſtitutionellen Fürſten ertrug er ſchweigend die Ausfälle der ra-
dicalen Mehrheit der Landboten. Als der Reichstag nach ſtürmiſcher
Tagung wieder nur ein einziges, unerhebliches Geſetz zu Stande brachte,
ſprach Nikolaus kalt und hochmüthig ſein Bedauern aus: „auch in der
[58]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Ferne“, ſo ſchloß er, „werde ich nicht aufhören für Euer wahres Glück zu
ſorgen.“ Feindſeliger Worte enthielt er ſich, weil ihm Neſſelrode vor-
ſtellte, welchen üblen Eindruck ein öffentlicher Tadel in Europa hinter-
laſſen würde.*)
Was man auch zu klagen hatte, eine unerträgliche Willkürherrſchaft
laſtete nicht auf dem Lande. Durchaus der Wahrheit gemäß geſtanden
ſpäterhin Mochnacki und andere Führer der radicalen Emigranten: nicht
gegen ruſſiſchen Druck hätten die Polen ſich erhoben, ſondern um ihre
alte Unabhängigkeit und die Grenzen von 1772 zurückzugewinnen. Von
dem Tage an, da dies halb ſelbſtändige Königreich aufgerichtet wurde,
waren alle namhaften Männer des Adels einig in der Hoffnung auf
völlige Wiederherſtellung, auf Wiedervereinigung mit den verlorenen Brü-
dern in Poſen und Weſtpreußen, in Litthauen und Podolien. Redlich,
ohne Hintergedanken ſchloß ſich faſt Niemand der neuen Herrſchaft an.
In den langen Jahrhunderten, da die Nachbarn zu ſagen pflegten:
„Polen beſteht nur durch Unordnung,“ waren dieſem unſeligen Volke
die ſchlichten Tugenden des Bürgers ganz verloren gegangen; der pol-
niſche Edelmann verſtand nur für ſein Vaterland zu kämpfen, zu leiden
und Verſchwörungen zu ſchmieden, nicht ihm zu dienen in nüchterner
Arbeit. Sogar Alexander’s Freund Fürſt Adam Czartoryski wiederholte
dem Kaiſer unabläſſig: dies Königreich, das um ein Drittel kleiner ſei
als das Herzogthum Warſchau, könne nur als eine Abſchlagszahlung,
eine pierre d’attente gelten; und er handelte nach ſeinen Worten, er
mißbrauchte ſein Amt als Curator der Univerſität Wilna um ſeinen
Lehrbezirk zu poloniſiren und für die Einverleibung vorzubereiten — bis
ſein nachſichtiger Gönner ihm endlich doch das gefährliche Handwerk legen
mußte. Die ganze Geſchichte dieſer anderthalb Jahrzehnte war nur
eine Kette von Verſchwörungen. Erſt der nationale Freimaurerbund,
nachher die Patriotiſche Geſellſchaft beherrſchte das Königreich ſowie die
Nachbargebiete durch Sendboten und geheime Vereine. Bald waren die
geſammte gebildete Jugend, der Landadel und der größte Theil der
Offiziere für die Verſchwörung gewonnen; nur die Bauern hielten ſich
fern, desgleichen das neue Bürgerthum, deſſen erſte Keime jetzt unter
dem Schutze einer geordneten Verwaltung aufzuſprießen begannen. Ver-
geblich ſuchte ſich die Krone durch eine ſpüreifrige geheime Polizei zu
decken. Als es im Jahre 1827 endlich gelang, einige der Häupter, Mit-
wiſſer der ruſſiſchen Dekabriſten, aufzugreifen, da wurden ſie trotz erwie-
ſener Schuld von dem höchſten Staatsgerichtshofe, dem Senate theils frei-
geſprochen, theils zu lächerlich geringen Strafen verurtheilt; und Adam
Czartoryski ſelbſt, der liebenswürdige, feingebildete Führer der gemäßigten
ariſtokratiſchen Partei verfaßte dies Urtheil, das jedem Rechte ins Ge-
[59]Die große Woche in Warſchau.
ſicht ſchlug, jedem Hochverrath einen Freipaß ausſtellte. Der Adel froh-
lockte, er war längſt gewohnt alle Staatsverbrecher als Patrioten zu
verherrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerſtand
hin, und ſeitdem führten die Polen mit wachſender Dreiſtigkeit jenen
kleinen Krieg gegen die Behörden, deſſen Neckereien ihnen ebenſo ge-
läufig waren wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzu-
fangen mit der Obrigkeit und dann den Märtyrer zu ſpielen gehörte
zum guten Tone unter den jungen Männern.
Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Koſciuszko’s, die geliebte
Tricolore wieder ſchwenkte, da wirbelte die Begeiſterung hoch auf. In der
Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo-
leoniſchen Erinnerungen wieder lebendig; Niemand in dieſen Adelskreiſen
bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geſchlagen
habe. Sendboten der franzöſiſchen Radicalen mahnten zu raſcher That,
aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Czar Nikolaus gegen Frank-
reich kämpfen, das polniſche Heer als Vorhut vorausſenden wolle. Noch
beſtand kein feſter Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un-
treue genügte ein Funke den Brand zu wecken. Die Entſcheidung fiel,
als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord-
verſuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuchlings
niederſtieß und den Warſchauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürſt
Conſtantin verlor Muth und Faſſung; er hatte die Polen auf ſeine
Weiſe lieb gewonnen und ſcheute ſich in ihre Händel einzugreifen. „Ich
und die Meinen, wir wollen rein aus dieſen Wirren hervorgehen“ — ſo
entſchuldigte er ſeine Schwäche.*) Ohne einen Widerſtand zu wagen, zog
er mit ſeinen ruſſiſchen Regimentern heimwärts und überließ das Land
ſeinem Schickſale. Das ganze Königreich mitſammt den ſtarken Feſtungen
des Weichſelthals ſchloß ſich ſofort der Sache der Sieger an. Das war
kein Aufſtand mehr. Ein ſelbſtändiger Staat mit geordneten Behörden,
mit vollem Schatze und wohlgerüſtetem Heere trat Macht gegen Macht
dem Czarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen
werden.
Inzwiſchen nahmen die Dinge in Warſchau den herkömmlichen
Verlauf aller polniſchen Revolutionen: Kampfluſt und Opfermuth im
Ueberſchwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde
Prieſter und hochſinnige ſchöne Frauen, dazu Punſch und Mazurka ſo-
viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit,
wüthende Anklagen herüber und hinüber, und in dieſem Gewoge tapferer
begeiſterter Männer kein einziger ſtaatsmänniſcher Kopf, kein einziger
großer Charakter. Für die Maſſen des Volks und ihre Leiden hatten
die Freiheitsredner dieſer Adelsverſchwörung kein Auge; der Antrag die
[60]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Frohnden abzulöſen, den Bauern Grundeigenthum zu geben, ward vom
Reichstage verworfen. Eine Zeitlang wiegte man ſich noch in dem kind-
lichen Wahne, der Czar könne durch friedliche Verhandlungen beſchwichtigt,
ja ſogar zur Einverleibung von Litthauen und Podolien bewogen werden.
Bald aber errang ſich der Radicalismus das Herrenrecht, das ihm bei
Aufſtänden gebührt. Adam Czartoryski und ſein gemäßigter Anhang
mußte ſich den Geboten Lelewel’s, Mochnacki’s und der Jacobinerpartei
fügen. Am 25. Januar 1831 beſchloß der Reichstag die Entthronung
des Hauſes Romanow.
Die große Woche der Polen ward von der geſammten liberalen
Welt Europas kaum minder freudig begrüßt als die Juli-Revolution ſelber.
Der alte Haß gegen die ruſſiſche Selbſtherrſchaft, der ſchon in den erſten
Friedensjahren ſich geregt und erſt während des Türkenkrieges ſich etwas
vorloren hatte, flammte wieder auf; Niemand wollte bemerken, daß der
römiſche Clerus in Polen faſt ebenſo eifrig wie in Belgien die Sache
des Aufſtandes gefördert hatte. Der ſarmatiſche Adel erſchien den er-
hitzten Köpfen wie ein Vorkämpfer der Freiheit. Auch die menſchliche
Theilnahme aller weichen Herzen war ihm ſicher, da man dies Volk noch
überall nach den landläufigen Märchen der franzöſiſchen Hiſtoriker als
unſchuldiges Opfer einer gewiſſenloſen Cabinetspolitik bemitleidete. Ein
unbefangenes Geſchichtswerk über die Theilungen Polens war noch nicht
erſchienen; ſelbſt Dahlmann wollte in dem ſelbſtverſchuldeten Untergange
der alten Adelsrepublik nichts ſehen als den kalt berechneten Volksmord.
Die Polen theilten mit dem römiſchen Stuhle das Schickſal, daß die
ihnen gewidmete Verehrung mit der räumlichen Entfernung wuchs. Ihre
Nachbarn in den preußiſchen Grenzlanden wußten wohl, wie tief der
polniſche Bauer unter dem ruſſiſchen ſtand; im Weſten aber, wo Niemand
je ein polniſches Dorf betreten hatte, hielt man ſich an die herkömmlichen
Begriffe von lateiniſcher und byzantiniſcher Cultur, und glaubte treuherzig,
dieſe willenloſe, von Junkern, Pfaffen, Juden getretene Maſſe bilde
ein ſtarkes Bollwerk gegen die aſiatiſche Barbarei. Die Freiheit der
Völker und die Geſittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen
Adlers — ſo lautete das allgemeine Urtheil.
Der Czar aber ließ ſich in ſeinen vermeſſenen Entwürfen nicht beirren.
Die Warſchauer Revolution, ſo ſchrieb Neſſelrode ſtolz nach London,
„ändert nichts an der Haltung, welche S. Majeſtät von Anfang an
gegenüber den allgemeinen Angelegenheiten Europas eingenommen hat.“*)
Nikolaus verachtete die Polen, wie jeder echte Moskowiter; auf dem Durch-
marſch, in wenigen Wochen ſollte ſein unbeſiegliches Heer dieſe Empörer
zermalmen um dann hinauszufluthen über das rebelliſche Weſteuropa.
Auch Diebitſch beharrte in ſeiner Verblendung. Der meinte ſelbſtzufrie-
[61]Krieg in Polen.
den: wäre man in Berlin meinem Rathe gefolgt, ſo ſtänden heute das
polniſche Heer am Rhein, das ruſſiſche an der Weichſel; und einem Ab-
geſandten der Warſchauer Regierung erwiderte er ſpöttiſch: Ihr habt die
Zeit ſchlecht gewählt, die Kriegsmacht des Kaiſers rückt bereits nach dem
Weſten vor! Der Feldmarſchall erhielt den Oberbefehl und hoffte ſchon
im Februar unter den polniſchen Empörern aufzuräumen; war dort die
Revolution gebändigt, ſo ſollte Preußen in den großen Kreuzzug für die
Legitimität hineingeriſſen werden und im Mai das Heer des Türken-
beſiegers am Rheine eintreffen. Darum erging Marſchbefehl an die
Garden, die erſt im März, alſo nach der erhofften Unterwerfung, in
Polen anlangen konnten, auch die kaiſerliche Feld-Equipage war ſchon
unterwegs. Die Ruſſen zogen freudig in den Kampf gegen die alten
Feinde ihrer Nation; überall ging die Rede: den einzigen Lohn, den
Rußland aus ſeinem ſiegreichen Kriege wider ganz Europa davongetragen
hat, laſſen wir uns nicht rauben. Sie grollten längſt, weil dies eroberte
Land größerer Rechte genoß als die Eroberer ſelber; jetzt forderten ſie
laut die völlige Einverleibung des meuteriſchen Nebenreiches.*) Nach-
haltigen Widerſtand befürchtete Niemand; die meiſten Offiziere der Garde
erwarteten gleich dem Feldmarſchall einen raſchen Siegeszug bis zur Seine,
und mancher ſagte beim Abſchied, erſt aus Paris werde er heimſchreiben.
Der Uebermuth der Moskowiter ſollte ſich hart beſtrafen.
Durch die europäiſchen Kreuzzugspläne des Czaren wurde der polniſche
Feldzug ſchon in ſeiner Anlage verdorben, wie General Schöler warnend vor-
herſagte. Diebitſch begann den Krieg zu früh, mit ungenügenden Mitteln;
um nur raſch fertig zu werden führte er ſogar die litthauiſchen Truppen,
deren Treue längſt verdächtig war, gegen ihre polniſchen Landsleute ins
Feuer.**) Das herriſche Manifeſt, das vor ihm herging, verſchärfte lediglich
den Haß; auf dem Schlachtfelde vergaßen die Polen ihrer Zwietracht
und bewährten überall den alten Muth. Als Diebitſch gradeswegs gegen
Warſchau vorgedrungen, bei Grochow auf dem alten Schlachtenboden des
rechten Weichſelufers die Polen geſchlagen hatte (25. Februar), da fühlte
er ſich nicht mehr ſtark genug den Sieg zu benutzen, ganz wie einſt König
Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1794; er wagte nicht, nach dem Rathe
ſeines kühnen Generalſtabschefs Toll, den Brückenkopf der Hauptſtadt,
Praga zu ſtürmen und alſo mit einem Schlage den Krieg zu beendigen.
Und ganz wie damals wendete ſich das Blatt ſobald der günſtige Augen-
blick verſäumt war. Das ruſſiſche Heer mußte den Rückzug antreten,
durch wegloſe Gelände, bei unerwartet frühem Thauwetter; die Cholera
wüthete in ſeinen Reihen. Zu Ende März brachen die Polen, jetzt von
dem tapferen Skrzynecki geführt, aus den Wällen Pragas hervor, ſchlugen
[62]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
das unzuverläſſige litthauiſche Corps des Generals Roſen, und bald ſah
ſich Diebitſch genöthigt noch weiter oſtwärts zurückzugehen. Die Garden
trafen auf ihrem Pariſer Siegeszuge grade noch rechtzeitig ein um in
Polen das Verderben aufzuhalten. Ein langer und ſchwerer Krieg ſtand
bevor; mit heller Schadenfreude verkündeten die europäiſchen Zeitungen,
wie ſchwach der gefürchtete nordiſche Koloß ſich erwieſen habe. Auf viele
Monate hinaus war Rußland außer Stande in die Händel Weſteuropas
thätig einzugreifen. —
Aber auch die beiden anderen Theilungsmächte wurden durch die
polniſche Revolution gelähmt. Wieder wie einſt beim Beginne des erſten
Revolutionskrieges ſtand Preußen in Gefahr zwiſchen zwei Feuer zu ge-
rathen; kein preußiſcher Staatsmann durfte verkennen, was die Pflicht
der Selbſterhaltung gebot. Blieb der Aufſtand in Warſchau ſiegreich, ſo
waren Poſen und Weſtpreußen ſchwer gefährdet, und in Frankreich gelangte
vorausſichtlich die Partei der revolutionären Propaganda ans Ruder.
An dieſer handgreiflichen Wahrheit konnten die glatten Worte der Polen
nichts ändern. Graf Titus Dzialynski, das Oberhaupt der Poſener
Verſchwörer, eilte ſobald die Revolution ausgebrochen war, nach Warſchau,
um anzufragen, ob eine Schilderhebung in Poſen rathſam ſei. Die
proviſoriſche Regierung aber, die noch unter Czartoryski’s behutſamer
Leitung ſtand, wies ihn ab und beeilte ſich, in einem um einen Tag
vordatirten Briefe dem preußiſchen Conſul Schmidt unaufgefordert zu
erklären: ſie hege „die feſte Abſicht, gewiſſenhaft die Grenzen aller Staaten
Sr. Maj. des Königs von Preußen zu achten.“ Zum Ueberfluß kam
der harmloſe Poſener Graf ſelber zu dem Conſul und verſicherte gemüth-
lich, er ſei nur nach Warſchau gereiſt um ſeine Mutter zu beſuchen.*)
Wen ſollten ſolche Künſte täuſchen? Während Tag für Tag Ueberläufer aus
Preußen in das polniſche Heer eintraten — darunter auch der aus Glogau
entflohene General Uminski — und ſogar eine Poſener Reitertruppe ge-
bildet wurde, rechneten die Warſchauer Gewalthaber noch immer auf
die deutſche Gutherzigkeit und ließen den König durch General Kniaziewicz
um ſeine Vermittlung bitten. Friedrich Wilhelm lehnte das Geſuch ſchroff
ab und gab den Aufſtändiſchen den Rath, ſich ihrem Könige zu unter-
werfen.**) Er durfte in ihnen nur Feinde ſeines eigenen Staates ſehen, rief
ſeinen Conſul aus Warſchau zurück und ſtellte die in Berlin verwahrten
Gelder der polniſchen Bank dem rechtmäßigen Könige zur Verfügung.
Als die Dinge ernſter wurden, ließ er die 130 Meilen lange Grenz-
linie durch Truppen der vier öſtlichen Armeecorps beſetzen. Gneiſenau
[63]Beſetzung der deutſchen Oſtgrenze.
übernahm den Oberbefehl über dieſe vier verſtärkten Corps und er ent-
ledigte ſich des peinlichen Auftrags nach ſeiner großen Weiſe. Selbſt die
grollenden Edelleute in Poſen beugten ſich vor der milden Hoheit des
alten Helden. Er begegnete ihnen nicht ohne geringſchätzige Ironie, da
er ihre unausrottbare Vorliebe für krumme Wege kannte. In Kleinig-
keiten nachſichtig hielt er doch ſtreng darauf, daß der Zuzug zu den
Aufſtändiſchen aufhörte; und es ward hohe Zeit, denn unbekümmert um
die Friedensmahnungen ihres Erzbiſchofs Dunin hatten ſich ſchon an
12000 Mann aus der Provinz den Polen angeſchloſſen. Der Feld-
marſchall war angewieſen, dem ruſſiſchen Heere die Verpflegung zu er-
leichtern, aber nur im äußerſten Nothfall in den Kampf einzugreifen, da
die Ruſſen ſelbſt, um ihres Anſehens willen, dies Einſchreiten nicht
wünſchten. Von Diebitſch’s Feldherrngaben dachte er nicht hoch, dieſer
ganze polniſche Krieg erſchien ihm nur als eine geringfügige Epiſode;
ſein Blick blieb nach Weſten gerichtet, ſeine letzten Gedanken galten dem
nahen Kampfe gegen das Karthago an der Seine.
Alſo mußte faſt die Hälfte des preußiſchen Heeres zur Sicherung
der Oſtgrenze verwendet werden. Nicht ganz ſo ſchwer hatte Oeſterreich
unter den polniſchen Wirren zu leiden. Für Galizien ſtand wenig zu
befürchten, weil die rutheniſche Bauernſchaft ihre ſarmatiſchen Herren ver-
abſcheute und auch die polniſchen Edelleute dieſes Landſtrichs bei Weitem
weniger Eifer für den Aufſtand zeigten als die preußiſchen Polen. Von
jeher war das katholiſche Oeſterreich den Polen minder verhaßt geweſen
als die beiden anderen Theilungsmächte, und da nun der mächtige ma-
gyariſche Adel jede Niederlage ſeiner ruſſiſchen Todfeinde mit ſtürmiſcher,
faſt drohender Freude begrüßte, da der Statthalter von Galizien, Fürſt
Lobkowitz ſeine polniſche Geſinnung kaum verbarg und ſelbſt das ſtille
Wien für die ſarmatiſchen Helden ſich begeiſterte, ſo verfielen die Polen in
leichtſinnige Selbſttäuſchungen. In der argen Schule ihres Verſchwörer-
lebens hatten ſie längſt gelernt, Hoffnung für Wirklichkeit, leere Worte
für Thaten zu nehmen; an allen Höfen arbeiteten ihre Sendboten, und
jede hingeworfene Aeußerung menſchlichen Mitgefühls klang ihnen wie
ein Verſprechen kriegeriſcher Hilfe. Adam Czartoryski warf unter ſeinen
ariſtokratiſchen Freunden die Frage auf, ob man nicht den Erzherzog
Karl zum Könige von Polen wählen und alſo Oeſterreichs Beiſtand ge-
winnen ſolle; und doch mußte er wiſſen, daß grade dieſer Name den
mißtrauiſchen Kaiſer Franz nur abſchrecken konnte. Er ließ durch ſeinen
Bruder Conſtantin die Vermittelung der Hofburg erbitten und ſchrieb
dann ſelbſt an Metternich um wegen der Wahl des Erzherzogs anzu-
fragen. Nachher ward Graf Clam, der Vertraute des Staatskanzlers
in tiefem Geheimniß nach Mähren eingeladen, wo ihn polniſche Unter-
händler erwarteten. Als der Aufſtand ſchon im Erlöſchen war kam
Czartoryski’s Neffe Graf Zamoiski nach Wien, bat nochmals um Oeſter-
[64]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
reichs Hilfe und erbot ſich, die Krone der Jagellonen irgend einem Erz-
herzoge, welcher es auch ſei, zu verſchaffen.*)
Das Alles war verlorene Mühe, obwohl die polniſchen Blätter be-
ſtändig von der günſtigen Geſinnung des Wiener Hofes fabelten. Andert-
halb Jahre früher, zur Zeit des Türkenkrieges, hätte Metternich die pol-
niſche Revolution vielleicht willkommen geheißen; jetzt da er den Bund
der Oſtmächte wieder feſter zu ſchließen ſuchte, war ſie ihm nur „eine
Revolution wie alle anderen“. Eine Hinterthür hielt er ſich freilich offen,
indem er den k. k. Conſul Oechsner, zum Befremden des Czaren, während
des Krieges in Warſchau bleiben ließ; jedoch die Erwählung eines Erz-
herzogs wies er als einen „abſurden“ Gedanken kurzweg ab. Um ſeinen
Abſcheu kräftig zu bekunden, bereicherte er ſogar das Wörterbuch ſeiner
Angſt-Sprache um eine ſechſte Metapher und nannte dies Polen „ein
Pulvermagazin“, das alle Nachbarn in die Luft zu ſprengen drohe. Auch
Gentz, der alte Gegner Rußlands, mußte zugeſtehen, daß Oeſterreich jetzt
nicht viel anders handeln durfte als Preußen. In der That gab Kaiſer
Franz den Polen faſt dieſelbe Antwort wie König Friedrich Wilhelm;
nur dem Fürſten Czartoryski, der bei Hofe wohlgelitten war, und einigen
ſeiner Standesgenoſſen verſprach man unter der Hand ein Aſyl in
Oeſterreich. Die galiziſche Grenze wurde ſtark beſetzt und dem ruſſiſchen
Heere die Zufuhr von Lebensmitteln freundnachbarlich geſtattet.
Da die Oſtmächte feſt zuſammenſtanden, ſo konnte Czar Nikolaus
ſich jede Einmiſchung Frankreichs von Haus aus ſcharf verbitten. In
hoffärtigem Tone ſchrieb Neſſelrode nach Paris: „Wenn die Regierung
des Königs Ludwig Philipp bisher ſcheinbar mit Ungeduld den rechten
Augenblick erwartet hat um Europa eine Bürgſchaft der Sicherheit zu
geben und ſich das Vertrauen des Kaiſers zu erwerben, ſo darf ſie nicht
verſäumen, die gegenwärtige Gelegenheit weiſe zu benutzen. Ihre Würde
wie ihr Intereſſe gebieten ihr dies zu thun.“**) Die herriſche Mahnung
fand willige Hörer. Ludwig Philipp wußte wohl, daß der völlig aus-
ſichtsloſe Verſuch in die polniſchen Händel einzugreifen, nur den Feinden
ſeines Hauſes zu gute kommen konnte. Denn obwohl alle Parteien
Frankreichs für dies Belgien des Oſtens, dies „liberale und katholiſche
Volk, den natürlichen Bundesgenoſſen der Franzoſen“ ſchwärmten, ſo
zeichneten ſich doch die Republikaner und die verkappten Bonapartiſten
durch verdächtigen Eifer aus. Dieſelben Blätter, welche den Grundſatz
der Nicht-Einmiſchung als die Heilswahrheit neu-franzöſiſcher Freiheit
prieſen, forderten mit der unbefangenen Logik des Radicalismus die
Einmiſchung zu Gunſten der Polen. Der greiſe Lafayette erhob in einer
ſchwülſtigen Erklärung feierlichen Einſpruch gegen das Vorgehen der
[65]Revolution in Italien.
Ruſſen; Caſimir de la Vigne ſchilderte rührſam den weißen Adler, wie
er hoffend auf Frankreichs Regenbogen blickte, und als dieſer Regenbogen
dem Adler nicht half, ſang Barthelemy wüthend: Cachons-nous, cachons-
nous! Nous sommes des infâmes! Solchen Freunden wollte der Bürger-
könig das gebrechliche Schifflein der Orleans nicht anvertrauen. Um die
maßlos erregte öffentliche Meinung etwas zu beſchwichtigen, ließ er nur
bei den großen Höfen behutſam anfragen, ob vielleicht eine gemein-
ſame Vermittlung der Mächte möglich ſei; doch in Berlin wie in Wien
ward das Anerbieten rundweg abgelehnt.*)
Desgleichen in London. Den Griechen hatte Canning einſt unbe-
denklich Beiſtand geleiſtet, weil der engliſche Handel im ägeiſchen Meere
durch den helleniſchen Krieg zu Grunde gerichtet wurde. Sein Schüler
Palmerſton handelte nur im Geiſte des Meiſters, als er den Polen jede
Hilfe abſchlug; denn ein Zerwürfniß mit Rußland war der Untergang
des einträglichen Oſtſeehandels. Der Lord empfing daher den Abgeſandten
der Warſchauer Regierung, den geiſtreichen jungen Marquis Wielopolski
ſehr kühl und redete würdevoll von der Heiligkeit der europäiſchen Ver-
träge, die er doch ſelber in dem belgiſchen Streite leichtherzig preisge-
geben hatte. Er ward ſogar durch die polniſchen Wirren näher an die
Oſtmächte herangedrängt und ließ nach Paris ſehr nachdrückliche War-
nungen ergehen. Mißtrauiſch wie er gegen alle Ausländer war, be-
fürchtete er immer, Ludwig Philipp könne durch die Schmeicheleien der
polniſchen Agenten, durch die Brandreden der radicalen Propaganda doch
noch in einen Krieg hineingeriſſen werden, der die Intereſſen der britiſchen
Handelspolitik ſchädigte. Und wie nahe lag doch die Gefahr, daß die
unglücklichen Iren, die von ihren fremden Zwingherren unvergleichlich
härter mißhandelt wurden als die Polen, dann auch die Hilfe des frei-
heitſpendenden Frankreichs anriefen! Nur in der Stille und ohne jeden
Erfolg bekundete er den deutſchen Mächten zuweilen ſeinen Unmuth über
die allzu harte Behandlung der Polen.**) —
Um die Verwirrung der europäiſchen Lage zu vollenden, brach end-
lich im Februar 1831 auch in Italien der längſt erwartete Aufruhr aus.
Nirgends zeigte ſich die unberechenbare, zwiſchen Furcht und Begehrlichkeit
ſchwankende Politik der Orleans ſo gewiſſenlos; ſie führte hier den alten,
durch Frankreichs Ueberlieferungen gebotenen Kampf gegen Oeſterreichs
Herrſchaft mit ſchlechten demagogiſchen Waffen fort und reizte die unglück-
lichen Italiener zu thörichten Aufſtänden, die ſie doch nicht ernſtlich zu
unterſtützen wagte. Da wurden zuerſt die nach Frankreich geflüchteten
piemonteſiſchen Unzufriedenen durch die franzöſiſchen Behörden dermaßen
begünſtigt und aufgeſtachelt, daß der geängſtigte Turiner Hof ein Schutz-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 5
[66]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
bündniß mit Oeſterreich ſchloß und der neue König Karl Albert von
Carignan — derſelbe, der einſt vor der Rache des Wiener Hofes bei
den franzöſiſchen Bourbonen Schutz geſucht hatte — ſich in tödlichem
Haſſe von Frankreich abwendete. Dann warf ſich die franzöſiſche Pro-
paganda auf Mittelitalien. Sendboten der Pariſer Geheimbünde über-
ſchwemmten das Land, Ludwig Philipp ſelber zahlte Geld an die Ver-
ſchwörer — freilich nur eine bettelhafte Summe, nach der geizigen Weiſe
der Orleans; und noch bethörender wirkte der in Paris ſo prahleriſch ver-
kündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Die Verſchworenen glaubten
feſt, Oeſterreich könne keine Einmiſchung wagen, weil Frankreich die Re-
volution mit ſeinen Waffen ſchirmen würde — dies verſicherte ihnen der
alte Unheilſtifter Lafayette heilig — und mit den elenden Truppen ihrer
Kleinfürſten und Prieſter meinten ſie leicht fertig zu werden.
Alſo auf Frankreichs Schutz vertrauend wagten ſie den Kampf.
Im Laufe des Februar wurden die kleinen Despoten von Modena und
Parma verjagt; die Romagna, Umbrien, die Marken, volle vier Fünftel
des Kirchenſtaates ſchüttelten das unerträgliche Joch des Papſtthums ab.
In Bologna wie in Modena trat eine revolutionäre Regierung zuſammen,
und aus den wirr durch einander fluthenden Hoffnungen und Entwürfen
der Patrioten ließ ſich doch ſchon erkennen, daß der nationale Gedanke
in dieſem edlen Volke klarer, greifbarer, beſtimmter wurde, ſeit er aus
dem aufgeregten Süden nach dem ruhigeren Norden hinüberdrang. Keine
Rede mehr von den Parteifarben der Carboneria, die vor zehn Jahren in
Neapel geprangt hatten. Das nationale Banner des Königreichs Italien
wehte überall in den befreiten Landen, die ſich ſtolz die Vereinigten Pro-
vinzen Italiens nannten; der Name des großen Stifters jenes König-
reichs war in Aller Munde. Zwei ſeiner Neffen, die jungen Söhne
Ludwig Napoleon’s, bemerkte man inmitten der Aufſtändiſchen, zu Roſſe,
auf grünweißrothen Schabracken; manche der Verſchworenen vermaßen
ſich ſchon den König von Rom aus Wien herbeizurufen.
Wunderbar, wie nun plötzlich dem Wiener Hofe die Schwingen
wuchſen. Bei den Wirren der letzten Monate hatte er faſt nur die Rolle
des Chors in der Tragödie geſpielt; jetzt zeigte ſich Oeſterreich ganz als
italieniſche Macht. In der Beherrſchung der Halbinſel ſah Kaiſer Franz
die ſtärkſte Stütze ſeines Reichs, aus den italieniſchen Beſitzungen floß
ſeinen Erzherzogen der größte Theil ihrer Reichthümer zu. Metternich
ſuchte, da er für die Leiden Italiens nie ein Auge hatte, den einzigen
Grund der Bewegung in der heilloſen Doctrin der Nicht-Einmiſchung;
er wollte, indem er die Revolution niederſchlug, zugleich dieſe neue Völker-
rechtslehre durch die That widerlegen, und als ihm ſein Schlag gelungen
war, rief er ſtolz: Das erſte öſterreichiſche Bataillon in Italien hat die
Lehre der Nicht-Einmiſchung zu Boden geſchmettert.*) Wohl war das
[67]Die Oeſterreicher im Kirchenſtaate.
Heer, trotz der Rüſtungen der jüngſten Zeit, noch immer in üblem Zu-
ſtande,*) und die Geldmittel konnten nur durch den mehr bereitwilligen als
wohlfeilen Beiſtand des getreuen Hauſes Rothſchild aufgebracht werden; doch
zu einem Kampfe gegen italieniſche Freiſchaaren fühlte ſich die alte Kaiſer-
macht noch ſtark genug. Sobald der Papſt und die vertriebenen Fürſten
ihren Hilferuf nach Wien erſchallen ließen, rückten die Oeſterreicher ein,
und ehe der März zu Ende ging war das geſammte aufſtändiſche Gebiet
wieder unterworfen. Franz von Modena verherrlichte ſeine Rückkehr
nach ſeiner Gewohnheit durch Hinrichtungen und Einkerkerungen; der
Papſt aber begrüßte dankbar die auserleſene Schaar der Weißröcke, welche
die Tempelſchänder aus dem Levitengebiete vertrieben habe.
Den Hof des Palais Royal hielt Metternich durch einen diplo-
matiſchen Meiſterzug in Schach. Er ſendete nach Paris eine aus Wahr-
heit und Dichtung kunſtvoll zuſammengewobene Darſtellung von dem
Weſen und Ziele der italieniſchen Revolution (15. Februar). Danach
ſollte die Bewegung allein von dem Pariſer Comité directeur ausgehen
und den beſtimmten Zweck verfolgen, den Sohn Napoleon’s zum conſti-
tutionellen Könige von Italien zu erheben. Einige Beweisſtücke, welche
die weitverzweigten geheimen Umtriebe der Bonapartiſten aufdeckten,
legte er bei; dagegen verſchwieg er weislich, daß der herriſche König von
Rom keineswegs geſonnen war, den italieniſchen Patrioten als Werkzeug
zu dienen, ſondern vielmehr zornglühend ſich erboten hatte, mit ſeinem
guten Degen ſeiner Mutter Marie Luiſe das verlorene Herzogthum
Parma wieder zu erobern. Zwiſchen den Zeilen ward dann noch ange-
deutet, der Großvater Napoleon’s II. könne vielleicht doch in die Lage
kommen, ſich ſeines Enkels zu bedienen. Zum Schluß die unverblümte
Drohung: „Unſer Bekenntniß muß von denen verſtanden werden, welche
bei Strafe ihrer eigenen Vernichtung die Freunde unſerer Sache ſein
müſſen; denn unſere Sache iſt im Grunde ihre eigene.“ Das Mittel wirkte.
Die Orleans zitterten vor dem Bonapartismus, der ſelbſt in Ludwig
Philipp’s nächſter militäriſcher Umgebung geheime Anhänger zählte, und
der Gedanke der Einheit Italiens war der neidiſchen Politik des Bürger-
königthums ganz ebenſo unheimlich wie dem Wiener Hofe. Frankreich
regte ſich nicht. Erſt als der Aufſtand gebändigt war erließ das Pariſer
Cabinet eine Verwahrung gegen die Beſetzung des Kirchenſtaates; von
den kleinen Herzogthümern ſprach man nicht, ſie galten allgemein als
ein unantaſtbares Familienbeſitzthum des Hauſes Oeſterreich. Metternich
aber baute dem geſchlagenen Feinde goldene Brücken. Ganz wie vor
zehn Jahren verſicherte er feierlich, Oeſterreich ſei nicht um ſeinetwillen,
ſondern um der europäiſchen Ruhe willen eingeſchritten. Darum wider-
ſprach er auch nicht, als auf Frankreichs Wunſch die Geſandten der fünf
5*
[68]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Mächte in Rom zuſammentraten um über die nothwendigen Reformen
im Kirchenſtaate zu berathen.
Am Berliner Hofe erregte das italieniſche Ränkeſpiel des Palais
Royal lebhaften Argwohn. Ancillon, der für den erkrankten Bernſtorff
jetzt das Auswärtige Amt leitete, verhehlte dem franzöſiſchen Geſandten
nicht, daß der König Oeſterreichs Verhalten in Italien durchaus billige.
Mit dem ganzen Wortſchwall ſeines wohlgeſalbten Predigerſtiles tadelte
er den zweideutigen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung: „Man kann nicht
oft und nicht mannichfach genug dieſe revolutionäre Doctrin bekämpfen,
welche darauf hinausläuft, daß die Empörung die heiligſte der Pflichten
und Niemand berechtigt iſt deren Ausübung zu ſtören; ſie untergräbt die
Unabhängigkeit der Souveräne in ihren Grundlagen, indem ſie ihnen
die Möglichkeit nimmt ihre Verbündeten zu Hilfe zu rufen; ſie würde
die Maßregeln, welche die Regierungen im Intereſſe ihres Daſeins und
ihrer Selbſterhaltung für nöthig halten, von der Genehmigung Frankreichs
abhängig machen.“*) Weitausſehende Verbindlichkeiten wollte der König,
ſeinem alten Grundſatze gemäß, um Italiens willen nicht übernehmen;
er lehnte ab, als der Turiner Hof ihn bitten ließ, gemeinſam mit Oeſter-
reich die Bürgſchaft für Piemonts Sicherheit zu übernehmen. Nur zu
wohlwollender Vermittlung war er gern bereit.
Unter den Geſandten der Conferenz in Rom zeigte der preußiſche
den größten Eifer. Bunſen hatte ſeit er in Rom heimiſch geworden ſeine
Vorurtheile gegen das italieniſche Volk längſt überwunden, er legte den
Geſandten eine Denkſchrift vor (21. Mai), welche von allen gebilligt und
ſeitdem durch ein Menſchenalter dem römiſchen Stuhle immer wieder als
wohlgemeinte Mahnung ſeiner Beſchützer vorgehalten wurde. Ueber die
Nichtswürdigkeit dieſes Prieſterregiments, das ſich ſeit dem Tode des milden
Cardinals Conſalvi nur verſchlechtert hatte, war Jedermann einig. Selbſt
Prokeſch v. Oſten, der abgeſagte Feind der Revolution, der in Metternich’s
Auftrag die Zuſtände der Romagna beobachten ſollte, fand die Lage des
Volks ganz entſetzlich. Alle Höfe, auch der Wiener, wünſchten auf-
richtig das Gelingen der Reform; denn alle betrachteten den Kirchenſtaat
als eine europäiſche Nothwendigkeit und hielten das Papſtthum ſelber
für verloren falls ſeine weltliche Herrſchaft unterginge. Bunſen’s Vor-
ſchläge lauteten verſtändig und maßvoll: er verlangte Zulaſſung der Laien
zu allen obrigkeitlichen Aemtern, gewählte Räthe für die Gemeinden und
die Provinzen, dazu einen Rechnungshof, der durch Laien verſtärkt den
Unterſchleifen der Prieſter endlich ſteuern ſollte, und vielleicht noch einen
Staatsrath. Aber wie konnte man hoffen, bei dem Papſte auch nur
dieſe beſcheidenen Wünſche durchzuſetzen? Der heilige Stuhl gab halbe
Zuſagen, und hielt ſie nicht, weil er ſie nicht halten konnte. Jede reine
[69]Bunſen’s Denkſchrift über den Kirchenſtaat.
Theokratie iſt Kaſtenherrſchaft; die unerläßliche Vorbedingung aller Re-
formen, die Gleichſtellung der Laien durfte der gekrönte Prieſter nicht im
Ernſt zugeſtehen.
Unterdeſſen forderte Frankreich, im Namen der heiligen Nicht-Ein-
miſchungslehre, laut und lauter die Räumung des Kirchenſtaates, obgleich
der Papſt ſelber das längere Verweilen der Beſatzungstruppen dringend
wünſchte und Jedermann in Bälde einen zweiten Aufſtand erwartete.
Ueber den langwierigen gereizten Verhandlungen rückte endlich der Tag
heran, da die Pariſer Kammern wieder zuſammentreten ſollten. Da
ſpielte Ludwig Philipp den letzten Trumpf aus, der ihm fortan immer
zu ſeinen Schein-Erfolgen verhelfen mußte; er erklärte: wenn Oeſterreich
nicht rechtzeitig die Romagna räume, dann könne er die Leidenſchaften
ſeiner Volksvertreter nicht mehr zurückhalten, und der Krieg werde un-
vermeidlich. Nunmehr gab Metternich in der Form nach, da er doch
ſeinen weſentlichen Zweck erreicht hatte. Die kaiſerlichen Truppen zogen
im Juli ab, aber zugleich ſchloß Graf Lützow mit der dankbaren Curie
einen geheimen Vertrag, kraft deſſen Oeſterreich ſich verpflichtete, die Sou-
veränität des Papſtes unter allen Umſtänden aufrechtzuerhalten, alſo beim
nächſten Aufſtande den Kirchenſtaat ſogleich wieder zu beſetzen. Für dieſen
Fall erbat ſich Metternich jetzt ſchon vorſorglich Preußens und Rußlands
Unterſtützung.*) Siegesfroh erzählten die Miniſter des Bürgerkönigs der
tiefen Unwiſſenheit ihrer Abgeordneten das Märchen, daß Frankreich den
Papſt von dem kaiſerlichen Joche befreit habe. In Wahrheit ſtemmte der
Kaiſerſtaat feſter denn jemals ſeinen Fuß auf Italiens Nacken. Das buh-
leriſche Spiel der Orleans mit den Geheimbünden der Revolution trieb alle
Fürſten der Halbinſel, auch den unberechenbaren Karl Albert dem Wiener
Hofe in die Arme; in den nächſten Jahren blieb Oeſterreich unbeſtritten die
Vormacht Italiens. Unter der Jugend des Landes aber wendeten ſich ſchon
einzelne helle Köpfe, wie Graf Camillo Cavour, den conſtitutionellen Ideen
des neuen Frankreichs zu; und ebenſo folgenreich ward es für eine ferne
Zukunft, daß Ludwig Napoleon hier zuerſt in die Geſellſchaft der Dema-
gogen eintrat. Der Prinz verlor während jener Wirren in der Romagna
ſeinen älteren Bruder durch den Tod, und als bald darauf (Juli 1832)
auch der Herzog von Reichſtadt ſtarb, da gingen die Erbanſprüche des
napoleoniſchen Hauſes auf dieſen jungen Schweiger über. Der kriegeriſche
Bonapartismus war mit dem ſtolzen König von Rom ins Grab geſunken;
der neue Prätendent ging die ſtillen Wege des Verſchwörers. —
Auch in der Schweiz fand die Juli-Revolution ein Nachſpiel. Nicht
umſonſt hatten die Eidgenoſſen während der müden Jahre der Reſtaura-
tion ein von außen her ungeſtörtes Stillleben geführt; ſie zeigten ſich
jetzt bei Weitem weniger abhängig von den Pariſer Ideen als einſt, da
[70]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ſie die helvetiſche Republik dem franzöſiſchen Einheitsſtaate nachbildeten
und dann die Mediationsakte aus Bonaparte’s Hand entgegennahmen.
Obwohl ermuthigt durch das Beiſpiel der Franzoſen bewahrte die Revo-
lution hier ihren ſchweizeriſchen Charakter und darum nachhaltige Lebens-
kraft; ſie erſtrebte das Ziel der reinen Volksherrſchaft, das ſich aus der
neueren Geſchichte der Eidgenoſſenſchaft mit Nothwendigkeit ergab. Nicht
ohne Roheit und Gewaltthat, aber auch ohne ſchweren Bürgerkrieg, wurden
in mehreren Cantonen, zumal in den größten und reichſten, die Herr-
ſchaft der Hauptſtädte ſowie die Vorrechte der Patricier gebrochen und
demokratiſche Staatsformen eingeführt, deren Schwerpunkt in der erwählten
Volksvertretung, dem Großen Rathe lag. Mit den demokratiſchen Ge-
danken verband ſich das Verlangen nach Reform der lockeren Bundes-
verfaſſung. Indeß vermochte der Einheitsdrang in dieſem claſſiſchen Lande
des Föderalismus niemals ſo übermächtig zu werden, wie in Deutſchland
oder Italien. Die alten kleinen Händel der Landſchaften währten fort;
in Schwyz ward der Verſuch gewagt den Canton in zwei Hälften zu zer-
ſchlagen, und das radicale Baſelland riß ſich als ſouveräner Halbcanton
von der conſervativen Stadt Baſel los. Da die Tagſatzung ſich zu ſchwach
fühlte alle dieſe Parteikämpfe zu beherrſchen, ſo nahm ſie den modiſchen
Grundſatz der Nicht-Einmiſchung an. Ein ſolcher Beſchluß augenblick-
licher Verlegenheit konnte auf die Dauer nicht vorhalten; früher oder
ſpäter mußten die Verfaſſungs-Aenderungen der Cantone auf den Bund
zurückwirken. Dies erkannte auch Metternich mit dem Scharfblicke des
Haſſes. Er wußte, wie eifrig der Pariſer Hof, der allein bei der Tag-
ſatzung einen Botſchafter unterhielt, ſich wieder um die ſchweizeriſche
Schirmherrſchaft bemühte;*) auch fürchtete er, die Einheitsbewegung der
Eidgenoſſen könne den Deutſchen ein übles Beiſpiel geben. In ſeiner
Angſt ſah er die Schweiz ſchon wieder dem Einheitsſtaate der helvetiſchen
Republik zutreiben und gab den Oſtmächten zu erwägen, ob man eine
ſolche Aenderung dulden könne, da doch jeder Canton ein wohlerworbens
Recht auf Erhaltung der alten Verfaſſung beſitze und die Schweiz nur
als Staatenbund von den großen Mächten anerkannt worden ſei.**)
In der Menge dieſer Gegenſätze, welche den Welttheil erfüllten, lag
doch einige Gewähr für den allgemeinen Frieden. Nur die Selbſtüber-
hebung des Czaren Nikolaus mochte ſich’s zutrauen alle dieſe Knoten
zugleich mit dem Schwerte zu durchhauen. Vorderhand waren die Oſt-
mächte durch Polen und Italien beengt, die Weſtmächte durch innere Ver-
legenheiten. So konnte denn die Vermittlungsarbeit der Londoner Con-
ferenz ſtätig voranſchreiten, freilich nur unter wiederholten gefährlichen
Rückſchlägen, die zumeiſt durch Frankreichs Doppelſpiel verſchuldet wurden.
[71]Neutralität Belgiens.
Am 20. Januar 1831 einigte ſich die Conferenz über die Grundlagen
der Trennung der Niederlande: auf Bülow’s Antrag wurde die Neutralität
des künftigen belgiſchen Staates angenommen, der alle Landſchaften ſüdlich
der alten holländiſchen Grenze, mit Ausnahme des deutſchen Bundeslandes
Luxemburg, umfaſſen ſollte. Aber während dieſer Verhandlungen rückte
plötzlich Talleyrand mit ſeinen Herzenswünſchen heraus: er verlangte für
Frankreich die im Jahre 1815 an die Niederlande abgetretenen Grenz-
ſtriche um Philippeville und Marienburg. Jener wunderlichen Traum-
welt, welche die Franzoſen ſeit ihrer großen Woche umfing, konnte ſich
ſelbſt der Neſtor der Diplomatie nicht entziehen. Man war an der Seine
ſo ſehr daran gewöhnt, jede Pariſer Thorheit von der geſammten libe-
ralen Welt Europas nachgeſprochen zu ſehen, daß man im Ernſt glaubte,
auch das Verlangen nach der Rheingrenze werde von allen freien Köpfen
des Welttheils gebilligt. Die beſonneneren Franzoſen meinten ſchon einen
Beweis hoher Mäßigung zu geben, wenn ſie dieſe „große Grenze“ für
jetzt noch nicht verlangten, ſondern ſich zunächſt mit der in Paris ſoge-
nannten „kleinen Grenze“ begnügten — mit der Rückforderung jener
ſchmalen Grenzſtreifen, welche der milde zweite Pariſer Friede von Frank-
reich abgetrennt hatte. Lord Palmerſton aber erkannte ſofort, daß keine
der Oſtmächte auf eine ſolche Zumuthung eingehen konnte; von allen
übrigen Bevollmächtigten unterſtützt erklärte er ſich ſcharf dawider. Nun-
mehr verſuchte Ludwig Philipp durch geheime Sendungen den engliſchen
Hof für dieſe kleine Grenze zu gewinnen. Zugleich forderte er die Neu-
tralität für Luxemburg, worauf Preußen nachdrücklich erwiderte: der
Deutſche Bund, dem Luxemburg angehöre, ſei zwar nur zur Vertheidigung
beſtimmt, aber keineswegs neutral.*)
Der König der Niederlande erklärte ſich mit den Vorſchlägen der Con-
ferenz einverſtanden. Der Brüſſeler Congreß hingegen erließ, verwöhnt
durch die ſeltene Gunſt des Glücks, eine leidenſchaftliche Verwahrung und
berief ſich zum Schluß auf den großen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung.
Schon dieſe Wendung ließ erkennen, daß die Belgier auf franzöſiſchen
Beiſtand rechneten, und in der That erhob Frankreich plötzlich Bedenken
gegen die Genehmigung der Conferenzbeſchlüſſe. Währenddem wurden
große Truppenmaſſen in Lothringen, dicht an der Grenze, angehäuft, und
am 28. Januar meldete der Commandirende des rheiniſchen Armeecorps,
General Borſtell, er müſſe jederzeit einen plötzlichen Einfall in die Moſel-
und Saarlande erwarten. Nach einer Berathung Bernſtorff’s mit den
höchſten Führern des Heeres befahl der König nunmehr, das rheiniſche,
das ſächſiſche und einen Theil des weſtphäliſchen Armeecorps auf Kriegs-
fuß zu ſetzen, ſo daß jetzt volle zwei Drittel des preußiſchen Heeres zur
[72]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Bewachung der Grenzen im Oſten und im Weſten aufgeboten waren.
Mit großer Offenheit ließ das Auswärtige Amt dieſe Vorſichtsmaßregeln
dem Pariſer Hofe mittheilen; ſelbſt der Schein einer Herausforderung
ſollte vermieden werden.*)
Die Kriegsgefahr rückte noch näher, als der Brüſſeler Congreß zur
Königswahl für den neuen Staat ſchritt. Nachdem er ſchon im No-
vember die Entthronung der Oranier ausgeſprochen hatte, war er jetzt
keineswegs geſonnen ſeinen Beſchluß zurückzunehmen. Geſichert durch
das Spiel und Gegenſpiel der großen Mächte hielten die Belgier ſich
für unangreifbar. Auf dem Namen König Wilhelm’s laſtete ſeit der Be-
ſchießung von Antwerpen ein furchtbarer Haß, und der ehrgeizige Prinz von
Oranien hatte in jüngſter Zeit eine ſo zweideutige Rolle zwiſchen den
Parteien geſpielt, daß ſein eigener Vater ihm die belgiſche Krone kaum noch
wünſchte. Die Oſtmächte begannen daher bereits an den Ausſichten des
Hauſes Oranien zu verzweifeln. Bernſtorff bekannte dies ſchon um Mitte
Decembers; kaum vier Wochen ſpäter ließ Metternich in Petersburg die
gleiche Meinung ausſprechen und fügte betrübt hinzu: „was nicht Frank-
reich und England mit Wärme unterſtützen kann nicht durchgeſetzt werden.“
Selbſt Czar Nikolaus konnte ſich der hoffnungsloſen Stimmung ſeiner
Bundesgenoſſen nicht ganz erwehren; er befahl ſeinen Bevollmächtigten
in London, die belgiſche Krone für den Prinzen von Oranien zu fordern;
würden ſie jedoch überſtimmt, dann behalte ſich der Kaiſer vor zu ent-
ſcheiden, ob ihm ein anderer Thronbewerber ungefährlich erſcheine.**)
Deſto kecker ſchritt der belgiſche Congreß vorwärts. Obgleich ſeine
Mehrheit die Einverleibung in Frankreich nicht wünſchte, ſo meinte ſie doch,
daß ihr Land nur von den Franzoſen Hilfe zu erwarten habe. Um ſich dieſen
Beiſtand zu ſichern und das Intereſſe des furchtſamen Bürgerkönigs für
immer an Belgien anzuketten wollte man ſeinem zweiten Sohne, dem
Herzog von Nemours, den neuen Thron anbieten. Welch eine Dreiſtig-
keit revolutionärer Selbſtüberhebung! Wie konnte man glauben, daß die
großen Mächte dieſem Orleans, der kürzlich erſt demüthig um ſeine eigene
Anerkennung gebettelt hatte, jemals geſtatten würden ſich noch eine zweite
Krone für ſein Haus zu erſchleichen? Und welch ein Hohn auf die ſo-
eben beſchloſſene, von den Belgiern ſelbſt freudig begrüßte Neutralität des
neuen Staates, wenn man hier eine franzöſiſche Nebenkrone gründete!
Ludwig Philipp erkannte auch ſofort, daß ſeine übermüthigen belgiſchen
Freunde gradeswegs auf einen allgemeinen Krieg losſteuerten, und ließ in
Brüſſel wie in London erklären, an die Annahme dieſer Krone ſei nicht
zu denken. Doch mittlerweile tauchte ein neuer Throncandidat auf, der
[73]Die Königswahl in Brüſſel.
junge Herzog von Leuchtenberg, und augenblicklich änderte ſich die Haltung
des franzöſiſchen Hofes. Sobald es galt den furchtbaren Namen der
Napoleons aus dem Wege zu ſchaffen, war den Orleans kein Mittel zu
verächtlich. Breſſon und Lawoeſtine, Ludwig Philipp’s Bevollmächtigte in
Brüſſel, gaben nunmehr unter der Hand die heilige Verſicherung, der
König werde ſeinem Sohne die Thronbeſteigung geſtatten; ſo gewannen
ſie van de Weyer, Nothomb und mehrere andere der fähigſten Mitglieder
des Hauſes. Am 3. Februar wählte der Congreß mit einer Mehrheit
von zwei Stimmen den Herzog von Nemours zum König der Belgier.
Das Gaukelſpiel der Orleans hatte ſeinen Zweck erreicht, der
Napoleonide war beſeitigt; und da überdies die Londoner Conferenz
mittlerweile den verſtändigen Beſchluß gefaßt hatte, daß kein Mitglied
eines der fünf großen Herrſcherhäuſer die Krone des neutralen Staates
tragen dürfe, ſo empfingen die Abgeſandten des belgiſchen Congreſſes
im Palais Royal eine runde Abſage. Der Bürgerkönig hielt ihnen eine
von tugendhaften Gemeinplätzen ſtrotzende Rede und betheuerte den Tief-
gerührten, dem Beiſpiele Ludwig’s XIV. und Napoleon’s wolle er nicht
folgen.
Begreiflich genug, daß nach ſolchen Proben franzöſiſcher Recht-
ſchaffenheit die Kriegspartei in Berlin immer wieder ihre Stimme erhob.
Mit allen hochkirchlichen Schlagworten der Haller’ſchen Staatslehre beſchwor
Herzog Karl von Mecklenburg ſeinen königlichen Schwager, die Monarchie
von Gottes Gnaden zu vertheidigen wider den treuloſen Aufruhr: „Wie
ein Vater ſeine Kinder regieret und leitet, die ihm die Gnade Gottes ge-
geben hat, ſo ſoll ein König der Vater ſeiner Völker ſein, ein Gott auf
Erden, verantwortlich dem Allerhöchſten, der ihm die Macht verlieh und
die Völker anvertraute.“ Solche Stilübungen konnten Bernſtorff’s Nüch-
ternheit nicht beirren; ſie ärgerten ſelbſt den Fürſten Wittgenſtein, der
überhaupt in dieſer Kriſis den Parteimann ganz verleugnete und die
Friedenspolitik des Königs treulich unterſtützte.*) Noch weniger fiel die
Stimme des alten Hans von Gagern ins Gewicht, als er in den „Vater-
ländiſchen Briefen“ der Allgemeinen Zeitung das unantaſtbare Recht des
Hauſes Oranien vertheidigte; der wunderliche Reichspatriot hatte einſt bei
der Gründung des niederländiſchen Geſammtſtaates nur zu eifrig mit-
geholfen und betrachtete jetzt den Zerfall ſeines kunſtvollen Gebildes wie
eine perſönliche Demüthigung. Bedenklicher war, daß die Bewohner des
linken Rheinufers für ihre Sicherheit beſorgt wurden. Eine geſchloſſene
franzöſiſche Partei beſtand im preußiſchen Rheinlande längſt nicht mehr,
Dank den unverkennbaren Wohlthaten der neuen Verwaltung. Jedoch das
Zutrauen zu der Dauer der deutſchen Herrſchaft hatte ſich noch nicht
[74]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
befeſtigt und es ward abermals ſchwer erſchüttert, als die Franzoſen alle-
ſammt die verhüllte oder unverhüllte Einverleibung Belgiens verlangten;
überall hörte man die Frage, ob der König nicht durch übermäßige Geduld
den galliſchen Hochmuth gradezu herausfordere. Unter den Eindrücken
dieſer rheiniſchen Befürchtungen verfaßte Arndt zu Anfang des Jahres
ſeine Flugſchrift: Die Frage über die Niederlande und die Rheinlande —
ein Büchlein, das allein ſchon hätte genügen ſollen den treuen Mann von
dem Verdachte des Demagogenthums zu reinigen. „Wir hatten das
Füchslein vor ſechzehn Jahren in den Eiſen, und es war mit Schwanz
und Klauen feſt“ — ſo begann er ſeine grelle Schilderung der insge-
heim bohrenden und wühlenden franzöſiſchen Politik; freimüthig hielt er
den deutſchen Liberalen ihre wälſche Verbildung vor. Königlicher als
ſein König wollte er in der belgiſchen Erhebung nichts weiter ſehen als
ein von Frankreich angezetteltes hölliſches Gaukelſpiel und verlangte durch-
aus, daß die Narren und Narrengenoſſen in Brüſſel zu dem Hauſe
Oranien zurückkehren müßten, ſonſt verfalle Belgien rettungslos der
Herrſchaft Frankreichs. —
Da erfolgte in Paris eine friedliche Wendung, welche deutlich zeigte,
daß die Dinge ſo verzweifelt doch nicht ſtanden. Das Juli-Königthum
begann ſich im Innern zu befeſtigen. Bereits war Lafayette von ſeiner ge-
fährlichen Stellung an der Spitze der Nationalgarde verdrängt. Im März
wurde das Miniſterium der Bewegungspartei geſtürzt, und der Führer
des Juste milieu, Caſimir Perier, trat ans Ruder, ein reicher Kaufherr,
der aus Erfahrung wußte, daß große Geſchäfte durch kleine Schliche
nicht gefördert werden, ein Mann der ſtrengen geſetzlichen Ordnung, ſtolz
und unbiegſam, herriſch genug um zugleich die Ränke des Monarchen
und die Leidenſchaften der Radicalen niederzuzwingen, friedliebend von
Grund aus, aber auch feſt entſchloſſen der Würde ſeines Landes nichts
zu vergeben — Alles in Allem der größte politiſche Charakter unter den
Staatsmännern des Juli-Königthums. Die wüſten Träume der revolu-
tionären Propaganda wies er weit von ſich: die Freiheit ſoll ſtets national
ſein, Frankreichs Blut gehört nur Frankreich an. Den großen Mächten
gegenüber ſprach er ſich beſtimmt und offen aus — ſo weit ein Miniſter
dieſes zwitterhaften Königthums aufrichtig ſein konnte. Bald gewann er
Werther’s Freundſchaft, und der Berliner Hof bekannte, daß „Frankreich
durch ſeine Haltung und ſeine Grundſätze jetzt Vertrauen zu verdienen
beginne.“ Selbſt in Wien und Petersburg wurde die Friedenspolitik des
ehrlichen Bourgeois anerkannt, obgleich bei Metternich immer wieder der
ſtille Groll gegen das Syſtem des Juste milieu durchbrach — gegen
„dieſe rechte Mitte, die ſtets dem Guten feindlich iſt und, wenn ſie das
Böſe nicht offen begünſtigt, ihm doch zu ſchmeicheln ſucht.“*) Eine von
[75]C. Perier.
Wien aus eingeleitete langwierige Verhandlung wegen gleichzeitiger Ab-
rüſtung aller Mächte führte zwar nicht zum Ziele, da ſolche Vorſchläge
an dem natürlichen Selbſtgefühle ſouveräner Staaten nothwendig ſcheitern
müſſen; immerhin bewies ſie, daß die Spannung etwas nachließ.*)
Völlig ehrenhaft und zuverläſſig verfuhr das franzöſiſche Cabinet auch
unter Caſimir Perier’s Leitung nicht, da Talleyrand in London, hinter
dem Rücken des Miniſters doch ſchwerlich ohne Vorwiſſen Ludwig Philipp’s,
auf eigene Fauſt Politik trieb und in geheimnißvollen Andeutungen
die Theilung Belgiens empfahl.
Nachdem die Trennung des niederländiſchen Geſammtſtaates entſchie-
den war, lag es in Preußens Intereſſe, die neue Ordnung der Dinge rück-
haltlos anzuerkennen, den Belgiern raſch zu einem Oberhaupte zu ver-
helfen und alſo dem preußiſchen Staate den entſcheidenden Einfluß in
Brüſſel zu ſichern. Jedoch zu einer ſo kühnen Schwenkung, wie ſie Lord
Palmerſton leichten Herzens vollzogen hatte, konnte ſich König Friedrich
Wilhelm in ſeiner gewiſſenhaften Bedachtſamkeit nicht entſchließen. Er
wollte weder das legitime Recht der oraniſchen Verwandten kurzerhand
bekämpfen, noch mit dem Brüſſeler Congreſſe, der ſeine franzöſiſchen Nei-
gungen ſo unverhohlen bekundet hatte, in Verkehr treten, und am aller-
wenigſten den Bund der Oſtmächte auflockern, deſſen Preußen jetzt mehr
denn je bedurfte. Czar Nikolaus hoffte, trotz Allem was mit ſeiner eigenen
Zuſtimmung geſchehen war, noch immer auf die Wiederherſtellung der
oraniſchen Herrſchaft, und Metternich wagte nicht dem Gefürchteten offen
zu widerſprechen. So geriethen die Oſtmächte alleſammt in eine ſchiefe
Stellung; ſie überließen den Weſtmächten die Vorhand in dem nieder-
ländiſchen Spiele und begnügten ſich, widerwillig, ſchmollend hinzunehmen
was nicht mehr zu ändern war. Während Palmerſton mit van de Weyer
ſich immer enger befreundete, der Bürgerkönig durch ſeine Agenten den
Brüſſeler Congreß bearbeiten ließ, wurde in Berlin der Bevollmächtigte
der belgiſchen Regierung, Baron Behr, durch den Bureaudirector des
Auswärtigen Amts kurzweg abgewieſen, weil zwiſchen Preußen und Bel-
gien keine Beziehungen beſtänden, außer denen, welche die Londoner
Conferenz erſt herzuſtellen ſuche.**)
Nach der vergeblichen Königswahl vom Februar verſuchte Ludwig
Philipp unter der Hand, ſeinem Neffen, dem blutjungen Prinzen Karl
von Neapel, die belgiſche Krone zu verſchaffen, ſtand aber ſogleich davon
ab als er den Unwillen der Oſtmächte bemerkte.***) Inzwiſchen übernahm
der Baron Surlet de Chokier die Regentſchaft, ein alter Clericaler, der
ſeit Jahren mit den Oraniern verfeindet, ſich doch zu der belgiſchen Er-
hebung kein Herz faſſen wollte; er hatte in ſeiner Jugend die brabantiſche
[76]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Revolution erlebt und befürchtete, auch dieſer neue Aufſtand werde wieder
mit der Einverleibung in Frankreich endigen. Seine Räthe Lebeau,
Devaux und der junge Nothomb dachten muthiger; ſie verfielen auf den
glücklichen Gedanken, dem Wittwer der Prinzeſſin von Wales, dem Prinzen
Leopold von Coburg die Krone anzubieten. Es konnte nicht fehlen, daß
der engliſche Hof dieſer Candidatur zuſtimmte. Den Oſtmächten erſchien
der deutſche Prinz nicht unannehmbar; auch Ludwig Philipp ſtimmte bald
zu und benutzte die Gelegenheit zu einem vortheilhaften Geſchäfte, indem
er dem Coburger die Hand ſeiner Tochter Luiſe verſprach. Der kluge,
ehrgeizige Prinz war bereit dem Rufe zu folgen und bewährte ſogleich
ſeine diplomatiſche Meiſterſchaft. Er ſah ein, daß Belgien ohne Verſtän-
digung mit der Londoner Conferenz ſeine Unabhängigkeit nicht behaupten
konnte. Es gelang ihm, erſt Palmerſton, dann auch die anderen Bevoll-
mächtigten zu überreden, und am 27. Juni entſchloß ſich die Conferenz,
ihre früheren Beſchlüſſe über die Theilung des Gebiets und der Staats-
ſchuld zu Gunſten Belgiens etwas abzuändern. Die neuen Vorſchläge
für die Friedenspräliminarien wurden in Achtzehn Artikeln zuſammen-
gefaßt und von dem belgiſchen Congreſſe angenommen. Nunmehr durfte
Leopold mit einiger Sicherheit auf die Anerkennung der großen Mächte
hoffen; am 21. Juli zog er als König in Brüſſel ein.
König Wilhelm empfand das Alles wie eine perſönliche Beſchimpfung.
Die Achtzehn Artikel waren ohne Vorwiſſen der holländiſchen Bevollmächtig-
ten zwiſchen Palmerſton, Leopold und den Belgiern verabredet und von den
Geſandten der Oſtmächte nur darum gutgeheißen worden, weil dieſe immer
noch vertrauensvoll auf Englands Freundſchaft bauten, den britiſchen
Miniſter nicht ganz in Frankreichs Arme treiben wollten. Um die Zu-
ſtimmung des Oraniers nachträglich zu erwirken, ſendete die Conferenz
den Freiherrn von Weſſenberg nach dem Haag. Widerwillig unterzog ſich
der Oeſterreicher dem peinlichen Auftrage; er wußte, daß Kaiſer Franz
und Metternich dies neue Zugeſtändniß an den belgiſchen Aufruhr ſehr
ungern ſahen, und ſchrieb entſchuldigend: „Wir haben gegen uns die
Zeit, die Ereigniſſe, Frankreich und ſelbſt England.“ Die Sendung blieb
erfolglos, wie Metternich vorausgeſehen.*) König Wilhelm verwarf nicht
nur die Achtzehn Artikel, er entſchloß ſich auch zu einem neuen Waffen-
gange um ſchlimmſten Falles die Ehre ſeiner Fahnen wiederherzuſtellen.
Am 1. Auguſt ließ er den Waffenſtillſtand kündigen. In einem Feldzuge
von zehn Tagen warf ſein tapferes Heer, unter der Führung des Prinzen
von Oranien und des Herzogs Bernhard von Weimar, die erbärmlichen
belgiſchen Milizen gänzlich über den Haufen; nach dem Gefechte von
Haſſelt war der neue König ſelbſt in Gefahr gefangen zu werden. Da
[77]Feldzug der Holländer in Belgien.
kam Hilfe aus Frankreich. Leopold hatte ſich alsbald nach London und
Paris gewendet und von Ludwig Philipp die Antwort erhalten: die Fran-
zoſen würden ſogleich zur Stelle ſein um Belgiens Neutralität und „den
durch den König der Niederlande ſo thöricht geſtörten Frieden“ zu ſichern;
„meine beiden älteſten Söhne, auch jener, für den ich die Krone, welche
Sie tragen, nicht angenommen habe, werden das Heer begleiten.“*)
So gab der Staat, der den Grundſatz der Nicht-Intervention aufge-
ſtellt, ſelber das Beiſpiel einſeitiger Einmiſchung. Die Phraſe ward zu
Schanden vor der Macht der Thatſachen; denn duldete Ludwig Philipp
die militäriſche Ueberwältigung Belgiens, die doch nicht mehr zu einer
dauernden Unterwerfung führen konnte, ſo war der Thron der Orleans
unzweifelhaft verloren, der Radicalismus kam in Paris obenauf und
entfeſſelte den allgemeinen Krieg. Während die engliſche Flotte ſich bei
Dover verſammelte, rückte Marſchall Gerard mit 40000 Mann in Belgien
ein. Am 12. Auguſt erſchien der Herzog von Orleans in Brüſſel. Auf
die erſte Aufforderung der Franzoſen hielten die Holländer in ihrem
Siegeszuge inne und räumten das belgiſche Gebiet. Zugleich ließ Perier
nach allen Seiten hin beſchwichtigende Erklärungen ergehen: Frankreich
handle ohne Hintergedanken, nur im Namen der fünf Mächte, da die
Zeit nicht erlaubt habe die Londoner Conferenz ſelber zu befragen; das
möge peinlich ſein „für die großmüthige Seele des Königs von Preußen“,
aber in Paris wie in Berlin wolle man daſſelbe: die Neutralität Belgiens
und den allgemeinen Frieden; auch werde das franzöſiſche Heer weder
holländiſches Gebiet betreten noch ſich der preußiſchen Grenze nähern.**)
Die Verſicherungen des Miniſters waren ehrlich gemeint; doch anders
dachten die franzöſiſchen Truppen. Hier träumte man nur von einem
großen Kriege; General Lawoeſtine trat gegen die Holländer, als er die
Einſtellung der Feindſeligkeiten verlangte, anmaßend und höhniſch auf;***)
ſeine Offiziere meinten in den Reihen der Holländer ſchon preußiſche
Bataillone zu bemerken und forderten laut Vergeltung für Waterloo.
Das preußiſche Cabinet ward durch den Friedensbruch der Holländer
peinlich überraſcht. König Wilhelm ſetzte ſich dadurch offenbar ins Un-
recht, da er ja ſelber die Vermittlung der Londoner Conferenz angerufen
und den Waffenſtillſtand angenommen hatte. Darum konnte Preußen
ein Unternehmen, das die ganze mühſame Friedensarbeit der Conferenz
wieder in Frage ſtellte, nicht unterſtützen; ſein Militärbevollmächtigter,
Oberſtleutnant v. Scharnhorſt, der im Hauptquartiere des Prinzen von
Oranien dem kurzen Feldzuge zuſah, hatte einen ſchweren Stand, er
durfte den klagenden Holländern durchaus keine Hilfe in Ausſicht ſtellen.
[78]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Aber noch weit weniger wollte Preußen durch bewaffnetes Einſchreiten
dem Friedensbrecher Halt gebieten; dieſe Frage ward in Berlin nicht
einmal aufgeworfen, denn der geſammte Hof ſtand mit ſeinen Herzens-
wünſchen auf der Seite des Oraniers. So ließ man denn unwillig die
franzöſiſche Einmiſchung geſchehen, zumal da ſie überraſchend ſchnell er-
folgte und rechtzeitig nicht mehr zu verhindern war. Ancillon klagte ent-
rüſtet: „Frankreich hat ohne Scham und ohne Rückhalt eine empörende
Parteilichkeit für Belgien gezeigt.“ Sobald die Waffenruhe wieder her-
geſtellt war, forderte König Friedrich Wilhelm auf der Londoner Con-
ferenz ſehr nachdrücklich den ungeſäumten Abmarſch der Franzoſen; er
drohte nöthigenfalls ſeine rheiniſchen Regimenter einrücken zu laſſen.
Da alle Mächte das Verlangen Preußens unterſtützten, ſo ſah ſich Frank-
reich gezwungen diesmal Wort zu halten.*) Wenige Tage nach dem
Einmarſch begann ſchon der Rückzug der franzöſiſchen Truppen, zu Ende
Septembers war Belgien wieder geräumt. Die Pariſer tobten über die
erlittene Schmach; alleſammt waren ſie der beſcheidenen Meinung, daß
Belgien durch einen leichten Handſtreich mit Frankreich hätte vereinigt
werden müſſen. Marſchall Gerard wurde daheim wie ein Landesverräther
empfangen; er hatte, als ſeine Tapferen auf dem Schlachtfelde von Belle
Alliance dem niederländiſchen Löwendenkmal den Schwanz abzuhacken
begannen, dies löbliche Unternehmen verboten, und nun jammerte die
Preſſe des Volkes, das an der Spitze der Civiliſation zu marſchiren
wähnte, wie aus einem Munde: nicht einmal der Löwe von Waterloo
iſt zerſtört!
In Wahrheit hatte Perier’s ruhige Entſchloſſenheit den Oſtmächten
eine empfindliche Schlappe beigebracht. Frankreich allein war, ohne daß
die anderen Mächte zu widerſtehen wagten, thatkräftig für den Frieden
eingetreten, ſein Bürgerkönig erſchien, für den Augenblick mindeſtens, als
der mächtige Schirmherr Belgiens. Und was für Ränke ſpann dieſer
Orleans wieder hinter dem Rücken ſeines Miniſters. In demſelben
Augenblicke, da er zu Belgiens Gunſten die heilige Nichteinmiſchungslehre
mit Füßen trat, holte er ſchon aus zum Todesſtoße wider ſeinen eigenen
Schützling. Beſtimmter, zudringlicher als zuvor enthüllte Talleyrand jetzt
dem preußiſchen Geſandten ſeine begehrlichen Anſchläge: der klägliche Ver-
lauf dieſes Feldzugs habe doch zur Genüge bewieſen, daß Belgien nicht
durch eigene Kraft beſtehen könne; am einfachſten alſo, wenn das Land
zwiſchen Preußen, Holland und Frankreich aufgetheilt würde; England
ſei leicht zu gewinnen, wenn man in Antwerpen und Oſtende Freihäfen
einrichte. Palmerſton, der Andere ſtets nach ſeinem eigenen Charakter
beurtheilte, argwöhnte Anfangs, daß Bülow dieſen Lockungen ein williges
Ohr leihe. Der Preuße aber lehnte Alles rundweg ab; wie hätte er
[79]Die 24 Artikel der Londoner Conferenz.
ſich unterſtehen dürfen, ſeinen König zur Beraubung des Hauſes Oranien
zu verleiten!
Durch alle dieſe Zettelungen wurde die Kriegsgefahr wieder näher
gerückt. Czar Nikolaus knirſchte vor Zorn, als er den Einmarſch der
Franzoſen erfuhr. Er ließ den deutſchen Mächten feierlich verſichern —
dies ſeine ſeine eigenen Worte —: augenblicklich werde ſein Reich noch
durch innere Verlegenheiten, durch den polniſchen Krieg und die Cholera
gehemmt; aber „wenn ihm auch nur ein einziges Regiment zur Verfügung
bliebe, ſo würde er es ſenden um in den Reihen des öſterreichiſchen und
preußiſchen Heeres zu kämpfen, damit im Angeſichte Europas die unzer-
trennliche Verbindung der drei Mächte des Feſtlandes ſich bewähre.“*)
Als Rußland bald darauf durch den Fall von Warſchau wieder freie
Hand erhielt, ſchlug Metternich den Oſtmächten vor, ihr altes Bündniß
enger zu ſchließen, einen ſtändigen diplomatiſchen Ausſchuß, ein centre
d’entente zur Leitung der gemeinſamen Politik einzuſetzen, da auf Eng-
land doch nicht mehr zu rechnen ſei.**) Der Plan gelangte jedoch nicht
zur Reife. Das Friedensbedürfniß war überall zu ſtark; alle Mächte
wünſchten den leidigen belgiſchen Handel endlich aus der Welt zu ſchaffen.
Die Londoner Conferenz nahm ihre Verſöhnungsverſuche wieder auf,
jetzt aber mit etwas veränderter Geſinnung. Die Kriegsthaten des hollän-
diſchen Heeres übten doch ihre Wirkung, Belgien war durch ſeine offen-
barte Schwäche tief in der allgemeinen Achtung geſunken, die Oſtmächte
beſtanden darauf, daß der unbeugſame Oranier nicht allzu hart behandelt
würde.***) Am 14. October ſtellte die Conferenz in Vierundzwanzig
Artikeln neue Friedenspräliminarien feſt, welche für Holland günſtiger
lauteten als die Achtzehn Artikel: der Streit über die Grenzen ſollte da-
durch geſchlichtet werden, daß Belgien einen Theil der Provinz Limburg
abtrat und dafür die weſtliche Hälfte von Luxemburg eintauſchte — immer
mit Vorbehalt der Rechte des Deutſchen Bundes. Die Belgier murrten;
ihr König aber ſah weiter, er verkannte nicht, daß ſein ungerüſteter Staat
keinen Widerſtand wagen durfte, und nahm die Vierundzwanzig Artikel
an. König Wilhelm hingegen hatte aus den Erfolgen ſeines Heeres neuen
Muth geſchöpft und ließ in Berlin durch Prinz Albrecht von Preußen
ſchroff erklären, „den ſchmachvollen Untergang Hollands“ könne er nimmer-
mehr genehmigen. Dabei blieb er, auch als die preußiſche Regierung ihm
in einer ausführlichen Denkſchrift vorhielt, daß Holland nach den Vier-
undzwanzig Artikeln noch immer ein größeres Gebiet behalte als zu den
Zeiten der Republik.†) Der kluge Coburger hatte alſo nochmals die großen
[80]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Mächte auf ſeiner Seite. Am 15. November ward ihm der Triumph,
daß die Bevollmächtigten der Londoner Conferenz mit ſeinem Geſandten
van de Weyer einen Vertrag ſchloſſen und das Königreich Belgien, auf
Grund der Vierundzwanzig Artikel, förmlich anerkannten. Im nächſten
Monat verſtändigte er ſich ſodann mit den Mächten des alten Vierbundes
über die längſt beabſichtigte Schleifung von fünf feſten Plätzen an der
Südgrenze. Frankreich wurde von dieſer Verhandlung ausgeſchloſſen und
ſeine lärmenden Klagen über den „infamen“ Feſtungsvertrag blieben ohne
Folgen. —
Alſo trat, von den großen Mächten mittelbar anerkannt, die belgiſche
Verfaſſung in Wirkſamkeit. Sie beruhte, wie es nicht anders ſein konnte,
auf dem Grundſatze der Volksſouveränität, da der neue Staat ſein Daſein
einer Revolution verdankte und zudem die alten Freiheiten der Joyeuses
entrées, welche den Brabantern ſogar das Recht des Widerſtandes ge-
währt hatten, noch in friſcher Erinnerung ſtanden. „Alle Gewalten gehen
von der Nation aus,“ ſo beſtimmte ihr wichtigſter Artikel. Jedes hiſto-
riſchen Rechtes baar regierte der König nur kraft Vertrages, durch den
Willen des Volks, er mußte ſich alljährlich ſämmtliche Steuern ſowie den
ganzen Beſtand des Heeres von den Kammern neu bewilligen laſſen und
er konnte ſolche Abhängigkeit ertragen, weil in dieſem neutralen Mittel-
ſtaate weder eine große auswärtige Politik noch ein ernſthaftes Heerweſen
möglich war. Jene republikaniſche Doctrin Rotteck’s und ſeiner Schüler,
welche den conſtitutionellen König aller ſelbſtändigen Gewalt entkleidete,
war hier mithin noch folgerichtiger durchgeführt als in Frankreichs neuer
Charte. Obgleich das conſtitutionelle Leben in dem fruchtbaren Erdreich
altniederländiſcher Gemeindefreiheit tiefere Wurzeln ſchlagen konnte als
auf dem ſteinigen Boden des napoleoniſchen Verwaltungsdespotismus,
ſo ſchuf die Revolution doch in Belgien wie in Frankreich nur die Claſſen-
herrſchaft des reichen Bürgerthums. Ein hoher Cenſus ſchloß die Maſſen
vom Wahlrechte aus, ſo daß in den Dörfern erſt auf 104 Einwohner
ein Wähler kam; die erſte Kammer, der Senat, vertrat ausſchließlich das
Groß-Capital, im ganzen Lande waren nur 403 Männer für dieſe oligar-
chiſche Körperſchaft wählbar.
Mit der Bourgeoiſie aber theilte ſich der römiſche Clerus in die
Beherrſchung des Staates — und hierin lag die europäiſche Bedeutung
des neuen Gemeinweſens. Wenn Richelieu einſt gehofft hatte, aus den
ſpaniſchen Niederlanden eine katholiſche Republik zu bilden, die dem ſtreit-
baren Calvinismus der Holländer die Wage halten ſollte, ſo ging der
Traum des Cardinals jetzt herrlich in Erfüllung. Seit dem Herbſt 1830
ließ Lamennais zu Paris im Verein mit Pater Lacordaire und dem Grafen
Montalembert die Zeitſchrift l’Avenir erſcheinen, ein Blatt, das mit
feuriger Beredſamkeit zugleich die römiſche Weltherrſchaft und eine faſt
ſchrankenloſe politiſche Freiheit vertheidigte. Die Leitartikel des Avenir
[81]Die belgiſche Verfaſſung.
fanden nirgends eifrigere Leſer als in den Reihen des Brüſſeler Con-
greſſes; genau nach den Weiſungen dieſes neufranzöſiſchen kirchlichen Radi-
calismus wurde der Kirche in Belgien eine Macht eingeräumt, wie ſie
ihr noch nie ein europäiſcher Staat zugeſtanden hatte. Nothomb und
ſeine liberalen Freunde wähnten damit nur dem gerühmten Vorbilde des
amerikaniſchen voluntary system zu folgen. In Wahrheit begnügte ſich
die Kirche in Belgien keineswegs wie in Nordamerika mit der beſcheidenen
Stellung eines Privatvereines; ſie blieb vielmehr im Beſitze faſt aller der
Ehren und Vorrechte, welche ſie den ſpaniſchen Königen verdankte, und
ließ ſich vom Staate die Gehalte ihrer Prieſter bezahlen. Der Staat
aber verzichtete auf jedes Recht der Kirchenhoheit, ſelbſt auf die Mitwirkung
bei Biſchofswahlen. Als zwei gleichberechtigte Souveräne, in ungelöſtem
Dualismus, ſtanden weltliche und geiſtliche Gewalt nebeneinander; und
da ein völlig religionsloſer Staat in Europa ſich nicht zu halten vermag,
ſo begann der Clerus alsbald in das politiſche Gebiet überzugreifen. Ge-
deckt durch das modiſche Schlagwort der Unterrichtsfreiheit bemächtigte er
ſich faſt des geſammten Volksſchulweſens, und mit ſolchem Erfolge, daß
in dieſem Lande uralter Cultur die Kunſtfertigkeit des Leſens und Schrei-
bens von Jahr zu Jahr ſeltener wurde. Die ſchwache Staatsgewalt
ſtörte ihn wenig; ein evangeliſcher König mußte, wie der kluge Nuntius
Capaccini ſogleich vorausſagte, inmitten eines rein katholiſchen Volkes jeden
Streit mit der Curie ängſtlich vermeiden. Der belgiſche Staat glich einem
jener ſpaniſchen Dome, wo die Cleriſei, durch die hohe Wand des Retablo
von den Laien abgetrennt, das Mittelſchiff ſammt dem hohen Chore allein
beſetzt hält, die Gemeinde nur aus den Seitenſchiffen einen Blick nach
dem fernen Altar werfen darf.
Sobald die Folgen der neuen Kirchenfreiheit offenbar wurden, begann
die Union, welche den belgiſchen Staat geſchaffen hatte, ſich aufzulöſen.
Clericale und Liberale traten in zwei feindliche Lager auseinander, beide
Parteien faſt gleich ſtark, die eine mächtig durch das gläubige Landvolk
und eine Unzahl kirchlicher Vereine, die andere vorherrſchend in den
Städten und unterſtützt durch die Freimaurerei, die hier noch weit mehr
als in anderen katholiſchen Ländern eine politiſche Färbung annahm.
Das ewige Auf und Ab dieſer beiden Parteien, der Streit zwiſchen der
Loge und dem Beichtſtuhl füllte fortan die Geſchichte Belgiens aus. Un-
kirchlich, einſeitig politiſch wie die Bildung der Zeit war, erregte dieſer
krankhafte, unverſöhnliche Parteikampf bei den Nachbarvölkern kein Be-
fremden. Man hielt den Gegenſatz für harmlos, weil die Belgier alle-
ſammt treu zu der Verfaſſung ſtanden, und bemerkte nicht, daß die beiden
Parteien in ihrer ſittlichen Weltanſchauung ſo weit von einander abwichen
wie das neunzehnte vom dreizehnten Jahrhundert. Dies Land der
Prieſtermacht wurde bald überall als der Muſterſtaat conſtitutioneller
Freiheit geprieſen, da ſein Grundgeſetz alle Kernſätze des Vernunftrechts
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 6
[82]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
enthielt und die Parteien in erfriſchendem Wechſel — ſo lautete der be-
liebte Zeitungsausdruck — ſich im Genuſſe der Herrſchaft ablöſten. Unter
dem Schutze einer klugen Handelspolitik nahm der Gewerbfleiß einen
mächtigen Aufſchwung. Die beiden führenden Stände, Bourgeoiſie und
Clerus, hatten ihr Ziel vorläufig erreicht, die hart bedrückten Arbeiter aber
in den Bergwerken und Fabriken waren noch nicht zum Bewußtſein ihrer
elenden Lage gelangt. So verlebte der junge Staat lange Jahre in un-
geſtörter Ruhe, und alle Welt glaubte, daß er dies Glück allein den
Wunderkräften ſeiner Muſterverfaſſung verdanke. Vornehmlich auf den
ehrgeizigen Clerus und das erſtarkende Bürgerthum der preußiſchen
Rheinlande übten die Zuſtände des Nachbarlandes einen verführeriſchen
Zauber, und — ſo ſtark war der weltbürgerliche Zug der Zeit, ſo ſchwach
ihr Verſtändniß für die hiſtoriſche Eigenart der Staaten — zuweilen
hörte man hier ſchon die naive Frage: ob das waffengewaltige paritätiſche
Preußen nicht in den Verfaſſungsformen des neutralen katholiſchen Bel-
giens ſein Heil ſuchen ſolle?
Daß in Belgiens demokratiſcher Verfaſſung die Krone noch einiges
Anſehen behauptete, war allein das Verdienſt des neuen Königs. Leopold
ſtand noch in der Blüthe des Mannesalters, und wie viele ſeltſame
Wandlungen lagen ſchon hinter ihm! Gewandter, raſtloſer, liſtiger als
in dem Leben dieſes coburgiſchen Ulyſſes hat ſich der alte abenteuernde
Weltbürgerſinn des deutſchen Kleinfürſtenſtandes nie gezeigt. Viermal
wechſelte er wohlgemuth ſein Vaterland; aus einem Deutſchen ward er
ein Ruſſe, dann Engländer, dann Grieche, ſchließlich ein Belgier, und
es lag nur an den Umſtänden, daß er nicht auch noch zum Spanier
oder Braſilianer wurde. Selbſt ſeine Mutterſprache verlernte er nach
und nach, ſo daß er im Alter nur noch ein mit engliſchen und fran-
zöſiſchen Brocken verſetztes Deutſch ſchreiben konnte. Als ruſſiſcher General
nahm er rühmlichen Antheil an den Schlachten des Befreiungskrieges
und beſorgte ſodann auf dem Wiener Congreſſe umſichtig die Geſchäfte
des Coburgiſchen Hauſes. Nachher errang er die Hand der Prinzeſſin
von Wales und dachte dereinſt als Prinz-Gemahl die britiſche Politik
zu leiten; als dieſe ſtolzen Träume durch den Tod ſeiner Gemahlin
zerſtört wurden, behauptete er ſich am engliſchen Hofe in geachteter
Stellung trotz der Ungunſt Georg’s IV. Da beriefen ihn die Griechen
auf ihren Thron; ſofort war er bereit und begann ſchon ſich in die
neue Rolle einzuleben. Nach längerem Zaudern zog er jedoch ſein Ver-
ſprechen zurück, weil er vorausſah, daß Griechenland in ſeinen engen
Grenzen ſich nicht kräftig entwickeln konnte, und weil er insgeheim hoffte,
in England als Rathgeber ſeiner Nichte Victoria einſt noch größere Erfolge
zu erringen. Auch dieſe immerhin unſicheren Hoffnungen wurden wieder
aufgegeben, als der Ruf aus Belgien kam, der in der That den rechten
Mann an die rechte Stelle führte. Noch bevor Leopold den Thron
[83]König Leopold.
beſtieg, rettete er durch ſeine kluge Fügſamkeit gegen die Londoner Con-
ferenzen den belgiſchen Staat vom ſicheren Verderben, und mit der
gleichen diplomatiſchen Meiſterſchaft verſtand er während eines Menſchen-
alters zwiſchen den beiden großen Parteien hindurchzuſteuern, ſo daß er
ſich nicht nur perſönlich den Dank der Belgier verdiente, ſondern ſogar
ein ſchwaches Gefühl dynaſtiſcher Anhänglichkeit in dieſem Staate von
geſtern wachrief. Als Freimaurer und alter Freund der Whigs den
Liberalen willkommen, gewann er auch das Vertrauen der Clericalen und
nahm ſelbſt den eifernden Papſt Gregor XVI. für ſich ein. Obwohl er
die Verfaſſung gewiſſenhaft einhielt und ſeine Miniſterien je nach den
wechſelnden Abſtimmungen der Kammern bereitwillig veränderte, blieb er
ſich doch ſeiner Ueberlegenheit ſtets bewußt und ſagte zu Vertrauten:
„für Belgien wie es gegenwärtig iſt, bin ich der Staat.“
Alle Fäden der auswärtigen wie der inneren Politik des Landes
liefen zuſammen im Schloſſe von Laeken, wo dieſer Stille bedachtſam
ſeine Netze wob — eine hohe, ſchlanke Geſtalt mit blaſſen, vornehmen
Zügen, dunklen ſchwermüthigen Augen und glatt anliegender ſchwarzer
Perrücke, leiſe im Sprechen, langſam, müde in den Bewegungen, ver-
ſchwiegen in Allem, im Geſchäft ſo gut wie in der Liederlichkeit. In
England nannte man ihn den Monſieur Peu-à-peu, den Marquis Tout-
doucement; an den deutſchen Höfen, die ihm allerdings nicht wohlwollten,
hieß er Leopold Schleicher. Stundenlang konnte er, ſtumm über ſeinen
Plänen brütend, vor ſeinem Schildpattkäſtchen Goldfäden drieſeln, derweil
man dem gewiegten Kenner Sonaten vorſpielte oder aus gelehrten Werken,
aus Memoiren, aus Romanen vorlas. Eine höhere Sittlichkeit als den
klug rechnenden Weltſinn kannte er nicht; als einer ſeiner Neffen ein-
geſegnet wurde, warnte er ihn vor dem Egoismus alſo: „es iſt im In-
tereſſe vieler Leute, dieſe höchſt unliebenswürdige Eigenſchaft bei einem
jungen Fürſten auszubilden und ſpäterhin als eine ergiebige Mine zu
exploitiren.“ Tapfer auf dem Schlachtfelde, aber im täglichen Leben
ängſtlich auf ſein Leibeswohl bedacht, verſtand er auch die Kunſt des
Kaufmanns aus dem Grunde. Um politiſche Freunde zu gewinnen,
bezwang er zuweilen ſeine Sparſamkeit und ſpendete mit vollen Händen;
durch ſeine Verbindung mit der Börſe brachte er dann die Verluſte wie-
der ein und ſammelte das große Vermögen an, deſſen die demokratiſche
Krone in dieſem gewerbfleißigen Volke bedurfte. Dergeſtalt kam mit den
beiden Bürgerkönigen der Juli-Revolution, mit den Häuſern Orleans und
Coburg ein neuer Menſchenſchlag in die Reihen des europäiſchen hohen
Adels: geriebene Geſchäftsleute mit dem Kurszettel in der Taſche, ſchlicht
und unſcheinbar in ihrem Auftreten, Günſtlinge der Fortuna gleich den
Tyrannen des Cinquecento, durchaus unempfänglich für die Gefühle der
Ritterlichkeit und der hiſtoriſchen Pietät, aber im Grunde des Herzens
ganz ebenſo hochmüthig wie der ariſtokratiſche Fürſtenſtand der alten Zeit.
6*
[84]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Als Leopold gen Brüſſel aufbrach, gedachte er Wilhelm’s III. von
Oranien und ſeiner kühnen Fahrt nach England. Gleich jenem gefeierten
„großen Patrioten der Welt“ hoffte er als ein europäiſcher Staatsmann
zugleich den Parlamentarismus zu retten und das Gleichgewicht der
Mächte zu erhalten. Freilich blieb er hinter ſeinem genialen Vorbilde eben-
ſo weit zurück, wie das kleine Belgien hinter den verbündeten Seemächten
der wilhelminiſchen Tage. Brüſſel ward wie einſt der Haag eine Stern-
warte der Diplomatie; eine Menge amtlicher und perſönlicher Agenten
unterichtete den Coburger über den Wandel der großen Geſtirne am
europäiſchen Himmel. Doch eine wahrhaft ſelbſtändige Politik wie einſt
der große Oranier konnte der König von Belgien nicht führen. Er ſah
ſich auf den Schutz der Weſtmächte angewieſen und ward darum die
Klammer, die ihren Bund zuſammenhielt; wie viele kleine Mißverſtänd-
niſſe zwiſchen den beiden ihm gleich nahe verwandten Höfen hat er be-
hutſam vermittelnd in der Stille beigelegt. Da er indeß von Frankreich
Alles, von England nichts zu fürchten hatte, auch ſeine Neigung ihn
mehr zu dem Heimathlande ſeiner erſten Gemahlin hinzog, ſo entſprach
ſeine Haltung in der Regel dem engliſchen Intereſſe. Es war Leopold’s
Werk, daß Belgien nicht unter den beherrſchenden Einfluß Frankreichs
gerieth. Späterhin trat er auch zu Deutſchland in freundlichere Be-
ziehungen, weil die in der Revolution zurückgedrängten Vlamen wieder
erſtarkten und der ſchwunghafte Handelsverkehr mit dem Oſten nicht
vernachläſſigt werden durfte. Mit der natürlichen Selbſtüberſchätzung
ſchwacher Völker rühmten ſich die Belgier fortan, daß ihr Land den
Mittelpunkt der Staatengeſellſchaft bilde. Wie vormals die Holländer,
pflegten ſie die Theorie des europäiſchen Völkerrechts, gleichſam als eine
nationale Wiſſenſchaft, mit löblichem Eifer, aber auch mit einer philan-
thropiſchen Einſeitigkeit, welche deutlich zeigte, daß waffenloſe Nationen
die harten Machtfragen des Völkerverkehrs nicht unbefangen würdigen
können. Im Grunde war der belgiſche Staat, ſo lange ſein erſter König
regierte, nicht wahrhaft neutral wie die Schweiz, ſondern, ſeiner Beſtim-
mung zuwider, der parteiiſche Bundesgenoſſe Englands, und mit gutem
Rechte ſagte Lord Palmerſton: Belgien iſt meine Tochter.
Die kleine Krone genügte dem Ehrgeiz Leopold’s mit nichten; er
benutzte ſie zugleich als ein Mittel für die weltumfaſſenden Pläne ſeiner
Familienpolitik. Dieſer kühle Kopf, der ſo gleichmüthig über das legitime
Recht anderer Fürſten hinwegſah und weder durch religiöſe noch durch
nationale Empfindungen je beunruhigt wurde, kannte nur ein einziges
Vorurtheil: den Aberglauben an den hiſtoriſchen Beruf des Coburgiſchen
Hauſes; und in dieſer fataliſtiſchen Zuverſicht lag eine Kraft, welche große
Erfolge verbürgte. Ganz ſo blind wie einſt die habsburgiſchen Ferdinande
und Leopolde baute er auf den beſonderen Schutz der Vorſehung für ſein
auserwähltes Geſchlecht. Obgleich die Dynaſtie außer ihm ſelber nur
[85]Coburgiſche Hauspolitik.
noch ein politiſches Talent beſaß — den jungen Prinzen Albert — ſo
bezweifelte er doch niemals, daß jedes Volk ſich glücklich ſchätzen müſſe von
einem Coburger beherrſcht zu werden. Daß ſein Haus jemals Unrecht
haben könne, kam ihm ebenſo wenig in den Sinn wie jenen alten Habs-
burgern. Wer das Unglück hatte die Wege der Coburger zu durchkreuzen
galt ihm einfach als ein Böſewicht — ſo Hardenberg, weil dieſer „Treu-
loſe“ die Abtretung des preußiſchen Henneberg, welche ihm der Herzog
von Coburg ohne jeden haltbaren Rechtsgrund zumuthete, gebührender-
maßen verweigerte.*)
Der erſte Grund zu der neuen Herrlichkeit des erneſtiniſchen Hauſes
wurde ſchon während Leopold’s Kinderjahren gelegt, als ſeine Mutter
auf einen Wink der Czarin Katharina ihre drei lieblichen Töchter zur
gefälligen Auswahl nach Petersburg brachte und der rohe Großfürſt Con-
ſtantin der jüngſten Schweſter ſein Schnupftuch zuwarf. Die friedloſe
Ehe mußte zwar bald wieder getrennt werden, doch ſie bahnte dem Bruder
Leopold den Weg in die große Welt. Und als er nun ſelber erſt die
engliſche, dann die franzöſiſche Prinzeſſin freite, da hieß es an den Höfen,
das ſprichwörtliche Hochzeitsglück der Habsburger ſei jetzt auf das Cobur-
giſche Haus übergegangen. Unterdeſſen heirathete ſein Bruder Ferdinand
die reiche Erbtochter des Hauſes Kohary; ohne Bedenken ließ dieſer Sohn
des erlauchten Bekennergeſchlechtes der Proteſtanten ſeine Kinder katholiſch
taufen, wie auch Leopold’s Kinder in Belgien im römiſchen Glauben erzogen
werden mußten. Damit eröffnete ſich die tröſtliche Ausſicht, auch die bigotten
iberiſchen Völker nach Bedarf mit Coburgern zu verſorgen. In England aber
gelang dem unermüdlichen Eheſtifter ſein glücklichſter Griff. Seine Schweſter
Victoria, die gute und liebenswürdige Fürſtin Wittwe von Leiningen ver-
mählte ſich mit dem Herzoge von Kent und wurde die Mutter der Thron-
folgerin von Großbritannien; ſo blieb noch möglich, daß die Stellung
eines engliſchen Prinz-Gemahls, welche Leopold einſt für ſich ſelbſt erhofft,
vielleicht doch einem Coburger zufallen konnte. Von großen Gedanken
war in dieſer Familienpolitik nichts zu ſpüren; gut bürgerlich ging ſie
nur darauf aus, die Angehörigen vortheilhaft unterzubringen, obgleich
es natürlich nicht an feilen Federn fehlte, welche in Zeitungen und
Büchern bewieſen, daß die wahre conſtitutionelle Freiheit am ſicherſten
unter coburgiſchem Scepter gedeihe. Zum Heile Europas konnte die
große ſächſiſche Hausmacht, welche jetzt ſo plötzlich wie einſt die habsbur-
giſche in die Höhe ſchoß, ſich nicht wie jene zu einem geſchloſſenen Welt-
reiche ausgeſtalten. Indeß ward die geheime Wirkſamkeit der weitver-
zweigten coburgiſchen Zettelungen und Klitterungen von Jahr zu Jahr
ſtärker, zumal an unſeren kleinen Höfen, und ſie brachte dem deutſchen
Volke ſelten Segen. Dem unſicheren Selbſtgefühle der Nation gereichte
[86]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
es auch nicht zur Kräftigung, daß die conſtitutionellen Doctrinäre ſich
gewöhnten, zu dem vaterlandloſen Leopold wie zu einem Fürſten-Ideal
emporzuſchauen.
In allen ſeinen Wandlungen ſtand dem Führer der Coburger zuerſt
als vertrauter Arzt, dann als diplomatiſcher Rathgeber ſein Landsmann
C. F. v. Stockmar zur Seite, ein hochbegabter Staatsmann, klar, be-
ſtimmt, weit vorausſchauend, kühner und gedankenreicher als Leopold
ſelber. Während der Londoner Conferenzen führte er die entſcheidenden
Verhandlungen mit den Belgiern, und immer gab er den Ausſchlag,
wenn ſein bedenklicher königlicher Freund einen raſchen Entſchluß nicht
finden konnte. Seine politiſchen Anſichten hatte er ſich in langjährigem
Verkehre mit den Whigs und den engliſchen Radicalen gebildet; reich
und unabhängig, fragte er nicht nach Gunſt und ſparte ſobald es noth
that die freimüthigen Vorwürfe nicht. Sein Ehrgeiz war in der Stille
zu wirken; der ſchmächtige Mann mit den ſchönen, klugen dunklen Augen
begnügte ſich gern mit einer Stelle hinter den Kuliſſen und hörte mit
dem überlegenen Lächeln des Eingeweihten zu, wenn Andere ſich ſeiner
eigenen Gedanken rühmten. In ſcharfem Gegenſatze zu ſeinem weltbürger-
lichen Herrn blieb er in der Fremde ſtets ein deutſcher Patriot, warm
begeiſtert für die Idee der nationalen Einheit; die Erbärmlichkeit unſerer
Kleinſtaaterei verachtete er gründlich, kein Mittel ſchien ihm zu ſcharf,
um dies Elend zu beendigen. Seine Freunde daheim übertraf er alle
durch eine umfaſſende diplomatiſche Sachkenntniß, die ſich die deutſchen
Liberalen in ihren engen Verhältniſſen nicht erwerben konnten, und durch
die Nüchternheit ſeines politiſchen Urtheils. Die Ueberſchätzung der parla-
mentariſchen Mehrheitsherrſchaft war wohl der einzige doctrinäre Zug in
dieſem durchaus praktiſchen Geiſte. Aber welch ein tragiſcher Widerſpruch
blieb es doch, daß ein ſolcher Mann im Dienſte des Vaterlandes keinen
Platz finden konnte und ſeine reichen Kräfte verſchwendete für die Geſchäfte
des großen internationalen Heirathsbureaus in Brüſſel, Geſchäfte, die
mit dem Wohle Deutſchlands wenig oder nichts gemein hatten! —
Derweil der belgiſche Staat ſich zu befeſtigen begann, nahm die Re-
volution im Oſten ein jammervolles Ende. Beim Ausbruch des polni-
ſchen Krieges hatte Nikolaus beſchloſſen, nach der erhofften raſchen Unter-
werfung die polniſche Verfaſſung aufzuheben, „die großen Schuldigen,
Czartoryski, Lelewel und andere ähnliche Schufte (faquins)“ furchtbar zu
beſtrafen, die Warſchauer Studenten „und die andere Canaille“ zur
Zwangsarbeit zu verurtheilen. Als die Polen zu unterhandeln ver-
ſuchten und ihm die Wiedereinſetzung der Romanows anboten, ſchrieb er
höhniſch: „ich bin ſehr gerührt und dankbar!“ Wie anders war nun Alles
gekommen. Nach dem unbenutzten Siege von Grochow befand ſich Die-
bitſch in peinlicher Bedrängniß. In ſeinem ſchlecht verpflegten Heere
wüthete die Cholera, derweil die Zuverſicht der Polen durch Skrzynecki’s
[87]Stockmar. Diebitſch’s Tod.
unerwartete Erfolge und den begeiſterten Beifall Europas geſteigert wurde.
Die Ungunſt des Wetters erſchwerte jede Bewegung in dem unwegſamen
Lande; und kaum minder beläſtigte den Feldherrn die pedantiſche Klein-
meiſterei des Selbſtherrſchers, der ihn aus ſeinem Cabinet heraus bald
mit herriſchen Befehlen, bald mit freundſchaftlichen Vorwürfen über-
ſchüttete, ihm die Schonung der glänzenden Garderegimenter, die richtige
Verwendung ſeiner neuerfundenen Dragoner, einer wenig brauchbaren
„Infanterie zu Pferd“, anempfahl.*) Im Mai brach Skrzynecki wieder
aus Praga hervor, um ſich über den Bug nordwärts gegen die ruſſiſchen
Garden zu wenden. Diebitſch eilte ihm nach und ſchlug ihn unter
ſchweren Verluſten bei Oſtrolenka (26. Mai). Doch abermals wagte der
Sieger nicht ſeinen Erfolg auszubeuten; abermals geſtattete er dem zer-
rütteten polniſchen Heere hinter den ſchützenden Wällen von Praga zu
verſchwinden und ſich dort von Neuem zu verſtärken. Da riß dem Czaren
die Geduld, er beſchloß den unglücklichen Heerführer abzurufen.
Der ſchleppende Gang des Feldzugs hatte das Anſehen der ruſſiſchen
Waffen überall in der Welt erſchüttert, und da faſt alle höheren Be-
fehlshaber in dieſem erfolgloſen Kriege gleich dem Feldherrn ſelber Deutſche
waren, ſo brach der alte Haß der Moskowiter gegen die Deutſchen wieder
übermächtig aus. Die Nation forderte ſtürmiſch die Züchtigung der ver-
achteten Polen, aber nur ein Ruſſe durfte dieſen nationalen Krieg führen.**)
Die polniſche Revolution ward ein Wendepunkt der ruſſiſchen Politik.
Die Begünſtigung des alten Moskowiterthums, die ſich ſchon in Nikolaus’
erſten Jahren zuweilen gezeigt hatte, blieb fortan der leitende Grundſatz
ſeiner Regierung. In ſchneidendem Gegenſatze zu ſeinem Bruder Alexander,
dem Gönner der Deutſchen und der Polen, wies er alles weſtländiſche
Weſen feindſelig ab. So ſtellte ſich die alte Regel wieder her, die ſich
aus der nur halb gelungenen Verſchmelzung abendländiſcher und morgen-
ländiſcher Geſittung nothwendig ergab und darum in der Geſchichte Ruß-
lands mit der Stätigkeit eines Naturgeſetzes wiederkehrte: die Regel, daß
jeder Czar gegenüber der europäiſchen Cultur genau das Gegentheil deſſen
that, was ſein Vorgänger für geboten hielt.
Noch bevor ihn die Nachricht ſeiner Abberufung ereilte, ſtarb Die-
bitſch plötzlich an der Cholera; die Lorbeeren ſeiner Türkenkämpfe waren
verwelkt. Mittlerweile bereitete General Toll, der kühnſte und einſich-
tigſte Kopf des Hauptquartiers, ſchon die entſcheidende Bewegung vor:
das ruſſiſche Heer ſollte in einem weiten Flankenmarſche nach Nordweſten,
bis dicht an die preußiſche Grenze zurückgehen, dort den ſo oft geplanten
Uebergang über die Weichſel vollführen, um dann auf dem linken Ufer
[88]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
des Stromes wieder ſüdoſtwärts gegen Warſchau vorzurücken. Nun erſt
ward offenkundig, was Preußens Freundſchaft für Rußland bedeutete; ohne
die Mitwirkung der Nachbarmacht konnte der Plan nicht gelingen. Der
König geſtattete, daß auf der preußiſchen Weichſel die Kähne und was
ſonſt noch für den Brückenbau der Ruſſen nöthig war herbeigeſchafft
wurden; er ließ an der Grenze entlang Märkte anlegen, mit Vorräthen
jeder Art für die ruſſiſchen Einkäufer, und obwohl der Oberpräſident
Schön gleich der Mehrzahl ſeiner liberalen Beamten die Ruſſen verab-
ſcheute, ſo wurden doch die erhaltenen Befehle mit altpreußiſcher Pünkt-
lichkeit ausgeführt. Im Juli ſchloß General Valentini mit dem Ruſſen
Manſurow einen Vertrag, kraft deſſen Preußen ſich bereit erklärte, die nach
Deutſchland übertretenden Polen zu entwaffnen und, gegen eine verein-
barte Entſchädigung, vorläufig zu verpflegen; ſo ſollte zugleich unnützes
Blutvergießen verhindert und die Unterdrückung des Aufſtandes be-
ſchleunigt werden.*) Im Bewußtſein ſeines guten Rechtes verfuhr der
König mit der größten Offenheit. Auf die wiederholten Vorſtellungen
der Weſtmächte ließ er rundweg erwidern: er werde die polniſchen Em-
pörer nimmer als eine kriegführende Macht anerkennen; von Pflichten
der Neutralität könne gar nicht die Rede ſein bei einem Aufruhr, der
Preußens eigene Sicherheit bedrohe.
Zu Diebitſch’s Nachfolger wurde der Held des letzten kleinaſiatiſchen
Feldzugs Paskiewitſch ernannt — ein echter Moskowiter, erſchreckend roh,
hart, hochmüthig, als Feldherr zäh ausdauernd, doch überaus vorſichtig.
Er durfte ernten was Andere geſäet. Durch die nahe preußiſche Grenze
in ſeiner rechten Flanke gedeckt, überſchritt er die Weichſel bei Oſſiek,
wenige Stunden oberhalb von Thorn (17. Juli) und zog dann, da die
Cholera im Erlöſchen war, mit ſeinen geſunden, durch die preußiſchen
Zufuhren wohlverſorgten Truppen langſam der Hauptſtadt entgegen,
während die Polen ſchon durch Diebitſch’s Siege den Kern ihres Heeres
verloren hatten und der beſtändige Wechſel im Oberbefehle ihre zu-
nehmende Rathloſigkeit bekundete. Er hoffte die Unterwerfung ohne
Schlacht zu erzwingen und vermied den Kampf, trotz der Mahnungen
Toll’s, auch als er die Polen bei Bolimow in einer ganz unhaltbaren
Stellung antraf. Noch am 4. September ließ er, endlich vor Warſchau
angelangt, den Aufſtändiſchen überraſchend günſtige Bedingungen anbieten:
eine wenig beſchränkte Amneſtie, Wiederherſtellung der Verfaſſung, Abzug
der ruſſiſchen Garniſonen, ja die polniſchen Offiziere ſollten ſogar ihre
im Kampfe gegen Rußland erworbenen neuen Grade behalten! So tief
war der Hochmuth des Czaren durch dieſen langen Krieg gebeugt. In
dem unglücklichen Warſchau aber hatte der wilde Radicalismus ſoeben
durch einen gräßlichen Aufruhr des Pöbels die Herrſchaft wieder an ſich
[89]Fall von Warſchau.
geriſſen; Fürſt Czartoryski war entflohen, die Gemäßigten wagten ſich nicht
mehr zu regen, die ſiegreiche Partei beſchloß den ausſichtsloſen Kampf
fortzuſetzen. Am 6. September begann Paskiewitſch den Angriff auf dem
weiten Blachfelde von Wola, wo einſt die Hunderttauſende des polniſchen
Adels zur Königswahl ſich zu verſammeln pflegten; am folgenden Tage
erſtürmten die Ruſſen unter Toll’s Führung nach wüthendem Kampfe
die Thore der Hauptſtadt. Warſchau ergab ſich, die Trümmer des pol-
niſchen Heeres flüchteten nach Preußen, ein kleiner Theil nach Galizien.
Alsbald ließ Nikolaus die verſöhnlichen Gedanken der letzten Monate
fallen und nahm die Rachepläne wieder auf, mit denen er den Krieg
begonnen hatte. Auch Preußen mußte erfahren, daß Rußland in der
That, wie General Schöler dem Könige oft wiederholte, „die nationale
Eigenthümlichkeit beſaß, internationale Verträge ſchlecht zu erfüllen und
namentlich von Preußen viel zu fordern ohne ſeinerſeits das gleiche Ent-
gegenkommen zu beweiſen“.*) Ein Ukas des Czaren verkündete zwar eine
allgemeine Amneſtie, unterſagte jedoch allen den Offizieren, welche erſt
nach dem Falle von Warſchau ins Ausland übergetreten waren — mithin
der großen Mehrzahl des polniſchen Offizierscorps — die Rückkehr für
immer. Zum Danke für ihre freundnachbarliche Hilfe ſollten alſo Preußen
und Oeſterreich mit einigen tauſend verzweifelten Heimathloſen belaſtet
werden. Beſchlüſſe ſolcher Art, ſchrieb Schöler warnend, gehen von dem
Kaiſer ſelber aus, ſie laſſen auf Eigenheiten ſeines Charakters ſchließen,
die durch Zeit und Erfahrung nicht gemildert ſind.**) Beide Mächte
erhoben Einſpruch: wie könne Rußland es verantworten, durch eine
Maſſenverbannung „in ganz Europa einen wandernden Heerd der Auf-
hetzung und der Brandſtiftung zu gründen“?***)
Erſt nach langen Verhandlungen entſchloß ſich der Czar, ſeinen Ukas
nach und nach zu mildern, ſo daß ſchließlich nur noch die gemeinen Ver-
brecher und die politiſchen Hauptſchuldigen von der Amneſtie ausgeſchloſſen
blieben.†) Wie König Friedrich Wilhelm dergeſtalt die ehrliche Aus-
legung des mit Rußland abgeſchloſſenen Auslieferungsvertrags durchſetzte,
ſo war er auch keineswegs geſonnen, aus Gefälligkeit gegen ſeinen
Schwiegerſohn den Weſtmächten einen Kriegsvorwand zu geben. Da die
Republik Krakau den Aufſtand ihrer Stammgenoſſen mannichfach unter-
ſtützt hatte, ſo wünſchte der Czar, daß die drei Schutzmächte das Gebiet
des Freiſtaats gemeinſam beſetzen ſollten. Der Berliner Hof aber wider-
ſprach, er wollte keinen Schritt über den Boden der Verträge hinaus-
gehen und überließ die militäriſche Beſetzung den Ruſſen als dem allein
[90]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
angegriffenen Theile; nachher wurde unter der Oberaufſicht von Commiſ-
ſären der Schutzmächte die völlig zerrüttete bürgerliche Ordnung in dem
kleinen Staate nothdürftig wiederhergeſtellt.*)
Der verblendete Trotz der Polen bewirkte indeſſen, daß die erweiterte
Amneſtie ihnen wenig Vortheil brachte. Die Einen wollten den Ver-
heißungen des erzürnten Czaren keinen Glauben ſchenken, Andere bauten
noch immer auf die leeren Verheißungen Lafayette’s und hofften über
kurz oder lang mit Hilfe der franzöſiſchen Radicalen den allgemeinen
Umſturz herbeizuführen. Dieſe Fanatiker, Allen voran der nach Dresden
geflüchtete tapfere General Bem, übten die Künſte des allen Polen ge-
läufigen Parteiterrorismus mit ſolchem Erfolge, daß die Mehrzahl der
Harmloſen eingeſchüchtert und die Heimkehr von den Offizieren bald als
Verrath angeſehen wurde. Tauſende freiwilliger Auswanderer, die ſich
fälſchlich für Verbannte ausgaben, überſchwemmten Weſteuropa; ſie ver-
ſchmähten daheim friedlich für ihr Vaterland zu arbeiten, was den Meiſten
ſtraflos geſtattet war, und verfielen dem ſchlechten Handwerke der Ver-
ſchwörer. Die tragiſche Schuld der Theilungen Polens ſuchte den Welt-
theil mit immer neuen Leiden heim. Die polniſche Emigration ward ein
Fluch Europas, ein Heerd des Unfriedens, wie die preußiſche Regierung
vorausgeſagt. Zwei Jahrzehnte hindurch bildeten die polniſchen Flüchtlinge
die verbindende Kette zwiſchen den radicalen Parteien aller Länder; ſie
ſchürten jeden Aufruhr und fochten auf jeder Barrikade.
Czar Nikolaus aber blieb fortan neben Metternich der verhaßteſte
Mann Europas. Er verdankte dieſen Ruf zum Theil den ungeheuer-
lichen Märchen der polniſchen Flüchtlinge, mehr noch dem harten Straf-
gerichte, das er über die Unterworfenen verhängte. Nach ſeiner Ueber-
zeugung waren alle Freiheiten der Polen durch die Empörung verwirkt,
und ihm allein ſtand es zu, einen neuen Rechtszuſtand anzubefehlen.
Einige der Aufſtändiſchen mußten am Galgen, viele in Sibirien büßen;
die Verfaſſung ward vernichtet, das Heer und die Univerſität aufgehoben,
das herrliche Schloß der Czartoryskis in Pulawy ſeiner Kunſtſchätze
beraubt. Polniſche Orden belohnten die Sieger für die Vernichtung der
polniſchen Unabhängigkeit; auf dem Hauptplatze Warſchaus erhob ſich ein
Obelisk zu Ehren der im November ermordeten Generale. Seit dem
Organiſchen Statut vom Februar 1832 war das Land nur noch eine
ruſſiſche Provinz mit eigener Verwaltung und Rechtspflege. Hatten die
Polen ihre conſtitutionellen Rechte nur zu Ränken und Verſchwörungen
mißbraucht, ſo erwies ſich die neue Ordnung faſt noch unheilvoller, ſie
konnte allein durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand aufrecht erhalten
[91]Die polniſchen Flüchtlinge.
werden. In der Hauptſtadt gebot der zum Fürſten von Warſchau er-
hobene Paskiewitſch mit eiſerner Strenge; er verhöhnte die Geſchlagenen
ins Angeſicht, feierte ſeine Siege in prunkenden Feſten, und als ihm der
Czar das von Thorwaldſen ſoeben vollendete Reiterſtandbild des polniſchen
Nationalhelden Poniatowski ſchenkte, ließ er der Bildſäule den Kopf ab-
ſchlagen, ſeinen eigenen Kopf darauf ſetzen und dann dies unvergleichliche
Denkmal moskowitiſcher Barbarei vor einem ſeiner Schlöſſer aufſtellen.
Bei alledem ſpielten die Weſtmächte eine klägliche Rolle. Mehrmals
erhoben ſie ſchüchternen Einſpruch und beriefen ſich auf die Wiener Ver-
träge, die ſie doch ſelber beſtändig verletzten. Alle dieſe Verſuche wurden
von den drei Theilungsmächten kurzerhand abgewieſen; denn die Wiener
Congreßacte verhieß den Polen nur im Allgemeinen „nationale Inſtitu-
tionen“, und eine nationale Verwaltung blieb dem Lande auch jetzt noch
erhalten.*) Jahraus jahrein ergingen ſich die Parlamente von England
und Frankreich fortan in Kundgebungen einer unfruchtbaren Entrüſtung.
Der furchtſame Bürgerkönig nahm die polniſchen Flüchtlinge gaſtlich bei
ſich auf. Im Stillen fühlte er ſich doch erleichtert durch die Unterdrückung
eines Aufſtandes, der ihm nur Verlegenheiten bereitet hatte. Sein Ver-
trauter Sebaſtiani plauderte dies Herzensgeheimniß unvorſichtig aus, als
er in der Kammer die Aeußerung fallen ließ: „die Ordnung herrſcht in
Warſchau“ — ein Wort, das von den Liberalen aller Länder begierig auf-
gegriffen und jahrelang beſtändig wiederholt wurde, um die Ruchloſigkeit
der Kronen zu brandmarken. —
Durch den Fall von Warſchau gewann die Politik der Oſtmächte
wieder freiere Bewegung; indeß war Rußland durch den polniſchen Kampf
ſo erſchöpft und das Friedensbedürfniß an den beiden deutſchen Höfen
ſo ſtark, daß eine ernſte Kriegsgefahr kaum noch hereinbrechen konnte.
Die belgiſche Frage ſchritt der Löſung entgegen, ſehr langſam allerdings und
unter mannichfaltigen Verwicklungen. Der am 15. November mit Belgien
abgeſchloſſene Vertrag erregte in Berlin wie in Wien und Petersburg
gerechtes Befremden; denn die Geſandten der drei Mächte hatten ihn
ohne Vollmacht unterzeichnet, und ohne die Mitwirkung Hollands, wäh-
rend die Londoner Conferenz doch berufen war zwiſchen den ſtreitenden
Parteien zu vermitteln. Dennoch war König Friedrich Wilhelm zur
Genehmigung bereit, da er den Inhalt des Vertrags billigte; nur wollte
er die Ratification erſt dann ausſprechen, wenn alle Großmächte und
wo möglich auch Holland beiſtimmten und dadurch eine endgiltige Ent-
ſcheidung geſichert war. Den ganzen Winter hindurch mühte Preußen
ſich ab, dieſe allgemeine Uebereinſtimmung herbeizuführen. Oeſterreich
[92]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
wurde leicht gewonnen. Der Hartnäckigkeit des Königs der Niederlande
aber ließ ſich mit Ueberredung nicht beikommen. Obwohl er in die Thei-
lung ſeines Königreichs längſt gewilligt hatte und nur noch gegen einzelne
Artikel des Vertrages ſachliche Einwände erhob, ſo fühlte er ſich doch
durch das rückſichtsloſe Verfahren der Conferenz tief beleidigt. Er wollte
dem Coburgiſchen Thronräuber nicht verzeihen und hoffte insgeheim auf
einen allgemeinen Krieg, der Hollands Entwürdigung noch abwenden
ſollte. „Nach Allem was geſchehen“, ſchrieb er ſeinem Schwager, „iſt es
mir unmöglich, in Leopold nicht nach wie vor meinen Feind zu ſehen.
Meine Sache iſt nicht meine eigene, ſie iſt allen rechtmäßigen Regie-
rungen gemeinſam.“ Vergeblich hielt ihm Friedrich Wilhelm vor, daß
Holland ſich durch ſeine Unverſöhnlichkeit den Beiſtand ſeiner Verbün-
deten ſelbſt verſcherze.*)
Der Oranier nahm dieſe Drohung nicht für Ernſt; er zählte auf
Rußlands Beiſtand, denn Nikolaus wiederholte beſtändig: ich ratificire
nicht eher, als bis der rechtmäßige König die Belgier aus dem Unterthanen-
verbande entlaſſen hat. So drehte man ſich im Kreiſe; die beiden Legi-
timiſten in Petersburg und im Haag verſteckten ſich einer hinter dem
andern. Da Ancillon’s Denkſchriften auf den Czaren keinen Eindruck
machten, ſo ſchrieb König Friedrich Wilhelm ſelbſt: er achte, ja er theile
die Gefühle ſeines Schwiegerſohnes, aber „ich habe meinem Herzen
Schweigen auferlegt um den Geboten der politiſchen Vernunft zu ge-
horchen“; nicht um der Oranier ſondern um Europas willen ſei Belgien
einſt mit Holland vereinigt worden, alſo dürfe man auch bei der Tren-
nung nur das allgemeine Intereſſe im Auge haben; bei einem allge-
meinen Kriege bilde Rußland doch nur die Nachhut, die Laſt des Kampfes
falle auf Deutſchland, darum ſei es Pflicht der drei Oſtmächte, im Haag
gemeinſam zu erklären, daß ihre Geduld Grenzen habe.**)
Nach langem Widerſtreben und mehrfachen Rückfällen ließ ſich der Czar
überzeugen und ſendete im Februar 1832 ſeinen Vertrauten Orlow nach
dem Haag, um dort noch einen letzten Verſuch zu wagen. Als Orlow,
wie zu erwarten ſtand, bei dem Oranier nichts ausrichtete, erklärte er
ihm am 22. März rundweg, ſein Kaiſer könne nunmehr die Ratifi-
cation nicht länger verſchieben und überlaſſe alle Verantwortung dem
Könige.***) Bei allen dieſen Verhandlungen wähnte Nikolaus noch immer,
[93]Anerkennung Belgiens.
es werde ihm gelingen, England von Frankreich zu trennen und bei
dem alten Vierbunde feſtzuhalten, während die ruſſiſche Politik doch
nur das Gegentheil bewirken konnte.*) Je weiter die Oſtmächte ihre
Genehmigung hinausſchoben, um ſo feſter ſchloſſen ſich die beiden Schutz-
mächte Belgiens an einander. Lord Palmerſton hatte längſt die Geduld
verloren und ſchon im December, zum Danke für Friedrich Wilhelm’s
ehrliche Verſöhnungsverſuche, ein grobes Schreiben an Ancillon gerichtet,
worin er die preußiſche Regierung beſchuldigte, ſie verſtecke ihre Zögerungen
„hinter einer Phraſe“. Er ſchlug hier bereits jenen anmaßenden Ton
an, der ihm bald zur anderen Natur wurde und viel dazu beitrug den
engliſchen Namen bei allen Völkern in Verruf zu bringen. Offenbar
hoffte er Preußen einzuſchüchtern, doch der Streich mißlang. Es blieb
dabei, daß Bülow die preußiſche Ratification, die er ſchon ſeit Anfang
Januar in der Taſche trug, erſt nach der Einigung aller Großmächte
übergeben durfte.**)
Nachdem nun endlich der Widerſtand des Czaren gebrochen war,
ſprachen Oeſterreich und Preußen am 18. April, Rußland am 4. Mai
1832 ihre förmliche Genehmigung aus. Die beiden deutſchen Mächte
verwahrten wieder ausdrücklich das Recht des Bundes auf Luxemburg;
der Czar verwies, noch immer grollend, in einem vieldeutigen Vorbehalte
auf die künftige Verſtändigung der beiden Könige Niederlands. Im
Spätſommer wurden dann Leopold’s Geſandte in Berlin und Wien
empfangen, während Nikolaus und nach ſeinem Beiſpiele auch König
Ludwig von Baiern ſowie mehrere andere ſtreng legitimiſtiſche deutſche
Fürſten den diplomatiſchen Verkehr mit dem neuen Brüſſeler Hofe vor-
läufig noch verſchmähten.
Das lange Zaudern hatte die Kluft zwiſchen dem Weſten und dem
Oſten ſichtlich erweitert. Palmerſton’s zunehmende Ungezogenheit zeigte
ſelbſt dem Czaren, daß Europa in zwei feindliche Heerlager zerfiel, und
Metternich meinte ingrimmig: den drei Verbündeten treten die beiden
Spießgeſellen (complices) gegenüber. Unverkennbar ſtanden die Spieß-
geſellen im Vortheil, denn ſie wußten was ſie wollten. Sie verlangten,
daß König Wilhelm, der noch die Citadelle von Antwerpen ſowie zwei
kleine Feſten an der Schelde beſetzt hielt, mindeſtens das belgiſche Gebiet
räumen müſſe, und waren bereit, ſelbſt durch die Waffen ſeinen Trotz
zu brechen, während die Oſtmächte ſolchen Zwang gegen den alten Ver-
bündeten weder billigen noch verhindern mochten. Als der Sommer
wieder über fruchtloſen Verhandlungen mit dem Haag vergangen war,
[94]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
beantragten England und Frankreich auf der Londoner Conferenz ge-
meinſame Gewaltmaßregeln gegen Holland. Man ſtritt hinüber und
herüber, die Conferenz wußte ſich aus ihrer Rathloſigkeit nur dadurch zu
retten, daß ſie gar nicht mehr zuſammentrat. Der europäiſche Areopag
löſte ſich auf und überließ es den Weſtmächten, ihre heilige Nichtein-
miſchungs-Lehre zum zweiten male gröblich zu verletzen. Sie beſchloſſen
am 22. October, daß England die holländiſchen Schiffe in Beſchlag nehmen,
Frankreich die Citadelle von Antwerpen für Belgien erobern ſolle.
Diesmal verfuhr der Hof des Palais Royal ohne Hintergedanken,
anders als im vorigen Jahre; denn König Leopold hatte mittlerweile die ſo
lange umworbene Tochter Ludwig Philipp’s geehelicht, und ſeit der Coburger
mit zur Familie gehörte, ſtand der alte Plan der Theilung Belgiens
nicht mehr im Einklang mit den kaufmänniſchen Geſchäftsregeln des
Hauſes Orleans. Im Mai war Caſimir Perier geſtorben, auch er
ein Opfer der Cholera. Im October übernahm der Herzog von Broglie
das Auswärtige Amt, der Führer der Doctrinäre, hochgebildet, ſteif,
tugendſtolz, unausſtehlich wie ſeine geſammte Partei, aber unbeſtreitbar
ein Mann des Friedens. Er verſprach den großen Mächten ſofort, daß
die franzöſiſchen Truppen alsbald nach der Einnahme der Citadelle Bel-
gien wieder verlaſſen würden, und fragte ſogar an, ob nicht Preußen
unterdeſſen das öſtliche Belgien beſetzen wolle.*) König Friedrich Wilhelm
aber wollte an der Vergewaltigung ſeines Schwagers auch nicht mittelbar
theilnehmen; er verſtärkte nur die Truppen am Rhein durch das weſt-
phäliſche Armeecorps und zog ſie dicht an der Grenze, bei Aachen zuſammen
um gegen einen Wortbruch Frankreichs ſofort einſchreiten zu können.
In Paris mußte Werther „den ſtärkſten moraliſchen Widerſtand leiſten“,
wie Ancillon ſalbungsvoll ſagte**); auch Oeſterreich und Rußland zeigten
dem franzöſiſchen Hofe die üble Laune, die im Leben der Einzelnen wie
in der Politik immer den Schmollenden ſelber ſchädigt. Gleichwohl wagten
die Oſtmächte nicht einmal eine öffentliche Verwahrung; ſchon im Früh-
jahr waren ſie dahin übereingekommen, daß ein ſolcher Schritt entweder
ihr Anſehen bloßſtellen oder die Gefahr des allgemeinen Kriegs wieder
heraufbeſchwören müſſe.***) Der Bürgerkönig wußte dies nur zu wohl
und ließ den kleinen deutſchen Höfen zuverſichtlich ankündigen: „Obwohl
wir die Zuſtimmung der Nordmächte zu unſeren Maßregeln nicht erlangt
haben, ſo ſind wir nichtsdeſtoweniger ſicher, keinem Widerſtande ihrerſeits
zu begegnen.“†) Kein Wunder wahrhaftig, daß der Oranier über den
abermaligen Einmiſchungsverſuch der gleißneriſchen Nicht-Einmiſchungs-
[95]Der Zug nach Antwerpen.
Politiker auf’s Aeußerſte empört war. Trotz aller Warnungen, die ihm
ſelbſt aus Petersburg zukamen, hatte er doch nicht für möglich gehalten,
daß ſeine alten Freunde ihn hilflos den Mißhandlungen der Weſtmächte
preisgeben würden — und warum? weil er einem Vertrage widerſprach,
der gleich dem Utrechter Frieden ohne, über und gegen Holland abge-
ſchloſſen war! Lord Palmerſton aber weidete ſich ſchadenfroh an der Ver-
legenheit der Oſtmächte. Luſtiger denn je pries er dem Parlamente die
Expediency des Zuges nach Antwerpen und rühmte zugleich die Ehr-
lichkeit der engliſchen Politik — was doch ſelbſt vielen ſeiner britiſchen
Hörer wie ein frecher Witz klang.
Ungeſtört konnte alſo das wunderbare Schauſpiel eines Krieges ohne
Friedensbruch über die Bretter gehen. Am 22. November begann Mar-
ſchall Gerard mit 60000 Franzoſen die von 5000 Holländern vertheidigte
Antwerpener Citadelle zu belagern. Jede Mitwirkung der Belgier wies
er zurück, da ſeine Regimenter durchaus nur als Executionstruppen
Europas auftreten ſollten. Nach vier Wochen tapferen Widerſtandes
ergab ſich die Feſtung, und ſofort kehrte das franzöſiſche Heer in die
Heimath zurück. Am 22. März 1833 ward dann eine neue Waffenruhe
vereinbart: die Holländer blieben noch in den Scheldefeſtungen Lillo und
Liefkenshoeck, die Belgier hielten einen Theil des holländiſchen Luxemburg
und Limburg beſetzt. In dieſem ſeltſamen Zuſtande verblieben die Nieder-
lande ſechs Jahre lang bis der Oranier endlich nachgab. Sechs Jahre
hindurch ſtand das holländiſche Heer an der Südgrenze verſammelt,
willig brachte das treue Volk dem Starrſinn ſeines Königs ſchwere Opfer,
derweil die klugen Belgier ſich die Verzinſung ihres Antheils an der
alten Staatsſchuld erſparten.
So endete dies Nachſpiel der Juli-Revolution mit einem Triumphe
des Bürgerkönigthums, der dem franzöſiſchen Staate allerdings weder
wahren Kriegsruhm noch eine dauernde Machterweiterung brachte, aber
ſo blendend in die Augen ſtach, daß ſelbſt der nüchterne Guizot mit der
„glänzenden franzöſiſchen Löſung der belgiſchen Frage“ prahlen konnte.
Die Oſtmächte empfanden die erlittene Niederlage ſehr lebhaft. Metternich
wußte nur den einen Troſt, daß der Tag der Gerechtigkeit noch nicht
gekommen ſei. Bald nach dem Falle von Antwerpen meinte er weh-
müthig: „die praktiſche, die einzige auf die Lage des Tages anwendbare
Wahrheit iſt die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Ereigniſſe abzu-
warten.“ —
In Oeſterreichs unmittelbarem Machtgebiete ließ er dieſe Wahrheit
freilich nicht gelten; ſeine italieniſche Politik blieb feſt, herriſch, zugreifend.
Im Kirchenſtaate kam Alles wie er es vorhergeſehen: die Unruhen brachen
ſofort wieder aus, als die Oeſterreicher auf Frankreichs Wunſch abgezogen
waren. Der Papſt konnte und wollte die verheißenen Reformen nicht
ernſtlich durchführen, obwohl ihn Metternich mehrmals mahnte und ſchon
[96]IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
daran dachte die großen Mächte zur Mitwirkung aufzurufen:*) die Laien
blieben von der Regierung ausgeſchloſſen, die neuen Provinzial- und Ge-
meinderäthe völlig machtlos. Als nun im Januar 1832 päpſtliche Truppen
in die Romagna einrückten, rotteten ſich die Bürgerwehren und Frei-
ſchaaren zuſammen; die Aufſtändiſchen unterlagen, und furchtbar hauſte
das wüſte Geſindel der Schlüſſelſoldaten in den unterworfenen Städten.
Die Curie aber zitterte vor ihrem eigenen Heere und rief nochmals die
Hilfe des öſterreichiſchen Nachbarn an. Am 28. Januar erſchien Mar-
ſchall Radetzky mit ſeinen Weißröcken in Bologna; die Romagnolen ſelber
empfingen ihn mit Freude, weil er ihnen doch Schutz gewährte gegen die
wüthenden Papalini.
Nach Völkerrecht war Oeſterreichs Verfahren unanfechtbar, ſicherlich
beſſer gerechtfertigt als der belgiſche Zug der Franzoſen vom vorigen
Sommer. Caſimir Perier aber hatte ſich vor den Kammern vermeſſen,
daß er eine neue Einmiſchung der Oeſterreicher nicht dulden werde; er
war gerichtet, wenn er ſein Wort nicht hielt. Die Parteiwuth der Fran-
zoſen zwang ſelbſt dieſen ernſten Staatsmann ſich vor der Phraſe der
Nichteinmiſchungs-Lehre zu beugen und ſeine kurze rühmliche Laufbahn
mit einem unwürdigen Poſſenſpiele zu ſchließen. Perier ließ durch Marſchall
Maiſon in Wien ankündigen, daß nunmehr auch Frankreich einſchreiten
müſſe — Alles im Namen der Nichteinmiſchung! Metternich antwortete
mit überlegenem Hohne: „Wollen Sie, daß wir im Kirchenſtaate bleiben?
Dann wählen Sie das rechte Mittel; denn ſicherlich werden wir ſo lange
bleiben, bis Ihr wieder fortgeht!“ In tiefem Geheimniß ſegelte unter-
deſſen ein kleines Geſchwader aus Toulon ab, fünfzehnhundert Franzoſen
landeten am 22. Februar in Ancona und bemächtigten ſich der Stadt;
ein pomphaftes Manifeſt verkündete den Italienern, daß Frankreich überall
die Freiheit der Völker gegen den Despotismus beſchütze.
Die Pariſer Preſſe und viele der liberalen deutſchen Zeitungen froh-
lockten über die neue Wunderthat des freien Frankreichs. Caſimir Perier
ſelber war trotz ſeiner Verſtandesklarheit doch wie alle Franzoſen zur
politiſchen Selbſttäuſchung geneigt; er redete ſich ein, daß er „das öffent-
liche Recht Europas“ vertheidigt habe, und die Haltung der anderen
Mächte beſtärkte ihn in dieſem Wahne. Während Oeſterreich und Ruß-
land ihre Entrüſtung über dies „politiſche Verbrechen“ laut ausſprachen,
konnte ſelbſt Palmerſton ſeine Unzufriedenheit kaum verbergen, ſo daß
Ludwig Philipp für gerathen hielt den fremden Geſandten allerhand feige
Entſchuldigungen zu ſagen. Ancillon aber klagte rührſam: „Die Winde
haben eine Seefahrt, welche keine Gunſt verdiente, ſeltſam begünſtigt.
Die Geſchichte bietet wenig Beiſpiele einer ſo offenbaren Verletzung aller
Grundſätze. Dies verhängnißvolle Abenteuer würde ein Räthſel ſein,
[97]Beſetzung von Ancona.
wenn man nicht daran gewöhnt wäre, daß das franzöſiſche wie das eng-
liſche Miniſterium Alles den Rückſichten der parlamentariſchen Lage unter-
ordnet, Alles der nationalen Eitelkeit opfert.“*)
Nach kurzer Friſt beruhigten ſich die Mächte wieder; ſie erkannten bald,
daß die Beſetzung von Ancona wirklich nur den Dünkel der franzöſiſchen
Parteien beſchwichtigte und ſonſt ohne jede Wirkung blieb. Die fünfzehn-
hundert Mann auf der halbzerfallenen Citadelle durften, da der Papſt
Einſpruch erhob, weder Verſtärkungen herbeiziehen noch die Feſtungswerke
herſtellen, ſie mußten die päpſtliche Flagge hiſſen, ſie vertrieben ſogar die
Liberalen aus der Stadt und leiſteten der Polizei des Vaticans willig
Schergendienſte. Faſt ſieben Jahre lang hielten ſie in dieſer lächerlichen
Lage aus, bis ſie endlich im December 1838, gleichzeitig mit den Oeſter-
reichern das Land verließen. Inzwiſchen hatte ſich das Prieſterregiment
unter dem Schutze der kaiſerlichen Waffen behaglich wieder eingerichtet.
Von ernſten Reformen war ſo wenig mehr die Rede, daß England ſchon
nach einigen Monaten ſeinen Bevollmächtigten von der nutzloſen römiſchen
Geſandtenconferenz abberief. Metternich freute ſich des Starrſinns der
Curie keineswegs und erſparte ihr ernſte Mahnungen nicht. Doch er
wußte auch, daß dieſer Prieſterſtaat, den er ſelber bereits vor Jahren „ein
nur zu veraltetes, morſches Gebäude“ genannt hatte,**) durchgreifende
Neuerungen kaum noch ertragen konnte, und ſchon um dem Bürger-
königthum keinen Triumph zu bereiten, wollte er den Papſt nicht allzu
lebhaft bedrängen. Die Beſetzung von Ancona brachte der Freiheit Italiens
keinen Gewinn; ſie verhinderte ſogar die beſcheidenen Reformen, welche
unter der Herrſchaft des gekrönten Prieſters vielleicht noch möglich waren.
Der feine politiſche Inſtinkt der Italiener täuſchte ſich darüber nicht: die
Oeſterreicher fürchtete man als harte, tapfere Feinde; der lärmende, an-
maßende, furchtſame franzöſiſche Freund ward verachtet. Noch auf lange
hinaus ſchien die Herrſchaft des Kaiſerhauſes auf der Halbinſel geſichert.
Das alſo war das Ergebniß dieſer wirrenreichen Kämpfe. England
hatte die Wege des Liberalismus betreten, in Frankreich und Belgien war
die Revolution zum Siege gelangt, in Polen und Italien war ſie unter-
legen. Das alte und das neue Europa hielten einander das Gleich-
gewicht. Welchem der beiden Lager würde Deutſchland ſich zuwenden?
— an dieſer Frage hing die nächſte Zukunft der Staatengeſellſchaft. —
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 7
[[98]]
Zweiter Abſchnitt.
Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Kleine Staaten erſcheinen leicht lächerlich; denn der Staat iſt Macht,
und die Ohnmacht widerſpricht ſich ſelber ſobald ſie als Macht auftreten
will. Wo aber die Thatkraft einer großen Nation ſich nur in den arm-
ſeligen Händeln kleiner Gemeinweſen zu äußern vermag, da werden folgen-
ſchwere Wandlungen des Völkerlebens oft vorbereitet durch unſcheinbare
particulariſtiſche Bewegungen die für ſich allein wenig, insgeſammt viel
bedeuten. Neue politiſche Gedanken können ihre Nothwendigkeit nicht über-
zeugender erweiſen, als wenn ſie in einem zerſplitterten Volke, zur ſelben Zeit
an verſchiedenen Stellen auftreten und durch mannichfaltige Hemmniſſe
hindurch ſich ihre Bahn brechen; der gleiche Erfolg, die ungewollte und
doch unverkennbare innere Verwandtſchaft ſolcher Einzelkämpfe bekunden
dann zugleich die ſchöpferiſche Naturgewalt der nationalen Einheit. Der-
weil Europa die Pariſer Barrikadenhelden mit Huldigungen überſchüttete,
wurden die Straßenunruhen der kleinen norddeutſchen Hauptſtädte im
Auslande nur mit ſpöttiſchem Lächeln angeſehen, ja manche der Führer
dieſer winzigen Revolutionen betrachteten ſich ſelber nur als beſcheidene
Schüler der unerreichbaren Franzoſen. Und doch war dieſe verzettelte
deutſche Bewegung mit aller ihrer kleinſtädtiſchen Abgeſchmacktheit beſſer
berechtigt und in ihrer letzten Nachwirkung fruchtbarer als ihr vielbe-
wundertes Vorbild. Durch die Juli-Revolution nur gefördert, keineswegs
verurſacht, entſprang ſie naturgemäß aus einer veralteten Geſellſchafts-
ordnung, die weit ſchwerer drückte als die politiſchen Mißgriffe der Bour-
bonen, und verwirklichte in den altſtändiſchen Gemeinweſen des Nordens
die Ideen der Rechtsgleichheit und des Staatsbürgerthums, welche im
übrigen Deutſchland ſich ſchon längſt durchgeſetzt hatten, ſo daß jetzt erſt
eine allen Deutſchen gemeinſame Staatsgeſinnung, ein über die Grenzen
der Einzelſtaaten hinausreichendes Parteileben, ein bewußter Kampf um
die Reform des nationalen Geſammtſtaates nach und nach möglich wurde.
Unter allen dieſen kleinen Staatsumwälzungen erregte der Braun-
ſchweiger Aufſtand das größte Aufſehen; denn hier allein wurde der noth-
wendige Umſchwung durch revolutionäre Mittel, durch offenbaren Rechts-
[99]Klage der Braunſchweiger Landſtände.
bruch bewirkt, und hier zeigte ſich zugleich mit erſchreckender Klarheit, daß
die Unſicherheit unſeres öffentlichen Rechtes in der ſchimpflichen Ohnmacht
des Bundestages ihren letzten Grund hatte. Gegen die Winkeltyrannei
der ſchwächſten Reichsſtände bot die alte Reichsverfaſſung immerhin einigen
Schutz; mehrmals ſchritten Kaiſer und Reich zur Abſetzung unverbeſſer-
licher kleiner Despoten, noch zur Zeit der franzöſiſchen Revolution erſchien
zuweilen eine kaiſerliche Debit-Commiſſion in einem überſchuldeten Fürſten-
thume um von Reichswegen die Ordnung herzuſtellen. Seit aber die
Bundesakte dieſen kleinen Herren die Souveränität gewährt hatte, beſtand
für fürſtliche Willkür keine Schranke mehr, und einmal doch mußte an
einem ungerathenen Sohne des deutſchen hohen Adels offenbar werden,
wie tief der Genuß einer anſpruchsvollen Würde ohne Macht ihren Träger
entſittlichen kann.
Trotzend auf ſeine fürſtliche Unverantwortlichkeit war Karl von Braun-
ſchweig von Stufe zu Stufe geſunken. Er wußte, daß die Deutſchen ihn
verabſcheuten, und fand bald eine boshafte Freude daran, ſeinen ſelbſt-
verſchuldeten ſchlechten Ruf immer aufs Neue zu rechtfertigen. Schon
vier Jahre vor ſeinem Sturze ſchrieb er ſeiner gütigen Freundin, der
Prinzeſſin Amalie von Sachſen, die ihm vergeblich ins Gewiſſen redete:
„Man hält es am Ende für einerlei etwas zu ſein, wofür man ſchon
lange gegolten hat. Jung, hübſch, mächtig und ganz unabhängig mir
ſelbſt überlaſſen“ — wie konnte ich anders werden?*) Die ſchlaffe Nach-
ſicht des Bundestags, der ſich in dem Streite der beiden Welfenhäuſer
mit einer beinahe poſſenhaften Genugthuung zufrieden gab, mußte den
dreiſten Uebermuth des verblendeten Fürſten noch erhöhen**). Schon
wieder lag ſeit Jahr und Tag eine Klage gegen Herzog Karl unerledigt
in Frankfurt: die Bitte des landſtändiſchen Ausſchuſſes um Aufrechter-
haltung der unbeſtreitbar rechtmäßigen Landſchaftsordnung von 1820.
Wieder wußte Graf Münch, trotz der ungeſtümen Mahnungen des preu-
ßiſchen Geſandten, die Entſcheidung zu verzögern; daß Landſtände gegen
ihren Fürſten jemals Recht behalten könnten, ſchien der Wiener Hofburg
ganz unfaßbar. Auch manche der anderen Bundesgeſandten bezweifelten
die Giltigkeit der neuen Verfaſſung, weil ſie unter einer vormundſchaft-
lichen Regierung vereinbart worden ſei, der Vormund aber nicht über das
Vermögen des Mündels verfügen dürfe. Selbſt Wangenheim und einige
überfeine Köpfe unter den Liberalen theilten dieſe Zweifel; ſo mächtig
war noch, Dank der privatrechtlichen Bildung unſerer Juriſten, jene alte
patrimoniale Staatslehre, welche Land und Leute nur als fürſtliches Haus-
gut betrachtete. Alſo unter Bedenken und Gegenbedenken ſchleppte ſich
der Handel dahin, bis endlich im Spätſommer 1830 die Commiſſion des
7*
[100]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Bundestags einen Bericht zu Stande brachte, der ſich zu Gunſten der
klagenden Landſtände ausſprach.
Dieſe Nachricht aus Frankfurt beſtärkte die Braunſchweiger in dem
Bewußtſein ihres guten Rechtes, und unwillkürlich regte ſich die Frage,
ob man nicht endlich zur Selbſthilfe ſchreiten müſſe; wer konnte denn
wiſſen, wann jemals jenem Berichte ein wirkſamer Bundesbeſchluß folgen
würde? Der Herzog ſchlenderte mittlerweile ſchon ſeit Monaten auf den
Pariſer Boulevards umher und verhandelte nebenbei mit dem Hauſe
Rothſchild über Börſengeſchäfte. Als ihn dort der Ausbruch der Juli-
Revolution überraſchte, zeigte ſich der Erbe des braunſchweigiſchen Helden-
geſchlechtes als ein elender Feigling; er verlor den Kopf, obwohl ihn die
Pariſer kaum beachteten, und floh unter ſeltſamen Abenteuern. Unter-
wegs ſah er in Brüſſel noch jene Vorſtellung der Stummen von Portici,
welche den belgiſchen Aufruhr einleitete. Zweimal warnte ihn das Schick-
ſal, doch in dieſe glatte Stirne grub die ernſte Zeit keine Furchen. Mit
ſeinem Völkchen daheim dachte der Welfe ſchon fertig zu werden. Als er
zurückkam, brachte er einen neuen Günſtling mit, den franzöſiſchen Aben-
teurer Alloard, und prahlte laut, ihm ſolle man das Schickſal Karl’s X.
nicht bereiten. Eine Handvoll Unterbeamten und Hofhandwerker begrüßte
den Heimgekehrten mit einem Fackelzuge. Die Bürgerſchaft aber ſah mit
Unmuth der gemachten Huldigung zu und ſendete ihre Vertreter auf das
Schloß um die Einberufung des Landtags zu erbitten; Bürgermeiſter Bode,
ein derber, freimüthiger, ganz von althanſiſchem Bürgerſtolze erfüllter
Mann, führte das Wort und warnte den Fürſten vor der unheildrohenden
Stimmung des Volkes. Dahin hatte es der Herzog durch die knaben-
hafte Willkürherrſchaft dieſer ſieben Jahre gebracht, daß er in ſeinem durch
und durch welfiſch geſinnten Völkchen unter den gebildeten Klaſſen faſt gar
keine Anhänger mehr beſaß; ſelbſt die Offiziere murrten, weil er ſie bald
launiſch beleidigte bald ihnen den Gehalt beſchnitt oder erledigte Stellen
unbeſetzt ließ.
Die Maſſe des Volks nahm an dem Verfaſſungskampfe der Land-
ſtände geringen Antheil; doch ſie wußte genug von dem wüſten Treiben
im Schloſſe um den Herzog zu haſſen, ſie litt unter dem Drucke der
Binnenmauthen, ſie klagte, daß kein Fremder mehr den verrufenen Hof
beſuchte, daß der geizige Fürſt die öffentlichen Bauten einſtellen ließ
und alſo die Noth noch ſteigerte, die nach einer ſchlechten Ernte, einem
harten Winter überall in Deutſchland empfunden wurde. Karl ahnte
das nahende Unwetter und ließ in ſeiner Angſt Kanonen vor dem Schloſſe
auffahren, Pulvervorräthe in die nahe Aegidienkirche ſchaffen. Während
er am Abend des 6. Septembers im Theater weilte, ſammelten ſich einige
Volkshaufen um die beiden Wagen, die ihn und ſeine Dirne, eine
bekannte Schauſpielerin, zur Heimfahrt erwarteten; ſobald er aus dem
Schauſpielhauſe heraustrat, begrüßte ihn wüſtes Geſchrei, ein Hagel von
[101]Schloßbrand in Braunſchweig.
Steinen folgte dem davoneilenden Wagen. Vor dem Schloſſe ſtand eine
Schaar von Gaffern und Schreiern. Ein Offizier fragte: „Kinder, was
wollt Ihr denn eigentlich?“ Die Leute ſahen ſich verwundert an, bis
endlich ein liberaler Advokat das neue Pariſer Feldgeſchrei anſtimmte:
„Brot und Arbeit!“ — und einige wohlgenährte Schüler des Carolinums
den Jammerruf wiederholten.*) Zwei Züge Huſaren vertrieben dann
ohne Kampf die Menge von dem Bohlwege, gegenüber dem Schloſſe.
Am nächſten Morgen wurden die Kanonen und das Pulver hin-
weggeſchafft. Auf die Bitten der Bürger verſprach der Herzog auch einen
kleinen Steuererlaß ſowie einige Geldſummen für Straßenbauten und
Lebensmittel; er geſtattete ſogar, daß eine mit Piken bewaffnete Bürger-
wehr zuſammentrat, nur von der Berufung des Landtags wollte er nichts
hören. Am Abend ſtürmte wieder ein Pöbelhaufe gegen das Schloß
heran, berauſcht und heulend, höchſtens tauſend Köpfe ſtark; die Piken-
männer der Bürgerwehr wurden bald zur Seite gedrängt. Der Herzog
aber wagte nicht ſeine im Schloßhofe verſammelten Truppen feuern zu
laſſen; er ergriff nochmals die Flucht und ließ ſich von ſeinen Huſaren
zur Landesgrenze geleiten, um dann nach England zu reiſen. Mittler-
weile drang der Pöbel in das Schloß ein und begann Feuer anzulegen;
während die Strolche plünderten, ſah man einige offenbar verkleidete
Männer geſchäftig die geheimen Papiere des Herzogs durchſuchen. Der
commandirende General v. Herzberg, ein tapferer Veteran aus Wellington’s
ſpaniſchen Feldzügen, verſäumte ſeine Soldatenpflicht, ſtundenlang ließ er
die Truppen ruhig im Schloßgarten ſtehen. Eine einzige ohne ſeinen
Befehl abgegebene Salve, die unſchädlich über die Köpfe des Haufens
hinwegfuhr, genügte um den Hof zu ſäubern und ſelbſt die Räuber aus
dem Schloſſe zu verjagen; aber als die Truppen dann wieder unbeweglich
blieben, wagte ſich der Pöbel nochmals vor und begann ſein Werk von
Neuem. Die ganze Nacht hindurch währte die rohe Verwüſtung, kein
Menſchenleben fiel ihr zum Opfer; die Spritzen ließ der Haufe nicht
an das Schloß heran, und als die Grenadiere noch einen ſchwachen An-
griff auf die Meuterer unternahmen, verſuchten ſie nicht ihren leichten
Sieg zu verfolgen. Beim Grauen des Tages lag das ſchöne Bauwerk
faſt ganz in Aſche.
Unverkennbar ſtanden mehrere Männer aus dem Adel und dem
Beamtenthum hinter dieſem ſeltſamen unblutigen Aufruhr; gedungene
Banden und wüſtes Geſindel beſorgten die Arbeit, die erbitterte Bürger-
ſchaft ſah halb ſchadenfroh halb erſchrocken der Zerſtörung zu. Die
Namen der Verſchwörer ſind, obgleich einige Vermuthungen ſehr nahe
liegen, bis zum heutigen Tage verborgen geblieben, da die gerichtliche Unter-
[102]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſuchung nachher ungründlich geführt, manche wichtige Zeugen gar nicht
vernommen wurden. Der Handſtreich der Wenigen konnte offenbar nur
gelingen, weil das ganze Land den Herzog verwünſchte. Die vollbrachte
That erſchien Allen wie ein Gottesgericht, obwohl man ihre Roheit tadelte.
Wohl hatte ſich ſeit der großen Woche der Pariſer überall in der Welt
der Wahn verbreitet, daß die Maſſe im Straßenkampfe unbeſiegbar ſei;
alle Zeitungen wiederholten beſtändig den Ausſpruch, welchen einſt Napoleon
auf Grund der ſpaniſchen Erfahrungen ſeiner Marſchälle gethan haben
ſollte: wehe dem General, der ſich in der Enge der Gaſſen auf ein
Gefecht einläßt. Aber Furcht war es nicht, was den Offizieren der
ruhmreichen ſchwarzen Schaar die Hände lähmte, ſondern Haß und Ver-
achtung. Dürfen wir Bürgerblut vergießen um einem Elenden, der uns
feige verlaſſen hat, ſein Schloß zu behüten? — dies Bedenken drängte
ſich Allen auf und ſtimmte ſie unſicher gegenüber einem weder muthigen
noch zahlreichen Meutererhaufen. Berechneter Verrath der Offiziere iſt
nie erwieſen worden, und es bedarf auch dieſes Verdachtes nicht um die
ſchlechte Haltung der Truppen zu erklären.
In den Trümmern des Schloſſes — das fühlte Jedermann — hatte
Karl’s Herrſchaft ihr Grab gefunden, und als nun gar Einiges aus den
geraubten Briefſchaften und dem ſchwarzen Buche des Herzogs veröffent-
licht wurde, da ward die Rückkehr des Vertriebenen ganz unmöglich. Die
erbaulichen Geſtändniſſe dieſer ſchönen Seele — wie Metternich ſeinen
welfiſchen Liebling einmal nannte — gingen von Mund zu Mund, die
kleinſtädtiſche Klatſcherei ſchwelgte in gräßlichen Erfindungen, und der
leere knabenhafte Thor galt bei ſeinem ergrimmten Völkchen bald für einen
Wütherich und Giftmiſcher. Sobald man des Verhaßten ledig war, kehrte
die Ordnung ſogleich zurück. Die Bürgerwehr prunkte in den Straßen
umher, jetzt nach Pariſer Muſter mit Flinten bewaffnet, unter der Füh-
rung des gefeierten Volksmannes Bankier Löbbecke, und je unſchuldiger
dieſe Philiſter an dem Schloßbrande waren, um ſo kühner prahlten
ſie mit ihrer Revolution. Paris, Brüſſel und Braunſchweig bildeten
das Dreigeſtirn der neuen Völkerfreiheit, der Branntweinbrenner Götte,
der den Herzog um die Wegführung der Pulvervorräthe gebeten hatte,
hieß mindeſtens ein halber Lafa-Yette. General Herzberg wurde durch
das Geſchenk eines bürgerlichen Ehrenſäbels darüber getröſtet, daß die
preußiſchen Kameraden ihn mit ſehr zweifelhaften Blicken betrachteten;
denn „der heutige Soldat — ſo verſicherte eine Braunſchweigiſche Flug-
ſchrift — iſt nicht mehr der durch den Stock zum blinden Gehorſam
dreſſirte Vagabunde des vorigen Jahrhunderts“. Ein Bürgergardiſt drohte
dem Herzoge in einem offenen Briefe: 200000 Braunſchweiger würden
ſich lieber unter dem Schutte ihrer Häuſer begraben, als ſich unter die
Tyrannei eines zweiten Don Miguel begeben; ein anderer pries in einer
Abhandlung „den freiwilligen Gehorſam“ als den eigenthümlichen Vorzug
[103]Herzog Wilhelm erſcheint in Braunſchweig.
der Bürgergarde vor dem Heere. Mit dem Soldatenſpiele der Pariſer
Bourgeoiſie drang auch die undeutſche Verachtung des ernſten Waffen-
handwerks in das ſelbſtgefällige Bürgerthum dieſer Kleinſtaaten ein; die
wirkliche Volksbewaffnung, die in Preußen längſt beſtand, hieß „ein Werk-
zeug des Despotismus“.
Die Regierung wußte ſich nicht zu helfen. Von den verrufenen
Räthen des Herzogs hatten mehrere das Weite geſucht, den zurückbleiben-
den fehlten Kraft und Anſehen. Um ſo raſcher handelten die Landſtände;
einigen ihrer Führer kam der Schloßbrand offenbar nicht unerwartet.
Schon am 9. September verſammelte ſich der Große Ausſchuß und faßte
noch am ſelben Tage drei entſcheidende Beſchlüſſe. Er beſchloß bis zur
Einberufung des Landtages zuſammenzubleiben, er bevollmächtigte die
Grafen Werner Veltheim und Oberg, in Berlin und Hannover „vertrau-
liche Eröffnungen zu machen und für gewiſſe Fälle Rath zu erbitten“*);
er richtete endlich an den Bruder des Herzogs, den letzten noch übrigen
Sproſſen des Fürſtenhauſes, eine von vielen Bürgern mitunterzeichnete
Adreſſe, um ihn zu bitten, daß er „die Zügel der Regierung ſchleunigſt
übernehme“.
Herzog Wilhelm von Braunſchweig-Oels ſtand in Berlin bei den
Garde-Ulanen und galt bei den Kameraden für einen Lebemann, der
ſein großes Vermögen gründlich zu genießen verſtehe; Talente hatte man
an dem vierundzwanzigjährigen Prinzen bisher noch nicht bemerkt. Schon
am Abend des 8. September brachte ihm der reitende Bote eines braun-
ſchweigiſchen Hofbeamten die Nachricht von dem Aufruhr, und ſofort erbat
er ſich durch ſeinen väterlichen Freund, den Fürſten Wittgenſtein, die
Befehle des Königs. Auf Friedrich Wilhelm’s dringenden Rath**) reiſte
er dann eilends ab, um daheim vorläufig die Ordnung aufrechtzuhalten.
Allen unerwartet, erſchien er am 10. im Schloſſe Richmond, vor den
Thoren Braunſchweigs, während die Adreſſe des ſtändiſchen Ausſchuſſes
noch nach Berlin unterwegs war. Wie frohlockten die friedfertigen Re-
volutionshelden, als ſie nun wieder hoffen durften von einem leibhaftigen
Welfen beherrſcht zu werden. Im Triumphe wurde „Wilhelm der Ge-
ſegnete“ von der Bürgerwehr und jauchzenden Volkshaufen in die Stadt
ſeiner Väter eingeholt. Nichts lag ihm ferner als ehrgeizige Anſchläge
auf die Krone ſeines Bruders. Hart genug kam es ihm an, daß er die
fröhlichen Gelage der Berliner Garde mit den Sorgen der Regierung
und der Langeweile der kleinen Hauptſtadt vertauſchen mußte; auch blieb
er ſein Lebelang den ſtrengen legitimiſtiſchen Grundſätzen ſeines Hauſes
ergeben und konnte den ſtillen Aerger über die Meuterei ſeiner Braun-
[104]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſchweiger nie ganz verwinden. Nur die Macht der Verhältniſſe riß den
Widerſtrebenden vorwärts, und kein Wunder, daß der wohlmeinende, aber
unerfahrene, bildungsloſe und wenig ſcharfblickende Fürſt, überwältigt
durch den ſeltſamen Anblick der aufgeregten Stadt, die Stärke dieſer
kleinbürgerlichen Volksbewegung überſchätzte.
Der junge Welfe fühlte, daß er eines Rückhalts bedurfte, und blieb
daher mit ſeinem Gönner Wittgenſtein in ununterbrochenem Briefwechſel.
Auf des Herzogs Bitten ließ der König von Preußen zwei im Braun-
ſchweigiſchen wohlbekannte Grundherren aus der Nachbarſchaft, v. Wulffen
und v. Alvensleben, das Ländchen bereiſen. Beide berichteten der Wahr-
heit gemäß, daß der landflüchtige Fürſt von Allen aufgegeben ſei und
Jedermann das Verbleiben des Herzogs Wilhelm wünſche.*) Unterdeſſen
war Graf Veltheim in Berlin eingetroffen. Er legte jenes ſchwarze Buch
vor, worin Herzog Karl ſeine frevelhaften Regierungsgrundſätze aufge-
zeichnet hatte, und bat gradezu, der König möge den jüngeren Bruder
zur förmlichen Uebernahme der Statthalterſchaft veranlaſſen. Bernſtorff
hörte den Grafen an; jedoch auf Verhandlungen mit dem landſtändiſchen
Abgeſandten, der noch dazu als perſönlicher Feind des vertriebenen Her-
zogs bekannt war, wollte er ſich nicht einlaſſen. Preußen, ſo berichtete
er dem Könige, müſſe „ſelbſt den Schein der Nachſicht in der Beurtheilung
eines Aufſtandes vermeiden“ und in ſo ernſter Zeit den Nachbarn, ins-
beſondere dem nächſtbetheiligten hannoverſchen Hofe keinen Anlaß zum
Mißtrauen geben; dem Bunde allein gebühre die Entſcheidung. Demnach
wurde Nagler beauftragt, in Frankfurt die ungeſäumte Abſendung eines
Bundescommiſſärs zu verlangen; dem jungen Herzog aber befahl Bernſtorff
im Namen des Königs: bis der Bund geſprochen habe, ſolle er in ſeiner
„unbeſtimmten, aber ſehr wohlthätigen Stellung“ ausharren.**) Der König
wußte, daß die Rückkehr des Vertriebenen, bei der allgemeinen Aufregung
im deutſchen Norden, hochbedenklich, ja unmöglich war; doch ſo lange ſich
noch hoffen ließ, daß die Bundesverſammlung ihre Pflicht erfüllen würde,
wollte er den Boden des Bundesrechts nicht verlaſſen.
Faſt noch vorſichtiger verfuhren die allezeit bedachtſamen hannoverſchen
Miniſter. Sie weigerten ſich, mit dem Grafen Oberg, dem Bevollmäch-
tigten der braunſchweigiſchen Stände, amtliche Verhandlungen anzuknüpfen,
baten den Berliner Hof um ſeinen Rath und legten zugleich in einer langen
Denkſchrift ihrem Könige die Frage vor, ob er nicht als Haupt des Braun-
ſchweigiſchen Hauſes verſuchen wolle, den flüchtigen Herzog zur Abdankung
zu bewegen um alſo den ſchlimmen Handel in Frieden aus der Welt zu
[105]Herzog Karl in England.
ſchaffen.*) König Wilhelm IV. äußerte ſich tief entrüſtet über den Aufruhr
und die dem welfiſchen Hauſe angethane Schmach. Der gutmüthige Herr
theilte den Haß ſeines verſtorbenen Bruders gegen Herzog Karl durchaus
nicht, ſondern empfing den Flüchtling wohlwollend, als dieſer ihn wenige
Tage nach der Landung im Pavillon zu Brighton aufſuchte. Aber wie
groß war ſein Befremden, da er nun den geckenhaften Uebermuth, die
ſchamloſe Verlogenheit ſeines Neffen kennen lernte. Karl hatte noch immer
keine Ahnung von dem Ernſt ſeiner Lage; er hoffte beſtimmt, durch die
großen Mächte, deren Hilfe er angerufen, alsbald wieder eingeſetzt zu
werden, und erzählte ſeinem Oheim lachend: nur aus Liebe, nur um ihn
im Lande zu behalten und ſeine längſt beabſichtigte engliſche Reiſe zu ver-
hindern hätten ihm die Braunſchweiger ſein Schloß angezündet.**) Durch
die engliſchen Miniſter ließ er ſich indeß bereden, ſeinem Bruder, der
ihm über alles Geſchehene gewiſſenhaft Bericht erſtattete, mindeſtens eine
widerrufliche Vollmacht zu ertheilen (21. Sept.): Herzog Wilhelm ſollte
als Generalgouverneur vorläufig die Regierung führen, jedoch nur pro-
viſoriſche Ernennungen vornehmen und an den organiſchen Geſetzen nichts
ändern.***)
Aber welch eine lächerliche Rolle ſpielte unterdeſſen der Bundestag.
Die Abſtimmungen über den Bundesbeſchluß, welcher den Herzog Karl
zur Anerkennung der neuen Verfaſſung nöthigen ſollte, waren noch immer
nicht alle eingelaufen; da kam ſchon die Nachricht von der Vertreibung des
Böſewichts. Unbeſchreiblich war der Schrecken. Alle fühlten, daß Karl’s
Sturz ſelbſtverſchuldet und unwiderruflich ſei. Doch ſo leichthin wollte
Oeſterreich ſeinen Schützling nicht preisgeben. Die kleinen Höfe, zumal
die weitverzweigte Verwandtſchaft des Braunſchweigiſchen Hauſes, zitterten
vor der Zumuthung, daß ſie die Revolution anerkennen, das legitime
Fürſtenrecht verleugnen ſollten. Wirr wogten die Meinungen durch ein-
ander, an raſches Handeln war gar nicht zu denken. Die rathloſe Ver-
ſammlung ermannte ſich vorerſt nur zu dem Beſchluſſe, einen Bericht
der braunſchweigiſchen Regierung einzufordern.
Wie hätten die Braunſchweiger in ſolcher Lage nicht die Geduld ver-
lieren ſollen? Das aufgeregte Land bedurfte durchaus einer endgiltigen
Ordnung. Die Landſtände verſammelten ſich und überreichten dem Herzog
Wilhelm am 27. September eine Adreſſe, worin ſie, nach einer grell gefärbten
Darſtellung der Landesbeſchwerden, kühnlich ausſprachen, er müſſe die Re-
gierung übernehmen, weil Herzog Karl „nach den Grundſätzen des allge-
meinen Staatsrechts“ ſie unmöglich fortführen könne. Der junge Welfe
[106]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
war auch gern bereit, die Statthalterſchaft im Namen ſeines Bruders förm-
lich anzutreten, da deſſen Vollmacht mittlerweile aus London eingetroffen
war. Aber die Miniſter, die Landſtände, die Stadträthe und viele andere
ungebetene Rathgeber ſtellten ihm ernſt, faſt drohend vor, nimmermehr
dürfe der Name des Vertriebenen erwähnt werden, ſonſt breche der Auf-
ruhr von Neuem los. Am Abend ſtrömte wieder ein Volkshaufen auf
dem Burgplatze zuſammen; ein Redner kletterte auf das alte Löwendenk-
mal hinauf und ließ die Verſammlung ein Pereat auf Karl, ein Hoch
auf den neuen Herzog Wilhelm ausbringen.
Eingeſchüchtert durch dieſe Kundgebungen des Volkswillens, verkündigte
Wilhelm am 28. September, er habe ſich „veranlaßt gefunden, die Re-
gierung bis auf Weiteres zu übernehmen“; von der Vollmacht ſeines
Bruders ſagte er in ſeinem Patent kein Wort. Aus Furcht und jugend-
licher Unerfahrenheit, keineswegs aus Ehrgeiz, that er alſo den erſten
rechtswidrigen Schritt. Dem Könige von Preußen wagte er ſein Unrecht
nicht einzugeſtehen, ſondern zeigte ihm nur an, daß er „in Uebereinſtim-
mung mit ſeinem Bruder“ die Regierung vorläufig übernommen habe.
Seinem engliſchen Oheim gegenüber ging er freier mit der Sprache
heraus: er habe, ſo ſchrieb er ihm, die Vollmacht ſeines Bruders ver-
öffentlichen wollen und viele Vertrauensmänner darüber befragt; aber
„einmüthig ward es ausgeſprochen, daß eine ſolche Verkündigung den
Zweck meiner proviſoriſchen Regierungs-Uebernahme gänzlich vereiteln,
ja von Neuem eine allgemeine Gährung veranlaſſen und die gefähr-
lichſten Folgen für das Wohl des Landes auch in Rückſicht meiner Perſon
haben würde.“*) Die Entſchuldigung war ſo ſchwächlich wie ſein ganzes
Verfahren; denn fand er den Muth bei ſeinem erſten Entſchluſſe zu
beharren, dann konnte er als unbeſtreitbar rechtmäßiger Statthalter
mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Preußens, Hannovers, ja ſelbſt des
Deutſchen Bundes zählen, und gegen preußiſche Bataillone hätten die
Heerſchaaren des Bürgerwehr-Majors Löbbecke ihren „freien Gehorſam“
ſchwerlich bethätigt. Den Landſtänden erwiderte Herzog Wilhelm: er werde
verſuchen ſeinen Bruder zur Abdankung zu bewegen; mißlinge dies, ſo
wolle er ſie nicht hindern, ſich an den wohlwollenden König von England-
Hannover zu wenden. Der Wink ward ſofort verſtanden. Noch am
ſelben Tage riefen die Stände die Vermittlung Wilhelm’s IV. an: wenn
nur Karl erſt die Krone niedergelegt habe, dann ſei ſein Bruder recht-
mäßiger Landesherr.**)
In Berlin wie in London mußte man ſich ſagen, daß Herzog Wilhelm’s
eigenmächtige That nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Ohne
[107]Herzog Wilhelm’s Regentſchaft.
ihn ließ ſich die Beruhigung des Ländchens nicht erreichen, und auch die
trotzige Haltung der Braunſchweiger entſprang keineswegs allein dem über-
ſpannten Selbſtgefühle des revolutionären Philiſterthums: eine wider-
rufliche Vollmacht bot, bei Karl’s Charakter, in der That keine Gewähr
für dauernden Frieden. Darum ſahen beide Höfe über den begangenen
Formfehler ſchweigend hinweg und bemühten ſich während der nächſten
Wochen wetteifernd, den Flüchtling zu freiwilligem Verzicht zu bewegen.
Der König von Preußen ſchrieb ihm ſelbſt, noch nachdrücklicher Fürſt
Wittgenſtein.*) König Wilhelm IV. aber unterhandelte, erſt durch Wel-
lington und Aberdeen, nachher perſönlich mit ſeinem Neffen. Er verfuhr
ſchonend und ſtreng ehrenhaft; ſelbſt Graf Münſter, des Herzogs alter
Feind, bekundete eine unerwartete Mäßigung. Man ließ dem Herzog die
Wahl, ob er gänzlich abdanken oder ſeinem Bruder mit unbeſchränkter
und unwiderruflicher Vollmacht die lebenslängliche Statthalterſchaft über-
tragen wolle. Auf jeden Fall — darüber waren die beiden Könige einig —
ſollte Karl’s Nachkommen ihr Erbrecht vorbehalten bleiben.**)
Endlich begann der Herzog einzulenken und rückte mit ſeinen Be-
dingungen heraus. Er war bereit den Bruder zum General-Gouverneur
auf Lebenszeit zu ernennen, verlangte aber für ſich, außer dem Hof-
ſtaate und den Ehrenrechten eines Souveräns, eine jährliche Rente von
300000 Thalern, ohne Abzug, lediglich für ſeine perſönlichen Ausgaben —
und dies von einem Ländchen, deſſen geſammte Staatseinnahmen wenig
mehr als eine Million betrugen. Außerdem ſollte der Landtag das Recht
erhalten, den Herzog jederzeit zur Selbſtregierung zurückzurufen. Da nach
engliſchen Anſtandsbegriffen ſolche kaufmänniſche Künſte nicht anſtößig ſind,
ſo zeigten ſich Wellington und Aberdeen geneigt, Karl’s Vorſchläge im
Weſentlichen anzunehmen; was kümmerte dieſe Torys die Finanznoth
eines deutſchen Kleinſtaats? Münſter aber fand die Geldſumme viel zu
hoch, den Vorbehalt einer Zurückberufung ganz unannehmbar.***) Noch
peinlicher war der Berliner Hof überraſcht. Tief empört ſchrieb Bernſtorff
nach Wien: daß Herzog Karl ſich ſträubt, iſt nicht zu verwundern; „daß
er aber einen ſo hohen Preis in Gelde dafür fordert, einen Preis,
welchen das Land kaum erſchwingen kann, giebt einen abermaligen Be-
weis von der Härte und dem grenzenloſen Egoismus ſeines Charakters.“†)
König Friedrich Wilhelm war indeſſen längſt zu der Erkenntniß ge-
langt, daß die zaudernden engliſchen Welfen eines Spornes bedurften.
[108]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Er hatte den jungen Herzog zu der Reiſe nach Braunſchweig bewogen
und ſich dann zurückgehalten, um dem Deutſchen Bunde und dem wel-
fiſchen Hauſe nicht vorzugreifen. Aber die von Preußen früher beabſich-
tigte Abſendung eines Bundescommiſſars war durch die Ereigniſſe längſt
überholt. Herzog Wilhelm’s eigenmächtige Statthalterſchaft wurde von
den Revolutionären allerorten als ein Regiment der Volksſouveränität
geprieſen, die unſicheren Zuſtände des Landes bedrohten die ganze Nach-
barſchaft. Es ward hohe Zeit, daß der Bund die Regentſchaft anerkannte
und ihr alſo einen feſten Rechtsboden verſchaffte. Der König ließ daher
die preußiſche Anſicht in einer ausführlichen Denkſchrift des Auswärtigen
Amtes zuſammenfaſſen (29. Oct.): Die Unruhen in Braunſchweig ſeien
nicht ſchlechthin anarchiſch, ſondern lediglich gegen den Herzog gerichtet
geweſen, der Haß gegen ihn aber ſo glühend, daß die Deutſchen bei ſeiner
Rückkehr vielleicht ſelbſt „das ſchauderhafte Beiſpiel“ des Fürſtenmordes
erleben könnten. Verſtehe er ſich nicht zu einem Verzichte, ſo bleibe, da
die Reichsgerichte nicht mehr beſtünden, nur noch das eine Mittel übrig,
daß die Agnaten des welfiſchen Hauſes mit Genehmigung des Bundes-
tags einen endgiltigen Rechtszuſtand herſtellten. Noch deutlicher ſchrieb
Bernſtorff einige Wochen darauf nach London: ſcheitern die Verhandlungen
mit Herzog Karl, dann dürfen ſie nicht von Neuem aufgenommen werden,
ſondern die Agnaten müſſen den Vertriebenen für regierungsunfähig
erklären und dieſen Beſchluß durch den Bundestag gutheißen laſſen.*)
Die Denkſchrift wurde nach London, Hannover und Frankfurt, erſt ſpäter
nach Wien geſendet. Eichhorn ſelbſt hatte ſie ſorgfältig umgearbeitet und
Alles klug darauf berechnet, die hannoverſche Regierung vorwärts zu
drängen, ohne doch den immer wachen Argwohn des Grafen Münſter
gegen Preußens hegemoniſche Gelüſte aufzureizen. Der Streich gelang.
Münſter eignete ſich die preußiſchen Anſichten vollſtändig an und wieder-
holte ſie in einer Denkſchrift für den hannoverſchen Bundesgeſandten,
welche das gemeinſame Vorgehen der beiden Kronen in Frankfurt vor-
bereiten ſollte.**) Herzog Wilhelm aber ſprach, ſichtlich erleichtert, dem
Berliner Hofe ſeinen Dank aus; er erbat und erhielt die Erlaubniß, ſich
auf die preußiſche Denkſchrift zu berufen, falls er in die Lage käme, ſein
Verbleiben in Braunſchweig vor den deutſchen Fürſten zu rechtfertigen.***)
Zunächſt mußte der Bundestag die ſo ſchmählich verſchleppte Be-
ſchwerde der Landſtände gegen Herzog Karl endlich erledigen. Bis zum
letzten Augenblicke verſuchte Graf Münch unter allerhand Vorwänden dieſe
Entſcheidung zu hintertreiben; grenzenlos war die Nachſicht des Hauſes
[109]Verhandlungen mit Herzog Karl.
Oeſterreich für den verächtlichſten der deutſchen Fürſten. Aber Nagler blieb
ſtandhaft, und am 4. November — zwei Monate nach der Flucht des
Welfen — beſchloß die Bundesverſammlung dem Herzog Karl zu eröffnen,
daß er die Landſchaftsordnung von 1820 nur auf verfaſſungsmäßigem
Wege abändern dürfe. Wie lächerlich auch dieſer Beſchluß in der gänzlich
veränderten Lage klingen mochte, er war doch nothwendig, er ſicherte den
unglücklichen Braunſchweigern mindeſtens ihre neue Verfaſſung. Preußens
Triumph war vollſtändig, und ingrimmig nannte Metternich im vertrauten
Kreiſe den einſt ſo hochgeſchätzten Nagler einen verkappten Jacobiner.
Außer Oeſterreich hatten nur der unverbeſſerliche Kurfürſt von Heſſen
und Münch’s getreuer Trabant, der Stimmführer der ſechzehnten Curie
Leonhardi gegen den Beſchluß geſtimmt.*) Nun erſt konnte man an die
Frage des Augenblicks herantreten. An die Wiedereinſetzung des Herzogs
Karl glaubte eigentlich Niemand mehr, nicht einmal der ſtrengſte aller
Legitimiſten Czar Nikolaus. Der antwortete auf den Hilferuf des Flüch-
tigen: „Wenn ich die Ereigniſſe, von denen Sie mir ſprechen, beklage, ſo
beklage ich doch nicht weniger die verhängnißvollen Verirrungen, welche
ſie hervorgerufen haben, und die Täuſchungen, welche Ew. Durchlaucht
noch über ihre unvermeidlichen Folgen zu hegen ſcheinen.“**) Auch Met-
ternich hatte dem preußiſchen Geſandten wiederholt ausgeſprochen, daß
Karl jetzt unmöglich ſei, und Kaiſer Franz ſogar einen freundlichen Brief
an Herzog Wilhelm gerichtet. Aber wie zweideutig blieb bei Alledem
Oeſterreichs Haltung. Als der neue k. k. Geſandte, Hruby, in Braun-
ſchweig erſchien, brachte er ein Beglaubigungsſchreiben an Herzog Karl
mit, und dies Schreiben ſollte er dem Bruder des Herzogs als deſſen
Stellvertreter überreichen.***) Münch begann unterdeſſen wieder ſein altes
Spiel gegen Nagler, und bei der ängſtlichen Zerfahrenheit der Verſamm-
lung durfte er wohl hoffen die Entſcheidung abermals hinauszuzögern.
Da wurde der Bundestag durch eine neue Thorheit des flüchtigen Welfen
zum Handeln gezwungen.
Am 8. November hatte Karl die Verhandlungen mit den engliſchen
Miniſtern plötzlich abgebrochen, am folgenden Tage war er aus England
verſchwunden. Acht Tage ſpäter tauchte er in der Frankfurter Gegend
wieder auf; der Jude Henrici, der ſoeben aus dem Londoner Schuldge-
fängniß entlaſſene vormalige bairiſche Lieutenant Bender v. Bienenthal
und einige andere Abenteurer gleichen Schlages bildeten ſein Gefolge.
Er kam mit gefüllten Taſchen und war entſchloſſen, ſich mit einer Frei-
ſchaar die Krone zurückzuerobern. Da Herzog Wilhelm ſeiner Vollmacht
nicht öffentlich erwähnt hatte, ſo betrachtete Karl ihn fortan als Feind,
[110]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
nahm am 16. November die Vollmacht förmlich zurück und forderte den
Bruder auf, ſich zu einer Unterredung in Fulda einzufinden. Die Braun-
ſchweiger aber wollten ihren Regenten nicht ziehen laſſen; ſie fürchteten
im Ernſt — ſo ſtark hatten ſich die Gemüther erhitzt — Karl werde den
Bruder vergiften. „Daß ich dergleichen Beſorgniſſe nicht hege, bedarf
wohl weiter keiner Verſicherung“ — ſchrieb Herzog Wilhelm an Wittgen-
ſtein, indeß wagte er auch nicht der Einladung, die ja doch keinen Er-
folg verhieß, zu entſprechen.*) Wie fühlte er ſich wieder ſo unſicher und
verlegen. Die Zurücknahme der Vollmacht zog ihm den Rechtsboden
unter den Füßen hinweg; ſeine Statthalterſchaft war nunmehr nicht blos
der Form ſondern auch der Sache nach eine rechtswidrige Uſurpation.
Wieder wendete er ſich nach Berlin um Hilfe und geſtand ſeinem Wittgen-
ſtein: Wenn ich nicht öffentlich erklären darf, daß die Könige von Preußen
und Hannover mein Verbleiben wünſchen, ſo „werde ich wohl nicht um-
hin können mich von hier zu entfernen“. Die preußiſche Antwort ver-
ſtand ſich von ſelbſt. Unmöglich durfte man dem vertriebenen Welfen
geſtatten, durch einen launiſchen Einfall den mühſam hergeſtellten vor-
läufigen Rechtszuſtand wieder über den Haufen zu werfen. Der junge
Herzog wurde aufgefordert, auch nach dem Erlöſchen der Vollmacht in
ſeiner Stellung auszuharren.**)
Noch bevor die Erwiderung aus Berlin eintraf, hatten ſich die Braun-
ſchweiger ſelber geregt. Auf die Kunde von dem Herannahen des verab-
ſcheuten kleinen Tyrannen gerieth das Land wieder in fieberiſche Unruhe.
Die Bürgerwehr gelobte in einer ſtürmiſchen Verſammlung feierlich, nur
dem Herzog Wilhelm zu gehorchen, und das Gleiche beſchloſſen — ein in
Deutſchland unerhörter Fall — auch die Offiziere des kleinen Heeres.
Das war der Fluch der Trägheit des Deutſchen Bundes. Faſt ein Viertel-
jahr lang hatte er das unglückliche Land ſich ſelber überlaſſen, und nun
waren alle Rechtsbegriffe ſchon dermaßen verwirrt, daß ſelbſt der Fahnen-
eid dieſer durch Muth und Treue gleich berühmten Truppe nicht mehr
Stand hielt. Magiſtrat und Stadtverordnete der Hauptſtadt verſicherten
dem jungen Herzog in einer pathetiſchen Adreſſe: „Die Sündenſchaar wird
ihr boshaftes Treiben ſo lange fortſetzen“ bis die dauernde Regierung
unſeres neuen Landesherrn außer allem Zweifel ſteht. Und der wackere
Bürgermeiſter Bode fügte in einem Begleitſchreiben hinzu: „Sollten Rück-
ſchritte dem alten, über alle Beſchreibung drückenden und ſchaudervollen
Zuſtande wieder näher führen, ſo will ich lieber nicht leben als an der
Spitze einer nach und nach entwürdigten oder zur deſperaten Wuth gereizten
Bürgerſchaft ſtehen.“***) Dem gefeierten Herzog war bei dieſen Huldigungen
[111]Karl’s verſuchte Rückkehr.
ſehr übel zu Muthe; das Betragen der Offiziere ſchmerzte ihn tief, und
traurig bekannte er dem väterlichen Wittgenſtein: „Die Verhältniſſe nöthigen
mich, alle dieſe Dinge ſtillſchweigend gut zu heißen.“*) Aber auch diesmal
ließ er ſich von der Strömung treiben und geſtand in einer Proclamation
vom 26. Nov.: er habe die Regierung „nicht ohne die Zuſtimmung“ ſeines
Bruders übernommen; obgleich „dieſe Zuſtimmung zu ſeinem innigſten
Bedauern jetzt aufgehört“ habe, ſo wolle er doch auf ſeiner Stelle bleiben,
da Herzog Karl außer Stande ſei ſelbſt zu regieren. Und wieder ent-
ſchuldigte er ſich vor dem preußiſchen Hofe: der Schritt ſei durch die all-
gemeine Gährung geboten worden.**)
Herzog Karl war unterdeſſen in dem preußiſchen Städtchen Ellrich
am ſüdlichen Abhange des Harzes eingetroffen. Dort warb er einen
Haufen müſſigen Volkes, ließ das Geſindel tellergroße franzöſiſche Kokar-
den, die er aus Metz mitgebracht, auf die Mützen ſtecken, und führte
ſeine Bande am 30. November gegen die nahe braunſchweigiſche Grenze.
Er ſpielte jetzt ganz den internationalen Demagogen, verſprach ſeinem
Volke in aberwitzigen Manifeſten Abſchaffung des Heeres, Ablöſung der
Zehnten, Steuerfreiheit für die niederen Klaſſen, Schwurgerichte, gewählte
Volksvertreter und Beamte. Auch einen gefälſchten Aufruf ſeines Bruders
führte er in zahlreichen Abzügen mit ſich: darin mahnte Herzog Wilhelm
die Unterthanen, „ihre Gemüther nur den Verheißungen und dem guten
Willen Unſeres Bruders zu öffnen.“***) An der Grenze, bei Zorge ſtanden
die ſchwarzen Jäger, die noch den Namenszug Karl’s auf den Tſchackos
trugen; doch weder die Offiziere noch die Mannſchaft wollten dem Kriegs-
herrn folgen, als dieſer halb berauſcht und weinend ſie zu überreden
ſuchte. Sobald die Truppen ſich zum Feuern fertig machten, ergriff der
Welfe zum dritten male die Flucht, ehe noch ein Schuß gefallen war;
ſeine Bande ſtob auseinander, und die aufgefundenen blauweißrothen
Kokarden wurden nachher den Depeſchen der Diplomatie beigelegt um die
jacobiniſchen Pläne dieſes legitimen Fürſten handgreiflich zu erweiſen. Mit
dem Stolze des Helden berichtete ſodann der Jägerhauptmann Berner
von der unblutigen Schlacht, die ſich an „dieſem in der Geſchichte ewig
denkwürdigen Platze“ abgeſpielt hatte.†) Karl eilte weſtwärts, und als
ſich unterwegs in Oſterode drohendes Volk vor ſeinem Gaſthauſe zuſammen-
rottete, ſuchte er zum vierten male ſein Heil in der Flucht, bis er end-
lich die Grenzen Frankreichs erreichte.
Dieſe widerlichen Narrenſtreiche ſtießen dem Faſſe doch den Boden
***)
[112]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
aus. Daß ein ſolcher Menſch dem deutſchen hohen Adel nicht mehr an-
gehören durfte, leuchtete ſchließlich Allen ein. Karl konnte ſich auf ſein
unbeſtreitbares Fürſtenrecht berufen; nun hatte er ſelber den Pöbel auf-
gehetzt, den Landfrieden des preußiſchen Staates geſtört, und in Berlin
war man ſchon entſchloſſen ihn aufheben zu laſſen. Jetzt erſt, nachdem
Karl ſelber die gütlichen Verhandlungen abgebrochen, beantwortete der
bedächtige König von England die Adreſſe des braunſchweigiſchen Stände-
Ausſchuſſes vom September und verſicherte die Landſtände ſeines Schutzes.
Selbſt Kaiſer Franz erklärte dem Herzog Wilhelm ſeine volle Zuſtim-
mung zu den unvermeidlichen Entſchlüſſen der letzten Tage.*) Am Bun-
destage war Alles verwandelt; außer dem kurheſſiſchen Geſandten beſtritt
Niemand mehr, daß Karl zum Regieren unfähig ſei. Münch’s Zauder-
künſte hörten auf, die Anſichten Preußens und Hannovers fanden raſch
Anklang, und ſchon am 3. December einigte ſich der Bundestag über
einen Beſchluß, dem nur einzelne Regierungen nach altem Bundes-
brauche noch einen Vorbehalt anhingen. Herzog Wilhelm wurde erſucht
„die Regierung bis auf Weiteres zu führen“, den Agnaten aber ward
„anheimgegeben, die definitive Anordnung für die Zukunft zu bewirken“
und ſie dem Deutſchen Bunde zur Anerkennung mitzutheilen. Der junge
Herzog athmete auf und beeilte ſich, den erſten Theil des Beſchluſſes
ſeinem Lande mitzutheilen. Nun hatte er doch wieder einen Rückhalt: er
regierte fortan im Auftrage des Deutſchen Bundes.
Freilich nur „bis auf Weiteres“. Und ſeine Stellung ward mit jedem
Tage unhaltbarer. Karl verwahrte ſich ſogleich wider den Bundesbeſchluß;
er erklärte dem Könige von Preußen: einem ſeiner „ſouveränen Mit-
fürſten“ wolle er wohl die Verwaltung des Landes anvertrauen, doch
nimmermehr dieſem Bruder; und drei Wochen darauf bot er ſelber dem
Bruder an, ihn zum Mitregenten oder zum proviſoriſchen Regenten zu er-
nennen, aber immer mit dem Vorbehalte: „niemals werde ich auf meine Lan-
deshoheits- und Regierungsrechte zu Gunſten eines Dritten verzichten.“**)
Als Herzog Wilhelm auf dieſe unklaren und ſchwerlich ehrlich gemeinten
Vorſchläge nicht einging, wurde er von dem Flüchtling mit Schmähungen
überſchüttet. Wie durfte man ihm zumuthen, auf die Dauer die Statt-
halterſchaft zu führen für einen Fürſten, der ihn ſoeben mit den Waffen
anzugreifen verſucht hatte, der ihn öffentlich als Rebellen und Verräther
brandmarkte? Das neue Miniſterium, das er ſich aus tüchtigen Männern
gebildet und der gewandten Leitung des Frhrn. v. Schleinitz unterſtellt
hatte, war ſchon längſt der Meinung, daß der Herzog die Regierung de-
finitiv übernehmen müſſe.***) Wie ein Mann forderte das ganze Land
[113]Die welfiſche Erbfolgefrage.
den Uebergang der Herzogskrone an den jüngeren Bruder. Und nun
faßte ſich auch der junge Welfe ſelbſt ein Herz und erklärte dem hanno-
verſchen Miniſter Stralenheim in hellem Zorne: im Namen Karl’s könne
er nicht regieren; er wolle auch nicht in die Lage kommen, etwa für einen
minderjährigen Sohn ſeines Bruders die Vormundſchaft zu führen, um
dann vielleicht den gleichen Undank zu erleben wie einſt König Georg IV.
und ſein Alter in Elend und Sorge zu verbringen.*) Dieſe Sprache
verfehlte in London ihre Wirkung nicht ganz. Legte der junge Welfe die
Regentſchaft nieder, ſo mußte der König von Hannover als nächſter Agnat
ſie übernehmen, und ſolche Ausſichten erſchienen ſeinen Räthen, nach den
bitteren Erfahrungen früherer Jahre, ſehr unheimlich. Daher ſprach ſich
Graf Münſter jetzt für Herzog Wilhelm’s Anſicht aus: der junge Herr
habe auch eine Stimme und könne zur Fortführung der Regentſchaft
nicht gezwungen werden.**) Nur König Wilhelm IV. wollte ſeine Rechts-
bedenken nicht aufgeben; das ungeſtüme Drängen der Braunſchweiger
verletzte ſeinen Welfenſtolz, und er ſchrieb dem Neffen: „Die Form, ob
Sie in eigenem oder in Ihres Herrn Bruders Namen regieren würden,
ſchien mir von weniger Wichtigkeit zu ſein, und ich geſtehe Euer Liebden
unverhohlen, daß die daſigen Unterthanen ſich zu viel herausnehmen
würden, wenn ſie ſich dem Gebrauche von Formen ſich zu widerſetzen das
Anſehen geben würden, welche das Völker- und Fürſten-Recht geheiligt
hat.“***)
Hinter allen dieſen Bedenken ſtand als ſchwerſtes die Frage der Erb-
folge, die bei freiwilligem Verzichte des Herzogs Karl ſich leicht löſen ließ,
jetzt aber ganz unentwirrbar ſchien. Wurde dem jüngeren Bruder die
Herzogskrone übertragen und dennoch den Nachkommen des älteren, nach
der urſprünglichen Abſicht aller Agnaten, das Erbfolgerecht vorbehalten,
ſo war mit Sicherheit vorauszuſehen, daß Karl, wie vormals Anton
Ulrich von Meiningen, aus Bosheit ſofort heirathete und eine furchtbare
Schaar rechtmäßiger Erben erzeugte; eine ebenbürtige Gemahlin aus einem
kleinen mediatiſirten Hauſe hätte ſich leicht gefunden. Sollte dann Herzog
Wilhelm gehalten ſein, die Krone zu Gunſten eines Neffen niederzulegen?
Faſt noch gefährlicher ſchien es, den Mannsſtamm des jüngeren Bruders
kurzweg zur Thronfolge zu berufen. Die Reichsacht alter Zeiten hatte
zwar regelmäßig der ungeborenen Nachkommenſchaft des Aechters ihre
Erbanſprüche genommen; aber wie durften die Agnaten eines ſouveränen
Bundesfürſten ſich eine ſolche Strafgewalt anmaßen? Bedenken alſo und
Zweifel überall. Das Bundesrecht gab keine Antwort; ohne die Majeſtät
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 8
[114]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
von Kaiſer und Reich war die Frage rechtlich nicht zu löſen. Die Welfen
wußten ſich wieder nicht zu helfen, und wieder mußte Preußen ſie vor-
wärts treiben.
König Friedrich Wilhelm zeigte ſich in dieſem Handel überraſchend
feſt und ſicher. Wie tief er auch von der Heiligkeit des monarchiſchen
Rechtes durchdrungen war, ſo ſagte ihm doch ſein ehrliches Gewiſſen, daß
jedem menſchlichen Rechte eine letzte Schranke geſetzt iſt. Er hielt es für
eine ſittliche Pflicht, den deutſchen Fürſtenſtand von einem Unwürdigen
zu befreien, und für ein Gebot der Klugheit, der Nation in dieſer Zeit
der Gährung zu beweiſen, daß mindeſtens das Uebermaß fürſtlicher Will-
kür in Deutſchland nicht geduldet werde. Kurz und kühl erwiderte er
auf einen neuen Brief des Flüchtlings: die Agnaten und dann der Bund
hätten noch einmal zu ſprechen, die deutſchen Fürſten würden Alles „aus
dem Geſichtspunkt fürſtlicher Ehre und Würde in ſorgfältige Erwägung
ziehen“.*) Weder die legitimiſtiſchen Doctrinen ſeines Schwagers Karl von
Mecklenburg noch die Bitten der braunſchweigiſchen Verwandtſchaft ver-
mochten ihn umzuſtimmen. Als Karl’s Großmutter, die greiſe, halb
erblindete Markgräfin Amalie von Baden und deren Tochter, die Königin-
Wittwe Karoline von Baiern ihm nach Frauenart vorſtellten, der Ver-
bannte werde durch „ſein ſchreckliches Unglück“ hoffentlich gebeſſert wer-
den, da antwortete der König: „Zur Wiederherſtellung der Ordnung im
Herzogthum und zur Sicherung der Ruhe in den Nachbarlanden giebt
es nur das eine Mittel: die Regierungsunfähigkeit, wovon Herzog Karl
nur zu arge Proben gegeben hat, förmlich anzuerkennen und die Staats-
gewalt in den Händen ſeines Bruders geſetzlich zu befeſtigen.“**)
In dieſem Sinne war auch die neue Denkſchrift gehalten, welche das
Auswärtige Amt am 9. Jan. 1831 dem hannoverſchen Geſandten Reden
für die Agnaten übergab. Sie führte aus: nachdem die Statthalterſchaft
durch Karl’s letzte Schritte unmöglich geworden, ſollten die Agnaten nicht
als Richter auftreten, ſondern lediglich die Thatſache der „abſoluten Re-
gierungsunfähigkeit“ des Herzogs feſtſtellen. „Eine in Ausübung der
Regierungsgewalt bewieſene Bösartigkeit, welche gerade wegen der dabei
vorhandenen völligen Zurechnungsfähigkeit die Gemüther ſeiner Unter-
thanen gegen ihn empört hat,“ macht ihn unfähig zu regieren, „weil der
Eindruck ſeiner Handlungen nicht ausgelöſcht zu werden vermag.“ Solche
Pflichtverletzungen würden, von einem Privatmann begangen, nicht zur
Entmündigung führen, ſondern „ganz andere Folgen haben“. Iſt die
Thatſache der Regierungsunfähigkeit Karl’s durch die Agnaten förmlich
anerkannt, ſo übernimmt Herzog Wilhelm, nicht durch Uebertragung, ſon-
[115]Preußen treibt die Agnaten vorwärts.
dern kraft ſeines eigenen Rechtes als nächſter Erbe ohne Weiteres die
Krone. Die ſchwierige Frage des Erbfolgerechtes der Nachkommen wird
für jetzt offen gelaſſen, da die herzoglichen Brüder beide noch unvermählt
ſind, und gegebenen Falles ſpäterhin noch eine Entſcheidung getroffen
werden kann.
So Preußens Rath. In einer ergänzenden Denkſchrift geſtand
Eichhorn nachher ſelber: dieſe Sätze „ſind wirklich als ein Extrem zu
betrachten, über welches ohne Verletzung des Legitimitätsprincips nicht
hinausgegangen werden könnte“.*) In Wahrheit enthielten Preußens
Vorſchläge ſchon einen offenbaren Bruch des legitimen Rechtes; denn ſie
verlangten, daß ein unverantwortlicher Souverän zur Strafe für ſeine
Unthaten abgeſetzt würde. Dies ließ ſich rechtlich um ſo weniger begrün-
den, da Herzog Karl nicht einmal förmlich gehört wurde, und der Rath
der Agnaten nur aus den regierenden Herren der beiden welfiſchen Linien
beſtand, von denen der eine, Herzog Wilhelm, unzweifelhaft ein Uſur-
pator wider Willen war. Aber nach Allem, was geſchehen, war der
Rechtsbruch unvermeidlich, an die Wiederherſtellung des Vertriebenen ließ
ſich gar nicht mehr denken, und entſchloß man ſich einmal anzuerkennen,
daß Noth kein Gebot kennt, ſo blieb es immerhin noch der leidlichſte Aus-
weg, wenn der jüngere Bruder kraft Geburtsrechts in die Stelle des
Entthronten eintrat. Die Vertagung der Erbfolgefrage ergab ſich von
ſelbſt aus der Verlegenheit, denn aus einem Rechtsbruche laſſen ſich
Rechtsgrundſätze ſchlechterdings nicht ableiten. Man ſcheute ſich die Rechts-
verletzung weiter zu treiben, als es die Nothlage des Augenblicks ver-
langte, und die Nachkommenſchaft Herzog Karl’s ihrer Erbanſprüche
geradezu zu berauben; aber man wollte dieſe Rechte auch nicht aus-
drücklich anerkennen, damit nicht Karl eine Ehe ſchlöſſe, welche die Ver-
wirrung in dem Ländchen nur ſteigern konnte. Warum der Zukunft
vorgreifen? War es nicht möglich, daß eine förmliche Entſcheidung der
Frage ganz überflüſſig wurde? daß der ausſchweifende Karl frühzeitig
kinderlos ſtarb und dann das Thronfolgerecht der Nachkommen Herzog
Wilhelm’s unanfechtbar daſtand? Solche Erwägungen lagen nahe genug.
Schon während der Verhandlungen der letzten Monate hatten beide wel-
fiſche Höfe, zuerſt Braunſchweig, dann Hannover, die Meinung geäußert,
man handle vielleicht am klügſten, wenn man die „allerdings delicate“
Erbfolgefrage vorderhand unberührt laſſe.**)
Als nun die Vorſchläge Preußens einliefen, ergriffen die Agnaten noch-
mals mit Freuden die dargebotene Hand. Der Herzog von Cambridge
8*
[116]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
beſprach ſich im Januar perſönlich mit Herzog Wilhelm; die beiden Höfe
eigneten ſich ſogar den Wortlaut der preußiſchen Denkſchrift großentheils
an und ließen am 10. März im Bundestage erklären: nachdem ſie die
Ueberzeugung von der abſoluten Regierungsunfähigkeit des Herzogs Karl
gewonnen hätten, ſei die Regierung des Herzogthums als erledigt an-
zuſehen und nunmehr definitiv auf den nächſten Agnaten Herzog Wilhelm
übergegangen.
Welch ein Aufruhr am Bundestage, als dieſe Erklärung verleſen
wurde! Schon auf die erſte Andeutung, daß Herzog Wilhelm die Krone
für ſich verlange, hatte Metternich dem preußiſchen Geſandten in hellem
Zorne zugerufen: „Ich kann und will es noch nicht glauben. Sollte dies
aber wider Verhoffen die eigene Anſicht dieſes jungen Fürſten ſein, ſo
würde ich darin nur mit Bedauern einen Beweis finden können, daß
derſelbe nicht würdig ſei, die ihm anvertraute Stellung auszufüllen.“*)
Sein legitimiſtiſcher Feuereifer verwickelte den Staatskanzler in die ſelt-
ſamſten Widerſprüche. Die abſolute Regierungsunfähigkeit des Herzogs Karl
geſtand er ausdrücklich zu, und gleichwohl verlangte er in einer Denkſchrift
für den Hof von Hannover, daß Herzog Wilhelm nur die Statthalterſchaft
für ſeinen Bruder führen, die Braunſchweiger ihm nicht huldigen, ſon-
dern nur einen Paritions-Eid leiſten dürften. Dieſe Sophismen gefielen
ihm ſelber ſo wohl, daß er ſie auch nach Berlin ſendete und mit ge-
wohnter Anſpruchsloſigkeit dazu bemerkte: „Wir ſchmeicheln uns, dieſe
Ausführung als ſtreng correct bezeichnen zu dürfen.“**) Und doch war
eine gegen den ausgeſprochenen Willen des legitimen Fürſten geführte
Statthalterſchaft um kein Haarbreit rechtmäßiger als eine uſurpirte Her-
zogswürde. Darauf entſpann ſich ein ſehr lebhafter Meinungsaustauſch
zwiſchen den beiden deutſchen Großmächten. Metternich blieb hartnäckig
bei ſeiner Behauptung, daß allein die illegitime Statthalterſchaft der
„Correctheit“ entſpreche; der kaiſerliche Hof müſſe freilich, um die Braun-
ſchweiger nicht aufzuregen, Alles geſchehen laſſen was die Agnaten be-
ſchlöſſen; doch unmöglich könne er ihrer Erklärung zuſtimmen, die „auf
eine ſo unnöthige, ſophiſtiſche und empörende Weiſe alle Grundſätze der
Legitimität über den Haufen werfe“.***) Das Alles klang ſo räthſelhaft,
daß man in Berlin anfangs an ein Mißverſtändniß glaubte. Da erfuhr
man durch den öſterreichiſchen Geſandten Hruby in Hannover, daß Kaiſer
Franz ſelber und ſeine dem Braunſchweiger nahe verwandte bairiſche
Gemahlin hinter Metternich ſtanden. Nun war keine Hoffnung mehr;
am 24. März ließ Bernſtorff nach Wien ſchreiben, er bedauere, daß eine
[117]Anträge der Agnaten am Bundestage.
Verſtändigung mit Oeſterreich unmöglich ſei.*) Wenn die Großmächte
ſich nicht einigen konnten, ſo noch weit weniger die anderen Bundes-
ſtaaten. Ein kläglicher Anblick, wie die kleinen Ameiſen in dem Sand-
haufen des Bundesrechts ängſtlich durch einander wimmelten, nachdem
der Stecken der Revolution ſeine Furchen querdurch gezogen hatte. Wie-
der begann Graf Münch ſeine alten Künſte, und wieder zog der Streit
ſich unabſehbar in die Länge.
Mittlerweile geſtaltete ſich die Lage des Herzogthums täglich unleid-
licher. Die Braunſchweiger nannten den jungen Welfen in Reden und
Schriften „unſeren rechtmäßigen, durch den Willen des Volkes erwählten
Fürſten“, ſie waren mit ihrer revolutionären Rechtsweisheit längſt im
Reinen. Ihr Ober-Appellationsrath K. F. v. Strombeck, ein Bureau-
krat aus der Schule des Königreichs Weſtphalen, hatte ihnen ſchon bald
nach dem Schloßbrande in einer Flugſchrift die Frage beantwortet: „Was
iſt Rechtens, wenn die oberſte Staatsgewalt dem Zwecke des Staatsver-
bandes entgegenhandelt?“ Da wurden aus der alten, von der hiſtoriſchen
Rechtsſchule längſt überwundenen, Staatsvertragslehre ſchnellfertig kecke
Schlüſſe gezogen, die der Halbbildung einleuchten mußten: wenn der Fürſt
ſeine Vertragspflichten verletzt, ſo ſind die Unterthanen ihrerſeits berechtigt
ihm den Gehorſam aufzukündigen. Die neue Regierung fühlte ſelbſt ſehr
lebhaft, daß ſolche Doctrinen das Weſen der Monarchie aufheben; ſie
hätte ihren unbequemen Vertheidiger gern beſtraft, aber ſie wagte es
nicht weil ſie Unruhen beſorgte.**) Ihre Furcht ſtieg noch als im März
ruchbar wurde, daß die Erklärung der Agnaten im Bundestage auf Wider-
ſpruch geſtoßen ſei. Länger wollte das Land die quälende Ungewißheit
nicht mehr ertragen; mit wachſender Erbitterung beſprach man die Lage,
und ſchon ward die Frage laut, ob man nicht durch Selbſthilfe dem
zaudernden Bundestage zuvorkommen ſolle. Am 25. April ſtand das
Geburtsfeſt des Herzogs Wilhelm bevor, das ganze Ländchen rüſtete ſich
den Tag feſtlich zu begehen. Wie nun, wenn alle Gemeinden dann
gleichzeitig dem neuen Landesherrn freiwillig den Huldigungseid leiſteten?
Der Plan konnte ſehr leicht gelingen, er entſprach den allgemeinen
Wünſchen und Herzog Wilhelm war nicht der Mann ihn gewaltſam zu
hintertreiben; gelang er aber, ſo erlebte Deutſchland das für einen Fürſten-
bund hochgefährliche Beiſpiel einer demokratiſchen Fürſtenwahl, und wer
ſollte dann die vollzogene Kundgebung der Volksſouveränität rückgängig
machen?***)
[118]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Der junge Welfe war in Verzweiflung. Das ſtand ihm feſt, daß er
nur als Herzog, nicht als Statthalter ſeines erklärten Feindes regieren
konnte; aber wenn die Bundesverſammlung ihm die Thronbeſteigung nicht
geſtatten wollte, dann war er ſchon halb entſchloſſen die Regierung nieder-
zulegen und ſofort abzureiſen. Von Hannover hatte er raſches Eingreifen
nicht zu erwarten; dort war der Bedenklichkeiten abermals kein Ende und
nur der eine Rath zu erlangen, daß man „mit der äußerſten Vorſicht
verfahren“ müſſe.*) So blieb wieder nur Preußens Hilfe übrig. Am
7. April zeigte der Herzog ſeinem Freunde Wittgenſtein an, daß er den
Grafen Veltheim, den er inzwiſchen in ſein Miniſterium berufen hatte,
abermals mit vertraulichen Aufträgen nach Berlin ſenden werde.
Noch ehe Veltheim eintraf, hatte der preußiſche Hof ſeinen Entſchluß
gefaßt. Als Schutzmacht des deutſchen Nordens konnte Preußen es nicht
verantworten, daß der unſichere Zuſtand in dem Herzogthume noch länger
währte; die von den Braunſchweigern geplante eigenmächtige Huldigung
mußte auf jeden Fall verhindert werden. Darum ſollte Herzog Wilhelm
ſofort als rechtmäßiger Erbe des durch die Agnaten für regierungsunfähig
erklärten Herzogs die Krone übernehmen und noch vor ſeinem Geburts-
tage den Unterthanen die Eidesleiſtung anbefehlen. Eine richterliche Ent-
ſcheidung über den Beſchluß der Agnaten ſtand dem Bundestage nicht zu;
er hatte nur das Recht den neuen Herzog als Mitglied des Deutſchen
Bundes anzuerkennen, und dieſe Anerkennung konnte er auch nachträglich,
nach erfolgtem Regierungswechſel ausſprechen. In ſolchem Sinne ant-
wortete Bernſtorff auf Veltheim’s Frage, was nun zu thun ſei; er be-
dauerte, daß die Uneinigkeit des Bundestags zu ſolchen Schritten nöthige,
aber Preußen habe ſeine Anſicht nie verhehlt und werde den jungen Herzog
auch jetzt nicht verlaſſen.**) Bei den guten Rathſchlägen blieb es nicht.
Eichhorn ſelbſt, der dieſen Handel ebenſo eifrig betrieb wie die Zollvereins-
ſache, prüfte die von Veltheim vorgelegten Entwürfe für das Patent, das
der Herzog bei ſeinem Regierungsantritt erlaſſen ſollte, und da er ſie alle
ungenügend fand, ſo ſchrieb er eigenhändig ein neues Patent.***) Mit
einer Abſchrift davon eilte Veltheim nach Braunſchweig zurück. Alſo des
preußiſchen Beiſtandes ſicher ſchöpfte der junge Herzog friſchen Muth; er
nahm den Entwurf Eichhorn’s Wort für Wort an und ſendete gerührt
ſeinen Dank: „Ohne den kräftigen Beiſtand, welchen der königliche Hof
dieſer für mich und das Land ſo hochwichtigen Angelegenheit hat ange-
deihen laſſen, wäre ſie wohl nie zu dem erwünſchten Ziele gelangt.“†)
[119]Thronbeſteigung Herzog Wilhelm’s.
Am 20. April überraſchte er ſein Land durch die Veröffentlichung des
Patents. Eichhorn hatte die Worte ſo gewählt, daß der Bundestag an
der vollendeten Thatſache nichts mehr ändern konnte; nachdem der Herzog
ſeinen Regierungsantritt verkündigt und vor dem Lande gerechtfertigt hatte,
ſchloß er einfach: mit der Ableiſtung des neuen Huldigungseides werde
die definitive Anordnung, wozu der Bund die Agnaten eingeladen, „be-
wirkt ſein“, und die Bundesverſammlung davon benachrichtigt werden.
Die Braunſchweiger frohlockten. Wie alle die freiheitsſtolzen Bürger der
conſtitutionellen Kleinſtaaten waren ſie gewohnt auf die preußiſche Knecht-
ſchaft tief herabzublicken; ſie ließen ſich’s nicht träumen, daß das Patent ihres
volksfreundlichen Wilhelm’s im Berliner Auswärtigen Amte geſchrieben
war. Fünf Tage darauf konnten ſie nun wirklich, wie ſie gewünſcht,
den Geburtstag ihres neuen Landesherrn durch die allgemeine Huldigung
feiern; aber die Eidesleiſtung erfolgte nunmehr auf Befehl des Herzogs,
nicht durch Volksbeſchlüſſe. In ſchwungvoller Rede feierte Bürgermeiſter
Bode „den Fürſten, der wie auf Windesflügeln in ſeine furchtbar bewegte
Stadt eilte“. Der junge Welfe dankte dem Grafen Bernſtorff nochmals
vertraulich für ſeine „bleibenden Verdienſte“ um Braunſchweig und ſchrieb
an Wittgenſtein: „Auch für mich war es ein Tag der Freude, welche voll-
kommen geweſen ſein würde, hätte ich des betrübenden Gedankens an meinen
Bruder dabei mich erwehren können.“*)
Dergeſtalt war die Frage ohne den Bundestag entſchieden, und in dieſer
unglücklichen Verſammlung ward das Zerwürfniß täglich größer. Zu den
unbeſtreitbaren ſchweren Rechtsbedenken geſellten ſich jetzt noch das Gefühl
beleidigter Würde und der allezeit wache Argwohn gegen Preußen. Schon
als die Agnaten ihre Erklärung einreichten, gelangte die in Frankfurt
blühende Klatſcherei bald auf die rechte Fährte, und Nagler meldete:
„Wahrſcheinlich hat Hannover das Geheimniß wenig bewahrt, daß die
von ihm aufgeſtellten Anſichten und Maximen größtentheils von Preußen
ihm ſuppeditirt ſeien.“ Nach dem letzten Schritte Herzog Wilhelm’s ließ
Bernſtorff überall, ſelbſt in Wien, offen ausſprechen, daß der preußiſche
Hof dazu gerathen habe. Ueber den Verfaſſer des Patents ſagte er aller-
dings nichts; dieſe Enthüllung hätten die Nerven der deutſchen Souveräne
ſchwerlich vertragen.**)
So war denn Oeſterreichs Ränken Thür und Thor geöffnet. Während
Metternich treuherzig verſicherte, er verhalte ſich ganz leidend,***) warben
ſeine Leute in Frankfurt Tag für Tag Stimmen gegen Preußen, die
gewohnte Parteiſtellung verſchob ſich gänzlich. Neben Münch und ſeinem
Schatten Leonhardi ſtanden nicht nur der unwandelbare Kurheſſe und der
[120]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
eifrigſte Reaktionär der Verſammlung, der Holſteiner Pechlin, ſondern
auch der Oldenburger Both, weil ſein braver Großherzog ſich nicht ent-
ſchließen konnte, die Folgen eines Aufruhrs anzuerkennen. Andere Sou-
veräne betrachteten die Frage einfach als Familienſache. In Darmſtadt
neigte ſich du Thil der preußiſchen Anſicht zu, aber Prinz Emil ſetzte durch,
daß man den Vetter Karl nicht im Stiche ließ. Ebenſo dachte der Dresdner
Hof, der ſogar im Voraus verlangte, daß Karl’s künftige Kinder nicht
von ihrem revolutionären Oheim, ſondern vom Könige von Hannover er-
zogen werden ſollten. Selbſt der König von Württemberg ließ ſich, gegen
den Rath ſeiner Miniſter, durch dynaſtiſche Rückſichten beſtimmen. Nicht
einmal auf ihren eigenen Geſandten, den Naſſauer Marſchall konnte ſich
die braunſchweigiſche Regierung unbedingt verlaſſen. Dieſer Vertraute
Metternich’s erweckte allgemeinen Argwohn durch ſeine faſt übermenſchliche
Unparteilichkeit, er hatte noch Vollmacht von Herzog Karl und empfing
zugleich die Weiſungen Herzog Wilhelm’s; abwechſelnd Revolutionär und
Legitimiſt überreichte er dem Bundestage bald die Erklärungen des jüngeren
bald die des älteren Bruders und ſagte ſich ſelber die gröbſten Beleidigungen
ins Geſicht. Dagegen ging Preußens alter Feind Blittersdorff diesmal
mit Nagler zuſammen, desgleichen Mecklenburg, die Erneſtiner, die Hanſe-
ſtädte. Bei König Ludwig von Baiern hatten die flehentlichen Bitten
ſeiner Stiefſchweſtern und der Königin Wittwe nichts ausgerichtet; nach
einigem Zögern entſchied er ſich für die Erklärung der beiden Welfenhöfe:
von Nebenbeſtimmungen müſſe man abſehen, da ſie „theils der Beur-
theilung der hohen Agnaten zuſtehen, theils auf Vorausſetzungen zielen,
welche noch nicht eingetreten ſind.“*)
Am 11. Mai, zwei volle Monate nach dem Antrage der Agnaten,
erwartete man endlich den Schluß der Verhandlung. Die Stimmen
ſtanden, acht gegen acht. Mit Spannung ſahen Alle der Abſtimmung
Luxemburgs entgegen; ſie allein fehlte noch und mußte den Ausſchlag
geben. Die Inſtruction aus dem Haag war noch immer nicht eingetroffen.
Der luxemburgiſche Geſandte aber, Graf Grünne, ſtammte aus einem
Geſchlechte, das im öſterreichiſchen Dienſte emporgekommen war; er zählte
zu Münch’s Vertrauten und bot willig ſeine Hand zu einem jener Ueber-
raſchungsſcherze, welche die k. k. Bundespolitik mit Hilfe der dehnbaren
Präſidialrechte ſo meiſterhaft aufzuführen verſtand. Münch war, wie
Metternich dem preußiſchen Geſandten ſelbſt geſtand, durch die Hofburg
angewieſen, „die ferneren Bundesbeſchlüſſe an die neueſten faktiſchen Vor-
gänge anzuknüpfen,“**) und dieſem Befehle gemäß kartete er ſein Spiel
mit dem Luxemburger ab. Statt einfach anzuzeigen, daß er noch keine
Weiſung habe und mithin die Schlußziehung noch vertagt werden müſſe,
[121]Oeſterreichs Umtriebe für Herzog Karl.
bemerkte Graf Grünne gemüthlich: durch Herzog Wilhelm’s Regierungs-
antritt habe ſich der Stand der Sache verändert, und es ſcheine vor
Allem erforderlich zu vernehmen, wie die Bundesregierungen „dieſen un-
erwarteten Vorſchritt“ beurtheilten. Die Erklärung wurde nicht nur ganz
eigenmächtig abgegeben, ſie verſtieß auch offenbar gegen die Geſchäftsord-
nung, da lediglich der Antrag der Agnaten zur Abſtimmung ſtand.
Gleichwohl ging der pflichtgetreue Präſidialgeſandte ſofort darauf ein
und hielt einen langen, unverkennbar wohlvorbereiteten Vortrag über die
Thronbeſteigung des jungen Welfen. Er verdammte dieſe „höchſt bedauerns-
werthe Thatſache“ mit ſcharfen, gradezu beleidigenden Worten; er behaup-
tete, das Anſehen des Bundes ſei verletzt durch die vorgreifende, keineswegs
gerechtfertigte Handlungsweiſe des Herzogs, und ſchloß mit dem Antrage:
der Bundestag möge den Vorgang in ſein Protokoll verzeichnen, den
Regierungen alles Weitere anheimſtellen, aber zugleich ausſprechen, daß
„dieſe, ohne Zuthun des Bundes vollzogene Anordnung“ die Rechte der
Nachkommen Herzog Karl’s nicht beeinträchtigen könne. Alsbald erhob
ſich Nagler um Verwahrung einzulegen wider einen Antrag, der, ohne
die Regierungen auch nur zu befragen, im Voraus eine Rüge gegen das
Verfahren des Herzogs ausſprechen wolle; ein ſolcher aus dem Stegreif
gefaßter Beſchluß ſei null und nichtig.*) Aber die öſterreichiſche Partei
hielt bei ihrem Führer aus; nur zwei Stimmen vertauſchten ihre Stelle,
Mecklenburg ging zu Oeſterreich, Württemberg zu Preußen über. Die k. k.
Ueberrumpelung gelang vollkommen. Da über dieſen unvermutheten Vor-
ſchlag Niemand inſtruirt war, ſo ſtimmte auch Graf Grünne wohlgemuth
mit, und Dank dem Luxemburger wurde Münch’s Antrag mit einer
Stimme Mehrheit angenommen. Welch ein Ergebniß! Nach zwei Monaten
hatte der Bundestag über die Erklärung der Agnaten noch immer nichts
entſchieden, wohl aber durch einen rechtlich anfechtbaren und praktiſch un-
wirkſamen Beſchluß ſeinen Aerger bekundet wegen der Huldigung der
Braunſchweiger.
Kaiſer Franz ſtand nicht an, dem jungen Herzoge ſelber auszuſprechen,
daß er dieſen Bundesbeſchluß billige: „Ich bin es den Grundſätzen, welche
mir während einer neununddreißigjährigen Regierung der mir von der
Vorſehung anvertrauten Staaten zur Richtſchnur dienten, ſchuldig, Ew.
Liebden frei und offen zu bekennen, wie ſehr ich Ihren ſo bedenklichen
Schritt bedauere.“**) Preußen aber ſetzte alle Hebel ein um endlich die
Anerkennung des Beſchluſſes der Agnaten zu erwirken. Zunächſt galt
es, die luxemburgiſche Stimme, die allein noch ausſtand, für Preußen
zu gewinnen. Dies gelang dem Geſandten im Haag, dem Grafen Truch-
ſeß, ohne beſondere Mühe, weil der König der Niederlande alle deutſchen
Angelegenheiten mit vollkommener Gleichgiltigkeit betrachtete und wegen
[122]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
der belgiſchen Wirren auf Preußens Freundſchaft rechnen mußte.*) Am
30. Juni erklärte Graf Grünne zum allgemeinen Erſtaunen, er ſei jetzt
angewieſen, ſich den Anträgen der Agnaten anzuſchließen. Damit war alſo
endlich die Mehrheit für Preußen geſichert, und wenn der Präſidialge-
ſandte ſeiner Pflicht gemäß nunmehr einen Beſchluß faſſen ließ, ſo wurde
die Regierung des Herzogs Wilhelm von Bundeswegen anerkannt. Oeſter-
reich aber wollte ſeine Niederlage nicht eingeſtehen, Münch verzögerte den
Beſchluß unter nichtigen Vorwänden von Woche zu Woche. Und während-
dem begannen Preußens Parteigenoſſen ſelber unſicher zu werden. König
Ludwig von Baiern ſchrieb ſeinem Bundesgeſandten: eine Schlußziehung
ſcheine nicht mehr nöthig; genug wenn alle Regierungen einzeln den neuen
Herzog anerkennten. Selbſt der hannoverſche Hof fiel wieder in ſeine ge-
wohnte Bedachtſamkeit zurück. Miniſter v. Ompteda in London geſtand dem
preußiſchen Geſandten, ſeine Regierung wolle mit Oeſterreich nicht brechen
und darum für jetzt nichts weiter thun.**) So ward denn wieder zweifel-
haft, ob die mühſam gewonnene Mehrheit bei der Schlußziehung noch
zuſammenhalten werde. Zu Alledem kam ein ſchweres Rechtsbedenken,
das ſchon früher von Preußen ausgeſprochen, aber nicht beachtet worden
war. Die Frage betraf offenbar jura singulorum, nach ſtrenger Aus-
legung des Bundesrechts konnte ſie nur durch einſtimmigen Beſchluß des
Bundestags entſchieden werden, und dies war undenkbar.
Angeſichts dieſer Unmöglichkeit begannen beide Großmächte allmählich
zu fühlen, daß ſie den unlösbaren und zweckloſen Streit in der Stille
beilegen mußten; ſie bedurften einander in der deutſchen wie in der euro-
päiſchen Politik. Preußen hatte in der Sache ſeinen Willen durchgeſetzt.
Herzog Wilhelm’s Regierung beſtand, alle deutſchen Höfe unterhielten mit
ihr amtlichen Verkehr, außer dem entthronten Fürſten wagte Niemand
mehr ihre Berechtigung offen anzufechten. Wenn es noch gelang, ihr
auf einem neuen Wege mindeſtens die mittelbare Anerkennung des Bun-
destags zu verſchaffen, ſo war ſie rechtlich geſichert und Alles erlangt was
ſich nach einem Rechtsbruche überhaupt erreichen ließ. Eben dieſen Ver-
ſöhnungsantrag brachte Metternich nach langen Verhandlungen im April
1832 dem preußiſchen Hofe entgegen. Oeſterreich ſchlug vor, der braun-
ſchweigiſche Geſandte ſolle beim Bundestage eine neue Vollmacht ein-
bringen, und dieſe dann mit einer kurzen Erklärung, wofür zwei ver-
ſchiedene Formeln beilagen, amtlich entgegengenommen werden. Preußen
ging auf den Vorſchlag ein und wählte die ihm zuſagende Formel; auch
die welfiſchen Höfe erklärten ſich einverſtanden.***) Demnach legitimirte
[123]Ausgleichung am Bundestage.
ſich Marſchall am 12. Juli 1832 zur Fortführung der braunſchweigiſchen
Stimme, indem er eine Vollmacht des Herzogs Wilhelm vorlegte. Der
Bundestag aber beſchloß ſofort einſtimmig, dieſe Vollmacht anzunehmen,
„da nach den vorangegangenen Verhandlungen Se. Durchlaucht als ſtimm-
führendes Bundesglied in der Bundesverſammlung zu betrachten iſt.“
Mit dieſem Poſſenſpiele fanden die Bundesverhandlungen über die
braunſchweigiſche Frage ihren würdigen Abſchluß. Der hochconſervative
Marſchall nahm ſich als Geſandter eines illegitimen Fürſten ganz ebenſo
ſeltſam aus wie die hohe Verſammlung insgeſammt, da ſie einen Beſchluß
faßte, der einer Selbſtverhöhnung gleichkam. Sie hatte am 2. December
1830 den Herzog Wilhelm gebeten, die Regierung „bis auf Weiteres“ zu
führen, und ſodann am 11. Mai 1831 ihm ihren Unwillen über ſeine eigen-
mächtige Thronbeſteigung ſehr unhöflich ausgeſprochen; über alles Andere
war ſie nicht einig geworden, und gleichwohl behauptete ſie jetzt, daß der
Herzog nach den vorangegangenen Verhandlungen als Bundesglied zu
betrachten ſei! Zu ſolchen Widerſprüchen führte der legitimiſtiſche Trotz,
der die vollendeten Thatſachen wohl verwünſchen, doch nicht ſtreichen konnte.
War es zu verwundern, wenn die Liberalen mehr und mehr in das Fahr-
waſſer des Partikularismus hinübertrieben? Von dieſer Centralgewalt
hatte die Nation ſelbſt in dringender Nothlage nichts zu erwarten.
Die anhaltende Feindſeligkeit des vertriebenen Herzogs zwang die
welfiſchen Höfe unterdeſſen neue Vorſichtsmaßregeln zu ergreifen. Am
24. October 1831 vereinbarten ſie ein Hausgeſetz, kraft deſſen fortan für
alle Ehen der Welfen die Einwilligung des regierenden Herrn der Linie
nachgeſucht werden mußte. Alle engliſchen Prinzen unterzeichneten das
Geſetz, der hannoverſche Thronfolger Ernſt Auguſt von Cumberland frei-
lich erſt nach langem Sträuben. Dieſer fanatiſche Legitimiſt wollte von
dem Aufſtande der Braunſchweiger und allen ſeinen Folgen nichts hören;
erſt nach Jahren verſöhnte er ſich mit dem Uſurpator Wilhelm, und ſein
Leben lang hielt er feſt an der Meinung, daß den Nachkommen des älteren
Bruders die Thronfolge gebühre.*) Karl’s Unterſchrift fehlte natürlich,
und da er zudem ſich ſelber für den regierenden Herrn ſeiner Linie anſah,
ſo blieb die braunſchweigiſche Erbfolgefrage auch jetzt noch unentſchieden.
Durch ſeine Rüſtungen nöthigte er ſodann die Agnaten ſein Vermögen unter
Curatel zu ſtellen — ein hartes Verfahren, das zu widerwärtigen Proceſſen
führte und von den franzöſiſchen Gerichten nicht als rechtsgiltig anerkannt
wurde. Dabei ſtellte ſich heraus, daß er nahezu 350000 Thaler dem
Lande entwendet hatte — 118000 Thlr. engliſche Subſidien, das Uebrige
durch widerrechtlichen Verkauf von Kammergütern — immerhin weit
weniger als ſein erbittertes Völkchen glaubte. Auch das herrliche Man-
tuaniſche Onyxgefäß und andere Kleinodien des Hauſes Bevern hatte er
ins Ausland mitgenommen.
[124]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Da die Agnaten aus Rathloſigkeit die Frage der Thronfolge offen
gelaſſen hatten, ſo ergab ſich als nothwendige, aber keineswegs beabſich-
tigte Folge, daß keiner der beiden feindlichen Brüder ſich vermählen konnte.
Als ſtolzer Welfe wünſchte Herzog Wilhelm eine Gemahlin aus großem
Hauſe, doch alle ſeine geheimen Bemühungen blieben vergeblich, die vor-
nehmeren Höfe trugen alleſammt Bedenken, die Nachkommenſchaft ihrer
Töchter einer ungewiſſen Zukunft preiszugeben.*) Die Braunſchweiger
wußten wenig von dieſen Mißerfolgen ihres Herzogs; ſie beſchworen ihn
wieder und wieder, daß er den alten Heldenſtamm nicht ausſterben laſſe,
die Städte Braunſchweig und Wolfenbüttel baten einmal ſogar in einer
feierlichen Adreſſe um eine Landesmutter.**) Alles umſonſt. Nach und nach
ward das Volk mißtrauiſch. Seltſame Gerüchte liefen um, und der ver-
triebene Landesherr nährte ſie gefliſſentlich durch ſeine Brandſchriften. Die
böſe Welt fragte nach ihrer Gewohnheit: wem bringt das Ausſterben der
braunſchweigiſchen Linie Vortheil? — und da die Antwort nur lauten
konnte: dem Hauſe Hannover — ſo bildete ſich bald ein kunſtvolles Lügen-
gewebe, das unzerſtörbar feſt erſchien, weil alle ſeine Fäden eng verknotet
waren. Man glaubte allgemein, die hannoverſchen Welfen hätten Erb-
ſchleicherei getrieben und dem Herzog Wilhelm gegen das Verſprechen der
Eheloſigkeit zur Krone verholfen, Preußen aber ſei Hannovers ergebener
Schildknappe geweſen. Es war das genaue Gegentheil der Wahrheit. Die
treibenden Kräfte bei dem Handel waren einerſeits das braunſchweigiſche
Volk, das ſeinen böſen Herzog für alle Zukunft beſeitigen, andererſeits die
Krone Preußen, die den anarchiſchen Zuſtand an ihrer Grenze raſch und
endgiltig ordnen wollte. Die Welfen wurden allein durch die Macht der
Verhältniſſe gedrängt: Herzog Wilhelm etwas ſchneller, weil ihm die Noth
auf den Nägeln brannte, König Wilhelm langſamer und ganz wider
Willen. Vom Anfang bis zum Ende zeigten die Hannoveraner eine
ſchwerfällige, aber ehrenwerthe Gewiſſenhaftigkeit; nur den Uneingeweihten
erſchienen ſie fälſchlich als die Führer, weil Preußen ſie abſichtlich am
Bundestage ſtets vorangehen ließ.
Zweiundvierzig Jahre lang hat Herzog Karl dann noch im Auslande
gelebt, eine Schande des deutſchen Namens. Die gute Geſellſchaft zog
ſich in London wie in Paris bald von ihm zurück; nur einzelne über-
ſpannte Radicale, wie der ehrliche Thomas Duncombe, ſchenkten ſeinen
demokratiſchen Kraftworten Glauben. Halb Geizhals halb Verſchwender
vermehrte er den geretteten, ſehr anſehnlichen Theil ſeines Vermögens
durch glückliches Börſenſpiel und legte ſich die ſchönſte Juwelenſammlung
der Erde an; dann praßte er wieder mit einem Geſindel von Dirnen
[125]Braunſchweigiſche Verfaſſung von 1832.
und Glücksrittern. Die Engländer fanden übrigens den Vollbart des
„Diamantenherzogs“ noch weit anſtößiger als ſeinen ſittlichen Wandel.
Unabläſſig arbeitete er für ſeine Rückkehr, obgleich er daheim gar keinen
Boden mehr hatte und nur ein einzigesmal eine ganz unbedeutende kar-
liſtiſche Verſchwörung in Braunſchweig entdeckt wurde. Er plante mit einer
franzöſiſchen Freiſchaar in Deutſchland zu landen. Da die Regierung Lud-
wig Philipp’s dieſe Anſchläge vereitelte, ließ er ſeine Leute wieder den ge-
wohnten demagogiſchen Federkrieg beginnen und ſchilderte ſelber ſeine Erleb-
niſſe nicht ohne ſchriftſtelleriſches Geſchick, aber mit ſchamloſer Verlogenheit,
in den Denkwürdigkeiten Karl’s von Eſte. In London lernte er einen
anderen Prätendenten kennen, von reicherem Kopfe und ärmerem Beutel,
den Prinzen Ludwig Napoleon. Die Beiden fanden ſich zuſammen und
verpflichteten ſich durch einen förmlichen Vertrag, einander durch Geld und
Waffen zu ihren Rechten zu verhelfen; Karl verſprach außerdem, „wo-
möglich aus dem ganzen Deutſchland eine einige Nation zu machen und
ihm eine dem Fortſchritt des Zeitalters angemeſſene Verfaſſung zu geben.“*)
Als aber ſein Bundesgenoſſe den Staatsſtreich des zweiten Decembers
wagte, da floh der Welfe wieder vor dem Donner der Kanonen; zurück-
gekehrt fand er bei dem neuen Kaiſer nur laue Unterſtützung, weil er
ihm ſelber von ſeinem Reichthum wenig abgegeben hatte. Und als nachher
die Heere des geeinten Deutſchlands gegen Paris zogen, da flüchtete er ſich
nochmals vor ſeinen Landsleuten und eilte nach Genf. Dieſer Stadt ver-
machte er ſein ganzes Vermögen, denn ſeinem Vaterlande gönnte er nichts,
und um ſein verlorenes Leben noch mit einer höhniſchen Bosheit abzu-
ſchließen legte der kleine deutſche Despot den Schweizer Republikanern
die Verpflichtung auf, ihm ein prächtiges Denkmal, gleich den Gräbern
der Scaliger, zu errichten.
Dem Braunſchweigiſchen Lande gereichte der Thronwechſel zum Segen.
Das Herzogthum blieb unter dem Miniſterium Schleinitz zwei Jahrzehnte
lang einer der beſtverwalteten Kleinſtaaten; ſein Landtag beſaß an dem
liberalen Juriſten Karl Steinacker einen begabten Redner und behauptete
unter den kleinen deutſchen Parlamenten ein gutes Anſehen. Im Jahre
1832 wurde eine neue Verfaſſung vereinbart; ſie gab den Bürgern und
Bauern eine ſtärkere Vertretung und bewies durch die That, daß der
Umſchwung keineswegs, wie der flüchtige Herzog behauptete, blos durch
den Adel bewirkt worden war. Eine verſtändige Agrargeſetzgebung ar-
beitete dann weiter an der Befreiung des Landvolks. Die deutſchen Fürſten
aber wollten ſich noch lange nicht darein finden, daß ſie jetzt in ihren
Reihen einen Souverän dulden mußten, der nur gleich dem Bürgerkönige
mit dem zweifelhaften Titel der Quaſi-Legitimität beehrt werden konnte.
[126]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Herzog Wilhelm beſtellte ſich bei dem Heidelberger Juriſten H. Zöpfl eine
Schutzſchrift über „die Eröffnung der legitimen Thronfolge“; doch der ſtreb-
ſame junge Mann, der wie Karl Salomo Zachariä ſeine Rechtsgutachten
jedem Kunden auf den Leib zuſchnitt, fiel leider in die alte Vertragslehre
zurück und gelangte zu dem lächerlichen Schluſſe: wenn der Fürſt ab-
danken könne, ſo dürfe auch das Volk ihm den Gehorſam verweigern.
Noch unheimlicher ward dem jungen Welfen zu Muthe, als ein radicaler
Poet, Walter Berg in einem Schauſpiele „Der Bürger“ ihn ſelber ſagen ließ:
Es ließ ſich doch nicht bemänteln, die Geſchichte des Deutſchen Bundes
hatte zum erſten male eine kleine Revolution aufzuweiſen. Aber wie ver-
ſchieden zeigte ſich dabei der Charakter der beiden Nachbarvölker. Wie
leicht ſprangen die Franzoſen, ohne zwingenden Grund, über ihr hiſtori-
ſches Recht hinweg, und wie ſchwer vollendete ſich in Deutſchland ein
Rechtsbruch, den die unerbittliche Noth erzwang! —
Nicht ganz ſo gewaltſam vollzog ſich der Umſchwung in Kurheſſen.
„Der Kurfürſt plündert ſein Land und ſeine Unterthanen, ſo daß es zu-
letzt keine Landeskaſſen und Domänen mehr, ſondern bloße Privat- oder
Cabinetskaſſen mehr geben wird“ — alſo ſchilderte der preußiſche Geſandte
Hänlein das gierige Regiment der Gräfin Reichenbach, das nachgrade
ſelbſt im Auslande Befremden erregte und im Pariſer Figaro als ein
deutſcher Skandal bezeichnet wurde.*) Der neue Finanzminiſter Kopp wurde
bei ſeiner Ernennung ausdrücklich verpflichtet, das Intereſſe des Kurfürſten
beſonders wahrzunehmen, und wie erfinderiſch zeigte ſich der Landesvater
ſelber in den ſchlechten Künſten des Finanzweſens. Während er mit den
Ständen der Grafſchaft Schaumburg wegen rechtswidriger Steuererhöhung
einen langen Streit führte, ließ er gegen die Stadt Kaſſel und andere
Gemeinden unter nichtigen Vorwänden fiscaliſche Proceſſe einleiten; ſeine
Bauern beglückte er durch die Verordnung, daß der Dünger der Dienſt-
pferde, welche die beurlaubten Cavalleriſten mit aufs Land nahmen, zum
Beſten der Kriegskaſſe verſteigert werden ſolle. Selbſt die Theuerung
und die bittere Kälte der erſten Monate des Jahres 1830 mußten ihm
ſeine Hofkaſſe bereichern helfen: er maßte ſich das Recht des alleinigen
Holzhandels an, verbot die gewohnte Holzeinfuhr aus der hannoverſchen
Nachbarſchaft und ſetzte die Preiſe ſo hoch an, daß die Kaſſeler Bäcker
einmal wegen Holzmangels ihre Arbeit einſtellten.
Hier wie in Braunſchweig ſtützte ſich die Willkür des Kleinfürſten-
thums auf den Beiſtand Oeſterreichs. Hruby, der k. k. Geſandte, beſaß
[127]Kurfürſt Wilhelm in Karlsbad.
das Vertrauen der Reichenbach, er hatte den Kurfürſten zum Eintritt in
den mitteldeutſchen Handelsverein bewogen und konnte nun mit Befrie-
digung betrachten, wie das unglückliche, zwiſchen den Zolllinien Baierns
und Preußens eingeklammerte Ländchen dem Verderben ſeiner Volkswirth-
ſchaft entgegenging. Und bereits ließ ſich vorausſehen, daß die zerrütteten
Familienverhältniſſe dieſes Fürſtenhauſes, die ſchon ſo viel Elend über
das heſſiſche Land gebracht, auch unter der künftigen Regierung fortdauern
würden. Um den Anmaßungen der Reichenbach auszuweichen lebte der
Kurprinz mit ſeiner Mutter jahrelang außer Landes; König Friedrich
Wilhelm ließ ſeiner Schweſter große Summen vorſtrecken, da der Kurfürſt
den Beiden die Unterhaltsmittel verweigerte. Als die Kurfürſtin unter
dem Jubel des Volkes endlich heimkehrte um ſich in Fulda einen ſelb-
ſtändigen Hofhalt einzurichten, blieb der Sohn am Rhein zurück. Der
hatte in Bonn die Frau eines Rittmeiſters Lehmann liebgewonnen und
führte mit ihr ein ſo anſtößiges Leben, daß ſelbſt der galante Lebemann
Hänlein ſich verpflichtet hielt dem königlichen Oheim in Berlin zu melden:
ganz Heſſen wünſcht, „Allerhöchſtdieſelben möchten zum Wohle des hieſigen
Landes den nichtswürdigen Lebenswandel des Kurprinzen gewaltſam be-
ſchränken.“*)
Im Juli 1830 reiſte Kurfürſt Wilhelm nach Wien um der Reichenbach
den öſterreichiſchen Fürſtentitel zu verſchaffen. Seine Heſſen fürchteten
ſchon, er werde dann dem Beiſpiele Philipp’s des Großmüthigen folgen
und das dämoniſche Weib förmlich zur Nebengemahlin erheben; die Akten
über Philipp’s Doppelehe hatte er ſich bereits nach Wilhelmshöhe kommen
laſſen. Metternich aber fand dieſe Zumuthung doch bedenklich und verließ
die Hauptſtadt plötzlich, kurz vor der Ankunft des Gaſtes. Als der Kurfürſt
einige Tage darauf in Karlsbad eintraf, von der Hitze erſchöpft, wüthend
wegen der vergeblichen Reiſe, wurde er von ſeiner enttäuſchten Geliebten
ſehr übel aufgenommen und verfiel in ſchwere Krankheit. Daheim ver-
breiteten ſich unheimliche Gerüchte; man glaubte an den Tod des Kur-
fürſten, da der Bruder der Reichenbach, Heyer v. Roſenfeld unvermuthet
in Kaſſel erſchien, Juwelen und Staatspapiere haſtig einpackte und dann
mitſammt den Kindern ſeiner Schweſter bei Nacht und Nebel aus dem
Lande floh. Die Bürgerſchaft ſendete drei Stadträthe nach Karlsbad um
ſich von dem Zuſtande des Landesherrn zu überzeugen; auch der Kur-
prinz eilte herbei und verſöhnte ſich mit dem kranken Vater. Mittler-
weile ward das längſt erbitterte Volk durch die Pariſer und Brüſſeler
Nachrichten ſtark aufgeregt. Der Groll wider die Tyrannei und das
wüſte Treiben des Hofes ließ ſich nicht mehr bändigen. Ueberall erklang
ein Gaſſenhauer, der die Raubgier der Reichenbach verwünſchte: „von
dem Blutgeld jener Millionen wußt’ die Beſtie ſich zu lohnen“ — und
[128]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
mit dem Kehrreime ſchloß: „Alles ſeufzt zum Gott des Lichts: Ach die
Hure läßt uns nichts!“ Schon begannen die Bauern ihre Frohndienſte
einzuſtellen; die Wilddieberei nahm überhand, mehr noch der Schmuggel,
denn das Zollweſen war durch die thörichte Handelspolitik des Kurfürſten
gänzlich in Verruf gekommen, ein Schlagwort des Tages lautete: „die
Mauth iſt ein Kind der Finſterniß.“ In Kaſſel traten die Zunftmeiſter
zuſammen um über die Landesbeſchwerden zu berathſchlagen; ein Küfer
Herbold führte das große Wort und ward mit dem Namen des heſſiſchen
Maſaniello geehrt, denn dieſe deutſchen Bürgerhelden fühlten ſich nur im
Schmucke ausländiſcher Federn ſtolz und herrlich. Als der Pöbel dann
die Bäckerläden zu ſtürmen verſuchte, bewaffneten ſich die Bürger und
ſtellten die Ordnung her. Die erſchreckte Regierung ließ ſie gewähren
und öffnete die kurfürſtlichen Kornmagazine; das Getreide des Landes-
vaters ward aber auch jetzt noch, nach dem alten Brauche des Kurhauſes,
zu erhöhten Preiſen verkauft, und erſt nachdem Abgeſandte der Bürger-
ſchaft dem Finanzminiſter drohend ins Haus gerückt waren, entſchloß er
ſich bis zum Marktpreiſe herabzugehen.
So aufgeſtört fand der Kurfürſt ſeine friedliche Hauptſtadt vor, als
er am 12. September, abgeſpannt und kaum geneſen, endlich heimkehrte;
ſeine Geliebte hatte er jenſeits der Landesgrenze zurücklaſſen müſſen,
weil die Miniſter ſonſt das Aergſte befürchteten. Am 15. September
ſtanden die Bürger dicht gedrängt, in banger Spannung, auf dem Fried-
richsplatze, derweil die Stadträthe im Palaſte eine Adreſſe übergaben,
welche den Kurfürſten beſchwor die Landſtände zu berufen und „Sich als
Vater mit Ihren Kindern zu berathen, wie unſerer Noth zu helfen ſei.“
Droben im Saale ergriff der Bürgermeiſter Karl Schomburg das Wort,
ein echter Heſſe, ernſt, beſonnen, freimüthig, und ſchilderte in tief er-
greifender Rede das Elend des verwahrloſten Landes. Der Kurfürſt ver-
wünſchte im Herzen ſeine „Bürger-Rebellen“, aber er ſah auch, was die
finſteren Geſichter draußen ankündigten, und gab zitternd ſeine Zuſage.
Alsbald eilte der Küfer Herbold an das Geländer vor dem Schloſſe,
und als er ein weißes Taſchentuch ſchwenkte, durchbrauſte ſtürmiſches
Freudengeſchrei den weiten Platz. Wie oft iſt dann in Lied und Bild
die Friedensbotſchaft des heſſiſchen Maſaniello verherrlicht worden; ein
ſchwarzes Tuch in Herbold’s Händen — das wußte Jedermann — hätte
dem Aufruhr das Zeichen gegeben. Mit Tanz, Geſang und feurigen
Reden ging dieſer „große Tag der heſſiſchen Geſchichte“ zu Ende; auch
vor dem Hauſe des preußiſchen Geſandten erklangen jubelnde Hochrufe,
denn König Friedrich Wilhelm ſtand als Bruder und Beſchützer der ge-
liebten Kurfürſtin hoch in Ehren, und nicht ſelten hörte man unter den
Unzufriedenen die Drohung: wir wollen preußiſch werden.
Schnell genug verflog der Rauſch der Freude. Die Caſſeler fuhren
fort, dem Verbote zum Trotz, ihre Bürgerverſammlungen abzuhalten und
[129]Die heſſiſchen Bürgergarden.
offenbarten hier ſehr laut ihr Mißtrauen gegen den Kurfürſten, gegen den
öſterreichiſchen Geſandten, gegen die Miniſter, die alleſammt nur für
Geſchöpfe der Reichenbach galten. Die Rückkehr dieſer tödlich verhaßten
Frau wollte man nimmermehr dulden; auf das Gerücht von ihrem Nahen
ſtrömte eines Tages das Volk in Schaaren auf die Arolſener Landſtraße
hinaus um den Weg zu ſperren, ihr Bruder Heyer mußte ſchleunigſt aus
ſeinem Amte entlaſſen werden. Welch einen kläglichen Anblick bot der
Kurfürſt in ſeiner ſtumpfen Verzweiflung; er verging vor Sehnſucht nach
der Geliebten und rief jammernd: jetzt weiß ich erſt was ein Aufſtand
iſt! Die militäriſchen Schnurrbärte der Caſſeler Bürgergarde verletzten
ſein heiligſtes Gefühl; nun mußte er dieſen Unholden aus ſeinem Zeug-
hauſe Waffen geben und ſogar in einem Manifeſte verkündigen, daß er
„den guten Geiſt und den bewährten treuen Sinn der Heſſen mit Wohl-
gefallen erkennend“ überall im Lande die Bildung von Bürgerbataillonen
geſtatten wolle. Bald ſtolzirten in jedem heſſiſchen Städtchen bewaffnete
Bürger umher, alle nach dem Pariſer Muſter gekleidet, mit der weißen
„Bürgerbinde“ am Arme, und prächtig erklang das Lied zum Preiſe der
bürgerlichen Waffen:
Der vermeſſene Plan, dem Kurfürſten ſelber eine geſtickte Bürgerbinde
zu ſchenken, wurde zum Glück noch vereitelt, da die Hofleute ſchaudernd
an Ludwig XVI. und die ihm aufgeſtülpte Jacobinermütze erinnerten.
Indeß bekundete ſich das Selbſtgefühl der Bürgergarde unzweideutiger
als ihre Waffentüchtigkeit; es war der Fluch des alten Stellvertretungs-
ſyſtems, daß die Kriegsſpieler ſich für beſſer hielten als die wirklichen
Krieger. Sie verlangten bei den Paraden ſtets den Vortritt und ge-
riethen mit den Truppen oft in Händel. Als die beliebte Sängerin Frau
Roller-Schweizer ſich einige mehr ehrliche als ſchmeichelhafte Bemerkungen
über die Leiſtungen der Bürgerwehr erlaubt hatte, wurde ſie ohne Gnade
von der Bühne entfernt, obgleich ſie von den Brettern herunter vor
„Caſſels hochachtbaren Bürgern“ Abbitte leiſtete.
Trotz dieſer Unzahl von Sicherheitswächtern kam das Land nicht
zur Ruhe, weil die Regierung Kopf und Herz verloren hatte. Das Land-
volk wähnte, mit der verheißenen neuen Freiheit ſei auch die Entlaſtung
des Bodens vollendet; tobende Banden ſtürmten die Schlöſſer der Grund-
herren und verbrannten, meiſt ohne zu plündern, die Zehnten- und
Gilten-Regiſter. Am lauteſten lärmten dieſe „Papierſtürmer“ in dem
armen Iſenburgiſchen Ländchen auf der Rhön, das ſeine doppelten Steuern,
für den Kurfürſten und den Standesherrn, kaum noch erſchwingen konnte.
Die geängſteten Fürſten des Hauſes Iſenburg drohten ſchon ſich unter
preußiſche Landeshoheit zu ſtellen, damit ſie doch Schutz für ihre Habe
fänden. In Hanau wurde das Mauthhaus von einem Volkshaufen zer-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 9
[130]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſtört; alle Papiere und ſelbſt die Kaſſe flogen ins Feuer, denn mit Mauth-
geldern wollte ſich Niemand die Hände beflecken. Ein Demagog, der ſich
General Paulſen nannte, erließ aus ſeinem „Hauptquartier Neu-Brüſſel“
jacobiniſche Tagesbefehle. Um Frieden zu ſtiften eilte der Kurprinz ſelbſt
herbei, und der furchtſame junge Herr ließ ſich durch die zuverſichtlichen
Reden dieſer harmloſen Revolutionäre dermaßen einſchüchtern, daß er
ihnen bis auf Weiteres Zollfreiheit verſprach. In der That ſtellten die
Mauthen im Hanauer und Fuldaer Lande ihre Thätigkeit ein. Dieſe
ſüdlichen Provinzen, wie man am Caſſeler Hofe ſagte, gebärdeten ſich
faſt wie ein ſelbſtändiger Staat; der Thalerrechnung hatten ſie ſich immer
erwehrt, nun ſagten ſich die heſſiſchen Guldenländer auch von dem Zoll-
weſen des Kurſtaates los.
Es ward hohe Zeit, daß ein von allen Theilen anerkannter Rechts-
zuſtand dieſe gemüthliche Anarchie verdrängte. In ſolchem Sinne ſchrieb
Bernſtorff an Hänlein: „Wir bedauern die jetzt maßloſe Ungebühr des
Volks als die unausbleibliche Folge einer bis dahin ebenſo maßloſen Ver-
fahrungsweiſe des Fürſten erkennen zu müſſen.“ Wohl haben die Maſſen
dem Kurfürſten ſeine Verſprechungen abgetrotzt; aber „dieſe Zugeſtänd-
niſſe ſind ertheilt, und es iſt nicht denkbar, daß ihre Zurücknahme ohne
die größte Gefahr und Zerrüttung aller noch beſtehenden Verhältniſſe
erfolgen könnte. Alle Wünſche müſſen ſich vielmehr dahin vereinigen, daß
die einmal betretene Bahn mit möglichſter Schnelligkeit und Ruhe zu
einem Ziele feſter geſetzlicher Ordnung führe.“*)
Auf preußiſche Rathſchläge hörte der Kurfürſt niemals; nur die Angſt
vor den beſtändig wiederholten lärmenden Kundgebungen der Caſſeler bewog
ihn ſein Wort zu halten. Am 16. October traten die altheſſiſchen Stände
zuſammen und verſtärkten ſich ſogleich durch Abgeordnete der übrigen Lan-
destheile. Klug und rückſichtsvoll beſeitigten ſie zunächſt das Hemmniß,
an dem bisher jede Verſtändigung geſcheitert war, den alten Streit um
das fürſtliche Hausgut. Der Kurfürſt ließ ihnen eine Ueberſicht über
den Beſtand des Landesvermögens vorlegen, deren Ziffern ſehr weit —
um mindeſtens 6 Millionen, Mißtrauiſche behaupteten gar um 16 Mill.
Thaler — hinter der allgemeinen Erwartung zurückblieben. Der ſtän-
diſche Ausſchuß verſchmähte jedoch im Einzelnen zu unterſuchen, was wohl
Alles in den Taſchen der Reichenbach und Amſchel Rothſchild’s verſchwun-
den ſein mochte, und willigte in die Theilung der alſo angegebenen Ca-
pitalien. Aus der einen Hälfte ward ein Staatsſchatz gebildet; die andere,
mit einem Ertrage von wenigſtens 0,4 Mill. Thlr. jährlich, verblieb der
Dynaſtie als unveräußerlicher Hausſchatz. Außerdem erhielt der Kurfürſt
für ſeinen Hofhalt 392000 Thlr. jährlich aus den Einkünften der vom
Staate verwalteten Domänen, und da er endlich noch ein großes Scha-
[131]Theilung des Landesvermögens.
tullvermögen beſaß, deſſen Höhe nur ihm ſelber und dem getreuen Hauſe
Rothſchild bekannt war, ſo blieb er nach wie vor einer der reichſten
deutſchen Fürſten. Freilich mußte er nun auch ein Legat, das er ſeiner
Gemahlin unterſchlagen, und die 110000 Thaler, welche König Friedrich
Wilhelm der Kurfürſtin vorgeſchoſſen hatte, endlich herausgeben; er ſträubte
ſich aufs Aeußerſte, aber die Krone Preußen beſtand auf ihrem Rechte,
und der Landtag hielt zu ihr.*)
Sobald man ſich über den Grundſatz der Theilung des Landes-
vermögens geeinigt hatte, beantragte der kurfürſtliche Unterhändler Re-
gierungsrath Eggena, ein gewandter, weltkluger Juriſt, die Stände
ſollten dem Landesvater ihren Dank ausſprechen. Auch dazu ließ der
Landtag ſich herbei; die bäuerlichen Abgeordneten ſagten treuherzig: die
Capitalien ſind zwar heſſiſches Blutgeld und gehören eigentlich alleſammt
dem Lande, aber wir müſſen dem Kurfürſten auch eine Liebe erweiſen.
Wilhelm empfing die Abgeſandten auf Wilhelmshöhe, krank, zerknirſcht,
unter ſtrömenden Thränen. Die getreuen Stände weinten mit und
tranken nachher drunten im Gaſthofe auf das Wohl ihres gnädigen
Herrn.**) Allein nachdem ſie ihm großmüthig den beſten Theil ſeiner
Herzenswünſche erfüllt, meinten ſie ſich um ſo mehr berechtigt, in der
eigentlichen Verfaſſungsſache, die den Kurfürſten weniger bekümmerte,
ihrem eigenen Kopfe zu folgen.
Eggena legte ihnen einen Entwurf vor, der im Grunde nur einige
Verbeſſerungen der alten ſtändiſchen Verfaſſung entheilt. Dawider erhob
ſich im Verfaſſungsausſchuſſe ſofort der Vertreter der Univerſität Marburg,
Profeſſor Sylveſter Jordan, ein fröhlicher katholiſcher Tyroler, der ſchon in
jungen Jahren daheim gegen die Herrſchſucht der Cleriſei gekämpft, dann in
München den Verhandlungen des erſten deutſchen conſtitutionellen Land-
tags als eifriger Zuhörer beigewohnt und endlich in Heidelberg ſich die
Heilslehren des Rotteck-Welcker’ſchen „allgemeinen Staatsrechts“ bis auf
den letzten Buchſtaben angeeignet hatte. Den Brüdern Grimm erſchien
der ehrliche Doctrinär als „ein aufgeſchwemmter Liberaler, der die Formen
hitzig verficht, für die Sache nicht einmal mäßige Wärme beſitzt“. Unter
allen den Wortführern des norddeutſchen Liberalismus ſtand er der Welt-
anſchauung Rotteck’s am nächſten; und nur der wohlberechtigte Groll
über die Unthaten des Kurhauſes erklärt das Räthſel, daß die gemüth-
liche Flachheit dieſer joſephiniſchen Aufklärung hier im proteſtantiſchen
Kurheſſen Anklang finden konnte. Jordan trat in den Ausſchuß mit
dem Bewußtſein eines großen hiſtoriſchen Berufs: „Kurheſſens Beiſpiel
iſt für den Sieg des conſtitutionellen Syſtems in Deutſchland völlig
9*
[132]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
entſcheidend“ — und warf ſofort die Frage auf: „Wie muß eine Ver-
faſſung überhaupt beſchaffen ſein, um den durch Vernunft und Geſchichte
gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entſprechen?“ In
einem regelrechten Kathedervortrage zählte er ſodann, mit 1 und 2, mit
a und b, alle die nothwendigen „Garantien des verfaſſungsmäßigen
Volkslebens“ her. Da prangten wie die aufgeſpießten Käfer einer In-
ſektenſammlung neben einander: zuerſt die Volkserziehung, die ſittliche
und die politiſche — denn „die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht
ebenſo für eine Hauptſtütze des monarchiſchen Freiſtaates, wie die Un-
wiſſenheit und Stüpidität des Volks für eine Grundlage der Despotie“
— ſodann „die Sprech- und Preßfreiheit, d. i. die Publicität“, ferner
eine unabhängige Gemeindeverfaſſung und eine kräftige Volksvertretung,
endlich „die Nationalbewaffnung oder Landwehr“ — denn „der Geiſt einer
Soldatesca iſt ſchon an ſich von dem Geiſte des Volkes völlig verſchieden“
und muß, wenn das ſtehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min-
deſtens durch kurze Dienſtzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden.
Nach dieſen Grundſätzen wollte Jordan die Vorſchläge der Regierung be-
urtheilt ſehen: „richtige Principien ſind auch hier wie überall die Haupt-
ſache.“
Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn
er verkündete mit ehrlicher Begeiſterung, mit einer Zuverſicht, als ob ein
Zweifel gar nicht möglich ſei, alle die Glaubensſätze des vernunftrecht-
lichen Katechismus, welche den deutſchen Liberalen heilig waren, und
hinter den doctrinären Gemeinplätzen verbarg ſich ein praktiſcher, nach
den trüben Erfahrungen der kurheſſiſchen Geſchichte nur allzu berechtigter
Gedanke: die Abſicht beſtändiger Vertheidigung gegen fürſtliche Ueber-
griffe. Jordan dachte ſeinen monarchiſchen Freiſtaat alſo einzurichten,
daß die Regierung von den Vorſchriften der Verfaſſung unmöglich ab-
weichen könnte, und da die Landſtände alleſammt, trotz ihrer unerſchütter-
lichen dynaſtiſchen Treue, den Argwohn gegen den Kurfürſten theilten,
ſo wurde der Verfaſſungsentwurf völlig umgeſtaltet. Der Marburger
Profeſſor behauptete dabei die unbeſtrittene Leitung. In ſeinen Collegien-
heften ſtanden alle die Paragraphen, welche ein Volk frei und glücklich
machen können, längſt ſäuberlich aufgezeichnet; für jeden Herzenswunſch
der öffentlichen Meinung fand er ſofort den vernunftrechtlichen Ausdruck,
und dieſe Fertigkeit des haſtigen Formulirens, die in unerfahrenen Par-
lamenten immer überſchätzt wird, verſchaffte ihm den Ruf ſtaatsmänniſcher
Weisheit. So gelangten die Verhandlungen raſch zum Ziele; man wußte
was man wollte, und für unnütze Redekünſte bot dieſer Landtag, der noch
geheim tagte, keinen Raum. Schon am 5. Januar 1831 ward die neue
Verfaſſung vom Kurfürſten unterzeichnet — eines der denkwürdigſten
deutſchen Grundgeſetze, bedeutſam nicht blos durch ſeine ſtürmiſchen Schick-
ſale, ſondern auch durch ſeinen Inhalt; denn nirgends ſonſt zeigte ſich
[133]Die kurheſſiſche Verfaſſung.
ſo klar die nationale Eigenart des älteren deutſchen Repräſentativſyſtems,
die ſeltſame Verquickung der noch immer fortwirkenden altſtändiſchen
Rechtsüberlieferungen mit der Doctrin des modernen Naturrechts. Mit
erſchöpfendem Fleiße trugen Jordan und ſeine Freunde aus den wohl-
gefüllten Zeughäuſern der altſtändiſchen Verfaſſung und des neuen allge-
meinen Staatsrechts alle die Netze herbei, welche den Fürſten wie ein
Wild umſtellen ſollten, ſo daß er ſich nicht mehr rühren konnte. Eggena
ſo gut wie die Landſtände betrachteten das neue Grundgeſetz als einen
Vertrag zwiſchen Fürſt und Volk; in dieſem Urtheile ſtimmte die altſtän-
diſche Rechtsanſicht mit der Lehre des Contrat social überein.
Darum wurde dem Thronfolger erſt nach geleiſtetem Verfaſſungseide
gehuldigt, und jede Verbeſſerung des vereinbarten Grundvertrages aufs
Aeußerſte erſchwert. Nur wenn die Stände einmüthig oder auf zwei
Landtagen nach einander mit Dreiviertel-Mehrheit zuſtimmten konnte
die Verfaſſung erläutert oder geändert werden; erhoben ſich Zweifel über
den Sinn ihrer Vorſchriften, ſo entſchied ein Compromißgericht, zu dem
Fürſt und Landtag je drei Mitglieder wählten. Den Landtag bildeten die
Abgeordneten der drei alten Stände; ſie waren aber fortan alleſammt
Vertreter des ganzen Volkes und ſollten in einer Kammer nach Köpfen
abſtimmen, weil man einſah, daß die Ritterſchaft des Landes zu ſchwach
und zu arm war um in einem Oberhauſe eine angeſehene Stellung zu
behaupten. Die Stände erhielten außer dem Rechte der freien Steuer-
bewilligung und der Zuſtimmung zu allen Geſetzen auch die Befugniß
der Initiative, die noch keinem deutſchen Landtage unbeſchränkt zuſtand.
Sobald die Mandate der Stände nach drei Jahren abliefen, erfolgte ſofort
die Neuwahl auch ohne die Aufforderung der Regierung. Wenn der
Landtag nicht verſammelt war, ſollte nach altſtändiſchem Brauche ein er-
wählter Ausſchuß von drei bis fünf Mitgliedern mit einem lebensläng-
lichen Syndicus die Rechte der Stände vertreten und nöthigenfalls auch
andere Abgeordnete zu Rathe ziehen.
Den Staatsbürgern wurden einige Menſchenrechte der perſönlichen
Freiheit gewährt, auch die Ablöſung der Grundlaſten ſowie andere wirth-
ſchaftliche Erleichterungen verſprochen. Zur Sicherung dieſer ſtändiſchen
und bürgerlichen Rechte waren Bollwerke aufgerichtet, die in Deutſchland
nicht ihres gleichen fanden. Jeder männliche Heſſe ſollte in ſeinem acht-
zehnten Lebensjahre das Grundgeſetz beſchwören; auch das Heer und die
Bürgergarde wurden mithin auf die Verfaſſung vereidigt, die Offiziere
den übrigen Staatsdienern rechtlich gleichgeſtellt, obgleich dem Kurfürſten
der Name des „oberſten Militärchefs“ blieb. Bei jeder Ausſchreibung
einer Steuer mußte die ſtändiſche Zuſtimmung ausdrücklich angegeben
werden; wo nicht, ſo war Niemand berechtigt die Abgabe zu erheben,
Niemand verpflichtet ſie zu zahlen; nur ſechs Monate lang nach einer
Auflöſung des Landtags durfte die Regierung die früher bewilligten
[134]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Steuern vorläufig forterheben. Im Falle des Verfaſſungsbruchs ſollten
die Stände nicht blos berechtigt, ſondern verpflichtet ſein die Miniſter
vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen. Dieſer § 100 erwies ſich bald
als der gefährlichſte des Grundgeſetzes; er forderte die Zankluſt, die allen
den kleinen Landtagen im Blute lag, gradezu heraus, da Meinungsver-
ſchiedenheiten über die noch ganz unerprobte Verfaſſung kaum ausbleiben
konnten, und begünſtigte die verhängnißvolle Neigung der Deutſchen, poli-
tiſche Machtfragen vom Standpunkte des Civilproceſſes zu beurtheilen.
Auch alle andere Beamten konnte der Landtag vor Gericht verklagen,
wegen Verletzung der Verfaſſung, wegen Veruntreuung, Beſtechung und
Mißbrauch der Amtsgewalt. Alſo den Landſtänden verantwortlich erlangten
die Staatsdiener dem Kurfürſten gegenüber eine Unabhängigkeit, die von
ihrer bisherigen völlig rechtloſen Stellung ſeltſam abſtach; ſie durften nur
durch Urtheil und Recht abgeſetzt, nur wegen Altersſchwäche oder anderer
Gebrechen penſionirt werden. Wurde ein Beamter in den Landtag gewählt,
ſo konnte ihm die Regierung den Urlaub verweigern, doch nur aus er-
heblichen Gründen, die ſie den Ständen mitzutheilen hatte.
So folgerecht war die neue Lehre, welche die belebende Kraft des con-
ſtitutionellen Staates in dem Geiſte des Mißtrauens ſuchte, auf deutſchem
Boden noch nie verwirklicht worden; und nach Allem was dies Land an
ſeinen Fürſten erlebt, mußte ſich der heſſiſche Landtag allerdings in
einem Zuſtande beſtändiger Nothwehr fühlen. Daß auch die Stände
ſelber ihr Recht mißbrauchen könnten, hielt die vernunftrechtliche Doctrin
für unmöglich; für dieſen Fall gab die Verfaſſung dem Kurfürſten keine
Waffen. Er konnte ſelbſt in der Noth, wenn die Geſetze ſich unzu-
länglich erwieſen, nur mit Zuziehung des ſtändiſchen Ausſchuſſes Ver-
ordnungen erlaſſen. Zweifelhaft blieb ſogar, ob er auch nur ſein Recht,
den Landtag aufzulöſen, wirklich gebrauchen durfte; denn am Schluſſe
jeder Tagung mußten die Stände den Landtagsabſchied mit unterzeichnen,
ihren Ausſchuß mit Weiſungen verſehen, und wie war dies möglich, wenn
die Regierung den Landtag wider ſeinen Willen auflöſte? Ein großer
Staat mit ſtarkem Heere und ſelbſtändiger auswärtiger Politik konnte
unter einer ſolchen Verfaſſung unmöglich beſtehen, ein kleines abhängiges
Gemeinweſen vielleicht — wenn ſeine Fürſten eine ungewöhnliche Selbſt-
verleugnung bewährten.
Da das heſſiſche Kurhaus von ſolcher Geſinnung nichts beſaß, ſo
ſollten die Bekenner des Vernunftrechts bald durch eine große Enttäuſchung
erfahren, wie wenig politiſche Formen allein die Freiheit ſichern: unter
allen deutſchen Verfaſſungen war keine durch Rechtsſchranken jeder Art
ſo wohl geſchützt wie die kurheſſiſche, und doch wurde keine ſo oft und
ſo frevelhaft gebrochen. Jordan ſelbſt zeigte ſich mit dem Werke nur halb
zufrieden; er klagte: „das anti-conſtitutionelle Element durchdringt die
ganze Verfaſſung und ſchließt ſich allenthalben klettenartig an das con-
[135]S. Jordan.
ſtitutionelle an,“ denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete
hatten dem doctrinären Feuergeiſte zuweilen Waſſer in den Wein ge-
ſchüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel gerathene „Schlußſtein“ der
Verfaſſung, die Vorſchrift über die Miniſter-Anklage: wie durfte man
die Entſcheidung ſolcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen,
das von der Regierung ernannt wird, und „in der Reſidenz allen Künſten
und Gefahren der Hofkabale ausgeſetzt iſt“? Immerhin wagte er zu
hoffen, aus ſolcher „Verpuppung“ werde ſich noch der Schmetterling der
Freiheit erheben, wenn man nur ſtets dem Geiſte der Verfaſſung den Vorzug
gäbe vor dem Buchſtaben. Unter dieſem Geiſte verſtand er aber kurzweg
die neufranzöſiſche Parlamentsherrſchaft: „das conſtitutionelle Syſtem kann
nur da ſich kräftig ausbilden, wo kein Miniſterium ſich halten kann,
welches die Majorität der Deputirtenkammer gegen ſich hat.“ Wie viel
er auch ſelbſt noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit
Recht, als den Vater der Verfaſſung. Für Schomburg und den Küfer
Maſaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler
Ueberzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein
Haus geſchenkt; als er nachher von dem erſten conſtitutionellen Landtage
heimkam, empfing man den ſchlichten, anſpruchsloſen Mann mit fürſt-
lichen Ehren, und der junge heſſiſche Dichter Franz Dingelſtedt ſang:
Ueberall im Lande ward der Verfaſſungseid willig geleiſtet; eine
Rechtsverwahrung der Fuldaer Clericalen zu Gunſten der römiſchen Kirche
blieb unbeachtet. Nur einige Bauerſchaften des Fuldaer Landes nahmen
Anſtoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürſten ſagte: ſeine Perſon iſt
heilig und unverletzlich; ſie glaubten, mit dieſer Perſon ſei die Reichenbach
gemeint, ließen ſich jedoch bald eines Beſſeren belehren. Zahlreiche Flug-
ſchriften verherrlichten „Kurheſſens freudige Zukunft“ und die Verfaſſung,
„dies tief durchdachte Zeugniß des fortſchreitenden Menſchengeiſtes“. Ein
Verfaſſungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu-
gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und ſchloß mit der tröſtlichen
Verſicherung: „Das letzte Landesrecht iſt, daß jeder Heſſe, dem es hiernach
im Lande nicht gefällt, hingehen kann wohin er will, ohne daß er gehalten
wird.“ In Caſſel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitſchrift
„Der Verfaſſungsfreund“, deren Artikel ſich meiſt durch kühne Allgemein-
heit und durch ſorgfältiges Vermeiden aller praktiſchen Fragen auszeichneten.
„Der Vorabend großer Ereigniſſe“ oder „Was haben die Kurheſſen noch
mehr zu thun?“ — ſo lauteten die Ueberſchriften beliebter Aufſätze. Auch
die liberale Preſſe der deutſchen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende;
ſie pflegte nunmehr, ſeit die ſpaniſche Cortes-Verfaſſung von 1812 endlich
in Vergeſſenheit gerieth, Kurheſſen und Norwegen neben dem Muſterlande
Belgien als die Staaten zu bezeichnen, „welche dem Zeitgeiſte die ihm
[136]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
gebührenden Zugeſtändniſſe gemacht haben.“ Nur Börne bewährte ſich
wieder als unerſättlichen Radicalen und witzelte in ſeinen Pariſer Briefen
über das Flittergold der heſſiſchen Freiheit. Am Bundestage dagegen
war Jedermann entrüſtet über dies revolutionärſte aller deutſchen Grund-
geſetze und ſtimmte dem erboſten Blittersdorff zu, der ſchon beim Beginne
der kurheſſiſchen Bewegung vorausgeſagt hatte: unſere gefürchteten ſüd-
deutſchen Verfaſſungen werden bald die illiberalſten in Deutſchland ſein!*)
Und doch ſollte das vielgeprüfte Land kaum einige Tage lang ſeines
neuen Grundgeſetzes froh werden. Am 8. Januar 1831 verſammelte
ſich der Landtag vor dem Throne. Der Kurfürſt, der ſeinen Ingrimm
nur mühſam verbiß, übergab dem Erbmarſchall die Verfaſſungsurkunde
und ſtammelte verlegen: ich wünſche Heſſen Glück dazu; dann baten die
Stände in überſtrömender Unterthänigkeit um die Erlaubniß, dieſem
Fürſten, als dem zweiten Gründer des Landesglücks ſeit Philipp dem
Großmüthigen, ein Standbild errichten zu dürfen. Tags darauf zogen
die Bürger mit Fackeln nach dem Schloſſe, denn die geliebte Kur-
fürſtin war ſoeben zurückgekehrt; und als nun der Landesvater mit
ſeiner Gemahlin am Arme auf dem Altane erſchien, da jubelte Alles,
mit der neuen Freiheit ſchien auch der häusliche Friede des Kurhauſes
endlich geſichert. Doch leider hatte Wilhelm ſchon dafür geſorgt, daß jenes
würdige Gegenſtück zu dem Standbilde des menſchenverkaufenden pater
patriae nie zu Stande kam. Noch in derſelben Nacht fuhr ein Wagen
Amſchel Rothſchild’s auf Wilhelmshöhe vor, und ihm entſtieg die Gräfin
Reichenbach. Augenblicklich ſchlug die Stimmung in Caſſel um, und aber-
mals begann der „Krawall“ — ſo lautete der neue Ausdruck, der damals
zuerſt in dieſen mitteldeutſchen Landſtrichen aufkam. Sie muß aus dem
Lande — hieß es überall; der Schutz des neuen Grundgeſetzes ſollte der
verhaßten Frau nicht zu gute kommen, obgleich ſie Heſſin war, und die
Kurfürſtin ſelber ſich jetzt bereit erklärte, ſie als Geſellſchafterin und
Pflegerin ihres Gemahls neben ſich zu dulden. Bei den Unruhen dieſer
Januartage hatte der Adel, ganz wie in Braunſchweig, unverkennbar die
Hände mit im Spiele; doch es bedurfte der Aufſtiftung kaum. Selbſt
die Soldaten, die ſonſt trotz des gefährlichen doppelten Eides gute Manns-
zucht hielten, theilten den allgemeinen Abſcheu und ſagten laut: Schlagt
ſie nur todt, wir laſſen Euch nicht im Stich! Nach drei Tagen wachſen-
der Aufregung ſah ſich die Gräfin gezwungen Wilhelmshöhe zu verlaſſen.
Maſaniello Herbold ritt ſelber hinaus um nachzuſehen ob ſie wirklich fort
ſei. Wilhelm aber gebärdete ſich wie ein Raſender; alle politiſchen Wünſche
hatte er ſeinem Völkchen erfüllt, und nun verwehrten ihm die Undank-
baren, ſeinen perſönlichen Neigungen zu folgen. In den nächſten Tagen
mußte er noch, halb gezwungen durch drohende Schreiben der Bürger-
[137]Rückkehr und Flucht der Gräfin Reichenbach.
ſchaft, ein conſtitutionelles Miniſterium berufen, deſſen Leitung Freiherr
Schenk von Schweinsberg übernahm, und den Vertrauten der Reichenbach,
Meyſenbug, mit dem unpolitiſchen Amte des Hausminiſters abfinden.
Wie viel noch an einem geſicherten Rechtszuſtande fehlte, das fühlte man
jetzt erſt, als im Landtage die unendliche Reihe der organiſchen Geſetze
aufgezählt wurde, die noch nöthig waren um alle die reichen Verſprechungen
des Staatsgrundgeſetzes zu erfüllen.
Die Verfaſſung ſelbſt wurde ſchon im Februar in Frankfurt einge-
reicht, damit der Bundestag die Bürgſchaft dafür übernähme. Die Bun-
desverſammlung aber that, wie in allen ſchwierigen Fällen, gar nichts.
Metternich verlangte kurzweg die Abweiſung des Geſuchs, und als Preußen,
von mehrern Mittelſtaaten unterſtützt, widerſprach, ließ er in einer Denk-
ſchrift alle die Sätze der Verfaſſung zuſammenſtellen, welche dem „monar-
chiſchen Princip“ zuwiderlaufen ſollten. Ganz im Sinne der Hofburg
verfaßte auch der Berichterſtatter Blittersdorff ſein Gutachten. Einen ſo
rechtswidrigen Uebergriff des Bundestags konnte jedoch der Großherzog
von Baden als conſtitutioneller Fürſt unmöglich gutheißen; ſeine Regie-
rung ſprach ſich nachdrücklich gegen die Meinung des eigenen Geſandten
aus, und nachdem man noch eine Weile vertraulich geſtritten hatte, wurde
ſchließlich, nach dritthalb Jahren, im October 1833 dem Caſſeler Hofe
unter der Hand mitgetheilt, daß der Bundestag in dieſer Sache keinen
Beſchluß faſſen könne. Durch dieſe lächerliche Entſcheidung waren Oeſter-
reichs Anſchläge vorläufig vereitelt; die kurheſſiſche Verfaſſung beſtand in
anerkannter Wirkſamkeit, der Bundestag hatte ſie ohne Widerſpruch ent-
gegengenommen, mithin durfte ſie, nach der Wiener Schlußakte und dem
Braunſchweigiſchen Präcedenzfalle, nicht mehr einſeitig abgeändert werden.
Unterdeſſen bemerkten die Caſſeler bald, daß der Landesvater etwas
im Schilde führte. Auf Wilhelmshöhe wurde unaufhörlich gepackt; Silber-
zeug und Koſtbarkeiten, ſelbſt Thürſchlöſſer, Oefen und Parketböden ver-
ſchwanden in großen Frachtwagen, die nach Frankfurt zu der Reichenbach ab-
gingen; zugleich ließ das Hofmarſchallamt eine Menge kurfürſtlicher Pferde
verſteigern.*) Und wieder rotteten ſich die Krawaller zuſammen um die
Abfahrt der Wagen zu verhindern. Der Kurfürſt ſelbſt war in der Stadt
vor beleidigenden Zurufen nicht ſicher; ſeine Gemahlin aber erſchien auf
den Bürgerbällen, wie die anderen Damen in die weißblauen Stadtfarben
gekleidet, und empfing die ehrfurchtsvollen Huldigungen der Herren, die
alleſammt die „Conſtitutions-Schleife“ im Knopfloch trugen. Sobald der
Landtag geſchloſſen war, am 10. März, verſchwand der Kurfürſt mit
ſeinem Meyſenbug aus Wilhelmshöhe und fuhr nach ſeinen Schlöſſern
im Hanauerlande, wo er mit ſeiner Geliebten zuſammentraf. Die radi-
calen Hanauer wußten ſich vor Freuden kaum zu laſſen, als der Landes-
[138]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
vater leibhaftig in ihrer Mitte erſchien, auch gegen die Gräfin hatten ſie
nichts einzuwenden; ſie hofften, ihre Stadt werde wieder wie vor Zeiten
Reſidenz werden, und gewannen Wilhelm’s Herz durch unterthänige
Befliſſenheit ſo gänzlich, daß er ſich ſelber zum Chef ihrer Bürgergarde
ernannte. Warum ſollten dieſe ſüdlichen Provinzen, nachdem ſie ſchon
das altheſſiſche Mauthweſen abgeſchüttelt, nicht einen ſelbſtändigen Klein-
ſtaat unter dem alten Kurfürſten bilden? — ſolche Pläne wurden bereits
beim Schoppen von begeiſterten Hanauer Patrioten erörtert.
Während die Miniſter in Caſſel redlich an den neuen organiſchen Ge-
ſetzen arbeiteten, bildete der Kurfürſt mit der Gräfin und ihrem Meyſenbug
eine geheimnißvolle abſolutiſtiſche Gegen-Regierung im ſchönen Schloſſe
Philippsruhe am Main; die Bürgerfeſte der Caſſeler wurden durch aller-
hand rohen Muthwillen geſtört, und Jedermann argwöhnte, daß die Unruh-
ſtifter ihre Weiſungen von der Reichenbach empfingen. Während jene den
Beitritt zum preußiſchen Zollvereine vorbereiteten, ſtand der Kurfürſt in
Verkehr mit der benachbarten öſterreichiſchen Bundesgeſandtſchaft und ſuchte
insgeheim jede Annäherung an Preußen zu vereiteln. Nach dem Buch-
ſtaben der Verfaſſung war er in ſeinem guten Rechte, denn dieſe verbot ihm
nur den Sitz der Regierung außer Landes zu verlegen; auf die Dauer
mußte ein ſolches Doppel-Regiment doch unerträglich werden. Die Caſſeler
murrten, weil ihnen die Kundſchaft des Hofes entzogen und ſogar das
unentbehrliche Hoftheater geſchloſſen wurde; umſonſt hielt Hänlein den
Stadträthen vertraulich vor, nach ſo grober Verletzung der Ehrerbietung
ſei die Stadt doch verpflichtet, ſich bei dem beleidigten Landesherrn zu
entſchuldigen. Heißſporne meinten ſchon: da der Kurfürſt an der Aus-
übung der Regierung verhindert ſei, ſo müſſe ſeine Gemahlin die Regent-
ſchaft übernehmen.
Im April wurde der neue Landtag gewählt, ohne heftigen Kampf,
noch nach der ſtillen Weiſe der alten Zeit. Die Abgeordneten gehörten in
ihrer großen Mehrheit der liberalen Partei an; ſie beſchloſſen den Kur-
fürſten durch Abgeſandte zur Rückkehr aufzufordern, weil er im Hanauer
Lande „des verfaſſungsmäßigen Rathes der verantwortlichen Miniſter faſt
gänzlich entbehre“. Der aber antwortete durch heftige Vorwürfe gegen
die Undankbarkeit ſeiner Unterthanen; ſeine Caſſeler ließ er bedeuten,
durch Worte könne das Andenken übler Thaten nicht verlöſcht werden.
Im Landtage brach die gereizte Stimmung überall durch. Der Voran-
ſchlag wies ein Deficit von faſt 0,4 Mill. Thlr. bei einer Geſammtein-
nahme von kaum 2,888 Mill. auf. Allein das Heer mit ſeinen 9000 Mann
erforderte eine Million, und manche neue unabweisbare Ausgaben ſtanden
noch bevor; ſo ſollten „die Amerikaner“, jene unglücklichen einſt an England
verkauften Soldaten, endlich einen beſcheidenen Ruhegehalt empfangen,
aber nur die im Lande lebenden, denn gegen Ausländer, alſo beſchloß der
Landtag, dürfe man „bei der allgemeinen Landesnoth keine unnöthige
[139]Der Kurfürſt im Hanauer Lande.
Großmuth üben“. Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus-
helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ ſich aber nur dann
ſichern, wenn die Anarchie des Mauthweſens durch die preußiſche Ordnung
verdrängt wurde, und vor dem preußiſchen Zollvereine bebten viele der
Liberalen faſt ebenſo ſcheu zurück wie der Landesherr ſelber.
Derweil man dergeſtalt rathlos verhandelte, zeigte jener § 100 der
Verfaſſung ſchon ſeine verderbliche Wirkung. Der Kurfürſt hatte durch
Cabinetsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache ſelbſt wie gegen
die Perſonen ließ ſich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die
Unterſchrift des Kriegsminiſters Loßberg, und obſchon die Vorſchriften der
Verfaſſung für dieſen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, ſo meinte ſich
gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der beſten Juriſten des Landes, in
ſeinem Gewiſſen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem
doch höchſtens ein verzeihlicher Formfehler zur Laſt fiel, wegen Verfaſſungs-
bruchs angeklagt werde. In leidenſchaftlicher Rede fiel Jordan bei und
rief wie gewöhnlich den Geiſt der Verfaſſung zu Hilfe gegen ihren zweifel-
haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher.
Die Bürgergarden von Caſſel und Marburg beriethen ſchon unter ein-
ander, wie „die im Finſtern ſchleichende, geifernde Brut gänzlich unter-
drückt“ und der Kurfürſt — aber ohne ſeine Gräfin — in die Hauptſtadt
zurückgeführt werden ſolle; eine Adreſſe von nahezu tauſend Caſſeler Ein-
wohnern ſtellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch
länger fern bleibe, ſo verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemüthlich-
keit waren die Heſſen ſchon nahe daran, den Verſailler Zug der Pariſer
vom October 1789 zu wiederholen.
Um ein Ende zu machen beſchloß der Landtag, noch einmal ſein Glück
bei dem grollenden Landesherrn zu verſuchen. Gegen Ende Auguſt reiſten
abermals ſtändiſche Abgeſandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen
ward vorgelaſſen: Präſident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter,
der an der Spitze des Obergerichts ſo viele Jahre hindurch gegen fürſt-
liche Willkür angekämpft hatte. Freimüthig und doch ehrfurchtsvoll ſetzte
er dem Kurfürſten jetzt auseinander, daß der Souverän in der gegen-
wärtigen Lage mit den Miniſtern regelmäßig zuſammen arbeiten müſſe,
die Gräfin aber in Caſſel ihres Lebens ſchwerlich ſicher ſei; ſchließlich
ſtellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht
auf die Regierung. Wilhelm wählte wie er mußte: er zog die Geliebte
vor und ſendete den Präſidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur-
prinzen, dem nach der Verfaſſung die Regentſchaft gebührte, weiter zu
verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen
Sitzung berufen, und mit Zuſtimmung des Landtags kam nunmehr ein
Geſetz zu Stande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige
Beſorgung aller Regierungsgeſchäfte übertrug, bis der Kurfürſt ſeine
bleibende Reſidenz wieder in Caſſel nehmen würde.
[140]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Dieſen Ausgang der Wirren hatte Niemand erwartet, Niemand ge-
wünſcht. Kurprinz Friedrich Wilhelm hieß im Volke längſt der böſe Junge.
Der Eintagsruhm, den er ſich durch ſeine feige Nachgiebigkeit gegen die
Hanauer Mauthſtürmer erworben, war raſch wieder verflogen; man wußte,
wie dringend er dem Vater von der Verfaſſung abgerathen, wie frech und
lieblos er ſich ſoeben erſt in Fulda mit ſeiner Frau Lehmann gegen ſeine
Mutter betragen hatte. Wie unheilvoll hatte doch Alles zuſammengewirkt
um dieſen letzten Fürſten eines ruhmreichen Hauſes einem ſchmählichen
Falle entgegenzuführen. Freudlos und freundlos war er aufgewachſen,
in ewigem Hader erſt mit dem Vater, dann mit beiden Eltern, ſchlecht
erzogen, von Ränken umringt, vom Morde bedroht, ohne Kenntniſſe,
kleinlich, gewöhnlich in allen ſeinen Neigungen. So ward er zum bos-
haften Menſchenverächter; der ſeltſame halb ſcheue halb ſtiere Blick ſeiner
waſſerblauen Augen verrieth ſchon, daß er Alle fürchtete, Keinen ehrte,
Jedem die ſchlechteſten Beweggründe unterſchob. Ein höheres ſittliches
Ideal als die formale Geſetzlichkeit blieb ihm unfaßbar. Schüchtern und
linkiſch im Verkehre, kaum fähig einen längeren Satz zu Ende zu ſprechen,
konnte er zuweilen in raſendem Jähzorn auffahren und dann verſchlug
es ihm wenig, den Beamten Fußtritte zu verſetzen, den Miniſtern ſelbſt
brutale Schimpfworte, nach Umſtänden auch ein Tintenfaß an den Kopf
zu werfen. Seine Staatsweisheit lief auf das einfache: Ordre pariren
und nicht räſonniren! hinaus; als Abſolutiſt ohne Phraſe liebte er weder
die Salbung der theologiſchen, noch die Romantik der feudalen Reactions-
lehren.
Die Verfaſſung durfte er nicht brechen, ſchon weil er ihr allein die
Regentſchaft verdankte und weil ſein Vater jederzeit zurückkehren konnte; doch
er haßte ſie wie einen perſönlichen Feind, denn ſie verkümmerte ihm ſein
Familienleben, das einzige Glück, deſſen er fähig war. Gertrud Lehmann
war jetzt ſeine rechtmäßige Gemahlin; er hatte ſie vor Kurzem, nachdem
ihre Ehe getrennt worden, insgeheim geheirathet und erhob ſie — es war
die erſte That ſeiner Regierung — zur Gräfin von Schaumburg. Wie
verſchwenderiſch hatten doch einſt ſeine Vorfahren ihre Dirnen und Ba-
ſtarde ausgeſtattet. Er aber konnte für ſeine Gattin und ſeine ehelichen
Kinder, die er auf ſeine Weiſe liebte, nur wenig thun; ſein Einkommen
genügte, trotz der äußerſten Sparſamkeit und trotz der Beihilfe Amſchel
Rothſchild’s, kaum für die Koſten des Hofhalts, da ſein Vater den Haus-
ſchatz für ſich behielt, und an den Staatsgeldern durfte der conſtitutionelle
Fürſt ſich nicht mehr vergreifen. Leider ward die Lage des Prinz-Regenten
auch durch die Schuld der Mutter verſchlimmert. Wenn die Kurfürſtin
ſich entſchloß über das Vergangene hochherzig einen Schleier zu werfen,
wenn ſie die Gemahlin ihres Sohnes, die nunmehr ein untadelhaftes Leben
führte und allen Staatsgeſchäften fern blieb, als ihre rechtmäßige Schwieger-
tochter behandelte, ſo konnte vielleicht wieder ein geordnetes häusliches Leben
[141]Mitregentſchaft des Kurprinzen.
am Hofe ſich herſtellen. König Friedrich Wilhelm gab ſeiner Schweſter auch
ausdrücklich Vollmacht, ſich mit der Gräfin Schaumburg zu verſtändigen.*)
Die unglückliche Fürſtin aber hatte unter dem heſſiſchen Dirnenregiment
zu ſchwer gelitten, ſie konnte den Widerwillen der Frau, den Stolz der
Hohenzollerin nicht überwinden, und da ihr Sohn ſich durch trotzige
Roheit rächte, ſo blieb es dabei, daß dies Fürſtenhaus keine allgemein
anerkannte Herrin beſaß.
Die erſten Wochen der neuen Regierung verliefen leidlich. Wiederhold
übernahm die Leitung des Miniſteriums und kam dem Landtage ſo weit
entgegen, daß er ſogar in die Entlaſſung des halb-ſchuldigen Kriegsminiſters
willigte. Durch ſolche Nachgiebigkeit wurde freilich das Selbſtgefühl der
Stände bedenklich geſteigert. Erſtaunlich, was ſie jetzt Alles aus dem Geiſte
ihrer Verfaſſung heraus zu folgern wußten. Als der Kurprinz einmal einige
Abgeordnete während einer Sitzung zur Tafel befohlen hatte, beantragte
Jordan, die verantwortlichen Miniſter ſollten das Hofmarſchallamt erſuchen
ſolche Einladungen zu unterlaſſen, denn der Regent ſei nicht berechtigt
die Vertreter des Volks ihren Geſchäften zu entziehen. Bald führte das
Zerwürfniß im Kurhauſe zu neuen Ruheſtörungen. Ergrimmt über die
geringſchätzige Behandlung ſeiner Gemahlin ließ der Kurprinz ſeiner Mutter
ihre Loge im Theater verſchließen; am nächſten Tage nahm er den Befehl
zurück da er die allgemeine Entrüſtung bemerkte. Als nun die Kurfürſtin
am 7. December im Theater erſchien, begrüßten ſie die Zuſchauer mit
Hochrufen auf „unſere rechtmäßige Landesmutter“. Draußen ſtrömte das
Volk zuſammen, man wollte die Kurfürſtin mit Fackeln nach Hauſe ge-
leiten. Da eilten Truppen herbei, der Polizeidirektor verkündete den
Kriegszuſtand, obwohl ernſte Unordnungen diesmal nicht vorgekommen
waren; die Garde du Corps ſprengte in den Haufen ein und verwundete
mehr als zwanzig Leute. Währenddem ging der Kurprinz auf dem Fried-
richsplatze unter den Soldaten umher und rühmte ſich nach vollbrachter
That, nun habe er ſich endlich Reſpekt verſchafft.
Nach wenigen Tagen verlor er wieder den Muth, da Hänlein ihm
ins Gewiſſen redete, ordnete eine Unterſuchung an und bedauerte in einer
Bekanntmachung, daß „im nächtlichen Dunkel Unfälle geſchehen ſeien“.
Die Bürger bezeigten ihren Zorn durch widerwärtige Händel mit den
Truppen. Der Verfaſſungsfreund ſchrieb, da der Kurprinz nur Uniform
trug: ein Fürſt der immer im Soldatenkleide erſcheint, beweiſt damit, daß
er das Oberhaupt nicht des Staates, ſondern des Militärs ſein will. Am
Sylveſterabend wurde Jordan, zu ſeinem Namenstage, mit überſchwäng-
lichen Huldigungen geehrt; bald darauf hielten die Abgeordneten der beiden
Heſſen in Gießen ein feierliches Eintrachtsmahl, tranken mit einander auf
die gemeinſame Freiheit, und jeder Theilnehmer erhielt zum Andenken einen
[142]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Abdruck der beiden Verfaſſungsurkunden. Die Kurheſſen gedachten indeſſen
bereits wehmüthig der Erzählung Hippel’s von den „Lebensläufen in ab-
ſteigender Linie“; ſie fanden, im Hauſe Brabant gerathe der Sohn immer
noch ſchlechter als der Vater, und Mancher ſehnte ſich ſchon nach dem
alten Kurfürſten zurück. Der aber betrat ſeine Hauptſtadt niemals wieder,
ſondern lebte als Privatmann bald in den Schlöſſern am Main, bald in
Frankfurt oder an der Badener Spielbank. Sein Sohn begnadigte ſofort
den wegen der Vorfälle vom 7. December verurtheilten Polizeidirektor und
kränkte ſeine Caſſeler tödlich, als er den Civil-Beamten der Bürgerwehr
befahl ihre Schnurrbärte abzuſchneiden. Welch eine Gelegenheit für Jordan
zu ſchwungvollen Reden: die §§ 31 und 32 verbürgten die Freiheit der
Perſon und des Eigenthums, folglich gebührte jedem Heſſen das unbe-
ſchränkte Eigenthum an ſeinem Barthaare, und die eidvergeſſenen Miniſter
mußten wegen Verfaſſungsbruchs angeklagt werden!
Zum Unheil des Landes ſtarb Miniſter Wiederhold ſchon im Februar
1832, der einzige Mann, deſſen Stimme zugleich am Hofe und im Land-
tage gehört wurde. Nun trat Hans Daniel Haſſenpflug in den Miniſter-
rath ein, der Sohn des Vaters, und ſprach ſofort die Abſicht aus „die
Strömung wieder in das verlaſſene Bette des Gehorſams zurückzu-
dämmen“. Mit ihm begann der lange boshafte Kampf wider die Ver-
faſſung. Vorderhand trug Kurheſſen aus ſo vielen Erſchütterungen nur
drei werthvolle politiſche Güter davon: die Theilung des Landesvermögens,
die rechtlich geſicherte Ordnung des Beamtenthums, vor Allem aber die
Verbindung mit dem Zollvereine, die im Sommer 1831 endlich zu Stande
kam und, weil ſie allein dem zerrütteten Staatshaushalt aufhelfen konnte,
auch die Genehmigung der Stände fand. Zu Neujahr 1832 wurde das
preußiſche Zollweſen eingeführt. Wieder zogen die Hanauer in hellen Haufen
hinaus um das neue Zollhaus wie einſt das alte zu ſtürmen, doch dies-
mal begegneten ſie entſchloſſener Abwehr. Auch die anderen Landestheile
fügten ſich anfangs nur ungern; die Gaſſenbuben verhöhnten „den Preuß“
im Zollhauſe:
Sehr bald erkannte man doch den Segen des freien deutſchen Marktes.
Lediglich dem Zollvereine verdankte das Land, daß ſeine wirthſchaftlichen
Kräfte unter einer nichtswürdigen Regierung langſam wieder erſtarkten. —
In Heſſen wie in Braunſchweig richtete ſich der Aufruhr gradeswegs
gegen die Willkür pflichtvergeſſener Fürſten. Im Königreich Sachſen brach
eine wohlwollende, aber altersſchwache und völlig entgeiſtete Regierung
haltlos zuſammen vor den erſten Schlägen einer kleinbürgerlichen Volks-
bewegung, welche ohne ein politiſches Ziel zu verfolgen ihren Unmuth
[143]Unruhen in Leipzig.
zunächſt nur an einzelnen verhaßten Behörden und örtlichen Mißſtänden
ausließ. Die Unruhen begannen hier ſchon vor der großen Woche der
Pariſer, als im Juni drei Tage lang das Jubelfeſt der Augsburgiſchen
Confeſſion gefeiert wurde. Ein geiſtliches Lied mahnte die Sachſen, auch
das kommende Jahrhundert hindurch der Kirche heilige Güter treu zu
beſchirmen: „dann jubeln frei wie Ihr der Enkel freie Schaaren;“ und
manche der Feſtreden klang wie ein Proteſt des lutheriſchen Volkes gegen
die jeſuitiſchen Umtriebe, die man den ausländiſchen Hofgeiſtlichen des
greiſen Königs zutraute. Da die Behörden in Dresden und Leipzig ſich
dem volksthümlichen Feſte unfreundlich zeigten, ſo kam es in beiden Städten
zu kleinen Aufläufen und Straßenhändeln; zuweilen erklang aus der
aufgeregten Menge ſogar der in Sachſen unerhörte Ruf: hoch Friedrich
Wilhelm der proteſtantiſche König! Die eingeleitete Unterſuchung hüllte
ſich in tiefes Geheimniß, und eine heftige Flugſchrift, die das Gebahren
der wachſamen, aber groben Leipziger Polizei kurzweg als „Schatten ohne
Licht“ brandmarkte, mußte zur Beſchämung der Kurſachſen außer Landes,
unter dem Schutze der ſtrengen preußiſchen Cenſur erſcheinen.
In den erſten Septembertagen brach der Groll von Neuem aus; an
zwei Abenden hintereinander trieb der Leipziger Pöbel argen Unfug. Die
Bürger ſahen ſchadenfroh zu, und als der geängſtete Stadtrath ſie am
4. September zur Hilfe rief, hielten ſie ihm zornig die Sünden ſeines
Vettern-Regimentes vor, bis er endlich Rechenſchaft von ſeiner Verwaltung
abzulegen verſprach. Die ganze nächſte Nacht hindurch tobten die Maſſen
wieder in den Straßen. Da und dort zeigte ſich die franzöſiſche Tricolore,
und zuweilen erklang der Ruf: Freiheit, Paris, Lafayette! Im Grunde galt
der Grimm nur den kleinen Stadttyrannen, und auch der Zunftgeiſt
wollte in der erwerbloſen Zeit ſein Müthchen kühlen an gefährlichen Neben-
buhlern. Die Wohnungen mehrerer Rathsherren und Polizeibeamten
wurden „demolirt“ — ſo lautete die ausgegebene Loſung — desgleichen
einige verrufene Häuſer, deren Damen ſich der geheimen Gunſt der Stadt-
behörden erfreuten; die Schloſſer grollten, weil der Rath die eiſernen
Bettſtellen für ein Krankenhaus auswärts beſtellt hatte, die Drucker wollten
die neue Schnellpreſſe zerſtören, die ihnen das Brot vom Munde nahm,
die Lohnkutſcher den Eilwagen im königlichen Poſtſtalle. Am folgenden
Morgen that ſich die Bürgerſchaft zuſammen und bildete eine Commu-
nalgarde; Rector Krug berief die Studenten in die Paulinerkirche und
ermahnte ſie in feuriger Rede, mit den Bürgern vereint die Ordnung
herzuſtellen. Dies gelang denn auch ſogleich und ohne Widerſtand. Die
Communalgarde und die akademiſche Legion bezogen gemeinſam die Wachen
— denn kraft alter Privilegien brauchte Leipzig außer der Schloßwache
der Pleißenburg keine Garniſon aufzunehmen. Die Bürger trugen die
weiße Armbinde, die Studenten ihre Schläger und die bunten Verbin-
dungsuniformen, die ſich nunmehr dem Verbote zum Trotz an den Tag
[144]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
hinauswagen durften; während die Einen patrouillirten, ſaßen die An-
deren vor den Thorwachen, tranken Goſe und ſpielten Sechsundſechzig.
Wie freudig wärmte ſich der ehrliche Krug an der Sonne dieſes neuen
Bürgerglückes. Der hatte ſchon vor Jahren den Deutſchen mit gewohnter
Wortfülle ſeine „Lebensreiſe“ geſchildert und darin das Jahr 1813 als
den Höhepunkt ſeines Daſeins bezeichnet. Jetzt ſchrieb er ſofort einen
Nachtrag über „das merkwürdigſte Jahr meines Lebens“ — denn wer
durfte leugnen, daß die Leipziger Revolution doch noch mehr bedeutete als
die Leipziger Völkerſchlacht? Keine ſeiner ungezählten Schriften recht-
fertigte ſo glänzend den Beinamen des Waſſerkruges, welchen die bos-
haften Hegelianer dieſem Philoſophen angehängt hatten. Am Schluſſe
erzählte er rührſam, wie ihm für die Großthaten ſeines Rektoratsjahres
der Civilverdienſt-Orden verliehen wurde; beſcheiden fügte er hinzu: „Das
war wieder allzuviel Ehre. Denn was hatt’ ich eigentlich gethan? Nichts
als meine Schuldigkeit.“ Ueber die Höhe dieſes ſeelenvergnügten Frei-
heitsmuthes ſchwangen ſich auch die zahlreichen anderen Flugſchriften,
welche die ſächſiſche Revolution hervorrief, ſelten empor; nur ein Büchlein
des jungen, den Demagogenverfolgern wohl bekannten Theologen Karl Haſe
beſprach „Sachſens Hoffnungen“ mit politiſcher Einſicht und Mäßigung.
Inzwiſchen hatten die Leipziger Unruhen ſchon in Dresden ihr Echo
gefunden. Auch hier galt die Wuth des Volkes vorerſt nur dem all-
mächtigen Stadtrathe, obgleich dann und wann im Getümmel die Mar-
ſeillaiſe geſungen wurde. Ein Pöbelhaufe zerſtörte das Polizeihaus vom
Fuß zum Firſt, verbrannte die Akten aus dem nahen Rathhauſe, und
die Bürgerſchaft ließ ihn gewähren (9. Sept.). Die ſchwarzen Schützen,
eines der beſten Regimenter des kleinen Heeres, durften auf Befehl der
furchtſamen Regierung nicht in den Haufen feuern, und als ſich auch
hier eine Bürgerwehr mit weißen Armbinden zuſammengeſchaart hatte,
mußten die Truppen ohne Hörnerklang durch ein Spalier der Commu-
nalgarde aus der Stadt abziehen, während die Maſſe den ſchwarzen
Bluthunden ihre Verwünſchungen nachrief. Nun ergoß ſich auch über
das ſtille Dresden ein Abglanz neufranzöſiſcher Bürgerherrlichkeit. Die
Communalgardiſten grüßten einander ſtolz: „Guten Morgen, Pariſer!“,
wenn ſie auf den Trommelruf „Kamerad komm!“ zum Sammelplatze
eilten. Bei ihren Feſten ſangen ſie die ſächſiſche Marſeillaiſe des ſanft-
müthigen alten Tiedge; der Kehrreim Aux armes citoyens! lautete hier
minder blutdürſtig:
Ganz ſo kindlich wie dies Bürgerlied war die Stimmung des Landes
freilich nicht. In Chemnitz und mehreren kleinen Städten rottete ſich
das Volk zuſammen; ſelbſt die Freiberger Bergleute, die ſonſt ihren
Rautenkranz ſo treu in Ehren hielten, zogen drohend vor das Thor der
[145]Entlaſſung Einſiedel’s.
freien Bergſtadt und wurden nur durch das Verſprechen höheren Lohnes
beſchwichtigt. Hier ward das Haus eines katholiſchen Kaufmanns ge-
plündert, dort ein Rathsherr wegen ſeiner Strenge, ein Fabrikant wegen
ſeiner Maſchinen, ein Kirchenpatron wegen des unbilligen Preiſes der
Kirchenſtühle bedroht; alle Herzensneigungen des Philiſterthums kamen
an den Tag, denn die Zügel des Regiments ſchleiften am Boden.
Nach und nach wurden auch politiſche Wünſche laut, da die ver-
haßte ſtädtiſche Verwaltung mit der alten Ständeverfaſſung ſo eng zu-
ſammenhing. Ein bei den Mittelklaſſen hochbeliebter tüchtiger Beamter,
C. G. Eiſenſtuck, der durch die Kenntniß der engliſchen Zuſtände freiere
Anſchauungen gewonnen hatte, verfaßte für die Bürger der Dresdener
Neuſtadt eine Adreſſe an die Krone und wagte hier zuerſt neben der
Beſeitigung der ſtädtiſchen Mißbräuche auch „eine dem Zeitgeiſt entſpre-
chende Repräſentation“, vornehmlich eine Vertretung des Bauernſtandes
zu fordern.
In aller Unſchuld ward unter den Communalgardiſten der Haupt-
ſtadt ſchon die Frage erwogen: ob man nicht, da ſo Vieles zu ändern
ſei, den guten alten König Anton durch freundliche Bitten zur Abdankung
bewegen ſolle; dann könne ſein Neffe, der junge Prinz Friedrich Auguſt,
den Thron beſteigen und vielleicht auch aus Liebe zum Volke den luthe-
riſchen Glauben annehmen. Solche Pläne erſchienen der aufgeregten Zeit
ganz unverfänglich, war doch Ludwig Philipp von den alten Mächten ſchon
thatſächlich anerkannt; die neue franzöſiſche Revolution wirkte darum ſo
verführeriſch auf das gutmüthige deutſche Bürgerthum, weil ſie ſo glatt
verlief und ſo viel unſchuldiger ſchien als die gräuelvolle erſte. Der
deutſche Prinz aber dachte anders als der Orleans; er wies jene An-
ſchläge ſobald er davon hörte entrüſtet zurück und ſagte: ich will nicht
König von Rebellen ſein!
Ein feſtes Ziel gewann die unſtäte Bewegung erſt als das hohe
Beamtenthum ſelber ſich der Leitung bemächtigte. Die jüngeren Mit-
glieder des Geheimen Rathes empfanden ſchon längſt mit Unmuth die
Uebermacht des Geheimen Cabinets, das ſie ganz von dem Monarchen
abſperrte, und den ſtarren Dünkel des Cabinetsminiſters Einſiedel; ſie
konnten ſich auch nicht mehr verbergen, daß der König bei dem drohenden
Zuſammenbruche des alten Syſtems mindeſtens der Beihilfe einer jugend-
lichen Kraft bedurfte. Dem alten Herrn waren die Unruhen ganz unbe-
greiflich; ich habe ja, ſagte er traurig, Alles beim Alten gelaſſen und
Keinem je etwas zu Leide gethan! Endlich begann er doch einzuſehen,
wie gänzlich Graf Einſiedel ihn und ſich ſelber über die Stimmung des
Volkes getäuſcht hatte. Am 13. September mußte der Graf auf die Auf-
forderung des Königs ſein Abſchiedsgeſuch einreichen; unwillig räumte er
den ſo lange behaupteten Poſten und ſchrieb dem preußiſchen Geſandten:
„S. Maj. hat es für nöthig gehalten, daß ich ihn um meine Entlaſſung
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 10
[146]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
bitten ſolle.“*) Am ſelben Tage fuhr der Geheime Rath v. Lindenau mit
dreien ſeiner Amtsgenoſſen nach Pillnitz hinaus und bewog dort den
König, den Prinzen Friedrich Auguſt zum Mitregenten zu ernennen. Der
Vater des jungen Prinzen, der alte Prinz Max, hatte dawider nichts
einzuwenden und erklärte ſogar unaufgefordert, daß er zu Gunſten ſeines
Sohnes auf die Thronfolge verzichte: Ich mag gar nicht regieren —
meinte er gemüthlich — der Fritz iſt gut, er wird ſchon nach meinem
Sinne regieren.
So übernahm denn Friedrich Auguſt die Herrſchaft, die ihm nur
ſelten durch eine Bedenklichkeit des alten Königs erſchwert wurde — ſeit
lange her der liebenswürdigſte Fürſt des albertiniſchen Hauſes, vielſeitig
gebildet, gütig, leutſelig und von einer treuherzigen Aufrichtigkeit, welche
die Hofleute zuweilen erſchreckte. Er nannte ſich ſelber einen Gemüths-
menſchen und war in der That durch Anlage und Neigung mehr für
die gelehrte Muße als für die Welt des Handelns beſtimmt; raſche Ent-
ſchlüſſe fielen ihm ſchwer, durch die trockenen Geſchäfte ward er leicht
ermüdet, und in großer Geſellſchaft ſprach er wenig. „Heute kein Wort
von Politik,“ ſo ſagte er oft, wenn er ſich einen guten Tag machte und
mit einem Adjutanten allein hinausfuhr in die Felſengründe des Meißener
Hochlandes; faſt alle Gebirge Europas hatte er durchwandert bis in ihre
entlegenen Schluchten, und im vertrauten Kreiſe erzählte er von ſeinen
Reiſen mit dichteriſcher Anſchaulichkeit. Am wohlſten fühlte er ſich auf
ſeinem beſcheidenen Weinberge in Wachwitz, wo ihn kein Hofſtaat, nicht
einmal eine Wache ſtörte. Alle Künſte waren ihm vertraut, und mit
glücklichem Blicke wußte er die jungen Talente herauszufinden; von den
Wiſſenſchaften trieb er mit Vorliebe die Botanik, und es geſchah wohl,
daß ein Bäuerlein den ſchlichten Mann, wenn er mit ſeiner grünen
Trommel die Feldraine abſuchte, für den Rattenfänger hielt. Auf ſeinen
fürſtlichen Beruf hatte er ſich gewiſſenhaft vorbereitet; man wußte, daß
er von der Unhaltbarkeit der alten Adelsherrſchaft längſt überzeugt war
und weder mit den Beichtvätern ſeines Oheims noch mit dem Grafen
Einſiedel auf gutem Fuße ſtand. Durch eine freundliche Anſprache an
die Dresdener Bürgerſchaft gewann ſich der Mitregent alsbald alle Herzen;
ſein Wort „Vertrauen erweckt wieder Vertrauen“ wurde fortan in den
gereimten und ungereimten Trinkſprüchen ergebener Unterthanen beharrlich
wiederholt, und man verzieh ihm auch, daß er ſich zu dem angeſonnenen
Glaubenswechſel doch nicht entſchließen wollte. Als treuer und arbeit-
ſamer Gehilfe ging ihm ſein Bruder Johann zur Hand, auch er ein
Gelehrter von umfaſſendem Wiſſen, minder liebenswürdig als Friedrich
Auguſt aber auch minder weich, gründlich bewandert in dem Rechte und
der Verwaltung des Landes. Prinz Johann übernahm den Oberbefehl
[147]Prinz Friedrich Auguſt Mitregent.
über die Communalgarden, die nun in allen größeren Städten zuſammen-
traten und beim Anblick des Fürſten mit der weißen Bürgerbinde ihre
eigene Größe erſt ganz empfanden. In überſchwänglichen Dithyramben
wurde „der Hochgeweihte und ſein Johannes ihm zur Seite“ gefeiert,
und als dieſe „ſächſiſchen Dioskuren im Zenithe von Leipzig erſchienen“,
fand Krug kaum Worte genug für ſeine liberale Begeiſterung.
Der leitende Kopf bei der Arbeit der Reform war der Geh. Rath
v. Lindenau. Herzog Bernhard hieß er bei dem dankbaren thüringiſchen
Volke noch von den Tagen her, da er ſein Heimathland Gotha-Altenburg
während einer Zwiſchenherrſchaft allein regiert hatte; und die gleiche Liebe
erwarb er ſich bald auch in Kurſachſen, zumal unter den Bauern, ob-
gleich der ſchlichte Ariſtokrat alle Künſte der Volksſchmeichelei verſchmähte.
Ein Hauch von Schwermuth lag über ſeinem Weſen; er hatte in der
Jugend ſeine Geliebte verloren, blieb unvermählt, verwendete die Ein-
künfte ſeines anſehnlichen Vermögens und vier Fünftel ſeines Gehalts
für gemeinnützige Zwecke, mied die Geſellſchaft ſo ſehr, daß ihm ſelbſt die
Mitglieder des diplomatiſchen Corps nicht alle bekannt wurden, und
widmete ſeine freien Stunden ganz der Wiſſenſchaft. Die Aſtronomen
ſchätzen ihn als einen glücklichen Forſcher, ſeiner Leitung verdankte die
Sternwarte auf dem Seeberge bei Gotha zum guten Theile ihren Ruf.
Zu Zeiten konnte ſich der hochherzige Idealiſt wohl in unmögliche Pläne
verlieren, ſchließlich kehrte er doch immer auf den Boden des Wirklichen
zurück. So entſagte er jetzt der Politik des mitteldeutſchen Handelsvereins,
an den er einſt ſo viel patriotiſchen Eifer verſchwendet hatte, und geſtand
dem preußiſchen Geſandten Jordan offen: Der Wiener Hof hat uns
glänzende Anerbietungen für eine handelspolitiſche Verbindung gemacht,
wir werden ihnen aber nicht Folge leiſten, ſondern uns dem preußiſchen
Zollvereine anſchließen.*) Auch für die Ablöſung der bäuerlichen Laſten,
für die Neugeſtaltung der Verwaltung und des Städteweſens nahm er
ſich die preußiſchen Geſetze zum Muſter. Die Verfaſſung, die er plante,
ſollte zwar, wie es die Meinung des Tages forderte, die Form einer
Charte erhalten, aber von den altſtändiſchen Ueberlieferungen nicht allzu-
weit abweichen; denn mehr ließ ſich von dem alten Landtage voraus-
ſichtlich nicht erlangen, und deſſen Mitwirkung war unumgänglich, da
der Prinzregent und ſeine Räthe ihren Stolz darein ſetzten, daß die neue
Ordnung rechtlich unantaſtbar daſtehen müſſe.**)
So viele Jahre daher war Sachſen der ſtillſte aller Mittelſtaaten
geblieben; begreiflich genug, daß der Wiener Hof durch die ſo ganz uner-
warteten jüngſten Vorfälle ſchwer beängſtigt wurde. Auch aus den be-
nachbarten Kleinſtaaten liefen bedenkliche Nachrichten ein: aus Köthen
10*
[148]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
hatte die verwittwete Herzogin, die Convertitin Julia fliehen müſſen, weil
das proteſtantiſche Volk ihre Cleriſei bedrohte, in Altenburg war ein ſehr
roher Pöbelaufruhr nur ſchwer und mit preußiſcher Hilfe gebändigt wor-
den. Kaiſer Franz ließ ſogleich in Berlin anfragen, ob nicht ein gemein-
ſames Einſchreiten der beiden Großmächte, zunächſt in Sachſen, rathſam
ſei, und wenngleich ſein Schwiegerſohn, der Prinzregent Friedrich Auguſt,
ſich brieflich vor ihm rechtfertigte, befahl er doch ſeinem Staatskanzler
einige „geſalzene Depeſchen“ nach Dresden zu ſenden. In hoffärtigem
Tone fragte Metternich, wie es möglich ſei, daß ein Staat, der bisher
ein Muſter deutſcher Sitte geweſen, der ſein gegenwärtiges Daſein allein
dem Kaiſer Franz verdanke, ein ſo gefährliches Beiſpiel habe geben können,
und erklärte drohend: der Kaiſer ſei feſt entſchloſſen, nicht über eine ge-
wiſſe Grenze hinaus ein wohlwollender Zuſchauer dieſer Unordnungen zu
bleiben. Der ſächſiſche Geſandte Graf Schulenburg, ein Mann der alten
Schule, der bisher von Wien aus Sachſens deutſche Politik ganz in
Metternich’s Sinne geleitet hatte, eilte ſelbſt in die Heimath um die
Ermahnungen ſeines Meiſters zu unterſtützen; er wurde jedoch von dem
Prinz-Regenten auf ſeinen Poſten zurück verwieſen und bald darauf
abberufen. Czar Nikolaus äußerte ſich faſt ebenſo unwillig. Zärtlich
beſorgt kam der Geſandte des freiheitſchirmenden Frankreichs ſchon zu
Lindenau, um ſich mit verſtändlichem Winke zu erkundigen, ob wirklich
der Einmarſch fremder Truppen bevorſtehe.
Bernſtorff aber wies die Anſchläge der Hofburg kühl zurück. Man
urtheilte im Auswärtigen Amte ſehr hart über die ſächſiſchen Unruhen, weil
ſich der geſtürzten Regierung keine Rechtsverletzung vorwerfen ließ. „Im
Herzogthum Braunſchweig — ſagte eine Weiſung an Jordan — war der
Aufruhr die Folge der Unterdrückung, in Heſſen erklärt er ſich aus den
gehäuften Fehlern und dem ſchweren Unrecht der Regierung, in Sachſen
hat er kaum einen Vorwand, geſchweige denn einen Grund.“ Als der
ſächſiſche Geſandte General Watzdorf, um ein freundnachbarliches Urtheil
bittend, den neuen Verfaſſungsentwurf in Berlin überreichte, da ſang
Ancillon wieder einmal das Lob der deutſchrechtlichen Landſtände und be-
dauerte lebhaft, daß man dieſe „rein germaniſche Form“ nicht mit einigen
Verbeſſerungen beibehalten habe. Indeß erkannten die preußiſchen Staats-
männer gern an, wie ſorgſam der Entwurf „das monarchiſche Princip“
wahre; an eine Störung der ſächſiſchen Reformen dachten ſie um ſo
weniger, da das Nachbarland offenbar erſt wenn ſeine Verwaltung neu-
geſtaltet war dem preußiſchen Zollvereine beitreten konnte.*) Alſo der
preußiſchen Freundſchaft ſicher erwiderte Lindenau der Wiener Hofburg nach-
drücklich, die neue Regierung werde durch eigene Kraft ihr monarchiſches
[149]Neue Unruhen in Dresden.
Anſehen behaupten. Sobald das kleine Königreich an ſeine inneren Schä-
den die heilende Hand legte, lenkte auch ſeine deutſche Politik wie von ſelbſt
in ihre natürlichen Bahnen ein; der Groll über die Landestheilung ſchien
faſt vergeſſen, das Verhältniß zum preußiſchen Hofe geſtaltete ſich bald
freundlich. Prinz Friedrich Auguſt hatte ſich kürzlich bei einem Beſuche
in Berlin das beſondere Wohlwollen des Königs erworben; Prinz Johann
ſchloß mit ſeinem Schwager, dem preußiſchen Kronprinzen, brüderliche
Freundſchaft, die beiden gelehrteſten Fürſten des Zeitalters ergingen ſich
gern im Austauſch ernſter Gedanken, obgleich der nüchterne Albertiner
die romantiſche Weltanſchauung des Hohenzollern nicht theilte.
Es währte noch ein volles Jahr, bis das aufgewühlte Land ſich wieder
beruhigte. Die Sachſenzeitung, der Vaterlandsfreund, die Biene des
Zwickauer Bienenvaters Richter führten oft eine aufreizende Sprache, und
was vor der eingeſchüchterten ſächſiſchen Cenſur doch keine Gnade fand
wurde in Winkelpreſſen gedruckt oder in Altenburg, in Ilmenau unter
dem kraftloſen Regimente der thüringiſchen Kleinfürſten. Späterhin wirkten
auch einige der polniſchen Flüchtlinge mit, denen die Dresdener, eingedenk
der alten Zeiten, eine gaſtliche Aufnahme bereiteten. Die Behörden zeigten
ſich faſt überall ſchwach; faſt jede Mißtrauenserklärung der Gemeinden
gegen einen Beamten, einen Geiſtlichen konnte auf Erhörung rechnen; die
Polizei war durch die vielen kleinen Gaſſenprügeleien ſo in Verruf ge-
kommen, daß ſie kaum noch brauchbare Leute für ihren Dienſt zu finden
vermochte. In Dresden wurde die alte Nationalgarde, weil ſie neben der
neuen Communalgarde nicht mehr beſtehen konnte, aufgelöſt; einige ihrer
Mitglieder widerſetzten ſich, legten Verwahrung ein gegen die Beſchimpfung,
die „der geſammten Nationalgarde nicht blos in Europa ſondern auch in
anderen Welttheilen widerfahren“ ſei, bildeten ſchmollend einen Bürger-
verein. In dieſen Kreiſen ward eine von dem Advocaten Mosdorf ent-
worfene „Conſtitution wie ſie die Sachſen wollen“ verbreitet. Sie trug
die Aufſchrift: „und wird ſie nicht gewährt, ſo pochen wir mit den Flinten-
kolben an,“ forderte Volksſouveränität, Abſchaffung des Adels und des
ſtehenden Heeres; alle die verworrenen radicalen Gedanken, welche das
ſtarre Adelsregiment unter den Kleinbürgern erweckt hatte, fanden hier
ihren groben Ausdruck.
Als die Regierung endlich im April 1831 einige Verhaftungen vor-
nahm, begann der Straßenlärm in der Hauptſtadt von Neuem; der Pöbel
befreite die Gefangenen, die Communalgarde benahm ſich feig, ihr Führer
Prinz Johann ward verhöhnt, und erſt am zweiten Tage trieb das Feuer
der Truppen die Aufrührer auseinander. Mosdorf ward auf den König-
ſtein, viele Andere ins Zuchthaus abgeführt. Dieſe Nachrichten entflammten
in Leipzig wieder die alte Eiferſucht auf die Reſidenz; der Stadtrath ſendete
ſogleich eine Ergebenheits-Adreſſe an den Hof und erbot ſich, im Nothfall
ſeine Communalgarde gegen die meuteriſchen Dresdener auszuſenden.
[150]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Leider war aber auch auf das Bürgerheer an der Pleiße kein Verlaß,
die Weihrauchſpenden der liberalen Preſſe hatten den Hochmuth der be-
waffneten Volksmänner bedenklich geſteigert. Im Auguſt meuterte ein
Theil der Leipziger Communalgardiſten, weil ihnen ein neuer Wachſaal
nicht behagte; ſelbſt die Studenten nahmen Partei gegen die Aufſäſſigen,
und den ſchwarzen Schützen, die jetzt, nach Aufhebung der ſtädtiſchen
Privilegien, ihr Standquartier in Leipzig hatten, fiel die undankbare Auf-
gabe zu, den Aufruhr mit Waffengewalt niederzuſchlagen. Seitdem fühlte
die Krone ſich wieder ſicherer.
Mittlerweile hatte der alte Landtag ſeine weitläuftigen Berathungen
über das Grundgeſetz beendigt. Welch ein ſeltſamer Gegenſatz zu Kur-
heſſen! Während dort der Landtag den Verfaſſungsentwurf der Miniſter
in liberalem Sinne gänzlich neugeſtaltete, gingen in Sachſen alle Re-
formen von der Regierung aus. Sie bewährte durchweg mehr Einſicht
und Unbefangenheit als die Stände; die Ritterſchaft ſo gut wie die
Städte verfochten hartnäckig nur ihr eigenes Intereſſe, und oftmals
mußte Lindenau von ſeinen Standesgenoſſen Schmähungen anhören weil
er die Rechte des Adels preisgebe. Auch die neue Verfaſſung ruhte auf
dem Grundſatze der ſtändiſchen Gliederung. Die erſte Kammer war in
Wahrheit nur ein verkleinertes Abbild des alten Landtags und ebenſo
ſelbſtändig wie dieſer gegenüber der Krone, die nur zehn Grundherren
auf Lebenszeit ernennen durfte; ſie beſtand aus den Prälaten, den Stan-
desherren, den Vertretern des großen Grundbeſitzes und den Bürger-
meiſtern von acht größeren Städten. In der zweiten Kammer behauptete
der Grundbeſitz ebenfalls das Uebergewicht, weil der Landtag die kühne
Behauptung aufſtellte, der wirthſchaftliche Schwerpunkt dieſes gewerb-
fleißigen Landes liege, Dank dem gegenwärtigen Nothſtande des Handels,
allein im Landbau; die Ritterſchaft war hier noch einmal, durch zwanzig
Abgeordnete vertreten; dazu fünfundzwanzig Bauern, ebenſoviel Städter
und fünf Vertreter des Gewerbfleißes. Die Kammern ſtanden mithin,
obgleich ſie nicht nach Curien ſtimmten, den altſtändiſchen Inſtitutionen
näher als dem neufranzöſiſchen Repräſentativſyſtem; für die großſtädtiſche
Bildung boten ſie wenig Raum, da jeder Abgeordnete in ſeinem Wahl-
bezirke wohnen mußte, freilich krankten ſie auch nicht an der Ueberzahl
von Beamten, welche in den ſüddeutſchen Landtagen ſo viel Unfrieden
erregten. Die Krone gab die freie Verfügung über das Kammergut auf
und begnügte ſich fortan mit einer Civilliſte; die Stände erhielten das Recht,
die Miniſter vor einem beſonderen Staatsgerichtshofe anzuklagen, ſie be-
willigten das Budget für je drei Jahre und faßten Beſchluß über die
Geſetzentwürfe, welche die Regierung allein vorlegen durfte. Ein Geſetz
und ſelbſt ein Budget ſollte aber nur dann als abgelehnt betrachtet werden,
wenn in einer der beiden Kammern mindeſtens zwei Drittel dagegen ge-
ſtimmt hatten; überdies konnte die Krone nöthigenfalls die bisherigen Ab-
[151]Die ſächſiſche Verfaſſung.
gaben noch ein Jahr lang forterheben. Ebenſo behutſam war auch der
Abſchnitt über die Menſchenrechte gehalten, der als ein Zugeſtändniß an
den aufgeklärten Zeitgeiſt doch nicht ganz fehlen durfte.
König Anton ließ Alles geduldig über ſich ergehen. Nur durch die
beiden Artikel, welche die Kirchen der Oberaufſicht des Staates unter-
warfen und die Zulaſſung der Jeſuiten ſowie aller anderen geiſtlichen
Orden für alle Zukunft verboten, fühlte er ſich tief verletzt, weil ihre
Faſſung ein kränkendes Mißtrauen gegen den katholiſchen Hof verrieth.
Erſt auf das Zureden ſeines Neffen Johann entſchloß er ſich, auch dieſe
Sätze zu genehmigen. Der Prinz war ſelbſt ſtreng gläubiger Katholik
und blieb in ſeiner Anſchauung der deutſchen Geſchichte den alten habs-
burgiſch-albertiniſchen Traditionen immer treu; doch er wußte auch, was
die Dynaſtie ihrem hart lutheriſchen Volke ſchuldig war, und behandelte
die Kirchenpolitik ohne confeſſionelle Engherzigkeit. Am 4. September 1831
empfingen die alten Stände aus der Hand des Königs die Verfaſſungs-
urkunde, und nach dem Vorbilde der Pariſer Julifeier wurde nunmehr
alljährlich das Conſtitutionsfeſt durch Bürgerparaden, Schmäuſe und
jubelnde Reden verherrlicht.
Wie lächerlich auch dieſe Großſprechereien zuweilen klangen, die erſten
zehn Jahre der neuen Verfaſſung waren doch unzweifelhaft die glücklich-
ſten, welche das Königreich unter dem Deutſchen Bunde verlebt hat. Das
nach Fächern gegliederte Staatsminiſterium, das jetzt die Leitung der ge-
ſammten Verwaltung übernahm, war ſo reich an guten Kräften wie kaum
ein anderes in den deutſchen Mittelſtaaten und beſaß an dem Finanz-
miniſter v. Zeſchau einen ſtaatsmänniſchen Kopf, der in den großen Ver-
hältniſſen des preußiſchen Dienſtes geſchult, Lindenau’s idealiſtiſchen
Schwung durch nüchternen Geſchäftsſinn ermäßigte. Auch in den anderen
höheren Aemtern wirkten tüchtige Männer, wie Wietersheim, Merbach,
Günther; der alte Reichthum des Landes an Talenten durfte ſich jetzt
etwas freier entfalten. Wer ſchärfer zuſah konnte freilich wahrnehmen,
daß die alte kurſächſiſche Adelsoligarchie in milderer Form noch immer
fortbeſtand. Die Miniſter gehörten alleſammt zu dem engen Kreiſe jener
alteingeſeſſenen Geſchlechter, welche ſich ſeit dreihundert Jahren in die
Regierung zu theilen pflegten. Nur der Cultusminiſter Müller war bür-
gerlich — ein märchenhafter Fall im alten Sachſen — und es blieb fortan
die Regel, daß zur Beſchwichtigung der Beamten und der Liberalen von
Zeit zu Zeit ein bürgerlicher Miniſter ernannt, die wichtigſten Stellen
aber ſtets dem Adel vorbehalten wurden. Eine der preußiſchen nachge-
bildete Städteordnung gab der neuen Volksvertretung einen feſten Unter-
bau. Im ſelben Jahre (1832) erſchien das muſterhafte Geſetz über die
Ablöſungen und Gemeinheitstheilungen, das mit den feudalen Laſten weit
gründlicher aufräumte, als es bisher in Preußen gelungen war; nach
Lindenau’s Plänen wurde eine Landrentenbank eingerichtet, welche die
[152]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Berechtigten durch verzinsliche Inhaberpapiere entſchädigte und damit den
Pflichtigen die Ablöſung erleichterte. Nach mehrjährigen Verhandlungen
trat endlich auch die Markgrafſchaft Oberlauſitz in die Verwaltungsord-
nung der Erblande ein.
Der neue Landtag zeigte anfangs eine faſt kindliche Beſcheidenheit,
obwohl Tiedge herausfordernd ſang: „wir haben Männer wie unſern
Eiſenſtuck;“ der abſtrakte Liberalismus der Rotteck-Welckerſchen Schule
fand hier vorderhand noch gar keine Vertreter. An geſundem praktiſchem
Verſtande aber war kein Mangel; einzelne Redner, wie der ehrenfeſte
Ariſtokrat Albert v. Carlowitz und der Leipziger Bürgermeiſter Deutrich
wagten auch ſchon über die grünweißen Grenzpfähle hinauszuſchauen.
Großes Aufſehen erregte an den Höfen die parlamentariſche Thätigkeit
des Prinzen Johann, der allein unter allen Prinzen der deutſchen regie-
renden Häuſer ſeinen Platz in der erſten Kammer regelmäßig einnahm
und durch ſeine etwas trocken juriſtiſchen, aber ſtets ſachkundigen und ver-
ſtändigen Arbeiten dieſe ſchwierige Stellung würdig zu behaupten wußte.
Wer durfte es Karl Böttiger dem Unaufhaltſamen verargen, daß er den
gelehrten Prinzen in wohlgedrechſelten griechiſchen Diſtichen als den πύϱ-
γος Σασσονίας verherrlichte? Seit das ſtarre alte Syſtem gebrochen
war und der Zollverein dem gewerbfleißigen Lande ſeinen natürlichen
Markt eröffnete, erwachte überall ein friſcheres Leben. Die Volkswirth-
ſchaft blühte auf, das Schulweſen ward mit Einſicht verbeſſert, die Leip-
ziger Kramer-Innung gründete ihre große Handelslehranſtalt; faſt in jeden
Städtchen ſorgte ein thätiger Mann, wie der wackere Paſtor Böhmert
in Roßwein, für Sonntagsſchulen, Sparkaſſen, Gewerbevereine. Auch
der Kunſtſinn ward reger ſeit der neue Kunſtverein ſeine Ausſtellungen
hielt; in die ganz verzopfte Dresdener Akademie trat der junge Ludwig
Richter ein und wagte zuerſt wieder, ſeine Schüler zum Landſchaftszeichnen
in die freie Luft hinaus zu führen. Der geſammten deutſchen Baukunſt
aber erwies Friedrich Auguſt einen folgenreichen Dienſt, als er den frucht-
barſten und gedankenreichſten der jüngeren Baumeiſter, den Holſten Gott-
fried Semper nach Dresden berief um das neue Theater mitten hinein
zu ſtellen zwiſchen die flimmernde Pracht des Zwingers und der Hofkirche;
in ſolcher Umgebung entſtanden wie von ſelbſt die Entwürfe zu jenen
reichen römiſchen Renaiſſancebauten, welche minder überladen als die Werke
des Barockſtils, dem maleriſch geſtimmten modernen Auge doch wärmer,
vertrauter, zweckmäßiger erſchienen als Schinkel’s helleniſche Tempel.
Gleichwohl ſammelte ſich während dieſer glücklichen Zeit in der Stille
viel Groll an. Die lang anhaltende gemüthliche Unordnung des Revo-
lutionsjahres hatte die niederen Stände, zumal in der Hauptſtadt, an
einen rohen radicalen Ton gewöhnt. Niemand wollte eingeſtehen, daß
die Regierung ſehr hoch über ihrem Volke ſtand, daß erſt Lindenau und
ſeine Freunde der völlig unklaren Bewegung einen politiſchen Inhalt gegeben
[153]Miniſterium Lindenau-Zeſchau.
hatten. Man prahlte mit dem Heldenmuthe der „ſächſiſchen Julikämpfer“,
der die widerſtrebende Krone zur Gewährung der Freiheit fortgeriſſen
habe. „Alle Bewohner Europas in allen Städten und Dörfern theilen
gleiche politiſche Geſinnung — meinte der Bienenvater Richter — darum
wurde die große Woche von Paris ſofort die von ganz Europa.“ Der
neue weltbürgerliche Radicalismus, der überall in der Luft lag, drang
unmerklich auch in Sachſen ein, und die ausländiſchen Schriftſteller,
welche ſich nach und nach in Leipzig zuſammenfanden, nährten ihn ebenſo
eifrig wie die polniſchen Flüchtlinge in Dresden. Im Erzgebirge war der
Nothſtand groß, und es zeigten ſich ſchon die erſten Keime ſocialen Un-
friedens; die Regierung aber that wenig um die Arbeiter vor Ausbeutung
zu ſchützen, ſie ſtand noch rathlos vor der ſo plötzlich aufſchießenden Macht
der Großinduſtrie. Die undeutſche Soldatenſpielerei der Communalgarden
nährte den Uebermuth der Mittelklaſſen. Kleine Reibungen konnten nicht
ausbleiben, da die Truppen ihre Meinung über dies Bürgerheer, das
ſich gegen die Aufrührer ſo ſchlecht bewährt hatte, oft ſehr deutlich aus-
ſprachen; auf den Exercirplätzen lautete der ſchlimmſte Tadel: das geht
ja wie bei der Communalgarde! Boshafte Märchen kamen in Umlauf,
als der unglückliche Mosdorf in ſeiner Feſtungshaft ſich erhängte, als der
Bienenvater Richter ſein ganz verwildertes Blatt aufgeben mußte und
nach Amerika auswanderte. Die ſchwarzen Schützen hießen die ſächſiſchen
Prätorianer, und mit unbegreiflicher Gehäſſigkeit richtete ſich das Miß-
trauen des lutheriſchen Volkes gegen den Prinzen Johann, der ſeine
Beliebtheit raſch verlor: er ſollte durchaus ein Jeſuit ſein, obwohl man
gerade ihm das Verbot des Jeſuitenordens verdankte, er ſollte am Hofe
geheime Ränke ſpinnen — und was der Thorheit mehr war. Die Klatſcherei
der Philiſter hatte freies Feld, da eine gebildete liberale Preſſe hierzulande
noch ganz fehlte, und wenn ſich dereinſt die rechten Demagogen fanden,
ſo konnte die kleinliche Verſtimmung leicht in wüſten Radicalismus aus-
arten. —
Später als in Kurſachſen entbrannte in Hannover der Kampf gegen
die Adelsherrſchaft. „Bei uns bleibt Alles ruhig, wir haben ja auch
keinen Grund zur Klage“ — ſo ſprach man ſtolz in den Göttinger Pro-
feſſorenkreiſen, als die erſten Nachrichten von den Kaſſeler Unruhen an-
langten. Die von der letzten Mißernte ſchwer heimgeſuchten Bauern
dachten anders; man ſah ſie häufig auf dem Ti zuſammentreten um über
die Barſchheit der Beamten, den Hochmuth der Gutsherren, die Zehnten,
die Frohnden, die Jagdrechte zu klagen; in einzelnen kleinen Amtsſtädten
bildeten die Bürger ſchon im Herbſt Sicherheitswachen, weil ſie Angriffe des
aufgeregten Landvolks befürchteten. Der dumpfe, unklare Groll bedurfte
eines Namens, dem ſich alle Sünden des Adelsregimentes aufbürden
ließen; und dieſer Feind ward ihm gewieſen, als gegen Weihnachten 1830
[154]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
eine Schmähſchrift „Anklage des Miniſteriums Münſter vor der öffentlichen
Meinung“ unter der Hand verbreitet wurde, bald nachher auch gedruckt
erſchien — ein ſchwülſtiges Machwerk aus der Feder des jungen Advo-
katen König in Oſterode. „Münſter, Münſter, Münſter heißt der Alp,
der uns drückt“ — darauf lief Alles hinaus. Der allmächtige Miniſter
wurde mit Attila, Nero, Pizarro, mit dem Hausmeier Pipin verglichen,
weil er die befreiende ſociale Geſetzgebung des Königreichs Weſtphalen
aufgehoben, das Volk „ſchmählicherweiſe in die Leibeigenſchaft zurückge-
worfen“ und „dies in den Jahren 1808—1813 ſchön und herrlich auf-
gerichtete Staatsgebäude mit ungeweihter Hand in einem Augenblicke
wieder niedergeriſſen“ habe. Und ſo ſtark war ſchon die Erbitterung
gegen den Starrſinn der welfiſchen Reſtaurationspolitik: dies Lob der
einſt tödlich verhaßten Fremdherrſchaft machte jetzt tiefen Eindruck auf
die kleinen Leute, zumal da der Libelliſt nur gegen die ſchrankenloſe Ge-
walt miniſterieller Willkür eiferte und ehrfurchtsvoll betheuerte: „Wilhelm
unſer Bürgerkönig weiß nichts davon.“
Am 5. Januar 1831 unternahmen König’s Landsleute in Oſterode,
einen revolutionären Gemeinderath und eine Communalgarde zu errichten;
ſie wollten dann „dem Bürgerkönig die unter allen nichtbeamteten Staats-
bürgern herrſchende Noth“ nachdrücklich vorſtellen und verkündeten in einem
Manifeſte neufranzöſiſchen Stiles: „Möge unſeren Enkeln und Urenkeln
der 5. Januar als ein heiliges Geſchenk ihrer edlen Väter und Urväter
erhalten werden!“ Der kleine Aufruhr ward ſogleich unterdrückt. Da
zeigte ſich plötzlich, daß die ſtürmiſche Zeit auch an dem gelehrten Still-
leben der Georgia Auguſta nicht ſpurlos vorübergegangen war. Ein Heiß-
ſporn der feudalen Partei, der in Göttingen lebte, Frhr. v. d. Kneſebeck
hatte kürzlich in einer „Deutſchlands erlauchten Souveränen“ gewidmeten
Flugſchrift alle Herzensgeheimniſſe des welfiſchen Junkerthums ausge-
plaudert. Die Schrift trug das napoleoniſche Motto: „Wenn die Ca-
naille die Oberhand gewinnt, ſo hört ſie auf Canaille zu heißen, man
nennt ſie alsdann Nation;“ ſie erklärte den Adel für die erſte Stütze des
Thrones, die durch ein Landesheroldsamt geſichert werden müſſe, ſie ver-
langte ein Ordenszeichen für die Freunde der Legitimität, einen politiſchen
Katechismus, der in den Schulen eingeprägt, von allen Staatsdienern
beſchworen werden ſollte — kurz, es war nicht wunderbar, daß die akade-
miſche Jugend eines Abends ihren Unwillen an den Fenſterſcheiben des legi-
timiſtiſchen Freiherrn ausließ und ihn zu ſchleuniger Abreiſe nöthigte. Neue
Aufregung unter den jugendlichen Gelehrten, als der Dekan der Juriſten,
der alte, den Zeitungsſchreibern ſchon längſt durch ſeine tiefe Gelehrſamkeit
verdächtige Hugo, einer mehr liberalen als geiſtreichen Diſſertation des
Dr. Ahrens über den Deutſchen Bund das Imprimatur verweigerte.
In den Kreiſen dieſer jungen Docenten und Advokaten entſtand nun
der tolle Plan, hier auf dem denkbar ungünſtigſten Boden eine Revolution
[155]Der Göttinger Aufſtand.
zu wagen. Daß die Hofräthe des akademiſchen Körpers ſich mit wenigen
Ausnahmen grundſätzlich der Politik fern hielten, war weltbekannt; auch
unter den Studenten beſtand nur eine kleine radicale Partei, denn die
Georgia Auguſta galt noch für die vornehmſte der deutſchen Univerſitäten,
die Prinzen und die Grafen ſaßen in den Hörſälen noch immer wie zu
Pütter’s Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerſchaft aber hatte ſich,
ſeit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener
aus Geldgier, Bedientenſinn und Durſt gemiſchte Charakter, welcher die
Bewohner kleiner Badeorte und Univerſitätsſtädte gemeinhin auszeichnet,
ungewöhnlich ſtark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handſtreich leicht
gelingen; denn das Jägerbataillon in der Kaſerne zählte nur achtzig Mann
— Dank dem läſſigen Beurlaubungsſyſtem, das in allen den kleinen
Bundesheeren eingeriſſen war — und der Commandant ſollte nach Lan-
desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte ſeine Mannſchaft, die bei
rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Civil-
behörden einſchreiten laſſen.
Am 8. Januar ſtürmten die Advokaten Seidenſticker und Eggeling
mit einer kleinen Schaar Verſchworener in das alte Rathhaus. Der
verhaßte Polizei-Commiſſär machte ſich aus dem Staube, auch die anderen
Behörden ſtellten gehorſam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern,
Doctoren und Studenten zuſammengeſetzter Gemeinderath übernahm die
Herrſchaft. Während ein Studentenſchneider auf der ſteinernen Brüſtung
der Rathhaustreppe drohend ſeinen Hirſchfänger wetzte, ſchritt der Leiter
der Bewegung, der Privatdocent v. Rauſchenplatt, im Schlapphut und
hohen Kanonenſtiefeln auf dem Marktplatze einher — ein beherzter,
ſtämmiger kleiner Mann mit ſchief geſchlitzten ſchlauen Augen, dichtem
Haarwuchs und ſtruppigem blondem Vollbart; vier Piſtolen, ein Schlepp-
ſäbel und ein Dolch prangten an ſeinem Gürtel. Auf den Ruf: „es
giebt Revolution“ eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück-
ſelig über den ungeheueren Ulk. Eine akademiſche und eine bürgerliche
Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde,
viele auch die lila-grün-rothe Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben-
hagenſchen Nation. Alles beugte ſich den neuen Gewalten. Die Gar-
niſon zog unbeläſtigt ab, nachdem Rauſchenplatt vergeblich verſucht hatte,
den Commandanten zur gefälligen Ablieferung ſeiner überzähligen Flinten
zu bereden. Im akademiſchen Senat verlangte Dahlmann eine ſcharfe
Abmahnung an die Studenten, aber nur der ſtreng conſervative Gauß
fand den Muth ihm beizuſtimmen.
Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des „Ka-
ters“ — ſo hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Thore
waren verrammelt, die ſchönen Baumgänge des Walles wurden ſcharf
bewacht, weil man die Beamten und Profeſſoren als Geiſel zurückhalten
wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen
[156]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
um große Feuer, das nichtswürdige Adminiſtrations-Bier der alleinberech-
tigten ſtädtiſchen Brauerei floß in Strömen, und ſtolz rauchte Jedermann
auf der Straße; denn die ertrotzte Rauchfreiheit galt in allen dieſen kleinen
norddeutſchen Revolutionen für das Sinnbild des neuen Völkerfrühlings.
Von beſtimmten politiſchen Plänen war keine Rede. Man ſang radicale
Lieder, ließ Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hoch leben; Einzelne empfahlen
auch eine Republik Göttingen unter dem Schutze des Deutſchen Bundes.
Die Geſandtſchaft aber, welche der neue Gemeinderath nach Hannover
ſendete, vermochte ſich über die Wünſche des ſouveränen Volkes ſo wenig
zu einigen, daß ſie ſchließlich zu gleicher Zeit zwei Eingaben ganz ver-
ſchiedenen Inhalts der Regierung überreichte. Den großen Höfen erſchien
dieſe ſo lang anhaltende und ſo ganz ungeſtörte revolutionäre Bewegung
völlig unbegreiflich; Metternich bemerkte mit Entſetzen, „bis zu welchem
Grade die Pläne ihrer Urheber gefährlich und verwegen“ ſeien. Die
hannoverſche Regierung meldete dem Bundestage ſofort, ſie ſehe ſich außer
Stande, Truppen zur Bewachung der deutſchen Weſtgrenze zu ſtellen, da
ſie ihrer bewaffneten Macht im eigenen Lande bedürfe.*) Die geängſteten
Landdroſten und Amtmänner verſprachen „den biederen Bewohnern“ ihrer
Bezirke demüthig, daß allen Beſchwerden „förderſamſt“ Abhilfe gewährt
werden ſolle. An die Göttinger erließ der Generalgouverneur Herzog von
Cambridge ein abmahnendes Manifeſt nach dem andern und fragte ſie
väterlich: „Iſt es recht, mit Aufruhr und Widerſetzlichkeit anzufangen?“
Er faßte ſich erſt wieder ein Herz, als ihm Dahlmann, der mit einigen
Abgeſandten des akademiſchen Senats nach Hannover gekommen war, ent-
ſchloſſen erklärte: die Aufſtändiſchen ſeien ihrer Thorheit müde, eine mäßige
Truppenmacht könne ohne Blutvergießen die Ordnung herſtellen.
So geſchah es auch. Als die Truppen am achten Morgen nach dem
Beginne des Aufruhrs endlich einrückten — über 7000 Mann, mehr als
die Hälfte der hannoverſchen Armee — da waren die Barrikaden an den
Thoren bereits verſchwunden, desgleichen die akademiſche und die bürger-
liche Legion. Rauſchenplatt aber floh mit einigen ſeiner Genoſſen nach
Straßburg, wo ihm die Studenten einen feſtlichen Empfang bereiteten;
ſeines Bleibens war auch hier nicht lange, da Metternich ſich bei der
franzöſiſchen Regierung beſchwerte.**) Die anderen Anſtifter wurden in
Celle vor eine Gerichtscommiſſion geſtellt und dort, nach der grauſamen
Weiſe des alten Strafverfahrens, durch viele Jahre hingehalten. Der
Advokat v. Frankenberg, der lediglich in dem benachbarten Flecken Bo-
venden eine Sicherheitswache befehligt hatte, wartete ſechs Jahre lang auf
ſein Urtheil; endlich ließ man ihm die Wahl zwiſchen der gerichtlichen
Entſcheidung und der Gnade des Königs; um dem Jammer nur ein
[157]Münſter’s Sturz.
Ende zu machen wählte der Arme die Begnadigung, obgleich er ſich keiner
Schuld bewußt war. Viele der Studenten betrachteten den Einzug der
Truppen mit Selbſtgefühl und rühmten ſich: das iſt ſchon gut genug, daß
wir ſo viele Soldaten auf die Beine gebracht haben; durch die vorläufige
Schließung der Univerſität wurden ſie indeß alle ſchwer beſtraft. Die
großen Tage der Georgia Auguſta waren dahin, niemals konnte ſie ihren
alten ariſtokratiſchen Glanz wieder erlangen.
Wohl mochte Jakob Grimm über dieſen „dürren und widerwärtigen
Aufſtand“ klagen; dem Lande brachte der kindiſche Spuk doch Segen, denn
er öffnete dem Generalgouverneur die Augen, den Bürgern die Lippen.
Der gutmüthige Herzog entdeckte mit einem male, wie wenig er die Zu-
ſtände gekannt hatte; er bereiſte das Land, hörte in Münden die bitteren
Klagen der zinspflichtigen Bauern, ließ ſich von den Clausthaler Berg-
leuten in rührſamen Verſen ſchildern: wie ſchlecht man jetzt auf dem
Harze lebt
Zugleich liefen aus Lüneburg „der Erbſtadt des Reichs“ und vielen an-
deren Städten Bittſchriften ein, die alleſammt „eine freie Volksvertretung“
forderten; „ſo gewiß ein Gott über uns Alle wacht, ſchrieb der radicale
Advokat Gans in Celle — ſo gewiß wird auch für ſämmtliche Staaten
Europas dieſe Herrlichkeit, dieſe Krone aller Wohlfahrt aufgehen“. Hier
wie in Sachſen verkettete ſich mit der Volksbewegung ein Parteikampf
innerhalb der Regierung. Der Miniſter Graf Bremer, Cabinetsrath
Roſe und die anderen arbeitenden bürgerlichen Räthe waren es längſt
müde von der Deutſchen Kanzlei in London gegängelt zu werden, ſie
beſchloſſen ſich an den Monarchen zu wenden; aber noch ehe ihre Ver-
trauensmänner bei Hofe eintrafen, hatte König Wilhelm ſchon den Vor-
ſtellungen des Herzogs von Cambridge nachgegeben und die Entlaſſung
des Grafen Münſter verfügt (12. Februar). Die unheilvolle Doppel-
regierung konnte freilich ſo lange die Fremdherrſchaft beſtand nicht gänzlich
verſchwinden; an Münſter’s Stelle trat Ludwig v. Ompteda, jener treue
Mann, der in den napoleoniſchen Tagen ſo raſtlos für die Befreiung
Deutſchlands gearbeitet hatte, ein ehrenhafter Ariſtokrat von gemäßigten
Grundſätzen. Indeß der Schwerpunkt des Regiments lag fortan in Han-
nover, der Herzog wurde zum Vicekönig erhoben und mit erweiterter Voll-
macht ausgeſtattet.
Der Schöpfer der Welfenkrone ertrug ſeinen Sturz mit unverhohlener
Entrüſtung; die glänzenden Ehren, mit denen ihn der freundliche Monarch
zum Abſchied noch auszeichnete, vermochten nicht, ihn über den welfiſchen
Undank, der doch faſt unvermeidlich war, zu tröſten. Auf Dr. König’s
Schmähungen antwortete er mit einer „Erklärung“, die noch einmal das
unermeßliche Selbſtgefühl des welfiſchen Staatsmannes bekundete: nichts,
[158]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
gar nichts fand er an dem Beſtehenden tadelnswerth, ſelbſt von einer
Bevorzugung des Adels wollte er nichts bemerken, obgleich „unſere Miniſter
jetzt zufällig Edelleute ſind“. Zum Schluß druckte er eine Ode aus der
Zeit des Wiener Congreſſes ab, worin ihm „ein vornehmer und vereh-
rungwürdiger deutſcher Dichter“ nachrühmte: er habe
Grollend zog er ſich in ſein ſchönes Derneburg zurück, wo eine Marmor-
tafel über der Thür der alten Kloſterkirche dem Beſucher verkündigte,
daß dieſe Herrſchaft dem Grafen Münſter für ſeine Verdienſte um das
Vaterland geſchenkt worden ſei. Gneiſenau und die alten Kampfgenoſſen
aus den napoleoniſchen Zeiten bewahrten dem ſtolzen Manne, der immer-
hin hoch über dem Mittelmaße deutſcher Kleinminiſter ſtand, allezeit ihre
Freundſchaft; er ſelber lebte fortan zumeiſt der Erinnerung an jene
größten Tage ſeines Lebens und geſtattete zum Schrecken der Rheinbunds-
höfe dem Baiern Hormayr, im Derneburger Archive den Stoff zu ſam-
meln für die „Lebensbilder aus den Befreiungskriegen“.
Auch nach Münſter’s Sturz blieb es bei der alten Regel, daß die
Miniſter zufällig immer Edelleute waren, und die Arbeitslaſt von den
bürgerlichen Geheimräthen getragen wurde. Zwei bürgerliche Beamte,
die der Vicekönig zu Miniſtern ernennen wollte, lehnten ab, weil ſie eine
ſo kühne Neuerung nicht für durchführbar hielten. Während der nächſten
Jahre behielt der kluge und wohlmeinende Cabinetsrath Roſe die Leitung
der Geſchäfte, nur lau unterſtützt von ſeinen adlichen Vorgeſetzten. Der
alte Landtag wurde im März nochmals einberufen; jetzt zum erſten male
errang ſich dieſe ſonſt ſo geringgeſchätzte Verſammlung die Theilnahme des
Volkes, da viele Städte ihren trägen Vertretern das Mandat gekündigt
und liberale Abgeordnete neu gewählt hatten. Indeſſen überwog auch
jetzt noch der conſervative Sinn der Niederſachſen. Auf Stüve’s Antrag
verlangte der Landtag die Vereinbarung über eine neue Verfaſſung, welche
auf dem gegebenen Rechte beruhen, aber das Beſtehende weiter ent-
wickeln ſollte.
Demgemäß wurde durch Roſe, unter Dahlmann’s Mitwirkung, ein
Verfaſſungsentwurf ausgearbeitet, vom Könige genehmigt und dann im
November einer Commiſſion vorgelegt, die aus Vertretern der Regierung
und des Landtags beſtand. Die Berathungen währten drei Monate;
denn unter den Commiſſären der erſten Kammer befand ſich neben dem
hochconſervativen General v. d. Decken auch Münſter’s Neffe, Freiherr
Georg v. Schele, der langjährige Führer der Junkerpartei, der noch
immer in ſeinen „Landesblättern“ gegen alles conſtitutionelle Weſen
einen grimmigen Federkrieg führte. Der unermüdliche Vermittler Frei-
herr v. Wallmoden bedurfte ſeiner ganzen gewinnenden Ueberredungs-
kunſt um dieſe Feudalen mit den Anſichten Stüve’s und der anderen
[159]Der neue hannoverſche Landtag.
bürgerlichen Vertreter der zweiten Kammer einigermaßen in Einklang zu
bringen.
Erſt im Mai 1832 trat der Landtag wieder zuſammen, in ver-
jüngter Geſtalt, da die zinspflichtigen Bauern inzwiſchen eine Vertretung,
die Bürgerſchaften ein erweitertes Wahlrecht erhalten hatten; und erſt
nach beinahe zehn Monaten kam er mit dem Verfaſſungswerke endlich
ins Reine. Die Verhandlungen bewieſen, wie zuvor der Göttinger
Aufſtand, daß die Fluthen des neufranzöſiſchen Liberalismus in einigen
ſchmalen Rinnſalen doch auch in dies zähe niederdeutſche Sonderleben
eingedrungen waren. Prachtvoll erklangen die Schlagworte des Rotteck-
Welcker’ſchen Vernunftrechts aus dem Munde des Lüneburger Advokaten
Chriſtiani, eines warmherzigen Schöngeiſtes, der jetzt für die norwegiſche
Verfaſſung ebenſo feurig ſchwärmte wie früher für Goethe, und die lyriſche
Bilderpracht der Damenalmanache in die parlamentariſche Beredſamkeit
hinübernahm. Sein Freund H. Heine nannte ihn den Mirabeau der
Lüneburger Haide und ſang ihm zu:
Außer dem geſchwätzigen Göttinger Profeſſor Saalfeld fand der Lüneburger
Mirabeau freilich nur wenige Anhänger. Es war der Vortheil des feu-
dalen Adels, daß er allein ſich zu einer geſchloſſenen Partei geſchaart
hatte. Den bürgerlichen Abgeordneten erſchien es noch wie eine Ketzerei, als
der welterfahrene greiſe Rehberg in den „Conſtitutionellen Phantaſien
eines alten Steuermannes“ ihnen zurief: „Man erſchrecke nicht über das
verhaßte Wort: Parteien werden ſich bilden!“ Chriſtiani ſelbſt blieb bei
aller Kühnheit ſeiner Theorien dem welfiſchen Hauſe treu ergeben; über
den Bürgerkönig Wilhelm ſagte er einmal: „Seine Seele, hell und mild
wie der Tag des Mai’s, aber ſtark wie die Felſen des Hochlandes
und frei wie das ſein Vaterland umfluthende Meer, das er ſchon als
Knabe befuhr, kann Alles, nur den Druck ſeines Volkes nicht ertragen.“
Trotz ihrer Zahmheit erſchien dieſe liberale Oppoſition der conſerva-
tiven Mehrheit hochgefährlich; und als ſie gar in einer Aufwallung weichen
Gefühles die Begnadigung der „Märtyrer der Freiheit“, der Göttinger
Aufrührer verlangte, da erhob ſich Dahlmann zornig: „Auflehnung gegen
Alles was unter Menſchen hochgehalten und würdig iſt, Hintanſetzung
aller beſchworenen Treue, das ſind keine bewundernswerthen Thaten.
Einen Liberalismus von unbedingtem Werthe, das heißt: einerlei durch
welche Mittel er ſich verwirkliche, giebt es nicht. Der guten Zwecke rühmt
ſich Jedermann, darum ſoll man die Menſchen nach ihren Mitteln be-
urtheilen.“ Mit der ganzen Wucht ſeiner markigen, aus den Tiefen der
Seele dringenden Beredſamkeit bekannte er ſich zu dem altväteriſchen
[160]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Glauben, daß man die Politik von der Moral nicht ſcheiden könne: „Wenn
ich hierin mich irrte, ich würde keine Stunde mehr mit der Politik mich
beſchäftigen.“ Ihm war kein Zweifel, daß man der Erhaltung den Vorzug
geben müſſe vor der Verbeſſerung, weil Erhaltung zugleich Bedingung
der Verbeſſerung ſei.
Das Zünglein in der Wage war Stüve, der durch ſeine Sachkenntniß,
ſeinen praktiſchen Verſtand, ſeine herriſche, aber auch rechtzeitig vermit-
telnde Haltung die Verhandlungen immer wieder auf nahe, erreichbare
Ziele zu lenken wußte. Rehberg nannte ihn „die Seele der Reform, die
Hoffnung meines zur Arbeit unfähigen Alters“; Wallmoden ſchloß ſich
ihm als treuer Helfer an, verſöhnend und beſchwichtigend ſo oft der ge-
ſtrenge kleine Osnabrücker durch ſeine Schärfe verletzte. Durch eine Schrift
„über die gegenwärtige Lage Hannovers“ hatte Stüve ſoeben abermals
bewieſen, wie richtig er die Mächte des Beharrens in ſeinem Lande zu
ſchätzen wußte. Eine Verfaſſung war ihm nur werthvoll, „wenn ihre
Grundſätze durch die Verwaltung lebendig werden“. Ueber die „Kanne-
gießerei“ der ſüddeutſchen Liberalen urtheilte er ſehr abſchätzig: ſie verſtehen
nur auf Rußland zu ſchimpfen, die Polen zu verherrlichen und nach
Preßfreiheit zu ſchreien.*) Das neue Staatsgrundgeſetz, ſo ſagte er oft,
ſollte nicht einer theoretiſchen Schablone entſprechen, ſondern die im täg-
lichen Leben fühlbaren Mißſtände beſeitigen, und unter dieſen ſtellte er
das alte Syſtem der Kaſſentrennung obenan. Die Regierung gab nur
dem allgemeinen Wunſche des Landes nach, als ſie dem Landtage vorſchlug,
daß die königliche Domänenkaſſe mit der ſtändiſchen Generalſteuerkaſſe ver-
einigt werden, der König aber zur Beſtreitung der Koſten ſeines Hofhalts
ſich eine Anzahl Domänen als Krondotation auswählen ſolle.
Damit ward die Einheit des Staatshaushaltes hergeſtellt und das
ſtändiſche Schatzcollegium aufgehoben, das bisher die Steuerkaſſe ver-
waltet und in endloſen Händeln beſtändig verſucht hatte, der Königlichen
Kaſſe die volle Hälfte der Staatsausgaben aufzubürden. Dem Monarchen
brachte die Kaſſenvereinigung nur Vortheil; ſie überhob ihn des unwür-
digen Streites mit den Schatzräthen und erhöhte ſein freies Einkommen
auf mehr als das Doppelte. Gleichwohl entſchloß ſich der König nur
ſchwer, in die unabweisbare Reform zu willigen, denn er kannte ſeine
deutſchen Stammlande kaum und beurtheilte ſie nach dem engliſchen
Maßſtabe. Gerade in England, wo doch Begriff und Name der Civil-
liſte entſtanden waren, hatte die Krone ſtets aus der Civilliſte einen
Theil der Staatsverwaltungskoſten beſtritten, und erſt ganz neuerdings,
1831, war es dem Cabinet Grey nach ſchweren Kämpfen gelungen, Hof-
ausgaben und Staatsausgaben ſcharf zu ſondern. Die Torys aber
[161]Das hannoverſche Staatsgrundgeſetz.
murrten noch immer über dieſe Neuerung; ſie klagten: ein Monarch, der
eine unüberſchreitbare Summe für ſeinen Hofhalt beziehe, ſei ein stipen-
diary, ein insulated king und habe nicht mehr das Recht Gnaden zu
erweiſen. Der gutherzige König fühlte ſich daher peinlich überraſcht, als
er ſeine beſcheidenen deutſchen Unterthanen deſſelben Weges gehen ſah
wie die Reformer der Whigpartei. Endlich gab er nach und willigte in
die Kaſſenvereinigung. Mit einem Zuge fiel der Vorhang von den wun-
derſamen Geheimniſſen dieſes Finanzweſens. Nun erſt konnte der Landtag
die geſammten Staatsausgaben überſehen und einen deutlichen Begriff
gewinnen von allen den „penſionirten Fähnrichen mit Premierleutnants-
Charakter“, von allen den Geheimeraths-Waiſen und Staats-Pfründnern,
welche an der gaſtlichen Krippe der alten Adels-Oligarchie gefüttert wurden.
Nach dieſem entſcheidenden Erfolge zeigten ſich die Stände überaus
beſcheiden in ihren Anſprüchen. Die Regierung erkannte wohl, daß in
jedem geordneten Staate die meiſten Ausgaben dem Rechtsgrunde nach,
viele auch dem Betrage nach geſetzlich feſtſtehen und mithin von den
Kammern nicht eigentlich bewilligt, ſondern nur rechnungsmäßig geprüft
werden können. Sie ſchlug daher vor, daß die Beſoldungen ſowie die
anderen regelmäßigen Ausgaben der einzelnen Verwaltungszweige durch
vereinbarte Regulative ein- für allemal beſtimmt, und alſo nur 1 ½ Mill.,
ſtreng genommen nur 200000 Thaler, jährlich der freien Bewilligung
des Landtags unterliegen ſollten. Der Vorſchlag war in den einfachen
Verhältniſſen eines Kleinſtaats wohl durchführbar, er raubte den Stän-
den nichts, ſondern ſprach nur aus was ſchon zu Recht beſtand; aber er
vertrug ſich ſchlechterdings nicht mit der herrſchenden Doctrin des con-
ſtitutionellen Staatsrechts, welche kurzerhand den Landtagen die Befugniß
zuſchrieb, bei jeder Budgetberathung die Staatsgläubiger ihrer Zinſen,
die Beamten ihrer Gehalte zu berauben. Darum ward der Streit ſehr
lebhaft, und der Kammerpräſident Rumann mußte von der liberalen
Preſſe harte Vorwürfe hören, als er ſchließlich mit ſeiner Präſidialſtimme
muthig den Ausſchlag gab zu Gunſten der Regierung. Auch dem Geſetz-
gebungsrechte der Stände ward eine feſte Schranke gezogen. Sie ſollten
zwar über den ganzen weſentlichen Inhalt neuer Geſetze entſcheiden und
auch ſelber nach Belieben Geſetzentwürfe vorlegen; der Regierung aber blieb
überlaſſen das alſo Vereinbarte „näher zu bearbeiten“, denn Stüve und
ſeine geſchäftskundigen Freunde wußten aus Erfahrung, wie leicht die
Einzelbeſtimmungen der Geſetze durch das unberechenbare Spiel der par-
lamentariſchen Abſtimmungen verwirrt und verſchoben werden. Die
öffentliche Berathung wurde dem Landtage nur geſtattet, nicht vorge-
ſchrieben; und die erſte Kammer machte von dieſer Erlaubniß keinen Ge-
brauch, ſie ließ ſogar in ihren veröffentlichten Protokollen die Namen der
Redner weg. Tagegelder galten in der deutſchen liberalen Doctrin für
ein natürliches Recht der Volksvertreter; der König aber huldigte der
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 11
[162]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
guten altengliſchen Anſicht, und die Abgeordneten der zweiten Kammer
gaben ſich endlich zufrieden, als ihnen, nicht durch die Verfaſſung ſelbſt,
ſondern nur durch ein vorläufiges Reglement Diäten zugeſtanden wurden.
Schwerer gelang die Verſtändigung über die Zuſammenſetzung der
beiden Kammern. Die Krone wollte nur die angeſehenſten Grundherren,
die Majoratsbeſitzer in die erſte Kammer berufen, die übrige Ritterſchaft,
wie in Sachſen, dem unteren Hauſe zuweiſen; erhielt ſie dann noch, wie
Dahlmann vorſchlug, das Recht, ein Drittel der Mitglieder der erſten
Kammer nach freiem Ermeſſen zu ernennen, ſo ließ ſich hoffen, daß die
beiden Häuſer in leidlicher Eintracht zuſammenarbeiten würden. Wall-
moden begrüßte den Vorſchlag mit Freuden; er wünſchte ſelber in die
zweite Kammer hinabzuſteigen um dort als Bauernführer die Herrſchſucht
ſeiner eigenen Standesgenoſſen zu bekämpfen. Schele aber und die große
Mehrheit des Adels fanden es beleidigend, daß Mitglieder der Ritter-
ſchaft mit den Bürgern und Bauern gemeinſam in einem Hauſe tagen
ſollten. Und leider arbeitete Stüve dem Junkerhochmuth in die Hände;
er gerieth auf den überklugen Einfall, man müſſe den geſammten Adel
in einer Kammer vereinigen um ihn alſo zu ſchwächen. Das Ergebniß
der verworrenen Berathung war, daß der unverſöhnliche Gegenſatz der
beiden Kammern, der ſo lange ſchon dieſen Landtag gelähmt hatte, auch
fernerhin fortbeſtand. Die erſte Kammer blieb wie bisher ausſchließlich
eine Adelsvertretung; den einzigen bürgerlichen Ritter, der einmal in
dieſen Saal eindrang, nöthigte ſie binnen Kurzem zum Austritt; der
zweiten Kammer aber, die fortan aus zehn Prälaten, 37 ſtädtiſchen und
38 bäuerlichen Abgeordneten beſtand, trat ſie mit zunehmender Schroff-
heit entgegen.
Die Vorrechte der Ritterſchaft wagte man nur behutſam anzutaſten;
das Staatsgrundgeſetz verſprach nur für die Zukunft die Beſchränkung
des privilegirten Gerichtsſtandes, die Anſchließung der Rittergüter an die
Landgemeinden. Sein Lieblingswerk aber, die von langer Hand her
vorbereitete Ablöſung der bäuerlichen Dienſte, Zehnten und Meiergefälle,
wußte Stüve jetzt doch noch durchzuſetzen, damit der uralte niederſäch-
ſiſche Grundſatz „frei Mann, frei Gut“ endlich zur Wahrheit würde.
Der Adel ſträubte ſich aufs Aeußerſte, und jahrelang mußte Stüve noch
mit dem Führer der Junkerpartei wegen der Ausführung der neuen
Ablöſungs-Ordnung einen perſönlichen Kampf ausfechten. Da ſein kleines
Landgut bei Osnabrück nahe der Schelenburg lag, ſo kamen Schele’s
Gutsunterthanen beſtändig herüber um ſich bei dem Bauernfreunde Rath
zu holen, und der conſervative Reformer gerieth dergeſtalt in den Ruf
eines demagogiſchen Verſchwörers. Als ſich die Aufregung legte, da mußten
freilich die Grundherren ſelber zugeben, daß ſie durch die Ablöſung nur
gewonnen hatten; der Bauernſtand aber kam jetzt endlich in die Lage ſein
neugewonnenes Wahlrecht ſelbſtändig zu gebrauchen. Auf dieſe praktiſche
[163]Schele. Stüve. Dahlmann.
Freiheit legte Stüve allein Werth; die Dogmen des conſtitutionellen Ver-
nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände ſelber ge-
ſtanden unbefangen, daß man die häufige Wiederkehr großer Staatsproceſſe
nicht erleichtern dürfe; ſie verlangten darum das Recht der Miniſteranklage
nur für den Fall abſichtlicher Verfaſſungsverletzung und behielten ſich für
leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beſchwerde an den König vor.
So kam das Staatsgrundgeſetz zu Stande, unzweifelhaft die be-
ſcheidenſte unter den neuen norddeutſchen Verfaſſungen; bei allen Män-
geln doch ein achtungswerthes Werk erfahrener Einſicht und behutſamer
Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier ſei der Weg betreten, der
für Deutſchland frommen könne. Eine Zeit lang gewann es den An-
ſchein, als ſollte unter dieſen beſonnenen niederdeutſchen Reformern eine
neue Schule des gemäßigten Liberalismus ſich bilden, wie ſie der Nation
gerade noth that, ehrlich conſtitutionell und doch dem hiſtoriſchen Rechte
nicht feindlich geſinnt, eine Schule, die nach Stein’s Vorbild das Künf-
tige aus dem Vergangenen zu entwickeln ſuchte. Unterſtützt von Roſe,
Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrauſch, ließ Stein’s
Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa-
niae, die Hannoverſche Zeitung erſcheinen, die erſte namhafte politiſche
Zeitſchrift des kleinen Königreichs, ein ſtreng nationales Blatt, das den
abſtrakten Theorien des modiſchen Liberalismus ebenſo nachdrücklich ent-
gegen trat wie ſeiner polniſch-franzöſiſchen Schwärmerei und darum von
der ſüddeutſchen Preſſe als ein Organ der pfäffiſchen Reaktion gebrand-
markt wurde. Sein Wahlſpruch lautete: „Treue iſt der Grundzug des
deutſchen Charakters, und Treue iſt Freiheit.“ Nach einem kurzen viel-
verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung,
welche das ganze Land heimſuchte; unter den Männern des praktiſchen
Lebens hatte ſie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politiſirenden
Gelehrten, die ſelten lange bei der Stange aushalten, zogen ſich nach
und nach zurück.
Ueber der neuen Verfaſſung ſchwebte kein glücklicher Stern. Nachdem
die Vereinbarung mühſam gelungen war blieb man noch ein halbes Jahr
hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß
Schele und der öſterreichiſche Geſandte in London Alles aufboten um das
Schiff noch dicht vor dem Hafen ſtranden zu laſſen. Am 26. Sept. 1833
unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgeſetz, nachdem er etwa
vierzehn unweſentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einſeitig
abgeändert hatte. Der neue Landtag beeilte ſich zwar auf Stüve’s An-
trag die Aenderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver-
hängnißvoller Fehler, daß dieſer Staat, der ſeit dem Kriege aus einem
zweifelhaften Rechtszuſtande in den andern taumelte, nun ſchon zum
dritten male eine Verfaſſung erhielt, deren Giltigkeit ſich mindeſtens mit
Scheingründen anfechten ließ.
11*
[164]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Der Abſchluß des Verfaſſungswerkes wurde hier nicht wie in den
Nachbarländern mit lauter Freude begrüßt. Den eifrigen Liberalen ge-
nügte dieſe maßvolle Reform mit nichten, die Maſſe des Volkes aber war
aus der Aufregung des Revolutionsjahres längſt wieder in die alte Gleich-
giltigkeit zurückgefallen. Kurheſſen und Sachſen traten bald nach ihrer
politiſchen Neugeſtaltung dem Zollverein bei, und die öffentliche Meinung
wähnte in begreiflicher Selbſttäuſchung, daß man das kräftig aufblühende
wirthſchaftliche Leben nicht der Freiheit des deutſchen Marktes, ſondern
der Verfaſſung verdanke. In Hannover dagegen wurden die handelspoli-
tiſchen Folgerungen, die ſich aus der Kaſſenvereinigung und der Steuer-
reform unabweisbar ergaben, nicht gezogen, das Land verharrte bei ſeiner
ſelbſtmörderiſchen engliſchen Zollpolitik, an dem ſchläfrigen Gange des Han-
dels und Wandels änderte ſich nichts. So bemerkte das Volk wenig von
dem Segen der neuen Ordnung. Nur die Bürger von Hildesheim holten
ihren volksbeliebten Abgeordneten Lüntzel im Triumphzuge ein, und Stüve
mußte — ganz wie ſein verabſcheuter Gegenfüßler Rotteck — in ſeiner
Vaterſtadt den ſilbernen Ehrenbecher als liberalen Tugendpreis dankend
entgegennehmen. Das übrige Land verhielt ſich lau. Der kluge Geh. Rath
Hoppenſtedt und manche andere einſichtige Beamte wollten ſich von Haus
aus zu dem Staatsgrundgeſetze kein Herz faſſen, weil ſie der Zukunft
mißtrauten. Sie wußten, daß der Adel ſeine Widerſpänſtigkeit noch keines-
wegs aufgegeben hatte, und er herrſchte noch immer in den ſieben Pro-
vinziallandtagen, die mit verminderten Befugniſſen auch fernerhin fort-
beſtehen ſollten. Schon als die Verfaſſung berathen wurde hatten mehrere
dieſer Landtage ein Recht der Mitwirkung beanſprucht; als ſie beendet
war, verwahrte der Ausſchuß der calenberg-grubenhagenſchen Stände in
aller Stille ſeine vorgeblichen Rechte. Wie nun, wenn dieſe Adelsoppo-
ſition bei dem vorausſichtlich nahen Thronwechſel den Monarchen ſelbſt
für ſich gewann? Ueber den Thronfolger, den Herzog von Cumberland,
liefen bedenkliche Gerüchte um. Man erfuhr, daß er mit Schele in Ver-
bindung ſtehe und die neue Ordnung mißbillige. Doch nur wenige Ein-
geweihte wußten, welch ein unwürdiges Spiel insgeheim im Welfenhauſe
getrieben wurde.
Ernſt Auguſt von Cumberland blickte auf die deutſchen Dinge mit
der Hoffart des ſtarren Hochtorys hernieder; er hielt es nie der Mühe
werth, das Staatsrecht des Landes, das er dereinſt beherrſchen ſollte,
kennen zu lernen, und begnügte ſich mit der unbeſtimmten Vorſtellung,
daß den Agnaten in Hannover eine Art Mitregierungsrecht, mindeſtens
für außerordentliche Fälle, zuſtehe. Von dieſem angemaßten Rechte machte
er auch mehrmals Gebrauch, doch niemals offen, niemals ohne jene Winkel-
züge, welche ſeinem aus Schroffheit und Heimtücke ſeltſam gemiſchten Cha-
rakter geläufig waren. Bei Lord Eldon und den anderen Freunden von
der ſtrengen Tory-Partei hatte er als höchſte politiſche Weisheit gelernt,
[165]Ernſt Auguſt von Cumberland.
daß man an dem Beſtehenden nichts ändern dürfe; darum wünſchte er
die Aufrechterhaltung der alten Provinzialſtände. Sobald im Jahre 1814
die allgemeine Ständeverſammlung berufen wurde, erklärte er ſich da-
wider in einer Denkſchrift an den Prinzregenten, aber ganz in der
Stille, ſo daß ſelbſt ſein Bruder Clarence, der ſpätere König Wilhelm,
kein Wort davon erfuhr; auch gegen die zweite Verfaſſungsänderung vom
Jahre 1819 erhob er Einſpruch bei dem Prinzregenten, aber nur mündlich
und wieder insgeheim.*) Beide Verwahrungen blieben unbeachtet. Man
ſah auch ſtillſchweigend darüber hinweg, daß der Herzog jeden amtlichen
Verkehr mit dem Allgemeinen Landtage vermied und der Ständeverſamm-
lung, als ſie ſich im Jahre 1822 ihm vorſtellen wollte, kurzweg erwidern
ließ: er könne nur die einzelnen Mitglieder als Privatleute empfangen.
Als nun der Entwurf des Staatsgrundgeſetzes vorlag, hielt der ge-
wiſſenhafte König für nöthig, die Meinung des Thronfolgers einzuholen,
obgleich er dem Herzog wenig traute und ihm deshalb auch bei der Be-
ſetzung der Stelle des Vicekönigs den jüngeren Bruder Cambridge vor-
gezogen hatte. Schon im October 1831 ließ er ihm durch Ompteda und
Cabinetsrath Falcke den Verfaſſungsplan mittheilen, der bereits den Vor-
ſchlag der Kaſſenvereinigung enthielt, und war freudig überraſcht, als
Cumberland dafür in einem überaus verbindlichen Briefe dankte. „Ich
kann nicht genug meine vollkommene Befriedigung in aller und jeder Be-
ziehung erklären“ — ſo ſchrieb Ernſt Auguſt am 31. October und pries
den Edelmuth und die Uneigennützigkeit des Königs, der alſo bewieſen habe,
„daß Ihr einziger Zweck iſt, die Finanzen des Landes Hannover auf einen
ſolchen Fuß zu ſetzen, daß Ihre Nachfolger keine Schwierigkeiten haben
ſollen.“ Nur gegen drei Beſtimmungen erhob er Einwände. Zunächſt gegen
die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, die ſelbſt König Ludwig von
Baiern für gefährlich halte. Sodann wider die Tagegelder der Abgeord-
neten; doch hier, meinte er in ſeiner rohen Weiſe, ſei vielleicht eine kluge
Nachgiebigkeit möglich: „dann werden die Koſten wenigſtens auf das Land
fallen und nicht auf den Souverän; und mit ſolchen Einſchränkungen,
daß die Stände das Geſchäft nicht hinausziehen können um deſto länger
bezahlt zu werden.“ Zum Dritten fand er es bedenklich, daß die beur-
laubten Soldaten unter der bürgerlichen Obrigkeit ſtehen ſollten — eine
Frage, die in dem Entwurfe unmittelbar gar nicht berührt war. Ganz
in demſelben Sinne hatte er Tags vorher an den Herzog von Cambridge
geſchrieben und inbrünſtig verſichert: der Plan „macht Beiden, dem
Könige und der Regierung, die höchſte Ehre. Des Königs Kopf und Herz
haben bei dieſer Gelegenheit geglänzt.“**)
Der gute König war ſeelenfroh, er dachte ja ſelbſt keineswegs liberal,
[166]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſondern ließ ſich nur von der Strömung der Zeit treiben, und verſicherte
dem Bruder herzlich, daß er bei dem Entwurfe beſonders an die Inter-
eſſen ſeiner Nachfolger gedacht habe, „an Sie und Ihren hoffnungsvollen
Sohn. Es ſchien mir von der äußerſten Wichtigkeit für die Wohlfahrt
und das Glück des Landes und für Ihre eigene Behaglichkeit und Ruhe,
daß Sie von den mir gemachten Vorſchlägen vollſtändig unterrichtet wür-
den“. Die Bedenken des Herzogs gegen die Oeffentlichkeit und die Tage-
gelder fand der König wohlbegründet; er verſprach, daß ſie von der
Regierung erwogen und nach den Umſtänden berückſichtigt werden ſollten.*)
Und er hielt Wort. Lediglich dem Thronfolger zu Liebe wurde die dem
Landtage ſo oft verheißene Oeffentlichkeit dahin abgeſchwächt, daß den beiden
Kammern nur geſtattet ſein ſollte Zuhörer zuzulaſſen; und aus demſelben
Grunde verwies man die Zuſage der Diäten in ein vorläufiges Regle-
ment. Weiter ließ ſich die zarte Rückſicht auf einen rechtlich bodenloſen
Einſpruch in der That nicht treiben. Neue Einwendungen konnte die
Regierung jetzt um ſo weniger erwarten, da Ernſt Auguſt die einzige
Vorſchrift des Staatsgrundgeſetzes, welche vielleicht der Zuſtimmung der
Agnaten bedurfte, die dem königlichen Hauſe ſo vortheilhafte Kaſſenver-
einigung mit warmer Dankbarkeit gebilligt hatte.
Aber mittlerweile begann Schele ſeine unterirdiſche Arbeit; er ſchil-
derte dem Herzog das Staatsgrundgeſetz als ein Werk ruchloſer Dema-
gogen und wußte vornehmlich die Parteivorurtheile des Hochtorys wider
die Civilliſte gewandt auszunutzen: die Kaſſenvereinigung, die faſt in allen
größeren Bundesſtaaten längſt beſtand, ſollte in Hannover „das monar-
chiſche Princip“ vernichten! Aus den Berichten des Geſandten Münchhauſen
in Berlin erfuhr der König bald, daß ſein Bruder ſich ſehr abfällig über
die neue Verfaſſung äußere. Als die Miniſter im October 1833 dem
Thronfolger das erlaſſene Staatsgrundgeſetz mittheilten und ihn fragten,
ob er ſeinen Sitz in der erſten Kammer einnehmen wolle, da empfingen
ſie eine kurze, ſchnöde Antwort (29. October). Der Herzog erwähnte, daß
er ſchon bei ſeinem ſeligen Bruder gegen die Einführung der allgemeinen
Stände proteſtirt habe, weil die Einwilligung der Agnaten dazu nicht
eingeholt worden ſei, und ſchloß trocken: „Von Allem was weiter vorge-
kommen bin ich nicht gehörig unterrichtet und kann mich deshalb auch
durch das neue Geſetz noch nicht gebunden halten.“**) Die Abſicht dieſes
hinterhaltigen Schreibens war durchſichtig genug: zu ehrlichem Einſpruch
hatte der Welfe nicht den Muth, doch für den Fall ſeiner Thronbeſteigung
dachte er ſich die Hände frei zu halten. Wollte die Regierung nicht die
ganze Zukunft des Staatsgrundgeſetzes gefährden, ſo mußte ſie, nach einer
ſolchen Probe welfiſcher Zweizüngigkeit, von dem Thronfolger eine un-
[167]Cumberland’s Zweizüngigkeit.
umwundene Erklärung verlangen: offenen Proteſt oder offene Zuſtimmung.
Aber wie konnten ſich dieſe Stralenheim, Alten, Schulte, von der Wiſch
zu einer ſo ärgerlichen Ombrage entſchließen, die den vornehmen alt-
hannoverſchen Staatsſitten gänzlich widerſprochen hätte? Die Miniſter
berichteten zunächſt an den König; und der gemüthliche Herr meinte: man
möge eine ausgleichende Erwiderung an ſeinen Bruder abgehen laſſen;
einen günſtigen Erfolg erwarte er freilich nicht, doch würden die abwei-
chenden Anſichten des Herzogs wohl nur ihm ſelber, nicht dem Lande zum
Nachtheil gereichen — eine deutliche Anſpielung auf Cumberland’s ſchwere
Schuldenlaſt.*)
Nunmehr beſchloſſen die Miniſter dem Thronfolger zu antworten;
denn obwohl ſein Brief nach Form und Inhalt nicht für eine eigentliche
Proteſtation zu halten ſei, ſo könne man doch „die Beſorgniß nicht unter-
drücken, daß dieſem Aktenſtücke früher oder ſpäter eine andere Abſicht
untergelegt werden könnte.“ Sie erwiderten alſo dem Herzoge (11. Dec.):
von ſeinen früheren Proteſten habe ſich keine Spur vorgefunden; auch
ſei die Zuſtimmung der Agnaten zu Verfaſſungs-Aenderungen zwar
wünſchenswerth, aber keineswegs nothwendig und ſchon bei der Union
der Landſchaften Calenberg und Grubenhagen im Jahre 1801 nicht mehr
eingeholt worden. Alsdann hielten ſie ihm vor, wie gewiſſenhaft das
Staatsgrundgeſetz die königliche Autorität zu ſtärken ſuche, und wie ſorglich
man des Herzogs Bedenken gegen die Diäten und die Oeffentlichkeit berück-
ſichtigt habe.**) Durch dieſe matte Erwiderung meinten ſie ihr Gewiſſen
beſchwichtigt zu haben; und doch mußten ſie wiſſen, daß Cumberland
inzwiſchen (29. Nov.) ſeinem Bruder Cambridge noch deutlicher geſchrieben
hatte: einigen Beſtimmungen des Staatsgrundgeſetzes, namentlich der
Anordnung über die Domänen, werde er niemals beipflichten.
Als der Herzog zu Anfang des nächſten Jahres nach London kam,
hatte Geh. Rath Lichtenberg drei amtliche Unterredungen mit ihm wegen
des Staatsgrundgeſetzes, und hier ward die Falſchheit des Welfen ganz
offenbar. Auf ſeine früheren beiden Bedenken legte er nur noch geringen
Werth. Wenn ich anfangs nur dieſe beiden Punkte hervorgehoben habe,
„wird daraus nie der Schluß gezogen werden können, daß ich allem
Uebrigen meinen Beifall gegeben“ — dies wagte er jetzt zu behaupten,
obgleich er einſt ſeinen beiden Brüdern ausdrücklich erklärt hatte, er ſei
mit Allem und Jedem einverſtanden. Am anſtößigſten erſchien ihm jetzt
die Kaſſenvereinigung, die er früher gebilligt hatte; niemals, ſo wieder-
holte er feierlich, könne und werde er einer ſolchen Neuerung zuſtimmen.
[168]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Und zwiſchen allen dieſen Winkelzügen immer wieder die biedere Ver-
ſicherung: ich ſage meine Anſicht immer frei und offen, ich denke immer
nur an die Sache, nicht an die Perſon! Selbſt der unterthänige Lichten-
berg wagte am Schluſſe ſeines erſten Berichts nur zu bemerken, daß der
Eindruck der Unterredung auf den Herzog „wenigſtens kein durchaus
ungünſtiger zu ſein ſchien“.*) Den Miniſtern aber konnte nach Allem
was geſchehen nicht mehr zweifelhaft bleiben, daß der Thronfolger die
Verfaſſung umſtoßen wollte und daß er in ſeinem frechen Hochmuth ſich
einbildete, er brauche nur dem beſtehenden Rechte die Anerkennung zu
verſagen, dann ſei es auch ſchon vernichtet. Gleichwohl thaten ſie nichts
mehr um der drohenden Gefahr vorzubeugen. Sie wußten wohl, daß
ſtaatsrechtliche Belehrungen bei dem harten Eigenſinn dieſes Welfen nichts
auszurichten vermochten; doch ſchmeichelten ſie ſich mit der Hoffnung,
der von Gläubigern verfolgte Herzog werde einen Staatsſtreich nicht wagen
können; ſchlimmſten Falls rechneten ſie auf den Schutz des Bundestags
für die neue, unzweifelhaft „in anerkannter Wirkſamkeit ſtehende“ Ver-
faſſung.
Bei der Berathung des Hausgeſetzes, das ſich an die Verfaſſung
anſchließen ſollte, verfuhr der Herzog ebenſo hinterhaltig. Allem Anſchein
nach hat er auch hier zuerſt in unverbindlicher Form ſein Einverſtändniß
kundgegeben, um ſich nachher die endgiltige Erklärung für die Zukunft vor-
zubehalten. Dahlmann, der den Entwurf des Hausgeſetzes ausarbeitete,
erhielt im April 1834 vom Miniſter Stralenheim die amtliche Mittheilung,
daß „die Zuſtimmung der volljährigen königlichen Prinzen erfolgt ſei,“
— eine Verſicherung die unmöglich ganz grundlos ſein konnte. Im
December 1835 aber ſchrieb Ernſt Auguſt an Cabinetsrath Falcke, er
könne als ehrlicher Mann das Hausgeſetz für jetzt noch nicht unterzeichnen,
weil es ſo feſt mit dem Staatsgrundgeſetz zuſammenhänge. Eine frei-
müthige Rechtsverwahrung wagte er auch jetzt nicht einzulegen, er ſagte
nur, auf die Zukunft vertröſtend: „Ich muß viel mehr Hilfe und Rath
haben, bevor ich mir erlauben kann einen ſo ernſten Schritt zu thun.“
Demungeachtet wurde das Hausgeſetz am 19. Nov. 1836, nachdem der
Landtag zugeſtimmt, als ein für Jedermann, auch für die königlichen Prinzen
verbindliches Geſetz kundgemacht. Cumberland aber zeigte mit wachſender
Dreiſtigkeit, daß die neue Verfaſſung für ihn nicht vorhanden ſei. In der
Zeitſchrift ſeiner Getreuen, dem Berliner Politiſchen Wochenblatt, wurde
das Staatsgrundgeſetz wie eine jacobiniſche Tollheit bekämpft. Seinen Sitz
in der Kammer nahm der Herzog niemals ein, und als er einmal zur Zeit
einer Landtagseröffnung in Hannover weilte, verließ er die Stadt in dem-
ſelben Augenblicke da die Stände zuſammentraten, um in Derneburg den
grollenden Münſter zu beſuchen.
[169]Schleswigholſtein. Falck.
Je deutlicher die unredlichen Hintergedanken des Thronfolgers ſich
enthüllten, um ſo rathſamer ſchien es die Bürgſchaft des Bundestags
für das Staatsgrundgeſetz zu erbitten; ſie wäre dieſer conſervativen Ver-
faſſung wohl leichter gewährt worden als der radicalen kurheſſiſchen. Aber
die Regierung wagte nicht einmal den Verſuch. Roſe fühlte ſich überall
gehemmt durch das ſtille Widerſtreben ſeines unberechenbaren Nebenbuhlers
Geh. Rath Falcke. Obwohl die neue Ordnung des Staatshaushaltes
ſich trefflich bewährte und bald erhebliche Ueberſchüſſe erzielte, ſo wurden
doch die zur Ausführung der Verfaſſung verheißenen Geſetze bei Weitem
nicht ſo raſch gefördert wie in Sachſen. Namentlich an die Exemtionen
des Adels getraute man ſich nicht recht heran. Auch dem Landtage
fehlten Zug und Schwung. Die erſte Kammer beſtand zu acht Neunteln,
die zweite zu fünf Achteln aus Beſoldeten, dort ſaßen die adlichen, hier die
bürgerlichen Beamten, ganz wie ſonſt: nur die Geheimen Räthe der Haupt-
ſtadt waren ſeit das Land Diäten zahlte etwas ſpärlicher, dafür die Amt-
männer aus den Provinzen um ſo ſtärker vertreten. Mit gutem Grunde
klagte die liberale Preſſe, dies Land werde durch die Maſſe ſeiner Be-
amten erdrückt wie Spanien durch das Heer ſeiner Mönche. Erſt im Jahre
1837 legte die Krone dem Landtage eine Reihe wichtiger Geſetzentwürfe
vor, doch kaum hatte er die Berathung begonnen, da ſtarb König Wilhelm
und eine neue Zeit der Kämpfe brach über das Welfenland herein. —
In Hannover wurde durch die conſtitutionelle Bewegung mittelbar
auch die Fremdherrſchaft erſchüttert, da der Sitz der Regierung fortan
im Lande ſelber blieb. Noch deutlicher bekundete ſich in Schleswigholſtein,
wie eng die liberalen und die nationalen Ideen der Zeit mit einander
verkettet waren. Seit ihrem verunglückten Feldzuge am Bundestage war
die Ritterſchaft der Herzogthümer ganz ſtill geblieben, ihr ſtreitbarer Führer
Dahlmann hatte Kiel verlaſſen, und von den Verhandlungen jener Kopen-
hagener Commiſſion, welche die neue Verfaſſung für Holſtein ausarbeiten
ſollte, verlautete längſt kein Wort mehr. Aber Dahlmann’s Wirken
hatte in den höheren Ständen die Liebe zu dem alten Rechte Trans-
albingiens geweckt, in dem engeren Kreiſe der Freunde auch ſchon das
helle Bewußtſein des deutſchen Volksthums; denn bei ſeinem Kampfe für
das Landesrecht leitete ihn ſtets die Abſicht, daß die Fremdherrſchaft auf
deutſchem Boden in ihrer unheilvollen Wirkung beſchränkt werden, daß
„die deutſchen Unterthanen Dänemarks“ Deutſche bleiben, nur gegen
Deutſchlands Feinde Krieg führen müßten: „das iſt ihr Charakter,
ihre unfreiwillige Beſtimmung“. Nach Dahlmann’s Abgang war jetzt
ſein treuer Genoſſe Nic. Falck der anerkannt erſte Mann des Landes.
Aus Falck’s rechtshiſtoriſchen Vorleſungen und ſeinen ſtaatsrechtlichen
Schriften, aus den mannichfaltigen Aufſätzen ſeines Staatsbürgerlichen
[170]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Magazins ſchöpften die heranwachſenden jungen Beamten alleſammt ihre
Kenntniß der halbverſchollenen ruhmreichen Landesgeſchichte. Als die Juli-
revolution hereinbrach, regte ſich in weiten Kreiſen das Verlangen nach
einer Verfaſſung, welche das hiſtoriſche Recht neu beleben und fortbilden
ſollte. Die Regierung in Kopenhagen benahm ſich überaus furchtſam, weil
ihr das Gewiſſen ſchlug. Sie wußte wohl, wie ſchwer an den Rechten
der deutſchen Nordmark geſündigt worden war, und warum die Dänen
ihren ſechsten Frederik als den erſten däniſchen König feierten; ſie beſorgte
im Ernſte, daß ein ſchleswigholſteiniſcher de Potter erſtehen und der bel-
giſche Aufruhr an der Eider ſein Gegenbild finden könnte. So bedrohlich
war die Lage mit nichten. An einen Abfall dachte in den Herzogthümern
noch Niemand. Selbſt das Verlangen nach geſetzlicher Reform ward
niedergehalten durch die tiefe Ehrfurcht vor „dem edelſten, beſten, gütigſten
König, dem innig und heiß geliebten Landesvater“, der ſich doch die Mühe
gegeben hatte ſo viele Jahre zu leben; und ſchwerlich wäre den beſchei-
denen Wünſchen der gebildeten Klaſſen irgend eine Frucht entſproſſen,
wenn nicht ein tapferer Mann die Angſt der Krone benutzt hätte um zur
rechten Zeit mit lauter Stimme zu fordern.
Jens Uwe Lornſen hatte nach einem ſtürmiſchen Studentenleben die
letzten Jahre hindurch auf der ſchleswigholſteiniſchen Kanzlei in Kopenhagen
gearbeitet und dort — ſo ganz entfremdet war dieſe Behörde ihrer Heimath
— weder von der Geſchichte noch von dem alten Staatsrechte Schleswig-
holſteins irgend etwas erfahren. Aber die glühende Begeiſterung für ſein
deutſches Vaterland blieb dem alten Burſchenſchafter unverloren; ſein
innerſtes Gefühl empörte ſich, wenn die däniſchen Beamten ihm das alte
Hohnwort entgegenhielten, die Schleswigholſteiner ſollten ſich doch freuen,
lieber etwas, nämlich Dänen zu ſein, als gar nichts, nämlich Deutſche.
Durch ſeine amtliche Thätigkeit lernte er dann den Schlendrian und die ver-
ſtändnißloſe Ungerechtigkeit der aus der Ferne wirkenden Regierung gründlich
kennen. Auch die conſtitutionellen Gedanken der Zeit ergriffen ihn mächtig,
er meinte die Stunde gekommen für die europäiſche Herrſchaft des Bürger-
thums, und verlockend nahe lag dem Kopenhagener Beamten das Vorbild
der ſchwediſch-norwegiſchen Union; der däniſche Kronprinz Chriſtian ſelbſt
hatte ja einſt den Norwegern ihre gerühmte Bauernverfaſſung verliehen.
In ſolchem Sinne äußerte ſich Lornſen oft gegen ſeine deutſchen Amts-
genoſſen; alle hörten bewundernd zu, wenn er ſich erhob, ein hochge-
wachſener Nordlandsrecke mit buſchigem blondem Haar, geiſtvollem Munde,
tiefen blauen Augen, und in unwiderſtehlicher Rede, feurig zugleich und
würdevoll, ſeine Gedanken entfaltete. Leider ſchlummerte bereits der Keim
der Krankheit in dieſem groß angelegten Geiſte; er meinte ſich gequält
von einem halb wirklichen halb eingebildeten unheilbaren Leiden, und ſein
Wahn lähmte ihm in entſcheidender Stunde den Muth. Der Stolze fühlte,
daß er vor Vielen voraus hatte was ſeine Frieſen als höchſte Mannes-
[171]J. U. Lornſen.
tugend preiſen: rum Hart, klar Kimming, das weite Herz, den freien Ge-
ſichtskreis; er hoffte dereinſt noch für ganz Deutſchland politiſch zu wirken.
Als er nun im Herbſt 1830 nach den Herzogthümern zurückkehrte
um das Amt des Landvogts auf ſeiner heimathlichen Inſel Sylt anzu-
treten, da erkannte er ſofort, daß jetzt der Augenblick gekommen ſei, den
eingeſchüchterten Königherzog durch Petitionen und Verſammlungen zur
Verleihung einer Verfaſſung zu bewegen. In Kiel und Flensburg ver-
ſtändigte er ſich mit angeſehenen Männern des Bürgerthums, während
der geiſtreiche junge Nationalökonom Georg Hanſſen unter den Bauern
im öſtlichen Holſtein Anhänger warb. Um die Bewegung auf ein feſtes
Ziel zu richten, ſchrieb Lornſen ſodann ein Schriftchen von elf Seiten
„über das Verfaſſungswerk in Schleswigholſtein“. Er verwies darin auf
die Gebrechen der Verwaltung, auf die Heimlichkeit des Staatshaushalts
und forderte kurzab einen gemeinſamen Landtag für beide Herzogthümer,
da die Bundesakte den Holſten Landſtände verheiße, die Trennung der
Herzogthümer aber „jedem Schleswigholſteiner ſchlechthin undenkbar“ ſei.
Mehr als ein Viertel der Volksvertretung wollte er dem Adel nicht gönnen;
denn „fortan wird allein die Ueberzeugung des großen Mittelſtandes, bei
dem die phyſiſche und intellectuelle Macht wohnt, die Welt regieren, und
Alles was ſich gegen dieſe Ueberzeugung erhebt, machtlos daran zerſchellen.“
Dazu Verlegung aller Behörden in die deutſchen Lande, ein oberſter
Gerichtshof für Schleswigholſtein, in jedem Herzogthum ein Regierungs-
collegium und über beiden ein Staatsrath nach dem Vorbilde Norwe-
gens; mithin Unabhängigkeit von Dänemark in allen inneren Angelegen-
heiten: „nur der König und der Feind ſeien uns gemeinſchaftlich.“ Mit
nachdrücklichen Worten mahnte Lornſen ſchließlich ſeine Landsleute, der
unberechenbaren Zukunft zu gedenken und nicht blindlings der Perſon
des gegenwärtigen Königs zu vertrauen, „dem wir die Unſterblichkeit
wünſchen. Unſer König iſt kein gemachter, ſondern ein geborener Bürger-
könig.“
Kaum begonnen brach das kühne Unternehmen ſchon zuſammen.
Die Ritterſchaft erklärte ſich dawider, weil ſie den bürgerlichen, liberalen
Zug der Bewegung fürchtete, und verſicherte dem Könige in einer Er-
gebenheits-Adreſſe, die Anforderungen der Zeit müßten allerdings berück-
ſichtigt werden, aber ohne Uebereilung. Noch lebhafter eiferten der hoch-
conſervative Herzog von Auguſtenburg und ſein Bruder Prinz Friedrich
von Noer gegen den gefährlichen Demagogen. Selbſt die Bürger und
Bauern wurden ſcheu ſobald der Kieler Stadtrath den kleinmüthigen
Beſchluß gefaßt hatte, für eine Eingabe an den König ſei der gegen-
wärtige Zeitpunkt nicht geeignet. Keine einzige Petition ging nach Kopen-
hagen ab. Lornſen aber, der Feldherr ohne Heer, wurde noch im No-
vember verhaftet, und dem kranken Manne verſagte die Kraft; er wagte
weder die Einleitung eines öffentlichen fiscaliſchen Verfahrens zu fordern
[172]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
noch die Akten ſeines Proceſſes zu veröffentlichen, ſondern ließ ſich ge-
duldig zur Feſtungsſtrafe verurtheilen, da er ja unleugbar ſeine Amts-
pflicht verletzt hatte.
Und doch wirkte Lornſen’s Schrift mächtig nach; ſie ward wirklich,
wie die däniſchen Beamten grollend ſagten, eine in die Herzogthümer
geſchleuderte Brandfackel, ſie verbreitete den Gedanken der Selbſtändig-
keit des untheilbaren Schleswigholſteins in weiten Kreiſen des Mittel-
ſtandes, welche einſt dem Kampfe des Adels um das alte Landesrecht
gleichgiltig zugeſchaut hatten. In wenigen Monaten erſchienen dreißig
Flugſchriften für und wider. Manche darunter ergingen ſich nur in
philiſterhaften Klagen über den bacchantiſchen Taumel der neuerungs-
ſüchtigen Zeit, über die taktloſe, dem heißgeliebten Könige zugefügte Krän-
kung, und mahnten gemüthlich: ein Jeder lern’ ſeine Lektion, ſo wird es
wohl im Lande ſtohn. Wit v. Dörring, der Verräther der Burſchen-
ſchaft, hatte ſogar die Frechheit, ſeine holſteiniſchen Landsleute zu warnen
vor jenem „Deutſchland, das niemals war, nirgends iſt und niemals
ſein wird“. A. Binzer aber, Lornſen’s ſangesluſtiger Freund von Jena
her, und der junge Hiſtoriker Michelſen gingen dem Dänen Schmidt-
Phiſeldeck ſcharf zu Leibe und erklärten rundheraus: Schleswigholſtein
verlange nicht die Unabhängigkeit wie Belgien, ſondern eine ſelbſtändige
Stellung unter dem däniſchen Königshauſe, wie ſie Hannover neben Eng-
land oder Finnland neben Rußland einnehme. Der greiſe König, der
in ſeiner Angſt dem Statthalter der Herzogthümer ſchon außerordentliche
Vollmachten zur Unterdrückung von Ruheſtörungen ertheilt hatte, er-
kannte nun doch, daß er einlenken müſſe. Durch ein Geſetz vom 28. Mai
1831 verkündete er ſeine Abſicht, in jedem der beiden Herzogthümer, ebenſo
in Jütland und auf Seeland einen berathenden Provinziallandtag nach
preußiſchem Muſter einzuführen. Weiter wollte er nicht gehen; vorſorg-
lich hatte er ſchon ſeinen oldenburgiſchen Nachbarn durch die Höfe von
Berlin und Petersburg vor den Gefahren des reinen Repräſentativ-
ſyſtems warnen laſſen.*)
Immerhin war nunmehr die erſte Breſche geſchlagen in das ſchranken-
loſe Alleingewalt-Erbkönigthum des däniſchen Königsgeſetzes, und der un-
glückliche Lornſen, der jetzt von den Wällen der einſamen Feſte Friedrichsort
auf die Gewäſſer der Kieler Föhrde hinausblickte, durfte ſich ſagen, daß
er den Dänen wie den Holſten die Bahn eines freieren Staatslebens
eröffnet hatte. Da das neue Geſetz die Untheilbarkeit Schleswigholſteins
zu bedrohen ſchien, ſo legte die Ritterſchaft am 7. Juli förmliche Ver-
wahrung ein und erklärte dem Könige, das alte Landesrecht könne durch
dieſe blos adminiſtrative Maßregel nicht berührt werden. Die Krone
ließ es an Beſchwichtigungen nicht fehlen und berief im folgenden Jahre
[173]Provinzialſtände für Schleswig und Holſtein.
erfahrene Männer aus den Herzogthümern nach Kopenhagen, um mit
ihnen die Grundzüge der Provinzialverfaſſungen feſtzuſtellen. Unterſtützt
von Niebuhr’s Freunde, dem feurigen Romantiker Grafen Adam Moltke,
verſuchte hier Falck nochmals einen gemeinſamen Landtag für Schleswig-
holſtein durchzuſetzen. Er unterlag. Am 15. Mai 1834 wurde endlich
die Bildung der beiden Provinziallandtage für die Herzogthümer ange-
ordnet.
In beiden erhielten Ritterſchaft und Großgrundbeſitz nur etwa ein
Drittel der Stimmen; je ein Drittel der Abgeordneten ſollte von den
ſtädtiſchen und den ländlichen Grundbeſitzern unmittelbar gewählt werden.
Dieſe kühne Neuerung überraſchte allgemein; denn faſt in allen anderen
deutſchen Staaten beſtand das Syſtem der indirekten Wahlen, und ſelbſt
die Liberalen hegten noch überall das Vorurtheil, daß nur ſo die öffent-
liche Ordnung geſichert werden könne. Noch größer war das Erſtaunen,
als der König nicht nur den alten nexus socialis der ſchleswigholſtei-
niſchen Ritterſchaft ſowie alle die anderen, beide Herzogthümer verbinden-
den Rechtsverhältniſſe ausdrücklich anerkannte, ſondern ſogar neue hoch-
wichtige gemeinſame Inſtitutionen einführte: ein Oberappellationsgericht,
das in Kiel, eine gemeinſchaftliche Provinzialregierung, die auf dem Schloſſe
Gottorp hauſen und das ſchleswigholſteiniſche Wappen führen ſollte. In
demſelben Augenblicke, da man die Landſtände der Herzogthümer trennte,
wurde alſo die Einheit ihrer Rechtspflege und Verwaltung neu befeſtigt,
ſtärker befeſtigt als Lornſen ſelbſt zu fordern gewagt hatte. Offenbar
wußte König Friedrich nicht genau was er that; er fühlte nur dunkel,
daß er ſeinen deutſchen Landen irgend ein Zugeſtändniß ſchuldig ſei, und
ahnte nicht die unausbleiblichen Folgen der Gewährung.
In Schleswigholſtein waren ſelbſt Falck und die Ritterſchaft ſofort
entſchloſſen, ihrer Rechtsbedenken ungeachtet das königliche Geſchenk anzu-
nehmen; denn durch die Errichtung der Provinzialſtände wurde die Un-
theilbarkeit der Lande nicht gradezu aufgehoben, erhielt doch auch Jütland
ſeinen eigenen Landtag neben den Inſeln. Da die Landtage beider Herzog-
thümer nach denſelben Grundſätzen gebildet waren und beide der Regel
nach dieſelben Geſetze vorgelegt erhielten, ſo erſchienen ſie faſt wie zwei
Curien einer Ständeverſammlung und konnten vielleicht im Laufe der
Zeit förmlich vereinigt werden. In ſolchem Sinne verfaßte Franz Hege-
wiſch, der geiſtvolle, beim Adel und Bürgerthum gleich angeſehene Kieler
Arzt, eine Schrift: „Für Holſtein, nicht gegen Dänemark.“ Wie alle
Patrioten der Nordmark hielt er die Verbindung mit Dänemark noch für
ein Glück und meinte arglos, dieſer heilſame Bund werde am beſten ge-
ſichert, wenn die Herzogthümer unter ſich eng vereinigt blieben und
Schleswig alſo das Bindeglied bilde zwiſchen dem deutſchen Bundeslande
Holſtein und den däniſchen Provinzen. In der That konnte nur eine
ehrliche Politik, die das alte Recht der ihrem Königshauſe ſo treu er-
[174]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
gebenen deutſchen Lande gewiſſenhaft ſchonte, den Zerfall des däniſchen
Geſammtſtaates vielleicht noch abwenden.
Die Dänen aber begannen bereits andere Wege zu gehen. Ihr
Selbſtgefühl war durch die Nachgiebigkeit des Königs, die ſie doch allein
dem Deutſchen Lornſen verdankten, mächtig angewachſen, ſie feierten den
Geburtstag ihrer neuen Verfaſſung als ein nationales Feſt. Nicht ganz
mit Unrecht. Eine neue Epoche der däniſchen Geſchichte war angebrochen,
und der vertriebene Schwedenkönig Guſtav IV. wußte wohl, warum er
als möglicher Erbe der Krone feierliche Verwahrung einlegte gegen die
vollzogene Beſchränkung der abſoluten Königsgewalt. Die Hauptſtadt
hallte wider von politiſchen Kämpfen, und in der allezeit erregbaren
Kopenhagener Jugend bildete ſich ſchon eine neue Partei, die den natio-
nalen Gedanken über jede andere Rückſicht ſtellte. Dieſe Eiderdänen,
wie man ſie ſpäterhin nannte, verdammten die Bildung der neuen
ſchleswigholſteiniſchen Provinzialregierung als einen argen Mißgriff und
verlangten die gänzliche Trennung der beiden Herzogthümer; ſie wollten
im Nothfall auf das deutſche Holſtein, das man doch nicht daniſiren könne,
verzichten, Schleswig aber bedingungslos dem Einheitsſtaate Dänemark
einverleiben und auch die rein-deutſche Südhälfte dieſes Herzogthums
gewaltſam der ſkandinaviſchen Geſittung unterwerfen. Noch ward die
neue Loſung „Dänemark bis zur Eider“ nur von wenigen übermüthigen
jungen Männern nachgeſprochen; aber die Zahl ihrer Anhänger wuchs,
und gelangten die Eiderdänen je zur Herrſchaft, ſo wurden unfehlbar
alle die drei politiſchen Kräfte, welche im Volke Schleswigholſteins noch
halb unbewußt arbeiteten, zugleich aufgeregt und zu unverſöhnlichem
Widerſtande gezwungen: das Rechtsgefühl, der Freiheitsmuth, der deutſche
Nationalſtolz.
Wieder war es Lornſen, der zuerſt in der Nordmark die Zeichen der
verwandelten Zeit erkannte. Der hatte ſich während ſeiner Haft raſtlos
forſchend in die Geſchichte der Herzogthümer eingelebt und mit freudigem
Erſtaunen entdeckt, wie faſt Alles was er einſt aus politiſchen Gründen
für ſeine Heimath verlangt, ſchon in den alten Freiheitsbriefen des
Landes begründet war: „Die Schleswigholſteiner“, ſo ſagte er nunmehr,
„haben nichts zu wünſchen was ſie nicht auch zu fordern ein Recht haben.“
Froh dieſer neu gewonnenen Erkenntniß arbeitete er nun an einem Buche
über „Die Unionsverfaſſung Dänemarks und Schleswigholſteins“, um
ſeinen Landsleuten zu zeigen, wie ſie auf dem Boden ihres alten Rechtes
den neuen Staat Schleswigholſtein aufbauen ſollten. Gegen Falck’s
ſtreng conſervative Geſinnung ſprach er ſehr ſcharf, nicht ohne die Un-
gerechtigkeit, welche den Vertretern neuer, zukunftsreicher Gedanken anzu-
haften pflegt. Sein Ziel lag ſchon höher: er wollte jetzt die reine Per-
ſonalunion, die Selbſtändigkeit des transalbingiſchen Staates auch im
Heerweſen und Staatshaushalt. Er warnte die Holſten vor dem gut-
[175]Beginn des nationalen Kampfes.
müthigen Wahne, als ob ſie durch ihre Verbrüderung mit den Schles-
wigern den däniſchen Geſammtſtaat ſtärken, der Krone einen Dienſt er-
weiſen könnten, und enthüllte ihnen ſchonungslos die Hintergedanken der
Dänen, die offenbar darauf ausgingen, Schleswig zu verſchlingen, die
Verbindung der Herzogthümer zu zerreißen. Ebenſo ſcharf faßte er auch
die Erbfolgefrage ins Auge und zeigte, daß in Schleswigholſtein allein dem
Mannesſtamme die Thronfolge gebühre, in Dänemark aber ſeit dem
Königsgeſetze auch dem Weiberſtamme, und mithin, da das däniſche
Haus nur noch auf ſechs Augen ſtand, leicht eine Trennung der beiden
Staaten eintreten könne. Die formloſe Schrift zeigte vielfach die Mängel
überhaſteter Forſchung, aber auch überall die große Leidenſchaft eines ge-
borenen Publiciſten, der mit feſtem Griff das Weſentliche aus der Fülle
des Stoffes heraushob und dem Leſer unerbittlich eine Entſchließung auf-
zwang; ſie ward erſt nach dem Tode des Verfaſſers durch Georg Beſeler
herausgegeben und hat dann als ein theueres Vermächtniß auf die
nationalen Kämpfe der vierziger Jahre noch ſtark eingewirkt. Lornſen
ſchrieb daran unter unſäglichen Qualen, in der Sonnengluth Braſiliens,
wo er nach überſtandener Haft vergeblich Heilung für ſeine Krankheit
ſuchte; die aufopfernde Freundſchaft des treuen Hegewiſch vermochte den
Unſeligen nicht mehr aufzurichten. Nach Europa zurückgekehrt gab er
ſich in den Wellen des Genfer See’s ſelbſt den Tod (1838), der Edelſten
einer aus der langen Reihe der Kämpfer und Dulder, welche dem Tage
der deutſchen Einheit vorangingen.
Die Schleswigholſteiner brauchten noch eine gute Weile bis ſie die
feindſeligen Anſchläge des Dänenthums ebenſo klar wie Lornſen erkannten.
Wie hätte ſich auch in dieſem behaglichen Sonderleben das Verſtändniß
für nationale Machtfragen raſch entwickeln können? Selbſt Hegewiſch,
der über den Geſichtskreis ſeiner Holſten weit hinausſah, meinte damals
noch gemüthlich: einer Kriegsflotte bedürfen die Herzogthümer nicht; „Ham-
burger Schiffe befahren alle Meere ganz ohne bewaffnete Seemacht.“
Als die neuen Landtage zuerſt angekündigt wurden, ließ Falck die Schriften
zweier Kopenhagener Liberalen, des Profeſſors David und des ehrgeizigen
jungen Capitäns Tſcherning, über die preußiſchen Provinzialſtände über-
ſetzen und ſprach im Vorworte ganz wie ein guter Landsmann der beiden
Dänen. Noch vier Jahre ſpäter wurde David, als er nach einem glück-
lich überſtandenen Preßprozeſſe durch Kiel kam, von den Studenten als
ein Held der Freiheit gefeiert, obgleich ſeine Zeitung Faedrelandet das
Deutſchthum Schleswigs offen bekämpfte. Die erſten Verhandlungen der
beiden Landtage verliefen noch ziemlich ſtill. Die Stände bekundeten
zwar mehrfach jenen Drang nach Erweiterung der eigenen Rechte, der
ſich in berathenden Parlamenten, wenn ſie nicht ganz in Schlummer
verſinken, unausbleiblich einſtellt; ſie verlangten eine beſchränkte Oeffent-
lichkeit für ihre Berathungen und genauere Rechenſchaft über den Staats-
[176]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
haushalt, da ſie das Deficit fünfmal höher ſchätzten als die Regierung
angab. Zwiſchen dem Herzog von Auguſtenburg, dem harten Ariſtokraten,
und den bäuerlichen Abgeordneten Schleswigs kam es auch ſchon zu
lebhaften Wortgefechten, welche den verhaltenen Parteihaß errathen ließen.
Ernſte Kämpfe brachte aber erſt die zweite Tagung im Jahre 1838,
als die dreiſten Uebergriffe der Kopenhagener Demokratie das Selbſtgefühl
der Deutſchen geweckt hatten. Auf den Vorſchlag des jungen Anwalts
Orla Lehmann, eines feurigen, rückſichtsloſen Demagogen beſchloß die
däniſche Geſellſchaft für Preßfreiheit (1836) ihre Thätigkeit auch auf Nord-
ſchleswig zu erſtrecken. Ueberall im Norden der Schlei bildete ſie ihre
Zweigvereine. Bald darauf ward die Schleswigſche Geſellſchaft zur Ver-
breitung däniſcher Bücher gegründet. In der deutſchen Stadt Hadersleben
erſchien ein däniſches Blatt Dannevirke, das ſchon durch ſeinen Namen
den Kampf um die Eidergrenze ankündigte. Seitdem begann ein unruhiges
Drängen und Treiben auf dem flachen Lande Nordſchleswigs. So viele
Jahrhunderte hindurch redete dies Grenzvolk im Hauſe ſeinen däniſchen
Dialekt, den die Inſeldänen kaum verſtanden, und ehrte das Deutſche
als die Sprache der Bildung und des großen Verkehrs; Niemand nahm
Anſtoß an einem Zuſtande, der ſich ohne jeden Zwang aus der Geſchichte
des Landes herausgebildet hatte. Jetzt wurde den friedfertigen Bauern
Nordſchleswigs Tag für Tag der Haß gegen die deutſchen Unterdrücker
durch die Zeitſchriften und Sendboten der Kopenhagener gepredigt, und
bald zeigte ſich auch hier, wie übermächtig der nationale Gedanke in dieſem
Zeitalter herrſchte, das ſich im Streite gegen das napoleoniſche Weltreich
ſeinen Charakter gebildet hatte. Eine von außen hereingetragene nationale
Propaganda genügte, um einen gefährlichen Gegenſatz von Nord und Süd
hervorzurufen in dieſem Schleswig, das zu allen Zeiten, auch in ſeinen
Kämpfen wider Dänemark, treu zuſammen geblieben war. Im Sundewitt
vornehmlich, dicht vor den Thoren der deutſchen Stadt Flensburg, trugen
die Bauern ihre Begeiſterung für Gammel Dannemark herausfordernd
zur Schau.
Dieſe Umtriebe der Dänen nöthigten die Deutſchen endlich zur Ab-
wehr. Auf beiden Landtagen, in Schleswig wie in Itzehoe wurde die
Bitte um Vereinigung der ſchleswigholſteiniſchen Landſtände, die vor drei
Jahren noch zu kühn erſchienen war, jetzt beſchloſſen. Aber noch fehlte viel
daran, daß die deutſche Gutmüthigkeit den ganzen Umfang der Gefahr
erkannt hätte. Als der Abgeordnete Lorentzen, ein beredter, liberaler
Bauer aus Nordſchleswig, die Einführung der däniſchen Gerichtsſprache
in den däniſch redenden Bezirken Schleswigs befürwortete, da fand ſelbſt
Falck den Vorſchlag unverfänglich; der argloſe Gelehrte ahnte nicht, wie
unheimlich das Stillleben ſeiner nordſchleswigſchen Heimath in den letzten
Jahren ſich verändert hatte. Vergeblich warnte der Herzog von Auguſten-
burg, der diesmal weiter ſah. Der Antrag wurde mit geringer Mehrheit
[177]Nordſchleswig. Oldenburg.
angenommen, und erſt als die Dänen die ertheilte Vollmacht mit unge-
ſtümer Härte mißbrauchten, gingen den Deutſchen die Augen auf. Mehr
und mehr gerieth der alternde König in die Hände der däniſchen Fanatiker;
er ſcheute ſich nicht, 5 Mill. Reichsbankthaler, welche die Herzogthümer
von der Nationalbank zu fordern hatten, dieſer ausſchließlich däniſchen
Anſtalt einfach zu ſchenken. Angeſichts ſolcher Gewaltſtreiche verſchwand
allmählich die alte ſorgloſe Selbſtgenügſamkeit; die Holſten fühlten ſich als
Markmannen des großen Deutſchlands. Das junge Geſchlecht empfand
anders als der alte Riſt, der bis zum Grabe, unbekümmert um den
Wandel der Zeiten, als treuer königlicher Beamter in der Gottorper
Regierung ſeine Akten erledigte. In Kiel unterhielt Dr. Balemann
einen regen Verkehr mit den Führern der ſüddeutſchen Oppoſition, und
Theodor Olshauſen verfocht in ſeinem Correſpondenzblatte, der einzigen
namhaften Zeitung des Landes, die Ideen eines demokratiſchen Libera-
lismus, der über Falck’s altſtändiſche Anſchauungen ſehr weit hinausging.
Die Unwahrheit des beſtehenden Rechtes trat einmal grell zu Tage, als
der junge Juriſt Georg Beſeler den herkömmlichen Homagial-Eid leiſten
ſollte und mit Schrecken entdeckte, daß der Schwur auf das absolutum
dominium des däniſchen Königsgeſetzes ſich mit dem Landesrechte Schles-
wigholſteins ſchlechterdings nicht vertrug. Er folgte ſeinem Gewiſſen und
verließ die Heimath. Diesſeits wie jenſeits des Beltes begann man zu
ahnen, daß man in ſolchen Widerſprüchen nicht mehr leben könne.
Mittlerweile ward der Fortbeſtand des königlichen Hauſes immer
fraglicher, da Prinz Friedrich, der Sohn des Thronfolgers, kinderlos blieb.
Mit krampfhaftem Eifer bemächtigte ſich die däniſche Preſſe der Erbfolge-
frage; Leitartikel und Flugſchriften wiederholten beharrlich das alte
Märchen, daß Schleswig gleich dem Königreiche Dänemark der Thron-
folgeordnung des Königsgeſetzes unterliege. Zur Widerlegung erſchien
im Jahre 1837 in Halle eine anonyme [Schrift] „Die Erbfolge in Schleswig-
holſtein“, die nüchtern und ohne Wortprunk, aber ſehr nachdrücklich den
Anſpruch des Hauſes Auguſtenburg auf die Herzogskrone Schleswighol-
ſteins vertheidigte; ſie hielt ſich ſtreng in den Grenzen einer erbrechtlichen
Unterſuchung, von politiſcher Freiheit, von dem deutſchen Volksthum
Schleswigholſteins ſagte ſie nichts. Der Verfaſſer war, wie ſich bald
herausſtellte, Herzog Chriſtian von Auguſtenburg ſelbſt. Die jüngere Linie
des oldenburgiſchen Hauſes ſprach alſo ſchon offen die Erwartung aus,
daß die deutſchen Herzogthümer ſich demnächſt von Dänemark trennen
würden. Die Frage der Zukunft Transalbingiens war geſtellt.
In den benachbarten kleinen niederdeutſchen Gebieten ſtiegen aus
dem Strudel der europäiſchen Revolution nur ſchwache Blaſen auf. Der
Pöbel auf dem Hamburger Berge trieb einmal argen Unfug gegen die
Juden und die Acciſe. Etwas ernſthafter war eine conſtitutionelle Be-
wegung im Jeverlande, die bald auch in anderen Landestheilen des bunt-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 12
[178]IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſcheckigen oldenburgiſchen Staates Anklang fand. Aber ihr fehlte der
rechte Boden; denn Oldenburg hatte faſt allein unter allen deutſchen
Gebieten niemals einen wirklichen Landtag geſehen, da Prälaten und
Adel früh verſchwunden waren, die Städte wenig bedeuteten, die Bauern
frei auf ihren ſtattlichen Höfen ſaßen und die Landesherren für ihre
ſparſame Kammerguts-Verwaltung keiner Beihilfe bedurften. Nach einigem
Lärm ergab man ſich darein, daß der wohlmeinende Großherzog die War-
nungen ſeines däniſchen Vetters beherzigte und ſeinem Lande ſtatt der
erhofften Verfaſſung nur eine neue Gemeindeordnung gab. Oldenburg
blieb nach wie vor der einzige unter den größeren deutſchen Staaten, der
für die Verwirklichung des Art. 13 der Bundesakte gar nichts that. Die
Bureaukratie der Amtmänner führte ihr ſcharfes aber ſorgſames Regiment
ungeſtört weiter. —
[[179]]
Dritter Abſchnitt.
Preußens Mittelſtellung.
Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel-
geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der
aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt
durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum
von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an-
gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn
er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand
Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück-
lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König-
thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund-
heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs,
der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die
Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete
er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen
fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz-
lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft,
die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in
Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd-
deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur
langſam Eingang finden.
Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß
die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher
Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die
Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten
ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider
die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb
ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an
einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern
des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer
Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten
den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit
12*
[180]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
den Maſchinen! Der König ließ die Stadträthe ſeiner Hauptſtadt ſehr un-
gnädig an, und Bernſtorff klagte im erſten Schrecken über „dies neue Sym-
ptom jenes Schwindel- und Wahngeiſtes, der leicht ganz Europa in ein
großes Narrenhaus verwandeln kann.“ *) Aber der Spuk verflog ſobald die
Truppen, ohne zu feuern, einige Hiebe mit der blanken Waffe ausgetheilt
hatten, und der Berliner Schneiderkrawall wäre raſch der Vergeſſenheit
anheimgefallen, wenn nicht Chamiſſo dem „Kleidermacher-Muthe“ in
ſeinem Liede: Courage, Courage! ein dauerndes Denkmal geſetzt hätte.
Selbſt in Poſen wurde die Ordnung nirgends geſtört, trotz der fieberiſchen
Aufregung des Adels und trotz der Zuzüge, die heimlich über die polniſche
Grenze gingen. —
Nur auf einem entlegenen Außenpoſten ſeiner Hausmacht, in Neuen-
burg, mußte König Friedrich Wilhelm für ſeinen Beſitzſtand kämpfen.
Mit dem preußiſchen Staate hatte das ſchöne Juraländchen ſchlechterdings
nichts gemein als das Herrſcherhaus und deſſen Erbfolgeordnung; und
ſo gewiſſenhaft wahrten die Hohenzollern von jeher dies Rechtsverhältniß
der reinen Perſonal-Union, daß ſogar die neuenburgiſchen Offiziere, die
im franzöſiſchen Heere gegen Preußen fochten, nach der Schlacht von Roß-
bach ungeſtraft als ehrliche Kriegsgefangene behandelt wurden. Nach dem
unglücklichen Schönbrunner Vertrage erhielt Marſchall Berthier die Fürſten-
krone, aber ſofort nach Napoleon’s Sturze wurde die hundertjährige Ver-
bindung mit dem Hauſe Hohenzollern wieder angeknüpft; die Herſtellung
vollzog ſich in allen Formen Rechtens, Berthier verzichtete ausdrücklich
und erhielt von der Krone Preußen eine Entſchädigungsrente. Mit
heller Freude empfingen die Neuenburger ſodann ihren alten König bei
ſeinem Einzuge.
So lange der Lord Marſhal und die anderen königlichen Gouver-
neure der fridericianiſchen Tage ihr mildes und ſorgſames Regiment
führten, war die Eintracht zwiſchen Fürſt und Volk immer ungeſtört
geblieben. Die Gemeinden erfreuten ſich ihrer uralten Freiheiten; die
Landesverwaltung wurde unentgeltlich und — mit einziger Ausnahme
des königlichen Gouverneurs — ausſchließlich von Landeskindern beſorgt,
aber die ſtolzen Patriciergeſchlechter, welche die Aemter zu bekleiden pflegten,
durften hier nicht, wie überall ſonſt in der alten Schweiz, ihre Macht zu
oligarchiſchem Drucke mißbrauchen, weil die Gerechtigkeit der Monarchie ſie
in Schranken hielt. Steuern blieben den Neuenburgern in dieſen könig-
lichen Zeiten ganz unbekannt, der Ertrag der Domänen und Regalien
nebſt einigen Grundzinſen genügte vollauf; der König bezog ein Einkommen
von 27000 Thalern, das er regelmäßig zu gemeinnützigen Zwecken im
Lande ſelbſt verwendete. Und wie wunderbar war der Wohlſtand auf-
[181]Parteikampf in Neuenburg.
geblüht in den unwirthlichen Jurabergen; droben im rauhen Hochthale
von La Chaux de Fonds, wo kaum das Korn reifte, lag jetzt eine große
Gewerbſtadt, die ihre Uhren in alle Welt verſendete, und mit dem Reich-
thum der Pourtalès oder Pury konnte ſich manches Fürſtenhaus nicht
meſſen.
Alle dieſe Segnungen der guten alten Zeit ſchienen jetzt zurückzu-
kehren als die Hohenzollern wieder einzogen. Der König beſtätigte von
Neuem die alten Landesrechte und verſtärkte ſie noch indem er den ſeit Jahr-
hunderten eingeſchlummerten Landtag der Trois Etats wieder ins Leben
rief. Der Gewerbfleiß nahm einen neuen Aufſchwung, da Preußen und
ſeine Zollverbündeten den neuenburgiſchen Waaren große Begünſtigungen
gewährten. Schon begann die gebildete Jugend ſich den deutſchen Hoch-
ſchulen zuzuwenden; auch die neue Akademie der kleinen Hauptſtadt folgte,
trotz der franzöſiſchen Lehrſprache, den Bahnen deutſcher Wiſſenſchaft. Die
Söhne der vornehmen Geſchlechter, der Pourtalès, Sandoz, Rougemont,
Crouſaz dienten häufig im Heere oder am Hofe ihres Königs. Auch für
die altſchweizeriſche Reisläuferluſt des kleinen Mannes war geſorgt durch
die Augenweide der Berliner Straßenjugend, das Gardeſchützenbataillon,
das auf Grund einer vereinbarten Capitulation in Neuenburg angeworben
und gleich den Schweizerregimentern des Papſtes oder des Königs von
Neapel als eine Schaar freiwilliger ausländiſcher Söldner behandelt wurde.
Gleichwohl zeigten ſich bald die Keime inneren Unfriedens, weil das
Verhältniß des Fürſtenthums zur Eidgenoſſenſchaft ſich gänzlich verſchoben
hatte. Dieſer winzige Hausbeſitz, der für den preußiſchen Staat gar nichts
leiſtete, ſondern lediglich Wohlthaten von den Hohenzollern empfing, be-
reitete den Staatsmännern Preußens beſtändig Verlegenheiten, und nicht
lange, ſo konnte man im Berliner Auswärtigen Amte, das die neuen-
burgiſchen wie alle anderen auswärtigen Angelegenheiten bearbeitete, ſchon
die ärgerliche Aeußerung hören: wenn der Canton nur in ſeinen See
verſänke! Im achtzehnten Jahrhundert war Neuenburg nur ein zuge-
wandter Ort der Schweiz, ohne Stimme auf der Tagſatzung, der König
ſelbſt ein Schweizerbürger und als „lieber treuer Eidgenoſſe“ gleich allen
ſeinen Neuenburgern dem Schweizer Bunde perſönlich verpflichtet. In-
zwiſchen hatte die Revolution alle die anderen zugewandten Orte hinweg-
gefegt, die neue Schweiz beſtand nur noch aus gleichberechtigten Cantonen,
und als das Fürſtenthum im Mai 1815 in die Eidgenoſſenſchaft wieder
aufgenommen wurde, war der neue Canton die einzige Monarchie in einem
Bunde kleiner Republiken. Hardenberg fühlte, welche peinliche Rolle ein
königlicher Geſandter auf der Tagſatzung inmitten der republikaniſchen
Amtsgenoſſen ſpielen müßte. Um die Reibung zu mindern, bedang er ſich
daher aus, daß die Verpflichtungen des Fürſtenthums gegen die Schweiz
allein durch die Neuenburger Regierung, den Staatsrath, ohne Mitwirkung
des Königs erfüllt werden ſollten. Das wohlgemeinte Auskunftsmittel erwies
[182]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
ſich jedoch bald als ein ſchwerer Mißgriff. Der König war fortan von
Rechtswegen der Eidgenoſſenſchaft fremd und nahm doch thatſächlich an
den Beſchlüſſen ihrer Tagſatzung theil, da der Neuenburger Staatsrath
nur aus Beamten des Landesherrn beſtand. Aus dieſen unklaren Ver-
hältniſſen entwickelte ſich nun unausbleiblich ein Parteikampf, der im alten
Jahrhundert unmöglich geweſen wäre: in den Kreiſen der radicalen Jugend
entſtand eine ſchweizeriſch-republikaniſche Partei, welche die Trennung von
dem Fürſtenhauſe erſtrebte, während die Patricier alleſammt und auch
noch die große Mehrheit des Volks ſich ihrer royaliſtiſchen Treue rühmten.
Der Gegenſatz blieb verhüllt ſo lange in den Nachbarcantonen die
alten Herrengeſchlechter ihr ſtilles Regiment führten; aber ſobald nach der
Julirevolution die radicale Partei in der Schweiz ſich erhob, richtete ſie
ihre Pfeile ſogleich gegen den Fürſtenhut der Hohenzollern. Ihr Ziel war
die Volksherrſchaft in den Cantonen und die Verſtärkung der Bundes-
gewalt. Beides hing unzertrennlich zuſammen, denn nur wenn die Can-
tonalverfaſſungen alleſammt auf denſelben demokratiſchen Grundſätzen
beruhten, konnte der lockere Staatenbund ſich in einen feſten Bundesſtaat
verwandeln. Die Preſſe der Schweizer begann mit ihrer eigenthümlichen
Grobheit den Federkrieg gegen Neuenburg; ſie ſchilderte die Zuſtände des
beſtverwalteten aller Cantone als eine empörende Tyrannei, da nach ſchwei-
zeriſcher Anſchauung die Freiheit lediglich im Nichtvorhandenſein einer
monarchiſchen Gewalt beſteht, und erzählte ungeheuerliche Märchen von
allen den Schätzen, welche aus der reichen Schweiz in den brandenburgiſchen
Sand gefloſſen ſeien. Auch die Zeitungen im nahen Baden ließen ſich
durch die republikaniſchen Schlagworte blenden und ſchämten ſich nicht
die Neuenburger gegen ihren deutſchen Fürſten aufzuwiegeln.
Der König verſprach dem Fürſtenthum eine Reform der Verfaſſung,
dergeſtalt daß die Mehrzahl der Ständemitglieder fortan nach allge-
meinem Stimmrecht gewählt werden ſollte, und ſendete im Mai 1831
den General Pfuel mit außerordentlicher Vollmacht ins Land, jenen rüſtigen
Teutonen, der einſt als Commandant von Paris ſo gut verſtanden hatte
mit den Wälſchen auszukommen. Der neue Landtag ward verſammelt,
und Alles ſchien verſöhnt. Aber kaum hatte der General im September
das Land wieder verlaſſen, ſo überrumpelte ein durch eidgenöſſiſchen Zu-
zug verſtärkter Pöbelhaufe das Neuenburger Schloß, und die Tagſatzung
ſah ſich genöthigt durch ihre Truppen die Ruhe wiederherzuſtellen. Nun
kehrte Pfuel zurück, berief die treuen Milizen ein, verhaftete die Rädels-
führer, und als die Aufſtändiſchen im December ſich von Neuem erhoben,
jagte er ſie nach einigen Gefechten im Val de Travers binnen drei Tagen
auseinander. Das Land frohlockte; Jedermann wußte, daß die Unruhen
nur durch den jungen Tollkopf Leutnant Bourquin und einige radicale
Sendlinge aus der Nachbarſchaft künſtlich angezettelt waren. Ueberall
erklang das alte Royaliſtenlied:
[183]Niederwerfung des Neuenburger Aufſtandes.
Der König ſtiftete ein beſonderes Ehrenzeichen für die Kämpfer und
dankte dem wackeren Völkchen mit warmen Worten: „Dieſe kleine Gegend
hat Europa eine Lehre und ein Beiſpiel gegeben, welche nicht verloren
ſein und ihr eine ehrenvolle Stelle in der Geſchichte erringen werden.“ *)
Aber er dankte auch der Tagſatzung für ihre eidgenöſſiſche Hilfe.**) Nicht ſo
ruhig dachten ſeine begeiſterten Anhänger unter den Herrengeſchlechtern;
hier war nur eine Stimme der Entrüſtung über die Angriffe der ſchweizeri-
ſchen Preſſe und die wühleriſchen Umtriebe in den Nachbarcantonen. Der
Oberſt der Milizen, Graf Ludwig Pourtalès, ſchrieb an Otterſtedt, den
Geſandten bei der Eidgenoſſenſchaft: „Die Beleidigungen der Schweizer
ekeln uns an. Die Schweiz will, daß wir uns von unſerem König oder
von ihr losſagen ſollen. Nun wohl, die Wahl iſt leicht. Wir wollen
unſeren König, die Kränkung hat uns dieſen feindſeligen Bundesgenoſſen
entfremdet.“ Wir wollen nicht die jacobiniſche Anſteckung; und ſollte
ſelbſt unſere Trennung von der Eidgenoſſenſchaft zu einer europäiſchen
Frage werden, „um ſo beſſer; ich glaube die Intervention iſt die einzige
Planke der Rettung für die Schweiz.“ ***) Im ſelben Sinne ſprach eine
Flugſchrift, die aus dieſen royaliſtiſchen Kreiſen ſtammte: Les Suisses
délibèrent sur le sort de Neuchâtel; ne saurous-nous pas en décider
nous-mêmes? Das preußiſche Auswärtige Amt verwarf ſolche Pläne
gänzlich. Man wußte wohl, wie viel die Verbindung des Fürſtenthums
mit der Eidgenoſſenſchaft an Werth verloren hatte ſeit dem Erwachen
des ſchweizeriſchen Radicalismus. Aber der König wollte weder den Rechts-
boden der europäiſchen Verträge verlaſſen noch das waffenloſe Ländchen
dicht an Frankreichs Grenze einem ungewiſſen Schickſal preisgeben; er
wollte auch einen Fuß im Bügel der Eidgenoſſenſchaft behalten, da die
Diplomaten des Bürgerkönigs ſich ſo gefliſſentlich bemühten, die Schweiz
wieder, wie in den bourboniſchen Zeiten, unter Frankreichs Vormundſchaft
zu ſtellen, und befahl daher ſtrenge Zurückhaltung nach beiden Seiten. †)
Auf ſeinen Befehl verſtummten die Heißſporne der Royaliſten. Der Can-
ton erfüllte ſeine Pflichten gegen den Bund ſo gewiſſenhaft, daß während
der nächſten zehn Jahre trotz der herausfordernden Haltung der Radicalen
der offene Kampf mit der Tagſatzung noch vermieden wurde.
Trotzdem verwickelte ſich Preußens ſchweizeriſche Politik mehr und
mehr in einen tragiſchen Widerſpruch. Bei gutem Willen hüben und
[184]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
drüben konnte das kleine Fürſtenthum unter der Oberhoheit eines ſtarken
republikaniſchen Bundesſtaates zur Noth ebenſowohl fortbeſtehen, wie heute
die hanſeatiſchen Städterepubliken unter dem monarchiſchen Deutſchen
Reiche. Aber die Partei, welche die nothwendige Bundesreform verlangte,
vertrat zugleich die Ideen des Radicalismus, ſie forderte mit wachſender
Dreiſtigkeit die Vertreibung der Hohenzollern aus der Eidgenoſſenſchaft, alle
ihre Blätter wiederholten beharrlich das alte Kraftwort, daß Schweizer „ſich
nicht beherren“ dürften. So ſah ſich Preußen gradezu gezwungen, in
der Bundespolitik die Vorkämpfer des Particularismus, die ſchweizeriſchen
Conſervativen zu unterſtützen. Zu ihnen hielten ſich der alte Staats-
rath Sandoz-Rollin und alle die anderen wohlmeinenden Patricier, welche
das Neuenburger Land regierten; ihre Führer in Bern, Baſel, Zürich
ſtanden mit Otterſtedt in beſtändigem Verkehr. Doch was auch die
Radicalen durch Uebermuth und Gewaltthätigkeit ſündigten, ihnen gehörte
die Zukunft; und kam dereinſt der Tag, da die Bundeseinheit über den
Particularismus triumphirte, dann ſtand der Hohenzollernſche Canton in
den Reihen der geſchlagenen Partei. Niemand erkannte dieſe Gefahren
deutlicher als General Pfuel. Der war jetzt Gouverneur des Fürſten-
thums, gewann die Herzen der Jugend durch ſeine Schwimmſchulen im
See, die Achtung aller Parteien durch ſein ehrliches Wohlwollen. Das
zuchtloſe Gerede der Radicalen behagte dem liberalen Offizier ebenſo wenig
wie die calviniſche Engherzigkeit und der beſchränkte Vetterngeiſt der Roya-
liſten; ein Troſt nur, daß er an Agaſſiz einen geiſtreichen Umgang fand,
wie er ihn in ſeinem Berliner literariſchen Freundeskreiſe genoſſen hatte.
Schon im Jahre 1832 ſprach er dem Könige offen aus, bei dem nahen
Zuſammenbruche der alten Bundesverfaſſung würde ſich der neuenbur-
giſche Fürſtenhut ſchwerlich halten laſſen. —
Gleichviel, überall wo die ſchwarzweißen Fahnen wehten behauptete
das Königthum noch ſein altes Anſehen. Mit Erſtaunen bemerkten Freund
und Feind, wie treu das katholiſche Rheinland zu ſeinem Herrſcher ſtand;
die ſchwerſte unter allen den ſchweren Aufgaben, welche der Wiener Con-
greß dieſem Staate geſtellt, ſchien glücklich gelöſt. Zahlloſe Sendboten
aus Frankreich und Belgien trieben am Rhein ihr Weſen; überall fanden
ſie taube Ohren, überall wurden die vaterländiſchen Truppen, als ſie zum
Schutze der Weſtgrenze heranzogen, mit offenen Armen aufgenommen,
und Prinz Wilhelm der Aeltere, der als Gouverneur an den Rhein kam,
gewann ſich in Köln bald die allgemeine Verehrung. Nur die dreiſtere
Sprache des Clerus ließ zuweilen ſchon errathen, daß die Nachbarſchaft
der belgiſchen Prieſterherrlichkeit mit der Zeit vielleicht den Frieden der
preußiſchen Rheinlande ſtören würde. Begreiflich alſo, daß die harmloſen
preußiſchen Zeitungen im Selbſtlobe ſchwelgten und der rheiniſche Pädagog
Aldefeld in zweifelhaften Verſen weiſſagte, das ſtarke Preußen werde fortan
das Land der Ruhe heißen. Aber auch einſichtige Beobachter erkannten
[185]Preußiſche Königstreue.
an, wie überlegen dieſes Volk mit ſeiner Zucht und Treue inmitten der auf-
geregten Nachbarn ſtand. Selbſt der Holſte Riſt, der ſonſt nach Landesbrauch
auf Preußen tief herabgeſehen hatte, pries jetzt, da er die weſtlichen Pro-
vinzen durchreiſte, die glückliche Ordnung des wohlregierten Staates. Noch
zuverſichtlicher ſchrieb der junge Hauptmann Helmuth v. Moltke in ſeinem
geiſtreichen Buche über Polen: Der preußiſche Staat zeichnet ſich aus
durch ſein unaufhaltſames ruhiges Fortſchreiten, durch die ſtätige Ent-
wicklung ſeiner inneren Verhältniſſe, „welche Preußen an die Spitze der
Reformen, der Aufklärung, der liberalen Inſtitutionen und einer vernünf-
tigen Freiheit — mindeſtens in Deutſchland geſtellt haben.“
Wieder wie in den Zeiten der erſten Revolution fühlten ſich die
Preußen ſtolz als Mannen ihres Königs, und begrüßten den alten Herrn
wo er ſich zeigte mit ſtürmiſchen Huldigungen. Und wie damals zur Ant-
wort auf den Marſeiller Marſch das Heil Dir im Siegerkranz erklungen
war, ſo machte jetzt das neue Preußenlied, gedichtet von Rector Thierſch,
dem Bruder des Münchener Philologen, und von Neithardt in Muſik
geſetzt, die Runde auf allen vaterländiſchen Feſten. Mochten die Libe-
ralen des Südens über den preußiſchen Hochmuth ſchelten, ſie fühlten
doch mit ſtillem Neide, daß dieſe ſtolzen Klänge ganz etwas Anderes be-
deuteten als alle jene läppiſchen Farbenlieder auf das Weiß der Un-
ſchuld und das Grün der guten Hoffnung, welche die kleinen Hofpoeten
zum Preiſe ihrer geſchichtsloſen Landeskokarden anfertigten; ſie ahnten die
Wahrheit der Verſe: „daß für die Freiheit meine Väter ſtarben, das
deuten, merkt es, meine Farben an.“ Die Erinnerungsfeiern der alten
Landwehrmänner und Kriegskameraden verliefen meiſt anſpruchslos und
ohne Wortprunk, nur in Berlin pflegte Fouqué ſchmetternde Huſaren-
Reden zu halten; aber ſie hielten unter den Verſammelten das Gefühl
der Staatseinheit wach. Als dem Prinzen Wilhelm 1831 am ſiegver-
heißenden Jahrestage der Leipziger Schlacht ein Sohn geboren wurde, der
vermuthliche Thronfolger, da erklang in allen Provinzen ein Freudenruf,
der offenbar aus den Tiefen der Herzen kam. Und da man ſich ſo ſtolz
und ſicher fühlte, ſo gewann auch der Traum der deutſchen Einheit in
einzelnen Kreiſen der preußiſchen Jugend ſchon eine feſtere Geſtalt. Die
Bonner Burſchenſchafter ſchwärmten für das preußiſche Kaiſerthum, und
es war ein Sohn des linken Rheinufers, der dieſen Gedanken zuerſt im
Liede ausſprach. Karl Simrock hatte ſoeben die Aengſtlichkeit der Regie-
rung am eigenen Leibe erfahren — denn die alte Furcht vor den Demagogen
war noch immer nicht verſchwunden, und das Juſtizminiſterium hielt für
nöthig, ſeinen Beamten alle abſprechenden politiſchen Urtheile an öffent-
lichen Orten zu unterſagen; er hatte den Staatsdienſt verlaſſen müſſen
wegen eines Gedichtes auf Frankreichs drei Tage und drei Farben, das
ihm in der erſten Aufregung der Juliwochen entſtanden war. Doch die
Unbill focht den Treuen nicht an. Gleich darauf ſchilderte er in einem
[186]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
feurigen Liede, wie der Siegeswagen vom Brandenburger Thor durch
Land und Volk dahinfuhr; er ſah „das Scepter Karls des Großen in
Friedrich Wilhelms Hand“ und hörte den alten Blücher ſprechen:
Bei ſolcher Geſinnung vermochten die conſtitutionellen Kämpfe der klei-
nen Staaten nur wenig Theilnahme zu erwecken, und die Süddeutſchen
klagten bitterlich über die politiſche Unreife der preußiſchen Nachbarn. Aller-
dings nahm die Sorge um Haus und Wirthſchaft in dem langſam wieder
aufblühenden verarmten Lande noch immer die beſten Kräfte der Männer
in Anſpruch, die praktiſchen Fragen der Steuervertheilung und der Orts-
verwaltung ſtanden dieſem hart arbeitenden Geſchlechte weit näher als der
Gedanke an die verheißenen Reichsſtände. Der eigentliche Grund der un-
wandelbar ruhigen Haltung des Landes lag jedoch in der kräftigen Staats-
geſinnung, welche dies Volk vor den anderen Deutſchen voraus hatte.
Zwei Jahre lang blieben die Preußen in der Erwartung eines Weltkrieges;
ſie wußten, daß ſie faſt allein dieſen Kampf würden entſcheiden müſſen,
denn auf die Kriegsmacht ihrer kleinen deutſchen Bundesgenoſſen blickten
ſie mit wohlberechtigter Geringſchätzung. Sie trugen ohne Murren die
ſchwere Einquartierung und alle die anderen drückenden Laſten des bewaff-
neten Friedens. Wie hätte ein kriegeriſch erzogenes Volk den Gedanken
faſſen ſollen, in ſo drangvoller Zeit, gleichſam im Angeſichte des Feindes,
die Krone mit Bitten zu beſtürmen, welche doch nicht durch drängende
Noth geboten waren?
Faſt kindlich harmlos zeigte ſich dieſe Königstreue auf dem Weſt-
phäliſchen Landtage. Dort war unter Stein’s Leitung das ſtändiſche Leben
immer rege geblieben, und im December 1830 beſchloß der Landtag den
König um die Berufung des Reichstages zu bitten, der „die verſchiedenen
Provinzen mit einem neuen geiſtigen Bande umſchlingen“, die erkaltete
Theilnahme an den Landſtänden allenthalben beleben werde. Aber Stein
ſelbſt, der Landtagsmarſchall, hegte jetzt Zweifel, ob der Antrag in ſolchen
Tagen der Gährung und der Kriegsgefahr nicht unzart oder unzeitgemäß
erſcheinen werde; er übernahm es endlich den Gouverneur um ſeine Ver-
mittlung zu bitten, und als Prinz Wilhelm, auf einen Wink aus Berlin,
ſich bedenklich äußerte, gaben die Stände gehorſam ihr Vorhaben auf.
Stein erwähnte des Antrags im Landtagsberichte und erinnerte den König
an „das ſchöne Lob ſeines Ahnherrn Wilhelm von Cleve: ſein Wort das
war ſein Siegel;“ doch auf die Vorſtellungen des Oberpräſidenten Vincke
ſtrich er dieſe Sätze wieder, und des ganzen Vorfalls, der bei Hofe lebhafte
Beſorgniſſe erregt hatte, ward amtlich mit keinem Worte mehr gedacht.
In den übrigen Provinziallandtagen war von den verheißenen Reichs-
[187]Hanſemann’s Denkſchrift über die Verfaſſung.
ſtänden gar nicht die Rede. Selbſt die Altpreußen hielten ſich ſtill, ob-
gleich ihr ſtändiſcher Ausſchuß ſchon vor’m Jahre erklärt hatte, Preußen
bedürfe einer reichsſtändiſchen Verfaſſung, da die Nachbarſtaaten durch
ihre Inſtitutionen allmählich ein Uebergewicht gewännen *); der Landtag
wagte nur in aller Ehrfurcht um die Oeffentlichkeit der provinzialſtändiſchen
Verhandlungen zu bitten.
Auch in den zahlreichen Flugſchriften der Preußen wurde das Ver-
langen nach einer Verfaſſung nirgends laut; kaum daß einmal ein ſtiller
Gelehrter, wie der Schleſier Thilo in ſeiner Schrift „was iſt Verfaſſung“
den theoretiſchen Beweis führte: der Fürſt vertrete den Staat doch nur
nach außen, folglich müſſe das Volk im inneren Staatsleben ſeine eigene
Vertretung erhalten. Nur ein Mann wagte in dieſen Jahren den König
unumwunden an die alte Verheißung zu erinnern: der rheiniſche Kauf-
herr David Hanſemann, ein evangeliſcher Predigersſohn aus dem Ham-
burgiſchen, der in jungen Jahren die franzöſiſche Verwaltung gründlich
kennen und leider auch überſchätzen gelernt, dann in Aachen die große
Feuerverſicherungs-Geſellſchaft gegründet und durch ſeine glänzende ge-
ſchäftliche Begabung in der ſtrengkatholiſchen Stadt ein unbeſtrittenes An-
ſehen errungen hatte. In einer „Denkſchrift über Preußens Lage und
Politik“, die er im Dec. 1830 dem König einſendete, ſprach er durchaus
als treuer preußiſcher Patriot; er erkannte dankbar an, wie ſtark ſein
Staat in dem zerfahrenen Treiben der deutſchen Kleinſtaaterei daſtehe,
und hoffte die Zeit noch zu erleben, da die undeutſchen Länder dereinſt
aus dem Bunde ausſcheiden, Preußen aber die Führung eines Bundes-
raths und eines deutſchen Reichstags übernehmen würde. Doch mit der
ganzen Rückſichtsloſigkeit, welche alle neuen ſocialen Mächte auszeichnet,
vertrat er zugleich die Intereſſen ſeines jungen rheiniſchen Bürgerthums.
Ihm war unzweifelhaft, daß „die bei dem lebendigſten und mittheilendſten
Volke Europas herrſchenden Principien“ ſich überall in der Welt ver-
breiten müßten, daß jede vernünftige Regierung ſich auf die Mehrheit des
Vermögens und der Bildung — gleichviel woher dieſe ſtammten — zu
ſtützen habe, und Preußen jetzt im Begriff ſtehe aus der Feudalzeit durch
den Beamtenſtaat zu dieſer Mehrheitsherrſchaft überzugehen. Die ſtän-
diſche Gliederung der Provinziallandtage verwarf er gänzlich, weil jeder
Abgeordnete von Köln oder Aachen hundertundzwanzigmal mehr Köpfe,
vierunddreißigmal mehr Steuerkraft vertrete als ein Mitglied der rhei-
niſchen Ritterſchaft. Er glaubte zu wiſſen, daß die Städte durch Kennt-
niſſe und politiſche Bildung weit mehr bedeuteten als das flache Land,
daß der Thron an den großen Kaufleuten und Fabrikanten, die bei Krieg
oder bürgerlichen Unruhen Alles zu verlieren hätten, mindeſtens eine
[188]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
ebenſo feſte Stütze fände wie an dem Grundadel, und forderte darum
außer einem Oberhauſe, das aus Majoratsbeſitzern und aus Vertrauens-
männern der Krone beſtehen ſollte, eine von den Höchſtbeſteuerten gewählte
zweite Kammer.
Alſo traten die neuen Anſchauungen, welche ſich in den großen
Städten des Rheinlandes unter der Herrſchaft des napoleoniſchen Geſetz-
buchs und der beſtändigen Einwirkung franzöſiſcher Ideen gebildet hatten,
zum erſten male freimüthig vor den Thron. Dieſer neue Mittelſtand
hielt ſich in ſeinem jugendlichen Selbſtgefühle für den Staat ſelber; er
ließ in der bürgerlichen Geſellſchaft überhaupt nur noch den einen Unter-
ſchied gelten, der im Mittelſtande vorherrſcht, den Unterſchied des Geldes
und des Wiſſens. Der König nahm die Denkſchrift nicht unfreundlich
auf, doch weder er noch ſeine Räthe erkannten, welch eine ſtarke, zukunfts-
ſichere ſociale Macht hinter den Vorſchlägen des rheiniſchen Kaufmanns
ſtand. Die Verſöhnung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten, die man
in Berlin ſchon beendet glaubte, hatte in Wahrheit noch kaum begonnen;
zwiſchen dem abſtrakten Staatsbürgerthum der rheiniſchen Städter und
der altſtändiſchen Geſinnung der brandenburgiſchen Grundherren lag eine
Kluft, die nur durch die Arbeit langer Jahre überbrückt werden konnte.
Auch im Oſten war die Zufriedenheit bei Weitem nicht ſo ungetrübt,
wie man aus der allgemeinen Stille wohl ſchließen mochte. Es konnte
nicht fehlen, daß die Gelehrten und Beamten aus den eifrig geleſenen
ausländiſchen Zeitungen neue Gedanken einſogen, und wenngleich die Zahl
der Conſtitutionellen noch ſehr gering blieb, ſo bekundete ſich doch der alt-
preußiſche Widerſpruchsgeiſt oft in ſcharfer Kritik, und die öſterreichiſchen wie
die kleinfürſtlichen Diplomaten vermochten ſich über die liberale Geſinnung
dieſer Bureaukratie nicht genug zu verwundern.*) Im Volke aber mußte
die Beamtenherrſchaft, wie Tüchtiges ſie auch leiſtete, zuletzt manches
Mißtrauen erregen, weil ſie unbeſchränkt ſchaltete. Selbſt Reaube’s Jahr-
bücher der preußiſchen Provinzialſtände — die einzige Zeitſchrift, die ſich
mit dem Stillleben der Provinziallandtage befaßte — brachten unter
einem Wuſte ſtillvergnügter Philiſterbetrachtungen zuweilen ſchon einen
heftigen Ausfall wider dies ungeheuere Beamtenheer, das ſich ſtets nur
aus ſich ſelbſt ergänze, während in England und Frankreich auch ein
Kaufmann oder Grundbeſitzer Miniſter werden könne: in Preußen müſſen
immer 49 Menſchen arbeiten um einen Beamten zu ernähren!
Noch bitterer äußerte ſich der Adelshaß der bürgerlichen Kreiſe. Der
einzige der altgermaniſchen Geburtsſtände, der ſich inmitten der Berufs-
ſtände der neuen Geſellſchaft noch erhalten hatte, konnte der in ſich ſelbſt
verliebten modernen Bildung nur widerwärtig erſcheinen. Da der Adel zu-
dem auf den Provinzial- und Kreistagen ein ganz unbilliges Uebergewicht
[189]Adel und Bürgerthum.
behauptete, ſo klagte alle Welt über die Macht des Junkerthums und zählte
mit widerwärtigem Kleinſinn nach, wie viele Edelleute in den hohen Staats-
ämtern ſäßen. Die vorletzten Miniſter der Juſtiz und der Finanzen, Kirch-
eiſen und Klewiz waren bürgerlich geboren, ihnen folgten die Edelleute
Danckelmann und Motz; als dieſe ſtarben und jetzt wieder zwei Bürgerliche,
Mühler und Maaſſen eintraten, da jubelte die geſammte Preſſe, wie
liberal Preußen geworden ſei. Und doch war unter den drei Finanz-
miniſtern der Edelmann unzweifelhaft der freieſte Kopf, und bei allen
dieſen Ernennungen hatte der König die Frage der Geburt gar nicht in
Betracht gezogen. Ja ſogar als Ancillon nachher ins Miniſterium be-
rufen wurde, erhoben die Zeitungen ein Freudengeſchrei über den bürger-
lichen Miniſter, deſſen reaktionäre Geſinnung man doch kannte. Vor-
nehmlich im Heere ſollte der Adel ungebührlich bevorzugt ſein; aber auch
bei dieſer landläufigen, und nicht ganz grundloſen Klage ſpielten gehäſſige
Uebertreibung und Unkenntniß mit. Unter den Generalen und Oberſten
des ſtehenden Heeres konnten ſich nur vereinzelte Bürgerliche befinden,
weil erſt Scharnhorſt die alten Vorrechte des Adels beſeitigt, erſt der
Befreiungskrieg eine größere Anzahl bürgerlicher Offiziere in die Regi-
menter der Infanterie und der Reiterei eingeführt hatte. In den mittleren
Stellen hingegen war der Adel ſchwächer vertreten als in den unterſten;
von den Stabsoffizieren war faſt ein Fünftel, von den Hauptleuten und
Rittmeiſtern beinahe die Hälfte bürgerlich, von den Secondelieutenants
nur ein Zwanzigſtel, weil der Kriegsdienſt in dieſen ſtillen Friedensjahren
nichts Verlockendes hatte und der junge Nachwuchs mithin ganz über-
wiegend von jenen alten Soldatengeſchlechtern geſtellt wurde, welche das
Waffenhandwerk als den Beruf ihres Hauſes betrachteten.
All dieſer kleine Groll blieb für jetzt noch halb verborgen; wer aber
die ſtille tiefe Leidenſchaft der norddeutſchen Stämme kannte, der mußte
einſehen, daß es nun endlich an der Zeit war, den Gegenſätzen der Land-
ſchaften, der Stände, der politiſchen Geſinnungen einen freien Kampfplatz
zu eröffnen. Ein aus den Provinzialſtänden hervorgegangener berathen-
der Reichstag, wie er verſprochen war, konnte jetzt, da Niemand ihn un-
geſtüm forderte, von dem treuen Volke nur mit Dank begrüßt werden,
er konnte nicht die Macht des gerade in dieſen Tagen unbeſchreiblich ge-
liebten Königthums erſchüttern, ſondern nur die Staatseinheit befeſtigen
und die Preußen daran gewöhnen, daß ſie in gemeinſamer politiſcher
Arbeit einander verſtehen und ertragen lernten.
Sehr nachdrücklich mahnte auch der Zuſtand des Staatshaushalts
an die Einlöſung des alten Verſprechens. Während die anderen Bundes-
ſtaaten gar nichts leiſteten, verwendete Preußen für die Beſchützung der
deutſchen Grenzen binnen anderthalb Jahren 39,28 Mill. Thaler, vier
Fünftel ſeiner regelmäßigen Jahreseinnahmen. Da förmliche Anleihen
nur noch unter der Bürgſchaft der Reichsſtände erfolgen durften und der
[190]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
gutmüthige König zu einer Steuer-Erhöhung ſich auch nicht entſchließen
wollte, ſo wurden dieſe Ausgaben vorläufig gedeckt durch Zahlungen aus
dem Staatsſchatze, durch kurze Darlehen der Seehandlung, durch die Ein-
ziehung der entbehrlichen Capitalbeſtände der Staatsverwaltung, ja ſogar
der hinterlegten Cautionen der Beamten, und dann nach und nach aus
dem wachſenden Ertrage der neuen Abgaben zurückgezahlt. *) Das Alles
ward mit altpreußiſcher Genauigkeit abgewickelt; doch wohin ſollte dies
geheime Treiben führen, wenn der Zuſtand des bewaffneten Friedens ſich
verlängerte oder gar der Weltkrieg ausbrach? Und war es eines ſtolzen
Staates würdig, wenn die veröffentlichten Jahresbudgets in ſolcher Zeit
immer nur von dem vollkommenen Gleichgewichte der regelmäßigen Ein-
nahmen und Ausgaben fälſchlich berichteten? Jene ſchweren Aufwendungen
für Deutſchlands Sicherheit wurden ängſtlich geheim gehalten, wie die
Schulden eines leichtſinnigen Jünglings; und doch gereichten ſie der preu-
ßiſchen Staatskunſt zu hoher Ehre, und doch mußten ſie, wenn man ſie
offen eingeſtand, dem Volke der Kleinſtaaten, ſoweit es nicht durch die
Polenſchwärmerei verdorben war, handgreiflich beweiſen, daß Preußen
allein für das große Vaterland Opfer brachte.
Aber die Noth des Augenblicks ging vorüber, und feſter denn je war
der König jetzt überzeugt, mit der Einrichtung der Provinzialſtände das
Rechte getroffen zu haben. Er hatte einſt, als ihm die Verordnung vom
Mai 1815 vorgelegt wurde, das Steuerbewilligungsrecht des Reichstags
eigenhändig ausgeſtrichen und dem Reichstage nur berathende Befugniſſe
gewährt; er hatte fünf Jahre darauf den künftigen Reichsſtänden nur
darum die Mitwirkung bei Staatsanleihen zugeſtanden, weil er beſtimmt
hoffte, daß die Monarchie neuer Schulden nicht mehr bedürfe, bei augenblick-
lichen Verlegenheiten aber die Seehandlung eintreten könne; er hatte
damals nachdrücklich ausgeſprochen: „Repräſentanten der Nation, Repräſen-
tation des Volks, Landesrepräſentanten, das verbitte ich mir; Reichsſtände
liebe ich auch nicht, aber ich habe auch nichts dagegen.“ **) Nun ſah er
ſein Volk zufrieden, unvergleichlich zufriedener als die Bewohner der benach-
barten conſtitutionellen Staaten. Nichts drängte zu einer entſcheidenden
Aenderung, und wer das enge, ſchwungloſe Weſen des Königs durchſchaute,
mußte vorausſehen, daß die Reichsſtände bei ſeinen Lebzeiten niemals zu
Stande kommen würden. Und wie ſchwer, ja unmöglich erſchien ein
ſolcher Entſchluß Angeſichts der allgemeinen Lage Europas! Dahin war
es doch gekommen durch die brutale Schroffheit Lord Palmerſton’s und
des Czaren Nikolaus, daß die Welt in die zwei großen Heerlager der
conſtitutionellen Staaten und der abſoluten Monarchien zerfiel. Wie die
[191]Die revidirte Städteordnung.
Dinge lagen hatte Preußen zunächſt nur einen Feind zu fürchten: das
revolutionäre Frankreich, das ſeine frechen Anſchläge auf die Rheingrenze
mit unbelehrbarer Verblendung kundgab. Wer durfte dem deutſchen Staate
zumuthen, die ſichere Bundesgenoſſenſchaft der Oſtmächte mit der treuloſen
Freundſchaft der Freiheitsheuchler Weſteuropas zu vertauſchen? —
Im Uebrigen ward der mildere und freiere Geiſt, der ſeit dem Ende
der zwanziger Jahre in der Regierung vorherrſchte, durch die Juli-Revo-
lution nicht erſchüttert. Während Bernſtorff die Kriegspläne des Czaren
vereitelte, die conſtitutionelle Bewegung in den norddeutſchen Nachbar-
ſtaaten mit wohlwollender Zurückhaltung gewähren ließ, die Erhebung
der Braunſchweiger ſogar ſelbſt zum glücklichen Abſchluß brachte, führte
Maaſſen die von Motz eingeleiteten Zollvereinsverhandlungen fort und
der Staatsrath arbeitete weiter an den Reformgeſetzen. Die ſeit Jahren
mit den Provinzialſtänden beſprochene Landgemeinde-Ordnung kam freilich
noch immer nicht zu Stande, da das unüberſehbare Gewirr der örtlichen
Intereſſen ſich jeder Neuerung entgegenſtemmte. Aber am 17. März 1831
wurde die revidirte Städteordnung veröffentlicht. Stein ſelbſt begrüßte
dieſen Umbau ſeines eigenen Werkes mit Freuden, weil das neue Geſetz
an den bewährten Grundſätzen der Selbſtverwaltung nichts änderte, ſondern
nur einige durch die Erfahrung erwieſene Uebelſtände behutſam hinweg-
räumte; und Savigny erwies in einer geiſtvollen Abhandlung, daß die
Neuerungen in der That meiſt Verbeſſerungen waren. Die Städte er-
hielten fortan eine erhöhte Selbſtändigkeit, indem ſie durch Ortsſtatute
das allgemeine Geſetz ergänzen, zum Theil ſelbſt abändern durften; die
Befugniſſe des Magiſtrats, der bisher von den Stadtverordneten ganz
abhängig geweſen, wurden etwas erweitert; die Regierungen ſollten bei
Streitigkeiten zwiſchen Magiſtrat und Stadtverordneten entſcheiden und
überhaupt ein ſchärferes Aufſichtsrecht ausüben, was dringend nöthig war,
da in einzelnen heruntergekommenen kleinen Städten ſich arge Mißbräuche
eingeniſtet hatten. Dazu einige neue Beſtimmungen über das Bürgerrecht,
die ſich von ſelbſt ergaben ſeit die neue Gewerbefreiheit den Bürgern das
Vorrecht des Gewerbebetriebs genommen hatte. Bedenklich war nur, daß die
Grundherren der Mediatſtädte ihre alten Communalrechte behalten ſollten.
Bei der Einführung des Geſetzes verfuhr die Krone mit einer zarten
Schonung, welche von der ſcharfen Centraliſation der meiſten conſtitutio-
nellen Staaten ſeltſam abſtach. Alle Städte, die ſchon unter Stein’s Ge-
ſetze ſtanden, verblieben bei dieſer Ordnung, falls ſie nicht ausdrücklich die
Verleihung des neuen Geſetzes beantragten. In den anderen ſollte das
revidirte Geſetz provinzenweiſe nach und nach eingeführt werden; die
Oberpräſidenten erhielten aber den Auftrag, zuvor mit den Landtags-
Abgeordneten des Standes der Städte zu berathſchlagen. Wie wohlgemeint
die Reform auch war, die Macht des Beharrens, die im Gemeindeleben
ſo unwiderſtehlich waltet, und das ſtille Mißtrauen gegen das Beamten-
[192]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
thum bewirkten doch, daß von allen Städten, welche die alte Städteord-
nung beſaßen, nur drei die Einführung des neuen Geſetzes verlangten:
das ſchöne alte Königsberg in der Neumark und zwei brandenburgiſche
Landſtädtchen.
In den neuen Provinzen dagegen bewährte ſich wieder einmal die
zähe Widerſtandskraft des Particularismus. Die Stände der Provinz
Sachſen freilich nahmen das neue Geſetz ſofort dankbar an, ſie freuten ſich
der alten kurſächſiſchen Vetternherrſchaft entledigt zu werden. Die Weſt-
phalen, die ſich um Vincke verſammelten, wünſchten das alte Geſetz ihres
Landtagsmarſchalls, *) doch da ſie an dem neuen Geſetze nur wenige Be-
ſtimmungen anſtößig fanden, ſo begannen langwierige Verhandlungen mit
den einzelnen Communen, bis endlich im Jahre 1841 die revidirte Städte-
ordnung in allen größeren Städten der Provinz eingeführt war. Um
dieſelbe Zeit ward die Reform auch in Poſen beendigt. Die Neuvorpom-
mern aber wollten weder das alte noch das neue Geſetz, ſie beſtanden hart-
näckig auf ihren durch die ſchwediſchen Freiheitsbriefe verbürgten Städte-
verfaſſungen, fanden an dem romantiſchen Kronprinzen einen warmen
Fürſprecher **) und ſetzten ſchließlich ihren Willen durch; nur einzelne un-
vermeidliche Aenderungen ſollten noch mit den Bürgerverſammlungen von
Stralſund, Greifswald, Barth vereinbart werden. Ebenſo hartnäckig
hielten die rheiniſchen Stände an ihrer napoleoniſchen Gemeindeordnung
feſt, weil die Trennung von Stadt und Land in dem hochentwickelten
wirthſchaftlichen Leben des Rheinlands ſchwer durchzuführen war, aber
auch weil dies Volk mit ſeiner bureaukratiſchen Gewöhnung den Segen
deutſcher Selbſtverwaltung nicht verſtehen wollte. Auch ſie erreichten,
daß die franzöſiſchen Geſetze vorläufig fortbeſtanden; nur drei Städte der
Provinz nahmen die neue Städteordnung freiwillig an. Dieſe Nachgiebig-
keit der Krone erregte in der reaktionären Partei am Hofe ſchwere Beſorg-
niß. Herzog Karl von Mecklenburg beſchwor den König das Zugeſtändniß
zurückzuziehen: ſelbſt in conſtitutionellen Staaten werde den Unterthanen
nie erlaubt zwiſchen verſchiedenen Geſetzen zu wählen. Wie ſo oft ſchon
drohte er wieder den Vorſitz im Staatsrathe niederzulegen. Friedrich
Wilhelm aber erwiderte: die revidirte Städteordnung ſei kein neues,
ſondern nur ein verbeſſertes Geſetz; alſo müſſe den Städten die Wahl
frei bleiben, damit das Volk zufrieden geſtellt und die Mannichfaltigkeit
der örtlichen Verhältniſſe berückſichtigt würde.***)
Dieſe Klagebriefe des Herzogs waren nur eine der Rauchſäulen, welche
zuweilen aus dem verdeckten Brande des höfiſchen Parteikampfes empor-
ſtiegen. Preußens kluge und ſelbſtändige Haltung gegenüber der Revolution
[193]Veränderungen im Miniſterium.
erfüllte die Hochconſervativen mit Unmuth. Bernſtorff aber ſtand feſt im
Vertrauen des Königs, er beſaß an General Witzleben einen treuen Rück-
halt, und ſelbſt Fürſt Wittgenſtein hielt als Mann des Friedens jetzt zu
ihm. Als er im Frühjahre 1831, von langer Krankheit erſchöpft, ſein oft ge-
ſtelltes Abſchiedsgeſuch erneuerte, da antwortete Friedrich Wilhelm, er könne
ihn nicht entbehren, ſei aber bereit zur Aushilfe einen zweiten Miniſter
anzuſtellen. Nun wurde Werther aus Paris berufen. Der feine Diplomat
fühlte jedoch ſelbſt, daß er zum Führer nicht geſchaffen war, und lehnte
ab. Bernſtorff blieb im Amte, und auf ſeinen Antrag wurde Eichhorn,
der ſchon bisher die deutſche Politik Preußens geleitet hatte, förmlich an
die Spitze der zweiten Abtheilung des Miniſteriums geſtellt; die regel-
mäßige europäiſche Correſpondenz führte Ancillon unter dem Titel eines
Staatsſekretärs — nicht immer zur Zufriedenheit des Miniſters, der die
öſterreichiſchen Neigungen ſeines alten Mentors längſt nicht mehr theilte. *)
Um ſo feſter ſchloß ſich Bernſtorff an Eichhorn an; er ließ ihm in den
deutſchen Dingen faſt ganz freie Hand und lobte den der Hofburg ſo
tief verhaßten Demagogen überall als die Seele der preußiſchen Zoll-
politik. Kaum minder verrufen war in Wien Geh. Rath Kühne aus
dem Finanzminiſterium, und auch er gewann unter Motz’s Nachfolger
Maaſſen noch ſtärkeren Einfluß. Da Schuckmann’s bureaukratiſche Steif-
heit in ſo bewegter Zeit nicht mehr ausreichte, ſo wurde der alte Herr,
gegen ſeinen Wunſch, bewogen, in eine Theilung ſeines Departements
zu willigen, und dies neu abgezweigte Miniſterium des Innern und der
Polizei dem Frhrn. v. Brenn anvertraut. Die erledigte Stelle des Kammer-
gerichtspräſidenten erhielt Grolman, der Bruder des Generals und Sohn
des berühmten alten Obertribunalspräſidenten, ein ausgezeichneter Juriſt
von unabhängiger Geſinnung, der nun ſogleich als Haupt des liberalen
Richterſtandes in Verruf kam. An die Spitze des Generalſtabs war
Krauſeneck getreten, ein entſchiedener Gegner der Anmaßungen Oeſter-
reichs **); ſelbſt General Boyen, der Vielverleumdete, gewann allmählich
das Vertrauen des Monarchen wieder und ward zur Berathung der Militär-
geſetze zugezogen.
Auf den Univerſitäten durften alle Schulen der Wiſſenſchaft in
voller Freiheit ſich entfalten. Während Altenſtein und ſein Johannes
Schulze die Schüler Hegel’s nach Kräften begünſtigten und ſogar dem
liberalen Rhetor Ed. Gans zu einem ordentlichen Lehrſtuhle in Berlin
verhalfen, wurde der Todfeind der Hegelianer, Schleiermacher nach langer
Entfremdung vom Könige wieder ausgezeichnet. Er dankte tief gerührt,
da er doch einſt im Agendenſtreite dem Monarchen perſönlich als lite-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 13
[194]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
rariſcher Widerſacher entgegengetreten war, und als der Pariſer Meſſager
(Februar 1831) ihn einen Führer der preußiſchen Linken nannte, hielt er
ſich verpflichtet öffentlich ein Zeugniß abzulegen für die königliche Geſin-
nung der Preußen. „Ihre Ausdrücke: rechte und linke Seite, linkes und
rechtes Centrum — ſo antwortete er — ſind unſern Verhältniſſen völlig
fremd. Wir haben ſeit dem Tilſiter Frieden reißende Fortſchritte gemacht,
und das ohne Revolution, ohne Kammern, ja ſelbſt ohne Preßfreiheit;
aber immer das Volk mit dem König und der König mit dem Volk.
Müßte man nun nicht ſeiner geſunden Sinne beraubt ſein, um zu wähnen,
wir würden von nun an beſſer vorwärts kommen mit einer Revolution?
Darum bin ich auch meinestheils ſehr ſicher, immer auf der Seite des
Königs zu ſein, wenn ich auf der Seite der einſichtsvollen Männer des
Volkes bin.“ Das liberale Pariſer Blatt unterſchlug dieſe Erwiderung,
und als ſie dann in einer Berliner Zeitung erſchien, da ſchimpfte die
ſüddeutſche liberale Preſſe auf die Knechtsgeſinnung des preußiſchen Hof-
pfaffen, der die unwiſſende Anmaßung der Franzoſen ſo würdig zurück-
gewieſen hatte.
Zum Schrecken Metternich’s wurde nunmehr auch Wilhelm Humboldt
in den Staatsrath zurück berufen. Eben in den Tagen da die erſten
Schreckensnachrichten aus Paris eintrafen, hatte er das neue Muſeum
der öffentlichen Benutzung übergeben. Der König zeigte ſich hoch er-
freut über die ſinnige Auswahl der Gemälde, über die ſchönen, von Rauch
meiſterhaft reſtaurirten antiken Bildwerke, und er beſchloß auf Hum-
boldt’s Vorſchlag, die Erweiterung der Sammlungen nicht einem Manne,
ſondern einer Commiſſion von Künſtlern anzuvertrauen. Sein dank-
bares Herz drängte ihn aber auch, das alte Unrecht aus den Karlsbader
Tagen zu ſühnen, zumal da der Kronprinz und Witzleben ſich des Ge-
kränkten eifrig annahmen. Politiſch bedeutete dieſe Ernennung jetzt nur
noch wenig. Humboldt lebte der Welt entfremdet; immer wieder klangen
ihm die Worte durch den Sinn, die ihm einſt ſeine Gattin in Sorrent
zugerufen:
Seine Gedanken galten dem dunklen Jenſeits, das er ſich doch, wie alle
großen Köpfe, mit dem Dieſſeits feſt verknüpft dachte, und da er in dem mäch-
tigen Gewebe der Geſchichte die Perſonen und die allgemeinen Ereigniſſe
als Zettel und Einſchlag, die Perſonen aber als die entſcheidende Macht
anſah, ſo kam ihm ſchließlich Alles darauf an, welche geiſtigen Kräfte der
Menſch aus dieſer Welt mit ſich fortnehme: „ich kann es nicht für gleich-
giltig halten, ob man vor dem Dahingehen zur wahren Klarheit des im
Leben in Ideen Erſtrebten gelangt oder nicht.“ Dieſe Hoffnung auf die
Ewigkeit des Schauens und Erkennens nahm ſeine Seele ganz ein; was
[195]Die mecklenburgiſche Partei.
ihm von Thatkraft noch blieb, wollte er verwenden um die Gedankenarbeit
ſo vieler Jahre zum Abſchluß zu bringen, das Werden der Menſchheit aus
den Geſetzen der Sprachbildung zu erklären. Neben ſolchen wiſſenſchaftlichen
Plänen verloren die Kämpfe der Politik jeden Reiz für ihn. Aber ſein
Name genügte um die Anhänger Oeſterreichs zu beunruhigen: was konnte
er nicht Alles anſtiften mit Hilfe „der encyclopädiſchen Katze“, ſeines
Bruders Alexander, mit dem der König ſo gern verkehrte?
Voll Haſſes ſtand allen dieſen freieren Köpfen am Hofe „die
mecklenburgiſche Clique“ gegenüber, wie Prinz Wilhelm der Jüngere ſie
treffend nannte: voran Herzog Karl, der unermüdlich in aufgeregten, in-
haltloſen Denkſchriften den Kreuzzug für das legitime Recht predigte,
dann ſeine ſchöne Schweſter Friderike und ihr Gemahl Ernſt Auguſt von
Cumberland, endlich Kamptz „der Naſenquetſcher“ — ſo hieß er bei den
jungen Herren. Der hatte der alten Heimath in der neuen nicht vergeſſen
und ſchrieb noch als preußiſcher Miniſter umfängliche Bücher über die
Myſterien des Civilproceſſes, der adlichen Klöſter, der landſtändiſchen Rechte
Mecklenburgs. Aus der Ferne gab Großherzog Georg von Strelitz mit
ſeinen Miniſtern Oertzen und Dewitz dem Bruder Karl Rathſchläge.
Auch General Müffling, der kürzlich, keineswegs zu ſeiner Freude, das
Generalcommando in Weſtphalen erhalten hatte, blieb der alten Freund-
ſchaft treu; er war ein Vetter des Grafen Münſter, Schwager des han-
noverſchen Adelsführers Schele und bildete das natürliche Bindeglied in
dieſer welfiſch-mecklenburgiſchen Junkerpartei, die allen großen altpreußiſchen
Ueberlieferungen feind war.
Seit Bernſtorff im Frühjahr 1831 ſeine Entlaſſung erbeten hatte,
ſetzte die mecklenburgiſche Partei alle Hebel ein um die neuen friſchen
Kräfte wieder aus dem Regimente zu vertreiben. Die Lage iſt verzweifelt,
ſo klagte Herzog Karl, Humboldt hat die Mehrheit im Staatsrathe, er
will auf den Trümmern der alten Ordnung ſeine Macht gründen. Und
Großherzog Georg meinte traurig: „dieſes Verliebtſein des Kronprinzen
in Humboldt — im Widerſtreit mit ſeinem ſonſt ſo guten Verſtande und
den Anſichten der Männer, auf die er ſonſt zu hören pflegt — ſcheint
mir zu den großen, die ganze Welt zu erſchüttern drohenden Gewitter-
wolken zu gehören, welche am politiſchen Horizonte hängen.“ Viermal
binnen acht Monaten erklärte der Herzog dem Könige, daß er, auf die Ge-
fahr hin „der liberalen Partei“ einen Sieg zu bereiten, ſich zurückziehen
müſſe, wenn nicht die Einheit im Miniſterium hergeſtellt und durch
Neuberufungen eine zuverläſſige Mehrheit im Staatsrath geſichert würde.
Er wünſchte Müffling für das Auswärtige oder den Krieg, Nagler für
das Innere oder das Auswärtige; für die Juſtiz den getreuen Kamptz,
aber „von Seiten des Kronprinzen und einem Theile der liberalen Ju-
riſten ſteht ihm eine ſolche Oppoſition entgegen, daß ich ihn kaum nennen
darf.“ Eichhorn ſollte auf eine unſchädliche Geſandtſchaft verſetzt werden:
13*
[196]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
„ich halte die deutſchen Angelegenheiten in ſeiner Hand nicht gut, und
durch ihn Uneinigkeit mit Oeſterreich nur zu möglich.“ *) Wegen der
Verſtärkung des Staatsraths erbat ſich der Herzog die Vorſchläge von
Kamptz. Der aber erwiderte ingrimmig: „es iſt ebenſo bedauerlich als
wahr, daß der hieſige höhere Staatsdienerſtand nur ſo wenige, ich möchte
ſagen: keine zwei, ganz zuverläſſige Perſonen zu dem gedachten Zwecke
enthält;“ auch in den Provinzen ließ er nur einzelne Beamte als „bom-
benfeſt“ gelten. Dagegen war der alte Bankpräſident Frieſe ſogleich mit
einer ganzen Reihe bedeutender Namen bei der Hand; er nannte Männer
wie Boyen, Schleiermacher, Präſident Grolman, General Rühle, und
der Herzog rief entſetzt: „In welche Geſellſchaft würden wir durch dieſe
Vorſchläge gerathen!“ **) Der König ſah dem unruhigen Treiben ſeines
Schwagers gelaſſen zu. Nur einmal wurde er gegen Eichhorn mißtrauiſch,
da die Hofburg die Anſchwärzungen der Mecklenburger unterſtützte, und
ließ ihm unter der Hand eine Oberpräſidentenſtelle, welche er wolle, an-
bieten. Eichhorn erwiderte einfach: mein Amt ſteht zur Verfügung Sr.
Majeſtät, aber ohne Befehl gebe ich es nicht auf. Dabei blieb es; zu
einer ungerechten Kränkung konnte ſich Friedrich Wilhelm doch nicht ent-
ſchließen.
Nach einem langen widerwärtigen Ränkeſpiele begann Herzog Karl zu
fürchten, daß ſein königlicher Schwager vielleicht ihn ſelber beim Worte
nehmen, eines ſeiner Abſchiedsgeſuche bewilligen würde. ***) Darum be-
ruhigte er ſich endlich, und von allen ihren Anſchlägen blieb der mecklen-
burgiſchen Partei nichts übrig als ein halber Erfolg, den ſie bei der Wie-
derbeſetzung des Juſtizminiſteriums noch errang. Als höchſter Beamter
des Departements hatte Kamptz dies Amt nach Danckelmann’s Tode ein
Jahr lang mit ſeinem gewohnten ungeheuren Fleiße vorläufig verwaltet.
Der König mochte den verdienten Beamten nicht gradeswegs zurückſetzen
und entſchied ſich wieder für eine Theilung des Miniſteriums. Kamptz
erhielt (Februar 1832) die Leitung der Geſetz-Reviſion — eine Aufgabe,
die für dieſen gründlichſten Kenner aller preußiſchen Particular-Rechte
wie geſchaffen ſchien — und zugleich die Aufſicht über die rheiniſche
Rechtspflege, da die Reviſion zunächſt in den Rheinlanden durchgeführt
werden ſollte. Für die Juſtizverwaltung der übrigen Provinzen wurde
Mühler berufen, ein Juriſt von ungleich freieren Anſichten.
Eine eigenthümliche Mittelſtellung behaupteten die königlichen Prinzen
in dieſem Parteikampfe. Den Krieg gegen Frankreich wünſchten ſie alle-
ſammt, weil ſie alle in den Erinnerungen von Belle Alliance lebten, die
[197]Die königlichen Prinzen.
Revolution verabſcheuten und den bedrängten oraniſchen Verwandten
ritterlich beiſtehen wollten. Wie oft mußte General Witzleben von den
kampfluſtigen jungen Fürſten heftige Vorwürfe wegen ſeiner Friedens-
politik hören. Einmal, am Hubertustage 1830, erregten die Prinzen
auch die Entrüſtung der aufgeklärten Hauptſtadt, als ſie beim Jagdmahle
im Schloſſe Grunewald jubelnd einen Trinkſpruch auf den Sieg der
guten Sache ausbrachten und dann nach ruſſiſchem Brauche die Gläſer
an der Wand zerſchmetterten. Immerhin blieb ein Unterſchied zwiſchen
dem naiven legitimiſtiſchen Feuereifer der jungen Prinzen Karl und
Albrecht und den allezeit eigenartigen Gedanken ihres älteſten Bruders.
Auch der Kronprinz hoffte auf den Sieg des legitimen Rechtes, er ſah
in der Revolution vornehmlich den Abfall vom Glauben und konnte
den Namen der Orleans kaum in den Mund nehmen ohne einen grim-
migen Witz wider Louis Philippeste damné zu ſchleudern. Seine
alte Verachtung gegen das Vernunftrecht der Liberalen ſteigerte ſich
noch in dieſen Jahren, da ihm Lancizolle, ein ehrlicher, durchaus
fanatiſcher Anhänger der ſtrengen Hallerſchen Doctrin, regelmäßig Vorträge
über deutſche Rechtsgeſchichte hielt. Als Gans in die Berliner Facultät
eintrat, da verlangte der Kronprinz, daß ſein Freund Savigny zuvor eine
öffentliche Ehrenerklärung von dem frechen Läſterer erhalten müſſe: „Der
Name Hiſtoriſche Schule (welcher ſo bezeichnend dasjenige Streben ehren
ſollte, was unſerer Zeit und unſerem Lande in Kirche, Staat und
Jurisprudenz ſo vorzüglich noththut) iſt von Gans der Verachtung
preisgegeben inſoweit ſolch ein Beginnen möglich iſt — und Vieles iſt
möglich in einer Zeit, wo man nur recht unverſchämt zu brüllen braucht
um Geſellen zu finden.“*) Aber die mecklenburgiſche Partei war ihm
zu geiſtlos, der Demagogenverfolger Kamptz zu gehäſſig; mit Humboldt,
Altenſtein und allen feiner gebildeten Männern der Regierung blieb er
auf gutem Fuße, und trotz ſeiner Heftigkeit kannte er die Pflichten des
Thronfolgers zu genau, um ſeinen Unwillen über die friedliche Haltung
des Königs durch rückſichtsloſen Widerſpruch zu bekunden.
Noch weniger war Prinz Wilhelm geſonnen, ſich einer Partei dahin-
zugeben. Ruhig und ſicher, unaufhaltſam wachſend reifte er für ſeine
große Zukunft heran. Der Tod ſeiner zärtlich geliebten Mutter und die
ſchrecklichen Erfahrungen der napoleoniſchen Zeiten hatten ihn früh ernſt
geſtimmt, ihn gewöhnt, ſeine natürliche Heiterkeit zu beherrſchen. An eine
Zeit, da er ſelbſt die Krone tragen könnte, dachte er in jenen Jahren
nicht; ſeine Hoffnung war, dereinſt als Feldherr ſeines Vaters oder
ſeines Bruders die Fahnen Preußens zu neuen Siegen zu führen, und
in dieſem Waffenhandwerk ward er ſo bald zum Meiſter, daß er ſchon
jetzt für das Vorbild des preußiſchen Soldaten galt. Sein ganzes Weſen
[198]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
erinnerte an den Fridericianiſchen Wahlſpruch, den die Offiziere der
Grenadierregimenter noch auf den Klingen ihrer Degen trugen: Ne me
tirez sans raison, ne me remettez sans honneur. Ein glückliches
Gleichmaß von kriegeriſcher Thatkraft und klarer Beſonnenheit ſprach
aus dem ritterlichen Anſtand dieſer hohen Geſtalt, aus dieſen offenen
Zügen und den freundlich ernſten Augen. Im Dienſte bemerkte er jeden
falſchen Griff, jedes kleine Verſehen, und oft ſprach er aus, daß grade
dies Volk in Waffen jeden Einzelnen ununterbrochen und peinlich ſtreng
ausbilden müſſe, damit der Wehrmann, wenn er nach Jahren zur Fahne
zurückkehre, all ſein Können noch gegenwärtig habe und ſich ſogleich wieder
zurechtfinde. Durch ſeinen Vater, der die militäriſche Begabung dieſes
Sohnes bald erkannte, war er ſchon im Knabenalter, gründlicher als
der Kronprinz, über alle Reformen des Heerweſens unterrichtet worden;
und fortan blieb er von der Größe der organiſatoriſchen Gedanken Scharn-
horſt’s, von der ſittlichen Ueberlegenheit des preußiſchen Volksheeres tief
überzeugt. Lebhaft äußerte ſich ſein Unmuth, als in dieſen Jahren
Johannes Voigt und einige andere durch Schön beeinflußte oſtpreußiſche
Schriftſteller verſuchten, dem Vater der Landwehr ſeinen Ruhm zu ver-
kürzen. Dem alten Boyen als dem Erben Scharnhorſt’s erwies er auch
in den Zeiten ſeiner Ungnade dankbare Verehrung, und immer wählte
er mit ſicherer Menſchenkenntniß die fähigſten Offiziere ſich zu Freunden
aus, ſo unter den älteren General Brauſe, ſeinen geliebten Lehrer, und
General Natzmer, unter den jüngeren General Röder und ſeinen lang-
jährigen Generalſtabschef Oberſt Reyher. Mit ihnen beſprach er ſich über
die Einzelheiten des Dienſtes wie über die Fragen der Heeresverfaſſung
und der Strategie. Sein Ideal war die Kriegführung großen Stiles
nach Scharnhorſt’s Worten: getrennt marſchiren, vereinigt ſchlagen. Die
Infanterie nannte er die Hauptwaffe der modernen Heere, auch die lehr-
reichſte für den Führer, weil ſie jede Geſtaltung des Bodens benutzen
könne und darum dem Nachdenken immer neue Aufgaben ſtelle.
Die Liberalen draußen im Reich kannten den Prinzen kaum oder
hielten ihn für einen glänzenden Paradeſoldaten. Seine Freunde wußten,
daß die ernſte Gewiſſenhaftigkeit ſeiner militäriſchen Arbeiten mit ſeiner
Anſchauung von Preußens Berufe unzertrennlich zuſammenhing. Feu-
riger, beſtimmter als irgend einer der zeitgenöſſiſchen Staatsmänner, viel-
leicht den einen Motz ausgenommen, hatte er ſchon während der letzten
ſtillen Jahre beſtändig die Meinung vertreten, daß dieſem Staate vor
Allem Macht noth thue, Macht weit mehr als Freiheit. Immer und immer
hoffte er auf Krieg, wahrhaftig nicht um des rohen Schlagens willen,
ſondern weil er fühlte, daß Preußen wachſen, ſeine ſchlummernden Kräfte
bethätigen müſſe. Schon ſechs Jahre nach dem Kriege, in einer Zeit da
das Volk ſich noch kaum von ſeinen Wunden erholt hatte, klagte er bitter
über die erſchlaffende Wirkung des langen Friedens: „Man ſehe unſeren
[199]Tod Stein’s, Gneiſenau’s, Niebuhr’s.
politiſchen Standpunkt an. Unſere körperliche Schwäche iſt erſchreckend,
wenn man die Nachbarſtaaten daneben betrachtet. Wir müſſen dieſer
Schwäche alſo durch intellectuelle Kräfte zu Hilfe kommen, und dieſe
müſſen vornehmlich in dem Heere geweckt und erhalten werden.“ Mit
Verachtung fertigte er die Schwächlinge ab, die ſchon zu behaupten wagten,
„daß es lächerlich ſei, mit 11 Millionen eine Rolle zwiſchen Nationen von
40 Millionen ſpielen zu wollen. Was einſt bei 3 Millionen der Enthuſias-
mus that, muß jetzt bei 11 Millionen die geweckte und geförderte Intelli-
genz thun.“ Darum hielt er auch nach der Juli-Revolution den Krieg
für nothwendig. Die legitimiſtiſchen Kapuzinerreden des wenig geliebten
mecklenburgiſchen Oheims berührten ſeinen heiteren Heldenſinn nicht; er
wußte aber, das revolutionäre Frankreich werde das Erſtarken Preußens
im Frieden niemals dulden, und als das Wetter ſich verzog, meinte er
traurig: Der Kampf iſt verſchoben, „nicht zum Heile der Menſchheit;“
der Feind behält Zeit ſich zu befeſtigen.
Sammt und ſonders ſtanden dieſe leitenden Männer Preußens, wie
weit ſie auch von einander abwichen, den Mächten der Revolution als
Feinde, als ſtolze Monarchiſten gegenüber. Und dieſelbe Geſinnung hegten
auch alle die Großen, welche dem preußiſchen Staate jetzt verloren gingen.
Der Tod hielt eine furchtbare Ernte in Deutſchland. Binnen anderthalb
Jahren ſtarben erſt Motz, dann Niebuhr und Stein, dann Hegel, Gnei-
ſenau, Clauſewitz, alle Drei Opfer der Cholera, endlich Goethe. In einer
Nation von altbefeſtigter Einheit mußte nach ſo ſchweren Verluſten neben
der Trauer doch auch ein Gefühl des Stolzes erwachen; denn wo war
noch ein anderes Volk auf der Welt, das ſo viel Menſchengröße zu ver-
lieren hatte? Dieſem Geſchlechte aber war alle Freude an der uner-
ſchöpflichen Fruchtbarkeit des germaniſchen Genius ganz vergällt durch
die ewigen Klagen über das deutſche Elend. Während über Goethe’s und
Hegel’s friſchen Gräbern ein häßlicher literariſcher Zank entbrannte, wurden
die großen Preußen, die dahingingen, von den liberalen Zeitungen der
Kleinſtaaten kaum beachtet. Von Motz wußte man dort nichts, und
Niebuhr’s tragiſches Ende erregte faſt nur Hohn unter den Parteifana-
tikern.
Ein Jahr vor der Juli-Revolution hielt Niebuhr in Bonn ſeine
Vorleſungen über neueſte Geſchichte. Ihm war zu Muthe, als erzähle
er ſein eigenes Leben; ſo leidenſchaftlich hatte er von jeher an den Zeit-
ereigniſſen theilgenommen. Allen Glanz und allen Schmerz ſeines großen
Herzens legte er in dieſen Vorträgen nieder; denn das blieb immer ſeine
oberſte Forderung an den Hiſtoriker, daß ſich ein ſtarkes und lebendiges
Ich in ſeinen Schriften ausſpreche, und niemals konnte er ſich mit der
erkünſtelten Objectivität Johannes Müller’s befreunden, dem er vorwarf:
„der reine Lebensathem der friſchen Wahrheit fehlt in allen ſeinen Schriften;
er hat ein außerordentliches Talent ſich eine Natur anzunehmen.“ Es
[200]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
geſchah zum erſten male, daß ein deutſcher Meiſter dieſe nahe Vergangen-
heit zu einem Geſammtbilde zuſammenfaßte. Die Darſtellung litt, wie be-
greiflich, an manchen thatſächlichen Irrthümern und Ungerechtigkeiten, doch
ſie traf den Kern der Sache, ſie ſchilderte ſchonungslos ehrlich den un-
reinen Charakter der Bewegung von 89, den die Deutſchen vormals wohl
gekannt hatten, jetzt aber unter den Eindrücken der liberalen Mythen-
bildung ſchon wieder zu vergeſſen begannen, und gab alſo der Nachwelt
ein letztes ſchönes Vermächtniß der Weltanſchauung der Reſtauration.
Bei aller Schärfe ſeines Urtheils dachte Niebuhr doch noch keineswegs
hoffnungslos über Frankreichs Zukunft; er glaubte vielmehr, die Charte
der Bourbonen ſtehe ſchon ſo feſt wie eine hundertjährige Verfaſſung.
Mittlerweile wurde der reizbare Mann durch den Brand ſeines
Hauſes ſowie durch anderes häusliches Ungemach heimgeſucht, und die krank-
hafte Verſtimmung dieſer trüben Tage verleugnete ſich auch nicht, als der
Kronprinz ihm jetzt in Berlin eine neue Heimath zu eröffnen ſuchte. Der
Thronfolger bat den König, ſich ſeines lieben Freundes anzunehmen, des
großen Gelehrten, deſſen Geſinnungen „ſo echt royaliſtiſch ſind, ſo ganz
auf dem erhaltenden und fördernden, nicht wie die der meiſten ſeiner
Art auf dem umwälzenden Princip beruhen;“ er ſchlug vor, Niebuhr eine
ganz freie Stellung mit hohem Gehalte in der Hauptſtadt anzubieten, ſo
daß er, ähnlich wie Alexander Humboldt, nur nach Belieben literariſch
oder akademiſch thätig ſein und außerdem an den Arbeiten des Staats-
raths ſich betheiligen ſollte. Der König war gern bereit, aber nur wenn
der Hiſtoriker ſelbſt wünſche, ſeinen ſegensreichen Wirkungskreis am Rhein
zu verlaſſen. Nun begannen die bei Gelehrten-Berufungen üblichen
Zwiſchenträgereien, der Kronprinz zeigte wieder ſein verhängnißvolles
Talent alle Geſchäfte zu verderben. Niebuhr glaubte zu wiſſen (ſchwerlich
mit Recht), daß „die Pietiſten“ in der Umgebung des Thronfolgers ſeiner
Berufung entgegenarbeiteten; ſichtlich aufgeregt gab er nur ſchwankende
Antworten, und als man endlich eine beſtimmte Erklärung verlangte, er-
widerte er, daß er in Bonn mehr zu nützen glaube. Dabei blieb ihm
doch das Gefühl einer erlittenen Kränkung.*)
Ihm graute längſt vor dem Verfalle der deutſchen Literatur: „Heine,
Börne, Saphir, dieſe drei Götter aus Israel ſind ja die Götzen des
deutſchen Israels, ſelbſt Goethe iſt ſchon abgeſetzt.“ Ihm graute mehr
noch vor den demokratiſchen Sitten der neuen Zeit. Ich finde, ſagte
[201]Niebuhr’s letzte Tage.
er ſchmerzlich, „daß die ſchönen Eigenſchaften ſchwinden, welche die
Zierde unſerer Nation machten, Tiefe, Innigkeit, Eigenthümlichkeit,
Herz und Liebe, daß Flachheit und Frechheit herrſchend werden.“ Als
nun der Thron der Bourbonen ſtürzte, da glaubte er wie Goethe die all-
gemeine Anarchie einbrechen zu ſehen; weitſichtig wie jener ahnte er ſchon
die Stürme des Jahres 1848. Dieſe Erlebniſſe erſchütterten ihn ſo tief,
daß er um ihretwillen von zweien ſeiner wärmſten Freunde, Stein und
Dahlmann, ſich zurückzog: von jenem, weil er die Erwählung des Bürger-
königs doch politiſch entſchuldbarer fand als der ſtrenge Reichsfreiherr
zugeben wollte; von dieſem, weil der jüngere Freund ſo gar hoffnungsvoll
ſagte: „ich freue mich zu erleben was ich lieber ſchon vor zehn Jahren erlebt
hätte.“ In der Vorrede zu dem neuen Bande der römiſchen Geſchichte
ſprach Niebuhr ſeine hoffnungsloſe Anſicht von der Zukunft offen aus,
und geſtand einem Freunde: „In einem Buche, welches, wenn es nun
auf mehrere Menſchenalter in der hereinbrechenden Barbarei vergeſſen
wird, doch einmal wieder hervorkommen muß, glaubte ich eine Erklärung
niederlegen zu können, wie unſere Vorfahren einen Bericht von der Gegen-
wart in Grundſteinen oder in der Kugel eines Kirchthurms niederlegten.“*)
Noch ſtrenger lauteten ſeine letzten Worte: das Vorwort zur erſten
philippiſchen Rede, die er einſt in den bangen Tagen vor Auſterlitz für
Kaiſer Alexander überſetzt hatte und jetzt wieder herausgab um die Deutſchen
vor den alten Sünden der Zwietracht und des Preußenhaſſes zu war-
nen: „Allenthalben, ſo ſchrieb er, lachte der Neid, daß Athen Schmach
und Unglück leide; im ſchlimmſten Fall hofften ſie die letzten zu ſein,
welche der Kyklop verſchlinge: und ſollte man ihm nicht entwiſchen können?
ſollte er nicht gütig werden? könnte er nicht auch ſterben ehe es ſo weit
komme? Endlich erwachten Viele mit Entſetzen aus dem Traum. Die
Geſchichte beklagt auch ſie, die neben den Athenienſern bei Chäronea
fielen. Aber ihre Schuld iſt nicht gehoben: durch ſie iſt Griechenland
untergegangen, das Deutſchland des Alterthums.“
Unter ſo finſteren Träumen ſtarb Niebuhr zu Neujahr 1831 —
er, „deſſen Daſein allein ſchon bewies, wie Dahlmann ſagte, daß die
Menſchheit von höheren Gewalten nicht aufgegeben iſt.“ Wie wunderbar
ſchnell war dies reiche Leben verrauſcht; nur vierundfünfzig Jahre, und
ein ſolcher Schatz von Wiſſen und Gedanken, wie ihn kaum Greiſe er-
werben. Und nun zerriſſen die Saiten plötzlich mit einem ſchrillen Miß-
tone. Geh. Rath Ferber, der fleißige Statiſtiker, verſuchte ſogleich in
einer eigenen Schrift, Niebuhr’s letzte Anſichten pathologiſch zu erklären
und gab den Philiſtern die tröſtliche Verſicherung, im Jahre 89 ſei die
Entſittlichung vorherrſchend geweſen, im Jahre 30 die Sittlichkeit. Tiefer-
blickende erkannten in dem Schmerze, der Niebuhr’s Ende verdüſterte,
[202]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
doch ein ernſtes Zeichen der Zeit: welchen Kämpfen trieb Deutſchland
entgegen, wenn gerade die Männer, welche den Geiſt von 1813 erzogen
und am treueſten bewahrt hatten, ſich alleſammt von den Idealen dieſer
allerneueſten Tage angeekelt abwandten!
Auch Stein blickte voll ſchwerer Sorge in die Zukunft, als er am
29. Juni 1831 verſchied. Ihm waren die Franzoſen ſeit ihrer letzten
Revolution nur noch verächtlicher geworden; er ſprach „dieſem Volke ohne
Liebe und Treue“ die ſchöpferiſche Kraft des Geiſtes gänzlich ab, da alle
bahnbrechenden Thaten der neueren Geſittung von den germaniſchen
Völkern, den Italienern oder den Spaniern ausgegangen ſeien, und mahnte
ſeine Leute noch auf dem Todesbette, ſich gegen den alten Feind als gute
Preußen für König und Vaterland zu ſchlagen. So ging er dahin, noch
ganz erfüllt von dem Feuer jener edlen Leidenſchaft, welche ſeine größten
Tage durchleuchtet hatte. Ueberall auf der rothen Erde und drüben im
heimiſchen Lahngau, wo man den Letzten des alten Freiherrengeſchlechts
in der Gruft ſeiner Ahnen beſtattete, wurde der Leichenzug mit hohen
Ehren empfangen; auch die altpreußiſchen Städte gedachten dankbar des
Schöpfers ihrer Bürgerfreiheit. Die übrigen Deutſchen hatten ſeiner ſo
ganz vergeſſen, daß Dahlmann zürnend ſagte: „die Zeit wird kommen,
da man ihm ſeine Tugenden verzeiht.“
Stein war früh gealtert, Gneiſenau aber fühlte noch die frohe That-
kraft ſeiner Mannesjahre in den Adern, als er einundſiebzigjährig von
der aſiatiſchen Seuche dahingerafft wurde (Auguſt 1831). Ganz ſo hoff-
nungsvoll wie er einſt am Main als Jüngling von Kolonien und Städte-
gründungen in der neuen Welt geträumt hatte, dachte er jetzt in Poſen
an einen dritten Siegeszug nach Paris und an einen ſchönen Kriegertod:
Napoleon der Zweite bei der preußiſchen Avantgarde, das ſollte der Helfer
ſein um das Bürgerkönigthum zu zerſchmettern. Wie Stein hatte er Alles
längſt verwunden was ihn einſt von Friedrich Wilhelm getrennt und
ſich in aufrichtiger Dankbarkeit dem Könige angeſchloſſen. Seinem Jugend-
freunde Profeſſor Siegling ſchrieb er noch kurz vor dem Tode mit ſeiner
alten wunderbaren Beſcheidenheit: „Du biſt ein Sohn Deines Fleißes, ich
ein Sohn des Glücks.“ Noch drängender als Gneiſenau forderte Clauſewitz,
der dem Freunde nach wenigen Wochen ins Grab folgen ſollte, den un-
vermeidlichen Krieg gegen die Revolution: jeder Hader mit Oeſterreich
müſſe für jetzt abgethan bleiben, damit der Bund der Oſtmächte im Ent-
ſcheidungskampfe feſt ſtehe.
So die Stimmung der Helden des Befreiungskriegs. Wie Arndt
beharrlich den Feldzug gen Brabant verlangte, ſo donnerte Jahn in ſeinen
„Merken zum deutſchen Volksthum“ wider das neu eindringende wälſche
Weſen. „Wohl zu keiner Zeit, rief er grimmig, hat der Deutſche weniger
gewußt, als jetzt nach der großen Pariſer Hundswoche, das Eine was
noth thut. Vor lauter Empfindſeligkeit überfließet ſein fremdbrüderliches
[203]Arndt und Jahn. Berliner Wochenblatt.
Herz; er pfeift, er ſingt, er ſpielt in den Mißtönen aller Nachbarvölker;
er ſchwatzt, redet und ſchreibt, wie die Sachwalter ſeiner Erbfeinde; er
glaubt das Grüne vom Himmel, das Blaue von der Erde was die Ein-
gelogenſten der Wälſchen, Walen, Wenden und Irren ihm weis machen.“
Dann ſchilderte der Alte anſchaulich den Unfug der anonymen Zeitungs-
ſchreiber, „das beſchreibfederte Zwerggeſindel, was überall Klatſchbuden auf-
ſchlägt und auf dem Trödelmarkte ſchmutzige Lumpen feil bietet. Mit lau-
tem Geſchrei bekennt ſich dieſe namenloſe Schreiberſchaft zur Oeffentlichkeit
und Preßfreiheit und ſpielt heimlich und unvermerkt ein falſch Wort nach
dem andern — dieſe Hinz-Hunze, ſo das Kneipviehtolle für Laune, Ge-
läpſche für Witz, Flegelgeklappe für Jugendfriſche und tappiſches Hinein-
plumzen für feine Redeblumen halten.“ Mit Stolz hielt er endlich
dieſem fremdbrüderlichen Weſen der kleinen Nachbarländer ſein Preußen
entgegen, deſſen Krone „nicht den Beherrſcher allein, auch die Beherrſchten
zum Volke gekrönt hat.“
Bei ſolcher Macht der antirevolutionären Geſinnungen konnte es
nicht ausbleiben, daß die einzige geſchloſſene Partei, die in Preußen be-
ſtand, die feudale, ſich endlich ein literariſches Organ für ihre Beſtrebungen
ſchuf. Der Kampf war geboten, ſo geſtand Heinrich Leo, „ſeit das Jahr
1830 grimmen Ernſt gemacht.“ In dem Kreiſe der Gebrüder Gerlach
wurde der Plan zu dem Berliner Politiſchen Wochenblatt entworfen;
dort in der Wilhelmsſtraße glänzte jetzt der aus Heſſen geflüchtete, mit
dem Kronprinzen eng befreundete Major Radowitz durch ſeine unverſieg-
liche lehrhafte Beredſamkeit. Die Herausgabe übernahm C. E. Jarcke,
jener junge Juriſt, der unlängſt in Bonn zur katholiſchen Kirche über-
getreten war*) und ſoeben in einer hoch legitimiſtiſchen Schrift über „die
franzöſiſche Revolution von 1830“ ſein ungewöhnliches politiſches Talent
bewährt hatte. Auch er war Burſchenſchafter, wie Leo und Hengſten-
berg, und keiner von den Dreien hat je zugeben wollen, daß er von
den romantiſchen Idealen ſeiner Jugend abgefallen ſei. Das Blatt
führte zum Motto jenen ſchillernden Satz de Maiſtre’s, der dem Kron-
prinzen ſo wohl gefiel: nous ne voulons pas la contre-révolution, mais
le contraire de la révolution, und ſollte allen antirevolutionären Par-
teien zum Sammelplatze dienen. In Wahrheit war hier nur die aller-
ſtrengſte Hallerſche Schule vertreten. Der Reſtaurator der Staatswiſſen-
ſchaft ſah jetzt erſt ſeine Saat in Halme ſchießen und gewann durch dies
Blatt, das er ſelbſt häufig mit Beiträgen beſchenkte, großen Einfluß auf
die Berliner Hofgeſellſchaft. Er bearbeitete zur Zeit einen neuen Band
ſeines Hauptwerkes, über die Prieſterſtaaten, mit großer Sachkenntniß,
aber auch mit parteiiſcher Vorliebe; er bewies darin, daß die dumpfſte
und unfreieſte aller Verfaſſungen, die Theokratie in Wahrheit „der
[204]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
mildeſte und zwangloſeſte aller Staaten,“ die einzige legitime Kirche
des Chriſtenthums, die römiſche, nur in der Form monarchiſch, in ihrem
Geiſte durchaus republikaniſch ſei. In einer Flugſchrift „Satan und die
Revolution“ erklärte er den Zeitgeiſt und ſeine Propheten kurzweg für
das Reich des Teufels, den Geiſt der Lüge.
An ſeinen Berliner Schülern durfte er ſeine Freude haben; denn
ſie bekämpften nicht nur die Thorheiten des liberalen Vernunftrechts,
ſondern auch den Begriff des Staates ſelber als eine philoſophiſche Ab-
ſtraction und fanden alles Ernſtes in Mecklenburg den deutſchen Muſter-
ſtaat, „eine friſch grünende Oaſe in der todten Sandwüſte des Conſti-
tutionalismus unſerer Tage.“ Die Doctrinäre der „ſtändiſchen Monarchie“
bemerkten ſchon nicht mehr, daß auch Preußen einſt faſt in allen ſeinen
Territorien dieſe Herrlichkeit mecklenburgiſcher Adelslibertät gekannt hatte
und nur durch ihre Bändigung zur Großmacht emporgewachſen war. Das
Wochenblatt war vortrefflich geſchrieben, gebildeter, anſtändiger als die große
Mehrzahl der liberalen Zeitungen, und ſeine tauſend Abonnenten — eine
für jene Tage beträchtliche Zahl — gehörten durchweg den mächtigen, an-
geſehenen Ständen an. Von dem ruſſiſchen Geſandten Ribeaupierre erhielt
Jarcke häufig werthvolle Mittheilungen. Kirchlichen Fragen ging er behut-
ſam aus dem Wege; er wußte, daß er ſeine ultramontanen Hintergedanken
in Berlin nicht offen ausſprechen durfte. Der König traute ihm nur halb
und ließ ſich trotz der beſtändigen Fürbitten des Kronprinzen, Altenſtein’s,
Schmedding’s nie bewegen, dem Convertiten einen ordentlichen Lehrſtuhl zu
übertragen.*) Als Jarcke im November 1832 in die Stelle des verſtorbenen
Gentz nach Wien berufen wurde, folgte er dem Rufe mit Freuden; dort
in der katholiſchen Luft konnte ſich ſein Talent freier entfalten und ſeine
fortdauernde Verbindung mit dem Wochenblatte wurde jetzt, ſeit er Metter-
nich’s Weiſungen empfing, nur um ſo bedeutſamer.
Um auch den gemäßigten Conſervativen einen Sprechſaal zu eröffnen
berieth ſich im Sommer 1831 der wackere Buchhändler Perthes mit Bern-
ſtorff, Eichhorn, Savigny und den Generalen Witzleben, Krauſeneck, Rühle.
Bald nachher erſchien, von Ranke geleitet, die „Hiſtoriſch-politiſche Zeit-
ſchrift“, eine Revue großen Stils, reich an guten wiſſenſchaftlichen Arbeiten,
unter denen die hiſtoriſchen Abhandlungen des Herausgebers den Preis
davon trugen. Auch den Tagespolitikern brachte Ranke reiche Belehrung:
zur Verwunderung der Liberalen ſchilderte er nach amtlichen Quellen die
noch ganz unbekannte Geſchichte der neueſten preußiſchen Handelspolitik
zum erſten male der Wahrheit gemäß, und über den Charakter der Juli-
Revolution urtheilte er mit einer genialen Sicherheit wie Niemand ſonſt
unter den Zeitgenoſſen. Freilich konnte ſein ganz auf das Schauen und
Erkennen gerichteter Geiſt nur auf die Einſicht, nicht, wie es die Auf-
[205]Ranke’s Zeitſchrift.
gabe des Publiciſten iſt, auch auf den Willen der Leſer wirken. Die
kecke dem Politiker unentbehrliche Luſt am Kampfe blieb ihm fremd, der
wie Leibniz „den wenig liebenswürdigen Namen der Eris“ verabſcheute,
und gar den Finger in die Wunden des Vaterlandes zu legen konnte ſich
der Friedfertige nie entſchließen. Was ſollte die begeiſterte, von einem
mächtigen Vaterlande träumende Jugend empfinden, wenn ihr der große
Hiſtoriker die Segnungen der elenden Bundesverfaſſung alſo anpries: der
Bund fördere den Wehrſtand durch ſeine Kriegsverfaſſung, deren Erbärm-
lichkeit doch ſo klar vor Augen lag, daß Preußen ſie für den nächſten Krieg
kurzweg außer Kraft ſetzen wollte; er fördere den Nährſtand durch den
Zollverein, der aber nicht durch den Bund, ſondern im Kampfe mit ihm
durch Sonderbünde entſtand; er fördere endlich ſogar den Lehrſtand durch
das Karlsbader Preßgeſetz! Alſo gehalten, vermochte die Zeitſchrift niemals
wie das Wochenblatt politiſche Macht zu erringen; weder die Ariſtokraten,
wie man damals die Ständiſchgeſinnten nannte, noch die Liberalen konnten
ihr ganz zuſtimmen, und da bedeutende Männer immer ſelbſt zuerſt fühlen
was ihrer Natur zuſagt, ſo zog ſich Ranke ſchon nach vier Jahren wieder
in ſeine gelehrte Muße zurück. Aber welch ein ſeltſames Schauſpiel: zwei
große hochgebildete conſervative Zeitſchriften in dieſem Preußen, das noch
keine einzige nennenswerthe liberale Zeitung beſaß; beide Blätter redeten
beſtändig über die ſchwarzweißen Grenzpfähle hinaus zu den Süddeutſchen
und den Franzoſen. —
Indeß begannen die vereinzelten Liberalen Preußens ſich doch all-
mählich zu ſammeln, zunächſt in Folge der polniſchen Wirren. Nichts
konnte offener ſein als Preußens Politik während dieſer verwickelten Hän-
del. Von vornherein erklärte Bernſtorff dem ruſſiſchen Geſandten, daß
die Intereſſen der beiden Höfe hier vollkommen übereinſtimmten, und
auf das Beſtimmteſte verſicherte der König ſeinem Schwiegerſohne: wenn
die Polen verſuchen ſollten ſich durch preußiſches Gebiet durchzuſchlagen,
ſo würden ſie „den gebührenden Empfang finden“.*) Jeder Brief der
Rebellenführer an den König wurde grundſätzlich zurückgewieſen, desgleichen
jeder Verſuch der Vermittlung, auch wenn er von Männern ausging, die
dem Monarchen perſönlich naheſtanden, wie der Erbmarſchall von Schleſien
Graf Maltzan oder der berühmte Augenarzt Gräfe.**) Dies hinderte nicht,
daß man aus Menſchlichkeit preußiſche Aerzte ſowohl nach Warſchau wie
in das ruſſiſche Hauptquartier ſendete. Ohne alle Hintergedanken erhoffte
man in Berlin nichts weiter als die raſche Beendigung des Aufruhrs.
Gneiſenau ſprach nur die allgemeine Meinung der Regierungskreiſe aus,
als er ſagte: der preußiſche Staat müſſe zwar um ſeiner Selbſterhaltung
[206]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
willen ſeinen polniſchen Beſitz behaupten; doch eine neue Theilung Polens
könne er nicht wünſchen, denn „die Verhältniſſe der Polen zu den Deutſchen
haben ſich ſehr verbittert ſeit jener Zeit vor ſechsunddreißig Jahren; ſie
ſind unfähig durch eine ſanfte und gerechte Regierung wie die unſrige ſich
leiten zu laſſen“.*) Den Weſtmächten gegenüber ſchlug Preußen wie
Oeſterreich einen ſtolz abweiſenden Ton an. Als Sebaſtiani die Cholera-
Gefahr zum Vorwande nahm, um darauf hin die Beendigung des Krieges
zu verlangen, als Palmerſton ſich erdreiſtete die deutſchen Mächte an
Vattel’s Völkerrecht und die Pflichten der Neutralen zu erinnern, da er-
widerte Metternich höhniſch: es fehle grade noch zur Vollendung der all-
gemeinen Auflöſung, daß die engliſchen Miniſter ſich zu Profeſſoren des
Völkerrechts aufwürfen, und Ancillon erklärte dem Grafen Flahault, mit
ausdrücklicher Genehmigung des Königs, rundweg: zunächſt müßten die
Polen ſich unterwerfen, dann erſt könne von Zugeſtändniſſen geſprochen
werden.**)
Die treuen Deutſchen an der Grenze dankten dem Könige aufrichtig
für ſeine entſchloſſene Haltung. Sie ſtanden den Dingen nahe genug um
die ungeheuere Verlogenheit der aus Warſchau verbreiteten Kriegsberichte
zu würdigen; ſie wußten, daß der Kampf in Polen keineswegs ungleich
war, da die geringe Ueberzahl der Ruſſen durch die wohlgeſicherte Stellung
der Polen an der Weichſellinie reichlich ausgeglichen wurde. Sie konnten
nur mit Lächeln das an allen Läden ausgehängte Bild „der letzten Zehn
vom vierten Regiment“, die nach ununterbrochenem Bajonettkampfe den
Ruſſen entronnen ſein ſollten, und die ſchwülſtigen Verſe Julius Moſen’s
darunter betrachten; denn ſie hatten mit eigenen Augen geſehen, wie die
heldenmüthigen „letzten Zehn“, noch 1800 Köpfe ſtark, bei Strasburg
über die Grenze flüchteten, und das geſammte vierte Regiment vor einer
Handvoll Preußen ohne Widerſtand die Waffen ſtreckte. In Berlin
aber und den entfernteren Provinzen begann die von Jahn gebrand-
markte deutſche Fremdbrüderlichkeit bald hohe Wellen zu ſchlagen. Nicht
zufällig hatte einſt Rouſſeau unmittelbar vor der erſten Theilung die un-
vergleichliche Freiheit der Polen verherrlicht. Ein Gefühl der Wahlver-
wandtſchaft verband den modernen Radicalismus mit der ſarmatiſchen
Adels-Anarchie; dazu der Ruſſenhaß und die zauberiſche Macht der Pariſer
Zeitungsphraſe. Eine polenfreundliche Literatur ſchoß ins Kraut, deren
Anmaßung nur durch ihre Unwiſſenheit überboten ward; durch dieſe
Polenſchwärmer gerieth Preußen, das im Herbſt 1830 von den Liberalen
nicht ohne Achtung behandelt wurde, zuerſt wieder in Verruf. Da war
vor Allen der aufgeklärte Spazier, der alte Läſterer Goethe’s, dann die
[207]Die Polenfreunde.
Baiern Groſſe und Widmann, dann Dr. Butte und eine Schaar anonymer
Schriftſteller, von denen keiner je das alte Deutſchordensland betreten hatte.
In ſeiner italieniſchen Abgeſchiedenheit dichtete Platen ſeine wilden Polen-
lieder, mit ungewohnter Wärme, aber auch mit vollendeter Unkenntniß
aller Verhältniſſe. Er glaubte im Ernſt, daß „Rom und ſeine Jeſuiten“,
die natürlich auf Seiten der rechtgläubigen Polen ſtanden, mit den platt-
naſigen Moskowitern Bruderküſſe tauſchten; denn die römiſche Mitra und
die ruſſiſche Knute galten den Liberalen ein für allemal als der Inbegriff
alles politiſchen Verderbens. Und wenn der Dichter dem Czaren zurief:
ſo vergaß er nur die Kleinigkeit, daß nicht Nikolaus, ſondern die Polen
ihren Schwur gebrochen hatten.
In Berlin bildeten die Polenfreunde den erſten ſchwachen Stamm
einer liberalen Oppoſitionspartei. Sie verſammelten ſich täglich in der
Conditorei von Steheli hinter dem Schauſpielhauſe, laſen dort den Cour-
rier polonais ſowie das deutſche Warſchauer Blatt und eiferten weidlich
wider die ruſſiſch geſinnten Diplomaten und Offiziere des Adlichen Caſinos
am Pariſer Platze, zumal wider den treuen Stägemann, der als guter
Oſtpreuße den alten Markmannenhaß gegen die Sarmaten in ſeinen
anti-meſſeniſchen Oden ungeſcheut ausſprach und kurzweg ſagte:
Außer Ed. Gans ſchürte namentlich Varnhagen mit ſeiner Rahel das
Feuer der polniſchen Begeiſterung. Der hatte alle dieſe Jahre hindurch
beharrlich verſucht, durch freiwillige diplomatiſche Arbeiten die Gunſt Bern-
ſtorff’s wiederzugewinnen, unter Anderem durch eine Denkſchrift, worin
er vorſchlug, man möge die preußiſche Verfaſſung insgeheim ausarbeiten,
vorläufig nach ihr regieren und ſie dann nach Jahresfriſt veröffentlichen.*)
Er war auch neuerdings von dem gutmüthigen Miniſter eine Zeit lang
im Auswärtigen Amte beſchäftigt, aber wegen ſeines unheilbaren politiſchen
Dilettantismus bald wieder beſeitigt worden und ſpielte nunmehr aber-
mals den Freiheitshelden. Im Stillen übten dieſe polenfreundlichen Stim-
mungen der gelehrten Welt eine ſtarke Wirkung. Die Schrift des gut-
müthigen Friedrich v. Raumer über „Polens Untergang“ klang faſt wie eine
Anklage gegen Friedrich den Großen, und die Miniſter dachten ſchon an die
Einleitung eines Strafverfahrens. Friedrich Wilhelm aber gewährte dem
Hiſtoriker, nachdem er das Büchlein geleſen, eine königliche Genugthuung;
er beauftragte ihn, als einen offenbar unparteiiſchen ehrlichen Schrift-
ſteller, „Preußens Verhältniſſe zu Polen in den Jahren 1830—32“ nach
amtlichen Quellen darzuſtellen. Raumer gehorchte und gab der Wahrheit
[208]VI. 3. Preußens Mittelſtellung.
die Ehre; ſeine Arbeit fiel jedoch ſo matt aus, daß die Regierung ſie un-
gedruckt ließ.*) Auch die Berliner Börſe, die jetzt gute Tage ſah, da die
Staatsſchuldſcheine auf 82—83 geſunken waren, und bereits anfing auf die
öffentliche Meinung einen fühlbaren Druck auszuüben, pflegte jede Sieges-
nachricht der Polen mit einem Steigen der Kurſe zu begrüßen. Selbſt im
Heere war die Stimmung keineswegs ungetheilt; das rohe ruſſiſche Weſen
mißfiel den preußiſchen Offizieren ebenſo gründlich wie den öſterreichiſchen.
Das Militärwochenblatt brachte aus der Feder des Majors Williſen einige
Aufſätze, welche nicht nur die ruſſiſche Kriegführung ſcharf tadelten, ſondern
auch den Polen ſo deutlich wohlgemeinte Rathſchläge gaben, daß Ancillon
ſich tief erſchrocken bei dem Kriegsminiſter beſchwerte und ihn nöthigte dem
Unfug zu ſteuern.**)
Die Aufregung wuchs, als das Verderben über Polen hereinbrach,
im Juli 1831 das Corps Gielgud’s, 7000 Mann ſtark, im October
General Rybinski mit 17,000 Mann auf preußiſchem Boden die Waffen
ſtreckte; zur Feier des Einzugs wurde Gielgud ſogleich von einem ſeiner
Offiziere als Verräther niedergeſchoſſen. Welch eine Aufgabe, dies ver-
wilderte, durch Ungeziefer und ekelhafte Krankheiten ſtark heimgeſuchte
Kriegsvolk ſo lange zu beherbergen, bis der Czar ihm die ſtraffreie Rück-
kehr geſtattete! General Krafft und die preußiſchen Provinzialbehörden
entledigten ſich der peinlichen Pflicht mit muſterhafter Geduld. Die Leute
wurden ganz nach preußiſcher Weiſe verpflegt, bekleidet, ſogar abgelöhnt;
die Mannſchaft betrug ſich leidlich, die Offiziere aber ſchlemmten im Hoch-
meiſter zu Marienburg und im Goldenen Hirſch zu Elbing dermaßen,
daß ſelbſt die deutſchen Polenſchwärmer ſich der Frage nicht erwehren
konnten, ob das die Trauer ſei um ein verlorenes Vaterland. Nach und
nach kehrte die Mehrzahl heim, nach zugeſicherter Begnadigung; beim Ab-
marſch erklangen meiſt ſtürmiſche Hochrufe auf den guten König, der ſich
der Unglücklichen ſo menſchlich annahm, obgleich ſie auch ſeine Feinde waren.
Doch unterdeſſen gab das Pariſer National-Comité die geheime Wei-
ſung aus: der Stamm des polniſchen Heeres müſſe beiſammen bleiben um
von Frankreich aus an dem nahen Rachekriege theilzunehmen. Sendboten
des Generals Bem (er war eigentlich ein Deutſcher Namens Böhm)
ſtachelten die Zurückgebliebenen auf; unter nichtigen Vorwänden ver-
weigerten auch ſolche Offiziere, denen jede Strafe erlaſſen war, die Heim-
kehr. Am unſäuberlichſten betrugen ſich „die letzten Zehn vom vierten
Regiment“; ſie waren, nachdem ihrer viele heimgekehrt, noch an 800 Köpfe
ſtark und lebten in ewigen Händeln mit ihren Quartierwirthen. Als
man ſie im Jahre 1832 zu Fiſchau bei Elbing verſammelte um ihnen
neue Cantonnirungen anzuweiſen, drangen ſie mit Knütteln und Stangen
[209]Die polniſchen Flüchtlinge in Preußen.
auf die ſchwache preußiſche Wachtmannſchaft ein, und der commandirende
Offizier ließ nach wiederholten Mahnungen endlich in den meuternden
Haufen ſchießen. Augenblicklich fielen die Tapferen alleſammt platt auf
die Erde, und ein gutmüthiges Bäuerlein rief ſchon klagend: „ach Gott,
die armen Leute ſind alle todt;“ aber alsbald erhob ſich die Mehrzahl
wieder um das Weite zu ſuchen. Neun lagen todt, etwa zwölf verwundet
auf dem Platze; die Flüchtlinge wurden von den erbitterten Bauern
wieder eingefangen und ließen ſich nunmehr geduldig abführen. So
endeten die letzten Zehn vom vierten Regiment. Endlich im Frühjahr
war das Land von den ungebetenen Gäſten befreit. Bis zuletzt hielt der
König ſtreng darauf, daß Keiner ausgeliefert wurde, dem die Begnadigung
nicht ſicher war, „da es nicht in der Abſicht liegen kann, dieſe Schutz
ſuchend ins preußiſche Gebiet hinübergekommenen Mannſchaften einem un-
gewiſſen Schickſal entgegenzuſenden.“ Vergeblich verlangte Czar Nikolaus
mehrmals, daß man ihm mindeſtens die Hauptſchuldigen übergeben möge.
Etwa 700 Mann, die von der Amneſtie ausgeſchloſſen waren oder jede
Gnade verſchmähten, wurden ſchließlich zu Schiff nach Amerika gebracht und
meuterten auf der See abermals, ſo daß man ſie in Havre abſetzen mußte.
Ebenſo ſchonend verfuhr Preußen gegen ſeine eigenen polniſchen Unter-
thanen. Die Stimmung unter den Slachtizen und Kaplänen in Poſen
war eine Zeit lang ſehr ſchwierig, die erhitzten Köpfe ſahen den weißen
Adler auf dem Rathhausthurme, den die Zeit längſt geſchwärzt hatte,
ſchon wieder weiß werden. Der König that nur das Nothwendige, als
er die Theilnahme am Aufſtande für Landesverrath erklärte. Nach dem
Kriege aber verkündete er eine Amneſtie für Alle, die in beſtimmter
Friſt heimkehrten. Trotzdem mußten die Gerichte noch gegen mehr als
1600 Perſonen einſchreiten. Ihrer 1400 wurden verurtheilt, 1200 davon
gänzlich begnadigt. 180 Verurtheilten erließ man die Geldſtrafen ganz,
die Freiheitsſtrafen zur Hälfte. Nur 22 reiche Grundherren, deren Ver-
mögen von Rechtswegen gänzlich eingezogen werden ſollte, mußten ein
Fünftel davon als Geldſtrafe zahlen, und der König ließ die Summen
den Unterrichtsanſtalten der Provinz zuweiſen.
Was war der Lohn für dieſe beiſpielloſe, offenbar unvorſichtige
Milde? Ein unermeßliches Wuthgeſchrei in der geſammten liberalen Preſſe
Europas. Das Pariſer polniſche National-Comité klagte den König vor
aller Welt an wegen des ſchauderhaften Meuchelmords von Fiſchau:
„Niemals werden wir es vergeſſen, daß dieſe Frevel auf einem Boden
ſtattfanden, der einſt polniſch war, daß die Ahnen derer, die unſere Mit-
bürger meuchelmorden, einſt Polen zinsbar geweſen!“ Und um dieſen
Anſpruch auf Preußens Zinsbarkeit näher zu erläutern, zeichnete der Vor-
ſitzende des Comités Lelewel (auch er war ein Deutſcher, des Namens
Löllhöfel) eine Karte des wiederhergeſtellten Polenreichs, welche nicht nur
das Ordensland, ſondern auch große Stücke von Brandenburg und
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 14
[210]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
Pommern für den weißen Adler beanſpruchte. Ebenſo roh und verlogen
äußerte ſich J. Czynski in der Schrift „Preußen im Jahre 1831“ über
die Behandlung ſeiner Landsleute. Mickiewicz aber, der gefeierte Dichter,
theilte in „den Büchern des polniſchen Volks“ die ganze Weltgeſchichte
in zwei Abſchnitte: „von Erſchaffung der Welt bis zum Leidenstode der
polniſchen Nation“, und dann die Zeit nachher. Den Charakter des
Deutſchen ſchilderte er alſo: „ſein Vater iſt der Arbeitsplatz und ſeine
Mutter die Kneipe.“ Er ſchloß mit dem Gebete: „Erlöſe uns, Herr, durch
das Blut der Soldaten todtgeſchlagen in Fiſchau von den Preußen!“ Und
dieſe wüthenden Angriffe der Todfeinde Deutſchlands wurden von den
ſüddeutſchen Kammerrednern und Zeitungsſchreibern eifrig nachgeſprochen,
obgleich zwei preußiſche Offiziere, Dankbahr und Brandt, beide Augen-
zeugen, in verſtändigen Schriften den wirklichen Hergang längſt wahrheits-
getreu geſchildert hatten. Was galten auch dieſen fremdbrüderlichen Herzen
die ſchlichten Worte deutſcher Landsleute neben den Prahlereien „edler
Polen“? So lautete das unerläßliche ſchmückende Beiwort in den liberalen
Zeitungen, unedle Polen gab es nicht.
In Altpreußen ließen dieſe polniſchen Händel zuletzt viel böſes Blut
zurück. Die langanhaltende Grenzbewachung ſtörte den gewohnten Ver-
kehr, und bei den Sperrmaßregeln gegen die Cholera konnten arge Miß-
griffe nicht ausbleiben, da noch Niemand die räthſelhafte Seuche kannte.
Schön, der wie gewöhnlich Alles beſſer wußte, glaubte erkannt zu haben,
daß die Cholera nicht anſteckend ſei, und vermehrte die Verwirrung noch
durch ſeine wohlgemeinten eigenmächtigen Vorſchriften. Nach deutſchem
Brauche warf man alle Schuld auf die Regierung. Der Magiſtrat von
Königsberg richtete im Juli 1831 eine ſehr unehrerbietige Adreſſe an den
König und verlangte völlige Abſperrung gegen Rußland zu Lande wie zur
See; eine höchſt ungnädige Cabinetsordre verwies ihn zur Ruhe. Als nun
endlich die Kriegswetter verrauſchten, erſtattete Rußland ſeinen Dank für
Preußens freundnachbarliche Hilfe durch eine Verſchärfung der Grenz-
ſperre, welche den geſetzlichen Handel zwiſchen den beiden Nachbarländern
faſt vernichtete. Die Provinz litt ſchwer, die Mißſtimmung ſtieg, und
um die Mitte der dreißiger Jahre erkannte man das gut königliche Königs-
berg kaum mehr wieder. Die Stadt zerfiel fortan in zwei grimmig ver-
feindete Parteien, die einander mit der ganzen Schroffheit der Altpreußen
bekämpften, und die vordem ſo zahme Königsberger Zeitung redete jetzt
über alle Schritte der Regierung mit einer Gehäſſigkeit, welche deutlich
erkennen ließ, daß die ſchwere Willenskraft dieſer Provinz leicht der Träger
einer gefährlichen Oppoſition werden konnte. Wahrlich es war dringend
geboten, allen dieſen verhaltenen Gegenſätzen endlich Thür und Thor zu
öffnen; und Dahlmann traf den Nagel auf den Kopf, als er in der Han-
noverſchen Zeitung, in der „Rede eines Fürchtenden“ ſagte: „Wir haben
einen Staat in Deutſchland, der den wunderbaren Speer beſitzt, welcher heilt
[211]Frankreich und die deutſchen Höfe.
zugleich und verwundet. An dem Tage, da der König von Preußen in
ſeinem Staate die Reichsſtandſchaft begründet, wird der geſetzliche Deutſche
wieder aufathmen; er hat die Verſicherung, daß bei der Freiheitsent-
wickelung Geſetz wohnen werde, daß unſeren Dynaſtien ihre Ehre ver-
bleibe, daß aber auch fortan die Bundesverſammlung in ihre Berech-
nungen die leitenden Ideen aufnehmen und allmählich dem Grundgeſetze
einverleiben werde, welche das gute heimiſche Recht ſicher ſtellen vor jeder
verderblichen Einwirkung, ſei’s von Oſten oder von Weſten.“ —
Für ſolche Pläne einer Verjüngung des Bundestags fehlten für
jetzt noch alle Vorbedingungen. Preußens Bundespolitik ging, wie ſie
es mußte, zunächſt nur darauf aus, Deutſchlands innere und äußere
Sicherheit in ſo drangvoller Zeit zu befeſtigen. Dem Hofe des Palais
Royal gegenüber hielten ſich die kleinen deutſchen Cabinette alleſammt
untadelhaft, weit patriotiſcher als ihre liberalen Unterthanen. Bei einigen
mochte der Haß gegen die Revolution, bei anderen die noch friſche Er-
innerung an das Schickſal Friedrich Auguſt’s von Sachſen mitwirken,
die Mehrzahl war wirklich national geſinnt. Als General Sebaſtiani
unter der Hand bei dem bairiſchen, dem württembergiſchen Geſandten
und dem Karlsruher Hofe anfragte, ob nicht ein neuer Rheinbund oder
doch eine Neutralität Süddeutſchlands möglich ſei, da ward er überall ſcharf
abgewieſen, und die kleinen Höfe berichteten das Geſchehene getreulich
den deutſchen Großmächten.*) König Ludwig von Baiern war in dieſer
Zeit, da die Zollverhandlungen ſich ſo glücklich abgewickelt hatten, Feuer
und Flamme für Preußen und verſicherte dem Könige Friedrich Wilhelm,
als er ſeinen Sohn auf die Berliner Hochſchule ſendete, wiederholt: ſein
Thronfolger ſolle dort ſich mit denſelben Geſinnungen für Preußen er-
füllen, „die mich durchdringen, für Preußen, was mehrmalen Baiern
meinem Hauſe erhielt, der ich nur in engem Verbande mit Preußen
Teutſchlands Heil ſehe“.**) Auch der König von Württemberg hatte mit
den Trias-Träumen früherer Jahre gründlich gebrochen; die hohle Rhe-
torik der Liberalen widerte ſeinen nüchternen Geiſt mehr und mehr an.
Als er im Juni 1831 mit Ludwig Philipp in Straßburg zuſammentraf,
verhielt er ſich ſehr ſchweigſam und ſagte ſchließlich dem Franzoſen rund
heraus, an einen neuen Rheinbund ſei gar nicht zu denken.***)
Dieſe achtungswerthe Geſinnung der kleinen Höfe hinderte freilich
nicht, daß jeder durchgreifende Bundesbeſchluß, nach altem Frankfurter
Brauche, auf eigenſinnigen Widerſpruch ſtieß. Am 18. Sept. 1830 ver-
ſammelte Münch, im Einverſtändniß mit Nagler, die Bundesgeſandten
14*
[212]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
zu einer vertraulichen Beſprechung und ſtellte ihnen vor, daß dieſe Tage
der Gährung außerordentliche Vorſichtsmaßregeln erheiſchten; denn „der
Bund beruht ſeinem eigentlichſten Weſen nach auf dem Princip der wechſel-
ſeitigen Intervention in allen den Fällen wo ſonſt das Völkerrecht ent-
ſcheidet“.*) Man beabſichtigte zunächſt mehrere tauſend Mann Bundes-
truppen in der Nachbarſchaft Frankfurts aufzuſtellen, nöthigenfalls auch
einige fliegende Corps durch das unruhige Mitteldeutſchland zu ſenden.
Da erhob Baiern Einſprache. König Ludwig wollte nichts dulden was
ſeine Souveränität irgend ſchmälerte: nimmermehr könne Baiern, das
an dreizehn Nachbarn angrenze, fremden Weiſungen gehorchen oder gar,
wie man in Frankfurt verlangte, einige ſeiner Bataillone einem naſſaui-
ſchen General unterordnen; nur als ſouveräne Macht, nicht als Bundes-
ſtaat werde ſein Staat den Nachbarn Hilfe leiſten. Er ſelbſt wähnte ſich
völlig ſicher, da ſein Land bisher noch ruhig blieb und die Münchener
ihr Octoberfeſt mit der üblichen Bierſeligkeit feierten. Seinem Bundesge-
ſandten ſchrieb er ſehr gereizt: „Wir ſind bereitwillig Unſere bundesmäßige
Hilfe nach den Beſtimmungen der Bundesgeſetze mit teutſch-patriotiſchen
Geſinnungen zu leiſten; aber Wir haben keinen Grund zum Schutze der
Grenzen Unſeres Reiches eine fremde Hilfe zu verlangen;“ und ſein
Miniſter Zentner fügte hinzu: „Einquartierungen im Frieden ſind ver-
haßt und werden es noch mehr, wenn der brave Bürger für Dritte, für
Angehörige anderer Staaten büßen ſoll.“**)
Metternich fürchtete ſchon, die alte Sonderpolitik Baierns werde von
Neuem beginnen und griff in ſeiner Angſt zu einem ſehr ungewöhn-
lichen Unterhandlungsmittel. Er ſchickte König Ludwigs eignen Geſand-
ten, den Grafen Bray, nach München, mit einem Handſchreiben des
Kaiſers Franz und zwei großen Denkſchriften, welche dem Wittelsbacher
die Gefahr der Lage vor die Augen führen ſollten: „Für die Fürſten
und die Völker handelt es ſich heute darum, zu leben und nicht die
Beute jener Klaſſe von Proletariern zu werden, welche Ziele verfolgen,
die ſie ſelbſt nicht angeben wollen oder können und welche immer nur
umſtürzen, niemals etwas ſchaffen werden“.***) Anfangs empfing König
Ludwig ſeinen Geſandten, der ihm alſo k. k. Politik predigen ſollte, mit
erklärlichem Unwillen; er lenkte jedoch bald ein, dankte dem Kaiſer in
einem verbindlichen Schreiben für ſeine „erhabenen Anſichten“ und ver-
wahrte ſich wider den Verdacht, daß er Spaltungen am Bunde hervor-
rufen wolle.†)
[213]Bundesbeſchlüſſe gegen die Revolution.
In der That erwies ſich Metternich’s Beſorgniß ſofort als grundlos.
Der Wittelsbacher war nur in ſeiner dynaſtiſchen Eitelkeit verletzt, doch
im Weſentlichen ganz einverſtanden mit den Abſichten der Großmächte.
Eben jetzt lieferte der Münchener Hof ein neues erbauliches Probſtück
jener unwahren, ſchielenden Politik, welche er gegenüber den Karlsbader Be-
ſchlüſſen immer eingehalten hatte. Vornehmlich auf Baierns Betrieb war im
Jahre 1824 die Giltigkeit dieſer Ausnahmegeſetze verlängert worden; gleich-
wohl hatte der bairiſche Geſandte bei der Abſtimmung die beiläufige Be-
merkung eingeflochten, man werde ſie „wie bisher“ befolgen.*) Ein ſolcher
Vorbehalt war rechtlich wirkungslos bei einem einſtimmigen Bundesbe-
ſchluſſe; doch er konnte mit einiger Dreiſtigkeit allenfalls ſo gedeutet werden,
als ob in Baiern wie bisher die Bücher und die wiſſenſchaftlichen Zeit-
ſchriften cenſurfrei bleiben ſollten. Die bairiſche Cenſur wurde auch während
der folgenden ſtillen Jahre ziemlich mild gehandhabt; ſie ließ die kleinen
Blätter, welche nur Landesſachen beſprachen, ganz unbeläſtigt. Nach
der Juli-Revolution ſchlugen aber mehrere dieſer Ortsblätter einen ſo auf-
reizenden Ton an, daß König Ludwig ſich ſchwer gekränkt fühlte. Im tief-
ſten Geheimniß, ohne Vorwiſſen des Miniſters Armansperg, ſchrieb er
alſo (27. Sept.) ſeinem Bundesgeſandten Lerchenfeld: er wolle die Be-
ſprechung innerer Landesangelegenheiten wieder der Cenſur unterwerfen,
doch ohne die Hilfe des Bundestags könne er dies nicht wagen; daher
ſolle der preußiſche Bundesgeſandte in unverbrüchlichem Vertrauen gebeten
werden, einen Antrag in dieſem Sinne zu ſtellen. Aengſtlich fügte er hin-
zu: „daß ich Preußen dazu anging, darf nicht vorkommen, noch in Baiern
irgend Jemand zu irgend einer Zeit hiervon Kenntniß erhalten;“ auch
nachher kam er immer wieder darauf zurück, daß Baierns Bereitwilligkeit
im tiefen Dunkel bleiben müſſe.
Seine Bitte war kaum nöthig; die beiden Großmächte hatten bereits
beſchloſſen, die Zügel der Cenſur etwas ſchärfer anzuziehen. So konnten
denn am 21. October 1830 in leidlicher Eintracht die neuen Bundes-
beſchlüſſe über Deutſchlands Sicherheit gefaßt werden.**) Sie befahlen
nur das Unentbehrliche. Man merkte deutlich die ruhige Hand Bern-
ſtorff’s, der alle dieſe Monate hindurch mit Metternich in Fehde lag und
wegen ſeiner Mäßigung von Wien her bei dem Könige beharrlich aber
erfolglos verdächtigt wurde.***) Der Bund forderte lediglich: die Bundes-
ſtaaten ſollten zu gegenſeitiger Unterſtützung ihre Truppen bereit ſtellen,
ihre Bundesgeſandten mit umfaſſenden Vollmachten verſehen, ihre Cen-
ſoren zur Wachſamkeit anhalten und auch die Blätter, welche ſich nur
mit inneren Landesangelegenheiten befaßten, ſtreng beaufſichtigen. Dieſen
[214]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
letzten Zuſatz hatte Preußen beantragt um freundnachbarlich dem geäng-
ſtigten Baiernkönige aus der Noth zu helfen. Im Uebrigen war der
Beſchluß weit milder und verſöhnlicher gehalten als die früheren Frank-
furter Ausnahmebeſchlüſſe. Der Bundestag ſprach zugleich die Erwartung
aus, daß die Regierungen nicht blos gefährliche Nachgiebigkeit vermeiden,
ſondern auch begründeten Beſchwerden ihrer Unterthanen landesväterlich
abhelfen würden. Eine ſolche Anerkennung der Rechte des Volks war
in der Geſchichte der Bundesverſammlung unerhört. In ſeinem beglei-
tenden Vortrage mußte Nagler ſogar — auf Eichhorn’s beſtimmten Befehl
und gegen ſeine perſönliche Neigung — rundheraus erklären, daß manche
Staaten durch Vernachläſſigung ihrer Bundespflichten, namentlich durch
die unterlaſſene Einführung der Landſtände, allerdings Anlaß zu Klagen
gegeben hätten.
Leider folgte dem verſtändigen Beſchluſſe ein Nachſpiel, das den be-
rechtigten Unwillen der Liberalen erregte. Jetzt zum erſten male erdreiſtete
ſich Czar Nikolaus in die Bundespolitik einzugreifen, indem er der
Frankfurter Verſammlung ſeine Anerkennung für ihre weiſen Beſchlüſſe
ausſprach; der Bundestag antwortete durch ein Dankſchreiben, ohne zu
erwägen, daß wer loben darf auch zum Tadeln berechtigt iſt. Bald
darauf ſetzte Preußen durch, daß die Contingente der allerkleinſten Staaten
endlich zu einer Reſerve-Infanteriediviſion vereinigt und für den Kriegs-
fall zur Beſetzung der Bundesfeſtungen verwendet werden ſollten. Leicht
hielten ſolche Beſchlüſſe mit nichten, denn die Bundes-Militärcommiſſion
führte auch in dieſen gefährlichen Zeiten ihr ſubalternes Stillleben weiter.
Sie ſtritt ſich über den Eid des Commandanten der noch immer nicht
vollendeten Bundesfeſtung Landau; Württemberg hielt ihr einen aus-
giebigen Vortrag über die Frage, wer ein beim Luxemburger Feſtungsbau
gefallenes Pferd zu bezahlen habe, und gelangte zu dem Ergebniß, daß dieſer
ſchwierige Fall nirgends vorgeſehen, alſo nur durch ein neues Bundes-
geſetz zu entſcheiden ſei.*)
Als die Kriegsgefahr näher rückte, ſtellte König Friedrich Wilhelm
dem Auswärtigen Amte die Anfrage (10. Nov.), wie die Ruhe in Deutſch-
land für den Fall des Krieges zu ſichern ſei. Bernſtorff ließ darauf
durch Eichhorn in einer ausführlichen Denkſchrift die leitenden Grundſätze
ſeiner Bundespolitik zuſammenſtellen (29. Januar 1831). Unbefangen
geſtand er zu, daß die Unzufriedenheit in den kleinen Staaten nicht
allein durch die Juli-Revolution hervorgerufen ſei, ſondern durch ſchwere
Fehler der Regierungen und vornehmlich durch den Unwillen der Deut-
ſchen über ihre Zerriſſenheit; darum dürfe der Krieg gegen Frankreich
nicht als ein Principienkampf für das legitime Recht geführt werden,
ſondern als ein Vertheidigungskrieg für die vaterländiſchen Grenzen; dann
[215]Militäriſche Verhandlungen mit Oeſterreich.
werde die Nation einem warmen Aufrufe des Königs ebenſo freudig folgen
wie im Jahre 1813, zumal wenn man ſie durch patriotiſche Schriften über
die Lage aufkläre. Den Augenblick für eine Bundesreform ſah er noch nicht
gekommen: „Wenn die deutſchen Regierungen, durch eigene Erfahrung be-
lehrt, einſt aufgehört haben werden, in Anordnungen, die nichts als das
gemeine Beſte Deutſchlands zu begründen oder zu erhöhen beſtimmt und
geeignet ſind, nur Beſchränkungen ihrer Souveränität zu ſehen und zu
ſcheuen, wenn ſie in ihrem richtig verſtandenen Intereſſe Antriebe finden,
freiwillig dazu die Hände zu bieten, alsdann erſt wird die Zeit zu einer
den Grundſätzen Preußens angemeſſenen Verwirklichung eines beſſeren
Zuſtandes der deutſchen Bundesverfaſſung die völlige Reife erlangt haben.“
Für jetzt bleibe nur übrig, daß Preußen durch ſtreng geſetzliche, bundestreue
Haltung ſich das allgemeine Vertrauen ſichere und zugleich fortfahre,
durch Sonderverhandlungen mit den einzelnen Staaten gemeinnützige
Zwecke zu fördern, insbeſondere der allgemeinen deutſchen Handelsfreiheit
ſchrittweiſe ſich anzunähern.
Der König gab dieſen Grundſätzen ſeine Zuſtimmung (22. März).
Die Kriegsgefahr zwang ihn, den empfohlenen Weg der Sonderverhand-
lungen alsbald rüſtig zu verfolgen. Jetzt da Noth an Mann kam, waren
alle Höfe über die unverbeſſerliche Erbärmlichkeit der Bundeskriegsver-
faſſung einig, ſelbſt jene Mittelſtaaten, welche einſt aus Neid gegen Preußen
dies Meiſterwerk geſchaffen hatten. Alle fühlten, daß mindeſtens für den
nächſten Krieg eine andere, feſtere Ordnung verabredet werden müſſe, da
Oeſterreich ſeiner beſten Kraft zum Schutze Italiens bedurfte. Auf Preu-
ßens wiederholtes Andrängen erklärte ſich die Hofburg auch bereit, mit
den ſüddeutſchen Höfen zu verhandeln; aber die alte Gleichgiltigkeit gegen
Deutſchland und die Mattigkeit, welche dieſen alternden Hof ergriffen
hatte, lähmten jeden Entſchluß. Graf Schönburg, der Geſandte in Stutt-
gart, der die Verhandlungen führen ſollte, blieb monatelang unthätig in
Wien, und Preußen ſah ſich ſchließlich gezwungen, Alles auf ſeine eigene
Kappe zu nehmen. Schon im December 1830 wurde General Röder nach
Wien geſendet und überraſchte die Hofburg durch die beſtimmte Erklärung:
die Bildung eines Bundesheeres unter einem Bundesfeldherrn ſei offenbar
unmöglich. Preußen denke mit ſeiner ganzen Macht in den Krieg einzu-
treten und verlange, daß drei Heere aufgeſtellt würden: ein preußiſches,
verſtärkt durch die kleinen norddeutſchen Contingente, an der Moſel; ein
ſüddeutſches, durch preußiſche Truppen verſtärkt, am Ober- und Mittel-
rhein; endlich ein öſterreichiſches in Schwaben. Damit war die Bundes-
kriegsverfaſſung über den Haufen geworfen, freilich nur vorläufig, für
die Dauer des nächſten Krieges, eines Krieges, welchen Preußen aus
guten Gründen zu vermeiden wünſchte. Die lächerliche Künſtelei, welche
ſechs der neun preußiſchen Armeecorps von dem Bundesheere ausſchloß,
ſollte hinwegfallen, Preußen der Sache nach die Führung des Bundes-
[216]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
krieges übernehmen, Oeſterreich ſich mit der beſcheidenen Rolle einer Hilfs-
macht begnügen.
In Wien empfand man, Angeſichts der unſicheren Lage Italiens,
die eigene Schwäche ſo lebhaft, daß man ſelbſt dieſen ſtarken Zumuthungen
nicht gradehin zu widerſprechen wagte. Eine bündige Antwort war freilich
auch nicht zu erlangen, und der König entſchloß ſich daher im Februar 1831,
den General Rühle von Lilienſtern unmittelbar an die ſüddeutſchen Höfe
zu ſenden. Dort wurde der preußiſche Unterhändler überall mit offenen
Armen aufgenommen. König Ludwig verbarg nicht, daß er der Redlichkeit
der Hofburg ebenſo ſehr mißtraue wie ihrer kriegeriſchen Macht; er ließ eben
jetzt, zum Entſetzen des franzöſiſchen Geſandten, den bairiſchen Schützen-
marſch, den er einſt im Januar 1814 gedichtet, im Theater wieder auf-
führen und war gern bereit zum Schlagen, aber nur im engſten Anſchluß
an Preußen, und alſo, daß ſeine Truppen nöthigenfalls ihren Rückzug nach
dem Maine, gegen Preußen hin nähmen.*) Auch die Höfe von Stuttgart,
Karlsruhe, Darmſtadt gingen auf Preußens Vorſchläge bereitwillig ein;
ſie einigten ſich ſogar über einen gemeinſamen ſüddeutſchen Feldherrn.
Im Stillen hatte König Wilhelm von Württemberg auf dieſe Stellung
gehofft. Die preußiſchen Generale meinten jedoch, daß er wohl ein
verſtändiger und feſter Corpsführer, aber kein Feldherr ſei und noch
weniger fähig Liebe zu gewinnen.**) Da auch die ſüddeutſchen Höfe dieſe
Anſicht theilten, ſo bezwang der König hochherzig ſeinen Ehrgeiz und
ſchlug ſelber vor, daß Wrede, der als Feldmarſchall den Vortritt hatte,
die Führung über das bairiſche und über das achte Bundes-Armeecorps
zugleich übernehmen ſollte.
Es war doch ein ſchöner Erfolg, daß die alte deutſche Zankſucht jetzt
ſo ganz zurücktrat. Auf das Eifrigſte verhandelten die oberländiſchen
Höfe nunmehr über alle Einzelheiten ihres Aufmarſches.***) In heller
Freude ſchrieb Witzleben dem Auswärtigen Amte: „Die ſüddeutſchen Re-
gierungen haben uns Vertrauen erwieſen, wir müſſen daſſelbe largement
erwiedern. Der Charakter der preußiſchen Politik iſt Gradheit und Offen-
heit, ſo müſſen wir uns daher gegen unſere ſüddeutſchen Brüder aus-
ſprechen. Das wahre deutſche Intereſſe wird allemal auch ein preußiſches
ſein. Wünſche, die jenem nicht entgegen ſind, werden daher von uns
nur unterſtützt werden können, und es leidet auch keinen Zweifel, daß
man ſich darüber mit Oeſterreich leicht wird verſtändigen können.“†)
General Krauſeneck, der den liberalen Ideen nahe ſtand, trug ſich ſchon
mit der kühnen Hoffnung, aus dieſen Verabredungen werde vielleicht ein
[217]Militäriſche Verhandlungen mit Süddeutſchland.
dem Zollvereine ähnlicher militäriſcher Bund der Kleinſtaaten unter Preu-
ßens Führung hervorgehen. Ueberhaupt verbreitete ſich unter den preu-
ßiſchen Generalen mehr und mehr die Einſicht, daß Oeſterreich im deutſchen
Heerweſen nicht ſchöpferiſch und leitend wirken könne. Selbſt Herzog Karl
von Mecklenburg trug kein Bedenken dieſen ketzeriſchen Gedanken auszu-
ſprechen. Doch leider bekundete ſich die wackere Geſinnung der ſüddeutſchen
Höfe vorerſt nur in Worten. Sie thaten Einiges um unter den Contin-
genten Badens, Württembergs, Heſſens eine annähernde Gleichheit des
Commandos und der Bewaffnung herbeizuführen; einmal verſammelte ſich
ſogar das achte Bundesarmeecorps zu gemeinſamen Manövern bei Heil-
bronn. Indeß ließ der Zuſtand ihrer Truppen ſehr viel zu wünſchen
übrig, Dank der thörichten Knauſerei der Landtage und der Kunſtliebe
König Ludwigs. In Baiern hatte das Bataillon nur 60 Mann unter
der Fahne, und als der König jetzt, zum erſten male ſeit ſeiner Thron-
beſteigung, eine Heerſchau über die Münchener Regimenter hielt, da zählte
die geſammte Garniſon nur 1200 Mann Fußvolk, 400 Pferde und 5
Batterien.*)
Unterdeſſen war der Wiener Hof aus ſeiner Trägheit erwacht. Feld-
marſchallleutnant Langenau, Preußens alter Feind von Frankfurt her,
warnte dringend vor den Berliner Anſchlägen. Auch fürchtete Metternich,
ohne jeden Grund, die Süddeutſchen würden ſich über ein Neutralitäts-
bündniß verſtändigen; wirkte doch der württembergiſche General Bangold,
ein in der Hofburg ſehr übel verrufener Liberaler, bei den Verhandlungen
mit, und an allen kleinen Höfen entfalteten die Geſandten Ludwig Phi-
lipp’s eine verdächtige Geſchäftigkeit.**) Erſt die Eiferſucht auf Preußens
Erfolge bewog die öſterreichiſchen Unterhändler, endlich gegen General
Röder mit eigenen Vorſchlägen herauszurücken. Auf den einen Bundes-
feldherrn wagten ſie kaum noch zu hoffen, da Erzherzog Karl ſich nicht
geneigt zeigte, dies dornige Amt unter den mißtrauiſchen Augen ſeines
Bruders zu führen. Dafür verlangten ſie die Bildung zweier Heere:
alle ſüddeutſchen Truppen unter Oeſterreichs Führung, alle norddeutſchen
unter Preußen. Welch ein Wandel der Machtverhältniſſe! Dieſe Zwei-
theilung des Bundesheeres war von Preußen während der letzten Jahre
immer als das höchſte vielleicht erreichbare Ziel erſtrebt, von Oeſterreich
ſtets bekämpft worden, und nun brachte die Hofburg den Gedanken des
militäriſchen Dualismus ſelber ihrem Nebenbuhler entgegen. In Berlin
flogen aber die Gedanken jetzt ſchon höher; man wußte, wie wenig Oeſter-
reich für dieſen Bundeskrieg leiſten konnte, und verlangte für Preußen
die thatſächliche Leitung aller kleinen Contingente.
So rückten die Verhandlungen in Wien nicht von der Stelle. Die
[218]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
ſüddeutſchen Höfe billigten alleſammt Preußens Verfahren; öſterreichiſcher
Führung wollten ſie ihre Truppen ſchlechterdings nicht anvertrauen, und
als Langenau gar den Plan entwickelte, das öſterreichiſch-ſüddeutſche Heer
ſolle ſeine Rückzugslinie nach dem Lech nehmen, da erwachten wieder die
böſen Erinnerungen aus den Zeiten der Revolutionskriege. Kaiſer Franz
hatte zwar ſelbſt durch ſeine Trägheit verſchuldet, daß Preußen jetzt auf
eigene Fauſt mit den kleinen Höfen ſich verſtändigte und ihn, den alten,
mächtigen Bundesgenoſſen faſt zur Seite liegen ließ; gleichwohl fühlte er
ſich durch das Verfahren des Königs verletzt. Er ſchrieb ihm ſelbſt
(2. April) in dem gewohnten freundſchaftlichen Tone, dankte für Röder’s
Sendung und ſchloß deutlich mahnend: „Je größer die Gefahren des
Tages ſind, um ſo mehr bin ich überzeugt, daß die noch mögliche Rettung
ſich nur finden kann und finden wird in der innigſten, offenſten und
vollſtändigſten Verbindung zwiſchen uns Beiden“.*) Zugleich mußte
Metternich dem Berliner Hofe immer dringender vorhalten, das alte Ver-
trauen zwiſchen den beiden führenden Mächten erfordere doch, daß ſie
auch über dieſe Frage der Bundespolitik ſich zunächſt ſelbander ver-
einigten. Als der König im Auguſt im Teplitzer Bade weilte, ſtellte ihm
Metternich’s Vertrauter, Hofrath v. Werner, die förmliche Bitte, er möge
geſtatten, daß ein k. k. Militärbevollmächtigter zu Berlin die Verhand-
lungen ins Reine bringe.
Friedrich Wilhelm war unangenehm überraſcht; er bemerkte ſpäter-
hin ärgerlich, Oeſterreich habe „ſich Licht zu Berlin geholt.“**) Aber er
gab nach; die Kriegsgefahr war im Augenblicke nicht drohend, und da
man den Kampf, wenn er kam, doch gemeinſam mit Oeſterreich führen
mußte, ſo ſchien es nicht rathſam den alten Bundesgenoſſen zu beleidigen.
An eine dauernde Reform der Heeresverfaſſung des Bundes ließ ſich gar
nicht denken; dies hätten die ſüddeutſchen Höfe niemals zugegeben, am
wenigſten der eiferſüchtige König von Württemberg. Bernſtorff ſelbſt
dachte viel zu nüchtern, um irgend eine Aenderung der Bundesgeſetze für
möglich zu halten;***) auch Clauſewitz rieth, man müſſe mit dem Wiener
Hofe ſich klar verſtändigen. Im September traf der öſterreichiche General
Graf Clam in Berlin ein, ein reicher, glänzender Magnat, der von Met-
ternich ſtark überſchätzt und oft zu vertraulichen Sendungen gebraucht
wurde. Den Damen bei Hofe gefiel er ſehr, weniger den ſtolzen preußi-
ſchen Männern; denn gar zu gleißneriſch erklang doch aus dem Munde
des ſchlauen Weltmannes der anbiedernde Wiener Ton. Immer wenn
Clam eine dreiſte öſterreichiſche Forderung ſtellte, fügte er mit freund-
ſchaftlicher Zudringlichkeit hinzu, dieſer Vorſchlag beweiſe, „daß Preußens
Ehre, Anſehen und eminente Stellung im Bunde für Oeſterreich ebenſo
[219]Verſtändigung über den Bundes-Kriegsplan.
wichtig und theuer als die eigenen ſind.“*) In langen Monaten ver-
mochten weder Bernſtorff noch die Generale Kruſemark und Rühle ſich
mit dieſem wortreichen Freunde zu verſtändigen. Bernſtorff, krank und
reizbar wie er war, bat endlich den König geradezu, ihn von dieſem Ge-
ſchäfte zu entbinden.**)
Inzwiſchen wurde General Kneſebeck mit der Fortführung der Unter-
handlungen beauftragt, und dieſer alte treu ergebene Freund der Hofburg
bemühte ſich nach Kräften, allen Wünſchen Clam’s entgegenzukommen.
Preußens Forderungen entſprachen aber ſo genau den gegebenen Macht-
verhältniſſen, daß ſelbſt Kneſebeck wenig davon nachlaſſen konnte. Als
nun endlich im Mai 1832 die Militärbevollmächtigten der ſüddeutſchen
Höfe, die von Preußen über Alles getreulich unterrichtet waren, und dann
auch die Vertreter von Sachſen und Hannover nach Berlin geladen
wurden, da errang die preußiſche Politik einen vollſtändigen Triumph.
Die Offiziere der Mittelſtaaten erklärten ſich ſammt und ſonders für
Preußens Vorſchläge, und die Militär-Conferenz beſchloß, daß für den
Fall des Krieges drei Heere aufgeſtellt würden: zwei aus Preußen und
Bundestruppen gemiſchte am Nieder- und Mittelrhein, dazu ein öſter-
reichiſches Heer am Oberrhein. Preußen verſprach außer den Feſtungs-
garniſonen 231000 Mann zu ſtellen, die kleinen Staaten 116000 Mann
— eine ziemlich kühne Rechnung — Oeſterreich endlich 172000 Mann.
Die letztere Zahl ließ man nur aus Höflichkeit ſtehen; denn Niemand
glaubte, daß der Krieg in Italien ſo viele k. k. Truppen verfügbar laſſen
würde. Traten dieſe Entwürfe je ins Leben, ſo erhielt Preußen offenbar die
Leitung des Bundeskriegs. Der verabredete Plan wurde ſodann dem aus
Petersburg geſendeten General Neidhardt mitgetheilt, und Czar Nikolaus
wiederholte ſeine dreiſte Zuſage, daß er im Falle des Krieges Polen mit
100000 Mann decken und 200000 Mann als „furchtbare Reſerve“ dem
deutſchen Heere nachſchicken werde. So hoffte man gegen jeden Angriff
gedeckt zu ſein. Alle dieſe Verhandlungen blieben tief geheim und für
den Augenblick ohne Wirkung, da der Krieg abgewendet wurde; aber ſie
bewieſen ſchlagend, daß ſelbſt die eiferſüchtigen kleinen Höfe in ernſter
Noth nur bei Preußen Hilfe ſuchen konnten, und wer frei in die Zu-
kunft blickte, mochte ſchon jene von Eichhorn erhoffte Zeit nahen ſehen,
da die deutſchen Dinge für eine preußiſche Bundesreform reif wurden.
In welche Sackgaſſe war doch der Deutſche Bund unter dem Syſteme
des friedlichen Dualismus gerathen: alle größeren Höfe ſahen ein, daß
ſie den Krieg gegen Frankreich nur unter Preußens Führung unternehmen
durften; und dennoch wagte Niemand, die geſetzliche Neugeſtaltung des
Bundeskriegsweſens auch nur zu beantragen.***)
[220]IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
Mittlerweile begann Preußens Bundespolitik ſich leiſe zu ändern.
Zunächſt in Folge der Entlaſſung Bernſtorff’s, der im Mai 1832 die
Qualen ſeiner Krankheit nicht länger mehr zu ertragen vermochte.*) Sein
Nachfolger wurde Ancillon, da Werther abgelehnt hatte, Eichhorn als
Feind der Oſtmächte verrufen war, und man ſonſt keinen geeigneten
Diplomaten fand. Der eitle Mann ſtrahlte vor Freuden über die neue,
längſt insgeheim erſtrebte Würde und warf mit erhabenen Ausſprüchen
politiſcher Weisheit ſo freigebig um ſich, wie Ludwig Philipp von Or-
leans, dem er auch in ſeiner äußeren Erſcheinung auffällig ähnelte. Die
fremden Diplomaten trauten ihm zu, er wolle Preußens Cardinal Fleury
werden. Sein eigener Ehrgeiz ging nicht ſo weit. Ihm genügte, wenn
die Dinge ſich im alten Gleiſe ruhig weiter ſchoben und der Weltfrieden
erhalten blieb. Es war kein eigentlicher Syſtemwechſel, denn der König
behielt die Leitung der auswärtigen Politik in ſeiner eigenen Hand; doch
die Mattherzigkeit des neuen Miniſters machte ſich bald fühlbar. War
Bernſtorff der Hofburg gegenüber mit den Jahren immer ſtolzer auf-
getreten, ſo hatte ſich Ancillon ſeine öſterreichiſche Geſinnung nur allzutreu
bewahrt. Sogleich nach Antritt ſeines Amtes ſprach er „dem großen
Staatsmanne, dem Europa ſo viel Dank ſchuldet“, ſeine unterthänige
Bewunderung aus und verſicherte ihm „die vollſtändige Gleichheit des
Syſtems der beiden Mächte.“**) Dieſe beſtändigen Schmeicheleien für
Metternich und der ſalbungsvolle Predigerſtil ſeiner endloſen, lehrhaften
Depeſchen ließen ſeine Politik noch ſchwächlicher erſcheinen als ſie war.
Weit verderblicher wirkte aber die zunehmende Aufregung in Oberdeutſch-
land. Die trotzige Auflehnung der ſüddeutſchen Liberalen gegen das
Bundesrecht, die maßloſe Sprache ihrer Preſſe, ihr vaterlandsloſes Buhlen
mit Frankreich und Polen, ihre wüthenden Ausfälle gegen Preußen, ihre
Drohungen und Verſchwörungen — das Alles zwang den Berliner Hof,
der anfangs die Bewegungen dieſer neuen Zeit ſo nachſichtig beurtheilt
hatte, ſich wieder feſter an Oeſterreich anzuſchließen. —
[[221]]
Vierter Abſchnitt.
Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Die Nachwirkung der Pariſer Ereigniſſe zeigte ſich im deutſchen
Süden etwas ſpäter als in den kleinen Staaten des Nordens, dann
freilich um ſo ſtärker. Volksbewegungen gegen die altſtändiſche Geſell-
ſchaftsordnung fanden hier, wo längſt moderne Verfaſſungen beſtanden,
keinen Boden. Im Spätjahr 1830 blieb noch Alles leidlich ſtill, nur
Darmſtadt wurde durch die kurheſſiſche Nachbarſchaft in die mitteldeutſchen
Unruhen verwickelt. Der greiſe Großherzog Ludwig war im April 1830
verſchieden. Ihm folgte Ludwig II., ein wohlwollender, ehrenhafter Herr,
nicht ganz unbegabt, aber weder thätig noch ſelbſtändig; er ſtand bereits
in den fünfziger Jahren und hatte Zeit genug gehabt, mit Hilfe ſeiner
badiſchen Gemahlin, einer geiſtreichen, ſtolzen, für größere Verhältniſſe
geſchaffenen Fürſtin, bedeutende Schulden anzuſammeln, die unter Amſchel
Rothſchild’s ſorgſamer Pflege ſchon auf 2 Mill. Gulden angeſchwollen
waren — eine anſehnliche Summe für ein Ländchen von 700000 Ein-
wohnern. Als tüchtiger Finanzmann beſtand nun Miniſter du Thil
darauf, daß dieſe unerfreulichen Verhältniſſe des fürſtlichen Hauſes dem
Landtage enthüllt wurden; er verlangte von den Kammern entweder Er-
höhung der Civilliſte oder Uebernahme der Schulden auf den Staats-
haushalt.
Im Landtage wurde dieſe allerdings ſtarke Forderung ſehr unfreund-
lich aufgenommen. Ueberall in den Kleinſtaaten hatte ſich ſchon das
Märchen von der Wohlfeilheit republikaniſcher Regierungen verbreitet. Jedes
Zeitungsblatt beneidete die Vereinigten Staaten um den beſcheidenen Gehalt,
der ihrem Präſidenten genügen mußte, und Niemand bedachte, daß die
Koſten einer einzigen Präſidentenwahl, die freilich in den Staatsrechnungen
Nordamerikas nicht aufgezählt wurden, ſich weit höher ſtellten als alle
deutſchen Civilliſten insgeſammt. Wohlfeiles Regiment nach republika-
niſchem Muſter war das allgemeine Feldgeſchrei. Ernſt Emil Hoffmann,
der jetzt in der Kammer das große Wort führte, wuſch die ſchwarze
Wäſche des fürſtlichen Hauſes mit demagogiſcher Schadenfreude, und nach
langen, höchſt unehrerbietigen Verhandlungen wurden die Forderungen
[222]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
des Großherzogs ſämmtlich abgelehnt. Der Hof ſah ſich genöthigt, ſeine
Ausgaben ſtark zu beſchränken und ſogar das Hoftheater zu ſchließen, das
den Darmſtädtern, wie allen Bewohnern der kleinen deutſchen Reſidenzen,
die einzige Würze in der Langeweile ihres Daſeins war. Aller Zorn der
Hofgeſellſchaft ergoß ſich nunmehr auf du Thil; er allein ſollte durch ſeine
Offenheit die erlittene Niederlage und die beleidigenden Reden des Land-
tags verſchuldet haben. Der ehrgeizige Prinz Emil, der zu ſeinem Unheil
ein Commando im öſterreichiſchen Heere abgelehnt hatte und nun mit
ſeinem militäriſchen Talent in dem kleinen Staate nichts anzufangen
wußte, trat dem Miniſter offen entgegen.
Mittlerweile begann es in Oberheſſen zu gähren. Aufrühreriſche
Banden aus dem Großherzogthum ſchloſſen ſich den kurheſſiſchen Mauth-
ſtürmern an; denn ſo lange die Nachbarſtaaten noch nicht beigetreten
waren empfand man in den zerſtückelten Gebieten der Wetterau nur die
Laſten, nicht die Segnungen des preußiſchen Zollvereins; ſelbſt Profeſſor
Hundeshagen in Gießen, der berühmte Forſtmann, erklärte in einer leiden-
ſchaftlichen Schrift die preußiſchen Mauthen für das Unglück des Landes.
Der Pöbel zerſtörte die Zollhäuſer und zündete da und dort einem ver-
haßten Amtmann das Dach über dem Kopfe an. Hier wie in Kurheſſen
lärmten die ſchwer belaſteten Unterthanen der mediatiſirten Fürſten am
lauteſten. Die Lage ward im September recht bedenklich. Der Hof ver-
zagte, und E. E. Hoffmann erdreiſtete ſich ſchon, wie ein Dictator ein
beſchwichtigendes Manifeſt an ſein Volk zu erlaſſen. „Alles was unſere
Nachbarn wünſchen, haben wir, ſagte er mit dem ganzen Stolze des Darm-
ſtädters, haltet den Namen Heſſen makelfrei.“ Da befahl du Thil auf
eigene Fauſt die Einberufung der Beurlaubten und ließ zugleich in Frank-
furt um Beiſtand bitten, während der Kurfürſt von Heſſen jede Bundes-
hilfe höhniſch zurückwies. Prinz Emil wurde an die Spitze der Armee
geſtellt und alſo mit dem Miniſter verſöhnt. In wenigen Tagen trieb
der Prinz die Aufrührer auseinander; bei Södel kam es zu einem kleinen
Gefechte, und auch einige der braven Bauern, welche die Unruheſtörer
bekämpft hatten, bekamen im Getümmel die Klingen der erbitterten Reiter
zu fühlen. Die Ordnung war hergeſtellt, der beherzte Miniſter gewann
das Vertrauen des Großherzogs wieder, und auch Otterſtedt that das
Seine, um das Anſehen des Staatsmannes, der allein im Süden ein
zuverläſſiger Anhänger Preußens war, aufrecht zu erhalten.*)
Viele Jahre lang führte du Thil fortan die Herrſchaft, gewiſſenhaft
und einſichtig, aber auch mit einer Strenge, die nach und nach zur Härte
wurde. Seine treue deutſche Geſinnung hatte er ſchon im Befreiungs-
kriege bewährt, als er den Zutritt des Landes zur großen Allianz ver-
mitteln half, und dann noch kühner durch die Zollverhandlungen mit
[223]Unruhen im Großherzogthum Heſſen.
Preußen. Die kleinbürgerliche Selbſtüberhebung der ſüddeutſchen Liberalen
erſchien ihm lächerlich; er kannte die beſcheidene Macht ſeines Großherzog-
thums und meinte unbefangen: Geſandte ſolle ein deutſcher Mittelſtaat nur
in Berlin und Wien halten, bei den kleinen Höfen ſei eine diplomatiſche
Vertretung überflüſſig, bei den fremden meiſt ſchädlich; „wenn die Ge-
ſandtſchaft in Paris je wichtig wird, ſo ſteht es ſchlimm um Deutſchland.“
Obwohl er nach ſeinen ſtrengconſervativen Neigungen der altſtändiſchen
Verfaſſung entſchieden den Vorzug gab, ſo ſah er doch ein, daß in der
demokratiſirten Geſellſchaft des deutſchen Südens nur noch das Repräſen-
tativſyſtem möglich ſei. Aber im Gefühle ſeiner Ueberlegenheit behandelte
er die Gegner geringſchätzig, da ſie ihm ſo oft kleinliche und thörichte
Bedenken in den Weg warfen, und bald kam er ſo weit, daß er jeden
Liberalen für einen Narren oder einen gefährlichen Menſchen anſah.*)
Der Landtag von 1830 ging noch in Frieden auseinander; doch im
Lande hielt die Gährung an. Viele der jüngeren Beamten waren aus der
radicalen alten Gießener Burſchenſchaft, aus den Kreiſen der Schwarzen
und der Unbedingten hervorgegangen; mehrere verhielten ſich lau oder
untreu während der Volksbewegung, und die Schuldigen wurden alleſammt
aus den Aemtern entfernt, obwohl man ihnen meiſt die Strafen erließ.
So bildete ſich ein Stamm von Unzufriedenen, und der junge Nachwuchs
dachte nicht friedfertiger, da der Gießener Curator Arens durch gehäſſige
Verfolgungen den Trotz der Jugend herausforderte.**) Der Offenbacher
Bund „der Sektionen“ und andere geheime Vereine nährten die Verſtim-
mung. „Das Blutbad von Södel“ ward dem Volke als ein ungeheuer-
licher Frevel geſchildert, obgleich die Regierung eine Unterſuchung einleitete
und einige der ſchuldigen Soldaten beſtrafen ließ. Noch ſtärker wirkte
das verführeriſche Beiſpiel der badiſchen Nachbarn, da die beiden gefeierten
Karlsruher Volksmänner Itzſtein und Welcker aus Heſſen ſtammten und
mit den alten Landsleuten in Verbindung blieben. —
Dort in Baden erlebte der parlamentariſche Liberalismus der Klein-
ſtaaten jetzt ſeine Blüthezeit. Wenige Tage vor dem heſſiſchen Großherzog,
im März 1830 war auch Großherzog Ludwig von Baden geſtorben, und als
nunmehr der erſte der hochbergiſchen Markgrafen Leopold ohne jeden Wider-
ſtand die Regierung übernahm, da fühlte das Land ſich erſt ſeiner Selb-
ſtändigkeit ſicher. Man meinte durch die vollendete Thatſache und durch
die Anerkennung der großen Mächte geſchützt zu ſein wider die begehrlichen
Anſchläge der Wittelsbacher — eine Hoffnung, die ſich doch nicht ſogleich
erfüllen ſollte. Großherzog Leopold war ein Fürſt von ſeltener Herzens-
güte, ehrlich gewillt ſein Land zu beglücken; ſeine gemüthliche Leutſelig-
[224]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
keit ſtach von dem verſchloſſenen Weſen des geſtrengen Vorgängers er-
freulich ab. Aber die Staatsgeſchäfte kannte er nicht, ſelbſtändiges
Nachdenken fiel ihm ſchwer, noch ſchwerer ein kräftiger Entſchluß; am
wohlſten fühlte er ſich in ſeinem Marſtall oder auf dem Schießſtande,
für Künſte und Wiſſenſchaften zeigte er wenig Verſtändniß. Seine Ge-
mahlin Sophie, eine ſtolze Waſa von klarem Verſtande, ſtarkem Willen,
lebhaftem Thatendrange und fürſtlicher Haltung, überſah den gutmüthigen
Gatten weit; auch ſein Bruder Markgraf Wilhelm, ein tapferer General
des napoleoniſchen Heeres, war nicht ohne Ehrgeiz, und ſeit der Markgraf
eine Schweſter des Königs von Württemberg geheirathet hatte, glaubte
ſich der ſchwäbiſche Schwager ebenfalls berechtigt am Karlsruher Hofe
mitzureden.
Zum Glück fand der Großherzog einen Rückhalt an dem alterprob-
ten Vertrauten der hochbergiſchen Markgrafen, dem Staatsrath Winter,
der ſeit Jahren die Vermögensgeſchäfte dieſer jüngeren Linie beſorgte, auch
als Schriftſteller ihr Thronfolgerecht ſiegreich vertheidigt hatte. Winter
war längſt ſchon der leitende Kopf der Verwaltung des Innern, ſoweit
der Großherzog Ludwig ihm freie Hand ließ. Die Sünden der vergange-
nen Regierung rechnete man ihm nicht an; Jedermann wußte, daß er
Vieles nur widerwillig hatte geſchehen laſſen. Der ſchlichte Mann mit
dem diplomatiſch klugen und doch treuherzig gemüthlichen Geſichte war
ganz dazu angethan, das Vertrauen dieſes bürgerlichen Landes zu ge-
winnen. Sein klarer Geſchäftsverſtand erkannte ſofort, das alte harte
Syſtem der polizeilichen Ueberwachung ſei unhaltbar, die neue Linie der
Dynaſtie müſſe die Liebe des Volks zu gewinnen ſuchen. Auf ſeinen Rath
unternahm der Großherzog eine Rundreiſe durch das Land, und die unge-
heuchelte Freude der Maſſen verkündete überall, welche ſtolzen Hoffnungen
dies Völkchen an den Hingang ſeines ungeliebten alten Fürſten knüpfte.
Die Heidelberger ſangen ihrem Leopold zu:
und veranſtalteten ihm zu Ehren einen künſtlichen Schloßbrand. Haufen
von Reiſig und Kleinholz flammten plötzlich auf in dem alten Gemäuer
des Pfälzerſchloſſes, den Beſchauern traten alle Schrecken der Tage Me-
lac’s leibhaftig vor die Augen. Es war, als ob die Preußen eine thea-
traliſche Aufführung der Schlacht von Jena veranſtalteten; in dieſem
ſtaatloſen Geſchlechte fand es Niemand anſtößig, die Erinnerung an die
Schmach des Vaterlandes alſo zu erneuern.
Seit Winter den Gang der Regierung beſtimmte, hatte die Stunde
des Rücktritts geſchlagen für die beiden hochconſervativen Miniſter des
alten Großherzogs, für Metternich’s Getreuen Berſtett und den geſtrengen
rheinbündiſchen Bureaukraten Berckheim. Doch Leopold zögerte und
ſchwankte. Da gab endlich der ſchwäbiſche Nachbar den Ausſchlag durch
[225]Leopold von Baden. Winter.
einen jener freundlichen Fußtritte, welche ſeinem nachtragenden Gemüthe
wohl thaten. Er haßte Berſtett als perſönlichen Feind und Verleumder noch
von den Veroneſer Zeiten her. Als nun Markgraf Wilhelm die Württem-
bergiſche Prinzeſſin freite, ſchenkte der König dem badiſchen Hausminiſter
die übliche Doſe; er ließ ſie aber nicht, wie der Brauch war, mit ſeinem
Bildniß ſchmücken, ſondern die offenbar höhniſch gemeinte Inſchrift Loyauté
et vérité! darauf ſetzen. Berſtett tobte über dieſe neue Beleidigung „des
unverſöhnlichen Nachbarkönigs“; er ſendete das Danaergeſchenk dem
Geſandten General Bismarck mit einem ſtolzen Briefe zurück, klagte dem
diplomatiſchen Corps ſein Herzeleid. Der Arme mußte Temperirpulver
nehmen um ſeinen Zorn zu bändigen, und das geſammte hohe Beamten-
thum theilte ſeine Entrüſtung. Nur der Großherzog wagte nicht, ſich des
gekränkten Miniſters anzunehmen, und nun merkte Berſtett endlich doch,
daß ſeine Uhr abgelaufen ſei. Gegen Ende des Jahres war ſein und
Berckheim’s Rücktritt entſchieden.*) Bald nachher verſchwand auch Major
Hennenhofer, jener zweideutige Günſtling des alten Großherzogs, der ſich
auch dem Nachfolger ſchon durch ſeine Vielgeſchäftigkeit unentbehrlich ge-
macht hatte; eine Stuttgarter liberale Zeitung, der Hochwächter, brachte
ſo arge Enthüllungen über ſeinen ſittlichen Wandel, daß man ihn un-
möglich länger halten konnte.**)
Das alte Syſtem war geſtürzt, das neue noch nicht befeſtigt. Winter
übernahm nunmehr förmlich die Leitung des Miniſteriums des Innern.
Er hegte die redliche Abſicht, ſtreng nach der Verfaſſung zu regieren und
trug ſich mit mannichfachen wohldurchdachten Reformplänen. Doch über
die Grenzen des Ländchens reichte ſein Blick nicht weit hinaus: genug,
wenn nur der Bundestag, deſſen erbärmliche Geſetze dem gewiegten Ge-
ſchäftsmanne wie elaſtiſcher Gummi vorkamen, durch eine behutſame
Politik verhindert wurde, ſich in die badiſchen Dinge einzumiſchen. Da
er ſelber an dem Ideale eines wohlverwalteten Mittelſtaates ſein Genügen
fand, ſo täuſchte er ſich gänzlich über die Macht des neuen Radicalismus,
der doch nur darum ſo drohend überhand nahm, weil das Volk die
Jämmerlichkeit der Kleinſtaaterei dunkel empfand und ſich nach einem
großen politiſchen Leben ſehnte. Er hielt eine Revolution in Deutſchland
für ganz undenkbar — ein verhängnißvoller Irrthum, der faſt allen den
gemäßigt conſervativen Miniſtern der conſtitutionellen Kleinſtaaten gemein
war — und ſuchte den Grund der allgemeinen Aufregung allein in den
Brandreden der „Impfer“: ſo nannte er in ſeiner volksthümlich derben
Redeweiſe jene liberalen Schwätzer, die dem Volke ſo lange von ſeinem
Unglück vorſprächen, bis es ſelber daran glaubte. Für dieſe Staatskunſt
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 15
[226]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
des vorſichtigen, wohlwollenden Particularismus fand Winter nur wenige
zuverläſſige Gehilfen. Da das kleine Land kein anderes diplomatiſches
Talent beſaß, ſo mußte Blittersdorff auf dem wichtigen Frankfurter
Poſten bleiben, und der Heißſporn der Reaktion trug kein Bedenken,
eigenmächtig, oft gegen ſeine Weiſungen, den öſterreichiſchen Bundesgeſandten
zu unterſtützen, ſo daß der Karlsruher Hof bald in den Ruf der Zwei-
züngigkeit gerieth. In das Auswärtige Amt ward Frhr. v. Türckheim
berufen, derſelbe, der vor zwölf Jahren die Vorrechte des Adels ſo leb-
haft gegen Winter’s Angriffe vertheidigt hatte,*) ein Staatsmann von
feiner Bildung und gemäßigten Grundſätzen, aber ein Ariſtokrat, dem
bei der ganz bürgerlichen Weltanſchauung des leitenden Beamten nicht
immer wohl zu Muthe war.
Und dieſe geſpaltene Regierung ſtand fortwährend unter dem Kreuz-
feuer der überlegenen Nachbarhöfe. Gleich ſeinem Vorgänger wollte auch
Großherzog Leopold ſich treu an Preußen anſchließen, ſchon weil er Schutz
brauchte gegen die bairiſchen Anſchläge; er bat den König herzlich um
die Bewahrung „der gütigen Geſinnungen, die meinem Hauſe und Lande
von jeher als Stützpunkt zugewendet waren.“**) Aber während Otterſtedt
für den Zollverein und die Neugeſtaltung des Bundesheeres arbeitete,
wirkte der öſterreichiſche Geſandte Graf Buol, den man doch auch nicht
verletzen wollte, heimlich dagegen; dazwiſchen hinein kamen ſcharfe Droh-
ungen vom Bundestage, der Münchener Hof meldete ſeine Erbanſprüche
an, und der franzöſiſche Geſandte empfahl beharrlich einen neuen, neu-
tralen Rheinbund.
Und dazu die Macht der unaufhaltſam aus dem Auslande ein-
dringenden revolutionären Ideen. Hier an der langgeſtreckten offenen Grenze
war ſelbſt die Karlsbader Cenſur machtlos. Die radicalen Schweizer Zei-
tungen überſchwemmten das Oberland, ſie predigten alleſammt den Fürſten-
haß und vornehmlich den Kampf wider den preußiſchen Zollverein. Noch
ſchädlicher wirkte die Nachbarſchaft Frankreichs. Nunmehr da die über-
müthige Kriegsluſt der Franzoſen wieder auflebte, empfand man erſt ganz,
welch ein Pfahl im deutſchen Fleiſche das franzöſiſche Straßburg war.
Dies drohende Ausfallsthor dicht vor dem ſchutzloſen deutſchen Oberlande
raubte den ſüddeutſchen Höfen allen die ruhige Sicherheit, und zugleich
ward die alte Reichsſtadt der Herd einer gewiſſenloſen Propaganda, welche
jetzt weit erfolgreicher arbeitete als einſt in den Tagen der erſten Republik.
Da die Elſaſſer erſt ſeit den Agrargeſetzen der Revolution und ſeit den
Waffenthaten des Kaiſerreichs ſich als Franzoſen fühlten, ſo hegten ſie
für das alte Königshaus wenig Theilnahme, beſeitigten nach den Juli-
tagen alsbald die königlichen Lilien aus dem Straßburger Wappen und
[227]Die Radicalen im Elſaß.
ſchaarten ſich freudig, neuen Kriegsruhms gewärtig, um die wiederaufge-
richtete Tricolore. Sofort ward nun den badiſchen Nachbarn die Herrlich-
keit franzöſiſcher Bürgerfreiheit angeprieſen. Der Straßburger „National-
gardiſt Gradaus“ ſchilderte dem Bauern Vetter Michel die Wunder der
neuen Zeit in jenem behaglichen Biedermannstone, der ſeit Hebel’s Volks-
kalendern den Badenern geläufig war. Dann erſchien der „Widerhall
deutſcher Volksſtimme in Grüßen an das deutſche Vaterland“, ein Libell
voll wüthender Anklagen gegen die „Spürnaſen und gefütterten Hunds-
naturen“ der Fürſten, gegen „das ſervile Corps einexercirter Potsdamer
Kamaſchenknechte“, das an den Grenzen Polens ſtehe, ſtatt „im Staube
knieend den größten aller Soldaten, Kosciuszko,“ zu verehren — und ſo
weiter eine ganze Reihe wüſter Brandſchriften, zumeiſt aus dem Verlage
von Silbermann in Straßburg. Der König von Württemberg erfuhr
bald durch ſeine wachſame Polizei, daß in Straßburg ein geheimes Re-
volutions-Comité beſtand, das allwöchentlich zwei Boten nach Karlsruhe
und Stuttgart ſendete; er befahl aber „dem Winter nichts zu ſagen“
weil er ihm nicht über den Weg traute.*)
Der Straßburger Niederrheiniſche Curier brachte eine Beilage „das
conſtitutionelle Deutſchland“, die offenbar zur Aufwiegelung des deutſchen
Südens beſtimmt, von dem jungen Stralſunder Cornelius geleitet, durch
badiſche und pfälziſche Radicale mit Beiträgen verſorgt wurde. Hier
erklang wieder das alte Rheinbundslied, nur in neuer Tonart, zu Ehren
deutſcher Macht und Herrlichkeit: „Gebt Deutſchland eine Verfaſſung,
die es zur ſechſten Großmacht erhebe. Laßt Preußen und Oeſterreich,
deren Intereſſen nicht die unſeren ſind, ihre eigenen Bahnen gehen, aber
vereinigt Euch zu einem einzigen, herrlichen und mächtigen Volke“
unter einem auf Zeit gewählten Oberhaupte und Reichsſtänden. Auch
die franzöſiſchen Zeitungen, zumal die bonapartiſtiſche Révolution ver-
ſtanden klüglich bald dem Einheitsdrange der Deutſchen zu ſchmeicheln
und die ſchmähliche, allein durch die kleinen Tyrannen verſchuldete
Zerſplitterung des großen deutſchen Vaterlandes zu verhöhnen, bald
für ſich die natürlichen Grenzen zurückzufordern: dann werde „Frank-
reich durch eine heilſame, großmüthige Einmiſchung, nöthigenfalls mit den
Waffen, den Kampf der beiden großen Staatsgedanken zu Gunſten der
Völker entſcheiden.“
Bei ſo friſchem Weſtwinde mußten dem badiſchen Liberalismus wohl
die Segel ſchwellen. Unter Rotteck’s und Itzſtein’s gewandter Führung
hatte ſich die geſchlagene Partei in der Stille geſammelt, und bei den
Landtagswahlen, die auf Winter’s ausdrücklichen Befehl völlig unbeläſtigt
blieben, errang ſie einen glänzenden Sieg. Die neue Zweite Kammer, die
15*
[228]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
im März 1831 zuſammentrat, beſtand faſt durchweg aus Liberalen; die
wenigen dem Miniſterium näher ſtehenden Abgeordneten wagten kaum
wider den Strom zu ſchwimmen. Und leicht war es nicht, gegen den
undeutſchen, echtfranzöſiſchen Parteiterrorismus dieſer liberalen Trium-
phatoren aufzukommen; ſie verlangten Rache für die langjährige Zu-
rückſetzung, mißhandelten Jeden, der nur um eines Fingers Breite von der
alleinſeligmachenden Lehre ihres Vernunftsrechts abwich, als einen Höf-
ling und Ariſtokraten und beräucherten ſich ſelber wechſelſeitig mit einer
maßloſen Eitelkeit, die dem Größenwahnſinn nahe kam. Rotteck ſchilderte
nachher „das europäiſche Ereigniß“ dieſes Landtags in einem „Leſe- und
Lehrbuch für’s deutſche Volk“; 674 Seiten genügten ihm kaum um die
unermeßliche Waſſerfluth der liberalen Kammerweisheit ganz zu erſchöpfen.
Bildniſſe der großen Volksmänner ſchmückten das Werk, vorn neben dem
Titelblatte prangte natürlich das Bild des Verfaſſers, der in der badi-
ſchen Preſſe allgemein als „Deutſchlands größter Hiſtoriker“ gefeiert
wurde; Großherzog Leopold aber, „der Volksfreund“, mußte ſich mit einer
beſcheidenen Stelle mitten im Buche begnügen.
„Franzöſiſirende Deutſchthümler“ nannte Blittersdorff einmal die
Genoſſen Rotteck’s mit dem Scharfblick des Haſſes,*) und in der That
war ihre blinde, unterthänige Begeiſterung für Frankreichs neue Frei-
heit ebenſo unbeſtreitbar wie ihre nebelhafte Begeiſterung für ein deutſches
Vaterland irgendwo in den Wolken. Vernunft und Unſinn, polternde
Phraſe und nüchterne Beobachtung der Bedürfniſſe der Gegenwart vertrugen
ſich freundnachbarlich in dieſen Köpfen. Der badiſche Liberalismus vertrat
die Intereſſen der erſtarkenden Mittelklaſſen, ihr wohlberechtigtes Ver-
langen nach Entlaſtung des Bodens, nach Freiheit des Wortes und des
Verkehrs; aber er ſtand noch ganz unter der Herrſchaft der ſelbſtgefälligen
alten Aufklärung, die nirgends in Deutſchland ſich feſter eingeniſtet hatte,
als hier in dieſem lieblichen, wie für die Romantik geſchaffenen Winkel;
er betrachtete die Intereſſenpolitik des Bürgerſtandes kurzerhand als
„den geläuterten Ausdruck des vernünftigen Geſammtwillens“ und wähnte
ſich berufen, „das blos dem Machtwort entfließende hiſtoriſche Recht dem
Vernunftrechte zu unterwerfen“. Die Heimath dieſes bürgerlichen Ver-
nunftrechts war die Univerſität Freiburg, zu jener Zeit eine ſehr beſcheidene
Leuchte deutſcher Wiſſenſchaft; die geiſtvollen Heidelberger Gelehrten hatten
in ihrer großen Mehrzahl das Joch der alten naturrechtlichen Abſtraktio-
nen ſchon abgeſchüttelt und hielten ſich der Bewegung fern.
Auch diesmal trat das alte Leiden des badiſchen Verfaſſungslebens,
das unnatürliche Uebergewicht des Beamtenthums wieder grell zu Tage.
Faſt alle Redner der Oppoſition waren Staatsdiener, die Regierung wagte
keinem mehr den Urlaub zu verweigern und ſah ſich bald durch die
[229]Rotteck und Welcker.
Angriffe ihrer eigenen Untergebenen Schritt für Schritt zurückgedrängt.
Schon während des ſtürmiſchen Wahlkampfes konnte ſcharfen Beobachtern
nicht entgehen, daß ſich in der Stille bereits eine radicale Partei gebildet
hatte, deren Pläne weit über die Ziele der Liberalen hinausgingen. Zu
ſelbſtändigem Auftreten fühlte ſie ſich aber noch zu ſchwach, und Adam
v. Itzſtein, der unter allen den Neugewählten ihr am nächſten ſtand,
war viel zu klug um ſich offen zu ihr zu bekennen. Nicht umſonſt hatte
Itzſtein einſt in ſeiner Mainzer Heimath das Treiben der Clubiſten mit
angeſehen; ſein kalter Fanatismus erinnerte an die gewiegten jacobiniſchen
Parteimänner des Convents. Darum fürchtete ihn Metternich als den
einzigen gefährlichen Mann der badiſchen Oppoſition. Immer im Stillen
thätig, verſtand er meiſterhaft, durch diplomatiſches Zureden die Schwan-
kenden bei der Stange zu halten. Oeffentlich ſprach er nur ſelten, aber
die Schärfe ſeiner Rede verletzte tödlich, weil man fühlte, daß jedes krän-
kende Wort genau erwogen war.
Der ehrliche Rotteck hatte inzwiſchen längſt die radicalen theoreti-
ſchen Folgerungen gezogen, welche ſich aus ſeiner Lehre von der Volks-
ſouveränität unausweichlich ergaben; in ſeinem Lehrbuche des Vernunft-
rechts erklärte er kurzab, nur die Republik ſei gerecht und gut, nur nach
dem Maße der Annäherung an dieſes ideale Ziel dürfe eine Verfaſſung
geprieſen werden. Als praktiſcher Parlamentarier ließ er ſich indeſſen
wohl gefallen, daß in Baden noch ein Theil der urſprünglichen Volks-
gewalt dem Monarchen übertragen war, und durch die gutherzige Freund-
lichkeit ſeines Auftretens brach er mancher ſeiner ſcharfen Aeußerungen ſelber
die Spitze ab. Von anderem Schlage war Welcker, ein unterſetzter Mann
mit geröthetem ſtrengem Geſicht und zornig funkelnden großen Augen; wie
ein Kampfſtier erhob er ſich zum Sprechen, über der tobenden Heftigkeit
ſeiner unaufhaltſam dahinbrauſenden Reden vergaß man ganz, daß er
mindeſtens in der Theorie nicht ſo weit ging wie Rotteck. Er nannte
ſich gern einen alten Soldaten der Freiheit, er lebte und webte in dem
Kampfe wider die Reaktion und betrachtete den Bundestag als ſeinen
perſönlichen Feind. Ueber die Bosheit der Fürſten tröſtete er ſich nur
auf Augenblicke, wenn er in ſeinem Zimmer die lange Reihe der Bürger-
kronen und Ehrenbecher, lauter Weihgeſchenke des geſinnungstüchtigen
Volkes, wohlgefällig muſterte. Von den berühmten Heidelberger Profeſſoren
erſchien nur der gutkatholiſche Altbaier Mittermaier, ein Juriſt von un-
geheuerer Beleſenheit, weltberühmt durch ſeine Kenntniß des ausländiſchen
Rechts, ſeit Langem eifrig bemüht für die Einführung der Schwurgerichte
und die Verbeſſerung der Gefängniſſe, freilich mehr ein vielwiſſender Ge-
lehrter als ein ſelbſtändiger Denker, gemäßigt in ſeinen politiſchen Grund-
ſätzen, aber keineswegs unempfänglich für die Tageslaunen der öffentlichen
Meinung. An dieſe Führer ſchloß ſich eine ganze Schaar treuer Bekenner
des liberalen Vernunftrechts: aus Freiburg der geſchäftskundige Juriſt
[230]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Duttlinger, der ſo lange faſt allein im Landtage der reaktionären Mehr-
heit Stand gehalten hatte; aus Heidelberg der Buchhändler „Vater Win-
ter“, der alte Kämpe der Preßfreiheit; aus dem Oosthale der Geiſtliche
Rath Herr, ein volksbeliebter, warmherziger Prieſter, dem fürſtlichen
Hauſe ſo treu ergeben, daß er ſich bei Hofe jede freimüthige Derbheit
erlauben durfte.
Zum Beginn des Kampfes ſchwenkte Itzſtein ſein Weihrauchfaß vor
den Franzoſen: „Im Weſten Europas erhob ſich ein Volk, an Bildung
und Nationalſinn allen vorgehend, und gab ſich einen Bürgerkönig.“
Nach dieſem glorreichen Vorbilde ſollte auch das badiſche Volk ſeine Frei-
heit zurückfordern und die vor ſechs Jahren abgeänderten Artikel ſeiner
Verfaſſung wiederherſtellen.*) Schaden hatte jene Verfaſſungsänderung
allerdings nicht angerichtet; nach ihren jüngſten Wahlerfolgen durften
die Liberalen am wenigſten beſtreiten, daß der Volkswille jetzt, da die
Kammer aller ſechs Jahre vollſtändig erneuert wurde, ſich weit kräftiger
äußern konnte als früherhin, da immer nur ein Viertel der Abgeordneten
ausgeſchieden war. Aber das badiſche Grundgeſetz galt nun einmal für
ein Heiligthum; daß die finſteren Zeiten der Reaction je daran gerührt
hatten, durfte nicht ungerochen bleiben, und ſo ward denn einſtimmig be-
ſchloſſen, jene unzweckmäßigen Vorſchriften der Verfaſſung wörtlich wieder
einzuführen. Die Flügelthüren des Saales waren geöffnet, weil die Tri-
bünen die Maſſe der Zuhörer nicht faſſen konnten; nach der Abſtimmung
erdröhnte das Haus von Jubelrufen. Auch Winter ſtimmte zu; er fühlte,
das Rechtsbewußtſein des ganzen Landes fordere dieſe Sühne. Dann
legte er ein wohldurchdachtes Gemeindegeſetz vor, das mit dem alten
Syſteme rheinbündiſcher Bevormundung entſchloſſen brach. Die Kammer
ging darauf ein; ſie veränderte jedoch die Vorſchriften über das Wahl-
recht in ſo radicalem Sinne, daß der politiſche Parteikampf ſofort in die
Gemeindewahlen eindrang und die neue Selbſtverwaltung während der
nächſten Jahre ſich noch nicht ruhig entwickeln konnte.
Noch heftiger flammten die Leidenſchaften auf, als Welcker die ſo-
fortige Verkündigung eines Preßgeſetzes verlangte. Er hatte ſchon im
vorigen Herbſt, in einer gedruckten Petition an den Bundestag, „die voll-
kommene und ganze Preßfreiheit“ für Deutſchland gefordert; in Frankfurt
abgewieſen, verſuchte er nun ſeine Abſicht für Baden allein durchzuſetzen.
Alſo verfiel der Karlsruher Landtag nochmals ſeinem alten dunklen Ver-
hängniß: er begann wieder, wie ſo oft ſchon, einen ausſichtsloſen Kampf
gegen den Deutſchen Bund und trat auch diesmal das geſchriebene Recht
mit Füßen. Nichts war begreiflicher als die allgemeine Sehnſucht nach
Preßfreiheit, zumal hier an der Grenze, wo man die Blätter des Auslandes
täglich vor Augen ſah. Doch leider durfte der badiſche Staat über ſeine
[231]Der badiſche Landtag von 1831.
Preſſe nicht frei verfügen, da er ſich ſelbſt die Hände gebunden hatte. Der
§ 17 der Verfaſſung beſtimmte: „Die Preßfreiheit wird nach den künftigen
Beſtimmungen der Bundesverſammlung gehandhabt werden.“ Wollten die
Badener alſo die drückende Feſſel der Cenſur zerbrechen, ſo mußten ſie
verſuchen, den Bundestag zuvor zur Aufhebung des Karlsbader Preßge-
ſetzes zu bewegen. Dieſer einzige geſetzliche Weg war freilich ganz un-
gangbar, und als der Abgeordnete Schaaff gleichwohl ihn zu betreten
rieth, erwiderte Welcker grimmig, das hieße ein Gaukelſpiel mit dem
badiſchen Volke treiben. Da die rechtliche Unmöglichkeit auf flacher Hand
lag, ſo griff der Antragſteller in ſeinem Feuereifer zu ſophiſtiſchen Aus-
legungskünſten, die dem grundehrlichen Manne übel anſtanden. Welcker
meinte friſchweg: jener ganz unzweideutige Verfaſſungsartikel bedeute
eigentlich das Gegentheil, er bedeute, daß die Preßfreiheit, nicht die Preß-
ſklaverei, den Badenern verſprochen ſei und mithin auch gegen den Willen
des Bundestags eingeführt werden müſſe. Noch mehr, er behauptete
ſogar, das Bundespreßgeſetz verlange nur, daß keine Schrift unter zwan-
zig Bogen „ohne Vorwiſſen und vorgängige Genehmigung der Landes-
behörden“ gedruckt werden dürfe, folglich ſei die Cenſur von Bundeswegen
nicht anbefohlen, ihr Name komme ja in dem Geſetze gar nicht vor!
Es war ein häßliches Advokatengezänk, und mit gutem Grunde erklärte
man im Berliner Auswärtigen Amte dieſe Beweisführungen der badiſchen
Liberalen für „wahrhaft jeſuitiſch“.*)
Jener ehrenwerthe Abſcheu gegen die anonyme Schriftſtellerei, der
noch vor zwölf Jahren in der Karlsruher Kammer vorgeherrſcht hatte,
war jetzt, nach ſo widerwärtigen Verfolgungen, gründlich zerſtört. Welcker
ſprach noch pathetiſch von der Pflicht des freien Bürgers, für ſeine Worte
einzuſtehen, doch er forderte nur, daß der Drucker oder der Verleger ſich
nennen müſſe, und erkannte alſo die Anonymität der Zeitungsſchreiber
als Regel an. Zum Schluß rief er drohend: wenn die Miniſter nicht
ein Preßgeſetz vorlegen, „ſo ſetzen ſie ſich der Anklage des Verraths gegen
das Volk und den Fürſten aus.“ Rotteck ſtimmte dem Freunde fröhlich
bei und predigte ungeſcheut die Auflehnung gegen den Deutſchen Bund;
denn ſeit der Bundestag ſein Recht zur Regelung der Preßfreiheit ſo
ſchnöde mißbraucht hatte, ſahen ſich die Liberalen, wenn ſie nicht ſehr
weit blickten, faſt gezwungen, das Panier des rohen Particularismus zu
erheben. „Der Deutſche Bund iſt ein bloßes Factum für uns“ — ſo
meinte Rotteck — nicht mit uns iſt der Bundesvertrag geſchloſſen worden,
ſondern nur zwiſchen den Fürſten, darum erkennen wir nur ein zweifaches
Geſetz an: „das ewige Vernunftrecht und unſere Landesconſtitution.“
Dann pries er die vox populi vox Dei und verſicherte in gläubiger
Unſchuld, es ſei rein unmöglich, daß die Preſſe jemals ſchlecht werde.
[232]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Von Stunde zu Stunde erhitzten ſich die Köpfe; eine Fluth von
Zornreden ergoß ſich über die Karlsbader „Ordonnanzen“. Die franzöſiſche
Verbildung dieſes Liberalismus bekundete ſich auch in ſeiner verwälſchten
Sprache: wie die Karlsbader Beſchlüſſe Ordonnanzen hießen, ſo nannte
man Welcker’s Antrag eine „Motion“ und die Verbeſſerungen „Amen-
dements“; nach Pariſer Brauch donnerten die Redner wider die mark-
loſen „Juſtemilianer“ und warnten die Regierung vor dem Schickſale des
„deplorablen Miniſteriums“ Polignac. Der Geiſtliche Rath Herr gab
der Preßfreiheit ſogar den kirchlichen Segen: er nannte ſie „eine Anſtalt
Gottes, die uns helfen wird zu Alledem was wir für Zeit, Tod und
Ewigkeit nothwendig haben.“ Da die anonymen Zeitungsſchreiber der
liberalen Doctrin wie Volkstribunen erſchienen, ſo ſollten ſie auch nur
durch die freie Stimme des Volksgewiſſens, durch Geſchworene gerichtet
werden. Selbſt Duttlinger, der ruhigſte unter den Führern der Oppo-
ſition, ließ ſich von der allgemeinen Aufregung anſtecken; der deutſche
Rechtslehrer ſchämte ſich nicht, die Schwurgerichte kurzerhand über das
Geſetz zu ſtellen und die ſchmähliche Parteilichkeit, welche die franzöſiſchen
Geſchworenen in allen politiſchen Proceſſen bethätigten, den rechtſchaffenen
Germanen als ein Muſter anzupreiſen: „Geſchworene beſchützen die Preß-
freiheit gegen zu ſtrenge und unnatürliche Geſetze durch ihr einfaches:
Nichtſchuldig!“ Endlich mißbrauchte die Kammer gar ihr Steuerbewilli-
gungsrecht zu einer verfaſſungswidrigen Drohung; ſie beſchloß, das Budget
erſt dann zu bewilligen, wenn die Regierung das Preßgeſetz nebſt einigen
anderen Geſetzentwürfen vorgelegt hätte.
Welch eine Lage für den wohlmeinenden Miniſter! Winter hielt die
Cenſur für einen gemeinſchädlichen Mißbrauch, aber wie durfte er ſie
beſeitigen, den Vorſchriften der Bundesgeſetze und der Landesverfaſſung
gradeswegs zuwider? Der Großherzog ſtand, wenngleich er den Kammern
gern ein Stück Weges entgegenkam, mit ſeinen Herzensneigungen durch-
aus auf Seiten der Oſtmächte. So oft die Ruſſen, unter dem Wehge-
ſchrei der Liberalen, einen Sieg erfochten, ließ er dem Könige von Preu-
ßen durch Otterſtedt ſeinen Glückwunſch ausſprechen.*) Nimmermehr
wollte er ſich gegen den Deutſchen Bund auflehnen. Mit Badens Zu-
ſtimmung hatte der Bundestag im vorigen Herbſt den Regierungen die
ſtrenge Handhabung der Cenſur anempfohlen, jetzt ſchritt er zu neuen
Beſchlüſſen gleichen Sinnes; an die Milderung oder gar die Aufhebung
der Karlsbader Geſetze wagte keine der Bundesregierungen zu denken
in einem Augenblicke, da halb Deutſchland durch Unruhen heimgeſucht
wurde. Aus Darmſtadt, Butzbach, Tübingen und anderen ſüddeutſchen
Städten kamen Adreſſen, welche die Bundesverſammlung baten dem
Blutvergießen in Polen Einhalt zu thun, damit die Cholera nicht nach
[233]Das badiſche Preßgeſetz.
Deutſchland eingeſchleppt werde. Der Vorwand erſchien durchſichtig ge-
nug; denn der Einmarſch deutſcher Bundestruppen in „das Land der
Knute und der Cholera“ war ſicherlich das beſte Mittel um die Seuche
weithin über Deutſchland zu verbreiten. Blittersdorff wurde zum Bericht-
erſtatter gewählt und fragte diesmal bei ſeinem Miniſter an. Mit Türck-
heim’s Genehmigung beantragte er ſodann und ſetzte durch, daß der
Bundestag nicht nur die Eingaben der Polenfreunde zurückwies, ſondern
auch für die Zukunft die Einſendung politiſcher Adreſſen unterſagte
(27. Oct.).*) Am 10. Novbr. wurden die Vorſchriften des Bundes-Preß-
geſetzes den Höfen nochmals nachdrücklich eingeſchärft, am 19. das Straß-
burger „Conſtitutionelle Deutſchland“ verboten. Der letztere Beſchluß
war eine wohlberechtigte Abwehr; ein Blatt, das ſo offen den Rheinbund
und den Aufruhr verfocht, konnte dort an der Grenze nur Unheil ſtiften.
Bei dem Allen wirkte der badiſche Geſandte insgeheim eifrig mit, und
Türckheim bedauerte nur, daß Blittersdorff nicht reinen Mund gehalten
habe, da man in München ſchon die Meinung des Karlsruher Hofes
über das Straßburger Blatt kenne.**)
In dieſen nämlichen Tagen, da Baden am Bunde die alte Karls-
bader Politik unterſtützte, verſprach Winter dem Landtage das verlangte
Preßgeſetz ſogleich vorzulegen. Anders wußte er ſich Angeſichts der
Drohungen des Landtags nicht mehr zu helfen; auf die Verweigerung des
Budgets, auf die Auflöſung der Kammern durfte er’s nicht ankommen
laſſen. Vorſorglich hatte Türckheim ſchon früher nach Wien geſchrieben,
das badiſche Preßgeſetz werde jedenfalls die Rechte des Bundes und der
Mitverbündeten gewiſſenhaft wahren.***) In der That beſtimmte der den
Kammern vorgelegte Geſetzentwurf, daß die Cenſur zwar der Regel nach
hinwegfallen, doch für die Beſprechung der Angelegenheiten des Deutſchen
Bundes oder der anderen Bundesſtaaten noch fortbeſtehen ſollte. Die
Kammer aber fand in ihrem Siegesübermuthe ſelbſt dies Zugeſtändniß
an das Bundesrecht noch zu ſtark; ſie fügte einen Paragraphen hinzu,
kraft deſſen der Herausgeber einer Zeitung, der die obige Vorſchrift um-
ginge und dann auf die Beſchwerde des Bundes oder einer Bundesre-
gierung wegen Beleidigung gerichtlich verurtheilt würde, zu der verwirkten
Strafe noch eine Zuſatzſtrafe von 5 bis 50 Gulden tragen ſolle. In
ſolcher Faſſung erſchien das Preßgeſetz wie ein Hohn auf das Anſehen
des Deutſchen Bundes. Die badiſchen liberalen Blätter riefen ſchon trium-
phirend: es giebt in Baden keine Cenſur mehr; wir unterwerfen uns
keinem Cenſor, ſondern tragen willig die kleine Zuſatzſtrafe falls ein Ge-
richt uns wegen Schmähung des Bundestags verurtheilen ſollte. Wie
[234]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
man ſich auch drehen und wenden mochte, das am 1. März 1832 in
Kraft tretende neue badiſche Preßgeſetz widerſprach offenbar dem Bundes-
rechte, das die Cenſur verlangte. Der Widerſpruch ward dadurch wahr-
lich nicht gemildert, daß die Karlsruher Regierung im März 1832 die
neueſten Bundesbeſchlüſſe veröffentlichte und zugleich erklärte, daneben
ſolle ihr Preßgeſetz — alſo das Gegentheil der bundesrechtlichen Vorſchriften
— in Geltung bleiben. Dem ehrlichen Großherzog war bei dieſem zwei-
deutigen Treiben übel zu Muthe. Unter vier Augen betheuerte er dem
preußiſchen Geſandten: auf Verlangen des Bundestags werde er das be-
denkliche Geſetz gern abändern.*) Wie durfte er auch hoffen, eine ſo un-
haltbare Stellung gegen den Willen der Geſammtheit der übrigen Bundes-
ſtaaten zu behaupten?
Mittlerweile wiederholte Rotteck im Landtage ſeine ſchon ſeit Jahren
feſtgehaltene Forderung, die ihm vor Allen die Gunſt des Landvolkes
verſchafft hatte, er verlangte die Aufhebung der Frohnden und Zehnten.
Der Antrag ergab ſich nothwendig aus den veränderten Zuſtänden der
Landwirthſchaft; aber wie radical, wie parteiiſch ward er begründet. Es
war Deutſchlands Glück und Ruhm, daß der Uebergang in die neuen
ländlichen Beſitzverhältniſſe ſich bei uns, nach Preußens Vorgang, überall
auf geſetzlichem Wege, durch billige Entſchädigung der Berechtigten, nicht,
wie in Frankreich und Spanien, durch Raub und Gewalt vollzogen hatte.
Dieſen ſchönen Vorzug ſeines Vaterlandes vermochte der Lehrer des Ver-
nunftrechts nicht zu begreifen; er ſah in den alten, durch langen Beſitz-
ſtand geheiligten grundherrlichen Rechten nichts als frevelhaftes Unrecht
und fand es ſehr ſonderbar, daß die Deutſchen blos an eine Ablöſung
zu denken wagten. Nur als ein Zugeſtändniß an die deutſche Gutmüthig-
keit beantragte er eine unbillig niedrige Entſchädigung und meinte traurig,
„ein Franzoſe oder Ueberrheiner“ werde dies noch viel zu hoch finden.
Dawider erhoben ſich alsbald die in ihrem Vermögen ſchwer bedrohten
Grundherren der erſten Kammer. Das Haus Löwenſtein verwahrte am
Bundestage wie am Karlsruher Hofe feierlich ſeine grundherrlichen Rechte.
Die Miniſter aber gaben dem Drängen der zweiten Kammer nach; ſie
befanden ſich wieder in arger Verlegenheit, zumal Türckheim, der vor
Jahren die grundherrlichen Rechte des Adels lebhaft vertheidigt hatte und
jetzt doch fühlte, daß Baden nicht hinter den Nachbarländern zurückbleiben
dürfe.**) Als die erſte Kammer das Geſetz über die Ablöſung des Neu-
bruch-Zehntens verworfen hatte, da erhob ſich Rotteck zornglühend: Der
vereinte Wille der Regierung und des Volkes iſt alſo geſcheitert „an dem
Veto einer Handvoll Junker!“ Nach dem Codex ſeines Vernunftrechts
war ja das Zweikammerſyſtem nur eine verwerfliche, die Natur ver-
[235]Rotteck und die Handvoll Junker.
drängende Künſtelei. Er zählte auf, daß in der erſten Kammer ſogar
einige der von der Krone ernannten Mitglieder gegen das Geſetz geſtimmt
hätten, und in ſeinem Parteihaſſe verſtieg ſich der Held der unentwegten
Ueberzeugungstreue bis zu der Behauptung: dieſe Mitglieder ſeien ver-
pflichtet ihre Ueberzeugung den Miniſtern zu opfern! Da der Präſident die
Schmähungen ungerügt ließ, ſo beſchwerte ſich die beleidigte Erſte Kammer.
Rotteck aber verweigerte jede Genugthuung und rief unter donnerndem
Beifall: „Zum Höfling bin ich verdorben, ich bin Volksvertreter!“ —
ein geflügeltes Wort, das fortan auf zahlloſen Ehrenbechern und Dank-
adreſſen prangte. Schließlich mußte man ſich doch zu einigen kleinen Zu-
geſtändniſſen an die Grundherren bequemen; der Fürſt von Fürſtenberg,
ein feingebildeter, wohlwollender Ariſtokrat, vermittelte zwiſchen beiden
Kammern. Zwei Ablöſungsgeſetze, über die Frohnden und den Neubruch-
Zehnten, kamen zu Stande, andere ſtanden in ſicherer Ausſicht, und
Rotteck behielt das Verdienſt, der agrariſchen Reform die Bahn gebrochen
zu haben.
Auch in minder wichtigen Fragen bekundete ſich der Uebermuth
der Liberalen. Auf ihr Verlangen mußte ein Cenſor, der ſich beim
Schoppen einige offenherzige Worte über Ludwig Philipp und die Fran-
zoſen erlaubt hatte, ſofort ſeines Amtes enthoben werden; jeder Zweifel an
der Tugend des meſſianiſchen Freiheitsvolkes galt ſchon als Verrath. Die
in Karlsruhe üblichen Motionen auf Beſeitigung des Cölibats fehlten auch
diesmal nicht, obwohl weder Rotteck noch irgend einer ſeiner katholiſchen
Freunde geſonnen war, der römiſchen Kirche den Gehorſam aufzuſagen.
Der allen liberalen Gemüthern theure Verfaſſungseid des Heeres wurde
ebenfalls gefordert, aber zum Glück noch abgewendet; nur die Offiziere
erhielten durch eine neue Dienſtpragmatik dieſelbe rechtliche Stellung wie
die übrigen Staatsdiener und „verwandelten ſich alſo, wie Rotteck rühmte,
aus willenloſen Waffenknechten oder blinden Werkzeugen der Gewalt in
vaterländiſche Wehrmänner.“ Sehr ſtürmiſch verliefen die Verhandlungen
über die Ausgaben des Heerweſens. Großherzog Ludwig hatte jahrelang
die Beſoldungen des Chefs der Armee und des Kriegsminiſters für ſich
bezogen, und die Kammern waren bisher über dies unfürſtliche Verhalten
ſtillſchweigend hinweggegangen, da der alte Herr jene beiden Aemter in
der That verwaltet hatte. Jetzt aber wurde die abgethane Sache mit
großem Lärm ans Licht gezogen, der Kriegsminiſter ſogar, wie es der
Brauch des Tages war, mit einer Anklage bedroht. Itzſtein entleerte
einen Köcher voll vergifteter Pfeile gegen den Hof und ſchloß ſeine von
Bosheit triefende Rede mit den erhabenen Worten: „Der jüngſt ver-
ſtorbene Regent ruht im Grabe, als ſprechender Beweis, daß Fürſten zu
bloßem Staube zurückkehren wie ihre Unterthanen.“
Das für die Zukunft folgenreichſte Ereigniß dieſer Tagung war eine
Motion Welcker’s auf „organiſche Entwicklung des Deutſchen Bundes“.
[236]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Der beherzte Mann wagte hier zum erſten male feierlich ein deutſches
Parlament zu fordern — ein fruchtbarer Gedanke, der jetzt freilich, wie
alle neuen Ideen, noch in nebelhaft verſchwommener Geſtalt erſchien, aber
fortan nicht mehr aus dem Leben der Nation verſchwinden ſollte. Welcker
verhehlte nicht, daß ihm die Freiheit weit näher am Herzen lag als die
Einheit der Nation; er fühlte ſich tief gekränkt, wenn die franzöſiſchen
Blätter von den deutſchen Sklaven ſprachen, die engliſchen mit ihrer
gewohnten Beſcheidenheit unſer Volk „das niederträchtigſte und feigſte“ der
Erde nannten. Er erkannte den unverſöhnlichen Widerſpruch zwiſchen der
abſolutiſtiſchen Centralgewalt des Bundes und den Landſtänden der Einzel-
ſtaaten, den empörenden Unſinn einer Verfaſſung, welche der Nation
jede Einwirkung auf die Leitung ihres Geſammtſtaates ſchlechthin verſagte,
und zog aus Alledem den Schluß, daß eine aus den Mediatiſirten und
aus erwählten Volksvertretern gebildete Zweite Kammer neben den Bundes-
tag treten müſſe. An die Nothwendigkeit einer ſtarken executiven Bundes-
gewalt dachte er noch nicht, am wenigſten an die Hegemonie Preußens,
das er vielmehr als einen halbfremden, faſt feindlichen Staat anſah, ſeit
die Berliner Politik der Polenſchwärmerei der badiſchen Liberalen ins
Geſicht ſchlug. Auch die böſe Frage, wie der vielköpfige Bundestag neben
einem noch unbehilflicheren Reichstage beſtehen ſolle, erregte dem ehrlichen
Schwärmer kein Bedenken. In ſeinem Parteieifer hatte er dem Antrage
noch einige völlig thörichte Vorſchläge hinzugefügt; er meinte, der Unter-
ſchied zwiſchen den abſoluten und den conſtitutionellen Staatsgewalten
ſei heute weit größer als vormals der Gegenſatz der kirchlichen Bekennt-
niſſe, und verlangte daher, daß die Bundesgeſandten der conſtitutionellen
Staaten, nach dem Vorbilde des alten Corpus Evangelicorum, eine ge-
ſchloſſene Körperſchaft bilden müßten, mit dem Rechte der geſonderten Ab-
ſtimmung, der itio in partes, falls über Verfaſſungsfragen verhandelt
würde! Zu ſolchen Ungeheuerlichkeiten verſtieg ſich die politiſche Unreife
der Zeit: jene unſelige kirchliche Spaltung, welche ſo lange jede Thätig-
keit der Reichsgewalt gelähmt hatte, ſollte jetzt, dem Vernunftrechte zu
Liebe, auf politiſchem Gebiete künſtlich erneuert werden; und dieſer Vor-
ſchlag kam aus dem Munde eines Apoſtels der deutſchen Einheit.
Gleichwohl enthielt Welcker’s Motion einen geſunden Kern. Die
Miniſter bewährten nur von Neuem ihre rathloſe Schwäche, als ſie jede
Verhandlung über den Antrag verweigerten und ſchließlich Mann für
Mann den Ständeſaal verließen. Offenbar befürchtete Winter einen
gemeinſamen Sturmlauf der Landtage wider die Bundesverfaſſung; denn
zur ſelben Zeit beantragte Sylveſter Jordan in Caſſel — ſicherlich nach
Verabredung mit dem befreundeten Welcker — Veröffentlichung der Bun-
desprotokolle und engere Verbündung der conſtitutionellen Staaten am
Bundestage. Jordan’s Antrag blieb ohne ernſte Folgen, weil die Heſſen zur
Zeit durch ihre heimiſchen Nöthe genugſam beſchäftigt waren. Den badiſchen
[237]Welcker verlangt ein deutſches Parlament.
Abgeordneten war ebenfalls an der Glückſeligkeit ihres badiſchen Muſter-
landes ungleich mehr gelegen als an der Zukunft Deutſchlands; durch
vertrauliches Zureden ließen ſie ſich bewegen, den Welcker’ſchen Antrag
„in die Abtheilungen zu verweiſen“, das will ſagen: ihn in der Stille
zu beerdigen. Welch ein unheimliches Schauſpiel! Der Bundestag ver-
bot den Deutſchen, ihm politiſche Adreſſen zu ſenden, und nun beſtritt
eine ſehr nachgiebige Regierung ſelbſt den Landtagen das Recht, über
Bundesangelegenheiten auch nur mitzureden. Wenn man alſo der Nation
jeden geſetzlichen Weg zur Bundesreform verſperrte, was blieb ihr ſchließ-
lich noch übrig als die Bahn der Revolution?
Nachdem Rotteck noch einmal in leidenſchaftlicher Rede wider die
neueſten Bundesbeſchlüſſe, wider „das Joch Oeſterreichs und Preußens“
gedonnert und über 34 aus allen Theilen des Landes eingelaufene Dank-
adreſſen triumphirend berichtet hatte, wurde der Landtag zu Ende Decem-
bers geſchloſſen. Ein Rauſch der Freude ging durch das Land. Ueberall
Ehrenpforten und Ehrenjungfrauen, Feſtzüge und Feſtſchmäuſe für die
heimkehrenden Volksmänner. Auf dem Feſtkuchen der Stadt Heidelberg
ſtand, herrlich in Zucker gegoſſen, die Göttin des Ruhmes, am Munde
die Tuba, in der Hand eine Tafel mit den Namen der großen badiſchen
Landtagsredner; Europa ſchaute bewundernd zu dieſen Namen empor,
während der Genius der Knechtſchaft mit ſeiner Geißel trauernd abſeits
ſaß. Am treueſten bekundete ſich die Geſinnung des feſtluſtigen Ländchens
in einem Liede, das beim Abſchiedsmahle der Kammern in Karlsruhe
geſungen wurde:
Konnten die großen Mächte dieſen ſelbſtzufriedenen Liberalismus,
der ſich ſo dreiſt über die Bundesverfaſſung hinwegſetzte, auf die Dauer
gewähren laſſen? Der Berliner Hof zeigte ſich anfangs ſehr geduldig.
Er mahnte den Großherzog zu kräftiger Haltung, doch er warnte ihn
auch vor verfaſſungswidrigen Schritten und verſicherte wiederholt, daß
Preußen ſich in die badiſchen Händel nicht einmiſchen werde.*) Erſt als
das Preßgeſetz erſchien ſchlug die Stimmung um. Eine Verhöhnung des
Bundesrechts wollte ſich der König nicht bieten laſſen; auch das Doppel-
ſpiel, das die Karlsruher Regierung zwiſchen dem Landtage und dem
Bundestage getrieben, widerte ihn an. Bald nach der Entlaſſung der Kam-
mern berichtete der badiſche Geſandte aus Berlin verzweifelnd: „Preußen
vertraut uns nicht mehr!“ Er ahnte, daß ſich über ſeiner Heimath ein
Unwetter zuſammenzog, dem ſie ſchwerlich widerſtehen konnte. —
[238]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Unterdeſſen ward auch der Naſſauer Landtag von Stürmen heim-
geſucht. Es war der alte widerliche Zank um das Eigenthum des Kammer-
guts, der die ganze Verfaſſungsgeſchichte dieſes mißhandelten Landes
ausfüllte.*) Herzog Wilhelm nannte ſich ſelbſt einen von den Wiener
Grundſätzen durchtränkten Ultraroyaliſten, er erklärte es für „eine leere
Floskel“, daß die Geſetze regieren ſollten, und hoffte auf die Zeit, da
man mit Hilfe des Bundes „ohne Widerſtand und mit gutem Gewiſſen
die modernen Conſtitutionen Deutſchlands aufheben“ könne.**) Einer
ſolchen Regierung gegenüber konnte der Landtag, der ſich im Januar
1831 verſammelte, wenig ausrichten; er trat beſcheiden auf, verwahrte
aber das Recht des Landes auf die Kammergüter und wurde darum
nach einigen Monaten vertagt. Selbſt der preußiſche Geſchäftsträger
Heinrich von Arnim, ein geiſtreicher Romantiker aus dem Kreiſe des
Kronprinzen, konnte nicht leugnen, daß die tiefe Verſtimmung des Volkes
weſentlich durch den falſchen Stolz und den Eigennutz des Herzogs
ſowie durch das Paſcha-Regiment ſeines Miniſters Marſchall verſchuldet
war.***)
Sobald die Stände im Herbſt ſich wieder verſammelten, vermehrte
der Herzog die Zahl der Mitglieder der Herrencurie von ſechs auf ſiebzehn,
um bei den gemeinſamen Sitzungen des Landtags immer der Mehrheit
ſicher zu ſein. Die zweite Kammer plante eine Steuerverweigerung, da
ſie nicht einmal einen Rechenſchaftsbericht über die Einnahmen des Kammer-
gutes mitgetheilt erhielt. Sie wurde aufgelöſt, und als der neugewählte
Landtag im April 1832 zuſammentrat, wußte er ſich gegen den böſen Willen
der Regierung nicht mehr zu helfen. Die große Mehrheit der zweiten
Kammer erklärte nach eintägiger Sitzung ihren Austritt. Nur fünf Ge-
treue Marſchall’s blieben auf ihren Plätzen, und dieſe Fünfmännerſchaft
hatte den verzweifelten Muth, das von dem Miniſter vorgelegte Budget bis
auf wenige Abſtriche zu bewilligen. Einige Volksaufläufe in Wiesbaden
und anderen Städten wurden leicht unterdrückt; aber im Lande herrſchte,
wie Arnim ſelbſt geſtand, „allgemeine Empörung“. Ein ſo perſönlicher
Streit zwiſchen der Habgier des Fürſtenhauſes und dem Rechtsbewußtſein
des Landes mußte ſelbſt dies friedfertige Völkchen erbittern. Sogar das
allmächtige Beamtenthum konnte ſich der wohlberechtigten Aufregung des
Volkes nicht entziehen.†) Gehäſſige Unterſuchungen, welche Marſchall gegen
den wackeren Kammer-Präſidenten Herber und die anderen ausgetretenen
Abgeordneten einleiten ließ, goſſen nur Oel ins Feuer. Der Herzog be-
lohnte die ergebenen Mitglieder der Herrencurie, ſchalt auf ſein unge-
[239]Naſſau. Gährung in Württemberg.
treues Volk und drohte die Hilfe des Bundestags anzurufen. Da er
indeſſen kein gutes Gewiſſen hatte, ſo wagte er die Drohung nicht aus-
zuführen und rächte ſich nur durch kleinliche polizeiliche Quälereien. Ein
Verein in Wiesbaden, der den Armen bis zur nächſten Ernte billiges Brot
verſchaffen wollte, wurde kurzerhand verboten, weil ein Theil ſeiner Mit-
glieder der liberalen Partei angehörte; und Arnim ſchrieb traurig: „Mit
welchen Gefühlen gegen ſeine Regierung, deren Motive er nicht durch-
ſchauen kann, ſoll jetzt der arme Tagelöhner ſein ihm abſichtlich ver-
theuertes Kummerbrot verzehren!“ So flammte hier, dicht vor den Thoren
des Bundestages, ein gefährliches Feuer auf. —
Württemberg blieb von parlamentariſchen Kämpfen vorerſt noch ver-
ſchont, obwohl der ſcharfe Luftzug der neuen Zeit auch hier bald empfunden
wurde. Der Landtag war erſt im Frühjahr 1830 auseinandergegangen und
brauchte, nach der Verfaſſung, erſt in drei Jahren wieder einberufen zu
werden. König Wilhelm, der ſich jetzt für immer einer ſtreng conſervativen
Richtung zugewendet hatte, trug auch kein Verlangen dieſe Friſt zu
verkürzen. Nachdrücklich ſprach er aus, daß er die Zeit der allgemeinen
Erregung erſt vorübergehen laſſen wolle, da das Budget genehmigt, der
Staatshaushalt unter der umſichtigen Leitung des Freiherrn v. Varn-
büler in guter Ordnung war und auch ſonſt kein Anlaß zu eiligen Ar-
beiten der Geſetzgebung vorlag. Für den Fall eines plötzlichen Angriffs
der Franzoſen hatte er ſchon beſchloſſen, die zu öffentlichen Bauten be-
willigten Gelder zu benutzen.*) So ließ er denn die Verwaltung ruhig
die laufenden Geſchäfte erledigen und erfreute ſein Land nur einmal
durch eine wohlthätige Neuerung. Im April 1831 wurde jene unſelige
Verordnung vom Jahre 1829, welche der Landesuniverſität ihre alte
Freiheit genommen hatte, aufgehoben: Tübingen erhielt wieder das Recht,
ſeinen Rector und ſeine Decane zu wählen, eine verſtändige neue Ver-
faſſung ſtellte die Univerſität den anderen deutſchen Hochſchulen gleich.
Durch den heftigen Federkrieg der beleidigten deutſchen Profeſſorenwelt
und die Vorſtellungen ſeines Landtags war der König des begangenen
Irrthums inne geworden, und er ſtand nicht an, den Mißgriff zurück-
zunehmen.**)
Mit ſolchen Zugeſtändniſſen ward die Gährung keineswegs beſchwich-
tigt. Ueberall im Lande erklang der Ruf nach ſchleuniger Einberufung der
Stände. Einen beſtimmten Zweck verfolgten die Unzufriedenen freilich nicht;
ſie wünſchten nur daß die übervollen Herzen ſich irgendwie ausſprechen
ſollten. Der Wahlkampf, ſonſt ſo harmlos, ward diesmal ſehr heftig;
ein Netz von liberalen Wahlvereinen überſpannte das Land. Wie Pilze
ſchoſſen die Zeitungen aus der Erde; in Stuttgart allein erſchienen ihrer
[240]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
acht, faſt alle liberal, und vergeblich berief der König den Schweizer
Ernſt Münch, um in der Stuttgarter Hofzeitung die Oppoſition zu be-
kriegen; das Talent des oberflächlichen Vielſchreibers, der vormals zu
Rotteck’s Füßen geſeſſen hatte, zeigte ſich ſolchen Gegnern nicht gewachſen.
Die ſchwäbiſchen Liberalen waren in ihrer Mehrheit gut deutſch geſinnt,
für die Pariſer Heilslehren minder empfänglich als die Badener, aber
nach Landesbrauch ſehr eigenſinnig, und ſobald ſie bei den Wahlen zu
Anfang 1832 den Sieg davongetragen hatten, forderten ſie den ſofortigen
Zuſammentritt des Landtags als ihr unbeſtreitbares Recht. Der König
aber mitſammt ſeinem vertrauten Duzbruder, dem gewandten Bureau-
kraten Maucler hielt ebenſo hartköpfig an dem Wortlaut der Verfaſſung
feſt und ließ nach der Wahl alle Verſammlungen, die ſich noch mit Land-
tagsſachen befaſſen wollten, ſtreng verbieten.
Mittlerweile tauchte auch Wangenheim wieder auf, da ihm in ſeinem
Coburger Exile ein württembergiſcher Wahlkreis ein Mandat angeboten
hatte. Er war noch ganz der Alte, halb Romantiker, halb conſtitutio-
neller Doctrinär, lauſchte im Garten des Geiſterhauſes zu Weinsberg
andächtig den Aeolsharfen ſeines Freundes Juſtinus Kerner, in Tübingen
den Seherworten des Naturphiloſophen Eſchenmaier und erbat ſich vom
Könige, als geborener Ausländer, die Beſtätigung oder Erneuerung ſeines
Staatsbürgerrechts. König Wilhelm überwand ſeinen ſtillen Groll gegen
den entlaſſenen Miniſter, er gewährte die Bitte, erſtaunte aber ſehr, als
Wangenheim ſich nun ſogleich an die Liberalen anſchloß und mit ge-
wohntem Selbſtgefühl erklärte, daß er zwar als ein Mann der rechten Mitte
für die Sache der Monarchie, für die Souveränität aller deutſchen Fürſten
eintreten, aber auch die Segnungen der Juli-Revolution, die er mit glühen-
der Begeiſterung feierte, den Schwaben übermitteln wolle.*) Im April
1832 ging den erwählten Liberalen die Geduld aus, da ſie noch immer nicht
einberufen wurden; ſie verſammelten ſich im Bade Boll — auch Wangen-
heim war darunter — und erklärten feierlich ihr Bedauern über das
„Stocken des verfaſſungsmäßigen Lebens“. Im Namen der Boller Ver-
ſammlung ſendete ſodann der heißblütige junge Anwalt Schott eine ſehr
kräftige Bittſchrift an den König: „Bis jetzt iſt es in den Annalen des
conſtitutionellen Staatslebens noch nicht erhört, daß die Bitten des Volks
um Einberufung der Stände keine Beachtung zu erwarten haben“.**)
König Wilhelm blieb feſt und behauptete das Feld noch ein volles Jahr
hindurch; das poſitive Recht erwies ſich ſtärker als das conſtitutionelle
Vernunftrecht. Das Volk aber klagte: ſo werde den Schwaben gewaltſam
der Mund verſchloſſen. —
[241]Unruhen in München.
In peinlicherer Lage befand ſich König Ludwig von Baiern. Nach
ſeiner ganzen Weltanſchauung konnte er die Juli-Revolution nur verab-
ſcheuen. Man ſah ihn finſter, ſchweigſam einhergehen und bemerkte bald,
daß jener clericale Kreis, welchen die Liberalen nach Pariſer Muſter die
Congregation nannten, in der Stille Einfluß gewann.*) Von den ver-
trauten Generaladjutanten war der eine, General Deuxponts, ein Vetter
Polignac’s, der andere, Prinz Conſtantin Löwenſtein, weithin verrufen als
Feuerbrand der reaktionären Partei; im Schloſſe Heubach am Main ver-
ſammelten ſich um den geiſtreichen unterrichteten Prinzen die Führer der Ul-
tramontanen aus ganz Süddeutſchland und jene feudalen Edelleute, welche in
der neuen Agrargeſetzgebung nur „das legaliſirte Fauſtrecht“ ſehen wollten.
Im ſelben Sinne wirkte insgeheim der vielvermögende Cabinetsrath Gran-
dauer. Auch Feldmarſchall Wrede, der mittlerweile ſeinen Frieden mit
dem Wiener Cabinet geſchloſſen hatte, ward am Hofe wieder hoch geehrt.
Indeſſen blieb das Land noch ruhig, obgleich die hohen Bierpreiſe unter
den Gäſten des Hofbräus viel Zorn erregten. Als Ludwig am Jahres-
tage der Leipziger Schlacht den Grundſtein zur Walhalla legte, rühmte
ſein Miniſter Schenk in prahleriſcher Rede, wie „feſt und ruhig hier
der glückliche weil beglückende König Baierns“ ſtehe, während ringsumher
die Empörung tobe. Der König ließ ſogar auf die Treue ſeiner Baiern
eine Münze ſchlagen und ſang ihnen zu:
Was er an Sicherheitsmaßregeln für nöthig hielt, verſparte er ſich auf
die Zeit nach den Neuwahlen, die im December ſtattfanden.
Da wurde die Ruhe der Hauptſtadt in der Weihnachtswoche mehr-
mals durch rohen Unfug der Studenten geſtört. Es war ein gemeiner
Straßenlärm, ohne politiſchen Zweck, nur mittelbar gefördert durch den
unbeſtimmten Thatendrang der aufgeregten Zeit. König Ludwig aber
hörte auf die Einflüſterungen ſeiner Umgebung, er wähnte einer furcht-
baren Verſchwörung gegenüberzuſtehen, befahl zahlreiche, zum Theil un-
geſetzliche Verhaftungen, er ſchloß die Univerſität auf einige Zeit und be-
nutzte nunmehr die Vollmacht, die er ſich vom Bundestage erbeten hatte.
Am 28. Januar 1831 erließ Miniſter Schenk eine Preßverordnung,
welche die Beſprechung innerer Angelegenheiten der Cenſur unterwarf und
den Zeitungsſchreibern unter Anderem auch verbot die Striche der Cen-
ſoren durch Lücken im Druck anzudeuten: dieſe oft ſehr draſtiſch wirkenden
„Cenſurlücken“ waren neuerdings als ein willkommenes Mittel der Noth-
wehr bei der mißhandelten liberalen Preſſe in Gebrauch gekommen. Die
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 16
[242]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Verordnung entſprach den Verfaſſungsgeſetzen, welche die Cenſur für
alle Zeitſchriften politiſchen und ſtatiſtiſchen Inhalts vorſchrieben; aber ſie
ſtand in grellem Widerſpruche mit dem ſeit Jahren herrſchenden milderen
Brauche und mit des Königs eigenen Worten. Wie oft hatte er ſich
doch in früheren, hoffnungsfrohen Jahren gerühmt, daß ſeine Baiern
über bairiſche Dinge unbeſchränkt ihre Meinung ſagen dürften! Dann
erfuhr man, daß fünf von den 54 in die Kammer gewählten Staats-
und Gemeindebeamten keinen Urlaub erhalten hätten. Auch damit glaubte
der König nur ſein verfaſſungsmäßiges Recht auszuüben. Doch Jeder-
mann ſah, daß der Urlaub den fünf Abgeordneten nicht wegen der Erfor-
derniſſe des öffentlichen Dienſtes, ſondern um ihrer liberalen Geſinnung
willen verweigert wurde; und zudem war die Frage, ob auch Gemeinde-
beamten des Urlaubs bedürfen, noch immer ſtreitig.
Dieſe Schritte der Regierung erregten überall ſo tiefen Unmuth,
daß die Stadträthe von Nürnberg und Bamberg ſich berechtigt hielten,
an den König ſelbſt unehrerbietige Eingaben zu richten. Die Nürnberger
nannten „die unglückſelige Ordonnanz vom 28. Jan.“ gradezu „ver-
faſſungs- und eideswidrig“, ſie beſchwerten ſich über die Ausſchließung
„der Männer, welche unter den Gewählten am meiſten das Vertrauen
des Volkes genießen“; ſie verſicherten, im Lande herrſche „eine kaum je
erlebte Gährung: die Bewohner Nürnbergs blicken mit wahrem Schauder
in die nächſte Zukunft.“ Der König erwiderte ſehr mild: es ſei ihm
ſchmerzlich, verkannt zu werden, aber wie er die Freiheit der Wahlen
gewahrt habe, ſo wolle er auch ſeine eigenen Rechte wahren.*) Die ver-
ſöhnliche Antwort beſchwichtigte nicht. Aus den Bergen des Allgaus lief
eine noch weit heftigere Adreſſe an den Landtag ein: die Regierung habe
die Verweigerung des Urlaubs nur deßhalb ſo weit ausgedehnt „um ſich
gegen jene, durch die Ereigniſſe des Juli jetzt glücklich zernichtete hohe
Allianz gefällig zu zeigen. Wir ſollen eine bloße Schein-Repräſentation
beſitzen und doch ſo gutmüthig ſein zu glauben, wir hätten eine wahre.
Die Miniſter eilen, ſich die traurige Verlaſſenſchaft Karl’s X. anzueignen;
doch auch ſie haben falſch gerechnet wie das deplorable Miniſterium.
Repräſentanten! Enthüllet dem Könige den furchtbaren Abgrund, an
den heuchleriſche Frömmlinge ihn führten!“**)
Wie kamen dieſe braven Kleinbürger, die ſich in der Krone zu Kempten
oder in der Poſt zu Immenſtadt bei der landesüblichen „Elfuhr-Meß“,
beim Frühſchoppen, zuſammenzufinden pflegten, zu ſolchen franzöſiſchen
Redensarten? Es ließ ſich nicht verkennen, die Aufregung im Volke war
vorhanden, aber ſie ward auch künſtlich gefördert durch eine verwilderte
[243]Das bairiſche Preßgeſetz.
Preſſe, die ſich gutentheils von dem Abhub der Pariſer Tiſche nährte.
Mit Unmuth bemerkte der Freiherr vom Stein noch kurz vor ſeinem
Tode: wie ſei der ehrwürdige Name „Publiciſt“, den unſere Altvorderen
einem Pufendorf, einem Möſer beilegten, jetzt durch eine Rotte ſeichter
und gewiſſenloſer Tagesſchreiber herabgebracht! Unter der Maſſe kleiner
Blätter, die neuerdings aufgeſchoſſen waren, ſprach das Bairiſche Volks-
blatt noch am ruhigſten; hier verfocht der wunderliche, von den Dema-
gogenjägern ſo lange mißhandelte mediciniſche Syſtematiker Eiſenmann die
Lehren Rotteck’s mit warmem Herzen, aber ohne jede Sachkenntniß.
Stürmiſcher redete der Belgier Coremans in ſeiner Freien Preſſe, am
wildeſten der Franke Wirth in der Deutſchen Tribüne. Alle dieſe Lite-
raten gewannen bald eine unheilvolle Macht über den Landtag, obgleich
ſie ſelber nicht Abgeordnete waren. Coremans pflegte vor wichtigen Ab-
ſtimmungen ein drohendes Manifeſt an die Volksvertreter zu richten, nach
der Entſcheidung die Namen der geſinnungstüchtigen in rothgedruckten
Ehrenliſten zu veröffentlichen, und ſchüchterte alſo manche brave Männer
ein, da die Kleinbürger an das Evangelium der Zeitungen noch überall
kindlich glaubten. Wirth bearbeitete die Volksvertreter im perſönlichen
Verkehre, und nicht ſelten geſchah es, daß ein dunkler Ehrenmann, der
noch nie ein Wort geſprochen, ſich im Hauſe erhob um vom Blatte weg
eine mächtige Rede abzuleſen, deren Satzbau und Gedanken den Heraus-
geber der Deutſchen Tribüne deutlich erkennen ließen. Durch ſolchen
Terrorismus unberufener journaliſtiſcher Mitarbeiter wurden die Ver-
handlungen der Stände von Haus aus vergiftet und verfälſcht.
Der König wiederholte in ſeiner Thronrede am 1. März was er
ſo oft geſagt: „Ich möchte nicht unumſchränkter Fürſt ſein,“ aber er rief
auch warnend: „Volksgunſt auf des Staatszwecks Koſten darf nicht er-
ſtrebt werden.“ Zu Beginn der Verhandlungen erhob Freiherr v. Cloſen
eine heftige wohlberechtigte Beſchwerde wider die willkürlichen Verhaftungen
in München. Der beredte Pfälzer hatte von ſeinem Vater, einem Kriegs-
gefährten Waſhington’s und Lafayette’s, die glühende Begeiſterung für
die Freiheit geerbt, indeß war er keineswegs gemeint den Boden der Ver-
faſſung zu verlaſſen, den König perſönlich und deſſen Mäcenatenthum
bewunderte er aufrichtig. Er gehörte mit zu jenen fünf Abgeordneten,
denen der Urlaub verſagt war, und hatte ſein Amt niedergelegt um in
die Kammer einzutreten. Statt dieſen treuen Mann durch Wohlwollen
zu gewinnen ſuchte die Regierung in unbegreiflicher Verblendung ihn zu
verderben. Sie warf die gehäſſige Frage auf, ob Cloſen mit Recht in
der Kammer ſitze, da er zwar auf ſein Amt verzichtet habe, aber zur Zeit
der Wahl noch Staatsdiener geweſen ſei. Mit erdrückender Mehrheit
wurde dies Bedenken abgewieſen, und nun ergoß ſich von allen Seiten
her ein Strom des Unwillens über die Miniſter. Zumal Schenk, „der
Vater der Preßordonnanz, der bairiſche Polignac“ ſollte wegen Verfaſſungs-
16*
[244]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
bruchs angeklagt werden. Von den Beſchlüſſen des Bundestags ſprach
man nur mit zorniger Verachtung; ſelbſt Ignaz Rudhart, der wieder
mit dem herzerwärmenden Feuer ſeiner Beredſamkeit für die Sache des
gemäßigten Liberalismus eintrat, ſchlug Baierns Bundespflichten ſehr
niedrig an und forderte die unbeſchränkte Preßfreiheit.
Nach langen, erbitterten Kämpfen ſah der König endlich ein, daß er
den verhaßten Miniſter nicht mehr halten konnte. Schenk wurde in die
Provinz verſetzt und den Ständen eine neue, ſehr gemäßigte Preßver-
ordnung vorgelegt: ſie gab die Beſprechung bairiſcher Angelegenheiten
völlig frei und widerſprach alſo ſchnurſtracks den neuen, durch Baiern
ſelbſt veranlaßten Bundesbeſchlüſſen. Auch dies genügte der Kammer noch
nicht; die Köpfe hatten ſich ſchon ſo ſehr erhitzt, daß ſogar Präſident Seuffert,
der Diplomat des Hauſes rundab erklärte: „Alles oder nichts!“ Die
Kammer der Reichsräthe aber wollte den Abgeordneten auf ihrer ab-
ſchüſſigen Bahn nicht folgen, und ſo blieb denn der gewaltige Lärm
ſchließlich ohne jedes Ergebniß. Die Krone behielt freie Hand gegenüber
der Preſſe. Ebenſo unerquicklich verlief der langwierige Streit wegen der
Urlaubsverweigerung; zu einem Verzicht auf ſein verfaſſungsmäßiges
Recht ließ ſich der König nicht bewegen.
Darüber vergingen Monate; erſt in ihrer hundertſten Sitzung begann
die Kammer die Berathung des Budgets und bewährte ſogleich ihre Ge-
ſinnungstüchtigkeit durch umfaſſende Streichungen, obgleich Armansperg
durch ſeine überſparſame Verwaltung das Deficit von faſt 3 Millionen
Gulden beſeitigt und einen Ueberſchuß von 7 Millionen gewonnen hatte.
Die ohnehin viel zu knapp bemeſſenen Ausgaben für das verwahrloſte
Heer ſollten noch einmal beſchnitten werden. Auch die Vereidigung des
Heeres auf die Verfaſſung wurde beantragt. Dieſe thörichte Forderung
galt ſelbſt unter den Gemäßigten für einen unantaſtbaren Glaubensſatz
des liberalen Katechismus; indeß war Rudhart klug genug zu erklären,
daß er dem verfaſſungstreuen Monarchen kein Mißtrauen ausſprechen
wolle, und ſo gelang es den Antrag noch zu beſeitigen. Aber auch die
Civilliſte des Königs dachten die Liberalen um faſt ein Viertel zu kürzen,
und die Verhandlungen darüber mußten den Monarchen tief kränken,
da Jedermann wußte, daß er von ſeinem Einkommen nichts für ſich,
Alles für die Kunſt verwendete. Für die Kunſtpflege, die unter König
Ludwig doch allein dem bairiſchen Staatsleben Würde und Inhalt gab,
zeigte der aufgeklärte Liberalismus wenig Verſtändniß; faſt alle Ausgaben
für Neubauten wurden verworfen. Die mächtigen Quadermauern der
Pinakothek ragten ſchon aus dem Erdboden heraus; dennoch verweigerte
die Kammer — vielleicht nach dem Buchſtaben, doch ſicherlich gegen den
Geiſt der Verfaſſung — die Mittel zur Fortführung des Werkes. Ein
liberaler Redner rief triumphirend: möge dieſer Bau liegen bleiben
„als eine Ruine der Geſetzmäßigkeit!“ — und der König ſah ſich ge-
[245]Die Oppoſition im bairiſchen Landtage.
zwungen, eine halbe Million Gulden aus ſeinen eigenen Mitteln vor-
zuſchießen.
Bei allen dieſen Händeln trat wieder grell zu Tage, wie wenig der
bairiſche Staat noch vermocht hatte den Gegenſatz der Landſchaften zu
verſöhnen. Die Pfälzer und die Franken ſtanden faſt ſämmtlich zu der
liberalen Fahne, allen voran der Advocat Schüler aus Bergzabern, „die
Stütze des Volks, der Koloß an Geiſt und Charakter“ — wie die Zei-
tungen ihn nannten — in der That ein feiner Kopf, der ſeine radicalen
Anſichten faſt immer klug und mit vornehmem Anſtand vertrat. Bei den
Altbaiern dagegen herrſchte die alte Begeiſterung für Thron und Altar,
mehr noch im Volke als unter den Abgeordneten. Die Münchener Bürger-
ſchaft und die tauſende von Arbeitern, welche der königliche Kunſtfreund
bei ſeinen Bauten beſchäftigte, grollten über die Schmälerung der Civilliſte
und holten den Monarchen in feierlichem Zuge ein, als er von einer
Reiſe heimkehrte. Die Gautinger Bauern ſchaarten ſich zuſammen unter
der Führung des bergiſchen Freiherrn v. Hallberg, des allbekannten
„Eremiten von Gauting“, und ſendeten eine geharniſchte Adreſſe: der
König möge ſeinen getreuen Bauern nur winken, „und in einer Stunde
haben Ew. Majeſtät keine lebenden Feinde mehr!“ Seitdem diente der
Name der Gautinger, wie vormals am Rhein der Name der Hatzenporter,
der liberalen Preſſe viele Jahre lang zur Bezeichnung des Bedientenſinnes.
Eine ſchwierige Mittelſtellung zwiſchen den Parteien behauptete der
junge Freiherr v. Rotenhan aus der fränkiſchen Reichsritterſchaft, ein
Burſchenſchafter, von der Hochſchule her mit Stüve und dem Jenenſer
Buchhändler Frommann befreundet, durch Blutsverwandtſchaft und Ge-
ſinnungsgemeinſchaft mit dem Berliner Präſidenten Grolman eng ver-
bunden, ein edler Patriot von freiem, weitem Blicke, unabhängig nach
oben wie nach unten. Die Liberalen wußten ſeinen Freimuth noch nicht
zu ſchätzen, weil er ein gläubiger Proteſtant war und als beſonnener
Reformer den Brandreden der Demagogen oft ſehr ſcharf entgegentrat.
Gleich ihm dachte ſein Freund Graf Giech, der Schwiegerſohn des Freiherrn
vom Stein. Die Beiden bildeten faſt die einzige Brücke zwiſchen der
hiſtoriſchen Staatsgeſinnung des Nordens und dem vernunftrechtlichen
Liberalismus des Südens. Wie weit die Kluft zwiſchen dieſen Anſichten
noch war, das empfand Chriſtian Rauch ſehr lebhaft, als er um jene
Zeit zur Vollendung ſeines Königsdenkmals nach München kam; Thierſch
und ſeine anderen bairiſchen Freunde betrachteten ihn faſt wie einen Ko-
ſaken, weil er als guter Preuße das gerühmte allgemeine Staatsrecht
nicht bewundere, in den Polen nur die Feinde ſeines Vaterlandes ſehen
wollte.
Nach langem Feilſchen kam das Budget doch noch zu Stande; die
Abſtriche waren ſo ſtark, daß man ein Fünftel der direkten Steuern
erlaſſen konnte. Im Uebrigen leiſtete die lärmende Verſammlung ſehr
[246]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
wenig: über die Ablöſung der Scharwerke und der Zehnten, über das
längſt geplante, dringend nöthige Landesculturgeſetz äußerte ſie nur aller-
hand Wünſche, ohne ſich über ausführbare Vorſchläge zu einigen, und
der beſchränkten Gewerbefreiheit, welche das neue Conceſſionsſyſtem ge-
währte, trat ſie ſogar feindlich entgegen, weil die Kleinbürger, geängſtigt
durch den wachſenden Wettbewerb, ſich in ſtürmiſchen Adreſſen über die
neue Freiheit beſchwerten. Als die Stände um Weihnachten mit wenigen
trockenen Worten heimgeſchickt wurden, da trennte man ſich zwar noch
in leidlichem Frieden. Ein Bruch war für diesmal vermieden, und das
preußiſche Auswärtige Amt erkannte dankbar an, daß die Landtagsver-
handlungen hier doch nicht ganz ſo ſtürmiſch verlaufen waren wie in
Karlsruhe oder Caſſel.*) Rotenhan aber und wer ſonſt unter den be-
ſonneneren Abgeordneten dem Hofe nahe ſtand, ſchaute voll Beſorgniß
in die Zukunft. Denn der König, deſſen Wille in dem ſtreng monar-
chiſchen Staate doch immer den Ausſchlag gab, verhehlte nicht ſeinen
Zorn über die thörichten und aufreizenden Reden dieſes „langen und
leidigen Landtags“. Er ward irr an den conſtitutionellen Idealen ſeiner
Jugend. Nach der Weiſe enttäuſchter Enthuſiaſten wendete er ſich ſchroff
von dieſen holden Träumen ab und ließ den ſelbſtherrlichen Neigungen
ſeines Charakters die Zügel ſchießen, obgleich er an die förmliche Auf-
hebung der Verfaſſung niemals dachte. „Erobert von der Proſa wird
die Welt“, ſo rief er ſchmerzlich, als ihm die Liberalen ſeine künſtleriſchen
Pläne ſtörten und Goethe dem verkannten frommen Bauherrn ſeine
Theilnahme ausſprechen ließ. Er klagte über den Wandel der Volksgunſt,
über das Schwinden der alten Treue:
Und es blieb nicht bei den ſtrafenden Worten. Die Oppoſition
hatte ſich gründlich verrechnet, als ſie nach der Entlaſſung Schenk’s den
Beginn eines liberalen Regiments erhoffte. Zu Ende des Jahres trat
der alte Zentner aus, der ſo viele Jahre hindurch Beamtenthum und
Landtag in Eintracht erhalten hatte. Zugleich erhielt auch Armansperg
ungnädigen Abſchied, zum großen Leidweſen der preußiſchen Regierung;
alle ſeine Verdienſte um den Staatshaushalt und den preußiſch-bairiſchen
Zollvertrag galten jetzt nichts mehr, da der öſterreichiſche Hof und die
Genoſſen der Münchener „Congregation“ ihn ſchon längſt, durchaus mit
Unrecht, als einen geheimen Gönner des Liberalismus verdächtigt hatten.**)
Nunmehr übernahm Feldmarſchall Wrede den Vorſitz im Miniſterrath.
[247]König Ludwig’s Verſtimmung.
Gleich ihm war auch der neue Miniſter des Auswärtigen, Frhr. v. Giſe
ein Anhänger Metternich’s. Von dem Fürſten Oettingen-Wallerſtein,
einem geiſtreichen Weltmanne, dem der König ganz unvermuthet die Ver-
waltung des Innern übertrug, wußte man bisher noch wenig. Nur ſo
viel war ſicher, daß die neue Regierung der Wiener Hofburg näher ſtehen
würde als die alte. Unabläſſig bearbeitete Kaiſerin Karoline Auguſte
ihren königlichen Bruder mit frommen Rathſchlägen; und da in Baiern
eine politiſch-conſervative Partei außerhalb der Kreiſe des hohen Beam-
tenthums kaum vorhanden war, ſo regte ſich ſchon die beſorgte Frage, ob
König Ludwig ſich nicht bald den mächtigen Clericalen, die ſeinen ro-
mantiſchen Anſchauungen doch ſehr nahe ſtanden, ganz in die Arme
werfen würde. —
Noch eifriger als die Landtage bemühte ſich die raſch ins Kraut ge-
ſchoſſene Preſſe Süddeutſchlands, die Höfe in die Bahnen der Reaction
hineinzuzwingen. Unter den Zeitſchriften des oberländiſchen Liberalismus
galten die früherhin von Poſſelt, dann von Murhard, neuerdings von Rotteck
herausgegebenen Politiſchen Annalen immerhin noch für das anſtändigſte
Blatt, und welch ein thörichtes radicales Weltbürgerthum ward hier ver-
treten. Von Deutſchland, von den Pflichten nationaler Ehre und Selbſt-
behauptung war gar nicht mehr die Rede. Der ehrliche Freiburger
Doctrinär ſah auf der Welt nichts weiter als den Freiheit krähenden
galliſchen Hahn und deſſen Todfeindin, „die heilige Allianz“. „Die Ge-
ſchichte der Welt, ſo ſchrieb Rotteck im Januar 1831, hat kein anderes Jahr
von ſo unermeßlicher und verhängnißvoller Wichtigkeit aufzuweiſen, wie
jenes das ſoeben zu Ende ging.“ Darum fand er es entſetzlich, daß
„Lafayette, der Abgott aller wohldenkenden Franzoſen, dem ſchändlichen
Haſſe der Ariſtokraten aufgeopfert“ wurde. Darum verlangte er auch
die Einmiſchung der deutſchen Mächte zu Gunſten der aufſtändiſchen Polen,
eine Intervention, die grade „aus dem Princip der Nichtintervention zu
rechtfertigen“ ſei! „Belgien, ſo unentbehrlich zur Sicherſtellung Frank-
reichs gegen die Waffenmacht der heiligen Allianz“, wurde zu Rotteck’s
Bedauern durch die Friedensliebe der Juſtemilianer verſchmäht, und der
badiſche Staatsweiſe wünſchte von Herzen, daß dieſem friedlichen Ent-
ſchluſſe des freien Frankreichs nicht „eine allzu ſpäte Reue“ folgen möchte.
Als der betriebſame bairiſche Kammerredner Hornthal wieder einmal eine
Schrift herausgab um die Neutralität Deutſchlands gegenüber der Juli-
Revolution zu verlangen, da ward er von Rotteck hart angelaſſen: das
ſei zu wenig; jetzt handle es ſich um die allgemeine Freiheit und Civili-
ſation, alſo müßten Deutſchlands conſtitutionelle Fürſten Partei ergreifen,
„ihr Wort und ihre Arme legen in die Wagſchale der Conſtitution“. So
mit der ganzen harmloſen Unwiſſenheit des politiſchen Dilettanten predigte
[248]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
der Freiburger Volksmann die Zerreißung ſeines Vaterlandes; zu ver-
wundern war es nicht, wenn General Clauſewitz und die anderen preußi-
ſchen Patrioten ihn einfach für einen Landesverräther hielten.
Die kleinen Leute von der Preſſe überboten noch das Vorbild des
Meiſters. Wer dieſen Stimmen glaubte, der mußte wähnen, alles Leben
der Völker gehe nur in den Zeitungen und den Kammerreden auf. Da
die Preußen von dieſem zweifachen Glücke bisher nur wenig beſaßen, ſo
wurden ſie mit grenzenloſer Verachtung behandelt, und Niemand bemerkte,
daß der Preuße im täglichen Leben, bei der Niederlaſſung, bei der Heirath,
im Gewerbebetrieb, in der Gemeinde ein unvergleichlich freierer Mann war
als der bureaukratiſch gegängelte Süddeutſche. Ein noch ziemlich gemäßigtes
Blatt, der Stuttgarter Hochwächter, herausgegeben von Lohbauer, faßte
einmal (9. Jan. 1832) die Grundgedanken dieſer conſtitutionellen Selbſt-
beräucherung alſo zuſammen: „Ausland heißt in dieſem Augenblick den
conſtitutionellen Teutſchen jeder Staat, der ein anderes als ein conſtitutio-
nelles Intereſſe verfolgt. Es klingt hart und ſcheint die unſelige Tren-
nung Teutſchlands verewigen zu wollen, wenn wir ſagen, daß wir unſere
preußiſchen und öſterreichiſchen Stammgenoſſen als Ausländer betrachten.
Nachdem wir aber einmal die Worte Teutſch und Conſtitutionell für gleich-
bedeutend genommen haben, ſo müſſen ſich’s unſere öſterreichiſchen und
anderen Sprachgenoſſen ſchon gefallen laſſen, wenn wir ihnen die Bruder-
ſchaft ſo lange aufkündigen, bis wir ſie auf einem Wege mit uns wandeln
ſehen. Wir ſind nun zwar nicht gemeint, daß die Preußen oder Oeſter-
reicher von uns mißachtet werden müſſen; aber man nehme uns nicht
übel, wenn wir vorderhand beſſere Freunde der Franzoſen ſind, von denen
wir Schutz für den Beſtand unſerer Verfaſſungen zu erwarten haben.“
In Freiburg thaten ſich die Liberalen ſofort nach der Verkündigung
des neuen Preßgeſetzes zu einer Aktiengeſellſchaft zuſammen und gründeten
„den Freiſinnigen“. Die Leitung übernahm für eine Weile der Frei-
herr v. Reichlin-Meldegg, ein katholiſcher Prieſter, der um dieſe Zeit zur
evangeliſchen Kirche übertrat und ſich der rationaliſtiſchen Schule des
Heidelbergers Paulus anſchloß, unzweifelhaft ein ehrlicher Mann, aber
ſo platt und abgeſchmackt, daß er in guter Geſellſchaft höchſtens als Spaß-
macher geduldet werden konnte. Groß war der Jubel als dies „erſte
Kind der Preßfreiheit“ zur Welt kam. Die Studenten fuhren eine auf
Atlas gedruckte Nummer des „Freiſinnigen“ in feierlichem Zuge durch die
Stadt. Daran ſchloß ſich das unvermeidliche Feſtmahl. Eine Abgeſandt-
ſchaft der Buchdrucker überreichte Welcker — dem Manne, „der die ſchöne
Motione macht“, wie man im Ländchen ſagte — die gleich unvermeidliche
Lorbeerkrone. Rotteck rief: „Das in allen civiliſirten Ländern des Erd-
theils und der Welt ausgebreitete Volk der Freigeſinnten, im Gegenſatz
der Herriſchgeſinnten und Knechtiſchgeſinnten, lebe hoch!“ Dann trank
ein junger Doctor auf die Geſundheit und das lange Leben eines Vogels,
[249]Der Freiburger Freiſinnige.
des galliſchen Hahnes, der zum zweiten mal durch ſeinen kräftigen Flügel-
ſchlag die Ketten zerriſſen habe. Zum Schluß erhob ſich der ebenfalls
unvermeidliche „edle Pole“, um ſeinen Unwillen über das Regiment des
franzöſiſchen Juſtemilieu auszuſprechen, worauf Rotteck, um ihn zu tröſten,
Lafayette leben ließ, „die reinſte Perſonification des edelſten Geiſtes und
Charakters in Frankreichs Revolution und Volk.“ Die mit ſo großen Er-
wartungen begrüßte Zeitſchrift beſprach die auswärtige Politik mit blinder
Leidenſchaft und vollendeter Unwiſſenheit; beharrlich wiederholte ſie ihren
Leſern das alberne Märchen, daß Oeſterreich und Preußen die Deutſchen,
wie einſt Napoleon gegen die Spanier, ſo jetzt gegen die Freiheit Frank-
reichs als willenloſe Knechte in den Kampf führen wollten.
Ueber die heimiſchen Angelegenheiten urtheilte der „Freiſinnige“
ruhiger, ſachkundiger, und wer ihn mit den anderen, leider recht unge-
rathenen Erſtlingen der neuen Preßfreiheit verglich, der konnte ſchon er-
kennen, daß die badiſche Oppoſition zwei grundverſchiedene Parteien um-
ſchloß. Im Oberlande donnerte „der Schwarzwälder“ des jungen Juriſten
Bader gegen die Zwergmännerchen der Cabinette und die Kaſte der ſo-
genannten Adlichen mit ihren Ausſchweifungen, ihrer Ueppigkeit, ihren
Laſtern: „ſie mögen nur herkommen, die Knechte der Tyrannei!“ In
Mannheim ließ der friſche, geiſtreiche, aber auch zerfahrene und flüchtige
Brauſekopf Franz Stromeyer den „Wächter am Rhein“ erſcheinen. Dann
und wann gab ihm ſein Schwager der junge Karl Mathy einen verſtän-
digen Artikel; er ſelber erging ſich zumeiſt in wilden Anklagen, drohte mit
dem Bunde der Völker gegen die Fürſten, forderte die beiden Großmächte
gradehin zum Kampfe heraus: Alle Herzen ſchlagen für Badens Preß-
freiheit; „Heſſen, Naſſau, Rheinbaiern, Braunſchweig werden auf Leben
und Tod mit uns ſtehen. Das iſt Badens Macht! Nur zu mit der
Gewalt! Nur zu! Gebt die Loſung zur Wiedergeburt des Vaterlandes!“
So lange man noch gemeinſam dem drohenden Bundestage gegenüber-
ſtand konnten ſich freilich dieſe Radicalen von den gemäßigteren Liberalen
noch nicht ſcharf abſcheiden.
Ueberhaupt gährten die Meinungen noch ſo wild durch einander, daß
keine Partei ihre eigenen Ziele klar erkannte. Mancher der ſüddeutſchen
Bewunderer Frankreichs wähnte im beſten Glauben, nur das Werk der
Befreiungskriege fortzuführen, wenn er die damals errungene nationale
Unabhängigkeit auf ſeine Weiſe durch den Ausbau der inneren Freiheit
zu vollenden ſuchte. Eine in Straßburg gedruckte, offenbar in Baden
entſtandene Schrift „Bitt’ um’s Wort, eine kleine halbe Stunde mit
Arndt und Jahn“ fragte den Turnmeiſter ganz verwundert: man ſage,
er urtheile ungünſtig über die Juli-Revolution; „das kannſt du nicht ge-
ſagt haben, alter Kämpe, du haſt der Freiheit Rennlaufbahn in Deutſch-
land eröffnet. Die Franzoſen ſind die Jugend Europas, von allen Völkern
der Erde müſſen ſie grade dir am beſten gefallen.“ Arndt’s Schrift gegen
[250]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
die Belgier, die ſich leider nicht hinwegleugnen ließ, erſchien dieſem Ba-
dener wie eine unbegreifliche Verirrung: „Wäre Arndt nicht ein Mann
des Volkes, ſo könnte man glauben, dies Buch ſei die erkaufte Stimme
eines feilen Cabinets-Lakaien oder Miniſters.“ Das einzige unabhängige
badiſche Blatt, das ſich der Uebermacht des Liberalismus entgegenſtemmte,
die Mannheimer Zeitung, verſpottete mit ſcharfem Witze Rotteck’s vernunft-
rechtliche Gemeinplätze und die Selbſtüberhebung ſeiner Genoſſen; in ein-
zelnen Artikeln verriethen ſich die Federn geiſtreicher Heidelberger Profeſſoren.
Indeß zeigte auch dieſe Zeitung, wie faſt alle conſervativen Organe des Sü-
dens, deutlich ihre clericalen Hintergedanken und ſchon darum konnte ſie
in den proteſtantiſchen Landestheilen wenig Anſehen gewinnen.
Nicht minder laut lärmten die Zeitungen in den Nachbarländern. In
Württemberg hatte der Schwäbiſche Merkur, der namentlich über die deutſche
Handelspolitik ſehr verſtändig urtheilte, einen ſchweren Stand neben der
Maſſe der neu aufgeſchoſſenen radicalen Blätter. „Kein Ehrenmann wird
ſich der Schmach bequemen“ — alſo ſtand auf dem Titel des Reutlinger
„Beobachters“ zu leſen neben dem Bilde der Stange mit dem Geßler-
hute. „Der Hauptſtrom, auf welchem der allgewaltige Zeitgeiſt einherfährt,“
fluthete natürlich wider den Damm der heiligen Allianz; alle Männer
von Kraft, Muth und feſtem Willen ſollten in dem Beobachter ihren
Sprechſaal finden, und zugleich verſprach er dieſen Tapferen ſtrenge
Geheimhaltung ihrer Namen: — ſo unantaſtbar erſchien bereits die ent-
ſittlichende Anonymität der Preſſe. Die Rede dieſer radicalen Schwaben
klang noch ſehr beſcheiden neben den Kraftworten der „Zeitſchwingen“,
die in Hanau dicht unter den ſchadenfrohen Augen des alten Kurfürſten,
von G. Stein herausgegeben und in Frankfurt, zum Schrecken des Bundes-
tags, durch geheime Stafetten verbreitet wurden. Hier ward die un-
bedingte Einheit des Vaterlandes, die Vernichtung aller Staaten und
Staatlein, mochten ſie Preußen oder Heſſen-Homburg heißen, ſtürmiſch
gefordert, aber auch das angeborene Phlegma des deutſchen Michels in
Börne’s Weiſe verhöhnt und die Geſammtheit der conſtitutionellen Deutſchen
ermahnt, nach dem Beiſpiele der Polen, „des Muſterbildes der Völker“,
den Kampf zu beginnen gegen Preußen: „Ich haſſe den Feind; aber den
Heuchlerfreund, den haſſe ich nicht, den verachte ich aufs tiefſte. Wie Preußen
Deutſchland überreden möchte, daß es ſelber der Schild der Freiheit ſei,
ſo ſpiegelt es der Welt vor, es wolle den Frieden und das Glück Europas,
während es den nordiſchen Feind durch ſeinen Bund zum Herrn unſeres
Glücks (ach, unſeres Unglücks!) macht.“
Das Alles ward aber weit überboten von der urkräftigen Sprache
der Zeitungen in der bairiſchen Rheinpfalz. Wieder einmal ſchuf ſich
das zerfahrene politiſche Leben der Nation für kurze Zeit einen unnatür-
lichen Mittelpunkt: das entlegene pfälziſche Grenzgebiet wurde, wie einſt
Coblenz in der Zeit des Rheiniſchen Mercurs, Jena in den Tagen der
[251]Die Radicalen in der Pfalz.
Nemeſis und der Iſis, zum Feuerherde der deutſchen literariſchen Oppo-
ſition, obgleich dieſem Ländchen von Kleinbürgern und Kleinbauern ſchlechter-
dings Alles fehlte, was der politiſchen Preſſe Gehalt und Macht giebt.
Nur der tiefe Groll, der die liberalen Schriftſteller beſeelte, fand hierzu-
lande einen natürlichen Boden; denn nirgends ward der Jammer der
deutſchen Zerriſſenheit ſo handgreiflich empfunden. Eingeklemmt zwiſchen
den Zolllinien Frankreichs und des preußiſch-heſſiſchen Vereins, abgeſperrt
von dem bairiſchen Hauptlande, lernte die Pfalz den Segen des freien
Verkehrs faſt nur an den falſchen Sechſern kennen, mit denen der Co-
burger Herzog von St. Wendel aus ſie freundnachbarlich überſchwemmte.
Der Abſatz ſtockte; die Auswanderung nach dem gelobten Eldorado des
fernen Weſtens nahm hier noch bedenklicher überhand als in den anderen
Kleinſtaaten des Südens, und die öffentliche Meinung, die vor der neuen
Erſcheinung des Maſſen-Elends noch ganz hilflos ſtand, pries dies Ab-
ſtrömen köſtlicher nationaler Kräfte als ein wirkſames ſociales Heilmittel.
Die fröhlichen Pfälzer betrachteten ihre barſchen, ſchwerfälligen altbairiſchen
Beamten immer noch als Fremde, obgleich die Verwaltung neuerdings
unter der Leitung des Präſidenten Stichaner etwas rühriger arbeitete; ſie
lebten nach ihren franzöſiſchen Geſetzen und hingen daran mit deutſcher
Treue. Noch im Jahre 1799, als in Frankreich ſelbſt der Idealismus
der Revolution ſich längſt verflüchtigt hatte, waren die Freiwilligen aus
der gebildeten pfälziſchen Jugend frohlockend zum franzöſiſchen Heere ge-
zogen um für die Freiheit gegen die Despoten zu kämpfen.
Was Wunder alſo, daß der neue Freiheitsruf der Pariſer grade hier
ein ſchallendes Echo fand und die unzufriedenen Pfälzer mit den Radi-
calen im nahen Straßburg ſogleich einen freundſchaftlichen Verkehr an-
knüpften? Aber, ſo ſtark blieb immerhin die Stimme des Blutes in dieſem
grunddeutſchen Stamme, die förmliche Vereinigung mit Frankreich wünſch-
ten nur Wenige, etwa mit Ausnahme des Advokaten Savoye und des kleinen
Kreiſes ſeiner radicalen Freunde. Man fühlte doch, daß die ungeliebte
bairiſche Verwaltung milder verfuhr als die napoleoniſchen Präfecten, und
trug auch kein Verlangen nach wälſch redenden Beamten. Die Mehr-
zahl der Pfälzer ſchwärmte für ein einiges, freies Deutſchland, das mit
dem freien Frankreich treu verbündet, ihnen den Druck der Binnenmauthen,
die Plackereien der Cenſur und der Polizei von den Schultern nehmen
ſollte; in ihrer Harmloſigkeit legten ſie ſich kaum die Frage vor, um
welchen Preis die Freundſchaft der Franzoſen feil ſei. Da dies Land
jedoch weder dynaſtiſche Anhänglichkeit noch irgendwelche Achtung vor dem
bairiſchen Staate hegte, ſo konnte die unklare Aufregung leicht mißleitet
werden.
Jedermann ſah die Gefahr, nur nicht König Ludwig, der ſein ſtolzes
Wort von „der Baiern Treue“ nimmermehr anzweifeln ließ und am
wenigſten in der geliebten Wiege ſeines Geſchlechts aufrühreriſche Ge-
[252]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
danken vermuthen wollte.*) Die zuverſichtliche Stimmung des Münchener
Hofes änderte ſich aber bald, als Dr. Siebenpfeiffer ſeine demagogiſche
Wirkſamkeit begann, ein Rabuliſt des gemeinen Schlages, von zweifel-
haftem Charakter, federfertig, unermüdlich, grade geiſtreich genug um den
halbgebildeten Philiſtern als ein großer Mann zu erſcheinen. Sein „Rhein-
baiern, eine Zeitſchrift für die Geſetzgebung des conſtitutionellen In- und
Auslands, zumal Frankreichs“ ſprach noch ziemlich gemäßigt, obwohl die
üblichen Schimpfreden wider die verfaſſungswidrige Zitterpappelhaftigkeit
der Beamten, wider das deutſche Sibirien Preußen, wider die Frechheit
der preußiſchen Ariſtokratenſtirnen und den zum ruſſiſchen Statthalterſitze
erniedrigten Thron Friedrich’s des Großen auch hier nicht fehlten. Er ver-
langte nur ein ſelbſtändig regiertes Rheinbaiern, etwa unter einem könig-
lichen Prinzen, aber mit feierlicher Anerkennung der in der Pfalz recht-
mäßig verkündigten franzöſiſchen Erklärung der Menſchenrechte, und wünſchte
die Jugend ſtaatsbürgerlich zu bilden durch Beſeitigung des claſſiſchen
Unterrichts, der überhaupt den vernunftrechtlichen Liberalen zu geiſtvoll
und darum verdächtig war. Was ſich in den Abhandlungen einer Monats-
ſchrift nicht wohl ſagen ließ, das verkündete Siebenpfeiffer um ſo deut-
licher in den kleinen Brand-Artikeln ſeines Tageblatts, des „Weſtboten“.
Hier ſprach er aus, was er auch ſeinem alten Freunde Rotteck vertraulich
geſtand, daß er der ſüßlichen Halbheiten und conſtitutionellen Lügen der
badiſchen Juſtemilianer müde ſei: Thron und Republik heulen einander an,
Fürſtlichkeit und Volksthum ſind unverträglich, die Fürſten nur die ver-
körperte Idee des Ariſtokratismus. Wenn dereinſt alle Oberbehörden aus
Volkswahlen hervorgehen, „dann ſtürzen die ausgehöhlten Throne, dann,
göttliches Recht, fliehe in die Wälder von Rußland“! Darum wurden die
Caſſeler, Braunſchweiger, Dresdner verhöhnt wegen ihrer Lärmbewe-
gungen, die vor den Thronen ſtehen geblieben, die Naſſauer aufgefordert
„ein Loth Blei durch das falſche niedrige Herz des ehrvergeſſenen Miniſters
Marſchall zu ſchießen“, und der geſammten Nation zugerufen: „Welcher
deutſche Brutus reißt das Meſſer aus dem blutigen Leichnam der ge-
ſchändeten Polonia und giebt den Aufruf zur Freiheit?“
Zu Siebenpfeiffer geſellte ſich der fränkiſche Juriſt Wirth, der ſo
lange in der Münchener Kammer hinter den Kuliſſen geſtanden hatte
und nun doch gerathen fand ſeine ſtreitbare Feder unter den Schutz des
franzöſiſchen Gerichtsverfahrens zu flüchten, ein ſchwärmeriſcher Teutone
von gutem Rufe und ehrlicher Vaterlandsliebe, aber faſt noch radicaler
als ſein Genoſſe. In ſeiner „Tribüne“ wurde nicht nur das amerika-
niſche Staatsideal verherrlicht, ſondern auch ſchon ein verſchämter Socialis-
mus gepredigt: eine große Aſſociation ſollte die Kinder der Armen, je nach
ihrer Begabung, für höhere Berufe erziehen, eine Nationalkaſſe den kleinen
[253]Wirth und Siebenpfeiffer.
Geſchäftsleuten Darlehen gewähren. Wirth weigerte ſich ſein Blatt den
Cenſoren zu unterwerfen, forderte alle deutſchen Schriftſteller öffentlich
auf, ihm die von der Cenſur geſtrichenen Stellen zum Abdruck zu über-
geben, verlegte ſeine Zeitung von einer pfälziſchen Stadt zur anderen,
ſobald ihm ſeine Handpreſſe verſiegelt wurde, und führte gegen die Polizei-
behörden einen kleinen Krieg, der das Volk um ſo ſtärker erbittern mußte,
weil die Gerichte ſich in mehreren Fällen des gehetzten Mannes annahmen.
Die pfälziſchen Richter wurden allgemein als die natürlichen Vertheidiger
der Landesfreiheit verherrlicht, und ſie ſetzten auch ihren Stolz darein,
durch milde, zuweilen recht anfechtbare Urtheile der Welt zu beweiſen,
daß unter der Herrſchaft der napoleoniſchen Codes den politiſchen Käm-
pfern mehr erlaubt ſei als in Altbaiern.
Von nah und fern drängten ſich nunmehr radicale junge Schrift-
ſteller an jene beiden Führer heran: der Herausgeber der Speierſchen
Zeitung, Kolb, der Braunſchweiger Georg Fein, Sauerwein in Frankfurt
und viele Andere, von denen keiner über die Mittelmäßigkeit herausragte.
Ermuthigt durch das Beiſpiel der Pfälzer ließ der Mecklenburger Hundt-
Radowsky in irgend einem Winkel des Südens „die Geißel“ erſcheinen,
worin gleich zum Eingang „die Geiſterſtimmen der Ermordeten an Nickel
und ſeine Verbündeten“ erklangen. Die heſſiſchen Liberalen gründeten
unter dem Schutze der ſchlaffen pfälziſchen Cenſur das „heſſiſche Volks-
blatt“, das nur von Heſſen geſchrieben, die Miniſter in Darmſtadt ſchwer
beunruhigte. Aus ſicherer Ferne half auch Börne mit, deſſen Pariſer
Briefe täglich frecher, höhniſcher, roher ſprachen.
Bald wurden auch die Truppen bearbeitet; im Zweibrückener All-
gemeinen Anzeiger ſetzte ein angeblicher Unteroffizier ſeinen Kameraden
auseinander, daß ſie ſich gegen Bürger nicht gebrauchen laſſen dürften,
da „als Bürger alle Erdbewohner gleiche Rechte“ hätten. Um die preu-
ßiſchen Rheinländer ebenfalls aufzuwiegeln, ließ man in Zweibrücken eine
Schrift erſcheinen „Rheinpreußiſche Glückſeligkeit“, ein hohles Machwerk,
das an der preußiſchen Verwaltung eigentlich nichts zu tadeln fand als die
Tyrannei der Cenſoren, denen „der Staat ihre Ketten von dem Bürger-
ſchweiße vergoldete“, und gleichwohl zu dem Schluſſe gelangte, die Rhein-
länder ſeien Waiſenkinder, zwar nicht ohne Mutter, aber ohne Vater. Hier
war die Mühe freilich umſonſt. Die Rheinländer ſtanden, bis auf ver-
ſchwindende Ausnahmen, feſt zum preußiſchen Staate, ſo daß Präſident
Ruppenthal, ſeit Daniels’ Tode der anerkannt erſte rheiniſche Juriſt, bei
der Eröffnung der Aſſiſen von 1832 die unwandelbare Treue der Provinz
mit gerechtem Stolze rühmen konnte.
Um ſo kläglicher zeigte ſich die Hilfloſigkeit der Kleinſtaaterei in dem
coburgiſchen Fürſtenthum Lichtenberg, dem fruchtbaren Heimathlande der
falſchen Sechſer. Die Lichtenberger klagten ihrem Herzoge in einer ſtür-
miſchen Adreſſe, daß ſie baare 10000 Gulden für das Heer bezahlen
[254]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
müßten und trotzdem nie einen Soldaten zu Geſicht bekämen, daß die Her-
zogin Wittwe aus St. Wendel weggezogen ſei, daß ſo viele Coburger und
Gothaer angeſtellt würden, während Lichtenberg doch an einheimiſchen Ta-
lenten Ueberfluß hätte. Da dieſe und andere Beſchwerden fruchtlos blieben,
ſo brach bald eine gemüthliche Anarchie herein; denn das Land wurde ſchlecht
verwaltet, nach franzöſiſchen Geſetzen, aber ohne die ſtramme Ordnung des
Präfectenſyſtems; die Regierung that gar nichts um dem Schmuggel zu
wehren und ihre armen Bauern vor dem verbrecheriſchen Treiben der Bande
noire, der Wucherjuden zu ſchützen. Ueberall Volksverſammlungen und
tobende Straßenaufzüge, auch viele „Rothkäppchen“ mit Jacobinermützen
zeigten ſich unter dem Haufen. In St. Wendel hielt der Pfarrer Juch regel-
mäßig einen „Markt“, um den Bauern die radicalen pfälziſchen Blätter
vorzuleſen und zu erläutern. Auf die Bitte des Herzogs rückten einige
preußiſche Truppen ein, und ſofort nach ihrem Erſcheinen ward Alles ſtill;
doch kaum waren ſie abgezogen, ſo begann der Lärm von Neuem, bis
endlich vor der alten Hallenkirche zu St. Wendel ein mächtiger Freiheits-
baum aufgepflanzt wurde mit der trutzigen Inſchrift: „Welcher Henkers-
knecht es wagt mit frevelnder Hand dieſes Heiligthum anzutaſten, iſt des
Todes!“ Der Pöbel ließ die Gensdarmen nicht heran und tanzte die
Nacht hindurch die Carmagnole um das Symbol der Freiheit.
Mittlerweile begannen auch die bairiſchen Pfälzer vom Zeitungsleſen
zu Thätlichkeiten vorzuſchreiten. In jedem Wirthshauſe des weinſeligen
Landes ſaßen die politiſirenden Kriſcher zuſammen. Da und dort ward
ein Freiheitsbaum aufgerichtet und durch die Maſſen gegen die Polizei-
mannſchaft vertheidigt, oder auch ein Hund gekrönt und dann feierlich
ausgeprügelt. Wirth bildete im Anſchluß an die Polenvereine einen
Vaterlandsverein zum Schutze der freien Preſſe, der ſich bald über
mehrere Städte des Südweſtens verzweigte, und ſtellte den Genoſſen zur
höchſten Aufgabe die Neugeſtaltung des Deutſchen Bundes: an der Spitze
der Nation ſteht eine erwählte Nationalkammer und ein ausführender
Präſident, auf zwei Jahre gewählt, den Volksvertretern unbedingt unter-
worfen; jede deutſche Provinz darf ſich durch Volksabſtimmung als
ſelbſtändiger Bundesſtaat einrichten, mit einer republikaniſchen oder con-
ſtitutionellen Verfaſſung. Ein ſolches Programm erſchien der Mehrzahl
der Vereinsmitglieder doch bedenklich, es ward für jetzt noch verworfen;
aber wohin ſollte das wüſte Treiben aller dieſer Zeitungen und Vereine
noch führen, hier dicht vor den Thoren der radicalſten deutſchen Stadt,
Mainz, an der Grenze des begehrlichen Frankreichs? Schon wußte man
in Berlin, daß der franzöſiſche Geſandte Mortier dem bairiſchen Miniſter
Giſe vertraulich erklärt hatte: fremde Truppen — das will ſagen: Bun-
destruppen — könne Frankreich in der Rheinpfalz unmöglich dulden.*)
[255]Die Polen in Süddeutſchland.
Wie hätte das badiſche Land von dem Lärm der Nachbarn unberührt
bleiben können! Sobald man im Frühjahr 1832 erfuhr, daß der Bundes-
tag gegen das badiſche Preßgeſetz einzuſchreiten denke, veranſtalteten die
Liberalen in Mannheim, Freiburg und anderen Orten große Volksver-
ſammlungen und beſchloſſen unter ſtürmiſchen Reden, den Großherzog
um die Wahrung der Preßfreiheit zu bitten. Leopold weigerte ſich die
Adreſſen anzunehmen; aber ließ man die Dinge gehen, ſo konnte auch
dieſe Bewegung leicht gefährlich werden, hatten doch erſt kürzlich die bel-
giſchen Clericalen durch einen wohlgeleiteten Adreſſenſturm ihren Aufſtand
vorbereitet. Die von Siebenpfeiffer verherrlichte „Doppeleiche der Tribüne
und der Preſſe, unter deren Schatten die Menſchheit unaufhaltſam zum
Beſſeren hinanſchreitet“, wurde dem Bundestage unheimlich. Er ver-
bot am 2. März die Tribüne, den Weſtboten, die Hanauer Zeitſchwingen,
während das Berliner Auswärtige Amt zugleich die ſüddeutſchen Höfe zur
Wachſamkeit mahnte.*) Die bairiſche Regierung benahm ſich ſehr ſchwach;
ſie führte den Bundesbeſchluß nur unvollſtändig aus, weil ſie ihrer Sou-
veränität nichts vergeben wollte, und duldete ſogar, daß der Vaterlands-
verein, den ſie ſelbſt verboten hatte, ungeſcheut ſeine Arbeit fortſetzte.
Die ſüddeutſche Bewegung mußte den großen Mächten um ſo be-
denklicher erſcheinen, da die Polen erſichtlich überall die Hände im Spiele
hatten. Mit rührendem Eifer, als gälte es dem eigenen Lande, hatten
viele ſüddeutſche Städte den Polen während des Krieges Gelder zuge-
ſendet; in Mainz entſtand ſogar ein Mädchenverein, der für die Helden des
Oſtens Charpie zupfte. Seit dem Herbſt 1831 ergoſſen ſich die Schaaren
der Warſchauer Flüchtlinge ſelber über Süddeutſchland. Den ſtärkſten
Haufen führten, mit rothweißen Schärpen prächtig angethan, drei polniſche
Generale: der Italiener Ramorino und die Deutſchen Langermann und
Schneider — der Letztere hatte ſich freilich in einen Polen Sznayde ver-
wandelt. Sie wurden in Regensburg und Augsburg von den Offizierscorps
als Kameraden aufgenommen, in Stuttgart bereitete ihnen der Brauer
Denninger, ein Straßburger Jude, feſtlichen Empfang, in Freiburg veran-
ſtalteten Rotteck, Welcker und die Offiziere ein großes Polenbankett. So
ſtark war die Macht der napoleoniſchen Erinnerungen und der liberalen
Phraſe, ſo ſchwach das nationale Ehrgefühl im Bundesheere, daß deutſche
Offiziere mit den Todfeinden Preußens ſich verbrüdern konnten. Ueberall
im Süden ſang man „Noch iſt Polen nicht verloren“ oder „Denkſt Du
daran, mein tapferer Lajenka“ oder „Die freie keuſche Maid im roth und
weißen Kleid“. Andachtsvoll lauſchten die badiſchen und bairiſchen Libe-
ralen den tollen Prahlereien der nordiſchen Gäſte; ſie verwunderten ſich
auch nicht, als das Pariſer National-Comité der Polen in einem Mani-
feſte an die deutſche Nation die beſcheidene Behauptung aufſtellte: „die
[256]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
bürgerliche Emancipation aller Volksklaſſen“ ſei bisher nur in einem
Lande der Welt verwirklicht worden: in Polen, durch die Verfaſſung von
1791. In allen Vereinen und Zeitungen der ſüddeutſchen Radicalen
hieß man die Polen willkommen; den aufhetzenden Reden dieſer Fremd-
linge war es vornehmlich zu verdanken, daß der ſinnloſe Haß gegen
Preußen im Süden wieder überhand nahm.
Erſt nach und nach, ſobald man die wenig ſäuberlichen Sitten der
freien keuſchen Maid Polonia genauer kennen lernte, begannen einzelne
Verſtändige an ihrer fremdbrüderlichen Begeiſterung irr zu werden. Nach-
dem die letzten Flüchtlinge Deutſchland verlaſſen hatten, erſtatteten zwei
Führer der Emigration nach ſarmatiſchem Brauche ihren Dank für die
ſo reichlich genoſſene Gaſtfreundſchaft. Johann Czynski ſchrieb aus Metz
Deux mots sur les Allemands, um die Deutſchen zur Zertrümmerung
Oeſterreichs und Preußens aufzufordern, nur ſo könne Deutſchland be-
freit, Polen wiederhergeſtellt werden. Wer etwa an Deutſchlands Knecht-
ſchaft noch zweifeln mochte, den verwies er auf den Einmarſch der drei-
hundert Preußen in das Fürſtenthum Lichtenberg, dieſe empörende Ver-
letzung des Grundſatzes der Nicht-Einmiſchung: „ein Preuße in St. Wendel
iſt für Deutſchland dieſelbe Schmach wie für Italien ein Oeſterreicher
in Rimini oder für Polen ein Ruſſe in Warſchau.“ Noch deutlicher
redete Moritz Mochnatzki in ſeiner Schrift „die Revolution in Deutſch-
land“. Der Häuptling der polniſchen Radicalen fand kaum Worte genug,
um die Deutſchen zu beſchimpfen. Dies Volk habe die neueren Zeiten
verſchlafen und in ſeinem Schlafe mehr Bücher geſchrieben als alle Völker
der Welt zuſammengenommen, bis es endlich durch Napoleon, durch die
Julitage, durch den polniſchen Krieg aus ſeiner langen Schlafſucht auf-
gerüttelt worden ſei. Nun ſollten die Deutſchen wach bleiben, die ent-
nervende literariſche Thätigkeit aufgeben, da das Zeitalter der Revo-
lutionen doch nur Zeitungen und praktiſche Wiſſenſchaften brauchen könne,
und ſich mit den Polen verbinden zur Vernichtung Oeſterreichs und
Preußens. Dies Uebermaß ſarmatiſcher Thorheit ſchreckte die klügeren
Führer des deutſchen Liberalismus ab; in der breiten Maſſe der Partei
blieb aber die polniſche Legende noch lange, und als eine wirkſame Macht,
lebendig. Die deutſchen Flüchtlinge in Paris ſaßen in ihren Geheim-
bünden mit den Polen zuſammen und ließen ſich von den gewiegten Ver-
ſchwörern gern über Mochnatzki’s „Wiſſenſchaft der Revolution“ belehren:
nach der Meinung dieſes ſarmatiſchen Apoſtels ſchien es ja „weit leichter
eine Revolution zu machen als Hegel’s Phänomenologie zu verſtehen“.
Nur in Heinrich Heine war der Dichter und der Schelm doch ſtärker als
der Radicale. Als er die ſchäbige Eleganz dieſes großſprecheriſchen Bumm-
lerlebens aus der Nähe betrachtet hatte, da konnte er dem Reize des
Lächerlichen nicht mehr widerſtehen und beſang die „Polen aus der Po-
lakei“ in dem luſtigen Gedichte vom großen Eſelinski. —
[257]Paul Pfizer.
Und doch barg dieſer ſüddeutſche Liberalismus, der ſo blind für
Deutſchlands Feinde ſchwärmte, eine unverwüſtliche Kraft treuer Vater-
landsliebe. Seine Selbſtüberhebung entſprang dem Gefühle der Leere,
das der Mangel eines großartigen öffentlichen Lebens in einem geiſtreichen
Volke erzeugen mußte, ſeine lärmende Ungeduld der Sehnſucht nach na-
tionalem Ruhme. In einem Wuſte von Thorheiten und halbreifen Ein-
fällen brachte die ſüddeutſche Preſſe doch auch einige geſunde Ideen her-
vor, welche die politiſche Entwicklung der Nation förderten. Wilhelm
Schulz, jener heſſiſche Offizier, der einſt wegen ſeinen radicalen Schriften
den Kriegsdienſt hatte verlaſſen müſſen*) und mittlerweile durch ernſte
Arbeit gereift war, verſuchte in einem Buche „Deutſchlands Einheit durch
Nationalrepräſentation“ den Grundgedanken der Welcker’ſchen Motion
deutlicher auszuführen. Er zeigte ſich noch keineswegs frei von den Selbſt-
täuſchungen des jugendlichen Liberalismus, glaubte feſt an die unüberwind-
liche Macht der öffentlichen Meinung und der kleinen Landtage — falls ſie
nur ihr Steuerverweigerungsrecht rückſichtslos zur Beſeitigung böswilliger
Miniſter gebrauchten; indeſſen ſah er ſchon ein, daß ein Parlament neben
dem Bundestage keinen Platz finden könne, und verlangte darum außer dem
Reichstage auch eine feſter geordnete Centralgewalt, ſei es ein Kaiſerthum
oder eine Bundesrepublik. Oeſterreich ließ er kaum noch für einen deutſchen
Staat gelten, Preußen aber, „dies Deutſchland im Kleinen“ habe ſich
leider durch ſeine polniſche Politik augenblicklich ſo verhaßt gemacht, daß
man vorderhand nur einen conſtitutionellen Bund im Bunde bilden
könne. Alſo taſtend und zweifelnd näherte er ſich der Löſung des großen
Problems. Aehnlich, nur meiſt noch günſtiger für Preußen, ſprachen mehrere
Artikel in Rotteck’s Annalen und in den Staatsrechtlichen Beiträgen des
wackeren heſſiſchen Liberalen K. H. Hofmann.
Wie dünn und matt erklangen alle dieſe Laute unbeſtimmter Sehn-
ſucht neben den tiefen, ernſten Tönen, welche der junge Paul Pfizer in
ſeinem „Briefwechſel zweier Deutſchen“ (1831) anſchlug — der Prophet
des neuen preußiſchen Reiches deutſcher Nation, ein echter Schwabe,
ernſt, gedankenreich, voll dichteriſcher Phantaſie und philoſophiſchen Tief-
ſinnes, und dabei nüchtern genug um das Wirkliche, das Lebendige aus
der Flucht der Erſcheinungen herauszufinden, ohne jeden Vergleich der
erſte Publiciſt ſeiner Tage. Sein Buch trug in Form und Inhalt noch
das Gepräge einer Uebergangszeit, die vom literariſchen Schaffen zur
politiſchen That aufzuſteigen begann. Durch die freie Bearbeitung philo-
ſophiſcher Briefe, die er einſt mit ſeinem Freunde, dem Dichter Friedrich
Notter gewechſelt hatte, bahnte er ſich erſt den Weg zu der Erkenntniß,
daß die Freiheit, nicht die Nothwendigkeit das ſittliche Leben der Völker
beherrſche. Nun erſt, im zweiten Theile des Buches, der ihm allein an-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 17
[258]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
gehörte, ſtellte er die Frage nach der Zukunft Deutſchlands und ſchilderte
mit ſtolzer Zuverſicht dies Volk, das mit allen ſeinen Fehlern doch das
geiſtvollſte und gemüthlichſte, das frömmſte und gewiſſenhafteſte der Völker
ſei, aber wie der am heimathlichen Strande erwachende Odyſſeus weinend
ſein Vaterland nicht erkenne. Dies Vaterland der Deutſchen, ſo fuhr er
freudig fort, ſei ſchon vorhanden in dem Staate Friedrich’s des Großen, in
dieſem Staate, der nicht nur durch ſeine gerechte Verwaltung, ſeine menſch-
lichen Geſetze, ſein Volksheer, ſein gewecktes geiſtiges Leben, ſondern auch
durch ſein ſtarkes Volksgefühl alle anderen deutſchen Länder übertreffe.
Der tapfere Schwabe wagte alſo den überall als dünkelhaften Parti-
cularismus verrufenen preußiſchen Stolz kurzerhand als den größten
Vorzug der Preußen zu loben, er wagte den undeutſchen, atheiſtiſchen
Zug des deutſchen Liberalismus, dies ſchlimme Erbtheil der franzöſiſchen
Encyclopädiſten, freimüthig zu tadeln, die hoffnungsloſe Ohnmacht der
kleinen Landtage offen einzugeſtehen und hielt den gellenden Anklagen der
Demagogen die harte Wahrheit entgegen: „Weniger die Fürſten als die
Völker Deutſchlands ſind das große Hinderniß ſeiner Vereinigung.“ Die
glücklich gewählte Briefform bot ihm die Möglichkeit, das Für und Wider
vor den Augen ſeiner zweifelnden und ringenden Zeit genau abzuwägen, mit
ſiegreicher Dialektik alle die Einwände gegen das Eine was noth that zu
vernichten: die Träume vom Sonderbunde des ſogenannten reinen Deutſch-
lands ſo gut wie den ſchwärmeriſchen Weltbürgergeiſt, der die Nationa-
lität nur für das Ausland gelten laſſen wollte. Aus den Gedichten, die
er ſeinen Briefen anſchloß, ſprach die Ahnung einer unermeßlichen Zukunft.
Er ſah im Mondenſcheine die Felskegel ſeiner heimiſchen Rauhen Alp vor
ſich liegen, er ſah die alten Schwabenkaiſer vom ſchlanken Gipfel des
Hohenſtaufen niederſteigen und wendete dann ſeine Blicke auf den Hohen-
zollern:
Nimmer wollte er von der Hoffnung laſſen, daß der Adler Fried-
rich’s die Verlaſſenen, Heimathloſen mit ſeiner goldnen Schwinge decken
werde. So ſchön und tief hatte noch nie ein Deutſcher von Preußens
großer Zukunft geſprochen; neben Pfizer’s ſtreng politiſchen Gedanken er-
ſchienen Fichte’s kühne Weiſſagungen doch nur wie nebelhafte Gelehrten-
träume. Und dieſer weckende Ruf erklang von den Lippen eines dreißig-
jährigen Schwaben, der in den engen Verhältniſſen der Heimath auf-
gewachſen, das preußiſche Land vermuthlich nie betreten hatte. Wie fremd
[259]Friedrich v. Gagern.
auch der Gedanke der preußiſchen Hegemonie der ungeheuren Mehrzahl
der Süddeutſchen noch erſcheinen mochte, in ihrer eigenartigen Faſſung
konnte dieſe Schrift doch nur auf oberdeutſchem Boden entſtehen, daher
ward ſie auch von den Schwaben freundlich aufgenommen. In dem
Gegenſatze der conſtitutionellen und der abſolutiſtiſchen Geſinnung ging
der Parteikampf der Zeit noch gänzlich auf; und da Pfizer die Mängel
der beſtehenden Zuſtände ſchonungslos rügte, auch ſeine conſtitutionelle Ge-
ſinnung nicht verbarg, ſo betrachteten ihn die ſchwäbiſchen Liberalen als
ihren Mann. Der preußiſche Geſandte in Stuttgart hingegen, Salviati,
ein hartköpfiger Conſervativer, behandelte in ſeinen Berichten den glühen-
den Bewunderer Preußens zwar achtungsvoll, aber als einen erklärten
Gegner. Im Norden fand Pfizer’s Buch viele dankbare Leſer. Die jungen
Preußen, die von der Kaiſerkrone der Hohenzollern träumten, fühlten ſich
durch die Geſchichtsphiloſophie des Schwaben in ihren ſtillen Hoffnungen
beſtärkt; Jens Uwe Lornſen und manche andere Politiker der norddeutſchen
Kleinſtaaten wurden durch ihn gezwungen, in ſich zu gehen, ihre aner-
zogenen particulariſtiſchen Vorurtheile abzulegen, die Machtverhältniſſe der
Bundespolitik ruhiger zu überdenken.
Lange vor dem Erſcheinen des Pfizer’ſchen Briefwechſels hatte ſchon
ein anderer Süddeutſcher, allerdings nur im vertrauten Kreiſe, verwandte
Ideen ausgeſprochen. Friedrich von Gagern, der älteſte und begabteſte
unter den zahlreichen ſtattlichen Söhnen des Reichsfreiherrn Hans, war
auf den Rath ſeines Vaters in niederländiſchen Kriegsdienſt getreten
und mußte nun am eigenen Leibe erfahren, wie gründlich der phanta-
ſiereiche alte Reichspatriot ſich über den deutſchen Charakter ſeiner Nieder-
lande getäuſcht hatte. Ein Fremder lebte er unter Fremden, ganz abge-
trennt von dem leidenſchaftlich geliebten großen Vaterlande. Wenn er auf
ſeinen Urlaubsreiſen das heimathliche Hornau beſuchte, fand er die
Brüder um den redſeligen Vater verſammelt und tauſchte mit ihnen
politiſche Gedanken aus, ſo daß man im heſſiſchen Lande bald von der
Familienpolitik der Gagern ſprach. Der alte Hans war ſeiner poli-
tiſchen Vielgeſchäftigkeit treu geblieben. Mit gewohntem Selbſtgefühl bot
er, als der belgiſche Aufſtand ausbrach, dem niederländiſchen Hofe und
dem Brüſſeler Congreſſe ses lumières zur Vermittlung an;*) dann
ſchriftſtellerte er fleißig, bereiſte die Höfe, verkehrte viel mit ſeinem
freundſchaftlichen Gegner, dem Freiherrn vom Stein und errichtete dem
großen Todten nachher, zuerſt in Deutſchland, ein literariſches Denkmal,
indem er deſſen Briefe herausgab; in der Darmſtädter Erſten Kammer
hielt er zuweilen eine geiſtreich abſpringende Rede über Fragen der
großen Politik. Einer ſeiner Söhne, Heinrich, errang ſich mittlerweile
ein hohes Anſehen unter den Liberalen der Zweiten Kammer. So lernte
17*
[260]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Friedrich die politiſchen Gedanken, welche den deutſchen Süden bewegten,
aus erſter Hand kennen und ſtand ihnen doch fern genug um darüber
das geſammte Vaterland nicht aus den Augen zu verlieren.
Als er im Jahre 1823 die Heimath wieder ſah und mit Schrecken
die allgemeine Entmuthigung bemerkte, ſchrieb er für die Familie einen
meiſterhaften Aufſatz über „die politiſche Einheit Deutſchlands“. Mit
der Ueberlegenheit des geborenen Staatsmannes, militäriſch kurz, klar
und ſicher ſchilderte er hier die Nichtigkeit der kleinen Höfe und den
Verfall Oeſterreichs, das in der Zukunft nur Niederlagen erleben werde.
Preußen allein könne die Führung Deutſchlands übernehmen, „weil
Ehrgeiz die Bedingung ſeiner Exiſtenz“ ſei, und auch die Liebe der
Deutſchen leicht gewinnen ſobald der König ſeine Reichsſtände berufe. Im
Jahre 1834 verfolgte Gagern, vielleicht angeregt durch Pfizer’s Briefe, dieſen
Gedankengang weiter und zeichnete die Grundlinien der künftigen deut-
ſchen Reichsverfaſſung in einer Abhandlung „Vom Bundesſtaat“, deren
knappe Beſtimmtheit von den weitſchweifigen, verſchwommenen Betrach-
tungen des wiſſenſchaftlichen Staatsrechts jener Tage ſeltſam abſtach.*)
Er verlangt ein erbliches Kaiſerthum, dergeſtalt, daß die kleinen Fürſten
das Heerweſen, die auswärtige Politik ſowie einige ihrer inneren Hoheits-
rechte der Centralgewalt abtreten, mithin ihre Souveränität aufgeben und
dem Kaiſer gehorchen müſſen. Daneben eine Kammer der halbſouveränen
Fürſten und eine gewählte Volksvertretung, beide um den Kaiſer ver-
ſammelt in einer großen Hauptſtadt, die als mächtiger Brennpunkt des
nationalen Lebens den Deutſchen unentbehrlich iſt und darum, allen Vor-
urtheilen zum Trotz, durchaus geſchaffen werden muß. Im Einzelnen
blieb natürlich noch Vieles unklar; aber feſt und ſicher ſtand der zukunfts-
reiche Gedanke, daß die im preußiſchen Staate verkörperte Idee der natio-
nalen Einheit ſich mit den conſtitutionellen Ideen des Südens verbinden
mußte, um den Sieg zu erringen, und dieſe Beweisführung wirkte um
ſo zwingender, da ſie aus der Feder eines gemäßigt liberalen Ariſto-
kraten floß.
Wie unaufhaltſam der Drang der Einheit in dem Wirrſal der deut-
ſchen Politik arbeitete, das empfand in banger Ahnung der geiſtreiche
Franzoſe Edgar Quinet, der um dieſe Zeit in Heidelberg lebte und eine
ſchöne Pfälzerin heimführte. Eben hier inmitten der lärmenden Pfalz,
wo Alles nach Freiheit rief, ward ihm deutlich, der tiefſte und leben-
[261]E. Quinet.
digſte Gedanke aller deutſchen Herzen ſei doch das Verlangen nach natio-
naler Macht und Herrlichkeit; und mit Schrecken erkannte er, nur ein
Staat könne ſolche Sehnſucht befriedigen: jenes unheimliche Preußen,
das an ſeinem Gürtel den Schlüſſel Frankreichs, die Rheinfeſtungen, in
ſeiner Hand den ſiegreichen Degen von Waterloo trage. „Dort in Preu-
ßen — ſo ſchrieb er in ſeinen Aufſätzen über Deutſchland und Italien
(1831) — ſind die alte Unparteilichkeit und das politiſche Weltbürgerthum
einem reizbaren und zornigen Nationalſtolze gewichen. Der preußiſche
Despotismus iſt einſichtig, beweglich, unternehmend; er lebt von der
Wiſſenſchaft wie andere Despoten von der Unwiſſenheit. Zwiſchen ihm
und ſeinem Volke beſteht ein geheimes Einverſtändniß um die Freiheit zu
vertagen und gemeinſam das Erbe Friedrich’s zu vermehren.“ —
Die Zeit ſollte noch kommen, da die Beſorgniſſe des Franzoſen ſich
bewährten. Für jetzt gingen die Kräfte, welche an der Einheit Deutſch-
lands bauten, noch ſehr weit aus einander. Durch die Thorheit der
pfälziſchen Demagogen wurde der bisher ſo geduldige preußiſche Hof ge-
nöthigt die liberale Bewegung in Oberdeutſchland zu bekämpfen, und er
führte den Kampf mit ſolcher Schärfe, daß im Süden bald wieder ein
tödlicher Haß gegen die norddeutſche Macht aufflammte.
Um der Bewegung neuen Schwung zu geben, beſchloſſen Wirth und
Siebenpfeiffer die Einberufung großer Volksverſammlungen, und dies
überall zweiſchneidige Kampfmittel konnte hier, wo man eigentlich gar
keinen beſtimmten Zweck verfolgte, nur Unfug und Ruheſtörung bewirken.
Ein von Siebenpfeiffer verfaßter Aufruf lud alle Deutſchen ein, am 27. Mai
auf dem Hambacher Schloſſe bei Neuſtadt an der Hardt „der Deutſchen
Mai“ zu feiern, ein Feſt der Hoffnung, am Geburtstage der bairiſchen
Verfaſſung; in dieſem Wonnemonat hätten ſich einſt die freien Franken
auf ihrem Maifeld verſammelt und dann die freien Polen ihre Ver-
faſſung erhalten. Der Münchener Hof verfuhr wieder ſehr ſchwächlich,
er wollte dem preußiſchen Geſandten durchaus nicht zugeſtehen, daß in
Baiern irgend eine Gefahr für die öffentliche Ruhe beſtehe.*) Und doch
bezeichnete Wirth als den Zweck ſeines Preßvereins ganz offen „die Organi-
ſation eines deutſchen Reichs im demokratiſchen Sinne“; und doch hatten
die pfälziſchen Radicalen ſoeben, bei einem Feſte für den heimkehrenden
Abgeordneten Schüler, ebenſo unzweideutig ausgeſprochen, jede Verſöhnung
mit dem Grundſatz der Legitimität ſei unmöglich, die Reform Deutſch-
lands könne nur auf dem Boden der unbedingten Volksſouveränität durch-
geführt werden. Die Zweibrückener Bürgerwehr, die ſich eigenmächtig
bewaffnet hatte, belagerte die Reiter-Caſerne und bewachte Schüler’s
Haus, um ſofort Sturm zu läuten falls der Volksmann bedroht würde.
Aus ſolchen Anzeichen ſchloß der wohlmeinende Präſident Stichaner,
[262]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
daß die pfälziſche Bewegung einen üblen Verlauf nehmen müſſe; der
ewigen Händel überdrüſſig erbat er ſich ſeine Verſetzung. Sein Nachfolger,
Frhr. v. Andrian, zeigte ſich durchaus rathlos, obgleich ihn die Preſſe ſo-
gleich als einen blutigen Landvogt begrüßte; er unterſagte zuerſt die Ham-
bacher Verſammlung und nahm dann das Verbot zurück, da der Stadtrath
von Neuſtadt und die Landräthe von Rheinbaiern ſich dawider verwahrten.
So hatte die Regierung ihre Furcht gezeigt und doch ihren Willen nicht
durchgeſetzt; die Radicalen frohlockten, und triumphirend ſagte der Feſt-
ausſchuß, als er in ſeinem Rechenſchaftsberichte jene heldenmüthigen Stadt-
und Landräthe aufzählte: „wir übergeben ihre Namen dem dankbaren
Andenken der Nachwelt.“
Nun rüſtete ſich Alles an beiden Ufern des Mittelrheins für die
Feier des „Allerdeutſchenfeſtes“. In Mainz, wo viele der alten Gießener
Schwarzen lebten, zeigten ſich plötzlich ſchwarzrothgoldene Kokarden und
Bänder; die Farben der Burſchenſchaft hießen fortan die deutſchen Frei-
heitsfarben. Dreifarbig, nach Frankreichs Vorbild, mußte das Banner
der nationalen Einheit und Freiheit ſein, im Gegenſatz zu den zweifarbigen
Fahnen der alten Dynaſtien. Der öſterreichiſche Gouverneur ſchritt als-
bald mit Verboten ein, und die Bundesverſammlung genehmigte ſein Ver-
fahren, „wenn auch die abenteuerlichen Intentionen und Abzeichen der
Partei keiner beſonderen Beachtung werth ſeien, wodurch ſie leicht erſt den
Schein einer unverdienten Wichtigkeit erlangen könnten“.*) Das Verbot
fruchtete nichts. Am 26. Mai waren alle die Landſtraßen, die rheinauf
und rheinab durch die Ebene oder aus dem Odenwalde und dem Weſtrich
nach dem lieblichen Neuſtadt führen, dicht bedeckt mit langen Zügen von
Wagen und Fußgängern; überall prangten die deutſchen Farben. Min-
deſtens 25000 Köpfe ſtrömten in der Feſtſtadt zuſammen, die Glocken
läuteten, die Geſchütze donnerten, auf dem Gebirge brannten Freudenfeuer.
Zum zweiten male ſollte eine Bergfeier für die Geſchichte des Deutſchen
Bundes bedeutungsvoll werden; aber welch ein Abſtand zwiſchen der
chriſtlich-vaterländiſchen Begeiſterung der Burſchen auf der Wartburg
und dem weltlichen Radicalismus dieſer neuen Tage. Von dem roman-
tiſchen Zauber, der einſt das Burſchenfeſt durchleuchtet hatte, ließ ſich in
dieſer Maſſenverſammlung trinkender und lärmender Menſchen nur wenig
bemerken, und auch die politiſche Bildung war in fünfzehn Jahren leider
kaum fortgeſchritten: auf den überſpannten Idealismus der Jugend folgte
der falſche Idealismus der Erwachſenen.
Am Morgen des 27. ſetzte ſich der Feſtzug in Bewegung; dreihundert
Handwerksburſchen ſangen nach der Melodie des Schiller’ſchen Reiter-
liedes ein Gedicht von Siebenpfeiffer: „Hinauf Patrioten, zum Schloß,
zum Schloß!“ Inmitten der Frauen, die ausdrücklich geladen und dem
[263]Das Hambacher Feſt.
Rufe zahlreich gefolgt waren, ſchritt ein Fähnrich mit dem weißrothen
Banner Polens, dann folgten die Feſtordner mit einer deutſchen Fahne,
worauf geſchrieben ſtand: „Deutſchlands Wiedergeburt“; die armen Winzer
trugen ein ſchwarzes Trauerpanier und beklagten in einem ſchwer-
müthigen Geſange den ſchlechten Abſatz der pfälziſchen Weine. Droben
auf dem Schloſſe wurden die Fahnen Deutſchlands und Polens feierlich
aufgepflanzt; die alten Feinde, der ſchwarze und der weiße Adler, ge-
ſellten ſich gemüthlich zuſammen — ein bedenkliches Vorzeichen für die Zu-
kunft dieſer deutſchen Tricolore, die leider niemals mehr als ein Partei-
Abzeichen werden ſollte. Unheimliche Erinnerungen deutſcher Knechtſchaft
umſchwebten das Gemäuer der Käſtenburg, der alten Zwingburg der ver-
rufenen Biſchöfe von Speier; ſie war einſt im Bauernkriege durch das
verzweifelte Landvolk gebrochen und nachher auf Befehl des unbarm-
herzigen Fürſten durch die Zerſtörer ſelbſt wieder aufgebaut worden; nun
lag ſie nochmals in Trümmern, Dank den Franzoſen, und ſollte durch
das große Volksfeſt für immer der Freiheit geweiht werden. Die Menge
lagerte ſich unter den ſchönen Käſtenbäumen am Abhang, Mancher be-
grüßte mit Jubelruf die Thürme von Speyer und Mannheim, die fern
aus der üppigen Ebene aufragten. Der Wein floß in Strömen. Vater-
ländiſche Lieder erklangen, alle frei nach Schiller — denn längſt war
Schiller durch ſein mächtiges Pathos der Liebling der kleinen Leute ge-
worden — alle voll Zornes über „der Deutſchen ſchandenvolle Lage“:
Zahlreiche Adreſſen ferner Freunde waren eingelaufen, aus mehreren
deutſchen Orten, von dem polniſchen National-Comité zu Paris, von
dem radicalen Vereine der Amis du peuple in Straßburg. Auch einige
Rheinpreußen hatten ihren Feſtgruß geſendet; ſie beklagten bitterlich „das
muntere Vöglein des Rheines, das zu dem alten finſteren Uhu in den
Käfig geſperrt“ ſei, wollten aber ihre Namen nicht nennen „um der guten
Sache nicht zu ſchaden“. Dann ſchilderte Siebenpfeiffer in langer Rede
„den Gedanken des heutigen Feſtes, des herrlichſten und bedeutungsvollſten,
das ſeit Jahrhunderten in Deutſchland gefeiert ward“. Er ſah den Tag
kommen, „wo die Fürſten die bunten Hermeline feudaliſtiſcher Gottſtatt-
halterſchaft mit der männlichen Toga deutſcher Nationalwürde vertauſchen;
wo das deutſche Weib, nicht mehr die dienſtpflichtige Magd des herrſchenden
Mannes, ſondern die freie Genoſſin des freien Bürgers, unſeren Söhnen
und Töchtern ſchon als ſtammelnden Säuglingen die Freiheit einflößt“,
und ſchloß mit einem Hoch auf Deutſchland, Polen, Frankreich, auf
jedes Volk das ſeine Ketten bricht, auf Vaterland, Volksfreiheit, Völker-
bund. Noch kräftiger ging Wirth mit der Sprache heraus. Der ließ
[264]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
„die vereinigten Freiſtaaten Deutſchlands, das conföderirte republi-
kaniſche Europa“ hoch leben und verlangte, daß einige entſchloſſene Männer
die gemeinſame Leitung der deutſchen Oppoſition übernähmen; als ehr-
licher Patriot warnte er aber die Deutſchen vor Frankreichs Rheingelüſten.
Während er dann das Schwert des Preßvereins, ein Geſchenk aus
Frankfurt, ſtolz nach allen vier Winden ſchwang, flutheten die Reden und
die Lieder unaufhaltſam weiter. Der Straßburger L. Rey betheuerte in
franzöſiſcher Anſprache, Frankreich wolle keine Eroberungen, ſondern einen
freien Bund mit dem freien Deutſchland. Zwei edle Polen redeten in
gleichem Sinne. Der Pfälzer Scharpff verſicherte: „Der beſte Fürſt von
Gottes Gnaden iſt ein geborener Hochverräther an der menſchlichen Ge-
ſellſchaft.“ Faſt ebenſo radical, aber mit entſchiedenem Talent und wohl-
thuender patriotiſcher Wärme ſprach ein Student aus Weſtphalen, K. H.
Brüggemann, zum Jubel der Commilitonen, die in Schaaren aus Heidelberg
herüber gewandert waren. Manche in der Menge riefen einen feierlichen
Fluch über ſämmtliche deutſche Fürſten. Zuletzt verhallten alle Worte in
der allgemeinen Trunkenheit. Dem ſchweigſam zuhörenden Karl Mathy
wurde ganz unheimlich zu Muthe bei dem tollen Treiben, während Lud-
wig Börne, der auch mit im Getümmel ſtand, aber bald nachher ſich
wieder in das ſichere Paris zurückſtahl, die wildeſten Reden noch zu ge-
mäßigt fand. Am richtigſten gab ein Lied, das irgendwo im Haufen ge-
ſungen wurde, die Geſinnungen der Menge wieder:
Wer dieſer Lindwurm ſei, ob Preußen oder der Bundestag, das ver-
ſchwieg der Dichter weislich, und eben damit traf er die Meinung ſeiner
Hörer, die alleſammt nur durch eine mächtige lyriſche Empfindung, durch die
Nachklänge der großen Epoche deutſcher Dichtung, ſich im Herzen gehoben
fühlten und irgend ein außerordentliches Ereigniß erſehnten.
Am nächſten Morgen ließen die Führer drunten in Neuſtadt Ver-
trauensmänner aus den einzelnen deutſchen Gauen wählen und legten
ihnen die Frage vor, ob man nicht ſogleich eine proviſoriſche Regierung
für das freie Deutſchland einſetzen ſolle. Der Vorſchlag ward verworfen,
weil man zu ſolchen Beſchlüſſen von daheim keinen Auftrag habe. So
verlief das Feſt ohne unmittelbares Ergebniß, aber der wilde Lärm nach
ſo langen Jahren tiefer Stille regte das Land weithin auf. Als die
Mainzer von Hambach heimkehrten, geriethen ſie unterwegs zu Worms
in einen rohen Pöbelaufruhr hinein; die Wormſer meinten einfach, jetzt
ſei Freiheit. Unverkennbar hatten die franzöſiſchen Geheimbünde auf das
[265]Das revolutionäre Philiſterthum.
Maifeſt der Deutſchen große Hoffnungen geſetzt. Am Tage des Ham-
bacher Feſtes veranſtalteten die deutſchen Radicalen in Paris ein Bankett
unter Lafayette’s Vorſitz, und einige Tage nachher brach dort ein gefähr-
licher Aufſtand aus.
Auch in den anderen Landſchaften am Ober- und Mittelrhein wurden
zur ſelben Zeit überall, offenbar nach Verabredung, Volksverſammlungen
abgehalten; der Frühling war ſo ſchön, der Verkehr ſo leicht, der Wein
ſo wohlfeil und das deutſche Elend unbeſtreitbar ſchwer. In Weinheim
an der Bergſtraße, in Bergen und Wilhelmsbad bei Frankfurt, in der
Nebelhöhle der Rauhen Alp verſammelten ſich die Patrioten, mit ſchwarz-
rothgoldenen Kokarden geſchmückt; da und dort genügte ſchon die Ein-
ladung eines unternehmenden Gaſtwirths um das ſouveräne Volk anzu-
locken. Am 11. Juni tagten die badiſchen Liberalen in Badenweiler, und
hier zeigte ſich deutlich, wie ſcharfe Gegenſätze die ſüddeutſche Oppoſition in
ſich barg. Den Gedanken der unbedingten nationalen Einheit vermochte
Rotteck nicht zu faſſen. Als ein Student das deutſche Banner aufpflanzen
wollte, ließ er die Fahne hinwegnehmen und brachte einen Trinkſpruch
auf Badens Selbſtändigkeit aus: „Ich will keine Einheit, die uns in
Gefahr ſetzt, in einen Kriegszug gegen die uns natürlich Verbündeten
geſchleppt zu werden; ich will keine Einheit unter den Flügeln des öſter-
reichiſchen oder des preußiſchen Adlers, ſondern die Einheit der Völker
Deutſchlands zum Schutze gegen die Vereinigung der Fürſten und der
Ariſtokraten.“ Unter brauſendem Beifall faßte er ſeine Weisheit endlich in
dem Satze zuſammen: „Ich will lieber Freiheit ohne Einheit, als Einheit
ohne Freiheit“ — einem Satze, der ſeitdem oft wiederholt, durch lange
Jahre das Stichwort des liberalen Particularismus geblieben iſt.
Seit dieſen Hambacher Tagen gewöhnte ſich das ſüddeutſche Bürger-
thum an eine patriotiſche Kneipſeligkeit, die, zuweilen einmal durch ein
Verbot der Obrigkeit geſtört, faſt zwei Jahrzehnte lang anhielt und auf
das Volksgemüth ebenſo unwiderſtehlich wirkte wie ein halbes Jahrtauſend
zuvor der Kyrieleis-Ruf der Geißler. Beim vollen Becher das Kauder-
wälſch der Zeitungen nachzuſprechen oder bei einem „Welckers-Eſſen“
den großen deutſchen Hofrath reden zu hören, das gehörte zum Leben
des ſüddeutſchen Bürgers; der Idealismus, aber auch die Zuchtloſigkeit
des Jahres 1848 hat ſich gutentheils in dem beſtändigen Rauſche dieſer
Zweckeſſen angeſammelt. Niemand kannte dies revolutionäre Philiſterthum
beſſer als der liebenswürdige Heidelberger Dialektdichter K. G. Nadler,
ſelber ein fröhlicher Pfälzer in Allem, nur nicht in ſeiner politiſchen Ge-
ſinnung. Er wollte ſich kein Herz faſſen zu den beharrlichen weingrünen
Hochs auf Deutſchland — ſo lange unſere Fahne noch nicht in Straß-
burg wehe, unſere Kriegsflotte noch nicht nach Kronſtadt gehe — und
ließ den geſinnungstüchtigſten aller liberalen Schoppenſtecher, den Bürger-
grenadiercapitän und Schuhmachermeiſter Hackſtrumpf alſo reden:
[266]IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Wie lächerlich auch dies lärmende Unweſen heute einem erfahreneren
und abgehärteten Geſchlechte erſcheinen mag: eine Zeit, welche öffentliche
Verſammlungen noch kaum kannte, mußte durch die aufrühreriſchen Rufe
der Hambacher Volksredner erſchreckt werden. Der Bund durfte nicht
dulden, daß Deutſchlands gefährdete Weſtmark den Revolutionären dreier
Völker zum Sammelplatze diente. —
[[267]]
Fünfter Abſchnitt.
Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Im Strome der Geſchichte ſcheint oft eine Welle der anderen zu
gleichen, weil die neuen Gedanken des Völkerlebens nur langſam, nach
vergeblichen Anläufen, unter Kämpfen die einander ähneln, den Sieg er-
ringen können; und dies unterſcheidet den politiſchen Kopf von dem Dok-
trinär wie von dem gedankenloſen Praktiker, daß er durch ſolchen Schein
der Wiederholung ſich nicht täuſchen läßt über den unerſchöpflichen Wechſel
der immer durch Menſchen beſtimmten Menſchengeſchicke. Deutſchlands
Zuſtand war ſeit dreizehn Jahren völlig verändert; der Liberalismus hatte
an Anhang und Zuverſicht, freilich auch an unlauteren und gefährlichen
Kräften, erheblich zugenommen, während die Mächte des Beharrens durch
den Siegeszug des conſtitutionellen Syſtems in Norddeutſchland wie durch
die veränderte Parteiung der europäiſchen Staatengeſellſchaft ſich geſchwächt
ſahen. Wer aber nur oberflächlich hinblickte, konnte allerdings glauben,
daß der Deutſche Bund ſich wieder in der gleichen Lage befinde wie zur
Zeit der Karlsbader Conferenzen. Wieder wie damals hatte ſich die Oppo-
ſition arge Blößen gegeben, wieder war die öffentliche Ordnung gefährdet,
das Gefühl rathloſer Beſorgniß an allen kleinen Höfen lebendig, ein kräf-
tiges Einſchreiten der Staatsgewalten unabweisbar geboten. Begreiflich
alſo, daß überall in der diplomatiſchen Welt die Frage laut ward, ob
man ſich nicht wieder nach der alten Karlsbader Weiſe Ruhe verſchaffen
ſolle durch Zwangsmaßregeln gegen die Univerſitäten, die Landtage, die
Preſſe, die Vereine.
Erſchreckt durch den Göttinger Aufruhr, an dem die Studenten doch
nur helfend, nicht leitend theilgenommen hatten, beantragte die hannoverſche
Regierung ſchon im März 1831 den Erlaß eines neuen Bundesgeſetzes
gegen die Univerſitäten: wer jemals einer Burſchenſchaft angehört, ſollte
zwei bis vier Jahre lang von allen deutſchen Univerſitäten entfernt bleiben
und unter keinen Umſtänden von ſeinem Landesherrn begnadigt werden.
Dieſe drakoniſchen Vorſchläge erregten ſelbſt am Bundestage Entrüſtung
und blieben vorläufig liegen, da erſt Inſtruktionen eingeholt werden mußten.
Als ſodann der Streit in den Kammern zu München, Karlsruhe, Wies-
[268]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
baden ſich verſchärfte, da meinte der Naſſauer Marſchall, jetzt ſei endlich
der Tag gekommen für die Vernichtung der neuen Verfaſſungen, die er
ſchon auf den Karlsbader und Wiener Conferenzen vergeblich erſtrebt hatte.*)
In einer Denkſchrift über landſtändiſche und Repräſentativ-Verfaſſungen,
welche er um Neujahr 1832 den Höfen zuſendete, verlangte er kurzweg
einen Staatsſtreich des Bundestages: da der Art. 13 der Bundesakte
nur landſtändiſche Verfaſſungen geſtatte, ſo müſſe der Bund durch ein-
fachen Mehrheitsbeſchluß dieſe Vorſchrift ausführen, die Verantwortlichkeit
der Miniſter, die Civilliſten und was ſonſt noch dem monarchiſchen Princip
widerſpreche verbieten, in beiden Heſſen, Baden, Württemberg, Baiern, wo
die ſelbſtändige oberſte Staatsgewalt dem Regenten bereits entriſſen ſei,
eine gründliche Verfaſſungs-Aenderung erzwingen.**)
Auch General Borſtell, der Commandirende in der Rheinprovinz,
der das anarchiſche Treiben der Pfälzer dicht vor ſeiner Thür ſah und
beſtändig auf dem Sprunge ſtehen mußte, geſtand dem Adjutanten des
Königs, General Thile vertraulich: er ſehe keine Rettung mehr, wenn
man nicht die kleinen Staaten durch Waffengewalt nöthige, berathende
Stände nach preußiſchem Muſter einzuführen. Unter den Staatsmännern
Preußens wurde der Plan einer neuen Karlsbader Conferenz zuerſt, ſchon
im Auguſt 1831, von dem Grafen Maltzan, dem Geſandten in Hannover
ausgeſprochen. Vom Bundestage ließ ſich ja doch nichts erwarten, wenn
er nicht von außen her geſtachelt wurde; die alte Zank- und Ränkeſucht
der Bundesgeſandten war eben jetzt, in Folge der braunſchweigiſchen und
heſſiſchen Händel, wieder ſo üppig aufgewuchert, daß der ehrliche du Thil
bei einem Beſuche in der Eſchenheimer Gaſſe ſeinen Abſcheu kaum verbergen
konnte.***) Darum hielt Maltzan für nöthig, daß die leitenden Miniſter
Deutſchlands wieder wie einſt in Karlsbad unter ſich die allgemeinen
Grundſätze für die inneren Angelegenheiten, wo möglich auch ein gleich-
mäßiges Verwaltungsſyſtem für alle Bundesſtaaten verabreden ſollten.
Bernſtorff ließ ſich durch alle dieſe reaktionären Beſtrebungen nicht in
ſeinem Gleichmuth ſtören. In einem Miniſterialſchreiben vom 1. Nov. 1831
erwiderte er dem Geſandten ausführlich: an conſervativen Grundſätzen
gebreche es dem Bunde wahrhaftig nicht, ſeit die Wiener Schlußakte das
monarchiſche Princip ſo beſtimmt ausgeſprochen habe; was fehle ſei allein
der ernſte Wille der Regierungen die vorhandenen Geſetze anzuwenden.
Dieſen Willen zu kräftigen bleibe die nächſte Aufgabe. Jede Veränderung
des Bundesrechts wies er ebenſo weit von ſich wie den Gedanken „einer
gewaltſamen Aufhebung der durch übel berathene Fürſten ertheilten Ver-
[269]Bernſtorff’s Bundespolitik.
faſſungen“. Indeſſen war er mit nichten gemeint den Bundestag zu
völliger Unthätigkeit zu verdammen; er erkannte vielmehr, daß man mit
den gehäſſigen Zeitungsverboten ſich nicht begnügen, ſondern endlich das
ſo oft verheißene definitive Bundespreßgeſetz gewähren müſſe. Darum ließ
er durch Eichhorn den Entwurf eines preußiſchen Preßgeſetzes ausarbeiten,
der allerdings nicht allen Wünſchen der Liberalen genug that, aber große
Erleichterungen gewährte: wiſſenſchaftliche Werke ſollten fortan gänzlich
frei ſein, die Cenſur nur für politiſche Zeitungen fortbeſtehen und der
Aufſicht eines unabhängigen, aus Mitgliedern der Akademie und hohen
Beamten gebildeten Ober-Cenſurcollegiums unterworfen werden.*) Dieſe
preußiſche Reform ſollte dann die Grundlage für ein neues Bundes-
preßgeſetz bilden, und die Geſandtſchaften erhielten den Auftrag, ſich darüber
zunächſt mit den ſüddeutſchen Höfen zu verſtändigen. Auch die Frage der
Oeffentlichkeit der Bundesverhandlungen hatte Bernſtorff ſchon ſeit dem
Jahre 1829 ernſtlich ins Auge gefaßt. Daß die Bundesprotokolle gar nicht
mehr kundgemacht wurden, widerſprach den Abſichten des preußiſchen Hofes
durchaus. Man wünſchte in Berlin, zwar die ſchwebenden Verhandlungen
vor jeder Einmiſchung der Tagesblätter ſicherzuſtellen, aber keineswegs
die ernſte Wiſſenſchaft von jeder Kenntniß der Bundesverhandlungen ab-
zuſperren, und ſchlug daher vor, daß die Bundesprotokolle, mit wenigen
Ausnahmen, jedesmal bei Beginn der Ferien in einem Bande veröffentlicht
werden ſollten. Ueber dieſen Vorſchlag wurde ſchon ſeit Jahren in Frank-
furt vertraulich unterhandelt. Münch aber wußte durch ſein alterprobtes
Hausmittel Alles zu vereiteln; er erklärte beſtändig, daß er erſt aus
Wien Inſtruktionen einholen müſſe, und Metternich’s Weiſungen trafen
niemals ein.
Mit ſolchen Plänen bedachtſamer Zugeſtändniſſe trug ſich der preußiſche
Miniſter, als ihn der Wiener Hof im September 1831 zu vertraulichen
Beſprechungen über Deutſchlands bedrängte Lage auffordern ließ. Seit
dem Falle von Warſchau begann Metternich aufathmend ſich zu neuer
Thätigkeit zu ermannen. Den ganzen Winter über wechſelte er mit den
Geſandten der beiden anderen Oſtmächte Denkſchriften über das gemeinſame
Syſtem, das man fortan gegen die Revolution einhalten wolle, und be-
zeichnete dieſen wenig fruchtbaren Gedankenaustauſch mit dem hochtraben-
den Namen „Verhandlungen der Wiener Conferenz“, damit Wien doch
wieder als der Mittelpunkt der conſervativen europäiſchen Politik erſchiene.**)
Ueber die Bändigung der deutſchen Revolution berieth ſich Metternich mit
dem preußiſchen Geſandten Frhr. v. Maltzahn allein; denn Neſſelrode
verſtand die Form zu wahren und ſchärfte dem Geſandten Tatiſtſchew
ein: wohl ſei es dringend nöthig den kleinen deutſchen Regierungen zu
Hilfe zu kommen, aber hier gebühre der Vortritt den deutſchen Groß-
[270]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
mächten.*) Nach der Meinung des öſterreichiſchen Staatsmannes mußte
jetzt ein- für allemal aufgeräumt werden mit den ſämmtlichen deutſchen
Verfaſſungen neufranzöſiſchen Stiles; der vermeſſene Staatsſtreichsplan
ſeines getreuen Marſchall behagte ihm wohl. Maltzahn dagegen hatte
gemeſſenen Befehl, jeden rechtswidrigen Eingriff in die Landesverfaſſungen
zurückzuweiſen. Er erklärte: die Vorſchriften der Schlußakte genügten
vollauf, wenn man ſie nur entſchloſſen handhabe; der Bundestag ſolle ſich
begnügen, den Sinn ſeiner Grundgeſetze deutlich auszuſprechen und ihre
Befolgung den Regierungen nachdrücklich einzuſchärfen. Dem Unfug der
Preſſe und der Verſammlungen laſſe ſich ſteuern, wenn der Bund und
die Landesbehörden auf Grund der vorhandenen Geſetze ſofort mit ſtrengen
Verboten einſchritten. Da ein neues organiſches Bundesgeſetz nur durch
einhelligen Beſchluß zu Stande kommen konnte, ſo mußte Metternich dem
Preußen ſchließlich nachgeben**), und man einigte ſich über ſechs dem
Bundestage vorzulegende Artikel, welche im Weſentlichen nichts Neues ent-
hielten, ſondern nur den beſtehenden Geſetzen eine ſcharfe Auslegung gaben.
Die Sechs Artikel beriefen ſich auf das „monarchiſche Princip“ der
Art. 57 und 58 der Schlußakte und beſtimmten demgemäß: Da die ge-
ſammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben
muß, ſo ſind die deutſchen Souveräne verpflichtet, Anträge der Stände,
welche dieſer Vorſchrift widerſprechen, zu verwerfen. Ferner dürfen die
Landſtände den Fürſten weder die zur Führung einer verfaſſungsmäßigen
Regierung erforderlichen Mittel verweigern noch die Bewilligung dieſer
Summen zur „Durchſetzung anderweiter Wünſche“ mißbrauchen — eine
deutliche Antwort auf das Verhalten des badiſchen Landtags bei der
Berathung des Preßgeſetzes. Drittens ſoll die Geſetzgebung der Bundes-
ſtaaten der Erfüllung ihrer Bundespflichten keinen Eintrag thun. Um die
Landtage zu überwachen und alle Ausſchreitungen zur Sprache zu bringen,
wird viertens am Bundestage eine beſondere Commiſſion eingeſetzt. Zum
fünften verpflichten ſich die Regierungen, jeden Angriff der Landtage auf
den Bund zu verhüten. Endlich wird nochmals daran erinnert, daß die Aus-
legung der Grundgeſetze des Bundes allein der Bundesverſammlung zuſtehe.
Dergeſtalt hatte Bernſtorff dicht vor dem Ende ſeiner politiſchen
Laufbahn noch einmal den reaktionären Anſchlägen des Wiener Hofes
den Kern ausgebrochen. Dafür mußte er aber auch auf ſeine eigenen
beſcheidenen Reformpläne verzichten. Sein Preßgeſetz-Entwurf ſtieß im
preußiſchen Miniſterium ſelbſt auf unbeſieglichen Widerſtand. Altenſtein,
der ſich die leidige Bundespolitik gern vom Leibe hielt, meinte ärgerlich:
mit dem alten Preßgeſetze laſſe ſich ſehr wohl auskommen;***) zu ſtreng
ſei die preußiſche Cenſur ſicherlich nicht, der ruſſiſche Geſandte beſchwere
[271]Die Sechs Artikel.
ſich ja unabläſſig über die polenfreundliche Haltung der Berliner Blätter.
Wie das Preßgeſetz in Berlin zu Falle kam, ſo in Wien der Vorſchlag
die Bundesprotokolle wieder zu veröffentlichen. In einer langen, ängſt-
lichen Denkſchrift ſetzte Metternich auseinander, welche Gefahren dem
Bundestage bereitet werden könnten, nicht blos von Journalen und Flug-
ſchriften, ſondern auch von den falſchen Theorien der Lehrbücher. Bern-
ſtorff erwiderte durch Eichhorn’s Feder: niemals könne der Bundestag
Anſehen gewinnen „ſo lange ſeine Wirkſamkeit etwas Unbekanntes und
eben dadurch den mannichfaltigſten Mißdeutungen ausgeſetzt bleibe“; der
den Deutſchen „unentbehrliche Nationalſinn“ müſſe erſchlaffen, wenn ſie
nicht einmal ein treues Bild von ihrem gemeinſamen politiſchen Leben
gewännen; die Wiſſenſchaft des Bundesrechts werde ſich in leere Ab-
ſtraktionen verlieren, wenn man ihr allen poſitiven Stoff entziehe.*)
Lauter vortreffliche Gründe, aber wenig geeignet den Wiener Hof zu über-
zeugen, der ja den „unentbehrlichen Nationalſinn“ der Deutſchen als
ſeinen gefährlichſten Feind betrachtete. Metternich verblieb bei ſeinem
Widerſpruche, und Bernſtorff mußte ſchließlich (18. April 1832) den
Bundesgeſandten anweiſen, die ausſichtsloſe Sache in Frankfurt vorläufig
ruhen zu laſſen.
Im Verlaufe dieſer langwierigen Unterhandlungen wurden auch die
Geſandten Baierns und Württembergs hinzugezogen. König Wilhelm
nahm die Sechs Artikel unbedenklich an; er war längſt der Meinung, daß
man der einreißenden Anarchie Halt gebieten müſſe.**) Etwas langſamer
entſchloß ſich der bairiſche Hof. Das in München beliebte „Iſolirungs-
und Puiſſancirungsſyſtem“, wie Blittersdorff es nannte, vertrug ſich ſchwer
mit ſtrengen Bundesbeſchlüſſen; doch da Oeſterreich beſtimmt verſicherte,
daß man keine Einmiſchung in die inneren Angelegenheiten des Königreichs
beabſichtige, ſo gab auch Baiern ſeine Einwilligung.***) Nunmehr theilte
Metternich durch ein ausführliches Rundſchreiben die Sechs Artikel auch
den übrigen Höfen mit (12. April), und nirgends erhob ſich ein Wider-
ſpruch. Die ſächſiſche Regierung hegte anfangs Bedenken wegen ihres
Staatsgrundgeſetzes, ließ ſich aber bald beſchwichtigen†); der Karlsruher
Hof war ſchon ſeit Monaten entſchloſſen, allen Vorſchlägen der Großmächte
zuzuſtimmen, falls ſie nur nicht gradeswegs in die badiſche Verfaſſung
eingriffen. Unterdeſſen kam die erſchreckende Kunde von dem Hambacher
Feſte. Metternich frohlockte über „dieſen unerhörten Skandal“; er ſah
voraus, jetzt würde die Angſt auch die Zaudernden fortreißen, und er
täuſchte ſich nicht. Nachdem Münch in einem langen Vortrage die Schreck-
[272]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
niſſe der „mit ſtarken Schritten ihrer Reife entgegengehenden“ deutſchen
Revolution geſchildert hatte, nahm der Bundestag ſofort, am 28. Juni 1832
die Sechs Artikel einſtimmig an, nur mit dem einen durch Baiern bean-
tragten Zuſatze, daß die Bundescommiſſion zur Ueberwachung der Land-
tage vorläufig blos für ſechs Jahre eingeſetzt werden ſollte.
Am 5. Juli folgte ſodann eine mächtige Sturzwelle außerordentlicher
Sicherheitsmaßregeln, die großentheils auch ſchon in Wien verabredet waren.
Alle politiſchen Vereine wurden verboten, desgleichen alle Volksverſamm-
lungen und Volksfeſte ohne beſondere Erlaubniß, ebenſo die Freiheitsbäume
und die deutſchen Kokarden. Zugleich wurden die Geſetze über die Uni-
verſitäten wieder in Erinnerung gebracht, die Regierungen zu ſtrenger
Handhabung der Polizei ermahnt, der badiſche Hof endlich aufgefordert,
binnen vierzehn Tagen ſein bundeswidriges Preßgeſetz außer Kraft zu ſetzen.
In den nächſten Wochen verbot der Bundestag, auf Grund des Karls-
bader Preßgeſetzes, den Wächter am Rhein, den Freiſinnigen, Rotteck’s
Annalen, Mebold’s Deutſche Allgemeine Zeitung, nachher die Biene des
ſächſiſchen Bienenvaters und ſo weiter, bis ſchließlich nahezu alle ent-
ſchiedenen Oppoſitionsblätter vernichtet waren. Den namhafteſten Publi-
ciſten der ſüddeutſchen Liberalen, Wirth, Siebenpfeiffer, Rotteck, Stromeyer,
Mebold und Anderen ward unterſagt, binnen der nächſten fünf Jahre
eine Zeitſchrift herauszugeben.
Die Karlsbader Schreckenstage ſchienen wiederzukehren, und ſtärker
noch als damals war die Erbitterung in den gebildeten Klaſſen. Nun
hatte auch Deutſchland ſeine Juni-Ordonnanzen! — ſo hieß es überall.
Die liberale Preſſe des Südens benutzte die kurze ihr noch vergönnte
Galgenfriſt, um die volle Schale ihrer Entrüſtung über den Bundestag
und die beiden Großmächte auszuſchütten. Die deutſchen Kleinſtaaten —
ſo rief der Freiſinnige — ſind Knechte der Knechte; „verwiſcht für immer
iſt jede achtungsvolle Erinnerung an Oeſterreichs Erhebung im Jahre 1809
und an jene Preußens im Jahre 1813.“ Auch jene gemäßigten nord-
deutſchen Liberalen, welche das lärmende Treiben der Pfälzer entſchieden
mißbilligten, erſchraken über die Härte der hereinbrechenden Reaktion;
Dahlmann meinte traurig: „es ſchwebt einmal ein Unglücksſtern über
Allem was deutſch iſt.“
Unleugbar war die Ruhe Deutſchlands diesmal weit ernſtlicher
bedroht als in den Zeiten der burſchenſchaftlichen Bewegung; der Bund
hatte beſſere Gründe zum Einſchreiten und ging auch nicht, wie damals,
über die Schranken des formalen Rechtes hinaus. Die Sechs Artikel
waren kein Ausnahmegeſetz, wie die Liberalen behaupteten, ſie enthielten
im Weſentlichen nur die authentiſche Interpretation beſtehender Bundes-
geſetze. Wurden ſie gerecht und verſtändig angewendet, ſo widerſprachen
ſie auch nicht den Landesverfaſſungen, denn kein deutſches Staatsgrund-
geſetz — mit der einzigen Ausnahme des neuen kurheſſiſchen — gewährte
[273]Bedeutung der Sechs Artikel.
den Landſtänden das Recht der unbeſchränkten Steuerverweigerung. Die
Zeitungsverbote ſtanden in Einklang mit dem Bundespreßgeſetze, und
wenn der Bund „zur Erhaltung der inneren Sicherheit“ auch die Vereine
und Verſammlungen überwachte, ſo durfte er ſich auf die freie Zuſtimmung
der ſämmtlichen deutſchen Souveräne berufen.
Doch unmöglich konnte die tief enttäuſchte liberale Partei ſich bei der
formalen Geſetzlichkeit der Bundesbeſchlüſſe beruhigen. Die Sechs Ar-
tikel erſchienen vier Wochen nach dem Hambacher Feſte; ſie wurden da-
her, obgleich ſie ſchon ſeit Monaten vorbereitet waren, allgemein als die
Antwort des Bundestags auf die Hambacher Drohreden, als ein Werk
ſchimpflicher Angſt betrachtet, und alle Welt erzählte ſich, daß Metternich
geäußert haben ſollte: „das Hambacher Feſt, wenn es gut benutzt wird,
kann das Feſt der Guten werden, die Schlechten haben ſich mindeſtens
zu ſehr übereilt.“ Wie zuverſichtlich hatte man gehofft, der neue Tag,
den der ſchmetternde Weckruf des galliſchen Hahnes angekündigt, werde
auch den Deutſchen die Preßfreiheit und die Parlamentsherrſchaft bringen,
und nun legte der Bundestag die vorhandenen beſcheidenen Rechte der
Landtage im ſtrengſten monarchiſchen Sinne aus. Immer nur der Stein
ſtatt des Brotes: ſtatt der Preßfreiheit eine gehäſſige Verfolgung, die
neben den revolutionären Schriften doch auch gebildete und wohlmeinende
Blätter, wie Rotteck’s Annalen, mit ihren Peitſchenſchlägen traf. Wie
ſchwärmeriſch hatte man ſich nach der Herrlichkeit eines großen Vater-
landes geſehnt, und nun ward der Nation ſogar ihre in ehrlicher Be-
geiſterung entfaltete neue Tricolore verboten. Im Wächter am Rhein
klagte Stromeyer: „So verſchwinde denn für einen Augenblick vor dem
Antlitz deiner Feinde, o du heilige Dreifarbe, du himmliſches Bild der
Reinheit und des muthigen Ernſtes! Ziehe dich zurück auf unſere nackte
Bruſt. Dort hüpft dir grüßend jeder Schlag unſeres Herzens entgegen
und empfängt von dir die elektriſche Einſtrömung des heiligen Feuers.“
So ſchwülſtig auch die Worte klangen, die Klage ſelbſt war vollberechtigt:
welch ein verſchrobener, unwahrer Zuſtand, wenn die höchſte deutſche Be-
hörde, in der ſich die Einheit der Nation verkörpern ſollte, das Symbol
der Einheit wie ein verbrecheriſches Abzeichen verfolgte!
Auch der Inhalt der Sechs Artikel ſelbſt bot dem Liberalismus guten
Grund zum Mißtrauen; denn auch ſie litten, wie alle Bundesbeſchlüſſe, an
jener gefährlichen Vieldeutigkeit, welche die geſetzgeberiſchen Arbeiten juri-
ſtiſcher Dilettanten gemeinhin auszeichnet. Dieſe Eigenthümlichkeit der Bun-
desgeſetzgebung war in Frankfurt ſelbſt ſo bekannt, daß Blittersdorff einmal
mit ſeiner gewohnten cyniſchen Dreiſtigkeit bei ſeinem Miniſter anfragte:
Es giebt eine zweifache Auslegung der Bundesgeſetze, eine conſtitutionell-
liberale und eine monarchiſche; welche von beiden ſoll ich jetzt anwenden?*)
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 18
[274]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Was ließ ſich nicht Alles herausleſen aus dem zweiten Artikel, der den
Landſtänden unterſagte, die zur Führung einer verfaſſungsmäßigen Re-
gierung erforderlichen Mittel zu verweigern! Wie leicht konnte dieſe Vor-
ſchrift zur gänzlichen Vernichtung des ſtändiſchen Steuerbewilligungsrechts
mißbraucht werden, und wie nahe lag dieſer Verdacht gerade jetzt, da die
Höfe ſo unerbittlich ſtreng gegen die Zeitungen und Vereine auftraten.
Begreiflich alſo, daß die liberale Partei die Sechs Artikel, ſtark übertreibend,
im gehäſſigſten Sinne auslegte und wehklagend verſicherte: „der Schein-
Conſtitutionalismus“ — ſo lautete die neue Zeitungsphraſe — ſolle in
die deutſchen Verfaſſungen eingeführt werden.
Und welch ein grelles Schlaglicht fiel jetzt wieder auf die grundfalſche
Richtung, welche die Bundespolitik von Anbeginn eingeſchlagen hatte! Für
die Einheit, deren die Nation wie des lieben Brotes bedurfte, für die
Einheit des Heerweſens und der Handelspolitik that der Bund gar nichts;
für ſie mußte Preußen mit Umgehung des Bundestags ſorgen. Auch in allen
anderen gemeinnützigen Geſchäften zeigte der Bundestag eine ſchimpfliche
Trägheit. Soeben erzählte man ſich wieder hohnlachend ein neues Stücklein
aus der Geſchichte dieſes Bundesjammers: jahrelang hatte ſich eine Com-
miſſion des Bundestags über die Staatsangehörigkeit eines Jägers Lemnitzer
in Thüringen geſtritten; da berichtete endlich der Geſandte Leonhardi, daß
nicht Preußen oder Reuß, ſondern Meiningen den Mann aufzunehmen
ſchuldig ſei, und fügte die ſchmerzliche Mittheilung hinzu, der Arme, der
über dem Gezänk achtzig Jahre alt geworden war, ſei leider ſoeben ge-
ſtorben.*) Wenn es aber galt, die ſtändiſchen Verfaſſungen, die ſich doch
nach der Eigenart der Landſchaften richten mußten, alle über einen Kamm
zu ſcheeren oder durch den Zwang der Polizei das politiſche Leben der
Nation darniederzuhalten, dann entfaltete dieſe träge Verſammlung eine
fieberiſche Thätigkeit, dann erließ ſie Verbote und Befehle an ſouveräne
Fürſten, dann übte ſie ungeſcheut alle die Machtbefugniſſe einer Staats-
gewalt, welche weit über die beſcheidenen Rechte eines Staatenbundes hin-
ausgingen. Vielherrſchaft da wo Einheit noth that, Centraliſation da wo
der Particularismus ſein gutes Recht hatte — das war der Charakter der
deutſchen Bundespolitik. Da der Bundestag ſeine Aufgabe ſo ganz ver-
kannte, ſo wurden ihm auch nothwendige und gerechtfertigte Sicherheits-
maßregeln zur Schuld angerechnet; er erſchien der Nation nur noch als
eine kleinlich gehäſſige Polizeibehörde.
Die Unzufriedenheit war allgemein. Selbſt die Preußen, die ſonſt
nach dem Bundestage wenig fragten, zeigten ſich unwillig; ſie fanden es
kränkend, daß alle dieſe neuen Verbote auch für ſie, die Königstreuen
gelten ſollten. Am Hofe wehte die Luft ſeit einigen Monaten ſchärfer.
Der König ſprach ſich über den Lärm der pfälziſchen Demagogen ſehr
[275]Preußens beſchwichtigende Erklärung.
unwillig aus; beim Ordensfeſte, im Januar, hörte er wohlgefällig zu, als
Biſchof Eylert in bedientenhafter Rede die Liebe zum Landesvater für die
wahre preußiſche Verfaſſung erklärte und dies tapfere Volk mit glücklichen
Kindern verglich. Von den verheißenen Reichsſtänden durfte ihm Niemand
mehr ſprechen; ſelbſt über Dahlmann’s ſo würdig und achtungsvoll ge-
haltene „Rede eines Fürchtenden“ mußte der Geſandte in Hannover ſich be-
ſchweren. Noch ängſtlicher dachte Ancillon. Ihm gereichte zur hohen Freude,
daß er ſeine Laufbahn als Miniſter ſogleich mit einem Hauptſchlage wider
die Demagogen eröffnen konnte. Immer wieder verſicherte er dem Wiener
Hofe, Oeſterreich und Preußen müßten Deutſchland retten, trotz der neuen
„improviſirten Verfaſſungen, dieſer ſchlechten Nachahmungen eines fehler-
haften Vorbildes“; ſie müßten „Deutſchlands Souveräne electriſiren“,
nachdem „die Revolution jetzt ihre Maske gelüftet, ihr Banner entfaltet“
habe. Aufrichtig war ſeine Befriedigung, als „das wahre Deutſchland,
das im Bundestage verkörperte Deutſchland“ endlich geſprochen und alſo
dem ganzen Welttheile „einen Rettungsanker“ dargeboten hatte.*) So-
bald er aber den tiefen Unwillen bemerkte, der ſich vornehmlich in den
Kreiſen des hohen Beamtenthums lebhaft äußerte, ward er ſelbſt unſicher
und rieth dem Könige, ſeinen treuen Unterthanen ausdrücklich zu erklären,
daß er ſie nicht durch unverdientes Mißtrauen verletzen wolle. So geſchah
was bisher unerhört geweſen: Preußen ſelbſt erlaubte ſich einen bairiſchen
Vorbehalt. Als Friedrich Wilhelm im September die Bundesbeſchlüſſe
veröffentlichen ließ, betheuerte er zugleich mit warmen Worten: damit
erfülle er nur ſeine Pflicht als Bundesfürſt, in Preußen ſei die Ruhe
nie geſtört worden, in dem Vertrauen und der erprobten Zuneigung
ſeines Volkes beſitze er die zuverläſſigſte Bürgſchaft für die Erhaltung
des inneren Friedens.
Noch größer war die Verlegenheit der conſtitutionellen Fürſten. Im
Gefühle ihrer Ohnmacht ſchaukelten ſie ſämmtlich ſchon ſeit Jahren zwiſchen
dem Bundestage und den Landtagen hin und her; daß der Bund ihnen
einen Rückhalt bot gegen die Anſprüche der Landſtände, war ihnen allen
hochwillkommen. Aber an einen Verfaſſungsbruch dachten ſie nicht; nur
der Herzog von Naſſau und der kurheſſiſche Prinzregent mochten ſich ins-
geheim mit Staatsſtreichsplänen tragen. Als ihnen nun allüberall die
Klage entgegenſcholl, durch die Sechs Artikel würden die Landesverfaſſungen
in ihren Grundfeſten bedroht, da fühlten ſie ſich im Gewiſſen bedrängt,
denn eine ſolche Abſicht hatten ſie bei der Annahme der Bundesbeſchlüſſe
wirklich nicht gehegt, und ſuchten ihre aufgeregten Völkchen zu beſchwich-
tigen. Selbſt du Thil, der Hochconſervative, bat ſeinen Großherzog, bei
der Bekanntmachung der Bundesgeſetze zugleich zu verſichern, daß die
18*
[276]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Landesverfaſſung dadurch nicht abgeändert würde. Im gleichen Sinne
ſprach ſich der Herzog von Meiningen aus. Auch der Prinz-Mitregent
von Sachſen verwahrte ausdrücklich die Gerechtſame ſeiner Landſtände,
als er die Bundesbeſchlüſſe veröffentlichte. Seine Miniſter zeigten ſich
ſehr ängſtlich; denn die Nachrichten aus Frankfurt hatten im Lande große
Unzufriedenheit erregt, die Sachſenzeitung empfahl ſchon den Bund mit
Frankreich gegen die deutſchen Großmächte, im Vogtlande verbreitete ein
neugebildeter Preßverein radicale Schriften, und in den geweihten Hallen
der Dresdener Adlichen Reſſource wagte Otto v. Watzdorf ſogar einen
Proteſt gegen die Sechs Artikel zur Unterzeichnung auszulegen.*)
König Ludwig von Baiern ſchwankte lange bevor er mit ſich ins Reine
kam. Schmerzlich überraſcht durch das aufrühreriſche Treiben ſeiner Pfälzer
hatte er ſich endlich, auf Metternich’s und Ancillon’s dringenden Rath, zur
Strenge entſchloſſen und den Feldmarſchall Wrede mit einer anſehnlichen
Truppenmacht nach der unruhigen Provinz geſendet. Alsbald zeigte ſich,
wie wenig revolutionäre Kraft hinter den prahleriſchen Reden der Dema-
gogen ſtand. Der alte Kriegsmann trat feſt und verſöhnlich auf; er ver-
ſprach Berückſichtigung aller begründeten Klagen, ließ die Vereine ſchließen,
die Freiheitsbäume beſeitigen, zahlreiche Verhaftungen vornehmen und ſtellte
ohne ernſtlichen Widerſtand die Ordnung wieder her. Unterdeſſen feierten
auch die Franken zu Gaibach ein lärmendes Waldfeſt, begeiſterte junge
Leute hoben in der Luſt des Weines den liberalen Bürgermeiſter Behr
auf ihre Schultern und begrüßten ihn als „unſeren Frankenkönig“. Auch
dort wurde mit Unterſuchungen und Verhaftungen ſcharf eingeſchritten.
Der König verbarg ſein Mißtrauen nicht, er argwöhnte ſogar einen Anſchlag
wider ſein Leben, und als ihm die Würzburger in einer ſchwülſtigen
Adreſſe „Gut und Blut des ganzen Volkes der Baiern“ zum Kampfe gegen
den Bundestag anboten, da wies er die Eingabe mit ungnädigen Worten
zurück.
Ebenſo ſcharf ließ er eine Vorſtellung „conſtitutionell getreuer Staats-
bürger“ aus der Rheinpfalz abfertigen, ein freches Machwerk, aus dem
noch einmal der ganze Bodenſatz der radicalen Phraſe emporwirbelte.
Die Pfälzer ſagten: „Bürgerkrieg, ſo lautet die Loſung des Bundestags.
Wie konnte der Rheinbaiern geſetzestreue und freiheitliebende Bruſt un-
erſchüttert bleiben bei der ſchrecklichen, ungeheueren, faſt unglaublichen
Nachricht: der Bundestag hat die deutſchen Conſtitutionen vernichtet! Was
ſoll uns Oeſterreich? Dieſer alte, morſche, von Würmern zerfreſſene
hohle Stamm? Welche Vortheile kann das abſolute Preußen dem con-
ſtitutionellen Baiern bieten? Dieſes falſche Rohr, das dem durch die
Hand ſticht, der ſich darauf ſtützen will? Wie wird Rußland Baierns
Rechte ſchirmen? Dieſer glühende Moloch des Despotismus, dem in heid-
[277]Vorbehalte der conſtitutionellen Regierungen.
niſchem Wahne der Vater das eigene Kind opfern muß? König, laut
beſchwört dich dein Volk: ſchließe nicht den unglücklichen Bund mit jenen
abſoluten Mächten! Weiſe die Verſucher zurück! Verſcherze nicht die Liebe
deiner Baiern.“*) Eine ſolche Sprache mußte den König erbittern. Vor
den Bundesgeſandten, die ihn in Franken beſuchten, äußerte er lebhaft
ſeinen Abſcheu gegen den Liberalismus; zu Blittersdorff ſagte er heftig:
„von meinen früheren Miniſtern war ich verrathen und verkauft.“**)
Aber zur Bekanntmachung der Beſchlüſſe, bei denen er doch ſelbſt mit-
gewirkt hatte, konnte er ſich noch immer nicht entſchließen; ſeine ſouveräne
Krone ſollte ſich nicht förmlich unter die Oberhoheit des Bundestages
beugen. Vergeblich mahnte ihn Czar Nikolaus in einem eigenhändigen
Briefe an die Pflichten der Bundestreue.***) Erſt im October überwand
er ſich und ließ die Beſchlüſſe veröffentlichen, doch mit der Erklärung,
daß dadurch die bairiſche Verfaſſung nicht abgeändert, ſondern vielmehr
„deren treue Beobachtung erkräftigt werde“.
Nirgends äußerte ſich der öffentliche Unwille ſo ſtürmiſch wie in
Württemberg. Da die Schwaben bisher noch gar nicht zu Worte gekommen
waren und noch immer vergeblich auf die Einberufung ihres Landtags
warteten, ſo warfen ſie allen Groll, den ſie in dieſen zwei Jahren an-
geſammelt hatten, auf die neuen Bundesbeſchlüſſe. Nur der landſtändiſche
Ausſchuß blieb nüchtern; er konnte nach reiflicher Prüfung nicht finden,
daß die Sechs Artikel den Beſtand der Verfaſſung unmittelbar bedrohen
ſollten. Sonſt war im Lande faſt nur eine Stimme. Die Stuttgarter
Bürger verlangten in einer Petition die Ablehnung der Bundesbeſchlüſſe,
und des Königs Freund Maucler übertrieb nur wenig, als er nach Frank-
furt ſchrieb: „nicht blos die ewigen Gegner der Regierungen, die Anhänger
der Einheit und Freiheit Deutſchlands“, ſondern auch die Treuen ſeien
tief erbittert.†) Eine anonyme Schrift „Deutſchlands Juli-Ordonnanzen“,
die von „dem ſchändlichſten, dem fluchwürdigſten Verrath am Wohle der
Menſchheit“, von dem monarchiſchen Princip Caligula’s und Nero’s ſprach,
fand viele gläubige Leſer. Selbſt Paul Pfizer ließ ſich von der Ent-
rüſtung ſeiner Landsleute fortreißen. Er arbeitete gerade an einer Schrift
über den deutſchen Liberalismus, um ſeine ſüddeutſchen Freunde vor den
Täuſchungen der liberalen Selbſtüberhebung, vor den Gefahren eines
franzöſiſchen Bündniſſes zu warnen und ihnen vorzuhalten, daß ſie für
jetzt höchſtens auf einen ſüddeutſchen Sonderbund hoffen dürften, der aber
[278]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
in Zukunft unter Preußens Schutz treten müſſe. So bewährte er wieder,
unbekümmert um Welcker’s ſittliche Entrüſtung, ſeine ſtolze Selbſtändigkeit
gegenüber den Vorurtheilen der Parteien und geſtand ſelbſt, mancher
Schwabe werde den Gedanken des preußiſchen Protectorats „ganz unglaub-
lich“ finden wollen. Da erhielt er während des Drucks die Nachricht von
den Frankfurter „Ordonnanzen“, und aufwallend in leidenſchaftlichem Zorne,
fügte er ein geharniſchtes Nachwort hinzu, das mit der Drohung ſchloß:
nunmehr werde die Nation durch die Fürſorge ihrer Regierungen „dasjenige
erhalten, woran es ihr bisher gefehlt: ein gemeinſchaftliches Intereſſe und
einen gemeinſchaftlichen Feind“.
Eingeſchüchtert durch das allgemeine Mißtrauen verſicherten die Mi-
niſter und Geheimen Räthe, als ſie die Bundesbeſchlüſſe veröffentlichten,
feierlich, daß dieſe Vorſchriften die Verfaſſung und namentlich das Steuer-
bewilligungsrecht der württembergiſchen Landſtände in keiner Weiſe ge-
fährden ſollten (28. Juli). „Zu um ſo vollſtändigerer Beruhigung ſeiner
getreuen Unterthanen“ gab der König, der zu Livorno weilte, in einem
alsbald veröffentlichten Briefe dieſem Vorbehalte ſeine förmliche Geneh-
migung. Aber das Land ließ ſich nicht beſchwichtigen. Neue Adreſſen
liefen ein, aus der Hauptſtadt, aus Ulm, aus Tübingen. Der Stutt-
garter Bürger-Ausſchuß veranſtaltete einen feierlichen Aufzug um die Ein-
gabe dem königlichen Cabinet ſelbſt zu überbringen. Mit dem Rufe: „Nur
über meine Leiche!“ und unter dem lauten Murren der Bürgerſchaft trieb
der Stadtdirektor Klett die Verſammelten auseinander. Da brach König
Wilhelm ſeine italieniſche Reiſe ab und kehrte eilends heim. Er verwies
ſeinen Stuttgartern ſtreng ihr aufrühreriſches Gebahren, ließ ihnen die
„hauptſächlich durch die Umtriebe einer übelwollenden Partei zu Stande
gekommene“ Adreſſe zurückgeben, betheuerte wiederholt ſeine unverbrüchliche
Verfaſſungstreue und verſicherte zugleich vertraulich den Geſandten der
großen Mächte, wie ſehr er ſich über die Bundesbeſchlüſſe freue.*)
Den beiden Großmächten kamen dieſe Winkelzüge der conſtitutionellen
Höfe ſehr ungelegen, indeß ſahen ſie darin mit Recht nur ein Zeichen der
Schwäche, nicht der Widerſetzlichkeit. Zu Frankfurt wurde die Frage in
vertraulichen Beſprechungen lebhaft, aber ohne Bitterkeit erörtert. Dann
beſchloß der Bundestag ſein Anſehen zu wahren und erklärte am 8. Novbr.:
die der Bekanntmachung beigefügten „erläuternden Beiſätze“ könnten, „wie
ſich von ſelbſt verſtehe“, der Verbindlichkeit der Bundesbeſchlüſſe keinen
Eintrag thun, „ſowie ſolches ohnehin auch nicht in der Abſicht der einzelnen
Regierungen gelegen“ habe. Dieſem Beſchluſſe, der ihnen doch ſelber einen
ſanften Backenſtreich gab, ſtimmten die Geſandten der fünf Höfe, welche
mit Vorbehalt veröffentlicht hatten, ſämmtlich zu. So drehten ſich die
Staatsgewalten im Kreiſe, und die argwöhniſche Oppoſition mußte zu
[279]Reaktion in Kurheſſen.
der Meinung gelangen, daß die Höfe mit deutſcher Redlichkeit ein frevel-
haftes Spiel trieben.
Alle anderen conſtitutionellen Fürſten außer jenen fünf veröffentlichten
die Bundesbeſchlüſſe ohne Vorbehalt. Der heſſiſche Mitregent benutzte
zugleich den willkommenen Vorwand um ſich ſeiner Stände für einige Zeit
zu entledigen. Die Aufregung der letzten Jahre zitterte in dem unglück-
lichen Lande noch zuweilen nach. Bei den üblichen Polenfeſten erklangen
ſtürmiſche Pereats auf die drei Oſtmächte; in Hanau meuterten einmal
ſogar die Soldaten, unter Hochrufen auf Frankreich und Polen; die deutſchen
Farben ſah man überall, auf Fahnen und Kokarden, auch auf den Schnupf-
tüchern der Handwerksburſchen. Immerhin ließ ſich ſchon deutlich erkennen,
daß die Heſſen der ewigen Unruhen müde wurden; auch die Freude an
dem zeitraubenden Soldatenſpiele der Bürgergarden erkaltete ſichtlich. Der
Kurprinz aber und ſein Haſſenpflug verbargen kaum, daß ſie einen Streit mit
den Landſtänden und dann den Einmarſch preußiſcher Truppen wünſchten.
Je näher Hänlein den Charakter dieſes Fürſten kennen lernte, um ſo klarer
ward ihm, „daß dem Kurprinzen weder zu rathen noch zu helfen iſt, und
daß er bei ſeiner Eintagspolitik ſeinem unvermeidlichen Schickſal nicht ent-
gehen wird.“*) Es war allein die Schuld des Regenten, daß der Landtag
in einer Tagung von ſechzehn Monaten nur ein einziges wohlthätiges Geſetz
zu Stande brachte: das Geſetz über die Ablöſung der Reallaſten und die
Bildung einer Landeskreditkaſſe. So that Kurheſſen endlich den erſten
Schritt auf der Bahn der befreienden Agrargeſetzgebung, die in den Nach-
barſtaaten längſt betreten war. Faſt Alles aber was die Stände ſonſt noch
beantragten blieb im Cabinet unerledigt liegen, und allerdings erſchwerte
Jordan mit ſeinen Freunden jede Verſtändigung durch Uebermuth und
unmögliche Zumuthungen. Der begeiſterte Doktrinär gebärdete ſich, als
ob Kurheſſen auf einer Inſel im Weltmeere läge: niemals, rief er ſtolz,
wird unſer Landtag die Ruthe des Bundestags küſſen! Vergeblich gewarnt
von den Geſandten der beiden Großmächte, betrieb er mit Feuereifer die
Berathung eines Preßgeſetzes — eben jetzt da der Bundestag ſo handfeſt
gegen die Zeitungen vorging und die Vernichtung des badiſchen Preßge-
ſetzes, wie Jedermann wußte, nahe bevorſtand. Als die Stände dann
über die heſſiſche Preßfreiheit ſchlüſſig geworden, verſicherte Burkard Pfeiffer
drohend: die Regierung müſſe dieſen Entwurf alsbald genehmigen, „wenn
anders nicht das feierlich gegebene Fürſtenwort nur als leere Form, der
wiederholte Schwur der Miniſter nur als Gaukelſpiel mit zerbrechlichen
Eiden erſcheinen ſoll.“
So erbittert ſtanden die Parteien einander gegenüber, als die neuen
Bundesbeſchlüſſe ruchbar und gleich darauf vom Kurprinzen amtlich ver-
kündigt wurden. Die Stände tobten. Während Pfeiffer in ſchwungvoller
[280]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Rede die Freiheitsfarben der alten Burſchenſchaft verherrlichte, erklärte
Jordan die Bundesbeſchlüſſe für ungiltig und forderte, daß die Miniſter
angeklagt werden ſollten. Das war es was der Kurprinz wünſchte. Am
26. Juli wurde der Landtag aufgelöſt, und Heinrich v. Arnim, der auf
der Durchreiſe dieſer Schlußſitzung beiwohnte, berichtete ſchaudernd, welche
entſetzliche Drohungen die ſchnurrbärtigen, mit ſchwarzrothgoldenen Bändern
geſchmückten Männer droben auf der Gallerie ausgeſtoßen hätten.*) Das
Land blieb indeſſen ruhig. Jordan aber, der Vater der Verfaſſung fiel nun-
mehr ſelber in das Fangeiſen, das er früherhin vorſorglich der monarchiſchen
Gewalt geſtellt hatte. Um der Regierung die Auflöſung der Landſtände zu
erſchweren, hatte er einſt die Vorſchrift durchgeſetzt, daß der Landtag am
Schluſſe jeder Tagung den ſtändiſchen Ausſchuß mit Weiſungen verſehen
müſſe.**) Jetzt ward der Landtag plötzlich aufgelöſt bevor er dieſe Wei-
ſungen ertheilen konnte, und als der Ausſchuß alsbald verſuchte nach-
träglich gegen die Bundesbeſchlüſſe zu proteſtiren, da erwiderte ihm Haſſen-
pflug höhniſch, aber mit unbeſtreitbarem Rechte: der Ausſchuß hat keine
ſtändiſche Inſtruktion erhalten, iſt alſo nach der Verfaſſung nicht befugt
irgend einen rechtsgiltigen Beſchluß zu faſſen. So hatte der gewandte
Taſchenſpieler den Landtag und ſeinen Ausſchuß zugleich entwaffnet.
Jedermann fühlte, unter dieſer Regierung werde das heſſiſche Land nie-
mals zum Frieden gelangen.
Auch die badiſche Regierung veröffentlichte die Sechs Artikel ohne
Vorbehalt, weil ſie fürchtete ſich durch nutzloſe Zuſätze bloßzuſtellen***) und
weil ſie ihrer ganzen Widerſtandskraft bedurfte um vielleicht noch ihr
Preßgeſetz zu retten. Längſt wünſchte der Großherzog ſehnlich ſeinen
Frieden mit den großen Mächten zu ſchließen. Um die Hofburg über
ſeine tadelloſe Geſinnung aufzuklären ſendete er im Frühjahr den Frei-
herrn v. Falkenſtein nach Wien, erhielt aber zur Antwort nur einen
freundlich mahnenden Brief von Kaiſer Franz.†) Seine Miniſter ge-
nügten ihm nicht. Winter zeigte ſich zwar ſehr aufgebracht über Rotteck
und deſſen Getreue: „Da iſt mir Herr Wirth noch ein ehrenwertherer
Gegner — ſchrieb er einmal. Der Burſche iſt ein Radicaler, ein ver-
rücktes Gehirn, aber doch ein teutſcher Radicaler und ſagt offen was er
will. Die Freiburger ſind Heuchler.“††) Gleichwohl konnte ſich Leopold
nicht verbergen, daß dieſer bürgerfreundliche Miniſter niemals das Ver-
trauen der beiden Großmächte gewinnen werde, und berief daher im Mai
den Freiherrn v. Reizenſtein aus der Stille ſeiner Heidelberger gelehrten
Muße wieder an die Spitze des Miniſteriums — jenen verdienten Staats-
[281]Aufhebung des badiſchen Preßgeſetzes.
mann, der einſt bei der Begründung des Großherzogthums und ſeiner
Verfaſſung ſo erfolgreich mitgewirkt hatte. Der kräftige alte Herr, deſſen
Verfaſſungstreue außer Zweifel ſtand, war über Rotteck’s Reden empört;
er fand, daß der vielgerühmte „unvergeßliche und unübertreffliche Landtag“
ſeine Rechte frevelhaft mißbraucht habe, und verſicherte dem preußiſchen
Geſandten, zu Ancillon’s lebhafter Genugthuung: „ich werde nicht ruhen
bis der Zügelloſigkeit Grenzen geſetzt ſind.“*)
Nur zu der vollſtändigen Aufhebung des Preßgeſetzes mochte der
Großherzog ſich nicht entſchließen. Eine ſo herriſche Zumuthung war bis-
her noch keinem Bundesfürſten geſtellt worden; zudem fürchtete Leopold,
wenn er gehorche, ſich das Vertrauen ſeines Volkes zu verſcherzen. Er
ſchwankte lange. Die badiſchen Liberalen erzählten einander zuverſichtlich,
daß er in ſeiner Noth den franzöſiſchen Nachbarn heimlich um Hilfe ge-
beten habe, und — ſo gründlich war hier das nationale Selbſtgefühl
zerſtört — ſie rechneten ihm dies Hilfegeſuch zur Ehre an. In Wahrheit
hat der patriotiſche Fürſt an ſolchen Landesverrath nie gedacht. Am
Bundestage aber ließ er ſeine Anſicht mehrere Monate hindurch hart-
näckig vertheidigen. Blittersdorff, der im Grunde des Herzens das liberale
Geſetz ſelber verwünſchte, mußte alle ſeine ſophiſtiſchen Künſte aufbieten, um
immer wieder zu beweiſen: Baden erkenne das Bundespreßgeſetz, das die
Cenſur vorſchrieb, als rechtsverbindlich an und ſei gleichwohl befugt, durch
ſein eigenes Preßgeſetz die Cenſur aufzuheben.**) Kein einziger der Bundes-
geſandten ſtimmte dem Badener bei. Das formale Recht war zu klar,
und als der Bundestag auf ſeiner Forderung beharrte, mußte die Karls-
ruher Regierung endlich am 28. Juli die Cenſur wieder einführen. Schlag
auf Schlag folgten nun die Unterdrückung der vom Bundestage bereits
verbotenen liberalen Blätter und zahlreiche Unterſuchungen gegen die
Redner der Volksverſammlungen. Noch nicht zufrieden mit Alledem, ver-
langte der Bundestag im September auch die Beſtrafung der akademiſchen
Lehrer, welche den unterdrückten „Freiſinnigen“ herausgegeben hatten.
In Freiburg wurden die Sechs Artikel mit unbeſchreiblicher Ent-
rüſtung aufgenommen. Rotteck legte ihnen einen verbrecheriſchen Sinn
unter, den ſie durchaus nicht hatten; er veranſtaltete ſofort eine Adreſſe
dawider und ſagte mit bitterem Hohne: dieſe Bundesbeſchlüſſe vom 28.
Juni würden für alle wohlgeſinnten Bürger ein unendlich wirkſameres
Vereinigungszeichen bilden als die geächteten drei Farben. In dem Fana-
tismus ſeines Vernunftrechts war er bereits ſo weit gelangt, daß er in
Europa nur noch die zwei Völker der Freien und der Knechte bemerken
wollte; „faſt alle die alten, meiſt nur noch bei der gedankenloſen Maſſe
[282]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
wirkſamen National-Sympathien und Antipathien, Verwandtſchaften und
Scheidewände“ verſchwanden ihm daneben. Mittlerweile gerieth er in
Händel mit dem Gemeinderathe, weil dieſer eine Bürgerwache zur Ver-
hinderung von Volksverſammlungen errichtet hatte, und als nun auch die
Studenten wieder allerhand Straßenunfug verübten, da meinte die Re-
gierung, dies Neſt des Aufruhrs an der Dreiſam ausheben zu müſſen.
In ihrer Angſt ging ſie noch weit über die Forderungen des Bundestags
hinaus. Die Univerſität Freiburg wurde geſchloſſen und dann mit ver-
änderter Verfaſſung neu eröffnet. Rotteck und Welcker erhielten den Ab-
ſchied mit Ruhegehalt, Duttlinger entging dem gleichen Schickſal nur weil
man ihn auf dem Lehrſtuhle nicht entbehren konnte. Es war nicht blos
ein ſchweres Unrecht wider ehrenhafte Gegner, die ſich allen geheimen
Umtrieben ſtets fern gehalten hatten, ſondern auch eine politiſche Thorheit;
denn die Wirkſamkeit der Beiden als Lehrer reichte nicht ſehr weit, durch
die Abſetzung gab man ihnen außer dem Ruhme der Märtyrer auch die
Muße ſich ganz dem Parteileben zu widmen. Durch mannichfache Huldi-
gungen ſuchten die Geſinnungsgenoſſen den Abgeſetzten Troſt zu geben.
Welcker, der ſich bis zuletzt durch umfängliche Vertheidigungsſchriften tapfer
wehrte, wurde in Gießen von ſeinen Landsleuten mit einem großen Feſt-
mahle geehrt. Rotteck erhielt aus verſchiedenen Gegenden des conſtitutio-
nellen Deutſchlands neue Ehrenbecher zugeſendet; deren Zahl ſtieg all-
mählich auf zwölf, ſo daß die Badener ſich bewogen fanden ihrem Helden
noch einen koſtbaren Kaſten zur Aufbewahrung der Spenden zu ſchenken;
wenn er dieſe Schätze betrachtete, dann ſagte er ſtolz: welcher Miniſter
hat wohl ſo ſchöne Orden?
Trotzdem reichte die Unzufriedenheit nicht über enge Kreiſe hinaus.
Der Zorn über die halb mögliche halb eingebildete Gefährlichkeit der Sechs
Artikel mußte dem Volke unverſtändlich bleiben, obgleich Rotteck, „der Baure-
held“ bei den Maſſen in hohem Anſehen ſtand. Als der Großherzog mit
Reizenſtein im Herbſt den Breisgau beſuchte, fand er ſeine Oberländer
ganz glücklich: Spelz und Trauben waren gut gerathen. Der greiſe
Miniſter glaubte feſt, durch heilſame Strenge dem Staate einen Dienſt
erwieſen zu haben und nahm den Dank des Berliner Hofes befriedigt an.
Er betrachtete die Lage als Diplomat; er ſah ſein Land faſt waffenlos,
ohne Feſtung, durch die galliſche Habgier unmittelbar bedroht. Darum
wünſchte er, wie er dem preußiſchen Geſandten ſagte, entweder einen wirk-
lichen Frieden oder, wenn es ſein müſſe, einen raſchen, zermalmenden
Angriffskrieg, und für beide Fälle war Preußens Freundſchaft unent-
behrlich.*)
Dergeſtalt war auch in Baden die Bewegung ins Stocken gerathen,
[283]Verkauf von Lichtenberg.
und während der nächſten zwei Jahre wagte nur noch ein einziges Blatt,
Mathy’s „Zeitgeiſt“, die Gedanken des Liberalismus unerſchrocken zu ver-
theidigen. Die erſte Nummer erſchien wenige Wochen bevor die junge
badiſche Preßfreiheit wieder beſeitigt wurde, und alltäglich mußte Mathy
nunmehr den kleinen Krieg führen wider die kindiſche Aengſtlichkeit einer
willkürlichen Cenſur. Ihm war nie wohler als wenn er allein auf der
Breſche ſtand und Andere verzagten. Da er ſelbſt das geſetzlich vorge-
ſchriebene Alter noch nicht erreicht hatte, ſo unterzeichnete ſein Ausläufer
Erasmus Bartlin als Herausgeber, und es war ein Genuß, den biederen
Bartlin zu ſehen, wenn er Abends den „Zeitgeiſt“ ſelber zum Cenſor
trug und ſtolz ſagte: hier bringe ich mein Blatt. Obwohl nicht ganz frei
von den fanatiſchen Uebertreibungen und den tönenden Schlagworten des
jungen Liberalismus bewies die Zeitung doch durch ihren geſunden Ge-
ſchäftsverſtand, durch ihre knappe, gedrungene, immer ſachlich belehrende
Sprache, daß die Oppoſition ſchon einzelne regierungsfähige Talente be-
ſaß. Die volkswirthſchaftliche Ueberlegenheit des Nordens geſtand Mathy
unbefangen zu, und in der preußiſchen Handelspolitik erkannte er bald
den erſten Keim der wirkſamen deutſchen Einheit. Sein nächſtes Ziel
blieb natürlich die Preßfreiheit, oder, wie er bitter ſagte „die Herſtellung
des natürlichen und durch das Grundgeſetz verheißenen Rechtes des freien
Menſchen, ſich von dem Thiere und dem Sklaven unterſcheiden zu dürfen,
indem er auf eigene Gefahr und Verantwortung hin ſeine Gedanken
ausſpricht.“
Den Badenern raubte die hereinbrechende Reaction die freie Preſſe,
dem unzufriedenen Völkchen des Fürſtenthums Lichtenberg brachte ſie ein
unerwartetes Glück: die Einverleibung in den preußiſchen Staat. Da die
Unruhen in St. Wendel gar kein Ende nahmen, ſo mußte der Herzog
von Coburg nochmals um Preußens Hilfe bitten, und abermals ſtellten
preußiſche Truppen ohne Kampf die Ordnung her. Wie viele Mühe hatten
die Coburger einſt zur Zeit der Wiener Verträge aufgewendet, um durch
die Gunſt der großen Mächte eine Gebietsvergrößerung, die ihnen von
Rechtswegen durchaus nicht gebührte, zu erlangen, und wie hart war ihre
Ländergier beſtraft worden. Jetzt ſah Herzog Ernſt endlich ein, daß er ſich
dieſes entlegenen Beſitzthums entledigen mußte. Er geſtand dem Könige
von Preußen (18. Juni 1832), aus eigener Kraft könne er weder die
Ruheſtörungen noch den Schmuggel verhindern, und erbot ſich daher das
Fürſtenthum an Preußen abzutreten. Gewitzigt durch frühere Erfahrungen
wagte er aber dem Könige nicht wieder einen Ländertauſch zuzumuthen,*)
ſondern verlangte eine Entſchädigung durch preußiſche Domänen. Weil er
des Erfolges ſicher zu ſein wähnte, ſo beſichtigte er bereits einige Staatsgüter
in der Goldenen Aue, die er zu einer ſtattlichen Standesherrſchaft abzu-
[284]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
runden hoffte. Da ſchlugen die Pächter und Bauern Lärm, denn der
Coburger ſtand keineswegs in dem Rufe eines milden Grundherrn, und
der Merſeburger Regierungspräſident v. Rochow erklärte dem Könige frei-
müthig: die Abtretung von Domänen werde im Lande allgemeine Unzu-
friedenheit erregen. Gleich ihm dachten die Räthe des Finanzminiſteriums;
ſie fanden es gar zu großmüthig, daß man mehrere der ſchönſten Land-
güter der Provinz Sachſen dahingeben ſollte für „die Lappländer am
Hunsrück“, wie L. Kühne die armen Lichtenberger nannte; zudem dienten
die Domänen als Unterpfand für die Staatsſchuld, der Staatshaushalts-
plan war auf ihren wachſenden Ertrag berechnet. Auch der Kronprinz
ſchloß ſich den Widerſprechenden an; von Domänenverkäufen wollte er
grundſätzlich nichts hören, da nach der Haller’ſchen Staatslehre die mon-
archiſche Gewalt auf dem Beſitze eines reichen Kammergutes ruhen ſollte.
Nach langwierigen Verhandlungen erwiderte der König endlich, daß er nur
eine ſehr hoch bemeſſene Geldentſchädigung leiſten könne. Herzog Ernſt
ſtimmte zu; nur wünſchte er das Geſchäft verdeckt zu halten, damit man
ihm nicht nachſage, daß er ſeine Unterthanen für Geld verkaufe.*)
Darum erhielt der am 31. Mai 1834 abgeſchloſſene und im nächſten
Monate von beiden Theilen genehmigte Abtretungsvertrag eine vieldeutige
Faſſung. Dem Herzog ward eine Entſchädigung zugeſagt, welche ihm nicht
nur eine Rente von 80000 Thalern gewähren, ſondern ihn „zugleich in
den Stand ſetzen ſollte, theils durch Uebernahme preußiſcher Domänen
theils durch Ankauf anderer Güter ein Grundeigenthum zu erwerben“.
Auf Grund dieſer ſehr unbeſtimmten Zuſage bemühte ſich der Herzog
nunmehr jahrelang um den Ankauf ſchleſiſcher oder poſenſcher Domänen;
doch immer wieder trat ihm das preußiſche [Finanzminiſterium] entgegen.
Mit dem Tode Friedrich Wilhelm’s III. verſchwand die letzte Ausſicht, da
ſein Nachfolger den ganzen Handel mißbilligte, und erſt im Jahre 1843
beruhigte ſich Coburg, nach vollſtändiger Auszahlung des ausbedungenen
Kaufpreiſes. Kaufmänniſch betrachtet, war das Geſchäft für die welt-
erfahrenen Verwandten Leopold’s von Belgien recht erfreulich ausgefallen:
ſie erhielten 2,1 Mill. Thlr. in Staatsſchuldſcheinen für ein Land, deſſen
bisherigen Ertrag die preußiſchen Finanzbeamten auf 45000 Thlr., einige
gar nur auf 30000 Thlr. ſchätzten.**) Alſo verſchwand das Fürſtenthum
Lichtenberg, deſſen nationales Selbſtbeſtimmungsrecht den Polen, Franzoſen
und Süddeutſchen ſo viel Sorgen bereitet hatte, als Kreis St. Wendel in
[285]Die Weſtmächte gegen die Sechs Artikel.
der preußiſchen Monarchie. Der Schmuggel hörte auf, das verwahrloſte
Land erholte ſich unter einer gerechten Verwaltung, und da die eine Ein-
bruchsſtelle der Coburger Sechſer nunmehr geſchloſſen ward, ſo konnte
der befruchtende Strom der falſchen Münzen nur noch von Coburg aus,
in dünnerem Strahle über die Guldenländer hereinfluthen. Die klein-
fürſtliche Souveränität hatte zum erſten male ihren Bankbruch erklärt
und eingeſtehen müſſen, daß ſie in bewegter Zeit nicht einmal die nächſten
Pflichten jeder Staatsgewalt zu erfüllen vermochte. —
Alles in Allem war der Widerſtand, dem die Sechs Artikel begegneten,
überaus ſchwächlich, und wer den Dingen näher ſtand konnte nicht ver-
kennen, daß die entſchiedene Oppoſition erſt geringen Anhang beſaß.
Entmuthigt zog ſich in dieſen Tagen der Jenenſer Luden aus dem Wei-
mariſchen Landtage zurück, weil er eine Verwahrung gegen die Bundes-
beſchlüſſe nicht durchzuſetzen vermochte. Im Auslande aber erregten die
lauten Weherufe der liberalen Preſſe den Eindruck, als ob Deutſchland
dem Bürgerkriege entgegentriebe. Im engliſchen Unterhauſe beantragte
Henry Lytton Bulwer (2. Auguſt 1832), der König ſolle durch eine Adreſſe
gebeten werden, beim Bundestage den neuen, Deutſchlands Unabhängigkeit
vernichtenden Beſchlüſſen entgegenzutreten. Der feurige Redner, ein ehr-
licher Freund Deutſchlands, fragte zornig, ob je eine ſolche Verletzung
der heiligſten Verſprechungen erhört worden ſei? und dies in dem Ge-
burtslande der Freiheit, in dem Lande Luther’s, dem auch England ſeinen
geläuterten Glauben verdanke, bei den Nachkommen der Männer, denen
die Freiheit des Gedankens immer als Loſungswort zum Siege gedient
habe! Palmerſton antwortete behutſam ausweichend, er pries nur in all-
gemeinen Redensarten den beliebten Bund aller conſtitutionellen Staaten,
und auf ſeine Bitte ward der Antrag als unzeitgemäß verworfen. Nach
wenigen Tagen wurde der Lord jedoch andern Sinnes. Warum ſollte er
auch nicht verſuchen, wieder einmal ohne Unkoſten den hochherzigen Be-
ſchützer der Völkerfreiheit zu ſpielen, durch treuherzigen Zuſpruch die
deutſchen Höfe gegen einander zu hetzen und alſo die erfreuliche Ver-
wirrung auf dem Feſtlande noch zu ſteigern? Ueberdies hatte der ruſſiſche
Geſandte Lieven ſeine Freude über die Bundesbeſchlüſſe ausgeſprochen,
und der mißtrauiſche Brite ſchloß daraus ſogleich, daß Czar Nikolaus bei
den Sechs Artikeln mitgeholfen habe.*)
Am 7. Septbr. richtete Palmerſton an die Geſandtſchaften in Deutſch-
land eine Depeſche, die für England als einen Mitunterzeichner der Wiener
Verträge das Recht beanſpruchte in deutſchen Bundesangelegenheiten mit-
zureden. Leider entbehrte dieſe Anmaßung nicht eines ſcheinbaren Grun-
des, da die elf erſten Artikel der Bundesakte allerdings in der Schluß-
akte des Wiener Congreſſes ſtanden. Die liberalen Weſtmächte waren ja
[286]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
längſt gewohnt, je nach Umſtänden bald ſich auf die Wiener Verträge zu be-
rufen bald deren Rechtsverbindlichkeit zu beſtreiten. Im Tone des beſorgten
Freundes bat der Lord ſodann die deutſchen Regierungen, „dem unbedachten
Eifer des Bundestags einen Zügel anzulegen und die Annahme von Maß-
regeln zu verhindern, welche nur allzu wahrſcheinlich zu Erſchütterungen
und zum Kriege führen müßten.“ Zugleich warnte Lord Erskine in München
dringend vor den Sechs Artikeln, namentlich vor der Bundescommiſſion,
welche die Landtage überwachen ſollte.*) Dieſe Heuchelei mußte die deutſchen
Höfe um ſo widerwärtiger berühren, da der König von England ſelbſt als
König von Hannover bereitwillig bei den letzten Bundesbeſchlüſſen mit-
gewirkt hatte. Der ehrliche Welfe bekundete auch ſeine Unzufriedenheit
mit Palmerſton’s Haltung ſo deutlich wie es einem parlamentariſchen
Schattenkönige möglich war; er ſendete eben jetzt den Guelphenorden an
Münch und Nagler, ausdrücklich zum Dank für ihre Verdienſte um die
Sechs Artikel.
Faſt noch verdächtiger erſchien die Haltung der franzöſiſchen Diplo-
maten, die überall mit den Engländern Hand in Hand gingen. Mortier
in München, ein prahlſüchtiger, leichtfertiger Chauviniſt, und der junge
Reinhard in Dresden wiederholten den alten Rheinbundsgenoſſen beſtändig,
daß Frankreich bereit ſei, ſie wider die Tyrannei ihrer deutſchen Vor-
münder zu ſchützen; Mortier unterſtand ſich ſogar gegen die Befeſtigung
von Germersheim Einſpruch zu erheben. Wenn darauf Werther in Paris
oder Jordan in Dresden ſich beſchwerten, dann hieß es ſtets, die jungen
Diplomaten hätten ihre Weiſungen überſchritten.**) Gleichwohl führte
Sebaſtiani ſelbſt in ſeinen vertraulichen Unterredungen mit dem bairiſchen
Geſandten ganz die nämliche Sprache wie Mortier, und ſein Amtsblatt
brachte aus der Feder des alten Bonapartiſten Bignon einen Aufſatz, der
die Sechs Artikel für nichtig erklärte, alle Leidenſchaften der rheinbün-
diſchen Zeiten wieder aufzuwiegeln verſuchte. Und dazu das räthſelhafte
Treiben der zahlreichen franzöſiſchen Agenten am Rhein, die nur zuweilen
einmal auf Umwegen den deutſchen Höfen eine Warnung zukommen ließen.
Sollten dieſe Leute die deutſchen Demagogen überwachen oder ihnen helfen
oder auch beides zugleich thun? Niemand wußte es. Nach ſolchen Erfah-
rungen hielten beide deutſche Großmächte für geboten, die engliſche Zu-
dringlichkeit gründlich abzufertigen.
Als der Geſchäftsträger Abercrombie dem preußiſchen Miniſter die
Depeſche Palmerſton’s vorlas, da erwiderte Ancillon mit ungewohnter
Schärfe: er wolle ein- für allemal das abſichtliche oder unabſichtliche Vorur-
theil zerſtören, als ob die zwei Großmächte Deutſchland beherrſchten; in Frank-
[287]Abfertigung der Weſtmächte.
furt ſeien die Sechs Artikel einmüthig beſchloſſen, dort möge England ſeine
Beſchwerden vorbringen, der König von Preußen nehme ſie gar nicht an.
Trotzdem erdreiſtete ſich der Engländer mit dem eigenthümlichen Zart-
gefühle ſeiner Nation noch eine Abſchrift der Depeſche an Ancillon zu
ſenden; ſofort ward ihm das Schriftſtück ungeleſen mit einem kurz ab-
weiſenden Briefe zurückgeſchickt.*) Nunmehr wendete ſich Cathcart in
Frankfurt an die Bundesgeſandten und empfing von Münch wie von
Nagler die ſchroffe Antwort, daß der Bund ſich jede Einmiſchung des
Auslands verbitten müſſe. Dem Dresdener Hofe dankte Ancillon warm
für ſeine würdige Haltung und fügte hinzu: „Die deutſchen Staaten ent-
zweien um ſelbſt in Deutſchland zu herrſchen, das iſt immer Frankreichs
Loſung geweſen und iſt es heute mehr denn je; denn Frankreich fühlt,
daß Deutſchland, geſchloſſen, einig und in voller Uebereinſtimmung unter
dem Banner des Bundes kämpfend, ſeinem mächtigen Nachbarn zum min-
deſten gewachſen ſein würde.“**) Metternich aber konnte ſich’s nicht ver-
ſagen, den engliſchen Miniſter, der ſolches Unterrichts allerdings bedurfte,
durch eine lange Depeſche über die Grundzüge des deutſchen Bundesrechts
zu belehren (31. Oct.) und erließ ſodann noch ein Rundſchreiben an die
deutſchen Höfe um ſie in ihrer guten Geſinnung zu beſtärken. Nichts über-
flüſſiger als dieſe Mahnung. Dem Auslande gegenüber waren Deutſch-
lands Fürſten einig; was konnten ſie auch von England hoffen? was von
dem ſchwächlichen, beſtändig um’s Daſein ringenden Bürgerkönigthum?
Verbittert wie ſie war zeigte die Nation für dieſe ehrenwerthe Hal-
tung ihres Fürſtenſtandes gar kein Verſtändniß. Die Ueberklugen meinten,
das Alles ſei nur ein Gaukelſpiel; die Meiſten ſagten: den liberalen
Weſtmächten zeigt man die Zähne, vor dem weißen Czaren kriecht man
im Staube. Von der europäiſchen Politik hatten unſere liberalen Zei-
tungen nicht die leiſeſte Ahnung, obgleich ſie den größten Theil ihrer
Spalten dem Auslande widmeten und ſich beſtändig den Kopf anderer
Völker zerbrachen; ſie redeten nur nach was die Handlungsreiſenden der
Revolution, die polniſchen Flüchtlinge ihnen vorſagten. Darum glaubten
ſie beſtimmt, daß Deutſchland von den Ruſſen beherrſcht werde. Und
doch hatte der Czar ſich von der Berathung der Sechs Artikel ganz fern
gehalten, da er auf die conſervative Geſinnung der deutſchen Großmächte
zählen konnte; er hatte nur einmal durch einen freundſchaftlichen Brief
den König von Baiern zur Bundestreue ermahnt, während die Weſtmächte
dem Deutſchen Bunde mit ſchamloſer Anmaßung entgegentraten. Auch
in der großen Politik gab Rußland keineswegs den Ausſchlag; bisher
waren noch alle ſeine Kriegspläne durch Preußens Mäßigung vereitelt
worden. Aber die beharrlichen Angriffe der liberalen Preſſe mußten den
[288]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Hochmuth des Selbſtherrſchers ſteigern; je eifriger ſie den Teufel an die
Wand malte, je lauter ſie den Czaren als den Zwingherrn Mitteleuropas
verläſterte, um ſo höher ſtieg ſein Anſehen in der diplomatiſchen Welt.
Zum Nikolaustage gab Münch den Bundesgeſandten ein Feſtmahl und
rief unter brauſendem Beifall: „Lange lebe er zum Schutz und Hort der
Könige, die für das Glück und Wohl ihrer Völker wachen und wirken.“*)
Die in Europa längſt verbreiteten übertriebenen Vorſtellungen von Ruß-
lands Macht konnten durch die maßloſe Feindſeligkeit der Polenfreunde
nur verſtärkt werden. Noch einige Jahre, und der Czar erlangte wirklich
die führende Stellung in dem nordiſchen Bunde, die man ihm jetzt ſchon
fälſchlich zuſchrieb. —
Ein ernſthafter parlamentariſcher Kampf gegen die Sechs Artikel wurde
nur in einem deutſchen Lande, in Württemberg gewagt, aber viel zu ſpät
und unter den denkbar ungünſtigſten Umſtänden. Als das Jahr 1833
herannahte und die verfaſſungsmäßige Friſt ablief, mußte ſich König Wil-
helm endlich doch zur Einberufung des längſt gewählten Landtags ent-
ſchließen. Er hatte unterdeſſen an dem neuen Juſtizminiſter Schlayer
einen Mann nach ſeinem Herzen gefunden, einen ausgezeichneten Juriſten,
der durch raſtloſen Fleiß aus niederem Stande emporgekommen war und
ſchon in der Jugend ein abgeſagter Feind der Altrechtler, durch und durch
moderner Bureaukrat, beredt, heftig, ſchlagfertig, geſchäftskundig, alsbald
ſeinen Entſchluß ausſprach die Oppoſition mit eiſerner Strenge niederzu-
halten. Ebenſo wenig wie Schlayer verſtanden Maucler und der durch
ſeinen Nepotismus berüchtigte Miniſter Hügel ſich die Herzen der Schwaben
zu gewinnen.
Die Geſinnung der Regierung ward ſchon offenbar, als Wangenheim
an den Vorbeſprechungen der liberalen Abgeordneten theilnahm. Der
König ſah in dieſer Haltung ſeines vormaligen Miniſters nur ſchwarzen
Undank, nachdem er ihm ſoeben ſelbſt das Staatsbürgerrecht gnädig erneuert
hatte**), und plötzlich erklärten die Behörden, zur Ueberraſchung der arg-
loſen Wähler, daß Wangenheim nicht wählbar ſei, weil er nicht im König-
reiche wohne; ſie beriefen ſich auf einen allerdings übel gerathenen und
nicht ganz unanfechtbaren Satz der Verfaſſungsurkunde. Wangenheim fiel
aus allen ſeinen Himmeln. Er hatte ſich, wie dem Könige wohl bekannt
war, ſein Staatsbürgerrecht nur darum beſtätigen laſſen, weil er in den
Landtag eintreten wollte; da ward ihm unverſehens ein Bein geſtellt
und die Wählbarkeit beſtritten. Mit Aufwendung aller ſeiner dialektiſchen
Künſte verſuchte er dann die Giltigkeit ſeiner Wahl zu vertheidigen; er
veröffentlichte eine umfängliche Schrift darüber und ſcheute ſich nicht, eine
Stelle aus einem vertraulichen Briefe des Königs abzudrucken. Nun
[289]Der Vergebliche Landtag in Württemberg.
brauſte König Wilhelm auf, gab dem Vertrauensbrecher ſeine „ganze
Indignation“ zu erkennen und ſagte zum Schluß: „Ebenſo unangenehm
ſind mir die Lobſprüche geweſen, die Sie über denjenigen Theil meines
Briefes, den Sie nicht abgedruckt haben, beigefügt haben, indem unter den
wirklichen Zeitumſtänden jedes günſtige Urtheil eines Mannes, der zu
einer Partei gehört, zu der Sie Sich öffentlich bekannt haben, für mich nur
höchſt beleidigend ſein kann.“ Mit ſo ſchnöden Worten gab der Schwaben-
könig den Liberalen den Laufpaß. Für jetzt blieb dieſe Kriegserklärung
noch geheim; denn Wangenheim, der ſeine eigene Schuld durchaus nicht
einſehen wollte, meinte ſtolz: „das Mitleid forderte, dem unköniglichen
Schreiben keine Oeffentlichkeit zu geben, und die Verachtung forderte,
nichts darauf zu erwidern.“*)
Bald genug ſollte der Landtag ſelbſt erfahren, daß der König ſeine
politiſchen Gegner wie perſönliche Feinde betrachtete. Es war Brauch in
Schwaben, daß die neuen Abgeordneten den Verfaſſungseid in die Hand
des Königs ablegten. Unter den Neugewählten befand ſich aber Paul
Pfizer. Der war ſoeben aus dem Staatsdienſt ausgetreten, weil ihn ſeine
Vorgeſetzten wegen des Briefwechſels zweier Deutſchen zur Rechenſchaft
zogen. Um keinen Preis wollte König Wilhelm ſeine Hand dieſem Ver-
haßten reichen, der dem Hauſe Württemberg zugemuthet hatte, ſich den
Hohenzollern unterzuordnen. Pfizer wurde daher unter der Hand auf-
gefordert bei der Eröffnungsſitzung wegzubleiben. Zu einer ſo ſchimpflichen
Demüthigung konnte ſich der beſcheidene junge Abgeordnete doch nicht ent-
ſchließen, ein unmittelbarer Befehl des Königs war ihm gar nicht zuge-
kommen. So vollzog ſich denn ſchon die Eröffnung der Ständeverſammlung
unter böſen Anzeichen (15. Januar 1833). Der gefürchtete junge Liberale
erſchien, aber die angekündigte feierliche Auffahrt des Monarchen ward in
letzter Stunde abgeſagt, und ſtatt ſeiner vereidigte ein Miniſter die Volks-
vertreter.**) Alsbald folgten heftige Verhandlungen über die Wahlen.
Wangenheim’s Wahl ward von einer ſchwachen Mehrheit für ungiltig
erklärt, und dem Ausgeſtoßenen blieb nur die Genugthuung, daß jetzt alle
Parteien wetteifernd ſeine Verdienſte um die Begründung der Verfaſſung
anerkannten. Selbſt ſein alter Gegner Uhland ſagte: „Giebt es nicht auch
ein geiſtiges Heimathsrecht, das nicht ganz von der Scholle abhängt? Iſt
es nicht auch ein Wohnen im Lande, wenn man im Angedenken ſeiner
Bewohner lebt und dann durch ihr Vertrauen zur Repräſentation berufen
wurde?“
Das Schickſal des entlaſſenen Miniſters theilten vier andere Abge-
ordnete, welche vor Jahren wegen demagogiſcher Umtriebe auf dem Hohen-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 19
[290]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
asperg geſeſſen und dann vom Könige vollſtändige Begnadigung erlangt
hatten. Mit gutem Grunde behaupteten nun die Liberalen, durch die
Wiederherſtellung ihrer bürgerlichen Ehre ſei den Vier auch die Wählbarkeit
zurückgegeben worden. Der nachtragende König aber wollte ſich lieber die
Prärogative ſeiner Krone ſelbſt beſchränken als dieſe vier, perſönlich höchſt
achtbaren, Männer in die Kammer einlaſſen; er drohte mit ſofortiger
Auflöſung des Landtages*), und wie oft hatte er ſich doch in früheren
Zeiten gerühmt, daß die Demagogen nirgends ſo mild behandelt würden
wie in Schwaben! In der That erreichten Miniſter Schlayer und ſeine
Getreuen durch eine kühne juriſtiſche Beweisführung, daß die vier Dema-
gogen ausgeſchloſſen wurden; denn nach dem Buchſtaben der Verfaſſung
könne im Landtage Niemand ſitzen, der jemals eine verſchärfte Feſtungs-
haft verbüßt habe, daran vermöge ſelbſt die Gnade des Königs nichts zu
ändern. Es war ein Stück verkehrter Welt: die Oppoſition vertheidigte,
die Miniſter beſtritten das unbeſchränkte Begnadigungsrecht des Mon-
archen, und mächtig klangen im Lande die mahnenden Worte Uhland’s
wieder: „in den unerfüllten Wünſchen der Völker, in den unwirkſamen
deutſchen Verfaſſungen liegt ein Keim tiefgehender Bitterkeit für das
reifere Alter wie für die Jugend.“ Salviati ſogar, der preußiſche Ge-
ſandte, fand es unbegreiflich, daß die Regierung alſo, in blindem Partei-
haß, ſich ſelber ins Fleiſch ſchnitt.
Aber auch die Liberalen begingen, fortgeriſſen durch eine ehrenwerthe
patriotiſche Leidenſchaft, Fehler auf Fehler. Mit flammenden Worten
verlangte Schott die Preßfreiheit für ſeine Schwaben, erklärte die Karls-
bader Beſchlüſſe für nichtig und pries das ruhigſte Land der Welt, Nord-
amerika, das mit ſeiner freien Preſſe ſich des wundervollen Rufes poli-
tiſcher Glückſeligkeit erfreue. Die Abgeordneten drängten ſich um den
Redner, der tief erregt inmitten des Saales ſtand, von den Gallerien
erdröhnte rauſchender Beifall; doch die Miniſterbank war leer, und wer
konnte auch für möglich halten, daß Württemberg heute noch, nachdem das
badiſche Preßgeſetz ſchon von Bundeswegen aufgehoben war, dem bedenk-
lichen Beiſpiele des Nachbarlandes folgen würde? Immer ſchärfer traten
die Parteien auseinander; ſchon rief die Württembergiſche Zeitung, jetzt
ſei die Lage geklärt, jetzt heiße es einfach: wir und ihr! Die Stuttgarter
Bürgerſchaft war ſeit zwei Jahren nicht aus der Aufregung herausgekommen,
ſelbſt die kleinen perſönlichen und örtlichen Händel in den Tagesblättern
wurden mit erbitterter Heftigkeit geführt; nun begann auch allerhand grober
Straßenunfug. Da ließ der König die Drohung fallen, er werde das
Hoflager in das Trutz-Stuttgart ſeiner Ahnen, nach Ludwigsburg verlegen.
Kaum war dies ruchbar, ſo begannen die Bürger ſchon für ihren Erwerb
zu zittern und überreichten dem erzürnten Monarchen eine mit 1600 Unter-
[291]Pfizer’s Motion.
ſchriften bedeckte demüthige Adreſſe. Er ließ die Abgeſandten hart an,
ſprach von einer wohlbekannten Rotte, die das undeutſche Weſen in
Schwaben einbürgern wolle, und verhieß nur, daß ſeine Entſchließung von
dem Wohlverhalten der Stadt abhängen werde.
Unterdeſſen hatte die Oppoſition ſich zur Hauptſchlacht gerüſtet.
Pfizer übernahm den erſten Stoß zu führen — nicht zu ſeinem Glücke,
denn ſolche weitſichtige Prophetennaturen werden im wimmelnden Gewühl
der kleinen Tagespolitik leicht in falſche Stellungen gedrängt. Am 13. Fe-
bruar brachte er eine „Motion“ ein, die ſofort als Flugſchrift gedruckt
wurde, da die Cenſoren den Zeitungen den Druck unterſagten, und weithin
im conſtitutionellen Deutſchland großes Aufſehen erregte. Die Motion
verlangte geradeswegs, die Sechs Artikel ſollten für unverbindlich erklärt
werden, bis die Regierung ſich mit ihren Landſtänden und dem Bundes-
tage über andere Beſchlüſſe verſtändigt hätte. Pfizer’s Rede war meiſter-
haft, gedankenreich und voll edler Leidenſchaft, aber der Antrag ſelbſt ganz
unhaltbar und nicht einmal durch die Noth entſchuldigt. Daß die Sechs
Artikel der Landesverfaſſung geradezu widerſprächen, wagte der Redner
ſelbſt nicht zu behaupten; er ſagte nur: „ſie tragen in ſich die Fähigkeit
den Staatsvertrag abzuändern.“ Nun hatte der König erſt vor Kurzem
feierlich verſprochen, daß er die Bundesbeſchlüſſe nie mißbrauchen werde,
und ſeine Zuſage bisher redlich gehalten; er mußte alſo in der Motion
eine abſichtliche Beleidigung ſehen, obwohl Pfizer über ihn perſönlich mit
Ehrfurcht redete. Und welch ein grober Particularismus ſprach aus dem
Antrage. Wie heillos verfahren und verſchroben war die deutſche Politik,
wenn dieſer Bewunderer Preußens, dieſer Vorkämpfer der nationalen Ein-
heit, der über die Nichtigkeit der kleinen Landtage ſo ſcharf und treffend
urtheilte, jetzt die württembergiſche Verfaſſung kurzerhand über das Bundes-
recht ſtellte! Er empfand auch ſelbſt den Widerſpruch, er fühlte, daß er
nur als Vertreter des Liberalismus unter ſeinen Landsleuten Anſehen
gewinnen konnte, und geſtand offen: „Ich wollte diejenigen, welche mich
falſch beurtheilen, überzeugen, daß die Einheit Deutſchlands, welche ich
wünſche, die Einheit des Rechtes und der Freiheit iſt, und daß ich die
Einheit des geſammten Deutſchlands nicht um den Preis der Unterdrückung
und Vernichtung der einzelnen deutſchen Länder erkauft wiſſen möchte.“
So lange die deutſchen Staaten ſouverän waren und ein deutſcher Reichstag
nicht beſtand, durften die Landtage mit Recht verlangen, daß die Miniſter
ihnen nöthigenfalls auch wegen der nach Frankfurt erlaſſenen Weiſungen
Rede ſtehen müßten; aber Pfizer ging weiter, er wollte die Bundesgeſandten
Württembergs nur dann als rechtmäßige Vertreter des Landes gelten
laſſen, wenn ihnen ihre Aufträge mit Zuſtimmung der Landſtände ertheilt
würden. Das hieß die deutſche Centralgewalt den Befehlen eines Dutzends
kleiner Landtage unterwerfen, und erſchien um ſo gefährlicher, da Pfizer
ſogar das allen Bundesfürſten theuere „monarchiſche Princip“ der Bundes-
19*
[292]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
geſetze als widerrechtlich angriff. Am Hofe war die Entrüſtung maßlos,
und Schlayer zeigte ſich gern bereit, dem Zorne des Monarchen über den
„vermeſſenen“ Antrag einen unerhört harten Ausdruck zu geben.
Nach einigen Tagen wurde die Kammer durch eine königliche Bot-
ſchaft aufgefordert, „mit Rückſicht auf die Würde des Königs und ſeiner
Bundesgenoſſen die Motion mit verdientem Unwillen zu verwerfen“. Dieſe
Sprache klang ſogar vielen Anhängern der Regierung, auch dem preu-
ßiſchen Geſandten, allzu ſtark, und die Oppoſition, die bisher nur über
eine ſtarke Minderzahl geboten hatte, gewann plötzlich die Mehrheit. Nach-
dem Pfizer mit würdigen Worten ſich vertheidigt hatte, erklärte die Kammer
in einer Adreſſe, die aus Uhland’s Feder ſtammte, daß ſie ihre eigene
Freiheit und die Unverantwortlichkeit ihrer Mitglieder feierlich verwahren
müſſe „gegen die vorgreifende Einſchreitung in den gemeſſenen Gang un-
ſerer Verhandlungen, eine Einſchreitung, wodurch uns für die erwartete
Beſchlußnahme ſelbſt die Gemüthsſtimmung angeſonnen wird.“ Neun
Tage nachher, am 22. März, erfolgte die Auflöſung des Landtags, unter
allen Zeichen der Ungnade, und der König ſagte zu dem öſterreichiſchen
Geſandten: einmal wolle er es noch mit einer Kammer verſuchen, doch
ſcheine es faſt unmöglich mit dieſen Leuten zu regieren.*)
Der vergebliche Landtag, wie das Volk ihn fortan nannte, über-
ſtrahlte mit dem Glanze ſeiner Beredſamkeit alle anderen Ständever-
ſammlungen Württembergs; doch er ſchritt zum Angriff wo eine ſchlichte
Rechtsverwahrung vollauf genügte, er verbiß ſich in dieſen Kampf mit
einem Eigenſinne, der lebhaft an die Haltung der Altrechtler erinnerte,
und für die Wohlfahrt des Landes leiſtete er nichts. Ueber den Angriffen
auf den Bundestag, über einer Fülle hochpolitiſcher Motionen wurde ſelbſt
das verſtändige Ablöſungsgeſetz, das die Regierung zum Schrecken der
Grundherren vorgelegt hatte, faſt vergeſſen. Nicht ohne Geſchick wendete
ſich eine Flugſchrift „Der vergebliche Landtag Württembergs im Jahre
1833“, die vom Hofe aus zur Vorbereitung der Neuwahlen verbreitet
wurde, an den praktiſchen Verſtand der kleinen Leute und verglich die
Unfruchtbarkeit dieſer landſtändiſchen Verhandlungen mit allen den unbe-
ſtreitbaren Wohlthaten, welche die ſparſame, geordnete Verwaltung dieſer
fünfzehn Jahre dem Lande gebracht hatte. Den Gegnern ſuchte man mit
allen Mitteln die Vertheidigung zu erſchweren; gegen eine Schrift des nach
Straßburg entflohenen Liberalen Elsner wurden ſchon im Voraus poli-
zeiliche Maßregeln getroffen, weil ſie „vorausſichtlich in entſchieden revolu-
tionärem Sinne“ gehalten ſein würde.**) Auch auf den Beiſtand der
beiden Großmächte konnte die Regierung zählen. Der König von Preußen
nahm, minder gerecht als ſein Geſandter, an der leidenſchaftlichen Heftigkeit
[293]Flugſchriften der Radicalen.
ihres Verfahrens gar keinen Anſtoß und ließ ihrer Weisheit ſeinen vollen
Beifall ausſprechen.*)
So war der letzte Sturm auf die Sechs Artikel abgeſchlagen. Nur
die Wiſſenſchaft ſtritt ſich noch lange über die rechtlichen Grenzen der
Bundesgewalt. Viele namhafte Publiciſten betheiligten ſich an dieſen Käm-
pfen: Wangenheim, K. H. Hofmann und Gruben, Pfizer ſelbſt und ſeine
Landsleute Wurm und Reyſcher. Aber feſte rechtliche Grundſätze wußte
Niemand zu finden, denn ſie waren unfindbar. Die Theorie des Bundes-
rechts mußte ebenſo unfruchtbar bleiben wie die praktiſche Bundespolitik.
Der Widerſpruch zwiſchen der abſolutiſtiſchen Centralgewalt und den land-
ſtändiſchen Verfaſſungen der Gliederſtaaten ließ ſich durch wohlgemeinte
Doctrinen nicht löſen, und ſeit der Bundestag ſich in eine geſammtdeutſche
Polizeibehörde verwandelt hatte, kamen alle Grundgedanken des Bundes-
rechts ins Schwanken. Für einen Staatenbund konnte dieſe Foederation
kaum noch gelten, und ebenſo gewiß war ſie kein geordneter Bundesſtaat. —
Extreme Parteien verfallen ſelten in Kleinmuth ſobald ſie ſich in
einer ausſichtsloſen Minderheit ſehen; die Regel iſt, daß ſie durch das
Gefühl ihrer Schwäche zu keckeren Reden, zu dreiſteren Wagniſſen auf-
geſtachelt werden. Je weniger die Liberalen mit ihrem Einſpruch gegen
die Sechs Artikel ausrichteten, um ſo ſchärfer ſonderte ſich die kleine radi-
cale Partei von ihnen ab; ſie ſchaute mit Hohn auf den geſetzlichen Wider-
ſtand und baute nur noch auf die Macht der Fauſt. Derweil Wirth,
Miller und andere Feſtgenoſſen durch prahleriſche Schilderungen der großen
Volksfeier „den Hambacher Geiſt“ wach zu halten ſuchten, warfen die
Straßburger Drucker immer neue Brandſchriften über den Rhein: die
Neue Welt, die Hausbibliothek für das deutſche Volk und ähnliche Mach-
werke, die ſich alleſammt in unfläthigen Schimpfreden gegen die Eſels-
ſtreiche der deutſchen Fürſten ergingen und den nahe bevorſtehenden Kampf
ankündigten. In gleichem Sinne ſprachen der Raſtatter Garnier und
der anoyme Verfaſſer der Flugſchrift „das betrogene Baden“. Sauerwein
in Frankfurt ſchrieb ein ABCBuch der Freiheit in jenem jüdiſch witzeln-
den Stile, der durch Heine und Börne in die Mode gekommen war;
er ſchloß mit einer Verherrlichung der rothen Mütze. Ein in der Frank-
furter Gegend verbreitetes Flugblatt „Empörung“ von Herold kündigte
den Gemäßigten offen den Frieden auf: „Alle Bücher und Reden über
Reform, Legalität und geſetzlichen Weg ſind blos gelehrte hochſtiliſirte Feig-
heit. Während die promovirten Philiſter Toaſte brachten auf Fürſtenwort
und Bürgerfreundlichkeit, haben die gekrönten Meuchler Ränke geſchmiedet,
Dolche geſchliffen, Gift gemiſcht und Mörder gedungen: Wiener Diplo-
[294]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
matenſtücke, Berliner Cabinetsbeſchlüſſe, Frankfurter Protokolle, Potsdamer
Kaſernenpuppen und öſterreichiſche Soldknechte. Aber wir waren darauf
gefaßt. Die große Oper: Volksrache! wird aufgeführt in allen Reſidenzen,
und in Frankfurt die Ouvertüre. Von Mund zu Mund geht jetzt ein
kräftiger Wort, als alle Landtagskammern und Zeitungsblätter uns liefer-
ten: Fürſten zum Land hinaus! Das iſt die große Parole, und unſer
einzig Gebet iſt: Herr, gieb uns unſer täglich Schrot! Auf laßt uns be-
ginnen! Der Herr hat uns zu Schnittern gemacht, die giftigen Königs-
blumen abzumähen!“
Was Herold in wüſten Drohungen herauspolterte, war nur der
kräftige Widerhall jener radicalen Schlagworte, mit denen Börne in ſeinen
Pariſer Briefen um ſich warf; der war jetzt ſchon ſo weit, daß er in
ſeiner hämiſchen Weiſe den ehrlichen Rotteck für eine alte Vettel erklärte,
die nur den Demagogen ſpiele um ihren ſchlechten Büchern Abſatz zu
verſchaffen. Gewandter aber noch frecher redete Heine in dem Vorworte
zu ſeinen „Franzöſiſchen Zuſtänden“. Erſtaunlich, wie dieſer vaterlands-
loſe Jude gleich einem Chamäleon beſtändig die Farbe wechſelte, ohne ſeine
angeſtammte orientaliſche Eigenart jemals aufzugeben. Wie er einſt den
Glauben ſeines Volks verlaſſen und gleichwohl beharrlich den verfolgten
Juden geſpielt hatte, ſo ward er jetzt durch die Diners, die Griſetten
und die Zeitungsphraſen der Pariſer dermaßen bezaubert, daß er ſich
gänzlich in einen Franzoſen verwandelte; er ließ fortan ſeine Schriften
meiſt in beiden Sprachen zugleich erſcheinen und lebte ſich in die wälſche
Empfindungsweiſe ſo gelehrig ein, daß Thiers ihn mit Recht „den geiſt-
reichſten Franzoſen ſeiner Zeit“ nennen konnte. Dabei bewahrte er doch
in dem ſtillen Winkel ſeines Herzens, der noch deutſch geblieben war, die
Sehnſucht nach dem Traumlande ſeiner Jugend und meinte ſich noch
immer berechtigt als Deutſcher zu ſeinem verrathenen Heimathlande zu
reden. Ueber „dieſe grandioſe Stadt, wo alle Tage ein Stück Weltgeſchichte
tragirt wird“, redete er mit einer knechtiſchen Unterthänigkeit, als ob jeder
Pariſer Lumpenſammler die Blüthe der Menſchheit darſtellte; ſachlich
wußte er freilich nichts weiter vorzubringen, als ſeichtes Feuilleton-
geſchwätz und die landesüblichen thörichten Schmähungen gegen die Politik
Caſimir Perier’s. Auch „unſere heimiſche Miſere“ betrachtete er durch
die Brille der Pariſer Radicalen. Während die franzöſiſche Preſſe Tag
für Tag nach den natürlichen Grenzen verlangte, und die deutſchen
Patrioten, mit Ausnahme einer Handvoll legitimiſtiſcher Heißſporne, ſchlech-
terdings nur an die Vertheidigung ihrer vaterländiſchen Grenzen dachten,
ſtellte Heine mit gewohnter Verlogenheit die Dinge auf den Kopf: er
ſchilderte dies unſchuldige, friedfertige Frankreich, wie es beſtändig durch
den künſtlich aufgeſtachelten Nationalhaß der dummen Teutonen bedroht
würde, und wollte auf der Welt keine Nationen mehr ſehen, ſondern nur
noch zwei Parteien: die Ariſtokratie und die Partei der Vernunft. Das
[295]Heine’s Franzöſiſche Zuſtände.
Alles freilich unter der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, daß zuvor Preußen
zerſchlagen und das linke Rheinufer an Frankreich abgetreten würde. Die
„deplorablen“ Sechs Artikel erklärte er „feierlichſt für null und nichtig“;
das ſittliche Pathos ſtand ihm aber ſo ſchlecht zu Geſicht, daß die Leſer
zweifeln mußten, ob hier der Schalksnarr oder der Volkstribun rede.
Um ſo lebendiger erklangen ſeine rohen Schimpfreden wider den
preußiſchen Eſel, der im Befreiungskriege dem ſterbenden Löwen den letzten
Fußtritt gegeben habe. Das war unverkennbar die Sprache des Herzens.
Heine’s alter Haß gegen Preußen hatte ſich in der Pariſer Luft bis zur
blöden Wuth geſteigert, denn er ahnte insgeheim, daß die begehrlichen
Träume ſeiner Franzoſen keinen ärgeren Feind zu fürchten hatten als
den preußiſchen Degen. Darum wurden alle die Männer, die in den
letzten Jahren ihre preußiſche Staatsgeſinnung offen bekundet hatten, mit
Koth beworfen: Hegel, Arndt, Schleiermacher, Stägemann, auch „der
arme Ranke, ein hübſches Talent, gemüthlich wie Hammelfleiſch mit Tel-
tower Rübchen“; ihnen alleſammt ſchleuderte Heine den Vorwurf der Feil-
heit zu, da er Andere nur nach ſeinem eigenen Charakter zu beurtheilen
vermochte. Den langfingerigen Hohenzollern weiſſagte er mit der Seher-
kraft des Dichters ſtatt der erſehnten Krone Karl’s des Großen vielmehr
das Schickſal Karl’s X. von Frankreich oder Karl’s von Braunſchweig,
und über einen deutſch-franzöſiſchen Krieg urtheilte er alſo: „Sollte ſich
das Entſetzliche begeben, und Frankreich, das Mutterland der Civiliſation
und der Freiheit, ginge verloren durch Leichtſinn und Verrath, und die
potsdämiſche Junkerſprache ſchnarrte wieder durch die Straßen von Paris,
und ſchmutzige Teutonenſtiefeln befleckten wieder den heiligen Boden der
Boulevards, und das Palais Royal röche wieder nach Juchten — dann
würden alle Flüche der Menſchheit den Urheber ſolchen Verderbens treffen.“
Die Vorrede dieſes Buchs, die ſich durch ihren pöbelhaften Ton be-
ſonders auszeichnete, wurde in zahlreichen Sonderabdrücken in der Mainzer
Gegend verbreitet, um die Rheinheſſen gegen Preußen aufzuwiegeln, und fand
auch viele bewundernde Leſer; das internationale Judenthum zog ja offenbar
die letzten unabweisbaren Folgerungen aus jener Lehre Rotteck’s, welche
die europäiſche Welt in die beiden Völker der Freiſinnigen und der Knechtiſch-
geſinnten eintheilte. Weltbürgerliche Träume, phantaſtiſche Hoffnungen auf
eine allgemeine Revolution, auf die Verbrüderung aller freien Völker ver-
fälſchten und verdunkelten das Idealbild der nationalen Einheit. Auch die
deutſche Demokratie wurde jetzt hineingezogen in das Netz revolutionärer
Geheimbünde, das die romaniſchen Länder längſt überſpannte. Während
der zwanziger Jahre hatten nur vereinzelte deutſche Radicale mit Lafayette’s
geheimnißvollem Comité directeur ihre Gedanken ausgetauſcht; nun erſt
ward dieſer Verkehr lebhafter, ſeit die polniſchen Flüchtlinge ihm als na-
türliche Vermittler dienten. General Bem in Dresden unterhielt einen ge-
heimen Briefwechſel mit Cornelius, Siebenpfeiffer und anderen Radicalen des
[296]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Südens; ſeine Hoffnung war, die tödlich gehaßte preußiſche Regierung durch
einen unabläſſigen kleinen Krieg zu ermüden.*) Der neugebildete deutſche
Preßverein zu Paris ſtand in Verbindung mit der Geſellſchaft der Menſchen-
rechte, mit den Straßburger Amis du peuple, mit Lelewel’s polniſchem Na-
tionalcomité, mit jenem großen „Depot“ polniſcher Krieger, das die franzö-
ſiſche Regierung freundnachbarlich in Beſançon, nahe der deutſchen Grenze
eingerichtet hatte.
Und ſchon verſuchte der größte, kühnſte, edelſte aller internationalen
Demagogen, der Genueſe Giuſeppe Mazzini ſeine ſtarken Hände auch
nach den deutſchen Radicalen auszuſtrecken. Seit einiger Zeit war dieſer
echte Landsmann Machiavelli’s die Verzweiflung aller Polizeibehörden des
Feſtlands; wie ein Aal glitt er ihnen zwiſchen den Fingern durch; überall
trieb er ſein Weſen, neuerdings in Paris unter dem Namen Strozzi.
Mit der glühenden Inbrunſt des Myſtikers glaubte er an die gottgewollte
Volksherrſchaft überall auf Erden; die Jugend ſollte dieſer Teo-Democrazia
zum Siege verhelfen, mit jedem Mittel des Aufruhrs, des Mordes, der
Lüge. „Es iſt weſentlich — ſo ſchrieb er dem Badener Garnier — daß
die Jugend die Geſchicke der Menſchheit in die Hand nimmt, denn ſie
allein beſitzt Kraft, Ausdauer, Begeiſterung, ſie allein iſt fähig aus der
Freiheit eine Religion zu machen.“ Von Marſeille aus hatte er bereits
den Geheimbund des Jungen Italiens geſtiftet, der mit der wohlgegliederten
Hierarchie ſeiner Ordinatoren und Propagatoren ſchon mehrere Städte
der Halbinſel beherrſchte; ein Junges Polen war in der Bildung begriffen,
nun ſollten auch die deutſchen Unzufriedenen für ein Junges Deutſchland
angeworden werden — und ſo weiter, bis endlich das vereinigte Junge
Europa Macht gegen Macht den Cabinetten trotzen könne.**)
Die deutſchen Regierungen vermochten nur ſelten eines Fadens aus
dieſen Geſpinnſten habhaft zu werden; was ſie erfuhren genügte immerhin,
um ihr Mißtrauen gegen den Pariſer Hof zu verſchärfen. Große Erfolge
der radicalen Propaganda konnte Ludwig Philipp unmöglich wünſchen, weil
er für ſeinen Bürgerthron zittern mußte. Als er einmal einen Mord-
anſchlag italieniſcher Demagogen gegen ſein eigenes Leben befürchtete, bat
er die Wiener Hofburg unbedenklich um ihren Beiſtand. Gleichwohl blieb
Frankreich das große Aſyl des Radicalismus. Gedrängt durch die öffentliche
Meinung, eröffnete der Bürgerkönig, wie Caſimir Perier bitter ſagte, „allen
Revolutionen ein Conto-Current“. Tauſende von Flüchtlingen lebten in
Paris und den Provinzen; die Regierung überwachte ſie, gewährte ihnen
aber auch Millionen zur Unterſtützung. Namentlich die deutſchen Flüchtlinge
erfreuten ſich ihrer Gunſt. Man wußte im Palais Royal merkwürdig
genauen Beſcheid über die demagogiſchen Umtriebe jenſeits des Rheines,
[297]Verſchwörungen der Radicalen.
und der letzte Zweifel mußte ſchwinden, als den deutſchen Behörden zwei
geheime Rundſchreiben aus dem franzöſiſchen Miniſterium des Innern in
die Hände fielen. Das eine beauftragte die geheimen Agenten Frankreichs
in Berlin und ſieben weſtdeutſchen Städten, eine Liſte der franzöſiſch ge-
ſinnten Oppoſitionsmänner, nebſt Angabe ihrer Vermögensverhältniſſe, ein-
zuſenden. Das andere befahl den Präfecten der Departements an der
Oſtgrenze, die deutſchen Flüchtlinge mit Achtung und Nachſicht, milder als
die polniſchen, zu behandeln, die bedürftigen zu unterſtützen, ihren Brief-
wechſel und den Verkehr ihrer Fußboten mit der Heimath nicht zu ſtören;
denn „die Deutſchen ſind wenig geneigt, Verwirrung und Zwietracht in
fremde Länder zu tragen; die beſtändig von ihnen angeſtellte Vergleichung
zwiſchen dem krankhaften, gebrechlichen politiſchen Zuſtande ihres Landes
und dem Zuſtande Frankreichs iſt der Grund und die Veranlaſſung des
Hambacher Feſtes“ ſowie der ſpäteren Unruhen. *) Der franzöſiſche Conſul
Engelhardt in Mainz, ein erklärter Chauviniſt, unterhielt einen ſo ver-
dächtigen Verkehr mit den zahlreichen Radicalen der Stadt, daß die preußiſche
Regierung beſorgt wurde und am Bundestage vorſchlug, man ſolle fortan
in der gefährdeten Bundesfeſtung nur deutſche Conſuln dulden; der Groß-
herzog von Heſſen ſcheute ſich jedoch die Franzoſen zu beleidigen. **)
Von einem ſolchen Nachbarn konnte der Bundestag wenig Beiſtand
erwarten. Zum Glück waren aber die deutſchen Geheimbündler unter
allen Theilnehmern der internationalen Verſchwörung weitaus die unge-
fährlichſten. Der rechtſchaffene Gradſinn der Deutſchen konnte ſich mit
dieſem unterirdiſchen Treiben nicht befreunden. An Rotteck, Uhland und
die ſchwäbiſchen Liberalen wagten ſich die Verſchwörer kaum heran, weil
man ihren geſetzlichen Sinn kannte. Als Welcker einmal auf der Reiſe
in den Kreis der Demagogen gerieth, ſprach er ſeinen Abſcheu vor allen
geheimen Vereinen nachdrücklich aus. Sylveſter Jordan wurde von den
Sendboten der Verſchwörer häufig beſucht, weil ſie glaubten, daß er „alle
Kurheſſen wie am Schnürle habe“, und erfuhr wahrſcheinlich Manches
von ihren Plänen; zur Theilnahme ließ auch er ſich nicht bewegen. Selbſt
Rector Weidig in Butzbach, der einzige angeſehene Mann unter den Ein-
geweihten, zog ſich bald zurück und warnte die Genoſſen vor dem unmög-
lichen Unternehmen. So beſchränkte ſich der Kreis der Verſchworenen auf
eine Handvoll Demagogen des gemeinen Schlags und auf einige jener
unſeligen Phantaſten, die ſich ſo lange in ihr eigenes Lügengewebe ein-
ſpinnen, bis ſie nicht mehr wiſſen, ob ſie ſich ſelber oder Andere betrügen.
Da war in Ludwigsburg ein radicaler Leutnant Koſeritz, der durch
Geld und glatte Worte einige Unteroffiziere gewonnen hatte; mit Hilfe dieſer
[298]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Leute dachte er die Garniſon aufzuwiegeln und dann vielleicht den König
Wilhelm ſelbſt zum Freiheitskampfe fortzureißen. Der Stuttgarter Buch-
händler Franckh erzählte ihm Wunderdinge von einer Pariſer geheimen Ge-
ſellſchaft, die ſchon ſeit 1786 beſtehe, einen Robespierre zu ihren Genoſſen
gezählt und alle europäiſchen Revolutionen ſeitdem veranlaßt habe. *) Er
verſicherte zugleich, in Beſançon ſtänden 400 Polen bereit, durch die
Schweiz in Baden einzubrechen, am Bodenſee weilten ſchon zwanzig pol-
niſche Offiziere, die den Aufruhr im Schwarzwald leiten ſollten. In der
That hatte ein anderer Verſchwörer, der Frankfurter Dr. Gärth inzwiſchen
mit dieſen Polen unterhandelt und ſie zu jeder Tollheit willig gefunden.
Am rührigſten unter Allen zeigte ſich Rauſchenplatt; er machte ſeinem
Kater-Namen Ehre, tauchte bald hier bald dort in den mitteldeutſchen
Städten auf und verſchwand ſpurlos, ſobald die Häſcher den längſt ſteck-
brieflich Verfolgten ergreifen wollten. Man hoffte im Frühjahr 1833 an
mehreren Stellen zugleich loszubrechen; der erſte Schlag ſollte in Frank-
furt fallen, weil der Bundestag zuerſt einer Züchtigung bedurfte und weil
die radicale Partei dort in den Maingegenden auf einen ſtarken Anhang
rechnete. In Homburg beſaß ſie an den Brüdern Breidenſtein zwei thätige
Helfer, in der Wetterau hatte ſich Weidig einen Stamm gläubiger Schüler
erzogen; in dem Gießener Leſevereine gaben der Anwalt Paul Follen, der
Bruder Karl’s, und deſſen Verwandter, der junge Naturforſcher Karl Vogt
den Ton an; in Naſſau verwünſchte Jedermann den allmächtigen Mi-
niſter Marſchall; im Odenwalde murrten die Bauern der Standesherr-
ſchaften über die doppelte Steuerlaſt.
In Frankfurt ſelbſt zeigten ſich die kleinen Leute ebenfalls erbittert.
Sie hatten nach der großen Woche durch Flugſchriften und Petitionen um
Preßfreiheit und Oeffentlichkeit ihres geſetzgebenden Körpers, aber auch
nach Pfahlbürgerbrauch um „kräftigen Nahrungs- und Gewerbsſchutz“
gegen das deutſche Ausland gebeten und im Herbſt 1831 ſogar ein kleines
Nachſpiel der Juli-Revolution aufgeführt, weil die Thorſperre während der
Weinleſe gar ſo ſtreng eingehalten wurde. Dabei war Blut gefloſſen,
und ſeitdem wurde auf die Roheit der Linienſoldaten, auf die zugleich
ſchlaffe und hochmüthige Vetternherrſchaft der „Römerherren“, wie man
die Senatoren nannte, weidlich geſchimpft. Von den jungen Männern
der gebildeten Stände gehörten einige zu dem verbotenen Preßvereine, der
jetzt unter den Augen des Bundestags ſein geheimes Hauptquartier auf-
geſchlagen hatte und in kräftigen Flugſchriften beharrlich erklärte: die Fürſten
hätten ihr Wort gebrochen, folglich ſei das Volk auch ſeiner Eide entbunden.
Aus ſolchen Anzeichen einer allerdings vorhandenen, aber ganz ohnmächtigen
Mißſtimmung ſchloſſen nun Rauſchenplatt und ſeine Leute, daß ein glücklicher
[299]Die Burſchentage.
Handſtreich in Frankfurt ſofort den Aufruhr in der ganzen Nachbarſchaft
entflammen müſſe. Was dann werden ſollte — eine Bundesrepublik oder
nur ein deutſches Parlament? — darüber ward allem Anſchein nach nie
ernſtlich verhandelt, obwohl Einzelne bereits eine Liſte der drei Präſidenten
der deutſchen Republik bereit hielten. Der ganze Plan war ſo kindiſch,
daß einige der Urheber bald ſelbſt beſorgt wurden; ſie glaubten einander
ſchon nicht mehr ihre windigen Prahlereien, ſelbſt Koſeritz hielt ſich zurück,
weil er „die grenzenloſe Unvorſichtigkeit der Verſchworenen“ fürchtete. Faſt
Niemand wollte anfangen, und ſo mußte denn, wie gewöhnlich, die leicht-
gläubige tapfere Jugend ausbaden was die vermeſſene Thorheit der Ael-
teren verſchuldet hatte.
Auch jetzt wie zu allen Zeiten ſpiegelte ſich das nationale Leben in
den Zuſtänden der Univerſitäten getreulich wieder. Nach den Julitagen
hatten ſich die Burſchenſchaften überall verſtärkt oder neu aufgethan, und
bald gewann die radicale Germania die Oberhand über die gemäßigte
Partei der Arminen. Auf den gemeinſamen Burſchentagen übernahmen
die Süddeutſchen die Führung; die preußiſchen Burſchenſchaften betheiligten
ſich wenig und blieben endlich ganz aus, die Breslauer wurde ſogar förmlich
zurückgewieſen, weil ſie ſich auf politiſche Umtriebe nicht einlaſſen wollte.
Unaufhaltſam drang nunmehr der Geiſt des neufranzöſiſchen Radicalismus
in dieſe jugendlichen Kreiſe ein. Auf dem Frankfurter Burſchentage, im
September 1831, wurde beſchloſſen, daß jeder Burſch ſich verpflichten
müſſe, ſelbſt mit Gewalt ein freies und gerechtes, in Volkseinheit geord-
netes Staatsleben herbeizuführen; die Burſchenſchaft ſollte fortan ihren
alten chriſtlich-germaniſchen Charakter ablegen und auch Juden aufnehmen.
Auf einem neuen Tage zu Stuttgart, um Weihnachten 1832, kündigte
man ſchon an, daß im Frühjahr die Revolution bevorſtehe und die Burſchen
ſich darauf vorzubereiten hätten. Nun traten die Eifrigſten der Heidel-
berger Burſchenſchaft zu einem geheimen Vereine zuſammen. Zwei ihrer
alten Herren in Frankfurt ertheilten ihnen Nachricht und Befehl: der
hitzköpfige, ſchon im polniſchen Revolutionskriege erprobte Arzt Guſtav
Bunſen und Dr. Georg Körner, ein junger Anwalt von ungewöhnlicher
Begabung, der ſich nachher in Amerika eine ehrenreiche politiſche Wirk-
ſamkeit geſchaffen hat. Die Burſchen ſchwelgten in der Hoffnung, den
Bundestag in voller Sitzung aufzuheben; der Frankfurter Soldatesca
meinten ſie ſicher zu ſein durch einen Hauptmann, der kein Wort von
ihren Plänen wußte, und überdies lagen im Taxis’ſchen Palaſte augen-
blicklich 400000 Gulden Mainzer Feſtungsgelder — Geld genug um den
Freiheitskrieg weiter zu führen. *) Am 2. April waren etwa zwanzig
Studenten aus Heidelberg, Würzburg, Erlangen, auch zwei aus Göttingen
[300]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
in der Bundesſtadt eingetroffen; dazu die Frankfurter, mehrere Polen
und der unvermeidliche Rauſchenplatt mit einigen älteren Genoſſen, Alles
in Allem kaum mehr als fünfzig Verſchworene. Auf einer Verſammlung
in Bockenheim wurden durch Bunſen und Körner die Rollen vertheilt;
nächſten Tags am Abend wollte man losbrechen.
Schon am Morgen des 3. April war der Anſchlag durch einen ano-
nymen Brief aus Würzburg verrathen, und wenn die Behörden ihre
Pflicht erfüllten, ſo konnte der ſo kläglich vorbereitete Aufſtand leicht ent-
weder ganz verhindert oder doch beim erſten Beginn unterdrückt werden.
Militäriſche Hilfe aus dem nahen Mainz war dringend nöthig, da die Frank-
furter Garniſon nur 380 Köpfe zählte, und ſie ließ ſich raſch zur Stelle
ſchaffen, denn der Gouverneur hatte ſich, wegen der längſt umlaufenden
bedenklichen Gerüchte, ſchon für alle Fälle vorbereitet. Freiherr v. Man-
teuffel aber, der ſächſiſche Bundesgeſandte, der in Münch’s und Nagler’s
Abweſenheit den Vorſitz führte, verhielt ſich ganz unthätig. Er ſendete
nach Mainz nur die vorläufige Anzeige, daß vielleicht Unruhen bevor-
ſtünden, und wollte, zu Blittersdorff’s Verzweiflung, nicht einmal den
Bundestag zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen. *) Der regie-
rende Bürgermeiſter ließ auf die Hauptwache zehn Mann mehr als ge-
wöhnlich, alle mit ungeladenem Gewehr aufziehen, und ſchickte zwei Polizei-
diener an den Fuß des Pfarrthurms, um die Sturmglocken zu behüten;
die wachfreie Mannſchaft blieb in der Kaſerne verſammelt und harrte
unter der Aufſicht eines Senators der kommenden Dinge.
Nach ſo auffälligen Proben politiſcher Wachſamkeit mußten die Libe-
ralen wohl auf den Verdacht gerathen, daß der Bundestag die Aufrührer
abſichtlich eine Weile hätte gewähren laſſen um die Demagogen endlich
einmal auf handhafter That zu ergreifen. Erwieſen iſt dieſe damals aller-
orten geglaubte Beſchuldigung freilich nicht; der tragikomiſche Hergang läßt
ſich auch ohnedies, aus der allgemeinen Erbärmlichkeit der Frankfurter
Verhältniſſe ungezwungen erklären. Das Kriegsheer der Bundesſtadt
befand ſich in einem ebenſo verwahrloſten Zuſtande wie alle die anderen
kleinen Contingente; Freiherr v. Manteuffel gehörte noch zu jener alten,
ſoeben erſt vom Staatsruder verdrängten kurſächſiſchen Beamtenſchule,
welche ſich unleugbar mehr durch ſchwerfällige Pedanterei als durch teuf-
liſche Argliſt auszeichnete; und die Römerherren waren in dieſen unruhigen
Tagen ſchon ſo oft durch blinden Lärm vom Schmauſe oder vom Whiſt-
ſpiel aufgeſcheucht worden, ſie mochten gern glauben, auch diesmal ſtecke
nichts dahinter.
Am Abend verſammelte ſich der eine Haufe der Verſchworenen, faſt
durchweg Studenten, in Bunſen’s Wohnung; mehrere ſehr tüchtige junge
Männer waren darunter, ſo der Mediciner Eimer aus Baden und der
[301]Der Frankfurter Wachenſturm.
Braunſchweiger A. L. v. Rochau, in ſpäteren Jahren einer der beſten deutſchen
Publiciſten. Die Unglücklichen wußten ſchon, daß Alles verrathen war,
aber als ritterliche Deutſche wollten ſie nicht mehr zurückweichen. Wohl-
bewaffnet und mit ſchwarzrothgoldnen Binden geſchmückt brachen ſie auf;
Rauſchenplatt ſchritt voran, heute nicht in ſeinen großen Stiefeln, ſondern
in einer ſchönen polniſchen Uniform. Um halb zehn Uhr drang die Schaar
aus den engen Gaſſen neben der Zeil hervor und ſtürzte ſich auf die Haupt-
wache. Im Nu waren die in der Vorhalle aufgehängten Gewehre genommen,
die Schildwache verwundet und gefangen. Der Befehlshaber, ein blutjunger
Leutnant, ſprang aus dem Hinterfenſter und ſuchte das Weite; die waffen-
loſe Mannſchaft in der Wachſtube mußte ſich nach einigen Schüſſen ergeben.
Umſonſt verſuchten die Sieger das herbeiſtrömende Volk zu überreden;
Niemand wollte die erbeuteten Flinten anrühren, Niemand — ſo klagt einer
der Verſchworenen — „mit uns helfen an der Befreiung Deutſchlands“.
Selbſt die befreiten politiſchen Gefangenen im oberen Stockwerk blieben
zum Theil ruhig ſitzen; andere, unter ihnen die gefürchteten Demagogen
Freieiſen und Sauerwein, ſtellten ſich am nächſten Tage freiwillig wieder ein.
Unterdeſſen hatte eine andere Abtheilung der Aufſtändiſchen ſich des
Pfarrthurms bemächtigt und ließ Sturm läuten. Ein dritter Haufe trat
in einem Gaſthofe zuſammen, nahe der Conſtablerwache am andern Ende
der Zeil. Eine Kellnerin, die Alles mit anſehen durfte, fiel vor Schrecken
in Ohnmacht, als die Verſchworenen ihre Flinten luden und ſich die Ge-
ſichter ſchwärzten. Sie wurde auf ein Bett gelegt, und jeder der Abziehen-
den küßte gerührt das ſchöne Kind. Von dem polniſchen Major Michalowski
geführt marſchirten die deutſchen Freiheitshelden ſodann nach der Con-
ſtablerwache. Der Pole gab in franzöſiſcher Sprache den Befehl zum
Sturme, und auch hier ward ein leichter Sieg erfochten; nach einem kurzen
Handgemenge verkroch ſich die Wachmannſchaft in einem nahen Schuppen.
Jetzt aber eilte das Linienbataillon aus der Kaſerne herbei; die Aufrührer
leiſteten noch eine Zeit lang tapferen Widerſtand, dann flohen ſie vor der
erdrückenden Uebermacht. Eine Bauernſchaar aus Bonames, die unter
der Leitung eines Mitverſchworenen noch heranzog, um den alten Haß des
Landvolks an den Frankfurter Herren auszulaſſen, fand das Stadtthor
ſchon ſcharf bewacht und kehrte ſchleunig heim. Der ganze Kampf währte
kaum eine Stunde; die Straßen neben der Zeil blieben durchaus ſtill, im
nahen Theater wurde die Oper ruhig zu Ende geſpielt, und die Zuſchauer
erfuhren erſt auf der Heimkehr, daß Frankfurts Annalen um eine Re-
volution reicher waren. Aber die frevelhafte Thorheit hatte ſechs Soldaten
und einem der Aufſtändiſchen das Leben gekoſtet, etwa Vierundzwanzig
waren verwundet. Die Führer und die Polen entkamen ſämmlich, nur
die unvorſichtigen jungen Leute wurden größtentheils verhaftet; mehrere
der Studenten waren vom Schlachtfelde arglos in ihre Gaſthöfe zurück-
gekehrt und ließen ſich in der Nacht von den Polizeibeamten wecken. Schon
[302]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
die nächſten Tage lehrten, daß dieſer Aufruhr doch nicht blos ein jugend-
liches Thorenſpiel war, ſondern mit den internationalen Aufſtandsplänen der
polniſchen Flüchtlinge irgendwie zuſammenhing. Am 7. April zogen wirklich,
der Abrede gemäß, 300 Polen aus Beſançon in die Schweiz, und nur
die Unglücksbotſchaften aus Frankfurt verhinderten ſie ihren Marſch nach
Baden fortzuſetzen; zur ſelben Zeit brach eine Schaar Aufſtändiſcher aus
Galizien in das ruſſiſche Polen ein, und gleich darauf wurde in Piemont eine
gefährliche Soldatenverſchwörung unterdrückt, welche dem polniſchen General
Ramorino ſchwerlich unbekannt war.
Der tolle Streich der Radicalen eröffnete einer neuen Zeit politiſcher
Verfolgungen die Thore. Ancillon ſchrieb ſofort nach Wien: „Das Frank-
furter Attentat kann Deutſchland retten, wenn man ſich beeilt das Ereigniß
auszubeuten.“ *) Münch und Nagler erhielten umfaſſende Vollmachten,
und nachdem ſie zurückgekehrt, beſchloß der Bund am 30. Juni, abermals
eine Centralbehörde für die politiſchen Unterſuchungen einzuſetzen. Sie
ſollte in Frankfurt ſelbſt ihren Sitz haben; Oeſterreich, Preußen, Baiern,
Württemberg und Darmſtadt ernannten die fünf Mitglieder, Kurheſſen
und Naſſau die beiden Stellvertreter. Sachſen und Baden wurden ab-
ſichtlich übergangen, weil ſie im Geruche liberaler Geſinnung ſtanden. So
ſchien denn der ganze Jammer der alten Mainzer „ſchwarzen Commiſſion“
ſich zu erneuern; auch zwei ihrer Mitglieder, der Oeſterreicher Wagemann
und der Heſſe Preuſchen traten wieder ein. Halb befriedigt, halb beſorgt
meinte Blittersdorff: wir haben ſeit 1832 ungeheure Rückſchritte gemacht. **)
Gleichwohl ließ ſich leicht bemerken, daß ſelbſt der Bundestag der ver-
wandelten Zeit einige Zugeſtändniſſe hatte gewähren müſſen. Die Mittel-
ſtaaten, Baiern voran, wollten dem Bunde unmittelbare Eingriffe in ihre
Rechtspflege nicht mehr geſtatten, und die Großmächte wagten den Stolz
der Bundesgenoſſen nicht zu reizen. ***) Darum erhielt die neue Central-
behörde weit geringere Befugniſſe als die alte; ſie durfte nicht ſelbſt Unter-
ſuchungen führen, ſondern nur von den Unterſuchungen in den Einzel-
ſtaaten Kenntniß nehmen. Ganz ſo gehäſſig und verfolgungsſüchtig wie
einſt die Mainzer Commiſſion wagte ſie nicht aufzutreten.
Zugleich mußte die Bundesverſammlung für ihre eigene Sicherheit
und für die Bewachung der Gefangenen ſorgen. Nach Allem was man
an dem Frankfurter Senate und ſeiner Kriegsmacht hatte erleben müſſen,
wurde die Ueberſiedelung des Bundestages in eine beſſer behütete Stadt
ernſtlich erwogen; König Ludwig wünſchte lebhaft den würdigen Nachfolger
des alten Reichstags in ſeinem Regensburg als Nachbarn der neuen Wal-
halla aufzunehmen. Die Verhafteten wollte Preußen der Sicherheit halber
[303]Die Bundes-Centralbehörde.
nach Mainz ſchaffen laſſen; und als man einwarf, der Mainzer Name ſei
durch die ſchwarze Commiſſion allzuſehr in Verruf gekommen, da bemerkte
Nagler mit wehmüthiger Selbſterkenntniß, der Name Frankfurts hätte einen
noch ſchlimmeren Klang im Volke. *) Aber der Senat der freien Stadt
weigerte ſich, ſeine Hochverräther herauszugeben, und da er ſich auch nicht
entſchließen konnte, den Bund um die unentbehrliche militäriſche Unter-
ſtützung zu bitten, ſo beſchloß der Bundestag, nach ſeinem guten Rechte,
ſelbſt das Nothwendige (12. April). Etwa zweitauſend Mann Oeſterreicher
und Preußen wurden aus Mainz abberufen und unter der Führung des
k. k. Generals Piret vorläufig in Sachſenhauſen und den umliegenden
Ortſchaften einquartiert. Die innere Stadt und die Gefangenen blieben
unter der bewährten Obhut des Frankfurter Bataillons, das nur „bei aus-
brechenden Unruhen“ unter Piret’s Oberbefehl treten ſollte. So ehrfurchts-
voll ward die Souveränität der Bundesſtadt geſchont: die Preußen mußten
dem Bundesgeneral unbedingt gehorchen, dem freien Frankfurt wagte man
eine ſolche Demüthigung nicht zuzumuthen. Trotzdem fühlte ſich der Senat
tief verletzt und ſendete dem Bundestage eine übellaunige Erklärung, die
faſt wie eine Rechtsverwahrung klang, aber ſtillſchweigend zu den Akten
gelegt wurde.
Alsbald witterte der franzöſiſche Geſandte Baron Alleye, ein heiß-
blütiger, radicaler Creole, daß ſich hier wieder einmal ein bequemer
Anlaß bot um Unfrieden zwiſchen den Deutſchen zu ſäen. Er berichtete
an ſeinen Miniſter und erhielt von Broglie in den letzten Apriltagen
eine Depeſche, welche nochmals den alten Sirenenſang von der Unab-
hängigkeit aller deutſchen Staaten und Völkerſchaften anſtimmte. Als
er aber dies Schriftſtück dem präſidirenden Bundesgeſandten Manteuffel
vertraulich vorlas, da weigerte ſich der Sachſe auf eine Verhandlung ſolcher
Art überhaupt einzugehen und verſuchte dem Franzoſen einen ungefähren
Begriff von der deutſchen Bundesverfaſſung beizubringen; nur ſprach er
leider mit einer Höflichkeit, welche auf den Vertreter der Civiliſation des
Weſtens nicht genügenden Eindruck machte. Noch ſtrenger wies Metternich
eine Anfrage des franzöſiſchen Geſandten in Wien zurück; und am Pariſer
Hofe erhob Werther ſogleich ernſtlich Beſchwerde. **) Der Bundestag billigte
das Verhalten ſeines Vorſitzenden, alle Anweſenden äußerten ſich ſcharf
über die Anmaßung des Franzoſen, und der erſchrockene Vertreter Frank-
furts mußte demüthig verſichern, ſein hoher Senat ſei keineswegs gemeint
die Giltigkeit der letzten Bundesbeſchlüſſe zu beſtreiten, noch weniger die
Hilfe des Auslandes anzurufen. ***)
Wie ſeltſam hatte ſich mittlerweile die Stimmung der Frankfurter
[304]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
verwandelt. Bei dem Aufſtande ſelber waren ſie gleichgiltig geblieben;
jetzt regte ſich das Mitleid mit den politiſchen Verbrechern, das immer
ein Zeichen ungeſunder öffentlicher Zuſtände iſt, und wer konnte auch den
unglücklichen Studenten menſchliche Theilnahme verſagen? Ihre Verführer
waren entkommen; ſie aber, die von den Hintergedanken der polniſchen
Mitverſchwornen wenig oder nichts wußten, büßten in endloſer Unter-
ſuchungshaft und lernten jenes aus Härte und Nachläſſigkeit gemiſchte
Regierungsſyſtem, das unter der Frankfurter Oligarchie aufgeblüht war,
mit allen ſeinen Sünden gründlich kennen. Im Verhöre verfuhren die
Richter ſtreng, oft roh; wer hartnäckig leugnete, wurde nach Karl’s V.
Hochnothpeinlicher Halsgerichtsordnung, die in Frankfurt noch galt, mit
außerordentlichen Strafen belegt. Um ſo gemüthlicher ging es in den
Kerkern zu; die meiſten der Gefängnißwärter zeigten eine Weitherzigkeit,
die nichts zu wünſchen übrig ließ. Durch die lange Uebung erlangten die
jungen Herren eine erſtaunliche Fertigkeit in allen kleinen Künſten des Ge-
fangenenlebens. Sie beſprachen ſich unter einander durch Klopfen oder
Pfeifen und unterhielten alleſammt einen regelmäßigen Briefwechſel mit der
Außenwelt; ſie verſtanden meiſterhaft, aus dem Morgenkaffee die kleinen in
die Zuckerſtücke eingebohrten Zettel herauszufiſchen und ihre Erwiderungen
in den Pfropfen der geleerten Bierflaſchen fortzuſenden. In den Kuchen
und Wecken, die ihnen von Frankfurter Gönnern verehrt wurden, fanden
ſich zuweilen Uhrfederſägen eingebacken. Die halbe Stadt beſchäftigte ſich
mit dem Schickſal der verwegenen Jungen; keine Woche verging, wo man
nicht von einem vergeblichen Fluchtverſuche erzählte. Endlich an einem
nebligen October-Abend gelang es dem Studenten Lizius ſich an einem
Seile aus dem zerfeilten Fenſtergitter herabzulaſſen; die Frankfurter Schild-
wache dicht unter dem Fenſter verließ ihren Poſten, weil einige ſeiner
Freunde mittlerweile eine Rauferei auf der Gaſſe veranſtalteten. So
entkam er glücklich, und jubelnd ſangen die Gaſſenbuben hinter den Se-
natoren her: „O Polizei, wie viel Verdruß macht dir Studioſus Lizius!“
Dies neue Probſtück frankfurtiſcher Kriegstüchtigkeit erfüllte den Bun-
destag mit gerechter Beſorgniß. General Piret war ſchon längſt in Ver-
zweiflung über das ſouveräne Stadtcommando neben ihm, das ihn von
den Ruheſtörungen nicht einmal benachrichtigte. Der Militär-Ausſchuß
des Bundes berieth ſchon ein neues Reglement, und da jetzt Gefahr im
Verzuge ſchien, ſo beſchleunigte er ſeine Arbeiten, ſoweit am Bundestage
Eile möglich war. Am 16. Jan. 1834, dritthalb Monat nach jener ver-
hängnißvollen Flucht, wurden ſeine Vorſchläge der Bundesverſammlung
zur Abſtimmung unterbreitet. Der Ausſchuß beantragte nur was ſich in
jedem anderen Heere von ſelbſt verſtanden hätte: die Frankfurter Linien-
truppen ſollten mit den Oeſterreichern und den Preußen zu einem Sicher-
heitscorps unter Piret’s Führung vereinigt, und im Falle der Noth auch
die Stadtwehr dem commandirenden General untergeordnet werden. Kaum
[305]Die Bundestruppen in Frankfurt.
wurden dieſe Anträge bekannt, ſo hallte ein Aufſchrei der Entrüſtung durch
das ſouveräne Volk von Frankfurt: die Stadtwehr und die prächtigen
Bonapart-Hüte ihrer Stabsoffiziere waren der Stolz der Stadt, nimmer
ſollten ſie einem deutſchen Ausländer gehorchen. In einer bogenlangen
Erklärung verwahrte der Senat ſeine Souveränität: hier handle es ſich
nicht um militäriſche Sicherheit, ſondern um „eine primäre politiſche Maß-
regel“, und was des Unſinns mehr war.
Nach abermals dritthalb Monaten, am 3. April wurde endlich abge-
ſtimmt und der Antrag des Ausſchuſſes angenommen. Frankfurt verwahrte
ſich nochmals, und vergeblich verlangte General Piret, daß ihm die Frank-
furter Truppen, dem Bundesbeſchluſſe gemäß, nunmehr untergeben würden.
Bürgermeiſter Stark erwiderte ſtolz: das Frankfurter Bataillon hätte ſchon
einen Sammelplatz für den Fall einer Ruheſtörung angewieſen erhalten
und ſchicke überdies jeden Sonntag ſeine Standesliſten an den General;
das ſei doch wohl genug, unmöglich könne der Bundestag beabſichtigen „den
Rechten hieſiger Stadt zu nahe zu treten“. *) Da riß dem preußiſchen
Geſandten die Geduld. Er beantragte und ſetzte durch, daß Frankfurt
aufgefordert wurde bis zur nächſten Sitzung die Vollziehung des Bundes-
beſchluſſes anzuzeigen. Der Senat aber unterſtand ſich, am 1. Mai gegen
dieſen Befehl „feierlich zu proteſtiren“, was ſofort als bundesverfaſſungs-
widrig zurückgewieſen wurde. Noch nicht genug, er verlangte ſogar die
Abberufung der Bundestruppen, weil Frankfurt vollauf im Stande ſei,
die Ordnung ſelber zu wahren. Eine ſolche Frechheit erlaubte ſich ein
Stadtſtaat, der erſt vor neunzehn Jahren durch die unbedachte Groß-
muth der Mächte ſeine Souveränität geſchenkt erhalten und dabei alle dem
Bundesſitze obliegenden Pflichten ausdrücklich übernommen hatte. Kein
Wunder wahrhaftig, daß man jetzt nochmals ernſtlich an die Verlegung
der Bundesverſammlung dachte. Aber Nagler widerſprach. Preußen rettete
den Frankfurtern ihre Bundesherrlichkeit; denn der König meinte: ohne
den Bundestag würde dieſe Stadt mit ihrer elenden Regierung ein Heerd
der Revolution und namentlich der franzöſiſchen Umtriebe werden. **)
Nur vierundzwanzig Stunden vergingen ſeit jener prahleriſchen Er-
klärung des Senats; da ward ſie ſchon durch die Thatſachen lügen geſtraft.
Am Abend des 2. Mai ſaß die Mannſchaft der Conſtablerwache ſchwer
betrunken in der Wachſtube; einige mit den Gefangenen einverſtandene
Kameraden hatten ihr Aepfelwein in Fülle vorgeſetzt. Schwere Rollwagen
raſſelten mit betäubendem Lärm über das Pflaſter der Zeil, ſo daß
die Studenten im oberen Stockwerk das Durchfeilen der Gitter ungeſtört
beenden konnten. Da drang plötzlich eine tobende Volksmaſſe gegen die
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 20
[306]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Wache heran, und während des Getümmels verſuchten ſämmtliche Ge-
fangene auszubrechen. Die betrunkenen Soldaten ſtürzten an die Gewehre
und ſchoſſen blindlings unter den Haufen; ein Bürger fiel, mehrere
wurden verwundet. Von den Studenten entkam nur einer, ein anderer
ward getödet, zwei hatten ſich beim Sprunge verletzt, die übrigen wurden
auf der Flucht wieder eingefangen. Die ſo ſchmählich beſchämten Frank-
furter Behörden rächten ſich dann durch grauſame Mißhandlungen; ſie
ließen den Gefangenen Ketten anlegen, ſogar dem armen Eimer, der ſich
das Bein gebrochen hatte und erſt nach Monaten wieder gehen lernte.
Mit Wohlbehagen betrachteten die liberalen Weſtmächte dies deutſche
Gezänk. Der Frankfurter Nationalſtolz ſtand gerade jetzt in ſeiner Blüthe.
Soeben hatte der Senat einen Handelsvertrag mit England abgeſchloſſen,
um dem bedrohlichen Fortſchreiten des preußiſchen Zollvereins freundnach-
barlich einen Riegel vorzuſchieben, und von ſelbſt verſtand ſich’s, daß
Frankfurts uneigennütziger Zollverbündeter nun auch für die Souveränität
der freien Stadt eine Lanze brach. Der Geſandte Cartwright, das Urbild
des beſchränkten britiſchen Dünkels, überreichte am 24. Mai dem Präſidial-
geſandten eine Verbalnote, deren Unverſchämtheit ſogar in den Annalen
der engliſchen Diplomatie ihres gleichen ſuchte. Sie erklärte: ohnehin
durch die Wiener Verträge zum Einſpruch berechtigt, betrachte England
„die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit ſelbſt des kleinſten europäiſchen
Staates als ein britiſches Intereſſe“ und könne in dem jüngſten Bundes-
beſchluſſe nur „eine gewaltſame Verletzung (a violent infringement) der
Rechte eines unabhängigen Staates ſehen“. Nun drängte ſich auch Alleye
wieder vor, ungeſchreckt durch die kürzlich erlittene Zurückweiſung. Seine
Verbalnote begann in dem väterlichen, ſanft aufreizenden Tone der alt-
bourboniſchen Zeiten: „Die franzöſiſche Regierung vermag kaum zu glauben,
daß Souveräne, welche ohne Zweifel auf ihre Unabhängigkeit ebenſo viel
Werth legen wie die anderen europäiſchen Mächte, den Untergang dieſer
Unabhängigkeit vorbereiten könnten durch einen Präcedenzfall, deſſen man
ſich unfehlbar bei Gelegenheit zu ihrem eigenen Schaden bedienen wird.
Darum iſt ſie überzeugt, daß die deutſchen Fürſten die Augen öffnen und
ſich beſinnen werden bevor ſie einen ſo entſcheidenden Schritt thun“. Zum
Schluſſe ſtand aber die wenig verblümte Drohung: „Niemals wird Frank-
reich zugeben, daß man das Recht habe die deutſche Unabhängigkeit (l’in-
dépendence Germanique) zu einem leeren Worte zu machen.“
Die Weſtmächte hatten falſch gerechnet; ſie hofften ihren Frankfurter
Schützling in ſeinem Widerſtande zu beſtärken und bauten ihm ſelber nur
die Brücke zum Rückzuge. Sobald die beiden Noten dem Bundestage vor-
geleſen waren, ſah ſich der Vertreter der freien Stadt von allen Seiten
mit Vorwürfen überſchüttet, und Nagler, der Vorſitzende, fragte amtlich,
ob Frankfurt dieſe Einmiſchung des Auslandes veranlaßt habe. Die
Römerherren erſchraken und betheuerten heilig ihre Unſchuld. Nagler ver-
[307]Frankfurt und die Weſtmächte gegen den Bund.
ſchmähte die Glaubwürdigkeit dieſer halbwahren Verſicherung näher zu
prüfen, obgleich er wohl wußte, wie eifrig Cartwright und der franzöſiſche
Legationsſekretär Grouchy mit mehreren Senatoren verkehrten, *) und be-
ſtand nun um ſo ernſter darauf, daß Frankfurt ſeine deutſche Geſinnung
durch Thaten beweiſen müſſe. Die Execution war der widerſpänſtigen Stadt
bereits angedroht, da unterwarf ſich endlich der Senat (3. Juni), ſtellte ſeine
Truppen unter Piret’s Befehl und verſprach auch ſeine jämmerliche Polizei
neu zu ordnen.
Die Noten der Weſtmächte beantwortete der Bundestag mit einer kurzen,
würdigen Zurückweiſung (12. Juni), die in Wien von ſämmtlichen Mit-
gliedern der deutſchen Miniſterconferenz — mit einziger Ausnahme des
Hannoveraners — gebilligt worden war. **) Der ruhige Ton dieſer Er-
widerung ermuthigte aber die beiden Geſandten zu neuen Noten (30. Juni.
18. Juli); Beide beriefen ſich wieder auf die Wiener Verträge, und der
Engländer ſprach wieder am gröbſten. Die an der Wiener Schlußakte
betheiligten Staaten — ſo ſchrieb er — können nicht zugeben, „daß der
Deutſche Bund, der zum Schutze der Schwachen geſchaffen wurde, ſich zu
einem Werkzeuge der Unterdrückung in der Hand der Mächtigen um-
wandle“. Nunmehr merkte Nagler doch, daß man zu den feinfühligen
Weſtländern deutlicher reden mußte. Er verlas am 18. September eine
geharniſchte Präſidialerklärung, welche die „Anmaßung, die vollſtändige
Unkenntniß, die unbegreifliche Begriffsverwirrung“ der beiden Noten ſcho-
nungslos rügte und den Weſtmächten vorhielt, daß ihr eigener Schützling,
Frankfurt, ſie verleugnet habe. Demgemäß ward ſodann ein überaus
ſcharfer Beſchluß einmüthig gefaßt — ſelbſt Hannover ſtimmte diesmal
gegen England —: „Niemals werde der Bund den fremden Mächten, als
Mitunterzeichnern der Congreßakte, in Bundesangelegenheiten Rechte zu-
geſtehen, welche nach dem Wortlaute des Bundesvertrages und ebenſo
nach dem Inhalte der Congreßakte nur den Gliedern des Deutſchen Bun-
des und deſſen Geſammtheit zuſtehen.“
Dieſen Beſchluß überſendete Nagler einfach den beiden Geſandten,
ohne ſie auch nur einer förmlichen Antworts-Note zu würdigen. Cartwright
und Alleye fühlten ſich tief verletzt, ſie beſchwerten ſich in zwei neuen Noten
(17. Oct. 21. Nov.) über eine ſo „vollſtändige Abweichung von den diplo-
matiſchen Gebräuchen Europas“ und beharrten bei ihrer Meinung über den
Sinn der Wiener Verträge. Der Bundestag aber legte die Beſchwerde-
ſchriften der beiden Unermüdlichen ohne Erwiderung zu ſeinen Akten, und
die Weſtmächte mußten die ſelbſtverſchuldete ſchnöde Behandlung ruhig hin-
nehmen: ſie fühlten, daß die Eintracht der deutſchen Höfe doch nicht ſo
leicht zu zerſprengen war. Leider wurde dieſer Schriftenwechſel, der dem
20*
[308]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Bunde nur zur Ehre gereichte, nicht vollſtändig veröffentlicht; die Liberalen
fuhren fort den freien Weſten zu verherrlichen, den moskowitiſchen Zwing-
herrn der Deutſchen zu bekämpfen, obgleich ſich Rußland mit keinem Worte
in die Frankfurter Händel eingemiſcht hatte.
Zu gleicher Zeit mußte der Bundestag noch eine andere, höchſt wider-
wärtige Verhandlung mit Frankreich führen. Nach dem Falle von War-
ſchau war in Paris feierlich verkündigt worden, daß die Polen alleſammt
in dem gaſtlichen Frankreich ein Aſyl finden ſollten, und nur im Ver-
trauen auf dieſe Zuſage hatten die deutſchen Regierungen den polniſchen
Flüchtlingen den Durchzug geſtattet. Jetzt erklärte das Bürgerkönigthum
plötzlich, jene aus Beſançon in die Schweiz eingebrochenen Polen dürften
nicht wieder nach Frankreich zurückkehren. Die Eidgenoſſenſchaft wollte
dieſe gefährlichen Gäſte auch nicht bei ſich behalten; denn ſie bildeten,
durch Zuzüge erheblich verſtärkt, ein geordnetes kleines Revolutionsheer mit
Hauptleuten, Leutnants und Corporalen, und konnten jederzeit den Auf-
ruhr in den deutſchen Süden tragen. Die Nachbarſtaaten Baiern, Baden,
Württemberg fühlten ſich ernſtlich bedroht, und in ihrer Angſt verfuhren
dieſe conſtitutionellen Cabinette weit härter als jemals der Berliner Hof-
ſie erklärten am Bundestage, man müſſe die Polen ſobald ſie deutſches
Gebiet beträten dem Czaren ausliefern. Um dies Aeußerſte zu verhindern
wollte die Schweiz die Flüchtlinge nach England oder Amerika ſchaffen;
ſie verhandelte bereits mit dem Deutſchen Bunde und den Niederlanden
über die Frage, wie man die Legion von Beſançon ſicher den Rhein
hinab befördern könne. Da gab Frankreich endlich ſein verdächtiges Doppel-
ſpiel auf und geſtattete den Polen, durch franzöſiſches Gebiet den Weg
zur See einzuſchlagen. *)
Unter ſo ſchweren europäiſchen Kämpfen ward die Einheit des mili-
täriſchen Oberbefehls in der deutſchen Bundesſtadt endlich durchgeſetzt.
Neun Soldaten des Frankfurter Bataillons wurden kriegsrechtlich ver-
urtheilt wegen Beihilfe bei dem letzten Fluchtverſuche. Gleichwohl blieb die
Bewachung der inneren Stadt nach wie vor dieſer republikaniſchen Kriegs-
ſchaar allein anvertraut, und die jugendlichen Hochverräther fanden alſo
noch reichliche Gelegenheit dem Bundestage neuen Kummer zu bereiten.
Im October 1836 wurde den Verhafteten ihr Urtheil verkündigt; am
Tage darauf verſchwand Rochau mitſammt ſeinem beſtochenen Gefängniß-
wärter. Im Januar des folgenden Jahres entflohen noch ſechs Studenten
aus der Conſtablerwache, während die Wachmannſchaft ſich mit Karten-
ſpiel vergnügte, und jetzt endlich beſchloß der Bundestag was Preußen
ſchon vor vier Jahren beantragt hatte: die unglücklichen Sechs, die nach
ſo vielen Entweichungen noch übrig blieben, wurden in das ſichere Mainz
abgeführt. —
[309]Proceß Wirth.
Mit dem Frankfurter Attentate ging die liberale Bewegung vorläufig
zu Ende. Nur da und dort züngelten noch einzelne Flammen aus dem
verlöſchenden Brande auf. Die Pfälzer ließen ſich’s nicht nehmen, den
erſten Jahrestag ihres Hambacher Feſtes durch eine neue Volksverſammlung
auf der Käſtenburg zu feiern. Das Feſt wurde verboten, Truppen rückten
an, und die durch wiederholte Neckereien längſt erbitterten Soldaten ver-
fuhren mit entſetzlicher Roheit, verwundeten und mißhandelten eine Menge
harmloſer Leute. Die Aufregung im Volke ſteigerte ſich noch, als bald
nachher, ſeit Ende Juli 1833, faſt drei Wochen lang Wirth, Siebenpfeiffer
und ihre Hambacher Genoſſen vor den Landauer Geſchworenen ſtanden.
Die meiſten der Angeklagten bekannten ſich unumwunden zu dem radicalen
Grundſatze der allgemeinen Gleichheit. Wirth erklärte freimüthig, daß er die
eine und untheilbare deutſche Republik erſtrebe, freilich ohne Blutvergießen,
allein durch „die innere Aufrichtung des Volkes“. Dieſe republikaniſche Ver-
faſſung ſei nichts anderes als das alte, allein rechtmäßige deutſche Kaiſer-
thum; „der ganze Unterſchied beſteht nur darin, daß ich dem gemein-
ſchaftlichen Reichsoberhaupt der Deutſchen den Titel: Präſident beigelegt
wiſſen will, während ihn die deutſche Conſtitution Kaiſer nennt.“ Er ſprach
jedoch mit ſolchem Feuer ehrlicher vaterländiſcher Begeiſterung und wußte die
rührſamen Schlagworte aus Jean Paul, „dem erſten Dichter aller Völker und
Jahrtauſende“, ſo geſchickt einzuflechten, daß Geſchworene, Vertheidiger, Zu-
ſchauer dieſem „politiſchen Luther“ ihre Bewunderung lärmend kundgaben.
Sämmtliche Angeklagte wurden freigeſprochen, obgleich der aufrühreriſche
Sinn der Hambacher Reden klar zu Tage lag; einige der Freigeſprochenen
mußten aber noch nachträglich dem Zuchtpolizeigericht wegen Beleidigung
der Beamten Rede ſtehen und erlitten Gefängnißſtrafen. Die Pfalz be-
ruhigte ſich ſcheinbar, der ſtille Groll gegen die Altbaiern blieb freilich
unverſöhnt. Auch im rechtsrheiniſchen Baiern und in Württemberg wurde
durch zahlreiche Verhaftungen wiederhergeſtellt was man am Bundestage
Ordnung nannte.
Nur im Großherzogthum Heſſen fand die revolutionäre Bewegung
noch ein verſpätetes Nachſpiel. Als der Landtag im Herbſt 1832 neu
gewählt wurde, zeigte das Land wenig Theilnahme, und da ein Theil der
jüngeren Beamten nach ſüddeutſchem Brauche die Oppoſition offen unter-
ſtützte, ſo erlangten die Liberalen durch ihre Rührigkeit eine ſtarke Mehrheit.
Als ob ſie fühlte, daß ſie das Land nicht hinter ſich hatte, ſtürmte die
neue Kammer mit fieberiſcher Haſt vorwärts. Zehn Monate blieb ſie
verſammelt ohne ihre eigentliche Aufgabe, die Bewilligung des Budgets
auch nur ernſtlich anzugreifen. Dafür erging ſie ſich in donnernden Reden
gegen die Sechs Artikel des Bundestages und heftigen Anklagen gegen
die Regierung; ſie ſprach von einem neuen Wahlgeſetze, von jährlichen
Landtagen, von Beſeitigung der Cenſur, von Einführung des Code Napoleon
auf dem rechten Rheinufer — und das Alles in einer Zeit, da die Liberalen
[310]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
auf einen Erfolg längſt nicht mehr rechnen konnten. Neben den alten
Führern der heſſiſchen Liberalen E. E. Hoffmann und Jaup that ſich jetzt
zuerſt Heinrich von Gagern hervor, ein bildſchöner Reichsritter von hohem
Selbſtgefühl und feuriger nationaler Geſinnung, der wie Czar Nikolaus
durch die Außenſeite des großen Mannes die Zeitgenoſſen lange über die
Mittelmäßigkeit ſeiner Begabung zu täuſchen vermochte. Miniſter du Thil
glaubte dem maßloſen Haſſe, der über ihn hereinbrach, nicht mehr gewachſen
zu ſein; er hörte überall das Hohnlied ſingen „Herr du Thil mit der
Eiſenſtirn“ und bot dem Großherzog ſeine Entlaſſung an. Der aber gab
zur Antwort, was nach fünfzehn Jahren wörtlich in Erfüllung gehen ſollte:
„Wenn Herr Jaup je Miniſter wird, dann habe ich vorher abgedankt.“ *)
Im November 1833 wurde der Landtag unverrichteter Dinge aufgelöſt.
Die radicale Partei in der Wetterau gab ihr Spiel noch nicht ver-
loren; ſie verachtete die Kammerredner als liberale Leiſetreter, hielt ihre
Genoſſen in der „Geſellſchaft der Menſchenrechte“ und ähnlichen Geheim-
bünden zuſammen. Paul Follen und ſein Freund Fr. Münch wanderten
nach Amerika aus, weil ſie an ein Gelingen nicht mehr glaubten. Weidig
aber hielt bei der Fahne aus, und zu dieſem chriſtlich-germaniſchen
Schwärmer geſellte ſich nun ein radicaler Atheiſt, der junge Georg
Büchner, ein Dichter von außerordentlicher Geſtaltungskraft, zugleich
begeiſtert und blaſirt, eine jener Hamletsnaturen, wie ſie in der litera-
riſchen Gährung der Zeit gediehen. Er hatte als Student in Straßburg
die St. Simoniſten kennen gelernt und ſprach die ſocialiſtiſchen Gedanken,
welche ſich ſchon in Wirth’s Vertheidigungsrede und einzelnen liberalen Flug-
ſchriften leiſe ankündigten, zum erſten male in Deutſchland mit Beſtimmt-
heit aus. Realiſt in der Politik wie in der Dichtung, erwartete er den
Sieg der Revolution nur von der rohen Gewalt; er lachte der Thoren,
die das Volk gegen die Sechs Artikel des Bundestags aufzuregen dachten,
und wollte ſich vielmehr an den hungernden Magen der Maſſe wenden.
Sein Mitleid für die kleinen Leute kam aus dem Herzen, und nicht ganz mit
Unrecht ward er ſpäterhin als der Johannes des Meſſias Laſſalle gefeiert.
Bereits hatte Weidig ſeinen „Leuchter und Beleuchter für Heſſen“
ins Volk geworfen; auch ein irgendwo in Thüringen gedrucktes „Bauern-
Lexicon“ war im Umlauf, das den kleinen Leuten erzählte, wie auf den
Miniſtercongreſſen geſoffen und gefreſſen und der Teufelsbund zur Er-
mordung der Freiheit geſchloſſen würde. Alle ſolche Libelle übertraf aber
bei Weitem Büchner’s Heſſiſcher Landbote, ein Meiſterſtück gewiſſenloſer
demagogiſcher Beredſamkeit. So blind war ſchon die Wuth der Parteien:
der Conſtitutionelle Weidig trug kein Bedenken an dieſem wild-radicalen
Machwerke mitzuhelfen, der Atheiſt Büchner ließ ſich von ſeinem gläubigen
Freunde Bibelſtellen und erbauliche Redewendungen in den Text einflechten.
[311]Der Heſſiſche Landbote.
Die geſammte Ordnung der bürgerlichen Geſellſchaft ward hier als ein
Zuſtand des Raubes geſchildert: „Ihr müſſet geben was Euere unerſättlichen
Preſſer fordern und tragen was ſie Euch aufbürden; jeden Tag wird Dieb-
ſtahl an Euerem Eigenthum begangen unter dem Namen von Steuern,
um einige Fettwänſte zu mäſten“ — und ſo weiter: ſelbſt den Ertrag der
Domänen rechnete Büchner mit zu den Abgaben, die dem darbenden Volke
abgepreßt würden. Die Brandſchrift ſtreute den erſten Samen eines Un-
krauts, das erſt nach Jahren aufgehen ſollte. Für den Augenblick wirkte
ſie wenig; die Bauern, die den „Landboten“ unter ihren Hausthüren
fanden, brachten die unheimliche Schrift meiſt ſelbſt erſchrocken der Obrigkeit.
Nun erhielt du Thil, der in den Mitteln wenig wähleriſch war, durch
ſeine Spione Kunde von dem Treiben. Büchner entfloh zur rechten Zeit,
Weidig wurde nebſt einigen ſeiner Freunde gefangen, und ſo war auch
auf dieſem letzten Heerde des Aufruhrs die Flamme verlöſcht. —
Während aller dieſer Wirren wurde am Bundestage viele Jahre
lang der Streit um Luxemburg dahingeſchleppt, ein elender Handel, bei
dem Alles was im deutſchen Staatsweſen faul war zu Tage trat: die Lüge
der geſammten Bundesverfaſſung, die zerfahrene Unklarheit der öffentlichen
Meinung, die Selbſtſucht der kleinen Höfe, die Feigheit des Bundestags,
die Ränke der Weſtmächte, und leider auch die Schwäche der verſtändigen
Friedenspolitik Preußens. Das luxemburgiſche Land hatte ſeit Jahrhun-
derten die Schickſale der übrigen Provinzen Belgiens getheilt, mit ihnen
gemeinſam nach einander die Herrſchaft Spaniens, Oeſterreichs, Frank-
reichs, Hollands ertragen. Nur die Weſthälfte des Landes war walloniſch,
aber auch in der deutſchen Oſthälfte konnte ſich unter der beſtändigen
Fremdherrſchaft ein deutſches Nationalgefühl unmöglich ausbilden. Die
Beſchlüſſe des Wiener Congreſſes, welche das Großherzogthum in den
Deutſchen Bund einfügten, wurden im Lande ſelbſt kaum bemerkt; wie
hätten auch die Maſſen des Volks dieſe dem erfinderiſchen Geiſte Hans
von Gagern’s entſprungene diplomatiſche Künſtelei verſtehen ſollen? Die
Einwohner fühlten ſich als Angehörige der katholiſchen Niederlande, und
ſobald in Brüſſel der Aufruhr gegen Holland begann, wehte auch in
Luxemburg überall die Fahne von Brabant. Die Hauptſchuld an dieſer
unheilvollen Wendung der Dinge trug unzweifelhaft der König der Nieder-
lande ſelber; er hatte die allerdings ſchwierige Doppelſtellung des Groß-
herzogthums niemals beachtet, ſondern dies deutſche Bundesland ſtets als
eine belgiſche Provinz behandelt und ihm weder eine eigene Verfaſſung
gewährt noch das vorgeſchriebene deutſche Bundescontingent gebildet. Wäre
das Land, nach der Vorſchrift der Bundesgeſetze, durch luxemburgiſche
Bundestruppen behütet worden, ſo ließ ſich der Aufſtand, der anfangs
nur ſchwächlich auftrat, mit leichter Mühe erſticken. Völlig ungehindert,
[312]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
griff die Bewegung raſch um ſich. Deutſch blieb in dem Grenzlande
nur die Bundesfeſtung, dies kleine nordiſche Gibraltar, das freilich nach
Gneiſenau’s Urtheil ſchon damals für die Kriegführung großen Stiles
wenig mehr bedeutete; das uneinnehmbare Felſenneſt wurde von der preu-
ßiſchen Garniſon ſcharf bewacht und ſchloß den Aufrührern ſeine Thore.
Am 15. Oct. 1830 bat Graf Grünne im Namen des König-Groß-
herzogs den Deutſchen Bund um Hilfe, da ſchon das ganze Land mit
Ausnahme der Feſtung und ihrer nächſten Umgebung in den Händen
der Empörer ſei; zum Troſte fügte der luxemburgiſche Bundesgeſandte
hinzu, daß ſein König fortan dem Bunde freundlich entgegenkommen und
darum den Proviant für die Bundesfeſtung fortan zollfrei einlaſſen wolle.
Ueber die Rechtsfrage ließ ſich gar nicht ſtreiten. Was auch der Wiener
Congreß durch ſeine künſtlichen Staatsbildungen, der König der Nieder-
lande durch ſeine bundesfeindliche Geſinnung geſündigt haben mochten:
unzweifelhaft war der Bund verpflichtet, dem bedrängten Bundesgliede
Beiſtand zu leiſten, gleichviel ob man die Belgier als Empörer oder als
eine auswärtige feindliche Macht anſah. Rückten ſchleunig Bundestruppen
ein, ſo konnte das Land ſeinem rechtmäßigen Landesherrn bewahrt, oder
auch ein Gebietsaustauſch, wenn er ſich als nothwendig erwies, freiwillig,
ohne Schaden für Deutſchlands Ehre zugeſtanden werden. Das Alles war
ſo unbeſtreitbar, daß ſelbſt die Londoner Conferenz bei ihren erſten Be-
ſchlüſſen die Rechte des Deutſchen Bundes auf Luxemburg ſtets aus-
drücklich vorbehielt. In Frankfurt aber herrſchte rathloſe Verwirrung; Alle
fürchteten durch die luxemburgiſche Frage in einen Krieg mit Frankreich ver-
wickelt zu werden. Und faſt noch kläglicher verhielt ſich die Nation. Unter
dieſer niederländiſchen Provinz, die doch mit einem Beine im Deutſchen
Bunde ſtehen ſollte, konnte ſich Niemand etwas Beſtimmtes denken, und
überdies waren die Belgier Empörer, alſo nach der neuen liberalen Heils-
lehre jeder Unterſtützung würdig. Soweit die öffentliche Meinung die
Frage überhaupt beachtete, ſprach ſie ſich bald einmüthig für den Aufſtand
aus; warme Theilnahme für das Recht des König-Großherzogs zeigten
nur der Kronprinz von Preußen und der kleine Kreis der ſtrengen Berliner
Legitimiſten.
Nach langen Erwägungen kam der Bundestag zu der Einſicht, daß
man den Krieg unter allen Umſtänden vermeiden, alſo die luxemburgiſchen
Wirren nicht als den Einfall einer feindlichen Macht, ſondern als einen
Aufruhr im Bundesgebiete behandeln und dawider durch Bundes-Execu-
tion einſchreiten müſſe. Dies gab den erwünſchten Anlaß zu neuen Ver-
zögerungen; nun ſollte erſt der luxemburgiſche Geſandte über die Lage
des Landes ausführlich berichten und dann General Wolzogen ſelbſt hinüber-
reiſen um ebenſo gründlich zu begutachten, wie viele Truppen wohl für
die Bundes-Execution nöthig ſeien. Darüber mußten Monate vergehen,
und unterdeſſen, ſo hoffte man in Frankfurt, konnte der ganze Handel
[313]Der Aufruhr in Luxemburg.
glücklich begraben ſein. Um den Ernſt ſeiner Abſichten von vornherein
unzweideutig zu erweiſen, richtete der Bundestag am 18. Nov. an Oeſter-
reich und Preußen die vertrauensvolle Bitte, ſie möchten ſich auf der Lon-
doner Conferenz des deutſchen Bundeslandes annehmen und womöglich
bewirken, daß die Bundes-Execution ganz oder theilweiſe überflüſſig werde.
Einen Vertreter des Bundes nach London zu ſchicken hielt man für be-
denklich; denn man fühlte, welche lächerliche Rolle ein ſolcher rein-deutſcher
Diplomat neben den Geſandten der beiden deutſchen Großmächte ſpielen
mußte. Nur Blittersdorff wollte nicht ſehen, daß der Deutſche Bund ohne
Oeſterreich und Preußen nicht zu den großen Mächten gehörte, und ver-
langte lebhaft, aber vergeblich die unmittelbare Mitwirkung des Bundestags
bei den Londoner Conferenzen. *)
Mittlerweile verſuchte der franzöſiſche Hof, da er die Rechtmäßigkeit
der Bundes-Execution unmöglich beſtreiten konnte, mindeſtens die Aus-
führung nach Kräften zu verzögern. In einem Rundſchreiben vom 30. Dec.
ſprach er den kleinen deutſchen Höfen den väterlichen Wunſch aus, der
mit den Hoffnungen dieſer Cabinette nur zu wohl übereinſtimmte: „daß
der Bundestag bei den zu ergreifenden Maßregeln die Langſamkeit und
die weiſe Mäßigung, wovon ſeine Thaten durchdrungen ſind, bewähren,
daß alle möglichen Zögerungen angewendet und ſelbſt erneuert werden
mögen. Dieſe Langmuth entſpricht dem Charakter des Bundestages, der
die Eintracht und den Frieden durch die verſöhnlichſten Mittel aufrecht
erhalten ſoll.“ Zugleich mußte Alleye in Frankfurt der Bundesverſamm-
lung vorhalten: „die Eilfertigkeit, welche ſie bei der Vorbereitung der
militäriſchen Maßregeln zeige, drohe die Aufregung in Belgien noch zu
vermehren“. **) Um dem Bunde noch einen Stein mehr in den Weg zu
werfen, ſtellte Frankreich ſodann die dreiſte Behauptung auf: das Stück
des Fürſtenthums Bouillon, das die Pariſer Verträge einſt mit dem alten
Herzogthum Luxemburg vereinigt hatten, könne nicht als ein unzertrenn-
licher Beſtandtheil des Landes betrachtet werden — worauf dann erſt von
Bundeswegen eine lange Widerlegung geſchrieben werden mußte. ***) In-
deß Deutſchlands Recht war allzu klar. Am 18. März 1831 beſchloß
der Bundestag endlich, durch ein Executionsheer von 24000 Mann das
Anſehen der rechtmäßigen Obrigkeit in Luxemburg wiederherzuſtellen und
zugleich die Beſatzung der Bundesfeſtung auf Kriegsfuß zu ſetzen.
Der Beſchluß erfolgte viel zu ſpät; denn in dieſen ſechs Monaten
hatten die Aufſtändiſchen, ermuthigt durch das Zaudern des Bundes,
überall im Lande ihre Behörden eingerichtet. Nur die Bundesfeſtung
[314]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
blieb in der feſten Hand des preußiſchen Gouverneurs; und Preußen ver-
mehrte freiwillig ſeine Beſatzungstruppen faſt auf das Doppelte, da das
luxemburgiſche Contingent, das in Kriegszeiten die kleinere Hälfte der
Garniſon bilden ſollte, nirgends vorhanden war. Aber welch ein An-
blick, als nun die anderen Bundestruppen, welche der Bundestag zur
Vertheidigung der Feſtung beſtimmt hatte, die Kriegsſchaaren von Det-
mold, Bückeburg und Waldeck langſam eintrafen. Sie erwieſen ſich als
würdige Bundesbrüder des Frankfurter Kriegsheeres. Schon unterwegs
hatten ſie gemeutert, und in der Feſtung betrugen ſie ſich ſo zuchtlos, daß
der preußiſche Gouverneur ſcharf eingreifen mußte; er ließ ihnen den
höheren preußiſchen Sold geben und ſie unter preußiſcher Aufſicht in der
ihnen faſt unbekannten Kunſt des Schießens üben. Ueber dieſe Eigen-
mächtigkeit des preußiſchen Generals gerieth der Bundestag in vaterlän-
diſchen Zorn und erörterte nunmehr mit gewohnter Gründlichkeit die
leider ganz unlösbare Frage: wer ſolle die Koſten der Soldzahlungen und
Schießübungen tragen? der Bund, oder Preußen, oder die Souveräne der
gebeſſerten Kriegsheere? Schließlich konnte das preußiſche Gouvernement
den Jammer nicht mehr anſehen und erklärte der Bundesverſammlung
geradezu: mit ſolchem Geſindel ſei in einer rings von Rebellen umgebenen
Feſtung nichts anzufangen. Neue Verlegenheit in Frankfurt. Man ſah
wohl ein, daß der Rückmarſch der drei Heere unvermeidlich war, aber den
wahren Grund wollte man den drei Souveränen nicht mittheilen, das
hätte ſie zu tief gekränkt; darum beſchloß man am 27. October, die drei
Contingente ſollten heimkehren, da „die Veranlaſſung ihres Ausmarſches
nicht mehr vorhanden ſei“. So väterlich ſorgte der Bund nicht für die
Kriegstüchtigkeit des deutſchen Heeres, ſondern für die Gemüthsruhe ſeiner
Kleinfürſten. Für die Bundesfeſtung ſtand allerdings nichts zu fürchten;
denn König Friedrich Wilhelm befahl ſofort, daß ſein rheiniſches Armee-
corps im Nothfall den Erſatz für die 1400 Lipper und Waldecker ſtellen
ſolle. *)
Um ſo troſtloſer geſtalteten ſich die Ausſichten für die Bundes-Exe-
cution; es lag ein Fluch auf Allem was dieſe unglückliche Frankfurter Ver-
ſammlung in die Hand nahm. Daß Preußen an der Execution nicht theil-
nehmen dürfe, war am Bundestage beſchloſſene Sache; denn das Erſcheinen
preußiſcher Regimenter außerhalb der Bundesfeſtung konnte allerdings ſehr
leicht das Signal zu einem europäiſchen Kriege geben. Frankreich hatte
auf der Londoner Conferenz den dringenden Wunſch ausgeſprochen, die
Bundes-Execution möge in einer Form erfolgen, welche „unzweideutig“
beweiſe, daß der Bund allein, und nicht die Oſtmächte, in Luxemburg ein-
ſchritten. **) Dieſe Bitte erſchien, wie die Dinge lagen, wohl begreiflich,
[315]Hannovers Widerſetzlichkeit.
und der Bund konnte ſie leicht erfüllen; auf dem Papiere mindeſtens
beſaß er ja noch andere Truppen, die den reizbaren Franzoſen minder
verdächtig erſchienen als die Preußen. Die Execution wurde alſo dem
zehnten und einem Theile des neunten Bundes-Armeecorps unter der
Führung Hannovers übertragen. Die hannoverſche Regierung zeigte ſich
jedoch wenig dankbar für ſolche Auszeichnung; ſie erhob vielmehr lebhafte
Beſchwerden über die unerſchwingliche Laſt und verlangte endlich einen
Vorſchuß von 2—300000 Thlr., der nach Bundesbrauch unmöglich vor
einem halben Jahre gezahlt werden konnte. Was war der Grund dieſes
auffälligen Verhaltens? Geiz gehörte doch ſonſt nicht zu den Fehlern des
hannoverſchen Adelsregiments, das immer ſtattlich und vornehm aufzu-
treten liebte. Unzweifelhaft beſorgte Hannover die Geſchäfte Lord Palmer-
ſton’s. Beide Weſtmächte wünſchten, aus zärtlicher Rückſicht für ihren
belgiſchen Schützling, die Einmiſchung des Bundes wo möglich zu hinter-
treiben, und da ſie die Rechtmäßigkeit der Bundes-Execution ſchlechterdings
nicht beſtreiten konnten, ſo trieben ſie ihr Spiel verdeckt. Während Alleye
den einzelnen Bundesgeſandten vertraulich eine neue franzöſiſche Denk-
ſchrift zeigte, welche nochmals dringend vor den Gefahren der Ueberſtürzung
warnte, *) warf England-Hannover die Fackel der Zwietracht in den Bundes-
tag ſelber. Der hannoverſche Geſandte ſteigerte ſeine Geldforderungen;
er verlangte ſogar, der Befehl zum Ausmarſch der Executionstruppen dürfe
nicht eher ertheilt werden, als bis alle betheiligten Staaten gehört und
die Geldfragen erledigt ſeien.
Holſtein und mehrere andere der kleinen nordiſchen Contingentsherren
beeilten ſich dem löblichen Beiſpiel Hannovers zu folgen und forderten
ebenfalls Sicherheit wegen der Koſten. Auf das Schärfſte trat Nagler,
von dem bairiſchen Geſandten wacker unterſtützt, dieſem Treiben entgegen,
das dem offenen Bundesverrathe nahekam. Der Zank ward unerträg-
lich, die ſchlimmſten Zeiten des Regensburger Reichstags kehrten wieder. **)
Friedrich v. Gagern, der im März mit Aufträgen der holländiſchen Re-
gierung in Frankfurt eintraf, ſagte ſchon damals ſcharfblickend voraus:
der Bund werde ſicherlich gar nichts thun, es fehle durchaus an ernſtem
Willen. In der That ging das Jahr 1831 über dem unwürdigen Geld-
gezänk dahin, ohne daß ein Mann der Bundesexecutionstruppen ſich in
Marſch ſetzte. Und mittlerweile ward durch die Londoner Conferenz ſchon
dafür geſorgt, daß die ganze Bundes-Execution überflüſſig ſchien, wie es
der Bundestag von Haus aus ſo inbrünſtig wünſchte.
Der preußiſche Hof that für die Sicherheit der Feſtung Luxemburg
weit mehr als ſeine Bundespflicht erheiſchte; er bemühte ſich in Frankfurt
redlich, den hadernden Bundesgenoſſen einen Entſchluß abzuringen, er
[316]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
verwahrte auf der Londoner Conferenz oft und nachdrücklich die Rechte
des Bundes. Nach Wien ſchrieb Bernſtorff: „Der Bund würde entehrt
ſein und ſich darein ergeben müſſen, in Zukunft kein Leben und keine
politiſche Thätigkeit mehr zu haben, wenn er es unterlaſſen wollte, bei
dieſer wichtigen Gelegenheit ſeine ebenſo klare als förmliche Pflicht zu
erfüllen.“ Zur ſelben Zeit (November 1830) erhielt Bülow in London
die beſtimmte Weiſung: „Die Verhältniſſe des Großherzogthums und der
Feſtung Luxemburg zu dem Deutſchen Bunde ſind unwiderruflich feſtzu-
halten. Jede verſuchte gewaltſame Veränderung in dieſem Betreff wird
als ein Eingriff in die Rechte des Bundes und in die durch die Ueber-
einſtimmung von Europa geheiligten Verträge anzuſehen ſein.“ *) Doch
über das beſcheidene Maß dieſer ſelbſtverſtändlichen Forderungen ging
auch die preußiſche Politik nicht hinaus. Nur gewaltſame Veränderungen
des Bundesgebiets dachte ſie nicht zu dulden. Fand ſich indeſſen ein
friedliches Mittel, um ohne Schmälerung des Bundesgebiets und mit
Zuſtimmung aller Berechtigten, den leidigen Handel aus der Welt zu
ſchaffen, dann wollte König Friedrich Wilhelm, friedfertig wie er war,
nichts dawider einwenden; und ein ſolcher Ausweg ward ihm jetzt un-
erwartet durch ſeinen niederländiſchen Schwager ſelbſt gewieſen.
Der König-Großherzog trug ſich noch eine Zeit lang mit der Hoffnung,
ſein deutſches Bundesland durch Waffengewalt zurückzugewinnen. Er
ſendete im März 1831 den tapferen Herzog Bernhard von Weimar in die
Feſtung Luxemburg, um von dort aus einen royaliſtiſchen Kreuzzug zu
verſuchen. Der Plan ward raſch wieder aufgegeben, weil das ganze Groß-
herzogthum ſich ſchon in den Händen der Aufſtändiſchen befand. Nachher
unternahm König Wilhelm, den Bund zu einer Kriegserklärung gegen
Belgien zu bewegen; auch dies blieb vergeblich, da die Execution bereits
beſchloſſen war. Mittlerweile hatte ſich die Londoner Conferenz längſt über
den Grundſatz der Theilung des niederländiſchen Geſammtſtaats geeinigt.
Die holländiſchen Bevollmächtigten begannen ſelbſt zu fühlen, daß ſie an
dieſer vollendeten Thatſache nichts mehr ändern konnten, und verſuchten nur
noch, ihrem Lande eine möglichſt günſtige Grenze zu gewinnen. Die alte
Grenze von 1790, welche dem Theilungsplane zur Richtſchnur diente,
war in den limburgiſchen Maaslanden ſehr unvortheilhaft für Holland;
dort lagen Venlo, Roermonde und andere altholländiſche Plätze rings von
belgiſchem Gebiete umgeben. Daher erklärten die holländiſchen Unter-
händler dem preußiſchen Geſandten vertraulich, ihr König ſei geneigt, die
Weſthälfte von Luxemburg an Belgien auszuliefern, wenn Belgien dafür
das rechte Ufer der Maas und die Nordſpitze der Provinz Limburg an
Holland und den Deutſchen Bund abträte. Sobald dieſer Vorſchlag der
Londoner Conferenz bekannt wurde, fand er ſofort allgemeine Zuſtimmung,
[317]General Dumoulin.
und auch der Bundestag hegte keine Bedenken.*) An ſich war ein ſolcher
Gebietstauſch für Deutſchland keineswegs unannehmbar. Der einzige
militäriſch wichtige Platz Luxemburgs, die Bundesfeſtung, ſollte deutſch
bleiben, das limburgiſche Maasland grenzte unmittelbar an preußiſches
Gebiet, und da das Großherzogthum bisher nur dem Namen nach zum
Deutſchen Bunde gehört hatte, ſo kam leider ſehr wenig darauf an, ob
fortan ſtatt der 150000 luxemburgiſchen Wallonen ebenſo viele limburgiſche
Niederdeutſche zu den Einwohnern des Bundesgebiets gerechnet wurden.
Der junge belgiſche Staat war für neutral erklärt worden, folglich durfte
ſein König nicht in den Deutſchen Bund eintreten, und Deutſchland mußte
durch holländiſches Gebiet für den Verluſt der Weſthälfte Luxemburgs
entſchädigt werden.
Nach Alledem erſchien der in London gefundene Ausweg als der
einzige, der aus der Verwirrung hinausführte. Schmachvoll war dabei
nur, daß die Belgier, vom Bunde ungehindert, das deutſche Bundesland
ſchon beſetzt hielten und ſich mithin rühmen konnten das große Deutſch-
land zu einer Abtretung gezwungen zu haben. Die Londoner Conferenz
beachtete dieſe häßliche Kehrſeite des Handels nicht, und in den Vierund-
zwanzig Artikeln, welche die Großmächte am 15. Nov. 1831 mit Belgien
vereinbarten, wurde der Gebietstauſch an der deutſchen Grenze förmlich
beſchloſſen, immer unter ausdrücklichem Vorbehalt der Rechte des Bundes.
Damit ſchien der Streit erledigt. Jetzt aber rächten ſich erſt die Trägheit
des Bundestags und die Widerſetzlichkeit Hannovers. Hätte der Bund,
nach ſeiner Pflicht, die Exekutionstruppen rechtzeitig in das aufrühreriſche
Bundesland einrücken laſſen, ſo konnte er in ſtolzer Ruhe warten, bis
der König der Niederlande den Vierundzwanzig Artikeln endlich zuſtimmte,
und dann dem in London verabredeten Gebietstauſche auch ſeinerſeits
freiwillig, in Ehren die Genehmigung ertheilen. Nun war der günſtige
Augenblick längſt verſäumt. Die Belgier blieben im Beſitze des ganzen
Landes, was ihnen ſogar der König der Niederlande für die Dauer des
Waffenſtillſtands ausdrücklich zugeſtand, und da der König erſt im Jahre
1839 ſeinen Frieden mit Belgien ſchloß, ſo gerieth die deutſche Inſel,
die allein noch aus der belgiſchen Ueberſchwemmung emporragte, die
Bundesfeſtung, bald in eine völlig unhaltbare Lage. Die deutſche liberale
Welt war aber mit dem Gezänk der kleinen Landtage, mit Rußland und
Polen, mit Spanien und Portugal dermaßen beſchäftigt, daß ſie die
ſchimpflichen Zuſtände der Weſtmark keines Blickes würdigte.
Der einzige Mann, der in dieſer Bundesſchande eine rühmliche
Rolle ſpielte, war General Dumoulin, der preußiſche Feſtungscommandant
von Luxemburg. Ihm allein und ſeinen braven Soldaten verdankte
[318]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Deutſchland, daß in dieſer Weſtmark, wo alle Welt des Deutſchen Bundes
ſpottete, mindeſtens die ſchwarzweiße Fahne noch verhaßt und gefürchtet
blieb. Der Sohn eines holländiſchen Generals und bis zum Jahre 1806
ſelbſt holländiſcher Offizier, war Dumoulin im preußiſchen Dienſte bald
ganz zum Deutſchen geworden; er hatte ſich in den ſchweren napoleoniſchen
Zeiten das Vertrauen Gneiſenau’s erworben und dann bei der Erhebung
Deutſchlands wacker mitgeholfen. Sein neues Amt übernahm er mit
dem Bewußtſein, daß ihm die Grenzhut des Vaterlandes anvertraut ſei;
er führte die Geſchäfte des Gouvernements, da der Gouverneur, der
tapfere alte Landgraf Ludwig von Heſſen-Homburg nach Fürſtenbrauch
den größten Theil des Jahres auf Reiſen verbrachte, und erſchreckte die
Belgier durch ſeine genaue Kenntniß der niederländiſchen Verhältniſſe,
die Diplomaten des Bundestags durch den ſoldatiſchen Freimuth ſeiner
Berichte.
Und welch ein Aufgabe hatte er zu löſen! Neun Jahre lang blieb
die Feſtung in beſtändigem Belagerungszuſtande, rings von Feinden ein-
geſchloſſen. Für die Garniſon freilich erzwang ſich der General den freien
Verkehr mit Trier und dem heimathlichen Hinterlande, aber auch nur für
die Garniſon; jeder Waarenballen, der an die Einwohner einging, unterlag
den belgiſchen Zöllen und wurde von den Zollbeamten der Rebellen mit
berechneter Bosheit mißhandelt. Handel und Wandel ſtockten gänzlich; die
Wirkſamkeit der Rechtspflege endete an den Grenzen des Feſtungsrayons,
da der Bundestag die Behörden der Belgier nicht anerkannte; ſelbſt der
Poſtverkehr mit Deutſchland hörte auf, und Dumoulin mußte die Briefe
der Einwohner durch ſeine Ordonnanzen befördern laſſen. An die alten
Wälle, die in gewaltigen Zikzaklinien die Felſenthäler der Elze und des
Petrusbachs überragten, wagten ſich die Belgier nicht heran; dafür ver-
ſuchten ſie durch ſchlechte Künſte Verrätherei anzuzetteln. Bald mußte
der General einen Belgier, der einen preußiſchen Soldaten zur Deſertion
verleiten wollte, ausprügeln laſſen — was nach Kriegsrecht erlaubt war
und ſehr heilſam wirkte — bald eine Brigade belgiſcher Zollwächter im
Feſtungsbezirke gefangen nehmen, bald die Miliz-Aushebungen der Belgier
unterſagen oder ihren Holzfreveln ſteuern. Dazu von hüben und drüben
beſtändige Verſuche Freicorps zu bilden; wiederholte Verhaftungen, heute
von der einen morgen von der anderen Seite angefochten; und ein wider-
wärtiger Briefwechſel mit dem belgiſchen Militärgouverneur General Tabor
in Arlon, der erſt nach ſcharfen Zurechtweiſungen einſah, daß man einen
preußiſchen General nicht ebenſo ſchnöde behandeln durfte wie den Deutſchen
Bund. Aber auch der holländiſche Civil-Gouverneur in der Feſtung ſelbſt,
General Gödecke, machte dem tapferen Preußen zu ſchaffen; er begünſtigte
erſt unter der Hand die Umtriebe der kleinen oraniſchen Partei, dann
verlangte er Schonung für die gefangenen Belgier, da ſein König noch
immer hoffte die meuteriſche Provinz durch Güte zu gewinnen; dann for-
[319]Luxemburg und die Weſtmächte.
derte er gar Bezahlung für die preußiſche Einquartierung. Selbſt der
Bundestag beſchwerte ſich, weil die preußiſchen Ingenieure im Angeſichte
des Feindes die Feſtungswerke verſtärkten, und es währte lange bis er
dieſe außerordentlichen Ausgaben genehmigte.*) Das Tollſte blieb doch,
daß der Bund ſich über ein Rayonsgeſetz für die Bundesfeſtungen noch
immer nicht hatte einigen können. Der Commandant mußte alſo eigen-
mächtig die Abgrenzung des Feſtungsrayons beſtimmen. Als er ſich durch
die beharrlichen Neckereien der Belgier genöthigt ſah das Feſtungsgebiet bis
auf einen Umkreis von vier Stunden zu erweitern, da erhob die Bundes-
verſammlung Bedenken, und der General antwortete kurzab, diesmal
könne er ſeinen Frankfurter Vorgeſetzten nicht gehorchen.
Um die Verwirrung zu vollenden miſchten ſich auch noch die Weſt-
mächte ein. Da der Bundestag die Bevollmächtigten des noch nicht an-
erkannten Königs der Belgier mehrmals zurückgewieſen hatte, ſo betrach-
teten ſich England und Frankreich als die natürlichen Vertreter ihres
Schützlings. Alleye und Cartwright erhoben eine Beſchwerde nach der
anderen über angebliche Uebergriffe des luxemburgiſchen Commandanten
und ſchlugen dabei wieder jenen rohen, zankenden Ton an, der ihnen ſchon
bei dem Frankfurter Streite ſo übel bekommen war. Es war, als wollten
ſie nochmals der Welt beweiſen, was von der gerühmten Civiliſation des
Weſtens zu halten ſei. Als Dumoulin einige belgiſche Soldaten aus dem
Gebiete der deutſchen Bundesfeſtung ausgewieſen hatte, da meinte der
Engländer, „eine ſolche That launiſcher Willkür könne ſich nur auf das
Recht des Stärkeren ſtützen“; und als die Aushebung der belgiſchen Milizen
im Feſtungsgebiete unterſagt wurde, da erklärte Alleye: „die franzöſiſche
Regierung hat Grund zu der Befürchtung, daß General Dumoulin und
ſeine Anſtifter abſichtlich einen Zuſammenſtoß herbeiführen wollten.“**) Und
nicht genug, daß die Beiden das ſonnenklare Recht mit dreiſter Stirn
beſtritten; ſie traten auch allen diplomatiſchen Brauch mit Füßen. Sie
unterſtanden ſich dem Commandanten von Luxemburg unmittelbar ihre
Beſchwerden einzuſenden; und obwohl ſie wußten, daß der Bundestag
nach ſeiner Geſchäftsordnung nur Verbalnoten von den fremden Ge-
ſandten annehmen durfte, ſo verſuchten ſie doch immer wieder mit dem
präſidirenden Geſandten Münch perſönlich zu unterhandeln, ja Alleye hatte
einmal die Unverſchämtheit, eine vorgebliche mündliche Aeußerung Münch’s
dem Bundestage vorzuhalten mit der Bemerkung: das ſei ſo gut wie ein
Ehrenwort! Das freche Treiben der zwei Diplomaten des Weſtens währte
jahrelang. Doch mit dieſen wohlbekannten Störenfrieden wußte ſelbſt der
Bundestag fertig zu werden; er gab immer nur kurze abweiſende Er-
[320]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
widerungen, die deutſchen Großmächte unterſtützten ihn nachdrücklich,*) und
die beiden Geſandten verloren in Frankfurt jeden Einfluß. Die diplo-
matiſche Geſellſchaft zog ſich von ihnen zurück. Blittersdorff berichtete:
„man iſt hier nahe daran, Lord Palmerſton für einen Halbwilden zu er-
klären, mit dem man nichts zu thun haben könne.“**) Und dieſe Weſt-
mächte, die den Deutſchen Bund alſo durch anmaßende Einmiſchungs-
verſuche beläſtigten, wurden von der liberalen Preſſe fort und fort als
Deutſchlands natürliche Bundesgenoſſen verherrlicht.
Unterdeſſen war über Luxemburgs Zukunft noch immer nichts ent-
ſchieden. Der König der Niederlande wollte ſich zur Annahme der Vierund-
zwanzig Artikel nicht entſchließen, denn insgeheim hoffte er noch auf einen
allgemeinen Krieg. Palmerſton aber erſchwerte dem verrathenen hollän-
diſchen Bundesgenoſſen die Nachgiebigkeit durch ungezogenen Uebermuth.
Unverkennbar wünſchte der Lord den Streit in die Länge zu ziehen; der
Waffenſtillſtand, der die Belgier im Beſitze des größten Theiles von Luxem-
burg und Limburg ließ, war ja für Englands neues Schoßkind überaus
vortheilhaft, und wehe dem britiſchen Handel wenn das Feſtland je ganz
zur Ruhe kam!
Menſchlich genug, daß König Wilhelm in dieſen langen Jahren der
Ungewißheit ſeinem Grolle gegen den unthätigen Deutſchen Bund zuweilen
die Zügel ſchießen ließ. Im November 1833 zeigte er dem Bundestage
an, er ſei bereit die Weſthälfte Luxemburgs an Belgien abzutreten; eine
Entſchädigung in Land und Leuten könne er dem Bunde freilich nicht
bieten, indeſſen denke er die auf dem ungetheilten Großherzogthum ruhen-
den Bundespflichten nach wie vor vollſtändig zu erfüllen, und er hoffe —
ſo ſagte er wie zum Hohne — man werde in dieſer Zuſage „einen
Beweis ſeiner föderativen Geſinnungen“ erkennen. Durch heftige Be-
ſchwerden über die Unthätigkeit des Bundestages ſuchte er ſodann dieſe
ehrenrührige Zumuthung, die ſeinen eigenen früheren Verheißungen offen-
bar widerſprach, wohl oder übel zu rechtfertigen.***) Die beiden deutſchen
Großmächte aber waren jetzt ſo ganz erfüllt von dem Wunſche den leidigen
Streit zu begraben, daß ſie den kleinen Höfen die Annahme der nieder-
ländiſchen Vorſchläge dringend empfahlen. Ancillon meinte: eine Ent-
ſchädigung zu fordern ſei widerſinnig, da kein Gebiet zur Verfügung ſtehe,
und auch ungerecht, da der König ja kein neues Land erhalte, ſondern
nur ſein altes Land behalte.†) Da geſchah das Unerhörte: König Ludwig
von Baiern und mehrere der deutſchen Höfe zeigten ſich patriotiſcher als
Preußen ſelbſt; ſie beſtanden darauf, daß Deutſchland eine Entſchädigung
[321]Theilung Luxemburgs.
durch Landgebiet erhalten müſſe.*) Zweimal, in den Jahren 1834 und 1836,
verlangte der Bundestag demnach feierlich vollen Erſatz für das weſtliche
Lützelburg. König Wilhelm gab endlich nach. Am 19. April 1839 wurde
der Friede zwiſchen Holland und Belgien, auf Grund der Vierundzwanzig
Artikel, unterzeichnet. Am 5. September genehmigte der Bundestag, daß
dies neugebildete holländiſche Herzogthum Limburg, mit Ausſchluß der
Feſtungen Mastricht und Venloo, in den Bund eintreten ſollte; dafür
wurde das etwa gleich große walloniſche Luxemburg, das allerdings auch die
deutſche Stadt Arlon und insgeſammt etwa 32,000 deutſche Bewohner
umfaßte, an Belgien ausgeliefert. Der gefallenen Entſcheidung fügten
ſich ſelbſt die Agnaten aus dem herzoglichen Hauſe Naſſau; ſie hatten
während aller dieſer Verhandlungen in tapferen Worten Großes geleiſtet,
aber freilich bei der Stellung der Executionstruppen ſich ganz ebenſo
kleinlich gezeigt wie Hannover; jetzt entſagten ſie ihren Erbanſprüchen
auf die Weſthälfte Luxemburgs und empfingen von König Wilhelm eine
Geldentſchädigung.
Dergeſtalt wurde eine Schmälerung des Bundesgebietes noch glücklich
vermieden. Das neue ſogenannte Herzogthum Limburg war, genau wie der
abgetretene Landſtrich, eine niederländiſche Provinz, die dem Namen nach
zu Deutſchland gehörte, und der Bundestag getröſtete ſich der Hoffnung,
„daß die Weisheit Sr. Majeſtät Maßregeln treffen werde, welche geeignet
ſind, den Unzukömmlichkeiten vorzubeugen, die ſonſt möglicherweiſe aus
dieſen Verhältniſſen entſtehen könnten“. Wer ſolchen Beſchwichtigungen
Glauben ſchenkte, der konnte ſogar mit einigem Scheine behaupten, daß
der Gebietstauſch an der Weſtgrenze dem Deutſchen Bunde Vortheil bringe.
Da das verkleinerte Luxemburg nunmehr von dem Königreich der Nieder-
lande weit entfernt lag, ſo ſah ſich der König gezwungen, alte Unter-
laſſungsſünden endlich zu ſühnen; das Großherzogthum wurde fortan als
ein ſelbſtändiger, nur durch Perſonal-Union mit den Niederlanden ver-
bundener Staat eingerichtet, erhielt ſein beſonderes Bundescontingent, im
Jahre 1841 auch ſeine eigene Verfaſſung und trat alſo ſcheinbar dem
deutſchen Leben näher als bisher.
Doch was wollte dieſer deutſche Troſt bedeuten neben der furchtbaren
moraliſchen Niederlage, welche der Deutſche Bund ſich ſelbſt bereitet hatte?
Als der Bundestag die Widerſetzlichkeit Hannovers hinnahm und die be-
ſchloſſene Bundes-Execution gemächlich einſchlafen ließ, da bekundete er
vor aller Welt, daß er der erſten ſeiner Pflichten nicht entſprechen konnte.
An dieſer Schande waren alle deutſche Staaten mitſchuldig, auch Preußen
und Baiern, denn wohlgemeinte Worte genügten in ſolchem Falle nicht.
Das geringe Anſehen, das der Bund in Europa bisher noch behauptet
hatte, ſchwand fortan gänzlich; das kleine Belgien, das ängſtliche Juli-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 21
[322]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Königthum und der nur gegen die Schwachen muthige Palmerſton wagten
ihn offen zu verhöhnen.
Und wie verderblich wirkte der Anblick deutſcher Schwäche auf die
Geſinnung der deutſchgebliebenen Lützelburger. Das Völkchen konnte in
jenem Beſchluſſe der Londoner Conferenz, der ihr Heimathland zertheilte,
nur ein ſalomoniſches Urtheil, in dem geduldig zuwartenden Deutſchland
nur die Rabenmutter ſehen. Neun Jahre lang hatte man ſich an die
belgiſche Verwaltung gewöhnt; was Wunder, daß die guten deutſchen Klein-
bürger in Diekirch, Waſſerbillig, Grevenmachern die Wiedervereinigung
mit dem freien Belgien erſehnten? Auch die Stadt Luxemburg war
belgiſch geſinnt, denn ſie hatte zwar an der preußiſchen Garniſon viel
Geld verdient, aber noch mehr gelitten durch die Abſperrung von der
Nachbarſchaft. Selbſt Miniſter Türckheim, der nicht leicht einen Bundes-
beſchluß tadelte, fand es unbegreiflich, daß der Bundestag dieſe Grenz-
bewohner gewaltſam mit dem Wunſche erfülle, „dem Looſe der Verweſung
zu entgehen, welchem die Stagnation des Bundes alle Verhältniſſe, welche
ſie umfaßt, entgegenführt.“*) Außerdem beſtand noch, wie in Belgien
ſelbſt, eine kleine Partei von Fransquillons, die mit Frankreich buhlte,
und eine Partei ſtillvergnügter Particulariſten, die am liebſten für ſich
bleiben wollten. Eine deutſche Partei beſtand nicht. Die Beſitzer der
großen Bergwerke und Fabriken wünſchten zwar freien Verkehr mit ihrem
natürlichen Abſatzgebiete im Oſten; da und dort ſaß wohl auch ein junger
Anwalt, der ſich in Bonn oder Heidelberg deutſche Ideen angeeignet hatte.
Sonſt erklang im Lande nur Hohn und Spott über alles deutſche Weſen.
Preußen allein ward gefürchtet, aber als ein Feind. Die ſchwarzweiße
Fahne auf den Feſtungswällen Luxemburgs, die doch zum Schutze des
Landes dort aufgerichtet ſtand, erſchien jetzt dem Volke als das Feldzeichen
der Tyrannei, nachdem ſie neun Jahre hindurch der Tricolore von Brabant
den Einzug gewehrt hatte. Ohnehin war der paritätiſche deutſche Staat
dieſem bigott-katholiſchen Volke, das alljährlich am Pfingſtdienſtage den
widerlichen Mummenſchanz der Echternacher Springproceſſion aufführte,
von Altersher verdächtig, und der mächtige, noch ganz von hispaniſchen
Gedanken erfüllte Clerus verſäumte nicht dieſe Geſinnung aufzuſtacheln.
Verachtung gegen den deutſchen Namen und Haß gegen Preußen — das
war die Saat, welche der Bundestag auf den Boden dieſes altdeutſchen
Grenzlandes ſtreute. Sie ging üppig auf und wuchert fort bis zum
heutigen Tage. —
Seit dem Sommer 1832 war entſchieden, daß Deutſchland wieder
ganz der Politik der Oſtmächte angehörte, und nirgends ward dies Er-
ſtarken der alten Gewalten freudiger begrüßt als in Petersburg. Stolz
[323]Preußens Zurückhaltung gegen Rußland.
auf die Bändigung des polniſchen Aufruhrs, ſtolzer noch auf die wüthen-
den Schmähreden der liberalen Preſſe, träumte der Czar nur noch von dem
großen Kreuzzuge für das legitime Recht. Schon um Weihnachten 1830
ſagte er in einer geheimen Denkſchrift über die Lage Europas: „Bewahren
wir das heilige Feuer für den feierlichen Augenblick, den keine menſchliche
Macht abwenden, keine hinausſchieben kann, für den Augenblick, da der
Kampf zwiſchen der Gerechtigkeit und den Grundſätzen der Hölle (le prin-
cipe infernal) ausbrechen muß.“ Irgend ein beſtimmter politiſcher Ge-
danke lag in ſolchen dröhnenden Worten fanatiſchen Haſſes freilich nicht,
und General Schöler urtheilte treffend: „über ſeine eigentlichen Wünſche
täuſcht der Kaiſer nicht nur Andere, ſondern ſich ſelbſt.“*) Deutlich war
nur, daß Deutſchland in dem Kampfe gegen die Revolution ſich verbluten,
und Rußland ſchließlich mit ſeiner vielgerühmten „formidablen Reſerve“,
die ſich auf dem Papiere der Petersburger Denkſchriften ſo großartig aus-
nahm, die Früchte des Krieges gemächlich einheimſen ſollte.
Je ſicherer Nikolaus nach dem Falle Warſchaus ſich wieder ſelbſt
fühlte, um ſo tiefer wurmten ihn die Niederlagen, die ihm Preußens
bedachtſame Friedenspolitik bereitet hatte. Noch immer trug er ſeine
perſönliche Verehrung für den König gefliſſentlich zur Schau und ver-
ſicherte inbrünſtig: „er iſt mein Vater, ich bin ſein Sohn.“ Dies hin-
derte ihn jedoch keineswegs, den Berliner Hof mit Zumuthungen zu über-
ſchütten, deren gleichen andere Söhne ihren Vätern nicht zu ſtellen pflegen.
Nach allen den Freundſchaftsdienſten, welche ihm Preußen während des
polniſchen Aufſtands geleiſtet, wagte er noch zu verlangen, der deutſche
Nachbarſtaat möge dicht an der ruſſiſchen Grenze eine hohe Polizeibehörde
unter Mitwirkung eines ruſſiſchen Beamten einrichten; ja er bat den
König ſogar, jene polniſchen Flüchtlinge, welche die Heimkehr verweigerten,
einfach im preußiſchen Heere unterzuſtecken (März, Juni 1832). Beide
Bitten wurden rundweg abgeſchlagen, und die politiſche Freundſchaft erkaltete
ſichtlich. Der neue ruſſiſche Geſandte Ribeaupierre verſtand auch nicht wie
ſein Vorgänger Alopeus, ſich das perſönliche Vertrauen der Berliner Staats-
männer zu gewinnen; General Schöler andererſeits begann dem Peters-
burger Hofe läſtig zu werden, weil er durch lange Erfahrung gegen die
moskowitiſchen Schauſpielerkünſte gepanzert war und immer wieder warnte:
„es iſt wahrhaft nationale Eigenſchaft der Ruſſen, von ihren Freunden
Opfer jeder Art und nach dem größten Zuſchnitt zu fordern, ſolche aber
nur in ganz entgegengeſetztem Verhältniß zu leiſten.“**)
Obgleich der belgiſche Streit unter Rußlands eigener Mitwirkung im
Weſentlichen beigelegt war und mithin kein Anlaß zum Kriege mehr beſtand,
ſo forderte der Czar doch unabläſſig eine förmliche Erneuerung des Bundes
21*
[324]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
der Oſtmächte: die drei Höfe müßten ihren Entſchluß „das göttliche Recht
aufrechtzuhalten“ feierlich vor der Welt beweiſen. Preußen erwiderte (Jan.
1833): das alte Bündniß ſtehe feſter denn je, ſeine förmliche Erneuerung ſei
überflüſſig, ja gefährlich, denn ſie könne nur bewirken, daß die Weſtmächte
ſich noch enger an einander ſchlöſſen und alſo der Zwieſpalt der Staaten-
geſellſchaft ſich verſchärfte. Nach langen Bemühungen erreichte Rußland
nur, daß am 9. März 1833 in Berlin ein unſchädlicher, nahezu inhalt-
loſer Vertrag zwiſchen den Oſtmächten unterzeichnet wurde: die drei Höfe
verpflichteten ſich lediglich, die belgiſche Frage auf Grund der 24 Artikel,
alſo im Einverſtändniß mit den Weſtmächten, zum Abſchluß zu bringen,
und verſprachen dem König der Niederlande Schutz gegen weitere Angriffe
— Angriffe, welche zur Zeit Niemand beabſichtigte.
Während alſo Preußen ſich gegen die Petersburger Politik ſpröde ver-
hielt, kam ihr die Hofburg dienſtfertig entgegen. Seit der Julirevolution
bewarb ſich Metternich um die ruſſiſche Freundſchaft, unaufhörlich und
mit wenig Würde. Er hoffte, die Vertrauensſtellung, welche Preußen in
Petersburg ſo lange behauptet hatte, nunmehr dem öſterreichiſchen Hofe
zu verſchaffen, und reizte den verhaltenen Groll des Czaren beſtändig
durch Verleumdung der preußiſchen Staatsmänner, durch mehr oder minder
deutliche Klagen über die Berliner Feigheit. Sein Vertrauter, der Ge-
ſandte Graf Ficquelmont, einer der feinſten Diplomaten aus der Schule
des Staatskanzlers, hörte ehrfurchtsvoll die legitimiſtiſchen Zornreden des
Selbſtherrſchers und bekräftigte ſie ſtets mit einem herzerfreuenden ſol-
datiſchen Biederſinne. Von kriegeriſchen Abſichten blieb Metternich’s Aengſt-
lichkeit nach wie vor weit entfernt, allein er fürchtete die Revolution in
Italien. Seine wiederholten Bemühungen um die Bildung eines italieni-
ſchen Fürſtenbundes waren an dem particulariſtiſchen Stolze der Bour-
bonen von Neapel geſcheitert, und die Nachrichten von den Unruhen in
Piemont lauteten hochbedenklich; in den Reihen der Verſchworenen fanden
ſich ſchon die furchtbaren Namen Gioberti, Mazzini, Garibaldi. Wie bald
konnte Oeſterreich ſich genöthigt ſehen, ſeine Truppen nach Turin zu ſenden
und dadurch den Einmarſch der Franzoſen, den allgemeinen Krieg herbei-
zuführen! Für ſolchen Fall mußte die Hofburg auf Rußlands Beiſtand
rechnen; war dieſer geſichert, ſo ſchien nach öſterreichiſcher Anſchauung
auch Preußens Heeresfolge unausbleiblich. Auf die Gefühle des nord-
deutſchen Verbündeten zarte Rückſichten zu nehmen hielt Metternich für
überflüſſig; denn eben in dieſer Zeit that der Berliner Hof wieder einen
mächtigen Schritt zur Löſung des deutſchen Dualismus, Schlag auf Schlag
kamen die Nachrichten von Preußens Zollverträgen, und obwohl der öſter-
reichiſche Staatsmann die langnachwirkenden Folgen dieſer Verhandlungen
keineswegs klar erkannte, ſo ahnte er doch in dem werdenden Deutſchen
Zollvereine eine feindliche Macht. Alſo geſchah es, daß der Wiener Hof
ſich jetzt mit jedem Mittel das ruſſiſche Bündniß zu ſichern trachtete, und
[325]Mehemed Ali’s Erhebung.
ſelbſt in der orientaliſchen Frage, welche die beiden Kaiſermächte ſchon ſo
oft entzweit hatte, dem Petersburger Cabinet eine ganz unerwartete Unter-
würfigkeit erwies.
So hoffärtig und leidenſchaftlich die ruſſiſche Politik im Weſten auf-
trat, ebenſo klug und überlegen zeigte ſie ſich im Orient, wo ſie allein
den Boden genau kannte. Seit dem Frieden von Adrianopel ſpielte der
Czar die Rolle des hochherzigen Beſchützers der Türkei. Er erleichterte
dem Sultan die Ausführung des Friedensvertrages in jeder Weiſe, erließ
ihm einen großen Theil der Kriegskoſten, ſuchte die Pforte durch ſeine
Geſchöpfe mittelbar zu beherrſchen, und ſeine Kronräthe gelangten nach
reiflicher Berathung ſogar zu dem förmlichen Beſchluſſe, daß die Erhaltung
des osmaniſchen Reiches vorläufig im Intereſſe Rußlands geboten ſei.
Als freilich das Londoner Cabinet den Wunſch ausſprach, Rußland möge
die Unverletzlichkeit der Türkei durch einen Vertrag mit England ſicher-
ſtellen, da wurde das harmloſe Anſinnen in Petersburg entſchieden zurück-
gewieſen.
Seit dem Jahre 1831 begannen neue Gefahren über das Türkenreich
heraufzuziehen. Mehemed Ali, der gewaltige Vicekönig von Aegypten, der
Bekämpfer der griechiſchen Giaurs heiſchte von dem Großherrn die längſt
verſprochene Belehnung mit den ſyriſchen Paſchaliks, er wagte den Auf-
ruhr, und in unaufhaltſamem Siegeszuge führte ſein Sohn Ibrahim das
Heer der Aegypter durch Syrien bis in den Nordweſten Kleinaſiens. Zu
Anfang 1833 ſtanden die Sieger nur noch wenige Märſche vom Bos-
porus entfernt, der Hauptſtadt faſt ebenſo nahe wie Diebitſch vier Jahre
zuvor, und wieder wie damals meinte die erſchrockene europäiſche Diplo-
matie ſchon das Ende der Osmanenherrſchaft vor Augen zu ſehen. In
Wahrheit konnte dieſe furchtbare Empörung dem wankenden türkiſchen
Reiche vielleicht die Rettung bringen, wenn anders Rettung noch möglich
war. Mehemed Ali war nach orientaliſchen Begriffen kein Hochverräther,
und die brünſtige Verehrung, welche er mitten im Kriege dem Sultan
bezeigte, doch nicht ganz erheuchelt; an die Entthronung des Hauſes Os-
mans konnte und durfte er nicht denken. Wenn es dem kühnſten und
ſchlaueſten Staatsmanne der orientaliſchen Welt gelang, ſeinem Hauſe
das erbliche Großweſirat neben dem Kalifengeſchlechte zu erwerben, dann
blieb immerhin denkbar, daß der türkiſche Staat ſich von innen heraus
noch einmal verjüngte wie einſt das Frankenreich unter der Herrſchaft der
karolingiſchen Hausmeier. Der Befreier der heiligen Stätten von Mekka
durfte auf die begeiſterte Hingebung aller gläubigen Moslemin zählen,
und ſein napoleoniſches Regiment in Aegypten zeigte, wie meiſterhaft er
verſtand, die Herrſcherkünſte Europas dem Leben des Morgenlandes an-
zupaſſen.
Aber jene Zerfahrenheit der öffentlichen Meinung Europas, welche
dem osmaniſchen Reiche ſo oft ſchon das Daſein gefriſtet hatte, gereichte
[326]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
ihm diesmal zum Unſegen. Keine der Mächte, welche den Beſtand des
türkiſchen Staates ehrlich wünſchten, beurtheilte die Lage richtig. Preußen
blieb nach ſeiner alten Gewohnheit den türkiſchen Händeln fern, ſo lange
ſie nicht unmittelbar den Weltfrieden bedrohten. Palmerſton verſtand von
orientaliſcher Politik nicht das Mindeſte und verſäumte rathlos den rechten
Augenblick. Metternich aber zeigte ſich wieder einmal unfähig, die Mächte
des Werdens in der Geſchichte zu würdigen, und legte den Zollſtock ſeiner
legitimiſtiſchen Doctrin auch an die Politik des Morgenlandes; wie er einſt
in den Griechen nur Empörer geſehen hatte, ſo verdammte er jetzt un-
bedingt „die durchaus umſtürzleriſchen Abſichten Mehemed Ali’s“ und er-
klärte „die reine Verdammung der Revolution“ für den leitenden Gedanken
jeder „geſunden Politik“. Niemals wollte er den Vermittler ſpielen zwiſchen
einem Rebellen und einem rechtmäßigen Souverän. Er athmete auf, als
auch der Czar ſeine Entrüſtung über den ägyptiſchen Aufrührer kundgab,
und war nunmehr von Rußlands lauteren Abſichten ſo feſt überzeugt,
daß er jedes Bedenken faſt wie eine perſönliche Beleidigung betrachtete.
„Wenn unſer Cabinet beruhigt iſt,“ ſchrieb er tief gekränkt nach Paris,
„ſo haben andere Cabinette nicht das Recht Zweifel zu hegen.“ Die un-
klare Politik des Juli-Königthums mußte den Wiener Hof in ſeiner Ver-
blendung beſtärken. Man wünſchte in Paris die Erhaltung der Türkei,
aber man wollte auch den Aegypter nicht ganz preisgeben, da das Nilland
von Altersher zu Frankreichs natürlichem Machtgebiete gerechnet wurde,
und erging ſich daher in ungeſchickten Vermittlungsverſuchen, welche dem
öſterreichiſchen Staatskanzler nur von Neuem zu beweiſen ſchienen, daß
die Revolutionäre am Nil wie an der Seine alleſammt an demſelben
Strange zögen.
Der Petersburger Hof allein wußte was er wollte; er weigerte ſich
an einer gemeinſamen Einmiſchung theilzunehmen und bot dem Sultan,
als die Gefahr aufs Höchſte geſtiegen war, ſeine Waffenhilfe an. Dankbar
ergriff Machmud die Hand des großmüthigen Beſchützers. Ein ruſſiſches
Heer landete an der aſiatiſchen Küſte gegenüber der Hauptſtadt, die Be-
lagerung von Antwerpen ward durch einen Meiſterzug der Petersburger
Politik wett gemacht und in den Schatten geſtellt. Unter freundlicher
Mitwirkung ſeines nordiſchen Gönners ſchloß nun der Sultan mit den
Aegyptern einen Frieden, der allen Herzenswünſchen der ruſſiſchen Politik
Genüge that. Mehemed Ali erhielt die erbliche Statthalterſchaft über
Syrien; ſelbſt das Thor Kleinaſiens, Cilicien, und die für den Flottenbau
unentbehrlichen Gebirgswälder des Paſchaliks von Adana wurden ihm ab-
getreten. Die Macht der Pforte erlitt alſo eine ſchwere Einbuße, aber
dafür zogen ſich die Empörer aus dem eroberten Innern Kleinaſiens zurück,
und ſtatt des gefürchteten Aegypters herrſchte der ruſſiſche Geſandte im
Rathe der hohen Pforte; er ſorgte dafür, daß alle Reformen, die dem
Staate vielleicht noch aufhelfen konnten, fortan unterblieben.
[327]Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi.
Oeſterreich und Preußen begrüßten den Friedensſchluß mit aufrichtiger
Freude; die Revolution war ja beſiegt, der Beſtand der Türkei dem Namen
nach geſichert. In Paris dagegen wurde die Niederlage ſchmerzlich empfun-
den; auch Palmerſton erkannte zu ſpät was er verſäumt hatte, und tröſtete
das Parlament mit dem behaglichen, britiſchen Hörern immer willkommenen
Gemeinplatze: England führe niemals Krieg für abſtrakte Grundſätze. Als-
bald ſollte man noch deutlicher erkennen, was Rußlands Schutzherrſchaft
in dem geſchwächten Türkenreiche bedeutete. Auf den erſten Wink des
Sultans zogen die Truppen des nordiſchen Erretters gefällig heimwärts,
aber am 8. Juli 1833 ward zwiſchen beiden Mächten zu Hunkiar Iskeleſſi
ein Bündnißvertrag abgeſchloſſen: beide verbürgten einander ihren Länder-
beſtand, und da der Sultan außer Stande war ſeine Zuſage zu halten,
ſo verſprach er die Dardanellen allen fremden Kriegsflotten zu verſchließen.
Die Einfahrt nach Konſtantinopel ward mithin den Weſtmächten ver-
ſchloſſen, den Ruſſen vom Pontus her ſtand ſie jederzeit offen.
Alſo ohne Schwertſtreich errang Rußland das Uebergewicht im Oſten,
und nach ſo glänzenden Erfolgen wähnte ſich der Czar ſtark genug, auch
dem Abendlande die Herrſcherſtirne zu zeigen. Er wollte der Revolution,
auf die Gefahr des Weltkrieges hin, mindeſtens grundſätzlich den Kampf
ankündigen; er hoffte die ſchönen Tage von Troppau zu erneuern, obgleich
ſeine eigenen Räthe lebhaft widerſprachen und ein triftiger Grund für eine
Zuſammenkunft der Monarchen nirgends vorhanden war. Die erſte Ein-
ladung zu dieſem neuen Congreſſe war von Wien ausgegangen. Kaiſer
Franz fragte durch Ficquelmont vertraulich an, ob er im Sommer 1833 den
ruſſiſchen Kaiſer in dem böhmiſchen Schloſſe Münchengrätz begrüßen dürfe.
Bei einiger Höflichkeit ließ ſich die Verſammlung ſehr leicht ſo einrichten,
daß auch der König von Preußen auf ſeiner alljährlichen Teplitzer Bade-
reiſe daran theilnehmen konnte. Metternich aber wünſchte den Czaren,
den er als Kaiſer noch nie geſehen, für ſich allein zu haben; er fürchtete
die Anweſenheit des alten Herrn, der von ſeinem Schwiegerſohne wie von
allen ſeinen Kindern mit einer gewiſſen Scheu verehrt wurde und wenn es
zu beſchwichtigen oder zu verneinen galt ſich ſehr zähe zu zeigen pflegte.
Darum wurden die Vorbereitungen zu der Conferenz mit einem ſo auf-
fälligen Ungeſchick betrieben, daß General Schöler ärgerlich ſagte: dieſe
Kaiſerreiſe „droht eine Art von Pasquill auf alle Monarchen-Zuſammen-
künfte zu werden“.*) König Friedrich Wilhelm erhielt nur die Mittheilung,
daß ſein Schwiegerſohn ihn und den Kaiſer von Oeſterreich zu beſuchen
denke; über den Zeitpunkt der Reiſe erfuhr er nichts Sicheres. Nach
längerem Warten brach er endlich im Juli nach Teplitz auf, traf am
14. Auguſt in Thereſienſtadt mit Kaiſer Franz, gleich darauf in Teplitz
ſelbſt mit Metternich zuſammen und beſprach ſich mit Beiden über die
[328]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
deutſche Bundespolitik; die europäiſchen Fragen wurden hier nur beiläufig
berührt. Nach beendeter Cur kehrte er endlich heim; erſt in Berlin empfing
er die Nachricht, daß der Czar ſeine dringenden Geſchäfte nunmehr abge-
ſchloſſen habe und in den erſten Septembertagen nach Deutſchland zu
kommen denke.
Alſo war, zu Ficquelmont’s unverhohlener Befriedigung und wohl
nicht ohne die ſtille Beihilfe des Czaren ſelbſt, entſchieden, daß der geplante
Congreß in zwei Theile zerfallen mußte. Ebenſo ungeſchickt ſuchte man die
fremden Höfe über den politiſchen Zweck der Zuſammenkunft zu täuſchen.
Neſſelrode ſchrieb nach England, dies Wiederſehen der befreundeten Herrſcher
ſei nur durch die Herzensbedürfniſſe des Czaren veranlaßt; Ancillon ver-
ſicherte den Geſandtſchaften, Nikolaus komme lediglich um ſeinen geliebten
Schwiegervater zu begrüßen und den öſterreichiſchen Kronprinzen kennen zu
lernen*) — während doch Jedermann wußte, daß der Kanzler Neſſelrode,
Ficquelmont und eine Menge Beamten des Auswärtigen Amts den Selbſt-
herrſcher auf ſeiner ſtillen Familienreiſe begleiteten. Begreiflich, daß Pal-
merſton mit gewohnter Grobheit ſagte: „Wie können dieſe Leute ſich die
Mühe geben ſolches Blech (stuff) zu ſchreiben? Es iſt, als ob ſie uns
zwingen wollten, ihnen niemals mehr ein Wort zu glauben!“
König Friedrich Wilhelm erwartete nunmehr ſeinen Schwiegerſohn im
Schloſſe Schwedt an der Oder. Es ſchwebte aber ein Unſtern über dieſem
ſo ganz vom Zaune gebrochenen Congreſſe. Furchtbare Stürme zwangen
das Schiff des Czaren, unterwegs in Riga eine Zuflucht zu ſuchen. Der
König verbrachte mehrere Tage in tödlicher Langeweile, die nur Abends
durch die tollen Improviſationen des Komikers Beckmann und einiger
anderen Berliner Schauſpieler etwas gemildert wurde; bei dem ſtrömenden
Regen war ſelbſt das liebliche Verſailles der Ukermark ein unleidlicher
Aufenthalt. Da plötzlich, während Alles noch geſpannt auf Nachrichten
von der Küſte wartete, raſſelte der Wagen des Czaren über die Oder-
brücke (5. Sept.); er hatte wieder eine ſeiner beliebten Ueberraſchungen
ausgeführt und den Weg von Riga zu Lande zurückgelegt. Der Empfang
war herzlich wie immer. Ein Strom ruſſiſcher Orden ergoß ſich über
die ſchwarzen Schwedter Dragoner; hier zuerſt gefiel ſich Nikolaus in
jener Ordensverſchwendung, welche ſeitdem von allen Höfen getreulich
nachgeahmt den Ehrenzeichen allen Sinn und Werth geraubt hat. Mit
der üblichen amtlichen Glückſeligkeit ſchilderte Ancillon den Geſandten die
wunderbare Eintracht der Schwedter Berathungen: „der Kaiſer hat wieder-
holt erklärt, daß er daſſelbe wolle wie der König und ſein Cabinet, daß
er nichts anderes wolle, daß er weder mehr noch weniger wolle.“**)
Unterdeſſen äußerte ſich Nikolaus zu ſeinen Vertrauten ſehr unzu-
[329]Zuſammenkunft in Schwedt.
frieden über dieſe dreitägigen Unterredungen.*) Der König war mit nichten
gemeint jedem launiſchen Einfalle ſeines Schwiegerſohnes nachzugeben und
den ſo mühſam geſicherten Frieden durch eine thörichte Herausforderung
in Frage zu ſtellen. Er ſtimmte dem legitimiſtiſchen Gepolter des Czaren
freundlich zu; er erkannte auch an, wie Ancillon ſagte, „daß der Aufſchwung
des revolutionären Geiſtes verſchuldet ſei durch die verhängnißvolle Thätig-
keit der Pariſer Propaganda und durch den ungeheuerlichen Grundſatz der
Nicht-Einmiſchung“. Gern wollte er das Seine thun um „dieſe beiden
Quellen des Unheils zu verſtopfen, von denen die eine die Revolutionen
entſtehen läßt, die andere ihnen die Strafloſigkeit ſichert.“ Darum ſchlug
er ſelbſt vor, daß die drei Oſtmächte gemeinſam die Unterdrückung der
demagogiſchen Umtriebe in Paris verlangen ſollten; er erklärte ſich auch
bereit, bei „der erſten Gelegenheit“ dem franzöſiſchen Hofe zu erklären,
daß die drei Mächte das Recht der Intervention feſthalten und behaupten
würden. Weiter mochte Friedrich Wilhelm durchaus nicht gehen; allen
kriegeriſchen Andeutungen des Ruſſen ſetzte er einen ſo hartnäckigen Wider-
ſtand entgegen, daß Nikolaus nicht einmal wagte ihm die Abſchließung
eines förmlichen Vertrages vorzuſchlagen. Die Beſprechungen gelangten
über einen wenig fruchtbaren Gedankenaustauſch nicht hinaus, und der
Czar beſchloß, Näheres erſt in Münchengrätz mit den Oeſterreichern zu
verabreden.
Eine nochmalige Reiſe nach Böhmen konnte er ſeinem Schwieger-
vater um ſo weniger zumuthen, da die Manöver, bei denen der König
niemals fehlte, nahe bevorſtanden. Er wünſchte alſo, Ancillon möge ihn
begleiten. Der aber widerſprach mit ungewohnter Entſchiedenheit und ging
ſo weit, dem Selbſtherrſcher zu ſagen „die Würde Preußens erlaubt mir
das nicht“,**) worauf Nikolaus, der den friedfertigen Theologen ohnehin
nicht leiden mochte, in hellem Zorne auffuhr. Der Miniſter ſah voraus,
welche peinliche Rolle er allein neben den beiden Kaiſern ſpielen mußte;
deßhalb behielt er ſich vor, die Münchengrätzer Verabredungen nachträglich
in Berlin zu prüfen und dabei die Meinung des kranken Bernſtorff ein-
zuholen, dem er offenbar mehr Muth zutraute als ſich ſelber. Uner-
ſchütterlich blieb er bei ſeiner Weigerung, und der König gab ihm Recht.
Nur um den Schein der Eintracht vor der Welt zu wahren, wurde auf
die Bitte des Czaren der Kronprinz mit nach Münchengrätz geſendet; ſein
Vater befahl ihm indeſſen ſtreng, weder irgend ein Verſprechen zu geben
noch an den politiſchen Unterhandlungen theilzunehmen. So trennten
ſich die beiden Monarchen, in Freundſchaft, doch nicht ohne Verſtimmung.
[330]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Glücklicher verliefen dem Czaren die zehn Tage ſeines Aufenthalts
auf dem alten Wallenſtein-Schloſſe im Iſerthale. Kaiſer Franz freilich
erſchien kläglicher denn je; nach einer ſoeben überſtandenen Krankheit war
er ſichtlich gealtert und ſein Geſpräch zum Verzweifeln geiſtlos. Mit
Metternich aber fand ſich Nikolaus raſch zuſammen; er überhäufte ihn mit
Gnaden und ſagte ihm gleich bei der Begrüßung mit ſeinem gewohnten
theatraliſchen Pathos: „Ich komme um mich unter die Befehle meines
Chefs zu ſtellen.“ Der Eitelkeit des Oeſterreichers war ſogar dieſe Schmei-
chelei nicht zu plump; Metternich glaubte wirklich ſelber zu herrſchen,
derweil die Zügel des Kaiſerbundes unvermerkt in Rußlands Hände hin-
überglitten. Schon das geſellige Leben in Münchengrätz ließ errathen,
wie der Schwerpunkt der Allianz ſich ſeit den Laibacher Zeiten verſchoben
hatte. Die blendende Erſcheinung des Czaren verdunkelte alle Anderen.
Um ihn drängte ſich huldigend der hohe Adel, Allen voran Herzog Wilhelm
von Naſſau, der ärgſte Reaktionär des deutſchen Fürſtenſtandes und darum
Nikolaus’ erklärter Liebling; auf ihn allein waren die Blicke aller der ge-
heimen Agenten gerichtet, welche ſich von nah und fern in den Städten
und Bädern Böhmens eingefunden hatten. Ihm zu Ehren wurden glän-
zende Paraden veranſtaltet, und den Diplomaten der alten Schule, die
das Heer eigentlich nicht für ganz hoffähig anſahen, kam es hart an, wenn
ſie beſtändig von den Reiterkunſtſtücken des ungariſchen Huſarenregiments,
das Kaiſer Franz ſeinem Gaſte verlieh, ſich erzählen laſſen, beſtändig mit
Entzücken betheuern mußten, wie herrlich die neue Uniform den ſchönſten
Mann Europas kleide.
Unterdeſſen bewies auch der Verlauf der diplomatiſchen Arbeiten, daß
in den Machtkämpfen der Politik der ſtärkere Wille dem feineren Kopfe
immer überlegen iſt. Der Czar erlangte von Metternich Alles was er
wollte. Er erreichte zunächſt, daß die beiden Mächte durch einen geheimen
Vertrag ſich verpflichteten (18. Sept.), den Beſtand des osmaniſchen
Reichs unter ſeinem gegenwärtigen Herrſcherhauſe zu erhalten, dem Paſcha
von Aegypten keinen Uebergriff in die europäiſchen Provinzen des Sultans
zu geſtatten, und immer in Eintracht, nach gemeinſamem Plane zu handeln
falls die Türkei gleichwohl zuſammenbrechen ſollte. Metternich frohlockte;
war es denn nicht ein wunderbarer Triumph ſeiner Weisheit, daß Ruß-
land jetzt die alten Anſchläge auf Konſtantinopel feierlich aufgab, während
der argwöhniſche Palmerſton ſchon fürchtete, die Kaiſermächte würden ſich
in Münchengrätz über die Theilung der Türkei verſtändigen? In Wahr-
heit hatte Nikolaus’ Vertrauter Graf Alexis Orlow, der Urheber des Ver-
trages von Hunkiar Iskeleſſi den Oeſterreicher nochmals mit vollendeter
Kunſt überliſtet: wenn die Türkei unter dem verkommenden Hauſe Osman’s
fortbeſtand, wenn dem einzigen Manne, der ihr vielleicht noch aufhelfen
konnte, dem Aegypter, ein Riegel vorgeſchoben wurde, ſo war Rußlands
Schirmherrſchaft am Bosporus für einige Jahre geſichert und damit
[331]Die Verträge von Münchengrätz.
Alles erreicht was man in Petersburg vorläufig wünſchen konnte. In
der orientaliſchen Politik immer zurückhaltend, trat der Berliner Hof
dieſem Vertrage nicht förmlich bei, doch er billigte ihn lebhaft; denn An-
cillon ahnte ſo wenig wie Metternich, was die neue Freundſchaft zwiſchen
dem Czaren und dem Sultan bezweckte. Als die Weſtmächte, jetzt endlich
über die Sachlage aufgeklärt, ſich in Petersburg über den Vertrag von
Hunkiar Iskeleſſi beſchwerten, da wurden ſie hochmüthig abgewieſen, und
der preußiſche Miniſter freute ſich von Herzen „dieſer zugleich ſiegreichen
und würdevollen Antwort: die beiden Mächte, meinte er, haben wohl eine
Lektion verdient, da ſie ſich in Dinge miſchen, die ſie nichts angehen“.*)
In beſtem Glauben, wie Metternich, verſicherte er den Weſtmächten, daß
Rußland völlig uneigennützige Geſinnungen hege und nicht beabſichtige
den Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi auszuführen; zugleich erging er ſich
in weihevollen Betrachtungen über die Gebrechlichkeit des armen Groß-
türken, dem er damals zuerſt den Namen des „kranken Mannes“ gab.
Als einen Erfolg durfte Rußland auch einen Vertrag über Polen
betrachten, der in Münchengrätz von Oeſterreich, bald nachher (16. Oct.)
von Preußen unterzeichnet wurde. Während des polniſchen Aufſtandes
hatte Nikolaus einmal daran gedacht, die treuloſen Lande weſtlich der
Weichſel als unwürdig der ruſſiſchen Herrſchaft ſeinen Verbündeten ab-
zutreten. Jetzt war von ſolchen Aufwallungen keine Rede mehr. Der
Czar wollte behaupten was er beſaß, und Metternich unterſagte gehorſam
die geheimen Begünſtigungen, welche Erzherzog Ferdinand von Eſte in
Galizien den vornehmen polniſchen Flüchtlingen bisher gewährt hatte.**)
Rußland erlangte, daß die drei Mächte einander ihren polniſchen Beſitz
nochmals verbürgten, und ſich gegenſeitig Hilfe im Falle von Aufſtänden,
auch die Auslieferung der wegen Hochverraths verfolgten Polen und die
Ueberwachung der Theilnehmer an dem letzten Aufruhr verſprachen. Wie
die Dinge lagen, ließ ſich der Vertrag für einige Jahre mindeſtens durch
die Noth entſchuldigen, da die Theilungsmächte alle drei durch die Um-
triebe der polniſchen Verſchwörer bedroht waren. Auf die Dauer mußte
dies Abkommen doch nur den Moskowitern Gewinn bringen; denn im
Völkerverkehre iſt der rohere Staat faſt immer im Vortheil, zwiſchen
Staaten von ganz verſchiedener Geſittung kann die Gegenſeitigkeit der
Rechte und Pflichten, die Vorbedingung alles Völkerrechtes ſelten beſtehen.
Daß ein preußiſcher Hochverräther in Rußlands freier Luft Zuflucht ge-
ſucht hätte, war bisher noch niemals vorgekommen; die Laſt der Aus-
lieferungspflicht ruhte mithin allein auf den Schultern der deutſchen
Mächte, und beide erſchienen vor der Welt wie dienſtfertige Gehilfen
Rußlands.
[332]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Höher als das Alles galt dem Czaren das Vorgehen der Oſtmächte
gegen das Bürgerkönigthum, und auch dieſen Herzenswunſch wollte ihm
Metternich gern erfüllen. Kaiſer Franz zeigte ſich über das Unweſen der
Pariſer Propaganda um ſo mehr aufgebracht, da Ludwig Philipp eben
jetzt ſich erdreiſtet hatte, die Hilfe Metternich’s gegen die zahlreichen Legi-
timiſten anzurufen, die ſich in Oeſterreich in der Nähe des vertriebenen
Königs Karl aufhielten. Daß die Unzufriedenen aller Länder auf die
ſtille Unterſtützung der Weſtmächte rechnen konnten, war ein öffentliches
Geheimniß; zahlreiche Demagogen bereiſten das Feſtland unter falſchen
Namen, mit engliſchen Päſſen; mehrere der Diplomaten aus Palmerſton’s
Schule, vornehmlich der hitzköpfige Lord Minto, verſammelten an den kleinen
Höfen die Oppoſitionsparteien um ſich. Wenn die Oſtmächte ſolchen Frie-
densſtörungen, zunächſt durch eine gemeinſame Beſchwerde in Paris, offen
entgegentreten wollten, ſo thaten ſie nur was ihnen zuſtand, und Frank-
reich ſelbſt konnte ihre Berechtigung nicht beſtreiten. Aber wie ließ ſich
mit dieſer Beſchwerde die ſchon in Schwedt beſprochene Erklärung gegen
die Nicht-Einmiſchungslehre des Julikönigthums angemeſſen verbinden?
Nikolaus vergaß oder wollte vergeſſen, daß er ſeinem Schwiegervater von
einem förmlichen Vertrage kein Wort geſagt hatte. Hier unter den Oeſter-
reichern fühlte er ſich freier und verlangte ein feierliches Manifeſt, das,
ähnlich wie einſt das Troppauer Rundſchreiben, der Welt die Heilslehre
des Einmiſchungsrechts verkünden ſollte. Was kümmerte es ihn in ſeiner
blinden Leidenſchaft, daß die Welt ſich ſeit dem Troppauer Congreß von
Grund aus verwandelt hatte, und man nicht mehr dem ſchwachen Neapel,
ſondern der fanatiſchen Kriegsbegierde der Radicalen Frankreichs gegen-
überſtand? Metternich aber ging auf den thörichten Vorſchlag ein; die
Furcht vor der italieniſchen Revolution und der glühende Wunſch, den
Czaren ganz für ſich zu gewinnen, ließen ihn der gewohnten Vorſicht völlig
vergeſſen. „Der Zuſtand Europas iſt unerträglich, man muß ein Ende
machen“, ſo ſagte er zu den Ruſſen, obgleich er einen Krieg im Ernſt
nicht wünſchte.
Nun ward ein förmlicher Vertrag verabredet: die drei Mächte be-
kennen ſich ausdrücklich zu dem Rechtsgrundſatze der Einmiſchung und
ſind „bereit, jederzeit ihre vereinte Macht aufzubieten um die rechtmäßige
Intervention zu unterſtützen“. Dieſen Vertrag wollte man ſodann ge-
meinſam dem franzöſiſchen Hofe vorlegen und zugleich in einer kurzen,
herriſchen Erklärung den Wunſch ausſprechen, „daß alle anderen Regie-
rungen fortfahren würden dieſe Grundſätze zur Richtſchnur ihres Han-
delns zu nehmen“. Unmittelbaren Vortheil für ſein Rußland konnte
Nikolaus von einem ſolchen Abkommen nicht erwarten; er wußte, daß die
Türkei damals noch nicht zu dem Gebiete des europäiſchen Völkerrechts
gerechnet wurde, und ſeine Verbündeten mithin auch nicht beabſichtigten,
ihre Einmiſchungslehre etwa zu Rußlands Gunſten im Oriente anzuwen-
[333]Verabredung über das Einmiſchungsrecht.
den.*) Der einzige Zweck des Vertrages war alſo eine Drohung gegen
Frankreich, eine Drohung, die im gegenwärtigen Augenblicke nur wie eine
muthwillige Friedensſtörung wirken konnte. Wenn die Regierung des
Bürgerkönigs im Gefühle ihrer Schwäche eine hohle revolutionäre Doctrin
aufgeſtellt hatte, ſo war es doch ſicherlich nicht geboten, ihr ein ebenſo hohles
legitimiſtiſches Dogma in verletzender Form entgegenzuhalten. Wurde der
Münchengrätzer Vertrag, wie er vorlag, in Paris bekannt, ſo vermochten
die Orleans den kriegeriſchen Leidenſchaften der Radicalen ſchwerlich mehr
zu widerſtehen und dann brach ein Weltkampf los, ein Krieg nicht um
irgend eine ernſte Machtfrage, ſondern um die leeren Schlagworte der
Revolution und der Legitimität. Wer darf ſagen, ob Nikolaus’ beſchränkter
Kopf alle dieſe Folgen überſah? Genug, der Czar erreichte ſeinen nächſten
Zweck und kehrte befriedigt heim, ohne das preußiſche Gebiet wieder zu
berühren. Seine ganze Reiſe hatte nur vier Wochen gewährt; ſie zeigte
vom Anfang bis zum Ende, daß ſie nicht einer klaren ſtaatsmänniſchen
Berechnung, ſondern einer jähen Despotenlaune entſprungen war. Die
Oeſterreicher freuten ſich inbrünſtig der wiederhergeſtellten Freundſchaft der
beiden Kaiſerhöfe, und noch nach Jahren ſchrieb Metternich, dieſe Tage von
Münchengrätz ſeien dem Kaiſer Franz eine der theuerſten Erinnerungen
ſeines langen Lebens geblieben.
Aber ſollte der König von Preußen ſich’s bieten laſſen, daß ſeine Ver-
bündeten über ſeinen Kopf hinweg, und in offenbarem Widerſpruche mit
den Schwedter Verabredungen, Verträge ſchloſſen? Sollte er durch leere
Drohungen einen Krieg heraufbeſchwören helfen, deſſen Gefahren man
nirgends beſſer kannte als in Berlin? Ueber den Zuſtand des gerühmten
ruſſiſchen Heeres wußte General Schöler wohl Beſcheid; immer wieder be-
richtete er ſeinem Hofe, wie verſtimmt die Offiziere ſeien über die furcht-
bare Härte des Czaren, über die Oede des Kamaſchendienſtes, über die
Unmaſſe der Disciplinarſtrafen; komme der Krieg, ſo werde das preußiſche
Heer ſich ohne Zweifel vollzähliger, kampfwilliger, ſchlagfertiger und nach-
haltiger zeigen als das ruſſiſche.**) Die Kaiſermächte ſchienen ſelbſt zu
fühlen, welche Zumuthung dem Könige geſtellt wurde und ſendeten daher
zwei ihrer beſten Diplomaten, Neſſelrode und Ficquelmont, nach Berlin
um die Zuſtimmung Preußens zu gewinnen. Ancillon jedoch empfing die
Beiden ſehr kühl: der Münchengrätzer Vertrag ſei dem Könige ebenſo neu
als unerwartet und drohe in die Zukunft der drei Mächte, ja Europas der-
maßen einzugreifen, daß die reiflichſte Erwägung geboten ſcheine.***) Die
Berliner Verhandlungen währten volle drei Wochen. Metternich verzehrte
ſich in Ungeduld; gegen ſeine Vertrauten ſchalt er wieder auf Preußens
[334]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Feigheit und ſchilderte den Staat, der ihm ſoeben durch die Stiftung
des Zollvereins ſeine Kraft erwieſen hatte, als ein erbärmliches Zwitter-
weſen, ein juste milieu zwiſchen den Mächten erſten und zweiten Ranges.*)
Der preußiſche Miniſter ließ ſich dadurch nicht anfechten; der König
und Bernſtorff ſtanden hinter ihm, und ſeine Friedensliebe ſelbſt erhöhte
ihm den Muth. Er nöthigte die beiden Unterhändler, die drei ſchärfſten
Artikel aus dem Münchengrätzer Vertrage zu ſtreichen. Was nunmehr
noch übrigblieb und am 15. October endlich unterzeichnet wurde, klang
noch immer thöricht genug, aber nicht mehr wie eine offenbare Drohung.
Die drei Mächte erkannten an, daß jeder Souverän das Recht habe, im
Falle innerer oder äußerer Gefahren die Hilfe eines anderen Souveräns
anzurufen, und keine dritte Macht dann befugt ſei die Einmiſchung zu
verhindern; ſie erklärten ferner: wenn eine von ihnen ſelbſt zur Ein-
miſchung aufgefordert und deshalb durch einen dritten Staat angegriffen
würde, dann müßten ſie alleſammt die Sache der angegriffenen Macht als
ihre eigene betrachten. Der alſo aufgeſtellte Grundſatz war nicht ganz ſo
vernunftwidrig wie die franzöſiſche Nicht-Einmiſchungslehre, aber ebenſo
wenig unanfechtbar; denn ſollte jedem ſouveränen Staate geſtattet ſein, nach
freiem Ermeſſen ſeinem Nachbarn Hilfe zu leiſten, ſo mußte folgerecht auch
jedem anderen Souverän unverwehrt bleiben, je nach Umſtänden dieſer
Einmiſchung entgegenzutreten. Immerhin hatte Preußen dem gefährlichen
Unternehmen die Spitze abgebrochen; das von dem Czaren ſo leiden-
ſchaftlich betriebene Werk zerfloß in doctrinäre Erörterungen über mögliche
Fälle der Zukunft. Zum Ueberfluß verpflichteten ſich die drei Mächte,
auf Preußens Verlangen, den Vertrag vorläufig tief geheim zu halten;
ihre Geſandten in Paris ſollten nur, wenn ſie ſich über die Propaganda
beſchwerten, gleichzeitig auch die vereinbarten Grundſätze über das Ein-
miſchungsrecht ausſprechen, ohne des Vertrages ſelber zu gedenken. Damit
ſchien jede Kriegsgefahr beſeitigt, und man mußte nur noch auf eine lebhafte
akademiſche Unterhaltung mit dem Pariſer Auswärtigen Amte gefaßt ſein.
Nikolaus machte gute Miene zum böſen Spiele und erklärte wieder-
holt ſein „Entzücken“ über die Berliner Berathungen.**) Mittlerweile
lernte Preußen noch einmal die Zuverläſſigkeit der Ruſſen kennen. Der
geheime Vertrag war kaum unterzeichnet, da richtete Neſſelrode ſchon, am
16. October, aus Berlin ein Rundſchreiben an die Geſandtſchaften bei
den kleinen Höfen und erzählte darin ganz unbefangen alles Weſentliche
aus den jüngſten Verhandlungen: der Grundſatz der Einmiſchung, ſo
ſchloß er, „entſpricht dem Intereſſe aller legitimen Regierungen“.***)
Offenbar wollte Rußland durch dieſe vorzeitige Nachricht, die unmöglich
[335]Erklärungen der Oſtmächte in Paris.
geheim bleiben konnte, den Streit verſchärfen, den franzöſiſchen Hof reizen.
Als der öſterreichiſche Geſchäftsträger v. Hügel am 30. October den Herzog
von Broglie aufſuchte um ihm die in Berlin verabredete Mittheilung zu
machen, fand er den Miniſter ſchon vorbereitet und überaus zurück-
haltend; der Franzoſe erklärte trocken, in der Schweiz und in Belgien
könne ſein König eine Intervention nicht dulden — was ſich im Grunde
von ſelbſt verſtand, da beide Länder als neutral anerkannt waren. Am
folgenden Tage ward aber Miniſterrath gehalten, und Ludwig Philipp
entſchied, daß man den Bogen nicht überſpannen dürfe. Pozzo di Borgo
und Werther wurden daher am 1. November ungleich beſſer empfangen,
der Preuße ſogar mit freundſchaftlicher Wärme; Broglie verſprach dem
Unweſen der Flüchtlingsvereine nach Kräften zu ſteuern und erhob auch
gegen die Einmiſchungslehre der Verbündeten nur wenige Einwendungen.*)
Alſo ſchien das große diplomatiſche Zugſtück mit einem Schwall
nichtsſagender Redensarten zu enden. Doch leider folgte noch ein häß-
liches Nachſpiel. Broglie konnte ſich’s nicht verſagen, in einem Rund-
ſchreiben an die Geſandtſchaften die drei Unterredungen mit doctrinärer
Selbſtgefälligkeit zu ſchildern. Schon die hochmüthige Sprache dieſes
Schriftſtückes mußte verletzen. Denn jedes Volk hat ſeine eigenen Fehler,
die ihm natürlich zu Geſichte ſtehen; bei den Germanen kann ſich der
Doctrinarismus mit harmloſer Gutmüthigkeit paaren, bei den Romanen
entartet er ſtets zu unleidlichem Tugendſtolze. Schlimmer war, daß der
tugendhafte Franzoſe ſelbſt Unwahrheiten nicht verſchmähte. Er behauptete,
geſagt zu haben, daß Frankreich auch in Piemont eine Einmiſchung nicht
dulden werde. Die drei Geſandten ſtellten dies übereinſtimmend in Ab-
rede; und nun begann ein lang anhaltender, widerwärtiger perſönlicher
Zank; ſogar der ſanftmüthige Ancillon beſchuldigte den Franzoſen der
Zweizüngigkeit und Charakterſchwäche.**) Das Ende war, daß Weſt und
Oſt einander noch lange höchſt gereizt gegenüberſtanden. Die Staats-
männer der Tuilerien redeten wieder viel von dem natürlichen Bunde
mit den kleinen Staaten der Nachbarſchaft und wollten nicht begreifen,
warum weder die deutſchen Fürſten noch der ſtrenge Legitimiſt Karl Albert
von Piemont ſich nach Frankreichs Schirmherrſchaft ſehnten. Auch Palmer-
ſton fühlte ſich beleidigt; er nannte das Auftreten der drei Mächte eine
Schilderhebung gegen die Verfaſſungsſtaaten und erlaubte ſich in ſeinen
geheimen Depeſchen grobe Ungezogenheiten, die, bald verrathen, neuen
Unmuth erregten. In Wien und Petersburg aber begann man nach
einiger Zeit halb widerwillig einzuſehen, daß Preußens Mäßigung die Welt
vor einer ernſten Gefahr bewahrt hatte. —
[336]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Der europäiſchen Politik der beiden Kaiſermächte widerſtand der
Berliner Hof zähe und nachhaltig, aber im Kampfe gegen die deutſche
Revolution fand er ſich mit der Hofburg wieder zuſammen. Der Frank-
furter Wachenſturm und was nachher noch von den Plänen der Radi-
calen entdeckt wurde ſchlug die Höfe mit Schrecken. König Wilhelm von
Württemberg meinte den Boden unter ſeinen Füßen verſinken zu ſehen,
als die Ludwigsburger Soldatenverſchwörung an den Tag kam; auf die
Treue ſeiner Truppen hatte er ſich immer ſo feſt verlaſſen. In der erſten
Angſt befürchtete er einen allgemeinen ſüddeutſchen Aufruhr und wendete ſich
nach Wien um Hilfe. Darauf, im Mai 1833, überbrachte Fürſt Lichnowsky
den Höfen von Stuttgart und Karlsruhe die vertrauliche Mittheilung, daß
man ein öſtereichiſches Corps an der Weſtgrenze bereitſtellen werde um im
Nothfall die Ruhe des deutſchen Südens zu ſchützen.*) Aber auch nur
im äußerſten Nothfall. Metternich hoffte mit ſanfteren Mitteln auszu-
reichen und ſendete dem Könige zunächſt eine lehrhafte Denkſchrift, die ſchon
auf die Möglichkeit „einer heilſamen Reform“ der Landesverfaſſungen hin-
deutete und ſich ſogar zu einer neuen Metapher aufſchwang: da die Peſt
und der Krebs allmählich verbraucht waren, ſo verglich der beſorgte poli-
tiſche Arzt diesmal die Revolution mit der Influenza.
An den Höfen erfuhr man bald, daß der Staatskanzler einen neuen
großen Schlag in der Bundespolitik vorbereite. Als er ſich im Juli nach
ſeinem Schloſſe Königswart begeben hatte, ſprach eine ſtattliche Schaar
ſtrebſamer Diplomaten bei ihm vor; die einen wollten horchen, andere unter-
breiteten dem Miniſter ihre Vorſchläge zur Rettung Deutſchlands. Unter
dieſen Gäſten war auch Blittersdorff, der in einer Denkſchrift darſtellte,
wie der Bundestag fortan in dem Kampfe gegen „das conſtitutionelle
Princip“ die Führung übernehmen, überall, auch in der europäiſchen
Politik thätiger auftreten und folglich, damit die Nation ihre Centralgewalt
verſtehe, ſeine Verhandlungen zum Theil veröffentlichen müſſe. Der Oeſter-
reicher aber wußte nur zu wohl, was die Frankfurter Verſammlung leiſten
konnte; er hoffte gerade durch Umgehung des Bundestags ſein Ziel zu
erreichen, und empfahl daher, als er im Auguſt zu Teplitz mit Ancillon
zuſammentraf, die Berufung einer neuen Miniſterconferenz, nach dem
Karlsbader und Wiener Vorbilde. Der preußiſche Miniſter ging auf dieſen
Vorſchlag, den ſein Vorgänger vor zwei Jahren ſo entſchieden abgewieſen,
jetzt mit Freuden ein, denn die Thorheiten der Radicalen in Hambach und
Frankfurt hatten auch ihn tief erſchreckt; doch hielt er feſt an dem Grund-
ſatze Bernſtorff’s, daß man neuer Bundesgeſetze nicht bedürfe, ſondern nur
über die kräftige Handhabung der beſtehenden Geſetze ſich verabreden müſſe.
Die beiden Staatsmänner entwarfen dann ſelbander ein Rundſchreiben
an die deutſchen Höfe, das von Ancillon ſofort, ſchon am 24. Aug., von
[337]Die Wiener Miniſterconferenzen.
Metternich erſt nach der Münchengrätzer Zuſammenkunft am 5. October
abgeſendet wurde. Das Circular lud die leitenden Miniſter der größeren
Bundesſtaaten zu einer Beſprechung ein, um „den immer drohender wer-
denden Uebeln der Zeit“ zu begegnen, und ſprach die beſtimmte Meinung
aus, daß dazu die gehörige Anwendung der beſtehenden Bundesgeſetze
genügen werde. Sobald dieſe Einladung ruchbar ward, witterten die
Liberalen ſogleich wieder Petersburger Umtriebe, und Palmerſton, der eben
damals den Frankfurter Senat gegen den Bundestag aufwiegelte, ver-
ſicherte mit leichtfertiger Dreiſtigkeit, dieſe deutſchen Miniſterconferenzen
ſeien ebenſo ſehr ein ruſſiſches als ein öſterreichiſches Werk. Möglich
immerhin, daß Metternich in Münchengrätz ſeine Pläne mit dem Czaren
beſprochen hat, da er ſein Rundſchreiben ſo auffällig ſpät abſendete;
Preußen aber erließ ſeine Einladung noch bevor Nikolaus den deutſchen
Boden betreten hatte. Auch an den Conferenzen ſelbſt nahm die ruſſiſche
Diplomatie nicht einmal mittelbar irgend einen Antheil; erſt nach dem
Schluſſe der Berathungen empfing der Czar eine Mittheilung über die
Ergebniſſe, was ſich unter ſo nahe befreundeten Höfen von ſelbſt verſtand.*)
Die Spitze der geplanten Miniſter-Verſammlung war offenbar gegen die
Landtage gerichtet, obgleich auch die beiden anderen Lieblinge der Hofburg,
die Univerſitäten und die Zeitungen wieder ihr Theil erhalten ſollten;
denn da die revolutionären Verſchwörungen der jüngſten Zeit ſich faſt aus-
ſchließlich im conſtitutionellen Deutſchland zeigten, ſo ſchloß Metternich,
daß ſie in dem Repräſentativſyſteme ihre Wurzeln hätten, und hoffte,
durch eine verabredete gemeinſame Politik der Höfe die neuen Verfaſſungen,
die man doch nicht mehr beſeitigen konnte, mindeſtens in ihrer Wirkſam-
keit zu hemmen.
Die kleinen conſtitutionellen Regierungen durchſchauten dieſen Plan
und geriethen wieder einmal in rathloſe Verlegenheit; Schutz gegen ihre
Landtage wünſchten ſie alleſammt, aber vor einem Bruche ihres Ver-
faſſungseides ſchraken die meiſten zurück, und ihre Souveränität wollten ſie
ſich nicht durch den Bund beſchränken laſſen. Sie fühlten ſich um ſo mehr
beängſtigt, da ſie über den Zweck der Conferenz durchaus keinen ſicheren
Aufſchluß erlangen konnten. Das wollen wir von Euch erfahren, ant-
wortete man in Wien wie in Berlin; die conſtitutionellen Miniſter ſollen
ihre Klagen über die Mißſtände des Repräſentativſyſtems vorbringen, dann
wird beſchloſſen werden, wie dem Uebel abzuhelfen ſei. Als der ſächſiſche
Miniſter Lindenau im Herbſt in Geſchäften des Zollvereins den Münchener
und den Stuttgarter Hof beſuchte, fragte er zugleich vertraulich an, was
wohl auf den Conferenzen zur Beſchützung der Landesverfaſſungen geſchehen
könne. Man kam jedoch zu keiner Vereinbarung, da die Anſichten über
die unlösbaren Räthſel des Bundesrechts, zumal über die rechtmäßigen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 22
[338]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Grenzen der Bundesgewalt allzuweit auseinander gingen, und beruhigte
ſich ſtillſchweigend bei der angenehmen Erwartung, daß im Deutſchen
Bunde niemals ein wirkſamer Beſchluß zu Stande kommen könne. Dieſe
Hoffnung ſprach der hannoverſche Bundesgeſandte Stralenheim im Namen
ſeiner wohlmeinenden Regierung ſehr aufrichtig aus: wenn man nur die
Großmächte nicht reize, ſondern „dilatoriſch“ verfahre, ſo würden die Landes-
verfaſſungen wohl unerſchüttert und die neue Wiener Miniſterverſammlung
ebenſo ergebnißlos bleiben wie einſt die alte vom Jahre 1820.*)
Inzwiſchen hielt Metternich doch für nöthig, ſich mindeſtens der Zu-
ſtimmung des Münchener Hofes zu verſichern, der ſo oft ſchon durch ſeine
Vorbehalte die Bundespolitik der Hofburg erſchwert hatte; und wieder,
wie vor neun Jahren bei der Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe,
glückte es ihm den König von Baiern zu einer perſönlichen Zuſammen-
kunft zu bewegen. Als er im October zu Linz mit König Ludwig zu-
ſammentraf, fand er freundliches Entgegenkommen. Der König war noch
immer erbittert über ſeinen unbotmäßigen Landtag und erklärte ſich gern
bereit „das monarchiſche Princip“ in den Landesverfaſſungen zu verſtärken;
nur wollte er — und dies war auch Preußens Wunſch — die Conferenz
lieber in Prag oder Linz als in Wien zuſammentreten ſehen.**) Der
Staatskanzler aber konnte ſich nicht auf ſo lange Zeit von ſeinem Amte
entfernen, und ſo erlebte denn Kaiſer Franz im Januar 1834 die Genug-
thuung, daß ſich die leitenden Staatsmänner Deutſchlands als Vertreter
der ſiebzehn Stimmen des engeren Rathes, wie wenn er ihr Kaiſer wäre,
in ſeiner Hofburg einfanden. Zu einem fröhlichen reaktionären Staats-
ſtreiche Karlsbader Stiles war die Zeit freilich nicht angethan; denn mehr
als eine Verſtändigung über conſervative Gemeinplätze hatte Metternich
in Linz nicht erreicht, und da er ſelber keinen beſtimmten Plan verfolgte,
ſondern lediglich, ohne die Mittel und Wege zu überſehen, die unheimliche
Macht der kleinen Landtage eindämmen wollte, ſo konnte es nicht fehlen,
daß die Kraft der Trägheit, der Particularismus und die Verfaſſungstreue
der conſtitutionellen Höfe ſeinem Unternehmen bald den Stachel nahmen.
Die Parteiſtellung geſtaltete ſich diesmal anders als auf der erſten
Wiener Conferenz vor vierzehn Jahren. Metternich ſelbſt war durch die
Niederlagen der letzten Jahre, nach überſtandenem erſtem Schrecken, nicht
gebeugt, ſondern nur in ſeiner Selbſtgerechtigkeit beſtärkt worden. Alles
hatte er vorher gewußt, Alles vorausgeſagt. Erfroren in Dünkel blickte
er auf die kleinen Sterblichen nieder und ſagte zu Varnhagen, als dieſer
ihm ſeine unterthänige Aufwartung machte: ich bin der Mann der Wahr-
heit, ſeit fünfundzwanzig Jahren habe ich nichts zu bereuen. Mit ſeinem
Amte war er jetzt ſo feſt verwachſen, daß er den Fall ſeines Rücktrittes
[339]Die Conſervativen auf der Conferenz.
geradehin für unmöglich erklärte. In der Stille gewann ſeine dritte Ge-
mahlin Gräfin Melanie Zichy große Macht über den Alternden, eine
ſchöne, feurige junge Dame, die ihre ſtreng legitimiſtiſche Geſinnung her-
ausfordernd zur Schau trug und durch ihr beleidigendes Betragen gegen
den franzöſiſchen Geſandten zuweilen den Gatten ſelbſt in Verlegenheit
brachte. Sie vergötterte ihren Clemens und hielt ihn für den Retter
der Welt; ſie entdeckte ſogar, was noch kein anderer Sterblicher bemerkt
hatte, eine auffällige Geſinnungsverwandtſchaft zwiſchen ihrem Gemahl und
dem Apoſtel Paulus. Unter der Leitung dieſer ſanften Hände wurde
Metternich unvermerkt den clericalen Anſichten näher geführt. Er gedachte
wieder mit Stolz ſeines Vorfahren, jenes trierſchen Kurfürſten Lothar,
der einſt die katholiſche Liga mitbegründet hatte, und aller der anderen
kirchlichen Erinnerungen ſeines alten Domherrengeſchlechts. Obwohl er
das Weltkind des achtzehnten Jahrhunderts nie ganz verleugnen konnte,
ſo ließ er ſich’s doch wohl gefallen, daß jetzt ſtatt des Kantianers Gentz
der Renegat Jarcke das Scepter ſchwang unter den Publiciſten der Hof-
burg. Je mehr er ſich in ſeinen hochconſervativen Anſchauungen ver-
härtete, um ſo ſichtlicher ſchwand auch jener Zauber beſtrickender Liebens-
würdigkeit, dem er einſt ſo große diplomatiſche Erfolge verdankt hatte. Der
ſchwerhörige alte Herr, der allen Einwürfen unzugänglich, immer nur in
ſtrengem Docententone dieſelben Gedanken wiederholte, verblüffte die Neu-
linge durch ſeine feierliche Würde, und Niemand beſtritt ihm den Ruhm
des Neſtors der europäiſchen Diplomatie; zu gewinnen, zu überreden ver-
mochte er nur noch ſelten.
Unter allen Mitgliedern der Conferenz ſtand Ancillon der Hofburg
am nächſten. Wie ſtolz fühlte er ſich, als er in die Verſammlung ein-
trat und ihr ſalbungsvoll zurief: „die Augen von Deutſchland und ganz
Europa ſind auf uns gerichtet.“ Mit allgemeiner Verehrung wurde er
aufgenommen, denn von dem neueſten glänzenden Erfolge der preußiſchen
Politik, der Gründung des Zollvereins, fiel ein Wiederſchein auf ſein un-
ſchuldiges Haupt zurück. Er blieb nur ſechs Wochen in Wien, weil die
Amtsgeſchäfte ihn heimriefen; die übrigen vier Monate hindurch vertrat
ihn, da man den der Hofburg ſo tief verhaßten Eichhorn nicht zu ſenden
wagte, der Geheime Juſtizrath Graf Alvensleben, ein tüchtiger Juriſt von
gemäßigt conſervativer Geſinnung, aber erklärter Anhänger Oeſterreichs
und darum von Wittgenſtein dem Könige empfohlen.*) Die Wahl war
ein arger Mißgriff; denn als ein Beamter mittleren Ranges und ſtreng
an ſeine Inſtruktionen gebunden, durfte Alvensleben nicht wagen, gegen
Metternich ſo ſelbſtändig wie vormals Bernſtorff aufzutreten. Im Uebrigen
war Preußens Stellung durch ein faſt unentrinnbares tragiſches Ver-
hängniß vorgezeichnet. Wie einſt die Hohenſtaufen, eingepreßt zwiſchen
22*
[340]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
der römiſchen Curie und der wuchernden Fülle der deutſchen Territorial-
gewalten, ſich gezwungen ſahen das Fürſtenthum gegen die Städte zu be-
günſtigen, ſo mußten die Hohenzollern jetzt den Liberalismus bekämpfen.
Der preußiſche Hof wollte gegen Rußlands Wünſche ſeine verſtändige
europäiſche Friedenspolitik weiterführen, ohne das unentbehrliche Bündniß
der Oſtmächte zu zerſprengen; er wollte gegen Oeſterreichs Willen die
praktiſche deutſche Einheit, den Zollverein aufrechthalten, ohne den für
jetzt ebenfalls unentbehrlichen Deutſchen Bund zu zerſtören; und wie
konnte er dieſe zweifache ſchwierige Aufgabe löſen, wenn er nicht in den
armſeligen Händeln der zur Polizei herabgeſunkenen Bundespolitik dem
Wiener Hofe einiges nachgab? An den Liberalen, den Feinden des Zoll-
vereins, den Freunden Polens fand er keine Stütze. Genug, Alvensleben
ging mit Metternich und Münch, der als einziger Vertreter des Bundes-
tages den Conferenzen beiwohnte, meiſt zuſammen. Nur zu offenbarem
Verfaſſungsbruch verweigerte er ſeine Mitwirkung; ſelbſt die in Metter-
nich’s Augen ſchlechthin verwerfliche Oeffentlichkeit der Landtage wollte
der preußiſche Hof nur beſchränken, nicht beſeitigen, da ſie einmal in den
neuen Staatsgrundgeſetzen zugeſtanden ſei.*)
Unter den Miniſtern der kleinen Staaten that ſich du Thil durch
ſeinen monarchiſchen Feuereifer hervor; ſchwer gereizt durch den Ueber-
muth des letzten Landtags hatte er die kühnſten Aeußerungen ſeiner Darm-
ſtädter Abgeordneten in einem Verzeichniß zuſammengeſtellt und hoffte,
die Conferenz werde dieſen Syllabus liberaler Irrlehren feierlich ver-
dammen. Auch der däniſche Miniſter Reventlow-Criminil dachte ſtreng
conſervativ wie der Bundesgeſandte Pechlin und König Friedrich VI. ſelbſt.
Als während der Wiener Conferenz die neuen, wahrlich ſehr beſcheidenen
däniſchen Provinzialſtände eingeführt wurden, hielt der Kopenhager Hof
für nöthig den deutſchen Mächten ausdrücklich zu verſichern: es ſei „der
beſtimmte Wille Sr. Majeſtät, das monarchiſche Princip in allen Stücken
unverletzt aufrechtzuhalten und weder in der Geſetzgebungsgewalt noch im
Beſteuerungsrechte etwas von den Befugniſſen der Krone aufzugeben“;
er habe „demgemäß den übertriebenen Beſchränkungsplänen gegen die ſou-
veräne Macht, die unſere Zeit ſo gefahrvoll für die Ruhe der Völker be-
zeichnen, Schranken geſetzt.“**) Miniſter v. Berg folgte dem Vertreter des
befreundeten däniſchen Hofes unbedenklich, da Oldenburg noch keine Ver-
faſſung beſaß. Auf ſeinen alten Vertrauten, den Mecklenburger Pleſſen
durfte Metternich immer zählen, und ſogar Bürgermeiſter Smidt von
Bremen hielt ſich jetzt zu der öſterreichiſchen Partei, weil die Handels-
politik der Hanſeaten den werdenden preußiſchen Zollverein mit Hilfe der
[341]Die Liberalen auf der Conferenz.
Hofburg noch zu zerſprengen hoffte. Aus ähnlichen Gründen, um ſich
die Gunſt der Großmächte für die belgiſchen Händel zu ſichern, folgte der
Vertreter Luxemburgs, Verſtolk van Soelen dem Banner Oeſterreichs;
was kümmerten auch den Holländer die deutſchen Verfaſſungsfragen?*)
Dieſen acht conſervativen Stimmen trat eine Mehrheit von neun
Conſtitutionellen entgegen, eine buntgemiſchte Partei, einig nur in dem
Entſchluſſe, Alles zu vermeiden was daheim zu einer Miniſteranklage
führen konnte. Voran ſtand Baiern, das anfangs durch Giſe, nachher
ſehr geſchickt durch den Miniſter v. Mieg vertreten wurde. Beide Staats-
männer mußten ihrem Könige in tiefem Geheimniß, hinter dem Rücken
des Miniſterrathes, Bericht erſtatten und empfingen von ihm die gemeſſene
Weiſung, die Selbſtändigkeit ſeines „Reiches“ vor jedem Eingriff zu be-
wahren.**) Etwas behutſamer trat der Badener Reizenſtein für den Be-
ſtand der Landesverfaſſungen ein und gerieth deßhalb mit ſeinem alten
Gegner du Thil oft in Streit; die alte freundnachbarliche Geſinnung der
Badener und der Heſſen machte ſich in dieſen Händeln Luft.***) Der
Führung Reizenſtein’s fügten ſich in der Regel der Sachſe Minckwitz und
der Württemberger Beroldingen, obgleich beide perſönlich den Anſichten
Metternich’s nahe ſtanden; desgleichen Ompteda aus Hannover, Trott aus
Kurheſſen und der Vertreter der Allerkleinſten, v. Strauch. Daß der geiſt-
reiche Thüringer Fritſch, Metternich’s Widerſacher von Karlsbad her, in
dieſem Kreiſe nicht fehlte, verſtand ſich von ſelbſt. Sogar auf das allzeit
getreue Naſſau konnte die Hofburg ſich nicht mehr verlaſſen, da Marſchall
vor Kurzem geſtorben war und Ompteda vorläufig die naſſau-braunſchwei-
giſche Curiatſtimme führte. Im Vertrauen ward ſchon der Plan eines
Sonderbundes der conſtitutionellen Staaten beſprochen: natürlich ohne
Erfolg, weil man doch nur im ängſtlichen Verneinen übereinſtimmte.
Bei ſolchem Gleichgewicht der Parteien mußte die Conferenz von Haus
aus unfruchtbar bleiben. Am 13. Januar eröffnete Metternich die Be-
rathungen und erklärte in pathetiſcher Anſprache: vor vierzehn Jahren ſei
der Bund ausgebildet worden, jetzt gelte es ihn zu erhalten. Darauf
folgte das wohlbekannte Schauergemälde der deutſchen Zuſtände: „Aus den
Stürmen der Zeit iſt eine Partei entſproſſen, deren Kühnheit wenn nicht
durch Entgegenkommen ſo doch durch Nachgiebigkeit bis zum Uebermuth
geſteigert iſt. Wenn nicht bald dem überfluthenden Strome ein rettender
Damm entgegengeſetzt wird, ſo könnte in Kurzem ſelbſt das Schattenbild
einer monarchiſchen Gewalt in den Händen mancher Regenten zerfließen.“
Zwiſchen dem monarchiſchen Princip der Bundesverfaſſung und der mo-
dernen, unter den Formen des Repräſentativſyſtems verhüllten Idee der
[342]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Volksſouveränität beſtehe ein Zwieſpalt, der beſeitigt werden müſſe; darum
ſolle man offen die Frage beantworten, „was in Beziehung auf die Ge-
fahren der Zeit der Bund in Zukunft von den deutſchen Regierungen
und was dieſe vom Bunde zu erwarten haben.“ Oeſterreich ſtellte alſo
keinen Antrag, ſondern nur eine Frage. Um die ſchwierige Antwort zu
finden, vergrub ſich die Conferenz dritthalb Monate hindurch im Dunkel
ihrer Commiſſionsſitzungen. Das Geheimniß ward ſo ſtreng gewahrt,
daß ſelbſt die in Wien beglaubigten Geſandten der deutſchen Höfe nichts
über die Berathungen der Miniſter erfuhren; von den Protokollen erhielt
jeder der ſiebzehn Bevollmächtigten nur ein Handexemplar, jedes deutſche
Cabinet einen zweiten Abdruck.
Als die Conferenz am 26. März ihre zweite Sitzung hielt, konnten
die Commiſſionen nur ſehr dürftige Ergebniſſe ihrer tiefgeheimen Arbeiten
vorlegen, und erſt nach neuen, überaus peinlichen Verhandlungen wurden
27 Artikel über die Landtage vereinbart. Der urſprünglichen Abſicht zu-
wider gelangte man zu der Einſicht, daß ohne neue Bundesgeſetze nicht
auszukommen ſei, und um die ewigen Streitigkeiten über die Auslegung
der Landesverfaſſungen oder über die Grenzen der ſtändiſchen Rechte endlich
abzuſchneiden, beſchloß man ein Bundesſchiedsgericht einzuſetzen. Jede
der ſiebzehn Stimmen des engeren Rathes ſollte zwei Spruchmänner er-
nennen, aus dieſen hatten dann gegebenen Falles die ſtreitenden Parteien
je drei Richter und der Bundestag einen Obmann auszuwählen. Es
geſchah zum erſten male, daß der Deutſche Bund ſich zur Errichtung einer
dauernden Bundesbehörde aufraffte. Aber der offenbar wohlgemeinte, von
Alvensleben mit großem Fleiße ausgearbeitete Plan litt an einem un-
heilbaren Gebrechen: wie die Spruchmänner allein von den Regierungen
ernannt wurden, ſo ſollten auch die Regierungen allein berechtigt ſein,
vom Bundestage die Einberufung des Bundesſchiedsgerichts zu verlangen,
die Landſtände durften höchſtens darum bitten. Die mißtrauiſche öffent-
liche Meinung mußte alſo glauben, das neue Tribunal ſei grundſätzlich
parteiiſch, ſei lediglich beſtimmt, die Kronen gegen die Landſtände, nicht
auch die Verfaſſungen gegen die Fürſten zu beſchützen. Zur allgemeinen
Verwunderung verlangte Baiern, das früherhin immer jede Bundesge-
richtsbarkeit bekämpft hatte, jetzt ſogar die Einſetzung eines Bundescom-
promißgerichts für die Zwiſtigkeiten zwiſchen den Bundesſtaaten. Doch
der particulariſtiſche Trotz widerſtrebte, und man gelangte nur zu dem
matten Beſchluſſe, daß den Bundesgliedern frei ſtehen ſolle ihre nach-
barlichen Streitigkeiten vor dem neuen Bundesſchiedsgerichte auszutragen.
Darauf folgten Beſtimmungen über die landſtändiſchen Rechte —
einige verſtändig, andere willkürlich, alle aber ausgezeichnet durch jene
unklare, viel oder nichts ſagende Form, welche der Bundesgeſetzgebung
eigenthümlich blieb; denn da nur einſtimmige Beſchlüſſe gefaßt werden
durften, ſo war immer im Vortheil, wer den dehnbarſten Ausdruck vor-
[343]Das Bundesſchiedsgericht.
ſchlug. Da hieß es: „Die Regierungen werden nicht geſtatten, daß die
Stände über die Giltigkeit der Bundesbeſchlüſſe berathen und beſchließen.“
Metternich wollte den Kammern ſchlechterdings verbieten, über Bundes-
angelegenheiten auch nur zu reden; aber Reizenſtein widerſtand, obgleich
ſeine ängſtliche Regierung ſelber dies Recht ihrem Landtage erſt vor Kurzem
abgeſprochen hatte.*) Auch eine ſtrenge Staatsdienerpragmatik für die
deutſchen Beamten, wie ſie Metternich längſt wünſchte, ließ ſich nicht er-
reichen; die Conferenz beſchloß nur, daß Beamte nicht ohne Urlaub in die
Landtage eintreten ſollten. Ebenſo wenig war eine unzweideutige Vor-
ſchrift über die Civilliſten durchzuſetzen. Seit einigen Jahren hatte ſich
die hochconſervative Partei den Haller’ſchen Lehrſatz angeeignet, daß alles
fürſtliche Einkommen nur aus Grundbeſitz fließen dürfe, und in Heſſen
bemühte ſich Prinz Emil ſogar die Domanialverwaltung nach dem alt-
hannoverſchen Vorbilde von den Staatsfinanzen gänzlich abzutrennen, was
ſelbſt du Thil unverſtändig fand; aber da Geiſt und Wortlaut einiger
Landesverfaſſungen ſich mit ſolchen Wünſchen ſchlechterdings nicht ver-
trugen, ſo begnügten ſich die verſammelten Miniſter mit der harmloſen
Weiſſagung: „die Souveräne werden ſich bemühen zu bewirken, daß die
Civilliſten auf Domanialgefälle gegründet werden“ u. ſ. w. Faſt ebenſo
unwirkſam war der an ſich wohlberechtigte Beſchluß: „die Regierungen
werden einer Beeidigung des Militärs auf die Verfaſſung nirgends und
zu keiner Zeit ſtattgeben;“ ſelbſt der kurheſſiſche Miniſter ſtimmte ver-
gnüglich zu, denn er meinte, ſolche Sätze hätten keine rückwirkende Kraft
und könnten alſo den in Heſſen bereits eingeführten Verfaſſungseid der
Truppen nicht berühren. Auch die Artikel über die Oeffentlichkeit und die
Redefreiheit der Landtage ſagten im Grunde nur, daß die Regierungen
für die nöthigen Beſchränkungen ſorgen ſollten.
Selbſt über das Steuerbewilligungsrecht, das den verſammelten
Miniſtern beſonders gefährlich ſchien, wagte man nur einige geſchraubte
Sätze aufzuſtellen, welche für eine gewiſſenhafte conſtitutionelle Regierung
nichts bedeuteten, einer gewiſſenloſen aber leicht die Handhabe zu Staats-
ſtreichen bieten konnten. Der eine Satz ſchien zu ſagen, daß die Landſtände
eine bereits erfolgte Ausgabe nicht für ungiltig erklären dürften; aber der
Nachſatz ließ ihnen den „nach der Verfaſſung zuläſſigen Weg“ offen und hob
mithin den Vorderſatz wieder auf. Kam ein Budget nicht zu Stande,
dann ſollte das Bundesſchiedsgericht eintreten; aber auch dies war ein
Schlag in’s Waſſer, denn wer konnte die Regierungen zwingen beim Bun-
destage die Einberufung des Schiedsgerichts zu verlangen? Unter allen
den traurigen Leiſtungen der Bundesgeſetzgebung gerieth dieſer erſte Ab-
ſchnitt der Wiener Conferenzbeſchlüſſe unzweifelhaft am kläglichſten; in
dem planloſen Durcheinander dilettantenhafter ſtaatsrechtlicher Grundſätze
[344]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
verrieth ſich überall der ſtille Wunſch nach Durchlöcherung der Landes-
verfaſſungen, aber auch die Angſt vor offenbarem Eidbruch. Es war ein
häßliches Spiel mit Treu und Glauben, und zugleich ein ſchwerer poli-
tiſcher Fehler in einer Zeit radicaler Leidenſchaften, wenn Deutſchlands
Fürſten hinter dem Rücken ihrer Landtage ſich über Auslegung und Hand-
habung ihrer beſchworenen Landesverfaſſungen zu vereinbaren ſuchten. Mit
reinem Gewiſſen und ohne ſtillen Vorbehalt konnte keiner der conſtitutio-
nellen Miniſter dieſe Artikel unterſchreiben; am wenigſten der kurheſſiſche,
denn ſeine Landesverfaſſung war die einzige in Deutſchland, die der neuen
franzöſiſchen Charte nahe ſtand, und keine Kunſt der Auslegung vermochte
ſie mit den Wiener Beſchlüſſen in Einklang zu bringen.
Ein zweiter Abſchnitt von zehn Artikeln gab Vorſchriften über die
Cenſur, forderte für die Herausgabe neuer Zeitungen eine beſondere Er-
laubniß — was den Vorſchriften der ſächſiſchen und der kurheſſiſchen Ver-
faſſung gradeswegs zuwiderlief — und erlaubte jedem Staate, die von
anderen Bundesgliedern bereits cenſirten Schriften noch einmal zu cen-
ſiren oder auch zu verbieten. So ward dafür geſorgt, daß kein gefährlicher
Schriftſteller jemals durchſchlüpfen konnte. Die deutſchen Buchhändler
aber, die jetzt nochmals um Schutz gegen den Nachdruck baten, ſpeiſte die
Conferenz mit einem leeren, auf die Zukunft vertröſtenden Artikel ab.
Vorläufig blieb es dabei, daß die Reutlinger Nachdrucker unter dem Schutze
der Krone Württemberg die Leipziger großen Verleger beſtahlen, ihre Raub-
waare durch die armen Hauſirer von der Rauhen Alp auf dem flachen
Lande verbreiten ließen und mit dieſen ahnungsloſen Helfershelfern auf
der Nachdrucker-Meſſe, dem berüchtigten „Ehninger Krämercongreß“ regel-
mäßige Abrechnung hielten.
Dem dritten Abſchnitt — über die Univerſitäten — lag jener hanno-
verſche Antrag zu Grunde, der vor drei Jahren am Bundestage ſo viel
Verwunderung erregt hatte.*) Einige der Vorſchläge Hannovers wurden
als allzuhart beſeitigt; was übrig blieb war immerhin noch arg genug.
Mit philiſterhafter Kleinmeiſterei verſuchte die Conferenz durch ſiebzehn
Artikel das Leben der Studenten bis in’s Einzelne zu regeln; namentlich
das Reiſen ward ihnen auf’s Aeußerſte erſchwert, der Württemberger Berol-
dingen dachte ſelbſt die üblichen akademiſchen Spritzfahrten in die Um-
gegend der Univerſitätsſtädte nur nach eingeholtem Segen der Obrigkeit
zu erlauben. Es war, als ob man die jungen Leute zur Selbſtüber-
hebung zwingen wollte; wie wichtig mußten ſie ſich ſelber vorkommen,
wenn ihnen jetzt nach dem Frankfurter Attentate einige Zeit lang ſogar
das Uebernachten in der Bundesſtadt verboten wurde.
Als Anhang folgte noch ein Artikel, der die Aktenverſendungen in
Criminalfällen unterſagte — weil die Tübinger Facultät kürzlich ein ſehr
[345]Beſchlüſſe über Cenſur und Univerſitäten.
mildes Urtheil über einige Demagogen gefällt hatte.*) Manche andere
Wünſche der reaktionären Heißſporne mußten unberückſichtigt bleiben; wie
hätte man auch einen einhelligen Beſchluß über die Beſchränkung der
Schwurgerichte oder ähnliche Vorſchläge durchſetzen können.
Auch die Mediatiſirten, die in Süddeutſchland, zumal in Baden und
Württemberg, guten Grund zur Klage hatten, klopften vergeblich an die
Thüre der Conferenz. Sie verlangten in einer Eingabe (1. Febr. 1834)
die ihnen früher verſprochenen Curiatſtimmen am Bundestage, ferner
eine authentiſche Interpretation des Art. 14 der Bundesakte, endlich ein
ſelbſtändiges Tribunal, das ihnen die dort verheißenen Rechte ſichern ſollte.
Preußen hatte dieſen mediatiſirten Herren immer jene Großmuth, welche
dem Starken ziemt, erwieſen. Der Kronprinz war ihr treuer Gönner.
Er hielt für Ehrenpflicht aller früheren Reichsſtände, „den als Opfer der
Gewalt und Habſucht gefallenen ehemaligen Mitſtänden“ freundlich ent-
gegenzukommen, und wünſchte geradezu, daß einige Gebiete der Mediatiſirten
— nicht ihre neuen Entſchädigungslande, wohl aber „die Länder, welche ſo
lange deutſche Geſchichte reicht, von demſelben Hauſe regiert wurden — als
wahre Mediat-Fürſtenthümer oder -Grafſchaften nach unſeren Landesgeſetzen
von ihren alten Landesherren als Lehensträgern unſerer Krone, nicht als
Unterthanen“ beherrſcht werden ſollten.**) Ganz ſo weit, bis zur Bildung
kleiner Staaten im Staate, wollte das nüchterne preußiſche Beamtenthum
freilich nicht gehen; immerhin gewährte die königliche Inſtruktion vom
30. Mai 1820 dem hohen Reichsadel eine angeſehene Stellung, die ihm
billigerweiſe genügen konnte, und obgleich es auch in Preußen nicht an
Beſchwerden fehlten, ſo hegte er doch ein gutes Zutrauen zu der Gerech-
tigkeit der Hohenzollern.
Zehn der mediatiſirten Fürſten und Grafen wendeten ſich daher noch
vor Eröffnung der Conferenz an König Friedrich Wilhelm und beſchworen
ihn, ihr in der That wohlberechtigtes Geſuch zu unterſtützen. Der König
war auch nicht abgeneigt und antwortete freundlich; doch eine feſte Zuſage
konnte er nicht geben, weil die in der Bundesakte verheißenen Curiat-
ſtimmen den Mediatiſirten nur durch einſtimmigen Beſchluß gewährt werden
durften. Mit Sicherheit ließ ſich vorherſehen, daß der mediatiſirte Reichs-
adel, der ſich auf den Landtagen ſtets ſo ſtreng conſervativ gehalten hatte,
am Bundestage für die beiden Großmächte ſtimmen würde; ebendeßhalb
waren ſeine alten Feinde, die ſüddeutſchen Mittelſtaaten feſt entſchloſſen das
Verſprechen der Bundesakte nicht einzulöſen.***) Zum Unglück führte über-
[346]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
dies in Wien der fanatiſche Feudale Prinz Conſtantin Löwenſtein das Wort
für ſeine Standesgenoſſen. Er verſicherte ungeſcheut: wenn in dem Gebiete
eines mediatiſirten Herrn noch die Folter beſtünde, ſo könnte ſie durch ein
Geſetz des neuen Landesfürſten nicht aufgehoben werden — und brachte
durch ſeine maßloſen Anſprüche ſelbſt die wohlgeſinnten Miniſter in Har-
niſch. Nach lebhaften Verhandlungen, die namentlich den alten Haß
Naſſaus gegen die Mediatiſirten wieder offenbarten, beſchloß die Conferenz,
die ganze Frage unerledigt zu laſſen und verwies die Klagenden an den
Bundestag. Alſo ward der alte Reichsadel durch eigene Schuld und durch
die Wortbrüchigkeit der ſüddeutſchen Staaten immer tiefer in ſeine un-
natürliche Winkelſtellung hineingedrängt.
Die Ergebniſſe der Berathungen wurden endlich in einem Schluß-
Protokoll von 60 Artikeln zuſammengefaßt. Der liberale Luftzug wehte
aber ſchon ſo ſchneidend durch die Welt, daß man nicht mehr wagte, dies
Protokoll, wie einſt die Karlsbader Beſchlüſſe, zu veröffentlichen. Nur
einzelne Artikel ſollten in Frankfurt als Bundesbeſchlüſſe verkündet werden;
die übrigen, und vornehmlich jene gefährlichen Verabredungen über die
Rechte der Landtage, blieben geheim. Die Regierungen verpflichteten ſich
insgeheim, auch dieſe geheimen Artikel ebenſo unverbrüchlich zu befolgen
„als wenn dieſelben zu förmlichen Bundesbeſchlüſſen erhoben worden
wären“.
Da drohte das Schiff dicht vor dem Hafen noch zu ſtranden. Der
Münchener Hof, deſſen Wünſchen die Conferenz ſtets bereitwillig entgegen-
gekommen war, erhob plötzlich Einſpruch, und mit gutem Grunde meinte
Türckheim, dahinter verberge ſich nur „das dünkelhafte Princip der Iſo-
lirung und eine mehr der Aengſtlichkeit als aufrichtigem Liberalismus zu-
zuſchreibende Beſorgniß“.*) König Ludwig war augenblicklich mit ſeinem
neuen Landtage zufrieden; auch fand er es unwürdig, ſein Reich einem
förmlichen Beſchluſſe der Bundesgenoſſen zu unterwerfen. Höchſtens einem
freien Vertrage wollte er ſich anſchließen, und ſein vertrauter Miniſter
Fürſt Wallerſtein, der gern den Liberalen ſpielte, beſtärkte ihn in ſeinen
Bedenken gegen das Bundesſchiedsgericht.**) Die Beſtürzung in Wien war
groß. Ancillon hielt für nöthig ſein grobes Geſchütz aufzufahren, und ſendete
nach München einen von Schmeicheleien und Mahnungen überſtrömenden
Erlaß: „Wir waren überzeugt, die Einheit Deutſchlands feſter und folglich
ſtärker gemacht zu haben. Wie wäre es möglich, daß der Fürſt, dem
Deutſchland großentheils das ſchöne Werk des Zollvereins verdankt, und
der darin immer ein Unterpfand der Eintracht und eine neue Stütze der
Einheit geſehen hat, jetzt dieſe Einheit durch Trennung von ſeinen Bundes-
genoſſen ſchwächen oder bloßſtellen könnte, jetzt da es ſich darum handelt
[347]Schlußprotokoll. Baierns Zögerung.
den inneren Frieden und die Unabhängigkeit nach außen zu ſichern?“*)
Noch bevor ihm dieſe Predigt vorgeleſen wurde hatte der launiſche Wittels-
bacher ſich ſchon eines Anderen beſonnen und die Unterzeichnung des
Schlußprotokolls befohlen; indeß ſtellte er noch einige kleine Bedingungen
um der Conferenz doch zu zeigen was auf Baiern ankomme. Auf ſein
Verlangen wurde in elfter Stunde noch Mehreres geändert: die Verab-
redungen über die Preſſe und die Univerſitäten ſollten nur auf ſechs
Jahre gelten, eine gemeinſame Dienſtvorſchrift für die Cenſoren ſollte
nicht erlaſſen werden, und was der Armſeligkeiten mehr war. Nun erſt,
am 12. Juni konnte man das Schlußprotokoll einmüthig unterzeichnen.
Ancillon bedang ſich als beſondere Ehre aus, daß ihm die koſtbare Ur-
kunde zur nachträglichen Mitunterzeichnung nach Berlin geſchickt wurde,
und Metternich hielt eine feierliche Schlußrede. Der preußiſche Miniſter
ermahnte das Münchner Cabinet in einer neuen Depeſche, nunmehr wenig-
ſtens das Beſchloſſene ernſthaft auszuführen, und der Baier Mieg gelobte
dies auch heilig in der Schlußſitzung.**)
Mit Genugthuung wurde das klägliche Ergebniß dieſer fünfmonat-
lichen Berathungen wohl nur am Berliner Hofe begrüßt. Dort dachte
man ſehr beſcheiden über die Aufgaben des Bundes, ſeit die Politik der
lebendigen deutſchen Einheit im Zollvereine einen großen Wirkungskreis
gefunden hatte; man war zufrieden, wenn nur der Schein der Eintracht
zwiſchen den Bundesgenoſſen gewahrt, und der Revolution mit einigem
Ernſt begegnet wurde. Darum richtete der König ein warmes Dankſchreiben
an Metternich; trotz der Meinungsverſchiedenheiten der jüngſten Jahre
hatte ſich ſeine perſönliche Verehrung für den öſterreichiſchen Staatsmann
nicht vermindert. Ancillon aber pries in einem Rundſchreiben an die
Geſandtſchaften den ſchönen Erfolg der Conferenzen: man habe weder die
Bundesgeſetze noch die beſchworenen Verfaſſungen ändern, ſondern ledig-
lich „verhindern wollen, daß die beſtehenden Geſetze entarteten“; dies ſei
glücklich gelungen gegenüber den Landtagen, der Preſſe und den Univerſi-
täten, von denen mehrere heute als „wahre Pflanzſtätten der Demagogie,
ja ſelbſt des Aufruhrs“ erſchienen.***)
Auch die über deutſche Dinge immer ſchlecht unterrichtete franzöſiſche
Regierung hielt die Wiener Conferenzen für ein folgenſchweres Ereigniß.
Der neue Miniſter des Auswärtigen, Rigny, verſuchte durch ein Rund-
ſchreiben und durch perſönliche Unterredungen die Diplomatie der Mittel-
ſtaaten vor der Tyrannei der deutſchen Großmächte zu warnen: wie könnten
Monarchen, deren Souveränität durch Frankreich verbürgt ſei, ſich freiwillig
einem auswärtigen „ſubalternen Gerichte“ unterwerfen?†) Frankreichs
[348]IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Warnungen fanden taube Ohren. Die kleinen Kronen wußten wohl, daß
in Wien nur eine Halbheit, eine Unwahrheit beſchloſſen war. Der Bun-
destag mußte ſich bequemen, die Artikel über das Bundesſchiedsgericht in
Geſtalt eines Bundesgeſetzes zu veröffentlichen (30. October 1834). Aber
dies von allen amtlichen Blättern pomphaft angeprieſene Tribunal trat
bis zum Jahre 1848 nie in Thätigkeit; denn die conſtitutionellen Fürſten
zogen ſämmtlich vor, ihre ſchwarze Wäſche daheim zu waſchen ſtatt den
immer verdächtigen Schiedsſpruch des Bundes anzurufen, und als die
kurheſſiſchen Stände einmal um Einberufung des Bundesſchiedsgerichts
baten, wies ſie der Bundestag ſelber ab. Nachher wurden auch die Artikel
über die Univerſitäten und über die Aktenverſendung als Bundesgeſetze
verkündigt. Alles Uebrige blieb, wie beſchloſſen war, tief geheim, und die
Frankfurter Geſandten klagten bitterlich, wie ſchmählich man den Bundestag
wieder einmal an die Wand gedrückt habe. Die Nation aber konnte in
dieſem undurchdringlichen Geheimniß nur ein Zeichen böſen Gewiſſens
ſehen, ſie glaubte tolle Märchen über die Wiener Teufeleien. Als endlich,
nach beinahe zehn Jahren, Welcker das Schlußprotokoll herausgab, da
ſchoben die längſt auf das Schlimmſte gefaßten Leſer allen Artikeln, auch
den harmloſen oder nichtsſagenden, einen ſo argen Sinn unter, daß die
Wiener Conferenz einen nur halb verdienten hölliſchen Ruf erlangte. Erſt
nach einem vollen Menſchenalter (1865) hat F. v. Weech alles Weſentliche
aus den Protokollen veröffentlicht.
Die verfaſſungstreuen conſtitutionellen Miniſter gelangten alleſammt
bald zu dem ſtillen Entſchluſſe, es mit der Ausführung der Wiener Ver-
einbarungen nicht ſehr genau zu nehmen. Lindenau in Dresden erklärte
dem preußiſchen Geſandten aufrichtig: die zu Bundesbeſchlüſſen erhobenen
Artikel werden wir ſtreng ausführen, die anderen auch — wenn unſere
Kammern nicht widerſprechen. Die Reaktionäre aber grollten. Seit den
Wiener Conferenzen weiß ich, ſagte der Herzog von Naſſau, daß Oeſter-
reich in Deutſchland nicht mehr die Initiative ergreifen kann, ich ſage
mich los von dem öſterreichiſchen Syſteme.*) Und du Thil ſuchte noch
nach Jahren den letzten Grund der Revolution von 1848 in der Untreue
jener liberaliſirenden Miniſter, welche das Wiener Schlußprotokoll zum
todten Buchſtaben gemacht hätten. Ebenſo ſchwermüthig, aber unbefan-
gener urtheilte Münch-Bellinghauſen. Er ſagte: die Conferenzen haben
nur ein halbes Ergebniß gebracht, denn die Richtung, welche Deutſchland
ſeit der Juli-Revolution eingeſchlagen iſt nicht mehr aufzuhalten.**)
So ſtand es wirklich. Es war gelungen, den offenen Aufruhr zu
bändigen, auch den Ruf nach Preßfreiheit und viele andere wohlberechtigte
Forderungen der Zeit vorläufig abzuweiſen. Aber die neuen parlamen-
[349]Fruchtloſigkeit der Conferenzen.
tariſchen Staatsformen umfaßten nunmehr ſchon faſt die geſammte kleine
deutſche Staatenwelt. Trotz der Angſt der Höfe und trotz der Aus-
ſchweifungen der Liberalen ſtanden ſie unerſchütterlich feſt, und wer die
zähe Lebenskraft dieſer kleinen, ſo wenig muſterhaften Verfaſſungen recht
erkannte, der mußte vorherſehen, daß die conſtitutionellen Ideen bald durch
ganz Deutſchland ihren Siegeszug halten würden. —
[[350]]
Sechſter Abſchnitt.
Der Deutſche Zollverein.
Radicale Theorien leiten den Staat aus dem freien Willen des ſou-
veränen Volkes ab. Die Geſchichte lehrt vielmehr, daß in einfachen Ver-
hältniſſen die Staaten meiſt gegen den Willen der Mehrheit des Volkes,
durch Eroberung und Unterwerfung entſtehen; und wie der Krieg ſelbſt
in Zeiten bewußter Geſittung immer ſeine ſtaatenbildende Kraft bewahrt,
ſo wird auch die innere Politik freier Völker keineswegs allein durch die
Wandlungen der öffentlichen Meinung beſtimmt. Die folgenreichſte po-
litiſche That dieſes Zeitraumes, die alle die kleinen Kämpfe um conſtitu-
tionelle Rechte gänzlich in den Schatten ſtellte, vollzog ſich unzweifelhaft
gegen den Willen der Mehrheit der Deutſchen; die Nation wirkte nur
mittelbar und halb unbewußt mit, da die Zornreden der Liberalen wider
das deutſche Elend und die berechtigten Klagen der Geſchäftswelt den
Regierungen einen rettenden Entſchluß aufzwangen. Der größte praktiſche
Erfolg der Idee der deutſchen Einheit war das Werk der nämlichen Kronen,
welche die deutſchen Farben verfolgten und den Vorſchlag eines Deutſchen
Reichstages als eine revolutionäre Ketzerei zurückwieſen. So unerbittlich
zwang die Vernunft, die in den Dingen lag, auch die Widerwilligen und
die Ahnungsloſen in ihre Dienſte.
Nach dem Tode Motz’s, des einzigen Staatsmannes, der die poli-
tiſchen Folgen des preußiſchen Handelsbundes von vornherein ganz über-
ſah, erhielt ſein Freund Maaſſen, der Begründer des Zollgeſetzes, die
Leitung des Finanzweſens. Die Wahl des Königs konnte keinen würdigeren
Mann treffen. Maaſſen überragte den Verſtorbenen durch umfaſſende
Sachkenntniß; klug, gerecht, wohlwollend verſtand er bei den Unterhand-
lungen ſich das Vertrauen der argwöhniſchen kleinen Kronen ſtets zu er-
halten. Freilich fehlten ihm der kühne Wagemuth und der weite ſtaats-
männiſche Blick des Vorgängers; er ließ die Dinge gern an ſich kommen
und hegte nicht wie jener den Ehrgeiz auf die Leitung der geſammten
preußiſchen Politik einzuwirken, obgleich er als der bedeutendſte Kopf des
Miniſteriums klar erkannte, wie gemächlich die Mittelmäßigkeit in den
anderen Departements ſich wieder einzuniſten begann. Wenn ſein ge-
[351]Maaſſen Finanzminiſter.
treuer Mitarbeiter, der feurige Ludwig Kühne ihn beſchwor, daß er ſeine
geiſtige Ueberlegenheit den anderen Miniſtern zeigen möge, dann erwiderte
Maaſſen achſelzuckend: dazu fühle er ſich mit ſeinen einundſechzig Jahren
ſchon zu alt.*) Ueberdies hatte der Finanzminiſter vollauf zu thun um
die außerordentlichen Mittel für die Rüſtungen zur Stelle zu ſchaffen,
die Thätigkeit des Auswärtigen Amtes aber ward durch die Kriegsgefahr
und die deutſchen Unruhen ganz in Anſpruch genommen. So erklärt es
ſich, daß die mühſelige Arbeit der handelspolitiſchen Einigung zwar ſtetig
vorwärts ſchritt, aber zunächſt nicht ſo ſchnell gefördert wurde, wie man
wohl erwarten konnte nachdem Motz Schlag auf Schlag die letzten En-
claven aufgenommen, den Zollverein mit Darmſtadt, den Handelsvertrag
mit Baiern-Württemberg abgeſchloſſen, den feindlichen Handelsverein der
Mitteldeutſchen nahezu zerſprengt hatte.
Die Nachſpiele der Juli-Revolution gereichten der preußiſchen Handels-
politik zum Vortheil; ſie räumten plötzlich alle die Hemmniſſe hinweg,
welche das alte Syſtem in den norddeutſchen Mittelſtaaten dem Zollver-
bande entgegenſtellte. Durch den Untergang der ſtändiſchen Anarchie in
Sachſen, der despotiſchen Willkür in Heſſen war die Verwaltung beider
Länder den preußiſchen Inſtitutionen angenähert worden; früher oder
ſpäter mußte die Verſtändigung erfolgen. In Kurheſſen zunächſt wurde
die Morſchheit des alten Mauthweſens offenbar. Nicht zuletzt die wirth-
ſchaftliche Noth hatte die Volksbewegungen im Herbſt 1830 hervorge-
rufen. Das Ländchen mit ſeinen 154 Geviertmeilen beſaß 154 Meilen
Zollgrenze. Frecher als irgendwo auf deutſchem Boden gedieh hier der
Schmuggel; in geſchloſſenen Schaaren zogen die Schwärzer aus, maßen
ſich mit den Zollwächtern in offenem Gefechte. Während die Koſten der
Zollverwaltung den Ertrag der Eingangsabgaben faſt verzehrten, begann
jetzt auch der ergiebige Durchfuhrzoll zu verſiegen, da der Tranſit ſich
nach der neuen Thüringer Straße hinüberzog. Als die Unruhen aus-
brachen, verließen alle Mauthbeamten im Hanauiſchen und Fuldiſchen ihre
Amtshäuſer; Maſſen fremder Waaren ſtrömten unverzollt ins Land, und
der Bundesgeſandte Meyerfeld erklärte dem Bundestage, die Regierung
dürfe nicht wagen, die Zollämter wiederherzuſtellen.**) Entſetzt ſchrieb
Blittersdorff: „Die Mauthen können leicht für ganz Deutſchland ein
Loſungswort des Aufruhrs werden.“
Doch wie konnte Kurheſſen aus dem unerträglichen Nothſtande heraus?
Die Regierung war zwiefach gebunden: durch den mitteldeutſchen Handels-
verein und durch den Eimbecker Vertrag.***) Jener lag im Sterben,
[352]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
dieſer war vor der Hand noch ein Entwurf, änderte nichts an den Leiden
des Landes. Man ſchwankte lange; noch im Herbſt 1830 widmete Geh.
Rath Meiſterlin, einer der Urheber des Eimbecker Vertrags, den Land-
ſtänden eine Flugſchrift, die den Eintritt in das preußiſche Zollſyſtem
verwarf, weil Heſſens Gewerbfleiß die Mitwerbung der überlegenen rhei-
niſchen Induſtrie nicht ertragen könne. Die alte Abneigung des Kur-
fürſten gegen Preußen war nicht verflogen, auch ſchien ihm doch bedenk-
lich eine zwiefache Verpflichtung ohne Weiteres zu brechen. Er wünſchte
— und mit ihm wohl die Mehrzahl im Lande — einen Mauthverband
des geſammten Deutſchlands, der die Sonderbünde von ſelbſt aufgehoben
hätte. In dieſem Sinne mußte Meyerfeld bei dem bairiſchen Bundes-
tagsgeſandten Lerchenfeld vertraulich anfragen. Das Münchener Cabinet
aber kannte jetzt die handelspolitiſchen Pläne wie die Verhandlungsweiſe des
Berliner Hofes; daher gab Graf Armansperg an Lerchenfeld die verſtändige
Weiſung: dieſe Sache ſei vorſichtig dahin zu lenken, daß ſie in Berlin
unter Preußens Leitung erledigt werde.*) Gleichwohl konnte der Kurfürſt
ſich noch immer nicht entſchließen mit dem verhaßten Preußen und dem
ſo gröblich beleidigten Darmſtädter Vetter allein zu verhandeln. Noch im
folgenden Frühjahr erhielt Meyerfeld den Auftrag, die Vereinigung ſämmt-
licher deutſcher Mauthverbände beim Bundestage zu beantragen; da warnte
ihn Nagler: niemals werde Preußen einer ſolchen Utopie zuſtimmen.**)
Unterdeſſen hatte Motz, ein Verwandter des preußiſchen Miniſters,
das heſſiſche Finanzminiſterium übernommen. Die Anarchie im Zollweſen
ward unhaltbar; die Commiſſäre des Eimbecker Vereins, die in Hannover
tagten, konnten ſich nicht einigen. Motz und ſein wackerer Amtsgenoſſe
Schenk zu Schweinsberg bewogen endlich den Kurfürſten, daß er die Ge-
heimräthe Ries und Meiſterlin im Juni nach Berlin ſchickte um mit
Preußen-Darmſtadt und Baiern-Württemberg zugleich einen Zollverein
zu ſchließen. Doch unerbittlich hielt Eichhorn den beiden Bevollmächtigten
den alten preußiſchen Grundſatz entgegen: Verhandlungen mit mehreren
Staaten zugleich ſind ausſichtslos. Vergeblich ſträubte ſich der Kurfürſt;
man mußte ſich der Forderung des Berliner Hofes fügen, mit Preußen-
Darmſtadt allein verhandeln. In Maaſſen’s Auftrag führte L. Kühne
die Unterhandlung. Der ſchlicht bürgerliche kleine Mann erwies ſich jetzt
ſchon, wie ſpäterhin in allen Geſchäften des Zollvereins, als meiſterhafter
Diplomat. Klar und beſtimmt, mit überlegener Sachkenntniß und ehr-
lichem Wohlwollen entwickelte er ſeine Vorſchläge; wenn ihm aber das
thörichte Mißtrauen der Kleinen entgegentrat, dann funkelten ſeine kleinen
ſcharfen Augen, und er fertigte alle Winkelzüge mit ſchneidenden Sarkas-
men ab. Auf die Frage des Preußen, ob Kurheſſen nicht noch durch die
[353]Abſchluß mit Kurheſſen.
mitteldeutſchen Handelsverträge gebunden ſei, verweigerten die Heſſen jede
Antwort weil ihnen das Gewiſſen ſchlug. Man ging alſo über dieſen
wunden Punkt ſchweigend hinweg.*) Die Kurheſſen drängten zur Eile;
denn ſie befürchteten einen neuen Umſchwung an ihrem heimiſchen Hofe,
wo Oeſterreich und England-Hannover alle Minen ſpringen ließen, und
ſie wollten, geängſtigt durch die nahende Cholera, den unheimlichen Boden
Berlins ſchleunigſt wieder verlaſſen. Schon am 29. Auguſt 1831 war
Alles beendigt. Um dem zollvereinsfreundlichen Könige von Baiern eine
Ehre zu erweiſen, wurde der Vertrag auf den Ludwigstag (25. Aug.) zu-
rückdatirt. Kurheſſen trat dem preußiſchen Zollſyſteme bei, im Weſent-
lichen unter denſelben Bedingungen wie einſt Darmſtadt. Der alte Kur-
fürſt ließ dieſe Demüthigung noch über ſich ergehen, wenige Tage bevor er
die Regierung ſeinem Sohne abtrat. Vor ſieben Jahren war man in
Berlin bereit geweſen ein erhöhtes Einkommen an Kurheſſen zu bewilligen;
jetzt hatte das Kurfürſtenthum ſeinen Durchfuhrhandel verloren und durch
gehäufte Sünden jeden Anſpruch auf Begünſtigung verſcherzt. Heſſen
mußte ſich begnügen mit dem Maßſtabe der Kopfzahl.
Der Vertrag war für Kurheſſen eine politiſche Nothwendigkeit, er
rettete das Land aus namenloſem Elend. Selbſt der Caſſeler Landtag
wagte nicht zu widerſprechen, obgleich Sylv. Jordan bitterlich beklagte,
daß die indirekten Steuern nunmehr der Verfügung des Landtages ent-
zogen ſeien und die abſolute preußiſche Krone über das freie Heſſen Macht
gewinne.**) Die mitteldeutſchen Verbündeten freilich drohten und lärmten.
Nicht ohne Grund; Kurheſſen hatte in den roheſten Formen ſeine Ver-
tragspflicht gebrochen ohne auch nur ernſtlich eine Verſtändigung mit den
alten Bundesgenoſſen zu verſuchen. Für Preußen dagegen war ein klarer
Gewinn errungen. Wie die Gotha-Meininger Straße den Verkehr mit
dem ſüddeutſchen Vereine geſichert hatte, ſo wurde jetzt die lang erſehnte
Verbindung zwiſchen dem Oſten und dem Weſten hergeſtellt, der mittel-
deutſche Verein noch an einer zweiten Stelle durchbrochen. Während in
Thüringen die Zollfreiheit der preußiſchen Durchfuhrſtraße den mittel-
deutſchen Verbündeten gefährlich wurde, mußte Kurheſſen die höheren
Tranſitzölle des preußiſchen Tarifs einführen. Auf Baierns dringende
Vorſtellungen ſetzte Preußen dieſe heſſiſchen Zölle bald auf die Hälfte herab.
Eine noch weitergehende Verminderung war vor der Hand unthunlich; die
mitteldeutſchen Verbündeten, vornehmlich die Frankfurter Kaufleute, ſollten
fühlen, daß ſie von Preußen abhingen, und durch heilſamen Druck beſtärkt
werden in ihrer beginnenden Bekehrung.
Durch den Abfall Kurheſſens ward der mitteldeutſche Handelsverein
vernichtet. Der Liberalismus freilich kam ſo ſchnell nicht los von den
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 23
[354]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
liebgewonnenen Phraſen. In Baiern declamirte Siebenpfeiffer gegen die
Mauth: ſie hätte zur Volksſache werden ſollen und iſt zur Volksfeindin
geworden! Stromeyer in Baden ſchrieb in die gefürchtete Zeitſchrift „Rhein-
baiern“ einen donnernden Artikel: Die preußiſche Ariſtokratenſtirne wagt
es ſich an das Nationalgefühl zu wenden! In Preußen herrſcht, härter
als irgendwo auf der Welt, die eiſerne Conſequenz des Mercantilſyſtems;
der mitteldeutſche Verein vertritt die Freiheit. Darum ſoll Baden feſt-
halten an ſeinem trefflichen liberalen Zollweſen. Dann wird Württem-
berg, das ohnedies durch ſeine hohe politiſche Bildung dem conſtitutionellen
Muſterſtaate nahe ſteht, und bald auch das conſtitutionelle Baiern, Sachſen,
Kurheſſen dem badiſchen Syſteme ſich anſchließen! — Auch einer der
edelſten und gelehrteſten Vertreter deutſcher Wiſſenſchaft brach eine Lanze
für den ſterbenden Sonderbund. Johann Friedrich Böhmer verfaßte das
wunderliche Büchlein „das Zollweſen in Deutſchland geſchichtlich beleuchtet“.
Der Legitimiſt des heiligen Reichs ſtellte den kühnen Satz auf, die Zoll-
freiheit der deutſchen Flüſſe müſſe von Rechtswegen auch für die Land-
ſtraßen gelten. Er pries den mitteldeutſchen Verein als „den letzten Ver-
ſuch, von dem was einſtens als gemeines deutſches Recht und Freiheit
gegolten, ſo viel wie möglich, wenigſtens vertragsweiſe, zu ſichern.“ Er
ſchalt Preußen den „Reichsfeind und Landfriedensbrecher“, warnte die
Kleinſtaaten, „wie leicht ſich Einverleibungen der Nachbarländer an Zoll-
angelegenheiten knüpfen,“ und getröſtete ſich des ſchönen Wortes, das vor
zwölf Jahren der k. k. Präſidialgeſandte geſprochen: daß „die hohe Bundes-
verſammlung die Beförderung und Erfüllung des deutſchen Handels in
die Hand nehmen werde“!
Die ſächſiſchen Höfe waren längſt nicht mehr in der Lage ſolchen
Schrullen nachzuhängen. Die Noth des Haushalts, das laute Murren
des Volkes zwang ſie, wie Motz vorausgeſagt, demüthig bittend in Berlin
anzuklopfen. Armſelige Advokatenkünſte mußten vorhalten um den Ver-
tragsbruch zu beſchönigen. Meiningen behauptete, der mitteldeutſche Verein
ſei durch den Eimbecker Vertrag zerriſſen worden, er beſtehe nicht mehr
zu Recht. Der Verrath des Einen diente dem Anderen zum Vorwande;
ſobald die kleinen Thüringer ſchwankten, berief ſich das Dresdner Cabinet
auf den Artikel des Caſſeler Vertrags, wonach die gänzlich vom Auslande
umſchloſſenen Gebietstheile den Satzungen des Vereins nicht unterliegen
ſollten. Das ſei jetzt Sachſens Fall, wenn Thüringen ſich mit Preußen
verſtändige — eine offenbare Sophiſterei, da jene Clauſel ſich nur auf
entlegene Enclaven bezog. Wollte der ſächſiſche Hof ehrenhaft verfahren,
ſo mußte er ſofort einen neuen Congreß der mitteldeutſchen Verbündeten
berufen, dort die Auflöſung des unhaltbaren Vereines beantragen und
dann erſt mit Preußen unterhandeln. Aber die alte Politik der Winkelzüge,
der Halbheit, des Mißtrauens gegen Preußen wurde ſelbſt unter dem
neuen Miniſterium Lindenau nicht ſogleich aufgegeben. Die ſächſiſche
[355]Bekehrung der ſächſiſchen Höfe.
Regierung glaubte ihre Wünſche in Berlin ſicherer durchſetzen zu können,
wenn ſie an dem Geſpenſte des mitteldeutſchen Vereins noch einen Rück-
halt hätte; ſie begann mit Preußen zu verhandeln noch bevor ſie ihrer
älteren Verpflichtung entbunden war.
Nachdem das Dresdner Cabinet ſchon im Auguſt 1830 bei den ſüd-
deutſchen Kronen leiſe angefragt, mußte ſich der alte König Anton endlich
entſchließen, an den König von Preußen ſelber zu ſchreiben. Er betheuerte,
daß er längſt die Abſicht gehabt mit Preußen in commercielle Verbindung
zu treten „und ſomit im Sinne des hochwichtigen und wohlthätigen Zwecks
zu handeln, deſſen Erreichung von Ew. Majeſtät bereits ſeit längerer Zeit
beabſichtigt wird. Daß dieſe Verhandlung von Preußen begonnen und
eingeleitet werde, ſcheint die nothwendige Bedingung des Erfolges zu ſein.“
Lindenau, der im Januar 1831 dies Handſchreiben nach Berlin brachte,
überreichte zugleich eine Denkſchrift, worin Sachſen den Entſchluß aus-
ſprach, die Auflöſung des mitteldeutſchen Vereins durchzuſetzen „da Ver-
anlaſſung, Zweck und Grund des Vereins nicht mehr vorhanden ſind. Das
Bedürfniß einer bewegten Zeit, die Zuverſicht, durch den Antritt einer
ſolchen Verhandlung die aufgeregten Gemüther am ſicherſten zu beruhigen,
endlich die Hoffnung, daß ein ſolcher die Mehrzahl der deutſchen Bundes-
ſtaaten umfaſſender Verband auch auf die größeren Weltereigniſſe einen
friedlich beſänftigenden Einfluß äußern könne“ ermuthigten den ſächſiſchen
Hof die Verhandlungen in Berlin zu beginnen.*)
Noch kläglicher war die Demüthigung Weimars. Derſelbe Miniſter
Schweitzer, der ſeit Jahren das preußiſche Zollſyſtem als den Todfeind
deutſcher Handelsfreiheit bekämpft hatte, verſicherte im Juli 1830 dem Aus-
wärtigen Amte: „daß zur Förderung des von dem König von Preußen
begonnenen, in ſeinen Zwecken und ſeinen Gründen immer klarer hervor-
tretenden deutſchen Werkes, alſo zur Förderung eines freien Handels und
Verkehrs im deutſchen Vaterlande von Preußen aus, der Großherzog von
Weimar im Einverſtändniß mit dem Königreich Sachſen mit Vergnügen
die Hand bieten wird.“ Dann ſang der weimariſche Miniſter Fritſch die
Todtenklage des Sonderbundes: „Auf hinreichende Zeit zur Ausbildung
des Vereines iſt nicht mehr zu rechnen, nachdem die großen welthiſtoriſchen
Ereigniſſe ſeit dem 25. Juli 1830 und deren Folgen auf deutſchem Boden
eine weit ſchleunigere Hilfe nothwendig gemacht, man kann ſagen, die
Uebel, welche als chroniſche behandelt werden ſollten, in acute verwandelt
haben. Nur Schaden, nur Verderben könnte es bringen, wenn man ſich
unter ſolchen Umſtänden noch gegenſeitig beſchränken, ſich zum Nichtsthun
verpflichtet halten wollte in einer Zeit, welche in allen öffentlichen Dingen
ganz andere Forderungen ſtellt. Was uns die Jahre 1829 und 1830
genommen und gebracht haben, ließ ſich im Jahre 1828 nicht vorausſehen,
23*
[356]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
nicht vorausahnden. Der Caſſeler Verein war und bleibt ein bedeutendes
Unternehmen, nicht ohne Folgen. Es wird den Stiftern deſſelben ein ge-
rechtes Urtheil in der Geſchichte um ſo weniger entgehen, je bereitwilliger
ſie jetzt das Geſtändniß ablegen und bethätigen, daß eine ganz neue Zeit
uns gekommen iſt.“*)
Friedrich Wilhelm antwortete dem Könige von Sachſen ſehr freund-
lich, er ſei bereit Sachſens Anträge zu erwägen, und ſprach ſich zugleich
offen aus über die nationalen Ziele ſeiner Handelspolitik: „Wiewohl der
Abſchluß dieſer Verträge ſtets nur mit einzelnen Staaten erfolgte, ſo hatte
man dennoch dabei nicht ein ausſchließliches Intereſſe der unmittelbar
Betheiligten im Auge, ſondern man verfolgte zugleich den Geſichtspunkt,
daß die einzelnen Verträge als Mittel dienen möchten, der Freiheit des
Verkehrs in Deutſchland überhaupt eine größere Ausdehnung zu geben.“
Dem Weimariſchen Hofe drückte der Miniſter des Auswärtigen ſeine Freude
aus, daß unſer Werk auch in den Augen Weimars „immer klarer als ein
deutſches Werk hervortritt“; dann wiederholte er in ſchneidenden Aus-
drücken die hundertmal von Preußen ausgeſprochene Ermahnung: die Thü-
ringer ſollten ſich erſt unter ſich verſtändigen, bevor Preußen mit ihnen
verhandeln könne.**)
Nach ſolchen Erfolgen ſtand in Berlin feſter denn je die Ueberzeugung,
daß der eingeſchlagene Weg der Einzelverhandlungen allein zum Ziele führe.
Mit voller Sicherheit ſchrieb Bernſtorff dem Könige: „Die Schöpfung eines
allgemeinen deutſchen Zoll- und Handelsſyſtems oder irgend einer anderen
bleibenden Inſtitution ähnlicher Natur iſt eine Aufgabe, deren Löſung
dem Bunde ſo lange unmöglich bleiben wird, als derſelbe nicht eine andere,
von der jetzigen ganz verſchiedene Organiſation beſitzt.“ Seit dem Zer-
falle des mitteldeutſchen Sonderbundes ſchien die Bahn frei für die voll-
ſtändige Vereinigung der beiden befreundeten Zollvereine des Südens und
des Nordens. Was ſollte jetzt noch hindern, da beide Theile die Unhalt-
barkeit des beſtehenden Zuſtandes lebhaft empfanden? da die zwiſchen-
liegenden Staaten nicht mehr feindlich im Wege ſtanden, ſondern ſelbſt
um ihre Aufnahme baten? da das Grundgeſetz des preußiſch-heſſiſchen
Vereins ſich von ſelber darbot als die Regel für den großen Verein? Und
dennoch mußte Preußen wieder und wieder durch den Flugſand waten,
der im Wüſtenwinde der deutſchen Kleinſtaaterei emporwirbelte. Faſt
drei Jahre lang, von 1830 bis 1833, ſpielte in Berlin, vielfach unter-
brochen, eine dreifache Reihe mühſeliger Verhandlungen: mit Baiern-
Württemberg, mit Sachſen, mit den thüringiſchen Staaten; und das Ge-
ſchäft wäre nie zum Abſchluß gelangt, wenn man nicht, dem alterprobten
[357]Die bairiſch-badiſchen Händel.
Grundſatz getreu, die Unterhandlungen mit den einzelnen Gruppen ſcharf
auseinander gehalten hätte. Der Vergleich drängt ſich unwillkürlich auf:
der Deutſche Zollverein ging aus dem preußiſch-heſſiſchen hervor unter
ähnlichen Kämpfen und Bedenken, wie ſpäterhin das Deutſche Reich aus
dem Norddeutſchen Bunde. Der Zollverein wie der Norddeutſche Bund
ſtieß auf die höchſten Schwierigkeiten erſt als die größeren Mittelſtaaten,
mit ihrem feſtgewurzelten und nicht ganz unberechtigten Particularismus,
mit der Fülle ihrer ſcheinbar oder wirklich abweichenden Intereſſen in die
Verhandlungen eintraten. In Verſailles wie vierzig Jahre zuvor in Berlin
gebärdeten ſich die ſüddeutſchen Kronen anfangs, als ſtände man vor einem
Neubau, als ſei noch gar kein Grundgeſetz vorhanden; erſt nach langem
peinlichem Zögern erkannten ſie die im Norden beſtehende Ordnung an,
doch indem der Bau erweitert wurde, lockerte man zugleich das feſte Gefüge
ſeiner Mauern.
Der Handelsvertrag zwiſchen Preußen-Heſſen und Baiern-Württem-
berg war von vornherein in der Abſicht fortſchreitender Erweiterung ab-
geſchloſſen. In München aber begann die ultramontane Partei ſofort an
dem neuen Bunde zu zerren und zu nagen. Ihre Führer, Schenk, Görres,
Ringseis, ſtanden durch den k. k. Legationsrath Wolff mit der Hofburg im
Verkehr; der Geſandte in Wien, Graf Bray, war für Metternich gewonnen,
desgleichen neuerdings auch der alte Feldmarſchall Wrede. Angeſichts dieſer
mächtigen Gegner und der unberechenbaren Launen König Ludwig’s hielt
Bernſtorff für nöthig, allen Begehren Baierns ſo weit als möglich entgegen-
zukommen. Der Münchener Hof wünſchte zunächſt den Eintritt Badens
in den bairiſch-württembergiſchen Verein; denn das badiſche Gebiet ragte
als ein trennender Keil zwiſchen die bairiſche Pfalz und die Hauptmaſſe
der Vereinslande hinein, und unter dem Schutze der gerühmten Karlsruher
Freihandelspolitik, die für die Grenzbewachung wenig that, blühte auf dem
Schwarzwalde wie am Rheinufer ein gefährlicher Schmuggelhandel. War
der kränkelnde ſüddeutſche Zollverein durch Badens Zutritt neu gekräftigt,
dann erſt ſollte — ſo rechnete König Ludwig — über die völlige Ver-
ſchmelzung der beiden Vereine des Nordens und des Südens verhandelt
werden. Motz hatte dieſen etwas künſtlichen und umſtändlichen Plan ge-
billigt, und aus Rückſicht auf Baiern hielt Bernſtorff auch jetzt noch daran
feſt, obwohl Maaſſen ihm verſicherte, man könne getroſt weiter gehen und
mit Baiern, Württemberg und Baden ſogleich einen wirklichen Zollverein
nach dem Muſter des preußiſch-heſſiſchen abſchließen.*)
Eine handelspolitiſche Verſtändigung zwiſchen Baiern und Baden
blieb aber völlig ausſichtslos ſo lange die beiden Höfe einander noch als
Feinde betrachteten und König Ludwig ſeine traumhaften Anſprüche auf
badiſches Gebiet nicht aufgab. Als Großherzog Ludwig ſtarb und ſein
[358]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Nachfolger ſogleich von allen Mächten anerkannt wurde, da wagte man
in München gar nicht mehr wie früher zu behaupten, daß mit der Thron-
beſteigung der Hochbergiſchen Linie das Haus der Zähringer ausgeſtorben ſei.
Der Wittelsbacher trug ſeine vorgeblichen Anſprüche auf den „Heimfall“
der badiſchen Pfalz ſtillſchweigend zu Grabe. Um ſo mehr lag ihm daran,
jetzt mindeſtens den Sponheimer Streit auf gute Art zu Ende zu führen
und durch eine kleine Gebietserwerbung der Welt zu beweiſen, daß Baiern
doch nicht ganz im Unrechte geweſen ſei.*)
Gegen Ende Mai 1830 erſchien Armansperg in tiefem Geheimniß zu
Berlin und bat um Preußens gute Dienſte. König Friedrich Wilhelm
übernahm die Vermittlung, im Verein mit dem Könige von Württemberg,
und ließ den badiſchen Miniſter Böckh nach Berlin einladen. Er hoffte
nicht nur den leidigen Gebietsſtreit beizulegen, ſondern auch Baden zum
Eintritt in den bairiſch-württembergiſchen Zollverein zu bewegen. Am
10. Juli brachte Bernſtorff’s verſöhnliches Zureden endlich eine Ueberein-
kunft zu Stande, kraft deren Baden dem ſüddeutſchen Vereine beizutreten
verſprach; dafür wollten beide Theile auf ihre Sponheimer Erbanſprüche
verzichten und den alten Beinheimer Entſcheid für erloſchen erklären. Um
Baiern gänzlich zufrieden zu ſtellen wurde noch ein geringfügiger Gebiets-
austauſch irgendwo an der badiſchen Oſtgrenze vorbehalten. Damit ſchien
der jämmerliche Handel aus der Welt geſchafft. Metternich ſprach bereits
allen Theilnehmern ſeinen Glückwunſch aus, und König Ludwig dankte
dem preußiſchen Miniſter auf’s Wärmſte. Ohne Verſtändigung mit Baden
— ſo ſchrieb er — „kann ein näheres Anſchließen an Preußen nicht ſtatt-
finden. Daß aber ein ſolches Anſchließen geſchehe, finde ich von großer
Wichtigkeit für das Beſte unſeres teutſchen Geſammtvaterlandes; hiervon
bin ich durchdrungen, ſowie daß mein Haus dem preußiſchen zu verdanken
hat noch in Baierns Beſitz zu ſein. Es iſt eine Freude mit einem ſolchen
Manne von Ehre zu thun zu haben.“**)
Sobald man jedoch über die Ausführung der Uebereinkunft ver-
handelte, verlangte Baiern einen Zuwachs von etwa 20000 Einwohnern,
und ſetzte erſt nach langem Feilſchen ſeine Forderung ein wenig herab;
das ſchöne Wertheim vornehmlich, das Heidelberg der Mainlande erſchien
dem romantiſchen Wittelsbacher unwiderſtehlich verlockend. Der Karls-
ruher Hof wies jede größere Gebietsabtretung entſchieden zurück und ver-
ſchanzte ſich hinter der geſinnungstüchtigen Entrüſtung ſeines Volkes. Die
Stadt Wertheim ſelbſt hatte freilich gegen die Abtretung wenig einzu-
wenden, weil die Beamten den Main-Tauberkreis als das badiſche Sibirien
behandelten; auch der Fürſt Georg von Löwenſtein, der dort Hof hielt,
wollte ſich als treuer deutſcher Patriot den Herrſchaftswechſel wohl ge-
[359]Vermittlung von Preußen und Württemberg.
fallen laſſen, wenn dadurch nur endlich das Elend der Binnenmauthen
aufgehoben würde.*) Anders empfand die große Mehrzahl der Liberalen;
ſie dachte von dem Muſterlande der conſtitutionellen Freiheit nicht eine
Geviertmeile aufzuopfern, und ihr Entſchluß ſtand um ſo feſter, da ſie
auch den Zollvereinsplänen mißtraute. Der Hauptverkehr des langge-
ſtreckten Landes ging von Norden nach Süden und konnte durch den An-
ſchluß an Baiern-Württemberg wenig gewinnen. Man überſah oder wollte
überſehen, daß dieſer Anſchluß nur das Mittel bilden ſollte zur ſpäteren
Vereinigung mit Preußen; unleugbar war der bairiſche Plan zu fein, zu
verwickelt um ſogleich vom Volke verſtanden zu werden.
Ueberall in Baden ſprach man begeiſtert von einem geſammtdeutſchen
Zollverbande; denn ſo viel Boden hatte die Idee der deutſchen Handels-
einheit durch Preußens Siege doch gewonnen, daß Niemand mehr ſie
ſchlechthin zu verwerfen wagte. Freilich benutzten viele badiſche Liberale
das ſchöne Wort vom allgemeinen deutſchen Zollvereine nur als ein Schurz-
fell um die Blöße ihrer partikulariſtiſchen Selbſtſucht zu bedecken. Wie
behaglich lebte ſich’s doch unter der badiſchen Handelsfreiheit — auf Koſten
der lieben Nachbarn! Mit Stolz ſah der Badener — ſo ſagte eine Flug-
ſchrift des Raſtatter Kaufmanns F. Meyer „über die Zollverhältniſſe Ba-
dens“ — wie die Nachbarn aus dem Elſaß, aus Schwaben, aus der Rhein-
pfalz in „das wohlfeile, gaſtfreie“ Ländle kamen um dann ihre billigen
Einkäufe über die heimathliche Grenze hinüberzuſchmuggeln. Nimmermehr
ſollte dieſe gemüthliche Unordnung durch eine gewiſſenhafte Grenzbewachung
beſeitigt werden. Der Freiburger Handelsſtand ſtellte dem Landtage vor:
ein Zollverein „wird rechtliche, ſittlich gute Menſchen in eine Rotte von
Zöllnern, Schmugglern, Spionen und Gaunern verwandeln“ — wobei nur
verſchwiegen ward, daß die große Mehrzahl der badiſchen Geſchäfte, zumal
die Colonialwaarenhandlungen, dem Schleichhandel längſt als Herbergen
dienten. Noch kräftiger ſprach das Straßburger Conſtitutionelle Deutſch-
land: „Mauth, Mauth, preußiſche Mauth erhalten wir! Unglückliches
Vaterland! Im Geheimen, im Dunkel der Nacht wird ſie Dir gegeben!
Wehe Dir, Kammer von 1831!“ Als Großherzog Leopold ſein Oberland
bereiſte, wurde er überall dringend gewarnt, und Winter, der in Fragen
der großen Politik immer rathlos war, wagte nicht einer ſcheinbar ſo
ſtarken Volksüberzeugung zu widerſprechen.
So ſchleppte ſich der Zank durch faſt anderthalb Jahre dahin. Die
beiden vermittelnden Höfe boten alle ihre Beredſamkeit auf. Der Berliner
ſprach ſanft, der Stuttgarter ſchroff; denn König Wilhelm ſah ſein Land
unmittelbar unter dem badiſchen Schmuggel leiden, er drohte dem Karls-
ruher Hofe geradezu: Baiern und Württemberg würden „dem bisherigen
[360]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
ganz feindſeligen Betragen Badens gemeinſchaftlich ein jedes Mittel ent-
gegenſetzen, um nicht mitten in unſerem Vereine das Syſtem einer Re-
gierung zu ſehen, das mit Vorbedacht Unzufriedenheit und Unruhe in
unſerer ſo bedenklichen Zeit ſtiftet.“*) Ebenſo vergeblich ſchrieb König
Ludwig ſelbſt in ſeinem wuchtigſten Participialſtile an den Großherzog:
„durch meine letzten Vorſchläge habe ich das Aeußerſte gethan um die
Sponheimer Angelegenheit zur Ausgleichung zu bringen, und von großem
Werth iſt mir die von Ew. K. Hoheit ausgedrückte Willfährigkeit, damit ſie
und Beitritt zum Zollvereine ſtattfinde, überzeugt, daß feſter Wille Beides
bei Ihren Ständen durchſetzen werde.“**) An dieſem feſten Willen gebrach
es dem badiſchen Hofe gänzlich. Die Miniſter vertheidigten den Zutritt
zum ſüddeutſchen Zollvereine ſehr lau; Welcker tobte mit gewohnter Wort-
fülle gegen die abſolute preußiſche Krone, Rotteck unterſtützte ihn etwas
ruhiger. Die phraſenreichen Verhandlungen gereichten dem Muſter-Land-
tage wenig zur Ehre; über die volkswirthſchaftliche Bedeutung der Frage
wußten nur einzelne große Geſchäftsmänner ein treffendes Wort zu ſagen,
ſo der liberale Fabrikant Buhl aus Ettlingen und der Tabakshändler
v. Lotzbeck aus Lahr. Selbſt der liberale E. E. Hoffmann, der aus Darm-
ſtadt herüberkam um den badiſchen Parteifanatikern Vernunft zu predigen,
richtete nichts aus. Schließlich einigte ſich der Landtag über eines jener
unwahren Compromiſſe, wie ſie der Parlamentarismus liebt wenn er
nichts mehr zu ſagen weiß. Beide Kammern verwarfen einſtimmig den
Eintritt in den ſüddeutſchen Verein und gaben der Regierung Vollmacht,
über einen geſammtdeutſchen Zollverein zu verhandeln (Nov. 1831). Da-
bei konnte ſich Jeder das Seine denken, denn an die Möglichkeit eines
Zollvereins mit Oeſterreich, Hannover und Holſtein glaubte eigentlich
Niemand mehr. Auch die von Baiern geforderte Gebietsabtretung wurde
durch die zweite Kammer verworfen, einſtimmig, unter brauſenden Hoch-
rufen auf den Großherzog.
Dem gefeierten Fürſten ward bei dieſer Begeiſterung ſeiner getreuen
Oppoſition ſehr ſchwül zu Muthe. In einem flehentlichen Briefe wendete
er ſich abermals hilfeſuchend an Bernſtorff, unter Bezeigung „des innigſten
Dankgefühls gegen Hochdieſelben“,***) und wirklich unterzog ſich der gedul-
dige preußiſche Miniſter noch einmal den undankbaren Mühen der Ver-
mittlung. König Ludwig aber empfand jenen Beſchluß des badiſchen Land-
tages als eine perſönliche Beleidigung; er hielt es für ſchmachvoll, eine
Forderung, die ſchon ſo viel Staub aufgewirbelt hatte, ohne jede Ent-
ſchädigung fallen zu laſſen. An dem ergrimmten Wittelsbacher war jetzt
jeder Zuſpruch verſchwendet. Auch der König von Württemberg ließ nach
[361]Abbruch der Verhandlungen mit Baden.
einiger Zeit in ſchnöden Worten erklären, daß er mit dem unbelehrbaren
badiſchen Hofe nichts mehr zu ſchaffen haben wolle.*) In Berlin urtheilte
man milder, doch die erneuten Verhandlungen blieben fruchtlos. Der
königliche Dichter in München hinterließ die imaginären Sponheimer An-
ſprüche ſeinen Nachfolgern als ein heiliges Vermächtniß, unterthänigen
Hiſtorikern als einen köſtlichen Stoff für bajuvariſche Großſprechereien.
Alſo ward Baden, früherhin immer ein wackerer Vorkämpfer der deutſchen
Handelseinheit, theils durch die Thorheit ſeiner Kammern theils durch
eine ſeltſame diplomatiſche Verwicklung ganz in das Hintertreffen gedrängt
und von den entſcheidenden Verhandlungen der Zollvereinspolitik mehrere
Jahre hindurch ausgeſchloſſen. —
Die leidenſchaftliche, uns heute faſt räthſelhafte Erbitterung dieſer
bairiſch-badiſchen Händel ſpiegelte ſich wieder in einem ſeltſamen Abenteuer,
das die Zeitgenoſſen viele Jahre hindurch lebhaft beſchäftigte. Zu Pfingſten
1828 kam ein junger Bauerburſch, angeblich Kaspar Hauſer benamſet,
nach Nürnberg um bei den Chevauxlegers als Reiter einzutreten; der
verwahrloſte Menſch war geimpft, konnte etwas leſen und ſchreiben, auch
einfache Fragen in ſeinem oberpfälziſchen Dialekt nothdürftig beantworten,
und trug die unter bairiſchen Bauersleuten üblichen katholiſchen Gebet-
bücher bei ſich. Er überbrachte einen geheimnißvollen Brief, deſſen Hand-
ſchrift ſeiner eigenen ſehr ähnlich ſah. Der dunkle Sinn dieſes Schreibens
und das ſcheue, ſonderbare Weſen des Burſchen erregten die öffentliche
Neugier; durch thörichte Fragen ward bald ein ungeheuerliches Märchen
aus ihm herausgeforſcht: er wollte von Kindesbeinen an in einem finſteren
unterirdiſchen Kerker gelegen, dann urplötzlich von ſeinem unſichtbaren
Kerkermeiſter das Sprechen, Leſen und Schreiben gelernt haben. Der
Bürgermeiſter Binder von Nürnberg verkündete alsdann in einer ſchwül-
ſtigen, die gefühlsſelige Leſewelt zerknirſchenden Bekanntmachung, daß die
Gemeinde den Findling „als ein ihr von der Vorſehung anvertrautes Pfand
der Liebe betrachte“, und übergab ſeinem Schwiegerſohne Daumer, einem
geiſtreichen, aber unerfahrenen und durchaus verſchrobenen Gelehrten, die
Erziehung des Wunderkindes. Pädagogen, Aerzte und Criminaliſten, Ho-
möopathen, Wunderthäter und Geiſterſeher, blaſirte Weltmänner, Wiß-
begierige aller Stände eilten herbei um dieſen Thiermenſchen, der in Allem
von den gemeinen Sterblichen abweichen ſollte, zu ergründen, jedes Organ
ſeines Leibes und ſeiner Seele verwegenen Experimenten zu unterwerfen.
Eine ganze Literatur von Aufſätzen und Flugſchriften beſchäftigte ſich
mit dem „Kinde von Europa“. Alle Schwächen einer thatenarmen und
doch nach Thaten dürſtenden Zeit, der romantiſche Wunderglaube, die
nervöſe Reizbarkeit, der überkluge Scharfſinn, die Luſt am Skandal und
der radicale Haß gegen die vornehme Welt fanden hier ihre Rechnung.
[362]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Auch den Nüchternen ſchien ſo viel mindeſtens ſicher, daß die Wundermär
irgend einen wahren Kern enthalten und die geheimnißvollen, aller Nach-
forſchungen und ausgeſchriebenen Preiſe ſpottenden Feinde des Mißhan-
delten über große Machtmittel gebieten müßten. Nur der Polizeirath
Merker in Berlin und wenige andere gewiegte Kenner der Verbrecherwelt
wagten jetzt ſchon, zur Entrüſtung des gebildeten Publicums, das Kind
Europas für einen gemeinen Betrüger zu erklären, da die Kerkergeſchichte
offenbar allen Naturgeſetzen widerſpräche. Unter den Gläubigen befanden
ſich nicht blos Saphir und ähnliche literariſche Klopffechter, ſondern auch
ernſte, bedeutende Männer, wie der Staatsrechtslehrer Klüber, der Heraus-
geber des Neuen Pitaval Hitzig, vor Allen aber Anſelm Feuerbach, der von
tiefem Mitleid ergriffen, mit der ganzen Gluth ſeines leidenſchaftlichen
Herzens ſich des Findlings annahm und in einer eigenen Schrift die un-
heimliche Kerkergeſchichte als „Beiſpiel eines Verbrechens am Seelenleben
des Menſchen“ ſchilderte. Alſo verwöhnt, verzogen, angeſtaunt und zum
Heucheln geradezu herausgefordert lebte ſich Hauſer immer tiefer ein in
ſeine Lügenwelt, er ſpielte die ihm halb aufgedrungene Rolle des langſam
aus dem Seelenſchlafe Erwachenden nicht ohne Bauernſchlauheit und
erlernte allmählich Alles wieder was er ſchon vor ſeinen Nürnberger Tagen
gewußt hatte; viel mehr konnten die Erziehungskünſte ſeiner Gönner in
dieſen harten Kopf nicht hineinbringen. Als er fühlte, daß ſein Anſehen
zu wanken begann, verwundete er ſich ſelbſt und erweckte noch einmal die
Theilnahme aller zarten Seelen indem er vorgab, daß ein unbekannter
Mörder ihn angefallen habe. Dann lebte er als Schreiber in Ansbach und
wagte dort im Schloßgarten nochmals den nämlichen Verſuch, aber diesmal
drang ſein Dolch tiefer ein als er ſelbſt beabſichtigte, und er ſtarb ſchon
nach drei Tagen (Dec. 1833). Da dieſe Selbſtverwundung ſich weder
ganz unzweifelhaft erweiſen ließ, noch mit der Feigheit des Burſchen leicht
vereinbar ſchien, ſo gab Hauſer’s Tod den umlaufenden Gerüchten nur
neue Nahrung. Seine Grabſchrift nannte ihn aenigma sui temporis,
und auf der Unglücksſtelle im Schloßgarten wurde ein Denkſtein errichtet
mit der doppelſinnigen Inſchrift: hic occultus occulto occisus.
Nach mannichfachen abenteuerlichen Vermuthungen war der Verdacht
entſtanden, Hauſer ſei der im Jahre 1812 geborene und nach wenigen
Tagen geſtorbene Erbgroßherzog von Baden; der berüchtigte Major Hennen-
hofer ſollte ein todtes Kind untergeſchoben und den Prinzen aus dem
Wege geräumt haben um den hochbergiſchen Zähringern den Thron zu
verſchaffen. Beweiſe, ja ſelbſt verdächtige Anzeichen fehlten gänzlich; aber
der plötzliche Tod der beiden Söhne des Großherzogs Karl hatte ſchon vor
Jahren viel müßiges Gerede hervorgerufen,*) dem Großherzog Ludwig und
[363]Kaspar Hauſer.
ſeinem Hennenhofer traute man alles Böſe zu, und ſo fand denn die neue
Legende lebhaften Anklang. Feuerbach ſelbſt ſchenkte ihr Glauben und
ſendete dem Münchener Hofe eine geheime Denkſchrift, die ſeiner Combi-
nationsgabe mehr zur Ehre gereichte als ſeinem Verſtande. König Ludwig
ließ ſich ebenſo gern überzeugen, wie ſein phantaſtiſcher Miniſter Fürſt
Wallerſtein; der romanhafte Reiz beſtach ihn leicht, unwillkürlich mochte
auch ſein alter Haß gegen die Zähringer mitſpielen. Sogar ſeine Stief-
mutter Königin Caroline ließ eifrig nachforſchen und ſcheint eine Zeit lang
an das Märchen geglaubt zu haben,*) obgleich ſie ſelbſt eine badiſche Prin-
zeſſin war und mit ihrem Stiefſohne ſelten übereinſtimmte. Der badiſche
Hof war längſt im Beſitze von Aktenſtücken, welche den natürlichen Tod
jenes jungen Erbprinzen unzweifelhaft erwieſen, und konnte durch eine
offene Erklärung das boshafte Geſchwätz ſofort ertöden; er hegte jedoch,
wie alle Höfe jener Zeit, eine faſt krankhafte Scheu vor der Oeffentlich-
keit und mochte zudem fürchten, daß durch ſolche Enthüllungen auch andere,
beſſer beglaubigte Schmutzgeſchichten aus den Zeiten der beiden letzten
Großherzoge zu Tage kommen würden. Genug, er ſchwieg, und nunmehr
verbreiteten ſich die unheimlichen Gerüchte, die allem Anſchein nach zuerſt
in Baiern aufgetaucht waren, auch weithin über das badiſche Land. In
Karlsruhe, der klatſchſüchtigſten aller deutſchen Reſidenzen, erlebten die
Läſtermäuler gute Tage; die verbitterten Liberalen hießen Alles willkommen
was den Fürſten Schande brachte; auch unter dem Breisgauer Adel, der
dem evangeliſchen Fürſtenhauſe noch nicht recht traute, fanden ſich viele
Gläubige.
Nun erdreiſtete ſich der nichtsnutzige Demagog Garnier — der Raſtatter
Ravaillac, wie er ſich ſelber nannte — in einem albernen Schauerromane
die Leiden des lebendig begrabenen badiſchen Erbprinzen ausführlich zu
erzählen, und fortan ſtand die Fabel feſt. Brandſchriften der ultramontanen
und der radicalen Feinde des badiſchen Hauſes ſchmückten das Märchen noch
reicher aus; die Hauſer-Legende diente den Parteien des Umſturzes als ein
wirkſames Mittel um den Maſſen die Verderbniß der Höfe zu erweiſen.
Unglaublich, wie viel Haß und Argwohn durch dieſe nachbarlichen Zänke-
reien in Süddeutſchland geſät wurde. Als Feuerbach einige Monate vor
ſeinem Schützlinge ſtarb, da behaupteten viele ſeiner Verehrer unerſchütter-
lich, die Seelenmörder Kaspar Hauſer’s hätten auch deſſen mächtigen Gönner
vergiftet; und doch war allbekannt, daß der große Rechtsgelehrte, durch
Arbeit und Gemüthsbewegungen früh gealtert, ſchon mehrere Schlaganfälle
erlitten hatte. Der Glaube an den badiſchen Prinzenraub blieb lange Zeit
ſo mächtig, daß die ernſte Wiſſenſchaft ſich nicht gern mit der widerlichen
Frage befaſſen mochte; denn eine tief eingewurzelte Volksüberzeugung darf
[364]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
der Hiſtoriker nicht ſo kurzerhand zurückweiſen, wie der Strafrichter, der
unbedenklich frei ſpricht wenn ſichere Beweiſe fehlen. Erſt im Jahre 1875
entſchloß ſich der badiſche Hof die Urkunden über den Tod jenes Erbprinzen
zu veröffentlichen. Seitdem iſt durch die Schriften von O. Mittelſtädt
und A. v. d. Linde das Lügengewebe endlich zerriſſen worden, und wenn-
gleich manche Einzelheit noch dunkel bleibt, ſo hat doch die Frage, woher der
Betrüger eigentlich ſtammte, heute jeden hiſtoriſchen Werth verloren. —
Nach Alledem war eine Verſtändigung zwiſchen Baiern und Baden
vorläufig undenkbar. Der deutſchen Handelseinheit aber kam jener ab-
lehnende Beſchluß der badiſchen Kammern ſeltſamerweiſe zu gute. Der
künſtliche Gedanke, zunächſt den ſüddeutſchen Verein zu vergrößern und
dann erſt die Vereinigung mit dem Norden zu ſuchen, war fortan be-
ſeitigt. Die oberdeutſchen Königshöfe, außer Stande, ihren unergiebigen
Sonderbund aufrechtzuhalten, ſahen ſich genöthigt, ſtatt des Nothbehelfs
ſogleich das durchſchlagende Mittel zu wählen; ſie ſtellten jetzt bei dem
preußiſchen Cabinet den Antrag auf völlige Vereinigung. Im December
1831 wurden die Verhandlungen in Berlin eröffnet. Doch ſofort ergab
ſich eine Fülle gewichtiger Bedenken. Preußen hatte ſchon durch die Auf-
nahme der beiden Heſſen ein fühlbares finanzielles Opfer gebracht; der
Ertrag ſeiner Zölle, der um 1829 gegen 25,3 Sgr. für den Kopf der Be-
völkerung abwarf, begann bereits zu ſinken. Durfte man auch die ober-
deutſchen Lande, die von Colonialwaaren noch weit weniger verzehrten
als die beiden Heſſen, zu den gleichen Bedingungen aufnehmen? Die
Finanzpartei in Berlin fürchtete ſchwere Verluſte, wie denn in der That
Preußen im Durchſchnitt der Jahre 1834—39 nur 22 Sgr. auf den Kopf
erhalten hat. Sie verlangte entſchieden ein Präcipuum zu Gunſten
Preußens; ein Ausfall in den Einnahmen ſchien hochbedenklich in ſo
unruhiger Zeit. Die bairiſch-württembergiſchen Finanzmänner dagegen
lebten in dem wunderlichen Wahne, daß die Conſumtion im Süden ſtärker
ſei als in Preußen; ſie meinten ſchon ſeltene Großmuth zu zeigen, wenn
ſie auch nur die Vertheilung nach der Kopfzahl zugeſtänden.
Die Einführung der preußiſchen Conſumtionsſteuern war in Heſſen
ohne Schwierigkeit erfolgt; Baiern aber ſah ſich außer Stande ſeine
Malzſteuer abzuändern. Während Preußen kaum 1,3 Mill. Thlr., 3 Sgr.
auf den Kopf, durch die Beſteuerung des Bieres bezog, gewann Baiern
allein in ſeinem rechtsrheiniſchen Gebiete 5 Mill. fl., 21 Sgr. auf den Kopf,
und aus dieſem Ertrage mußte nach der Verfaſſung die Staatsſchuld ver-
zinſt werden. Unmöglich konnte Preußen ſeine Bierſteuer zu der gleichen
Höhe hinaufſchrauben. Der angeſtammte Durſt ließ ſich ebenſo wenig in
den Norden verpflanzen wie die Realgerechtigkeiten der bairiſchen Brauer,
die jenen reichen Steuerertrag erſt ermöglichten, aber den Grundſätze der
[365]Verhandlungen mit dem ſüddeutſchen Zollvereine.
preußiſchen Gewerbefreiheit widerſprachen. Da die gleichmäßige Beſteue-
rung der inländiſchen Conſumtion mithin unausführbar blieb, ſo beſtand
die preußiſche Finanzpartei hartnäckig auf der Einführung von Ausglei-
chungsabgaben. Die an ſich richtige Meinung, daß jede Zollgemeinſchaft
die annähernde Gleichheit der indirekten Steuern vorausſetze, war ſeit
dem Jahre 1818 eine der leitenden Ideen der preußiſchen Handelspolitik.
Die Berliner Finanzmänner hatten ſich ſo tief in dieſen Gedanken ein-
gelebt, daß ſie ihn alsbald mit fiskaliſcher Härte auf die Spitze trieben.
Die Ausgleichungsabgaben ſind lange, weſentlich durch Preußens Schuld,
ein wunder Fleck der Zollgeſetze geblieben; ſie beläſtigten den Verkehr und
brachten geringen Ertrag, auch nachdem ſie ſpäterhin die rein fiskaliſche
Geſtalt der „Uebergangsabgaben“ annahmen.
Irrte Preußen in dieſer Frage, ſo erhoben auch die Südſtaaten
höchſt unbillige Anſprüche. Sie verlangten anfangs eine völlige Umge-
ſtaltung des Tarifs und fanden namentlich die preußiſchen Zölle auf
Baumwollenwaaren unerträglich hoch, da ſie ſelbſt noch faſt gar keine
Baumwollenſpinnereien beſaßen. Und doch konnte Preußen nicht nach-
geben. Sachſens Eintritt ſtand bevor, die preußiſche Induſtrie klagte laut
über die drohende Mitwerbung des Erzgebirges; in ſolcher Stunde die
Zölle herabzuſetzen ſchien ſelbſt dem Freihändler Maaſſen nicht rathſam.
Auch die von Württemberg geforderte Herabſetzung der Zuckerzölle ging
nicht durch; die Intereſſen der mächtig aufblühenden Magdeburgiſchen
Rübenzuckerinduſtrie durften nicht preisgegeben werden. Desgleichen die
gefürchteten preußiſchen Tranſitzölle blieben noch unentbehrlich als ein
ſanfter Wink für die Nachbarn. Ueberhaupt war die Lage des Augen-
blicks der Vereinfachung des Tarifs keineswegs günſtig; Preußens Staats-
männer ahnten, daß die ſüddeutſchen Höfe in einer nahen Zukunft die
Farbe wechſeln, mit ſchutzzöllneriſchem Eifer auf die Erhöhung der Zölle
dringen würden. Lebhafter noch als dieſer ſtaatswirthſchaftliche Kampf
entbrannte der „ſtaatsrechtliche Streit“, wie man in München zu ſagen
pflegte. Die verſtändige Beſtimmung der preußiſch-heſſiſchen Verträge,
wonach Preußen in der Regel allein die Handelsverträge für den Zoll-
verein ſchließen ſollte, galt dem bairiſchen und dem württembergiſchen Hofe
als eine ſchimpfliche Unterwerfung; ſie forderten unbedingte Gleichheit in
Allem und Jedem.
So mannichfache ſachliche Bedenken ins Gleiche zu bringen, konnte
nur erprobter ſtaatsmänniſcher Kraft gelingen. Die oberdeutſchen Höfe
aber hatten, thöricht genug, zwei junge Subalternbeamte für dieſe ſchwierige
Miſſion bevollmächtigt, vermuthlich nur aus Sparſamkeit. Die Erſparniß
ſollte ihnen theuer zu ſtehen kommen. Eichhorn hatte an den Unter-
händlern der Kleinſtaaten ſchon des Wunderſamen viel beobachtet; eine
Perſönlichkeit wie dieſer württembergiſche Bevollmächtigte, der Aſſeſſor
Moritz Mohl, war ihm noch nicht vorgekommen. Die Diplomatie in
[366]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Berlin konnte nicht genug ihre Verwunderung ausſprechen über den un-
geſtümen Mann mit der rothen Perrücke und den vollgepfropften Akten-
mappen: welch eine weitſchweifige Kleinlichkeit, welche Luſt an unfrucht-
barem theoretiſchem Streite, welche Fülle unverdauter Gelehrſamkeit, welch
ein hartnäckiges Mißtrauen gegen Preußen! Der frühreife ſchwäbiſche
Staatsweiſe entfaltete bereits alle jene Talente, die noch vierzig Jahre
ſpäter den deutſchen Reichstag bezaubern ſollten; L. Kühne nannte ihn
„einen eingebildeten Narren, der den Bären des Nordlands ſeine kindiſche
conſtitutionelle Weisheit zu predigen dachte“. Als Mohl dem einzigen
Küſtenſtaate des Zollvereins die Abſchließung von Schifffahrtsverträgen
verbieten wollte, da erwiderte der Preuße: „dann werden wir alſo einen
unſerer Oſtſeehäfen an Württemberg abtreten müſſen um die Gleichheit
zwiſchen den Zollgenoſſen herzuſtellen!“ Mit einem ſolchen Collegen be-
haftet, konnte auch der bairiſche Aſſeſſor Bever nichts fördern. Die hoch-
ſtehenden preußiſchen Staatsmänner fanden es bald unerträglich, mit Sub-
alternen zu verhandeln, die bei jeder Kleinigkeit daheim anfragten; und zu
allem Unheil begann auch wieder der alte Streit der Berliner Departe-
ments: Kühne und Eichhorn, die doch Beide das Nämliche wollten, be-
trachteten einander mit gegenſeitiger Eiferſucht. Alſo geſtalteten ſich die
Verhandlungen mit dem befreundeten Süden wider Erwarten zu einem
unerquicklichen Zwiſt. Im Mai 1832 brach man ſie ab.
Moritz Mohl ſchrieb nun eine ungeheure Denkſchrift und bewies,
daß der Zollverein mit Preußen den ſicheren Untergang Württembergs
herbeiführen müſſe. Ein Menſchenalter darauf hat Freiherr v. Varnbüler
dies klaſſiſche Aktenſtück der Vergeſſenheit entriſſen um der Welt den Weit-
blick des Volksmannes zu zeigen. König Wilhelm wünſchte nach wie vor
den Abſchluß, ſelbſt Wangenheim hatte Einiges gelernt, mahnte aus der
Ferne zur Verſtändigung. Doch die große Mehrheit im Lande widerſtrebte.
Die Fabrikanten, die bisher aus der Beherrſchung des bairiſchen Marktes
großen Gewinn gezogen, fürchteten die Induſtrie des Niederrheins, die
Bequemlichkeit des mächtigen Schreiberſtandes zitterte vor der ſtrengen
preußiſchen Controle, der geſinnungstüchtige Liberale ſchlug ein Kreuz vor
dem Schreckbilde des norddeutſchen Abſolutismus. Mehr als ein halbes
Jahr brauchten die ſüddeutſchen Höfe, um ſich einen neuen Entſchluß zu
bilden. Unterdeſſen trieb die Diplomatie Oeſterreichs und der auswärtigen
Mächte ihr verdecktes Spiel an den Höfen der Mittelſtaaten. Eine Zeit
lang ſtand die große Sache faſt hoffnungslos. Baden thut wohl, alle
Zollvereinsgedanken vorläufig aufzugeben — ſagte der bairiſche Miniſter
Giſe zu dem badiſchen Geſandten Fahnenberg — Preußen ſtellt unerhörte
Forderungen, verlangt von uns materielle Opfer und die Beſchränkung
der Souveränität, Kurheſſen bereut ſchon den übereilten Anſchluß!*) Zu-
[367]Moritz Mohl. Mieg.
dem beſtand wenig Freundſchaft zwiſchen den Beamten der beiden König-
reiche; ein Glück nur, daß Schmitz-Grollenburg, der württembergiſche
Geſandte in München, das Vertrauen König Ludwig’s beſaß und die
Fäden nicht gänzlich abreißen ließ.
So verging das Jahr in leidiger Verſtimmung. Da raffte ſich
endlich König Ludwig auf und ließ am Sylveſterabend eine derbe Note
an Schmitz-Grollenburg ſchreiben: Der ſüddeutſche Verein ſei thatſächlich
aufgelöſt, die Wiederaufnahme der preußiſchen Verhandlungen ſchlechthin
unvermeidlich. Zugleich kam vom Berliner Hofe eine ernſte Mahnung:
wolle man zu Ende gelangen, ſo müſſe ſtatt unbrauchbarer Subalternen
ein fähiger, hochgeſtellter Staatsmann die Unterhandlungen in Berlin
führen. Der Rath wirkte. Zu Ende Januars 1833 wurde der bairiſche
Finanzminiſter v. Mieg als gemeinſamer Bevollmächtigter der beiden
Kronen nach Berlin geſendet: ein Jugendfreund König Ludwig’s noch von
den frohen Salzburger Tagen her, ein trefflicher Beamter von großer
Sachkenntniß und ſeltener Arbeitskraft, die der König nach ſeiner Weiſe
bis auf den letzten Tropfen auspreßte — in der Handespolitik ſehr frei
geſinnt, dabei gütig und liebenswürdig, hochgebildet, von feinen gewinnen-
den Formen. Er vermied über Stuttgart zu reiſen, weil er der pedan-
tiſchen Schwerfälligkeit der württembergiſchen Schreiber mißtraute, ſprach
aber unterwegs in Dresden ein, verſtändigte ſich mit den ſächſiſchen Finanz-
männern und erſchien am 6. Febr. in der preußiſchen Hauptſtadt. Eichhorn
und Maaſſen kamen ihm herzlich entgegen; es bewährte ſich wieder, wie
Blittersdorff mit ärgerlichem Lobe zu ſagen pflegte, „Preußens ſeltenes
Talent, fremde Staatsmänner in Berlin zu gewinnen.“ Noch boten ſich
der Bedenken viele; allein da Preußen auf ſeinen erprobten Tarif, ſeine
feſtbegründete Zollverwaltung verweiſen konnte, ſo blieb nur übrig, die
im Norden beſtehende Ordnung mit einigen Aenderungen anzunehmen.
Preußen verzichtete auf jedes Präcipuum, trotz der Warnungen der Finanz-
partei. Die Einnahmen wurden nach der Kopfzahl vertheilt; nur für die
Schifffahrtsabgaben auf der Oder und Weichſel, die ja gar nicht zur Zoll-
gemeinſchaft gehörten, bezog Preußen eine Bauſchſumme. Auch der theuerſte
Herzenswunſch des bairiſchen Großmachtsbewußtſeins fand Erfüllung:
jeder Staat erhielt das Recht Handelsverträge zu ſchließen, lediglich die
Verträge mit dem ruſſiſchen Polen blieben dem preußiſchen Staate vor-
behalten. Zum Entgelt für ſo große Zugeſtändniſſe wagte Mieg in
einem Punkte ſeine Inſtruktionen zu überſchreiten; er bewilligte, daß
die preußiſche Zollverwaltung des raſcheren Uebergangs halber ſofort im
Süden proviſoriſch eingeführt würde, noch bevor die Zollgemeinſchaft in
Kraft trat.
Am 4. März wurden die heſſiſchen Bevollmächtigten zur erſten Plenar-
verſammlung gerufen, am 22. kam der Vertrag zu Stande: die verbün-
deten Staaten, „in fortgeſetzter Fürſorge für die Beförderung der Freiheit
[368]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
des Handels zwiſchen ihren Staaten und hierdurch zugleich in Deutſchland
überhaupt“, bilden einen „Geſammtverein“, der am 1. Januar 1834 für
acht Jahre ins Leben tritt. Das Grundgeſetz entſprach im Weſentlichen
den heſſiſchen Verträgen, nur daß die Selbſtändigkeit der Bundesgenoſſen
erheblich verſtärkt wurde. Für jede Aenderung der Zollgeſetze wurde Ein-
ſtimmigkeit der Verbündeten gefordert. Das ſchlimmſte Gebrechen des
Vereins lag weniger in ſeinen Satzungen als in der Verſchiebung der Macht-
verhältniſſe. Durch den Zutritt mehrerer größerer Staaten mit gleichem
Stimmrecht wurde die freie Thätigkeit der preußiſchen Handelspolitik unver-
meidlich erſchwert. Die neuen Rechte dagegen, die man den Zutretenden
einräumte, ſchienen bedenklicher als ſie waren — ganz wie die Ausnahme-
beſtimmungen der Verſailler Verträge. Die Befugniß, Handelsverträge zu
ſchließen, dies von Baiern mit ſo leidenſchaftlichem Eifer erſtrebte Kleinod,
erwies ſich als ein ebenſo harmloſes Spielzeug, wie jener unfindbare Bundes-
raths-Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten, welchen Preußen in
Verſailles dem Männerſtolze der Königskronen zugeſtand. Preußen allein
galt im Auslande als Haupt und Vertreter des Zollvereins; daher ſind
alle irgend wichtigen Handelsverträge durch Preußen im Namen des
Vereins abgeſchloſſen worden. Auch die Controle ward ermäßigt, auf
Baierns Andringen. Die Verbündeten ſendeten blos Vereinsbevollmächtigte
zu den Zolldirektionen, Controleure zu den Hauptzollämtern der Genoſſen;
eine gegenſeitige Viſitation des Grenzdienſtes fand nicht mehr ſtatt. Solche
Formen verſchlugen wenig; denn im Grunde war der Verein auch bisher
nur durch wechſelſeitiges Vertrauen und die Macht der Intereſſen zu-
ſammengehalten worden. Die Bundesgenoſſen gelobten einander „unbe-
ſchränkte Offenheit“ in der Zollverwaltung und ſie haben ihr Wort redlich
gehalten. Um den hergebrachten bundespatriotiſchen Phraſen zu genügen
und zugleich gegen alle Angriffe von Frankfurt her ſich zu decken, ver-
ſprachen die Verbündeten ihren Verein aufzulöſen, ſobald der Bundestag
den Art. 19 erfülle — eine gemüthliche Zuſage, die Eichhorn ſchwerlich
ohne ſtilles Lächeln gegeben hat.
Da Baiern und Württemberg noch immer ihre thörichte Sorge vor
finanziellen Verluſten nicht aufgaben, ſo wurde in einem geheimen Artikel
den Verbündeten das Recht vorbehalten, den Verein vor der Zeit zu
kündigen, falls ihre Zolleinnahmen einen Ausfall von 10% des bisherigen
Rohertrags aufwieſen. Maaſſen unterſchrieb getroſten Muthes; er wußte,
daß der Vertrag ein Löwenvertrag war zu Gunſten des Südens, und der
Erfolg ſollte ſeine Erwartungen noch weit übertreffen. In den Jahren
von 1834—1845 hat der Norden an Baiern 22,29 Mill. Thlr., an
Württemberg 10,3 Mill. herausgezahlt, in dem Zeitraum von 1854—1865
empfing Baiern vom Norden 34 Mill. Während der zwei erſten Jahr-
zehnte des Zollvereins haben bei der Abrechnung regelmäßig nur Preu-
ßen, Sachſen, Frankfurt und Braunſchweig herausgezahlt; alle anderen
[369]Baierns Zögerung.
Staaten gewannen. Allerdings geben jene großen Zahlen kein ganz zu-
treffendes Bild, da ein Theil der für das Binnenland beſtimmten Ein-
fuhr in den Häfen und Speditionsplätzen des Nordens verzollt wurde.
Deutlicher erhellt der unverhältnißmäßige Gewinn des Südens aus der
Thatſache, daß die Verwaltungskoſten in Baiern ſchon während des erſten
Jahres von 44 auf 16, ſpäter auf nahezu 10% ſanken, Baierns Antheil
an dem Kaffezolle ſofort auf das Dreifache, bis zum Jahre 1845 auf das
Fünffache ſtieg.
Um auch den leiſeſten Anſchein preußiſcher Hegemonie zu vermeiden,
wurde verabredet, daß die alljährlichen Conferenzen der Zollvereinsbevoll-
mächtigten nicht mehr, wie im preußiſch-heſſiſchen Verein, regelmäßig zu
Berlin ſich verſammeln ſollten; ſie wanderten fortan, nach dem Belieben
der Verbündeten, von Ort zu Ort, der erſte Zuſammentritt fand in
München ſtatt. Streitigkeiten wollte man der Entſcheidung eines Schieds-
richters unterwerfen, der durch einſtimmigen Beſchluß für jeden einzelnen
Fall zu ernennen war. Doch iſt ein ſolcher Schiedsſpruch niemals an-
gerufen worden — nicht weil die Eintracht ungetrübt beſtanden hätte,
ſondern weil der Dünkel der Kleinſtaaten den freiwilligen Ausgleich der
ſchimpflichen Unterwerfung unter eine fremde Gewalt regelmäßig vorzog.
Daß Baiern ſeine Bierſteuer behielt, war unvermeidlich. Man begnügte
ſich daher ein Maximum für die Conſumtionsſteuern feſtzuſetzen und die
allmähliche Annäherung der Steuerſyſteme in Ausſicht zu ſtellen. In
einem ſo lockern Bunde blieb das liberum veto und das Kündigungsrecht
für Preußen ebenſo unentbehrlich wie für die Kleinſtaaten, als ein letztes
verzweifeltes Mittel, um dem ſchwerfälligen Körper einen Entſchluß zu ent-
reißen. Nur die Hoffnung auf einen hohen politiſchen Gewinn konnte den
preußiſchen Hof zu ſo ſchweren Opfern, zu einer ſo weitgehenden Nachſicht
für die Grillen und Eitelkeiten der Mittelſtaaten beſtimmen. Mit über-
legener Geduld erwartete Eichhorn, daß aus den faſt lächerlichen Formen
dieſes lockeren Vereines doch eine unlösbare Gemeinſchaft der Intereſſen
emporwachſen müſſe.
Mieg kehrte heim in der feſten Erwartung, daß der ſo überaus vor-
theilhafte Vertrag ihm die Verzeihung für ſein eigenmächtiges Vorgehen
verbürge. Er täuſchte ſich ſchwer. König Ludwig konnte ſelbſtändigen
Willen nicht ertragen, empfing den Freund mit bitteren Vorwürfen;
daß die preußiſche Zollordnung ſofort proviſoriſch eingeführt werden ſollte,
ſchien ihm eine Entwürdigung der bairiſchen Krone. Der Miniſter wollte,
tief verletzt, ſein gegebenes Wort nicht zurücknehmen; er forderte und er-
hielt ſeine Entlaſſung. Die öſterreichiſche Partei jubelte; „ſo gewinnt
das eigentlich wahre Bundesſyſtem wieder das Uebergewicht“, ſchrieb
Blittersdorff befriedigt.*) Nunmehr nahm der König die Acten an ſich,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 24
[370]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
und lange blieb das Schickſal des Vertrages zweifelhaft. Mieg’s Nach-
folger Lerchenfeld erkannte zwar, nachdem er die Papiere eingeſehen, die
Nothwendigkeit des Abſchluſſes, doch rückte er nicht recht mit der Sprache
heraus. Fürſt Oettingen-Wallerſtein vollends, der vielgewandte liberali-
ſirende Miniſter bewies in ausführlicher Denkſchrift: kein Zollverein ohne
Oeſterreich, die preußiſche Hegemonie iſt Baierns Verderben. Der preußiſche
Geſandte hielt ſchon Alles für verloren und ſchrieb verzweifelnd: nur Eich-
horn ſelber könne noch retten. Darauf eilte Eichhorn ſofort nach München
(Juli 1833), gewährte noch das letzte Zugeſtändniß, gab zu, daß kein
Proviſorium ſtattfinden ſolle; ſeine gewinnende Freundlichkeit brachte in
wenigen Tagen Alles ins Reine. Jetzt brach des Königs gute Natur wieder
durch; er wünſchte ſich Glück zu der Wiederkehr der fridericianiſchen Tage,
ließ eine Denkmünze prägen auf das Gelingen ſeines eigenſten Werkes und
ſagte zu dem Naſſauer Röntgen: „Oeſterreich iſt ein abgeſchloſſener Staat,
mit dem wir wohl Handelsverträge, doch keinen Zollverein ſchließen können;
Preußen iſt ein Blitz, der mitten durch Deutſchland hindurchfährt.“
Kaum war die Krone Baiern gewonnen, ſo begann der Kampf mit
dem württembergiſchen Landtage. Die ſchwäbiſchen und badiſchen Libe-
ralen hatten ſich zu Anfang des Jahres in Pforzheim verſammelt und
dort beſchloſſen, dem vordringenden preußiſchen Abſolutismus mannhaft
zu widerſtehen. Die Schutzzöllner beweinten den nahen Untergang der
ſchwäbiſchen Induſtrie; die Particulariſten bewieſen, daß Württembergs
Abſatzwege nach Frankfurt und der Schweiz, nicht nach dem Norden führten;
manche peſſimiſtiſche Radicale gönnten dem verhaßten Miniſterium nicht
ein Verdienſt, das der Regierung allein gebührte, ſie wünſchten noch
weniger, daß ein wichtiger Grund der allgemeinen Unzufriedenheit beſeitigt
werde. Die gemüthlichen Leute wollten die geforderten Opfer nur einem
geſammtdeutſchen Vereine bringen. Selbſt den gemäßigten Liberalen ſchien
es hochbedenklich, einer abſoluten Krone mittelbare Einwirkung auf den
württembergiſchen Haushalt zu geſtatten. Zudem wurden die Kammern
nur zu einer Erklärung über den Vertrag, nicht zu förmlicher Geneh-
migung aufgefordert. Der Landtag empfand bitter ſeine Ohnmacht. König
Wilhelm ſetzte ſeinen Stolz darein das Werk hinauszuführen; kein Zweifel,
er hätte auch ohne die Zuſtimmung der getreuen Stände den Vertrag
vollzogen und alſo den leeren Schein der ſchwäbiſchen Verfaſſungsherr-
lichkeit vor aller Welt erwieſen. Darum wollte ſelbſt Paul Pfizer, der
Bewunderer Preußens ſich nicht zur Genehmigung entſchließen; wenn er
zuſtimmte, ſo verlor er jedes Anſehen unter den Parteigenoſſen, jede po-
litiſche Wirkſamkeit in ſeiner Heimath. In ſolchen tragiſchen Widerſpruch
war der ſüddeutſche Liberalismus gerathen.*) Endlich, im November ge-
[371]Abſchluß mit Baiern und Württemberg.
nehmigte der Landtag den Vertrag nach harten Kämpfen. Nur Einzelne
waren überzeugt durch die treffliche Denkſchrift über Badens Beitritt,
welche Nebenius in der elften Stunde veröffentlicht hatte um die Schwaben
zu gewinnen. Die Mehrzahl gab ihr Ja nur aus gedankenloſem Ge-
horſam; alle Führer der Liberalen, Pfizer, Uhland, Römer, ſtimmten da-
wider. Es war ein vollſtändiger Triumph des geſchäftskundigen Beamten-
thums über den ſchwärmenden Liberalismus.
Neue unerquickliche Händel folgten, da nun das preußiſche Zollweſen
durch eine gemeinſame Vollziehungscommiſſion im Süden eingeführt wurde.
Wie oft mußte der preußiſche Commiſſär L. Kühne von den gemüthlichen
bairiſchen Beamten bittere Klagen hören über dieſe verwünſchte Berliner
Strammheit; er beſtand darauf, daß in den Grenzbezirken, wo offenkun-
diger Schmuggel blühte, drei Monate lang eine ſtrenge Binnencontrole
gründlich aufräumte. Die unfreie ſociale Geſetzgebung der Mittelſtaaten
fand ſo leicht nicht den Uebergang zur preußiſchen Freiheit. Das erſte
Jahr des neuen Zollvereins (1834) brachte dem bairiſchen Volke ein
neues höchſt unverſtändiges Gewerbegeſetz, das die „Inländer“ kleinlich
begünſtigte. Als der preußiſche Geſandte Einſpruch erhob und an die im
Vertrage zugeſagten „gleichförmigen Grundſätze“ der Gewerbspolizei er-
innerte, verbat ſich der Münchener Hof ärgerlich die preußiſche Einmiſchung.
Doch der weſentliche Inhalt des Vertrags wurde redlich ausgeführt. Seit
in München ein neuer Zolldirektor, der verdiente Knorr, ernannt war,
arbeitete die Zollverwaltung feſt und pünktlich. Jeder neue Tag der Er-
fahrung warb dem Zollvereine neue Anhänger im Süden; die beſſeren
Köpfe des Liberalismus geſtanden beſchämt ihren Irrthum. Ein befrem-
dender unnatürlicher Anblick: dies Doppelleben unſeres Volkes unter dem
Deutſchen Bunde! Der Bundestag ein Spott der Welt, eine Schande
des Vaterlandes; und dieſelben Regierungen, die ihn halten, arbeiten
zugleich an der Einigung der Nation. Wenige Tage nach jenem Berliner
Märzvertrage ſtürmte die erhitzte Jugend die Frankfurter Wachen; die Idee
der deutſchen Einheit erhob ſich gegen die Höfe, welche ſoeben eine der
folgenreichſten Thaten unſerer nationalen Politik vollzogen hatten. —
Gleichzeitig mit Baiern und Württemberg unterhandelte Sachſen in
Berlin. Es geſchah wie Motz vorhergeſehen: keine der Zollsvereinsver-
handlungen hat den preußiſchen Staatsmännern ſchwerere Ueberwindung
gekoſtet. Gewiß trat mit Sachſens Beitritt nur die Natur der Dinge in
ihr Recht. Das Erzgebirge erhielt wieder ungehemmten Verkehr mit ſeiner
alten Kornkammer, den Muldeniederungen in der Provinz Sachſen,
Leipzig wieder freie Verfügung über ſeine wichtigſten Handelsſtraßen;
Macht und Bedeutung des Zollvereins ſtiegen erheblich, ſobald eines der
erſten Fabrikländer und der größte Meßplatz Europas hinzutrat. Gleich-
24*
[372]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
wohl war der unmittelbare Vortheil faſt ausſchließlich auf Sachſens Seite;
in Preußen erhoben ſich ernſte ſtaatswirthſchaftliche und finanzielle Be-
denken. Preußen gewann in Sachſen nur einen kleinen Markt, der
überdies durch ſeinen eigenen Gewerbfleiß ſchon reichlich verſorgt war.
Da die Lebenshaltung und demnach der Arbeitslohn im Erzgebirge niedriger
ſtand als in irgend einem anderen Induſtriebezirke, ſo fürchteten die preu-
ßiſchen Fabriken, vornehmlich die Webereien und Druckereien in Schleſien
und in der Provinz Sachſen, der ſächſiſchen Concurrenz zu erliegen. Von
allen Seiten her wurde das Finanzminiſterium mit Warnungen beſtürmt;
am Niederrhein rief die erſte Nachricht von dem Beginn der preußiſch-
ſächſiſchen Verhandlungen weithin im Lande eine ſtarke Aufregung her-
vor.*) Die Frage, wie ein großer Meßplatz einem Zollſyſteme ſich einfügen
laſſe, galt noch allgemein als ein faſt unlösbares Problem; ſie war bei
den Verhandlungen mit Baiern-Württemberg oft erörtert und endlich
zur Seite geſchoben worden, da man an der Verſtändigung verzweifelte.
An der ſächſiſch-böhmiſchen Grenze hatte ſich ein ungeheurer Schmuggel
feſtgeniſtet; das Volk nahm den elenden Zuſtand hin wie eine Nothwen-
digkeit, ja wie einen Segen. Selbſt Lindenau wagte nach dem Abſchluß
des Zollvereins im Geſpräche mit Blittersdorff nur die ſchüchtern zweifelnde
Bemerkung: daß der Schmuggel im Erzgebirge jetzt aufhören wird, „iſt
wohl ſchwerlich ein Unglück“.**) Die hochherzige Geſinnung des neuen
Mitregenten, des Prinzen Friedrich Auguſt, wurde in Berlin ebenſo bereit-
willig anerkannt, wie die Einſicht der trefflichen Männer, die er in ſein
Cabinet berufen. Doch ein volles Jahr verfloß, bis die Ordnung in dem
aufgeregten Ländchen ſich wieder befeſtigte; Maaſſen fragte beſorgt, ob
eine Regierung, die den ſchwächlichen Aufläufen in Leipzig und Dresden
ſo wenig nachhaltigen Widerſtand entgegengeſtellt, auch den feſten Muth
beſitzen werden, die Schmuggelneſter im Gebirge auszuheben. Und lehrte
denn nicht der Gang der Verhandlungen, daß die neue Regierung das
alte kleinliche Mißtrauen gegen Preußen nicht gänzlich über Bord geworfen
hatte? Man kam in Berlin nicht los von dem Argwohn, Sachſen würde
einen Zollverein mit Oeſterreich vorziehen, wenn nur die Hofburg mehr
böte als leere Redensarten. Wenn König Friedrich Wilhelm keinen deut-
ſchen Staat locken und einladen wollte, ſo doch am allerwenigſten dieſen
ſächſiſchen Hof, der als Stifter des mitteldeutſchen Vereins eine ſo bösartige
Gehäſſigkeit zur Schau getragen hatte. Der preußiſche Conſul Baumgärtner
empfing einen herben Verweis, als er zu Anfang 1830 eine Flugſchrift
über die Nothwendigkeit eines ſächſiſch-preußiſchen Zollbundes ſchrieb und
in Sachſen verbreitete.
[373]Verhandlung mit Sachſen.
Bis zum Sturze des alten Syſtems erging ſich die ſächſiſche Re-
gierung in Umwegen und Künſteleien, nach der alten Gewohnheit der
Mittelſtaaten. Sie fragte in Stuttgart und München an, ob Sachſen
nicht dem ſüddeutſchen Vereine beitreten könne. Ihr Berliner Geſchäfts-
träger Könneritz richtete an Ancillon die Bitte: Preußen möge ſofort ſeinen
Tarif zu Sachſens Gunſten herabſetzen, da die Verhandlungen über den
unmittelbaren Anſchluß vor der Hand noch ausgeſetzt werden müßten.
Maaſſen aber antwortete (15. Sept. 1830): „ohne vorhergegangene Ver-
einigung zu einem gegenſeitig erleichterten Handelsverkehr“ können wir bei
der Ordnung unſeres Tarifs auf dritte Staaten keine Rückſicht nehmen.*)
Erſt das Miniſterium Lindenau fand den Muth einzugeſtehen was
ſich mit Händen greifen ließ: daß Sachſens Gewerbfleiß ohne Preußens
Freundſchaft untergehen mußte; nahm doch die geſammte überſeeiſche Aus-
fuhr des Landes ihren Weg durch Preußen, desgleichen faſt die geſammte
Einfuhr der rohen Baumwolle. Leider war nur ein Theil der Fabrikanten
im Gebirge dem Anſchluß günſtig, das Landvolk und vornehmlich das
mächtige Leipzig wehklagten über das hereinbrechende Verderben. Alſo hat
ſelbſt der allzeit patriotiſche und einſichtige Handelsſtand der wackeren
Pleißeſtadt, ganz wie ſpäterhin die Kaufmannſchaft von Frankfurt, Bremen,
Hamburg, die unliebſame Wahrheit erhärtet, daß der Intereſſent faſt nie-
mals ſachverſtändig iſt. Auch der große Kaufherr wird zum Krämer, ſein
Geſichtskreis verengt ſich, ſobald er ſeinen unmittelbaren Vortheil bedroht
wähnt; ſtolz auf ſeine perſönliche Kraft und Freiheit, empfindet er es als
eine Anmaßung, eine Beleidigung, wenn die Männer des grünen Tiſches
ihm zumuthen ſeine altgewohnten Geſchäftsformen zu ändern, und will
nicht zugeſtehen, daß über große handelspolitiſche Fragen nicht die privat-
wirthſchaftliche Anſchauung des Kaufmanns, ſondern das ſtaatswirth-
ſchaftliche Urtheil des Staatsmannes zu entſcheiden hat. Trotz Alledem
entſchloß ſich die Regierung gegen Jahresſchluß zu jener erſten Anfrage in
Berlin. Das Miniſterium des Auswärtigen antwortete (24. Jan. 1831):
Die Schwierigkeiten ſcheinen ſehr groß, die Intereſſen überaus verſchieden;
„dennoch iſt die Aufgabe ſo gemeinnützig und deutſcher Regierungen, welche
neben der Sorge für ihre Unterthanen zugleich die Beförderung des Wohls
von ganz Deutſchland im Auge haben, ſo entſchieden würdig“, daß wir den
Verſuch wagen wollen. Die oberdeutſchen Könige, von Allem unterrichtet,
überließen die Verhandlungen vertrauensvoll dem preußiſchen Hofe; die
Ueberlegenheit der ſächſiſchen Induſtrie, meinte Armansperg zuverſichtlich,
iſt in einem großen Vereine wenig zu fürchten, auch die ſchwierige Grenz-
bewachung muß ſich durchführen laſſen, ſo man ernſtlich will.**)
[374]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Im März 1831 kam der ſächſiſche Finanzminiſter v. Zeſchau nach
Berlin — neben dem Baiern Mieg, dem Heſſen Hofmann und dem
Badener Boeckh ſicherlich der fähigſte unter allen den Finanzmännern, mit
denen Preußen zu verhandeln hatte — thätig und kenntnißreich, ein ritter-
licher Charakter, ſchweigſam und bedächtig, noch von ſeiner preußiſchen
Dienſtzeit her mit L. Kühne wohl bekannt. Die in Dresden gewünſchte
Aenderung des geſammten Tarifs gab er bald auf, gleichwohl ward er mit
Maaſſen nicht handelseinig. Erſchreckt durch die Warnungen ſeiner Fabri-
kanten wollte Preußen proviſoriſche Schutzzölle zu Gunſten einiger Fabrik-
waaren einführen, damit die Induſtrie Zeit behielte ſich auf die Con-
currenz des Erzgebirges zu rüſten. Zugleich verlangte man Entſchädigung
für den drohenden ſtarken Verluſt an Durchfuhrzöllen. Kühne ſelbſt fand
dieſe Forderungen zu hart; aus dem Magdeburgiſchen gebürtig betrachtete
er die Kurſachſen halb als ſeine Landsleute und hielt dem Miniſter vor:
nach der Theilung Sachſens ſei Preußen ſchon ehrenhalber verpflichtet
dem Nachbarlande Wohlwollen zu zeigen. Als Maaſſen in dieſen Fragen
endlich nachgegeben hatte, erhob ſich ſofort ein neues Hemmniß: die Meß-
frage. Frankfurt an der Oder hatte bisher für ſeine Meſſen einen Zoll-
rabatt genoſſen, der erſt vor Kurzem auf 20% herabgeſetzt war; nun der
Eintritt Leipzigs bevorſtand, wollte Preußen ſeinen ſchwer bedrohten kleinen
Meßplatz nicht ungünſtiger ſtellen als bisher. Die Leipziger Kaufmann-
ſchaft dagegen ſagte den unfehlbaren Verfall ihrer Meſſen voraus, falls
Frankfurt irgend ein Vorrecht behalte; und „keine Regierung, am wenigſten
eine conſtitutionelle — ſchrieb der ſächſiſche Bevollmächtigte Wietersheim
— kann einer ſo ausdrücklichen Erklärung der Repräſentanten des gefähr-
deten National-Intereſſes entgegenhandeln“. Auch das Altenburgiſche
Geheime Miniſterium ſendete ein dringendes Mahnungsſchreiben nach
Berlin — „ohne alle äußere Aufforderung“, wie man unſchuldig be-
theuerte — und ſchilderte in herzbrechenden Worten das furchtbare Schick-
ſal, das dem unglücklichen Leipzig drohe.*)
Da die Verhandlungen ſich ſo ungünſtig anließen, ſo wünſchte der
ſächſiſche Hof, geängſtigt durch die fortdauernde Gährung im Lande, min-
deſtens einige Handelserleichterungen ſofort zu erlangen, falls die voll-
ſtändige Vereinigung nicht möglich ſei. Der Prinz-Mitregent ſelber
ſtellte dieſe Bitte in einem Handſchreiben an den König von Preußen
(11. April 1831). Er gab zu bedenken, daß mit dem gänzlichen Miß-
lingen dieſer Verhandlungen „die Ausführung des großen und für die
Sicherheit und Ruhe Deutſchlands begründeten, von Ew. K. Maj. ver-
folgten Planes, die Intereſſen des Handels und Verkehrs in verſchiedenen
deutſchen Staaten zu vereinigen und dadurch zugleich das politiſche Band
[375]Abſchluß mit Sachſen.
zu befeſtigen, gefährdet werden oder mindeſtens Aufſchub erleiden würde.
Auch mag ich mir ſelbſt nicht verſchweigen, daß eine erfolgloſe Verhand-
lung in der gegenwärtigen Zeit auch hier nicht ohne einen ſehr ungün-
ſtigen Eindruck bleiben würde.“*) Ein ſolcher Mittelweg ſchien aber den
beſten Köpfen der preußiſchen Regierung kleinlich und nutzlos. Eichhorn
bewies in einem ausführlichen Gutachten: ſofortige Handelserleichterungen
würden, nach der Lage der Dinge, nur dem preußiſchen Staate einſeitige
Opfer auferlegen; wolle Sachſen dagegen zu Preußen in ein ähnliches
Verhältniß treten, wie bisher Baiern und Württemberg, ſo ſei dazu eine
vollſtändige Neugeſtaltung ſeines Zollſyſtems erforderlich; warum alſo
nicht ſogleich das höchſte Ziel, den Zollverein, ins Auge faſſen? Auch
der geiſtvolle Beuth meinte traurig: „wäre die Zeit nicht ſo ſchlecht und
ungünſtig, ſo konnte man die Sache großartiger behandeln.“ Die letzten
mündlichen Verhandlungen erfolgten im Juli, bald nachher ſtockte auch
der ſchriftliche Verkehr. Die deutſchen Cabinette begannen zu fürchten,
daß Sachſen den Plan aufgegeben habe; der Dresdner Hof ſah ſich um
die Wende des Jahres genöthigt, in einer langen Denkſchrift ſeine Handels-
politik vor den oberdeutſchen Königen zu vertheidigen.
Erſt als Baiern und Württemberg ihre Zollvereinsverhandlungen
in Berlin eröffneten, faßte man ſich in Dresden wieder ein Herz. Im
März 1832 erſchien Zeſchau zum zweiten male in Berlin. Abermals
kam man einen Schritt weit vorwärts; Sachſen erklärte ſich bereit das
preußiſche Syſtem der indirekten Steuern anzunehmen. Doch über die
Meſſen konnte man ſich wieder nicht verſtändigen. Nun wirkte auch die
Staatsweisheit Moritz Mohl’s lähmend auf Sachſen zurück; ohne die
ſüddeutſchen Höfe, die jetzt ihre Verhandlungen abbrachen, wollte das
Dresdner Cabinet, wie begreiflich, nicht beitreten. Im Mai wurde die
letzte Berathung gehalten; der Sommer verlief in peinlicher Verlegenheit.
Die amtliche Leipziger Zeitung ſchlug bereits jenen ſalbungsvollen Ton
an, der immer ein Zeichen der Rathloſigkeit iſt; ſie mahnte: „der Ent-
ſchluß, welchen die Staatsregierung mit den Landſtänden ergreift, wird
jedem Staatsbürger heilig ſein.“
Inzwiſchen beging der ſächſiſche Hof einen ſchweren politiſchen Fehler,
der den ſchlimmſten Verdacht zu rechtfertigen ſchien. Hannover hatte am
Bundestage wieder einmal die Ausführung des unſterblichen Art. 19 be-
antragt — in der unverhohlenen Abſicht, den Gang der preußiſchen
Handelspolitik zu ſtören. Ohne jede Rückſprache mit Preußen, ohne auch
nur den Bericht der Bundestagscommiſſion abzuwarten, ſtimmte Sachſen
als die erſte deutſche Regierung dem thörichten Antrage zu und erklärte:
Höchſter Zweck des Bundes in Zollſachen iſt, dasjenige durch gemein-
ſchaftliche Geſetze zu erreichen, was durch Einzelverhandlungen nur ſchwer
[376]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
zu erreichen iſt; ſollen in Deutſchland überhaupt Durchfuhrzölle beſtehen,
ſo doch jedenfalls ein anderes Syſtem als das preußiſche! — Die Finanz-
partei in Berlin klagte laut über die offenbare Zweizüngigkeit. Geh. Rath
Michaelis fragte in einer ſcharfen Denkſchrift: ſoll dieſe Sprache des
ſächſiſchen Bundestagsgeſandten etwa die öffentliche Meinung in Sachſen
für den preußiſchen Zollverein gewinnen? — Wen konnten auch die
nichtigen Entſchuldigungen überzeugen, die der ſächſiſche Miniſter Minckwitz
ſeinem Berliner Geſandten Watzdorf ſchrieb (29. Nov. 1832)? Der harm-
loſe Mann betheuerte, die Vorgänge in Frankfurt ſollten den Berliner
Verhandlungen „keinen Eintrag thun“! Eichhorn aber, als ein gewiegter
Kenner des Charakters der kleinen Höfe, mahnte ſeine erzürnten Amts-
genoſſen zur Geduld: gönnen wir doch den Herren in der Eſchenheimer
Gaſſe ihre unſchuldigen Stilübungen; der Dresdner Hof meint es ehrlich,
wenngleich er zuweilen einem Anfall von Schwäche unterliegt; noch eine
kurze Friſt, und er kommt wieder zu uns.
Und ſo geſchah es. Im Januar 1833 beſprach ſich Mieg in Dresden
mit Zeſchau, und als darauf die Berliner Verhandlungen mit Baiern
ſo glücklich vorangingen, kam der ſächſiſche Finanzminiſter (24. März)
zum dritten male in die preußiſche Hauptſtadt. Nach kaum acht Tagen
(30. März 1833) ſchloſſen Eichhorn, Maaſſen, Zeſchau und Watzdorf den
Zollvereinsvertrag, der wörtlich mit dem ſoeben beendigten bairiſchen über-
einſtimmte. Einige Separatartikel ordneten den Zuſtand der Meſſen.
Der Frankfurter Zollrabatt blieb etwas ermäßigt beſtehen, doch durfte
Sachſen ſeinem Leipzig ähnliche Vergünſtigungen zuwenden. Der Meß-
handel erhielt eine große Erleichterung durch die Einrichtung der Meß-
contirung; für Leipziger Großhandlungen von gutem Rufe wurde ſogar
ein über die Meßzeiten hinaus fortdauerndes Steuerconto zum Abſchreiben
eröffnet — eine wichtige Vergünſtigung, die noch manchen Mißbrauch ver-
anlaſſen ſollte. Auch die Herabſetzung einiger Zollſätze, namentlich für
Woll- und Baumwollwaaren, wurde vereinbart. Preußen verpflichtete ſich,
die Ermäßigung der Elbſchifffahrtsabgaben, welche Anhalt dem preußiſchen
Elbhandel zugeſtanden hatte, auch dem ſächſiſchen Verkehre zuzuwenden;
der gute Vorſatz ſcheiterte freilich an Anhalts Kleinſinn.
Nicht ohne Zagen unterſchrieb Maaſſen den Vertrag, der den preu-
ßiſchen Markt den Fabriken des Erzgebirges eröffnete; von allen ſeinen
Räthen ſtimmte ihm nur Kühne unbedingt zu. „Das iſt ein ſchwerer
Vertrag — ſagte er zu Kühne und wog die Actenſtücke auf der flachen
Hand — es hätte ihn nicht jeder unterzeichnet.“ Die Beſorgniß des
Staatswirths hatte zurücktreten müſſen vor den Hoffnungen der Politiker.
Sachſen ſtand gerade in den Flitterwochen ſeines conſtitutionellen Lebens;
der Eintritt dieſes Staates mußte die öffentliche Meinung günſtig ſtimmen.
Leider verging wieder eine geraume Friſt, bis die deutſche Welt mit der
vollendeten Thatſache ſich verſöhnte. Die preußiſchen Fabrikanten lärmten,
[377]Abſchluß mit Thüringen.
die gute Stadt Leipzig überließ ſich einer maßloſen Verzweiflung. Eine
Petition, die der k. k. Conſul Bercks geſchäftig umhertrug, warnte die
Regierung; die Stadtverordneten richteten eine dringende Vorſtellung nach
Dresden. An Zeſchau’s Wohnung fand ſich eines Morgens ein Anſchlag:
„Allhier wird von einem Parvenu, einem preußiſchen Landrath, ſo ſäch-
ſiſcher Finanzminiſter geworden iſt, das Land für Geld und Orden an
Preußen verkauft.“ Der Taumel ergriff jeden Stand und jedes Alter.
Die Leipziger Schulbuben kauften ſich engliche Farbkäſten auf Vorrath,
weil ſie mit frühreifer handelspolitiſcher Vorſicht befürchteten, das gewohnte
Spielzeug werde nunmehr für bürgerliche Geldbeutel unerſchwinglich wer-
den. Ein Jahr darauf ſchon begann für die Pleißſtadt eine neue Epoche
glänzender Handelsblüthe; das kleine Frankfurt wurde durch den über-
legenen Nebenbuhler ganz zurückgedrängt, die mächtigen Leipziger Firmen
lernten bald den Frankfurter Meßrabatt für ſich ſelber zu benutzen. Auch
die Klagen der preußiſchen Fabrikanten verſtummten, und Niemand wollte
die warnenden Petitionen unterſchrieben haben. Zeſchau ſelbſt, der Wohl-
thäter Leipzigs, hat freilich von den ſtolzen Kaufherren der Meßſtadt nie-
mals irgend eine Genugthuung für ſo viele Schmähungen erhalten.
Während dieſe verwickelte zweifache Verhandlung in wiederholten
Anſätzen erledigt wurde, hatte Eichhorn’s unverwüſtliche Geduld zugleich
ein drittes ſchwieriges Geſchäft zu führen: die Unterhandlungen mit den
thüringiſchen Staaten. In Thüringen wie in Sachſen und Kurheſſen
wurde die beginnende Bekehrung gefördert durch den unruhigen Sommer
von 1830, durch die Angſt vor den murrenden Maſſen. Hier wie in
Sachſen hoffte man anfangs, ſogleich einſeitige Handelserleichterungen
von Preußen zu erlangen. Der weimariſche Miniſter Gersdorff kam im
Januar 1831 zugleich mit Lindenau nach Berlin, überbrachte ein Hand-
ſchreiben ſeines Großherzogs, das um ſolche Vergünſtigung bat: „dies
würde in einer Periode mannichfacher Aufregungen Uebelgeſinnten einen
Vorwand zu ſchlechten Einwirkungen entnehmen.“ Auf wiederholte ähn-
liche Anfragen kleiner thüringiſcher Höfe antwortete das Berliner Cabinet
(5. Juli 1831): man ſei bereit, über einen Zollverein zu verhandeln,
doch nur mit allen thüringiſchen Staaten gemeinſam, und nur wenn
dieſe Höfe ſich nicht mehr gebunden glaubten an den mitteldeutſchen
Verein. Erſt als Kurheſſen zu dem preußiſchen Vereine übergetreten
war, erklärten die erneſtiniſchen Höfe: der mitteldeutſche Verein ſei that-
ſächlich aufgelöſt.
General Leſtocq, der vielgeplagte Geſandte, den die thüringiſchen
und einige andere kleine Dynaſten in Berlin auf gemeinſame Koſten
ernährten, überreichte am 15. Januar 1832 eine Verbalnote: Preußen
möge die Initiative ergreifen, ältere bindende Verpflichtungen beſtänden
nicht mehr. Weimar drängte am eifrigſten; das Großherzogthum beſaß
an Gersdorff und O. Thon zwei treffliche Verwaltungsbeamte, die wohl
[378]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
einſahen, wo der Grund der ewigen Finanznoth lag. Spröder verhielt
ſich Gotha, da hier der hergebrachte Schmuggel allgemein als ein Na-
tionalglück betrachtet wurde. Maaſſen und Eichhorn entwickelten nun
ausführlicher den einfachen Gedanken, den ſie ſo oft ſchon ausgeſprochen
hatten: die verzettelten thüringiſchen Gebiete ſollen zunächſt unter ſich
einen Verein mit gemeinſamer Zollverwaltung bilden und dann erſt als
eine geſchloſſene Einheit in den großen Zollverein treten; Preußen will
die Kreiſe Erfurt, Suhl und Ziegenrück dieſem thüringiſchen Vereine zu-
theilen, wird auch dafür ſorgen, daß Kurheſſen ſein Schmalkaldener Land
hinzugefügt. Zu förmlichen Verhandlungen kam es auch jetzt noch nicht;
denn Eichhorn hoffte, vorher mit Baiern und Württemberg abzuſchließen.
Dieſe beiden Höfe fühlten ſich ſchon beunruhigt durch die Anfragen der
Erneſtiner; ſie meinten: ſchließe Thüringen früher ab, ſo ſei der Süden
auf Gnade und Ungnade dem Belieben Preußens überliefert. Darum
richteten ſie ſogar eine Verwahrung an den Berliner Hof (15. Nov. 1832):
ohne die vorhergehende Zuſtimmung Baierns und Württembergs dürfe
Preußen die Thüringer nicht aufnehmen. Der Dresdener Hof, der ſich
noch immer als das geborene Oberhaupt der Erneſtiner fühlte, verlangte
zu allen Verhandlungen mit ſeinen Stammesvettern zugezogen zu werden.
Preußen erwiderte: wir werden Sachſens Intereſſen ſorgſam wahren,
doch der Zutritt eines ſächſiſchen Bevollmächtigten kann die Verhandlungen
nur erſchweren. Immerhin haben dieſe Bedenken der drei kleinen Königs-
kronen den Beginn der Unterhandlungen verzögert.
Erſt im December 1832 begannen die Conferenzen mit den Thüringern.
Die preußiſchen Staatsmänner ſchlugen vor, eine Centralbehörde für das
thüringiſche Zollweſen zu bilden. Große Beſtürzung; keiner der Kleinen
wollte eine ſolche Beſchränkung ſeiner Souveränität zugeben. Da meinten
die Preußen begütigend: es werde genügen einen Generalinſpektor einzu-
ſetzen; der müſſe freilich in Erfurt wohnen, als dem Mittelpunkte des
Landes, doch ſolle er nicht von Preußen, ſondern von der thüringiſchen
Hauptmacht Weimar ernannt werden. Hiermit ſchien jeder Widerſpruch
entwaffnet. Wenn Preußen ſein Zollweſen einem weimariſchen Beamten
unterſtellte, ſo durfte auch der Reußenſtolz und der Gothaerdünkel nicht
klagen. Gleichwohl erhoben Altenburg und Meiningen neue Bedenken; ſie
konnten ſich nicht in den Gedanken finden, daß ihre Verwaltung fremder
Aufſicht unterliegen ſolle. Schon war man nahe daran, ohne Meiningen
abzuſchließen. Da drohte Kühne: wenn man die preußiſchen Beamten als
Spione betrachte, dann müſſe Preußen ſein gefürchtetes Enclavenſyſtem
gegen die kleinen Nachbarn anwenden. Das ſchlug durch. Am 10. Mai
1833 wurde der „Zoll- und Handelsverein der thüringiſchen Staaten“
gebildet, am folgenden Tage erklärte der neue Verein, der das geſammte
Syſtem der preußiſchen indirekten Steuern annahm, ſeinen Zutritt zu
dem deutſchen Zollvereine. Ein weimariſcher Generalbevollmächtigter ver-
[379]Die Neujahrsnacht 1834.
trat die Thüringer auf den Conferenzen des Zollvereins, gab in Tarif-
ſachen nur eine Geſammtſtimme ab; in einigen anderen Fällen ſollte er
die Meinung jedes einzelnen thüringiſchen Staates geſondert vortragen.
Dieſer Bund im Bunde, welchen Preußens Staatsmänner ſeit dem Jahre
1819 erſtrebt hatten, erwies ſich als ſo einfach und naturgemäß, daß nie-
mals, auch nicht in den ſchwerſten Kriſen des Zollvereins, an die Auf-
löſung des thüringiſchen Vereins gedacht worden iſt. —
Alſo war des großen Werkes ſchwerſter Theil gelungen. Ein uner-
hörter Ordensſegen belohnte die treue Arbeit des Beamtenthums; die
Jahrgänge der deutſchen Geſetzſammlungen ſchwollen zu unförmlichen
Bänden an, von allen den neuen Verträgen und Geſetzen. Dann kam
jene folgenſchwere Neujahrsnacht des Jahres 1834, die auch den Maſſen
das Nahen einer beſſeren Zeit verkündete. Auf allen Landſtraßen Mittel-
deutſchlands harrten die Frachtwagen hochbeladen in langen Zügen vor
den Mauthhäuſern, umringt von fröhlich lärmenden Volkshaufen. Mit
dem letzten Glockenſchlage des alten Jahres hoben ſich die Schlagbäume;
die Roſſe zogen an, unter Jubelruf und Peitſchenknall ging es vorwärts
durch das befreite Land. Ein neues Glied, feſt und unſcheinbar, war
eingefügt in die lange Kette der Zeiten, die den Markgrafenſtaat der
Hohenzollern hinaufgeführt hat zur kaiſerlichen Krone. Das Adlerauge
des großen Königs blickte aus den Wolken, und aus weiter Ferne erklang
ſchon der Schlachtendonner von Königgrätz. Glücklicher als ſein leiden-
ſchaftlicher Freund hat Maaſſen die Stunde der Genugthuung noch ge-
noſſen. Er ſtarb am 4. November 1834. Einen ebenbürtigen Nachfolger
fand er nicht; nur in Eichhorn und den Geheimen Räthen des Finanz-
miniſteriums lebten die Ueberlieferungen von 1818 fort.
Der erweiterte Handelsbund nahm jetzt den Namen des Deutſchen
Zollvereins an. Aus dem dunſtigen Nebel des Deutſchen Bundes traten
ſchon erkennbar die Umriſſe jenes Kleindeutſchlands hervor, das dereinſt
den Ruhm und die Macht des heiligen römiſchen Reiches überbieten ſollte.
Im Kampfe mit dem deutſchen Liberalismus errang die Krone Preußen
ihre handelspolitiſchen Erfolge, und nur weil ſie ſelbſt nicht durch Reichs-
ſtände beſchränkt war, konnte ſie ihr Ziel erreichen. Ebenſo wenig wie die
ſüddeutſchen Oppoſitionsparteien ahnte Czar Nikolaus, was dies beginnende
Anwachſen der preußiſch-deutſchen Macht bedeutete. Da er noch immer
auf den großen Krieg gegen die Revolution hoffte, ſo ſuchte er ſich ſeinem
Schwiegervater in Allem, was Rußlands Intereſſen nicht unmittelbar zu
bedrohen ſchien, freundlich zu erweiſen und vermied ſorgſam jeden Schritt,
der die Bahnen des Zollvereins durchkreuzen konnte. Die unverhohlene
Feindſchaft, welche England und Frankreich dem werdenden Handelsbunde
[380]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
erwieſen, konnte den Czaren nur in ſeiner Geſinnung beſtärken. Wie hoch-
müthig hatten bisher die Weſtmächte herabgeblickt auf dies zerriſſene Deutſch-
land, das in den Wettkämpfen der Handelsvölker niemals mitzählen könne.
Welch ein Eindruck, als jetzt die neue Größe des deutſchen Handelsbundes
ſich erhob, und der Geſammtwerth der Aus- und Einfuhr des Zollvereins
ſchon im erſten Jahre (1834) 249,5 Mill. Thlr., 10 Thlr. auf den Kopf
der Bevölkerung betrug. Wohl erſchienen die Zahlen der deutſchen Handels-
tabellen noch beſcheiden genug neben den 1365 Mill. Fr., die Frankreichs
Handel im Durchſchnitt der Jahre 1827—36 erreichte, oder gar neben
den 116 Mill. ₤. der engliſchen Aus- und Einfuhr (1830). Aber der
Handel des Zollvereins blieb in ſicherem, ſtetigem Aufſteigen, er wuchs in
zehn Jahren (bis 1844) auf 385 Mill. Thlr., 13½ Thlr. für den Kopf
der Bevölkerung. Auch die induſtrielle Kraft des Vereins erſtarkte zu-
ſehends, die Ausfuhr von deutſchen Ganzfabrikaten hob ſich im erſten
Menſchenalter der Zollvereinsgeſchichte um 52 %. Und dieſer Verein um-
faßte noch bei Weitem nicht das geſammte Deutſchland; die ganze Nord-
ſeeküſte, die größten deutſchen Seeplätze gehörten ihm nicht an. In Rouen
und St. Etienne, in London und Mancheſter mußte man lernen mit einem
neuen Concurrenten zu rechnen.
Die Regierung der Orleans, kleinlich, neidiſch, mittelmäßig von Haus
aus, die geborene Feindin aller ſchöpferiſchen neuen Gedanken, eifrig beſtrebt
ihre Hand in dem Spiele der deutſchen Politik zu halten, trat den Plänen
Preußens durch hundert kleine Mittel entgegen. Ihre Geſandten Breſſon
in Berlin, d’Alleye in Frankfurt, Mornay in Karlsruhe, und am rührigſten
von Allen ihr berüchtigter Conſul Engelhardt in Mainz, zogen von einem
deutſchen Diplomaten zum andern, oftmals insgeheim durch die Agenten
Oeſterreichs unterſtützt; ſie warnten vor Preußens Herrſchſucht, boten
Handelsverträge mit dem freien Frankreich an. Zum Glück war das
ſtarre franzöſiſche Prohibitivſyſtem völlig unfähig den Nachbarn lockende
Vortheile zu bieten. Als der Zollverein trotzdem zu Stande kam, erklärte
der Geſchäftsträger in Darmſtadt, Herr v. Buſſieres: ſein Miniſter, der
Herzog von Broglie, beabſichtige ein freiſinniges Zollgeſetz mit großen
Erleichterungen für Deutſchlands Schlachtvieh und Wolle; doch erwarte
man Gegenleiſtungen, namentlich die Begünſtigung der franzöſiſchen Weine,
„wenn die Richtung, welche Preußen dem von ihm gegründeten Zollvereine
gegeben hat, dies nicht verhindern ſollte.“ Von der heſſiſchen Regierung
befragt, ergriff Eichhorn ſogleich die Gelegenheit, der Krämerpolitik des
Bürgerkönigs heimzuleuchten. Er erwiderte (7. Febr. 1834): Frankreich iſt
noch gar nicht in der Lage, mit der freieren Geſetzgebung des Zollvereins
Zug um Zug zu verhandeln; zuerſt möge man in Frankreich das Pro-
hibitivſyſtem abſchaffen. Die Führerſtelle im Zollvereine, die man in den
Tuilerien uns zuſchreibt, nehmen wir nicht an. Nicht Preußen hat den
Zollverein gegründet; er entſtand ganz natürlich aus dem übereinſtim-
[381]Beſorgniſſe des Auslandes.
menden Willen aller betheiligten Souveräne.*) So ängſtlich vermied der
Berliner Hof jeden Schein der Hegemonie; der Handelsbund war noch
im Werden und Wachſen, man wollte den Widerſtand Oeſterreichs und
des Auslandes nicht noch mehr herausfordern.
Auch England ſuchte durch Handelsverträge mit den Kleinſtaaten das
nationale Werk zu ſtören. Der Geſandte in Berlin, Lord Minto, haßte
die beiden großen Bundesmächte mit dem Ingrimm des Radicalen, und
wie er den Beſchlüſſen des Bundestags laut und rückſichtslos entgegentrat,
ſo hielt er auch für Pflicht, die Kleinſtaaten vor dem preußiſchen Joche
zu bewahren. Im Parlamente redete ſchamlos jene britiſche Handelsmoral,
welche mit der Bibel in der rechten, der Opiumpfeife in der linken Hand
die Güter der Geſittung über den Erdball verbreitet. „Ihr habt nicht
das Recht — rief man dort den preußiſchen Staatsmännern zu — mit
anderen deutſchen Staaten Verträge zu ſchließen, die dem engliſchen Handel
zum Nachtheil gereichen!“ Indeß war England mit ſeinem hohen Zoll-
tarife ebenſo wenig wie Frankreich im Stande, den Deutſchen lockende
Vortheile zu bieten, und ſeit der für die britiſchen Kaufleute ſo vortheil-
haften Rheinſchifffahrtsacte begann ſeine Theilnahme an unſerem handels-
politiſchen Streite langſam zu erkalten. Der Gewandtheit des Geſandten
Bülow wäre es vielleicht gelungen, die Beſorgniſſe der britiſchen Staats-
männer etwas zu beſchwichtigen, wenn nicht der Preußenhaß der welfiſchen
Staatsmänner in Hannover den Handelsneid Englands von Neuem auf-
geſtachelt hätte.
In welchem Lichte der preußiſche Handelsbund der öſterreichiſchen
Partei des Bundestags erſchien, das erhellt aus einigen Briefen Blitters-
dorff’s. Im März 1833, als die Wage noch ſchwankte, ſchrieb er höh-
niſch: „es wird ſich doch zeigen, ob man die preußiſchen Finanzen dem
politiſchen Syſteme des Herrn Eichhorn opfern wird.“ Nach der Ent-
ſcheidung bereiſte er Mitteldeutſchland, ſprach mit vielen ſächſiſchen und
thüringiſchen Staatsmännern und berichtete traurig: „Die Zollvereinigung
giebt dem Bundesſyſteme gleichſam den Gnadenſtoß.“ Den gegenſeitigen
Schutz, welchen die kleinen Staaten bisher durch den Bund empfingen,
erhalten ſie jetzt durch den Zollverein; auch in anderen politiſchen Fragen
werden ſie ſich auf Preußen ſtützen müſſen. Alle mitteldeutſchen Staats-
männer, die ich ſprach, geſtanden: „Wir konnten nicht anders. Oeſter-
reich hat ſich uns verſagt. Preußen war ebenſo willfährig als beharrlich,
hat durch das Zugeſtändniß des gleichen Stimmrechts alle Bedenken ent-
waffnet.“ Nun bleibt nur übrig, fährt er ſchmerzlich fort, daß Oeſterreich
auch in den Zollverein träte. Doch das wird wohl unmöglich ſein; denn
in dieſer Sache kann der wohlgeſinnte Ancillon nichts ausrichten gegen
[382]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Herrn Eichhorn! — Noch düſterer klingen ſeine Berichte vom December
1833: „Der Zollverein iſt ein Hauptnagel im Sarge des Deutſchen Bun-
des.“ Herr Eichhorn will die Einheit Deutſchlands durch Separatverträge
erreichen, mit Ausſchluß Oeſterreichs, das, wie man in Berlin ſtets be-
hauptet, uns nur Opfer auferlegt. Preußen übernimmt jetzt die Führung
der poſitiven Politik Deutſchlands, Oeſterreich behält nur noch die formelle
Leitung. Vielleicht kann im Deutſchen Bunde nur dann ein neues Leben
erwachen, wenn Preußen an die Spitze träte, und Oeſterreich ſich auf ein
Schutz- und Trutzbündniß beſchränkte, „wozu aber wenig Ausſicht vor-
handen iſt.“ Vielleicht werden durch dieſe Wendung die Repräſentativ-
verfaſſungen ihre Bedeutung für die Bundespolitik verlieren, und ganz
andere Fragen in den Vordergrund treten — jene Machtfragen, die
ſchon auf dem Wiener Congreſſe auftauchten!*) Und derſelbe Mann, der
mit ſo ſcharfem Auge in das Dunkel der Zukunft blickte, hat gleichwohl
dem hereinbrechenden Schickſal mit ſeiner ganzen Kraft ſich entgegen-
geſtemmt; er hat noch im November 1847 vorgeſchlagen, die Hofburg
ſolle die politiſche Führung des Zollvereins antreten, da ſie die ſtaats-
wirthſchaftliche Leitung allerdings nicht übernehmen könne!
Aehnliche Sorgen regten ſich in Oeſterreich ſelbſt. Jetzt erſt begann
das ſtarre Greiſenregiment zu Wien die folgenſchwere Bedeutung der preu-
ßiſchen Handelspolitik zu ahnen, die man bisher wohl aufzuhalten, doch
nicht mit voller Kraft zu bekämpfen gewagt hatte. Und auch jetzt noch
erhob ſich die ſtaunenswerthe Gedankenarmuth des Neſtors der europäi-
ſchen Diplomatie nur zu Angſtrufen, Warnungen und kleinen Ränken,
nicht zu irgend einem ausführbaren Gegenplane. Seit nahezu zwanzig
Jahren verhandelten Baiern und Oeſterreich über Handelserleichterungen.
Immer vergeblich. Daß ſolche Zugeſtändniſſe nur durch Gegenleiſtungen
zu erlangen ſind, war den Köpfen der k. k. Hofräthe nicht beizubringen.
Die Agenten Oeſterreichs in München pflegten dann am lebhafteſten um
Baierns freundnachbarliche Gefälligkeit zu bitten, wenn das k. k. Prohibi-
tivſyſtem den Verkehr der Nachbarn recht empfindlich geſchädigt hatte.
So wurde im Jahre 1829 die Getreideeinfuhr aus Baiern, die den
Tyrolern unentbehrlich war, mit erhöhten Zöllen belegt, und gleich darauf
verlangte man in München die Herabſetzung der bairiſchen Zölle. Im
Jahre 1832, als die Zollvereinsverhandlungen ſchwebten, kam der Hof-
rath v. Münch, ein Bruder des Bundestagsgeſandten, nach München,
um den Verlauf zu beobachten und durch das Anerbieten eines bairiſch-
öſterreichiſchen Handelsvertrags den Abſchluß der Berliner Verträge zu
hintertreiben. Er rieth dringend, nicht über den Handelsvertrag, der ſeit
1829 den Süden mit Preußen verband, hinauszugehen; alle Vortheile
eines preußiſchen Zollvereins würden überboten durch einen Handelsvertrag
[383]Oeſterreichs Gegenbeſtrebungen.
mit Oeſterreich. Schärfer befragt, verlangte er für Oeſterreich weſent-
liche Vergünſtigungen, ſo die Herabſetzung der Zölle auf das böhmiſche
Eiſen; irgend nennenswerthe Gegenleiſtungen hatte er nicht zu bieten.
Eine Denkſchrift, welche Münch dem König von Baiern insgeheim
überreichte, zeigt alle Charakterzüge der k. k. Handelspolitik: maßloſe ſtaats-
wirthſchaftliche Unwiſſenheit, gänzlichen Mangel an poſitiven Gedanken
und daneben eine dreiſte Pfiffigkeit, die nicht ohne Geſchick auf die per-
ſönlichen Schwächen König Ludwig’s baut. Da wird bewieſen, wie die
bairiſche Induſtrie und die Mainſchifffahrt durch den Zollverein noth-
wendig vernichtet werden müſſen: — Baierns Fabriken nahmen aber erſt
ſeit dem Berliner Vertrage von 1829 einen neuen Aufſchwung. Des-
gleichen, daß Süddeutſchland bekanntlich weit mehr conſumire als der
Norden; daher werde Baiern in einem Zollvereine beſtändig an Preußen
herauszahlen müſſen; und welche ſchreckliche Theuerung drohe in den wohl-
feilen Guldenländern einzureißen, ſobald man den Verkehr mit den Thaler-
ländern frei gebe! Liſt’s alter Genoſſe Miller von Immenſtadt, dem die
oberdeutſchen Kronen ein Gutachten über die Denkſchrift abforderten, be-
merkte zu dieſem Satze: „Nichts beweiſt ſchlagender, wie wenig man über
die Mittel verlegen iſt, wenn man ſich zum Zwecke macht zu täuſchen.“
Dann führt Münch aus: Preußen beſitze keinen eigentlichen Handel; Zoll-
ſätze wie die preußiſchen ſeien mit ſchwunghaftem Handel unvereinbar;
Baiern dagegen könne bald durch den Donau-Main-Canal den geſammten
Durchfuhrhandel zwiſchen England und dem Schwarzen Meere an ſich
ziehen und zum einzigen Vermittler des wichtigen griechiſchen Verkehrs
mit dem Weſten werden. — Eben in jenen Tagen ſtanden die helleni-
ſchen Träume König Ludwig’s in ihrer Blüthe; und wie ſollte der Fürſt,
der als glücklicherer Nachfolger Karl’s des Großen den welthiſtoriſchen
Waſſerweg zwiſchen Main und Donau erbaute, die ungeheure Bedeutung
des bairiſch-griechiſchen Handels verkennen? Freilich der Bau des Lud-
wigs-Canals wurde erſt ein Jahrzehnt ſpäter beendigt, und die Donau
in Oeſterreich war weder ganz frei noch wirklich ſchiffbar. Darum ſchienen
die lockenden Ausſichten, welche Münch eröffnete, dem Könige von Baiern
doch allzu unſicher; er verhandelte weiter mit dem Oeſterreicher, ließ aber
zugleich die Unterhandlungen in Berlin nicht abreißen. Vollends die po-
litiſchen Warnungen der öſterreichiſchen Denkſchrift mußten in München
und Stuttgart verwundertes Kopfſchütteln erregen. Münch verſicherte,
der Zollverein arbeite den Demagogen in die Hände, ſei „das beſte Mittel
die Regierungen überflüſſig zu machen“ — und faſt im ſelben Augen-
blicke verſchworen ſich zu Pforzheim die Liberalen gegen die Handelspolitik
des preußiſchen Abſolutismus.*) Sobald die Nachricht einlief, daß Mieg
[384]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
in Berlin abgeſchloſſen habe, eilte der öſterreichiſche Unterhändler, aufs
höchſte beſtürzt, nach Wien; er iſt dann im Laufe des Jahres noch ein-
mal in die bairiſche Hauptſtadt zurückgekehrt — wieder vergeblich, da er
bedeutende Anerbietungen nicht zu überbringen hatte.
Und nun endlich erwachte Fürſt Metternich aus ſeinem trägen
Schlummer. Er hatte noch im Jahre 1832 dem Berliner Cabinet ge-
ſchrieben: „Es liegt nicht in der Aufgabe der Bundesverſammlung, in
den wichtigſten Angelegenheiten, namentlich in den Handels- und ſtändiſchen
Angelegenheiten, einen entſcheidenden Einfluß zu äußern.“ Daß dieſe Ver-
ſicherung nicht ehrlich war, liegt auf der Hand; doch beweiſt ſie immerhin,
wie gänzlich der Staatskanzler ſich in jenem Augenblicke über den ſchweren
Ernſt der Lage täuſchte, wie zuverſichtlich er auf das Mißlingen der Berliner
Verhandlungen rechnete. Jetzt nachdem die Entſcheidung gefallen war, ging
ihm ein Licht auf, und er ergoß ſein Herzeleid in einer langen Denkſchrift
(24. Juni 1833), die von ſeinen Verehrern oft als ein Zeugniß groß-
artiger politiſcher Vorausſicht geprieſen wurde. Dem unbefangenen Urtheil
erſcheint das Machwerk als ein wahrhaft erſchreckender Beweis für die Un-
fähigkeit des Mannes, den die Höfe bewunderten und die Liberalen um
ſeiner dämoniſchen Klugheit willen fürchteten. Es war gleichſam Oeſter-
reichs Antwort auf jene grundlegende Denkſchrift Motz’s vom Juni 1829,*)
und wer die beiden Arbeiten vergleicht erkennt ſofort, warum der Wiener
Hof die Herrſchaft in Deutſchland ſchließlich verlieren mußte.
Metternich ſchildert zunächſt die Entſtehungsgeſchichte des Zollvereins
in einer Darſtellung, deren gehäufte grobe Schnitzer abermals lehren,
mit welchem oberflächlichen Leichtſinn die Hofburg fünfzehn Jahre lang
die Handelspolitik ihres Nebenbuhlers beobachtet hatte. Durch die Ver-
träge mit Baiern-Württemberg iſt der preußiſche Handelsbund neuerdings
zu einer Macht geworden. „Für den Deutſchen Bund als ſolchen, ins-
beſondere aber für Oeſterreich, iſt jener preußiſche Zollverein entſchieden
eine höchſt nachtheilige und unheildrohende Erſcheinung.“ Er ſchadet
unſerem Handel, weil Oeſterreich jetzt im Weſten und im Norden von einer
Macht umklammert wird, welche mit unſerer Induſtrie concurrirt. Er
ſchadet noch mehr der deutſchen Bundespolitik, denn der „Grundcharakter
des Bundes iſt Gleichheit der Rechte und Pflichten der Glieder deſſelben.
Jede Präponderanz, jedes Vorrecht irgend einer Macht (als ſolche ſpricht
ſich das lediglich formelle Präſidium Oeſterreichs am Bundestage keines-
wegs aus) iſt dem Bundesvereine, wie ihn die Wiener Congreßakte ſchuf,
gänzlich fremd.“ Heute aber entſteht „ein kleinerer Nebenbund, in dem
vollſten Sinne des Wortes ein status in statu.“ Von den ſiebzehn
Stimmen des engeren Rathes in Frankfurt ſind nur noch ſieben völlig
unabhängig von dem preußiſchen Vereine. Es läßt ſich nicht bezweifeln,
[385]Metternich’s Denkſchrift über den Zollverein.
„daß die Beziehungen Oeſterreichs zu den anderen deutſchen Bundes-
ſtaaten, bei wechſelſeitig allem Verkehr und Handel geſchloſſenem Gebiet
und bei ſo künſtlichem Bemühen, dieſe materielle Abgeſchloſſenheit zur
politiſchen und moraliſchen zugleich zu ſtempeln, auf die Länge erſchlaffen
und ganz abreißen werden.“
„Der preußiſche Zollverein — ſo fährt die Denkſchrift fort — iſt
unzweifelhaft ein wohlbewußt kräftiges Werkzeug in den Händen der Be-
wegungspartei in Preußen, zur Beförderung der ſich wechſelſeitig bedingenden
Umkehr in Preußen und in dem übrigen Deutſchland. Von dem Augenblick
an, in welchem die Idee, den Plänen der preußiſchen Finanzmänner ent-
ſprungen, in das Leben zu treten begann, bemerkten die Männer der Faction
in dieſem Lande ſehr ſchnell den Vortheil, den ſie aus derſelben würden ziehen
können. Die Partei hatte, im Falle der Verwirklichung ihrer Plane, ihr
wahres Ziel erreicht: Preußen mit einer neu repräſentativen Verfaſſung
an der Spitze des übrigen conſtitutionellen Deutſchlands. Der Zollverein
hat daſelbſt in der neueren Zeit aufrichtige entſchiedene Anhänger und
Beförderer hauptſächlich in den eigentlichen Männern der Bewegung ge-
funden. Allerdings aber haben dieſe ihre Sache ſo geſchickt an die Stelle
der Sache des Staates zu ſetzen und letztere auf ſo vielfache Weiſe in
das neue Syſtem zu verweben gewußt, daß auch eine veränderte preußiſche
Staatsverwaltung ſich jetzt ohne Compromiſſion nicht mehr herauszuwinden
im Stande ſein und immer mehr oder weniger in der Nothwendigkeit bleiben
würde, die Farben Preußens zur Verhüllung von Ideen herzugeben, die
im Weſentlichen gegen den Gedanken des Bundes gerichtet ſind. . . Das
monarchiſche Intereſſe des preußiſchen Thrones vereinigt ſich mit jenem
Oeſterreichs und des Deutſchen Bundes … gegen ein ſo bedenkliches und
unnatürliches Werk.“ — Die Wahlverwandtſchaft zwiſchen „der höchſt ge-
fährlichen Lehre der deutſchen Einheit“ und dem Zollvereine, die ſchon im
Jahre 1820 der beſorgte Marſchall ſeinem Gönner geſchildert, war mithin
endlich auch dem Staatskanzler klar geworden. Und nunmehr, zum erſten
mal nach fünfzehn Jahren, verfiel Metternich auf die Frage, ob nicht Oeſter-
reich ſelbſt etwas thun könne zur Beförderung des deutſchen Verkehrs.
Doch wie läßt ſich helfen? Ein Recht einzuſchreiten beſitzt der Bund
leider nicht. Ein offener Bruch mit Preußen „liegt nicht in den Abſichten
und nicht in der Politik Oeſterreichs“. Alſo bleibt, da der mitteldeutſche
Verein leider zerfallen iſt, nur übrig, jenen Art. 19 der Bundesakte,
welcher Berathungen des Bundestags über die Handelsſachen verheißt
endlich auszuführen! „Nur in dem Einverſtändniß Aller liegt ein Mittel,
die einſeitig-eigennützigen Pläne Einzelner zu paralyſiren.“ — Klingt es
nicht wie ein Märchen, daß der k. k. Staatskanzler in dem Augenblicke,
da der Machtſtellung ſeines Staates eine furchtbare Gefahr drohte, nur
auf den armſeligen Einfall kam, noch einmal jenes harmloſe Steckenpferd
zu reiten, das die Staatsweiſen der Wiener Conferenzen ſchon dreizehn
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 25
[386]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Jahre zuvor ſo lange getummelt hatten bis es zerbrach? — Hannover,
fährt Metternich fort, dieſe „von einem vorzüglichen föderativen Geiſte
beſeelte“ Regierung, hat bereits dem Bunde Anträge in dieſem Sinne
geſtellt. Der Bundestag muß die Freiheit des Durchfuhrhandels be-
ſchließen. Dies wird für Oeſterreich geringe Schwierigkeiten bieten, da
mir der Hofkammerpräſident Klebelsberg verſichert hat, daß unſere Geſetze
über den Tranſit ſehr liberal ſind. Ein durchſchlagender Erfolg gegen
Preußen ſteht von einem ſolchen Beſchluſſe freilich nicht zu erwarten.
„Eine deſto eindringlichere Waffe zur Bekämpfung des preußiſchen Zoll-
ſyſtems“ bietet der zweite hannöverſche Antrag auf Befreiung des Verkehrs
zwiſchen den Bundesſtaaten. Wenn der Bundestag beſchlöſſe, daß in allen
deutſchen Staaten die Einfuhr aus anderen Bundesſtaaten vor der Einfuhr
des Auslandes begünſtigt würde, ſo wäre „dem preußiſchen Zollſyſtem der
empfindlichſte Stoß verſetzt.“ Dazu aber iſt nothwendig eine Ermäßigung
des k. k. Mauthſyſtems „bis zu dem Punkte, der uns in den Stand ſetze,
mit den übrigen deutſchen Bundesſtaaten unter Anerbietung der Reciprocität
über den Vollzug des Art. 19 in Verhandlung zu treten.“
So wenig begriff man in Wien, worauf es ankam in unſern handels-
politiſchen Kämpfen! Daß der ganze Werth des Zollvereins in der Auf-
hebung der Binnenmauthen lag; daß der mitteldeutſche Verein eben darum
untergegangen war, weil er dieſe Befreiung des deutſchen Marktes nicht
wagte; daß der preußiſche Handelsbund nur überboten werden konnte
durch den Plan eines noch größeren Zollvereins — alle dieſe Wahrheiten,
die bereits von dem kleinſten thüringiſchen Cabinette durchſchaut wurden,
waren der öſterreichiſchen Staatsweisheit noch nicht aufgegangen. Die
deutſchen Staaten, ſo hoffte Metternich, ſollten die unermeßlichen Vor-
theile des freien vaterländiſchen Marktes dahingeben für die kümmerliche
Ausſicht, daß ihre Landesprodukte an den Schlagbäumen von dreißig
deutſchen Staaten milder behandelt würden als die Waaren des Auslands!
Und ſelbſt dieſer ſchwächliche Gedanke des Staatskanzlers drang in Wien
nicht durch, nicht weil man die Halbheit verworfen hätte, ſondern weil
der Plan dem Stumpfſinne des Hofes noch allzu kühn erſchien. Präſident
Krieg hatte eine Herabſetzung der Zölle nach Preußens Muſter vorge-
ſchlagen, und ſeit dem Mai 1833 verweilte bereits der öſterreichiſche Geh.
Rath Binder in Berlin, um wegen eines Handelsvertrages anzufragen.
Kaiſer Franz aber hörte auf die Klagen ſeiner Fabrikanten, er fürchtete
jeden lebhaften Verkehr mit dem verderbten Auslande und verabſcheute
alle Neuerungen. Im Sommer 1834 entſchied er: Ermäßigungen des
öſterreichiſchen Tarifs dürfen nur erfolgen als Gegenleiſtungen für Zu-
geſtändniſſe des Zollvereins — und dies in einer Zeit, da Oeſterreich mit
ſeinem ſtarren Prohibitivſyſteme ſogar noch weniger als Frankreich im
Stande war, mit Preußen Zug um Zug zu verhandeln. Der öſter-
reichiſche Unterhändler verließ Berlin unverrichteter Dinge.
[387]Klage Hannovers gegen Kurheſſen.
Unfähig zum Schaffen war die Hofburg um ſo thätiger im Hetzen und
Stören. Tagaus tagein brachten ihre Blätter Verdächtigungen gegen Preu-
ßens Handelspolitik; das vielgetreue Haus Thurn und Taxis beförderte die
Briefbeutel von Frankfurt nach der Schweiz durch das Elſaß, um Baden,
den Schützling Preußens, zu ſchädigen — und was der Armſeligkeit mehr iſt.
Den Hauptſchlag aber führten die Welfen. Im Sommer 1832 erhoben
Hannover, Braunſchweig, Oldenburg, Naſſau, Bremen und Frankfurt beim
Bundestage eine Klage gegen Kurheſſen wegen Verletzung des mitteldeutſchen
und des Eimbecker Vertrages; ſie forderten, daß der Zollverband mit Preußen
aufgehoben und die kurheſſiſchen Durchfuhrzölle wieder auf den früheren
Stand gebracht würden. Der Zeitpunkt war ſchlau gewählt. Grade in
jenem Augenblicke hatte der Eigenſinn Moritz Mohl’s die Verhandlungen
zwiſchen Preußen und Baiern-Württemberg dem Scheitern nahe gebracht;
auch der Dresdener Hof ſpürte wieder eine Anwandlung ſeiner alten preußen-
feindlichen Gelüſte, ließ am Bundestage tugendhaft erklären: kein Staat dürfe
den zufälligen Vortheil der geographiſchen Lage mißbrauchen um den freien
Verkehr der Nachbarn zu erſchweren. Zudem warnten und ſchürten die
engliſchen Geſandten an allen kleinen Höfen. Noch niemals früher hatte
die Verbindung von England und Hannover ſo ſchmachvolle Wirkungen
gehabt. Wie die hannoverſche Regierung um Englands willen ſich weigerte
ihre Bundespflichten in Luxemburg zu erfüllen, ſo bat ſie wieder den
Londoner Hof um Beiſtand gegen Preußen, damit die dem britiſchen
Handel ſo ſchädlichen Durchfuhrzölle zwiſchen Bremen und Frankfurt,
Hamburg und Leipzig beſeitigt würden. Eine geheime hannoverſche Denk-
ſchrift ſagte rund heraus: „Eine ſolche Dazwiſchenkunft von Seiten Englands
möchte um ſo räthlicher ſcheinen, als Hannover, ohne Englands Beiſtand
und im Falle daß der beim Bundestag gemachte Antrag nicht angenommen
würde, vielleicht nicht lange im Stande ſein dürfte dem großen Handels-
übergewichte Preußens zu widerſtehen und vielleicht genöthigt werden möchte
zum Nachtheil des englichen Handels ebenfalls das preußiſche Zollſyſtem
anzunehmen.“*) So warnte eine deutſche Regierung die Briten vor der
deutſchen Einheit. Lord Palmerſton aber ſäumte nicht, dieſe hannöverſche
Denkſchrift ſeinen Geſandten in Deutſchland als Inſtruktion mitzutheilen.
Da der Buchſtabe des Rechts gegen Kurheſſen ſprach, ſo hielt Münch-
Bellinghauſen durch Drohungen und Schmeicheleien für eine kurze Friſt
eine Mehrheit zuſammen, die der hannöverſchen Klage günſtig war, und
erntete Metternich’s warmes Lob für ſeinen heiligen Eifer. Ein wider-
wärtiges Schauſpiel: die zweifelloſe Schuld des vertragsbrüchigen Be-
klagten, und die nicht minder zweifelloſe Gleißnerei dieſer Kläger! Darin
lag ja, ſeit das heilige Reich erſtarrt war, das häßlichſte ſittliche Leiden,
25*
[388]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
die tiefe Unwahrheit unſerer Verfaſſung, daß ſie den deutſchen Staaten
erlaubte, die heiligen Formen des Rechts zu mißbrauchen zur Entſcheidung
der Intereſſenkämpfe der Politik. Wie einſt der Regensburger Reichstag
die harten Machtfragen des ſiebenjährigen Krieges zu löſen ſuchte durch
einen Criminalprozeß gegen den Reichsfriedensbrecher Friedrich, ſo dachten
jetzt Hannover und ſeine mitteldeutſchen Genoſſen, durch das Urtheil eines
Austrägalgerichts nicht ſowohl den Vertragsbruch Kurheſſens zu ſühnen,
als vielmehr die werdende Handelseinheit zu hemmen.
Die kurheſſiſche Regierung vertheidigte ohne Geſchick ihre unglückliche
Sache. Ihr Geſandter erklärte zwar ſehr richtig: der mitteldeutſche
Handelsverein ſei niemals wirklich zu Stande gekommen; auch habe Kur-
heſſen durch den Anſchluß an Preußen offenbar im Sinne des Art. 19
gehandelt, da jetzt freier Verkehr beſtehe von der franzöſiſchen bis zur
ruſſiſchen Grenze. Doch ſchwächte er ſelbſt das Gewicht dieſer Gründe
durch ſophiſtiſche Vorwände. Dann fiel er heftig gegen Hannover aus,
er betheuerte: ſeine Regierung werde niemals ausländiſche Handelsintereſſen
im Herzen von Deutſchland vertreten — und erregte alſo den Zorn der
Mehrheit, die ſich getroffen fühlte. Nachdrücklich nahm ſich Nagler des
Heſſen an und wies nach, daß Austrägalgerichte nur über Rechtsfragen,
nicht über ſtreitige Intereſſen entſcheiden könnten. Dieſelbe Anſicht war
ſchon vor zwölf Jahren, während des Köthener Zollkrieges, von Preußen
vertheidigt und ſeitdem, weil ſie den lebendigen Mächten der Geſchichte
entſprach, auf allen deutſchen Kathedern von den Doktrinären des Bundes-
rechts mit ſittlicher Entrüſtung gebrandmarkt worden. Außer den beiden
Heſſen ſtand nur Baiern tapfer auf Preußens Seite. Während Hannover
der Bundestreue des k. k. Präſidialhofes ſeine Huldigungen darbrachte, ließ
König Ludwig in Frankfurt erklären: die preußiſche Regierung verdiene den
Dank des Bundes, weil ſie durch ihre Zollverträge an der Erfüllung des
Art. 19 ehrlich arbeite.
Nagler wünſchte die Entſcheidung hinauszuſchieben, damit unterdeſſen
die Zollverträge in Berlin zu Stande kämen und die Klage von ſelbſt
beſeitigt würde. Die öſterreichiſche Mehrheit aber ſtürmte vorwärts, ohne
auch nur Inſtruktionen von daheim abzuwarten; denn die Bundesgeſandten
fühlten ſich durch Preußens ſelbſtändiges Auftreten auch in ihrer Amtsehre
gekränkt. Drei geſchworene Feinde der preußiſchen Handelspolitik, Oeſter-
reich, Dänemark und Mecklenburg wurden mit der Berichterſtattung beauf-
tragt. Auf ihren Vorſchlag beſchloß man ſodann, daß Oeſterreich, Däne-
mark und Baden im Namen des Deutſchen Bundes gütlich vermitteln
ſollten. Der Sühneverſuch blieb vergeblich, und ſofort, mit einer in
Frankfurt unerhörten Eile, ward das Austrägalverfahren eingeleitet. Da
Kurheſſen ſich weigerte, dem Kläger drei „unparteiiſche“ Bundesſtaaten
zur Auswahl vorzuſchlagen, ſo ging das Vorſchlagsrecht von Rechtswegen
auf die Bundesverſammlung über. Die Mehrheit ließ dem Kläger die
[389]Oeſterreich als Schiedsrichter.
Wahl zwiſchen Oeſterreich, Baden und Schwerin. Hannover wählte, wie
zu erwarten ſtand, das heilige Erzhaus, und die Akten wurden an das
höchſte Tribunal zu Wien geſendet. Alſo Oeſterreich ein „unparteiiſcher“
Richter in Sachen des mitteldeutſchen Handelsvereins, der unter Oeſter-
reichs Fahnen ſich gebildet hatte! Ein Streit, der in ſeinen letzten Gründen
doch hinauslief auf eine Machtfrage zwiſchen England, Oeſterreich und
Preußen, ſollte nach den Grundſätzen des Civilprozeſſes entſchieden werden
durch ein k. k. Civilgericht! Und der eigentliche Kläger, der mitteldeutſche
Handelsverein, war im Frühjahr 1833, als die Akten nach Wien gingen,
gar nicht mehr am Leben; der Abfall Sachſens und Thüringens hatte auch
die letzten Steine aus dem morſchen Bau des Sonderbundes heraus-
gebrochen. Kläglicher konnte die Verlogenheit der deutſchen Verfaſſung
nicht offenbar werden.
Die preußiſche Regierung war mit dem Jammer der Austrägalgerichte
nur allzuwohl vertraut; verwickelt in zahlloſe nachbarliche Händel, hatte ſie
damals fünf ſolcher Prozeſſe zugleich ſchweben — ein Schickſal, vor dem
der öſterreichiſche Staat ſchon darum bewahrt blieb, weil er kein deutſcher
Staat war. Preußen verſuchte nunmehr das hannöverſche Cabinet von der
Verfolgung des aberwitzigen Rechtsſtreites abzubringen. Auch den anderen
Bundesſtaaten, die inzwiſchen in Berlin abgeſchloſſen hatten, begann der
Unſinn dieſes Prozeſſes einzuleuchten. Thüringen, Württemberg, Sachſen
änderten ihre Anſicht; ingrimmig ſchrieb Metternich: wenn heute noch
einmal in Frankfurt abgeſtimmt würde, ſo blieben wir in der Minderheit!
Der badiſche Hof ſchwankte lange zwiſchen der großen Sache deutſcher
Handelseinheit und dem formalen Rechte, das hier das ſchwerſte Unrecht
war; endlich trat er auf Preußens Seite. Nun verſprach Kurheſſen, im
Einverſtändniß mit Preußen, ſeine Durchfuhrzölle herabzuſetzen; der wich-
tigſte Grund der Klage fiel dahin. Oeſterreich aber bedurfte der preußiſchen
Hilfe für die neuen Wiener Conferenzen; der Staatskanzler hielt nicht für
gerathen den norddeutſchen Nebenbuhler noch mehr zu reizen. So iſt
dieſer frivole Rechtshandel in den Akten des höchſten öſterreichiſchen Ge-
richtshofes begraben worden; der Verſuch, die Frage der deutſchen Zukunft
durch das Urtheil eines k. k. Gerichts zu entſcheiden, war jämmerlich ge-
ſcheitert. —
Gleichzeitig mit jener Klage gegen Kurheſſen ſtellte Hannover am
Bundestage einen Antrag, der unzweideutig bewies, daß die Welfenkrone
nicht die Wahrung ihrer Vertragsrechte, ſondern den Zollkrieg gegen
Preußen beabſichtigte. Der unſterbliche Art. 19 ſollte endlich von Bundes-
wegen ausgeführt werden. Bis die vollkommene Handelsfreiheit möglich
ſei, beantragte Hannover die Erleichterung des Tranſits, einen nach Ge-
wicht und Entfernung abgeſtuften Tarif mit einem Maximum von 30 Xr.
für die Durchfuhrzölle; denn die durch den Wiener Congreß ausgeſprochene
Freiheit der Flüſſe gelte auch für die Landſtraßen. Außerdem wurden
[390]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
erleichterter Verkehr mit deutſchen Produkten und gemeinſame Maßregeln
gegen den Schmuggel gefordert. Die Abſicht dieſer mit den üblichen
wohllautenden Freiheitsphraſen ausgeſtatteten Vorſchläge ſprang in die
Augen: die Handelspolitik des mitteldeutſchen Vereins, der Kampf gegen
Preußens Tranſitzölle, ſollte, nachdem der Sonderbund ſelbſt zerfallen,
durch den Deutſchen Bund wieder aufgenommen, den engliſchen Waaren
die freie Einfuhr nach dem Stapelplatze Frankfurt durch einen Bundes-
beſchluß geſichert werden. Darum die ſophiſtiſche Behauptung, daß mit
der Freiheit der Flüſſe auch die Freiheit der Landſtraßen gegeben ſei —
eine in Hannovers Munde ſchlechthin ſchamloſe Erklärung. Denn wer
hinderte doch die Freiheit der Elbſchifffahrt? Die Welfenkrone durch ihre
„Seezölle“ bei Stade! Darum die von gröbſter Unwiſſenheit zeugende
Verſicherung, daß der Bund einzelne Stücke aus dem deutſchen Zollſyſtem
herausreißen, die Durchfuhrzölle und die Beſteuerung deutſcher Produkte
neu ordnen könne, ohne das übrige Zollweſen zu berühren.
Münch-Bellinghauſen bemächtigte ſich ſofort mit Eifer des Antrags.
Unter vier Augen geſtand er unverhohlen, daß der Vorſchlag Hannovers
lediglich ein Schachzug ſei gegen den Deutſchen Zollverein. „Wir dürfen,
ſagte er zu Blittersdorff, nicht ruhig zuſehen, daß einzelne Bundesſtaaten
ſolche Einrichtungen treffen, daß den übrigen Bundesſtaaten nichts übrig
bleibt, als ſich nach und nach zu Grunde richten zu laſſen oder aber ſich
auf Koſten ihrer Unabhängigkeit und Selbſtſtändigkeit dem Geſetze des
Stärkeren zu unterwerfen.“*)
Preußen ſtand anfangs faſt allein, wie einſt auf den Wiener Miniſter-
conferenzen. Die Hoffnung auf den Untergang der läſtigen preußiſchen
Durchfuhrzölle trieb ſelbſt den ſächſiſchen Hof in das öſterreichiſche Lager.
Um die oberdeutſchen Könige zu gewinnen, hatte Hannover vorgeſchlagen,
der Bund ſolle die Durchfuhrzölle nach den Grundſätzen des bairiſch-
württembergiſchen Tarifs ordnen. Dieſe Lockung und das Zureden des
raſtloſen hannöverſchen Geſandten Stralenheim ſtimmte auch die Höfe
von Stuttgart und München günſtig für den welfiſchen Antrag. Der
Hamburger Senat, der bisher gegen die Umtriebe des mitteldeutſchen
Vereins eine verſtändige Zurückhaltung gezeigt, fiel jetzt ganz aus der
Rolle, erwies in langer Denkſchrift, daß der deutſche Verkehr den Inter-
eſſen des hanſeatiſchen Durchfuhrhandels von Rechtswegen ſich fügen
müſſe. Ganz umſonſt hatte der gelehrte Böhmer ſein flammendes Buch
gegen den Reichsfriedensbrecher Preußen doch nicht geſchrieben. Offenbar
belehrt durch Böhmer’s hiſtoriſche Forſchungen, beriefen ſich die Ham-
burger Kaufherren auf die Goldene Bulle: ſo lange zwei Bundesſtaaten
durch die Zolllinien eines dazwiſchenliegenden Bundesſtaats getrennt ſind,
haben ſie das Recht auf völlig ungehinderte Handelsverbindung; dies
[391]Hannovers Antrag auf Bundeszölle.
Recht iſt durch den Bundestag zu ſchützen. Elbe und Weſer, dieſe beiden
einzigen rein-deutſchen Welthandelswege, werden nur dann wahrhaft frei
im Sinne der Wiener Congreßacte, wenn auch die Landſtraßen in ihrem
Stromgebiete aller Durchfuhrzölle entlaſtet ſind. Deßhalb müſſen die
Tranſitzölle auf den Stand von 1815 zurückgeführt werden. — Und dieſe
leeren Redensarten dreiſter Kaufmannsliſt, die offenbar nur den Zweck
hatten, den Durchzug der engliſchen Waaren zwiſchen Hamburg und
Frankfurt ſicherzuſtellen und das deutſche Binnenland einem großartigen
Schmuggel preiszugeben — ſie wurden noch fünfzehn Jahre ſpäter von
einem unſerer geiſtvollſten Publiciſten, dem Schwaben C. F. Wurm (in
ſeinem bekannten Commiſſionsbericht über die Aufgabe der Hanſeſtädte 1847)
alles Ernſtes vertheidigt!
Feſt und ſicher, wie einſt Bernſtorff in Wien, trat jetzt Nagler in
Frankfurt der bundespatriotiſchen Heuchelei entgegen; er zeigte abermals,
daß der Bund dieſe Sache nicht fördern könne, denn am Bundestage
ſeien auch ſolche Staaten vertreten, welche an einer wirklichen Zolleinigung
nicht theilnehmen wollten.*) Das Berliner Cabinet verwies ſtolz auf ſeine
Erfolge: alle anderen Verſuche ſind fehlgeſchlagen, und nur dieſem Fehl-
ſchlagen iſt es zuzuſchreiben, daß Hannover ſich jetzt wieder an den Bun-
destag wendet. Was wäre denn erreicht durch die Ermäßigung der Durch-
fuhrzölle? Keine einzige deutſche Zollſchranke fiele hinweg; in unſerem
Zollvereine aber ſind die Durchfuhrzölle für die Verbündeten nicht blos
ermäßigt, ſondern beſeitigt. — Auch Kurheſſen verwahrte ſich gegen un-
fruchtbare halbe Maßregeln: nur die Verſchmelzung der Zollſyſteme kann
helfen, „dann wird kein Demagog das biedere deutſche Volk zu verführen
im Stande ſein.“ Eine neue preußiſche Denkſchrift widerlegte alsdann
die Behauptungen des Hamburger Senats. Sie erwies, wie untrennbar
Durchfuhr- und Einfuhrzölle zuſammenhingen: und ſage man doch nicht,
daß Hamburgs Vorſchläge nicht dem Auslande zu Gute kommen ſollen!
Von den „hanſeatiſchen“ Waaren, die Hamburg zollfrei ins Binnenland
zu führen denkt, würden neun Zehntel ausländiſchen Urſprungs ſein.
Faſt alle Bundesgeſandten, ſo verſichern Blittersdorff’s Berichte, ver-
nahmen dieſe „bundesfeindlichen“ Erklärungen mit höchſter Entrüſtung.
Münch klagte: „Preußen vertheidigt heute dieſelben Grundſätze der Revo-
lution, die es in der höheren Politik gemeinſam mit Oeſterreich bekämpft.
Die Bundesgeſetze werden nicht mehr nach dem Rechte und dem Geiſte
des Bundesſyſtems, ſondern nach adminiſtrativen und finanziellen Rück-
ſichten ausgelegt.“ Metternich verdammte in einem Briefe an Münch
mit ſcharfen Worten „die an Narrheit grenzende Erklärung des Herrn
v. Nagler“.**) Doch die preußiſche Narrheit behauptete das Feld. Die
[392]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Zollvereinsverträge wurden abgeſchloſſen, und da ſie alleſammt die bundes-
treue Clauſel enthielten, daß der Zollverein ſich auflöſen würde, ſobald
der Art. 19 ins Leben träte, ſo konnte der Bundestag der vollendeten
Thatſache nicht einmal mit den Künſten rabuliſtiſcher Silbenſtecherei zu
Leibe gehen. Preußen war fortan der Mehrheit ſicher; Münch wagte
nicht mehr die hannöverſchen Anträge zur Abſtimmung zu bringen. Der
Streit ſchlief ein; der Bundestag hatte abermals ſeine unheilbare Ohn-
macht bekundet.
Gleichwohl verſuchte der unverſöhnliche Welfenhof während der Wiener
Conferenzen von 1834 noch einmal, auf dem traurigen Art. 19 herauszu-
ſprengen gegen den Zollverein. Und wieder hielten die Hanſeſtädte zu den
Welfen. Kein ſchlechterer Mann als der Bremer Smidt war der Verfaſſer
einer Denkſchrift, welche der hannöverſche Miniſter Ompteda den Conferenzen
überreichte. Die alten, ſoeben am Bundestage glücklich beſeitigten Thor-
heiten in neuer Faſſung! Ein „dem Bunde fremder Organismus“ hat ſich
der Handelsfrage bemächtigt und erregt im Volke ſchon mehr Theilnahme
als der Bund ſelber! Darum muß ſchleunigſt ein permanenter Ausſchuß
am Bundestage errichtet werden zur Herſtellung des Rechtszuſtandes und
zur Beförderung des Verkehrs, insbeſondere des Durchfuhrhandels. Doch
jetzt, da der große Zollverein bereits ins Leben getreten war, wollten die alten
Locktöne nicht mehr verfangen. Die Verſammlung blieb kalt, nur Oeſter-
reich und Mecklenburg unterſtützten die welfiſch-hanſeatiſchen Träumereien.
Selbſt der glatte Ancillon faßte ſich ein Herz und erklärte jede handels-
politiſche Thätigkeit des Bundestages für hoffnungslos. Noch ſchärfer
und kräftiger widerſprach der Vertreter Baierns, der geiſtreiche Mieg, der
inzwiſchen die Gnade ſeines launiſchen königlichen Herrn wiedergefunden
hatte. Um die Welfen nicht durch ein rundes Nein zu kränken, beſchloß
man endlich: die Bundesgeſandten ſollen mit Inſtruktionen verſehen
werden, damit der Bundestag einen Ausſchuß bilden und ſich mit der
Handelsſache beſchäftigen könne. Faſt genau derſelbe Beſchluß war vier-
zehn Jahre zuvor auf den erſten Wiener Conferenzen, unter dem ſchallen-
den Gelächter der Verſammlung, gefaßt worden.*) So irrte die deutſche
Diplomatie unter Metternich’s umſichtiger Führung im Kreiſe umher.
Der gequälte Geiſt des Art. 19 fand nunmehr endlich den Frieden des
Grabes.
Die Welfenkrone blieb unbelehrt. Sie ſchloß noch im ſelben Jahre
(1. Mai 1834) mit Braunſchweig den Steuerverein, dem nachher auch
Oldenburg und Bückeburg beitraten. Es war das letzte Trümmerſtück
des geſprengten Mitteldeutſchen Sonderbundes, aber an Feindſeligkeiten
ließ ſich jetzt nicht mehr denken. Vielmehr bildete ſich bald ein freund-
nachbarliches Verhältniß zwiſchen den beiden Vereinen. Sie unterſtützten
[393]Der hannöverſche Steuerverein.
einander durch ein Zoll-Cartell und gegenſeitige Ueberweiſung von En-
claven. Der Steuerverein verband wie der große Zollverein ſeine Mit-
glieder zu vollſtändiger Zollgemeinſchaft und vertheilte wie dieſer die Ein-
künfte nach der Kopfzahl. Sehr niedrige Finanzzölle ſollten den Engländern
und den Hanſeaten die Einfuhr erleichtern, dem wohlhabenden Landvolk
wohlfeilen Kaffee und Rothwein verſchaffen. Darum ward der Steuer-
verein von dem hannöverſchen Landtage ebenſo lebhaft geprieſen, wie der
große Zollverein von den ſüddeutſchen Liberalen bekämpft wurde. Dieſe
deutſchen Großbritannier betrachteten es als ein Zeichen überlegener Ge-
ſittung, daß bei ihnen der Centner Seidenwaren faſt um 98, der Wein
um 5, der Zucker um 7 Thaler niedriger verzollt wurde als im Zollvereine;
und die öffentliche Meinung des Binnenlandes, geneigt wie ſie war den
Staat als einen heiſchenden Feind zu betrachten, fand dies Selbſtgefühl
anfangs ganz begreiflich. War doch der Ertrag der Finanzzölle ſehr
beträchtlich, 1 Thaler auf den Kopf, um ein Fünftel höher als im Zoll-
vereine. Erſt nach und nach begann man zu bemerken, daß dieſer Sonder-
bund zum Beſten Englands und der Hanſeaten die Induſtrie des eigenen
Landes künſtlich darniederhielt, und die Volkswirthſchaft in den benach-
barten Gebieten des Zollvereins weit raſcher als in Hannover aufblühte.
Die Staatsmänner Oeſterreichs aber ſanken nach ſo kläglichen Niederlagen
bald wieder in die alte holde Selbſttäuſchung zurück. Der große Zollverein
war kaum jährig, da ſagte Münch ſchon ſchadenfroh zu Blittersdorff: der
Beitritt ſo vieler Staaten wird die Sonderintereſſen verſtärken und bald
die Auflöſung des Vereins herbeiführen!*)
Als der Bundespräſidialgeſandte dieſe patriotiſche Hoffnung ausſprach,
hatte der jugendliche Handelsbund freilich ſchon durch unzweideutige Zeichen
ſeine Lebenskraft bekundet; er ſtand im Begriff, auch die letzten Klein-
ſtaaten Süd- und Mitteldeutſchlands zu erobern. Baden, der mit Preußen
ſo nahe befreundete Staat, war noch immer nicht dem Zollvereine beige-
treten — ein ſchlagender Beweis für die ungeheure Schwierigkeit dieſer
verwickelten Unterhandlungen. Zweimal, in den Jahren 1829 und
1830/31, hatte Preußen verſucht, eine handelspolitiſche Verſtändigung
zwiſchen Baden und den oberdeutſchen Königen herbeizuführen. Immer
war der unglückliche Sponheimer Handel dazwiſchen getreten — zum
ſchweren Verdruß König Friedrich Wilhelm’s, der es als Ehrenpflicht
betrachtete gutes Einvernehmen unter den deutſchen Staaten herzuſtellen.
Der Karlsruher Hof war, trotz ſeiner dankbaren Ergebenheit gegen Preu-
ßen, noch keineswegs ernſtlich geſonnen, zum Beſten der deutſchen Handels-
[394]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
einheit eine unbequeme Aenderung des Beſtehenden zu wagen. Er be-
folgte noch den alten Grundſatz Berſtett’s: „Unſere Maxime iſt, daß wir
zwar gegen größere Mächte gern Deferenz haben und ihre Präponderanz
anerkennen, daß wir ſie aber als großmüthig denken, welche den kleineren
gern Vortheile gönnen, eben weil ſie kleine Staaten ſind und deren be-
dürfen.“*) Die Regierung blickte mit Stolz auf ihr „Freihandelsſyſtem“,
auf ihre wichtige europäiſche Stellung zwiſchen Deutſchland, Frankreich
und der Schweiz. Die Zölle ertrugen 13¼ Sgr. auf den Kopf der Be-
völkerung — weit weniger als in Preußen, doch immerhin genug, um
den Wunſch nach Neuerungen nicht allzu laut werden zu laſſen. Die
materiellen Nachtheile des ſchwunghaften badiſchen Schmuggelhandels fielen
allein auf die Nachbarſtaaten; für den ſchweren ſittlichen Schaden, der
das eigene Land traf, hatte weder die Regierung noch das Volk ein Ver-
ſtändniß. Sprach doch ſogar Nebenius in ſeiner Schrift über „Badens
Beitritt“ vornehm von oben herab, als ob Baden ſelbſt von dem Zoll-
vereine wenig gewänne und nur um Deutſchlands willen einträte.
Daher zeigte die badiſche Regierung anfangs geringe Neigung aus
ihrer vereinſamten Stellung herauszutreten. Erſt als Baiern und Würt-
temberg ſich entſchloſſen hatten, die vollſtändige Vereinigung mit Preußen
zu beantragen, wurde man in Karlsruhe beſorgt und fand es gerathen den
gleichen Antrag in Berlin zu ſtellen (Mai 1832), weil „die ſpäter ein-
tretenden Staaten ungünſtigere Bedingungen erhalten würden“.**) Preu-
ßen aber, vollauf beſchäftigt mit Baiern, Württemberg, Sachſen und
Thüringen, wollte für jetzt die badiſche Frage nicht berühren, die unfehlbar
den Zorn des Wittelsbachers aufs Neue erwecken mußte. Alſo blieb der
Karlsruher Hof wieder unthätig. Er hat ſich dann noch eine Weile mit
der Hoffnung getragen, der Antrag Hannovers am Bundestage könne
vielleicht einen neuen Weg eröffnen und dem kleinen Lande die Aufhebung
ſeines „Freihandelsſyſtems“ erſparen. Da dieſe Erwartung trog, begann
man endlich einzuſehen, daß Baden keine Wahl mehr habe. Aber die aus-
geſprochene Abneigung des Volks gebot dem Hofe Vorſicht; er hielt für
nöthig zuvörderſt eine Verſammlung badiſcher Volkswirthe zu berufen.
Der Finanzminiſter Böckh verhandelte mit dieſen Notabeln im Winter
1833/34, ohne eine Einigung zu erzielen; die Landwirthe und Kaufleute
widerſprachen entſchieden dem Anſchluß, ſogar von den Fabrikanten war
nur ein Theil dafür.
Die preußiſchen Staatsmänner andererſeits empfanden jetzt zum
erſten male ſchwer die Feſſeln des gerühmten „Föderalismus“, ſie ſahen
ihre diplomatiſche Action überall gehemmt durch die kleinen Verbündeten.
Eichhorn ſelbſt geſtand dem Karlsruher Hofe: Baiern und Württemberg
[395]Neue Verhandlungen mit Baden.
hegen ein unüberwindliches Mißtrauen gegen Baden wegen des organi-
ſirten und amtlich begünſtigten Schmuggels.*) Der Stuttgarter Hof
vornehmlich zeigte ſich unwirſch. König Wilhelm fragte befremdet, warum
denn dieſer Staat, der in Württembergs Machtſphäre liege, zuerſt in
Berlin, ſtatt in Stuttgart angeklopft habe? noch ſei keineswegs ſicher, ob
Württemberg ſich herablaſſen werde, auf Badens „Bitte um Zulaſſung“
einzugehen. Der ſchwäbiſche Schreiberſtand, übel berufen unter den Zoll-
vereinsgenoſſen wegen ſeiner pedantiſchen Formenſeligkeit, war allen Neue-
rungen abhold. Er hatte bisher eine lange Zollgrenze ſelbſtändig bewacht;
trat Baiern bei, ſo wurde Schwaben zu einem „Binnenlande“, gerieth
in ſchmachvolle Abhängigkeit den Verbündeten gegenüber. Und wer ſollte
die Penſionen bezahlen für die württembergiſchen Zollbeamten auf dem
Schwarzwalde, die nun überflüſſig wurden? Zudem war der alte Zank
wegen der Neckarſchifffahrt wieder entbrannt. Baden forderte einen Neckar-
zoll von 5 bis 6 Xr., Württemberg und Darmſtadt wollten nur 4 Xr.
zugeſtehen; der Stuttgarter Hof hatte ſich bereits klagend an den Bund
gewendet. Schaudernd erzählte ſich die deutſche Diplomatie von dieſer
„Kreuzerfrage“; Moritz Mohl der Unverwüſtliche verfaßte eine Denkſchrift
darüber, zweitauſend Aktenſeiten lang. Der württembergiſche Geſandte
in Karlsruhe, der bekannte Bonapartiſt General Bismarck, verſchärfte die
Feindſchaft der beiden Höfe noch durch Ränke und Klatſchereien. Auch der
franzöſiſche Geſandte Graf Mornay verſuchte wieder Unheil zu ſtiften.
Freundlichere Geſinnung erwies der bairiſche Hof, zumal ſeit Preußen
erklärt hatte: der Sponheimer Handel ſoll diesmal aus dem Spiele
bleiben, eine Verſtändigung darüber wird leichter erfolgen, wenn Baiern
und Baden eine Zeit lang als Zollvereinsgenoſſen gute Freundſchaft ge-
halten haben. Doch beſtand auch in München lebhafte Eiferſucht gegen
Preußens ausgreifenden Ehrgeiz. Miniſter Giſe betheuerte dem badiſchen
Geſchäftsträger Röntgen vertraulich: Die Rechtlichkeit des preußiſchen
Gouvernements wird allgemein anerkannt. Es iſt aber meine Pflicht
die neu eintretenden Staaten zu warnen vor der Gefahr drückender Ab-
hängigkeit. Preußens geheime Tendenzen laſſen ſich nicht mehr verkennen.
Baiern wird ihnen überall entgegentreten, wird ein feſtes Zuſammen-
ſtehen aller Vereinsſtaaten gegen Preußen zu bewirken ſuchen und hofft,
daß auch Baden erkennen wird, wie vollſtändig ſeine Intereſſen mit denen
Baierns und Württembergs zuſammenfallen.**)
In ſolchem Gewirr von Zänkereien und mißtrauiſchen Hintergedanken
war die höchſte Offenheit die höchſte Klugheit. Auf Badens erneuerte
Anfrage ließ König Friedrich Wilhelm um Neujahr 1834 antworten: wir
werden nicht, wie Baden wünſcht, einen preußiſchen Finanzbeamten nach
[396]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Karlsruhe ſenden; das würde den Argwohn der ſüddeutſchen Kronen er-
regen; der Karlsruher Hof thäte wohl ſich zunächſt mit Hofmann in
Darmſtadt, einer der kräftigſten Stützen des Vereins, vertraulich zu be-
ſprechen; alsdann können die eigentlichen Verhandlungen beginnen, aber
nur in Berlin und nur durch hochgeſtellte Staatsmänner, nicht durch
Subalterne.*) Dann ließ der König die ſämmtlichen den Geſandtſchaften in
den Zollvereinsſtaaten zugegangenen Inſtructionen dem Vertreter Badens
vorlegen, und Frankenberg fand ſie „alle in dem Geiſte der Correctheit
und Offenheit, welcher das preußiſche Cabinet charakteriſirt, abgefaßt.“
Endlich im Sommer 1834 kam Böckh nach Berlin. Die Confe-
renzen währten den Juni und Juli hindurch, ſie ſtießen aber auf ſo
mannichfache Schwierigkeiten, daß noch bis zum Jahresſchluſſe zwiſchen
den Cabinetten verhandelt werden mußte. Der Karlsruher Hof lebte in
dem Wahne, der Zollverein werde um Badens willen eine bedeutende
Herabſetzung ſeines Tarifes zugeſtehen; es währte lange, bis man von
ſolcher Ueberhebung zurückkam. Dann wieder der Streit um die Neckar-
zölle. Noch im December ließ der König den Großherzog dringend um
einige Nachgiebigkeit bitten: „Preußen hat nur das alleinige aber höchſt
wichtige Intereſſe, ein reines Verhältniß zwiſchen den deutſchen Regierungen
hergeſtellt und allen Stoff zum Hader und Streit entfernt zu ſehen.“
Schließlich mußte man doch dieſe Streitfrage aus den Verhandlungen aus-
ſcheiden, die Löſung auf beſſere Zeiten vertagen. Die größte Schwierig-
keit lag in der ſchmalen langgeſtreckten Geſtalt des badiſchen Landes.
Führte man hier die Zollvereinsgeſetze in voller Strenge ein, ſo wurde
faſt das geſammte Staatsgebiet zum Grenzbezirke. Baden verlangte daher,
daß an der leicht zu bewachenden Rheingrenze der Grenzbezirk nur die
Breite einer Wegſtunde haben ſollte; ſonſt würde der größte Theil des
Landesverkehrs den läſtigen Beſchränkungen der Grenzcontrole unter-
liegen. Sofort forderte Sachſen die gleiche Vergünſtigung für ſeine erz-
gebirgiſchen Grenzen. Erſt am 12. Mai 1835 kam der Vertrag zu Stande.
Baden erhielt einen ſchmalen Grenzbezirk, und in der zwölften Stunde
hatte Eichhorn der widerſtrebenden Finanzpartei noch ein letztes Zuge-
ſtändniß entrungen: die badiſchen Tabaksbauer ſollten eine Rückvergütung
empfangen für die nach der Schweiz ausgeführten Tabaksblätter. Da
die Nachverſteuerung in Sachſen und Thüringen ſchlechte Ergebniſſe ge-
bracht hatte, ſo beſchloß man diesmal die Kaufleute zu überraſchen. Schon
in der Nacht vom 17. zum 18. Mai wurden die neuen Zölle an den
badiſchen Grenzämtern eingeführt, während das Volk von dem Berliner
Vertrage noch kaum wußte; die Regierung verſprach den Erſatz der Zah-
lungen, falls der Landtag den Vertrag nicht billige.
Dieſer entſchloſſene Schritt brachte nicht nur den Zollvereinskaſſen
[397]Badens Beitritt.
reichen Gewinn, er ſicherte auch die Genehmigung des Vertrags. Nur
die Macht vollendeter Thatſachen konnte den Widerſtand der Liberalen
entwaffnen. Rotteck donnerte wider dieſe „Bewirthſchaftung der Nation;
der Strudel des Zollvereins wird uns Alle in den Abgrund des Abſo-
lutismus reißen!“ Ein anderer Redner der Oppoſition warnte vor-
ſorglich: die preußiſchen Thaler würden das Ländle überſchwemmen, worauf
die Miniſterbank entgegnete: man könne nur wünſchen, daß dieſe Ueber-
ſchwemmung recht reichlich ausfalle. Die Regierung war in beſchämen-
der Verlegenheit; ſie mußte jetzt ſelbſt den ſo oft vertheidigten badiſchen
Freihandel öffentlich verdammen als eine ſyſtematiſche Begünſtigung des
Schmuggels. Freieren Blick als der Liberalismus zeigte die Ariſtokratie
der erſten Kammer; Fürſt Löwenſtein-Wertheim pries „die edle Selbſt-
verleugnung Preußens und das große nationale Werk, das der preußiſchen
Regierung zum unverwelklichen Ruhm gereicht.“ Außer Nebenius traten
noch zwei andere geſchulte Volkswirthe für den Anſchluß auf: der be-
rühmte Heidelberger Profeſſor Rau und deſſen Schüler Karl Mathy, ein
bekehrter Gegner der preußiſchen Handelspolitik, der hier wieder die Tiefe
und Selbſtändigkeit ſeines Urtheils bewährte und ſich ſogar unterſtand,
die Gewerbefreiheit Preußens dem badiſchen Liberalismus als ein Muſter
vorzuhalten. Der vorſichtige Ton der Flugſchrift Mathy’s beweiſt genug-
ſam, wie ſchwer es noch hielt, den Vorurtheilen der liberalen Welt zu
widerſprechen. Mit ſchwacher Mehrheit genehmigten die Kammern den
Vertrag; und nun ſtimmten auch die anderen Zollverbündeten zu, nach-
dem Preußen erſt noch durch eine ſcharfe Note den widerſprechenden kur-
heſſiſchen Landtags-Ausſchuß zum Schweigen gebracht hatte. Darauf
abermals reichliche Ordensſpenden und zuletzt noch ein gereizter Schrift-
wechſel zwiſchen Caſſel und Karlsruhe. Die kurheſſiſchen Beamten fühlten
ſich beleidigt, weil die ihnen zugeſendeten Zähringer Löwenorden kein
Eichenlaub trugen. Auch dieſes Gewölk verzog ſich; es ſtellte ſich heraus,
daß jener Löwe damals noch in den Jahren unreifer Jugend ſtand und
noch kein Eichenlaub in ſeinem Vermögen hatte. —
Bald nach dem Beitritt dieſes befreundeten Staates mußte einer
der boshafteſten Gegner, der Naſſauer Hof, ſeinen Frieden mit Preußen
ſchließen, doch erſt nachdem er zuvor ein unvergeßliches Probeſtück ehrloſer
Geſinnung abgelegt hatte. Selbſt in Wien erregte die Kunde von Preu-
ßens Erfolgen kaum eine ſo wilde Entrüſtung, wie in Biebrich. Marſchall
tobte und polterte. Niemals wird Naſſau einem fremden Zollſyſtem ſich
anſchließen, ſchrieb er dem Geſandten Fabricius. Wir ſind für die Cen-
traliſation, wo es ſich handelt um die Erhaltung der Ruhe; doch in Zoll-
und Handelsſachen verwerfen wir die Centraliſation, weil ſie hier ſich
nicht verträgt mit der Souveränität. Darum haben wir alle hierauf ge-
richteten Anträge zurückgewieſen; andere Regierungen, die im Sinne der
revolutionären Partei ihre Souveränität gegen den Bundestag ſtreng be-
[398]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
haupteten, ſind leider auf ſolche Lockungen eingegangen.*) Der Prahler
log mit Bewußtſein; er wußte wohl, daß Preußen weder in Naſſau noch
an irgend einem anderen Hofe Anträge geſtellt hatte. Dabei ward die
Lage von Tag zu Tag unhaltbarer. Das Ländchen war jetzt rings von
Zollvereinsgebiet umſchloſſen; die Verwilderung des Volkes durch den
frechen Schmuggel begann in Biebrich Beſorgniſſe zu erregen. Marſchall
ſagte oft ſtolz: Die Stellung an dem freien Rhein verbürge dem Naſſauer
Reiche ſeine handelspolitiſche Unabhängigkeit für ewige Zeiten. Auch dies
war eine bewußte Lüge. Denn allein Preußens Langmuth geſtattete dem
Naſſauer Despoten noch eine ſelbſtändige Handelspolitik; ſobald Preußen
wollte, konnte das Enclavenſyſtem auf Naſſau angewendet und der Bieb-
richer Hof in dieſelbe Nothlage verſetzt werden wie einſt der Köthener.
Wie ließ ſich der unvermeidlichen Unterwerfung ausweichen? Offen-
bar nur durch Anlehnung an das Ausland, an den altbewährten treuen
Beſchützer der Kleinſtaaterei. Seit Jahren wiederholte Graf Fenelon die
Verſicherung, Frankreich ſei bereit die günſtigſten Handelsverträge mit den
Kleinſtaaten zu ſchließen, wenn ſie nur dem preußiſchen Handelsbunde
fern bleiben wollten. Der Herzog war freilich ſtrenger Legitimiſt, wollte
nichts hören von einer Verbindung mit dem Bürgerkönige. Da kam eine
Verlegenheit ſeiner Domänenkaſſe den Lockrufen des franzöſiſchen Ge-
ſandten zu Hilfe. Unter den Einnahmen des Domaniums, deſſen In-
tereſſen die Handelspolitik Naſſaus allein beſtimmten, ſtand obenan der
Ertrag der Mineralwaſſer; die Naſſauer Staatsgelehrten ſprachen ſogar
von einem Waſſerregale, kraft deſſen dieſe koſtbaren Quellen von Rechts-
wegen dem Landesherrn gehören ſollten. Nun hatte Frankreich vor einigen
Jahren den Zoll auf fremde Mineralwaſſer erhöht, die herzoglichen
Brunnen ſchwer geſchädigt. Doch Marſchall war nicht umſonſt der Freund
Rothſchild’s; er verfiel auf den ſchlauen kaufmänniſchen Gedanken, ob
Naſſau nicht von Frankreich die Herabſetzung dieſes Zolls erbitten und
dafür verſprechen ſollte, einige Jahre lang jedem Zollvereine fern zu
bleiben. Vor der angenehmen Ausſicht auf erhöhte Einnahmen mußte
der Widerſpruch des legitimiſtiſchen Herzogs verſtummen; der Miniſter
aber erhielt einen feſten Rückhalt im Kampfe gegen Preußen, er konnte,
auf die Vertragspflicht gegen Frankreich verweiſend, den Anſchluß an den
Zollverein noch jahrelang hinausſchieben.
Im Sommer 1833 verhandelte Geh. Rath Fabricius in Paris wegen
dieſes Planes. Am 19. Sept. kam der franzöſiſch-naſſauiſche Handels-
vertrag zu Stande, der ſchmutzigſte unter allen Verträgen der Zollvereins-
geſchichte und darum auch ſtreng geheim gehalten; erſt im Jahre 1866 hat
Karl Braun das Actenſtück veröffentlicht. Der Wortlaut klang harmlos,
wie üblich bei Gaunergeſchäften. Frankreich verſprach Begünſtigung der
[399]Frankreich und Naſſau gegen Preußen.
naſſauiſchen Mineralwaſſer, Naſſau verpflichtete ſich, den Zoll auf fran-
zöſiſche Weine und Seidenwaaren in den nächſten fünf Jahren nicht zu
erhöhen. Alſo wurde der ſchmähliche Zweck des Vertrags durch eine vor-
ſichtige Umſchreibung verhüllt. Die Herabſetzung der beiden naſſauiſchen
Tarifſätze war ein leerer Vorwand, da das Weinland Naſſau nur etwa
3000 Flaſchen franzöſiſchen Weines und 10 Ctr. franzöſiſcher Seide jähr-
lich einführte. Den Orleans kam es nur darauf an, durch irgend welche
Verpflichtung den Kleinſtaat auf fünf Jahre zu binden und von dem
Zollvereine abzuziehen. Der Herzog ratificirte; er ertrug, daß ihm der
Bürgerkönig das Alternat bei der Unterſchrift verweigerte, er verſchmerzte
ſogar den ruchloſen dreifarbigen Heftfaden der franzöſiſchen Aktenſtücke.
Welches Opfer war auch zu ſchwer für die Befriedigung der Habgier
und des [Preußenhaſſes]?
Nach und nach regte ſich dem Fürſten doch die Scham. Er war im
Herbſt 1833 durch Berlin gekommen, hatte dort Vieles gelernt und ſelbſt
von dem treuen Freunde Wittgenſtein hören müſſen: in Handelsſachen
iſt Herr Eichhorn leider allmächtig. Bald nachher ſtarb Marſchall; der
franzöſiſche Vertrag bildete den würdigen Abſchluß ſeiner politiſchen Lauf-
bahn. Die öſterreichiſche Politik des kleinen Hofes kam jetzt ins Schwanken;
der Steuerdirektor Magdeburg rieth dringend den hoffnungsloſen Wider-
ſtand aufzugeben. Aber wie herauskommen aus der kaum erſt übernom-
menen Vertragspflicht? Ein Advocatenſtreich mußte dem Naſſauer Hofe
aus der Noth helfen, wie ſchon ſo vielen anderen Mitgliedern des mittel-
deutſchen Sonderbundes. Der Vertrag ſollte erlöſchen, falls die fran-
zöſiſchen Kammern in ihrer nächſten Seſſion ihn nicht genehmigten. Im
Drange ernſterer Geſchäfte, über den Aufregungen des parlamentariſchen
Parteikampfes war die Ausführung dieſes Artikels in Paris vergeſſen
worden. Die franzöſiſche Regierung hatte aber gleich darauf ihr Verſehen
geſühnt, ſie hatte die Begünſtigung der Naſſauer Mineralwaſſer durch
eine königliche Ordonnanz eingeführt und ausdrücklich verſprochen, dieſe
Verordnung den Kammern, ſobald ſie wieder zuſammenträten, vorzulegen.
Die Zuſtimmung der Kammern war völlig zweifellos, da der Vertrag der
Handelspolitik der Orleans ſo große Vortheile gewährte. Frankreich hatte
alſo, bis auf einen kleinen Formfehler, ſeinen Pflichten vollauf genügt.
Aber das geringfügige Verſehen bot dem Naſſauer Hofe den Vorwand,
ſeinerſeits den Vertrag zu brechen. Im Juli 1834 erklärte Fabricius in
Paris, der Vertrag beſtehe nicht mehr zu Recht. Der franzöſiſche Hof,
mit Recht empört über ſolchen Beweis deutſcher Treue, erwiderte: „Frank-
reichs Loyalität verwirft dieſe Zweifel.“ Ein donnernder Artikel im Mo-
niteur ſagte: Der Naſſauer Hof hat zum Zwecke des Vertragsbruchs ſich
hinter eine Spitzfindigkeit verſteckt. Fabricius aber griff zu dem bekannten
letzten Mittel der Lügner; er betheuerte ſtolz, es ſei unter der Würde
ſeiner Regierung auf ſolche Beſchuldigungen zu antworten.
[400]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
Während alſo Marſchall’s letztes Werk durch eine offenbare Gaunerei
rückgängig gemacht wurde, verſuchte Naſſau ſich dem Zollvereine zu nähern.
Am 5. März 1834 berichtete Blittersdorff, ein alter Vertrauter des Herzogs:
man ſieht in Biebrich die Nothwendigkeit des Anſchluſſes ein, doch der
Herzog iſt zu weit gegangen im Kampfe gegen Preußen, er kann ſich jetzt
nicht durch Bitten bloßſtellen und will abwarten, bis man ihm Anerbie-
tungen macht. Aber die Anerbietungen blieben aus. Der kleine Herr,
der aus Haß gegen das fremde Zollſyſtem vor Frankreich ſich gedemüthigt,
mußte ſchließlich auch vor Preußen ſich beugen. Am 8. October bat der
Collectivgeſandte Leſtocq in Berlin um die Eröffnung der Verhandlungen.
Die preußiſchen Staatsmänner zögerten; ſie wollten vorher die badiſche
Frage ins Reine bringen. Erſt im Juli 1835 begannen die Verhand-
lungen. Eichhorn wünſchte den Naſſauer Hof für ſein ehrloſes Verhalten
zu züchtigen, wollte ihm nur ein beſchränktes Stimmrecht zugeſtehen. Auch
die thüringiſchen Kleinſtaaten fanden es unwürdig, daß Naſſau höhere
Rechte erhalten ſollte als ſie ſelber. Aber Wittgenſtein ſprach warm für
den alten Freund, und die unerſchöpfliche Gutmüthigkeit des Königs ge-
währte dem reuigen Sünder volle Verzeihung. Uebrigens zeigte Naſſau
noch während der Verhandlungen eine erſtaunliche Unbeſcheidenheit. Sein
Bevollmächtigter forderte nicht nur die Fortdauer der Schifffahrtsabgaben
auf dem Main und Rhein ſowie der Bannrechte der herzoglichen Do-
manialmühlen; er verlangte auch die Privilegien der Meßplätze für die
naſſauiſchen Badeorte und — ein Präcipuum für das Herzogthum bei
der Vertheilung der Zolleinnahmen, da Ems, Wiesbaden und Schwalbach
mit ihrem lebhaften Fremdenverkehr doch ſicherlich mehr verzehrten als
andere Städte des Vereins! Als der Kleinſtaat endlich am 10. Dec. 1835
mit gleichem Stimmrecht und gleichem Antheil an den Einkünften dem
Zollvereine beigetreten war, da ſtellte ſich die Rechnung nach einem Jahr-
zehnt wie folgt: Naſſau hatte kaum eine halbe Million Thaler einge-
nommen und 2½ Mill. Thlr. empfangen. Und dieſer Staat forderte
ein Präcipuum! —
Wie Naſſau ſich mit Frankreich gegen den Zollverein verſchwor, ſo
ſuchte die freie Stadt Frankfurt durch Englands Hilfe den preußiſchen
Feſſeln zu entgehen. Alle Verkehrseinrichtungen der Stadt richteten ſich,
wie in den Hanſeſtädten, nach den Bedürfniſſen des Durchfuhrhandels;
alle Klaſſen der Bevölkerung betrachteten die fremden Mauthbeamten vor
den Thoren als ihre natürlichen Feinde. Der Schmuggler war eine volks-
beliebte Geſtalt, in den Contoren ein willkommener Gaſt. Dem Frank-
furter, wie bisher dem Leipziger Kaufherrn ſtand die Meinung feſt, daß
ſein Handel „die Plackereien“ der Mauthämter nicht vertrage: „der Zoll-
verein würde unſere merkantile Exiſtenz vernichten.“
Von der herrſchenden öſterreichiſchen Partei des Senats ging nun
der Gedanke aus, die Politik des mitteldeutſchen Sonderbundes auf eigene
[401]Naſſaus Beitritt. Frankfurt und England.
Fauſt fortzuführen und im Bunde mit England dem Zollverein entgegen-
zutreten. Am 13. Mai 1832 ſchloß Senator Harnier in London mit
Palmerſton und Lord Auckland einen „Handels- und Schifffahrtsvertrag“
auf zehn Jahre, der die Flaggen beider Mächte gleich ſtellte und zugleich
ausbedang, daß kein dritter Staat im Zollweſen zum Nachtheil der Con-
trahenten bevorzugt werden dürfe. Die Abſicht war deutlich: engliſche
Schiffe ſollten ihre Waaren den freien Rhein hinauf nach Frankfurt führen
zur Weiterbeförderung durch die Schmuggler, dafür blieb die deutſche
Stadt zehn Jahre lang dem preußiſchen Handelsbunde fern und getröſtete
ſich des Glaubens, daß vielleicht einmal ein Schiff unter Frankfurter
Flagge nach England ſegeln würde. So ſtattete Frankfurt ſeinen Dank
ab für die durch Preußens langjährige Arbeit endlich erreichte Befreiung
der Rheinſchifffahrt. Die Preſſe des Zollvereins tobte, der alte Haß
gegen England brach wieder aus, der Darmſtädter Landtag erklärte ſich
entrüſtet wider dieſe Preisgebung der nationalen Ehre. In der That
ſcheint trotz der Ableugnungen des Frankfurter Senats unbeſtreitbar, daß
die deutſche Stadt und nicht England die Anregung gegeben hatte zu dem
unſauberen Geſchäfte, wie ja auch Naſſau bei jenem franzöſiſchen Ver-
trage der treibende Theil war. Die Times und die beſſeren engliſchen
Blätter ſchalten auf den begehrlichen Krämerſinn ihres Cabinets: wie
lächerlich dieſer Schifffahrtsvertrag mit einer Binnenſtadt, die doch auf
die Dauer ſich nicht abſondern kann von der nationalen Handelspolitik!
In Frankfurt ſelbſt ſtieg die Unzufriedenheit. Bittere Erfahrungen
lehrten, daß die beliebte Vergleichung Frankfurts und der anderen „freien
Städte“ auf beiden Füßen hinkte. Während in Hamburg der geſammte
Zwiſchenhandel Skandinaviens ſeinen Mittelpunkt fand, war der Binnen-
platz weſenlich auf den deutſchen Handel angewieſen. Auf eine Firma, die
mit engliſchen und franzöſiſchen Waaren handelte, kamen zwanzig deutſche
Geſchäfte. Der Umfang des Speditionshandels ſank auf die Hälfte herab,
ſeit Kurheſſen ſich an Preußen angeſchloſſen; das blühende Geſchäft in
Leder und Wein lag jetzt ganz darnieder. Die wenigen engliſchen Schiffe,
die den Main herauf kamen, boten keinen Erſatz für den geſperrten nach-
barlichen Verkehr. Alle Nachbarſtädte wuchſen zuſehends: Hanau, Vilbel
und der aufblühende Meßplatz Offenbach. Auch die alten Nebenbuhler
zu Mainz frohlockten in nachbarlicher Schadenfreude. Schon mußte der
Frankfurter Kaufmann in Offenbach zu hohen Preiſen Keller und Speicher
miethen, derweil daheim die Speicher leer ſtanden. Wie lange ſollte der
ſchimpfliche Schmuggel noch währen, und konnte Preußen nicht endlich
die Geduld verlieren, die Schrecken ſeines Enclavenſyſtems über die trotzige
Stadt verhängen? Beredte Flugſchriften ſchilderten den Nothſtand. Im
Februar 1834 verlangte endlich die Handelskammer, die ſchon ſeit Langem
getheilten Sinnes war, den Anſchluß an Preußen.
Nach langwierigen Vorberathungen mit dem Darmſtädter Hofmann
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 26
[402]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
ſtellte der Senat im Herbſt 1834 bei der Krone Preußen die Bitte um
Eröffnung der förmlichen Verhandlungen. Im Januar 1835 kam Senator
Guaita nach Berlin, derſelbe, der in dem mitteldeutſchen Vereine eine ſo
gehäſſige Rolle geſpielt hatte. Ein Jahr verging bis man einig wurde.
Frankfurt erwartete anfangs große Privilegien für ſeinen Handelsſtand,
bis Guaita endlich einſah, daß alle Vorrechte dem Weſen des Vereins
widerſprachen. „Die Rechtsgleichheit, meinte der Bekehrte jetzt, iſt der beſte
Schutz für die kleinen Staaten. Fordern wir Privilegien, ſo wird Preußen
dieſelben Vorrechte ſeinen Städten gewähren, und die Begünſtigung Kölns
wäre Frankfurts Untergang.“*) Preußen wünſchte mit dem Zollweſen
zugleich ſeine Gewerbefreiheit in die Republik einzuführen; denn die Nach-
barn klagten laut, der Darmſtädter Landtag ſprach in bitteren Worten
über das verrottete Frankfurter Zunftweſen. Doch die freie Stadt wollte
dies Heiligthum ihrer Bürgerſchaft nicht antaſten; nach langem Streite
blieb die alte Unordnung aufrecht. Daß der reiche Handelsplatz unver-
hältnißmäßig viel verzehrte, wurde von allen Seiten zugegeben; man
verabredete eine Bauſchſumme von 4⅖ fl. auf den Kopf der ſtädtiſchen
Bevölkerung, faſt viermal ſo viel als der Stadt nach Verhältniß der
Einwohnerzahl gebührte. Der Meßverkehr erhielt dieſelben Begünſtigungen
wie in Leipzig. Dagegen konnte Preußen die vollſtändige politiſche Gleich-
berechtigung des Kleinſtaats nicht zugeben. Nach höchſt verwickelten Ver-
handlungen beſchloß man eine gemeinſame Zolldirektion in Frankfurt
einzuſetzen; ein Mitglied ernannte der Senat, die andern wurden ihm
durch die beiden Heſſen vorgeſchlagen, Preußen aber führte die Ober-
aufſicht über die Zollverwaltung. Im Uebrigen erhielt die Stadt durch
die Nachſicht des Königs alle Rechte der Zollvereinsmitglieder zugeſtanden,
nur daß ſie den Handelsverträgen nicht widerſprechen durfte und auf den
Zollconferenzen in der Regel dem naſſauiſchen Bevollmächtigten ihre
Stimme übertragen ſollte.
Dieſe Verabredungen konnten nicht ins Leben treten, ſo lange der
Vertrag mit England beſtand. Ehrenhafter als der Herzog von Naſſau
ſendete der Senat einen Bevollmächtigten nach London und ließ, wie hart
das auch ankam, um die Aufhebung des Vertrages bitten. Erſt nachdem
England eingewilligt, trat Frankfurt, am 2. Januar 1836, dem Zoll-
vereine bei. Noch waren einige böſe Tage zu überſtehen. Die ungeheuren
in der Stadt aufgeſtapelten Vorräthe mußten einer Nachverſteuerung
unterworfen werden, die einen Ertrag von 1,68 Millionen fl. abwarf.
Während mehrerer Tage war jede Waarenbewegung verboten, eine wilde
Aufregung herrſchte unter den Kaufleuten, die Bürgerſchaft begann ſchon
ihren Entſchluß zu verwünſchen. Doch bald kehrte die Ordnung zurück;
ſchon die nächſte Meſſe brachte ein reiches Ergebniß; für Frankfurt wie
[403]Frankfurts Beitritt.
für Leipzig ſchuf der Zollverein eine neue Zeit des Glanzes. Nur der
hanſeatiſche Dünkel grollte der Schweſterſtadt, die „ihre Ebenbürtigkeit um
ein Linſengericht veräußert hatte“: — ſo ſagte Wurm noch in jenem
Hamburger Commiſſionsberichte von 1847. —
Durch den Zutritt dieſer letzten Bruchſtücke Mitteldeutſchlands er-
hielt das Gebiet des Handelsbundes einen vorläufigen Abſchluß. Der
Zollverein umfaßte jetzt 8253 Geviertmeilen mit reichlich 25 Millionen
Einwohnern, er hatte 1064 Grenzmeilen zu beſchützen, 9 Meilen weniger,
als Preußen allein im Jahre 1819 bewacht hatte. Behutſam, mit ſchonen-
der Erwägung aller volkswirthſchaftlichen Intereſſen, wie der Bau be-
gonnen, ward er weitergeführt; nach Jahren erſt traten einige neue Mit-
glieder hinzu.
Die Gleichberechtigung der Bundesgenoſſen wurde auch in der Form
ſorgſam gewahrt. Von den vier erſten Generalconferenzen des Zollvereins
iſt nur eine (1839) in Berlin gehalten worden. Die lockere bündiſche
Verfaſſung des Vereins zeigte bald ihre ſchädliche Wirkung, ſie erſchwerte
jede Fortbildung des Tarifs. Die finanziellen Ergebniſſe blieben hinter
den Erwartungen weit zurück; die Verwaltungskoſten ſtanden noch immer
hoch, zwiſchen 10 und 12 pCt. Alle dieſe Mängel konnten gleichwohl den
unendlichen Segen der großen Vereinigung nicht aufheben. Lange zurück-
geblieben hinter der Volkswirthſchaft der weſtlichen Nachbarn, trat unſer
Volk wieder als ihr ebenbürtiger Nebenbuhler auf den Weltmarkt. Am
Schluſſe des erſten Jahrzehnts der Zollvereinsgeſchichte waren die Sünden
der Jahrhunderte geſühnt. Die Höhe des Wohlſtands, welche unſer Vater-
land ſchon vor dem dreißigjährigen Kriege erſtiegen hatte, war endlich
wieder erreicht.
Die politiſchen Wirkungen des Zollvereins ſind, Dank der unver-
gleichlichen Schwerfälligkeit des deutſchen Staatslebens, nicht ſo raſch und
nicht ſo unmittelbar eingetreten, als manche kühne Köpfe meinten. Schon
zu Anfang der dreißiger Jahre hoffte Hanſemann, ein Parlament des Zoll-
vereins und daraus vielleicht einen deutſchen Reichstag erſtehen zu ſehen,
und wie viele andere wohlmeinende Patrioten haben nicht ähnliche Erwar-
tungen an den deutſchen „Zollſtaat“ geknüpft. Aber der Handelsbund war
kein Staat, er bot keinen Erſatz für die mangelnde politiſche Einheit und
konnte noch durch Jahrzehnte fortdauern, ohne die Lüge der Bundesver-
faſſung zu zerſtören. Als Miniſter du Thil im Jahre 1827 ſeinem Groß-
herzoge den Rath gab, jenen entſcheidenden Schritt in Berlin zu wagen,
da ſprach er offen aus: Wir dürfen uns nicht darüber täuſchen; indem
wir den Handelsbund ſchließen, verzichten wir auf die Selbſtändigkeit
unſerer auswärtigen Politik; bricht ein Krieg aus zwiſchen Oeſterreich
und Preußen, ſo iſt Heſſen an die preußiſchen Fahnen gebunden. Des-
gleichen Dahlmann, der nach ſeiner großen und tiefen Art den Zollverein
ſofort als das einzige deutſche Gelingen ſeit den Befreiungskriegen be-
26*
[404]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
grüßte, erklärte zuverſichtlich, der Handelsbund ſtelle uns ſicher vor der
Wiederkehr bürgerlicher Kriege. Auch dieſe Weiſſagungen ſind nicht buch-
ſtäblich eingetroffen. Der Zollverein hat die oberdeutſchen Staaten nicht
verhindert, die Waffen zu ergreifen gegen Preußen. Und dennoch ſollte
gerade das Jahr 1866 die gewaltige Lebenskraft dieſes handelspolitiſchen
Bundes erproben. Der raſche Siegeszug der preußiſchen Fahnen überhob
unſeren Staat der Mühe ſeine wuchtigſte Waffe zu ſchwingen, durch die
Aufhebung der Zollgemeinſchaft die oberdeutſchen Höfe ſofort zu bekehren.
Das Bewußtſein, daß man zu einander gehöre, daß man ſich nicht
mehr trennen könne von dem großen Vaterlande, war durch die kleinen
Erfahrungen jedes Tages in alle Lebensgewohnheiten der Nation einge-
drungen, und in dieſer mittelbaren politiſchen Wirkung liegt der hiſtoriſche
Sinn des Zollvereins. Mochten die Schulen der Albertiner und der Welfen
der Jugend die Märchen des Stammeshaſſes und der particulariſtiſchen
Selbſtzufriedenheit künden — es ging doch zu Ende mit dem Philiſterthum
der alten Zeit, das an die Herrlichkeit der Kleinſtaaten kindlich glaubte.
Der Geſchäftsmann folgte mit ſeinen Gedanken den Waarenballen, die
er frei durch die deutſchen Länder ſandte; er gewöhnte ſich, wie ſchon
längſt der Gelehrte, über die Grenzen des heimiſchen Kleinſtaates hinaus-
zublicken; ſein Auge, vertraut mit großen Verhältniſſen, ſah mit ironiſcher
Gleichgiltigkeit auf die Kleinheit des engeren Vaterlandes. Der Gedanke
ſelbſt, daß die alten trennenden Schranken jemals wiederkehren könnten,
wurde dem Volke fremd; wer einmal in dem Handelsbunde ſtand, gehörte
ihm für immer. Eine unerbittliche Nothwendigkeit ſtellte nach jeder Kriſis
die alten Grenzen des Zollvereins wieder her; kalte politiſche Köpfe konnten
ſtets mit mathematiſcher Sicherheit den Verlauf des Streites im Voraus
berechnen.
Das Ausland gab den ausſichtsloſen Kampf gegen unſere Handels-
einheit bald auf. Franzöſiſche Staatsmänner geſtanden achſelzuckend: wir
haben leider den deutſchen Staaten nichts zu bieten, was ihnen die Vor-
theile des preußiſchen Zollvereins erſetzen könnte. Die Briten erhielten
erſt durch Dr. Bowring’s Berichte (1839) eine deutlichere Vorſtellung
von dem Weſen des Zollvereines und gewöhnten ſich fortan, Preußen als
den Vertreter des deutſchen Handels zu betrachten. Oeſterreich mußte
nach ſtets vergeblichen Störungsverſuchen immer wieder dem Nebenbuhler
freie Hand laſſen im deutſchen Verkehrsleben; nur dieſer ſtillſchweigende
Vertrag zwiſchen den beiden Großmächten ſicherte nothdürftig den Beſtand
des Deutſchen Bundes. Dem preußiſchen Staate aber waren die Wege
ſeiner Handelspolitik ſo feſt und ſicher vorgezeichnet, daß auch die Zagheit
ſie nicht mehr verlaſſen konnte. Die Aufgabe war, den Handelsbund aus-
zudehnen; über alle deutſchen Staaten, aber keinen Schritt weiter. Schon
im Jahre 1834 wurde in Brüſſel, durch die Sorge vor Frankreichs Er-
oberungsluſt, die Frage aufgeworfen, ob nicht Belgien dem deutſchen
[405]Bedeutung des Zollvereins.
Zollvereine beitreten ſolle. Preußen wies den Gedanken zurück, und auch
ſpäterhin, als das unreife Nationalgefühl deutſcher Publiciſten wiederholt
für einen Handelsbund mit der Schweiz oder mit Holland ſich erwärmte,
wahrte Preußen unbeirrt den nationalen Charakter des Zollvereins. Alſo
entſtanden zwei Gemeinweſen im Deutſchen Bunde: ein Deutſchland des
Scheines, das in Frankfurt, ein Deutſchland der ehrlichen Arbeit, das in
Berlin ſeinen Mittelpunkt fand. Der preußiſche Staat erfüllte, indem er
Deutſchlands Handelspolitik leitete, einen Theil der Pflichten, welche dem
Deutſchen Bunde oblagen, wie er zugleich allein durch ſein Heer die
Grenzen des Vaterlandes ſicherte. So iſt er durch redlichen Fleiß langſam
emporgewachſen zur führenden Macht des Vaterlandes; und nur weil die
europäiſche Welt es nicht der Mühe werth hielt, das Heerweſen und die
Handelspolitik Preußens ernſtlich kennen zu lernen, bemerkte ſie nicht das
ſtille Erſtarken der Mitte des Feſtlandes.
Die wirthſchaftliche und die politiſche Einigung Deutſchlands zeigen
eine überraſchende Verwandtſchaft in ihrer Geſchichte. Beide Bewegungen
gleichen einem großen dialektiſchen Proceſſe: erſt nachdem durch wieder-
holte vergebliche Verſuche die Unmöglichkeit jeder andern Form der Ein-
heit zweifellos erwieſen war, errang die preußiſche Hegemonie den Sieg.
Ein reiches Erbe monarchiſcher und im guten Sinne föderaliſtiſcher Ueber-
lieferungen iſt aus den Erfahrungen des Zollvereins übergegangen auf
den Norddeutſchen Bund und das Deutſche Reich. In dem Zollvereine
lernte Preußen, einen vielköpfigen, faſt formloſen Bund, der ſich in keine
Kategorie des Staatsrechts einfügen wollte, monarchiſch zu leiten, mehr
durch Einſicht und Wohlwollen und durch das natürliche Uebergewicht der
Macht als durch förmliches Vorrecht. Zwei grundverſchiedene Schulen
deutſcher Staatsmänner wuchſen auf ſeit den dreißiger Jahren. Auf der
einen Seite die Politiker des Bundestags, dieſe bejammernswerthen Ge-
ſchöpfe, denen die Erbſünde der Diplomatie, die Verwechslung von Ge-
ſchäft und Klatſcherei, zur anderen Natur geworden war, dieſe durch die
condenſirte Milch der Augsburger Allgemeinen und der Frankfurter Ober-
Poſtamts-Zeitung mühſam am Leben erhaltenen politiſchen Kinder, die
mit ſo feierlichem Ernſt von den Formen und Formeln des hohlen Bun-
desrechts zu reden wußten. Und daneben die Geſchäftsmänner des Zoll-
vereins, nüchterne praktiſche Leute, gewohnt, ernſthafte Intereſſenfragen
umſichtig zu erwägen, die Wünſche und Bedürfniſſe der Nachbarn mit
Gerechtigkeit und Milde zu beachten. Auf der hohen Schule der Zoll-
conferenzen und der mannichfachen Berathungen über die Fragen des
Verkehrs, lernten Preußens Staatsmänner die Methode neuer deutſcher
Politik: die Kunſt, reizbare kleine Bundesgenoſſen ohne Gehäſſigkeit und
Gewaltthat zu leiten, unter bündiſchen Formen das Weſen der Monarchie
zu wahren.
Der Gedanke des Zollvereins war nicht eines Mannes Eigenthum,
[406]IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
er entſtand gleichzeitig in vielen Köpfen unter dem Drucke der Noth des
Vaterlandes; daß der Gedanke Fleiſch und Blut gewann, war allein Preu-
ßens Werk, war das Verdienſt von Eichhorn, Motz und Maaſſen und
nicht zuletzt das Verdienſt des Königs. Nicht die Anſtandspflicht monar-
chiſcher Staatsſitten, ſondern die Pflicht hiſtoriſcher Gerechtigkeit nöthigt
zu dem Urtheil, daß nur das feſte Vertrauen auf Friedrich Wilhelm’s
unverbrüchliche Treue die deutſchen Fürſten bewegen konnte ihre Souve-
ränität freiwillig zu beſchränken. Eben die anſpruchsloſe Schlichtheit ſeines
Weſens, welche dieſen Hohenzollern in den wilden napoleoniſchen Tagen
ſo oft kleinmüthig erſcheinen ließ, befähigte ihn in ſtiller Zeit den Samen
einer großen Zukunft auszuſtreuen. —
[[407]]
Siebenter Abſchnitt.
Das Junge Deutſchland.
Veränderungen ſeines Länderbeſtandes hat jedes große Volk von Zeit
zu Zeit erlebt, aber nur den Deutſchen beſchied eine wechſelreiche Ge-
ſchichte, daß ſich die Marken ihres Vaterlandes die Jahrhunderte hindurch
faſt unaufhörlich verſchoben und Niemand zu ſagen wußte, welchen Ge-
bieten eigentlich der große Name Deutſchland gebühre. Derweil das alte
Reich ſeine wälſchen Vorlande im Süden und Weſten verlor, Oeſterreich,
die Schweiz, die Niederlande ihrem Sonderleben überließ, erwuchs ihm
ein köſtlicher Erſatz in den Kolonien jenſeits der Elbe, und aus dieſen
Landen des Nordoſtens, die zum guten Theile dem Reichsverbande nicht
angehörten, erhoben ſich die ſtaatenbildenden Kräfte unſerer neuen Ge-
ſchichte. Auch der Deutſche Bund war gleich dem heiligen Reiche noch ein
unfertiges politiſches Gebilde ohne feſte Grenzen, halb weltbürgerlich, halb
national, zugleich zu weit und zu eng, mit Oeſterreich und noch drei an-
deren undeutſchen Mächten wunderlich verkettet und doch den preußiſchen
Staat nicht ganz umſchließend. Erſt durch den Zollverein begann ſich’s
zu entſcheiden, welche Theile der ewig beweglichen Ländermaſſen Mittel-
europas fortan das politiſche Deutſchland der neuen Geſchichte bilden
ſollten. Er umfaßte, Oeſterreich in weitem Bogen umklammernd, das
deutſche Land vom Memelſtrom bis zum Bodenſee — denn da die Küſte
immer dem Binnenlande gehört, ſo war der Zutritt der Staaten des
hannoverſchen Steuervereins nur noch eine Frage der Zeit — nicht alle
die Gebiete, auf denen einſt der Ruhm des deutſchen Namens geruht
hatte, aber ihren edlen Kern, die fröhliche Heimath deutſcher Kunſt im
Südweſten und die waffenſtolzen Adlerlande des Nordens, herrliche Kräfte,
die im treuen Verein dereinſt eine neue Zeit vaterländiſchen Glanzes her-
aufführen konnten. An den idealen Mächten der Sprache und Geſittung,
des rechtsbildenden Gemeingeiſtes, der Hoffnungen und Erinnerungen hatte
die Nation bisher das Bewußtſein ihrer Größe genährt; jetzt erlangte ſie
auch die Gemeinſchaft des wirthſchaftlichen Lebens, den natürlichen Unter-
bau der politiſchen Einheit, der ihr immer gefehlt hatte. In denſelben
ſchickſalsſchweren Januartagen des Jahres 1834, da der Wiener Hof den
[408]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
hohen Rath der deutſchen Bundespolizei zum letzten male zu unfrucht-
baren Verhandlungen um ſich verſammelte, erſtand im Weſten und Nor-
den das neue in Arbeit geeinigte Deutſchland, ſcharf abgegrenzt gegen
Oeſterreich wie gegen das Ausland. Das letzte Ziel der fridericianiſchen
Politik, die Löſung des deutſchen Dualismus, ſchien jetzt nicht mehr un-
erreichbar, und hoffnungsvoll ſagte Karl Mathy: „Noch niemals iſt Deutſch-
land ſo einig geweſen wie ſeit der Stiftung des Zollvereins.“
Der junge Tag, der über Deutſchland heraufdämmerte, ward aber
nur von wenigen Einſichtigen bemerkt; die emporſteigende Sonne verbarg
ſich hinter dem Gewölk langweiliger und widerwärtiger diplomatiſcher Zwi-
ſtigkeiten. Wie oft hatten die Patrioten geſungen und geſagt von der
Stunde des Heiles, da die Raben nicht mehr den Kaiſerberg umkreiſen,
da der Birnbaum auf dem Walſerfelde wieder grünen, der alte Rothbart
ſeinen Flamberg ſchwingen und den Reichstag der freien deutſchen Nation
einberufen würde — ein Gedanke, der noch kaum greifbarer war als
weiland die Weiſſagungen des Simpliciſſimus von dem „deutſchen Hel-
den“ und ſeinen Parlamentsherren. Neben dieſen ſtrahlenden Traum-
bildern eines Volkes, das ſchon in zorniger Ungeduld ſeine künſtlich nieder-
gedrückte Kraft zu fühlen begann, erſchien das neue wirthſchaftliche Ge-
meinweſen der Nation in ſeinem Werktagskleide unſcheinbar und nüchtern.
Die Deutſchen wußten ihrem Beamtenthum für ſeine treue Arbeit wenig
Dank; denn immer iſt es das tragiſche Loos neuer politiſcher Ideen, daß
ſie zuerſt von der gedankenloſen Welt bekämpft und dann, ſobald der Er-
folg ſie rechtfertigt, als ſelbſtverſtändlich mißachtet werden. Eben in den
Tagen, da der deutſchen Politik Preußens endlich wieder ein großer Wurf
gelungen war, verfiel die öffentliche Meinung nochmals in einen Zuſtand
der Ermattung und Verſtimmung, wie zehn Jahre zuvor, und faſt allein
in den Kämpfen des literariſchen Lebens entlud ſich noch die verhaltene poli-
tiſche Leidenſchaft der Zeit.
Erſt ſeit Goethe die Augen ſchloß (22. März 1832), gelangte die neue
radicale Literatur, die ſich in Börne’s und Heine’s Schriften zuerſt an-
gekündigt hatte, für kurze Zeit zur unumſchränkten Herrſchaft. Sein Da-
ſein ſchon war ein beredter Vorwurf gegen die freche Tendenz, und moch-
ten die Kleinen ſich wechſelſeitig als junge Titanen verherrlichen, an ſeine
Größe reichte alles Selbſtlob nicht heran. Nichts erregt ſo unwiderſtehlich
die fromme Ahnung einer höheren Welt, wie der Anblick eines gottbegna-
deten Greiſes, der an den letzten Grenzen menſchlichen Alters, allen kleinen
irdiſchen Sorgen entwachſen, nur noch für die Idee ſeines Lebens wirkt
und dann in der Verklärung einer zweiten Jugend abſcheidet. Friedrich’s
ernſter Lebensausgang ließ neben der ſcheuen Bewunderung die Freude
nicht aufkommen; erſt an Goethe’s Alter lernten die Deutſchen die glück-
liche, in ſich befriedete und zugleich über die Erde hinausweiſende Voll-
endung eines großen Menſchendaſeins kennen. Gedenke zu leben! — ſo
[409]Der alte Goethe.
lautete, ſittlicher und tiefſinniger als das mönchiſche Memento mori, der
Weisheit letzter Spruch im Wilhelm Meiſter. Bis zum letzten Athem-
zuge blieb der Dichter ſeinem Worte treu, ein heiter Entſagender, dank-
bar für jede Blume des Sommers und jede Frucht des Herbſtes, beruhigt
in dem Glauben, daß Verdruß auch ein Theil des Lebens und das höchſte
Glück auf Erden, die Freuden des Gemüths, der ganzen Welt gemein ſeien.
Als einen gebührenden Zoll nahm er die Huldigungen entgegen, die
ihm Walter Scott mit den ſchottiſchen Dichtern und ſo viele andere Aus-
länder darbrachten. Er ſah, daß Deutſchland jetzt an der Spitze der
Weltliteratur ſtand, und ſagte den Fremden aufrichtig: „wer die deutſche
Sprache verſteht, ſpielt den Dolmetſcher, indem er ſich ſelbſt bereichert.“
Mit dieſem ruhigen Selbſtgefühle paarte ſich eine wunderbare, allen Neid
entwaffnende Demuth; faſt ſiebzig Jahre war er alt, als er beim Anblick
einer Ausgabe ſeiner Werke die Verſe ſchrieb:
Wie that es ihm wohl, als er in dem jungen Schotten Thomas Carlyle,
dem Ueberſetzer und Kritiker der deutſchen claſſiſchen Literatur, den erſten
Ausländer kennen lernte, der auf der Höhe des deutſchen Denkens ſtand.
„Ganze Generationen werden Sie dereinſt dafür ſegnen, daß ſie ſtatt des
Vermuthens und Leugnens wieder zu glauben und zu wiſſen gelernt
haben“ — ſo ſagte Carlyle, die Orthodoxen und die liberalen Partei-
fanatiker zugleich beſchämend. Goethe ahnte, was Deutſchland an dieſem
ſeinen wärmſten und treueſten Freunde draußen beſaß; er wurde nicht
müde, dem jugendlichen Verehrer in die Einſamkeit der ſchottiſchen Berge
bald ſeine neueſten Werke, bald eine Medaille für die Genoſſen drüben,
bald ein Armband oder eine feine ſchmiedeeiſerne Halskette oder ein anderes
einfaches deutſches Geſchenk für die junge Frau zu ſenden. „Und ſo fortan.
Goethe“ — damit ſchloß er in der Regel ſeine patriarchaliſchen Briefe.
Von jeher hatte er das Weſen der Schönheit darin geſucht, daß wir
„beim Anſchauen des geſetzmäßig Lebendigen uns gleichfalls lebendig und
in größte Thätigkeit verſetzt fühlen“. Alles Empfangen reizte ihn ſogleich zum
Schaffen, und jetzt, da er in der ſtillen Sammlung des hohen Alters
jede Zerſtreuung abweiſen durfte, war ſein ganzes Leben nur noch un-
ausgeſetzte beglückende Arbeit. Mochte er dichten und denken oder der ge-
liebten Stimme der „großen, leiſe ſprechenden Natur“ lauſchen, oder an
den neuen Werken der Kunſt und Forſchung, die ihm von allen Enden
der Welt zuſtrömten, ſich liebevoll erfreuen, immer ſchritt er aufwärts,
immer baute er fort an dem umfaſſenden Weltenbilde, das leuchtend vor
ſeiner Seele ſtand, mit den Jahren ſtets freier, heller, größer ſich ge-
ſtaltete, und noch am Rande des Grabes gingen ihm „bisher undenkbare
[410]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Gedanken auf, wie ſelige Dämonen, die ſich auf den Gipfeln der Ver-
gangenheit glänzend niederlaſſen.“ Dabei blieb ihm bis zum Ende „das
ewige Geltenlaſſen, das Leben und Lebenlaſſen“, das einſt Merck an dem
jungen Freunde ſo gar nicht begreifen wollte; neidlos, wie kaum je ein
Künſtler hieß er jede Schöpfung der Mitſtrebenden willkommen, wenn ſie
nur ſeinem eigenen Weſen nicht ganz fremd oder widrig ſchien. In ſol-
cher Stimmung fand ihn Chriſtian Rauch und formte dann die Statuette
des alten Goethe, genau ſo wie er in ſeinem Arbeitszimmer diktirend auf
und nieder zu gehen pflegte, den Kopf frei aufgerichtet, die Hände über
dem Rücken verſchränkt, die einzige Unſchönheit der herrlichen Geſtalt, die
etwas kurzen Beine durch den lang niederwallenden Hausrock glücklich ver-
deckt — ein Bild ruhiger Majeſtät und Güte, erhabener in ſeiner Schlicht-
heit, als die theatraliſche Büſte David’s von Angers, der ſich nach Fran-
zoſenart den deutſchen Dichterfürſten wie einen donnernden Zeus dachte.
Noch war Vieles in dem Treiben der Gegenwart, was den Dichter
abſtoßen mußte. Er ſah die mit der Juli-Revolution beginnende Zerſetzung
der alten Geſellſchaft nur zu deutlich voraus, ohne die Lichtſeiten der Be-
wegung zu würdigen, und wendete ſich verächtlich hinweg von dem Ge-
ſinnungsterrorismus der Freiheitshelden des Tages:
Während Jedermann politiſirte und das eigene Haus über den Welt-
händeln vergaß, hielt er nur um ſo feſter an ſeinem alten Glauben, daß
die ſittliche Ordnung der Welt zumeiſt auf der treuen Erfüllung der näch-
ſten Pflichten beruhe, und ſchrieb noch kurz vor ſeinem Tode — es waren
wohl ſeine letzten Verſe — einem jungen Freunde ins Stammbuch: Ein
Jeder kehre vor ſeiner Thür, und rein iſt jedes Stadtquartier! Auch die
tiefe Einſamkeit, die jedem Meiſter beſchieden iſt, ward ihm zuweilen
ſchmerzhaft; er fühlte, daß ihm der Lohn des Dichters, „der zart ant-
wortende Nachklang und der reine Reflex aus der begegnenden Bruſt“
doch nur ſelten zu Theil ward. Sehr bitter empfand er die grenzenloſe
Dreiſtigkeit „der Neueſten“, des jungen Volkes, das ſich einbildete, ſein
Tauftag ſollte der Schöpfungstag ſein; noch bitterer, daß ſich in dem
Uebermuthe der jungen Schriftſteller ſo wenig jugendliche Friſche, in den
grellen, häßlichen Gebilden ihrer „Lazarethpoeſie“ ſo wenig männliche
Kraft, in ihrem geſucht geiſtreichen Weſen nur das verfrühte Alter eines
der Naivität und der Ehrfurcht entwachſenen Geſchlechtes kundgab. Er
beugte ſich in Andacht vor „dem Ewig-Einen, das ſich vielfach offenbart“,
und konnte nur mit Achſelzucken den hohlen Dünkel der neuen Gottes-
leugner betrachten: „der Profeſſor iſt eine Perſon, Gott iſt keine!“
Dennoch ſtand Goethe in ſeinen letzten Jahren der Welt, die ihn
[411]Goethe und das neue Geſchlecht.
umgab, bei Weitem nicht mehr ſo fremd gegenüber wie einſt in den Tagen
der Befreiungskriege und des chriſtlichen Teutonenthums. Damals konn-
ten ihn Fernſtehende leicht für einen Reaktionär halten, der verdroſſen
zu dem Weltbürgerthum der guten alten Zeit zurückſtrebte. Nunmehr
aber ſprach er wieder mit Abſcheu von der Aufklärung des „ſelbſtklugen“
achtzehnten Jahrhunderts; er empfand von Neuem, daß er ſelber einſt die
Deutſchen von Philiſternetzen befreit, der Erkenntniß der zweckloſen Schön-
heit, des ewigen Werdens in Natur und Geſchichte zuerſt die Bahn ge-
brochen hatte. Was jetzt auf dem literariſchen Markte ſich wider Goethe
auflehnte, war doch nur in neuem Aufputz die alte Aufklärung, das alte
Naturrecht, die alte platte Nützlichkeitslehre, die alles Lebendige fragte wo-
zu man es wohl gebrauchen könne. Wenn Menzel und Börne mit libe-
ralen Kraftworten gegen ihn polterten, dann mußte der alte Herr unwill-
kürlich jener fernen Tage gedenken, da Nicolai auf dem Grabe des jungen
Werther ſeine Andacht verrichtete. Auch ſeinem jugendlichen Freunde Car-
lyle entging dieſe Wahlverwandtſchaft nicht; der meinte: „Eure deutſchen
Philiſter Adelung und Nicolai ſind mir ſehr merkwürdig; hier nennen wir
ſie Utilitarianer, ſie ſind meiſt Politiker, radical oder republikaniſch.“
Die dürren, fertigen Formeln der modiſchen Freiheitslehren beſtärkten
Goethe nur in der Einſicht, daß ſeine eigene Weltanſchauung die freiere war.
Er fühlte ſich wieder als den Lichtbringer einer neuen Zeit und nahm mit
Befriedigung wahr, wie unverkennbar alle ſchöpferiſchen Werke der bil-
denden Kunſt und der Wiſſenſchaft ſchon den Stempel ſeines Geiſtes
trugen. Er wußte, dies große Jahrhundert, das er ſelbſt einſt mit her-
aufgeführt, hatte ſein letztes Wort noch nicht geſprochen; und obwohl er
ſchwerlich wünſchen mochte, dieſe Zukunft noch zu erleben, ſo ſah er doch
ahnungsvoll voraus, wie bald die kleinen Händel der Gegenwart veralten,
eine reichere Zeit den Geſichtskreis der Menſchheit unermeßlich erweitern,
ihrer Geſittung ganz neue Aufgaben ſtellen würde. Schon in Meiſter’s
Wanderjahren forderte er eine hochgeſteigerte Staatsthätigkeit wie ſie erſt
in der Gegenwart ſich zu entfalten anfängt; er entwickelte den Plan einer
ganz vom Staate geleiteten Volkserziehung, ein platoniſches Ideal, das
den Privatmenſchen des achtzehnten Jahrhunderts ebenſo fremd war wie
dem ſtaatsfeindlichen Radicalismus der dreißiger Jahre; und in den
ſchwachen Anfängen der deutſchen Auswanderung erkannte er ſchon die
Vorboten jener expanſiven Civiliſation, welche in der zweiten Hälfte des
neuen Jahrhunderts ihren Siegeszug um die Erde halten ſollte:
In ſeinem letzten Lebensjahre, bei der Eröffnung des weimariſchen Leſe-
muſeums, ſprach er offen aus, wie die Welt ſich zu verwandeln beginne,
wie „die geſellige Bildung univerſell werde“, wie alle gebildeten Kreiſe, die
ſich ſonſt nur berührten, jetzt ſich vereinigten, und an Jeden die Noth-
[412]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
wendigkeit herantrete, „ſich von dem Zuſtande des augenblicklichen Welt-
laufes im realen und idealen Sinne zu unterrichten“.
Noch mächtiger redete dies ſtarke Zukunftsgefühl aus ſeinem letzten
großen Werke, einer prophetiſchen Dichtung, die von der thatenarmen und
zuchtloſen Mitwelt kaum begriffen, erſt heute einem an Heldenkraft und
darum auch an frommer Ehrfurcht reicheren Geſchlechte langſam verſtänd-
lich wird. Sehr ſelten geſchieht es, daß ein greiſer Meiſter verſcheidet,
bevor er ſein Lieblingswerk vollendet hat; es iſt, als läge in ſolchen Leib
und Seele ſpannenden Aufgaben eine geheimnißvolle Kraft, die den Lebens-
faden nicht abreißen läßt. Seit mehr als zwanzig Jahren beſchäftigte die
Geſtalt des Fauſt die Gemüther der Menſchen ſo lebhaft, wie nur je ein
hiſtoriſcher Held. Philoſophen und Poeten verſuchten das Bruchſtück zu er-
gänzen, jeder fühlende Leſer fragte unwillkürlich, wie dieſer hohe Menſch
enden müſſe, in dem Alle die eigenſten Züge des deutſchen Geiſtes er-
kannten. Goethe wußte, daß die Augen der Beſten ſeines Volkes auf ihn ge-
richtet waren, wenn er jetzt in jedem frohen Augenblicke an ſeiner Dichtung
ſtill weiter arbeitete und den ganzen Schatz ſeiner unvergleichlichen Lebens-
erfahrung wie in ein großes Tagebuch in ſie eintrug. Wenige Wochen
vor ſeinem Tode, faſt ſechzig Jahre nachdem er den erſten kühnen Plan
gefaßt, ſchloß er das Werk ab, ſo weit der unendliche Stoff ſich erſchöpfen
ließ, und geſtand, daß er ſein ferneres Leben nunmehr nur noch als ein
reines Geſchenk Gottes betrachten wolle. So durch zwei Menſchenalter
beſtändig fortgebildet und ergänzt, mußte der zweite Theil des Gedichts
an urſprünglicher Friſche und künſtleriſcher Rundung eben ſo viel ver-
lieren, wie er an Gedankenfülle gewann.
Der Fauſt war das echte Kind der Epoche des dichteriſchen Sturmes
und Dranges; nur die Jugend, die Alles verheißt und Alles verlangt,
konnte in dem Bilde des ungeduldig wider die allgemeinen Erdenſchranken
ankämpfenden Titanen ihr eigenes Herz wiederfinden. Schon als er den
erſten Theil herausgab, empfand der Dichter zuweilen, wie fern ihm jetzt
dieſer himmelſtürmende Trotz ſeiner jungen Tage lag, und er klagte: „So
gieb mir auch die Zeiten wieder, wo ich noch ſelbſt im Werden war.“ Um die
zarten Nerven der Leſer zu ſchonen, beſeitigte er aus den erſten Entwürfen
manchen Zug genialer Frechheit, der zum Weſen der geſpenſtiſchen Fabel
gehörte, ſogar das ſchauerlich ſchöne Blutlied der Dämonen: „Wo fließet
heißes Menſchenblut, der Dunſt iſt allem Zauber gut,“ und der diaboliſche
Humor der Walpurgisnacht auf dem Blocksberge verblaßte etwas unter
ſeinen umbildenden Händen. Seitdem waren nochmals zwanzig reiche
Jahre über ſein Haupt dahingegangen; er fühlte ſich den Geſtalten ſeiner
Dichtung ſo fremd, daß er keinen Anſtand nahm, die lieblich naive Garten-
ſcene des erſten Theils für die Compoſition des Fürſten Radziwill zu
einem froſtigen Opern-Quartett umzuarbeiten. Nicht ohne gewaltſame
Selbſtüberwindung konnte er alſo aus der beſchaulichen Stimmung des
[413]Zweiter Theil des Fauſt.
Greiſenalters zurückgreifen zu einem Werke, das der flammenden Be-
geiſterung des Jünglings entſprungen war; „ich mußte, ſo geſtand er an
Wilhelm Humboldt, dasjenige durch Vorſatz und Charakter erreichen was
eigentlich der freiwilligen thätigen Natur allein zukommen ſollte.“ Darum
fehlte dem zweiten Theile des Fauſt jener Zauber des unmittelbaren per-
ſönlichen Bekenntniſſes, der alle früheren Werke Goethe’s wie zarter Sonnen-
duft umſchwebte. Aus allen ſeinen Helden, aus Weislingen, Werther,
Egmont, Taſſo, Meiſter ſprach das Herz des Dichters ſelber, am bered-
teſten doch aus dem Fauſt des erſten Theiles; was er nur je genoſſen,
gedacht, gelitten, hatte er in dieſer Geſtalt vereinigt, und mit der ganzen
Macht des ſelbſterlebten Leides erklang aus den Schlußſcenen die Reue
um die verrathene Friderike. Der zweite Theil des Gedichts hingegen war
ſtreng objectiv gehalten; die Charaktere des Fauſt und des Mephiſtopheles
traten ganz zurück, der Schwerpunkt des Dramas lag nicht mehr in der
inneren Entwicklung des Helden, ſondern in dem bunten Wechſel der
Weltverhältniſſe, die er durchſchritt.
Daraus ergab ſich aber ein Mißverhältniß von Form und Inhalt.
Schon Schiller hatte dem Freunde vorhergeſagt, wie ſchwer es halten
werde, bei der Behandlung eines ſo ganz phantaſtiſchen und doch tief
ernſten Stoffes „zwiſchen Spaß und Ernſt glücklich durchzukommen“. Im
erſten Theile war Goethe dieſer Schwierigkeit noch völlig Herr geworden,
mit jener ſpielenden Leichtigkeit, welche das vollendete Kunſtwerk wie ein
Gebilde der Natur erſcheinen läßt. Das Schickſal des Helden feſſelte die
Leſer ſo unwiderſtehlich, daß ſie die grellen Contraſte von ſataniſchem
Humor und tragiſcher Erhabenheit nicht als Störung empfanden; die
kurzen gereimten Verſe ſchmiegten ſich in jeden Wechſel der Stimmung
faſt noch williger als es der dramatiſche Jambus vermag; die glücklich
idealiſirte Sprache unſeres ſinnlich derben und gedankenſchweren ſech-
zehnten Jahrhunderts mußte ein Geſchlecht, das ſich den Zeiten Luther’s
und Dürer’s verwandt fühlte, im tiefſten Herzen anheimeln. Dem zweiten
Theile fehlte dieſe Einheit des Tones, die auch das Wunderbare glaub-
haft machte; er erſchien zu ernſt für ein Märchenſpiel, zu ſpukhaft für
ein Drama. Im engen Anſchluß an das alte Volksbuch vom Doctor Fauſt
führte der Dichter ſeinen Helden durch eine Welt phantaſtiſcher Abenteuer,
aber in allen ſeinen Traumgeſtalten lag ein tiefer Sinn verborgen, und
unmöglich vermochte der Leſer, wenn er der geheimnißvollen Bedeutung
dieſer Symbole nachgrübelte, ſich noch die unſchuldige Leichtgläubigkeit zu
bewahren, welche das Wunder verlangt. Trotz aller ihrer glänzenden
theatraliſchen Effecte blieb die gedankenreiche, mit Anſpielungen und Be-
ziehungen jeder Art überladene Dichtung doch viel zu ſchwer, um auf der
Bühne wie ein prächtiges Zauberſtück die Schauluſt der Menge zu be-
ſchäftigen. Fragmentariſch geſchaffen konnte das Werk auch nur fragmen-
tariſch genoſſen werden; nur wenn man ſich zuerſt liebevoll in die Fülle
[414]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
der Einzelſchönheiten verſenkte, gelangte man Schritt für Schritt zur Er-
kenntniß des Ganzen.
In ſeinem Briefwechſel mit Schiller hatte Goethe ſtets die Einheit
des ſich ſelbſt erklärenden Kunſtwerks als höchſte Aufgabe des Dichters
bezeichnet. Als Greis erhob er ſich von dieſem künſtleriſchen zu einem
allgemein menſchlichen Ideale, das zu umfaſſend war um ſich noch
der ſtrengen Kunſtform einzufügen und zu tiefſinnig um je gemeinver-
ſtändlich zu werden. Wer dieſem letzten Fluge des Goethiſchen Genius
zu folgen wagte und das Vermächtniß des Dichters als ein Werk eigener
Art, das ſo nicht wiederkehren konnte, unbefangen aufnahm, dem erſchloß
ſich eine Fülle reifer Lebensweisheit — denn zu dem Citatenſchatze unſerer
Nation hat außer den Schriften der Bibel kein anderes Werk ſo viel bei-
geſteuert wie der Fauſt, der zweite Theil faſt noch mehr als der erſte —
und eine wunderbare Sprachgewalt, die wohl zuweilen in die Manier des
Alters abſank, dann aber wieder im ſüßen Wohllaut der mannichfachſten
Versformen ſchwelgte, mit jugendlicher Kühnheit das nie Geſagte, kaum
Geahnte ausſprach.
Der zweite Theil gab die Antwort auf die ſchweren Fragen des erſten.
Während der Fauſt des alten Puppenſpiels im Taumel des Genuſſes unter-
ging, erhob ihn Goethe aus der engen Welt der perſönlichen Leidenſchaft
in höhere Regionen, in würdigere Verhältniſſe und ließ ihn, gemäß dem
Worte „im Anfang war die That“, durch ſchöpferiſches Handeln die Er-
löſung finden — ein Bild der inneren Befreiung und Läuterung, das ſich
freilich mehr für den Roman als für das Drama eignete, aber in ſeiner
breiten epiſchen Anlage dem Dichter geſtattete die ganze Geſchichte ſeines
Zeitalters ſymboliſch darzuſtellen. Aus dem Lärm und Glanz des Kaiſer-
hofes ſteigt Fauſt in die Welt des Schönen empor und erlebt im Traume
die Befreiung der Helena, die Vermählung des antiken mit dem germa-
niſchen Geiſte, bis endlich der thätige Humanismus ſich im gemeinnützigen
Wirken bewährt, der ſiegreiche Kampf des alten Fauſt mit dem Meere
zugleich zurückweiſt auf König Friedrich’s friedliche weſtpreußiſche Erobe-
rungen und weit vorwärts deutet in die große Zukunft des arbeitsfrohen
neuen Deutſchlands, dem das freie Meer den Geiſt befreien ſoll.
der höchſte Gedanke der neuen deutſchen Philoſophie, die Erkenntniß der
nie auf Erden ganz verwirklichten, aber ewig ſich verwirklichenden Idee, lag
in dieſen Zeilen, und doch noch nicht das letzte Wort einer Dichtung, die
über das Dieſſeits hinausweiſen mußte. Weder in der Proſa der Arbeit
noch in der nüchternen Mahnung „dem Tüchtigen iſt dieſe Welt nicht ſtumm“
konnte ein hochpoetiſches und der altklugen Aufklärung entſchieden feindliches
Werk ausklingen. Erſt die allmächtige Liebe vollendet Fauſt’s Erlöſung,
und wie der Dichter dem Himmel durch die ſcharf umriſſenen Geſtalten
[415]Goethe’s Vermächtniß.
der heiligen Geſchichte verſtändliches Leben giebt, ſo weiß er auch durch
Gretchens Erſcheinen die Idee der Liebe künſtleriſch zu veranſchaulichen.
In der Wiedervereinigung der beiden Liebenden verwirklicht ſich der be-
ſeligende Traum, der, ſeit Dante ihn zuerſt beſang, in der chriſtlichen Dich-
tung immer wiederiehrt: wie die irdiſche Liebe ſich zur himmliſchen verklärt.
Fauſt’s Unſterbliches wird zum Himmel getragen und die Engel ſingen:
Alſo nahm unſere claſſiſche Dichtung bei ihrem letzten Ausgange die beiden
Grundwahrheiten der Reformation wieder auf. In freierer, milderer Form
wiederholte Goethe den kühnen und doch ſo zermalmend ſchweren Ausſpruch
Martin Luther’s „gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann,
ſondern ein guter Mann machet gute Werke“, und bekannte ſich zugleich
zum Glauben an die erlöſende Macht der göttlichen Barmherzigkeit.
Das junge Geſchlecht lebte am Tage den Tag; ihm fehlte die Samm-
lung des Geiſtes um ein Werk zu würdigen, das über die gerühmte „Jetzt-
zeit“ der Zeitungsſchreiber ſo weit hinausragte. Längſt ſtand ihm feſt, daß
die burſchikoſen Witze von Heine’s Harzreiſe mehr bedeuteten als Goethe’s
Italieniſche Reiſe, ein beliebiger Tendenzroman zur Verherrlichung des
freien Weibes mehr als Wilhelm Meiſter. Nun gar der myſtiſche Schluß
des Gedichts galt den radicalen Poeten für eine froſtige Allegorie; denn
ſo tief waren ſie ſchon von franzöſiſcher Verbildung angefreſſen, daß ſie
den eigenſten Vorzug der proteſtantiſchen deutſchen Cultur, die Verſöhnung
von Freiheit und Frömmigkeit, gar nicht mehr kannten und ſchlechterdings
nicht begreifen wollten, wie ein ſtarker Geiſt religiös empfinden könne. Zu
allem Unglück begann nun auch die Zunft der Goetheforſcher ihre pedan-
tiſche Arbeit, eine neue wenig erfreuliche Spielart des deutſchen gelehrten
Philiſterthums. Göſchel, Hinrichs, Rötſcher und andere Hegelianer, dann
Philologen und Literarhiſtoriker in langer Reihe bemächtigten ſich des Fauſt
um in alexandriniſchen Commentaren ihre Auslegungskünſte zu zeigen; ſie
warfen ſich mit Vorliebe auf die ſchwächſten, die dunkelſten Stellen des
Werkes und ſuchten zu ergründen, was der alte Herr in ſeine ſymboliſchen
Andeutungen wohl Alles hineingeheimnißt habe. So ward die Dichtung
der Jugend vollends verleidet, und lange blieb die Welt der Anſicht, mit
dieſem Buche hätte Goethe doch dem Alter ſeinen Zoll entrichtet.
Die ſchöpferiſchen Köpfe der deutſchen Kunſt haben dieſe Meinung
nie getheilt; wie oft ſaß Schinkel in Rauch’s Werkſtatt, mit dem Fauſt in
der Hand, um dem dankbaren Freunde den Born neuer künſtleriſcher An-
[416]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſchauungen, der hier floß, zu zeigen. Je mehr die nervöſe Erregung der
Zeit ſich beruhigte, um ſo dichter ward der Kreis der Andächtigen, die
ohne nach den klügelnden Ausdeutungen ſo mancher krauſen Allegorien
viel zu fragen, ſchlichtweg als Schauende an den Fauſt herantraten und
bei jedem neuen Leſen immer neue Seiten der Dichtung entdeckten, immer
klarer erkannten, wie feſt die beiden Theile, trotz der Verſchiedenheit des
Stiles und des Kunſtwerthes unter ſich zuſammenhingen. Was man auch
mäkeln und ergrübeln mochte, der Fauſt blieb die Tragödie des neuen
Jahrhunderts, wie Dante’s Dichtung das Bekenntniß des ausgehenden
Mittelalters, und beide Werke konnten nur im Herzen Europas entſtehen,
in den beiden Völkern, welche von jeher den Idealismus der chriſtlichen Ge-
ſittung getragen haben. Wie verſchwand doch Alles was andere Dichter
von dem unbändigen Erkenntnißdrange der modernen Menſchheit geſungen
hatten, wie klein und kränklich erſchien ſelbſt in Byron’s Manfred, der dem
Fauſt noch am nächſten kam, der ſelbſtzerſtöreriſche, gegenſtandsloſe Welt-
ſchmerz neben dem echten Titanenſtolze des Goethiſchen Helden:
Als das Gedicht allmählich auch über unſere Grenzen hinausdrang, da
glaubten manche geiſtreiche Männer des Auslandes die Empfindungen ihres
eigenen Volkes darin wiederzufinden: Turgeniew behauptete dreizehn Jahre
nach Goethe’s Tode, der Fauſt ſei den Ruſſen vielleicht verſtändlicher als
jeder anderen Nation. Deutlicher ließ ſich nicht ausſprechen, daß der
deutſchen Dichtung die centrale Stelle in der modernen Geſittung gebührte.
Der hohe menſchliche Sinn, der den Fremden ſo traulich zum Herzen
ſprach, war doch nichts Anderes als die feinſte Blüthe unſerer nationalen
Bildung und nur den Landsleuten ganz begreiflich; denn wahrnehmbar
wie in keinem anderen Werke Goethe’s rauſchte im Fauſt der Flügelſchlag
deutſcher Geſchichte, und nicht zufällig ſtand grade hier die Mahnung des
Dichters, daß wir das Erbe unſerer Väter erwerben ſollen um es zu beſitzen.
Gleichzeitig mit dem Fauſt beendete Goethe den vierten Theil von
Dichtung und Wahrheit, die rührende Geſchichte der tiefſten Herzensneigung
ſeiner Jugend, und ſo warm, ſo zart, ſo lebendig erzählte der Achtzigjährige
noch, daß er wagen durfte die halbverſchollenen alten Lilli-Lieder mit ein-
zuflechten; die ſüßen Töne klangen als wären ſie geſtern entſtanden. Alſo
hat ihm die Wonne der Frauenliebe noch ſeine letzten Träume vergoldet;
durch ein langes Leben voll ſtarker Mannesarbeit war ſie ihm gefolgt, von
jenen fernen Tagen an, da der ſinnenfrohe Jüngling den Amor beſang,
der ſchalkhaft und beſcheiden ſich feſt die beiden Augen zuhält, bis zu der
glühenden Abſchiedsklage des Greiſes:
[417]Bettina.
Darum ſind die Frauen dem Sänger des Ewig-Weiblichen immer treu
geblieben. Wie ſie einſt dem verwilderten Geſchlechte des dreißigjährigen
Krieges noch einen letzten Schatz guter Sitte, häuslicher Gemüthlichkeit
erhielten, ſo haben ſie uns auch als die Literatur wieder entartete das An-
denken unſeres größten Dichters in der Stille bewahrt. Und nicht die von
Goethe ſo tief verabſcheuten gelehrten Frauen behüteten ſeinen Ruhm, ſon-
dern die anſpruchsloſen, ſtill thätigen, von denen Niemand ſprach. Wenn
die ſchlichte deutſche Hausfrau nach den Sorgen des Haushalts ſich am
Anblick der Schönheit erquicken wollte, dann ſchlug ſie aus den vierzig
Bänden irgend eine Stelle auf, die ihrem Herzen wohl that, und empfand
die ewige Wahlverwandtſchaft zwiſchen dem Genius und dem Weibe —
denn was konnte Börne oder Heine einer edlen Frau bieten? Während
die Dichtung ſich von Goethe abwendete, blieb ſein Geiſt in der bildenden
Kunſt und in der Wiſſenſchaft lebendig; unter den neu auftretenden großen
Gelehrten war keiner, der nicht von ihm gelernt hätte. Erſt in weit ſpäterer
Zeit, als unſer Volk Großes und Schweres geſchaffen hatte, begannen die
begabteren Dichter und alle wahrhaft erfahrenen Männer zu dem Liebling
der Frauen zurückzukehren, und ſeitdem wächſt beſtändig die ſtille Macht
ſeines Genius. Der Tag ſeines höchſten Ruhmes iſt noch nicht gekommen.
Schiller’s Gedanken, wie groß und hehr ſie auch waren, umfaßten doch
nur eine begrenzte Zeit. Was er ahnte von Menſchenrecht und Völker-
freiheit, hat die Geſchichte vor unſeren Augen verwirklicht, und wir empfinden
ſchon den nur bedingten Werth ſeiner Ideale. Nur die unerfahrene Jugend
kann ſich ihm noch ganz hingeben, mit Emil Devrient iſt der letzte echte
Marquis Poſa aus unſerem kürzer angebundenen Geſchlechte geſchieden.
Goethe’s Geſtalten gehören keiner Zeit; ſie ſind wahr, niemals wirklich,
ſo wie er es von der Kunſt verlangte. Sie veralten nicht, denn ſie wollen
erlebt ſein; ſie erwarmen nur vor den Augen des gottbegnadeten Künſtlers,
des liebevollen Weibes oder des feſten Mannes, den die vollendete Bildung
zur Einfalt der Natur zurückführt.
Frauenhände errichteten dem Todten ſein erſtes ſchönes Denkmal. Drei
Jahre nach dem Abſcheiden des Dichters gab Bettina v. Arnim Goethe’s
Briefwechſel mit einem Kinde heraus, eine tief und groß empfundene,
gedankenreiche Dichtung, die mit den hiſtoriſchen Thatſachen ebenſo frei
ſchaltete, wie Goethe ſelbſt im Werther mit ſeinen Wetzlarer Erlebniſſen,
und gleichwohl mehr innere Wahrheit enthielt, von dem geheimnißvollen
Leben des Genius mehr offenbarte als ganze Bändereihen der gelehrten
Goetheforſchung. Mit der herzlichen Wärme der bilderreichen rheinländiſchen
Sprache erzählt das Buch, wie ſich Goethe’s Weſen im Herzen eines leiden-
ſchaftlichen Kindes wiederſpiegelt; majeſtätiſch hebt ſich die ruhige Milde
des Dichters ab von der bacchantiſchen, zuweilen zudringlichen Begeiſterung
des Mädchens; und über dieſem reichen Seelengemälde leuchtet der heitere
Himmel unſeres ſchönen Weſtens. Die kleinen Mädchen im Nonnenkloſter
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 27
[418]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
von Fritzlar, die ſingenden Schiffer im ſonnigen Rheingau, die Wanderer
auf den Felſen von St. Goar ſpielen mit, und, glücklicher noch als die
junge Welt, in ihrer Frankfurter Erkerſtube die alte Frau Rath, „die Alles
zur Freude bewegt blos weil ſie mit Kraft genießt.“ Mochten die Philiſter
den Kopf ſchütteln, wenn das fünfzigjährige Kind im tollen Uebermuthe
des Brentanobluts manchmal ein Rad ſchlug oder wie ein Irrwiſch daher
flackerte: gedankenreiche Männer ergriff das Buch grade weil es ſo ganz
weiblich war, weiblicher als manche zimperliche Romane ſittſamer Blau-
ſtrümpfe. Bettina’s Stärke lag wo das Genie der Weiber immer liegt,
in der Kraft des Verſtehens und Empfangens; ſie wußte das und blieb
immer der Epheu, der ſich am feſten Stamme emporrankt. Männer-
arbeit zu thun hat ſie ſich nie erdreiſtet; was ſie ſpäter noch ſchrieb erhob
nicht den Anſpruch für eine ſelbſtändige Schöpfung zu gelten, ſondern
entſprang entweder der verſtändnißvollen Erinnerung oder der werkthätigen
Menſchenliebe eines reichen Herzens. Auch ihre Schwächen blieben weib-
lich und darum verzeihlich; von der halb unbewußten Gefallſucht ihres
Geſchlechts hielt ſie ſich nicht frei, „das Kind, das nicht fragt was da bös
ſei, was da gut“ wußte ſich zu viel mit ſeiner Natürlichkeit.
Die Zeitgenoſſen verglichen ſie gern mit Rahel Varnhagen, und
Manches war den zwei geiſtreichſten Frauen der deutſchen Geſellſchaft ge-
mein: der Sinn für das Große, der Zauber des Geſprächs und ein
ekſtatiſcher Zug verzückter Schwärmerei. Und doch verhielten ſich die Beiden
zu einander wie der Rhein zur Spree. Bei der Berlinerin herrſchte, wie
warm ſie auch empfand, der ſcharfe, alle Begriffe zerfaſernde Verſtand
vor; das Leben der kinderloſen, vielerfahrenen Frau neben einem weit
jüngeren, eitlen und falſchen Manne, der nicht von fern an ſie heran-
reichte, unter einem Schwarme blaſirter abgetriebener Weltmänner blieb
der Natur fremd, und darum auch ihre Sprache immer ſchwülſtig, von der
geſuchten Künſtelei großſtädtiſcher Ueberbildung angekränkelt. Bettina war
ein Kind der Sonne, halbwälſchen Blutes, aufgewachſen in der freien Luft
am grünen Rheine, die Gattin eines edlen, geiſtvollen Dichters, die ſchöne
Mutter ſchöner Kinder, für alle Künſte wunderbar begabt, ganz Phantaſie
und Gemüth, ſo daß ihr die herzbewegenden Worte und die farbigen Bilder
von ſelber kamen, bei allen ihren ſeltſamen Nixenlaunen doch eine fromme,
tapfere, mildthätige Frau, die vor der Cholera keinen Schrecken, vor dem
Elend keinen Ekel empfand. Noch im Alter zog ſie die jungen Männer an
ſich und wußte aus jedem den göttlichen Funken herauszuſchlagen; manchen
Sünden der Zeit hat ſie ihren Zoll gezahlt, aber die anmaßende Nichtig-
keit der modiſchen Dichtung durfte ſich nicht an ſie heranwagen. Stark,
doch leider nicht günſtig wirkte ihre große Natur auf den Geiſt des Kron-
prinzen von Preußen. Die Klarheit, die ihm fehlte, konnte er aus den
überſchwänglichen Orakelſprüchen dieſer Hohenprieſterin der Romantik nicht
gewinnen; und wenn ſie begeiſtert ſagte: „Nichts iſt Sünde, was mit dem
[419]Die Pariſer Deutſch-Juden.
Genius nicht entzweit“ — was frommte das ihm, der Alles umfaſſend,
Nichts ganz beherrſchend, niemals wußte wo ſein Genius ſei? —
Weitab von dieſen lichten Höhen der Poeſie trieb das neue Geſchlecht,
das ſich um Heine’s Banner ſchaarte, ſein lautes Weſen. Seit Heine nach
Paris übergeſiedelt war, begann ſein lyriſches Talent raſch zu verſiegen,
in einem wüſten, zerſtreuten Leben ward ſein Herz leerer, ſein Gefühl
ſtumpfer. An umfaſſende Werke durfte er ſich ohnehin nicht wagen; denn
die künſtleriſche Compoſition großen Stiles gelingt meiſt nur der maſſiven
Kraft der Arier; ſelbſt die Wunderwerke orientaliſcher Kunſt, ſelbſt der
Säulenwald der Moſchee von Cordova oder die ſchimmernden Tropfſtein-
gewölbe der Alhambra bilden mit aller ihrer Pracht doch kein Ganzes.
Außer einigen Liedern und dem Bruchſtück einer unſauberen Novelle
Schnabelewopski brachte Heine in dieſem Jahrzehnt keine Dichtung mehr
zu Stande. Was der Tag gab oder forderte nahm ihn ganz in Anſpruch;
in allerhand literariſchen Capriccios verarbeitete er dieſe Eindrücke und
ſammelte dann die Fragmente unter den Titeln: Zuſtände, Zeitbilder,
Reiſebilder — neuen Namen, denen er das Bürgerrecht im deutſchen
Feuilletonſtile eroberte. Um ſein zerſtückeltes Schaffen zu beſchönigen, ver-
kündete er der Welt prahleriſch, daß er ſich berufen fühle, zwiſchen der Ge-
ſittung der beiden Nachbarvölker zu vermitteln, und die deutſchen Liberalen
glaubten ihm treuherzig.
Richtiger beurtheilten ihn die Franzoſen. Sie merkten bald, daß er
von franzöſiſcher Politik nicht das Mindeſte verſtand, und aus ſeinen
witzelnden Betrachtungen über die deutſche Literatur konnten ſie auch nichts
lernen; die einſichtigſten ſeiner Pariſer Freunde fanden, er verkenne ſeine
dichteriſche Begabung, wenn er ſich zum Lehrer der Völker berufen glaube.
Doch waren ſie klug genug, „dieſen neuen Alliirten Frankreichs“ durch
Schmeicheleien warm zu halten, denn ſo unterthänig hatte ihnen noch nie
ein Ausländer den Staub von den Schuhen geküßt. Engländer und
Franzoſen pflegten, wenn ſie zu uns kamen, ſich darüber aufzuhalten, daß
unſer Volk nicht ihre Sprache redete; den gutmüthigen Deutſchen aber
beſchlich eine ſcheue Ehrfurcht ſobald er bemerkte, wie in Frankreich jeder
dumme Bauer franzöſiſch ſprechen konnte. Und ganz ſo wie der naive
deutſche Philiſter empfand auch dieſer geiſtreiche Jude. Alles in Frank-
reich erſchien ihm feiner, ſchöner, vornehmer als daheim, und erſtaunt
ſchrieb er — nach ſeiner Weiſe halb ſpottend halb im Ernſt: — „ſo eine
Dame de la Halle ſpricht beſſer franzöſiſch als eine deutſche Stiftsdame
von vierundſechzig Ahnen.“ In ſeinen „Franzöſiſchen Zuſtänden“ fand er
kaum Worte genug für ſeine fremdbrüderliche Begeiſterung: „die Franzoſen
ſind das auserleſene Volk der neuen Religion, Paris iſt das neue Jeru-
ſalem, und der Rhein iſt der Jordan, der das geweihte Land der Freiheit
27*
[420]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
trennt von dem Lande der Philiſter.“ Unabläſſig pries er den neuen
„Bürgerkönig ohne Hofetikette, ohne Edelknaben, ohne Courtiſanen, ohne
Kuppler, ohne diamantene Trinkgelder und ſonſtige Herrlichkeiten“; aber
auch die „Bergprediger, welche von der Höhe des Convents zu Paris ein
dreifarbiges Evangelium herabpredigten, in Uebereinſtimmung mit der An-
ſicht jenes älteren Bergpredigers“; und dann wieder den großen Napoleon,
der im Freiheitskriege nur der Macht der Dummheit unterlag, was aber
wenig ſchadete, weil „die Franzoſen ſogar durch ihre Niederlagen ihre
Gegner in Schatten zu ſtellen wiſſen“. Derweil er unter ſeinen Fenſtern
den Pariſer Pöbel brüllen hörte: „Warſchau iſt gefallen, Tod den Ruſſen,
Krieg den Preußen!“ — verſicherte er dreiſt, nur die Feinde der Demokratie
hetzten die nationalen Vorurtheile auf, der franzöſiſche Patriotismus um-
faſſe das geſammte Land der Civiliſation mit ſeiner Liebe, der deutſche
ziehe das Herz zuſammen wie Leder.
Zugleich gebärdete er ſich als politiſcher Flüchtling und ſprach weiner-
lich von ſeinem Exile, während er in Wahrheit allein durch ſeine Genuß-
ſucht und ſeine franzöſiſchen Neigungen in Paris zurückgehalten wurde.
Bald ſank er noch tiefer und verkaufte ſich dem franzöſiſchen Hofe; er
erbat und empfing viele Jahre hindurch einen Gehalt aus den geheimen
Fonds. Zum Danke fuhr er fort ſein Vaterland zu begeifern, aber
die höhniſchen Ausfälle gegen Ludwig Philipp, die er ſich früherhin zu-
weilen erlaubt, hörten auf. Als er darauf eine Zeitſchrift gründen wollte,
die auf den Abſatz in Preußen berechnet war, wendete er ſich durch Varn-
hagen’s Vermittlung an die preußiſche Regierung um heilig zu betheuern,
wie dankbar er Preußens Verdienſte um das Baſtardsvolk ſeiner rheiniſchen
Heimath anerkenne; die Rheinländer, dieſe Belgier, die alle Fehler der
Deutſchen aber keine Tugend der Franzoſen beſäßen, ſeien erſt durch
Preußen wieder zu Deutſchen geworden. Im Berliner Miniſterium wür-
digte man dieſe Verſicherungen nach Gebühr, und ſobald Heine erfuhr,
daß ſein Geſuch vergeblich ſei, ſchimpfte er ſogleich wieder nach alter Ge-
wohnheit auf die „Berliner Ukaſuiſten und Knutologen“, und rief die
rheiniſchen Bogenſchützen auf, den häßlichen ſchwarzen Adler von der Stange
zu ſchießen. Die deutſchen Liberalen aber ließen ſich in ihrer Bewunderung
nicht ſtören, als im Jahre 1848 das geheime zwiſchen Guizot und Heine
abgeſchloſſene Handelsgeſchäft endlich an den Tag kam; der entlarvte Söld-
ling Frankreichs blieb ihnen nach wie vor ein Apoſtel deutſcher Freiheit,
und wer etwa noch ſchüchtern zu behaupten wagte, die Grundſätze der
Ehre und der Rechtſchaffenheit müßten doch wohl auch für Heine gelten,
wurde von der herrſchenden Literatenſchule als ein geiſtloſer Menſch ab-
gefertigt.
Etwas mehr greifbaren Inhalt boten die leichten Plaudereien, mit denen
Heine die Pariſer über die Geſchichte der deutſchen Religion, Philoſophie und
Literatur zu belehren ſuchte; hier war der Schüler Hegel’s doch nicht ſo
[421]Heine’s Salon.
ganz ſteuerlos wie auf der hohen See der Politik. In den Kern der Sache
vermochte er freilich auch hier nicht einzudringen; was konnte ein Mann,
dem jede tiefe religiöſe Empfindung fremd war, über die Religion ſagen?
Er half ſich nach Dilettantenbrauch durch eine ſtarre Formel, indem er
den geſammten wechſelreichen Ideenkampf der Geſchichte auf den einfachen
Gegenſatz von Senſualismus und Spiritualismus, Weltbejahung und
Weltverneinung zurückführte, das ganze Menſchengeſchlecht in fette Griechen
und dürre Nazarener eintheilte. Unter ſeinen Händen ward jetzt Alles
unrein. In den ſeltenen Augenblicken, da er noch ein Dichter war, ver-
ſuchte er „die religiöſe Verklärung, die Rehabilitation der Materie“ als
einen Cultus der Schönheit zu rechtfertigen; doch ſobald er ſich gehen ließ,
betete er nicht mehr zu den olympiſchen Göttern der Hellenen, ſondern zu
der Aſtarte und dem goldenen Kalbe der Semiten. Zu geiſtreich und zu
weltklug um ſeinen ingrimmigen Chriſtenhaß offen zu bekennen, verfiel er
aus einem Widerſpruche in den andren; bald verglich er das Chriſtenthum
mit einer anſteckenden Krankheit, bald nannte er es eine Wohlthat für die
leidende Menſchheit. In Luther ſah er nur den Helden des ſtrengen
Spiritualismus — in ihm, der doch grade die Weltbejahung auf dem
Boden des Chriſtenthums erneuert, dem Staate, dem Hauſe, aller red-
lichen irdiſchen Arbeit ihre ſittliche Berechtigung wiedergegeben hat. Ebenſo
oberflächlich betrachtete er die deutſche Philoſophie lediglich als eine Macht
der Zerſtörung und Zerſetzung; alſo konnte er leicht zu dem erwünſchten
Schluſſe gelangen, daß der Pantheismus die verborgene Religion unſeres
Volkes ſei, und die Deutſchen demnächſt, nach Vollendung ihrer Philo-
ſophie, gleich den Franzoſen „ihre Revolution ausarbeiten“ würden. Die
ſittliche Strenge der Pflichtenlehre Kant’s verſtand er ebenſo wenig wie die
erhaltenden, aufbauenden Gedanken der Schelling-Hegel’ſchen Geſchichts-
philoſophie, und von dem ſtillen Wachsthum der kirchlichen Frömmigkeit,
das dem Uebermuthe des philoſophiſchen Radicalismus als nothwendiger
Rückſchlag folgte, ahnte er gar nichts. Wie leer, öde, langweilig erſchien
doch dieſe neue Form des Unglaubens! Die alte Aufklärung glaubte noch
an den ewigen Fortſchritt der Menſchheit, ſie hoffte noch auf einen Tag
des Lichtes; die moderne Lehre der Verklärung des Fleiſches verhöhnte Alles
was Menſchen menſchlich an einander bindet, und ſchließlich blieb ihr nichts
mehr übrig als der ſouveräne Einzelmenſch, der ſich nach Belieben im Ge-
nuſſe ungezählter Griſetten und Trüffelpaſteten ergehen konnte.
In ſeinen Kunſtberichten beſprach Heine die Ausſtellungen des Pariſer
„Salons“ mit feinem Verſtändniß; er lenkte die Blicke der Deutſchen zu-
erſt auf die farbenfrohe Malerei der Franzoſen, und manches der neuen
Gemälde begeiſterte ihn zu ſchönen, hochpoetiſchen Schilderungen. Doch
überall drängte ſich ſein Ich anmaßend und gefallſüchtig vor; ſeine beſten
Arbeiten verdarb er ſich durch Zoten oder Läſterungen, durch politiſche
Kannegießerei oder unfläthige Ausfälle auf ſeine literariſchen Gegner, die
[422]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
er mit der ganzen Unerſättlichkeit jüdiſchen Haſſes bis über das Grab
hinaus verfolgte. Eben jetzt befand ſich die franzöſiſche Literatur in trüber
Gährung, auf die kurze ſchöne Blüthezeit der Reſtauration folgte ein jäher
Verfall. Der Kampf des Tages riß alle guten Köpfe in ſeine Strudel;
zu reinem künſtleriſchen Schaffen vermochte in der allgemeinen Haſt faſt
Niemand mehr ſich zu ſammeln, unter unzähligen lärmenden Mittel-
mäßigkeiten brachte die neue Zeit nur einen einzigen ſtarken Dichtergeiſt
hervor, die George Sand. Die claſſiſche Formenſchönheit des Zeitalters
Ludwig’s XIV. wurzelte ſehr tief in den Gefühlen und Ueberlieferungen
der Nation; darum führte der Kampf wider die akademiſchen Regeln hier
nicht, wie vormals in Deutſchland, zu einem neuen freieren Idealismus,
ſondern zur Auflöſung aller Kunſtformen, zur Zerſetzung aller Ideale.
Die franzöſiſche Romantik ging in einem wüſten ſocialen Radicalismus zu
Grunde. Sinnlich, unklar, weichlich, ſetzte ſie das Obſcöne und Gräßliche
an die Stelle der Leidenſchaft, ſie bekämpfte den Staat, die Geſellſchaft,
die Ehe, ſie wühlte in Blut und Koth, ſie ſchwelgte bald in begehrlichen
Träumen bald in dem Weltſchmerz der Ueberſättigung und vermochte
gleichwohl nichts Neues zu ſchaffen. Nur im Widerſpruche gegen die be-
ſtehende Ordnung fand ſich die Willkür dieſes zügelloſen Subjectivismus
zuſammen; ſeit Beranger und Chateaubriand ihre neue Freundſchaft
ſchloſſen, gehörten die literariſchen Talente fortan alleſammt der Oppoſition.
Ohne Widerſtand überließ ſich Heine’s empfänglicher, unſelbſtändiger
Geiſt allen den verworrenen Gedanken, welche dieſer fieberiſch erregten,
und doch altersſchwachen, epigonenhaften Literatur entſtrömten. Begierig
ſchlürfte er den Schaum von jedem Pariſer Feuertranke; ſogar die ſocia-
liſtiſchen Hirngeſpinnſte des Vaters Enfantin begeiſterten ihn eine Zeit
lang, bis ihn der äſthetiſche Widerwille des Dichters und des Weltkindes
von dem „ganz communen, feigenblattloſen Communismus“ wieder abzog.
Von dauernden Ergebniſſen ließ dieſe zerfahrene Schriftſtellerei nichts zu-
rück als einige ſchöne Lieder und eine Maſſe theils guter, theils gemeiner
Witze; jedoch ihre augenblickliche Wirkſamkeit war ungeheuer. Heine wurde,
die Franzoſen ſelbſt überflügelnd, der Meiſter des europäiſchen Feuilleton-
ſtils, der Bannerträger jener journaliſtiſchen Frechheit, die alle Höhen und
Tiefen des Menſchenlebens mit einigen flüchtigen Einfällen abthat. Seine
internationalen Stammgenoſſen, die überall ſchon, vorerſt noch vorſichtig
in zweiter Reihe, ihre Zeitungsgeſchäfte aufſchlugen, verherrlichten ihn
darum über alles Maß hinaus. Man nannte ihn den anderen Ariſto-
phanes, den ungezogenen Liebling der Grazien, und vergaß nur den hand-
greiflichen Unterſchied, daß die ariſtophaniſche Ausgelaſſenheit der Ueber-
kraft eines ſchöpferiſchen Genius entſprang, die Ungezogenheit Heine’s dem
künſtleriſchen Unvermögen eines kleineren Geiſtes, der nichts Mächtiges
ſchaffen konnte und ſich durch ſpöttiſchen Uebermuth ſelber tröſten mußte.
Seine verlaſſenen Landsleute bethörte Heine durch jenen Zauber des
[423]Der neue Feuilletonſtil.
Fremdartigen, dem die weitherzige deutſche Natur ſo ſelten widerſteht. So
lange die Deutſchen dichteten, hatte ſich ihnen die ſchöne Form immer erſt
aus dem reichen Inhalt ergeben, und wie viele unſerer großen Dichter
waren nie dazu gelangt, für ihre hohen Gedanken die rechte künſtleriſche
Form zu finden. In Heine erſchien uns zum erſten male ein Virtuos
der Form, der nach dem Inhalt ſeiner Worte gar nicht fragte. Er rühmte
ſich ſeiner „göttlichen Proſa“, einer Proſa, welche freilich, weil ſie beſtändig
nach dem Effekt haſchte, mit den Jahren immer manierirter wurde, aber
die ſorgſame Feilung nie vermiſſen ließ. Durch dieſen geſucht nachläſ-
ſigen, ſchillernden, flunkernden Stil ſuchte er ſeinen Leſern Alles, gleich-
viel was, mundgerecht zu machen. Er beſaß was die Juden mit den
Franzoſen gemein haben, die Anmuth des Laſters, die auch das Nieder-
trächtige und Ekelhafte auf einen Augenblick verlockend erſcheinen läßt, die
geſchickte Mache, die aus niedlichen Riens noch einen wohlklingenden Satz
zu bilden vermag, und vor Allem jenen von Goethe ſo oft verurtheilten
unfruchtbaren Esprit, der mit den Dingen ſpielt ohne ſie zu beherrſchen.
Das Alles war undeutſch von Grund aus. Geboren in Kämpfen des
Gewiſſens, war die Sprache Martin Luther’s allezeit die Sprache des
Freimuths und des wahrhaftigen Gemüthes geblieben; ſie nannte die
Sünde Sünde, das Nichts ein Nichts, und Goethe erwies ſich wieder ein-
mal als der Herzenskündiger ſeines Volkes, da er ſagte: „Im Deutſchen
lügt man wenn man höflich iſt.“ Aber gerade weil die Deutſchen fühl-
ten, daß ſie in den Künſten des Pikanten und Charmanten mit dem ge-
wandten Juden nie wetteifern konnten, ließen ſie ſich von ihm blenden,
ſie hielten für künſtleriſchen Zauber, was im Grunde nur der prickelnde
Reiz der Neuheit war.
Es währte lange, bis ſie ſich eingeſtanden, daß deutſchen Herzen bei
Heine’s Witzen nie recht wohl wurde. War er doch ſchlechthin der ein-
zige unſerer Lyriker, der niemals ein Trinklied gedichtet hat; ſein Himmel
hing voll von Mandeltorten, Goldbörſen und Straßendirnen, nach Ger-
manenart zu zechen vermochte der Orientale nicht. Es währte noch län-
ger, bis man entdeckte, daß Heine’s Esprit keineswegs Geiſt war im deut-
ſchen Sinne. Ueberall, wo er ernſthaft redete, ward er als ein falſcher
Prophet erfunden; was er für todt hielt lebte, was er lebendig nannte
war todt. Von den wahren Zeichen der Zeit, welche Thomas Carlyle
damals ſchon in ſeinem tiefſinnigen Buche über die franzöſiſche Revolu-
tion klar erkannte, von Frankreichs Verfall und dem ſtillen Erſtarken des
preußiſchen Deutſchlands ahnte Heine nichts. Dann vergingen wieder
Jahre, bis man endlich lernte, die flüchtige Zeitungsliteratur nach ihrem
wirklichen Werthe zu ſchätzen; Heine’s Ruhm ſchrumpfte zuſammen, ſeit
die Welt ſich gewöhnte, das Feuilleton nur zu durchblättern, ſeine Ein-
tagsgedanken auch an einem Tage zu vergeſſen.
Für die zeitgenöſſiſchen Dichter aber ward das Beiſpiel des gefeierten
[424]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Pariſer Feuilletoniſten verderblich. Schon Lord Byron hatte durch die
geniale Willkür ſeiner Abſchweifungen und Beſchreibungen die Reinheit der
Kunſtformen oft gefährdet; doch er ſchrieb noch in Verſen, in Verſen von
wunderbarer Schönheit, ſo daß der Adel der Poeſie niemals ganz verloren
ging. Erſt Heine zerſtörte durch ſeinen Feuilletonſtil gänzlich die Schranken,
welche Poeſie und Proſa ewig trennen werden. Er behing den nüchternen
Stoff ſeiner Kunſturtheile und Stimmungsberichte, ſeiner literariſchen und
politiſchen Erörterungen mit allerhand Flittern und Floskeln, die nicht poe-
tiſch waren aber poetiſch wirken ſollten. Darum beehrte ihn ſein Bewun-
derer Arnold Ruge mit dem lächerlichen Namen eines „kritiſchen Dichters“.
Seine Proſa ſchritt nicht auf gerader Bahn dem Ziele zu, ſondern ſchlen-
derte tändelnd und Blumen ſuchend ſeitab vom Wege dahin. Vor Zei-
ten, ſo lange die akademiſchen Regeln herrſchten, wurde die Dichtung von
der Proſa geknechtet und hieß bei den Franzoſen nur „die ſchönſte Gat-
tung der Proſa“. Seitdem hatte in Deutſchland die Poeſie längſt auf
eigenen Füßen zu ſtehen gelernt und auch die ungebundene Rede ſchon ſo
viel geſchmeidige Kraft gewonnen, daß ſie ſich, ſobald ſie Geſtalten bildete,
neue, bisher unerhörte Kühnheiten erlauben durfte. Was Heine ſchuf war
aber nicht die berechtigte poetiſche Proſa des Romans oder der Novelle,
ſondern ein krankhafter Zwitterſtil, weder Fiſch noch Fleiſch: proſaiſcher
Stoff erſchien in proſaiſcher Form und erhob doch den Anſpruch als
freies Kunſtwerk genoſſen zu werden. Kein Wunder, daß dem kritiſchen
Dichter, der in ſeiner Eigenart doch unerreichbar blieb, bald in langer
Reihe poetiſche Kritiker folgten, die ſich einbildeten Künſtler zu ſein, weil
ſie einige Beuteſtücke aus dem reichen Bilderſchatze deutſcher Dichtung in
ihre Urtheile verwebten. Manches ſchöne Talent verdarb in dieſer ſchil-
lernden Proſa und entfremdete ſich gänzlich dem Wohllaut des Verſes.
Während Heine die wechſelnden Eindrücke des Pariſer Lebens zu
eleganter Formenſpielerei verwerthete, redete Börne in ſeinen Pariſer
Briefen als ſtarrer Fanatiker; er konnte keine neue Oper, keinen der leich-
ten Romane Paul de Kock’s beſprechen ohne geſinnungstüchtig zu poltern.
Wie Heine den ſocialen, ſo vertrat Börne den politiſchen Radicalismus.
Irgend ein beſtimmtes Ziel verfolgte auch er nicht. Er ſchmähte nur auf
Alles, was in Deutſchland beſtand und ſchwärmte im Allgemeinen für „die
Menſchenrechte“, die über jedem Geſetze ſtehen ſollten. Ließ er ſich einmal
herbei ſeinen Leſern etwas Thatſächliches zu bieten, ſo zeigte er ſich kind-
lich urtheilslos; mehrere der apokryphen Aktenſtücke aus dem Archive des
Bundestags, an denen ſich nachher jahrelang die liberale Legende nährte,
wurden zuerſt in ſeinen Pariſer Briefen veröffentlicht. Da er immer auf
demſelben Flecke blieb und ſchlechterdings nichts Neues mehr zu ſagen
wußte, ſo mußte er ein gellendes Geſchrei anſtimmen. „Türken, Spanier,
Juden, ſo rief er, ſind der Freiheit viel näher als die Deutſchen. Sie
ſind Sklaven, ſie werden einmal ihre Ketten brechen, und dann ſind ſie
[425]Börne’s Pariſer Briefe.
frei. Der Deutſche aber iſt geborener Bedienter; er könnte frei ſein, aber
er will es nicht.“ Sein alter Grimm gegen Goethe ward zur heroſtrati-
ſchen Wuth: „tauſendmal lieber Kotzebue’s warme Thränenſuppen als
Goethe’s gefrorener Wein.“ Er trieb es ſo arg, daß Karl Simrock, ſelbſt
ein Liberaler, ihm zurufen mußte, durch die Beſudelung ihres erſten
Mannes hoffe er wohl, die deutſche Nation ſelbſt zu vernichten:
Börne bekannte ſich zu der neuen radicalen Heilslehre, daß die Welt-
geſchichte in dieſem aufgeklärten Jahrhundert plötzlich ihren Charakter ver-
ändert habe und nicht mehr durch große Menſchen, ſondern durch die
Vernunft der Maſſen ihre Thaten vollende. Darum nannte er das
moderne, nach der Schablone gebildete Frankreich „die Weltſchule, die
große Eiſenbahn der Freiheit und Sittlichkeit“, und immer unbegreiflicher
ward ihm Deutſchland mit der Fülle ſeiner perſönlichen Kräfte, ſeiner
mannichfaltigen und doch einigen Cultur. Weil alle echte Bildung ariſto-
kratiſch iſt, ſo bekämpfte er unſere Wiſſenſchaft als die Feindin der Frei-
heit und meinte: „jede Univerſität macht das Land zehn Meilen in der
Runde dumm, Wenige ſollen Alles wiſſen, damit Alle nichts wiſſen.“
In ſeinem Stile wurden die fein ausgeklügelten Bilder, die freilich immer
nur aus dem Witze, nicht aus der Anſchauung ſtammten, allmählich ſel-
tener; an ihre Stelle traten ſinnloſe demagogiſche Kraftworte, wie „die
ſauere Hand des ehrlichen Mannes, die bleiſüßen Herzen und verbuhlten
Lavendelſeelen“ der Fürſtendiener. Seinem revolutionären Ingrimm be-
hagte nur noch die Roheit; als ihm im Gedränge des Hambacher Feſtes
ſeine Uhr geſtohlen wurde, da ſchrieb er hämiſch: jetzt endlich erwachen
die Deutſchen zur Thatkraft, „Tyrannen, zittert, wir ſtehlen auch!“ Zu-
weilen überwältigte ihn die Wuth dermaßen, daß er allen Anſtand auf-
gab und in jene Sprechweiſe verfiel, welche man in ſeiner Frankfurter
Heimath als „Mauſcheln“ zu bezeichnen pflegte: „Ich habe keine Freiheit
hinter mir und darum keine vor mir. Ich treibe weil ich werde getrie-
ben, ich reize weil ich werde gereizt. Der Wind iſt heftig der mich ſchüt-
telt. Iſt das meine Heftigkeit? Habe ich den Wind gemacht? Kann ich
ihn ſchweigen heißen?“ In den ſtark beſuchten Vereinen der deutſchen
Handwerksburſchen und Flüchtlinge entfaltete er eine emſige Thätigkeit,
und obwohl dieſe Helden ihre Kampfluſt vorerſt nur in drohenden Reden
oder im Umhertragen ſchwarzrothgoldener Fahnen bethätigten, ſo ward es
doch für die Zukunft folgenreich, daß nun bald in jeder deutſchen Mittel-
ſtadt einige Meiſter oder Geſellen hauſten, die auf der Hochſchule des
Demagogenthums an der Seine ihre Grundſätze eingeſogen hatten.
Durch das beſtändige Zetern und Spotten ging ſein deutſches National-
gefühl, das ohnehin nie eine ſtarke, naturwüchſige Empfindung geweſen
war, ganz zu Grunde, und er verſank in ein radicales Weltbürger-
[426]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
thum, das dem Landesverrathe ſehr nahe kam. Er gründete ein fran-
zöſiſches Blatt La Balance und geſtand hier offen: ich bin ſo viel Fran-
zoſe als Deutſcher, ich war Gott ſei Dank nie ein Tölpel des Patrio-
tismus. In franzöſiſcher Sprache verhöhnte er die Deutſchen wegen ihrer
„National-Eitelkeit“ und fragte: „Iſt der Egoismus eines Landes weniger
ein Laſter als der eines Menſchen?“ Er bezeugte den Franzoſen, ſie
hätten in drei Tagen das Werk eines Jahrhunderts gethan, die Deutſchen
in drei Jahrhunderten gar nichts; ſie beſäßen an Voltaire und Rouſſeau
große Geiſter, deren gleichen Deutſchland nie hervorbringen könne. Ja,
als ob er ſie zu einem Rachekriege gegen ſein Geburtsland herausfordern
wollte, betheuerte er ihnen feierlich, die deutſchen Höfe hätten nicht nur
durch den Coalitionskrieg die Enthauptung Ludwig’s XVI., ſondern auch
durch ihre geheimen Rathſchläge die Juli-Ordonnanzen Karl’s X. ver-
ſchuldet — eine freche Verleumdung, deren Nichtigkeit man in Frank-
reich ſelbſt wohl kannte. Zugleich fuhr er fort, ſeine politiſchen Gegner
als hündiſche Knechtsſeelen zu beſchimpfen. Da die liberale Preſſe dem
Beiſpiele dieſes Geſinnungsterrorismus gelehrig folgte, ſo gewöhnte ſich
die öffentliche Meinung bald, conſervative Grundſätze für ein Zeichen
der Charakterſchwäche anzuſehen, und ein deutſcher Schriftſteller bedurfte
ſchon einigen Muthes, wenn er ſeine monarchiſche Geſinnung offen aus-
ſprach.
Wie in Frankreich alle Parteien der Oppoſition ſich zuſammenfanden,
ſo hieß auch Börne Jeden willkommen, der die Monarchie bekämpfte. So-
eben hatte Lamennais in Rom Buße gethan für die demokratiſchen Sünden
ſeiner Zeitſchrift L’Avenir und demüthig die grimmige päpſtliche Encyclica
vom 15. Aug. 1832 hingenommen, welche der argloſen Welt zuerſt un-
zweideutig ankündigte, daß der ſtreitbare Geiſt der Gegenreformation im
Vatican wieder erwacht war. Da hieß es: „Aus dieſem ſtinkenden Quell
der Gleichgiltigkeit fließt die gleich irrige Meinung oder vielmehr der Wahn-
ſinn, daß man jedem Menſchen die Freiheit des Gewiſſens zuſichern und
gewähren müſſe.“ Aber ſchon ein Jahr nach ſeiner Unterwerfung konnte
der heißblütige Bretone ſich nicht mehr bezwingen und ſchrieb, zum Schrecken
ſeines milderen Freundes Montalembert „die Worte eines Gläubigen“, ein
Buch voll apokalyptiſcher Bilder, das mit flammenden Worten die Kinder
Satans, die Könige bekämpfte: ſie fluchen dem Heiland, der die Freiheit
auf die Erde geführt hat und in der Stadt Gottes keine Herrſchaft dulden
will, ſondern nur die wechſelſeitige Verpflichtung Aller. Die Schrift ſtand
durchaus auf dem Boden katholiſcher Weltanſchauung, ſie malte nur die
alte auguſtiniſche Lehre vom Gottesſtaate mit phantaſtiſcher Ueberſchwäng-
lichkeit aus und hatte mit den Gedanken des ungläubigen deutſchen Radi-
calismus nicht mehr gemein, als etwa die Werke Mariana’s und der
jeſuitiſchen Monarchomachen mit den Staatslehren der Hugenotten. Börne
aber überſetzte das Buch und pries es den Deutſchen an; ſeine politiſche
[427]Varnhagen’s hiſtoriſche Schriften.
Bildung reichte nicht weit genug um die kirchlichen Grundgedanken des
radicalen Franzoſen zu durchſchauen.
Mit unheimlicher Geduld ließen viele der deutſchen Liberalen die
Schmähungen Börne’s über ihr Vaterland dahingehen; da er in wechſelnden
Formen immer daſſelbe ſagte, ſo gewann er den Beifall aller jenen naiven
Seelen, welche von dem Politiker nur verlangten, daß er ſein Glaubens-
bekenntniß unwandelbar feſthalten müſſe. Selbſt Rotteck verzieh ihm groß-
müthig ſeine perſönlichen Angriffe und hörte nicht auf, die Ueberzeugungs-
treue des Pariſer Tribunen zu bewundern. Indeß fanden ſich auch im
liberalen Lager Männer von feſterem Nationalſtolze, denen die jüdiſche Selbſt-
verhöhnung ebenſo verächtlich war wie die Betriebſamkeit des Schimpfens.
C. F. Wurm in Hamburg und der junge Berliner Dichter Wilibald Alexis,
ſpäterhin auch Gervinus und andere ernſte Publiciſten traten gegen Börne
in die Schranken; ſie wieſen ihm nach, daß er, jedes eigenen Gedankens
baar, ſich nur „in Gemeinplätzen wälze“. Karl Simrock verſpottete in
witzigen Gedichten das wohlfeile Heldenthum des Freiheitsapoſtels, der aus
ſicherer Ferne ſeine vergifteten Pfeile abſchieße und dabei nicht einmal in
ſeinem Geſchäfte Schaden leide, da die Deutſchen „die gutmüthigen Thoren,
ſeine Bücher dennoch kaufen“. Auf die Lockrufe der revolutionären Propa-
ganda erwiderte der rheiniſche Dichter ſtolz:
Minder laut als Heine und Börne aber kaum minder erfolgreich wirkte
der Kreis der Rahel Varnhagen für die Verbreitung neufranzöſiſcher Ideen.
In ſeinen Büchern ſprach Varnhagen ſtets behutſam und unverfänglich.
Er ſammelte mit großem Fleiß aber ohne jede Kritik den Stoff für ſeine
„Biographiſchen Denkmäler“ aus der preußiſchen Geſchichte, um dann als
feierlicher Erzähler Wahres und Falſches, Thatſachen und Anekdoten in
wohlabgezirkelten eintönigen Perioden vorzutragen. Behandelte er einen
eleganten Hofmann, einen Beſſer oder Canitz, dann gelang ihm wohl ein
ſauberes Bildchen, faſt ebenſo zierlich wie die ſchwarzen Figuren, die er
im Salon mit feiner Scheere aus dem Papier auszuſchneiden pflegte.
Für das Eichenholz heldenhafter Charaktere war ſeine Hand zu ſchwach;
die Geſtalten Blücher’s und des alten Deſſauers, die ſich ohne Leidenſchaft
und derben Humor gar nicht begreifen laſſen, erſchienen in Varnhagen’s
glatter, geleckter Darſtellung leblos, ja abgeſchmackt. Der vornehmen Welt
gefiel dieſe kühle Weiſe, und Metternich lobte den verunglückten Diplomaten
als einen Meiſter des hiſtoriſchen Stiles, wohl nicht ohne die ſtille Abſicht,
den unbequemen Mann von aller politiſchen Thätigkeit abzuſchrecken. Etwas
deutlicher verriethen ſich Varnhagen’s liberale Anſichten in den Hegel’ſchen
„Jahrbüchern“, die er, faſt ſo unermüdlich wie der Herausgeber Eduard
Gans, mit kritiſchen Aufſätzen verſorgte.
[428]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Aber nur am Theetiſch ſeiner Rahel war er ganz er ſelber. Hier
unter Schriftſtellern, Lebemännern, Diplomaten außer Dienſt ließ er ſeiner
böſen Zunge freien Lauf und begönnerte, überall bewandert, immer dienſt-
bereit, die jungen Talente. Hier entdeckte Gans, neben einer Menge neuer
politiſcher Ideen, auch die große äſthetiſche Wahrheit: „die Taglioni tanzt
Goethe.“ Hier war Jeder verpflichtet geiſtreiche Einfälle vorzubringen und
Alles beſſer zu wiſſen als andere Leute — was dem wahren Berliner die
Krone des Lebens iſt — bis Rahel, „die Thyrſusſchwingerin des Zeit-
gedankens“, die Blitze ihres Geiſtes über die weite Welt hin fahren ließ
und die Eingeweihten zu verſtändnißinnigem Lächeln begeiſterte. Aus ihrem
Weſen redete der ruheloſe Weltſchmerz eines edlen, aber tief unbefriedigten
Frauenherzens, oder, wie ſie ſelbſt ſagte, „eine beſondere Melancholie, ein
Drängen nach vorwärts, eine Prätenſion, ein Erwarten, daß es angehe.“
Neues, Unerhörtes ſollte geſchehen. Mit dialektiſcher Kühnheit überſprang
ſie alle die Schranken, welche Natur und Geſchichte der Menſchheit geſetzt
haben; Vaterland und Kirche, Ehe und Eigenthum, Alles erlag ihrer zer-
ſetzenden Kritik. Warum ſollte das Waſſer nicht auch einmal brennen,
das Feuer fließen oder der Mann Kinder gebären? „Wenn Fichte’s Werke
Frau Fichte geſchrieben hätte, wären ſie ſchlechter?“ — mit dieſem Satze
erwies ſie ſiegreich die gleiche Begabung der beiden Geſchlechter. In der
ſittlichen Welt ließ ſie allein die Willkür des perſönlichen Gefühles gelten;
ſie fand es „fürchterlich“, daß manche eheliche Kinder ohne wahre Liebe
erzeugt werden, und ſchloß daraus kurzab: „Jeſus hat nur eine Mutter.
Allen Kindern ſollte eine ideeller Vater conſtituirt werden, und alle Mütter
ſo unſchuldig und in Ehren gehalten werden wie Maria.“ Solche Einfälle
ließen ſich ertragen, wenn die gutherzige, geiſtvolle Frau ein flüchtiges Ge-
ſpräch dadurch belebte; doch ſie erlangten eine unverdiente Bedeutung durch
die jugendlichen Zuhörer, die ſchon bei ihrem Hegel gelernt hatten jedes
ſittliche Geſetz als überwundenen Standpunkt abzufertigen und nun die
Weisheitsſprüche der „Mutter der jungen Literatur“ in ihren Schriften
verwertheten.
Wilhelm Humboldt, der ſich auch eine Zeit lang an dem Zauber
dieſer Geſpräche ergötzte, fühlte doch bald heraus, daß hier nur das an-
maßende, jeder Hingebung an das Allgemeine unfähige Ich redete, und
rief der Freundin zu:
Nach Rahel’s Tode veröffentlichte der Wittwer (1834) ihre Briefe und
Geſpräche in einem „Buche des Andenkens“. Da ſtanden denn in ſelt-
ſamem Durcheinander tiefe Gedanken und herzliche Worte der Bewunde-
rung für echte Männergröße, aber leider auch ſchillernder Unſinn, hyſte-
riſche Stoßſeufzer und leere Wortſpiele, die nur durch den gezierten Ausdruck
[429]Rahel. Die junge Kritik.
auf den erſten Blick verblüffen konnten. Das unglückliche Buch blieb lange
eine Fundgrube für die aphoriſtiſchen Halbgedanken der Feuilletons. —
Aus dieſen Pariſer und Berliner Quellen nährte ſich eine neue Lite-
ratenſchule, welche von einem ihrer Mitglieder, Wienbarg, den Namen des
Jungen Deutſchlands empfing, obgleich ſie weder jugendlich noch deutſch
war. Alle ihre Genoſſen ſtammten aus Norddeutſchland, aus dem ge-
bildeten aber bildloſen Theile des Vaterlandes, wie Goethe zu ſagen pflegte,
und in Allen zeigte ſich die Verſtandesbildung ungleich ſtärker als die Macht
der Phantaſie. Auch bisher war jede Revolution unſerer Literatur von
dem rührigeren Norden ausgegangen, und immer hatten die neuen Ideale
erſt durch die überlegene Dichterkraft der Oberdeutſchen ihre Vollendung
erlangt, das claſſiſche Ideal durch Schiller und Goethe, das romantiſche
durch Uhland und Rückert. Diesmal aber verhielten ſich Süd- und Mittel-
deutſchland erſt gleichgiltig, dann feindſelig; denn hier im lieben, warmen
Neſte deutſcher Dichtung und Sprachbildung witterte man raſch heraus,
daß die neue literariſche Bewegung jüdiſch-franzöſiſchen Urſprungs war
und mithin unfruchtbar bleiben mußte.
Da die lyriſche Begabung den jungen Schriftſtellern ſammt und ſon-
ders fehlte, ſo machten ſie aus der Noth eine Tugend und behaupteten, nur
die Proſa enthalte noch „literariſche Keime“. Lebendige Geſtalten zu ſchaffen,
die ewigen Empfindungen des Menſchenherzens auszuſprechen überließen
ſie den ideenloſen Handwerkern, die man vordem Künſtler genannt hatte;
ſie wollten die Tendenzen des Zeitgeiſtes vertreten, und es kam ihnen nichts
darauf an, ob ſie ihre zeitgemäßen Reflexionen in das Gewand einer Novelle,
einer Reiſebeſchreibung einkleideten oder die allein angemeſſene Form der
Feuilletonplauderei wählten. Die Dichtung ſollte nicht mehr durch ihre
Ideale das Leben verklären, ſondern das Leben ſollte mit ſeinen endlichen
Zwecken und Tageslaunen die Poeſie beherrſchen. Daher ſind auch die
Schriften des Jungen Deutſchlands bis auf die letzte Zeile vergeſſen worden
ſobald die Geſchichte über die Tendenzen der dreißiger Jahre hinwegſchritt.
Die neuen Stürmer und Dränger verglichen ſich gern mit Lenz, Heinſe
und den anderen Kraftgenies aus den Tagen des Werther; ſie bemerkten
nicht, daß ſie ſelbſt nur offene Thüren einrannten, da die Herrſchaft des
Philiſterthums durch Goethe längſt gebrochen war und die neue Geſellſchaft,
wenngleich ſie noch zuweilen einem Anfalle zimperlicher Scheinheiligkeit
unterlag, doch in der Regel dem heißen Blute der Jugend eine ſehr duld-
ſame Nachſicht gewährte. Sie wähnten, ihre „junge Kritik“ müſſe ebenſo
ſchöpferiſch wirken, wie einſt Leſſing’s kritiſche Schriften, während die deutſche
Dichtung in ihrer ſtolzen Ungebundenheit eines Befreiers längſt nicht mehr
bedurfte. Ihr Radicalismus war erkünſtelt, ohne Ernſt, ohne nachhaltige
Leidenſchaft; manches ihrer Schlagworte benutzten ſie nur als einen Unter-
grund, von dem ſich die Größe ihres eigenen, zerriſſenen Ich wirkſam ab-
heben ſollte.
[430]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Den Herold ihres Ruhmes ſpielte der Berliner Journaliſt Theodor
Mundt. Der heimſte im Salon der Rahel die neuen Gedanken ein, beſprach
in den Dioskuren und anderen kurzlebigen Zeitſchriften die Werke der
jungen Titanen, verherrlichte in ſeiner „Madonna“ das Recht der freien
Liebe, wiederholte in den „Modernen Lebenswirren“ die alten Börniſchen
Witze über Hochwohlgeboren, über den Zeitpolypen, über Kleinweltwinkel,
und erwies in einer langweiligen Schrift über die Einheit Deutſchlands,
daß große Monarchen fortan weder möglich noch nöthig ſeien, da die con-
ſtitutionelle Monarchie das Königthum „phyſiognomielos“ mache und mithin
nur den Durchgang zur Republik bilde. Geiſtreicher klangen die „Aeſthe-
tiſchen Feldzüge“ und die anderen kleinen kritiſchen Aufſätze des Holſten
Ludolf Wienbarg. Sinnlichkeit und Verſtand betrachtete er als die Mächte
der neuen Zeit; nachdem Luther den Verſtand befreit ſollten nunmehr
auch die Sinne zu ihrem Rechte kommen. Darum blieb den modernen
„Deſtinsſchriftſtellern“ vorbehalten, die Dichtung ganz mit der Wirklichkeit
zu erfüllen: „Poeſie und Leben ſind Inſeparabeln, das Weibchen härmt
ſich zu Tode wenn das Männchen von ihm getrennt.“ Dazu Aufklärung
und Weltbürgerthum im Ueberſchwang, denn „Pantheismus und Pan-
civismus wachſen auf einem Stiel“. Weder Mundt noch Wienbarg ver-
mochte zu wachſen; jenem fehlte die Begabung, dieſem der Fleiß.
Mehr Lebenskraft beſaß Heinrich Laube; er brachte etwas ſchleſiſche
Munterkeit in die blaſirte Berliner Schriftſtellerwelt. Leider trat er zu früh
auf den literariſchen Markt hinaus, und da er noch nichts Eigenes bieten
konnte, ſo mußte er durch Peitſchenknallen und burſchikoſe Großſprecherei
Aufſehen erregen. In ſeinem „Neuen Jahrhundert“ verſuchte er „alles Mög-
liche und Unmögliche dem Maßſtabe des Liberalismus anzuzwingen“ — ſo
geſtand er ſpäterhin als gereifter Mann: er feierte Rotteck als deutſchen
Lafayette, erklärte die Vernunft für die Grundlage der liberalen Weltan-
ſchauung, für die oberſte aller Rechtsquellen und bewunderte die polniſche
Freiheit mit einer Unſchuld, die einem Schleſier wunderlich anſtand. Auch
„das junge Europa“ enthielt nur Feuilleton-Betrachtungen; er gab ihnen je-
doch, wie er ſelbſt ſagt, „eine Roman-Phyſiognomie“, und bei den mehr
aufrichtigen als anmuthigen Schilderungen der freien Liebe konnten jugend-
liche Leſer wohl glauben, daß ſie eine Dichtung vor ſich hätten. Von
künſtleriſcher Schönheit war nichts darin; nur der geſunde Menſchenver-
ſtand, der zuweilen durchbrach, ließ errathen, daß der junge Poet dieſer
vorlauten Prahlereien bald müde werden würde. Ueber Goethe ſprach
Laube mit Bewunderung, aber auch mit dem Gefühle der Ueberlegenheit;
denn das ſtand dem Jungen Deutſchland feſt, daß die neue Literatur
über den alten genußſüchtigen Fürſtendiener unendlich weit hinausſchreiten
müſſe: „So lange Goethe’s Zeit klein war, war er groß; als ſie groß
wurde, war er klein. Vielleicht wird aus ſeinem Sarge die Freiheit ſteigen.
Mit allen Jungfrauen hat er gekoſt, aber mit dieſer ſchönſten nimmer.“
[431]Gutzkow und Schleiermacher.
Noch früher, als Laube, ſchon mit einundzwanzig Jahren, verſuchte
ſich Karl Gutzkow in der Schriftſtellerei, ein echter Berliner, der Natur
entfremdet, ganz Verſtand, ganz Bildung, ſo daß ſelbſt ſeine Leidenſchaft
einen doktrinären Zug zeigte. Wie ernſtlich er ſich auch ſpäterhin bemühte
zu ſchauen, zu erleben, zu empfinden, ſein Tagelang hing es ihm nach,
daß er in dieſer Großſtadt aufgewachſen war, wo ſelbſt der Pöbel kein
ärgeres Schimpfwort kannte als den Namen „ungebildeter Menſch“, wo
die Kinder ſich frühe ſchon in den Thierbuden ihrer eigenen Affenähnlichkeit
bewußt wurden aber ſelten oder niemals eine deutſche Rinderheerde zu
Geſicht bekamen. Immer mußte er geiſtreich ſein, einen einfachen Ge-
danken einfach auszudrücken war ihm unmöglich. Er glühte von Ruhm-
ſucht, die Erfolge Anderer wurmten ihn tief, und Fernſtehende konnten
den nervöſen, im Grunde gutmüthigen Mann leicht für einen böſen Neid-
hart halten. In raſcher Folge erſchienen eine Reihe von Novellen, alle
arm an Geſtalten und überfüllt mit weltſchmerzlichen Betrachtungen; dann
die Briefe eines Narren an eine Närrin, eine Gefühlsſpielerei in Jean
Paul’s ſchwülſtigem Stile, nur ohne deſſen Gemüthlichkeit; dann Nero,
ein formloſes Drama, das angeblich „den bis auf unſere Tage noch un-
entſchiedenen Kampf des Schönen mit dem Guten“ darſtellen ſollte, aber
nur verworrene ſtarkgeiſtige Reden oder froſtige Späße vorbrachte und
nicht einmal durch die Schilderung des Cäſarenwahnſinns ein Gefühl des
Grauens erweckte.
Erſt durch einen großen literariſchen Skandal drang Gutzkow’s Name
in weitere Kreiſe. Die beiden heißen wonnigen Weinjahre 34 und 35
ſollten unſerer Literatur ſchwere Stürme bringen. Im Herbſt 1834 ſtarb
Schleiermacher. Die Kirche klagte um ihren großen Lehrer, und wer die
ſtille Tragik eines Denkerlebens zu begreifen vermochte, blickte tief er-
ſchüttert zurück auf die Laufbahn dieſes Mannes, der nur darum die be-
ladenen Herzen ſo mächtig hatte tröſten können, weil er ſelbſt ſo ſchwer
gelitten, den ewigen Schickſalsmächten ſo nahe geſtanden hatte. Wie
wunderbar hatte Gott ihn geführt! Wie viele Kämpfe, bis dieſer Scheue
ſeinen Widerwillen gegen alles öffentliche Wirken überwand und dann
eine Macht ward in ſeinem Volke; wie viele Irrungen des Gefühls, wie
viele Enttäuſchungen, mühſam verborgen unter ſcharfem Witze, bis dieſes
reiche Herz, das alle ſeine Wurzeln und Blätter nach Liebe ausſtreckte,
mit dem gebrechlichen, mißgeſtalteten Körper ſich vertragen lernte und
endlich doch in einer reinen Neigung ſeinen Frieden fand; wie viele Zweifel,
bis ſich ihm das Gefühl der Abhängigkeit von Gott zu dem frohen Be-
wußtſein der Zugehörigkeit, der Gotteskindſchaft ſteigerte, bis der kühne
Forſcher ſich mit ſeiner Kirche ganz einig wußte und auf dem Todesbette,
nach ſeinem evangeliſchen Rechte, ſich ſelber und den Seinigen das Abend-
mahl ſpendete.
Und an dieſem Grabe, vor dem ſelbſt Varnhagen in Ehrfurcht ſtand,
[432]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
wagte Gutzkow’s jugendlicher Vorwitz eine Leichenſchändung. Um die ſal-
bungsvollen Klagen der Theologen zu verhöhnen, ließ er plötzlich, gänz-
lich unbefugt, die längſt vergeſſene ſchwächſte Schrift des Todten wieder
erſcheinen, die einzige die ihres Verfaſſers nicht würdig war, die ver-
trauten Briefe über Friedrich Schlegel’s Lucinde aus dem Jahre 1800.*)
Schleiermacher hatte ſie einſt niedergeſchrieben weil er ſeinem bedräng-
ten Freunde Schlegel gegen die Angriffe der platten Moraliſten zu Hilfe
kommen wollte; und ſchon während des Schreibens war ihm nicht wohl
zu Muthe geweſen. Dieſe Myſtik der Liebe, die wohl manches holde
Geheimniß enträthſelte, aber auch manches unzart entweihte, ſtammte
nicht aus der Naturgewalt einer ſtarken Leidenſchaft, ſondern aus der
halb unbewußten Sophiſterei einer überbildeten, fremdem Gefühle nach-
gehenden Empfindung. Als Schleiermacher ſpäterhin der Romantik ent-
wuchs, lernte er bald einſehen, wie unmöglich es iſt, die ſittlichen Ge-
ſetze der Geſellſchaft allein aus der Idee der Perſönlichkeit heraus zu
geſtalten. Doch gerade dieſe ſubjective Willkür des jugendlichen Roman-
tikers behagte den Jungdeutſchen, wie ſie ja faſt überall nur alte Irrthümer
in neuer Geſtalt vorzubringen wußten. Seine warme Vertheidigung der
Sinnlichkeit bot ihren lüſternen Mäulern ſüße Schnabelweide, und Gutzkow
vergröberte ſie zu jener „geiſtloſen und unwürdigen Libertinage“, welche
der junge Schleiermacher ſelbſt ausdrücklich abgewieſen hatte. Er miß-
brauchte den reinen Namen des Theologen um in einer langen Einleitung
kurzab die Unzucht und die Gottloſigkeit zu predigen: „Nicht wahr, Ro-
ſalie? Erſt ſeitdem Du Sporen trägſt an Deinen ſeidenen Stiefelchen,
weißt Du was es heißt: ich liebe Dich … Komm her, Franz! Wer iſt
Gott? Du weißt es nicht? Unſchuldiger Atheiſt, philoſophiſches Kind!
Ach hätte die Welt nie von Gott gewußt, ſie würde glücklicher ſein!“ Und
mit dieſem läppiſchen Gerede wähnte er wirklich eine befreiende That
zu vollziehen. „Meine Zähne umſchließen die deutſcheſten Laute, rief er
feierlich, ich glaube an die Reformation der Liebe wie an jede ſociale Frage
des Jahrhunderts,“ und mit Jubel hießen die Genoſſen dieſen ſonderbaren
Reformator, der an alle Fragen glaubte, willkommen. Wienbarg ſchrieb
entzückt: „Das ſchönſte und geiſtreichſte Kind von Schleiermacher war bisher
verſtoßen und verleumdet, weil es ein Kind der Liebe war und nicht ein-
mal ſeines Vaters Namen trug.“
Geleſen wurden die Schriften des Jungen Deutſchlands wenig, um
ſo mehr beſprochen; und dies war ſchon ein Erfolg, da die moderne Ge-
ſellſchaft ſich verpflichtet glaubt über Alles was ſie kennt oder nicht kennt
mitzureden, alſo den gemachten Ruhm leichtgläubig hinnimmt. Mit den
Ideen der neuen Pariſer Literatur drangen auch ihre betriebſamen Ge-
ſchäftsgewohnheiten, alle ſchlechten Künſte gegenſeitiger Lobpreiſung über
[433]Jungdeutſche Fremdbrüderlichkeit.
den Rhein. Umſonſt verſpottete Scribe dieſe Unſitten in ſeinem feinen
Luſtſpiele La Camaraderie; ſie wurden den Franzoſen unentbehrlich, zu-
mal ſeit die Zeitungen, nach dem Vorbilde von Girardin’s Tageblatt La
Presse, rein demokratiſche Formen annahmen, durch wohlfeile Preiſe und
zahlreiche Geſchäftsanzeigen ſich maſſenhaften Abſatz zu ſichern lernten.
So weit es unſere beſcheidenen Verhältniſſe geſtatteten, wußte auch das
Junge Deutſchland für den Eintagsruf ſeiner Leute zu ſorgen. Mit Pauken
und Trompeten wurde der junge Gutzkow durch Wienbarg der Nation
vorgeführt, er, „der geniale Verfaſſer des Maha Guru, der das epoche-
machende Literaturblatt zum Phönix ſchreibt, der jugendliche Templer, der
kühnſte Soldat der Freiheit und der anmuthigſte Prieſter der Liebe, den
Deutſchlands Boden trägt“. Kaum minder lächerlich klang es, wenn
Heine den lärmenden jungen Laube wegen ſeiner „weitaustönenden Ruhe
und ſelbſtbewußten Größe“ pries. Auch manche kleine Leute, die nur im
Troſſe des Jungen Deutſchlands mitliefen, ſchoſſen unter dem befruchten-
den Regen dieſes wechſelſeitigen Selbſtlobes plötzlich zu literariſcher Größe
auf. Da lebte in Leipzig der Herausgeber der Europa, Guſtav Kühne,
ein harmloſer Mann, als Schriftſteller ſo trocken, daß der Leipziger Stu-
dent wenn er ſich langweilte zu ſagen pflegte „es kühnelt mich“; in ſeinem
wohlgeordneten Hauſe fanden aber die jungen Literaten gaſtliche Aufnahme,
darum prieſen ſie ihn als deutſchen Dichter, und noch heute wandert ſein
Name als eiſernes Inventar aus einem literarhiſtoriſchen Handbuch in
das andere hinüber, obgleich Niemand ſeine Werke kennt.
Welch ein Abſtand zwiſchen den Teutonen Jahn’s und dieſer neuen
literariſchen Jugend. Dort Alles Kraft bis zur Roheit, hier ein ge-
ſuchtes und geziertes Weſen, dort Glaube, hier Spott, und ſtatt des vater-
ländiſchen Uebereifers der Sprachreiniger eine zur Schau getragene Sprach-
mengerei, die ſelbſt das Wälſchen der ſüddeutſchen Kammerredner noch
überbot. Die gewaltige Aneignungsfähigkeit unſerer Sprache war von
jeher ein Zeichen unſerer Stärke, weil der Germane als geborener Er-
oberer ſein Eigenthum nimmt wo er es findet; aber ſie iſt auch, wie jede
große Begabung, oft ſündlich mißbraucht worden, und niemals frevelhafter
als in dieſen Tagen. Lediglich aus Eitelkeit, weil ſie alles Franzöſiſche
für vornehmer hielten und ſich den Anſchein geben wollten in Paris zu
Hauſe zu ſein, beluden die Schriftſteller des Jungen Deutſchlands ihren
ohnehin verkünſtelten Stil noch mit einer Maſſe geſchmackloſer wälſcher
Prachtwörter. Als Wienbarg ein neues Bändchen herausgab, verkündigte
er erhaben, er ſtelle ſein „kritiſches Wirken unter die Reverbere des Buch-
handels“.
Dies arge Beiſpiel verdarb den deutſchen Zeitungsſtil um ſo gründ-
licher, da der junge Nachwuchs der Tagesſchriftſteller ſchon zum Theil
aus Juden beſtand, denen das Sprachgefühl faſt immer abging. Wie
gewaltig war doch die Macht des Judenthums in wenigen Jahren ge-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 28
[434]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſtiegen! Börne und Heine, Eduard Gans und die Rahel gaben den Ton
an im Jungen Deutſchland, dazu als Fünfter etwa noch Dr. Zacharias
Löwenthal, der betriebſame Verleger in Mannheim. Das Weltbürger-
thum und der Chriſtenhaß, der ätzende Hohn und die Sprachverderbniß,
die Gleichgiltigkeit gegen die Größe der vaterländiſchen Geſchichte — Alles
war jüdiſch in dieſer Bewegung, obgleich das Junge Deutſchland niemals
eine geſchloſſene Schule bildete, Börne mit der Mehrzahl ſeiner deutſchen
Nachahmer nicht einmal brieflich verkehrte und Gutzkow die Juden zum
Mindeſten nicht liebte. Wohl war die Zahl der orientaliſchen Chorführer
nicht groß, aber der Jude beſitzt bekanntlich die räthſelhafte Gabe ſich zu
vervielfältigen; wer in einer engen Gaſſe zwanzig Juden vor den Thüren
ſtehen ſieht, ſchwört darauf, es müßten ihrer hundert ſein. Da jene Fünf
zudem ihre germaniſche Gefolgſchaft wirklich überragten, ſo erlangte der
jüdiſche Geiſt für kurze Zeit einen Einfluß auf die deutſche Literatur, wie
ſeitdem niemals wieder. Wohl hat ſich die Zahl der jüdiſchen Schrift-
ſteller mittlerweile ſtark vermehrt, aber ſie gewinnen nur dann noch die
Achtung der Nation, wenn ſie ganz zu Deutſchen geworden ſind; der
Ruhm eines Heine war nur möglich in einem Geſchlechte, das über ſeinen
fremdbrüderlichen Träumen den uralten Gegenſatz ariſcher und ſemitiſcher
Empfindung leichtſinnig vergeſſen hatte. Zu ſchaffen vermochte dieſer halb-
jüdiſche Radicalismus nichts, jedoch er half die Grundfeſten von Staat,
Kirche, Geſellſchaft aufzulockern, den Umſturz des Jahres 1848 vorzube-
reiten; deshalb allein gebührt ihm eine Stelle in der Geſchichte.
Wie heillos alle ſittlichen Begriffe in dieſen jungdeutſchen Kreiſen ſich
verwirrt hatten, das bekundete mit cyniſcher Frechheit Georg Büchner’s
Drama: Danton’s Tod. Während die Polizei ihm ſchon auf den Hacken
ſaß wegen ſeiner oberheſſiſchen Umtriebe*), vertiefte ſich der junge Poet
mit fieberiſchem Eifer in die Zeitungen der Revolutionsjahre und ſchilderte
dann in locker an einander gereihten dramatiſchen Scenen, getreu wie ein
Chroniſt, das Treiben der Blutmenſchen des Conventes Zug für Zug nach
dem Leben — dies wiederauferſtandene unverfälſchte Keltenthum der
Druidenzeiten mit ſeiner Blutleckerei, ſeiner Wolluſt, ſeinem finſteren
Wahne und dem widrigen Zuſatz moderner Blaſirtheit. So erſchreckend
wahr vermochte unter allen Zeitgenoſſen nur noch Carlyle die Greuel
jener Tage darzuſtellen; aber während der Schotte ſeinen ſittlichen Ekel
leidenſchaftlich ausſprach, wähnte der Deutſche alles Ernſtes, die Revolu-
tion zu verherrlichen durch ein Werk, das doch nur Abſcheu erwecken
konnte. Wer mag ſagen, ob dieſer begabteſte aller jungdeutſchen Poeten
ſeinem troſtloſen Materialismus vielleicht noch hätte entwachſen können?
Büchner ſehnte ſich nach künſtleriſcher Wahrheit, er haßte die Phraſe, ſelbſt
das Pathos der Schiller’ſchen Dichtung widerſtand ihm, nur die naive
[435]Büchner. Pückler-Muskau. Ch. Stieglitz.
Innigkeit, die verhaltene Leidenſchaft des Volkslieds ließ er gelten. Als
er in ſeiner Novelle „Lenz“ die Lieblingszeit der Jungdeutſchen, die Epoche
der Stürmer und Dränger behandelte, verſchmähte er jede Tendenz und
erzählte mit grauſamer Wahrhaftigkeit, mit einem unheimlichen congenialen
Verſtändniß, wie der ſtille Wahnſinn Herr ward über den Jugendfreund
Goethe’s. Noch ehe das Gedicht vollendet war, ſtarb er plötzlich, im Fe-
bruar 1836, wenige Tage nach Börne’s Tode, und der an Talenten ſo
arme deutſche Radicalismus verſäumte nicht, ſich mit dieſem Namen zu
brüſten. Der junge Herwegb beſang Büchner und Börne als die deut-
ſchen Dioskuren.
Gleich Büchner hing auch Fürſt Pückler-Muskau nur mittelbar mit
dem Jungen Deutſchland zuſammen, mehr durch die Verwandtſchaft der
Geſinnung, als durch perſönlichen Verkehr. Indeß hatte er im Salon der
Rahel ſeine Gabe liebenswürdiger Plauderei zum Virtuoſenthum ausge-
bildet, und auf Varnhagen’s Rath ließ er die Briefe eines Verſtorbenen
erſcheinen, eine geiſtreiche Reiſebeſchreibung, die den Jugendſchriften Gutz-
kow’s oder Laube’s weit überlegen war; denn der vornehme Weltmann
hatte Vieles wirklich erlebt, was Jene nur erkünſtelten, er ſagte über die
Heuchelei der engliſchen Sitten manches treffende Wort, auch der leichte
ſpöttiſche Ton ſeiner anmuthigen Erzählung entſprach ſeinem Charakter, und
ſelbſt die Sprachmengerei, die er ſehr weit trieb, klang bei ihm nicht ſo
unnatürlich wie bei den jungdeutſchen Plebejern, weil die ariſtokratiſche
Geſellſchaft in der That noch in ſolchem Kauderwälſch zu reden pflegte.
Als vorurtheilsfreier Weltbürger, als Verächter der langweiligen ehrbaren
Mittelklaſſen, insbeſondere des preußiſchen Beamtenthums, wurde der
Fürſt anfangs von den Kritikern des Jungen Deutſchlands willkommen
geheißen. Auf die Dauer konnte er dem Fluche des Dilettantismus doch
nicht entgehen. Da er die Feder nur mit läßlicher Geringſchätzung führte,
ſo ſchrieb er ſich bald aus; ſeine wunderbaren Reiſeabenteuer in aller
Herren Ländern, die wahren wie die erfundenen, verſchafften ihm für kurze
Zeit einen Weltruf, ſchließlich begannen die Leſer der Weltgänge Semi-
laſſo’s und ſeiner zunehmenden Blaſirtheit ſelber müde zu werden. Was
er von ſchöpferiſcher Kraft beſaß, das zeigte er als Meiſter der Garten-
kunſt in den herrlichen Parkanlagen ſeiner Schlöſſer Muskau und Branitz.
Der Zank vor Schleiermacher’s Grabe war noch nicht verſtummt,
da rief ein neuer Todesfall die Kämpen des Jungen Deutſchlands ſchon
zu neuen Thaten auf. Im December 1834 erdolchte ſich Charlotte, die
ſchöne hochſinnige Gattin des jungen Poeten Heinrich Stieglitz; in einigen
hinterlaſſenen Zeilen ſprach ſie dem Gatten den Wunſch aus, er möge
„glücklicher werden im wahrhaften Unglück“, ſie ſchien zu hoffen, der un-
geheure Schmerz würde ihm das dichteriſche Vermögen, die tragiſche Leiden-
ſchaft ſtärken. Wer ſich auf Weiberherzen verſtand, konnte dieſen Selbſtmord
kaum räthſelhaft finden. Heinrich Stieglitz zählte zu jenen bedauerns-
28*
[436]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
werthen Mittelmäßigkeiten, die durch glänzend beſtandene Examina zu un-
berechtigtem Ehrgeiz verleitet werden; er übernahm ſich in künſtleriſchen
Plänen, denen ſeine Kraft nicht gewachſen war. Seine ſtolze junge Frau
theilte dieſe unfruchtbaren Qualen einige Jahre hindurch; dann ward ihr
klar, daß der Mann ihrer Wahl ihren Idealen nicht entſprach, und ſie
vermochte die Enttäuſchung nicht zu überleben. Um den Geliebten zu
ſchonen und vielleicht auch weil ſie ſelbſt in krankhafter Selbſttäuſchung be-
fangen war, verhüllte ſie dann die weiblichen Beweggründe ihres Ent-
ſchluſſes mit ſtarkgeiſtigen Worten. Gleich den meiſten Selbſtmorden war
auch dieſer der Schwäche, dem Kleinmuth entſprungen. Aber unmöglich
konnte eine ſo einfache Erklärung dieſer nach nervöſer Aufregung lechzen-
den Zeit genügen. Ganz Berlin betrachtete Charlotte Stieglitz als eine
Heldin und fand in ihrer That, die doch nur menſchliches Mitleid ver-
diente, die Offenbarung eines bisher unerhörten geiſtigen Opfermuthes,
ein literariſches Märtyrerthum, das der Duldergröße der kirchlichen Heiligen
gleich komme. Selbſt Rauch und andere ernſte Männer ließen ſich von
der allgemeinen Bewunderung hinreißen; Böckh feierte in griechiſchen
Diſtichen die neue Alkeſte, „die zum Heil des Gemahls freiwillig zum
Hades hinabſtieg.“ Theodor Mundt aber, der Freund des Hauſes, ſäumte
nicht, das gräßliche Ereigniß geſchäftlich auszubeuten; er ſetzte der Todten
ſofort ein biographiſches Denkmal, riß mit roher Hand alle Schleier hin-
weg von den ſtillen Schmerzen dieſer tief unſeligen Ehe. Dann reiſte
gar noch der Wittwer ſelbſt mit dem Dolche ſeiner Gattin durch Deutſch-
land und prahlte mit ſeiner eigenen Schande. In ſeinen nachgelaſſenen
Erinnerungen an Charlotte ſagte er: „Ihre letzten Zeilen ſind fortan mein
Diplom, meine höhere Promotion.“ Tiefe Gedanken konnte das Leid in
dieſem Schwächling nicht wachrufen; er iſt nach Jahren in Italien als
ein Reiſebeſchreiber gewöhnlichen Schlages geſtorben. Nicht die verzwei-
felte That ſelbſt, wohl aber der Widerhall den ſie weckte, war ein trau-
riges Zeichen der Zeit, ein Zeichen verſchrobener und durch Ueberbildung
unzarter Empfindungen.
Durch Charlotte’s Tod wurde Gutzkow zu ſeinem Romane Wally
angeregt. Mit dieſem Werke — ſo ließ ſich der Chor der jungdeutſchen
Kritik alsbald vernehmen — wagten die neuen Stürmer und Dränger
ihren kühnſten Wurf, wie einſt die alten mit Heinſe’s Ardinghello. Aber
welch ein beſchämender Abſtand! Bei Heinſe die nackte, unverfälſchte
Natur, lodernde Sinnlichkeit, leibhaftige Geſtalten und eine Kunſt lieb-
licher Erzählung, die den Leſer über den frevelhaften Inhalt leicht hin-
wegtäuſchte; dazu in den eingewobenen Kunſtbetrachtungen manche gute
Gedanken, würdig einer Zeit, welche an die Schönheit noch begeiſtert glaubte.
Bei Gutzkow nur ein Wuſt von Reflexionen, unreife, altkluge Redereien
über die Rechte des Fleiſches, die Unnatur der Ehe, die Thorheit des
Chriſtenthums; dazwiſchen hinein ein lendenlahmer, gelangweilter Held
[437]W. Menzel und die Jungdeutſchen.
und eine ebenſo abgeſchmackte, blaſirte Heldin, die ſich ihrer weiblichen
Schamhaftigkeit als eines Vorurtheils ſchämt und dann vor ihren Ge-
liebten nackt hintritt um ſich mit ihm ſymboliſch zu vermählen, während
ſie zugleich mit einem ungeliebten Manne die Ehe eingeht; zum Schluſſe
natürlich ein Selbſtmord. Und dieſe ekelhafte Schmutzerei ohne jeden
Hauch kräftiger Leidenſchaft, ohne ein einziges natürliches Wort.
Ein ſolches Uebermaß unſauberer Frechheit konnte in einem ſittlichen
Volke nicht ohne Widerſpruch hingehen. Im September 1835 eröffnete
Wolfgang Menzel in den Spalten ſeines Stuttgarter Literaturblattes den
Kampf gegen das Junge Deutſchland. Er zählte zu den eifrigſten Mit-
gliedern der württembergiſchen Oppoſition, war Dutzbruder von Welcker
und vielen anderen ſüddeutſchen Kammerrednern, hatte an der Boller
Adreſſe der ſchwäbiſchen Liberalen eifrig mitgewirkt*) und ſich auch der
mißhandelten Juden oft mit Wärme angenommen; doch er hielt feſt an
ſeinem evangeliſchen Glauben und ließ ſich durch die Weisheit der Zei-
tungen nicht beirren in der Einſicht, daß Frankreich ſinke, Deutſchland
ſteige. Als er nun aus Gutzkow’s Wally das undeutſche, unchriſtliche
Weſen des Jungen Deutſchlands klar erkannt hatte, da brach er los in
ſeiner groben, hochmüthigen, polternden Weiſe, aber mit ehrenwerthem
Muthe; er mußte ja wiſſen, daß die Mehrzahl ſeiner liberalen Partei-
genoſſen der Kirche halb entfremdet war und ihm ſeine Vertheidigung des
Chriſtenthums leicht verdenken konnte. Im Verlaufe des langen Streites,
als ein Wort das andere gab, ſprach er endlich offen aus: das vaterlands-
loſe Judenthum zerſetze und zerſtöre alle unſere Begriffe von Scham und
Sittlichkeit, und wenn der Pöbelwahn des Mittelalters die Juden fälſch-
lich der Brunnenvergiftung beſchuldigt hätte, ſo müſſe die alte Anklage
jetzt mit vollem Rechte auf dem Gebiete der Literatur erneuert werden.
Mit moraliſcher Entrüſtung allein laſſen ſich die Verirrungen der
Kunſt nicht bekämpfen. Gefährlicher als Menzel’s grundproſaiſche Sitten-
predigten wurde dem Jungen Deutſchland der äſthetiſche Widerſpruch, der
ſich aus dem Kreiſe der ſchwäbiſchen Sänger erhob.
alſo ſang Juſtinus Kerner mit gerechtem Stolze. Wie die Schwaben einſt
gegenüber der phantaſtiſchen Ueberſchwänglichkeit der Schlegel’ſchen Romantik
ihre proteſtantiſche Verſtandesklarheit tapfer behauptet hatten, ſo wieſen ſie
jetzt die Künſtelei des neuen Feuilletonſtiles tapfer zurück und bewahrten
ſich den Wohllaut des Verſes, den Adel der lyriſchen Kunſtformen, die
natürliche Unſchuld unverbildeter Sinnlichkeit. Ihre Muſe
[438]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
wie Guſtav Schwab mit liebenswürdiger Beſcheidenheit ſagte. Unter dem
jungen Nachwuchs, der ſich um die beiden Patriarchen Uhland und Kerner
ſchaarte, beſaß nur Einer, Eduard Mörike, die wunderſame Gabe Alles
durch den Glanz der Poeſie zu verklären; aber auch den beiden Pfizer,
auch Schwab und Karl Mayer gelang in guten Stunden zuweilen eine
friſche Ballade, ein geiſtvolles Sinngedicht oder ein wohlgeſtimmtes Natur-
bild, und ſie Alle betrachteten die Poeſie nicht, wie die weltſchmerzfrohen
Jungdeutſchen, als einen quälenden Fluch, ſondern als eine lichte Himmels-
gabe, die den Dichter ſelbſt beglücken und ihn befähigen ſollte, auch Andere
beglückend über das Wirrſal des Lebens emporzuheben. Fröhliche Stunden,
wenn die ſchwäbiſchen Poeten beim Schoppen zuſammenſaßen und die beiden
jungen öſterreichiſchen Dichter Lenau und Auersperg oder die Gebrüder
Adolf und Auguſt Stöber aus Straßburg, die tapferen Vorkämpfer deutſcher
Sprache und Dichtung in der verwälſchten Weſtmark, zum Beſuch herüber-
kamen. Hier war deutſches Leben, deutſche Kunſt und Laune; wie proſaiſch
erſchien daneben die Betriebſamkeit der Gedankenverfertiger am Theetiſch der
Rahel oder gar das alberne Griſetten-Gekicher bei Heine’s kleinen Diners.
Darum hielt ſich Guſtav Pfizer berechtigt, im Namen der deutſchen
Kunſt gegen Heine und ſeine Gefolgſchaft zu Felde zu ziehen. In ſeinem
poetiſchen Schaffen war er ſehr ungleich, die ſpröde Form wollte ſich dem
reichen Gedankengehalt der meiſt betrachtenden Gedichte nicht immer fügen,
nur einzelne ſeiner Geſtalten, wie der Hermes Pſychopompos, traten „ewig
ſchön und ewig heiter“ vor das Auge des Leſers; doch er beſaß ein ſicheres,
durchgebildetes Verſtändniß für das Schöne, und Niemand durfte den
Bruder Paul Pfizer’s, den erklärten Liberalen, des politiſchen Parteihaſſes
beſchuldigen, als er in Cotta’s neuer Deutſchen Vierteljahrsſchrift (1838)
die äſthetiſchen Sünden des Jungen Deutſchlands mit würdigen, gemeſſenen
Worten ſchonungslos aufwies. Was ſei die gerühmte reizende Verwirrung
des Heiniſchen Feuilletonſtiles denn anders als ein läppiſcher Verſuch, die
längſt durch Leſſing feſtgeſtellten Grenzen von Poeſie und Proſa wieder
einzureißen? und was anders als die Zerſtörung aller Schönheit müſſe
erfolgen, wenn die jungen Poeten ſich im Wetteifer die Haare zurückſtrichen
um ihre Faunenohren und Satyrshörner recht zu zeigen? Ganz Schwaben
ſtimmte ihm zu. Selbſt der junge Aeſthetiker Viſcher, ein hitziger Radi-
caler in Politik und Religion, wollte den geſunden Schönheitsſinn ſeines
Stammes nicht verleugnen und ſprach ehrlich aus, ſolche Werke der Re-
flexion wie die Novellen von Gutzkow oder Laube ſeien überhaupt keine
Poeſie. Es war das Verdienſt der Schwaben, daß das Junge Deutſch-
land niemals in unſerem Oberlande Fuß faßte, ſondern immer nur ein
Sumpfgewächs der großen Städte des Nordens blieb. Und dieſer ſieg-
reiche Widerſtand der nationalen Empfindung gegen die jüdiſch-franzöſiſche
Zwitter-Literatur ging von demſelben liberalen Süden aus, der die poli-
tiſchen Heilslehren der Franzoſen ſo willig aufnahm. Daraus ergab ſich
[439]Einſchreiten des Bundestags.
die tröſtliche Gewißheit, daß auch das politiſche Wälſchthum dieſen kern-
deutſchen Stämmen doch nur die Haut geritzt hatte, und der deutſche Geiſt
die conſtitutionellen Ideen dereinſt noch umgeſtalten würde. Aber wer hätte
damals ſolche Hoffnungen ausſprechen können? Alle Welt ſuchte ja noch
die Stärke der Süddeutſchen da wo ihre Schwäche lag, in dem wälſchen
Wortgepränge ihrer Kammern.
Da Menzel’s Literaturblatt wegen ſeiner hochkirchlichen Richtung in
den conſervativen Kreiſen viel geleſen wurde, ſo erregte ſein Angriff an
den Höfen großes Aufſehen und beſchleunigte das ſchon längſt beabſichtigte
Einſchreiten des Bundestags. Unglücklicherweiſe hatte Wienbarg, als er
den Namen des Jungen Deutſchlands aufbrachte, nicht gewußt oder nicht
bedacht, daß bereits ein anderes Junges Deutſchland beſtand, jener revo-
lutionäre Geheimbund von Flüchtlingen und Handwerksburſchen, der mittler-
weile in der Schweiz unter Mazzini’s Oberleitung entſtanden war.*) Dies
Junge Deutſchland war den Frankfurter Demagogenverfolgern nur zu wohl
bekannt, und wie nahe lag doch der allerdings ganz grundloſe Verdacht, daß
die beiden gleichnamigen Verbindungen irgendwie zuſammenhängen müßten.
Eben jetzt war der ruchloſeſte der zahlreichen Mordanſchläge gegen Ludwig
Philipp mißlungen. Die Höllenmaſchine Fieschi’s verbreitete Schrecken in
ganz Europa; ſtrenger denn je wurden die Umtriebe der Demagogen über-
wacht. Da forderten Wienbarg und Gutzkow durch ein großſprecheriſches
Manifeſt alle freigeſinnten Schriftſteller Deutſchlands auf, mitzuwirken bei
einer Deutſchen Revue, welche Schiller’s Horen und die Revue des deux
Mondes zugleich überbieten ſollte. Wie hätte der Deutſche Bund nach Allem
was er gegen die politiſche Preſſe gethan, dies Unternehmen dulden können?
Der neue preußiſche Bundesgeſandte General v. Schöler, ein Kenner der
Literatur, gab dem Bundestage eine wenig ſchmeichelhafte, aber treffende
Schilderung von dem Charakter dieſer neuen Literatur, die im Grunde
nur die Lehren der Encyclopädiſten wiederhole, doch „den Mangel an
wahrem Witz und an Neuheit der Gedanken durch Gewandtheit des Aus-
drucks und freche Verhöhnung des Heiligſten zu erſetzen verſtehe“. Am
11. Dec. 1835 übernahmen ſodann, auf Oeſterreichs Antrag, alle Re-
gierungen die Verpflichtung, die Verbreitung der Schriften des Jungen
Deutſchlands mit allen geſetzlichen Mitteln zu verhindern.**) Der Beſchluß
war nach Bundesbrauch wieder ſo unbeſtimmt gehalten, daß Hannover
einige Monate nachher anfragte, ob denn wirklich alle Schriften der Jung-
deutſchen, auch die älteren, verboten werden ſollten. Schöler erwiderte, ſo
ſchlimm ſei es nicht gemeint; aber ein erläuternder Beſchluß kam nicht zu
Stande.***)
Alſo blieb Alles den Einzelſtaaten überlaſſen, und dieſe verfuhren
[440]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
nach Gutdünken, die meiſten ſehr mild. Da und dort ſchritt man ein
wider einzelne Bücher der Jungdeutſchen; in Preußen wurde ſogar der
geſammte Verlag der Hamburger Firma Hofmann und Campe, die Heine’s
Schriften herausgab, einige Jahre lang verboten. Aber die Ausführung
der Verbote geſchah überall ſehr ſaumſelig und unterblieb endlich ganz. Die
einzigen Schriften des Jungen Deutſchlands, nach denen die Leſewelt ver-
langte, die Werke Heine’s und Börne’s, gelangten faſt unbehelligt in Jeder-
manns Hände. Von einer ernſthaften Verfolgung war keine Rede; die
jungdeutſchen Literaten kamen ungleich glimpflicher davon als die Heraus-
geber der unterdrückten politiſchen Zeitungen. Trotzdem fuhr Heine fort den
unglücklichen Verbannten zu ſpielen und verglich ſich mit Dante, der auch
das ſalzige Brod der Fremde habe eſſen müſſen. Nur Gutzkow mußte
etwas ſchwerer büßen, er wurde von dem Mannheimer Hofgerichte zu
kurzer Haft verurtheilt, weil ſeine Wally unbeſtreitbar eine „verächtliche
Darſtellung der chriſtlichen Religion“ enthielt.
Wie erträglich auch dieſe Leiden waren, ſo genügten ſie doch die Häupter
des Jungen Deutſchlands mit dem Heiligenſcheine des Martyriums zu
zieren. Wer mit dem Bundestage in Händel gerieth behielt vor der öffent-
lichen Meinung immer Recht; und war es denn nicht eine tief beſchämende
Erfahrung, daß ſogar die ſchöne Literatur, die ſich in Deutſchland jeder-
zeit unbeſchränkter Freiheit erfreut hatte, jetzt der Willkür der Polizei unter-
worfen wurde? Darum trat der Heidelberger Paulus, der Anwalt aller
Verfolgten, für Gutzkow’s Wally in die Schranken. An den gewundenen
Sätzen merkte man freilich, wie ſchwer es dem alten Rationaliſten fiel das
durchaus atheiſtiſche Buch in Schutz zu nehmen; auch andere Vertheidiger
Gutzkow’s begnügten ſich mit der ſchmeichelhaften Behauptung, dieſer Roman
könne Niemand verführen. Die Mehrzahl der Verfolgten ſelbſt zeigte den
Regierungen gegenüber wenig Heldenmuth. Soeben hatten ſie ſich noch
prahleriſch vermeſſen, die bürgerliche Geſellſchaft aus ihren Angeln zu heben;
jetzt betheuerten ſie demüthig, wie harmlos ihre Geſinnung, wie gering ihr
Wirkungskreis geweſen ſei. Heine richtete an den Bund ein Schreiben, das
er ſelbſt vor Freunden einen „kindlich ſyruplich ſubmiſſen Brief“ nannte;
darin berief er ſich „auf das Beiſpiel des Meiſters, des hochtheueren
Mannes Martin Luther“, und verſicherte „in tiefſter Ehrfurcht“, er werde
immer den Geſetzen ſeines Vaterlandes gehorchen. Der Bundestag aber
kannte ſeinen Mann und legte die Eingabe als ungeeignet zu den Akten.*)
Auch an Metternich ſendete Heine — mit dem gleichen Erfolge — die
unterthänige Bitte, das ſiegreiche Oeſterreich möge großmüthig ſein und
ihn aus ſeinem Elend ziehen.**)
Zaghaft vor den Behörden, ergoſſen die Jungdeutſchen ihren ganzen
Zorn über Menzel’s Haupt. Er allein ſollte ſchuld ſein an der Ver-
[441]Börne, Heine und die Schwaben.
folgung; und doch hatte er lediglich ſeine Pflicht als Kritiker gethan und
nur mit den ehrlichen Waffen literariſcher Polemik gefochten. Die Maß-
regeln des Bundestags billigte er keineswegs; auch ſeine derbe Sprache
war anſtändiger als die hämiſchen Verdächtigungen, mit denen die Ge-
noſſen des Jungen Deutſchlands ihre Gegner zu beſudeln pflegten. Den-
noch blieb er fortan fünf Jahre lang die Zielſcheibe für den Haß der radi-
calen Literatur. Börne verdrehte ihm das Wort im Munde und ſchrieb
das Büchlein „Menzel der Franzoſenfreſſer“, obgleich Menzel die Fran-
zoſen durchaus nicht angegriffen, ſondern vielmehr dem vaterlandsloſen
Deutſch-Juden den verdienten Vorwurf zugeſchleudert hatte: niemals würde
ein Franzoſe ſo tief ſinken, ſein eigenes Volk vor Fremden in fremder
Sprache zu beſchimpfen. Die Schrift war Börne’s Schwanengeſang und
wurde einige Jahre hindurch ſelbſt in den Schulen als ein Meiſterwerk
geprieſen; ſie bewies indeß nur, daß der Radicalismus dieſes Mannes
ſchlechterdings keinen anderen Inhalt hatte als die öde Verneinung und
die Wuth gegen alle Andersdenkenden. „Iſt das ein braver Mann — hieß
es da — der ſeine Geſinnung gegen ein öſterreichiſch Lächeln, eine preußiſche
Schmeichelei, ein bairiſches Achſelklopfen und ein jeſuitiſches Lob verkauft?“
Und wieder: „Darum iſt ein Feind Gottes, der Menſchheit, des Rechtes,
der Freiheit und der Liebe wer Frankreich haßt oder es läſtert aus ſchnöder
Gewinnſucht.“ Daß ein Deutſcher auch noch andere Gründe haben konnte
das begehrliche Kriegsgeſchrei der Pariſer ſcharf zurückzuweiſen, kam dem
Fanatiker gar nicht in den Sinn. Auch ein Schmerzensſchrei um das freie,
jetzt von den Bundestruppen geknechtete Frankfurt fehlte nicht: die Frank-
furter ſind Juden neben den chriſtlichen Oeſterreichern und Preußen, ſie
müſſen vor ihnen Mores machen!
Noch unredlicher verfuhr Heine. Er hatte einſt mit Menzel und Jarcke
in der Bonner Burſchenſchaft zuſammengelebt und kannte ihre ſtreng kirch-
liche Geſinnung. Sein Scharfſinn konnte ſich nicht darüber täuſchen, daß
der gegenwärtige Kampf eine Nothwendigkeit war, daß die romantiſchen
und die radicalen Elemente, welche die alte Burſchenſchaft umſchloſſen hatte,
ſich jetzt trennen mußten. Er mußte wiſſen, daß Menzel durchaus ehrlich han-
delte; gleichwohl gab er ſeiner Entgegnung den lügneriſchen Titel: „wider
den Denuncianten.“ Weit vom Schuſſe wie er war, ließ er allen un-
fläthigen Neigungen ſeiner Falſtaffs-Natur die Zügel ſchießen und nannte
den Gegner einen Mouchard, einen Ehrloſen, einen Infamen, einen
Gauner, einen Schurken, eine Memme. Er erreichte ſeinen Zweck; denn
in ſolchen Tagen, die ſich überall durch den Druck der Polizei gequält
fühlten, wirkte kein Schimpf furchtbarer als die Beſchuldigung der Denun-
ciation. Heine’s empörende Verleumdung wurde alsbald von der geſammten
liberalen Preſſe aufgenommen und trotz ihrer handgreiflichen Unwahrheit
ſo hartnäckig wiederholt, daß ſie ſich noch heute in den meiſten Literatur-
geſchichten wiederfindet.
[442]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
In dem „Schwabenſpiegel“, den er gegen Pfizer hinausſendete, brauchte
Heine einen anderen, ebenſo wirkſamen Kunſtgriff. Da die beiden größten
Dichter des Südens, Uhland und Rückert, an den Kämpfen nicht per-
ſönlich theilnahmen, ſo ſuchte er den Streit ſo darzuſtellen, als ob nur
die neidiſche Mittelmäßigkeit kleiner Poeten gegen ſein eigenes überlegenes
Talent, das zimperliche Spießbürgerthum des Oberlandes gegen die freie
ſtarkgeiſtige Weltanſchauung des Nordens ſich auflehnte. In Wahrheit
kämpfte die ſüddeutſche Poeſie gegen den jüdiſchen Witz. Nicht die mora-
liſche Splitterrichterei, die dem lebensfrohen Volke unſeres Südens allezeit
fremd war, ſondern der äſthetiſche Widerwille führte den Schwaben die
Feder. Eine Schwäche der ſchwäbiſchen Dichter ließ ſich freilich nicht ver-
kennen: wenn das Junge Deutſchland völlig in der Tendenz aufging, ſo
ſtanden ſie den Leidenſchaften des Tages allzu fern, ihre ſinnige, friedliche
Dichtung vermochte die Gedanken einer gährenden und kämpfenden Zeit
nicht zu erſchöpfen. Dieſen Mangel wußte Heine gewandt auszubeuten;
denn die Kunſt mit Halbwahrheiten diaboliſch zu ſpielen war das Einzige
was er mit ſeinem Abgott Napoleon gemein hatte. Er ſchilderte die
Schwaben als eine täppiſch ſpielende Kinderſchaar und brachte alſo einen
Theil der Lacher auf ſeine Seite. Die radicale Jugend vollends war durch
die Spöttereien der neuen Literatur ſchon ganz verwildert; ſie konnte ſogar
lachen, wenn Heine von den Kackſtühlchen der ſchwäbiſchen Dichter ſprach
oder ſeinen Gegner Pfizer unnatürlicher Sünden beſchuldigte. Immerhin
war die Hochfluth der radicalen Feuilletons ſchon vorüber. Die ſchwächeren
Talente des Jungen Deutſchlands geriethen bald in Vergeſſenheit; die
lebensfähigen, Gutzkow und Laube, begannen in der Stille ſich zu ſammeln
und ſühnten ſpäterhin die Thorheiten ihrer Jugend durch reifere Werke.
Gutzkow ſchrieb noch während ſeiner Haft ein Büchlein über Philoſophie
der Geſchichte, das, reich an hohlen Redensarten, doch ſchon den Anfang
ſeiner Selbſtbeſinnung bezeichnete.
Die Pariſer Kolonie der Jungdeutſchen aber zeigte der Welt erſt ihr
wahres Geſicht, als ihre Genoſſen unter einander in Händel geriethen.
Börne und Heine hatten ſich nie recht vertragen, zwiſchen dem doktrinären
Starrſinn und der geſinnungsloſen Leichtfertigkeit war keine Verſtändigung
möglich. Börne ſprach ſich darüber ehrlich aus, Heine dagegen vermied
den ritterlichen Kampf; er entledigte ſich ſeines lang angeſammelten
Grolles erſt, als Börne geſtorben war und der franzöſiſche Republikaner
Raspail den Helden der internationalen Demokratie in ſchwungvoller
Leichenrede gefeiert hatte. Zum dritten male, wie einſt nach dem Tode
Schleiermacher’s und der Charlotte Stieglitz, bekundete das Junge Deutſch-
land ſein menſchliches Zartgefühl vor einem friſchen Grabe. Heine’s Schrift
über Börne ſagte wieder manche geiſtreiche Halbwahrheiten; der Ton war
aber ſo hämiſch, ſo gemein, daß nunmehr auch die liberale Preſſe in Zorn
gerieth. Die Conſervativen und die Dichter mochte der liberale Ariſto-
[443]Rückert im Alter.
phanes nach Belieben beſchmutzen; daß er ſich an einem Volkstribunen
verging, war unverzeihlich. Grimmige Schriften und Zeitungsaufſätze flogen
herüber und hinüber. Der Zank ward völlig ekelhaft; die berufene Fehde
zwiſchen Voß und Stolberg erſchien daneben wie ein liebevoller Gedanken-
austauſch. Als nun gar Börne’s Freundin Frau Wohl ihre Briefmappen
öffnete und geſchäftig Alles auskramte was Börne je vertraulich über Heine
geäußert hatte, da zogen alle Düfte des Ghettos in dicken Schwaden über
Deutſchland hin, und mancher ehrliche Germane begann jetzt erſt einzu-
ſehen, vor welchen Götzen er einſt gekniet hatte. —
Zeiten des literariſchen Kampfes ſind der Lyrik ſelten günſtig. Nur
Wenige verſtanden wie Rückert den ſtillen Blumengarten ihrer Dichtung
vor der ſchneidenden Zugluft des Tages ſorgſam einzuhegen. Die Form-
loſigkeit der Feuilleton-Poeſie erſchien dem Meiſter der Verskunſt ebenſo
verächtlich, wie ihr Geſpött und ihre „unzüchtigen Gebärden“ ſeinen frommen
Sinn anwiderten. Er wußte, daß alles Menſchenleben „von Gott zu Gott“
führt, daß die Natur nur die Amme des Geiſtes iſt: „ſie nährt ihn bis
er fühlt, daß er von ihr nicht ſtamme.“ Solche Geſinnungen erfüllten
ihn, als er die geheimnißvolle Welt ſeiner inneren Erfahrungen und Er-
lebniſſe in der „Weisheit des Brahmanen“ zuſammenfaßte. Da ſchien es
wohl zuweilen, als ob der Dichter in die beſchauliche Ruheſeligkeit des
Orients ganz verſänke, aber immer wieder brach der freie Weltſinn des
Abendländers durch, und hoch über aller Weisheit Indiens ſtand ihm das
königliche Gebot der chriſtlichen Liebe. Die Fahrten in das Morgenland
entfremdeten ihn der Heimath nicht. Mit der alten unverwüſtlichen Sanges-
luſt fuhr er fort ſich ſein ganzes Leben zum Kunſtwerk zu geſtalten; jedes
Begebniß des Tages umſpann ſeine Phantaſie mit ihren goldenen Fäden.
Alles ward ihm zum Gedichte, mochte er nun dem Flüſtern des Windes
lauſchen oder ſeinen Kindern Märchen erzählen, oder ſeinem Jonathan,
dem Erlanger Philologen Kopp ſeinen Hausſegen ſenden. Oft grollte er ins-
geheim den Landsleuten, weil ſie hinter ſeinen orientaliſchen Formenſpielen
das weite deutſche Herz, dem nichts Menſchliches fremd blieb, ſchwer er-
kannten, und auch ſeine heimathlichen Gedichte nicht ſangbar, alſo nicht
wahrhaft volksthümlich finden wollten; doch niemals hätte ſich ſein Künſtler-
ſtolz herabgelaſſen, um die Gunſt des Haufens zu buhlen. Ueber den
Zeitungsruhm der Götzen des Tages ſagte er noch im Alter frei und groß:
[444]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Auch Chamiſſo gehörte noch zu dem alten Adel unſerer Literatur,
der auf das lärmende Selbſtlob des neuen Geſchlechtes ſtolz herabſah.
Wenn der ernſte Mann mit den tiefdunklen Augen und den langen weißen
Locken einſam durch die Straßen Berlins ſchritt, da betrachteten ihn die
jungen Literaten verwundert wie ein Geſpenſt aus einer längſt verſunkenen
Zeit, obwohl er doch eben erſt das fünfzigſte Jahr überſchritten hatte und
jetzt erſt, nach dem Erſcheinen ſeiner geſammelten Gedichte, die Höhe ſeines
Künſtlerruhms erreichte. Lebendig mit den Lebendigen, wie er immer ge-
weſen, beſang er auch jetzt noch manche der politiſchen Umwälzungen der
Zeit und verkündete ſeine Freude über den Sturz der bourboniſchen Pfaffen-
herrſchaft in feurigen Verſen; doch zur Magd der Partei wollte er ſeine
freie Muſe nicht entwürdigen. „Verklagt die Mitwelt bei der Nachwelt
nicht“ — ſo rief er warnend den ſchmähſüchtigen jungen Poeten zu. Wie
fühlte er ſich heimiſch in dem Hauſe ſeines Preußenlandes, das auf dem
Felſen der Liebe feſt begründet ſtand; ehrwürdig war ihm der König,
„aus Gold der Treue ſchmiedend ſeine Krone“. Als er noch in der Kraft
der Mannesjahre ſtarb (1839), hatte ſein dankbares Herz nur die Em-
pfindung, daß ihm das Leben Alles geboten habe was es an Liebe bieten
könne, und mit den Worten „ich liebe wohl geliebt zu ſein“ nahm er
Abſchied von dieſer ſchönen Welt.
Wie anders endete Platen (1835). Er ſtarb, nach ſeiner Ahnung,
„wie Ulrich Hutten, verlaſſen und allein“, in einem jener üppigen Blumen-
gärten, die da und dort auf der meerumrauſchten öden Trümmerſtätte
des alten Syrakus in den verlaſſenen Steinbrüchen tief eingebettet liegen.
Aber nur traurig, nicht tragiſch war ſein Ausgang. Nicht das treuloſe
Schlachtenglück hatte ihn, wie jenen Kriegshelden des Schwertes und der
Feder, aus der Heimath hinweggeſchleudert. Nur der unfruchtbare Miß-
muth ſeines ſtolzen Herzens trieb ihn unſtät im fernen Süden umher,
und doch wollte das Land „des Antichriſts“, des Papſtes dem ſtrengen
Proteſtanten nie recht vertraut werden. Das Tagewerk ſeines Lebens war
gethan, obwohl er ſich noch mit dem kühnen Plane eines Hohenſtaufen-
Epos trug. Seine dichteriſche Kraft begann zu verſiegen; in ſeinen letz-
ten Hymnen, die er ſelbſt für ſeine beſten Werke hielt, ward die vollendete
Kunſt des Versbaus ſchon zur Künſtelei.
Unterdeſſen trat Eduard Mörike als Lyriker auf, der begabteſte aus
dem Nachwuchs der ſchwäbiſchen Dichterſchule, ein naiver Geiſt, der in
dieſen Tagen der Ueberbildung und des Streites wie ein Wunderkind er-
ſchien — recht eigentlich ein zeitloſer Dichter, in Allem das Widerſpiel
des Jungen Deutſchlands. Er war ganz Natur; in der poetiſchen Stim-
mung und Anſchauung ging er völlig auf, Leidenſchaft und Gefühlsſelig-
keit lagen ihm eben ſo fern wie Rhetorik und Tendenz. Schon als Stu-
dent floh er das laute Treiben der Welt und lauſchte im Walde in dunk-
ler Brunnenſtube dem Murmeln der jungen Quelle oder er verſammelte
[445]Mörike. Anaſtaſius Grün.
einen Orden vertrauter Genoſſen in einem ſtillen Weinbergshäuschen auf
dem Oeſterberge und erzählte wunderſame Mären von Orplid, der ver-
laſſenen Stadt der Götter. Dann lebte er als Pfarrer in einem Dorfe
des Unterlandes, wo Schiller’s Mutter auf dem Kirchhofe begraben lag,
mitten in den Rebgärten des Neckarthals, ſo recht in der Heimath ſchwä-
biſcher Sage und Sangesluſt; und wenn er dort über ſeinen geliebten
Alten ſaß oder träumend im Walde wanderte und die Vögel aus ihren
Kehlen „richtige Gold- und Silberfäden zogen“, dann fühlte er — nicht
oft, aber immer mit der ganzen Macht unmittelbarer Eingebung — wie
der Genius in ihm jauchzte, dann wußte er was es heiße „Gott ſelbſt zu
eigen haben auf der Erde“. Ihm ſelber galt der Spruch, den er einſt
auf eine vergeſſene kunſtvolle Marmorlampe ſchrieb:
Jedem ſeiner Leſer blieb als letzter Eindruck das Gefühl, wie glücklich
der Mann war, der alſo dichten konnte. In die Welt der Geſchichte wagte
er ſich nicht hinaus, ſelbſt politiſche Geſpräche waren ihm unheimlich. Nur
den einfachſten Empfindungen des Menſchenherzens galten ſeine Lieder
und Balladen, Idyllen und Sprüche; aber wie neu und eigenthümlich er-
klangen aus ſeinem Munde die tauſendmal beſungenen Geſchichten vom
verlaſſenen Mägdlein, von dem Knaben, der ſchön Rohtraut’s Mund ge-
küßt, von den entſchwundenen Freuden der Roſenzeit. Er gebot über die
ſangbaren Weiſen des deutſchen Volksliedes und vermochte doch, wie die
Idyllendichter der Hellenen, mit epiſcher Ruhe feſt umriſſene Geſtalten zu
zeichnen. Die geheimnißvoll lockende Sprache der Elemente war ihm ſo
vertraut wie nur dem jungen Goethe, dem Dichter des „Fiſchers“, und
faſt ebenſo vertraut die unendliche Sehnſucht der Alles hoffenden Jugend:
Durch die Wärme der Stimmung, die Urſprünglichkeit des Ausdrucks,
durch die heitere Freiheit ſeines ſchalkhaften Humors übertraf er zuweilen
ſelbſt Uhland. Als Künſtler blieb er hinter dem Alten zurück, denn ſeine
Muſe war ein Kind der Stunde; den Stoff zu runden und wirkſam ab-
zuſchließen, gelang ihr nicht immer. Darum konnten doch nur einzelne
ſeiner Lieder weit ins Volk hinaus dringen; die ſinnige Schönheit ſeiner
Dichtung war zu ſtill, zu eigenartig um von der Maſſe, die immer zuerſt
nach ſtofflichem Reize begehrt, verſtanden zu werden, ſie blieb immer nur
der Liebling eines andächtigen Kreiſes feinfühlender Kenner.
Ungleich ſtärkeren Widerhall erweckten die Spaziergänge eines Wiener
Poeten, die ein Sohn des öſterreichiſchen hohen Adels, der junge Graf
A. A. Auersperg im Jahre nach der Julirevolution erſcheinen ließ. Seit
den Befreiungskriegen und dem Wartburgsfeſte hatte ſich unſere politiſche
[446]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Lyrik ganz dem Auslande zugewendet, erſt die Spanier und die Griechen,
dann die Franzoſen und die Polen verherrlicht; Anaſtaſius Grün führte
ſie wieder in die Heimath zurück. Mit ihm begann die Fluth der patrio-
tiſchen Zeitgedichte; ſie ſchwoll ſtärker an, als gegen das Ende der dreißi-
ger Jahre für die Göttinger Sieben und das Hermannsdenkmal auf dem
Teutoburger Walde geſammelt wurde, und überſchwemmte im folgenden
Jahrzehnt den ganzen Büchermarkt. Von tiefen politiſchen Ideen beſaß
der Wiener Poet nichts; er ſchwärmte nur treuherzig für die Freiheit des
Wortes und der Gedanken, er neigte ſich in Ehrfurcht nicht blos vor dem
Abgott aller liberalen Oeſterreicher, Joſeph II., ſondern ſogar vor Kaiſer
Franz, und richtete ſeinen Zorn ausſchließlich gegen Metternich. An deſſen
Thüre ſah er einen „dürftigen Clienten“ ſtehn:
Aber gerade dieſe unbeſtimmte Begeiſterung für die Freiheit entſprach den
Geſinnungen der Zeit, und da Metternich für den Urheber alles deut-
ſchen Elends galt, ſo bemerkte man auch kaum, daß der Wiener nur ſein
Oeſterreich und die Stadt der Lerchen und des Doppeladlers im Auge
hatte, an Deutſchland nur ganz nebenbei dachte. Die Süddeutſchen vor-
nehmlich hießen ihn als Kampf- und Sangesgenoſſen willkommen; denn
er ſtellte ſeine Lieder mit Worten treuer Liebe unter Uhland’s Schutz,
ſeine friſchen bilderreichen Verſe verriethen überall den Einfluß der ſchwä-
biſchen Schule, und wie viel traulicher als der Hohn des Jungen Deutſch-
lands klang den Oberländern dieſe Sprache des Herzens. —
Den proſaiſchen Lebensformen der modernen Welt, den Intereſſen
und Gedanken der verwandelten Geſellſchaft vermochte die lyriſche Dichtung
längſt nicht mehr zu genügen. Was die neue Zeit an poetiſchem Gehalte
beſaß, konnte nur der Romandichter erſchöpfend ausſprechen, wenn er
in ungebundener Rede den Kämpfen und Widerſprüchen des wirklichen
Lebens nachging. Mochten die Aeſthetiker der Hegel’ſchen Schule immer-
hin verſichern, daß die Ideale der Gegenwart im Drama allein die voll-
endete künſtleriſche Geſtaltung empfangen müßten: die Erfahrung jedes
Tages ſtrafte ſie Lügen. Die äſthetiſche Empfänglichkeit eines Volkes läßt
ſich durch die Machtſprüche der Theorie eben ſo wenig meiſtern wie die
Geſtaltungskraft der Künſtler. Der Roman wurde in Deutſchland für
lange Jahre die zeitgemäße Form der Dichtung wie ein Jahrhundert zu-
vor in England.
Das zeigte ſich, als Karl Immermann nach langen Irrfahrten end-
lich den rechten Boden für ſein Schaffen fand. Von einem ſtrengen
Vater noch ganz im Geiſte des alten fridericianiſchen Staates erzogen,
war der ſtolze tapfere Niederſachſe von früh auf ſeines eigenen Weges
gegangen. Gleich ſeine erſte Schrift war eine That des Charakters.
Da er als Hallenſer Student einen mißhandelten Commilitonen gegen
[447]Immermann.
den Terrorismus einer Burſchenſchaft vertheidigte, rief er, allen Geſetzen
des Comments zuwider, in einer Streitſchrift das öffentliche Urtheil an
und brachte ſeine Beſchwerde bis vor die Stufen des Thrones; mochten
die Gegner ihn verhöhnen, er hatte in dem Feldzuge von Belle Alliance
wacker mitgefochten, ſeinen Muth durften ſie ihm nicht abſtreiten.*) Nach-
her lebte er lange als Richter, meiſt in Beamtenſtädten, faſt ohne künſt-
leriſchen Verkehr, und ging, wie Platen ſpottete, „Morgens zur Kanzlei
mit Akten, Abends auf den Helikon.“ So in tiefer Einſamkeit verſchlang
er die Kunſtwerke aller Zeiten und Völker, aber ſeine eigenen Dichtungen
gelangten trotz ſeiner raſtloſen Arbeitskraft noch nicht weit über den an-
empfindenden Dilettantismus hinaus. Keiner unſerer namhaften Dichter
hat ſo viel Verfehltes oder Halbgelungenes geſchaffen. Die zarte muſi-
kaliſche Stimmung des Lyrikers blieb ihm fremd. Seine Dramen wirkten,
bei manchen Vorzügen, doch nicht überzeugend und konnten ſich nicht lange
auf der Bühne behaupten; auch ſein Merlin, ein gedankenreiches Gedicht
Fauſtiſchen Stiles, ſchreckte ab durch myſtiſche Formloſigkeit. Der ſtarke,
wie zum Herrſchen geborene Mann trat im Geſpräche Jedem mit über-
legener Sicherheit entgegen; in ſeinen Werken erſchien er oft wie ein
ſklaviſcher Nachahmer, und zudem hegte er eine theoretiſche Vorliebe für
die Phantaſieſpiele des jungen Tieck, während ſeine eigene Anlage ihn doch
ganz auf die Darſtellung des wirklichen Lebens hinwies. Seinem kern-
haften Weſen lag in Wahrheit nichts ferner als romantiſche Ueberſchwäng-
lichkeit; mit ſüßlicher Frömmelei hatte ſein ſchlichter ernſter Gottesglaube
nichts gemein, und auch die ſentimentale Naturſchwärmerei der Zeit war
ihm ein Greuel. Er wußte aus der Geſchichte, daß die Blüthe der Menſch-
heit in den Alpen nicht gedeiht; er empfand an ſich ſelber, daß die höchſte
Pracht der Natur den Geiſt ebenſo leicht erdrücken wie erheben kann, und
ſagte ehrlich: „Ich kann nur mit der Natur Freundſchaft ſtiften, der ich
es anſehe, daß menſchliche Kräfte leicht und frei auf ſie einwirken können.“
Erſt als ihn ein freundliches Geſchick nach Düſſeldorf geführt hatte,
begann er ſich von dem angelernten Bombaſt zu befreien und fand ein
fruchtbares Arbeitsfeld auf dem Grenzgebiete zwiſchen Poeſie und Proſa.
Dort unter dem leichtlebigen Düſſelvölkchen, das noch von den pfälziſchen
Zeiten her Becherluſt und Mummenſchanz liebte, war ſeit der preußiſchen
Herrſchaft einer jener kleinen Culturheerde entſtanden, denen das deutſche
Leben ſeine Wärme dankt. Die neue Kunſtakademie ſtand auf der Höhe
ihres Ruhms, die Concerte leitete der junge Felix Mendelsſohn-Bartholdy.
Auf ſeinem Landgerichte traf Immermann zwei gleichgeſinnte Amtsgenoſſen,
den Kunſthiſtoriker Schnaaſe und den ernſten frommen Dichter Friedrich
v. Uechtritz. In dem kunſtſinnigen Hauſe des Geh. Raths v. Sybel ge-
noß er heitere Gaſtlichkeit und bald herzliche Freundſchaft; auch der Hof
[448]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
des Prinzen Friedrich von Preußen und die reichen Grundherren der
Nachbarſchaft belebten im Winter die Geſellſchaft. Es war ein friſches,
kräftiges Treiben, Werkeltag und Feſttag fröhlich verbunden, die Künſtler
faſt alle noch jung und ſeliger Hoffnung voll. Wenn Mendelsſohn ein
Muſikfeſt veranſtaltete oder die Maler einen Maskenzug aufführten, dann
zogen die neuen Dampfer im Flaggenſchmuck rheinab und rheinauf, lange
Wagenzüge bedeckten die ſchönen Straßen des volkreichen bergiſchen Lan-
des, tauſende von Schauluſtigen eilten herbei wie zum Carneval im nahen
Köln. In dieſen rheiniſchen Feſten kam der alte freie Humor unſeres
öffentlichen Lebens, der in der Stubenluft des letzten Jahrhunderts ganz
eingetrocknet war, zuerſt wieder zu ſeinem Rechte. Immermann aber
fühlte ſich in dieſem neuen ſchöneren Studentenleben erſt wahrhaft frei,
er wußte jetzt was er vermochte. Er trat an die Spitze des Düſſeldorfer
Theaters; denn er traute ſich’s zu, der verwilderten deutſchen Bühne
wiederzugewinnen, was ſie ſeit dem überhandnehmenden Virtuoſenthum
faſt verloren hatte: das geordnete, ſtreng geſchulte Zuſammenſpiel aller
Mitwirkenden und die lebendige Theilnahme der Beſtgebildeten der Nation.
Und wirklich bewährte er ſich als dramaturgiſcher Meiſter; ſeine Einſicht
und ſein eiſerner Wille brachte mit mittelmäßigen Schauſpielern Auffüh-
rungen zu Stande, welche den ſtrengſten Anforderungen genügten. Leider
währte dieſe glänzende Blüthe der Düſſeldorfer Bühne kaum drei Jahre,
da die Geldmittel der Stadt nicht auslangten.
In ſolchem Getümmel von Amtsgeſchäften und Theaternöthen, in einer
unruhigen Zeit, die nur dem fragmentariſchen Schaffen günſtig ſchien, fand
Immermann noch die Kraft ſich für ſeine beiden reifſten Werke zu ſam-
meln. Ein Glück für den Künſtler, daß die Tagespolitik ihn kalt ließ. Als
conſervativer preußiſcher Beamter war er mit der beſtehenden Ordnung
im Weſentlichen einverſtanden, obwohl ihre Mängel ſeinem ſarkaſtiſchen
Blicke nicht entgingen; der Zeitungslärm der Liberalen ekelte ihn an, und
von ſeinem Jugendfreunde Heine wandte er ſich ab ſeit er die Hohlheit
des neuen Radicalismus durchſchaut hatte. Frei über den Parteien ſtehend
wollte er in dem Romane „die Epigonen“ den Werdegang der Zeit dar-
ſtellen, und das Werk ward in der That als Geſchichtsbild noch bedeut-
ſamer denn als Dichtung. Wohl hatte der Dichter die alte Unart der
Reminiscenzen noch nicht ganz überwunden, die Anklänge an Wilhelm
Meiſter ließen ſich nur zu deutlich hören; und bis zum Unleidlichen wider-
wärtig erſchien an ſeinem Epigonen Hermann der faſt allen Romanhelden
gemeinſame Charakterzug der beſtimmbaren Schwäche. Aber wie tief und
geiſtvoll, Licht und Schatten gerecht vertheilend, ſchildert er den Umſturz
der alten Geſellſchaft: hier den alten Adel, der mitten im ſelbſtverſchul-
deten Untergange noch den äſthetiſchen Reiz der Vornehmheit behauptet,
dort das aufſtrebende Bürgerthum mit ſeinem tüchtigen Fleiße, ſeiner Proſa,
ſeiner phariſäiſchen Herzenshärtigkeit — Alles treu nach dem Leben, denn
[449]Die Epigonen. Münchhauſen.
dort im Weſten ragten überall ſchon die neuen Fabrikſchlote aus den Dächern
der Schlöſſer und der Klöſter empor. Ebenſo ſcharf, allerdings nicht ohne
Bosheit, werden die Narrenſtreiche der jugendlichen Demagogen und die
literariſche Ueberbildung der Berliner Geſellſchaft gezeichnet. Aus Alledem
ergab ſich ein wenig erfreulicher Geſammteindruck: dieſem Geſchlechte von
Epigonen war nach einer gewaltigen ſocialen und literariſchen Revolution,
nach der Zerſtörung aller überlieferten Begriffe und Geſellſchaftsformen
zunächſt nichts übrig geblieben als die ſchrankenloſe Freiheit des Einzel-
menſchen, die doch nichts Neues geſchaffen hatte; auf die Barbarei der
Unwiſſenheit war eine neue ärgere Barbarei gefolgt, ein Zuſtand geiſtiger
Anarchie, wo Alle Alles zu wiſſen glaubten. In ſolchen düſteren Bildern
ſpiegelten ſich weitverbreitete Stimmungen dieſer durchaus friedloſen Jahre
deutlich wieder. Nur an einzelnen Stellen ließ ſich errathen, daß die
Geſinnung des Dichters nicht ganz ſo hoffnungslos war wie der Titel
ſeines Romans; er fühlte doch, daß auch ſchöpferiſche Kräfte in der Zeit
arbeiteten, und deutete zuweilen an, die Majeſtät des Staatsgedankens
könne vielleicht noch in dieſer Trümmerwelt einen neuen Idealismus er-
wecken.
Zur freien Beherrſchung des Stoffs gelangte Immermann erſt in dem
Romane Münchhauſen. Hier rief er das geſammte geiſtige Leben Deutſch-
lands vor ſeinen Richterſtuhl und ließ den luſtigen Großmeiſter der Lüge
ſeine Pritſche ſchwingen über allen Ungerechten, unterweilen auch, nach
Dichterbrauch, über einigen Gerechten. Die Berliner Mutter Gans auf
dem Capitole des plattirten Liberalismus, der reine Begriff der Hegelianer,
Raupach’s dramatiſche Zopfgeflechte, Gutzkow’s welke Wally, Semilaſſo’s
blaſirte Weisheit, Bettina’s Koboldſtreiche, Görres’ jacobiniſche Kapuziner-
predigten, Juſtinus Kerner’s Poltergeiſter — der ganze literariſche Wirr-
warr der Zeit rauſchte in einem tollen Maskenzuge vor dem Leſer vorüber.
Leider fehlte dem Dichter die anmuthige Leichtigkeit des Scherzes; unter
ſeinen derben Händen ward das Komiſche nicht ſelten fratzenhaft, der Spaß
zu breit, der Spott grauſam. Um ſo lichter hob ſich von dem ſatiriſchen
Hintergrunde die Idylle des Oberhofes ab, ein treues, herzerwärmendes
Bild des ehrenfeſten, bei aller Selbſtſucht kerngeſunden weſtphäliſchen
Bauernlebens. Immermann ſah, daß die Empfindung in dieſen niederen
Schichten des Volkes doch immer gebunden bleibt und einen Zug unäſthe-
tiſcher Dumpfheit behält. Darum wies er mit ſicherem Kunſtgefühle ſeiner
Dorfgeſchichte die Stelle an, die ihr in der modernen Romandichtung allein
zukommt, die Stelle einer beſcheidenen, durch den Reiz des Contraſtes
wirkſamen Epiſode. Er wollte ſich auch ſein Hochdeutſch durch die wohl-
feilen Effecte des Dialekts nicht verderben, ſondern ließ nur zuweilen in
den Reden ſeiner Bauern die Volksſprache leiſe anklingen; und eben weil
er die grobſinnliche Wirklichkeit verſchmähte, erſchien die Geſtalt ſeines alten
Hofſchulzen ſo gewaltig, ſo poetiſch wahr inmitten der feingebildeten Geſell-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 29
[450]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſchaft. Erſtaunlich, wie dem Niederſachſen hier aus dem heimathlichen
Boden friſche Kraft zuſtrömte. Wie viel lebendiger war hier Alles als in
ſeinen romantiſchen Mantel- und Degenſtücken, wie viel zuverſichtlicher als
in den Epigonen ſprach er jetzt über ſeine „große, der Wunder volle Zeit“.
Brentano’s Erzählung vom ſchönen Annerl war einſt faſt unbemerkt
vorübergegangen; der Münchhauſen kam zur rechten Stunde (1838), grade
als die Nation, müde der romantiſchen Experimente und der jungdeutſchen
Tendenzen, nach Geſtalten von Fleiſch und Blut verlangte. Er wurde das
Vorbild für die neue Literatur der Dorfgeſchichten, die leider, ganz wider
des Meiſters Abſicht, bald den Anſpruch erhob für eine ſelbſtändige Kunſt-
gattung zu gelten. Die literariſchen Ausfälle des lügenſeligen Barons
verſtand man nach wenigen Jahren ſchon nicht mehr vollſtändig, und da
die ungeheuere Mehrzahl der Leſer immer nur die Theile, niemals das
Ganze eines Kunſtwerks ſieht, ſo durfte die Betriebſamkeit des Buchhandels
ungeſcheut, ſogar unter dem Beifall banauſiſcher Kritiker, ſich an der Dich-
tung verſündigen. Der ſatiriſche Theil des Romans, der dem Ganzen Sinn
und Namen gab, wurde einfach herausgeworfen, und die Idylle vom Ober-
hofe, wohl ausgeflickt durch einzelne Lappen des anderen Theiles, allein
dem Büchermarkte dargeboten. In dieſer verſtümmelten Geſtalt ward der
Münchhauſen ein dauerndes Beſitzthum der Nation. Die Geſchichte aber,
die auch im Künſtler den Helden ehrt, hält das Bild des ganzen Mannes
feſt, ſo wie er war, nicht verſchwenderiſch begabt, oftmals irrend, doch
raſtlos wuchernd mit ſeinem Pfunde und immer den höchſten Zielen zu-
gewendet. Ihm bleibt der Ruhm, daß er in ſeinen beiden Romanen ſeinem
Zeitalter den Spiegel vorhielt, wie vordem Goethe im Wilhelm Meiſter
und nachher Freytag im Soll und Haben. Nur wer dieſe Zeitromane kennt,
verſteht den inneren Zuſammenhang der drei Epochen unſerer neueſten
Geſchichte.
Durch die Liebesgeſchichte des Oberhofs klang ein zarter, inniger Ton,
der Immermann’s früheren Werken abging; denn während ſeine Künſtler-
kraft ſich läuterte, ward er auch im Leben freier und glücklicher. Jahre-
lang hatte er mit einer älteren Frau, der Gräfin Ahlefeldt, oft beglückt,
öfter gepeinigt, eines jener unklaren Liebesverhältniſſe unterhalten, welche
in den Kreiſen der romantiſchen Dichter als Kennzeichen des Genies galten.
Da ergriff ihn übermächtig die Neigung für ein einfaches Mädchen.
ſo rief er der Geliebten zu, und ſchrieb in der Glückſeligkeit ſeiner jungen
Ehe Triſtan und Iſolde, ein Gedicht voll ſtarker Leidenſchaft und ſchöner
ſinnlicher Wärme, dem nur der ſüße Wohllaut fehlte. Aber er ſo wenig
wie einſt Meiſter Gottfried von Straßburg ſollte dies hohe Lied der Liebe
vollenden. In der Blüthe der Jahre, mitten im fröhlichen Schaffen ward
[451]Tieck. Sealsfield.
er vom Tode ereilt (1840), einer der wenigen Künſtler, von denen ſich
menſchlicherweiſe mit Sicherheit ſagen läßt, daß ſie zu früh ſtarben.
Noch ſtärker als Immermann fühlte ſich Tieck durch das Junge
Deutſchland abgeſtoßen. Einige der jungen Leute hofften Anfangs, der
alte Herr würde ſich ihnen anſchließen, weil ſie für die Lucinde ſchwärmten.
Er aber ſah in ihrem Treiben nur eine ſchwächliche Nachahmung der Stark-
geiſterei ſeiner Jugendjahre und tadelte insbeſondere ihre doktrinäre Hal-
tung; denn „nichts iſt mir mein Lebenlang verhaßter geweſen als der ab-
ſprechende Ton des Syſtems, der mit Allem fertig iſt“. Darum ward er
von den Jungdeutſchen bald als Finſterling verrufen und ſehr roh an-
gegriffen. Er rächte ſich, indem er in mehreren ſeiner Novellen — in
Eigenſinn und Laune, im Liebeswerben u. a. — die deutſchen Radicalen
wie ein Geſindel von Gaunern und Lumpen darſtellte. Ein reinerer Stil
ließ ſich in dieſen ſpäteren Novellen nicht verkennen. Der Greis ſpielte
nicht mehr ironiſch mit ſeinen Geſtalten; ſeine Ironie war jetzt nur noch,
wie er es ſo oft verlangt aber ſelten befolgt hatte, „die Kraft, die den
Dichter über dem Stoffe erhält“. Dafür zog freilich durch manche Werke
ſeines Alters ein kühler Hauch, der die Leſer nicht recht froh werden ließ.
Sonſt ragte als erzählender Dichter nur noch einer über die Un-
zahl der Unterhaltungsſchriftſteller empor: Charles Sealsfield, urſprünglich
Poſtel geheißen, ein mähriſcher Mönch, der aus dem Kloſter entflohen
nachher lange in Amerika umherzog und ſich auch das ſeltſame Kauder-
wälſch der Deutſch-Amerikaner aneignete. Seine Romane: „die Legiti-
miſten“ und „der Virey“ führten unſere Poeſie zum erſten male in den
fernen Weſten, in jene Cultur- und Raſſenkämpfe Amerikas, an denen
ſchon ſo viele Deutſche theilnahmen. Durch die brennende Pracht ſeiner
tropiſchen Landſchaftsbilder und die Energie der Charakterzeichnung über-
traf er Cooper bei Weitem, doch in allen ſeinen Schriften arbeitete eine
fieberiſche Unruhe, die der Maſſe der Leſer unbequemer war als die Breite
des Amerikaners. An ſolchen ungeſchulten ſtarken Talenten läßt ſich der
Geiſt einer Epoche am ſicherſten erkennen; Sealsfield’s Schriften bewieſen,
wie unaufhaltſam die Zeit dem Realismus zudrängte.
Dies bewährte ſich auch an den Zuſtänden des Theaters. In hellen
Haufen drangen die Luſtſpiele Scribe’s und der anderen Pariſer Boule-
vards-Dichter über den Rhein. Das deutſche Publikum war noch von der
Weimariſchen Bühne her an ein äſthetiſches Weltbürgerthum gewöhnt und
zudem jetzt für Frankreichs Freiheit begeiſtert. So ließ man ſich denn die
ſtümperhaften Ueberſetzungen wohl gefallen; man lachte über feine Anſpie-
lungen, die nur an der Seine ganz verſtanden werden konnten; man nahm
es hin, daß manche einem Pariſer Schauſpieler auf den Leib geſchriebene
Rolle dem deutſchen Nachahmer häßlich anſtand — und das Alles nur,
weil dieſe leichten Stücke doch ein Bild des wirklichen Lebens gaben. Von
Alters her lag die Stärke der deutſchen dramatiſchen Kunſt in der Kraft
29*
[452]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
der Charaktere; auch unſere beiden einzigen claſſiſchen Komödien, Minna
von Barnhelm und der Zerbrochene Krug, waren Charakterluſtſpiele. Die
modernen Franzoſen hingegen hatten ſich von dem Muſter ihres Moliere
längſt abgewendet und ſuchten die komiſche Wirkung weſentlich in den über-
raſchenden Situationen. Für den Reiz der Intrige allein vermag ſich
aber das deutſche Gemüth nicht recht zu erwärmen; daher währte es noch
lange, bis ſich endlich einige Dichter fanden, die von der berechnenden
Technik und der erfinderiſchen Gewandtheit der Franzoſen lernten ohne ihre
nationale Eigenart aufzugeben. Was jetzt an neuen Luſtſpielen erſchien,
war meiſt leichte Waare, ebenſo flach, nur bei Weitem nicht ſo zierlich wie
die wälſchen Vorbilder; faſt allein der Wiener Bauernfeld verſtand, durch
die Feinheit ſeiner Dialoge zu erſetzen was ihm an Erfindung fehlte. Die
Hörer indeß ließen ſich Alles bieten, wenn man ſie nur in Spannung
hielt und ihre Skandalſucht etwas reizte. Jenes kunſtverſtändige Parterre,
das einſt jedem Worte Ekhof’s oder Iffland’s andächtig gelauſcht hatte,
war längſt verſchwunden; das Theater bildete nicht mehr den Sammelplatz
für die gute Geſellſchaft, die Kenner zogen ſich mehr und mehr zurück.
Seit Schreyvogel vom Wiener Burgtheater vertrieben war, ſtand keine der
großen deutſchen Bühnen mehr unter ſtrenger ſachverſtändiger Leitung.
So lockerte ſich überall das Zuſammenſpiel; die Virtuoſen wollten allein
gelten, ſie zerſtörten durch ihre Gaſtſpielreiſen jede Ordnung und lernten
von den Franzoſen ſich der Claque oder einer ebenſo feilen Kritik zu be-
dienen.
Auch die tragiſche Kunſt lag danieder. Grillparzer zog ſich unwirſch
von der Bühne zurück, ſeit die Wiener eines ſeiner Dramen verhöhnt hatten;
und von den jungdeutſchen Poeten beſaß noch keiner die ſittliche Kraft ſich
den ſtrengen Regeln des Dramas zu fügen; ſie ſchüttelten alle ihre Einfälle
leicht aus dem Aermel und wollten, wie einſt die jungen Romantiker, in
der bühnengerechten Dichtung nur einen verächtlichen Frohndienſt ſehen. An
dieſer Zuchtloſigkeit ging auch der unglückliche Weſtphale Chriſtian Grabbe
früh zu Grunde; er mußte an ſich ſelber erleben was er einſt in einem
lichten Augenblicke geſungen hatte: „Kraft und Dauer wohnen nur in Be-
grenzungen.“ Er ſchwelgte in gräßlichen Bildern und cyniſchen Witzen,
Maß und Form blieben ſeinem umnachteten Sinne fremd; die beiden
größten Dichtungen der Zeit verſuchte er in einem fratzenhaften Drama
„Don Juan und Fauſt“ zu vereinigen und zu überbieten. So ſtürmte er
dahin, ein glühender deutſcher Patriot, ein Verächter alles Platten und
Gewöhnlichen; keines ſeiner Dramen war ohne realiſtiſche Kraft, aber jedem
fehlte der künſtleriſche Verſtand. Als er dann in ſeinen Laſtern unter-
ging, und ſelbſt Immermann’s menſchenfreundlicher Beiſtand dieſe „Natur
in Trümmern“ nicht halten konnte, da zeigte ſich wieder die Vorliebe der
Zeit für alles Krankhafte und Verdrehte. Die Feuilletons hoben den Todten
auf den Schild und verglichen ihn gar mit Heinrich v. Kleiſt, der himmel-
[453]Grabbe. Raupach.
hoch über ihm ſtand; ſie beſprachen geheimnißvoll die Verwandtſchaft des
Genius mit dem Wahnſinn, die doch nur bei dem unfertigen Genie vor-
handen iſt, und Niemand gedachte mehr der tiefen Worte des alten Goethe:
Das Genie gehorcht dem Geſetze am willigſten, weil es begreift, daß Kunſt
nicht Natur iſt.
Da die jungen Talente der Bühne fern blieben, ſo konnte Ernſt
Raupach ein volles Jahrzehnt hindurch das Berliner Theater beherr-
ſchen — ein ernſthafter, ſchroffer, kalt verſtändiger Geſchäftsmann ohne
jede dichteriſche Ader, aber ein geſchickter Macher, der durch zahlloſe dra-
matiſche Gedichte „ernſter und komiſcher Gattung“ — wie er ſie ſelber
bezeichnend nannte — die unerſättliche Gier des Publikums nach neuen
Stoffen mit leidlichem Anſtande zu befriedigen wußte. Sein ehrbares
Weſen und ſeine tapfere monarchiſche Geſinnung verſchafften ihm die
Gunſt des Hofes, auch Hegel beſchützte ihn als einen Widerſacher der
Romantiker. Und was konnte auch aller Romantik ſchärfer widerſprechen
als dieſe entſetzlichen ſechzehn Hohenſtaufen-Tragödien — jedes Stück in
fünf Akten mit einem Vorſpiele — die den Rationalismus Friedrich v.
Raumer’s noch einmal verwäſſerten? Mit einer Gründlichkeit, welche den
Hiſtoriker ſelbſt beſchämte, wurde der geſammte Thatbeſtand erſchöpft;
nichts, gar nichts ward den Hörern erlaſſen; unerbittlich ging es weiter
bis zu dem letzten Augenblicke, da Konradin ſein Haupt auf den Block
legte, und die Zuſchauer mußten dem grauſamen Dichter noch danken,
daß er nicht auch noch den Kopf des letzten Hohenſtaufen leibhaftig über
die Bretter rollen ließ. Namentlich die gereimten Gemeinplätze am Ende
der Auftritte und Akte zeichneten ſich durch zuverſichtliche Plattheit aus, und
noch lange lebte im Gedächtniß der Berliner der Schlußvers: „Das Glück
war niemals mit den Hohenſtaufen.“ Und dennoch wirkten die Stücke;
die grob gezeichneten Charaktere boten begabten Schauſpielern manche
dankbare Aufgabe, falſche Declamation verbot ſich von ſelbſt in dieſer
nüchternen Welt. Einmal wurde im Schauſpielhauſe ſogar der ganze
Cyclus hintereinander aufgeführt, und ein zahlreiches gebildetes Publikum
hielt mehr als zwei Wochen lang Abend für Abend ſtandhaft aus um
das jambiſche Collegium über die Kaiſergeſchichte des Mittelalters voll-
ſtändig zu hören.
Siebzig Jahre zuvor hatte Leſſing die moraliſirende Poetik vernichtet;
jetzt war durch Ueberbildung der Schönheitsſinn wieder ſo abgeſtumpft,
daß Raupach dreiſt behaupten durfte, der Zweck der Bühne ſei das Volk
zu belehren. Immerhin ſtellte er durch die Maſſe ſeiner Dramen den
hereinbrechenden Pariſer Fluthen noch einen Damm entgegen; und das
nämliche Verdienſt erwarb ſich auch die gemüthliche Schwäbin Charlotte
Birchpfeiffer. Sie zählte, wie Iffland, zu den dichtenden Schauſpielern,
deren das moderne Theater nicht entbehren kann weil es für den Haus-
bedarf aller ſieben Wochenabende ſorgen muß. Ihre meiſt nach Novellen
[454]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
gearbeiteten brauchbaren Bühnenſtücke waren wärmer empfunden als Rau-
pach’s Werke, ganz deutſch gedacht, niemals unwahr oder unnatürlich,
freilich auch ſo harmlos, daß Schiller wohl wieder hätte fragen können:
Warum entfliehet ihr euch, wenn ihr euch ſelber nur ſucht? —
Sogar die Oper empfand den wachſenden Einfluß Frankreichs. Der
erſte Dramatiker unter den Tonſetzern, der Berliner Giacomo Meyerbeer
war nach Paris gezogen und betrieb von dort aus ſeine internationale
Kunſtthätigkeit, immer in Fühlung mit den Stimmungen der Franzoſen.
Sein Robert der Teufel, der die lange Reihe ſeiner europäiſchen Triumphe
eröffnete, war der Neuromantik Victor Hugo’s nahe verwandt, und als
nachher die kirchlichen Gegenſätze ſich verſchärften, griff er zu dem wirk-
ſamen Stoffe der Hugenotten. Durch prächtige theatraliſche Effecte und
reizende Melodien riß er die Maſſen widerſtandslos mit ſich fort; alle
möglichen Formen und Stile miſchte er durch einander wenn ſie nur die
Nerven aufregten. Von der ſchlichten Großheit deutſcher Kunſt war nichts
in ihm.
Da ſeine Manier allen ſchlechten und einigen guten Neigungen der
Zeit entſprach, ſo hätte ſie wohl auch in Deutſchland die Alleinherrſchaft
erlangt, wenn ihr nicht ein überlegener Geiſt entgegengetreten wäre. Wie
Meyerbeer war auch Felix Mendelsſohn in den verwöhnten Kreiſen des
Berliner Reichthums aufgewachſen, aber ſeine reine, liebenswürdige Natur
nahm nur die guten und tüchtigen Züge des Berliner Weſens an: die viel-
ſeitige Bildung, den freien Blick, die geſellſchaftliche Gewandtheit und die
Gabe der beredten Mittheilung. Ein Deutſcher vom Wirbel bis zur Zehe,
konnte er ſich ſelbſt in dem Zauber der ſüdlichen Landſchaft nicht auf die
Dauer wohl fühlen, und von allen Ausländern haben ihn nur die ger-
maniſchen Engländer, niemals die Franzoſen ganz verſtanden. Er er-
weckte durch ſeinen Paulus das Oratorium der Proteſtanten zu neuem
Leben und gab dem deutſchen Liede einen tiefen, weihevollen muſikaliſchen
Ausdruck. Faſt ebenſo folgenreich wie dieſe Compoſitionen, die ihn weit
über alle lebenden Tonſetzer emporhoben, wurde ſeine Thätigkeit in den
Concertſälen. Als zwanzigjähriger Jüngling wagte er zuerſt (1829) in
Berlin Sebaſtian Bach’s vergeſſene Paſſion aufzuführen, und ſeitdem be-
mühte er ſich unabläſſig, die edlen echt deutſchen Kunſtformen der Sym-
phonie, des Oratoriums, der Sonate den Gebildeten wieder an’s Herz zu
legen. Die Werke Bach’s und Händel’s, auch Beethoven’s letzte Sym-
phonien, die lange für ungenießbar gegolten hatten, erſchloß er dem Ver-
ſtändniß der Nation. Seit er, überall in Deutſchland gekannt und geliebt,
zu Berlin, Düſſeldorf, Frankfurt, Leipzig ſeinen Taktſtock ſchwang, wurde die
faſt zum Zeitvertreibe herabgeſunkene Muſik wieder als hohe Kunſt geehrt.
Ihm dankten die Deutſchen, daß ſich in der Hörerſchaft immer noch ein
Kern reinen Geſchmackes erhielt auch als die Anarchie in der Oper einriß.
So führte ein Deutſcher jüdiſcher Abſtammung unſere gebildete Geſell-
[455]Meyerbeer. Felix Mendelsſohn.
ſchaft zu den alten Ueberlieferungen ihrer nationalen Kunſt zurück, eben
in den Tagen da die Pariſer Deutſch-Juden ſich ſo frevelhaft an unſerem
Volksthum verſündigten. Mendelsſohn’s edles und großes Wirken bewies
für alle Zukunft, daß der deutſche Jude nur dann wahren Ruhm erringen
kann, wenn er ganz und ohne Vorbehalt im deutſchen Leben aufgeht. —
Auch die Malerei wurde von dem realiſtiſchen Zuge der Zeit er-
griffen. Die Welt bedarf immer einer langen Friſt, bis ſie die Schran-
ken erkennt, welche der Begabung ſchöpferiſcher Geiſter geſetzt ſind. Glück-
lich der Künſtler, der wie Schiller von rohen, unreifen Jugendwerken ſtätig
aufſteigt, ſeinen Genius immer freier entfaltet und dahingeht ſobald das
Volk ihn ganz zu verſtehen beginnt. Ein anderes, ein tragiſches Geſchick
war Cornelius beſchieden. Schwung, Adel, Großheit, eine Welt von neuen
Ideen hatte er der erſtarrten bildenden Kunſt gebracht; die Deutſchen be-
trachteten ihn als einen anderen Goethe, König Ludwig ſtellte ihn faſt
über die Maler des Cinquecento, und noch im Jahre 1831 wurde er, als
er aus Italien heimkehrte, wie ein Fürſt eingeholt, die Münchener Künſt-
ler ſpannten ihm die Pferde vom Wagen. Einmal doch mußte dieſer
Ueberſchätzung ein Rückſchlag folgen. Cornelius war nur der Klopſtock
unſerer neuen Malerei, reicher wohl, gewaltiger als der Dichter des Meſ-
ſias, aber gleich jenem mehr ein Bahnbrecher als ein Vollender, und leider
ſollte nach ihm kein Goethe kommen, der alle die Strahlen des neu entdeckten
Lichtes in einem Brennſpiegel vereinigte. Ihm fehlte die wahrhaft male-
riſche Phantaſie, die unbefangene Freude am Spiele der Formen und der
Farben; immer ſtieg ihm zuerſt ein großer poetiſcher Gedanke auf, dann
ſuchte er erſt nach den Geſtalten, in denen dies frei geſchaffene Ideal ſich
verkörpern ſollte. Darum blieb ihm der Humor fremd, und auch die
Schönheit des Weibes reizte ihn wenig, da ſie ſelten Ideen ausſpricht.
Das Lehren gelang ihm wenig, weil er die allein lehrbare Technik gering-
ſchätzte und den eigentlichen Zauber ſeiner Werke, die Macht ſeiner großen
Perſönlichkeit, kleineren Geiſtern nicht mittheilen konnte. So ſchritt er
einſam fürbaß, der ernſte kleine Mann mit dem ſtrengen, gewaltigen
Denkerkopfe, vergöttert von ſeinen Schülern, von wenigen ganz verſtanden.
Er ſagte wohl: „die Natur iſt die Frau, der Genius der Mann;“ doch
er war ein herriſcher Gatte, ſich in das Leben ſeines Weibes liebevoll zu
verſenken fiel ihm nicht bei. Wer nur ſchlicht und recht malte und dem
grandioſen Gedanken des Zuſammenwirkens aller Künſte nicht zu folgen
vermochte, ward von dem ſtolzen Meiſter als ein „Fächler“ verachtet. Was
focht es ihn an, daß er in München niemals heimiſch wurde? die Baiern
blieben ihm Barbaren. Was kümmerte ihn der Tadel der Franzoſen, die
ihm vorwarfen, er dichte nur, er male nicht? ſie waren Fremde und konn-
ten deutſche Kunſt nicht begreifen.
In ſolcher Stimmung empfing er den Auftrag, die neue Ludwigs-
kirche mit Fresken zu ſchmücken, und ſofort entwarf ſein Dichtergeiſt den
[456]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Plan zu einem dritten großen Bildercyklus, der die beiden erſten noch
überbieten ſollte, zu einem chriſtlichen Epos, einer gemalten Göttlichen
Komödie. Vieles von dem Entwurfe ward durch den Bauherrn geſtrichen;
was übrig blieb war noch gewaltig genug, und vor Allem in dem Bilde
des Jüngſten Gerichts, dem größten Freskobilde der Welt hoffte der Künſt-
ler den Geiſt des geläuterten Chriſtenthums auszuſprechen. Ein Viertel-
jahrhundert zuvor, als er noch in Rom mit den jungen Nazarenern
ſchwärmte, wäre ihm vielleicht ein Werk gelungen, ſo einfach ſtreng, ſo
tief gläubig wie Memling’s Danziger Bild; doch ſeitdem war er auf einem
weiten Bildungsgange durch die Welt des Fauſt, der Nibelungen, des
Homer, durch das ganze Gebiet der Kunſtgeſchichte hindurchgeſchritten. Wie
konnte er noch mit ganzer Seele in einer Vorſtellung leben, die unter allen
chriſtlichen Mythen der Gegenwart am unbegreiflichſten bleibt? — denn
ſo gewiß das Gefühl der Verantwortlichkeit vor Gott mit der reifenden
Geſittung ſich verſchärft, ebenſo gewiß muß die Trennung der Böcke von
den Schafen und die ſinnliche Ausmalung der Höllenſtrafen einem men-
ſchenkundigen, gebildeten Jahrhundert kindlich erſcheinen. An dieſem Ana-
chronismus ſcheiterte auch Cornelius’ Genie. Sein Werk ward frömmer,
reicher an religiöſem Gefühle als die verwandten Gemälde des Michel
Angelo und Rubens, die beide nur einen Titanenkampf ſchilderten, und er-
reichte ebendeshalb weder die dämoniſche Erhabenheit des Einen noch die
ſinnliche Kraft des Anderen. Selbſt ſein oft bewährtes Compoſitions-
talent, ſeine wunderbare Gabe, in wenigen Geſtalten ein großes Ereigniß
erſchöpfend darzuſtellen, verleugnete ſich diesmal; das Bild zerfiel in Grup-
pen, einzelne Geſtalten der Engel und der Seligen offenbarten noch die
alte Größe, der Höllenfürſt aber und ſeine Teufel erweckten kein Grauſen.
Es ſchwebte ein Unſtern über dem ganzen Unternehmen; das fröhliche
Künſtlertreiben, das einſt die Malergerüſte der Glyptothek mit ſeinem Lärm
erfüllt hatte, erneuerte ſich nicht in der Ludwigskirche. Der königliche Bau-
herr aber konnte ſeine Enttäuſchung nicht bergen, als er das mißlungene,
mangelhaft gemalte Bild betrachtet hatte; er meinte ſcharf: „Ein Maler
muß malen können.“ Die Zeit war längſt dahin, da Kronprinz Ludwig
einſt beſcheiden zu Tieck geſagt hatte: „Heiße auch Ludwig. Große Ehre
für mich, ebenſo zu heißen wie ein ordentlicher Dichter.“ Seit er die
Krone trug, war ſein Selbſtgefühl hoch geſtiegen; ſogar als Künſtler glaubte
er ſeinen Malern und Bildhauern gewachſen zu ſein, da ſeine unglück-
lichen Gedichte ſo viel ſchmeichelnde Bewunderer fanden. Cornelius war
nicht der Mann, ſich eine ſchnöde Behandlung bieten zu laſſen. Bald
nach jenen Aeußerungen königlicher Ungnade verließ er München für immer,
und mit ihm verſchwand auch ſeine Schule. Das hohe Pathos ſeines
Idealismus genügte der verwandelten Zeit nicht mehr.
Schon während ſeiner Münchener Herrſchaft hatten einzelne der jungen
Künſtler ihre Eigenart tapfer behauptet. Peter Heß und der fröhliche Lands-
[457]Cornelius und ſeine Schule.
knecht Albrecht Adam ſchufen ihre Schlachtgemälde friſch nach dem Leben.
Der Uhland unſerer Malerei, Moritz Schwind, malte im Schloſſe Hohen-
ſchwangau am einſamen Alpenſee Bilder aus der romantiſchen Sagenwelt,
voll inniger Empfindung und ſchalkhafter Laune. Ueber Riedel’s römiſchen
Mädchenbildern lag der brennende Glanz der ſüdlichen Sonne, auch
Rottmann’s griechiſche Landſchaften zeigten eine Pracht der Farben und
des Lichtes, die den ſtrengen Cornelianern fremd war. Selbſt von Cor-
nelius’ vertrauten Schülern ging der begabteſte, Wilhelm Kaulbach, bald
ſeinen eigenen Weg. Nachdem er in dem furchtbaren Bilde des Narren-
hauſes zuerſt ſeine Gabe ſcharfer Charakteriſtik bewährt, zeigte er ſich als
Meiſter der Satire in ſeinem ſchönſten Werke, dem Reineke Fuchs. Er-
ſtaunlich, wie treu er die Thiergeſtalten nachbildete und wie frei er ſie zu-
gleich als Hülle des Menſchenlebens verwendete. Auch dies Werk wurde,
wie einſt der niederdeutſche Reinhart des fünfzehnten Jahrhunderts, ein
Sturmvogel der Revolution; der demokratiſche Geiſt der alten Volksdichtung
ſprach aus Kaulbach’s Bildern ungleich lauter und dreiſter als aus der
menſchlich heiteren, die ſociale Tendenz zurückdrängenden Goethiſchen Be-
arbeitung, und der ungetheilte Beifall, den dieſe übermüthige Verhöhnung
der Höfe, des Adels, der Kirche in den gebildeten Klaſſen fand, bewies
genugſam, daß in Deutſchland ſchon faſt jeder geiſtreiche Mann dem Lager
der Unzufriedenen angehörte. Unterdeſſen begann Kaulbach die Arbeit an
ſeinen großen Geſchichtsbildern, die ihn von ſeinem verlaſſenen Meiſter
bald noch weiter abführen ſollte.
Keine dieſer jungen, aus dem alten Stamme der Münchener Malerei
aufſproſſenden Kräfte wirkte ſo tief auf das Volksleben ein wie die neue
Düſſeldorfer Malerſchule. Hier war jetzt Wilhelm Schadow, der Sohn
des Bildhauers, als Direktor thätig, ein geborener Organiſator, der
in ſeinen eigenen Kunſtwerken ſelten glücklich, doch wunderbar verſtand
Talente zu finden, zu wecken, zu leiten. Niemand widerſtand ihm ſo leicht,
wenn der bewegliche Mann, die Taſchen immer vollgepfropft von Plänen
und Entwürfen, mit eindringlicher Beredſamkeit ſeine Lehren entwickelte.
Die monumentale Kunſt fand in der beſcheidenen niederrheiniſchen Stadt
keinen Boden. Der König, der nach dem alten Berliner Brauche das
Porträt bevorzugte, beſtimmte auch ausdrücklich, daß an ſeiner Akademie
nicht das Fresco, ſondern die Oelmalerei zuerſt gepflegt werden ſolle; und
Alles was an der Kunſt lehrbar iſt wußte Schadow in der That ſeinen
eifrigen Schülern mitzutheilen. So blieben die Düſſeldorfer von Haus
aus eine Malerſchule, faſt ohne Verkehr mit den anderen bildenden Künſten.
Sie konnten ihre Kundſchaft nur unter den Privatleuten ſuchen, und
da die Zahl der kaufenden Kunſtfreunde in dem verarmten Deutſchland noch
ſehr gering war, ſo traten allmählich, nach dem Vorgange Münchens (1823),
in den meiſten großen Städten Kunſtvereine zuſammen, die alljährlich ihre
Ausſtellungen und Verlooſungen veranſtalteten. Manche dieſer Vereine
[458]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
waren im Anfang nicht viel mehr als Wohlthätigkeitsanſtalten, und der
arme Ludwig Richter meinte bitter, man wiſſe nicht recht ob Künſtlerhunger
oder Kunſthunger ſie gegründet habe. Schwer genug hielt es oft, die aller
Formenluſt entwöhnte Geſellſchaft für ideale Genüſſe zu erwärmen, am
ſchwerſten im nüchternen Niederſachſen. Als in Hannover 1833 zum Ge-
burtstage des geliebten Vicekönigs die erſte Kunſtausſtellung eröffnet wurde,
ſah ſich der Bürger für vier Groſchen die Bilder einmal an, der Edel-
mann aber und der Beamte löſte anſtandshalber für einen Thaler eine
Eintrittskarte, die zu beliebigem Beſuche berechtigte, und wie oft erklang
nun die Klage: jetzt muß ich noch zweimal hingehn, dann hab’ ich meine
Karte abgelaufen! Mit den Jahren ward die Mode zur Freude, die Zahl
der Theilnehmer wuchs, und bald entſtanden aus den Sammlungen der
Kunſtvereine neue ſtädtiſche Gallerien, die vom Gemeinſinn der Bürger
eifrig gefördert, mit den alten Bilderſchätzen der Reſidenzen zu wetteifern
ſuchten. So erzog ſich die Kunſt ihr Publikum, freilich mußte ſie auch
ſeinem Geſchmacke ſich anſchmiegen.
Die Düſſeldorfer malten was der Durchſchnittsbildung zuſagte, Land-
ſchaften, Genrebilder, und mit Vorliebe die Geſtalten der Dichtung. Bei
den meiſten Völkern geht die claſſiſche Literatur der Blüthezeit der bildenden
Künſte voraus, ſie findet überall zuerſt die neuen Ideale; aber nirgends
hat die Malerei ſo Vieles unmittelbar von den Dichtern entlehnt wie in
Deutſchland. Eben jetzt waren die Werke unſerer Claſſiker und der wieder-
belebte Shakeſpeare der Maſſe der Gebildeten erſt vertraut geworden, ſie
ſtanden noch Allen in friſcher Erinnerung, und mit kindlicher Begeiſterung
wurden die Bilder der Mignon, der beiden Leonoren, der Söhne Eduard’s
begrüßt, denn unwillkürlich fanden die Beſchauer in den Gemälden den
Zauber der Gedichte wieder. Den Meiſtern Sohn, Hildebrandt, Schirmer
folgte eine Schaar treufleißiger junger Leute, die mit ihren empfindſamen
Genoveven, Aſchenbrödeln und Rothkäppchen der Damenwelt heiße Thränen
entlockten; manche von ihnen ſchienen zu glauben, daß der einfache Gegen-
ſatz von Brünetten und Blondinen, verwitterten Männern und roſigen
Jünglingen den ganzen Reichthum des Menſchenlebens erſchöpfe.
Gleichwohl blieben in der friſchen rheiniſchen Luft der Farbenſinn und
das Naturgefühl immer lebendig. Schadow’s Schule brachte die Technik
der Malerei, den liebevoll in’s Einzelne dringenden Künſtlerfleiß wieder zu
Ehren, und wie die Düſſeldorfer nicht verſchmähten von den Franzoſen zu
lernen, ſo gewannen ſie auch der deutſchen Kunſt zuerſt wieder den Beifall
des Auslands. Einige ihrer kräftigſten Talente wagten ſich auch ſchon in
die hiſtoriſche Welt hinaus. Etwas empfindſam, aber wahr und tief er-
faßte der junge Bendemann den poetiſchen Gehalt großer geſchichtlicher
Kataſtrophen in ſeinen Erſtlingswerken, den trauernden Juden und dem
Jeremias; der glänzende Erfolg bewies, wie viel gemeinverſtändlicher als
das Frescogemälde der maleriſche Reiz des Oelbildes den modernen Men-
[459]Die Düſſeldorfer Maler. Franz Krüger.
ſchen erſchien. Erſt auf weiten Umwegen gelangte auch der Schleſier Karl
Leſſing zur hiſtoriſchen Kunſt, ein frühreifer, ernſter, ſtreng gewiſſenhafter
Künſtler, der von dem mannhaften Freimuth ſeines Großoheims, des
Dichters viel geerbt hatte. Sein Bild von dem trauernden Königspaare,
das ſchon weit mehr war als eine gemalte Illuſtration und den Vergleich
mit Uhland’s Ballade nicht zu ſcheuen brauchte, verſchaffte ihm zuerſt einen
Namen; Chamiſſo ſang entzückt:
Unbeirrt durch den Beifall, bildete er ſich raſtlos weiter aus, zunächſt als
Landſchafter. Italien und die Alpen beſuchte er niemals, weil er ſeine
Phantaſie nicht verwirren und ſich die Liebe zu ſeinen deutſchen Mittel-
gebirgen nicht verderben wollte. Dieſe kannte er aus dem Grunde, nament-
lich den ſchwermüthigen Zauber der öden vulkaniſchen Eifellandſchaften, die
er durch hiſtoriſche Staffagen zu beleben liebte. Nun erſt eröffnete er mit
der Huſſitenpredigt die Reihe ſeiner hiſtoriſchen Gemälde, die alleſammt
bedeutende, dem Gefühle der Gegenwart verſtändliche Kämpfe behandelten
und von den rheiniſchen Clericalen, ganz mit Unrecht, als proteſtantiſche
Tendenzbilder verrufen wurden.
Es war das Verdienſt dieſes kräftigen und wahrhaftigen Mannes, daß
die Düſſeldorfer Schule nicht in der Kleinmalerei verkam. Auch der Humor
fehlte nicht, der dem gefühlsſeligen Weſen die Wage hielt. Der Märker
Adolf Schrödter verhöhnte die weinerlichen Romantiker in dem Bilde der
trauernden Lohgerber, er ſchuf die Typen des Falſtaff und des Don Quixote,
wie ſie ſich ſeitdem in der deutſchen Kunſt erhalten haben, und in dem
Triumphzuge des Weines faßte er alle die tollen Schwänke zuſammen, die
ſich die jungen Künſtler zum Beſten gaben, wenn ſie auf ihren rheiniſchen
Studienreiſen Abends im Goldenen Pfropfenzieher zu Oberweſel beim
feurigen Engehöller beiſammenſaßen. Nach wenigen Jahren zeigte ſich aber
ſchon ein Zwieſpalt in dem glücklichen Künſtlerkreiſe. Schadow war in Rom
zur katholiſchen Kirche übergetreten und begünſtigte mehr und mehr ein
neues Nazarenerthum, das techniſch geſchickter aber noch geiſtloſer war als
das alte. Mit dieſen ſüßlichen Madonnenbildern konnte ſich der Proteſtant
Leſſing unmöglich befreunden; die Zeit nahte heran, da der moderne Rea-
lismus ſich von den Epigonen der Romantik offen losſagen mußte.
Solche Parteikämpfe waren für das kindliche Gemüth des Weſtpreußen
Eduard Meyerheim kaum vorhanden. Der lebte in Berlin ganz ſeiner
Staffelei und der Muſik, wanderte im Sommer in die Berge, nach Thü-
ringen oder auf den Harz, und ſuchte ſich dort unter Kleinbürgern und
Bauern ſeine Stoffe. Zarter und weicher als wir heute empfinden, aber frei
von falſcher Gefühlsſeligkeit ſchilderte er die Anmuth des Herzens, welche das
ſchlichte Volksleben verklärt; ſeine anheimelnden Bilder wurden den Be-
ſuchern der Ausſtellungen bald ſo unentbehrlich wie die Dorfgeſchichten den
Leſern. Franz Krüger dagegen bewegte ſich ganz auf den Höhen der Ge-
[460]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſellſchaft; er war der Künſtler der vornehmen Welt, malte die Prinzen und
die Hofleute ebenſo vortrefflich wie ihre edlen Roſſe, Alles ohne Schön-
färberei, treu und wahr, mit jener Freude am Wirklichen, welche Chodo-
wiecki zuerſt unter den Berliner Malern erweckt hatte. In den großen
Paradebildern, die ihm der Hof auftrug, mußte er den denkbar ungünſtig-
ſten Stoff bewältigen, die ſchnurgeraden Fronten der Grenadiere mit ihren
häßlichen Fräcken und ſteifen Halsbinden, die hohen Federhüte der Generale
und die Stutzſchwänze ihrer Pferde. Wie reich, bedeutſam, markig er-
ſchienen gleichwohl ſeine Gemälde; welche Fülle des Lebens lag in der Ge-
ſchichte dieſes Staates, wenn man ſie nur zu packen verſtand. Niemand
wußte das beſſer als der junge Adolf Menzel, der noch wenig beachtet
einherging. Sein Genie ſollte dereinſt vollenden was die Berliner Realiſten
Chodowiecki und Krüger begonnen hatten; auf die Sittenbilder und die
Paradebilder folgten die Heldenbilder der preußiſchen Geſchichte. —
Auch in Rauch’s Herzen glühte dieſer preußiſche Stolz. In tiefſter
Seele hatten ihn einſt die Tage des Unheils und dann die wunderbare
Erhebung ergriffen. Immer war es ihm eine Luſt wenn er die Bilder der
Männer, die bei jenen Kämpfen mitgewirkt, in Erz oder Marmor geſtalten
durfte. Er nannte ſein edles Handwerk die eigentlich hiſtoriſche Kunſt und
wiederholte gern das Goethiſche Wort: „Das beſte Monument des Men-
ſchen iſt der Menſch.“ Selbſt aus Schleiermacher’s unſchönem Kopfe fand
er das Lebendige, das Unſterbliche heraus. In die Züge des Königs, der
ihm auch als Menſch immer theuerer wurde, hatte er ſich ganz eingelebt;
eine Büſte folgte der anderen, wie er auch das Grabbild ſeiner Königin,
blos um ſich ſelber genug zu thun, noch einmal ausführte. Für ſein Preußen
war ihm keine Arbeit zu gering. Immer wieder formte er den Adler für
Feſtungsthore und Brückenpfeiler, bis das geliebte Wappenthier endlich die
rechte monumentale Geſtalt erhielt; auch die ſchwarzen Huſaren empfingen
von ſeiner Hand die verſchönerten Todtenköpfe für ihre Kolpaks. Mit
Freuden übernahm er das Standbild Friedrich Wilhelm’s I. für die Stadt
Gumbinnen; es that ihm wohl, daß er dort in der dankbaren Oſtmark
den geſtrengen Soldatenkönig in ſeiner menſchlichen Güte, als „Litthauens
Wiederherſteller“ darſtellen durfte. Gleichwohl blieb er zu ſehr ein Claſſiker
um ſich ganz heimiſch zu fühlen in dieſer formloſen nordiſchen Welt. Seine
liebſten Erinnerungen hingen doch an Italien, an jenen glücklichen Jugend-
tagen, da die neue germaniſche Völkerwanderung in die ewige Stadt ein-
gezogen war um die entartete Kunſt zu retten wie vordem die entartete
Kirche. Wie war ihm dort die Seele weit geworden, wenn er unter den
Statuen des Vaticans einherwandelte oder in Carrara die ſchneeweißen,
gleich Zuckerhüten in die blaue Luft ragenden Berggipfel beſtaunte und
dann mit ſeinem Freunde Tieck durch die Schluchten kletterte um den edelſten
Marmor auszuſuchen.
Darin liegt die ſelten verſtandene hohe Schönheit der neuen deut-
[461]Rauch und ſeine Schüler.
ſchen Geſchichte, daß alle die kleinen Bäche der Stammesgeſchichten nach
und nach, wie durch eine geheimnißvolle Naturgewalt getrieben, zu einem
Strome zuſammenfließen, bis ſchließlich jeder Theil der Nation an der
Größe des Vaterlandes ſeinen Antheil gewinnt. So gewiß der Süden an
dichteriſcher Geſtaltungskraft den Norden überbot, ebenſo gewiß waren die
Nordgermanen im Verſtändniß wie in der Kunſt der Plaſtik den Ober-
ländern überlegen. Die Niederdeutſchen Winckelmann und Carſtens,
Schinkel und Rauch erweckten uns zuerſt den Sinn für die Formenſchön-
heit der Antike; neben ihnen die ſtammverwandten Dänen Thorwaldſen
und Zoega der Archäolog. In Berlin fühlte ſich Rauch nirgends glück-
licher als bei Wilhelm Humboldt, der ihm noch von Rom her ein treuer
Gönner war, und bei Schinkel, denn Beide glaubten wie er ſelbſt an die
Wahlverwandtſchaft des helleniſchen und des germaniſchen Genius. Es
war ſein Stolz, daß Preußen mehr als irgend ein anderer Staat für das
Studium der Antike that; die neuen Gyps-Muſeen an den Univerſitäten
Bonn, Königsberg, Breslau förderte er eifrig, auch ein großes Lager von
Marmorblöcken ließ er in Berlin zuſammenbringen.
Mit den Jahren wuchs ſeine Freude an den claſſiſchen Formen. Darum
empfand er es faſt wie eine Erlöſung, als ihm König Ludwig den Auftrag
gab die Regensburger Walhalla mit ſechs koloſſalen Victorien zu ſchmücken.
Nun konnte er doch endlich „die ewigen Pantalons“ der preußiſchen Feld-
herrnſtatuen in den Winkel werfen und an „dem edlen Nackten“ ſein Auge
weiden. Dieſe herrlichen Frauengeſtalten blieben ſein Lebensglück für viele
Jahre. Daneben fand er noch Zeit für das ganz realiſtiſch gedachte Nürn-
berger Dürer-Denkmal; und den Bibelſpruch „Laſſet die Kindlein zu mir
kommen“ verkörperte er, rührend einfach, in dem Standbilde des frommen
Francke zu Halle. Auch die Nachklänge der Romantik berührten ihn einmal
leiſe, als er die liebliche Statuette der auf dem Hirſche reitenden Jungfrau
von Tangermünde ſchuf. Langſam gereift gelangte er erſt als er den Sech-
zigern nahe war zur Vollkraft ſeines Schaffens. Mit peinlicher Sorg-
falt, als hätte er noch gar nichts geleiſtet, bereitete er ſeine Werke vor.
Auf der Reiſe bemerkte er jeden wohlgeformten Baum, jeden anmuthigen
Hügel, nur wenn die Dunkelheit hereinbrach fühlte er ſich unglücklich;
ſeiner Tochter in Halle mauerte er bei jedem Beſuche Reliefs in die Wände
ihres Vorſaals, ein plaſtiſches Stammbuch, das ſie an des Vaters Leben
und Denken erinnern ſollte. Die Kunſt war ihm Alles, und ganz wie
ein König fühlte er ſich in ſeinem Reiche; alle Leute ſahen ihm nach, wenn
er zur Winterzeit, in ſeinen hellen faltenreichen Mantel gehüllt, majeſtätiſch
die Linden hinunterſchritt. Unter ſeiner ſtrengen Leitung wurde die Berliner
Bildhauerſchule auf ein Menſchenalter hinaus die erſte der Welt. Viele
tüchtige Künſtler, faſt durchweg Nord- und Mitteldeutſche, gingen aus ihr
hervor: ſo Drake aus dem Waldecker „Genieländchen“, das auch das
Geburtsland von Rauch ſelbſt, von Kaulbach und Bunſen war, ſo Kiß,
[462]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Bläſer, Wolff und, Alle überragend, der Kurſachſe Ernſt Rietſchel, ein
ſanfter, romantiſch geſtimmter Geiſt, der erſt durch Rauch in die antike
Welt eingeführt, dann aber ſchnell erſtarkt des Meiſters Lieblingsſchüler
wurde.
Wie ſchwächlich erſchien neben dieſem claſſiſchen Realismus der Ber-
liner Schule die Schnellfertigkeit Schwanthaler’s. Er war und blieb ein
Romantiker; das mußte Jeder fühlen, der ihn auf ſeiner Burg Schwaneck
hoch über der Iſar nach mittelalterlichem Ritterbrauche leben ſah. Den
entſagenden Fleiß, den die Strenge der Antike ihren Schülern aufzwingt,
kannte er nicht. Wahrhaft lebendig war in der Münchener plaſtiſchen
Kunſt nur die Erzgießerei. Sie erlangte einen Weltruf, ſeit Miller die
Leitung des Gießhauſes übernommen hatte; ſelbſt die Amerikaner beſtell-
ten ſich dort die ehernen Thüren für ihr Capitol. —
Ein Glück für Rauch, daß ihm die Baiern ſo viel Beſchäftigung
gaben. Preußen mußte jetzt mit Aufträgen kargen, da die Kriegsrüſtungen
alle verfügbaren Mittel verſchlungen hatten; was für die Kunſt noch übrig
blieb, wurde großentheils für die Vollendung des Muſeums dahingegeben.
So konnte auch Schinkel nur noch einmal eine Aufgabe bewältigen, die
ſeines Genius würdig war. Widerwillig hatte er ſich bei den meiſten ſeiner
Bauten bisher mit dem Blendwerk der Verputzung beholfen. Er wußte
wohl, daß die Werke ſeiner geliebten Alten ihre majeſtätiſche Wirkung nicht
blos dem Adel der Formen, ſondern auch der tadelloſen Gediegenheit des
Rohſtoffes verdankten. Da die Staatskaſſen den Hauſtein nicht zu er-
ſchwingen vermochten, ſo griff er zurück zu der volksthümlichen, natur-
gemäßen Bauweiſe der Ebene und ſchuf in der Berliner Bauakademie
das edle Vorbild für den Backſtein-Rohbau, der ſeitdem in ſeiner alten
norddeutſchen Heimath wieder aufzublühen begann. Es war vielleicht das
eigenthümlichſte ſeiner Werke, ein mächtiger Würfel, trutzig wie die floren-
tiniſchen Paläſte des Mittelalters, und doch voll Anmuth; blaue Back-
ſteinſtreifen belebten die düſter-rothen Wände — ein ganz neuer Verſuch
in dieſen des Farbenſinnes entwöhnten Tagen; die claſſiſchen Terracotten-
Ornamente fügten ſich in die Flachbogen der breiten Fenſter harmoniſch ein.
Sonſt wurden ihm nur noch kleinere Arbeiten zugewieſen, und ſehr
ſchmerzlich empfand er, wie die Ungunſt der Zeit ihm die Schwingen beſchnitt,
denn er ſtellte die Kunſt ſogar noch höher als die Sprache; der Sieg der
helleniſchen Cultur über die Nacht der Urzeit, den er in den Zeichnungen für
die Vorhalle des Muſeums ſchilderte, war ihm der eigentliche Inhalt aller
Geſchichte. Aber auch bei unſcheinbaren Werken blieb er immer treu ſeinem
Spruche: „die Kunſt iſt überhaupt nichts, wenn ſie nicht neu iſt, überall
wo man ſucht iſt man wahrhaft lebendig.“ Mochte er für die Berliner
Vorſtadt Moabit oder für das entlegene Litthauer Städtchen Darkehmen
eine Kirche bauen, immer ſuchte er auf neue Weiſe die Frage zu löſen,
wie ſich die praktiſchen Bedürfniſſe des evangeliſchen Cultus mit den Ge-
[463]Berliner und Münchener Baukunſt.
ſetzen der Schönheit vertragen ſollten, und begreiflich, daß ihm die Ant-
wort dann am glücklichſten gelang, wenn er zu ſüdländiſchen Formen griff.
Die kirchliche Gothik lag dieſem proteſtantiſchen Hellenen fern; in dem
nüchternen Bau der Werderſchen Kirche war von der himmelanſtrebenden,
überſchwänglichen Myſtik des gothiſchen Stiles wenig zu ſpüren. Uner-
ſchöpflich arbeitete Schinkel’s Phantaſie, wenn er ein Schloß mitten in einen
grünen Park hineinſtellen ſollte; denn darin empfand er ganz germaniſch, daß
er die höchſte Schönheit nur da erkannte, wo ſich die Werke der Menſchen-
hand unmittelbar in die Fülle der Natur einfügten. Nur wenige dieſer
Bauten — ſo die liebliche Villa Charlottenhof — wurden noch von ihm
ſelbſt, andere — ſo die Schlöſſer Babelsberg und Camenz — erſt ſpäter-
hin von fremder Hand ausgeführt; die meiſten aber blieben Entwürfe, auch
der märchenhaft ſchöne Plan für das Schloß Orianda. Am Berliner
Opernplatze wollte er die Bibliothek einreißen und dem Prinzen Wilhelm
ein herrliches Terraſſenſchloß bauen; doch die beſchränkten Mittel des Prin-
zen reichten nicht von fern aus, und Schinkel mußte ſich darein ergeben, daß
ſein Freund Langhanns an der ſchmalen Ecke des Platzes einen edlen, aber
überaus beſcheidenen kleinen Palaſt ausführte. Nur ein kleiner Bruchtheil
ſeiner ungeheueren Kraft brachte dem deutſchen Leben Frucht. Bis in die
Zeiten der Revolution hinein ließ ſich die Nachwirkung ſeines Genius noch
an den neuen Kirchen und Muſeen erkennen, auch an manchen der freund-
lichen Landhäuſer, die allmählich, bei ſteigendem Wohlſtand, vor den Thoren
der großen Städte ſich erhoben. Dann aber ging das ſtille, friedliche Ge-
ſchlecht, dem er ſeine Arbeit gewidmet hatte, zu Grabe; die neue Zeit des
lärmenden Weltverkehrs, der Bahnhöfe, der Ausſtellungen, der Banken
ſtellte der Baukunſt völlig veränderte Aufgaben.
Gehemmt und gebunden wie ſie war, griff Schinkel’s Thätigkeit doch
ungleich tiefer in die nationalen Sitten ein als die fieberiſche Bauluſt des
Münchener Hofes. An dem Rheinländer Gärtner hatte König Ludwig
endlich einen Baumeiſter gefunden, wie er ihn brauchte, einen beweglichen,
ſchnellfertigen Künſtler, der unbedenklich Alles lieferte, was der ungedul-
dige Bauherr verlangte. In raſcher Folge entſtanden nun die romaniſchen
Prachtbauten der Ludwigſtraße, die meiſten kahl und langweilig, wenn-
gleich es dem Treppenhauſe der Bibliothek nicht an maleriſchem Reize fehlte.
Zum Glück ward an das eine Ende der öden Straße das dem Conſtan-
tinsbogen nachgebildete Siegesthor geſetzt; an das andere Ende kam eine
wenig gelungene, aber aus der Ferne ſtattlich wirkende Nachbildung der
florentiniſchen Loggia dei Lanzi. Dieſen Raum nannte man die bairiſche
Feldherrnhalle und ſtellte die Bildſäulen Tilly’s und Wrede’s darin auf —
zum Ergötzen der nachbarlichen Spötter, denn der eine war kein Baier,
der andere kein Feldherr. Das gemachte und geſuchte Weſen dieſer monu-
mentalen Kunſt auf geſchichtsloſem Boden zeigte ſich nirgends greller als
an dem ehernen Obelisken, der den 30,000 in Rußland gebliebenen bairi-
[464]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſchen Soldaten errichtet wurde. Es war ein Meiſterſtück der Erzgießerei;
am Fußgeſtell prangten die Widderköpfe altrömiſcher Mauerbrecher und die
Inſchrift: Auch ſie ſtarben für des Vaterlandes Befreiung. Die Mün-
chener Bürger aber, die von der römiſchen Aries nichts wußten, fragten
mit verzeihlichem Erſtaunen, warum ihr Monarch ſeine tapferen Krieger
durch vier große Schafköpfe ehren wolle, und als Czar Nikolaus ſich den
Obelisken beſah, mußte König Ludwig ſeine ganze Beredſamkeit aufbieten,
um dem Ruſſen zu beweiſen, daß die Inſchrift wirklich einen Sinn hätte.
Indeß bewieſen Ziebland’s Bonifacius-Baſilica und Ohlmüller’s gothiſche
Kirche in der Au, daß die Münchener Bauhütte auch geſunde Talente zu
erziehen wußte. Manche Unternehmungen des kunſtſinnigen Königs, die
den Zeitgenoſſen noch ſonderbar erſchienen, fanden erſt nachträglich ihre
Rechtfertigung, ſeit der Verkehr wuchs und freundliche Bürgerhäuſer die
Prachtbauten rings umſchloſſen. —
Die redenden wie die bildenden Künſte konnten ſich den krankhaften
Stimmungen des Zeitalters nicht entziehen; die Wiſſenſchaft hingegen be-
wahrte das Mark des deutſchen Genius faſt unverſehrt. Sie übernahm
jetzt die Erbſchaft der großen Ueberlieferungen der claſſiſchen und der
romantiſchen Epoche zugleich, und es bezeichnet den verſchlungenen Ent-
wicklungsgang dieſes vom Himmel auf die Erde niederſteigenden Volkes,
daß die Deutſchen auch in der politiſchen Geſchichtſchreibung anderen Na-
tionen vorausſchritten zu einer Zeit, da die ſchlichte Tüchtigkeit der preu-
ßiſchen Staatskunſt, arm wie ſie war an glänzenden Erfolgen, weder
daheim noch auswärts irgend gewürdigt wurde. Leopold Ranke hatte mitt-
lerweile ſeine Wanderjahre angetreten. In Wien lernte er Gentz kennen
und befeſtigte ſich auf’s Neue in der Einſicht, daß der Staat zuerſt Macht
iſt, die Herrſchaft über Europa durch das Einverſtändniß der großen Mächte
ausgeübt wird. Dort entſtand auch, unter dem friſchen Eindrucke der
Aufzeichnungen und Geſpräche des ſerbiſchen Patrioten Wuk die „Ge-
ſchichte der ſerbiſchen Revolution“, ein Muſter lebendiger, das Ferne und
Fremde vergegenwärtigender Erzählungskunſt, ganz frei von der Schwer-
fälligkeit deutſcher Zunftgelehrſamkeit und doch kritiſch geſichtet und geſichert.
Dann ging er nach Rom, und hier, wo die Kunſt und die Alterthums-
kunde der Deutſchen neues Leben geſchöpft hatten, ſollte auch die Forſchung
der neueren Geſchichte ihren Jungbrunnen finden. Im ſechzehnten und
ſiebzehnten Jahrhundert, die noch lange Ranke’s bevorzugtes Arbeitsfeld
blieben, umſpannte die Politik der Päpſte noch die Welt; von Rom und
Venedig aus konnte er den Wandel der internationalen Machtverhältniſſe
nicht vollſtändig, aber mit annähernder Sicherheit überſehen, die in Italien
geſammelten archivaliſchen Schätze bildeten den Grundſtock ſeiner unver-
gleichlichen diplomatiſchen Gelehrſamkeit. Alſo ausgerüſtet ſchuf er das
[465]Ranke’s Geſchichte der Päpſte.
ſchönſte ſeiner Werke, die Geſchichte der Päpſte — ein Buch, das nur ein
Deutſcher und unter den Deutſchen nur Ranke ſchreiben konnte. Die Viel-
ſeitigkeit ſeines Erkennens und Verſtehens war bedingt durch eine geniale
Einſeitigkeit der Charakteranlage, wie ſie ſich ſonſt faſt nur bei ſchroffen
und harten Naturen findet. Mit einem lebhaften und empfänglichen
Geiſte verband er von früh auf eine gelaſſene Ruhe des Gemüths, die
ſelbſt das Geſchehende wie ein Geſchehenes hinnahm. Als Jüngling auf
der Schulpforte hatte er einſt die Schlachten von Großgörſchen und Leipzig
nahe vor Augen geſehen, nicht gefühllos, aber auch unberührt von jener
glühenden vaterländiſchen Begeiſterung, welche damals ſo viele andere
junge Kurſachſen unter die Fahnen der Verbündeten führte. Dann wurde
er durch die Theilung Sachſens ein Preuße, und dankbar erkannte er die
Ordnung, die Gerechtigkeit, die Bildung des neuen Heimathſtaates an;
doch das kurz angebundene preußiſche Weſen, der eigenthümliche „Muck“
der Märker blieb ihm ebenſo fremd wie der reizbare Stolz preußiſcher
Staatsgeſinnung, und ſoweit ſich in ſeiner durchaus ſelbſtändigen Auf-
faſſung deutſcher Geſchichte die Spuren alter Ueberlieferungen erkennen
ließen, wieſen ſie nach Kurſachſen zurück, nicht nach Preußen. So ward
er auch zur Wahl ſeines Berufes nicht durch Lebenserfahrungen beſtimmt,
wie die Mehrzahl der bedeutenden Männer, ſondern durch die Arbeit des
Erkennens ſelbſt; er las Geſchichtswerke ohne Zahl, und erſt aus der
Fülle des Wiſſens erwuchs ihm der Entſchluß, der Welt die Wirklichkeit
des hiſtoriſchen Lebens zu zeigen, rein, zuverläſſig, beſtimmt, ſo daß er
ſelber hinter dem Bilde ganz verſchwände.
Als er die Geſchichte der Päpſte begann, ſchlug er die augenblickliche
Macht des Vaticans ſehr niedrig an. „Das Verhältniß der päpſtlichen
Gewalt zu uns, ſagte er gleichmüthig, übt keinen weſentlichen Einfluß weiter
aus. Die Zeiten wo wir etwas fürchten konnten ſind vorüber, wir fühlen
uns allzu wohl geſichert.“ Es war ein Irrthum, den er mit der geſammten
Zeit theilte; in ſpäteren Jahren nahm er ihn ſelbſt zurück und geſtand,
eine neue Epoche des Papſtthums habe begonnen. Aber jenem glücklichen
Gefühle der Sicherheit verdankte ſein Buch den künſtleriſchen Zauber.
Mit einer Unbefangenheit, die in der allezeit ſtreitbaren Kirchengeſchichte
ohne gleichen daſtand, ſchilderte er die große Tragödie der Gegenrefor-
mation und übertrug Niebuhr’s kritiſche Methode zum erſten male in die
Erforſchung der neuen Geſchichte. Mochte er freien Blicks die weithin
über die Erde verzweigten Pläne der geiſtlichen Weltherrſchaft überſchauen
oder Art und Unart der handelnden Männer mit feinen, ſauberen Strichen
zeichnen, das Große wie das Kleine der hiſtoriſchen Welt war ihm gleich
vertraut. Zum erſten male ſeit Schiller’s gewaltigen hiſtoriſchen Charakter-
ſchilderungen ſchuf ein deutſcher Geſchichtsſchreiber wieder die Bilder leben-
diger Menſchen, aber nicht blos mit künſtleriſcher Phantaſie, ſondern auch
mit gelehrter Sachkenntniß. Hinter der leichten Anmuth der Erzählung
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 30
[466]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
verbarg ſich ein dem Goethiſchen Geiſte verwandter Tiefſinn. An den Alt-
meiſter erinnerte nicht blos die Weltfreude, die nichts Menſchliches von ſich
abwies, ſondern auch die wiſſenſchaftliche Grundanſchauung, die alles hiſto-
riſche Werden aus dem Zuſammenwirken der allgemeinen Weltverhältniſſe
und der freien perſönlichen Kräfte erklärte. Dies Buch zeigte wirklich was
Goethe ſich einſt auf der Heimkehr aus Rom noch zu ergründen vorge-
nommen hatte: „wie aus dem Zuſammentreffen von Nothwendigkeit und
Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerſtand ein
Drittes hervorgeht was weder Kunſt noch Natur, ſondern Beides zugleich
iſt, nothwendig und zufällig, abſichtlich und blind.“
Kein Zufall wahrlich, daß dieſe erſte claſſiſche Geſchichtserzählung
des neuen Deutſchlands gerade der Univerſalgeſchichte angehörte. Für
ein nationales Geſchichtswerk großen Stiles war die Zeit noch nicht ge-
kommen; uns fehlten noch die allgemein anerkannten politiſchen Ideale
und der ſichere Inſtinkt des unangreifbaren, in Fleiſch und Blut ein-
gedrungenen Nationalſtolzes. Jener freie Weltbürgerſinn der deutſchen
Dichtung, der alles Große anderer Zeiten und Völker als ſein Eigen-
thum betrachtete, bewährte jetzt auch in der politiſchen Geſchichtſchrei-
bung ſeine Kraft; und da nun andere begabte Hiſtoriker dem Beiſpiel
Ranke’s folgten, ſo gewöhnten ſich die Ausländer bald anzunehmen, daß
jeder tüchtige deutſche Gelehrte, der über andere Nationen ſchriebe, dies
fremde Volksthum auch kenne, während weitum im Auslande nur ein
einziger Mann lebte, der die deutſche Geſchichte verſtand: Thomas Carlyle.
Deutſchland denkt für Europa, ſagte der Amerikaner Emerſon, dieſe Halb-
griechen umfaſſen die Wiſſenſchaft aller anderen Völker. Ranke’s Werk
errang der deutſchen Geſchichtſchreibung zuerſt einen Weltruf. Niebuhr’s
römiſche Geſchichte hatte doch nur die Philologen, die überall in kosmo-
politiſcher Luft leben, begeiſtert; jetzt aber ſprach auch ein ganz moderner
Menſch, der Deutſchland weder kannte noch liebte, Macaulay ſeine Be-
wunderung aus.
In der Heimath ſelbſt war der Beifall keineswegs ungetheilt. Die
Hochgebildeten und Welterfahrenen vermochten die vornehme Ruhe des
Hiſtorikers zu begreifen, aber nicht blos die rohen Radicalen, denen nur
die plumpe Tendenz willkommen war, ſchmähten auf ſeine Mattherzigkeit;
auch unverbildete junge Männer wie Guſtav Freytag fühlten ſich in ihrer
teutoniſchen Empfindung verletzt, und mit vollem Rechte. Sie ahnten dunkel,
daß dieſem vollendeten Kunſtwerke doch noch ein letzter Zug hiſtoriſcher
Wahrheit fehlte, daß die ſittliche Welt rettungslos untergehen müßte, wenn
alle Menſchen ſo dächten wie dieſer geiſtvolle Beobachter. Der Hiſtoriker
und der Philoſoph vermag, was kein anderer Gelehrter kann, durch ſeine
Wiſſenſchaft den ganzen Menſchen zu ergreifen. Von dieſem edlen Vor-
rechte machte Ranke ſelten Gebrauch; er hielt nicht nur ſein eigenes ſitt-
liches Urtheil faſt immer zurück, er ging auch ſo gänzlich auf in der Weltan-
[467]Ranke’s Schule.
ſchauung der geſchilderten Zeit, daß manche ſeiner Charakterſchilderungen
faſt den Eindruck erweckten, als ob zwei ſchlaue Monſignori des ſiebzehnten
Jahrhunderts ſich einander vorſtellten. Von den Höfen, denen er ſeine
diplomatiſche Kunde verdankte, blickte er ungern hinab in die Niederungen
der Geſellſchaft. Und doch iſt das Licht der evangeliſchen Wahrheit in ſo
vielen edlen Völkern unzweifelhaft nicht durch die diplomatiſchen Künſte
kluger Cardinäle wieder ausgelöſcht worden, ſondern durch die rohen
Kräfte der Dummheit, des Aberglaubens, der Gewohnheit, des Haſſes, die
in den blinden Maſſen arbeiteten und von den Staatsmännern des Vati-
cans nur benutzt wurden. Dieſe thieriſchen und dämoniſchen Mächte der
Geſchichte beachtete Ranke wenig; weder die wiehernde Blutgier der Mord-
banden der Bartholomäusnacht noch das fanatiſche ni olvido ni perdon
der ſpaniſchen Soldatesca führte er den Leſern dicht unter die Augen. Er
zeigte nicht, weßhalb Martin Luther den gekrönten Prieſter für den Anti-
chriſt halten mußte; und auch die radicale Unvernunft des Jeſuitenordens,
der doch alle Staaten, in denen er herrſchte, zuletzt unfehlbar zu Grunde
richtete, trat nicht grell genug heraus. Die ernſte Frage, warum die brutale
Macht einen halben Sieg über die Idee davontragen konnte, ward alſo
nicht vollſtändig beantwortet.
Während der Arbeit fühlte Ranke ſelbſt, daß die ſittliche Ueberlegen-
heit des germaniſchen Proteſtantismus in ſeinem Buche nicht recht zur
Geltung kam, und faßte ſchon den Plan, in einem neuen Werke, einem
Gegenbilde, die große Zeit der Anfänge der deutſchen Reformation darzu-
ſtellen. Wie viel ſchwerer dies ſei, wußte er wohl. „So etwas können
wir nicht zu Stande bringen,“ ſagte er einmal über ein Buch von Aug.
Thierry, denn die Fülle des Moments aus der vaterländiſchen Vergangen-
heit herauszugreifen mußte den Franzoſen allerdings leichter gelingen als
den Deutſchen. Doch er traute ſich’s zu, durch die Wärme ſeines reli-
giöſen Gefühls zu erſetzen was ihm an patriotiſcher Leidenſchaft abging.
Unterdeſſen nahm er ſeine Berliner Vorleſungen wieder auf und begrün-
dete dort das erſte der hiſtoriſchen Seminare, welche ſeitdem, durch ſeine
Schüler weitergebildet, auf allen unſeren Univerſitäten die methodiſche
Quellenforſchung gepflegt haben. Seine Schule wurde die Pflanzſtätte
einer neuen Generation von Hiſtorikern. Waitz, Sybel und viele andere
aufſtrebende Talente ſchloſſen ſich ihm an, auch die Bönhaſen konnten
ſich der Einwirkung ſeines ſchöpferiſchen Geiſtes bald nicht mehr entziehen.
Da die Stiftung Stein’s, das große Sammelwerk der Monumenta Ger-
maniae unter Pertz’s Leitung rüſtig vorgeſchritten war, ſo regte Ranke
die jungen Männer zur Verwerthung des Rohſtoffes an, und mit den
„Jahrbüchern des deutſchen Reichs unter dem ſächſiſchen Hauſe“ begann
eine lange Reihe gründlicher Arbeiten, die den Thatbeſtand unſerer mittel-
alterlichen Geſchichte ganz anders ſicher ſtellten als Raumer es einſt ver-
mocht hatte.
30*
[468]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Der freie Geiſt, der unter den Hiſtorikern ſich regte, drang nun end-
lich auch in die Staatslehre ein. Es ward hohe Zeit; denn da die
Schüler Niebuhr’s, Savigny’s, Eichhorn’s ſich faſt alleſammt der Philologie
oder der Rechtsgeſchichte zuwendeten, ſo blieben die bahnbrechenden Ge-
danken der hiſtoriſchen Juriſten der zünftigen Staatswiſſenſchaft lange
ganz unbekannt. Die liberalen Staatsgelehrten graſten vergnüglich auf
der Gemeinweide ihres Naturrechts und rühmten ſich des Fortſchritts, wäh-
rend ſie arge Reaction trieben. Was für Plattheiten brachte der Leipziger
Pölitz in ſeinem Buche über das conſtitutionelle Leben zu Markte: alles
irdiſche Daſein ging ihm in „den beiden Begriffen Religion und Bürger-
thum“ auf, und nur „ſchriftliche Verfaſſungsurkunden“ — ohne Papier
ging es nicht — konnten die Freiheit des Bürgerthums ſichern. Noch
weit bedenklicher erſchien die wiſſenſchaftliche Verwahrloſung des deutſchen
Liberalismus in dem Staatslexikon, das Rotteck und Welcker ſeit dem
Jahre 1834 herausgaben. Das wohlberechnete und klug geleitete Unter-
nehmen zählte faſt alle namhaften Männer des ſüddeutſchen Liberalismus,
daneben auch viele Norddeutſche, zu ſeinen Mitarbeitern und fand unter
den Mittelklaſſen ſogar noch größere Verbreitung als vordem Rotteck’s
Weltgeſchichte. Wie viel leichter als eine ausführliche Geſchichtserzählung
ließen ſich doch dieſe kurzen Artikel leſen, in der bequemen alphabetiſchen
Ordnung, die ſchon ſeit dem Brockhauſiſchen Converſationslexikon dem
großen Publikum mundgerecht war; der geſinnungstüchtige Philiſter brauchte
ja nur das Stichwort aufzuſchlagen, um ſofort zu wiſſen, was er über
jede politiſche oder kirchliche Frage zu urtheilen habe. Gegen die untrüg-
liche Sicherheit dieſes Orakels kam kein Widerſpruch auf; Rotteck vermaß
ſich im Vorwort kurzab „nur ſolche Lehren vorzutragen, daß deren An-
feindung als Aeußerung der Böswilligkeit erſcheinen müſſe“.
In jedem Landtagshauſe, in allen Redactionszimmern und Leſecabinets
prangte die lange Bändereihe des Staatslexikons; der Kronprinz von Preu-
ßen aber und ſeine romantiſchen Freunde bezeichneten fortan alle Verir-
rungen des Zeitgeiſtes mit dem Schimpfnamen Rotteck-Welcker. Das Sam-
melwerk enthielt einige brauchbare Arbeiten, namentlich gute volkswirthſchaft-
liche Aufſätze von Liſt und Mathy; aber der Grundgedanke war unhaltbar
und veraltet, die leidenſchaftlichen und weitſchweifigen leitenden Artikel der
beiden Herausgeber ſangen immer nur das alte Lied von dem allein wahren
Vernunftrechte der franzöſiſchen Revolution, dem das poſitive und das
hiſtoriſche Recht nun endlich weichen müßten. Nun gar in den hiſtoriſchen
Artikeln tummelte ſich der liberale Philiſtergeiſt mit einer Selbſtgefällig-
keit, als ob Niebuhr nie gelebt hätte. Wie ein ſparſamer Familienvater
ſeinen liederlichen Sohn, ſchalt der Pfälzer Radicale Kolb den großen
Friedrich aus, weil er ſo viel Geld und Blut an die Eroberung Schle-
ſiens verſchwendet hatte. Ein ſolches Werk konnte wohl der liberalen
Partei neue Anhänger werben, die politiſche Bildung der Nation förderte
[469]Das Staatslexikon. Dahlmann’s Politik.
es wenig, am wenigſten in Oeſterreich, wo das Gegengewicht einer leben-
digen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft noch faſt ganz fehlte. Die denkfaule Maſſe
der Leſer wurde dadurch nur beſtärkt in ihrer Neigung, über unverſtan-
dene Dinge mit einigen ſchallenden Schlagworten abzuſprechen, in jenem
blinden und zugleich bildungsſtolzen Autoritätsglauben, der die Jahrhun-
derte der Vielwiſſerei ſo viel häßlicher erſcheinen läßt, als die naiven gläu-
bigen Jugendzeiten der Geſittung.
Da entriß Dahlmann die Staatslehre dem Bannkreiſe der natur-
rechtlichen Formeln durch ſein Buch: die Politik (1835). Indem er die
Politik „auf den Grund und das Maß der gegebenen Zuſtände“ zurück-
führte, hob er die entgeiſtete conſtitutionelle Doctrin mit einem male auf die
freie Höhe, welche die Geſchichtsforſchung längſt erreicht hatte und gab dem
deutſchen Liberalismus zuerſt einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden. Gleich
ſeinem Freunde Niebuhr verwarf er die Hirngeſpinſte vom Naturzuſtande
und Staatsvertrage, er faßte den Staat als „eine urſprüngliche Ordnung,
einen nothwendigen Zuſtand, ein Vermögen der Menſchheit“; aber wäh-
rend die hiſtoriſchen Juriſten den conſtitutionellen Staat bisher als eine
Ausgeburt der naturrechtlichen Wahnbegriffe bekämpft hatten, gelangte
Dahlmann gerade durch ſeine hiſtoriſche Methode zu dem Schluſſe, daß
die conſtitutionellen Formen ſich aus der Entwicklung des deutſchen Staats-
lebens mit innerer Nothwendigkeit ergäben. So ward endlich mit wiſſen-
ſchaftlicher Strenge erwieſen, was in den Staatsſchriften der Stein’ſchen
Reformperiode nur angedeutet war. Dieſe völlig neue Beweisführung
wirkte ſo überzeugend, daß ſelbſt Heinrich Leo, der leidenſchaftliche Feind
des Liberalismus, für kurze Zeit, leider nicht für immer, bekehrt wurde
und verwundert ſagte, durch Dahlmann habe er erſt gelernt, „daß dieſe
conſtitutionellen Formen tüchtiges politiſches Leben einſchließen können.“
Das kühne Unternehmen, das geſammte Staatsweſen hiſtoriſch zu be-
trachten, konnte freilich nicht gleich beim erſten Anlaufe vollſtändig gelingen;
denn die Staatslehre muß Gattungsbegriffe und Imperative zu finden
ſuchen, während in der Geſchichte doch überall die unberechenbare Freiheit
der Machtkämpfe und des perſönlichen Wollens wirkt. Dieſen Widerſpruch
zu überwinden vermochte Dahlmann nicht überall. Unwillkürlich fiel er zu-
weilen in die Methode des Naturrechts zurück, die den lebendigen Staat
nur als das Ergebniß eines Denkproceſſes auffaßte; und obwohl er nach-
drücklich ausſprach „der Idealiſt löſt Räthſel, die er ſich ſelber aufgegeben“,
ſo nannte er doch ſelbſt die conſtitutionelle Monarchie ſchlechthin „den
guten Staat“, als ob er an das Wahngebilde eines abſoluten Staats-
ideales glaubte. Solchen Nachwirkungen der alten abſtrakten Rechtsphilo-
ſophie konnte ſich in jenen Jahren noch kein Denker ganz entziehen. Auch
von dem britiſchen Staate, den er noch immer wie vor zwanzig Jahren
für das Muſterbild der Freiheit hielt*), gab er nur ein unvollſtändiges
[470]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Bild, da der hochariſtokratiſche Charakter der altengliſchen Selbſtverwal-
tung und Parteiregierung in Deutſchland noch nirgends recht verſtanden
wurde; und über die drohenden ſocialen Gegenſätze des Zeitalters urtheilte
er noch ganz im Sinne des ſelbſtgefälligen liberalen Bürgerthums alſo:
„Faſt überall im Welttheil bildet ein weit verbreiteter, ſtets an Gleich-
artigkeit wachſender Mittelſtand den Kern der Bevölkerung.“
Doch was bedeuteten dieſe Mängel neben den neuen, lebendigen Ge-
danken des Buchs! Rotteck’s Schule war durch die Lehre der Volks-
ſouveränität und durch die erbitternden Kämpfe des Tages längſt dahin
geführt worden, daß ſie die monarchiſche Gewalt nur noch als ein nothwen-
diges Uebel betrachtete. Dahlmann aber nannte die Monarchie das ein-
zige Band der Gewohnheit in der deutſchen Staatenwelt, während für
alle anderen politiſchen Elemente der Schwerpunkt erſt im Werden ſei;
er hielt den Lobrednern der Barrikaden das ſtrenge Wort entgegen: jede
Revolution iſt nicht nur das Zeichen eines ungeheueren Mißgeſchicks, ſon-
dern ſelbſt ein Mißgeſchick, ſelbſt ſchuldbelaſtet; er dachte ſehr beſcheiden
von der gerühmten Freiheit „des, wenn man ſo will, conſtitutionellen
Deutſchlands“ und verlangte für Preußens künftige Reichsſtände nur ſolche
Rechte, die ſich mit dem lebendigen Königthum vertragen könnten. Das
Alles in einer edlen, gedankenreichen, die Gewiſſen packenden Sprache, die
lebhaft an Jakob Grimm’s monumentalen Stil erinnerte; und dazu überall
ein helles Verſtändniß für die Freiheit der hiſtoriſchen Größe, für den
Adel unſerer claſſiſchen Bildung, für die frommen, den Staat erhalten-
den Kräfte des Gemüths — ein vornehmer Sinn, der mit dem vorlauten
Hochmuth der Aufklärung nichts gemein hatte. Darum fand dies Be-
kenntniß des gebildeten Liberalismus zuerſt im Norden Anklang, wo die
monarchiſche Geſinnung noch naturwüchſig, die Geſetzgebung Stein’s noch
unvergeſſen war. Dahlmann glaubte an eine auch äußerliche Vollen-
dung der menſchlichen Dinge am Ende der Geſchichte, und dieſer Glaube,
den in unſeren erfahrungsreicheren Tagen nur noch jugendliche Schwär-
mer hegen, gab ſeinen Worten eine ſtolze, den Zeitgenoſſen unwiderſteh-
liche Zuverſicht. Schwerer trennten ſich die Süddeutſchen von ihrem Ver-
nunftrecht; indeß entſtand auch dort allmählich eine gemäßigt liberale
Partei, die mindeſtens von den radicalen Schlagworten der alten Lehre,
von der Volksſouveränität, dem Geſellſchaftsvertrage und dem Rechte der
Revolution nichts mehr hören wollte. Leider blieb Dahlmann’s Buch un-
vollendet. Der wortkarge Mann entſchloß ſich zum Schreiben faſt noch
ſchwerer als zum Reden, und er fand auch in der Wiſſenſchaft keinen
Nachfolger, denn der Weg, den er gewieſen, war nur für ungewöhnliche
Talente gangbar. Bis zum heutigen Tage beſitzen wir noch kein Werk,
das wirklich das geſammte Staatsleben aus den gegebenen Zuſtänden her-
aus erklärte und ſtatt ſubjectiver politiſcher Behauptungen nur erweisbare
hiſtoriſche Wahrheiten aufſtellte.
[471]Dahlmann’s däniſche Geſchichte. Schloſſer.
Bald nachher ſchrieb er die Geſchichte Dänemarks für die vielbändige
von Heeren und Ukert herausgegebene Europäiſche Staatengeſchichte, deren
Verbreitung bewies, wie richtig der umſichtige Verleger Perthes die neu
erwachte hiſtoriſche Wißbegierde der Zeit geſchätzt hatte. Dahlmann’s Werk
war die Perle der Sammlung. Seine alten Feinde ſelbſt, die Dänen
mußten ihm zugeſtehen, daß noch Niemand die norwegiſch-isländiſche, die
däniſche, die niederſächſiſche Cultur und die aus ihrer Wechſelwirkung ent-
ſtandenen eigenartigen Rechtsbildungen ſo gründlich durchforſcht, ſo an-
ſchaulich geſchildert hatte. Er glaubte ſelbſt aus ſchwediſchem Geſchlechte
zu ſtammen und hatte faſt ſein ganzes Leben in den Grenzgebieten der
deutſchen und der ſkandinaviſchen Welt verbracht; alſo fühlte er ſich warm
und heimiſch dort im Norden. Auch von der hochpoetiſchen Schönheit der
nordiſchen Sagas konnte er Einiges in ſeine Erzählung aufnehmen, weil
er unter den alten Ueberlieferungen zwar mit Niebuhriſcher Unbefangen-
heit aufräumte, doch ſie nicht gänzlich zu verwerfen brauchte. Ueber die
Handelnden ſprach er ſtreng, aber mit wohlwollender Menſchenkenntniß
und mit jenem gemüthlichen Humor, der zum Verſtändniß germaniſcher
Naturen unentbehrlich bleibt. Immer zur rechten Zeit trat er ſelbſt her-
vor, um mit ſeinen ernſten tiefen Augen das Ergebniß der Entwicklung
zu überblicken; denn der Hiſtoriker kann nicht, wie der epiſche Dichter, in
einer freierfundenen Fabel die Nemeſis walten laſſen, darum ſoll er ſelbſt
freimüthig ausſprechen, was das Gewirr der Thatſachen für die ſittliche
Welt bedeute, darum liegt die ergreifende Macht eines Geſchichtswerkes
immer in der ſtarken Perſönlichkeit des Erzählers. Auch dies Buch blieb
unvollendet, und der entlegene Stoff lockte die Maſſe der Leſer nicht an.
Weit ſtärker als Ranke oder Dahlmann wirkte Schloſſer auf die
öffentliche Meinung durch das eigentlich populäre Geſchichtswerk der Epoche,
die neue Ausgabe der Geſchichte des achtzehnten Jahrhunderts. Hier fan-
den die Mittelklaſſen was ſie bei Jenen vermißten: einen allgemein ver-
ſtändlichen Stoff, ſchonungsloſes ſittliches Urtheil und den derben frieſi-
ſchen Trotz, der allen Gewaltigen der Erde mit ſichtlicher Freude, „demo-
kratiſch die Wahrheit ſagte.“ Die furchtbaren Anklagen wider die Fürſten
und die Unglücklichen, die als Miniſter „alle Untugenden der Miniſter
zeigten“, behagten den verbitterten Leſern, obgleich ſie unzweifelhaft ein
falſches Bild gaben von einem reichen Jahrhundert, das gerade durch ſeine
abſolute Fürſtengewalt, durch monarchiſche, den Gedanken der Völker vor-
auseilende Reformen die Geſittung der Menſchheit gefördert hatte. An
den Höfen ſelbſt ward man dem „Menſchenfreunde, dem contemplativen
Philoſophen“, wie er ſich gern nannte, nie ganz gram, die Großher-
zogin Stephanie von Baden ſchenkte ihm ihre treue Gunſt; denn ſeine
beſtändige ſittliche Entrüſtung entſprang einem tiefen, warmen Gemüthe,
und in dem kleinlichen Parteihaſſe der Zeit bewahrte ſich der greiſe Polterer
noch immer viel von der weitherzigen Humanität des alten Jahrhunderts.
[472]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Auch die ungeſchlachte Plumpheit ſeiner Darſtellung ward ihm nicht
angerechnet; man bewunderte vielmehr ſeinen geſinnungstüchtigen Muth,
wenn er alle Eleganz und Milde „abſichtlich zu verſchmähen“ erklärte,
und bemerkte nicht, wie nahe ſich dieſe rohe Formloſigkeit mit der fri-
volen Formenſpielerei Heinrich Heine’s berührte. Schloſſer wie Heine
hielt den Stil für einen Mantel, den man dem Inhalt nach Belieben
umhängen oder auch abnehmen könne. Sie wußten nicht, was Goethe
doch längſt gezeigt hatte, daß der ſtill ausgereifte Gedanke den richtigen
Ausdruck ſo nothwendig hervorbringt, wie die Blüthe die Frucht, und die
ſchöne Proſa aus der vollkommenen Beherrſchung des Stoffes ſich ganz
von ſelbſt ergiebt. Schloſſer ward formlos, weil er den entſagenden Fleiß
Ranke’s verachtete und über Halbverſtandenes mit moraliſchen Kraftworten
haſtig hinwegſtürmte. Die härteſten ſeiner vielen ungerechten Urtheile ent-
ſprangen der Unwiſſenheit. Wenn er kurzab meinte, das Aushebungs-
ſyſtem Friedrich Wilhelm’s I. hätte leicht beſſer und gerechter eingerichtet
werden können, ſo wußte er nicht was er ſagte; er ahnte nicht, welchen un-
überwindlichen Widerſtand die rohen Maſſen des Volkes ſchon der be-
ſchränkten Cantonspflicht entgegengeſetzt hatten. Mehr Sachkenntniß und
darum auch mehr Billigkeit zeigten die literariſchen Abſchnitte, die beſten
und beliebteſten des Werkes. Freilich gelang ihm bei dieſem erſten Ver-
ſuche noch nicht, den inneren Zuſammenhang, die beſtändige Wechſelwir-
kung des literariſchen Lebens und der politiſchen Machtkämpfe nachzu-
weiſen. Beides ſtand bei ihm noch unvermittelt nebeneinander; und zu-
dem lagen die entſcheidenden Jahre ſeiner eigenen Bildung noch hinter
der Blüthezeit unſerer Dichtung zurück; darum ſtellte er Leſſing „den
Anfänger und Vollender deutſcher Bildung“ hoch über Schiller und
Goethe, und die Schriften der engliſch-franzöſiſchen Aufklärung waren ihm
offenbar vertrauter als ſpätere, größere Werke.
Und wunderbar, dies ganz altväteriſche Buch ſchwamm doch mitten im
Strome des modernen Lebens. Gerade weil Schloſſer der liberalen Partei
immer fern ſtand, hielten die Zeitgenoſſen ſeine grauſame, oft empörend un-
billige Strenge für die Gerechtigkeit eines unbeſtechlichen Richters; er erſchien
ihnen wie ein Bußprediger des Mittelalters, ſeine dröhnende Stimme klang
wie die Todtenglocke, die das Nahen der von ſo Vielen erſehnten Revolution
ankündigte, und wenngleich er zuweilen auch gegen „dieſe ſchlaffe, unfreie
Generation“ in Bauſch und Bogen eiferte, ſo blieb den Leſern doch der
willkommene Eindruck, als ob alles Uebel nur von den Höhen der Ge-
ſellſchaft herabfließe. Obwohl er den Unterſchied öffentlicher und häus-
licher Sittlichkeit zu kennen behauptete, ſtellte er doch alle Helden der Ge-
ſchichte erbarmungslos unter den Maßſtab ſeiner Kantiſchen Privatmoral;
die Freiheit des Genius blieb ihm ſo unfaßbar wie das Recht der retten-
den That, nur der unlauteren Größe Napoleon’s geſtand er zu, was er
einem Friedrich nicht einräumte. Ihm fehlte der hiſtoriſche Sinn, der die
[473]Leo.
Wandelbarkeit der ſittlichen Ideale der Menſchheit beſcheiden erkennt und
darum, ſtatt dem ewigen Richter vorzugreifen, jede Zeit nur nach ihren
eigenen, endlichen Zwecken beurtheilt. Ariſtokrat in Leben und Neigung,
reizte er arglos den Groll der Mittelſtände wider die beſtehende Ordnung.
Ein Verächter des akademiſchen Zunftgeiſtes förderte er ebenſo arglos die
Selbſtüberhebung der Gelehrten; denn aus der ſchlammigen See fürſtlicher
Nichtswürdigkeit, die er ſeinen Leſern ſchilderte, ragten als einſame Felſen
nur einige große Schriftſteller hervor. Hier allein fand er „Wahrheit,
Einfalt, ſtilles Leben, Selbſtbeherrſchung, den beſcheidenen Wandel und die
Tugend, ohne welche die Freiheit ein Traum, das Recht ein Schatten
bleibt.“ Hier allein glaubte er reine Luft zu athmen und fühlte nicht,
daß dies beſchauliche ſtille Leben auch ſeinen Hochmuth, auch ſeine Sün-
den und Verſuchungen hat, die nur minder grell in die Augen fallen als
die Sünden der Handelnden. Verzeihlich alſo, daß der junge Gervinus
und andere ſeiner Schüler ſich den Staatsmännern auch im Handeln un-
endlich überlegen däuchten, und die Profeſſoren in Deutſchland bald eine
ähnliche Rolle ſpielten wie in Frankreich die Rechtsanwälte; denn nicht
Jeder vermochte wie Schloſſer ſelbſt, zugleich die Politiker zu meiſtern und
ſich vom öffentlichen Leben beſcheiden zurückzuhalten. Sein ſtarkes ſitt-
liches Pathos, das man doch nicht vornehm überſehen konnte, bewahrte
die deutſche Geſchichtſchreibung vor blutloſem Kaltſinn; aber ſeine Werke
veralteten ſchnell, ſobald die erregte Stimmung der Zeit ſich beſänftigte.
Seit die Geſchichtſchreibung wieder politiſch geworden war konnte es ihr
auch an erklärten Parteimännern nicht fehlen. Heinrich Leo hatte ſich, nach-
dem der wilde Radicalismus ſeiner Burſchentage verbrauſt war, eine Zeit
lang der Hegel’ſchen Philoſophie ergeben und war dann wieder zurückge-
gekehrt zu der romantiſchen Weltanſchauung, die ſeiner Natur entſprach.*)
Er entfaltete in Halle eine überaus fruchtbare Thätigkeit als Lehrer wie
als Schriftſteller — ein Feuergeiſt von überſprudelnder Kraft, ehrlich und
liebenswerth ſelbſt in ſeiner unerſättlichen Kampfluſt, aber maßlos in Allem,
ſo beherrſcht von der Leidenſchaft, daß ihm trotz ſeiner reichen Gelehr-
ſamkeit ganze Epochen der Geſchichte unverſtändlich bleiben mußten. Ledig-
lich die Welt des Mittelalters und namentlich ihr farbenreiches Städte-
leben war ihm ganz vertraut; das zeigte ſelbſt ſein beſtes Werk, die
italieniſche Geſchichte, noch deutlicher nachher die niederländiſche und die
Univerſalgeſchichte. Die Formenreinheit der Antike ſchien ihm ſeelenlos,
und in den neueren Jahrhunderten ſah er nur „einen fortwährenden
Verfall“, nur die proſaiſche Herrſchaft der materiellen Intereſſen — als ob
dieſe Intereſſen nicht auch das Städteweſen des Mittelalters beſtimmt
hätten. Tiefſinnig ſchilderte er die ſtürmiſche Ehe Deutſchlands und Ita-
liens in den ſtaufiſchen Zeiten: „der Mann voll Kraft, Muth und Präten-
[474]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſionen, die Frau voll Liſt, Gewandtheit und in allen Spielen Meiſterin;
Beide können einander nicht laſſen, und doch regen ſie einander fortwährend
auf.“ Aber wie dann die alte Schickſalsgemeinſchaft der beiden großen
Nationen in der modernen Geſchichte ſich erneuerte, wie die Patrioten
dieſſeits und jenſeits der Alpen ſich für gleiche Ideale begeiſterten, wie
Piemont das Preußen Italiens wurde, — dies wunderbare Schauſpiel
blieb ihm ganz verborgen, obgleich ſich der Vorhang doch ſchon zu heben
begann. Er wollte in den neuen Jahrhunderten nur eine „atomiſtiſch-
mechaniſche Richtung“ erkennen, und weil er ihre ſchöpferiſchen Kräfte nicht
würdigte, darum blieb auch fruchtlos was er mit vollem Rechte gegen ihre
Verirrungen ſagte. Wenn er der gefühlsſeligen Ueberfeinerung mit mar-
kigen Worten die Herrlichkeit des Krieges, die Nothwendigkeit ſtrenger Straf-
geſetze vorhielt oder unerſchrocken erklärte, die Franzoſen würden durch
„das Geſpenſt der hohlen Freiheit“ für die Frevel ihrer Revolution ge-
züchtigt, ſo meinte die liberale Welt, um das Brüllen des halliſchen Löwen
brauche man ſich nicht zu kümmern. Sein herausforderndes Weſen
brachte ihn um manche wohlverdiente Anerkennung, und da er überall die
Autorität, im Mittelalter alſo die römiſche Kirche vertheidigte, ſo gerieth
der treue Anhänger des preußiſchen Königthums ſogar in den Ruf katho-
liſcher Geſinnung; er dachte aber, wie er ſelbſt geſtand, viel zu frei, um
ſich „einer ſo durch Hochmuth bornirten Gemeinſchaft anzuſchließen“.
Inzwiſchen fanden auch die Ultramontanen in Friedrich Hurter end-
lich ihren Parteihiſtoriker. Aus ſeiner Geſchichte Innocenz’s III. ſprach der
clericale Fanatismus ſo vernehmlich, daß ſein alter Freund Haller zufrie-
den ſagte, kein proteſtantiſches Wörtlein ſei darin enthalten. In der Kirche
iſt alles, außer ihr kein Heil — ſo wiederholte er unabläſſig; die fin-
ſtere Glaubenswuth des Jahrhunderts der Bettelorden und der Inquiſi-
tion galt ihm für die Blüthe der chriſtlichen Liebe, und je roher er der
freien Bildung in’s Geſicht ſchlug, um ſo zuverſichtlicher betheuerte er:
„Das iſt das Urtheil der Geſchichte, nicht der Dogmatik oder Polemik.“
In langen Jahren vorbereitet, bot das Buch reichen Stoff, aber keine ein-
dringende Kritik, die Darſtellung war trotz der maſſenhaft angeſammelten
maleriſchen Einzelzüge ſchwerfällig und ohne Leben, die Grundanſicht falſch.
Nur eine geiſtloſe, äußerliche Anſchauung konnte den Papſt, unter deſſen
Herrſchaft die Kirche ihre höchſte Macht erreichte, darum auch für den
größten aller Kirchenfürſten halten; hinter den erhabenen kirchlichen Ideen
des erſten oder des ſiebenten Gregor ſtand Innocenz’s harte Herrſchſucht
ebenſo weit zurück, wie hinter der kühnen nationalen Politik Alexander’s III.
Und wenn der Lobredner Innocenz’s gar über „den irdiſchen Beſitz“ der
Kirche klagte, ſo offenbarte er nur die Schwäche ſeines hiſtoriſchen Urtheils,
denn gerade ſein Innocenz hat den Kirchenſtaat erſt geſchaffen.
Eine ſolche Verherrlichung des Todfeindes unſerer Stauferkaiſer mußte
den Clericalen um ſo willkommener ſein, da ſie aus der Feder eines hoch-
[475]Hurter. Grimm’s Mythologie.
geſtellten evangeliſchen Geiſtlichen kam. Ein Ruf des Beifalls und der
Schadenfreude ſcholl durch das ultramontane Lager; Möhler in Tübingen
brachte das Buch ſogleich in den Hörſaal um ſeinen geiſtlichen Hörern zu
erklären, was wahre Geſchichtſchreibung ſei. Die Evangeliſchen aber zeig-
ten anfangs ihrem abtrünnigen Glaubensgenoſſen jene haltloſe Nachſicht,
welche jederzeit die natürliche Schwäche proteſtantiſcher Geiſtesfreiheit ge-
blieben iſt. Bei mehreren katholiſchen Buchhändlern hatte Hurter ver-
geblich angeklopft, ſie alle hatten ſich geſcheut, die aufklärungsſtolze Leſer-
welt vor den Kopf zu ſtoßen; der ehrliche Proteſtant Perthes dagegen ver-
legte das Buch ſo unbedenklich, wie er einſt Stolberg’s Religionsgeſchichte
verlegt hatte, er hoffte noch harmlos auf eine Verſtändigung der beiden
Schweſterkirchen. Dann feierte Leo den Gegner der Ghibellinen in den
Berliner Jahrbüchern. Hurter’s ſtreng-reformirte Landsleute in Schaff-
hauſen erwählten ihn, nachdem der erſte Band (1834) erſchienen war,
zum Antiſtes, zum erſten Geiſtlichen des Cantons, und die Baſeler evan-
geliſche Facultät, der Männer wie de Wette und Hagenbach angehörten,
ernannte ihn ſogar zum Ehrendoctor „wegen der bewieſenen reichen Kennt-
niß der Kirchengeſchichte“. Wenn Hurter von dem Geiſte der evangeliſchen
Gemeindekirche etwas ahnte, ſo durfte er als ehrlicher Mann keine Stunde
mehr einen Glauben predigen, deſſen Grundwahrheiten er rundweg ab-
leugnete. Sogar Haller beſchwor den Freund, offen mit der Ketzerei zu
brechen, weil ſeine Stellung unhaltbar werde; der alte Herr mochte jetzt
wohl mit Scham der Zeiten gedenken, da er einſt ſelbſt ſeinen Uebertritt
feige geheim gehalten hatte.*) Der Schaffhauſener Antiſtes aber lebte
ganz in den Anſchauungen jener alten ſchweizer Herrengeſchlechter, die vor-
mals als Landvögte in den Vogteien der Eidgenoſſenſchaft gehauſt hatten,
und übertrug dieſe Herrſchaftsgedanken kurzab in die Kirche; er wähnte
ein Prieſter zu ſein und mithin befugt zur Ausübung ſeiner hierarchiſchen
Gewalt, gleichviel was die verirrte Heerde denke. Plump, unbelehrbar,
ſtierköpfig wie die meiſten ſchweizer Reactionäre, blieb er in ſeinem evan-
geliſchen Amte und ſchrieb zugleich an ſeinem Werke weiter, das mit jedem
neuen Bande fanatiſcher wurde. Er trat in Verbindung mit dem Papſte,
mit Nuntien und Biſchöfen, mit allen Führern der clericalen Partei in
Süddeutſchland, und trieb ungeſcheut ultramontane Politik, bis nach Jahren
endlich im proteſtantiſchen Volke der Unwille erwachte über ein Treiben,
das nur noch eine freche Lüge war. —
Während die namhaften politiſchen Hiſtoriker erſt auf Umwegen, aus
der Univerſalgeſchichte an die deutſchen Dinge herantraten, lebte und webte
Jakob Grimm ganz in der Heimath; wie ein frommer Prieſter das an-
vertraute Heiligthum, hütete er die Schätze unſerer Urzeit. Er wollte „das
Vaterland erheben, weil ſeine Sprache, ſein Recht und ſein Alterthum
[476]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
viel zu niedrig geſtellt waren,“ und weil er vorausſah, daß „die Zukunft
an der Gegenwart jede Geringſchätzung der Vorzeit rächen werde“. Darum
hatte er ſeinem Volke einſt erwieſen, daß „unſere Voreltern eine wohlge-
füge Sprache redeten und eines ſinnvollen Rechtes pflagen,“ und nun
zeigte er durch das dritte ſeiner grundlegenden Werke, die Deutſche Mytho-
logie (1835), daß ſie auch „des beſeligenden Glaubens an Gott und Götter
voll waren, nicht dumpf brütend vor Götzen und Klötzen niederfielen.“
Wärmer, gemüthlicher hatte er noch nie geſchrieben. Seinem liebevollen
Herzen that es wohl, da wieder aufzubauen, wo die verſtändnißloſe Kritik
des Rationalismus nur zerſtört hatte. Er wußte, daß aller Sage Grund
der Götterglaube iſt und die Sage ewig wiedergeboren wird, während die
überall neue und friſche Geſchichte ſich niemals wiederholt. Er erkannte
zuerſt, wie nach der Bekehrung der Germanen das Chriſtenthum darnach
trachtete, die heidniſchen Ideen herabzuſetzen, das Heidenthum ſich unter
chriſtlichen Formen zu bergen ſuchte und alſo Vieles von dem alten Hei-
denglauben in dem Hexen- und Teufelsglauben des Mittelalters verzerrt
wiederkehrte, aber auch die heiligen Geſtalten des chriſtlichen Glaubens
manche Züge der alten Götter annahmen, die Freya in der Maria, Thor
in Petrus, die Aſen in den Apoſteln fortlebten. So, aus der umfaſſen-
den Erforſchung heidniſcher und chriſtlicher Ueberlieferungen, geſtaltete ſich
ihm das Bild der germaniſchen Götterwelt, wie ſie wirklich war, unklarer,
formloſer, phantaſtiſcher als die Götter des Olymps, aber der claſſiſchen
Mythologie überlegen durch den allezeit lebendigen Glauben an die Fort-
dauer nach dem Tode und die ſittliche Verantwortlichkeit der Sterblichen,
überlegen durch ihre Verwandtſchaft mit dem Chriſtenthum, überlegen auch
durch ihre naive, natürliche Treuherzigkeit, denn wie viel heimlicher und
zutraulicher erſchienen doch die Zwerge, Elben und Rieſen der Deutſchen
als die vornehmen, durch die Kunſtpoeſie ausgeſchmückten Nymphen, Kabiren
und Kyklopen der Hellenen. Alle gelehrte Syſtemſucht wies er hinweg von
dieſer Welt lebendiger Geſtalten, die ein wagendes Heldenvolk mit Sieges-
freude und Todesverachtung erfüllt hatten. Weder den Pantheismus wollte
er unſeren Vätern andichten laſſen, da ſie doch viele Götter von verſchie-
dener Macht und Würde verehrten, noch den Dualismus, da die milden,
gütigen Götter in ihrem hoffnungsreichen Glauben zu ſehr überwogen.
Kein anderes Volk beſaß noch eine ſo lebensvolle, ſo tiefgründige Dar-
ſtellung des Seelenlebens ſeiner Urzeit. Ebenſo unvergleichlich erſchien in
der Weltliteratur die Abhandlung „über die Verſchiedenheit des menſchlichen
Sprachbaues“, Wilhelm Humboldt’s letztes Werk, in dem ſich die genialen
Kräfte zweier Zeitalter, die philoſophiſche Univerſalität des alten und die
ſtrenge Einzelforſchung des neuen Jahrhunderts noch weit glücklicher ver-
einigten als einſt in dem Aufſatze über die Aufgabe des Geſchichtſchreibers.
Die tiefſten Räthſel alles Daſeins berührend, entwarf Humboldt hier
in kühnen Antitheſen das philoſophiſch-hiſtoriſche Bild vom Weſen der
[477]W. v. Humboldt und die Sprachwiſſenſchaft.
Menſchheit, das ihn ſein Lebtag beſchäftigt hatte, und zeigte: wie der
Menſch nur Menſch iſt durch die Sprache, doch gewiß nicht ihr Schöpfer,
da er ſchon Menſch ſein müßte um ſie zu erfinden; wie das Räthſelhafte
der Sprache nicht im Reden liegt, ſondern im Verſtehen, das nur be-
griffen werden kann, wenn man erkennt, daß Ich und Du wahrhaft iden-
tiſche Begriffe ſind; wie die Sprache zugleich der Seele fremd und ihr
angehörig iſt, abhängig von den Denkgeſetzen und doch frei, da ſich das
Widerſinnige nicht denken wohl aber ſagen läßt; wie der Organismus der
Sprache durch die ganze Nation geſchaffen wird, ihre Cultur hingegen
durch die Einzelnen und ſie alſo zugleich national iſt und individuell, be-
herrſcht durch eine alte Vergangenheit und neu in jedem Augenblicke, nicht
ein Werk, ſondern eine Thätigkeit, ſtufenweiſe fortſchreitend in der Regel,
doch zuweilen auch plötzlich durch die unmittelbare ſchöpferiſche Kraft des
Genies, die in ganzen Völkern ſich ebenſo mächtig zeigt, wie in den Ein-
zelnen; wie ſie wiſſenſchaftlich behandelt werden kann lediglich als ein
Zeichen für den Gedanken, aber auch lebendig, redneriſch für jede Erkennt-
niß, welche die ungetheilten Kräfte des Menſchen fordert, und darum auf
Poeſie, Philoſophie, Geſchichte alle eigentliche Bildung unſeres Geſchlechtes
beruht.
Vor Jahren hatte der alte Blumenbach die Materialiſten auf’s
Haupt geſchlagen durch die einfache Bemerkung: „Warum kann der Affe
nicht ſprechen? Weil er nichts zu ſagen hat.“ Was Jener nur witzig an-
gedeutet, wurde durch Humboldt endgiltig erwieſen: daß die Sprache mit
der Vernunft, dem Selbſtbewußtſein unmittelbar gegeben, der Begriff
vom Worte nicht zu trennen und Verſchiedenheit der Sprache nichts an-
deres iſt als Verſchiedenheit der Weltanſicht. Aus der Fülle ſeines un-
vergleichlichen ſprachlichen Wiſſens heraus zeigte er dann im Einzelnen,
wie der Gedanke durch das Zeitwort in die Wirklichkeit übertritt, wie der
Relativſatz nur die Eigenſchaft eines Hauptworts bezeichnet — und ſo weiter,
lauter ſchöpferiſche Ideen, welche der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft
auf lange hinaus die Richtung wieſen. Es war das letzte Vermächtniß
jenes alten ſtolzen deutſchen Idealismus, der einſt die Tage von Weimar
und Jena durchleuchtet hatte. Humboldt ſtarb (8. April 1835) noch vor
der Vollendung des Werkes über die Kawi-Sprache, das durch jene Ab-
handlung eingeleitet werden ſollte; mit heiterer Ruhe, erhaben über alles
Schickſal, ertrug er die Qualen ſeiner letzten Krankheit. Neben ſeinem
Tegeler Schloſſe, auf der Höhe über dem blauen See hatte er ſchon vor
Jahren ſeiner Gattin und ſeinem treuen Lehrer Kunth eine weihevolle
Ruheſtätte bereitet. Nordiſche Fichten umgrenzten den ſtillen Raum, und
von ſchlanker Säule ſchaute das Marmorbild der Spes, ein Werk Thor-
waldſen’s, auf den Epheu der Gräber nieder. Dort ward auch er be-
ſtattet, der große Hellene germaniſchen Stammes.
Schon war ein Menſchenalter vergangen, ſeit der Baum der hiſto-
[478]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
riſchen Forſchung zuerſt wieder zu ſaften anfing, und noch immer ſetzte er
mit unerſchöpflicher Triebkraft friſche Zweige an. Soeben entſtanden
wieder zwei neue ſelbſtändige Wiſſenſchaften, da Schnaaſe die Kunſtge-
ſchichte, Gervinus die deutſche Literaturgeſchichte als ein Ganzes, in ihrer
nothwendigen Entwicklung, darzuſtellen unternahm. Inzwiſchen eroberte
ſich auch die claſſiſche Philologie ein neues Gebiet durch die große Samm-
lung der griechiſchen Inſchriften, die ſeit 1824 unter Böckh’s Leitung her-
auskam; noch während der Geldnoth der napoleoniſchen Kriege hatte König
Friedrich Wilhelm die Mittel dazu bewilligt, denn für die Pflege des Alter-
thums wußte er immer Rath zu ſchaffen. Nun erſt erſchien die helleniſche
Welt den Modernen greifbar, perſönlich, unmittelbar lebendig in ihrem
alltäglichen Treiben und Wirken, in der Mannichfaltigkeit ihrer Volks-
ſprachen, die ſich aus der vornehmen Literatur nur ahnen, nicht erkennen
ließ. Noch anſchaulicher geſtaltete ſich das Bild des antiken Lebens, als
Böckh in ſeinen Metrologiſchen Unterſuchungen den orientaliſchen Stamm-
baum des helleniſchen Maß- und Münzweſens entdeckte und alſo den Zu-
ſammenhang abendländiſcher und morgenländiſcher Cultur, von dem einſt
Creuzer und die Symboliker nur geträumt hatten, durch genaue Einzel-
forſchung erwies; denn glücklich verband ſich in Böckh’s Geiſte der ſtrenge,
nüchterne Zahlenſinn mit einem freien Schönheitsgefühle, das ſelbſt dem
dithyrambiſchen Schwunge Pindar’s zu folgen vermochte.
Dieſe kühnen Entdeckerfahrten der „Sach-Philologen“ betrachtete der
alte Helleniſt Gottfried Hermann mit wachſender Beſorgniß. Ihm war, als
ob ein reißender Strom hereinbräche in die friedliche Welt der Kritik und
Grammatik; manches Stück fruchtbaren Erdreichs wurde wohl angeſchwemmt,
das gab er zu, aber das ganze Land ward unwohnlich! Seine Schule fühlte
ſich in ihrem alten Beſitzſtande bedroht, ſie bekämpfte die philologiſchen Hiſto-
riker mit ungerechter Gehäſſigkeit, während doch beide Richtungen einan-
der nicht ausſchloſſen, ſondern ergänzten, und verfiel allmählich, ganz
wider des Meiſters Abſicht, in eine ideenloſe Mikrologie. Der claſſiſche
Unterricht auf den Gymnaſien begann zu kränkeln; manche Pädagogen
aus der Leipziger Schule betrachteten die Homeriſchen Gedichte nur noch
als ein Lehrmittel, an dem ſie die grammatiſchen Regeln der Eliſion, der
Kraſis, des Jota ſubſcriptum erweiſen konnten. Seit dem Ende der drei-
ßiger Jahre ließ ſich bereits bemerken, wie die Freude an der claſſiſchen
Welt unter den Schülern abnahm. Alſo begannen die alten feſten Grund-
mauern des deutſchen gelehrten Unterrichts ſchon leiſe zu wanken, zu der-
ſelben Zeit, da die Naturwiſſenſchaften fröhlich aufblühten und die Inter-
eſſen der erſtarkten Volkswirthſchaft gebieteriſch nach neuen Bildungsſtoffen
verlangten. —
Als der Rheinländer Lejeune-Dirichlet im Jahre 1822 die Univerſität
bezog, mußte er nach Paris gehen, denn in ganz Deutſchland konnte nur
ein Mathematiker ſeinen hohen Anſprüchen genügen, und dieſer eine,
[479]Böckh und Hermann. Die Naturforſchung.
Gauß, verſchmähte zu lehren. Wie anders ſtand es jetzt; wie viele kräf-
tige Talente waren auf allen Gebieten der exacten Wiſſenſchaften aufge-
treten, ſeit Alexander Humboldt wieder in Deutſchland weilte. Die Herr-
ſchaft der träumenden Naturphiloſophen ging zu Ende. Zum letzten male,
im Jahre 1827, ließen ſie an dem geiſtvollen Phyſiker Ohm ihren Ueber-
muth aus; der hatte den Zorn der Hegel’ſchen Jahrbücher erregt, weil
die wohlgeſicherten Ergebniſſe ſeiner Theorie des Galvanismus mit den
Hirngeſpinſten des Syſtems nicht ſtimmen wollten, und wurde daraufhin
von den Hegelianern des Cultusminiſteriums ſo geringſchätzig behandelt,
daß er gekränkt ſein Lehramt in Köln aufgab. Seitdem war das Selbſt-
gefühl der jungen Naturforſcher, die ſich unter Humboldt’s Banner zu-
ſammenfanden, beſtändig gewachſen; ſie fühlten ſich froh als die Träger
eines ſicheren, in Allem erweisbaren Wiſſens und lachten über die will-
kürlichen Conſtructionen der Philoſophen, während dieſe kaum noch einen
offenen Angriff wagten. Wohl wurde Hendrik Steffens, der in Schel-
ling’s Weiſe Naturphiloſophie lehrte, nach Berlin berufen, weil der Kron-
prinz ihn den widerwärtigen Händeln der Breslauer Altlutheraner ent-
ziehen wollte. Sein fürſtlicher Gönner glaubte, „daß ein Mann wie Stef-
fens des Lebens in der Hauptſtadt zu ſeinem eigenen Beſten bedarf, ebenſo
ſehr wie die Hauptſtadt an ihm die Acquiſition eines ihr fehlenden Cha-
rakters unter den ausgezeichneten Lehrern der Hochſchule machen würde“.*)
Aber der Einfluß des begeiſterten Schwärmers auf die Berliner Wiſſen-
ſchaft blieb gering, obwohl ſeine warme Beredſamkeit manche Zuhörer anzog.
Es klang wie ein wehmüthiger Abſchiedsgruß der alten an die neue Zeit,
als er beim Doctor-Examen (1837) dem jungen Geologen Beyrich bezeugte:
„die Antworten bewieſen, daß der Candidat ſich mehr mit den Gegen-
ſtänden ſelbſt als mit dem Abſoluten beſchäftigt hat.“ Die anderen Exa-
minatoren kehrten ſich an dieſen Tadel nicht, ſie huldigten alleſammt ſchon
der ketzeriſchen Anſicht, daß dem Naturforſcher das Abſolute ſich erſt aus
der Erkenntniß der Gegenſtände ergeben dürfe.
Wie gründlich dieſe neue Wiſſenſchaft dereinſt noch alle Lebensge-
wohnheiten der Nation verwandeln mußte, das ließ ſich bereits an der
jugendlichen deutſchen Induſtrie erkennen. Im Jahre 1785 war in den
Hettſtedter Kupferbergwerken in der Grafſchaft Mansfeld die erſte ganz
von Deutſchen gebaute Dampfmaſchine aufgeſtellt worden; jetzt konnte
ſchon in den meiſten Gewerbszweigen der Großbetrieb ohne Dampfkraft nicht
mehr gedeihen, und auch die Landwirthſchaft ſpürte längſt die belebende
Kraft der neuen Erkenntniß. Schon unter Friedrich dem Großen hatte der
Berliner Chemiker Marggraf den Rübenzucker dargeſtellt; doch erſt in dem
neuen Jahrhundert begann man die Erfindung praktiſch zu verwerthen,
und im Jahre 1840 beſaß der Zollverein bereits 145 Rübenzuckerfabriken,
[480]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
die aus 4,8 Mill. Ctr. Rüben über 284,000 Ctr. Zucker erzeugten. Die
zünftigen Nationalökonomen, die noch faſt ſämmtlich in den Banden der
engliſchen Theorien lagen und arglos die Intereſſen der britiſchen Handels-
politik vertheidigten, klagten und zürnten über dieſe künſtliche Induſtrie.
Indeß die Magdeburgiſchen Rübenbauer erfreuten ſich der ſteigenden Guts-
erträge, die Verzehrer der ſinkenden Zuckerpreiſe, und bald erlebte man,
daß in rüſtigen Zeiten eine Erfindung immer die andere weckt. Da die
Rübe ihre Wurzeln faſt viermal tiefer in die Erde ſenkt als das Getreide,
ſo mußte der Rübenbauer den Acker tiefer umpflügen, und ganz von ſelbſt
ergab ſich der Schluß, daß der Körnerbau dieſem Beiſpiel folgen, die
Kräfte des Bodens ohne ſie zu erſchöpfen gründlicher ausnutzen könne.
Hoffnungsvoll wie ein Jüngling begrüßte Alexander Humboldt die
große Zeit der Naturforſchung, die jetzt herannahte. Er ſchrieb in dieſen
Jahren ſeine Bücher über Centralaſien, die mit Ritter’s aſiatiſchen For-
ſchungen glücklich zuſammentrafen, und bereitete den Kosmos vor; unver-
droſſen ſaß der weltberühmte Alte in Paris und Berlin mitten unter den
Studenten, um von Haſe, Champollion, Böckh zu lernen, was ihm an
philologiſch-hiſtoriſchem Wiſſen noch fehlte. Zugleich blieb er der hilfs-
bereite Gönner aller aufſtrebenden Talente. Seiner Fürſprache verdankte
Juſtus Liebig den Zutritt zu Gay-Luſſac’s Laboratorium. Dort lernte
der feurige, leidenſchaftlich überſprudelnde junge Heſſe die Ehrfurcht vor
dem Wirklichen; er ſchüttelte den Hochmuth der Naturphiloſophie von ſich
ab, und als er nach Gießen heimkehrte (1826), gab er der Chemie, die in
Deutſchland noch kaum zu den Wiſſenſchaften gerechnet und gern den Apo-
thekern überlaſſen wurde, ſofort eine neue Lehrmethode: nicht im Hörſaal,
ſondern durch das Experiment, am Heerde und vor den Retorten, ſollten
ſeine Schüler ihr Beſtes lernen. Anfangs faſt allein auf ſeine eigenen
dürftigen Mittel angewieſen, nachher durch die heſſiſche Regierung unter-
ſtützt, errichtete er das erſte allgemein zugängliche Laboratorium, das der
kleinen Gießener Univerſität einen europäiſchen Ruhm verſchaffte. Weit
ſpäter erſt fand ſein Herzensfreund Wöhler in Göttingen ein leidliches
Unterkommen für ſeine Verſuche; Preußen aber blieb in der Pflege der
Chemie lange zurück, denn auf die ſtarken Anſprüche dieſer neuen Wiſſen-
ſchaften war das alte ſparſame Syſtem, das allein die Erhaltung von
ſechs Univerſitäten ermöglicht hatte, durchaus nicht eingerichtet. Auf Augen-
blicke unterlag Liebig’s hochſtrebender vielſeitiger Geiſt wohl jenen ſchwer-
müthigen Stimmungen, welche den Chemiker in der ſchlechten Luft des
Laboratoriums, beim Einerlei mühſamer Experimente ſo leicht anwandeln.
Dann meinte er verzweifelnd: „Die Chemie iſt doch im Grunde nur ein
Rechenexempel; zuletzt iſt ihr Zweck weiter nichts als eine gute Stiefel-
wichſe oder die Kunſt zu finden das Fleiſch gar zu kochen.“ Aber Wöh-
ler’s ruhiger Zuſpruch richtete ihn immer wieder auf, und wie vieler
ſchönen Erfolge konnten ſich die beiden Freunde ſchon jetzt erfreuen. Liebig
[481]Liebig. Wöhler. Joh. Müller.
erfand die Kunſt die Kohlenſäure ſofort zu wiegen und entdeckte das
Chloroform, deſſen Nutzbarkeit erſt nach Jahren ganz gewürdigt wurde.
Wöhler aber eröffnete einen überraſchenden Einblick in die letzten Geheim-
niſſe der Natur, als er den Harnſtoff aus den Elementen, ohne Mitwir-
kung der thieriſchen Lebenskraft, herſtellte; damit war ein tauſendjähriger
Irrthum widerlegt und der Beweis geführt, daß zwiſchen der organiſchen
und der unorganiſchen Welt eine feſte Schranke nicht beſteht.
Noch weiter, bis zu jenen Höhen wo Phyſik und Metaphyſik ſich be-
rühren, ſchritt der geniale Phyſiologe Johannes Müller in ſeinen Unter-
ſuchungen über den Geſichtsſinn (1825): er zeigte durch naturwiſſenſchaft-
liche Beobachtung, was Kant auf dem Wege der Speculation gefunden
hatte, daß wir die Dinge nicht ſehen wie ſie ſind, ſondern wie ſie uns
nach der Beſchaffenheit unſerer Organe erſcheinen müſſen. Gleich Liebig
hatte ſich auch Müller von den anmaßenden Vorausſetzungen der Natur-
philoſophie erſt losgeriſſen; jetzt ſtand er feſt auf dem Boden der exacten
Unterſuchung, erzog ſich in Berlin einen glänzenden Schülerkreis und fand
für die vergleichende Anatomie die phyſiologiſchen Grundlagen. Wenn
neue Gedanken in das deutſche Leben einſchlagen, fordert auch immer das
Gemüth ſein Recht. Eine ſchöne, herzliche Freundſchaft verband die meiſten
der jungen Berliner Naturforſcher: Dove, Mitſcherlich, Magnus, die Ge-
brüder Roſe; wenn ſie bei dem Chemiker Poggendorff in dem Thurmbau
der alten Sternwarte auf der Dorotheenſtraße zuſammenſaßen, dann über-
kam ſie die Ahnung einer großen Zukunft. Die Gegenwart war freilich
noch ſehr beſcheiden; dieſe werdenden Wiſſenſchaften mußten ſich die Gleich-
berechtigung erſt erkämpfen. Nur die alteingebürgerte Aſtronomie galt für
ein vornehmes Fach; für ſie hatte auch der Staat immer offene Hände.
Er hatte einſt mitten im Elend der napoleoniſchen Kriegszeiten die Königs-
berger Sternwarte errichtet, wo dann Beſſel die Poſition der Fundamen-
talſterne berechnete und alſo die Einheit der aſtronomiſchen Beſtimmun-
gen ſicherte; jetzt baute Schinkel die neue Berliner Sternwarte, die unter
Encke’s Leitung eine Muſteranſtalt wurde. Auch dabei half Humboldt’s
Fürwort mit; er war die wärmende Sonne dieſes Planetenkreiſes. Aber
erſt in den vierziger Jahren trat die deutſche Naturforſchung in ihre
Blüthezeit und zeigte ſich ſtark genug, die Franzoſen erſt zu erreichen, dann
zu überholen.
Während die Erfahrungswiſſenſchaften alſo ihre ſtolze Siegesbahn be-
ſchritten, war die Lebenskraft der alten deutſchen Philoſophie ſchon ge-
brochen. Ihre claſſiſche Zeit endete an Hegel’s Grabe. Wer nur von fern
hinſchaute, mochte freilich wähnen, daß der hohe Tag der Hegel’ſchen
Philoſophie erſt nach dem Tode des Meiſters gekommen ſei, denn jetzt erſt
erlangte ſein Name den höchſten Ruhm, ſeine Schriften die weiteſte Ver-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 31
[482]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
breitung. Seine Sonne leuchtete noch als ſie längſt am Horizonte ver-
ſunken war. Hegel’s alter Freund Altenſtein beklagte tief, „welcher Stern
erſter Größe für die Welt untergegangen“ ſei, und wollte nun mindeſtens
der Lehre des Verſtorbenen die Herrſchaft auf den preußiſchen Hochſchulen
ſichern. Umſonſt verlangten der Kronprinz und ſeine romantiſchen Freunde,
unterſtützt von den Brüdern Humboldt, daß Schelling als der einzige
ebenbürtige Nachfolger auf den verwaiſten Berliner Lehrſtuhl berufen
würde. Der Miniſter und ſein getreuer Johannes Schulze widerſtanden
hartnäckig, denn Schelling hatte ſich ſeit Jahren von dem Freunde ſeiner
Jugend getrennt und ſoeben erſt öffentlich ausgeſprochen, das Hegel’ſche
Syſtem ſei ein Rückfall in die Scholaſtik, eine wenig fruchtbare Epiſode
der deutſchen Philoſophie. Altenſtein hielt ſich von Amtswegen verpflichtet,
in der Kirche den wahren Glauben, in der Wiſſenſchaft den reinen Be-
griff zu beſchützen; er erklärte dem Könige (1835): „In den preußiſchen
Staaten hat ſchon ein tiefer begründetes philoſophiſches Syſtem dem an-
maßlichen unheiligen Treiben ein Ende gemacht. Für eine andere Philo-
ſophie kann das Miniſterium die Bürgſchaft nicht übernehmen, beſonders
nicht für die Schelling’ſche.“ Nach langen Verhandlungen berief man
endlich „die verhängnißvolle Gabel“, wie Alexander Humboldt ſpottete:
den Bayreuther Rector Gabler, einen trockenen, hochconſervativen Hege-
lianer, der auf jedes Wort des Meiſters ſchwor und einen Widerſpruch
zwiſchen der Identitätsphiloſophie und der chriſtlichen Offenbarung nirgends
zu entdecken vermochte. Niemand ſprach mehr von ihm, ſobald die erſte
Ueberraſchung verwunden war.
Durch dieſe lächerliche Berufung wurde Hegel’s Lehre förmlich als
preußiſche Staatsphiloſophie anerkannt. Seine ſämmtlichen Werke gab
Johannes Schulze im Vereine mit Gans, Hotho u. A. heraus, und die
Sammlung fand unzählige Bewunderer. Im Auslande fühlten ſich
namentlich die vornehmen Ruſſen und Polen von der gewaltigen Selbſt-
gewißheit dieſes Syſtems angezogen, weil ihre Halbbildung nach einer
feſten Autorität verlangte. Unterdeſſen bemühten ſich die Schüler das
Lehrgebäude in allen ſeinen Theilen auszubauen; mit heiligem Eifer, im
Bewußtſein einer weltgeſchichtlichen Aufgabe, ſchritten ſie an’s Werk, denn
nicht umſonſt hatte ihnen der ehrlich begeiſterte alte Lützower Fritz Förſter
am Grabe des Meiſters zugerufen: der Alexander der Wiſſenſchaft ſei
dahin, nun ſollten ſeine Generale ſich als Diadochen in ſein Reich theilen.
Die Univerſalität des Syſtems und ſeine in alle Sättel gerechte Methode
erleichterten in der That die Arbeitstheilung. Der beſcheidenſte aller
Hegelianer, Karl Roſenkranz in Königsberg, ein edler, um die humane
Bildung Altpreußens hochverdienter Mann, führte die pſychologiſchen und
äſthetiſchen Unterſuchungen Hegel’s weiter, während der Schwabe Friedrich
Viſcher in ſeinen äſthetiſchen Abhandlungen neue, aus der Fülle des an-
geſchauten Lebens gewonnene Gedanken ausſprach, die nur darum nicht
[483]Zerfall der Hegel’ſchen Schule.
zur vollen Wirkung gelangten, weil ſie in die Formeln des Syſtems müh-
ſam eingeſpannt waren.
Die meiſten der anderen Diadochen zeichneten ſich freilich nur durch
grenzenloſen Uebermuth aus; ihrer Schulweisheit war zwiſchen Himmel
und Erde nichts mehr räthſelhaft, für jede Frage hielten ſie einen Para-
graphen bereit. Wie hart wurde Roſenkranz als unphiloſophiſcher Kopf von
den Hegelianern der ſtrengen Obſervanz angelaſſen, als er unbefangen ein-
geſtand, der Philoſoph könne die Zukunft nicht a priori conſtruiren, ſon-
dern müſſe Ehrfurcht hegen vor dem Gott, der in dem Unvermutheten
der Geſchichte ſich kundgebe. Ueber ſolche Empfindungen war der Ber-
liner Michelet längſt hinaus. Der nahm den Hegel’ſchen Ternarius kurzer-
hand in die Philoſophie der Geſchichte hinüber, ſchilderte zum erſten die
unbekannte Urwelt, zum zweiten das geſchichtliche Leben, zum dritten die
Geſchichte der Zukunft, und konnte alſo den reinen, durch keinerlei Sach-
kenntniß beſchwerten Begriff ſich in der weiten Wüſte des erſten und des
dritten Abſchnitts völlig frei ergehen laſſen. Mit der gleichen Sicherheit
bekämpfte er den Pöbel der empiriſchen Naturforſcher, insbeſondere Dove’s
geiſtvolle Unterſuchungen über die Farbenlehre; er fühlte ſich auch keines-
wegs beſchämt, als Alexander Humboldt, diesmal den artigen Hofmann
verleugnend, ihm rundweg antwortete: zu dieſem Pöbel gehöre ich ſelbſt.
Trotz ſolcher lärmenden Prahlereien brachte die Schule Hegel’s kaum
noch eine neue Idee zu Tage. Niemand empfand dies ſchmerzlicher als der
ehrliche Roſenkranz, der ſchon fünf Jahre nach des Meiſters Tode in ſein
Tagebuch ſchrieb: Ueber gegebene Philoſophie zu reflectiren, verſtehen wir
Heutigen ganz leidlich, aber in eigenen Gedanken ſind wir jetzt nur Dilet-
tanten. Es war nicht anders, die deutſche Philoſophie hatte in einer
wunderbar ſtätigen Entwicklung Stufe für Stufe die kühnſten Gedanken,
welche der ſittliche Geiſt zu denken vermag, erreicht: als Kant ſeine Pflich-
tenlehre begründete, als Fichte die Erhebung des Ich über die Sinnen-
welt forderte, als Hegel in der Geſchichte den Tempel des allgegenwärtigen
Gottes fand. Aber mit Hegel hatte dieſer verwegene Idealismus, der
unſerem Volke für alle Zukunft die Stelle neben den Hellenen ſichert,
auch ſein letztes Wort geſprochen. Ueber ein Syſtem, das die Einheit von
Sein und Denken gefunden zu haben behauptete, führte kein Weg mehr
hinaus. Die Philoſophie konnte nur noch fortſchreiten, wenn ſie zuvor
von den ſtolzen Selbſttäuſchungen der ſpäteren Syſteme wieder zu ihrem
Ausgangspunkte, zu Kant, zurückkehrte; und dieſer Schritt geſchah, als der
junge Trendelenburg (1839) in ſeinen Logiſchen Unterſuchungen den
Grundgedanken der Hegel’ſchen Lehre, allerdings noch nicht vollſtändig,
widerlegte. Er erwies, daß reines Denken ſchlechthin unmöglich iſt, daß
alles Denken ſich nicht durch ſich ſelbſt, ſondern durch die Anſchauung
fortentwickelt und mithin auch nicht das Wirkliche aus ſich heraus erzeugen
kann. Er ſprach nur aus, was die hellen Köpfe der empiriſchen Wiſſen-
31*
[484]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſchaft längſt im Stillen fühlten; doch es währte noch lange, bis ſein
Widerſpruch von den Philoſophen recht beachtet wurde. Auch das war
ein Zeichen des beginnenden Umſchwungs, daß Herbart in Göttingen ſich
in dieſer Zeit erſt eine Schule zu bilden begann, der ſtrenge Denker, der
ſchon vor Jahren in Königsberg die erſte Anregung zur mathematiſchen
Pſychologie, zur naturwiſſenſchaftlichen Beobachtung der Vorgänge der
ſubjektiven Erfahrung gegeben hatte.
Die Maſſe der Hegelianer hielt an dem alten Banner feſt; ſie wieder-
holten unabläſſig die fertigen Formeln des Syſtems und ſuchten durch
Uebertreibung und Umſchreibung, durch mannichfache ſophiſtiſche Künſte
zu erſetzen, was ihnen an ſchöpferiſcher Kraft abging. Da der tiefſinnige
Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen entgegengeſetzte Auslegungen
geradezu herausforderte, ſo traten jetzt die beiden Parteien, welche ſich ſchon
bei Hegel’s Lebzeiten geſchieden hatten, ſcharf und ſchärfer auseinander.
Die Junghegelianer — ſo nannte man die Radicalen — und die Hegel’ſche
Rechte behaupteten beiderſeits mit einem Eifer, der einer größeren Sache
würdig war, daß ſie allein den Geiſt Hegel’s begriffen hätten. Dieſer
gedankenloſe Streit um den Namen des Meiſters bewies nur zu deutlich,
daß die Schule mit ihrer Weisheit am Ende war; und auch Michelet be-
ſtätigte nur den Bankbruch des Syſtems, wenn er triumphirend ausrief:
„eine Partei bewährt ſich erſt dadurch als die ſiegende, daß ſie in zwei
Parteien zerfällt.“ Hegel ſelbſt hatte die Liberalen allezeit leidenſchaftlich
bekämpft und dieſe conſervative Geſinnung ſoeben noch durch ſeine ſchönen
Aufſätze über die engliſche Reformbill bethätigt. Er ſah in der Juli-Revo-
lution die Buße für die Sünden des Liberalismus; er lebte in dem Wahne,
ſein pantheiſtiſches Syſtem entſpreche der chriſtlichen Dreieinigkeitslehre, und
freute ſich herzlich, als Göſchel und Gabler ſeine Philoſophie den Streng-
gläubigen mundgerecht zu machen ſuchten; er äußerte noch kurz vor
ſeinem Tode ſeinen Abſcheu über die radicale Unduldſamkeit, welche jeden
Vertheidiger von Staat und Kirche als einen Denuncianten verdächtigte,
und obwohl er einzelne Reformen verlangte, ſo war er doch ſtets darauf
bedacht, zunächſt das Vernünftige des Wirklichen, die innere Nothwendig-
keit der beſtehenden Ordnung aufzuweiſen. Die Männer der Hegel’ſchen
Rechten durften ſich alſo mit Recht für die Erben des Meiſters anſehen,
obgleich dabei manche Selbſttäuſchung mit unterlaufen mochte, und Michelet
war vollſtändig im Irrthum, wenn er dieſe conſervativen Hegelianer als
„die Hinausgegangenen und nicht mehr Schüler ſein Wollenden“ in Ver-
ruf erklärte.
Das Wirkliche als vernünftig hinzunehmen, widerſtrebt aber dem
ewig vorwärts drängenden menſchlichen Geiſte, zumal in Zeiten einer be-
rechtigten Unzufriedenheit. Darum konnten in dem nun entbrennenden
Streite die Junghegelianer auf den Beifall des Haufens zählen, wenn ſie,
dem Meiſter das Wort im Munde verdrehend, überall in den beſtehen-
[485]Die Junghegelianer. A. Ruge.
den Zuſtänden das Unvernünftige aufſpürten und durch ihre ſouveräne
Kritik als unwirklich aufzuheben ſuchten. Hatte Hegel die Einheit des gött-
lichen und des menſchlichen Lebens als eine ſittliche Forderung aufgeſtellt,
ſo erklärten ſeine radicalen Nachtreter den concreten Menſchen ſelbſt für
einen Gott; hatte er die conſtitutionelle Monarchie als ein Staatsideal
bezeichnet, ſo behaupteten ſie, alle Philoſophen müßten conſtitutionell und
alle Conſtitutionellen bald auch Philoſophen ſein. Sie hatten mit dem
conſervativen Meiſter in Wahrheit nichts gemein als ſeine dialektiſche
Methode, die freilich Alles beweiſen konnte, und fanden doch überall Glau-
ben, als ſie dreiſt behaupteten, daß ſie allein ihn ganz verſtünden. Wie
einſt Napoleon, der Bändiger der Revolution, die ſogenannten Ideen von
89 erſt in Europa verbreitet hatte, ſo wurde Hegel’s Syſtem erſt durch
ſeine abtrünnigen radicalen Schüler den gebildeten Durchſchnittsmenſchen
vertraut, und dieſe tiefſinnige Lehre von der geſchichtlichen Offenbarung
Gottes erſchien den Nachlebenden als die Doctrin des geſchichtsloſen Ra-
dicalismus. So hart, ſo übermäßig hart beſtrafte ſich an dem großen
Denker die tragiſche Schuld ſeiner ſophiſtiſchen Dialektik.
Als Sammelplatz der Junghegelianer dienten ſeit 1838 die von Ruge
und Echtermeyer herausgegebenen Halliſchen Jahrbücher. Arnold Ruge
war, nachdem er ſeine demagogiſchen Jugendthorheiten in langer Kerker-
haft abgebüßt, „zwei Jahre lang ruhig ausgewandert in das neu entdeckte
Land des neueſten Geiſtes“ und meinte ſich nun berufen, dieſe Hegel’ſche
Philoſophie, wie er ſie auffaßte, „die wahre Wirklichkeit, das Zeitbewußt-
ſein, das echt poſitive, das letzte hiſtoriſche Reſultat“ kämpfend zu ver-
treten, denn „Krieg iſt Leben, und Leben muß ſein“. Mit ſeinen Jahr-
büchern dachte er „allen noch wirklich treibenden und lebendigen Kräften
der Zeit einen ganz neuen Mittelpunkt der Anziehung“ zu bieten, und da
die jüngeren Profeſſoren eifrig mitarbeiteten, ſo glaubte er bald, ſein Halle
ſei ein anderes Weimar geworden. Durch und durch ehrlich, gemüthlich
bis zur Weichheit, ein liebenswürdiger Geſellſchafter und treuer Hausvater,
beſaß er doch weder Kenntniſſe noch fruchtbare Gedanken. Seine Stärke
lag lediglich in der dialektiſchen Gewandtheit, die Alles, was je gedacht
worden, als überwundenen Standpunkt, als aufgehobenes Moment zu „ne-
giren“, alle Gegner als „wiſſenſchaftlich Zurückgebliebene und Unmündige“
abzufertigen wußte. Da er in Halle Hausbeſitzer und Stadtverordneter
war, ſo hatte er die preußiſche Verwaltung aus der Nähe kennen gelernt und
geſtand ſeinen buchgelehrten Genoſſen aufrichtig: „unſer [Staatsweſen] iſt
ein freies, gerechtes.“ Die Verehrung der Liberalen für die Juden theilte
er auch nicht; „die Rahel, das eklige Menſch“ war ihm „nicht werth negirt
zu werden“, und wenn er unter Freunden mit ſeinem breiten pommer-
ſchen Lachen über die „Pferdsköpfe“ der Gegner ſich luſtig machte, dann
erhielten auch „die Knoblauchfreſſer“ unfehlbar ihren Theil. Es lag aber
im Weſen dieſer leeren, zum Selbſtzweck gewordenen Kritik, daß ſie ſich
[486]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
beſtändig überſtürzen und von einem überwundenen Standpunkt auf den
anderen fallend ſchließlich in den Tiefen des vaterlandsloſen jüdiſch-fran-
zöſiſchen Radicalismus anlangen mußte.
Die Jahrbücher brachten anfangs manchen verſtändigen Aufſatz, ſie
vertheidigten Preußen als den Staat der Intelligenz, des Proteſtantismus,
die Zucht ſeiner Beamten als ein nothwendiges Moment der Zukunft.
Doch nicht lange, da entdeckten ſie ſchon, daß Preußen von ſeiner eigent-
lichen Miſſion vielfach abgefallen ſei; ſein Beamtenthum ſei die ſchlecht-
hin gefangen gegebene Vernunft, ſein ganzes Staatsweſen noch katholiſch,
denn der Abſolutismus ſtehe und falle mit dem Katholicismus. So ging
es weiter, unaufhaltſam, in raſender Eile. Dieſen Kritikern ſchwieg die
Stimme des Gewiſſens; ſie fühlten ſich nie freier, als wenn ſie heute für
ſchwarz erklärten, was ſie geſtern für weiß gehalten. In einem diktato-
riſchen „Manifeſte“ vernichtete Ruge die Romantik, insbeſondere die hiſto-
riſche Schule. Bald darauf ſchleuderte er auch den Proteſtantismus ſelber
den Romantikern in den Abgrund nach: nur die Aufklärung ſollte noch
wahrer Proteſtantismus ſein und mit ihr die neue Geſchichte anheben.
Jeder lebendige Menſch war nur noch ein Princip und wurde in einem
der unzähligen Schubfächer, worauf die Begriffe des Syſtems angeſchrieben
ſtanden, untergeſteckt und begraben. Gentz verſchwand als Princip der
Genußſucht, Tholuck als Princip des Myſticismus, Leo als Princip des
hierarchiſchen Pietismus, der wieder „mit dem Jeſuitismus genau zuſammen-
treffen“ ſollte; nun gar in dem conſervativen Erdmann zu Halle verkör-
perte ſich ſchlechthin „die Verderbniß der Hegel’ſchen Philoſophie“.
Nach altem akademiſchem Brauche erhoben ſich alsbald geharniſchte
Feinde wider das ſtreitluſtige Blatt. Leo beſchuldigte „die Hegelingen“ der
Gottloſigkeit, in einem grimmigen Büchlein, das neben ſtarken Uebertrei-
bungen auch manche bittere Wahrheit ſagte. Der Verleger der Jahrbücher
aber, der radicale Buchhändler Otto Wigand, gewährte in Leipzig unter dem
Schutze der milden ſächſiſchen Cenſur allen Junghegelianern eine Freiſtatt,
und eine Zeit lang gewann es den Anſchein, als ſollte die zerfahrene deutſche
Publiciſtik ſich an der Pleiße einen neuen unnatürlichen Mittelpunkt ſchaffen.
Eine Maſſe von Streitſchriften ergoß ſich über „den verhallerten Pietiſten“
Leo und ſeinen Kampfgenoſſen, den jungen Theologen Kahnis. Die Jahr-
bücher ſtimmten tapfer mit ein; ſie verhöhnten die Profeſſoren der mittel-
deutſchen Univerſitäten in draſtiſchen Artikeln, die erſichtlich den liebreichen
Federn verkannter Privatdocenten entſtammten, und brandmarkten, ganz
in Heine’s unritterlicher Weiſe, jede Gegenſchrift als „eine neue, niedrige
Denunciation wider die Hegel’ſche Schule“. Schließlich blieb dieſe gewal-
tige akademiſche Klopffechterei ebenſo unfruchtbar wie einſt das burſchikoſe
Toben der Oken’ſchen Iſis. Aber mit der Hitze des Streites und der
Kraft der Schmähworte wuchs der Radicalismus der Ideen; ſchon ließ
ſich vorausſehen, daß die abſolute Kritik bald auch Vaterland und Volks-
[487]Halliſche Jahrbücher. L. Feuerbach.
thum, jede dem Menſchen geſetzte objective Ordnung als aufgehobene Mo-
mente negiren würde.
Unter den philoſophiſchen Mitarbeitern der Jahrbücher that ſich durch
die Schönheit ſeiner Sprache Ludwig Feuerbach hervor, ein Sohn des
großen Juriſten, ein edler feuriger Schwärmer, der mit unerbittlicher Logik
aus den Sätzen des Meiſters, wie er ſie verſtand, die allerletzten Folge-
rungen zog und endlich, in dem Buche über das Weſen des Chriſtenthums
(1841), zur Vernichtung aller Religion gelangte. Die dialektiſche Methode
handhabte er mit blendender Geſchicklichkeit; von dem hiſtoriſchen Sinne
freilich, der das Hegel’ſche Syſtem durchgeiſtigte und manche ſeiner Irr-
thümer entſchuldigte, beſaß Feuerbach gar nichts. Er ſah im chriſt-
lichen Glauben lediglich das ſtarre Princip der Weltverneinung; die pro-
teiſche Kraft des Chriſtenthums, das ſich die Jahrhunderte hindurch un-
abläſſig fortgebildet und ſeit der Reformation auch die antiken Ideen der
Weltfreudigkeit in ſich aufgenommen hatte, blieb ihm unfaßbar. Darum
hielt er jede Philoſophie kurzab für unchriſtlich. Wirklicher Gotteserkennt-
niß hatte ſich die Kirche ſelbſt nie vermeſſen; das Evangelium verhieß ja
nur denen, die reinen Herzens ſind, daß ſie dereinſt Gott ſchauen ſollten.
Die denkenden Theologen aller Parteien wußten längſt, daß der Menſch
ſich der Idee Gottes nur zu nähern vermag, indem er das Höchſte was
er kennt, das Menſchliche, noch zu ſteigern verſucht, und mithin in jeder
Gotteslehre einige anthropomorphiſche Vorſtellungen enthalten ſein müſſen.
Dieſe allbekannten und eigentlich nie beſtrittenen Erfahrungen bewieſen
eben nur die Beſchränktheit des menſchlichen Denkvermögens. Feuerbach
aber ſchloß daraus kurzab, die Gottesidee ſei ein Wahnbegriff, alle Theo-
logie ſei Anthropologie und müſſe ſobald dies erkannt worden augenblick-
lich verſchwinden; die Idee offenbare ſich nicht in Gott, ſondern in der
Gattung der Menſchheit. Die ganze wundervolle Kirchengeſchichte, die ſo
viele Jahrhunderte mit Geiſt und Leben erfüllt hat, war alſo nur eine
entſetzliche Krankheit; und da kein Menſch ohne Glauben zu leben ver-
mag, ſo blieb dem vollendeten Atheiſten allein übrig, an den Staat zu
glauben, den wahren Menſchen, der freilich erſt in der Form der Republik
ſeine Vollkommenheit erreichen ſollte. Kein Wort in dieſen ungeheuer-
lichen Trugſchlüſſen, das nicht der Lehre Hegel’s ſchnurſtracks zuwiderlief;
aber ſie waren alleſammt mit Hilfe der Hegel’ſchen Dialektik gefunden,
und ſie wurden mit ſo warmer Begeiſterung vorgetragen, daß ſie das her-
anwachſende Geſchlecht, zumal die jungen ehrgeizigen Naturforſcher, leicht
bethören konnten.
Das weitaus bedeutendſte, das einzige wahrhaft folgenreiche Werk
der Junghegelianer war das Leben Jeſu von David Friedrich Strauß,
das in dem verhängnißvollen Jahre 1835 wie ein Blitzſtrahl in die theo-
logiſche Welt hineinſchmetterte. Die Theologie befand ſich, obwohl nicht
arm an tüchtigen Männern, doch in einem Zuſtande der Unwahrheit,
[488]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
der ſchlechterdings nicht dauern konnte. Der alternde Rationalismus war
unmerklich in einen rohen Buchſtabenglauben zurückgefallen, er hielt die
Worte der heiligen Schrift feſt und zerſtörte ihren idealen Sinn durch
platte, geſchmackloſe Auslegungskünſte, er glaubte an die Erſcheinung der
Taube und bezweifelte die Ausgießung des heiligen Geiſtes. Die conſervati-
ven Hegelianer andererſeits verſuchten das Dogma aus dem Begriffe abzu-
leiten, die Anhänger Schleiermacher’s ebenſo vergeblich, die Thatſachen der
evangeliſchen Geſchichte als Ausſagen des chriſtlichen Bewußtſeins darzu-
ſtellen. Indem man Widerſprüche verſchleierte, Ungeſchichtliches beſchönigte,
entgegengeſetzte Berichte in einander ſchob, ſuchte man eine Harmonie zu
ſchaffen, welche weder das gläubige Gemüth noch den kritiſchen Verſtand
befriedigen konnte. Was der ehrwürdige Daub in Heidelberg über die
dogmatiſche Theologie jetziger Zeit ſchrieb (1833), war nach Form und
Inhalt rein ſcholaſtiſch: das Dogma wurde als ein Gegebenes hinge-
nommen und dann mit einem großen Aufwande unfruchtbarer Gelehr-
ſamkeit ſpeculativ begründet. Da mußte es denn wie eine befreiende That
wirken, als Strauß die ſtrenge Methode hiſtoriſcher Kritik, welche bei der
Behandlung der vorchriſtlichen Zeiten wie der ſpäteren Jahrhunderte der
Kirchengeſchichte ſchon längſt gehandhabt wurde, auch auf die erſten Zeiten
des Chriſtenthums anwendete. Er ſagte im Grunde wenig Neues, ſon-
dern ſtellte nur in umfaſſender Ueberſicht alle die Widerſprüche der evan-
geliſchen Berichte zuſammen, die ſeit den Tagen Leſſings und des Wolfen-
büttler Fragmentiſten vorlängſt erkannt, doch immer wieder künſtlich ver-
deckt worden waren; und eben darin, daß er mit radicaler Härte herausſagte
was Unzählige insgeheim dachten, lag die verblüffende Wirkung ſeines
Buches.
Strauß war in kleinbürgerlichen Verhältniſſen aufgewachſen und blieb
ſein Tagelang in ſeiner ganzen Lebensführung ein ſchwäbiſcher Philiſter;
er hatte den beengenden Zwang der württembergiſchen Kloſterſchulen er-
tragen und, wie vormals der junge Schiller, eine glühende Sehnſucht nach
Freiheit ſich angeeignet, weil ſein ſtolzer Sinn den Druck dieſes evange-
liſchen Kloſterlebens nicht ertragen konnte. Mit ſeinen ſiebenundzwanzig
Jahren gebot er ſchon über eine reiche, gründliche Gelehrſamkeit; ſein kri-
tiſcher Scharfſinn war bewunderungswürdig, ſein Stil immer lebendig,
anziehend, geiſtreich, und manche ſinnige Gedichte zeigten, daß ihm auch
die Phantaſie nicht ganz verſagt war. Aber die Macht einer großen, ur-
ſprünglichen und darum beſtändig wachſenden Perſönlichkeit, die ihm ſeine
blinden Verehrer andichteten, beſaß er nicht. Er zählte vielmehr zu jenen
tief unglücklichen Talenten, die ſich in abſteigender Linie entwickeln; ſein
erſtes Buch blieb ſein beſtes, und wenn ihm ſeine orthodoxen Gegner, ſelbſt
der milde Perthes, vorausſagten, er werde ein ſchlechtes Ende nehmen,
ſo haben ſie ſchließlich doch Recht behalten. Mit jugendlicher Kühnheit
wagte er ſich an ein Unternehmen, das weit über ſeine Kräfte hinausging,
[489]Strauß’s Leben Jeſu.
und daran kränkelte ſein ganzes Leben. Nirgends, in allem Klugen
und Geſcheidten was er geſchrieben, findet ſich ein Wort, das einen Mann
in innerſter Seele zu erſchüttern vermag, eine jener Offenbarungen genialer
Naturgewalt, bei denen der Leſer ausruft: das war er, ſo konnte nur er
ſprechen. Seinem weſentlich kritiſchen Geiſte fehlte das liebevolle Verſtänd-
niß für Menſchenſchickſal und für Menſchenthun, ihm fehlte die Geſtaltungs-
kraft des ſchöpferiſchen Hiſtorikers, der nicht ruht, bis er aus dürftigen oder
getrübten Quellen ein lebendiges Bild des Geſchehenen gewonnen hat.
Er verſuchte nicht einmal den Charakter des — rein wiſſenſchaftlich
betrachtet — größten aller Männer darzuſtellen und zu zeigen, warum
dies wunderbare kurze Leben die Weltgeſchichte in zwei Theile geſpalten,
eine ſchlechthin unvergleichliche Wirkung auf die Geſchicke der Menſchheit
ausgeübt hat. Statt eines Lebens Jeſu gab er lediglich ſcharfſinnige kri-
tiſche Einzelunterſuchungen, die in beſtändiger Wiederholung immer nur
das Eine erwieſen, daß die Evangelien keine reine Geſchichte enthalten —
ein armſeliges Ergebniß, woran denkende Hiſtoriker nie gezweifelt hatten.
Die bewegende Kraft aller Geſchichte, die Macht der Perſönlichkeit und
ihres lebendigen Schaffens blieb dieſem Kritiker unfaßbar; an ihre Stelle
ſetzte er ein doctrinäres „mythenbildendes Princip“, das aus Nichts Etwas
geſchaffen haben ſollte, mithin noch viel wunderbarer war als die Wunder-
geſchichten der Evangelien. Und wie oberflächlich verfuhr dieſe ſcheinbar
ſo unwiderlegliche Unterſuchung. Sie brachte nur eine Kritik der evan-
geliſchen Geſchichte, nicht eine Kritik der Evangelien ſelbſt. Die Frage
war, wie das Evangelium des Johannes, das den Theologen bisher für
die lauterſte Quelle der älteſten chriſtlichen Geſchichte gegolten hatte, ſich
zu den ſynoptiſchen Evangelien verhalte, wann und durch wen dieſe ver-
ſchiedenen Berichte entſtanden ſeien; und dieſe entſcheidende Frage wurde
von Strauß gar nicht aufgeworfen. Er hörte auf wo er anfangen mußte;
er wähnte ſein Werk gethan, wenn er die unleugbaren Widerſprüche der
evangeliſchen Erzählungen aufdeckte und daraus den plumpen Schluß zog,
das Alles ſei nur Mythus. Niemals begriff er, daß die Idee des Gott-
menſchen in einem eingeborenen, unausrottbaren Drange unſerer Seele
wurzelt und alſo eine Forderung der praktiſchen Vernunft iſt, daß alle
Liebe, Alles was Menſchenherzen beſeligt, auf der Vorſtellung beruht,
irgendwie müſſe ſich das Ideal verwirklichen. Darum leugnete er das Ge-
wiſſe und behauptete das Ungewiſſe. Er beſtritt, daß die Idee der Menſch-
heit ſich in einem Manne verkörpern könne, und verſicherte, die ſündhaften
Menſchen ſeien gleichwohl als Gattung untadelhaft, in einem beſtän-
digen Fortſchreiten begriffen, während doch der Augenſchein lehrt, daß ein
Homer, ein Phidias niemals wiederkehren kann, daß alle Culturſprachen
zwar reicher und verſtändiger, aber auch häßlicher werden, und mithin der
gerühmte Fortſchritt unſeres Geſchlechts beſtenfalls nur ein bedingter und
beſchränkter iſt.
[490]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Von dem Weſen der Religion hatte der ſcharfſinnige Theolog gar
keine Ahnung. Gleich allen Hegelianern ſah er in ihr nur ein un-
fertiges Denken, obwohl die Geſchichte der Jahrtauſende bewies, daß die
empfindenden Frauen allezeit religiöſer waren als die denkenden Männer.
So gelangte er unmerklich zu der Meinung jener buchſtabengläubigen
Orthodoxen des ſiebzehnten Jahrhunderts, welche die Religion allein im
Fürwahrhalten einiger dogmatiſchen Lehrſätze ſuchten. Er wähnte das
Chriſtenthum ſelbſt überwunden zu haben, weil er nachgewieſen hatte, daß
einige der evangeliſchen Erzählungen mythiſch ſind. Welch ein tragiſcher
Widerſpruch in dem Leben dieſes reich begabten Mannes! Im Kampfe, im
berechtigten Kampfe wider den theologiſchen Zunftzwang der Tübinger
Stiftler-Gelehrſamkeit hatte er ſich errungen, was er die Freiheit ſeines
Geiſtes nannte; und doch war ſein Buch ſelbſt nur ein echtes Kind jener
verhockten Stubengelahrtheit, welche nicht faſſen konnte, daß alle theo-
logiſche Kritik nichtig iſt neben den praktiſchen Pflichten des Seelſorgers,
der die Mühſeligen und Beladenen tröſten ſoll aus der Fülle der Ver-
heißung, daß vor der Majeſtät des lebendigen Gottes der ſpitzfindige Ge-
lehrte ebenſo bettelarm daſteht wie der einfältige Bauersmann.
Aber dem tapferen Streiter blieb das Verdienſt, daß er in eine offene
Wunde der deutſchen Theologie den Finger gelegt hatte. Darum erregte
ſein Buch eine Entrüſtung, wie kaum jemals ein gelehrtes Werk. Wenige
Wochen nach dem Erſcheinen des erſten Bandes wurde er ſchon vom Tü-
binger Stifte entfernt und auf eine Lehrerſtelle verſetzt. Dann ſendete
Eſchenmayer, deſſen naturphiloſophiſche Träumereien vor Jahren den jungen
Strauß ſelbſt bezaubert hatten, ſeine Streitſchrift wider „den Iſchariotis-
mus unſerer Tage“ hinaus, ein fanatiſches Libell, das der wiſſenſchaft-
lichen Theologie ſchlechthin jede Berechtigung abſprach. Auch Paulus er-
hob ſich aus dem Großvaterſtuhle des Rationalismus, um den Ketzer zu
bekämpfen, der ſo gar nicht einſehen wollte, daß die Juden zu Chriſti
Zeiten die unangenehme Gewohnheit gehabt hätten, ihre Angehörigen leben-
dig zu begraben, und mithin die Todtenerweckungen des Neuen Teſtaments
auf ganz natürliche Weiſe zu erklären ſeien; er ſprach indeß würdiger als der
alte Tübinger Supranaturaliſt Steudel. Die württembergiſchen Pietiſten,
die in Calw und Kornthal ihre Beſtunden hielten, die ſtillen „Stunden-
leute“, geriethen in Bewegung, und in ihrem Namen ſtritt Straußens
Studiengenoſſe Wilhelm Hoffmann gegen den verlorenen Freund. Hengſten-
berg’s Berliner Kirchenzeitung tobte, und die Miniſter erwogen bereits, ob
man nicht das gefährliche Buch in Preußen verbieten ſolle; da erklärte Joh.
Neander in einem trefflichen Gutachten, nach evangeliſchem Brauche dürften
Gründe nur durch Gründe bekämpft werden. Das Leben Jeſu, das der
fromme Mann bald nachher dem Buche des Schwaben entgegenſtellte, war
jedoch leider mehr ein Werk der Liebe als des kritiſchen Scharfſinns. Aller
dieſer Gegner erwehrte ſich Strauß in einer Reihe ſchlagfertiger Streitſchriften.
[491]Der Züriputſch.
Seine wiſſenſchaftliche Ueberlegenheit war ſo groß und die Bewun-
derung der akademiſchen Weltkinder für den unerſchrockenen Kämpfer ſo
lebendig, daß ihm auf die Dauer ein philoſophiſcher Lehrſtuhl kaum ent-
gehen konnte. Der ſchwäbiſche Starrkopf verlangte aber nach einer theo-
logiſchen Profeſſur, obgleich er ſchon faſt alle Grundlehren des Chriſten-
thums in Frage geſtellt hatte; es war genau daſſelbe, wie wenn Martin
Luther gefordert hätte, mitſammt ſeiner Frau Katharina General des
Auguſtinerordens zu werden. Und wirklich fanden ſich einige akademiſche
Heißſporne bereit, dies ſonderbare Begehren zu unterſtützen. In Zürich
hatte die neue radicale Regierung kürzlich eine Univerſität gegründet, die
alsbald mehrere tüchtige Gelehrte aus der dichten Schaar der deutſchen
Demagogen und Unzufriedenen an ſich zog. Lorenz Oken, der ſich in
München nach ſeiner Gewohnheit wieder mit den Behörden überworfen
hatte, wurde ihr erſter Rector und ſchrieb dort ſein beſtes Werk, die Na-
turgeſchichte. Warum ſollte dies neue Limmat-Athen, das mit unend-
licher Verachtung auf die deutſchen Fürſtenknechte herabſchaute, nicht auch
dem beſtgehaßten Manne der deutſchen Theologenzunft den Lehrſtuhl der
Dogmatik anvertrauen? Einige der Züricher Radicalen hofften ſchon, auf
die vollendete politiſche Umwälzung werde eine neue kirchliche Reformation
folgen. Nach heftigem Widerſpruch wurde die Berufung bei den Canto-
nalbehörden durchgeſetzt und Strauß erklärte ſich ſofort bereit, ihr zu folgen
(1839). Doch unmöglich konnte die Heimath Zwingli’s einen ſolchen Ab-
fall von allen ihren alten Ueberlieferungen gelaſſen hinnehmen. In der
behaglichen Anarchie dieſes demokratiſchen Staatsweſens meinte ſich jeder
Gaisbub berechtigt, über die Befähigung theologiſcher Profeſſoren ſein ſach-
verſtändiges Gutachten abzugeben. Einige rechtgläubige Eiferer erhoben
den Schreckensruf „die Religion iſt in Gefahr“, Hurter und die Ultra-
montanen der Nachbarcantone ſtimmten kräftig ein, das geſammte Bauern-
volk am See wurde aufſäſſig, und die gemäßigte Partei in der Stadt,
an deren Spitze der junge liberale Freimaurer J. C. Bluntſchli ſtand,
ſchloß ſich der Volksbewegung an. Die Regierung erſchrak, ſie nahm ihren
Beſchluß zurück und fand ſich mit dem Berufenen ab durch eine Jahres-
penſion von 1000 Franken, welche Strauß, auf ſein Recht trotzend, un-
bedenklich annahm, aber zu wohlthätigen Zwecken verwendete. Den ſpar-
ſamen Seebauern dagegen erſchienen dieſe einem Ausländer gewährten
tauſend Franken als eine frevelhafte Verſchwendung, da ihr Canton nie-
mals Penſionen zahlte; ſie lärmten wider „die Straußen“ und ruhten
nicht, bis ſie durch offenen Aufruhr, durch den „Züriputſch“ die radicale
Regierung geſtürzt hatten.
Dieſe tragikomiſche Revolution brachte den Namen des ſchwäbiſchen
Theologen gänzlich in Verruf; keine der deutſchen philoſophiſchen Facul-
täten wagte mehr, dem Beſcholtenen einen angemeſſenen Wirkungskreis
für ſein glänzendes Lehrtalent anzubieten. Aber auch er ſelbſt wurde durch
[492]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſo trübe Erfahrungen verbittert und in einen bodenloſen Radicalismus
hinein getrieben. Sein zweites großes Werk, die Chriſtliche Glaubens-
lehre (1840), in der Form noch gewandter als das erſte, enthielt ſchon
eine offene Kriegserklärung gegen das Chriſtenthum und bewies lediglich,
daß dieſer Mann wohl ein ſcharfſinniger Kritiker, aber weder ein Philo-
ſoph noch ein Hiſtoriker war. In einer Zeit, da die Macht der römiſchen
Kirche ſich wieder ſtreitbar erhob, ſtellte er die doctrinäre Behauptung auf,
der Gegenſatz von Proteſtantismus und Katholicismus bedeute nichts mehr
neben dem Kampfe der rechtgläubigen und der ſpeculativen Theologie.
Ganz ſo beſchränkt in ſeinem Parteihaſſe wie Rotteck oder Hengſtenberg,
wollte er alſo auf der weiten Welt nur noch die zwei Völker der Ungläu-
bigen und der Gläubigen, der Freien und der Knechtiſchgeſinnten er-
kennen. Er dachte, wie er ſich bezeichnend ausdrückte, für das Hand-
lungshaus der Chriſtenheit die Bilanz zu ziehen und gelangte zu dem ein-
fachen Ergebniß, daß dieſe alte Firma längſt bankrott ſei. Wie Hegel
ſelbſt betrachtete er die Dogmen als abſtrakte Begriffe und bemerkte nicht,
was doch ſchon Schleiermacher nachgewieſen hatte, daß dieſe Anſicht alle
evangeliſche Freiheit aufhebt, weil ſie den Wiſſenden, den Gelehrten eine
päpſtliche Gewalt über die Unwiſſenden, die in der Regel die Frömmſten ſind,
einräumt. So ward denn Schritt für Schritt jedes Dogma als der Ge-
danke einer überwundenen Weltanſchauung „aufgelöſt“. Die Offenbarung
war ihm nur noch eine Rinde, welche ſich am Baume der Menſchheit
dereinſt angeſetzt hätte, aber jetzt verholzt ſei und abbröckele. Von der
Kraft der Ergebung und Erhebung wußte er nichts; darum hielt er das
Gebet für eine Selbſttäuſchung und geſtattete nur eine „Contemplation,
die ſich in die kühlende Tiefe des einen Grundes aller Dinge verſenke.“
Nach Auflöſung aller Glaubensſätze blieb alſo für die moderne Kirche
gar keine ſelbſtändige Aufgabe mehr; ſie ſollte vom Staate verſchlungen
werden, ſobald man ſich nur erſt entſchließe, den katholiſchen Standpunkt
ganz zu verlaſſen. Dieſe letzte Folgerung aus den Vorderſätzen ſeiner
Religionsphiloſophie hatte Hegel ſelbſt als ein Kenner des Staatslebens
niemals ziehen wollen; ſein ſchwäbiſcher Schüler zog ſie unbedenklich, weil
er in ſeinem Stubenleben der Welt entfremdet war und nicht einſah,
daß die zwingende Gewalt des Staates, wenn ſie ſich je des Gemüths-
lebens bemächtigt, nothwendig tyranniſch wird. In der Theologie ſah er
mithin nur „die Wiſſenſchaft des unwiſſenden, idiotiſchen Bewußtſeins“;
wer ſie recht kannte, mußte ſie als leeres Geſchwätz aufgeben — ein er-
ſtaunliches Geſtändniß im Munde eines Gelehrten, der ſich ſoeben ſelbſt
um eine Profeſſur des idiotiſchen Bewußtſeins bemüht hatte. „Religiöſe
Idioten und theologiſche Autodidakten — ſo rief er aus — das ſind die
Geiſtlichen der Zukunft;“ bis dahin werden freilich noch viele „arme
Knabenſeelen durch den Speck der Stiftungen in die theologiſche Mauſe-
falle gelockt“ werden.
[493]Die Tübinger Schule.
Bis zu dieſem blöden Haſſe, der dem Fanatismus Eſchenmayer’s
nichts nachgab, war der geiſtreiche Mann in fünf Jahren harter Kämpfe
herabgeſunken; nannten ſeine Feinde ihn einen Iſchariot, ſo ſchimpfte
er ſie Idioten. Aus der Fülle ſeiner Beleſenheit ſuchte er zu erweiſen,
daß im Grunde alle großen modernen Denker dieſelbe Meinung über
das Chriſtenthum gehegt hätten, und wollte der Beweis gar nicht glücken,
ſo verſchmähte er auch ſchlechte Sophiſtenkünſte nicht. Wenn Leſſing
geſagt hatte: trotz aller Zweifel des Verſtandes bleibe doch „die Reli-
gion unverrückt in den Herzen derjenigen Chriſten, welche ein inneres
Gefühl von dem Wahrhaften derſelben erlangt hätten“ — eines jener
herrlichen, urſprünglichen Worte, aus denen ſich abnehmen läßt, wie hoch
Leſſing über der gemeinen Aufklärung ſeiner Tage ſtand — ſo meinte
Strauß kurzab, das ſei nicht ernſt gemeint, ſondern lediglich ein dialek-
tiſcher Fechterſtreich. Nachdem er alſo haarklein bewieſen hatte, daß es
mit dem Chriſtenthum nichts ſei, hielt er ſich zwanzig Jahre lang von
allen theologiſchen Arbeiten fern. In dieſem negirenden Kritiker lag gar
nichts von der geſtaltenden Kraft, von dem ſittlichen Ernſte des Refor-
mators, der ſein Herzblut dahingiebt, bis er der widerſtrebenden Welt ſeine
Gedanken aufgezwungen hat; er warf die Feder aus der Hand, ſobald er
gefunden zu haben glaubte, daß die Geſchichte von achtzehn reichen Jahr-
hunderten nichts als ein großer Irrthum geweſen ſei.
Die Einwirkung dieſer Schriften auf die Zeitgenoſſen war zwei-
ſchneidig, zugleich wohlthätig und tief verderblich. Strauß erweckte die
Theologie aus einer falſchen Ruheſeligkeit, er machte die natürlichen Wun-
dererklärungen und die künſtelnde Harmoniſtik für immer unmöglich. Sein
Tübinger Lehrer Ferdinand Chriſtian Baur, ein minder glänzender, aber
ungleich ſtärkerer und tieferer Geiſt, der trotz ſeiner wiſſenſchaftlichen
Kühnheit an der ewigen Wahrheit des Chriſtenthums nie verzweifelte,
wurde durch das Auftreten des Schülers veranlaßt, die hiſtoriſchen Unter-
ſuchungen über die Anfänge des Chriſtenthums, an denen er ſeit Jahren
gearbeitet, weiter zu führen. Baur gab endlich, was bisher noch ganz ge-
fehlt hatte, eine Kritik der Evangelien ſelber und gelangte zu dem Ergebniſſe,
das urſprüngliche Judenchriſtenthum ſei erſt durch den Apoſtel Paulus zu
einer Weltreligion geworden. Mehrere tüchtige junge Gelehrte, Zeller,
Schwegler, Köſtlin ſchloſſen ſich ihm an. Dieſe neue Tübinger Schule
bereitete durch ernſte ſcharfſinnige Forſchungen erſt den wiſſenſchaftlichen
Boden für eine hiſtoriſche Darſtellung der erſten chriſtlichen Zeiten, ob-
wohl ſie für die Macht der hiſtoriſchen Perſönlichkeit auch nur wenig Ver-
ſtändniß zeigte, und viele ihrer Behauptungen heute ſchon längſt wider-
legt ſind.
Die Pietiſten dagegen und die Orthodoxen, überhaupt Alle, denen die
Offenbarung oder die theologiſche Standesehre am Herzen lag, mußten durch
Straußens Angriff auf die chriſtlichen Idioten erbittert werden; ſie ſahen
[494]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſich durch dieſe maßloſe Polemik faſt gezwungen, alle wiſſenſchaftliche Kritik
zu verdammen und das credo quia absurdum auf ihre Fahne zu ſchreiben.
Zudem waren ſie gegen die neue Richtung von Haus aus ſo ſcharf, ſo
verfolgungsſüchtig aufgetreten, daß ſie nicht mehr zurückkonnten. Die von
den liberalen Zeitungen beherrſchte öffentliche Meinung ſtand durchweg
auf der Seite des verfolgten Schwaben, obſchon Strauß ſelbſt ſich immer
zu gemäßigten politiſchen Grundſätzen bekannte. Wie freundlich hatte einſt
Voß in ſeiner Luiſe das evangeliſche Pfarrhaus als eine Stätte des Frie-
dens und der Bildung geſchildert, und noch in der alten teutoniſchen Bur-
ſchenſchaft waren Sand, Riemann und andere „der Gottesgelahrtheit Be-
fliſſene“ immer obenauf geweſen. Anders jetzt. Faſt ſchien es, als ſei
der chriſtliche Glaube fortan durch eine gähnende Kluft von der modernen
Bildung getrennt. Die beliebten Zeitromane pflegten jeden Geiſtlichen als
einen Heuchler oder einen blöden Thoren darzuſtellen, und auf den Uni-
verſitäten wurde der Theolog überall mit ſpöttiſcher Geringſchätzung be-
trachtet. Mit Schadenfreude ſpürte man jede menſchliche Schwäche der
Kirchlichgeſinnten auf und fühlte nicht, daß die Spötter durch den be-
liebten Hohnruf: „der Mann iſt ſo gläubig und doch ſo ſchlecht“ ſelber
die ſittliche Ueberlegenheit der religiöſen Geſinnung anerkannten; denn
noch Niemand hatte je geſagt: „der Mann iſt ſo ungläubig und doch ſo
ſchlecht“. Jene Verachtung kirchlicher Dinge, die ſich einſt aus der eigen-
thümlichen Entwicklung unſerer claſſiſchen Literatur ergeben hatte *), er-
langte nunmehr die Herrſchaft in den gebildeten Kreiſen. Da ſolche Vor-
urtheile nur durch das Leben überwunden werden können, ſo behauptete
ſie ihre Macht ſcheinbar ein volles Menſchenalter hindurch, bis die Deutſchen
in einer Zeit weltverwandelnder Geſchicke plötzlich erfuhren, daß ihre ſtärkſten
und klügſten Männer alleſammt gläubige Chriſten waren, ihre heldenhafte
Jugend mit Gottvertrauen in den Tod ging.
Seit der geſammte Radicalismus für die ſpeculative Theologie ein-
trat, mußten die Regierungen die ſtrenge Rechtgläubigkeit begünſtigen.
Selber allem poſitiven Glauben entfremdet, aber durchdrungen von der
Ueberzeugung, daß er kraft ſeines Amtes jede Kirche bei ihrem alten Be-
kenntniß erhalten müſſe, ſtand Altenſtein dieſen theologiſchen Kämpfen rath-
los gegenüber. Daher erlangte der ſtrenggläubige Kronprinz, der in der
europäiſchen Politik kaum mitreden durfte, über den weichmüthigen Cultus-
miniſter eine ſolche Macht, daß ſelbſt die Begünſtigung der Althegelianer
allmählich aufhörte und alle wichtigen Stellen der preußiſchen Landeskirche
fortan mit Orthodoxen beſetzt wurden. Auf die Fürſprache des Kronprinzen
wurde der Leipziger Hahn, der Todfeind der Rationaliſten, nach Breslau
berufen **); durch ihn erhielt Hengſtenberg, ungewöhnlich früh, eine ordent-
[495]Die Orthodoxen. Goßner. Gerlach.
liche Profeſſur in Berlin. Er war es auch, der dem vielverfolgten Pater
Johannes Goßner endlich eine würdige Wirkſamkeit in Berlin eröffnete.
Dieſer edle Mann, ein geborener Kanzelredner voll feuriger Glaubens-
kraft und kindlicher Einfalt, hatte ſich einſt in Baiern der myſtiſch-evangeli-
ſchen Richtung des Biſchofs Sailer zugewendet; er war dann, weil er die
Bibelgeſellſchaften förderte, aus Rußland vertrieben worden und hierauf
förmlich zur evangeliſchen Kirche übergetreten. In Berlin herrſchte aber
der Rationalismus noch ſo unumſchränkt, daß unter allen Geiſtlichen allein
Schleiermacher ſich bereit fand, dem Convertiten ſeine Kanzel zu über-
laſſen. Endlich erlangte Goßner doch, daß der Prediger Moblank an der
Luiſenſtädtiſchen Kirche ihn für einige Monate mit ſeiner Vertretung be-
auftragte. Die Folge war, wie der Kronprinz ſchrieb, daß eine Kirche,
die ſeit fünfzig Jahren leer geſtanden, die Zahl der Andächtigen nicht mehr
faſſen konnte, „weil ein Märtyrer der evangeliſchen Wahrheit, wie ſie
Luther gepredigt, dort Gottes Wort verkündigt.“ Das Conſiſtorium jedoch
verbot dem Eindringling die Kanzel und verlangte von dem fünfundfünf-
zigjährigen ordinirten Prieſter, er müſſe erſt ſeine Befähigung nachweiſen.
„O wie ſind ſie mir umgegangen — ſagte Goßner traurig — daß ſich Gott
erbarmen möge! Ich alter Eſel mußte mich von fünf Räthen examiniren
laſſen und nachdem ich dreißig Jahre in aller Welt gepredigt, eine Probe-
predigt halten!“ Dann wurde er endlich von der frömmſten Gemeinde
der Hauptſtadt, den böhmiſchen Brüdern der Bethlehemskirche, zum Paſtor
erwählt, und nun — ſo ſchrieb der Kronprinz an Altenſtein — muß es
„ſich zeigen, ob er auf dem rechten Wege iſt oder nicht, ob er der aus-
gezeichnete Mann iſt, für den ich ihn gewiß halte, oder der Schleicher, der
falſche Pfaffe, der verkappte Jeſuit oder Janſeniſt, oder was weiß ich, wo-
für Sie ihn halten.“ *) Der Erfolg ſeiner derben, urkräftigen, volksthüm-
lichen Beredſamkeit war beiſpiellos, und nicht minder fruchtbar ſeine chriſt-
liche Liebesthätigkeit: den Männer-Krankenverein, das Eliſabethkrankenhaus,
eine Menge von Kinderbewahranſtalten und Miſſionsgeſellſchaften rief er
in’s Leben.
In gleichem Sinne wirkte der Freund des Kronprinzen Otto v. Ger-
lach, der auf die Fürbitte ſeines hohen Gönners eine Predigerſtelle in der
Roſenthaler Vorſtadt erhielt **), nachdem der König ſich entſchloſſen hatte,
dort in den beſtändig wachſenden ärmſten Stadttheilen Berlins vier neue
Kirchen zu erbauen. Da gab es denn geiſtlicher Arbeit die Fülle; durch
Hausbeſuche und Hausandachten, durch Handwerkervereine und Sparkaſſen,
durch Beſchäftigung der Erwerbloſen und Vertheilung frommer Bücher ſuchte
der begeiſterte junge Seelſorger der Verwilderung der armen Arbeiter des
„Voigtlandes“ entgegenzuwirken. Mit beſonderer Sorge betrachtete der
[496]IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Kronprinz die Hochburg des preußiſchen Rationalismus, die Provinz Sachſen:
auf keinen Fall ſollte der von Altenſtein begünſtigte Leipziger Großmann
die Stelle des Biſchofs und Generalſuperintendenten in Magdeburg er-
halten. Ich halte es für undenkbar, ſchrieb der Prinz, „daß ein Mann,
der als flacher, herzloſer, eitler Rationaliſt bekannt, deſſen nackter Quaſi-
Jacobinismus ihn ſelbſt in Leipzig! zum Geſpött ſeiner Collegen
macht, daß ſolch ein Mann zu ſolcher Stelle in dieſer Provinz vor-
geſchlagen werden und noch viel weniger vom Könige genehmigt werden
könnte.“ *) Der Thronfolger erreichte in der That, daß Dräſeke aus
Bremen nach Magdeburg berufen wurde. Der neue Biſchof riß durch
ſeine mächtige Beredſamkeit alle Hörer hin, und als er auf dem Lützener
Schlachtfelde bei der Enthüllung des Guſtav-Adolf-Denkmals die Weihe-
predigt hielt, da ging ein Jubelruf religiöſer Begeiſterung durch die vor-
dem ſo nüchterne Provinz.
So begann allmählich ein neuer Geiſt in das preußiſche Kirchen-
regiment einzuziehen. Hengſtenberg’s Kirchenzeitung ſprach ſchon in einem
Tone, als ob ihrer Partei allein die Herrſchaft über die Kirche zuſtände,
und ihre Macht ward durch die Tübinger Bewegung nur noch befeſtigt.
Wenige Monate nach dem Erſcheinen des Lebens Jeſu ſchrieb der Kron-
prinz dem Miniſter: jetzt ſcheine es hoch an der Zeit, einen gläubigen Theo-
logen nach Halle zu berufen, wo Tholuck ganz allein ſtehe: „Mehr als
zwei Drittel der jungen Studenten ſaugen Grundſätze ein, die dem Ra-
tionalismus (dem Machwerk menſchlicher Satzungen und Meinungen), nicht
aber dem lauteren Worte Gottes angehören, und verpeſten mit dieſen
Grundſätzen, ausgeſendet und angeſtellt, als Boten des Heils das ganze
Land;“ die Berufung Baur’s ſei ganz unmöglich, denn er habe ſich
neuerdings „den Anſichten eines Dr. Strauß angeſchloſſen!“ **)
Ueberall in Deutſchland erſtarkten der Pietismus und die Orthodoxie,
die man allmählich für gleichbedeutend anſah; ſie bekämpften die ſpecula-
tive Theologie auf Tod und Leben, ſie vertheidigten bis auf den letzten
Buchſtaben „das Wort und das Wort allein und nichts als das Wort“,
ſie bewährten ihre Kraft in den Werken des praktiſchen Chriſtenthums.
Während von Baſel aus das deutſche Oberland mit einem Netze chriſt-
licher Miſſionsanſtalten überſpannt wurde und die ſchwäbiſchen Pietiften
in Calw durch geſchmackloſe Tractätchen, aber auch durch Werke der Barm-
herzigkeit die gläubigen Gemüther zu gewinnen ſuchten, erbaute der fromme
F. W. Krummacher die armen, gequälten Arbeiter des Wupperthales durch
liebevolle Seelſorge und durch tiefgemüthliche Kanzelreden, welche der alte
Goethe freilich für „narkotiſche Predigten“ erklärte. Vor den Thoren Ham-
burgs errichtete Hinrich Wichern im Rauhen Hauſe eine Rettungsanſtalt
[497]Wichern und das Rauhe Haus.
für verwahrloſte Kinder (1833); aus dieſem unſcheinbaren Keime entſtand
dann, wunderbar ſchnell aufblühend, ein freier proteſtantiſcher Orden, der
für Erziehung und Armenpflege, für Gefängniſſe und Hoſpitäler Großes
leiſtete. Wichern wollte keiner theologiſchen Partei angehören; er bewahrte
ſeinem Lehrer Schleiermacher allezeit treue Verehrung und verwarf jede
Verfolgung der Rationaliſten. Er war aufgewachſen in der naiven, volks-
thümlichen Frömmigkeit des hamburgiſchen Kleinbürgerthums, er hatte als-
dann in der Muſikerin Luiſe Reichardt und in der unermüdlich wohlthätigen
Amalie Sieveking zwei Frauen von apoſtoliſcher Sinneseinfalt kennen ge-
lernt. Ein durchaus praktiſcher Geiſt, dachte er der Welt zu beweiſen, daß die
lutheriſche Kirche, die bisher in allem Handeln hinter der Werkheiligkeit der
römiſchen und der Thatkraft der calviniſchen Kirche weit zurückgeblieben
war, auch für die Armen im Geiſt zu ſorgen vermöge; und es gelang ihm.
Alles wirkſame Leben der Kirche ging fortan auf in der Thätigkeit
der ſtrengen Schriftgläubigen. Sie allein predigten vor gefüllten Gottes-
häuſern, während den Reden der ſpeculativen Theologen Niemand zuhören
wollte; ſie allein labten die Verſchmachtenden und tröſteten die Elenden,
während mehrere der Genoſſen der Tübinger Schule, nach Straußens
Vorgang, bald die Theologie aufgaben, weil ihnen an der Kirche wenig
lag. Und ſo gewiß die Religion nicht in der Gelehrſamkeit wurzelt, ſon-
dern in der Empfindung, in der lebendigen Kraft der Liebe, ebenſo gewiß
war dieſe wiſſenſchaftlich ſehr mangelhafte Rechtgläubigkeit als kirchliche
Macht den gelehrten theologiſchen Kritikern weit überlegen.
Die Kluft zwiſchen beiden Parteien erweiterte ſich von Jahr zu Jahr,
Achtung und Schonung gingen hüben und drüben bald verloren. Viele
Orthodoxe verleugneten das evangeliſche Recht der freien Forſchung ſo
gänzlich, daß ſie jede vorausſetzungsloſe hiſtoriſche Kritik in der Theologie
kurzab für heidniſch hielten. Und andererſeits, welch ein Zerrbild des
ſchwäbiſchen Pietismus entwarf doch der Tübinger Aeſthetiker Viſcher in
ſeinen geiſtreichen Aufſätzen über Strauß und die Württemberger; in dieſem
Bilde war kaum noch ein menſchlicher Zug. Die liberalen Zeitungen ge-
brauchten den Namen der „Frommen“ nur noch ironiſch, als ob Fröm-
migkeit eine Schande wäre; ſie verläſterten das Rauhe Haus und alle die
anderen fröhlich aufblühenden Werke der chriſtlichen Liebe als Anſtalten
von Heuchlern für Heuchler. Der Kampf zwiſchen den Wiſſenden und
den Glaubenden war an Mißverſtändniſſen und Verdrehungen ebenſo
reich wie der gleich unfruchtbare Streit zwiſchen dem Vernunftrecht und
dem hiſtoriſchen Recht; er lähmte den deutſchen Proteſtantismus eben in
dem Augenblicke, da das Papſtthum wieder zum Angriff vorſchritt; er ver-
ſchärfte auch die politiſchen Gegenſätze alſo, daß ſchon nach wenigen Jahren
die Ausſicht auf Verſöhnung ſchwand, und ein gewaltſamer Umſchwung
unvermeidlich wurde. —
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 32
[[498]]
Achter Abſchnitt.
Stille Jahre.
Seit der literariſche Streit ſich mit dem politiſchen verkettete, Dichtung
und Philoſophie von der Tendenz beherrſcht wurden, ſtand unter den deut-
ſchen Liberalen die Meinung feſt, daß der Kampf der Freiheit wider die
Knechtſchaft, des Lichtes wider die Finſterniß den ganzen Inhalt der neuen
Geſchichte ausmache. Der Gang der europäiſchen Politik, die zunehmende
Spannung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten des Welttheils ſchien
dieſe Anſichten zu beſtätigen. Die Stärke unſerer Cultur liegt aber in dem
beſtändigen Wechſel ihrer mannichfaltigen Intereſſen, Ideen und Macht-
verhältniſſe. Immer war es nur ein Zeichen verſchrobener, unhaltbarer
Zuſtände, wenn einmal ein einziger kahler Gegenſatz, wie im Zeitalter
der Religionskriege, die Parteiung dieſer vielgeſtaltigen Staatengeſellſchaft
beſtimmte. Nun gar der Gegenſatz von Oſt- und Weſteuropa, der jetzt
von nahezu allen Parteien als eine hiſtoriſche Nothwendigkeit angeſehen
wurde, beſtand in Wahrheit nicht; er beruhte weſentlich auf der Einbildung,
auf den formalen Lehrſätzen conſtitutioneller und abſolutiſtiſcher Theorien,
welche die lebendigſte Kraft des Jahrhunderts, den Drang nach nationaler
Staatenbildung, völlig verkannten. Doch dieſe Doktrinen beherrſchten und
bethörten die Welt — denn nichts iſt ſicherer, als die niederſchlagende
Wahrheit, daß die öffentliche Meinung ganzer Zeitalter ſich im Irrthum
bewegen kann — und weil die Zeit im Doktrinarismus befangen war, darum
konnte Palmerſton’s kaufmänniſches Geſchick die Wirren auf der pyrenäiſchen
Halbinſel, die für Europa ſo wenig bedeuteten, als willkommene Hand-
habe benutzen, um das Feſtland beſtändig in Unruhe zu halten, die Kluft
zwiſchen dem Oſten und dem Weſten argliſtig zu erweitern.
In Portugal regierte, nachdem das Tochterland Braſilien ſich von
dem Mutterlande losgeriſſen hatte, die minderjährige Tochter des braſili-
aniſchen Kaiſers Pedro, Maria da Gloria. Aber ihr Oheim Don Miguel,
der für ſie die Regentſchaft führen und dereinſt ihr Gatte werden ſollte,
bemächtigte ſich ſelbſt der Krone (1828), und nun brach über das Land
ein clericales Schreckensregiment herein, das ſelbſt die Gräuel der ſpani-
ſchen Reaktion noch überbot. Der fanatiſche, rohe, halbthieriſche Wütherich
[499]Don Miguel.
meinte ſich berufen nach dem Vorbilde des Erzengels Michael die Satans-
brut der Liberalen zu vernichten, er warf die Verfaſſung über den Haufen,
ließ tauſende ſeiner Gegner hinrichten, einkerkern, ins Elend jagen. Ob-
wohl unzweifelhaft ein Uſurpator erfreute er ſich doch der geheimen Gunſt
Metternich’s — denn wer eine Verfaſſung brach behielt in der Hofburg
immer Recht — und ſeit der Juli-Revolution begegnete er den beiden libe-
ralen Weſtmächten mit der ganzen Feindſeligkeit des reaktionären Partei-
hauptes. Alſo gerieth der freiſinnige Gönner aller Revolutionen, Lord
Palmerſton, in die ſonderbare Lage, ſich der legitimen Rechte der jungen
Königin annehmen zu müſſen. Unmöglich konnte er dulden, daß dies ſeit
vier Menſchenaltern, ſeit dem Methuenvertrage, der britiſchen Handels-
herrſchaft unterthänige Portugal, dies alte Jagdgebiet der Fabrikanten von
Glasgow und Mancheſter, jetzt durch einen feindſeligen Uſurpator der
engliſchen Flagge verſperrt würde; die ſchwache Regierung eines unmün-
digen Mädchens verſprach dem engliſchen Intereſſe unvergleichlich größere
Vortheile, und das Weiberregiment war, wie die Dinge ſtanden, zugleich
die Sache der Freiheit, der Verfaſſung.
Unter dem jubelnden Beifall der Liberalen auf beiden Ufern des
Canals erklärte ſich der engliſche Miniſter alſo für die verfaſſungsmäßige
Regierung der unmündigen Königin. König Wilhelm IV. freilich geſtand
in einer geheimen Denkſchrift mit ſeiner gewohnten beſchränkten Ehrlich-
keit: von einer Verfaſſung wolle die große Mehrzahl der Portugieſen nichts
wiſſen, indeſſen halte er „die Herrſchaft Don Miguel’s für das größere
und dem Intereſſe Englands ſchädlichere Uebel“. Eine offene Inter-
vention zu Gunſten des legitimen Rechts durften die Weſtmächte jetzt noch
nicht wagen, nachdem ſie ſoeben den Grundſatz der Nichteinmiſchung feier-
lich verkündigt hatten, doch auf Schleichwegen konnten ſie ihr Heil leicht
erreichen, da die liberale öffentliche Meinung ſich ſtürmiſch gegen den
portugieſiſchen Uſurpator ausſprach. Als Don Pedro im Jahre 1832 nach
Europa heimkehrte, um ſeiner Tochter die Krone zurückzugewinnen, da
ſtellte ihm Frankreich ſofort jene portugieſiſchen Kriegsſchiffe zur Verfügung,
welche vor Kurzem, in Folge eines Streites mit Don Miguel, aus dem Tejo
hinweggeführt worden waren, und zahlreiche franzöſiſche Freiwillige traten
unter ſeine Fahnen. In England wurde öffentlich für ihn geworben, obgleich
das Geſetz jede Anwerbung für fremden Kriegsdienſt unterſagte. Engliſche
Seeoffiziere und Blaujacken bildeten den Stamm ſeiner Seemacht; der
Engländer Napier befehligte die Flotte, als beim Cap St. Vincent, auf der
alten Stätte britiſchen Waffenruhms, die Schiffe Don Miguel’s vernichtet
wurden. Frohlockend meldete eine officiöſe Flugſchrift, deren prahleriſcher
Stil die Feder Palmerſton’s ſelber leicht erkennen ließ: „Britiſche Tapfer-
keit war wie gewöhnlich mit portugieſiſcher Freiheit verbündet, St. Vincent
hat nochmals die Thaten des Seeheldenthums geſehen.“ Zugleich erging
an alle Höfe die inbrünſtige Verſicherung, daß England in dieſen Händeln
32*
[500]IV. 8. Stille Jahre.
die ſtrengſte Neutralität gewiſſenhaft einhalte. Zwei Jahre währte dann
noch der portugieſiſche Bürgerkrieg. Von Franzoſen befehligt, durch Frei-
willige aus beiden Weſtmächten verſtärkt, drängten die Truppen der jungen
Königin das Heer Don Miguel’s mehr und mehr in die Enge.
Unterdeſſen ſtarb König Ferdinand von Spanien (1833) und hinter-
ließ ſeinem Volke, als Vermächtniß eines ſchmachbedeckten Lebens, den
Bürgerkrieg. Drei Jahre vor ſeinem Tode war er durch ſeine vierte Ge-
mahlin, die muntere, geſcheidte, leichtlebige Neapolitanerin Chriſtine be-
wogen worden, das ſaliſche Geſetz aufzuheben, das in dem ſpaniſchen
Bourbonenhauſe während des achtzehnten Jahrhunderts mit einigen Ein-
ſchränkungen unbeſtritten geherrſcht hatte. Fortan ſollte wieder das Thron-
folgerecht der Weiber gelten, das altnationale Recht, dem einſt die katho-
liſche Iſabella und nachher die Habsburger ihre Herrſchaft verdankt hatten,
und mithin nach Ferdinand’s Tode ſeine kleine Tochter Iſabella, unter der
Vormundſchaft ihrer Mutter Chriſtine, die Krone tragen. Daß der recht-
mäßige Thronfolger, Ferdinand’s Bruder Don Carlos ſich einem ſolchen
Staatsſtreiche nicht gehorſam fügen konnte, war leicht vorherzuſehen, und
ſchwer beſorgt ſagte Graf Bernſtroff, ſobald er von dieſer neuen „Prag-
matiſchen Sanction“ der ſpaniſchen Krone erfuhr: „um die Lage Europas
zu vereinfachen fehlt uns nur noch ein neuer ſpaniſcher Erbfolgekrieg.“
Don Carlos war Don Miguel’s Schwager, bigott wie dieſer und dem
finſterſten Aberglauben ergeben, ein blöder beſchränkter Menſch, das aner-
kannte Haupt der „apoſtoliſchen“ Partei, während Königin Chriſtine durch
die Macht der Verhältniſſe den Feinden der Prieſterherrſchaft in die Arme
getrieben wurde. In Portugal vertrat die legitime Maria, in Spanien
die illegitime Iſabella den Liberalismus. Doch was fragte der leitende
Staatsmann Englands nach dem hiſtoriſchen Rechte? Palmerſton ſah
ſcharfſinnig voraus, daß die Königin-Regentin Chriſtine ſich bald gezwungen
ſehen würde die Hilfe ihres Oheims Ludwig Philipp anzurufen; und dann
konnten die beiden illegitimen Bourbonenhöfe von Madrid und Paris
vielleicht jenen Familienvertrag erneuern, welcher einſt, zu Englands
Schaden, ſo lange zwiſchen ihren legitimen Vorgängern beſtanden hatte.
Um dieſe Gefahr abzuwenden gab es nur ein Mittel: England ſelbſt
mußte ſich zwiſchen die beiden Höfe eindrängen und, zur Erbauung aller
liberalen Gemüther, den hochherzigen Beſchützer der illegitimen Iſabella
ſpielen. So ließ ſich auch hoffen, daß der ſpaniſche Bürgerkrieg ins Un-
endliche währte und dem britiſchen Gönner die Möglichkeit bot, der be-
drängten Regentin vortheilhafte Handelsverträge abzupreſſen; überdies
wurde der immer mit ſtillem Argwohn betrachtete franzöſiſche Bundes-
genoſſe durch den Krieg jenſeits der Pyrenäen lahm gelegt und auch die
Oſtmächte dermaßen beſchäftigt, daß ſie kaum noch bemerken konnten, wie
England mittlerweile ſeine Handelsherrſchaft über die halbe Welt hin er-
weiterte. Und alle dieſe glänzenden Gewinnſte ließen ſich erreichen ohne
[501]Die Quadrupel-Allianz.
einen gefährlichen Krieg, nur durch mittelbare Unterſtützung der Königin
und durch ein unaufhörliches Selbſtlob, das der bethörten liberalen Welt
den Hochſinn der freiheitbeſchützenden Britannia anpreiſen mußte.
Raſch entſchloſſen ging Palmerſton auf ſein Ziel los. Am 22. April
1834 brachte er mit Talleyrand und Chriſtinens Geſandten Miraflores
ſein Meiſterwerk zu Stande, die Quadrupel-Allianz. Die Regierungen der
beiden jungen Königinnen verpflichteten ſich, Don Miguel und Don Carlos
aus der Halbinſel zu vertreiben; England wollte ſie mit ſeiner Flotte unter-
ſtützen, und auch Frankreich, das ſich während der Verhandlungen vor-
ſichtig zurückhielt, ſollte nöthigenfalls, nach gemeinſamer Verabredung, mit
den Waffen eingreifen. Frecher konnte der Grundſatz der Nichteinmiſchung
nicht verleugnet, die Interventionspolitik des alten Vierbundes nicht über-
boten werden. Die Beſchlüſſe des Laibacher Congreſſes hatten ſich doch
noch auf unzweifelhafte Vertragsrechte berufen, welche dem Hauſe Oeſter-
reich in Italien zuſtanden; hier aber ward die bewaffnete Unterſtützung
einer legitimen und einer illegitimen Königin zugleich beſchloſſen, ohne den
Schatten eines Rechtsgrundes, lediglich nach der augenblicklichen Convenienz
der Weſtmächte, und dieſe völlig rechtswidrige Intervention ſchmückte ſich
mit dem Namen der Freiheit. Palmerſton verkündete ſogleich, dieſer neue
Vierbund ſolle ein mächtiges Gegengewicht gegen die heilige Allianz des
Oſtens bilden, er nannte ihn ſein eigenſtes Werk und ſpöttelte vor den
Vertrauten: „ich hätte wohl Metternich’s Geſicht dabei ſehen mögen.“
Das halbamtliche Journal des Debats erklärte: die Quadrupel-Allianz
ſei die Antwort des freien Weſtens auf den Congreß von Münchengrätz
und die Wiener Miniſterconferenzen; jetzt gebe es keine Pyrenäen mehr,
da die Gleichheit der Staatsform ſowie die Schickſalsverwandtſchaft der
Dynaſtien Spanier und Franzoſen verbände; nicht lange, ſo würden
Belgien und die Schweiz, nachher auch das conſtitutionelle Süddeutſchland,
Piemont, Neapel, Griechenland ſich dem Bunde der vier freien Nationen
anſchließen. Und ſolche windige Prahlereien fanden Glauben: zunächſt
bei den hochmüthigen Spaniern, die ja ohnehin überzeugt waren, daß ſich
ſeit den Zeiten Philipp’s II. nichts in der Welt geändert hätte, und nun
befriedigt an der Spitze der Civiliſation einherſchritten; die Inſchrift de las
cuatro naciones auf den Schildern ſpaniſcher Kaufläden und Gaſthöfe
erinnert noch heute an jene Zeiten des weſteuropäiſchen Größenwahns.
Auch die deutſche liberale Preſſe ſtimmte in die Triumphrufe der Weſt-
mächte fröhlich ein: daß der freie Portugieſe hoch über dem geknechteten
Preußen ſtehe, ſchien allen Gebildeten ſelbſtverſtändlich. Zu den Unge-
bildeten zählte freilich auch Prinz Wilhelm der Jüngere von Preußen; er
ſagte ſcharf: durch „die Quadrupede“ ſei die europäiſche Politik für einige
Zeit „monſtrös“ geworden.
Das Glück war den Verbündeten günſtig. Schon wenige Tage
nach der Unterzeichnung der Quadrupel-Allianz mußte Don Miguel, in
[502]IV. 8. Stille Jahre.
deſſen Kriegslager ſich auch Don Carlos befand, bei Elvora capituliren.
Er verzichtete auf die angemaßte Krone gegen ein Jahresgehalt und ging
nach Italien, ſpäterhin nach Baiern, wo er mit den Ultramantanen aller
deutſchen Staaten unabläſſig geheime Ränke anſpann. Alſo war Portugals
Schickſal entſchieden, die engliſche Handelsherrſchaft am Tejo wieder
hergeſtellt. Selbſt Metternich zuckte die Achſeln, als Ancillon jetzt noch
nachträglich mit dem prieſterlichen Vorſchlage herausrückte, Don Miguel
ſolle die ihm einſt verſprochene Hand Donna Maria’s nunmehr fordern
um durch ein fröhliches Ehebündniß die beiden Parteien Portugals zu
verſöhnen*). Palmerſton war Herr der Lage und er verſtand für das
eheliche Glück der jungen Königin zu ſorgen. Kaum war ſie mannbar, ſo
wurde ſie mit dem Herzog von Leuchtenberg vermählt, der als Napoleonide
dem Tuilerienhofe verdächtig und eben deshalb den engliſchen Freunden
hochwillkommen war. Der junge Herzog ſtarb einige Monate nach der
Hochzeit, und nunmehr konnte die coburgiſche Hauspolitik einen neuen
glücklichen Schachzug wagen. Dank dem Glaubenswechſel der Coburg-
Koharys war König Leopold von Belgien in der angenehmen Lage, auch
katholiſchen Königinnen brauchbare coburgiſche Gatten anzubieten. Von
Palmerſton unterſtützt, ſchlug er ſeinen Neffen Ferdinand vor, und bald
nachher (1836) kam der glückliche junge Coburger am Bord eines eng-
liſchen Kriegsſchiffes nach Liſſabon um ſeinem hochzeitsfrohen Hauſe die
zweite Königskrone zu gewinnen. Das unſelige Land lernte unterdeſſen
den ganzen Jammer des romaniſchen Parlamentarismus kennen: Aemter-
jagd, Beſtechung und Verſchwörung, Parteikampf und Miniſterſturz, Ver-
faſſungsbruch und Verfaſſungsverleihung in eintönigem Wechſel. Immer-
hin waren die Zuſtände etwas erträglicher als einſt unter dem Henkerbeile
Don Miguel’s, und England mindeſtens konnte ſich der neuen conſtitutio-
nellen Herrlichkeit aufrichtig freuen: die Portugieſen lieferten ihm wieder
den unentbehrlichen Portwein und wurden zum Dank in der Entwicklung
ihres Gewerbfleißes durch den übermächtigen britiſchen Wettbewerb gänz-
lich darniedergehalten.
Durch die Capitulation von Elvora war auch Don Carlos in die
Hände der Verbündeten gefallen, und nahm man die Verſprechungen der
Quadrupel-Allianz ernſt, ſo mußte man auch ihn entweder zur Verzicht-
leiſtung nöthigen oder auf andere Weiſe unſchädlich machen. So konnte
der kaum erſt entbrannte ſpaniſche Bürgerkrieg ſchon im Keime erſtickt und
die Königin-Regentin Chriſtine von ihrem einzigen gefährlichen Feinde be-
freit werden. Dann aber war nur zu wahrſcheinlich, daß die beiden ver-
wandten Höfe von Madrid und Paris ſich freundlich aneinanderſchloſſen,
und dies entſprach keineswegs dem engliſchen Intereſſe. Darum wurde
Don Carlos, ohne daß man ihm irgend eine Verpflichtung auferlegte, auf
[503]Der Carliſtenkrieg.
einem engliſchen Kriegsſchiffe nach London abgeführt, und die Briten er-
wieſen ihm ſogar die Gefälligkeit, einen geheimen Brief an ſeine Getreuen
in den baskiſchen Provinzen pünktlich zu beſorgen. In London fand
König Karl V. bei den faſt durchweg carliſtiſch geſinnten Torys warme
Huldigungen und geheime Hilfe. Palmerſton aber ließ ihn ohne jede Be-
dingung frei, der unſchuldige Lord meinte: „wir können ihn nicht als Ge-
fangenen behandeln.“ Nach wenigen Tagen war Don Carlos verſchwunden,
wie alle Welt vorausſah. Er reiſte ohne Gefährde durch Frankreich; denn
dort ſpielten die Anhänger Karl’s X. und Karl’s V. längſt unter einer
Decke, auf jedem Paßbureau, auf jeder Poſtſtation ſaßen geheime car-
liſtiſche Agenten.
Am 9. Juli erſchien er plötzlich an der einzigen Stelle wo er eine Macht
war, unter ſeinen Getreuen in Navarra, denen er durch ſeinen Brief aus
Elvora ſchon ſeine bevorſtehende Ankunft mitgetheilt hatte. Das ganze
Spiel war eine plumpe Faſtnachtspoſſe, und nur die Taubenunſchuld der
deutſchen Liberalen konnte glauben, daß Palmerſton die Rückkehr des Prä-
tendenten, die Verlängerung des ſpaniſchen Bürgerkriegs wirklich nicht ge-
wünſcht hätte. Als Heerführer völlig untauglich, war Don Carlos doch
Mannes genug um die Strapazen und Nöthe ſeiner Leute als ehrlicher
Kriegsmann zu theilen, und dies genügte dem ſchlichten Naturvolke der
Pyrenäen; die Anweſenheit des legitimen katholiſchen Königs erfüllte die
Heerſchaaren der Carliſten mit flammender Begeiſterung.
Welch ein Verhängniß, daß die fleißigſten, ſchönſten, liebenswür-
digſten Bewohner der Halbinſel, die einzigen, die nach europäiſcher Weiſe
den Fremdling menſchenfreundlich aufnehmen, daß gerade dies edle Basken-
volk in den Kampf für die Prieſterherrſchaft hineingezwungen wurde. Ihres
blauen Blutes froh ſchauten die Basken von Alters her mit der gleichen
Verachtung auf die Franzoſen wie auf die Caſtilianer hernieder; unter dem
Schutze ihrer uralten Fueros führten ſie ein Sonderleben, das von ſpani-
ſchen Beamten, Steuern, Zöllen unbehelligt blieb, und nun ſollten die
Sonderrechte der vier baskiſchen Provinzen durch die neue liberale Ver-
faſſung, welche die Königin-Regentin im April 1834 verkündigen ließ, mit
einem Schlage vernichtet werden. Wie ein Mann erhob ſich das baskiſche
Volk für ſeine Fueros und den rechtmäßigen König, der ſie beſtätigt hatte;
ſieben entſetzliche Jahre hindurch widerſtand dieſe halbe Million freier
Menſchen der vereinigten Macht Spaniens und ſeiner geheimen Verbün-
deten. Eine Zeit lang nahmen auch die Aragonier und die Catalanen an
dem Kampfe theil; ſie konnten es nicht verwinden, daß die Caſtilianer der
Coronilla von Aragon ſo oft ihre Geringſchätzung bezeigten. Doch die Hoch-
burg des Carlismus blieb das tapfere Baskenland, und der einzige große
Charakter, der ſich aus dem fürchterlichen Einerlei dieſes Gemetzels empor-
hob, Zumalacarreguy war ein Baske. Abermals erlebte unſer bildungs-
ſtolzes Jahrhundert einen Krieg, deſſen teufliſche Grauſamkeit dem Agon der
[504]IV. 8. Stille Jahre.
Hellenen faſt gleichkam; die brütende Wildheit des Volkes der Autos da Fe
und der Stiergefechte entlud ſich noch einmal. Die tauſende liberaler
Flüchtlinge, welche König Ferdinand einſt in die Fremde getrieben, fochten
jetzt heimgekehrt, Mina voran, unter den Fahnen der Criſtinos und
kühlten den alten Haß im Blute der Carliſten. Die Klöſter verſilberten
ihre unermeßlichen Schätze zum Beſten des katholiſchen Königs, bis der
Tauſchwerth der Edelſteine auf dem Amſterdamer Diamantenmarkte durch
das übermäßige Angebot gedrückt wurde. Hüben und drüben maßloſe Wuth
und die ganze Kunſt romaniſcher Verlogenheit: wenn man den Kriegsbe-
richten der Criſtinos Glauben ſchenkte, ſo waren in vier Jahren ſchon
mehr Carliſten getödet worden, als das geſammte Baskenland an Ein-
wohnern beſaß.
Da die ſtille Zeit ſonſt an aufregenden Ereigniſſen nichts bot, ſo
warf ſich der verhaltene Parteihaß der Nachbarvölker auf dieſe ſcheußlichen
Kämpfe, die dem Leben Mitteleuropas doch ganz fern lagen. Mit Eifer
verſchlang man die Märchennachrichten aus den Pyrenäen, jeder Liberale
mußte ſich für die Criſtinos erklären. Als endlich, nach beſchämenden
Niederlagen, der glückliche Espartero die Truppen der Königin zum Siege
führte, da wurde dieſer zweifelhafte Held von den geſammten Liberalen
Europas ſo überſchwänglich geprieſen, wie einſt Bolivar oder Riego; zu-
mal in Deutſchland ſchlug die fremdbrüderliche Begeiſterung wieder hohe
Wellen. Mancher liberale kurſächſiſche Lehrer quälte ſeine armen Buben,
die von Dennewitz und der Katzbach kein Wort erfuhren, mit den unaus-
ſprechlichen Namen aller der Schlachtfelder, auf denen der unvergleichliche
Herzog von Victoria geſiegt haben ſollte.
Aber auch Don Carlos fand warme Verehrer, an den Höfen, unter
dem Adel, überall wo die weitverzweigte internationale Legitimiſten-Partei
ihre Genoſſen hatte. Moritz v. Haber, ein Sohn des einflußreichen jüdi-
ſchen Hofbankiers in Karlsruhe, diente ihm als Geſchäftsreiſender. Aus
allen Ländern eilten ihm Freiwillige zu, darunter manche, die ſich dereinſt
noch einen Namen machen ſollten. Aus Frankreich kam Bazaine, aus Oeſter-
reich der abenteuernde Prinz Schwarzenberg, der ſich ſelbſt „den Landsknecht“
nannte, aus Deutſchland der Militärſchriftſteller v. Rahden. Auch den feu-
rigen jungen Auguſt v. Göben litt es nicht länger in der friedlichen Garniſon
zu Neu-Ruppin; Thatendurſt, royaliſtiſche Begeiſterung und ein leidenſchaft-
licher Haß gegen England trieben ihn hinaus in das Heer der Carliſten, wo
er, vom Unglück ebenſo beharrlich verfolgt wie ſpäterhin vom Glücke, unter
namenloſen Kämpfen und Leiden ſchon die Heldengröße des künftigen Feld-
herrn bewährte. Am meiſten Aufſehen erregte der ſchöne, übermüthige
Wildfang Fürſt Felix Lichnowsky. Der hatte unter den Berliner Damen,
nebenbei auch unter den Juwelieren und Pfandleihern ſo ungewöhnliche Ver-
heerungen angerichtet, daß er ſich in der Armee nicht mehr halten konnte.
Umſonſt verſuchte Prinz Wilhelm ihm eine Stelle in der preußiſchen
[505]Deutſche Carliſten.
Diplomatie zu verſchaffen; der Prinz ahnte, wie viel Geiſt und Muth
in dieſem Tollkopf lebte, und bat ſeinen königlichen Vater freimüthig,
„daß man jugendlichen Leichtſinn nicht ungerügt hingehen laſſen dürfe,
dagegen aber deshalb einen jungen Mann nicht ganz fallen laſſen dürfe,
ſondern ihm Anleitung zum Ergreifen eines beſſeren Lebenswandels gäbe.“*)
Die ſittenſtrengen Miniſter Ancillon und Rochow wollten von Nachſicht
nichts hören. Lichnowsky mußte ausſcheiden und ging zu Don Carlos, der
ihn raſch zum General und Generaladjutanten beförderte. Der Anblick des
kopfloſen, in Hoffart und Lippendienſt ganz erſtarrten Königs ernüchterte
den begeiſterten deutſchen Royaliſten bald; er begann zu fühlen, wie fremd
dies hispaniſche Weſen unſerem freien Weltſinne war. Im Lager der
Criſtinos fochten nur vereinzelte Deutſche, ſo der preußiſche Ingenieur-
Offizier Höfken; der lernte freilich die ſpaniſche Redlichkeit ſo gründlich
kennen, daß er den Staub des Landes ſchnell von ſeinen Füßen ſchüttelte.
Das Kriegsglück ſchwankte lange, einmal gelangten die Schaaren der
Carliſten bis dicht vor die Thore von Madrid, und durch den langwierigen
Kampf mußten unausbleiblich in beiden Lagern die extremen Parteien
obenauf kommen. Don Carlos war bald nur noch ein Werkzeug in den
Händen fanatiſcher Prieſter, er ernannte die allerheiligſte Jungfrau dos
Dolores zum Feldmarſchall ſeines Heeres. In Madrid aber wurden die
Liberalen von den radicalen Exaltados überwältigt, bis endlich ein finger-
fertiger „Jongleur“, wie Ancillon ihn nannte**), der börſenkundige jüdiſche
Bankier Mendizabal ans Ruder kam und die Aufhebung aller Klöſter
durchſetzte (1836). Wunderbare Gerechtigkeit des Schickſals: ein frecher
jüdiſcher Spieler führte den vernichtenden Schlag gegen dieſe ſpaniſche
Kirche, die ſich einſt durch die grauſame Vertreibung der fleißigen Mauren
und Juden ſo unvergeßlich ſchwer verſündigt hatte! Nun raſte der Kloſter-
ſturm durch das rechtgläubige Land, wo überall an den Pfeilern der Wall-
fahrtskirchen die wächſernen Ohren, Naſen, Brüſte, die Weihgeſchenke eines
heidniſchen Götzendienſtes, in dicken Bündeln hingen, wo jede Vorbedin-
gung eines freien, denkenden, evangeliſchen Chriſtenthums fehlte und nur
die Wahl blieb zwiſchen der ſtumpfſinnigen Unterwerfung und der frevel-
haften Gottesläſterung. Der ſtärkſte Pfeiler der alten Kirchenherrſchaft
war gebrochen. In dem Gewirr der Verſchwörungen, Staatsſtreiche,
Soldatenverſchwörungen ging auch die neue Verfaſſung zu Grunde; der
heilige Codex vom Jahre 1812 trat wieder in Kraft, um alsbald durch
ein drittes Grundgeſetz verdrängt zu werden.
Derweil dieſe Gräuel, die unvermeidlichen Folgen der Leidensgeſchichte
dreier Jahrhunderte, das ſpaniſche Land heimſuchten, trat Palmerſton
leichten Herzens alles Völkerrecht mit Füßen. Ein engliſches Heer wagte
[506]IV. 8. Stille Jahre.
er nicht nach Spanien zu ſenden, weil er weder die Oſtmächte reizen, noch
dieſen willkommenen Bürgerkrieg verkürzen wollte. Aber Englands Schiffe
blokirten den Meerbuſen von Biscaya, ſie unterſtützten gelegentlich die
Truppen der Regentin in den Kämpfen gegen die Heerhaufen der Basken
und lieferten zuweilen eine Schaar wehrloſer carliſtiſcher Gefangener zur
Niedermetzelung an die Criſtinos aus. Das Verbot der ausländiſchen
Werbungen wurde außer Kraft geſetzt und eine ſogenannte ſpaniſche Legion
gebildet, welche den Criſtinos ganz ebenſo zu Hilfe kommen ſollte, wie
einſt Canning die ſüdamerikaniſchen Republiken unter der Hand durch
engliſche Freiwillige unterſtützt hatte. Ihr Offizierscorps beſtand aus vor-
nehmen Abenteurern und vereinzelten liberalen Enthuſiaſten, ihre Mann-
ſchaft aus dem Auswurfe des Pöbels von London, Glasgow, Mancheſter;
Palmerſton aber rühmte ſie im Parlamente als eine Schaar von hochſinnigen
Männern, welche nicht durch die Ausſicht auf Gewinn, ſondern durch eine
ehrenwerthe Begeiſterung für die conſtitutionelle Sache angetrieben würden.
In den rothen Röcken des königlichen Heeres, durch engliſche Drill-Sergean-
ten geſchult, mit engliſchen Fahnen und Tower-Gewehren ausgerüſtet,
ſegelten dieſe Leute nach dem Baskenlande, wo ſie von den ergrimmten
Carliſten, nach mannichfachen Wechſelfällen, ſchließlich faſt alleſammt nieder-
gehauen wurden. Währenddem verſicherte der Miniſter beharrlich, das
britiſche Heer nehme an dem ſpaniſchen Kriege durchaus keinen Antheil.
Wellington aber warnte im Oberhauſe tief empört: „England darf ſeine
Ehre nicht beflecken.“ Zu ſpät; ſie war ſchon befleckt. Die britiſchen
Soldatengräber an den Felsabhängen der Mota, der meerumbrandeten
Hafenfeſte von S. Sebaſtian, verkündeten weithin Englands Schande.
Doch die Schande war ein gutes Geſchäft. Durch dieſen verhüllten
Krieg, durch Waffenlieferungen und geheime Unterſtützungen feſſelte Pal-
merſton die Regentin an ſich, und ſie gewährte ihm mehrmals vortheil-
hafte Handelsverträge, zum Schaden der jungen catalaniſchen Induſtrie.
In der Regel begünſtigte er die Exaltados, Mendizabal vornehmlich war
ihm ganz ergeben; denn je ſchärfer ſich die Gegenſätze zuſpitzten, um ſo
länger mußte dieſer einträgliche Bürgerkrieg währen. Im Parlamente
ward ſeine Sprache immer übermüthiger, zuletzt rein demagogiſch. Er er-
klärte offen, ſchon ſeines Handels wegen müſſe England die Königin Iſa-
bella begünſtigen; er nannte Don Carlos „einen bloßen Prätendenten, der
einen Thron verlange, auf dem er nie geſeſſen“, und die Londoner Börſe,
die in den fragwürdigen Staatspapieren der Königin-Regentin glänzende
Geſchäfte machte, betrachtete den freiſinnigen Lord mit herzlichem Wohl-
gefallen. Dem uneingeweihten Theile des Unterhauſes ſuchte er den
dynaſtiſchen Zank der beiden gleich erbärmlichen Bourbonenhäuſer als
einen großen Principienkrieg darzuſtellen, und ſagte am 19. April 1837
geradezu: „Es iſt unerläßlich, daß in jedem Staate die Macht beſtehe, im
Nothfalle das Staatsoberhaupt zu wechſeln. Auf dieſes Princip wurde
[507]Spannung zwiſchen den Weſtmächten.
unſere Regierung 1688 gegründet, derſelbe Grundſatz hat 1830 die
neue Regierung in Frankreich geſchaffen, die Regierung Iſabella’s beruht
auf dem nämlichen Grundſatze.“ Alſo verkündigte er leichtfertig das Recht
der Revolution, er beſtritt das Grundrecht der Monarchie, die Unabſetz-
barkeit der auf eigenem Rechte ruhenden Staatsgewalt. Wenn die Libe-
ralen, die ja faſt alle wider Wiſſen einer halbrepublikaniſchen Staats-
theorie huldigten, dieſen Lehren zujauchzten, ſo hatten Graf Maltzan und
die anderen Diplomaten der alten feſtgeordneten Monarchien des Oſtens
ſicherlich guten Grund, „die unbegreifliche, verabſcheuungswürdige“ Rede
des Lords zu verwünſchen.*)
Aber auch der Tuilerienhof wurde durch Englands aufreizendes Ge-
bahren zur Beſinnung gebracht. Eine feſtländiſche Macht war nicht in
der Lage ſich Alles zu erlauben wie das unangreifbare Inſelreich; ſie
mußte auch fühlen, daß die Machtverhältniſſe der Staatengeſellſchaft nicht
durch hohle Schlagworte beſtimmt werden. Ludwig Philipp kannte die
Spanier und ihren hoffärtigen Fremdenhaß; er wußte, daß die Inter-
vention des Jahres 1823 nur durch außerordentliche Glücksfälle gelungen
und ſchließlich doch zu Frankreichs Schaden ausgeſchlagen war. Sollte
er ſich in dieſe unüberſehbaren Wirren einmiſchen, auf die Gefahr hin,
entweder zwiſchen zwei Feuer zu gerathen oder mit den ſpaniſchen Exal-
tados gemeinſame Sache zu machen, mit den Geſinnungsgenoſſen der
Pariſer Republikaner, der Feinde ſeines Hauſes? Wie viel klüger doch,
wenn er verſuchte ſich den Oſtmächten zu nähern und alſo die Zukunft
ſeiner Dynaſtie zu ſichern. Die Quadrupel-Allianz hatte er nur ungern
unter behutſamen Vorbehalten, genehmigt, und für ihre Ausführung that
er lediglich, was die liberale öffentliche Meinung gebieteriſch zu fordern
ſchien. Gleich nach der Unterzeichnung geſtand er dem öſterreichiſchen
Geſandten Apponyi: ganz wider Willen ſei er beigetreten, und niemals
ſollten franzöſiſche Truppen den Boden Spaniens betreten.**) Er über-
ließ der Regentin die algeriſche Fremdenlegion, die von den Basken bald
aufgerieben wurde, und verſperrte den Carliſten die Pyrenäengrenze. Weiter
wollte er durchaus nicht gehen. Nun, da er ſich endlich feſt im Sattel
fühlte, leitete er die auswärtige Politik über die Köpfe ſeiner Miniſter hin-
weg, nach eigenem Ermeſſen. Die mediterraniſchen Intereſſen der beiden
Weſtmächte ließen ſich durch ſchöne Reden nicht in Einklang bringen, in
Spanien wie im Oriente trat der natürliche Gegenſatz grell hervor, die
gerühmte entente cordiale erkaltete ſichtlich.
Auch der alte Talleyrand, der den Londoner Hof jetzt gründlich kennen
gelernt, ſagte zu Ludwig Philipp: die britiſche Allianz hat ihre Dienſte
gethan, wir haben von England nichts mehr zu erwarten als die Revo-
[508]IV. 8. Stille Jahre.
lution.*) Als Thiers in lärmender Rede verlangte, Frankreich müſſe ſich
überall mit conſtitutionellen Staaten umgeben, da war der König über
ſeinen kriegsluſtigen Miniſter kaum minder entrüſtet als Ancillon, der
zornig ausrief: „dieſer Menſch hat von Neuem das Banner der Propa-
ganda aufgepflanzt!**) Ludwig Philipp ruhte nicht, bis Thiers beſeitigt
war, und ließ nachher durch ſeinen Kronprinzen dem Wiener Hofe ver-
ſichern: ſelbſt wenn er noch zwanzig Miniſterwechſel überſtehen müßte,
würde er ſich doch nicht in das ſpaniſche Abenteuer ſtürzen. Je dreiſter
die Radicalen in Madrid ihr Haupt erhoben, um ſo höher ſtieg ſein Miß-
trauen gegen die Criſtinos und ihre engliſchen Gönner. Metternich hielt
ihn ſchon für ganz bekehrt und ließ in den Tuilerien vertraulich anfragen,
ob es nicht endlich an der Zeit ſei, das ſaliſche Geſetz und Don Carlos
offen anzuerkennen.***) Auch die Geſandten der Kleinſtaaten, die in der
großen Politik immer nur läuten, aber nicht zuſammenſchlagen hörten,
ſagten jetzt mit gewichtiger Amtsmiene: „Ludwig Philipp iſt bekanntlich für
Don Carlos.“†) Einen ſolchen Geſinnungswechſel konnte der Thron-
räuber freilich nicht wagen; indeß bemühte er ſich angelegentlich um das
Vertrauen der beiden deutſchen Großmächte. Er begann mit Metternich
einen geheimen Briefwechſel und betheuerte, nicht immer ſehr würdevoll,
ſeine guten Abſichten, wofür ihn der Oeſterreicher mit weiſen Ermahnungen
belohnte. „Ich will nichts von Herrn Thiers wiſſen, ſagte er zu dem
öſterreichiſchen Geſchäftsträger Hügel, nichts von dieſen amerikaniſchen
Ideen, welche Europa vergiften; wenn mich nur Preußen und Oeſterreich
kräftiger unterſtützten, ſo könnte ich viel mehr für die Sache der Ordnung
thun.“ Die Diplomaten ſahen bald, wie merklich dieſe commérage poli-
tique der beiden alten Herren auf die Geſinnungen des Bürgerkönigs ein-
wirkte, und Ancillon freute ſich herzlich, daß Ludwig Philipp an Metternich
„einen ſolchen politiſchen Prediger gefunden habe: ein wohlthätiges Phä-
nomen in der Geſchichte der Diplomatie!“††)
In Wien und Berlin wurden die Betheuerungen der Orleans mit
herablaſſendem Wohlgefallen aufgenommen, ſie verſtärkten nur den Un-
willen über Palmerſton’s ruheloſes Wühlen. „Während man in Frankreich
die Staatsgewalt zu befeſtigen ſucht — meinte Ancillon — betreibt man in
England offen, ohne Scham und Reue, die Revolution.“ Als Palmerſton
einmal (1835), in einem Augenblicke der Verlegenheit verſuchte, ſich durch
die Vermittlung des Königs Leopold von Belgien den deutſchen Mächten
[509]Niederlage des Carlismus.
anzunähern und deren Argwohn gegen Rußland aufzuſtacheln, da erfuhr
er die ſchnödeſte Zurückweiſung. „Wenn Palmerſton an meine Thür klopft,
ſagte Metternich höhniſch, dann muß er in den letzten Zügen liegen.“*)
Nur einem Tory-Cabinet wollten die deutſchen Mächte Vertrauen ſchenken;
aber die Torys gelangten nur einmal, im Herbſt 1834, auf wenige Mo-
nate ans Ruder, ohne die engliſche Politik in andere Bahnen leiten zu
können. Palmerſton behauptete ſich in der Herrſchaft, und ſeit er in ſeinen
Reden den Bund der freien Nationen verherrlichte, trugen ihn die Wellen
der Volksgunſt.
Alſo von England mit Eifer, von Frankreich nur lau unterſtützt, er-
rangen die Criſtinos erſt im Jahre 1839 entſcheidende Erfolge. Elende
Ränke und Zwiſtigkeiten hatten die Kraft der Carliſten längſt geſchwächt,
da wurde Don Carlos durch den Verrath eines ſeiner Generale gezwungen,
nach Frankreich zu flüchten, wo er in Bourges, dem Wohnſitze des grol-
lenden legitimiſtiſchen Adels, ſeinen feierlich ſteifen Hofhalt aufſchlug.
Noch ein Jahr lang ſuchte der wilde Cabrera, dem die Criſtinos die Mutter
erſchoſſen hatten, den Krieg hinzuhalten; jedoch das Baskenvolk war er-
ſchöpft von dem ungleichen Kampfe, weithin durch die Berge klang der
Ruf Paz y fueros. Die Regentin entſchloß ſich endlich, die Sonderrechte
der baskiſchen Provinzen zu beſtätigen, und nunmehr wurde die Herrſchaft
der jungen Königin Iſabella im ganzen Lande anerkannt. Aber dies neue
Königthum blieb unrechtmäßig von Haus aus — denn die Rechtsgründe der
Criſtinos wogen ſehr leicht — und konnte niemals auf die Empfindung
angeſtammter Treue zählen. Das alte Spanien war vernichtet, ein neues
nicht begründet. Der Carlismus ſchlummerte, todt war er nicht. Von
der verheißenen Glückſeligkeit des conſtitutionellen Lebens zeigte ſich keine
Spur. Das Heer war durch Parteiung zerriſſen, die Verwaltung durch-
aus verderbt. In den Cortes tobte die Aemterjagd, am Hofe rangen die
Geſandten Englands und Frankreichs um die Herrſchaft. Wie die Spa-
nier einſt für die Idee des katholiſchen Weltreichs ſich faſt verblutet hatten,
ſo boten ſie jetzt wieder den entſetzlichen Anblick einer lediglich politiſiren-
den Nation. In dem wüſten Gezänk der Parteien ging alle Kraft dieſes
verſchwenderiſch begabten Volkes auf; für Kunſt, Forſchung, Volkswirth-
ſchaft, für alle ſchöpferiſche Cultur blieb nichts übrig. Erſt nach Jahr-
zehnten ſollten ſich die ſchwachen Anfänge eines geſünderen Volkslebens zeigen.
Was mit dieſem unheilvollen Kriege irgend in Berührung kam ver-
fiel nothwendig dem Fluche der Unwahrheit. Auch die Politik der Oſt-
mächte blieb davon nicht frei; immerhin verfuhren ſie ehrlicher, ruhiger
als die Weſtmächte. Sie ſtanden mit ihren Wünſchen auf Don Carlos’
Seite, nicht blos weil er der legitime König war, ſondern auch weil ſie
noch immer auf einen Weltkrieg gefaßt ſein mußten und für dieſen Fall
[510]IV. 8. Stille Jahre.
nur auf die Bundesgenoſſenſchaft eines carliſtiſchen Spaniens zählen
konnten. In Berlin ſprach ſich der Kronprinz beſonders lebhaft für Don
Carlos aus; ſein Vertrauter Oberſt Radowitz vertheidigte das legitime
ſpaniſche Thronfolgerecht in einer Flugſchrift. Da Palmerſton überdies
den ſpaniſchen Krieg von vornherein als einen Kampf der Revolution gegen
das Fürſtenrecht anpries, ſo blieb den drei Mächten kaum eine Wahl.
Sie riefen ihre Geſandten aus Madrid ab — zum ſchweren Schaden für
die armen Weber des Rieſengebirges, die in Spanien ein wichtiges Abſatz-
gebiet verloren; ſie verboten dem Könige von Belgien, Werbungen für die
Criſtinos zuzulaſſen; jedoch eine förmliche Anerkennung Karl’s V. wagten ſie
nicht auszuſprechen, weil ſie als Landmächte nicht ohne Frankreichs Bei-
hilfe eine Einmiſchung verſuchen konnten. Auf eine völlige Umkehr Ludwig
Philipp’s hoffte man am Berliner Hofe nicht; man kannte ſeine bedrängte
Lage und wußte, „daß er die nationale Eitelkeit in dem Glauben erhalten
müſſe, als ob Frankreich eine Art friedlicher Dictatur ausübe.“*) Um ſo
mehr erwartete man von den Waffenerfolgen der Carliſten; denn Don
Carlos’ Agenten, die an allen deutſchen Höfen ihr Weſen trieben, hatten
dort überall die Meinung erweckt, daß der legitime König auf die unge-
heure Mehrheit der Nation rechnen dürfe. Nach jedem Siege der Basken
berieth man insgeheim, ob man nicht jetzt den König Karl anerkennen
ſolle, um ſchließlich immer wieder zu beſchließen, daß man erſt ſeinen Ein-
zug in Madrid abwarten müſſe. So lief denn Alles hinaus auf einen
unfruchtbaren Depeſchenwechſel. Als die engliſche Regierung ſich einmal
unterſtand, dem Berliner Hofe die Legitimität der Königin Iſabella zu
erweiſen, wurde ſie durch ein gründliches Gutachten des Berliner Aus-
wärtigen Amts ſiegreich widerlegt.**) Ancillon fühlte ſich bei dieſen Wort-
gefechten wie der Fiſch im Waſſer. Unaufhaltſam predigte er dem Tuilerien-
hofe in lehrhaften Noten ſeine Weisheit; er ſcheute die ſtärkſten Ausdrücke
nicht, aber „den Ton des Popilius“ — ſo geſtand er ſelbſt — wollte er
auf keinen Fall anſchlagen.***)
Keiner unter den drei verbündeten Monarchen zeigte ſich gegen Don
Carlos ſo kühl wie Czar Nikolaus. Sein Haß galt noch immer „dem
Straßenkönig und dem Bluſenkönig“, wie er die beiden Gewalthaber in
Paris und Brüſſel zu nennen liebte; nach wie vor hoffte er auf einen
Weltkrieg, der alle Schöpfungen der Juli-Revolution mit Stumpf und Stiel
vertilgen ſollte. Neben dieſen großen Entwürfen erſchien ihm die ſpaniſche
Bewegung kaum der Beachtung werth. „Für Don Carlos habe ich nur
Eiſen, aber kein Gold,“ ſagte er hochmüthig.†) Als echter Sohn des
[511]Die Oſtmächte und Don Carlos.
Hauſes Holſtein-Gottorp hatte er aber auch bei dieſen legitimiſtiſchen Kraft-
reden ſeine Hintergedanken. Die Schirmherrſchaft über den Sultan, die
ſich Rußland durch die Verträge von Adrianopel und Hunkiar-Iskeleſſi
errungen hatte, gerieth ſchon ins Wanken; die engliſche Diplomatie gewann
am Bosporus wieder Boden, und der Czar wollte den gefährlichſten Gegner
ſeiner orientaliſchen Pläne nicht ohne Noth aufreizen. Deshalb berührte
er die ſpaniſchen Händel nur ungern, und Metternich konnte gar nicht
begreifen, warum Nikolaus das britiſche Cabinet, „die ſchlechteſte aller
ſchlechten Regierungen“ ſo rückſichtsvoll, ja zärtlich behandelte.*)
Unter ſolchen Umſtänden vermochte Don Carlos nicht einmal eine
erhebliche Geldunterſtützung von den drei Monarchen zu erlangen. Die
Liberalen freilich glaubten ſteif und feſt, daß der Krieg der Carliſten weſent-
lich mit dem Gelde der Oſtmächte geführt würde; zumal die Oeſterreicher
erzählten ſich Wunderdinge von den ungeheuren Summen, die alljährlich
nach den Pyrenäen abſtrömen ſollten. Nichts konnte irriger ſein. Selbſt
König Friedrich Wilhelm, der ſtreng carliſtiſch geſinnt und über die Lau-
heit ſeines Schwiegerſohnes ſehr ungehalten war, weigerte ſich entſchieden,
die Bürgſchaft für eine carliſtiſche Anleihe zu übernehmen, wie der alte
franzöſiſche Legitimiſt Blacas ihm vorſchlug; ſo offen ſollte ſein Staat
nicht Partei nehmen.**) Erſt nach langem Bitten erklärte er ſich zu einer
Baarzahlung bereit, die allenfalls als ein Almoſen oder als ein Beweis
perſönlicher Freundſchaft betrachtet werden konnte. Auf ſeinen Befehl
mußte die Seehandlung in tiefem Geheimniß nach und nach insgeſammt
473,624 Thlr. 8 Sgr. „zu einem beſonderen Zweck“ unverzinslich vor-
ſchießen; die Gelder gingen, zum Theil durch Metternich’s Vermittlung,
als Geſchenk an Don Carlos ab und wurden nachher aus dem Staats-
ſchatz erſetzt.***) Die Summe war ſehr hoch für einen knappen Staats-
haushalt, der mit 51 Mill. jährlich ſeine regelmäßigen Ausgaben beſtreiten
ſollte, aber lächerlich gering als Beihilfe zu einem ſiebenjährigen Kriege,
welcher ſogar die Juwelenſchätze der ſpaniſchen Klöſter erſchöpfte. Nachher
zahlten auch die Hofburg und, nach langem Sträuben, ſelbſt Czar Niko-
laus, aber Beide gaben nur etwa ebenſo viel wie der König von Preußen,
ſo daß die geſammten Spenden der drei Höfe ſich auf 4 Mill. Franken
belaufen mochten. Dabei blieb es. Größere Zahlungen erlaubte der
Zuſtand der preußiſchen Finanzen nicht mehr, und kleine Summen wollte
man nicht geben, weil man jetzt ſchon aus ſchmerzlicher Erfahrung wußte,
daß dieſe regelmäßig in den Taſchen der carliſtiſchen Granden verſchwan-
den. Nach der Niederlage der Carliſten wurde in der Berliner vornehmen
Welt noch einmal für die Trümmer des geſchlagenen Heeres geſammelt;
[512]IV. 8. Stille Jahre.
Prinz Karl und die Miniſter Wittgenſtein, Rochow, Werther betheiligten
ſich, doch der Ertrag bezifferte ſich nur auf 1100 Thaler.*) Bedeutende
Zahlungen leiſtete unter ſämmtlichen Monarchen allein König Karl Albert
von Sardinien, der ſich als der eifrigſte aller Legitimiſten gebärdete und
überdies durch ſeine dynaſtiſchen Intereſſen mit Don Carlos verbunden
war. Die Oſtmächte thaten nur nothdürftig was der Anſtand zu for-
dern ſchien. Indeß dieſe ſchwächliche Hilfe genügte, um ihre Geſinnungen
zu verrathen; und als der Carlismus am Boden lag, da jauchzte die libe-
rale Welt: die Heilige Allianz ſei durch den Bund der vier freien Nationen
aufs Haupt geſchlagen. —
So trat der feine und ſcharfe Gegenſatz, der ſeit der Juli-Revolution
die preußiſche von der ruſſiſchen Politik trennte, in allen Fragen erkenn-
bar hervor. Die perſönliche Freundſchaft der beiden Höfe blieb dabei
unverändert. Im Herbſt 1834 ging Prinz Wilhelm nach Petersburg, um
der Einweihung der Alexanderſäule beizuwohnen; gleich darauf kam der
Czar mit ſeinem Thronfolger nach Berlin, wo er, im ſchlichten Rock die
Straßen durchwandernd, durch Leutſeligkeit und reiche Einkäufe die Laden-
beſitzer entzückte. Seinen Schwiegervater überſchüttete er mit den gewohn-
ten zärtlichen Schmeicheleien und beredete ihn zu einem ſeltſamen thea-
traliſchen Unternehmen, das der Quadrupel-Allianz die unverbrüchliche
Freundſchaft Preußens und Rußlands handgreiflich vor die Augen ſtellen
ſollte. Im September 1835 bezogen die ruſſiſchen und einige tauſend
Mann preußiſcher Truppen ein gemeinſames Lager bei Kaliſch; ein ruſſi-
ſches Corps kam zu See nach Danzig um durch Weſtpreußen nach der
polniſchen Grenzſtadt zu marſchiren, und die Danziger ließen am Eingange
ihres ſchönen Rathskellers neben dem Artushofe das lebensgroße Conterfei
eines acht Fuß langen moskowitiſchen Tambourmajors abmalen, der den
Europäern die Größe des Czarenreichs veranſchaulichen mußte. In Kaliſch
ging es hoch her. Kaiſer und Kaiſerin empfingen den König mit kindlicher
Ehrfurcht, Nikolaus küßte ihm wiederholt die Hände und die Aermel.
Tſcherkeſſen und Koſaken zeigten ihre barbariſchen Reiterkünſte, ein ruſ-
ſiſches Grenadierregiment verſtand ſogar den Parademarſch hüpfend aus-
zuführen; prächtige Schmäuſe und Feuerwerke wechſelten ab mit den kriege-
riſchen Uebungen. Damit ſein Schwiegervater ſich ganz zu Hauſe fühle,
hatte der Czar die beſten Berliner Schauſpieler kommen laſſen, und als
zum Schluß das Kaliſcher Schloß erſtürmt wurde, erſchien die Czarin in
hellen Gewändern auf dem Altane um als Friedensengel dem Kampfe
Einhalt zu gebieten.
Nachher wurde zu Ehren der Castra Calissiensia Russo-Borussica
noch eine Denkmünze geſchlagen mit den Bildern der beiden Monarchen und
[513]Das Lager von Kaliſch.
zweier Ritter, welche die Fahnen der beiden Nationen trugen. Trotz alle-
dem trat gerade bei dieſer Heerſchau grell zu Tage, daß die Verbrüderung
der beiden Reiche lediglich auf dynaſtiſchen Gefühlen und politiſcher Be-
rechnung, keineswegs auf den Neigungen der Völker beruhte. Recht be-
friedigt waren von allen Preußen nur Oberſt v. Rauch, der Militär-
bevollmächtigte in Petersburg, des Czaren erklärter Liebling, der fortan
durch viele Jahre das Haupt der Ruſſenfreunde blieb, und der Herausgeber
des Soldatenfreundes, der Schauſpieler Louis Schneider, ein glühender
Verehrer des Czaren; der fühlte ſich ſelig, als Nikolaus „dem königlich
preußiſchen Unteroffizier Leontin Abrahamowitſch Schneider“ eine Voll-
macht zur Beſichtigung der Lagers gegeben hatte, und ſendete der Staats-
zeitung bedientenhafte Berichte über die moskowitiſchen Herrlichkeiten. Die
Anderen — im Stillen auch der König ſelbſt — fühlten ſehr lebhaft, daß
dies nutzloſe militäriſche Gepränge ein politiſcher Fehler war. Eine ſo
innige Freundſchaft, wie ſie hier zur Schau getragen wurde, kann zwiſchen
unabhängigen Staaten nur während eines gemeinſamen Krieges, im Frieden
niemals beſtehen. Da Preußen nach der Meinung der Welt der ſchwächere
Theil war, ſo ſetzte es ſich der üblen Nachrede aus, daß der Czar in Berlin
gebiete. Die liberale Preſſe ſäumte nicht dieſe Schwäche auszubeuten. Zu-
gleich erging ſie ſich in pathetiſchen Klagen über die unſinnige Verſchwen-
dung der nordiſchen Despoten; wußte man doch, daß ſelbſt Fürſt Wittgen-
ſtein geäußert hatte, ſolche Paradefeſte gehörten in die Zeit Auguſt’s des
Starken, nicht in die Gegenwart. Daß der König die außerordentlichen
Koſten auf ſeine Chatoulle übernahm, blieb den Zeitungen unbekannt.
Den preußiſchen Offizieren ward nicht wohl bei den beharrlichen
Freundſchaftsverſicherungen des Czaren, der ihnen immer wieder betheuerte:
„Sie glauben gar nicht wie glücklich ich mich unter Ihnen fühle.“ Nur
zu gut war ihnen bekannt, welche brutale Härte dieſer Liebenswürdige
unterweilen zeigen konnte, und ſie rühmten gern, wie freimüthig ihr
General Wrangel kürzlich den tapferen General Karl Noſtitz und deſſen
Koſaken gegen den ſchimpfenden Kaiſer in Schutz genommen hatte; das
ſei ein ungerechter Tadel, hatte der Preuße geſagt, einen ſolchen kurzen
Paradegalopp dürfe man ungeſchulten Steppenpferden nicht zumuthen. Sie
wollten ſich auch kein Herz faſſen zu dieſen ruſſiſchen Kameraden, die ent-
weder aller Cultur entbehrten oder durch franzöſiſche Salonbildung glänzten.
Sie bemerkten bald die mangelhafte Bewaffnung, die elende Verpflegung,
die unmenſchliche Mannszucht in vielen ruſſiſchen Regimentern, und ob-
wohl ſie ſich ſelbſt in der langen Friedenszeit an manche unlebendige
Manövrirkünſte gewöhnt hatten, ſo ſahen ſie doch mit Verwunderung, wie
der Czar jede Bewegung der kämpfenden Truppentheile Zug um Zug
ſelber leitete, ſeine Generale nur die überbrachten Befehle mechaniſch
weitergaben. Noch weniger konnte ſich ein kameradſchaftliches Verhältniß
zwiſchen den Mannſchaften bilden, obgleich die preußiſchen Garden beim
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 33
[514]IV. 8. Stille Jahre.
Einmarſch von den ruſſiſchen umarmt und nach der widerlichen ſlaviſchen
Sitte abgeküßt wurden: hier junge Männer aus allen Ständen der Nation,
dort alte Soldaten, meiſt ausgehoben aus jenen zweifelhaften Schichten
der Geſellſchaft, welche von den Behörden für „entbehrlich“ erklärt wurden,
und dazu die Verſchiedenheit der Sprache, der Lebensgewohnheiten, der
Ehrbegriffe. Als die Preußen von Kaliſch über die nahe Grenze zurück-
kehrten, hatten ſie das volle Gefühl der Ueberlegenheit; die Offiziere ver-
bargen ihren Widerwillen kaum, und manche fragten bitter: warum man ſie
gerade hier habe Gaſtrollen geben laſſen, in dieſer vormals preußiſchen Stadt,
wo noch am Kadettenhauſe und anderen öffentlichen Gebäuden die leicht
übertünchten Namenszüge zweier preußiſchen Könige zu leſen ſtanden? —
Die politiſche Haltung der beiden Mächte wurde durch dies Ver-
brüderungsfeſt nicht verändert. Während Nikolaus den Bürgerkönig nach
wie vor mit ausgeſuchter Ungezogenheit behandelte, befeſtigte ſich Friedrich
Wilhelm mehr und mehr in der Ueberzeugung, daß man mit den neuen
franzöſiſchen Zuſtänden nüchtern rechnen müſſe. Seit den Münchengrätzer
Verhandlungen bezweifelten die kleinen deutſchen Höfe nicht mehr, daß
Preußen feſt entſchloſſen war, nur einen deutſchen Krieg, niemals einen
legitimiſtiſchen Principienkrieg zu führen.*) Wahre Achtung konnte der
Thronräuber zu Berlin freilich nicht finden, in den vertraulichen Schreiben
der preußiſchen Diplomaten wurde er immer nur Ludwig Philipp, faſt nie-
mals König genannt. Aber er war am Ruder; ſo lange er herrſchte,
ſchienen Ordnung und Frieden geſichert. Platen ſprach nur die allge-
meine Meinung der gemäßigten Parteien aus, da er ſang:
Die conſervative Geſinnung des Bürgerkönigs ließ wenig zu wünſchen
übrig. Man wußte in Berlin und Wien ſehr genau, wie abſichtlich er
die ewigen Miniſterwechſel des Parlamentarismus beförderte um alſo alle
Staatsmänner zu vernutzen und den Franzoſen ſeine eigene Unentbehr-
lichkeit zu erweiſen.**) Seit Fieschi ſeine Höllenmaſchine gegen Ludwig
Philipp gerichtet hatte, bekannte ſich der König offen zu der „Politik des
Widerſtandes“ und ließ durch die Septembergeſetze „die Partei der Be-
wegung“ ſtreng darnieder halten. So ſcharf war ſeit Napoleon keine
franzöſiſche Regierung gegen die Unruheſtifter eingeſchritten; denn jene
Blutthat erſchien nicht nur ſchreckhaft durch ihre damals beiſpielloſe, heute
freilich längſt überbotene Roheit; ſie bewies auch, daß die Radicalen
nicht den Monarchen perſönlich, ſondern das Königthum ſelbſt auf Tod
und Leben bekämpften. Und wie haltlos, wie blaſirt, wie unfähig zum
Widerſtande gegen neue Revolutionen zeigte ſich die Pariſer Geſellſchaft
[515]Preußen und die Orleans.
Angeſichts eines ſolchen Verbrechens! In Schaaren ſtrömten die ſkan-
dalſüchtigen Großſtädter herbei um für zwei Franken Eintrittsgeld eine
häßliche Dirne zu betrachten, die ſich als Geliebte des Banditen Fieschi öffent-
lich zur Schau ſtellte.
Unter ſo unheimlichen Eindrücken ward Ludwig Philipp von Tag zu
Tag beſorgter und hörte bereitwillig auf die Rathſchläge Metternich’s, der
ihm außer den üblichen ſalbungsvollen Ermahnungen unterweilen auch
eine treffende Bemerkung ſagte. Einmal fragte ihn der Oeſterreicher,
ob er denn nicht ſehe, daß in Frankreich eine neue Klaſſenherrſchaft ent-
ſtanden ſei; wenn die Mittelklaſſe ſelbſt regiere, dann höre ſie eben auf
der Mittelſtand zu ſein.*) Für Europa wünſchte der Bürgerkönig nichts
ſehnlicher als die Wiederherſtellung des alten Aachener Fünferbündniſſes,
das ſeine Dynaſtie nach beiden Seiten hin gedeckt hätte, und in dieſem
Wunſche begegnete er ſich mit der Friedensliebe Friedrich Wilhelm’s.**) Aber
wie ließ ſich an einen Bund der fünf Mächte denken, ſo lange der Czar ſeine
Schmähungen gegen das Julikönigthum, Palmerſton ſeine revolutionären
Brandreden fortſetzte? Rußland und England waren die Friedensſtörer. Am
meiſten empörte den König von Preußen, daß der Londoner Hof unter der
Hand unternahm, Oeſterreich zu den Weſtmächten hinüberzuziehen; er ver-
langte und erreichte die Abweiſung dieſer Verſuche, „damit den Prahlereien
des engliſchen Miniſteriums ein für allemal ein Ende gemacht werde“.***)
England gab er für jetzt preis; mit Frankreich aber wollte er in ehrlicher
Freundſchaft leben ſo lange dort eine geordnete Regierung beſtände.
Noch immer ſtanden die Orleans in der großen Familie der euro-
päiſchen Fürſten wie Geächtete da; nur mit dem Coburger in Brüſſel
unterhielten ſie geſelligen Verkehr. Bei mehreren Höfen hatte Ludwig
Philipp ſchon vergeblich um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger ge-
worben; überall waren ihm Rußlands Drohungen in den Weg getreten,
und er klagte nachher: „der Czar hat meine Familie zu einer thatſäch-
lichen Caſtration verdammen wollen.“†) Friedrich Wilhelm ſah ein,
daß dieſer Zuſtand nicht dauern durfte; nachdem man die Orleans einmal
anerkannt, mußte man ihnen auch die geſellſchaftliche Stellung einräumen,
welche der Krone Frankreichs gebührte. Er erklärte ſich alſo gern bereit, die
jungen franzöſiſchen Prinzen in ſeinem Schloſſe zu empfangen, und nach-
dem Metternich im Jahre zuvor den unwillkommenen Beſuch unter aller-
hand Vorwänden noch glücklich abgewendet hatte, unternahm der Herzog
von Orleans mit ſeinem Bruder Nemours im Mai 1836 die Reiſe an
die beiden großen deutſchen Höfe. Der Kronprinz von Preußen ſchrieb
verzweifelnd: „das iſt ſo ſchwer für mich, daß ich weinen möchte.“ Sein
33*
[516]IV. 8. Stille Jahre.
Vater aber beſtand darauf, daß der Anſtand ſtreng gewahrt wurde, und
kam den Gäſten mit väterlicher Güte entgegen. Die Berliner jubelten,
weil die Zeitungen ſo viel Herrliches von dem freien Frankreich erzählten.
Selbſt Ancillon, den der König zu den geheimen Vorverhandlungen nicht
zugezogen hatte, machte gute Miene zum böſen Spiele und verſicherte dem
Wiener Hofe, die jungen Herren hätten manches Vorurtheil entwaffnet.*)
In der That benahm ſich der franzöſiſche Thronfolger als ein liebens-
würdiger, gebildeter, verſtändiger Mann; er gefiel, obwohl man ſeinen
lauernden Augen die Falſchheit der Orleans anmerkte. Noch immer die
Hoffnung der Kriegspartei, hatte er doch den prahleriſchen Ton des Na-
tionalgardiſten ſchon längſt abgelegt und bewegte ſich in gemeſſenen
höfiſchen Formen, in fürſtlicher Haltung; auf dem gefährlichen Berliner
Boden ließ er ſich gern durch Al. Humboldt leiten. Beim Abſchied von
dem Könige ſchien er tief gerührt: „mein Vater, rief er aus, hat mir
befohlen, nicht heimzukehren ohne die wohlthätige Hand geküßt zu haben,
die zwanzig Jahre lang der Welt den Frieden bewahrt hat.“ In Wien
war der Empfang viel kühler; die Erzherzöge hielten ſich zurück, ein Theil
des hohen Adels hatte die Stadt verlaſſen. Auf den Feſten verriethen ſich
unverkennbar Steifheit, Verlegenheit, ſchlechte Laune, die Fürſtin Metternich
trug ihre legitimiſtiſche Geſinnung mit gewohnter Hoffart zur Schau.**)
Dem ungeachtet wagte der Herzog von Orleans um die Hand der Erz-
herzogin Thereſe, der Tochter des Erzherzogs Karl anzuhalten und empfing
eine höfliche Abſage. Der greiſe Feldherr ſelbſt hätte gern eingewilligt,
war er doch niemals ein Feind Frankreichs geweſen. Aber der geſammte
übrige Hof erklärte ſich dawider, und nicht blos aus legitimiſtiſchem Stolze;
die öſterreichiſchen Heirathen galten in Frankreich von Alters her für
unheilvoll, und mit gutem Grunde glaubte Metternich, eine ſolche Familien-
verbindung könne den Julithron eher erſchüttern als ſtützen.
Ueber dieſen Mißerfolg zeigte ſich Ludwig Philipp dermaßen aufge-
bracht, daß man in Berlin ſchon zu fürchten begann, er werde ſich von
den deutſchen Mächten abwenden und wieder in das Fahrwaſſer der revo-
lutionären Propaganda einlenken. Darum entſchloß ſich König Friedrich
Wilhelm, wieder ohne Ancillon’s Vorwiſſen, dem franzöſiſchen Thronfolger
eine Gemahlin aus einem mindermächtigen, aber vornehmen, altfürſtlichen
Hauſe zu verſchaffen; und als ihm der franzöſiſche Geſandte Breſſon von
der anmuthigen Prinzeſſin Helene von Mecklenburg-Schwerin ſprach, über-
nahm er ſofort ſelbſt die Vermittlung. Metternich fand nichts einzuwenden;
er meinte höhniſch, dieſe Braut ſei politiſch völlig geruchlos (anodine).***)
Prinzeſſin Helene war die Schweſter von Friedrich Wilhelm’s Schwiegerſohne,
dem lebensluſtigen, pracht- und kunſtliebenden Großherzog Paul Friedrich,
[517]Die Heirath des Herzogs von Orleans.
der ſoeben in Schwerin die Regierung angetreten hatte. Der Stolz des
mecklenburgiſchen Hauſes, das ſchon fünf Königinnen unter ſeinen Töchtern
zählte, ſträubte ſich lange. Da ließ der König ſeinem Schwiegerſohne durch
Graf Lottum vorſtellen: ſeinen perſönlichen Gefühlen wolle er nichts vor-
ſchreiben, aber die Heirath aus politiſchen Gründen auszuſchlagen, ſei ein
Fehler; bis jetzt habe die Diplomatie „mit Glück dahin gewirkt“, Ludwig
Philipp zu den conſervativen Mächten hinüberzuziehen; weiſe man die
Werbung ab, ſo erbittere man ihn und noch mehr den reizbaren Thronerben,
eben dies wünſchten die deutſchen und die polniſchen Revolutionäre.*) Hier-
auf wurde Miniſter Kamptz als Rechtsrath nach Schwerin geſendet, und
wie gänzlich umgewandelt erſchien dort plötzlich dieſer geſtrenge Royaliſt,
der ſich kürzlich für ſein altes Wappen die neue Deviſe: Regi et principio
conservativo gewählt hatte. Der Befehl ſeines Königs und der Wunſch,
dem angeſtammten mecklenburgiſchen Hauſe neuen Glanz zu verſchaffen,
bezauberten ihn völlig. In einer vertraulich verbreiteten Schrift ſtellte
er Rechtsſätze auf, die an ſich unhaltbar, in ſeinem Munde ganz unge-
heuerlich klangen: er ſuchte die Quaſi-Legitimität der Orleans zu beweiſen,
da Ludwig Philipp ein legitimes Thronfolgerecht beſeſſen habe, aber
freilich noch nicht an der Reihe geweſen ſei.
Dawider erhob ſich der ehrliche alte Strelitzer Miniſter Aug. v.
Oertzen.**) Der weilte, auf den Tod erkrankt, in Berlin und konnte nicht
ruhig ſterben, ehe er ſein Fürſtenhaus gewarnt hatte. „Schon im Privatleben,
ſagte er nach ſeiner patriarchaliſchen Weiſe, entſchließt man ſich nicht, den
Genuß ſogenannter Glücksgüter zu theilen, wenn die Rechtmäßigkeit ihrer
Erwerbung irgend zweideutig erſcheint.“ Er widerlegte die Behauptungen
Kamptz’s in einer geharniſchten Denkſchrift, die er ebenfalls unter der Hand
bei Hofe verbreiten ließ. „Bisher, ſo äußerte er, haben Legitimität und
Revolution nur neben einander beſtanden, ſie haben ſich gegenſeitig ge-
duldet, und äußerlich mit einander Frieden gehalten; hinfort werden ſie ſich
mit einander vermiſcht und vermählt haben.“ Daß des Königs Schwager
bei dieſer Arbeit irgendwie betheiligt war, galt für ſicher; in der diplo-
matiſchen Welt hielt man ihn ſogar für den eigentlichen Verfaſſer. Herzog
Karl verhehlte ſeine Entrüſtung über den Heirathsplan nicht; „er wäre in
ſeiner Wuth bald zum Teufel gefahren,“ ſo meinte Wittgenſtein, der ſelber
den Befehlen des Königs unbedingt folgte. Darauf antwortete Kamptz durch
biſſige „Anmerkungen“, die ſich auf das Beiſpiel der Waſas, der Welfen,
Wilhelm’s III., Napoleon’s beriefen und den Verfaſſer der Denkſchrift mit
der äußerſten Geringſchätzung behandelten.***) Der Streit zwiſchen den
höchſten Würdenträgern der Monarchie wurde ſehr ärgerlich. Herzog Karl
[518]IV. 8. Stille Jahre.
bekam die Ungnade des Königs lebhaft zu empfinden; er verlangte wieder
einmal, wie ſo oft ſchon, ſeine Entlaſſung aus dem Staatsrathe, ein Bruch
ſchien unvermeidlich, und nach Allem, was geſchehen, war es faſt ein Glück
für ihn, daß er bald nachher erkrankte und ſtarb (Sept. 1837). Auch der
Kronprinz beſtürmte ſeinen Vater mit Klagen. Czar Nikolaus ſetzte ebenfalls
alle Hebel ein, er ſendete ſeinen Günſtling Oberſt Rauch nach Berlin und
ließ in Schwerin die Prinzeſſin, ſeine Nichte, beſchwören, daß ſie von ihrem
ausgeſprochenen Entſchluſſe abſtehen möge — was Ancillon als einen unge-
hörigen Eingriff in deutſche Angelegenheiten entſchieden zurückweiſen mußte.*)
Bei all dieſem Getöſe behielt der alte König ſeinen Gleichmuth; er
blieb dabei, daß der europäiſche Friede ein ſolches Opfer verlange: — eine
preußiſche Prinzeſſin würde er den Orleans freilich nicht preisgegeben
haben. Im Mai 1837 fand die Braut auf der Durchreiſe nach Paris im
Potsdamer Schloſſe freundliche Aufnahme und gewann ſich an A. Hum-
boldt einen Freund für das Leben. Im Juni wurde die Hochzeit gefeiert
und zugleich in Verſailles das Muſeum à toutes les gloires de la France
eröffnet, eine Sammlung, deren prahleriſche Schlachtenbilder zu dem fried-
fertigen Weſen des Bürgerkönigthums allerdings wenig ſtimmten. Ludwig
Philipp ſchwamm in Freuden, er ernannte ſeinen Geſandten Breſſon zum
Pair; denn nunmehr war ſein Haus, Dank dem Könige von Preußen,
feierlich in die Gemeinſchaft des europäiſchen Fürſtenſtandes aufgenommen.
Er ſäumte auch nicht, ſeine Dankbarkeit durch Thaten zu bewähren. Im
Jahre 1838 wurden die Franzoſen aus Ancona, die Oeſterreicher aus
Ferrara zurückgerufen, und vorläufig ſchien jede Kriegsgefahr beſeitigt. —
Die gleiche Mäßigung bewährte Friedrich Wilhelm auch bei den ſchwei-
zeriſchen Händeln, die ſein Fürſtenthum Neuenburg noch immer beunruhig-
ten. Nachdem ſieben demokratiſche Cantone einen Sonderbund zum Schutze
ihrer neuen Verfaſſungen gebildet hatten, ſchloſſen die Neuenburger Roya-
liſten mit fünf anderen conſervativen Cantonen den Sarnerbund um
das alte Bundesrecht aufrecht zu erhalten. Der Streit verſchärfte ſich
dergeſtalt, daß der Neuenburger Geſetzgebende Körper im Sommer 1833
beſchloß, beim Könige förmlich den Austritt aus der Eidgenoſſenſchaft zu
beantragen. So war die Meinung der großen Mehrzahl der Gebildeten.
Unter den Maſſen dagegen beſaß die ſchweizeriſche radicale Partei der ſo-
genannten Patrioten ſchon ſtarken Anhang, und als ſie ſofort eine Gegen-
petition veranſtaltete, fand ſie leicht einige tauſend Unterſchriften. Der
König ließ dieſe Petenten kurz bedeuten, daß er nur in der Meinung der
geſetzmäßigen Abgeordneten die Stimme des Volkes erkennen könne. Die
Abgeſandten des Geſetzgebenden Körpers hingegen, an ihrer Spitze der
feurige Royaliſt Baron Chambrier, wurden in Berlin ſehr freundlich
aufgenommen, ſie zeigten dem Könige „ein wahrhaft kindliches Vertrauen“,
[519]Neuenburger Wirren.
wie Ancillon gerührt erzählte. Friedrich Wilhelm war jedoch nicht gemeint,
auf ihre leidenſchaftlichen Vorſchläge ohne Weiteres einzugehen; denn un-
möglich konnte dies zwiſchen Frankreich und der Schweiz eingepreßte Jura-
ländchen ſich als europäiſche Macht behaupten. Die preußiſche Regierung
verkannte nicht, wie ſchwierig die Verhältniſſe des kleinen Fürſtenthums
ſich geſtalten mußten, wenn der Radicalismus in der Schweiz auch ferner-
hin überhandnahm und vielleicht bald eine feſtere Form der Bundeseinheit
begründet wurde; aber ſie wußte auch, daß Neuenburg durch ſeine geo-
graphiſche Lage wie durch eine althiſtoriſche Verbindung auf die Schweiz
angewieſen war, und verfiel daher auf den Gedanken, ob ſie dem
Ländchen nicht ſeine frühere Stellung in der Eidgenoſſenſchaft wieder ver-
ſchaffen ſolle. Wenn Neuenburg wieder wie vormals ein zugewandter Ort
der Schweiz wurde, ohne Stimmrecht auf der Tagſatzung, nur Geld und
Truppen für die Eidgenoſſen ſtellte und dafür von dieſen militäriſch ge-
ſchützt wurde, dann konnte die unheilvolle Reibung zwiſchen Royaliſten
und Republikanern wahrſcheinlich beendigt werden.
Es war ein ſtaatsmänniſcher Gedanke, er bot vielleicht das einzige
Mittel, um die unnatürliche Doppelſtellung des fürſtlichen Cantons noch
für längere Zeit zu ſichern; er widerſprach jedoch der beſtehenden und
von allen Großmächten verbürgten neuen ſchweizeriſchen Bundesverfaſſung.
Darum fragte Ancillon bei den vier Mächten an, ob Preußen auf ihre
Unterſtützung rechnen könne, falls die Schweiz ſich auf ſolche Verhand-
lungen einließe.*) Rußland erwiderte ſofort: in Allem, was der König über
Neuenburg beſchließe, dürfe er ſich auf die Zuſtimmung des Czaren ver-
laſſen.**) Metternich hingegen hegte Bedenken; er fand den Augenblick
ungünſtig und wollte, getreu ſeiner kurzſichtigen conſervativen Politik, an
den Verträgen von 1815 womöglich gar nichts ändern.***) Unter ſolchen
Umſtänden war von den Weſtmächten auch keine Unterſtützung zu erwarten.
Mittlerweile begann der Zank in der Schweiz nachzulaſſen; der Sarner-
bund unterwarf ſich der Tagſatzung, die Radicalen vertagten vorläufig die
Ausführung ihrer Bundesreformpläne. Der Friede ſchien zurückzukehren;
der König gab den Plan auf und ſuchte ſeine Getreuen zu beſchwich-
tigen, aber ſchon nach Jahresfriſt verlangte der Staatsrath von Neuen-
burg — wieder vergeblich — das Verhältniß zur Schweiz müſſe geändert
werden.†) So ſchleppten ſich die Dinge hin. Die radicale Mehrheit
der Tagſatzung konnte ſich mit den royaliſtiſchen Patriciern Neuenburgs
ſchlechterdings nicht vertragen; immer wieder mußte der preußiſche Geſandte
vermitteln und verſöhnen.††) —
[520]IV. 8. Stille Jahre.
Währenddem begannen die Machtverhältniſſe in der Allianz der Oſt-
mächte ſich zu verändern durch den Tod des Kaiſers Franz (2. März 1835).
Wenig genug hatte der alte Herr freilich geleiſtet in dieſen letzten Jahren,
wo er, mißtrauiſch gegen ſich ſelber wie gegen Jedermann, alle Neuerungs-
vorſchläge bei Seite zu ſchieben pflegte mit der gelaſſenen Bemerkung „dar-
über muß man ſchlafen.“ Aber die laufenden Geſchäfte erledigte er noch
mit ſeiner gewohnten ſubalternen Emſigkeit. Er allein hielt die zahlreichen
neben- und übereinander geſchichteten Centralbehörden dieſes unförmlichen
Staates zuſammen; und obwohl er Metternich in der auswärtigen Politik,
den Grafen Kolowrat in der inneren Verwaltung ziemlich frei gewähren
ließ, ſo fiel doch keine ernſte Entſcheidung gegen ſeinen Befehl, der immer
darauf hinauskam, daß ſchlechterdings nichts geändert werden dürfe. Was
ſollte jetzt werden, da ſelbſt dieſe mechaniſch leitende und hemmende Kraft
des monarchiſchen Willens fehlte? Der neue Kaiſer Ferdinand war grund-
gutmüthig, fromm, wohlthätig, ehrlich, ſogar unterrichtet in einigen jener
Wiſſenſchaften, welche mehr den Spieltrieb als den Wahrheitsdrang be-
friedigen, jedoch ein armer, kaum zurechnungsfähiger epileptiſcher Kranker,
zum Wollen wie zum Denken gleich unbrauchbar. Darum hatte man
ſelbſt an dieſem Hofe, der doch an traurige Monarchen gewöhnt war,
ernſtlich erwogen, ob ein ſolcher Unglücklicher regieren dürfe. Aber ſein
Bruder Erzherzog Franz Karl beſaß, obwohl nicht krank, auch nur über-
aus beſcheidene Fähigkeiten, und deſſen Sohn Franz Joſeph war noch ein
kleines Kind. Ohne die Mitwirkung des ungariſchen Reichstags ließ ſich
zudem weder eine Abdankung noch eine förmliche Regentſchaft durchſetzen;
und wer ſollte unbotmäßigen Reichsſtänden ſo ſchwierige Fragen vorzulegen
wagen? Eben in dieſen Jahren begann der magyariſche Adel ſeine na-
tionale Bewegung: er wollte ſich ſelber die Herrſchaft über die deutſch-
ſlaviſch-walachiſche Mehrheit der Bevölkerung Ungarns und zugleich der
Stephanskrone die volle Selbſtändigkeit neben der Kaiſerkrone ſichern.
Schon hatte er erreicht, daß die magyariſche Sprache, ſtatt des altge-
wohnten neutralen Lateins, fortan im amtlichen Verkehre allein ange-
wendet werden ſollte; und als der Palatinus Erzherzog Joſeph erkrankte,
da beſchloß die Mehrheit der Abgeordneten zu Preßburg insgeheim, ge-
gebenen Falles ſofort den Führer der ariſtokratiſchen Oppoſition, den
Grafen Szechenyi zum Palatin zu erwählen.*)
In ſolcher Lage ſchien es nicht rathſam, an der unbeſtreitbaren Erb-
folgeordnung irgend zu rütteln. Der bedauernswerthe Thronfolger wurde
von den Ungarn im Voraus als König Ferdinand V. gekrönt**) und beſtieg
vier Jahre darauf den Kaiſerthron. Ein Anblick zum Erbarmen, wenn
††)
[521]Kaiſer Ferdinand I.
dieſe gebrechliche Geſtalt mit dem großen, blöde lächelnden Waſſerkopfe in
die Runde der Hofgeſellſchaft eintrat und ſich, um ja Keinem den Rücken
zuzuwenden, wie ein Kreiſel um ihre eigene Achſe drehte; dann faßte die
Kaiſerin oder ein Hofwürdenträger den Kaiſer am Frackſchoß und führte
ihn zu einigen der anweſenden Fremden, denen er ein paar unverſtänd-
liche Worte zuraunte. Als man den Armen gar nöthigte, die herkömm-
lichen öffentlichen Audienzen zu halten, da ſagte bald ſelbſt der gemeine
Mann in Wien, der gute Nandl ſei ein Trottel. Ein Glück nur, daß
der neue Kaiſer nichts unterzeichnete, was ihm nicht ſeine beſtallten ober-
ſten Räthe vorlegten; dieſe Regel hatte man ihm beigebracht, und er hielt
redlich daran feſt, bis auf einen einzigen, ſogleich bereuten Ausnahmefall.
Ein ſolcher Thronwechſel erinnerte an die Zuſtände des byzantiniſchen
Reichs. Metternich aber verſicherte dem preußiſchen Hofe erhaben: Alles
bleibe unverändert, Oeſterreichs großartige Ruhe ſei eine Lehre für alle
vom Fortſchritt gepeinigten Völker;*) niemals ſollten ihm die revolutionären
Leidenſchaften, die er jetzt gern mit einer ſiebenten Metapher als „moraliſche
Cholera“ bezeichnete, dies Reich des Friedens verheeren. Ancillon ſtimmte
ihm wie gewöhnlich zu und verſtieg ſich in ſeinem unterthänigen Eifer ſogar
zu einer hiſtoriſchen Vergleichung, deren Verwegenheit der arme Ferdinand
ſelbſt wohl am wenigſten verſtehen konnte; er meinte, von dem öſterreichiſchen
Staatsſchiffe könne man ſagen: „es trägt den Cäſar und ſein Glück.“**)
Der König war im Stillen ſehr beſorgt und ſendete ſofort ſeinen Sohn
den Prinzen Wilhelm zu dem neuen Kaiſer, um alſo die Feſtigkeit des
Bundes der Oſtmächte vor der Welt zu bekunden. In Wien wurde der
Prinz bei Hofe wie im Volke auf’s wärmſte begrüßt, und er täuſchte ſich
nicht über die Gründe dieſer Zärtlichkeit. „Offener und glänzender — ſo
ſchrieb er aufrichtig — konnte wohl es nicht ausgeſprochen werden, daß,
wenn ſelbſt ſolcher Herr Kaiſer ſei, alle Verhältniſſe zu ihm unverändert
bleiben würden.“ In den kurzen Tagen des Wiener Aufenthalts bemerkte
er mit ſeinen hellen Soldatenaugen ſogleich, welche Gefahren dem kaiſer-
loſen Staate drohten, und ſeine Befürchtungen fanden durch die Geſandt-
ſchaftsberichte volle Beſtätigung. Nach dem Tode des Freiherrn von Maltzahn
wurde die preußiſche Geſandtſchaft faſt zwei Jahre lang von dem Frei-
herrn v. Brockhauſen vorläufig verwaltet, bis im Mai 1835 der neue Ge-
ſandte Graf Maltzan ankam, ein geiſtreicher Mann, der in Hannover,
Darmſtadt und an anderen kleinen Höfen die deutſchen Verhältniſſe gründ-
lich kennen gelernt hatte. Beide Diplomaten zählten zu den conſervativen
Freunden Oeſterreichs, aber ſie beobachteten ſcharf und vergaben der Ehre
ihres Staates nichts. Beide meldeten übereinſtimmend, welche heilloſe
Verwirrung in der Hofburg herrſchte.
[522]IV. 8. Stille Jahre.
Obgleich Kaiſer Franz den Zuſtand ſeines Sohnes richtig würdigte,
ſo konnte er ſich doch niemals entſchließen, eine bindende Vorſchrift für
die Formen der künftigen Regierung zu geben. Die Wiener freuten ſich
auf ſein Teſtament, wie die Kinder auf den Weihnachtsbaum. Sie äußer-
ten laut ihre Enttäuſchung, als ſie endlich blos die väterlichen Worte zu
leſen bekamen: „Meine Liebe vermache ich Meinen Unterthanen;“ und
wer den Reichthum des kaiſerlichen Herzens gekannt hatte, konnte dieſem
Vermächtniß allerdings nur einen beſcheidenen Werth beilegen. Noch pein-
licher überraſcht waren die Staatsmänner, da ſich in dem Teſtamente nur
einige ganz allgemein gehaltene politiſche Lehren vorfanden, obenan natür-
lich der bewährte Grundſatz: „regiere und verändere nicht.“ Im Einzelnen
wurde dem Thronfolger lediglich anempfohlen, daß er ſich an den Rath
Metternich’s und ſeines Oheims Ludwig halten möge. Erzherzog Ludwig
war unter den zahlreichen Brüdern des Kaiſers Franz der jüngſte und weit-
aus der unfähigſte; darum hatte er dem Herzen und dem Kopfe des Ver-
ſtorbenen immer am nächſten geſtanden. Im Kleinen emſig, im Großen
völlig urtheilslos, ähnelte er dem alten Kaiſer ſehr und machte, obwohl
er erſt fünfzig Jahre zählte, ſchon den Eindruck eines erſtarrten Greiſes.
Da alſo jede feſte Vorſchrift fehlte, ſo ſuchte Metternich, entſchloſſen und
gewandt, die Alleinherrſchaft an ſich zu reißen. Er fühlte längſt, daß die ver-
kommene Verwaltung ſo nicht dauern konnte, und ſeit er das unheimliche
Schauſpiel des erſtarkenden preußiſchen Zollvereins vor Augen ſah, hielt
er einzelne Reformen für unerläßlich. Leider fehlte ihm jede Sachkenntniß.
Was er von Neuerungen plante, konnte wohl den allezeit bereiten Beifall
Ancillon’s finden;*) im Grunde lief doch Alles auf allgemeine Redensarten
hinaus, ganz wie ſeine Reformvorſchläge vom Jahre 1829.**) Nur für
die Armee erreichte er mehrere Verbeſſerungen. Sein Liebling, Graf Clam-
Martinitz, Berliner Andenkens, wurde zum Generaladjutanten und Chef
der militäriſchen Abtheilung des Staatsraths ernannt, ſo daß der berüch-
tigte bureaukratiſche Hofkriegsrath etwas von ſeiner Macht verlor. Ein
tüchtiger Offizier von ſtreng ariſtokratiſcher Geſinnung, bewirkte Clam, daß
einige von Radetzky verfaßte neue Reglements eingeführt wurden; freilich
zog er auch in dem Heere einen Geiſt des Hochmuths groß, den das fried-
liche alte Oeſterreich nie gekannt hatte. In Mailand aber durfte Feld-
marſchall Radetzky fortan ziemlich frei ſchalten, und die Manöver, die er
mit ſeinen wohlgeſchulten Truppen, den beſten der öſterreichiſchen Armee,
bei Verona abzuhalten pflegte, fanden bald allgemeine Anerkennung.
Gegen die Selbſtherrſchaft Metternich’s erhob ſich nun ein zwei-
facher mächtiger Widerſtand. Graf Kolowrat wollte ſich die Machtſtellung,
die er bisher in der inneren Verwaltung behauptet hatte, nicht durch einen
[523]Die bairiſchen Schweſtern. Erſte Teplitzer Zuſammenkunft.
diplomatiſchen Dilettanten rauben laſſen. Als Gegner Metternich’s galt
er für liberal; in Wahrheit war er nur ein Bureaukrat des gemeinen
Schlages, wohl erfahren in allen Künſten der geheimen Polizei, mäßigen
Reformen nicht abgeneigt und, wie alle Beamten der alten öſterreichiſchen
Schule, ein entſchiedener Gegner der Clericalen, aber kleinlich, geizig,
ſchwunglos, nur durch techniſche Sachkenntniß, nicht durch ſtaatsmänniſche
Einſicht dem Nebenbuhler überlegen. Weit mehr bedeutete der ſtille Un-
wille der kaiſerlichen Familie. Nun, da der Kaiſer fehlte, waren die Erz-
herzöge nicht mehr geſonnen, hinter dieſem Rheinländer und ſeiner unleid-
lich hochmüthigen Gemahlin zurückzuſtehen; den Damen des Hofes erſchien
Metternich überdies als Weltkind verdächtig. Die Kaiſerin Wittwe Caroline
Auguſte und ihre Schweſter Sophie, die Gemahlin des Erzherzogs Franz
Karl, hielten treu zuſammen; ſie hatten ſchon den alten Kaiſer in ſeinen
letzten Jahren bewogen, ſich den Jeſuiten gnädiger zu erweiſen, und jetzt
richtete die geſammte clericale Partei in Deutſchland ihre hoffenden Blicke
zu ihnen empor.
Von dieſen Tagen an begann die ſtille, verhängnißvolle Wirkſamkeit
der fünf bairiſchen Schweſtern. Die beiden öſterreichiſchen Fürſtinnen
ſtanden in herzlichem ſchweſterlichem Verkehre mit der Kronprinzeſſin von
Preußen, der Königin Marie und der Prinzeſſin Johann von Sachſen.
Alle fünf zeichneten ſich aus durch reiche Bildung und lebendiges Ver-
ſtändniß für ernſte Gedanken; ſie konnten, jede nach ihrer Weiſe, ungemein
liebenswürdig erſcheinen. Prinzeſſin Johann fühlte ſich glücklich als liebe-
volle Mutter und nahm an den politiſchen Geſchäften nur ſelten theil;
die preußiſche Kronprinzeſſin durfte, ſeit ſie zur evangeliſchen Kirche über-
getreten war, die Beſtrebungen der Clericalen nicht mehr offen unterſtützen;
allen fünf aber war jene hochconſervative, „bourboniſche“ Geſinnung ge-
mein, welche an dem Hofe des alten Aufklärers Max Joſeph insgeheim
immer gepflegt wurde. Durch Ehrgeiz und Thatkraft überragte Erzherzogin
Sophie die anderen Schweſtern; Maltzan nannte ſie einmal den Mann der
kaiſerlichen Familie.*) Sie zeigte einen lebhaften und eigenwilligen Geiſt,
der an der Seite eines ſolchen Gatten nur immer ſelbſtändiger werden
mußte, und meinte ſich berufen, den verwaiſten Thron zu beherrſchen.
Daß ihr die Fürſtin Metternich tief zuwider war, ließ ſich trotz der be-
hutſam geſchonten höfiſchen Formen leicht erkennen.
So entſpann ſich in der Hofburg ein gefährlicher ſtiller Parteikampf,
und als die beiden verbündeten Monarchen im September 1835, gleich
nach den Kaliſcher Manövern, in Teplitz eintrafen, um den neuen Kaiſer
zu begrüßen, empfingen ſie beide einen niederſchlagenden Eindruck. Wohl
wurde das ruſſiſche Denkmal auf dem nahen Kulmer Schlachtfelde ge-
meinſam eingeweiht, und Friedrich Wilhelm fühlte ſich tief gerührt, da er
[524]IV. 8. Stille Jahre.
allein noch übrig war von den drei Monarchen jener großen Tage. Aber
irgend ein großes Ergebniß konnte dieſe Zuſammenkunft nicht bringen.
Das Beſte blieb, daß der Czar mit ſeinen noch immer feſtgehaltenen krie-
geriſchen Plänen kaum herausrücken durfte*): der Anblick Ferdinand’s und
der Rathloſigkeit am öſterreichiſchen Hofe war gar zu kläglich. Ueber den
Austauſch trefflicher Grundſätze kam man nicht hinaus; und Ancillon, der
auf ſolche akademiſche Erörterungen hohen Werth legte, verkündete nachher
den Geſandtſchaften triumphirend: „Unſere Haltung vereinigt in ſich wahr-
haft ungeheuere materielle Kräfte und die der Einigkeit entſpringende mo-
raliſche Macht; ſie iſt gewaltig und furchtbar gerade durch ihre Ruhe,
ſie erlaubt uns die Ereigniſſe zu beobachten und abzuwarten.“**) Neſſel-
rode meinte freilich, nach ruſſiſcher Anſicht ſei dieſe Ruhe nur nothge-
drungen, mithin ein Zeichen der Schwäche.
Die Friedenspolitik des Berliner Hofes trug alſo in Teplitz einen
neuen Sieg davon. Selbſt Ludwig Philipp konnte dieſe harmloſe Zu-
ſammenkunft nicht mit Beſorgniß betrachten; er äußerte nur mit halb
unterdrückter Empfindlichkeit: gern hätte er ſelbſt theilgenommen, noch lieber
einem Congreſſe aller fünf Mächte beigewohnt.***) Weit lebhafter als die
europäiſche Politik beſchäftigte den Czaren für jetzt die Sorge um Oeſter-
reichs Zukunft. In erregten Geſprächen mit Metternich und Clam erklärte
er unumwunden: ſo ohne feſte Leitung müſſe Oeſterreich einer unerwartet
ausbrechenden italieniſchen Revolution ſicher erliegen. Sein Hintergedanke
dabei war, Metternich’s Macht einzuſchränken, denn trotz der in München-
grätz ausgetauſchten Zärtlichkeitsbetheuerungen traute er dem Staatskanzler
noch nicht ganz.†) Als dieſe Unterredungen fruchtlos blieben, reiſte er
plötzlich in höchſter Eile nach Wien, angeblich um der Kaiſerin-Wittwe
ſeine Theilnahme auszuſprechen. Seine unerwartete Ankunft erregte auch
das ſtaunende Aufſehen, das ſeiner Eitelkeit immer ſchmeichelte, jedoch
zu einem durchgreifenden Entſchluſſe konnte er die Damen des Hofes nicht
bewegen, und ſichtlich verſtimmt kehrte er nach kurzem Aufenthalt zurück.
Alſo blieb die kaiſerliche Regierung noch während eines vollen Jahres
in einem rechtlich ungeordneten, chaotiſchen Zuſtande. Metternich und
Kolowrat rangen mit einander um die Herrſchaft, und der gewandte
Staatskanzler erkannte bald, daß er ſich mit den frommen Damen ver-
bünden mußte, wenn er ſeinen Nebenbuhler beſiegen wollte. Dieſer Ent-
ſchluß fiel ihm um ſo leichter, da er ſich neuerdings, auf das Andringen
ſeiner Gemahlin Melanie, den Clericalen ſchon merklich genähert hatte.
Auch hegte er ſeit dem Erſtarken des Zollvereins einen reizbaren Argwohn
[525]Streit in der Hofburg. Rückkehr der Jeſuiten.
gegen Preußens Ehrgeiz; mit Maltzan ſprach er über die europäiſchen
Fragen offenherzig, über Deutſchland ſehr wenig.*) Er hoffte das wan-
kende Anſehen des alten Kaiſerſtaates zu befeſtigen, wenn Oeſterreich wieder
als die Schutzmacht des deutſchen Katholicismus aufträte. Darum kam
er, unbekümmert um Kolowrat’s Widerſpruch, einem alten Herzenswunſche
der beiden bairiſchen Schweſtern gefällig entgegen, und erklärte ſich bereit,
eine geheime Zuſage einzulöſen, welche Kaiſer Franz ſchon vor acht Jahren
dem General des Jeſuitenordens gegeben hatte. Zu Maltzan ſagte er
beſchwichtigend: die Jeſuiten ſind ja ſchon längſt unter uns, als kluge
Ligorianer.**) Im März 1836 wurden die Jeſuiten wieder zugelaſſen,
die bisher unter ihrem wahren Namen nur in Galizien gehauſt und dort,
durch gehäſſige Zänkereien mit den vereinzelten evangeliſchen Gemeinden
des Landes, den confeſſionellen Frieden ſchon arg geſtört hatten.***) Sie
ſäumten nicht dem Rufe zu folgen; in Tirol, in Steiermark, in der Lom-
bardei, in Wien errichteten ſie ihre Häuſer; ihre Lehrer bedurften keiner
Staatsprüfung, ihre jungen Theologen lebten nach der ratio studiorum
des Ordens. So zog die Geſellſchaft Jeſu in Oeſterreich triumphirend ein,
zur ſelben Zeit, da in Preußen ſchon der folgenſchwere Streit zwiſchen
Staat und Kirche begann; und je ſchärfer die Gegenſätze in Norddeutſchland
ſich zuſpitzten, um ſo mehr befeſtigte ſich Metternich in ſeiner neugewonnenen
clericalen Geſinnung, zur Herzensfreude ſeiner Gattin, die in kirchlichen
Dingen mit ihrer mächtigen Feindin, der Erzherzogin Sophie durchaus über-
einſtimmte. Den Wienern freilich, zumal den leichtlebigen Herren vom hohen
Adel, war dies ungewohnte pfäffiſche Weſen ſehr widerwärtig. Der witzige
Fürſt Dietrichſtein beſang in einem franzöſiſchen Gedichte den jeſuitenfreund-
lichen Staatskanzler; er feierte die Macht des ehelichen und des päpſt-
lichen Pantoffels: Qui sous la pantoufle se plaît, voudrait nous voir
tous sous la mule.
Auch bei den Berathungen über das Heerweſen unterlag Kolowrat. Er
wünſchte dem greiſen Erzherzog Karl den Oberbefehl zu übertragen und den
Beſtand des Heeres herabzuſetzen, weil durch die Rüſtungen der letzten Jahre
ſchon ein jährliches Deficit von mindeſtens 30 Mill. fl. entſtanden war. Met-
ternich aber wollte weder ſeinen Vertrauten Clam fallen laſſen noch ange-
ſichts der Kriegsgefahren das Heer vermindern, und Erzherzog Ludwig gab
ihm Recht. Als Kolowrat hierauf das ſtarre Prohibitivſyſtem, zunächſt durch
eine Erleichterung der Zuckerzölle, zu mildern verſuchte, da ſetzte Erzherzog
Ludwig die bereits erlaſſene Verordnung nachträglich außer Kraft. Kolowrat
nahm Urlaub, er dachte ſeine Entlaſſung zu fordern und wagte es doch
nicht im Ernſt. Da auch Metternich die Sachkenntniß ſeines Gegners in
[526]IV. 8. Stille Jahre.
Finanzſachen nicht entbehren konnte, ſo kam endlich, nach langem, wider-
wärtigem Streite ein Vergleich zu Stande. Im December 1836 wurde
die alte Staatsconferenz als höchſte Behörde der Monarchie neu geordnet.
Mitglieder waren, außer dem Kaiſer und ſeinem Bruder, den Niemand
beachtete: Erzherzog Ludwig, Metternich und Kolowrat. Dieſe bildeten
fortan das regierende Triumvirat, ſo ſpotteten die Wiener. Metternich’s
Anhänger frohlockten, und er ſelbſt meinte ſtolz: der Czar werde jetzt
wohl von ſeinen Vorurtheilen zurückkommen, dies Regierungsſyſtem ſei
für Oeſterreich das einzig mögliche*). Seine Freude ſollte indeß nicht lange
währen. Erzherzog Ludwig zeigte ſich im Verneinen und im Nichtsthun
ebenſo halsſtarrig wie ſein verſtorbener Bruder; und wenn Metternich ge-
hofft hatte ſich des Erzherzogs gegen Kolowrat zu bedienen, ſo mußten die
beiden erfahrenen alten Staatsmänner bald gegen den Erzherzog gemein-
ſame Sache machen. Vergeblich; jede noch ſo beſcheidene Aenderung, die
ſie vorſchlugen, ward an Ludwig’s gemüthlichem Phlegma zu Schanden.
So wurde denn wieder, wie zu Franzens Zeiten, im Innern gar nicht
regiert, obwohl die Gährung in Italien, in Ungarn, in Böhmen bedrohlich
wuchs. Es war, als ob Kaiſer Franz noch dreizehn Jahre länger gelebt
hätte; nur fehlte der dreiköpfigen Gerontokratie — wie man ſie an den
Höfen nannte — das geſicherte Anſehen, das der alte Kaiſer doch immer
behauptet hatte. Selbſt in der vormals ſo harmloſen Hauptſtadt erklang
jetzt der Tadel oft ſehr laut und höhniſch; die Spaziergänge des Wiener
Poeten und die deutſchen liberalen Zeitungen waren, den Verboten zum
Trotz, in Jedermanns Händen. Um das Volk durch höfiſche Pracht zu
blenden, führte man den unglücklichen Ferdinand noch zur Krönung nach
Prag, dann nach Mailand. Hier begrüßten ihn huldigend die Fürſten
Italiens (1838), auch ein Theil des lombardiſchen Adels bezeigte ſeine Unter-
thänigkeit. Die gebildete Jugend aber ſtand grollend abſeits, ſie ließ ſich
ſelbſt durch das Gnadengeſchenk der Amneſtie nicht verſöhnen; und in
ihrem Namen verwünſchte G. Giuſti in einer mächtigen Satire dieſe kleinen
Despoten, die ihres Volks vergeſſend vor dem Fremden knieten:
Angeſichts dieſer Nichtigkeit des öſterreichiſchen Staatsweſens wuchs der
Hochmuth des Czaren maßlos; er fühlte ſich als den erſten Mann des Oſt-
bundes und bekundete oft in rückſichtsloſen Worten, zum Entſetzen der Diplo-
maten, wie tief er die kaiſerliche Hofburg verachtete.**) Am Wiener Hofe ſelbſt
beſtand eine kleine ruſſiſche Partei. Ihr Haupt war Fürſt Alfred Windiſch-
[527]Das Triumvirat. Zweite Teplitzer Zuſammenkunft.
grätz, ein ſtrenger, hochmüthiger Soldat von hartconſervativen Grundſätzen;
der hatte im Jahre 1831 den geheimen Auftrag erhalten, nöthigenfalls mit
einer Brigade in das aufrühreriſche Sachſen einzurücken, und erfreute ſich
der beſonderen Gunſt des Czaren. Gleichwohl übte Rußland auf die innere
Verwaltung des Nachbarreichs durchaus keinen Einfluß. Geleitet von dem
greiſen Triumvirate arbeitete die Maſchine in der alten gedankenloſen
Weiſe weiter; Erzherzog Ludwig ſagte mit türkiſcher Gelaſſenheit zu jedem
Reformvorſchlage Nein, und ein ſtrengeres Regiment, wie Nikolaus es
wünſchte, wäre doch auch eine Neuerung geweſen.
Unterdeſſen verſuchte Metternich nach wie vor den drei Monarchen als
Mentor zu dienen. Nachdem er im Jahre 1837 den König von Preußen
im Teplitzer Bade beſucht hatte, wußte er’s im Jahre darauf einzufädeln,
daß die beiden nordiſchen Herrſcher wieder in Teplitz mit ihm zuſammen-
trafen. Der arme Kaiſer Ferdinand wurde ferngehalten, weil er das letzte
mal eine gar ſo armſelige Rolle geſpielt hatte, und zum Scheine durch
ſeinen Bruder Franz Karl vertreten.*) Hier wie bei allen dieſen Zuſammen-
künften wahrte man ſorglich den Schein der Eintracht, und Metternich ſagte
beim Abſchied verbindlich zu dem Czaren: „wenn man in die eine Wag-
ſchale die ruſſiſche Politik legte, in die andere die öſterreichiſche, ſo würde
das Zünglein nicht ſchwanken.“**) In Wahrheit beſtand der alte Gegenſatz
fort. Die Friedenspolitik der beiden deutſchen Mächte blieb dem Czaren
ein Greuel. Meine religiöſe Erziehung, ſo betheuerte er dem preußiſchen
Miniſter Werther, hat mir einen tiefen Abſcheu eingeflößt wider Alle, die
mit frevelnder Hand die geheiligten Rechte der legitimen Souveräne an-
taſten. Rußland iſt ſo groß und reich, daß es ſich um die ganze Welt
nicht zu kümmern braucht. Wenn ich es könnte, ſo würde ich mein Reich
mit einer Mauer umſchließen. Aber die Anerkennung Ludwig Philipp’s
war ein Fehler, nie werde ich ihn „Mein Bruder“ nennen. Einmal, viel-
leicht erſt unter dem Herzog von Orleans, wird ein Krieg der drei con-
ſervativen Mächte gegen das illegitime Frankreich doch nöthig werden. Für
jetzt haben wir zwei Dinge zu thun: die Revolution zu unterdrücken, und
zu verhindern, daß die neue Ordnung in Frankreich ſich befeſtige! Dar-
auf erging er ſich wieder in den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen: ich
liebe den König nicht nur wie ein Sohn, „ich verehre ihn auch, als wäre
ich ſein Unterthan und er mein Souverän!“ Der König ließ ſich durch
dieſe plumpen Schmeicheleien nicht blenden, ſondern ſprach nachdrücklich ſein
Bedauern aus über die unverſöhnliche Geſinnung des Schwiegerſohnes.***)
Nur in den orientaliſchen und den polniſchen Händeln konnte Nikolaus
auf die unbedingte Unterſtützung ſeiner Bundesgenoſſen rechnen. Obwohl
[528]IV. 8. Stille Jahre.
Metternich zuweilen Rußlands neugewonnene Machtſtellung an der Donau-
mündung mit einiger Beſorgniß betrachtete*), ſo beſchwichtigte er doch
immer wieder ſich ſelbſt und Andere durch jene leichtſinnigen Hoffnungen,
die er ſeit dem Vertrage von Hunkiar Iskeleſſi gefaßt hatte; er meinte,
die orientaliſche Frage beſtehe nicht mehr, unter des Czaren wohlwollen-
dem Schutze müſſe die Pforte wieder zu Kräften kommen. Sein Inter-
nuntius in Stambul ging mit dem ruſſiſchen Geſandten ſtets Hand in
Hand und überließ es den Diplomaten der Weſtmächte, durch kleine Ränke
die ruſſiſche Schirmherrſchaft zu bekämpfen, die ſich ſeit dem letzten Kriege
auch über Perſien, über ganz Vorderaſien erſtreckte.
Noch feſter hielten die Oſtmächte gegenüber den Polen zuſammen;
hier ſtanden ſie einer für alle. Was ſie im Jahre 1831, nach der Nieder-
werfung des polniſchen Aufruhrs verſucht hatten um auch in Krakau die
Ordnung wieder herzuſtellen, erwies ſich bald als verlorene Arbeit.**) Die
kleine Republik fuhr fort, ihre Neutralität beharrlich zu brechen, die pol-
niſchen Flüchtlinge zu beherbergen, die Nachbarlande zu beunruhigen; und
wie konnte dieſer heilloſe Zuſtand ſich ändern, ſo lange der halbſelbſtän-
dige polniſche Kleinſtaat noch beſtand? Daher ſprachen die drei Schutz-
mächte ſchon in Münchengrätz ihre Meinung dahin aus, daß die Bildung
dieſes Heerdes ewiger Unruhen ein ſchwerer Mißgriff des Wiener Congreſſes
geweſen ſei, und auf der erſten Teplitzer Zuſammenkunft (1835) beſchloſſen
ſie einmüthig, die Republik zunächſt durch Waffengewalt zu beruhigen um
ſie ſodann bei günſtiger Gelegenheit zu vernichten. Es war der einzige greif-
bare Erfolg der unfruchtbaren Teplitzer Unterredungen.
Nach allen den Umtrieben der Pariſer Propaganda konnten die drei
Theilungsmächte in den Polen nur noch ihre unverſöhnlichen Feinde ſehen.
Auf der Rückreiſe von Teplitz hielt Nikolaus den Vertretern der Stadt
Warſchau eine drohende Rede; ihre demüthige Anſprache, ſo herrſchte er
ſie an, wolle er nicht annehmen, um ſie nicht zum Lügen zu verführen;
Gehorſam, Unterwerfung, das allein verlange er, bei Strafe der Vernich-
tung. Während die Preſſe der Weſtmächte noch in Entrüſtung ſchwelgte
wegen dieſer Worte des Czaren, wurde in Berlin am 14. Oct. 1835 ein
in Teplitz verabredeter geheimer Vertrag unterzeichnet, der rundweg aus-
ſprach, der Beſtand der Krakauer Republik ſei für ihr eigenes Volk wie
für die Sicherheit der Nachbarſtaaten ſchädlich. Demnach verpflichteten ſich
die Schutzmächte zu erwägen, wie auf den freien Wunſch der Republik
ſelber die Einverleibung Krakaus in den öſterreichiſchen Staat herbeige-
führt und der Widerſpruch der anderen Mächte beſchwichtigt werden ſolle.
Zwingende Gründe der Nothwehr rechtfertigten dieſe Verabredung; aber
wie grauſam verurtheilte die Politik der ſtarren Legitimität ſich ſelbſt,
[529]Vertrag über die Einverleibung Krakaus.
wenn eben die drei Mächte, welche die Unantaſtbarkeit der Wiener Ver-
träge auf ihr Panier ſchrieben, ſich zu einem ſolchen Gewaltſtreiche ent-
ſchloſſen! Der Wechſel der Dynaſtie in Frankreich, ja ſelbſt der Abfall
der ſüdlichen Niederlande verletzte die Grundſätze des legitimen Rechts
nicht ſo ſchwer, wie die hier geplante gänzliche Vernichtung eines euro-
päiſchen Staates, der keineswegs, wie Metternich behauptete,*) durch die
drei Schutzmächte allein geſchaffen war, ſondern durch den Art. 6 der
Wiener Congreßakte, durch die Zuſtimmung aller europäiſchen Mächte.
Vernehmlicher konnte die Staatsweisheit, welche dem ewigen Wandel der
menſchlichen Dinge durch den Buchſtaben der Verträge Halt zu gebieten
wähnte, ihren Bankbruch nicht ankündigen.
Darauf, im Frühjahr 1836, beſetzten Truppen der Oſtmächte das
Krakauer Gebiet. Die Flüchtlinge verſchwanden, die Behörden und die
Volksvertretung wurden umgeſtaltet, und unter der ſtrengen Aufſicht von
Commiſſären der drei Schutzmächte beruhigte ſich die Stadt wieder, ſo daß
die letzten Ruſſen nach einigen Monaten abziehen konnten. In der Preſſe
und den Parlamenten der Weſtmächte ertönte alsbald wieder der herkömm-
liche polniſche Schmerzensſchrei. Die Cabinette aber fühlten beide, wie
wenig ſich gegen dieſe Beſetzung einwenden ließ; denn das neutrale Krakau
war durch die Verträge ausdrücklich verbunden, Flüchtlingen und Ver-
brechern keine Zuflucht zu gewähren, und hatte dieſe Verpflichtungen mit
Füßen getreten. Daher ließ Ludwig Philipp in Wien unter der Hand mit-
theilen, er hoffe die leidige Sache ſtill zu begraben. Palmerſton glaubte,
aus Furcht vor dem Unterhauſe, einen Schritt weiter gehen zu müſſen.
Er verſuchte durch Lord William Ruſſell dem Berliner Hofe einen förm-
lichen Proteſt zu übergeben, und als Ancillon die Annahme kurzerhand
verweigerte,**) ſendete er den drei Oſtmächten eine mit Vorwürfen und
Verwahrungen ſtattlich ausgeſchmückte Depeſche (15. April). Zugleich ver-
kündigte er ſeine Abſicht, in Krakau einen engliſchen Conſul anzuſtellen,
der dort natürlich nur Unruhen anzetteln konnte. Während er alſo wieder
einmal den Beifall der liberalen Welt einerntete, ſchrieb er vertraulich an
Metternich: England könne nicht anders verfahren, indeſſen werde der
Handel hoffentlich keine Folgen haben; und dem bairiſchen Geſandten geſtand
er gar: ich würde in Krakau ganz wie die Theilungsmächte handeln!***)
Die Folge war, daß die Oſtmächte Palmerſton’s Einſpruch ebenſo ſchnöde
zurückwieſen, wie ſie einſt Englands Proteſte gegen die Sechs Artikel, gegen
die Beſetzung Frankfurts, gegen den Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi abge-
fertigt hatten; und gewohnt wie er war vor jedem entſchloſſenen Feinde zu-
rückzuweichen, nahm der Lord die Demüthigung gelaſſen hin.†) Immerhin
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 34
[530]IV. 8. Stille Jahre.
genügten dieſe Erfahrungen, um die drei Schutzmächte beſorgt zu ſtimmen.
Wenn ſchon die vorübergehende Beſetzung Krakaus ſo viel Lärm erregte,
wie mußte dann gar die verabredete Einverleibung wirken? Man beſchloß
alſo beſſere Zeiten abzuwarten, und der Berliner Vertrag blieb ein un-
verbrüchliches Geheimniß, bis er nach elf Jahren zur allgemeinen Ueber-
raſchung plötzlich ausgeführt wurde. —
Wie Metternich, trotz ſeines dringenden Wunſches dem Czaren zu
gefallen, doch durch die Unbehilflichkeit des öſterreichiſchen Staatsweſens
zu einer Haltung gezwungen wurde, welche dem moskowitiſchen Selbſt-
herrſcher nur halb genügte, ſo war auch König Friedrich Wilhelm mit nichten
geneigt, ſich einer fremden Leitung zu fügen. Seine Politik verfolgte nur
den beſcheidenen Zweck, die neu errungene wirthſchaftliche Einheit der
Nation durch die Erhaltung des Weltfriedens und den Ausbau der Zoll-
vereinsverträge zu ſichern; ſie verfuhr behutſam und beſcheiden, aber
preußiſch war ſie. Im Frühjahr 1837 ſtarb Ancillon, und Metternich
rief dem getreuen Verehrer wehmüthig nach: „mir iſt, als hätte ich
die Deckung meiner rechten Flanke verloren.“*) An ſeine Stelle trat
Werther, der vor ſechs Jahren in richtiger Selbſterkenntniß den Miniſter-
poſten abgelehnt hatte;**) und es zeigte ſich bald, daß dieſer kluge diplo-
matiſche Beobachter zum Befehlen nicht geſchaffen war. Neue Gedanken
vermochte er der großen Politik Preußens nicht einzuflößen; ihre Unab-
hängigkeit jedoch wahrte er weit ſtrenger als ſein Vorgänger, weil er in
Paris die diplomatiſchen Umtriebe der beiden Kaiſerhöfe zur Genüge kennen
gelernt hatte. Das Verhältniß zu der Hofburg blieb, wie ſtreng man auch
die freundſchaftlichen Formen einhielt, ziemlich kalt. Metternich konnte den
Ingrimm über Preußens Handelspolitik nicht verwinden, und doch ver-
mochte er nichts dawider, da Erzherzog Ludwig zu keiner Verbeſſerung des
Zollweſens zu bewegen war. Ueberall in Oeſterreich ſagte man ſchon
gleichmüthig, ſeit der Stiftung des Zollvereins habe Preußen die Herr-
ſchaft in Deutſchland erlangt.***) Als Rotteck im Jahre 1838 nach Wien
kam, fragte ihn Metternich gemüthlich: woher kommt dieſer wachſende Ein-
fluß Preußens? Der ehrliche Liberale antwortete: Von ſeiner verſtändigen,
beharrlich fortſchreitenden Verwaltung. — Und wie können wir dem ent-
gegenwirken? — Wenn Sie dem preußiſchen Vorbilde folgen! Am Ende
der langen Unterredung waren die Beiden nur darin einig, daß ſie Preu-
ßens ſteigende Macht und die Bedrängniß der katholiſchen Kirche inbrün-
ſtig bedauerten.†)
Ebenſo wenig wie der Hofburg gelang es dem ruſſiſchen Cabinet die
preußiſche Politik zu beherrſchen. Der Czar perſönlich wurde vom Hofe wie
[531]Preußens Verhältniß zu Rußland.
vom Volke mit Ehrenbezeigungen überhäuft. Als er im Jahre 1838 wieder
einmal nach Berlin kam, ernannte ihn der unterthänige Magiſtrat zum
Ehrenbürger der Hauptſtadt, was den boshaften Großfürſten Michael zu der
Aeußerung veranlaßte: „wenn mein Bruder ſeine Krone niederlegen ſollte, ſo
kann ihn Niemand hindern in Berlin Schornſteinfeger zu werden.“ Nikolaus
bedankte ſich durch eine reiche Geldſpende und ließ unter den Linden den
Ruſſiſchen Palaſt erbauen um vor aller Welt zu zeigen, wie heimiſch er
ſich an der Spree fühle. Aber bei dieſem Austauſch perſönlicher Höf-
lichkeiten blieb es auch. Daß Preußen in der polniſchen Frage mit Ruß-
land Hand in Hand ging, ergab ſich von ſelbſt aus der natürlichen In-
tereſſengemeinſchaft der beiden Höfe. Desgleichen war es ein altbewährter
Grundſatz der preußiſchen Politik, die Ruſſen am Bosporus ſo weit als
irgend möglich frei gewähren zu laſſen. Noch zuverſichtlicher als die Hof-
burg glaubte der Berliner Hof, daß die Pforte unter Rußlands freund-
licher Schirmherrſchaft wieder erſtarken würde, und als der Geſandte in
Konſtantinopel, v. Martens einmal eigenmächtig verſuchte, mit den Weſt-
mächten zuſammenzugehen, erhielt er ſofort eine ſcharfe Zurechtweiſung.
In allen den Fragen hingegen, welche das preußiſche Intereſſe un-
mittelbar berührten, ging der Berliner Hof ſeines eigenen Weges. Der
König blieb bei ſeiner wohlerwogenen Meinung, daß Lord Palmerſton der
eigentliche Unruheſtifter in Europa ſei und der friedfertige Tuilerienhof
die Unterſtützung der Oſtmächte verdiene; die leidenſchaftlichen Klagen ſeines
Schwiegerſohnes über die Heirath des Herzogs von Orleans ließen ihn
kalt. Dieſen Anſichten ſeines königlichen Herrn durfte auch Ancillon nicht
zuwiderhandeln. Der erging ſich wohl gern in doktrinären Betrachtungen
über das geheimnißvolle Wort: Legitimität, das man „ſeinem wohlthätigen
Halbdunkel nicht entreißen dürfe, ganz wie man fürchten müſſe die Wurzeln
eines Baumes an das helle Tageslicht zu bringen“; aber auf dieſe legi-
timiſtiſchen Erörterungen ließ er ſofort die höchſt illegitime Behauptung
folgen: „wir dürfen Ludwig Philipp nicht mehr fragen, woher er kommt,
ſondern wohin er geht, oder vielmehr, wir müſſen ihm immer zeigen wohin
er gehen ſoll.“*) Preußen war ehrlich entſchloſſen, mit dem Julikönigthum
als einer gegebenen Thatſache zu rechnen; und ſeit Werther das Auswärtige
Amt übernommen hatte, blieb das Einvernehmen zwiſchen den beiden Höfen
mehrere Jahre hindurch ganz ungetrübt. Werther weigerte ſich geradezu,
den Czaren zu unterſtützen, als dieſer unter heftigen Drohungen ſtrenge
Maßregeln wider die polniſchen Flüchtlinge in Paris verlangte; er meinte,
jede Nachgiebigkeit würde den Selbſtherrſcher nur zu neuen Thorheiten
ermuthigen.**) Dieſe neuen Thorheiten blieben gleichwohl nicht aus. Im
Jahre 1839 veranſtaltete Nikolaus große Manöver an der Moskwa. Er
34*
[532]IV. 8. Stille Jahre.
führte dort, zum ſtillen Ergötzen der kriegserfahrenen ausländiſchen Zu-
ſchauer, die Schlacht von Borodino noch einmal auf, Zug für Zug, aber
mit einigen ſelbſterfundenen Aenderungen, welche die Fehler Napoleon’s
und Kutuſow’s berichtigen ſollten; zugleich erließ er an ſein Heer einen
prahleriſchen Tagesbefehl, der faſt wie eine Kriegserklärung klang und
nicht blos den franzöſiſchen Geſandten zu ernſten Beſchwerden ver-
anlaßte, ſondern auch am Berliner Hofe ſcharfen Tadel fand.*) Kein
Wunder alſo, daß die ruſſiſchen Diplomaten beſtändig über Preußens
Kleinmuth klagten.
Ueber die innere Politik des Nachbarſtaates urtheilten ſie freilich
anders. Hier fanden ſie die Haltung des preußiſchen Beamtenthums hals-
ſtarrig, ja ſtierköpfig; denn der hochmüthige Ton, den ſie jetzt nach dem
Vorbilde ihres Herrſchers anzuſchlagen liebten, machte auf die nüchternen
Berliner Geheimen Räthe gar keinen Eindruck, und ſobald der Czar ſich
unterſtand, über die inneren Zuſtände Preußens zu reden, wurde er ſtets
nachdrücklich in ſeine Schranken zurückgewieſen. Bei den Manövern von
Wosneſensk (1837) ſagte er zu General Natzmer, er empfehle ſeinem
Schwiegervater die Veränderung der demokratiſchen, revolutionären Land-
wehr. Da fuhr der alte König zornig auf: Ich will dieſe Vorſchläge gar
nicht hören. Ich bin mit meiner Landwehr im Krieg und Frieden zu-
frieden. Dieſe ruſſiſchen Drohungen mit der Revolution dauern ſchon
viele Jahre, ſie haben ganz andere Gründe. Ich halte Geſetz und Ord-
nung aufrecht ohne Rußlands Hilfe und Rathſchläge. Möge Kaiſer Niko-
laus nur dafür ſorgen, daß ſich in Rußland nicht die Soldatenmeutereien
von 1825 und 1830 erneuern! Selbſt die hochconſervative Partei war
dem Czaren keineswegs unbedingt ergeben; ihr Berliner Wochenblatt
führte vielmehr einen lebhaften Federkrieg gegen die Petersburger Hof-
publiciſten, weil eben damals die erſten Angriffe des Moskowiterthums
gegen die Privilegien der baltiſchen Provinzen begannen, und die preußi-
ſchen Conſervativen dort wie überall für das hiſtoriſche Recht eintraten.
Ganz unverſöhnlich ſtanden die handelspolitiſchen Intereſſen der beiden
Nachbarlande einander gegenüber. Der für Preußen ſo ungünſtige Han-
delsvertrag von 1825 lief jetzt ab.**) Man verlängerte ihn noch um ein
Jahr, bis 1836, um Zeit für neue Unterhandlungen zu gewinnen. Der
König aber geſtand ſeinem Schwiegerſohne unumwunden, ein neuer Han-
delsvertrag ſei nur möglich auf der Grundlage ehrlicher Gegenſeitigkeit;
und wie konnte dieſe Gegenſeitigkeit beſtehen zwiſchen zwei Staaten von ſo
verſchiedener Geſittung? In Preußen herrſchte ein mildes Zollgeſetz, das,
mit Ausnahme des Salzes und der Spielkarten, keiner einzigen Waare
die Einfuhr verbot, in Rußland ein hartes Prohibitivſyſtem, ſo läſtig für
[533]Preußiſch-ruſſiſcher Handelsverkehr.
die Nachbarn, daß die erbitterten Oſtpreußen zu ſagen pflegten: durch
ſeine Grenzſperre will uns Nikolaus zwingen die Vereinigung mit ſeinem
Reiche zu verlangen. Die preußiſche Grenze durfte Jedermann an allen
beliebigen Stellen überſchreiten; die ruſſiſche war verſchloſſen, nur an den
ſehr weit auseinanderliegenden Zollämtern fand man Einlaß in das Czaren-
reich, und ſie behandelten zwar die Perſonen nicht ganz unmenſchlich, doch
die Waaren mit ausgeſuchter Bosheit; ſelbſt die Durchfuhr nach Odeſſa,
die noch in leidlicher Blüthe und darum den Moskowitern beſonders ver-
dächtig war, erſchwerten ſie aufs Aeußerſte. Auf eine Aenderung dieſes
Syſtems ließ ſich nicht hoffen; denn man wußte in Berlin, daß der Finanz-
miniſter Cancrin und einige der mächtigſten Männer des Petersburger
Hofes ſelbſt große Fabriken beſaßen.*) Darum erklärten ſich die preußiſchen
Miniſter einmüthig gegen den Abſchluß eines neuen Handelsvertrags;
wider einen ſolchen Nachbarn müſſe man ſich wohl oder übel ſelbſt zu
ſchützen ſuchen.**) Die ruſſiſchen Unterhändler baten und drängten; aber
was hatten ſie zu bieten? Sie verſprachen zwei neue Zollämter zu errichten
— ſtatt der zwanzig oder dreißig, deren der Verkehr noch bedurfte —;
ſie erboten ſich die Zölle auf Eiſen, Leinwand und andere preußiſche Aus-
fuhrwaaren, die nahezu 250 % des Werthes betrugen, um etwa ein Fünftel
herabzuſetzen; dafür verlangten ſie, daß Preußen ſeine mäßigen Durch-
fuhrzölle noch erniedrigen und die Durchfuhr polniſcher Wolle ſelbſt dann
geſtatten ſolle, wenn in Polen die Viehſeuche herrſche.
Solche Zumuthungen waren für einen geſitteten Staat kaum ernſt-
haft zu nehmen. Preußen lehnte Alles rundweg ab, und fortan ward
niemals wieder ein Handelsvertrag mit Rußland abgeſchloſſen. Der preu-
ßiſche Schleichhandel blühte wie nie zuvor — denn was konnte man aus
Rußland nach Preußen hinüberſchmuggeln? Es war umſonſt, daß der
Czar den Grenzbezirk von 7 auf 30 Werſt verbreiterte und den Grenz-
wächtern für jeden eingebrachten bewaffneten Paſcher 150 Rubel verſprach.
Allen Grenzbewohnern erſchien der Schmuggel als ein gutes Recht, da
Rußland ſogar den altgewohnten Durchfuhrhandel nach China verboten
hatte. Endlich, im Jahre 1838, erklärte ſich Preußen bereit, einen Com-
miſſär zur Ueberwachung des Schleichhandels nach Memel zu ſenden.
Sobald aber Nikolaus ſich freundnachbarlich erbot, auch einen ruſſiſchen
Commiſſär nach Memel zu ſchicken, da erwiderte Werther ſofort: nunmehr
werde Preußen gar nichts thun; der Schmuggel ſei die natürliche Folge
des unvernünftigen ruſſiſchen Zollſyſtems und werde überdies durch unred-
liche ruſſiſche Beamte ſelbſt insgeheim befördert. Nikolaus war empört
über dieſe „ungehörige“ Bemerkung, weil er ihre Wahrheit fühlte; jedoch
[534]IV. 8. Stille Jahre.
er gab nach und erbot ſich, einen preußiſchen Commiſſär in einen ruſſi-
ſchen Grenzplatz einzulaſſen. Auch dies wurde rundweg abgelehnt. Fürſt
Galitzin und Graf Benckendorff, die der Czar nach Berlin ſchickte, mußten
unverrichteter Sache heimkehren. Auf Nikolaus’ dringende Bitten ſendete
der König einen ſeiner Flügeladjutanten, um gemeinſam mit einem Adju-
tanten des Czaren die Grenze zu bereiſen. Da ergab ſich denn, daß die
preußiſchen Beamten überall ihre Amtspflicht erfüllt hatten; der ruſſiſche
Flügeladjutant hingegen benutzte dieſe Dienſtreiſe um ſelber für einige
tauſend Thaler franzöſiſche und engliſche Waaren in ſein Vaterland hin-
überzupaſchen.
Nach dieſer Probe moskowitiſcher Zuverläſſigkeit wagte der Geſandte
Ribeaupierre noch zu verlangen, daß jeder preußiſche Kaufmann, der im
Grenzbezirke an ruſſiſche Unterthanen zollpflichtige Waaren verkaufe, als
Schmuggler beſtraft würde. Der Finanzminiſter aber erwiderte, dann
würde Preußen ein Vaſallenſtaat Rußlands, und gab nur die trockene Ver-
ſicherung, man werde jeden auf handhafter That ergriffenen Schmuggler
ohne Unterſchied beſtrafen.*) Das ſagte gar nichts; denn da Preußen
keine Ausfuhrzölle erhob, ſo ließ man auch den Ausfuhrverkehr nicht über-
wachen. Alſo wurde, zu Nikolaus’ Entrüſtung, jeder ruſſiſche Antrag von
der Hand gewieſen. Die preußiſche Regierung wollte ihren Unterthanen
die Nothwehr gegen den barbariſchen Nachbarſtaat nicht unterſagen, ob-
gleich ſie ſehr wohl wußte, daß dieſer Schleichhandel auch die oſtpreußiſche
Grenzbevölkerung entſittlichte. Als Neſſelrode dem Berliner Hofe vorhielt,
Preußen ſorge doch für die Verhinderung des Schmuggels in den Staaten
des Zollvereins, da erfolgte die ironiſche Antwort: mit Rußland habe der
König keinen Zollverein geſchloſſen, auch fühle er ſich durchaus nicht ver-
pflichtet, für die Durchführung eines ausländiſchen Zollgeſetzes zu ſorgen.
Nun verſuchte Nikolaus (1840) durch eine Eiſenbahn von der Memel
nach Liebau das preußiſche Gebiet zu umgehen; ſein Schwiegervater aber
befahl alsbald, dieſe Eiſenbahnpapiere dürften an der Berliner Börſe nicht
gehandelt werden, und dadurch empfing das Unternehmen den Todesſtoß.
Oberpräſident Schön meinte verächtlich: warum wolle man ſich ſo ſehr er-
eifern? dieſe Moskowiter brächten ja doch nichts zu Stande; ſeit den
Zeiten Katharina’s planten ſie ſchon einen Kanal von der Memel nach
Liebau; die Chauſſee von Tauroggen nach Mitau hätten ſie in elf Jahren
noch nicht vollendet, obgleich die preußiſche Strecke bis zur Grenze längſt
gebaut ſei und Nikolaus perſönlich die Sache betreibe.**) Der gewiegte
Kenner der ruſſiſchen Verwaltung ſollte Recht behalten; die anarchiſchen
Zuſtände an der Grenze blieben durch viele Jahre unverändert. Die
Ruſſen benutzten den Vortheil, welchen die Barbarei vor der Civiliſation
[535]Czar Nikolaus in Kreuth.
immer voraus hat; ſie erlaubten ſich zuweilen nach altem Litthauer Reiter-
brauche eine freche Grenzverletzung, weil ſie, namentlich in Schleſien, faſt
immer auf die Langmuth des preußiſchen Beamtenthums zählen konnten.
Doch im Weſentlichen hielt der König das Anſehen ſeines Staates auf-
recht; er vermied grundſätzlich Alles, was die vertragsbrüchige Nachbar-
macht in ihrer Handelspolitik fördern konnte, und die öffentliche Meinung
ſtand auf ſeiner Seite. —
Auch an den kleinen deutſchen Höfen errang Rußland, ſo lange der
alte König lebte, nirgends die Herrſchaft. Sie wünſchten wohl alle dem
Selbſtherrſcher zu gefallen; aber der Zollverein, deſſen Segnungen ſich
gerade in dieſen erſten Jahren mit Händen greifen ließen, band ſie an
Preußen, und die hochmüthige Gönnermiene des Czaren beleidigte ihren
Stolz.*) Als Großfürſt Michael Deutſchland bereiſte, entwarf er ſeinem
kaiſerlichen Bruder eine troſtloſe Schilderung von dem Zuſtande der kleinen
deutſchen Armeen. Das Frankfurter Kriegsheer nannte er begreiflicherweiſe
un peu mince; in Naſſau mußte er erleben, daß der Herzog die geſamm-
ten Beurlaubten ſeines Heeres plötzlich einberief um nur eine leidliche
Parade veranſtalten zu können; die Württemberger fand er ſchmutzig, die
bairiſchen Truppen mit ihren uralten Stabsoffizieren und unvollſtändigen
Bataillonen ganz erbärmlich. In Folge dieſes Berichtes bat Nikolaus die
deutſchen Großmächte, ſie möchten ihre kleinen Bundesgenoſſen zur Erfül-
lung ihrer militäriſchen Verpflichtungen ernſtlich anhalten; die Sache gehe
ihn ſelber ſehr nahe an, denn ſeine Ruſſen — dieſer Lieblingsſatz durfte
natürlich nicht fehlen — würden im Kriegsfalle die Reſerve des deutſchen
Heeres bilden.**) Solche Mahnungen machten nur böſes Blut, zumal bei
dem empfindlichen Könige von Baiern; ſie fruchteten gar nichts, denn die
kleinen Höfe konnten, wenn ſie ihre Truppen vernachläſſigten, auf den
Beifall ihrer haushälteriſchen Landtage zählen.
Wie wenig Liebe der Czar erworben hatte, das zeigte ſich deutlich,
ſobald ſeine Kinder in das heirathsfähige Alter eintraten. Als die kaiſer-
liche Familie im Jahre 1838 über Berlin nach dem Wildbade Kreuth reiſte,
da wußte an den Höfen Jedermann, daß jetzt folgenreiche Ehebündniſſe
bevorſtänden; die Diplomatie ſprach laut und unehrerbietig von dem großen
ruſſiſchen Heirathscongreſſe. In Kreuth nahmen die Feſtlichkeiten kein Ende.
Drei Kaiſerinnen waren dort verſammelt, außer der ruſſiſchen die beiden
kaiſerlichen Wittwen von Oeſterreich und von Braſilien; und dazu im
nahen Tegernſee die Königin Mutter Karoline mit den bairiſchen Herr-
ſchaften. Der ruſſiſche Hof entfaltete eine Pracht, die von den patriar-
chaliſchen Zuſtänden des ſtillen Hochalpenthals widerwärtig abſtach. Er
[536]IV. 8. Stille Jahre.
ſpendete die Imperialen mit vollen Händen, ſagte den Baiern überſchwäng-
liche Schmeicheleien, ließ in den Münchener Kunſtwerkſtätten großartige
Einkäufe veranſtalten, und faſt ſchien es, als wolle er die anderen Fürſtlich-
keiten abſichtlich verdunkeln. Sehr vernehmlich und ohne Zartgefühl gab
Nikolaus zu erkennen, daß er die Hand des bairiſchen Kronprinzen für eine
ſeiner Töchter wünſche. Kronprinz Max war eine zarte, ſinnige Gelehrten-
natur, er lebte ganz der Wiſſenſchaft und zeigte, wie die meiſten Wittels-
bacher, wenig Sinn für das Kriegsweſen; die Paradeluſt des Czaren wurde
ihm ungemüthlich, und nach langen Verhandlungen geſtand er mit deutſchem
Gradſinn: einen ſolchen Schwiegervater könne er ſich nicht wünſchen.*)
Das einzige Ergebniß der verunglückten Reiſe war eine überaus be-
ſcheidene Heirath, die in den Kreiſen der ſtrengen Legitimiſten gerechtes
Befremden erregte. Eine Schweſter der verſchmähten Großfürſtin verlobte
ſich mit dem Herzog von Leuchtenberg, einem Napoleoniden von zweifelhafter
Ebenbürtigkeit. So traten die Beauharnais in das ruſſiſche Kaiſerhaus
ein, und fortan galt am Petersburger Hofe der ſonderbare Glaubensſatz,
daß die Napoleons an dem legitimen Rechte weniger gefrevelt hätten als
die Orleans; darum wurde auch der bisher ſo geringſchätzig behandelte
König von Schweden Bernadotte jetzt von Nikolaus gefliſſentlich ausge-
zeichnet und ſogar mit einem Beſuche beehrt. Das zugleich anmaßende
und zudringliche Weſen der Moskowiter hatte in Süddeutſchland allgemein
mißfallen; man athmete auf als die Gäſte abzogen. Der preußiſche Ge-
ſandte Graf Dönhoff ſprach ſich darüber freimüthig aus, und der König
belobte ihn ausdrücklich wegen ſeiner verſtändigen Berichte.**) Dem alten
Herrn war bei dieſer prunkenden Freier-Reiſe überhaupt nicht wohl zu
Muthe. Er fand das Benehmen ſeines Schwiegerſohnes taktlos und verbot
ſeinem Thronfolger ausdrücklich nach Kreuth zu reiſen. Er mißbilligte,
daß Nikolaus ſich ſo aufdringlich um die Freundſchaft des Münchener
Hofes bewarb, eben jetzt, da Preußen wegen der kirchlichen Wirren mit
König Ludwig verfeindet war; und als nun gar ſeine Enkeltochter mit
einem Beauharnais verlobt wurde, da fühlte er ſich tief gekränkt, denn
nirgends hatte der Name der Napoleoniden einen ſchlimmeren Klang als
in Berlin. Dieſer Hochzeit durfte keiner ſeiner Prinzen beiwohnen; er
ſelbſt ließ ſich, zum Kummer des Czaren, nur durch ſeinen Flügeladju-
tanten Major Brauchitſch vertreten.***) —
Alles in Allem war die Freundſchaft der drei Oſtmächte bei Weitem
nicht mehr ſo innig wie zu Anfang der zwanziger Jahre. Gleichwohl ent-
ſtand gerade in dieſem Jahrzehnt die Legende von der Herrſchaft Ruß-
lands im Oſtbunde; denn überall verlangt der politiſche Haß nach einem
[537]Die polniſche Legende.
Manne, an den er ſich anklammern kann. Da Nikolaus die beiden
anderen Monarchen durch Hochmuth und Willenskraft überragte, ſo dich-
teten ihm die erbitterten Liberalen jetzt ſchon eine Macht an, die er in
Wahrheit erſt in den vierziger Jahren, durch die Willensſchwäche Fried-
rich Wilhelm’s IV., und auch dann niemals vollſtändig erlangt hat. Die
erſten Urheber dieſer, wie ſo vieler anderen politiſchen Mythen der Zeit
waren die polniſchen Flüchtlinge. Bezaubert von der ſarmatiſchen Bered-
ſamkeit vermochten die deutſchen Liberalen gar nicht mehr zu begreifen,
daß die gemeinſame polniſche Politik der Oſtmächte ſich aus den früheren
Ereigniſſen mit unerbittlicher Nothwendigkeit ergab; überall witterten ſie
ruſſiſche Ränke und ruſſiſches Gold. Mit Jubel begrüßte man Platen’s
Gedicht auf „den reiſenden Rubel“:
Als der Dichter dieſe Zeilen ſchrieb, 1833, beſaß Rußland gar keine Macht
über Deutſchland; eben damals, nach der Münchengrätzer Zuſammen-
kunft, machte Preußen die politiſchen Pläne des Petersburger Cabinets zu
Schanden. Und wenn er dann zornig ausrief:
ſo ließ ſich wohl fragen, wer denn dieſe neuen Kotzebues ſein ſollten?
Doch ſicherlich nicht der ehrliche Stägemann oder die anderen preußiſchen
Beamten, die in der Staatszeitung dem verblendeten Liberalismus Ver-
nunft zu predigen ſuchten? Aber ſolche Fragen warf man gar nicht auf;
man ſchwärmte für den Kampf deutſcher Freiheit gegen moskowitiſche Knecht-
ſchaft, und dachte ſich dabei nicht viel mehr als der Dichter ſelbſt, der
Deutſchlands „künftigen Helden“ mit dem Heilruf begrüßte:
Dieſer phantaſtiſche Ruſſenhaß konnte nur die Schwärmer bethören,
welche auf die Schlagworte des polniſch-franzöſiſchen Radicalismus ſchwuren.
Weit verderblicher wirkte eine andere politiſche Legende, die von England
ausging; ſie trat in ſtaatsmänniſchem Gewande auf und verführte gerade
die gemäßigten, die denkenden Liberalen. Der junge engliſche Diplomat
David Urquhart hatte ſich einſt für die Hellenen begeiſtert, dann aber im
Verkehre mit vornehmen Türken eine überaus hoffnungsreiche Anſicht von
der Lebenskraft des osmaniſchen Reiches gewonnen; denn die Sünden der
Herren ſind andere als die Sünden der Knechte, unter den würdevollen,
ſauberen, ehrlichen Türken befand er ſich wohler als unter den gierigen
Raubvogelgeſichtern der mißhandelten Rajah-Völker. Alſo kehrte er zu-
rück zu der altengliſchen Anſicht, daß die Herrſchaft des Halbmonds über
[538]IV. 8. Stille Jahre.
die Chriſten der Balkanhalbinſel eine europäiſche Nothwendigkeit ſei und
Rußlands orientaliſche Politik mit jedem Mittel bekämpft werden müſſe.
Mit der Hartnäckigkeit eines religiöſen Fanatikers vertiefte er ſich in dieſen
Gedankengang, bis er endlich zu der Ueberzeugung gelangte, daß neben
der Zukunft Conſtantinopels alle anderen Intereſſen Europas verſchwän-
den. Sein Ziel war die Weltherrſchaft des britiſchen Handels, und mit
wohlthuender Ehrlichkeit ſprach er aus: „in ſeiner gegenwärtigen mächtigen
Stellung leidet England unter allen Ereigniſſen, die es nicht nach ſeinem
Willen zu leiten vermag.“ Alle anderen Völker waren alſo lediglich ver-
pflichtet, die britiſche Weltmacht zu fördern und mußten es als eine Gnade
betrachten, wenn ihnen die Meereskönigin noch irgend eine Kolonie gönnte.
Dergeſtalt berührten ſich Urquhart’s Anſichten mit der Meinung Lord
Palmerſton’s, der damals (1836) im Parlamente rühmte, wie großmüthig
ſich England gegen ſeine verrathenen alten Bundesgenoſſen benommen habe,
und zufrieden lächelnd ſagte: „Wir konnten Holland Alles nehmen und
wir haben nur das Cap, Ceylon und Surinam behalten; Java haben
wir wieder herausgegeben.“ Aber auf die Dauer vermochte der geiſtreiche
Heißſporn die Politik Palmerſton’s, die doch immer mit den Thatſachen
rechnete, nicht zu ertragen; er wurde bald ein leidenſchaftlicher Gegner des
Lords, bezichtigte ihn der Feigheit und brandmarkte ihn endlich gar als
einen geheimen Bundesgenoſſen des Czaren. In allen ſeinen Schriften
lagen Geiſt und Narrheit dicht bei einander. Er erkannte ſcharfſichtig,
daß die Quadrupel-Allianz ein Fehler war und die Freundſchaft der Weſt-
mächte unvermeidlich ſchwächen mußte; aber ſeine fixe Idee ließ ihn nie-
mals zu einem unbefangenen Urtheile gelangen. Ueberall wähnte er Ruß-
lands unterirdiſche Arbeit zu entdecken; ſogar den Zollverein, der dem
fanatiſchen Briten natürlich ein Gräuel war, ſollte Czar Nikolaus ge-
ſchaffen haben, um Deutſchland erſt zu zerſpalten und dann Rußlands
Dictatur in Mitteleuropa zu befeſtigen.
Zur Verbreitung dieſer ſeltſamen Anſichten ließ Urquhart in den
Jahren 1833—37 das Portfolio erſcheinen, eine Sammlung geheimer
diplomatiſcher Aktenſtücke mit entſprechenden Erläuterungen, eine der wirk-
ſamſten politiſchen Schriften des Jahrhunderts. Durch dies Buch wurde
in den gebildeten Klaſſen Mittel- und Weſteuropas jene grundfalſche An-
ſchauung der orientaliſchen Frage begründet, welche fortan zwei Jahrzehnte
hindurch, bis zu der großen Enttäuſchung des Krimkriegs vorherrſchte.
Urquhart wollte zunächſt den Oſtbund ſprengen, namentlich Oeſterreich,
das in England noch von alten Zeiten her als natürlicher Verbündeter be-
trachtet wurde, mit Preußen und Rußland entzweien. Schlag auf Schlag
veröffentlichte das Portfolio die Depeſchen und Denkſchriften, welche Pozzo
di Borgo während des letzten türkiſchen Krieges nach Petersburg geſendet
hatte; die Abſchriften waren zur Zeit des Warſchauer Aufruhrs in dem
Palaſte des Großfürſten Conſtantin aufgefunden und dem gewandten Her-
[539]Das Portfolio.
ausgeber, der überall in Europa gute Verbindungen unterhielt, mitgetheilt
worden.*) Dieſe Enthüllungen erregten an den Höfen ein unbeſchreib-
liches Aufſehen. Mit einem male ward klar, auf wie ſchwachen Füßen
der Bund der Oſtmächte ſtand. Daß Metternich in den Zeiten des Frie-
dens von Adrianopel durchaus feindliche Abſichten gegen Rußland gehegt
hatte, ließ ſich jetzt nicht mehr leugnen. Vergeblich verſuchte er ſich vor dem
Petersburger Hofe zu rechtfertigen. Pozzo, der mittlerweile den Geſandt-
ſchaftspoſten in London angetreten hatte, wurde von dem Czaren gefliſſent-
lich, um die Hofburg zu kränken, ausgezeichnet, und es währte ſehr lange,
bis die Verſtimmung zwiſchen den beiden Kaiſerhöfen ſich legte.**)
Noch vollſtändiger erreichte Urquhart ſeinen zweiten Zweck, die Bearbei-
tung der öffentlichen Meinung. Offenbar war das Portfolio zumeiſt für
Deutſchland beſtimmt; denn hier in dem Lande der ſchwärmeriſchen Fremd-
brüderlichkeit konnte auch die neue Heilslehre, welche dem britiſchen Kauf-
mann die Weltherrſchaft ſichern ſollte, am leichteſten Eingang finden. In der
That wurde die Sammlung ſofort in Leipzig überſetzt und blieb viele Jahre
hindurch allen liberalen Zeitungen ebenſo unentbehrlich wie das Staats-
lexikon. Auf das überſpannte Philhellenenthum der zwanziger Jahre folgte
eine Zeit der Türkenſchwärmerei. Wer jetzt noch auf der Höhe der Zeit
ſtehen wollte, mußte mit ſtaatsmänniſchem Naſenrümpfen auf das himmel-
ſchreiende Elend der chriſtlichen Rajah-Völker herabſchauen; viele der libe-
ralen Blätter redeten, als ob die Eunuchen und die Serailknaben des
Sultans die Bannerträger der europäiſchen Geſittung wären. Auch dieſe
Verirrung, die ſich als kühle Realpolitik gebärdete und dem hochherzigen
deutſchen Idealismus häßlicher anſtand als vormals die helleniſche Be-
geiſterung, entſprang im Grunde wie jene nur den unberechenbaren Stim-
mungen des Gemüths: man verherrlichte die Osmanen, weil man den
ruſſiſchen Despoten haßte und den Briten eine niemals erwiderte Liebe
widmete. Seit man zu merken anfing, daß Frankreich ſtatt der verheißenen
Freiheit nur die Klaſſenherrſchaft der Bourgeoiſie erlangt hatte, galt Eng-
land wieder, für den conſtitutionellen Muſterſtaat und folglich für Deutſch-
lands wärmſten Freund, obgleich die Erfahrung jedes Tages lehrte, wie
gehäſſig die Briten dem beſten Werke der deutſchen Politik, dem Zollver-
eine entgegenwirkten. Da auch die zahlreichen Freunde und Agenten des
Hauſes Coburg in der Stille mithalfen, ſo fanden die Märchen der bri-
tiſchen Ruſſophoben bei den gebildeten Deutſchen leicht Glauben; mancher
wackere Patriot beſchäftigte ſich ſo liebevoll mit den Schickſalen des Bos-
porus und der oſtindiſchen Compagnie, daß er des Vaterlandes faſt ver-
gaß. Einer unſerer geſcheidteſten und ehrlichſten Publiciſten, C. F. Wurm
in Hamburg ſchrieb für das Portfolio als Germanicus Vindex grimmige
[540]IV. 8. Stille Jahre.
Artikel wider Preußens Handelspolitik. Die klugen Londoner Kaufleute
hörten mit Herzensluſt auf die abſtrakten Freihandelslehren des gelehrten
Schwaben; er aber hatte ſich in das hanſeatiſche Weltbürgerthum ſchon
ganz eingelebt, er fühlte kaum, wie ſchwer er ſich an Deutſchland ver-
ſündigte, wenn er in einem engliſchen Organe die wirthſchaftliche Einheit
ſeiner Nation bekämpfte und das Ausland vor Preußens friedlichen Erobe-
rungen warnte.
Von deutſchen Dingen verſtand Urquhart, wie alle Briten, ſehr wenig;
ſein gutes Glück ſpielte ihm aber zwei Schriften von Guſtav Kombſt in
die Hände: „Der Deutſche Bundestag gegen Ende des Jahres 1832“ und
„Authentiſche Aktenſtücke aus den Archiven des Deutſchen Bundes“. Kombſt
war Beamter bei der preußiſchen Bundesgeſandtſchaft, ein gemeiner, eitler,
wüſter Menſch; die Lebenserinnerungen, die er nachher als Flüchtling
ſchrieb, gewährten einen lehrreichen Einblick in die ſittliche Verwilderung
der jungdeutſchen Radicalen. Er wurde wegen Ungehorſams ſeines Amtes
entlaſſen und ſtahl zum Abſchied aus Nagler’s Papieren eine Reihe ge-
heimer Aktenſtücke, die er ſofort in Straßburg mit geſinnungstüchtigen
Zuſätzen drucken ließ. Die Schriftſtücke waren ſämmtlich echt, nur die
Namen der Verfaſſer hatte der unwiſſende Herausgeber oft falſch ange-
geben. Daher beſchloſſen die peinlich überraſchten Regierungen zu ſchweigen;
die beiden Schriften wurden ſtreng verboten und verſchwanden bald ganz
vom Büchermarkte.*) Erſt Urquhart brachte ſie wieder in Umlauf, indem
er ſie im Portfolio großentheils überſetzen ließ. Der Lärm war gewaltig;
denn der Brite hatte nur ausgewählt was die deutſchen Großmächte vor
den Liberalen verdächtigen mußte. Alſo ward ihm und dem engliſchen
Volke die Freude, daß die Deutſchen ſich wieder einmal wegen abgethaner
Dinge untereinander verklagten und verleumdeten.
Urquhart’s Werk rief eine lange Reihe ruſſiſcher Gegenſchriften her-
vor: ſo die Causeries sur le Portfolio, die mit kindlicher Treuherzigkeit
die harmloſe Friedensliebe des Petersburger Hofes rühmten, und das viel-
beſprochene anonyme Buch „Die europäiſche Pentarchie“ (1839), von Gold-
mann, einem jener gewandten polniſchen Juden, welche Rußland gern als
geheime Agenten gebrauchte. Der Pentarchiſt verſicherte inbrünſtig, daß
er „in keiner Verbindung zu irgend einer Regierung ſtehe“, und in der
That ſcheint das an plumpen Erfindungen ſehr reiche Buch wohl auf
Geheiß des ruſſiſchen Hofes geſchrieben, doch nicht vorher in Petersburg
geprüft worden zu ſein; manche ſeiner Behauptungen verriethen nur die
vorlaute Zudringlichkeit eines betriebſamen Strebers. In einer Denk-
ſchrift „über Deutſchlands Zuſtand und Zukunft“, die dem Portfolio ver-
rathen und allgemein für ein Werk Neſſelrode’s gehalten wurde, hatte
Goldmann ſchon vor fünf Jahren den Gedanken ausgeführt, daß Ruß-
[541]Der Pentarchiſt.
land der wohlwollende Protector der kleinen deutſchen Staaten werden
müſſe.*) Denſelben Gedanken entwickelte auch „die Pentarchie“ in vor-
ſichtigen Andeutungen. Schwerlich hat Czar Nikolaus ſelbſt dieſen Plänen
zugeſtimmt. Er wünſchte wohl, wie alle Fürſten des Auslandes, den Fort-
beſtand der deutſchen Kleinſtaaterei, damit die Schwäche Mitteleuropas
dauere, und jede Unterthänigkeit unſerer Kleinfürſten hieß er willkommen;
doch er war zu ſehr Soldat, um auf dieſe waffenloſen Höfe viel Werth
zu legen. Sein Uebermuth trachtete nach Größerem, er hoffte zur rechten
Zeit die deutſchen Großmächte ſelbſt in den Kampf gegen die Revolution
zu führen.
Indeſſen die Andeutungen des Pentarchiſten und jener angeblichen
Neſſelrodiſchen Denkſchrift genügten, um wieder eine Welt von ruſſopho-
biſchen Fabeln hervorzurufen. Alle politiſchen Halbwiſſer ſchworen darauf,
daß die Geſandten des Czaren an jedem deutſchen Hofe den Ton angäben;
und Wurm ſprach nur die vorherrſchende Anſicht aus, als er ſagte, der
ruſſiſche Einfluß ſei in Deutſchland überall mit Händen zu greifen. Alſo
ſtritten ſich Rußland und England um die Beherrſchung unſerer öffent-
lichen Meinung, und beide Theile fanden ergebene Genoſſen. Doch nir-
gends erhob ſich eine deutſche Stimme, nirgends ein Mann, der dieſer
zerriſſenen Nation unbarmherzig ſagte, daß ſie von dem Golde der Briten
ebenſo wenig zu hoffen hatte, wie von den Lanzen der Koſaken, daß ſie
dieſe kindiſche Fremdbrüderlichkeit, dies würdeloſe Kannegießern über die
Intereſſen des Auslandes endlich aufgeben und alle ihre Leidenſchaft auf
die eine hohe Idee richten müſſe, die ſeit der Neujahrsnacht von 1834
kein leerer Traum mehr war: auf die Idee ihrer Einheit. —
Unterdeſſen begann ſich in Preußens inneren Zuſtänden bereits jene
Abſpannung zu zeigen, welche am Ende einer langen Regierung faſt immer
eintritt. Wohl verdiente der feſtgeordnete alte Beamtenſtaat nicht den
galligen Tadel der Freunde Varnhagen’s, die ihn ſchon ſeit zwanzig
Jahren beſtändig auf dem Wege von Jena nach Auerſtädt zu ſehen glaub-
ten, und noch weniger die rohen Schmähreden der Demagogen. Seit dem
Zollvereine nahm der Preußenhaß in den Kreiſen des Radicalismus ge-
waltig überhand. Wer für Deutſchlands künftige Einheit ſchwärmte, hielt
ſich verpflichtet, die werdende Einheit, den lebendigen deutſchen Staat zu
beſchimpfen; und Niemand unter den Flüchtlingen verſtand mit ſo geſin-
nungstüchtiger Entrüſtung, mit ſo hagebüchener Grobheit zu poltern, wie
der Rheinländer Jakob Venedey, ein ehrlicher teutoniſcher Träumer von
[542]IV. 8. Stille Jahre.
hohem Selbſtgefühl, aber geringer Bildung und noch geringerem Ver-
ſtande. Er hatte bei den Unruhen des Jahres 1833 mitgeholfen und trieb
ſich jetzt unter den deutſchen Handwerkern in Paris umher. In ſeinem
Buche „Preußen und das Preußenthum“ (1839) erklärte er kurzab: „Der
Anti-Geiſt der Freiheit hat Preußen geſchaffen. Preußen wird untergehen,
ſobald das deutſche Volk erwacht. Alle Inſtitutionen Preußens haben nur
einen Zweck, den, unter dem Scheine des Volkswohls, der Aufklärung, des
Fortſchritts und der Freiheit, die Ausbeutung der Mehrzahl des Volks
durch eine bevorzugte Minderzahl, Verdummung, Rückſchritt, Knechtsſinn
und Knechtſchaft zu begründen.“ Solchen Feinden gegenüber behielt der
geiſtreiche alte Geheimrath K. Streckfuß freilich Recht, als er in der Schrift
„über die Garantien der preußiſchen Zuſtände“ mit dem ganzen Selbſt-
gefühle des preußiſchen Beamten ausführte: dieſer Staat der Gerechtig-
keit, der Bildung, der Ehrlichkeit und der kriegeriſchen Kraft brauche weder
mit Frankreich noch mit England den Vergleich zu ſcheuen. Er irrte
nur, wenn er zuverſichtlich hinzufügte: „unſere Zuſtände ſind durch ſich
ſelbſt und ihren inneren Zuſammenhang vollkommen geſichert.“
Unverkennbar nahte ein großer Umſchwung langſam heran. Mit ſeiner
letzten großen That, mit der Schöpfung des Zollvereins war die Lebens-
kraft des alten Syſtems erſchöpft. Es hielt ſich nur noch, weil überall an
zweiter Stelle ausgezeichnete Kräfte thätig waren; aber ihm fehlte die feſte
Leitung. Der König alterte ſichtlich; was er noch an Thatkraft beſaß,
ging völlig auf in den peinlichen diplomatiſchen Händeln um die Erhal-
tung des Weltfriedens. Seit dem Tode von Motz und Maaſſen ſaß im
Miniſterium Niemand mehr, der den Namen eines Staatsmannes ver-
diente. Die Leitung des Staatsraths erhielt nach dem Tode des Herzogs
Karl General Müffling, der ſein Amt ganz in dem hochconſervativen Sinne
ſeines Vorgängers führte, aber wenig Einfluß gewann, da der Staatsrath
ſeine alte Macht verloren hatte. Der neue Miniſter des Innern v. Brenn
hatte ſich als ſächſiſcher Beamter und dann als Regierungspräſident vor-
trefflich bewährt; eigener Gedanken zeigte er ſo wenig, daß bald alle Par-
teien ihn für einen unfähigen Miniſter erklärten.*) Die Polizei überließ
er ganz dem berüchtigten Demagogenverfolger Geh. Rath Tzſchoppe, und
ſeitdem begann auch im Beamtenthum ſelber ein widerwärtiges Spüren,
das allen guten altpreußiſchen Sitten widerſprach: mancher Subalterne
ſuchte ſich bei dem Miniſter lieb Kind zu machen, indem er die Geſin-
nung ſeiner Vorgeſetzten anſchwärzte.**) In dem Eckhauſe der Charlotten-
ſtraße, wo Tzſchoppe zwei Treppen hoch wohnte, fanden ſich alle die
ſchroffen Gegenſätze des Berliner Lebens freundnachbarlich beiſammen.
Im Erdgeſchoſſe arbeitete Gans bei offenem Fenſter an ſeinem Stehpulte,
[543]Brenn. Rochow. Alvensleben.
und mancher der vorüberwandelnden Bürger warf dem ſtadtbekannten
Freiheitshelden bewundernde Blicke zu. Mitten zwiſchen den Beiden, im
erſten Stockwerk, hauſte der alte Stägemann, der ſelber von den Polen-
freunden arg verleumdet, im königlichen Cabinette immer bemüht war,
jede Verfolgung von den Liberalen abzuwenden; wer noch auf die humane
alte Berliner Bildung hielt, freute ſich an dem edlen Greiſe, und zum
Jubelfeſte brachte Chamiſſo „dem Kanzler und dem Sänger gleich im
Einen“ ſeine Huldigung dar. Nach kaum vier Jahren mußte Brenn
zurücktreten. Sein Nachfolger wurde G. A. R. v. Rochow, ein conſer-
vativer Ariſtokrat, der einſt die altſtändiſchen Anſchauungen lebhaft ver-
theidigt,*) nachher in der Selbſtverwaltung der Provinzialſtände und als
Staatsbeamter ein ungewöhnliches Verwaltungstalent bethätigt und man-
ches Vorurtheil abgeſtreift hatte; er zeigte ſich als tüchtiger Fachminiſter,
erwarb ſich namentlich um das Gefängnißweſen große Verdienſte und genoß
in den erſten Jahren allgemeiner Anerkennung, jedoch über die bequemen
alten Herren Lottum, Wittgenſtein, Altenſtein vermochte der kräftige, jüngere
Amtsgenoſſe nichts.
Auch an dem neuen Finanzminiſter fand er keine feſte Stütze. Als
Maaſſen ſtarb, wurde im Publikum der unermüdliche Unterhändler der
Zollvereinsverträge, Kühne allgemein als der gegebene Nachfolger betrachtet.
Er ſtand aber am Hofe des Kronprinzen im Rufe eines Jacobiners, weil
er gegenüber den Anſprüchen der Mediatiſirten ſehr ſcharf für das Recht
der Staatseinheit eingetreten war, und hatte auch ſonſt, Dank ſeiner
ſcharfen Zunge, zahlreiche Feinde. Nach langen Erwägungen fiel die Wahl
des Königs auf den Grafen Alvensleben, denſelben, der ſoeben auf den
Wiener Conferenzen den Miniſter des Auswärtigen vertreten hatte. Für
ſein neues Amt war Alvensleben keineswegs geeignet. Er hatte bisher
dem Finanzweſen fern geſtanden und beſaß weder das Talent noch den
Fleiß um ſich in ein neues Fach einzuarbeiten. Wie die meiſten Edel-
leute der Altmark, hegte er ein ſtilles Mißtrauen gegen die liberalen Be-
amten, die mit ihrer Zollvereinspolitik das gewohnte Getriebe altpreußiſcher
Sparſamkeit ſo bedenklich ſtörten. Daher ſah ſich Kühne aus der Ver-
trauensſtellung, die er unter Motz und Maaſſen behauptet hatte, bald
hinausgedrängt. Subalterne Naturen, wie der General-Steuerdirektor
Kuhlmeyer und der Geh. Rath Offelsmeier waren dem neuen Miniſter
bequemer; ſie beſtärkten ihn auch in ſeiner Scheu vor der Oeffentlichkeit.
Wie oft war Motz, ſchon als Oberpräſident, gegen den Unfug der ſum-
mariſchen, nur auf Grund zweifelhafter Vermuthungen zuſammengeſtellten
Budgets aufgetreten.**) Noch kurz vor ſeinem Tode hatte er durch ein
freimüthiges Rundſchreiben die anderen Miniſter aufgefordert, ihm jetzt
[544]IV. 8. Stille Jahre.
endlich ganz genaue Etats vorzulegen, damit die Preußen „auch ohne
conſtitutionelle Formen“ die wirkliche Lage ihres Staatshaushalts kennen
lernten. Damals war die Reform an der Aengſtlichkeit des Grafen Lottum
geſcheitert, und ſeit Alvensleben am Ruder ſtand, wagte das Finanzmini-
ſterium, zu Kühne’s Verzweiflung, ſelbſt nicht mehr auf ſeine wohlberech-
tigte Forderung zurückzukommen.
Und doch beſtand durchaus kein Grund mit der Wahrheit hinter dem
Berge zu halten. In den Jahren von 1830 bis einſchließlich 1840 be-
trugen die außerordentlichen Ausgaben — außer den 39,28 Mill., welche
die Mobilmachung der Revolutionsjahre verſchlungen hatte — 27,8 Mill.
Thaler, wovon beinahe 15 Mill. für die Chauſſeebauten daraufgingen.
Dies ergab, da Rußland die Verpflegung der übergetretenen Polen mit
3,9 Mill. vergütete, insgeſammt für elf Jahre einen außerordentlichen Auf-
wand von 63,222,527 Thaler. Die Summe war keineswegs bedenklich;
denn unvermeidlich mußten ſich die Bedürfniſſe des Staatshaushalts all-
mählich vermehren, weil der Verkehr wuchs und die Bevölkerung bis zum
Jahre 1840 auf nahezu 15 Mill. Köpfe ſtieg. Der Ertrag der neuen
Abgaben überſchritt die Voranſchläge des Budgets bei Weitem, und die
General-Staatskaſſe deckte den größten Theil der außerordentlichen Aus-
gaben (faſt 41 Mill.) aus ihren baaren Beſtänden: über 25 Mill. durch
die Steuer-Ueberſchüſſe, über 15 Mill. durch den Verkauf von Domänen
und Grundzinſen. Außerdem wurden in dieſen elf Jahren mehr als
31 Mill. von der Staatsſchuld getilgt.*) Die Schuld verminderte ſich in
den Jahren 1820—33 von 217 auf 175 Mill., wovon 163½ Mill. ver-
zinslich; die verzinsliche Staatsſchuld ſank dann bis zum Jahre 1843
weiter bis auf 138½ Mill., die Verzinſung von 9,3 auf 7,74 Mill. jähr-
lich.**) Gleichwohl konnte ſich Alvensleben in ſeiner bureaukratiſchen Aengſt-
lichkeit nicht entſchließen, dieſe durchaus günſtigen Ergebniſſe vollſtändig
bekannt zu machen. Der veröffentlichte Etat für 1838 ſchloß in Einnahme
und Ausgabe mit 52,681 Mill. netto ab; mit Zurechnung der Erhebungs-
und Betriebskoſten ſtellte ſich alſo der Bruttobetrag der Ausgaben etwa
auf 84 Mill. Niemand hielt dieſe Zahlen für ganz richtig; denn wer ſollte
glauben, daß ſich die Ausgaben ſeit 1820 wirklich nur um 1,8 Mill. ver-
mehrt hätten?
Selbſt die Einheit der Finanzverwaltung, welche einſt Motz nach ſo
ſchweren Kämpfen durchgeſetzt hatte, ging unter Alvensleben wieder ver-
loren. Den ſtrengen Hallerianern in der Umgebung des Kronprinzen war
die Veräußerung entbehrlicher Domänen ſchon längſt ein Dorn im Auge,
obgleich Motz und Maaſſen dabei ſehr behutſam verfuhren und der Ge-
[545]Witzleben Kriegsminiſter.
ſammtertrag des Kammerguts nicht geſchmälert wurde. Sie beſchuldigten
das Finanzminiſterium, durch dieſe Domänenverkäufe werde die Selbſtän-
digkeit der Krone untergraben; auch Schön, der ſich ſelber für den allein
berufenen Finanzminiſter hielt, und der alte, in die Oberrechnungskammer
verbannte Ladenberg ſtachelten den Kronprinzen auf.*) Zur unglücklichen
Stunde veröffentlichte nun der Direktor der Domänenverwaltung Geh.
Rath Keßler in Ranke’s Zeitſchrift einen Aufſatz, der ziemlich unverblümt
ausſprach, daß der Staat mit Ausnahme der Forſten keines Grundbeſitzes
bedürfe. Keßler zählte, wie die liberalen Geheimen Räthe faſt alleſammt,
zu den unbedingten Verehrern Adam Smith’s, die beiden Miniſter ver-
ſtanden jedoch als gewiegte Praktiker ſeinen doktrinären Eifer zu zügeln.
Sein Aufſatz erregte am Hofe des Kronprinzen allgemeine Entrüſtung.
Als Alvensleben den Miniſterpoſten erhielt, mußte er ſich’s gefallen laſſen,
daß die Verwaltung der Domänen und Forſten unter Ladenberg’s Leitung
dem Hausminiſterium zugetheilt wurde. Keßler ging als Regierungspräſi-
dent nach Arnsberg. Ladenberg aber ſetzte ſeinen Stolz darein das Kam-
mergut ganz ungeſchmälert zu erhalten; er gab eine Veräußerung nur
noch ausnahmsweiſe zu, wenn etwa in Neuvorpommern oder Poſen kleine
Bauern angeſiedelt werden ſollten. Alſo verlor der Finanzminiſter die
freie Verfügung über eine wichtige Einnahmequelle; das Handels- und Ge-
werbsweſen wurde ebenfalls einer ſelbſtändigen Verwaltung, unter Rother’s
Leitung, zugewieſen, und der alte widerwärtige Streit der Departements
entbrannte von Neuem. —
Ein eigener Unſtern waltete auch über dem Kriegsminiſterium. Wäh-
rend der Revolutionsjahre trug die falſche Sparſamkeit des Miniſters
v. Hake ſchlimme Früchte: die Mobilmachung ward nur darum ſo koſt-
ſpielig, weil man jetzt in Eile Vorräthe anſchaffen mußte, die ſchon im
Frieden hätten vorhanden ſein ſollen. Unter den Generalen war nur eine
Stimme der Zufriedenheit, als Hake (1833) endlich den Abſchied nahm
und Witzleben ſein Nachfolger wurde. Alle meinten, daß der König die
beſte Wahl getroffen habe; auch auf die Haltung des Geſammtminiſteriums
konnte Witzleben’s furchtloſer Freiſinn nur günſtig einwirken. Die über-
mäßige Arbeit im Cabinet hatte aber die Kräfte des erſt fünfzigjährigen
Generals bereits erſchöpft, als er die ihm gebührende Stellung erlangte.
Er fühlte ſich ſchon krank, da er ſein Amt antrat, und bis zu ſeinem
Tode (1837) ward er nie wieder ganz geſund. So ſind die großen Hoff-
nungen, welche die Armee mit gutem Grunde auf den hochverdienten Mann
ſetzte, doch nicht in Erfüllung gegangen, und ſein Nachfolger, der gelehrte
Ingenieur-General v. Rauch war ſchon zu alt, um die Kriegsverwaltung
mit friſchem Geiſte zu beſeelen.
Die ſchwere Frage, wie die allgemeine Wehrpflicht vollſtändig verwirk-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 35
[546]IV. 8. Stille Jahre.
licht werden ſollte, war noch immer nicht gelöſt. Da die Armeecorps alle
gleich ſtark waren, ſo konnte es nicht ausbleiben, daß die einzelnen Pro-
vinzen, je nach der Vermehrung und der körperlichen Tüchtigkeit ihrer Be-
völkerung verſchieden belaſtet wurden, und wiederholt beſchwerten ſich die
Civilbehörden über dieſe Ungleichheit. Auf ſolche Klagen legte der König
mit Recht wenig Werth; er meinte, der Uebelſtand werde „vollkommen
ausgeglichen“ durch die große Erleichterung, die darin liege, daß die Mehr-
zahl der Mannſchaften in ihrer Heimath diene.*) Weit bedenklicher er-
ſchien ihm, wie allen ſeinen Generalen, die übergroße Zahl der Dienſt-
pflichtigen, welche, gegen den Sinn und Wortlaut des Geſetzes, thatſächlich
zurückgeſtellt werden mußten. Bisher hatte man ſich damit beholfen, die
Ueberſchüſſigen nothdürftig eine kurze Zeit lang bei der Landwehr auszu-
bilden. Dieſe „Landwehr-Rekruten“ bewährten ſich leider ſehr ſchlecht, als
ſie während der polniſchen Wirren an die Grenzen berufen wurden, und
alle Sachverſtändigen ſtimmten dahin überein, daß die Wehrpflichtigen
fortan alleſammt durch die Schule des Heeres gehen müßten. Aber an
eine Erhöhung des regelmäßigen Militärbudgets ließ ſich jetzt gar nicht
denken, nachdem die Rüſtungen der Revolutionsjahre ſo große Summen
verſchlungen hatten; alſo blieb nur noch ein überaus gefährliches Aus-
kunftsmittel übrig, die Herabſetzung der Dienſtzeit. Unter den Laien
herrſchte noch immer die Meinung, daß die Handgriffe des Exercierplatzes
ſich ſpielend erlernen ließen; ſelbſt die harmloſen Reaube’ſchen Jahrbücher
fragten: warum wolle man nicht jedem Wehrpflichtigen geſtatten, ſich ſelber
auf die militäriſchen Uebungen vorzubereiten, und ihn dann befreien falls
er gut beſtünde? Auch in militäriſchen Kreiſen wurden ſeltſame Vor-
ſchläge laut: man rieth, einen Theil der Mannſchaften zwei Jahre, einen
anderen ſechs Monate dienen zu laſſen, ſo daß die durchſchnittliche Dienſt-
pflicht etwa 16 Monate betrüge.
In ſolcher Lage hielten die tüchtigſten Generale, Prinz Wilhelm, Witz-
leben, Natzmer, Müffling trotz ſchwerer Bedenken für rathſam, den Ver-
ſuch der zweijährigen Dienſtzeit zu empfehlen; ſelbſt General Boyen, der
jetzt endlich die Gunſt des Königs wieder erlangt hatte und zu den Ver-
handlungen zugezogen wurde, ſtimmte dem Vorſchlage bei. Am 15. October
1833 beſtimmte der Kriegsminiſter durch eine vorläufige Verfügung, daß
die Dienſtzeit bei der Linien-Infanterie fortan zwei Jahre währen ſolle,
bei der Fuß-Artillerie 2½, bei der Garde und allen reitenden Truppen,
wie bisher, drei Jahre. Die Landwehrrekruten fielen hinweg, dafür traten
bei der Linie mehr Wehrpflichtige ein. Das Bataillon der Linien-Infanterie
zählte nunmehr im Frieden 522 Mann: 200 aus dem erſten, 200 aus dem
zweiten Jahrgang, dazu 122 Unteroffiziere und Capitulanten. So ward es
möglich, trotz der vermehrten Rekruten-Einſtellung den Aufwand für das
[547]Die zweijährige Dienſtzeit.
Heer faſt unverändert zu erhalten: er betrug im Jahre 1838 nahezu
23½ Mill. Thaler, wenig mehr als im Jahre 1820. Aber dieſer finanzielle
Gewinn wurde durch ſchwere militäriſche Nachtheile erkauft. Die Ueberzahl
der Rekruten nahm die Kräfte der Offiziere und Unteroffiziere unmäßig in
Anſpruch. Während bisher, unter der Regel der dreijährigen Dienſtzeit,
der tüchtige Infanteriſt hoffen konnte, zum Lohne für ſeine gute Führung
ſchon bald nach Ablauf ſeines zweiten Dienſtjahres beurlaubt zu werden,
fiel dieſer Stachel des Ehrgeizes, der in Volksheeren beſonders wirkſam
iſt, jetzt hinweg, da Jeder ohne Ausnahme ſeine zwei Jahre abdienen
mußte. Sehr bald bemerkten die Generale, daß die dreijährige Lehrlings-
zeit, die in den meiſten deutſchen Handwerken beſtand, auch im Krieger-
handwerke der Regel nach nicht entbehrt werden konnte. Namentlich die
Felddienſtübungen erſchienen ihnen oft ſehr mangelhaft. Während der
einen Hälfte des Jahres, ſo lange die Rekruten noch nicht für den Feld-
dienſt reif waren, konnte das Bataillon jetzt nur mit 250 Mann, einem
Viertel ſeiner Kriegsſtärke ausrücken. Ein ſo ſchwaches Häuflein war aber
nur eine Compagnie, nicht ein Bataillon, und die immer nahe liegende
Gefahr, daß Friedensübungen ein falſches Bild vom wirklichen Kriege
geben, ließ ſich unter ſolchen Umſtänden kaum vermeiden. Die günſtigen
Erwartungen, welche der Chef des Generalſtabs, General Krauſeneck bei
der Einführung der zweijährigen Dienſtzeit gehegt hatte, erfüllten ſich nicht.
Wohl wurde die Ausbildung des einzelnen Mannes eifrig gefördert
und namentlich das Scheibenſchießen mit einer Sorgfalt gepflegt, welche
die Bewunderung der franzöſiſchen Offiziere erregte. Jeden Fortſchritt der
Technik ſuchte das Kriegsminiſterium gewiſſenhaft zu benutzen. Das preu-
ßiſche Heer war das erſte in Europa, das durchweg mit den neuen Per-
cuſſionsgewehren bewaffnet wurde, und bereits begann man Verſuche mit
dem Zündnadelgewehre, der Erfindung des Fabrikanten Dreyſe in Söm-
merda. In den Cadettenhäuſern hatte ihr langjähriger Leiter, der Freund
des Prinzen Wilhelm, General Brauſe, ein kräftiges Leben erweckt; ſie
lieferten der Linie faſt immer guten Erſatz. Um ſo ſchlimmer ſtand es bei
der Landwehr; unter ihren 3000 Offizieren vermochte wohl nur noch die
Hälfte ſtrengen militäriſchen Anforderungen zu genügen, da die Kriegserfah-
renen nach und nach ausſchieden, die Landwehrübungen um der Erſparniß
willen ſehr verkürzt wurden; und doch konnte eine Truppe, die im Frieden
nur aus Cadres beſtand, ausgezeichneter Offiziere am wenigſten entbehren.
Früherhin hatte der König ſelbſt durch ſein ſcharfes Eingreifen bei
den Manövern manchen Mißſtand beſeitigt; jetzt im Alter wurde er nach-
ſichtiger und zeigte ſich mit Allem zufrieden — nicht zur Freude ſeines
Sohnes Wilhelm, der ſeit dem Tode des Herzogs Karl das Gardecorps
mit unnachſichtlicher Strenge befehligte. Erſtorben war der Geiſt der
Befreiungskriege nicht. Das erkannte Jedermann, als die alten freiwil-
ligen Jäger am fünfundzwanzigſten Jahrestage des Aufrufs vom 3. Febr.
35*
[548]IV. 8. Stille Jahre.
ihre Erinnerungsfeſte hielten. Im Gürzenich zu Köln waren ihrer drei-
hundert verſammelt, General Pfuel commandirte den Aufmarſch, Immer-
mann feierte in einem ſchwungvollen Feſtgedichte die ſilberne Hochzeit des
Volkes in Waffen: „Boruſſia blieb friſch und ſchön, und unſer Muth
blieb auch beſtehn.“ Als darauf der alte Arndt, feierlich eingeladen, im
Saale erſchien, da drängten ſich die Generale und die hohen Beamten
mit warmen Grüßen zu dem beſcholtenen Demagogen. Gleichwohl blieb
auch dies volksthümlichſte aller Heere von der Schlaffheit der langen
Friedenszeit nicht unberührt. Geborene Helden wie Hauptmann Moltke
und Leutnant Göben vermochten das mechaniſche Einerlei des Garniſon-
dienſtes auf die Dauer nicht zu ertragen und ſuchten ſich im Auslande
ein Ziel für ihren Thatendrang. Gemeine Naturen verführte die ewige
Langeweile zu Verirrungen, ſelbſt zu Verbrechen. Im Jahre 1837 wurde
der Fähnrich v. Arnſtedt vom Leib-Regimente, der ſeinen Vorgeſetzten
ermordet hatte, zu Frankfurt a. O. mit dem Beile hingerichtet, und die
ſtrenge, durchaus gerechte Strafe erregte in der vornehmen Frauenwelt
viel ſchwächliches Mitleid. Ernſte Männer aber fühlten, daß ſich in
ſolchen Freveln nur das allgemeine Leiden der müden Zeit verrieth: die
unbändige Jugend wußte in dem eintönigen Leben gar nichts mehr mit
ſich anzufangen.
Den denkenden, älteren Offizieren hingegen brachten dieſe ſtillen Jahre
ein unſchätzbares Geſchenk, das nachgelaſſene Buch des Generals Clauſe-
witz „Vom Kriege“. Es war das theoretiſche Vermächtniß der Befreiungs-
kriege, das Meiſterwerk der Militärwiſſenſchaft des Jahrhunderts. Jene
politiſche Auffaſſung des Krieges, welche Napoleon, Scharnhorſt, Gneiſenau
einſt durch Thaten bewährt hatten, wurde hier mit durchſichtiger Klarheit
wiſſenſchaftlich begründet: der Krieg iſt die gewaltſame Form der Politik,
das Mittel um dem Feinde unſeren politiſchen Willen aufzuzwingen, ſein
nächſter Zweck alſo die Vernichtung der feindlichen Streitmacht. Aus
dieſem Vorderſatze ergab ſich dann Schlag auf Schlag die Unhaltbarkeit
jener alten, bisher noch immer nicht ganz beſeitigten Doctrinen, welche in
kunſtvollen Manövern, in der Beſetzung von Waſſerſcheiden und Gebirgs-
kämmen, in der Benutzung der inneren Operationslinien die Aufgabe des
Feldherrn ſuchten. Dann und wann ſchien Clauſewitz ſelbſt noch in dieſe
Anſchauungen einer überwundenen Vergangenheit zurückzufallen und die
Vertheidigung als die ſicherere Form des Kampfes zu überſchätzen; ſchließlich
kam er doch immer wieder auf den Satz zurück, daß der poſitive Zweck
des Krieges ſich nur durch den Angriff erreichen laſſe. Einen von vorn-
herein gefaßten, ſtreng feſtgehaltenen Kriegsplan erklärte er für unmöglich,
weil dem Feldherrn ſtets der lebendige Wille des Feindes gegenüberſtehe;
jeder Corpsführer müſſe vielmehr entſchloſſen ſein, auf eigene Gefahr den
Feind aufzuſuchen, dem Donner der Kanonen entgegenzuziehen. Das
ſchöne Capitel über den Kriegsplan und „die abſolute Geſtalt des Krie-
[549]Clauſewitz, vom Kriege.
ges“ klang faſt wie eine Weiſſagung der Kämpfe von 1870: der wahr-
haft „kriegeriſche Krieg“, ſo führte er hier aus, muß auf die Zertrüm-
merung der feindlichen Streitkraft ausgehen, zu einem ſolchen Erfolge
gehört ein umfaſſender Angriff oder eine Schlacht mit verwandter Front.
Nach den bisherigen Erfahrungen glaubte Clauſewitz noch, in den meiſten
Fällen würde ſich der Krieg nur beſchränktere Zwecke ſetzen; unmöglich
konnte er vorherſehen, daß dereinſt überall nach Preußens Vorbilde große
Nationalheere entſtehen, und dadurch das Ideal des abſoluten Kriegs zur
Regel werden ſollte.
Seine Ideen entſprachen dem natürlichen Heldenſinne der Deutſchen
und der Verfaſſung des preußiſchen Heeres, die in Allem auf raſche, durch-
ſchlagende Entſcheidungen berechnet war; einfach und groß, wie die Kriegs-
kunſt ſelbſt, drückten ſie nur mit wiſſenſchaftlicher Schärfe aus, was die
tüchtigeren deutſchen Offiziere längſt ahnten. Darum nahm man das
Buch überall mit Bewunderung auf; mannichfache populäre Bearbei-
tungen — ſo die Militäriſchen Briefe eines Verſtorbenen von dem ſächſi-
ſchen Militärſchriftſteller Pönitz — machten es auch den mindergebildeten
Offizieren zugänglich; die geſammte deutſche Kriegswiſſenſchaft nährte ſich
daran, viele ſeiner Sätze galten bald als Gemeinplätze. Alſo wurden die
Gedanken der napoleoniſchen Kriegführung im preußiſchen Generalſtabe
unabläſſig weitergebildet, während ſie bei den Franzoſen ſelbſt faſt in Ver-
geſſenheit geriethen. Das franzöſiſche Heer war jetzt in gutem Stande, dem
auswärtigen Feinde gegenüber unbedingt zuverläſſig, trotz der Parteikämpfe,
welche das Offizierscorps zerſpalteten; aber die Ausbildung der Mann-
ſchaften erfolgte bei Weitem nicht ſo gewiſſenhaft wie in Preußen, die
zahlreichen altgedienten Unteroffiziere ſchadeten durch Trunkſucht und ſchlechte
Kaſernenſitten faſt mehr als ſie durch ihre techniſche Fertigkeit nützten,
und durchaus verderblich wurden dem Geiſte des Heeres die in Algier er-
fochtenen Siege. Die „afrikaniſchen“ Generale erlangten ein unverdientes
Anſehen, obgleich ihre rohe Kriegführung gegen einen geſitteten Feind offen-
bar nicht genügen konnte; die ohnehin wenig zuverläſſige Armeeverwaltung
gewöhnte ſich in Algier an Diebſtahl und Unredlichkeit; die Truppen ver-
wilderten in dem Kampfe wider ein barbariſches Volk und wütheten, als
ſie nachher die Arbeiteraufſtände in Lyon und Paris unterdrückten, mit
teufliſcher Grauſamkeit gegen ihre eigenen Landsleute. Trotz aller Miß-
ſtände, welche der lange Frieden hervorrief, blieb Preußens Heer dem fran-
zöſiſchen überlegen durch Treue, Mannszucht, Bildung, Menſchlichkeit und
einen friſchen kriegeriſchen Sinn, der ohne zu prahlen ſich’s doch zutraute
die alten Siegesbahnen in das Herz des feindlichen Landes wiederzufinden. —
Unter den vielen Enttäuſchungen ſeiner alten Tage empfand es der
König beſonders ſchwer, daß er die Umarbeitung der fridericianiſchen Ge-
ſetzbücher, die ihm unter allen Reformen am nöthigſten ſchien, nicht mehr
erleben ſollte. Derweil Miniſter Mühler durch ſeine ſtramme Juſtizver-
[550]IV. 8. Stille Jahre.
waltung ſich in den alten Provinzen hohes Anſehen erwarb und ſelbſt die
verfallenen Patrimonialgerichte, ſoweit dies noch möglich war, in leidlichen
Stand brachte, rückte das große Werk der Geſetzreviſion unter Kamptz’s
Leitung nicht von der Stelle. An Eifer gebrach es weder dem ſchwer-
gelehrten Miniſter, noch der Commiſſion ausgezeichneter Juriſten, die mit
ihm zuſammenarbeitete. Binnen acht Jahren wurden die Entwürfe für
das Strafgeſetzbuch, die Proceßordnung, die Gerichtsverfaſſung und die
Anfänge des bürgerlichen Geſetzbuchs vorgelegt, dazu die ungeheure Samm-
lung der Provinzialrechte, ein erſtaunliches Werk deutſchen Gelehrten-
fleißes. Doch das Alles blieb nur Vorarbeit, Kamptz verſtand nicht zur
rechten Zeit abzuſchließen. Nur ein einziges, die Rechtspflege wahrhaft
förderndes Geſetz kam unter ſeiner Verwaltung zu Stande, und auch dies
nur auf die perſönliche Mahnung des Königs. Der Berliner Rechtsan-
walt Marchand hatte in einer Flugſchrift die unendliche Weitläufigkeit der
Bagatellproceſſe geſchildert und ſeine Arbeit dem Monarchen eingeſendet.
Friedrich Wilhelm fühlte ſich betroffen durch die überzeugende, gemeinver-
ſtändliche Darſtellung, und befahl ſofort Abhilfe. Im Jahre 1833 er-
ſchien die Verordnung über den ſummariſchen Proceß, die für einfache
Rechtsſtreitigkeiten ein abgekürztes mündliches Verfahren, wie es ſchon in
Poſen beſtand*), vorſchrieb und alſo den Weg zeigte zur Reform des ge-
ſammten Civilproceſſes.
Sonſt blieb die gewaltige Arbeit der Geſetzreviſion unfruchtbar; und
in der rheiniſchen Juſtizverwaltung, die ihm übertragen war, ſtiftete Kamptz
nur Unfrieden. Den Rheinländern ſchien der harte Demagogenverfolger
von vornherein verdächtig. Bald brachte er auch den geſammten preußi-
ſchen Richterſtand gegen ſich auf, als der König einen Naumburger Ober-
landesgerichtsrath, der wegen eines thörichten Trinkſpruchs auf die Polen
zu einer Freiheitsſtrafe verurtheilt worden war, aus dem Amte entließ und
Kamptz mit gewohntem Ungeſtüm dies Verfahren öffentlich vertheidigte. Die
allerdings ſchlecht redigirten und nicht ganz unzweideutigen Vorſchriften des
Allgemeinen Landrechts waren bisher immer dahin ausgelegt worden, daß
der Richter nur durch Urtheil und Recht entlaſſen werden könne; nun gar
am Rheine galt die Unabſetzbarkeit der Richter für ein Bollwerk der Volks-
freiheit. Seitdem betrachteten die Rheinländer ihren Juſtizminiſter als ihren
geſchworenen Feind. Sie ſchalten wieder über Cabinetsjuſtiz, als der König
noch zweimal, wie einſt im Proceſſe Fonk, ein von den rheiniſchen Ge-
ſchworenen gefälltes Todesurtheil nicht beſtätigte; nimmer wollten ſie ſich
darein finden, daß der Monarch nach preußiſchem Rechte nicht blos be-
gnadigen durfte, ſondern auch kraft ſeiner oberſtrichterlichen Gewalt befugt
war, jedem Todesurtheile die Beſtätigung zu gewähren oder zu verſagen.**)
[551]Kamptz und das rheiniſche Recht.
Aber auch zu berechtigten Beſchwerden gab ihnen Kamptz reichlichen An-
laß. Dieſer ſeltſame rheiniſche Juſtizminiſter hatte ſeines Haſſes gegen den
Code Napoleon kein Hehl und begann wider die rheiniſchen Gerichte einen
kleinen Krieg, der die Provinz nur in ihrer Vorliebe für das franzöſiſche
Recht beſtärken konnte. Er befahl den rheiniſchen Oberprocuratoren, gegen
alle Erkenntniſſe der Polizeigerichtshöfe ſofort Einſpruch zu erheben, weil
man ſich auf dieſe Gerichte nicht verlaſſen könne*), und gebrauchte das
ihm zuſtehende Recht der Strafmilderung ſo rückſichtslos, daß die rheini-
ſchen Richter ſich in ihrer Amtsehre beleidigt fühlten; denn das rheiniſche
Recht, ſo ſagte er oft, iſt mit Blut geſchrieben.
Da trat ihm der Düſſeldorfer Oberprocurator v. Ammon in den
Weg, ein tapferer Liberaler, der ſeine preußiſche Geſinnung als Freiwilliger
im Befreiungskriege bewährt hatte und in den rheiniſchen Aſſiſen ein
Kleinod deutſcher Volksfreiheit ſah. Ammon wendete ſich an den König
ſelbſt und beſchwor ihn, „den miniſteriellen Eingriffen ein Ziel zu ſetzen;“
wenn er das fremde Recht vertheidige, ſo geſchehe es nur „weil manche
fremde, aber urſprünglich aus deutſcher Wurzel entſproſſene Juſtiz-Einrich-
tungen“ beſſer ſeien als die heimiſchen.**) Nun entſpann ſich ein langer,
gehäſſiger Streit; durch mannichfache Kränkungen ſuchte ſich Kamptz an
dem unbotmäßigen Untergebenen zu rächen. Der König aber entſchied
gegen den Miniſter; er nahm ihm das Recht, die Strafurtheile zu mil-
dern***), und mißbilligte ernſtlich die gegen Ammon erwieſene Härte.†)
Durch ſolche Händel gerieth Kamptz am Rhein dermaßen in Verruf, daß
der Oberpräſident Bodelſchwingh, ein Vetter Ammon’s, dem Könige end-
lich offen ausſprach, dieſer Feind des rheiniſchen Rechts könne nicht länger
mehr rheiniſcher Juſtizminiſter bleiben. Kamptz ſträubte ſich lange; erſt
auf Bodelſchwingh’s ſtürmiſches Zureden legte er ſein rheiniſches Amt
nieder, um fortan ausſchließlich den Arbeiten der Geſetzreviſion zu leben
(Dec. 1838).††)
Nunmehr übernahm Mühler die Juſtizverwaltung für das ganze Staats-
gebiet; für das rheiniſche Recht wurde eine beſondere Miniſterialabtheilung
gebildet und der gefeierte Kölner Juriſt Ruppenthal zu ihrer Leitung be-
rufen. Damit war unzweideutig ausgeſprochen, was ſich aus den frucht-
loſen Arbeiten der Geſetzreviſion ohnehin ergab, daß die Rheinländer ihr
Sonderrecht noch lange behalten würden. Welch ein Wandel der Mei-
**)
[552]IV. 8. Stille Jahre.
nungen. Nach dem Kriege hätte Niemand für möglich gehalten, daß die
Befreier des Rheinlandes die Geſetzgebung des fremden Eroberers auf die
Dauer beſtehen laſſen würden. Jetzt galt ſie ſchon faſt für unantaſtbar,
ſo mächtig hatten die franzöſiſchen und belgiſchen Ideen hier im Weſten
um ſich gegriffen. Die Regierung ſtand dieſen Zeitſtimmungen hilflos
gegenüber; denn ein nationales, den Bedürfniſſen der modernen Geſell-
ſchaft genügendes Geſetzbuch konnte, bei dem unfertigen Zuſtande der deut-
ſchen Rechtswiſſenſchaft und der Wucht der Parteivorurtheile hüben wie
drüben, unmöglich bald zu Stande kommen. Ammon und die klügeren
rheiniſchen Juriſten ſahen wohl ein, daß mindeſtens ein gemeinſames
Strafgeſetzbuch für die Staatseinheit der Monarchie unentbehrlich ſei —
wenn nur das rheiniſche Schwurgericht erhalten bliebe. Die Maſſe der
Laien aber wollte jetzt gar nichts mehr geändert ſehen und ſelbſt den Code
pénal mit allen ſeinen Härten behalten, weil er rheiniſch hieß. Welch ein
Lärm im Provinziallandtage, als einmal die dringend nöthige Abänderung
des Waſſerrechts und ähnlicher Beſtimmungen in Frage kam; ſogleich fürch-
teten die Abgeordneten wieder die Herſtellung der alten kölniſch-trieriſchen
Sonderrechte, und nur ſchwer ließen ſie ſich beſchwichtigen.*) Alle Beamte
berichteten übereinſtimmend, der Code Napoleon ſei „das Lebenselement
der Rheinländer“; ſelbſt Miniſter Rochow hielt es für bedenklich, die Ge-
fühle der Provinz zu verletzen, obgleich er die franzöſiſche Geſetzgebung
verabſcheute.
In der That war der Fortbeſtand des rheiniſchen Rechts vollkommen
gerechtfertigt, ſo lange die Krone den Rheinländern zum Erſatze nur ein
veraltetes Geſetzbuch zu bieten hatte. Aber bald wich die Regierung noch
weiter zurück; eingeſchüchtert durch den Trotz des rheiniſchen Particula-
rismus, ließ ſie den Grundgedanken der Geſetzreviſion fallen und wagte
kaum noch, die dringend nöthige Rechtseinheit der Monarchie mindeſtens
für die Zukunft vorzubereiten. Kamptz und ſeine Räthe dachten ſchon an
zwei neue Geſetzbücher, für die öſtlichen und die weſtlichen Provinzen; und
der Landtagsabſchied vom Jahre 1839 ſagte ſchüchtern: der König behalte
ſich vor, unter Mitwirkung der Provinzialſtände zu beſtimmen, ob dem
revidirten Allgemeinen Landrecht nach ſeiner Vollendung „auch für die
Rheinprovinz Giltigkeit ertheilt werden ſolle“. Zugleich wurde eine amt-
liche Ueberſetzung der fünf Codes anbefohlen, und dies kleine dicke Buch
mit den blauweißrothen Streifen auf dem Bandſchnitt blieb fortan die
politiſche Bibel jedes echten Rheinländers. Siegreich in der Vertheidigung,
ſchritten die rheiniſchen Juriſten alsbald zum Angriff vor; immer lauter
und dreiſter erklang der Ruf: die Rechtseinheit der Monarchie laſſe ſich
ſehr leicht herſtellen, wenn der zurückgebliebene Oſten dem vorgeſchrittenen
[553]Sondergeiſt der Rheinländer.
Weſten folge und die franzöſiſche Geſetzgebung bei ſich einführe. Cleri-
cale und liberale Beſtrebungen fanden ſich in dieſen Kreiſen zuſammen;
man begeiſterte ſich für „die vier Freiheiten“ des belgiſchen Muſterlandes,
die Freiheit der Kirche, der Schule, der Preſſe, der Vereine. Die alt-
ländiſchen Beamten traten ſolchen zuverſichtlichen Wünſchen nur kleinlaut
entgegen, weil ſie alle fühlten, daß die öffentliche Meinung des geſammten
Südens und Weſtens hinter den Rheinländern ſtand, und die Krone dieſe
wichtigſte ihrer neuen Provinzen um jeden Preis ſchonen wollte.
Bei ſeinen Gebietserweiterungen hat Preußen bis zum heutigen Tage
oftmals erfahren, daß die jüngere Generation, die immer nur Klagen über
die neue Ordnung gehört hat, ſich feindſeliger zu dem deutſchen Staate
ſtellt, als die ältere unter dem Drucke der alten Zuſtände aufgewachſene.
So hatte ſich auch im Rheinland die Stimmung mit den Jahren unver-
kennbar verſchlechtert. An einen Abfall dachte freilich Niemand, da der
Wohlſtand der Provinz unter den Schwingen des Adlers ſo fröhlich ge-
dieh. Selbſt ein Gefühl dynaſtiſcher Anhänglichkeit begann ſich in den
alten Krummſtabsgebieten zu regen, als der Kronprinz im Herbſt 1833,
ſehr zur rechten Zeit, dies ſein Lieblingsland wieder beſuchte. Da eilte
alle Welt nach Coblenz, Viele wohl um ſich an den Strahlen der auf-
gehenden Sonne zu wärmen, aber Manche auch voll ehrlicher Treue. Im
Ahrthal war den Fluß entlang eine neue Landſtraße erbaut und bei Alten-
ahr durch die Grauwackenfelſen der Breitlei ein 192 Fuß langer „Durch-
bruch“ getrieben worden; die Arbeit hatte ein volles Jahr gewährt und
faſt 14,000 Thlr. gekoſtet. Nun kam der Kronprinz um den Durchſchlag
des Tunnels mit anzuſehen; die ganze Provinz feierte den großen Tag,
die Zeitungen prieſen „dies prachtvolle, durch Kunſt gefertigte Natur-
gewölbe“, das der königlichen Regierung zu ſo hoher Ehre gereiche —
wenige Jahre bevor die Eiſenbahnen alle die Herrlichkeit der guten alten
Zeit in Schatten ſtellten. Zum Abſchied ſendeten die Provinzialſtände dem
Thronfolger einen herzlichen Gruß, der ebenſo warm erwidert wurde.
Gleichwohl war der Sondergeiſt im Wachſen. Wenn die Rheinländer
beim Schoppen ſaßen, dann ſprachen ſie gern von einem rheiniſch-weſt-
phäliſchen Vicekönigreich, das nach dem Code Napoleon regiert und mit
dem junkerhaften Oſten nur locker verbunden werden ſollte. Die Strei-
tigkeiten zwiſchen den Eingeborenen und den „Prüß“ nahmen kein Ende;
ſie drangen ſelbſt in die friedlichen Räume der Düſſeldorfer Akademie.
Dort ward ſorgſam nachgerechnet, wie viele Bilder der Kunſtverein „den
Oſtländern“ abgekauft habe, wie viele den rheiniſch-weſtphäliſchen Malern;
und an dieſem kindiſchen Zanke betheiligte ſich mit zwei Druckſchriften
ſogar der Richter Fahne, der verdiente Geſchichtsforſcher, der auf ſeiner
Fahnenburg am Abhang der bergiſchen Waldhügel das Künſtlervolk zu
fröhlichen Feſten zu verſammeln pflegte.
Im Miniſterium fühlte man längſt, daß die Verwaltung am Rhein
[554]IV. 8. Stille Jahre.
doch gar zu ſchlaff und nachſichtig verfuhr. Da Ingersleben’s Nachfolger,
der kränkliche Oberpräſident Peſtel ſein Amt nicht ausfüllte, ſo wurde Ernſt v.
Bodelſchwingh (1834) an ſeine Stelle berufen, ein ausgezeichneter, noch
kaum vierzig Jahre alter Beamter von gemäßigt conſervativen Grundſätzen,
der frühe ſchon die Aufmerkſamkeit Stein’s erregt hatte und durch ſeine
ungekünſtelte Einfachheit, durch Ernſt, Wohlwollen, Umſicht, hinreißende Be-
redſamkeit den Rheinländern bald ſo wohl gefiel, daß ſie ihm ſogar ſeine
weſtphäliſche Abſtammung und ſeine ſtrenge evangeliſche Gläubigkeit faſt
verziehen.*) Auch an die Spitze der Regierungen wurden jüngere rüſtige
Männer geſtellt: nach Düſſeldorf kam Graf Anton Stolberg, der Freund
des Kronprinzen, nach Aachen ſpäterhin Cuny. Die Provinzialſtände zeigten
ſich trotzdem unwirſch, mißtrauiſch gegen Alles, was aus dem Oſten kam.
Auf dem Landtage von 1833 wurde zwar das Verlangen nach Reichsſtänden
„mit Entrüſtung“ abgewieſen, weil man bei Lebzeiten des alten Königs doch
keinen Erfolg erwartete; dem königlichen Commiſſär, dem Grafen Stolberg,
gelang es auch durch vertrauliches Zureden, einige geplante Anträge auf
Preßfreiheit, Oeffentlichkeit der Landtage, Einführung einer Nationalgarde
ſtill zu beſeitigen.**) Als er aber den Entwurf einer Landgemeindeordnung
vorlegte — ein wohlgemeintes Geſetz, das die Herrſchaft der napoleoniſchen
Maires endlich brechen, den rheiniſchen Dörfern die Selbſtverwaltung
bringen ſollte — da ſtieß er auf unüberwindlichen Widerſtand. Wir
wollen keine Trennung von Stadt und Land, hieß es allgemein, auch die
neufranzöſiſchen Bürgermeiſtereien müſſen beſtehen bleiben.
Die Hauptbeſchwerden der Provinz richteten ſich gegen den angeb-
lichen Steuerdruck. Da faſt kein Rheinländer ſich herabließ, die alten
Provinzen kennen zu lernen, ſo entſtanden allmählich abenteuerliche Vor-
ſtellungen über die Steuerfreiheit der Ritterhufen des Oſtens, die in Wahr-
heit ſehr wenig bedeutete. Jeder Rheinländer glaubte, die reichſte und
leiſtungsfähigſte Provinz ſei zu Gunſten des Oſtens überbürdet. Die Mei-
nung war ganz ebenſo grundlos wie das Geſchrei der radicalen Neuen-
burger über die preußiſchen Erpreſſungen. Aber ſie beſtand und ſie er-
hielt neue Nahrung durch das Buch David Hanſemann’s „Preußen und
Frankreich“ (1833). Welch ein Mißgeſchick, daß gerade dieſer treue preu-
ßiſche Patriot auf den Einfall kommen mußte, über unverſtandene Ver-
hältniſſe mit der Sicherheit des Halbkenners zu ſchreiben, und alſo ſeine
Landsleute in ihren gehäſſigen Vorurtheilen noch beſtärkte. Hanſemann
hatte mit großem Fleiße eine Menge ſtatiſtiſcher Tabellen zuſammen-
getragen; was ihm dann noch an Kenntniſſen fehlte, erſetzte er durch
„Schätzungen“ und verfuhr dabei mit einer Leichtfertigkeit, die ſich der
kluge Kaufherr bei den Rechnungen ſeines eigenen Geſchäfts ſicherlich nie
[555]Steuerklagen der weſtlichen Provinzen.
erlaubt hätte. So ſchätzte er „das Haupt-Nationalvermögen“ der Provinz
Sachſen um 13 Mill. Thlr. höher als das rheiniſche, und auf Grund
dieſer ungeheuerlichen Behauptung ließ ſich dann die Ueberbürdung der
Rheinprovinz leicht erweiſen. Noch rückſichtsloſer als einſt in ſeiner Ver-
faſſungsdenkſchrift*) vertrat er hier die Klaſſenſelbſtſucht der neuen bür-
gerlichen Geſellſchaft: Schonung des Capitals erſchien geradezu als höchſter
Zweck des Staates, der ſeinen Haushalt einfach nach der Bequemlichkeit
der Steuerzahler einrichten ſollte. Von den ſchon ſo knapp bemeſſenen
Staatsausgaben wollte Hanſemann beinahe ein Drittel, ziemlich 16½ Mill.,
ſofort ſtreichen, von den Heereskoſten allein 9 Mill. Thlr.; wurde dann
noch mit der Tilgung der Staatsſchuld fortgefahren, ſo konnte bald eine
gründliche Steuererleichterung eintreten, auf jeden Fall aber ſollte die
reiche Rheinprovinz für den Kopf der Bevölkerung einen halben Thaler
weniger Abgaben zahlen als die armen Oſtprovinzen! Als leuchtendes
Gegenbild wurde der preußiſchen Verwaltung das vorgeblich wohlfeile napo-
leoniſche Präfecturſyſtem vorgehalten; denn ſchon war ganz vergeſſen, wie
ſchwer die Provinz einſt unter den Hungergehalten und der dadurch be-
dingten Unredlichkeit der franzöſiſchen Subalternbeamten gelitten hatte.
Die vielgeleſene Schrift gab den ſüddeutſchen Liberalen ein völlig fal-
ſches Bild von den preußiſchen Zuſtänden; im Rheinland wurde ſie eine
Macht, da ihre gewaltigen Zahlenreihen den urtheilsloſen Laien unwider-
leglich ſchienen. Kaum war ſie herausgekommen, ſo erklärten die Provin-
zialſtände, die früher nur vermuthete Ueberbürdung des Rheinlands ſei
jetzt zur Gewißheit geworden, und verlangten kurzab, daß die Grundſteuer
für die weſtlichen Provinzen ſogleich um ein Viertel ermäßigt würde.
Einige Gegenſchriften, von dem freimüthigen alten Benzenberg und dem
Bonner Profeſſor Kaufmann, machten keinen Eindruck; ſelbſt eine meiſter-
hafte Denkſchrift, welche Maaſſen noch kurz vor ſeinem Tode verfaßte,
beſchwichtigte die erregten Gemüther nicht. Auf dem nächſten Landtage,
1837, kehrten die alten thörichten Beſchwerden wieder, und da auch der
Clerus, ſeit er den belgiſchen Prieſterſtaat vor Augen ſah, ſeinen Haß
gegen das evangeliſche Königshaus kaum noch verhehlte, ſo begann die
Stimmung in der Provinz recht bedenklich zu werden. —
In Weſtphalen war die Klage über den Steuerdruck ebenfalls allgemein.
Die ſchwierige Arbeit der Kataſtrirung, die den weſtlichen Provinzen an
5 Mill. Thlr. koſtete, mußte manche wirkliche oder vermeintliche Intereſſen
verletzen, weil eine völlig genaue Abſchätzung des beſtändig wechſelnden
Bodenwerthes unmöglich iſt. Geh. Rath Rollhauſen, der ſie leitete, hieß
bei den Edelleuten der commissaire général und konnte oft nur durch
Vincke’s ſtarke Hand gegen grobe Anfeindungen beſchützt werden. Auf den
Landtagen äußerte ſich der Groll zuweilen ſehr ungeſtüm, ſeit Stein die
[556]IV. 8. Stille Jahre.
Abgeordneten nicht mehr in Zucht hielt. Wie ſich ſpäterhin herausſtellte,
zahlte Weſtphalen allerdings mehr Grundſteuer vom Reinertrage als die
Rheinprovinz, aber nicht mehr als Sachſen und weniger als Schleſien.
Gleichwohl behaupteten die Landſtände beharrlich, die Provinz ſei um ein
volles Drittel zu hoch eingeſchätzt. Der Zorn legte ſich auch nicht, als
endlich, 1839, nach vollendeter Kataſtrirung, das verſtändige Grundſteuer-
geſetz für die weſtlichen Provinzen erſchien; denn die Geſammtſumme der
Grundſteuer blieb natürlich unverändert, da die Lage des Staatshaushalts
jeden Steuererlaß verbot. Einig in der Oppoſition, hegten die beiden weſt-
lichen Provinzen doch, nach alter Gewohnheit, grundverſchiedene Geſinnungen.
Während die Rheinländer, ihres modernen Codes froh, auf die reaktionären
Oſtländer herabſchauten, beargwöhnte die conſervative Mehrheit der Weſt-
phalen das Berliner Cabinet wegen ſeiner jacobiniſchen Neigungen. Der
Entwurf der Landgemeindeordnung wurde auch auf dem Münſterſchen
Landtage beanſtandet, aber nur weil er den Weſtphalen zu liberal ſchien;
ſie fanden es unerhört, daß fortan alle Einwohner mit ſelbſtändigem Haus-
halt das Stimmrecht erhalten ſollten, und verlangten von jedem Gemeinde-
bürger „einen angemeſſenen Grundbeſitz“.
Die Geſinnungen des Adels bekundeten ſich in einer Schrift „über
die Grundlagen unſerer Verfaſſung“, welche der Freiherr Werner v. Haxt-
hauſen während des Landtags von 1833 unter den Abgeordneten verbreiten
ließ. Haxthauſen war einer der Stifter des Tugendbundes, hochbegeiſtert
für Deutſchlands Größe, edel, geiſtvoll, reichgebildet, mit Steffens und den
Brüdern Grimm nahe befreundet, aber in Politik und Religion durchaus
Romantiker. Er forderte die alten Landtage von Paderborn, Münſter,
Ravensberg zurück, er verdammte als ſtrenger Katholik die Seculariſationen,
er verwarf das geſammte moderne Staatsleben, ſogar die neue Städteord-
nung und betrachtete das Beamtenthum als eine Schmarotzerpflanze, die der
kräftigen weſtphäliſchen Eiche den Saft ausſauge. Wenn ein guter Preuße
alſo redete, was ließ ſich vollends von den vaterlandsloſen Domherren-
geſchlechtern des Münſterlandes erwarten? Oder gar von der Cleriſei,
die hier noch dreiſter als am Rhein den „proteſtantiſchen“ Behörden ihre
Geringſchätzung zeigte? Es fehlte nur ein Funke, um einen gefährlichen
Brand zu entzünden.*) So ſchwer beſtrafte ſich die unnatürliche, durch
die Provinzialſtände verſchärfte Trennung der Provinzen; den bürgerlichen
und proteſtantiſchen Elementen, welche Weſtphalen in ſeinen Induſtrie-
bezirken beſaß, fehlte jede Gelegenheit, ſich mit den verwandten Kräften
des Oſtens zu verſtändigen. —
Den weſtlichen Provinzen begegnete die Regierung mit Schonung, in
Poſen aber ging, nach Allem, was man an den Polen erlebt, ſelbſt die
[557]Flottwell und Grolman in Poſen.
preußiſche Langmuth zu Ende. Dahin waren jene hoffnungsvollen Tage,
da die deutſchen Beamten mit den polniſchen Edelleuten ſich in dem gaſt-
freundlichen Hauſe des Fürſten-Staatthalters harmlos zuſammengefunden
hatten. Fürſt Radziwill fühlte ſelbſt, wie gänzlich er ſich über die Geſin-
nungen ſeiner Landsleute getäuſcht; er legte ſeine Statthalterwürde nieder
und ſtarb bald darauf. Fortan war der Oberpräſident der alleinige höchſte
Vertreter der Staatsgewalt, und auf dies wichtige Amt berief der König
den tapferen Mann, der dem preußiſchen Namen in den Landen des
weißen Adlers zuerſt ein feſtes Anſehen verſchaffen ſollte. Oberpräſident
Flottwell war in Oſtpreußen geboren, zu Königsberg in der Schule von
Kant und Kraus erzogen und hatte dann unter Schön’s Leitung in der
altpreußiſchen Verwaltung die Polen gründlich kennen gelernt. Aufrichtig
ſprach er aus, das alte Syſtem der Nachſicht und der Zugeſtändniſſe
habe ſich überlebt, der Adel und der Clerus ſeien Preußens geſchworene
Feinde; nicht die Liebe, nur die Achtung der Polen könne ſich eine deutſche
Regierung erwerben; dies werde ihr gelingen, wenn ſie ohne Ungerechtig-
keit die deutſche Cultur fördere und damit die menſchliche Geſittung der
Provinz hebe. Nicht frei von der Leidenſchaftlichkeit ſeines edlen Stam-
mes, urtheilte er doch milder, billiger als ſein Lehrer Schön. Er wollte
ſtrenge Geſetze für die meuteriſche Provinz, aber mit „ſorgfältiger Rück-
ſicht“ auf die beſtehenden Verhältniſſe; denn „der Mangel an einer ſolchen
Rückſicht bringt die Regierung in die Lage, von den gegebenen Vorſchriften
abzuweichen und ſich dadurch den gerade in dieſer Provinz ſehr gefähr-
lichen Vorwurf der Inconſequenz und Schlaffheit in der Verwaltung zu-
zuziehen“.*) Durch ſeinen furchtloſen Freimuth hatte er ſich das perſön-
liche Vertrauen des Königs und des jungen Prinzen Wilhelm erworben.
Da alle Slaven jene beiden Tugenden, welche ihnen ſelbſt die Natur
verſagt hat, Gradſinn und Feſtigkeit, mit ſtiller Ehrfurcht betrachten, ſo
kam er im perſönlichen Verkehre ſelbſt mit den polniſchen Edelleuten leid-
lich aus, obgleich ſie in ihm ihren politiſchen Todfeind ſahen.
Die Deutſchen und die polniſchen Bauern verehrten ihn als ihren
Beſchützer, und mit ihm ſeinen Freund, den commandirenden General
Grolman, der von den Polen faſt noch grimmiger gehaßt wurde. Grol-
man’s freiem Heldenſinne waren die Untreue und die Undankbarkeit dieſer
„unwürdigen“ Provinz ein Greuel; er konnte nicht, wie Gneiſenau, mit
vornehmer Verachtung über die krummen Wege der Sarmaten hinweg-
blicken, er verabſcheute „dieſe Bande der Geſetzloſigkeit, der Liederlichkeit
und des Schmutzes“ und wollte mit dazu helfen, daß „ihre polniſche
Natur ſich zu einer menſchlichen ausbildete“. Was kümmerte es ihn, daß
die Liberalen, die ihn zur Zeit der Karlsbader Beſchlüſſe auf den Schild
gehoben hatten, ihm jetzt reaktionäre Geſinnung vorwarfen? Die Armee
[558]IV. 8. Stille Jahre.
betrachtete ihn ſeit Gneiſenau’s Tode als ihren erſten Mann. Während
des polniſchen Aufſtandes hatte man die Landwehr-Zeughäuſer ausräumen
und die polniſchen Regimenter aus der Provinz entfernen müſſen; auf
Grolman’s Rath wurde jetzt beſtimmt, daß die niederſchleſiſchen Regimenter
des fünften Armeecorps fortan in Poſen, die poſener regelmäßig im deut-
ſchen Schleſien Garniſon erhielten.
Um Neujahr 1833 ging Flottwell nach Berlin, um dem Miniſter-
rathe die Ergebniſſe ſeiner Beobachtungen vorzulegen. In den nächſten
Monaten erſchien dann Schlag auf Schlag eine Reihe tief einſchneidender
Verordnungen. Alle Klöſter der Provinz wurden ſeculariſirt, die Einkünfte
nebſt einem erheblichen Zuſchuſſe des Staats für die Schulen und die
geiſtlichen Lehranſtalten verwendet. Da viele Edelleute durch die Theil-
nahme an dem Aufſtande ihr Vermögen zu Grunde gerichtet hatten und
zahlreiche Landgüter unter den Hammer kamen, ſo wurde dem Oberpräſi-
denten 1 Mill. Thaler zur Verfügung geſtellt, um dieſe Güter aufzukaufen
und an „Erwerber deutſcher Abkunft“ zu veräußern. Der Erfolg war
günſtig, etwa dreißig deutſche Rittergutsbeſitzer kamen neu ins Land; an
eine gründliche Auskaufung des polniſchen Großgrundbeſitzes, wie ſie Grol-
man dringend anrieth, konnte der bedrängte Staatshaushalt freilich nicht
denken. Die von den Kreisſtänden erwählten Landräthe hatten ſich wäh-
rend der Revolutionszeit ſchlecht bewährt, manche den Aufruhr unterſtützt,
andere ihr Amt gröblich vernachläſſigt; daher wurde den Kreiſen das ſo
übel benutzte Wahlrecht vorläufig entzogen und den Bezirksregierungen
übertragen.
Noch ſchlimmer ſtand es um die ländliche Polizei. Viele der adlichen
Woyts mißbrauchten ihre Amtsgewalt um die Bauern zu bedrücken; Will-
kür und Nachläſſigkeit überall; es kam vor, daß der Woyt nicht blos poli-
tiſche, ſondern ſelbſt gemeine Verbrecher vor der drohenden Verfolgung
vertraulich warnte. Nachdem ein vermittelnder Reformverſuch keine Beſſe-
rung gebracht, entſchloß ſich die Krone endlich (1836) durch einen radi-
calen Eingriff Wandel zu ſchaffen. Die Kreiſe wurden in Diſtrikte von
6—9000 Einwohnern getheilt; in jedem Diſtrikte übernahm ein vom Ober-
präſidenten ernannter königlicher Commiſſär, unter der Aufſicht des Land-
raths, die Polizeiverwaltung. Unter dem Diſtriktscommiſſär ſtanden mit
beſchränkten Befugniſſen die kleinen Ortsobrigkeiten. Den Schulzen er-
wählte in den Dörfern, welche die bäuerlichen Laſten noch nicht abgelöſt
hatten, der Gutsherr, in den bereits regulirten Ortſchaften die Geſammt-
heit der ſelbſtändigen Grundbeſitzer; denn Flottwell wußte, daß der pol-
niſche Bauer ſeit Jahrhunderten gewöhnt war, in dem adlichen Pan ſeine
Obrigkeit zu ſehen, und dieſe Meinung erſt wenn er von allen Herrendienſten
befreit ſei aufgeben würde.*) Die 130 Diſtriktscommiſſäre, meiſt alte Offi-
[559]Reformen in Poſen.
ziere oder Unteroffiziere, und ihre vorgeſetzten Landräthe führten fortan
ein feſtes bureaukratiſches Regiment, ſie beſchützten den Bauern gegen den
Edelmann, ſie ſicherten die Durchführung der Geſetze bis in die niederſten
Schichten der Geſellſchaft und erwarben ſich faſt überall den Haß des
Adels, die Achtung der kleinen Leute. Der ſtrenge Beamtenſtaat verdrängte
die Adelsherrſchaft. Die Selbſtverwaltung des flachen Landes ward nahezu
vernichtet; wie konnte ſie auch hier gedeihen, da ihre Vorbedingungen,
Treue und geſetzlicher Sinn, dem polniſchen Adel gänzlich fehlten?
Auch die Gerichte erhielten eine verbeſſerte Einrichtung und den ge-
meſſenen Befehl, bei polniſchen Eingaben und Verhandlungen ſtets eine
deutſche Ueberſetzung zu verlangen. Den zahlreichen, durch den Adel
ſchwer bedrückten Mediatſtädten brachte das an Reformen ſo fruchtbare
Jahr 1833 die Ablöſung der grundherrlichen Abgaben. Die Befreiung
vollzog ſich ſehr raſch, da die Krone die Ablöſungscapitalien vorſchoß,
und ihre wohlthätigen Folgen wurden bald ſelbſt an den Sitten des
verkommenen Kleinbürgerthums erkennbar; denn mit jenen Abgaben fiel
auch der Getränkezwang, eine der ſtärkſten Säulen der ſarmatiſchen Adels-
libertät. Unter der polniſchen Republik hatten die Edelleute ſich wetteifernd
bemüht, ihren Dörfern Stadtrecht zu verſchaffen, weil ſie dann ſelbſt das
Propinationsrecht, den Branntweinſchank, erhielten und dieſe Befugniß
durch die Einrichtung von Jahrmärkten kräftiglich ausbeuten konnten. So
war es gekommen, daß die Provinz mit ihren 1,1 Mill. Einwohnern 145
Städte zählte, deren Mehrzahl ihr Daſein ausſchließlich dem Branntwein
der Grundherren verdankte. Dies Unweſen ward nun hinweggefegt; und
da die Regierung zugleich in allen größeren Städten die Städteordnung
einführte, auch durch zahlreiche neue Bürgerſchulen für einen leidlichen
Unterricht der Jugend ſorgte, ſo gab ſich Flottwell der Hoffnung hin, daß
mit der Zeit hier ein ſelbſtbewußter, fleißiger Mittelſtand, dem altdeutſchen
ähnlich, entſtehen würde.
Durch die raſche Beſeitigung der grundherrlichen Abgaben in den
Städten wurde auch das Ablöſungswerk auf dem flachen Lande beſchleu-
nigt. Im Jahre 1837 waren ſchon 21,000 dienſtpflichtige Bauern zu
freien Eigenthümern geworden, und der Segen dieſer Reform ließ ſich mit
Händen greifen; ſchon am Anblick der Häuſer und der Felder konnte der
Wanderer ein regulirtes Dorf von einem zinspflichtigen ſofort unter-
ſcheiden. Die Ablöſung beſchränkte ſich hier, wie überall ſeit der Decla-
ration vom 29. Mai 1816, auf die ſpannfähigen Bauernſtellen, die Acker-
nahrungen, weil der Staat die Großgrundbeſitzer der im Oſten unent-
behrlichen Tagelöhnerſchaaren nicht ganz berauben wollte. Im Uebrigen
verfuhr er in Poſen weit ſchärfer als in den alten Provinzen; denn auf
die Klagen des allezeit unzufriedenen polniſchen Adels gaben die Beamten
wenig, und auch auf die Intereſſen der Pfandbriefgläubiger brauchten ſie
hier nicht, wie in den alten Provinzen, ängſtliche Rückſicht zu nehmen.
[560]IV. 8. Stille Jahre.
Die Pfandbriefsanſtalt war in Poſen noch neu, in den alten Provinzen
aber hatten ſchon Tauſende ihr Vermögen in Pfandbriefen angelegt, und
die Regierung mußte ſich dort hüten, den ohnehin durch das Sinken der
Getreidepreiſe ſchwer erſchütterten Credit der Großgrundbeſitzer ganz zu
zerſtören.
Mittlerweile erhielten auch die Juden, die damals noch gemeinhin
mit den Deutſchen gegen die Polen zuſammenhielten, erweiterte Rechte: ſie
ſollten Synagogen-Gemeinden bilden mit Corporationsrechten und der Ver-
pflichtung, für die Jugenderziehung zu ſorgen; zum Militärdienſte wurden
ſie fortan zugelaſſen, wenn ſie nicht vorzogen, das althergebrachte Rekruten-
geld zu zahlen; wer ſich in leidlich geordneten bürgerlichen Verhältniſſen
befand, konnte auch die förmliche Naturaliſation, und damit den Zutritt
zu den meiſten Gemeindeämtern erlangen. So hoffte die Staatsgewalt
den finſteren Haß gegen die Gojim, der auf der Liſſaer Judenſchule gepflegt
wurde, allmählich zu überwinden; doch ſelbſt dieſe vorſichtig beſchränkte
Reform ſchritt den Anſichten des Landes weit voraus und rief auf dem
Landtage heftigen Widerſpruch hervor. In den Dörfern wurden binnen
zehn Jahren über zweihundert Volksſchulen errichtet, die meiſten mit pol-
niſcher Schulſprache und mangelhaftem deutſchen Unterrichte — denn
weiter wagte auch dieſe wegen ihrer Strenge verrufene Regierung noch
nicht zu gehen —, dazu zwei neue Gymnaſien mit geiſtlichen Alumnaten,
ein katholiſches Predigerſeminar und eine Reihe evangeliſcher Pfarreien.
Bei ſeinem Amtsantritt fand Flottwell vier Meilen Chauſſeen vor; nach
einem Jahrzehnt war das große Straßennetz, das die Stadt Poſen mit
Berlin, Altpreußen, Schleſien verband, nahezu vollendet.
Noch niemals war dies Land ſo gerecht, ſo einſichtig, ſo ſorgſam
regiert worden; doch die Nachſicht, welche der König den Theilnehmern
an dem polniſchen Aufſtande erwies, galt dem Adel für ein Zeichen der
Schwäche.*) Die Begnadigten traten mit herausforderndem Trotze auf,
dem Kröbener Kreiſe mußte die Krone wegen grober Geſetzwidrigkeiten
das Wahlrecht für die Provinzialſtände vorläufig entziehen, und auf dem
Landtage von 1834 wurden wieder die alten maßloſen Beſchwerden über
die Vergewaltigung der polniſchen Sprache vorgebracht. Drei Viertel der
Ritterſchaft ſtimmten dafür, von den Abgeordneten der Städte nur zwei,
von den Bauern nur einer. Da verlangte der Adel die itio in partes,
die nur zur Wahrung der ſtändiſchen Sonderrechte geſtattet war; er
brachte ſeine Klage eigenmächtig vor den Thron, obgleich die Mehrheit
Einſpruch erhob und feierlich erklärte, ſie wolle „keine politiſche Abſonde-
rung“ von den übrigen Provinzen. Der König aber ſprach der proteſtiren-
den Mehrheit ſeine Billigung aus und erklärte kurzab, den geſetzwidrigen
Antrag der Ritterſchaft betrachte er als nicht vorhanden.
[561]Nationale Gegenſätze in Poſen.
Unabläſſig waren die Verſchwörer am Werke. Unter den Flüchtlingen
in Paris hatte die Partei der Rothen das Uebergewicht erlangt und einen
polniſch-demokratiſchen Verein gegründet mit Sektionen und Bundesgerichten,
mit regelmäßigen Abgaben und der eidlichen Verpflichtung zu unbedingtem
Gehorſam. Seine geheimen Agenten trieben überall ihr Weſen, in den
Caſinos zu Poſen, Gneſen, Samter und auf allen den Adelsſchlöſſern,
wo ſich die Edelleute nach altpolniſchem Brauche zur Winterszeit wechſel-
ſeitig zu beſuchen pflegten, bis in Küche und Keller die letzten Vorräthe
verzehrt waren. Nur ſelten erlangte die Regierung einige Kunde von
dieſem unterirdiſchen Treiben;*) und wer ſollte gar alle die ſchlechten Ver-
führungskünſte kennen, denen die Pflichttreue der deutſchen Beamten täglich
widerſtehen mußte? Nicht jeder Richter blieb ſtandhaft, wenn der polniſche
Edelmann am Vorabend des Proceßtages den landesüblichen „Vortermin“
hielt und durch ein gewaltiges Zechgelage die Gemüther der Beamten be-
arbeitete. Als der König die vom polniſchen Aufſtande heimkehrenden jungen
Beamten und Aspiranten begnadigte, verſetzte er ſie, auf den Rath ſeiner
Miniſter, alleſammt in andere Provinzen**) und ſagte dem Provinzial-
landtage rundweg: dieſe verführten jungen Leute müßten ſich an das
deutſche Leben gewöhnen, die Sitten eines geſetzliebenden Volkes erſt kennen
lernen.
Gefährlicher als alles Andere blieb doch die unverſöhnliche Feind-
ſeligkeit des katholiſchen Clerus, an deſſen Spitze erſt der eifrige polniſche
Patriot Wolicki, nachher der unberechenbar ſchwache Erzbiſchof Dunin ſtand.
Faſt in jedem Lande gemiſchten Volksthums begünſtigt das römiſche Prieſter-
thum die minder gebildete Sprache; wie viel mehr hier, wo das Polniſche
zugleich die Sprache der katholiſchen Mehrheit war. Auch die deutſchen
Prieſter konnten ſich der vorherrſchenden Geſinnung des Clerus ſo wenig
entziehen, daß Flottwell, nachdem er ein halb Jahr im Lande war, zum
Entſetzen des allezeit vertrauensvollen Miniſters Altenſtein ehrlich ein-
geſtand: einen ganz zuverläſſigen Geiſtlichen habe ich bisher noch nicht ge-
ſehen.***) Alle katholiſchen Deutſchen ſaßen zwiſchen zwei Stühlen. Unter
den Bambergern, den aus Franken eingewanderten katholiſchen Bauern,
wühlte der Clerus ſchon im Stillen, vorerſt noch ohne ſichtbaren Erfolg;
und wenn ein Deutſcher eine Polin heirathete, ſo ging die Nachkommen-
ſchaft regelmäßig dem Deutſchthum verloren, weil in den Ehen der Durch-
ſchnittsmenſchen die Frau über Volksthum und Glauben der Kinder zu
entſcheiden pflegt. Auch die ſocialen Verhältniſſe der Bevölkerung waren
den Deutſchen nicht günſtig; denn die Mehrzahl der Polen gehörte den
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 36
[562]IV. 8. Stille Jahre.
niederſten Schichten der Geſellſchaft an, ſie rechtfertigte hier wie überall
den Namen der Proletarier und vermehrte ſich ſchneller als der deutſche
Mittelſtand.
So geſchah es, daß die deutſche Geſittung trotz der beträchtlichen Ein-
wanderung doch nur langſam vorwärts ſchritt, und ungeduldige Deutſche
ſchon an ſchärfere Mittel dachten. General Grolman empfahl gleich nach
dem polniſchen Aufſtande die Vernichtung der Provinz Poſen, dergeſtalt
daß ihre Trümmerſtücke den drei benachbarten treuen Provinzen zugetheilt
würden; und der vom Bundestag her bekannte Legationsrath Küpfer, ein
geborener Poſener, rieth der Krone, unter der Oberleitung einer königlichen
Immediatcommiſſion eine große Aktiengeſellſchaft zu bilden, welche den ge-
ſammten Grundbeſitz des polniſchen Adels aufkaufen ſollte.*) Es war der
Schatten kommender Ereigniſſe; das gegenwärtige Geſchlecht mit ſeinem
knappen Staatshaushalte konnte ſich ſo kühner Pläne nicht unterwinden.
Aber der Zuſtand in der Provinz ward immer unleidlicher. Die beiden
Nationen haßten ſich nicht nur, ſie verachteten einander auch; wie der
Deutſche alle Niedertracht und Unredlichkeit mit dem Worte „polniſche
Wirthſchaft“ bezeichnete, ſo konnte ſich der Pole den ſparſamen Ordnungs-
ſinn der Deutſchen nur aus einem angeborenen Bedientengeiſte erklären.
Niemand empfand dieſe Verſchärfung der nationalen Gegenſätze ſchmerz-
licher als die wenigen vornehmen Polen, welche weder ihr Volksthum ver-
rathen noch von dem preußiſchen Staate abfallen wollten. So der alte
tapfere General Chlapowski und der beſtgebildete Mann unter den preu-
ßiſchen Polen, Graf Eduard Raczynski. Wie viele Arbeit hatte der kunſt-
ſinnige Graf aufgewendet um ſein Heimathland zu bilden und zu ſchmücken;
er hatte der Stadt Poſen ihre ſchöne Bibliothek und ihre Waſſerleitung
geſchenkt; er bemühte ſich, durch eine landwirthſchaftliche Schule, durch eine
Zuckerfabrik, durch Verbeſſerungen der Technik des Landbaues ſeine Stan-
desgenoſſen zu geregelter Thätigkeit zu ermuthigen, und mußte doch erleben,
daß ſeine geſammte Verwandtſchaft ſich in Verſchwörungspläne verlor, die
er weder fördern noch hindern wollte. Unter ſo ſchwierigen Verhältniſſen
führte das preußiſche Beamtenthum den Markmannenkrieg für unſer Volks-
thum, für Recht und gute Menſchenſitte, und bei dieſen Kämpfen war ihm
Deutſchlands öffentliche Meinung entſchieden feindlich. Wenn eine liberale
Zeitung ſich ja einmal herabließ der friedlichen Eroberungen in der deutſchen
Oſtmark zu gedenken, ſo brachte ſie einen Aufſatz aus der Feder eines un-
zufriedenen polniſchen Edelmanns, der die Befreiung des Poſener Land-
volks als eine preußiſche Gewaltthat verunglimpfte. —
In den anderen Provinzen des Oſtens wurde das Stillleben dieſer
Jahre faſt allein durch kirchliche Wirren geſtört. In Königsberg hielt die
[563]Die Königsberger Mucker.
Sekte des myſtiſchen Theoſophen Schönherr noch immer ihre ſeltſamen An-
dachtsübungen. An ihrer Spitze ſtand jetzt der Prediger Ebel, ein ſchöner,
feuriger, beredter Mann, der auf die Weiber einen unwiderſtehlichen Zauber
ausübte und in geheimnißvollen Andeutungen von der Verklärung der irdi-
ſchen Liebe ſprach; mit überſtrömender ſüßlicher Zärtlichkeit pflegten die
Gläubigen einander zu begrüßen. Ein Kreis angeſehener Männer und
Frauen aus den erſten Geſchlechtern der Provinz ſchaarte ſich um den be-
geiſterten Schwärmer, darunter auch zwei Schwägerinnen des Oberpräſi-
denten Schön; der aber verabſcheute Alles was von der Kritik der reinen
Vernunft abwich, und belegte die Gemeinde der Erweckten mit dem Namen
der „Mucker“, der ſich ſeitdem das Bürgerrecht in der deutſchen Sprache
erworben hat. Nicht lange, ſo entſtanden finſtere Gerüchte über das geheime
unzüchtige Treiben der Mucker, und bei der tiefen, heißen Leidenſchaftlichkeit
oſtpreußiſcher Naturen ſchien es keineswegs unmöglich, daß die alte räthſel-
hafte Verwandtſchaft von Sinnlichkeit und religiöſer Ekſtaſe ſich auch bei
dieſer Sekte gezeigt hätte. Es fehlte nicht an Verdachtsgründen; doch irgend
ein Beweis lag nicht vor und iſt auch bis zum heutigen Tage nicht zu
erbringen. Der Haupt-Belaſtungszeuge war erſt vor Kurzem aus der Ge-
meinde ausgeſtoßen worden und darum ſchon wenig glaubwürdig. Bei der
Unterſuchung verfuhr das Conſiſtorium, das durchweg aus Schön’s ratio-
naliſtiſchen Geſinnnungsgenoſſen beſtand, offenbar parteiiſch. Der Ober-
präſident hielt ſich in ſeinem Gewiſſen verpflichtet, die verhaßte Gemeinde
mit Stumpf und Stiel auszurotten; er trat ſo heftig auf, daß die Gläu-
bigen ihn mehrmals in Berlin verklagten. Die Miniſter aber hielten zu
ihm, weil nach Altenſtein’s kirchenpolitiſchen Grundſätzen jede Sektirerei
vom Uebel war.*) In letzter Inſtanz erklärte das Kammergericht endlich
die behaupteten unzüchtigen Handlungen für unerwieſen, und verurtheilte
den Sektirer Ebel nur wegen Verletzung ſeiner geiſtlichen Amtspflicht.**)
Sieben Jahre hindurch beſchäftigte dieſer Muckerproceß die ohnehin
erregte Provinz und verbitterte die Gemüther auf’s Aeußerſte. Nichts
konnte der werdenden Oppoſition willkommener ſein als ein Skandal unter
Geiſtlichen und Edelleuten. Obwohl Ebel keineswegs auf dem Boden des
Augsburger Bekenntniſſes ſtand und die Orthodoxen von jeher ſeine erklärten
Feinde waren, ſo wurden ſie doch von dem herrſchenden Rationalismus der
Mitſchuld bezichtigt; jeder Kirchlichgeſinnte hieß bei den aufgeklärten Königs-
bergern ein Mucker und Heuchler. Der Adelshaß der Liberalen ſchwelgte
in kühnen Erfindungen und erzählte Unglaubliches von der Sittenverderbniß
der ehrenfeſten oſtpreußiſchen Ariſtokratie. Auch die Judenſchaft Königs-
36*
[564]IV. 8. Stille Jahre.
bergs, die bereits ihre Macht zu fühlen begann und an dem Dr. Jacoby
einen ſchlagfertigen Wortführer beſaß, hatte ihrer Schadenfreude kein Hehl.
Schön aber war nicht der Mann die Parteien zu beſchwichtigen. Mit
dem orthodoxen neuen General-Superintendenten Sartorius lebte er in
offener Fehde, und ſelbſt der milde, bürgerfreundliche commandirende
General v. Natzmer mußte über den liberalen Oberpräſidenten Beſchwerde
führen, als dieſer einem Landſtande, der in ſeiner Landwehruniform er-
ſchienen war, in Gegenwart eines Generals geſagt hatte: „Sie können
den Rock eines freien Mannes tragen, und tragen den Rock eines
Dieners!“ Der König gab dem beleidigten Offizierscorps Genugthuung
durch eine Cabinetsordre und ertheilte dem Oberpräſidenten einen ſehr
milden Verweis wegen ſeines beſtändig herausfordernden Betragens,
„indem Sie ſich tadelnde und verunglimpfende Urtheile über die An-
ordnungen der oberen Behörden und Aeußerungen geſtatten, wodurch
der Autorität der Regierung Abbruch geſchieht und gegen Ihre Abſicht
Mißvergnügen in der Provinz verbreitet wird“. Schön dankte gerührt
für die Gnade des Monarchen und betheuerte, die Unzufriedenheit ſei in
Preußen geringer als in den anderen Provinzen.*) Nichtsdeſtoweniger
fuhr er fort, auf Alles was in Berlin zu Stande kam, öffentlich zu
ſchelten, insbeſondere auf den Zollverein, der allerdings dieſer abgelegenen
Provinz wenig Vortheil brachte. Er wußte, daß der König ſeiner bewährten
Treue ſehr viel nachſah, und ließ es ſich wohl gefallen, wenn die Liberalen
Oſtpreußens ihn als ihr Parteihaupt verherrlichten. Der altpreußiſche
Freiheitsſtolz, der Zorn über die Mucker und die Grenzſperre, die Unge-
duld thatenloſer Tage und die allezeit rege Königsberger Kritik wirkten
zuſammen; die alte Krönungsſtadt wurde der Heerd einer unmuthigen,
geiſtreichen, unerſättlich tadelſüchtigen Oppoſition, die um ſo weiter um ſich
griff, da ſie ſich noch nicht im Handeln bewähren konnte.
Die Mark erlebte einige kirchliche Wirren, als das neue Berliner
Geſangbuch eingeführt wurde, das Werk einer theologiſchen Commiſſion,
der auch Schleiermacher und Biſchof Neander angehörten. Die Auswahl
aus dem reichen Liederſchatze der evangeliſchen Kirche war wohl gelungen,
der Wortlaut der alten Geſänge nur an wenigen Stellen, welche dem
modernen Geſchmack Anſtoß zu geben ſchienen, mit ſchonender Hand ge-
ändert, und der König hoffte, die Gemeinden würden das Buch freiwillig
annehmen. Altenſtein aber verſuchte wieder durch Befehle einzugreifen.
Da nahm ſich der Kronprinz des Rechtes der Gemeinden nachdrücklich an;
er verlangte, daß den Gemeinden „ihr Schatz von Liedern, der recht eigent-
lich ihr Eigenthum ſei“, erhalten bleibe: „es giebt meiner Ueberzeugung
zu Folge Dinge, die ſich ganz von ſelbſt verſtehen und die gar keines Ge-
[565]Das neue Geſangbuch.
ſetzes bedürfen.“ Es gelang ihm auch, den Streit glimpflich beizulegen.
Freilich kam ſein Eifer für die Gewiſſensfreiheit immer nur den Alt-
gläubigen zu gute; ſeinem hiſtoriſchen Sinne war das Geſangbuch nicht
alterthümlich genug. „Ich finde — ſo ſchrieb er — das Buch eben als
Buch, ohne alle Nebengedanken, ein gutes Buch, welches hundert Meilen
über dem ſkandalöſen früheren neuen Geſangbuch ſteht. Aber als Werk,
als Produkt aus gegebenen Größen, finde ich es, ohne allen Umſchweif
zu reden, ſchlecht, nicht etwa wegen Mängel an der Arbeit daran, wovon
ich hier nicht reden will, ſondern ganz allein darum, weil nach meiner
felſenfeſt ſtehenden Anſicht und Geſchmack der Homer, der Mahabarat, die
Nibelungen etc. etc. etc. nach ſolchen Grundſätzen geändert, wie hier die alten
teutſchen Lieder, und zwar von der Hand eines Erzengels, nothwendig eine
Mißgeburt werden müſſen. Das iſt ſo ein Grundſatz, der in ſich eines
und ſo mit meiner Individualität verwachſen iſt, daß ſich darüber mit mir
gar nicht ſtreiten läßt.“*)
Noch weit ſchmerzlicher berührte den Kronprinzen die kleinliche Be-
drückung der Altlutheraner; er hielt ſich verpflichtet, und mit Recht, dem
befreundeten Miniſter offene Oppoſition anzukündigen. Allerdings beſtand
kein vernünftiger Grund für den Austritt der Altlutheraner aus der unirten
Landeskirche; denn die Union ließ die Glaubenswahrheiten unberührt, und
auch die ſtrenglutheriſchen Cultusformen konnten ganz unverändert fort-
beſtehen, da die Gemeinden und ihre Geiſtlichen zwiſchen den zahlreichen
altlutheriſchen Formularen, welche der Anhang der neuen Agende enthielt,
frei wählen durften. Aber wann hätte der religiöſe Glaube je nach Ver-
nunftgründen gefragt? Unterwarfen ſich die Altlutheraner der Agende,
ſo erkannten ſie die Reformirten als ihre evangeliſchen Brüder an, was
der Meinung Luther’s unzweifelhaft zuwiderlief; und zu einem ſolchen
Zugeſtändniß konnte ſie der Staat ſo wenig zwingen, wie er die Katho-
liken verhindern konnte, die Proteſtanten für Ketzer zu halten. Die armen,
verblendeten, durch fanatiſche Prediger aufgewiegelten Menſchen, meiſt
kleine Leute aus Schleſien, hielten ſich in ihrem Gewiſſen verpflichtet,
keinerlei kirchliche Gemeinſchaft mit den Reformirten einzugehen, und wie
beſchränkt, hart, unduldſam ihr Glaubenseifer auch erſcheinen mochte, ſie
bewährten ſich doch als die Erben jener tapferen alten Schleſier, welche
einſt den kaiſerlichen Seligmachern getrotzt hatten. Die Breslauer Alt-
lutheraner glaubten nur dem Gebote Gottes zu gehorchen, als ſie den
König um die Erlaubniß baten, unter der Führung ihres gottſeligen Pre-
digers Scheibel eine ſelbſtändige kleine Kirche zu bilden. Friedrich Wilhelm
ließ ſie abweiſen; er meinte wie Altenſtein, die Bittenden behaupteten ja
ſelbſt Proteſtanten zu ſein und gehörten mithin von Rechtswegen der evan-
geliſchen Landeskirche an.
[566]IV. 8. Stille Jahre.
Erbittert durch dieſe Härte ſchritten die Gottſeligen bald zur Verletzung
des Geſetzes: ſie ernannten eigenmächtig Repräſentanten, ſie maßten ſich
die Verwaltung des Kirchenvermögens an, ließen durch Unberechtigte geiſt-
liche Amtshandlungen verrichten. Umſonſt verſuchte Altenſtein durch per-
ſönliche Ermahnungen und ausgeſendete Commiſſäre die Aufgeregten zu
beſchwichtigen — was er ſelbſt für einen Beweis ungewöhnlicher Lang-
muth hielt. Umſonſt verſicherte eine Cabinetsordre vom 28. Febr. 1834:
zur Union werde Niemand gezwungen, nur die Agende müſſe als unver-
brüchliche Regel in der Landeskirche gelten. Eine ſolche Halbheit konnte
die Widerſpänſtigen nicht gewinnen; denn unleugbar war die Agende nur
der liturgiſche Ausdruck der Union, und zum Ueberfluß wiederholte der
König ſtreng: „daß die Feinde der Union ſich als eine beſondere Reli-
gionsgeſellſchaft conſtituirten“, dürfe als „unchriſtlich“ nicht geduldet wer-
den. Da die alten Rationaliſten noch in den meiſten hohen Kirchenämtern
ſaßen, ſo führten die Conſiſtorien von Stettin und Breslau einen unab-
läſſigen Krieg gegen Alles was ſie für ſektireriſch hielten. Dort wurde dem
Freiherrn v. Senfft-Pilſach unterſagt, vor ſeiner Heerde ſelbſt zu predigen,
hier den Peylauern verboten, bei den Herrnhutern im nahen Gnadenfrei
das Abendmahl zu empfangen, da den Judenmiſſionaren durch einen un-
freundlichen Conſiſtorialerlaß die Arbeit erſchwert. Den Pfarrer Hirſchfeld
wollte das Breslauer Conſiſtorium abſetzen, weil er zwar die Agende an-
nahm, aber die Formel „Vater Unſer“ beibehielt. Da meinte der Kron-
prinz: „ihn deshalb aus ſeinem ſegensreich geführten Amte zu verſtoßen,
wäre geradezu gräßlich;“ er verlangte, Altenſtein ſolle die Sache „ein-
ſchlafen laſſen“. Unabläſſig nahm er ſich der Verfolgten an und ſagte
dem Miniſter voraus, dies Zerren und Reizen werde den ſektireriſchen
Geiſt nur ſtärken.*)
So kam es auch. Seines Breslauer Amtes entſetzt, eröffnete Scheibel
von Sachſen aus einen grimmigen Federkrieg, insbeſondere gegen die
Schrift des Königs über die Agende; freilich ſtellte er ſich an, als ob er
den Biſchof Eylert für den Verfaſſer hielte. Er tobte ſo lange, bis die
Führer der Orthodoxen, Hengſtenberg, Hahn, Olshauſen ſich förmlich gegen
den Separatismus erklärten; von den namhaften Theologen ſchloß ſich nur
einer, der Hallenſer Guericke den Sektirern an, und auch er verſöhnte
ſich nach einigen Jahren wieder mit der Landeskirche. Die ſchleſiſchen Alt-
lutheraner aber hielten aus; ſie beſchloſſen auf einer Synode zu Breslau
(1835) ihre Sonderkirche nimmer aufzugeben. Als ein unirter Geiſtlicher
ſtatt des abgeſetzten altlutheriſchen in die Pfarrei des ſchleſiſchen Dorfes
Hönigern eingeführt werden ſollte, da rottete ſich die geſammte Gemeinde,
die Frauen voran, ſchreiend und jammernd vor der verſchloſſenen Kirche
[567]Die Altlutheraner.
zuſammen; Soldaten mußten die Thüre ſprengen und blieben dann noch
eine Weile auf Einquartierung. Bei allen dieſen traurigen Vorgängen
handelte die Regierung ſtreng nach dem Buchſtaben des Geſetzes; aber
wie deutlich zeigten ſie, daß die Kirchenpolitik des alten Territorialſyſtems
ſich gänzlich überlebt hatte. Evangeliſche Freiheit war nur noch möglich,
wenn eine neue Kirchenverfaſſung das gute Recht der Gemeinden ſicher
ſtellte.
Nach langem Streit und Leid entſchloß ſich endlich ein Theil der
Altlutheraner, insgeſammt mehr als tauſend Köpfe, zur Auswanderung.
Ihren Glauben und ihren Cultus taſtete Niemand an, nur das evan-
geliſche Recht der Gemeindebildung ward ihnen verſagt, und ſo wähnten
ſie für die Religion zu leiden, während doch lediglich ein ungeheueres Miß-
verſtändniß und ihr unduldſamer Haß gegen die Reformirten ſie aus dem
Lande trieben. Welch ein Tag, als vierhundert dieſer armen Schleſier
auf ihren Spreekähnen durch Berlin kamen und dann die Havel abwärts
am Potsdamer Stadtſchloſſe vor den Fenſtern des Königs vorüberfuhren;
ihre lutheriſchen Lieder klangen weithin über das ſtille Gewäſſer. Schien
es nicht, als ob jene Zeiten des großen Kurfürſten wiederkehrten, da Paul
Gerhardt, auch er ein Märtyrer mehr der Unduldſamkeit als des Glau-
bens, die Mark hatte verlaſſen müſſen? Was aber damals, in dem harten
Jahrhundert der Religionskriege, die Noth erzwang, das hätte jetzt, in
weltlichen Tagen, eine kluge und weitherzige Kirchenpolitik leicht vermeiden
können. Welch ein Widerſpruch! Friedrich Wilhelm fühlte ſich als den
Beſchützer des evangeliſchen Glaubens in Deutſchland; ſo nannten ihn
auch der fromme G. H. Schubert und die anderen bairiſchen Proteſtanten,
denen er bei allen ihren kirchlichen Unternehmungen gern zu Hilfe kam.*)
Er feierte in dieſen Tagen tief bewegt den dreihundertjährigen Gedenktag
der brandenburgiſchen Reformation. Und doch ward unter dem frommen
Fürſten eine Verfolgung möglich, die aller evangeliſchen Freiheit widerſprach.
Im Lande erzählte man, der gute König wiſſe nichts von dem
harten Verfahren ſeiner Beamten. Er wußte es wohl. Er verfolgte die
kirchlichen Wirren tief bekümmert, mit geſpannter Aufmerkſamkeit und ließ
ſogar den Auswanderern insgeheim Unterſtützung ſpenden; doch an ſeiner
Kirchenpolitik ward er keinen Augenblick irr. In dieſem Jammer be-
drängter und beirrter Gewiſſen ſah er nur eine ſtrafbare Auflehnung gegen
das von Gott verordnete Kirchenregiment und fragte immer wieder ganz
verwundert: wie ſind ſolche Verirrungen möglich in einem Lande unbe-
ſchränkter Gewiſſensfreiheit? Er ahnte nicht, wie die deutſchen Nachbarn
über dieſe Verfolgungen dachten. Die Lutheraner in Sachſen, Mecklen-
burg, Baiern hatten bisher auf den ſchwächlichen Synkretismus der Union
[568]IV. 8. Stille Jahre.
geſcholten. Jetzt konnten ſie mit einigem Scheine behaupten, dies edle
Unternehmen evangeliſcher Freiheit ſei im Grunde nur ein Werk der Ge-
wiſſenstyrannei. Das Wachsthum der Union war auf lange Zeit hinaus
gehemmt. Als die Tage der ſchlimmſten Quälerei überſtanden waren, faßte
ſich der Kronprinz endlich ein Herz und verlangte im Staatsminiſterium,
von Mühler unterſtützt (1839): den Sektirern müſſe „eine Art Anerken-
nung“ gewährt werden; verleihe man dann der evangeliſchen Kirche ſelbſt
größere Freiheit, ſo werde „dies Irrweſen bald in ſich verfallen“.*) Aber
ſo lange der alte Herr lebte war an keine Aenderung zu denken.
Wie ward dem frommen Steffens zu Muthe, als er um dieſe Zeit
(1837), noch tief erſchüttert von dem Abſchied ſeiner lutheriſchen Glaubens-
genoſſen, das Land Tyrol bereiſte, und ihm droben in den Alpen ein
anderer Auswandererzug begegnete, mit hochbeladenen Wagen, Männer,
Weiber und Kinder, über vierhundert Köpfe, auch zwölf ſteinalte Leute von
mehr als ſiebzig Jahren zogen mit. Es waren die proteſtantiſchen Ziller-
thaler, die letzte Glaubenskolonie der Hohenzollern; ein tapferer Bauer,
Johann Fleidl führte ſie an. Die öſterreichiſche Regierung hatte ihnen
den Aufenthalt in dem Lande der Glaubenseinheit nicht mehr geſtattet, weil
die fanatiſche Cleriſei den ehrenfeſten Lutheranern unheimliche ſektireriſche
Ausſchweifungen andichtete, und ſie endlich aufgefordert, ihren Wohnſitz in
ein anderes Kronland, etwa nach Siebenbürgen zu verlegen. Daß Tyrol
deutſches Bundesland war, kam in Wien natürlich nicht in Betracht; auch
der Bundestag verlor kein Wort über die offenbare Verletzung des Art. 16
der Bundesakte, und kein deutſcher Publiciſt warf die Frage auf, ob dies
Oeſterreich mit ſeinen Sonderrechten wirklich noch zu Deutſchland gehöre.
Unter den Evangeliſchen des Hochgebirges aber hatte der preußiſche Name
noch von den Zeiten der Salzburger Emigranten her einen guten Klang;
nach dem nahen Baiern wollten ſie nicht ziehen, weil ſie der ultramon-
tanen Geſinnung des Münchener Hofes mit Recht mißtrauten. Die
Zillerthaler wendeten ſich an den alten König. Er verhandelte mit ihnen
durch ſeinen Hofprediger Strauß und bot ihnen dann eine neue Heimath
bei Schmiedeberg, am ſchönen Abhang des Rieſengebirges, wo ſie das
ſchönere alte Heim doch nicht zu ſchmerzlich vermiſſen ſollten.**) Die Koſten
der Anſiedelung in dem dicht bevölkerten Schleſien ſtellten ſich freilich
ſehr hoch, faſt fünfmal höher als die Zuſchüſſe, welche König Friedrich einſt
ſeinen Koloniſten zu bewilligen pflegte. Die fromme hochherzige Gräfin
Reden trat auf Friedrich Wilhelm’s Befehl an die Spitze eines Ausſchuſſes,
der den Einwanderern über die böſe Zeit des Ueberganges hinweghalf, und
nach Jahresfriſt waren ſie alle in den drei Dörfern des neuen Zillerthales
untergebracht, ein treues, arbeitſames und bei allem Glaubenseifer lebens-
[569]Die Zillerthaler.
frohes Völkchen. In ihren ſchmucken Tyroler Häuſern, mitten unter den
grünen Matten fühlten ſie ſich bald glücklich; ihre jungen Leute wurden
bei den Görlitzer Jägern gern als Rekruten aufgenommen, und mancher
zog nachher in die norddeutſche Ebene, um durch die heimiſche Milchwirth-
ſchaft ſein Glück zu ſuchen. Mit dem königlichen Hauſe blieben ſie immer
in naher Verbindung; Prinz Wilhelm der Aeltere und die Prinzeſſin
Marianne kamen aus dem nahen Fiſchbach oft herüber, und außer ihrer
Bibel war den Exulanten nichts ſo ehrwürdig wie das Bild des alten
Königs in der Gemeindeſchule. Gott ſegne den König Friedrich Wilhelm III.
— ſo lautete die Inſchrift auf dem Söller des erſten Hauſes in Mittel-
Zillerthal. —
Die Provinzialſtände der öſtlichen Provinzen bereiteten der Regierung
wenig Ungelegenheiten, ſie beſorgten mit treuem Fleiße ihre unſcheinbaren
Geſchäfte. Die altſtändiſche Oppoſition gegen die Hardenbergiſche Geſetz-
gebung regte ſich noch zuweilen, aber minder lebhaft als in früheren
Jahren, und als die langwierigen Berathungen über den Entwurf der
neuen Gewerbeordnung begannen, da zeigte ſich’s, daß die Grundſätze der
Freizügigkeit und der Gewerbefreiheit den Preußen ſchon in Fleiſch und
Blut gedrungen waren. Die Wiederherſtellung des alten Zunftzwanges
wagte ſelbſt der conſervativſte aller Landtage, der brandenburgiſche nicht
zu verlangen; man wünſchte nur freie Innungen mit ſtrengerer Zucht für
Lehrlinge und Geſellen. Die Stände fühlten ſelbſt, wie wenig die öffent-
liche Meinung nach ihnen fragte, und beantragten mehrmals, in Preußen,
Sachſen, Schleſien, daß ihre Verhandlungen dem Volke zugänglicher ge-
macht würden. Die neuen Gedanken freilich, welche im Bürgerthum zu
gähren begannen, konnten in dieſer Vertretung des Grundbeſitzes keinen
Ausdruck finden; ihre ſtill wachſende Macht ließ ſich nur an der freieren
Sprache der Provinzialpreſſe errathen. Während die Berliner Zeitungen
noch in dem alten Stumpfſinn verharrten, brachte der junge National-
ökonom Schön in der Schleſiſchen Zeitung ſchon zuweilen ſcharfe Leit-
artikel über innere Angelegenheiten. Mit ihm ſuchte Frhr. v. Vaerſt in der
Breslauer Zeitung zu wetteifern; die Königsberger Zeitung aber diente
den oſtpreußiſchen Liberalen zum Sprechſaal, ſoweit es die geſtrenge Cenſur
erlaubte. —
Sobald ein neuer politiſcher Gedanke ſich im Völkerleben durchgeſetzt
hat, bewirkt die Kraft des Beharrens regelmäßig einen Rückſchlag der
verletzten Intereſſen und Meinungen. Auch dem Zollvereine ſollte dieſe
Erfahrung nicht ganz erſpart bleiben. Wohl ſtieg der Geſammtertrag der
neuen Zölle von Jahr zu Jahr, und die ſüddeutſchen Finanzmänner hatten
guten Grund, ſich ihres Entſchluſſes zu freuen. Baiern, das aus dem
bairiſch-württembergiſchen Zollvereine kaum 2 Mill. fl. jährlich bezogen
[570]IV. 8. Stille Jahre.
hatte, empfing ſchon im erſten Jahre (1834) von dem Deutſchen Zollver-
eine faſt das Doppelte, 3,895 Mill. fl. Im Jahre 1840 hatte ſich die zur
Vertheilung gelangende Geſammteinnahme des Vereins ſeit 1834 ſchon
um mehr als die Hälfte geſteigert; ſie war von 12,18 auf 19,01 Mill. Thlr.
gewachſen. Und wie wenig bedeuteten dieſe finanziellen Gewinnſte neben
dem gewaltigen Umſchwunge, der ſich überraſchend ſchnell in der Volkswirth-
ſchaft des Südens vollzog. Preußens altbefeſtigte Großinduſtrie gewann
durch den Zollverein nur ein etwas vergrößertes Abſatzgebiet. Der junge
ſüddeutſche Gewerbfleiß dagegen erlangte mit einem male, was ihm bis-
her ganz gefehlt hatte, einen weiten freien Markt, er erlangte Zölle, welche
zwei- bis viermal höher ſtanden als die bairiſch-württembergiſchen und in
der That einen genügenden Schutz gewährten; denn ſeit dem Jahre 1818
hatten ſich die preußiſchen Zölle nur wenig geändert, während die meiſten
ausländiſchen Fabrikwaaren im Preiſe erheblich geſunken waren.
Unter ſo günſtigen Anzeichen erſtarkte die wirthſchaftliche Thatkraft
des Südens zuſehends. Eine Menge neuer Unternehmungen entſtanden;
um Lahr, Mannheim, Ludwigshafen, Eßlingen, Augsburg, Nürnberg bil-
deten ſich ganze Fabrikbezirke; die Süddeutſchen erfuhren zum erſten male,
was man im Norden ſchon kannte, daß verwandte Induſtriezweige ſich an
einem Orte zuſammenzudrängen pflegen. Während der Jahre 1834—42
ſtieg die Einfuhr der zur Verarbeitung beſtimmten rohen Baumwolle im
Zollvereine auf mehr als das Doppelte, von 121,000 auf nahezu 243,000
Centner. Da dieſe neuen Fabriken noch nicht feſt auf ihren eigenen Füßen
ſtanden, ſo riefen ſie nach Schutz, und ganz plötzlich verſchob ſich die
Stellung der volkswirthſchaftlichen Parteien. Vor Kurzem erſt hatten die
Süddeutſchen über Preußens hohe Zölle geklagt, weil man in Berlin be-
greiflicherweiſe nicht geneigt war, zugleich mit dem Wagniß des Zollvereins
auch eine erhebliche Herabſetzung des Zolltarifs zu verſuchen. Kaum war
der Verein geſchloſſen, ſo erſchien ſein Zollſchutz ſchon ungenügend. Süd-
deutſchland wurde die Wiege einer ſchutzzöllneriſchen Partei, die den frei-
händleriſchen Häfen und Handelsplätzen des Nordens ſcharf entgegentrat
und ſchon jetzt ſtark genug war, jede Ermäßigung der Zölle zu verhindern.
Die wenigen Veränderungen, welche der Zolltarif in den dreißiger Jahren
erlitt, waren faſt alleſammt Zollerhöhungen; ſo wurden die Zölle auf
Leinenzwirn, Seidenzwirn, Garn, gefärbte Seide etwas heraufgeſetzt, offen-
bar um den Wünſchen der ſüddeutſchen Fabrikanten entgegenzukommen.
Es rächte ſich aber jetzt, daß Süddeutſchland in ſeiner Gewerbegeſetzgebung
ſo weit zurückgeblieben war. Selbſt manche wohlberechtigte Wünſche der
Augsburger und Stuttgarter Schutzzöllner erſchienen den Berliner Ge-
heimen Räthen verdächtig, weil der Süden für das claſſiſche Land alt-
väteriſcher zünftleriſcher Vorurtheile galt.
Während die Producenten ſich alſo ſehr raſch in den Zollverein ein-
lebten und nur die Milde ſeiner Geſetzgebung beklagten, begannen auch
[571]Süddeutſche Schutzzöllner. Die Münzconvention.
die ſüddeutſchen Kammern von ihrem thörichten Widerſtande endlich abzu-
laſſen. Die beſchämende Niederlage des parlamentariſchen Liberalismus
ließ ſich nicht mehr ableugnen; wie viel klüger, weitſichtiger, patriotiſcher
als ſelbſt Paul Pfizer hatte ſich doch der unpolitiſche Geſchäftsmann Cotta
während der Entſtehungsjahre des Zollvereins gezeigt. Im badiſchen Land-
tage fiel noch manches böſe Wort über das Fabrikproletariat und die zu-
nehmende Theuerung, über wirkliche oder vermeintliche Mißgriffe der Zoll-
politik*), und Preußen warf auf den Zollconferenzen ſchon das Bedenken
auf, ob man den Landtagen geſtatten dürfe, über jede Einzelheit des Zoll-
weſens mitzuentſcheiden. Indeß hielten beide Theile bald für klüger, ſo
peinliche Fragen nicht zu berühren. Die Landtage gewöhnten ſich, die
Zollpolitik den Regierungen allein zu überlaſſen, und in der That ver-
liefen die drei erſten Zollconferenzen zu München, Dresden, Berlin alle-
ſammt friedlich, nachdem Kühne in München zuerſt (1836) den rechten
Ton wohlwollender, ſachlicher Erörterung angeſchlagen hatte.
Mehr als eine verſtändige Behandlung der laufenden Geſchäfte ließ
ſich von dieſen Verſammlungen, wo das liberum veto herrſchte, freilich
nicht verlangen. Daß die Einheit des Marktes auch die Einheit der Münzen
und Maße bedinge, wurde erſt von Wenigen eingeſehen. Selbſt Dahlmann
meinte noch, die althiſtoriſchen Münzen zerſtören, heiße den Glauben des
Volks antaſten; weit ſchädlicher als die Mannichfaltigkeit des Geldes er-
ſchien ihm die Verſchiedenheit der deutſchen Staatsverfaſſungen. Als der
Wirrwarr des Münzweſens in den Guldenländern ganz unerträglich wurde,
beſchloſſen die ſüddeutſchen Regierungen einen Theil der unterwerthigen
alten Brabanter Münzen einzuziehen, worauf ſich ſofort der Schreckensruf
erhob: das ſei der erſte Schritt zur Einführung des preußiſchen Thalers,
den freilich Jedermann im Verkehre gern annahm. Das kluge Haus
Coburg benutzte dieſe Gelegenheit, um ſeine berüchtigten Sechſer ſelber
in Verruf zu erklären; die Baiern aber waren über dieſen Beweis nach-
barlicher Redlichkeit ſehr aufgebracht und bezeigten dem Coburger Herzog,
als er nach München kam, auf offener Straße ihren Unwillen.**) Ein
Jahr nachher (1838) ſchloſſen die Staaten des Zollvereins eine Münzcon-
vention, welche mindeſtens das Werthverhältniß zwiſchen dem Thaler und
dem Gulden feſtſtellte. Das einzige wirkſame Heilmittel, die allgemeine An-
nahme der Thalerwährung, war unmöglich, weil die Süddeutſchen, König
Ludwig voran, faſt alleſammt glaubten, die Wohlfeilheit der Guldenländer
rühre von ihrem elenden Münzweſen her und würde durch den unheimlichen
Thaler zerſtört werden. Einem ſo mächtigen Vorurtheile wagten die weiter
blickenden Finanzmänner nicht zu trotzen. Nur der Doppelthaler, gleich
3½ fl., im Volke Champagnerthaler genannt, ſollte von allen Staaten
[572]IV. 8. Stille Jahre.
geprägt werden und blieb fortan durch viele Jahre die einzige deutſche
Vereinsmünze. Damit war nichts gebeſſert. Da die ſüddeutſchen Staaten
ihren rheiniſchen Gulden noch niemals gemünzt hatten und auch jetzt noch
ſtets zu wenig Guldenſtücke prägen ließen, ſo überſchwemmten unzählige
fremde Münzen ihr Gebiet, nicht blos die unaufhaltſamen preußiſchen
Thaler, ſondern auch alte Brabanter Kronenthaler, öſterreichiſche und fran-
zöſiſche Münzen; wunderbar geduldig löſte das Volk täglich ſchwierige
Rechenaufgaben mit Stücken von 2 fl. 42 Xr., 1 fl. 45 Xr., 1 fl. 10 Xr.
Das Papiergeld vollends und die Banknoten galten nur in ihren Heimath-
ſtaaten als geſetzliche Zahlungsmittel, und doch liefen ſie in allen Ver-
einslanden um, weil der Verkehr ihrer nicht entbehren konnte. Wer eine
Zahlung in Papier annahm, mußte wohl aufmerken, daß ihm nicht einige
jener bedenklichen „wilden“ Scheine mit untergeſchoben wurden, welche
die kleinen Thüringer Landesväter im Vertrauen auf die Gutmüthigkeit der
Nachbarn maſſenhaft anzufertigen liebten.
Aber wie viel auch noch an der Einheit des deutſchen Marktes fehlte,
ein ungeheuerer Erfolg war doch erreicht. Was Stein einſt vergeblich
erſtrebt hatte, als er während des Befreiungskrieges den Kriegsimpoſt in
allen deutſchen Häfen einzuführen ſuchte, das gemeinſame Grenzzollweſen
beſtand jetzt wirklich. Eine Maſſe widrigen Gezänks, das unſere Macht
geſchwächt und den Charakter des Volkes geſchädigt hatte, war mit einem
Schlage aus der Welt geſchafft. Die Nation zeigte ſich zufrieden; ſie
fühlte, daß die Natur der Dinge zu ihrem Rechte gelangt ſei. Von dem
Zollkriege der alten Sonderzollvereine wollte Niemand mehr hören; man
lächelte nur, als Dr. Emminghaus zu Weimar jetzt noch, nach der Ent-
ſcheidung, in einer gelehrten Schrift bewies, nach römiſchem Rechte ſeien
Sachſen und Thüringen allerdings befugt geweſen, den mitteldeutſchen
Handelsverein zu verlaſſen. Die Geſchäftswelt lebte ſich in die neuen
Formen der Zollverwaltung bald ein und zeigte den Behörden ein ehrlich
erwidertes Zutrauen. Im Jahre 1826 gewährte die Magdeburger Pro-
vinzialſteuerdirektion den großen Firmen nur für 13,000 Thlr. Zoll- und
Steuercredit; nach wenigen Jahren wuchs dieſe Summe ſchon auf mehr
als eine Million, und ſie blieb im Steigen, da die geſtundeten Beträge
ſtets pünktlich am Verfallstage eingingen. Unterdeſſen hatten die Kauf-
mannſchaften der großen Plätze des Oſtens ſchon während der zwanziger
Jahre Corporationsrechte erhalten, und neuerdings wurden auch in den
Städten der weſtlichen Provinzen Handelskammern gebildet, in Elberfeld und
Barmen 1831. So erlangte der Handelsſtand die Mittel, ſeine Wünſche
und Beſchwerden nachdrücklich geltend zu machen. Wie lange hatten die
Deutſchen über ihr unfindbares Bundesrecht und die Nichtigkeiten ihrer
kleinen Landtage ziellos hin und her geſtritten. Nunmehr entſtand endlich
eine wirkliche und wirkſame öffentliche Meinung, die in den Intereſſen-
fragen der nationalen Handelspolitik gebieteriſch ihr Recht forderte.
[573]Der Zuckerkrieg.
Die Stärke dieſer neuen Macht offenbarte ſich ſofort zur Ueberraſchung
des Beamtenthums, als der Zollverein ſeinen erſten Handelsvertrag mit
dem Auslande ſchloß, den Vertrag mit den Niederlanden vom 21. Januar
1839. Seit dem Abfall Belgiens hofften die Holländer jene alte Handels-
politik wiederherzuſtellen, welche ihnen einſt zur Zeit des römiſchen Reichs
ſo reichen Gewinn gebracht hatte: ſie dachten Deutſchland mit Colonial-
waaren und Fabrikaten zu verſorgen und dafür ihre Rohſtoffe aus dem
armen Hinterlande zu beziehen. Um zunächſt den deutſchen Zuckermarkt
zu beherrſchen, ſtellten ſie ein Halbfabrikat her, den Lumpenzucker, der bei
den Zollämtern als Rohzucker declarirt wurde. Aber die Zeit war nicht
mehr, da die Deutſchen wähnten, nur auf fremden Krücken gehen zu können;
der Zollverein ſetzte ſich zur Wehr und verfügte, daß der Lumpenzucker fortan
gleich dem raffinirten Zucker, mehr als doppelt ſo hoch denn bisher, verzollt
werden ſollte (1836). Darauf folgten mehrjährige, verwickelte Unterhand-
lungen: Holland gewährte der deutſchen Rheinſchifffahrt neue willkommene
Erleichterungen und verlangte dagegen die Herabſetzung der Zölle auf
ſeinen Lumpenzucker. Der König der Niederlande ſelbſt und ſeine Tochter
die Prinzeſſin Albrecht von Preußen betrieben das Geſchäft mit Feuereifer;
ſie meinten, die Oranier dürften jetzt doch einige Rückſicht erwarten, nach-
dem man ihnen gegen die Belgier keine Hilfe gewährt habe.*) Graf
Alvensleben gab ſchließlich nach und bewilligte, daß der Zoll auf den hol-
ländiſchen Lumpenzucker bis zur Hälfte ermäßigt wurde; er befürchtete
ſonſt einen zu großen Ausfall in den Zolleinnahmen, und gleich ihm
ließen ſich auch die anderen Vereinsregierungen durch fiscaliſche Erwä-
gungen beſtimmen. Die Entſcheidung erfolgte erſt nach heftigem Streite,
einer der erſten preußiſchen Finanzmänner, Geh. Rath Windhorn nahm
deshalb ſeinen Abſchied.**) Aber kaum war ſie gefallen, ſo erhob ſich ein
Sturm in der geſammten Preſſe; alle Welt rief entrüſtet, das heiße Deutſch-
lands Intereſſen dem Auslande opfern. Die deutſchen Siedereien und
die Rübenzuckerfabrikanten betheuerten, unter ſolchen Umſtänden könnten
ſie den holländiſchen Wettbewerb nicht mehr beſtehen, und der Erfolg gab
ihnen Recht. Die zwei großen Stettiner Siedereien kamen dem Untergange
nahe; auch die Hanſeſtädte, denen der Zollverein die gleiche Vergünſtigung
bewilligte, vermochten das ſiegreiche Holland nicht mehr aus dem Felde zu
ſchlagen.
Nur zu bald lag es klar am Tage: die erſte diplomatiſche That
der neuen nationalen Handelspolitik war ein ſchlimmer Mißgriff und
zugleich eine Verletzung der Grundſätze des Zollvereins, der ſonſt alle
Differentialzölle verwarf, diesmal aber einem unfreundlichen Nachbarlande
[574]IV. 8. Stille Jahre.
gefährliche Vorzugsrechte gewährte. Die Nation hatte mithin guten Grund
zur Klage, und ſie ſprach ihren Unwillen ſo entſchieden aus, daß die
Regierungen ſich ſchon nach zwei Jahren genöthigt ſahen, den unbe-
dachten Vertrag aufzukündigen. Alſo errang die öffentliche Meinung einen
erſten wohlverdienten Erfolg. Nirgends verrieth ſich ein Gefühl der Ueber-
hebung, obwohl es natürlich nicht an ſcharfen Ausfällen auf Mynheer und
die Politik des jusqu’ à la mer fehlte; überall nur das geſunde Selbſt-
vertrauen einer ſtarken Nation, die endlich Herr im Hauſe ſein wollte.
Der „Zuckerkrieg“ bewies, wie viel politiſches Urtheil und nationalen Stolz
dies Volk entfalten konnte, wenn ſich ihm nur ein ernſthafter Gegenſtand
darbot; er bewies auch, daß der Zollverein ſchon zu einer volksthüm-
lichen Macht geworden war, deren Wohl und Wehe Jeden berührte. Mit
gutem Grunde ſang damals Hoffmann von Fallersleben den Stiftern des
Zollvereins zu:
Selbſt den Gegnern begann allmählich einzuleuchten, daß eine ſo
ſtätig und ſicher erſtarkende Gemeinſchaft ſich nicht wieder auflöſen konnte.
Wie Oeſterreich ſeinen Kampf gegen den Zollverein in der Stille einſtellte,
ſo mußten auch die ſtolzen deutſchen Großbritannier lernen, mit der voll-
endeten Thatſache zu rechnen, obgleich ihr gefeierter Publiciſt Rehberg ſo-
eben noch zuverſichtlich erklärt hatte, der Zollanſchluß Sachſens an Preußen
ſei eine baare Unmöglichkeit. Der neue hannöverſche Steuerverein ver-
ſuchte eine Zeit lang den Schmuggel von Braunſchweig nach dem Zoll-
vereinsgebiete zu unterſtützen; doch auf Preußens entſchiedene Forderung
wurde der Unfug abgeſtellt,*) und bald fühlten beide Theile, daß ſie ſich
weit wohler befanden, wenn ſie einander gegenſeitig bei der Verfolgung
des Schleichhandels unterſtützten.
Schwerer gewöhnte ſich England an die neuen deutſchen Zuſtände.
Palmerſton äußerte ſich hoch entrüſtet über den Zollverein, als auch Frank-
furt ſich den Banden der britiſchen Handelspolitik entwand. Da erwiderte
ihm der befreundete Hamburger Syndicus Sieveking: an Alledem ſei
England ſelbſt mitſchuldig.**) In der That hatten die britiſchen Kornzölle
bei dem Ausbau der deutſchen Zolleinheit als unfreiwillige Bundesgenoſſen
kräftig mitgeholfen. Hätte England nach dem Befreiungskriege den ſchutz-
loſen deutſchen Staaten durch kluge Handelsverträge die Einfuhr ihrer
Naturerzeugniſſe erleichtert, ſo wäre der überlegenen britiſchen Induſtrie
wohl noch für lange Zeit die Herrſchaft auf dem [deutſchen] Markte ge-
ſichert, unſerem Gewerbfleiße die Selbſtändigkeit erſchwert worden. Der
[575]Mecklenburgiſch-franzöſiſcher Handelsvertrag.
Kornzoll bildete aber einen der Pfeiler, auf denen die alte ariſtokratiſche
Parlamentsherrſchaft ruhte. Er blieb beſtehen und belaſtete den deutſchen
Landbau ſchwer, den Getreidehandel insbeſondere durch die Wandelſcala;
da die Zollſätze ſich nach den Marktpreiſen veränderten und die Schiffe
noch ſehr langſam ſegelten, ſo konnte der deutſche Schiffer den Zoll für
ſeine Getreideladung nie voraus berechnen. Alſo verſagte die britiſche
Handelspolitik den Deutſchen das einzige werthvolle Zugeſtändniß, das ſie
ihnen bieten konnte, und hoffte gleichwohl die Handelsherrſchaft über
Deutſchland zu behaupten, indem ſie unſere Zwietracht ſchürte. Nun da
der günſtige Augenblick längſt verſäumt war, trat ihr plötzlich der unan-
greifbare neue nationale Handelsbund entgegen; die Deutſchen hatten ge-
lernt, ſich durch vereinte Kraft zu ſchützen, die Zeit der engliſch-deutſchen
Sonderbünde war dahin. Noch einmal verſuchten England und Frank-
reich ihr altes Spiel zu erneuern. Während der Zollconferenzen von 1839
erſchienen Palmerſton’s Agent Dr. Bowring und der vielgewandte fran-
zöſiſche Conſul Engelhardt aus Mainz als ungebetene Gäſte in Berlin,
um durch Lockungen und Verheißungen einige der kleinen Staaten, vor-
nehmlich Baden, gegen den Zollverein aufzuregen. Sie fanden aber eine
ſehr kühle Aufnahme, Bowring’s anmaßende Zudringlichkeit mißfiel all-
gemein, Beide mußten unverrichteter Dinge abziehen.*)
Nur Mecklenburg gab ſich noch zum Werkzeuge ausländiſcher Ränke
her, weil es in ſeinem Sonderleben verharren wollte, und ſchloß am
19. Juli 1836 mit Frankreich einen Handelsvertrag, der offenbar den Zweck
verfolgte, den franzöſiſchen Weinen einen einträglichen Schleichhandel nach
den benachbarten preußiſchen Provinzen zu ſichern. Die Vereinsregierungen
waren empört; König Ludwig ſchalt heftig auf die undeutſche Geſinnung
der Mecklenburger, auch Czar Nikolaus ließ in Schwerin ſeinen Unwillen
ausſprechen, weil er jede Annäherung an den Bürgerkönig verabſcheute.**)
Indeſſen gelang es durch ſorgſame Grenzbewachung die üblen Folgen des
Vertrags von dem Zollvereine abzuwenden. Es war nicht anders; die
Weſtmächte mußten ſich darein ergeben, daß ſie den deutſchen Handels-
bund nicht mehr auflockern, ſondern nur noch Macht gegen Macht mit
ihm rechnen konnten. Und wie ſchwer es hielt, von einem ſo vielköpfigen,
ſo mannichfaltige Intereſſen umſchließenden Vereine Zugeſtändniſſe zu er-
langen, das erfuhr England jetzt ſchon bei vertraulichen Vorverhandlungen.
Palmerſton ließ in Berlin unter der Hand die Ermäßigung der engliſchen
Holzzölle anbieten, falls der Zollverein ſeine Zölle auf Baumwoll-Waaren
herabſetze. Ein ſolcher Vorſchlag wäre früherhin, ſo lange Preußen allein
ſtand, ſicherlich angenommen worden; jetzt aber lautete die kühle Antwort:
[576]IV. 8. Stille Jahre.
die Ermäßigung der Holzzölle bringe zunächſt dem engliſchen Schiffbau
ſelber Vortheil, in Deutſchland nur den öſtlichen Provinzen Preußens,
und dieſen wolle man die Intereſſen der ſächſiſchen Baumwoll-Induſtrie
nicht aufopfern.*)
Alſo wuchs das neue Deutſchland kräftig heran, zum Schrecken aller
Mächte, die auf Mitteleuropas Schwäche zählten. Und doch war der
Beſtand des Zollvereins gerade in dieſen erſten Jahren ſeines fröhlichen
Aufblühens ernſtlich bedroht. Diesmal kam die Gefahr aus Preußen
ſelbſt. Das fiscaliſche Intereſſe, das durch den Idealismus der Politik
unleugbar ſchwer geſchädigt war, erhob ſich zur Abwehr. Die für Süd-
deutſchland ſo günſtigen Ergebniſſe der Zollvereinsabrechnungen brachten
den preußiſchen Staatskaſſen zunächſt nur Verluſte; die Vertheilung der
Einnahmen nach der Kopfzahl erwies ſich als eine offenbare Ungerechtig-
keit, zu Preußens Schaden. Preußens Zolleinnahmen betrugen im Jahre
1833 auf den Kopf der Bevölkerung 20 Sgr.; im folgenden Jahre, nach
der Gründung des Zollvereins ſanken ſie faſt um ein Viertel, auf 15½ Sgr.,
und erſt im Jahre 1838 wurde der frühere Satz annähernd wieder er-
reicht. In fünf Jahren einer unerhörten Verkehrsſteigerung erlitt Preu-
ßens Finanzverwaltung alſo nur Einbußen. Von den 12,18 Mill. Thlr.,
welche der Zollverein in ſeinem erſten Jahre unter die Bundesgenoſſen
vertheilte, warf Preußen allein 8,99 Mill. Thlr. ein, während Baiern nur
950,000, Württemberg nur 270,000 Thlr. an Reinertrag eingenommen
hatte. Und dies ungeheuerliche Mißverhältniß zwiſchen den Einnahmen
der Verbündeten ſteigerte ſich ſogar mit den Jahren. Bis zum Jahre 1840
wuchſen die Summen, welche Preußen zur Vertheilung einwarf, faſt um
die Hälfte, bis auf 12,95 Mill., während Baierns reine Einnahme ſich
nur auf 1,21 Mill. erhob, das Zolleinkommen Württembergs in den Jahren
1838—40 ziemlich gleichmäßig auf der Summe von 427,000 Thlr. verblieb.
Allein in dem verkehrsreichen Sachſen ſtiegen die Einnahmen noch ſchneller
als in Preußen, binnen ſieben Jahren von 1,07 auf 1,94 Mill. Thlr.;
die übrigen Vereinsſtaaten erhielten alleſammt von Preußen beſtändig
wachſende Auszahlungen.
Angeſichts dieſer Thatſachen ließ ſich gar nicht leugnen, daß Preußens
Staatshaushalt von den ſüddeutſchen Verbündeten beſtändig übervortheilt
wurde, wenngleich ein Theil der in Preußen verzollten Waaren ſpäterhin
nach dem Süden weitergehen mochte, und mithin eine genaue Abrechnung
unmöglich war. Miniſter Rother, der ſeit 1835 das Handelsamt als ein
ſelbſtändiges Miniſterium verwaltete, und die anderen geſtrengen Finanz-
männer der alten Schule fragten empört: ob jemals ein mächtiger Staat
ſolche Opfer gebracht habe für eine erhabene Idee? Wo waren denn die
erhofften politiſchen Vortheile des Zollvereins? Wer nur von oben hin
[577]Die Finanzpartei gegen den Zollverein.
ſah, konnte ſie nirgends entdecken; die Profeſſoren der Staatswiſſenſchaft
waren mit ihrem Urtheil längſt im Reinen und diktirten in ihren Colle-
gien alleſammt, der Zollverein ſei lediglich ein wirthſchaftlicher Bund, ohne
jede politiſche Bedeutung. Er verhinderte ja nicht, daß die Abſtimmungen
der Vereinsſtaaten am Bundestage oft ſehr weit auseinandergingen, daß
Preußen und Baiern während der kirchlichen Wirren ſich ſcharf befehdeten.
Bald ſchloß ſich Alvensleben der Meinung Rother’s an; desgleichen Schön
und Ladenberg, die alten eigenſinnigen Gegner der Ideen Eichhorn’s; dazu
endlich die reactionäre Partei am Hofe, die von deutſcher Politik überhaupt
nichts hören wollte.*) Sie Alle ſchalten auf den Süden, der ſo wenig
Colonialwaaren verzehrte, auf die Leipziger Meßprivilegien und den im
Erzgebirge noch immer blühenden Paſchhandel. Ueberall in Preußen, wo
man die volkswirthſchaftlichen Segnungen des Zollvereins nicht unmittel-
bar im eigenen Geſchäfte verſpürte, wurde die Klage laut: der großmüthige
König laſſe ſich von ſeinen ſüddeutſchen Freunden „auspumpen“. Auch der
junge Otto v. Bismarck theilte dieſe im Landadel weit verbreitete Anſicht.
Nach dem Rechnungsabſchluß vom Jahre 1834 erſtattete Alvensleben
dem Könige einen Bericht, der den alten Herrn tief verſtimmte. Der
Miniſter rechnete „wie ein guter Hausvater“ — ſo ſagten ſeine altmär-
kiſchen Verehrer — und deutete ſchon an, das ungünſtige Ergebniß des
Rechnungsjahres ſei allein dem Zollvereine zuzuſchreiben. Schon damals
war er entſchloſſen, den Zollverein verſuchsweiſe zu kündigen um beſſere
Bedingungen für Preußens Staatshaushalt zu erlangen.**) Der Kron-
prinz jedoch trat ihm mit warmer patriotiſcher Leidenſchaft entgegen, und
Kühne ſchrieb in Ranke’s Zeitſchrift eine Abhandlung „über den deutſchen
Zollverein“, welche die volkswirthſchaftliche Bedeutung des Handelsbundes
in das rechte Licht ſtellte. So ward die Gefahr für jetzt noch abgewendet.
Die Finanzpartei aber gab ſich nicht zufrieden; ſie klagte ganz ſo wie ſie
einſt über das neue Zollgeſetz von 1819 und den Untergang der einträg-
licheren alten Acciſe geklagt hatte. Der General-Steuerdirektor Kuhlmeyer
ſaß grimmig brütend über ſeinen Tabellen, und Alvensleben betheuerte:
„ich bin eher Preuße als Deutſcher.“ Im December 1839 überraſchte der
Miniſter die Vereinsregierungen durch eine Denkſchrift, welche ſich über
die Fortdauer des Zollvereins äußerte: zum mindeſten müſſe Preußen einen
anderen Maßſtab für die Vertheilung des Weinzolles verlangen, da der
ausländiſche Wein faſt ausſchließlich in Preußen verzehrt wurde, und des-
gleichen für die Vertheilung der Branntweinſteuer. Auch die junge Rüben-
zuckerinduſtrie wollte der hausväterliche Miniſter mit einer neuen Abgabe
belegen und die Steuer womöglich den Einzelſtaaten zuweiſen, weil nur
Preußen einen beträchtlichen Rübenbau beſaß.***)
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 37
[578]IV. 8. Stille Jahre.
Durch dieſe an ſich keineswegs unbilligen Forderungen wurde doch
das Daſein des Zollvereins ſelbſt bedroht; denn erlangte ein Staat Vor-
zugsrechte, ſo konnten ſie auch anderen nicht verweigert werden, und dann
ging die Grundlage dieſes Handelsbundes, die Gleichberechtigung ſeiner
Mitglieder verloren. Alvensleben fühlte ſelbſt was auf dem Spiele ſtand,
er lud den Sachſen Zeſchau und den Thüringer Gersdorff zu einer Unter-
redung ein, um mit ihnen über die mögliche Auflöſung des Vereins zu
verhandeln. Da faßte ſich Kühne ein Herz und widerlegte die Bedenken
der fiscaliſchen Sparer in einer beredten Denkſchrift „über die bisherigen
Erträge und Erfolge des Zollvereins“. Zum Glück war ſoeben der Rech-
nungsabſchluß für das Jahr 1838 erſchienen, der zuerſt wieder auch für
Preußen günſtig lautete und zu der Hoffnung berechtigte, daß die Aus-
fälle der letzten Jahre binnen Kurzem gedeckt ſein würden. Da der Miniſter
den erſten Fachmann des Zollvereins neuerdings über Zollſachen gar nicht
mehr befragte, ſo berieth ſich Kühne mit ſeinem Freunde Beuth und ließ,
allem bureaukratiſchen Brauche zuwider, ſeine Denkſchrift veröffentlichen. Im
Mai 1840, kurz vor dem Tode des alten Königs, überreichte er ſie dem Kron-
prinzen. Der aber ſprach dem ſonſt wenig geliebten liberalen Geheimen
Rathe ſeine herzliche Zuſtimmung aus: nimmermehr ſollte dies Werk
langjähriger Kämpfe, der erſte Anfang der praktiſchen deutſchen Einheit,
die beginnende Blüthe der nationalen Wirthſchaft durch fiscaliſchen Klein-
ſinn zerſtört werden. Alſo ließ ſich jetzt ſchon vorherſehen, daß der Zoll-
verein auch dieſe Kriſis überſtehen und der preußiſche Staat fortfahren
würde, der nationalen Handelspolitik ſchwere Opfer zu bringen. Auf den
Dank der Nation konnte er freilich nicht zählen. Die Zeitungen küm-
merten ſich noch wenig um ſtatiſtiſche Tabellen, und der liberale Philiſter
lebte nach wie vor des Glaubens, daß die pfiffigen Preußen vom Zoll-
vereine den Rahm abſchöpften.
Trotz der großen Fortſchritte dieſer Jahre blieb Deutſchland, den Weſt-
mächten gegenüber, noch immer ein armes Land. Der Zinsfuß ſtand
hoch, auf 4½ bis 5 Procent; größere Unternehmungen mußten ihre Capi-
talien oft aus England entleihen, wo ſie für 2½ bis 3 Procent zu er-
langen waren. Die Berliner Börſe war für das Ausland noch kaum
vorhanden; ſie handelte faſt ausſchließlich mit inländiſchen Pfandbriefen,
nur mit den ſpaniſchen Papieren wurde zur Zeit des Carliſtenkrieges eine
ſchwindelhafte Speculation getrieben. Der geſammte Verkehr mit dem
Auslande, zumal der überſeeiſche, hing noch, völlig ungeordnet, von tau-
ſend Zufällen ab. Wenn der alte Goethe ſeinem getreuen Carlyle ein
Käſtchen mit Geſchenken ſenden wollte, ſo mußte er oft Monate lang warten,
bis ein befreundeter Hamburger Rehder ein Schiff nach Edinburg ab-
gehen ließ; im Winter hörte dieſer Verkehr gänzlich auf. Und dazu die
ſchlechthin unberechenbaren Koſten. Wer ſich nicht vorſah, konnte Wunder
erleben. Im Jahre 1834 kaufte der ſächſiſche Conſul zu Neuyork im Auf-
[579]Deutſchlands Armuth.
trage ſeiner Regierung die neueſten Schriften über das amerikaniſche
Eiſenbahnweſen; die Bücher koſteten 17½ Thlr., als aber die Kiſte end-
lich über Havre in Sachſen anlangte, war ſie mit einer Frachtrechnung
von 265 Thlr. 18 Gr. 3 Pf. belaſtet. Der Schiffsverkehr des Zollvereins
unterlag jenen plötzlichen, räthſelhaften Schwankungen, welche immer das
Kennzeichen unfertiger Zuſtände ſind. Im Pillauer Hafen waren im
Jahre 1830 mehr als tauſend Schiffe ein-, und ebenſo viele ausgegangen;
dann ſank der Verkehr beſtändig, im Jahre 1834 liefen nur 354 Schiffe
ein, erſt gegen das Ende des Jahrzehnts wurde der frühere Stand wieder
erreicht. An den Odermündungen erſtarkte die Schifferei nach langem
Siechthum wieder, da die Getreideausfuhr nach England und Amerika zu-
nahm, und die Raubzüge der Barbaresken ſeit der Eroberung Algiers auf-
hörten. Bisher hatte der Stettiner Rehder ſeine Schiffe nie über Bor-
deaux hinaus gehen und ſie regelmäßig daheim überwintern laſſen; fortan
ſegelten ſie zur Winterszeit, Dank den Franzoſen, im ſicheren Mittelmeere.
Auf der Elbe fuhren ſeit 1837 Dampfſchiffe zwiſchen Magdeburg und
Hamburg; ſie beförderten aber blos Perſonen, Güter nur nebenbei, auch
die kräftig anwachſende rheiniſche Dampfſchifffahrt diente noch faſt aus-
ſchließlich dem Perſonenverkehre.
Jetzt, da das Verkehrsbedürfniß überall erwachte, empfanden die
Deutſchen ſehr ſchmerzlich, daß ihr Land in dem claſſiſchen Zeitalter der
Kanalbauten, im ſiebzehnten Jahrhundert ſo ganz verarmt und hilflos
dageſtanden hatte. Deutſchland beſaß keine Kanäle — mit einziger Aus-
nahme der Marken und ihrer öſtlichen Vorlande, denen die Thatkraft des
großen Kurfürſten und des großen Königs trotz der Ungunſt der Zeiten
einige brauchbare künſtliche Waſſerwege geſchenkt hatte. Der größte Theil
ſeines weiten Gebiets ſah ſich alſo allein auf den Wagenverkehr angewieſen,
und die Koſten der Verfrachtung auf der Achſe ſtellten ſich auch auf den
neuen Chauſſeen noch ſo hoch, daß umfängliche, ſchwer ins Gewicht fallende
Waaren, Steine, Kohlen, Holz, ſelbſt das Getreide im Binnenlande nur
auf kurze Entfernungen verſendet werden konnten. Das reiche Leipzig ent-
behrte noch immer der Bürgerſteige, weil man die ſchweren Granitplatten
aus den entlegenen Steinbrüchen nur zu unerſchwinglichen Preiſen her-
beizuſchaffen vermochte. Was frommten der Landwirthſchaft die befreien-
den Agrargeſetze, was der Zollverein, ſo lange ihre Erzeugniſſe vom großen
Verkehre faſt ausgeſchloſſen waren? Durch die Fortſchritte der Technik
war der Landbau längſt zu einem kunſtreichen Gewerbe geworden; und
der Sachſe F. G. Schulze vertrat bereits die Meinung, die der alte Thaer
noch bekämpft hatte, daß der große Landwirth akademiſcher Bildung be-
dürfe. Er gründete in Jena 1826, dann auf dem alten Kloſtergute Eldena
bei Greifswald, 1834, landwirthſchaftliche Lehranſtalten, die mit den be-
nachbarten Univerſitäten in Verbindung ſtanden. Der Sprit, den das
preußiſche Zollgeſetz von 1818 noch gar nicht kannte, galt jetzt ſchon für
37*
[580]IV. 8. Stille Jahre.
ein wichtiges Brennmittel, die Brennerei ward dem Großgrundbeſitzer ſchon
wegen der Schlempe und des Düngers unentbehrlich. Der Rübenbau
nahm zu, und Amtsrath Koppe zu Wollup im Oderbruch, ſeit Thaer’s
Tode wohl der erſte Landwirth Norddeutſchlands, erwies den Theoretikern
der Freihandelsſchule mit ſchlagenden Gründen, daß die Erzeugung eines
unentbehrlichen Genußmittels im eigenen Lande doch keine Künſtelei ſei,
ſondern eine wirkliche Vermehrung des Volksvermögens. Gleichwohl konnte
die durchgebildete Arbeitstheilung des Großbetriebs in die Landwirthſchaft
noch nicht recht eindringen. Jedes große Landgut bildete gleichſam einen
iſolirten Staat, der durch wohlberechneten Fruchtwechſel, durch die Ver-
bindung von Ackerbau und Viehzucht die verlorenen Bodenkräfte ſtets ſelber
neu zu erzeugen ſuchte. In dieſer Kunſt, ein Landgut durch ſich ſelber
zu unterhalten, war Koppe der anerkannte Meiſter. Für den großen
Markt zu arbeiten, einzelne Zweige der Landwirthſchaft mit virtuoſer Ein-
ſeitigkeit zu pflegen und die Dungſtoffe von auswärts herbeizuſchaffen,
ſchien ſelbſt dem unternehmenden Grundherrn unmöglich wegen der hohen
Frachtkoſten.
Und wie dürftig, eng, kleinſtädtiſch blieb noch immer die Induſtrie,
trotz der beſſeren Zeiten. An Stahl erzeugte ganz Preußen im Jahre
1826 nur 62,000 Ctr., an Gußſtahl 1832 gar nur 94 Ctr. Schienen
und andere Eiſenwaaren, die nur mit Cokes hergeſtellt werden konnten,
kamen aus England, weil die deutſchen Werke meiſt mit den Holzkohlen
aus den nahen Waldungen heizten und die Fracht für die Steinkohlen
nicht zu zahlen vermochten. Von Weſtphalens mächtigen Steinkohlenlagern
wurde, wieder wegen der Frachtkoſten, nur ein kleiner Theil ausgebeutet.
Im Bochumer Revier waren 130 Gruben im Betrieb, 400 ruhten; ſo
rechnete 1833 Friedrich Harkort, der beliebte Volksmann Weſtphalens.
Harkort ſelbſt leitete in Wetter an der Ruhr, Aſton in Magdeburg eine
große Maſchinenfabrik. Jedoch im Jahre 1837 beſaß Berlin erſt 29 Dampf-
maſchinen mit 392 Pferdekräften, ganz Preußen ihrer 419 mit 7355 Pferde-
kräften; das Wagniß der koſtſpieligen Anſchaffung erſchien auch muthigen
Gewerbtreibenden oft zu groß. Da und dort verſuchte man ſchon eine
Gewerbeausſtellung zu veranſtalten, aber wie ſchwach war die Theilnahme;
viele Fabrikanten trauten dem neuen Weſen nicht recht, die meiſten ſcheuten
ſich ihre Werke dem rückſichtsloſen öffentlichen Urtheil auszuſetzen. Die
Breslauer Ausſtellung von 1832 fand in einem Stockwerk eines mittel-
großen Hauſes genügend Raum, und der Ausſchuß beſtimmte 100 Thlr.
für den Ankauf der auserleſenen Prachtſtücke. Bis gegen das Ende des
Jahrzehnts merkte die Maſſe des Volks noch ſehr wenig von dem Nahen
einer neuen Zeit. Der Bauer ging dreimal jährlich in die Stadt auf
den Jahrmarkt um neue Stiefeln oder was an Werkzeug fehlte einzu-
kaufen; in der Tabaksbude fand er den Bedarf für ſeine lange Pfeife,
und nebenan hielt, mit der Schwammmütze auf dem Kopfe, der vom Volks-
[581]Die erſten Eiſenbahnen.
liede viel beſungene „arme Schwammmann“ ſeine Zündwaaren feil; dann
gab es noch Pulsnitzer, Thorner oder Braunſchweiger Pfefferkuchen für
die Kinder, und wenn es hoch herging, zeigten eine ſtarke Dame oder ein
Affe auf dem Kameel ihre Künſte. —
Erſt die Eiſenbahnen riſſen die Nation aus ihrem wirthſchaftlichen
Stillleben, ſie vollendeten erſt was der Zollverein nur begonnen hatte,
ſie griffen in alle Lebensgewohnheiten ſo gewaltig ein, daß Deutſchland
ſchon in den vierziger Jahren einen völlig veränderten Anblick darbot;
und immer wird es eine frohe Erinnerung unſeres Volkes bleiben, wie
raſch, thatkräftig, entſchloſſen dies arme, politiſch zerſplitterte Geſchlecht ſich
der weltumgeſtaltenden neuen Erfindung bemächtigte. Vieles traf zu-
ſammen, was den Deutſchen den Entſchluß erſchwerte. Vor wenigen
Jahren erſt hatte man die neuen preußiſchen Schnellpoſten wie ein Wun-
derwerk angeſtaunt; der Chauſſeebau war überall erſt im Gange; ganze
Landestheile, ſelbſt das reiche Vorpommern, entbehrten noch völlig der
Steinſtraßen. Dies neue Straßennetz auszubauen und mit Schnellpoſten
auszuſtatten, erſchien Allen als die nächſte Aufgabe; und ſie war ſchwierig
genug, da der Zollverein die Waarenzüge vielfach verändert, eine Menge
neuer Verkehrsbeziehungen geſchaffen hatte. Wer hätte es nicht für toll-
kühn halten ſollen, in einer ſolchen Zeit der wirthſchaftlichen Umwälzung
auch noch eine Erfindung einzuführen, welche den Poſtbetrieb völlig um-
zugeſtalten, die Chauſſeen zum alten Eiſen zu werfen drohte?
Nach der Eröffnung der Bahn von Liverpool nach Mancheſter (1826)
begannen in England wie in Nordamerika große Eiſenbahnbauten. Das
britiſche Parlament hielt ſich aber noch lange mißtrauiſch zurück: ſein
Comité erklärte es für „unzuläſſig, der Eiſenbahnen wegen Opfer zu
bringen oder das Nationalvermögen zu verſchleudern.“ Auf dem Conti-
nente ging Belgien voran. Hier lagen die Verhältniſſe ſehr einfach. Der
junge Staat bedurfte durchaus einer Bahn von Antwerpen nach dem
Rheine um ſeinen Scheldehafen gegen den Wettbewerb der feindſeligen
Holländer zu decken; da die reiche Bourgeoiſie die Kammern vollſtändig be-
herrſchte, die großen Städte alleſammt nahe bei einander lagen, auch der
Bau in der Ebene geringe Schwierigkeiten bot, ſo wurde ſchon 1834 ein
Staatsbahnſyſtem für das ganze Land, nach Stephenſon’s Plänen, be-
ſchloſſen. Die Franzoſen zauderten lange; ſelbſt der ſanguiniſche Thiers
meinte noch im Jahre 1830, eine Eiſenbahn könne höchſtens zum Spiel-
zeug für Großſtädter dienen. Nachher übernahmen ſie ſich in kühnen Ent-
würfen, jedoch die Corruption ihres Parlamentarismus verhinderte raſches
Gelingen. Die großen Geſellſchaften, die alleſammt von Paris aus nach
den Grenzen zu ihre Bahnen bauen wollten, durften während langer
Jahre keine Theilſtrecken eröffnen, weil die Regierung aus Furcht vor
den Wählern keinen Landestheil bevorzugen wollte. So geſchah es, daß
Frankreich noch in den vierziger Jahren nur eine Eiſenbahn beſaß, die
[582]IV. 8. Stille Jahre.
kleine Luſtbahn, welche die Pariſer in die Verſailler Gärten führte, und
erſt unter der Herrſchaft des dritten Napoleon ſeine großen Bahnlinien
eröffnen konnte, zu einer Zeit, da die deutſchen Hauptbahnen ſchon ſeit
einem Jahrzehnt im Betriebe waren. Deutſchland ſchritt in dieſem fried-
lichen Wettkampfe allen Völkern des Feſtlandes, mit der einzigen Aus-
nahme Belgiens, weit voran, dem centraliſirten Frankreich ſo gut wie dem
reichen Holland.
Schon im Jahre 1828 hatte Motz an eine Eiſenbahn zwiſchen den
Stromgebieten des Rheins und der Weſer gedacht, um alſo die hollän-
diſchen Rheinzölle zu umgehen*); der noch gänzlich unreife Plan ward
aber aufgegeben, ſobald die Niederlande in dem Zollſtreite zurückwichen.
Aus demſelben Grunde, um Holland zu bekämpfen, verlangte der weſt-
phäliſche Landtag 1831 eine Bahn von Lippſtadt nach Minden. Zwei
Jahre darauf forderte der rheiniſche Landtag eine Bahn von der belgiſchen
Grenze zum Rheine und zum Kohlenbecken der Ruhr, eine zweite von
Elberfeld nach dem Rheine; die Stände wünſchten, der Staat ſolle den
Bau entweder ſelbſt unternehmen, oder einer Aktiengeſellſchaft eine Ver-
zinſung von 4 % verbürgen. Größer gedacht war der Plan einer Bahn
von Köln nach Minden, welchen Friedrich Harkort in einer Druckſchrift
begründete und den weſtphäliſchen Ständen vorlegte. Aber wie konnte der
König in dieſem Augenblicke, da die Verhandlungen über den Zollverein
noch ſchwebten, ſich auf ſo weit ausſehende Entwürfe einlaſſen? Er er-
widerte den Rheinländern, ihr Handelsſtand würde, ſo hoffe er, ſelber die
Mittel für jene Bauten zu finden wiſſen. Unterdeſſen hatte der rührige
Unternehmer Gerſtner in Böhmen die Budweis-Linzer Eiſenbahn zu Stande
gebracht (1828); ſie diente jedoch lediglich der Abfuhr des Salzes aus dem
Salzkammergute, wurde nur mit Pferden betrieben und konnte als große
Verkehrsſtraße nicht benutzt werden. Eine Menge von Projecten tauchten
auf, alle noch ſo unklar und nebelhaft, daß ſelbſt der unternehmende ruſ-
ſiſche Finanzminiſter Cancrin zu Gerſtner ſpöttiſch ſagte: in hundert Jahren
werde für dergleichen wohl die Zeit kommen. Die Staatsmänner klagten
ſämmtlich über die tolle „Eiſenbahn-Manie“. Noch war man ja nicht ein-
mal über die techniſchen Vorbedingungen einig. Hauptmann v. Prittwitz
in Poſen, einer der tüchtigſten Ingenieure des deutſchen Heeres, empfahl
ſtatt des Stephenſon’ſchen Syſtems die Anlage „ſchwebender Eiſenbahnen“
in der Art der Drahtſeilbahnen. Vornehmlich ward bezweifelt, ob große
Bahnſtrecken in dem armen Deutſchland überhaupt einen Ertrag bringen
könnten; die Meiſten glaubten, nur zwiſchen nahe benachbarten größeren
Städten, wie Berlin und Potsdam, würde ſich die Unternehmung lohnen.
Mit feuriger Begeiſterung, wie er jeden neuen Gedanken ergriff,
wendete ſich König Ludwig von Baiern den Eiſenbahnplänen zu. Er beſaß
[583]Nürnberg-Fürther Eiſenbahn.
an dem Bergrath Joſeph v. Baader, dem Bruder des Philoſophen, einen
geiſtreichen Sachverſtändigen, der gern in kühnen Plänen ſchwelgte und
ſich ſelbſt den Veteran des deutſchen Eiſenbahnweſens nannte. Er ließ
ſich auch nicht beirren, als ſein Ober-Medicinal-Collegium ihm beweglich
vorſtellte, der Dampfbetrieb werde bei den Reiſenden wie bei den Zu-
ſchauenden unfehlbar ſchwere Gehirnerkrankungen erzeugen, und damit
mindeſtens die Zuſchauer Schutz fänden, müſſe der Bahnkörper mit einem
hohen Bretterzaune umgeben werden. Ludwig ſendete ſeinen Architekten
Klenze nach England, Belgien und Frankreich, um ſich über das Eiſenbahn-
weſen zu unterrichten, und hörte es gern, wenn ihm Feldmarſchall Wrede
von einem bairiſchen Kriegsbahnnetze ſprach, das in der Feſtung Ingolſtadt
ſeinen Mittelpunkt finden ſollte.*) Am ſtärkſten lockte ihn der Gedanke
einer großen Bahn von Lindau nach Hof, die ſich über Leipzig und Magde-
burg bis Hamburg fortſetzen, den Zollverein zuſammenhalten, Deutſch-
lands Hauptverkehr in die Richtung vom Norden nach dem Süden, von
der Elbe zum Bodenſee ablenken ſollte; ſo ſollte ſein Baiern die Vor-
hand im nationalen Handel erlangen. Er ließ deshalb ſchon in Berlin
anfragen, empfing aber zur Antwort nur warmen Dank und die Ver-
ſicherung, daß man den bairiſchen Vorſchlag reiflich erwägen werde.**) Von
einer Eiſenbahn zwiſchen Ulm und Augsburg wollte er freilich nichts hören;
ſie konnte den ſchwäbiſchen Nachbarn bedenkliche Vortheile bringen. Auch
einen Schienenweg zwiſchen Würzburg und Frankfurt fand er bedenklich:
das würde den Verkehr mit den gefährlichen Franzoſen zu ſehr erleichtern.
Nun gar der Plan einer Bahn zwiſchen dem Elſaß und der Pfalz, den ihm
der franzöſiſche Geſandte unabläſſig anempfahl, erweckte ſein patriotiſches
Mißtrauen; ſo nahe an die Mainzer Bundesfeſtung wollte er die Straß-
burger Garniſon nicht heran laſſen.***) Wichtiger als alle Eiſenbahnen
erſchien ihm doch der ſo lange geplante Ludwigskanal. Der große Ge-
danke, das Werk Karl’s des Großen zu vollenden, die Nordſee mit dem
Schwarzen Meere zu verbinden, übte auf ſein romantiſches Gemüth einen
unwiderſtehlichen Zauber; und als nun Rothſchild dienſtbefliſſen 8 Mill. fl.
Kanalaktien an der Börſe unterbrachte, auch der Landtag ſich dem könig-
lichen Lieblingsplane willfährig zeigte, da wurden die Eiſenbahnpläne über
der Fossa Carolina bald faſt vergeſſen.†)
Gleichwohl erlebte er die Genugthuung, daß in ſeinem Baiern die
erſte deutſche Dampfbahn eröffnet wurde, die Bahn von Nürnberg nach
Fürth, eine Strecke von einer Meile, die man mit Dampf in 15, mit
Pferden in 25 Minuten durchlaufen konnte. Sie war das Werk des
wackeren Nürnberger Bürgerthums. Joh. Scharrer brachte das Unter-
[584]IV. 8. Stille Jahre.
nehmen in Gang, Plattner verſchaffte das Aktien-Kapital von 175,000 fl.,
der Ingenieur Paul Denis leitete den Bau. Die Behörden zeigten ſich
wenig günſtig, weil ſie für den Ludwigs-Kanal fürchteten; die Ansbacher
Regierung kaufte nur zwei Aktien zu 100 fl. Erſt als die Unternehmer
auf den ſchlauen Gedanken kamen, ihren Schienenweg Ludwigsbahn zu
nennen, wurde die amtliche Welt etwas freundlicher. Groß war der Jubel,
als am 7. Dec. 1835 der erſte Bahnzug unter Kanonendonner abfuhr;
ein Denkſtein und ein Geſchichtsthaler verherrlichten „Deutſchlands erſte
Eiſenbahn mit Dampfwagen“. Aber mit dieſer kleinen, nur für Perſonen
beſtimmten Stadtbahn, die ſich bald mit 6 % verzinſte, war die Frage
nach der Möglichkeit großer Eiſenbahnen noch nicht beantwortet.
Alle dieſe wohlgemeinten Entwürfe waren doch nur auf das Wohl
einzelner Städte oder Landſchaften berechnet, und faſt ſchien es, als ſollten
die Deutſchen durch den Fluch ihres Particularismus verhindert werden,
die große Erfindung mit großem Sinne zu benutzen. Da trat Friedrich
Liſt hervor mit dem Plane eines zuſammenhängenden, ganz Deutſchland
umfaſſenden Eiſenbahnnetzes und zeigte durch die That, durch die glück-
liche Vollendung einer großen Bahnlinie, daß ſein den Durchſchnitts-
menſchen faſt unfaßbares Ideal ſich verwirklichen ließ. Als der Bahn-
brecher des deutſchen Eiſenbahnweſens erwarb er ſich ſein größtes Ver-
dienſt um die Nation, ſeine Stellung in der vaterländiſchen Geſchichte.
Als er vor Jahren für die deutſche Zolleinheit gearbeitet, hatte er doch
nur muthig ausgeſprochen, was die Mehrzahl der Zeitgenoſſen ſchon er-
ſehnte, und in der Wahl der Mittel vielfach fehlgegriffen; jetzt aber, mit
ſeinen Eiſenbahnplänen, eilte er allen Landsleuten weit voraus und be-
währte überall die geniale Sicherheit ſeines Seherblicks. Nach ſeiner Flucht
vom Hohenasperge hatte er mehrere Jahre in Nordamerika verbracht, und
dort, in den glücklichſten Zeiten der jungen Union, ging ihm ein neues
Leben auf; er ſah das gewaltige Ringen des Menſchengeiſtes mit der Macht
der Elemente, eine Kühnheit der Unternehmungsluſt, wovon ſein ſtilles
Vaterland ſich noch nichts träumen ließ; er ſah die vornehmſten und höchſt-
gebildeten Männer der Nation ihre beſte Kraft der Volkswirthſchaft wid-
men, was daheim im Lande der Gelehrten und Beamten ganz unmöglich
war. Derweil er in den Blauen Bergen nach Kohlenminen ſuchte, träumte
der arme Flüchtling von einem deutſchen Eiſenbahnſyſtem und ſagte: „Im
Hintergrunde aller meiner Pläne liegt Deutſchland.“
Zur Zeit der Juli-Revolution kehrte er zurück, ungaſtlich empfangen
von der alten Heimath. Der Hamburger Senat trug Bedenken, den ver-
rufenen Demagogen als amerikaniſchen Conſul anzuerkennen, die Kauf-
herren aber zuckten die Achſeln, als er von ſeinen Bahnplänen ſprach;
denn ſoeben hatte ihnen der Engländer Elliot bewieſen, in Deutſchland ſei
nur eine einzige Eiſenbahn möglich, die Bahn von Hamburg nach Han-
nover, und daß ein Deutſcher gegen einen Briten unmöglich Recht haben
[585]Liſt’s deutſcher Eiſenbahnplan.
konnte, verſtand ſich in dieſer Stadt der künſtlichen Engländer ganz von
ſelbſt. Bei König Ludwig klopfte er ebenſo vergeblich an; er ſuchte ihm zu
beweiſen, ein Kanal vermöge doch nur gegebene Punkte zu verbinden, wäh-
rend die Eiſenbahnen ein zuſammenhängendes Netz bilden könnten, auch
ſei die erſehnte Verbindung zwiſchen der Nordſee und dem Schwarzen
Meere ja ſchon längſt vorhanden, der beſte Weg führe durch die Straße
von Gibraltar. Zugleich arbeitete er unermüdlich für die Zeitungen und
nannte ſich ſelbſt gern Dr. Möſer den Jüngeren; ſeine Kunſt, ſchwere
volkswirthſchaftliche Fragen leicht, lebendig, anſchaulich zu behandeln, er-
innerte in der That an Juſtus Möſer’s ſchalkhafte Weiſe, nur daß be-
dem ſtreitbaren Schwaben die Leidenſchaft immer wieder durchbrach. Wenig
gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle an-
deren volkswirthſchaftlichen Publiciſten ſo weit wie ſein Landsmann Paul
Pfizer die politiſchen. Die herrſchende abſtrakte Freihandelsdoctrin, die
ſich gleich der Naturrechtslehre einen durch Naturgeſetze bedingten Normal-
zuſtand der Volkswirthſchaft conſtruirte, ward ihm immer verhaßter. Er
begann ſchon das wirthſchaftliche Leben hiſtoriſch zu betrachten, wie Savigny
das Recht, und ſuchte die Geſetze der Volkswirthſchaftspolitik aus den wech-
ſelnden ſocialen Zuſtänden abzuleiten.
Ein gütiges Geſchick führte ihn endlich nach Leipzig, eben in dem
Augenblicke, da die Bürgerſchaft dem Anſchluß an den Zollverein entgegen-
ſah und, ohne Waſſerſtraßen wie ſie war, ängſtlich nach neuen Verkehrs-
wegen ſuchte. Hier oder nirgends, das ſah er auf den erſten Blick, mußte
der Grundſtein des deutſchen Eiſenbahnſyſtems gelegt werden; wenn hier
mit den Capitalien der bedrängten reichen Handelsſtadt eine große Ver-
kehrsbahn entſtand, ſo konnte ihr in dem gewerbreichen Lande der Erfolg
nicht fehlen, und der Anſchluß neuer Bahnen nach dem Norden und Weſten
ergab ſich dann faſt von ſelbſt aus Leipzigs centraler Lage. Die wohl-
wollende ſächſiſche Regierung geſtattete ihm den Aufenthalt, unbekümmert
um die Warnungen der Wiener Hofburg und des unverſöhnlichen Königs
von Württemberg.*) Sofort ließ er nun ſein Büchlein „über ein ſächſiſches
Eiſenbahnſyſtem als Grundlage eines allgemeinen deutſchen Eiſenbahn-
ſyſtems“ (1833) erſcheinen. In großen Zügen entwarf er hier, mit wunder-
barem Scharfblick faſt überall das Rechte treffend, ein Bild von dem
Eiſenbahnweſen der Zukunft: Lindau und Baſel, Bremen und Hamburg,
Stettin, Danzig und Breslau ſollten vorläufig die Endpunkte des deut-
ſchen Bahnnetzes bilden, ganz wie es ſich nachher erfüllte. In Berlin,
das er nur oberflächlich kannte, ſah er doch ſchon den Mittelpunkt des
deutſchen Verkehrs; ſechs große Bahnlinien, die alleſammt ſpäterhin ge-
baut worden ſind, wollte er dort einmünden laſſen. Sein Plan galt nur
dem Zollvereine und deſſen Vorlanden; Oeſterreich ließ er, mit Ausnahme
[586]IV. 8. Stille Jahre.
der einen Linie Dresden-Prag, vorläufig unberückſichtigt, weil er einſah,
daß dort ganz eigenartige Verhältniſſe vorlagen.
Durch dieſe Schrift wurden vier unternehmende junge Leipziger Kauf-
leute für den Plan der Leipzig-Dresdner Eiſenbahn gewonnen: Wilhelm
Seyfferth, A. Dufour-Feronce, C. Lampe und der Bruder des weſtphäli-
ſchen Volksmannes, Guſtav Harkort. Sie veranſtalteten eine Verſamm-
lung, dann eine Eingabe an die Regierung, und König Friedrich Auguſt
ging gütig und einſichtig auf die Pläne ein. Nun erließ Liſt einen feu-
rigen Aufruf zur Betheiligung an dieſer „Nationalangelegenheit“. Mit
der Begeiſterung des Reichsſtädters redete er von der neuen Blüthezeit,
die unſeren alten Städten jetzt kommen werde; ſeit dem glücklich voll-
endeten Zollvereine bedürften die Deutſchen nur noch des wohlfeilen und
ſchnellen Transports „um ſich auf die Stufe der gewerbfleißigſten Nationen
der Erde emporzuſchwingen“. Für das Comité, das ſich nunmehr bildete,
erſtattete Liſt dem Publikum fortlaufende Berichte, und hier ſprach er ſchon
zuverſichtlich aus, was den Meiſten noch wie Wahnſinn klang: „die Eiſen-
bahnen müſſen auf den großen Routen zum ordinären Transportmittel
werden.“ Er meinte ſogar hoffnungsvoll, die Eiſenbahnen würden die
ſtehenden Heere beſeitigen oder vermindern. Glücklicherweiſe unterſchätzte
man beträchtlich die Koſten, ſonſt wäre das Wagniß in der armen Zeit
ſchwerlich begonnen worden. Liſt, der wie alle Prophetennaturen von aben-
teuerndem Leichtſinn nicht frei war, meinte mit einer halben, höchſtens mit
einer Million Thaler auszukommen. Das vorſichtigere Comité gab für
1½ Mill. Aktien aus und mußte ſich bald überzeugen, daß man der drei-
fachen Summe bedurfte. Mittlerweile war aber das Unternehmen ſchon
weit gefördert, Niemand wollte mehr zurück, und auch „die Drillinge“
fanden jetzt Abnehmer.
Liſt empfahl den geraden Weg über Meißen durch das ſchöne volk-
reiche Bergland der Mulde; ein engliſcher Ingenieur J. Walker warnte
jedoch vor den Schwierigkeiten einer Gebirgsbahn, und man wählte den
Umweg durch die Ebene über Rieſa, weil man der jugendlichen deutſchen
Technik nicht zu viel zumuthen wollte. Dann begann das ſchwere Werk
des Bodenankaufs, das der Staat durch ein verſtändiges, den Vorſchlägen
Liſt’s entſprechendes Enteignungsgeſetz erleichterte. Zahlloſe Proceſſe mußten
überſtanden werden. Ein Windmüller klagte, weil ihm die Bahn den
Wind abfange, ein anderer, weil ſie die Ackerflur ſeiner Bauern und da-
durch ſeinen Verdienſt geſchmälert habe; in einigen Dörfern leiſtete das
Landvolk ſogar thätlichen Widerſtand. Unterdeſſen leitete Hauptmann
Kunz den Bau umſichtig und thatkräftig. Eine Lokomotive, der Komet,
wurde in England angekauft und eine Weile für Geld zur Schau geſtellt;
auch der Wagenbauer und der erſte Lokomotivenführer kamen aus Eng-
land. Im April 1837 konnte endlich die erſte Strecke von Leipzig nach
einem nahen Dorfe befahren werden; dicht gedrängt ſtanden die Maſſen
[587]Der Telegraph.
zu beiden Seiten der Bahn, kein lautes Wort ließ ſich hören, ſo ſchreck-
haft wirkte der unerhörte Anblick. Dann mußte „der Einſchnitt“ bei
Machern ausgeſchaufelt werden, durch eine Bodenwelle, welche der Rei-
ſende heute kaum bemerkt; von weither kamen die Fremden, auch der
länderkundige Frhr. v. Strombeck um das Wunderwerk zu betrachten und
gründlich zu beſchreiben. Der ſchwierigſte Kunſtbau der Bahn, der Tunnel
bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute ganz nach Bergmanns-
brauch wie ein Stollen von vier niedergeſenkten Schachten aus in An-
griff genommen; als Alles beendet war, bildeten die Knappen in ihrem
Paradeanzug, mit Fackeln in der Hand, im Tunnel Spalier, um den
erſten durchbrauſenden Zug mit dem alten Glückauf-Ruf des Erzgebirges
zu begrüßen.
„Die Herrſchaft des Geiſtes über die materielle Welt ſchreitet mit
einer ſtets beſchleunigten Kraft vorwärts“, ſo ſchrieb damals Babbage, der
Theoretiker des engliſchen Maſchinenweſens. Ein techniſcher Fortſchritt
folgte dem andern. Im Jahre 1839 brachte Hoſſauer das erſte Daguer-
reotyp aus Paris in den Berliner Gewerbeverein; es war der beſcheidene
Anfang einer neuen culturfördernden Induſtrie. Die eigenthümliche Wage-
luſt des Jahrhunderts trat immer zuverſichtlicher auf, hoffnungsvoll ſah
das heranwachſende Geſchlecht einer unermeßlichen Zukunft entgegen. Der-
weil die Deutſchen ſich noch an ihrer erſten großen Eiſenbahn abmühten,
verſuchte ſchon eine andere folgenſchwere Erfindung, die deutſche Erfindung
der elektro-magnetiſchen Telegraphie ſich Raum zu ſchaffen. Das alte
optiſche Telegraphenweſen hatte in Preußen während der jüngſten Jahre
eine hohe Ausbildung erlangt. Auf eine Anfrage aus Berlin traf die
Antwort aus Coblenz ſchon binnen vier Stunden ein, freilich nur bei
hellem Wetter. Wenn das hohe Balkengerüſte auf dem Thurmhauſe
in der Dorotheenſtraße einmal den ganzen Tag hindurch ununterbrochen
ſeine räthſelhaften Bewegungen ausführte, dann meinten die Berliner be-
denklich, die Zeiten würden ſchlimm. Aus Petersburg konnten die Nach-
richten durch den Telegraphen und durch Kuriere in fünfzig Stunden be-
fördert werden, und man hoffte noch auf größere Beſchleunigung, da der
Czar ſoeben bei Fraunhofer in München 450 Fernröhre für die ruſſiſchen
Telegraphen beſtellt hatte. Aber der optiſche Telegraph diente ausſchließlich
den Behörden. Ein raſcher Nachrichtendienſt für den allgemeinen Gebrauch
ward erſt möglich, als der junge Wilhelm Weber nach Göttingen kam
und Gauß entzückt ausrief: der Stahl ſchlägt auf den Stein. Der Phy-
ſiker und der Mathematiker verfolgten ſelbander die geniale Entdeckung
Sömmering’s weiter*); ſie verbanden den elektro-magnetiſchen Apparat ihrer
Sternwarte durch einen 3000 Fuß langen Draht, über den Thurm der
Johanniskirche hinweg, mit dem Phyſikaliſchen Cabinet (1833). Ein echt
[588]IV. 8. Stille Jahre.
deutſches Bild: dieſe gewaltige Erfindung zuerſt in einer ſtillen Gelehrten-
ſtadt, deren behäbige Bürgerſchaft ſich vom Welthandel gar nichts träumen
ließ! Die beiden Gelehrten behaupteten, ihr Telegraph müſſe auch auf
weite Entfernungen, Länder und Völker verbindend, mit der gleichen Sicher-
heit wirken, und Wilhelm Weber erbot ſich (1836), neben der Leipzig-
Dresdener Bahn, zunächſt bis Wurzen, eine Drahtleitung anzulegen; die
Koſten des Verſuchs ſchätzte er auf 2000 Thlr. Das ſparſame Comité
wollte aber eine ſolche Summe nicht an einen zweifelhaften Erfolg wagen.
So blieb die deutſche Erfindung liegen, bis die Amerikaner nach Jahren
ſich ihrer bemächtigten und ſie dem Weltverkehre dienſtbar machten.
Am 7. April 1839 wurde die ganze Bahn eröffnet, und noch lange
erzählte ſich das Volk von den Abenteuern dieſer erſten Fahrten. Auf
einer Station war ein Leipziger Student mitſammt einem unbezahlten
Glaſe Bier dem Kellner hohnlachend davongefahren; in dem gefürchteten
Tunnel pflegten die Damen reiferen Alters eine Stecknadel zwiſchen die
Lippen zu nehmen, um ſich gegen die Liebkoſungen ausſchweifender Jüng-
linge zu ſichern. Vorſichtige Aerzte wollten von der Tunnelfahrt, die faſt
eine Minute währte, überhaupt nichts hören; ſie befürchteten, bei dem
plötzlichen Luftwechſel müſſe ältliche Leute der Schlag rühren, und aller-
dings waren die Wagen der dritten Klaſſe noch unbedeckt, die der zweiten
ohne Fenſter. Daß die Schienen und die Räder durch die ungeheure
Reibung nothwendig in Brand gerathen müßten, war die allgemeine An-
ſicht; erſt die vollendete Thatſache ſchlug alle Befürchtungen zu Boden.
Der Erfolg übertraf die kühnſten Erwartungen. Erſtaunlich wie dieſe
erſte große Eiſenbahn auch auf den benachbarten Landſtraßen Mittel-
deutſchlands ſofort die Reiſeluſt belebte; im Jahre 1828 beherbergten die
Dresdener Gaſthöfe 7000 Fremde, in den erſten drei Vierteljahren 1839
bereits 36,000. Schon in ihrem erſten Jahre beförderte die Bahn 412,000
Perſonen und 3,85 Mill. Meilen-Centner. Im zweiten Jahre ſank der
Perſonenverkehr um ein Geringes, weil ſich die erſte Neugierde etwas
gelegt hatte; der Güterverkehr aber ſtieg mit einer ganz ungeahnten
Schnelligkeit. Anfangs waren viele Frachtfuhrleute noch gemächlich auf
der Landſtraße neben dem Dampfwagen hingefahren, weil die Spediteure
die Koſten des Umladens ſcheuten. Erſt ſeit die Bahn Anſchlüſſe erhielt
und die Anfuhr zu den Bahnhöfen erleichterte, riß ſie auch den Güter-
verkehr an ſich, und nach einer Reihe von Jahren ergab ſich, daß ſie von
den Gütern mehr einnahm als von den Perſonen. Dies widerſprach allen
Vorherſagungen; hatte doch ſelbſt der berühmte Arago verſichert, eine Eiſen-
bahn könne vielleicht Perſonen, doch unmöglich große Gütermaſſen befördern.
Leider erlebte Liſt an dieſem Triumphe ſeiner Ideen wenig Freude.
Es giebt einſame Genies, die wohl durch ſchöpferiſche Gedanken ihre Nation
erwecken und erheben können aber nicht fähig ſind, mit ihrer vollſaftigen
urſprünglichen Kraft in dem alltäglichen kleinen Getriebe des öffentlichen
[589]Leipzig-Dresdener Eiſenbahn.
Lebens mitteninne zu wirken. Ihnen fällt meiſt ein tragiſches Loos. Wie
einſt ſeinen Genoſſen in der württembergiſchen Kammer, ſo wurde Liſt
auch dem Leipziger Eiſenbahn-Comité bald läſtig. Die Männer des Comités
waren durchweg tüchtige, und keineswegs engherzige Geſchäftsleute, aber
ſie dachten zunächſt an die Intereſſen ihrer guten Stadt, und wenn Liſt
in den Generalverſammlungen von der großen Eiſenbahn Prag-Hamburg
zu reden begann, ſo befürchteten ſie, nicht mit Unrecht, er werde die ängſt-
lichen Philiſter abſchrecken. Der frohmuthige Mann bot, wenn er mit
mächtigem Lachen ſeinen Löwenkopf ſchüttelte, ein Bild urkräftigen Be-
hagens; doch zuweilen überfiel ihn eine furchtbare Hypochondrie, und dann
war mit ſeiner unbändigen Grobheit kaum auszukommen. Alſo ſchob
man ihn leiſe zur Seite und fand ihn ab mit einem Ehrengeſchenke von
etwa 4000 Thlr., ohne ihm auch nur einen Antheil an den Aktien zu
gewähren. Die braven Leipziger Kaufleute glaubten damit durchaus nicht
kleinlich zu handeln; verfuhren ſie doch ſelber höchſt uneigennützig, ihre
vier Direktoren bezogen 750 Thlr. Gehalt, ihr Präſident 1500. Jenem
Engländer freilich, der ihnen den Weg durch die Ebene empfahl, zahlten
ſie für ſeine kurze Reiſe faſt 7000 Thlr.; denn daß ein Brite höher ge-
lohnt werden müſſe als ein Deutſcher, bezweifelte in dieſen fremdbrüder-
lichen Tagen Niemand. Wie viel Unfug ſtiftete doch die deutſche Auslän-
derei auch im Eiſenbahnweſen an. Nur aus Nachahmungsluſt wurde die
allzu ſchmale Spurweite der Stephenſon’ſchen Bahn von der Leipzig-
Dresdener Geſellſchaft und nachher, zum Schaden für die Nerven der
Reiſenden, auch von den anderen deutſchen Bahnen angenommen. Und
welche Fluth von franzöſiſchen oder franzöſiſch klingenden Wortungethümen
drang jetzt in unſere Sprache ein, die doch gerade hier ihre ſchöpferiſche
Kraft erproben konnte. Die Deutſchen hatten im Eiſenbahnweſen von
den Franzoſen nichts zu lernen, ſondern ſchritten ihnen voran; und doch
redeten ſie von der Compagnie, ihren Billet-Expeditionen und Conduc-
teuren, von Perrons, Waggons, Coupés und Extra-Convois; es war leider
die Zeit, da das Junge Deutſchland die Zeitungsſprache von Grund aus
verwälſcht hatte.
Unerbittert durch ſeine Leipziger Erfahrungen arbeitete Liſt raſtlos
weiter. Er gründete ein Eiſenbahn-Journal, das ſich freilich nicht lange
halten konnte, weil es in Oeſterreich verboten wurde, und zwang durch
ſein Beiſpiel die Preſſe, auf die ſo lange vernachläſſigten volkswirthſchaft-
lichen Fragen gründlich einzugehen. Um ſeiner Bahn die Fortſetzung nach
Norden zu ſichern, begab ſich Liſt 1835 nach Magdeburg, und die Kauf-
mannſchaft, die erſt vor ſechs Jahren alle Eiſenbahnpläne abgewieſen
hatte, nahm ihn jetzt mit offenen Armen auf; Allen voran der wackere
Oberbürgermeiſter Francke, einer der angeſehenſten Bürger der Monarchie,
denn wie im Süden die Abgeordneten, ſo galten im Norden die Gemeinde-
beamten, Kospoth in Breslau, Bärenſprung in Berlin, Demiani in Görlitz,
[590]IV. 8. Stille Jahre.
als die eigentlichen Volksmänner. Die Magdeburger rühmten ſich: unſere
Eiſenbahn nach Leipzig wird die erſte Bahn der Welt ſein, welche die
Grenzen verſchiedener Staaten durchſchneidet! Francke trat an die Spitze
eines Ausſchuſſes und ſendete nach Berlin eine Eingabe, welche das Mini-
ſterium zwang, die Eiſenbahnfrage ernſtlich ins Auge zu faſſen. So
brachte Liſt auch in Preußen die Kugel ins Rollen.
Mehrere andere Anfragen lagen bereits vor, wegen der Bahnen
Berlin-Potsdam, Köln-Aachen, Düſſeldorf-Elberfeld, Düſſeldorf-Minden,
Berlin-Stettin, und es ließ ſich jetzt ſchon erkennen, daß der preußiſche
Verkehr vornehmlich einer raſcheren Verbindung des Oſtens mit dem
Weſten bedurfte; die von Baiern befürwortete nord-ſüdliche Linie erſchien
zunächſt noch minder dringend. Miniſter Rother aber konnte zu keinem
der Entwürfe ein Zutrauen faſſen. Während faſt Jedermann noch glaubte,
die Eiſenbahnen ſeien Wege wie andere auch, für Alle benutzbar, und
könnten den Unternehmern nur ein hohes Wegegeld einbringen, erkannte
der welterfahrene Bankdirector ſogleich, daß die Eiſenbahngeſellſchaften das
geſammte Transportgeſchäft auf ihren Linien an ſich reißen würden; ein
ſolches Vorrecht wollte er Privatgenoſſenſchaften nicht gewähren, er fürchtete
den Mißbrauch des Monopols und einen ſchlimmen Aktienſchwindel. Aber
auch der Staatsbau ſchien ihm nicht rathſam, denn er bezweifelte noch
die Einträglichkeit der Eiſenbahnen und hielt den Staat für verpflichtet,
weder die Poſt noch die beſtehenden Land- und Waſſerſtraßen zu ſchädigen.
Sogar politiſche Beſorgniſſe ſtiegen ihm auf: durch die Bahnen nach dem
Rhein, nach Baiern, nach Belgien werde Preußen vom Auslande ab-
hängig. Daher ſchloß er ſeinen Bericht an den König mit der Erklärung:
„die Staatsregierung hat jetzt noch keine Veranlaſſung, Eiſenbahnen, welche
als Handelsſtraßen dienen ſollen, auf eigene Koſten anzulegen, durch Be-
theiligung mit verhältnißmäßig anſehnlichen Summen zu unterſtützen oder
ihnen andere namhafte Opfer zu bringen und Vorrechte einzuräumen.“*)
Verhielt ſich Rother nur kühl zuwartend, ſo trat der Generalpoſt-
meiſter Nagler als entſchiedener Feind der Eiſenbahnen auf. Er hatte ſeit
Jahren das Poſtweſen mit glänzendem Erfolge ausgebildet und hoffte für
Seiner Majeſtät Fahrpoſt noch Größeres zu erreichen; was konnte er in
dieſer neuen Erfindung anderes ſehen als eine ſchnöde Gewerbsbeeinträch-
tigung? Auch das ſtrenge Rechtsgefühl des Beamtenthums erhob mannig-
fache Bedenken. Nach dem Geſetze ſollte die Enteignung nur ausnahms-
weiſe, um des öffentlichen Wohles willen, zugelaſſen werden; für die Chauſſeen
und für ſolche Eiſenbahnen, welche den Staatszwecken dienten, wie etwa
für die Magdeburg-Leipziger, konnte man ſie alſo mit gutem Gewiſſen be-
nutzen, ſo meinten die alten geſtrengen Richter. Aber war es ſtatthaft,
das Expropriationsrecht auch der geplanten Berlin-Potsdamer Bahn zu
[591]Berathungen über das preußiſche Eiſenbahngeſetz.
verleihen, die doch nur den frivolen Zweck verfolgte, den Berlinern das
Luſtwandeln in den Potsdamer Gärten zu erleichtern?*) Der König ſelbſt
zeigte ſich den Eiſenbahnen anfangs abgünſtig; er war zu alt um ſich noch
für eine Erfindung zu erwärmen, welche die Freude ſeiner letzten Jahre,
den Chauſſeebau zu ſtören drohte. Auch der durchaus demokratiſche Cha-
rakter dieſes neuen Verkehrsmittels kam ihm ungelegen. Seit Jahrtau-
ſenden hatte das ſchnelle Reiſen für ein natürliches Vorrecht der Fürſten
und der Ariſtokratie gegolten; und dieſe uralten Sitten ſollten ſich jetzt
mit einem Schlage ändern! So ſchlicht bürgerlich er auch dachte: daß er
mit ſeinen Berlinern zuſammen in demſelben Zuge nach Potsdam fahren
ſollte, ſchien ihm doch ſehr unanſtändig.
Der Thronfolger dagegen ſchwärmte für die Eiſenbahnen, noch weit
feuriger ſogar als ſein Schwager König Ludwig. Es zählte zu den vielen
Räthſeln dieſes ſo ſeltſam gemiſchten reichen Geiſtes, daß der Kronprinz
die nüchternen Angelegenheiten der Volkswirthſchaft, die ſeiner romantiſchen
Weltanſchauung ſo fern zu liegen ſchienen, immer mit beſonderem Eifer
verfolgte und überraſchend richtig beurtheilte. Wie er den Zollverein ſtets
gegen die Sparſamkeit der Finanzpartei vertheidigt hatte, ſo glaubte er
auch feſt an die große Zukunft der Eiſenbahnen; er wollte die Bahnen am
liebſten von Staatswegen bauen oder doch die Privatbahnen durch Zins-
garantien, durch die erleichterte Enteignung und andere Vorrechte unter-
ſtützen. Da der Thronfolger ſo ſtürmiſch drängte und die Anfragen der
Eiſenbahngeſellſchaften ſich mehrten, ſo befahl der König eine gründliche
Berathung über ein umfaſſendes Eiſenbahngeſetz, das die Stellung der
Staatsgewalt zu der neuen Erfindung endgiltig regeln ſollte.
Die Verhandlungen währten ſehr lange. Eine Commiſſion aus Räthen
aller Miniſterien ward gebildet; der Kriegsminiſter ſendete einen ſeiner
beſten Offiziere, den gelehrten Oberſt Peucker. Dann berieth das Staats-
miniſterium, endlich noch der Staatsrath. Der Streit ward ſehr lebhaft;
die alten Miniſter hegten Zweifel, die jüngeren, Rochow, Mühler, Alvens-
leben hielten zu dem Kronprinzen, weil ſie der Zukunft vertrauten. Es kam
ſo weit, daß Rother nach einem heftigen Wortwechſel mit dem Thronfolger im
April 1837 die Leitung der Handelspolitik niederlegte. Er beſchränkte ſeine
Thätigkeit fortan auf die Seehandlung und auf die Bank, die er ſeit
Frieſe’s Abgang übernommen hatte; das Handelsamt wurde wieder mit
dem Finanzminiſterium vereinigt.**) Der Gegenſtand war noch ſo neu,
ſo unberechenbar, ſo gänzlich unerprobt, daß Niemand ſich einen Sach-
kenner nennen durfte, und die tüchtigſten Männer in ihren Meinungen ſehr
weit aus einander gingen. Der geniale Beuth, der doch noch in ſeinen
[592]IV. 8. Stille Jahre.
beſten Jahren ſtand und ſonſt jeden techniſchen Fortſchritt mit Feuereifer
begünſtigte, betrachtete die Eiſenbahnen ſehr mißtrauiſch. Ihr erklärter
Gegner aber war General Aſter, der erſte militäriſche Ingenieur des Zeit-
alters, obwohl er doch ſelbſt bei ſeinen Feſtungsbauten ſchon oft kleine Eiſen-
bahnen in Betrieb geſetzt hatte. Er meinte: „die Eiſenbahnen halten wegen
der Koſtbarkeit der Anlage und einer ziemlichen Ausſchließlichkeit des Ge-
brauchs mit anderen weit wohlfeileren und in ihrer Anwendung theilbaren
Erfindungen, wie z. B. Buchdruck und Schießpulver, den Vergleich nicht
aus.“ Militäriſch brauchbar ſeien ſie nur dort, „wo zufällig die Wege
für den Krieg mit denen für die Induſtrie angelegten Bahnen zuſammen-
paſſen;“ ein Eiſenbahnnetz nütze militäriſch nichts, weil es von der leiden-
den Partei bald außer Betrieb geſetzt würde, auch der aktiven Partei zu
wenig Sicherheit gewähre; und woher ſollten die Mittel kommen, um die
zerſtörten Eiſenbahnen nach dem Kriege wieder herzuſtellen?*) Savigny
erwiderte dem General — wohl nicht ohne Zuthun des Kronprinzen,
der wieder von Kühne Rathſchläge empfing: man beabſichtige lange, un-
unterbrochene Eiſenbahnlinien, etwa von Berlin zum Rheine, und dieſe
würden einem im Weſten kämpfenden Heere ſicherlich Vortheil bringen.**)
Mit der ganzen Feierlichkeit ſeiner Amtsmiene trat Nagler für ſein
bedrohtes Poſtweſen ein und verſicherte: „das gänzliche Lostrennen und
Emancipiren eines höchſt beſchränkten und untergeordneten Communications-
mittels — der Eiſenbahnen — von einer Staats-Inſtitution wie die Poſt,
welche die wichtigſten Zweige der Communication für das Ganze leitet
und fördert, kann nur höchſt nachtheilig ſein und muß den richtigen
Standpunkt ganz verrücken.“***) Noch einmal, in einer großen Denkſchrift
legte er dem Könige ans Herz, „daß das Poſtintereſſe den Eiſenbahn-
Unternehmungen nicht aufgeopfert werden dürfe.“†) Noch langen Kämpfen
begannen ſich die Meinungen doch zu klären. Den Staatsbau empfahl
unter den hohen Beamten Niemand, obgleich David Hanſemann noch
während der Berathungen in einer beredten Flugſchrift dringend vor den
Gefahren der Privat-Eiſenbahnen warnte. Ein ſolches Wagniß erſchien
zu groß für die beſchränkten Finanzen. Darum ward auch die ſchwere
Frage, ob die Krone ohne Reichsſtände große Anleihen aufnehmen könne,
für jetzt noch gar nicht erwogen. Andererſeits wollte der König auch nicht
den Privatgeſellſchaften ein gemeinſchädliches Monopol gewähren; er er-
klärte ausdrücklich: „daß ſie zu ewigen Zeiten im Genuß der ihnen ein-
geräumten Vorrechte verbleiben, iſt weder beabſichtigt noch zuläſſig.“††)
[593]Das preußiſche Eiſenbahngeſetz.
Aus ſolchen Erwägungen entſtand, noch bevor die erſte große deutſche
Eiſenbahn vollendet war, das preußiſche Eiſenbahngeſetz vom 3. Nov. 1838,
eines der letzten denkwürdigen Werke des alten Beamtenſtaates, ein Geſetz,
das zur Regelung ganz unbekannter Verhältniſſe beſtimmt war und doch
ein halbes Jahrhundert voll ungeahnter Wandlungen lebenskräftig über-
dauert hat.*) Seine Stärke lag darin, daß die Staatsgewalt ſich ein ſehr
weit ausgedehntes Aufſichtsrecht über die Privatbahnen, auch die Möglich-
keit eines künftigen Staatseiſenbahnſyſtems vorbehielt und doch ſich weislich
hütete, durch gehäufte Einzelvorſchriften einer noch nicht überſehbaren Ent-
wicklung vorzugreifen. Alle Eiſenbahnen unterlagen der königlichen Geneh-
migung, desgleichen im Einzelnen die Bahnlinie, der Bau der Bahn und
ſeine Friſten, die Einrichtung der Wagen und Maſchinen; ſie mußten jederzeit
in ſicherem und dem Zwecke entſprechendem Zuſtande erhalten werden. Der
Staat ertheilte ihnen das Recht der Enteignung, wie den Chauſſeen, er
prüfte ihre Rechnungen und beaufſichtigte ſie durch ſtändige Commiſſäre.
Er behielt ſich vor, die Bahnen nach dreißig Jahren anzukaufen und be-
legte ſie mit einer noch näher zu beſtimmenden Steuer, welche theils zur
Amortiſation des Aktiencapitals, theils zur Entſchädigung der Poſt dienen
ſollte. Die Höhe dieſer Entſchädigung blieb auch noch vorbehalten; vor-
läufig ſchloß man mit den einzelnen Bahnen beſondere Verträge und ver-
pflichtete alle zur unentgeltlichen Beförderung der Poſtſendungen — eine
wohlberechtigte Vorſchrift, welche allein der Poſt ermöglichte, auch unter
veränderten Verhältniſſen ihre culturfördernde Arbeit zu vollziehen, doch
freilich in der Folge zahlreiche, noch heute nicht beendigte Zwiſtigkeiten
hervorrufen ſollte. Außerdem behielt die Krone das Recht, die Beſtim-
mungen des Geſetzes nach freiem Ermeſſen abzuändern oder zu ergänzen,
und die beſtehenden Geſellſchaften mußten ſich im Voraus ſolchen Aende-
rungen unterwerfen. Alſo war dem Monopolgeiſte ein ſtarker Riegel vor-
geſchoben. Die Geſchäftswelt klagte über die unmäßige Bevormundung;
Hanſemann veröffentlichte eine ſcharfe Kritik und beſchwor die Regierung,
die Capitalien des In- und Auslandes nicht abzuſchrecken. Aber die dehn-
baren Vorſchriften wurden verſtändig gehandhabt, und ſie genügten für
eine Reihe von Jahren, ſo lange der Staat noch nicht in der Lage war,
ſelber den Bahnbetrieb zu übernehmen.
Inzwiſchen hatte auch in Preußen der Bahnbau begonnen. Zuerſt
wurde die kleine Strecke von Düſſeldorf nach Erkrath eröffnet; dann folgte,
noch im Jahre 1838, die Berlin-Potsdamer Bahn, und groß war das
Erſtaunen, als dort täglich 2000, an Feſttagen ſogar 4000 Menſchen ver-
kehrten. Schon nach Jahresfriſt mußte man dieſer Geſellſchaft geſtatten,
daß ihre Züge auch in der Dunkelheit fahren durften, natürlich langſam
und unter mannichfachen Vorſichtsmaßregeln. Dem Könige war das neue
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 38
[594]IV. 8. Stille Jahre.
Weſen noch immer nicht recht geheuer; er fuhr noch eine Zeit lang in
ſeinem Wagen neben der Bahn her. Dann merkte er doch, daß ſelbſt
ſeine edlen Trakehner Rappen mit der Lokomotive nicht Schritt halten
konnten, und eines Tages erfuhren die Berliner zu ihrer freudigen Ueber-
raſchung, Seine Majeſtät ſei heute früh mit dem Bahnzuge nach Potsdam
gereiſt. Die Magdeburger Kaufmannſchaft rührte ſich kräftig. Derweil
die Leipziger Bahn in Angriff genommen wurde, begannen ſchon erfolg-
reiche Vorarbeiten für eine zweite Linie über Köthen nach Berlin und zu-
gleich Verhandlungen wegen einer dritten Bahn nach Hamburg. Dort
freilich zeigte ſich der Senat ſehr ängſtlich, er fürchtete die Abnahme der
Elbſchifffahrt und die Verarmung der Schiffer.*)
Sehr lange währten die Vorbereitungen für die wichtige Bahn von
Köln zur belgiſchen Grenze. Da mußten ſich erſt zwei ſtreitende Geſell-
ſchaften verſchmelzen. Dazwiſchen hinein ſpielten widerwärtige Verhand-
lungen mit dem Brüſſeler Hofe, der damals, aufgeſtachelt durch die Weſt-
mächte, dem preußiſchen Nachbarn eine wenig freundliche Geſinnung zeigte
und, dem Geiſte der Neutralität zuwider, ſchon an eine umfaſſende Be-
feſtigung ſeiner Oſtgrenze dachte. Der König ſchrieb deshalb ſelbſt an
König Leopold und drohte mit dem Abbruch der diplomatiſchen Verbin-
dungen (1837). Trotzdem ließ er, auf Werther’s verſtändigen Rath und
die dringenden Bitten König Ludwig’s von Baiern, den Plan der Köln-
Antwerpener Eiſenbahn nicht fallen. Die Bahn war zu werthvoll, nicht
blos für den Handel der Rheinlande, ſondern auch für die deutſche Politik:
ſie ſollte Hollands allezeit unberechenbare Zölle umgehen und das belgiſche
Land feſter an Deutſchland anſchließen, da die Brüſſel-Pariſer Eiſenbahn
immer noch nicht fertig wurde.**) Endlich lenkte Belgien ein, und man ward
handelseinig. Im Auguſt 1839, am Vorabend des königlichen Geburts-
tages, eröffnete Ammon, der Vorſitzende der neuen Geſellſchaft, die erſte
Bahnſtrecke. Er wußte, wie lebhaft Rother und mehrere der anderen
Miniſter die Abhängigkeit vom Auslande fürchteten, und ſagte darum in
ſeiner Feſtrede ſtolz: „die deutſche Treue beruht auf feſtem Grunde, auf
der angeſtammten Liebe für König und Vaterland, auf der klaren Erkenntniß
unſerer nationalen Vorzüge, unſerer ſittlichen Volkswürde.“ Unterdeſſen
beriethen die Kölner ſchon über die unentbehrliche große Eiſenbahn nach
dem Oſten, nach Minden und Magdeburg.
Ungeheuer war der Umſchwung. Die Eiſenverzehrung des Zollver-
eins ſtieg in den Jahren 1834—41 von 10,6 auf 18,1 Pfund für den
Kopf der Bevölkerung, an Schienen, Roh-, Stab- und Schmiedeeiſen wur-
den im Jahre 1834 erſt 367,000 Ctr. eingeführt, 1840 ſchon 1,203 Mill.;
[595]Süddeutſche Eiſenbahnen.
denn leider mußte man die Schienen noch aus dem Auslande beziehen.
Wie die Welt ſich verwandelte, das lehrte das tragikomiſche Beiſpiel des
Generalpoſtmeiſters Nagler. Dieſer Todfeind der Eiſenbahnen wollte jetzt,
nach ſeiner Niederlage (1839), ſelber mit den Mitteln der königlichen Poſt
eine Bahn von Halle durch die Goldene Aue nach Kaſſel bauen, mit
Zweigbahnen nach Erfurt, Weimar, Gotha, und ſie zum Beſten des Poſt-
Fiscus verwalten. Rother empfahl den Plan dem Könige aufs Wärmſte,
da Poſt und Eiſenbahnen eigentlich denſelben Zweck verfolgten. Die an-
deren Miniſter jedoch erklärten ſich dawider. Sie wollten das Monopol
der Poſt nicht noch erweitern; und welch eine particulariſtiſche Thorheit,
die uralte Handelsſtraße, die durch das innere Thüringen über Erfurt
und Gotha führte, abſichtlich zu umgehen, blos weil der Weg durch die
Goldene Aue mehr preußiſches Gebiet berührte!*)
Als nunmehr auch Frankfurt in die Eiſenbahn-Bewegung eintrat,
da zeigten ſich ſchon die dunklen Schattenſeiten der neuen Erfindung.
Eine Uneigennützigkeit, wie ſie die Leipziger und die Magdeburger Kauf-
leute bewieſen hatten, ließ ſich von der Reſidenzſtadt Rothſchild’s nicht
erwarten; dort wurde der Kaufmannsgeiſt nicht durch eine monarchiſche
Gewalt gezähmt. Schon die Frage, auf welchem Ufer des Mains die ge-
plante Frankfurt-Mainzer Eiſenbahn angelegt werden ſollte, verurſachte
ärgerlichen Zwiſt. Naſſau verlangte den Bau auf dem dichter bevölkerten
rechten Mainufer, Heſſen begünſtigte ſein linkes Ufer; und der Bundes-
tag erlaubte nicht, daß die Mainzer Feſtungsbehörden ſich unmittelbar mit
der Geſellſchaft verſtändigten, obwohl der Feſtungsingenieur, der preußiſche
Major Pientka ſogleich ein treffliches Gutachten abgegeben hatte.**) Nach
langem Streite ward endlich beſchloſſen, die Bahn auf dem rechten Ufer
zwiſchen Frankfurt und Caſtel auszuführen (1838); denn eine Ueberbrückung
des Rheins galt noch für unmöglich. Nun bot das gefällige Comité dem
heſſiſchen Miniſter du Thil Aktien zum Kaufe an. Du Thil weigerte ſich,
und auch Großherzog Ludwig erklärte: „ich weiſe das weit weg,“ ſobald ihn
ſein erfahrener Miniſter über die menſchenfreundlichen Abſichten der Un-
ternehmer aufgeklärt hatte. Nur der Geh. Rath Knapp ging in die Falle
und mußte dann, nach einer heftigen Interpellation in der Kammer, aus
dem heſſiſchen Miniſterium ausſcheiden. Nachher wollte Rothſchild die heſ-
ſiſche Regierung zwingen, den Plan binnen ſechs Wochen zu genehmigen,
weil er für ſeine Speculationen den Zeitpunkt der Ausgabe der Aktien
genau vorher wiſſen mußte. Auch dieſe Zumuthung wies du Thil entrüſtet
zurück. So hielt ſich Heſſen die Frankfurter Börſenmänner tapfer vom
Leibe. In Naſſau aber war der Präſident Magdeburg „Comité und Re-
38*
[596]IV. 8. Stille Jahre.
gierung in einer Perſon“, und der Frankfurter Senat erließ ein, wie du
Thil ſagte, „haarſträubendes“ Expropriationsgeſetz, das den Grundbeſitzern
eine viermal höhere Entſchädigung gewährte als das heſſiſche. Als die
Taunusbahn endlich eröffnet war, wurde ſie gut verwaltet; ſie verlangte
aber unbillige Preiſe, die höchſten in Deutſchland. Umſonſt verſuchte du
Thil den Unfug abzuſtellen. Er ſcheiterte an dem Widerſpruche Frank-
furts; „denn in dieſer Republik, ſo ſagte er ſchwermüthig, iſt es einge-
führt, daß ſtets eine Hand die andere wäſcht, und überdies waren zu viele
Senatoren betheiligt.“*) Dieſe Frankfurter Erfahrungen blieben in Baden
unvergeſſen. Dort berief die Regierung eine Notabeln-Verſammlung um
über den Plan einer Eiſenbahn von Mannheim nach Baſel zu berathen.
Der Gedanke fand Anklang, und Nebenius erwies den Notabeln in einer
trefflichen Denkſchrift, die auch den anfangs widerſtrebenden Finanzminiſter
Böckh überzeugte, daß der Staat, um den Aktienſchwindel und den Ein-
fluß der Börſe fernzuhalten, die Bahn ſelber bauen müſſe.**) Es war
das erſte Programm des deutſchen Staats-Eiſenbahnweſens.
Die Größe der beginnenden ſocialen Umwälzung ließ ſich am ſicher-
ſten daran erkennen, daß ſchlechterdings Niemand ihre Folgen genau vor-
hergeſehen hatte. Nicht blos der Geſammtverkehr wuchs über alle Vor-
herſagungen hinaus; hatten doch ſelbſt muthige Männer höchſtens gehofft,
die Eiſenbahnen würden den Chauſſeen etwa ebenſo weit überlegen ſein
wie dieſe vormals den alten Landwegen. Auch im Einzelnen kam faſt
Alles anders als die klügſten Leute erwarteten. Der Betrieb der Eiſen-
bahnen war unzweifelhaft ein Monopol, und jener Paragraph des preu-
ßiſchen Eiſenbahngeſetzes, welcher auch anderen, nicht zur Geſellſchaft Ge-
hörigen den Transport geſtatten wollte, erwies ſich ſogleich als ein todter
Buchſtabe. Die Güter brachten mehr ein als die Perſonen, der Local-
Verkehr mehr als der große, die dritte Wagenklaſſe mehr als die beiden
erſten zuſammen; und wie verwundert hatte man noch vor Kurzem dem
wackeren Friedrich Harkort zugehört, als er vorausſagte, der kleine Mann
würde die Eiſenbahnkaſſen füllen wie den Steuerſäckel, ſchon um Arbeits-
lohn zu gewinnen das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsſtraßen trennten
ſich nicht ab von den Kriegsſtraßen, wie Aſter fürchtete, ſondern ſie zwangen
den Krieg ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebeſtand nahm nicht
ab, wie Jedermann glaubte; ſondern die Deutſchen erfuhren, daß in einem
fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfniß neue Bedürfniſſe in unendlicher
Folge weckt: die Nebenſtraßen beſchäftigten fortan mehr Pferde als früher
die Hauptſtraßen.
Nun da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt
auch erſt den Werth der Zeit zu ſchätzen, ja zu überſchätzen. Ein haſtiges,
[597]Erſte Wirkungen der Eiſenbahnen.
athemloſes Treiben nahm überhand, eine fieberiſche Begehrlichkeit nach
dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der
von dem überſpannten Idealismus des älteren Geſchlechts unheimlich ab-
ſtach. Die Geſelligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm,
um ſo dürftiger wurde ihr Inhalt, und ſeit die Zeitungen ſich mehrten,
ſchrieb der gebildete Mann faſt nur noch Geſchäftsbriefe. Der anſchwel-
lende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durch einander, daß der
Kaſtendünkel ſich kaum mehr halten konnte. Die Geſellſchaft demokrati-
ſirte ſich, die Umgangsſprache ward kürzer, geſchäftlicher, aber auch grob
und ungemüthlich. Der Durchſchnittsmenſch empfing eine Maſſe neuer
Eindrücke und Kenntniſſe, doch je mehr ſie ſich drängten, um ſo weniger
hafteten ſie. Das neue Geſchlecht krankte an einer vielſeitigen, oberfläch-
lichen Bildung, an Ueberſättigung, Zerſtreutheit, Anmaßung. Die großen
Städte wuchſen unaufhaltſam, manche der kleinen ſanken, eine krampfhafte
Luſt an den großſtädtiſchen Genüſſen verbreitete ſich weithin im Volke,
und mit der Macht der Maſſen-Capitalien ſtieg auch das Maſſen-Elend.
Für das zerriſſene Deutſchland war der Segen dieſer neuen Ver-
hältniſſe doch ungleich größer als ihre Nachtheile. Der ſchreiende Wider-
ſpruch geiſtiger Größe und wirthſchaftlicher Armſeligkeit konnte nicht fort-
dauern ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende poli-
tiſche Macht des neuen Deutſchlands bedurfte des Wohlſtandes und der
kecken Unternehmungsluſt, das verhockte und verſtockte Treiben der Klein-
ſtädter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck,
der auf dem deutſchen Leben lag, konnte weder durch Kammerreden noch
durch [Zeitungsartikel] überwunden werden, ſondern nur durch die phyſiſche
Macht eines aller Ueberwachung ſpottenden gewaltigen Verkehres. Seit
man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem
ſchlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinſtaaterei zum
Bewußtſein, und er begann zu ahnen was es heiße, eine große Nation
zu ſein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre tren-
nende Macht, zahlloſe nachbarliche Vorurtheile ſchliffen ſich ab, und die
Deutſchen erlangten allmählich, was ihnen vor Allem fehlte, das Glück
einander kennen zu lernen. Darum nannte der deutſch-ungariſche Poet
Karl Beck, in dem Feuilletonſtile der Zeit, die Eiſenbahn-Aktien „Wechſel
ausgeſtellt auf Deutſchlands Einheit“. Auch dem Auslande gegenüber be-
währte ſich dies erſtarkende Selbſtgefühl. Die erſten Eiſenbahnen wurden
noch zum guten Theile mit engliſchem Capital erbaut. Nach und nach ver-
ſuchte der deutſche Geldmarkt ſelbſtändiger zu werden und, was unendlich
mehr bedeutete, ſeit die deutſchen Eiſenwerke wohlfeilere Kohlen erhielten,
begannen ſie die engliſchen Schienen zu verdrängen. Erſt durch die billigen
Eiſenbahnfrachten gelangte die Nation wirklich in Beſitz ihrer Eiſen- und
Kohlenſchätze. Wieder einmal bewährte ſich das alte heilſame Geſetz des
hiſtoriſchen Undanks. Deutſchland hatte von England gelernt und ſchob
[598]IV. 8. Stille Jahre.
nun, raſch erſtarkend, den Lehrer zur Seite. Große Fabriken entſtanden,
die den Bahnen ihre Wagen und Maſchinen bauten. In Berlin gründete
der junge Schleſier Borſig, nachdem er eine Zeit lang die Eiſengießerei
der Firma Egells geleitet, eine Maſchinenfabrik für den Bau von Loko-
motiven; mit 50 Arbeitern begann er, nach wenigen Jahren beſchäftigte
er ihrer ſchon tauſend; er wußte, daß dem Muthigen die Welt gehört.
In Nürnberg erweiterte ſich die kleine Wagenbau-Anſtalt der Fürther
Eiſenbahn zu der großen Fabrik von Klett und Cramer. Ein neuer
Stand von Ingenieuren und Eiſenbahntechnikern kam empor, ſehr reich
an Talenten, unternehmend, ſtolz im Bewußtſein einer großen Cultur-
aufgabe. Es war eine ſchöne friedliche Arbeit nationaler Befreiung; erſt
im nächſten Jahrzehnt ſollte ſie ihre ganze Stärke offenbaren. —
Unter jeder großen Umgeſtaltung des ſocialen Lebens müſſen einzelne
Klaſſen und Gewerbe unfehlbar leiden. Eben in dieſen hoffnungsvollen
erſten Jahren des Zollvereins und der Eiſenbahnen bekundeten ſich ſchon
die Anzeichen des beginnenden Maſſenelends. An dem allgemeinen Auf-
ſchwunge der Volkswirthſchaft nahm auch das Kleingewerbe theil. Doch
nur die Zahl der Gehilfen wuchs beträchtlich, die der Meiſter wenig; ein
ſelbſtändiges Geſchäft zu behaupten ward bei dem verſchärften Wettbewerbe
immer ſchwieriger. Die Kleingewerbe der Seifenſieder, der Gerber, der
Töpfer, der Handſchuhmacher gingen ſchon zurück, weil ſie den Kampf mit
den großen Fabriken nicht aushalten konnten. Die Berliner Stadtver-
ordneten klagten, daß die Koſten ihrer Armenverwaltung in den Jahren
1821—38 von 104,000 auf faſt 374,000 Thlr., weit ſchneller als die
Bevölkerung, geſtiegen ſeien. Während die höheren Stände den ärmlichen
Gewohnheiten der Kriegsjahre nach und nach entwuchſen, lebte der kleine
Mann kaum beſſer denn zuvor; in vielen großen Städten nahm die
Fleiſchverzehrung durchſchnittlich ab. Das Wachsthum der Städte ver-
half manchem Hausbeſitzer plötzlich zum Reichthum, doch die Miethen, vor-
nehmlich der kleinen Wohnungen, wurden unerſchwinglich. Großen Talen-
ten wie Borſig eröffnete die junge Großinduſtrie eine glänzende Laufbahn;
der Durchſchnitt der Arbeiter aber befand ſich in hilfloſer Lage. Der neue
Stand der Fabrikanten, der ſich ſoeben erſt ſelbſt ſeine Stellung in der
ariſtokratiſchen alten Geſellſchaft erobert hatte, gebrauchte ſeine Macht noch
mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit des Emporkömmlings. Es waren die
Tage, da die engliſchen Fabrikanten ſich in ihren Verſammlungen gegen
ihre Arbeiter geradezu verſchworen, einen höchſten Satz für den Arbeits-
lohn, einen niederſten für den Preis der Waaren unter einander verab-
redeten. Die durch Ricardo und Say im Geiſte der reinen Capitalsherr-
ſchaft weitergebildete Lehre Adam Smith’s herrſchte noch überall; das Elend
[599]Das Proletariat.
der Arbeiter galt für ein unwandelbares Naturgeſetz, von Pflichten der
Arbeitgeber war kaum die Rede.
Auch die Staatsgewalt, die in Preußen ſo oft ſchon durch ihre zwin-
gende Gerechtigkeit ſociale Mißverhältniſſe ausgeglichen hatte, beachtete dieſe
neuen Zuſtände noch wenig; denn überall lebt der Staat langſamer als
die Geſellſchaft, er vermag ihren Wandlungen nur zu folgen. Was die
Regierung durch ihre Schutzzölle, ihre techniſchen Lehranſtalten, durch die
Darlehen der Bank und der Seehandlung für den Gewerbfleiß that, kam
unmittelbar faſt allein den Unternehmern zu gute. Zumal die Noth der
Hausinduſtrie in den Hungergebirgen Mitteldeutſchlands blieb den Blicken
der Behörden noch beinah ganz verborgen. Dort war das Elend ſchon ſehr
groß, tauſende fleißiger Menſchen litten unter den unberechenbaren Preis-
ſchwankungen des Weltmarktes; in den armen Weberdörfern am Landes-
huter Kamme ließ ſich ſchon bemerken, wie die durchſchnittliche Lebens-
dauer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnahm. Alle dieſe ſocialen Gefahren
waren erſt im Werden; ſelbſt in Englands unvergleichlich höher entwickelter
Induſtrie gelangten die Arbeiter erſt nach dem Siege der Reformbill auf
den Gedanken, eine eigene Arbeiterpartei zu bilden. Doch unverkennbar
nahte die Zeit heran, da die arbeitenden Maſſen durch den Druck un-
verſchuldeter Noth zum Selbſtbewußtſein erwachen, ganz neue Anſprüche
an Staat und Geſellſchaft erheben mußten.
Einer der Erſten, welche dieſen Wandel der Dinge erkannten, war
der an guten Einfällen allezeit reiche Philoſoph Franz v. Baader in München.
Er veröffentlichte ſchon im Jahre 1835 eine Flugſchrift über „das Miß-
verhältniß der Vermögensloſen oder Proletairs“ — ſo ſagte er mit einem
bezeichnenden Fremdwort, denn ſeine beſten Gedanken ſchöpfte er aus der
Beobachtung der reicheren Volkswirthſchaft Weſteuropas. Er ſah vor-
aus, daß die ſocialen Fragen für die moderne Welt bald noch mehr be-
deuten würden als die politiſchen, und verlangte, der Staat müſſe die
Verhältniſſe der Arbeiter ordnen, nicht aus Wohlthätigkeit oder polizeilicher
Vorſicht, ſondern um des Rechtes willen; als die berufenen Vertreter des
Arbeiterſtandes betrachtete er freilich, nach ſeiner katholiſchen Weltanſchauung,
die Prieſter. Mittlerweile drangen auch die Ideen des franzöſiſchen Socia-
lismus langſam nach Deutſchland hinüber. Wie Heine eine Zeit lang
mit dem Vater Enfantin zuſammenging, ſo ſchrieb Börne Beiträge für
Raspail’s ſocialiſtiſche Zeitſchrift Le Réformateur. Den anderen Jung-
deutſchen mußte die beſtehende Eigenthumsordnung ſchon darum wider-
wärtig erſcheinen, weil ſie die Ehe bekämpften und überall Tiſch und Bett
zuſammengehören; war doch bereits ihr Liebling Heinſe in ſeinem Ardin-
ghello zu dem Ideale der Güter- und Weibergemeinſchaft gelangt. Wien-
barg namentlich erging ſich gern im Preiſe der „heiligen Armuth“ und
verdammte die Ariſtokratie des Reichthums faſt noch härter als den Ge-
burtsadel: „Alle Roſen der Welt werden die Beute eines windigen Ge-
[600]IV. 8. Stille Jahre.
ſchlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien.“ Solche Schlag-
worte der Feuilletons waren freilich nur Pariſer Reminiscenzen; ſie ver-
riethen mehr den äſthetiſchen Widerwillen gegen die Proſa des Bürgerthums
als eine durchgebildete Ueberzeugung. Zum entſchiedenen Socialismus
bekannte ſich unter den Schriftſtellern des Jungen Deutſchlands nur Einer:
Georg Büchner.
Das Verſtändniß für den Ernſt der ſocialen Frage war unter den
Gebildeten noch kaum erwacht; wie ein Träumer wurde der junge Refe-
rendar Schultze aus Delitzſch von ſeinen Amtsgenoſſen in Naumburg an-
geſehen, wenn er ihnen ſeine ſtark ſocialiſtiſch gefärbten Anſichten über die
Zukunft des Arbeiterſtandes vortrug. Wer aber in die Tiefen der Lite-
ratur niederblickte, konnte nicht verkennen, daß es zu Ende ging mit dem
friedlichen Stillleben der arbeitenden Maſſen; denn allezeit laſſen ſich die
Wandlungen des ſocialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schrift-
ſteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am ſicherſten
errathen. Bisher hatten die Schriftſteller der Leihbibliotheken den Unter-
ſchied der Stände wenig beachtet; nur die Mißheirath, der natürliche Lieb-
ling aller Putzmacherinnen und Ladenfräulein, bot allezeit einen willkom-
menen Romanſtoff. Wie anders jetzt. Nichts harmloſer als die beliebten,
fromm gemüthlichen Jugendſchriften des Dresdener Schullehrers Guſtav
Nieritz; und doch, welch ein tiefer ſocialer Groll verbarg ſich darin: die
armen Steindreher und Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges vertraten
überall die mißhandelte Tugend, die Edelleute und Fabrikanten das hart-
herzige Laſter, und faſt ſchien es, als ob Reichthum eine Sünde wäre.
So ſpiegelte ſich das Leben in den Augen der bedrückten kleinen Leute.
Derber und trotziger redete Adolf Glasbrenner in ſeinen Flugblättern:
„Berlin wie es iſt — und trinkt“, ein fröhlicher Geſell, dem man gleich
anſah, daß er wirklich mit Spreewaſſer getauft war und nicht wie einſt
Saphir ſeine Berliner Witze erkünſtelte. Da tauſchten der Eckenſteher
Nante, die Droſchkenkutſcher, die Budiker, die Dienſtmädchen ihre Gedanken
über Welt und Zeit aus; die Politik berührten ſie ſelten, aber allen Wider-
ſprüchen und Lächerlichkeiten des ſocialen Lebens gingen ſie mit ihren
ſcharfen Zungen zu Leibe, dreiſt, vorlaut, aufgeklärt, immer feſte auf die
Weſte, immer in der ſtolzen Zuverſicht, daß der richtige Berliner Alles
macht was gemacht werden kann. Der Witz iſt jederzeit demokratiſch, weil
er Alles gleich ſtellt. Das erſtarkende Selbſtgefühl der Maſſen ſprach aus
dieſen Berliner Sittenbildern ebenſo vernehmlich wie einſt aus dem Eulen-
ſpiegel und den Grobiansſchriften des Zeitalters der Reformation.
Noch blieb der ſociale Friede überall ungeſtört; nur die Pforzheimer
Goldarbeiter wagten einmal (1839) wegen Verlängerung der Arbeitszeit
einen Aufruhr, den die Truppen niederſchlagen mußten. Was ſich aber
von langer Hand her vorbereitete, das lehrte die Haltung der deutſchen
Arbeiter im Auslande. Die große Mehrzahl der deutſchen Handwerks-
[601]Mazzini in der Schweiz.
burſchen in Paris und der Schweiz ging nach und nach in das Lager des
extremen Radicalismus über. Ein ſolcher Umſchwung ließ ſich nur durch
das ſociale Unbehagen erklären, da politiſche Sorgen dieſe Volksſchichten
wenig bekümmern. Handwerksgeſellen bildeten den Stamm des Jungen
Deutſchlands, das ſich im Jahre 1834 mit Mazzini’s Jungem Europa
förmlich verbrüderte und den Wahlſpruch führte: Freiheit, Gleichheit, Huma-
nität. Mazzini ſelbſt ſtand freilich auf einer Höhe, welche die Blicke der
kleinen Leute kaum erreichen konnten. Sein leitender Gedanke war die
Idee der Nationalität, und weil er dieſe lebendige Macht des neuen Jahr-
hunderts mit Leidenſchaft ergriff, darum wirkte er tiefer, dauerhafter als
alle anderen Demagogen des Zeitalters. Er ſagte ſich feierlich los von
dem Weltbürgerthum der alten Carbonari und ihrer Pariſer Hohen Venta.
In der Schrift Foi et Avenir, die er zur Antwort auf die franzöſiſchen
Septembergeſetze (1835) erſcheinen ließ, verherrlichte er zwar den Aufruhr,
den Kampf bis aufs Meſſer wider die beſtehenden Gewalten, den Bund
der Unterdrückten gegen die Unterdrücker; aber nicht die Menſchenrechte
der Jacobiner ſollten den Bürger begeiſtern, ſondern der Gedanke der
Pflicht, der Hingebung, des Martyriums für das Vaterland; nicht die
individualiſtiſche Demokratie von 1789 ſollte die Freiheit verwirklichen,
ſondern ein ſociales Regiment, das jede Menſchenkraft in den Dienſt des
Volkes, des Königs der Zukunft zwinge. Die franzöſiſche Revolution er-
drückt uns, ſo rief er aus, wir äffen bisher nur dem Gebahren unſerer
Väter nach und müſſen uns als religiöſe Partei wieder erheben; „wir
glauben an die heilige Allianz der Völker, wir glauben an die Freiheit
und Gleichheit der Völker, wir glauben an die Nationalität, das Gewiſſen
der Völker, wir glauben an das heilige Vaterland. Glauben und That!
Uns gehört die Zukunft!“ Dies myſtiſche Evangelium der Verbrüderung
gleichberechtigter Völker drang in mannichfachen Bearbeitungen weithin
durch die Welt und entflammte nicht blos die Italiener, ſondern auch die
unfertigen Nationen des Oſtens, Magyaren, Czechen, Serben, Rumänier.
Als Mittel zum Zweck hieß Mazzini jede Aufwiegelung willkommen;
er hatte nichts dawider, wenn die Gebildeten unter den deutſchen Flücht-
lingen, die ſich in Biel und Zürich zuſammenfanden, ihre Landsleute aus
dem Handwerkerſtande durch rohe Brandſchriften bearbeiteten. Es waren
meiſt alte Burſchenſchafter aus der Schule der Unbedingten: der Göttinger
Rauſchenplatt, der Frankfurter Sauerwein, dann der Braunſchweiger Fein
und der Heſſe Karl Becker, Beide berühmt als cyniſche Weltweiſe, denen
das Waſchbecken und die Seife ebenſo verächtlich ſchienen wie das Hals-
tuch und die Weſte. Auch der Bundestagsdieb Guſtav Kombſt fand ſich
ein und erklärte, ganz im Geiſte Follen’s: wir Revolutionäre benutzen jedes
Mittel, was unſerer Ueberzeugung nicht widerſpricht. In dieſen Kreiſen
entſtand eine Zeitſchrift „das Nordlicht“, deren Sprache an Deutlichkeit
nichts zu wünſchen übrig ließ: „Ihr Arbeiter, Handwerker und Bauern,
[602]IV. 8. Stille Jahre.
Ihr ſeid der Kern des Volkes. Schüttelt ſie ab, die Feſſeln, die arbeits-
ſcheue Müßiggänger Euch ſchmiedeten. Der Eine kommt ebenſo wenig mit
Stiefeln und Sporen zur Welt, wie die Anderen mit Sattel und Zaum.
Nur Vorurtheil und Willkür ſchaffen Herren und Knechte. Der Fürſt
führt nicht weniger ſeinen Steiß bei ſich als die Anderen.“ Ein maſſen-
haft verbreitetes Gedicht „Hundert deutſche Handwerker“, mit dem Bilde
eines Gehenkten auf dem Umſchlage, führte der Reihe nach die Hand-
werker vor, wie ſie bereit ſtanden, jeder mit ſeinem Werkzeuge, die Für-
ſten einzuſperren, zu hängen, zu köpfen:
Wehmüthiger erklang der Galgenhumor in dem „Liede der Verfolgten“
des gutmüthigen, verbummelten Dichterleins Sauerwein:
Eine Flugſchrift „Geiſterſtimme der Gemordeten an Fränzchen, Fritz-
chen, Nickel und deren Verbündete“ rechnete den Deutſchen die 300 oder
600 Mill. fl. ihrer Staatsausgaben vor — Genaueres wußte der geſin-
nungstüchtige Statiſtiker nicht anzugeben: „Der Engländer zahlt ſeine
Weltherrſchaft, ſeine Freiheit, der Franzoſe ſeinen Ruhm, ſeine Gleichheit,
der Deutſche ſeine Knechtſchaft und ſeine Schande. Das iſt der Unter-
ſchied.“ Durch ſeine geckenhafte Prahlerei that ſich unter den Verſchwörern
der Nordfrieſe Harro Harring hervor; er nannte ſich „Rebell aus Ueber-
zeugung“, verachtete Goethe als den „beſternten Hofkoloß der Poeſie“ und
bezeichnete in der Vorrede einer ſeiner zahlreichen Gedichtſammlungen ſeine
eigene hiſtoriſche Stellung alſo: „Die deutſche Bewegungspartei beſteht
jetzt aus Studenten und Handwerksburſchen, und der Sänger dieſer Zeit-
[603]Deutſche Flüchtlinge in der Schweiz.
periode iſt Harro Harring.“ Ihm verdankten die Flüchtlinge das vielge-
ſungene Lied:
Das Treiben wurde ſo zuchtlos, daß der beſonnene Karl Mathy, den
die Thorheit der badiſchen Demagogenverfolger auch in die Schweiz ver-
ſchlagen hatte, ſich bald ganz zurückzog. Mathy ſchrieb als Flüchtling eine
ruhig und ſachlich gehaltene Preisſchrift über die Aufhebung des Zehnten,
und pries ſich glücklich, als er in einer Lehrerſtelle bei Solothurn vor-
läufig eine friedliche Unterkunft fand.
Den vertriebenen Polen war mit den frechen Worten nicht genug
gethan; ſie brüteten über neuen Aufſtandsplänen, und obgleich ſie, be-
fangen in der phantaſtiſchen Selbſttäuſchung der Flüchtlinge, ihre Macht
ſtark überſchätzten, ſo vermochten ihre tollen Anſchläge den Nachbarſtaaten
doch ernſte Ungelegenheiten zu bereiten. In dieſem Jahrhundert der bürger-
lichen Kämpfe war der Beſtand eines gaſtfreien Staates, der allen ge-
ſchlagenen Parteien ein Aſyl bot, eine europäiſche Nothwendigkeit. Wenn
die Schweiz ihre Neutralität gewiſſenhaft einhielt und den Flüchtlingen
jedes feindſelige Unternehmen gegen die Nachbarn ſtreng unterſagte, ſo
konnte ſie in der neuen Staatengeſellſchaft eine ebenſo würdige Rolle
ſpielen wie einſt die Republik der Niederlande im Zeitalter der Religions-
kriege. Allein für dieſe Ehrenpflicht der Eidgenoſſen zeigte die radicale
Partei, die in der Tagſatzung herrſchte, keinen Sinn; vergeblich mahnten
Neuenburg und die anderen conſervativen Cantone an die Wiener Ver-
träge. Im Februar 1834 unternahmen einige hundert Flüchtlinge, ge-
führt von dem polniſchen General Ramorino, einen Einbruch in Savoyen;
auch mehrere Deutſche waren mit im Haufen, ſo der allezeit wageluſtige
Rauſchenplatt und die Gebrüder Breidenſtein. Die Empörung wurde raſch
niedergeworfen, aber ohne die Pflichtvergeſſenheit der ſchweizeriſchen Be-
hörden hätte ſie gar nicht beginnen können. Währenddem kamen bedenk-
liche Nachrichten über verdächtige Bewegungen an der deutſchen Grenze.
Baiern und Baden fürchteten einen Handſtreich und trafen Vorſichts-
maßregeln; ihre Beſorgniſſe mochten übertrieben ſein, grundlos waren ſie
nicht.*) Auf einer Verſammlung der deutſchen Arbeiter im Steinhölzli
bei Bern wurden die Fahnen der ſüddeutſchen Staaten in den Koth ge-
ſtampft und das ſchwarzrothgoldene Banner feierlich emporgehoben, wäh-
rend die Menge ſang:
[604]IV. 8. Stille Jahre.
Unmöglich konnten die Nachbarſtaaten ruhig zuwarten, bis dieſe wüſten
Geſellen einen neuen Ausfall wagten. Da der Wiener Hof für die Sicher-
heit der Lombardei fürchtete, ſo erhob zunächſt der öſterreichiſche Geſandte
Graf Bombelles Beſchwerde und erwarb ſich dadurch bei den Flüchtlingen
den Beinamen des neuen Geßlers. Dann verlangte der Deutſche Bundes-
tag durch eine auf den Wiener Miniſterconferenzen ſorgfältig vorberathene
Note*) die Ausweiſung aller der Deutſchen, welche mittelbar oder un-
mittelbar die Ruhe der Bundesſtaaten zu ſtören ſuchten (6. März). Die
Tagſatzung gab eine ausweichende Antwort; die Schweizer Radicalen tobten
wider die Tyrannen, am lauteſten der Berner Profeſſor L. Snell, der
vor Jahren dem Kreiſe der Unbedingten nahe geſtanden und mittlerweile
das Schweizer Bürgerrecht erworben hatte. Ihm, wie ſo vielen anderen
verlorenen Söhnen Deutſchlands, gereichte es immer zur Freude, wenn
er ſein altes Neſt beſchmutzen konnte. In einer hochpathetiſchen Schrift
„das verletzte Völkerrecht an der Eidgenoſſenſchaft“ ſchilderte er den Kampf
der freien Schweiz wider die Heilige Allianz; denn daß die Eidgenoſſen
ſelber der Heiligen Allianz angehörten, war dieſem Völkerrechtslehrer ganz
unbekannt. Ich könnte, ſo rief er aus, in einem großen Königreiche ein
reicher und angeſehener Sklave ſein, aber ich habe meine Menſchenwürde
in die Republik gerettet; in der Monarchie iſt die erſte Pflicht des Men-
ſchen zu ſchweigen, in einem freien Lande ſoll er ſeine Stimme erheben
— und was der Großſprecherei mehr war. Auch Lord Palmerſton verſuchte
durch ein Rundſchreiben an die deutſchen Höfe ſich in dieſe Händel ein-
zumiſchen. Das Verhalten der Schweiz wagte er ſelbſt nicht zu verthei-
digen, da ſie ſo offenbar Unrecht hatte, er warnte die Deutſchen nur vor
Zwangsmaßregeln; dann ließ ſich hoffen, daß der angenehme Unfrieden
an der Schweizer Grenze noch recht lange währte.**)
Der Bundestag ließ ſich nicht beirren. Er erneuerte ſeine Forde-
rungen in einer ſchärferen Note (1. Mai); auch Oeſterreich und die ſüd-
deutſchen Grenznachbarn wiederholten ihre Beſchwerden. Der badiſche
Geſchäftsträger Duſch, der dieſe Schriftſtücke überbrachte, mußte, obwohl
den Schweizern wohl geſinnt, eine ſehr ſcharfe Sprache führen. Zugleich
wurde an der Grenze eine ſtrenge Bewachung angeordnet, und im Noth-
fall wollte man ſogar die Handelsſperre verkündigen.***) Da entfiel der
Tagſatzung der Muth. Sie ſchickte eine Geſandtſchaft nach Chambery um
ſich vor dem tief beleidigten Könige Karl Albert zu entſchuldigen, und er-
widerte dem Deutſchen Bunde (24. Juni), daß ſie alle Flüchtlinge, welche
die Ruhe anderer Staaten ſtörten, hinwegweiſen werde. Dem Wiener
[605]Die Schweizer Flüchtlingshatz.
Hofe betheuerten der Vorort Zürich und der Canton Bern ihre guten
Vorſätze in einem Tone, welcher ſehr wenig republikaniſchen Stolz ver-
rieth.*) Nun begann die berüchtigte Schweizer „Flüchtlingshatz“. Nach Luſt
und Laune, wie es den geängſteten Cantonalbehörden gerade einfiel, wur-
den die Flüchtlinge, ſchuldige und unſchuldige, verhört, eingeſperrt, unter
Aufſicht geſtellt, ihre Habe durchſucht, ihre Briefe erbrochen; ſelbſt manche
Schweizerbürger griff man mit auf, und Mathy geſtand ehrlich, in Deutſch-
land pflege man mit den Demagogen menſchlicher umzugehen. Die beiden
Breidenſtein und viele Andere mußten die Schweiz verlaſſen. Auch Rau-
ſchenplatt zog grimmig von dannen; der thatendurſtige kleine Mann hatte
in jüngſter Zeit noch verſucht, in dem Baſeler Judendörfchen Dipflingen
unter dem Schatten eines mächtigen Freiheitsbaumes eine unabhängige
Republik einzurichten.
Eine ſo planloſe und willkürliche Verfolgung konnte die Ordnung
nicht herſtellen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge, ſogar viele der Genoſſen
des Savoyerzuges blieben im Lande; in Zürich, Bern, Genf, Lauſanne,
Lieſtal entſtanden deutſche Leſevereine, welche die Handwerksburſchen in die
Lehren des Radicalismus einführten, die geheime Preſſe unterſtützten und
den „Brüdern“ daheim in vertrauten Briefen ankündigten, daß „der große
Volksſchmaus losgehen“ werde. Mehrere Jahre hindurch mußten die deut-
ſchen Garniſonen in der Nähe des Bodenſees beſtändig auf einen neuen
Ausfall der polniſchen Legion gefaßt bleiben.**) Der Depeſchenwechſel mit
der Tagſatzung wurde ſehr widerwärtig; denn die ariſtokratiſche alte
Schweiz hatte immer auf würdige Formen gehalten, die Sprache der neuen
Demokratie ſchwankte zwiſchen Kleinmuth und plumper Grobheit.***) Der
Bundestag half ſich nach ſeiner Weiſe durch thörichte Verbote. Er unter-
ſagte den Beſuch der beiden neuen Univerſitäten Bern und Zürich; und
allerdings waren ſogleich einige der eifrigſten deutſchen Demagogen, Sieben-
pfeiffer, Hundeshagen, Snell auf die Berner Lehrſtühle berufen worden.
Er unterſagte den Handwerksburſchen nach ſolchen Ländern zu wandern,
wo politiſche Arbeiterbünde beſtänden (1835); aber die Ausführung blieb
den Einzelſtaaten überlaſſen, und Baden ſah ſich zu Metternich’s Ent-
rüſtung bald genöthigt, ſeinen Handwerkern den unentbehrlichen Verkehr
mit den Schweizer Nachbarn wieder freizugeben.†)
Da man ſich auf die Behörden der Eidgenoſſen nicht verlaſſen konnte,
ſo unterhielt Oeſterreich in der Schweiz eine Menge geheimer Agenten, die
auch den Bundestag, den badiſchen und andere deutſche Höfe mit zweifel-
[606]IV. 8. Stille Jahre.
haften Nachrichten verſorgten*), und eifrig ſuchten die gehetzten Flüchtlinge
nach Verräthern im eigenen Lager. Welch ein Lärm, als ein jüdiſcher
Student Leſſing aus der Mark im Jahre 1835 zu Zürich ermordet wurde,
ein gemeiner Menſch, der ſich unter den Geheimbündlern umhertrieb und
bei Vielen für einen Späher galt. Die von dem Züricher Gerichte muſter-
haft ſchlecht geführte Unterſuchung brachte kein Ergebniß. Sie erwies weder,
daß Leſſing ein preußiſcher Spion geweſen, noch daß er politiſcher Rachſucht
zum Opfer gefallen war; manche Anzeichen deuteten vielmehr auf ein ge-
meines Verbrechen, der Leichnam war beraubt, in der Nähe eines verrufenen
Hauſes aufgefunden worden. Trotzdem behaupteten die Schweizer Zei-
tungen und zahlreiche Flugſchriften mit der höchſten Zuverſicht, die teuf-
liſchen Anſchläge der preußiſchen Regierung lägen nunmehr klar zu Tage.
Auch mit Frankreich gerieth die Tagſatzung in Streit, als Prinz Ludwig
Napoleon den Aufruhr in Straßburg verſucht hatte und dann, zur Aus-
wanderung nach Amerika begnadigt, gleichwohl in ſein ſchweizeriſches Schlöß-
chen Arenenberg zurückgekehrt war (1838). Der Bürgerkönig verlangte
ſofort ſeine Entfernung und ließ ſchon Truppen an der Oſtgrenze zuſammen-
ziehen. Oeſterreich, Preußen, Baden unterſtützten Frankreichs Forderung**),
während die Schweizer Preſſe wieder einmal mit Tell und Winkelried
prahlte und den Tyrannen verſicherte: „Königsblut und Bauernblut, es
iſt Beides gleich roth.“ Der kluge Prätendent aber wartete gemächlich ab,
bis dieſe diplomatiſche Zwiſtigkeit ſeinen Namen wieder in den Mund der
Leute gebracht hatte; dann ging er nach England und erklärte der Tag-
ſatzung in einem großmüthigen Briefe, er wolle nicht durch längeres Ver-
weilen die Sicherheit ſeiner zweiten Heimath gefährden. Alſo blieb das
Verhältniß zwiſchen Deutſchland und der Schweiz, durch die Schuld bei-
der Theile, lange ſehr unerquicklich; die deutſchen Höfe zeigten übermäßige
Aengſtlichkeit, die Eidgenoſſen wenig Treue in der Erfüllung ihrer Ver-
tragspflichten. —
Unter den 13,000 Flüchtlingen aller Länder, die in Frankreich zu-
ſammengeſchneit waren, ſpielten die Deutſchen nur eine beſcheidene Rolle,
obgleich ſie die Bildung revolutionärer Geheimbünde faſt ſo eifrig wie die
Polen betrieben. Als der Hambacher Preßverein in Paris durch die fran-
zöſiſche Regierung aufgelöſt wurde, entſtand ſogleich der Bund der Ge-
ächteten, der „den Hambacher Geiſt“ unter neuen Formen pflegen ſollte.
Er zerfiel, nach dem Vorbilde der Carbonari, in „Zelte“ von je fünf
Mitgliedern; die Eingeweihten bildeten „den Berg“, an der Spitze des
Ganzen ſtand der Pariſer „Brennpunkt“. Durch die aus Paris heimge-
kehrten Handwerker wurden auch in Berlin, Frankfurt, Mainz, in vielen
anderen Städten Mitteldeutſchlands Zelte errichtet; die preußiſchen Be-
[607]Die Geächteten in Paris.
hörden glaubten, es gebe ihrer zweihundert.*) Metternich pflegte die Dema-
gogen jetzt nur noch die Alten vom Berge zu nennen, und allerdings,
wer die Programme dieſer Geheimbündler wörtlich nahm, konnte nicht be-
zweifeln, daß ſie auf den Fürſtenmord und die allgemeine Revolution aus-
gingen.
Das „Glaubensbekenntniß eines Geächteten“ und deſſen Umſchrei-
bung, „die Erklärung der Menſchen- und Bürgerrechte“ begannen mit
dem Satze: „Der Herr ſchuf alle Menſchen nach ſeinem Bilde, er ſchuf
ſie alle gleich. Sonach bleibt nur die demokratiſche Republik übrig.“ Sie
verherrlichten den Widerſtand, der die Unterdrücker zu Boden ſchlage, als
„die heiligſte und dringendſte Pflicht der Bürger“ und ſagten ſchon, frei-
lich nur in beſcheidenen Andeutungen: die Gleichheit der Rechte fordere
auch „Annäherung der Gleichheit in den äußeren Verhältniſſen“, alſo
Steuerfreiheit der kleinen Leute, Progreſſivſteuer, öffentliche Unterſtützung
der Arbeiter. Zu den Mitgliedern zählte auch der Student Carl v. Bruhn,
in ſpäteren Jahren ein eifriger Genoſſe Laſſalle’s. Die Zeitſchrift des Ver-
eins „Der Geächtete“ wurde von Jakob Venedey herausgegeben, der ſelber
nicht der extremen Richtung der Demokratie angehörte, aber nach der Weiſe
beſchränkter Köpfe jedes rohe Wort ſeiner Mitarbeiter willkommen hieß.
Er glaubte wie ſein Abgott Börne, die Vaterlandsliebe durch unbändiges
Schimpfen bethätigen zu müſſen: „Deutſchland war ſeit Jahrhunderten
das Land, von dem die Sklaverei über Europa ausging, und es iſt noch
heute alſo.“ An der Knechtſchaft der Polen, der Ungarn, der Italiener,
ſogar der Griechen und Spanier ſollten allein die Deutſchen ſchuld ſein;
doch „die unendliche Staatsſchuld wird abgetragen und die Schande Deutſch-
lands geſühnt, gerächt werden“. So wunderbar hatten ſich die Zeiten
geändert: dieſem neuen Burſchenſchafter erſchien der Befreiungskrieg als
eine Narrheit; mit wüthenden Schmähungen ſchalt er auf Arndt und die
anderen Freiwilligen von 1813, die jetzt nur Knechte des Abſolutismus
ſeien.
In dem nichtsnutzigen Müßiggange dieſes Verſchwörerlebens konnten
perſönliche Zänkereien nicht ausbleiben. Nicht lange, ſo ſonderte ſich von
dem Bunde der Geächteten ein Bund der Gerechten ab, nachher noch ein
Bund der Deutſchen und ein Bund der Communiſten. Um das Jahr
1836 ging einer der Genoſſen, Schapper nach London und ſtiftete dort
den radicalen Arbeiterverein, der noch heute als ein Brutneſt der Social-
demokratie beſteht. Das Junge Deutſchland verlegte ſeinen Hauptſitz aus
der Schweiz ebenfalls an die Themſe, und da England alle politiſchen Ver-
ſchwörungen gegen das Ausland grundſätzlich unverfolgt ließ, ſo entſtand
dort nach und nach noch eine Anzahl anderer deutſcher Geheimbünde, die mit
Mazzini’s Jungem Italien, mit der franzöſiſchen Geſellſchaft der Menſchen-
[608]IV. 8. Stille Jahre.
rechte, der Demokratiſchen Geſellſchaft der Polen in Verkehr blieben.*)
Machtlos für den Augenblick wurden die Geheimbündler doch für die Zu-
kunft bedeutſam; ihre langjährige ſtill wühlende Arbeit half die Aufſtände
des Jahres 1848 vorbereiten.
Mittlerweile zogen einzelne anſchlägige Köpfe aus der Lehre der un-
bedingten Gleichheit ſchon die letzten, den Begierden der Maſſe einleuchten-
den Folgerungen. Bereits zur Zeit der Juli-Revolution hatte der erfin-
dungsreiche Techniker Gall — derſelbe, der in ſpäterer Zeit durch das
Galliſiren des Weines bekannt wurde — den Plan entwickelt, die Macht
des großen Capitals durch die Aſſociation des kleinen zu bekämpfen. Seine
Worte verhallten noch ungehört. Ganz anderen Anklang fand nachher
der erſte Apoſtel des reinen Communismus im neuen Deutſchland, der
Schneider Wilhelm Weitling. Der war zu Magdeburg in den gedrückten
Verhältniſſen des kleinen Handwerks aufgewachſen; dann fügte es der
Humor des Schickſals, daß der hübſche, geſcheidte Schneidergeſell im Liebes-
wettſtreit um ein Mädchen einen Erzherzog ausſtach. So lernte er die
Schwächen und die Rachſucht der Mächtigen der Erde aus der Nähe kennen.
In Paris ward er in die Lehren Cabet’s und Fourier’s eingeweiht und
ging alsdann in die Schweiz, um die deutſchen Arbeiter zu entflammen.
Sein Büchlein „Die Menſchheit wie ſie iſt und wie ſie ſein ſollte“ (1838)
war auf Faſſungskraft und Neigung der Maſſen wohl berechnet und nicht
ohne Begeiſterung geſchrieben, obgleich das gute Eſſen und Trinken unter
ſeinen Zukunftsidealen einen unbillig breiten Raum einnahm. Ausgehend
von der apoſtoliſchen Einfachheit des älteſten Chriſtenthums verſicherte er
kurzab: „reich und mächtig ſein, heißt ungerecht ſein,“ und forderte zum
Beſten der Arbeiter, „der nützlichſten Menſchen des Erdbodens, den Zu-
ſtand der geſellſchaftlichen Gleichheit,“ dergeſtalt, daß ſelbſt die beiden
Geſchlechter gleich erzogen würden. In fünf, ſpäterhin in drei täglichen
Arbeitsſtunden ſollte die Geſellſchaft ihre gemeinſamen Aufgaben erledigen;
indeß ſtand Jedem frei, ſich durch außerordentliche Arbeiten, durch „Com-
merzſtunden“ noch beſondere Genüſſe zu verſchaffen. So werde „die Welt
ſich in einen Garten und die Menſchheit in eine Familie verwandeln“. So
liebliche Bilder mußten wohl manchen beladenen kleinen Mann bethören;
der Prophet redete ſcheinbar ganz harmlos und vermied die Frage, wie
der große Umſturz möglich werden ſolle. —
Auch die Auswanderung nach Nordamerika wurde durch den Unfrieden
der Revolutionsjahre mächtig gefördert. In dem Jahrzehnt bis 1840
nahmen die Vereinigten Staaten etwa 182,000 deutſch redende Auswan-
derer auf, zwölfmal mehr als im vergangenen Jahrzehnt; die Jahresziffer
ſank ſeit 1832 nicht mehr unter 10,000, im Jahre 1840 ſtieg ſie auf
[609]Weitling. Amerikaniſche Auswanderung.
34,000 Köpfe. Manchen dieſer Heimathloſen fiel ein trauriges Loos, und
faſt alle erprobten die Wahrheit des Sprichworts: Niemand hat in Amerika
Erfolg, ehe er ſein letztes europäiſches Geld verloren hat. Aber die Ent-
täuſchten ſchwiegen aus Scham, während die Glücklichen mit dem ganzen
Stolze der selfmade men ihre Erfolge den daheimgebliebenen Verwandten
anzupreiſen pflegten. Es giebt im Völkerleben Zeiten der Seßhaftigkeit,
und wieder andere, in denen der Wandertrieb wie eine dunkle elementa-
riſche Macht auf das Gemüth der Menſchen wirkt. Wie einſt das Lied
„Naar Ooſtland wille wi varen“ verführeriſch durch die Dörfer Flan-
derns klang, ſo träumten jetzt Unzählige von dem märchenhaften Glück,
das jenſeits des großen Waſſers jedem Tüchtigen winken ſollte; und ſo
wenig nüchterne Belehrung die Kreuzfahrer von der heiligen Reiſe zurück-
halten konnte, ebenſo wenig vermochten jetzt Vernunftgründe gegen die
unbeſtimmte Sehnſucht nach dem Weſten. Einem Volke ohne durchge-
bildete Staatsgeſinnung, das in der Staatsgewalt nur den polizeilichen
Dränger und Vormund ſah, mußte dieſe junge Welt, wo man den Staat
kaum bemerkte, unwiderſtehlich verlockend erſcheinen.
Dort in der Fremde erfuhren die Deutſchen täglich, wie ſtark die
innere Einheit unſeres Volksthums iſt. Alle Auswanderer deutſcher Zunge,
auch die Elſaß-Lothringer, die Schweizer, die Oeſterreicher ſchloſſen ſich
unwillkürlich als Landsleute an einander, während die Schotten und Iren
den Engländern fern blieben. Die politiſchen Flüchtlinge aus den höheren
Ständen waren ihre natürlichen Führer; unverkennbar hob ſich ihr Bil-
dungsſtand und ihr Anſehen unter den Eingeborenen. Von den Gießener
Radicalen kamen Paul Follen und Friedrich Münch, ein grundehrlicher
Mann von ungewöhnlicher Thatkraft; von den Frankfurter Verſchwörern
Guſtav Körner und die beiden Bunſen; aus der Pfalz die angeſehenen
Geſchlechter Hilgard und Engelmann. J. G. Weſſelhöft, aus der Thü-
ringer Burſchenſchafterfamilie, ließ in Philadelphia das größte deutſche
Blatt der Union, „Die alte und die neue Welt“ erſcheinen. Im fernen
Weſten, wo die Deutſchen ſich beſonders zahlreich angeſiedelt hatten, gab
ein anderer Jenenſer Burſchenſchafter, W. Weber, eine deutſche Zeitung
heraus, die den Lynchgerichten, der Mißhandlung der Neger und anderen
Sünden amerikaniſcher Herzenshärtigkeit oft tapfer entgegentrat. Dem
alten Vaterlande gingen alle dieſe tüchtigen Kräfte unrettbar verloren.
Die republikaniſche Geſinnung, die ſich in den Briefen der Ausgewan-
derten ausſprach, mußte daheim, im monarchiſchen Deutſchland, die Be-
griffe verwirren und namentlich den thörichten Haß gegen die ſtehenden
Heere verſtärken. Allgemein, ſelbſt in gemäßigt liberalen Blättern wurde
behauptet, dies glückliche Amerika ſchütze ſich ganz von ſelbſt, durch ſeine
Freiheit und durch die Ehrlichkeit, die man ſeiner Verwaltung ſeltſamer-
weiſe andichtete; Niemand bemerkte die einfache Thatſache, daß die Union
keine gefährlichen Nachbarn beſaß und darum keiner Truppen bedurfte. —
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 39
[610]IV. 8. Stille Jahre.
Unterdeſſen betrieb die deutſche Polizei unverdroſſen den Vernichtungs-
krieg gegen die daheim gebliebenen Demagogen. Das Paßweſen, das einſt
die Jacobiner zuerſt als eine Waffe gegen politiſche Feinde benutzt hatten,
erlangte durch die Gegner der Revolution ſeine höchſte Ausbildung; ſelbſt
die Lohnkutſcher durften keinen Reiſenden mehr befördern, wenn er ſich
nicht über ſeine Perſon auswies. Ueberall ſpürten geheime Agenten und
fahndeten auf verdächtige Briefe, auf dreifarbige Abzeichen, zuweilen auch
auf republikaniſche Vollbärte. In Baiern, deſſen geheime Polizei von dem
Cabinetsrath Grandauer ihre Weiſungen empfing, wurden einmal zwei
ſolcher Leute zu gleicher Zeit als gemeine Betrüger entlarvt. Ein Bun-
desbeſchluß (1836) verpflichtete alle Regierungen, feindſelige Unternehmungen
gegen den Bund als Hochverrath zu beſtrafen und einander gegenſeitig
die politiſchen Verbrecher auszuliefern. Nachdem die letzte radicale Zei-
tung, die Neckarzeitung, in Stuttgart unterdrückt war, ging man gegen die
Bücher vor; die freie Stadt Frankfurt verbot ſogar Sismondi’s Unter-
ſuchungen über die Verfaſſungen freier Staaten.
In der Anarchie dieſes Staatenbundes konnte es gleichwohl nicht aus-
bleiben, daß die Cenſoren nach ſehr verſchiedenen Grundſätzen verfuhren;
und wenn Verfaſſer und Verleger ſich den Cenſurvorſchriften unterworfen
hatten, dann blieben ſie, nach § 7 des Karlsbader Preßgeſetzes, „von aller
weiteren Verantwortung frei.“ Als nun die kurheſſiſche Cenſur eine ſehr
radicale „Petition deutſcher Bürger gegen die Preßſklaverei“ unbeanſtandet
durchgelaſſen hatte, da behauptete Blittersdorff im Bundestage (1834):
jene Vorſchrift des Preßgeſetzes beſage lediglich, daß der Bund die Schul-
digen nicht mehr zur Verantwortung ziehen dürfe; den Landesregierungen
ſtehe immer noch frei, die Verfaſſer cenſirter Schriften vor Gericht zu
ſtellen. Die Mehrzahl der Bundesgeſandten, auch der bairiſche, ſtimmte
dieſer ungeheuerlichen Auslegung zu. Da erklärte der Präſidialgeſandte
mit überraſchender Ehrlichkeit: zu einem ſolchen Schluſſe ſei „nur mittels
einer gründlichen und weitläuftigen Deducirung zu gelangen“. Der
Wiener Hof verlangte mehr; er wollte durch ein förmliches neues Bundes-
geſetz alle Schrecken der Cenſur und der gerichtlichen Verfolgung, der Prä-
vention und der Repreſſion zugleich über die deutſchen [Schriftſteller] ver-
hängen. Dazu konnten ſich die Mittelſtaaten doch nicht entſchließen; ſie
halfen ſich nach alter Gewohnheit, ihre Inſtructionen blieben aus, und
ein Bundesbeſchluß kam nicht zu Stande. Die Selbſtgenügſamkeit des
alten Beamtenſtaates verſchmähte aber auch, den Liberalismus durch kleine
volksthümliche conſervative Blätter zu bekämpfen, wie Otterſtedt dem preu-
ßiſchen Hofe vorſchlug. Die Regierungen meinten genug zu thun, wenn
ſie die Cenſur kräftig handhabten und ihre langweiligen, wenig geleſenen,
vornehmen Staatszeitungen erſcheinen ließen.*)
[611]Preußiſche Demagogen.
Insgeſammt wurden etwa 1800 Perſonen wegen der Umtriebe der
Revolutionsjahre in Unterſuchung gezogen. Die neue Bundes-Central-
behörde nahm von Allem Kenntniß; ſie zählte mehrere ausgezeichnete Rich-
ter in ihren Reihen; Preußen namentlich war durch Eichmann, nachher
durch Mathis und Strampff ſehr gut vertreten. Die Geſchäfte gingen
jedoch langſam, denn viele Regierungen zeigten ſich ſaumſelig, die einen
aus Zorn, die anderen aus Trägheit.*) Nach mehreren Jahren (1835)
beantragte Baden in Berlin die Auflöſung der Behörde, da ſie jetzt in
ſtillerer Zeit nur noch die Gemüther aufreizen könne. Der preußiſche Hof
aber beſtand darauf, erſt müſſe öffentlich Rechenſchaft abgelegt werden.**)
Im Jahre 1839 erſchien endlich die „Darlegung der Hauptreſultate“ der
politiſchen Unterſuchungen, ein Bericht, der ſich vor den Arbeiten der alten
ſchwarzen Commiſſion immerhin durch Ehrlichkeit auszeichnete; denn dies-
mal lagen wirklich ernſte Thatſachen vor. Niemand konnte leugnen, daß
die Verſchwörer von 1833 mit den Emiſſären Lafayette’s und der polni-
ſchen Propaganda in Verbindung geſtanden hatten; und dieſer geheime inter-
nationale Verkehr währte fort, noch im Jahre 1839 gründeten die Pariſer
Radicalen eine literariſche Correſpondenz zur Vertretung der franzöſiſchen
Intereſſen in Deutſchland.***) Daneben fehlte es freilich nicht an Zügen
kindiſcher Aengſtlichkeit: daß ein Küfer bei den Handwerksburſchen Stück-
faß hieß, ein Schornſteinfeger Schwarzkünſtler, ein dritter Geſelle gar den
ſchrecklichen Kriegsnamen Ochs führte, ſchien den Frankfurter Demagogen-
verfolgern hochbedenklich.
In Preußen war Alles ruhig geblieben, und das Kammergericht, das
unter der Oberaufſicht einer Miniſterial-Commiſſion die Unterſuchung
führte, mußte ſich faſt allein an die unglücklichen Studenten halten. Kamptz
verfügte als rheiniſcher Juſtizminiſter, daß Niemand eine Richterſtelle er-
langen dürfe, der jemals einer Burſchenſchaft angehört habe. Gegen die
Verhafteten ſelbſt zeigte er ſich wieder ſehr freundlich, freundlicher min-
deſtens als ſein Amtsgenoſſe Rochow oder der geſtrenge Präſident des
Kammergerichts v. Kleiſt; am härteſten verfuhren der berüchtigte Tzſchoppe
und der Unterſuchungsrichter Dambach. Vor dies Tribunal kam unnach-
ſichtlich jeder Burſchenſchafter, der den preußiſchen Behörden in die Hände
fiel, ſelbſt wenn er ein Ausländer war und nie in Preußen ſtudirt hatte.
Dem Berliner Polizeidirector Dunker, den alle Spitzbuben wie den Satan
fürchteten, ging es faſt wider die Amtsehre, daß er ſich jetzt mit ſo vielen
anſtändigen Leuten befaſſen ſollte. Auch Heinrich Laube mußte einige
Monate in harter Haft verbringen, nicht wegen ſeiner literariſchen Sün-
den, ſondern weil er vor langen Jahren in die Hallenſer Burſchenſchaft
eingetreten war. Im Jahre 1836 endlich ſprach das Kammergericht ſein
39*
[612]IV. 8. Stille Jahre.
Urtheil über 204 Studenten. 192 wurden verurtheilt, ihrer viele zum
Tode. An die Möglichkeit ſolcher Hinrichtungen glaubte aber Niemand
mehr; der König verwandelte die Strafe erſt in dreißigjährige, dann in
achtjährige Feſtungshaft, gänzlich begnadigt wurden nur Wenige. Kamptz
pflegte zu ſagen: Burſchenſchaft iſt Burſchenſchaft; darum durften auch
der junge Hiſtoriker Max Duncker und die anderen gut königlich geſinnten
Bonner Burſchenſchafter dem Gefängniß nicht entgehen.
Nicht ganz ſo unſchuldig war der engere Kreis der Jenenſer Ger-
mania, dort wurden ſehr verwegene Reden geführt und wohl auch mit
den Flüchtlingen thörichte Briefe gewechſelt. Doch die Mehrzahl auch dieſer
Burſchenſchaft beſtand aus harmloſen jungen Leuten, die ſich ganz zu-
frieden fühlten, wenn ſie nur die Farben des einigen Deutſchlands auf
der Bruſt trugen. Zu ihnen zählte der Mecklenburger Fritz Reuter. Der
hatte ſeine ganze Zeit gewiſſenhaft auf der Kneipe oder auf Spritzfahrten
verbracht und wußte von den ruchloſen Anſchlägen ſeiner eingeweihten Ge-
noſſen ſo gar nichts, daß der Unterſuchungsrichter ihn anfangs für einen
ungewöhnlich verſtockten Verbrecher hielt; erſt allmählich wurde Dambach
milder geſtimmt und ſagte: „gefährlich ſcheint er nicht als Anhänger
ſtaatsverderblicher Lehren, ſondern als Taugenichts.“ Sieben Jahre hin-
durch wurde dem Armen „der lebendige Strom ſeines Lebenswegs zu
einem See aufgeſtaut“; erſt lange nach ſeiner Befreiung entſchloß er ſich,
die Erinnerungen „ut mine Feſtungstid“ niederzuſchreiben, und der treu-
herzige, durch Thränen lächelnde Humor ſeiner harmloſen Erzählung be-
leuchtete den Aberwitz dieſer Demagogenjagd faſt noch greller, als der ſal-
bungsvolle religiöſe Ernſt der Kerkergeſchichte Silvio Pellico’s, le mie pri-
gioni. Solche Martern, wie ſie die Grauſamkeit des Kaiſers Franz über
Pellico verhängte, blieben den preußiſchen Demagogen freilich erſpart;
aber wie viele der jungen Männer verkamen in dem zweckloſen Einerlei
des Gefängnißlebens. Manche gingen unter in Trunk und Müßiggang,
Manche verbitterten für immer; nur Wenige vermochten ſich ſo gewaltſam
zu überwinden wie Max Duncker, der bald einſah, daß auch das unvernünf-
tige Geſetz Gehorſam erheiſche, und ruhig ſagte: mit Recht mußte ich büßen,
weil ich mich gegen das Geſetz des Staates verfehlt hatte.
Nachhaltige revolutionäre Leidenſchaft zeigten dieſe gutherzigen deutſchen
Naturen ſehr ſelten; ſelbſt den erklärten Radicalen füllte die Politik doch
nicht das ganze Leben aus. Da war Keiner, der, wie einſt der gefangene
Mazzini in ſeinem Adlerneſte bei Savona hoch über dem Mittelmeer, Tag
für Tag nur an die Befreiung ſeines Vaterlandes gedacht hätte. Wie
drohend, wie aufrühreriſch hatte einſt Wilhelm Cornelius in ſeinem Straß-
burger „Conſtitutionellen Deutſchland“ geredet*); als er nach einigen Jahren
Haft die Feſtung Graudenz verließ, erſchien er wie ausgetauſcht und ſchrieb
[613]Die Abbitten vor König Ludwig’s Bilde.
für das Bilderwerk „Das maleriſche und romantiſche Deutſchland“ den
Band über die Oſtſee, ein unſchuldiges Reiſegeplauder, das zumeiſt von Land-
ſchaften, Mondſchein und lieblichen Mädchen handelte. Wer den Durch-
ſchnitt unſerer Demagogen, der wirklichen wie der vermeintlichen, furchtlos
betrachtete, der mußte einſehen, daß die Thatkraft des germaniſchen Cha-
rakters in den Geheimbünden nicht zu Tage trat, und eine Revolution
von unten den Bundestag ſchwerlich überwältigen konnte.
Weit härter als in Preußen wüthete diesmal die Verfolgung in Baiern,
denn König Ludwig glaubte von den Liberalen, die ihn einſt vergöttert
hatten, verrathen zu ſein. Jetzt kannte er keine Schonung mehr; er ließ
ſogar Wirth’s Frau verfolgen, weil ſie die Vertheidigungsrede ihres Gatten
verbreitet hatte, gab den Richtern durch Handſchreiben Anweiſungen wie
ſie urtheilen ſollten, und ward auch nicht milder geſtimmt, als der trau-
rige Kerkertod eines preußiſchen Studenten Kolligs ganz München mit
Schrecken erfüllte.*) Ein Sendſchreiben „Stimme aus dem Kerker an König
Ludwig“ von dem radicalen Journaliſten Coremans erbitterte den Mon-
archen tief; darin ſtand zu leſen, durch ſeine Gedichte habe ſich der könig-
liche Poet „ſelbſt zum erſten Opponenten im Lande erklärt“. Unter den
142 bairiſchen Demagogen, die im Jahre 1834 ihres Urtheils harrten,
war auch der Würzburger Altbürgermeiſter Behr, vor Zeiten Ludwig’s Ver-
trauter. Der hatte in einer wortreichen „Dringenden Erinnerung“ den
Landtag von 1831 aufgefordert, die Reviſion der Verfaſſung und die Ver-
eidigung des Heeres zu beantragen; die Schrift enthielt viel Thorheit, aber
kein ſtrafbares Wort. Gleichwohl wurde der zweiundſechzigjährige Mann
verurtheilt, vor dem Bilde des Königs knieend Abbitte zu leiſten — eine em-
pörende Strafe, die dem gekrönten Dichter beſonders nöthig ſchien — und
dann zu vieljähriger Haft auf die Paſſauer Feſtung geführt. Ein Gnaden-
geſuch ſchlug der König ab, gerade weil er dem Verurtheilten früher ſo viel
Vertrauen erzeigt habe.**) Dieſelbe ſchimpfliche Strafe mußte der arglos
geſchwätzige Dr. Eiſenmann erleiden; in ſeiner Wohnung wollte die Polizei
einen Sammetmantel gefunden haben, den ſie für das Krönungskleid des
künftigen Frankenherzogs hielt. Beiden Unglücklichen wurde im Kerker die
Kraft des Leibes und der Seele gebrochen. Vergeblich bat der Landtag
um Amneſtie für die politiſchen Verbrecher, und mit begreiflichem Ingrimm
donnerte die Flüchtlingspreſſe wider das orientaliſche Strafverfahren des
bairiſchen Sultans. Da Ludwig gar ſo hart verfuhr, ſo betrachtete man
ſelbſt Oken’s Entlaſſung, die allein in der Unverträglichkeit des Natur-
forſchers ihren Grund hatte, als eine politiſche Gewaltthat. Eine Ode von
Schultheiß ſagte: der Dichterfürſt
[614]IV. 8. Stille Jahre.
Wegen des einen Wortes „lichtſcheu“ wurde der junge Poet verurtheilt,
vor dem Bilde des Königs zu knien und ſieben Wochen Haft auszuhalten,
obgleich das Gedicht noch gar nicht gedruckt, ſondern in einem erbrochenen
Briefe aufgefunden war.
Am längſten währten die Unterſuchungen im Großherzogthum Heſſen.
In dem gelobten Lande der Kleinſtaaterei um Frankfurt hatte der Radi-
calismus allmählich eine Macht erlangt, wie nirgendwo ſonſt in Deutſch-
land; die Willkür der freien Stadt gegen ihre Bauern, die Mißregierung
in Kurheſſen und Naſſau, die bureaukratiſche Strenge in Darmſtadt und
nicht zuletzt der erbauliche Anblick des Bundestags mußten das Volk auf-
regen. Daß Büchner und die oberheſſiſchen Verſchwörer im Jahre 1833
auf den Umſturz alles Beſtehenden ausgegangen waren, lag klar zu Tage*);
desgleichen, daß dort noch lange nach dem Frankfurter Wachenſturme ein
„Männerbund“ von ſtreng revolutionärer Richtung ſein Unweſen getrieben
hatte. Der Darmſtädter Hof führte die Unterſuchung mit leidenſchaft-
lichem Eifer. Großherzog Ludwig unterſchrieb eigenhändig zwei geheime
Aktenſtücke, welche den Denuncianten Strafloſigkeit „und ſelbſt Unſere
Erkenntlichkeit“ zuſicherten; du Thil aber verſtand, ganz wie die bairiſche
Regierung, durch rechtzeitige Verſetzungen dafür zu ſorgen, daß die Mehr-
heit der Richter in politiſchen Proceſſen immer aus Anhängern des Mini-
ſteriums beſtand.**) Viele der Angeklagten waren entflohen, auch der Gym-
naſiallehrer Schüler, der ſich dann in der Schweiz als eifriges Mitglied
dem Jungen Deutſchland anſchloß. Die noch übrigen Dreißig wurden
im December 1838 ſämmtlich bis auf fünf verurtheilt, und der Groß-
herzog erließ ihnen allen die Freiheitsſtrafen. Aber wie furchtbar war
ihnen in der langen Unterſuchungshaft mitgeſpielt worden; der namhaf-
teſte von allen, Pfarrer Ludwig Weidig hatte ſeinen Qualen ſelbſt ein
Ende gemacht.
Weidig genoß allgemeine Achtung als rechtſchaffener Mann, als tüch-
tiger Lehrer und Prediger, auch ſeine politiſchen Hoffnungen gingen nicht
über ein parlamentariſches deutſches Kaiſerthum hinaus. Allein er hatte
nicht umſonſt dem Bunde der Unbedingten als älterer Genoſſe angehört;
wenn ein Zwieſpalt zwiſchen Staat und Volk entſtünde, dann hielt er, „um
des Sieges der Wahrheit willen,“ jedes, ſchlechthin jedes Mittel für er-
laubt, darum trug er auch kein Bedenken, bei Büchner’s ſocialiſtiſchem
Heſſiſchen Landboten mitzuwirken. Durch ſolche Grundſätze vergiftete er
die Jugend, die er mit dämoniſcher Beredſamkeit an ſich zu feſſeln wußte.
Beſtändig empfing er die Beſuche polniſcher und franzöſiſcher Emiſſäre; das
kleine Butzbach blieb, ſo lange er dort als Rector wirkte, der Mittelpunkt
einer geheimnißvollen Wühlerei. Die Regierung betrachtete ihn als ihren
[615]Proceß Weidig.
Todfeind, obgleich er die Theilnahme an dem hoffnungsloſen Frankfurter
Attentate klüglich abgelehnt hatte, und beſtellte ihm zum Unterſuchungsrichter
den Gerichtsrath Georgi, einen brutalen Mann, der nach dem Zeugniß der
Gerichtsärzte am Delirium tremens litt. Durch die endloſen Verhöre ge-
rieth der ohnehin leidenſchaftliche Angeklagte in eine fieberiſche Aufregung.
Zuweilen erſchien er wie tobſüchtig; er ſagte dreiſte Unwahrheiten und be-
nahm ſich ſo widerſpänſtig, daß Georgi ihn mit Körperſtrafen bedrohte;
einmal ſtürzte er raſend mit einem Meſſer auf ſeinen Peiniger los. Dar-
auf wurde er allem Anſchein nach mit dem Farrenſchwanz geprügelt;
anders ließen ſich die Striemen, die man ſpäterhin an ſeiner Leiche ent-
deckte, kaum erklären. Als der Gefängnißwärter bald nachher, am 23. Febr.
1837, in die Zelle tritt, findet er Weidig im Blute ſchwimmend, aber noch
lebend auf dem Bette liegen. Der rohe Menſch wirft erſchrocken die Thür
zu und eilt zu Georgi. Der kommt, betrachtet ſich den Jammer, befiehlt
den Arzt zu rufen und geht von dannen. Nach anderthalb Stunden end-
lich erſcheint der Arzt, gerade als der Unſelige den Geiſt aufgiebt. Weidig
hatte ſich mit einem Glasſcherben die Adern an Armen und Füßen, zu-
letzt den Hals durchſchnitten, und es blieb wenn auch unwahrſcheinlich, ſo
doch denkbar, daß ihm der tödliche Schnitt erſt während jener letzten andert-
halb Stunden gelungen war.
Ein Schrei des Entſetzens ging durch das Land; der Haß der Par-
teien flammte auf. Manche der Liberalen verſicherten, der Unglückliche
ſei durch fremde Hand ermordet worden, was nach Lage der Umſtände
rein unmöglich war. Weidig’s zahlreiche Freunde und Schüler verherr-
lichten ihn nicht nur als ein Opfer barbariſcher Rechtspflege; ſie behaup-
teten auch, er habe an den Umtrieben der Verſchwörer niemals theilge-
nommen, und ſie fanden Glauben bei Vielen, denn nicht leicht entſchließen
ſich die Deutſchen zu der Erkenntniß, daß perſönlich ehrenhafte Männer
in der Politik verſchlagen und gewiſſenlos handeln können. Wilhelm Schulz
und Welcker bemächtigten ſich des grauenhaften Falles, um die Nichts-
würdigkeit des geheimen Verfahrens nachzuweiſen. Die geſammte deutſche
Preſſe gerieth in Bewegung. Die Züricher mediciniſche Facultät, die immer
bereit ſtand Deutſchlands Blößen aufzudecken, erwies in einem Gutachten,
Weidig ſei geprügelt worden; den Leichnam ſelbſt in Augenſchein zu nehmen,
hatte freilich keiner dieſer geſinnungstüchtigen Gelehrten für nöthig ge-
halten. Auch unter den heſſiſchen Richtern regte ſich die Scham. Der
Hofgerichtsrath Freiherr v. Lepel, der weder zu den liberalen Parteimännern
gehörte noch an Weidig’s politiſche Unſchuld glaubte, aber immer ehren-
haft für die Unabhängigkeit der Gerichte eingetreten war, verlangte in
einem Referate ſtrenge Unterſuchung gegen dieſe „höchſt ſchuldvolle, kaum
erklärliche Vernachläſſigung, welche das Vertrauen in die Juſtiz nothwendig
gefährden“ müſſe. Georgi erwiderte grob: „dem Gerichtsperſonal wird
wohl Niemand zumuthen wollen, bei einem ſolchen gefährlichen Individuum
[616]IV. 8. Stille Jahre.
ſelbſt Wache zu halten;“ und du Thil unterſtützte ihn mit voller Kraft.
Der kluge Miniſter hatte ſich in dem ewigen Kampfe mit den Liberalen
ſchon dermaßen verhärtet, daß er ihnen ſchlechterdings nichts mehr glauben
wollte. Er ſchilderte Georgi dem preußiſchen Geſchäftsträger als einen
ſchändlich verleumdeten Märtyrer der guten Sache; die beiden Gerichts-
ärzte hätten ſich nur durch die liberalen Abgeordneten verführen laſſen,
ein unwahres Gutachten über Georgi’s Säuferkrankheit abzugeben.*) Noch
mehr, als ſein Schützling die Stirn hatte ſich um einen Sitz in der
Kammer zu bewerben, gewährte er ihm den ſtillen Beiſtand der Behörden.
Georgi wurde gewählt, und Gutzkow ſang:
Die Inſchrift auf Weidig’s Grabe ließen die Behörden überkitten, weil
ſie den Todten als heiligen Streiter rühmte. Unbelehrbar blieb du Thil
bei ſeiner Anſicht. Noch lange Jahre nachher ſchrieb er in ſeinen Denk-
würdigkeiten, als er Weidig’s wüthenden Anfall auf Georgi erwähnt hatte:
„Man kann ſehen, was der Parteigeiſt bewirkt, wenn man weiß, daß jenes
Ungeheuer, das ſich am Ende ſelbſt entleibt hat, als Märtyrer betrachtet, faſt
vergöttert worden iſt, und daß man ihm ein Denkmal geſetzt hat.“ Aber
mit ſolchem Hochmuth bureaukratiſcher Selbſtgerechtigkeit ließ ſich der blu-
tige Schatten nicht bannen. Das Gerücht ließ nicht ab, die Schriften
über den gräßlichen Vorgang mehrten ſich; die öffentliche Meinung forderte
ſtürmiſch, das Geheimniß müſſe gänzlich aufgedeckt werden. Als nun
in Kurheſſen eine geheime politiſche Unterſuchung gegen Sylveſter Jordan
eingeleitet wurde, erſt 1839, eben zu der Zeit, da die Demagogenverfolgung
überall ſonſt einzuſchlafen begann, da erzählte man ſich bald, auch dieſer
Volksmann werde mit der gleichen Grauſamkeit behandelt. Der Unwille
ward allgemein. Die beiden Proceſſe Weidig und Jordan ſollten in der
deutſchen Geſchichte eine große Bedeutung erlangen, ſie gaben dem ge-
heimen Strafverfahren den Todesſtoß. —
Wie konnten in ſo ſchwüler Luft Vertrauen und Frieden gedeihen!
Die Verwaltung im Großherzogthum Heſſen arbeitete unter du Thil’s ein-
ſichtiger Leitung vortrefflich. Für Schulweſen und Straßenbau geſchah
ſehr viel; der Ertrag des landesfürſtlichen Kammergutes vermehrte ſich
beträchtlich, obgleich ein Drittel der Domänen an den Staat abgetreten
war. Die Ablöſung der bäuerlichen Laſten wurde ſo gerecht durchgeführt,
daß ſelbſt die Mediatiſirten, die überall ſonſt in Süddeutſchland über die
neuen Agrargeſetze klagten, hier allein zufrieden waren; die Solms und
[617]du Thil’s Herrſchaft in Darmſtadt.
Erbach benutzten die Ablöſungsgelder, um ihren Grundbeſitz zu vergrößern,
aber auch ihre Gutsunterthanen freuten ſich der Erleichterung. Den Par-
ticularismus hatte du Thil immer verachtet, und nach den Wiener Miniſter-
conferenzen war er mehr denn je davon überzeugt, daß dies zerfahrene
deutſche Weſen einer feſten Leitung bedürfe; im Stillen wünſchte er einen
Kaiſer, der ohne Parlament, mit Beirath eines Reichstags deutſcher Fürſten,
die Nation führen ſollte. Und dieſer geſcheidte Mann, der die meiſten
Miniſter der kleinen Staaten weit überſah, war gleichwohl kleinlich miß-
trauiſch wider die liberale Partei, empfindlich gegen jede freimüthige Kritik,
ganz durchdrungen von jenem unnahbaren Dünkel, der das alte Beamten-
thum auszeichnete. In der Hofburg galt er für den zuverläſſigſten aller
kleinen Miniſter. Als Metternich 1834 eine geheime Centralſtelle in Süd-
deutſchland einrichtete für die zahlreichen Agenten, welche der Wiener Hof
in Italien und der Schweiz, in Belgien und dem deutſchen Süden unter-
hielt, da wurde du Thil in das Geheimniß eingeweiht und empfing fortan
regelmäßige Berichte, während die anderen deutſchen Höfe nur zuweilen
einer vertraulichen Mittheilung gewürdigt wurden. Die niederen Agenten
hielt er ſelbſt gutentheils für zweideutige Glücksritter; ihm genügte, daß
der k. k. Oberbeamte, der von Zeit zu Zeit in Darmſtadt vorſprach, ſich
wie ein feingebildeter Mann benahm und jedes Geldgeſchenk zurückwies.*)
Auf Preußens Freundſchaft konnte ſich der Mitbegründer des Zollvereins
immer verlaſſen. Als er den Landtag von 1833 auflöſte, ſprach ihm An-
cillon ſeine warme Zuſtimmung aus.**)
Der neue Landtag von 1834 zeigte ſich nicht gefügiger. Auch dies-
mal hatte die Oppoſition die Mehrheit erlangt, und ſie trat, unter der
Führung Heinrich v. Gagern’s, ſo ſcharf auf, daß einige ängſtliche Mit-
glieder der Minderheit den Miniſtern erklärten, ſie wagten kaum noch in
der Kammer zu erſcheinen, weil jedes ihrer Worte verhöhnt würde.
Währenddem verweilte du Thil auf den Wiener Conferenzen. Sobald er
zu bemerken glaubte, daß Hofmann und die anderen Miniſter ſich zu nach-
giebig zeigten, erbat er ſich die Erlaubniß zur Rückkehr. Seine Taubheit
verhinderte ihn im Landtage ſelbſt zu erſcheinen; er kannte ſeine Gegner
kaum, traute ihnen das Aergſte zu und rieth dem Großherzog abermals
zur Auflöſung der Kammer. Ein Anlaß fand ſich bald genug. Die Libe-
ralen ſtellten einen Antrag auf Wahrung der Selbſtändigkeit des Richter-
ſtandes und trafen damit die wunde Stelle des Regierungsſyſtems. Gagern
erwies in hochpathetiſcher Rede, daß die Gerichte nur zu Gunſten einer
Partei zuſammengeſetzt würden; dieſe Partei, ſo fuhr er fort, verſtehe das
conſtitutionelle Princip nicht, ſie werde vorzugsweiſe durch das gegen-
wärtige Miniſterium vertreten. Da erhob ſich zornglühend der Staats-
[618]IV. 8. Stille Jahre.
rath Knapp — denn der Name: Partei hatte in den Kreiſen des Beamten-
thums noch einen böſen Klang — und verlangte, daß der Redner zur
Ordnung gerufen würde. Als die Mehrheit dies Begehren abſchlug, ver-
ließen die Regierungscommiſſäre den Saal, und am nächſten Tage wurde
die Kammer aufgelöſt (25. Oct.). Du Thil war von ſeinem Rechte tief
überzeugt und ſagte in einer Proclamation an das Volk: „Ein Mitglied
der zweiten Kammer erlaubte ſich einen ſo beleidigenden und herabwür-
digenden Ausfall, daß dadurch das Anſehen und die Achtung, die jede
Regierung anzuſprechen hat, im höchſten Grade gefährdet war.“
Der preußiſche Geſchäftsträger Heinrich v. Arnim, der noch ganz in
den politiſchen Anſchauungen ſeines Freundes, des Kronprinzen lebte, ſchrieb
frohlockend: „nach der gottvergeſſenen Idee der Volksſouveränität“ bedeute
die Auflöſung des Landtags eine Appellation an das Volk; durch die wieder-
holte Auflöſung ſei dieſer Wahn jetzt thatſächlich widerlegt. Auch Ancillon
erklärte ſich einverſtanden*), und in der That war nunmehr „der Hydra
der Kopf abgeſchlagen“, wie du Thil ſagte. Die neuen Wahlen fielen zu
Gunſten der Regierung aus, und vierzehn Jahre hindurch gebot der dauer-
hafteſte aller deutſchen conſtitutionellen Miniſter fortan über eine er-
gebene Mehrheit. Selbſt die Enthüllung des Thorwaldſen’ſchen Guten-
berg-Standbildes in Mainz (1837), ein Feſt, vor dem ſich der Hof leb-
haft fürchtete, verlief in Frieden, obwohl viele unheimliche Demagogen her-
beigekommen waren. Die Macht der Regierung ſchien für den Augenblick
ſo feſt zu ſtehen, daß im Jahre 1838 zwei Führer der Oppoſition, Gagern
und Langer entmuthigt aus der Kammer austraten. —
Weit ernſter war die Lage in Kurheſſen. Wie richtig hatte doch
Motz über ſeine Heimath geurtheilt, als er einſt, lange vor den Julitagen,
vorausſagte, von Braunſchweig und Kurheſſen würde die deutſche Revo-
lution ausgehen. In Braunſchweig war jetzt das Feuer gelöſcht, das Kur-
fürſtenthum blieb des Deutſchen Bundes Unglückskind. Selbſt der neue
preußiſche Geſandte, Frhr. v. Canitz, der dem geiſtreichen Berliner Freun-
deskreiſe des Kronprinzen angehörte und als geborener Heſſe gern nach-
ſichtig urtheilte, mußte ſchließlich geſtehen: das Land ſei nicht ſchlecht ge-
ſinnt, die Oppoſition ungefährlich; die einzige Gefahr liege in der Perſon
des Prinzregenten, die dem Braunſchweiger Karl nur zu ähnlich ſei, in
ſeinem boshaften, mißtrauiſchen Charakter, in ſeiner „Luſt, Allen wehe zu
thun, die ſich nicht ſchützen können.“**) Sehr ſchwer beſtraften ſich die
unfürſtlichen Familienverhältniſſe des Regenten. „Er hat uns nur in
Pachtung,“ ſagte man im Volke; Niemand traute ihm landesväterliche
Liebe zu, weil er die Herrſchaft doch nicht auf ſeine Nachkommen vererben
könne. Dieſer Verdacht mußte wachſen, als der Kurprinz von den Land-
[619]Haſſenpflug.
ſtänden die Bewilligung einer Dotation für ſeine unebenbürtigen Kinder
forderte, und deutlich zu verſtehen gab, für ſolchen Preis wolle er ſich
gern etwas von dem Militärbudget abhandeln laſſen.*) Die Verhand-
lungen zerſchlugen ſich. Die Ritterſchaft aber verſtand ihren Vortheil
wahrzunehmen, ſie nahm die Grafen von Schaumburg in ihre Corpo-
ration auf, ſo daß ihnen fortan heimfallende Ritterlehen übertragen wer-
den konnten, und empfing dafür von dem dankbaren Vater mannichfache
Begünſtigungen im Staats- und Hofdienſte. Währenddem fuhr der Kur-
prinz fort, ſeine Mutter durch kleinliche Bosheit zu mißhandeln. Er ließ
den Salon neben ihrer Theaterloge abbrechen und erwiderte auf ihre Be-
ſchwerde, er ſei ja ſelbſt bei ihr nicht hoffähig. Nichts liebloſer als ſeine
Briefe an die Kurfürſtin; als er ihr einen Kammerherrn, den ſie hoch-
ſchätzte, wegnahm, ſchrieb er ihr trocken: „übrigens beſitzeſt Du kein Rechts-
mittel, ihn in Deinem Dienſte beizubehalten.“**) Erſt nach vieljährigem
Streite überwand die ſtolze Fürſtin ihren Widerwillen, auf die dringenden
Bitten des preußiſchen Geſandten, und entſchloß ſich den Beſuch ihrer
Schwiegertochter zu empfangen. Seitdem wurde mindeſtens der äußere
Anſtand bei Hofe wiederhergeſtellt.***)
Haſſenpflug, der jetzt die Seele der Regierung war, hatte einſt als
Freiwilliger gegen Frankreich gefochten und in Göttingen einer Verbindung
angehört, welche den patriotiſchen Ideen der ſpäteren Burſchenſchaft nahe
ſtand. Frühe ſchon wendete er ſich den Lehren Haller’s zu, ſein ſcharfer
juriſtiſcher Verſtand ſchrak ſelbſt vor den letzten Folgeſätzen des Syſtems
der Reſtauration nicht zurück. Geiſtreich, vielſeitig unterrichtet, zeigte er
in den erſten, beſſeren Jahren ſeines Wirkens lebhaften Eifer für die
Blüthe der Wiſſenſchaften in Marburg. Der Verkehr mit ſeinen Schwä-
gern, den Brüdern Grimm, die ihn auch mit Dahlmann zuſammen-
brachten, hatte ihn gewöhnt ſich auf den Höhen der Bildung zu bewegen.
Die beiden, allerdings kindlich gutherzigen, großen Gelehrten hielten ihn
damals noch für durchaus redlich, nur fanden ſie ihn „nicht frei von
Einſeitigkeit und Ueberſpannung“, und nannten es unrecht, daß er ſeiner
eigenen Ueberzeugung zuwider die Rolle eines conſtitutionellen Miniſters
übernommen habe. Er verhehlte gar nicht, daß er die Verfaſſung als „ein
Werk der Revolution“ verabſcheute und entſchloſſen war, ſie durch die
allerſtrengſte Auslegung mit dem monarchiſchen Princip in Einklang zu
bringen. Während dieſer Kämpfe ward er immer härter, ſchroffer, gewiſſen-
loſer; in ſeinem ſchönen, geiſtreichen Geſichte ließen ſich bald die verkniffenen
Züge des Fanatismus und der Herrſchſucht erkennen. Wenn er ſcharf,
höhniſch, mit herausforderndem Hochmuth auf die tobende Kammer ein-
[620]IV. 8. Stille Jahre.
redete, dann ſchien es, als geize er nach dem Ruhme eines heſſiſchen Straf-
ford; und in der That verkündete das Berliner Wochenblatt, das er durch
ſeine Getreuen mit Beiträgen verſorgte: hier in Heſſen werde der geheime
Krieg zwiſchen Fürſtenrecht und Revolution endlich zum Austrage kommen.
So erwarb er ſich bald den Beinamen des Heſſenfluchs. Die Liberalen
haßten ihn um ſo grimmiger, weil ſie ſeine Begabung nicht beſtreiten
konnten: er erledigte die Geſchäfte leicht, ohne kleinliche Pedanterei und
zeigte eine glückliche Hand in der Auswahl ſeiner Werkzeuge. Ganz uner-
träglich war ihm der ſtehende Ausſchuß des Landtags, „dieſe verkehrteſte
Ausgeburt der neuen Verfaſſung;“ der Landtag aber erklärte gerade dieſe
ſtändiſche Nebenregierung, die ſich mit der modernen Staatseinheit in der
That nicht vertrug, feierlich für „das Palladium“ der heſſiſchen Freiheit.
Zunächſt dachte der Miniſter den alten Uebelſtand des deutſchen
Repräſentativſyſtems, die Beamten-Oppoſition auf dem Landtage, zu be-
ſeitigen; Jordan vornehmlich, der Vater der Verfaſſung, ſollte entfernt
werden. Darum verweigerte die Regierung, als für den Landtag von
1833 gewählt wurde, jedem des Liberalismus irgend verdächtigen Beamten
unnachſichtlich die Erlaubniß zur Annahme der Wahl. Jordan aber, der
Abgeordnete der Univerſität Marburg, ſuchte die Genehmigung des Mini-
ſteriums nicht nach, ſondern trat in gutem Glauben ein; hatte er doch
ſchon früher, ohne um Erlaubniß zu bitten, ſechzehn Monate lang die
Hochſchule im Landtage vertreten. Als die Urheber der Verfaſſung einſt
der Regierung das Recht der Urlaubsverweigerung zugeſtanden, hatten
ſie unzweifelhaft nicht beabſichtigt, daß ſich dies Recht auch auf den Ab-
geordneten der Univerſität erſtrecken ſollte; denn er mußte ein Profeſſor
ſein, er vertrat eine Corporation, welche ſeit drei Jahrhunderten, kraft
ihrer Prälatenwürde, immer frei aus ihrer Mitte gewählt hatte; durfte die
Regierung auch ihm die Erlaubniß zum Beſuche des Landtags nach Be-
lieben verſagen, ſo ging das alte Wahlrecht der Univerſität thatſächlich auf
das Miniſterium über. Aber dieſe in Wahrheit ſelbſtverſtändliche Aus-
nahme von der Regel war in der Verfaſſung nicht ausdrücklich ausge-
ſprochen; der Art. 71 verpflichtete alle Staatsdiener ohne Unterſchied, nach
ihrer Erwählung die Genehmigung der vorgeſetzten Behörde einzuholen.
Der verſchlagene Miniſter konnte ſich alſo auf den Buchſtaben des Grund-
geſetzes berufen, als er von der Kammer verlangte, ſie ſolle den Pro-
feſſor Jordan, der keine Erlaubniß erhalten habe, von ihren Sitzungen
ausſchließen. Der Landtag lehnte das Anſinnen ab, deſſen eigentlichen
Zweck Jedermann durchſchaute, und wurde ſofort aufgelöſt.
Fortan blieb jede Verſöhnung unmöglich. Der Haß gegen den Mini-
ſter ward ſo maßlos, daß ſelbſt der befreundete Canitz zuweilen meinte,
Haſſenpflug müſſe um des Friedens willen zurücktreten.*) Der aber hielt
[621]Haſſenpflug und der Landtag.
aus und erreichte wirklich, daß der Landtag von liberalen Staatsdienern
faſt ganz geſäubert wurde; was verſchlug es auch dieſem Tauſendkünſtler,
daß die Verfaſſung vorſchrieb, der Urlaub dürfe „nicht ohne erhebliche Ur-
ſache“ verſagt werden? Nach Jordan’s Ausſcheiden fand die Oppoſition
bald neue muthige Führer an dem wackeren Bürgermeiſter Schomburg,
der als Landtagspräſident die ſtürmiſchen Verhandlungen mit würdigem
Ernſt leitete, ſowie an den Juriſten Wippermann und Schwarzenberg, die
ungleich heftiger auftraten. Der Zank nahm kein Ende. Von vier Land-
tagen wurden unter Haſſenpflug’s Regiment zwei aufgelöſt, einer einfach
„entlaſſen“ — in Formen, welche die Verfaſſung nicht kannte — nur
ein einziger gelangte zum ordnungsmäßigen Schluß. Waren die Stände
nicht verſammelt, ſo kämpfte der Miniſter, noch leidenſchaftlicher, mit ihrem
Ausſchuß. Hartnäckig, mit der Kunſt des vollendeten Sophiſten, beſtritt
er ihnen jedes Recht, das nur irgend angezweifelt werden konnte. Als
die Budget-Commiſſion einmal mehrere Streichungen vorſchlug, richtete
die Regierung eine förmliche Beſchwerdeſchrift an die Kammer und be-
ſchuldigte den Landtag, der noch gar keinen Beſchluß gefaßt hatte, der
Ueberſchreitung ſeiner Befugniſſe. Zudem wurde im Lande jede Regung
des öffentlichen Lebens durch harte Polizeigewalt darniedergehalten, ob-
gleich die Unruhe der Revolutionsjahre längſt einer tiefen Abſpannung
gewichen war. Das dreihundertjährige Jubelfeſt des Schmalkaldener Bun-
des durfte — hier in der Heimath Philipp’s des Großmüthigen — nicht
ſtattfinden, weil jener aufrühreriſche Bund wider die Obrigkeit den Heſſen
nicht zur Ehre gereiche. Eines Tags erſchien der Miniſter feierlich im
Landtage um die Abgeordneten an ihre vaterländiſchen Pflichten zu mahnen
und die Erlaubniß zur Verfolgung eines Hochverräthers zu erbitten. Alles
harrte geſpannt auf den Namen des Frevlers; da nannte Haſſenpflug
einen der gutmüthigſten Philiſter des Hauſes, den Gaſtwirth Salzmann.
Der wurde beſchuldigt, auf ſeiner Kegelbahn in Nauheim das aufrühre-
riſche Gerede eines Genoſſen von Weidig ruhig mit angehört zu haben,
und ſelbſt dieſer Hochverrath konnte nachher nicht erwieſen werden.
Unter ſolchen unfruchtbaren Wortgefechten ſtockten die Geſchäfte. Alle
dieſe Jahre hindurch kam nur noch ein wichtiges Geſetz zu Stande, das
verſtändige Gemeindegeſetz von 1834. Die Landſtände wurden durch die
ewige Zänkerei empfindlich, gereizt, kleinlich. Sie beſchwerten ſich über
Amtsehrenbeleidigung, weil ſie einmal bei einer öffentlichen Feierlichkeit
zur linken Hand des Regenten geſtanden hatten; ſie markteten um jeden
Flügeladjutanten, genau nach den Weisheitslehren des Staatslexikons,
und wollten einſt ſogar den Gehalt des Zollvereinsbevollmächtigten ſtreichen
— ein offenbarer Vertragsbruch, der noch glücklich abgewendet wurde. Um
die Verwirrung zu vollenden, ließ der Prinzregent auch noch an den Mini-
ſtern ſeine Launen aus. Es wurde faſt zur Regel, daß Meiſterlin, Motz,
Trott und die anderen Miniſterialvorſtände, die neben Haſſenpflug wenig
[622]IV. 8. Stille Jahre.
bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz-
lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das
Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über
dies Regierungsſyſtem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent-
laſſungen bedeuteten nach heſſiſchen Verhältniſſen gar nichts, und fügte
die weiſe Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit ſchützt nicht vor der Ungnade
eines willkürlichen Fürſten. Wie verführeriſch mußte in einem ſolchen
Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgeſetzes erſcheinen, der die
Stände verpflichtete die Miniſter wegen Verletzung der Verfaſſung anzu-
klagen. Die Landſtände ſahen — ſo ſagte eine ihrer Klagſchriften — daß
Haſſenpflug „gegen das lebendige Wirken und die geſetzliche Entwicklung
der Verfaſſung unermüdlich ankämpfte.“ Doch ſo gewiß er den Geiſt der
Verfaſſung zu zerſtören ſuchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er ſich
klüglich; eine rechtliche Verſchuldung ließ ſich ihm nicht nachweiſen. Gleich-
wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte;
die eine der Anklageſchriften zählte allein dreizehn angebliche Verfaſſungs-
verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen,
die Landtagsauflöſungen ohne Landtagsabſchied, dazu eine Menge uner-
heblicher Dinge, ſogar die verſpätete Einſtellung der Rekruten.
Zum erſten male ſeit dem Beſtande der neuen Verfaſſungen unter-
nahm ein deutſcher Landtag die zweiſchneidige Waffe der Miniſteranklage
zu gebrauchen, und es wurde verhängnißvoll für die Zukunft unſeres Par-
lamentarismus, daß dieſer erſte Verſuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger
Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Vertheidigung des Mini-
ſters, den er ſicherlich nicht liebte. Mohl hatte ſich ſchon als junger Mann
durch ſeinen wiſſenſchaftlichen Freimuth die Ungnade des Bundestags zu-
gezogen und ſeine conſtitutionelle Geſinnung ſoeben wieder in dem treff-
lichen Lehrbuche des Württembergiſchen Staatsrechts bewährt, doch er ver-
ſchmähte den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen und er erkannte,
daß die deutſchen Landtage unbedacht ihr eigenes Anſehen untergruben,
wenn ſie politiſche Machtfragen und Meinungsverſchiedenheiten auf dem
Rechtswege zu entſcheiden ſuchten. In ſeiner Vertheidigungsſchrift ſprach
er ſehr ſcharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beſchwor die
Richter, „Heſſens Verfaſſung frei zu halten von ſolchem Widerſinn, ſolcher
Barbarei und ſolcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem
unmöglich machenden Auslegung.“ Das Oberappellationsgericht, das zum
guten Theile aus Liberalen beſtand und ſo oft ſchon fürſtlicher Willkür
tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren-
werthe Selbſtändigkeit. Haſſenpflug wurde in allen vier Fällen freige-
ſprochen und veröffentlichte, zur Beſchämung des Landtags, ſämmtliche
Aktenſtücke, die allerdings nur den Juriſten, nicht den Politikern ſeine Un-
ſchuld darlegten. Der preußiſche Hof hielt ſich von dieſem Streite, wie
von allen den inneren Zwiſtigkeiten der kleinen Staaten, behutſam zurück.
[623]Die Rotenburger Quart.
Als der Kurprinz einmal ſeinem königlichen Oheim einen Plan einſendete,
der die Landſtände zur Zurücknahme der Anklagen bewegen ſollte, da ließ
der König antworten: er wünſche nicht, daß ſein Neffe mit ihm oder dem
Kaiſer von Oeſterreich über ſolche Dinge unmittelbar Briefe wechsle, beide
Höfe könnten als Bundesmächte doch nur gemeinſam handeln; ſo würde
auch am ſicherſten „jeder Anſchein einer Verkennung der Grundſätze der
Verfaſſung vermieden“.*)
Die Proceſſe gegen Haſſenpflug währten in das vierte Jahr hinein,
bis zum Januar 1836, ohne das Land ſonderlich aufzuregen. Mittler-
weile war aber ſchon ein neuer, dem Volke verſtändlicherer Kampf aus-
gebrochen. Wieder einmal gerieth die Habſucht dieſes Fürſtenhauſes in
Streit mit dem eigenen Lande. Um Neujahr 1835 erloſch die Neben-
linie Heſſen-Rotenburg, die ein Viertel der alten Landgrafſchaft, die Roten-
burger Quart mit 225,000 Thlr. jährlicher Einkünfte beſaß und dort die
Patrimonialgerichtsbarkeit nebſt anderen niederen Regierungsrechten aus-
übte. Eine Weile blieb es noch zweifelhaft, ob dieſer reiche Beſitz wirk-
lich heimgefallen ſei; denn die Wittwe des letzten Rotenburgers, Landgräfin
Eleonore meldete aus ihrem einſamen Schloſſe Zembowitz in Schleſien,
daß ſie ſich Mutter fühle. Alsbald argwöhnte der mißtrauiſche Kurprinz,
daß man einen Erben unterſchieben wolle, obgleich die Landgräfin ſich von
freien Stücken bereit erklärte, ihr Wochenbett zu Rotenburg in Heſſen ab-
zuwarten. Er erbat ſich durch ſeinen Geſandten vom Berliner Hofe die
Anordnung der üblichen Sicherheitsmaßregeln. Nach deutſchem Fürſten-
rechte ließ ſich dies unanſtändige Verlangen nicht abweiſen. Das Pu-
pillen-Collegium in Ratibor ernannte nunmehr einen Landrath zum Cura-
tor ventris für die Wittwe; der mußte die Landgräfin nach dem Schloſſe
Rotenburg geleiten. Dort hatte der Kurprinz alle Zugänge vermauern
laſſen; der eine, der offen blieb, wurde ſtreng bewacht. Die arme Land-
gräfin, die unzweifelhaft in gutem Glauben war, bat den König von
Preußen für alle Fälle um Schutz, weil dem Kurprinzen kein Fürſtenwort
heilig ſei; da ſtellte ſich endlich heraus, daß ſie ſich über ihren Zuſtand
getäuſcht hatte.**)
Nachdem der Prinzregent alſo ſeinen Verwandten ſeine ritterliche Ge-
ſinnung gezeigt hatte, ließ er die Rotenburger Quart für ſein Hausfidei-
commiß einziehen; die Koſten der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit über-
wies er kurzerhand dem Staate und erbot ſich großmüthig 1500 Thlr.
jährlich zuzuſchießen. Zugleich verſuchte er auch die großen preußiſchen
Beſitzungen des Hauſes Rotenburg, die Fürſtenthümer Ratibor und Corvey,
welche der verſtorbene Landgraf ſeinen Neffen, den Prinzen von Hohenlohe
[624]IV. 8. Stille Jahre.
vermacht hatte, widerrechtlich an ſich zu reißen. In Preußen wurden ſeine
Anſprüche natürlich abgewieſen, um ſo hartnäckiger behauptete er ſie in Heſſen.
Da die Verfaſſung alle Domänen für Staatsgüter erklärt hatte, ſo ver-
ſtand es ſich von ſelbſt, daß auch die heimgefallenen Rotenburger Domänen,
durchweg ſeculariſirte Kirchengüter, dem Staate gehörten, und das kur-
fürſtliche Haus höchſtens eine entſprechende Erhöhung der Civilliſte fordern
konnte. Darüber waren auf dem Landtage von 1830, als das Landes-
vermögen getheilt wurde, die Vertreter der Regierung mit den Landſtän-
den vollkommen einig geweſen. Auch jetzt erklärte der Landtag mit er-
drückender Mehrheit, die Rotenburger Quart gehöre dem Staate. Die
treuen bäuerlichen Abgeordneten zeigten ſich beſonders eifrig; ſie ſagten,
jetzt ſei doch dem Kurhauſe endlich genug gezahlt worden. Doch leider
enthielt die Verfaſſung keine Vorſchrift über die Streitfrage, und ſo konnte
der landesübliche Zank von Neuem beginnen. Der Kurprinz blieb vor-
läufig im Beſitze und ließ im Verlaufe der Händel einmal eine höchſt ver-
dächtige Aeußerung fallen. Er ſchrieb den Ständen (1837): für den Fall
ſeiner eigenen Thronbeſteigung behalte er ſich noch eine beſondere Er-
klärung über „Unſere Domänen“ vor. Sollte das heißen, daß er als
Kurfürſt die ganze Vereinbarung vom Jahre 1830 wieder in Frage ſtellen
und auch die kurheſſiſchen Domänen für ſich verlangen wolle? Niemand
wußte es; die Ausſicht in die Zukunft ward immer düſterer.
Sie lichtete ſich auch nicht, als Haſſenpflug von dem unvermeidlichen
Schickſal aller heſſiſchen Miniſter ereilt wurde. Er hatte ſeine Schuldig-
keit gethan und begann dem Prinzregenten durch ſeine Herrſchſucht wie
durch ſeine Ueberlegenheit läſtig zu werden. Auf einen Vorſchlag, den
der Miniſter mit dem Beſten der Unterthanen begründete, erwiderte der
Regent unwirſch: „Ach was! Beſtes der Unterthanen! Da mag man noch
ſo viel thun, da wird doch nicht dafür gedankt, und dann denkt Niemand
dabei an Uns, es heißt doch, die Miniſter haben’s gethan.“ Man merkte
bald, daß der Kurprinz die Gelegenheit zum Bruche ſuchte. Sie fand ſich
auch ſchnell: es gab Streit über den Miniſtergehalt, und nachher wurden
gar einige Hengſte aus dem Landesgeſtüt, ohne Anfrage beim Prinzregenten,
zum Verkauf ausgemuſtert. Dies genügte. Durch ſchnöde Verweiſe be-
leidigt forderte Haſſenpflug zweimal ſeine Entlaſſung. Am 1. Juli 1837
wurde er aufgefordert, das Miniſterium des Innern aufzugeben, das Juſtiz-
miniſterium zu behalten; als er dies Schreiben zurückſchickte, erhielt er un-
gnädigen Abſchied. Das war der Dank für den Mann, der ſo lange die
eigenſten Gedanken des Prinzregenten mit tollkühner Dreiſtigkeit verthei-
digt hatte. Haſſenpflug war während der letzten Wochen, wohl um ſich
einen neuen Rückhalt zu ſuchen, im Landtage etwas milder aufgetreten.
Darum fühlte er ſich gedrungen, dem Könige von Preußen in einer aus-
führlichen Denkſchrift die wahren Gründe ſeiner Entlaſſung darzulegen.
Nimmermehr wollte er ſich dem Verdachte ausſetzen, „als wäre ein Aus-
[625]Die ſchwäbiſchen Liberalen.
prägen hyperconſtitutioneller Ideen in meinem Verfahren enthalten; das
wäre für mich die ſchwerſte aller Anklagen.“*)
An Haſſenpflug’s Stelle führte nunmehr Staatsrath Scheffer das Wort
für die Regierung. Der hatte ſich während der Revolutionsjahre durch
radicalen Uebermuth ausgezeichnet; jetzt ſprach er ganz im Sinne ſeines
Vorgängers, nur ohne deſſen Geiſt und Gewandtheit. Der Streit um die
Rotenburger Quart währte fort. Im Jahre 1838 wurden zwei Landtage
aufgelöſt, weil ſie die Einkünfte der Quart den Einnahmen des Staatsbudgets
hinzurechnen wollten. Darauf wendeten ſich die Stände nach Frankfurt,
um die Einberufung des Bundesſchiedsgerichts zu erbitten. Der Bundes-
tag wies ſie ab, da das heſſiſche Compromißgericht noch nicht geſprochen
habe. Die Abweiſung war der Form nach unanfechtbar — ſchade nur, daß
der Prinzregent die Einberufung des Compromißgerichts niemals zugeben
wollte. Als nun gar noch Jordan wegen demagogiſcher Umtriebe ins Ge-
fängniß geworfen wurde, da fragten die Heſſen ſchmerzlich, wo die Seg-
nungen der liberalſten aller deutſchen Verfaſſungen geblieben ſeien. —
In Württemberg hingegen erlangten König und Beamtenthum faſt
unmerklich ihre alte Macht wieder. Der vormals verabſcheute Führer des
liberalen „reinen Deutſchlands“ wurde jetzt an den großen Höfen, mit
beſſerem Grunde, als der erfahrene Neſtor der conſtitutionellen Fürſten be-
lobt: Niemand verſtehe wie er, mit den Landſtänden ohne Geräuſch fertig
zu werden. Bei den Neuwahlen, nach der Auflöſung des vergeblichen
Landtags von 1833, ließ Staatsrath Schlayer alle Minen ſpringen. Als
den liberalen Beamten der Urlaub verweigert wurde, forderte Ludwig
Uhland die Entlaſſung aus ſeiner Tübinger Profeſſur, und die Regierung
entblödete ſich nicht, dem größten aller lebenden Schwaben den Abſchied mit
dem höhniſchen Zuſatz „ſehr gern“ zu ertheilen. Auch der junge Kriegs-
rath Friedrich Römer legte ſein Staatsamt nieder um in den Stuttgarter
Halbrundſaal einzutreten, wo er ſich als das erſte praktiſche Talent der
Oppoſition bewährte. Die Liberalen blieben in der Minderheit und ſie
fühlten bald ſelbſt, wie wenig das ermüdete Land noch nach dem Kampfe
wider die Bundesſchlüſſe fragte. Uhland ſagte einmal herb: „Ich ſpreche
dem Volke das Recht ab, über etwas unzufrieden zu ſein, was eine von
ihm gewählte Kammer beſchloſſen hat. Es hat ſie ja ſelbſt ſo gewählt.“
Ein Antrag auf Herſtellung der Preßfreiheit wurde zwar angenommen,
und Uhland ſprach dabei die Hoffnung aus: wenn jetzt alle Landtage ihre
Pflicht thäten, ſo würde dereinſt eine deutſche Nationalverſammlung die
Volksrechte noch wirkſamer wahren. Doch was halfen Worte gegen die
anerkannten Bundesgeſetze? Pfizer verſuchte noch mehrmals das Verhält-
niß zwiſchen Bundesrecht und Landesrecht zur Sprache zu bringen. Er
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 40
[626]IV. 8. Stille Jahre.
verlangte in feuriger Rede: jeder Landtag müſſe die gemeinſamen deut-
ſchen Angelegenheiten als wahrhafte Landesangelegenheiten betrachten; dann
werde die Nation ſich als Nation erkennen und nicht länger vor den Aus-
ländern zu erröthen brauchen. Allein die Theilnahme blieb lau; als er
ſeine Anträge zum vierten male einbrachte, begrub man ſie ſtillſchweigend
in den Akten. Auch Römer’s tief durchdachte Reden gegen das neue, überaus
harte Strafgeſetzbuch fanden wenig Anklang.
Die Oppoſition ſtand ausſichtslos im Winkel und verfiel allmählich,
wie vormals die Altrechtler, jenem peſſimiſtiſchen Trotze, der die tiefen
ſchwäbiſchen Gemüther ſo leicht bethört. In einer geiſtreichen Schrift über
das Recht der Steuerverwilligung (1836) erwies Pfizer, dies Recht müſſe
den Landſtänden als Mittel dienen, „um auf die vollziehende Gewalt Ein-
fluß zu gewinnen und Aenderungen im Regierungsſyſtem zu bewirken.“
Es war die altſtändiſche Anſicht vom power of the purse, eine grob
naturaliſtiſche, mit der Staatseinheit ſchlechthin unvereinbare Lehre, welche
das Weſen der Freiheit im beſtändigen Kampfe gegen die Regierung ſuchte.
Dieſe ſtaatsfeindliche Doctrin, die einſt den alten Ständen Mecklenburgs
und Württembergs zum Leitſtern gedient hatte, wurde jetzt von dem erſten
Publiciſten des deutſchen Liberalismus als Grundſatz des modernen con-
ſtitutionellen Staatsrechts aufgeſtellt, und ſeine gemäßigt liberalen Freunde
ſchloſſen ſich ihm an. Sie ſtimmten alleſammt gegen das Budget, weil
ſie wußten, daß die Mehrheit es doch bewilligen würde, und ſprachen ſelbſt
feierlich aus, durch ihr Nein wollten ſie nur Verwahrung einlegen wider
„ein dem conſtitutionellen Princip ſo wenig entſprechendes Regierungsſyſtem“.
Doch unmöglich konnten ehrliche, geiſtvolle Männer bei Abſtimmungen,
die nicht ernſt gemeint waren, ſich auf die Dauer beruhigen. Was mußte
Pfizer empfinden, wenn er gegen den Zollverein ſtimmte oder gar den un-
ſinnigen Satz vertheidigte: Landesrecht geht vor Bundesrecht! Er täuſchte
ſich nicht über die Unwahrheit eines politiſchen Kampfes ohne Mittelpunkt
und Ziel; von den Portfolio-Träumen ſeines Freundes Wurm wollte er
auch nichts hören, weil er die Selbſtſucht der britiſchen Staatskunſt durch-
ſchaute. Ueberdies hatte er an ſich ſelbſt erfahren, daß nur Männer,
welche ganz im parlamentariſchen Leben aufgehen, in der Volksvertretung
wahrhaft mächtig werden, nicht aber Publiciſten oder Denker, die auf an-
deren Gebieten ſich ihren Namen erworben haben. Selbſt Uhland, deſſen
politiſcher Blick nicht ſo weit reichte, erkannte beſchämt die Ohnmacht dieſer
kleinen Landtage und ſagte: „Wir ſtehen an der Grenze einer lebendigen
Wirkſamkeit auf dieſem Wege. Der Bündel iſt nicht zu Stande gekommen,
das Beil hat kein Heft, und die Stäbe liegen geknickt umher.“ Das Land
regte ſich nicht, und es klang faſt wie Hohn, wenn Wurm und ſeine
Genoſſen im Portfolio rühmten: der Stuttgarter Hof ſei ruſſiſch, die
Oppoſition allein vertrete die wirkliche Meinung des Volks, das nach
einem Bunde mit den Weſtmächten verlange.
[627]Rücktritt der württembergiſchen Oppoſition.
Verſtimmt und entmuthigt beſchloſſen die Führer der Liberalen 1838,
den parlamentariſchen Kampf vorläufig aufzugeben; Pfizer, Uhland, Schott,
Römer, Wolfgang Menzel ließen ſich nicht wieder wählen. In einem
Briefe an einen ſeiner Geißlinger Wähler ſprach F. Römer die Verzweif-
lung und Erbitterung, welche den ſüddeutſchen Liberalismus ergriffen
hatte, ſtürmiſch aus. Da hieß es: „Gerade die Starrheit, womit ich auf
demjenigen beharre was ich für recht halte, macht mich zum württem-
bergiſchen Volksvertreter gänzlich unfähig. Kann man es mit dem be-
ſtehenden Rechte der Steuerverweigerung in Einklang bringen, einer Re-
gierung, welche dem Volke gerade diejenigen Mittel vorenthält, die allein
geeignet ſind, den Sinn für einen verfaſſungsmäßigen Rechtszuſtand zu
wecken und zu erhalten, kann man es, ſage ich, mit jenem Rechte in Ein-
klang bringen, einer ſolchen Regierung das Geld zu verwilligen, womit
der Cenſor belohnt wird, weil er diejenigen Stellen ſtreicht, welche ſich
auf die Rechte der Staatsbürger beziehen? — das Geld zu verwilligen,
womit der Polizeibeamte bezahlt wird, weil er gegen politiſche Verſamm-
lungen einſchreitet? — das Geld zu verwilligen, womit der Richter be-
ſoldet wird, weil er den Widerſtand gegen ſolche Verfügungen beſtraft?
So ſcheiterten alle Verſuche einen beſſeren Zuſtand zu begründen, an der
Furcht vor dem Bunde!“*)
Solche Verzichte beſtrafen ſich in der Politik unfehlbar. Die neue
Kammer von 1839 beſtand zumeiſt aus ergebenen Beamten und Schult-
heißen; man nannte ſie die Amtsverſammlung, und ganz ungeſtört konnte
Schlayer fortan mit dem Heere ſeiner Schreiber ſchalten. Er verfuhr ver-
ſtändig und ſparſam; nur eine Minderung der Ueberzahl der Generale wagte
er dem Großmachtsſtolze ſeines Monarchen nicht zuzumuthen. König Wil-
helm nannte ſich ſelbſt gern einen alten Praktiker und ſorgte eifrig für den
Landbau; ſein Liebling, die landwirthſchaftliche Akademie zu Hohenheim be-
ſaß auch nachdem der verdiente Schwerz abgegangen war, immer treffliche
Lehrer. Die völlige Entlaſtung des Bodens vermochte er freilich nicht durch-
zuſetzen; denn ſeine Regierung konnte, obgleich Schlayer ſie als ein „bür-
gerliches Miniſterium“ rühmte, des Beiſtandes der erſten Kammer gegen
die Liberalen nicht entbehren, und die Engherzigkeit der Standesherren
wollte von befreienden Agrargeſetzen nichts hören. Mit Mühe wurde die
Ablöſung der Frohnden und Beden, gegen eine ſehr hohe Entſchädigung,
erreicht; die Zehnten blieben beſtehen, zum Leidweſen des Königs. Die
Demagogenverfolgung betrieb er als nüchterner Geſchäftsmann nicht ſehr
eifrig. Die Preſſe dagegen ward unerbittlich bedrückt; ſie durfte ſogar die
Cenſurlücken nicht mehr durch Gedankenſtriche andeuten. Die große Treib-
jagd des Bundestags hatte in Schwaben nur noch zwei politiſche Blätter
am Leben gelaſſen: den Beobachter, der das Geſchäft des unterdrückten
40*
[628]IV. 8. Stille Jahre.
radicalen Hochwächters fortzuſetzen ſuchte, und den gemäßigten, zuweilen
von der Regierung ſelbſt benutzten Schwäbiſchen Mercur. Die Cenſoren
aber pflegten — ſo rechtlos war die Preſſe — das Oppoſitionsblatt nach-
ſichtiger zu behandeln als die befreundete Zeitung; denn was dort unbe-
denklich erſchien, hätte hier leicht Aufſehen erregen können. So ſchien dies
ſtramme bureaukratiſche Regiment noch auf lange hinaus geſichert; und
zuverſichtlich ſagte Schlayer im Landtage, zehn Jahre vor der März-Revo-
lution: „Wann war Württembergs Zuſtand beſſer als jetzt?“ Aehnliche
Aeußerungen der Selbſtzufriedenheit ließen ſich auch auf den Miniſter-
bänken anderer Kleinſtaaten vernehmen. In der Enge ihres Berufslebens
vermochten dieſe pflichtgetreuen Beamten nicht mehr zu begreifen, daß die
Wohlthaten eines langen Friedens und einer geordneten Verwaltung ein
edles Volk doch nicht über die ſchimpfliche Zerriſſenheit ſeines Geſammt-
ſtaats tröſten konnten. —
Während in Württemberg das alte Syſtem ſich nur wieder häuslich
einrichtete, bekundeten ſich in Baden bald die erſten Anzeichen einer ge-
fährlichen Reaktion. So lange Winter lebte, konnte der innere Friede
freilich nicht ernſtlich geſtört werden. Der wackere Miniſter zählte zu jenen
glücklichen Naturen, denen Niemand gram wird; ſeine derbe Offenherzig-
keit war den Oberländern unwiderſtehlich. Er hatte auf Befehl des Bun-
destags das neue Preßgeſetz aufgehoben; er hatte die Univerſität Freiburg
geſchloſſen und ihre liberalen Profeſſoren abgeſetzt; er verweigerte die Be-
ſtätigung, als die Freiburger nachher ihren Rotteck zum Bürgermeiſter
wählten. Gleichwohl ward er in dem liberalen Ländchen immer beliebter,
volksthümlicher faſt als die Führer der Oppoſition; ſelbſt Rotteck und
Welcker, denen er ſo viel Leides angethan, verkehrten mit ihm freundlich,
faſt herzlich. Niemand wollte glauben, daß er jene Thaten der Unter-
drückung aus freiem Antriebe beſchloſſen hätte; ſagte er doch ſelbſt oft:
„ich fürchte die oben mehr als die unten.“ Das kleinliche Mittel der
Urlaubsverweigerung verſchmähte er ſtets. Aber allen erwählten Beamten
ſchärfte er ein: ſie ſollten auch als Abgeordnete ihrer Staatsdienerpflicht
eingedenk ſein; wo nicht, ſo würde er nicht anſtehen, ihnen den Urlaub zu
entziehen. Andere Abgeordnete bat er brieflich um Mäßigung, mit ſcho-
nungsloſer Aufrichtigkeit. An Rotteck ſchrieb er einſt: „Meinen Sie, irgend
Jemand glaube, daß Sie gegen den Zollverein ſeien, weil Sie ihn für
ſchädlich halten? Kein Menſch glaubt es, weil er an und für ſich Ihrem
Syſtem entſpricht. Sie thun es aus Haß gegen Preußen, um, wenn Sie
reuſſiren, die Hand emporhalten und ſagen zu können: Ihr Preußen,
ihr habt den Hofrath v. Rotteck verfolgt, gekränkt, ſeine Schriften verboten
ſelbſt ehe ſie noch gedruckt waren; ihr habt ihn wie einen Wurm zer-
treten, aber dieſer Hofrath v. Rotteck iſt doch eine Macht! Sie ſpielen
hiernach die Rolle O’Connell’s, nur iſt Ihnen das Terrain nicht günſtig —
Sie haben kein Irland. Und deſſen Allen ungeachtet, da Sie als ent-
[629]Rotteck über den Zuſtand des Vaterlandes.
ſchiedener Feind, nicht blos Opponent der Regierung auftreten, verlangen
Sie noch ſchonlich behandelt zu werden? Nein, Herr Hofrath! So ſanft-
müthig können und dürfen wir uns nicht benehmen, nicht aus Perſönlich-
keit oder Rachſucht, nein, ſondern im Intereſſe der Regierung gegen Innen
und Außen.“ So grob, ſo ungerecht ſogar durfte er reden — denn Rot-
teck’s Preußenhaß entſprang wirklich nicht perſönlicher Empfindlichkeit,
ſondern dem doctrinären Starrſinn — und doch verargte es ihm Niemand.
Einem ſolchen Manne konnte es nicht ſchwer fallen, die liberale Partei
zu zerſpalten, ihre gemäßigten Mitglieder an ſich zu ziehen; ohnehin be-
gann die Erregung der Revolutionsjahre ſchon zu ſchwinden. Seinem
Schwager, dem liberalen Fürſten von Fürſtenberg redete der Großherzog
perſönlich zu, auf Otterſtedt’s Bitten, und der Fürſt blieb ſchließlich eine
Weile den Kammerverhandlungen fern.*) So verliefen denn die Land-
tage von 1833 und 35 in leidlichem Frieden. Wohl verſuchte Rotteck in
einer feierlichen Motion ein videant consules auszuſprechen; er verlangte
eine Commiſſion „um den Zuſtand des Vaterlandes in Erwägung zu
ziehen“, eine Rechtsverwahrung wider die Bundesbeſchlüſſe, obgleich der
Großherzog in gemüthlicher Anſprache den Abgeordneten verſichert hatte,
daß ſchlechterdings keine Verletzung der Verfaſſung beabſichtigt ſei. Die
Kammer aber verwies den Antrag in die Abtheilungen zur ſtillen Beſtat-
tung, und Winter verbot die Veröffentlichung; nur in den Protokollen,
wo Niemand ſie las, durfte die Motion gedruckt werden. Dann kam
Welcker mit einer ähnlichen Motion und redete gewaltig über „den fünf-
zigjährigen blutigen organiſchen Principienkampf zwiſchen Volksfreiheit und
ſchrankenloſer Herrſchergewalt“. Sogar die Schatten aus dem Teuto-
burger Walde beſchwor er herauf und weiſſagte: wenn Fürſt und Volk
einig ſeien, dann müſſe „der neue Gegner deutſcher Freiheit“ ebenſo un-
fehlbar unterliegen wie einſt Varus mit ſeinen Legionen; ſo weit ſich der
Rede dunkler Sinn errathen ließ, ſchien der König von Preußen dieſer
andere Varus zu ſein. Auch dies blieb vergeblich. Als Rotteck 1835
noch einmal eine Motion auf Sicherſtellung der Verfaſſung einbrachte,
blieben die Hörer kalt, und der Antrag wurde nicht einmal in das Pro-
tokoll aufgenommen; der tapfere Mann hielt unerſchütterlich bei der Stange
aus und bemerkte nicht den Wandel der Zeiten. Starken Anforderungen
war der Bürgermuth dieſes badiſchen Liberalismus keineswegs gewachſen.
Sobald die liberalen Städte Freiburg und Mannheim das Mißwollen der
Regierung bemerkten, ſuchten ſie alsbald durch glänzende Geburtstagsfeiern
ihre badiſche Vaterlandsliebe zu erweiſen. Als der Kronprinz von Preußen
nach Heidelberg kam, wurde er zu ſeiner großen Verwunderung ſchon
draußen in Handſchuhsheim von berittenen Fackelträgern empfangen. Vor
ſeinem Gaſthofe paradirte dann die Bürgergarde. Abgeſandte der Stadt
[630]IV. 8. Stille Jahre.
und der Univerſität betheuerten ihm wetteifernd ihre Ergebenheit; denn
die preußiſche Regierung hatte kürzlich die Thorheit begangen, ihren Unter-
thanen den Beſuch der Heidelberger Hochſchule zu verbieten, und die Preußen
bildeten den Stamm der ſtudirenden „Ausländer“, von denen die liebliche
Neckarſtadt damals noch lebte.*)
Die Verdienſte der Regierung ließen ſich nicht in Abrede ſtellen. Die
Ablöſung der bäuerlichen Laſten gelang zur Befriedigung der Pflichtigen,
ein verſtändiges Volksſchulgeſetz ordnete den Elementarunterricht; die neue
große Polytechniſche Anſtalt in Karlsruhe erlangte raſch einen guten Ruf;
Mannheim erhielt ſeinen Rheinhafen, ein unſchätzbares Geſchenk eben
jetzt, da die Stadt in den großen Verkehr des Zollvereins eintrat; die ſchon
im letzten Jahrzehnt nach den kühnen Plänen des Oberſten Tulla begon-
nene Correction des Rheines ſchritt rüſtig vorwärts, obgleich die Bauern
der Uferdörfer ſich zuweilen thätlich widerſetzten; auch die wilden Schwarz-
waldflüſſe Elz und Dreiſam wurden gebändigt. Die Verwaltung erwarb
ſich durch ihre einſichtige Thätigkeit ſo allgemeines Vertrauen, daß Winter
ſogar eine Abänderung des neuen allzu radicalen Gemeindegeſetzes beim
Landtage durchſetzen konnte.
Seit dem Herbſt 1835 begann man jedoch ſchon zu fürchten, daß
dieſer Waffenſtillſtand der Parteien nicht lange dauern werde. Freiherr
v. Türckheim forderte ſeine Entlaſſung. Er hatte ſich allezeit als treuer
Patriot gezeigt und noch kürzlich dem Tuilerienhofe muthig die Zähne ge-
wieſen, als dieſer während der Schweizer Wirren den Karlsruher Hof zu
bedrohen wagte; zuletzt ward ihm die peinliche Mittelſtellung zwiſchen dem
Bundestage und den Kammern doch verleidet. Sein Nachfolger wurde
Blittersdorff, weil ſich Niemand ſonſt fand, und weil Miniſter Reizen-
ſtein, der ſich mit den Jahren den Liberalen immer mehr entfremdete, der
Hofburg einen unzweideutigen Beweis badiſcher Bundestreue geben wollte.
Graf Münch, Blittersdorff’s Frankfurter Gönner, und der Geſandte in
Wien, General Tettenborn, hatten insgeheim nachgeholfen.**) An Feind-
ſeligkeiten gegen Preußen dachte der Großherzog ſicherlich nicht; er bewahrte
dem alten Könige treue Ergebenheit und vergoß Thränen der Rührung,
als er zum Chef eines preußiſchen Regiments ernannt wurde.***) Indeß
zeigten ſich bald die Hintergedanken des neuen Miniſters. Sein Ideal
war eine ſtarke, durch Oeſterreich geleitete Bundesgewalt, die den Land-
tagen unerbittlich den Daumen auf’s Auge ſetzen ſollte. In der Stille
näherte ſich der ungläubige Weltmann ſchon den Clericalen, denn ſie waren
in Süddeutſchland die einzig mögliche Stütze des Abſolutismus, und der
Wiener Hof hatte mit ihnen bereits ſeinen Frieden geſchloſſen. Neben
[631]Winter’s Tod. Blittersdorff.
dem volksbeliebten Miniſter des Innern kam Blittersdorff vorerſt noch
nicht auf.
Da ſtarb Winter plötzlich in der Kraft der Jahre (März 1837). Von
allen Diplomaten folgte allein der preußiſche Geſandte ſeinem Sarge; bei
den anderen Höfen hatte der Miniſter immer im Geruche des Demagogen
geſtanden. Das Land beweinte ihn aufrichtig und ehrte ihn ſpäterhin durch
ein Denkmal; an ſeinem Namen haftete fortan die Erinnerung der glück-
lichſten Zeiten des badiſchen Landtagslebens, obgleich er den Häuptlingen
des Liberalismus ſo ſcharf entgegengetreten war. Staatsrath Nebenius,
der jetzt das erledigte Amt übernahm, hatte bei allen Reformen der jüng-
ſten Jahre thätig und ſachkundig mitgewirkt. Aber zu regieren verſtand
er nicht. Dem Volke blieb der ſtille geiſtvolle Gelehrte fremd, und gegen
Blittersdorff’s brennenden Ehrgeiz konnte der Schüchterne mit ſeiner nach-
giebigen Milde wenig ausrichten. Er war der Verfaſſer der neuen Dienſt-
pragmatik, die den Beamten eine ſehr wenig, unleugbar allzu wenig be-
ſchränkte Selbſtändigkeit einräumte. Der hochfahrende Diplomat aber
ſah, wie Metternich, in dieſer Unabhängigkeit der Staatsdiener das ſchlimmſte
aller Uebel; er nannte das Beamtenthum ein todtes Werkzeug, das man
nach Belieben müſſe zerbrechen oder wegwerfen können. Wie ſollten dieſe
beiden Männer ſich vertragen? Man erzählte bald, der Jüngere habe
ſchon ungeduldig ausgerufen: er oder ich! Blittersdorff fürchtete, die Libe-
ralen würden ſich Nebenius „zu einem zweiten Winter nachziehen“. Bei
der gutmüthigen Schwäche des Großherzogs durfte Blittersdorff’s That-
kraft wohl auf den Sieg rechnen; und dann wurde der evangeliſche Hof
in das Fahrwaſſer der Clericalen getrieben, dann mußten die kaum be-
ſchwichtigten parlamentariſchen Kämpfe heftiger denn zuvor ſich erneuern. —
In dieſelben unheilvollen Bahnen begann jetzt auch Baierns Politik
einzulenken. Nirgends erſchien der Umſchwung der Stimmungen ſo auf-
fällig. Der Landtag, der vor drei Jahren dem Könige Ludwig ſo viel
Herzeleid bereitet hatte, benahm ſich überaus gefügig und beſcheiden, als
er im Jahre 1834 wieder zuſammentrat, er erwählte ſich einen Miniſter
zum Präſidenten, und kein Journaliſt wagte wieder, wie einſt Wirth, die
Abgeordneten aufzuwiegeln. So kränkenden Verhandlungen, wie ſie der
letzte Landtag über das königliche Einkommen geführt hatte, wollte ſich der
Monarch nimmer wieder ausſetzen. Er verlangte vielmehr, daß ihm aus
den Domänen ein ſelbſtändiges Krongut ausgeſchieden würde, und erſt als
ſeine eigenen Miniſter dies für unmöglich erklärten, wollte er ſich mit
einer ſtändigen Civilliſte begnügen. Dieſer Herzenswunſch ward ihm auch
erfüllt. Unter brauſenden Hochrufen bewilligten die Stände dem könig-
lichen Hauſe für alle Zeiten ein Jahreseinkommen, das ſich mit Einſchluß
der Apanagen auf etwa 3 Mill. fl., ein Zehntel der geſammten Staats-
ausgaben belief. Keine andere deutſche Dynaſtie ward verhältnißmäßig
ſo reich ausgeſtattet, das preußiſche Königshaus begnügte ſich mit einem
[632]IV. 8. Stille Jahre.
knappen Zwanzigſtel der Staatseinkünfte. Ebenſo bereitwillig genehmigte
der Landtag den außerordentlichen Aufwand für den Ludwigskanal, für
die prächtige Bibliothek und für die bairiſche Centralfeſtung Ingolſtadt,
die dem patriotiſchen Wittelsbacher doch weit näher am Herzen lag als die
Befeſtigung des deutſchen Oberrheins.
Einträchtig fanden ſich Krone und Landtag zuſammen, als das Nieder-
laſſungsgeſetz vom Jahre 1825 wieder zur Sprache kam.*) Die beſchränkte
Freizügigkeit, welche dies Geſetz gewährte, hatte unter den Pfahlbürgern
des Landes viel böſes Blut erregt; zahlreiche Petitionen dawider waren
eingelaufen. Die Kammer aber ahnte noch gar nichts von den drohenden
ſocialen Gefahren der Zeit; roh und herzlos äußerte ſich der Hochmuth
der beſitzenden Klaſſen über „das heilloſe Geſindel“ der Nichtbeſitzenden.
Wie viel menſchlicher und gerechter wurden dieſe Fragen zur ſelben Zeit
auf dem brandenburgiſchen Landtage behandelt; wie weit ſtand der Süden
in ſeiner volkswirthſchaftlichen Bildung noch hinter dem Norden zurück.
Nach ſtürmiſchen Debatten kam ein neues Geſetz zu Stande, das für die
Niederlaſſung einen ziemlich hohen Cenſus vorſchrieb; außerdem erhielten
die Gemeinden noch ein „abſolutes Veto“ gegen die Neu-Anziehenden, und
frohlockend rief ein Abgeordneter: dieſe ſcharfe Waffe denken wir kräftig zu
gebrauchen. Niemand fragte, was nun aus den vogelfreien Armen wer-
den ſollte. Das Geſetz ſtand in offenbarem Widerſpruche zu der Verkehrs-
freiheit des neubegründeten Zollvereins, aber es entſprach der vorherrſchen-
den Stimmung des Volkes. Ueber ein neues Gewerbegeſetz konnte man
ſich noch nicht einigen; indeſſen half die Regierung durch Verordnungen
nach und unterband den freien Wettbewerb dermaßen, daß Baierns Hand-
werke noch langehin weit hinter den norddeutſchen zurückblieben.
Bei allen dieſen Berathungen leiſtete die glatte, einſchmeichelnde Be-
redſamkeit des neuen Miniſters, des Fürſten Wallerſtein treffliche Dienſte;
König Ludwig war entzückt von dem Vielgewandten und überhäufte ihn
mit Gnaden. Wallerſtein pflegte ſeinen „Enthuſiasmus für freie Inſtitu-
tionen“ dann immer am feurigſten zu betheuern, wenn er eine illiberale
Maßregel vertheidigte. Feurig, beredt, nie verlegen, überreich an Einfällen
und Plänen, ein feiner Kunſtkenner und eifriger Förderer des Landbaus,
mußte der glänzende Cavalier, der ſo gern lebte und leben ließ, die Libe-
ralen wohl bezaubern, ſo lange ſie ſeine windige Eitelkeit noch nicht durch-
ſchauten. Sie bewunderten ihn, ſchon weil die Ultramontanen den leicht-
fertigen Freigeiſt haßten, und weil er eine Mißheirath geſchloſſen hatte —
ein Verdienſt, das der adelsfeindliche Liberalismus jener Tage ſehr hoch
anſchlug. Den Lapidarſtil bajuvariſcher Selbſtberäucherung handhabte er
faſt ſo kühn wie der König ſelbſt. Wie prächtig klang es wenn er ſagte:
„Die athletenmäßig erwachte menſchliche Intelligenz, bei augenblicklicher
[633]Miniſterium Wallerſtein.
Raſt der politiſchen Gegenſätze in breiten Strömen dem Gebiete der exakten
und techniſchen Beſtrebungen ſich zuwendend, hat in unſerem Staate keine
hemmenden Dämme gefunden.“*) In den Geſchäften zeigte ſich der Fürſt
thätig und geſchickt, nur daß er es mit der Wahrheit ſeiner Berichte nicht
immer ſehr genau nahm. Als die Cholera in München einzog, hielt er ſich
tapfer und erlaubte keinem Beamten von der Stelle zu weichen. Genug,
König Ludwig konnte mit der kürzeſten und friedlichſten Ständeverſamm-
lung, die er je erlebt, wohl zufrieden ſein und ließ zum Abſchied einen
Geſchichtsthaler prägen mit der kranzgeſchmückten Inſchrift: „Der Landtag
von 1834. Ehre dem Ehre gebühret.“ Ueberhaupt hielt Niemand auf der
Welt die Regierung dieſes Fürſten für ſo denkwürdig wie er ſelbſt. In
jedem Jahre pflegte er durchſchnittlich zwei hiſtoriſche Münzen auszugeben;
ſei es daß ein Handelsvertrag geſchloſſen oder ein neuer Orden geſtiftet
war, ſei es daß man Gold in der Donau gefunden hatte, jede bajuvariſche
Großthat, auch jedes Denkmal, das er enthüllen ließ, mußte auf geſchmack-
vollen Geſchichtsthalern verewigt werden.
Trotzdem war König Ludwig keineswegs gemeint, zu den conſtitutio-
nellen Idealen ſeiner Jugend zurückzukehren. Die bitteren Erinnerungen
des Landtags von 1831 konnte er nimmer verwinden; die Verfaſſung war
ihm nur ein nothwendiges Uebel, ſein despotiſcher Eigenwille ſcheute kaum
noch die Schranken des formalen Rechts. Hatte er einmal einen ſeiner
Miniſter, Schenk, dem Widerſtande des Landtags geopfert, ſo ſollten ſie
fortan alle nur noch die blinden Werkzeuge ſeines perſönlichen Beliebens
ſein. Von ihm allein ging Alles aus; darum durften auch die Zeitungen
nicht mehr von dem Könige und der Regierung, wie von zwei getrennten
Mächten reden. Hartnäckig blieb er dabei, daß die Armee ihre nothwen-
digen Ausgaben zum Beſten der Walhallen und Obelisken „erübrigen“
mußte. Von den Stabsoffizieren war ſchon die größere Hälfte nicht mehr
dienſtfähig, und trotz der dringenden Vorſtellungen des Kriegsminiſters
verblieb ſogar der ſiebenundachtzigjährige Artillerie-Commandant, der ſeit
zwei Jahrzehnten kein Pferd mehr beſtiegen hatte, auf ſeinem Poſten, ob-
gleich Baiern an General Zoller einen ausgezeichneten Fachmann beſaß,
der die junge Waffe der reitenden Artillerie vortrefflich ausbildete. Seit vier-
zehn Jahren hatten die Truppen kein Manöver mehr abgehalten, und als
ſie nun endlich zu einem Uebungsheer auf dem Lechfelde verſammelt wurden,
da erſchien dies Ereigniß ſo märchenhaft, daß die gute Stadt Augsburg,
nach dem Vorbilde des Königs, eine hiſtoriſche Münze zum ewigen Ge-
dächtniß prägen ließ. Lerchenfeld wurde ſchon nach Jahresfriſt aus dem
Finanzminiſterium abermals entfernt; er hatte ſeiner Pflicht gemäß Ein-
ſpruch erhoben, als der König ohne ihn zu fragen auf Staatskoſten einen
[634]IV. 8. Stille Jahre.
ſtilvollen Palaſt für das Münchener Poſtamt ankaufte, und mußte nun
als Geſandter nach Wien gehen, angeblich um dort über einen Handels-
vertrag, der nie zu Stande kam, zu unterhandeln. Der preußiſche Ge-
ſandte aber ſchrieb: daran läßt ſich erkennen, „wie hier die conſtitutionelle
Verantwortlichkeit der Miniſter verſtanden wird.“*)
Mit der launiſchen Willkür des Königs wuchs auch ſeine Vorliebe
für die Clericalen. Während er den Proteſtanten verbot, nach preußiſcher
Weiſe den Namen der evangeliſchen Kirche zu führen, erlaubte er den
römiſchen Prieſtern das Sanctiſſimum überall, ſogar in proteſtantiſchen
Städten, durch die Straßen zu tragen und befahl, daß Reiter und Wagen
davor anhalten ſollten. Die Klöſter mehrten ſich von Jahr zu Jahr; im
Juli 1837 beſtanden ihrer ſchon 85; die Zuſage des Concordats, welche
die Wiederherſtellung „einiger“ Klöſter verhieß, war alſo längſt erfüllt.
Der aufopfernden Liebesthätigkeit der barmherzigen Schweſtern verſagten
auch die Proteſtanten ihre Anerkennung nicht; die terminirenden Bettel-
mönche aber geriethen häufig in Streit mit den Polizeibeamten, die nach
ihrer Amtspflicht das Betteln und Strolchen zu unterſagen hatten. In
Augsburg übergab der König das Gymnaſium den Benedictinern und
feierte dieſe That durch einen Geſchichtsthaler, der die Bavaria darſtellte,
wie ſie zwei Knaben einem Mönche zuführte. Dann befahl Wallerſtein
durch eine Verordnung, daß bei der Beſetzung der Gymnaſial-Lehrerſtellen
die Geiſtlichen vorzugsweiſe berückſichtigt werden ſollten. Er that es aus
Nachgiebigkeit gegen den König; im Stillen war der ſchmiegſame Miniſter
von der Ueberlegenheit des weltlichen Unterrichts überzeugt und freute ſich
herzlich, als der Führer der claſſiſchen Pädagogen, Thierſch in der Pfalz
einige neue Lateinſchulen einrichtete. Wo das Mönchthum blühte, durften
auch die Mirakel nicht fehlen. In der Nachbarſchaft Münchens tauchte eine
Blutſchwitzerin Maria Mörl auf, und zahlreiche Andächtige ſtrömten herbei,
um die Wundenmale Chriſti am Leibe der heiligen Frau zu betrachten.
Unterdeſſen hatte der Papſt (1832) ein ſtrenges Breve über die ge-
miſchten Ehen erlaſſen. Auf die Bitten des ehrwürdigen Bamberger Erz-
biſchofs Frhrn. v. Frauenburg und anderer Prälaten wurden dieſe harten
Vorſchriften zwar durch eine Inſtruktion etwas gemildert; indeß blieb fortan
Regel, daß der römiſche Prieſter die katholiſche Erziehung aller Kinder ver-
langte und anderenfalls höchſtens die paſſive Aſſiſtenz leiſtete. In den pari-
tätiſchen fränkiſchen Landſchaften, wo auf 16 neue Ehen oft 14 Miſchehen
kamen, äußerte ſich der Unwille ſehr laut. Als aber das lutheriſche Con-
ſiſtorium, um ſeine Gegenmaßregeln zu treffen, ſich von der Regierung die
Mittheilung jener beiden Breven erbat, da wurde ihm ſein Geſuch mehr-
mals abgeſchlagen.**) Die Ausſichten verdüſterten ſich noch mehr, als
[635]Die bairiſchen Clericalen.
der Nuntius Graf Mercy d’Argenteau im Frühjahr 1837 abberufen wurde;
er hatte ſich zehn Jahre hindurch redlich bemüht, ſo weit er durfte, den
confeſſionellen Frieden zu wahren.*) Lange vorher ſchon hatte Hormayr,
der boshafteſte und händelſüchtigſte unter allen Gegnern der Ultramon-
tanen, die Gunſt des Königs verloren und mit dem unſchädlichen Han-
növerſchen Geſandtſchaftspoſten vorlieb nehmen müſſen. Auch die wieder-
holten römiſchen Reiſen des Königs und die häufigen Beſuche ſeiner
Schweſter, der Kaiſerin Wittwe Karoline Auguſte mußten den Argwohn
der Proteſtanten erregen.
Unter den clericalen Gelehrten that ſich Nepomuk Ringseis durch
tapferen Freimuth hervor; gram konnte man ihm nicht werden, da er
trotz ſeiner hartconfeſſionellen Geſinnung doch Jedem mit menſchlichem
Wohlwollen begegnete und trotz ſeiner phantaſtiſchen Theorien als prak-
tiſcher Arzt Ausgezeichnetes leiſtete. Er hatte beim Könige die Zulaſſung
der barmherzigen Schweſtern durchgeſetzt; dann hielt er als Rector der
„chriſtlichen und legitimen“ Münchener Hochſchule (1833) eine Rede „über
den revolutionären Geiſt der Univerſitäten“, die jede Beſchränkung der
Lehrfreiheit entſchieden zurückwies und den Höfen ehrlich herausſagte, ſie
ſelbſt ſeien mitſchuldig an den Sünden der Revolution. Das Idealbild
des ſtändiſch gegliederten chriſtlich-germaniſchen Staates, das der Redner
entwarf, hatte freilich gar nichts gemein mit der demokratiſchen Geſellſchaft
des neuen Jahrhunderts, und mit gerechter Beſorgniß fragten die Libe-
ralen, was von einer Partei zu erwarten ſei, deren freieſter Kopf alſo ſprach?
Der Münchener ultramontane Kreis, dem das Volk aller Verwahrungen
ungeachtet hartnäckig den Namen der Congregation beilegte, gewann mittler-
weile einen mächtigen Zuwachs an dem gelehrten Rechtshiſtoriker Phillips,
einem Königsberger von engliſcher Abſtammung, der gleich ſeinem Freunde
Jarcke zur römiſchen Kirche übergetreten war und ſeinen Fanatismus
hinter feinen geſellſchaftlichen Formen zu verbergen wußte. Clemens Bren-
tano ſchlug ebenfalls ſein Wanderzelt an der Iſar auf, und während der
Landtage erſchien auch der Abgeordnete der Würzburger Hochſchule Frhr.
v. Moy, ein ſanfter liebenswürdiger Gelehrter von hart clericaler Ge-
ſinnung.
Ein Theil der Biſchöfe bekannte ſich noch zu den duldſamen An-
ſchauungen des frommen Sailer; doch ſeit dem Jahre 1836 gewann die
ultramontane Partei auch unter den Prälaten die Oberhand. Ihr Haupt
wurde der neue Biſchof von Eichſtädt, Graf Reiſach, ein wohl unterrich-
teter, der Herrſchaft gewohnter Jeſuit, erfahren in der mönchiſchen Askeſe
wie in allen höfiſchen Künſten. Reiſach hatte ſeine geiſtliche Erziehung
im Germanicum empfangen und dann als Studien-Rector der römiſchen
Propaganda die beſondere Gunſt des neuen Papſtes Gregor’s XVI. er-
[636]IV. 8. Stille Jahre.
langt. Sobald er den Hirtenſtab des heiligen Wilibald in Händen hielt,
errichtete er ſofort ein Knabenſeminar — eine jener gemeinſchädlichen, auf
die Knechtung der kindlichen Gemüther berechneten Anſtalten, welche bis-
her noch in keinem der paritätiſchen deutſchen Staaten Einlaß gefunden
hatten. Wie hoch die Hoffnungen der Ultramontanen geſtiegen waren, das
erhellte am ſicherſten aus der gedämpften, faſt diplomatiſchen Redeweiſe
des alten Kämpen Görres, der jetzt außer einem phantaſtiſchen Buche über
die chriſtliche Myſtik auch zahlreiche Flugſchriften und Artikel in der cleri-
calen Zeitſchrift „Eos“ veröffentlichte. Seinen Berſerkerhaß ergoß er aus-
ſchließlich auf die Liberalen; das Miniſterium Wallerſtein bekämpfte er als
ein Syſtem des Juſte-Milieu mit auffälliger Milde, und von der Perſon
des Königs redete er ſtets im Tone der Ehrfurcht. Es war erſichtlich die
Sprache einer Partei, die ſich ſchon anſchickte die Herrſchaft anzutreten.
Zunächſt blieben aber König Ludwig’s Gedanken ganz in die Ferne
gerichtet. Sein alter Traum, der Plan eines bairiſch-griechiſchen Staates,
ſchien jetzt wirklich in Erfüllung zu gehen. Seit Griechenlands Unab-
hängigkeit geſichert war (1827), hatte Kapodiſtrias, der Vertraute des Czaren
Alexander, der einzige Hellene von europäiſchem Namen, die Leitung des
jungen Staates übernommen; doch in den wüſten Parteikämpfen des gänz-
lich verarmten und maßlos begehrlichen Volkes vermochte der wohlmeinende
Kybernetes ſich kaum zu halten. Die Capitäne der alten Freiheitskämpfer
erhoben ſich wider ihn und fanden, da er ſich auf Rußland zu ſtützen
ſuchte, bei den Geſandten der Weſtmächte geheime Hilfe. Nun beſchloſſen
die drei Schutzmächte (Febr. 1830), daß Griechenland einen ſelbſtändigen
Staat unter einem Fürſten aus ſouveränem Hauſe bilden ſollte. Aber der
erwählte Throncandidat Leopold von Coburg lehnte ab, bald darauf wurde
Kapodiſtrias meuchlings ermordet (1831), und die ſcheußliche Anarchie, die
nun hereinbrach, zeigte genugſam, was man an ihm verlor. Als nach
Jahren die Leidenſchaften ſich beruhigten, geſtanden die Hellenen ſelber, daß
ſie doch niemals einen beſſeren Herrſcher geſehen hatten, als den vielver-
leumdeten Baba Jannis.
In dieſer Zeit allgemeiner Verwirrung bereiſte Friedrich Thierſch das
Land. Als glühender Bewunderer der Hellenen war der liebenswürdige
Gelehrte überall wohlgelitten und er benutzte dieſe Volksgunſt, um zu ver-
wirklichen, was er ſeit Jahren geplant, und den Sohn des gekrönten Phil-
hellenen, den Prinzen Otto von Baiern als König der Hellenen zu em-
pfehlen. Der Vorſchlag fand freundliche Aufnahme, König Ludwig’s Zu-
ſtimmung verſtand ſich von ſelbſt, und da die Schutzmächte keinen anderen
Rath wußten, ſo übertrugen ſie am 7. Mai 1832 dem jungen Prinzen
die Herrſchergewalt, die ihm nachher durch den einſtimmigen Beſchluß der
griechiſchen Nationalverſammlung feierlich beſtätigt wurde. König Ludwig
ſchwamm in Freuden. Wie viel Geld und wie viel Lieder hatte er ſchon
den Hellenen geſpendet; wie oft, wenn er ſein Land durchreiſte, hatte er
[637]Die Baiern in Griechenland.
ſich jeden Empfang verbeten und den Baiern anbefohlen, die Koſten der
Ehrenpforten und Kränze den griechiſchen Kämpfern zu widmen. Nun
ſah er das Land ſeiner Sehnſucht befreit und zugleich den Stolz ſeines
Hauſes befriedigt. Er träumte ſchon von einer wittelsbachiſchen Groß-
macht, die ſich, allerdings nicht ohne Unterbrechung, vom Fichtelgebirge
bis zum Cap Matapan erſtrecken ſollte, und willigte nur ungern darein,
daß ſein Sohn auf die bairiſche Thronfolge verzichten mußte.*) Da ein
Geſchichtsthaler für einen ſolchen Erfolg offenbar nicht ausreichte, ſo wur-
den ihrer drei geprägt. Auch im bairiſchen Lande herrſchte anfangs ſtarke
Begeiſterung, als die drei Abgeſandten der Hellenen in ihrer maleriſchen
Nationaltracht auf dem Münchener Octoberfeſte erſchienen. Mancher brave
Brauer ſchmückte ſein Wirthshaus mit der Inſchrift „zur Stadt Nauplia“.
Die nach Hellas ausziehenden Grenadiere ſangen ein ſtolzes Lied: „Ich
bin ein Baier, ſtamm’ von tapfern Ahnen,“ das mit den Worten ſchloß:
„wir ſind ja Baiern, laßt uns Baiern ſein;“ und da das Preußenlied
im Süden noch faſt unbekannt war, ſo hielt man dies Gedicht für ein
echtes bajuvariſches Naturgewächs.
Die anderen Deutſchen lachten freilich nur über die wunderliche dyna-
ſtiſche Schrulle des Baiernkönigs. So lange die Hellenen noch für ihre
Freiheit fochten, wirkten ihre Geſchicke auch auf Deutſchland zurück, weil
der Agon den erſten Stoß führte gegen das Syſtem der ſtarren Legitimität,
und weil die deutſchen Philhellenen aus dieſen Kämpfen eine kräftige Be-
geiſterung für das Recht der nationalen Selbſtbeſtimmung heimbrachten.
Seit Griechenland dem wittelsbachiſchen Hauſe verfiel, war es für uns
lediglich ein entlegenes kleines Land, nur noch darum bedeutſam, weil die
helleniſche Staatskunſt der Krone Baiern die Briten, Ruſſen und Fran-
zoſen beſtärken mußte in der hergebrachten Meinung, daß die Deutſchen
für die Politik verloren ſeien. In der That ſtand das Verhalten des
philhelleniſchen Königs wenig im Einklang mit dem Namen „des Landes
der Weiſen“, welchen die lernbegierigen Griechen dem gelehrten Deutſch-
land beizulegen liebten.
Prinz Otto war noch unmündig, ein gutmüthiger, ſittſamer junger
Mann, aber wenig begabt, unentſchloſſen, mißtrauiſch, ſchüchtern; niemals
erhob ſich ſein linkiſches Weſen zu jenem ſicheren Selbſtgefühle, das die
Orientalen vor Allem von ihren Herrſchern verlangen. Bis zu ſeiner
Volljährigkeit mußte ihm eine Regentſchaft beigegeben werden, und König
Ludwig meinte ſehr klug zu handeln, wenn er mit dieſer wichtigen Auf-
gabe Männer betraute, welche ganz außerhalb der griechiſchen Parteikämpfe
ſtünden, alſo treue Baiern. Er ernannte zu Regenten ſeinen erſt kürz-
lich in Ungnaden entlaſſenen Miniſter Grafen Armansperg, den gelehrten
Profeſſor Maurer und den alten Philhellenen General Heideck; von allen
[638]IV. 8. Stille Jahre.
Dreien war nur Heideck des griechiſchen Landes und ſeiner Sprache
einigermaßen kundig. „Was ich in Ihre Hände lege — ſchrieb Ludwig
an Armansperg — iſt nicht blos ein perſönliches, es iſt ein Intereſſe des
bairiſchen Hauſes, des bairiſchen Volks, ein welthiſtoriſches Intereſſe.“
Auch eine Schaar von Unterbeamten zog mit hinüber. Darunter befanden
ſich — wie dies bei jeder plötzlichen Verſchiebung im Beamtenthum zu
geſchehen pflegt — einzelne hochſtrebende Idealiſten, aber noch mehr un-
brauchbare Leute, die daheim nicht vorwärts kamen; ſie glaubten das Glück
der Hellenen dann am ſicherſten zu begründen, wenn ſie ihnen einen Euro-
taskreis und einen Iliſſuskreis getreu nach dem Vorbilde des heimiſchen
Rezatkreiſes und Iſarkreiſes einrichteten. Wohl kamen einige Tage fröh-
licher Hoffnung: als der junge König, leider nicht auf deutſchen Schiffen,
ſondern nur als Gaſt auf der Flotte der Schutzmächte, an der maleriſchen
Felſenküſte von Nauplia landete (3. Febr. 1833) — ein prächtiges Schau-
ſpiel, das der eigens dazu abgeſandte Peter Heß auf einem ſeiner beſten
Gemälde verewigte — und dann wieder, als die letzten Türken das Kaſtron
von Athen räumten und die Hellblauen mit den Raupenhelmen triumphirend
in der Akropolis einzogen. Doch nur zu bald zeigte ſich der Widerſinn
dieſer Verbindung zweier Länder, die mit einander ſchlechterdings nichts
gemein hatten als die zufällige Gleichheit der blauweißen Landesfarben.
Die Regentſchaft fand den Boden bereits beſetzt durch die Reſi-
denten der drei Schutzmächte, die ſich hier, ganz wie ihre vornehmeren
Genoſſen am Bosporus, ſchon einen diplomatiſchen Blocksberg eingerichtet
hatten und, ganz wie jene, in endloſen Ränkeſpielen einander befehdeten.
Da ſie längſt Beſcheid wußten, die treuherzige Regentſchaft aber den eigent-
lichen Grund aller orientaliſchen Parteikämpfe, die Begehrlichkeit, noch nicht
durchſchaut hatte, ſo geſchah es bald, daß jeder der drei Geſandten einen
der bairiſchen Regenten für ſich gewann. Armansperg ging mit England,
Heideck mit Rußland, Maurer und ſein getreuer Geh. Rath Abel mit
Frankreich. Die Zwietracht ward vollkommen, als nachher auch noch der
neue öſterreichiſche Geſandte Prokeſch ſich einmiſchte. Der preußiſche Hof
hielt ſich dieſen Ränken meiſt fern; er blieb aber der Meinung, daß
Armansperg’s engliſche Politik immerhin noch am wenigſten ſchade, denn
Rußlands Einfluß würde die Eiferſucht der Weſtmächte, Frankreichs Ein-
fluß die revolutionären Leidenſchaften aufſtacheln.*) Der diplomatiſche
Zank war um ſo gefährlicher, da die Schutzmächte die wirthſchaftliche Zu-
kunft des völlig ausgeraubten jungen Staates in ihrer Hand hielten; ſie
hatten zu Gunſten Griechenlands eine Anleihe von 60 Mill. Franken auf-
genommen, wovon erſt zwei Drittel ausgezahlt waren, und ſobald die
Haltung der Regentſchaft einer der drei Mächte mißfiel, erging ſofort die
barſche Drohung, nunmehr müſſe man die Zahlungen einſtellen.
[639]Otto König der Hellenen.
Alſo eingepreßt zwiſchen den hadernden Schutzmächten und den furcht-
bar erbitterten griechiſchen Parteien, mühten ſich die Regenten vergeblich
ab eine geregelte Verwaltung herzuſtellen; zahlreiche Verordnungen er-
ſchienen, alle nach bairiſchem Muſter, und Maurer verfertigte mit dem
eiſernen Fleiße des deutſchen Profeſſors mehrere ſchöne Geſetzbücher. Aber
der in unfertigen Völkern immer reizbare Nationalſtolz wollte von den
Bavareſi bald nichts mehr hören; die fleißigen deutſchen Beamten blieben
dem Lande ſo fremd, daß heute ſelbſt Armansperg’s Name unter den
Hellenen faſt verſchollen iſt. Wie wenig ſie dies Volk kannten, das zeigte
ſich bei dem langen Streite über die Verfaſſung. Gewiß war ein ein-
ſichtiger Abſolutismus für die Culturſtufe der Hellenen die beſte Staats-
form; aber dazu gehörte ein Monarch, der durch perſönliche Größe oder
durch ein unantaſtbares hiſtoriſches Recht alle Unterthanen überragte.
König Otto’s Nichtigkeit konnte in einer fremden Nation keine Ehrfurcht
erzwingen, und ſein Thronrecht verdankte er, wie er ſelbſt geſtand, nächſt
dem Vertrauen der Schutzmächte „der freien Wahl des helleniſchen Volks“.
Eine alſo begründete Dynaſtie durfte, wie ſchwer das auch halten mochte,
dieſem durchaus demokratiſchen Volke das Recht der verfaſſungsmäßigen
Mitberathung nicht ganz verſagen. König Ludwig jedoch rieth dem Sohne
dringend ab. Alles conſtitutionelle Weſen war ihm verleidet, und er
ſchrieb: „Nicht zu reiflich überdacht kann die Einführung einer Verfaſſung
werden. Es iſt die Höhle des Löwen, aus der keine Fußtapfen gehen;
ſie hat Folgen, die man gar nicht vorausſieht. O möchte doch die trau-
rigen auch hierin gemachten Erfahrungen Baierns Hellas zu Rathe ziehen,
indem es die Fehler vermeidet, die begangen wurden.“ Sein Rath ſchlug
durch, und der unfähige junge Fremdling regierte weiter als abſoluter
Herr — ein Zuſtand der doch noch unleidlicher war als die Sünden eines
verfrühten Parlamentarismus. So bildete ſich bald eine ſtarke liberale
Oppoſition; ſie fand, da Palmerſton hier wie überall das conſtitutionelle
Banner aufpflanzen ließ, geheime Hilfe bei dem engliſchen Geſandten,
derweil die Vertreter Rußlands und Oeſterreichs den jungen Wittels-
bacher in ſeinen abſolutiſtiſchen Grundſätzen beſtärkten.
Noch ſchwerer verletzten die Bavareſi das religiöſe Gefühl des ortho-
doxen Volkes. Viele Klöſter wurden aufgehoben — diesmal gegen den
Rath König Ludwig’s — die Zahl der Biſchöfe verringert, die Landeskirche
von dem Patriarchen von Konſtantinopel abgetrennt; und doch gebot die
Klugheit, die uralte kirchliche Gemeinſchaft der Orthodoxen auf der Balkan-
halbinſel ſorgfältig zu ſchonen, wenn anders die Hoffnungen der Griechen
auf die Kaiſerkrone von Byzanz ſich je erfüllen ſollten. Für dieſe ſtolzen
nationalen Wünſche zeigten die friedfertigen, im Lande der Pinakotheken
und Glyptotheken aufgewachſenen Regenten gar kein Verſtändniß. Offen-
bar hatte der Agon der Hellenen ſein Ziel noch nicht erreicht; die Nation
vermochte in den allzu engen Grenzen kaum zu athmen, ſie mußte danach
[640]IV. 8. Stille Jahre.
trachten, dereinſt noch die ganze, von helleniſcher Cultur beherrſchte Süd-
hälfte der Halbinſel an ſich zu reißen. Solche Kränze winken nur dem
Helden. Durch das Schwert geſchaffen, konnte der junge Staat auch nur
durch das Schwert erhalten werden; und der Stamm ſeiner nationalen
Wehrkraft beſtand bereits in den kampfgewohnten Banden der Palikaren.
Es war ein wildes Kriegsvolk, ſehr kunſtfertig im Abſchneiden von Ohren
und Naſen; die treuen, tapferen Männer wünſchten ſehnlich, ihrem Baſi-
leus um geringen Sold zu dienen, und wenn man ſie nicht allzu ſtreng
mit den Reglements der europäiſchen Exercirplätze plagte, ſo ließ ſich aus
ihnen leicht ein tüchtiges Heer bilden. Die Regentſchaft aber fürchtete
ſich vor den barbariſchen Unholden, König Otto ſchlug ihnen ihre Bitten
ab, und ſo wanderten denn 5000 ſchwerbewaffnete Palikaren zornmuthig
über die türkiſche Grenze, um dort im Gebirge das alte Klephten-Hand-
werk von Neuem zu ergreifen. Dergeſtalt wurde das ſtreitbare Land durch
die Aengſtlichkeit ſeiner eigenen Regierung entwaffnet. Ein Corps von
3500 Baiern mußte vorläufig die Ordnung aufrecht halten, und die
Wackeren hatten hart zu arbeiten, bald im Kampfe gegen die Klephten,
bald im Sonnenbrande beim Bau der Piräus-Straße; der giftige Raki-
Schnaps und der ſchlechte geharzte Wein gaben keinen Erſatz für das edle
heimiſche Bier. Nach einem Jahre zogen die bairiſchen Truppen heim.
Nun ward aus Eingeborenen und aus geworbenen Baiern ein winziges
reguläres Heer von zweifelhafter Kriegstüchtigkeit gebildet. Da ein Klein-
ſtaat ohne Geld und Waffen der Tapferkeit keinen Raum mehr bot, ſo
gelangten die beiden anderen vorherrſchenden Triebe des helleniſchen Volks-
geiſtes, der Handelsſinn und der Wiſſensdrang zur alleinigen Herrſchaft.
Das Heldenvolk der Türkenbeſieger verwandelte ſich wunderbar ſchnell in
eine Nation von Kaufleuten und Gelehrten. Griechenland konnte bei den
Todeszuckungen des türkiſchen Reichs kein Wort mehr mitſprechen, und
die einzige naturgemäße Löſung der orientaliſchen Frage, die Wiederher-
ſtellung des byzantiniſchen Kaiſerthums blieb zum Unheil für die Welt
noch lange völlig ausſichtslos.
Währenddem war der Eifer der Baiern längſt erkaltet; in München
nannte man das Land der Hellenen die bairiſche Botany-Bai, denn blos
vom blauen Himmel und von ſchönen Landſchaften vermochten Germanen
nicht zu leben. König Ludwig beſuchte noch ſelbſt das geliebte Volk und
legte unter ſchallenden Zito-Rufen den Grundſtein für das atheniſche Kö-
nigsſchloß. Auch König Otto kam einmal in die alte Heimath, gaſtlich
empfangen von der Muſe der Charlotte Birch-Pfeiffer, die ihm ein Feſt-
ſpiel „der Liebe Streit“ widmete. Da war es denn ſehr rührſam anzu-
hören, wie ſich Bavaria und Hellas um ihren unvergleichlichen Otto ſtritten;
zuletzt fielen die beiden kampfluſtigen Frauen einander verſöhnt in die
Arme. Trotzdem wollte das Feuer nicht wieder aufflammen; wer irgend
konnte von den bairiſchen Beamten in Hellas, kehrte ſchleunigſt heim. Nach-
[641]Sturz des Miniſteriums Wallerſtein.
dem König Otto ſeine Volljährigkeit erlangt, wurde die Regentſchaft auf-
gelöſt, und Armansperg trat als Großkanzler an die Spitze eines helle-
niſchen Miniſteriums, er legte aber ſeine Würde bald entmuthigt nieder.
Auch ſein Nachfolger Ignaz Rudhart, der beliebte liberale Landtagsredner,
gab ſchon nach Jahresfriſt das undankbare Amt auf (1837), obgleich er ſich
unter allen den bairiſchen Staatsmännern, die in Griechenland wirkten, am
beſten bewährte und gegen den anmaßenden engliſchen Geſandten manchen
Strauß tapfer beſtand. Er ſtarb auf der Heimreiſe. Der Traum vom
bairiſchen Hellas war ausgeträumt, König Otto regierte fortan allein mit
griechiſchen Beamten. Baierns Finanzen hatten freilich durch die wittels-
bachiſchen Großmachtsträume ſchwere Einbußen erlitten. Wie viel? — das
wußte Niemand genau, da der König die Erübrigungen des Staatshaushalts
ſich zur freien Verfügung vorbehielt. Gewiß iſt nur, daß nach und nach
ſehr bedeutende Vorſchüſſe, mindeſtens 4—5 Mill. Franken, an Griechenland
gegeben wurden; einen Reſt, der ſchließlich ungedeckt blieb, bezahlte König
Ludwig noch nach ſeiner Abdankung ehrenhaft aus ſeiner eigenen Taſche.
Als der Pfälzer Kolb zwei geharniſchte Flugſchriften wider dies ſonderbare
conſtitutionelle Finanzweſen hinausſandte, wurden beide Büchlein ſofort
verboten.
Mittlerweile trat der Landtag im Jahre 1837 nochmals zuſammen,
und Alles ließ ſich wieder ſo friedlich an wie vor drei Jahren. Als der
neue Finanzminiſter Wirſchinger aber den Etat vorlegte, da mußten auch
die Argloſen erkennen, daß die Einnahmen zu niedrig berechnet waren.
Die Einkünfte aus dem Zollvereine ſtimmten ſchlechterdings nicht überein
mit den richtigen Angaben, welche die Regierungen von Sachſen, Heſſen,
Württemberg ihren Landtagen gemacht hatten. Die Kammer entſchloß ſich
alſo die Einnahmen, mit Zurechnung einiger der beliebten „Erübrigungen“
um etwa ½ Mill. fl. höher anzuſetzen, ſie erhöhte demgemäß auch die Aus-
gaben für die Schulen und die ſündlich vernachläſſigten Landſtraßen. Das
Verfahren war ungewöhnlich, doch ſelbſt der gefügige Wallerſtein konnte
nicht umhin zu geſtehen, daß die Abgeordneten nur ihre Pflicht gethan
hätten. Der König aber fühlte ſich tief beleidigt, und Metternich, der im
Juli München beſuchte, beſtärkte ihn in ſeinem Grolle, wie der preußiſche
Geſandte nachher von guter Hand erfuhr.*) Ludwig war tief verſtimmt
über ſein mißrathenes griechiſches Unternehmen; nichts gelang ihm, überall
glaubte er verkannt zu werden. In der That behandelte ihn die liberale
Preſſe zuweilen ungerecht. Als er in dieſen Tagen auf den glücklichen
Einfall gerieth, die abgeſchmackten franzöſiſchen Departements-Namen
Donaukreis und Rezatkreis zu beſeitigen und die althiſtoriſchen Stammes-
namen Schwaben, Pfalz, Niederbaiern wieder einzuführen — ein Ent-
ſchluß, der wieder durch einen Geſchichtsthaler verherrlicht wurde — da
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 41
[642]IV. 8. Stille Jahre.
ſpotteten die Zeitungen über die romantiſchen Neigungen des Wittels-
bachers.
Sein Unmuth wuchs, als die Kammer, deren große Mehrheit aus
guten Katholiken beſtand, in ehrerbietiger Form die Bitte ausſprach, die
Krone möge mit der beſtändigen Vermehrung der Klöſter endlich einhalten,
die Stiftungsgelder nicht mehr widerrechtlich für Kloſterzwecke verwenden,
auch das Terminiren der Bettelmönche verbieten. Der ſtille Groll des
Landes über die wachſende Macht der Clericalen kam hier zum Durch-
bruch, und vergeblich ſuchte der kürzlich aus Griechenland heimgekehrte
Miniſterialrath Abel mit ultramontanem Feuereifer den Antrag zu be-
kämpfen; ſein Vorgeſetzter Fürſt Wallerſtein gab deutlich zu verſtehen, daß
er die Anſicht der Mehrheit theile. Nun riß dem Könige die Geduld; er
ſchloß ſich ab, ſprach und hörte Niemand. Wohin war es doch gekommen mit
dem begeiſterten Fürſten, der ſich einſt rühmte über einem freien Volke zu
ſchalten! Im Miniſterrathe mußte Wallerſtein von ſeinem alten Gegner
dem Feldmarſchall Wrede heftige Vorwürfe hören. Am 1. November er-
hielt er plötzlich den Abſchied, unter Anerkennung „der Verdienſte, die er
ſich vor dem Landtage von 1837 erworben“ habe. Abel wurde ſein Nach-
folger. Die erſte That des neuen Miniſters war ein ungnädiger Land-
tagsabſchied, der den Ständen „mancherlei Verirrungen in das Gebiet der
königlichen Rechte“ vorwarf. So trat die clericale Partei zum erſten
male an das Staatsruder des Königreichs Baiern, und ſie ſorgte bald
ſelbſt dafür, daß die Wiederkehr ihrer unvergeßlichen Herrſchaft auf Jahr-
zehnte hinaus unmöglich ward. —
[[643]]
Neunter Abſchnitt.
Der welfiſche Staatsſtreich.
Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz ſeiner parlamentariſchen
Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine ſocialen Ideen
verbreiteten ſich in der Stille, ſie wurden allmählich zu Standesvor-
urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das ſich jetzt, ſeit zu dem Wiſſen
der neue Wohlſtand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation
hielt. Die ſcheinbare geſellſchaftliche Gleichheit der Franzoſen und das Ge-
ſetzbuch der durchgebildeten Geldwirthſchaft, der Code Napoleon fanden
Bewunderung, nicht blos im Südweſten, auch in Thüringen, in Sachſen,
in den Städten der alten preußiſchen Provinzen. In dieſe demokratiſirte,
den alten Standesunterſchieden entfremdete Geſellſchaft ſchlug nun eine
Gewaltthat hinein, welche auch die ſchlummernden politiſchen Leidenſchaften
wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutſchen Bundesrechts
den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsſtreich, ſo frevelhaft, ſo unent-
ſchuldbar, ſo gemeinverſtändlich in ſeiner Roheit, daß der ſittliche Ekel faſt
alle irgend ſelbſtändigen Männer zum Widerſpruche zwang und den Reihen
der liberalen Oppoſition mit einem male neue Kräfte zuführte.
Am 20. Juni 1837 ſtarb König Wilhelm IV., und da nach deutſchem
Rechte der Mannesſtamm den Weibern vorging, ſo zerriß jetzt, zum Segen
für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunſchweigiſchen
Lande durch vier Menſchenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für
die Briten hatte dieſe Verbindung längſt allen Werth verloren. Die han-
növerſchen Truppen für engliſche Zwecke zu verwenden war unter dem
Deutſchen Bunde kaum noch möglich; ſeit der Entſtehung des preußiſchen
Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr ſo viel wie im
alten Jahrhundert. Seit der Zollverein geſichert war, konnte auch die
handelspolitiſche Dienſtbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr
nützen. Einzelne kleine Gewinnſte vermochte Palmerſton’s geſchickte Hand
wohl noch aus dem deutſchen Nebenlande herauszuſchlagen; mit Han-
novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg
vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelſtellung der Krone nur
als eine Laſt: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der
41*
[644]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
König von England und die Bundespolitik der Hofburg unterſtützte, dann
mußte die britiſche Staatskunſt vor den Augen der Welt noch treuloſer
erſcheinen als ſie wirklich war. Geſättigt von den Erfolgen des napo-
leoniſchen Zeitalters, hatte ſich der Ehrgeiz der Nation ſeit einigen Jahren
faſt ausſchließlich den überſeeiſchen Intereſſen, dem Oriente und den Ko-
lonien, zugewendet. Die öffentliche Meinung verſtand den Grundſatz der
Nicht-Einmiſchung, der von Palmerſton ſo mannichfach ausgelegt wurde,
in buchſtäblichem Sinne; ſie wollte von den feſtländiſchen Wirren wenig
hören, ſie verlangte, daß England wieder ein Inſelreich würde, und ſchon
darum hieß ſie die Trennung von Hannover willkommen.
Mit der Thronbeſteigung der Königin Victoria errang die Politik der
Reform für lange Zeit einen vollſtändigen Sieg. Die unerfahrene junge
Fürſtin ſah ſich außer Stande, die ſchattenhafte monarchiſche Gewalt durch
die Kraft eines ſelbſtändigen Willens neu zu beleben, ſie konnte ſich nur
von dem Strome der vorherrſchenden nationalen Geſinnung treiben und
tragen laſſen. König Wilhelm war den liberalen Ideen halb widerſtrebend
gefolgt, Victoria gehörte ihnen ſchon durch die Geburt an, da ihr väter-
liches Haus mit den Hochtorys ſtets in Feindſchaft gelebt hatte. Sie
überließ ſich willig der Führung des Hauptes der Whigpartei, Lord
Melbourne, und wurde zugleich von ihrem Oheim König Leopold mit
politiſchen Rathſchlägen unterſtützt. Der kluge Coburger arbeitete bereits
ſeit Jahresfriſt an einem neuen Heirathsplane, der ſeinem Hauſe die
dritte Königskrone einbringen ſollte; er dachte ſeinem Neffen Albert die
Stellung des engliſchen Prinz-Gemahls, die er einſt für ſich ſelber erhofft
hatte, zu verſchaffen. Um ſich auf ſein hohes Amt vorzubereiten mußte
der junge Prinz ein Jahr in Brüſſel verleben, denn in Berlin, ſo meinte
Stockmar, könne man nichts lernen, Preußens Haltung gegen Deutſchland
ſei „weder politiſch noch ehrlich“. Durch die coburgiſche Verwandtſchaft
wurde die Königin auch dem Tuilerienhofe näher geführt; das gelockerte
Bündniß der Weſtmächte ſchien ſich wieder zu befeſtigen, mit donnernden
Hochrufen empfing das Londoner Volk bei der Krönung den franzöſiſchen
Botſchafter Marſchall Soult, der ſich in Spanien ſo oft mit den Briten
gemeſſen hatte. Die Reformbill hatte den Umbau des alten ariſtokra-
tiſchen Staatsweſens nicht vollendet, ſondern erſt begonnen; eine Zeit
großer ſocialer Neugeſtaltungen nahte unverkennbar heran. Das ahnte
Jedermann, als die Königin in den erſten Tagen ihrer Regierung den
reichen, menſchenfreundlichen Moſes Montefiore als Sheriff von London
in den Ritterſtand erhob — den erſten Juden, dem ſolche Ehre widerfuhr.
Während alſo in England unter einem willenloſen Königthum die
öffentliche Meinung ihre unbeſchränkte Herrſchaft antrat, erhoffte das han-
növerſche Volk von der Gnade des einheimiſchen Landesherrn ein unbe-
ſtimmtes Glück. Unabläſſig arbeiteten die ſchöpferiſchen Kräfte der neuen
deutſchen Geſchichte an der Zerſtörung der ſeit zwei Jahrhunderten ein-
[645]Trennung von England und Hannover.
gedrungenen Fremdherrſchaft. Was in Pommern, in Preußen, in Schleſien
nur unter ſchweren Opfern und Kämpfen erreicht war, das gelang in
Hannover durch die Gunſt des Zufalls, und alsbald zeigte ſich, wie wenig
die lange Verbindung mit dem Auslande den Kern des niederſächſiſchen
Volksthums verändert hatte. Die ſtarke engliſche Kolonie in der Stadt
Hannover, einige britiſche Sitten und Familienverbindungen in der vor-
nehmen Geſellſchaft, dazu die kriegeriſchen Erinnerungen der Veteranen
und ein hohes Maß von Selbſtgenügſamkeit, das war in Wahrheit Alles
was von dem ausländiſchen Weſen noch übrig blieb. Ohne Kummer gaben
die Hannoveraner den Namen der deutſchen Großbritannier auf, um fortan
ſich ſelbſt und ihrem endlich ſichtbaren Könige zu leben.
Ein Glück nur, daß ſie trotz ihrer britiſchen Neigungen ſelten eng-
liſche Zeitungen laſen und von dem ſchlimmen Rufe ihres neuen Herr-
ſchers wenig wußten. Mit der einzigen Ausnahme des Selbſtmords hat
der Herzog von Cumberland ſchon jedes erdenkliche Verbrechen begangen
— ſo ſchrieb um jene Zeit ein radicales engliſches Blatt und ſprach damit
nur in pöbelhaften Formen aus, welchen furchtbaren Haß dieſer unbelieb-
teſte aller engliſchen Prinzen im Verlaufe eines ſechsundſechzigjährigen
Lebens auf ſich geladen hatte. König Ernſt Auguſt war der begabteſte
unter den ſieben Söhnen Georg’s III., aber ſchlecht erzogen, nicht blos
aller Bildung baar, ſondern ein abgeſagter Feind der Wiſſenſchaft, die er
„dem Federvieh der Tintenkleckſer“ überließ; nur wer wohl geboren, wohl
gekleidet und mäßig gelehrt war galt ihm, wie einſt den Römern, für
einen anſtändigen Mann. Auf der Göttinger Hochſchule hatte er nicht
einmal die deutſche Sprache erlernt, um ſo gründlicher die Reitkunſt. Als
er dann in den niederländiſchen Feldzügen ein hannöverſches Dragoner-
regiment befehligte, zeigte er ſich ſehr tapfer, aber auch ſo roh und grau-
ſam, daß Scharnhorſt ſeinen Abſcheu kaum bezwingen konnte. Wiederholt
verbot er ſeinen Reitern, ihm die verfluchten franzöſiſchen Republikaner
gefangen einzubringen; Alles wollte er niederſäbeln, in einem wilden Hand-
gemenge verlor er ſelbſt ein Auge. An den napoleoniſchen Kriegen be-
theiligte er ſich nicht, nur in den Tagen der Schlacht von Kulm erſchien
er für kurze Zeit im Hauptquartier der Verbündeten. Trotz dieſer ge-
ringen Kriegserfahrung betrieb er das Soldatenhandwerk mit leidenſchaft-
lichem Eifer, und unbeſchreiblich war ſeine Freude als König Friedrich
Wilhelm ihn zum Chef der rothen Zieten-Huſaren ernannte. Neben dem
ſteifen Dünkel des engliſchen Lords behielt er doch immer etwas von der
naturwüchſigen Friſche des deutſchen Reiteroffiziers.
Im Oberhauſe ward er bald ein gefürchteter Führer der Hochtorys;
bald drohend und lärmend, bald ſchlau belügend, bald leiſe hetzend wußte
er ſeine Leute bei der Stange zu halten. Nur die hartreaktionären Grund-
ſätze Lord Eldon’s fanden ſeinen Beifall; ſelbſt den eiſernen Herzog hielt
er für einen gefährlichen Ränkeſchmied, weil Wellington ſich den Forde-
[646]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
rungen der Zeit doch nicht ganz verſagte. Die für ſo lange Jahre folgen-
reiche Wiedererhebung der Torys im Jahre 1807 war zum guten Theile
Cumberland’s Werk und blieb ihm bei den geſchlagenen Whigs unver-
geſſen. In den folgenden Jahren bekämpfte er hartnäckig jeden Reform-
vorſchlag, am heftigſten die Emancipation der Katholiken; denn ganz ſo
buchſtabengläubig wie ſein Vater hielt er es für einen Eidbruch, wenn
die verfaſſungsmäßigen Vorrechte der anglikaniſchen Kirche auf verfaſſungs-
mäßigem Wege beſchränkt würden. Er wurde Großmeiſter des reaktionären
Geheimbundes der Orangelogen, der unter dem Banner „Thron und Kirche“
höchſt verdächtige Zwecke verfolgte und ſchon durch ſeine Heimlichkeit allen
guten altengliſchen Ueberlieferungen widerſprach; manche Heißſporne unter
den Verſchworenen hofften im Ernſt, den reformfreundlichen König Wil-
helm zu beſeitigen und Cumberland auf den Thron zu erheben. Als die
Wühlerei im Parlamente zur Sprache kam und der Herzog ſich genöthigt
ſah die Logen aufzulöſen (1836), da betheuerte er heilig, vielleicht mit
Recht, von ſolchen Plänen nichts gehört zu haben. Doch wer ſollte ihm
Glauben ſchenken, wenn er, der Feldmarſchall und Großmeiſter, dann auch
noch behauptete, ganz ohne ſein Wiſſen ſeien Offiziere in die Logen ein-
getreten?
Die Briten kannten ihn ſchon. Aufrichtig war er nur, ſobald er unter
Kameraden gemeine Witze riß oder ſeine Gegner mit ſchmutzigen Schimpf-
reden überfluthete. Seine geſchmackloſen Ausſchweifungen und ſeine tolle
Verſchwendung hätte man ihm gern verziehen, wenn ſich in dem wüſten
Treiben auch nur ein Zug menſchenfreundlichen Humors gezeigt hätte.
Er aber fand ſeine Luſt daran, den Freund gegen den Freund, den Gatten
gegen die Gattin, die Geliebte gegen den Liebhaber aufzuſtacheln. Das
eine kurzſichtige Auge, das ihm noch geblieben war, bemerkte jede Unord-
nung, jede Schwäche, jede Lächerlichkeit, und feige, unritterlich den Vor-
theil ſeiner hohen Stellung mißbrauchend, hechelte er dann mit ſeiner
feinen Stimme ſeine Opfer durch; ſchlagfertige Erwiderungen, wie ſie der
große Friedrich und alle wahrhaft witzigen Spötter liebten, donnerte er
mit einem Fluche nieder. Jedem Menſchen trat er auf die Hühneraugen,
ſo ſagten ſeine eigenen Brüder. Wenn er einen gebrechlichen greiſen Herrn
recht lange ſtehen ließ oder einen Feinſchmecker durch eine plötzliche Ein-
ladung vom leckeren Mahle hinwegſcheuchte oder an einer hellgekleideten
alten Dame ſich den Rücken wärmte, als ob er ſie für einen weißen
Ofen hielte, dann fühlte er ſich behaglich; und ſein getreuer Reverend
Wilkinſon, den er nachher als Hofkaplan nach Hannover berief, bewun-
derte dieſe brutalen Witze mit ſo bedientenhafter Freude, daß die Deutſchen
glauben mußten, nach engliſcher Anſchauung beſtehe der Lebensberuf des
Fürſten wirklich im Zertreten von Leichdörnern. Eine ſtattliche Erſchei-
nung, wenn der ſtarke große Herzog mit dem meiſterhaft gewichſten grauen
Schnurr- und Backenbarte auf ſeinem edlen Roſſe dahergeritten kam;
[647]Ernſt Auguſt und ſeine Gemahlin.
die Huſarenuniform ſaß ihm wie angegoſſen, aber in den ſcharfgeſchnit-
tenen ſoldatiſchen Geſichtszügen lag ein ſo widerwärtiger Ausdruck von
Hohn und Härte, daß Viele den unleugbar ſchönen Mann für abſchreckend
häßlich erklärten. Wie oft warnte der Dichter der Whigs, Thomas Moore
die engliſchen Mädchen vor der bärbeißigen Larve (grim phiz) des öden
galoppirenden Herzogs:
Während der letzten Jahre pflegte er bald in Berlin bald in London
Hof zu halten. In Preußen galt er wenig; man erzählte nur beiläufig,
daß er in den reaktionären Kreiſen der mecklenburgiſchen Partei ſehr laut
zu reden liebte. In England wurde ſeine Stellung immer peinlicher ſeit
die Whigs wieder obenauf kamen. Er haßte den König, der ihn zwang
die Reformbill ohne Widerſtand hinzunehmen und ihm bei der Beſetzung
der hannöverſchen Vicekönigs-Stelle den jüngeren Bruder Cambridge vor-
zog; er haßte noch bitterer ſeine junge Nichte, die ihm den Weg zum längſt
erhofften Throne vertrat; und trotz ſeiner cyniſchen Menſchenverachtung
wurmte es ihn tief, daß die Londoner Geſellſchaft ihm ſchlechthin Alles
zutraute, gräuliche, längſt widerlegte Skandalgeſchichten aus ſeiner Jugend-
zeit immer wieder auftauchten. Die ihn näher kannten wußten wohl, daß
Ernſt Auguſt auch ungewöhnliche Herrſchergaben beſaß. Wenn es ihm ernſt
war, dann arbeitete er mit eiſernem Fleiße, wachſam, ſicher, ſorgfältig;
ſein ſcharfer natürlicher Geſchäftsverſtand erſetzte vollauf die mangelnde
Bildung, und wo der Vortheil ſeines Hauſes nicht ins Spiel kam zeigte
er ſich ſogar gerecht. Selbſt ſein Gemüth war doch nicht ganz verödet,
wie hätte er ſonſt ſeine Gemahlin Friderike ſo zärtlich lieben können. Die
ſchöne Schweſter der Königin Luiſe hatte ſchon zwei Gatten beglückt, den
Prinzen Ludwig von Preußen, nachher den Fürſten von Solms-Braun-
fels, und im Wittwenſtande auch noch manche ſüße Stunde verlebt. In
ihrem leichten, lachenden, liebreichen Weſen lag ein beſtrickender Zauber,
dem ſelbſt der ſittenſtrenge König Friedrich Wilhelm nicht widerſtand; wenn
man in früheren Jahren ſeine muntere Schwägerin bei ihm verklagte,
dann ſagte er ärgerlich: Ach was! Andere auch nichts taugen! In den
napoleoniſchen Zeiten hatte ſie ſich ſtets als gute Preußin gezeigt und
mit den Führern der Patrioten feſt zuſammengehalten. Jetzt war ſie längſt
geſetzter geworden, ſtreng kirchlich, wohlthätig, eine treue Gattin. Ihre
dritte Ehe wurde durch die Weihe eines großen Schmerzes geadelt. Der
einzige Sohn Prinz Georg konnte von der Wiege an mit dem einen Auge
nicht ſehen und verletzte ſich dann, als er einen Geldbeutel im Kreiſe
wirbeln ließ, das geſunde Auge ſo ſchwer, daß er rettungslos dem Erb-
leiden der Welfen, der Blindheit zu verfallen ſchien. Dies Unglück be-
ſtärkte den Vater in ſeiner religiöſen Empfindung. Der alte Eiſenkopf
[648]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
liebte den Gottesdienſt, nicht blos aus engliſcher Gewohnheit; nur mußte
die Predigt kurz ſein, kräftig, ohne Prunk und Salbung. Er fühlte in
ſeiner Weiſe ſehr lebhaft ſeine Verantwortlichkeit vor Gott, er betete ſtill
bevor er einen ſchweren politiſchen Entſchluß faßte und erlangte dann
ſtets die tröſtliche Gewißheit, daß die Wege Gottes mit den Rathſchlüſſen
des Welfenhauſes genau zuſammenträfen.
So war der ſeltſame Sterbliche, der jetzt einen friedlichen, ihm faſt
ganz unbekannten deutſchen Kleinſtaat regieren ſollte, ein geborener Tyrann,
gewohnt, ſich ſelber Alles, Anderen nichts zu erlauben. Suscipere et
finire hieß ſein Wahlſpruch. Den Deutſchen war er ſchon darum ein
furchtbarer Gegner, weil ſie dieſen ſonderbar gemiſchten, durchaus eng-
liſchen Charakter nicht ſogleich durchſchauten. In Deutſchland iſt die
Grobheit faſt immer ehrlich. Dem polternden alten Huſaren traute Nie-
mand eine Falſchheit zu; darum konnte er auch die hannöverſchen Miniſter
ſo leicht überliſten, als er einſt die Annahme des Staatsgrundgeſetzes zu-
ſagte und dann wieder hinausſchob.*) Erſt nachdem das Lügenſpiel voll-
endet war, erkannte unſer Volk, wie viel durchtriebene Argliſt ſich hinter den
rohen Formen des Briten verſteckte, und der preußiſche Geſandte Oberſt
Canitz merkte dann auch bald, daß der Welfe ſelbſt ſeine Wuthausbrüche
zuweilen erkünſtelte um Andere einzuſchüchtern.
Gleich nach dem Tode ſeines Bruders huldigte Ernſt Auguſt knieend
der neuen Königin; ſonſt hätte er ſeine Prinzenrechte und die Apanage
von 21,000 ₤ verloren. Dann reiſte er ab, und die große Mehrzahl
der engliſchen Zeitungen geleitete ihn mit dem Segenswunſche: hoffentlich
würde man einander niemals wiederſehen. Er war jetzt engliſcher Thron-
folger und ſo lange Victoria kinderlos blieb, hielt er eigenſinnig die Hoff-
nung feſt, ihr plötzlicher Tod könnte ihm doch noch die engliſche Königs-
würde verſchaffen**); hatte doch das Parlament für dieſen Fall ſchon durch
ein Geſetz Vorſorge getroffen. Die kleinere Krone aber, die ihm vorläufig
genügen mußte, ſollte ganz ſelbſtändig daſtehen: unabhängig nach außen
— darum nannte er ſich fortan mit Stolz einen ſouveränen deutſchen
Fürſten, obgleich er den engliſchen Sitten treu blieb und immer nur ein
gebrochenes Deutſch ſprach — unabhängig auch im Innern. Bei ſeinen
gelegentlichen Beſuchen in Hannover hatte er das bequeme alte Beamten-
regiment, „das Reich der Sekretäre“ oft mit ätzendem Spotte übergoſſen.
Er wußte, daß dieſem Lande vornehmlich eine ſtarke monarchiſche Gewalt
noth that, und er dachte ſie ihm zu bringen; er dachte ihm eine andere
Verfaſſung zu geben und dann nach dieſer treulich zu regieren. Dies
nannte er Ordnung, und betheuerte: „Regierungswillkür war mir immer
verhaßt!“
[649]Ernſt Auguſt und Schele.
Wie die neue Verfaſſung beſchaffen ſein ſollte? — das wußte er
ſelbſt noch nicht, da er ſich um das Land nie bekümmert hatte; genug
wenn ſie die Macht der Krone befeſtigte. Ein anderes Recht außer der
Satzung ſeines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die
Verfaſſungsgeſetze von 1814 und 1819 hatte er proteſtirt — allerdings
nur heimtückiſch, in der Taſche; das Staatsgrundgeſetz hatte er nicht
förmlich angenommen. Folglich hielt er ſich an die Geſetze ſeiner Vor-
fahren nicht gebunden und rüſtete ſich wohlgemuth zu einem Staatsſtreiche,
deſſen Frechheit durch keinerlei Nothſtand beſchönigt werden konnte. Wenn
der neue König ſeiner Pflicht gemäß die zu Recht beſtehende Verfaſſung
beſchwor, dann mochte er faſt alle ſeine Wünſche auf geſetzlichem Wege
durchſetzen. Das Staatsgrundgeſetz beſtand erſt ſeit vier Jahren und
hatte noch keine tiefen Wurzeln geſchlagen; nicht blos der Adel murrte,
auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren
Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erſte und die ſehr nach-
giebige zweite Kammer ließ ſich zu einigen Verfaſſungsänderungen ſicherlich
leicht bewegen, und ſobald erſt ruhig verhandelt wurde, dann mußte der
geſchäftskluge Welfe bald ſelbſt einſehen, daß die Vereinigung der Steuer-
kaſſe mit der Domänenkaſſe, die er jetzt als eine demagogiſche Neuerung
verwünſchte, nur der Krone ſelbſt Vortheile brachte. Ihn aber verblendete
die Leidenſchaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun-
derdinge gehört über den Radicalismus des Staatsgrundgeſetzes, das in
Wahrheit die Rechte des Königthums ſorgſamer ſchonte als irgend eine
andere der neuen deutſchen Verfaſſungen, und nannte deshalb den Ca-
binetsrath Roſe den hannöverſchen John Ruſſell. Wie er die engliſchen
Reformer bekämpft hatte, ſo hoffte er in Hannover „der Demokratie die
Flügel zu beſchneiden“; und — ſeltſam genug — bei dem rohen Rechts-
bruche wirkte auch die bornirte Gewiſſenhaftigkeit mit. Nach ſeiner Auf-
faſſung des politiſchen Eides konnte Ernſt Auguſt das Staatsgrundgeſetz
nicht beſchwören, weil er ſich dann verpflichtet geglaubt hätte keinen Buch-
ſtaben mehr daran zu ändern. Um ſein eigenes Gewiſſen zu ſichern hielt
er ſich berechtigt die Gewiſſen ſeiner Unterthanen zu bedrängen. Alſo
ſtürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts — denn ich bin
ein Bock, ſo geſtand er ſelbſt — und getröſtete ſich des altengliſchen Glau-
bens, daß die Deutſchen zwar die beſten Soldaten der Welt ſeien, aber
von ihren Fürſten Alles gelaſſen hinnähmen.
Drei Tage vor ſeiner Ankunft ſchritt die Bürgerſchaft von Hannover
Abends in langem ſchweigendem Zuge hinaus nach dem Schloſſe Mont-
brillant um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abſchied zu nehmen.
Ihrem Wortführer, dem Bürgermeiſter Rumann, und dem guten Vicekönige
verſagte faſt die Stimme; Alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu
Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die
Anrede des Bürgermeiſters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und
[650]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
behielt die überreichten ſilbernen Schlüſſel der Stadt bei ſich; ſo that er
fortan immer, in ſeiner Hut ſollte das Land ſicher aufgehoben ſein. Ohne
die Beleuchtung der Hauptſtadt eines Blickes zu würdigen, arbeitete Ernſt
Auguſt bis in die Nacht hinein zuſammen mit Schele. Der Name dieſes
reaktionären Heißſporns ſagte Alles; und wenn man ihn nur für einen
ehrlichen Fanatiker hätte halten können! Er war aber einſt trotz ſeiner
legitimiſtiſchen Geſinnung freiwillig in den Staatsrath des Königs Jerome
eingetreten; Vertrauen fand er nirgends. Am nächſten Tage verſammelte
ſich der Landtag; Jedermann erwartete, der König werde nunmehr, wie
das Staatsgrundgeſetz vorſchrieb, durch ein Patent ſeinen Regierungsan-
tritt anzeigen und die Aufrechthaltung der Verfaſſung geloben. Statt
deſſen erſchien plötzlich eine königliche Verordnung, welche die Landſtände
vertagte. Die erſte Kammer gehorchte alsbald dem Befehle, in der zweiten
fragte der Vorſitzende Rumann ſichtlich betroffen, ob Niemand etwas zu
dem verleſenen Aktenſtücke zu bemerken habe. Da erhob ſich Stüve, noch
völlig rathlos; er hatte einen Staatsſtreich für unmöglich gehalten, weil
er mit ſeinem Machiavelli glaubte, daß die Menſchen weder ganz gut
noch ganz böſe zu ſein verſtehen.*) In ſeiner Verwirrung brachte er nur
die Worte hervor, Seine Majeſtät habe die Regierung wohl noch nicht
angetreten. Er hoffte, andere Abgeordnete würden ihm beiſtehen. Aber
Alles ſchwieg beſtürzt: ein rechtsgiltiger Beſchluß war ohne die erſte Kammer
unmöglich, und wer konnte denn wiſſen, ob nicht derweil man hier ſaß
das königliche Patent ſchon erſchienen war? Auch die zweite Kammer ging
ruhig aus einander.
Dergeſtalt hatte der ſchlaue Welfe durch eine wohlberechnete Ueber-
raſchung die Stände verhindert das Recht des Landes feierlich zu ver-
wahren. Inzwiſchen wurde Schele zum Cabinetsminiſter ernannt, und
obwohl er ſelbſt ſchon als Geheimer Rath den Verfaſſungseid geleiſtet hatte,
ſo ließ er ſich’s doch wohl gefallen, daß der König aus ſeinem neuen Dienſt-
eide die Verpflichtung auf das Staatsgrundgeſetz eigenhändig ausſtrich.
Schele blieb vor der Hand der einzige vertraute Rathgeber des Welfen.
Auf Münſter’s Beiſtand war nicht zu rechnen; der Graf dachte doch zu
vornehm um ſich an dem Gewaltſtreiche ſelbſt zu betheiligen, wenngleich er
die Demüthigung ſeiner alten Gegner nicht ohne Schadenfreude betrachtete,
und war überdies mit Cumberland’s Eigenwillen niemals gut ausgekommen.
Der neue Miniſter rieth nun, der König möge ſofort den Landtag auf-
löſen und die alte Verfaſſung von 1819 wieder in Kraft ſetzen, ſo gewinne
man alsbald einen feſten Rechtsboden.**) Dazu konnte ſich Ernſt Auguſt
nicht verſtehen. Sogleich nach ſeiner Ankunft aus der Fremde die ge-
[651]Das erſte Patent.
ſammte Verfaſſung über den Haufen zu werfen ſchien ihm doch unmöglich;
er brauchte Bedenkzeit um die unbekannten Verhältniſſe zu überſehen. Auch
wußte er ſchon, daß eine neue Anleihe von 3 Mill. Thlr. bevorſtand, und
die Schuldverſchreibungen ohne die Unterſchrift der landſtändiſchen Com-
miſſion nichts galten. Darum wollte er, ohne die Verfaſſung ſelbſt anzu-
erkennen, doch den gegenwärtigen Landtag beibehalten und mit ihm ſpäterhin
über die nothwendigen Aenderungen gütlich verhandeln.*) Der Gedanke
war eine ſtaatsrechtliche Ungeheuerlichkeit; denn erkannte der Monarch das
Staatsgrundgeſetz nicht an, ſo konnte er auch die Landſtände, die nur
kraft dieſes Geſetzes beſtanden, nicht einberufen. Aber was vermochten
juriſtiſche Gründe über den alten Reitersmann? Er meinte in ſeinem
Rechte zu ſein und ſagte in gutem Glauben zu dem engliſchen Geſandten
Lord William Ruſſell, der aus Berlin herüberkam: ich beabſichtige einige
Veränderungen, aber langſam und auf geſetzliche Weiſe.**)
Am 5. Juli unterzeichnete er ein Patent, das den getreuen Unterthanen
zu wiſſen gab, der König halte das Staatsgrundgeſetz nicht für bindend und
in vielen Beſtimmungen für ungenügend; er wolle daher prüfen laſſen, inwie-
fern Abänderungen nöthig ſeien und dann ſeine Entſchließung dem Landtage
eröffnen. Daneben ſtand noch — offenbar als ein Zugeſtändniß an Schele’s
urſprüngliche Abſicht — die vieldeutige Beſtimmung: es ſolle auch erwogen
werden, ob man nicht zu der glücklichen alten angeerbten Landesverfaſſung
zurückkehren ſolle. Tags darauf wurde das Patent durch Schele den
anderen Miniſtern vorgelegt. Dieſe beanſtandeten einzelne Stellen und
verlangten namentlich, daß ausdrücklich geſagt würde, der König beabſichtige
nur verfaſſungsmäßige Aenderungen. Ernſt Auguſt erwiderte barſch: „ich
fühle es Meine Würde nicht gemäß“ darauf einzugehen, und die Miniſter
unterwarfen ſich.***) Sie nahmen es auch geduldig hin, daß ihnen ein
nicht auf die Verfaſſung beeidigter Miniſter an die Seite geſtellt wurde,
und dieſer allein dem Monarchen Vortrag hielt. Nachher (14. Juli) er-
ſtatteten ſie auf Befehl des Königs noch ein Gutachten über die Ver-
faſſungsfrage und gelangten, wie ſich von ſelbſt verſtand, zu dem Ergebniß,
das Staatsgrundgeſetz beſtehe zu Recht, könne alſo auch nur auf ver-
faſſungsmäßige Weiſe abgeändert werden.†) Damit glaubten ſie ihre Pflicht
erfüllt zu haben. Ein vollendeter Verfaſſungsbruch lag ja noch nicht vor,
und warum ſollten ſie auch, allen Grundſätzen kurhannöverſcher Anſtändigkeit
zuwider, ohne Noth Ombrage erregen? Sie blieben behaglich im Amte
[652]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
und beruhigten ſich mit dem Troſte, daß ſie den Unzufriedenen kein böſes
Beiſpiel geben dürften. Nur Ompteda, der deutſche Miniſter in London,
forderte ſeine Entlaſſung und erhielt ſie in Gnaden, da ſein Amt durch
die Thronbeſteigung von ſelbſt hinwegfiel; für Männer ſeines Schlages
war unter dieſem Welfen kein Platz.*)
Demnach erſchien das Patent unverändert, und ſo viel ging aus den
gewundenen Sätzen doch klar hervor, daß der König, ohne irgend einen
Grund anzugeben, die Verfaſſungsgeſetze ſeiner Vorfahren kurzerhand für
unverbindlich erklärte. Ward ihm dies geſtattet, dann ſtand keine deutſche
Verfaſſung mehr feſt. Daher erhob ſich ſofort ein Sturm in der ge-
ſammten deutſchen Preſſe. Mit der einzigen Ausnahme der von Schele
beeinflußten unſauberen Hannöverſchen Landesblätter war alle Welt der-
ſelben Meinung. Die Nation empfand es wie einen Fauſtſchlag ins An-
geſicht, daß dieſer Fremdling ſich erdreiſten wollte, nach ſeinem Gutdünken
zu entſcheiden, ob in einem geſetzlich geordneten deutſchen Lande die gegen-
wärtige Verfaſſung beſtehen ſollte oder die ältere oder vielleicht auch eine
dritte. Der Hamburger Wurm verdammte in einer ſcharfen Flugſchrift
die neue welfiſche Staatslehre; zahlreiche anonyme Büchlein und die allezeit
behutſame Augsburger Allgemeine Zeitung redeten im gleichen Tone. Das
ſtille Berlin ſogar gerieth in Bewegung: Gans lärmte auf dem Katheder,
Dr. Friedenburg in der ſonſt ſo harmloſen Voſſiſchen Zeitung; ſelbſt das
mit Schele befreundete Berliner Wochenblatt wagte nur „die männliche
Offenheit“ des Welfen zu loben und die Hoffnung auszuſprechen, daß die
nothwendigen Verfaſſungsveränderungen ohne Rechtsverletzung gelingen
möchten. Die beſte der Gegenſchriften ſtammte aus der Feder des wackeren
weimariſchen Miniſters v. Gersdorff; leider wurde ſie nur anonym, in
25 Exemplaren gedruckt, ſo ſtark war ſchon die Furcht der kleinen Höfe
vor dem brutalen Welfen.**) Sie war in ruhigem Geſchäftsſtile gehalten
und zeigte unwiderleglich, daß der Bundestag einſt, ohne nach der Zu-
ſtimmung der Agnaten zu fragen, die Bürgſchaft für die weimariſche Ver-
faſſung übernommen, daß Hannover ſelbſt am 15. Oct. 1830 bei den
Frankfurter Verhandlungen über die braunſchweigiſche Verfaſſung nach-
drücklich erklärt hatte: eine in anerkannter Wirkſamkeit beſtehende Ver-
faſſung bedürfe nicht erſt der Zuſtimmung des neuen Regenten, denn
ſonſt hinge es nur von deſſen Willkür ab „geheiligte Rechte nach Gut-
dünken zu vernichten“.
Auch alle die Landtage, die gerade verſammelt waren, regten ſich
ſogleich, weil ſie ſich in ihrem eigenen Rechte bedroht ſahen. In Karlsruhe
verlangten Itzſtein, Rotteck, Duttlinger, daß man am Bundestage Ein-
[653]Erſte Wirkungen des Patents.
ſpruch erhebe, und einſtimmig pflichtete ihnen die Kammer bei. Blittersdorff
ſelbſt widerſprach in der Sache nicht, obwohl er die Competenz des Land-
tages beſtritt. In diplomatiſchen Kreiſen nannte er den welfiſchen Staats-
ſtreich beim rechten Namen und ſagte voraus, welch ein unheimliches Miß-
trauen nunmehr in der Nation überhandnehmen würde.*) Der ſächſiſche
und der bairiſche Landtag ſchloſſen ſich dem badiſchen an. Auch in Dresden
ſuchten die Miniſter nur mit verlegenen Worten zu beſchwichtigen. Einen
Vertheidiger fand Ernſt Auguſt nirgends, und er verſtärkte nur den all-
gemeinen Unmuth, als er dem ſächſiſchen Hofe die herriſche Erklärung
zuſandte: er könne „keiner Regierung, geſchweige denn einer Ständever-
ſammlung geſtatten“ ſich in hannöverſche Angelegenheiten einzumiſchen“.**)
Beſſer gelang ihm, die Zudringlichkeit des Auslands abzuweiſen. Die
engliſchen Wahlen ſtanden vor der Thür, die Whigs beeilten ſich den Ge-
waltſtreich des alten Toryhäuptlings auszubeuten, mit glänzendem Erfolge,
wie ſich bald zeigte. Palmerſton wollte auch nicht zurückbleiben. Er wußte
ſchon, daß die Pariſer Preſſe bereits von einer deutſchen Juli-Revolution
ſprach und die franzöſiſche Regierung an eine gemeinſame Kundgebung der
liberalen Weſtmächte dachte. Zunächſt fragte er bei Ompteda vertraulich
an, wie der Rechtsboden des Staatsgrundgeſetzes eigentlich beſchaffen ſei.
Da empfing er aus Hannover die ſchroffe Antwort: man verweigere amtlich
alle Auskunft „über einen Gegenſtand, welche jeder nichtdeutſchen Regierung
fremd ſei“. Mittlerweile hatte der preußiſche Geſandte dem Lord Melbourne
das Zweckloſe und Ungehörige dieſer Einmiſchung ernſtlich vorgehalten.
Palmerſton erſchrak und ließ durch ſeinen Unterſtaatsſekretär Fox die
demüthige Verſicherung abgeben, er habe Se. Majeſtät nicht beleidigen
wollen.***) Auch die franzöſiſchen Miniſter ließen den Plan fallen; denn
der Bürgerkönig meinte, ein ſolcher Schritt würde allen Regierungen Un-
gelegenheiten bereiten und nur den Radicalismus ermuthigen, auch ſcheine
die Sache doch nur auf einen elenden Geldſtreit hinauszulaufen.†)
Gegen die beiden deutſchen Großmächte zeigte ſich Ernſt Auguſt ſehr
verbindlich. Er wünſchte ſich ihren Beiſtand für alle Fälle zu ſichern und
ſagte zu dem preußiſchen Geſandten beim erſten Empfange: „ich werde die
viele Gnade, welche der König für mich gehabt hat, nie vergeſſen, und es
wird ſtets mein Stolz ſein, mich auch künftig zu ſeiner Armee zu zählen.“
Aber irgend einen Einfluß auf den Willen des alten Eiſenkopfes konnte
Niemand, auch der Freund nicht, gewinnen. Er hatte ſich vermeſſen, aus
[654]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
dem offenbaren Unrecht einen neuen Rechtszuſtand hervorgehen zu laſſen,
daher wurden ſeine Entſchließungen bald unberechenbar. Da ſein Staats-
miniſterium ſich für die Rechtsgiltigkeit des Staatsgrundgeſetzes ausge-
ſprochen hatte, ſo berief er am nächſten Tage (15. Juli) eine beſondere
Commiſſion, welche die Rechtsfrage von Neuem prüfen ſollte. Sie be-
ſtand aus Schele und drei anderen hohen Beamten, Graf Wedel, Jacobi,
v. Bothmer, und gelangte nach kaum vierzehn Tagen ſchon zu dem Schluſſe:
der König möge den gegenwärtigen Ständen erklären, daß er unter ge-
wiſſen Bedingungen das Staatsgrundgeſetz annehmen wolle.*) Mit dieſem
Rathe war dem Welfen wieder nicht gedient. In ſeinen Geſprächen mit
Schele, der in der Commiſſion überſtimmt worden war, hatte er ſich be-
reits einen neuen Plan gebildet: er dachte jetzt die gegenwärtigen Stände
einzuberufen und ihnen dann zuzumuthen, daß ſie die alte Verfaſſung von
1819 wieder einführten.**) Dieſer zweite Plan war faſt noch ungeheuer-
licher als der erſte, denn gegen die Verfaſſung von 1819 hatte Ernſt Auguſt
ja ſelbſt, allerdings nur heimlich, proteſtirt!
Was ließ ſich wider den Starrſinn und die unergründliche Verlogenheit
eines ſolchen Mannes mit friedlichen Mitteln ausrichten? Der preußiſche
Geſandte Canitz that ſein Beſtes. Er beſchwor den Welfen gleich bei der
erſten Audienz „jeden Schein von unrechtmäßiger Gewalt zu vermeiden“,
und erläuterte ſeine Anſicht als Cavalleriſt: bei einer Reiter-Attake dürfe
man dem Feinde nie die Flanke bieten. Ernſt Auguſt ſtimmte zu und
verſicherte: ich werde mich ſchon vorſehen. Canitz war in ſchwieriger Lage:
er wollte ſich das Vertrauen Schele’s, den er für ehrlich hielt, nicht ver-
ſcherzen um nicht jeden Einfluß zu verlieren; und doch konnte ſich der
ſtreng conſervative Diplomat nicht verbergen, daß hier in Hannover die
Gefahr nicht von der Nachgiebigkeit, ſondern von der Willkür des Fürſten
drohte, daß die conſtitutionellen Formen doch den Vorzug beſäßen die in
kleinen Staaten beſonders ſchwer drückende Tyrannei zu verhindern, daß
die von den Welfen zurückgewünſchte alte Kaſſentrennung allein der Krone
ſelbſt Schaden gebracht hätte. In ſolchem Sinne äußerte er ſich***), immer
ſehr behutſam, denn der preußiſche Hof wußte noch gar nicht, was Ernſt
Auguſt eigentlich beabſichtigte — aus dem einfachen Grunde, weil es der
Welfe ſelbſt noch nicht wußte.†) Aber ſogar dieſe vorſichtigen Andeu-
tungen machten den alten Herrn ungeduldig; er zeigte ſich bald verſtimmt
und behandelte den preußiſchen Geſandten ſo kühl wie es die Freundſchaft
der beiden Höfe irgend erlaubte.
Im Hochſommer reiſte Ernſt Auguſt zur Kur nach Karlsbad. Er
[655]Beſprechung in Königswarth.
hoffte dort mit Metternich und einem der preußiſchen Staatsmänner zu
ſprechen. Da er mit ſeinem getreuen Rathgeber noch nicht handelseinig war,
ſo ließ er ſich, zu Schele’s Aerger, nicht von dem Miniſter ſelbſt begleiten,
ſondern von deſſen Sohne; dieſer junge Mann führte den wohllautenden
Titel Legationsrath, welchen die Mittelſtaaten den unbrauchbaren Söhnen
ihres Adels anzuheften liebten. Metternich, der durch die hannöverſchen
Nachrichten kaum minder peinlich betroffen war als der Berliner Hof,
hatte ſich unterdeſſen in Teplitz mit König Friedrich Wilhelm und Miniſter
Werther beſprochen. Die beiden Cabinette beſchloſſen, in der heiklen Sache
gemeinſam vorzugehen; ſie wollten ſich aber auch nicht vorzeitig die Hände
binden, ſondern zunächſt nur vertrauliche perſönliche Rathſchläge ertheilen.*)
Demgemäß ſchrieben Metternich und Werther beide (7. Aug.) an den älteren
Schele, der ihnen eine Denkſchrift über das Patent geſendet hatte. Der
Preuße mahnte freundſchaftlich, man möge in Hannover Alles vermeiden,
was den Bundestag zum Einſchreiten zwingen könnte. Der Oeſterreicher
verſicherte ebenſo behutſam, „jedes rechtmäßige Streben“ nach Befeſtigung
des monarchiſchen Princips ſei willkommen; man dürfe aber nicht ver-
geſſen, daß die conſtitutionellen Bundesregierungen ſich auf den Wiener
Conferenzen von 1834 ſehr entſchieden für die Unverbrüchlichkeit der be-
ſtehenden Verfaſſungen ausgeſprochen hätten; er ſchloß mit dem Wunſche,
daß es gelingen möge, „die Verfaſſungsänderungen im ruhigen, friedlichen
Wege, unter Beachtung aller jener Rückſichten, die einmal nicht umgangen
werden können, in das Leben zu rufen.“**)
So war die Stimmung der Höfe, als Maltzan und bald nachher
Metternich bei dem Könige in Karlsbad vorſprachen. Beide waren freudig
überraſcht, den gefürchteten Welfen ſo ruhig, einſichtig, maßvoll reden
zu hören; er verſprach beſtimmt nur auf geſetzlichem Wege vorzugehen***),
und da ſie Beide von den früheren Verhandlungen nichts kannten, ſo
mußten ſie ihm auch Glauben ſchenken, als er heilig betheuerte, daß er
gegen das Staatsgrundgeſetz von vornherein proteſtirt hätte. Wer konnte
auch für möglich halten, daß ein deutſcher Fürſt ſo ſchamlos löge? Nun-
mehr war Metternich, deſſen ſtaatsrechtliche Kenntniſſe nicht ſehr weit
reichten, feſt davon überzeugt, daß Ernſt Auguſt an das Staatsgrund-
geſetz nicht gebunden ſei; er rechnete es dem Welfen ſogar zur Ehre an,
daß er die Verpflichtung auf dies Geſetz ſo ritterlich von der Hand ge-
wieſen hatte.
Aber wie nun friedlich weiter kommen auf der Bahn des Unrechts,
das durchaus Recht ſein ſollte? Gleich nach den Karlsbader Geſprächen
wurde auf Metternich’s Schloſſe Königswarth eine lange Berathung ge-
halten (11. Auguſt). Theilnehmer waren außer dem Schloßherrn ſelbſt:
[656]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Münch, Hofrath Werner, Maltzan, der jüngere Schele und der hannö-
verſche Geſandte in Wien, Bodenhauſen. Der einzige Weg, der aus dem
Labyrinthe herausführte, ſchien jetzt ungangbar. Nachdem das Patent er-
ſchienen, konnte Ernſt Auguſt nicht mehr das Staatsgrundgeſetz annehmen
und dann verſuchen, ob bei dem rechtmäßigen Landtage einige Aenderungen
durchzuſetzen ſeien. In eine ſolche Demüthigung hätte der ſtolze Welfe
nie gewilligt. Da war es denn faſt lächerlich, wie Metternich ſich drehte
und wendete um den welfiſchen Bevollmächtigten zu erweiſen, daß aus dem
Staatsſtreiche doch noch ein Staatsrecht entſtehen könne. Er zeigte ihnen:
wolle man zurück zu der alten Verfaſſung, ſo müſſe man auch die Stände
von 1819 einberufen; verſammle man aber angekündigtermaßen die gegen-
wärtigen Stände, ſo dürfe man ihnen auch nur das Staatsgrundgeſetz zur
Abänderung vorlegen, denn unmöglich könnten in einem Staate zwei Ver-
faſſungen zugleich beſtehen. Die beiden Hannoveraner, die ſich allerdings
keineswegs durch diplomatiſchen Scharfſinn auszeichneten, wurden aus den
gewundenen Sätzen nicht klug und mißverſtanden den Sinn ſo gänzlich, daß
Metternich ſich nachher genöthigt ſah, wider ihre Berichte eine Entgegnung
zu ſchreiben.*) Die Berathung brachte kein Ergebniß. Nur ſo viel war
deutlich, daß der Oeſterreicher den ganzen Streit ſehr ungern ſah und ihn
wo möglich dem Bundestage fern halten wollte. Darum brauchte Ernſt
Auguſt doch nicht an der Hilfe der Hofburg zu verzweifeln; denn Metter-
nich ſprach durchweg im Tone des beſorgten treuen Freundes, und ſagte
noch nach der Königswarther Unterredung zu Maltzan: der König hat
ganz Recht, er geht nicht einmal ſo weit als er gehen dürfte; wenn ich
ſelbſt, der ich von Geburt an verſöhnliche Neigungen hege, dies bezeuge,
ſo iſt damit Alles geſagt. Ueberdies hatte der Wiener Hofpubliciſt Jarcke
bereits Befehl erhalten, den Welfen mit ſeiner Feder zu unterſtützen.**)
An die ſüddeutſchen Höfe wurde der Bundesgeſandte Stralenheim
geſendet, um ſie für Hannover günſtig zu ſtimmen. Er beſtach unterwegs
die ultramontane Neue Würzburger Zeitung mit hundert Dukaten; Robert
Peel aber, den er in Stuttgart ſprach, verſagte ihm rundweg jeden Bei-
ſtand im Parlamente, und die Cabinette ſpeiſten ihn mit unverfänglichen
Worten ab. Nur von dem Könige von Württemberg, der wieder einmal
mit ſeinem Landtage unzufrieden war, glaubte Stralenheim ein freund-
liches Verſprechen erhalten zu haben — eine wunderliche Täuſchung, die
ſich nur aus der Unfähigkeit des welfiſchen Diplomaten erklärte.***) Der
nachtragende König Wilhelm hegte gegen Ernſt Auguſt eine alte Abneigung,
er führte mit der Krone Hannover ſeit Jahren einen ärgerlichen Rang-
[657]Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes.
ſtreit und war viel zu klug um einen muthwilligen Rechtsbruch zu be-
günſtigen.
Die Zurückhaltung der Höfe ließ ſich wohl begreifen; ſie wußten nicht
wo der Welfe hinaus wollte. Auch in Hannover blieb Alles ſtill. Man
fühlte ſich gedrückt und verſtimmt, aber ſelbſt die Abgeordneten thaten
nichts. Als die Georgia Auguſta im September das Jubelfeſt ihres
hundertjährigen Beſtehens feierte, und faſt alle namhaften Männer des
Landes in Göttingen zuſammentrafen, bot ſich faſt von ſelbſt die Gelegen-
heit, gemeinſame Schritte zur Abwehr des drohenden Staatsſtreichs zu
beſprechen. Auch dies ward verſäumt. Man ſchmauſte über Gräbern,
ſagte Dahlmann bitter. Das Feſt verlief mit der gewohnten akademiſchen
Pracht, Alexander Humboldt empfing die Huldigungen aller Facultäten,
und die Philologen verabredeten ſich, nach dem Vorbilde der Naturforſcher,
regelmäßig wiederkehrende Wanderverſammlungen zu halten. Auch der
König erſchien auf einen Tag und bemühte ſich wenig, der Profeſſoren-
welt ſeine Verachtung zu verbergen. Als die Bürgerſchaft vor der neuen
Aula das Standbild ſeines verſtorbenen Bruders einweihte, drehte er in
dem Augenblicke, da die Hülle fiel, mit ſcharfer Wendung dem Denkmal
den Rücken zu*); die philoſophiſche Facultät aber erhielt einen ſchnöden
Verweis, weil ſie Stüve zum Ehren-Doctor ernannt hatte.
Mit ſeinen politiſchen Plänen war Ernſt Auguſt noch immer nicht
im Reinen. Je länger er zögerte, um ſo gewiſſer ward es, daß ihm der
gegenwärtige Landtag keine wichtige Verfaſſungsänderung mehr bewilligen
konnte. Da bot ſich ein Helfer. Weil die Gutachten des Miniſteriums
und der Commiſſion nicht nach Wunſch ausgefallen waren, ſo wurde der
Canzleidirector Leiſt mit einer dritten Prüfung der Rechtsfrage beauftragt,
ein gelehrter alter Reichsjuriſt, der einſt wie Schele in weſtphäliſche Dienſte
gegangen und auf höheren Befehl zu jeder Rechtsverdrehung gern bereit
war. Der bewies jetzt, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, weil die Zu-
ſtimmung der Agnaten fehle und König Wilhelm IV. nachträglich noch
einige Paragraphen einſeitig geändert habe.**) Nun endlich begann dem
Welfen einzuleuchten, daß Schele’s urſprüngliche Abſicht doch das Rechte
getroffen hätte. Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das
Staatsgrundgeſetz aufgehoben, die alte Verfaſſung von 1819 wieder ein-
geführt, das Beamtenthum — oder, wie es fortan hieß: die königlichen
Diener — des Verfaſſungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk
beſtechen wollte, den getreuen Unterthanen die Summe von 100,000 Thlr.
jährlich an den direkten Steuern erlaſſen.
So maßte ſich der welfiſche König das Recht an, ſeine Beamten eines
nicht ihm geleiſteten Eides zu entbinden — ein Recht, das in der römiſchen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 42
[658]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Kirche nur dem Papſte, in der evangeliſchen Keinem zuſteht. Auf einen
ſolchen Frevel war trotz Allem was geſchehen Niemand gefaßt. An jeden
einzelnen Beamten trat jetzt die Frage heran, ob er ſein Gewiſſen der
Gewalt unterwerfen, den neuen Dienſteid ſchwören und damit den alten
brechen dürfe. Während das Land unter dem Schlage noch wie betäubt
lag, unterzeichneten am 18. November ſieben der namhafteſten Göttinger
Profeſſoren eine Vorſtellung an das Univerſitätscuratorium, worin ſie ein-
fach erklärten, daß ſie ſich auch jetzt noch an ihren Verfaſſungseid gebun-
den hielten: „Das ganze Gelingen unſerer Wirkſamkeit beruht nicht ſicherer
auf dem wiſſenſchaftlichen Werthe unſerer Lehren als auf unſerer perſön-
lichen Unbeſcholtenheit. Sobald wir vor der ſtudirenden Jugend als
Männer erſcheinen, die mit ihren Eiden ein leichtfertiges Spiel treiben,
ebenſo bald iſt der Segen unſerer Wirkſamkeit dahin. Und was würde
Sr. Maj. dem Könige der Eid unſerer Treue und Huldigung bedeuten,
wenn er von Männern ausginge, die eben erſt ihre eidliche Verſicherung
freventlich verletzt haben?“ E. Albrecht, der als Lehrer unvergleichliche,
als Schriftſteller leider wenig fruchtbare Juriſt, hatte den Gedanken zu-
erſt bei Dahlmann angeregt*), und Dahlmann darauf die Erklärung auf-
geſetzt, die unverkennbar den Ausdruck eines tiefen ſittlichen Leidens trug.
Es war, wie ihr Verfaſſer ſagte, eine Proteſtation des Gewiſſens, nur
durch den Gegenſtand ein politiſcher Proteſt. Nachher unterzeichneten noch
die Gebrüder Grimm, Wilhelm Weber, Ewald und der junge Gervinus.
Von allen den Sieben hatten bisher nur Dahlmann und Gervinus am
politiſchen Kampfe theilgenommen, und auch ſie ſtanden bei den Liberalen
der Rotteck-Welcker’ſchen Schule im Rufe übertriebener Mäßigung.
Der alte Welfe gerieth in furchtbare Wuth, als er von dieſer That
erfuhr, die doch nicht einmal offene Widerſetzlichkeit war; ihm fehlte jedes
menſchliche Verſtändniß für den Edelſinn der Gegner. Er ſelbſt hatte
fünf Monate lang geſchwankt und erſt zwei andere Pläne verworfen, be-
vor er die Verfaſſung umſtieß; aber ſobald ſeine Entſcheidung gefallen
war, meinte er Alles erledigt und forderte ſchweigenden Gehorſam. So
faßte er ſeine königliche Machtvollkommenheit auf. Alsbald verfügte er
(28. Nov.) eigenhändig in ſeinen rohen Schriftzügen: er habe vernommen,
wie „ſich die Profeſſoren nach erfolgter Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes
daſſelbe gewiſſermaßen noch als giltig zu betrachten und aufrecht zu er-
halten herausnehmen“, und erſehe daraus, daß ſie „augenfällig eine revo-
lutionäre, hochverrätheriſche Tendenz verfolgen, welche ſie perſönlich ver-
antwortlich macht: ſie ſcheinen daher der Macht des peinlichen Richters
verfallen“; demnach ſollten die Behörden „dieſem verbrecheriſchen Beginnen“
ſteuern und die Schuldigen zur Strafe ziehen.**) Schele ſtimmte freudig
[659]Die Göttinger Sieben.
zu: ein abſchreckendes Beiſpiel ſei nöthig, damit die Uebelwollenden ſich
nicht an die Erklärung der Sieben „als an ein Panier“ anſchlöſſen; aber
ſtatt der ausſichtsloſen peinlichen Unterſuchung empfahl er ein kürzeres
Verfahren. Vergeblich baten die Miniſter Arnswald und Stralenheim
als Curatoren der Univerſität, man möge mindeſtens die Vorſchriften der
Bundesgeſetze achten und zunächſt den Bericht des Regierungsbevollmäch-
tigten einfordern.*)
Ein kurzes, von Leiſt entworfenes Reſcript verfügte die ſofortige Ent-
ſetzung der Sieben, und der König befahl nachträglich noch ſelbſt, daß
ihnen ihr Gehalt nur bis zum Tage der Entlaſſung ausgezahlt werden
dürfe.**) Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus erhielten außerdem
die Weiſung, das Land binnen drei Tagen zu verlaſſen, weil ſie die
Erklärung einigen Freunden mitgetheilt hatten. Die Studenten hatten
das Schriftſtück längſt überall verbreitet, ſie nahmen nach dem ſchönen
Vorrechte der Jugend ungeſcheut Partei für die gute Sache und begrüßten
Dahlmann als „den Mann des Wortes und der That“; es kam ſchon
zu Händeln mit der bewaffneten Macht. Nur einige Söhne des hannö-
verſchen Adels ſchämten ſich nicht den Mißhandelten das Honorar durch
den Stiefelputzer abzufordern. In der Nacht, bevor die drei Verbannten,
von Küraſſieren bewacht, abreiſten, wanderten die Burſchen in Schaaren
hinaus — denn den Lohnkutſchern hatte die Polizeigewalt zu fahren ver-
boten — und drüben in Witzenhauſen, auf dem freieren heſſiſchen Boden,
nahmen ſie Abſchied von ihren Lehrern. Als der kleine Sohn im Grenz-
wirthshauſe ſich vor Jakob Grimm’s majeſtätiſchem Kopfe hinter dem
Rocke der Wirthin verſteckte, ſagte die Mutter mitleidig: gieb dem Herrn
die Hand, es ſind arme Vertriebene.
Mit Alledem war Ernſt Auguſt’s Rachgier noch nicht erſättigt. Kaum
erfuhr er, daß Dahlmann’s Berufung nach Roſtock im Werke ſei, ſo ließ
er alsbald nach Schwerin und Strelitz ſchreiben, was dieſer Mecklenburger
Alles verbrochen habe: „Se. Maj. haben geglaubt, den großherzoglichen
Höfen Kenntniß von den Handlungen eines Mannes geben zu müſſen,
der in einem Lehramte an einer Univerſität nur höchſt nachtheilig auf die
ſtudirende Jugend wirken kann.“ Die mecklenburgiſchen Regierungen fürch-
teten ſich vor der drohenden Sprache des Welfen; ſie betheuerten, der
Wahrheit zuwider, die Verhandlungen ſeien längſt abgebrochen, und er-
klärten, nunmehr könne von der Berufung „natürlich gar nicht die Rede
ſein“.***) Auf die Nachricht, daß Jakob Grimm die Seinigen in Göttingen
heimlich beſuchen wolle, erging ſofort der Befehl, den Verbrecher durch
42*
[660]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Landdragoner über die Grenze zu ſchaffen.*) Um die offenbare Ungeſetz-
lichkeit ihrer Entlaſſung auf dem einzigen gerichtlichen Wege, der ihnen
noch offen ſtand, zu erweiſen, klagten die Sieben auf Auszahlung ihres
rückſtändigen Gehalts für das letzte Halbjahr. Da befahl der König der
Juſtizcanzlei in Hannover durch ein Cabinetsſchreiben des allezeit willigen
Leiſt: ſie ſolle die Klage einfach abweiſen. Als der redliche Canzleidirector
v. Hinüber ſich dieſem rechtswidrigen Anſinnen widerſetzte, da befürchtete
Leiſt, die Juſtizcanzlei würde das königliche Cabinet verurtheilen, oder auch
die Profeſſoren könnten beim Bundestage wegen verweigerter Juſtiz klagen.
Um Beides zu verhindern, beſchloß man den Competenzconflict zu erheben.
Die Commiſſion, welche die Competenzconflicte zu entſcheiden hatte, war
freilich durch die Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes vernichtet**); welches
Recht ſtand denn noch feſt in dem zerrütteten Staate? Indeß gelang es
die Sache ſo lange hinzuhalten, bis Ernſt Auguſt einen neuen Staats-
rath gebildet hatte, und dieſer entſchied (1841): das Gericht dürfe die
Klage nicht annehmen, weil Entlaſſung und Gehaltsentziehung zu den
Hoheitsrechten des Landesherrn gehörten. Der Welfe hoffte noch lange,
die Federfuchſer würden ſich demüthigen, und ſagte in Alexander Hum-
boldt’s Gegenwart: Profeſſoren, Huren und Ballettänzerinnen kann man
für Geld überall haben. Sobald Schele das falſche Gerücht hörte, daß
Albrecht und Ewald das Geſchehene bedauerten, ſchrieb er ſogleich nach
Göttingen: die Wiederanſtellung ſei nicht unmöglich, falls die Beiden wirk-
lich Reue bezeigten.***)
Leider gab die Haltung der anderen Profeſſoren dem Könige einigen
Grund, ſo niedrig zu denken von dem Muthe der Gelehrten. Die Gelehr-
ſamkeit der Georgia Auguſta hatte ſich den Kämpfen des öffentlichen Lebens
von jeher grundſätzlich fern gehalten; manche der alten Hofräthe empfan-
den es wie eine Beleidigung ihrer Amtsehre, daß ſie jetzt in die Wirren
der Politik hineingeriſſen wurden. Wenige Tage nachdem die Erklärung der
Sieben ruchbar geworden, fuhren der Prorector und die Decane nach dem
Jagdſchloſſe Rotenkirchen im Solling, um dem Könige unterthänig aus-
zuſprechen, „daß ſie in dem Vertrauen zu den landesväterlichen Abſichten
Sr. Maj. überall nicht wanken und niemals Geſinnungen hegen werden,
welche dem entgegen ſind.“†) Sie wagten ſogar kein Wort der Erwiderung,
als die amtliche Hannöverſche Zeitung nachher dem Prorector eine völlig ge-
fälſchte, die That der Sieben entſchieden verwerfende Rede unterſchob. Nur
[661]Ernſt Auguſt und die Sieben.
ſechs jüngere Profeſſoren, Otfried Müller voran, entſchloſſen ſich, angeekelt
durch dies Uebermaß der Lüge, zu der öffentlichen Erklärung, daß ſie den
Schritt ihrer entlaſſenen Collegen nicht mißbilligten. Aber Niemand wollte
ſich den Sieben rückhaltlos anſchließen. Der ſchon durch Rauſchenplatt’s
Revolution verdunkelte Glanz der Univerſität verblich jetzt gänzlich, für viele
Jahre; die auswärtigen Studenten mieden den verrufenen Ort, der Ab-
gang ſo trefflicher Lehrkräfte ließ ſich nicht erſetzen. Ernſt Auguſt wünſchte
vornehmlich die Lehrſtühle Dahlmann’s und Albrecht’s mit ergebenen Leuten
zu beſetzen, damit den Studenten die neue Lehre von der unbeſchränkten
Gewalt des alleinigen Dienſtherrn eingeprägt würde; allein ſolche Gelehrte
waren in Deutſchland ſelten. Der Marburger Vollgraff, der in einigen
verworrenen Schriften, nicht ohne Geiſt „die Täuſchungen des Repräſen-
tativſyſtems“ bloßgelegt hatte, genügte doch zu wenig den hohen wiſſen-
ſchaftlichen Anſprüchen, welche das Orakel des Curatoriums, der greiſe
Hiſtoriker Heeren an die Lehrer der Georgia Auguſta zu ſtellen pflegte,
und man wagte nicht ihn zu rufen.*) Umſonſt baten die Univerſität und
die Stadt in wiederholten Eingaben um die Rückkehr der Sieben. Selbſt
der Gothaer G. Zimmermann, der einzige namhafte deutſche Publiciſt, der
in die Dienſte des Welfenhofes gegangen war, hielt die Rückberufung für
nöthig um das Land und die tief erbitterte gelehrte Welt zu beruhigen.
Ernſt Auguſt blieb unerbittlich. Als man im Herbſt 1846 erzählte, Dahl-
mann, Jakob Grimm und Gervinus wollten auf Beſuch nach Göttingen
kommen, entſchied der Welfe kurzab: es bleibe bei den früheren Befehlen.**)
Wie gründlich täuſchte er ſich, als er in der erſten Schadenfreude
zu Canitz ſagte: „dieſe Leute haben meiner Sache eher genützt als ge-
ſchadet.“ Es währte nicht lange, da rief er zornig: hätt’ ich gewußt was
mir die ſieben Teufel für Noth machen würden, ſo hätt’ ich die Sache
nicht angefangen. Seit der Juli-Revolution hatte kein Ereigniß mehr eine
ſolche Aufregung hervorgerufen. Die Frage lag ſo einfach, ſie berührte
ſo unmittelbar die empfindlichſte Seite des deutſchen Gemüths, die Treue,
daß die ſchlichten Leute mit ihrem Urtheil raſch fertig wurden. Der Nation
war zu Muthe, als ſei ein engliſcher Räuber plötzlich in ihren Garten
eingebrochen. Der burſchikoſe junge Poet Hoffmann von Fallersleben ſagte
nur grob heraus, was Tauſende empfanden, als er ſang: „Friſch Knüppel
aus dem Sack! Auf’s Lumpenpack! Auf’s Hundepack!“ Und wer noch
irgend zweifelte, den mußten die Vertheidigungsſchriften der Sieben ge-
winnen. Dahlmann’s Büchlein „zur Verſtändigung“ war ein Meiſter-
werk deutſcher Publiciſtik; die leidenſchaftlich bewegte Sprache blieb immer
[662]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
würdig und vornehm, und nirgends verleugnete ſich die gemäßigte Geſin-
nung des Monarchiſten: „Ich kämpfe für den unſterblichen König, für den
geſetzmäßigen Willen der Regierung, wenn ich mit den Waffen des Ge-
ſetzes das bekämpfe, was in der Verleitung des Augenblicks der ſterbliche
König im Widerſpruch mit den beſtehenden Geſetzen beginnt… Ich traue
nicht dem Muth des Liebeleeren und nicht der Liebe des Muthloſen. Hier
gilt es Deutſchland. Kann eine Landesverfaſſung vor den Augen des
Bundes wie ein Spielzeug zerbrochen werden, eine Verfaſſung, von der es
unmöglich iſt zu leugnen, daß ſie in anerkannter Wirkſamkeit beſtanden
hat, dann iſt über Deutſchlands nächſte Zukunft entſchieden, aber auch
über die Zukunft, die dieſer folgen wird.“ Wie Dahlmann die politiſche,
ſo zeigte Jakob Grimm die menſchliche Niedertracht des Staatsſtreichs in
einem Schriftchen, das mit den Worten der Nibelungen anhob: „war ſint
die eide komen?“ Albrecht beleuchtete die Rechtsfrage in einer ſcharfſinnigen
Erörterung, die um ſo ſtärker wirken mußte, weil der große Juriſt nie ver-
hehlte, daß er die landläufigen liberalen Lehren vom ſogenannten Wider-
ſtandsrechte für eitle Zirkelſchlüſſe hielt. Auch Gervinus und Ewald ſprachen
ſich freimüthig aus, und von allen Seiten her kam ihnen Beiſtand.
Georg Beſeler, der ſich als Kampfgenoſſe wider die Dänen das Ver-
trauen Dahlmann’s erworben hatte und jetzt an der Roſtocker Hochſchule
lehrte, rechtfertigte die Sieben in volksthümlichen Briefen. Anaſtaſius Grün
richtete an Jakob Grimm ein begeiſtertes Gedicht und wünſchte,
Ein Märchen „Anno 1937“ ſchilderte, wie die Großmutter dem Enkel
von dem böſen König, dem zerriſſenen Freiheitsbriefe, den Sieben und
den Dreien erzählte, und der Bube verwundert antwortete: „das kann
unmöglich möglich ſein!“ Ueberall hatten die Vertriebenen Mühe, ſich
den Huldigungen und Zuſchriften zu entziehen. Die Bewegung ergriff
alle deutſchen Gaue, bis zu den fernen Grenzmarken. Die Kieler über-
ſchickten an Dahlmann, den alten Vorkämpfer des Holſtenrechts eine Dank-
adreſſe; die Elbinger Bürger ſprachen ihrem Landsmann Albrecht ihre
Zuſtimmung aus, und die Königsberger philoſophiſche Facultät ſendete ihm
ein von Lobeck verfaßtes Doctor-Diplom. Ein Hamburger Rheder ließ in
Cuxhaven ein auf Dahlmann’s Namen getauftes Schiff vom Stapel laufen.
An den Fenſtern der Spielwaarenläden ſah man den Witzenhauſener Ab-
ſchied in Bleifiguren dargeſtellt, auf den Jahrmärkten wurden Pfeifen-
köpfe mit dem Bilde der Sieben feilgeboten. Und es blieb nicht bei den
Worten und Bildern. Zum erſten male ſeit dem Befreiungskriege ver-
anſtalteten die Deutſchen wieder eine Geldſammlung für ihre eigenen poli-
tiſchen Zwecke; in den letzten zwanzig Jahren hatten ſie nur zu Gunſten
[663]Sammlungen für die Sieben.
der Griechen und der Polen freiwillig geſteuert. In Leipzig entſtand der
Göttinger Verein, der ſich bald über ganz Deutſchland verzweigte und den
Sieben bis zu ihrer Wiederanſtellung ihren alten Gehalt zahlte. Einige
der unternehmenden Bürger, welche die erſte Eiſenbahn bauten, Guſtav
Harkort und Dufour ſtanden an der Spitze, dazu die Beſitzer der Weid-
mann’ſchen Buchhandlung Karl Reimer und der junge Schweizer Salomon
Hirzel; in Berlin übernahm Gans die Leitung, in Baden Rotteck, in
Königsberg der radicale Jakoby, in Jena der ſtreng kirchlich geſinnte Buch-
händler Frommann, in Marburg ſein Geſinnungsgenoſſe V. A. Huber. Alle
guten Kräfte des Bürgerthums fanden ſich zuſammen.
In der amtlichen Welt waren die Meinungen getheilt. Die Thaten
des Welfen in Schutz zu nehmen, wagte faſt Niemand; nur da und dort
jubelte ein übermüthiger Junker wie der Prinz von Noer, das ſei brav,
daß man die Kerls fortgejagt habe. Aber nach den Anſchauungen des
alten Beamtenſtaats erſchien das kühne Auftreten einfacher Profeſſoren, die
kein obrigkeitliches Amt bekleideten, als eine gefährliche Anmaßung. Selbſt
Canitz, der das Treiben am hannöverſchen Hofe mit wachſender Sorge be-
trachtete und mit ſeinen Landsleuten den Brüdern Grimm auf freund-
lichem Fuße ſtand, meinte doch ängſtlich: die Sieben hätten ſtill ihren Ab-
ſchied fordern ſollen ohne die Gewiſſen Anderer zu verwirren.*) Dieſen
Kleinmuth der Regierungen verſtand der Welfe ſehr geſchickt auszubeuten;
er wußte aus ſeiner parlamentariſchen Erfahrung, wie viel die Frechheit
über die Menſchen vermag. Seine Geſandten traten mit einer Zuverſicht
auf, als ob ſich Hannover durch ſeinen Staatsſtreich beſondere Anſprüche
auf Dank und Dienſt aller Kronen erworben hätte. Als Beſeler’s Schrift
erſchienen war, ſendete Ernſt Auguſt den Prinzen Solms nach Schwerin
um die Beſtrafung des Verfaſſers zu verlangen; der gutherzige Groß-
herzog Paul Friedrich ordnete auch eine Unterſuchung an, er berief aber
in die Commiſſion drei verſtändige Männer, die natürlich erklärten, daß
keine ſtrafwürdige Handlung vorliege. Sobald er hörte, daß einige der
Sieben in Leipzig Vorleſungen halten wollten, verbot Ernſt Auguſt ſeinen
Unterthanen ſofort den Beſuch der Leipziger Univerſität, worauf ſich denn
herausſtellte, daß nur ein einziger Hannoveraner an der Pleiße ſtudirte.
Wo immer ein Buch zu Gunſten der Sieben oder des Staatsgrund-
geſetzes erſchien, erhoben die welfiſchen Diplomaten alsbald Beſchwerde;
der Geſandte General v. Berger in Berlin, ein alter Herr, der ſich ſogar
unter ihnen durch Beſchränktheit auszeichnete, fand es immer wieder un-
begreiflich, wie die Cenſur ſolchen Produkten „das Ultimatum ertheilen
könne“!**)
Ganz ohne Erfolg blieben dieſe Einſchüchterungsverſuche nicht; Dahl-
mann und Jakob Grimm mußten ihre Rechtfertigungsſchriften, zur Schande
[664]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Deutſchlands, in der Schweiz erſcheinen laſſen. Am willfährigſten zeigte
ſich der däniſche Hof, weil er ſelbſt eine ſtreng conſervative Politik ver-
folgte und wohl auch weil er einen alten Haß gegen Dahlmann hegte.
Er ertheilte den Kieler Profeſſoren, welche den Sieben geſchrieben hatten,
einen Verweis und forderte die Cenſoren Schleswigholſteins zur Wachſam-
keit auf, da „unzeitiges und böswilliges Ausſprechen der öffentlichen Mei-
nung“ den Erfolg der in Hannover beabſichtigten Maßregeln gefährden
könne.*) In Berlin äußerte ſich Eichhorn ſehr freimüthig; er hoffte, der
König würde die Brüder Grimm, vielleicht auch Dahlmann oder Albrecht
an eine preußiſche Hochſchule berufen. Bettina v. Arnim ergriff den Ge-
danken mit ihrem hochherzigen Eifer und ſuchte, unterſtützt von ihrem
Schwager Savigny, den Kronprinzen dafür zu erwärmen. Miniſter Rochow
dachte anders. Auch er mißbilligte das Verfahren des welfiſchen Hofes
und war ſehr unglücklich, als er ſpäterhin, für einige dem Sohne der
Königin Friederike erwieſene Gefälligkeiten, den Guelphen-Orden erhielt;
für einen Bundesgenoſſen Ernſt Auguſt’s wollte er durchaus nicht gelten.**)
Aber die Einmiſchung Unberufener in die hohe Politik hielt er für ſtaats-
gefährlich; nur unter der Hand durfte in Berlin für die Sieben geſam-
melt werden. Da überſendete ihm der Kaufmann Jakob van Rieſen die
Adreſſe, welche die Elbinger an Albrecht geſchickt hatten; der ehrliche alt-
preußiſche Liberale hoffte arglos, den Miniſter dadurch für Albrecht’s Be-
rufung günſtig zu ſtimmen. Rochow brauſte auf; er glaubte ſich verhöhnt,
und heftig wie er war, unterzeichnete er eine Antwort, deren maßloſer
bureaukratiſcher Hochmuth den preußiſchen Staat vor aller Welt bloßſtellte.
Da hieß es: „dem Unterthanen ziemt es nicht, die Handlungen des Staats-
oberhauptes an den Maßſtab ſeiner beſchränkten Einſicht anzulegen und
ſich in dünkelhaftem Uebermuth ein öffentliches Urtheil über die Recht-
mäßigkeit derſelben anzumaßen.“ Die Thorheit ſollte ſich ſchwer beſtrafen.
Die Fama geſtaltete aus dieſen Sätzen das geflügelte Wort vom „be-
ſchränkten Unterthanenverſtande“, und fortan haftete an Rochow’s Namen
unaustilgbar der Fluch der Lächerlichkeit. Man hielt den Miniſter für
einen ausbündigen Narren, obwohl er ſich eben jetzt bei der Berathung
des Eiſenbahngeſetzes ſehr verſtändig und neuen Ideen zugänglich zeigte.
Den conſtitutionellen Höfen war übel zu Muthe. Alle Welt rief,
jetzt ſei es an ihnen, durch ſofortige Berufung der Sieben den alten Ruhm
deutſcher akademiſcher Gaſtfreiheit von Neuem zu bewähren und dem be-
leidigten Gewiſſen der Nation Genugthuung zu geben. Du Thil freilich
blieb für ſolche Mahnungen taub und ſchrieb in ſeine Aufzeichnungen:
„mir träumte der Teufel“, als Gervinus ſich um eine Stelle an dem
heimiſchen Darmſtädter Archiv bewarb. Als entſchiedene Proteſtanten konn-
[665]Federkrieg der Sieben.
ten die Sieben auch von Baiern und Baden wenig erwarten ſeit dort die
clericale Luft wehte. Der gütige König Friedrich Auguſt von Sachſen
dagegen und ſeine Miniſter wünſchten lebhaft, die zur Zeit etwas erſtarrte
Landesuniverſität durch eine großartige Verſtärkung der Lehrkräfte zu heben
— wenn ſie ſich nur nicht vor der Grobheit des Welfen, vor dem Un-
willen der Hofburg gar ſo ſehr gefürchtet hätten. Wie viele diplomatiſche
Widerwärtigkeiten hatte Miniſter Lindenau noch vor drei Jahren ertragen
müſſen, als ihm die Zeitungen eine halb erfundene radicale Aeußerung in
den Mund gelegt hatten.*) Solche Erfahrungen genügten, um den ab-
hängigen kleinen Hof behutſam zu ſtimmen. Man ſagte den Sieben in
Dresden freundliche, unzweifelhaft ehrlich gemeinte Worte, allein man
wagte nichts, und zornig ſchrieb Dahlmann in der Vorrede zu Albrecht’s
Vertheidigungsſchrift: „So lange es bei uns nicht in politiſchen Dingen,
wie ſeit dem Religionsfrieden Gottlob in den kirchlichen, ein lebendiges
Nebeneinander der Glaubensbekenntniſſe giebt, [ſo lange die das beſte Ge-
wiſſen haben könnten ſich gebährden als ob ſie das ſchlechteſte hätten, ſo
lange der feigherzigſte Vorwand genügt um nur Alles abzuweiſen was an
dem trägen Polſter der Ruhe rütteln könnte,] ebenſo lange giebt es keinen
Boden in Deutſchland, auf dem Einer aufrecht ſtehend die reifen Früchte
politiſcher Bildung pflücken könnte.“ Die eingeklammerten Worte ſtrich
ihm der Leipziger Cenſor, Profeſſor Bülau, ein geiſtloſer Vielſchreiber, der
den Sieben nicht an die Schultern heranreichte und ihnen nun wie Schul-
buben das Concept corrigirte. Zu ſolchem Aberwitz führte das Karlsbader
Preßgeſetz.
Nach langen Erwägungen erhielt Albrecht in der Stille die Erlaub-
niß, an der Leipziger Univerſität Vorleſungen zu halten; nachher empfing
er auch Gehalt, als geheimer Profeſſor, wie die Collegen ſpotteten, und
erſt nach längerer Zeit, als die Luft wieder rein war, wurde er förmlich
angeſtellt. Dahlmann freilich ſchien den Kurſachſen zu gefährlich; der
politiſche Führer der Sieben lebte fortan mehrere Jahre lang ohne Amt
in Jena und leitete von dort aus unverdroſſen den Federkrieg wider die
hannöverſchen Gewalthaber. Unter allen deutſchen Fürſten wagte allein
König Wilhelm von Württemberg dem Welfen offen entgegenzutreten. Er
berief Ewald nach Tübingen, der als der einzige geborene Hannoveraner
unter den Sieben dem welfiſchen Hofe beſonders verhaßt war. Natürlich
verbot Ernſt Auguſt ſeinen Landeskindern ſofort den Beſuch der ſchwäbiſchen
Hochſchule. Als die beiden Könige nachher in Berlin zuſammentrafen,
fragte der Welfe grob: Warum haben Sie einen Profeſſor angeſtellt, den
ich fortgejagt habe? Darauf der Württemberger: „Ebendeswegen!“**)
Der welfiſche Staatsſtreich rüttelte die halb entſchlummerte öffentliche
[666]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Meinung wach und zwang die Deutſchen ihre politiſche Leidenſchaft wieder
dem Vaterlande zuzuwenden. Seit dies Schandmal auf Deutſchlands
eigener Stirn brannte, begann die Preſſe die Fragen des Bundesrechts
wieder ernſtlich zu erörtern, die früher beliebten weltbürgerlichen Betrach-
tungen über die Pariſer Kammern und die orientaliſchen Wirren erſchienen
jetzt ſchal. Leider wurde die dringend nöthige Klärung unſeres verwor-
renen Parteilebens durch dieſen wohlberechtigten ſittlichen Unwillen mehr
gehemmt als gefördert. Die wilden Brandſchriften der Flüchtlinge aus
Frankreich und der Schweiz mußten jedem Beſonnenen zeigen, daß die
deutſche Oppoſition längſt zwei grundverſchiedene Parteien umſchloß, die
auf die Dauer nicht zuſammenwirken konnten. Jetzt aber warf eine rein
menſchliche Entrüſtung Alles, was nicht ſchlechthin ſervil war, Radicale,
Liberale, gemäßigte Conſervative wieder in einen Haufen zuſammen. Seit
es auch im Norden conſtitutionelle Märtyrer gab, verbreitete ſich die
doctrinäre Ueberſchätzung der Verfaſſungsformen weithin über Deutſchland.
Dahlmann’s politiſcher Takt empfand dies ſogleich. Auf den Feſtgelagen,
mit denen man ihn ehrte, betrachtete er ohne Freude die radicalen Feuille-
tonsſchreiber, „mit denen wir doch nur ſehr zufällig in dieſelbe Geſellſchaft
gerathen ſind.“ Den Freunden geſtand er: ich hoffe bald „die Aehnlich-
keit mit ſo Vielen, denen ich mich in keiner Weiſe verwandt fühle, abzu-
ſtreifen.“ Beides gemeinſam, das Königthum und die bürgerliche Freiheit
macht den Staat aus, ſo ſagte er in ſeinem Dankſchreiben an Johann
Jacoby; „der Staat wäre eine ebenſo flache und frivole Sache als er eine
tiefſinnige und heilige iſt, wenn er nicht gerade dieſe Verbindung von
Dingen zu leiſten hätte, die allein dem oberflächlichen Beobachter unver-
einbar ſcheinen.“ Herrliche Worte, nur waren ſie leider an eine falſche
Adreſſe gerichtet, an einen Radicalen, der ſie entweder nicht verſtand oder
als klägliche Halbheit verdammen mußte. Doch wie konnten dieſe Gegen-
ſätze ſich ſcheiden, ſo lange ein gemeinſamer edler Zorn ſie zuſammen-
hielt? Dahin war es mit uns gekommen, daß die härteſten und wirk-
ſamſten Anklagen gegen die beſtehenden Gewalten jetzt von treuen Mon-
archiſten ausgingen.
Die Vertreibung der Sieben verwirrte und verwiſchte nicht blos die
Parteigegenſätze, ſie begründete auch die politiſche Macht des deutſchen
Profeſſorenthums, die erſt durch den Krieg von 1866 gebrochen werden
ſollte. Als der Streit begann, ſagte eine engliſche Zeitung: In Deutſch-
land ſind die Univerſitäten auch politiſche Mittelpunkte, welche dem übrigen
Lande Impulſe geben; die Profeſſoren gelten als Magiſtrate, beauftragt
die Rechte des Volks ſo gut wie die Grundſätze der Vernunft zu verthei-
digen. Das Urtheil war verfrüht, denn bisher hatten nur die Hochſchulen
von Jena, Kiel, Freiburg für kurze Zeit eine politiſche Rolle geſpielt, doch
es ſollte ſehr bald durch die Thatſachen gerechtfertigt werden. Aus dem
Göttinger Gewaltſtreiche entwickelte ſich ein großer Kampf der deutſchen
[667]Erhebung des Profeſſorenthums.
Gelehrtenwelt wider einen Despoten, der ſeine Geringſchätzung der Wiſſen-
ſchaften höhniſch zur Schau trug; keine deutſche Univerſität, die den Sieben
nicht irgendwie ein Zeichen der Zuſtimmung gegeben hätte. In dieſem
Kampfe war alles Recht unzweifelhaft auf Seiten der Gelehrten; an ihrer
Spitze ſtanden tapfere, makelloſe, ſchuldlos verfolgte Männer, während der
Welfe ſich nur auf gemeine Knechte und auf die Aengſtlichkeit der deut-
ſchen Höfe ſtützen konnte.
Wenn je im politiſchen Streite ein moraliſcher Sieg erfochten wurde,
ſo war es hier. Ein ſolcher Erfolg mußte das ohnehin ſtarke Selbſt-
gefühl der Gelehrten mächtig heben; von den Sieben blieben Fünf als
Menſchen ſchlicht, edel, liebenswerth, in Gervinus aber und in Ewald
verkörperte ſich der unausſtehliche Profeſſorendünkel. Die einmal erregte
politiſche Leidenſchaft hielt an; die Gelehrten begannen durch Schriften
und Reden unmittelbar an der politiſchen Erziehung der Deutſchen zu
arbeiten, und da ſie gewohnt waren zur ganzen Nation zu reden, ſo
drangen ihre Stimmen weiter als die Reden der Landtagsabgeordneten.
Die Gelehrtenverſammlungen der nächſten Jahre wurden zu Vorparla-
menten, in denen die Nation die großen Tagesfragen erörterte, und als
nachher das wirkliche Parlament zuſammentrat, da drangen die Gelehrten
in Schaaren ein, weil ſie faſt die einzigen Männer waren, welche ganz
Deutſchland kannte. Es war eine tragiſche, durch keines Menſchen Willen
abzuwendende Nothwendigkeit, daß dieſe idealiſtiſche Nation, indem ſie von
den Höhen des literariſchen Schaffens langſam zur politiſchen Arbeit hin-
abſtieg, auch noch die Durchgangsſtufe der Profeſſorenpolitik überſchreiten
mußte. Durch dies Uebergewicht des Profeſſorenthums wurde der doctri-
näre Zug, der die Politik der deutſchen Liberalen von jeher auszeichnete,
ungebührlich verſtärkt, und es entſtand auch der falſche Schein, als ob
der Liberalismus die Sache der Bildung verträte, während in Wahrheit
die Helden der deutſchen Kunſt und Wiſſenſchaft, Goethe, Cornelius und
Rauch, Niebuhr, Savigny und Ranke, großentheils dem conſervativen
Lager angehörten.
Zu Thaten vermochte dieſe Gelehrtenpolitik ſich nicht zu erheben, denn
in der Stille der wiſſenſchaftlichen Arbeit bilden ſich nicht leicht politiſche
Charaktere; unter den Sieben ſelbſt war Dahlmann der einzige politiſche
Kopf, auch er mehr ein Denker als ein Mann der That, während Gervinus’
ſtaatsmänniſches Talent nur in ſeiner eigenen Einbildung beruhte, und die
übrigen alleſammt gar keinen politiſchen Ehrgeiz hegten. Aber an Ideen,
an groß und tief gedachten Ideen war dies Menſchenalter des politiſiren-
den Profeſſorenthums ſehr fruchtbar. Bei der Lampe deutſcher Gelehrten
ſind die Pläne für die Einheit des Vaterlands zuerſt erdacht worden, welche
nachher durch die ſchöpferiſchen Hände großer Praktiker ihre Geſtaltung
empfangen ſollten. Die deutſche Wiſſenſchaft — ſo ſtark und unverwüſt-
lich war ihr Wachsthum — erlitt durch die politiſche Leidenſchaft der
[668]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Gelehrten durchaus keinen Schaden. Unter der Mehrheit der Göttinger
Profeſſoren befanden ſich einige, die nicht aus Furcht, ſondern grundſätzlich
den Schritt der Sieben verwarfen, ſo Herbart, Hugo, Gauß. In einer nach-
gelaſſenen Schrift „Die Göttinger Kataſtrophe“ hat ſich Herbart über die
Gründe ſeines Verhaltens freimüthig ausgeſprochen; er glaubte, der tiefe
Ernſt, die geſammelte Stille des deutſchen akademiſchen Lebens würden
verſchwinden, ſobald die Univerſitäten ſich in politiſche Kämpfe einließen.
Dieſe im Munde des ſtrengen Philoſophen wohl begreifliche Befürchtung
erwies ſich als irrig. Die Forſcher arbeiteten rüſtig weiter, und die Sieben
ſelber gingen ihnen mit gutem Beiſpiele voran. Die hiſtoriſche Wiſſen-
ſchaft gewann ſogar durch die politiſche Thätigkeit der Gelehrten. Ganz
werthloſe hiſtoriſche Tendenzſchriften erſchienen während der nächſten Jahre
ſelten, ſeltener ſicherlich als in dem Zeitalter des Rotteck-Welcker’ſchen Libe-
ralismus; wohl aber viele tüchtige Werke, welche den Deutſchen ihre Ver-
gangenheit wiſſenſchaftlich erklärten. Die Blüthe der politiſchen Geſchicht-
ſchreibung in den vierziger und fünfziger Jahren, die Vertiefung unſerer
hiſtoriſchen Selbſterkenntniß ward nur darum möglich, weil die Hiſtoriker
der Welt der politiſchen Thaten ſo nahe, oft allzu nahe, getreten waren. —
Dem Verfaſſungskampfe der Hannoveraner konnte die That der Sieben
nur dann Vorſchub leiſten, wenn ſie Nachahmung fand, wenn die Mehr-
zahl der Beamten den verfaſſungswidrigen Dienſteid verweigerte, wenn
die Wahlen für den unrechtmäßigen Landtag nicht zu Stande kamen und
nach Ablauf der geſetzlichen Friſt auch die Steuerzahlung unterblieb. Aber
für ſolchen Einmuth paſſiven Widerſtandes fehlten alle Vorbedingungen.
Es war das Verhängniß dieſes welfiſchen Staatsſtreichs, daß er faſt alle
Gebrechen der beſtehenden Ordnung an den Tag brachte, den Aberwitz
der Cenſur ſo gut wie die ſittliche Schwäche des alten Beamtenſtaats.
Die Mißſtimmung reichte bis in die Kreiſe des Hofes hinein. Ernſt
Auguſt’s Hofmarſchall Malortie geſtand ſeinem heißgeliebten Herrn traurig,
auf dieſem Wege könne er ihm nicht folgen, und der Welfe nahm das hin,
weil er den treuen Mann nicht entbehren mochte. Das Oberappellations-
gericht in Celle leiſtete den neuen Dienſteid und behielt ſich die Verpflich-
tung auf das Staatsgrundgeſetz ausdrücklich vor. Aehnlich handelten
mehrere Mittelgerichte und viele einzelne Beamte. Schele war aber jetzt
durch die Göttinger Erfahrungen gewitzigt, er legte die Vorbehalte ſtill-
ſchweigend zu den Akten, und die Proteſtirenden gaben ſich alleſammt zu-
frieden, wenn ſie nur insgeheim ihr Gewiſſen gewahrt hatten. Entſetzlich
war die Selbſtentwürdigung der Cabinetsminiſter; ſie blieben in ihrer
Stellung, nur daß ſie zu Departementsminiſtern degradirt und ihr alter
Gegner Schele ihnen als alleiniger Cabinetsminiſter vorgeſetzt wurde.
[669]Haltung des hannöverſchen Volkes.
Die Maſſe der Beamten erwies ſich ebenſo unterwürfig; ſie war bereit,
wie Dahlmann ſagte, „Alles zu laſſen was ihr Herz hoch hielt um nur mit
den Ihren das bittere Brot der Kränkung eſſen zu dürfen.“ Ich unter-
ſchreibe Alles, ſagte Einer verzweifelnd, Hunde ſind wir ja doch. Auch an
überzeugten Abſolutiſten fehlte es nicht; der Göttinger Pandektiſt Mühlen-
bruch brachte auf die ſieben Narren ein Pereat aus, das die erbitterten
Studenten an ſeinen Fenſterſcheiben beſtraften. Manche der älteren Be-
amten lebten der Meinung, daß der Gehorſam gegen die Krone die ältere
und höhere Pflicht ſei. Hoppenſtedt, der hochverdiente Förderer der Georgia
Auguſta, legte ſich die Gewiſſensfrage alſo zurecht: der König hat einſt in
meinen alten Dienſteid die Verpflichtung auf das Staatsgrundgeſetz ein-
gefügt, folglich kann er ſie jetzt wieder ſtreichen, und ich bleibe nach wie
vor ſein treuer Diener. Selbſt Roſe, der Haupturheber des Staats-
grundgeſetzes ließ ſich von ſolchen Erwägungen beſtimmen. Dieſe Demü-
thigung ſchützte den verhaßten Mann, „der den Liberalismus in das
Miniſterium eingeführt hatte“, nicht vor der Rache des Welfen. Nach
wenigen Monaten erhielt er den Abſchied. Die Entlaſſung erfolgte in
ehrenvoller Form, weil Roſe ſich muthig erbot, alle ſeine Schritte vor dem
Könige perſönlich zu rechtfertigen; aber der Eintritt in den Landtag ward
ihm ausdrücklich unterſagt, und als er nach einigen Jahren aus Braun-
ſchweig heimkehren wollte, da erfuhr er zu ſeinem Erſtaunen, daß der
Welfe ihn vorläufig aus dem Königreiche verbannt hatte.
Im Volke zeigte ſich die Widerſtandskraft noch ſchwächer. Wie oft
hatten einſt Deutſchlands alte Landſtände, in Preußen und Brandenburg,
in Magdeburg, Mecklenburg und Württemberg, mit ausdauerndem Muthe
ihre habenden Freiheiten vertheidigt; eben jetzt verſuchten die Stände Oſt-
frieslands, die einen hannöverſchen Staat noch kaum anerkannten, den
Wirrwarr im Welfenlande auszunutzen und die alten preußiſchen Sonder-
rechte ihrer Landſchaft wieder zu erlangen. Auf ſolche Treue konnte eine
moderne Repräſentativverfaſſung, welche keinem Stande Vorrechte gewährte,
kaum rechnen, am wenigſten hier wo ſie den Maſſen noch kaum bekannt
war. Der Adel, der in den altſtändiſchen Zeiten immer durch zähe Un-
erſchrockenheit geglänzt hatte, hielt jetzt zu dem Landesherrn, er hoffte von
der Krone die Wiederherſtellung ſeiner alten Macht. Die Wähler der
zweiten Kammer ſtanden vor der troſtloſen Frage, wie aus der Zerſtörung
alles Rechts ein neuer Rechtszuſtand hervorgehen könne? Sollte man
wählen und alſo den Staatsſtreich ſcheinbar billigen, oder das Feld ohne
Kampf den Liebedienern der Gewalt überlaſſen? Parteien beſtanden noch
nicht, eine Verabredung hatte man arglos unterlaſſen; begreiflich alſo, daß
die Entſchlüſſe der Wählerſchaften ſehr verſchieden ausfielen. Von den
78 berechtigten Wahlcorporationen wählten ſchließlich doch 61, die meiſten
weil ſie Schlimmeres zu verhindern hofften, andere weil ſie auf ihr Wahl-
recht nicht verzichten wollten oder den Verluſt der Garniſon, des Gerichts,
[670]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
der Landdroſtei befürchteten, einige auch unter ausdrücklicher Verwahrung
des Verfaſſungsrechts.
Als der Landtag im Februar 1838 eröffnet wurde, erſchienen in der
zweiten Kammer 48 Abgeordnete. Die Kammer war alſo beſchlußfähig,
aber ſie bemerkte ſofort, daß der König nicht einmal auf dem Rechtsboden
vom Jahre 1819, den er angeblich wiederherſtellen wollte, ehrlich beſtand:
den Landtag von 1819 hatte er einberufen, doch nicht das von der alten
Verfaſſung unzertrennliche Collegium der Schatzräthe, denn Stüve war
Schatzrath, und dieſer gefährliche Mann mußte um jeden Preis dem Land-
tage fern gehalten werden. Auch der den Ständen vorgelegte Verfaſſungs-
entwurf wich von der alten Verfaſſung mehrfach ab. Bodenloſe Willkür
überall, und dazu die nichtswürdigen, jeden redlichen Mann anwidernden
Rechtsverdrehungen des Vertreters der Regierung Leiſt. Mit Entſetzen
bemerkte Canitz, daß dieſer Landesvater ſeinem Volke „eine Schlinge“
drehte; wenn die Abgeordneten ſich auf das Staatsgrundgeſetz beriefen,
dann hieß es kurzab: Ihr habt durch Euer Erſcheinen den Rechtsboden
vom Jahre 1819 ſchon anerkannt.*) Der Landtag wußte ſich nicht zu
helfen, die Vermittlungsverſuche des Syndicus Lang vermehrten nur die
allgemeine Rathloſigkeit; die führerloſe Oppoſition verdiente keineswegs
die reichen Lobſprüche, welche die liberalen Zeitungen ihr ſpendeten.
Das Volk aber erfuhr nichts von den geheimen Sitzungen. Eine Zeit
lang war die Kammer beſchlußunfähig, weil viele Mitglieder die Hoff-
nung aufgaben. Endlich trat ſie in die Verfaſſungsberathung ein, ſie
verlangte jedoch zugleich, daß die neue Verfaſſung noch dem zu Recht
beſtehenden Landtage des Staatsgrundgeſetzes vorgelegt werden müſſe.
Dieſen Vorbehalt wollte Leiſt natürlich nicht gelten laſſen, und der unter-
thänige Präſident Jacobi mahnte: „man muß den Muth haben, ſich über
den Rechtspunkt hinwegzuſetzen.“ Die Beſchwichtigungen fruchteten nichts.
Die Kammer erklärte ausdrücklich, „daß keine Handlung der jetzt verſam-
melten Deputirten rechtlich Giltiges zu bewirken im Stande ſei,“ und
wurde darauf ſofort vertagt. Nun ſchien nichts mehr übrig zu bleiben
als eine Vorſtellung an den Bundestag, aber auch hierüber einigten ſich
(28. Juni) nur 28 Mitglieder, eine Minderheit, die nicht im Namen der
Kammer zu reden befugt war.
Währenddem ward es im Lande lebendiger. Die Städte Osnabrück,
Hannover, Stade, Lüneburg, Hildesheim, Harburg, Celle, Münden ſprachen
ſich in Verwahrungen und Adreſſen für die Rechtsgiltigkeit des Staats-
grundgeſetzes aus. An der Spitze dieſer volksthümlichen Bewegung ſtand
Stüve, jetzt Bürgermeiſter von Osnabrück, und wie heillos mußte dies
Land zerrüttet ſein, wenn ein ſolcher Mann ſich zu demagogiſcher Thätig-
keit gezwungen ſah. Er hatte mitſammt ſeinem Magiſtrate, nach vergeb-
[671]Stüve und die Oppoſition.
lichen Gegenvorſtellungen, den neuen Huldigungsrevers eingereicht, doch
zugleich vor Notar und Zeugen gegen die Aufhebung des Staatsgrund-
geſetzes proteſtirt, und da die Regierung immer neue Vorwände erſann
um ihn vom Landtage auszuſchließen, ſo bewog er ſeine Stadt, ſich klagend
an den Bund zu wenden. Andere Städte und Wahlcorporationen folgten
dem Beiſpiele Osnabrücks. In ſeiner von Dahlmann herausgegebenen
„Vertheidigung des Staatsgrundgeſetzes“ wies Stüve überzeugend nach,
daß dieſe verleumdete Verfaſſung in Wahrheit die Rechte der Regierung
befeſtigt, die Macht der Krone verſtärkt habe. In dem Hannöverſchen
Portfolio ſammelte er, unterſtützt von dem Rechtsanwalt Detmold, alle
die Aktenſtücke, welche die Nation über die Rechtsfrage aufklären konnten.
Auch das Leipziger Deutſche Staatsarchiv wurde von ihm und ſeinen
Freunden mit Beiträgen verſorgt, und der neue „Deutſche Curier“ in
Stuttgart widmete faſt die Hälfte ſeiner Spalten der hannöverſchen Sache.
Dieſe liberale Wochenſchrift erfreute ſich, da ſie über Schwaben wenig
ſagte, der beſonderen Nachſicht der württembergiſchen Cenſur; daß ihr ge-
wandter Herausgeber A. Weil wahrſcheinlich auch aus den geheimen Fonds
der franzöſiſchen Regierung unterſtützt wurde, blieb den Hannoveranern
unbekannt.
Da die Zeit der verfaſſungsmäßigen Steuerverwilligung zu Neu-
jahr 1839 ablief, ſo richtete Stüve an mehrere juriſtiſche Facultäten die
Anfrage, ob der Osnabrücker Magiſtrat dann noch berechtigt ſei die un-
bewilligten Staatsſteuern zu erheben. Die Berliner Facultät verweigerte
die Antwort, weil den preußiſchen Spruchcollegien unterſagt war ſich mit
politiſchen Fragen zu befaſſen. Aus Jena aber, aus Heidelberg und
Tübingen liefen umfaſſende Rechtsgutachten ein, welche ſich übereinſtimmend
dahin ausſprachen, daß die Verfaſſung von 1833 noch zu Recht beſtehe.
Das von dem jungen Germaniſten Reyſcher verfaßte Tübinger Gutachten
erörterte ſehr ausführlich die Frage der Steuerverweigerung und ſagte
manches treffendes Wort; im Grunde blieb es doch ein unmögliches Unter-
nehmen, mit doktrinären Rechtsgründen nachzuweiſen was Rechtens ſei wenn
das Recht aufhörte. Alſo ſtanden die verhaßten Profeſſoren abermals in
Waffen wider die Welfen, und ganz Deutſchland ſtimmte ihrer Beweis-
führung zu. Selbſt mit ſeiner Hauptſtadt gerieth Ernſt Auguſt in Händel.
Sie verweigerte die Neuwahl, als ihr Abgeordneter aus dem Landtage
ausgeſchieden war, und ſendete einen Proteſt an den Bundestag. Darauf
ließ der König den Bürgermeiſter Rumann abſetzen und eine Unterſuchung
gegen den Magiſtrat einleiten, der an Stüve einen ſchlagfertigen Ver-
theidiger fand. Ein Amtmann wurde, dem Geſetze zuwider, an die Spitze
der Stadtverwaltung geſtellt. Die Bürger aber drohten den Eindringling
zum Fenſter hinauszuwerfen und zogen an einem ſchwülen Julitage 1839
in hellen Haufen vor das Schloß; ſobald der alte Welfe ſah, daß mit den
verzweifelten Leuten nicht zu ſcherzen ſei, gab er weislich nach, betraute
[672]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
den Syndicus mit der Leitung der Gemeindeverwaltung und betheuerte
die Paragraphen der Stadtverfaſſung nicht gekannt zu haben. Geſinnungs-
genoſſen beſaß er noch immer nirgends. Sogar ſeine alten Freunde, die
engliſchen Hochtorys fanden dieſe ſo muthwillig vom Zaune gebrochene
Gewaltthat empörend. Außer Zimmermann, deſſen hochmüthige Sprache
mehr erbitterte als überzeugte, wagte nur noch ein Schriftſteller für den
Welfenhof eine Lanze zu brechen: der fanatiſche, halbtolle Legitimiſt Graf
Corberon, der in Dahlmann und Stüve Sendboten der internationalen
Propaganda zu erkennen glaubte. Von allen größeren deutſchen Zeitungen
hielt allein das Berliner Wochenblatt bei dem Welfen aus; die Zeitſchrift
wußte ſchon nicht mehr, wie dringend ſie noch kürzlich vor allen geſetz-
widrigen Verfaſſungsänderungen gewarnt hatte.
Trotz Alledem ſchritt Ernſt Auguſt vorwärts. Bei der Eröffnung des
Staatsrathes, den er ſich nach preußiſchem Muſter gebildet hatte, verkündete
ſein Stiefſohn Prinz Bernhard zu Solms: unter der glorreichen Regierung
König Ernſt Auguſt’s, in der patriarchaliſchen chriſtlich-germaniſchen Mon-
archie ſollten „gleich beſchirmt die Rechte des Königs von Gottes Gnaden,
des Edlen, des Bürgers und des Bauern, in organiſcher Gliederung neben
einander jedes in eigener Bahn, Wurzel faſſen, blühen und gedeihen“.
Und dieſe Zuverſicht war nicht grundlos. Eine leidenſchaftliche Volks-
überzeugung, die den Welfen erſchrecken konnte, offenbarte ſich nirgends.
Sobald die Rechtsgutachten der drei Facultäten erſchienen, verweigerten
etwa hundert Osnabrücker Bürger die Steuerzahlung und ließen ſich dann
gemüthlich auspfänden. Dabei blieb Alles ruhig. Bei ſeinen Reiſen durch
das Land fand der König überall jubelnden Empfang, und die Depu-
tationen der Provinzialſtände, die er ſich beſtellte, ſchwelgten in Verſiche-
rungen der Unterthänigkeit. Als er die Garniſon von Hildesheim ver-
minderte und nachher auf einer Reiſe draußen vor dem Thore, ohne die
Stadt zu berühren, umſpannen ließ, da rotteten ſich die kleinen Leute vor
dem Hauſe des liberalen Bürgermeiſters Lüntzel zuſammen und ſendeten
dem erzürnten Monarchen eine Ergebenheits-Adreſſe. Die Hildesheimer
Zeitung feierte Ernſt Auguſt als „den einzig wahren Bürgerkönig“, und
ſelbſt Canitz konnte ſich der Bemerkung nicht enthalten: dies ſei „ein wohl
nicht ganz glücklich gerichteter Lobſpruch“.*)
Von ſolchen Philiſtern ſtand wenig zu fürchten, und nun zeigte ſich
doch, daß der alte Welfe nicht blos ein Tyrann war. In Allem was die
Verfaſſungsfrage nicht berührte verfuhr er einſichtig und gewiſſenhaft. An-
ſpruchslos im täglichen Leben, führte er einen glänzenden, wohlgeordneten
Hofhalt, der durch Malortie’s Buch „der Hofmarſchall“ einen europäiſchen
Ruf erlangte; trotz allem politiſchen Groll konnten die Bürger Hannovers
nicht leugnen, daß ihre gute Stadt durch den anweſenden König viel
[673]Die Osnabrücker vor dem Bundestage.
gewann und jetzt erſt anfing mit anderen deutſchen Reſidenzen zu wetteifern.
Die Etikette ward freilich unerbittlich ſtreng gewahrt, und Ernſt Auguſt
ruhte nicht, bis der bairiſche Geſandte Hormayr, der durch ſeine böſe Zunge
auch hier wieder Unfrieden ſtiftete, in die Hanſeſtädte verſetzt wurde. Die
Truppen hatten bisher engliſche Fahnen geführt, ganz wie einſt die Kur-
ſachſen polniſche Feldzeichen trugen. Jetzt wurden die neuen weißgelben
Landesfarben eingeführt, eine ganz unhiſtoriſche, allen Geſetzen der Heraldik
widerſprechende Farbenzuſammenſtellung; aus den Aktenbündeln verſchwand
der rothe Faden, der red tape der Briten. Die Infanterie erhielt, ſtatt
der engliſchen rothen, blaue preußiſche Röcke, und die Artillerie verlor ihren
Ehrenplatz auf dem rechten Flügel. Groß war der Jammer über dieſe
Neuerungen, größer faſt als der Schmerz um das Staatsgrundgeſetz; ſelbſt
der kluge alte General Sir Julius Hartmann vermochte ſich von den
theueren alten Erinnerungszeichen nur ſchwer zu trennen, und König Ludwig
von Baiern ſang in einem herzbrechenden Klageliede:
Sie ahnten nicht, daß der alte Welfe unbewußt im Dienſte des nationalen
Gedankens arbeitete. Ernſt Auguſt verdrängte die Ausländerei und zog
einen hannöverſchen Particularismus groß, aus dem vielleicht dereinſt eine
deutſche Geſinnung erwachſen konnte; darum war die Abſchaffung der rothen
Röcke die rühmlichſte That ſeiner erſten Regierungsjahre.
Aus eigener Kraft konnte dies halb gleichgiltige halb rathloſe Volk
nicht zu ſeinem Rechte gelangen. Stüve fühlte das lebhaft und ſetzte
darum ſeine ganze Hoffnung auf den Deutſchen Bund; durch die Petition
der Stadt Osnabrück erzwang er was Oeſterreich und Preußen ſo ängſtlich
zu verhindern geſucht hatten. Den beiden Großmächten kam der vollendete
Staatsſtreich ganz unerwartet. Das hatten ſie, nachdem Ernſt Auguſt in
Karlsbad ſo verſöhnlich geſprochen, unmöglich vorausſehen können; auch
der engliſche Geſandte Sir Fred. Lamb war dort in Böhmen von dem
biderben Welfen völlig überliſtet worden und fühlte ſich jetzt ſeinem eigenen
Hofe gegenüber ſchmählich bloßgeſtellt.*) Nachdem das Unglück geſchehen
war, bemühte ſich Canitz redlich, den König vor weiteren Gewaltſamkeiten
zu warnen und ihm eine raſche Verſtändigung mit dem Landtage zu em-
pfehlen. Er ſah ganz richtig, daß die Mißſtimmung wuchs je länger die
Ungewißheit währte, daß Leiſt als Regierungsbevollmächtigter weder Achtung
noch Vertrauen erwecken konnte, daß der Landtag für die künftige Volks-
vertretung wirkſame Rechte, namentlich das Recht der Geſetzgebung, fordern
mußte, daß „die Autokratie“ nirgends gefährlicher war als in dieſem Lande,
das keinen regierungsfähigen Thronfolger beſaß.**) Doch einen beſtimmten
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 43
[674]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Rathſchlag durfte er nicht ertheilen, weil man in Berlin den Eigenſinn
Ernſt Auguſt’s kannte. So ward er dem Welfen nur immer unangenehmer;
„dies, meinte der badiſche Geſandte, begegnet Jedem, der Sr. Majeſtät
Vernunft redet.“*)
Und wie unmöglich blieb es doch, von einem Fürſten, deſſen ganze
Haltung man verdammen mußte, Mäßigung im offenbaren Unrecht zu
verlangen. Auch für Ernſt Auguſt galten die ſchönen Worte, welche
Dahlmann der Oppoſition zurief: „Alle Mäßigung beruht auf der nicht
vollen Anwendung einer Kraft, die man ohne Rechtsverletzung auch ganz
gebrauchen dürfte. Sobald man die Kraft der Landesverfaſſungen ſchließlich
in bloße Redensarten auflöſt, verliert die Rede von Mäßigung ihren
Sinn.“ An den kleinen Höfen war die Beſtürzung allgemein. Sogar der
holſteiniſche Geſandte Pechlin, der eifrigſte Reaktionär des Bundestags,
beſchwor den Welfen, mit ſeinem Landtage ſchleunigſt abzuſchließen, ſonſt
könne der Bund nicht länger ſchweigen.**) Von allen Fürſten Europas
lobten nur zwei den Staatsſtreich: der Kurprinz von Heſſen, der ſeelen-
vergnügt zu Canitz ſagte: „jetzt will ich meine Verfaſſung auch ändern,“
aber von dem Preußen ſogleich zur Ruhe verwieſen wurde***) — und
Kaiſer Nikolaus. Der Czar traf mit Ernſt Auguſt im Sommer 1838
auf den preußiſchen Manövern zuſammen und überhäufte ihn mit Dank-
ſagungen. Wirklichen Einfluß gewann auch er nicht; wer hätte den alten
Herrn in ſeinem unermeßlichen Welfendünkel ſtören können?
Nun war der Handel trotz allen Verzögerungen doch noch vor den
Bundestag gelangt, und über die Rechtsfrage konnten ehrliche Männer
kaum ſtreiten. Daß die Verfaſſung von 1833 in anerkannter Wirkſamkeit
beſtanden hatte, ließ ſich nicht leugnen; folglich war der Bund nach Art. 56
der Schlußakte verpflichtet ſie zu ſchützen. Wie nachdrücklich hatte die
preußiſche Regierung einſt gegen Karl von Braunſchweig den Satz ver-
fochten, daß der Thronfolger an die rechtmäßigen Handlungen des Vor-
gängers gebunden ſei. Durfte ſie ſich jetzt ſelber ins Geſicht ſchlagen?
Staatsrechtlich betrachtet war Ernſt Auguſt weit ſchuldiger als Karl; er
hatte den Staatsſtreich, welchen dieſer nur plante, wirklich vollführt, und
auch die menſchliche Niedertracht des welterfahrenen alten Parlamentariers
wog ſchwerer als die halbnärriſchen Bubenſtreiche ſeines Neffen. Dennoch
ſchwankte König Friedrich Wilhelm. Er wollte ſeinen Schwager nicht
eigentlich unterſtützen — das erlaubte ſein Gewiſſen nicht — aber um
jeden Preis ſchonen, und Miniſter Werther fand, trotz ſeiner beſſeren Ein-
ſicht, nicht den Muth gradeswegs zu widerſprechen.
Unzweifelhaft wirkten bei dem verhängnißvollen Entſchluſſe des
Königs perſönliche Rückſichten mit. Er liebte den Welfen wenig, doch ſeine
[675]Gründe für Preußens Verhalten.
theure Schwägerin Friederike dem Verderben preiszugeben war ihm ein
furchtbarer Gedanke; Schele’s Schwager, General Müffling und die an-
deren Genoſſen der mecklenburgiſchen Partei ſetzten auch alle Hebel ein.
Den Ausſchlag gab indeß eine ernſte politiſche Beſorgniß. Wenn der
Bundestag dem hannöverſchen Hofe die Wiederherſtellung des Staats-
grundgeſetzes anbefahl, dann war völlig ſicher, daß der alte Welfe ſich nicht
fügte, ſondern entweder der Bundes-Execution mit den Waffen entgegen-
trat — den Plan hatte er bereits entworfen — oder die Krone nieder-
legte und nach England heimkehrte. Was ward dann aus Hannover?
Wer ſollte für den unmündigen blinden Thronfolger die Regentſchaft
führen? Ganz gewiß keiner der beiden Oheime; denn der Herzog von
Cambridge fürchtete ſich vor dem gewaltthätigen Bruder nicht weniger als
der Herzog von Suſſex, obgleich beide alte Herren den Staatsſtreich miß-
billigten. Ebenſo dachte der Herzog von Braunſchweig, der ja ſeines eigenen
Thrones nicht ganz ſicher war; er zeigte ſich in dieſen Händeln ganz als
Welfe und wollte den hannöverſchen Oheim unter keinen Umſtänden preis-
geben.*) Demnach drohten dem hannöverſchen Lande unzweifelhaft ernſte
Wirren, falls das gute Recht ſiegte. Und durfte man die Grundlagen
des monarchiſchen Bundesrechts untergraben, einen ſouveränen deutſchen
König zur Abdankung zwingen? Durfte man deshalb das ausdrücklich ver-
abredete Einvernehmen mit dem Wiener Hofe preisgeben, der die Thaten
des Welfen auch nicht billigte, aber weit milder beurtheilte als der preu-
ßiſche? Ein Aufruhr, der wie einſt der braunſchweigiſche, mit jedem Mittel
gedämpft werden mußte, war in Hannover nicht zu beſorgen.
Solche Erwägungen beſtimmten den Entſchluß Friedrich Wilhelm’s.
Wie nichtig erſchienen ſie neben der unabweisbaren Forderung der Gerech-
tigkeit! Wenn der Bund in dieſer ſonnenklaren Sache für die nackte Ge-
walt Partei nahm, dann mußte die Nation an ihm verzweifeln; und wenn
der preußiſche Hof hier das offenbare Unrecht unterſtützte, dann verlor er
mit einem Schlage das wohlverdiente Anſehen, das er ſich durch die
kluge Politik dieſer letzten zehn Jahre erworben hatte. Was er einſt für
die Braunſchweiger gethan, lag in den Archiven vergraben; dieſe han-
növerſchen Händel aber konnten nicht verborgen bleiben. Durfte er den
noch immer nicht ausgeſtorbenen Verehrern der deutſchen Trias erlauben,
daß ſie den alten Sirenenſang wieder anſtimmten und der Nation ver-
ſicherten, nur bei den Mittelſtaaten fänden Recht und Freiheit der Deut-
ſchen ehrlichen Schutz? Ueber die Geſinnung der conſtitutionellen Höfe
war man in Berlin wohl unterrichtet. Graf Dönhoff berichtete ehrlich,
die Süddeutſchen ſagten allgemein: in Hannover kämpft der König von
heute mit dem von geſtern und das monarchiſche Princip mit ſich ſelber.**)
43*
[676]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Ueberall wo Kammern tagten, in Caſſel, Dresden, Darmſtadt, Stuttgart,
Braunſchweig, bekundeten ſie ihre Entrüſtung über den Staatsſtreich; beſon-
deres Aufſehen erregte eine Rede des Darmſtädter Abgeordneten Glaubrech,
der treffend ausführte: wenn Ernſt Auguſt die Landesverfaſſung aufheben
dürfe, dann könne er ſich auch vom Deutſchen Bunde ungeſtraft losſagen.
Zwei Jahre hindurch ſpielten dieſe hannöverſchen Verhandlungen in den
deutſchen Landtagen eine ähnliche Rolle wie die Polendebatten in den Pariſer
Kammern. Unmittelbar bewirkten ſie nichts; die Reden des ſächſiſchen
Landtags gab ein Patriot heraus mit dem ſtolzen Vorwort: „Sachſen iſt
nicht zurückgeblieben, aus den Sälen der Volksvertreter tönen weithin durch
Deutſchlands Gauen die Rieſenklänge innigen, tiefen Mitgefühls.“
Immerhin ertönten die Rieſenklänge ſo ſtark, daß die conſtitutionellen
Fürſten kaum noch eine Wahl hatten. Mit Ausnahme des heſſiſchen Kur-
prinzen und des Braunſchweiger Welfen gelangten ſie alle zu der Einſicht,
daß dieſer Skandal nicht zu dulden ſei. König Ludwig ſchwankte keinen
Augenblick. Wie ſtark ſich auch ſeine politiſchen Anſichten geändert hatten,
über die Unverbrüchlichkeit der Staatsgrundgeſetze dachte er noch ganz ſo
wie einſt als Kronprinz. Gerade weil es ihm ſelber jetzt hart ankam ſeine
wenig geliebte Landesverfaſſung zu halten, verlangte er auch von ſeinen
fürſtlichen Genoſſen die gleiche Selbſtüberwindung. Unter den württem-
bergiſchen Staatsmännern waren die Anſichten getheilt. Graf Bismarck,
der Geſandte in Karlsruhe, ſchrieb ſeinem alten Freunde Schele ſehr zärt-
lich, und der Hannoveraner dankte ihm für ſeine „Theilnahme an unſerer
guten und heiligen Sache“.*) Indeß König Wilhelm’s geſunder Verſtand
ließ ſich nicht irre machen; er ſagte zu du Thil halb ärgerlich: „Jeder iſt
ſich ſelbſt der Nächſte, ich kann nicht anders handeln,“ und nachdem er
ſeinen Entſchluß gefaßt, trat er ſehr nachdrücklich auf. Auch der König
von Sachſen wollte von dem Verfaſſungsbruche nichts hören; er reiſte
plötzlich nach Dalmatien, um nur nicht bei den preußiſchen Manövern
mit dem Welfen zuſammenzutreffen. Blittersdorff fühlte lebhaft, daß alle
Hambacher Reden den Regierungen nicht ſo viel ſchadeten wie die hannö-
verſche Sache, und ſprach dieſe Anſicht in einem Rundſchreiben an die
badiſchen Geſandtſchaften unzweideutig aus. Zur Strafe bekam der badiſche
Geſandte Frankenberg „einen Tatzenſchlag“ des Welfen zu fühlen; von
Berlin herübergekommen mußte er in Hannover mehrere Tage warten,
bis man ihn zur Antrittsaudienz zuließ.**) Auch du Thil konnte ſich, wie
gründlich er auch die liberalen Profeſſoren verabſcheute, doch nicht geradezu
für den Staatsſtreich erklären. Alſo waren die Staaten, welche den Zoll-
verein ſtützten, im Weſentlichen einig, und wenn Preußen die Bundes-
politik der Hofburg und der Welfen ebenſo entſchloſſen zu bekämpfen
[677]Abweiſung der Osnabrücker.
wagte wie ihre Handelspolitik, ſo konnte ihm ein glänzender Erfolg nicht
fehlen. Der König aber hatte ſchon anders entſchieden: der Welfe ſollte
geſchont werden.
Sobald die Osnabrücker Beſchwerde dem Bundestage vorlag, verſuchte
der hannöverſche Hof die Mitglieder der Reclamationscommiſſion für die
ſofortige Abweiſung der Petition zu gewinnen und bat die Wiener Hof-
burg, ihn bei ſeinen geheimen Bemühungen zu unterſtützen. Dieſe Zu-
muthung fand ſelbſt Metternich allzu ſchamlos; er lehnte ſie rundweg
ab, ſchon weil er für die Verhandlungen des engeren Raths freie Hand
behalten wollte.*) Nunmehr entfaltete Stralenheim in verſchiedenen Denk-
ſchriften und Erklärungen eine ſophiſtiſche Kunſt, deren ſchlechterdings nur
die Feder des alten Leiſt fähig war. Er ſollte nachweiſen, daß ſein König
den Art. 56 der Schlußakte nicht verletzt habe, und drehte einfach den
Spieß um, indem er zeigte, daß dieſer Artikel gerade durch den hannöver-
ſchen Staatsſtreich verwirklicht worden ſei! Er bewies erſtens: zur Zeit
der Wiener Schlußakte hätte in Hannover die alte Verfaſſung von 1819
beſtanden, und heute ſei ſie wieder ins Leben gerufen; er bewies zweitens:
da ſich ein Landtag zuſammengefunden habe, ſo beſtehe die alte Verfaſſung
in anerkannter Wirkſamkeit; er bewies drittens: durch das Staatsgrund-
geſetz ſei die alte Verfaſſung auf unrechtmäßige Weiſe aufgehoben und
folglich jetzt von Rechtswegen wiederhergeſtellt worden. Solche Advokaten-
künſte waren ſelbſt im Bundestage, der doch ſchon manche juriſtiſche Kühn-
heit erlebt hatte, ganz unerhört. Sie erbitterten allgemein, und die Gönner
Hannovers verſuchten nur noch die Entſcheidung hinauszuſchieben, immer
in der ſtillen Hoffnung, daß ſich Ernſt Auguſt mittlerweile mit ſeinem
Landtage einigen und den Streit aus der Welt ſchaffen würde.
Als endlich im Juli 1838 zur Abſtimmung geſchritten wurde, brach
der verhaltene Groll heftig aus; Vorwürfe und Verwahrungen, ſelbſt per-
ſönliche Grobheiten wurden ausgetauſcht. Die Brutalität des Welfen ſchien
anſteckend zu wirken. Bei ruhigerem Blute beſchloß man nachher dieſe
anzüglichen Bemerkungen wechſelſeitig zurückzuziehen, ſo daß die Proto-
kolle von den ſtürmiſchen Auftritten nichts verriethen.**) Am 6. Septbr.
entſchieden neun Stimmen gegen ſieben, daß die Petition des Osnabrücker
Magiſtrats wegen mangelnder Legitimation der Beſchwerdeführer zurück-
zuweiſen ſei. Kurheſſen allein enthielt ſich der Abſtimmung, weil der
Prinzregent mit ſeinem wackeren Miniſter Lepel nicht einig war; Hannover
aber ſtimmte dreiſt in eigener Sache mit. Durch dieſen Beſchluß war noch
nichts verdorben; Stüve ſelbſt erwartete als gewiegter Juriſt kaum eine
andere Entſcheidung, denn mit guten Gründen ließ ſich bezweifeln, ob eine
einzelne Stadt befugt ſei, vor dem Bundestage im Namen eines ganzen
[678]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Landes zu ſprechen. Der Welfe hatte ſein eigenes Volk unritterlich ent-
waffnet, wie Canitz bitter ſagte, er hatte durch die Auflöſung des recht-
mäßigen Landtags die einzige Körperſchaft vernichtet, welche unzweifelhaft
berechtigt war, beim Bundestage die Wiederherſtellung des Staatsgrund-
geſetzes zu verlangen. Doch unmöglich konnte der ernſte Streit mit ſolchen
Formbedenken erledigt werden. Wenn das hannöverſche Volk nicht reden
durfte, ſo war doch ſicherlich der Bund ſelbſt verpflichtet, den Art. 56 der
Schlußakte aufrecht zu halten.
Demnach ſprach der Bundestag, indem er die Osnabrücker abwies,
zugleich die Erwartung aus, daß Hannover noch eine weitere Erklärung
über ſeine Verfaſſungsverhältniſſe abgeben werde, und Stralenheim ver-
ſprach binnen vier bis ſechs Wochen dieſer Aufforderung zu genügen. Die
entſcheidende Abſtimmung ſtand alſo noch bevor. Aber die Friſt verſtrich;
Ernſt Auguſt hoffte noch immer die Dinge ſo lange hinzuhalten, bis er
die Bundesverſammlung durch die vollendete Thatſache einer neuen han-
növerſchen Verfaſſung zur Seite ſchieben könnte. Erſt am 29. November,
in dem Augenblicke, da der Bundestag ſich auf mehrere Monate vertagte,
zeigte Stralenheim an, die verſprochene Erklärung ſei jetzt den Bundes-
regierungen zugegangen; er hatte ſie während der Sitzung den Bundes-
geſandten ins Haus geſendet, und dieſe konnten, da ſie weder das Aktenſtück
ſelber kannten noch von daheim eine Weiſung erhalten hatten, nicht einmal
mehr gegen dieſe Verhöhnung des Bundestags ſich verwahren. Es war
unmöglich eine ſchlechte Sache mit ſchlechteren Mitteln zu vertheidigen.
Die überraſchte Verſammlung trennte ſich ohne einen Beſchluß, der
Unmuth vermochte ſich nur in leidenſchaftlichen Geſprächen zu äußern.
General Schöler ſelbſt, den das welfiſche Treiben mehr und mehr an-
widerte, wagte nur wehmüthig den dringenden Wunſch auszuſprechen, „daß
dieſer Vorgang bei dem großen Publikum nicht zur Vermehrung der ohnehin
ſchon ſo weit gehenden Nichtachtung des Bundestags beitragen möge;“ er
befürchtete ſehr ſchlimme Folgen für Deutſchland, wenn Ernſt Auguſt ſich
nicht bald mit ſeinem Lande verſöhne.*) Die hannöverſche Erklärung war
nicht an den Bundestag gerichtet, ſondern an die einzelnen Regierungen,
ſo daß ſie gar nicht in die Bundesprotokolle aufgenommen werden durfte
und ſelbſt der immer bedächtige ſächſiſche Miniſter Zeſchau eine ſolche Un-
gezogenheit ganz unerträglich fand.**) Sie beſtand aus zwei Denkſchriften,
von denen die eine nochmals behauptete, die Verfaſſung von 1819 beſtehe
zu Recht, weil der alte Landtag verſammelt ſei. Alſo mußte die gutmüthige
Nachgiebigkeit ſeiner Unterthanen dem Welfen in der That als eine Schlinge
dienen, wie Canitz vorausgeſagt. Die zweite Denkſchrift ſuchte zu be-
weiſen, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, wegen ſeiner formalen Mängel
[679]Neue Verhandlungen in Frankfurt.
und wegen ſeines radicalen Inhalts. Darauf folgten ſcharfe Ausfälle
gegen das ſüddeutſche Repräſentativſyſtem, das den Grundſätzen des deut-
ſchen Ständeweſens widerſpreche und das monarchiſche Princip zerſtöre.
Offenbar ſollte den conſtitutionellen Kronen die Luſt vergehen, ihrerſeits
einen Angriff gegen den allein monarchiſchen Welfenhof zu wagen.
Die langen Ferien boten den Regierungen genügende Friſt um dieſe
erſtaunlichen Aktenſtücke zu durchdenken. Am 28. Febr. 1839 eröffnete
Schöler die Sitzungen wieder, aber Münch war noch immer nicht an-
gekommen; Jedermann ſah, daß Oeſterreich wie Hannover die Entſchei-
dung vertagen oder vereiteln wollte.*) Die lange Pauſe, die nun eintrat,
benutzte König Friedrich Wilhelm, um dem Welfen nochmals ins Gewiſſen
zu reden: „Erwägen Ew. Majeſtät, daß die Stellung Preußens als eines
Bundesſtaats ihm Pflichten auferlegt und ihm Rückſichten vorſchreibt, von
denen es ſich nicht losſagen kann ohne von den Grundſätzen abzuweichen,
welche alle deutſchen Fürſten übereinſtimmend angenommen haben.“**) Das
klang faſt, als ob Preußen nunmehr entſchloſſen ſei, die unzweideutigen
Vorſchriften der Schlußakte zu vertheidigen. Auf den Welfen aber konnten
ſo ſanfte, rückſichtsvolle Mahnungen keinen Eindruck machen. Er glaubte
doch, und leider mit Recht, daß ſein gütiger Schwager ihn bei der letzten
Entſcheidung nicht im Stich laſſen würde.
Als Münch endlich eingetroffen war, ſtellte Baiern, unterſtützt von
allen ſüddeutſchen Höfen und von beiden Linien des ſächſiſchen Hauſes,
am 26. April den Antrag, daß Hannover aufgefordert werden ſolle,
gemäß dem Art. 56 der Schlußakte, den Rechtszuſtand aufrecht zu halten
und etwaige Aenderungen nur auf verfaſſungsmäßigem Wege vorzu-
nehmen. Der Antrag verlangte nur, was ſchon längſt hätte geſchehen
ſollen, aber noch einmal wurde dem hannöverſchen Hofe eine Friſt be-
willigt.***) Er überſchritt ſie, wie das ſeine Art war, und reichte erſt am
27. Juni eine Denkſchrift ein, die alle ſeine früheren Leiſtungen noch
überbot. Ihr Verfaſſer war Geh. Rath Falcke, ein zierlicher, eleganter
alter Junggeſell, berühmt durch die Schaar ſeiner ſchönen Hunde; der
hatte im Jahre 1831 mit Ernſt Auguſt wegen des Staatsgrundgeſetzes
verhandelt†) und nachher jahrelang neben Roſe die Regierung des Her-
zogs von Cambridge vor dem Landtage vertreten. Dieſe Vergangenheit
hinderte ihn keineswegs, ſich auch dem neuen Gewalthaber ſchmiegſam
unterzuordnen, und jetzt wagte er, der die Verhandlungen ſelbſt geführt
hatte, dem Bundestage zu betheuern, daß Ernſt Auguſt über das Staats-
grundgeſetz nicht rechtzeitig unterrichtet worden ſei. Die Bundesregierungen
waren freilich nicht in der Lage, die ganze Verlogenheit dieſer welfiſchen
[680]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Märchen zu erkennen, indeſſen fühlten ſie alle heraus, daß Hannover ihnen
keinen reinen Wein einſchenkte; auch die wiederholten Schimpfreden wider
„den conſtitutionellen Schwindel der heutigen Zeit“ konnten die ſüddeut-
ſchen Höfe nur beleidigen. Stüve widerlegte die Denkſchrift Falcke’s durch
einen trefflichen Aufſatz im Hannöverſchen Portfolio.
Doch was galten hier Gründe? Die Mehrheit war entſchloſſen den
Welfen nicht preiszugeben, weil er ſonſt in eine ganz unhaltbare Stellung
gerathen müſſe. Als endlich abgeſtimmt wurde, da beſchloſſen am 5. Sept.
zehn Stimmen gegen ſechs, dem bairiſchen Antrage „keine Folge zu geben“,
ſie ſprachen aber zugleich die Erwartung aus, daß König Ernſt Auguſt
mit ſeinen Landſtänden noch eine Vereinbarung treffen werde. Mit der
Mehrheit ſtimmten außer den Großmächten und den beiden welfiſchen
Höfen: Kurheſſen, Holſtein, Luxemburg, Mecklenburg und die zwei Curien
der Allerkleinſten, die unter der Führung des getreuen Leonhardi gewöhn-
lich mit Oeſterreich gingen. In der Minderheit ſtanden: Baiern, Sachſen,
Württemberg, Baden, die Erneſtiner und die freien Städte. Nur Heſſen-
Darmſtadt verſuchte mit einem Vermittlungsantrage mitten durch zu gehen.
Die Verhandlungen waren für Hannover wenig ſchmeichelhaft; ſelbſt der
öſterreichiſche Geſandte konnte nicht umhin einzugeſtehen, daß „auch ſehr
ehrenwerthe Geſinnungen“ ſich für das Staatsgrundgeſetz ausſprächen.
Der Beſchluß ſelbſt lautete ſo unverfänglich wie möglich, er ſagte kein Wort
der Billigung für die Thaten des Welfen, denn dazu wollte ſich Niemand
verſtehen.
Wie man ſich auch drehen und wenden mochte, die furchtbare That-
ſache blieb doch beſtehen, daß der Bundestag ſich pflichtwidrig geweigert
hatte, das ganz unzweifelhafte Recht eines deutſchen Landes zu beſchützen.
Von einer ſolchen Schmach konnte die längſt entwürdigte deutſche Central-
gewalt ſich nicht mehr erholen; die „Incompetenz-Erklärung des Bundes-
tags“, wie das Kauderwälſch der Zeitungen ſagte, blieb fortan der Lieb-
lingsſtoff für alle Unzufriedenen. Und an dieſem ſchweren Unrecht war
Preußens Regierung mitſchuldig. Sie hatte, ihre eigenen Grundſätze, ihre
natürlichen Bundesgenoſſen verleugnend, zuſammengewirkt mit den alten
Feinden ihrer Handelspolitik und alſo die köſtliche Gelegenheit verſäumt,
„das in Wahrheit verbündete Deutſchland“, das einſt Motz in dem Zoll-
vereine geahnt hatte, zu befeſtigen und vor der Nation zu rechtfertigen.
Was wollte es nach dieſem verhängnißvollen Fehler bedeuten, daß Miniſter
Werther ſich tief verſtimmt zeigte und ernſtlich daran dachte, ſeinen Ab-
ſchied zu verlangen?
Der welfiſche Hof verſäumte nicht, den Bundesbeſchluß mit gewohnter
Unredlichkeit auszubeuten. Er verkündete durch eine Bekanntmachung vom
10. Sept., daß der Bundestag die Verfaſſung von 1819 als zu Recht
beſtehend anerkannt habe. Gegen dieſe offenbare Lüge verwahrten ſich
wieder Baiern und die anderen Staaten der Minderheit in ſehr heftigen
[681]Letzte Entſcheidung des Bundestags.
Erklärungen.*) Darauf verlangte der Welfe auch noch, daß die Rechts-
gutachten der drei Facultäten von Bundeswegen verboten würden; die
Mehrheit ſtimmte zu, doch abermals erhob Baiern Einſpruch, und das
Ende war, daß die verbotene Schrift faſt überall in Deutſchland frei um-
laufen konnte. Gefliſſentlich gab ſich der hannöverſche Hof den Anſchein,
als ob er mit dem preußiſchen in einer engen Freundſchaft lebte, welche
in Wirklichkeit nicht beſtand. Nach dem Abſchluß eines Handelsvertrages
zwiſchen den beiden Nachbarſtaaten verlangte Ernſt Auguſt für ſeinen
Miniſter Schele ausdrücklich einen preußiſchen Orden, was als Gegen-
leiſtung nicht abgeſchlagen werden konnte, und er erlebte die Genugthuung,
daß die kleinmeiſterliche Preſſe dieſe Auszeichnung faſt ebenſo leidenſchaftlich
beſprach wie vormals den berühmten rothen Adlerorden des Profeſſors
Schmalz. Noch viele Monate hindurch währte der hoffnungsloſe Streit;
immer wieder überreichte der unermüdliche Dr. Heſſenberg Beſchwerde-
ſchriften hannöverſcher Städte, und es hielt ſchwer, die hadernden Parteien
des Bundestags zuſammenzuhalten.**)
In Wahrheit ging der hannöverſche Verfaſſungsſtreit ſchon zu Ende.
Ohne die Hilfe des Bundes — das hatte Stüve längſt vorausgeſehen —
konnte die ſchwache, weithin zerſtreute Oppoſitionspartei nicht mehr auf
Erfolge zählen. Das Volk war der Händel müde. Die Regierung be-
nutzte jedes Mittel, um wieder eine vollzählige Kammer zu Stande zu
bringen; ſie ſcheute ſich nicht, ſogar die Wahlen der Minderheit der Cor-
porationen für giltig zu erklären, ſo daß ſelbſt der Landtagsmarſchall Graf
Münſter ſich nicht mehr fügen wollte. Chriſtiani und andere liberale Ab-
geordnete wurden von Polizeiwegen aufgefordert, im Landtage zu erſcheinen,
widrigenfalls die Behörde ſie aus der Stadt Hannover ausweiſen würde.
Dergeſtalt erlebte Deutſchland das wunderbare Schauſpiel, daß man ſeine
Volksvertreter auf dem Schub in die Kammer brachte. Durch ſolche
Künſte ward der Landtag endlich beſchlußfähig, und im Sommer 1840
erklärte er ſich bereit, auf einen neuen Verfaſſungsentwurf der Regie-
rung einzugehen. Ernſt Auguſt empfing jetzt ſeine getreuen Stände ſehr
freundlich und ſagte: „Ich fühle als einen Stein vom Herzen zu hören
das was Sie mir ſagen.“ Wenn man ihm nur ſeinen Willen that, war
er ja kein Böſewicht.
Am 6. Auguſt 1840 kam das Landesverfaſſungsgeſetz zu Stande. Die
neue Verfaſſung gewährte dem Welfen Alles was er wünſchte: ein den
Ständen nicht verantwortliches Miniſterium, einen Landtag mit ſehr be-
ſchränkter geſetzgeberiſcher Befugniß, und vor Allem die längſt erſehnte
Kaſſentrennung. Sie beſtimmte auch, was ihm faſt noch wichtiger war, daß
nur Geiſteskrankheit vom Throne ausſchließen, und mithin der blinde
[682]IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Kronprinz, dem alten Brauche des Welfenhauſes zuwider, dereinſt die
Regierung antreten ſollte. Alſo geſchah das Wunderbare, daß ein Fürſt,
der anfangs ſelbſt nicht wußte was er wollte, von keinem einzigen bedeu-
tenden Manne unterſtützt, gegen das Recht und gegen die öffentliche Mei-
nung ſchließlich doch ſeine Macht behauptete. Der Sieg war freilich theuer
erkauft. Unter dem Staatsgrundgeſetze herrſchte tiefer Friede; der neue
Landtag, den ſich Ernſt Auguſt gebildet hatte, lebte in ewigem Hader mit
der Regierung, und bald machte der Welfe auch die unliebſame Erfah-
rung, daß ſeine ſelbſtändige königliche Kaſſe aus der Geldnoth nicht her-
auskam.
Für Deutſchland bedeuteten dieſe hannöverſchen Händel fortan wenig.
Unvergeßlich aber blieb der Nation der Bundesbeſchluß vom 5. Sept. 1839.
Seitdem begannen auch die Gemäßigten zu fühlen, daß unter dem Deut-
ſchen Bunde kein Recht mehr feſt ſtand, und in immer weiteren Kreiſen
verbreitete ſich die Hoffnung auf einen gewaltſamen Umſchwung, der mit
einem Schlage dem deutſchen Elend Wandel ſchaffen ſollte. —
[[683]]
Zehnter Abſchnitt.
Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Seit jenen Tagen, da der Freiherr vom Stein den Sultanismus der
Könige von Napoleon’s Gnaden anklagte, war die Zerrüttung des öffent-
lichen Rechts, die Zuchtloſigkeit der ſouveränen Fürſtengewalt dem kaiſer-
loſen Deutſchland nicht wieder ſo beſchämend vor die Augen getreten wie
in den Zeiten des welfiſchen Staatsſtreichs. Ein Frevel, der nicht wie
einſt die Gewaltthaten der Rheinbundsfürſten durch das Gebot der Selbſt-
erhaltung entſchuldigt werden konnte, fand in Deutſchland keinen Richter;
die höchſte deutſche Behörde verſagte ſich feig ihrer Pflicht. Was man an
den Höfen Ordnung nannte, war in Wahrheit die verewigte Anarchie,
und das Verlangen nach einer ſtarken nationalen Centralgewalt, welche
die Willkür der kleinen Gewalthaber bändigen ſollte, entſprang nicht der
revolutionären Leidenſchaft, ſondern dem geſetzlichen Sinne. Wer jetzt
noch die Stirn hatte den incompetenten Bundestag zu vertheidigen konnte
ſich mit denen nicht mehr verſtändigen, die an der friedlichen Entwicklung
dieſes entwürdigten Bundes verzweifelten. Die politiſchen Parteien be-
kämpften einander ſo unverſöhnlich, wie in der Literatur Heine und die
Schwaben, Schloſſer und Hurter, Strauß und die Orthodoxen. Selbſt
muthige Männer wie Heinrich Leo fühlten ſich ſchier vom Alpdruck eines
beängſtigenden Traumes gepeinigt, wenn ſie die unheimliche Gährung, die
furchtbaren Gegenſätze des deutſchen Lebens betrachteten. Und in dieſer
Welt des Unfriedens entbrannte auch noch ein kirchenpolitiſcher Streit, der
alle Leidenſchaften des dreißigjährigen Krieges wieder zu erwecken, das
theuerſte Gut der Nation, den ſchwer erkauften Frieden der Glaubens-
bekenntniſſe zu vernichten drohte.
Der preußiſche Staat gerieth zum erſten male in offenen Krieg mit
dem wieder erſtarkten Papſtthum und mußte nach einem kurzen Waffen-
gange den Rückzug antreten. Er kämpfte, im Geiſte ſeiner Geſchichte, für
den Gedanken der Parität, aber er kämpfte mit den Waffen des polizeilichen
Zwanges und einer gänzlich veralteten Kirchenpolitik, ſo daß er vor der
Welt als ein Bedränger der Gewiſſensfreiheit erſchien und überdies durch
das Ungeſchick ſeiner Diplomaten in den Ruf der Zweizüngigkeit kam.
[684]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Die alte Beamtenregierung genügte nicht mehr. In derſelben Zeit, da
ſie durch das Eiſenbahngeſetz noch einmal ihre alte Geſchäftstüchtigkeit be-
währte, zeigte ſie ſich ängſtlich gegenüber den welfiſchen Gewaltthaten, völlig
rathlos gegenüber der römiſchen Kirche. Am Ausgange eines Jahrzehntes,
das der Friedenspolitik und den Zollvereinsplänen der Krone Preußen ſo
viel verdankte, wurde unter den Freunden ſchon wieder die Beſorgniß
laut, ob dieſer Staat auch auf feſten Füßen ſtehe; die Gegner aber ſchaarten
ſich zu einer geſchloſſenen Partei um Alles wieder in Frage zu ſtellen,
was die lebendigen Kräfte deutſcher Geſchichte in zwei Jahrhunderten ge-
ſchaffen hatten.
Inmitten der Wirren des Aufruhrs von 1831 hatte der neue Papſt
Gregor XVI. den heiligen Stuhl beſtiegen. So lange er regierte mußte
er mit ſeinen fremden Söldnern und mit dem Landſturme der clericalen
Partei, den Centurien der Sanfediſten beſtändig auf der Wacht ſtehen um
das Hausgut Petri vor den Anſchlägen der patriotiſchen Verſchwörer zu
behüten. Seit lange her ſtand der Kirchenſtaat in dem Rufe, daß er die
ſchlechteſte aller Regierungen Europas beſitze, und noch niemals hatte er
dieſem Rufe ſo vollkommen entſprochen wie jetzt, da die heißblutigen
Romagnolen ſchon den alten Geuſenruf wiederholten: lieber türkiſch als
päpſtlich. Als Papſt wie früherhin als General der Camaldulenſer führte
Gregor das Leben eines vornehmen Mönches; beim Gelage unter den
geiſtlichen Amtsbrüdern konnte der häßliche Mann mit den wulſtigen
Lippen und dem großen Fiſtelgeſchwür auf der rothen Naſe faſt liebens-
würdig erſcheinen, wenn er ſeiner ſatiriſchen Laune freien Lauf ließ. Auch
ſeine Weltanſchauung blieb mönchiſch; noch ſchroffer und härter als ſeine
beiden Vorgänger trat er der weltlichen Gewalt entgegen. Während der
erſten Jahre ließ er ſich durch die behutſamen Rathſchläge des Staats-
ſecretärs Bernetti, der noch aus Conſalvi’s ſtaatskluger Schule ſtammte,
zuweilen etwas zügeln. Aber im Januar 1836 erhielt Bernetti ſeine Ent-
laſſung, und ſein Nachfolger wurde Cardinal Lambruschini, das Haupt
der „Eiferer“, der genueſiſchen Partei im Cardinalscollegium, ein Prieſter
von ſtrengem Wandel, herriſch, leidenſchaftlich, ſchonungslos, unbeugſam
in den Grundſätzen des harten Papalſyſtems. Er hatte einſt als Nuntius
in Paris bei dem Staatsſtreiche Karl’s X. mitgeholfen und ſelbſt durch
den Sturz der Bourbonen nichts gelernt. Unterdeſſen war der Nieder-
länder Roothaan an die Spitze der Geſellſchaft Jeſu getreten, der fähigſte
aller Jeſuitengenerale ſeit den Zeiten Aquaviva’s, ausgezeichnet durch Ver-
ſchlagenheit, Welt- und Menſchenkenntniß, raſtloſen Thatendrang. Seit-
dem ließ ſich die unterirdiſche Wirkſamkeit der Jeſuiten in allen Staaten
verſpüren. Auch in Preußen; denn obwohl den preußiſchen Unterthanen
ſeit dem Jahre 1827 der Beſuch auswärtiger Jeſuitenſchulen verboten
war, ſo wußte doch am Rhein wie in Poſen jeder Kundige, daß viele der
preußiſchen Theologen, welche die Univerſität München bezogen, dort plötz-
[685]Gregor XVI. und der belgiſche Clerus.
lich verſchwanden um nachher unter den Rothröcken des römiſchen Ger-
manicums wieder aufzutauchen; kehrten ſie dann heim, ſo waren ihre
Münchener Abgangszeugniſſe, Dank den unbekannten bairiſchen Gönnern,
ſtets in beſter Ordnung.
Durch den glänzenden Sieg, welchen der römiſche Stuhl auf dem
alten Schlachtfelde der Confeſſionen, in Belgien erfochten hatte, war das
Selbſtvertrauen der Clericalen überall mächtig angewachſen; ſie nannten
ſich jetzt ſelbſt die ultramontane Partei, und der Name iſt ihnen fortan
geblieben. Welch ein unermeßlicher Vortheil, daß man fortan triumphirend
auf jenes Land verweiſen konnte, das von den kurzſichtigen Liberalen als
ein Muſterſtaat gefeiert wurde: die Alleinherrſchaft der römiſchen Kirche
war alſo mit conſtitutioneller Freiheit nicht unvereinbar! Der belgiſche
Clerus verleugnete ſeine hispaniſche Schule nicht; ſeine Sprache gegen
die evangeliſche Kirche ward immer dreiſter und drohender. Einer der
flandriſchen Biſchöfe, van der Velde, warnte ſeine gläubige Heerde in einem
Hirtenbriefe vor den Verführern, welche das katholiſche Volk in der Faſten-
zeit zu Tanzvergnügungen, zum Beſuche unzüchtiger Schauſpiele und zum
Leſen der heiligen Bücher in der Volksſprache verleiteten; durch ſolche
Mittel ſuchten die Bibelgeſellſchaften die Gewiſſen zu bethören, „wie ihre
würdigen Muſter im ſechzehnten Jahrhundert mit ſo ſehr zu beklagendem
Erfolge gethan!“ So lange die franzöſiſche Revolution den Clerus unter-
drückte und beraubte, ſtand die Curie im Lager der conſervativen Höfe;
jetzt aber erhoben ſich überall revolutionäre Mächte, welche der Kirche
günſtig ſchienen, und ſofort zeigte ſich, daß die römiſche Politik nur kirch-
liche Ziele verfolgen darf, mithin alle politiſchen Parteien lediglich als
Mittel behandeln kann. In Belgien ſtand die Cleriſei an der Spitze der
Rebellen, und ſobald ſie die Theilung der Niederlande durchgeſetzt, wußte
ſie alle die conſtitutionellen Freiheiten, welche der römiſche Stuhl ſo oft
verdammt hatte, die Freiheit der parlamentariſchen Rednerbühne, der Preſſe,
der Vereine mit großem Geſchick für ihre Zwecke auszunutzen. In Polen
wie in Irland ſchürten die Ultramontanen den Aufruhr; auch in Frank-
reich hielten ſie ſich bereit, jederzeit mit der radicalen Oppoſition zuſammen-
zugehen, weil ſie trotz der Nachgiebigkeit, welche Ludwig Philipp ihnen er-
wies, den durchaus unkirchlichen Charakter dieſes Bürgerkönigthums richtig
erkannten. Am allerwenigſten wollten ſie die alte Pfaffengaſſe des deut-
ſchen Reichs dem Staate gönnen, den ſie mit Recht für die Vormacht des
feſtländiſchen Proteſtantismus hielten. Allen Rheinländern war wohlbe-
kannt, daß überall geheime Späher des römiſchen Stuhles und der bel-
giſchen Ultramontanen das Verhalten des Clerus ſorgfältig belauerten und
jeden Mißgriff der Regierung ausbeuteten; manche Heißſporne empfahlen
die Vereinigung des Rheinlands mit dem katholiſchen Belgien, Andere
wünſchten das fromme Haus Wittelsbach, das zwei Jahrhunderte hindurch
in Düſſeldorf und in Köln geherrſcht hatte, an den Rhein zurückzuführen.
[686]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Derweil dieſe geheimen ultramontanen Umtriebe die ohnehin ver-
ſtimmte Rheinprovinz beunruhigten, war die Krone Preußen bemüht, den
einzigen Streit, der zwiſchen ihr und dem Papſte beſtand, endlich zu be-
ſeitigen. Auf Bunſen’s Rath hatte ſie die Thorheit begangen, über die
Behandlung der gemiſchten Ehen, in Wahrheit alſo über die Giltigkeit
ihrer eigenen Landesgeſetze, mit dem römiſchen Stuhle zu verhandeln und
ſchließlich das Breve vom 25. März 1830 erlangt, das aus der Feder
des Cardinals Cappellari, des ſpäteren Papſtes Gregor’s XVI. ſtammte.*)
Bunſen’s Eitelkeit ſchmeichelte ſich dadurch einen glänzenden Sieg über die
Curie davon getragen zu haben, und wohlgefällig ließ er ſich vom Erz-
biſchof Spiegel zu ſeinen „Triumph-Negotiationen“ Glück wünſchen. Als
man aber in Berlin ſchärfer prüfte, entdeckte man bald, daß dies Breve
ſchlechterdings kein unzweideutiges Zugeſtändniß an die Rechte des pari-
tätiſchen Staates enthielt; denn die Curie darf niemals einen Grundſatz
aufgeben, ſie kann höchſtens temporum ratione habita eine milde Aus-
legung ihrer unabänderlichen Geſetze ſtillſchweigend geſtatten. Dem Könige
ſchienen vornehmlich zwei Stellen des Breves unannehmbar; er hielt es
für unchriſtlich und der Würde der evangeliſchen Kirche widerſprechend,
daß die katholiſche Braut vor der Todſünde der gemiſchten Ehe feierlich
verwarnt werden ſollte; und wenn er ſich auch zur Noth mit der paſſiven
Aſſiſtenz des römiſchen Prieſters begnügen wollte, ſo verlangte er doch,
daß die kirchliche Einſegnung der gemiſchten Ehen nicht geradezu verboten
würde. Darum ließ er das Breve nach Rom zurückſenden (Febr. 1831),
und Bunſen bemühte ſich nunmehr, durch langwierige Verhandlungen die
Curie umzuſtimmen. Der Verſuch ſcheiterte. Rom hatte geſprochen, und
eine Milderung ließ ſich um ſo weniger erwarten, da der neue Papſt
Gregor ſelber der Verfaſſer des Breves war.
Trotzdem verlor der allezeit hoffnungsvolle Geſandte nicht den Muth.
Seit er im Namen der europäiſchen Mächte den Papſt zu Reformen im
Kirchenſtaate aufgefordert hatte**), hielt er ſich für den erſten Mann der
römiſchen Diplomatie, ſeinem Selbſtvertrauen ſchien nichts mehr unerreich-
bar. Er rieth, die Krone möge ſich insgeheim mit den Biſchöfen der weſt-
lichen Provinzen über eine milde Auslegung und Handhabung des Breves
verſtändigen. Alſo mit Hilfe des heimiſchen Epiſcopats die Beſchlüſſe des
römiſchen Stuhles zu umgehen erſchien als ein natürliches Mittel der
Nothwehr; die Staatsgewalten hatten es ſchon oftmals angewendet, ſobald
ſie ſich gezwungen ſahen die unwandelbaren Satzungen der Theokratie
mit dem ewigen Wandel der weltlichen Dinge in Einklang zu bringen.
Solche immer gefährliche Verſuche waren aber bisher nur katholiſchen
Fürſten gelungen, die ſich auf ihren Epiſcopat unbedingt verlaſſen konnten;
[687]Geheimer Vertrag über die gemiſchten Ehen.
auch ihnen nur in der alten Zeit vor den Seculariſationen, als die Kirche
noch reich, der vornehme Clerus noch national geſinnt war und die Ge-
heimniſſe der Cabinette ſich lange bewahren ließen. Wie durfte der evan-
geliſche König Preußens von ſeinen Landesbiſchöfen eine ſo unverbrüchliche
Treue erwarten, jetzt da jede Möglichkeit einer Nationalkirche geſchwunden
war, und die monarchiſche Gewalt des Papſtes auch über den Epiſcopat faſt
ſchrankenlos gebot? Nur Bunſen’s Leichtſinn konnte hoffen, daß in dieſer
Epoche der anonymen Zeitungen und der ultramontanen Wühlerei die
Vereinbarung mit den Biſchöfen auf die Dauer geheim bleiben würde,
eine Vereinbarung, die offenbar alle Kraft verlor ſobald ſie bekannt ward.
Im Frühjahr 1834 wurde der erfindungsreiche Diplomat nach Berlin
berufen, und obwohl die alten Miniſter zu ſeinen kühnen Plänen den
Kopf ſchüttelten, ſo bewahrten ihm doch der König und der Kronprinz ihr
unbeſchränktes Vertrauen. Er erhielt den Auftrag, zunächſt mit dem Erz-
biſchof Spiegel zu verhandeln und fand ſeinen greiſen Gönner zu jeder
Nachgiebigkeit bereit. Der milde, weltkundige Prälat ſah voraus, wie vielen
Unfrieden die Forderung der katholiſchen Kindererziehung in der ſo bunt
gemiſchten Kölner Erzdiöceſe hervorrufen mußte; er erkannte, daß nicht
blos die evangeliſche Kirche beleidigt, ſondern auch die perſönliche Ehre
jedes evangeliſchen Bräutigams beſchimpft wurde wenn man ihm die
unwürdige Zumuthung ſtellte in ſeinen eigenſten und heiligſten Angelegen-
heiten einem fremden Prieſter ein bindendes Verſprechen zu geben. Doch
wie vertrugen ſich dieſe verſtändigen Anſichten mit dem päpſtlichen Breve?
Aus deſſen abſichtlich gewundenen Sätzen ließ ſich mit Sicherheit nur das
Eine herausleſen, daß dem Prieſter höchſtens die paſſive Aſſiſtenz geſtattet
ſein ſollte falls die Brautleute nicht die katholiſche Erziehung aller Kinder
verſprächen. Der Erzbiſchof ſchwankte lange und fühlte ſich in ſeinem
Gewiſſen ſchwer bedrängt. Da fand ſich ein geiſtlicher Tauſendkünſtler
bereit, Bunſen’s dreiſte Dialektik zu unterſtützen: der Domkapitular Mün-
chen, ein gelehrter Kanoniſt, der in dieſen letzten Jahren eine große und,
wie ſelbſt der Oberpräſident Vincke meinte, nicht immer wohlthätige Macht
über den alternden Kirchenfürſten gewonnen hatte.*) Der bewies in
einem ſchwer gelehrten Gutachten — denn was kann römiſche Hermeneutik
nicht beweiſen? — das Breve erlaube Alles was nicht ausdrücklich darin
verboten ſei.
Nunmehr war Spiegel’s Gewiſſen beruhigt, und nach kurzen Verhand-
lungen unterzeichnete er mit Bunſen am 19. Juni 1834 einen geheimen
Vertrag, welcher Alles gewährte was der Staat für den confeſſionellen
Frieden der weſtlichen Provinzen zu wünſchen hatte, aber weder mit dem
neuen Breve des Papſtes noch mit den alten kanoniſchen Vorſchriften über-
einſtimmte. Die kirchliche Einſegnung der gemiſchten Ehen ſollte fortan
[688]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
die Regel bilden, ohne Rückſicht auf die Erziehung der Kinder, und nur
wenn die katholiſche Braut einen muthwilligen, ſträflichen Leichtſinn zeigte
— „alſo vernünftigerweiſe niemals“, wie Bunſen frohlockend ſchrieb —
mußte ſich der Prieſter auf die paſſive Aſſiſtenz beſchränken. Für dieſe
großen, noch keinem Staate gewährten Zugeſtändniſſe gab die Krone ein
Verſprechen, das kaum für eine Gegenleiſtung gelten konnte, weil König
und Papſt ſich darüber ſchon ſeit Jahren geeinigt hatten. Sie verhieß, die
bürgerliche Eheſchließung, die dem Monarchen längſt ein Greuel war, auf
dem linken Rheinufer abzuſchaffen; und in der That legte ſie im Frühjahr
1837 dem rheiniſchen Provinziallandtage einen Geſetzentwurf dieſes Inhalts
vor, die Stände beanſtandeten ihn aber, zu Friedrich Wilhelm’s großem
Leidweſen, weil die bürgerlichen und die kirchlichen Ehegeſetze noch nicht
im Einklang ſtünden. Der Erzbiſchof übernahm, ſeine Suffraganen für
den geheimen Vertrag zu gewinnen. Er brauchte in Paderborn zwei, in
Münſter drei Tage um die kirchlichen Bedenken des Biſchofs zu über-
winden; auch der greiſe Biſchof Hommer von Trier ſtimmte zu, und der
Abrede gemäß erließen die vier Prälaten hierauf gleichlautende Inſtruk-
tionen an ihre Generalvicariate. Spiegel hoffte auf die ausgleichende Macht
der Zeit; er wollte die neue milde Uebung ſich erſt eine Weile friedlich
einbürgern laſſen und dann zur guten Stunde den Papſt um nachſichtige
Genehmigung bitten. Er ſtarb aber ſchon am 2. Aug. 1835, und nur
wenn ſich ein gleichgeſinnter Nachfolger fand, konnte der ſo mühſam, durch
ſo zweideutige Mittel gewahrte Friede zwiſchen Staat und Kirche erhalten
bleiben.
Im Cultusminiſterium ahnte man gar nichts von dem Ernſt der
Lage. Der Referent für die katholiſchen Kirchenſachen, Geh. Rath Schmed-
ding war unzweifelhaft ein preußiſcher Patriot, er hatte während der napo-
leoniſchen Zeiten lockende Einladungen der bergiſchen Regierung ausge-
ſchlagen, um im Dienſte ſeines Königs von der Ems nach dem Pregel zu
gehen, was dem Weſtphalen nicht leicht fiel. Er bezweifelte nie, daß die
Staatsgewalt ſouverän, der reine Dualismus von Staat und Kirche
unmöglich ſei, und bemühte ſich eifrig, die kirchliche Einſegnung aller ge-
miſchten Ehen bei dem Clerus durchzuſetzen.*) Gleichwohl trat er mit den
Jahren der mächtig aufſteigenden ultramontanen Partei immer näher.
Schmedding verabſcheute die vornehmen geiſtlichen Lebemänner der alten
Generation als „ein Geſchmeiß verweltlichter Pfaffen“; auch die Hermeſianer
erſchienen ihm bald verdächtig, nur in den Lehren der Tübinger katholiſchen
Schule, die ſoeben in Möhler’s Symbolik ihr reifſtes Werk geſchaffen hatte,
fand er noch unverfälſchte chriſtliche Wahrheit. Der König betrachtete ihn nicht
ohne Argwohn und überging ihn bei den üblichen Auszeichnungen.**) Um
[689]Spiegel’s Tod. Droſte’s Ernennung.
ſo feſter ſtand er in der Gunſt ſeines Miniſters; er war die Seele jener
Altenſtein’ſchen Kirchenpolitik, welche die römiſche Kirche nach ſtreng katho-
liſchen Grundſätzen von Staatswegen zu gängeln ſuchte. Mit dem Erz-
biſchof Spiegel, der ihm zu weltlich ſchien, vertrug er ſich wenig, und in
Bunſen haßte er begreiflicherweiſe den unberufenen Nebenbuhler.
Durch wiederholte Reiſen ſuchte er ſich über das Leben der katholiſchen
Kirche Deutſchlands zu unterrichten. Sie führten ihn nach Bamberg, wo
er den milden Erzbiſchof Frauenburg als einen Freund Preußens und Be-
wahrer des confeſſionellen Friedens hochſchätzen lernte*), aber auch in ſeine
Heimath, nach Münſter. Hier fühlte er ſich ganz bezaubert durch den
Verkehr mit dem vormaligen Generalvicar Clemens Auguſt Droſte-Viſche-
ring, dem blindeſten aller ultramontanen Eiferer, dem einzigen der preu-
ßiſchen Prälaten, der bisher offene Auflehnung gegen die Staatsgewalt
gewagt hatte.**) Schon vor Jahren, während des Kampfes zwiſchen Droſte
und der Regierung, war Schmedding der Meinung geweſen, daß die Be-
hörden zu weit gegangen ſeien.***) Als er nun den frommen Prieſter
unter den barmherzigen Schweſtern beten ſah, als er ſich mit ihm „über
das große Thema unſerer Zeit, die Wechſelwirkung von Staat und Kirche“
unterredete und immer nur ſalbungsvolle Antworten erhielt, da glaubte
er, dem Entlaſſenen ſei ſchweres Unrecht widerfahren und er freute ſich
ihm mindeſtens die Stelle eines Weihbiſchofs wieder verſchaffen zu können.
Nach der Erledigung des Gneſener erzbiſchöflichen Stuhles, im Jahre
1826, ſchlug er Droſte unbedenklich als Nachfolger vor, und der Antrag
ward nur deshalb nicht angenommen, weil Altenſtein auf dieſe Stelle einen
Polen berufen wollte.†)
Kaum kam die Kunde von der tödlichen Erkrankung des Kölner Erz-
biſchofs, ſo entwarf Schmedding ſchon am 25. Juli 1835, noch bevor Graf
Spiegel die Augen geſchloſſen hatte, mit unanſtändiger Eile eine Denkſchrift,
welche den Münſterſchen Weihbiſchof als den einzig möglichen Nachfolger
empfahl: die preußiſchen Biſchöfe ſeien alleſammt entweder ungeneigt oder
ungeeignet. Von den anderen deutſchen Prälaten war gar keine Rede;
dagegen wurden Droſte’s gottſeliger Sinn, ſein reiner Wandel, ſeine Bil-
dung an Geiſt und Herz, ſeine reiche ſeelſorgeriſche Erfahrung kräftig ge-
prieſen und namentlich hervorgehoben, wie er in den letzten Jahren „als
ein Engel des Friedens“ nur für thätiges Chriſtenthum, „alſo zum Beſten
des Staates“ gewirkt habe.††) So ſollte denn in einem Augenblicke ſchwie-
riger Verwicklungen auf die erſte geiſtliche Stelle der Monarchie gerade der
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 44
[690]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Mann berufen werden, von dem ſich am ſicherſten vorausſehen ließ, daß
er jede berechtigte oder unberechtigte Anforderung des Staates hartnäckig ab-
weiſen würde. Altenſtein aber eignete ſich Schmedding’s Vorſchläge wörtlich
an; nur den „Engel des Friedens“ und einige ähnliche Lobpreiſungen,
die doch allzu abenteuerlich klangen, ſtrich er behutſam aus. Geh. Rath
Nicolovius erhob dann noch einige beſcheidene Einwendungen wegen der
mönchiſchen Lebensweiſe „des edlen, ernſten Mannes, die bei dem Nach-
folger eines Grafen Spiegel nicht wenig auffallend ſein würde“; er ließ ſich
jedoch ſchnell beſchwichtigen. Als Vincke, der Droſte von ſeinen früheren
Kämpfen her kannte, ſchwere Beſorgniſſe äußerte, da erwiderte Altenſtein,
er habe keinen anderen Candidaten gefunden, und ſchloß gemüthlich: „der
Himmel hat es bisher gut geſtaltet, und ich hoffe, es ſoll auch fernerhin
gut gehen.“*)
Sicherlich hätte weder der Miniſter noch ſein vortragender Rath ohne
höheren Schutz einen ſo ungeheuerlichen Vorſchlag gewagt. Der König
alterte, und die künftige Regierung warf ſchon ihre Schatten in die Gegenwart
hinein. Der Kronprinz und Prinz Wilhelm der Aeltere mit ſeiner frommen
Gemahlin Marianne hatten neuerdings Münſter beſucht und ſich in Droſte’s
Clemens-Hospitale recht von Herzen erbaut, ſeine Kaſteiungen bewundert,
ſeine „Anleitung zum inneren Gebete“, die er für die barmherzigen Schweſtern
geſchrieben, wohlgefällig entgegengenommen; wie ſo viele Proteſtanten des
Nordoſtens glaubten ſie arglos, dies römiſche Büßerweſen ſei der evan-
geliſchen Rechtgläubigkeit verwandt. Nur einem ſo muſterhaft frommen
Prieſter wollte der [Kronprinz] den Kölniſchen Stuhl anvertrauen; auch hielt
er es für eine Ehrenpflicht des preußiſchen Thrones, die alten Domherren-
geſchlechter, die einſt das ſtiftiſche Deutſchland beherrſcht hatten, dadurch
zu entſchädigen, daß ihre Söhne die großen Prälaturen des Weſtens er-
hielten.**) Damit war für Altenſtein, der in kirchlichen Fragen dem Thron-
folger ſtets nachgab, Alles entſchieden.
Um ganz ſicher zu gehen, ließ der Miniſter durch einen Münſterſchen
Dom-Capitular anfragen, ob Droſte die mit Spiegel getroffene Ueberein-
kunft einhalten wolle. Die Antwort bewies, daß der beſchauliche Sohn der
rothen Erde trotz ſeiner weltverachtenden Heiligkeit durchaus nicht abge-
neigt war den Hirtenſtab des Erzbiſchofs zu ergreifen. Droſte betheuerte
(5. Sept.), er wünſche mit Allen im Frieden zu leben, die letzten Jahre
ſeines Lebens noch recht zum Wohlthun zu verwenden; gelange er je zum
biſchöflichen Amte, ſo werde er ſich wohl hüten, jene gemäß dem Breve ge-
troffene Vereinbarung anzugreifen, ſondern ſie im Geiſte der Liebe, der
Friedfertigkeit anwenden. Nunmehr war Altenſtein beruhigt. Er verſicherte
[691]Droſte’s erſte Schritte.
dem Monarchen, dieſer Clemens Auguſt ſei ungleich milder geſinnt als
ſein älterer Bruder, der Biſchof von Münſter, Caspar Max*), und der
König ertheilte ſeine Genehmigung. Cardinal Lambruschini aber, der ſeinen
Mann kannte, ſagte zu Bunſen, in der unwillkürlichen Aufwallung des
erſten Erſtaunens: „Iſt Ihre Regierung toll?“ Und der gegen den Clerus
immer nachſichtige Oberpräſident Bodelſchwingh meinte, als das Dom-
capitel die Wahl vollzogen hatte: dies ſei der entſetzlichſte und unverant-
wortlichſte Mißgriff.
Ganz ebenſo blind und ſtörriſch, ganz ebenſo durchdrungen von dem
Bewußtſein ſeines göttlichen Rechtes wie Ernſt Auguſt von Hannover ſchritt
Droſte-Viſchering auf ſein Ziel los: die weltliche Gewalt war für ihn
einfach nicht vorhanden; und wenn er auch weder mit der Verlogenheit
noch mit der Schlauheit des Welfen wetteifern konnte, ſo zeigte er ſich doch
ganz ebenſo unbedenklich in der Wahl der Mittel. Wie ward plötzlich
Alles anders in dem geiſtlichen Palaſte bei St. Gereon, ſobald der neue
Oberhirt im Mai 1836 eingezogen war. Klöſterliche Stille herrſchte in den
Sälen, wo vordem Spiegel ſeine heiteren, aber immer ehrbaren Gaſtmahle
gegeben hatte. Die niederen Cleriker, die bei Spiegel ſtets einer welt-
männiſch freundlichen Aufnahme ſicher waren, behandelte Droſte ſo ſtreng
und mürriſch, daß ſie bald klagten, dieſe Härte widerſpreche den kanoniſchen
Vorſchriften; in der Regel durfte ſein alter weſtphäliſcher Bedienter keinen
Beſuch vorlaſſen. Die ſchöne, dem Dom-Capitel vermachte Bibliothek ſeines
Vorgängers ließ er ſchleunigſt aus dem Hauſe ſchaffen. Mit ſolcher heid-
niſchen Wiſſenſchaft wollte er nichts zu thun haben; außer der Tabaks-
pfeife kannte er kein irdiſches Bedürfniß. Von den höheren Geiſtlichen,
die faſt alleſammt zu Spiegel’s Schule gehörten, hielt ſich Droſte fern.
Sein vertrauter Rathgeber war der junge Caplan Michelis, und mit Hilfe
dieſes ultramontanen Heißſporns gelang es ihm, ſeine Laufbahn in kurzen
anderthalb Jahren abzuſchließen.
Mit unverhohlener Schadenfreude begrüßten die belgiſchen Blätter,
voran das ultramontane Journal de Liège, den Einzug ihres Geſinnungs-
genoſſen. Gleich nach Spiegel’s Tode erſchien das „Rothe Buch“, ein in
den Kreiſen der Aachener Cleriſei entſtandenes Libell, das von lügneriſchen
Anſchuldigungen gegen die preußiſche Krone überfloß und den Berliner
Staatsmännern ehrgeizige Pläne, welche ihnen nur zu fremd waren, an-
dichtete: „Preußen und Deutſchland ſcheinen ihnen ſchon identiſch.“ Als
das Rothe Buch in Preußen unterdrückt wurde, that ſich in dem belgiſchen
Städtchen Sittard, dicht an der Grenze, eine Winkelpreſſe auf, welche
das verbotene Werk nachdruckte und außerdem noch eine Menge aufrühre-
riſcher Flugſchriften in der Rheinprovinz verbreitete.**) Die in Sittard ver-
44*
[692]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
legten „Winterabend-Unterhaltungen am warmen Ofen“ ſchilderten den
Rheinländern, wie ſie alleſammt Sklaven ſeien, auf preußiſch hinter’s Licht
geführt, wie das Land vor fünfundzwanzig Jahren mehr Kronenthaler
beſeſſen hätte als heute Silbergroſchen; wenn ein Proteſtant ſich auf den
Glauben ſeiner Väter berufe, ſo ſei dies ganz das Nämliche als wenn ein
ſchlechter Kerl ſage: meine Eltern waren auch ſchlechte Kerle. Dem evan-
geliſchen Könige, der durch Seelenverkauf ſeine Schwiegertochter dem wahren
Glauben entfremdet habe, wurde als leuchtendes Gegenbild der gerechte
katholiſche „Kaiſer Fränzel in Oeſterreich“ entgegengeſtellt.
Dem wilden clericalen Haſſe, der ſich in ſolchen Schriften ausſprach,
boten zunächſt die Hermeſianer eine willkommene Zielſcheibe. Es rächte
ſich jetzt, daß Spiegel, zu Altenſtein’s Leidweſen, die Schüler von Hermes
parteiiſch begünſtigt hatte. Die ſo lange zurückgeſetzte gegneriſche Partei
dürſtete nach Rache; ſie wußte, daß der neue Erzbiſchof mit Spiegel wie
mit Hermes immer in Feindſchaft gelebt hatte. Er ſelbſt berechnete die
Zahl der Hermeſianer unter dem Clerus ſeines Erzbisthums auf mehr
als fünftauſend, und dazu gehörten faſt alle die älteren, der Staatsgewalt
gehorſamen Geiſtlichen. Gleichwohl war dieſe mächtige Schule ſchon im
Sinken, ganz wie der alte Rationalismus innerhalb der evangeliſchen Kirche.
Für die neuen Ideen, welche die Romantik in der katholiſchen Welt ge-
weckt hatte, zeigten die Hermeſianer kein Verſtändniß, und je kräftiger das
kirchliche Bewußtſein ſich wieder regte, um ſo weniger konnte ihm eine
Theologie genügen, welche die römiſchen Glaubensſätze auf die rein pro-
teſtantiſche Lehre Kant’s zu ſtützen ſuchte. Vor Jahren ſchon hatte der
ultramontane Generalvicar Fonck in Aachen die Bonner Theologen vor
dem Königsberger Philoſophen gewarnt, was der Miniſter freilich als eine
unbefugte Einmiſchung in die Wiſſenſchaft rügte.*) Neuerdings führte die
Aſchaffenburger Kirchenzeitung einen heftigen Federkrieg gegen die Halb-
heiten der Hermeſianer, und nach Hermes’ Tode (1831) verſuchten ſeine
Gegner, den römiſchen Stuhl zu einem Machtſpruche wider den Verſtor-
benen zu bewegen. Jarcke in Wien betrieb die Denunciation mit dem
fanatiſchen Eifer des Convertiten, die Wiener Redemtoriſten ſtellten ſo-
gleich eine Reihe ketzeriſcher Sätze aus Hermes’ Schriften zuſammen. Dann
bereiſte Jarcke das Rheinland um neue Beweismittel gegen die Bonner
Theologenſchule zu ſammeln; er beredete ſeinen Gönner Metternich, die
Anklage in Rom durch den Geſandten Graf Lützow, der auch zu der cleri-
calen Schaar der evangeliſchen Renegaten gehörte, insgeheim zu unter-
ſtützen. Die Hände des Wiener Hofpubliciſten ließen ſich überall ſpüren;
er gab in dieſen Jahren dem Erbprinzen von Naſſau politiſchen Unter-
richt, und mit ſolchem Erfolge, daß die Heimath der proteſtantiſchen Oranier
nachher für lange Zeit den clericalen Einflüſſen verfiel. Nun wurden der
[693]Der hermeſianiſche Streit.
Bonner Arzt Windiſchmann und mehrere deutſche Theologen beauftragt,
ihre Gutachten dem heiligen Stuhle einzureichen.*)
Graf Reiſach in Rom und der Jeſuit Perrone erſtatteten den Schluß-
bericht, und im September 1835, bald nach Spiegel’s Ableben, wurden
die Hauptſätze der Hermeſianer durch ein ſcharfes, von Gregor XVI. ſelbſt
verfaßtes päpſtliches Breve als der Ketzerei verdächtig (haeresin sapientes)
verdammt. Der König von Preußen trug Bedenken ſeine landesherrliche
Genehmigung zu ertheilen. Aber in dieſem Zeitalter der Oeffentlichkeit
hatte das Schwert des placet längſt keine Schneide mehr. Die Verord-
nung des Papſtes erſchien in der Aſchaffenburger Kirchenzeitung, Freund
und Feind mußten mit der vollendeten Thatſache rechnen. Groß war der
Schrecken unter den gemäßigten Clerikern. Biſchof Bauſch in Limburg
richtete an den Bonner Braun, der mit ſeinem Amtsgenoſſen Achterfeldt
für das Haupt der Hermeſianer galt, einen wehmüthigen Troſtbrief und be-
theuerte, daß in ſeiner Diöceſe Hermes’ Schüler „ſich durchaus kirchlich
und katholiſch benehmen, ſich durch einen geſitteten Lebenswandel auszeichnen
und empfehlen.“ Noch heftiger klagte der Wiener Theolog Pabſt über dies
Urtheil, das „unſere nahe wiſſenſchaftliche Uebermacht über den Proteſtan-
tismus“ vernichte, „den reſpectabelſten Theil der katholiſchen Geiſtlichen
Deutſchlands“ mit ſchwerem Kummer treffe.**) Metternich aber ermahnte
den Papſt inſtändig, gegen die Hermeſianer feſt zu bleiben.***) Um dem
Papſte die Unſchuld des verſtorbenen Meiſters zu erweiſen, ging Braun
mit ſeinem Freunde Elvenich ſelbſt nach Rom; dort wurden die Beiden
an den Jeſuitengeneral verwieſen und, wie vorauszuſehen, unverrichteter
Dinge heimgeſchickt. So mächtig war ſchon der Drang nach unbedingter
Einheit in der erſtarkenden römiſchen Kirche, ſo ſchwach die ſittliche Kraft
einer wohlmeinenden Gelehrtenſchule, welche das Unverſöhnliche verſöhnen
wollte: nach kurzer Friſt unterwarfen ſich die Hermeſianer alleſammt, mit
der einzigen Ausnahme von Braun und Achterfeldt. Ein Wort des Pon-
tifex genügte, um den Lehrer, der ſo lange im deutſchen Weſten für eine
Säule der Kirche gegolten hatte, aus der Heerde der Gläubigen hinaus-
zuweiſen.
Daß die Krone ſich in dieſen rein dogmatiſchen Streit nicht ein-
miſchen durfte, war dem Cultusminiſter von Haus aus unzweifelhaft. Wohl
ſprach er aus, in ſolchen Händeln entlade ſich nur der alte Haß, welchen
der römiſche Stuhl ſeit Luther’s Tagen gegen die deutſchen Univerſitäten
hege; ſein Wunſch ging aber nur dahin, daß der Kampf mit Ruhe geführt
werde und womöglich „ſich in ſich ſelbſt verblute“, denn „theologiſch wahr
[694]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
oder falſch könne von einer Staats-Entſcheidung nicht abhängen“. Auf
keinen Fall wollte er ſich „einen Eingriff der Staatsgewalt in das Heilig-
thum des Glaubens oder eine Störung der ordnungsmäßigen Bewegung
der vorgeſetzten geiſtlichen Autorität“ erlauben.*) Sein getreuer Schmed-
ding betrachtete den Handel ſogar mit ſchlecht verhehlter Schadenfreude und
rieth einem hermeſianiſchen Theologen halb ſpöttiſch, „die Entwicklung dieſer
Tragikomödie mit Gelaſſenheit abzuwarten.“**) Daher ließ Altenſtein, ob-
gleich das Breve in Preußen noch gar nicht veröffentlicht war, die bethei-
ligten Bonner Profeſſoren bei dem Curator Rehfues zuſammenrufen und
ihnen das Verſprechen abnehmen, daß ſie über Hermes und ſeine Lehre
in ihren Vorleſungen unverbrüchlich ſchweigen würden.
Weiter konnte der Staat in ſeiner Nachgiebigkeit unmöglich gehen.
Der Erzbiſchof war befugt, das geſammte innere Leben des Bonner Con-
victs, das amtlich als ein Beſtandtheil des Kölniſchen Prieſterſeminars ange-
ſehen wurde, zu leiten, und wenn er dies Recht ebenſo kräftig handhabte
wie ſein Vorgänger, ſo ließ ſich die hermeſianiſche Doctrin aus dem theolo-
giſchen Unterricht kurzerhand hinausfegen. Droſte aber wollte nicht blos
die Lehren, ſondern auch die Perſonen der verhaßten Hermeſianer beſeitigen.
„Welchen Weg ich einſchlage, ſo ſchrieb er an Rehfues, darüber bin ich
mit mir noch nicht eins. Das aber ſteht feſt, daß ich das Einſchleichen der
die Staaten ſo ſehr beunruhigenden Demagogie in die Kirche nicht dulde
und von allen katholiſchen Prieſtern meiner Diöceſe, welche Stellung immer
ſie einnehmen mögen, in kirchlichen Dingen Gehorſam fordere, weil ich
ſolchen fordern muß und ſie ſolchen leiſten müſſen.“ Als ihn Altenſtein
wegen eines belgiſchen Zeitungsartikels, der nur aus der Kölniſchen Kanzlei
herrühren konnte, zur Rede ſtellte, da erwiderte er grob: „Caplan Michelis
hat Feinde, doch gewiß keine anderen als jene Hermeſianer, deren Dünkel
nicht mit ſeiner Beſcheidenheit harmonirt.“ Es war als ob er Händel
ſuchte, und der ſanftmüthige Miniſter bemerkte zu dem Schreiben: „dieſer
Ton kann ſehr weit führen, und es iſt daher die Frage was zu thun.“***)
Offenbar beabſichtigte der Erzbiſchof, das Bonner Convict, das die
Theologen doch in einigen Verkehr mit der weltlichen Wiſſenſchaft brachte,
ganz zu zerſtören. Früher, ſchrieb er dem Miniſter, wurde die Theologie
hier im Kölniſchen Seminar gelehrt; „da lernten die Alumnen gewiß nicht
ſo viel Vernunftbeweiſe, aber ſie lernten Dogmatik, Moral u. ſ. w., lernten
Theologie, lernten was ſie gebrauchen können, und ich danke Gott, daß ich
noch Geiſtliche aus dieſer Zeit in der Erzdiöceſe habe.“†) Er wollte weder
die Bonner Theologen perſönlich vernehmen, wie Rehfues ihm vorſchlug,
[695]Droſte und das Bonner Convict.
noch einen Commiſſär in ihre Collegien ſchicken, denn ſie würden ſich nur
verſtellen; auch das ſtreng römiſche Liebermann’ſche Compendium nütze nichts
als Leitfaden für die Vorleſungen, da die Profeſſoren doch nach Belieben
darüber redeten. Während er alſo ſein unbeſtrittenes Aufſichtsrecht aus-
zuüben gefliſſentlich verſchmähte, griff er, wie um die Staatsgewalt zu ver-
höhnen, zu geſetzwidrigen Mitteln. Zunächſt verbot er ein Heft der von
den Bonner Hermeſianern herausgegebenen Theologiſchen Zeitſchrift, ob-
gleich er wiſſen mußte, daß den Biſchöfen nur die Cenſur über Erbauungs-
ſchriften zuſtand. Sodann befahl er durch den Domdechanten den Bonner
Geiſtlichen, ihren Beichtkindern das Leſen hermeſianiſcher Schriften und den
Beſuch hermeſianiſcher Vorleſungen zu verbieten. Die päpſtliche Verfügung
gilt, ſo ſchrieb er, und Niemand darf ſich damit entſchuldigen, daß ſie noch
nicht veröffentlicht iſt, weil „wofern jene Entſchuldigung wirklich entſchuldigend
wäre, die weltliche Macht es durchaus in ihrer Gewalt hätte, die Wirk-
ſamkeit des vom Heiland angeordneten centri unitatis völlig zu hemmen,
was freilich den Hermeſianern, wie allen Sektirern, die ſich nur vermittelſt
der weltlichen Gewalt, welche niemals in Beziehung auf Gegenſtände vor-
liegender Art Richter ſein kann, mithin ſobald ſie Theil nimmt Partei iſt,
halten können, nicht unlieb ſein dürfte.“ Der Stil ſeiner Briefe entſprach
immer genau dem rohen, zänkiſchen Inhalt und der Plumpheit der Schrift-
züge. Die natürliche Folge jener Verfügung war, daß im Convict alle
Bande der Zucht zerriſſen; die Studenten ſpalteten ſich in Parteien und
denuncirten ihre Lehrer bei dem Erzbiſchof, der ſolche Anzeigen unbedenklich
annahm. Als ihm im Sommer 1837 der Lektionskatalog für das nächſte
Semeſter vorgelegt wurde, ſtrich er ohne weitere Nachfrage ſämmtliche
theologiſche Vorleſungen aus; nur der clericale Profeſſor Klee durfte Colleg
halten. Damit war die zum Beſten der rheiniſchen Kirche errichtete könig-
liche Stiftung zerſtört; die Mehrzahl der Studenten verließ das Convict
und ſuchte im Kölner Seminar unterzukommen. Endlich ließ Droſte ſeinen
jungen Clerikern noch achtzehn Theſen zur Unterſchrift vorlegen. Die letzte
der Theſen ſtellte rundweg jedes Aufſichtsrecht des Staates in Abrede, ſie
enthielt das Verſprechen, daß man von dem Erzbiſchofe nur an den Papſt
appelliren wolle, und widerſprach ſo unzweifelhaft den preußiſchen Geſetzen,
daß ſelbſt der clericale Juriſt Walter, amtlich befragt, ſie für bedenklich
erklärte. —
Dennoch wollte die langmüthige Regierung den widerſetzlichen Prä-
laten ſchonen; erſt der wieder ausbrechende ernſtere Streit um die ge-
miſchten Ehen zwang ſie zum Bruche. Kurz bevor Droſte ſein Amt an-
trat, veröffentlichte ein clericales belgiſches Blatt den Hauptinhalt jener
von den Biſchöfen an die Generalvicariate erlaſſenen geheimen Inſtruction;
die Angaben waren im Weſentlichen richtig, nur glaubte der anonyme Ein-
ſender, das Aktenſtück ſei eine Weiſung Spiegel’s an ſeine Suffraganen.
Welch eine Genugthuung für den römiſchen Stuhl. Da er ſelbſt bei allen
[696]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
ſeinen diplomatiſchen Verhandlungen Hintergedanken hegt und hegen muß,
ſo gereicht es ihm ſtets zur beſonderen Freude, wenn er einmal auch die
weltliche Gewalt auf Schleichwegen antrifft. Mit hoher ſittlicher Ent-
rüſtung fragte Cardinal Lambruschini den preußiſchen Geſandten (15. März
1836), ob dieſe Weiſung nicht den Vorſchriften des Breves offenbar zu-
widerlaufe. Zugleich ſprach er die Hoffnung aus, ein päpſtlicher Nuntius
in Berlin könne die Wiederkehr ſolcher Irrungen leicht verhindern. Dieſer
letztere Wunſch wurde ſofort entſchieden zurückgewieſen. Auf keinen Fall
wollte der König in ſeiner Hauptſtadt einen römiſchen Prälaten dulden,
um den ſich die Oppoſitionspartei des polniſchen und weſtphäliſchen Adels
vielleicht verſammeln konnte; Ancillon meinte ſogar, kein ſouveräner Staat
dürfe einen ſolchen diplomatiſchen Vertreter einer Kirchengemeinſchaft zu-
laſſen. Ebenſo offen mußte der preußiſche Hof, wenn er richtig rechnete,
auch die erſte Anfrage wegen der Inſtruction beantworten. Das Ge-
heimniß war verrathen, und nun blieb nur übrig, dem Papſte ehrlich her-
auszuſagen: da er über das räthſelhafte Breve keine genügende Erklärung
hätte abgeben wollen, ſo ſei die Krone genöthigt geweſen, ſich mit ihren
Landesbiſchöfen zu verſtändigen. Bunſen aber dachte auch jetzt noch mit
ſeinen beliebten kleinen Mitteln durchzukommen und erlaubte ſich eine
ebenſo unwürdige als thörichte Sophiſterei.
In ſeiner Antwort vom 16. April betheuerte er feierlich, niemals habe
Spiegel eine ſolche Weiſung erlaſſen. Die Verſicherung war buchſtäblich
wahr, der Sache nach grundfalſch, und ſie ward dadurch nicht edler, daß
ein Schwall frommer, tugendhafter Redensarten darauf folgte; in ſolchen
Künſten diplomatiſcher Kanzelberedſamkeit durfte es der deutſche Theolog
mit dem Cardinal wohl aufnehmen. Was nicht ausbleiben konnte, ge-
ſchah. Die Curie ließ unter der Hand durch ihre Getreuen am Rhein
weitere Nachforſchungen anſtellen, und als im November der ehrwürdige
Biſchof von Trier auf dem Todesbette lag, unterſchrieb er, wahrſcheinlich
durch ſeine geiſtlichen Umgebungen überredet, einen reuigen Brief, der den
heiligen Vater um Verzeihung bat wegen jener geheimen Inſtruction.
Bald darauf kannte der römiſche Stuhl ſchon den vollſtändigen Wortlaut
der Vereinbarung zwiſchen Spiegel und Bunſen. In welchem Lichte ſtand
nun Preußens Krone da! Dank den Mißgriffen ihres römiſchen Geſandten
gerieth dieſe bei allen ihren Schwächen durchaus ehrliche Regierung in
den Ruf der Verrätherei, und ſolche Nachrede war nirgends gefährlicher
als am Rhein, wo alle Schoppenſtecher ſich längſt gewöhnt hatten die
albernen Witze über die preußiſchen Pfiffe und Kniffe nachzuſprechen. Jetzt
ſchimpften die Rheinländer auf den Lug-Bunſen und ſagten: wenn er
weint, dann lügt er!
Wer hätte nach ſolchen Erlebniſſen den Erzbiſchof zurückhalten können
auf ſeiner abſchüſſigen Bahn? In Köln wie einſt in Münſter befahl er ſeinen
Geiſtlichen ganz unbedenklich, keine gemiſchte Ehe ohne das Verſprechen
[697]Bunſen’s Ableugnungen. Die gemiſchten Ehen.
katholiſcher Kindererziehung einzuſegnen, und dem Papſte gab er ſchon im
September 1836 die Zuſage, daß er dem Breve unverbrüchlich nachkommen
werde. Als die Regierung ihm vorhielt, er habe doch feierlich gelobt, die
Inſtruction im Geiſte der Liebe zu befolgen, da ertheilte er die uner-
wartete Antwort, dieſe Inſtruction hätte er gar nicht gekannt. Dieſe in
jedem anderen Munde lächerliche Verſicherung wurde von der Regierung
ſelbſt nicht in Zweifel gezogen; bei dem blinden Fanatiker war Vieles
möglich, was klügere Männer nie gewagt hätten. Droſte lebte ganz in
kirchlichen Vorſtellungen und verachtete von Grund aus die Staatsgewalt
des proteſtantiſchen Königs; alſo blieb immerhin denkbar, daß er es wirk-
lich nicht der Mühe werth gehalten hatte, die Inſtruction, deren Befolgung
er heilig angelobte, auch nur eines Blickes zu würdigen. Nach den ge-
wöhnlichen Anſichten menſchlicher Rechtſchaffenheit war er freilich ver-
pflichtet, ſeine Würde niederzulegen, wenn er die Bedingungen nicht zu
halten vermochte, unter denen ſie ihm anvertraut war. Aber wie konn-
ten ſolche weltliche Ehrbegriffe den Hochmuth des Prälaten beirren? Wie
er die Dinge anſah, verdankte er ſein Amt allein der Gnade Gottes und
des heiligen Stuhles; daß die weltliche Gewalt dabei auch nur mitgeredet
hatte, erſchien ihm ſchon als frevelhafte Uſurpation. Dem Miniſter Rochow
erwiderte er trocken: die Kirche ſei dem Staate gleichgeordnet, jedes Auf-
ſichtsrecht der Staatsgewalt unnütz und unbefugt; über Bildung, Anſtel-
lung, Abſetzung der Geiſtlichen wie der theologiſchen Profeſſoren habe der
Biſchof allein zu entſcheiden; das Convict müſſe nach Köln verlegt und
dort auch ein erzbiſchöfliches Knabenſeminar errichtet werden. Das Alles
im Namen der katholiſchen Kirchenfreiheit.
So warf er kurzerhand alle Kirchengeſetze der Monarchie über den
Haufen, und ſchon im Frühjahr 1837 ließ der preußiſche Hof der Curie
mittheilen, daß er ſich vielleicht gezwungen ſehen würde, den Unbelehr-
baren, der freilich nur durch die Thorheit der Regierung ſein Amt erlangt
hatte, wieder zu entfernen. Der Sommer verlief über vergeblichen Vermitt-
lungsverſuchen. Umſonſt ging Cardinal Capaccini nach Köln, ein Kirchen-
fürſt von milder Geſinnung, der allerdings kein zuverläſſiger Bundes-
genoſſe der evangeliſchen Krone ſein konnte. Nachher, im September, ſuchten
auch der aus Rom herbeigerufene Bunſen und Graf Anton Stolberg „dem
verſteinerten Prälaten“ ins Gewiſſen zu reden und ihm zu zeigen, daß er
entweder ſein Amt aufgeben oder die Staatsgeſetze, die er förmlich aner-
kannt habe, befolgen müſſe.*) Alles vergeblich. Am 31. October ſchrieb
Droſte dem Miniſter: an die Inſtruction halte er ſich nicht gebunden, ſo-
fern ſie dem Breve widerſpreche. Eine ſolche Widerſetzlichkeit durfte der
Staat nicht dulden. Eine Revolution wünſchten die Rheinländer freilich
nicht, ſie wußten trotz aller Schmähungen nur zu wohl, wie viel ſie dem
[698]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
preußiſchen Staate verdankten. Aber ernſte Ruheſtörungen ſchienen aller-
dings zu befürchten. Ein am Thore des Doms angeſchlagener Aufruf
mahnte die rheiniſchen Katholiken das proteſtantiſche Joch abzuſchütteln,
die belgiſchen Emiſſäre trieben überall ihr Unweſen, und Droſte ſelbſt
nahm keinen Anſtand, den Kölnern durch die Pfarrer mitzutheilen, daß er
die Rechte der Kirche gegen die Anſchläge der weltlichen Gewalt verthei-
digen wolle. Sollte man warten, bis dieſe Aufwiegelung ihre Früchte
trug? Der Oberpräſident Bodelſchwingh verſicherte beſtimmt, daß Droſte
beabſichtige, ſich im Ornate vor dem Hochaltare des Domes gefangen
nehmen zu laſſen, um dergeſtalt das der Kirche allezeit vortheilhafte Mar-
tyrium mit geiſtlichem Pomp zu vollenden.
Am 14. November wurde ein großer Miniſterrath unter dem Vor-
ſitze des Königs abgehalten. Bunſen wohnte der Berathung bei. Er war,
gleich ſeinem Gönner dem Kronprinzen, zu jeder möglichen Nachgiebigkeit
bereit und hatte ſoeben erſt durchgeſetzt, daß jene unbillige alte Verord-
nung, welche die Soldaten alleſammt zum Beſuch der evangeliſchen Kir-
chenparaden verpflichtete, vom Könige aufgehoben wurde; aber nach Allem
was geſchehen glaubte er in Rom nichts mehr erreichen zu können, wenn
nicht der Staat zuvor durch Thaten ſein Anſehen gewahrt habe. Dahin
war es gekommen — ſo ſagte ſelbſt der Freund des Kronprinzen, Anton
Stolberg — „daß ſich einfach die Frage ſtellte, ob der König oder der
Erzbiſchof das Ruder der Regierung führen ſolle.“*) Demnach beſchloſſen
die Miniſter, den Erzbiſchof aus ſeiner Diöceſe zu entfernen, wenn er
ſein Amt nicht freiwillig niederlege; er ſollte in ſeine Münſterſche Hei-
math, oder falls er ſich hartnäckig widerſetze, nach einem feſten Platze ab-
geführt werden.**) Der Befehl wurde am 20. November durch Bodel-
ſchwingh und General Pfuel gewandt, ohne unnütze Härte ausgeführt;
Droſte verblieb vorläufig auf der Feſtung Minden, da er nicht in ſeine
Heimath gehen wollte. Unzweifelhaft gebrauchte die Krone nur ihr gutes
Recht. Da die altpreußiſche Geſetzgebung für politiſche Vergehen auch im
Rheinlande galt, ſo war der König ebenſo befugt den widerſetzlichen Erz-
biſchof durch einen Verhaftsbefehl unſchädlich zu machen, wie einſt Fried-
rich der Große von Rechtswegen die Fürſtbiſchöfe Sinzendorf und Schaff-
gotſch aus Breslau hatte entfernen laſſen. Aber die Zeit war verwandelt.
Dies Recht der abſoluten Krone lebte nicht mehr im Rechtsbewußtſein des
Volkes, ſondern erſchien bereits als Willkür; und was noch übler war,
die öffentliche Meinung mußte glauben, daß der Staat katholiſche Prieſter
zur Spendung des Sakraments der Ehe, das die Kirche doch nur nach
ihrem eigenen Ermeſſen gewähren oder verſagen kann, durch zwingenden
Befehl nöthigen wolle.
[699]Droſte’s Abführung. Die Allocution.
Dieſen Vortheil konnte ſich die Curie unmöglich entgehen laſſen, und
was ihr die diplomatiſche Klugheit gebot, befriedigte zugleich ihren unaus-
löſchlichen Haß. Wohl war der preußiſche Staat am früheſten unter allen
proteſtantiſchen Mächten der römiſchen Kirche gerecht worden. Dennoch
blieb er dem Papſtthum der Todfeind, der Hort und Halt des Proteſtan-
tismus, ſeine Krone ruhte auf einem ſeculariſirten Kirchenlande; und bot
ſich die Gelegenheit, das Vaterland Martin Luther’s in ſeinem politiſchen
Kerne anzugreifen, dann mußten alle die ſo lange verhüllten Empfindungen
des Vaticans zu Tage treten. Sofort nach den erſten Kölniſchen Nach-
richten verſammelte Gregor die Cardinäle, ohne auch nur die ihm aus
Berlin zugeſagten näheren Mittheilungen abzuwarten, und ſagte am
10. Dec. in einer grimmigen Allocution: „Was Niemand ſich vorſtellen
oder ausſinnen konnte, was auch nur leichthin zu muthmaßen ein Ver-
brechen geweſen wäre, das iſt auf wohlberechneten Antrieb der weltlichen
Gewalt geſchehen.“ Darum erhob er ſeine Stimme „um die verletzte kirch-
liche Freiheit, die verhöhnte biſchöfliche Würde, die mit Füßen getretenen
Rechte der katholiſchen Kirche und dieſes heiligen Stuhles öffentlich klagend
zurückzufordern“. Ein Ton urkräftigen Behagens klang durch dieſe Ver-
wünſchungen; Jedermann fühlte, hier ſprach das Herz des chriſtlichen
Pontifex. Seit der Wiederherſtellung des Kirchenſtaates geſchah es zum
erſten male, daß die Curie einen mächtigen Staat alſo zu beleidigen wagte;
und da das leere Pathos der Allocutionen noch nicht, wie unter Gregor’s
Nachfolger, durch beharrliche Wiederholung vernutzt war, ſo hallten die
Flüche des Papſtes weithin in der katholiſchen Welt wieder.
Auf ſolche Beſchimpfungen gab es nur eine Antwort. Die Krone
Preußen mußte ihren Geſandten aus Rom abberufen und, ohne den
Vatican eines Wortes zu würdigen, ſofort die bürgerliche Eheſchließung
einführen — ein entſcheidender Schlag, worauf man in Rom am wenigſten
gefaßt war. Dann bot die Lage des verwaiſten Erzbisthums wenig Schwierig-
keiten. Die Mehrheit des Kölner Domcapitels war hermeſianiſch geſinnt
und folgte den Rathſchlägen jenes Capitulars München, welcher einſt die
kunſtvolle Auslegung des Breves verfaßt hatte. Das Capitel übernahm
auf Verlangen der Staatsgewalt unbedenklich die vorläufige Verwaltung
der Diöceſe, wählte den Domkapitular Hüsgen zum Generalvicar und be-
ſchwerte ſich bei der Curie, natürlich nicht ohne die herkömmlichen Wehklagen,
über die Härte des gefangenen Erzbiſchofs. Ein ſcharfer Verweis des
Papſtes hatte keine fühlbaren Folgen. Als der Nuntius Spinelli in Brüſſel
verſuchte die Wahl Hüsgen’s für unkanoniſch, ſeine Faſtenindulte für nichtig
zu erklären, da ſchritt der König mit einem ſcharfen Verbote ein, und
die Curie erwiderte verlegen, Spinelli habe ohne Auftrag gehandelt.*) Auch
die Vorleſungen am Bonner Convict durften, mit Erlaubniß des Dom-
[700]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
capitels, wieder eröffnet werden, da die Hermeſianer ſich der dogmatiſchen
Entſcheidung des Papſtes unterwarfen.*) So ließen ſich die Zuſtände in
der Erzdiöceſe wohl noch eine gute Weile hinhalten, wenn nur der Stein
des Anſtoßes, der Streit um die gemiſchten Ehen, aus dem Wege geräumt
wurde.
Die Regel der kirchlichen Eheſchließung wurde in einem paritätiſchen
Staate ſchlechterdings unhaltbar ſobald die Eintracht zwiſchen Papſt und
Krone aufhörte. Hielt der Staat auch dann noch an dieſer Vorſchrift feſt, ſo
blieb ihm nur die Wahl, ob er die Gewiſſen der katholiſchen Prieſter tyranniſch
mißhandeln oder ſeine eigenen Geſetze der Willkür der Landesbiſchöfe unter-
werfen wollte. Dem preußiſchen Hofe und der Lehre vom chriſtlichen Staate,
wie ſie in Berlin aufgefaßt wurde, war dieſe Einſicht fremd; die Frage lag
überhaupt noch außerhalb des Ideenkreiſes der Zeit. Kein einziger unter den
unzähligen Schriftſtellern, welche den Kölner Biſchofsſtreit beſprachen, er-
örterte die Bedeutung der bürgerlichen Ehe mit eindringender Sachkenntniß.
Der König hielt alſo die Fortdauer der kirchlichen Eheſchließung für ganz
ſelbſtverſtändlich. Nun ſah er ſeine katholiſchen Unterthanen von ſchweren
Gewiſſensbedenken gepeinigt, und er mußte anerkennen, daß die bürger-
liche Ordnung, trotz der ſtarken Aufregung, welche namentlich die Frauen
ergriffen hatte, in den Rheinlanden faſt ganz ungeſtört blieb. Die Ge-
wiſſen zu bedrängen war ihm ja niemals in den Sinn gekommen, er
hatte nur nach ſeiner königlichen Pflicht die freche Verhöhnung der Landes-
geſetze verhindern wollen. Um die erregten Gemüther zu beſchwichtigen,
unterzeichnete er alſo am 28. Jan. 1838 eine Cabinetsordre, welche in
milden Worten ausſprach, den Geiſtlichen ſei nur unterſagt, „ſich ein
förmliches Verſprechen für die Erziehung der Kinder in der katholiſchen
Religion geben zu laſſen“; beſcheidene Erkundigungen blieben den Prieſtern
unverwehrt, und in zweifelhaften Fällen ſollten die Biſchöfe entſcheiden
„ohne daß ein Verfahren bei den Staatsbehörden ſtattfände“. Dieſer
offenbar wohlgemeinte Erlaß war doch nichts anders als ein vollſtändiger
Rückzug der Staatsgewalt; er bewies nur, wie wenig man in Berlin den
Sinn des Streites zwiſchen dem ſouveränen Staate und der kirchlichen
Herrſchſucht verſtand. Den Biſchöfen blieb fortan die letzte Entſcheidung
über die gemiſchten Ehen vorbehalten. Mehr wollte ja Droſte ſelbſt nicht;
warum hielt man alſo den ultramontanen Heißſporn noch gefangen?
Noch weit ſchwerer als durch dieſen Rückzug ward das Anſehen der
preußiſchen Krone durch die unglaubliche Thorheit ihrer Diplomaten in
Rom geſchädigt. Lambruschini ſcheute ſich nicht, die Allocution dem Lega-
tionsrath v. Buch, der den abweſenden Geſandten vertrat, zu überſenden
— eine neue, muthwillige Beleidigung, da die wuthſchnaubende Anrede
des Papſtes gar nicht an den preußiſchen Hof gerichtet war. Buch war ein
[701]Rückzug des Staates. Bunſen in Wien.
wackerer märkiſcher Edelmann, ſo durchaus ehrlich, daß die geriebenen
Monſignori des Vaticans quello barone tedesco als eine römiſche Merk-
würdigkeit betrachteten; wie die meiſten ſeiner brandenburgiſchen Landsleute
hatte er vom katholiſchen Weſen ſchlechterdings keinen Begriff und verwech-
ſelte die gewaltige moraliſche Kraft dieſer Weltkirche arglos mit der lächer-
lichen Schwäche des Kirchenſtaates. In ſeiner Erwiderung auf die Mitthei-
lung des Cardinal-Staatsſecretärs (12. Dec.) bedauerte er höflich, daß der
Papſt ſo vorſchnell gehandelt habe, und ſprach zugleich die Hoffnung aus,
bei beſſerer Kenntniß der Thatſachen „werde der römiſche Hof wohl ſein
Urtheil über die fragliche Angelegenheit berichtigen und, dem Wunſche der
königlichen Regierung willfahrend, ihr ſeinen Beiſtand leihen um eine
geregelte Verwaltung im Kölner Bisthum herzuſtellen“. Nach erneuter
Prüfung fand er dieſe Antwort doch ſelbſt fragwürdig. Er ſendete Ab-
ſchrift nach Berlin und fügte unſchuldig hinzu: Meine Erwiderung wird
vielleicht zu ſchwach ſcheinen; aber „die Ehre des königlichen Gouverne-
ments kann ſchwerlich darunter leiden, da das Benehmen Preußens, einem
ſo ohnmächtigen Gegner wie dem päpſtlichen Hofe gegenüber, wohl nie als
ein Zeichen von Furcht und Schwäche, ſondern als ein Beweis von weiſer
Mäßigung betrachtet werden kann“. Was half es, daß Miniſter Werther dem
gutmüthigen Geſchäftsträger nachträglich einen Verweis ertheilte?*) Die
Cardinäle erzählten ſich triumphirend, daß Preußen auf grobe Beſchimpfun-
gen mit Höflichkeiten, ja mit einer Bitte geantwortet hatte.
Währenddem reiſte Bunſen auf ſeinen römiſchen Poſten zurück. So
wenig kannten die Miniſter den Vatican: ſie ahnten gar nicht, wie der
römiſche Stuhl die Verhaftung des Erzbiſchofs aufnehmen mußte, und da
der Geſandte noch immer ſeine alte ſtolze Zuverſicht zur Schau trug, ſo
begriffen ſie nicht einmal, daß Bunſen nach den Enthüllungen der jüngſten
Monate in Rom ein unmöglicher Mann war. Er erhielt Befehl, die Curie
über das Verfahren des Königs aufzuklären und mit ihr wegen der Wieder-
beſetzung des Kölner Stuhles zu verhandeln. Ausdrücklich ward beſchloſſen,
„daß auf keine Weiſe je wieder an ein Abfinden mit dem Erzbiſchof und an
ein Wiederzulaſſen deſſelben in ſeine Wirkſamkeit zu denken ſei.“**) Bunſen
nahm den Weg über Wien. Dort hatte er mit Metternich mehrere lange
Unterredungen und mit gewohnter Selbſtgefälligkeit bildete er ſich wieder
ein, den Fürſten faſt ganz gewonnen zu haben. Allerdings befand ſich
der Oeſterreicher in einiger Verlegenheit, da der Preuße ganz beſtimmt
verſicherte, Droſte würde den Kölner Dom niemals wiederſehen. Gegen
den erklärten Willen des befreundeten Königs von Preußen offen vorzu-
gehen wagte Metternich nicht. Wer aber den Wiener Hof und die dort
[702]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
herrſchende clericale Geſinnung näher kannte, mußte ſofort bemerken, daß
der Staatskanzler mit allen ſeinen Wünſchen auf Seiten der Curie ſtand.
Seine Gemahlin Melanie, die Erzherzogin Sophie und die beiden Kaiſerin-
nen ergingen ſich in Wehklagen über die Leiden des Kölniſchen Märtyrers.
Der bisher ſehr geringſchätzig behandelte belgiſche Geſandte O’Sullivan
erlangte plötzlich hohe Gunſt bei dem ſtolzen kaiſerlichen Hofe, weil Belgien
die feſte Burg der clericalen Partei war.*)
An Maltzan richtete Metternich bald nach Bunſen’s Abreiſe ein langes
Schreiben über die Kölniſchen Händel (19. Dec.) und ſchlug darin jenen
orakelhaften Ton an, der ihm immer zu Gebote ſtand wenn er ſeine Ge-
danken verbergen wollte: „Dort wo Krieg im echten Sinne des Worts
möglich iſt ſtehen die Sachen ſtets weniger böſe als dies der Fall iſt wo
ſich Gewalten verzanken, welchen das Schlachtfeld, das materielle nämlich,
nicht zu Gebote ſteht. Krieg kann allerdings aus ſolchem Gewebe werden,
aber den führen ſonach Dritte. . . . Ich fühle, verzeihen Sie mir den
Ausdruck, die Zukunft in der Gegenwart und gebe mich ſonach mit der
letzteren nur in deren direkten Beziehungen auf die erſtere ab. Dies thue
ich auch dermalen, und da Leidenſchaften nur der Gegenwart anheimfallen,
ſo ſteht mir jede Färbung der Art ſtets fremd, ohne daß für mich auch
das leiſeſte Verdienſt aus der Thatſache erflöſſe.“ So ging es weiter:
lauter ſelbſtgefällige allgemeine Betrachtungen, nirgends eine beſtimmte
Zuſage.**) Als Maltzan darauf den Staatskanzler bat, Oeſterreich möge
die Bemühungen des preußiſchen Geſandten in Rom kräftig unterſtützen,
da erwiderte Metternich: das können wir nicht; wir wollen neutral bleiben,
um ſpäterhin für eine Ausſöhnung zu wirken.***) Noch deutlicher ſagte er
nachher in einem Vortrage an ſeinen Kaiſer: die Kirchenpolitik und die
Handelspolitik des Berliner Hofes hingen eng zuſammen, durch die evan-
geliſche Union und durch den Zollverein ſuche Preußen die Suprematie
im Deutſchen Bunde zu erlangen.
Gleichwohl war er kein unbedingter Gegner; einen förmlichen Bruch
hätte er, nach ſeinen friedlichen Neigungen, gern vermieden geſehen. Darum
gab er Bunſen den freundſchaftlichen Rath, jetzt nicht nach Rom zu gehen;
in Wien wußte man beſſer als in Berlin, welche Luft im Vatican wehte.
Bunſen ließ ſich jedoch in ſeinem kühnen Thatendrange nicht aufhalten.
Er reiſte weiter, und als er in Ancona anlangte, fand er dort die Nach-
richt von der Allocution des Papſtes. Dieſe dem preußiſchen Geſandten
völlig unerwartete Wendung warf alle ſeine Berechnungen über den Haufen,
und that er beſcheiden ſeine Pflicht, ſo mußte er zunächſt in Berlin an-
fragen, wie er ſich in der gänzlich veränderten Lage zu verhalten habe.
Solche Selbſtverleugnung war ihm fremd, und doch fühlte er ſich durch
[703]Die Note von Ancona. Abberufung Bunſen’s.
die herausfordernde Sprache der Curie eingeſchüchtert. Am 17. Dec.
ſchrieb er in Ancona eine Note an Lambruschini, welche die harmloſen
Thorheiten ſeines Vertreters Buch noch weit überbot. Er ſtellte ſich an,
als ob er die Allocution, die jetzt in jedem Cafehauſe auflag, noch nicht
genau kenne, und ſprach die Hoffnung aus, daß ſie wohl nicht das end-
giltige Urtheil des Papſtes enthalten, weitere Verhandlungen nicht ab-
ſchneiden ſolle. Dann verſicherte er — ſeinen Weiſungen ſchnurſtracks
zuwider — der König habe den Erzbiſchof nur auf Zeit (temporairement)
aus Köln entfernt und wolle ſich als klagender Theil (partie plaignante)
dem kanoniſchen Urtheil des Papſtes unterwerfen. Welch eine Schmach
für Preußen, wenn die Curie auf dieſe Anerbietungen einging! Zum
Glück war Lambruschini zu hochmüthig; vielleicht ſchenkte er auch der un-
erwarteten Demuth des vordem ſo zuverſichtlichen Geſandten keinen Glauben.
Genug, er erwiderte ſchroff: zuerſt müſſe Droſte wieder eingeſetzt werden,
dann erſt könne von neuen Verhandlungen die Rede ſein.
In Rom ward dem Geſandten ſogleich mitgetheilt, daß der Papſt ihn
nicht empfangen wolle — eine Nachricht, die nur ihn ſelber überraſchte.
Zuerſt fühlte er ſich ganz niedergeſchmettert, dann raffte er ſich in leicht-
fertiger Hoffnungsſeligkeit wieder auf, verſuchte nochmals mit Lambruschini
anzuknüpfen und ertheilte der preußiſchen Regierung unerbetene Rathſchläge
für ihre Kirchenpolitik. Aber ſeine Rolle in Rom war ausgeſpielt; von
allen den Nadelſtichen, welche einen mißliebigen Diplomaten peinigen, blieb
ihm keiner erſpart. Der Papſt und die Cardinäle zeigten ſich ganz un-
verſöhnlich; ſelbſt Capaccini fiel in Ungnade, weil er in den Kölner Händeln
zu vermitteln geſucht hatte.*) Den Miniſtern in Berlin gingen nun
endlich die Augen auf; ſie wußten, daß Metternich mit unverhohlener
Schadenfreude von der Demüthigung des gelehrten preußiſchen Diploma-
ten ſprach. Bunſen erhielt zuerſt den Auftrag, ſich jeder weiteren Erklä-
rung zu enthalten, ſodann ſcharfe Verweiſe wegen der Uebertretung ſeiner
Inſtructionen**), ſchließlich den gemeſſenen Befehl, die Anerbietungen ſeiner
Anconer Note förmlich zurückzunehmen (rétracter). Auch dieſes Auftrags
entledigte er ſich nicht mit der Würde eines Mannes, der einen began-
genen ſchweren Fehler freimüthig eingeſteht; er ſagte dem Cardinal-Staats-
ſekretär nur in gewundenen Sätzen, die früheren Vorſchläge ſeien durch
die Erwiderungen des römiſchen Stuhls jetzt hinfällig geworden.***) So
blieb ſein Verhalten unaufrichtig vom Anfang bis zum Ende. Im April
1838 ward er abberufen. Die wenigen Prälaten, die noch der geiſtreichen
Geſelligkeit im Palazzo Caffarelli dankbar gedachten, durften nicht wagen,
den Scheidenden zu beſuchen†); ſie fürchteten die Ungnade des Papſtes.
[704]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Es rächte ſich doch, daß man in dieſe ſchwierige Stellung ſtatt eines
kühlen Weltmanns einen evangeliſchen Theologen berufen hatte, der den
harten Machtkampf zwiſchen Staat und Kirche nicht blos mit den Augen
des Politikers betrachtete und darum ſchon der Curie verdächtig war. So-
bald Bunſen ſeinen Sturz vorherſah, wallte die theologiſche Leidenſchaft
in ihm auf, und er ſang, vom Capitol nach St. Peter hinüber:
So maßlos war das Selbſtgefühl des Mannes: in dem Augenblicke, da
er nach ſelbſtverſchuldeten diplomatiſchen Niederlagen das Feld räumen
mußte, meinte er ein anderer Martin Luther zu ſein! In Berlin wollte
man ihn vorerſt nicht empfangen; ſelbſt ſein Gönner Wittgenſtein konnte
ihm nur väterlich rathen: vergeſſen Sie Rom und alle Unbilden!*) Aber
ſein wunderbares Glück blieb ihm treu. Der König und der Kronprinz
bewahrten ihm die alte Gunſt; ſie verziehen ihm Mißerfolge, welche jeden
anderen Staatsmann vernichtet hätten. Nach kurzer Zeit ſchon wurde
ihm, zum Erſtaunen der diplomatiſchen Welt, der Geſandtſchaftspoſten in
der Schweiz anvertraut. —
Am Berliner Hofe herrſchte allgemeine Beklommenheit, der Bankbruch
des alten Syſtems der Kirchenpolitik kündigte ſich an. Wie feſt hatte der
König auf Bunſen’s zuverſichtliche Rathſchläge gebaut. Nun kam Alles
anders, nun mußte er erleben, wie die Wegführung des Erzbiſchofs in
ſtiller Zeit mehr Lärm erregte als einſt die Gefangennehmung des Papſtes
in den aufgeregten napoleoniſchen Zeiten. Daß ſeine katholiſchen Unter-
thanen ihm Unduldſamkeit und Gewiſſenstyrannei zutrauten, bekümmerte
ihn tief. Er kannte die Curie genugſam um zu wiſſen, daß man von ihr
nie die Aufopferung eines Grundſatzes, ſondern nur ein ſtillſchweigendes
Geſchehenlaſſen erwarten dürfe — was er ſeinen Miniſtern beſtändig ein-
ſchärfte. Doch viel weiter reichte ſeine Kenntniß der römiſchen Dinge
nicht. Da er den Kirchenſtreit ſehr ernſt nahm, ſo befahl er, daß die
drei Miniſter des Innern, des Auswärtigen, des Cultus ihm immer ge-
meinſam darüber berichten ſollten.**) Leider war keiner von ihnen der
Aufgabe gewachſen. Rochow betrachtete den Handel, nach altbranden-
burgiſcher Weiſe, lediglich als eine Frage der bureaukratiſchen Ordnung.
Werther beſaß, bei größerer Weltkenntniß, auch nur Sinn für die diplo-
[705]Verlegenheit am preußiſchen Hofe.
matiſche Seite der Angelegenheit. Altenſtein endlich, deſſen Stimme hier
am ſchwerſten wog, kränkelte ſchon längſt und wankte dem Grabe ent-
gegen; die Rathſchläge Schmedding’s, der ſich die Bedrängniß der Kirche
ſehr zu Herzen nahm, konnten ihn unmöglich ermuthigen.
Seine natürliche Aengſtlichkeit, man merkte es bald, wurde noch ge-
ſteigert durch die ſtille Furcht vor dem Thronfolger; die kommende Re-
gierung warf ſchon ihren Schatten in die gegenwärtige hinein. Während
der Kronprinz auf das evangeliſche Kirchenregiment längſt einen ſehr
fühlbaren Einfluß ausübte, wurde er der katholiſchen Kirchenpolitik in der
Regel fern gehalten, zumal jetzt, nachdem ſich die Empfehlung Droſte-
Viſchering’s ſo übel bewährt hatte. Als um dieſe Zeit General Gröben und
Oberſt Gerlach von Berlin hinwegverſetzt wurden, da behauptete man allge-
mein, der alte Herr wünſche die Romantiker aus der Umgebung ſeines
Sohnes zu entfernen.*) Weit entfernt, das Benehmen ſeines Schützlings
zu billigen, ſagte der Thronfolger in einem bald veröffentlichten Schreiben
an einen rheiniſchen Geiſtlichen ſehr ſcharf, hier handle es ſich einfach um
die Erfüllung eines feierlich gegebenen Verſprechens. Die unſchickliche
Sprache der päpſtlichen Allocution verletzte ſein fürſtliches Selbſtgefühl ſo
tief, daß er im erſten Unwillen vorſchlug, der König möge die Zahlung der
Dotation an die katholiſche Kirche vorläufig einſtellen.**) Gleichwohl äußerte
er ſich mit der höchſten Verachtung über das ſchlechte, elende, verſtänd-
nißloſe Benehmen der Regierung. Was er eigentlich wollte, wußte noch
Niemand, er ſelbſt wohl am wenigſten; nur ſo viel war ſicher, daß er
den Anſprüchen des Clerus ſehr weit entgegen zu kommen dachte. Dies
genügte, um den greiſen Altenſtein mit ernſten Beſorgniſſen zu erfüllen.
So geſchah es, daß dieſe ſchwierige Frage mit einer in Preußen beiſpiel-
loſen Schlaffheit behandelt wurde. Faſt zu jedem Berichte der drei Mi-
niſter bemerkte der ſonſt mit Marginalnoten ſehr ſparſame König ärger-
lich: „hätte längſt geſchehen ſollen; warum hat man nicht früher daran
gedacht; ſehr zu mißbilligen, daß dies nicht ſchon angeordnet.“ Einmal
ſagte er dem Cultusminiſter geradezu: „Dieſe an ſich ſchon verwirrte und
unangenehme Angelegenheit wird in einer Art behandelt, als wenn es
Abſicht wäre ſie recht zu verwickeln.“***)
Schon am 2. Febr. 1838 beantragte Werther die dringend nöthige
Abberufung Bunſen’s, und nach drei Wochen ſtimmte der König zu.†)
Dennoch währte es noch mehrere Monate, bis der unmögliche Diplomat,
der jetzt in Rom nur Schaden ſtiften konnte, endlich die ewige Stadt ver-
ließ. Ebenſo ſchwerfällig und zögernd verfuhr man auch gegen den ge-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 45
[706]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
fangenen Erzbiſchof. Der ſaß jetzt in leichter Haft in einem Bürgerhauſe
zu Minden; er theilte ſeine Zeit zwiſchen geiſtlichen Uebungen und ſtillen
Betrachtungen bei der Tabakspfeife. Seine Wiedereinſetzung war undenk-
bar, gleich undenkbar aber auch ein Verzicht des hartköpfigen Prälaten.
Doch was nun? Konnte man ihn wirklich des Hochverraths bezichtigen?
Altenſtein glaubte dies anfangs ganz beſtimmt. In einem Briefe an das
Kölner Domkapitel ſagte er, Droſte’s Handlungen hingen zuſammen mit
dem feindſeligen Einfluß von zwei revolutionären Parteien, und in einem,
zur Belehrung der Rheinländer bald veröffentlichten Schreiben an den Ober-
präſidenten Bodelſchwingh wiederholte er dieſen Vorwurf. Die Beſchul-
digung ließ ſich nicht erweiſen. Der getreue Kaplan Michelis hatte
unmittelbar vor der Verhaftung die wichtigſten Briefſchaften Droſte’s ver-
brannt. Er ſelbſt wurde nachher nach Magdeburg abgeführt, und es
fanden ſich auch einige Briefe, welche ſeine feindſelige, landesverrätheriſche
Geſinnung außer Zweifel ſtellten und darum von der Regierung ſofort
bekannt gemacht wurden. Doch der Thatbeſtand des verſuchten Hochver-
raths lag nicht vor; um ſo weniger durfte man annehmen, daß Droſte’s
heilige Einfalt, die doch nur von Anderen mißbraucht werden konnte, ſich
mit politiſchen Plänen getragen hätte. Daß er ſein Amt nicht wieder er-
langen konnte, fühlte Droſte nachgerade ſelbſt; aber niemals legte er ſich
die Frage vor, ob er nicht ſeine beſchworene Pflicht gegen die Staats-
gewalt verletzt habe.
Ohne jede Spur von Reue ſchrieb er im Auguſt 1838 an den König
um ſich über ſeine Gefangenſchaft zu beklagen: „Ob es vor Gott gerecht
ſei und zum Guten führen könne, wenn Ew. Maj. jene Zwangsgewalt,
welche Gott Eurer Maj. insbeſondere zur Beſchützung jedes Rechts, alſo
auch zur Beſchützung der katholiſchen Kirche, ihres Epiſkopats und ihrer
Mitglieder anvertraut hat, noch fernerhin gebrauchen um mich zu ver-
hindern nach Köln zurückzukehren, um noch fernerhin die von Gott ge-
knüpfte Verbindung, gleich dem ehelichen Bande, unter Hirt und Herde,
unter Vater und Kindern zu hemmen, das wollen Ew. Maj. unter Gottes
Beiſtand allergnädigſt zu erwägen geruhen.“ Als ihm darauf der Regie-
rungspräſident im Namen des Königs eröffnete, ſeine Gefangenſchaft ſei
nach dem Geſetze gerechtfertigt, ſeine Rückkehr unmöglich, da erwiderte der
Erzbiſchof: vergeblich habe er gehofft, daß Fürſt Metternich den König
umſtimmen würde; jetzt liege ihm nichts mehr an einem Amte, das er
nicht mit Freudigkeit führen könne; nur auf vierundzwanzig Stunden
wolle er nach Köln zurück um dort mit Zuſtimmung des heiligen Stuhls
ſeine Würde feierlich niederzulegen.*) Dabei blieb er: die Krone ſollte
[707]Droſte-Viſchering in Weſtphalen.
ſich vor ihm demüthigen und, indem ſie ihm den Einzug in Köln geſtat-
tete, ihr Unrecht förmlich eingeſtehen.
Auf ſolche Zumuthungen einzugehen fiel keinem der Miniſter bei;
vielmehr erwogen ſie, ob der Prälat nicht durch Urtheil und Recht ab-
geſetzt werden müſſe. Ohne Zweifel hatte er „den Vorſchriften ſeines Amtes
vorſätzlich zuwider gehandelt“ und mußte alſo nach dem Allgemeinen Land-
rechte (Thl. II. Tit. 20 § 333) „ſofort caſſirt werden“. Aber war der
Erzbiſchof wirklich nur ein Staatsbeamter? Hatte er nicht geglaubt, die
Vorſchriften ſeines Amtes zu erfüllen, als er dem päpſtlichen Breve nach-
kam? Und durfte man ihn beſtrafen, weil er, allerdings eigenmächtig und
wortbrüchig, denſelben Rechtszuſtand hatte erzwingen wollen, der ſoeben
durch die Cabinetsordre vom 28. Jan. 1838 im Weſentlichen anerkannt
war? Jetzt zeigte ſich, daß die Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts
nicht mehr im Rechtsbewußtſein des Volkes, auch nicht des Richterſtandes
lebten. Kamptz hielt für ſicher, daß jedes preußiſche Gericht den Erzbiſchof
als einen pflichtvergeſſenen Staatsdiener verurtheilen würde; Mühler aber
zweifelte daran. Auf Grund dieſer Gutachten ihrer Amtsgenoſſen ge-
langten die drei Miniſter zu dem Ergebniß, eine gerichtliche Unterſuchung
ſcheine zuläſſig, aber nicht rathſam, es ſei denn, daß Droſte ſelbſt ſie ver-
lange.*) Nach langwierigen Berathungen wurde Droſte endlich in ſeine
Heimath Darfeld bei Münſter verwieſen, wo er ſtill ſeinen mönchiſchen
Gewohnheiten lebte. Nach Alledem mußte das katholiſche Volk wohl zu
dem Verdachte gelangen, die Krone ſelbſt glaube nicht an ihr Recht. Der
weſtphäliſche, nachher auch der rheiniſche Adel ſchickten bald nach Droſte’s
Wegführung Abgeſandte in die Hauptſtadt. Ueberall, auch beim Kronprinzen
fanden ſie verſchloſſene Thüren; der König ließ ihnen ſehr ernſtlich die Er-
wartung ausſprechen, daß ſie nunmehr, nachdem ſie die Thatſachen kennen
gelernt, ſich beruhigen würden.**) Der Geſandte in Brüſſel Graf Galen
legte ſein Amt nieder weil er die Anſichten der Regierung nicht mehr ver-
treten könne; der junge Referendar Wilhelm v. Ketteler, der ſich von ſeinem
geiſtlichen Berufe noch nichts träumen ließ, trat aus dem Staatsdienſte;
der allgemein verehrte Freiherr Werner v. Haxthauſen verließ das Land
und ſchloß ſich den grimmigſten Gegnern Preußens an. Bedenklicher war,
daß die Biſchöfe von Paderborn und Münſter im Januar 1838 erklärten,
nach der Allocution des Papſtes könnten ſie ſich an den geheimen Ver-
trag über die gemiſchten Ehen nicht mehr binden. Als ſie nachher noch
eine Fürbitte für Droſte wagten, wurden ſie vom Könige ſcharf abgewieſen.***)
45*
[708]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Bald ſchlug die clericale Bewegung auch in die öſtlichen Provinzen
hinüber, wo man bisher ohne jedes Bedenken das Geſetz vom Jahre 1803
befolgt hatte. Am Rhein war die Mehrzahl der Geiſtlichen hermeſianiſch
geſinnt und dem widerſetzlichen Erzbiſchof abgeneigt. In Poſen wurde der
Erzbiſchof Martin v. Dunin durch den niederen Clerus fortgeriſſen, ein
ſchwacher, ſehr wenig begabter, nachgiebiger Mann, der bisher dem Könige
eine kriechende Unterwürfigkeit gezeigt hatte und darum auch nicht im
Stande war zu widerſtehen, als jetzt der polniſche Adel und die Kapläne
die Allocution des Papſtes benutzten um gegen das verhaßte Deutſchthum
vorzuſtürmen. In tiefem Geheimniß, nur von dem Official Brodziszewski
und einigen polniſchen Laien berathen, verfaßte Dunin im Januar 1838
einen Hirtenbrief, der den Geiſtlichen bei Strafe der Abſetzung verbot,
gemiſchte Ehen ohne das Verſprechen katholiſcher Kindererziehung ein-
zuſegnen. In Berlin erfreute ſich der Schmiegſame geringer Achtung.
Gleichwohl wurde dieſe muthwillige, durch nichts veranlaßte Störung des
confeſſionellen Friedens ſehr mild beurtheilt, da Dunin ſich bisher immer
ruhig gehalten hatte. Die Regierung beſchloß, ihn wegen Verletzung der
Staatsgeſetze vor Gericht zu ſtellen und ſeine Verordnung für nichtig zu
erklären.*) Vorher ſollte Oberpräſident Flottwell verſuchen, den Erzbiſchof
zur freiwilligen Zurücknahme des Hirtenbriefs zu bewegen. Der glatte
Pole ſchien auch anfangs bereit; nachher nahm er, offenbar aufgeſtachelt
durch ſeine adlichen Hintermänner, alle Zugeſtändniſſe wieder zurück. Der
ungeſtüme gradſinnige Oſtpreuße aber konnte dieſe Winkelzüge nicht mehr
mit anſehen und rief: Ich verachte Sie, Sie haben mich belogen.**) Auch
die wiederholten freundſchaftlichen Vorſtellungen des Gerichtspräſidenten
v. Frankenberg fruchteten nichts. Dunin ſtellte jetzt ſogar die Juſtizhoheit
des Staates in Abrede und erklärte, daß er nur einem kanoniſchen Gerichte
Rede ſtehen werde. Nunmehr fällte das Poſener Oberlandesgericht ſeinen
Spruch; er lautete auf Amtsentſetzung und ſechs Monate Feſtungshaft.
Der Erzbiſchof war unterdeſſen im April 1839 nach Berlin gerufen
worden. Erſt als er auch hier allen Mahnungen unzugänglich blieb, ver-
kündigte man ihm das Urtheil und ſtellte ihm frei die Gnade des Monarchen
anzurufen. Darauf ſchrieb Dunin einen höchſt unterthänigen, nichts-
ſagenden Brief, den der König in ſeiner Langmuth als ein Gnadengeſuch
anſah und mit dem Erlaß der Feſtungsſtrafe beantwortete. Vorläufig
ſollte er, ohne Beſchränkung ſeiner Freiheit, in Berlin bleiben, bis die An-
gelegenheiten ſeiner Diöceſe geordnet ſeien.***) Auf Grund der beſtehenden
Geſetze konnte man ihn unmöglich milder behandeln. Aber dies harmloſe
Mißgeſchick ihres Oberhirten genügte den polniſchen Edelleuten nicht; ſie
[709]Erzbiſchof Dunin.
brauchten nach dem rheiniſchen Muſter einen kirchlichen Märtyrer um
das Landvolk gegen den proteſtantiſchen König aufzuwiegeln und bereiteten
mit gewohnter ſchauſpieleriſcher Gewandtheit ein erſchütterndes Rührſtück
vor. Am 3. October verſchwand der Erzbiſchof aus Berlin und eilte mit
untergelegten Pferden, die ihm ſeine adlichen Freunde ſtellten, ſchnurſtracks
nach Poſen; dort ward er vom Grafen Kwilecki und anderen Edelleuten
empfangen und ſofort in den Dom geleitet, wo er zur tiefen Erbauung
der Damen vom Sacré Coeur inbrünſtig betete. In einem ſchwülſtigen
Briefe an den König berief er ſich auf das „Beiſpiel des heiligen Apoſtel-
fürſten Petrus, des großen Weltapoſtels Paulus und vieler heiligen Biſchöfe
der erſten chriſtlichen Jahrhunderte“. Auch die übrigen Akte der Komödie ver-
liefen genau nach dem Plane der ſarmatiſchen Dramaturgen. Am Früh-
morgen des 6. Oct. erſchienen die Beamten um die unvermeidliche Ver-
haftung vorzunehmen. Der erzbiſchöfliche Palaſt auf der ſtillen Dom-Inſel
war feſt verriegelt und mußte mit großem Lärm geöffnet werden. Die
Eintretenden empfing Dunin’s Schweſter Scholaſtica mit jenem ſchrillen
Jammergeſchrei, deſſen nur polniſche Lungen fähig ſind; der Erzbiſchof
aber rief: „Holen Sie Gensdarmen! Die Welt muß wiſſen, daß ich mit
Gewalt von hier weggeführt werde.“ Dann wendete er ſich zu dem Haupt-
mann Hacke, der ihm leiſe die Hand auf die Schulter legte: „Sie ſind
zu zart!“ Als ihm der Polizeidirector den Arm bot um ihn die Treppe
hinabzugeleiten, ſagte er nochmals: „Das iſt eine Gefälligkeit, das iſt keine
Gewalt. Faſſen Sie mich nur an!“*)
Nun wurde er nach Colberg abgeführt und ſchrieb von dort ſogleich
an den König im allerunterthänigſten Stile: er ſehe ſeine Haft als eine
gerechte Fügung Gottes an und bitte nur, ihm eine andere Feſtung an-
zuweiſen, wo ſich eine katholiſche Kirche befinde, „damit ich wenigſtens den
Troſt haben könnte, in einem, nach dem katholiſchen Ritus Gott geweihten
Hauſe für das Wohl Ew. K. Majeſtät und für meine verwaiſte Heerde
tagtäglich und inbrünſtiglich zu beten.“ Als ihn aber der König nunmehr
aufforderte, wegen der vorläufigen Verwaltung des Erzbisthums Vorſchläge
zu machen, die man gern berückſichtigen wolle, da ward er wieder ſtörriſch
und antwortete: meine Vorſchläge gehen dahin, daß ich nach Poſen und
mein ebenfalls entfernter Official Brodziszewski nach Gneſen zurückkehren
muß.**) Wie häßlich erſchien dies bald kriechende, bald trotzige Benehmen
des Polen neben der ehrenhaften Mannhaftigkeit des weſtphäliſchen Starr-
kopfs. Die Poſener Katholiken veranſtalteten Kirchentrauer und andere
Kundgebungen der Wehmuth; die Dekanate der Erzdiöceſe erklärten dem
[710]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Miniſterium faſt alleſammt in tief unterwürfigen Eingaben, daß ſie den
Weiſungen ihres Oberhirten folgen müßten. Unter den Deutſchen aber
konnte Dunin’s Schickſal um ſo weniger Theilnahme erwecken, da er in
den ſüddeutſchen Zeitungen einen höchſt unziemlichen Federkrieg gegen die
Regierung unternommen hatte, und die polniſchen Grafen Raczynski,
Grabowski, Lubinski — natürlich nur als harmloſe Einzelne, nicht nach
Verabredung — jetzt in der Hauptſtadt erſchienen, um ſeine Befreiung
zu erbitten. Seine Amtsbrüder freilich, die Biſchöfe Hatten von Erme-
land und Sedlag von Culm geriethen in peinliche Verlegenheit; ſie waren
Beide gute Preußen und bemühten ſich auch jetzt noch redlich den kirch-
lichen Frieden aufrecht zu erhalten, während das blindgläubige Landvolk
der Marienburger Gegend, von den Kaplänen aufgeregt, ſchon für den
nächſten Charfreitag die Wiederherſtellung Polens erwartete. Aber nach-
dem der Papſt ſo vernehmlich geſprochen hatte und der Erzbiſchof von
Poſen vorangegangen war, konnten ſie nicht zurückbleiben, denn ein zwei-
faches Eherecht in der preußiſchen Monarchie war offenbar unmöglich.
Beide verlangten in Rundſchreiben an ihren Clerus, daß bei der Ein-
ſegnung gemiſchter Ehen das päpſtliche Breve befolgt werden müſſe, und
die Regierung ſah ſich genöthigt, auch dieſe Hirtenbriefe für unverbindlich
zu erklären.*)
Unter allen Biſchöfen der Monarchie war nur noch einer, der das
Geſetz vom Jahre 1803 und die ſeitdem beſtehende milde Uebung auch
fernerhin anerkennen wollte: der Fürſtbiſchof von Breslau, Graf Sedlnitzky,
ein edler Mann von milden, ariſtokratiſchen Formen, feingebildet, menſchen-
freundlich, wohlthätig, in Allem ein Muſter chriſtlicher Liebe, aber bei Wei-
tem nicht ſtark genug, um den Kampf mit dem römiſchen Stuhle aufzu-
nehmen. Er ſtand ſchon damals den Anſchauungen der evangeliſchen Kirche
ſo nahe, daß die ſtrengen Katholiken ihn kaum noch zu den Ihrigen rechnen
wollten. Sobald er ſich weigerte dem Beiſpiele der anderen Biſchöfe zu
folgen, ward er bei der Curie insgeheim angeſchwärzt. Darauf ſendete ihm
der Papſt, das königliche Placet umgehend, durch die Vermittlung zweier vor-
nehmer Damen der Provinz ein höchſt ungnädiges Schreiben; Gregor tadelte
den Fürſtbiſchof hart, weil er die Rechte der Kirche ſaumſelig und gleich-
ſam ſchläfrig vertheidigt habe, und forderte ihn auf das durch ſeine Schuld
dem gläubigen Volke zugefügte Leid zu ſühnen. Friedfertig und ganz ohne
Ehrgeiz, wie er immer geweſen, wollte Sedlnitzky jetzt ſogleich ſeine Würde
niederlegen; nur auf des Königs ausdrücklichen Befehl vertagte er dieſen
Entſchluß noch**) und ſuchte ſich vor dem heiligen Stuhle zu rechtfertigen
(Juli 1839). Zur Antwort kam im Mai 1840 ein zweites noch ſchärferes
[711]Haltung der Biſchöfe. Sedlnitzky.
Schreiben des Papſtes, das den Fürſtbiſchof kurzerhand zur Abdankung
aufforderte, weil er ſich die Gemüther der Gläubigen ganz entfremdet hätte.
Einem ſolchen Befehle wagte der gutmüthige Prälat nicht zu widerſprechen,
ſein Rücktritt war nur noch eine Frage der Zeit. Die ultramontane Partei
im ſchleſiſchen Clerus bekämpfte ihn mit unverhohlenem Haſſe, und auf
ſeine Heerde konnte ſich der längſt geſchwächte Epiſcopat nicht mehr ver-
laſſen. So wunderbar hatte ſich, zur Ueberraſchung aller Regierungen,
die Stimmung des katholiſchen Volkes in den letzten Jahrzehnten verwan-
delt: wer noch gläubig an der Kirche hing, hielt unbedingt zum heiligen
Vater.
Wenn Bunſen einſt gehofft hatte, die Curie mit Hilfe der Landes-
biſchöfe zu bezwingen, ſo waren ſeine Pläne nicht nur geſcheitert, ſondern
ins Gegentheil umgeſchlagen: jetzt führte die Curie den geſammten preu-
ßiſchen Epiſcopat gegen die Krone ins Feld, und dieſer Streit verwickelte
ſich ſo ſeltſam, daß ſelbſt eifrige Proteſtanten nicht mehr mit ungetheiltem
Herzen auf Seiten des Königs ſtehen konnten. Gewiß mußte jeder treue
Preuße billigen, daß die Krone offenbare Widerſetzlichkeit gegen die Staats-
geſetze nicht dulden wollte. Ein ſachlicher Widerſpruch aber beſtand ſeit
der Cabinetsordre vom 28. Januar 1838 nicht mehr. Die Curie verlangte
das Verſprechen der katholiſchen Kindererziehung vor jeder kirchlichen
Trauung; der Staat geſtattete den Pfarrern der weſtlichen Provinzen,
beſcheidene Erkundigungen wegen der Kindererziehung anzuſtellen und über-
wies dann die letzte Entſcheidung den Biſchöfen. Wo war hier ein erheb-
licher Unterſchied? Die Staatsgewalt hatte in der Rheinprovinz den For-
derungen der römiſchen Kirche nachgegeben und ſie konnte ſelbſt nicht mehr
wünſchen, daß auf die Dauer im Oſten ein anderes Staatskirchenrecht
gelte als im Weſten.
Wie ſollte eine Regierung, die neben einer Fülle von Talenten zweiten
Ranges keinen einzigen beherrſchenden Kopf beſaß, aus ſolchen Irrwegen
hinausgelangen? Der römiſche Stuhl ergriff jede Gelegenheit um die
preußiſche Krone von Neuem zu reizen. Als der König gegen Dunin’s
Widerſetzlichkeit zuerſt einſchritt, legte Cardinal Lambruschini ſofort Ver-
wahrung ein wider dieſen Mißbrauch der weltlichen Gewalt.*) Dann hielt
der Papſt, am 13. September 1838, eine zweite Allocution, die noch ge-
häſſiger klang als die erſte: er empfahl Dunin’s „unbeſiegte Mannhaftig-
keit“ allen preußiſchen Biſchöfen als Vorbild und beſtritt ſogar das alte
Recht des königlichen Placet. Im Juli 1839 folgte eine dritte Allocution
ähnlichen Inhalts, und alle dieſe feindſeligen Anſprachen ſendete Lambrus-
chini an den preußiſchen Geſchäftsträger. Buch erhielt zwar endlich Be-
fehl, dergleichen Zuſendungen in Zukunft nicht mehr anzunehmen, aber
der diplomatiſche Verkehr ward nicht abgebrochen; denn Altenſtein warnte
[712]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
vor einer offenen „Kriegserklärung“, und der König ſtimmte ihm bei, gegen
den Rath der anderen Miniſter.*) So mußte Buch ausharren, obgleich
Verhandlungen vor der Hand ganz unmöglich waren, und nur weil er
perſönlich vom Papſte hoch geſchätzt wurde, konnte er dieſen widerwärtigen
Zuſtand eine Weile ertragen.
Der König fühlte ſich tief unglücklich und ſuchte ſeine Poſener Unter-
thanen durch eine ernſte Anſprache zu beruhigen. Er hatte die unbeſtimmte
Empfindung, daß irgend etwas geſchehen müſſe, und ſeine Miniſter „im
Finſtern tappten“. „Zur legislativen Feſtſtellung der zweifelhaft gewor-
denen ſtaats- und kirchenrechtlichen Verhältniſſe“ bildete er ſchon im Februar
1838 eine Commiſſion, welcher neben anderen hohen Beamten auch der
Rechtshiſtoriker K. F. Eichhorn angehörte.**) Ihre Arbeiten wurden dann
im Staatsrathe wie im Staatsminiſterium begutachtet; zur weiteren Be-
rathung berief man noch ſechs Oberpräſidenten nach Berlin, denn nur
zwei von den acht Provinzen, Brandenburg und Pommern waren von
dem Kirchenſtreite unberührt geblieben. Nach Jahresfriſt etwa lagen ſechs
Geſetzentwürfe fertig vor, darunter zwei Strafgeſetze wider ſolche Geiſt-
liche, welche die Kanzel mißbrauchten oder den öffentlichen Frieden ſtörten,
und ein ſehr ſtrenges Geſetz über die gemiſchten Ehen, das nicht nur, nach
dem Geſetze vom Jahre 1803, die Erziehung aller Kinder im Bekenntniß
des Vaters anbefahl, ſondern auch jede Abweichung von dieſer Regel un-
bedingt verbot: ſelbſt die freie Uebereinkunft beider Eltern ſollte daran
nichts ändern dürfen — eine furchtbar harte Vorſchrift, welche in vielen
Fällen zu ſchwerem Gewiſſensdrucke führen mußte.***) Der leitende Ge-
danke der Entwürfe war die Einheit des Staatskirchenrechts für die ge-
ſammte Monarchie.
Aber das hohe Beamtenthum ſelbſt zeigte ſich keineswegs einig. Der
greiſe Stägemann und die Mehrzahl der Oberpräſidenten, vornehmlich
Schön, Flottwell, Merckel, ſtanden noch ganz auf dem Boden des alten
landrechtlichen Territorialſyſtems und verlangten dringend die ſofortige
Einführung der ſechs Geſetze. Erbittert durch ſeinen langen Kampf gegen
die Polen, empfahl Flottwell ſogar die Zertheilung des Gneſener Erz-
bisthums, die doch ohne die Zuſtimmung des römiſchen Stuhles unmög-
lich war. In einer, offenbar von Schön verfaßten Denkſchrift tadelten die
Oberpräſidenten ſcharf, daß der Staat mit dem Papſte überhaupt ver-
handelt habe, und noch ſchärfer „Doctor Bunſen’s berüchtigte Note aus
Ancona“; ſie ſahen in dieſem Biſchofsſtreite „den Kampf des Lichtes mit
der Finſterniß, deſſen glorreiche Führung wie früher ſo auch jetzt Euerer
[713]Kirchenpolitiſche Geſetzentwürfe.
k. Maj. erhabener Leitung vorbehalten iſt.“ Friedrich Wilhelm ſchrieb an
den Rand: „d. h. mit der gehörigen Vorſicht und ohne gewiſſe Grenzen zu
überſchreiten;“ im Uebrigen dankte er ihnen für ihren „höchſt lobenswerthen
Freimuth“.*) Er ahnte dunkel, daß die Dinge leider ſo einfach nicht
lagen, daß die Staatsgewalt wirklich nicht für das Licht kämpfte, wenn ſie
katholiſche Väter ſchlechterdings hindern wollte, ihre Kinder evangeliſch zu
erziehen. Jenen ſtrengen Territorialiſten traten andere namhafte Beamte
gegenüber, ſo Geh. Rath Göſchel, der hochconſervative Hegelianer, und
der halbclericale Schmedding. Ueber Schmedding’s eigentliche Meinung
ließ ſich ſchwer ins Klare kommen. Die rheiniſchen Ultramontanen trau-
ten ihm keineswegs; Kaplan Michelis ſagte in einem jener aufgefundenen
vertrauten Briefe: „er war von jeher unter dem Scheine eines guten
Katholiken die Peſt für unſere Kirchenfreiheit“. Doch mit der Behand-
lung der beiden Erzbiſchöfe war er durchaus nicht einverſtanden; er fand
die Verhaftung Dunin’s ebenſo ungerechtfertigt, wie die Abſetzung, und
wünſchte an den Berathungen über die Ausführung des Poſener Straf-
Erkenntniſſes nicht theilzunehmen. Durch Gelegenheitsgeſetze einem augen-
blicklichen Nothſtande abzuhelfen, hielt er für verkehrt: „Schwerlich dürften
eigentliche Geſetze aus der reinen hohen Atmoſphäre, der die Geſetz-
gebung angehört, in den tieferen Dunſtkreis hinabzuziehen und als Streit-
waffe zu gebrauchen ſein.“**)
Da die Meinungen unter den Beamten ſo weit auseinandergingen
und Altenſtein keinen durchſchlagenden Entſchluß fand, ſo wurde der
König immer unſicherer und verſchob die Unterzeichnung der ſechs Geſetze.
Um ſich genau zu unterrichten, ließ er bei den befreundeten deutſchen
Höfen Erkundigungen über ihre Kirchenpolitik einziehen. Dieſe wohlge-
meinten Anfragen ſollten für Preußen auf lange hinaus verhängnißvoll
werden. König Wilhelm von Württemberg, der als Voltairianer dieſen
leidigen Pfaffenſtreit gern aus der Welt geſchafft hätte, ging auf die Fragen
des preußiſchen Geſandten v. Rochow eifrig ein und ſagte ihm: „Mit einer
Macht wie diejenige des Papſtes, die ſo viel heimliche Alliirte hat, iſt bös
anzubinden; jeder katholiſche Einwohner iſt mehr oder weniger ein Agent
dieſer fremden Macht;“ darum müſſe vor Allem das Mißtrauen des katho-
liſchen Volks gegen die evangeliſche Dynaſtie überwunden werden; dies
ſei nur möglich, wenn man, wie in Württemberg und Baden, die Auf-
ſicht über die römiſche Kirche einem beſonderen Kirchenrathe anvertraue,
der ausſchließlich aus katholiſchen Mitgliedern beſtehe. Sein erfahrener
Miniſter Schlayer ſtimmte ihm lebhaft bei. Der kluge Württemberger
hatte ganz Recht, wenn er dem Preußen ſagte: in Süddeutſchland kennt
[714]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
man Rom beſſer als bei Euch.*) Doch leider kannte er ſelber die preußi-
ſchen Zuſtände nicht. Das rein politiſche Recht der Kirchenhoheit in die
Hände einer confeſſionellen Behörde zu legen, war an ſich ein falſcher Ge-
danke, und wenn eine ſolche übermäßige Nachgiebigkeit in den kleinen Ver-
hältniſſen ſüddeutſcher Mittelſtaaten vielleicht verſöhnend wirken konnte,
ſo ſtand es in Preußen doch ganz anders. Wer konnte verhindern, daß
der polniſche, der rheiniſche, der weſtphäliſche Adel ſich an den Berliner
Kirchenrath herandrängten und die unparteiiſche Macht der ſtaatlichen
Kirchenhoheit völlig verfälſchten? König Friedrich Wilhelm aber fand die
Rathſchläge des ſchwäbiſchen Königs, weil ſie ſo gerecht und unbefangen
ſchienen, höchſt beachtenswerth; er empfahl ſie ſeinen Miniſtern, und ſchon
im Frühjahr 1839 ſtand der Entſchluß feſt, eine katholiſche Abtheilung
im Cultusminiſterium zu bilden. Die Leitung ſollte, zu Schmedding’s
Verzweiflung, der Unterſtaatsſecretär Düesberg, ein katholiſcher Weſtphale,
erhalten.
Währenddem bemühte ſich der König eifrig, die anderen evangeliſchen
Fürſten Deutſchlands zu einem gemeinſamen Vorgehen in Rom zu be-
wegen. Dies war es, was die Curie am meiſten fürchtete. Sie wünſchte
vor Allem, den preußiſchen Staat zu vereinzeln. Der fähigſte ihrer deut-
ſchen Parteigänger, Biſchof Reiſach in Eichſtätt, ſchrieb ſchon im Januar
1838 vertraulich an ſeinen Freund Geiſſel in Speier: es iſt ein Wende-
punkt für die Kirche in Deutſchland eingetreten und darum dringend nöthig,
andere Regierungen nicht mit in den preußiſchen Krieg hereinzuziehen. In
der That verhielt ſich der Clerus in den kleinen Staaten ganz ſtill und
befolgte unbedenklich dieſelben Geſetze, die er in Preußen als tyranniſch
bekämpfte. Wer durfte alſo den Schwachen zumuthen, daß ſie ſich ohne
Noth Verlegenheiten bereiteten um dem Starken zu helfen? Die große
Mehrzahl der evangeliſchen Fürſten war mit dem Verfahren des Berliner
Hofes einverſtanden; der Großherzog von Baden dankte dem preußiſchen
Geſandten aufs Wärmſte im Namen der politiſchen Ordnung und der
evangeliſchen Kirche.**) Aber an irgend eine Beihilfe dachte Niemand.
Selbſt König Ernſt Auguſt, der gerade jetzt das Wohlwollen ſeines Schwa-
gers am wenigſten entbehren konnte, befahl ſeinem Miniſter: „Ich bin
Willens, alle möglichen Mittheilungen und Erklärungen an den preußi-
ſchen Hof zu geben, aber mit dieſer Bedingung, daß ſie blos als private
Mittheilungen ſollen angeſehen werden und nicht öffentlich bekannt oder
publicirt ſollen ſein.“ Und auf eine erneute Anfrage von Canitz erwiderte
Schele: die größte Vorſicht ſei nöthig, damit nicht in den Staaten, welche
bisher des kirchlichen Friedens genoſſen hätten, eine Spannung der Ge-
müther entſtehe.***)
[715]Görres’ Athanaſius.
Der Verſuch die kleinen Kronen zur Parteinahme zu bewegen ſchei-
terte gänzlich, und er mußte ſcheitern, weil die deutſche Kirchenpolitik ſeit
dem Wiener Congreſſe dem nackten Particularismus verfallen war. Auch
von den geplanten Kirchengeſetzen kam in den dritthalb Jahren bis zum
Tode des Königs nichts mehr zu Stande. Die beiden Erzbiſchöfe durften
nicht zurückkehren, und doch hatte die Krone in dem Streite über die ge-
miſchten Ehen ſchon faſt Alles zugeſtanden, was der römiſche Stuhl ver-
langte. Bedenkliche Ruheſtörungen kamen freilich nicht vor; einige kleine
Aufläufe in Münſter und anderen Orten der katholiſchen Provinzen be-
deuteten wenig; ſie bewieſen nur, daß der Clerus den armen Leuten bei-
gebracht hatte, der König wolle ſie lutheriſch machen. Gleichwohl ward
die Verwirrung unerträglich. Jedermann fühlte, die Regierung verfuhr
zugleich zu hart und zu nachgiebig; das Steuerruder der Kirchenpolitik
war ihrer Hand entfallen. —
Beide Höfe, der römiſche wie der Berliner, hielten für nöthig, ihr
Verhalten durch Staatsſchriften vor der öffentlichen Meinung zu recht-
fertigen. Der Erfolg dieſer Veröffentlichungen war für Preußen nicht
durchweg günſtig, da Bunſen’s hinterhaltige Politik ſich unmöglich ent-
ſchuldigen ließ. Auch in dem allgemeinen literariſchen Kampfe, der nun
entbrannte, konnte keine Partei ſich eines vollſtändigen Sieges rühmen.
Die Theilnahme war ungeheuer; binnen wenigen Jahren erſchienen an
zweihundert Schriften für und wider, denn ein anderes Mittel der Er-
örterung beſaß die Nation noch nicht, und ſie fühlte, daß mit dem con-
feſſionellen Frieden die Grundfeſten ihrer Cultur bedroht waren. Den
Streit eröffnete der alte Görres mit dem Athanaſius, dem wildeſten ſeiner
Bücher, das die jacobiniſche Heftigkeit ſeiner Jugendſchriften noch überbot.
Was war aus dem Patrioten des Rheiniſchen Mercurs geworden! Die
evangeliſche Kirche überhäufte er mit wüthenden Schmähungen, die in einem
paritätiſchen Volke faſt wie ein Aufruf zum Bürgerkriege klangen: nichts
mehr wollte er in ihr ſehen als das narkotiſche Gift des Pietismus und
das corroſive Gift des Rationalismus. Ebenſo dreiſt ſuchte er den Stam-
meshaß der Rheinländer wider die Altpreußen aufzuwiegeln; ſein alter
Ingrimm gegen „die Litthauer“ vom rechten Elbufer brach wieder durch.
Die Maßregeln der preußiſchen Regierung ſchilderte er als „die rohen und
ungeſchlachten Ausbrüche jenes ſtarren Knochenmannes, dem man zu viel
Ehre anthut, wenn man einen Geiſt ihn nennt“, und gedachte höhnend
der Kämpfe zwiſchen Friedrich Wilhelm I. und dem Kronprinzen Friedrich.
Von dem Geiſte des suum cuique, der die Geſchichte dieſes Staates
erfüllte und ſich auch in jenen tragiſchen Kämpfen des Königshauſes
nicht verleugnet hatte, wollte Görres nichts wiſſen; denn auf der römiſchen
Kirche ruhte die ganze Ordnung der neuen Welt, darum bedurfte ihr
Prieſter auch gar keiner Entſchuldigung, wenn er ſich der Staatsgewalt
widerſetzte.
[716]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Ein Heer meiſt anonymer clericaler Schriftſteller blies in daſſelbe
Horn; der Naſſauer Lieber, der unter dem Namen „eines praktiſchen
Juriſten“ ſchrieb, zeichnete ſich unter ihnen durch Scharfſinn und Schroff-
heit beſonders aus. Görres ſelbſt führte noch in mehreren Flugſchriften
ſeine Nachhiebe. In der Kunſt des Verleumdens aber war der Heraus-
geber der Neuen Würzburger Zeitung, Zander, Allen überlegen, ein evan-
geliſcher Renegat aus dem Norden, derſelbe Menſch, der ſich durch König
Ernſt Auguſt beſtechen ließ.*) Sein Blatt triefte von Schmähungen gegen
die Hohenzollern; in dieſen Spalten wurde das Capital der antipreußiſchen
Schimpfreden angeſammelt, mit dem die ultramontane Partei durch ein
halbes Jahrhundert hausgehalten hat. Den vorläufigen Abſchluß dieſer
Literatur bildete ein umfängliches Buch De la Prusse et sa domina-
tion (Paris 1842), von Cazalès, einem franzöſiſchen Legitimiſten, der zu
München lange in dem Görres’ſchen Kreiſe gelebt hatte. Hier wurde das
preußiſche Regierungsſyſtem „ein abgeſchmacktes Schaugerüſte von Miß-
bräuchen, Decreten, tyranniſchen oder unmöglichen Befehlen“ genannt und
der Kölniſche Biſchofsſtreit eine Erhebung der reinen germaniſchen Raſſe
gegen das Slaventhum des Nordoſtens. Der Franzoſe ſcheute ſich auch
nicht, den Bund der Kirche mit der Demokratie zu fordern und in der
Weiſe Montalembert’s, aber ohne deſſen Geiſt, den Katholicismus als die
Sache der Freiheit zu verherrlichen. Die Buchhandlungen von Hurter in
Schaffhauſen und Manz in Regensburg, ſowie einige kleinere Firmen in
Würzburg und Freiburg verbreiteten faſt allwöchentlich neue Brandſchriften
in den Rheinlanden. Ein in Würzburg verlegtes neues Rothes Buch
„Rheinpreußiſches“ gab eine haarſträubende Schilderung von dem Wüthen
der Preußen am Rheine und als Zugabe die Erklärungen des Poſener
Erzbiſchofs Dunin.
Offenbar ging die Abſicht der Partei auf die Losreißung der alten
Krummſtabslande von dem evangeliſchen Herrſcherhauſe. Der Hiſtoriker
Böhmer in Frankfurt, der allerdings die Gründung des Zollvereins als
eine perſönliche Beſchimpfung empfand, konnte gar nicht rührſam genug
ſchildern, wie „dieſe Fremden in der eroberten Provinz“ ſich häuslich ein-
gerichtet hätten; er nannte die Grenzfeſtung Deutſchlands, den Ehren-
breitſtein, das Zwing-Uri des Rheinlands und ſang ingrimmig: „Die
Tochter fremden Freiers Lohn, in die Kaſerne muß der Sohn!“ Die
belgiſche Preſſe unterſtützte faſt einmüthig dieſe Beſtrebungen, ſie empfahl
die Bildung einer rheiniſch-belgiſchen Conföderation, während die bairiſchen
Ultramontanen ihrem Herrſcherhauſe die rheiniſche Königskrone wünſchten.
Ein am Rheine maſſenhaft verbreitetes belgiſches Flugblatt ſagte: „Stehet
auf im Namen Euerer geſchändeten Religion, im Namen Euerer Freiheit,
von Eueren Henkern mit Füßen getreten. Fürchtet den Deutſchen Bund
[717]Süddeutſchland gegen Preußen.
nicht! Oeſtereich und Baiern ſind geheime Feinde des Königs von Preußen,
den wir gemeinſam bekämpfen!“ Alle ſolche Anſchläge erſchienen lächerlich
gegenüber der ungeheueren Anziehungskraft des preußiſchen Staates und
dem höchſt ehrenwerthen geſetzlichen Sinne der Rheinländer. Jener rohe
Kampf zwiſchen Beichtſtuhl und Loge, der die Geſchichte Belgiens aus-
machte, war am deutſchen Rhein unmöglich, weil in der katholiſchen Pro-
vinz auch ein ſtarker, kerngeſunder Proteſtantismus blühte, und die ſociale
Freiheit Preußens mit dem bairiſchen Zunftzwange zu vertauſchen konnte
den klugen rheiniſchen Geſchäftsleuten nicht beikommen. Als der Kronprinz
im Sommer 1838 die Manöver in den weſtlichen Provinzen abhielt, ge-
wann er die tröſtliche Gewißheit, „daß eine fünfundzwanzigjährige von Gott
geſegnete Regierung, unter welcher das Land zu nie erhörter Blüthe ſich
entwickelt, in deutſchen Herzen Dankbarkeit erzeugt.“
Aber fruchtlos blieb dieſe, alle Niedertracht des Particularismus auf-
regende clericale Wühlerei keineswegs; ſie erſchwerte auf Jahre hinaus die
Verſtändigung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten. Und wie ſie in Süd-
deutſchland wirkte, das zeigte ein thörichtes Büchlein Rotteck’s über den
Kölner Streit. Der alte Feind Preußens fühlte ſich nur gedrungen „gegen
die Dictatur der Staatsgewalt in kirchlichen Dingen zu proteſtiren“; daß
der Erzbiſchof ſeinen Eid und die Staatsgeſetze mit Füßen getreten hatte,
kam vor dem Richterſtuhle des abſtrakten Vernunftrechts nicht in Betracht.
Den ſicherſten Maßſtab für die Stimmung im Süden gab die Haltung
der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Das Blatt ſchillerte nach ſeiner
Gewohnheit in allen Farben. Sein gegenwärtiger Eigenthümer Georg
v. Cotta erbat ſich von Bunſen geheime Mittheilungen, damit die Zeitung
„im Intereſſe Preußens und der guten Sache“ wirken könne;*) er ge-
ſtattete auch dem Münchener Philologen Thierſch zuweilen einen verſtän-
digen Artikel zu ſchreiben und ſah ſich einmal ſogar genöthigt den Wiener
Hof um Nachſicht zu bitten. Gleichwohl zeigte ſich die einflußreiche Zeitung
dem preußiſchen Staate ſo entſchieden feindlich, wie bisher ſchon in allen
großen Fragen der deutſchen Politik, mit der einzigen Ausnahme der Zoll-
vereinshändel. In ihren Spalten erſchien zuerſt Alles was dem Berliner
Hofe ſchaden konnte, und in jedem Wirthshauſe des Rheinlandes ward ſie
eifrig geleſen.
Unterdeſſen ſah ſich Jarcke genöthigt, auf die Theilnahme am Berliner
politiſchen Wochenblatt zu verzichten. In dieſer Kriſis kam an den Tag, daß
die evangeliſchen Orthodoxen Preußens doch von anderem Schlage waren
als die Junghegelianer behaupteten. Das Wochenblatt vertheidigte, ganz wie
Hengſtenberg’s Evangeliſche Kirchenzeitung, muthig die Rechte der Staats-
gewalt. Die Geiſter begannen ſich zu ſcheiden. Darum trat Jarcke aus,
und auf ſeinen Rath ſchuf ſich die junge ultramontane Partei in München
[718]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
ein eigenes Organ, das den bezeichnenden Titel erhielt: Hiſtoriſch-politiſche
Blätter für das katholiſche Deutſchland. Naiver ließen ſich die friedens-
ſtöreriſchen Abſichten der Partei nicht ausſprechen. Evangeliſche Kirchen-
zeitungen gab es längſt, ſo gut wie katholiſche; aber ein hiſtoriſch-politiſches
Blatt für das evangeliſche Deutſchland zu ſchreiben war unter den weit-
herzigen Proteſtanten noch Keinem in den Sinn gekommen, denn da die
evangeliſche Kirche ſich als die allgemeine chriſtliche Kirche anſieht und auch
darnach handelt, ſo wendet ſich jeder gute Proteſtant, der über deutſche
Politik redet, an alle ſeine Volksgenoſſen. Die erſten Herausgeber der
gelben Blätter, Phillipps und Görres’ Sohn Guido verfuhren nicht ohne
Geſchick und ſuchten den äußeren Anſtand zu wahren, ſie vermieden in
den erſten Heften abſichtlich die Kölniſchen Wirren zu berühren. Doch
hinter den gebildeten Formen verbargen ſie einen Fanatismus, der nicht
nur den kirchlichen, ſondern ſelbſt den bürgerlichen Frieden unmöglich
machen mußte. Ihre evangeliſchen Landsleute erſchienen ihnen nur als
„die von der Kirche Getrennten“, die wofern ſie „eines guten Willens ſind“
zur Kirche zurückkehren müßten, und den tapferſten aller deutſchen Männer,
Martin Luther betrachteten ſie als „ein pſychologiſches Problem“, das ſich
nur aus einer Miſchung von Hochmuth und „hypochondriſcher Muthloſig-
keit“ erklären laſſe. Das akademiſche Studium der Theologen war ihnen
ein Greuel, ſo gut wie die Milde des Fürſtbiſchofs von Breslau, und als
leuchtendes Gegenbild ward der preußiſchen Krone der kloſterfreundliche
Ludwig von Baiern vorgehalten.
Dieſer geſchloſſenen ultramontanen Maſſe gegenüber fochten die Pro-
teſtanten als Einzelne, Jeder mit ſeinen eigenen Waffen, wie es die evan-
geliſche Freiheit bedingt. In leidenſchaftlichen literariſchen Kämpfen läßt
ſich die Bedeutung der einzelnen Schriften ſtets an der Zahl ihrer Gegner
abmeſſen. Diesmal verdiente Heinrich Leo den Preis; ſein Sendſchreiben
an Görres erregte ein unbeſchreibliches Wuthgeſchrei im clericalen Lager;
denn er fand das treffende Wort, er ſagte den Gegnern rund heraus, ſie
ſeien nicht Katholiken, ſondern „Welfen“, in ihrem Treiben offenbare ſich
nur der uralte Haß der deutſchen Zuchtloſigkeit gegen jede feſte und ge-
rechte Staatsbildung. Der Vorwurf traf um ſo ſchwerer, weil er aus
dem Munde eines Mannes kam, der ſeine Achtung für die römiſche Kirche
ſo oft, zuweilen über das billige Maß hinaus, bewieſen hatte. Viel milder,
aber auch im Geiſte des poſitiven Chriſtenthums gehalten waren zwei geiſt-
reiche Schriften des preußiſchen Geſandten Frhrn. v. Canitz in Hannover.
Der Jenenſer Theolog Karl Haſe ſchrieb über „die beiden Erzbiſchöfe“
eine hiſtoriſche Abhandlung, deren überlegene Ruhe den erhitzten Gegnern
ganz unverſtändlich war. Der Bonner Curator Rehfues ſchilderte unter
dem Namen eines Sammlers hiſtoriſcher Urkunden „die katholiſche Kirche
in der preußiſchen Rheinprovinz“; er wies nach, wie der König auf das
Recht der Biſchofsernennung, das ihm als dem Nachfolger Napoleon’s
[719]Proteſtantiſche Vertheidiger der preußiſchen Krone.
unzweifelhaft zugeſtanden, freiwillig verzichtet und die römiſche Kirche mit
einer alle katholiſchen Fürſten beſchämenden Hochherzigkeit behandelt habe.
Der Theolog Marheineke in Berlin verfocht die Rechte der Staatsgewalt
nach den Grundſätzen der Hegel’ſchen Philoſophie.
Zu dieſen ernſthaften Vertheidigern geſellten ſich aber auch Bundes-
genoſſen, welche dem ſtrenggläubigen Könige höchſt verdächtig ſcheinen mußten.
Die kurſächſiſchen Rationaliſten zeigten noch einmal, wie wenig ſie das ver-
wandelte kirchliche Leben der Zeit verſtanden; ſie ſprachen in der Leipziger
Allgemeinen Zeitung und anderen mitteldeutſchen Blättern noch ganz in
der alten Weiſe verächtlich von der altersſchwachen Kreuzſpinne, die zwiſchen
den zerbrochenen Säulen des Coloſſeums hauſe. Der alte rheinländiſche
Burſchenſchafter Carové in Heidelberg, ein liebenswürdiger, für Völkerglück
und ewigen Frieden begeiſterter Enthuſiaſt entwarf in einem Buche „Papis-
mus und Humanität“ ein verſchwommenes Bild von der kirchlichen Ein-
tracht der Zukunft: die deutſchen Katholiken ſollten ſich von Rom losſagen,
„ſich ihren geiſtfreien Brüdern wieder in die Arme werfen“; und dabei
blieb er ſelbſt im Schooße der römiſchen Kirche. Nun gar die Genoſſen
des Jungen Deutſchlands benutzten die Gunſt der Stunde, um ihre er-
loſchenen Lichtlein an den Flammen dieſes Kirchenſtreits wieder anzuzünden
und ihren Haß gegen das Chriſtenthum ungeſtraft auszuſprechen: nach
ihrer Geſchichtsphiloſophie waren ja die Reformatoren nur Vorläufer der
franzöſiſchen Revolution, Bahnbrecher der jungdeutſchen Unzuchtslehre.
Wie jubelten die Clericalen ſchadenfroh, als Th. Mundt in ſeinem Taſchen-
buche „Delphin“ ſagte: „König Wenzel liebte Wein, Weiber und Geſang,
wie Luther, deſſen erſte Proteſtation gegen den Katholicismus mit der Liebe
zu einer Frau begann;“ als Ruge’s Jahrbücher den wahren Proteſtan-
tismus für die Negation alles Kirchenglaubens ausgaben; als Gutzkow in
einer gezierten Schrift „die rothe Mütze und die Kapuze“ den preußiſchen
Staat für „den Staat der Abſtraktion“ erklärte und zufrieden verſicherte,
der helle Klang des Glöckleins auf den Rheindampfſchiffen errege heutzutage
mehr Theilnahme als der dumpfe Glockenhall vom Kölner Dome. Vor
ſolchen Freunden mußten die Vertreter des chriſtlichen Staates in Berlin
wohl beſorgt werden.
Die Gegenſätze ſpitzten ſich immer ſchärfer zu. Von den nichtkatho-
liſchen Schriftſtellern, welche die Curie vertheidigten oder entſchuldigten,
traten drei bald nachher zur römiſchen Kirche über: der Mecklenburger
Franz v. Florencourt, ein ehrlicher, federgewandter, aber ziemlich verworrener
Publiciſt, ſodann der oſtpreußiſche Juriſt Rintel und der Jude Joel Jacobi,
ein zweifelhafter Charakter, dem Niemand recht traute. Wer jetzt noch
zu vermitteln ſuchte, erntete Vorwürfe von beiden Seiten. Das erfuhr
der alte Reichsfreiherr Hans Gagern, als er in einer beſänftigenden „An-
ſprache an die Nation“ dem Kölner Prälaten zurief: „Sie ſind Erzbiſchof,
Deutſcher, Europäer und Menſch!“ Für Europa und die Menſchheit
[720]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
hatten die Clericalen vielleicht noch ein Verſtändniß, für Deutſchland ſicher-
lich nicht; mit Spott und Hohn fertigten ſie den Gutmüthigen ab, der
ihnen ſagte, jeder Prieſter ſolle ein „Lichtfreund“ ſein.
Die praktiſche Kirchenpolitik konnte aus dieſem endloſen Federkriege
wenig Belehrung ſchöpfen. Die Ultramontanen verlangten den reinen
Dualismus von Staat und Kirche, die Vernichtung der ſtaatlichen Kirchen-
hoheit, den Verzicht des Staates auf ſeine Souveränität; ihre Gegner
glaubten, daß die alleinſeligmachende Kirche durch Staatsgeſetze oder auch
durch literariſche Ermahnungen zu einer Duldſamkeit, welche ihrem Geiſte
widerſprach, gezwungen werden könne. Beides war in einem paritätiſchen
Volke gleich unmöglich. Die Clericalen hatten jedoch den Vortheil, daß
ſie ſich auf das Beiſpiel Belgiens berufen durften, das freie, denkende
Männer freilich anwidern mußte, aber den liberalen Vorurtheilen der Zeit
verlockend ſchien. Mit den Mitteln des alten Territorialſyſtems kam der
Staat nicht mehr weiter. Die Aufgabe war, das innere Leben der Kirche
einer unleidlichen Bevormundung zu entziehen, aber auch der Kirche jeden
Uebergriff in das Gebiet des bürgerlichen Rechts unmöglich zu machen
und das unveräußerliche Recht der ſtaatlichen Kirchenhoheit feſtzuhalten.
Ueber dieſe ſchwierige Grenzberichtigung hatte zur Zeit noch Niemand ernſt-
lich nachgedacht, und die confeſſionellen Leidenſchaften hüben wie drüben
erſchwerten lediglich die Löſung der Frage. Nur eine wichtige und frucht-
bare Erkenntniß blieb aus dieſem Biſchofsſtreite zurück: die evangeliſche
Welt konnte nicht mehr in der alten trügeriſchen Sicherheit dahinleben;
mit Ausnahme der ganz gedankenloſen alten Rationaliſten begriffen jetzt
alle Proteſtanten, daß die wieder erſtarkte römiſche Kirche eine Macht war,
arm an Ideen, aber reich an ſtreitbaren politiſchen Kräften und feſtgewurzelt
in den Gefühlen der Maſſen. Mit dieſer Macht hatte der paritätiſche
deutſche Staat fortan zu rechnen.
Unmöglich konnten die benachbarten katholiſchen Mächte dieſen Wirren
fern bleiben. Von Brüſſel ſtand am wenigſten zu fürchten. Das Ver-
hältniß zwiſchen dem preußiſchen und dem belgiſchen Hofe blieb allerdings
mehrere Jahre hindurch ſehr unfreundlich*); die brabanter Clericalen boten
Alles auf um die endgiltige Ausgleichung mit Holland, die eben jetzt be-
vorſtand, zu vereiteln und den Weltkrieg zu entzünden, der ſich zunächſt
gegen das ketzeriſche Preußen richten ſollte. Mehrmals gewann es den
Anſchein, als ob dieſe Verblendeten die ſchwache Regierung mit fortreißen
würden;**) ſchließlich vermochte König Leopold’s Klugheit doch zwiſchen
beiden Parteien hindurchzuſteuern und den Frieden mit dem mächtigen
Nachbarn aufrechtzuhalten. Ganz anders ſtand es in Baiern. Welch ein
[721]Baiern als Schirmherr der Ultramontanen.
ſeltſames Zuſammentreffen! In denſelben Novembertagen des Jahres 1837,
da Droſte-Viſchering verhaftet wurde, trat das Miniſterium Abel ſeine
Herrſchaft in München an. An die Wiederherſtellung der rheiniſchen Herr-
ſchaft des Hauſes Wittelsbach mag König Ludwig wohl nie im Ernſt gedacht
haben; ſolche Pläne mußten ſelbſt der Phantaſie des philhelleniſchen Dichter-
königs allzu verwegen erſcheinen. Aber jener Gedanke, den ihm einſt Görres
bei ſeiner Thronbeſteigung ans Herz gelegt hatte, erfüllte ihn jetzt ganz
und gar: er wollte als Nachfolger des gewaltigen Kurfürſten Maximilian
der Schirmherr des deutſchen Katholicismus werden. Vor dieſem Ideale
verblaßten alle die anderen Traditionen ſeines Hauſes: er vergaß, daß er
auch der Erbe der evangeliſchen Pfalzgrafen war, daß ſein Baiern —
wie oft hatte er es doch ſelbſt ausgeſprochen! — nur im Bunde mit Preußen
ſich ſeine Stellung in der neuen deutſchen Geſchichte erworben hatte. Kopf-
über ſtürzte er ſich in eine clericale Weltanſchauung, die ſeinem freien
Sinne urſprünglich fremd war; ſein immerdar launiſches Weſen ward
nahezu närriſch, dem Bewunderer des milden Sailer ließ ſich jetzt jede
clericale Tollheit zutrauen. Graf Dönhoff ſchrieb: „ein Fürſt, den wir
von ultraliberalen zu ultramontanen, von den übertriebenſten conſtitu-
tionellen Vorſtellungen zur ausgeſprochenen Willkürherrſchaft haben über-
gehen ſehen, kann auch in jeder anderen Hinſicht noch ſeine Meinung
wechſeln.“ Und König Friedrich Wilhelm bemerkte dazu: „ein ſehr kurzes,
aber ſehr treffendes Bild Sr. Majeſtät.“*)
Mit ſchamloſer Parteilichkeit begünſtigte der Münchener Hof von vorn-
herein alle Feinde der preußiſchen Regierung. Während er die Schriften
von Leo, Marheineke, Rehfues confisciren ließ und ſich in Dresden über
die hartproteſtantiſche Sprache der Leipziger Allgemeinen Zeitung beſchwerte,
geſtattete er der Neuen Würzburger Zeitung Majeſtätsbeleidigungen gegen
die Krone Preußen, die in dieſem Zeitalter der Cenſur ganz unmöglich
ſchienen. Jede Dreiſtigkeit ward den Ultramontanen nachgeſehen. Den
Athanaſius nahm König Ludwig aus Görres’ eigenen Händen dankbar ent-
gegen und belohnte den Verfaſſer durch einen Orden, den die Münchener
Studenten mit Jubelrufen begrüßten; in dem Buche aber ſtand zu leſen,
daß die Kinder gemiſchter Ehen zwieſchlächtige Baſtarde ſeien, und Ludwig
ſelbſt lebte in gemiſchter Ehe wie ſein Vater König Max Joſeph. Am
Namenstage der evangeliſchen Königin Thereſe veranſtalteten die barfüßigen
Karmeliter in Würzburg, „insgemein Reuerer genannt“ einen Gottesdienſt
zu Ehren der heiligen und ſeraphiſchen Jungfrau und Mutter Thereſia
und verkündeten in öffentlichen Anſchlägen: „Wer an dieſem Tage dort um
Frieden und Eintracht der Fürſten und Potentaten, um Ausreutung der
Ketzerei und um Mehrung der chriſtkatholiſchen Kirche bittet, erhält voll-
kommenen Ablaß.“ Für dieſe Verhöhnung ſeiner eigenen Gemahlin fand
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 46
[722]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
der König kein Wort der Rüge, er, der die Demagogen vor ſeinem Bilde
knieen ließ. Unterdeß wurde die Schimpferei des Zander’ſchen Blattes ſo
unfläthig, daß der preußiſche Geſandte ſich ernſtlich beſchweren mußte.*)
Als alle Vorſtellungen vergeblich blieben, beſchloß der preußiſche Hof, beim
Bundestage das Verbot der Neuen Würzburger Zeitung zu beantragen,
und er gewann auch in vertraulichen Vorbeſprechungen die Zuſtimmung
ſämmtlicher Bundesregierungen zu dieſem, nach Lage der Geſetzgebung
durchaus berechtigten Antrage. Nun erſt lenkte Baiern ein. Im Juni 1838
erklärte der Geſandte Graf Luxburg, ein verſtändiger Diplomat, der zu
Berlin in verdientem Anſehen ſtand und ſich jetzt ſeines eigenen Hofes
im Stillen ſchämte: König Ludwig verdamme „das undeutſche und nichts-
würdige Treiben“ des Redacteurs Ernſt Zander und habe „den freiwilligen
Entſchluß“ gefaßt, ihn von dem Blatte zu entfernen.**) Die Zeitung ſelbſt
wurde nicht verboten.
Werther beruhigte ſich bei dieſer halb ſpöttiſchen Genugthuung. Er
wußte nicht, was auch der Geſandte Graf Dönhoff erſt nach Monaten
erfuhr,***) daß Miniſter Abel gleichzeitig ein vertrauliches Entſchuldigungs-
ſchreiben an die bairiſchen Biſchöfe richtete. Da hieß es: die Neue Würz-
burger Zeitung habe durch ihre Haltung in dem Kölner Streite ſich den
allgemeinen Beifall aller Gutgeſinnten erworben, der katholiſchen Kirche
weſentliche und dankenswerthe Dienſte geleiſtet; nur durch Zander’s Schmäh-
artikel ſei die Regierung zum Einſchreiten gezwungen worden. Gleichwohl
werde der König unerſchütterlich bei ſeinen kirchlichen Grundſätzen ver-
harren. „Allerhöchſtdeſſen Name wird in der Geſchichte fort und fort
neben jenem ſeines großen Vorvordern Max I. erglänzen, und es werden
ſpäte Enkel noch ſegnend ihre Dankgebete zu dem Ewigen dafür empor-
ſenden, daß er ſeiner heiligen Kirche in den Zeiten hoher Bedrängniß zum
zweiten male einen Schirmherrn aus dem Wittelsbacher Stamme gegeben,
der für ihr gutes Recht mit unerſchüttertem Muthe eingeſtanden iſt und
die Vertheidiger derſelben um ſich geſchaart, ermuthiget, gekräftiget und ſieg-
reich zum Ziele geführt hat.“ So war jetzt wirklich die Geſinnung König
Ludwig’s. Umſonſt hielten der verſtändige Thronfolger und die Königin
Wittwe dem verblendeten Fürſten vor, was es auf ſich habe, die blutigen
Schatten der finſterſten Zeit deutſcher Geſchichte heraufzubeſchwören.†) Die
preußiſchen Staatsmänner aber waren peinlich überraſcht, als ihr Kron-
prinz Friedrich Wilhelm, ſobald der Streit wegen der Würzburger Zeitung
nothdürftig beigelegt war, den bairiſchen Hof in Kreuth beſuchte — eine
[723]Die Kniebeugung in Baiern.
Reiſe, welche der alte König erſt ſtreng verboten hatte und auch jetzt noch
ſehr ungern ſah.*)
Mittlerweile bekam auch das bairiſche Volk zu fühlen was clericale
Parteiherrſchaft iſt. Wie maßlos hatten die bairiſchen Ultramontanen auf
die preußiſchen Kirchenparaden geſcholten; auf Befehl König Friedrich Wil-
helm’s war dieſer Mißbrauch nunmehr abgeſchafft. Zur Erwiderung
gleichſam befahl König Ludwig durch eine Verordnung vom 14. Aug. 1838
den bairiſchen Truppen, daß ſie auf der Wache und beim Gottesdienſte
vor dem Sanctiſſimum niederknieen ſollten. Die Armee beſtand zu einem
vollen Drittel aus evangeliſchen Mannſchaften, und ihnen ward eine kirch-
liche Ceremonie zugemuthet, welche jeder ſtrenge Proteſtant als ſündhaften
Baalsdienſt verabſcheuen mußte! Hier verrieth ſich der wahre Geiſt der
Partei, welche der preußiſchen Krone gegenüber die Gewiſſensfreiheit zu
vertheidigen behauptete. Allgemein war die Erbitterung in den evange-
tiſchen Landestheilen; ängſtliche Gemüther fürchteten ſchon, aus dem Streite
zwiſchen Staat und Kirche werde ein Krieg der Confeſſionen hervorgehen.
Ein neuer Erfolg gelang den Ultramontanen in Baden. Im Herbſt
1839 wurde Nebenius aus dem Miniſterium verdrängt. Blittersdorff war
nunmehr Herr der Lage, und ſein hartreactionäres Syſtem konnte ſich nur
durch die Beihilfe der clericalen Partei behaupten. Bei Nebenius’ Sturze
hatte der öſterreichiſche Geſandte Graf Dietrichſtein mitgewirkt;**) überall
arbeiteten die Diplomaten der Hofburg mit den Feinden Preußens be-
hutſam zuſammen. Seit Bunſen’s Anconer Note glaubte Metternich nicht
mehr recht an den Ernſt der preußiſchen Kirchenpolitik. In einem Augen-
blicke ehrlichen Zornes fragte er Maltzan: „Wollen Sie, daß ich die Rolle
des Beſchützers der katholiſchen Kirche an Frankreich oder an Baiern über-
laſſe? Das eine iſt unſer Nebenbuhler in Europa, das andere der an-
ſehnlichſte katholiſche Staat in Deutſchland.“***) Die beiden bairiſchen
Schweſtern in Wien freuten ſich von Herzen der Haltung ihres königlichen
Bruders; der Briefwechſel der Geſchwiſter war nie lebhafter geweſen.
Ihrem Einfluß war es vermuthlich zu verdanken, daß die bisher ſtreng
verbotene Neue Würzburger Zeitung, ſobald ſie den Kampf gegen Preußen
begann, plötzlich in Oeſterreich zugelaſſen wurde. Metternich ertheilte dem
Vatican beſtändig vertraute Rathſchläge, und Lambruschini ſagte dankbar
zu Graf Lützow: wir überlaſſen uns gänzlich der weiſen Leitung des kaiſer-
lichen Hofes. Ganz friedfertig mochten dieſe Rathſchläge ſchwerlich lauten,
aber auch nicht offenbar feindſelig. Als Metternich im Juli 1838 mit dem
Könige wieder in Teplitz zuſammentraf, erging er ſich nur in vorſichtigen all-
gemeinen Betrachtungen; die Wiedereinſetzung Droſte’s wagte er der Krone
46*
[724]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Preußen nicht zuzumuthen, er ſagte ſanft: in dieſem Punkte haben beide
Theile Recht.*) Offenbar ſchwankte er zwiſchen ſeinen, durch Fürſtin
Melanie genährten clericalen Neigungen und ſeiner ſtaatsmänniſchen Ein-
ſicht. Einen Bruch mit den Oſtmächten konnte er unmöglich wünſchen,
und er wußte, daß Czar Ntkolaus die Kirchenpolitik ſeines königlichen
Schwiegervaters unbedingt vertheidigte; auch graute ihm vor der Berſerker-
wuth der Münchener Fanatiker und mehr noch vor den revolutionären
Anſchlägen des belgiſchen Clerus.**) Obgleich er, wie alle Söhne der rhei-
niſchen Domherrengeſchlechter, die preußiſche Herrſchaft in den Krumm-
ſtabslanden tief verabſcheute, ſo blieb er doch nüchtern genug um die Zu-
ſtände dort nicht allzu ſchwarz zu ſehen. Die bairiſchen Clericalen hofften
alleſammt auf eine Schilderhebung der Rheinländer oder auf irgend ein
anderes großes Ereigniß. Metternich urtheilte kühler, und der Erfolg gab
ihm Recht. Die großen Ereigniſſe blieben aus, die proviſoriſche Verwal-
tung der beiden verwaiſten Erzbisthümer arbeitete ruhig weiter, die Krone
Preußen ſtand unangreifbar da.
Und doch ward durch dieſen Biſchofsſtreit eine grundtiefe Verwand-
lung des deutſchen Parteilebens bewirkt. Seit die neue ultramontane Partei
ſich zuſammenſchaarte, begann der ſüddeutſche Particularismus ſich zu ver-
ändern. Bisher hatte er liberale Farben getragen; die alten Rheinbündler
und nachher die Genoſſen der Rotteck-Welcker’ſchen Schule ſahen verächtlich
hernieder auf das zurückgebliebene Preußen, aber auch auf das zurückgeblie-
bene Oeſterreich. Jetzt wurden plötzlich die halbverſchollenen öſterreichiſchen
Traditionen des deutſchen Südens wieder lebendig; und wenngleich Metter-
nich ſich noch zurückhielt, ſo mußte doch früher oder ſpäter die Zeit kommen,
da die Wiener Politik ſich dieſen Vortheil zu nutze machte. Der erſte Grund
war gelegt für die großdeutſche Partei der kommenden Jahre. Auch in
Preußen bereitete ſich eine neue Parteibildung vor. Die rheiniſchen Juriſten,
die ſchon ſo lange für die Rechtsgleichheit des Code Napoleon ſtritten,
meinten jetzt auch allein zu wiſſen, was wahre Kirchenfreiheit ſei, und un-
merklich begannen ihre belgiſchen Anſchauungen den Liberalismus der öſt-
lichen Provinzen anzuſtecken. Das Schlimmſte blieb doch, daß Jedermann
fühlte, die alte Regierung habe ſich überlebt. Als Maltzan in Florenz
mit Cardinal Capaccini die Kölniſchen Händel beſprach, ſagte der Wälſche
mit eigenthümlichem Lächeln: „Wir müſſen alſo warten.“***)
Ernſt, faſt düſter ſchloß König Friedrich Wilhelm’s vielgeprüftes Leben.
Beinah alle die reichbegabten Männer, die ihm einſt bei der Erhebung und
[725]Friedrich Wilhelm’s letzte Jahre.
Wiederbefeſtigung des Staates zur Seite geſtanden, waren vor ihm dahin-
gegangen. In dieſen letzten Jahren folgte ein Mißgriff dem andern. Der
Bundestag entwürdigte ſich durch die hannöverſchen Beſchlüſſe dermaßen,
daß Niemand mehr an eine friedliche Zukunft des Deutſchen Bundes
glauben konnte; die preußiſche Kirchenpolitik ſuchte vergeblich einen Ausweg
aus unleidlicher Verwirrung; und im Volke ſtieß das geſtrenge alte Be-
amtenregiment auf einen ſtillen, beſtändig wachſenden Widerwillen, den
allein die Ehrfurcht vor dem greiſen Monarchen noch darnieder hielt. Als
Friedrich v. Gagern im Jahre 1839 den Berliner Hof beſuchte, da gewann
er den Eindruck, dieſe Regierung halte ſich nur weil das Schickſal ſie
neuerdings vor allzu heftigen Stößen bewahrt habe.
Der alte König ſelbſt verſtand die Zeit nicht mehr. Wie er den treuen
Arndt, der doch neuerdings bei den Liberalen als reactionärer Franzoſen-
freund verrufen war, noch immer unverſöhnlich dem Lehrſtuhle fern hielt,
ſo wollte er auch von den conſtitutionellen Ideen jetzt ſogar noch weniger
hören als in früheren Jahren.
In einem um das Jahr 1838 niedergeſchriebenen Teſtaments-Ent-
wurfe verpflichtete er den Thronfolger zur Aufrechterhaltung der Union,
der Agende, der Conſiſtorialverfaſſung und erklärte ſodann nachdrücklich,
daß er die von den Vorfahren ererbte unbeſchränkte königliche Gewalt un-
beſchränkt ſeinen Nachfolgern hinterlaſſen wollte. Die Erfahrung lehre, daß
die Fürſten, welche auf einen Theil ihrer Rechte verzichteten, oft auch den
anderen Theil einbüßten und ſelbſt die Möglichkeit Gutes zu thun ver-
lören. Seine Unterthanen beſäßen in den Inſtitutionen, die er ihnen
aus freiem Willen ertheilt, in der geregelten Staatsverwaltung, in dem
Staatsrathe, in den Provinzialſtänden, in der Städteordnung, in den
Communalverfaſſungen die Bürgſchaft für ungeſtörte Ordnung und Ge-
ſetzlichkeit. Auf dieſer Unbeſchränktheit der königlichen Gewalt beruhe vor-
zugsweiſe die Stellung Preußens im Staatenſyſtem; und da eine Aenderung
dieſes Grundpfeilers der Monarchie letztere ſelbſt wankend machen würde,
ſo beſtimme er hierdurch, „daß kein königlicher Regent befugt ſein ſoll,
ohne Zuziehung ſämmtlicher Agnaten in dem königlichen Hauſe irgend
eine Aenderung oder Einleitung zu treffen, wodurch eine Veränderung in
der Verfaſſung des Staates, namentlich in Beziehung auf die ſtändiſchen
Verhältniſſe und die Beſchränkung der königlichen Gewalt bewirkt oder
begründet werden könnte.“ Im Falle der Aufnahme einer neuen Anleihe —
ſo fuhr der König fort — werde er nach der Vorſchrift des Staats-
ſchuldengeſetzes von 1820 handeln, in jedem der acht Provinziallandtage
je vier Abgeordnete wählen laſſen, dieſe Gewählten durch eine gleiche
Anzahl von Mitgliedern des Staatsraths verſtärken und der alſo gebil-
deten reichsſtändiſchen Verſammlung das Anleihegeſetz — aber ſchlechter-
dings keine andere Frage — zur Berathung vorlegen.*) Durch einen
[726]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
Landtag von vierundſechzig Köpfen — und auch nur im Nothfalle —
ſollten mithin die alten Verheißungen, die einſt ſo viel Hoffnungen erweckt
hatten, erfüllt werden. Friedrich Wilhelm wollte dieſe Vorſchriften den
königlichen Prinzen als ein bindendes Hausgeſetz auferlegen, und er hatte
ſchon den Fürſten Wittgenſtein beauftragt, die Aufzeichnungen zu einer
förmlichen Urkunde zuſammenzuſtellen — ein Befehl, der nur durch den
Tod des Monarchen vereitelt wurde. Mit ſolchen Grundſätzen ließ ſich die
verwandelte Welt nicht mehr regieren.
Währenddem begann auch in der europäiſchen Politik eine gefährliche
Verwicklung. Die orientaliſche Frage entlud ſich noch einmal. Unter allen
den Rathgebern, welche den bedrängten Sultan umringten, war Preußen
allein uneigennützig, Dank ſeiner geographiſchen Lage, und darum allein
ehrlich. Dem König von Preußen verdankte die Pforte den immerhin er-
träglichen Friedensſchluß von Adrianopel, und ihm auch die einzige Reform,
welche dem verſinkenden Staate noch halb gelang. Durch Hauptmann
v. Moltke und einige andere ausgezeichnete Offiziere des preußiſchen General-
ſtabs wurde die Kriegstüchtigkeit des türkiſchen Heeres wiederhergeſtellt. Aber
noch bevor die neue Ordnung vollendet war entbrannte der Kampf mit Me-
hemed Ali von Neuem, und mit einem male gewann es den Anſchein,
als ſollte der ſeit zehn Jahren ſo mühſam abgewendete Weltkrieg nun doch
über Europa hereinbrechen. So drängten ſich von innen und außen her
neue Aufgaben an die Krone heran. Der greiſe König war ihnen nicht
mehr gewachſen, und als das Schickſalsjahr der preußiſchen Geſchichte, das
Jahr 40 heraufzog, da ahnte man im Volke überall, dieſe lange Regierung
gehe zu Ende.
Nur an dem Schickſal langlebiger Männer kann das befangene
Urtheil der Menſchen zuweilen deutlich erkennen, daß dem Sterblichen
wird was er verdient, und ſelten hat ſich das Walten der göttlichen Ge-
rechtigkeit ſo vernehmlich offenbart wie in dem Leben dieſes Königs. Als
ein Friedensfürſt hatte er einſt ſeine Laufbahn angetreten. In den Be-
kenntniſſen, die er als Kronprinz niederſchrieb, ſagte er einfach: „Das
größte Glück eines Landes beſteht zuverläſſig in einem fortdauernden Frie-
den,“ und obwohl er den Werth „einer formidabeln Armee“ ſehr hoch
anſchlug, ſo wünſchte er doch aufrichtig dieſe ſchreckliche Waffe niemals
gebrauchen zu müſſen. Ganz ſo waren ihm nach einem halben Jahr-
hundert die Looſe gefallen. Er war der erſte der hohenzollernſchen Könige,
der ſein Landgebiet kleiner hinterließ als er es von den Vorfahren über-
kommen hatte; und ob Preußens Stimme im Rathe der Völker jetzt ebenſo
ſchwer wog, wie in den Zeiten, da der Ruhm des großen Königs noch
nachwirkte, das ward im Ausland mindeſtens beſtritten. Auch der Ruf
der Unbeſieglichkeit der ſchwarzweißen Fahnen war trotz der ſtrahlenden
Siege des Befreiungskrieges nicht wieder hergeſtellt; denn immer noch
blieb den Nachbarn der Zweifel, was Preußen ohne Bundesgenoſſen leiſten
[727]Tod König Friedrich Wilhelm’s.
könne. Der Glanz des preußiſchen Namens hatte ſich unter der Herr-
ſchaft dieſes ſchlichten Landesvaters nicht erhöht, aber wie wunderbar war
die innere Kraft des Staates gewachſen. In keinem Staate der Welt
beſtand eine ſo menſchliche, ſo ſorgſame, ſo gerechte Verwaltung, in keinem
eine ſo volksthümliche, ſo ganz unerſchöpfliche Wehrbarkeit. Das deutſche
Sparta war zu einem Lande der Bildung geworden, einer Bildung, die
unendlich weit über des Königs anerzogene Nützlichkeitsbegriffe hinaus-
reichte und doch von ihm nach ſeiner gewiſſenhaften Weiſe gefördert wurde.
In glücklicher Sicherheit lagen die Fluren, die ſeit zwei Jahrhunderten
immer und immer wieder der Hufſchlag fremder Roſſe zerſtampft hatte;
eine Gemeinſchaft der Arbeit, wie ſie unſere Geſchichte nie gekannt, ver-
band die Deutſchen, und Alle wußten, daß ein Rückfall in das Elend der
Fremdherrſchaft unmöglich war, daß die Nation ſich wieder ſelbſt ange-
hörte und nur noch vorwärts ſchreiten konnte. Und wie feſt war der
preußiſche Staat jetzt mit dem Leben der Nation verwachſen. Auf ihn,
auf ſeine Schuld und ſein Verdienſt ſchauten grollend oder freudig alle
Deutſchen. Ihm dankten ſie den Frieden, ihm die Anfänge ihrer Ein-
heit; ſein Streit mit der Kirche berührte Jeden wie ein perſönliches Er-
lebniß, und nach dem hannöverſchen Staatsſtreiche wurde Preußen faſt
härter angeklagt als der Welfe, denn Alle fühlten, daß dieſer Staat be-
rufen ſei überall das deutſche Recht zu beſchirmen.
Im Anfange ſeiner Regierung ließ Friedrich Wilhelm das Schlüter’ſche
Standbild des erſten preußiſchen Königs in Königsberg aufſtellen und wid-
mete es „dem edlen Volke der Preußen zum ewigen Denkmal gegenſeitiger
Liebe und Treue“. Herrlicher, als er es damals in der weichen Gefühls-
ſeligkeit ſeiner Jugend ahnte, ſollte dies Wort ſich bewähren. Als die Tage
des ſelbſtverſchuldeten Unglücks kamen, als die Preußen mit ihrem Könige
den Hohn des Eroberers ertrugen, mit ihm um die ſchöne Königin klagten,
als er dann, getrieben und getragen von ſeinem treuen Volke, die Erhebung
wagte und endlich dem befreiten Lande ſo viele Jahre friedlichen Erſtarkens
ſicherte, da ward in der ernſten, ſtrengen Geſchichte dieſes Staates eine
neue ſittliche Kraft lebendig, die Macht der Liebe. Jeder Landwehrmann,
der mitgeholfen, betrachtete das ruhmvoll wiederhergeſtellte Vaterland faſt
wie ein Werk ſeiner eigenen Hände; die alte preußiſche Treue wurde freier,
bewußter, inniger. Dem Könige zeigte das Volk der alten Provinzen eine
zutrauliche Herzlichkeit, die ſich unter den beiden gewaltigen Herrſchern des
achtzehnten Jahrhunderts nie recht herausgewagt hatte. Was er in den
Jahren der Kriege gefehlt, war vergeſſen; man rechnete ihm nur zu was
er gelitten, und erkannte dankbar an, daß er mit allen Schwächen und
Schranken ſeines Weſens doch für die ſtille Arbeit dieſer Friedensjahre
lange der rechte Leiter blieb, daß ſeine unerſchütterliche Rechtſchaffenheit
ſo viele Gegenſätze der Stämme und der Landſchaften freundlich verſöhnte.
Den großen Kurfürſten ſtellte Schlüter als einen mächtigen Cäſar auf
[728]IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.
feurigem Roſſe dar, denn in ſolcher Geſtalt lebte der kleine Fürſt mit
der großen Seele im Gedächtniß ſeines Landes. Bald nach dem Tode des
dritten Friedrich Wilhelm ſchuf Drake das andere der beiden Hohenzollern-
Denkmäler, welche das Volk allein wirklich liebt und täglich betrachtet:
ein Bild der Güte und der Treue erſchien der anſpruchsloſe König in
ſeinem einfachen Uniforms-Ueberrocke, am Rande des ſtillen Gewäſſers,
inmitten der alten Bäume des Thiergartens, und unter ſeinen Füßen
ſpielten glückliche Kinder.
Tief und aufrichtig war der Schmerz, als ſich im Frühjahr 1840
die Kunde von der Erkrankung des Königs verbreitete. Am 1. Juni ließ
er noch den Grundſtein legen für das ſo lange geplante Standbild Fried-
rich’s des Großen. Der Kronprinz mußte den Vater bei der Feier ver-
treten; nur als die Trommler drunten anſchlugen und die zerſchoſſenen
alten Adlerfahnen ſich ſenkten, erſchien der kranke König im weißen Nacht-
kleide auf einen Augenblick an ſeinem Eckfenſter. So ſahen ihn die Ber-
liner zum letzten male. Am Nachmittage des Pfingſtfeſtes, 7. Juni, ſtanden
die Maſſen dichtgedrängt auf dem weiten Platze vor dem kleinen Palaſte
und harrten in tiefem Schweigen, bis von der Rampe herunter verkün-
digt wurde, der König habe vollendet.
Sobald dieſe beiden Augen ſich ſchloſſen, brachen alle die lang ver-
haltenen Klagen und Hoffnungen der Preußen übermächtig hervor, ſpru-
delnd und ſchäumend wie das flüſſige Metall, wenn der Zapfen ausge-
ſtoßen wird. Eine neue Zeit war gekommen, ſie forderte neue Männer.
[[729]]
Beilagen.
[[730]][[731]]
XVI.Baierns Politik in den Jahren 1819 f.
Zu Bd. II. 580 f. III. 762 f.
Zur Ergänzung und Bekräftigung meiner Mittheilungen über die bairiſche Politik
vor und nach den Karlsbader Beſchlüſſen gebe ich hier noch einige Auszüge aus mehreren
neuerdings aufgefundenen Aktenſtücken. Es ſind ſämmtlich ſogenannte Dépêches royales,
eigenhändig unterzeichnet von König Max Joſeph, gegengezeichnet von dem Miniſter des
Auswärtigen, dem Grafen Rechberg.
Die erſte Depeſche, an den Geſandten in Berlin, Generalleutnant Gf. Rechberg
gerichtet, ſchildert mit grellen Farben die demokratiſche Bewegung in Süddeutſchland und
fährt dann fort (30. Mai 1819):
J’espère pouvoir clôturer la session à la fin du mois prochain. Il n’est pas
douteux qu’il y aurait eu pendant cette séance un éclat formel, si ces hommes
n’avaient craint de perdre leur cause en se démasquant complètement; ils ont
dont ajourné l’exécution de leurs plus amples projets, espérant que dans
l’intervalle de trois ans jusqu’ à leur réunion le système représentatif aura pris
consistance en Allemagne. Je chercherai à déjouer ces projets en les dissol-
vant par un acte qui annullera toutes les résolutions inconstitutionnelles qu’ils ont
prises. Six années s’écouleront avant que le budget ne doive être voté, et
encore n’ont ils le droit que de voter l’impôt direct. Cependant il est douteux,
que ces précautions suffiront; et Je crois que l’expérience que J’ai faite et le
ton que prennent les Etats de Bade doivent faire prendre la situation de l’Alle-
magne en mûre considération et engager les Cours à convenir à Francfort ou
partout ailleurs de principes uniformes à arrêter pour que l’art. 13 de l’Acte
féderal ne fraie point la voie à un état de choses qui s’il s’empire ne pourra
plus être arrêté.
Darauf wird der Geſandte beauftragt, die Rathſchläge Bernſtorff’s wegen dieſer
Berathungen der deutſchen Höfe einzuholen. Alſo iſt erwieſen, daß der Münchener Hof
die Karlsbader Conferenzen mit veranlaßt hat. —
Die zweite Depeſche, vom 13. Dec. 1820, an den Grafen Bray in Wien gerichtet,
giebt wieder ein lebhaftes Bild von dem unruhigen Geiſte in Italien und Süddeutſch-
land, zumal in Darmſtadt, wo die Kammern ſich in eine conſtituirende Verſammlung
verwandelt hätten, und ſchließt:
C’est de Troppau, c’est de cette union des puissances qui déjà a été vic-
torieuse d’une grande révolution qu’il faut attendre les mesures propres à con-
solider leur ouvrage. Le dépit que cette union cause aux agitateurs est la
meilleure preuve de son efficacité.
Die dritte Depeſche, vom 27. Dec. 1820, an General Rechberg, bekundet ebenfalls
die Freude des Münchener Hofes über den Troppauer Congreß und beſpricht alsdann
das Manuſcript aus Süddeutſchland, ſowie die geheimen Beſtrebungen der württember-
giſchen Regierung: On peut à peine se refuser de rapprocher ces différentes cir-
[732]XVII. Canning und Deutſchland.
constances avec les doutes, les suppositions et la politique du parti révolution-
naire en Allemagne, et on se demande quelle peut être la tendance d’une opi-
nion aussi peu fondée et aussi divergeante de celle que professent les autres
cours d’Allemagne.
Demnach wird Rechberg angewieſen, das Verhalten Württembergs in Berlin ſcharf
zu beobachten. —
XVII.Canning und Deutſchland.
Zu Bd. III. 264. IV. 27.
Das wunderliche Bild des weitherzigen, immer neue Welten zur Freiheit aufrufenden
Kosmopoliten Canning würde aus der deutſchen Geſchichtſchreibung längſt verſchwunden
ſein, wenn man bei uns die Satiren kennte, welche Canning in den Jahren 1797 und 98
für William Gifford’s Zeitſchrift The Anti-Jacobin ſchrieb. Der Anti-Jacobin iſt in
Deutſchland ſchwer aufzutreiben, ich habe erſt nach langem Suchen ein Exemplar in der
Bibliothek des Königs Georg zu Hannover aufgefunden. Die ſatiriſchen Gedichte aber, die
er enthält, werden unter dem Titel The poetry of the Anti-Jacobin in England noch
immer viel geleſen und neu gedruckt; ſie bildeten vor Jahren eine der Quellen, aus denen
der general reader ſeine Anſichten vom deutſchen Leben ſchöpfte. Die Satire Canning’s
The Rovers or the double arrangement nennt Niebuhr in den Vorleſungen über die
Geſchichte des Revolutionszeitalters „das infamſte Pasquill, das je auf Deutſchland ge-
ſchrieben iſt, faſt ebenſo niederträchtig als Bahrdt mit der eiſernen Stirn“: Liederlichkeit,
Blutſchande, Atheismus würden hier als Charakter des deutſchen Weſens dargeſtellt,
überhaupt verhöhne der Anti-Jacobin „das Würdigſte des Auslandes auf das Schänd-
lichſte“. Niebuhr urtheilte offenbar nach Jugenderinnerungen; er entſann ſich noch, wie
tief es ihn einſt gekränkt hatte, die erſten Werke unſerer werdenden claſſiſchen Dichtung
durch das Toryblatt beſchimpft zu ſehen. Heute ſind wir weniger reizbar, aber auch
wir erſtaunen noch über die inſulariſche Beſchränktheit, den verſtändnißloſen Hochmuth
des Anti-Jacobin. Canning konnte kein Wort deutſch, wie die lächerlichen deutſchen Citate
beweiſen. Er hat allem Anſcheine nach ſelbſt die Namen von Schiller und Goethe nicht
gekannt, ſondern nur aus Zeitungsartikeln und ſchlechten Ueberſetzungen erfahren, daß
in Deutſchland einige radicale Dichter ihr Weſen trieben; er ahnte dunkel die Verwandt-
ſchaft zwiſchen den Ideen der Revolution und der Schwärmerei unſerer literariſchen
Stürmer und Dränger. Da er unter den Torys Wunderdinge über das gottloſe Göttinger
Burſchenleben gehört hatte, ſo glaubte er im Ernſt, daß die ganze Studentenſchaft einer
deutſchen Hochſchule, begeiſtert durch „die Räuber“ zur Wegelagerung auf die Landſtraßen
hinausgezogen ſei. Goethe’s Stella, die bekanntlich in ihrer urſprünglichen Faſſung mit
einer Bigamie endigte, Schiller’s Räuber, Kabale und Liebe und andere dem Briten nur
dem Namen nach bekannte deutſche Werke boten ihm nun den Anlaß, in der Parodie
The Rovers die deutſche Nation als eine Lumpengeſellſchaft zu ſchildern, die Jedem er-
laube „Alles zu thun, was, wo, wann und wie er wolle“. Nur die deutſchen Flüche
ließ er zartfühlend hinweg, „weil engliſche Ohren daran noch nicht genugſam gewöhnt
ſeien“. Das Stück iſt nicht ohne Witz, an einzelnen Stellen ſogar treffend, aber nur
eine Burleske des gemeinen Schlages, im Stile unſerer heutigen Witzblätter. Friſches
Leben zeigt ſich faſt allein in den eingewobenen Schlemperliedern, ſo in dem bekannten,
von der engliſchen Jugend einſt viel geſungenen:
[733]XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.
Weit ernſter und bedeutender iſt die Satire New Morality. Sie bekämpft mit
ſcharfen, zuweilen mit gewaltigen Worten das verſchwommene Weltbürgerthum der revo-
lutionären Parteien:
Hier tritt Canning’s heiligſtes Gefühl hervor: der ſchroffe, in ſeiner Einſeitigkeit großartige
Nationalſtolz, die Freude an dem einen Lande, das den Mächten des Verderbens furcht-
los widerſtehe: una etenim in mediis gens intemerata ruinis. Dieſer Geſinnung iſt
Canning ſein Lebelang treu geblieben, auch als ſpäterhin Scott und Byron den Briten
das Verſtändniß der deutſchen Dichtung erſchloſſen. Seine Größe liegt darin, daß er
das gerade Gegentheil des Weltbürgers war, zu dem ihn ſeine feſtländiſchen Bewun-
derer ſtempeln wollten. Nur weil er ganz und gar engliſch empfand, vermochte er der
Legitimitätspolitik Metternich’s zu widerſtehen. Die ſchönen in ſeine Reden eingefügten
Worte von Völkerfreiheit ſollten und konnten ihm nur als ein Mittel dienen, um der
harten engliſchen Handelspolitik den Beifall der öffentlichen Meinung des Feſtlandes zu
gewinnen. —
XVIII.Der Herzog von Cumberland und das
Staatsgrundgeſetz.
Zu Bd. IV. 165.
(Zuerſt abgedruckt in den Forſchungen zur brandenb. u. preuß. Geſchichte. Bd. 1.)
Das politiſche Urtheil über den Verfaſſungsbruch König Ernſt Auguſt’s von Han-
nover kann unter rechtlichen Männern keinem Streite unterliegen. Was auch überfeiner
Scharfſinn zur Entſchuldigung oder Erklärung vorbringen mag, es bleibt doch dabei, daß
die kurze Geſchichte des ſelbſtändigen Königreichs Hannover mit einem frevelhaften Staats-
ſtreiche begann; und wir Preußen beklagen als eine der trübſten Erinnerungen der Ge-
ſchichte des Deutſchen Bundes, daß König Friedrich Wilhelm III. ſich nicht entſchließen
konnte, dem hannöverſchen Welfen ebenſo feſt und ſtreng entgegenzutreten, wie kurz vorher
dem braunſchweigiſchen Welfen Herzog Karl. Schwieriger erſcheint das perſönliche Urtheil.
Iſt Ernſt Auguſt mindeſtens als ehrlicher Fanatiker verfahren? Hat er gegen das Staats-
grundgeſetz, das er als König umſtieß, ſchon als Thronfolger beſtimmten, unzweideutigen
Widerſpruch eingelegt, oder hat er ſeinen Rechtsbruch durch Hinterhaltigkeit und Winkel-
züge vorbereitet? Zuverläſſige Antwort auf dieſe vielumſtrittenen Fragen geben einige
Briefſchaften mit der Aufſchrift „Erklärung des Herzogs von Cumberland zum Staats-
grundgeſetz“, welche ich kürzlich im k. Staatsarchiv zu Hannover aufgefunden habe und
hier nach ihrem weſentlichen Inhalt mittheile.
Die bekannte, vom Geh. Cabinetsrath Falcke verfaßte Erklärung, welche Ernſt Auguſt
am 27. Juni 1839 im Bundestage abgeben ließ, enthält folgende Verſicherung:
„Der König Wilhelm IV. hatte eine vorgängige Berathung über das Staatsgrund-
geſetz mit dem präſumtiven Thronerben nicht gewollt. Die Mittheilung der Verfaſſung
an den damaligen Herzog von Cumberland fand auf des Königs Befehl nicht früher ſtatt,
als nachdem die königlichen Entſchließungen über Inhalt und Form ge-
faßt worden waren. Eine bei der erſten Kenntnißnahme von dem Thronerben ge-
machte Ausſtellung mußte ſchon deshalb unbeachtet bleiben, weil eine den Ständen ge-
gebene Zuſicherung des Königs Willen band. Von der erſten Berufung der allgemeinen
Ständeverſammlung des Königreichs auf den Grund der neuen Verfaſſung, behufs der
Theilnahme an den Sitzungen der erſten Kammer, am 16. October 1833 durch ein Mini-
[734]XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.
ſterialſchreiben in Kenntniß geſetzt, erwiderte der jetzt regierende König am 29. desſelben
Monats: ‚Von Allem, was dieſerhalb vorgekommen, ſei Er nicht gehörig unterrichtet
und könne ſich deshalb auch durch das neue Geſetz noch nicht gebunden halten.‘“
Dieſe kunſtvoll aus Wahrheit und Dichtung zuſammengewobenen Sätze ſollen offen-
bar den Eindruck erwecken, als ob der Herzog erſt kurz vor dem Abſchluſſe des Staats-
grundgeſetzes vom 26. September 1833, alſo etwa im Sommer 1833, davon Kenntniß
erhalten hätte. Die Wahrheit aber iſt, daß König Wilhelm allerdings „eine vorgängige
Berathung“ mit dem Thronfolger gehalten hat, und zwar ſchon im October 1831, unter
perſönlicher Mitwirkung des nämlichen Geh. Raths Falcke, der nachher die Erklärung für
den Bundestag verfertigte. Bekanntlich hatte der König, auf die Bitte des Landtags
von 1831, die Gewährung einer neuen Verfaſſung zugeſagt und zunächſt durch die Re-
gierung und ihre Vertrauensmänner (Roſe, Dahlmann u. A.) einen Entwurf ausarbeiten
laſſen, der im Herbſt dem Monarchen zur vorläufigen Genehmigung vorgelegt wurde.
Dieſer Entwurf iſt ſpäterhin durch die ſtändiſchen Berathungen mannichfach umgeſtaltet
worden; aber er enthielt bereits jene entſcheidende Reform, welche dereinſt dem Könige
Ernſt Auguſt den Hauptvorwand für ſeinen Staatsſtreich bieten ſollte: er beſtimmte ſchon
die dem Landtage verſprochene ſogenannte Kaſſenvereinigung, die Verſchmelzung der könig-
lichen Domänenkaſſe mit der ſtändiſchen Steuerkaſſe. Der König befahl nunmehr dem
Miniſter v. Ompteda und dem Geh. Rath Falcke, den Verfaſſungsplan dem gerade in
England anweſenden Thronfolger mitzutheilen. Nicht ohne Beſorgniß ſah er der Ant-
wort des Bruders entgegen, da die Verhandlungen über die Reformbill eben damals
ſchwebten und der Hochtory Cumberland das Whigminiſterium ſcharf bekämpfte. Wider
Erwarten bekundete aber der Herzog mündlich und ſchriftlich ſeine wärmſte Anerkennung
für den Entwurf.
Am 30. October 1831 ſchrieb er aus Kew ſeinem jüngeren Bruder, dem Vizekönig
von Hannover, Herzog von Cambridge, erzählte ihm, daß er durch Ompteda und Falcke
den Entwurf erhalten habe, und fuhr fort: I must say, that it does both the King
and the government the highest honour the manner in which they have drawn
up their proposals, and there was not one single objection that I could find or
alteration to propose except in three points. Nun zählt er ſeine drei Bedenken auf.
Er verwirft zum Erſten die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, weil dann die
demokratiſchen Mitglieder Reden für das Publicum halten würden. Es genüge nicht,
daß die Regierung und jedes einzelne Mitglied die Abhaltung einer geheimen Sitzung
verlangen dürfe; denn durch ſolche Anträge errege die Regierung nur Unmuth, der ein-
zelne Abgeordnet aber werde a marked man. Zweitens tadelt der Herzog die Bewilli-
gung der Tagegelder an die Mitglieder der zweiten Kammer, wegen der Gefahr der Zeit-
vergeudung. Zum Dritten verlangt er, daß die beurlaubten Soldaten den Kriegsgeſetzen
unterſtellt werden ſollten — ein Bedenken, das eigentlich gar nicht zur Sache gehörte,
da der Entwurf dieſe Frage nur mittelbar berührte. Dann ſchließt er: These are the
only three points I have to remark upon, and the King, whom I saw on Friday
and who had heard my remarks in a letter from Ompteda, said: „He agreed
most perfectly and entirely with me and had stated the same to Ompteda.“ It
is impossible for any man to have behaved more nobly and disinterestedly than
the King has done in this whole business, and both his head and heart have
shone in this occasion. Ernest. — Das Lob des Edelſinnes und der Uneigennützig-
keit des Königs hatte guten Grund; denn der Verfaſſungsentwurf bemaß die Krondotation
für das königliche Haus ſehr reichlich und beſtimmte, daß ſie dem im Lande wohnenden
Nachfolger voll gewährt werden ſollte, während König Wilhelm, der in England blieb,
ſich für ſeine Lebenszeit mit einer geringeren Rente begnügte.
Am folgenden Tage (Kew, 31. October 1831) ſchrieb der Herzog vertraulich (pri-
vate) an den König ſelbſt, dankte ihm für die Sendung von Ompteda und Falcke und
verſicherte: I cannot sufficiently declare my perfect satisfaction in all and every
[735]XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.
point. Niemand hätte edler und uneigennütziger handeln können als der König, proving
thus that Your sole object is to place the finances of the country of Hanover
on a footing that Your successors may not have difficulties. Darauf kommt er
wieder auf ſeine drei Bedenken zurück, erkennt dankbar an, daß der König hierin mit ihm
übereinſtimme, erwähnt ſodann, daß König Ludwig von Baiern ſelbſt nach ſchmerzlichen
Erfahrungen die Oeffentlichkeit der Landtage mißbillige, und bemerkt über die Diäten:
hier könne man vielleicht nachgeben; then at least the expence must fall upon the
country and not on the sovereign, and with such restrictions that the States
cannot protract the business in order to be paid so longer. Endlich ſetzte er mit
militäriſcher Sachkenntniß auseinander, wie man es künftig mit den beurlaubten Sol-
daten halten ſolle.
Auf dieſe beiden Briefe bezieht ſich offenbar die von L. Weiland (Rede auf Dahl-
mann, Göttingen 1885, S. 34) mitgetheilte Erzählung Roſe’s; nur daß dem Wieder-
erzähler Pertz dabei einige kleine Gedächtnißfehler mit untergelaufen ſind.
Der wohlmeinende König war überglücklich. Sein Thronfolger hatte gegen den
Entwurf nur drei Bedenken erhoben, von denen er das zweite — wegen der Diäten —
ſelbſt für unerheblich erklärte, während das dritte — wegen der beurlaubten Soldaten —
kaum zur Sache gehörte; dagegen hatte er der einzigen Vorſchrift des Entwurfs, welche
vielleicht der Zuſtimmung der Agnaten bedurfte, der Kaſſenvereinigung, mit überſtrömen-
der Dankbarkeit zugeſtimmt. König Wilhelm meinte alſo fortan gegen weitere Einſprüche
geſichert zu ſein und antwortete dem Bruder ſehr freundlich (Brighton, 3. Novbr. 1831).
Er betheuerte, daß er bei dem Entwurfe beſonders an die Intereſſen ſeiner Nachfolger
gedacht habe, Yourself and Your promising son. It had appeared to Me of the
utmost importance to the welfare and prosperity of the country … and to Your
own comfort and tranquillity that You should be fully informed of what has
been proposed to Me. Der Verfaſſungsplan ſei hervorgegangen aus einer gerechten
und liberalen, aber hoffentlich nicht furchtſamen Betrachtung der Lage Hannovers, aus
den allgemeinen Umſtänden, welche den Wunſch nach einer Verfaſſung hervorgerufen,
und aus der Nothwendigkeit, die Kundgebungen der öffentlichen Meinung einzelner
Klaſſen zu beachten. Die Bedenken wegen der Oeffentlichkeit und der Diäten ſolle Falcke
mit dem Vizekönig und dem hannöverſchen Miniſterium nochmals beſprechen, and I
have no doubt that such consideration will be given to them as circumstances
may seem to admit. Auch die Stellung der beurlaubten Soldaten würde noch von
Sachverſtändigen geprüft werden. Hierauf ließ der König die zwiſchen ihm und dem
Herzog gewechſelten Briefe durch ſeinen Sekretär, Generalleutnant Sir Herbert Taylor,
dem Vizekönige ſenden (Brighton, 7. November 1831): His Majesty considers it ad-
visable that Your R. Highness and the Hanoverian government should be in
possession of these documents, and He trusts they will prove satisfactory to you.
Die hannöverſche Regierung befolgte die Befehle des Königs gewiſſenhaft. Lediglich
aus Rückſicht für den Thronfolger wurde die Zuſage der Diäten aus der Verfaſſung
geſtrichen und in ein proviſoriſches Reglement verwieſen, das leicht wieder geändert werden
konnte. Die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen ließ ſich allerdings nicht mehr
ganz zurücknehmen, da der König ſie den Ständen bereits verſprochen hatte; ſie wurde
jedoch, um den Thronfolger zufrieden zu ſtellen, dahin abgeſchwächt, daß die Kammern
nur berechtigt, nicht verpflichtet ſein ſollten Zuhörer zuzulaſſen, und die Folge war, daß
die erſte Kammer immer geheim tagte. Damit glaubten die Miniſter dem Herzoge, dem
ja gar kein Mitregierungsrecht zuſtand, jede erdenkliche Nachgiebigkeit erwieſen zu haben
und führten fortan unbeſorgt das Verfaſſungswerk weiter. Der Entwurf wurde im
November 1831 einer aus Vertretern der Regierung und der Stände gemiſchten Com-
miſſion, dann im Mai 1832 dem neuen Landtage und ſchließlich im Frühjahr 1833 nach
mehrfacher Umarbeitung abermals dem Könige vorgelegt. Nachdem die alſo mit kur-
hannöverſcher Gründlichkeit bearbeitete Verfaſſung im September 1833 veröffentlicht war,
[736]XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.
wurde ſie von dem hannöverſchen Cabinetsminiſterium am 16. October 1833 dem Herzog
von Cumberland zugeſendet, nebſt der Anfrage, ob er geneigt ſei ſeinen Sitz in der erſten
Kammer einzunehmen, während gleichzeitig Miniſter Ompteda in London an den Herzog
von Suſſex die nämliche Frage ſtellte. Suſſex erhob keine grundſätzlichen Bedenken;
Cumberland aber antwortete wie folgt:
Berlin, 29. October 1833. Meine Herren! Ich habe durch den Geſandten
von Münchhauſen Ihr Schreiben vom 16. d. Mts. erhalten und verfehle nicht
Ihnen für dieſe Mittheilung meinen Dank zu erſtatten. Jedoch kann ich nicht
umhin Ihnen zu ſagen, daß ich im Jahre 1819 bei meinem ſeligen Bruder
König Georg IV. gegen die Einführung der allgemeinen Stände proteſtirt habe,
da dieſe nach meiner Anſicht nie hätten ſollen eingerichtet werden ohne vorherige
Einwilligung und Zuſtimmung aller männlichen Agnaten, weil dadurch eine
totale Veränderung der Verfaſſung des Landes bewirkt worden. Von allem,
was weiter vorgekommen, bin ich nicht genügend unterrichtet und kann mich
deshalb auch durch das neue Geſetz noch nicht gebunden halten.
Ihr ergebener
Ernſt.
Die Miniſter, Stralenheim, Alten, Schulte, von der Wiſch, waren durchweg Edel-
leute von der achtungswerthen, aber geiſtloſen althannöverſchen Schule. Begreiflich daher,
daß ſie durch dieſe unerwartete Erklärung des Thronfolgers ganz außer Faſſung geriethen.
Alle früheren Aeußerungen des Herzogs waren nur vertraulich geſchehen. Jetzt, in dem
einzigen förmlichen Aktenſtücke, das er jemals über das Staatsgrundgeſetz geſchrieben hat,
verweigerte er nicht nur, die früheren Verhandlungen einfach ableugnend, vorläufig ſeine
Zuſtimmung zu dem neuen Staatsgrundgeſetze; er ſchien ſogar — ſoweit ſeine Worte
ſich deuten ließen — zu den alten Provinzialſtänden, zu dem Zuſtande vom Jahre 1803
zurückkehren zu wollen; denn die allgemeine Ständeverſammlung, die er als unrecht-
mäßig verwarf, war im Jahre 1819 nur verändert, aber ſchon im Jahre 1814, zur
ſelben Zeit da die Königskrone Hannovers entſtand, begründet worden. In ihrer
Angſt wagten die Miniſter nicht, dem Herzog kurzweg die Frage zu ſtellen, ob er das
Staatsgrundgeſetz anerkenne oder eine förmliche Rechtsverwahrung einlegen wolle. Sie
ſchrieben vielmehr an Ompteda, den hannöverſchen Miniſter in London (14. November
1833), erzählten ihm das Geſchehene und bemerkten dazu: von einem früheren Proteſte
des Herzogs wüßten ſie gar nichts; auch hielten ſie für zweifelhaft, ob ein ſolcher Proteſt
im Jahre 1819 überhaupt noch möglich geweſen, da die allgemeine Ständeverſammlung
des Königreichs ſchon fünf Jahre früher einberufen worden ſei. Nicht minder zweifelhaft
ſcheine es, ob dieſe Verfaſſungsänderungen der Zuſtimmung der Agnaten bedürften; bei
der Union der Landſchaften Calenberg und Grubenhagen im Jahre 1801 habe man die
Agnaten auch nicht befragt. Zudem laſſe ſich nicht leugnen, daß die alten Provinzial-
ſtände größere, für die Krone gefährlichere Rechte beſeſſen hätten, als heute der allgemeine
Landtag. Zum Schluß meinten ſie harmlos, die Bemerkungen des Herzogs ſchienen ſich
doch wohl nur auf die Form, nicht auf den Inhalt des Staatsgrundgeſetzes zu beziehen;
denn aus ſeinen Geſprächen mit Ompteda und Falcke, aus ſeinen Briefen an den König
und den Herzog von Cambridge gehe klar hervor, daß er vor zwei Jahren den Ver-
faſſungsentwurf gebilligt habe, mit einziger Ausnahme der Beſtimmungen über die Oeffent-
lichkeit und die Diäten.
Der König zeigte ſich über die Sinnesänderung ſeines Bruders keineswegs über-
raſcht; er wußte längſt, daß der Herzog mit dem Führer der hannöverſchen Adelspartei,
Freiherrn von Schele, in Verbindung ſtand und ſich gegen den Geſandten Münchhauſen
ſehr feindſelig über das Staatsgrundgeſetz geäußert hatte. Als ihm Geh. Legationsrath
Lichtenberg am 28. November in Brighton Vortrag hielt, verſicherte er beſtimmt, daß
er weder einen Proteſt des Herzogs aus dem Jahre 1819 kenne, noch von mündlichen
[737]XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.
Erörterungen zwiſchen Cumberland und König Georg IV. etwas wiſſe. Er billigte die
Meinung der Miniſter, daß ein Proteſt der Agnaten unzuläſſig ſei, und bemerkte — mit
deutlicher Anſpielung auf Cumberland’s bekannte Schuldenlaſt — „wie Allerhöchſt-Sie
nicht beſorgten, die abweichenden Anſichten Sr. k. Hoheit würden dem Lande zum Nach-
theil gereichen, allerdings aber Sich des Gedankens nicht zu erwehren vermöchten, es
würden dieſelben eher zum Nachtheil als zum Vortheil Sr. k. Hoheit ſelbſt ausſchlagen.“
Der König wünſchte, daß der Vizekönig eine angemeſſene, ausgleichende Erwiderung an
den Bruder ſchreiben ſolle, fügte aber hinzu, „daß Sie ungern geſtehen müßten, einen
günſtigen Erfolg davon kaum hoffen zu können“. (Lichtenberg’s Bericht an das Cabinets-
miniſterium, 3. December 1833.)
Hierauf traten die hannöverſchen Miniſter nochmals in Berathung und ſchrieben
an Lichtenberg (Miniſterialſchreiben vom 13. December 1833): „An und für ſich können
wir zwar die gedachte Erwiderung ſo wenig ihrer Form als ihrem Inhalt nach für eine
eigentliche Proteſtation gegen das Staatsgrundgeſetz halten; allein wir können allerdings
die Beſorgniß nicht unterdrücken, daß dieſem Aktenſtücke früher oder ſpäter eine andere
Abſicht untergelegt und es uns zum Vorwurf gemacht werden könnte, wenn wir daſſelbe
mit Stillſchweigen angenommen hätten.“ Deshalb, und weil eine eigenhändige Erwide-
rung des Königs der Sache mehr Wichtigkeit geben würde, als ſie haben ſolle, hätten
die Miniſter ſich entſchloſſen, dem Thronfolger ſelbſt zu antworten, und hofften auf die
nachträgliche Genehmigung des Königs.
Dies Erwiderungsſchreiben des Cabinetsminiſteriums an Cumberland (vom 11. De-
cember 1833 datirt) war überaus zart gehalten, obgleich man wiſſen mußte, daß der Herzog
mittlerweile dem Vizekönige (in einem Briefe vom 29. November) erklärt hatte, er werde
mehreren Beſtimmungen des Staatsgrundgeſetzes, namentlich der Kaſſenvereinigung, nie
ſeine Zuſtimmung ertheilen. Die Miniſter begnügten ſich dem Herzog zu bemerken, daß
die Zuſtimmung der Agnaten zwar wünſchenswerth, doch nicht nothwendig ſei, und das
Staatsgrundgeſetz jetzt überdies unter dem Schutze des Art. 56 der Schlußakte des
Deutſchen Bundes ſtehe. Sie bewieſen ihm ſodann, daß die königliche Autorität durch
die Kaſſenvereinigung nur verſtärkt werde, und erinnerten ihn daran, wie ſorgſam ſie
ſein Bedenken wegen der Diäten berückſichtigt hätten: „es iſt uns gelungen, jede des-
fallſige Beſtimmung aus dem Staatsgrundgeſetze zu entfernen;“ auch die Oeffentlichkeit
des Landtags ſei, dem Wunſche des Herzogs gemäß, wenigſtens ſtark beſchränkt worden.
Damit ſchloſſen ſie. Auch jetzt wagten ſie nicht, dem Thronfolger zu ſagen, daß ſie
nunmehr ein unzweideutiges Ja oder Nein von ihm verlangen müßten, um dann nöthigen-
falls mit Hilfe des Landtags oder des Bundestags weitere Maßregeln zu ergreifen.
Der König ſprach zu dieſem Schreiben „ſeinen ganzen Beifall“ aus (Lichtenberg’s
Bericht, 17. Januar 1834). Der Thronfolger aber erwiderte nichts, da er das Schreiben
in Folge eines Zufalls nicht erhalten hatte. Als Cumberland bald nachher wieder nach
England kam, hielt Geh. Rath Lichtenberg am 24. Januar, 27. Februar und 24. März
drei Unterredungen mit ihm über das Staatsgrundgeſetz, wobei er dem Herzog eine
Abſchrift des verlorenen Schreibens vorlas (Lichtenberg’s Berichte vom 28. Februar und
27. März 1834). In dieſen Geſprächen offenbarten ſich die Hintergedanken des Herzogs
ganz unverkennbar.
Derſelbe Fürſt, der vor zwei Jahren das Staatsgrundgeſetz bis auf drei Punkte
gebilligt hatte, erklärte jetzt: „Ich war immer gegen eine allgemeine Ständeverſammlung
des Königreichs; ich habe dies 1814 in einer Denkſchrift dem Prinzregenten geſagt und
ſpäterhin mündlich bei ihm dawider proteſtirt; ich habe deshalb im Jahre 1822 die
Ständeverſammlung nicht empfangen, als ſie ſich mir durch den Grafen Merveldt vor-
ſtellen laſſen wollte, ſondern ihr erwidert, daß ich nur die Einzelnen als Privatperſonen
empfangen könne. Meine Anſicht iſt alſo notoriſch. Aus der Union von Calenberg
und Grubenhagen folgt nicht, daß auch die ſtändiſche Union für das geſammte König-
reich ohne Einwilligung der Agnaten eingeführt werden darf. Warum können wir nicht
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 47
[738]XIX. Prinz Wilhelm und Prinzeſſin Eliſe Radziwill.
Provinzialſtände haben wie Preußen?“ — Das alles unter der feierlichen, dem alten
Soldaten geläufigen Betheuerung: ich ſpreche meine Anſicht immer frei und offen aus,
ich habe immer die Sache, nie die Perſon im Auge. — Nachdem er früherhin erklärt
hatte my perfect satisfaction in all and every point, except in three points,
wagte er jetzt zu behaupten: wenn er gegen Ompteda und Falcke nur zwei Punkte hervor-
gehoben habe, „ſo werde daraus nie der Schluß gezogen werden können, daß Sie allem
Uebrigen Ihren Beifall gegeben hätten“. Am anſtößigſten erſchien ihm jetzt die Kaſſen-
vereinigung, die er früher mit ſo inbrünſtigem Danke begrüßt hatte: dadurch werde das
königliche Einkommen abhängig von der Bewilligung der Stände. Vergeblich hielt ihm
Lichtenberg vor, daß die Krone vielmehr erſt jetzt durch die Krondotation ein völlig ſelb-
ſtändiges Einkommen erhalte. Auch auf ſeine früheren Einwände kam der Herzog wieder
zurück: Wenn man keine Diäten bewilligt hätte und die Stände wären deshalb nicht
zuſammengekommen, „ſo würde gerade dadurch das Gouvernement die Gelegenheit in
den Händen gehabt haben, die Verſammlung nicht ferner zu berufen zu brauchen“. Dann
eiferte er noch gegen die Oeffentlichkeit des Landtags ſowie gegen die neue Organiſation
der Cavallerie und ließ ſich auch nicht beruhigen, als Lichtenberg ihm vorſtellte, der Land-
tag dürfe ja das Militärbudget nur in Bauſch und Bogen bewilligen. Selbſt der ehr-
furchtsvolle Geheime Rath vermochte am Schluſſe ſeiner Berichte nur zu ſagen: „daß,
wenn der unterthänigſt gehorſamſt Unterzeichnete überhaupt wagen darf eine Anſicht
über den Eindruck anzudeuten, welche die lange Unterredung auf Se. k. Hoheit hervor-
brachte, derſelbe wenigſtens kein durchaus ungünſtiger zu ſein ſchien.“
Damit ſchließen die Akten. Das Miniſterium beruhigte ſich bei dieſem „ſchien“
des ſanften Lichtenberg und trieb in unbegreiflicher Sorgloſigkeit dem Staatsſtreiche ent-
gegen. Die welfiſche Tragikomödie fand nachher ihren würdigen Abſchluß, als König
Ernſt Auguſt ſeinem Lande eigenmächtig dieſelbe Verfaſſung vom Jahre 1819 wieder auf-
erlegte, welche der Herzog von Cumberland einſt als völlig widerrechtlich verworfen hatte.
Dem Staatsgrundgeſetze folgte am 19. November 1836 das Hausgeſetz für das
königliche Haus. Ueber deſſen Entſtehung weiß ich nichts Nenes zu berichten. Bekannt
iſt nur, daß Dahlmann, der dies Hausgeſetz auszuarbeiten hatte, am 21. April 1834
vom Cabinetsminiſterium die amtliche Mittheilung erhielt: die Zuſtimmung der voll-
jährigen königlichen Prinzen ſei erfolgt. Ebenſo bekannt, daß der Herzog von Cumber-
land am 18. December 1835 an Geh. Rath Falcke ſchrieb: er könne als ehrlicher Mann
das Hausgeſetz, das ſo feſt mit dem Staatsgrundgeſetze zuſammenhänge, für jetzt noch
nicht unterzeichnen: I must have much more aid and advice before I can allow
myself to take so serious a step as you propose me doing. Da jene Verſicherung
des Miniſteriums unmöglich ganz grundlos ſein kann, ſo drängt ſich unabweisbar die
Vermuthung auf, daß der Herzog beiden Geſetzen gegenüber auf dieſelbe Weiſe verfahren
iſt: er hat zuerſt in unverbindlicher Form ſeine Zuſtimmung gegeben, um nachher —
nicht ehrlich zu proteſtiren, ſondern die Entſcheidung ins Ungewiſſe hinauszuſchieben.
XIX.Prinz Wilhelm und Prinzeſſin Eliſe Radziwill.
Zu Bd. III. 393. IV. 197.
So lange Kaiſer Wilhelm I. lebte, hielt ich für ſchicklich, über ſeine unglückliche
Jugendliebe nur das Unentbehrliche zu ſagen. Heute trage ich kein Bedenken mehr,
meinen Leſern aus dem Briefe des Prinzen Wilhelm vom 23. Juni 1826 die Stellen
mitzutheilen, welche ich vor Jahren den Tagebüchern des Generals Witzleben entnommen
habe. Dieſe Herzensgeſchichte des Begründers unſerer Einheit hat für uns Deutſche
[739]XIX. Prinz Wilhelm und Prinzeſſin Eliſe Radziwill.
eine ähnliche Bedeutung wie einſt die Kämpfe Friedrich’s II. mit ſeinem Vater. Der
Prinz ſchreibt:
„… Sie haben, theuerſter Vater, die Entſcheidung für mein Schickſal gegeben,
die ich ahnden mußte, aber mich zu ahnden ſcheuete, ſo lange ein Strahl von Hoffnung
mir noch blieb … Leſen Sie in meinem Herzen, um in demſelben den unausſprech-
lichen Dank zu finden, der es belebt für alle die unzähligen Beweiſe Ihrer Gnade, Liebe
und Langmuth, die Sie mir in dieſen bewegten fünf Jahren gaben, vor Allem aber
noch für den unbeſchreiblich tief mich ergriffen habenden Brief vom geſtrigen Tage.
Welchen Eindruck er mir gemacht, bin ich nie im Stande zu ſchildern. Ihre väterliche
Gnade, Liebe und Milde, Ihre liebevolle Theilnahme bei dem ſchweren Geſchick, das mich
trifft, das Vorhalten meiner Pflichten in meinem Stande, die Anerkennung der Wür-
digkeit des Gegenſtandes, dem ich meine Neigung geſchenkt habe, die Erinnerung an alle
Verſuche, welche Ihre Liebe zu Ihren Kindern Sie unternehmen ließ, um die Wünſche
meines Herzens zu erfüllen — Alles, Alles dies in den Zeilen zu finden, die mein Schick-
ſal entſchieden, miſchte in mein erſchüttertes Herz ſo viel Troſt und ſo unausſprechliches
Dankgefühl, daß ich nur durch die kindlichſte Liebe und durch mein ganzes Verhalten in
meinem künftigen Leben im Stande ſein werde, Ihnen, theuerſter Vater, meine wahren
Geſinnungen zu bethätigen. Ich werde Ihr Vertrauen rechtfertigen, und durch Be-
kämpfung meines tiefen Schmerzes und durch Standhaftigkeit in dem Unabänderlichen
in dieſer ſchweren Prüfung beſtehen. Gottes Beiſtand werde ich anrufen. Er verließ
mich in ſo vielen ſchmerzlichen Augenblicken meines Lebens nicht, Er wird mich auch
jetzt nicht verlaſſen … So ſchließe ich dieſe wichtigen Zeilen zwar mit zerriſſenem Her-
zen, aber mit einem Herzen, das Ihnen, theuerſter Vater, inniger denn je anhängt!
Denn Ihre väterliche Liebe war nie größer als in der Art der ſchweren Entſcheidung.“ —
Ueber die vielbeſtrittene Rechtsfrage, welche in dieſer Familiengeſchichte mitſpielt,
wage ich eine abſchließende Entſcheidung nicht zu geben. So weit ich aber zu urtheilen
vermag, glaube ich allerdings, daß die Miniſter das Rechte trafen, als ſie ſich gegen die
Ebenbürtigkeit der Prinzeſſin Radziwill ausſprachen. Wohl hatte einſt Luiſe Charlotte
Radziwill, die reiche Erbin der Herrſchaften Tauroggen und Serrey, den Sohn des
großen Kurfürſten, Markgraf Ludwig, nachher in zweiter Ehe den Pfalzgrafen Karl Lud-
wig geheirathet, und weder im brandenburgiſchen noch im pfälziſchen Hauſe wurde die
Ebenbürtigkeit dieſer Ehen je bezweifelt. Aber ſeitdem waren ſchärfere und härtere Rechts-
begriffe im preußiſchen Königshauſe zur Herrſchaft gelangt. Friedrich II. verlangte von
Kaiſer Karl VII. ausdrücklich, „daß alle diejenigen fürſtlichen Heirathen ſchlechterdings
für ungleich zu achten, welche mit Perſonen unter dem alten reichsgräflichen Sitz und
Stimme in comitiis habenden Stande contrahirt werden“. Dieſe Erklärung des Ober-
hauptes der Dynaſtie war für die Nachfolger bindend, ſo lange ſie nicht durch ein Haus-
geſetz beſeitigt war; und da die Fürſten Radziwill zwar den reichsfürſtlichen Titel, aber
niemals Sitz und Stimme auf den Reichstagen erlangt hatten, ſo konnten ſie fortan,
trotz ihres Reichthums und hiſtoriſchen Ruhmes, dem preußiſchen Königshauſe nicht mehr
für ebenbürtig gelten. Prinz Wilhelm von Preußen war ſelbſt dieſer Anſicht. Er bat
ſeinen königlichen Vater in einem Briefe aus Petersburg vom 12. Februar 1826, daß
Prinz Auguſt von Preußen die Prinzeſſin Eliſabeth Radziwill, um ihr die Ebenbürtigkeit
zu verſchaffen, an Kindesſtatt annehmen, und die Söhne des Königs dieſe Adoption ge-
nehmigen ſollten. Dies bezeugt Fürſt Wittgenſtein in einem Schreiben an Graf Bern-
ſtorff vom 28. März 1826. —
47*
[740]XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
XX.Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
Zu Bd. IV. 215.
(Zuerſt abgedruckt in den Forſchungen zur brandenb. u. preuß. Geſchichte. Bd. 2.)
Als J. G. Droyſen in ſeinem lehrreichen Aufſatze „Zur Geſchichte der preußiſchen
Politik in den Jahren 1830—32“*) zum erſten male eine aktenmäßige Darſtellung der
Bundesgeſchichte jener Jahre gab, gelangte er zu dem Ergebniß, daß damals „der poſi-
tive und der negative Pol deutſcher Geſchichte, das Syſtem des engeren Bundes unter
Preußens Führung und das Syſtem der alten Bundesverfaſſung unter öſterreichiſchem
Präſidium“, in aller Schärfe einander gegenübergetreten ſeien. Wie fern es mir auch
liegt, gegen meinen verſtorbenen Lehrer und Collegen eine Polemik zu beginnen, ſo kann
ich doch nicht verſchweigen, daß ich nach Einſicht der Akten dieſe Auffaſſung für über-
trieben halte und den Verhandlungen, welche in jener Zeit über einen möglichen fran-
zöſiſchen Krieg geführt wurden, eine ſo hohe Bedeutung nicht beizumeſſen vermag.
In ſeinem ſchönen patriotiſchen Eifer war Droyſen ſehr geneigt, die Ideen unſerer
modernen nationalen Politik ſchon in älteren, anders empfindenden Zeiten aufzuſuchen.
Augenſcheinlich iſt ſein Urtheil mitbeſtimmt worden durch eine nahe liegende und doch
nicht zutreffende Vergleichung, durch die Erinnerung an das Jahr 1859. Damals hatte
Oeſterreich in Italien ſchwere Niederlagen erlitten; der preußiſche Hof aber durfte nach
menſchlichem Ermeſſen ſicher hoffen, das von Truppen ganz entblößte Frankreich zu be-
ſiegen. Er war alſo in der Lage, ſeine Bedingungen zu ſtellen, als er, einer hochher-
zigen, unpolitiſchen Regung folgend, dem bedrängten Nachbar ſeine Hilfe anbot; und
wenn er die Führung des Bundesheeres für ſich verlangte, ſo konnte er auf die öffent-
liche Meinung in Preußen ſelbſt wie in einem großen Theile des übrigen Deutſchlands
zählen, da der Gedanke des Engeren Bundes ſeit dem Jahre 1848 längſt tiefe Wurzeln
geſchlagen hatte. Begreiflich alſo, daß Oeſterreich durch den Vertrag von Villafranca
die Lombardei dahingab, um dem nordiſchen Nebenbuhler nur nicht eine militäriſche
Führerſtellung einzuräumen, die bei glücklichem Verlaufe des Krieges wahrſcheinlich Preu-
ßens dauernde Hegemonie in Deutſchland begründet hätte. Wie anders die Lage im
Jahre 1831! Auch damals hätte Oeſterreich, wenn der von allen Seiten erwartete
Weltkrieg hereinbrach, den beſten Theil ſeiner Kriegsmacht gegen die Revolution in Italien
und die dort vielleicht einrückenden franzöſiſchen Truppen verwenden müſſen; aber die
ſchwerſte Laſt und die ſchwerſte Gefahr des Kriegs fiel auf Preußen; denn die Rhein-
grenze war unzweifelhaft das letzte Ziel der Pariſer Kriegspartei. Dem Wiener Hofe
gegenüber konnte Preußen alſo nicht nach freiem Ermeſſen verfahren, ſondern mußte zu-
frieden ſein, wenn Oeſterreich überhaupt in der Lage war, ein Hilfsheer auf den deut-
ſchen Kriegsſchauplatz zu ſenden. Nimmt man hinzu, daß der Gedanke der preußiſchen
Hegemonie ſich weder in der Nation noch am Berliner Hofe irgendwie zur Klarheit ent-
wickelt hatte, daß der einzige Staatsmann großen Stiles, Motz, ſchon im Juni 1830
geſtorben war, daß weder der König noch Bernſtorff oder Eichhorn hohen Ehrgeiz hegte,
daß das Auswärtige Amt mit der Sicherung des Weltfriedens und der ſchwierigen Er-
weiterung des Zollvereins vollauf beſchäftigt war, ſo läßt ſich nicht abſehen, woher Preu-
ßens deutſche Politik die Kraft hätte nehmen ſollen, auch noch eine ſchöpferiſche Reform
des Bundes-Heerweſens zu verſuchen.
Der Darſteller der alten oder der mittelalterlichen Geſchichte verſucht durch einen
combinirenden Scharfſinn, deſſen Rechnungen jeder unterrichtete Leſer zu folgen ver-
mag, aus einer lückenhaften Ueberlieferung ein annähernd vollſtändiges Bild des Ge-
[741]XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
ſchehenen zu gewinnen. Wer die neue oder gar den unüberſehbaren Stoff der neueſten
Geſchichte behandelt, verrichtet ſeine ſchwerſte Arbeit, bevor er zu ſchreiben anfängt, un-
bemerkt von der Mehrzahl der Leſer; er muß den Wuſt ſeiner Aktenſtücke ſo lange durch-
denken, bis er das Große von dem Kleinen zu unterſcheiden vermag und genau weiß,
was aus dem Durcheinander diplomatiſcher Einfälle, Ränke und Seifenblaſen der hiſto-
riſchen Mittheilung würdig ſei. Verſuchen wir den rechten Abſtand von dem Bilde zu
gewinnen, ſo erſcheint der Verlauf jener Verhandlungen über einen möglichen Bundes-
krieg ziemlich einfach, ihr hiſtoriſches Ergebniß nicht ſehr erheblich.
Die deutſche Kriegsverfaſſung vom Jahre 1821 war ein unter Oeſterreichs ſtiller
Beihilfe errungener Triumph der Mittelſtaaten; ſie gewährte der Eitelkeit der kleinen
Höfe die Genugthuung, daß ſie ſelbſt auf dem Papiere mehr Bundestruppen ſtellten als
jede der beiden Großmächte: vier Corps mit 120,000 Mann, während Oeſterreich nur
drei Corps mit 97,000 Mann, Preußen auch nur drei mit 80,000 Mann zu ſtellen
hatte. An die Spitze dieſes Bundesheeres ſollte in Kriegszeiten ein vom Bundestage
ernannter Bundesfeldherr treten, der, wie die Stimmen in Frankfurt ſtanden, nur ein
Oeſterreicher oder vielleicht ein kleiner Prinz, aber unmöglich ein Preuße ſein konnte. An
die förmliche Beſeitigung dieſer aberwitzigen Vorſchriften dachte Niemand, am wenigſten
der preußiſche Hof; denn ſchon ſeit dem Anfang der Zwanzigerjahre befolgte Graf Bern-
ſtorff den wohlerwogenen Grundſatz, daß alle gemeinnützigen Maßregeln für Deutſch-
lands Sicherheit und Wohlfahrt nicht durch den Bund, ſondern durch Verabredungen
der Einzelſtaaten bewirkt werden müßten. Aber auch an die Ausführung der Kriegs-
verfaſſung ließ ſich nicht denken; vielmehr beſtand an allen Höfen der ſtillſchweigende
Entſchluß, im Kriegsfalle nach den Umſtänden zu handeln und über jene leeren Para-
graphen hinwegzuſehen. Jedermann wußte, daß Preußen durch jede Bedrohung des
Bundesgebiets in ſeinem eigenen Daſein gefährdet und mithin gezwungen wurde, ſeine
geſammten neun Armeecorps, das Dreifache ſeines Bundescontingents, auf den deutſchen
Kriegsſchauplatz zu werfen, während Oeſterreich und die Kleinſtaaten vielleicht nicht ein-
mal das Wenige leiſten konnten, was ihnen das Bundesgeſetz vorſchrieb.
Als nun die Juli-Revolution den Deutſchen Bund mit Krieg bedrohte, da hielten ſich
die kleinen Höfe gegenüber den geheimen Lockungen der franzöſiſchen Diplomatie alleſammt
ganz untadelhaft, die einen weil ſie deutſch dachten, die anderen weil ſie die Revolution
haßten. Viel mehr als löbliche Geſinnungen hatten ſie dem Vaterlande freilich nicht
zu bieten. Südlich von Mainz und Würzburg gab es keine Feſtung, weil der Bundes-
tag ſich über die oberländiſchen Bundesfeſtungen nicht hatte einigen können; das weite
Gebiet vom Böhmerwalde bis zum Oberrhein lag jedem Angriff offen, und die ſüddeut-
ſchen Truppen waren durch die Sparſamkeit der Landtage ſo arg verwahrloſt, daß ſie
damals unzweifelhaft noch weniger geleiſtet hätten als in dem Mainfeldzuge von 1866.
Mit dem öſterreichiſchen Heere ſtand es kaum beſſer; die Rüſtungen dort ſchritten ſehr
langſam vor, und bei der unheimlichen Gährung in Italien ließ ſich ſchwer abſehen, wie
viele Truppen die Hofburg für den Schutz des deutſchen Südweſtens übrig behalten
würde. In ſolcher Lage waren die ſüddeutſchen Höfe gern bereit, ſich nöthigenfalls durch
Preußen retten zu laſſen; ſie beſprachen ſich vertraulich mit den preußiſchen Geſandten
über mögliche gemeinſame Rüſtungen. Preußen verſuchte nun zunächſt den Wiener Hof
vorwärts zu treiben; dort herrſchte jedoch eine tiefe Entmuthigung, die erſt im Herbſt
1831, nach dem Falle Warſchaus, einer friſcheren Stimmung weichen ſollte. Metternich
verſprach, den Fürſten Schönburg, den Geſandten in Stuttgart, zu näheren Verhand-
lungen an die ſüddeutſchen Höfe zu ſenden; aber Schönburg blieb ſeit dem November
1830 monatelang unthätig in Wien.
Da beſchloß man zu Berlin, den Vortritt zu übernehmen, und ſendete im December
den General v. Röder in die Hofburg. Im Januar 1831 überreichte der General ſeine
militäriſchen Vorſchläge (politiſche Aufträge hatte er nicht). Preußen erklärte ſich bereit,
gegebenen Falles mit ſeiner ganzen Macht in den Krieg einzutreten, und verlangte, daß
[742]XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
drei Heere gebildet würden: ein preußiſch-norddeutſches an der Moſel, ein ſüddeutſches,
durch preußiſche Truppen verſtärkt, am Ober- und Mittelrhein, dazu ein öſterreichiſches
Heer in Schwaben. Dieſe Vorſchläge gingen über alle älteren Forderungen Preußens
ſehr weit hinaus. Drangen ſie durch, ſo wurde das nördliche Bundesheer unmittelbar,
das mittlere wenigſtens mittelbar preußiſchem Befehle unterſtellt, und Oeſterreich mußte
ſich mit der beſcheidenen Rolle einer Hilfsmacht begnügen, während Preußen bei den
früheren Verhandlungen über das Bundeskriegsweſen immer nur die Zweitheilung des
Bundesheeres gefordert hatte, ſo daß Oeſterreich die ſüddeutſchen, Preußen die nord-
deutſchen Truppen führen ſollte. Aber dieſe neue ſtarke Zumuthung war rein militäriſch,
ſie wurde ohne jeden politiſchen Hintergedanken ausgeſprochen, ſie bezog ſich nur auf den
möglichen nächſten Feldzug; und da Metternich ſelbſt bezweifelte, ob Oeſterreich an dem
deutſchen Kriege wirkſamen Antheil nehmen könne, ſo kam er anfangs den Vorſchlägen
Röder’s freundlich entgegen. Gleich ihm auch Graf Gyulay mitſammt dem Hofkriegs-
rathe. Nur auf die Ernennung eines Bundesfeldherrn wollte Metternich nicht gern ver-
zichten; aber auch dieſen Gedanken hielt er nicht feſt, weil der alte Erzherzog Karl, dem
man dieſe Würde zudachte, wenig geneigt war, ein ſo peinliches Amt zu übernehmen.
Erſt als Feldmarſchallleutnant Langenau, vor Zeiten Preußens geſchworener Wider-
ſacher am Bundestage, zu den Berathungen zugezogen wurde, da erſt begannen die
Oeſterreicher ſich mißtrauiſch zu zeigen. Langenau verlangte die Bildung zweier Bundes-
heere unter dem Oberbefehle Oeſterreichs und Preußens. Auch dies war ſchon ein großes
Zugeſtändniß, da der Wiener Hof früherhin den Plänen des militäriſchen Dualismus
immer insgeheim widerſtrebt hatte.
Während die Wiener Verhandlungen alſo ohne Entſcheidung ſich hinzogen und
Fürſt Schönburg noch immer unthätig in der Hofburg weilte, entſchloß ſich König Friedrich
Wilhelm, unmittelbar mit den ſüddeutſchen Bundesgenoſſen zu unterhandeln. General
Rühle von Lilienſtern wurde im Februar nach München, dann zu den anderen Höfen
des Oberlandes geſendet und dort überall ſehr herzlich aufgenommen. Man brauchte
Norddeutſchlands Waffenhilfe, man mußte bei den ſchwebenden Zollvereinsverhandlungen
auf Preußens Freundſchaft rechnen; überdies hofften Baiern und Baden, ihren Spon-
heimer Erbfolgeſtreit durch die Vermittelung des Berliner Hofes auszutragen. König
Ludwig von Baiern ſchrieb glückſelig nach Berlin (17. März): „Ew. Kön. Maj. muß ich
die durch General Rühle von Lilienſtern’s Sendung mir verurſachte Freude ausdrücken,
der ich bald nach der vorjährigen Pariſer Revolution ſchon Rückſprache mit Preußen zu
nehmen gewünſcht hatte. Ich kenne kein Nord- und kein Süd-Teutſchland, nur Teutſch-
land … bin der Ueberzeugung, daß blos in feſtem Anſchließen an Preußen Heil zu
finden iſt. Meiner Anſicht nach haben beide Länder (was faſt bei keinem anderen der
Fall) in nichts entgegengeſetzte Intereſſen, ſondern gemeinſame Richtung.“ Die ſüd-
deutſchen Höfe waren mit der Bildung von drei Heeren ganz einverſtanden. Sie hielten
namentlich für unerläßlich, daß ihre Truppen nach dem Maine zu ihren Rückzug nehmen
müßten, nicht nach dem Lech, wie Langenau vorſchlug; denn ſie mißtrauten alleſammt
der Leiſtungsfähigkeit, manche ſogar dem guten Willen Oeſterreichs und hatten die böſen
Erfahrungen der Revolutionskriege noch in friſcher Erinnerung. Sie beſchloſſen, dem
Feldmarſchall Wrede den Befehl über das bairiſche und das achte Bundesarmeecorps an-
zuvertrauen; ſie thaten auch einiges, um dieſem achten Corps eine etwas gleichmäßigere
Ordnung zu geben, und beriethen ſich vertraulich über Einzelheiten des möglichen Feld-
zugsplanes. Aber dabei blieb es auch: ernſtlich zu rüſten wagten ſie nicht, während
Oeſterreich jetzt eifrig ſein Heer zu verſtärken anfing, der größte Theil des preußiſchen
Heeres ſchon zur Bewachung der belgiſchen wie der polniſchen Grenze aufgeboten war.
Mittlerweile begann die Stimmung in der Hofburg etwas gereizt zu werden, und
dieſer Unmuth war nicht ganz grundlos. Gewiß hatte Oeſterreich allein durch ſeine
Saumſeligkeit das einſeitige Vorgehen Preußens verſchuldet. Aber der Bund der drei
großen Oſtmächte bildete nun einmal den Grundſtein der europäiſchen Politik Preußens;
[743]XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
nur im Verein mit Oeſterreich wollte und konnte der Berliner Hof den Krieg gegen
Frankreich führen, und da der alte Kaiſerſtaat trotz ſeiner augenblicklichen Schwäche doch
ein ſchwereres Gewicht in die Wagſchale warf als die ganz ungerüſteten Kleinſtaaten, ſo
mußte Kaiſer Franz es wohl als eine Kränkung empfinden, daß Preußen über ſeinen
Kopf hinweg mit den Süddeutſchen unterhandelte. Die preußiſchen Generale ſelbſt waren
über dieſe Frage verſchiedener Meinung. Der Chef des Generalſtabs, General Krauſeneck,
der den liberalen Ideen nahe ſtand, erhoffte irgend ein unbeſtimmtes politiſches Glück
von dem Bunde des aufgeklärten Preußens mit den conſtitutionellen Südſtaaten. General
Clauſewitz dagegen, der immer zuerſt die europäiſche Politik ins Auge faßte, meinte ent-
ſchieden: zunächſt müſſe man mit dem mächtigen Oeſterreich ins Reine gelangen, dann
würden die Kleinen von ſelber kommen. Von einem tiefen grundſätzlichen Gegenſatze
war bei allen dieſen kleinen Mißhelligkeiten gar nicht die Rede. Daß Preußen ſich unter
der Hand die militäriſche Hegemonie erringen wollte, argwöhnte in Wien Niemand —
aus dem einfachen Grunde, weil der Berliner Hof ſolche Abſichten nicht hegte. Selbſt
in den vertrauten Briefen der öſterreichiſchen Staatsmänner über dieſe militäriſchen Ver-
handlungen findet ſich kein Wort des Aergers, das ſich nur von fern vergleichen ließe
mit den leidenſchaftlichen und wohlbegreiflichen Zornreden, welche Metternich über die
preußiſche Zollvereinspolitik auszuſchütten pflegte. Auch Gentz klagt vor ſeinem getreuen
Rothſchild nur über die Formfehler, die Rückſichtsloſigkeit des preußiſchen Verfahrens.
Man war verſtimmt, weil Preußen vorangeſchritten war, und ſuchte jetzt den Vorſprung
wieder einzuholen.
Im April kehrte General Röder aus Wien heim, ohne einen Abſchluß erreicht zu
haben. Kaiſer Franz gab ihm einen von Zärtlichkeit überſtrömenden Brief an den König
mit auf den Weg (2. April). Darin dankte er dem Könige für das Vertrauen, das
ihm durch Röder’s Sendung erwieſen ſei, und fuhr fort: Il n’est pas une de mes
pensées qu’Elle ne connaisse, tout comme j’ai le sentiment de ne pas me tromper
sur aucune des Siennes. Plus les dangers du jour sont grands, et plus je suis
convaincu que le salut encore possible ne peut se trouver et ne se trouvera
que dans l’union la plus intime et l’union la plus franche et la plus complète
entre nous deux. Der Zweck dieſer Betheuerungen war natürlich, den König zu mahnen,
daß er ſich zuerſt mit dem alten Herzensfreunde verſtändigen möge. In ähnlichem Sinne
ſchrieb Metternich. Zugleich überbrachte Fürſt Schönburg, der nunmehr endlich auf ſeinen
Poſten zurückkehrte, den ſüddeutſchen Höfen die Einladung zu vertraulichen militäriſchen
Berathungen in Wien. König Ludwig aber lehnte das Anſinnen rundweg ab.
In Preußen ließ man ſich durch dieſe Anzeichen öſterreichiſcher Empfindlichkeit vorerſt
nicht ſtören; war man doch ganz offen und ohne jede Feindſeligkeit gegen die Hofburg
verfahren. Als General Witzleben am 1. Juli die Reiſeberichte Röder’s und Rühle’s
dem Auswärtigen Amte überſendete, ſagte er mit warmen Worten, Preußen müſſe das
Vertrauen unſerer ſüddeutſchen Brüder largement erwidern, das wahre deutſche Intereſſe
werde allemal auch ein preußiſches ſein —, und ſchloß arglos: „Es leidet auch keinen
Zweifel, daß man ſich darüber mit Oeſterreich leicht wird verſtändigen können.“ Am
15. Auguſt faßte Bernſtorff ſodann, in zwei Miniſterialſchreiben an ſeine ſüddeutſchen
Geſandtſchaften, die Ergebniſſe von Rühle’s Sendung zuſammen und ſchlug vor, zur
endgiltigen Vereinbarung möge in Wien, Berlin oder Würzburg, am beſten wohl in
Baireuth, eine Conferenz von Offizieren zuſammentreten; Oeſterreich, Preußen, Baiern
und vielleicht auch noch einige Offiziere der kleineren Staaten ſollten daran theilnehmen.
Am 21. Auguſt wurde auch Oeſterreich (durch Weiſung an Maltzahn) eingeladen. Der
Miniſter hoffte alſo offenbar, Oeſterreich würde ſich den Verabredungen, welche Rühle
mit den ſüddeutſchen Höfen getroffen hatte, freundſchaftlich fügen und die Aufſtellung
von drei Heeren bewilligen.
Aber in dieſen nämlichen Auguſttagen hatte ſich in der Stille ſchon eine neue
Wendung vorbereitet. Als der König im Teplitzer Bade weilte, beſuchte ihn Hofrath
[744]XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.
v. Werner, der Vertraute Metternich’s, und bat ihn, zu geſtatten, daß ein öſterreichiſcher
Offizier nach Berlin käme, um zunächſt eine Verſtändigung zwiſchen den beiden Groß-
mächten herbeizuführen. Peinlich überraſcht, gab der König doch nach; eine ſolche Bitte
des alten Bundesgenoſſen ließ ſich ohne Beleidigung kaum abſchlagen, zumal da die
Kriegsgefahr im Augenblick nicht drohend war. Die ſüddeutſchen Höfe wurden benach-
richtigt, und im September traf General Graf Clam in Berlin ein, um mit Bernſtorff,
Krauſeneck, Röder zu unterhandeln. Von Neuem begann der alte Streit: Zweitheilung
oder Dreitheilung des Bundesheeres? Die Verhandlungen rückten nicht von der Stelle;
die Schuld lag, ſo weit ich ſehen kann, weſentlich in der unausſtehlichen Perſönlichkeit
des k. k. Bevollmächtigten, der immer redſelig, bald anmaßend, bald freundſchaftlich zu-
dringlich, das Vertrauen der Preußen ſchlechterdings nicht zu gewinnen verſtand und
den kranken, reizbaren Bernſtorff ſchließlich ſo ganz zur Verzweiflung brachte, daß der
Miniſter im März 1832 ſich von der Theilnahme an den Verhandlungen entbinden
ließ. Clam zählte, wie Prokeſch von Oſten, zu jenen diplomatiſchen Scheingrößen des
alten Oeſterreichs, welche wohl in der Hofburg Bewunderung, unter deutſchen Männern
nur Widerwillen erregen konnten. Da Krauſeneck und Rühle mit dem Oeſterreicher
nicht fertig wurden, ſo gab der König ſeinem kaiſerlichen Freunde einen neuen Beweis
ſeiner Willfährigkeit und beauftragte den General Kneſebeck, die Verhandlungen fortzu-
führen. Aber auch dieſer treu ergebene Verehrer des Wiener Hofes konnte von Preußens
beſcheidenen und ſachlich wohlbegründeten Forderungen nur wenig nachlaſſen. Auch er
verlangte die Aufſtellung von drei Heeren; nur ſollte das mittlere Heer, bei Mainz, die
Hauptarmee bilden und zu gleichen Theilen aus Oeſterreichern, Preußen und Kleinſtaats-
Truppen beſtehen. So hätte Oeſterreich doch an zweien von den drei Heeren ſeinen
Antheil erhalten.
Dieſem Vermittelungsvorſchlage fügte ſich Clam endlich, nachdem die Berathungen
den ganzen Winter hindurch gewährt hatten, und nunmehr wurden zwei ſüddeutſche
Generale auf den Mai 1832 zur Theilnahme eingeladen. Die Süddeutſchen zeigten ſich
aber zäher als Preußen ſelbſt; ſie beſtanden auf der Annahme des urſprünglichen preu-
ßiſchen Planes, weil ſie nicht für möglich hielten, daß Oeſterreich die deutſche Mittelarmee
durch beträchtliche Truppenmaſſen verſtärken könnte. Im Juni wurden auch Sachſen
und Hannover zugezogen; auch ſie ſtimmten den Süddeutſchen zu, und nun gab Oeſter-
reich gänzlich nach. Beim Abſchluß der Verhandlungen, die ſich bis zum December 1832
hinzogen, errang Preußen einen vollſtändigen Sieg. Seine Pläne wurden faſt durchweg
angenommen. Drei Heere ſollten gebildet werden, zwei aus Preußen und Bundestruppen
gemiſchte am Nieder- und Mittelrhein, ein öſterreichiſches am Oberrhein. Das alles war
freilich nur eine Verabredung für einen möglichen Kriegsfall, der niemals eintrat, und
blieb ſo tief geheim, daß ſelbſt der Bundesgeſandte von Leonhardi in ſeiner halbamt-
lichen Geſchichte der Bundeskriegsverfaſſung nichts darüber zu ſagen wußte.
Betrachtet man dieſe Verhandlungen nüchtern, ſo läßt ſich ein tiefer politiſcher Sinn
darin unmöglich erkennen. Droyſen behauptet zwar, Preußen habe „die politiſche Seite“
ſeiner Entwürfe geopfert, um die militäriſche zu retten; er ſagt aber nirgends, worin
dieſe „politiſche Seite“ beſtanden haben ſolle, und auch mir iſt es trotz langem Suchen
nicht gelungen, in irgend einem der preußiſchen Aktenſtücke einen politiſchen Hintergedanken
zu entdecken. Der Berliner Hof verfolgte nur die beſcheidene Abſicht, den nächſten Bundes-
krieg, wenn er kam, alſo einzuleiten, daß mindeſtens für die Hauptmaſſe des Bundes-
heeres die Einheit der Führung nothdürftig geſichert würde. Darum wollte Preußen
das Nordheer unmittelbar, die zweite Armee mittelbar, durch ſeinen Einfluß auf die be-
freundeten Südſtaaten, leiten und nur die dritte Armee der Führung Oeſterreichs an-
heimgeben. Dieſer beſcheidene militäriſche Zweck ward auf den Berliner Conferenzen,
nach mannichfachen Schwankungen, vollſtändig erreicht. Einen höheren Ehrgeiz konnte
Preußen zur Zeit nicht hegen; denn wer durfte für möglich halten, daß die beiden auf
ihre Souveränität gleich eiferſüchtigen Könige von Baiern und Württemberg oder gar
[745]XXI. König Wilhelm von Württemberg an Miniſter Wangenheim.
die Kronen Sachſen und Hannover ſich der dauernden militäriſchen Hegemonie Preußens
freiwillig fügen würden? Der Rücktritt Bernſtorff’s im Mai 1832 hing mit dieſen
Militärverhandlungen nicht zuſammen, auch nicht mittelbar. Er erfolgte einfach, weil
der ſchwer erkrankte Miniſter ſein ſeit Jahren wiederholtes Abſchiedsgeſuch nochmals er-
neuerte. Der König bewilligte die Entlaſſung ſehr ungern, unter allen Zeichen ſeiner
Gnade, und behielt ſich ausdrücklich vor, den Rath des Grafen auch fernerhin einzuholen.
Er hat von dieſem Vorbehalte auch Gebrauch gemacht; es war weſentlich Bernſtorff’s
Verdienſt, daß Preußen im Jahre 1833, zur Zeit der Münchengrätzer Zuſammenkunft,
die kriegeriſchen Pläne des Czaren Nikolaus abermals durchkreuzte. Bernſtorff’s Ent-
laſſung war kein Syſtemwechſel, obgleich ſich natürlich die ſchwächliche Perſönlichkeit ſeines
Nachfolgers Ancillon ſehr bald bemerkbar machte; der König behielt die Leitung der aus-
wärtigen Angelegenheiten, die er ſeit der Juli-Revolution an ſich genommen hatte, nach
wie vor in ſeiner Hand.
Hiſtoriſch bedeutſam iſt in dieſen militäriſchen Verhandlungen nur die ſtill wirkende
Naturgewalt der deutſchen Einheit. Sobald die kleinen Kronen ſich ernſtlich bedroht
fühlen, erkennen ſie auch, daß nur Preußen ſie zu ſchützen vermag, und zeigen ſich bereit,
dem preußiſchen Staate für die Tage der Gefahr einige Vorrechte zuzugeſtehen. Aber
keine Macht der Welt kann ſie bewegen, nun auch den logiſchen Schluß zu ziehen und
durch Bundesbeſchluß die unbrauchbare Bundeskriegsverfaſſung abzuändern. So iſt es
doch eine Nothwendigkeit geweſen, daß Preußens Waffen ſchließlich dies Bundesrecht, das
einer geſetzlichen Entwickelung nicht fähig war, über den Haufen werfen mußten.
XXI.König Wilhelm von Württemberg an Miniſter
Wangenheim.
Zu Bd. IV. 289.
9. Sept. 1832.
Mein Herr von Wangenheim! Obſchon Ich während Ihrer Laufbahn als Miniſter
mehrere Gelegenheiten hatte über Ihre wenige Discretion unzufrieden zu ſein, ſo war
Ich doch weit entfernt ahnden zu können, daß Sie Sich beigehen laſſen würden, Meinen
Ihnen eigenhändig geſchriebenen vertrauten Brief ohne Meine Erlaubniß öffentlich bekannt
zu machen. Ich kann nicht anders, als Ihnen Meine ganze Indignation über ein Ver-
fahren, das ſelbſt zwiſchen Privatleuten im höchſten Grade unerlaubt wäre, zu erkennen
zu geben, wie viel weniger in einem Verhältniß, in dem Sie nie aufgehört haben gegen
Mich zu ſtehen. Ebenſo unangenehm ſind Mir die Lobſprüche geweſen, die Sie über den-
jenigen Theil Meines Briefes, den Sie nicht abgedruckt haben, beigefügt haben, indem
unter den wirklichen Zeitumſtänden jedes günſtige Urtheil eines Mannes, der zu einer
Partei gehört, zu der Sie Sich öffentlich bekannt haben, für Mich nur höchſt beleidigend
ſein kann. Wilhelm.
XXII.Das Frankfurter Attentat.
Zu Bd. IV. 299 f.
Aus der Erzählung des Dr. Eimer folgen hier einige Auszüge. — Auf dem Burſchen-
tag zu Stuttgart Weihnachten 1832 wurde unſeren Delegirten die Mittheilung gemacht,
es ſei eine Revolution in Deutſchland im Werke und ſei dafür kommendes Frühjahr in
Ausſicht genommen. Dabei zähle man auf die Betheiligung der Studenten und ſollten
[746]XXII. Das Frankfurter Attentat.
ſich überall die Burſchenſchaften darauf vorbereiten. Dies thaten wir nun in der Weiſe,
daß ſich aus den Entſchiedenſten in der Verbindung ein politiſcher Club bildete, der
ſpecielle Beſprechungen hielt zu obigem Zweck. Es kamen auch zu zwei malen alte Bur-
ſchenſchafter aus Frankfurt, Körner und K. Bunſen, zu uns, um uns über den Stand
der Sache Berichte zu bringen. Es ſeien, hieß es, die Burſchenſchaften faſt aller der Uni-
verſitäten bereit zum Losſchlagen. Der Frankfurter Soldateska ſei man durch den Haupt-
mann Jungmichel ſicher, ebenſo ſeien einige württembergiſche Regimenter, ſpeciell in Lud-
wigsburg gewonnen, und an die Spitze würden die bewährteſten deutſchen Volksmänner
treten. Schließlich wurde uns mitgetheilt, am 3. April ſollte der Aufſtand geſchehen,
und zwar ſollten von den einzelnen Univerſitäten eine Anzahl Studenten nach Frank-
furt kommen, um dort den Hauptcoup zu thun, den Bundestag bei voller Sitzung auf-
zuheben. Der Bundestag hatte ſich in letzter Zeit mehr und mehr durch Polizei-Ukaſe
— Folgen des Hambacher Feſtes —, durch die Bundesbeſchlüſſe vom Juni 1832, zunächſt
durch Annullirung des badiſchen Preßgeſetzes, verhaßt gemacht. In den letzten Tagen
des März fuhr ich in einer Retourkutſche nach Frankfurt in Begleitung von drei Heidel-
berger Studenten, die mir unbekannt und die in die Ferien gingen. Unterwegs wurde
auch politiſirt, wobei einer der Studenten in höchſt auffallender Weiſe als Ariſtokrat
und Bundestags-Polizeimann ſich gerirte und mit uns Andern in Widerſpruch gerieth.
Und wirklich wurde er auch nachher Actuar auf dem Polizeiamt in Frankfurt und hat
dieſer Frankfurter Republikaner, er hieß Stellwag, als er mich ſpäter zu Geſicht bekam,
im Spätjahr 1834, ſich meiner erinnert und in gehäſſigſter Weiſe gegen mich Ausſagen
zu Protokoll gegeben, die mich als Revolutionär belaſten ſollten. —
Ich kam zu früh, am 24. oder 25. März nach Frankfurt, da ich etwa bei dortigen
Verwandten verweilen, oder auch nach Nahern und Kehnel zu den Pfarrers-Onkeln gehen
konnte, wo man mich zu einem Beſuch während der Ferien erwartete. Ich ging aber
zunächſt zu einigen mir dem Namen nach bekannten Verſchworenen, und Buchhändler
Oehler nahm mich mit in eine Verſammlug der Frankfurter Revolutionäre, wo ich mich
alsbald überzeugte, daß die Sache auf gar ſchwachen Füßen ſtehe und der Erfolg ſehr
zweifelhaft ſei. Namentlich ſchien mir das Einverſtändniß mit dem Militär (man hoffte
ſogar auf Abfall des Mainzer) ſehr prekär und am gewiſſeſten ſtellte ſich nur die Be-
theiligung von kurheſſiſchem Landvolk nördlich von Frankfurt heraus, wo unter der
Thätigkeit eines Advokaten, Neuhoff, eine ſehr revolutionäre Stimmung herrſchte. Zu-
nächſt ergab ſich bei der Beſprechung, daß man der Betheiligung der Würzburger und
Erlanger Burſchenſchaften nicht ſicher ſei, und erbot ich mich ſchließlich ſelbſt dahin zu
reiſen, um zu ſehen, wie es dort ſtehe. Und ſo ging ich mit der Poſt am andern Tag
nach Würzburg, wo ich im Hauſe des R. v. Wels wohnte. Von den Würzburgern
wollten einige auf den 3. April nach Frankfurt kommen; ſie wollten auch ſofort Einen
nach Erlangen ſchicken mit der Aufforderung der Betheiligung.
Am 1. April kam ich wieder nach Frankfurt zurück und beim Ausſteigen aus dem
Poſtwagen liefen mir meine Heidelberger Bekannten, die eben über Rheinbaiern ange-
kommen waren, in die Hände, und wir gingen zuſammen um Wohnung zu nehmen in
den Donnersberg. Wir wurden aufgefordert, am 2. April Mittags nach Bockenheim zu
kommen in ein Gaſthaus, wo wir in einem oberen Zimmer allein ſein könnten. Dort trafen
wir Studenten mit einigen Frankfurtern, Dr. Bunſen, Körner etc. und dem Göttinger
Rauſchenplatt zuſammen und es wurden die Rollen vertheilt. Wir wurden, etliche
dreißig Studenten, in drei Rotten abgetheilt. Wir Heidelberger ſollten unter der Füh-
rung von Bunſen von der Münze aus, wo wir uns Abends zu verſammeln hatten, die
Hauptwache nehmen. Eine zweite Abtheilung ſollte die Conſtabler-Wache ſtürmen und
das daneben liegende Zeughaus öffnen um die zwei Kanonen und Flinten herauszu-
holen; zu dieſer Abtheilung wurden Einzelne, ſpeciell Baiern, die Artillerieſchulen durch-
gemacht, gewählt, und Patronen für die Geſchütze waren gefertigt. Die dritte Rotte
hatte einige kleinere Poſten zu beſetzen, ſpeciell auch den Pfarrthurm mit den Frank-
[747]XXII. Das Frankfurter Attentat.
furter Metzgern zu öffnen und das Sturmläuten zu beſorgen. Einzelne Frankfurter
ſollten verſchiedene Herren der ſtädtiſchen Regierung und Polizei arretiren.
Am 3. Abends verſammelten wir von der erſten Rotte uns in der Wohnung
Bunſen’s, in der Münze. Wir erhielten dort Flinten und eine Anzahl Patronen und
Punkt 9 Uhr brachen wir, etwa 15 Mann hoch, auf über den Roßmarkt zur Haupt-
wache, die ſtärker beſetzt war als gewöhnlich, denn die Frankfurter Behörden hatten Wind
bekommen, es ſolle heute losgeſchlagen werden. Wir ſtürzten uns ſofort auf die außer-
halb aufgeſtellten Flinten und nahmen ſie weg; es fielen einige Schüſſe. Der Leutnant,
der auf der Wache das Commando hatte, flüchtete durch ein hinteres Fenſter als wir
in die Stube drangen. Damit war hier die Sache fertig. Man hörte Sturmläuten.
Eine Maſſe Volk ſammelte ſich vor der Hauptwache, aber Niemand ließ ſich bewegen von
den Flinten zu ergreifen und mit uns zu helfen an der Befreiung Deutſchlands. Die
entwaffneten Soldaten verhielten ſich ebenfalls paſſiv. Wir warteten nun eine Zeit lang
unthätig den weiteren Verlauf der Dinge ab, bis wir von der Zeil her Schüſſe hörten
und ſich das Gerücht verbreitete, es rücke Militär heran. Wir zogen nun die Zeil hinab
gegen die Conſtabler-Wache und hier entſpann ſich ein kleines Gefecht; es wurde herüber
und hinüber geſchoſſen. Die Kanonen konnten glücklicher Weiſe nicht verwendet werden,
da der betreffende Herr den Schlüſſel zum Zeughausthor nicht fand. Wir paar Stu-
denten, die noch vor der Conſtabler-Wache beiſammen waren, hielten bald für gerathen,
der großen Ueberzahl zu weichen. Wir gingen die Allerheiligenſtraße hinaus bis zum
Hanauer Thor, wo alles ſtill war; hier legten wir unſere Flinten vorläufig in einem
im Bau begriffenen Hauſe ab und gingen wieder gegen die Zeil vor; wir fanden die
Conſtabler-Wache ſtark von Militär beſetzt; ebenſo die Hauptwache; Patrouillen durch-
zogen die Straßen und der regierende Bürgermeiſter kam in offener Chaiſe daher ge-
fahren, an das Volk, das herbeigeſtrömt war, beruhigende Reden haltend. Schließlich
ging ich etwa halb elf in den Gaſthof zurück, wo ich meine Freunde antraf. Wir be-
riethen, was thun und waren der Anſicht, ruhig abzuwarten, was weiter geſchehe und
für uns zu thun ſei. Ich ſpeciell dachte nicht daran mich zu verbergen, was ich wohl
leicht hätte thun können bei unſeren Ebenauvettern. Wir gingen zu Bett. Als ich mich
auszog, fand ſich mein linker Hemdärmel blutig und zerriſſen. In einer ziemlich ober-
flächlichen Wunde am linken Oberarm ſtak eine breitgeſchlagene Kugel; ich hatte einen
Prellſchuß erhalten und in der Aufregung nichts davon geſpürt. Ich ließ mir mittelſt
Heftpflaſter, das ich bei mir trug, die Wunde verbinden, und war wenigſtens ſo vor-
ſichtig, das blutige Hemd in den Abtritt zu werfen. Ich ſchlief gut. Mitten in der
Nacht geweckt, ſah ich Polizeimänner vor meinem Bett ſtehen. Ich wurde nach meinem
Namen gefragt und nach der Abſicht meines Hierſeins. Ich gab an, ich ſei auf der
Reiſe zu Verwandten im Naſſauiſchen. Man bedeutete mir, ich ſei ſo gut wie arretirt,
dürfe einſtweilen nicht weggehen. Polizeidiener bewachten uns in den Hausgängen. Am
anderen Morgen wurden wir einzeln abgeholt und auf die Conſtabler-Wache geführt.
Hier ward ich in ein Gefängniß geſperrt aus Mangel an Platz zu einem wegen Preß-
unfug inhaftirten Frankfurter Bürger Namens Rottenſtein. Deſſen Frau brachte ihm
täglich Bier und Mittags Kaffee. — Er theilte dies, ſo wie ſein Bett, redlich mit mir.
Die blecherne Kaffeekanne hatte einen doppelten Boden, und derart wurden kleine Be-
dürfniſſe, Papier, Bleiſtift u. ſ. w. eingeſchmuggelt, und ich kam in Correſpondenz mit
außen, insbeſondere mit einem Fräulein Stolze, die ich nie geſehen. So erhielten wir
auch Nadel und Faden, womit mir Rottenſtein das Loch im linken Rockärmel ſehr kunſt-
gerecht zunähte.
Am 5. April ſah ich von meinem Fenſter aus (es waren noch keine Kaſten davor
angebracht) eine größere Zahl Bauern die Friedberger Straße her unter militäriſcher Be-
deckung einziehen. Es waren das die Bauern, meiſt von Bonames, die am Abend des
3. April das Friedberger Thor geſtürmt hatten, und jetzt eingeſteckt wurden. Unter dem
warmen Bedauern für dieſe armen Teufel, die jedenfalls ohne zu wiſſen wie zu Hochver-
[748]XXII. Das Frankfurter Attentat.
räthern wurden, vergaß ich ganz meine eigene Lage. In den nun folgenden Verhören
gab ich natürlich immer an, ich ſei nach Frankfurt gekommen auf der Reiſe ins Naſſauiſche,
und da von dort und von Haus daſſelbe gerichtlich erhoben wurde, war man nahe
daran, mich frei zu laſſen. —
Anfang Mai wurde Rottenſtein aus der Haft entlaſſen; die Correſpondenz ſpeciell
mit Fräulein Stolze erlitt aber keine Unterbrechung, da der Barbier, der zwei bis drei
mal wöchentlich zum Raſiren kam, Zettelchen heraus und herein beförderte, obſchon zwei
Soldaten und zwei Wächter immer während der Operation um uns herum ſtanden und
aufpaßten, und da in den ausgehöhlten Stöpſeln in den beiden Bierflaſchen, die mir von
Frankfurter Wohlthätern täglich zugeſchickt wurden, immer Briefchen ſpedirt wurden.
Einmal glaubte ich am Benehmen des Gefangenwärters zu bemerken, daß er auf die
Stöpſel der Bierflaſchen fahnde, und ich meldete hinaus, man ſolle dieſen Beförderungs-
Modus unterlaſſen und in Zukunft in die untere Höhlung im Boden dazu geeigneter
Flaſchen die Zettel ſtecken und darüber eine Schicht ſchwarzen Pechs decken. So geſchah
es. Noch etwa vierzehn Tage lang wurde derart correſpondirt, da wurde plötzlich ver-
boten, ich dürfe kein Bier mehr zugeſchickt bekommen. Und im Verhör wurde mir ein
Stöpſel vorgelegt, in den ein Zettelchen unerheblichen Inhalts geſteckt war, das ich ge-
ſchrieben haben ſollte. Man hatte noch vierzehn Tage lang die Flaſchen mit den Zettel-
chen im Boden auf das Verhöramt bringen laſſen und befördert, ohne etwas zu finden.
Rottenſtein hatte mir einen kleinen Spiegel zurückgelaſſen, in deſſen hinterer ſeitlicher
Wand ein verborgener Behälter angebracht war, in dem ich einen Bleiſtift mit etwas
Papier verſteckt hatte, das ich derart immer bei den verſchiedenen Verſetzungen in andere
Gefängniſſe wieder erhielt. — Einmal wurde ein Kirſchkuchen für mich ins Gefängniß
geſchickt, in den eine Uhrfederſäge eingebacken war. Der ſchlaue Gefangenwärter hatte
Verdacht, durchſchnitt den Kuchen und fand die Säge. Ich wußte nichts von der Sache
und erfuhr erſt ſpäter davon. —
Nach einer längeren Schilderung des Kerkerlebens, der Verhöre, der wiederholten
Fluchtverſuche heißt es dann weiter:
… Gegen das Frühjahr 1834 wurde ein Befreiungsplan in großem Maßſtabe in
Angriff genommen. Es ſollten alle gegen die Zeil und theilweiſe die Fahrgaſſe Inhaf-
tirten zugleich ausbrechen. Es waren unſerer acht (zwiſchen je zwei war immer eine
von uns nicht beſetzte Zelle, um Communication zu verhindern). Im Hof war ein
neuer Abtritt gebaut und da fand ich unter dem Brillenbrett über der Mauer einen
Raum. In dies Geheimfach wurden nun von unſeren Freunden draußen Uhrfeder-
Sägen und die dazu nöthigen Monturen niedergelegt, wo dann ein Jeder ſeinen Bedarf
holen konnte. Und in der That gelang es allen acht in einigen Wochen ſämmtliche
Gitter zu durchfeilen, und zwar in jedem Gefängniß zwei, denn ein zweites, nicht leicht
zu erreichendes Gitter war noch innerhalb des Fenſterkaſtens angebracht. Als alles vor-
bereitet war, wurde die Ausführung auf den 2. Mai Abends zehn Uhr feſtgeſetzt. Wegen
baulichen Veränderungen wurden wir zu dieſer Zeit nur von 6—7 Uhr ein Jeder je
eine halbe Stunde zum Spazierengehen in den Hof geführt; das geſchah jeweils nach
der Reihe und ungeſchickter Weiſe kam die Tour an dieſem Abend gerade an uns. Da
klopften mir die drei vorne an mir inhaftirten Genoſſen, ſie ſollten in den Hof geführt
werden, könnten aber abſolut nicht, da ſie ſonſt mit ihrer Arbeit nicht fertig würden.
Da es nun aufs Höchſte verdächtig hätte werden müſſen, wenn wir alle heute nicht
ſpazieren gehen wollten, worauf ſich ſonſt ein Jeder ſo ſehr gefreut, und da ich ſo ziem-
lich fertig war, ſo ſagte ich den Andern, ich werde gehen, wenn dazu die Reihe an mich
komme. Ich opferte mich für ſie. Denn als ich um 7 Uhr in mein Gefängniß zurück-
kam, ward es bald dunkel; ich feilte jetzt zuerſt die Gitter vollends durch, dann kam ich
bei ſtockfinſterer Nacht an die Bereitung des Stricks, an dem ich mich hinablaſſen wollte;
ich verwendete dazu das in Riemen geriſſene Betttuch und einige Halstücher und Sack-
tücher. Gegen 9 Uhr klopfte mir der außen an mir ſitzende Erlanger, Pfretſchner, er
[749]XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.
komme nicht durch die Gitteröffnungen hindurch, er ſei zu dick. Als ich mit Allem fertig
war, ſtieg ich durch die Gitter in den Kaſten vorm Fenſter, machte dann das Draht-
gitter über dem Kaſten los und band den Strick im Kaſten ſitzend feſt. Während der
ganzen Zeit beſorgten unſere Freunde, daß fortwährend Rollwagen auf der Zeil hin
und her fuhren, die einen argen Lärm machten, damit man unſere Arbeiten nicht hören
könne. Weiter bekamen die Soldaten in der Wachtſtube, ich weiß nicht unter welchem
Vorwand, ſo reichlich Wein zu trinken, daß ſie betrunken wurden. Jetzt, als die Stunde
ausgeſchlagen hatte, ſtieg ich aus dem Kaſten auf das Geſimſe und hing mich an den
Strick —, und als ich am zweiten Tag wieder zum Bewußtſein kam, ſah ich mich wieder
im Gefängniß mit Kopfſchmerz und Kopfwunden und einem Bruch des Schenkelhalſes.
Der ſchlecht gemachte Strick war ganz oben geriſſen und ich war auf die Straße geſtürzt.
Die betrunkenen Soldaten hatten mich wahrſcheinlich noch mißhandelt und hatten blind
unter die herzugelaufene Menge geſchoſſen, Einige verwundet und einen gegenüber woh-
nenden Bürger erſchoſſen. Nur einem von uns Studenten, ich hörte Lizius, gelang die
Flucht; die andern waren zum Theil auch herabgeſtürzt und alle wieder ſofort einge-
fangen worden. Ich lag nun ſchwer krank zu Bett an Hirnerſchütterung, maſſenhaftem
Blutbrechen etc. Der Hausarzt, Phyſikus Keſtner, behandelte mich ſehr ſorgfältig; mit
Zuzug eines Chirurgen wurde mir eine Hagedorn’ſche Maſchine an den gebrochenen
Fuß gelegt, und ich bekam einen Krankenwärter. Am 6. Mai kam mein Bruder nach
Frankfurt, und that alle möglichen Schritte mich beſuchen, oder nur von weitem ſehen
zu dürfen. Das Appellationsgericht beſchloß in gar nichts zu willfahren. Mein Bru-
der war umſonſt gekommen. Am 13. Mai, als ich außer Gefahr war, wurde ich über
den Fluchtverſuch verhört. Ich ſollte ſagen, woher ich die Feilen bekommen etc. — ich
gab darauf keine Antwort; ebenſo machten es die andern Wieder-Inhaftirten und die
Unterſuchung ergab gar keinen Anhaltspunkt gegen unſere Freunde draußen. — Die
Heilung des Knochenbruchs ging gut vor ſich und nach zwei Monaten konnte ich auf-
ſtehen und Gehverſuche machen. Der Bruch war geheilt mit Verkürzung des Fußes um
nur etwa einen halben Zoll, was ſpäter ſich ausglich — ohne Hinken. Das Appellations-
gericht hatte verfügt, daß den Ausgebrochenen über Nacht Ketten angelegt werden ſollten,
um weitere Fluchtverſuche zu verhindern. Wiederholt hatte die Unterſuchungsbehörde
beim Arzt angefragt, ob mir noch nicht Ketten angelegt werden könnten. Jetzt geſchah
das, ich bekam Ketten an den linken Fuß und den rechten Arm — eine abſcheuliche
Barbarei; denn ich mußte erſt gehen lernen, und konnte mindeſtens noch ein Vierteljahr
lang nur mit Krücken gehen. Und die nächtlichen Ketten blieben ſo lang ich in Frank-
furt gefangen war.
XXIII.Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.
Zu Bd. IV. 628 f.
Die Geſinnungen der ſchwäbiſchen Liberalen zu Ende der dreißiger Jahre finden
beredten Ausdruck in einem Briefe, welchen Fr. Römer an einen ſeiner Geißlinger Wähler
richtete. Die Hauptſtellen lauten:
Geehrter Herr! .... Ueber meine Leiſtungen brauche ich mich nicht beſonders zu
äußern, da Sie wenigſtens meine Abſtimmungen und ſomit den Geiſt meiner Thätig-
keit aus den öffentlichen Blättern kennen gelernt haben werden. Ebenſo wenig brauche
ich Ihnen die Verſicherung zu geben, daß meine Abſtimmungen ſtets die Frucht meiner
Ueberzeugung geweſen ſind.
Ob ſie auch mit den Anſichten meiner Wähler übereinſtimmen? … ich weiß es
nicht, aber ich ſchmeichle mir in ihrem Sinne geſprochen und gehandelt zu haben.
[750]XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.
Wäre es aber auch anders, hätte ich mich nicht nach ihrem Sinne benommen, —
ſo würde ich gleichwohl keine meiner Abſtimmungen zurücknehmen, eben weil ſie aus
meiner Ueberzeugung hervorgegangen ſind.
Gerade dieſe Starrheit aber, womit ich auf demjenigen beharre, was ich für Recht
halte, macht mich zum württembergiſchen Volksvertreter gänzlich unfähig.
Mögen auch die politiſchen Anſichten der Wahlmänner des Oberamtsbezirks Geiß-
lingen ſeyn, welche ſie wollen, — ſoviel iſt jedenfalls gewiß, daß die Mehrzahl des Volks
meine Anſichten nicht theilt.
Mein Glaubensbekenntniß ſtützt ſich nämlich auf die Ueberzeugung, daß die Wieder-
herſtellung oder vielmehr die Herſtellung des ſchon ſeit 1819 geſtörten Rechtszuſtandes
die erſte und heiligſte Pflicht des Volks-Abgeordneten ſey und daß es nicht nur in ſeiner
Befugniß, ſondern ſelbſt in der von ihm übernommenen eidlichen Verpflichtung liege,
einer verfaſſungswidrigen Regierung die Mittel zu entziehen, womit ſie ihr geſetzwidriges
Syſtem durchführt.
Zwar ſtehen dieſer Anſicht die Beſchlüſſe des deutſchen Bundes entgegen, allein
eben deßhalb bekämpften wir ſie als verfaſſungswidrig.
Es iſt hier nicht der Ort, dieſe hochwichtige Frage einer weiteren Beleuchtung zu
unterwerfen: aber es iſt Thatſache, daß ſich ſelbſt ſolche Abgeordnete, welche ſonſt für
freyſinnig gelten, der parlamentariſchen Erörterung jener Beſchlüſſe widerſetzten, obgleich
ſie auf unſere verfaſſungsmäßigen Verhältniſſe fortwährend den entſchiedenſten Einfluß
ausüben.
Dieſe Abgeordneten handelten ſicherlich im Sinne ihrer Comittenten, allein nicht
die Anſicht der Committenten, ſondern die eigene Ueberzeugung ſoll den Abgeordneten
bey ſeinen Abſtimmungen leiten.… Ich bin ferner weit entfernt, äußerſte Mittel, wie
Steuer-Verweigerung, empfehlen zu wollen, ſo lange man die Hoffnung haben kann, daß
gelindere Mittel zum Ziele führen werden.
Wenn aber zugegeben werden muß, daß ſich die Regierung in allen die öffentlichen
Verhältniſſe betreffenden Haupt-Punkten zu irgend einer Nachgiebigkeit nicht nur nicht
geneigt zeigte, ſondern daß ſie vielmehr die Angriffe der Oppoſition als ebenſoviele bös-
willige Eingriffe in ihre Rechte bezeichnete, ſo wird hierdurch zugleich ausgeſprochen, daß
die Anwendung jenes äußerſten Mittels vollkommen begründet war.
Oder, kann man es mit dem beſtehenden Rechte der Steuer-Verweigerung in Ein-
klang bringen, einer Regierung, welche dem Volke gerade diejenigen Mittel vorenthält,
die allein geeignet ſind, den Sinn für einen verfaſſungsmäßigen Rechtszuſtand zu wecken
und zu erhalten, kann man es, ſage ich, mit jenem Rechte in Einklang bringen, einer
ſolchen Regierung das Geld zu verwilligen, womit der Cenſor belohnt wird, weil er die-
jenigen Stellen ſtreicht, welche ſich auf die Rechte der Staatsbürger beziehen; — das Geld
zu verwilligen, womit der Polizeibeamte bezahlt wird, weil er gegen politiſche Verſamm-
lungen einſchreitet; — das Geld zu verwilligen, womit der Richter beſoldet wird, weil
er den Widerſtand gegen ſolche Verfügungen beſtraft?
Dem ungeachtet erwarb ſich die Staatsverwaltung den Beyfall ihrer Stände in
ſo hohem Grade, daß die Anſicht der Oppoſition nicht mehr als 19 Stimmen gewinnen
konnte! … Leider mußte ich während meiner landſtändiſchen Laufbahn gar häufig die
Erfahrung machen, wie der deutſche Bund bey faſt allen Fragen von höherem Intereſſe
gleich einem Popanz vorgeſchoben wurde. Wollte die Oppoſition — unter Berufung
auf den tiefen Frieden — das Militär-Budget herabſetzen, ſo rief man ihr entgegen: „der
Bund!“ Suchte ſie — unter Berufung auf die diplomatiſche Bedeutungsloſigkeit des
Königreichs — die Koſten für auswärtige Angelegenheiten zu verringern, ſo tönte es
wieder: „der Bund!“ Eiferte ſie unter Berufung auf die Verfaſſung gegen die Cenſur:
„der Bund!“
Und machte ſie gar Angriffe auf den Bund ſelbſt, dreimal: „der Bund!“
[751]XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.
So ſcheiterten alle Verſuche, einen beſſeren Zuſtand zu begründen, an der Furcht
vor dem Bunde. … Ich weiß wohl, welche Einwendungen gegen die Grundſätze der
Oppoſition geltend gemacht werden.
Württemberg iſt nach den Anſichten — ſelbſt mancher Beſſergeſinnten zu unmächtig,
um ſich dem Einfluße der abſoluten Großſtaaten beim Bunde widerſetzen zu können.
Indem man aber unſere Regierung auf ſolche Art entſchuldigt, bedenkt man auch,
daß man eben hiermit das Verdammungs-Urtheil über die Kleinſtaaten ausſpricht? Denn
ein Staat, der mit dem beſten Willen nicht im Stande iſt, dasjenige zu thun, was er
in ſeinen grundgeſetzlichen Beſtimmungen ſelbſt für recht erklärt hat, kann vernünftiger-
weiſe keinen Anſpruch auf Exiſtenz machen.
Ich halte jedoch die obige Einwendung nicht für richtig.
Vielmehr glaube ich, daß weder Oeſtreich noch Preußen einſchreiten würden, wenn
es einer der conſtitutionellen Regierungen Deutſchlands gefiele, nach den Vorſchriften der
Verfaſſung zu regieren. Denn unter welchem Vorwande ſollte eine Einſchreitung ſtatt-
finden? Sie wäre eine Gewaltthat, deren Folgen ſicherlich auf ihre Urheber zurückfallen
würden. Ueberdieß fürchten ſelbſt die Großſtaaten gegenwärtig nichts mehr, als die Ver-
anlaſſung zu einer möglichen Störung des Friedens.
Die Rückkehr zum Geſetze müßte aber, auch dann, wenn ſie zunächſt auch nur von
Einem Lande ausginge, auf alle übrigen Verfaſſungs-Länder günſtig zurückwirken, weil
das gegebene Beiſpiel den Regierungen und Völkern die Möglichkeit eines geordneten
freiſinnigen Rechts-Zuſtandes darthäte.
Ja ſelbſt die in ſolcher Richtung laufenden Beſtrebungen einer einzelnen Volks-
Kammer müßten ſich am Ende eines ſiegreichen Erfolges erfreuen, ſobald das Ziel nicht
nur von einer ſchwachen Minorität, ſondern von einer impoſanten Majorität mit Be-
harrlichkeit verfolgt würde. Hierzu ſind nun freylich in Württemberg keine Ausſichten
vorhanden und gerade dieſe traurige Gewißheit iſt es, welche die Oppoſition beſtimmt,
fruchtloſe Verſuche nicht wieder zu erneuern.
Zwar wird man ihr den Vorwurf machen,
„ſie verlaſſe das Volk;“ —
man wird ihr zu bedenken geben,
„wenn ſie auch nicht Gutes zu Stande bringen könne, ſo vermöge ſie doch
Schlimmes zu verhindern;“
man wird ſie darauf aufmerkſam machen:
„ihre Worte ſeyen nicht verloren; wenn ſie auch nicht im Augenblicke
wirken, ſo werden ſie doch ſeiner Zeit Früchte tragen;“
— und diejenigen, welche uns, ſo lange wir zu wirken ſuchten, auf jede Art verdächtigten
und ſchmähten, werden ſich an die Spitze der Tadler ſtellen; aber, die Wohlmeynenden
mögen bedenken, daß ohne Oeffentlichkeit nicht einmal eine moraliſche Wirkſamkeit möglich
iſt. Man wende mir nicht ein, die Sitzungen der Kammer der Abgeordneten ſeien
öffentlich. Denn wer partizipirt an dieſer Oeffentlichkeit? Zehn oder fünfzig Zuhörer
und einige Zeitungsſchreiber, deren Berichte aber theils wegen der Cenſur, theils wegen
des eigenen Geſchmackes der Berichterſtatter ſo unvollkommen, ſo entſtellt und wohl auch
ſo partheyiſch ſind, daß es in vielen Fällen beſſer wäre, wenn auf dieſem Wege von den
Leiſtungen der Oppoſition gar nichts ins Publicum gelangte.
Will man aber falſch dargeſtellte Aeußerungen berichtigen, ſo tritt der Cenſor ent-
gegen, ſobald der Gegenſtand der Berichtigung unter die verpönten Dinge gehört.
Somit bleiben von der gerühmten Oeffentlichkeit nur noch die Protokolle übrig.
Aber wer lieſt dieſe? Wem kann man zumuthen, unter einer Maſſe von Spreu
die Körner zu ſuchen? …
Der Sinn für das Oeffentliche hat ſich nachgerade ſo abgeſtumpft, daß ſelbſt das
Gedächtniß an die beſſere Vergangenheit verſchwunden iſt. Man braucht ſich daher nicht
mehr von einem läſtigen Schaam-Gefühle meiſtern zu laſſen, ſondern kann fortan der ur-
[752]XXIV. Handſchreiben König Ernſt Auguſt’s.
ſprünglichen Neigung ungeſcheut folgen. Deßhalb wird jeder Verſuch, die Stellung des
Bundes, die Verhältniſſe der Preſſe, die Verordnungen wider politiſche Vereine und Ver-
ſammlungen, die Freyheit der landſtändiſchen Wahlen, kurz ſolche Dinge zur Sprache zu
bringen, welche nothwendige Bedingungen eines konſtitutionellen Lebens ſind, gleich in
der Geburt erſtickt werden. … Wie auch der Geiſt der Wähler beſchaffen ſeyn mag, ſo
wird man doch behaupten dürfen, daß auch ſie die Wahl eines landſtändiſchen Abge-
ordneten nicht als ein Recht betrachten, ſondern als eine Laſt.
Und wie ſollten ſie anders, da ſie ſeit 1819 noch nicht in dem Falle geweſen ſind,
die Segnungen der Verfaſſung an ſich ſelbſt zu erkennen? Die gegenwärtige Finanz-
Verwaltung Württembergs iſt geordnet, Veruntreuungen des Staats-Eigenthums durch
die Adminiſtration ſind nicht zu beſorgen, die Regierung wünſcht das Wohlſein ihrer
Unterthanen und wenn es dieſen erlaubt wäre, ſich in politiſchen Dingen eine ſelbſtändige,
eigene Meinung zu bilden und ſolche geltend zu machen, ſo wäre für den Württemberger
als ſolchen kein gerechter Grund zur Klage vorhanden.
Aber dieſe Beſchwerde iſt nicht allgemein. Denn den Wenigſten wohnt das Gefühl
ihrer ſtaatsbürgerlichen Bedeutungsloſigkeit inne und eben deßhalb haben ſie in dem be-
ſchränkten Kreiſe, worinn ſie ſich bewegen dürfen, kein Verlangen nach einer Oppoſition,
für die es ohne geiſtige Freyheit kein materielles Glück giebt.
Von dieſer Ueberzeugung bin ich durchdrungen und ſie iſt es, welche meinen jetzigen
Entſchluß hervorgerufen hat.
Ich werde den Geſchicken meines Vaterlands auch ferner meine volle Theilnahme
widmen, ich werde da nicht fehlen, wo ich hoffen darf, nützen zu können, aber ich werde
unter den gegenwärtigen Verhältniſſen die Wahl zum landſtändiſchen Abgeordneten, wenn
ſie auf mich fallen ſollte, nicht annehmen.
Stuttgart, den 1. November 1838.
F. Römer.
XXIV.Handſchreiben König Ernſt Auguſt’s.
Zu Bd. IV. 651. 658.
Ein Schreiben an Schele vom 7. Juli 1837 über die Einwendungen, welche das
Staatsminiſterium gegen das Patent vom 5. Juli erhoben hatte, beginnt alſo:
„Nachdem Ich habe gehört und geleſen die Einwendungen … fühle ich es Meine
Würde nicht gemäß, daß in Zweifel zu laſſen was iſt Meine wahre Meinung und In-
tention und deswegen bleibt es bei dem von mir vollzogenen Patent.“
Ueber die Eingabe der Göttinger Sieben ſchreibt der König an Schele (Roten-
kirchen, 28. November 1837):
„Aus ihrem Inhalte habe ich entnommen, namentlich aus der Stelle, wo ſich die
Profeſſoren nach erfolgter Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes daſſelbe gewiſſermaßen noch
als giltig zu betrachten und aufrecht zu erhalten herausnehmen und die auf verfaſſungs-
mäßigem Wege von Mir und den Ständen des Jahres 1819 etwa zu vereinbarende
Verfaſſung nicht anerkennen wollen, daneben auch von freventlicher Verletzung ihres
Eides ſprechen — daß die Profeſſoren augenfällig eine revolutionäre, hochverrätheriſche
Tendenz verfolgen, welche ſie perſönlich verantwortlich macht: ſie ſcheinen daher der Macht
des peinlichen Richters verfallen, und zweifle ich nicht, daß von allen betheiligten Be-
hörden Alles werde gethan werden um dieſem verbrecheriſchen Beginnen nicht allein zu
ſteuern, ſondern auch die Schuldigen zur Verantwortung und Strafe zu ziehen.“
[753]XXV. Aus den Aufzeichnungen König Friedrich Wilhelm’s.
XXV.Aus den Aufzeichnungen König Friedrich Wilhelm’s.
Zu Bd. IV. 725.
… Meine Unterthanen beſitzen in der geregelten Staats-Verwaltung, in dem
Staats-Rathe, in den Provinzial-Ständen, in der Städte-Ordnung, in den Communal-
Verfaſſungen, die Garantie für die ungeſtörte Ordnung und Geſetzlichkeit; ich habe ihnen
dieſe Inſtitutionen aus freiem Willen ertheilt und die Gewalt und Macht des Throns
unbeſchränkt erhalten.
Auf dieſer Unbeſchränktheit der Königlichen Macht beruht vorzugsweiſe die Stellung,
welche Preußen in dem allgemeinen Staaten-Syſtem einnimmt, und da eine Aenderung
dieſes Grundpfeilers der Monarchie, letztere ſelbſt nachtheilig berühren und wankend machen
würde, ſo beſtimme ich hierdurch, daß kein künftiger Regent befugt ſeyn ſoll, ohne Zu-
ziehung ſämmtlicher Agnaten in dem Königlichen Hauſe eine Aenderung oder Einleitung
zu treffen, wodurch eine Veränderung in der jetzigen Verfaſſung des Staats, namentlich
in Beziehung auf die ſtändiſchen Verhältniſſe und die Beſchränkung der Königl. Macht be-
wirkt oder begründet werden könnte.
In der Verordnung vom Jahre 1820 betreffend das Staats-Schulden-Weſen habe
ich feſtgeſetzt, daß, wenn der Staat künftighin zu ſeiner Erhaltung oder zur Förderung
des allgemeinen Beſten in die Nothwendigkeit kommen ſollte, zur Aufnahme eines neuen
Darlehns zu ſchreiten, ſolches nur mit Zuziehung und unter Mitgarantie der künftigen
Reichsſtände geſchehen könne. Sollte, ſo lange ich die Regierung führe, in dieſem einen
nur erwähnten Falle die Nothwendigkeit eintreten, eine Reichsſtändiſche Verſammlung
zu dieſem Behufe zuſammen zu rufen, ſo werde ich ſolche aus den Provinzialſtänden
entnehmen. … Es würde aus jedem der vier Stände der Provinzial-Stände-Verſamm-
lung ein Abgeordneter nach der Mehrzahl der Stimmen durch das Plenum der Ver-
ſammlung gewählt werden. … Den Abgeordneten der Provinzial-Stände wird eine
gleiche Anzahl von Mitgliedern des Staats-Raths nach meiner Wahl beigegeben; in der
Verſammlung, deren Präſident ich ernennen werde, wird nach dem Geſchäftsreglement
bei dem Staats-Rath verhandelt. Andere Fragen, als über den einen, oben erwähnten
Gegenſtand, werde ich einer ſolchen Verſammlung nie vorlegen. . . . . Ich verpflichte
hierdurch meine Nachfolger in der Krone, nach den vorangegebenen Beſtimmungen zu
verfahren. Dieſe Anordnungen ſollen als ein Hausgeſetz betrachtet werden. …
TreitſchkeIV.[]
Appendix A
Druck von J. B. Hirſchfeld in Leipzig.
[][][]
1830, von Werther 12. Auguſt 1829 ff.
Eugen’s den belgiſchen Thron ſtreitig machte (Schreiben Hortenſia’s an die Herzogin
Auguſte v. Leuchtenberg, Rom 27. Jan. 1831, den Cabinetten von Wien und Berlin mit-
getheilt Febr. 1831).
vier Geſandten.
ſchaften 14. Auguſt 1830.
1. März 1830).
Conſuls Schmidt, Warſchau 25. Auguſt 1830).
29. Auguſt 1830.
erkennung Ludwig Philipp’s, Sept. 1830 (abgedruckt bei Natzmer, Unter den Hohen-
zollern I. 293).
tember 1830.
reichs I. 144) über Zeit und Inhalt dieſes Geſprächs ſind durchaus richtig, wie ſich aus
der nachfolgenden Darſtellung ergeben wird.
9. Sept. Bernſtorff, Protokoll der Berathung über das niederl. Schreiben, 1. Sept. 1830,
nebſt Denkſchrift „über die tractatmäßige Verpflichtung Preußens“.
3. Oct. 1830.
Bülow 3. Oct. 1830.
an Bernſtorff 6. Oct. Antwort 15. Oct. Cabinetsordre an Bernſtorff 1. Nov. 1830.
1./13. Oct. Kaiſer Nikolaus an König Wilhelm der Niederl. 13./25. Oct. Neſſelrode
an Alopeus 19. Oct. (a. St.) 1830.
Weiſung an Bülow, 4. Nov. Neſſelrode, Weiſung an Alopeus 12. Nov. (a. St.) 1830.
Depeſche 29. October a. St., nebſt Begleitſchreiben an Schöler.
à la France et à l’Europe, 24. November 1830. Entwurf dazu v. 9. Nov., nebſt
„Fragen und Anweiſungen“ des Königs.
Berichte, 5. 9. December 1830.
nuar 1831.
an Bülow 15. Febr. 1831.
ordre an Prinz Wilhelm d. Aelt. 16. Febr. 1831.
mont, 10. Januar. Weiſung an Lieven, 19. Januar (a. St.) 1831.
Wittgenſtein an Bernſtorff, 27. März 1831.
an Trauttmansdorff 9. Auguſt 1831.
Trauttmansdorff 8. Juli Maltzahn’s Berichte, 16. 20. Auguſt 1831.
guſt 1831.
Frage, 25. Oct. 1831.
anderen Briefen des Czaren an den Feldmarſchall in der Russka Starina, Jahrgang
1884 u. 85.
21. Dec. 1831.
Metternich, Maltzahn, Tatiſtſchew 6. October. Weiſungen an Maltzahn 27. September,
13. October 1831.
22. Oct. Eichhorn’s Denkſchrift für Prinz Albrecht 25. Oct. K. Wilhelm d. Niederl.
an K. Friedrich Wilhelm 5. Dec. Antwort 24. Dec. 1831.
Wilhelm an K. Nikolaus, nebſt Memorandum, 12. Jan. 1832.
ſchrift, zur Beantwortung des preußiſchen Memorandums, Febr. Neſſelrode, Weiſung
an Lieven, Ende März 1832.
a. St. 1832.
6. Jan. Ancillon an den Geſandten Chad 7. Jan., an Bülow 8. Jan. 1832.
6. Nov. 1832.
teren Jahren ein wackerer Reichstagsabgeordneter war.
König Wilhelm IV. vom 14. Sept., desgleichen Graf Münſter in einem Schreiben an
Stralenheim vom 21. Nov. 1830.
Bericht, 21. Sept. 1830.
Weiſung an Nagler, 27. Sept. 1830.
riums an K. Wilhelm IV., 14. Sept. 1830.
rium, 5. Oct. 1830.
29. Sept. 1830.
ſchaft an König Wilhelm IV., 28. Sept. 1830.
Karl, 20. Oct. 1830.
ſchweig, 5. Oct. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 8. 13. Oct. 1830.
an Stralenheim, 2. Nov. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 4. Nov. 1830.
Braunſchweig betr., 29. Oct. Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 17. Nov. 1830.
21. Nov. 1830.
17. Oct. 1830.
30. Nov., und Antwort an H. Wilhelm, 30. Nov. 1830.
vember 1830.
Stralenheim, 4. 5. Dec. 1830.
28. December 1830.
in Wien, Berlin, Frankfurt, 17. Dec. 1830.
3. Dec. Antwort, 16. Dec. 1830.
Wiener Hof 4. März 1831.
vom 4. December 1830.
an Trauttmansdorff 4. Febr. 1831.
in Wien, 24. März 1831.
21. Nov. 1830.
an Bernſtorff, 11. April 1831.
Miniſterialſchreiben an das braunſchw. Miniſterium, Hannover 2. April 1831.
1831 von Graf Veltheim zurückgeſchickt.
London 17. Sept. Verbalnote der hannov. Geſandtſchaft an Bernſtorff, 31. Oct. 1831.
7. Mai. Münchhauſen an Bernſtorff, 26. Mai 1832.
wohlbekannt und als abſchreckendes Beiſpiel angeführt von Herzog Karl v. Mecklenburg
(in ſeiner Denkſchrift über die Heirath des Herzogs von Orleans 1837).
Duncombe. II. 10.
an Bernſtorff, 10. März 1831 u. ſ. w.
Bericht, 1. März 1831.
Neffen, Hrn. Regierungspräſidenten Stüve in Osnabrück.
Bericht des Geh. Raths Lichtenberg an das Miniſterium, London 3. Dec. 1833.
ſteriums an Lichtenberg, 13. Dec. 1833.
20. September 1830.
Bericht an den König 17. März 1832.
Reichertswalde) Königsberg 23. Jan. 1829.
Voß, 11. Febr. 1841.
den Verordnungen v. 22. Mai 1815 u. 17. Jan. 1820.“
ordre an Herzog Karl, 7. März 1831.
ſtorff 26. Juni. Cabinetsordres an Bernſtorff 26. April, 4. Juni, 6. Juli 1831.
an Lottum 27. Oct.; an Wittgenſtein 8. Juli; Großh. Georg an H. Karl, 26. Juni,
3. Juli 1831.
gleichung des gedruckten Materials mit den Aktenſtücken des Geh. St. Archivs (der
Kronprinz an den König 13. Febr., an Albrecht 14. Febr.; Lottum an Niebuhr 22. März,
Albrecht an Lottum 10. April; Niebuhr an Lottum 30. März, 20. April, an den König
13. Mai; Cabinetsordres an Niebuhr, 3. 30. Mai 1830). Die an Niebuhr gerichteten
Schreiben ſind alle ſo wohlwollend und achtungsvoll, daß ich mir ſeine unbeſtimmten,
ausweichenden Erwiderungen nur aus ſeiner nervöſen Aufregung erklären kann.
Antwort 10. Febr. 1832. Cabinetsordre an Altenſtein, 18. Oct. 1832.
laus, April 1831.
12. März; Cabinetsordre an G. Stabsarzt v. Gräfe, 24. März 1831.
Cowley, 19. Juni; Metternich, Weiſung an Eſterhazy, 6. Juli; Ancillon, Bericht an
den König, mit deſſen Randbemerkungen 26. Juli 1831.
12. April; Antwort 7. Mai 1831.
Bericht, 12. December 1830. Arnim’s Bericht, Karlsruhe 8. Januar 1831.
Miniſteriums, 9. October 1830.
Points pour le Comte Orlow; Points pour le Comte Bray.
10. April 1831.
eingeſehen habe.
Berichte 6. 16. 25. December 1830.
25. Jan. 1831.
ſtorff, Weiſung an Otterſtedt, 18. November 1831.
ber 1832.
1831; an König Wilhelm 13. October, 17. November 1831.
an Präſident Frhr. Zu Rhein, Bürgermeiſter Binder und Bayl, 8. Febr. 1831.
gern I. 355 f.) behauptet, ſchon im Jahre 1826 entſtanden ſein, ſondern erſt 1834; denn
er erwähnt den bekannten Zollſtreit zwiſchen Südcarolina und der Union, der in den
Jahren 1832 und 33 ſpielte, als ein Ereigniß aus „der neueſten Zeit“. Ueberdies er-
zählt Friedrich ſelbſt in einem Briefe aus Eindhoven v. 14. April 1834 (a. a. O. II.
204), daß er die Abhandlung „Bundesſtaat“ ſoeben nebſt einigen anderen Arbeiten
hier in Eindhoven geſchrieben habe.
Sinne des Art. 13 und ausländiſchen Muſtern nachgebildeter Repräſentativverfaſſungen.
Dem Karlsruher Hofe mitgetheilt 12. Jan. 1832.
1832 S. 107 f.
23. Juli, 13. Aug. 1832.
liebender Bürger Rheinbaierns, oder vielmehr Erklärung über und Verwahrung gegen
die Bundestagsbeſchlüſſe vom 28. Juni 1832.“ Mit zahlreichen Unterſchriften von Land-
räthen, Abgeordneten, Bürgermeiſtern, Lehrern u. ſ. w.
10. Juni 1832.
20. Sept. 1832.
Präſident v. Rochow, 12. September 1833, von Stägemann, 29. Juni 1834. König
Friedrich Wilhelm an Herzog Ernſt, 5. März; Antwort 14. April 1834.
ſchrift des Finanzminiſteriums über die coburgiſche Entſchädigung, Juni 1843. Die
Erzählung des Herzogs Ernſt II. (Aus meinem Leben I. 100) wirft Wahres und Falſches
durch einander.
1832 u. ſ. w.
1832. S. Beilage 21.
Frankfurt, Stuttgart, Karlsruhe, Kaſſel, Berlin, Coblenz, Zweibrücken, 14. Sept.; an
die Präfecten der Moſel, des Ober- und Niederrheins, 2. Sept. 1832.
25. Mai 1833 ff.
einem der Theilnehmer, dem kürzlich verſtorbenen Dr. Eimer in Freiburg i. B.
22. April; Piret an Stark 19. April 1834.
Berichte, 15. Nov. 1833 ff.
Karlsruhe, Stuttgart u. ſ. w. 30. Dec. Weiſung an Alleye, 29. Dec. 1830.
widerung von Smidt d. J., Jan. 1831.
25. Oct.; Nagler’s Bericht 13. Sept. 1831.
bruar 1834.
erwähnte Aeußerung ſcheint in der That gefallen zu ſein. Am Bundestage wurde ſie
allgemein geglaubt. (Blittersdorff’s Bericht, 13. Dec. 1833.)
tober 1833.
Turin, u. ſ. w., 4./16. Oct. 1833.
ſchaften, 19. Nov. 1833.
27. Mai 1834.
die Rechtsverhältniſſe der Mediatiſirten, Juli 1824.
Wilhelm, Nov. 1833. Antwort, 13. Febr. 1834. Ancillon, Weiſung an Alvensleben,
13. Febr. 1834.
die mir Herr Wirkl. Geh. Rath von Jordan mit Erlaubniß der Familie freundlich über-
laſſen hat.
denau’s Denkſchrift über die Handelseinheit, 4. Jan. 1831.
Schreiben an das ſächſ. Min. d. A. A., 31. März 1831.
ſtorff an das Staatsminiſterium in Weimar, 22. Oct. 1830.
F. Georg v. Löwenſtein an Otterſtedt, 30. Mai 1831.
Antwort 17. Nov. 1830.
Der zweite Sohn des Großherzogs Karl, Prinz Alexander wurde am 1. Mai 1816
geboren und ſtarb 8. Mai 1817.
Hofpredigers v. Schmitt.
beſtimmten, erklärt.
bruar 1831.
an das Ausw. Amt, 15. Sept. 1830.
22. März 1831.
an das Ausw. Amt, 30. Sept. 1831.
Darmſtadt, 7. Febr. 1834.
merkungen“ dazu vom Oberſteuerrath von Miller (durch Fahnenberg dem Karlsruher
Hofe mitgetheilt, 1. März 1833).
Schweiz zur Inſtruktion zugegangen (durch Eichhorn an Lottum mitgetheilt, 14. Dec. 1832).
vom 4. März 1834.
tember 1837).
10. Febr. 1837.
in ſeinem Berichte vom 14. Jan. 1837.
an Lottum, 5. März 1838.
v. Berger, 30. Oct. 1839.
(lithographirt, Frühjahr 1837).
zeichnetes Buch — geben über alle dieſe Verhältniſſe ſehr wenig Auskunft.
vom 18. Dec. 1835.
6. April 1836.
10. 18. Dec. 1836.
Königs. Werther an Maltzan, 6. Juni 1838.
Beuth.)
29. Juni 1837.
Bericht, 28. Aug. 1838.
ſpäterhin ſelbſt in ſeinem Buche: Europas Cabinette und Allianzen, Leipzig 1862.
Alvensleben, Voß, 11. Febr. 1841.
Ueberſicht über die Staatsſchuld 1833—40, für die Landtagsmitglieder.
ſendet 1. Febr. 1835.
richtigt worden.
27. Nov. 1833.
des Kronprinzen vom 3. Juli 1833.
land und Weſtphalen.
well 18. Oct. 1834.
8. April 1831.
Lottum überreicht 27. Jan. 1838.
vom Prediger Dieſtel, 11. Nov.; Altenſtein’s Votum, 29. April 1837, nebſt Voten von
Mühler, Rochow, Rother.
iſt reich an falſchen Angaben und für den Hiſtoriker kaum benutzbar.
25. Febr. 1834. Schön’s ſpätere Erzählung (Aus den Papieren III. 125) verdunkelt den
wirklichen Hergang.
26. Juni 1833.
meinde, 14. Jan. 1834; von G. H. Schubert, 10. Jan. 1836.
11. Mai, 16. Juni, 16. Juli, 25. Dec. 1837, 19. Dec. 1838.
25. Mai 1837, 6. Dec. 1838, 25. Jan. 1839; von Berger, 27. März 1839.
Dönhoff, 4. März 1837.
tember 1837.
Separat-Votum, 30. April 1838. Frankenberg’s Bericht, 14. Juni 1837.
hauſen, 23. April, von Dönhoff, 29. Mai 1837.
Frankenberg’s Bericht, 25. Nov. 1839.
Schöler, 22. Juni 1838.
Bericht, München 3. April 1834.
5. Juni 1834.
27. Nov. 1834 an den Geſchäftsträger Effinger in Wien.
4. März 1835.
tember 1836. Polizeibericht aus London an die Bundes-Centralbehörde, 18. Aug. 1837.
Tage. Dem Könige überſendet 14. April 1833.
Frhrn. v. Lepel, die mir ſein Sohn, Herr Oberſt Frhr. v. Lepel freundlich mitgetheilt hat.
Weiſungen an Canitz, 16. 17. Juli 1833.
Aug. 1835. Cabinetsordre an Ancillon, 28. Aug. 1835.
ſiſchen Staatsdienſte. (Dem Könige überſendet durch Heinrich v. Arnim, 11. Dec. 1837.)
Vereins, 18. Nov. 1838.
v. 11. und 18. Aug. 1837.
hauſen, 18. Aug. 1837.
7. Juli 1837.
Schulte, v. d. Wiſch; gegengez.: Falcke.
u. ſ. w., Weimar 1837. Den Verfaſſer nennt, offenbar richtig, Münchhauſen in ſeinem
Berichte v. 16. Oct. 1837.
Lichtenberg in London, 25. Juli; Lichtenberg’s Bericht, 8. Aug.; Metternich an Maltzan,
6. Aug. 1837.
3. Aug., 15. Sept. 1837.
v. Bothmer, 15. Juli; Gutachten der Commiſſion, 28. Juli 1837.
Metternich an Trauttmansdorff, 7. Sept., nebſt einer Aufzeichnung für Bodenhauſen
vom 11. Sept. 1837.
ſtellung von Springer (Dahlmann I. 430) geleſen hatte.
torium 8. Dec. 1837.
Die Erwiderungen beide vom 16. Dec. 1837.
2. Jan. 1838.
Schele, 2. Dec. 1838.
30. Nov. 1837.
Prorector Gieſeler an Schele, 14. März; Erwiderungen aus dem k. Cabinet, 24. März,
22. December. — G. Zimmermann an Schele, 9. Dec. 1839. — Cabinetsſchreiben an das
Cultusminiſterium, 29. Oct. 1846.
16. Jan. 1838.
3. Nov. 1834 u. ſ. w.
1. März 1838.
dorff, 5. Mai 1838.
betr., 25. Juli 1835.
Vincke, 30. Nov. 1835.
du Thil.
Bonner Profeſſoren anſtellen ließ. (Altenſtein an Rehfues, 3. Juni 1836; Schmedding
an Rehfues, 11. Febr., Rehfues’ Bericht, 21. Febr. 1837).
ich nicht kenne.
Weiſung an Bunſen, 29. Dec. 1837.
10. Juni 1838.
27. Febr. 1838.
ſter an Reg.-Präſident Richter in Minden, 31. Aug. Bericht der drei Miniſter an den
König, 18. Oct. 1838.
von Mühler, 18. März 1839.
Spee, des Frhrn. v. Mirbach u. A. vom 26. December 1837.
Beſcheid, 8. Jan. 1839.
6. Oct. 1839.
19. Oct. 1839.
26. Juli, 30. October 1838, 19. April 1839.
rechts, Th. II. Tit. 11 § 66, Th. II. Tit. 20 § 151 u. 272 u. ſ. w.
20. Juli 1839.
Lüttich, 14. Nov. 1838.
18. Juni 1838.
Metternich, Teplitz, 22. Juli 1838.
Abhandlungen zur neueren Geſchichte 1876.
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Treitschke, Heinrich von. Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bp4k.0